Skip to main content

Full text of "Der Philosoph für die Welt"

See other formats


J.  G.  W^sselhceft,     » 

BOOKSELLER  AND  IMPORTER 


GERMAN  BOOKS. 

«  No.  124,  North  Second  Street, 

g  PHILADELPHIA. 


BOSTON  PUBLIC  LIBRARY 

The  giß  of 

Samuel  Perry 
May  1985. 


■  »  »  « 


w 


W^tr.- 


0 


DER 

PHILOSOPH 

FÜR   DIE   WEL  T. 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

J.       J.       ENGEL. 


ERSTER     THEIL. 
Neue  vermehrte  und  verbesserte  Ausgabe. 


BERLIN,    ißoi. 

Ix    DER    MyliUSSISCHEN   BUCHHANDLUNG, 


PTie5S,.£TP5  m        hccSt-~\lHC\' 


HERRN   ASSESSOR 

DAVID    FRIEDLÄNDER 


IN   BERLIN 


MEINEM   EDLEN   FREUNDE 


GEWIDMET 


—    —     —    edel  im  Buche  der 

Grofsen  Götter ,  bhglcich  nicht  auf  der  Rolle  dei 

Censor».  —  a-  ,*»  _ 

Ramler. 


NACHRICHT 
DER    VERLAGSHANDLUNG. 


J.n  der  ersten  Aussähe,  erschien  der  Erste  Theil 
des  Philosophen  für  die  Welt  im  J.  1775,  und 
der  Zweite  1777.  Die  zweite  Auflage  dieser  bei- 
den Theile  erfolgte  1787.  Der  Dritte  Theil 
kam  1800  heraus.  Die  gegenwärtige  Ausgabe 
von  zwei  Bänden  begreift  was  jene  drei  Theile 
enthielten:  aber  in  einer  etwas  andern  Folge, 
und  nicht  blofs  verbessert,  sondern  auch  mit  ei- 
nem neuen  Aufsatze  (dem  vorletzten)  vermehrt; 
wogegen  das  von  einem  Ungenannten  frei  be- 
arbeitete Stück:  »Der  arme  Jakob,  der  genug 
hat,«  weggelassen  ist,  weil  es  anitzt,  und  voll- 
Ständiger,  in  Franklins  Kleinen  Schriften  über- 
setzt steht. 


INHALT 
DES    ERSTEN  BANDES. 


Erstes  Stück:     Die  Göttinnen.     .     .     Seite       3 

Zweites  Stück:  Aus  einem  Briefe,  über 
die  Leiden  des  jungen  Werther, 
Von  Hrn  Professor  Gan>e.     ...       26 

Drittes  Stück:  Die  Höhle  auf  Antiparos. 
Von  der  Gefahr  gewisser  Lectu- 
ren  für   gewisse  Leser ^i 

Viertes  Stück:      Bayle    an   Shaftesbury, 

Von  Hrn  Professor  Elferhard.     .     .       67 


Fünftes  Stück  :     Shaftesbury    an   Bayle. 

Von  Hm  Professor  Eberhard.    ,    Seite  74 

Sechstes  Stück:     Tobias  Witt 87 

Siebentes  Stück  :  Die  Elche  und  die  Ei- 
chel. Ein  Gpspriich  über  Hrn  Du- 
tens  Buch  wVon  dem  Ursprünge 
M  der  Entdeckungen  die  den  Neu- 
n  ein  zugeschrieben  werden.  «     ,     .       gg 

Achtes  Stück:  Erster  Brief  an  Hrn  Bu- 
tens.    ..,,......       ii5 

Neuntes  Stück:     Zweiter  Brief  an  Hrn 

Dutens 126 

Zehntes    Stück':     Utier   EmiHa    Galotti ; 

erster  Brief. 137 

Eilftes  Stück:     Zweiter  Brief.     ....       i5l 

Zwöh\es  Stück:     Dritter   Brief.      ...       166 

Dreizehntes  Stück:     Vierter   Brief.      .      .       173 


vierzehntes  Stück:     Hylas  und  Philonous. 

Von  Hrn  Moses  Mendelssohn,    .    Seite  2o5 

Fünfzehntes  Stück:     Der  Bienenkorb.      .       üi^ 

Sechzehntes  Stück:  Traum  des  Galllei, 
Oder:  von  den  Freuden  der  Er- 
kenntnifs ßSg 

Siebzehntes  Stück:  Das  Weihnachtge- 
schenk.    Von  Hrn  Professor  Garve,      aSg 

Achtzehntes  Stück :  Der  Habicht.  Ein 
Gespräch  über  die  Einführung  der 
Raubthlere  in  die  Natur.      .      .     ,       a66 

Neunzehntes  Stück  :  Proben  Rabbini- 
scher  Weisheit.  Von  Hrn  Moses 
Mendelssohn 29*5 

Zwanzigstes  Stück:  Fortsetzung  der  Pro- 
ben Rabbinischer  Weisheit.  Von 
Hrn  Assessor  Friedländer.      ,     ,     .       5l5 


^in  und  zwanzigstes  Stück  :     Die  Bild- 
säule  Seite  335 

Zwei  und  zwanzigstes  Stückt     Die  Cur- 

methoden 356 

Zusatö  des  Herausgebers.     .....       365 


£RST££ 


DER 

P  H  I  I.  O  S  O  P  H 

FÜPt    DIE     WEL1\ 

ERSTER        T    H    E    I   L. 


Engels  Philosoph,  I. 


C»OiO»C»0<OOlOiO>0«300000»aOOOOCii 


ERSTES    STUCK. 

DIE    GÖTTINNEN. 


JL/ie  Göttinnen  der  Weisheit  und  der 
Liebe  lebten  in  steter  Uneinigkeit.  Beide 
wünschten  ihre  Herrschaft  über  den  gan- 
zen Erdboden  auszubreiten:  aber  wer  der 
einen  opferte,  kam  nicht  leicht  zu  den 
Altären  der  andern;  erst  mufste  er  des 
Dienstes  der  Venus  überdrüfsig  seyn,  ehe 
er  sie  verliefs  und  sich  dem  Dienste  Mi- 
nervens  weihte.  Nur  hie  und  da  fand 
sich  ein  Sterblicher,  der  seine  Opfer  un- 
parteiisch zwischen  beiden  theilte:  und 
dieser  war  immer,  nach  dem  eignen  ge» 


4  DIE  GOTTINNEN, 

heimen  Urtheile  Minervens ,  der  weiseste. 
Jede  der  Göttinnen  hatte  Hoffnung  ihn 
ganz  zu  gewinnen,  und  jede  überschüttete 
ihn  daher  mit  ihren  süfsesten  Wohlthaten 
und  ihrem  schönsten  Segen. 

Indessen  kam  die  Eifersucht  beider 
Göttinnen  nur  selten  zum  Ausbruch.  Sie 
fürchteten,  Vater  Jupitern  zu  beleidigen, 
der  immer  zu  ihren  Streitigkeiten  seine 
ehrwürdige  Stirne  runzelte.  Anf  der  ei- 
nen Seite  war  Minerva  die  Tochter  sei- 
nes Hauptes,  und  gegen  solche  Kinder 
ist  die  Li-ebe  sehr  zärtli<;h;  auf  der  an- 
dern, hatte  er  auch  der  Yenus  grofse 
Verbindlichkeiten.  Sie  hatte  ihm  so  man- 
che selige  Schäferstunde  verschafft,  worin 
er  seiner  Majestät  vergafs,  und  sich  für 
die  vielen  Sorgen  seiner  Regierung  eben 
so  belohnte,  wie  sich  noch  unter  uns  die 
Götter  der  Erde  belohnen.     Was   für  ei- 


DIE   GOTTINNEN.    ~         5 

nein  erhabnem  Beispiele  könnten  sie  aiicii 
folgen^  als  dem  Beispiele  Jupiters?  — 

Gemeiniglich  blieb  es  also  zwischen 
beiden  Göttinnen  bei  Blicken ;,  bei  Iro- 
nieen^  bei  Anspielungen;  kurz ^  bei  dem 
ganzen  kleinen  Nadelgefechte;,  womit  sich 
die  Damen  oft  schmerzhaftere  Wunden 
zu  ritzen  pflegen^  als  die  Männer  sich 
schlagen.  Die  Göttinn  von  Cythere  fuhr 
dabei  noch  am  besten,  Minerva  vrar  zu 
ernsthaft^  um  nicht  bald  aus  dem  mun- 
tern in  den  philosophirenden  Ton  zu  fal- 
len: und  wenn  dann  über  ihre  Soriten 
Apollo  gähnte^  dafs  ihm  von  der  Be- 
wegung der  Lorbeer  um  seine  Schläfe 
rauschte;  wenn  Bacchus,  zurück  gelehnt 
an  einer  der  Säulen  des  Göttersaals,  mit 
vorgestrecktem  Bauch  und  beide  Arme 
herabhangend,  über  das  ganze  Gemach 
liinwegschnarchte ;  wenn  selbst  der  Adler 


6  DIE   GOTTINNEIV. 

Jupiters,  auf  der  Spitze  des  göttlichen 
Zepters  in  jener  süfsen  und  malerischen 
Stellung  schlummerte,  worin  ihn  Pindar 
beschreibt:  so  fmg  auf  einmal  die  sorg- 
lose Venus  an,  mit  ihrem  Buben  zu  tän- 
deln, oder  warf  sich  wohl  gar  auf  ihren 
berufsten  Vulkan,  an  den  sie  so  viel 
Liebkosungen  verschwendete,  ihm  so  viel 
süfse  Thorheiten  vorsagte,  so  oft  den 
ambrosischen  Kufs  auf  seine  Wangen  und 
Lippen  drückte,  dafs  Alles  wieder  leben- 
dig Ward,  und  vollends  kein  Gott  mehr 
auf  die  Weisheit  Minervens  hörte.  Oft 
wollten  Alle  vor  Lachen  über  den  guten 
Ehemann  ersticken,  der  alle  diese  Schmei- 
cheleien für  baare  Münze  nahm,  und  sich 
vor  Freude  und  Zärtlichkeit  nicht  zu  las- 
sen wufste.  —  Auftritte  dieser  Art  gin- 
gen immer  der  guten  Minerva  bis  an  die 
Seele;    und    nur    gar    zu   gern    hätte  sie 


DIE   Gt)TTINNEN. 


oft  die  gröfsten  Bitterkeiten  ausgeströmt^ 
wenn  sie  nicht  noch  zu  rechter  Zeit  sich 
erinnert  hätte  dafs  sie  die  Göttinn  der 
.Weisheit  wäre. 

Liebes  Kind^  zischelte  oft  Jupiter  sei- 
ner Tochter  ins  Ohr:  ich  dächte^  es  soll- 
te dein  Vortheil  seyn,  wenn  du  mit  der 
von  Cythere  Freundschaft  hieltest.  —  Mi- 
nerva selbst  sah  das  ein;  aber  sie  war 
auf.  einer  zu  empfindlichen  Seite  ange- 
griffen, und  ward  es  noch  täglich.  Die 
Eifersucht  war  eine  unheilbare  Wimde 
ihres  Herzens  geworden.  Alle  Welt  dräng- 
te sich  in  lautem  Getümmel-  zu  den  Al- 
tären  der  Venus;  ihr  wurden  immer  die 
ersten,  die  schönsten  Früchte  geopfert: 
zu  den  Altären  Minervens  kamen  nur  die, 
die  nicht  genug  mehr  übrig  hatten  um 
sich  der  Venus  Gunst  zu  versprechen; 
und  so  bekam  die  gute  Tochter  Jupiters 


8  DIE  GOTTINNEN. 

nur  das,  was  übrig  blieb  und  was  abfiel. 
Um  jene  Altäre  sah  man  dichte  Gruppen 
blühender  Jünglinge  und  lächelnder  Mäd- 
chen:  es  war  an  ihren  Festen  das  leben- 
digste  Gewühl   um   sie  her ;    im    Heilig- 
thume  Minervens    standen  nur    sparsame 
Gruppen    kraftloser    Greise    und    welker 
Matronen,    die  mühsam  an  ihren  Stäben 
herzuschlichen,     statt    Opfer    Weihrauch 
brachten,    und   ihrem   Reiche    nur  noch 
wenig  Dienste   versprachen.     Selten  fand 
sich  ein  Jüngling,   und  noch  weit  seltner 
ein    Mädchen.    —     Kam    einst    von    der 
Liebe,  aus  Verdrufs  nicht  erhört  zu  seyn, 
ein  Mann  oder  ein  Jüngling  zu  der  Weis- 
heit herüber;  so  war  es  mit  unwillig  lang- 
samen Schritt,  und  immer  den  Blick  mehr 
hinterwärts  als   vorwärts  gerichtet.     Auch 
fehlte  es  selten,  dals  er  nicht.,  auf  halbem 
Wege  wieder  umgekehrt  wäre.     Nur  ein 


DIE   GOTTINNEN.  ^ 

einziges  flüchtiges  Lächeln,  das  die  Göt- 
tinn  ihm  nachschickte;  so  war  aller  Un- 
wille aus  seiner  Brust  verschwunden,  und 
er  eilte  nur  desto  brunstiger  wieder  zu- 
rück. Ja  selbst  unter  den  abgelebtesten 
Greisen  waren  nur  wenige,  die  der  Mi- 
nerva von  Grund  ihres  Heizens  dienten. 
•Die  meisten  forderten  ihre  Gunstbezeu- 
gungen nur,  um  doch  Etwas  zu  haben, 
da  sie  das  nicht  mehr  haben  konnten 
was  sie  sonst  freilich  am  liebsten  gehabt 
hätten. 

Einst,  da  sich  Minerva,  beim  einsa- 
men Schimmer  des  Mondes,  zu  dem  ge- 
liebtesten ihrer  Lieblinge  herabliefs,  um 
ihn  piit  ihren  geheimen  Einflüssen  zu  be- 
günstigen, tmd  sein  innres  Auge  zum  se- 
ligen Anschauen  der  intellectuellen  Schön- 
heit zu  öffnen,  fand  sie  ihren  Platz  schon 
von    der    Göttinn  der  Liebe    eingenom-' 


IQ  DIE   GOTTINNEN. 

raenf  und  den  ernsthaften  Weisen  mitten 
in  dem  noch  seligem  Anschauen  einer 
sinnlichen  Schönheit  begriffen.  Dieser 
neue  Triumph  ihrer  Feindinn  war  allzu 
kränkend,  als  dafs  sie  ihn  so  im  Stillen 
hätte  verschmerzen  sollen.  Sie  verfolgte 
von  diesem  Augenblick  an  die  gute  Ve- 
nus mit  den  kränkendsten  Anmerkungen, 
und  fand  bei  den  entferntesten  Veranlas- 
sungen Übergänge  zu  Bitterkeiten. 

Jupiter,  auf  den  Frieden  in  seinem 
Olymp  bedacht^  glaubte  Minerva  durch 
einen  zornigen  Blick  zu  zugein,  den  er 
unter  einer  gerunzelten  Stirne  und 
schrecklich  zusammengezogenen  Augen- 
braunen hervorschofs  ;  aber  umsonst  l 
Endlich  warf  er  in  einem  unwilligen  To- 
ne die  Anmerkung  hin,  die  er  für  eine 
Göttinn  der  Weisheit  hinlänglich  glaubte, 
dafs  Neckereien  dieser  Art  einer  Gottheit 
nicht  anständig  wären. 


DIE    GÖTTINNEN.  ii 

O  Jupiter  !  rief  Minerva  aus,  indem 
sie  mit  dem  Gespräche  zur  Seite  ab- 
sprang; sage  mir;  was  ist  eine  Gottheit? 
Ich  bin  schon  längst  in  meinem  Begriff 
davon  irre  geworden.  Es  giebt  ihrer, 
deren  Tempel  bis  an  die  Wolken  rei- 
chen, deren  Altäre  von  einer  Sonne  zur 
andern  nicht  aufhören  zu  glühen,  vor 
deren  Bildsäulen  die  Nationen  gebückt 
liegen,  und  denen  doch  gerade  das  erste 
Kennzeichen  der  Gottheit  fehlt.  —  Ein 
bedeutender  Blick,  auf  die  Göttinn  der 
Liebe  geworfen,  verpflichtete  diese,  zu 
antworten. 

Das  erste  Kennzeichen  der  Gottheit? 
—  Ich  habe  nie  tief  gedacht,  Madame. 
,Was  ist  das? 

Wie  !  was  das  ist  ?  —  Wenn  der 
Mensch  fragt:  wer  bin  ich?  so  behauptet 
er  »einen  Vorzug  über  den  Wurm.  Wenn 


12  DIE  GOTTINNEN. 

e^e  Göitinn  so  fragt,  so  sinkt  sie  zur 
Menschheit  hinab.  —  Die  Wohlthätigkeit 
ist  es.  Die  Sorge  für  das  Heil  der  Sterb- 
lichen, die  wir  beherrschen. 

Und  die  Gottheit,  der  dies  Kennzei- 
cheji  fehlt?     Darf  ich  bitten?  — 

Sehr  gerne !  Eine  beschämende  Ant- 
wort gehört  auf  eine  vorwitzige  Frage.  — 
Diese  Gottheit  sind  Sie. 

Ich?  lächelte  Venus,  und  sah  mit  der 
freien  Miene  eines  reinen  Gewissens  durch 
den  ganzen  Zirkel  umher. 

Wer  sonst,  Madame  ?  — ■  Wenn  die 
Stimme  des  Jammers  die  zum  Olymp 
dringt,,  die  Stimme  des  Jubels  so  w^eit 
übertönt,  dafs  oft  Jupiter  selbst  in  sei- 
nem innersten  Gemache  nicht  ruhen  kann, 
und  den  Himmel  mitten  in  seinem  Him- 
mel vermXst:  wer  sonst  ist  Ursache,  als 
Sie?  —  Es  ist  die  Stimme  derer,  die  Sie 
imglücklich  machten. 


DIE   GOTTINNEN.  15 

Wie,  Madame  ?  wofür  nehmen  Sie 
doch  die  Seufzer  der  Liebhaber!  —  Glau- 
ben Sie  mir :  in  den  klagendsten  Sätzen 
eines  Adagio  liegt  oft  mehr  und  tiefer 
gefühlte  Wollust;,  als  in  den  feurigsten 
eines  Allegro.  —  Ich;  ich  sollte  unglück- 
lich machen?  Fragen  Sie  doch  meine 
Freunde,  die  Dichter  ! 

Ihre  Freunde,  die  Dichter  — ^  was  darf 
ich  Ihnen  mehr  sagen  ?  —  sind  Dichter. 

Ai-raer  Apoll!    lispelte  Venus. 

W^rum  das?  —  Ihr  Kunstgriff  sich 
eine  Partei  zu  machen,  ist  sehr  unglück- 
lich, Madame;  Wenn  die  hohe,  edle  Be- 
geisterung Apolls  einen  Dichter  hebt, 
dann  tönt  sein  Gesang  von  Göttern  und 
Weisen'  und  Helden;  aber  die  Sänger  der 
Liebe  sind  auch  diö  Sänger  des  Weins, 
und  schöpfen  ihre  Begeisterung  aus  dem 
Kelche  des  Bacchus, 


14  DIE  GOTTINNEN, 

Ha!  rief  der  sorglose  Bacchus^  und 
reichte  seinen  Becher  dem  Ganymed,  ihn 
noch  einmal  zu  füllen. 

Aber  Venus  stand  auf^  und  hüpfte  ge- 
rade zum  Jupiter.  —  Lieber  Vater!  fing 
sie  an,  mit  jener  freundlichen  Holdselig- 
keit, die  jeden  Verdrufs  verscheucht  und 
jede  Sorge  hinwegschm.elzt ;  und  dann 
streichelte  sie  seine  Wangen,  dafs  die 
kleinste  Runzel  von  seiner  Stirne  schwand, 
und  die  ernsthafte  Juno  vor  eifersüchti-. 
gem  Zorne  glühte.  Lieber  Vater!  rief 
sie  noch  einmal:  du  mufst  es  wissen;  du 
kennst  mich.  Ist  es  wahr,  dafs  ich  un- 
glücklich mache? 

Die  Verlegenheit  des  guten  Gottes 
war  unbeschreiblich,  mid  Juno  knirschte 
vor  Wuth.  Demi  so  feind  sie  auch  den 
Ausschweifungen  ihres  Gemahls  war,  so 
sehr    hafste  sie    doch    alle  Anspielungen 


DIE   GÖTTINNEN,  i^ 

darauf;  sie  mufsten  denn  von  ihr  selbst, 
zwischen  den  stummen  Vorhängen  ihres 
geheiligten  Torus,  kommen. 

Aber,  fing  endlich  nach  einigem  Stot- 
tern der  Vater  der  Götter  an:  vyas  zankt 
Ihr  denn  immer^  Ihr  Kinder?  Wenn 
Wohlthätigkeit,  wie  Minerva  sagte,  das 
Kennzeichen  der  Gottheit  ist,  so  dürft 
Ihr  euch  nur  versöhnen,  um  beide  mehr 
Gottheiten  zu  seyn.  Apoll  hat  euch  das 
so  oft  schon  gerathen,  und  ich  so  oft 
eücK  befohlen.  —  Macht  einen  ewigen 
Bund  mit  einander!  und  die  Sterblichen 
werden  nicht  erst  über  den  Kocyt  dür- 
fen um  ein  Elysium  zu  finden;  es  wird 
ihnen  an  seinen  beiden  Ufern  blühen.  — 
Pu,  Minerv^a,  bist  allzustrenge,  und  du, 
Venus,  zu  leichtsinnig. 

Allzustrenge?   sagte  Minerva-;  und  bat 
die  Juno  lim  ihre  Iris,    die  ihr  gerne  be- 


i6  DIE   GOTTINNEN. 

williget  waifd.  Sie  sagte  ihr  einige  Wor- 
te ins  Ohr^  und  Iris  schofs  auf  ihrem  far^ 
bigen  Bogen  zur  Erde.  —  Ich  erbiete 
mich  zu  jenem  ewigen  Bunde >  Jupiter, 
den  du  mir  anträgst;  aber  nur  Geduld! 
und  du  selbst  magst  dann  richten» 

In  wenig  Augenblicken  kam  Iris  zu* 
rück_,  und  brachte  eine  Gestalt  mit  sich, 
die  den  ganzen  Himmel  in  Erstaunen 
setzte.  Es  war  kein  Mensch  mehr;  es 
War  nur  die  unvollkommne  Idee  eines 
Menschen:  ein  abgelebter,  bleicher,  zit- 
ternder Greis,  in  den  Jahren  der  Jugend. 
Seine  Augen,  worin  der  letzte  Funke 
Feuers  erloschen  war,  lagen  tief  in  ihren 
Höhlen;  sein  Nacken  war  krumm  und 
gebückt,  und  seine  Stimme  keuchend, 
wie  eines  Nestor. 

Da  seht!  rief  Minerva.  Seht  die  Won- 
ne, die  Glückseligkeit,  womit  die  Göttinn 

von 


DIE   GÖTTINNEN.  17 

von  Cythere  ihren  Anbetern  lohnt !  Und 
solcher  Elenden  ist  der  ganze  Erdboden 
voll.  Ihr  haltet  sie  für  die  Göttinn  des 
Lebens?  Ihr  irrt  euch.  Sie  steht  mit  den 
Göttern  des  Todes  in  Bundnifs.  Und 
wenn  oft  die  unerbittlichen  Parcen,  we- 
niger grausam  als  sie^  den  Faden  des 
Lebens  noch  kaum  zur  Hälfte  vollendet 
haben,"  so  ist  sie  es^  die  mit  der  tödtli- 
chen  Scheere  hinzutritt  und  ihn  lächajüid 
zerschneidet. 

Alle  Götter  und  Göttinnen  —  .denn 
allen  liegt  die  Wohlfahrt  der  Menschen 
am  Herzen  —  wurden  über  diesen  An- 
blick erbittert.  Jupiter  schüttelte  sein 
Haupt_,  dafs  der  himmlische  Pallast  durch 
alle  Gemächer  erbebte.  Es  war  kein 
Mund,  der  nicht  Tadel  murmelte^  und 
selbst  der  menschenwürgende  Mars  fluch- 
te in  seiner  Wuth  alle  Ströme  der  Hölle 

Engels  Philosoph,   I.  ^ 


iS  DIE  GOTTINNEN. 

zusammen.  Indefs  safs  die  Göttinn  von 
Cythere  da,  als  wollte  sie  durch  den 
krystallnen  Boden  des  Himmels  bis  hin- 
ab in  die  tiefsten  Abgründe  am  Kauka- 
sus sinken:  nur  dann  und  wann  erhob 
sie  ein  schüchternes  Auge,  das  Verzei- 
hung zu  fordern  und  Besserung  zu  gelo- 
ben schien. 

Aber  schon  hatte  sie  heimlich,  sobald 
silw*Minervens  Absicht  errieth,  dem  Mer- 
cur  einen  Wink  gegeben,  der  ihn  augen- 
blicklich verstand,  und  schnell,  als  ob  er 
vom  ersten  der  Götter  käme,  zu  voll- 
strecken eilte.  Es  war  bewundernswür- 
dig, aber  der  ganze  Himmel  stand  der 
kleinen  süfslächelnden  Cytherea  zu  Ge- 
bote. Sie  war  mehr  Königinn  des  Olymps, 
als  Jupiter  selbst.  Alles  liebte  sie,  und 
alles  richtete  ihr  gern  einen  Gefallen  aus; 
die  Götter  offenbar,  und  die  Göttinnen 
heimlich. 


DIE   GOTTINNEN.  19 

Jetzt  hatte  Minerva  wieder  das  Wort 
genommen^  und  stand  eben  in  der  Mitte 
einer  der  gründlichsten  Abhandlungen  — 
gründlicher,  als  sie  je  ein  Mitglied  vor 
der  französischen  Akademie  eines  deut- 
schen Königs  verlas  —  worin  sie  mit 
gröfster  Scharfsinnigkeit  zeigte,  was  wah- 
re Freude  und  wahre  Glückseligkeit  sei? 
und  mit  den  triftigsten  Beweisgründen 
darthat,  dafs  alles  was  die  Göttinn  der 
Liebe  den  Sterblichen  anböte,  nichts  als 
Scheingüter  wären,  nichts,  als  eitle,  hin- 
fällige, sinnliche,  thierische,  thörichte 

Und  hier  kam  Mercur  wieder  zurück, 
—  Ein  neues  Gespenst?  riefen  die  Göt- 
ter. Hatten  wir  nicht  schon  an  dem  An- 
blick des  Einen  zu  viel?  Schafft  sie  hin- 
aus! schafft  sie  hinaus!  oder  wollt  Ihr 
den  Himmel  zu  einem  Orcus  machen? 

O  Mercur!   seufzte  Venus,  als  ob  sie 


20  DIE   GÖTTINNEN. 

ihre  Beschämung  nicht  länger  ertragen 
könnte:  mufst  denn  auch  du_,  Mercur  — 
Wie^  Madame?  Was,  tun  aller  Götter 
willen!  geht  dies  Gerippe  hier  Sie  an? 
Schämen  Sie  Sich_,  wenn  Sie  wollen,  für 
jenes!  Für  dieses  hier  lassen  Sie  sich  Mi- 
nerva schämen ! 

Minerva?  fuhr  Venus  auf,  ihre  ganze 
Heiterkeit  wieder  auf  ihren  Wangen,  in- 
defs  der  Göttinn  der  Weisheit  die  Worte 
im  Munde  erstarben.  —  Aber  beim  Ju- 
piter, ja!  das  ist  kein  Liebhaber;  das  ist 
ein  Weiser.  —  Armes  Geschöpf!  Lafs 
mich  dich  ansehn!  Du  blinzeist?  Kann 
dich  dieses  sanfte,  reine,  liebliche  Licht 
des  Himmels  blenden?  Sind  deine  Seh- 
nerven so  schwach?  — 

O  Göttinn  !  Und  meme  Gehörnerven 
noch  schwächer.  Rede  leiser  mit  mir! 
denn  deine  Stimme  ertönt  mir,  gleich 
der  Donnerstimme  des  Jupitex, 


DIE  GOTTINNEN. 


211 


Ist  es  möglich?  Und  doch  ist  meine 
Stimme^,  wie  alle  Götter  sagen,  die  sanf- 
teste im  Olympus.  —  Du  zitterst  P  Dich 
schaudert?  Fühlst  du  denn  nicht  den  Ein- 
flufs  dieses  holden^  ewigen  Frühlings? 

Wie  könnt'  Ich,  Göttinn?  Der  erwär- 
mende Saft  des  Lebens  ist  in  allen  mei- 
nen Gefäfsen  vertrocknet.  — 

Unbegreifliche  Schwäche!  Reich  ihm 
doch  einen  Becher -Weins,  Ganymed! 

O  nein,  Göttinn I  nein!  Auf  die  Stär- 
kung eines  Augenblicks  w^ürde  nur  eine 
desto  tödtlichere  Mattigkeit  folgen.  — 

Nun,  Madame?  —  indem  sich  Venus 
wieder  zu  der  ganz  verwirrten  Minerva 
#andte:  —  jene  Farbe,  und  diese  Farbe; 
jene  Wangen,  -und  diese  Wangen ;  jene 
Ohnmacht,  und  diese  Ohnmacht 

Ist's  denn  meine  Schuld,  rief  Minerva 
mit  höhnischaufgezogener  Oberlippe,  dafs 


22  DIE   GÖTTINNEN. 

dieser  Thor  sich  mit  meinen  Wohlthaten 
überfüllt  hat? 

Und  ist  es  meine,  erwiederte  Venus, 
wenn  auch  jener,  im  Genüsse  der  meini- 
gen, keine  Gränzen  kannte? 

Schamlose  Vergleichung  I  sagte  Mi- 
nerva. 

Warum  das?  — 

Wenn  es  um  und  um  kommt,  so  hat 
doch  der  meinige  zu  dem  edelsten  End- 
zwecke gearbeitet.  Er  hat  gesucht,  die 
Menschen  zm-  Weisheit  und  Tugend  zu 
bilden. 

Und  der  meinige,  die  Menschen  selbst 
in  bilden,  die  jener 

Ein  plötzlicher  Aufruhr  im  Olymp  ufi* 
terbrach  sie.  Alle  weibliche  Gottheiten, 
selbst  die  alte  grofsmutterliclre  Ceres,  ver- 
steckten das  Gesicht  hinter  den  Händen, 
und  murmelten    einander  ihren  Unwillen 


DIE   GOTTINNEN.  23 

über  die  Schamlosigkeit  ihr^r  Mitgöttinn 
zu.  Aber  Jupiter  befahl  dem  Mercur, 
beide  Gerippe  hinauszuschaffen,  deren 
Anblick  ihm  die  Freude  seines  Himmels 
verderbte.  Nimm  sie  nur  gleich  mit  zum 
Styx,  sprach  er:  denn  warum  willst  du 
dir  einen  doppelten  Gang  machen?  Pluto 
nimmt  sie  sicher  für  Schatten! 

Und  dann  wandte  er  sich  mit  folgen- 
der Rede  an  die  Göttinnen  der  Weisheit 
und  der  Liebe:  Sehet  da  die  Folgen  eu- 
rer Uneinigkeit  !  Sehet  da  die  Früchte 
€iu*er  ausschliefsenden  Herrschsucht!  Wir 
alle,  so  viel  unser  sind,  sollten  billig  nur 
Einen  Tempel  und  nur  Einen  Altar  ha- 
ben. Denn  weder  für  die  Wollüste  des 
Geistes,  noch  für  die  Wollüste  des  Kör- 
pers ist  der  Mensch  allein  geschaffen;  in 
beiden  stürzt  Übermaals  ihn  ins  Elend. 
So   wie    der   äufsere   Mensch    ohne  unsre 


24  DIE   GÖTTINNEN. 

vereinigten  Wohlthaten ,  ohne  meinen 
Äther,  und  ohne  deine  Luft,  o  Juno,  und 
ohne  deine  Wasser,  Neptun,  und  ohne 
deine  Garben,  o  Ceres,  und  ohne  dein 
Feuer,  Vulcan  — 

Und  ohne  meinen  Wein,  redete  Bac- 
chus dazwischen,  mit  emporgehobenem 
Becher  — . 

Nicht  l^estehen  kann :  so  kann  auch 
der  innre  Mensch  ohne  eure  vereinigten 
Gaben,  ohne  deine  Weisheit,  Minerva, 
ohne  deine  Triebe,  o  Venus,  ohne  deine 
Musen,  Apoll,  zu  keiner  Vollkomnjenheit 
aufblühen;  und  der  ganze  Mensch  kann 
ohne  uns  alle ™ 

*     *     * 

O  verzweifelt,  mein  Leser!  Indem  ich 
eine  der  treflichsten  philosophischen  De- 
ductionen  aus  dem  Aichiv  des  Himmels, 
wovon    Mercur    einige  Blätter    für    mich 


DIE  GOTTINNEN.  25 

entwandt  hat^  dir  abschreiben  will;  so 
fährt  durch  meine  einsame  Sommerlaube 
ein  Zepbj'r^  und  führt  mir  meine  Blätter 
weg  in  die  Luft.  Begnüge  dich  also  mit 
dem  was  du  hast_,  und  gedulde  dich^  bis 
ich  das  Verlorne  wiederfinde;  denn  eben 
jetzt  bin  ich  hinterdrein  es  zu  suchen. 


2b 

ZV/EITES     STUCK. 

ÜBER  DIE  LEIDEN  DES 
JUNGEN  WERTHER. 

AUS     EINEM     BRIEl  F.. 


—  Auch  für  mich  ist  der  Charakter  des 
jungen  Wertke?^  äufserst  interessant  ge- 
Wesen.  Ich  sympalhisire  sehr  mit  seinen 
Empfindungen  über  das  Schicksal  der 
Menschheit^  über  das  Leben  und  den  im- 
merwährenden Tod  der  Natur^  über  die 
Dunkelheit  und  den  Reichthum  in  den. 
Vorstellungen  der  Zukunft  und  der  Fer- 
ne^ um  derentwillen  beide  uns  so  reizend 
scheinen,  dahingegen  sie  bei  der  Nähe 
dem    Gewohnten   ganz    gleich   sind,   weil 


ÜB.  WERTHERS  LEIDEN.     27 

unsre  Eingeschränktheit  dieselbe  bleibt, 
und  wir  nicht  das  Alte  und  das  Gegen- 
wärtige zugleich  umfassen,  sondern  im- 
mer in  einem  gleich  engen  Kreise  ste- 
hen. —  Sonst  sind  Werthers  Empfmdun- 
gen  allerdings  überspannt :  er  verachtet 
einen  niedrigem  Grad  von  Empfindlich- 
keit, die  dabei  wirklich  sehr  weit  und 
richtig  seyn  kann,  mit  eben  dem  tadel- 
haften Stolze,  womit  der  grofse  Gelehrte 
den  minder  Belesenen  2;u  verachten  pflegt. 
Er  hat  nicht  allgemeines  Menschengefühl, 
Das  eine  sind  ihm  Schurken  tind  Teufel: 
das  andere,  Engel.  Aber,  wenn  ich  ihm 
auch  nicht  in  Empfindungen  folgen  kann, 
die  von  einem  Temperamente  abhangen 
das  dem  meinigen  durchaus  entgegen  ist: 
so  kann  ich  doch  begreifen,  wie  das  in 
so  einer  Seele  Statt  gefunden  hat,  und 
ich  sehe  die  wahren,    mir   auch   bekann- 


28  ÜBER 

ten  Eindrücke  der  Natur,  nur  mit  dem 
mir  fremden  Gepräge  einer  andern  Or^ 
ganisation  und  anderer  Sinne. 

Die  Leiden  des  jungen  Werther  ha- 
ben mich  auf  den  Verfasser  viel  auf- 
merksamer gemacht,  als  alles  was  er  vor- 
her geschrieben.  Das  ist,  glaube  ich, 
einer  der  Schriftsteller,  die  auf  unsre 
Zeitgenossen  viel  EinHufs  haben  werden. 
Er  hat  Herz,  Verstand,  und  Dreistigkeit; 
Gunst  beim  Publikum,  und  Begierde  zu 
herrschen. 

Es  webt  und  regt  sich  jetzt  mehr  in 
allen  menschlichen  Köpfen,  als  sonst,  — 
Wird  dadurch  das  Loos  unsrer  Nachkom- 
men besser  werden?  Werden  die  Men- 
schen endlich  zu  dejn  System  von  Ideen 
und  Empfindungen  gelangen,  das  nach 
ihrer  N'alur  mit  der  Wahrheit  und  der 
Beschaffenheit    des    Ganzen    am    genaue- 


WERTHERS  LEIDEN.         29 

sten  übereinkömmt?  Wird  alsdann  ein- 
mal Einheit  und  Gleichförmigkeit  in, den 
Grundbegriffen^  und  dadurch  gegenseiti- 
ge Liebe,  Achtung  und  Eintracht  entste- 
hen? Wird  einmal  eine  Zeit  kommen, 
wo  die  immer  abwechselnde  ,  immer 
gleich  eingeschränkte  Sinnlichkeit  durch 
den  immer  gleich  grofsen,  unendlich  wei- 
ten Verstand,  der  vom  Anfang  bis  zum 
Ende  alle  Orter  und  alle  Einwohner  und 
Begebenheiten  urafafst,  wird  überwogen, 
und  dadurch   die  Ruhe   des    Geistes   und 

Herzens  festgestellt  werden? 

Sie  befragen  mich  wegen  meiner  Ge- 
danken über  den  Selbstmord.  Nach  mei- 
ner Einsicht,  kommt  dabei  alles  auf  die 
eine  Betrachtung  an ;  dafs  der  Mensch  in 
wichtigen  Dingen ,  die  nicht  von  ihm 
herkommen,  nicht  durch  ihn  geordnet 
und  erhalten  werden,   ihm   nicht   einmal 


'^o  ÜBER 

recht  bekannt  sind,  den  Lauf  der  Natuif 
durch  unwiederbringliche  Veränderungen 
so  wenig  als  möglich  stören  müsse.  Die- 
se Betrachtung  wird  noch  stärker  für  den, 
der  eben  diesen  nicht  von  ihm  herkom- 
menden ,  von  ihm  nicht  eingerichteten 
Dingen  den  verständigsten,  gröfsten,  mäch- 
tigsten, besten  Geist  zum  Urheber,  An- 
ordner  und  Aufseher  giebt.  Indem  er 
sich  dem  Lauf  der  Natur  überläfst,  ver- 
traut er  sein  Schicksal  der  höchsten  Ein- 
sicht an;  indem  er  diesen  Lauf  stört, 
bringt  er  Wirkungen  hervor,  die  zunächst 
von  seiner  Blindheit  und  Unwissenheit 
abhangen.  Ich  weifs  nicht,  sagt  Tferther 
selbst,  was  das  heifst :  Leben,  Ster- 
ben. Ich  weifs  es,  bei  Gott!  auch  nicht. 
Aber  wie  kann  ich  es  also  wagen,  meine 
Hand  in  diese  Dunkelheit  auszustrecken^ 
und  dort  Streiche  zu  versetzen,  die  mein 
Auge  nicht  absieht? 


WERTHERS  LEIDEN.         31 

Ich  Aveifs,  dafs  man  diesen  Satz  zu 
weit  ausdehnen,  und  auch  die  Aufopfe- 
rung eines  Gliedes,  die  Vernichtung  ir- 
gend eines  aiidern  Theils  der  Natur,  für 
unerlaubt  halten  könnte.  Aber  der  ge- 
sunde Verstand  findet  die  Unterschiede  den 
Augenblick,  die  durch  Phiiosophiren  nur 
schwer  und  langsam  entwickelt  werden. 

Ich  sehe  nehmlich  in  dem  grofsen 
Universum,  iii  dem  ich  bin  und  fortlebe, 
eine  Sphäre,  die  für  meine  Erkenntnifs^, 
Beurtheilung  und  Activität  bestimmt  ist. 
Da  fmdet  Kirnst,  Wissenschaft,  Erfahrung 
der  Folgen,  Verbesserung  der  Mittel ;  mit 
Einem  Worte,  eine  Absicht  und  ein  Ent- 
wurf, Statt.  So  weit  als  diese  Erkennt- 
nifs  der  Folgen  reicht,  so  weit  d^rf  ich 
auch  eigne  Einrichtungen  und  Verände- 
rungen in  der  Natur  machen.  Ich  sehe 
ab,   wo  das   hinauslaufen  wird  wenn  ich 


32  ÜBER 

mir  den  Arm  glücklicli  ablösen  lasse;  icli 
werde  mit  Einem  Arme  fortleben,  und 
im  Zustande  und  Genüsse  der  Mensch- 
heit, obgleich  mit  Unbequemlichkeit  und 
Schmerzen,  verharren.  Aber  wenn  ich 
mich  umbringe!  Ja,  da  weifs  ich  nichts 
mehr  von  meinem  Selbst;  ich  weifs  keine 
der  Folgen,  die  der  Schufs  ins  Gehirn 
auf  mein  denkendes  und  wollendes  We- 
sen hervorbringen  wird.  Leben  und  Tod 
kann  also  nicht  zu  meiner  Sphäre  gehö- 
ren. Es  ist  die  höhere  Sphäre  des  Gei- 
stes, der  mich  geboren  werden,  wachsen, 
leben,  und  sterben  läfst;  der  alles  weifs 
was  vor  mir  war,  weifs,  was  nach  mir 
seyn  wird;  der  einen  Plan  und  Hülfsmit- 
tel  hat,  die  eher  anfangen  und  weiter 
reichen,  als  mein  Leben. 

Doch,  etwas  anders  ist,   untersuchen: 
ob  es   der  Natur   des  Menschen  und  der 

Din- 


WERTHERS  LEIDEN.         55 

Dinge  gemäfs,  das  heifst^  erlaubt  sei,  sich 
zu  ermorden;  etwas  anders  die  Frage: 
wie  ein  Mensch,  der  durch  Unglück  und 
Leidenschaft  dazu  getrieben  wird,  abge- 
halten ;  wie  der  noch  nicht  unglückliche, 
aber  sehr  empfindliche  und  schwermüthi- 
ge  Mensch  davor  bewahret  werden  soll? 
Chne  Zweifel  nur  durch  Verhütung  der 
Leidenschaft  selbst. 

Und  das  ist  ein  neuer  Grund  \Tldcr 
den  Selbstmord.  Der  Zustand  der  Seele, 
in  welchem  man  dazu  fähig  ist,  ist  alle- 
mal ein  zerrütteter,  verdorbener  Zustand. 
Keine  Wahrheit  in  dem  Anblick  der  Din- 
ge ;  keine  R.ichtigkeit  in  der  Schätzung 
derselben;  keine  Voraussehung  einer  oft 
nahen  Zukunft;  kein  Nebenblick  auf  das 
Umstehende  :  eine  unglückliche  Vereini- 
gung aller  Seelenkräfte  auf  einen  einzi- 
gen schwarzen  Punct! 

Engels  Philosoph,  I,  .  .     ^ 


34  ÜBER 

Dies  macht  bei  Werthern  einen  Theil 
seiner  Schuld  aus,  dafs  er  diese  Ein- 
schränkung und  Concentration  seiner  gan- 
zen grofsen  Empfindsamkeit  auf  jeden  klei- 
nen Gegenstand  für  ein  Verdienst  hält, 
sich  darin  mehr  imd  mehr  übt,  und  al- 
les was  seine  Aufmerksamkeit  auf  mehr 
wichtige  Objecte  ziehen  könnte,  für  Zer- 
streuung, für  Abhaltung  von  dem  Streben 
nach  Vollkommenheit  ansieht.  Daher 
auch  sein  Stolz;  der  sonst  mit  der  Liebe 
gegen  die  geringsten  Menschen,  imd 
selbst  gegen  Pflanzen  und  Insecten,  die 
er  zu  seiner  vorzüglichsten  Eigenschaft 
macht,  so  wenig  bestehen  kann.  Wenn 
er  einsam  die  Natur  betrachtet,  so  denkt 
er  an  sein  Selbst  nur  in  so  ferne  als  er 
Ähnlichkeit  damit  gewahr  "wird  ;  diese 
findet  er  auch  in  den  imbeträchtlichsten 
Dingen,  imd  fällt  auf  sie  mit   der  vollen 


WERTHERS  LEIDEN.         35 

Denkungs  -  und  Empfindungskraft  seiner 
Seele.  Tritt  er  aber  in  die  menschliche 
Gesellschaft  ein ;  ja  so  kömmt  die  un- 
endlich stärkere  Vorstellung  seines  Selbst 
zurück,  und  er  empfindet  nur  die  Unter- 
schiede, nicht  mehr  die  Ähnlichkeiten 
der  Andern,  besonders  je  näher  ihm  die- 
se Andern  an  Stande  und  äufsern  Tor-' 
zügen  sind.  Hat  er  einen  oder  wenige 
Menschen  gefunden,  die  diese  Schwie- 
rigkeit in  sein  Herz  zu  dringen,  über- 
winden imd  ihm  schätzbar  werden;  so 
häuft  er  auf  diese  in  seiner  Einbildung 
alle  Vollkommenheiten  zusammen,  die 
er  den  übrigen  Menschen  entzieht.  Er 
verachtet  und  meidet  diese  übrigen  so 
sehr,  dafs  es  ihm  unmöglich  wird,  das 
Gute  und  Schätzbare,  welches  er  bei  nä- 
herer Bekanntschaft  gewifs  an  ihnen  ün- 
den  würde,  zu  entdecken. 


3Ö  ÜBER 

Indem  er  also  auf  der  einen  Seite  die 
Natur  im  Ganzen^  und  bis  in  ihre  gemei- 
niglich von  uns  völlig  vergessenen  und 
vernachlässigten  Werke,  lebendig,  schön 
und  interessant  findet;  so  findet  er  auf 
der  andern  Seite,  gerade  in  dem  wich- 
tigsten Tlieil  der  Schöpfung,  unter  den 
Menschen,  sehr  wenige  seiner  Achtung 
unid  Liebe  würdig.  Hier  sind  ihm  Alle 
unter  seiner  Vorstellung  und  Erwartung, 
so  wie  jene  Dinge  seine  Vorstellung  über- 
treffen. Aus  dieser  Lage  des  Gemüihs 
entsteht  zuerst  Hang  zur  Einsamkeit  und 
zu  blofsem  ungeselligen  Nachdenken ; 
zweite?is  Mangel  an  öftern  angenehmen 
und  das  Gemüth  erheiternden  Eindrük- 
ken,  die  aus  der  Achtung  und  Liebe  ge- 
gen Andre  entspringen ;  drittens  Hafs  und 
Widerwillen  dieser  Andern  g'^^Q'i^.  den, 
von    dem    sie  sich    so   unbillig  verachtet 


ö7 

sehn,  ohne  clafs  sie  seine  gi'öfsern  Voll- 
kommenheiten kennten  oder  Genufs  da- 
von hätten;  viertens  gegenseitiger  ver- 
stärkter Abscheu  auf  Seiten  des  Stolzen. 
Und  nun  lassen  Sie  so  ein  Herz^,  das  ge- 
gen die  todte  Natur  empfindlich,  gegen 
die  Menschen  erbittert,  gleichgültig  oder 
stolz  ist ;  lassen  Sie  es  nun  noch  von 
einer  heftigen  Liebe  angegriffen  werden, 
und  darin  unglücklich  seyn:  was  bleibt 
wohl  übrig  ?  Einen  einzigen  Menschen 
hatte  der  Unglückliche  nun  gefunden, 
der  ihm  recht  werth  war;  dieser  Mensch 
ist  dahin.  Unter  dem  übrigen  großen 
Haufen  besinnt  er  sich  auf  nichts  so 
Schätzbares,  das  ihm  diesen  Verlust  er- 
träglich machen  konnte.  Er  weifs,  er 
wird  nicht  von  ihnen  geliebt.  Die  ein- 
same, todte,  stille  Ü^atur  scheint  ihm  viel 
edler    und    gröfser.      So    wird    also    die 


38  ÜBER 

V 

ganze  Empfindlichkeit  des  Herzens  dar- 
auf gespannt^  das  menschliche  Leben^  so 
wie  wir  es  jetzt  haben;,  zu  hassen^  und 
nur  die  Existenz  der  Katur  zu  lieben, 
mit  der  wir  uns   im  Tode   zu  vereinigen 

scheinen. 

Man  hat  die  Leiden  Werthers  hie  und 
da  für  ein  gefährliches  Buch  gehalten, 
das  zum  Selbstmord  verführte.  IJire  Ge- 
danken hierüber  sind  richtig.  Zum  Selbst- 
mord wird  man  schwerlich  verführt.  Aber 
dennoch  kann  es  nie  ganz  gleichgültig 
seyn,  was  für  Meinungen  über  diesen 
Punct  der  Mensch  bei  sich  festgesetzt 
hat;  ob  solche,  die  die  Leidenschaft  be- 
günstigen, oder  solche  die  sich  ihr  ent- 
gegensetzen, und  sie,  wo  nicht  ersticken, 
doch  aufhalten.  Und  wenn  dieses  ist,  so 
war  es  freilich  Unrecht,  die  spitzfindig- 
sten Scheingründe  für  die  That  mit  aller 


WERTHERS  LEIDEN.         59 

Stärke  der  Beredtsamkeit  vorzutragen,  in- 
defs  die  wahren  Gründe  dawider  über- 
gangen oder  ungeschickt  verfochten  wur- 
den. Jede  That  ist  aus  einem  doppelten 
Gesichtspuncte  zu  betrachten :  aus  dem 
einen,  wenn  sie  begangen  worden  ist; 
aus  dem  andern ,  wenn  sie  begangen 
werden  soll.  Beide  Gesichtspuncte  sind 
wichtig.  ,Wer  mir  die  ganze  Entstehungs- 
art einer  verwerflichen  Handlung  zeigt; 
wer  mir  aus  dem  Charakter,  aus  der 
^^^'^  des  Menschen  die  Gründe  dersel- 
ben entwickelt;  wer  mir  die  Fehlschlüsse, 
die  irrigen  Grundsätze  aufdeckt,  denen 
gemäfs  er  verfahren  ist:  der  verdient  mei- 
nen aufrichtigsten  Dank  ;  denn  er  beför- 
dert meine  Kenntnifs  des  Menschen,  mei- 
ne Liebe  des  Menschen,  meine  Duldsam- 
keit, meine  Klugheit.  Aber  nie  mufs  er 
dabei   den   andern  Gesichtspunct   verges- 


4o      ÜBER  WEP1.THERS  LEIDEN. 

sen ;  das  heifst^  er  mufs  mir  die  Fehl- 
schlüsse als  Fehlschlüsse,  die  irrigen  Be- 
griffe als  irrig,  die  falschen  Gründe  als 
falsch  y  und  die  daher  entspringenden 
verwerflichen  Handlungen  als  wirklich 
verwerflich  zeigen.  Dieses  nicht  gethan 
oder  nicht  genug  gelhan  zu  haben ^  ist 
v*'ohl  der  gröfste  Vorwurf^  den  man  dem 
Verfasser  der  Leiden  AVerthers  machen 
kann,  und  gegen  den  er  sich  vielleicht 
am  v/enigsten  rechtfertigen  liefse. 

Chr.    Garve. 


4i 

DRITTES    STÜCK. 

DIE  HÖHLE  AUF  ANTIPAROS. 


irlerr   von  Millwitz   war   einer    der  lie- 
benswürdigsten jungen  Edclleute  in  Lief- 
land.    Da  er  sich  den  Wissenschaften  mit 
eben   so   viel  Fleifs,    als  Talenten  gewid- 
met hatte^  so  war  er  ein  Mann  von  aus- 
nehmender   Geschicklichkeit     geworden  : 
gleichwohl    war    er    in    jedem  Ansuchen 
um  eine  bürgerliche  Bedienung   unglück- 
lich.     Er  fafste   endlich^    theils    aus   Un- 
muth,  theils  um  sich  zu  empfehlen,  einen 
kurzen  Entschlufs,  und  nahm  Dienste  auf 
der   russischen   Flotte,    die   eben  damals 
i'i  den  Archipelagus   segeln   wollte.     Die- 
ser Entschlufs   kostete  ihm   um    so  weni- 
ger,   da   er   bei  grofsem  natürlichen  Mu- 


42  DIE  HOHLE 

die,  ein  brennendes  Verlangen  hatte  die 
Welt  zu  sehen. 

Seine  unaufhörliche  Unpäfslichkeit, 
und  der  Rath  der  Arzte  die  ihm  die  See- 
luft nicht  zuträglich  fanden,  nöthigten 
ihn  bald,  wieder  umzukehren.  Er  ging 
auf  seine  Güter  nach  Liefland,  und  be- 
suchte hier  oft  den  Baron  von  jB**,  des- 
sen Rittersitz  nur  einige  Meilen  von  dem 
seinigen  lag.  Das  Bedürfnifs  des  Um- 
gangs machte  zwei  Menschen  auf  dem 
Lande  zu  Freimden,  die  es  in  einer 
Hauptstadt  nie  würden  geworden  seyn. 

Einst,  da  Millwitz  zu  dem  Baron  uji- 
vermuthet  hereintrat,  warf  dieser,  im  Ent- 
gegeneilen, ein  Buch  aus  der  Hand,  wor- 
in er  eben  gelesen  hatte. —  Etwas  Neues? 
fragte  ihn  Millwitz,  der  jetzt  auf  d".^ 
Leetüre  um  so  begieriger  war,  da  es  ihm 
an  allem  guten  Um  gange  fehlte. 


AUF  ANTIPAROS.  43 

Neu  oder  alt!  wie  Sie  wollen!  —  Für 
mich  freilich  noch  neu  ;  aber  für  einen 
so  grofsen  Leser  wie  Sie^,  vermuthlich 
schon  alt.  —  Eben  wollte  es  Millwitz 
aufheben,,  als  es  der  Baron  ihm  mit  einer 
lustigen  Miene  wegrifs,  und  ihn  mit  vie- 
ler Selbstzufriedenheit  fragte^  für  Avas  für 
ein  Buch  er's  wohl  halte  ? 

Ich  wette,  Baron,  dafs  es  ein  verlieb- 
ter Roman  ist. 

Ei  denkt  doch!  weil  ich  es  lese.  — 
Aber,  mein  Herr  Gelehrter;  dasmal  irren 
Sie  Sich.     Rathen  Sie  besser! 

Eine  Reisebeschreibung? —  und  schon 
wollte  Millwitz  begierig  zugreifen  —  oder 
wohl  gar  —  —  Doch  nein!  das  darf 
man  bei  Ihnen  wohl  nicht  erwarten. 

Was  nicht  ?  AVas  darf  man  bei  mir 
nicht  erwarteil?  —  Sie  bilden  Sich  doch 
nicht  ein,  dais  Sie  der  einzige  denkende 
'Mann  hier  in  Liefland  sind? 


44  DIE  HÖHLE 

Da  war'  ich  sehr  unverschämt.  Bin 
ich  denn  nicht  bei  Ihnen? 

Spöttereil  Spötterei!  Ich  verstehe.  — 
Aber^  was  man  nicht  ist,  kann  man  wer- 
den^ imd  ich  dächte  immer ^  ich  wäre 
auf  gutem  Wege  dazu.  —  Philosophie^ 
Freund!  Philosophie!  —  indem  er  ihm 
das  Buch  mit  triumphirender  Miene  vor- 
hielt. —  Und  das  wahrhaftig  nicht  von 
der  Oberfläche!  Aus  der  tiefsten  Meta- 
physik ! 

Wie?  Das  sollte  mir  leid  thun,  Baron. 
Das  wäre  ein  Zeichen  vor  Ihrem  Tode. 
—  Er  nahm  es  ihm  ab_^  und  erstaunte 
nicht  wenig,  als  es  das  berufne  Systöuie 
de  la  nature  war. 

Ist  es  möglich?  Sie  lesen  ein  Werk 
wie  dieses? 

Also  kennen  Sie's  doch?  — 

Von  Livorno  her  !  Ein  Engelländer 
lieh  es  mir,  da  ich  krank  war. 


AUF  ANTIPAROS.  45 

l^un?  und  fanden  Sie's  nicht  wirklich 
vortreHich  ? 

Vortreflich  ?  Ein  Buch  von  solchen 
Grundsätzen^  vortreflich! 

Ich  meine^  in  der  Schreibart^  im  Yor- 
tfag. 

Was  thut  der  Vortrag,  Baron?  . —  Ein 
Gift,  das  durch  seine  Süfsigkeit  den  Ge- 
schmack reizt^  ist  nicht  weniger  Gift,  und 
man  mufs  nur  um  desto  mehr  davor 
warnen.  —  In  aller  Welt!  wie  sind  Sie 
auf  dieses  Buch  verfallen?, 

Je  nun,  wie?  —  Sehr  natürlich!  — 
Man  machte  viel  Aufhebens,  davon.  Ich 
fragte  von  ungefähr  darnach ,  und  da 
war's  nicht  zu  haben.  Das  machte  mich 
hitzig  darauf.  —  Endlich,  da  es  sich 
fand,  liefs  man  mich's  theuer  bezahlen. 
Es  kostet  mich,  wie  es  da  ist,  sechs 
Rubel. 


46  DIE  HÖHLE 

Nun>  beim  Himmel,  Baron!  ch  woll- 
te^ Sie  hätten  Ihre  sechs  Rubel  einem 
Armen,  oder  —. hätten  sie  einem  Mäd- 
chen gegeben.  Eins  ist  nicht  so  schlimm, 
als  das  andre. 

Pfui,  Millwitz!  pfui!  Sie  reden  ja,  wie 
ein  Pfaffe  —  und  —  machen's  auch,  wie 
ain  Pfaffe.  —  Erst  genielsen  die  Herren 
selbst,  und  nachher,  wenn  wir  armen 
Laien  nun  auch  geniefsen  wollen,  sind 
•wir  verdammt.  —  AVarum  denn  nicht 
lesen?  Haben  doch  Sie    es  gelesen! 

Guter  Baron!  Ich  und  Sie,  ist  ein  Un- 
terschied. —  Hätt'  ich  nie  trockne  deut- 
sche Metaphysik  gelesen,  so  würd'  ich 
mich  vor  der  beredten  französischen 
fürchten.  —  Sagen  Sie  mir;  wie  konn- 
ten Sie,  bei  Ihrem  Abscheu  vor  aller  An- 
strengung, bei  Ihrer  Unlust  zu  allem  tie- 
feren Nachdenken,   bei  Ihrem  wirklichen 


AUF  ANTIPAROS.  47 

Mange,l  an  den  vielen  Kenntnissen  die  so 
ein  Buch  voraussetzt :  vrie  konnten  Sie 
auf  den  Gedanken  kommen 

Je  nun  —  die  Wahrheit  zu  sagen  — - 
man  sitzt  in  Gesellschaft  von  euch  Her- 
fien  immer  da,  wie  ein  Ölgötze.  Man 
mufs  doch  einmal  mitsprechen  können. 

Mitsprechen,  Baron !  —  Für  das  was 
Si  aus  diesem  Buche  mitsprechen  kön- 
nen, wäre  Zuhören  besser.  —  Und  lei- 
der! —  auf  Gegenstände  dieser  Art  fällt 
die  Rede  so  selten. 

So  mufs  man  sie  darauf  bringen,  zum 
Henker! 

Um  sich  ein  Ansehn  zu  geben I  Nicht 
wahr  ? 

Nun  ja!  Warum  nicht?  —  Sie  stellen 
Sich,  als  ob  ich  Wunder  was  für  Gefahr 
liefe.  Ich  sehe  da  keine.  —  Man  amü- 
sirt  sich,  man  lies't,  man  denkt  nach  — 


48  DIE   HOHLE 

Wenn  man  kann,  guter  Baron,  -r- 
ünd  wenn  man's  nicht  recht  kann;  so 
wkd  man  ungewifs,  läfst  sich  hinreifsun, 
giebt  Beifall ;  verliert  seinen  Glauben  an 
Gott,  seine  Beruhigung,  seine  Tugend 
vielleicht:  —  und  das  alles  ist  Kleinig- 
keit.    Nicht? Hören  Sie,  Freund! 

Das  Feuer  in  Ihrem  Kamine  v/I]l  aus- 
gehn,  und  mich  friert  hier  bei  Ihnen. 
Ich  dächte,  wir  vermehrten  die  Flamme. 

Wetter!  schrie  der  Baron,  der  noch 
zu  rechter  Zeit  zugriff;  sind  Sie  bei  Sin- 
nen? —  Verzeihen  Sie,  Millwitz!  —  in- 
dem er  sich  ein  wenig  wieder  erhohlte 
—  aber  man  heizt  eben  nicht  mit  sechs 
Rubeln,  wenn  man's  mit  einer  Kopeke 
kann;  und  das  Buch  —  das  Buch  ist  nun 
einmal  mein!   Ich  will's  lesen.  — 

Zu  Ihrem  Verderben   vielleicht! 

Ach  Possen!    Possen!  —    Gesetzt  nun 

auch. 


AUF  ANTIPAPvOS.  49 

aücliv  ich  werde  ein  Atheist;  was  ist's 
mehr?  —  Wenn  icli's  bin,  so  lasse  ich 
meinen  Pfarrer  rufen;  der  widerlegt  mich 
aus  Gottes  Wort,  und  ich  werde  wie.dec 
zum  Christen.  —  —  Kommen  Siel  Kom- 
men Sie!  —  Wir  setzen  uns  hier  an  den 
Kamin;  ich  mache  Ihnen,  weil  Sie  doch 
frostig  sind,  Feuer;  lind  friert  Sie  dann 
noch  —  nun  gut!  —  Er  i^lingelte,  und 
befahl  eine  Flasche  Burgunder. 

O  liebster  Freund  !  fing  er  dann  wie- 
der mit  einem  Seufzer  an:  Sie  sind  ge* 
reis't;  Sie  haben  die  Welt  gesehen.  Was 
War  ich  doch  für  ein  Thor,  dafs  ich 
nicht  mitging!  —  Tausendmal  habe  ich's 
schon  seit  Ihrem  letzten  Besuche  mir 
selbst  gesagt;  denn  was  Sie  mir  da  er- 
zählt haben  —  die  ganze  Zeit  ist's  mir 
nicht  aus  dem  Sinn  gekommen.  Ihre 
ganze  Fahrt    habe   ich    mitgemacht;    alle 

Engels  Philosoph,  J,  / 


50  DIE  HOHLE 

Abende  wenn  ich  zu  Bette  gehe^  schiffe 
ich  mich  im  Hafen  von  Livorno  ein,  und 
wache  Morgens  im  Archipelagus  wieder 
auf.  —  Guter,  bester  Millwitz !  Noch 
mehr  solche  Geschichtchen!  Noch  mehr! 

Aber  ich  weifs  keine  mehr. 

Ei  was?  Sie  müssen  noch  wissen.  — 
Da!  frischen  Sie  Ihr  Gedächtnifs  auf!  — 
denn  eben  war  der  Burgunder  gekom- 
men.   Auf  der  See,  glaube  ich,  wa- 
ren wir  fertig;  die  Türkische  Flotte  hat- 
ten wir  zu  Pulver  verbrannt :  nunmehr, 
dächte  ich,  sähen  wir  uns  im  Lande  um. 
—  Ein  herrliches  Land  vermuthlich-?  — 

Gewesen,  Baron!  —  als  noch  Freiheit 
und  Wissenschaft  darin  wohnten.  —  Aber 

auch  jetzt Doch  was  soll  ich  Ihnen 

erzählen,  da  wir  gar  nicht  hineingekom- 
men? —  , 

Nicht  hineingekommen  I  Sie  haben 
doch  etwas  gesehen. 


AUF  ANTIPAROS.  5i 

Nicht  viel  mehr,  als  die  Insehi. 

Nun?  Und  die  Insehi?  —  indem  er 
seinen  Stuhl  naher  an  den  Tisch  rückte, 
und  sich  begierig   hinüberbeugte. 

Die  enthalten  so  viel  Merkwürdiges 
eben  nicht.     Denn  die  Menschen 

Ach,  die  Menschen!  die  Menschen!  — 
die  werden  die  Köpfe  oben  und  die  Füfse 
unten  haben.  Nicht  wahr  ?  —  Er  be- 
lohnte sich  für  seinen  Witz  durch  ein 
Glas  Burgunder  und  ein  lautes  Geläch- 
ter. —  Nein,  etwas  anders,  Freund!  et- 
was anders!  So  etwas,  wie  jüngst!  von 
Attaken,  von  Meerstrudeln,  von  feiaer- 
«peienden  Bergen!  So  etwas,  das  grauen 
macht  !  In  der  Welt  hör'  ich  nichts 
lieber. 

Ein  Beweis,  dafs  Sie  Herz  haben,  Ba- 
ron! —  Er  lächelte.  —  Aber  wirklich; 
ich  wüfste  doch  etwas.  —  Sie  haben  ver- 


6a  DIE  HOHLE 

muthlicli  von  einer  Insel  Antiparos  ge- 
hört? 

Ich  werde  doch!  —  Von  so  einer  be- 
rühmten Insel! 

Nein^  wenn  Sie  schon  allzuviel  davon 
gehört  haben,  so  komm'  ich  zu  spät. 
Denn  so  werden  Sie  auch  schon  wissen^ 
was  die  JNatur  dort  für  eine  Hohle  ge- 
baut hat. 

Eine  Höhle?  Hat  die  Natur  dort  eine 
Höhle  gebaut?  —  Nein,  btd  meiner  Seele! 
davon  weifs  ich  noch  nichts.  —  Man 
lebt  ja  hier  auf  dem  Lande.  Was  weifs 
man  da  von  der  Welt?  —  Gütiger  Gott! 
was  erfährt   ein  Landjunker  Neu^s? 

Nun  nun,  Baron!  So  gar  neu  ist  nun 
diese  Neuigkeit  eben  nicht.  —  JVlillwitz 
fing  hierauf  an,  und  führte  den  Baron  in 
einer  weitläuftigen  Beschreibung  durch 
die  prächtige^    mit  Pfeilern    unterstützte 


AUF  ANTIPAROS.  53 

und  mit  Inschriften  versehene.  Höhle  die- 
ser Insel,  bis  zum  Durchgang  zu  der 
merkwürdigen  Grotte,  in  die  einst  Noin- 
tel  und  nachher  Tourneforb  mit  so  viel 
Gefahr  hinabstiegen.  Der  Baron  horchte 
ihm  jedes  Wort  von  den  Lippen,  mit  al- 
ler der  Begierde,  w^omit  er  in  seiner 
Kindheit  auf  die  Gespenstergeschichtchen 
seiner  Amme  mogte  gehorcht  haben. 

Nun,  Millwitz?  Nun?  — 

Der  Boden,  auf  dem  wir  gingen,  ward 
nun  immer  abschüssiger  und  abschüssi- 
ger. Endlich  kamen  wir  an  ein  finstres 
Loch,  wodurch  wir  nicht  anders  als  ge- 
bückt, und  bei  dem  Scheine  der  Fackeln, 
kommen  konnten.  —  Bereiten  Sie  Sich, 
eine  der  gefährlichsten  Unternehmungen 
zu  hören,  die  ich  mir  weniger  zur  Ehre 
als  zum  Vorwurf  inache,  und  an  die  ich 
nie  ohne  Schaudern  zurückdenken  kann. 


54  DIE   HÖHLE 

Der  gute  Baron  war  schon  mehr  als 
EU  sehr  bereitet.  Er  safs  mit  offnem 
Munde  da^  und  fühlte  schon  alles  Grauen 
des  Schreckens  in  seinen  Haaren. 

Wir  hatten^  sogleich  an  dem  Eingan- 
ge, ein  Seil  befestigt,  und  stiegen  durch 
Hülfe  desselben  in  die  erste  Tiefe,  die 
schon  schrecklich  genug  war.  Aber  wie 
weit  schrecklicher  war  noch  die  zweite, 
in  die  wir  halbliegend  gleichsam  hinab- 
rutschen mufsten  !  Ein  Mensch  von  nur 
etwas  schwächern  Nerven  als  ich,  würde 
durch  Einen  Gedanken  an  die  Untiefen, 
die  zu  meiner  Linken  lagen  und  vor  de- 
nen ich  so  nahe  vorbei  mufste,  drehend 
geworden  seyn,  und  gelegen  haben. 

Der  Baron  hielt  die  Hand  vor  die 
AUgen.  — 

Und  was  meinen  Sie,  Freund?  Eben 
auf     den    Hand     dieser    Abgründe ,     der 


AUF  ANTIPAROS.  55 

schlüpfrig  wie  Eis,  und  also  äufserst  ge- 
fährlich war,  setzten  wir  eine  Leiter  an, 
auf  der  wir  einen  völlig  senkrechten  Fel- 
sen hinankletterten  —  freilich  mit  ein 
wenig  Angst  und  Herzklopfen;  das  kön- 
nen Sie  denken. 

Der  Baron  sprang  auf,  setzte  sich  aber 
jogleich  wieder  nieder. 

Was  ist  Ihnen,  Baron? 

Nichts,  Millwitzl  nichts! —  Blofs  mein 
elender  Kopf Soll  mich  Gott  ver- 
dammen ,  lag  ich  nicht  in  Gedanken 
schon  unten!  —  Nur  w^eiterl 

Ich  rutschte  hierauf,  mit  etwas  weni- 
ger Gefahr,  weiter  fort;  aber,  da  ich  nun 
eben  glaubte  sicher  auftreten  zu  können, 
kam  die  schrecklichste  Stelle,  und  ohne 
das  Zurufen  meiner  Wegweiser  hätt'  ich 
unfehlbar  den  Hals  gebrochen.  — 

Hier    hielt    der    Baron    wieder    ganz 


56  DIE  HÖHLE 

sichtbar  clen  Odem  an^  und  alle  Muskela 
seines  Gesichts  waren  in  Arbeit.  — 

"Wir  fanden  eine  Leiter,  die  aber 
schon  so  alt  und  morsch  war_,  dafs  sie 
bei  dem  ersten  Tritt  darauf  würde  zer- 
brochen seyn.  Wir  bedienten  uns  daher 
einer  neuen,  die  wir  eben  zu  diesen. 
Ende  mit  uns  genommen  hatten.  — Dam 
mufsten  wir  uns  wieder  an  ein  neues  Seil 
hängen,  und  dann,  nachdem  wir  noch 
eine  Zeit  lang,  bald  auf  dem  Bauche, 
bald  auf  dem  Rücken  fortgeglitten  wa- 
ren, sah  ich  mich  endlich  zu  meinem 
gröfsten  Vergnügen  in  der  Grotte,  um 
die  ich  so  vieles   gewagt  hatte. 

Endlich!  —  Nun,  Gott  sei  gelobt!  — 
Und  was  fanden  Sie  denn  in  der  Grotte? 
Je  nun  — •  sie  war  denn  doch  immer 
ganz  artig. 

Aber  zum  Henker  !  ^was  gab  es  denn 
mitzunehmen? 


AUF  ANTIPAROS.  57 

Wie  Sie  fragen !  —   Gar  nichts ! 

Gar  nichts  ?  —  mit  einem  Ton  der 
Verwunderung.  —  Und  kamen  Sie  denn 
glücklich  wieder  heraus? 

Ich  mufs  doch!  Sonst  tränk'  ich  hier 
schwerlich  Burgunder. 

Nun,  das  ist  wahr!  das  ist  wahr!  — 
Aber  wenn  Sie  denn  nun  gestürzt  wären? 
wie  da? 

So  hätt'  ich  mir  einen  Arzt  rufen 
lassen. 

Ja,  der  würde  Ihnen  nachkriechen, 
zum  Teufel !  Es  -*nag  auf  Antiparos  tref- 
liche  Ärzte  geben.  —  Und  wenn  Sie  nun 
gar  den  Hals  darüber  gebrochen  hätten? 
In  so  einer  Tiefe! 

Millwitz  lachte.  —  Über  die  grofse 
Gefahr!  —  Gleichwohl,  Baron;  beim  Wie- 
derheraufsteigen gings  ärger,  als  beim 
Hinuntersteigen.  Da  hätte  Rath  dazu  wer- 


58  DIE   HÖHLE 

den  können. Mehr  als  einmal  glitt 

ich  auf  den  schlüpfrigsten  Felsenstücken, 
und  gerade  an  den  gefährlichsten  Stellen 
hintenaus;  doch  war  dies  alles  noch  nichts 
gegen  das,  was  mir  auf  der  Leiter  wie- 
derfuhr. —  Sie  erinnern  Sich  doch?  — 
auf  der  Leiter,  die  wir  an  den  senkrech- 
ten Felsen  lehnten!  Denn  hier  —  *— 

Der  Baron  hatte  von  neuem  Schwin- 
del. Er  kroch,  mit  zusammengebissenen 
Lippen  und  zurückgehaltenem  Odem, 
ganz  in  sich  selbst  zusammen  ,*  gleich  ei- 
nem Menschen,  der  von  einer  Höhe  her- 
abstürzt — 

Hier  brach  mir  zu  meinem  gröfsten 
Schrecken  die  eine  Sprosse,  und  wenn 
ich  mich  an  den  obern  nicht  noch  gehal- 
ten hätte  —  — 

Gott  und  Vater !  schrie  der  Baron, 
indem  er  ihn  hitzig  beim  Arm  ergriff,  als 


AUF  ANTIPAROS.  59 

ob  er  den  Fall  hätte  verhindern  wol- 
len. —  Millwitz  lachte,  fuhr  noch  eine 
Zeitlang  fort,  und  endigte  dann  seine  Er- 
zählung mit  den  Worten:  Ich  bin  oben, 
mein  Freund. 

Der  Baron  fuhr  auf,  dafs  die  Gläser 
tanzten^  und  stürzte  fast,  vor  Freuden^ 
den  Tisch  über  den  Haufen. 

Sind  Sie  ?  sind  Sie  wirklich  wieder 
oben  ?  —  wieder  auf  festem  Erdboden, 
Freund?  —  Nun,  dem  Himmel  sei  Dank! 
—  indem  er  ihn  hitzig  umarmte.  —  O, 
bleiben  Sie  immer  oben,  und  hole  der 
Henker  alle  unterirdische  Klüfte!  —  Blei- 
ben Sie  oben,  Freund!    oben!  — 

Ihre  Freude  macht  Sie  mir  liebens- 
würdig, Baron ! 

Ja,  beim  Himmel  !  ich  liebe  Sie.  — 
Ich  liebe  Sie,  wie  ich  mein  Leben  liebe; 
und  wissen  Sie,  dafs  ich  Ihnen  vor  lauter 


So  DIE  HOHLE 

Liebe  gram  bin,  weil  Sie  ^nir  in  die  ver- 
dammte Höhle  stiegen  ?  In  ein  Loch, 
worin  Sie  alles  verlieren  and  nichts  ge- 
winnen konnten !  —  Welcher  Teufel  niuls- 
te  Sie  denn  hmtunführen? 

Die  Neugier,  Baron.  —  Man  lebt  ja 
in  der  Welt,  um  sich  umzusehen  —  — 

Aber  nicht  mit  so  viel  Gefahr!  —  Se- 
hen Sie  Sich  sonst  wo  um!  Warum  eben 
auf  Antiparos  ? 

Es  giebt  ein  Ansehen.  Man  schliefst 
auf  Herz,  lieber  Baron.  ~  Und  was  ist's 
denn  nun  endlich?  Man  befriediget  seine 
Neugier,  man  steigt  hinab,  sieht  die  Grot- 
te ein  wenig  an  —  — 

Und  bricht  den  Hals!  —  W^eiter  nichts! 

AJso ,  Baron  —  Avenn  Sie  wären  zuge- 
gen gewesen ;  Sie  hätten  mich  wohl 
schwerlich  hineingelassen?  — 

Ich  Sie?  Bei  den  Haaren  hätte  ich  Si© 


AUF   ANTIPAROS.  6i 

zurückgehalten.  —  Er  stand  auf,  und  gab 
ihm  die  Hand.  Ja,  beim  Himmel/  JMiil- 
witz!  und  wenn  ich  mich  hätte  mit  Ihnen 
sc' iel'sen  sollen!  Bei  den  Haaren  hätte 
ich  Sie  zurückgehalten. 

Wahrhaftig?  —  Dann  mufs  ich  mich 
schämen,  dal's  Sie  mehr  Liebe  gegen  mich, 
hätten  beweisen  wollen,  als  ich  gegen  Sie 
bewiesen.  —  Sie  haben  einen  schwachen 
Köpf,  wie  Sie  sagten? 

Den  hab'  ichl  Warum? 

Sie  haben  Anwandlungen  vom  Schwin- 
del? 

Dann  und  wanni —  Es  erinnert  mich 
meiner  Jugendsünden. 

Nun  gut!  —  Und  wenn  ich  mich  mit 
Ihnen  schiefsen  sollte,  Baron!  —  Er  stand 
auf,  kam  zurück,  und  das  Systeme  de  l(t 
Natiire  lag  im   Feuer. 

Der  Baron  war   zu  sehr   erstaunt,    als 


62  DIE   HOHLE 

dafs  er  sich  sogleich  hätte  fassen  können. 
Endlich  griff  er  in  die  Flamme;  aber  zu 
spät.  Das  Buch  war  schon  zur  Hälfte 
verzehrt.  —  Herr  !  fing  er  darauf  nach 
einigem  Stillschweigen  und  voll  Erbitte- 
rung an  :  Lehrt  Sie  das  ein  guter  Geist, 
oder  der  Teufel?  — 

Der  Geist  der  Freundschaft_,  Baron, 
ist  ein  guter  Geist.  Sie  waren  für  meine 
Erhaltung  besorgt;  es  ist  Pflicht,  dafs  ich's 
für  die  Ihrige  sei. 

Was  wollen  Sie  aber?  —  Sie  in  ihrer 
verdammten  Höhle  konnten  den  Hai« 
brechen;  und  ich 

Und  Sie  ?  —  Sie  konnten  noch  weit 
etwas  Ärgers.  —  Zweifelmüthig  an  einem 
Gott  und  einer  Vorsehung  werden;  ei- 
ner Tugend,  die  ohnedies  schon  auf 
schwachen  Füfs^en  steht  —  verzeihen  Sie, 
Freund!  —  noch  vollends   alle  Festigkeit 


AUF  ANTiPÄRÖS.  63 

nehmen;  die  Gründe  seiner  Beruhigung 
im  Unglücke  und  im  Tode  verheren; 
kurz^  alles  verlieren,  was  für  ein  denken- 
des und  hinfälliges  Geschöpf,  wie  der 
Mensch,  das  Gröfste  und  Wichtigste  ist: 
—  das,  Baron  —  das  nenne  ich  mehr, 
als  den  Hals  brechen!  ■ — 

Sie  schwärmen.  Verlier'  ich's  denn 
schon?  — 

Sie  könntens  verlieren.  Sie  klagten, 
über  Schwachheiten  des  Kopfs,  über 
Schwindel.  —  Für  so  einen  Kopf  ist  das 
Systeme  de  la  Natiwe  nicht  geschiieben. 
Es  verlangt  feste  Nerven,  und  einen  drei- 
sten Blick  in  die  Tiefe.  Wem  der  fehlt, 
der  mögte  so  leicht  nicht  wieder  heraus- 
kommen.    Der   Fall    hat  viel  Ähn- 

lichs,  Baron.  In  meiner  Höhle,  wie  Sie 
sagten,  war  nichts  zu  gewinnen,  aber  al- 
les  zu   verlieren  ;    in    den   Speculationen 


64  DIE   HOHLE 

dieses  Buchs  ist  für  Sie  auch  nichts  zu 
gewinnen,  aber  alles  zu  verlieren.  —  — 
Und  um  die  Ähnlichkeit  auch  bis  auf 
den  Scherz  auszudehnen:  Kein  Arzt,  glau- 
ben Sie,  würde  mir  nachgekrochen  seyn 
mir  zu  helfen;  und  Ihnen  Ihr  Pfarrer?  — 
Ah  der  ehrliche  Mann  !  —  Der  würde 
Ihre  verunglückte  Seele  Gott ,  befehlen, 
vor  Ihrer  Höhle  ein  Kreuz  schlagen,  und 
gehn,  dafs  er  fortkäme.  — 

Der  Baron  mufste  nachdenkend  ge- 
worden seyn,  denn  er  blieb  ernsthaft,  ob 
es  gleich  über  sein  Lieblingsthema,  den 
Pfarrer,  herging.  —  Herr  von  Millwitz 
reichte  ihjn  mit  aller  AVärme  der  Freund- 
schaft die  Hand: 

Sie  erkennen,    dafs  ich   Sie  liebe?  — 

Mein  Freund  !  —  und  die  Thränen 
standen  dem  Baron  in  den  Augen.  — 

Nuji;  so  hören  Sie  mich!  Sie  beschwo- 
ren 


AUF   ANTIPAROS.  65 

ren  mich  mit  der  edelsten  Hitze,  nie  wie- 
der in  eine  Höhle  zu  steigen,  und  'hier 
meine  Hand!  ich  will  folgen.  —  Aber 
nun  mufs  ich  auch  Sie  bescijwören;  Be- 
mengen  Sie  Sich  nie  wieder  mit  Büchern^ 
die  Gott  und  Vorsehung  vom  Throne 
stürzen.  Bleiben  Sie  immer,  statt  Sich  in 
jene  trübe  Dunkelheiten  zu  vertiefen,  an 
dem  hellen  Tageslicht  des  allgemeinen 
Menschenverstandes,  und  statt  Sich  an 
einem  morschen  Seil  über  Abgründe  hin- 
zuhängen, auf  dem  festen,  sichern  Boden 
der  Empfindung  und    des  Gewissens! 

Der  Baron  umarmte  ihn,  und  ver- 
sprach es.  —  Aber,  fuhr  er  fort:  meine 
besten  Jahre  habe  ich  nun  einmal  ver- 
träumt. Ich  bin  ein  Dummkopf  —  in- 
dem er  sich  vor  die  Stirne  schlug  —  und 
es  ärgert  mich,  dals  ich's  bm  !  Soll  ich 
denn  immeriort  einer  bleiben?  — 
Mngels  Philosoph,  I.  5 


66    DIE  HOHLE  AUF  ANTIPAROS. 

Sie  sollen  lesen,  Baron.  —  Es  giebt 
der  Kenntnisse  viel^  die  einen  achtungs- 
würdigen Mann  machen ;  aber  freilich^ 
ist  die  eine  mehr  als  die  andere  werth. 
—  Ihre  Begierde  nach  Wissenschaft^  wenn 
es  wirklich  diese  Begierde  war,  hat  keine 
üble  Pachtung  genommen,  und  es  ist  mei-* 
ne  PHicht,  dafs  ich  Sie  unterstütze. 

Er  schickte  ihm  den  Tag  darauf  den 
Keimarus. 


67 

VIERTES    STÜCK. 

BAYLE  AN  SHAFTESBURY  *). 


Mylord^ 

iLiS  geht  noch  immer  nicht  besser  mit 
meiner  Gesundheit:  der  trockne  Husten^ 
der  sich  schon  seit  geraumer  Zeit  bei 
mir  eingefunden,  und  der  in  meiner  Fa- 
milie beinaiie  erblich  ist,  hat  wirklich 
meine  Brust  angegriffen.  Ich  liege  nun 
hier  auf  meinem  Lager,  und  leide  von 
Mattigkeit,  Schmerzen  und  Schlaflosig- 
keit;   vorzüglich    aber   von   der  ünthätig- 


•)  Dieser  und  der  folgende  Brief  sind  an  die  wirk- 
liche   Gorrespomlenz    zwischen    iiea    beiden    be- 
rühmten   Schriftstellern   angehängt.      Man    sehe 
Lettrus  de  Mr.  Bayle^  t.  III,  am  Ende. 
Anm.  d.  H. 


68  B  A  Y  L  E 

keit^  deren  ich  so  gar  nicht  gewohnt 
bin. 

Dafs  ich  mein  Lebensende  als  nahe 
und  gewifs  ansehen  mufs,  das  beunruhigt 
mich  wenig.  Da  ich  einmal  aufser  Stan- 
de bin  zu  arbeiten,  so  kann  mir  das 
blofse  Leben  so  viel  nicht  werth  seyn. 
Nur  Einen  Kummer  hab'  ich  noch  auf 
dem  Herzen,  und  diesen  kann  ich  allein 
in  IJirejt  Schoofs  ausschütten.  Ich  sehe 
nun  gewifs  voraus,  dafs  ich  die  Welt 
werde  verlassen  müssen,  ohne  dasjenige 
gefunden  zu  haben,  was  ich  mein  ganzes 
Leben  hindurch  so  eifrig  gesucht  habe. 
Ich  darf  Ihnen  wohl  nicht  erst  sagen, 
Mylord,  dafs  es  die  Wahrheit  war  die 
ich  suchte,  und  von  deren  weitern  Er- 
forschung ich  nun  abstehen  mufs. 

Wenn  ein  Gott  ist;  woher  rührt  denn 
das   Übel  in   der   Welt  '>  —    Welches  ist 


AN  SHAFTE^BURY.  69 

das  unsichtbare  und  unbegreifliche  Band 
zwischen  Körper  und  Seele?  —  Welches 
sind  die  allgemeinen  Gesetze  der  Körper- 
welt, und  wie  hangen  sie  mit  den  Welt- 
begebenheiten zusammen?  —  Sehen  Sie: 
so  schwere  und  so  wichtige  Fragen  blei- 
ben mir  noch  zurück;  und  ich  habe  kei- 
ne Zeit  mehr,  sie  zu  beantworten. 

Verzeihen  Sie,  Mylord,  den  Klagen 
eines  Sterbenden,  der  sich  noch  glück- 
lich glaubte,  so  lange  er  hoffen  durfte. 
Ich  befinde  mich  jetzt  an  der  Scene  mei- 
nes Lebens,  wo  ich  das  ganze  Schauspiel 
desselben  übersehen  kann.  Es  hat  die 
Entwickelung  nicht  gehabt,  auf  die  ich 
gehofft  hatte,  und  deren  Erwartung  mich 
unter  Sorgen  und  Kummer  zu  trösten 
und  hinzuhalten  pflegte.  Ich  muis  also 
urtheilen,  dafs  ich  vielleicht  meinen  gan- 
zen Lebensplan  übel  angelegt  habe.     Ich 


^o  '  B  A  Y  L  E 


hätte  vielleicht  gleich  Anfangs  wissen  sol- 
len ,  dafs  die  Wahrheit  eine  erträum- 
te Göttinn  ist,  die  von  den  Opfern  wel- 
che wir  ihr  bringen,  nichts  weifs,  sie 
nicht  belohnt,  nicht  verdient.  Dann  hät- 
te ich  mich  nicht  so,  wie  ich  gethan, 
vor  der  Knechtschaft  des  Geistes  gescheut, 
meine  Gedanken  in  die  Fesseln  eines 
Glaubenssystems  schmieden  zu  lassen; 
ich  hätte,  um  die  Unabhängigkeit  meines 
Verstandes  zu  bewahren,  die  mir  so  kost- 
bar und  zur  Untersuchung  der  Wahrheit 
so  unentbehrlich  schien,  nicht  mein  er- 
stes Vaterland,  das  Vergnügen  unter  mei- 
nen nächsten  Verwandten  und  Freunden 
zu  leben,  nicht  alle  häusliche  Glückselig- 
keit aufgeopfert,  und  ein  mühseliges,  ab- 
hängiges, einsames  und  sorgenvolles  Le- 
ben einem  bequemen,  ruhigen,  sorgen- 
losen und  geselligen  vorgezogen :  ich  wä- 


AN  SHAFTESBURY.  71 

re  in  Frankreich  ein  Katholik,  in  Holland 
ein  Prädestinatianer,  und  überall  der  Mei- 
nung der  Mächtigen  und  Grofsen  gewe- 
sen; ich  hätte  mich  als  jedermanns  Freund, 
und  jedermann  sich  als  den  meinigen  er- 
wiesen... 

Doch  vielleicht  ist  es  meine  eigne 
Schuld,  dafs  ich  die  Gewifsheit  nicht  ge- 
funden, die  mich  jetzt  beruhigen  würde. 
Vielleicht  hab'  ich  mich  nicht  gehörig 
gestellt,  um  das  Licht  zu  sehen,  das  so 
viele  Andre  zu  sehen  vorgeben;  vielleicht 
hab'  ich  mich  selbst  muthwillig  verblen- 
det. —  Muthwillig  !  Ich  hoffe,  Mylord, 
dafs  ich  mich  über  meine  Ehrlichkeit  bei 
Ihnen  nicht  werde  rechtfertigen  dürfen. 
Sie  kennen  mich,  und  Sie  haben  ein  Herz, 
das  die  Verlegenheiten  eines  Untersuchers, 
der  keinen  festen  Grund  findet  wo  er 
ausruhen  kann,   mitzufühlen  weifs.     Wie 


y2  B  A  Y  L  E 


wohl  ist  dem  undenkenden  Nachbeter, 
der  des  Glücks  seiner  Überzeugung  un- 
gestört geniefst!  Wie  oft  bin  ich  in  der 
Versuchung  gewesen,  ihn  wegen  seiner 
Selbstzufriedenheit  zu  beneiden^  wenn 
mich  ein  Zweifel  ergriffen  hatte,  der  rnir 
spät  die  Ruhe  der  JMacht  raubte,  des 
Morgens  mich  frühe  weckte,  mich  in  der 
Einsamkeit  nagte,  und  in  der  Gesellschaft 
mir  die  Miene  eines  Träumers  oder  eines 
Dummkopfes  gab !         ^ 

Wenn  der  Zweifel  eine  Folge  von  der 
Art  meines  Studirens  war,  so  weifs  ich 
nicht,  wie  ich  demselben  hätte  entgehen, 
können.  Noch  bis  jetzt  bin  ich  über- 
zeugt, dafs  ein  Forscher  der  Wahrheit 
alle  Parteien  anhören,  dafs  er  auf  kein 
Herkommen  und  Ansehen  der  Lehrer 
achten,  dafs  er  sich  in  alle  Gesichtspunete 
stellen  mufs,  um  einen  Gegenstand  recht 


AN  SHAFTESBUPtY.  75 

kennen  zu  lernen^  und  sich  einer  ver- 
nünftigen Überzeugung  zu  versichern. 
Diese  Methode  kann  allerdings  alte  Lehr- 
gebäude^ worin  wir  so  bequem  wohnten^ 
wankend  machen,  das  Gemüth  zwischen 
Meinungen  hin  und  her.- werfen,  und  so 
die  Gewifsheit  die  man  gesucht  hat,  ent- 
fernen; allein  welchen  andern  Weg  soll 
der  Forscher  betreten?  was  soll  er  thun, 
um  gewifb  zu  werden,  als  lernen  und 
vergleichen?  Ich  habe  gelernt  und  ver- 
glichen; ich  habe  mein  ganzes  Leben  da- 
zu angewandt,  und  Sie  sehen,  \^ie  weit 
ich  bin.  —  O  Mylord  !  versöhnen  Sie 
mich,  wenn  Sie  können,  mit  mir  selber! 
Theilen  Sie  mir  einen  Funken  von  dem 
himmlischen  Lichte  Ihrer  seligen  Gewifs- 
heit mit,  das  ich  so  oft —  ach!  vielleicht 
zu  voreilig  —  mit  dem  Namen  einer  ed- 
len Schwärmerei   belegte. 

/.  ^.  Eberhard, 


^4 

FÜNFTES     STÜCK. 

SHAFTESBURY   AN  BÄ.YLE. 


Mein  theurer  Sir^ 

Wie  gerne  mögte  ich  Ihnen  erst  von 
Ihrem  .  Lager  aufhelfen,  und  dann,  wie 
wir  ehemals  pflegten _,  ruhig  mit  Ihnen 
fortphilosophiren !  Doch  lassen  Sie  uns 
thun  was  wir  können,  wenn  wir  nicht 
können  was  wir  wollen.  —  Wie?  Ein 
Leben  wie  das  Ihrige ,  zugebracht  in  der 
Untersuchung  der  Wahrheit  ;  das  sollte 
nicht  die  beste  Vorbereitung  zu  einem 
ruhigen  Tode  seyn?  Was  Sie  Ihr  ganzes 
Leben  hindurch  so  edel  beschäftiget  hat, 
das  sollten  Sie  sterbend  bereuen  müssen? 
Welches  sind  denn  die  Fragen,  die 
Ihnen  noch  zurück  bleiben;  die  Sie  Sich 


SHAFTESBURY  AN  BAYLE.       75 

noch  nicht  haben  beantworten  können? 
Sind  es  Fragen,  von  deren  Beantwortung 
die  Einrichtung  unsers  Lebens  abhängt? 
ob  Gott  mächtig,  weise,  gut  sey?  ob  wir 
ewig  dauren  werden?  ob  in  der  Tugend 
das  höchste  Gut  bestehe?  —  Ich  würde 
begreifen,  wie  Sie  unruhig  seyn  könnten, 
wenn  Sie  mit  diesen  Untersuchungen 
noch  nicht  ferlij;  w^ären.  Aber  müssen 
wir,  um  sie  zu  unsrer  Zufriedenheit  zu 
endigen,  erst  in  alle  Staatsgeheimnisse 
der  göttlichen  Ptegierung  dringen?  Mufs 
Gott  erst  alle  seine  Alaafsregeln  durch 
den  Ausgang  gerechtfertiget  haben,  ehe 
wir  glauben  dürfen  dals  er  ein  gute^'  Pie- 
gent  sei?  Ich  meines  Theils  traue  es  so- 
gleich seinem  Charakter  zu,  dafs  Alles  in 
seinem  Reiche  gut  seyn  müsse,  und  halte 
alles  Böse  nur  für  Schein,  der  bald  ver- 
schwinden würde,   wenn  wir  seinen  gan- 


76  SHAFTESBURY 


zen  Regierungsplan  übersähen.  Sie,  mein 
Freund,  dachten  nicht  weniger  gut  von 
Gott;  Sie  betrachteten  das  Böse,  das  Sie 
in  der  Welt  wahrzunehmen  glaubten,  als 
Unkraut,  welches  von  eineui  übelgesinn- 
ten Feinde  ausgestreuet  worden,  indefs 
Gott  an  der  Einschränkung  und  Ausrot- 
tung desselben  arbeite.  Sie  sehen,  dafs 
wir  Beide  uns  die  Zwsifel,  die  uns  in 
dieser  wichtigen  Untersuchung  beunru- 
higten, aufgelös't  haben;  nur  jeder  auf 
eine  andere  Art:  die  Wahrheit,  die  wir 
zu  unsrer  Ftuhe  bedurften,  ist  uns  Bei- 
den geblieben.  Wenn  das  aber  ist,  so 
können  wir  viele  verwickelte  Erscheinun- 
gen im  Reiche  der  Natur  und  der  Gnade 
unerklärt  lassen;  wir  können  die  ganze 
Welt  als  den  Brief  eines  weisen  Mannes 
in  geheimer  Schrift  ansehen,  wozu  wir 
den  Schlüssel  errathen  müssen.  Der  Eine, 


AN  BAYLE.  77 

indem  er  in  dem  Buche  der  Natur  lles't 
und  auf  die  Erscheinungen  in  unserm 
Sonnensysteme  kommt^  nimmt  die  Bewe- 
^  gnng  der  Erde^  der  Andere  die  Bewegung 
der  Sonne  zum  Schlüssel;  und  ein  jeder 
meint  die  Schrift  zur  Ehre  ihres  Urhe- 
bers entziffert  zu  haben.  —  Wir  wissen 
im  Allgemeinen ;  wozu  der  Weltplan  an- 
gelegt ist;  wie  aber  die  Ausführung  dem 
Zwecke  zustimme?  das  ist  uns  oft  eiii 
^Geheimnifs.  Das  Erste  lesen  wir  in  der 
Ideenwelt^  die  uns  näher  liegt ^  weil  wir 
sie  in  unserm  eigenen  Busen  finden;  das 
Andere  in  der  sinnlichen  Welt,  wovon 
uns  nur  einzelne  Anblicke  der  äufsersten 
Schale  vergönnt  sind.  Es  ist  das  Bestre- 
ben des  Untersuchers,  beide  Fäden  seiner 
Erkenntnifs  zusammen  zu  biingen,  und 
sich  aus  der  einen  Welt  in  die  andere 
einen  Übergang  zu    verschaffen.      WenA 


78  SHAFTESBURY 

er  hier  Schwierigkeiten  findet,  die  ihm 
unubersteiglich  scheinen  :  wird  er  nicht 
wohl  thun,  wenn  er  sich  an  das  hält  was 
er  als  gewifs  erkennt,  und  wegen  des 
Übrigen  sich  nicht  bennruhiget? 

Ich  weifs  wohl,  dal's  nicht  Alle  die 
sich  mit  dem  Philosophiren  abgeben,  so 
bescheiden  denken  ;  dafs  vielmehr  sehr 
Viele  sich's  zur  Schande  rechnen  wür- 
den, auch  bei  den  schwersten  Fragen  ver- 
legen zu  scheinen.  Diese  Art  Menschen 
hüten  sich  sorgfältig,  mit  den  Gedanken 
Anderer  bekannt  zu  werden;  sie  müfsten 
denn  schon  zum  voraus  wissen,  dais  es 
die  ihrigen  sind.  Es  kommt  ihnen  mehr 
auf  ihren  Ruhm  oder  ihr  zeitliches  Glück, 
als  auf  das  Interesse  der  Wahrheit  selbst 
an;  die  Wissenschaft,  wie  die  Tugend, 
ist  ihnen,  was  den  Kindern  eine  bittere 
Arzenei  ist,   von  der   äie  nicht  begreifen. 


AN  BAYLE.  79 

wie  man  sie  ohne  die  Ruilie  oder  ohne 
etwas  Zucker  nehmen  könne.  Liebt  man 
aber  die  Wahrheit  um  ihrer  selbst  wil- 
len, so  wird  man  Alles  heizlich  umar- 
men, was  uns  zu  ihr  zu  rühren  verspricht; 
gesetzt,  dafs  wir  auch  eine  Meinung,  bei 
der  wir  uns  wohl  befanden,  auf  ewig 
darüber  einbüfsen  sollten. 

Lassen  Sie  uns  indefs  nicht  erschrek- 
ken,  wenn  uns  dies  in  tausend  Sachen, 
worüber    Andre    entscheidend    urrheilen, 

uncrewifs     macht;     haben    wir    doch     die 
o 

Hauptsache,  alle  Wahrheit  wovon  die 
Einrichtung  unsers  Lebens  abhängt,  in 
Sicherheit.  Nun  können  wir's  ruhig  an- 
sehen, wenn  sich  die  Meinungen  der  Dog- 
matiker  über  Gegenstände  der  j\'eubegier 
auf  tausendfältige  Art  durchkreuzen,  es 
gelassen  abwarten,  für  welche  Seite  der 
Streitenden   sich    der  Sieg   erklären  wird. 


öo  SHAFTESBURY 

und  allenfalls,  so  wie  es  uns  unsre  Ein- 
sicht räth,  bald  zu  dieser  bald  zu  jener 
Partei  übergehen.  Ich  glaube,  dafs,  wenn 
es  so  mit  uns  steht,  die  skeptische  Laune 
uns  gerade  in  die  behaglichste  Lage  ver- 
setzt. Was  wir  durch  unser  ernstliches 
Forschen  herausgebracht  haben,  wird  zwar 
wenig,  aber  es  wird  das  Nöthigste  seyn, 
und  wir  werden  es  sic/ier -besitzen:  in 
allem  Übrigen  werden  wir  auf  einer  brei- 
ten bequemen  Bahn  wandeln,  worauf 
wir,  so  weit  es  nöthig  ist,  zur  Re.chten 
und  zur  Linken  ausbengen  können. 

Hören  Sie  also' auf,  mein  th eurer  Sk, 
Sich  über  eine.  Gemüthsfassung  Vorwürfe 
zu  machen,  welche  die  einzige  gute  ist, 
worin  sich  der  Weltweise  gegen  die  Wahr- 
heit befinden  kann.  W^ehe  ihm,  wenn 
sein  Kopf  so  voll  Lehrsätze  und  Meinun- 
gen  steckt,  dafs  nicht  noch  ein  Fleckchen 

für 


AN  BAYLE.  8i 

für  den  Zweifel  übrig  gelassen  ist!  Oder 
glauben  Sie,  dafs  der  in  der  That  und 
gründlich  überzeugt  sei,  der  sich  vor  dem 
geringsten  Zweifel  fürchtet?  Die  Meisten 
verbieten  sich  alles  Zweifeln  recht  geflis- 
sentlich; sie  besorgen  zu  ertrinken,  wenn 
sie  sich  einmal  dem  Strom  der  Vernunft 
überhefsen.  Lieber  halten  sie  sich  an  je- 
den Zweig  schwacher  Hypothesen,  ehe 
sie  es  wagen,  sich  durch  ihre  eigene  Kraft 
über  der  Fluth  zu  erhalten.  Das  ist  die 
Denkungsart  des  eifrigsten  Rechtgläubi- 
gen, wie  des  entschlossensten  Freigeistes. 
Beide  fürchten  sich,  durch  den  gering- 
sten Zweifel  ihr  System  gleichsam  anzu- 
brechen, um  nicht  am  Ende  die  Krän- 
kung zu  haben,  es  gänzlich  verzehrt  zu 
sehen.  Der  Eine  bleibt  also  durchgängig 
gläubig,  der  Andere  durchgängig  ungläu- 
big. —     Wenn  Sie  das  die  Wahrheit  Ica- 

Engels  Philosoph,  I.  ß 


Sa  SHAFTESBURY 

ben  nennen,  nun  so  kann  ich  Sie  nicht 
bedauren,  dafs  Sie  sie  nicht  haben. 

Aber  Sie  haben  sie,  die  Wahrheit,  die 
dem  Menschen  erreichbar  ist.  Nicht  die, 
die  bei  dem  Allwissenden  wohnt;  denn 
ihren  Glanz  könneli  sterbliche  Augen 
nicht  fassen.  Ihr  schwacher  falber  Schim- 
mer, der  aus  unermefslicher  Ferne  unsre 
Tritte  in  den  Gefilden  der  Nacht  nur 
kümmerlich  erleuchtet,  ist  Alles,  was  wir 
von  ihr  vertragen  können ;  Alles,  was  uns 
von  ihr  vergönnt  ist.  Sollen  wir  uns 
wundern;  sollen  wir  uns  betrüben,  wenn 
bei  so  zweifelhaftem  Lichte  unser  Fufs- 
tritt  irrt,  oder  wir  des  rechten  Weges 
nicht  gewifs  sind? 

Die  Wahrheit  ist  kein  nahes  Ziel^  das 
man  erreichen  soll,  um  dann  ewig  dabei 
auszuruhen.  Sie  ist  für  Menschen  nichts, 
als    vollkommnere    Erkenntnils.      Sobald 


AN  BAYLE.  83 

sich  das  Bedürfnifs  des  Wissens  in  unsrer 
Seele  fühlen  läfst,  sobald  wir  die  Sehn- 
sucht in  xms  wahrnehmen^  von  den  un- 
zählbaren Problemen,  die  uns  die  Natur 
bei  jedem  Anblick  vorlegt,  das  aufzulö- 
sen was  uns  am  nächsten  liegt;  so  spornt 
die  Unruhe  unsers  Geistes  alle  Kräfte  der 
Seele  an,  uns  durch  die  Schwierigkeiten 
der  Untersuchung  durchzuarbeiten,  in  der 
Hoffnung,  jenseit  dieser  Dunkelheiten  das 
volle  Licht  und  unaufhörliche  R.uhe  zu 
linden.  —  Vergebliche  Hoffnung!  Neue 
Zweifel  verwirren  uns ,  neue  Aufgaben 
reizen  unsern  immer  regen  Trieb  nach 
Wissen.  Und  so  werden  wir  von  einem 
Ziele  zum  andern  gelockt ;  mit  stets  neuer 
Sehnsucht,  die  nie  ganz  betrogen  und  nie 
ganz  befriediget  wird,  bis  wir  uns  unver- 
muthet  am  Ende  unsers  Lebens,  nicht 
aber  unsrer  Untersuchung,  befinden.    Das 


84  SHAFTESBURY 

ist  das  allgemeine  Schicksal  aller  Wahr- 
heitsforscher ;  und  wollen  Sie  Sich  be- 
klagen, th eurer  Sir,  dafs  es  auch  das 
Ihrige  ist?  Wollen  Sie  mit  dem  Allerhöch- 
sten rechten,  dafs  er  Ihnen  einen  Wahr- 
heitstrieb gegeben,  der  Sie  elend  mache, 
weil  Sie  ihn  nicht  befriedigen  können? 
Sie  werden  besser  von  Gott  denken, 
wenn  Sie  besser  von  Sich  Selbst  denken 
werden.  Ist  denn  mein  Freund.  Bayle 
nicht  ein  edleres  Wesen,  als  der  MatrO' 
se,  der  sich  durch  das  Weltmeer  von  sei- 
nem Schiffe  mit  forttragen  läfst,  ohne 
sich  je  beunruhigt  zu  haben,  nach  wel- 
chen Gesetzen  es  über  die  Fluthen  hin- 
gleitet? wie  die  grqfse  Weltuhr  im  unbe- 
gränzten  Oceane  ihm  seine  Stunden 
schlägt,  und  wie  ein  Fernrohr  am  Him- 
mel die  Stral'se  findet^  die  sein  Schiff 
auf  den  Gewässern  der  Erde  durchlaufen 


AN  BAYLE.  85 

soll?  —  Sehen  Sie  da  die  Auflösung  des 
ganzen  Räthsels!  Die  wonnevoHe  Aussicht 
auf  Ruhe  und  Zufriedenheit ;,  wohin  uns 
die  enthüllte  Wahrheit  zu  führen  ver- 
heifst^  lockt  aus  einer  schweren  Untersu- 
chung in  die  andere.  Wir  sehen  uns 
endlich  am  Ziel  unsers  Lebens^  ohne 
vielleicht  diese  Ruhe  gefunden  zu  haben; 
was  wir  aber  gewifs  gefunden  haben,  ist 
die  Erhöhung  und  Veredelung  unsers 
Wesens^  durch  Erweiterung  unsrer  Kräfte 
und  unsrer  Erkenntnifs. 

Gönnen  Sie  Sich  diesen  Trost,  auf 
den  Sie  so  gerechten  Anspruch  haben! 
Sie  werden  mit  Sich  Selbst  ausgesöhnt 
seyn,  sobald  Sie  Muth  haben  werden  Sich 
nach  Ihrem  Werthe  zu  schätzen.  —  Em- 
pfangen Sie  noch  zum  Schliffs  die  theu- 
resten  Versicherungen  meiner  gefuhlte- 
sten  Hochachtung;  und  wenn  es  die  letz- 


86       SHAFTESBURY  AN  BAYLE. 

ten  seyn  sollen  die  Sie  hienieden  von  mir 
annehmen  können,  wenn  Sie  mir  dies- 
seit  des  Grabes  keine  Zeugnisse  Ihrer 
Freundschaft  mehr  geben  sollen:  so  sey 
dies  noch  mein  letzter  irdischer  Wunsch 
für  Sie,  dafs  Sie  die  Ruhe  schon  hier 
ganz  fmden  mögen,  die  Sie  in  jenem 
Leben  gewifs  erwartet. 

/.   A.  Eberhard, 


67 


SECHSTES     STUCK. 

TOBIAS      WITT. 


JTerr  Tobias  Witt  war  aus  einer  nur 
mäfsigen  Stadt  gebürtig,  und  nie  weit 
über  die  nächsten  Dörfer  gekommen. 
Dennoch  hatte  er  mehr  von  der  Welt  ge- 
sehen, als  mancher  der  sein  Erbtheil  in 
Paris  oder  Neapel  verzehrt  hat.  Er  er- 
zählte gern  allerhand  kleine  Geschicht- 
chen, die  er  sich  hie  und  da  aus  eigner 
Erfahrung  gesammelt  hatte.  Poetisches 
Verdienst  hatten  sie  wenig,  aber  desto 
aiehr  praktisches,  und  das  Besonderste 
m  ihnen  war,  dafs  ihrer  je  zwei  und 
zwei  zusammengehörten. 

Einmal  lobte  ihn   ein  junger  Bekann- 
tei,  Herr  Till,  seiner  Klugheit  wegen.  — 


SS  TOBIAS   WITT. 

Ei!  Fmg  der  alte  J^itt  an  und  schmun- 
zelte: war'  ich  denn  wirklich  so  klug? 

Die  ganze  Welt  sagts,  Herr  Witt.  Und 
weil  ich  es  auch  gern  würde 

Je  nun  !  wenn  Er  das  werden  will, 
das  ist  leicht.  —  Er  mufs  nur  fleil'sig  Acht 
geben,  Herr  Till,  wie  es  die  Narren  ma- 
chen. 

Was!   wie  es  die  Narren  machen? 

Ja,  Herr  Till !  Und  mufs  es  denn  an." 
ders  machen,  wie  die. 

Als  zuni  Exempel  ?  — 

Als  zum  Exempel,  Herr  Till:  So  lebte 
da  hier  in  meiner  Jugend  ein  alter  Arith- 
metikus ;  ein  dürres,  grämliches  Männ- 
chen, Herr  ^eit  mit  Namen.  Der  gin^ 
immer  herum  und  murmelte  vor  siel 
selbst;  in  seinem  Leben  sprach  er  mt 
keinem  Menschen.  —  Und  einem  ii's 
Gesicht  sehen;  das -that  er  noch  weniger: 


TOBIAS  WITT.  S9 

immer  guckt'  er  ganz  finster  in  sich  hin- 
ein. —  Wie  meint  Er  nun  wohl^  Herr 
Till,  dafs  die  Leute  den  hiefsen? 

\Yie?  —  Einen  tiefsinnigen  Kopf. 

Ja,  es  hat  sich  wohl  !  Einen  Narren! 
—  Hui!  dacht'  ich  da  bei  mir  selbst  — 
denn  der  .Titel  stand  mir  nicht  an  —  wie 
der  Herr  Veit  mufs  man's  nicht  machen. 
Das  ist  nicht  fein.  —  In  sich  selbst  hin- 
ein sehen:  das  taugt  nicht;  Sieh  du  den 
Leuten  dreist  in's  Gesicht!  Oder  gar  mit 
sich  selbst  sprechen;  pfui!  Sprich  du  lie- 
ber mit  andern  I  —  Kun,  was  dunkt  Ihm, 
Herr  Till?   Hatt'  ich  da  Recht. ^  ^ 

Ei  ja  wohl!  Allerdings! 

Aber  ich  weils  nicht.  So  ganz  doch 
wohl  nicht.  —  Denn  da  lief  noch  ein 
andrer  herum;  das  war  der  Tanzmeister, 
Herr  Flink:  der  guckte  aller  Welt  in's 
Gesicht,    und    plauderte  mit   Allem   was 


go  TOBIAS  WITT. 

nur  ein  Ohr  hatte,  immer  die  Reihe  her- 
um. Und  den,  Herr  Till  —  wie  meint 
Er  wohl ,  dafs  die  Leute  den  wieder 
hiefsen? 

Einen  lustigen  Kopf?  — 

Beinahe  !  Sie  hiefsen  ihn  auch  einen 
Nai-ren.  —  Hui,  dacht'  ich  da  wieder; 
das  ist  doch  drollig!  Wie  mufst  du's  denn 
machen,  um  klug  zu  heifsen?  —  Weder 
ganz,  wie  der  Herr  ^elt,  noch  ganz,  wie 
der  Herr  Flink.  Erst  siehst  du  den  Leu- 
ten hübsch  dreist  in's  Gesicht,  wie  der 
eine,  und  dann  siehst  du  hübsch  bedäch- 
tig in  dich  hinein,  wie  der  andre.  Erst 
sprichst  du  laut  mit  den  Leuten,  wie  der 
Herr  Flink,  und  dann  insgeheim  mit  dir 
selbst,  wie  der  Herr  Veit.  —  Sieht  Er, 
Herr  Till?  So  hab'  ich's  gemacht,  und 
das  ist  das  ganze  Geheimnifs. 

Ein  andermal  besuchte  ihn  ein  junger 


TOBIAS   WITT.  91 

Kaufmann,  Herr  Flau,  der  gar  sehr  über 
sein  Unglück  klagte.  —  Ei  was?  fing  der 
alte  JVitt  an  und  schüttelte  ihn :  Er  mufs 
das  Glück  nur  suchen,  Herr  Flau;  Er 
mufs  darnach  aus  seyn. 

Das  bin  ich  ja  lange;  aber  was  hilfts? 
—  Immer  kommt  ein  Streich  über  den 
andern!  Künftig  leg'  ich  die  Hände  lie- 
ber gar  in  den  Schoofs,  und  bleibe  z^i 
Hause.  — 

Ach  nicht  doch !  nicht  doch ,  Herr 
Flau !  Gehn  mufs  Er  immer  darnach,  aber 
sich  nur  hübsch  in  Acht  nehmen,  wie 
Er  s  Gesicht  trägt. 

Was?  Wie  ich's  Gesicht  trage?  — 

Ja,  Herr  Flau!  Wie  Er's  Gesicht  trägt. 
Ich  will's  Ihm  erklären.  —  Als  da  mein 
Nachbar  zur  Linken  sein  Haus  baute  ;  so 
lag  einst  die  ganze  Strafse  voll  Balken 
und  Steine  und  Sparren  :    und  da  kam 


92 


TOBIAS  WITT. 


unser'  Bürgermeister  gegangen,  Herr 
Trick;  damals  noch  ein  blutjunger  Raths' 
herr:  der  rannte,  mit  von  sich  geworfnen 
Armen,  ins  Gelag  hinein,  und  hielt  den 
Nacken  so  steif,  dafs  die  Nase  mit  den 
Wölken  so  ziemlich  gleich  war.  —  Pump! 
lag  er  da,  brach  ein  Bein,  und  hinkt 
-noch  heutiges  Tages  davon.  —  Was  will 
ich  nun  damit  sagen,  lieber  Herr  Flau?  — 

Ei  die  alte  Lehre!  Du  sollst  die  Nase 
nicht  allzuhoch  trägen. 

Ja  sieht  Er?  Aber  auch  nicht  allzu- 
niedrig. —  Denn  nicht  lange  darnach 
kam  noch  ein  andrer  gegangen;  das  war 
der  Stadtpoete,  Herr  Schall:  der  mufste 
entweder  Verse  oder  Haussorgen  im 
Kopfe  haben;  denn  er  schlich  ganz  trüb- 
sinnig einher,  und  guckte  in  den  Erdbo- 
den, als  ob  er  hineinsinken  wollte.  — 
Krach!  rifs  ein  Seil;  der  Balken  herunter. 


TOBIAS  WITT.  93 

und  wie  der  Blitz  vor  ihm  nieder.  — • 
Vor  Schrecken  fiel  der  arme  Teufel  in 
Ohnmacht^  ward  krank^  und  mufste  gan- 
ze Wochen  lang  aushalten.  —  Merkt  Er 
nun  wohl,  was  ich  meine,  Herr  Flau? 
Wie  man's  Gesicht  tragen  mufs?  — 

Sie  meinen,  so  hübsch  in  der  Mitte.  — 
Ja  freilich!  dafs  man  weder  zu  keck 
in  di^e  Wolken,  noch  zu  scheu  in  den 
Erdboden  sieht.  —  Wenn  man  so  die 
Augen  fein  ruhig,  nach  oben  und  unten 
und  nach  beiden  Seiten  umheirwirft:  so 
kommt  man  in  der  Welt  schon  vor- 
wärts, und  mir  dem  Unglück  hat's  so 
leicht  nichts  zu  sagen. 

Noch  ein  andermal  besuchte  den  Herrn 
Witt  ein  junger  Anfänger,  Herr  Wills; 
der  wollte  zu  einer  kleinen  Speculation 
Geld  von  ihm  borgen.  —  Viel,  fing  er 
an,  wird  dabei  nicht  herauskommen;  das 


94  TOBIAS  WITT. 

seh*  ich  vorher :  aber  es  rennt  mir  so 
von  selbst  in  die  Hände.  Da  will  ich's 
doch  mitnehmen. 

Dieser  Ton  stand  dem  Herrn  Witt 
gar  nicht  an.  —  Und  wie  viel,  meint  Er 
denn  wohl,  lieber  Herr  Wills,  dafs  Er 
braucht?  — 

Ach  nicht  viel!  Eine  Kleinigkeit!  Ein 
hundert  Thälerchen  etwa.  — 

Wenn's  nicht  mehr  ist;  die  will  ich 
Ihm  geben.  Recht  gern!  —  Und  damit 
Er  sieht  dafs  ich  Ihm  gut  bin,  so  will 
ich  Ihm  obendrein  noch  etwas  anders 
geben,  das  unter  Brüdern  seine  tausend 
Reichsthaler  werth  ist.  Er  kann  reich 
damit  werden.  — 

Aber  wie,  lieber  Herr  Witt?  Oben- 
drein! — 

Es  ist  nichts.  Es  ist  ein  blofses  Hi- 
störchen. —     Ich    hatte   hier    in    meiner 


TOBIAS  WITT.  95 

Jugend  einen  Weinhändler  zum  Nachbar, 
ein  gar  drolliges  Männchen,  Herr  Grell 
mit  Namen :  der  hatte  sich  eine  einzige 
Redensart  angewöhnt;  die  bracht'  ihn 
zum  Thore  hinaus. 

Ei,  das  wäre!  Die  hiefs?  — 

Wenn  man  ihn  manchmal  fragte:  Wie 
stehts,  Herr  Grell?  Was  haben  Sie  bei 
dem  Handel  gewonnen?  —  Eine  Kleinig- 
keit^ fing  er  an.  Ein  fünfzig  Thälerchen 
etwa.  Was  will  das  machen?  —  Oder 
wenn  man  ihn  anredte:  Nun,  Herr  Grell? 
Sie  haben  ja  auch  bei  dem  Biuikerutte 
verloren?  —  Ach  was?  sagte  er  wieder. 
Es  ist  der  Rede  nicht  werth.  Eine  Klei- 
nigkeit von  ein  hunderter  fünfe.  —  Er 
safs  in  schönen  Umständen,  der  Mann; 
aber  wie  gesagt!  die  einzige  verdammte 
Redensart  hob  ihn  glatt  aus  dem  Sattel. 
Er   mufste   zum    Thore   damit  hinaus.  — 


<jQ  :rOBIAS  WITT. 

Wie  viel  war  es  doch,  Herr  Wills,  das 
Er  wollte? 

Ich?  —  ich  bat  um  hundert  Reichs- 
thaler, lieber  Herr  Witt. 

Ja  recht!  Mein  Gedächtnifs  verläfst 
mich.  —  Aber  ich  hatte  da  noch  einen 
andern  Nachbar;  das  war  der  Kornhänd- 
ler, Herr  Tomm:  der  baute  von  einer 
andern  Redensart  das  ganze  grofse  Haus 
auf,  mit  Hintergebäude  und  Waarenla- 
ger.  —     Was  dünkt  Ihmi  dazu?  — 

Ei,  ums  Himmels  willen!  Die  mögt' 
ich  wissen,  —     Die  hiefs?  — 

Wenn  man  ihn  manchmal  fragte:  Wie 
steht's,  Herr  Tonnn?  Was  haben  Sie  bei 
dem  Handel  v^erdient?  —  Ach  viel  Geld! 
fing  er  an,  viel  Geld!  —  und  da  sah  man 
wie  ihm  das  Herz  im  Leibe  lachte;  — 
ganzer  hundert  Reichsthaler  !  —  Oder 
wenn  man  ihn  anredte:  Was   ist  Ihnen? 

War- 


I 


TOBIAS  WITT. 


97 


Warum  so  mürrisch,  Herr  Toinm?  — 
Ach!  sagte  er  wieder:  ich  habe  viel  Geld 
verloren,  viel  Geld !  Ganzer  fünfzig  Reichs- 
thaler.  —  Er  hatte  klein  angefangen,  der 
Mann;  aber,  wie  gesagt,,  das  ganze  grofse 
Haus  baute  er  auf,  mit  Hintergebäude 
und  Waarenlager.  — :-  Nun,  Herr  Wills? 
Welche  Redensart  gefällt  Ihm  nun  bes- 
ser ? 

Ei,  das  versteht  sich.     Die  letzte ! 

Aber  —  so  ganz  war  er  mir  doch 
nicht  recht,  der  Herr  Toimn.  Denn  er 
sragte  auch:  viel  Geld!  wenn  er  den  Ar- 
men oder  der  Obrigkeit  gab ;  und  da 
hätt'  er  nur  immer  sprechen  mögen,  wie 
der  Herr  Gre//,  mein  anderer  Nachbar. — 
Ich,  Herr  Wilh,  der»  ich  zwischen  den 
beiden  Redensarten  mitten  inne  wohnte; 
ich  habe  mir  beide  gemerkt :  und  da 
Sprech'  ich  nun,  nach  Zeit  und  Gelegen- 

Engels  Philosoph^  I.  7 


98  TOBIAS  WITT. 

heit^  bald  wie  der  Herr  Grell,  und  bald 
wie  der  Herr  Tonnn, 

Nein,  bei  meiner  Seele !  Ich  halt's  mit 
Herrn  Tonnn.  Das  Haus  und  das  Waa- 
renlager  gefällt  mir. 

Er  wollte  also?  — 

Vi«!  Geld !  viel  Geld ,  lieber  Herr 
Witt!    Ganzer  hundert  Reichsthaler! 

Sieht  Er,  Herr  Wills?  Er  wird  schon 
werden.  Das  War  ganz  recht.  —  Wenn 
man  von  einem  Freunde  borgt,  so  mufs 
man  sprechen,  wie  der  Herr  Tormn;  und 
wenn  man  einem  Freunde  aus  der  Noth 
hilft,  so  mufs  man  sprechen,  wie  der  Herr 
Grell 


99 

SIEBENTES     STUCK. 

DIE  EICHE  UND  DIE  EICHEL*). 


JN  icht  lange  nach  der  Herausgabe  des 
Buchs^  worin  Herr  Dute?is  die  sammtli- 
chen  Entdeckungen  der  neuern  Weltvvei- 
sen  schon  in  den  Alten  fand,  besuchte  er 
seinen  Freund,  den  Marchese  Gemelli , 
auf  dessen  unweit  Turin  gelegenem  Land- 
gute.    Er  traf  ihn  im  Park,  und  das  Ge- 

•)  Plato  schrieb  Sokratische  Gfespräclie ,  noch  bei 
Lebzeiten  des  Sokrates.  »Was  hat  dieser  jun- 
ge Mensch  mich  nicht  alles  plaudern  lassen !  «« 
sagte  einst  Sokrates,  da  er  eins  dieser  Gesprä» 
che  lesen  hörte.  —  Wenn  Hejr  Dutens  diesen 
Aufsatz  sehen  und  das  Nehuiliche  sagen  sollte, 
so  mag  der  Verfasset  es  haben.  Das  wird  jener 
«chwerlich  zu  ihm  sagen:  Du  bist  nicht  Plato j 
denn  er  wiirde  sich  der  Antwort  aussetzen;  Du 
bist  nicht  Sokrates. 


100  DIE  EICHE 

sprach  fiel,  sogleich  nach  den  ersten  Be- 
willkommungen,  auf  das  Buch  des  Herrn 
Dutens. 

In  der  That,  Herr  Dutens ;  ich  bin 
mit  Ihnen  mehr,  als  mit  Ihren  Vorgän- 
gern, zufrieden.  Es  fehlte  /ast  allen,  die 
sich  an  diese  Untersuchung  wagten,  an 
hinlänglicher  Einsicht  und  Unparteilich- 
keit. —  Wer  die  Alten  genugsam  kann- 
te, der  kannte  die  Neuern  zu  wenig;  wer 
mit  den  Neuern  vertraut  war,  der  war  es 
nicht  mit  den  Alten.  Jener  wollte  sich 
für  seine  gelehrten  Nachtwachen  durch 
den  unmäfsigen  Werth  belohnen,  den  er 
den  Gegenständen  seines  Fleifses  gab; 
dieser  wollte  sich,  wegen  seines  Mangels 
an  Gelehrsamkeit,  eben  durch  seine  Ver- 
achtung der  Alten,  rechtfertigen.  —  Sie 
wissen,  wie  das  ist,  liebster  Freund.  Man 
ergötzt  sich  über  das  was  man  hat,  durch 


UND  DIE  EICHEL.  loi 

den  Werth  den  man  ihm  giebt,  und  trö- 
stet sich  über  das  was  man  nicht  hat, 
durch  den  eingebildeten  Unwerth.  — 

Sie  glauben   also,    dafs  ich  beide  Ab- 
wege vermieden  habe?  — 
So  ziemlich ! 

Dafs  ich  gleiche  Unparteilichkeit  ge- 
gen Alte  und  Neue  bewiesen? 

Gleiche  wohl  nicht.  Aber  doch  mehr, 
als  andre,  Herr  Dutens.  —  Auch  verei- 
nigten Sie  mehr,  als  andrer,  jene  zwie- 
fache Kenntnifs,  die  zu  so  einer  Verglei- 
chung  nothwendig  ist. 

Sie  schmeicheln  mir  sehr,  Herr  Mar- 
chese.  —  Aber  wenn  ich  Sie  kenne,  so 
ist  eben  Ihr  Lob  schon  die  Vorbereitung 
zu  Ihrem  Tadel.  —  Lassen  Sie  weiter 
hören! 

Etwas  hätte  ich  in  der  That  zu  erin- 
nern. 


I02  DIE  EICHE 

Das  ist? 

Treten  Sie  zu  mir;,  Herr  Dutens !  Be- 
trachten Sie  mir  jene  herrliche  Eiche,  die 
schönste  und  grölseste  dieser  Gegend.  -^ 
Wie  weit  hat  sie  ihre  Wurzeln  verbrei- 
tet! wie  tief  in  den  Boden  geschlagen!  — 
Der  Orcan  kann  sie  nicht  stürzen,  ohne 
das  ganze  Land  umher  aufzuwühlen.  -^ 
Und  weich  ein  Stamm  !  Welche  Pracht 
ihrer  Krone!  Wie  herrlich  sie  ihre  Zwei- 
ge umherträgt !  Wie  viel  Land  sie  be  ■■ 
schattet! Nicht  wahr?  Sie  sind  ent- 
zückt über  den  Anblick? 

Ich  bin  verlegen  über  die  Antwort. 
Wie  gehört  das    hieher,    Herr  Marchese? 

Betrachten  Sie  mir  jetzt  diese  Eichel  ! 
—  Uniäugbar  schliefst  sie  doch  die  gan- 
ze Anlage  zu  einem  gleich  herrlichen  Bau- 
me in  sich?  enthält  doch,  in  ihrer  klei- 
nen unentwickelten  Pflanze,  alle  Haupt- 
theile  der  Eiche?  — 


1 


UND  DIE  EICHEL.  io5 

Allerdings !  —  Aber  weiter? 

Ich  frage  Sie  nun :  Ist  darum  die  Ei- 
ehel  eins  mit  der  Eiche?  Ist  dieses  hin- 
gestreute, dem  Zufall  überlafsne,  viel- 
leicht zum  Vermodern  bestimmte  Saa- 
menkorn^  das  dem  Auge  noch  keinen 
Anblick,,  dem  Müden  noch  keinen  Schat- 
ten,  den  Vögeln  des  Himmels  noch  kei- 
ne Freistatt  giebt;  ist  es  jenem  prächti- 
gen, tiefgewurzelten,  weit  umher  schat- 
tenden Baum,  zu  vergleichen,  der  aus  der 
unansehnlichen  Eichel  hervorkeimte,  und 
langsam,  in  ganzen  Jahrhunderten,  zu 
dieser  Höhe,  dieser  Stärke  und  Majestät 
empor  wuchs? 

Aber  wer  behauptet  das  auch?  — 

Sie,  mein  Freund!  Sie! 

Und  wo?  — 

Eben  in  dem  Werke,  von  dem  wir 
sprachen.  —     Der   erste  Keim    eines   Sy- 


io4  DIE   EICHE 

Sterns  ist  Ihnen  gleich  das  System;  das 
erste  Element  eines  Gedankens,  gleich 
der  Gedanke.  —  Ob  ein  Satz  von  den 
Alten  nur  gleichsam  gewagt;  eine  Wahr- 
heit nur  von  ferne,  nur  aus  Vermurhungs- 
gründen  erkannt,  ohne  alle  Bestimmun- 
gen hingeworfen,  ohne  alle  Untersuchung 
ihrer  Folgen,  ihrer  Verbindung  mit  an- 
dern wichtigen  Wahrheiten ,  verlassen 
worden?  oder  ob  sie  von  den  Neuern  in. 
ihrem  Zusammenhange  mit  andern  Wahr- 
heiten gedacht,  in  den  ersten  Begriffen 
fest  gegründet,  bis  in  alle  ihre  wichtigen 
Folgen  entwickelt  worden?  —  das  alles 
ist  Ihnen  eins  wie  das  andre.  Sie  sehen 
schon  immer  in  einem  einzelnen  Gedan- 
ken ein  ganzes  System,  und  geben  dem 
alle  Ehre,  der  die  erste  flüchtige  Idee 
hatte. 

Darf  ich    um  Beweis   dieser   Behaup- 
tung bitten?  — 


UND  DIE  EICHEL.  105 

Ich  habe  zu  wählen,  Herr  Dutens. 
Wenn  das  was  ich  Ihnen  vorwerfe,  ein 
Fehler  ist,  so  begehen  Sie  ihn  fast  in  je- 
dem Capitel.  —  Doch  ich  will  diejenige 
Stelle  vorziehn,  die  mir  gleich  Anfangs 
am  meisten  auffiel.  Sie  läugnen  den 
Neuern  die  Erfindung  des  Systems  ab, 
das  seinen  Namen  vom  Copernicus  führt; 
den  Anfang  dieses  Absatzes  machen  Sie 
mit  einer  ernstlichen  Klage  über  die  Ei- 
telkeit der  Neuern.  Schon  Pythagoras, 
sagen  Sie,  hielt  die  Erde  für  beweglich; 
er  schrieb  ihr,  weit  entfernt  sie  für  den 
Mittelpunct  der  Welt  zu  halten,  einen 
kreisförmigen  Lauf  um  das  Feuer  (die 
Sonne)  zu.  Also,  schliefsen  Sie,  kannte 
schon  Pythagoras  das  System  des  Coper- 
nicus. So  auch  Ariatarch  von  Samos; 
auch  Timäus  vonLokris:  denn  beide  be- 
haupteten, dafs  die  Erde  beweglich  sei, 
und  ei^en  kreisförmigen  Lauf  halte. 


io6  DIE  EICHE 

Die  Stellen  sind  in  den  Alten  da, 
Herr  Marchese, 

Das  sind  die  alle,  die  Sie  uns  anfüh- 
ren; —  ob  ich  gleich  in  manchen  etwas 
ganz  anders  sehe,  als  Sie.  Auch  hier 
vielleicht  in  der  angeführten  Stelle  vom 
Pylhagoras  *). 

Aber  was  ist  denn  das  Wesentliche 
im  System  des  Copernicus  ?  das  Erste?  — 
Doch  unstreitig  die  Voraussetzung:  dals 
die  Sonne  der  Mittelpunct,  und  die  Erde 
beweglich  sei 

Das  will  ich  zugeben,  Herr  Dutens. 
Aber  welcher  Unterschied  zwischen  jenen 
hinge vvorfnen,  mit  Irrthümern  vermisch- 
ten ,  mehr  errathenen  als  bewiesenen 
Sätzen;  und  zwischen  dem  so  richtig  be- 
stimmten,  so  wohl  in  Ordnung  gebrach- 

*)  Man  sehe   das  itzt    erschienene  Werk  von  Hm 
Tiedeiuaiin :   Erste  Philosophen   Griechenlands. 


.       UND  DIE  EICHEL.  107 

ten,  durch  so  viele  zusammenstimmende 
Beobachtungen  festgegrundeten  Systeme 
der  Neuern!  —  Ich  hoffe,  Sie  räumen 
mir  diesen  Unterschied  ein?  — 

Allerdings,  Herr  Marchese.  Aber  be- 
denken Sie  auch,  dafs  von  den  Werken 
der  Alten  so  vieles  verloren  ging?  Dafs 
vielleicht  eben  in  dem  was  verloren 
ging 

Genug,  Herr  Dutens!  Bis  in  diesen 
Schlupfwinkel  kann  ich  Sie  unmöglich 
verfolgen.  •—  Doch  was  hilft  Ihnen  auch, 
bei  unserm  jetzigen  Streite,  dieses  so  un- 
widerlegliche, obgleich  50  unvs'ahrschein- 
liehe,  Vielleicht?  Aus  Quellen  die  nicht 
vorhanden  sind,  haben  doch  die  Neuern 
nicht  schöpfen  können?  Räumen  Sie  mir 
also  immer  ein,  dafs  jener  Unterschied 
vollkommen  so  grofs  ist,  wie  ich  ihn  an- 
gab I  -:^ 


io8  DIE  EICHE 

Gut  dann!  Er  soll  es  seyn^  Herr  Mar- 
chese. 

Und  um  mich  erkenntlich  zu  zeigen; 
so  sollen  Sie  wieder  in  allem  Recht  ha- 
ben, was  Sie  behaupten.  —  Die  Alten 
sollen  sich  selbst  so  verstanden  haben^ 
wie  Sie  sie  verstehen ;  die  angeführten 
Stellen  sollen  wirklich  die  Quellen  seyn, 
aus  welchen  die  Neuem  schöpften ;  ich 
frage  noch  immer:  was  folgt  daraus  zum 
Vortheil  der  Alten?  was  zum  Nachtheil 
der  Neuern?  —  Und  von  dieser  Seite  ha- 
ben Sie  doch  wirklich  die  Sache  genom- 
men. 

Das  thut  jedermann^  Herr  Marchese. 
Der  erste  Erfinder  hat  immer  die  Ehre. 

Verzeihen  Sie  mir!  Wenn  das  jeder- 
mann thut,  so  hat  jedermann  Unrecht. 
Und  ein  Philosoph  sollte  nie  etwas  aus 
dem  Grunde  thim ,  weil  es  jedermann 
thut. 


UND  DIE  EICHEL.  109 

Also  schätzen  Sie  Genie  nicht  höher, 
als  Fleifs?  — 

Allerdings  schätze  ich's   höher. 

Und  ist  denn  nicht  Erfinden  das  Werk 
des  Genies  ?  Ausbilden  das  Werk  des 
Fleifs  es  ? 

Da  liegt  der  Fehler.  Sie  haben  mir 
einen  z^u  engen  Begriff  von  dem  Erfinder. 

Dürfte  ich  um  den  Ihrigen  bitten?  -^ 

Sie  sagen  so,  liebster  Freund:  Diese 
Eichel  schliefst  die  ganze  Anlage  der  Ei- 
che in  sich.  Die  Eiche  ist  nichts,  als  die 
Entwickelung  dieser  Eichel. 

Nun  ja!  Werden  Sie  anders  sagen?  — 

Nein!  Aber  fortfahren  werd'ich;  Die- 
se Eichel  ist  wiederum  nichts,  als  die 
Entwickelung  eines  frühern  Urstoffs.  Die 
Natur  war  nichts  thätiger,  da  sie  die  Ei- 
chel aus  ihrem  Urstoffe,  als  da  sie  die 
Eiche    aus    der    Eichel  entwickelte  :    die 


ILO  DIE  EICHE 

Elemente  mufsten  ihre  ganze  Kraft  zu 
dem  letzten  Endzwecke,  wie  zu  dem  er- 
sten, vereinigen.  Luft  und  Erde,  und 
Feuer  und  Wasser,  mufsten  das  eine  mal 
so  wirksam  seyn,  wie  das  andere  mal. 
Die  Natur  hat  von  der  einen  Wirkung  so 
viel  Ehre,  als  von  der  andern. 

Aber  wer  nun  den  ersten  Urstoff  her- 
gab — 

Verzeihen  Sie!  Das  war  nicht  die  Na- 
tur; das  war  Gott.  —  Die  Natur  kann 
nur  entwickeln,  aber  Gott  hat  geschaffen. 

Und  die  Anwendung  auf  unsern 
Streit?  — 

Die  ist  so  leicht,  sollt'  ich  meinen.  — 
Die  Gegenstände  der  Philosophie  waren 
von  jeher  vorhanden.  Die  Keime  aller 
philosophischen  Wahrheiten  lagen  in  je^ 
der  menschlichen  Seele.  —  Was  der  den- 
kende  Geist  von  jeher    gethan    hat  und 


UND  DIE  EICHEL.  m 

thun  konnte,  bestand  blofs  in  der  Ent- 
wicklung dieser  Keime,  in  der  Aufklä- 
rung^ Auseinandersetzung,  mannichf alti- 
gen Verbindung  und  Trennung  der  Ideen. 
Es  ist  eben  die  Kraft,  die  eine  dunkle 
Idee  zur  ersten  Klarheit,  und  die  sie  zur 
Deutlichkeit,  zur  Vollständigkeit  bringt. 
Ich  denke,  das  werden  Sie  mir  einräu- 
men, Herr  Dutens. 

Eben  die  Kraft;  allerdings!  Aber  ich 
frage  noch  immer;  in  w^elchem  Fall  ist 
mehr  Anstrengung  der  Kraft? 

Und  glauben  Sie  denn,  dafs  sich  diese 
Frage  so  im  Allgemeinen  beantworten 
läfst?  —  Es  kommt  alles  auf  die  Beschaf- 
fenheit der  Idee,  auf  die  Fassung  des 
Geistes,  auf  die  schon  vorhergegangenen 
EntWickelungen  anderer  Ideen  an ,  die 
die  jetzige  mehr  oder  weniger  erleich- 
tern. —    Die  erste  Idee  haben,  heifst  oft 


112  DIE  EICHE 

nichts ;  sie  schätzen^  verfolgen,  ausbilden, 
oft  alles.  —  Sie  bewundern  den  Shakes- 
pear,  Herr  Dutens? 

Wie  billig!  — 

Aber  nach  Ihren  Grundsätzen  müfsten 
Sie  meine  Landsleute  mehr,  als  den  Ihri- 
gen, bewundern.  Shakespear  hat  viele 
seiner  vortreflichsten  Stücke  aus  italiäni- 
schen  Novellen  geschöpft,  die  nichts  we- 
niger ,  als  vortreflich  waren.  Sagen  Sie 
mir:  wollten  Sie  wohl  den  gan:^en  Reich- 
thum  von  Gemälden,  von  Charakterschil- 
derungen, von  eignen,  fruchtbaren,  er- 
staunenswürdigen Gedanken,  die  er  aus 
der  Fülle  seines  originellen  Genies  hin- 
zuthat,  wollten  Sie  wohl  die  ganze  Aus- 
bildung, die  er  dem  ersten  unbedeuten- 
den Stoff  gab,  geringer  achten,  als  die- 
sen Stoff?  Den  Geist,  den  er  der  todten 
Materie  einhauchte,  geringer,  als  die  Ma- 
terie? 


UND  DIE  EICHEL.  115 

terie?  Shakespear  geringer^  als  den  No- 
vell ens  ehr  ei  b  er?  — 

Aber  ein  Dichter  und  ein  Philosoph, 
Herr  Marchese  — 

Mögen  so  verschieden  seyn_,  als  sie 
wollen:  in  unserm  Fall  sind  sie's  nicht. — 
Wenn  bei  einem  Alten  eine  nur  halbe 
schwebende  Idee  _,  oft  kaum  kenntlich, 
unter  der  dichten  Hülle  einer  Metapher 
verborgen  lag;  der  Neuere  sie  auffafste, 
richtig  bestimmte,  in  vollem  Lichte  vor- 
trug; wenn  jener  eine  Wahrheit  nur  ganz 
dunkel  in  einem  einzelnen  Falle  dachte, 
der  Neuere  sie  von  den  einzelnen  Fällen 
rein  absonderte,  und  in  voller  Allgemein- 
heit zum  Grundsatz  eines  Systems  erhob  ; 
wenn  ein  Alter  eine  gewagte  Lehrmei- 
nung aus  ganz  falschen  Gründen  durch 
sophistische  Schlulsreihen  herleitete,  ein 
Neuerer   sie   aus    ihren   wahren  Erkennt- 

Engels  Philosoph,  I.  3 


ii4    DIE  EICHE  UND  DIE  EICHEL. 

nifsgründen  durch  richtige  Schlufsketten 
erwies:  wollten  Sie  da  so  ganz  ohne  Be- 
denken dem  Alten  vor  dem  Neuern  den 
Vorzug  geben?  Sollte  nichts  wenigstens 
dann  und  w^ann^  der  Neuere  ein  eben  so 
grofses  f  oder  gröfseres  Genie  seyn ,  als 
jener  ?  —  —  Doch  ich  sehe ,  dafs  ich 
Ihnen  zur  Last  bin,  Herr  Dutens.  Wir 
haben  hier  reizendere  Gegenstände  der 
Unterhaltung  vor  uns.  Erlauben  Sie  mir, 
dafs  ich  Ihnen  in  einem  oder  zwei  Brie- 
fen mittheile,  was  ich  etwa  sonst  über 
Ihr  Buch  noch  gedacht  haben  kann. 


ti5 

ACHTES    STÜCK. 

ERSTER  BRIEF  AN  HERRN 
DUTENS. 


JN  ur  noch  Eine  Frage,  Herr  Dutens,  die 
zur  Vollendung  unsers  neulichen  Ge- 
sprächs gehört,  und  die  sich  blofs  einem 
denkenden  Kopfe  thun  läfst!  —  Sollte  es 
Ihnen  nicht  oft  wiederfahren  seyn,  dafs 
Sie  durch  eigenes  Nachsinnen  auf  Ideen, 
Grundsätze,  Hypothesen,  Auflösungen  ge- 
rathen,  die  Sie  nachher,  zu  Ihrem  gröfs- 
ten  Befremden,  schon  bei  Andern  gefun- 
den? Wenn  das  ist;  so  darf  ich  um 
desto  dreister  die  Voraussetzung  zurück- 
nehmen: dafs  die  Neuern  wirklich  alle 
angegebene  Ideen  aus  den  Alten  ge- 
schöpft haben;   und  dann  fällt  auf  ein- 


n6  ERSTER  BRIEF 

mal  der  grofse  Vorzug  der  AZten  hin- 
weg. —  Cartesius^  sagen  Sie  oft^  hat  die 
und  die  Lehre  vom  Epikur  entlehnt^ 
Locke  die  und  die  Wahrheit  im  Aristo- 
teles gefunden,  Leibnitz  die  und  die  Idee 
aus  dem  Plato  genommen;  aber  wie  in 
aller  Welt  können  Sie  das  beweisen? 
War'  es  denn  nicht  möglich,  dafs  zwei 
verschiedne  Genies,  die  einerlei  Seelen- 
kräfte auf  einerlei  Gegenstände  anwen- 
den, auch  einerlei  Ideen  daraus  entwik- 
kelten?  Oder  ist  es  nicht  in  manchen 
Fällen  ganz  sichtbar,  dafs  jeder  zu  dem 
gemeinschaftlichen  Resultat  auf  seinem 
eignen  Wege  gekommen  ?  Und  hängt 
nicht  oft  der  ganze  Werth^  die  ganze 
Fruchtbarkeit  einer  Idee,  von  dem  einzi- 
gen .Umstände  ab:  ob  sie  sich  an  diese 
oder  jene  Gedankenreihe  hängte?  von 
diesen  oder  jenen  Gründen   das  Resultat 


AN  HERRN  DUTENS.        117 

war? Freilich  können  Sie  nun  die 

Alten  noch  immer  Erfinder  nennen:  aber 
nur  im  vorzüglichen,    nicht  im   ausschlie- 
fsenden Verstände;    insoferne   sie   nehm- 
lich  die  ersten  waren,    die  gewisse  Ideen 
hatten   oder    vortrugen  :     aber    das    Ver- 
dienst   dabei  fällt    nun    weg,    und    wird 
Glück.      Leibnitz,  Locke,  Cartesius,  ste- 
hen nun  jenen  Alten  nicht  weiter  nach, 
als  insoferne  sie  später   geboren  wurden. 
Ich  klagte  Sie   neulich   an,   Herr  Du- 
tens,    dafs  Sie  in  dem  ersten  Keim  eines 
Systems  sogleich  das  System,  in  dem  Ele- 
ment  eines  Gedankens   sogleich   den  Ge- 
danken fänden.     Sehen  Sie  jetzt,  wie  ich 
Sie  rechtfertige!  —     Herr  Dutens,   setze 
ich  voraus,  hatte  die  Werke  der  Neuern 
eher,    als  die   der  Alten,  gelesen.  .  In  je- 
nen hatte  er  alles    das  weiter  ausgeführt, 
näher  bestimmt,  richtig   bewiesen  gefim- 


ii8  ERSTER  BRIEF 

den,  was  in  diesen  nur  noch  roh,  dun- 
kel und  unbewiesen  angegeben  war.  Er 
hatte  sich  durch  eine  vertraute  Bekannt- 
schaft mit  den  Neuern  gewöhnt,  zu  je- 
dem Begriff  seine  Bestimmung,  zu  jedem 
Satz  seine  Einschränkung,  zu  den  Folgen 
die  Grunde,  und  zu  den  Gründen  die 
Folgen  hinzuzudenken.  Ihm  hatte  diese 
von  Andern  geschehene  Entwickeiung 
kein  eigenes  Nachsinnen,  nur  Aufmerk- 
samkeit auf  den  Vortrag  seiner  Lehrer, 
gekostet.  Er  konnte  sich  also  keiner 
Mühe  und  Schwierigkeiten  dabei  bewufst 
seyn;  vielmehr  war  es  ihm  völlig  habi- 
tuell geworden,  jede  verworrne  Idee  zur 
Deutlichkeit  zu  erheben,  jede  irrige  zu 
berichtigen,  von  den  Folgen  zu  den  Grün- 
den, und  von  den  Gründen  zu  den  Fol- 
gen mit  gröfster  Leichtigkeit  auf  -  und 
abzusteigen.     So   unterrichtet  und  so  ge- 


AN  HERRN  DUTEJNS.        119 

wohnt,  ging  er  an  die  Werke  der  Alten: 
und  was  war  nun  natürlicher,  als  dafs  er 
gleich  in  ]eder  dunklen  Vermuthung  die 
helle  Wahrheit,  in  jeder  einzelnen  Idee 
die  Reihe  hinzugehöriger  Ideen,  in  jeder 
abgerissenen  Trümmer  das  Gebäude  ei- 
nes Systems;  kurz,  dafs  er  in  der  Eichel 
die  Eiche  sah  ?  die  er  gewifs  nicht  er- 
kannt haben  würde,  wenn  nie  eine  ge- 
wachsen wäre.  —  ^>Wie!«  rief  noch  neu- 
lich ein  Freund,  dem  ich  von  den  elek- 
trischen Versuchen  Neutons  sagte:  ^^INeu- 
ton  keinen  Funken  gesehen?  Sie  scher- 
zen. Er  fährt  ja  so  sichtbar  heraus!«  — 
Ich  komme  wieder  zu  Ihrem  Buche, 
Herr  Dutens.  So  lange  es  bei  der  ei- 
gentlichen Philosophie  bleibt,  geht  es  mit 
Ihrer  Erklärungsart  noch  so  ziemlich  von 
stalten;  aber  in  Physik,  Mathematik,  und 
andern   ähnlichen  Wissenschaften^  haben 


I20  ERSTER  BRIEF 

die  Neuern  zu  viel  Eignes,  als  dafs  man 
so  leicht  mit  ihnen  fertig  würde.  Hier, 
hätte  ich  geglaubt,  würden  Sie  den  Vor- 
zug derselben  offenherzig  gestanden^  und 
ihrem  Genie  wenigstens  eben  so  viel  als 
dem  Zuiall  eingeräumt  haben;  aber  ein- 
mal hatten  Sie  Sich  bei  Gelegenheit  der 
philosophischen  Materien  zum  Vortheil 
der  Alten  erwärmt,  und  so  rifs  Sie  denn, 
der  Enthusiasmus  unvermerkt  mit  sich 
fort.  Der  Mensch  hat  in  seiner  Natur 
einen  gewissen  Trieb  zur  Vollendung,  ver- 
möge dessen  er  nichts  gerne  halb  läfst. 
Kommt  er  einmal  ins  Erheben  oder  Ver- 
achten, so  kommt  er  nicht  so  leicht  wie- 
der heraus.  —  Um  mich  nicht  in  einzel- 
ne Capitel  einzulassen;  will  ich  Sie  nur 
an  Ihre  Vorrede  erinnern.  :»)In  der  Ver- 
gleichung,  sagen  Sie,  die  man  gemeinig- 
lich über   die  Verdienste   der  Alten  und 


AN  HERRN  DUTENS.         121 

der  Neuern  anstellt/  mufs  man  vornehm- 
lich diejenigen  Künste  und  Wissenschaf- 
ten, die  vorzüglich  eine  lange  Erfahrung 
und  Ausübung  erfordern^  Vi^enn  sie  zur 
Vollkommenheit  gedeihen  sollen,  von  de- 
nen unterscheiden,  die  allein  von- Genie 
und  Talenten  abhängen.  .  .  .  Man  mufs 
auch  das  nicht  aus  der  Acht  lassen,  dafs 
die  mehresten  der  so  bewundernswürdi- 
gen und  nützlichen  Entdeckungen,  deren 
sich  unser  Zeitalter  berühmt,  als  z.  B. 
I  das  Pulver,  der  Compafs,  die  Ferngläser, 
u.  s.  w.  nicht  das  Werk  philosophischer 
Genies,  sondern  die  Wirkung  des  blofsen 
Ungefährs  oder  die  Versuche  unwissen- 
der Künstler  gewesen  sind.« 

Der  kurze  Inhalt  dieser  ganzen  Stelle 
ist  der:  Was  von  langer  Erfahrung  und 
Ausübung  ab  hing,  das  haben  die  Neuern 
immer  mehr  und  mehr  erweitert  und  fast 


122  ERSTER  BRIEF 

zu  dem  höchsten  Grade  der  Vollkom- 
menheit gebracht  ;  was  von  Genie  und 
Talenten  abhing,  das  haben  die  Alten 
schon  alles  weggenommen.  Also  blofs 
der  Fleil's,  blofs  das  Sammeln  und  Beob- 
achten, macht  den  Vorzug  der  Neuern 
aus?  Blofs  in  Botanik  und  Anatomie  und 
Chirurgie  und  andern  von  Ihnen  ange- 
führten Wissenschaften  —  die  denn  doch 
immer  auch  Genie  erfordern  —  sind  sie 
weiter  gekommen?  Sie  haben  gleichsam 
nur  unter  den  Augen  der  Alten  nach 
Maafsgabe  der  Ideen,  die  diese  alleinige 
Genies  ihnen  angegeben,  jmechanisch  fort- 
gearbeitet? Und  der  Fortgang,  den  sie 
in  der  Schiffahrt,  in  der  Astronomie,  in 
allen  Theilen  der  Physik  gemacht,  der 
hinge  blofs  von  der  Erfindung  des  Com- 
passes,  der  Ferngläser,  der  Vergröfse- 
rüngsgläser  und  anderer  Werkzeuge ;  die- 


AN  HERRN  DUTENS.        123 

se  Erfindung  wieder  vom   Zufalle ,    und 
also  am  Ende  Alles  vom  Zufalle  ab?  — 
Wahr  ist   es^    der  Zufall   hat   dabei   sehr 
viel  gethan,   aber  doch   nimmermehr  Al- 
les.    Viele    der    wichtigsten   Erfindungen, 
die  uns   grofse  Aufschlüsse   in  der  Natur 
gegeben,  sind  nichts  weniger  als  zufällige 
Entdeckungen;     es   sind  wahre,   mit  Ab- 
sicht  gesuchte  Erfindungen   gewesen»    zu 
denen   aber   freilich   die  Data   erst   mufs- 
ten  vorhanden  seyn.     Und  dann  hat  auch 
der  Zufall  zu   jenen    glücklichen  Entdek- 
kungen  nur  denAnlafs  geliefert,  den  erst 
das     arbeitende     Genie     der     Entdecker, 
oder   derer    die  ihre   Entdeckungen    auf- 
fingen,  zu  seiner   völligen  zweckmäfsigen 
Vollkommenheit  ausbildete.    Eine  Ausbil- 
dung,   die  nicht   selten   die  künstlichsten 
Ideenverbindungen   und   eine   sehr  lange 
Reihe  von  Reflexionen  erforderte.  — 


124  ERSTER  BRIEF 

Sonach  dächte  ich  immer,  Herr  Du- 
tens,  dalis  Sie  zwar  dem  Zufalle  liefsen  was 
ihm  gebührt,  aber  auch  gegen  die  Ver- 
dienste der  Neuern  gerecht  blieben.  Wir 
haben  eben  sowohl  unsere  Genies,  und 
haben  gewifs  eben  so  grolse  Genies  ge- 
habt, als  die  Alten;  auch  wäre  es  in  der 
That  sehr  sonderbar,  wenn  es  anders 
wäre.  Warum  sollte  denn  nur  die  gei- 
stige Natur  an  Kräften  erschöpft  seyn, 
da  die  körperliche  noch  immer  eben  so 
wacker  und  eben  so  voll  Zeugungskraft 
ist,  als  vordem?  —  Die  Neuern  haben 
nicht  blofs  Erfahrungen  angestellt,  sie 
haben  auch  vorlreilich  darüber  gedacht; 
sie  haben  nicht  blofs  entdeckt,  sie  haben 
auch  wirklich  erfunden;  sie  haben  es  in 
ihren  Entdeckungen  nicht  blofs  bei  dem 
bewenden  lassen  was  der  Zufall  that;  sie 
haben  diese  auch  mit  grofsem  Verstände 


AN  HERRN  DUTENS.        125 

vervollkommnet,  mit  grolsem  Verstände 
die  Beobachtungen  verglichen,  mit  gro- 
fsem  Verstände  Grundsätze  heraus  gezo- 
gen, und  zur  Erweiterung  und  Bereiche- 
rung der  Wissenschaften  angewandt. 
Ich  bin  u.  s.  f. 


120 

NEUNTES    STÜCK. 

ZWEITER    BRIEF    AN    HERRN 
DUTENS. 


öie  scheinen  mich  wegen  der  Erinne- 
rungen, die  ich  Ihnen  entgegengesetzt, 
einigermafsen  in  Verdacht  zu  haben,  als 
ob  ich  ein  Verächter  der  Alten  wäre.  Sie 
thun  mir  Unrecht,  Herr  Dutens.  Man 
darf  ja  denjenigen  nicht  gleich  verachten, 
den  man  nicht  ganz  allein  und  ausschlie-» 
fsungs weise  hochachten  kann.  In  der 
That  gehöre  ich  zu  den  gröfsten  Vereh- 
rern der  Alten,  der  ihnen  nicht  nur  "viele 
der  Vorzüge  und  Verdienste,  die  Sie 
ihnen  beilegen ,  sondern  überdas  noch 
manche  andre  des  Vortrages  und  des 
schriftstellerischen    Charakters    zugesteht. 


AN  HERRN  DUTENS.        127 

die  schon  allein  zu  ihrer  eifrigsten  Le- 
sung ermuntern  raüfstenr  Nur  das  konn- 
te ich  nicht  zugeben,  dafs  Sie  die  Genies 
der  Alten  auf  eine  ungerechte  Art,  und 
die  zugleich  den  Muth  des  Philosophen 
eher  niederschlagen,  als  zu  weiterm  For- 
sctien  beseelen  mufs,  über  alle  n^uern 
Genies  hinausheben  wollten.  Der  Rang- 
streit ist,  wie  überall,  so  auch  hier,  ein 
sehr  unnützer  Streit;  und  hier  noch  um 
desto  unnützer,  da  es  in  dieser  Materie 
der  Zweifel  und  Dunkelheiten,  der  Viel- 
leicht und  der  Vermuthlich  so  viele  giebt, 
dafs  man  nie  eine  sichre  endliche  Ent- 
scheidung zu  hoffen  hat.  Überdies,  wenn 
es  ungereimt  wäre,  das  Genie  nur  dem 
einen  Theile  ausschliefsungsweise  vor  dem 
andern  beizulegen;  so  würde  die  ganze 
Untersuchung  zuletzt  auf  die  Frage  an- 
kommen:   welcher   von   beiden   Th eilen 


128  ZWEITER  BRIEF 

mehr,  weldier.  weniger  Gtiiiien  giejzeigt? 
Aber  wer  hat'  noch  je  einen  richiigen 
Maafsstab  für  die  Genies  erfmiden,  oder 
wer  wird  ihn  erfinden? 

Sie,  mein  Freund,  vvaren  bei  Ihrein 
Kenntnissen  unstreitig  au  einem  weit  wich- 
tigern und  originalem  Werke  fähig»  Ebteu 
darum  verdri eist 'es  mich,  dafs  Sie  jeneil 
alten  fast  vergefsnen  Rangstreit .  wieder: 
hervorgesucht  haben:  Die  Auffeehrift  Ih- 
res Buchs:  eine  Untersuchung  über  den 
Ursprung  der'  Elitdeckungen  der  Neuern, 
versprach  mir  so  viel!  Ich  erwartete  von 
dem  Verfasser  der  Monadologie  ujid  dem 
verdienstvollen  Herausgeber  der  Leibnit^i- 
schen  Werke  nichts  Geringers  >ials.  ^afs 
er  den  Systemen  der  Neuern  bis  zti  den 
ersten  unvollkoramnen,  zerstreuteil  Ideen, 
woraus  sie  geworden  sindf  nachspür ert^ 
dafs   er  mich   voix'  den  vollen  und  tiefen 

Strö-  ■ 


j 


AN  HERRN  DUTENS. 


129 


Strömen,  die  sich  jetzt  mit  solcher  Pracht 
in  'das  -allgemeine  Meer  der  Erkenntnifs 
erglefsen,  bis  zu  den  ersten  nnansehnli- 
chen  Quellen  hinaufbegleiten,  und  mir 
während  seines  Ganges  zeigen  würde,  wie 
sie  durch  allmähliche  Aufnahme  einzelner 
Zuflüsse  bis  zu  ihrer  jetzigen  Fülle  und 
Herrlichkeit  angewachsen.  Kurz,  ich  er- 
wartete ein  Werk,  worin  nicht  sowohl 
die  Philosophen,  als  die  Ideen  der  Philo*- 
sophen  verglichen,  und  das  allmähliche- 
Wachsthum  der  menschlichen  Erkennt- 
nifs, w^enn  auch  nur  zum  Theil,  wenn 
auch  nur  in  einigen  Puncten,  entwickelt 
würde.  Und  in  der  That,  liebstei*  Freund, 
hätten  Sie  die  Schwierigkeiten,  die  sich 
freilich  bei  so  einem  Werke  finden,  nur 
mit  einigem  Glück  überwunden;  hätten 
Sie  die  Ausführung  nur  einjgermafsen  zu 
den  philosophischen  Absichten  hingelenkt, 

r.ngels  Philosopli,  T.  q 


150  ZWEITER  BRIEJP 

um  derentwillen  so  ein  Werk  eigentlich 
gewünscht  wird:  was  für  Dank  würden 
Sie  Sich  nicht  bei  der  gelehrten  Welt  er- 
worben, und  was  für  Erbauung  bjei  dem 
Gelehrten  sowohl  als  dem  Denker  gestif- 
tet haben! 

Lassen  Sie  mich  hier  einen  der  Ge- 
sichtspuncte  angeben ,  aus  welchem  ich 
so  eine  Geschichte  geschrieben  wünsch- 
te. —  Wir  sind  unläugbar  seit  den  Zei- 
ten der  Griechen  und  Römer  weiter  ge- 
kommen: nicht  blofs  in  solchen  Wissen- 
schaften >  die  sich  unmittelbar  auf  Erfah- 
rung und  Beobachtung  gründen,  oder  wo 
erst  ein  glückliches  Ungefähr  neue  Werk- 
zeuge der  Erfindung  hergeben  mufs;  son- 
dern auch  in  den  höhern  metaphysischen 
Wissenschaften,  auch  in  den  abstractern 
Speculationen  über  Gott  und  Welt  und 
Natur  der  Seele  u.  s.  f.     Wir  finden  über- 


AN  HERRN  DUTENS.       131 

all  mehr  Licht _,  mehr  Ordnung,  mehr 
Wahrheit  und  Evidenz  in  den  neuern, 
als  in  den  altern  Zeiten.  Aber  eben  so 
unläugbar  ist's,  dafs  wir  in  andern  wich- 
tigen Stücken  der  Erkenntiüfs,  trotz  den 
fortgesetzten  unablässigen  Bemühungen 
der  gröfsten  Köpfe,  noch  immer  eben  so 
unwissend  sind,  wie  die  Alten.  Wenn 
wir  ja  weiter  gekommen  ;  so  ist  es  nur 
darin,  dafs  wir  unser  Unvermögen  zu 
wissen  besser  einsehen:  denn  auch  dieses 
heifst  weiter  kommen.  —  Wir  haben  auf 
dem  Felde  der  Wissenschaften  einige  nie- 
drige Hügel,  auch  einige  ansehnlichere 
Höhen  gewonnen,  von  denen  herab  wir 
das  alte  Gebiet  erweitert  und  reizende 
Aussichten  in  neue  Gegenden  erhalten; 
aber  die  wichtigsten  Höhen,  von  denen 
die  weitesten  Aussichten  2u  hoffen  waren^ 
und  hinter   denen   es  eine  unermefsiiche 


IS2 


ZWEITER  BRIEF 


Beute  von  Erkenntnifs  geben  mui's :  diese 
haben  wir  noch  immer ,  eben  wie  die 
Alten,  unerstiegen  gelassen.  Der  ganze 
Unterschied  zwischen  uns  und  ihnen 
mögte  der  seyn :  Die  Alten  suchten  zu 
dem  unersteiglichen  Gipfel  nur  auf  eini- 
gen Wegen  zu  gelangen;  der  Versuch 
war  umsonst:  aber  immer  blieb  noch  die 
Hoffnung,  dais  ein  kühnes  Genie  von  ir- 
gend einer  andern  £eite  glücklicher  seyn 
wurde.  Wir  hingegen  haben,  in  der  Fol- 
ge der  Zeit,  nicht  nur  die  alten  Wege 
von  neuem  betreten,  und  jede  Ausbeu- 
gung, jede  Krümmung  versucht,  wo  der 
gerade  Pfad  zu  steil  war;  wir  sind  auch 
den  ganzen  Fufs  der  Höhe,  so  weit  er 
sich  umgehen  liefs,  wirklich  umgangen, 
haben  von  jeder  Seite  den  Versuch  er- 
neuert, und  haben  ihn  von  jeder  vergeb- 
lieh    efunden.     Wir  haben  also  vor  den 


AN  HERRN  DUTENS.        155 

Alten  den  Vortheil^  oder  sollten  ihn  we- 
nigstens haben :  dafs  wir  alle  Absichten 
auf  diese  fruchtlosen  Unternehmungen 
aufgegeben,  und  nun  unsre  sämmtlichen 
Kräfte  dran  setzen,  um  in  den  vor  uns 
liegenden  ebenern  Gegenden,  wo  die 
Schwierigkeiten  für  .menschliche  Kraft 
überwindlich  sind,  immer  mehr  und 
mehr  wüstes  Land  zu  gewinnen  ujid  ur- 
bar zu  machen. 

Dieses,  was  ich  hier  nur  im  Allgemei- 
nen angab,  durch  die  einzelnen  Materien 
durchzuführen,  nicht  blofs  in  leeren  Ti- 
raden  über  das  Unvermögen  des  mensch- 
lichen Geistes  zu  declamiren,  sondern  die 
wohlgefafsten  Schwierigkeiten  in  den  ein- 
zelnen Fragen  zu  vergleichen,  um  die 
allgemeinern  herauszuziehen  ;  die  so  ge- 
fundenen unauflöslichen  Probleme  unsrer 
Erkenntnils  in  deutli(ihen  S.irzen  anziige- 


134  ZWEITER  BRIEF 

ben,  damit  der  Philosoph  jede  einzelne 
Materie  auf  sie  zurückführen,  und  wie 
weit  er  sich  einlassen  dürfe,  vorhersehen 
könne:  das,  liebster  Freund,  wäre  eine 
der  wichtigen,  wahrhaftig  philosophischen 
Absichten  ,  die  der  pragmatische  Ge- 
schieh tschreiber  der  Philosophie  vor  Au- 
gen haben  müfste,  und  die  seinem  Wer- 
ke einen  unsterblichen  Werth  geben  wür- 
den. Wenn  die  philosophische  Geschich- 
te, ihrem  gröfsten  Theil  nach,  eine  Ge- 
schichte der  Verirrungen  unsers  Geistes 
und  seiner  verschwendeten  Kräfte  ist:  zu 
welchem  Endzwecke  sollte)  sie  dann  eher 
hingerichtet  werden,  als  dafs  wir  künftig 
vor  gleichen  Verirrungen  oder  vor  glei- 
cher Verschwendung  unsrer  Kräfte  be- 
wahrt würden  ?  —  In  der  That  wird 
noch  immer  so  viel  Vergebliches  unter 
uns  geschrieben :  Akademieen  werfen  Fra- 


AN  HERRN  DUTENS.       155 

gen  auf^  und  philosophische  Köpfe  stren« 
gen  ihren  Scharfsinn  an,  sie  zu  beant- 
worten; Fragen,  worin  sich  der  wesent- 
liche Punct  sogleich  als  unerklärlich  zei- 
gen würde,  weim  man  sie  auf  eins  von 
jenen  Problemen  zurückbrächte. 

Aber  —  könnten  Sie  sagen  —  gehört 
nicht  vielleicht  diese  ganze  Idee  in  die 
Zahl  jener  süfsen  Träume,  die  so  leicht 
erdacht  und  so  schwer  realisirt  sind?  Ich 
fürchte  das  nicht,  liebster  Freund.  Denn, 
wie  Sie  wissen,  so  ist  in  manchen  schätz- 
baren Werken  schon  vieles  geschrieben 
worden,  woraus  sich  die  Möglichkeit  ei- 
nes solchen  Werkes  begreifen  läfst.  Wä- 
re dies  nicht,  so  würde  ich  die  ganze 
Idee,  ai.ch  gegen  Sie,  unterdrückt  haben; 
denn  ich  hasse  von  ganzem  Herzen  die 
schwindelnden  Planmacher,  die  immer  so 
stolze  und  so  unmöglich    auszuführende 


136         AN  HERRN  DUTENS. 

Entwürfe  mit  einer  Miene  hinwerfen^  als 
ob  es  nur  auf  ihren  Willen  ankäme,  sie 
auszuführen.  Leider  ist  die  Miene  an 
diesen  Herren  das  Beste,  wo  nicht  gar 
Alles,  Sollte  es  vom  Reden  zur  That 
kommen ;  so  mögten  sie  oft  gegen  die 
getadelten  und  gehohnneckten  Autoren, 
denen  sie  von  der  Höhe  ihrer  Ideale  her- 
ab so  verächtliche  Blicke  geben,  nicht 
viel  besser,  als  Marsyas  gegen  den  Apoll, 
bestehen. 

Ich  bin  u.  s.  w. 


15' 

^'    •     '        ZEHNTES     STÜCK. 

ijfBER    EMILIA    GALOTTI. 

ERSTER    BRIEF. 


Oie  haben  Recht,  liebster  Freund:  wenn 
auch  Einilia  Qalotti  alle  die  Fehler 
hätte,  die  verschiedne  Kunstrichter  darin 
haben  finden  wollen ;  so  würde  man  sie 
doch  alle  über  den  einzigen  Marinelli 
vergessen.  So  sehr  ich  auch  die  Charak- 
tere des  Odoardo  und  der  Orsinay  we- 
nigstens von  gewissen  Seiten  und  in  ge- 
wissen Situationen,  bewundre;  so  bewun- 
dre  ich  doch  noch  mehr  den  in  allen 
seinen  kleinsten  Theilen  so  wahren,  so 
ausgeführten,  von  Anfang  bis  zu  Ende  so 
wohl  erhaltnen  Charakter  des  Marinelli, 
Von    der    moralischen    Seite    betrachtet, 


138  ÜBER 

sei  er  so  schwarz  als  er  wolle ;  ich  bin 
der  erste,  ihn  zu  verwünschen:  aber  von 
der  poetischen,  ist  er  einer  der  schön- 
sten und  ausgeführtesten,  die  nur  je  auf 
der  Bühne  erschienen  sind. 

Gleich  zu  Anfange  erscheint  Marinel- 
li  als  der  gewandte  und  verschlagene  Höf- 
ling, als  der  niederträchtige  und  durch 
lange  Übung  im  Laster  ausgelernte  Ver- 
führer, der  er  das  ganze  Stück,  hindurch 
bleiben  wird.  Das  Empressement,  wo- 
mit er  zum  Dienst  eilt;  die  leichte  Art, 
womit  er  dem  Fürsten  Schmeicheleien 
sagt;  die  Geschwindigkeit,  womit  er  sich 
nach  jedem  Winde  dreht,  und  Alles  wird 
was  sein  Vortheil  in  jeder  Situation  aus 
ihm  haben  will;  der  leichtsinnige,  hämi- 
sche, persiffürende  Witz,  womit  er  über 
Appiajii  und  Orsiiia  herfährt;  die  Vor- 
urtheile  von   Geburt,    von  Ehrenstelle]\. 


EMILIA  GALOTTI.  139 

von  ersten  Häusern  ;  die  vollkommne 
Einsicht,  die  er  sich  in  den  Charakter 
des  Fürsten  erworben,  und  vennöge  de- 
ren er  so  vortreflich  weifs,  wie  weit  er 
jedesmal  gehen  oder  nicht  gehen  darf, 
wie  er  ihn  zu  dem  Puncte  wo  er  ihn 
haben  will,  hinbringen,  oder  wenn  er 
ihm  abspringt,  ihn  wieder  zurückholen 
soll ;  die  meisterhaften  Wendungen,  wo- 
mit er  dem  Härtesten  was  er  zuweilen 
sagen  zu  müssen  glaubt,  das  Allzuauffal- 
lende zu  benehmen,  und  indem  er  es 
wieder  gut  macht,  es  zu  seinem  gröfsten 
Vortheil  zu  nutzen  weifs  ;  die  allertiefste 
Vei'stellungskunst,  womit  er  sich  aus  den 
schlimmsten  Händeln  herauszureden  und 
seiae  wahren  Absichten  gegen  jedermann 
zu  verhüllen  weifs ;  die  unbegreifliche 
Kälte  und  Gleichmüthigkeit,  die  ihm  im- 
mer   völlige     Besonnenheit     läfst ,    neue 


i4o  ÜBER 

Hiilfsquellen  zn  erofnen  und  neue  Räder 
in  die  Maschine  einzusetzen^  wenn  es  mit 
den  alten  nicht  mehr  fort  will;  das  krie- 
chende Wesen,  womit  er  wahre  Grob- 
heiten vom  Prinzen  hinnimmt,  und  ohne 
böse    zu  werden,    sich   Thor    und  Narr 

schelten  läfst Doch   wie  kann  ich 

alle  die  einzelnen  Zuge  herzählen,  die  so 
wohl  zusammen  geordnet,  so  fein  in  ein- 
ander verflöfst,  ein  so  lebendiges  und 
vollendetes  Ganze  geben,  dafs  ich  nie 
müde  werde,  es  zu  betrachten  und  zu 
bewundern?  Wenn  ja  der  eine  oder  der 
andre  dieser  Züge  in  einzelnen  Stellen 
weniger  getroffen  scheint  ( welches  doch 
vielleicht  nur  im  fünften  Act  der  Fall  ist, 
wo  Marinelli  dem  Prinzen  eine  für  ihn 
nicht  schickliche  Rolle  aufträgt),  so  liegt 
die  Schuld  wohl  uns^reitig  an  dem  we- 
niger   richtigen    Charakter    des    Prinzen, 


EMILIA  GALOTTI.  141 

der,  wie  Sie  Selbst  schon  bemerkt  ha- 
ben, auch  auf  den  Charakter  des  Mari- 
nelli  ein  falsches  Licht  wirft. 
,  Aber,  sagen  Sie  am  Ende  Ihres  Brie- 
fes^ ist  nicht  Marinelli  vielleicht  ein  zu 
schwarzer,  zu  rucjhloser  Charakter?  Bricht 
nicht  seine  nichtswürdige  Denkungsart  in 
allzuimgeheure ,  allzuschändliche  Hand- 
lungen aus?  Sollte  es  je  in  der  Natur  ei- 
nen Marinelli   gegeben  haben? 

Herr  Lesshig  hat  selbst  so  viel  Wah- 
res und  Gutes  gegen  die  grundlose  Bos- 
heit geschrieben,  dafs  es  sonderbar  wäre, 
wenn  er  sich  diesen  Fehler  in  seinen  eig- 
nen  Werken  zu  Schulden  kommen  liefse. 
Aber  Marinelli,  deucht  mir,  hat  zu  seinen 
Bosheiten  Gründe,  die  nach  seinem  Cha- 
rakter, seinen  Umstünden,  seinen  \^orur- 
theilen,  entscheidend  genug  sind :"' nur 
das  könnte  etwa  beleidigen,  dafs  er  diese 


i4a  ÜBER 

Bosheiten  mit  so  grofser  Kälte  und  Ruh* 
ausführt  ;  allein  auch  davon  zeigt  sich 
der  hinlängliche  Grund  in  seiner  langen 
Gewohnheit  des  Lasters.  Er  hat  es  dar- 
in zu  einer  Art  mechanischer  Fertigkeit 
gebracht;  sein  Bubenstück  geht  ihm,  wie 
einem  geübten  Künstler  sein  Werk  von 
Händen,  ohne  dafs  er  oft  selbst  mehr 
weifs,  was  und  wie  er  es  macht. 

Die  ehrloseste  seiner  Unthaten  ist  oh- 
ne Zweifel  der  Meuchelmord  des  Appia- 
ni.  Aber  schwerlich  würde  er  so*  weit 
gegangen  seyn ,  wenn  ihn  nicht  seine 
äufserste  Feigheit,  seine  Furcht  vor  einem 
imverm eidlichen  Zweikampf,  gleichsam 
dazu  gezwungen  hätte  ;  wenigstens  hat 
Herr  Lessing  diecäen  Umstand  mit  grofser 
Kunst  im  Dunkeln  gelassen.  Nächst  die- 
sem Morde,  erscheint  er  am  häfsJichsten, 
als   —  ich   will   es   mit   dem  Worte  der 


EMILIA  GALOTTI.  145 

Cl.Tudia  sagen  —  als  der  Kuppler  des 
Prinzen.  Und  zwar  als  ein  so  nieder- 
trächtiger Kuppler^  dem  der  Schändlich- 
ste Lug  imd  Trug^  dem  das  äufserste 
Verderben  einer  achtungswurdigen  Fami- 
lie nichts  ist,  wenn  er  nur  dem  Prinzen 
zu  seinem  Zwecke  verhelfen  kann.  Die- 
se Nichtswürdigkeit  zu  erklären,  mufs 
man  sich  in  die  ganze  Situation  eines 
Mannes ,  wie  Marinelli ,  hineindenken- 
Lieblinge  seiner  Art  verüben  solche 
Schandthaten,  weil  es  die  einzigen  Mit- 
tel zur  Befriedigung  ihrer  eignen  heifse- 
sten  Begierden  sind;  weil  sie  durch  an- 
ders nichts  zu  dem  zu  gelangen  wissen, 
was  für  sie  die  höchste,  ja  die  einzige 
Seligkeit  des  Lebens  ist.  Denken  Sie 
Sich  diese  Unglücklichen  mit  ihren  jäm- 
merlichen kleinen  Vorurtheilen,  die  sie 
7um  Theil   schon   durch   die  ersten  Ein- 


i44  ÜBER 

drücke  ihrer  Kindheit  erhalten;   mit   ih^ 
ren  so   eingeschränkten,    aber   eben   des^ 
wegen  nur    fester   gegründeten  Begriffen 
von  Hofleben,  von  Gnade,  von  der  Per- 
son des  Prinzen,  von  Piang,  von  Einfiufs, 
von    Reich thum ,    von    Ehrentiteln,    von 
Ordensbändern,  von  Schlüsseln.     Der  ge- 
wöhnliche  Gesellschafter   des  ^Prinzen   zu 
seyn,   unangemeldet  zu  ihm  hineintreten 
zu  dürfen,    mit  ihm  zu  fahren,     bei  der 
Cour  des    gnädigsten  Lächelns  gewürdigt 
zu   werden,    wohl  gar  in   einem   Winkel 
mit  ihm    zu   flüstern,    seine    eigne   Anti- 
chambre    zu    halten^    Aufwartungen    von 
den    Vornehmsten    zu    bekommen :     das 
sind  für  sie   die  höchsten  Seligkeiten  des 
Lebens,    ohne   die  sie   ihr  Dasein  hassen 
würden,   und  auch  Ursache   hätten  es  zu 
hassen.      Denn  was    können   doch    diese 
Armseligen,    deren  ganze  Kenntnifs  sich 

auf 


EMILIA  GALOTTI.         «45 

auf  Etikette  und  Ränke  eins  ehr  änlct;  was 
können  sie  doch  mit  ihrem  Leben  noch 
anfangen^  wenn  für  sie  keine  Coui-^  kei- 
ne Tafel ^  keine  Galla  mehr  ist  ?  Was 
bleibt  ihnen  übrige  als  sich  vor  Langer- 
weile den  Tod  zu  wünschen  und  zu 
sterben?  Dazu  kommt  noch  die  unend- 
liche Verachtung,,  die  sie  dann  um  desto 
empfindlicher  treffen  mufs^  je  mehr  sie 
sich  in  ihrem  blühenden  Glücksstande 
Feinde  und  Neider  zugezogen  haben. 
Mit  welcher  Begierde  müssen  sie  also 
jenes  Glück  nicht  suchen >  und  wenn  sie 
es  einmal  erlangt^  mit  welcher  Inbrunst 
es  festhalten!. 

Ihre  ganze  Wohlfahrt  hängt  an  der 
Gnade  des  Prinzen;  und  diese  zu  erwer- 
ben^ was  giebt  es  für  Mittel?  Verdienste 
um  den  Stadt;  oder  Verdienste  um 
sei^e  Pez-jo/z.    Zu  jenen^  die  noch  üb er- 

Engels  Philosoph^  L  Iq 


i\6  ÜBER 

dles^  wenri  der  Prinz  ein  Wollüstling 
oder  ein  Mufsiggänger  ist_,  am  wenigsten 
geschätzt  und  belohnt  werden^  haben  sie 
die  Fähigkeiten;  die  Kenntnisse  nicht  — ^ 
die  haben  nur  die  würdigern  Männer, 
die  CarniÜo  Rota;  —  also  bleibt  ihnen 
nichts  übrig;  als  sich  um  die  Person  des 
Prinzen  verdient  zu  machen.  Und  wie 
das?  Indem  sie  siclf  aus  dem  Charakter 
des  Prinzen  ihr  höchstes  Studium  ma- 
chen,  alle  seine  kleinsten  Keigungen, 
Schwächen,  Eigensinnigkeiten  ausforschen, 
sich  in  allem  darnach  bequemen,  ihnen 
alle  Mittel  ziu*  Befriedigung  ihrer  Begier- 
den herbeischaffen,  ihnen  darin  zuvor- 
kommen. Das  führt  sie  dann  oft  zu  Nie- 
derträchtigkeiten, die  ihnen  anfangs,  eh* 
sie  noch  in  die  Gewohnheit  kommen, 
sehr  unangenehm  seyn  können:  aber  was 
in  aller  Welt   sollen  sie   machen  ?    Der 


EMILIA  GALOTTL  147 

nichtswürdigen  Seelen  giebt  es  überall^ 
und  nirgend  mehr  als  in  der  Gegend  der 
Höfe:  was  also  sie  nicht  thäten,  würde 
ein  Anderer  thun;  dieser  Andere  würde 
sie  wegdrängen  ^  würde  an  ihre  Stelle 
treten;  wüxde  sie  um  alle  Wonne  des 
Hofes^  um  aUe  Seligkeiten  des  Lebens 
bringen.  —  Von  diesem  kleinen  Anfan- 
ge geht  dann  die  Bosheit  schrittweise 
weiter.  Dem  alten  ausgelernten  Höfling 
genügt  es  nun  nicht  mehr^  den  Neigun- 
gen seines  Prinzen  vxvc  riachzugehn ;  er 
sucht  auch  ausdrücklich  sie  zu  erwecken: 
er  giebt  sich  die  äufserste  Mühe^  beson- 
ders wenn  der  Prinz  noch  jung  ist^  sei- 
nen Charakter  zu  verderben^  seilte  Be- 
gierden zu  reizen^  seine  Lüste  anzufa- 
chen, damit  er  ihm  zu  ihrer  Befriedigung 
nothwendig  werde.  Zu  dem  allen  gesellt 
sich  daxm  noch   die  Cabale,    der-  Neid; 


i48  ÜBER 

die  Lust  an  der  Intrigue^  das  Vergnügen, 
die  Kräfte  seines  Oeistes  an  der  Ausfüh- 
rung niifslicber  Projecte  zu  üben. 

So  ^  liebster  Freund.^  erkläre  ich  mir 
den  niederträchtigen  Charakter  d.es  Ma- 
rinelji  und  aller  ihm  ähnlichen  Günsthn- 
ge.  —  Ich  weifs  nicht^  wie  Sie  oder  an- 
dere denken;  aber  ich  meines  Orts  bin 
einem  Dichter  für  einen  wohlgezeichne- 
ten bösen  Charakter  eben  so  $ehr  und 
oft  mehr^  als  für  den  bestgezeichneten 
guten  verbunden.  Gemeiniglich  lerne  ich 
daraus  mehr  in  Absicht  der  Kenntnifs  des 
Menschen^  mehr  m  Absicht  der  Klugheit 
des  Lebens,  mehr  in  Absicht  der  drama- 
tischen Kunst.  Auch  haben  dergleichen 
Schiiderungen  unmoralischer  Charaktere 
auf  den  Zuschauer  eine  sehr  moralische 
_Wirkung.  Der  Dichter,  dei'  das  Laster 
in  seiner  natürlichen  Häfslichkeit  darstellt^ 


EMILIA   GALOTTI.  149 

bessert  oft  mehr  als  ein  andrer _,  der  nur 
immer  rühren,  immer  zärtliche  Thränen 
hervorlocken,  immer  dmxh  Aufstellung 
sanfter,  unschuldiger,  grofsmüthiger  Ge- 
mälde für  die  Tugend  einnehmen  Avill. 
Es  ist  wahr,  man  darf  die  Tugend  nur 
kennen,  um  sie  zu  lieben;  aber  um  sie 
recht  feurig  zu  lieben,  mufs  man  noch 
mehr,  mufs  man  auch  noch  das  Laster 
kennen. 

Ich  hatte  anfangs  die  Idee,  eine  klei- 
ne Geschichte  von  dem  Leben  des  Ma- 
rinclli  zu  entwerfen,  und  Sie  von  der 
Wahrheit  dieses  Charakters  eben  dadurch 
zu  überführen,  dafs  ich  Ihnen  die  Art 
seiner  Bildung  zeigte.  Nachher  ward  ich 
irme,  dafs  eine  solche  Ai'beit  für  meine 
Kräfte  vielleicht  zu  schwer  und  gewifs 
für  meine  Zeit  zu  weitläuftig  w\äre.  Aber 
warum  nehmen   doch   unsre  Romandich- 


i5o       ÜBER  EMILU  GALOTTI. 

ter  die  Ideen  zu  ihren  Werken  nicht 
dann  und  wann  von  der  Bühne ^  und  su- 
chen vortrefiiche  Charaktere,  die  der 
dramatische  Dichter  nur  in  einzelnen  Si- 
tuationen bearbeiten  konnte,  weiter  zu 
entwickehi  und  bis  zu  ihrer  ersten  Ent- 
stehung zu  verfolgen?  Durch  nichts  könn- 
ten sie  mehr  Kenntnifs  der  Welt  und 
des  Mensclien  zeigen ;  durch  nichts  mehr 
unterrichten  und  bessern,  als  durch  Wer- 
ke dieser  Art,  die  das  in  Absicht  ganzer 
Charaktere  thäten,  was  Shakespears  beste 
Schauspiele  in  Absicht  einzelner  Leiden- 
schaften thim  :  dafs  sie  ihnen  nehmlich 
von  ihrer  ersten  Anlage  bis  zu  ihrer  letz- 
ten völligen  Ausbildung  schrittweise  nach- 
gingen. -^ 


i5i 

EILFTES    STÜCK. 

ZWEITER     BRIEF. 


XTLUch  Über  den  Charakter  des  jf4ppiajii 
bin  ich  im  Ganzen  mit  Iluien  einig  ;  er 
enthält  etwas  aulTallcnd  Sonderbares. 
Der  Mann  hat  alle  mögliche  Ursachen 
zum  Vei'gnügen  ;  er  hat  die  liebenswür- 
digste und  geliebteste  Braut;  tritt  in  Ver- 
bindung mit  der  achtungswerthesten  Fa- 
milie; wird  der  Sohn  eines  Vaters,  der 
seine  ganze  Bewunderung,  seine  zärtlich- 
ste Ehrerbietung  hat  :  und  bei  alle  dem 
ist  er  nicht  nm'  ernst,  er  ist  tiefsinnig, 
mürrisch.  Wenn  die  Ursache  davon  nicht 
in  einem  natürlichen  Hange  zur  Melan- 
cholie oder  in  einem  Fehler  des  Charak- 


i53  ÜBER 

ters  liegt  —  und  das  scheint  hier  nach 
allen  Umständen  der  Fall  nicht  zu  seyn:  — 
so  mufs  sie  nothwendig  in  seiner  jetzi- 
gen besondern  Verfassung  liegen ;  aber 
was  wir  da  sehen,  ist  eine  wirkliche  Klei- 
nigkeit. Es  kann  ihm  ärgerlich  seyn^,  dafs 
er  bei  dem  Prinzen  noch  vorfahren  und 
ihm  seine  Vermählung  kundmachen  soll; 
aber  unmöglich  kann  so  ein  einziger  klei- 
ner Umstand  ihn  so  völlig  aus  seiner 
Fassung  heben.  Der  wahre  Hauptgrund 
'  seines  Verdrusses  liegt  also  in  jenen  ge- 
heimnifsvollen  Ahmuigeii,  deren  er  ge- 
gen Emilie  und  ihre  Mutter  erwähnt; 
aber  blofs  erwähnt ;,  ohne  auch  nur  die 
mindeste  Veranlassung   dazu  zu  zeigen. 

Ich  will   nicht  läugnen,,    dafs    derglei- 
chen   Ahnungen    wirklich    in    der   Natur 
sind  ;    sie  mögen _,    wie  der  Verfasser  der 
\     Träume  eines  Geistersehers  will;,   aus  ei- 


EMILIA  GALOTTI.  155 

nem  geheimen  Commercinm  der  Seelen 
entstellen  :  so  viel  aber  weifs  icli^  dafs 
icli  auf  der  Bühne  noch  immer  lieber 
Träume ;,  als  Ahnungen  haben  mögte'. 
Jene  sind  gewöhnlicher^  und  werden  im 
Schlafe^  wo  die  Seele  vor  den  Eincb^ük- 
ken  der  Wirklichkeit  völlig  verschlossen 
ist_,  durch  eine  freie  umherschwärmende 
Phantasie  erzeugt;  sie  erlangen  oft  den 
äufsersten  Grad  der  Lebhaftigkeit^  imd 
setzen  dann  das  Blut  in  eine  Wallung, 
die  Nerven  in  eine  Erschütterung,  die 
oft  lange  nach  dem  Erwachen  noch  fort- 
dauren  und  Bänglichkeit  luid  Schwer- 
muth  hervorbringen.  Diese  hingegen  — 
wenn  ich  sie  auch  nicht  völlig  von  der 
Bühne  wegwünschte,  so  mögte  ich  sie 
doch  niemals  imter  solchen  Umständen 
und  mit  so  au (seror deutlichen  Wirkun- 
gen,   wie  hier.      Alle   Gründe   znm  Ver- 


154  ÜBER 

c^  nugen  sind  hier  so  grofs^  so  mannich- 
altig,  so  in  die  Augen  leuchtend  ;  der 
einzige  klar  erkannte  Grimd  zum  Verdnis- 
se  ist  so  nichtig,  so  unbedeutend,  dafs 
er  das  Züngelchen  in  der  Wage  kaum 
um  eine  Linie  verrücken  sollte;  und  was 
hält  denn  nun  jenen  Gründen  das  Gleich- 
gewicht ?  was  giebt  der  Wage  an  der 
entgegengesetzten  Seite  den  Ausschlag? 
was  reifst  sie  so  ganz  auf  den  Boden 
herunter?  —  Eine  Ahnung,  wovon  nie- 
mand, Appiani  selbst  nicht,  weifs  wo  sie 
herkommt ;  ein  gewisses  unnennbares  Et- 
was, das  sich  vielleicht  eben  defs wegen 
nicht  nennen  lafst,  weil  es  ein  blofses 
Nichts  ist. 

Wie  aber  der  Dichter  auf  diesen  Zug 
im  Charakter  gerathen  sei?  Ob  er  durch 
dieses  Mittel  blolis.  den  Eindruck  schwä- 
chen wollen,    den    der   nachj^erige   Tod 


EMILIA   GxVLOTTI.  155 

des  Appiani  macht,  damit  er  uns  nicht 
zu  sehr  ivider  den  Endzweck  des  Stücks 
interessire?  oder  ob  er  den  Charakter 
des  Grafen^  den  er  so  wenig  Ptanm  zu 
entwickeln  hatte,  durch  diesen  frappan- 
ten Zug  nui'  mehr  herausheben  wollen? 
oder  ob  er  vielleicht  diesen  Zusatz  nö- 
thig  fand,  -um  zu  einem  gewissen  Ziele, 
zu  dem  er  nothwendig  hin  mufste,  desto 
leichter  und  kiarzer  hinzukommen:  dar- 
über mögte  sich  ohne  seine  eigne  Erldä- 
riuig  schwerlich  entscheiden  lassen.  — 
Ich,  liebster  Freund,  vermuthe  das  Letz- 
tere, und  ich  will  Ihnen  hier  die  Gründe 
dieser  Yermuthung  vorlegen,  damit  Sie 
urtheilen  können.  Ist  meine  Hypothese 
falsch  ;  nun  so  kann  doch  auch  die  Aus- 
führung falscher  Hj^DOthesen  noch  immer 
Tiel  Wahres  imd  Lehrreiches  enthalten. 
Das    Ziel    wo    der    Dichter    zunächst 


156  ÜBER 

hin  müfste^  war  der  Tod  des  Appiani. 
Wäre  der  Graf  beim  Leben  geblieben, 
so  sieht  man  nicht  ab_,  wie  das  Stuck  so 
bald  hätte  ausspielen  können.  Aber  wenn 
nun  Marinelli  diesen  Tod  gleich  anfangs 
und  ohne  allen  weitern  Bewegungsgrund 
bey  dem  Angelo  ausgemacht  hätte ;  so 
wäre  der  ohnedies  schon  so  schwarze 
Günstling  vollends  zum  Ungeheuer  ge- 
worden^ und  der  allzugrofse  Abscheu  hät- 
te uns  unser'  ganzes  Vergnügen  an  dem 
Charakter  verderbt.  So  aber  hat  Mari- 
nelli anfangs  noch  keinen  vollständigen 
Plan:  er  will  nur  für's  erste  die  Vermäh- 
lung hindern  und  die  Braut  haben  ;  dafs 
er  nachher  dem  Angelo  einknupft^  den 
Grafen  nicht  blofs  zu  verwunden,  son- 
dern niederzuschiefsen:  davon  liegt  der 
wahre  Grimd  in  seiner  Furcht  vor  dem 
Zweikampfe.      Wie   sollte   nun   aber    der. 


EMILIA   GALOTTI.  157 

Dichter  zu  diesem  Zweikampfe  hin?  Bei- 
de mufsten  sich  schon  grofse  Beleidigun- 
gen sagen;,  eh'  es  bis  zur  Ausfarderung 
kam;  es  niufste  geschimpft  werden^  und 
Appiani  schimpft  denn  auch  wirklich.  — 
Nehmen  Sie  jetzt  diesen  Appiani  in  einer 
völlig  heitern  Gemüthsfassung  an ;  über- 
legen Sie  dabei  den  ganzen  Charakter 
des  Marinelli  :  und  dann  sagen  Sie  mir, 
wi-e  der  Dichter  dieses  Ziel,  ohne  einen 
unnatürlichen  Sprimg  zu  thun,  so  leicht 
hätte  erreichen  sollen? 

Ich  will  mich  über  diese  Schwierig- 
keit etwas  näher  erklären.  MarinelK  ist 
ein  Hofmann,  und  ist,  wie  alle  Bösewich- 
ter seiner  Art,  feigherzig.  Als  jener,  sagt 
er  schwerlich  Grobheiten,  auch  nicht  ge- 
gen Personen  die  er  auf's  tödtlichste 
hafst ;  er  hat  bei  seinen  Hofsitten  auch 
Hofton:    Honig  auf   der  Zunge,    bei  der 


158  ÜB  E  R 

bittersten  Galle  im  Herzen.  Wenn  ein 
feinerer  Weltmann,  und  besonders  so  ein 
abgescliliffner,  versteckter,  geschmeidiger 
Höfling,  wie  Marinelli,  der  sich  so  ganz 
in  seiner  Gewalt  hat,  beleidigt ;  so  ist  es 
weniger  dmxh  das  was  er  sagt,  als  durch 
die  Ai^t,  wie  er  es  sagt;  so  ist  es  meh- 
rentheils  nur  von  ferne,  nm-  mit  einer 
heimlichen  Wendung,  mit  einem  bedeu-» 
tenden  Tone,  mit  einem  flüchtigen  Ach- 
selzucken, mit  einem  spitzfindigen  Lä- 
cheln, mit  einem  höhnischen  vor  sich  Nie- 
dersehön,  mit  einem  vornehmen  Wieder- 
aufblicken. Vollkommen  so  erscheint 
auch  hier  Marinelli,  der  überhaupt  vor- 
trefiich  geschildert  ist :  anfangs  nichts  als 
Höflichkeiten,  als  Freundschaftsversiche- 
rujigen,  und  auch  da  wo  er  das  Härtest© 
sagt,  das  ihm  Appiani  so  hoch  anrechnet^ 
noch  immer   Mäfsigung  '  und  Zuruckhal- 


EMILIA   GALOTTI. 


159 


tung!  Ja^  es  scheint^  dafs  er  nach  seiner 
Hofart  und  bei  seiner  Feigheit  auch  die« 
sen  Ausfall  nicht  einmal  würde  gewagt^ 
aiich  diesen  Ton  der  Spötterei  sich  nicht 
würde  erlaubt  haben  ^  wenn  ihm  nicht 
Appiani  schon  so  lange  Dinge  gesagt  hät- 
te, die  ein  Mann  von  weniger  Verstel- 
lungskunst und  reizbarerer  Galle  nimmer- 
mehr hätte  anhören  können.  Wirklich 
ist  Appiani  gleich  anfangs  beleidigend; 
er  sagt  ihm  alles  was  er  denkt^  so  rund 
ins  Gesicht;  und  doch  isi.  er  auch  Welt- 
mann;  obgleich  von  der  rechtschaffnem^ 
edelgesinntem  Art.  Und  y\^ie  in  aller 
Welt  kommt  denn  dieser  feine  und  ge- 
sittete Mann  zu  so  einer  Begegnung? 
Empfände  er  das  ganze  Glück  seiner  Si- 
tuation ;  verlöre  sich  sein  wollüstiger 
Blick  in  den  reizenden  Aussichten,  die 
vor  ihm  liegen:   so  würde  bei  dieser  gu- 


i6o  ÜBER 

teiii  Laune  das  Gespräch  nach  aller  Wahr- 
scheiiJichkeit  anders  fallen. 

Der  Graf,  werden  Sie  mir  vielleicht 
einwenden^  kennt  den  Marinelli  und  ver- 
achtet ihn.  Gut  !  das  kann  ein  Mann^ 
wie  Appiani ,  nicht  anders.  Aber  die 
Verachtung  hat  ja  so  manche  Miene,  so 
manchen  Ton;  warum  mufs  sie  sich  eben 
so  bitter  äufsern?  —  Maringlli^  werden 
Sie  fortfahren,  steht  dem  Grafen  entge- 
gen; blofs  um  dieses  Günstlings  willen^ 
hat  der  Graf  nicht  aufkommen  können. 
Aber  bedenken  Sie  auch,  dafs  gerade  Ap- 
piani  der  Mann  ist,  dem  an  diesem  eit- 
len Glücke  wenig  gelegen  scheint?  dem 
es  vielmehr  lieb  seyn  kann,  daran  ver- 
hindert zu  seyn?  der  ein  für  allemal  den 
seligen  Entschlufs  gefalist  hat,  in  seinen 
väterlichen  Thälern  sich  selbst  zu  leb§n? 
Sehr  leicht  muCs   iHm   alsQ  Appia^i.jdiese 

i  Be- 


EMILIA   GALOTTI.  i6i 

Beleidigimg,  die  für  ihn  eigentlich  keine 
istf  verzeihen  können ;  der  Hafs  fällt  weg, 
lind  es  bleibt  also  nichts  als  Verachtung 
übrig.  Nun  sieht  man  freilich  den  Manu 
nicht  gerne  kommen,  den  man  verach* 
tet;  Appiani  kann  verdrüfslich  seyn,  von 
angenehmem  Unterhaltungen  dadmxh  ab- 
gerufen zu  werden :  aber  dieser*  kleine 
flüchtige  Verdrufs,  sollte  der  Einflufs  ge- 
nug haben,  ihn  so  auf  einmal  und  so 
ganz  aus  seiner  Lage  herauszusetzen?  So- 
nach bliebe  Appiani  in  seiner  völligen 
Heiterkeit :  und  wie  würde  er  da  den 
Marinelli  empfangen  ?  welchen  Ton  ge- 
gen ihn  annehmen?  Keinen  vertraulichen, 
aber  auch  keinen  auffahrenden ;  keinen 
verbindlichen,  abef  auch  keinen  bittern; 
keinen  scherzhaften,  aber  auch  keinen 
mürrischen.  Er  würde  den  verächtlichen 
Menschen^   wenn  er   sich  zu  nahe  an  ihn 

Engels  Philosoph,  I.  H 


i6a  ÜBER 

machte^    mit   einem    sanften   Drucke    in 
der  gehörigen  Entfernung  halten ,    nicht 
auf  eine  so  rauhe  gewaltsame  Weise  von 
sich  stofsen ;    er  würde  ^   wenn  er  in  ihm 
nicht  den  Kammerherrn   schonte^   wenig- 
stens den  Abgeordneten  des  Prinzen  scho- 
nen _,     gegen    den    er    doch   immer  Ach- 
tung und  Mäfsigimg  zeigt.      Finge   dann 
Marinelli   aus   muthwilligem  Kitzel,   oder 
aus  Verdrufs  über  seine  fehlgeschlagenen. 
Entwürfe   an,    über   des    Grafen   Verbin- 
dung zu  spötteln  ;  was  meinen  Sie  wohl, 
dafs  bei   dem   entzückten  Liebhaber,   bei 
dem    ruhigen    gesetzten    Manne ,     dieser 
Spott   eines   Menschen,    den    er   so  herz- 
lich verachtet,   über  den  er  sich  so  weit 
hinausfühlt,    für   Wirkung    thun   könnte? 
Sollt'  er  ihn   aufbringen?    in  Harnisch  ja- 
gen?   zu  Anzüglichkeiten,    zu  Schimpfre* 
den  reizen?  Nein,  liebster  Freimd:  dann 


EMILIA    GALOTTI.  163 

sollte  der  Graf  Emilia  Galotti  nicht  ha- 
ben, nicht  der  Sohn  eines  Mannes  wie 
Odoardo  werden.  Wen  er  nicht  werth 
hält,  dafs  er  mit  ihm  scherze,  den  soll 
er  nach  weniger  werth  halten,  dafs  er 
sich  mit  ihm  schimpfe.  Lächeln  müfste 
«r  über  die  armseligen  Vorurtheile  die- 
ses engen  Kopfes  und  noch  engern  Her- 
zens, ihm  einen  der  mitleidigen  Blicke 
geben,  womit  der  edle  Mann  auf  ein  In- 
sect  wie  Marinelli  herabblickt ,  dessen 
Gift  er  nicht  fürchtet,  imd  an  dem  er 
nichts  als  seine  verächtliche  Kleinheit  ge- 
wahr wird  ;  ihn  noch  einmal  mit  einer 
kategorischen  Antwort  abfertigen  und 
ihn  laufen  lassen.  —  So,  denke  ich,  wür- 
de das  Gespräch  in  so  einer  Situation 
und  zwischen  solchen  Charakteren  aus- 
fallen müssen,  wenn  nicht  irgend  ein  an- 
drer Umstand  hinzukäme. 


i64  ÜBER 

Aber  wie  gar  anders^  wenn  nun  die- 
ser hinzukömmt !  Nehmen  Sie  den  Ap- 
plani  gleich  zu  Anfange  so  an^,  wie  ihn 
der  Dichter  vorstellt:  mürrisch _,  tiefsin- 
nig, ärgerlich;  so  wird  nun  die  ganze 
Scene  nicht  nur  richtig  imd  wahr  _,  sie 
wird  auch  eine  der  Meisterscenen  in  der 
Emilie.  Denn  nun  ist  Appiani  geneigt, 
nicht  sowohl  die  verächtliche  als  die  has- 
senswürdige  Seite  des  Marinelli  zu  sehen; 
nun  wird  er  nicht  blofs  in  seinem  Ver- 
gnügen, er  wird  in  etwas  weit  anderm 
unterbrochen,  das  die  Seele  weit  mehr 
interessirt,  worauf  sie  ihren  Blick  weit 
starrer  hinheftet,  in  seinen  trüben  schwer- 
müthigen  Reverieen;  nun  ist  er  vorberei- 
tet, alles  hoch  aufzunehmen,  sich  bei 
dem  ersten  besten  Anlasse  zu  erbittern; 
sedner  Würde  uneingedenk  sich  mit  ei- 
nem  Menschen  zu  zanken,   den  er  ledig- 


EMILIA  GALOTTL  165 

lieh  verachten  sollte^  sich  den  überlästi- 
gen Besuch  auf  jede  Art^  höflich  oder 
unliöflicH;»  vom  Halse  zu  schaffen.  Und 
dann  spielt  nun  die  ganze  Scene  natür- 
lich w^eiter^  bis  zui'  Ausforderung;,  und 
bis  zum  Meuchelmorde  des  Appiani. 

Ich  bek'^nne  Ihnen  noch  einmal_,  mein 
Freund:  es  ist  sehr  mifslich^  eines  An- 
dern bestimmte  Absicht  zu  e'rrathen,  wo 
er  ihrer  mehrere  haben  komite  ;  und 
\wenn  ich  also  geträumt  habe^  so  verzei- 
hen Sie  mir !  Ich  erwache  wieder  aus 
meinem  Traume.  —  Aber  so  viel,  den- 
ke ich^  ist  doch  immer  ausgemacht:  dafs, 
wenn  auch  der  Dichter  bei  der  Schwer- 
muth  des  Appiani  nicht  eigentlich  auf  die- 
sen Endzweck  gearbeitet,  ihm  wenigstens 
diese  Schwermuth  zur  Erreichung  dieses 
Endzwecks  gute  Dienste  geleistet  hat. 


i66 

ZWÖLFTES     STÜCK. 

DRITTER     BRIEF. 


JL)er  Widerspruch^  den  Sie  in  dem  Cha- 
rakter der  Emilie  glauben  bemerkt  zu 
haben^  liegt  meines  Erachtens  nicht  in 
den  ersten  Grundzügen  des  Charakters; 
er  entsteht  nur  durch  die  Art,  wie  die 
letzten  Scenen  ausgeführt  worden.  Eben 
das  Mädchen^  sagen  Sie  y  das  wir  im 
Anfange  so  ängstlich,  so  furchtsam^  so 
schüchtern  sehen ;  eben  das  Mädchen 
kann  nachher  so  herzhaft  den  Tod  for- 
dern? ihn  so  willig  erdulden?  Ist  hier 
nicht  ein  gröliserer  Widerspruch,  als  in 
dem  Charakter  der  Iphigenia,  den  Ari- 
stoteles um  einer  ähnlichen  Ungleichheit 
iler  Sitten  willen  tadelt?  —   Nein^  mein 


ÜBER  EMILIA  GALOTTI.        167 

Freund _,  nicht  einmal  ein  eben  so  gro- 
fser;  und  sobald  Sie  den  Gang  der  Ideen 
in  Etniliens  letzter  Scene  nur  ein  wenig 
ändern  wollen^  ganz  und  gar  keiner. 

Es  giebt  unter  den  Menschen  viel© 
solcher  Charaktere^,  in  denen  sich  zwei 
entgegengesetzte  Eigenschaften  vereini- 
gen; und  diese  sind  allemal^  wenn  sie 
wohl  ausgeführt  werden,  nicht  nur  die 
lehrreichsten,  sondern  auch  wegen  des 
Wunderbaren  das  ihnen  anhängt,  die  in« 
teressantesten.  Der  Dichter  muTs  nur 
nicht  vergessen,  zu  zeigen,  Wie  sie  mög- 
lich sind;  das  heifst,  er  mufs  uns  den 
GiTindzug  im  Charakter  angeben,  der  den 
scheinbaren  Widerspruch  aufhebt,  und 
die  beiden  so  unverträglich  scheinenden 
Eigenschaften  in  Harmonie  bringt.  In 
dem  Charakter  der  Emilie  findet  sich  die- 
ser Grundzug  wirklich.      Sie    ist   weder 


i68  ÜBER 

«»US  blofsem  Temperament  so  fm-chtsam, 
noch  aus  blofsem  Temperament  so  ent- 
schlossen den  Tod  zu  leiden;  sie  ist  bei- 
des aus  herrschender^  beinahe  schwärme- 
rischer Liebe  zu  ihrer  Religion.  Bei 
ihrem  Anfalle  von  Furcht,  hat  der  Dich- 
ter diesen  Zug  unvergleichlich  herausge- 
hoben; aber  nicht  eben  sowohl  bei  ihrer 
nachmaligen  Herzhaftigkeit.  Denn  hier 
äufsert  Emilie  in  allem  was  .  sie  sagt  und 
thut^  mehr  stoische  räsonnirte  Tugend^ 
als  christliche  Furcht  vor  der  Sünde.  Fast 
das  einzige  Wort,  das  ganz  ihrem  Cha- 
rakter entspricht,  ist  das :  »  Nichts  Schlim- 
»mers  zu  vermelden,  sprangen  Tausende 
«in  die  Fluthen,  und  sind  Heilige ; «  aber 
der  Zug  steht  zu  abgerissen;,  zu  einzeln 
da:  wir  werden  weder  vor-  noch  nach- 
her an  die  Religion  weiter  erinnert.  Ja 
selbst  bei  ihrem  endlichen  Hinsinken,  bei 


EMILIA   GALOTTl.  169 

dem  letzten  Zuschliefsen  ihrer  brechen- 
den  Auuen^  hören  wir  keinen  Laut^  kei^ 
jien  Seufzer  _,  der  an  Gott  oder  an  ihre 
Heilige  geriehtet  vräre.  —  Was  aber  das 
Schlimmste  ist,  so  rüiü  t  uns  der  Dichter 
selbst  irre^  und  scheint  seinen,  ganzen 
Vorthell  freiwillig  aus  den  Händen  zu 
geben.  :»Du  kennst  sieget  iäfst  er  die 
Mutter  zu  Odoardo  sagen:  «sie  ist  die 
»Furchtsamste  und  Entschlossenste  im- 
«sers  Geschlechts.  Ihrer  ersten  Eindi^ük- 
»ke  nie  mächtig;  aber  nach  der  gering- 
»sten  Überlegung,  in  alles  sich  findend, 
55  auf  alles  gefalst.  Sie  hält  den  Prinzen 
w  in  einer  Entfemimg ;  sie  spricht  mit  ihm 
5)  in  einem  Tone  u.  s.  w.  a  Scheint  es 
nicht,  als  wenn  der  Dichter  in  dieser 
Stelle,  die  doch, immer  die  Schwierigkeit 
nur  angeben  würde  statt  sie  aufzidösen, 
als  wenn  er  uns   hier  zu    dem  Folgenden 


ijo  ÜBER 

vorbereiten^  als  wenn  er  den  Charakter 
durch  eine  künstliche  Wendung  zum  Ziel 
herumlenken  wolle?  Gleichwohl  brauchte 
er  das  so  wenig,  wenrt  er  nur  Emiliens 
endliche  Herzhaftigkeit  aus  eben  der 
Quelle  entspringen  liefs,  woraus  ihre  an- 
fängliche Furcht  entstand. 

Ich  habe  gegen  die  Ausführung  der 
letzten  Scene  noch  eine  andere  Erinne- 
rung zu  machen,  von  der  ich  mich  wun- 
dre  dafs  sie  noch  sonst  niemand  gemacht 
hat.  Sie  betrifft  die  an  sich  so  vortref- 
liche  Stelle,  worin  Emilie  über  Gewalt 
und  Verführung  philosophirt.  Wenn  ich 
sie  sagen  höre  :  -»Ich  habe  Blut,  mein 
:» Vater;  so  jugendliches,  so  warmes  Blut, 
» als  eine.  Auch  meine  Sinne  sind  Sinne. 
»Ich  stehe  für  nichts.  Ich  bin  für  nichts 
« gut.  Ich  kenne  das  Haus  der  Grimaldi. 
«Es  ist  das  Haus  der  Freude  u.  s.  f.;cc  so 


EMILIA  GALOTTI.  171 

weifs  ich  iii  der  Tliat  nicht,  was  aus  dem 
Mädchen  geworden  ist.  Ich  mögte  fast 
argwöhnen,  dafs  ihre  Liebe  .zu  Appiani 
blofse  Coketterie  gewesen.  Denn  sagen 
Sie  selbst,  mein  Freund;  wie  kann  sich 
Emilie,  in  ihrer  jetzigen  Lage,  vor  Ver- 
führung fürchten  ?  und  vor  Verführung 
vom  Prinzen?  Sie  weils,  wie  sie  selbst 
gesteht,  warum  Appiani  todt  ist,  dieser 
ihr  theuxer,  geliebter  Appiani,  dessen 
Tod  ihr,  wo  sie  nicht  das  nichtswürdig- 
ste Mädchen  ist,  an  die  innerste  Seele 
gehen  muls ;  sie  sieht  gleichsam  sein  Blut 
noch  an  den  Händen  des  Prinzen  kleben: 
und  wäre  nun  dieser  Prinz  ein  Adonis, 
wäre  er  der  Liebenswürdigste  aller  Sterb- 
lichen; so  müfste  er  ihr  doch  um  dieses 
Blutes  willen,  in  diesem  ersten  Augen- 
blicke der  empörten  Leidenschaft,  das 
grälislichste ,  verabscheuungswürdigste  Un- 


172  ÜBER 

geheuer  dünken,  das  je  die  Erde  getra- 
gen. Dazu  kommt  noch,  dafs  sie  den 
ganzen  Plan  durchsieht,  den  er  gegen 
ihre  Tugend  gemacht_,  diesen  ehrlosen, 
schändlichen  Plan :  und  wie  sehr  mufs 
nicht  das,  bei  einem  so  frommen,  so  ehr- 
liebenden ,  für  ihre  Seele  so  besorgten 
Mädchen,  den  vorigen  Abscheu  noch  ver- 
stärken!  Immer  mag  ihre  Religion  ihr  sa- 
gen^ dafs  bei  der  Verderbnifs  des  mensch- 
lichen Herzens  kein  Verbrechen  immög- 
lich sei;  in  der  jetzigen  Verfassung  kann 
ihre  Seele  auf  keinen  Gedanken  achten, 
keinen  Gedanken  annehmen,  als  der  ih- 
rem äufsersten  ^bscheue  gegen  den  Prin- 
zen gemäfs  ist,  ihn  verstärkt,  ihn  bestä-* 
tigt.  Wenn  sie  sich  also  nicht  vor  Ge- 
walt fürchtet,  vor  eben  der  Gewalt,  die 
eben  jene  Heiligen  vermeiden  wollten, 
da  sie  sich   in  die  Fluthen   stürzten:    vor 


EMILIA   GALOTTI. 


^73 


was  sonst  kann  sie  sich  fürchten?  Davor 
nimmermehr,  dafs  je  der  Prinz  ihr  gefal- 
len, dafs  ie  ihr  Bhit  iur  ihn  wallen,  dafs 
je  ihre  Sinne  an  ihm.  Gefallen  finden  soll- 
ten; oder  ich  gestehe  gern,  dafs  ich  kei- 
nen Begriff  von  dem  habe,  was  mensch- 
liches Herz  ist.  —  Erklären  Sie  mich  aber 
nicht  unrecht,  mein  Freund.  Ich  behaup- 
te nicht,  dafs  Emilie  ihren  Appiani  nicht 
wirklich  vergessen,  nicht  vielleicht  schon 
in  einem  Monate  von  dem  Prinzen  ver- 
führt seyn  könne;  das  kann  sie  sehr  leicht, 
imd  sie  wäre  wohl  nicht  das  erste  Mäd- 
chen. Ich  sage  nur,  dafs  sie  jetzt^  ver- 
möge ihres  Charakters,  vermöge  der  er- 
sten Täuschung  ihrer  aufgebrachten  Lei- 
denschaft, das  was  an  sich  sehr  möglich 
ist ,  gar  nicht  für  möglich  erkennen 
müsse. 

Wie  ?    wenn    also    der   Dichter    diese 


174  ÜBER 

ganze  Philosophie  über  Gewalt  und  Ver- 
führuug^  so  richtig  und  vortrei^lich  sie  an 
sich  selbst  ist_,  aufgeopfert^  und  dafür  fol- 
gende Pteihe  von  Ideen  gewählt  hätte: 
Der  Prinz  liebt  mich  ;  er  hat  mir's  er- 
klärt; er  wird  nichts  unversucht  lassen;, 
mich  zu  seinem  Willen  zu  bewegen.  Er 
wird  am  Ende  Gewalt  brauchen;  denn 
kein  Frevel  in  der  Welt  kann  für  den 
noch  zu  grofs  seyn^,  der  den  liebenswür- 
digsten aller  Menschen  ermorden  konnte. 
Er  wird  auch  der  Mörder  meiner  Seele 
werden^  nachdem  e^^  der  Mörder  meines 
Geliebten  geworden.  Und  diese  Schande 
kann  mein  Vater  nicht  zugeben;  nimmer- 
mehr^,  oder  er  ist  nicht  mein  Vater.  Gott 
und  Natur  haben  mich  an  ihn  als  meinen 
Beschützer  gewiesen,  und  ich  habe  aulser 
ihm  keinen  Retter.  .  .  .  Wie?  wenn  dann 
der  verwirrte^  in  Wuth  gesetzte^  erschüt- 


EMILIA   GALOTTI.  175 

terte  Vater^  der  eben  so  sehr  als  Emili» 
vorbereitet  ist  von  dem  Prinzen  das  Al- 
lerärgste zu  denken;  wenn  er  ihr  dann 
den  Dolch  mit  den  Worten  zeigte,  dafs 
er  für  sie  keine  andre  Rettung  sähe,  als 
durch  den  Tod;  wenn  Emilie  ihm  ant- 
wortete, dafs,  nichts  Gering ers  zu  ver- 
meiden. Tausende  in  die  Fluthen  spran- 
gen und  Heilige  sind ;  wenn  dann  der 
Vater  den  Prinzen  mit  Marinelli  zurück- 
kommen hörte,  und  kaum  seiner  Sinnen 
mächtig,  indem  ihn  Wuth,  Zärtlichkeit 
und  Ehrliebe  gleich  heftig  bestürmten, 
den  tödtlichen  Streich  vollführte?  Sollte 
nicht  durch  so  eine  Wendung  die  Kata- 
strophe weit  natürlicher  und  den  beiden 
Charakteren,  des  Vaters  sowohl  als  der 
Emilie ,  weit  angemefsner  werden  ?  — 
Freilich  verlören  wir  dann  manche  un- 
vergleichliche Züge ;  aber  die  ersetzte  ge- 


17G  Ü  B  E  K 

\yifs  der  reiche  Geist  des  Dichters  durch 
aiidre^  die  uns  jene  vergessen  machten. 
Für  Sie,  wcifs  ich^  wäre  schon  das  Er- 
satzes genug,  dafs  Sie  nun  keiner  Haar- 
nadel erwähnen  hörten^  die  Sie  —  ich- 
weifs  nicht,  mit  welchem  Rechte?  —  so 
anstöfsig  linden;  dafs  Sie  nun  keine  Rose 
mit  einem  Affecte  zerpflücken  sähen^  der 
freilich  für  eine  so  gewaltsame  Situation 
ein  wenig  zu  ruhig  ist;  dafs  Sie  nicht  an 
die  Geschichte  der  Virgiiiie  erinnert  wür- 
den, deren  Katastrophe  hier  allerdings 
unter  sehr  verschiednen  Umständen  zu 
ähnlich  nachgeahmt  ,  worden  ;  und  dafs 
Emilie  nicht  mit  einer  Allegorie  im  Mun- 
de stürbe. 

Über  das^  was  ich  hier  von  der  Ge- 
schichte der  Virginie  gesagt,  erkläre  ich 
mich   in  meinem   künftigen  Briefe  näher. 

Ich 


EMILIA  GALOTTI.  177 

Ich  will  darin  von  dem  Charakter  des 
Odoardo  reden;,  der^  bis  aul"  die  letzte 
Scene  mit  seiner  Tochter;»  meine  ganze 
ßewiinderung^  hat. 


liri'^ttls  h'hilosoph  ,   l.  \  j, 


»7S 

DRElZlillNTES     STÜCK. 

VIERTER     BRIEF. 


Der  Plan  der  Emilia  Galotti  isl^  deucht 
iiiir^  ganz  sichtbar  ans  der  Geschichte  der 
T^irginie   entstanden.      Sie   wissen^   mein 
Freund^    dafs  es  in  Italien   eine  fürstliche 
Familie  Gonzaga  gab^  deren  jüngere  Li- 
nie   sich    von    Guastalla    schrieb ;    aber 
wüfsten  Sie   von  irgend   einem  Gojizaga 
eine  Anekdote,    ans  der  sich  ein  Trauer- 
sjiiel,  wie  Kniilie,    hätte  machen  lassen? 
Ich   wenigstens   —   der    ich    zwar  freilich 
in    der   Geschichte    der    kleinen    italiäni- 
schen    Häuser    wenig    bewandert    bin  — 
wüfste  keine ;  und  da  auch  sonst,  in  der 
Ausführung  der  letzten  Scenen,  offenbare 
Rücksicht  auf  die  Geschichte  J^irgUiiens 


VBER  ExMILIA  GALOTTI.       179 

genommen  worden;  so  setze  ich  um  so 
zuversichtlicher  voraus^  dafs  der  Dichter 
die  so  interessante  Katastrophe  jener  Ge- 
schichte genommen^  und  seinen  übrigen 
Plan  ausdrücklich  dazu  erfunden  habe. 

Die  grolse  Schwierigkeit  eines  solchen 
Unternehmens  darf  ich  Ihnen  wohl  nicht 
erst  erklären;  Sie  werden  sie  fühlen.  Es 
scheint  mir  schon  immer  nicht  die  leich- 
tere  Arbeit  des  Genies^  von  einigen  ein- 
zelnen unbestimmten  Ideen  anziüangen 
imd  ihnen  diuxh  nähere  ßestimmimg  das 
Leben  und  die  Wirklichkeit  erst  zu  ge- 
ben^ die  sie  in  ihrer  dürftigen  Allgemein- 
heit nicht  hatten.  Auch  zweifle  ich  sehr 
ob  jemals  ein  episches  Gedicht  so  ge- 
macht worden^  wie  der  ehrliche  Le  Bos- 
SU  es  geträumt  hat.  Das  Genie ^  so  viel 
ich  weifs^  arbeitet  leichter  aus  der  Wirk- 
lichkeit heraus ;     als   in   die   Wirklichkeit 


i8o  ÜBER 

hinein;  es  gelingt  ihm  besser^  dem  schon 
gefundenen  Golde  Glanz  und  Form  zu 
geben^  als  das  Gold  selbst  durch  alchy- 
mistischen  Procels  erst  hervorzubring'en. 
Je  mehr  schon  die  Natur ,  diese  beste 
Werkmeisterinn,  ihm  in  die  Hände  gear- 
beitet: desto  bündiger _,  fester^  gleicher 
wird  das  Gewebe  seines  Plans  ;  desto 
voller^  blühender ;,  lebendiger  ,wird  sein 
Werk  in  der  Ausführmig.  Glückliche  Su- 
jets^ worin  das  Wesentliche  schon  mei- 
stens beisammen  ist^  aus  der  wirklichen 
selbstbeobachteten  Welt  gerissen,  geben 
daher  immer  die  Meisterstücke  der  Dich- 
ter. Sie  haben  hier  weiter  nichts  zu 
thun;,  als  dals  sie  den  schon  v^orhandenen 
Stoff  von  allen  anklebenden  Schlacken 
reinigen;,  alle  unwesentlichen  Theile  da- 
von abschneiden,  oder  wenn  ihn  die 
Kunst  auch  in  wesentlichen  Theilen  nicht 


EMIJCIA   GALOTTL  i^i 

brauchen  kann^  ihn  ans  der  Füllf  eben 
der  nahe  umgebenden  Namr,  wo  sie  ihn 
heraushoben ,  zu  ergänzen  und  zu  ver- 
schönern suchen. 

Noch  schwieriger  ward  ^  in  unserm 
Falle_,  das  Unternehmen  dadurch,  dafs  der 
Dichter  aus  der  Geschichte  der  Virginie 
gerade  das  Letzte^  die  Katastrophe,  her- 
aushob. Es  scheint  mir  ausnehmend  mils- 
lich^  eine  so  bestimmte  Katastrophe  von 
der  Pieihe  von  Ursachen^  woran  sie  in 
der  ]\atur  hing,  loszureißen ^  und'  sie  an 
eine  ganz  verschiedene  zu  knüpfen.  Auf 
was  für  eine  Verbindung  von  Umständen 
man  auch  verfallen^  was  für  eine  Gesell- 
schaft von  Charaktei'en  man  auch  versam- 
meln mag,  so  wird  man  immer ^  wenn 
man  sich  dem  natürlichen  Gange  ^.Qr 
-  Handlimg  überläfst^,  auf  ein  etwas  ande- 
res Ende  damit  hinauskommen.   Verschie- 


i83  ÜBER 

denheit  in  den  Ursachen  wird  Verschie- 
denheit in  die  Wirkungen  bringen;  und 
nachdem  sie  dort  wesentlich  oder  zufäl- 
lig ist,  wird  sie's  auch  hier  seyn.  Am 
gtöPsten  aber  scheint  mir  diese  Schwie- 
rigkeit dann',  wenn  die  Katastrophe  so 
aufs  er  ordentlich,  so  ungewöhnlich,  wie 
hier  ist.  Ein  rechtschaffener  Vater  durch- 
bohrt seinem  einzigen  würdigen  Kinde 
das  Herz,  weil  er  sonst  kein  Mittel  hat 
es  von  der  Schande  zu  retten.  Wie  ent- 
setzlich, wie  einzig  ist  diese  That !  Wer 
sollte  nicht  glauben,  da  ('s  sie  nur  in  ei- 
nem eben  so  einzigen  Falle,  unter  einer 
eben  so  einzigen  Verknüpfung  von  Um- 
ständen, habe  geschehen  können?  Und 
wie  kühn  mufs  also  nicht  der  Dichter 
scheinen,  der  damit  ganz  aus  jener  Re- 
gierujigs Verfassung ,  jenen  Verhältnissen 
und  Sitten    des    alten  Roms   herausgeht, 


EMILIA  GALOTTI.  iS5 

der  sich  dazu  in  einer  völlig  verschiede- 
nen Welt  gleich  wahre  Veranlassungen 
auFsucht;,  sich  einen  gleich  bündigen  Zu- 
sammenhang von  Begebenheiten  und  Um- 
ständen, erdichten  will,  worin  die  Kata- 
strophe eben  so  tief  und  augenscheinlich 
gegründet  sei,  wie  in  jenen!  — •  Wenn 
ich  bedenke^  dafs  Herr  Lessiiig  so  sicher 
der  Mann  war,  der  alle  diese  Schwierig- 
keiten iühlte,  so  erstaune  ich  über  den 
Muth,  womit  er  sich  ihnen  unterzog ;  und 
wenn  ich  dann  sehe,  bis  zu  welchem 
Grade  er  sie  überwunden  hat,  so  erstau- 
ne ich  noch  mehr  über  die  Gröfse  der 
Kraft ,  die  er  dazu  anwenden  mufste. 
Doch  zugleich  werde  ich  unwillig,  dvifs 
der  Mann,  der  so  sicher  Genie  hat,  uns 
bereden  will  er  habe  keines;  wenn  an- 
dere, die  so  sicher  keines  haben,  uns 
durchaus  wollen  glauben  machen,  sie  hät- 
ten wplrhes. 


184  ÜBER 

Um  den  Ausspruch  in  meinem  letzten 
Briefe  zu  rechtfertigen^  werde  ich  die 
Geschichte  der  Virginie  mit  der  Ge- 
schichte der  Galotti  vergleichen  müssen. 
Die  letztere  haben  ^\^  gevvifs,,  und  ver- 
muthlich  auch  die  erstere,  im  Gedächt- 
nifs;  oder  wo  nicht^,  so  haben  Sie  Ihren 
Livius  bei  der  Hand^  um  sie  nachzuschla- 
gen. Ich  kann  ako  der  Mühe^  sie  zu 
wiederholen^  entübriget  seyn. 

Livius  sieht  in  dieser  ganzen  Geschich- 
te mu'  Eine  Schwierigkeit ;  er  begreift 
nichts  mit  welchem  erträglichen  Vorwan- 
de  Appins  sein  gesetzwidriges  Urtheil 
beschöniget  habe.  Niiduin,  sagt  er_,  ui" 
äetur  proponendujn :  decresse  uindi- 
das  secunduin  Servitut  ein.  Das  kann 
nun  freilich  wohl  der  Geschichtschreiber^ 
aber  nicht  der  dramatische  Dichter  s*a- 
gen;     und   doch   mögt'   es    dem    letztern 


EMILIA   GALOTTL  i85 

schwer  werden,  in  der  Aiifsuchang  eines 
solchen  Vorwandes  glücklicher  als  jener 
zu  seyn.  Wenn  indefs  der  Dichter  nur 
diese  einzige  Schwierigkeit  überwunden 
hat  —  wozu  ihm  vielleicht  'Dio?iys  voti 
Halikarjiafs  behülflich  seyn  könnte  — 
so  hat  er  sie  auch  alle  überwunden;  nur 
noch  diejenigen  ausgenommen^  die  sich 
in  Ansehung  der  dramatischen  Form^  bei 
Verth eilung  der  Handlung,  Verbindung 
der  Auftritte  u.  s.  w.  ereignen  mögten. 
Der  Zusammenhang  der  Geschichte  selbst 
ist  so  inni£f,  als  man  ihn  wünschen  kann; 
die  historische  Wahrheit  hat  alle  poeti- 
sche Wahrscheinlichkeit;  jede  Verbesse- 
rung, die  man  anbringen  w^ollte,  wairde 
Verschlimmerung  werden.  Es  ist  nichts 
zu  ergänzen,  nichts  umzuändern;  die  gan- 
ze Arbeit  besteht  blofs  in  der  Entwicke- 
hmg  der  angegebenen  Charaktere  und 
Situationen. 


186  ÜBER 

Vergleiche  ich  diese  Geschichte  mit 
dem  Plan  der  Emilie^  so  fällt  mir  nichts 
so  schnell  in  die  Augen ^  als  dafs  dort 
der  Bewegungsgrund  zu  der  schreckli- 
chen That  des  Vaters  zwiefach,  hier  nur 
einfach^  ist.  Dort  will  nicht  .nur  der  ehr- 
liebende Mann  von  strengen  Grundsätzen 
und  rauher  Tugend  sein  Kind  vor  der 
Entehrung  sichern;  der  freie  Römer^  dem 
Sclaverei  verhafster  als  Tod  ist^  will  es 
auch  d^m  Elend  der  Knechtschaft  ent- 
reifsen.  In  den  Yv^orten^  die  ihm  Livius^ 
eben  da  er  die  schrecklicjie  That  voll- 
bringt^ in  den  Mund  legt,  wird  dieses 
letzten  Bewegungsgrundes  allein  erwähnt: 
hoc  te  uno  f  quo  possmii,  modo ,  filia, 
in  libcrtateiTi  vindico;  und  bei  Andern, 
so  Vvie  auch  nachher  bei  ihm  selbst,  steht 

^     er  vor:     iXsvB-S^Jtv    cre    koh    tvtr^^uova,,    tckvov, 
UTTOTzXXu   TOii    X.CCTCC  y>jv   7r^eyövo<5.       «^^    llbe- 


EMILIA   GALOTTL  187 

rae  ac  pudlcae  vii'ere  licUuni  fuissct, 
etc.  .  .  .  Für  Emilia  Galotti  darf  ihr  Va- 
ter nicht  beides,  'Sclaverei  und  Enieh- 
rung;  er  darf  nur  Eins,  nur  das  Letztere, 
fürchten;  und  so  hat  jene  Geschichte  der 
Virginie  vor  dieser  der  Emüie  scJiun  ei- 
nen nicht  verächthchen  Vortheil  ;  denn 
je  mehr  zu  einer  so  schrecklichen  That 
der  Bewegungsgründe  sind,  und  je  drin- 
gender jeder  an  sich,  desto  besser.  — 
Doch  so  sehr  wichtig  ist  dieser  erste 
Vorzug  noch  nicht ;  denn  allerdings  kann 
schon  der  einfaclie  Bewegungsgrund,  nach- 
dem die  Situation  imd  der  Charakter  ist, 
auf  den  er  wirkt,  völlig  entscheidend 
werden:  und  ist  er  das  wirklich,  so  hat 
man  dem  Dichter  weiter  nichts  vorzu- 
werfen. 

Aber  hier  zeigt  sich   nun,   meines  Er- 
achtens,   der  zweite,    der   grofse  Vorzug 


i8S  ÜBER 

der  Geschichte  des  Livius:  der  Vater  der 
Virginie  hat  einen  völlig  entscheidenden 
Bewegiingsgrund;  der  Vater  der  Galotti 
hingegen  nicht.  —  Sie  werden  mir  das 
zugeben,  hoff  ich,  sobald  Sie  nur  die 
beiden  Situationen,  der  Virginie  und  der 
Emilie,  recht  scharf  in  die  Augen  fassen» 
Über  Virginien  ist  der  letzte  richter- 
liche Ausspruch  von  eben  dem  Manne 
ergangen,  der  die  hödiste  obrigkeitliche 
Gewalt  in  Ptom  hat;  es  ist  nicht  blofs 
mehr  zu  fürchten,  nicht  blofs  mehr  wahr- 
scheinlich, dafs  sie  werde  zur  Sclavinn 
erklärt  werden:  sie  ist  es  schon  wirklich. 
Ihre  Freiheit  ist  ohne  Ptettmig  dahin;  und 
in  Absicht  aui'  ihre  Ehre,  läfst  sich  nicht 
die  geringste  Schonung  ^^^^i^.  eine  Scla- 
vinn, niciit  die  geringste  Mäfsigung  von 
einem  Manne  erwarten,  der  sich  im  An- 
eesichte  des  ganzen  Roms  mit  so  erofser 


EMILIA  GALOTTI.  189  ^ 

Unverschämtheit  betragen  hatte.  — -  Das 
Volk,  das  natürlicher  Weise  auf  Seiten 
des  Beleidigten  und  des  Mitbürgers  war, 
ist  auf  die  Drohungen  des  Appius  schüch- 
tern zurück  gewichen:  allein  und  verlas- 
sen steht  mm  auf  der  einen  Seite  Virgi- 
nie  mit  ihren  wenigen  Freunden  (deser- 
ta  praeda  injuriae) ;  auf  der  andern^ 
der  mächtige  Decemvir,  den  sein  Anse- 
hen im  Staat  und  seine  Lictoren  schüz- 
zen.  Schon  tritt  man  hinzu,  Virginien 
ihrem  Tyrannen  imd  Ehrenschänder  in 
die  Hände  zu  liefern  :  es  ist  der  letzte 
entscheidende  Augenblick ;  nur  noch  zwei 
gewaltsame  Mittel,  dem  Spiel  ein  Ende 
zu  machen,  sind  übrig.  Der  Vater  mufs 
den  Dolch  entweder  ^Q^^^n  Claudius  und 
den  Decemvir,  oder  gegen  das  Herz  sei- 
nes eigenen  Kindes  zücken.  —  Welches 
von    beiden    Mittdn    würde   ef    wählen, 


190  ÜBE  1\ 

wenn  die  Wahl  ihm  frei  stände  ?  Und 
welches  ist  er  gezwungen  zu  wählen?  — 
Das  Erstere,  deucht  mir^  beantwortet 
sich  gleich  von  selbst;  denngewifs  ist  es 
natürlicher^  dafs  der  Hirt  den  Woif^  als 
dafs  er  das  Lanun  erschlage.  Die  Hand 
des  Vaters  wird  wider  eben  denjenigen 
gerichtet  seyn^  wider  den  sclion  sein 
Mund  getobt  hat;  er  wird  lieber  frem- 
des^ als  eigenes  Blut  vergielsen ;  lieber 
den  Schuldigen^  als  die  Unschuldige,  den 
Bösewicht,  als  die  Tugendhafte  ermor- 
den. Aber  dieses  natürlichste  Rettungs- 
mittel,  auf  das  ihn  Noth  und  Leidenschaft 
gleich  zuerst  führen  müssen ,  wird  ihm 
diurch  die  Beschaffenheit  seiner  Lage  un- 
möglich gemacht.  Der  Decemvir,  der 
sich,  auf  den  Fall  eines  Tumults,  gegen 
ein  ganzes  Volk  gerüstet  hatte,  ist  ^^^^n 
die  Tapferkeit  eines  Einzelnen  aHzuwohl 


EJMILIA    GALOTTI.  191 

gesichert;  Virginius  könnte  den  ersten ;, 
zweiten^  dritten  Lictor  niederstofisen:  im- 
ter  den  Streichen  des  vierten  würde  er 
dennoch  erliegen  müssen.  Diese  seine 
Aufopferung  aber^  was  für  Nutzen  würde 
sie  für  Yirginien  haben?  Würde  die  Un- 
glückliche weniger  in  Sclaverei  gerathen? 
weniger  ein  Raub  der  zügellosen  Begier- 
den des  Decemvirs  werden  ?  Es  würde* 
nicht  echte  Tapferkeit  einer  wahrhaft 
grofsen  Seele  ;  blinde  tollkühne  Wuth 
würde  es  seyn^  einen  so  äufserst  gefahr- 
vollen und  für  Yiiginien  so  fruchtlosen 
Versuch  zu  wagen. 

Sie  erkennen  also^  mein  Freund^  dafs 
von  den  beiden  gewaltthätigen  Mitteln^ 
die  hier  noch  übrig  waren ^  das  erste^ 
das  an  sich  natürlichste^  unmöglich  ge- 
macht wird :  und  eben  daduich  wird 
nun  das  zweite^    das  an  sich  unnatürlich- 


192  ÜBER 

ste^  natürlich.     Das  Leben  seines  Kindes 
ist    dem    Vater    niehr^     als   sein   eigenes^ 
wcrth:   er  würde^  wenn  er  nicht  zu  ihrer 
Piache  Jeljte,    das  Messer   aus  ihrer  Brust 
nur  herausreifsen,  um  es  in  seine  eigene 
zu  stürzen;  nur  ein  Einziges  ist  ihm  mehr 
werth^    als    alles:    ihre  Freiheit   und  ihre 
Ehre;    es  ist  besser^  deucht  ihm^    dafs  er 
sein  Kind   durch   den  Tod^    als    dafs    ei^'s 
durch    die    Schande    verliere.       Also    mit 
der  Fassung  einer  wahrhaft  grofsen  Seele, 
die   sich    auch    mitten   in  der  schrecklich- 
sten SiLuation   noch    besitzt^     wird  er  auf 
einmal  ruhig;    verlangt  nur,  um  sich  von 
der  Wahrheit  der  vorgegebenen  Geschicli- 
te   zu    überzeugen,    eine    augenblickliche 
Unterredung    mit    Tochter    und    Amme, 
führt   beide,     nach    erhaltener  Erlaubnifs 
vom  Decemvir,  seitwärts,  und  durchbohrt 
der    erstem,    mit    einem  Messer,    das    er 

von 


EMILIA  GALOTTI.  195 

von  der  nächsten  Schlachtbank  ergreift^ 
das  Herz.  —  Den  vornehmsten  Antrieb 
zu  dies.er  That  giebt  ihm  seine  römische 
Vaterliebe ^  so  grofs  und  so  echt_,  als  ^le 
je  in  der  Brust  des  kühnsten  und  stolze- 
sten Mannes  gew^ohnt  hat;  mitwirkende 
Ursache  bei  dieser  Tliat  ist  seine  Wuth 
gegen  den  Appius^  den  er  nun  eben  da- 
dm  ch  elend  macht^  dafs  er  ihm  den  Ge- 
genstand seiner  heifsesten  Begierde  ent- 
rückt :  imd  die  Zeit^  die  zwischen  That 
und  Gedanken  verstreicht^  ist  ein  einzi- 
ger dringender  Augenblick^  über  den  hin- 
aus vielleicht  auch  die  grölste  Menschen- 
seele diese  äufserste  Spannung  nicht  wür- 
de aushalten  können. 

Halten  3ie  nun  die  Situation  ^  worin 
der  Vater  der  Emilie  ist^  g^g^i^  diese  so 
gewaltsame^  zwingende,  worin  Virginius 
war.     Zugegeben  für's  erste^  die  Schande 

Enar's  Philosoph,   I.  I  i) 


i9i  ÜBER 

Emiliens  sei  vollkommen  so  entschieden^ 
als  Virginiens  Schicksal,  und  es  bliebe 
dem  Vater  zu  ihrer  Ptettung  nichts,  als 
rlie  Wahl  zwischen  jenen  gewaltsamen 
Mitteln  übrig:  warum  mufs  er  denn  ge- 
rade  das  unnatürlichste  wählen?  warum 
den  Dolch  nicht  ins  Herz  des  Ptäubers 
und  seines  nichtswürdigen  Gehülfen,  son- 
dern ins  Herz  seines  eigenen  Kindes  sto- 
Isen?  —  Freilich  ist  der  Mann,  den  er 
dann  umbringen  würde,  der  Prinz;  aber 
die  er  jetzt  umbringt,  ist  seine  Tochter: 
und  wenn  sich  alle  Umstände  vereinigen, 
jene  Betrachtung  zu  schwächen,  so  kom- 
men dagegen  alle  zusammen,  dieser  den 
gröfsten  Nachdruck  zu  geben.  Moralisch 
unmöglich,  scheint  es,  mufste  die  Ermor- 
dung seines  Kindes  dem  Väter  noch  eher 
seyn,  als  die  Ermordung  des  Prinzen: 
und ' äufserlich    möglich    ist,    iiac4i    allen 


EMILIA  GALOTTI.  195 

Umständen,  das  eine  so  gnt_,  wie  das  anr 
dre.  —  Auch  Appiiis  war  die  höchste 
Obrigkeit  Roms,  und  Virginiiis  gewifs  ein 
eben  so  edeldenkender  Mann,  wie  Odoar- 
do:  gleichwohl  stand  er  keinen  Augen- 
blick an,  das  Volk  g^gen  den  Tyrannen 
aufzuwiegeln,  imd  würde  eben  so  wenig 
angestanden  seyn,  wenn  es  ihnÄjjj^onst 
wäre  möglich  gewesen,  ihn  zu  ermorden. 
Aber  ist  denn  in  der  That  das  Schick- 
sal Emiliens  so  entschieden,  dafs  weder 
dem  Vater  noch  ihr  selbst  irgend  ein  an- 
drer Weg  zu  ihrer  Ptettiirig  übrig  bliebe? 
Läfst  nicht  Odoardo  zu  schnell  alle  Hoff- 
nung fahren^  gleichsam  um  dem  Dichter 
zu  Ende  zu  helfen?  Kahn  er  aiicht  Be- 
denldiehkeiten  gegen  den  Auf ienthalt  Emi- 
liens im  Hause  der  Grimaldi  äufsern? 
Kann  er  nicht  darauf  dringen,  dafs  sie 
der  Aufsicht   des  Camillo  Rota^-   oder  ir- 


19Ö  U  B  E  H 

gend  eines  ändern  rechtschaffnen  Mannes, 
deren  es  in  Guastalla  noch  geben  wird^ 
anvertraut  werde?  Bleibt  er  selbst  nicht 
frei^  uin  Erkundigungen  einzuziehn^  und 
ist  keine  Möglichkeit  mehr^  dafs  noch  in 
der  Zukunft  für  Emilien  etwas  geschehen 
könne?  Läfst  sich  nichts  von  dem  Cha- 
rakter eines  Prinzen  hoffen^  der  doch 
noch  Gefühl  von  Ehre  hat,  und  Wendim- 
gen  und  Bemäntelungen  sucht?  Läfst  sich, 
was  noch  mehr  ist;,  von  Emiliens  Charak- 
ter nichts  hoffen?  Müssen  nicht  alle  die 
Reden  die  sie  führt,  selbst  ihre  äulserste 
Furcht  vor  ihrem  Falle ^  den  Vater  weni- 
ger besorgt,  als  sicher  machen  ?  Mufs 
nicht  in  seiner  Seele,  sobald  er  den  fürch- 
terlichen Gedanken  fafst ,  den  er  ganz 
durchzudenken  so  Viel  Zeit  hat,  jeder  noch 
so  schwache  Anlafs  zur  Hoffnung  wichtig, 
jedes  noch    so    unwahrscheinliche  Mittel 


EMILIA  GALOTTI.  197 

z\x  anderweitiger  Retumg  wahrscheinlich 
werden?  Mtifs  ihm  nicht  der  Dolch^  d«n 
er  im  ersten  Augenblicke  der  Wuth  ge- 
zückt hatte ^  im  zweiten  Augenblicke  der 
Überlegung  wieder  entsinken?  — 

Ohne  auf  irgend  eine  dieser  Fragen 
bestimmt  zu  antworten^  wende  ich  mich 
z,u  dem  dritten^  sehr  wesentlichen^  Vor- 
züge der  Geschichte  des  Livius:  und  die- 
ser  besteht  darin:  dafs  der  Bewegirngs- 
grimd^  der  den  Vater  ziu  Ermordimg  sei- 
nes eigenen  Kindes  treibt^  einen  so  aus- 
nehmenden Grad  von  Evidenz  hat.  — 
Man  darf  nur  wissen^  was  für  ein  elen- 
des hülfloses  Geschöpf^  ohne  Recht  und 
ohne  Schutz^  eine  römische  Sclavinn  war; 
darf  denLictor  nur  hinzutreten  sehn^  um 
die  Unglückliche  ihrem  Räuber^  zu  jedem 
beliebigen  Mifsbrauch_,  in  die  Hände  zu 
liefern;     darf    nur  Einen  Blick    auf    den 


I9S  ÜBER 

wehrlosen  verlafsnen  Virginius  und  dann 
auf  den  so  wohl  hewafneten  uneiTeich- 
baren  Decemvir  werfen:  und  man  sieht 
schlechterdings  keine  Möglichkeit  zu  Vir- 
giniens  Rettung,  als  dmxh  den  Tod.  Man 
erwartet  schon  die  schreckliche  That  des 
Vaters^  indem  man  ihn  das  Werkzeug  dar 
z,u  ergreifen  sielit^  und  man  billiget  und 
bewundert  sie^  in  dem  Augenblick  selbst, 
da  man  davor  erzittert.  —  Wie  ganz  an- 
ders verhält  sich  dies  in  der  letzten  Si- 
tuation der  Erailie  !  Wenn  ich  auch  zu- 
gebe, dafs  der  Dichter  das  ganze  Stück 
hindiu'ch  eine  Menge  Züge  hingestreut 
habe,  die  man  nur  alle  zusammen  neh- 
men, alle  wohl  erwägen  und  beherzigen- 
dürfe,  um  Emiliens  Schande  eben  so  ent- 
schieden, als  Virginiens  Schicksal  zu  fin- '' 
den;  wenn  ich  sogar  einräume,  dafs  auch 
kinlänglicher  Griuid  vorhanden  sei,   wai'- 


EMILIA  GALOTTI.  1519 

um  der  Streich  nicht  den  Prinzen^  son- 
dern Emilien  trift:  so  wird  schon  durch 
das  Einzige,  dafs  beides  nicht  unmittel- 
bar in  die  Augen  leoclitet,  dafs  man  erst 
Zweifel  und  Einwürfe  heben;,  sich  erin- 
nern, nachdenken  niufs;  schon  dmxh  die- 
ses Einzige,  sag'  ich,  wird  die  ganze  Wir- 
kiuig  der  Katastrophe  vernichtet.  Der 
Streich  ist  geschehen,  ehe  man  zur  Illu- 
sion gehörig  vorbereitet  war;  und  es  hilft 
nichts,  dafs  man  hinterher  nach  gesche- 
hener Untersuchimg  einsieht,  er  sei  den- 
noch mit  Recht   geschehen. 

Wie  aber,  wenn  ich  bisher  in  der  gan- 
zen Beurth eilung  dieser  Situation,  durch 
die  beständige  Piücksicht  auf  den  Virgi- 
nius,  wäre  irre  gefüiirt  worden?  Wie, 
wenn  ich  den  Italiäner  tu  selir  mit  deut- 
schen Augen  betrachtet,  und  ihm  einen 
ßewcgungsgrund,  den  er  nicht  hatte,  ge- 


20O  ÜBER 

liehen  hätte?  —  Die  wirkliche  Entehrung 
Emiliens^  köniuen  Sie  sagen _,  mag  noch 
immer  unentschieden  seyn;  so  ist  doch 
der  Verlust  ihres  guten  Namens  entschie- 
den. Entfernung  von  der  Welt,  wie  ihr 
Vater  ganz  recht  sagt,  ist  das  Einzige, 
was  ihr  in  ihren  jetzigen  Umständen  ge- 
ziemen würde.  Sobald  sie  nach  Guastal- 
la  in  das  Haus  der  Grimaldi  gebracht 
tind  in  gerichtliche  Untersuchung  gezogen 
wird,  so  wird  das  Gerücht,  als  ob  der 
Graf  durch  einen  begünstigten  Nebenbuh- 
ler aus  dem  Wege  geräumt  worden,  be- 
stätigt; und  um  Emiliens  guten  Ruf,  so 
wie  um  die  Ehre  ihrer  Familie,  ist  es  ge- 
schehen. —  Ich  will  nicht  untersuchen, 
mein  Freund,  welcher  Bewegungsgrund 
der  bessere,  edlere  sei?  ob  es  dem  Odo- 
ardo  nicht  mehr  geziemen  würde,  seine 
Tochter   wegen   der   befürchteten   wirkli- 


EMILIA   GALOTTI.  201 

chen  Erniedrigung  und  Verderbnifs  ihres 
Charakters  aufzuopfern,  als  weil  es  ihn 
yerdreufst  dafs  die  Welt  so  und  so  von 
ihr  urth eilen  werde  ?  Ich  will  nicht  -an- 
führen, dafs  die  That  um  desto  mehr  in- 
teressiren  mufs,  je  einer  gröfsern  richti- 
gem Absicht  gemäfs  sie  erfolgt;  ich  will 
blofs  fragen:  ob  wohl  der  Dichter  selbst 
diese  Erklärung  könne  gewollt  haben? 
ob  er  durch  irgend  eine  Rede  in  den 
letzten  Scenen  nur  mit  einiger  Deutlich- 
keit darauf  hinführe?  ob  nicht  immer  von 
wirklicher  Entehrung  und  Verführung  die 
Rede  sei,  ohne  dafs  der  Schande  vor  der 
Welt  nur  mit  Einer, Silbe  erwähnt  wer- 
de? Gleichwohl  denke  ich,  wenn  der 
Dichter  gewollt  hätte,  dafs  Odoardo  die 
Lage  seiner  Tochter  so  vorzüglich  aus 
diesem  Gesichtspuncte  nehmen  sollte;  er 
würde  mehr  Sorge    getragen  haben,    dafs 


203  ÜBER. 

auch  wir  in  eben  diesen  Gesichtspuiict 
getreten  ^ären.  Er  würde  den  Italiäner 
eben  hier^  und  auf  eine  nicht  verkenn- 
bare Art^  zuvor  als  ItaHäner  haben  reden 
lassen,  ehe  er  als  ein  solcher  gehandelt 
hätte. 

Wegen  des  zweiten  Puncts,  dafs  der 
Streich  nicht  den  Prinzen,  sondern  Eini- 
lien  trift,  könnten  Sie  sagen:  dafs  auch 
hier  Odoardo  als  ein  echter  Italiäner 
handle.  —  Was  wäre  es,  wenn  er i die 
Schande,  die  der  Prinz  auf  sein  Haus 
bringen  wollte,  nur  dadiu-ch  zu  rächen 
suchte,  dafs  er  ihn  niederstiefse?  Besser^ 
dafs  er  ihm  sein  ganzes  künftiges  Leben 
verbittre,  dafs  er  ihm  diejenige,  die  ihm 
so  viel  Trug  und  Verrath  ja  selbst  einen 
Meuchelmord  werth  war,  in  deni  Augen- 
blicke selbst  entreifse,  da  er  sie  am  sicher- 
sten  zu  besitzen  glaubt;   dafs  er  ihm  ci- 


EMILIA  GALOTTL         203 

nen  Gedanken  in  die  Seele  grabe,  der 
ihn  wachend  und  träumend  martrc.  und 
nach  einem  Leben  voll  Angst  noch  die 
Schrecknisse  seiner  Todesstiuide  vermeh- 
re. —  Ich  will  glauben^  mein  Freund, 
dafs  eine  Rachsucht  niöglici^  ist,  die  für 
ihre  BefTiedigung  alles,  selbst  ein  ein- 
ziges Kind,  dahingiebt;  aber  gewifs  ist 
der  Mensch  der  ihrer  fähig  ist,  einer 
der  schwärzesten,  verhafstesten  Menschen: 
und  doch  ist  es  deutlich,  dafs  der  Dich- 
ter den  Odoardo  vielmehr  als  einen  ed- 
len und  hochachtungswürdigen  habe  schil- 
dern wollen.  Wie  einen  ganz  falschen 
Eindruck  würde  auch  nun  Emiliens  Tod 
auf  uns  machen,  wenn  wir  wirklich  diesen 
Bewegungsgrund  dabei  erkennten,  oder 
auch  nur  muthmafsen  könnten!  Statt  des 
waln^en  tragischen  Schreckens,  womit  uns 
die  That  des  Virginius  erfüllt,  würde  uns 


2o4       ÜBER  EMILIA  GALOTTI. 

diese  des  Odoardo  mit  Abscheu  und  Ent- 
setzen erfüllen.  —  Erst  müfsten  wir^  wie 
in  der  Geschichte  beim  Livius^  die  völli- 
ge Unmöglichli.eit  erkennen,,  dal's  Emilie 
anders  als  dmxh  ihren  eigenen  Tod  soll- 
te gerettet  werden;  und  dann  mögte  sich 
die  Wutli  gegen  den  Verführer  ^  eben 
hiedurch  erst  auf's  höchste  getrieben^  mit 
der  väterlichen  Liebe  vereinigen^  um  den 
Streich  zu  vollführen:  aber^  dal's  bei  der 
Möglichkeit^  den  Verführer  selbst  zu  töd- 
ten^  die  Wuth  oder  vielmelir  das  schreck- 
lichste Rafhnement  der  Rachsucht^  die 
väterliche  Liebe  ersticken  und  den  Dolch 
freiwillig  gegen  die  Tochter  zücken  soll- 
te ;  das  sqheint  mir  viel  zu  scheuslich 
und  ungeheuer^  als  dafs  es  Herr  Lessing 
gewollt  haben  sollte^  bei  dem  icli  auch 
in  der  That  nicht  die  mindeste  Spur  da- 
von finde. 


205 

VIERZEHNTES    STUCK. 

HYLAS   UND    PHILONOUS. 


W  enn  auch  die  Materie,  sagt  nian_,  ih- 
rer Natur  nach  des  Denkens  unfähig  ist: 
kann  ihr  der  Allmächtige  nicht  diese  Ei- 
genschaft mittheilen? 

Dieser  Einwurf  wider  die  Immateria- 
lität  der  Seele  pflegt  durch  das  Ansehen 
eines  grofsen  Namens  unterstutzt  zu  wer- 
den. Locke  hat  ihn  irgendwo  *in  seinen 
Schriften  vorgebracht;  imd  seit  der  Zeit 
ist  er  von  so  manchem  Schriftsteller  mit 
einem  Triumphe  wiederholt  worden^  als 
wenn  nichts  darauf  zu  antworten  wäre. 
Allein  ich  glaube^  der  Engländer  selbst 
hat  seinen  Einfall  für  so  unüberwindlich 
nicht  gehalten. 


soG  H  Y  L  A  S 

Die  Cartesianer  lehrten:  Wenn  der 
Körper  des  Denkens  fähi^  sejTi  sollte^  so 
jnüfste  sich  durch  Ausdehnung  und  Be- 
wegung die  Natur  der  Gedanken  begreif- 
lich machen  lassen.  Nun  sind  aber^  sag- 
ten sie^  Gedanken  und  Ausdehnung^  Be- 
wegung und  Wahrnehmen  oder  inneres 
Bewufstseyn  der  Bewegung^  von  unglei- 
cher Natur^  von  disparaten  Eigenschaften: 
denn  man  mag  die  Theilchen  der  Mate- 
rie versetzen  und  verbinden^  wie  man 
will ;  so  entsteht  daraus  noch  kein  Be- 
griff>  keine  Vorstellung  von  dieser  Ver- 
setzung;,  kein  Wahrnehmen  der  dadurch 
erzeugten  Veränderung.  Das  Ausgedehn- 
te, schlössen  sie,  muls  also  blofs  beweg- 
lich seyn,  das  Denken  hingegen  einer 
nicht  ausgedehnten  Substanz,  die  der  Be- 
wegung unfähig  ist,  zukommeni 

Da   man  durch   diese  Gründe  nur  zu 


UND    PHIL  ONO  US.  207 

beweisen  schien^  dafs  die  Gedanken  der 
Materie  nicht  nattirlicii  sind ;  so  fragte 
Locke  mit  Recht:  ob  nicht  die  Allmacht 
der  Materie  eine  Kraft  verleihen  könne, 
die  sie  von  selbst  nicht   haben  würde? 

So,  wie  andere  Weltweise  den  Be- 
weis für  die  Immaterialität  der  Seele  ge- 
führt haben,  ist  diese  Frage  gar  nicht 
mehr  möglich.  Wenn  ziün  Denken  viele 
Substanzen  in  einer  Einzigeii  (durch  die 
Vorstellung)  zusammenkommen  müssen; 
die  Materie  hingegen  niemals  aufhört, 
aus  vielen  zu  bestehen :  so  läfst  sich  eine 
denkende  Materie  eben  so  wenig  ohne 
Widerspruch  einnehmen,  als  ein  vierecki- 
ger Kreis» 

Aber  auch  selbst  nach  der  anc^eführ- 
tcn  Cartesianischeii  Beweisart,  läfst  sich 
der  Zweifel  des  Engländers  auf  eine  sehr 
einleuchtende  Weise  heben.     Man  kann 


208  H  Y  L  A  S 

zeigen,  daPs  die  Eigenschaften  sich  nicht 
mittheilen  lassen,  und  dafs  die  Allmacht 
selbst  keinem  Wesen  eine  Kraft  zufegen 
kann,  die  ihm  seiner  Natur  nach  nicht 
zukommt.  Man  sehe  hier  ein  Gespräch^ 
das  über  diesen  Punct  zwischen  zwei 
Weltweisen  vorgefallen  ist,  die  ich  Hylas 
und  Philonous  nennen  will. 

Hylas.  Und  wenn  auch  die  Materie 
an  und  für  sich  nicht  denken  kann;  wird 
ihr  die  Allmacht  Gottes  nicht  die  Kraft 
zu  denken  mittheilen  können? 

Philoiioiis.  Wir  wollen  sehen,  mein 
Freund.  —  Wie  fängt  es  die  Allmacht 
an,  dafs  sie  am  Dorne  Rosen  wachsen 
Jäfst?  Erschaft  sie  etwa  jährlich  in  der 
Rosenzeit  frische  Knospen  aus  dem  Nichts, 
und  befestiget  sie  an  den  Strauch? 

Hylas.  Das  nicht.  Vielmehr  hat  sie 
in  den  Dorn  selbst    den  Saamen    gelegt, 

aus 


UND   PHILONOUS.  209 

aus  welchem  zu  ihrer  Zeit  die  Rosen 
hervorsprossen. 

Philoiious.  Also^  wer  den  Rosensaa- 
men zergliedern^  und  seinen  innern  Bau 
mit  mikroskopischen  Augen  betrachten 
kann;  der  wird  deutlich  einsehen,  wie 
aus  dem  fein  organisirten  Saamen,  durch 
die  Entwickelung ,  Rosen  aufblühen  kön- 
nen? 

Hylas.  Allerdings  !  Wenn  nur  seine 
Sinne  zart  genug  sind,  oder  die  Instru- 
mente genug  vergröfsern. 

Philoiioiis.  Gesetzt  aber,  die  Allmacht 
wollte  am  Rosenstocke,  der  nur  Rosen- 
saamen führt,  Citronen  wachsen  lassen; 
würde  sie  nicht  diese  dem  Strauch  un- 
natürlichen Früchte  besonders  erschlaffen, 
und  an  den  Stengeln    befestigen  müssen? 

Hylas.  Nicht  anders  !  Aber  alsdann 
würden  die  Früchte  am  Rosenstocke  nur 

Engels  Philosoph,  I.  l4 


2IO  H  Y  L  A  S 

zu  wachsen  scheinen,    nicht  whklich 
wachsen. 

Philojious.  Mehr  aber  als  diesen  blo- 
fsen  Sehern^  dankt  mich,  kann  selbst  die 
Allmacht  in  diesem  Fall  nicht  erhalten;- 
sie  müfste  denn  den  Rosendorn  in  einen 
Citronenbaum  iwrwandebi:  das  heifst — 
nach  der  Sprache  einer  gesunden  Philo- 
sophie —  den  Rosendorn  uernichteii, 
und  einen  Citronenbaum  an  die  Stelle 
setzen, 

Hylas.  Das  wäre  dann  aber  nicht  das, 
was  wir  verlangten. 

Philo7ious.  Freilich  nicht  !  Und  es 
bliebe  also  bei  dem  Vorigen  :  die  All- 
macht wurde  die  Citronen  besonders  er- 
schaffen, imd  mit  dem  Rosenstrauche  ver- 
binden müssen. —  Wie  aber?  Der  Stamm 
führt  ja  keine  Citronensäfte.  Woher  wer- 
den denn  die  Früchte  ihj-e  Nahrung  neh- 


UND  PHILONOU^  2n 

Hylas.  Diese  wird  ihnen  die  Allmacht 
aus  der  Luft  oder  sonst  woher  zuführen 
müssen. 

Fhilonous.  Und  wenn  nun  der  Stock 
vergeht ;  haben  die  Citronen  mehr  als 
ihre  Stütze  verloren  ? 

Hylas.  Sicherlich  nicht.  Da  derStamm^ 
an  dem  sie  hingen,  sie  weder  hervorge- 
bracht noch  genährt  hatte. 

Philojious.  Nimm  ehr  wieder  zu  uns- 
rer  Haviptfrage!  —  Sie  haben  mir  einge- 
räumt, dafs  die  Materie  an  und  für  sich 
nicht  denken  könne;  das  heifst,  dafs  sie^ 
vermöge  ihier  innern  Strüctur,  luiendli- 
cher  Gestalten,  Farben  und  Bewegungen, 
aber  keiner  Gedanken,  fähig  sei. 

Hylas.  Ich  gebe  zu,  dafs  Cartesius 
dieses  so  gut  als  erwiesen  hat. 

Philo 71  aus.  Der  Grund  zu  den  Ge- 
danken liegt   also   aiicht  in   der  Materie, 


2iz  HYLAS 

so  wenig  als  Citronensaamen  im  Rosen- 
dorn.  Aber  Gott  soll  der  Materie  die 
Kraft  zu  denken  mittheilen.  Muß  er  nicht 
diese  Kraft  besonders  erschaffen^  und  mit 
der  Materie  verbinden? 

Hylas.  Allerdings  !  —  so  wie  wir  an 
unserm  Beispiele  gesehen  haben. 

Thilonous.  Dadurch  aber  erlangt  die 
Materie  niu^  dem  Scheine  nach  die  Kraft 
zudenken;  diese  kann  ihr  in  derThat  so 
wenig  eigenthümlich  werden^  als  am  Ro- 
senstocke wirklich  Citronen  wachsen  kön- 
nen? 

Hylas.     Auch  das   mufs  ich  zugeben. 

Philonous.  Die  Frage  war  also  nicht : 
ob  die  Allmacht  der  Materie  die  Kraft  zu 
denken  mittheilen  könne?  denn  dies  ist 
unmöglich;  sondern:  ob  sie  nicht  eine 
Kraft  zu  denken  erschaffen  und  mit  der 
Materie    verbinden    könne  ?    und   siehe ! 


UND  PHILONOUS.  213 

dies  hat  sie  wirklich  gethan.  Sie  hat  mit 
gewissen  Portionen  organisirter  Materie 
eine  besonders  erschaffene  Kraft  zu  den- 
ken verbmiden_,  imd  beide  zusammen  ma- 
chen das  lebendige  Tider  aus.  Wie  die 
Früchte  zum  fremden  Stamme^  so  verhält 
sich  die  Kraft  zu  denken  zur  organisir- 
ten  Materie.  Am  Ende  kann  diese  ver- 
gehen^ ohne  dafs  jene  mehr  als  ihre 
Stütze  verlöre. 

Moses  Mejidelssohn. 


2l4 

FÜNFZEHNTES     STUCK. 

DER    BIENENKORB, 


Aber  um's  Himmels  willen! —  sagte  ein 
jünger  Deutscher^  Herr  uoit  Bertlieiuiy 
zu  Monsieur  Le  Grand,  einem  Pariser 
grofsen  Geist  nach  der  Mode  und  einem 
eifrigen  Apostel  des  Atheismus  -^  durch 
was  für  eine  andere  Idee^  mein  Herr, 
wollen  Sie  mir  diejenige,  die  Sie  mir  zu 
nehmen  suchen,  ersetzen  ?  Ich  erkenne 
die  Abhängigkeit  meiner  selbst  und  aller 
mich  umgebenden  Pinge;  ich  suche,  ver- 
möge einer  Noth wendigkeit  meiner  Ver- 
nunft, wovon  nichts  mich  entbinden  kann, 
eine  ^rste,  eine  Grundursache  der  Dinge: 
und  diese  Ursache  — 


DER  BIENENKORB.         215 

Werden  Sie  auf  Ihrem  Wege  nie  fin- 
den. 

Nie  finden?  Hab'  ich  sie  nicht  schon 
in  dem  Gedanken  von  einem  Gott  ge- 
funden ? 

Wie.^  Die  Ursache  von  Wirklichkeiten 
in  einem  Gedanken?  die  Quelle  von  Rea- 
litäten in  einem  Namen?  in  einem  Schal- 
le? —  Sie  wollen  begreifen  durch's  Un- 
begreifliche? wollen  aufklären  diurch  Fin- 
sternisse ? 

Wenn  das  Ideen  sincl^  was  Sie  da  sa- 

^en,  nicht  Worte 

Eben  Worte  verwerf'  ich  ! 
Nun,  so  würdigen  Sie  einen  Irrenden 
Ihier  Leitung !  Fuhren  Sie  mich  zu  eben 
der  Quelle  der  Weisheit,  aus  welcher  Sie 
Selbt  mit  so  tiefen  Zügen  Gewifsheit 
schöpften!  —  Ich  wiederhole  Ihnen:  icli 
Gliche  eine  erste  Ursache    der  Dinge;   ich 


2i6        DER  BIENENKORB. 

bin  durch  eine  Nothwendigkeit  meiner 
Vernunft  gezwungen^  dafs  ich  sie  suche; 
diejenige^  welche  ich  in  dem  Gedanker 
von  einer  Gottheit  glaubte  gefunden  zu 
haben,  erklären  Sie  mir  für  'l'raum,,  für 
Unwesen,  für  Nichts.  Hoffentlich  wer- 
den Sie  doch  nun  ein  Wesen,  ein  Etwas, 
eine  Realität,  an  die  Stelle  setzen? 

Wie  sonst  ?  —  Das  erste  und  einzi- 
ge Wesen,  welches  die  aufgeklärte  Ver- 
nunft erkennt;  die  Quelle  alles  Gedenk- 
baren, alles  Wirklichen,  alles,  was  Hirn' 
mel  und  Erde,  was  Vergangenheit  unl 
Zukunft  befassen! 

Nun?  mid  diese  Quelle  wäre  nLht 
Gott? 

Aberglaube  !  Eindrücke  von  dej  er- 
sten Erziehung  her!  —  Diese  Quele  ist 
allein  die  Natur. 

So  hör'  ich   und  so   les'   ich   j'tzt  oft. 


DEZI  BIENENKORB.        217 

Aber    wenn    ich     doch     von    dieser    Na- 
tur '. 

Er  wollte  sagen :  wenn  ich  doch  ei- 
nen Begriff  von  ihr  hätte!  Allein  es  v»^ir 
nicht  möglich^,  zum  Wort  zu  kommen. 
Die  Lunge  aes  Monsieur  Le  Grand  hat- 
te nun  einmal  Athem  geschöpft ;  vuid 
sicher  war'  er  der  Erste  aller  Philoso- 
phen gewesen^  wenn  die  Lunge  und  nicht 
der  Kopf  den  Philosophen  machte.  Er 
setzte  es  als  die  erste ^  evidenteste^  un- 
umstöfslichste  Wahrheit  fest :  dafs  Alles 
in  der  Natm^  seinen  Grund  habe,  imd 
dafs  es  irgend  etwas  Nothwendiges  und 
Ewiges  gebe,  woraus  sich  Dasein  und  Be- 
schaffenheit jedes  Dinges  begreifen  lasse; 
er  fand  dieses  Nothwendige,  dieses  Ewi- 
ge, in  nichts  anderm  als  in  den  beiden 
allein  reellen  Ideen:  Materie  und  Bewe- 
gung; er  liefs  aus  dieser  Materie  und  Be- 


218        DER  BIENENKORB. 

wegung  Alles  ^  was  im  Himmel  und  auf 
Erden  entstanden  war,  allein  entstanden 
seyn,  spottete  der  trügerischen  Idee  ei- 
nes freien,  aus  eigner  Kraft  wirkenden 
Geistes,  weil  nichts  selbstthätig  sei,  nichts 
sich  aus  seiner  eignen  Kraft  bewege,  son- 
dern AUes  seine  Bewegung  von  aulsen 
erhalte  ;  er  machte  zur  ersten  und  einzi- 
gen Quelle  dieser  Bewegung,  und  also 
aller  durch  sie  entstandenen  Dinge,  die 
Natui';  und  erklärte  dann  doch  diese  Na- 
tur eben  durch  den  Zusammenflufs  der 
Materie  und  der  mannichf altigen  Bewe- 
gungen der  Materie.  Er  zeigte  das  Lä- 
cherliche, das  Ungereimte  in  dem  Gedan- 
ken eines  ersten  Bewegers,  eines  unsicht- 
baren, nach  keiner  seiner  Eigenschaften 
zu  begreifenden,  nicht  einmal  zu  denken- 
den Gottes,  schilderte  mit  schwarzen, 
fürchterlichen  Farben  das  Elend,  welches 


1 

DER  BIENENKORB.        219 

Aberglaube  und  Pfaffenbetrug  über  die 
Erde  gebracht  *) ;  und  lief  diesen  engen^ 
armseligen  Kreis  von  Ideen  so  oft,,  mit 
so  mannichfaltigen  Wendungen^  wieder 
durchs  dafs  Herr  "vojt  Bertheim  alle  Lust 
ihn  zu  widerlegen  verlor^  und  nur  auf 
Mittel  sann  wie  er  sich  losreifsen  könn- 
te. Er  fand  das  Genie  des  Monsieur 
Le  Grand  zu  bewimderns würdige,  als  dafs 
er's  wagen  dürfte^  sich  mit  ihm  einzulas- 
sen; er  begriff  nicht^  wie  so  viel  Tiefsinn 
sich  mit  so  viel  Wohlredenheit  vereini- 
gen liefse^  und  bat  um  Zeit,  alles  das 
Schöne  und  Grofse,  was  er  gehört  hätte, 
zu  fassen  und  zu  durchdenken.  Monsieur 
Le  Grand;,  ohne  den  mindesten  Ai^gwohn 
von  Ironie,  die  ihm  für  einen  Deutschen 
eine  viel  zu  kühne  Figur  schien,  schmei- 
chelte sich  mit  der  Ehre,  Herrn  von 
*)  Man  sehe  das  Systdnie  de  la  Nature. 


220         DER  BIENENKORB. 

Bertheiin  noch  öfter  zu  unterhalten;  und 
die  atheistische  Declamation  hatte  ein 
Ende.  — 

Die  Scene  dieser  Unterredung  war  ein 
G-arten  auf  dem  Landgute  der  Marquise 
'von  Vaillac  ^  einer  erklärten  Gönnerinn 
und  Beschützerinn  des  Monsieur  Le  Grand, 
den  sie,  als  einen  vortreflichen  Kopf,  zu 
allen  ihren  Soupers  und  Landpartieen  zog. 
Die  gute  Dame  war  nicht  mehr  jung  ge- 
nug für  die  Liebe,  und  noch  nicht  alt 
genug  für  die  Andacht  :  sie  hatte  sich, 
um  in  der  Zwischenzeit  glänzen  zu  kön- 
nen, in  die  Metaphysik  geworfen,  sam- 
melte sich,  durch  witzigen  Spott  über 
Himmel  und  Hölle,  reichen  Stoff  für  die 
künftige  Bufse,  und  arbeitete  jetzt  mit 
an  der  Bekehrung  des  jungen  Deutschen, 
um  dessen  vortheilhaftes  Aulsere  ihr  es 
wehe  that^  das  Innere  noch  so  verfinstert 
7n  Rnden.  — 


DER  BIENENKORB.         221 

Indem  unsre  Weltweisen  um  eine  Ecke 
der  hintersten  grofsen  Allee  des  Gartens 
beugten^  fanden  sie  sich  plötzlich  vor  ei- 
nem wilden  unbebauten  Platze^  der  mit 
dem  zu  gekünstelten,  in  zu  regelmäfsige 
Form  gezwungenen^,  Garten  einen  nicht 
unangenehmen  Absatz  machte.  Sie  tra- 
ten hinaus^,  und  stajiden  hier  bald  vor 
einer  Reihe  Bienenkörbe  stille^  deren 
kleine  Bewohner  die  Nahnmg/ die  ihnen 
der  Garten  so  reichlich  darbot^  mit  em- 
sigem Fleifs  in  die  Zellen  '.rügen. 

Wie,  im  endlich  viel  angenehmer^  fing 
Herr  von  Bertheim  an^  ist  doch  der  An- 
blick des  Lebens^  als  aller,  auch  der  rei- 
zendsten^ leblosen  Schönheit!  Wie  weit 
mehr^  als  alle  die  Gänge  und  Blumen- 
beete des  Gartens^  den  wir  verlassen  ha- 
ben^ ergötzt  mich  die  Betrachtung  dieser 
glücklichen    Bürger    eines    so    ordnungs- 


222        DER  BIENENKORB. 

vollen^  so  freien^  so  ruhigen  kleinen 
Sr.aats  !  — 

Und  der  Anblick  ihres  Fleifses,  ihrer 
Geschäftigkeit,  setzte  Monsieur  Le  Grand 
sehr  richtig  hinzu:  denn  sehen  Sie^  wie 
das  unablässig  kommt  und  geht;  wie  das 
eilt  und  wimmelt;  wie  das  keinen  Augen- 
blick rastet ! 

Ja  wohl!  Und  vollends  erst  der  Zweck 
dieses  Fleifses  !  die  Auferziehung  einer 
hpffnungsvollen  Nachwelt!  die  Ernährung 
der  kleinen  künftigen  Burger !  — 

Die  denn  doch  aber  nicht  Haupt-, 
nicht  einziger  Zweck  ist.  — 

Ich  weifs.  Und  wenn  auch  nicht  ein- 
ziger, da  freilich  diese  Arbeiter  auch  für 
das  eigne  künftige  Bedürfnifs  sammeln; 
so  ist  sie  doch  immer  Mitzweck :  und 
Jungenpflege ,  wo  ich  sie  in  der  Natur 
nur  gewahr  werde^  ist  mir  yberall  so  an- 


DER  BIENENKORB.         225 

ziehend,  so  rührend!  Jedes,  auch  das 
verächtlichste  Thier,  sobald  es  mir  als 
aufmerksame  liebende  Mutter  erscheint, 
ist  mir  gleich  so  achtungswürdig,  so  un- 
verletzlich, so  heilig! 

Aber,  mein  Herr  —  dafs  Sie  von  Jun- 
genpflege sprechen,  das  ist  schon  recht; 
allein  Sie  sprechen  nun  auch  von  Müt- 
tern. Sie  sollten  noch  nie  gehört  ha- 
ben —  ?  indem  er  einhielt. 

Noch  nie  gehört  haben?  Was?  — 
Es  läfst  sich  nicht  sagen,  mit  welchem 
grofsen  Auge  und  welchem  Blick  voll  Er- 
staunens Monsieur  Le  Grand  zurück  trat. 
Dafs  man  unfähig  seyn  könne,  eine  et- 
was verwickelte  Kette  abstracter  tiefsin- 
niger Wahrheiten  zu  fassen,  begriff  er; 
denn  nur  zu  oft  war  ihm  die  grofsmüthi- 
ge  Absicht,  Andre  bis  zu  sich  selbst  zu 
erheben,  verunglückt:    aber  eine  so  tiefe 


224         ^^^^  BIEJNENKOIIB, 

Unwissenheit^    als  Herr   von  Bertheim  in 
der   gemeinsten   Naturgeschichte    zu   ver- 
rathen  scl:)ien^  war  ihm  bis  itzt  nicht  vor- 
pfekommen.     Dennoch   befand  es  sich  bei 
der    Nachfrage    nicht   anders ;    Herr    von 
B^rtheim;,  so  viel  Bienenzucht  er  auf  sei- 
nen eignen  Gütern  trieb,  hörte  jetzt  zum 
erstenmale  in    seinem    Leben,    dafs    alle 
die  kleinen  Fliegen,  die  er  so  fleifsig  ar- 
beiten sähe,   ohne  Geschlecht  und   ohne 
Zeugungskraft  wären  ;    er    fand    es    zwar 
unglaublich   und   wider  alle  Analogie  der 
Natur ;    allein    er    niufst'    es    endlich    für 
Wahrheit  nehmen,  da  Monsieur  Le  Grand 
ihm  auf  Ehre  versicherte,  dafs  es  so  wäre. 
Gestehn  Sie    indessen^    fing    er   nach 
mehrern  Ausdrücken   seines   gröfsten  Er- 
staunens an,    dafs    die  Sache   nicht  wenig 
sonderbar   ist.      Denn   die    hier   arbeiten- 
den Bienen  sind  doch  wohl  nimmerniehr 

so 


DER  BIENENKORB.         225 

so  alt^  als  die  Welt?  sind  doch  wohl 
auch^  wie  alle  andi'en  irdischen  Wesen, 
sterblich?  Gleichwohl^  wenn  sie  ohne 
Zeugungskraft  sind  — 

Nun? 

Wie  soll  ich  da  immer  und  ewig  ih- 
ren Ursprung  begreifen?  Woher^  soll  ich 
denken^  dafs  nach  dem  Tode  der  alten 
Schwärme  die  neuen  kommen? 

Woher  ?  sagte  Monsieur  Le  Grand^ 
und  konnte  unmöglich  ein  kleines  spöt- 
tisches Lächeln  lassen.  Sind  denn  die 
hier  sichtbaren  arbeitenden  Bienen  die 
einzigen  in  der  Natiu:  ?  Müssen  denn 
nothwendig  alle  Bienen  ausfliegen  imd 
Honig  machen  ?  —  Lassen  Sie  Sich  sa- 
gen^ mein  Herr!  —  indem  er  in  selbst- 
zufriedner Stellung^  mit  ausgestrecktem 
Finger  und  weit  gesperrten  Füfsen,  vor 
ihn  hintrat  —  Dort  innerhalb  dieses  Kor- 

Engnis  Philosoph,  I.  j^ 


22(i         DER  BIENENKORB. 

bes  y  und  so  innerhalb  jedes  andern^ 
wohnt  eine  kleine  Königinn^  die  von  ih- 
rem männlichen  Serail^  wie  ein  Sultan 
von  seinem  weiblichen^  umgeben^  in  gnnz 
eigentlichem  Sinne  das  ist^  was  sich  uns- 
re  Königinnen  nur  nennen  :  Landesmut- 
ter; eine  Gottheit^  an  deren  Dasein  die- 
ses ganze  System^  diese  ganze  kleine 
Welt  hängt,  imd  die  in  ihrer  stolzen  se- 
ligen Unthätigkeit  —  — 

Eine  Gottheit?  fiel  ihm  Herr  von  Bert- 
heim ins  Wort,  und  schlug,  nach  einem 
kleinen  flüchtigen  Lächeln,  den  Blick  wie 
beschämt  zur  Erde  nieder. 

O,  Sie  verstehen  mich,  hoff  ich.  Ei- 
ne Gottheit,  wie  eine  Königiim:  nur  der 
Ähnlichkeit  wegen!  nm-  weil  diese  innre 
verborgne  Biene  die  erste  Person  ihres 
Staats  ist;  weil  sie  allein  ihn  zusammen- 
hält; weil  ohne  sie  sich  alles  zerstreuen^ 
ajles  verlieren  wurde. 


DER  BIENENKORB.        227 

Ja  dann  —  wenn  Sie  Sich  so  erklä- 
ren —  Aber  nach  Ihrer  Beschreibuno^  von 

o 

dieser  Biene,  von  dieser  innern  ver-borg- 
nen  Biene,  wie  Sie  sie  nennen,  mufs  sie 
wohl  auch  eine  ganz  andi'e  Beschaffen- 
heit, eine  ganz  andre  Natur  haben,  als 
die  bisher  mir   bekannten  Bienen? 

Wenigstens  ist  sie  gröfser,  hat  einen 
andern  Bau,  eine  andre  Lebensart^  andre 
Instincte. 

Dafs  ich  also  noch  gar  keinen  Begriff 
von  ihr  habe?  dafs  sie  für  mich  im  Grun- 
de so  viel  wie  nichts  ist? 

So  viel  wie  Nichts?  —  Ist  denn  gleich 
Alles  nichts,  wovon  Sie  nicht  den  hellen, 
den  vollen  Begriff  der  Anschauung  ha- 
ben? Alufs  denn  Alles  was  für  Sie  etwas 
seyn  soll,  mit  Augen  können  gesehn  oder 
mit  Händen  gegriffen  werden  ?  —  Ein- 
mal sind   doch    diese  Bienen   in   der  Na- 


238        DER  BIIlNENKORB. 

tur;  Sie  sehen  sie,  hören  sie;  Sie  dürf- 
ten sie  nur  reizen^  um  auch  ihren  Sta- 
chel zu  fühlen:  und  so  denk'  ich  —  wenn 
diese  Wesen  nicht  aus  dem  Nichts  haben 
hervorspringen  sollen  —  ich  denke ;,  Sie 
werden  mir  meine  Mutterbiene  schon 
müssen  gelten  lassen. 

Verzeihn  Sie  !  Ich  hätte  doch  Lust^, 
sie  zu  läugnen. 

Wie !  sie  zu  läugnen  ?  —  Wemi  Sie 
mir  gleichwohl  eingestehen,  dafs  diese 
sichtbaren^  arbeitenden  Bienen  ohne  Ge- 
schlecht sind? 

Wenn  ich  dieses  auch  eingestehe.  Das 
thut  liier  nichts. 

Thut  hier  nichts  ?  —  Nun  beim  Him- 
mel! —  imd  er  lachte^  dafs  die  Thränen 
ihm  aus  den  Augen  liefen  —  Sie  sind 
von  einer  Naivetät  zum  Erstaimeil.  Wie 
in  aller  Welt   wollen   Sie    denn  nun   den 


DER  BIENENKORB, 


239 


Ursprung  der  Bienen  begreifen?  Wo  glau- 
ben Sie,  dafs  die  neuen  Schwärme  her- 
kommen sollen?  —  Oder  sind  Sie  etwa 
schon  wieder  in  Ihrem  Schöpfungssystem? 
haben  Sie  schon  wieder  Ihre  erste  Grund- 
quelle der  Wesen  im  Sinne  ? 

O  Monsieur  Le  Grand!  —  mit  einer 
Miene,  als  ob  er  im  Ernst  empfindlich 
wäre  —  ein  Mann,  wie  Sie^  könnte  spot- 
ten, wo  er  Gelegenheit  zu  belehren  hät- 
te?  Ich   bin  ja   einmal  Ihr  Schüler. 

Doch,  Sie  wollten  auch  v/ohl  nicht  spot- 
ten, sondern  nur  meinen  Scharfsinn  wek- 
ken.  Sie  wollten  versuchen,  ob  ich  aus 
den  Principien,  die  Sie  mir  so  grofsmü- 
thig  mitgetheilt ,  das  Räthsel  nicht  von 
selbst  würde  lösen  können.  Und  wirk- 
lich —  je  mehr  ich  der  Aufgabe  nach- 
sinne   es  ist  mir,    als  ob    ich  schon 

einen  Schimmer  von  etwas  sehr  Schönem^, 
sehr  Bündigem  sähe. 


23©         DER  BIENENKORB. 

Worauf  ich  unendlich  neugierig  bin; 
ich  versichere  Sie. 

Wenigstens  ist  es  ganz  nach  Ihi^em 
eignen  Muster. 

Schön!  Um  so  lieber  werde  ich's  mir 
gefallen  lassen. 

Vielleicht.  —  Doch  uiu^  als  Anfänger 
im  Denken^  nicht  etwa  Fehler  zu  ma- 
chen: erlauben  Sie^  dafs  ich  mein  Muster 
noch  einmal  vor  mir  aufstelle  und  Ihr 
ganzes  Räsonnement  wiederhole  !  —  Be» 
haupteten  Sie  nicht  als  denkender  Atheist^ 
der  sich  von  den  Vorurtheilen  der  Erzie- 
hung losgerissen^  dafs  die  Idee  einer  un- 
sichtbaren^ verborgnen^  nach  keiner  ihrer 
Eigenschaften  begriffenen  Gottheit  eine 
hirnlose  Idee^  und  dafs  es  der  wahnsin- 
nigste aller  Einfälle  sei^  durch  so  eine 
Gottheit  die  Entstehung  einer  Welt  zu 
erklären? 


DER  BIENENKORB.         ^31 

Nun  ja!  Und  die  Anwendung? 

Behaupteten  Sie  nicht  ferner  als  gründ- 
licher Materialist  _,  der  sich  durch  keine 
Schattenbilder  der  Einbildung  täuschen 
läfst_,  dafs  die  Idee  eines  sich  selbst  be- 
stimmenden,, aus  eigner  Kraft  handelnden 
Wesens  thöricht  sei,  und  dafs,  eigentlich 
zu  reden,  alle  Bestimmung,  alle  Bewe- 
gung von  aufsen  komme? 

Das  behauptete  ich;    allerdings! 

Wohl!  —  Sagten  Sie  nicht,  dafs  alle 
Dinge  nur  dmxh  Bewegung  der  Materie 
entstanden  wären?  und  müssen  Sie  also, 
wenn  alle  Bewegimg  von  aufsen  kommt, 
nicht  zugeben^  dafs  bei  keinem  Dinge  der 
Grund  seines  Daseins  und  seiner  Einrich- 
tung in  ihm  selbst  liege? 

Freilich!   Haben  Sie  Zweifel  dagegen? 

Ich  würde  sie  anführen.  —  Heifst  Ih- 
nen das:   Kein  Ding   hat   den  Grund  sei- 


23'i         DER  BIENENKORB. 

ner  Entstehung  und  Einrichtung  in  sich 
selbst;,  etwas  anders^  als:  Der  Griuid  sei- 
ner Entstehung  und  Einrichtung,  insofern 
er  in  ihm  selbst  liegt,  ist  nichts? 

Wenn  Sie's  so  lieber  hören  —  Was 
liegt  am  Ausdruck^   mein  Herr? 

Dann  und  wann  viel.  — •  Behaupteten 
Sie  nicht  ^  dafs  die  Natur  allein  die  ge- 
suchte, noth wendige,  ewige  Ursache,  die 
einzige  Quelle  der  Bewegung  sei,  die  Al- 
les wirke,  hervorbringe,  bilde? 

Sehr  richtig ! 

Und  erklärten  Sie  nicht  diese  Natur 
duixh  den  Zusammenilufs,  die  Summe, 
die  Verbindimg  aller  Dinge  und  aller  Be- 
wegungen, deren  abei»  keine  ihren  Ur 
spnmg  in  den  einzelnen  Dingen  selbst 
habe,  sondern  nm:  in  der  Kette  des  Gan- 
zen ? 

Wiederum   richtig!  —    Aber  ich  sehe 


DER  BIENENKORB.         255 

nichts    wo  Sie  mit   diesen  Fragen  hinaus 
wollen? 

Dahinaus^  wo  ich  schon  bin.  Denn 
nur  des  grofsen^  Ihrem  Systeme  so  eig- 
nen _,  mir  noch  so  neuen  Grundsatzes 
wollt'  ich  gewifs  sejn:  dafs  unzählig  viel 
Nichtgrunde  in  der  Verbindung  Grund, 
unzählig  viele  Nichtbewegungen  in  der 
Summe  Bewegung  geben,  und  dafs  also 
Nichts ,  zu  Nichts  hinzugethan ,  Etwas 
werde.  Mit  diesem  Axiom  gerüstet,  geh' 
ich  nun  muthig  an  meine  Aufgabe,  und 
bin  gewifs,  sie  zu  lösen.  —  Meine  Ge- 
dankenfolge ist  diese:  Ich  sehe  hi^er  Bie- 
nen arbeiten ,  die  ohne  Zeugungskraft 
sind;  ich  spüre  Eindrücke  von  ihnen  auf 
inein  Gesicht,  mein  Gehör,  meinen  Gau- 
men, auch,  wenn  ich  sie  reize,  auf  uiein 
Gefühl:  ich  kann  ihr  Dasein  nicht  läug- 
nen.     Gleichwohl  begreife  ich  auch,  dafs 


234        ^^^  BIENENKORB. 

sie  den  Grund  ihrer  Entstehung  aufs  er 
sich  haben;  dals  sie  nicht  von  sich  selbst 
sind^  nicht  ewig.  Wo  soll  ich  denn  aber 
sonst  ihren  Ursprung  suchen?  In  andern 
ihnen  ähnlichen  Bienen?  —  Denen  fehlt, 
so  gut  wie  ihnen  selbst,  die  erzeugende 
Kraft.  —  Also  etwa  in  einer  Mutterbie- 
jie,  die  eher  als  sie  und  von  ihnen  ver- 
schiedner  Natur  sei?  —  Aber  wo  wäre 
denn  die  ?  Und  was  sollte  ich  mir  für  ei- 
nen Begriff  von  ihrer  Beschaffenheit  ma 
chen?  —  Nein,  das  wäre  sehr  thöricht, 
wenn  ich  nach  leeren  Unwesen  haschte, 
und  Wirklichkeiten  durch  Namen,  durch 
Schall  erklärte!  —  Besser,  ich  fasse  die 
sämmtlichen  Bienen,  die  hier  und  anders- 
wo arbeiten,  in  den  allgemeinen  Begriff: 
Bienen -All;  ihre  sämmtlichen  Zeugimgs- 
kräfle  in  den  allgemeinen  Begriff  :  Bie- 
nen-Natur.    Nun  ist  zwar  freilich,   ein- 


DER  BIENENKORB.        235 

zeln  genommen^  jede  dieser  Zeugiings- 
kräfte^  ein  blofses  Unding,  ein  Nichts ;  — 
aber  wenn  gleich!  Unendlich  viel  Nichts, 
hab'  ich  gelernt,  giebt  in  der  Summe  all- 
wirkendes Etwas;  und  so  werden  unzäh^ 
lig  viel  Unmöglichkeiten  zu  zeugen,  in 
Einen  Begriff  verbunden,  zu  Möglichkeit, 
zu  mehr  als  Möglichkeit  werden,  zu  wirk- 
lich zeugender  Kraft.  So  also,  durch  ei- 
^ne  aus  Nichts  zusammengeflossene  zeu- 
gende Kraft,  kamen  diese  Bienen  zum 
Vorschein;  so  entstand,  was  den  Grund 
seines  Daseins  nicht  in  sich  selbst,  nicht 
in  Dingen  seiner  eigenen  Art  haben  konn- 
te ,  und  ihn  doch  auch  in  nichts  Ver- 
schiedenem hatte. Nun,  Monsieur 

Le  Grand  ?  Sehen  Sie,  dafs  ich  Ihre 
Schlulskette  gefafst  habe,  und  dafs  ich 
ohne  Mutterbiene  davon  komme  ?  dafs 
ich    dieses   verborgene,    ungesehene,    so 


236         DER  BIENENKORB. 

wenig  von  mir  begriffene  Wesen  nicht 
brauche  ?  dafs  ich  mich  nm^  lächerlich 
würde  gemacht  haben ,  wenn  ich  mich 
so  leicht  hätte  fangen  lassen  ?  —  Oder 
fmden  Sie  etwa  meine  Erklärung  nicht 
genugthuend?  nicht  für  den  gemeinsten 
Verstand  evident? 

O  ausnehmend  genugthuend,  ausneh- 
mend evident!  sagte  Monsieur  Le  Grand, 
und  zuckte  voll  Bedaurens  die  Achseln. 
—  Theilen  Sie  Ihre  Ideen  dem  Publicum 
mit!  Es  wäre  Jammer,  wenn  sie  verloren 
gingen. 

Wenn  Sie  so  meinen 

Ich  versichere  Ihnen:  Sie  werden  da- 
von Ehre  haben,  alle  ersinnliche  Ehre!  — 
Die  ich  demjenigen  zui'ückgeben  wer- 
de, dem  sie  gebührt. —  Mit  diesem  küh- 
len Tone  verlop  sich  die  Unterredung, 
und  beide  gingen  nun  schweigend  neben 
einander  her  an  die  Tafek  — 


DER  BIENENKORB.         2'^ 


Monsieur  Le  Grand  konnte  die  Zeit 
nicht  erwarten ;,  wo  er  mit  der  Marquis e 
und  der  übrigen  Gesellschaft  allein  wäre^ 
um  ihnen  von  dem  Vorgefallnen  Bericht 
zu  geben.  Doch  versteht  sich^  dais  er 
alles  verschwieg,  was  seinem  System  oder 
ihm  selbst  zum  Nachtheil  gereichte.  — 
So  eine  Unwissenheit,  und  so  eine  Al- 
bernheit, wie  die:  durch  lauter  zeugungs- 
unfähige Wesen  Zeugung  erklären  zu  wol- 
len, konnte  nicht  fehlen,  Gelächter,  Ver- 
achtung, Mitleiden,  Spott,  eins  um's  An- 
dere zu  erwecken.  —  Aber,  sagte  zukizt 
die  Marquise  :  gestehen  Sie  mir,  meine 
Herren,  dafs  eine  so  ungeheure  Stupidi- 
tät doch  nirgend  als  jenseit  des  B.heins 
erhört  ist.  Demi  hier  in  Frankreich,  dem 
Himmel  sei  Dank  !  sind  wir  doch  eine 
ganz  andere  Menschenart ;  haben  doch 
ganz    anders    organisirte   Gehirne.    —     Ja 


238         DER  BIENENKORB. 

wohl!  ja  wohl!  riefen  Alle;  und  dann  er- 
hob sich  ein  lebhafter  Streit:  ob  die  Ur- 
sache dieser  Stupidität  mehr  im  Klima, 
oder  im  Gouvernement,  oder  in  der  Er- 
ziehung, oder  in  irgend  sonst  etwas  läge? 
Indessen,  über  die  Sache  selbst  war  man 
einig;  und  Herr  von  Bertheim,  so  viel 
Hoffnung  Anfangs  die  Marquis e  von  ihm 
geschöpft  hatte,  sank  auf  einmal  in  eine 
tiefe  Verachtung. 


239 

SECHZEHNTES     STLrCK, 

TRAUM   DES    GALILEI  *), 

KjTalilei,  der  sich  um  die  Wissenschaften 
so  unsterblich  verdient  gemacht  hatte^ 
lebte   jetzt  in    einem   ruhigen  und  ruhm- 

")  Galilei  ward  zweimal  vor  die  Inquisition  in 
Rom  geladen  ,  weil  er  das  System  des  Coper- 
nicus  vertheidigte,  das  der  heiligen  Schrift  ent- 
gegen schien.  Das  zweitemal  safs  er  lange 
gefangen,  und  in  gröfster  Ungewilsheit  wegen 
«eines  Schicksals ;  endlich  gab  man  ihn  unter 
der  Bedingung  frei,  dafs  er  nicht  aus  dera 
Herzogthume  Florenz  weichen  sollte.  Seine 
wichtigsten  astronomischen  Entdeckungen,  die 
er  theils  allein  ,  theils  mit  Andern  zugleich 
machte ,  sind  diejenigen  ,.  deren  in  diesem 
Traume  erwähnt  wird.  Er  lebte  nach  seiner 
letzten  Gefangenschaft  auf  seinem  Landhause 
zu  Arceiri,  verlor  sein  Gesicht,  und  genofs  in 
den  letzten  Jahren  bis  an  seinen  Tod  der  Ge- 
sellschaft des  Viviani,  der  nachher  sein  Leben 
beschrieb ,   und   seinen  Namen   nie   anders   als 


24o  T  R  A  ü  M 

vollen  Alter,  zu  Arcetri  im  Florentini- 
schen.  Er  war  bereits  seines  edelsten 
Sinnes  beraubt,  aber  er  freute  sich  den- 
noch des  Frühlings :  theils  um  der  wie- 
derkehrenden Nachtigall  und  der  duften- 
den Blüthen  willen,  theils  um  der  leb- 
haftem Erinnerung  willen,  die  er  an  ehe- 
malige Freuden  hatte. 

Einst,  in  seinem  letzten  Frühling,  liefs 
er  sich  von  Viviaiii,  seinem  jüngsten  und 
dankbarsten  Schüler,  in  das  Feld  um  Ar- 
cetri führen.     Er  merkte,  dals  er  sich  für 

sei- 

jiiit  dem  Zusätze  zu  unterzeiclinen  pflegte: 
Schüler  des  Galilei.  Mit  diesen  wenigen  An- 
merkungen wird  in  dem  nachlblgenden  Auf- 
satze liofTeatlicli  nichts  mehr  dunkel  «eyn. 
Umständlichere  Nachrichten  findet  man  in 
MonLucla  Histoire  des  Math^matir/ues ,  Heu- 
manns Actis  Fhil. ,  und  andern  bekannten 
Büchern.  —  (Man  s.  vor  allen  die  jetzt  er- 
schienene Lebeusbesclueibung  des  Galilei  von 
Herrn  Jagemann, ) 


DES   GALILEI.  241 

seine  Kräfte  zu  weit  entfernte,  und  bat 
daher  im  Scherz  seinen  Führer,  ihn  nicht 
über  das  Gebiet  von  Florenz  zu  bringen. 
Du  weifst,  sagte  er,  was  ich  dem  heili- 
gen Gericht  habe  geloben  müssen.  — 
Viviaiii  setzte  ihn,  zum  Ausruhen,  auf 
eine  kleine  Erhebimg  des  Erdreichs  nie- 
der; und  da  er  hier,  den  Blumen  und 
Kräutern  näher,  gleichsam  in  einer  Wol- 
ke von  Wohlgeruch  safs,  erinnerte  er 
sich  der  heifsen  Sehnsucht  nach  Freiheit, 
die  ihn  einst  zu  Pvom,  bei  Annäherung 
des  Frühlings,  befallen  hatte.  Er  wollte 
jetzt  eben  den  letzten  Tropfen  Bitterkeit, 
der  ihm  noch  übrig  war,  gegen  seine 
grausamen  Verfolger  ausschütten,  als  er 
schnell  wieder  einhielt,  und  sich  selbst 
mit  den  Worten  bestrafte  :  Der  Geist 
des  Copernicus  nixjgte  zürjie?i. 

Viviani,    der    noch    von   dem  Trauai 

Engels  Phi/osoph,  T.  l(^ 


^242  TRAUM 

nicht  wufste^  auf  den  sich  Galilei  bezog, 
bat  ihn  um  Erläuterung  dieser  Worte. 
Aber  der  Greis^  dem  der  Abend  zu  kühl 
und  für  seine  kranken  Nerven  zu  feucht 
ward^  wollte  erst  zurückgeführt  seyn^  eh' 
er  sie  gäbe. 

Du  weifst^  fing  er  dann  nach  einer 
kurzen  Erholung  an^  wie  hart  mein  Schick- 
sal in  Rom  war^  und  wie  lange  sich  mei- 
ne Befreiung  verzögerte.  Als  ich  fand, 
dafs  auch  die  kräftigste  Fürsprache  mei- 
ner Beschützer,  der  Medici,  und  selbst 
der  Widerruf,  zu  dem  ich  mich  herab- 
liefs,  noch  ohne  Wirkung  blieben,  warf 
ich  mich  einst,  voll  feindseliger  Betrach- 
tungen über  mein  Schicksal  und  voll  inn- 
rer Empörung  gegen  die  Vorsehung,  auf 
mein  Lager  nieder.  —  So  weit  du  nur 
denken  kannst,  rief  ich  aus,  wie  untadel- 
haft  ist  dein  Leben  gewesen  I    Wie  müh- 


DES  GALILEI.  243 

sam  bist  du ,  im  Eifer  für  deinen  Be- 
ruf^ die  Irrgänge  einer  falschen  Weisheit 
durchwandert,  um  das  Licht  zu  suchen, 
das  du  nicht  finden  konntest !  Wie  hast 
du  alle  Kraft  deiner  Seele  dran  gesetzt, 
um  hindurch  zur  Wahrheit  zu  brechen, 
und  sie  alle  vor  dir  zu  Boden  zu  käm- 
pfen, die  verjährten  mächtigen  Vorur- 
theile,  die  dir  den  Weg  vertraten  I  Wie 
karg  gegen  dich  selbst  hast  du  oft  die 
Tafel  geflohn,  nach  der  dich  gelüstete, 
und  den  Becher  den  du  ausleeren  woll- 
test, von  deinen  Lippen  gezogen,  um 
nicht  träge  zu  den  Arbeiten  des  Geistes 
zu  werden!  Wie  hast  du  mit  den  Stun- 
den des  Schlafs  gedarbt,  um  sie  der  Weis- 
heit zu  schenken!  Wie  oft,  wenn  alles 
um  dich  her  in  sorgloser  Ruhe  lag  und 
den  ermüdeten  Leib  zu  neuen  Wollüsten 
stärkte;   wie  oft   hast  du  vor  Frost  gezit- 


:a44  TRAUM 

tert^  um  die  Wunder  des  Firmaments  zu 
betrachten  i  oder  in  trüben  umwölkten 
Nächten  beim  Schimmer  der  Lampe  ge- 
wacht, um  die  Ehre  der  Gottheit  zu  ver- 
kündigen tmd  die  Welt  zu  erleuchten!  — 
Elender!  Und  was  ist  nun  die  Frucht  dei- 
ner Arbeit?  Was  für  Gewinn  hast  du  nun 
für  alle  Verherrlichung  deines  Schöpfers 
und  alle  Aufklärung  der  Menschheit?  — 
Dafs  der  Gram  über  dein  Schicksal  die 
Säfte  aus  deinen  Augen  trocknet ;  dafs 
sie  dir  täglich  mehr  absterben_,  diese  treu- 
sten Gehülfen  der  Seele;  dafs  nun  bald 
diese  Thränen,  die  du  nicht  halten  kannst^ 
ihr  dürftiges  Licht  auf  ewig  vertilgen 
werden ! 

So  sprach  ich  zu  mir  selbst,  Viviani, 
und  dann  warf  ich  einen  Blick  voll  Neids 
auf  meine  Verfolger.  —  Diese  Unwürdi- 
gen^ rief  ich,  die  in  geh eimnifsr eiche  For- 


DES  GALILEI.  »45 

mein  ihren  Aberwitz  und  in  ehrwürdiges 
Gewand  ihre  Laster  hüllen,  die  zur  schnö- 
den Ruhe  für  ihre  Trägheit  sich  mensch- 
liche Lügen  zu  Aussprüchen  Gottes  hei- 
ligten, und  den  Weisen,  der  die  Fackel 
der  Wahrheit  empor  hält,  wüthend  zu 
Boden  schlagen,  dafs  nicht  sein  Licht  sie 
in  ihrem  wollüstigen  Schlummer  störe; 
diese  Niederträchtigen^  die  nur  thätig  für 
ihre  Lüste  und  das  Verderben  der  Welt 
sind:  wie  lachen  sie,  in  ihren  Pallästen, 
des  Kummers!  wie  geniefsen  sie,  in  un- 
aufhörlichem Taumel,  des  iTebens !  wie 
haben  sie  dem  Verdienste  alles  geraubt; 
auch  das  heiligste  seiner  Güter,  die  Ehre! 
wie  stürzt  vor  ihnen  andächtig  das  Volk 
hin,  das  sie  um  die  Frucht  seiner  Acker 
betrügen,  und  sich  Freudenmahle  von  dem 
Fett  seiner  Heerden  imd  dem  Most  sei- 
ner Trauben  bereiten  I  —    Und  du,  Vn- 


246  TRAUM 

glücklicher  !  der  du  nur  Gott  und  dei- 
nem Berufe  lebtest;  der  du  nie  in  dei- 
ner Seele  eine  Leidenschaft  aufkommen 
liefsest^  als  die  reinste  luid  heiligste,  für 
die  Wahrheit;  der  du,  ein  besserer  Prie- 
ster Gottes,  seine  Wunder  im  Weltsy- 
stem, seine  Wunder  im  Wurm  offenbar- 
test: mufst  du  jetzt  auch  das  Einzige  mis- 
sen, wornach  du  schmachtest?  das  Einzi- 
ge, was  selbst  den  Thieren  des  Waldes 
und  den  Vögeln  des  Himmels  gegeben 
ist—  Freiheit?  Welches  Auge  wacht  über 
die  Schicksale  der  Menschen?  Welche  ge- 
rechte unparteiische  Hand  theilt  die  Gü- 
ter des  Lebens  aus  ?  Den  Unwürdigen 
lälst  sie  alles  an  sich  reifsen;  dem  Wür-, 
digen  alles  entziehen! 

Ich  klagte  fort,  bis  ich  einschlief;  und 
alsbald  kam  es  mir  vor,  als  ob  ein  ehr- 
würdiger Greis  an  mein  Lager  träte.    Er 


DES   GALILEI.  247 

stand,  und  betraclitete  mich  mit  still- 
schweigendem Wohlgefallen^  indefs  mein 
Auge  voll  Verwundrung  auf  seiner  den- 
kenden Stirne  und  den  silbernen  Locken 
seines  Haupthaars  ruhte.  —  Galilei!  sag- 
te er  endlich:  was  du  jetzt  leidest_,  das 
leidest  du  um  Wahrheiten^  die  ich  dich 
lehrte  ;  und  eben  der  Aberglaube^  der 
dich  verfolgt,  wurde  auch  mich  verfol- 
gen, hätte  nicht  der  Tod  mich  in  jene 
ewige  Freiheit  gerettet.  —  Du  bist  Co- 
pemicusl  rief  ich,  und  schlofs  ihn,  noch 
eh'  er  mir  antworten  konnte,  in  meine 
Arme.  —  O  sie  sind  suis,  Viviani,  die 
Verwandtschaften  des  Bluts,  die  schon 
selbst  die  Natm-  stiftet ;  aber  wie  viel 
süfser  noch  sind  Verwandtschaften  der 
Seele  !  Wie  viel  th eurer  und  inniger,  als 
selbst  die  Bande  der  Bruderliebe,  sind 
die  Bande   der  Wahrheit!    Mit   wie   seli- 


248  TRAUM 

gen  Vorgefühlen  des  erweiterten  Wir- 
kungskreis es ;,  der  erhöheten  Seelenkraft, 
der  freien  Mittheilung  aller  Schätze  der 
Erkenntnifs,  eilt  man  dem  Freund  entge- 
gen, der  an  der  Hand  der  Weisheit  her- 
eintritt ! 

Siehe  !  sprach  nach  erAviederter  Um- 
armung der  Greis  :  ich  habe  diese  Hülle 
zurückgenommen,  die  mich  ehemals  ein- 
schlofs,  und  will  dir  schon  itzt  seyn,  was 
ich  dir  künftig  seyn  werde  —  dein  Füh- 
rer. Denn  dort,  wo  der  entfesselte  Geist 
in  rastloser  Thätigkeit  unermüdet  fort- 
wirkt; dort  ist  die  Huhe  nur  Tausch  der 
Arbeit;  eignes  Forschen  in  den  Tiefen 
der  Gottheit  wechselt  nur  mit  dem  Un- 
terricht, den  wir  den  spätem  Ankömm- 
lingen der  Erde  geben ;  und  der  Erste, 
der  einst  deine  Seele  in  die  Erkenntnifs 
des   Unendlichen   leitet,   bin  IcJl.  —     Er 


DES  GALILEI.  249 

führte  mich  bei  der  Hand  zu  einer  nie- 
dergesunkenen Wolke,  und  wir  nahmen 
unsern  Fing  in  die  unermefsliche  Weite 
des  Himmels.  Ich  sah  hier  den  Mond^, 
Viviani,  mit  seinen  Anhöhen  und  Thä- 
lern;  ich  sah  die  Gestirne  der  Milchstra- 
fse,  der  Plejaden,  und  des  Orion;  ich  sah 
die  Flecken  der  Sonne,  und  die  Monden 
des  Jupiter:  alles,  was  ich  hienieden  zu- 
erst sah,  das  sah  ich  dort  besser  mit  un- 
bewaffnetem Auge,  und  w^andelte  am  Him- 
mel, voll  Entzückens  über  mich  selbst, 
unter  meinen  Entdeckungen,  wie  auf  Er- 
den ein  Menschenfreund  unter  seinen 
Wohlthaten  wandelt.  Jede  hier  durchar- 
beitete müh  volle  Stunde  ward  dort  frucht- 
bar an  Glückseligkeit,  an  einer  Glückse- 
ligkeit, die  der  nie  fühlen  kann,  der  leer 
an  Erkenntnifs  in  jene  Welt  tritt.  Und 
darum  will  ich  nie,    Viviani,    auch  nicht 


250  T  R  A  U  M 

in  diesem  zitternden  Alter,  aufhören  nach 
Wahrheit  zu  forschen:  denn  wer  sie  hier 
suchte,  dem  blüht  dort  Freude  hervor, 
wo  er  nur  hinblickt;  aus  jeder  bestätig- 
ten Einsicht,  aus  jedem  vernichteten  Zwei- 
fel, aus  jedem  enthüllten  Geheimnifs,  aus 
jedem  verschwindenden  Irrthum.  —  Siehe! 
ich  fühlte  dies  alles  in  jenen  Augenblik- 
ken  der  Wonne;  aber  auch  nur  dies  Ein- 
zige, dqfs  ich  es  fühlte,  ist  mir  geblie- 
ben; denn  meine  zu  überhäufte  Seele  ver- 
lor jede  einzelne  Glückseligkeit  in  dem 
Meer  ihrer  aller. 

Indem  ich  so  sah  und  staunte,  und 
mich  in  Dessen  Gröfse  verlor,  der  dies 
alles  voll  allmächtiger  Weisheit  schuf,  u^d 
diu-ch  seine  ewigwirksame  Liebe  trägt 
und  erhält,  erhob  mich  das  Gespräch 
meines  Führers  zu  noch  höhern  Begrif- 
fen. —    Nicht  die  Gränzen  deiner  Sinne, 


DES   GALILEI.  251 

sagte  er^  sind  auch  die  Gränzen  des  Welt-. 
alls^  obgleich  aus  undenkliclien  Fernen 
ein  Heer  von  Sonnen  zu  dir  herQber- 
schiininert:  noch  viele  tausende  leuchten, 
deinem  Blick  unbemerkbar,  im  endlosen 
Äther;  und  jede  Sonne,  wie  jede  sie  um- 
kreisende Sphäre,  ist  mit  empfindenden 
Wesen,  ist  mit  denkenden  Seelen  bevöl- 
kert. Wo  mu:  Bahnen  möglich  waren, 
da  rollen  Weltkörper,  und  wo  niu:  We- 
sen sich  glücklich  fühlen  konnten,  da  v/al- 
len  Wesen !  Nicht  Eine  Spanne  blieb  in 
der  ganzen  Unermefslichkeit  des  Unend- 
lichen, wo  der  sparsame  Schöpfer  nicht 
Leben  hinschuf,  oder  dienstbaren  Stoff 
für  das  Leben ;  und  diurch  diese  ganze 
zahllose  Mannichfaltigkeit  von  Wesen  hin- 
durch herrscht,  bis  zum  kleinsten  Atom 
herab,  imverbrächliche  Ordnung:  ewige 
Gesetze    stimmen   Alles    von   Himmel   zu 


232  TRAUM 

Himmel,  und  von  Sonne  zu  Sonne,  unä 
von  Erde  zu  Erde  in  entzückende  Har- 
monie. Unergründlich  ist  für  den  un- 
sterblichen Weisen  in  die  Ewigkeit  aller 
Ewigkeiten  der  Stoff  zur  Betrachtung,  und 
im  erschöpf  lieh  der  Quell  seiner  Seligkei- 
ten. —  Zwar,  was  sag'  ich  dir  das  schon 
itzt,  Galilei?  Denn  diese  Seligkeiten  fafst 
doch  ein  Geist  nicht,  der,  noch  gefesselt 
an  einen  trägen  Gefährten,  in  seiner  Ar- 
beit nicht  weiter  kann,  als  der  Gefährte 
init  ausdauert,  und  sich  schon  zum  Stau- 
be zurückgerissen  fühlt,  wenn  er  kaum 
anfing  sich  zu  erheben! 

Er  m.ag  sie  nicht  fassen,  rief  ich,  die- 
se Seligkeiten,  nach  ihrer  ganzen  göttli- 
chen Fülle ;  aber  gewifs,  er  kennt  sie, 
Copernicus,  nach  ihrer  Natur,  ihrem  We- 
sen.. Denn  welche  Freuden  schafft  nicht, 
schon    in    diesem    irdischen    Leben,    die 


DES   GALILEI.  ;253 

Weisheit !  Welche  Wonne  fühlt  nichts 
schon  in  diesen  sterblichen  Gliedern_,  ein 
Geist,  wenn  es  nnn  anfängt  in  der  un- 
gewissen Dämmerung  seiner  Begriffe  zu 
tagen,  imd  sich  immer  weiter  mid  wei- 
ter der  holde  Schimmer  verbreitet,  bis 
endlich  das  volle  Licht  der  Erkenntnifs 
aufgeht,  das  dem  entzückten  Auge  Ge- 
genden zeigt,  voll  unendlicher  Schönheit! 
—  Erinnre  dich,  der  du  selbst  so  tief  In 
die  Geheimnisse  Gottes  schautest  und  den 
Plan  seiner  Schöpfung  enthrUltest ;  erinn- 
re dich  jenes  Augenblicks,  als  der  erste 
kühne  Gedanke  in.  dir-  heraufstieg,  und 
sich  freudig  alle  Kräfte  deiner  Seele  hin- 
zudrängten, ihn  zu  fassen,  zu  bilden,  zu 
ordnen ;  erinnre  dich,  als  nun  alles  in  heri'- 
licher  Übereinstimmung  vollendet  stand^ 
mit  wie  trunkner  Liebe  du  noch  einmal 
das  schöne  Werk  deiner  Seele  überschau- 


254  .TRAUM 

test^  und  deine  Ähnlichkeit  mit  dem  Un- 
endlichen fühltest^  dem  du  nachdenken 
konntest!  —  O  ja,  mein  Führer!  Auch 
schon  hienieden  ist  die  Weisheit  an  himm- 
lischen Freuden  reich ;  und  wäre  sie's 
nicht:  warum  sahn  wir  aus  ihrem  Schoo- 
fse  so   ruhig  allen  Eitelkeiten    der  Welt 

zu? 

Die  Wolke,  die  uns  trug,  war  zurück 
zur  Erde  gesunken^  und  liefs  sich  jetzt, 
wie  es  mir  däuchte,  auf  einen  der  Hügel 
vor  Rom  nieder.  Die  Hauptstadt  der 
Welt  lag  vor  uns;  aber  voll  tiefer  Ver- 
achtung streckt'  ich  aus  meiner  Höhe  die 
Hand  hin,  und  sprach:  Sie  mögen  sich 
grofs  dünken,  die  stolzen  Bewohner  die- 
ser, Palläste  !  weil  Purpur  ihre  Glieder 
umhüllt,  und  Gold  und  Silber  auf  ihren 
Tafeln  das  Kostbarste  beut,  was  Europa 
und  Indien  tragen!    Aber,  wie  der  Adler 


DES    GALILEI.  255 

auf  die  Raujoe  im  Seidengespinnst  ^  so 
sieht  auf  diese  Blöden  der  Weise  herab ; 
denn  sie  sind  Gefangne  an  ihrer  Seele^ 
die  über  das  Blatt  nicht  hinaus  können, 
an  dem  sie  kleben:  indefs  der  freie  Wei- 
se auf  seine  Höhen  tritt  und  die  Welt 
überschaut,  oder  sich  auf  Flügeln  der  Be- 
trachtung hinauf  zu  Gott  schwingt,  und 
unter  Sternen  einhergeht. 

Da  ich  so  sprach,  Viviani,  da  umwölk- 
te sich  mit  feierlichem  Ernst  die  Stirn 
meines  Führers  ;  sein  brüderlicher  Arm 
sank  von  meinen  Schultern  herab,  und 
sein  Auge  schofs  einen  drohenden  Blick 
bis  ins  Innerste  meiner  Seele.  —  Unwür- 
diger! rief  er:  so  hast  du  sie  schon  auf 
Erden  gefühlt,  jene  Freuden  des  Himmels? 
hast  deinen  Namen  herrlich  gemacht  vor 
den  Weisen  der  Nationen?  hast  sie  alle 
erhöht,  deine  Seelenkräfte,  dafs  sie  bald 


356  TRAUM 

freier  und  mächtiger  fortwirken  im  Er- 
kenntnifs  der  Wahrheit ,  eine  Ewigkeit 
durch?  Und  nun  dich  Gott  würdigt^  Ver- 
folgiuig  zu  leiden,  nun  dir  deine  Weis- 
heit Verdienst  werden  soll,  und  dein  Herz 
sich  mit  Tugenden  schmücken,  wie  dein 
Geist  mit  Erkenntnifs:  nun  ist  es  ohne 
Spur  vertilgt ,  das  Gedächtnifs  des  Gu- 
ten, und  deine  Seele  empöret  sich  wider 
Gott  ? Hier  erwacht'  ich  von  mei- 
nem Traum,  sah  mich  aus  aller  Herrlich- 
keit des  Himmels  in  mein  ödes  Gefäng- 
nifs  zurück  geworfen,  vmd  überschwemm- 
te mit  einer  Fluth  von  Thränen  mein 
Lager.  Dann  erhob  ich,  mitten  durch 
die  Schatten  der  Nacht,  mein  Auge,  und 
sprach:  O  Gott  voll  Liebe!  Hat  das  Nichts, 
das  durch  dich  Etwas  ward,  deine  Wege 
getadelt?  Hat  der  Staub,  dem  du  Seele 
gabst,    hat   er   auf    die   Rechnimg    seiner 

Veri« 


DES   GALILEI.  257 

Verdienste  geschrieben^  was  Geschenke 
deiner  Erbarmung  waren?  Hat  der  Unr 
würdige^  den  da  in  deinem  Busen^  an 
deinem  Herzen  nährtest,  dem  du  so  man- 
chen Tropfen  Seligkeit  reichtest  aus  dei- 
nem eigenen  Becher;  hat  er  deiner  Gna- 
den und  seiner  Vorzuge  vergessen  ?  — 
Schlage  sein  Auge  mit  Blindheit!  lafs  ihn 
nie  wieder  die  Stimme  der  Freundschaft 
hören!  lafs  ihn  grau  werden  im  Kerker! 
Mit  willigem  Geist  soll  er's  tragen,  dank- 
bar gegen  die  Erinnerung  seiner  genofs- 
nen  Freuden,  und  selig  in  Erwartung  der 
Zukunft !  — 

Es  war  meine  ganze  Seele,  Viviani, 
die  ich  in  diesem  Gebete  hingofs  ;  aber 
nicht  das  Murren  des  Unzufriednen,  nur 
die  willige  Ergebung  des  Dankbaren,  hat- 
te der  Gott  vernommen,  der  mich  zu  so 
viel  Seligkeit  schuf!  Denn  siehe!  ich  lebe 

Enfrels  Philoso f>h,  I.  j'j 


v58  TRAUM  DES  GALILEI. 

hier  frei  zu  Arcetri^  und  nur  heute  noch 
hat  mich  mein  Freund  unter  die  Blumen 
des  Frühlings  geführt. 

Er  tappte  nach  der  Hand  seines  Schü- 
lers^ um  sie  dankbar  zu  drücken;  aber 
Viviani  ergriff  die  seinige^  und  führte  sie 
ehrerbietig  att  seine  Lippen. 


2-59 

SIEBZEHNTES     STÜCK. 

DAS    WEIHNACHTGESCHENK. 


Ich  nahm  von  der  Toilette  eines  jungen 
Frauenzimmers  ein  Buch  auf,  imd  begrifF 
nicht  warum  sie  es  so  eilfertig  wegrifs. 
Sie  erröthete  über  den  Yerdacht_,  den  sie 
zu  erwecken  schien ^  und  las  mir^  zu  ih- 
rer Pvechtfertigung,  die  ersten  Seiten  vor^ 
die  von  der  Hand  ihres  Vaters  waren. 
Ich  bat  sie  um  eine  Abschrift^  vmd  sie 
war  gütig  genüge  mir  eine  zu  geben. 
Hier  ist  sie: 

■>^So  ein  unbedeutendes  Geschenk  ei^ 
nige  leere  Blätter  scheinen  mögten:  so 
sind  doch  gewifs  an  dem  heutigen  Tage^ 
an  dem  selbst  der  Geiz  und  die  Armuth 
freigebig  werden ;   wenige   mit   so  gutem 


26o  DAS  WEIHNACHT- 

Herzen  gemacht  worden  ;  und  vielleicht 
keines^  das  dem  Beschenkten  so  nützlich 
wäre^  als  du  dieses  dir  machen  kannst.« 
wich  habe  es  dir  schon  mehrmal  ge- 
sagt :  Ein  wenig  Athem  oder  ein  paar 
Federstriche,  die  wir  für  unsre  Gedan- 
ken aufwenden  _,  so  schwer  uns  auch 
manchmal  beides  ankommen  mag,  wer- 
den reichlich  wieder  durch  die  Deutlich- 
keit, die  Ordnung,  und  das  Leben  ein- 
gebracht, das  eben  diese  Gedanken  da- 
durch erhalten.  Es  ist  seltsam,  dafs  man 
von  ei4ner  so  kleinen  Ursache  so  grofse 
Wirkungen  verspricht;  aber  es  ist  wahr. 
Solange  der  Mensch  nicht  reden  konnte, 
so  sah,  hörte,  fühlte  und  schmeckte  er 
blofs ;  aber  er  dachte  nicht.  Solange  der 
Mensch  nicht  schreiben  konnte,  dachte 
er  wenig,  und  redte  schlecht.  Die  Zun- 
ge und  der  Griffel  machten   endlich    den 


GESCHENK.  261 

Menschen  zu  dem^  was  er  werden  sollte. 
Seine  Begriffe  wurden  hell^  indem  er  sie 
mitzutheilen  suchte  ;  sie  wurden  metho- 
disch^ indem  er  ihnen  eine  gewisse  Fort- 
dauer gab^  die  sie  der  Verbesserung  und 
Ausbildung  fähig  machte.  Und  dieser 
Weg_,  den  das  ganze  menschliche  Ge- 
schlecht nahm  um  klüger  zu  werden^  ist 
auch  immer  noch  der  einzige  für  den 
einzelnen  Menschen,  cc 

55 Du^  mein  Kind^  hast  schon  den  ei- 
nen grofsen  Schritt  zur  Weisheit  gethan. 
Du  hast  Weise  reden  hören^  oder  hast 
das  gelesen,  was  du  von  ihnen  gewünscht 
hättest  zu  hören.  Wenn  es  heutiges  Ta- 
ges kein  grofser  Ruhm  mehr  für  ein 
Frauenzimmer  ist,  dafs  es  lies't;  so  ist  es 
noch  immer  einer,  dafs  es  aus  Lehrbe- 
gierde lies't,  um  vernünftiger  imd  besser 
zu  werden.     Die  Eitelkeil,    die  sich  jetzt 


262  DAS  WEIHKAGHT- 

auf  diese  Seite  gelenkt  hat^  vernichtet 
den  Werth  des  Lesens,  indem  sie  den 
Endzweck  desselben  verkehrt,  und  ver- 
wandelt die  Weisheit  in  einen  blofsen 
Putz.  Hunderte  empfinden,  indem  sie 
ein  Buch  lesen,  kein  Vergnügen  stärker, 
als  dafs  sie  den  Augenblick  voraussehen, 
wo  sie  werden  sagen  können;  ich  hab^ 
es  gelesen  !  —  Du,  mein  Kind,  kennst 
die  Absicht  des  Lesens  besser,  und  es 
fehlt  dir  nur  noch  etwas  Muth  und  Übung, 
um  sie  ganz  zu  erreichen.« 

iiUnsre  Seele  ist  ein  Maler,  der  ent- 
weder Originale  nach  der  Natur,  oder 
Copieen  von  guten  Originalen  malt.  Jene 
sind  ihre  eignen  Empfindungen,  ihre  eig- 
nen Beobachtimgen  und  Schlüsse  ;  diese 
sind  alle  die  Begriffe,  die  wir  durch  Un- 
terricht und  Leetüre  erhalten.  Gute  Mei- 
ster verfertigen  die  Copieen  nur  als  Schu- 


GESCHENK.  263 

len  —  so  nennen  sie  ihre  Übungsstücke 
—  um  ein  richtiges  Auge  und  eine  feste 
Hand  zu  bekommen  ;  Sclilechte  bleiben 
dabei  stehen^  und  gründen  darauf  ihren 
ganzen  Ruhm,  a 

»Es  kommt  also  alles  darauf  an^  das 
was  Andre  aus  ihren  Erfahrungen  durch 
eine  lange  oder  duixh  eine  kurze  Reihe 
von  Schlüssen  gefolgert  haben  —  denn 
auf  Erfahrungen  läfst  sich  doch  am  Ende 
alles  zurückbringen  —  so  anzusehen^  als 
ob  wir  es  aus  unsern  eignen  gezogen  hät- 
ten. Ehe  wir  selbst  denken,  müssen  wir 
erst  einem  andern  nachdenken  lernen. 
Das  ist  also  der  zweite  Schritt,  den  du 
zwar  auch  schon  versucht  hast,  den  du 
aber  nun  noch  beherzter  thun  mufst:  Wer- 
de aus  einer  Leserinn  zu  einer  Schrift- 
stellerinn!  Wenn  du  liesest,  so  sondi'e 
den  Gedanken  vom  Ausdiaicke  ab :  nimm 


a64  E)AS  WEIHNACHT- 

ihm  seinen  Putz^  und  unterbrich  zuwei- 
len das  Vergnügen^  womit  bei  jedem 
Menschen  die  Neugierde  das  Weiterge- 
hen verknüpft^  so  lange,  bis  du  dir  mit 
ein  paar  Worten  das  denken  kannst,  was 
der  Verfasser  vielleicht  auf  Seiten  gesagt 
hat.  Diese  paar  Worte  schreibe  nieder; 
sie  sind  alsdann  dein,  so  wie  der  Gedan- 
ke, den  sie  ausdrücken.  Grolse  Bücher 
können  auf  diese  Art  in  Blätter  verwan- 
delt werden,  die  für  uns  mehr  werth 
sind  als  die  Bücher,  und  die  uns  schon 
der  Fähigkeit,  selbst  etwas  Lesenswerthes 
zu  schreiben,  einen  Schritt  naher  bringen,  cc 
«Aber  nicht  lange  werden  diese  Aus- 
züge blofs  abgekürzte  fremde  Gedanken 
seyn  ;  du  wirst  in  kurzem  deine  eignen 
in  ihnen  entwickeln.  Die  Ideen  entzün- 
den einander,  wie  die  electrischen  Fun- 
ken.    Wenn  die  Seele   einmal  in  Arbeit 


GESCHENK.  265 

und  in  Bewegung  ist ;  wenn  sie  einmal 
den  Faden  des  Denkens  in  der  Hand  hat: 
so  geht  sie  geschwinde  von  der  Nachbil- 
dung fremder  begriffe  zur  Hervorbringung 
eigner  über.  Ehe  man  sich's  versieht, 
kommt  aus  dem  eignen  Schatz  unsrer 
Empfindimgen  ein  Gedanke  hervor  _,  der 
lür  sich  selbst  zu  schwach  war  emporzu- 
kommenj  jetzt  aber^  weil  er  dem  Gedan- 
ken des  Verfassers  nahe  liegt ^  von  die- 
sem aufgeweckt  und  gehoben  wird.  — 
Versuch'  es,  mein  Kind  ;  denn  ich  bin 
bei  deinen  Fähigkeiten  gewifs^  dafs  es 
dir  glücken  mufs:  und  ist  es  dir  nur  ein- 
mal geglückt,  so  bin  ich  eben  so  gewifs_, 
dafs  du  fortfahren  wirst.  Das  Denken 
giebt  uns  ein  so  reines  und  ein  so  leb- 
haftes Vergnügen,  dafs,  wer  es  nur  ein- 
mal in  seinem  Leben  gekostet  hat,  es  nie 
wieder  entbehren  kann, « 

Chr.   Garv0, 


266 

ACHTZEHNTES    STUCK. 

DER      HABICHT. 


«Verdammter  Dieb.'cc  —  schrie  der  hy. 
pochondrische  Tuff,  als  vor  unoern  Au- 
gen ein  Habicht  auf  ein  Küchlein  herab- 
schofs  und  es  erwürgte.  —  Sein  äufserst 
ängstlicher  Ton  machte  mich  lachen.  Es 
war^  als  ob  er  die  diebische  Kla.ue  an  sei- 
nem eigenen  Herzen  fühlte. 

Freund !  fing  ich  an^  wenn  Sie  auf  al- 
les was  junge  Hühner  stiehlt^  so  ergrimmt 
sind^  so  mögt'  ich  wissen,  wie  Sie  Sich 
Selbst  ertragen.  Denn  wohl  bedach t_,  sind 
Sie  der  schlimmste  Habicht  im  Lande,  — 
Tuffy  wie  man  wissen  mufs,  lebte  bei 
seiner  Brunnencur_,  wie  ein  anderer  Law 
oder  NeiUori,    von    nichts   als   Hühnern. 


DER  HABICHT.  267 

Alles  andere  Fleisch^  sagte  sein  Arzt^  wä- 
re zu  schwer^  vmd  Gemüse  wäi'en  zu  blä- 
hend. 

Er  fand,  dafs  ich  Recht  hatte ^  iind 
ward  noch  ängstlicher  als  zuvor.  — 
Schlimm  genug,  sagte  er  endlich,  dafs 
ich  armer  schwächlicher  Mann  ohne  Huh- 
ner nicht  leben  kann  l 

Das  kann  der  Habicht  auch  nicht, 
mein  lieber  Tuff.  Was  Ihnen  der  Arzt 
verbeut,  das  hat  ihm  selbst  die  Natur 
verboten.     Ihm  bekommt  kein   Gemüse. 

Dieser  Grund  war  zu  einleuchtend, 
und  setzte  den  Habicht  zu  genau  in  den 
eignen  Fall  unsers  Tuff,  als  dafs  er  noch 
hätte  weiter  können.  Er  sah  sich  aus- 
drücklich nach  der  Stelle  inu,  wo  der 
Fang  geschehen  war,  und  that  dem  Räu- 
ber eine  Ehrenerklärung,  r—  Aber,  hng 
er  nun   an:    die   Natur!    die  Natiur!    Und 


26S  DER  HABICHT. 

dann  rechnete  er  mir  mit  einer  wun^ 
derns würdigen  Fertigkeit  des  Gedächt- 
jiisses  —  ob  er  gleich  alles  Gedächtnifs 
glaubte  verloren  zu  haben  —  eine  Men- 
ge von  Raubthieren  her^  die  er  aus  alleii 
Elementen  und  allen  Himmelsstrichen  zu- 
sammen brachte.  Ist  nicht  die  Natur, 
schlofs  er  endlich _,  eine  grausame  Mut- 
ter? Zeigt  sich  nicht  ein  offenbarer  Wi- 
derspruch in  ihren  Werken  und  Anstal- 
ten? 

Ein  Widerspruch^  lieber  Tuff?  —  Sie 
bedenken  nur  nicht ^  was  dann  folgen 
würde.  Mit  Widersprüchen  könnte  ja 
die  Natur  nicht  bestehen. 

Warum  nicht?  —  Sie  besteht,  wie 
trotz  allen  seinen  Krankheiten  mein  Kör- 
per besteht;  und  Krankheiten  sind  ja  auch 
nichts  anders,  als  Widerspruch«  in  der 
Maschine. 


DER  HABICHT.  2G9 

Aber  Ihr  Körper  vergeht  auch^  indefs 
die  Natur 

Der  Mann  war  zu  krank_,  um  mir  Recht 
zu  lassen.  Er  kehrte  von  einem  Wege^ 
auf  dem  er  kein  Fortkommens  sah^  plötz- 
lich zurück^  und  Hng  von  vorn  wieder 
an.  —  Wozu  denn  nun^  fragte  er^  die- 
ser liebreiche  Instinct  der  Henne ^  ihr  Ei 
zu  bebrüten^  das  herausgebrütete  Küch- 
lein zu  wärmen^  zu  füttern^  zu  locken^ 
zu  schützen;  wenn  da  oben  in  seiner  Höhe 
ein  gieriger  Räuber  lauert^  es  mit  seinen 
durchdringenden  Augen  ausspäht_,  und  auf 
pfeilschnellen  Flügeln  her  ab  schiefst^  es  zu 
erwürgen  ?  —  Wenn  das  nicht  Wider* 
Spruch  in  der  Natur  ist! 

Nun  es  sei  einer!  Ich  gebe  nach_,  lie- 
ber Tuff.  —  Aber  wenn  Sie  manchmal 
die  unangenehme  Empfindung  haben _,  als 
ob  Sie  läuten  hörten:    wo  vermuthen  Sie 


-# 


270  DER  HABICHT. 

dann>  dafs  dies  Läuten  ist?  Auf  dem 
Thurme^  oder  in  Ihrem  Kopfe  ? 

Sonderbar!  Es  ist  freilich  in  meinem 
Kopfe. 

Und  woher^  glauben  Sie  ^  dafs  es 
kommt  ? 

Von  der  Schwäche  meiner  IVerven  ver- 
muthlich. 

Nun  also!  die  Anwendung  gemacht! 
— '  Audi  jene  Widersprüche  sind  einzig 
in  Ihrem  Kopfe  ^  und  entstehn  von  der 
Schwäche  Ihrer  Vernunft* 

Das  kann  seyn^  sagte  Tuff;  ich  will's 
glauben.  —  Aber  wahrlich^  mein  Freund! 
—  und  er  holte  aus  voller  Brust  einen 
Seufzer  —  bei  so  schwachen  Nerven^,  wie 
ich  sie  habe_,  war'  es  besser^  lieber  gar 
nicht  zu  leben.  Alan  wird  sein  Leben 
nur  durch  widrige  Empfindungen  inne.  — 
Und  bei  so  ohnmächtigen  Kräften  unsrer 


DER  HABICHT.  271 

Vernunft  ;  war'  es  da  nicht  auch  besser^ 
lieber  keine  zu  haben?  Man  merkt  ja 
kaum  dafs  man  sie  hat^  als  durch  Zwei- 
fel und  Unruhen. 

Wie  spricht  denn  aber  Ihr  Arzt_,  wenn 
Sie  ihm  Ihre  Zufälle  klagen  ?  / 

Muth!  Muth!  spricht  er  imiuer. 

Sehr  recht!  Denn  auf  Muth  kommt's 
nur  an.  —  Mit  etwas  mehr  Vertrauen 
zu  Ihren  Kräften^  und  einem  etwas  fieifsi- 
gern  Gebrauch  dieser  Kräfte,  wurden  Sie 
bald  —  ai.icht  zu  einem  völlig  gesunden^ 
aber  doch  zu  einem  ganz  erträglichen 
Leben  kommen.  Mit  der  Vernunft,  lie- 
ber Tuff,  ist's  das  Gleiche.  Sie  darf  ih- 
ren Ki'äften  nur  trauen^  und  darf  sie  nur 
unermudet  gebrauchen ;  so  wird  sie  ge- 
wifs  —  nicJit  zu  einer  ganz  zweifelfreien, 
aber  doch  zu  einer  ganz  beiTihigenden 
Einsicht  kommen.  —     Um   mit  dem  vor- 


s 

272  DER  HABICHT. 

habenden  Fall  einen  Versuch  zu  machen; 
tragen  Sie  Ihren  Widerspruch  einmal  vor! 
Braucht  es  das  noch?  Ist  es  nicht  klar^ 
was  ich  will?  —  Wenn  ich  von  der  Ei- 
nen Seite  die  Natur  betrachte;  o  da  ist 
alles  so  mütterlich^  so  weise ^  so  gütig! 
Ich  finde  die  vortrefflichsten  Anstalten  zur 
Erhaltung  ihrer  Geschöpfe^  die  sorgsam- 
ste Verwahrimg  der  Innern  Quellen  des 
Lebens^  die  schicklichsten  Werkzeuge  zum 
Ausspähen  luid  zum  Ergreifen  der  Nah- 
nmg^  unaufhörliche  Thätigkeit  aller  Ele- 
mente Nahrimg  hervorzubringen^  uner- 
schöpflichreiche Werkstätten  der  Erzeu- 
gung^ mächtige  Instincte  ^  den  Müttern 
und  Jimgen  zur  Erhaltung  der  Gattung 
eingeprägt.  Aber  von  der  andern  Seite? 
—  Oj  da  ist  alles  wieder  so  wild^  so 
fürchterlich^  so  tyrannisch  !  Ich  sehe  so 
viel   mördrische,    nach    Blute   lechzende;, 

zum 


DER  HABICHT. 


275 


ziun  Blutvergiefsen  gerüstete  Thiere;  sehe 
so  viel  Rachen  und  Klauen  gewaffnet^  so 
viel  Gewebe  und  Gruben  bereitet^  so  viel 
Stachel  und  Zangen  vergiftet:  dafs  meine 
ganze  Vernunft  daran  irre  wird^  und  mein 
ganzes  Herz  nicht  weilis;,  soll  es  mehr  Ver-* 
gnügen  oder  mehr  Abscheu  empfinden. 

Versteh'  ich  Sie,  lieber  Tuff?  Sie  wol- 
len sagen,  dafs  es  die  JVatiur  fast  so  arg 
macht,  als  der  Herr  dieses  Landcruts.  — 
Die  Gegend  mnher  war  ihm  zu  offen,  zu 
öde;  erwünschte  den  Prospect  durch  ein 
schattiges  Wäldchen  zu  schliefsen,  mafs 
ein  unfruchtbares  Stück  Land  ab ,  und 
säte  Fichten  darauf.  Jetzt,  da  die  jungen 
Bäume  pfeilgerade  neben  einander  aufge- 
schossen sind  und  den  lieblichsten  Schat- 
ten bieten;  was  thut  er?  Er  schickt  Ar* 
heiter  di'über,  legt  allenthalben  eine  un- 
barmherzige Axt  an,    imd  läTst  weit  über 

Eneeh  PJiilnsoph  ,  T.  l8 


^74  I>ER  HABICHT. 

die   Hälfte    des   Waldes    niederhauen.    — 
Eben  so  nun,  glauben  Sie  — 

Nicht  doch!  nicht  doch!  rief  Tuff.  Je- 
ner Aushau  war  nothwendig,  selbst  zur 
Erhaltung  des  Waldes.  Wenn  alles  so 
in's  Wilde  hineinwüchse,  so  würde  bald 
nichts  mehr  wachsen  ;  denn  Eins  würde 
das  Andre  ersticken.  Wir  würden  am 
Ende  ein  weit  kleineres  Wäldchen  ha- 
ben,- und  dieses  Wäldchen  weit  unvoll- 
kommner. 

Meinen  Sie  doch.^  Nun,  so  wäre  ja 
eben  dies  ein  Beweis,  dafs  oft  ein  Zweck 
durch  Mittel  erreicht  wird,  die  ihm  An- 
fangs durchaus  entgegen  schienen.  —  Las- 
sen Sie  uns  jetzt  vor  allen  Dingen  den 
Zweck  der  Schöpfung  suchen!  —  Worin 
setzen  Sie  ihn  ?  In  ihre  todten  oder  in 
ihre  lebendigen  Werke? 

In  die  letztern,  versteht  sich. 


DER   HABICHT.  275 

Also,  wenn  eben  die  Erhaltung  des 
Lebens,  die  Stärke  des  Lebens,  die  Fülle 
des  Lebens,  jene  Aufopfeiimgen  nothwen- 
dig  machte;  so  wäre  die  Natur  völlig  ge- 
rechtfertiget? Nicht?  —  Denn  Sie  wollen 
doch  so  viel  Leben,  als  nur  bestehen 
kann?  Und  wollen  doch  dieses  Leben  so 
gesund,  so  blühend,  als  möglich? 

Wie  anders?  —  Wenn  ich  das  Leben 
als  Zweck  will,  so  mufs  ich  auch  viel  Le- 
ben wollen,  und  glückliches  Leben. 

Gut,  lieber  Tuff !  Wir  bevölkern  also 
alle  Himmelsstriche ,  alle  Elemente  mit 
Leben.  Wo  wir  nur  irgend  ein  Nahrungs,- 
mittel  in  der  leblosen  Natur  finden,  da 
setzen  wir  eine  Thierart  hin,  die  es  ge- 
ni eise.     Nicht  wahr? 

Allerdings!  — 

Mithin  behalten  wir  alle  die  Thierar- 
ten  bei,    die   sich   von   Gras,    von  Krau- 


2-6  DER  HABICHT. 

» 

tern^  von  Wurzeln^  von  Hölzern^  von  Blu- 
men^ von  Blättern^  von  Moos^  allenfalls 
anch  von  den  überfiüfsigen  Säften  der 
andern  Thiere  nähren.     Meinen  Sie  nicht? 

Ohne  Zweifel !  — 

Hingegen  alle  Raubthiere  schaffen  wir 
fort;  alle  blutgierigen  Tieger  verbannen 
wir;  alle  Gruben  der  Ameislöwen  schüt- 
ten wir  zu;  alle  hinterlistigen  S25innewe- 
ben  stäuben  wir  aus  allen  Winkeln  der 
Natur  rein  heraus? 

Ganz  recht!  Rein  heraus!  rief  er  freu- 
dig. 

Aber  die  Habichte^  Tuff?  —  Die  lui- 
gefiederten  wenigstens ! 

Nein^  auch  damit  fort!  lafs  sie  Gemü- 
se essen!  Auch  mit  den  Iltissen  fort! 
Aus  jedem  Eie  mufs  nun  ein  Küchlein^ 
und  aus  jedem  Küchlein  ein  Huhn  wer- 
den. — 


DER  HABICHT.  277 

Recht!  Und  dann  und  wann  auch  ein. 
Hahn !  Damit  wir  noch  mehr  Leben  be- 
kommen^ und  glückliches  Leben. 

IViui  ja  wohl !  Auch  ein  Halm.  Das 
versteht  sich.  —  O  ich  fange  an^  mich 
in  die  Natur ^  wie  sie  jetzt  wird_,  zu  ver- 
lieben. Dieses  ungestörte  Glück  aller  Ge- 
schöpfe^ diese  holdselige  Einti'acht,  die- 
ser tiefe ^  unschuldige,  allgemeine  Frie- 
den   

Schön!  Allerdings  !  Aber  wir  wollen 
doch  mit  der  Vernunft  einmal  zusehn, 
was  wir  hier  mit  der  Einbildung  gemacht 
haben.  —  War'  es  Ihnen  denn  recht,  lie- 
ber Tuff,  dafs  kein  andrer  lebendiger 
Laut  in  der  ganzen  Natur  erschallte,  als 
Hahnengekräh  und  Hühnergeschrei  ?  — 
Denn  wenn  alle  die  Hähne  der  ersten' 
Generation  zum  Buhlen  und  alle  die  Hüh- 
ner zum  Brüten  kommen,   so  sehen  Sie 


278  DER  HABICHT. 

wohl^  dafs  schon  bei  der  zehnten  dieses 
eine  Geschlecht  viele  andern  verdrängt 
haben  mufs.  —  Oder  sähen  Sie's  lieber, 
dafs  ohne  Unterlafs'  eine  allgemeine  Seu- 
che einbräche,  die  jede  Thierart  auf  das 
rechte  Verhältnifs  zurücksetzte,  wobei  je- 
de bestehen  könnte? 

Warum  das?  Ich  sehe  die  Nothwen- 
digkeit  nicht.  —  Schränken  Sie  nur  die 
gar  zu  grofse  Vermehrbarkeit  der  Thiere 
ein,  und  die  Sch-wierigkeit   ist  gehoben. 

Gehoben?  So,  dafs  sieben  andre  ent- 
stehen. —  Denn  mit  jener  Vermehrbar- 
keit, Freund;  w^ie  viel  Thätigkeit,  Ver- 
gnügen, Geselligkeit  hört  da  auf!  Und 
wenn  nun  Krankheiten  kommen;  wenn 
Revolutionen  der  leblosen  Natur  die  Ge- 
schlechter verwüsten:  soll  es  Jahrhunder- 
te dauren,  ehe  die  Lücke  sich  wieder 
ausfüllt  ?  ehe  der  Abgang  des  Lebens  und 


DER  HABICHT.  z-jg 

.der  Glückseligkeit  in  der  Sciiöpfung  wie- 
der ersetzt  wird? 

Krankheiten?  Revolutionen?  —  sagte 
er  nachdenkend. 

Sie  stocken  schon,  seh'  ich.  —  Doch 
gesetzt,  dafs  Sie  auch  hiewider  noch  Mit- 
tel fänden:  die  Thiere  können  doch  nicht 
ewig  so  fortleben?  Die  Kräfte  der  Natur 
müssen  sich  doch  endlich  erschöpfen? 

Nun  ja!  erschöpfen  freilich;  niu-  nicht 
gewaltsam  in  der  besten  Blüthe  vertilgt 
werden. 

Aber  wenn  sie  sich  nun  erschöpfen? 
—  Wir  bekommen  da  eine  unendliche 
Menge  von  Leichnamen;  denn,  wie  wir 
wissen,  ist  die  Natur  einer  unbegreifli- 
chen Menge  Lebens  fähig,  luid  so  viel 
Leben  soll  doch  da  seyn  als  nur  immer 
bestehen  kann.  —  Was  fangen  wir  mit 
diesen  Leichnamen  an? 


380  PER  HABICHT, 

Was  die  Natur  damit  anfängt!  ..-«.  Wir 
fibergeben  sie  der  Verwesung^  lassen  die 
zerstörten  organischen  Theile  sich  in  ih- 
re Elemente  auflösen^  befruchten  damit 
den  entkräfteten  Erdboden^  treiben  neue 
Früchte  und  Nahrungsmittel  zur  Erlial- 
tung  jeder  Nachwelt  heraus;  und  so  im 
Kreisläufe  fort ! 

Wenn  nur  das  nicht  Zeit  brauchte, 
mein  Freund !  Wenn  nur  diese  Auflösung 
das  Werk  eines  Augenblicks  wäre !  -^ 
Erinnern  Sie  Sich^  wie  es  mis  neulich 
dicht  am  Fichtenwäldchen  erging  ?  was 
für  schnelle  Beine  Sie   da  bekamen  ? 

O  ums  Himmels  willen!  rief  Tuff^  in- 
dem er  mit  abgewandtem  und  vor  Ekel 
ganz  verzerrtem  Gesichte  zurücktrat:  an 
was  erinnern  Sie  mich?  Wissen  Sie,  dafs 
mir  das  scheusliche  Bild  noch  jetzt  den 
Athem  versetzt?  da(is  ich  die  ganze  Nacht 
durch 


DER  HABICHT,  281 

Stille!    stille    davon!    Wo    ich   Sie    in*s 
Erzählen  Ihrer  Zufälle  lasse ^   so    ist's  um 
unser    Gespräch    gethan,    und    das    wäre 
doch  Schade.  —    Sie  sehn  also  nun;,  dafs 
nnsre  zu  weichherzige  Güte  Grausamkeit 
wird ;  dafs  "war  den  Thieren  die  Luft^  die 
sie  einathmeU;,  verpesten^  sie  tausend  un- 
angenehmen und    schmerzhaften  Empfin- 
dungen aussetzen,  und  ihnen  endlich  ein 
frühes    Grab    bereiten.      Sie   sehen,     daTs 
wir  über  dem  gar  zu  ängstlichen  Schonen 
des  Lebens  zu  wirklichen  Verschwendern 
des  Lebens    werden,    und    die  Welt,    die 
wir   zum   Paradiese  verschönern   w^ollten, 
zu    einem   Kerker    von    Calcnta  *)    ver^ 
schlimmem.  —   Sehen  Sie's  nicht,   lieber 
Tuff  ?  —, 


•)  Wo  die  eingesperrten  Engländer  in  ihren  eig- 
nen Dünsten  ersticken  mufsten.  Man  ä.  Ives 
Reisen. 


282  DER  HABICHT, 

Nicht  so  recht  !  Sie  überschleichen 
inich_,  deucht  mir.  —  Ich  habe  Ihnen  nur 
so  viel  Leben  eingeräumt,  als  zusammen 
bestehen  könnte.  Setzen  Sie  also  gleich 
Anfangs  nicht  mehr,  als  dafs  keine  Fäul- 
nifs_,  keine  Verpestung  der  Luft  zu  be- 
sorgen stehe. 

Aber  wenn  ich  das  setze  —  können 
Sie  wissen,  auf  welche  geringe  Anzahl  Sie 
das  Leben  nun  einschränken.^  Oder  ist  es 
nicht  blofser  Eigensinn ,  zur  Verhütung 
alles  Mordes,  die  Zahl  der  Wesen,  die 
sich  ihres  Daseins  freuen  und  glücklich 
seyn  können,  so  sehr  vermindern  zu  wol- 
len .^  — :  Sterben  müssen  sie  doch,  die 
Thiere  ;  und  wer  sagt  Ihnen  denn,  dafs 
der  gewaltsame  Tod  nicht,  eben  so  wie 
er  der  kürzeste  ist,  auch  der  leichteste 
sei  ?  — 

Der  leichteste?   Man  stirbt  noch  leich- 


DER  HABICHT.  283 

ter^  denk'  ich,  vor  Alter_,  wo  Sterben  nur 
Einschlummern  heifst.  —  Und  kcmmt's 
denn  nur  darauf  an,  leicht  zu  sterben? 
Nicht  auch,  glücklich  zu  leben?  Werden 
die  Thiere  denn  nicht  zum 'Leben,  nur 
zum  Tode  geboren? 

Aber  sie  dürfen  nicht  alle  sterben. 
Das  heifst,  den  Tod  der  Natur  nicht. 
Wir  sind  schon  einig  über  den  Pimct. 

Er  stand  stille,  und  überlegte  ein  we- 
nig. —  Schon  einig  ?  Wir  sind's  noch 
nicht!  rief  er  aus.  —  Wie,  wenn  selbst 
der  Anblick  beim  Wäldchen  mir  hier  zu 
statten  käme?  Wie,  wenn  die  Natur  ihre 
Anstalten  wider  die  Verpestung  bereits 
gemacht  hätte?  — 

Die  mögt'  ich  kennen.     Die  wären?  — 

O  erimiern  Sie  Sich!  —  Jene  zahmem 
Ptaubthiere ,  die  sich  aus  der  Luft,  aus 
den  Wäldern,  aus  dem  Staube  herzu  finr 


284  I^ER  HABICHT. 

den^  die  aus  den  Ruinen  der  todten  Kör 
per  selbst  zu  Legionen  geboren  werden^  ^ 
ihre  in  Fäulnifs  übergehenden  Säfte  so- 
gleich wieder  in  frische  verwandeln^  und 
der  Erde  kaum  andre  Befruchtungstheile 
lassen^  als  die  reinem^  gesundem,  die 
von  ihnen  selbst,  als  lebendigen  Thieren, 
abgetrieben  und  ausgedunstet  werden.  — 
Sollten  nicht  diese  Thiere  zur  Reinigung 
der  Luft,  und  mithin  zur  Erhaltung  des 
Lebens  vmd  der  Gesundheit,  hinlänglich 
seyn? 

Nein!  Denn  auch  sie  werden  Leichen. 
Es  ist  kein  Grund  vorhanden,  warum  wir 
nur  sie  von  der  Begnadigung  ausnehmen 
wollten.  —  Und  wenn  also  auch  sie 
sterben,  so  kommt  ja  das  Übel,  das  wir 
vermeiden  wollten,  zurück,  obgleich  frei- 
lich ein  wenig  später. 

Sei  es!    Es  kommt  zurück:    aber  ver- 


DER   HABICHT.  285 

mindert.  D.is  Tljier  hat  bei  seinem  Le- 
ben mehr  körperliche  Theile  verzehrt, 
als  es  bei  seinem  Tode  zm^iickläfst.  — 
Und  eben  darum,  dächt'  ich,  wenn  wir 
für  jene  Schwärme  andre  und  wieder  an- 
dre ersännen,  und  wieder:  endlich  iviü[s~ 
ten  wir  dann  so  weit  kommen,  dafs  der 
eigentlichen  unmittelbaren  Verwesimg  nur 
wenig,  ganz  wenig  bliebe. 

Sehr  fein!  In  der  That!  —  Nur  mögt* 
ich  dann  einsehen,  warum  wir  neulich 
davon  liefen?  Jene  Thiere,  die  der  Ver- 
pestung vorbeugen  sollen,  waren  doch 
so  zahlreich  vorhanden! 

Ja!  Aber  der  scheusliche  Anblick  — 
O  nicht  doch !  Seyn  Sie  aufrichtig, 
Freund !  Wenn  der  Anblick  scheuslich 
war,  so  war  er's  nur,  weil  er  an  die  At- 
mosphäre erimierte.  Das  Gesicht  an  sich 
ist  nicht  ekel.  —    Und  wo  mir  recht  ist, 


286  DER  HABICHT. 

so  fuhren  wir  mit  der  Hand  nach  der 
Nase^  nicht  nach  den  Augen? 

Er  ward  auf  einmal  stille^  und  blickte 
nieder.  —  Sie  sehen,  sagte  er,  wie  er- 
staunlich schwach    jetzt  mein  Kopf  ist. 

Verzeihen  Sie !  Nur  die  Sache  war 
schwach.  Wer  klüger  als  die  Natur  seyn 
will,  der  zieht  freilich  den  Kürzern.  — 
Sie  geben  mir  also  zu,  dafs  wir  die  Welt 
durch  unsre  Einrichtung  unendlich  ver- 
s  chlimm  er  t .  h  ab  en  ?  — 

Es  scheint  wohl  nicht  anders. 

Nun  wohl  denn!  So  müssen  wir  sehn, 
wie  wir  helfen.  —  Ich  wüfste  hier  frei- 
lich ein  Mittel ,  ein  meines  Bedünkens 
sehr  heilsames  Mittel :  allein  —  ob  5ie's 
billigen  werden? 

Lassen  Sie  hören!    Warum  nicht?  — 

Die  Vortheile  zwar,  die  wir  erhielten, 
wären  unendlich.     Wir  liefsen  nicht  nur 


DER  HABICHT.  t.^-j 

unsern  fruchtfressenden  Thieren  ihre  gan- 
ze Vermehrbarkeit^  liefsen  nicht  nur  Mil- 
lionen^ die  nach  unserm  ersten  Plan  wür- 
den gefehlt  haben^  geboren  werden^,  und 
doch  alle  ihr  Dasein  geniefsen^  alle  Freu- 
de empfinden  und  Freude  hervorbringen: 
wir  brächten  auch  noch  mehr  Leben, 
noch  mannichfaltigeres,  höheres^ -wirksa- 
meres Leben  in  die  Natur^  das  ohne  die- 
ses Mittel  durchaus  nicht  da  sejTi  würde. 

Und  wie  das?  Wodmch  das  ?  —  rief 
er  ganz  ungeduldig. 

Durch  —  durch  eben  das_,  was  die 
ganze  Natur  erhält;  durch  Kräfte^  die 
einander  entgegenkämpfen,  einander  das 
Gleichgewicht  halten,  in  richtigem  Ver- 
hältnisse neben  einander  fortdauren,  und 
immer  kämpfen  und  sich  immer  das 
Gleichgewicht  halten. 

Durch  Einführung  der  Raubthiere,  wol- 
len Sie  sagen. 


2S3         .     D Eli  HABICHT. 

Wie  anders  ?  —  Sollte  wohl  ein  so 
schwaches  und  kurzsichtiges  Geschöpf^ 
wie  der  IVIensch^  auf  wahrhaft  weise  Mit- 
tel gerathen  können;,  die  der  alisehende 
Schöpfer  nicht  schon  lange  vor  ihm  ge- 
kannt und  angewandt  hätte  ?  Ist  auch 
nur  der  schwächste  Schimmer  von  Licht 
in  unsrer  Seele ^  den  nicht  unsre  Finster- 
nifs  von  ihm^  als  der  einzigen  Quelle  des 
Lichtes,  aufgefangen  hätte  ?  Kann  unser 
Verstand  etwas  anders,  als  seiner  Herr- 
lichkeit nachsehn? Kurz,  wir  setzen 

den  Menschen  in  die  Natur,  dals  er  täg- 
lich Millionen  Leben  zerstöre  imd  so- 
gleich wieder  in  Lebenssäfte  verv,^andle; 
wir  lassen  für  jede  fruchtfressende  Thier- 
art  auf  Erden,  in  der  Luft,  in  Flüssen, 
im  Meer,  im  Staube,  in  allen  bewohnten 
Elementen  und  Himmelsstrichen,  Piäuber 
zu,  die  immer  für  tausend  und  mehr  Lei- 
chen 


DER  HABICHT.  2Sg 

chen  nur  Eine  geben ;,  ja  zum  Theil  wie- 
der andern  zur  Nahrung  dienen  _,  ehe  sie 
selbst  noch  zu  Leichen  werden.  Was 
dann  übrig  bleibt^  das  geben  wir  jenen 
Thieren  und  Würmerri^  die  von  gefalle- 
nen Körpern  leben^  zum  Raube.  —  Der 
Mensch _,  so  wie  er  das  Haupt  der  thieri- 
schen  Schöpfung  ist_,  so  ist  er  auch  das 
wichtigste  Mittel  ihrer  Erhaltung  ;  denn 
sein  Geschlecht  ist  sehr  zahlreich^  er  bringt 
sein  Leben  sehr  hoch^  er  raubt  durch  alle 
Gattungen  duixh  ^  er  hat  die  Vernunft 
seine  Todten  zu  verbrennen,  oder  in  die 
Erde  zu  scharren,  und  wenn  ihm  der  Lei- 
chen von  andern  Thieren  zu  viel  werden, 
auch  diese.  —  So  und  nicht  anders,  mein 
Freund  —  — . 

Ich  seh'  es;  Sie  haben  R.echt !  fiel  er 
mir  ein.  Der  Schöpfer  hat  wahrlich  wohl 
gethan  — '  und  er  lächelte —  dafs  er  seine 

Engels  Philosoph,  I.  19 


290  DER  HABICHT. 

Welt  schuf,  ohne  meinen  Rath  zu  erwar- 
ten. Die  Vortheile  einer  solchen  Ein- 
richtung sind  in  der  That  ganz  unend- 
lich. —  Wir  bringen  nun  alle  die  zahl- 
losen Geschlechter  der  Raubthiere  in  die 
Ntltur  ;  erlauben  den  fruchtfressenden 
Thieren  mehr  Vergnügen  der  Liebe_,  der 
Begattung,  der  Jungenpflege;  ziehen  im- 
mer neuen  Anwach s  zum  schnellen  Er- 
satz des  Verlorenen  an;  bringen  mehr  Ge- 
selligkeit, mehr  Thätigkeit  in  die  Welt; 
erhalten  die  Thiere  bei  einer  reinem  Luft 
gesünder,  fröhlicher,  muntrer;  gebenden 
Raubthieren  diese  schärferen  Sinne,  die- 
ses wärmere  Blut,  diese  höhere  Wirk- 
samkeit, die  ihr  Leben  um  so  viel  Stu- 
fen höher  setzt,  als  das  Leben  der  an- 
dern Thiere.  —  In  diesem  Tone  fuhr 
er  fort  ,  und  sprach  mit  einer  Wärme, 
mit  einer  Beredtsamkeit !  —  dafs  ich  auf- 
merksam, ward  und  ihn  ansah. 


DER  HABICHT.  291 

Ihre  Cur^  rief  ich,  hat  Wirkung  ge- 
than.  Wie  hält's  um  die  Kxaiikheit_,  mein 
Freund  ? 

Sie  war  im  Nu  wieder  da.  Der  Kopf 
sank  ihm  matt  auf  die  Schulter;  die  Füfse 
erschleppten  ihn  kaum;  es  war  der  elen- 
deste Mann,  —  Einbildung!  Einbildung! 
rief  ich.  Und  ob  er  dem  gleich  aus  al- 
ler Macht  widerstz'itt^  so  gab  ihm  doch 
die  Erfahrung,  die  er  so  unvermuthet 
von  seinen  Kräften  gemacht,  imd  mein 
vortheilhaftes  Zeugnifs  darüber,  einen 
sichtbaren  Trost.  Ich  hoffe ^  der  gute 
Mann  soll  nc^ch  werden. 

Hätte  ihm  der  Arzt  nicht  alle  Beschäf- 
tigung untersagt,  so  würde  ich  ihm  ein 
Büchlein  empfoiden  haben,  das  diese  Ma- 
terie mit  viel  Gründlichkeit  abhandelt  und 
eine  der  vortrefflichsten  Apologieen  der 
Vorsehung  ist.     Meinen  nicht  hypochou- 


293  DEPt  HABICHT. 

drischen  Lesern  will  ich's  doch  nennen; 
es  sind  die  Philosophischen  Betrachtung 
gen  über  die  ihierische  Schöpfung  *). 
Eine  Schrift^  die  eben  so  unterhaltend 
durch  die  gewähltesten  Beobachtungen^ 
als  unterrichtend  durch  die  wichtigen  Ge- 
sichtspuncte  ist^  worein  dieselben  gestellt 
werden.  Auf  allen  Seiten  wird  Gott  ver- 
herrlicht _,  die  Vorsehung  gerechtfertigt, 
das  Herz  beruhigt.  —  Um  die_,  die  es 
noch  nicht  kennen  mogten^  zu  reizen, 
will  ich  eine  Stelle  hersetzen^  die  unge- 
fähr das  Resultat  von  den  Untersuchun- 
gen des  Verfassers  enthält. 

i:>  Leben  ^  sagt  er,  ist  eine  Glückselig- 
keit ;  und  der  Wille  des  Schöpfers  ist, 
dafs  unzählige  Schaaren  dieser  Glückse- 
ligkeit geniefsen  sollen.  Unter  einer  Men- 
ge von  Welten  hat  er  auch  diejenige  er- 
*)  Aus  dem  Englischen,   Leipzig,  1769. 


DER  HABICHT.       ^      295 

schaffen^  die  wir  bewohnen:  eine  Welt^ 
die  mit  Bergen  und  Ebnen  abwechselt, 
diu-ch  Flusse  und  Seen  erfrischt,  dmxh 
Pflanzen  und  Bäume  geschmückt,  durch 
die  Strahlen  der  Sonne  erleuchtet  und  er- 
wärmt wird ;  eine  Welt,  wo  unsichtbare 
Ursachen  die  lElemente,  die  niit  allen  Prin- 
cipien  des  Lebens  geschwängert  sind,  in 
beständigem  Umlauf  erhalten ;  wo  die 
Pflanzen,  durch  geheime  noch  wunderba- 
rere Kräfte,  die  reichen  Schätze  der  Ele- 
mente an  sich  ziehen,  aufsammeln,  und 
sie  zur  Erhaltung  der  thierischen  Schö- 
pfung zubereiten ;  eine  Welt  —  denn  so 
unendlich  grofs  ist  die  Mannichfaltigkeit 
und  die  Anzahl  der  Gattungen  —  wo 
jedes  Ding  in  eine  lebendige  Substanz 
gleichsam  verwandelt ,  xmd  alle  natürli- 
chen Kräfte,  jede  Begebenheit  imd  jedes 
Wesen,  durch  ewige  und  unveränderliche 


294  I^ER  HABICHT. 

<*resetre;,  zur  Hervotbringnllg  und  Erhal- 
tung des  Lebens  nutzbar  gemacht  wird; 
eine  Welt_,  wo,  wenn  die  Arten  sich  ver- 
vielfältigen, es  dazu  geschieht^  den  Ver- 
lust leicht  wieder  zu  fersetzen^  dem  ihre 
Hinfälligkeit  sie  blofsstellt^  und  wenn  sie 
sich  einander  aufreiben^  wenn  ihr  Dasein 
in  gewisse  Gränzen  eingeschränkt  ist,  die- 
ses geschieht ,  das  Übermaafs  in  ihrem 
Anwachse  zu  verhüten.  —  Die  grofse  Ab- 
sicht, auf  die  der  ganze  Plan  der  Schö- 
pfung gerichtet  ist,  besteht  in  der  Voll- 
ständigkeit imd  Erhaltung  des  thierischen 
Systems.  Es  giebt  allgemeine  Gesetze, 
die  jede  Classe  der  Geschöpfe  antreiben, 
diese  Absicht  zu  befördern  j  und  diese 
Gefetze  sind  so  genau  mit  einander  ver- 
knüpft ,  dafs  sie  noth wendig  einander 
wechselsweise  voraussetzen  und  nach  sich 
ziehen,  a 


^95 


NEUNZEHNTES   STUCK. 


PROBEN    RABBINISCHER 
WEISHEIT  *). 


I. 
»Wer  sich   der  Gerechtigkeit   an- 
nimmt,   richtet   das   Land   auf; 
wer  sich  ihr  entzieht,  ist  Schuld 
an  seinem  Verderben,  cc 

Jtlabbi  Assi  war  krank^  lag  auf  dem  Bet- 
te, von  seinen  Schülern  umgeben^  und 
bereitete  sich  zum  Tode.  Sein  Neffe  trat 
zu  ihm  herein,  und  fand  dafs  er  weinte. 
—  Was    weinst    du,     Rabbi  ?    fragte    er. 

')  Aus  dem  TaJmud  und  dem  Midrasch  gezogen. 
Die  Erzählungen  beziehen  sich  auf  Sprüche 
der  Schrift,  die  eben  darum  voranstehen. 


296  P  Pl  O  B  E  N 

Mufs  nicht  jeder  Blick  in  dein  vollbrach- 
tes Leben  dir  Freude  bringen?  Hast  du 
etwa  das  heilige  Gesetz  nicht  genug  ge- 
lernt^ nicht  genug  gelehrt?  Siehe,  deine 
Schüler  hier  sind  Beweise  vom  Gegen- 
theiL  Hast  du  etw^  versäumt,  Werke 
der  Gottseligkeit  auszuüben?  Jedermann 
ist  eines  Bessern  überführt.  Und  die  De- 
muth  war  die  Krone  aller  deiner  Tugen- 
den! Niemals  wolltest  du  erlauben,  dafs 
man  dich  zum  Richter  der  Gemeinde 
wählte,  so  sehr  auch  die  Gemeinde  es 
wünschte. 

Eben  das,  mein  Sohn,  antwortete  Rab- 
bi Assi,  betrübt  mich  jetzt.  Ich  konnte 
Recht  und  Gerechtigkeit  unter  den  Men- 
schenkindern handhaben,  und  aus  mifs- 
verstandener  Demutb  hab'  ich  es  unter- 
lassen. »Wer  sich  der  Gerechtigkeit  ent- 
zieht, ist  Schuld  an  dem  Verderben  des 
l>ndes. « 


RABBINISCHER  WEISHEIT.        29- 


51  Den  Menschen  und   dem  Viehe      y^  /. 
hilft  der  Herr.« 

Auf  seinein  Zuge^  die  Welt  zu  be- 
zwingen, kam  Alexander ,  der  Macedo- 
nier,  zu  einem  Volke  in  Africa,  das  in 
einem  abgesonderten  Winkel  in  friedli- 
chen Hütten  wohnte,  und  weder  Krieg 
noch  Eroberer  kannte.  Man  führte  ihn 
in  die  Hütte  des  Beherrschers,  um  ihn 
zu  bewirthen.  Dieser  setzte  ihm  goldene 
Datteln,  goldene  Feigen,  und  goldnes 
Brot  vor.  —  Esset  Ihr  das  Gold  hier? 
fragte  Alexander.  —  Ich  stelle  rnir  vor, 
antwortete  der  Beherrscher:  geniefsbare 
Speisen  hättest  du  in  deinem  Lande  wohl 
auch  finden  können.  Warum  bist  du 
denn  zu  uns  gekommen?  —  Euer  Gold 
hat    mich    nicht    hieher    gelockt,    sprach 


293  PROBEN 

Alexander;  aber  eure  Sitten  mögte  ich 
kennen  lernen.  —  Nun  wohl^  erwieder- 
te  jener,  so  weile  denn  bei  unS;,  so  lange 
es  dir  gefällt. 

Indem  sie  sich  unterhielten,  kamen 
zwei  Bürger  vor  Gericht.  Der  Kläger 
sprach:  Ich  habe  von  diesem  Manne  ein 
Grundstück  gekauft,  und  als  ich  den  Bo- 
den durchgrub,  fand  ich  einen  Schatz. 
Dieser  ist  nicht  mein:  denn  ich  habe  nur 
das  Grundstück  erstanden,  nicht  den  da- 
rin verborgenen  Schatz  ;  und  gleichwohl 
will  ihn  der  Verkäufer  nicht  wiederneh- 
inen.  —  Der  Beklagte  antwortete  :  Ich 
bin  eben  so  gewissenhaft,  als  mein  Mit- 
bürger. Ich  habe  ihm  das  Gut,  sammt 
allem  was  darin  verborgen  war,  verkauft, 
und  also  auch  den  Scliatz. 

Der  Richter  wiederholte  ihre  Worte, 
damit  sie  sähen,  ob  er  sie  recht  verstan- 


JEIABBINISCHER  WEISHEIT.        299 

den  hätte;  und  nach  einiger  Überlegung 
sprach  er:  Du  hast  einen  Sohn_,  Freund? 
Nicht?  —  Ja!  —    Und  du   eine  Tochter? 

—  Ja!  —  Nun  wohl!  dein  Sohn  soll  dei- 
ne Tochter  heirathen^  und  das  Ehepaar 
den  Schatz  zum  Heirathsgute  bekommen. 

—  Alexander  schien  betroffen.  Ist  etwa 
mein  Ausspruch  ungerecht  ?  fragte  der 
Beherrscher.  —  O  nein_,  ferwiederte  Ale- 
xander, aber  er  befremdet  mich.  —  Wie 
würde  denn  die  Sache  in  eui-em  Lande 
ausgefallen  seyn  ?  fragte  jener.  —  Die 
Wahrheit  zu  gestehen_,  antwortete  Ale- 
xander, wir  würden  beide  Männer  in  Ver- 
wahrung gehalten,  und  den  Schatz  für 
den  König  in  Besitz  genommen  haben.  — 
Für  den  König?  fragte  der  Beherrscher 
voller  Verwimdrung  .  .  .  Scheinet  auch 
die  Sonne  auf  jene  Erde?  —  O  ja!  — 
Regnet  es  dort?  —    Allerdings  !  —    Son- 


300  PROBEN 

derbar!  Giebt  es  auch  zahme_,  krautfressen- 
de Thiere  dort?  —  Von  mancherlei  Art. 
• —  Nun^  sprach  der  Beherrscher,  so  wkd 
wohl  das  allgütige  Wesen_,  um  dieser  un- 
schuldigen Thiere  willen  _,  in  eurem  Lan- 
de die  Sonne  scheinen  und  regnen  las- 
sen.    Ihr  verdientet  es  nicht. 

Das  erste  Weib. 

Gott  schuf  der  Weiber  Erste 
Nicht  aus  des  Mannes  Scheitel^ 
Dafs  sie  nicht  eitel  würde; 
Nicht  aus  des  Mannes  Augen, 
Das  sie  nicht  lüstern  würde; 
Nicht  aus  des  Mannes  Zimge^ 
Dafs  sie  nicht  schwatzhaft  würde; 
Nicht  aus  des  Mannes  Ohren, 
Sie  horchte  sonst  nach  allem; 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      301 

Nicht  aus  des  Mannes  Händen, 
Sie  griffe  sonst  nach  allem; 
Nicht  aus  des  Mannes  Füfsen, 
Sie  liefe  sonst  nach  allem. 
Er  schuf  sie  aus  der  Ribbe, 
Der  unbescholtnen  Ribbe; 
Doch  haben  ihre  Töchter 
Von  jedes  Gliedes  Fehler 
Ein  kleines  Theil  bekommen. 


>)  Wer    ein    tugendhaft    Weib    ge-         y.\ 
fanden  ,     hat     einen     gröfsern 
Schatz ,    denn     köstliche    Per- 
len, cc 

Einen  solchen  Schatz  hatte  Rabbi 
Meir ,  der  grofse  Lehrer ;,  gefunden.  Er 
safs   am  Sabbat   in    der  LehrschiUe,    und 


302  PROBEN 

unterwies  das  Volk.  Unterdefs  starben 
seine  beiden  Söhne :  beide  schön  von 
Wuchs  ^  und  erleuchtet  im  Gesetz.  Sei- 
ne Hausfrau  nahm  sie^  trug  sie  auf  den 
Söller^  legte  sie  auf  ihr  Ehebette^  und 
breitete  ein  weifses  Gewand  über  ihre 
Leichname.  Abends  kam  Rabbi  Meir 
nach  Haufe.  —  Wo  sind  meine  Söhne, 
fragte  er,  dafs  ich  ihnen  den  Segen  gebe? 
—  Sie  sind  in  die  Lehrschule  gegangen, 
war  ihre  Antwort.  —  Ich  habe  mich  um- 
gesehen, erwiederte  er^  imd  bin  sie  nicht 
gewahr  worden.  —  —  Sie  reichte  ihm 
einen  Becher  ;  er  lobte  den  Herrn  zum 
Ausgange  des  Sabbats  ^)  ^  trank  und  frag- 
te abern^ial:  Wo  sind  meine  Söhne,  dafs 
sie    auch     trinken    vom    Wein    des    Se- 


•)  Eine  Ceremonle  der  Juden  beim  Ein-  und  Aus- 
gange eines  Festtages,  und  vornelimlich  des 
Sabbats. 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      305 

gens  ?  —  Sie  werden  nicht  weit  sejn, 
sprach  sie^  und  setzte  ihm  vor  zu  essen. 
Er  war  guter  Dinge^,  und  als  er  nach  der 
Mahlzeit  gedankt  hatte ;,  sprach  sie:  Rab- 
bi^ erlaube  mir  eine  Frage!  —  So  sprich 
nur,  meine  Liebe!  antwortete  er.  - —  Vor 
wenig  Tagen,  sprach  sie,  gab  mir  jemand 
Kleinodien  in  Verwahrung,  und  jetzt  for- 
dert er  sie  zurück.  Soll  ich  sie  ihm  wie- 
dergeben ?  —  Dies  sollte  meine  Frau 
nicht  erst  fragen,  sprach  Rabbi  Meir. 
Wolltest  du  Anstand  nehmen,  einem  je- 
den das  Seine  wiederzugeben?  —  O  nein! 
versetzte  sie  ;  aber  auch  wiedergeben 
>v^ollte  ich,  ohne  dein  Vorwissen  nicht.  — 
Bald  darauf  führte  sie  ihn  auf  den  Söller, 
trat  hin,  und  nahm  das  Gewand  von  den 
Leichnamen.  —  Ach  meine  Söhne!  jam- 
merte der  Vater;  meine  Söhne  .  .  .  und 
meine   Lehrer  !     Ich   habe   euch   gezeugt, 


So4  PROBEN 

aber  Ihr  habt  mir  die  Angen  erleuchtet 
im  Gesetze.  —  Sie  wendete  sich  hinweg 
und  weinte.  Endlich  ergriff  sie  ihn  bei 
der  Hand  tmd  sprach  :  Piabbi^  hast  du 
mich  nicht  gelehrt^  man  itlüsse  sich  nicht 
weigern  wiederzugeben  was  uns  zur  Ver- 
wahrung vertraut  Ward?  Siehe^  der  Herr 
hat's  gegeben^  der  Herr  hat's  genommen; 
der  Namen  des  Herrn  sei  gelobet  I  — 
Der  Namen^des  Herrn  sei  gelobet!  stimm- 
te Rabbi  Meir  mit  ein.  Wohl  heifst  es: 
»Wer  ein  tugendhaft  'Weib  gefunden, 
hat  einen  gröfsern  Schatz^  denn  köstliche 
Perlen.  Sie  thut  ihren  Mund  auf  mit 
Weisheit,  und  auf  ihrer  Zunge  ist  hold- 
selige Lehre. » 


RABBIMSCHER  WEISHEIT.      505 

5.. 

Unterredung  eines  Weltweisen  mit 

einem  Rabbi. 

Ein  Weltweiser  sprach  zu  einem  Rab- 
bi: Euer  Gott  nennet  sich  in  seiner  Schrift 
einen  Eiferer ,  der  keinen  andern  Gott 
neben  sich  dulden  kann^  und  giebt  bei 
allen  Gelegenheiten  seinen  Abscheu  wi- 
der den  Götzendienst  zu  erkennen.  Wie 
kommt  es  aber^  dals  er  mehr  die  Anbe- 
ter der  Götzen^  als  die  Götzen  selbst^  zu 
hassen  scheint  ?  —  Ein  gewisser  Fürst^ 
antwortete  der  Rabbi,  soll  einen  tmge- 
horsamen  Sohn  haben.  Unter  andern 
nichtswürdigen  Streichen  mancherlei  Art^ 
hat  er  die  Niedetträchtigkeit,  seinen  Hun- 
den des  Vaters  Namen  und  Titel  zu  ge- 
ben. Soll  der  Fürst  auf  den  Prinzen^, 
oder  soll  er  auf  die  Hunde  zürnen? 

Engels  Philosoph,  I.  20 


5o6  PROBEN 

Wenn  aber  Gott  die  Götzen  ausrot- 
tete^ erwiederte  jener^  so  würde  weniger 
Gelegenheit  zur  Verführung  seyn.  —  Ja, 
versetzte  der  Rabbi,  wenn  die  Thoren 
blofs  Dinge  anbeteten,  an  welchen  wei- 
ter nichts  gelegen  wäre.  Allein  sie  be- 
ten auch  Sonne,  Mond,  Gestirne,  Flüsse, 
Feuer,  Luft,  u.  d.  gl.  an.  Soll  der  Schö- 
pfer, um  dieser  Thoren  willen,  seine 
Welt  zu  Grunde  richten?  Wenn  jemand 
Getreide  stiehlt  und  es  einsäet  ;  soll  das 
Getreide  nicht  aufschiefsen,  weil  es  ge- 
stohlen ist?  Soll  eine  sündliche  Beiwoh- 
nung darum  nicht  fruchtbar  sejii,  weil 
sie  sündlich  ist?  O  nein!  der  weise  Schö- 
pfer läfst  der  von  ihm  selbst  so  wohl  ge- 
ordneten Natur  ihren  Lauf.  Der  Unver- 
nünftige, der  sie  mifsbraucht,  wird  schon 
zur  Rechenschaft   gefordert  werden. 

Wider  die  Vergelti:ng  nach  dem  Tode 


RABBINISCHER  WEISHEIT.       507 

machte  ihm  der  Weltweise  folgenden  Ein- 
wurf. Wenn  Leib  und  Seele  getrennt 
sind^  wem  wird  die  Schidd  der  begange- 
nen Sünden  zugerechnet  ?  Dem  Leibe 
wahrlich  nicht ;  denn  dieser  liegt  ^  wenn 
die  Seele  Abschied  nimmt  ^  wie  ein  Erd- 
klos da;,  und  würde^,  ohne  die  Seele,,  auch 
nie  haben  sündigen  können.  Und  die 
Seele?  Ohne  das  Fleisch  würde  sie  sich 
eben  so  wenig  mit  der  Sünde  befleckt 
haben.  Sie  schwebt  in  der  reinsten  äthe- 
rischen Luft^  sobald  sie  durch  den  Leib 
nicht  mehr  an  die  Erde  gefesselt  ist. 
Welches  von  beiden  soll  also  der  Gegen- 
stand der  göttlichen  Gerechtigkeit  seyn? 
Die  Weisheit  Gottes,  antwortete  der 
Rabbi,  kennet  zwar  allein  die  Wege  sei- 
ner Gerechtigkeit.  Indefs  ist  dem  Sterb- 
lichen zuweilen  vergönnt,  auf  die  Spur 
davon  zu  kommen.     Jener  HausheiT  hat- 


5o8  PROBEN 

te  in  seinem  Obstgarten  zwei  Sklaven, 
wovon  der  eine  lahm  und  der  andere 
blind  war.  Dort  sehe  ich  köstliche  Früch- 
te, sprach  der  Lahme  zum  Blinden,  an 
den  Bäumen  hangen.  Nimm  mich  auf 
deine  Schulter ;  wir  wollen  davon  bre- 
chen. Dies  thaten  sie,  und  bestahlen  ih- 
ren Wohlthäter,  der  sie,  als  unbrauchba- 
re Knechte,  blofs  aus  Mitleiden  ernährte. 
Er  kam,  und  stellte  die  Undankbaren  zur 
Rede.  Jeder  schob  die  Schuld  von  sich, 
indem  der  Eine  sein  Unvermögen  die 
Früchte  zu  sehen,  der  Andere  sein  Un- 
vermögen, zu  ihnen  hinanzukommen,  vor- 
schützte. Was  that  aber  der  Hausherr  ? 
Er  setzte  den  Lahmen  auf  den  Blinden, 
und  strafte  sie  in  der  Lage  ab,  in  wel- 
cher sie  gesündiget  hatten.  —  So  auch 
der  Richter  der  Welt  mit  des  Menschen 
Leib  und  Seele. 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      509 

6. 
Der  Lehrer  und  der  Schüler.  X 

Der  LeJirer.  Du  willst  die  Bufse  ver- 
schieben? —  Wohl!  So  lange  es  dir  ge- 
fällt. Nur  befsre  dich  Eiiieii  Tag  vor 
deinem  Tode! 

Der  Schüler.  Weifs  ich  den  Tag 
wann  ich  sterben  werde? 

Der  LeJirer.  Wenn  du  diesen  nicht 
weifst,  so  ist  kein  andrer  Rath,  als  heute 
noch  anzufangen. 


3iö  PROBEN 

7- 
5) Du    sollst    den    Herrn,     deinen 
Gott,   lieb   haben  von   ganzem 
Herzen,  von  ganzer  Seele,  von 
ganzem  Vermögen,  cc 

Wer  seinen  Gott  so  liebet,  wird  die 
Schuldigkeit  einsehen,  ihm  für  das  Böse 
das  er  uns  widerfahren  läfst,  eben  so  in- 
brünstig TU  danken,  als  für  das  Gute.  — - 
Unter  der  tyrannischen  Regierung  der 
Griechen,  ward  einst  den  Israeliten  bei 
Lebensstrafe  verboten,  in  ihrem  Gesetze 
zu  lesen.  Rabbi  Akiba  hielt  gleichwohl 
öffentliche  Versammlung,  und  unterwies 
im  Gesetze.  Ihn  fand  Pappus,  der  Sohn 
Juda,  und  sprach:  Akiba I  fürchtest  du 
nicht  die  Drohungen  dieser  Grausamen? 
—  Ich  will  dir"  eine  Fabel  erzählen,  sprach 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      511 

Rabbi  Akiba^  die  mit  unsern  Umständen 
viel  Aiinliches  hat.  Der  Fuchs  ging  einst 
am  Ufer  des  Fluss^es  auf  und  nieder,  und 
sah  die  Fische  bald  hier  bald  dort  sich 
zusammendrängen.  —  Was  lauft  Ihr  da 
so  ängstlich  umher?  fragte  der  Fuchs.  — 
Die  Menschenkinder  werfen  dort  ihre 
Netze  aus_,  antworteten  die  Fische _,  und 
wir  suchen  ihnen  zu  entkommen.  —  Wifst 
Ihr  was?  erwiederte  der  Fuchs.  Kommt 
zu  mir  auf's  Trockne!  Wir  wollen  an  ei- 
nen sichern  Ort  ziehen,  wo  euch  kein 
Fischer  nachstellen  soll.  —  Bist  du  der 
Fuchs,  war  ihre  Antwort,  den  man  sonst 
für  das  klügste  unter  den  Thieren  hält? 
Du  mufst  das  einfältigste  seyn,  wenn  du 
ims  diesen  Rath  im  Ernste  ertheilest. 
Siehe!  hier  ist  für  uns  das  Element  des 
Lebens.  Weil  wir  hier  unsicher  sind, 
räthst  du  uns,  in  das  Element  des  Todes 


312  PROBEN 

zu  fliehen?  r—  Die  Anwendung,  Sohn 
luda!  ist  leicht.  Die  Lehre  Gottes  ist  für 
uns  Element  des  Lebens;  denn  so  stehet 
von  ihr  geschrieben :  Sie  ist  dir  Leben 
und  Länge  der  Tage,  Werden  wir  gleich 
in  diesem  Elemente  verfolgt_,  so  müssen 
wir  es  darum  nicht  verlassen  und  ins  Ele- 
ment des  Todes  flüphten, 

Nicht  lange,  so  ward  Rabbi  Akiba  ver- 
rathen,  in  Verhaft  geiiommen  und  in  ei- 
nen Kerker  gesperrt.  Aber  Pappus,  der 
Sohn  Juda,  ward  auch  verläumdet,  ein- 
gezogen, und  in  dasselbe  Gefängnifs  ge- 
setzt. —  Was  hat  dich  hieb  ergebrach  r, 
Pappus  ?  fragte  Rabbi  Akiba.  —  O  wohl 
dir,  Rabbi  Akiba !  antwortete  Pappus,  der 
du  leidest,  weil  du  dich  der  Lehre  Got- 
tes angenommen  hast  ;  aber  wehe  dem 
Pappus,  der  leiden  mufs,  weil  er  sie  ver- 
nachläfsiget  hat! 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      51 -> 

Rabbi  Akiba  ward  zum  Tode  gefiihi  t. 
Unter  den  entsetzlichsten  Martern^  wo- 
mit sie  ihn  hinrichteten^  kam  die  Stunde, 
das:  Höre  Israel!  zu  lesen.  :»Höre^  Is- 
rael! der  Herr,  unser  Gott,  ist  ein  eini- 
ger Gott.  Und  du  sollst  den  Herrn,  dei- 
nen Gott,  lieb  haben  von  ganzem  Her- 
zen, von  ganzer  Seele,  von  ganzem  Ver- 
mögen *).cc  —  In  der  Vorbereitimgsan- 
dacht,  unterwarf  sich  Rabbi  Akiba  der 
göttlichen  Regierung  mit  Freude  und 
kindlicher  Ergebenheit.  Seine  Schüler 
verwunderten  sich  über  diese  Fassung 
seines  Gemüths  luiter  solchen  Qualen.  — 
O  meine  Lieben!  sprach  ihr  Lehrer:  zeit- 
lebens habe  ich  nach  der  Gelegenheit  ge- 
banget,   dieses  göttliche  Gebot  halten  zu 

•)  Dieses  Capital  der  Schrift  wiederholt  jeder  Jude 
zweimal  des  Tages ,  nachdem  er  sich  durcli 
Vorbereltuiigsgebete   dazu  angeschickt  hat. 


5i4     PROBEN  RABBÜnF.  WEISHEIT. 

können^  den  Herrn^  meinen  Golt^  von 
ganzem  Herzen  und  von  ganzer  Seele  zu 
lieben.  Jetzt^  da  sie  mir  geworden^  mufs 
ich  sie  nicht  vernachläfsigen.  Er  weilte 
so  lange  bei  den  Worten  :  ein  einiger 
Gott !  bis  sein  Geist  ihn  verliels.  Und 
eine  Stimme  liefs  sich  vom  Himmel  ver- 
nehmen: Wohl  dir^  Akiba_,  dessen  Geist 
sich  ujiter  solchen  Worten  emporschwang! 
Gehe  ein  zu  der  ewigen  Seligkeit,  die 
hier  dein  Lohn  ist  ! 

Moses  Mendelssohtt. 


3i5 

ZWAiVfZiGSTES     STÜCK. 

PROBEN    RABBINISCHER 
WEISHEIT. 

(FORTSETZUNG.) 


Der  Segen   des  Gastfreundes. 


J_Jer  alte  B.abbi  Isaak  besuchte  seinen 
Freund,  Piabbi  Nachman.  Mehrere  Wo- 
chen blieb  er  gastfreundlich  in  seinem 
Hause,  und  die  ganze  Zeit  über  unter- 
hielten sie  sich  vom  Gesetz^  tauschten 
Meinungen  und  Gründe^  und  belehrten 
sich  gegenseitig.  Die  Stmide  des  Schei- 
dens  rückte  heran.  Rabbi  Nachman  war 
gerührt.  Der  Gedanke^  dafs  er  seinen 
bejahrten  Freund  wahrscheinlich  nie  wie- 


5i6  PROBE  N 

dersähe,  befeuchtete  seine  Augen.  End^ 
licli  sagte  er  zu  ihm:  Segne  mich,  ehr- 
würdiger Freund,  ehe  du  von  dannen 
scheidest!  —  Ich  dich  segnen?  Dich, 
du  Vortrefflicher  ?  Bist  du  doch  jenem 
Pahnbaume  so  ähnlich  !  —  Welchem 
Palmbaume,  Rabbi?  —  Sieh,  mein  Lie- 
ber l  Einst  gerieth  ein  Wandrer  in  ei- 
ne Wüste.  Er  war  ermüdet.  Hunger 
und  Durst  überfielen  ihn  ;  er  verlechzte 
schier.  Auf  einmal  erspäht  sein  Auge  am 
Ufer  eines  kleinen  Bachs  einen  schönbe- 
laubten Palmbaum ,  voll  reifer  Datteln. 
Er  eilt  in  dessen  Schatten,  lagert  sich 
hinein,  stillt  den  Hunger  mit  den  Früch^ 
ten  des  Baumes,  und  sättigt  seinen  bren- 
nenden Durst  aus  dem  Bache,  wird  er- 
quickt und  neu  belebt.  Nun  steht  er  auf, 
und  blickt  dankbar,  beide  Hände  auf  den 
Wanderstab    gestützt,     in    die    Schatten. 


RABBINISCHER  WKISHEIT,      517 

Wohlthätiger  Bamn^  spricht  er^  ich  sollte 
dich  segnen.  Aber  womit  kann  ich  dich 
segnen?  Sollen  deine  Früchte  gedeihen? 
O  wie  sind  sie  so  süfs  und  würzhaft! 
Sollen  deine  Zweige  sich  verbreiten  ?  O 
wie  schön  wölbt  sich  deine  Krone  ^  wie 
kühlend  ist  dein  Schatten!  Soll  ein  Bach 
sich  zu  deinen  Füfsen  schlängeln?  Fliefst 
doch  schon  der  klarste,  hellste  Krystall 
neben  dir  hin!  Dennoch,  dennoch  segne 
ich  dich,  edler  Baum  :  mögen  alle  deine 
Spröfslinge  dir  gleichen!  —  So  auch  ich, 
redlicher  Gastfreund !  Siehe,  du  hast  gro- 
fse  Kenntnisse  erworben;  Rang  und  Ver- 
mögen ist  dir  zu  Theil  worden;  das  Be- 
wufstsein  eigener  Würde,  das  Glück  des 
Hausvaters,  die  Achtung  der  Tugendhaf- 
ten, besitzest  du  in  seltner  Fülle.  Mögen 
dann  deine  Kinder  dir  gleichen!  Möge 
ihr  Loos  wie  das  d einige  seyn  ! 


5i8  PROBEN 

2. 

Äufsrer  Feind  und    innrer  Ver- 
räther. 

Aus  einer  Eisensclimiede  fuhr  ein  mit 
neugehämmerten  Äxten  beladen  er  Wagen 
durch  den  nahe  gelegenen  Wald.  Die 
Sonne  glänzte  auf  den  Stahl^  und  die 
Bäume  des  Waldes  erzitterten  ob  der 
Erscheinung.  —  Wer  wird  vor  ihnen  be- 
stehen? Diese  Eisen  fällen  uns  alle'.  So 
klagte  ihr  Angstgeräusch.  Aber  eine  be- 
jahrte Eiche  rief  ihnen  zu :  Fürchtet 
nichts  !  Solange  keiner  von  euch  diesen 
Äxten  Stiele  leiht,  kann  euch  ihre  Schärfe 
nicht  schaden 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      319 

Die  Schöpfung   des  Weibes.  / 

Jene  Matrone  sagte  zu  Rabbi  Josse: 
In  der  Schöpfungsgeschichte  der  Eva  er- 
scheint euer  Gott  nicht  in  dem  schön- 
sten Lichte.  Warum  mufste  er  dem  Adam 
die  Ribbe  entwenden  ?  warum  sie  ihm 
in  tiefem  Schlaf  gleichsam  rauben  ?  — 
Vater  !  sagte  Ptabbi  Josse's  anwesende 
Tochter :  lafs  inich  ihr  antworten !  — 
Weifst  du  schon ^  edle  Frau^  dafs  diese 
Nacht  Diebe  bei  uns  eingebrochen  sind? 
dafs  sie  uns  eine  Silberstange  geraubt^ 
und  ein  goldnes  schöngeärbeitetes  Pracht- 
gefäfs  dafür  hingesetzt  haben?  Sage^  was 
däucht  dir  zu  diesem  Frevel  ?  —  Du 
scherzest^  Mädchen^  erwiederte  die  Ma- 
trone :  kannst  du  das  Rauben  nennen? 
Kann    eine    solche   Handlung    dir   Frevel 


i20  PROBE  N 

scheinen  ?  —  Nicht  ?  sagte  die  Jun»- 
flau.  So  klage  auch  du  unsern  Gott  nicht 
3Y\,  dafs  er  eine  entbehrliche  Pubbe  nahm^ 
und  statt  ihrer  eine  unschätzbare  Gehul- 
hnn  baute. 


4» 
Der  Wein  in  irdnen  Geftifsen. 

Je  mehr  die  Kaisertochter  *)  mit  dem 
Rabbi  Josucij  dem  Sohn  Ananias ^  sich 
unterhielt,  desto  mehr  ergötzte  sie  sein 
Scharfsinn,  erfreuten  sie  seine  Kenntnisse/ 
erbauten  sie  seine  Tugendlehren.  Doch 
entschlüpfte  ihr  einst,  gleichsam  unwill- 
kürlich, das  Wort:  Welche  schöne  Seele 
und   welche   widrige  Hülle!     Konnten  so 

lieb- 

•)   Vermuthlich   die  Tochter  Antonin$  des  Froin- 
mer. 


RABBINISCHER  WEISHEIT.       321 

liebliche  Tugenden  nicht  in  einem  schö- 
neren Körper  wohnen? —  Sage  mir^  gro- 
fse  Fürstentochter^  fragte  sie  der  Rab- 
bi nach  einer  Weile:  worin  wird  der  ed- 
le Piebensaft  deines  erhabnen  Vaters  auf- 
bewahrt ?  —  In  irdenen  Gefäfsen.  — - 
Unmöglich !  Darin  bewahrt  ja  den  sei- 
nigen jeder  Bürger.  Man  sollte  doch  des 
Kaisers  Weine  in  goldenen  und  silbernen 
aufbehalten.  —  Da  hast  nicht  Unrecht^ 
erwiederte  die  Fürstinn:  das  wäre  schick- 
licher^ und  das  soll  von  nun  an  gesche- 
hen. —  Der  Wein  verdarb  ;  sein  Geist 
entfloh.  —  Du  hast  mich  übel  berathen^ 
sagte  nach  einiger  Zeit  die  Fürstentoch- 
ter. In  den  Prachtgefäfsen  ist  der  Wein 
meines  Vaters  verdorben.  —  Sehr  mög- 
lich !  erwiederte  Josua :  auch  Tugend 
und  Kenntnisse  gedeihen  am  besten  in 
wenig  glänzenden  Körpern. 

Engels  Philosopli,  I,  2  t 


322  PROBEN 

\^  Die  Reue  des  Frommen. 

Ein  alter  Diener  des  Hauses  Ainram 
bracht'  ein  Mädchen  aus  der  Gefangen- 
schaft zurück.  Räuber  hatten  sie  den 
Eltern  entführt  ;  Rabbi  Amram  liefs  sie 
auslösen.  Das  Mädchen  war  in  ihrer  blü- 
hendsten Jugend^  und  von  blendender 
Schönheit.  —  Das  Haus  des  Frommen  ist 
der  Zufluchtsort  der  Tugend.  —  Führt 
sie  auf  den  Söller  des  Seitengebäudes, 
sagte  der  Rabbi _,  und  nehmt  die  Leiter 
weg  die  hinaufführt.  Dort  weile  sie  bis 
morgen,  wo  ich  sie  dem  weinenden  Va- 
ter überantworten  will.  —  Aber  kaum 
war  der  Rabbi  in  sein  Haus  getreten,  als 
das  Herz  des  Frommen  von  unlautrer  Be- 
gierde entbrannte.     Das  dankbare  aus  der 


KABBINISCHER  WEISHEIT.      523 

Sclaverei  losgekaufte  Mädchen  hatte  ihn 
liebevoll  angeblickt,  und  das  Feuer  der 
Leidenschaft  in  seinem  Lmern  entzündet. 
Er  kämpft,  aber  umsonst;  das  Herz  wird 
des  Kopfes  Meister.  Er  eilt  in  den  Hof^ 
ergreift  die  beiseite  gestelJte  Leiter,  er- 
greift sie  mit  einer  Kraft  die  nur  heftige 
Leidenschaft  giebt,  legt  sie  an,  und  be- 
steigt sie.  Das  Mädchen  tritt  schüchtern 
vor  die  Öfnung  des  Eintritts.  Tugend 
und  Begier  erneuern  den  Streit  bei  ihrer 
Erscheinung.  Endlich,  auf  halbem  Wege, 
ermannt  sich  Amram,  erhebt  plötzlich  die 
Stimme,  und  ruft,  auf  der  Leiter  stehend: 
Feuer!  es  brennt  !  Im  Hause  Amrams 
brennt's  !  —  Auf  sein  durchdringendes 
Geschrei  eilen  Hausgenossen,  Nachbarn, 
die  ganze  Schaar  seiner  Schüler  herbei. 
Der  Fromme  bleibt  mit  Feuerglulh  im 
Gesicht   luid   mit   niedergeschlagenen  Au- 


524  P  H  O  ß  E  N 

gen  stehen.  Die  Anwesenden  schweigen 
erstaunt ;  aber  ihr  Blick  irrt  von  dem  Leh- 
rer auf  das  Mädchen^  von  dem  Mcädchen 
auf  den  Lehrer^  und  sie  verstehen  den 
Ausruf.  Endlich  öffnet  er  den  Mund^  und 
mit  bewegter  Stimme  sagt  er:  Besser, 
ich  stehe  jetzt  beschämt  vor  euch  in  die- 
ser Welt,  als  'einst  beschämt  vor  dem 
ewigen  Weltrichter  in  icner. 

^* 
Besclieidenlieit. 

Rabbi  E!fleser,  der  Sohn  Simons^  reis'- 
te  von  der  hohen  Schule  Migdal  eder 
nach  dem  Orte,  wohin  man  ihn  zum  Leh- 
rer berufen  hatte.  Er  ritt  auf  einem  Esel, 
war  sehr  heitern  Gemuths,  und  überhob 
sich  innerlich  der  groisen  Kenntnisse,  die 
schon  im   Jünglingsalter   ilin  zu  ansehnli- 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      325 

chen  Amtern  führten.  Ein  Wandrer  zu 
Fufs  holte  ihn  ein.  Der  JMann  war  un- 
gestaltet und  von  schwärzlicher  Farbe. 
Friede  sei  mit  dir^  grolser  Piabbi  !  rief 
dieser  ihm  zu.  Jener  erwiedert  den  Grufs 
nicht^  sondern  sagt  spöttisch  zum  Wan- 
drer :  Mensch  I  wie  bist  du  so  itngestal- 
tet !  Sind  alle  Bewohner  deines  Geburts- 
ortes so  ?  , —  Ich  weifs  nicht,  antwor- 
tet der  Mann  beleidigt.  Aber  geh  zum 
Meister,  der  mich  schuf  und  erhält,  imd 
frag'  ihn,  warmn  er  eintm  solchen  Un- 
wesen das  Dasein  verlieh.  —  Rabbi 
Elieser  fühlte  alsbald  die  Übereilung,  zu 
der  ihn  jugendlicher  Übermuth  verleitet 
hatte;  er  w'arf  sich  vom  Esel  herab  und 
vor  dem  Wandrer  auf  die  Pvniee  :  Ich 
habe  dich  beleidigt  ;  vergieb  mir  !  — 
Nein  !  nein  !  Hin  zum  INIeister,  und  frag' 
ihn,    warum     er    eine   solche    Mifsgestalt 


526  PROBEN 

schuf.  —  Er  setzt  seinen  Wanderstab 
weiter;  der  Rabbi  folgt  ihm,  zerknirscht 
von  Reue.  Unfern  der  Stadt  strömen  ih- 
nen die  Bürger  entgegen.  —  Friede  sei 
mit  dir,  Rabbi !  Grofser  Lehrer,  sei  uns 
gesegnet !  —  Wem  gilt  dieser  Grufs, 
dieser  Zuruf?    fragt    hier    der    Wandrer. 

—  .Wem  axiders,  als  dem  Manne,  der 
dir  nachtritt?  —  Wie?  den  nennt  Ihr 
Rabbi!  den  begriifst  Ihr,  als  Lehrer?  Mög- 
te  seines  Gleichen  keiner  in  Israel  seyn! 

—  Warum?  Was  sprichst  du?  —  Der 
Ungestaltete  erzählt ;  der  Rabbi  bekennt 
durch  Stillschweigen  die  Übereilung.  — 
Ach  vergieb  ihm,  Fremdling ,  den  ju- 
gendlichen Unbedaclit ;  vergieb  ihm  um 
seiner  Gelehrsamkeit  willen  !  —  Ich  ver- 
geh' ihm  um  Euretwillen ;  nur  mag  er 
nicht  wieder  fehlen! 

Rabbi  Elieser    bestieg    den  folgenden 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      327 

Tag  den  Lehrstuhl  mit  dem  Spruche:  «Im- 
mer sei  der  Mensch  nachgebend  wie  das 
Rohr,  nicht  unbiegsam,  wie  die  Ceder. « 

-    7- 
Der  weise  Richter  und  die  zärt- 
liche  Gattinn. 

Einst  führte  ein  Mann  sein  Eheweib 
nach  Sidon  vor  den  Rabbi  Shneon,  den 
Sohn  Jochai.  Grofser  Lehrer !  sagte  er 
zu  ihm,  mit  dieser  Frau  leb'  ich  nun  zehn 
voUe  Jahre  in  Eintracht  und  Frieden ;  aber 
unsre  Ehe  ist  kinderlos.  Aus  Ehrfurcht 
für  die  Gesetze  will  ich  ihr  den  Scheide- 
brief geben.  —  Das  Weib  stand  scham- 
roth  da  wegen  ihrer  Unfruchtbarkeit,  und 
heifse  Thränen  flössen  von  ihren  schönen 
Augen.  Gerührt  wendete  sich  der  Ehe- 
mann zu  ihr.      O  weine  nicht,  sprach  er. 


32S  PROBEN 

nimm  was  du  willst_,  nimm  das  Schätzbar- 
ste aus  dem  Hause  mit  dir;  ich  gestatt^ 
es  dir  gerne:  nur  kehre  ohne  Unmuth  in 
das  väterliche  Haus  zurück!  —  Die  Trost- 
lose schwieg,  weinte  bitterlich,  und  blick- 
te auf  den  Ptichter.  —  Freund  der  Ge- 
setze, sagte  endlich  der  Rabbi ;  als  du 
das  Eheband  knüpftest,  nicht  wahr?  da 
feiertest  du  ein  Fest  ?  -—  Freilich  !  und 
ein  grofses  und  frohes,  —  So  gehe  hin, 
und  feire  ein  gleiches  wieder,  ehe  du  es 
lösest. 

Die  Eheleute  entfernten  sich  ehrerbie- 
tig: er  heitern  Sinns,  sie  mit  einem  Strahl 
von  Hoffnung  in  der  Seele. 

Das  Mahl  wird  bereitet.  Das  Fest  be- 
ginnt. Des  Weines  ist  vollauf.  Die  Frau 
hat  Alles  angeordnet.  —  Der  Becher  krei- 
set, die  Freunde  trinken.  Der  Ehemann 
wird  heiter  und  fröhlich,  zecht,  leert  Be- 


RABBINISCHER  WEISHEIT.      529 

eher  auf  Becher^  und  fällt  endlich  in  tie- 
fen  Schlaf.  —  Kaum  sind  die  Gäste  ver- 
schwunden; so  winkt  die  wachsame  Frau 
den  wartenden  Sclavinnen.  Diese  tragen 
leise  und  sorgfältig  den  Berauschten  ins 
schwiegerelterliche  Haus.  Um  Mitternacht 
erwacht  er.  Wo  bin  ich  ?  Wie  komm' 
ich  in  dieses  Haus  ?  —  Mein  Lieber ! 
antwortet  mit  sanftem  Tone  die  Frau, 
ihn  umarmend  ;  sagtest  du  nicht  in  Ge- 
genwart des  grofsen  Lehrers:  Nimm,  was 
du  willst,  nimm  das  Schätzbarste,  und 
kehre  heim  in's  väterliche  Haus  ?  Warst 
nicht  du  das  Schätzbarste  in  unserm  Hau- 
se? Zürnest  du  mir,  dafs  ich's  nahm?  — 
Der  Vorhang  ßel.  Der  heilige  Segen  der 
Ehe  blieb  nicht  aus. 


330  P  K  O  B  E  IN 

8. 
Rabbi  Elieser  und  seine   Gegner. 

Dafs  Wunder  keine  Beweismittel  für 
Wahrheit  sind_,  ist  eine  unterscheidende 
Lehre  des  Judenthums^  und  wohl  unmög- 
lich konnte  diese  Lehre  stärker  vorgetra- 
gen werden^  als  in  folgender  so  ganz 
orientalisch  gedichteten  Erzählung  des 
Talmud^  worin  besonders  der  letzte  Zug 
von  der  Freude  der  Gottheit  über  das 
Festhalten  an  befsrer  Einsicht  jedem  auf- 
fallen wird. 

In  der  Lehrschule  entstand  ein  hefti- 
ger Streit  zwischen  Rabbi  Elieser  und 
andern  Gesetzlehrern.  Der  Streit  betraf 
eine  gewisse  Anwendung  der  Lehre  vom 
Reinen  und  Um  einen.  Rabbi  Elieser^  um 
seine  Meinung  geltend  zu  machen^  brach- 
te   alle  nur  mögliche   Gründe  vor;   aber 


RABBINISGHER  WEISHEIT.      331 

jMan  fand  sie  nicht  überzeugend.  —  Ob 
mein  Ausspruch  gegründet  sei;,  rief  end- 
lich Rabbi  Elieser>  mag  dieser  Bochs- 
horn  *)  bezeugen!  Auf  dieses  Wort 
reifst  sich  der  Baum  von  seiner  Stelle^ 
und  wird  auf  eine  weite  Strecke  fortge- 
führt. —  Gut !  entgegnen  die  Mitstrei- 
ter ;  aber  was  beweis't  man  mit  ent- 
wurzelten Bochshornbäumen  ?  —  Nun, 
fährt  Rabbi  Elieser  fort,  so  mag  denn 
dieses  vorbeifiiefsende  Wasser  die  Wahr- 
heit meines  Ausspruchs  bezeugen.  Und 
siehe!  das  abwärts  strömende  Wasser  än- 
dert seinen  Lauf,  und  fliefst  aufwärts. 
Die  Gegner  erwiedern :  Was  beweis't 
zurückströmendes  Wasser  ?  —  So  mö- 
gen denn  die  Wände  dieses  Lehrsaals 
zeugen,  sagt  Rabbi  Elieser,  ob  nicht  das 

•)  Johannisbrot -Baum. 


533  PROBEN 

Recht  auf  meiner  Seite  sei !  Was  ge- 
schieilt?  Die  Ecksteine  des  Hauses  treten 
aus^  und  die  Mauern  neigen  sich  zum 
Einsturz.  Aber  Rabbi  Josua  ruft  ihnen 
zu;  Mauern!  Mauern!  Wenn  Schüler 
der  Weisen  mit  einander  wetteifern;  was 
mischt  Ihr  euch  iia  den  Streit?  Und  nun 
fallen  sie  nicht^  aus  Ehrfurcht  für  den  ei- 
nen Lehrer^  richten  sich  auch  nicht  auf, 
aus  Ehrfurcht  für  den  andern:  überhan- 
gend bleiben  sie  stehen.- 

So  entscheide  denn  die  Stimme  Got- 
tes !  ruft  endlich  Rabbi  Elieser  aus.  Und 
fürwahr!  eine  Stimme  vom  Himmel  er- 
schallt und  ruft  :  Was  streitet  Ilir  mit 
Rabbi  Elieser?  Sein  Ausspruch  entschei- 
det. —  Aber  Rabbi  Josua  fährt  auf,  und 
ruft  der  Stimme  entgegen  :  Es  ist  nicht 
im  Hiimuell  *) 
*)   Ein   Halbrers    aus   folgender    Stelle    des    5.  B. 


flAßßJUN'lSCHEIl  VVlilöHElT. 


Ojj 


Rabbi  Jeremia  deutete  diese  Gegen- 
rede ;  Vf'^i?^  achten  auf  keine  Stimme 
des  Himmels ;  denn  in  deinem  Gesetz- 
buch^ auf  dem  Berge  Sinai  hast  du^  Gott_, 
selbst  gelehrt  :  IVach  der  Stimmenmehr- 
heit^ nach  der  Menge ;»  sollst  du  dich 
neigen. 

Als  nun  Ptabbi  Nathan  den  Elia  *) 
fand^  und  diesen  fragte:  Lieber!  was 
sagte  um   diese  Stiuide    die  Gottheit?    da 


Mose,  Cap.  3o,  V.  n,  12t  »Denn  dies  Gebot, 
das  icb  dir  jetzt  gebe,  ist  dir  nicht  verborgen, 
aucb  nicht  ferne.  Es  ist  nicht  im  Himmel, 
dafs  du  etwa  sagen  mögtesl  :  wer  steigt  für 
uns   in  den  Himmel  hinauf,  um  es  herunterzu- 


•)  Der  Prophet  Elia  aus  Tisbi  spielt  im  Talmud 
eine  sehr  wichtige  Rolle.  Als  Vorläufer  des 
Messias  nicht  allein;  sondern  immer ,  wenn 
der  Wahrheit  einer  Sache  durch  Autorität  noch 
ein  Siegel  aufgedrückt  werden  soll,  läfst  der 
Talmud  ihn  erscheinen  und  wieder  verschwin- 
den. 


534    PROBEN  RABBIN.  WEISHEIT. 

erwiederte  der  Prophet:  Die  Gottheit  lä- 
chelte zufrieden ,  und  spracli :  Meine 
Kindfer  haben  obgesiegt  !  Meine  Kinder 
haben  obgesiegt ! 

D.   Friedländer. 


335 


EIN   UND    ZWANZIGSTES    STUCK. 

DIE    BILDSÄULE. 


\\ie  traurig,  rief  ein  jimger  Schüler 
Bonnets  ^  dafs  ich  immer  nur  die  Eigen- 
schaften der  Seele  erforschen,  immer  nur 
in  der  Entwickelung  ihrer  Kräfte  fortfah- 
ren, aber  nie  bis  zur  Erkenn tnifs  ihres 
eigentlichen  Wesens  gelangen  soll!  Die 
ausdruckliche  Erklärung  meines  Lehrers 
benimmt  mir  alle  Hoffnung  dazu;  die 
Mystiker,  die  mir  ein  näheres  Licht  ver- 
sprechen, führen  anich  in  ein  noch  tiefe- 
res Dimkel ;  und  alle  meine  eignen  Be- 
mühungen, bis  zum  Grundwesen  meiner 
Seele  hindurchzudringen,  sind  fruchtlos. 
—  Der  Mensch,  sagt  man,  ist  nicht  für 
diese  Erkenntnifs  gemacht.   —     Das  fühl' 


53Ö  DIE  13ILD8AULE. 

lieh  leider;  aber  woher  denn  in  mir  die- 
ser lebendige^  ungeduldige  Trieb,  sie  zu 
haben?  Woher 'in  einer  sonst  so  weislich 
eingerichteten  JVatur,  wie  die  meinige, 
dieser  Durst,  wenn  nirgend  eine  Quelle 
Hiefst^  die  ihn  löschen  könnte?  Mag  mir 
doch  die  Antwort  ausbleiben,  wie  lange 
«ie  wolle ;  ich  werde  nicht  aufhören  kön- 
nen, mich  selbst  zu  fragen:  Wer  bin  ich? 
J'.ch  empfindende ,  denkende ,  wollende 
vSeele;  was  für  ein  Wesen  hab'  ich?  Was 
ist  in  mir  das  Unbekannte,  dem  jene  mir 
bekannten  Eigenschaften  beiwohnen?  dem 
sie  anhangen?  in  dem  sie  sind?  — 

Einst,  im  Morgenschlummer,  bemäch- 
tigte sich  bei  unserm  jungen  Denker  die 
Phantasie  dieser  Grübeleien  seiner  Ver- 
nunft, und  webte  aus  dem  luftigen  Ge- 
spinnst derselben  eine  ganze  Folge  von 
Phänomenen.     Er  sah    die  philosophische 

Dich- 


DIE  BILDSÄULE.  337 

Dichtung  seines  Lehrers  realisirt :  eine 
belebte  menschliche  Bildsäule y  die  also 
mehr  als  Bildsäule,  die  ein  Mittelding 
zwischen  der  vollkommensten  Pflanze  und 
dem  unvollkommensten  Thier  war.  Ihre 
Sinne  waren  noch  alle  gebunden;  sie  er- 
warteten noch  alle  die  erste  üühining, 
den  ersten  Eindruck  eines  Objects:  sonst 
waren  die  Nerven  gespannt,  die  Saite  in 
Umlauf;  der  Puls  schlug,  und  sämmtlicüe 
Verrichtungen  des  animalischen  Lebens 
gingen  von  Statten»  —  Man  weifs^  zu 
welchem  Endzweck  Bonnet  und  sein  Vor- 
ganger  Condillac  eine  solche  Bildsäule 
erdichteten»  Sie  glaubten  dadurch  die 
Untersuchung  zu  simplihciren  und  zu  er- 
leichtern, wie  bei  Gelegenheit  der  sinn- 
lichen Eindrücke  sich  nach  und  nach  die 
Kräfte  unsrer  Seele,  entwickeln. 

Die  lebhafte  Freude   des  jungen  Man- 

Engels  Philosoph,  I.  22 


55S  I>IE  BILDSÄULE- 

nes,,  der  auf  einmal  Hoffnung  zur  Beant- 
wortung der  liefsinnigsten  Fragen  der 
Weltweisheit  fafste^  läfst  sich  nur  den- 
ken. Auch  jene  berühmte  Frage  des  Mo- 
lyneux,  die  Ähnlichkeit  zwischen  Gefühls- 
und Gesichtseindrücken  betreffend^  sah 
tr  nun  im  Geist  schon  entschieden.  — 
0_,  rief  er  aus^  wenn  ich  doch  von  der 
Göttinn  der  Weisheit  eine  ähnliche  Gna- 
de erbitten  könnte^  wie  sich  einst  Pyg- 
malion von  der  Göttinn  der  Liebe  er- 
bat !  Wenn  sie  doch  die  versclilofsnen 
gefesselten  Sinne  dieser  wunderbaren  Bild- 
säule entlösen  wollte !  ....  Aber  das 
müfste  nicht  zugleich^  nicht  zu  plötzlich 
seyn,  theure  Göttinn^  damit  ich  Raum 
zum  Beobachten  hätte.  Erst  müfsten  die 
gröbern^  dann  die  feinern  Sinne^  und  nur 
allmählich  ^  nur  langsam  ^  immer  einer 
nach  dem  andern^  entbunden  werden.  — 


DIE  BILDSÄULE.  539 

Kaum  war  der  Wunsch  vollendet;  so  hör- 
te er  schon  den  schnaubenden  AtJiein 
der  Bildsäule,  und  sah  entzückt  wie  sie 
beide  Nasenflügel  bewegte.  Er  sprang 
mit  der  höchsten  Ungeduld  eines  Beob- 
achters in's  Feilster,  und  pflückte  aus  ei- 
nem kleinen  dort  aufgestellten  Blumen- 
garten eine  Rose^  die  noch  spät  neben 
einer  frühzeitigen  Nelke  blühte. 

Er  bot  der  Bildsäiüe  die  Rose,  und 
sie  zog  mit  sicjitbarem  Vergnügen  den 
sanften  Wohlgeruch  ein.  Er  bot  ihr  die 
Nelke,  und  mit  noch  sichtbarerm  Ver- 
gnügen schlürfte  sie  den  erquickenden 
aromatischen  Aushauch  in  sich.  —  Him- 
mel !  wenn  sie  doch  auch  nur  spräche! 
rief  er.  Denn  was  hilft's  mir,  dafs  ich 
ihre  innern  Veränderungen  iiur  so  im 
Allgemeinen  erkenne  .^  Das  ganz  Eigne 
der    Empfindungen  ^    der    Modißcationen 


34o  DIE  BILDSÄULE. 

ihrer  Seele^  mögt'  ich  erfahren.  .  .  .  Aber 
wie  sie  wohl  alle  Gebehrden  verstellen 
mögte,  wenn  ich  plötzlich  ihre  Empfin- 
dungen abänderte  und  widrigen  Duft  auf 
Wohlgeruch  folgen  liefse?  —  ,In  demsel- 
bigen  Nu  sprang  er  wieder  ins  Fenster^ 
um  eine  Todtenblume^  die  er  ihrer  Ge- 
stalt wegen  gepflegt  hatte,  zu  brechen. 
Die  Bildsäule,  die  in  Erwartung  neuen 
Vergnügens  noch  immer  den  Athem  an 
sich  zog,  fand  sich  trefiich  betrogen.  Sie 
ward  nicht  sobald  den  widrigen  Eindruck 
inne,  als  sie  mit  geki'äuster  Nase  zurück 
fuhr,  und  aus  aller  Kraft  ihrer  Lungen 
den  Duft  hinwegblies. 

Der  junge  Mann  war  jetzt  in  der  un- 
geduldigsten Erwartung,  ob  nicht  bald 
ein  neuer  Sinn  sich  entwickeln  würde. 
Aber  welch  ein  weit  gröfseres  und  uner- 
wartetes   Vergnügen    stand    ihm    bevor ! 


DIE  BILDSÄULE.  34i 

Die  Bildsäule  warf  plötzlich  ernsthafte 
Falten^  wie  von  einem  tiefen  Nachden- 
ken^ auf  die  Stirne^  und  siehe!  sie  konn- 
te reden  und  räsonniren.  —  Das  waren 
zwei  Eindi'ücke,  rief  sie^  von  ganz  ver- 
schiedner  Natur.  Die  eine  Blume  dufte- 
te lieblich,  die  andre  widrig;  aber  ich^ 
die  ich  beide  Eindrücke  empfand_,  ich  die 
Riechende,  bin  von  beiden  verschieden,, 
und  bin  nur  Eins.  War'  es  sonst  mög- 
lich, dafs  ich  diese  Eindrücke  verglichen, 
sie  einander  entgegengesetzt,  geurtheilc 
hätte?  Wenn  ich  denn  aber  etwas  An- 
ders, etwas,  für  mich  Bestehendes  bin; 
was  bin  ich  ?  was  für  ein  Wesen  hab*^^ 
ich?  .  .  .  Wie  jene  Blumen  dufteten,  weifs 
ich;  aber  wie  mag  wohl  ich,  die  empfin- 
dende, die  geniefs ende  Blume,  duften?  — 
Die  Frage  war  eben  so  drollicht  als 
unerwartet,    imd    unser   Träumer   lachte 


34a  DIE  BILDSÄULE. 

laut  auf.  — •  Gute  Bildsäule  !  dacht'  er, 
lafs  nur  erst  deine  feinern  Sinne  in's  Spiel 
kommen^  und  du  wirst  das  Alberne  dei- 
ner Frage  schon  inne  werden.  Genie  hast 
du  wirklich^  und  das  recht  viel:  denn  in 
so  kurzer  Zeit  und  über  blolse  Gegen- 
stände des  Geruchs  eine  so  /metaphysi- 
sche Frage  zu  thun;  beim  Piaton!  das  ist 
mehr^  als  ich  hoffen  durfte.  Aber  sich 
die  Seele  wie  eine  Blume^  ihr  Wesen  wie 
einen  Duft  zu  denken;  das  ist  denn  doch 
immer  sehr  lächerlich!  sehr  possierlich! 
das  schmeckt  noch  gar  sehr  nach  der  Bild- 
säule! —  Während  dafs  er  nocla  sprach, 
fmg  eine  Nachtigall;,  die  schon  seit  Wo- 
chen geschwiegen  hatte,  noch  einmal  zu 
schlagen  an ;  und  ihre  Töne  waren  so 
süfs,  so  hinreifsend,  so  schmelzend.  Die 
Bildsäule  horchte  hoch  auf ;  denn  nun 
hatte  sich   in  ihr   auch  der  Sinn   des  Ge- 


DIE  BILDSÄULE.  343 

liörs  entwickelt.  Alle  ihre  Mienen  zeig- 
ten Ausdruck  des  innigsten  Wohlgefal- 
lens^ lind  sie  rief  einmal  über  das  andere 
dem  kleinen  Virtuosen  ein  Bravo  !  Die 
Nachtigall  schwieg ;  und  nun  kam  ein 
Rabe  mit  gelähmtem  Flügel,  den  unser 
Philosoph  zu  seinem  Vergnügen  unter- 
hielt, krächzend  herbei  "gehüpft,  als  ob 
er  sich  auch  ein  Bravo  hätte  verdienen 
wollen.  Die  Bildsäiüe  schüttelte  mifsfäl- 
lig  den  Kopf,  und  schien  zu  wünschen 
dafs  der  heisre  widerwärtige  Schreier  ein 
Ende  machte.  Dann  warf  sie  wieder  ei- 
ne ernste  tiefe  Falte  -auf  ihre  Stirne,  imd 
fing  von  neuem  an  zu  vernünfteln.  —  Das 
"Waren  neue  und  abermals  sehr  verschie- 
dene Eindrücke,  sprach  sie;  aber  ich,  die 
ich  sie  hatte,  ich  blieb  dieselbige,  und 
bin  noch  jetzt  dieselbige,  welche  die  ver- 
schieden en    Gerüche    einsog.      Auch    bin 


544  I>IE  BILDSÄULE, 

ich  Empfindende  von  dem '  Empfundnen 
verschieden^  bin  ein  Wesen  für  mich,  und 
bin  Eins.  Aber  was  ich  bm,  und  was  für 
eine  Natur  ich  iiabe ;  das  ist  mir  noch 
immer  ein  Räthsel.  Sollt'  ich  vielleicht 
ganz  unrecht  gefragt  haben :  wie  duft' 
ich?  und  sollte  vielleicht  die  Frage  so 
müssen  gefafst  werden:  wie  tön'  ich?  — 
Herrlich  verbessert !  rief  unser  junge 
Weltweise  spöttisch.  Wemi  sich  Abge* 
schmacktheit  gegen  Abgeschmacktheit  mes- 
sen liefse;  so  mögt'  ich  sagen,  dafs  dieso 
hier  noch  ärger  als  jene  wäre.  Denn 
Duft  ist  bei  alle  dem  doch  noch  etwas 
Reelles_,  etwas  für  sich  Bestehendes;  aber 
ein  Ton!  was  ist  der  mehr,  als  blofse 
Veränderung,  blolse  Bewegmig  ?  —  In, 
diesem  Augenblick  iing  die  Bildsäule  an, 
auch  die  Finger  zu  rühren,  den  Arm  zu 
bewegen,   mit  der  Hand  um  sich  her  zu 


DIE  BILDSÄULE.  545 

greifen.  Sie  konnte  nunmehr  auch  filJv 
Icn.  Der  Piniosoph,  der  —  ich  weifs 
nicht,  ob  Im  Cicero  oder  selbst  im  Pia- 
ton —  gelesen  hatte,  dafs  unter  allen  Fi- 
guren die  Sphäre  die  schönste  sei,  legte 
schnell  in  die  offne  Hand  der  Bildsäule 
eine  kleine  elfenbeinerne  Kugel,  und  es 
schien  als  ob  sie  die  sanften  Ujnrisse  mit 
Wohlgefallen  betastete.  Er  sah  sich  eben 
nach  einem  eckigen  unregelmäfsigen  Kör- 
per um,  der  dem  Gefühle  unangenehm 
wäre,  als  er  für  diesmal  den  zweiten  wi- 
drigen Eindiuck  unnöthig  fand;  denn  die 
Bildsäule,  ohne  denselben  abzuwarten, 
fing  von  neuem  ihr  P».äsonnement  an.  Sie 
lachte  nun  selbst  der  Albernheit  ihrer  vo- 
rigen Fragen.  —  Nicht,  wie  ich  duftQ^ 
oder  wie  ich  töne,  sagte  sie,  mufs  ich 
fragen:  denn  das  sind  nur  Eigenschaften, 
nicht  Wesen.      Jetzt    endlich  bin  ich   so 


346  DIE  BILDSÄULE. 

glücklich^  dafs  ich  Wesen  erkenne;  und 
die  einzige  Frage^  sehe  ich  wohl^  die  ich 
mit  Verstände  über  mich  aufwerfen  kann^ 
ist  die:  welche  Figur  icii  habe?  Meine 
Eigenschaft  ist  weder  Duften  noch  Tö- 
nen, sondern  Empfinden  ;  aber  welchem 
Wesen,  von  weicher  Figur,  wohnt  diese 
Eigenschaft  bei?  — 

Hier  erwachte  der  Träumer,  noch  eh' 
er  das  Vergnügen  genossen  hatte,  Ge- 
sichts -  mit  Gefühlseindrücken  vergleichen 
zu  hören.  Er  wufste  erst  nicht,  da  er 
seinem  Traume  nachdachte,  ob  er  mehr 
lachen  oder  sich  ärgern  sollte.  Wie  muth- 
willig,  sagte  er  endlich,  spielt  doch  im 
Traume  die  Phantasie  mit  der  Vernunft! 
Welch  eine  schale  Dichterinn  ist  sie,  wenn 
sie  nicht  von  der  letztern  geführt  wird, 
und  welch  eine  noch  schalere  Philoso- 
phinn!  Sprache,  noch  vor  geöfnetem  Ohr! 


DIE  BILDSAULE.  547 

Bewufstsein  gleich  auf^die  erste  Rührung 
eines  der  dunkelsten  Sinne!  Fertigkeit  in 
Räsonnement  und  Rede,  noch  ehe  die 
mindeste  Übung  da  war !  Bildliche  Aus- 
drücke von  Sinnen  her  _,  die  noch  aller 
Empfindung  verschlossen  waren  !  Tiefe 
Metaphysik  über  ein  paar  verworrne_, 
armselige  Geruchsideen ;  .  .  .  welch  ein 
Haufen  von  Abgeschmacktheiten,  wovon 
gleich  die  erste  mich  hätte  wecken  sol- 
len! Und  kann  ich  denn  die  eben  so  gro- 
fse  Abgeschmacktheit  der  Fragen  verges- 
sen, die  sie  über  sich  selbst,  über  ihre 
Natur,  ihr  Wesen  aufwarf?  Eine  Seele, 
die  sich  fühlen,  betasten  läfst;  eine  Seele, 
die  eine  Figur  hat;  wie  widersinnig!  .  .  . 
obgleich  immer  noch  weniger  widersin- 
nig, als  eine  Seele,  die  sich  hören,  die 
sich  durch  den  Geruch  erkennen  läfst, 
die  tönt  imd   duftet  !    Denn  Figur 


548  1>IE  .BILDSÄULE. 

Hier  hielt  er  inne,  bis  er  nach  langem 
Nachsinnen  fortfuhr:  Nun?  und  was  ist 
denn  Figur?  Was  hat  die  Frage  von  der 
Figur  der  Seele  für  einen  begreiflichen 
Vorzug  vor  der  Frage  von  dem  Ton  oder 
dem  Duft  der  Seele  ?  In  jeder  derselben 
liegt  die  Abgeschmacktheit,  das  Unnsimi- 
liche  sinnlich  erkennen,  das  was  nur  durch 
inneres  Bewulstsein  gefatst  werden  kann, 
der  äufsern  Empfindung  unterwerfen  zu 
wollen.  ist  weiter  unter  jenen  Fragen 
ein  Unteischied,  als  dafs  in  der  einen  ge- 
forscht wird,  wie  die  Seele  den  feinern; 
jn  der  andern,  wie  sie  den,  gröbern  Sin- 
nen erscheinen  würde  ?  Und  ist  das  Eine 
zu  fragen,  im  Grunde  nicht  eben  so  ab- 
geschmackt, als  das  Andre  zu  fragen?  — 
Aber  woher  rührte  es  denn,  dafs  es 
mir  gleichwohl  auf  den  ersten  flüchtigen 
Anblick    weniger    abgeschmackt    schien? 


DIE  BILDSÄULE.  549 

Daher  vermuthlich  :  weil  wir  unter  den 
sinnlichen  Empfindungen  immer  die  der 
dunklen  Sinne  auf  die  der  klarem  zu- 
rückzuführen, jene  an  diese  zu  knüpfen, 
sie  nur  in  diesen,  als  ihnen  einwohnend, 
als  von  ilmen  abhängig,  zu  denken  pfle- 
gen. An  Figur  und  Solidität,  diese  Phä- 
nomene für  Gefühl  und  Auge,  schliefst 
sich  nach  unsrer  Vorstellungsart,  alles  An- 
dere an,  was  wir  von  Körpern  kennen. 
Was  tönt  ?  was  duftet  ?  was  schmeckt  ? 
So  fragt  alle  Welt;  und  alle  Welt  glaubt 
diese  Fragen  beantwortet,  wenn  eben  da, 
wo  das  Ohr  hört,  die  Nase  riecht,  die 
Zunge  schmeckt,  wenn  eben  da  auch  die 
Augen  sehn  und  die  Finger  tasten  kön- 
nen. An  die  sichtbare  Erscheinmig  des 
Honigs  binden  wir  seinen  Duft,  seinen 
Geschmack;  und  die  sanfte  Runde  seiner 
Bestandtheile,  die  mit  so  leichter  Beruh- 


550  DIE   BILDSAULE. 

rung  über  die  Nervenspitzen  des  Gau- 
mens hinwegrollen  ^  mufs  für  Erklärung 
seiner  Süfsigkeit  gelten.  Der  Sehende 
will  alles  auf  Gesichts  -,  der  Blinde  auf 
Gefühlsideen  zurückbringen :  und  war 
es  denn  von  meiner  Bildsäule  so  abge- 
schmackt, wenn  sie^  mit  noch  verschlofs- 
nem  Auge:  und  noch  fühlloser  Hand^,  auf 
den  klarsten  Sinn^  womit  sie  bis  dahin 
empfunden  hatte,  auf  den  Sinn  des  Ge- 
liörs,  zurückging?  — 

Dennoch;  dafs  sie  die  Innern  Modifi- 
cationen  ihres  eigentlichen  Selbst,  Den- 
ken und  Empfinden,  an  die  Idee  eines 
Tons  knüpfen  wollte  —  nun  freilich ! 
wenn  diese  Ungereimheit  ihr  zu  verzei- 
hen war,  so  ist  und  bleibt  sie  doch  Un- 
gereimtheit. ^  Indessen  keine  gröfsre,  als 
die  :    jene   Modificationen   an   eine  Figur 


DIE   BILDSAULE.  5oi 

knüpfen^  sie  als  dieser  einwohnend  und 
von  ihr  unzertrennlich  denken  zu  wollen.- 
Wenn  es  schon  in  der  B.egion  äufserer 
Empfindungen  Täuschung  ist^  die  Ideen 
des  einen  Sinns  so  an  die  des  andern  zu 
bangen^  und  die  einen  als  raehr  substan- 
tiell, mehr  für  sich  bestehend  wie  die 
andern  zu  denken;  so  ist  es  vollends  gro- 
be Täuschung,  die  Innern  Wahrnehmun- 
gen des  unsinnlichen  Selbst  auf  ähnliche 
Art  an  irgend  eine  äufsere  Wahrnehmung 
gleichsam  anhängen,  sie  in  diese,  als  in 
ihr   Grundwesen,    gleichsam   hineinbilden 

zu  wollen. 

Wornach  aber  frage  denn  ich,  v;"enh 
ich,  nach  erkannten  Eigenschaften  und 
Kräften  der  Seele,  noch  immer  fortfahre 
nach  ihrem  VTesefi  zu  forschen?  Nicht 
nach  ihrer  Figur  :    das   wäre   zu  unphilo- 


35a  DIE  BILDSÄULE. 

sophisch^  zu  abgeschmackt;  sondern  .  .  . 
Hier  hielt  er  abermals  iime^  schärfte  den 
Innern  Blick^  was  er  konnte^  und  erstaun- 
te am  Ende^  sich  mit  einer  Antwort  ge- 
martert zu  haben ^  eh'  er  sich  noch  der 
Frage  bewufst  war.  —  Sollt'  es  denn 
möglich  seyn^  rief  er^  dals  ich  im  Grunde 
eben  so  abgeschmackt  und  noch  ein  we- 
nig abgeschmackter^  als  meine  Bildsäule^ 
erschiene?  Denn  diese,  so  wunderlich 
ihre  Fragen  auch  klingen  mogten,  wufs- 
te  denn  doch,  was  sie  wollte.  Sollt'  ich 
wirklich  mit  diesem  mir  angebornen  Trie- 
be, alle  meine  andern  Empfindungen  auf 
die  klarsten  zurückzuführen,  sie  an  diese 
zu  knüpfen  und  von  ihnen  abhängig  zu 
machen;  sollt'  ich  mit, diesem  Triebe, 
ohne  mir's  zu  gestehen  und  ohne  viel- 
leicht  es   zu  muthmafsen^     auch    die   Er- 

schei- 


DIE  BILDSAULE.  353 

scheinungen  meines  Innern  Selbst^  Den- 
ken;,  Wollen;,  Empfinden^  an  die  klarste 
meiner  Vorstellungsaiten^  an  die  des  Ge- 
sichts tmd  Gefühls^,  haben  anknüpfen  Wol- 
len ?  Sollt'  ich  eben  so  unphilosophisch 
sinnlich,  als  irgend  einer  aus  dem  gemei- 
nen Haufen,  gleichsam  gefragt  haben; 
wie  wohl  meine  Seele,  Wenn  sie  sichtbar 
wäre,  dem  Auge  erscheinen  wurde?  .  .  * 
Fast  mufs  ich  fürchten,  so  ist's!  Denn 
setzte  ich  nicht  die  Erkenntnifs  des  We-* 
sens  meiner  Seele  der  Erkenntnifs  ihrer 
Eigenschaften  und  Kräfte  entgegen?  Und 
was  für  Ursache  dazu  ?  Was  trieb  mich> 
aufser  dieser  letztern  Erkenntnifs,  noch 
jene  andre  zu  suchen?  Warum  liefs  ich 
die  ganze  Summe  aller  ihrer  Eigenschaf- 
ten und  Kräfte  nicht  für  die  ganze  Seele 
gelten?  —  Wahrlich,  ich  fürchte:   meine 

Engels  Philosoph,  L  23 


554  DIE  BILDSÄULE. 


1 


träumende  Phantasie  hat  meine  wachen- 
de Vernunft  beschämt  ;  aber  dann  hätte 
sie  ihr  zugleich  einen  wichtigen  Dienst 
gethan:  sie  hätte  sie  vor  einem  schimpf- 
lichen Irrwege  gewarnet. 

Doch  ich  will  mich  nicht  übereilen. 
Für  künftige  Mufse  will  ich  es  aufsparen, 
die  Richtigkeit  dieses  Gedankens  zu  prü- 
fen. Was  mir  jetzt  wahr  scheint,  ist  dies: 
So  weit  ich  in  der  Entwickelung  der  Kräf- 
te und  Eigenschaften  der  Seele  kam ;  eben 
so  weit  kam  ich  in  der  Erkenntnils  von 
ihrem  Wesen.  Ich  kenne  noch  nicht  ihr 
Wesen;  was  heifst  das?  Ich  habe  von  je- 
ner Entwickelung  nur  noch  einen  so  dürf- 
tigen Anfang  gemacht.  Schaute  ich  alle 
ihre  Eigenschaften  luid  Kräfte  in  ihrem  in- 
nigsten Zusanunenhange  durch  und  durch, 
so  würde  ich  eben  damit  ihr  Wesen  ken- 


DIE  BILDSÄULE.  355 

nen;  denn  die  eine  Erkenntnifs  ist  auch 
die  andre :  also  will  ich  fleifsig  in  der 
Erforschung  von  jenen  fortfahren^  und 
eben  damit  werd'  ich  zu  einer  hellem 
Erkenntnifs  von  diesem  kommen. 


j5b 

ZWEI    UND    ZWANZIGSTES    STÜCK. 

DIE  GURMETHODEN. 


JJer  Mensch  ist  von  Grund  aus  verderbt 
—  sagte  Diumnler,  mein  stiller  Nachbar^, 
und  schlug  die  Augen  gen  Himmel.  — 
Da  ist  nichts  übrige  als  dafs  er  sich  selbst 
ertödte  ;  dafs  er  ganz  neu  werde ^  eine 
ganz  andere  Creatur. 

Und  was  denn  für  eine?  —  schrie 
Drajigsturrn,  mein  wilder  Nachbar^  und 
stemmte  seine  Fäuste  in  beide  Seiten.  — 
Der  Mensch  ist  gut^  wie  er  ist,  nur  dafs 
er  zu  zahm  geworden:  Kopfhangen,  Herr, 
zeigt  ein  mattes  Herz  an,  und  je  muthi- 
ger  und  je  unbändiger,  desto  gesünder! 

Der  stille  Nachbar  gab  mir  einen  weh- 
müthig  freundlichöJi  Blick,  und  der  wildi^ 


DIE   CURMETHODEN.      357 

schlug  mich  mit  der  Faust  auf  die  Schul- 
ter. Beide  forderten  mich  auf  zu  ent 
scheiden.  —  Der  eine^  merkt  man  wohl, 
war  ein  Frömmler,  der  sich  über  den 
Menschen  härmt ,  dafs  er  kein  reiner 
Geist  ist;  der  andre  ein  Kraftgenie,  das 
in  seiner  Einfalt  den  leidenscliaftlichsten 
Menschen,  dieses  Ideal  der  Dichtkunst, 
für  das  Ideal  des  wirklichen  Charakters 
ansieht,  und  uns  nun  im  ganzen  Ernst 
darnach  umbilden  mögte. 

Sie  beide,  fing  ich  an,  halten  den 
Menschen  für  krank,  meine  Herren,  und 
ich  denke,  Sie  haben  Recht;  aber  über 
die  Art  der  Krankheit  und  über  die  Me- 
thode der  Cur  sind  Sie  nicht  eiiüg,  und 
da  kann  nur  Einer  von  Ihnen  Piecht  ha- 
ben, oder  auch  alle  beide  Unrecht.  — 
Ihr  Streit  erinnert  mich  an  eine  Geschich- 
te, die  ich  Ihnen  erzählen  könnte,   wenn 


358       DIE   CURMETHODEN. 

Sie  Lust  hätten  mich  anzuhören.  —  Sie 
waren's  beide  zufrieden. 

In  einer  Stadt  also  —  in  welcher  des 
lieben  Vaterlandes?  gilt  gleich  —  lebten 
einst  drei  vornehnre  Herren,  alle  drei 
gl^-"ch  schwach  und  gleich  krank.  Ob  sie 
der  Ceres  oder  dem  Bacchus  oder  irgend 
sonst  einer  Gottheit  zu  viel  geopfert  hat- 
ten,  oder  ob  auch  das  Gift  schon  aus 
dem  Blute  ihrer  edlen  Ahnen  in  sie  über- 
gegangen war?  kann  ich  nicht  sagen.  Ge- 
nug, es  waren  blofse  Gestalten  von  Men- 
schen. Herr  von  Schlaff  sah  aus ,  wie 
das  Fieber;  Herr  voti  Quöch,  wie  die 
Auszehrung;  und  Herr  von  Hemm ,  wie 
die  Schwindsucht. 

In  eben  dieser  Stadt  lebten  drei  vor- 
züglich berühmte  Arzte :  Doctor  Si'ifs, 
Doctor  Mark,  Doctor  SijtTt.  Die  beiden 
erstem  waren  nicht   viel  mehr   als  Empi- 


DIE   CURMETHODEN.        359 

riker  oder  Arzte  von  Hörensagen _,  und 
hatten  sehr  viel  zu  thim  ;  der  letztere 
war  ein  Mann  voller  Einsicht,  aber  es 
fehlte  an  Praxis.  Doctor  Si/Js  galt  bei 
dem  schönen  Geschlecht  und  bei  den 
Liebhabern  der  alten  Leier ;  Doctor 
Mark  machte  sein  Gluck  bei  der  Jugend 
und  bei  den  Bewunderern  des  Neuen; 
Doctor  Si/i7i  ward  von  den  Klugen  ge- 
braucht, imd  ging  zu  Fufse ;  die  andern 
beiden  aber  fuhren  in  Kutschen. 

Herr  von  ScJdaff  fiel  durch  den  Rath 
seiner  Tanten  in  die  Hände  des  Doctors 
SVifs.  Doctor  Süfs  fand  in  seinem  Kran- 
ken nichts,  als  scharfgewordne  Säfte,  die 
er  versüfsen,  schleimichte,  die  er  verdün- 
nen, und  überhaupt  nichts  als  verdorbne, 
die  er  früh  oder  spät  herausschaffen 
müfste.  Er  griff  also  frisch  zum  Werke, 
versüfste,   verdünnte,    führte    ab   und  aus 


36p       die  CURMETHODEN. 

durch  alle  Wege  und  Öfnungen  der  Na- 
tur, Morgens  nahm  Herr  von  Schlaff, 
auf  Verordnung,  eine  gute  Portion  Man- 
na; Mittags  sah  man  ihn  bei  einem  Töpf- 
phen  voll  Tamarindenmufs^  und  vor  Schla- 
fengehen nahm  er  Cremor  mit  Zucker. 
Sein  gewöhnliche?  Getränke  war  Mandel- 
milch, und  besonders  Tisane  von  süfsen 
Hölzern.  Um  die  heilsame  Ausdünstung 
zu  befördern,  lag  er  wohl  zugedeckt  zwi- 
schen Flanmbetten ;  und  aus  dem  Zim- 
mer zu  kommen,  war  ihm  bei  Strafe  der 
Apoplexie  verboten.  —  Ein  paar  Wo- 
chen vergingen,  so  war  von  dem  ganzen 
Herrn  von  Schlaff  nichts  mehr  auszufüh- 
ren, als  seine  Seele:  und  auch  die  schick- 
te der  Doctor  Süfs  mit  dem  letzten  Man- 
natränkchen  gen  Himmel. 

Herr  von   Quöch,    der  nun   awch  an- 
fing auf  seine  Cur   zu   denken,   liefs   sich 


DIE  CURMETHODEN.        Z^x 

durch  dieses  Beispiel  warnen^  luid  setzte 
sein  Vertrauen  auf  die  Methode  des  Doc- 
tors  Mark.  Doctor  Mark  dachte  an  kei- 
ne Reinigung  seines  Kranken;  er  schüt- 
telte nur  den  Kopf  über  die  Schwachheit 
des  Pulses^  und  verordnete  Stärkungsmit- 
tel. Alle  Morgen  tauchte  er  ihn  bis  über 
den  Kopf  in  ein  Stahlbad  ;  Quassia  mit 
spanischem  Weine  trat  an  die  Stelle  des 
Thees^  und  roher  Schinken  mit  einem 
Schnitte  Pumpernickel  an  die  Stelle  des 
Frühstücks.  Hart  vor  dem  Essen  ward 
ein  Schluck  bittrer  Magenessenz  genom- 
men, und  vor  Schlafengehen  verschlang 
Herr  von  Quöch  noch  eine  derbe  Portion 
China,  nicht  in  Extract_,  sondern  in  Sub- 
stanz. Das  Lager  war  eine  harte  Matraz- 
ze,  mit  Pferdehaaren  gestopft,  und  das 
Oberbette  eine  ganz  leichte  dünne  Decke, 
mit  Baumwolle  durchnäht.     Auf  diese  Art. 


563       DIE   CÜRMETHODEN. 

glaubte  Doctor  Mark^,  müfste  aus  seinem 
Kranken^  so  schwach  er  jetzt  wäre^  noch 
ein  Mann  wie  ein  Herkules  werden.  So 
etwas  ward  denn  auch  wirklich  aus  ihm; 
aber  ein  Herkules  auf  dem  Oeta:  denn 
der  zu  gestärkte  Herr  von  Quöch  fiel 
plötzlich  in  eine  Ptaserei,  worin  er  ein 
geladenes  Pistol  erhaschte,,  und  sich  über 
dem  rechten  Auge  eine  Kugel  durch  den 
Kopf  schofs.  —  Seine  China  hatt'  er  noch 
eingenommen;  Emilia  Galotti  lag  auf  dem 
Pulte  aufgeschlagen. 

Durch  beide  Beispiele  gewitzigt^  wand- 
te sich  nun  Herr  von  Hemm  an  den  de- 
müthigen  Fufsgänger^  den  Doctor  Sinji. 
Doctor  Sinn  sah  gar  bald^  wo  es  fehlte. 
Die  festen  Theile^,  sagte  er^,  sind  ge- 
schwächt, und  die  Säfte  übel  gemischt: 
Herr  von  Hemm  hat  nur  immer  genos- 
sen und  nichts   gethan  ;    er  hat  gewisse 


DIE   GURMETHODEN.       363 

Kräfte  der  Natur  zu  viel  und  andre  zu 
wenig  geübt.  Ihn  so  auf  einmal  reini- 
gen wollen,  das  hiefse  bei  seiner  Schwach- 
heit ihn  über  den  Haufen  werfen  ;  und 
ihn  unmittelbar  stärken  wollen^  das  hiefse 
bei  der  schlechten  Beschaffenheit  seiner 
Säfte,  das  Übel  noch  fester  binden.  Ich 
sehe  wohl,  ich  mufs  auf  beides  zugleich 
bedacht  seyn,  und  vor  Allem  mufs  mein 
Kranker  sich  gelinde  Bewegung  machen 
und  gute  Diät  halten.  Jenes  wird  nach 
und  nach  den  geschwächten  Fibern  ihren 
Ton,  und  dieses  den  verderbten  Säften 
ihre  gehörige  Mischung  wiedergeben.  — 
Zum  guten  Glück  war  Herr  von  Hemm 
seinem  Arzte  folgsam;  er  hielt  die  ihm 
vorgeschriebene  Diät,  machte  sich  die 
ihm  empfohlne  Bewegung  :  und  so  lebt 
er  noch  jetzt;  nicht  zwai'  von  allen  An- 
fällen frei,  aber  im  Ganzen  denn  doch 
gesund  und  zufrieden.  — -  — »- 


564       DIE  CURiVIETHODEJV. 

Da  sieht  man  Gottes  Gnade !  sagte 
der  stille  Nachbar;  denn  der  mufste  doch 
allein  das  Gedeihen  geben.  —  Ja,  das 
gab  er  auch,  sagte  der  välde;  denn  er 
gab  dem  Doctor  Verstand  ins  Hirn,  dal's 
er  von  keiner  Ertödtung  und  keiner  neuen 
Creatur  phantasirte.  —  So  ging  der  alte 
Streit  wieder  an:  der  eine  behauptete, 
dafs  die  Natur  grund verderbt,  der  andre, 
dafs  sie  sehr  gut  sei :  jener  wollte  sie 
nichts  als  reiner,  dieser  sie  nichts  als  stär- 
ker haben.  An  die  Anwendung  meines 
Geschichtchens  ward  nicht  gedacht;  und 
ich  sah  zu  spät,  dafs  es  gleich  vergebli- 
che Arbeit  ist,  Mohren  zu  waschen,  und 
Leute  die  einmal  Partei  genommen,  auf 
andre  Gedanken  zu  bringen. 


ZUSATZ. 


VV  as  sich  die  Verfasser  dieser  Schrift 
bei  der  Wahl  des  Titels  gedacht  haben, 
das  wird  sich  durch  die  Schrift  selbst  am 
besten  zeigen.  —  Unter  einem  Fhiloso^ 
pheriy  scheinen  sie  überhaupt  einen  Mann 
zu  verstehen,  der  irgend  eine  zur  Philo- 
sophie gehörige  oder  philosophisch  be- 
handelte Wahrheit  vorträgt :  gleichviel 
welche?  oder  in  welcher  Gestalt  ?  und 
imter  der  TVelt,  das  ganze  gemengte  Pu- 
blicum, wo  der  Eine  mehr  für  diese,  der 
Andre  mehr  für  jene  Gegenstände  ist, 
der  £ine  mehr  diesen,  der  Andre  mehr 
jenen  Ton  liebt.  —  Das  Einzige  war  da- 
bei zu  beobachten,  dafs  nichts  mit  unter- 
liefe, was  für  irgend  einen  der  schon,  zu 


566  Z  U  S  A  T  Z. 

dem  feinern  gebildetem  Theile  des  Pu- 
blicums  gehört,  ganz  unverständlich  oder 
ganz  ohne  Reiz  wäre. 

Wenn  jede  bessere  Kritik  über  thea- 
tralische Werke  Philosophie  über  den 
Menschen  enthalten  muls,  so  konnten  die 
Briefe  über  Eniilia  Galotti  hier  nicht 
am  unrechten  Platze  stehen,  sobald  sie 
nur  sonst  ihres  Platzes  werth  waren. 
Dieses  aber  schienen  sie  doch  immer  zu 
seyn,  und  werden  es  vielleicht  in  der 
Folge  noch  mehr  scheinen,  so  viel  auch 
noch  Erinnerungen  und  Einwendungen 
Statt  finden  mügten.  Gegen  den  dritten 
Brief  habe  ich  selbst  eine  auf  meinem 
Herzen ,  die  ich  mich  nicht  enthalten 
kann  herzusetzen.  • 

Es  ist  offenbar,  dünkt  mich,  dafs  der 
Verfasser  in  dem  Charakter  der  Emilie 
einen  sehr    wesentlichen  Zug    übersehen 


ZUSATZ.  3Ö7 

habe.  Er  scheint  ihre  ganze  anfängliche 
Schüchternheit  aus  dem  Umstände  herzu- 
leiten: dafs  sie  an  heiliger  Stätte  in  den 
Verrichtungen  ihrer  Andacht  durch  etwas 
so  Ungeziemendes,  als  ein  Liebesantrag, 
gestört  worden;  und  das  zwar  von  einem 
Manne,  der  so  viel  zu  bedeuten  hat,  und 
wenn  er  Ernst  macht,  so  gefährlich  ist, 
als  der  Prinz.  Aber  eigentlich  entsteht 
wohl  diese  so  grofse  Schüchternheit  aus 
dem  Bewufstsein,  wie  wenig  sie  sich  selbst 
bei  dem  Prinzen  zu  trauen  habe.  Dieses 
erklärt  sich  schon  Anfangs,  ehe  sie  es  in 
der  letzten  Scene  mit  ihrem  Vater  ziem- 
lich deutlich  sagt,  dmxh  einige  Züge,  die 
zwar  freilich,  weil  sie  in  Emiliens  eignen 
Reden  liegen,  sehr  fein  sind;  besonders 
aber  erklärt  es  sich,  wenn  man  Acht  giebt, 
durch  ihr  Verhalten  nach  dem  Tode  des 
Grafen,      Immer   ist   ihr   erster   Gedanke 


SbS  ZUSATZ. 

auf  ihre  Mutter^  der  zweite  auf  den  Gra- 
fen gerichtet.  Was  sie  für  diesen  em- 
pfindet^ scheint  mehr  Hochachtung  und 
Freundschaft  zu  seyn;  als  Liebe;  sie  scheint 
ihm  mehr  aus  Gehorsam  gegen  den  Wil- 
len ihres  Vaters^  als  aus  eigner  Wahl  ihre 
Hand  zu  geben.  Ihr  Herz  hat  heimlich 
der  Prinz;  aber  sie  wagt  es  bei  ihrer  Tu- 
gend imd  Frömmigkeit  nicht,  diese  straf- 
bare Neigung  zu  nähren;  sie  kämpft  ihr 
vielmehr  aus  allen  Kräften  entgegen,,  und 
fürchtet  und  vermeidet  den  Anblick  des- 
sen, der  diese  Neigung  in  ihr  erweckt 
hat.  Eben  hieraus  mm  erklärt  sich  die 
Furcht  vor  Verführung,  die  Emilie  in  der 
letzten  Scene  mit  ihrem  Vater  äufsert. 
Es  ist  völlig  eben  die  Furcht,  die  sie  An- 
fangs, da  sie  den  Prinzen  in  der  Messe 
sprach,   luid  nachher  da  sie  ihn  in  Dosa- 

lo 


ZUSATZ.  369 

lo  nnvermuthet  wiedersah,  50  schüchtern^ 
so  ängstlich  machte.  — 

Um  dem  Verfasser  der  Briefe  nicht 
Unrecht  zu  thun,  will  ich  auch  das  hier 
anfuhren^  was  ihm  zu  seiner  Entschuldi- 
gung übrig  bleibt.  Die  Worte  der  Clau- 
dia im  vierten  Act  *),  kann  er  sagen, 
haben  mich  bei  der  Beurtheilung  dieses 
Charakters  irre  geführt.  Auch  ist  keine 
Rede  der  Emilie,  die  sich  nicht  so  ver- 
stehen liefse  wie  ich  sie  verstanden  habe. 
Die  Züge  wodurch  sie  ihr  Herz  verräth, 
sind  zu  fein,  und  werden  zum  Theil  da- 
durch noch  zweideutiger,  weil  der  Lieb- 
haber ein  Prinz  ist,  gegen  den  sie  sich 
aus  einem  weit  allgemeinern  Grunde  so 
schüchtern  zeigen  könnte,  als  weil  sie 
ihn  liebt.  Gleichwohl  ist  dieser  Umstand 
im  Charakter  so  wichtig,  und  hat  auf  die 

•)  M  an  s.  oben  S.  i5g. 
Engels  Philosohpf  I.  24 


S70  Z  U  S  A  T  Z. 

Hauptscene  des  Stucks  einen  so  grofsen 
Einflufs^  dafs  er  wohl  durch  mehr  und 
durch  bestimmtere  Züge  hätte  sollen  her- 
ausgehoben werden.  In  Nebensachen  er- 
läfst  man  dem  Dichter  eine  zu  ängstliche 
Vorbereitung,  eine  zu  umständliche  Ent- 
wickelung  gern  ;  aber  über  einen  so  we- 
sentlichen und  zur  Einsicht  ins  Ganze  so 
unentbehrlichen  Punct,  sollte  er  völlig 
bestimmt  seyn.  Man  bedenke  ferner,  dafs 
Emilie  ihren  Grafen  ^  als  einen  sehr  wür- 
digen Mann  und  als  den  Liebling  ilires 
Vaters,  doch  immer  sehr  hochachtet;  dafs 
er  als  Freund  und  als  künftiger  Gemahl, 
gegen  den  sie  wenigstens  nicht  den  min- 
desten Widerwillen,  vielmehr  das  Gegen- 
theil  zu  erkennen  giebt,  auch  Antheil  an 
ihrer  Zärtlichkeit  haben  mufs;  dafs  ihre 
Liebe  gegen  den  Prinzen  eine  noch  ganz 
unentwickelte,  noch  gar  nicht  zur  Reife 


ZUSATZ.  371 

gediehene  Leidenschaft  ist ;  dafs  die  That, 
derentwegen  sie  ihn  in  Verdacht  hat,  auch 
wenn  sie  einen  gleichgültigem  Mann  be- 
träfe, ihn  äufserst  verabscheuungs würdig 
zeigt;  dafs  endlich  die  Absicht  bei  dieser 
That,  die  sie  nur  allzuwohl  verr.iuthet, 
ihr  die  schändlichste  Art  von  Liebe  zu 
erkennen  giebt,  die  ein  so  frommes  und 
sittsames  Mädchen  eher  empören,  als  ein- 
nehmen kann.  Sollte  nicht  immer  der 
Einwurf  noch  gültig  bleiben,  dals  Emilie, 
so  frisch  nach  der  Entdeckung  dieser  That, 
an  keine  Möglichkeit  der  Verführung  den- 
ken dürfe?  —  Ich  überlasse  die  Entschei- 
dung dem  Leser,  wer  bei  diesen  Grün- 
den und  Gegengründen  das  meiste  Recht 
haben  mag;  ob  der  Verfasser  der  Briefe 
oder  der  Dichter? 

n.  H, 

ENDE  DES  ERSTEN  BANDES, 


Berlin. 
Gedruckt  bei  Johann  Friedrich  Unger. 


J