J. G. W^sselhceft, »
BOOKSELLER AND IMPORTER
GERMAN BOOKS.
« No. 124, North Second Street,
g PHILADELPHIA.
BOSTON PUBLIC LIBRARY
The giß of
Samuel Perry
May 1985.
■ » » «
w
W^tr.-
0
DER
PHILOSOPH
FÜR DIE WEL T.
HERAUSGEGEBEN
VON
J. J. ENGEL.
ERSTER THEIL.
Neue vermehrte und verbesserte Ausgabe.
BERLIN, ißoi.
Ix DER MyliUSSISCHEN BUCHHANDLUNG,
PTie5S,.£TP5 m hccSt-~\lHC\'
HERRN ASSESSOR
DAVID FRIEDLÄNDER
IN BERLIN
MEINEM EDLEN FREUNDE
GEWIDMET
— — — edel im Buche der
Grofsen Götter , bhglcich nicht auf der Rolle dei
Censor». — a- ,*» _
Ramler.
NACHRICHT
DER VERLAGSHANDLUNG.
J.n der ersten Aussähe, erschien der Erste Theil
des Philosophen für die Welt im J. 1775, und
der Zweite 1777. Die zweite Auflage dieser bei-
den Theile erfolgte 1787. Der Dritte Theil
kam 1800 heraus. Die gegenwärtige Ausgabe
von zwei Bänden begreift was jene drei Theile
enthielten: aber in einer etwas andern Folge,
und nicht blofs verbessert, sondern auch mit ei-
nem neuen Aufsatze (dem vorletzten) vermehrt;
wogegen das von einem Ungenannten frei be-
arbeitete Stück: »Der arme Jakob, der genug
hat,« weggelassen ist, weil es anitzt, und voll-
Ständiger, in Franklins Kleinen Schriften über-
setzt steht.
INHALT
DES ERSTEN BANDES.
Erstes Stück: Die Göttinnen. . . Seite 3
Zweites Stück: Aus einem Briefe, über
die Leiden des jungen Werther,
Von Hrn Professor Gan>e. ... 26
Drittes Stück: Die Höhle auf Antiparos.
Von der Gefahr gewisser Lectu-
ren für gewisse Leser ^i
Viertes Stück: Bayle an Shaftesbury,
Von Hrn Professor Elferhard. . . 67
Fünftes Stück : Shaftesbury an Bayle.
Von Hm Professor Eberhard. , Seite 74
Sechstes Stück: Tobias Witt 87
Siebentes Stück : Die Elche und die Ei-
chel. Ein Gpspriich über Hrn Du-
tens Buch wVon dem Ursprünge
M der Entdeckungen die den Neu-
n ein zugeschrieben werden. « , . gg
Achtes Stück: Erster Brief an Hrn Bu-
tens. ..,,...... ii5
Neuntes Stück: Zweiter Brief an Hrn
Dutens 126
Zehntes Stück': Utier EmiHa Galotti ;
erster Brief. 137
Eilftes Stück: Zweiter Brief. .... i5l
Zwöh\es Stück: Dritter Brief. ... 166
Dreizehntes Stück: Vierter Brief. . . 173
vierzehntes Stück: Hylas und Philonous.
Von Hrn Moses Mendelssohn, . Seite 2o5
Fünfzehntes Stück: Der Bienenkorb. . üi^
Sechzehntes Stück: Traum des Galllei,
Oder: von den Freuden der Er-
kenntnifs ßSg
Siebzehntes Stück: Das Weihnachtge-
schenk. Von Hrn Professor Garve, aSg
Achtzehntes Stück : Der Habicht. Ein
Gespräch über die Einführung der
Raubthlere in die Natur. . . , a66
Neunzehntes Stück : Proben Rabbini-
scher Weisheit. Von Hrn Moses
Mendelssohn 29*5
Zwanzigstes Stück: Fortsetzung der Pro-
ben Rabbinischer Weisheit. Von
Hrn Assessor Friedländer. , , . 5l5
^in und zwanzigstes Stück : Die Bild-
säule Seite 335
Zwei und zwanzigstes Stückt Die Cur-
methoden 356
Zusatö des Herausgebers. ..... 365
£RST££
DER
P H I I. O S O P H
FÜPt DIE WEL1\
ERSTER T H E I L.
Engels Philosoph, I.
C»OiO»C»0<OOlOiO>0«300000»aOOOOCii
ERSTES STUCK.
DIE GÖTTINNEN.
JL/ie Göttinnen der Weisheit und der
Liebe lebten in steter Uneinigkeit. Beide
wünschten ihre Herrschaft über den gan-
zen Erdboden auszubreiten: aber wer der
einen opferte, kam nicht leicht zu den
Altären der andern; erst mufste er des
Dienstes der Venus überdrüfsig seyn, ehe
er sie verliefs und sich dem Dienste Mi-
nervens weihte. Nur hie und da fand
sich ein Sterblicher, der seine Opfer un-
parteiisch zwischen beiden theilte: und
dieser war immer, nach dem eignen ge»
4 DIE GOTTINNEN,
heimen Urtheile Minervens , der weiseste.
Jede der Göttinnen hatte Hoffnung ihn
ganz zu gewinnen, und jede überschüttete
ihn daher mit ihren süfsesten Wohlthaten
und ihrem schönsten Segen.
Indessen kam die Eifersucht beider
Göttinnen nur selten zum Ausbruch. Sie
fürchteten, Vater Jupitern zu beleidigen,
der immer zu ihren Streitigkeiten seine
ehrwürdige Stirne runzelte. Anf der ei-
nen Seite war Minerva die Tochter sei-
nes Hauptes, und gegen solche Kinder
ist die Li-ebe sehr zärtli<;h; auf der an-
dern, hatte er auch der Yenus grofse
Verbindlichkeiten. Sie hatte ihm so man-
che selige Schäferstunde verschafft, worin
er seiner Majestät vergafs, und sich für
die vielen Sorgen seiner Regierung eben
so belohnte, wie sich noch unter uns die
Götter der Erde belohnen. Was für ei-
DIE GOTTINNEN. ~ 5
nein erhabnem Beispiele könnten sie aiicii
folgen^ als dem Beispiele Jupiters? —
Gemeiniglich blieb es also zwischen
beiden Göttinnen bei Blicken ;, bei Iro-
nieen^ bei Anspielungen; kurz ^ bei dem
ganzen kleinen Nadelgefechte;, womit sich
die Damen oft schmerzhaftere Wunden
zu ritzen pflegen^ als die Männer sich
schlagen. Die Göttinn von Cythere fuhr
dabei noch am besten, Minerva vrar zu
ernsthaft^ um nicht bald aus dem mun-
tern in den philosophirenden Ton zu fal-
len: und wenn dann über ihre Soriten
Apollo gähnte^ dafs ihm von der Be-
wegung der Lorbeer um seine Schläfe
rauschte; wenn Bacchus, zurück gelehnt
an einer der Säulen des Göttersaals, mit
vorgestrecktem Bauch und beide Arme
herabhangend, über das ganze Gemach
liinwegschnarchte ; wenn selbst der Adler
6 DIE GOTTINNEIV.
Jupiters, auf der Spitze des göttlichen
Zepters in jener süfsen und malerischen
Stellung schlummerte, worin ihn Pindar
beschreibt: so fmg auf einmal die sorg-
lose Venus an, mit ihrem Buben zu tän-
deln, oder warf sich wohl gar auf ihren
berufsten Vulkan, an den sie so viel
Liebkosungen verschwendete, ihm so viel
süfse Thorheiten vorsagte, so oft den
ambrosischen Kufs auf seine Wangen und
Lippen drückte, dafs Alles wieder leben-
dig Ward, und vollends kein Gott mehr
auf die Weisheit Minervens hörte. Oft
wollten Alle vor Lachen über den guten
Ehemann ersticken, der alle diese Schmei-
cheleien für baare Münze nahm, und sich
vor Freude und Zärtlichkeit nicht zu las-
sen wufste. — Auftritte dieser Art gin-
gen immer der guten Minerva bis an die
Seele; und nur gar zu gern hätte sie
DIE Gt)TTINNEN.
oft die gröfsten Bitterkeiten ausgeströmt^
wenn sie nicht noch zu rechter Zeit sich
erinnert hätte dafs sie die Göttinn der
.Weisheit wäre.
Liebes Kind^ zischelte oft Jupiter sei-
ner Tochter ins Ohr: ich dächte^ es soll-
te dein Vortheil seyn, wenn du mit der
von Cythere Freundschaft hieltest. — Mi-
nerva selbst sah das ein; aber sie war
auf. einer zu empfindlichen Seite ange-
griffen, und ward es noch täglich. Die
Eifersucht war eine unheilbare Wimde
ihres Herzens geworden. Alle Welt dräng-
te sich in lautem Getümmel- zu den Al-
tären der Venus; ihr wurden immer die
ersten, die schönsten Früchte geopfert:
zu den Altären Minervens kamen nur die,
die nicht genug mehr übrig hatten um
sich der Venus Gunst zu versprechen;
und so bekam die gute Tochter Jupiters
8 DIE GOTTINNEN.
nur das, was übrig blieb und was abfiel.
Um jene Altäre sah man dichte Gruppen
blühender Jünglinge und lächelnder Mäd-
chen: es war an ihren Festen das leben-
digste Gewühl um sie her ; im Heilig-
thume Minervens standen nur sparsame
Gruppen kraftloser Greise und welker
Matronen, die mühsam an ihren Stäben
herzuschlichen, statt Opfer Weihrauch
brachten, und ihrem Reiche nur noch
wenig Dienste versprachen. Selten fand
sich ein Jüngling, und noch weit seltner
ein Mädchen. — Kam einst von der
Liebe, aus Verdrufs nicht erhört zu seyn,
ein Mann oder ein Jüngling zu der Weis-
heit herüber; so war es mit unwillig lang-
samen Schritt, und immer den Blick mehr
hinterwärts als vorwärts gerichtet. Auch
fehlte es selten, dals er nicht., auf halbem
Wege wieder umgekehrt wäre. Nur ein
DIE GOTTINNEN. ^
einziges flüchtiges Lächeln, das die Göt-
tinn ihm nachschickte; so war aller Un-
wille aus seiner Brust verschwunden, und
er eilte nur desto brunstiger wieder zu-
rück. Ja selbst unter den abgelebtesten
Greisen waren nur wenige, die der Mi-
nerva von Grund ihres Heizens dienten.
•Die meisten forderten ihre Gunstbezeu-
gungen nur, um doch Etwas zu haben,
da sie das nicht mehr haben konnten
was sie sonst freilich am liebsten gehabt
hätten.
Einst, da sich Minerva, beim einsa-
men Schimmer des Mondes, zu dem ge-
liebtesten ihrer Lieblinge herabliefs, um
ihn piit ihren geheimen Einflüssen zu be-
günstigen, tmd sein innres Auge zum se-
ligen Anschauen der intellectuellen Schön-
heit zu öffnen, fand sie ihren Platz schon
von der Göttinn der Liebe eingenom-'
IQ DIE GOTTINNEN.
raenf und den ernsthaften Weisen mitten
in dem noch seligem Anschauen einer
sinnlichen Schönheit begriffen. Dieser
neue Triumph ihrer Feindinn war allzu
kränkend, als dafs sie ihn so im Stillen
hätte verschmerzen sollen. Sie verfolgte
von diesem Augenblick an die gute Ve-
nus mit den kränkendsten Anmerkungen,
und fand bei den entferntesten Veranlas-
sungen Übergänge zu Bitterkeiten.
Jupiter, auf den Frieden in seinem
Olymp bedacht^ glaubte Minerva durch
einen zornigen Blick zu zugein, den er
unter einer gerunzelten Stirne und
schrecklich zusammengezogenen Augen-
braunen hervorschofs ; aber umsonst l
Endlich warf er in einem unwilligen To-
ne die Anmerkung hin, die er für eine
Göttinn der Weisheit hinlänglich glaubte,
dafs Neckereien dieser Art einer Gottheit
nicht anständig wären.
DIE GÖTTINNEN. ii
O Jupiter ! rief Minerva aus, indem
sie mit dem Gespräche zur Seite ab-
sprang; sage mir; was ist eine Gottheit?
Ich bin schon längst in meinem Begriff
davon irre geworden. Es giebt ihrer,
deren Tempel bis an die Wolken rei-
chen, deren Altäre von einer Sonne zur
andern nicht aufhören zu glühen, vor
deren Bildsäulen die Nationen gebückt
liegen, und denen doch gerade das erste
Kennzeichen der Gottheit fehlt. — Ein
bedeutender Blick, auf die Göttinn der
Liebe geworfen, verpflichtete diese, zu
antworten.
Das erste Kennzeichen der Gottheit?
— Ich habe nie tief gedacht, Madame.
,Was ist das?
Wie ! was das ist ? — Wenn der
Mensch fragt: wer bin ich? so behauptet
er »einen Vorzug über den Wurm. Wenn
12 DIE GOTTINNEN.
e^e Göitinn so fragt, so sinkt sie zur
Menschheit hinab. — Die Wohlthätigkeit
ist es. Die Sorge für das Heil der Sterb-
lichen, die wir beherrschen.
Und die Gottheit, der dies Kennzei-
cheji fehlt? Darf ich bitten? —
Sehr gerne ! Eine beschämende Ant-
wort gehört auf eine vorwitzige Frage. —
Diese Gottheit sind Sie.
Ich? lächelte Venus, und sah mit der
freien Miene eines reinen Gewissens durch
den ganzen Zirkel umher.
Wer sonst, Madame ? — ■ Wenn die
Stimme des Jammers die zum Olymp
dringt,, die Stimme des Jubels so w^eit
übertönt, dafs oft Jupiter selbst in sei-
nem innersten Gemache nicht ruhen kann,
und den Himmel mitten in seinem Him-
mel vermXst: wer sonst ist Ursache, als
Sie? — Es ist die Stimme derer, die Sie
imglücklich machten.
DIE GOTTINNEN. 15
Wie, Madame ? wofür nehmen Sie
doch die Seufzer der Liebhaber! — Glau-
ben Sie mir : in den klagendsten Sätzen
eines Adagio liegt oft mehr und tiefer
gefühlte Wollust;, als in den feurigsten
eines Allegro. — Ich; ich sollte unglück-
lich machen? Fragen Sie doch meine
Freunde, die Dichter !
Ihre Freunde, die Dichter — ^ was darf
ich Ihnen mehr sagen ? — sind Dichter.
Ai-raer Apoll! lispelte Venus.
W^rum das? — Ihr Kunstgriff sich
eine Partei zu machen, ist sehr unglück-
lich, Madame; Wenn die hohe, edle Be-
geisterung Apolls einen Dichter hebt,
dann tönt sein Gesang von Göttern und
Weisen' und Helden; aber die Sänger der
Liebe sind auch diö Sänger des Weins,
und schöpfen ihre Begeisterung aus dem
Kelche des Bacchus,
14 DIE GOTTINNEN,
Ha! rief der sorglose Bacchus^ und
reichte seinen Becher dem Ganymed, ihn
noch einmal zu füllen.
Aber Venus stand auf^ und hüpfte ge-
rade zum Jupiter. — Lieber Vater! fing
sie an, mit jener freundlichen Holdselig-
keit, die jeden Verdrufs verscheucht und
jede Sorge hinwegschm.elzt ; und dann
streichelte sie seine Wangen, dafs die
kleinste Runzel von seiner Stirne schwand,
und die ernsthafte Juno vor eifersüchti-.
gem Zorne glühte. Lieber Vater! rief
sie noch einmal: du mufst es wissen; du
kennst mich. Ist es wahr, dafs ich un-
glücklich mache?
Die Verlegenheit des guten Gottes
war unbeschreiblich, mid Juno knirschte
vor Wuth. Demi so feind sie auch den
Ausschweifungen ihres Gemahls war, so
sehr hafste sie doch alle Anspielungen
DIE GÖTTINNEN, i^
darauf; sie mufsten denn von ihr selbst,
zwischen den stummen Vorhängen ihres
geheiligten Torus, kommen.
Aber, fing endlich nach einigem Stot-
tern der Vater der Götter an: vyas zankt
Ihr denn immer^ Ihr Kinder? Wenn
Wohlthätigkeit, wie Minerva sagte, das
Kennzeichen der Gottheit ist, so dürft
Ihr euch nur versöhnen, um beide mehr
Gottheiten zu seyn. Apoll hat euch das
so oft schon gerathen, und ich so oft
eücK befohlen. — Macht einen ewigen
Bund mit einander! und die Sterblichen
werden nicht erst über den Kocyt dür-
fen um ein Elysium zu finden; es wird
ihnen an seinen beiden Ufern blühen. —
Pu, Minerv^a, bist allzustrenge, und du,
Venus, zu leichtsinnig.
Allzustrenge? sagte Minerva-; und bat
die Juno lim ihre Iris, die ihr gerne be-
i6 DIE GOTTINNEN.
williget waifd. Sie sagte ihr einige Wor-
te ins Ohr^ und Iris schofs auf ihrem far^
bigen Bogen zur Erde. — Ich erbiete
mich zu jenem ewigen Bunde > Jupiter,
den du mir anträgst; aber nur Geduld!
und du selbst magst dann richten»
In wenig Augenblicken kam Iris zu*
rück_, und brachte eine Gestalt mit sich,
die den ganzen Himmel in Erstaunen
setzte. Es war kein Mensch mehr; es
War nur die unvollkommne Idee eines
Menschen: ein abgelebter, bleicher, zit-
ternder Greis, in den Jahren der Jugend.
Seine Augen, worin der letzte Funke
Feuers erloschen war, lagen tief in ihren
Höhlen; sein Nacken war krumm und
gebückt, und seine Stimme keuchend,
wie eines Nestor.
Da seht! rief Minerva. Seht die Won-
ne, die Glückseligkeit, womit die Göttinn
von
DIE GÖTTINNEN. 17
von Cythere ihren Anbetern lohnt ! Und
solcher Elenden ist der ganze Erdboden
voll. Ihr haltet sie für die Göttinn des
Lebens? Ihr irrt euch. Sie steht mit den
Göttern des Todes in Bundnifs. Und
wenn oft die unerbittlichen Parcen, we-
niger grausam als sie^ den Faden des
Lebens noch kaum zur Hälfte vollendet
haben," so ist sie es^ die mit der tödtli-
chen Scheere hinzutritt und ihn lächajüid
zerschneidet.
Alle Götter und Göttinnen — .denn
allen liegt die Wohlfahrt der Menschen
am Herzen — wurden über diesen An-
blick erbittert. Jupiter schüttelte sein
Haupt_, dafs der himmlische Pallast durch
alle Gemächer erbebte. Es war kein
Mund, der nicht Tadel murmelte^ und
selbst der menschenwürgende Mars fluch-
te in seiner Wuth alle Ströme der Hölle
Engels Philosoph, I. ^
iS DIE GOTTINNEN.
zusammen. Indefs safs die Göttinn von
Cythere da, als wollte sie durch den
krystallnen Boden des Himmels bis hin-
ab in die tiefsten Abgründe am Kauka-
sus sinken: nur dann und wann erhob
sie ein schüchternes Auge, das Verzei-
hung zu fordern und Besserung zu gelo-
ben schien.
Aber schon hatte sie heimlich, sobald
silw*Minervens Absicht errieth, dem Mer-
cur einen Wink gegeben, der ihn augen-
blicklich verstand, und schnell, als ob er
vom ersten der Götter käme, zu voll-
strecken eilte. Es war bewundernswür-
dig, aber der ganze Himmel stand der
kleinen süfslächelnden Cytherea zu Ge-
bote. Sie war mehr Königinn des Olymps,
als Jupiter selbst. Alles liebte sie, und
alles richtete ihr gern einen Gefallen aus;
die Götter offenbar, und die Göttinnen
heimlich.
DIE GOTTINNEN. 19
Jetzt hatte Minerva wieder das Wort
genommen^ und stand eben in der Mitte
einer der gründlichsten Abhandlungen —
gründlicher, als sie je ein Mitglied vor
der französischen Akademie eines deut-
schen Königs verlas — worin sie mit
gröfster Scharfsinnigkeit zeigte, was wah-
re Freude und wahre Glückseligkeit sei?
und mit den triftigsten Beweisgründen
darthat, dafs alles was die Göttinn der
Liebe den Sterblichen anböte, nichts als
Scheingüter wären, nichts, als eitle, hin-
fällige, sinnliche, thierische, thörichte
Und hier kam Mercur wieder zurück,
— Ein neues Gespenst? riefen die Göt-
ter. Hatten wir nicht schon an dem An-
blick des Einen zu viel? Schafft sie hin-
aus! schafft sie hinaus! oder wollt Ihr
den Himmel zu einem Orcus machen?
O Mercur! seufzte Venus, als ob sie
20 DIE GÖTTINNEN.
ihre Beschämung nicht länger ertragen
könnte: mufst denn auch du_, Mercur —
Wie^ Madame? Was, tun aller Götter
willen! geht dies Gerippe hier Sie an?
Schämen Sie Sich_, wenn Sie wollen, für
jenes! Für dieses hier lassen Sie sich Mi-
nerva schämen !
Minerva? fuhr Venus auf, ihre ganze
Heiterkeit wieder auf ihren Wangen, in-
defs der Göttinn der Weisheit die Worte
im Munde erstarben. — Aber beim Ju-
piter, ja! das ist kein Liebhaber; das ist
ein Weiser. — Armes Geschöpf! Lafs
mich dich ansehn! Du blinzeist? Kann
dich dieses sanfte, reine, liebliche Licht
des Himmels blenden? Sind deine Seh-
nerven so schwach? —
O Göttinn ! Und meme Gehörnerven
noch schwächer. Rede leiser mit mir!
denn deine Stimme ertönt mir, gleich
der Donnerstimme des Jupitex,
DIE GOTTINNEN.
211
Ist es möglich? Und doch ist meine
Stimme^, wie alle Götter sagen, die sanf-
teste im Olympus. — Du zitterst P Dich
schaudert? Fühlst du denn nicht den Ein-
flufs dieses holden^ ewigen Frühlings?
Wie könnt' Ich, Göttinn? Der erwär-
mende Saft des Lebens ist in allen mei-
nen Gefäfsen vertrocknet. —
Unbegreifliche Schwäche! Reich ihm
doch einen Becher -Weins, Ganymed!
O nein, Göttinn I nein! Auf die Stär-
kung eines Augenblicks w^ürde nur eine
desto tödtlichere Mattigkeit folgen. —
Nun, Madame? — indem sich Venus
wieder zu der ganz verwirrten Minerva
#andte: — jene Farbe, und diese Farbe;
jene Wangen, -und diese Wangen ; jene
Ohnmacht, und diese Ohnmacht
Ist's denn meine Schuld, rief Minerva
mit höhnischaufgezogener Oberlippe, dafs
22 DIE GÖTTINNEN.
dieser Thor sich mit meinen Wohlthaten
überfüllt hat?
Und ist es meine, erwiederte Venus,
wenn auch jener, im Genüsse der meini-
gen, keine Gränzen kannte?
Schamlose Vergleichung I sagte Mi-
nerva.
Warum das? —
Wenn es um und um kommt, so hat
doch der meinige zu dem edelsten End-
zwecke gearbeitet. Er hat gesucht, die
Menschen zm- Weisheit und Tugend zu
bilden.
Und der meinige, die Menschen selbst
in bilden, die jener
Ein plötzlicher Aufruhr im Olymp ufi*
terbrach sie. Alle weibliche Gottheiten,
selbst die alte grofsmutterliclre Ceres, ver-
steckten das Gesicht hinter den Händen,
und murmelten einander ihren Unwillen
DIE GOTTINNEN. 23
über die Schamlosigkeit ihr^r Mitgöttinn
zu. Aber Jupiter befahl dem Mercur,
beide Gerippe hinauszuschaffen, deren
Anblick ihm die Freude seines Himmels
verderbte. Nimm sie nur gleich mit zum
Styx, sprach er: denn warum willst du
dir einen doppelten Gang machen? Pluto
nimmt sie sicher für Schatten!
Und dann wandte er sich mit folgen-
der Rede an die Göttinnen der Weisheit
und der Liebe: Sehet da die Folgen eu-
rer Uneinigkeit ! Sehet da die Früchte
€iu*er ausschliefsenden Herrschsucht! Wir
alle, so viel unser sind, sollten billig nur
Einen Tempel und nur Einen Altar ha-
ben. Denn weder für die Wollüste des
Geistes, noch für die Wollüste des Kör-
pers ist der Mensch allein geschaffen; in
beiden stürzt Übermaals ihn ins Elend.
So wie der äufsere Mensch ohne unsre
24 DIE GÖTTINNEN.
vereinigten Wohlthaten , ohne meinen
Äther, und ohne deine Luft, o Juno, und
ohne deine Wasser, Neptun, und ohne
deine Garben, o Ceres, und ohne dein
Feuer, Vulcan —
Und ohne meinen Wein, redete Bac-
chus dazwischen, mit emporgehobenem
Becher — .
Nicht l^estehen kann : so kann auch
der innre Mensch ohne eure vereinigten
Gaben, ohne deine Weisheit, Minerva,
ohne deine Triebe, o Venus, ohne deine
Musen, Apoll, zu keiner Vollkomnjenheit
aufblühen; und der ganze Mensch kann
ohne uns alle ™
* * *
O verzweifelt, mein Leser! Indem ich
eine der treflichsten philosophischen De-
ductionen aus dem Aichiv des Himmels,
wovon Mercur einige Blätter für mich
DIE GOTTINNEN. 25
entwandt hat^ dir abschreiben will; so
fährt durch meine einsame Sommerlaube
ein Zepbj'r^ und führt mir meine Blätter
weg in die Luft. Begnüge dich also mit
dem was du hast_, und gedulde dich^ bis
ich das Verlorne wiederfinde; denn eben
jetzt bin ich hinterdrein es zu suchen.
2b
ZV/EITES STUCK.
ÜBER DIE LEIDEN DES
JUNGEN WERTHER.
AUS EINEM BRIEl F..
— Auch für mich ist der Charakter des
jungen Wertke?^ äufserst interessant ge-
Wesen. Ich sympalhisire sehr mit seinen
Empfindungen über das Schicksal der
Menschheit^ über das Leben und den im-
merwährenden Tod der Natur^ über die
Dunkelheit und den Reichthum in den.
Vorstellungen der Zukunft und der Fer-
ne^ um derentwillen beide uns so reizend
scheinen, dahingegen sie bei der Nähe
dem Gewohnten ganz gleich sind, weil
ÜB. WERTHERS LEIDEN. 27
unsre Eingeschränktheit dieselbe bleibt,
und wir nicht das Alte und das Gegen-
wärtige zugleich umfassen, sondern im-
mer in einem gleich engen Kreise ste-
hen. — Sonst sind Werthers Empfmdun-
gen allerdings überspannt : er verachtet
einen niedrigem Grad von Empfindlich-
keit, die dabei wirklich sehr weit und
richtig seyn kann, mit eben dem tadel-
haften Stolze, womit der grofse Gelehrte
den minder Belesenen 2;u verachten pflegt.
Er hat nicht allgemeines Menschengefühl,
Das eine sind ihm Schurken tind Teufel:
das andere, Engel. Aber, wenn ich ihm
auch nicht in Empfindungen folgen kann,
die von einem Temperamente abhangen
das dem meinigen durchaus entgegen ist:
so kann ich doch begreifen, wie das in
so einer Seele Statt gefunden hat, und
ich sehe die wahren, mir auch bekann-
28 ÜBER
ten Eindrücke der Natur, nur mit dem
mir fremden Gepräge einer andern Or^
ganisation und anderer Sinne.
Die Leiden des jungen Werther ha-
ben mich auf den Verfasser viel auf-
merksamer gemacht, als alles was er vor-
her geschrieben. Das ist, glaube ich,
einer der Schriftsteller, die auf unsre
Zeitgenossen viel EinHufs haben werden.
Er hat Herz, Verstand, und Dreistigkeit;
Gunst beim Publikum, und Begierde zu
herrschen.
Es webt und regt sich jetzt mehr in
allen menschlichen Köpfen, als sonst, —
Wird dadurch das Loos unsrer Nachkom-
men besser werden? Werden die Men-
schen endlich zu dejn System von Ideen
und Empfindungen gelangen, das nach
ihrer N'alur mit der Wahrheit und der
Beschaffenheit des Ganzen am genaue-
WERTHERS LEIDEN. 29
sten übereinkömmt? Wird alsdann ein-
mal Einheit und Gleichförmigkeit in, den
Grundbegriffen^ und dadurch gegenseiti-
ge Liebe, Achtung und Eintracht entste-
hen? Wird einmal eine Zeit kommen,
wo die immer abwechselnde , immer
gleich eingeschränkte Sinnlichkeit durch
den immer gleich grofsen, unendlich wei-
ten Verstand, der vom Anfang bis zum
Ende alle Orter und alle Einwohner und
Begebenheiten urafafst, wird überwogen,
und dadurch die Ruhe des Geistes und
Herzens festgestellt werden?
Sie befragen mich wegen meiner Ge-
danken über den Selbstmord. Nach mei-
ner Einsicht, kommt dabei alles auf die
eine Betrachtung an ; dafs der Mensch in
wichtigen Dingen , die nicht von ihm
herkommen, nicht durch ihn geordnet
und erhalten werden, ihm nicht einmal
'^o ÜBER
recht bekannt sind, den Lauf der Natuif
durch unwiederbringliche Veränderungen
so wenig als möglich stören müsse. Die-
se Betrachtung wird noch stärker für den,
der eben diesen nicht von ihm herkom-
menden , von ihm nicht eingerichteten
Dingen den verständigsten, gröfsten, mäch-
tigsten, besten Geist zum Urheber, An-
ordner und Aufseher giebt. Indem er
sich dem Lauf der Natur überläfst, ver-
traut er sein Schicksal der höchsten Ein-
sicht an; indem er diesen Lauf stört,
bringt er Wirkungen hervor, die zunächst
von seiner Blindheit und Unwissenheit
abhangen. Ich weifs nicht, sagt Tferther
selbst, was das heifst : Leben, Ster-
ben. Ich weifs es, bei Gott! auch nicht.
Aber wie kann ich es also wagen, meine
Hand in diese Dunkelheit auszustrecken^
und dort Streiche zu versetzen, die mein
Auge nicht absieht?
WERTHERS LEIDEN. 31
Ich Aveifs, dafs man diesen Satz zu
weit ausdehnen, und auch die Aufopfe-
rung eines Gliedes, die Vernichtung ir-
gend eines aiidern Theils der Natur, für
unerlaubt halten könnte. Aber der ge-
sunde Verstand findet die Unterschiede den
Augenblick, die durch Phiiosophiren nur
schwer und langsam entwickelt werden.
Ich sehe nehmlich in dem grofsen
Universum, iii dem ich bin und fortlebe,
eine Sphäre, die für meine Erkenntnifs^,
Beurtheilung und Activität bestimmt ist.
Da fmdet Kirnst, Wissenschaft, Erfahrung
der Folgen, Verbesserung der Mittel ; mit
Einem Worte, eine Absicht und ein Ent-
wurf, Statt. So weit als diese Erkennt-
nifs der Folgen reicht, so weit d^rf ich
auch eigne Einrichtungen und Verände-
rungen in der Natur machen. Ich sehe
ab, wo das hinauslaufen wird wenn ich
32 ÜBER
mir den Arm glücklicli ablösen lasse; icli
werde mit Einem Arme fortleben, und
im Zustande und Genüsse der Mensch-
heit, obgleich mit Unbequemlichkeit und
Schmerzen, verharren. Aber wenn ich
mich umbringe! Ja, da weifs ich nichts
mehr von meinem Selbst; ich weifs keine
der Folgen, die der Schufs ins Gehirn
auf mein denkendes und wollendes We-
sen hervorbringen wird. Leben und Tod
kann also nicht zu meiner Sphäre gehö-
ren. Es ist die höhere Sphäre des Gei-
stes, der mich geboren werden, wachsen,
leben, und sterben läfst; der alles weifs
was vor mir war, weifs, was nach mir
seyn wird; der einen Plan und Hülfsmit-
tel hat, die eher anfangen und weiter
reichen, als mein Leben.
Doch, etwas anders ist, untersuchen:
ob es der Natur des Menschen und der
Din-
WERTHERS LEIDEN. 55
Dinge gemäfs, das heifst^ erlaubt sei, sich
zu ermorden; etwas anders die Frage:
wie ein Mensch, der durch Unglück und
Leidenschaft dazu getrieben wird, abge-
halten ; wie der noch nicht unglückliche,
aber sehr empfindliche und schwermüthi-
ge Mensch davor bewahret werden soll?
Chne Zweifel nur durch Verhütung der
Leidenschaft selbst.
Und das ist ein neuer Grund \Tldcr
den Selbstmord. Der Zustand der Seele,
in welchem man dazu fähig ist, ist alle-
mal ein zerrütteter, verdorbener Zustand.
Keine Wahrheit in dem Anblick der Din-
ge ; keine R.ichtigkeit in der Schätzung
derselben; keine Voraussehung einer oft
nahen Zukunft; kein Nebenblick auf das
Umstehende : eine unglückliche Vereini-
gung aller Seelenkräfte auf einen einzi-
gen schwarzen Punct!
Engels Philosoph, I, . . ^
34 ÜBER
Dies macht bei Werthern einen Theil
seiner Schuld aus, dafs er diese Ein-
schränkung und Concentration seiner gan-
zen grofsen Empfindsamkeit auf jeden klei-
nen Gegenstand für ein Verdienst hält,
sich darin mehr imd mehr übt, und al-
les was seine Aufmerksamkeit auf mehr
wichtige Objecte ziehen könnte, für Zer-
streuung, für Abhaltung von dem Streben
nach Vollkommenheit ansieht. Daher
auch sein Stolz; der sonst mit der Liebe
gegen die geringsten Menschen, imd
selbst gegen Pflanzen und Insecten, die
er zu seiner vorzüglichsten Eigenschaft
macht, so wenig bestehen kann. Wenn
er einsam die Natur betrachtet, so denkt
er an sein Selbst nur in so ferne als er
Ähnlichkeit damit gewahr "wird ; diese
findet er auch in den imbeträchtlichsten
Dingen, imd fällt auf sie mit der vollen
WERTHERS LEIDEN. 35
Denkungs - und Empfindungskraft seiner
Seele. Tritt er aber in die menschliche
Gesellschaft ein ; ja so kömmt die un-
endlich stärkere Vorstellung seines Selbst
zurück, und er empfindet nur die Unter-
schiede, nicht mehr die Ähnlichkeiten
der Andern, besonders je näher ihm die-
se Andern an Stande und äufsern Tor-'
zügen sind. Hat er einen oder wenige
Menschen gefunden, die diese Schwie-
rigkeit in sein Herz zu dringen, über-
winden imd ihm schätzbar werden; so
häuft er auf diese in seiner Einbildung
alle Vollkommenheiten zusammen, die
er den übrigen Menschen entzieht. Er
verachtet und meidet diese übrigen so
sehr, dafs es ihm unmöglich wird, das
Gute und Schätzbare, welches er bei nä-
herer Bekanntschaft gewifs an ihnen ün-
den würde, zu entdecken.
3Ö ÜBER
Indem er also auf der einen Seite die
Natur im Ganzen^ und bis in ihre gemei-
niglich von uns völlig vergessenen und
vernachlässigten Werke, lebendig, schön
und interessant findet; so findet er auf
der andern Seite, gerade in dem wich-
tigsten Tlieil der Schöpfung, unter den
Menschen, sehr wenige seiner Achtung
unid Liebe würdig. Hier sind ihm Alle
unter seiner Vorstellung und Erwartung,
so wie jene Dinge seine Vorstellung über-
treffen. Aus dieser Lage des Gemüihs
entsteht zuerst Hang zur Einsamkeit und
zu blofsem ungeselligen Nachdenken ;
zweite?is Mangel an öftern angenehmen
und das Gemüth erheiternden Eindrük-
ken, die aus der Achtung und Liebe ge-
gen Andre entspringen ; drittens Hafs und
Widerwillen dieser Andern g'^^Q'i^. den,
von dem sie sich so unbillig verachtet
ö7
sehn, ohne clafs sie seine gi'öfsern Voll-
kommenheiten kennten oder Genufs da-
von hätten; viertens gegenseitiger ver-
stärkter Abscheu auf Seiten des Stolzen.
Und nun lassen Sie so ein Herz^, das ge-
gen die todte Natur empfindlich, gegen
die Menschen erbittert, gleichgültig oder
stolz ist ; lassen Sie es nun noch von
einer heftigen Liebe angegriffen werden,
und darin unglücklich seyn: was bleibt
wohl übrig ? Einen einzigen Menschen
hatte der Unglückliche nun gefunden,
der ihm recht werth war; dieser Mensch
ist dahin. Unter dem übrigen großen
Haufen besinnt er sich auf nichts so
Schätzbares, das ihm diesen Verlust er-
träglich machen konnte. Er weifs, er
wird nicht von ihnen geliebt. Die ein-
same, todte, stille Ü^atur scheint ihm viel
edler und gröfser. So wird also die
38 ÜBER
V
ganze Empfindlichkeit des Herzens dar-
auf gespannt^ das menschliche Leben^ so
wie wir es jetzt haben;, zu hassen^ und
nur die Existenz der Katur zu lieben,
mit der wir uns im Tode zu vereinigen
scheinen.
Man hat die Leiden Werthers hie und
da für ein gefährliches Buch gehalten,
das zum Selbstmord verführte. IJire Ge-
danken hierüber sind richtig. Zum Selbst-
mord wird man schwerlich verführt. Aber
dennoch kann es nie ganz gleichgültig
seyn, was für Meinungen über diesen
Punct der Mensch bei sich festgesetzt
hat; ob solche, die die Leidenschaft be-
günstigen, oder solche die sich ihr ent-
gegensetzen, und sie, wo nicht ersticken,
doch aufhalten. Und wenn dieses ist, so
war es freilich Unrecht, die spitzfindig-
sten Scheingründe für die That mit aller
WERTHERS LEIDEN. 59
Stärke der Beredtsamkeit vorzutragen, in-
defs die wahren Gründe dawider über-
gangen oder ungeschickt verfochten wur-
den. Jede That ist aus einem doppelten
Gesichtspuncte zu betrachten : aus dem
einen, wenn sie begangen worden ist;
aus dem andern , wenn sie begangen
werden soll. Beide Gesichtspuncte sind
wichtig. ,Wer mir die ganze Entstehungs-
art einer verwerflichen Handlung zeigt;
wer mir aus dem Charakter, aus der
^^^'^ des Menschen die Gründe dersel-
ben entwickelt; wer mir die Fehlschlüsse,
die irrigen Grundsätze aufdeckt, denen
gemäfs er verfahren ist: der verdient mei-
nen aufrichtigsten Dank ; denn er beför-
dert meine Kenntnifs des Menschen, mei-
ne Liebe des Menschen, meine Duldsam-
keit, meine Klugheit. Aber nie mufs er
dabei den andern Gesichtspunct verges-
4o ÜBER WEP1.THERS LEIDEN.
sen ; das heifst^ er mufs mir die Fehl-
schlüsse als Fehlschlüsse, die irrigen Be-
griffe als irrig, die falschen Gründe als
falsch y und die daher entspringenden
verwerflichen Handlungen als wirklich
verwerflich zeigen. Dieses nicht gethan
oder nicht genug gelhan zu haben ^ ist
v*'ohl der gröfste Vorwurf^ den man dem
Verfasser der Leiden AVerthers machen
kann, und gegen den er sich vielleicht
am v/enigsten rechtfertigen liefse.
Chr. Garve.
4i
DRITTES STÜCK.
DIE HÖHLE AUF ANTIPAROS.
irlerr von Millwitz war einer der lie-
benswürdigsten jungen Edclleute in Lief-
land. Da er sich den Wissenschaften mit
eben so viel Fleifs, als Talenten gewid-
met hatte^ so war er ein Mann von aus-
nehmender Geschicklichkeit geworden :
gleichwohl war er in jedem Ansuchen
um eine bürgerliche Bedienung unglück-
lich. Er fafste endlich^ theils aus Un-
muth, theils um sich zu empfehlen, einen
kurzen Entschlufs, und nahm Dienste auf
der russischen Flotte, die eben damals
i'i den Archipelagus segeln wollte. Die-
ser Entschlufs kostete ihm um so weni-
ger, da er bei grofsem natürlichen Mu-
42 DIE HOHLE
die, ein brennendes Verlangen hatte die
Welt zu sehen.
Seine unaufhörliche Unpäfslichkeit,
und der Rath der Arzte die ihm die See-
luft nicht zuträglich fanden, nöthigten
ihn bald, wieder umzukehren. Er ging
auf seine Güter nach Liefland, und be-
suchte hier oft den Baron von jB**, des-
sen Rittersitz nur einige Meilen von dem
seinigen lag. Das Bedürfnifs des Um-
gangs machte zwei Menschen auf dem
Lande zu Freimden, die es in einer
Hauptstadt nie würden geworden seyn.
Einst, da Millwitz zu dem Baron uji-
vermuthet hereintrat, warf dieser, im Ent-
gegeneilen, ein Buch aus der Hand, wor-
in er eben gelesen hatte. — Etwas Neues?
fragte ihn Millwitz, der jetzt auf d".^
Leetüre um so begieriger war, da es ihm
an allem guten Um gange fehlte.
AUF ANTIPAROS. 43
Neu oder alt! wie Sie wollen! — Für
mich freilich noch neu ; aber für einen
so grofsen Leser wie Sie^, vermuthlich
schon alt. — Eben wollte es Millwitz
aufheben,, als es der Baron ihm mit einer
lustigen Miene wegrifs, und ihn mit vie-
ler Selbstzufriedenheit fragte^ für Avas für
ein Buch er's wohl halte ?
Ich wette, Baron, dafs es ein verlieb-
ter Roman ist.
Ei denkt doch! weil ich es lese. —
Aber, mein Herr Gelehrter; dasmal irren
Sie Sich. Rathen Sie besser!
Eine Reisebeschreibung? — und schon
wollte Millwitz begierig zugreifen — oder
wohl gar — — Doch nein! das darf
man bei Ihnen wohl nicht erwarten.
Was nicht ? AVas darf man bei mir
nicht erwarteil? — Sie bilden Sich doch
nicht ein, dais Sie der einzige denkende
'Mann hier in Liefland sind?
44 DIE HÖHLE
Da war' ich sehr unverschämt. Bin
ich denn nicht bei Ihnen?
Spöttereil Spötterei! Ich verstehe. —
Aber^ was man nicht ist, kann man wer-
den^ imd ich dächte immer ^ ich wäre
auf gutem Wege dazu. — Philosophie^
Freund! Philosophie! — indem er ihm
das Buch mit triumphirender Miene vor-
hielt. — Und das wahrhaftig nicht von
der Oberfläche! Aus der tiefsten Meta-
physik !
Wie? Das sollte mir leid thun, Baron.
Das wäre ein Zeichen vor Ihrem Tode.
— Er nahm es ihm ab_^ und erstaunte
nicht wenig, als es das berufne Systöuie
de la nature war.
Ist es möglich? Sie lesen ein Werk
wie dieses?
Also kennen Sie's doch? —
Von Livorno her ! Ein Engelländer
lieh es mir, da ich krank war.
AUF ANTIPAROS. 45
l^un? und fanden Sie's nicht wirklich
vortreHich ?
Vortreflich ? Ein Buch von solchen
Grundsätzen^ vortreflich!
Ich meine^ in der Schreibart^ im Yor-
tfag.
Was thut der Vortrag, Baron? . — Ein
Gift, das durch seine Süfsigkeit den Ge-
schmack reizt^ ist nicht weniger Gift, und
man mufs nur um desto mehr davor
warnen. — In aller Welt! wie sind Sie
auf dieses Buch verfallen?,
Je nun, wie? — Sehr natürlich! —
Man machte viel Aufhebens, davon. Ich
fragte von ungefähr darnach , und da
war's nicht zu haben. Das machte mich
hitzig darauf. — Endlich, da es sich
fand, liefs man mich's theuer bezahlen.
Es kostet mich, wie es da ist, sechs
Rubel.
46 DIE HÖHLE
Nun> beim Himmel, Baron! ch woll-
te^ Sie hätten Ihre sechs Rubel einem
Armen, oder —. hätten sie einem Mäd-
chen gegeben. Eins ist nicht so schlimm,
als das andre.
Pfui, Millwitz! pfui! Sie reden ja, wie
ein Pfaffe — und — machen's auch, wie
ain Pfaffe. — Erst genielsen die Herren
selbst, und nachher, wenn wir armen
Laien nun auch geniefsen wollen, sind
•wir verdammt. — AVarum denn nicht
lesen? Haben doch Sie es gelesen!
Guter Baron! Ich und Sie, ist ein Un-
terschied. — Hätt' ich nie trockne deut-
sche Metaphysik gelesen, so würd' ich
mich vor der beredten französischen
fürchten. — Sagen Sie mir; wie konn-
ten Sie, bei Ihrem Abscheu vor aller An-
strengung, bei Ihrer Unlust zu allem tie-
feren Nachdenken, bei Ihrem wirklichen
AUF ANTIPAROS. 47
Mange,l an den vielen Kenntnissen die so
ein Buch voraussetzt : vrie konnten Sie
auf den Gedanken kommen
Je nun — die Wahrheit zu sagen — -
man sitzt in Gesellschaft von euch Her-
fien immer da, wie ein Ölgötze. Man
mufs doch einmal mitsprechen können.
Mitsprechen, Baron ! — Für das was
Si aus diesem Buche mitsprechen kön-
nen, wäre Zuhören besser. — Und lei-
der! — auf Gegenstände dieser Art fällt
die Rede so selten.
So mufs man sie darauf bringen, zum
Henker!
Um sich ein Ansehn zu geben I Nicht
wahr ?
Nun ja! Warum nicht? — Sie stellen
Sich, als ob ich Wunder was für Gefahr
liefe. Ich sehe da keine. — Man amü-
sirt sich, man lies't, man denkt nach —
48 DIE HOHLE
Wenn man kann, guter Baron, -r-
ünd wenn man's nicht recht kann; so
wkd man ungewifs, läfst sich hinreifsun,
giebt Beifall ; verliert seinen Glauben an
Gott, seine Beruhigung, seine Tugend
vielleicht: — und das alles ist Kleinig-
keit. Nicht? Hören Sie, Freund!
Das Feuer in Ihrem Kamine v/I]l aus-
gehn, und mich friert hier bei Ihnen.
Ich dächte, wir vermehrten die Flamme.
Wetter! schrie der Baron, der noch
zu rechter Zeit zugriff; sind Sie bei Sin-
nen? — Verzeihen Sie, Millwitz! — in-
dem er sich ein wenig wieder erhohlte
— aber man heizt eben nicht mit sechs
Rubeln, wenn man's mit einer Kopeke
kann; und das Buch — das Buch ist nun
einmal mein! Ich will's lesen. —
Zu Ihrem Verderben vielleicht!
Ach Possen! Possen! — Gesetzt nun
auch.
AUF ANTIPAPvOS. 49
aücliv ich werde ein Atheist; was ist's
mehr? — Wenn icli's bin, so lasse ich
meinen Pfarrer rufen; der widerlegt mich
aus Gottes Wort, und ich werde wie.dec
zum Christen. — — Kommen Siel Kom-
men Sie! — Wir setzen uns hier an den
Kamin; ich mache Ihnen, weil Sie doch
frostig sind, Feuer; lind friert Sie dann
noch — nun gut! — Er i^lingelte, und
befahl eine Flasche Burgunder.
O liebster Freund ! fing er dann wie-
der mit einem Seufzer an: Sie sind ge*
reis't; Sie haben die Welt gesehen. Was
War ich doch für ein Thor, dafs ich
nicht mitging! — Tausendmal habe ich's
schon seit Ihrem letzten Besuche mir
selbst gesagt; denn was Sie mir da er-
zählt haben — die ganze Zeit ist's mir
nicht aus dem Sinn gekommen. Ihre
ganze Fahrt habe ich mitgemacht; alle
Engels Philosoph, J, /
50 DIE HOHLE
Abende wenn ich zu Bette gehe^ schiffe
ich mich im Hafen von Livorno ein, und
wache Morgens im Archipelagus wieder
auf. — Guter, bester Millwitz ! Noch
mehr solche Geschichtchen! Noch mehr!
Aber ich weifs keine mehr.
Ei was? Sie müssen noch wissen. —
Da! frischen Sie Ihr Gedächtnifs auf! —
denn eben war der Burgunder gekom-
men. Auf der See, glaube ich, wa-
ren wir fertig; die Türkische Flotte hat-
ten wir zu Pulver verbrannt : nunmehr,
dächte ich, sähen wir uns im Lande um.
— Ein herrliches Land vermuthlich-? —
Gewesen, Baron! — als noch Freiheit
und Wissenschaft darin wohnten. — Aber
auch jetzt Doch was soll ich Ihnen
erzählen, da wir gar nicht hineingekom-
men? — ,
Nicht hineingekommen I Sie haben
doch etwas gesehen.
AUF ANTIPAROS. 5i
Nicht viel mehr, als die Insehi.
Nun? Und die Insehi? — indem er
seinen Stuhl naher an den Tisch rückte,
und sich begierig hinüberbeugte.
Die enthalten so viel Merkwürdiges
eben nicht. Denn die Menschen
Ach, die Menschen! die Menschen! —
die werden die Köpfe oben und die Füfse
unten haben. Nicht wahr ? — Er be-
lohnte sich für seinen Witz durch ein
Glas Burgunder und ein lautes Geläch-
ter. — Nein, etwas anders, Freund! et-
was anders! So etwas, wie jüngst! von
Attaken, von Meerstrudeln, von feiaer-
«peienden Bergen! So etwas, das grauen
macht ! In der Welt hör' ich nichts
lieber.
Ein Beweis, dafs Sie Herz haben, Ba-
ron! — Er lächelte. — Aber wirklich;
ich wüfste doch etwas. — Sie haben ver-
6a DIE HOHLE
muthlicli von einer Insel Antiparos ge-
hört?
Ich werde doch! — Von so einer be-
rühmten Insel!
Nein^ wenn Sie schon allzuviel davon
gehört haben, so komm' ich zu spät.
Denn so werden Sie auch schon wissen^
was die JNatur dort für eine Hohle ge-
baut hat.
Eine Höhle? Hat die Natur dort eine
Höhle gebaut? — Nein, btd meiner Seele!
davon weifs ich noch nichts. — Man
lebt ja hier auf dem Lande. Was weifs
man da von der Welt? — Gütiger Gott!
was erfährt ein Landjunker Neu^s?
Nun nun, Baron! So gar neu ist nun
diese Neuigkeit eben nicht. — JVlillwitz
fing hierauf an, und führte den Baron in
einer weitläuftigen Beschreibung durch
die prächtige^ mit Pfeilern unterstützte
AUF ANTIPAROS. 53
und mit Inschriften versehene. Höhle die-
ser Insel, bis zum Durchgang zu der
merkwürdigen Grotte, in die einst Noin-
tel und nachher Tourneforb mit so viel
Gefahr hinabstiegen. Der Baron horchte
ihm jedes Wort von den Lippen, mit al-
ler der Begierde, w^omit er in seiner
Kindheit auf die Gespenstergeschichtchen
seiner Amme mogte gehorcht haben.
Nun, Millwitz? Nun? —
Der Boden, auf dem wir gingen, ward
nun immer abschüssiger und abschüssi-
ger. Endlich kamen wir an ein finstres
Loch, wodurch wir nicht anders als ge-
bückt, und bei dem Scheine der Fackeln,
kommen konnten. — Bereiten Sie Sich,
eine der gefährlichsten Unternehmungen
zu hören, die ich mir weniger zur Ehre
als zum Vorwurf inache, und an die ich
nie ohne Schaudern zurückdenken kann.
54 DIE HÖHLE
Der gute Baron war schon mehr als
EU sehr bereitet. Er safs mit offnem
Munde da^ und fühlte schon alles Grauen
des Schreckens in seinen Haaren.
Wir hatten^ sogleich an dem Eingan-
ge, ein Seil befestigt, und stiegen durch
Hülfe desselben in die erste Tiefe, die
schon schrecklich genug war. Aber wie
weit schrecklicher war noch die zweite,
in die wir halbliegend gleichsam hinab-
rutschen mufsten ! Ein Mensch von nur
etwas schwächern Nerven als ich, würde
durch Einen Gedanken an die Untiefen,
die zu meiner Linken lagen und vor de-
nen ich so nahe vorbei mufste, drehend
geworden seyn, und gelegen haben.
Der Baron hielt die Hand vor die
AUgen. —
Und was meinen Sie, Freund? Eben
auf den Hand dieser Abgründe , der
AUF ANTIPAROS. 55
schlüpfrig wie Eis, und also äufserst ge-
fährlich war, setzten wir eine Leiter an,
auf der wir einen völlig senkrechten Fel-
sen hinankletterten — freilich mit ein
wenig Angst und Herzklopfen; das kön-
nen Sie denken.
Der Baron sprang auf, setzte sich aber
jogleich wieder nieder.
Was ist Ihnen, Baron?
Nichts, Millwitzl nichts! — Blofs mein
elender Kopf Soll mich Gott ver-
dammen , lag ich nicht in Gedanken
schon unten! — Nur w^eiterl
Ich rutschte hierauf, mit etwas weni-
ger Gefahr, weiter fort; aber, da ich nun
eben glaubte sicher auftreten zu können,
kam die schrecklichste Stelle, und ohne
das Zurufen meiner Wegweiser hätt' ich
unfehlbar den Hals gebrochen. —
Hier hielt der Baron wieder ganz
56 DIE HÖHLE
sichtbar clen Odem an^ und alle Muskela
seines Gesichts waren in Arbeit. —
"Wir fanden eine Leiter, die aber
schon so alt und morsch war_, dafs sie
bei dem ersten Tritt darauf würde zer-
brochen seyn. Wir bedienten uns daher
einer neuen, die wir eben zu diesen.
Ende mit uns genommen hatten. — Dam
mufsten wir uns wieder an ein neues Seil
hängen, und dann, nachdem wir noch
eine Zeit lang, bald auf dem Bauche,
bald auf dem Rücken fortgeglitten wa-
ren, sah ich mich endlich zu meinem
gröfsten Vergnügen in der Grotte, um
die ich so vieles gewagt hatte.
Endlich! — Nun, Gott sei gelobt! —
Und was fanden Sie denn in der Grotte?
Je nun — • sie war denn doch immer
ganz artig.
Aber zum Henker ! ^was gab es denn
mitzunehmen?
AUF ANTIPAROS. 57
Wie Sie fragen ! — Gar nichts !
Gar nichts ? — mit einem Ton der
Verwunderung. — Und kamen Sie denn
glücklich wieder heraus?
Ich mufs doch! Sonst tränk' ich hier
schwerlich Burgunder.
Nun, das ist wahr! das ist wahr! —
Aber wenn Sie denn nun gestürzt wären?
wie da?
So hätt' ich mir einen Arzt rufen
lassen.
Ja, der würde Ihnen nachkriechen,
zum Teufel ! Es -*nag auf Antiparos tref-
liche Ärzte geben. — Und wenn Sie nun
gar den Hals darüber gebrochen hätten?
In so einer Tiefe!
Millwitz lachte. — Über die grofse
Gefahr! — Gleichwohl, Baron; beim Wie-
derheraufsteigen gings ärger, als beim
Hinuntersteigen. Da hätte Rath dazu wer-
58 DIE HÖHLE
den können. Mehr als einmal glitt
ich auf den schlüpfrigsten Felsenstücken,
und gerade an den gefährlichsten Stellen
hintenaus; doch war dies alles noch nichts
gegen das, was mir auf der Leiter wie-
derfuhr. — Sie erinnern Sich doch? —
auf der Leiter, die wir an den senkrech-
ten Felsen lehnten! Denn hier — *—
Der Baron hatte von neuem Schwin-
del. Er kroch, mit zusammengebissenen
Lippen und zurückgehaltenem Odem,
ganz in sich selbst zusammen ,* gleich ei-
nem Menschen, der von einer Höhe her-
abstürzt —
Hier brach mir zu meinem gröfsten
Schrecken die eine Sprosse, und wenn
ich mich an den obern nicht noch gehal-
ten hätte — —
Gott und Vater ! schrie der Baron,
indem er ihn hitzig beim Arm ergriff, als
AUF ANTIPAROS. 59
ob er den Fall hätte verhindern wol-
len. — Millwitz lachte, fuhr noch eine
Zeitlang fort, und endigte dann seine Er-
zählung mit den Worten: Ich bin oben,
mein Freund.
Der Baron fuhr auf, dafs die Gläser
tanzten^ und stürzte fast, vor Freuden^
den Tisch über den Haufen.
Sind Sie ? sind Sie wirklich wieder
oben ? — wieder auf festem Erdboden,
Freund? — Nun, dem Himmel sei Dank!
— indem er ihn hitzig umarmte. — O,
bleiben Sie immer oben, und hole der
Henker alle unterirdische Klüfte! — Blei-
ben Sie oben, Freund! oben! —
Ihre Freude macht Sie mir liebens-
würdig, Baron !
Ja, beim Himmel ! ich liebe Sie. —
Ich liebe Sie, wie ich mein Leben liebe;
und wissen Sie, dafs ich Ihnen vor lauter
So DIE HOHLE
Liebe gram bin, weil Sie ^nir in die ver-
dammte Höhle stiegen ? In ein Loch,
worin Sie alles verlieren and nichts ge-
winnen konnten ! — Welcher Teufel niuls-
te Sie denn hmtunführen?
Die Neugier, Baron. — Man lebt ja
in der Welt, um sich umzusehen — —
Aber nicht mit so viel Gefahr! — Se-
hen Sie Sich sonst wo um! Warum eben
auf Antiparos ?
Es giebt ein Ansehen. Man schliefst
auf Herz, lieber Baron. ~ Und was ist's
denn nun endlich? Man befriediget seine
Neugier, man steigt hinab, sieht die Grot-
te ein wenig an — —
Und bricht den Hals! — W^eiter nichts!
AJso , Baron — Avenn Sie wären zuge-
gen gewesen ; Sie hätten mich wohl
schwerlich hineingelassen? —
Ich Sie? Bei den Haaren hätte ich Si©
AUF ANTIPAROS. 6i
zurückgehalten. — Er stand auf, und gab
ihm die Hand. Ja, beim Himmel/ JMiil-
witz! und wenn ich mich hätte mit Ihnen
sc' iel'sen sollen! Bei den Haaren hätte
ich Sie zurückgehalten.
Wahrhaftig? — Dann mufs ich mich
schämen, dal's Sie mehr Liebe gegen mich,
hätten beweisen wollen, als ich gegen Sie
bewiesen. — Sie haben einen schwachen
Köpf, wie Sie sagten?
Den hab' ichl Warum?
Sie haben Anwandlungen vom Schwin-
del?
Dann und wanni — Es erinnert mich
meiner Jugendsünden.
Nun gut! — Und wenn ich mich mit
Ihnen schiefsen sollte, Baron! — Er stand
auf, kam zurück, und das Systeme de l(t
Natiire lag im Feuer.
Der Baron war zu sehr erstaunt, als
62 DIE HOHLE
dafs er sich sogleich hätte fassen können.
Endlich griff er in die Flamme; aber zu
spät. Das Buch war schon zur Hälfte
verzehrt. — Herr ! fing er darauf nach
einigem Stillschweigen und voll Erbitte-
rung an : Lehrt Sie das ein guter Geist,
oder der Teufel? —
Der Geist der Freundschaft_, Baron,
ist ein guter Geist. Sie waren für meine
Erhaltung besorgt; es ist Pflicht, dafs ich's
für die Ihrige sei.
Was wollen Sie aber? — Sie in ihrer
verdammten Höhle konnten den Hai«
brechen; und ich
Und Sie ? — Sie konnten noch weit
etwas Ärgers. — Zweifelmüthig an einem
Gott und einer Vorsehung werden; ei-
ner Tugend, die ohnedies schon auf
schwachen Füfs^en steht — verzeihen Sie,
Freund! — noch vollends alle Festigkeit
AUF ANTiPÄRÖS. 63
nehmen; die Gründe seiner Beruhigung
im Unglücke und im Tode verheren;
kurz^ alles verlieren, was für ein denken-
des und hinfälliges Geschöpf, wie der
Mensch, das Gröfste und Wichtigste ist:
— das, Baron — das nenne ich mehr,
als den Hals brechen! ■ —
Sie schwärmen. Verlier' ich's denn
schon? —
Sie könntens verlieren. Sie klagten,
über Schwachheiten des Kopfs, über
Schwindel. — Für so einen Kopf ist das
Systeme de la Natiwe nicht geschiieben.
Es verlangt feste Nerven, und einen drei-
sten Blick in die Tiefe. Wem der fehlt,
der mögte so leicht nicht wieder heraus-
kommen. Der Fall hat viel Ähn-
lichs, Baron. In meiner Höhle, wie Sie
sagten, war nichts zu gewinnen, aber al-
les zu verlieren ; in den Speculationen
64 DIE HOHLE
dieses Buchs ist für Sie auch nichts zu
gewinnen, aber alles zu verlieren. — —
Und um die Ähnlichkeit auch bis auf
den Scherz auszudehnen: Kein Arzt, glau-
ben Sie, würde mir nachgekrochen seyn
mir zu helfen; und Ihnen Ihr Pfarrer? —
Ah der ehrliche Mann ! — Der würde
Ihre verunglückte Seele Gott , befehlen,
vor Ihrer Höhle ein Kreuz schlagen, und
gehn, dafs er fortkäme. —
Der Baron mufste nachdenkend ge-
worden seyn, denn er blieb ernsthaft, ob
es gleich über sein Lieblingsthema, den
Pfarrer, herging. — Herr von Millwitz
reichte ihjn mit aller AVärme der Freund-
schaft die Hand:
Sie erkennen, dafs ich Sie liebe? —
Mein Freund ! — und die Thränen
standen dem Baron in den Augen. —
Nuji; so hören Sie mich! Sie beschwo-
ren
AUF ANTIPAROS. 65
ren mich mit der edelsten Hitze, nie wie-
der in eine Höhle zu steigen, und 'hier
meine Hand! ich will folgen. — Aber
nun mufs ich auch Sie bescijwören; Be-
mengen Sie Sich nie wieder mit Büchern^
die Gott und Vorsehung vom Throne
stürzen. Bleiben Sie immer, statt Sich in
jene trübe Dunkelheiten zu vertiefen, an
dem hellen Tageslicht des allgemeinen
Menschenverstandes, und statt Sich an
einem morschen Seil über Abgründe hin-
zuhängen, auf dem festen, sichern Boden
der Empfindung und des Gewissens!
Der Baron umarmte ihn, und ver-
sprach es. — Aber, fuhr er fort: meine
besten Jahre habe ich nun einmal ver-
träumt. Ich bin ein Dummkopf — in-
dem er sich vor die Stirne schlug — und
es ärgert mich, dals ich's bm ! Soll ich
denn immeriort einer bleiben? —
Mngels Philosoph, I. 5
66 DIE HOHLE AUF ANTIPAROS.
Sie sollen lesen, Baron. — Es giebt
der Kenntnisse viel^ die einen achtungs-
würdigen Mann machen ; aber freilich^
ist die eine mehr als die andere werth.
— Ihre Begierde nach Wissenschaft^ wenn
es wirklich diese Begierde war, hat keine
üble Pachtung genommen, und es ist mei-*
ne PHicht, dafs ich Sie unterstütze.
Er schickte ihm den Tag darauf den
Keimarus.
67
VIERTES STÜCK.
BAYLE AN SHAFTESBURY *).
Mylord^
iLiS geht noch immer nicht besser mit
meiner Gesundheit: der trockne Husten^
der sich schon seit geraumer Zeit bei
mir eingefunden, und der in meiner Fa-
milie beinaiie erblich ist, hat wirklich
meine Brust angegriffen. Ich liege nun
hier auf meinem Lager, und leide von
Mattigkeit, Schmerzen und Schlaflosig-
keit; vorzüglich aber von der ünthätig-
•) Dieser und der folgende Brief sind an die wirk-
liche Gorrespomlenz zwischen iiea beiden be-
rühmten Schriftstellern angehängt. Man sehe
Lettrus de Mr. Bayle^ t. III, am Ende.
Anm. d. H.
68 B A Y L E
keit^ deren ich so gar nicht gewohnt
bin.
Dafs ich mein Lebensende als nahe
und gewifs ansehen mufs, das beunruhigt
mich wenig. Da ich einmal aufser Stan-
de bin zu arbeiten, so kann mir das
blofse Leben so viel nicht werth seyn.
Nur Einen Kummer hab' ich noch auf
dem Herzen, und diesen kann ich allein
in IJirejt Schoofs ausschütten. Ich sehe
nun gewifs voraus, dafs ich die Welt
werde verlassen müssen, ohne dasjenige
gefunden zu haben, was ich mein ganzes
Leben hindurch so eifrig gesucht habe.
Ich darf Ihnen wohl nicht erst sagen,
Mylord, dafs es die Wahrheit war die
ich suchte, und von deren weitern Er-
forschung ich nun abstehen mufs.
Wenn ein Gott ist; woher rührt denn
das Übel in der Welt '> — Welches ist
AN SHAFTE^BURY. 69
das unsichtbare und unbegreifliche Band
zwischen Körper und Seele? — Welches
sind die allgemeinen Gesetze der Körper-
welt, und wie hangen sie mit den Welt-
begebenheiten zusammen? — Sehen Sie:
so schwere und so wichtige Fragen blei-
ben mir noch zurück; und ich habe kei-
ne Zeit mehr, sie zu beantworten.
Verzeihen Sie, Mylord, den Klagen
eines Sterbenden, der sich noch glück-
lich glaubte, so lange er hoffen durfte.
Ich befinde mich jetzt an der Scene mei-
nes Lebens, wo ich das ganze Schauspiel
desselben übersehen kann. Es hat die
Entwickelung nicht gehabt, auf die ich
gehofft hatte, und deren Erwartung mich
unter Sorgen und Kummer zu trösten
und hinzuhalten pflegte. Ich muis also
urtheilen, dafs ich vielleicht meinen gan-
zen Lebensplan übel angelegt habe. Ich
^o ' B A Y L E
hätte vielleicht gleich Anfangs wissen sol-
len , dafs die Wahrheit eine erträum-
te Göttinn ist, die von den Opfern wel-
che wir ihr bringen, nichts weifs, sie
nicht belohnt, nicht verdient. Dann hät-
te ich mich nicht so, wie ich gethan,
vor der Knechtschaft des Geistes gescheut,
meine Gedanken in die Fesseln eines
Glaubenssystems schmieden zu lassen;
ich hätte, um die Unabhängigkeit meines
Verstandes zu bewahren, die mir so kost-
bar und zur Untersuchung der Wahrheit
so unentbehrlich schien, nicht mein er-
stes Vaterland, das Vergnügen unter mei-
nen nächsten Verwandten und Freunden
zu leben, nicht alle häusliche Glückselig-
keit aufgeopfert, und ein mühseliges, ab-
hängiges, einsames und sorgenvolles Le-
ben einem bequemen, ruhigen, sorgen-
losen und geselligen vorgezogen : ich wä-
AN SHAFTESBURY. 71
re in Frankreich ein Katholik, in Holland
ein Prädestinatianer, und überall der Mei-
nung der Mächtigen und Grofsen gewe-
sen; ich hätte mich als jedermanns Freund,
und jedermann sich als den meinigen er-
wiesen...
Doch vielleicht ist es meine eigne
Schuld, dafs ich die Gewifsheit nicht ge-
funden, die mich jetzt beruhigen würde.
Vielleicht hab' ich mich nicht gehörig
gestellt, um das Licht zu sehen, das so
viele Andre zu sehen vorgeben; vielleicht
hab' ich mich selbst muthwillig verblen-
det. — Muthwillig ! Ich hoffe, Mylord,
dafs ich mich über meine Ehrlichkeit bei
Ihnen nicht werde rechtfertigen dürfen.
Sie kennen mich, und Sie haben ein Herz,
das die Verlegenheiten eines Untersuchers,
der keinen festen Grund findet wo er
ausruhen kann, mitzufühlen weifs. Wie
y2 B A Y L E
wohl ist dem undenkenden Nachbeter,
der des Glücks seiner Überzeugung un-
gestört geniefst! Wie oft bin ich in der
Versuchung gewesen, ihn wegen seiner
Selbstzufriedenheit zu beneiden^ wenn
mich ein Zweifel ergriffen hatte, der rnir
spät die Ruhe der JMacht raubte, des
Morgens mich frühe weckte, mich in der
Einsamkeit nagte, und in der Gesellschaft
mir die Miene eines Träumers oder eines
Dummkopfes gab ! ^
Wenn der Zweifel eine Folge von der
Art meines Studirens war, so weifs ich
nicht, wie ich demselben hätte entgehen,
können. Noch bis jetzt bin ich über-
zeugt, dafs ein Forscher der Wahrheit
alle Parteien anhören, dafs er auf kein
Herkommen und Ansehen der Lehrer
achten, dafs er sich in alle Gesichtspunete
stellen mufs, um einen Gegenstand recht
AN SHAFTESBUPtY. 75
kennen zu lernen^ und sich einer ver-
nünftigen Überzeugung zu versichern.
Diese Methode kann allerdings alte Lehr-
gebäude^ worin wir so bequem wohnten^
wankend machen, das Gemüth zwischen
Meinungen hin und her.- werfen, und so
die Gewifsheit die man gesucht hat, ent-
fernen; allein welchen andern Weg soll
der Forscher betreten? was soll er thun,
um gewifb zu werden, als lernen und
vergleichen? Ich habe gelernt und ver-
glichen; ich habe mein ganzes Leben da-
zu angewandt, und Sie sehen, \^ie weit
ich bin. — O Mylord ! versöhnen Sie
mich, wenn Sie können, mit mir selber!
Theilen Sie mir einen Funken von dem
himmlischen Lichte Ihrer seligen Gewifs-
heit mit, das ich so oft — ach! vielleicht
zu voreilig — mit dem Namen einer ed-
len Schwärmerei belegte.
/. ^. Eberhard,
^4
FÜNFTES STÜCK.
SHAFTESBURY AN BÄ.YLE.
Mein theurer Sir^
Wie gerne mögte ich Ihnen erst von
Ihrem . Lager aufhelfen, und dann, wie
wir ehemals pflegten _, ruhig mit Ihnen
fortphilosophiren ! Doch lassen Sie uns
thun was wir können, wenn wir nicht
können was wir wollen. — Wie? Ein
Leben wie das Ihrige , zugebracht in der
Untersuchung der Wahrheit ; das sollte
nicht die beste Vorbereitung zu einem
ruhigen Tode seyn? Was Sie Ihr ganzes
Leben hindurch so edel beschäftiget hat,
das sollten Sie sterbend bereuen müssen?
Welches sind denn die Fragen, die
Ihnen noch zurück bleiben; die Sie Sich
SHAFTESBURY AN BAYLE. 75
noch nicht haben beantworten können?
Sind es Fragen, von deren Beantwortung
die Einrichtung unsers Lebens abhängt?
ob Gott mächtig, weise, gut sey? ob wir
ewig dauren werden? ob in der Tugend
das höchste Gut bestehe? — Ich würde
begreifen, wie Sie unruhig seyn könnten,
wenn Sie mit diesen Untersuchungen
noch nicht ferlij; w^ären. Aber müssen
wir, um sie zu unsrer Zufriedenheit zu
endigen, erst in alle Staatsgeheimnisse
der göttlichen Ptegierung dringen? Mufs
Gott erst alle seine Alaafsregeln durch
den Ausgang gerechtfertiget haben, ehe
wir glauben dürfen dals er ein gute^' Pie-
gent sei? Ich meines Theils traue es so-
gleich seinem Charakter zu, dafs Alles in
seinem Reiche gut seyn müsse, und halte
alles Böse nur für Schein, der bald ver-
schwinden würde, wenn wir seinen gan-
76 SHAFTESBURY
zen Regierungsplan übersähen. Sie, mein
Freund, dachten nicht weniger gut von
Gott; Sie betrachteten das Böse, das Sie
in der Welt wahrzunehmen glaubten, als
Unkraut, welches von eineui übelgesinn-
ten Feinde ausgestreuet worden, indefs
Gott an der Einschränkung und Ausrot-
tung desselben arbeite. Sie sehen, dafs
wir Beide uns die Zwsifel, die uns in
dieser wichtigen Untersuchung beunru-
higten, aufgelös't haben; nur jeder auf
eine andere Art: die Wahrheit, die wir
zu unsrer Ftuhe bedurften, ist uns Bei-
den geblieben. Wenn das aber ist, so
können wir viele verwickelte Erscheinun-
gen im Reiche der Natur und der Gnade
unerklärt lassen; wir können die ganze
Welt als den Brief eines weisen Mannes
in geheimer Schrift ansehen, wozu wir
den Schlüssel errathen müssen. Der Eine,
AN BAYLE. 77
indem er in dem Buche der Natur lles't
und auf die Erscheinungen in unserm
Sonnensysteme kommt^ nimmt die Bewe-
^ gnng der Erde^ der Andere die Bewegung
der Sonne zum Schlüssel; und ein jeder
meint die Schrift zur Ehre ihres Urhe-
bers entziffert zu haben. — Wir wissen
im Allgemeinen ; wozu der Weltplan an-
gelegt ist; wie aber die Ausführung dem
Zwecke zustimme? das ist uns oft eiii
^Geheimnifs. Das Erste lesen wir in der
Ideenwelt^ die uns näher liegt ^ weil wir
sie in unserm eigenen Busen finden; das
Andere in der sinnlichen Welt, wovon
uns nur einzelne Anblicke der äufsersten
Schale vergönnt sind. Es ist das Bestre-
ben des Untersuchers, beide Fäden seiner
Erkenntnifs zusammen zu biingen, und
sich aus der einen Welt in die andere
einen Übergang zu verschaffen. WenA
78 SHAFTESBURY
er hier Schwierigkeiten findet, die ihm
unubersteiglich scheinen : wird er nicht
wohl thun, wenn er sich an das hält was
er als gewifs erkennt, und wegen des
Übrigen sich nicht bennruhiget?
Ich weifs wohl, dal's nicht Alle die
sich mit dem Philosophiren abgeben, so
bescheiden denken ; dafs vielmehr sehr
Viele sich's zur Schande rechnen wür-
den, auch bei den schwersten Fragen ver-
legen zu scheinen. Diese Art Menschen
hüten sich sorgfältig, mit den Gedanken
Anderer bekannt zu werden; sie müfsten
denn schon zum voraus wissen, dais es
die ihrigen sind. Es kommt ihnen mehr
auf ihren Ruhm oder ihr zeitliches Glück,
als auf das Interesse der Wahrheit selbst
an; die Wissenschaft, wie die Tugend,
ist ihnen, was den Kindern eine bittere
Arzenei ist, von der äie nicht begreifen.
AN BAYLE. 79
wie man sie ohne die Ruilie oder ohne
etwas Zucker nehmen könne. Liebt man
aber die Wahrheit um ihrer selbst wil-
len, so wird man Alles heizlich umar-
men, was uns zu ihr zu rühren verspricht;
gesetzt, dafs wir auch eine Meinung, bei
der wir uns wohl befanden, auf ewig
darüber einbüfsen sollten.
Lassen Sie uns indefs nicht erschrek-
ken, wenn uns dies in tausend Sachen,
worüber Andre entscheidend urrheilen,
uncrewifs macht; haben wir doch die
o
Hauptsache, alle Wahrheit wovon die
Einrichtung unsers Lebens abhängt, in
Sicherheit. Nun können wir's ruhig an-
sehen, wenn sich die Meinungen der Dog-
matiker über Gegenstände der j\'eubegier
auf tausendfältige Art durchkreuzen, es
gelassen abwarten, für welche Seite der
Streitenden sich der Sieg erklären wird.
öo SHAFTESBURY
und allenfalls, so wie es uns unsre Ein-
sicht räth, bald zu dieser bald zu jener
Partei übergehen. Ich glaube, dafs, wenn
es so mit uns steht, die skeptische Laune
uns gerade in die behaglichste Lage ver-
setzt. Was wir durch unser ernstliches
Forschen herausgebracht haben, wird zwar
wenig, aber es wird das Nöthigste seyn,
und wir werden es sic/ier -besitzen: in
allem Übrigen werden wir auf einer brei-
ten bequemen Bahn wandeln, worauf
wir, so weit es nöthig ist, zur Re.chten
und zur Linken ausbengen können.
Hören Sie also' auf, mein th eurer Sk,
Sich über eine. Gemüthsfassung Vorwürfe
zu machen, welche die einzige gute ist,
worin sich der Weltweise gegen die Wahr-
heit befinden kann. W^ehe ihm, wenn
sein Kopf so voll Lehrsätze und Meinun-
gen steckt, dafs nicht noch ein Fleckchen
für
AN BAYLE. 8i
für den Zweifel übrig gelassen ist! Oder
glauben Sie, dafs der in der That und
gründlich überzeugt sei, der sich vor dem
geringsten Zweifel fürchtet? Die Meisten
verbieten sich alles Zweifeln recht geflis-
sentlich; sie besorgen zu ertrinken, wenn
sie sich einmal dem Strom der Vernunft
überhefsen. Lieber halten sie sich an je-
den Zweig schwacher Hypothesen, ehe
sie es wagen, sich durch ihre eigene Kraft
über der Fluth zu erhalten. Das ist die
Denkungsart des eifrigsten Rechtgläubi-
gen, wie des entschlossensten Freigeistes.
Beide fürchten sich, durch den gering-
sten Zweifel ihr System gleichsam anzu-
brechen, um nicht am Ende die Krän-
kung zu haben, es gänzlich verzehrt zu
sehen. Der Eine bleibt also durchgängig
gläubig, der Andere durchgängig ungläu-
big. — Wenn Sie das die Wahrheit Ica-
Engels Philosoph, I. ß
Sa SHAFTESBURY
ben nennen, nun so kann ich Sie nicht
bedauren, dafs Sie sie nicht haben.
Aber Sie haben sie, die Wahrheit, die
dem Menschen erreichbar ist. Nicht die,
die bei dem Allwissenden wohnt; denn
ihren Glanz könneli sterbliche Augen
nicht fassen. Ihr schwacher falber Schim-
mer, der aus unermefslicher Ferne unsre
Tritte in den Gefilden der Nacht nur
kümmerlich erleuchtet, ist Alles, was wir
von ihr vertragen können ; Alles, was uns
von ihr vergönnt ist. Sollen wir uns
wundern; sollen wir uns betrüben, wenn
bei so zweifelhaftem Lichte unser Fufs-
tritt irrt, oder wir des rechten Weges
nicht gewifs sind?
Die Wahrheit ist kein nahes Ziel^ das
man erreichen soll, um dann ewig dabei
auszuruhen. Sie ist für Menschen nichts,
als vollkommnere Erkenntnils. Sobald
AN BAYLE. 83
sich das Bedürfnifs des Wissens in unsrer
Seele fühlen läfst, sobald wir die Sehn-
sucht in xms wahrnehmen^ von den un-
zählbaren Problemen, die uns die Natur
bei jedem Anblick vorlegt, das aufzulö-
sen was uns am nächsten liegt; so spornt
die Unruhe unsers Geistes alle Kräfte der
Seele an, uns durch die Schwierigkeiten
der Untersuchung durchzuarbeiten, in der
Hoffnung, jenseit dieser Dunkelheiten das
volle Licht und unaufhörliche R.uhe zu
linden. — Vergebliche Hoffnung! Neue
Zweifel verwirren uns , neue Aufgaben
reizen unsern immer regen Trieb nach
Wissen. Und so werden wir von einem
Ziele zum andern gelockt ; mit stets neuer
Sehnsucht, die nie ganz betrogen und nie
ganz befriediget wird, bis wir uns unver-
muthet am Ende unsers Lebens, nicht
aber unsrer Untersuchung, befinden. Das
84 SHAFTESBURY
ist das allgemeine Schicksal aller Wahr-
heitsforscher ; und wollen Sie Sich be-
klagen, th eurer Sir, dafs es auch das
Ihrige ist? Wollen Sie mit dem Allerhöch-
sten rechten, dafs er Ihnen einen Wahr-
heitstrieb gegeben, der Sie elend mache,
weil Sie ihn nicht befriedigen können?
Sie werden besser von Gott denken,
wenn Sie besser von Sich Selbst denken
werden. Ist denn mein Freund. Bayle
nicht ein edleres Wesen, als der MatrO'
se, der sich durch das Weltmeer von sei-
nem Schiffe mit forttragen läfst, ohne
sich je beunruhigt zu haben, nach wel-
chen Gesetzen es über die Fluthen hin-
gleitet? wie die grqfse Weltuhr im unbe-
gränzten Oceane ihm seine Stunden
schlägt, und wie ein Fernrohr am Him-
mel die Stral'se findet^ die sein Schiff
auf den Gewässern der Erde durchlaufen
AN BAYLE. 85
soll? — Sehen Sie da die Auflösung des
ganzen Räthsels! Die wonnevoHe Aussicht
auf Ruhe und Zufriedenheit ;, wohin uns
die enthüllte Wahrheit zu führen ver-
heifst^ lockt aus einer schweren Untersu-
chung in die andere. Wir sehen uns
endlich am Ziel unsers Lebens^ ohne
vielleicht diese Ruhe gefunden zu haben;
was wir aber gewifs gefunden haben, ist
die Erhöhung und Veredelung unsers
Wesens^ durch Erweiterung unsrer Kräfte
und unsrer Erkenntnifs.
Gönnen Sie Sich diesen Trost, auf
den Sie so gerechten Anspruch haben!
Sie werden mit Sich Selbst ausgesöhnt
seyn, sobald Sie Muth haben werden Sich
nach Ihrem Werthe zu schätzen. — Em-
pfangen Sie noch zum Schliffs die theu-
resten Versicherungen meiner gefuhlte-
sten Hochachtung; und wenn es die letz-
86 SHAFTESBURY AN BAYLE.
ten seyn sollen die Sie hienieden von mir
annehmen können, wenn Sie mir dies-
seit des Grabes keine Zeugnisse Ihrer
Freundschaft mehr geben sollen: so sey
dies noch mein letzter irdischer Wunsch
für Sie, dafs Sie die Ruhe schon hier
ganz fmden mögen, die Sie in jenem
Leben gewifs erwartet.
/. A. Eberhard,
67
SECHSTES STUCK.
TOBIAS WITT.
JTerr Tobias Witt war aus einer nur
mäfsigen Stadt gebürtig, und nie weit
über die nächsten Dörfer gekommen.
Dennoch hatte er mehr von der Welt ge-
sehen, als mancher der sein Erbtheil in
Paris oder Neapel verzehrt hat. Er er-
zählte gern allerhand kleine Geschicht-
chen, die er sich hie und da aus eigner
Erfahrung gesammelt hatte. Poetisches
Verdienst hatten sie wenig, aber desto
aiehr praktisches, und das Besonderste
m ihnen war, dafs ihrer je zwei und
zwei zusammengehörten.
Einmal lobte ihn ein junger Bekann-
tei, Herr Till, seiner Klugheit wegen. —
SS TOBIAS WITT.
Ei! Fmg der alte J^itt an und schmun-
zelte: war' ich denn wirklich so klug?
Die ganze Welt sagts, Herr Witt. Und
weil ich es auch gern würde
Je nun ! wenn Er das werden will,
das ist leicht. — Er mufs nur fleil'sig Acht
geben, Herr Till, wie es die Narren ma-
chen.
Was! wie es die Narren machen?
Ja, Herr Till ! Und mufs es denn an."
ders machen, wie die.
Als zuni Exempel ? —
Als zum Exempel, Herr Till: So lebte
da hier in meiner Jugend ein alter Arith-
metikus ; ein dürres, grämliches Männ-
chen, Herr ^eit mit Namen. Der gin^
immer herum und murmelte vor siel
selbst; in seinem Leben sprach er mt
keinem Menschen. — Und einem ii's
Gesicht sehen; das -that er noch weniger:
TOBIAS WITT. S9
immer guckt' er ganz finster in sich hin-
ein. — Wie meint Er nun wohl^ Herr
Till, dafs die Leute den hiefsen?
\Yie? — Einen tiefsinnigen Kopf.
Ja, es hat sich wohl ! Einen Narren!
— Hui! dacht' ich da bei mir selbst —
denn der .Titel stand mir nicht an — wie
der Herr Veit mufs man's nicht machen.
Das ist nicht fein. — In sich selbst hin-
ein sehen: das taugt nicht; Sieh du den
Leuten dreist in's Gesicht! Oder gar mit
sich selbst sprechen; pfui! Sprich du lie-
ber mit andern I — Kun, was dunkt Ihm,
Herr Till? Hatt' ich da Recht. ^ ^
Ei ja wohl! Allerdings!
Aber ich weils nicht. So ganz doch
wohl nicht. — Denn da lief noch ein
andrer herum; das war der Tanzmeister,
Herr Flink: der guckte aller Welt in's
Gesicht, und plauderte mit Allem was
go TOBIAS WITT.
nur ein Ohr hatte, immer die Reihe her-
um. Und den, Herr Till — wie meint
Er wohl , dafs die Leute den wieder
hiefsen?
Einen lustigen Kopf? —
Beinahe ! Sie hiefsen ihn auch einen
Nai-ren. — Hui, dacht' ich da wieder;
das ist doch drollig! Wie mufst du's denn
machen, um klug zu heifsen? — Weder
ganz, wie der Herr ^elt, noch ganz, wie
der Herr Flink. Erst siehst du den Leu-
ten hübsch dreist in's Gesicht, wie der
eine, und dann siehst du hübsch bedäch-
tig in dich hinein, wie der andre. Erst
sprichst du laut mit den Leuten, wie der
Herr Flink, und dann insgeheim mit dir
selbst, wie der Herr Veit. — Sieht Er,
Herr Till? So hab' ich's gemacht, und
das ist das ganze Geheimnifs.
Ein andermal besuchte ihn ein junger
TOBIAS WITT. 91
Kaufmann, Herr Flau, der gar sehr über
sein Unglück klagte. — Ei was? fing der
alte JVitt an und schüttelte ihn : Er mufs
das Glück nur suchen, Herr Flau; Er
mufs darnach aus seyn.
Das bin ich ja lange; aber was hilfts?
— Immer kommt ein Streich über den
andern! Künftig leg' ich die Hände lie-
ber gar in den Schoofs, und bleibe z^i
Hause. —
Ach nicht doch ! nicht doch , Herr
Flau ! Gehn mufs Er immer darnach, aber
sich nur hübsch in Acht nehmen, wie
Er s Gesicht trägt.
Was? Wie ich's Gesicht trage? —
Ja, Herr Flau! Wie Er's Gesicht trägt.
Ich will's Ihm erklären. — Als da mein
Nachbar zur Linken sein Haus baute ; so
lag einst die ganze Strafse voll Balken
und Steine und Sparren : und da kam
92
TOBIAS WITT.
unser' Bürgermeister gegangen, Herr
Trick; damals noch ein blutjunger Raths'
herr: der rannte, mit von sich geworfnen
Armen, ins Gelag hinein, und hielt den
Nacken so steif, dafs die Nase mit den
Wölken so ziemlich gleich war. — Pump!
lag er da, brach ein Bein, und hinkt
-noch heutiges Tages davon. — Was will
ich nun damit sagen, lieber Herr Flau? —
Ei die alte Lehre! Du sollst die Nase
nicht allzuhoch trägen.
Ja sieht Er? Aber auch nicht allzu-
niedrig. — Denn nicht lange darnach
kam noch ein andrer gegangen; das war
der Stadtpoete, Herr Schall: der mufste
entweder Verse oder Haussorgen im
Kopfe haben; denn er schlich ganz trüb-
sinnig einher, und guckte in den Erdbo-
den, als ob er hineinsinken wollte. —
Krach! rifs ein Seil; der Balken herunter.
TOBIAS WITT. 93
und wie der Blitz vor ihm nieder. — •
Vor Schrecken fiel der arme Teufel in
Ohnmacht^ ward krank^ und mufste gan-
ze Wochen lang aushalten. — Merkt Er
nun wohl, was ich meine, Herr Flau?
Wie man's Gesicht tragen mufs? —
Sie meinen, so hübsch in der Mitte. —
Ja freilich! dafs man weder zu keck
in di^e Wolken, noch zu scheu in den
Erdboden sieht. — Wenn man so die
Augen fein ruhig, nach oben und unten
und nach beiden Seiten umheirwirft: so
kommt man in der Welt schon vor-
wärts, und mir dem Unglück hat's so
leicht nichts zu sagen.
Noch ein andermal besuchte den Herrn
Witt ein junger Anfänger, Herr Wills;
der wollte zu einer kleinen Speculation
Geld von ihm borgen. — Viel, fing er
an, wird dabei nicht herauskommen; das
94 TOBIAS WITT.
seh* ich vorher : aber es rennt mir so
von selbst in die Hände. Da will ich's
doch mitnehmen.
Dieser Ton stand dem Herrn Witt
gar nicht an. — Und wie viel, meint Er
denn wohl, lieber Herr Wills, dafs Er
braucht? —
Ach nicht viel! Eine Kleinigkeit! Ein
hundert Thälerchen etwa. —
Wenn's nicht mehr ist; die will ich
Ihm geben. Recht gern! — Und damit
Er sieht dafs ich Ihm gut bin, so will
ich Ihm obendrein noch etwas anders
geben, das unter Brüdern seine tausend
Reichsthaler werth ist. Er kann reich
damit werden. —
Aber wie, lieber Herr Witt? Oben-
drein! —
Es ist nichts. Es ist ein blofses Hi-
störchen. — Ich hatte hier in meiner
TOBIAS WITT. 95
Jugend einen Weinhändler zum Nachbar,
ein gar drolliges Männchen, Herr Grell
mit Namen : der hatte sich eine einzige
Redensart angewöhnt; die bracht' ihn
zum Thore hinaus.
Ei, das wäre! Die hiefs? —
Wenn man ihn manchmal fragte: Wie
stehts, Herr Grell? Was haben Sie bei
dem Handel gewonnen? — Eine Kleinig-
keit^ fing er an. Ein fünfzig Thälerchen
etwa. Was will das machen? — Oder
wenn man ihn anredte: Nun, Herr Grell?
Sie haben ja auch bei dem Biuikerutte
verloren? — Ach was? sagte er wieder.
Es ist der Rede nicht werth. Eine Klei-
nigkeit von ein hunderter fünfe. — Er
safs in schönen Umständen, der Mann;
aber wie gesagt! die einzige verdammte
Redensart hob ihn glatt aus dem Sattel.
Er mufste zum Thore damit hinaus. —
<jQ :rOBIAS WITT.
Wie viel war es doch, Herr Wills, das
Er wollte?
Ich? — ich bat um hundert Reichs-
thaler, lieber Herr Witt.
Ja recht! Mein Gedächtnifs verläfst
mich. — Aber ich hatte da noch einen
andern Nachbar; das war der Kornhänd-
ler, Herr Tomm: der baute von einer
andern Redensart das ganze grofse Haus
auf, mit Hintergebäude und Waarenla-
ger. — Was dünkt Ihmi dazu? —
Ei, ums Himmels willen! Die mögt'
ich wissen, — Die hiefs? —
Wenn man ihn manchmal fragte: Wie
steht's, Herr Tonnn? Was haben Sie bei
dem Handel v^erdient? — Ach viel Geld!
fing er an, viel Geld! — und da sah man
wie ihm das Herz im Leibe lachte; —
ganzer hundert Reichsthaler ! — Oder
wenn man ihn anredte: Was ist Ihnen?
War-
I
TOBIAS WITT.
97
Warum so mürrisch, Herr Toinm? —
Ach! sagte er wieder: ich habe viel Geld
verloren, viel Geld ! Ganzer fünfzig Reichs-
thaler. — Er hatte klein angefangen, der
Mann; aber, wie gesagt,, das ganze grofse
Haus baute er auf, mit Hintergebäude
und Waarenlager. — :- Nun, Herr Wills?
Welche Redensart gefällt Ihm nun bes-
ser ?
Ei, das versteht sich. Die letzte !
Aber — so ganz war er mir doch
nicht recht, der Herr Toimn. Denn er
sragte auch: viel Geld! wenn er den Ar-
men oder der Obrigkeit gab ; und da
hätt' er nur immer sprechen mögen, wie
der Herr Gre//, mein anderer Nachbar. —
Ich, Herr Wilh, der» ich zwischen den
beiden Redensarten mitten inne wohnte;
ich habe mir beide gemerkt : und da
Sprech' ich nun, nach Zeit und Gelegen-
Engels Philosoph^ I. 7
98 TOBIAS WITT.
heit^ bald wie der Herr Grell, und bald
wie der Herr Tonnn,
Nein, bei meiner Seele ! Ich halt's mit
Herrn Tonnn. Das Haus und das Waa-
renlager gefällt mir.
Er wollte also? —
Vi«! Geld ! viel Geld , lieber Herr
Witt! Ganzer hundert Reichsthaler!
Sieht Er, Herr Wills? Er wird schon
werden. Das War ganz recht. — Wenn
man von einem Freunde borgt, so mufs
man sprechen, wie der Herr Tormn; und
wenn man einem Freunde aus der Noth
hilft, so mufs man sprechen, wie der Herr
Grell
99
SIEBENTES STUCK.
DIE EICHE UND DIE EICHEL*).
JN icht lange nach der Herausgabe des
Buchs^ worin Herr Dute?is die sammtli-
chen Entdeckungen der neuern Weltvvei-
sen schon in den Alten fand, besuchte er
seinen Freund, den Marchese Gemelli ,
auf dessen unweit Turin gelegenem Land-
gute. Er traf ihn im Park, und das Ge-
•) Plato schrieb Sokratische Gfespräclie , noch bei
Lebzeiten des Sokrates. »Was hat dieser jun-
ge Mensch mich nicht alles plaudern lassen ! ««
sagte einst Sokrates, da er eins dieser Gesprä»
che lesen hörte. — Wenn Hejr Dutens diesen
Aufsatz sehen und das Nehuiliche sagen sollte,
so mag der Verfasset es haben. Das wird jener
«chwerlich zu ihm sagen: Du bist nicht Plato j
denn er wiirde sich der Antwort aussetzen; Du
bist nicht Sokrates.
100 DIE EICHE
sprach fiel, sogleich nach den ersten Be-
willkommungen, auf das Buch des Herrn
Dutens.
In der That, Herr Dutens ; ich bin
mit Ihnen mehr, als mit Ihren Vorgän-
gern, zufrieden. Es fehlte /ast allen, die
sich an diese Untersuchung wagten, an
hinlänglicher Einsicht und Unparteilich-
keit. — Wer die Alten genugsam kann-
te, der kannte die Neuern zu wenig; wer
mit den Neuern vertraut war, der war es
nicht mit den Alten. Jener wollte sich
für seine gelehrten Nachtwachen durch
den unmäfsigen Werth belohnen, den er
den Gegenständen seines Fleifses gab;
dieser wollte sich, wegen seines Mangels
an Gelehrsamkeit, eben durch seine Ver-
achtung der Alten, rechtfertigen. — Sie
wissen, wie das ist, liebster Freund. Man
ergötzt sich über das was man hat, durch
UND DIE EICHEL. loi
den Werth den man ihm giebt, und trö-
stet sich über das was man nicht hat,
durch den eingebildeten Unwerth. —
Sie glauben also, dafs ich beide Ab-
wege vermieden habe? —
So ziemlich !
Dafs ich gleiche Unparteilichkeit ge-
gen Alte und Neue bewiesen?
Gleiche wohl nicht. Aber doch mehr,
als andre, Herr Dutens. — Auch verei-
nigten Sie mehr, als andrer, jene zwie-
fache Kenntnifs, die zu so einer Verglei-
chung nothwendig ist.
Sie schmeicheln mir sehr, Herr Mar-
chese. — Aber wenn ich Sie kenne, so
ist eben Ihr Lob schon die Vorbereitung
zu Ihrem Tadel. — Lassen Sie weiter
hören!
Etwas hätte ich in der That zu erin-
nern.
I02 DIE EICHE
Das ist?
Treten Sie zu mir;, Herr Dutens ! Be-
trachten Sie mir jene herrliche Eiche, die
schönste und grölseste dieser Gegend. -^
Wie weit hat sie ihre Wurzeln verbrei-
tet! wie tief in den Boden geschlagen! —
Der Orcan kann sie nicht stürzen, ohne
das ganze Land umher aufzuwühlen. -^
Und weich ein Stamm ! Welche Pracht
ihrer Krone! Wie herrlich sie ihre Zwei-
ge umherträgt ! Wie viel Land sie be ■■
schattet! Nicht wahr? Sie sind ent-
zückt über den Anblick?
Ich bin verlegen über die Antwort.
Wie gehört das hieher, Herr Marchese?
Betrachten Sie mir jetzt diese Eichel !
— Uniäugbar schliefst sie doch die gan-
ze Anlage zu einem gleich herrlichen Bau-
me in sich? enthält doch, in ihrer klei-
nen unentwickelten Pflanze, alle Haupt-
theile der Eiche? —
1
UND DIE EICHEL. io5
Allerdings ! — Aber weiter?
Ich frage Sie nun : Ist darum die Ei-
ehel eins mit der Eiche? Ist dieses hin-
gestreute, dem Zufall überlafsne, viel-
leicht zum Vermodern bestimmte Saa-
menkorn^ das dem Auge noch keinen
Anblick,, dem Müden noch keinen Schat-
ten, den Vögeln des Himmels noch kei-
ne Freistatt giebt; ist es jenem prächti-
gen, tiefgewurzelten, weit umher schat-
tenden Baum, zu vergleichen, der aus der
unansehnlichen Eichel hervorkeimte, und
langsam, in ganzen Jahrhunderten, zu
dieser Höhe, dieser Stärke und Majestät
empor wuchs?
Aber wer behauptet das auch? —
Sie, mein Freund! Sie!
Und wo? —
Eben in dem Werke, von dem wir
sprachen. — Der erste Keim eines Sy-
io4 DIE EICHE
Sterns ist Ihnen gleich das System; das
erste Element eines Gedankens, gleich
der Gedanke. — Ob ein Satz von den
Alten nur gleichsam gewagt; eine Wahr-
heit nur von ferne, nur aus Vermurhungs-
gründen erkannt, ohne alle Bestimmun-
gen hingeworfen, ohne alle Untersuchung
ihrer Folgen, ihrer Verbindung mit an-
dern wichtigen Wahrheiten , verlassen
worden? oder ob sie von den Neuern in.
ihrem Zusammenhange mit andern Wahr-
heiten gedacht, in den ersten Begriffen
fest gegründet, bis in alle ihre wichtigen
Folgen entwickelt worden? — das alles
ist Ihnen eins wie das andre. Sie sehen
schon immer in einem einzelnen Gedan-
ken ein ganzes System, und geben dem
alle Ehre, der die erste flüchtige Idee
hatte.
Darf ich um Beweis dieser Behaup-
tung bitten? —
UND DIE EICHEL. 105
Ich habe zu wählen, Herr Dutens.
Wenn das was ich Ihnen vorwerfe, ein
Fehler ist, so begehen Sie ihn fast in je-
dem Capitel. — Doch ich will diejenige
Stelle vorziehn, die mir gleich Anfangs
am meisten auffiel. Sie läugnen den
Neuern die Erfindung des Systems ab,
das seinen Namen vom Copernicus führt;
den Anfang dieses Absatzes machen Sie
mit einer ernstlichen Klage über die Ei-
telkeit der Neuern. Schon Pythagoras,
sagen Sie, hielt die Erde für beweglich;
er schrieb ihr, weit entfernt sie für den
Mittelpunct der Welt zu halten, einen
kreisförmigen Lauf um das Feuer (die
Sonne) zu. Also, schliefsen Sie, kannte
schon Pythagoras das System des Coper-
nicus. So auch Ariatarch von Samos;
auch Timäus vonLokris: denn beide be-
haupteten, dafs die Erde beweglich sei,
und ei^en kreisförmigen Lauf halte.
io6 DIE EICHE
Die Stellen sind in den Alten da,
Herr Marchese,
Das sind die alle, die Sie uns anfüh-
ren; — ob ich gleich in manchen etwas
ganz anders sehe, als Sie. Auch hier
vielleicht in der angeführten Stelle vom
Pylhagoras *).
Aber was ist denn das Wesentliche
im System des Copernicus ? das Erste? —
Doch unstreitig die Voraussetzung: dals
die Sonne der Mittelpunct, und die Erde
beweglich sei
Das will ich zugeben, Herr Dutens.
Aber welcher Unterschied zwischen jenen
hinge vvorfnen, mit Irrthümern vermisch-
ten , mehr errathenen als bewiesenen
Sätzen; und zwischen dem so richtig be-
stimmten, so wohl in Ordnung gebrach-
*) Man sehe das itzt erschienene Werk von Hm
Tiedeiuaiin : Erste Philosophen Griechenlands.
. UND DIE EICHEL. 107
ten, durch so viele zusammenstimmende
Beobachtungen festgegrundeten Systeme
der Neuern! — Ich hoffe, Sie räumen
mir diesen Unterschied ein? —
Allerdings, Herr Marchese. Aber be-
denken Sie auch, dafs von den Werken
der Alten so vieles verloren ging? Dafs
vielleicht eben in dem was verloren
ging
Genug, Herr Dutens! Bis in diesen
Schlupfwinkel kann ich Sie unmöglich
verfolgen. •— Doch was hilft Ihnen auch,
bei unserm jetzigen Streite, dieses so un-
widerlegliche, obgleich 50 unvs'ahrschein-
liehe, Vielleicht? Aus Quellen die nicht
vorhanden sind, haben doch die Neuern
nicht schöpfen können? Räumen Sie mir
also immer ein, dafs jener Unterschied
vollkommen so grofs ist, wie ich ihn an-
gab I -:^
io8 DIE EICHE
Gut dann! Er soll es seyn^ Herr Mar-
chese.
Und um mich erkenntlich zu zeigen;
so sollen Sie wieder in allem Recht ha-
ben, was Sie behaupten. — Die Alten
sollen sich selbst so verstanden haben^
wie Sie sie verstehen ; die angeführten
Stellen sollen wirklich die Quellen seyn,
aus welchen die Neuem schöpften ; ich
frage noch immer: was folgt daraus zum
Vortheil der Alten? was zum Nachtheil
der Neuern? — Und von dieser Seite ha-
ben Sie doch wirklich die Sache genom-
men.
Das thut jedermann^ Herr Marchese.
Der erste Erfinder hat immer die Ehre.
Verzeihen Sie mir! Wenn das jeder-
mann thut, so hat jedermann Unrecht.
Und ein Philosoph sollte nie etwas aus
dem Grunde thim , weil es jedermann
thut.
UND DIE EICHEL. 109
Also schätzen Sie Genie nicht höher,
als Fleifs? —
Allerdings schätze ich's höher.
Und ist denn nicht Erfinden das Werk
des Genies ? Ausbilden das Werk des
Fleifs es ?
Da liegt der Fehler. Sie haben mir
einen z^u engen Begriff von dem Erfinder.
Dürfte ich um den Ihrigen bitten? -^
Sie sagen so, liebster Freund: Diese
Eichel schliefst die ganze Anlage der Ei-
che in sich. Die Eiche ist nichts, als die
Entwickelung dieser Eichel.
Nun ja! Werden Sie anders sagen? —
Nein! Aber fortfahren werd'ich; Die-
se Eichel ist wiederum nichts, als die
Entwickelung eines frühern Urstoffs. Die
Natur war nichts thätiger, da sie die Ei-
chel aus ihrem Urstoffe, als da sie die
Eiche aus der Eichel entwickelte : die
ILO DIE EICHE
Elemente mufsten ihre ganze Kraft zu
dem letzten Endzwecke, wie zu dem er-
sten, vereinigen. Luft und Erde, und
Feuer und Wasser, mufsten das eine mal
so wirksam seyn, wie das andere mal.
Die Natur hat von der einen Wirkung so
viel Ehre, als von der andern.
Aber wer nun den ersten Urstoff her-
gab —
Verzeihen Sie! Das war nicht die Na-
tur; das war Gott. — Die Natur kann
nur entwickeln, aber Gott hat geschaffen.
Und die Anwendung auf unsern
Streit? —
Die ist so leicht, sollt' ich meinen. —
Die Gegenstände der Philosophie waren
von jeher vorhanden. Die Keime aller
philosophischen Wahrheiten lagen in je^
der menschlichen Seele. — Was der den-
kende Geist von jeher gethan hat und
UND DIE EICHEL. m
thun konnte, bestand blofs in der Ent-
wicklung dieser Keime, in der Aufklä-
rung^ Auseinandersetzung, mannichf alti-
gen Verbindung und Trennung der Ideen.
Es ist eben die Kraft, die eine dunkle
Idee zur ersten Klarheit, und die sie zur
Deutlichkeit, zur Vollständigkeit bringt.
Ich denke, das werden Sie mir einräu-
men, Herr Dutens.
Eben die Kraft; allerdings! Aber ich
frage noch immer; in w^elchem Fall ist
mehr Anstrengung der Kraft?
Und glauben Sie denn, dafs sich diese
Frage so im Allgemeinen beantworten
läfst? — Es kommt alles auf die Beschaf-
fenheit der Idee, auf die Fassung des
Geistes, auf die schon vorhergegangenen
EntWickelungen anderer Ideen an , die
die jetzige mehr oder weniger erleich-
tern. — Die erste Idee haben, heifst oft
112 DIE EICHE
nichts ; sie schätzen^ verfolgen, ausbilden,
oft alles. — Sie bewundern den Shakes-
pear, Herr Dutens?
Wie billig! —
Aber nach Ihren Grundsätzen müfsten
Sie meine Landsleute mehr, als den Ihri-
gen, bewundern. Shakespear hat viele
seiner vortreflichsten Stücke aus italiäni-
schen Novellen geschöpft, die nichts we-
niger , als vortreflich waren. Sagen Sie
mir: wollten Sie wohl den gan:^en Reich-
thum von Gemälden, von Charakterschil-
derungen, von eignen, fruchtbaren, er-
staunenswürdigen Gedanken, die er aus
der Fülle seines originellen Genies hin-
zuthat, wollten Sie wohl die ganze Aus-
bildung, die er dem ersten unbedeuten-
den Stoff gab, geringer achten, als die-
sen Stoff? Den Geist, den er der todten
Materie einhauchte, geringer, als die Ma-
terie?
UND DIE EICHEL. 115
terie? Shakespear geringer^ als den No-
vell ens ehr ei b er? —
Aber ein Dichter und ein Philosoph,
Herr Marchese —
Mögen so verschieden seyn_, als sie
wollen: in unserm Fall sind sie's nicht. —
Wenn bei einem Alten eine nur halbe
schwebende Idee _, oft kaum kenntlich,
unter der dichten Hülle einer Metapher
verborgen lag; der Neuere sie auffafste,
richtig bestimmte, in vollem Lichte vor-
trug; wenn jener eine Wahrheit nur ganz
dunkel in einem einzelnen Falle dachte,
der Neuere sie von den einzelnen Fällen
rein absonderte, und in voller Allgemein-
heit zum Grundsatz eines Systems erhob ;
wenn ein Alter eine gewagte Lehrmei-
nung aus ganz falschen Gründen durch
sophistische Schlulsreihen herleitete, ein
Neuerer sie aus ihren wahren Erkennt-
Engels Philosoph, I. 3
ii4 DIE EICHE UND DIE EICHEL.
nifsgründen durch richtige Schlufsketten
erwies: wollten Sie da so ganz ohne Be-
denken dem Alten vor dem Neuern den
Vorzug geben? Sollte nichts wenigstens
dann und w^ann^ der Neuere ein eben so
grofses f oder gröfseres Genie seyn , als
jener ? — — Doch ich sehe , dafs ich
Ihnen zur Last bin, Herr Dutens. Wir
haben hier reizendere Gegenstände der
Unterhaltung vor uns. Erlauben Sie mir,
dafs ich Ihnen in einem oder zwei Brie-
fen mittheile, was ich etwa sonst über
Ihr Buch noch gedacht haben kann.
ti5
ACHTES STÜCK.
ERSTER BRIEF AN HERRN
DUTENS.
JN ur noch Eine Frage, Herr Dutens, die
zur Vollendung unsers neulichen Ge-
sprächs gehört, und die sich blofs einem
denkenden Kopfe thun läfst! — Sollte es
Ihnen nicht oft wiederfahren seyn, dafs
Sie durch eigenes Nachsinnen auf Ideen,
Grundsätze, Hypothesen, Auflösungen ge-
rathen, die Sie nachher, zu Ihrem gröfs-
ten Befremden, schon bei Andern gefun-
den? Wenn das ist; so darf ich um
desto dreister die Voraussetzung zurück-
nehmen: dafs die Neuern wirklich alle
angegebene Ideen aus den Alten ge-
schöpft haben; und dann fällt auf ein-
n6 ERSTER BRIEF
mal der grofse Vorzug der AZten hin-
weg. — Cartesius^ sagen Sie oft^ hat die
und die Lehre vom Epikur entlehnt^
Locke die und die Wahrheit im Aristo-
teles gefunden, Leibnitz die und die Idee
aus dem Plato genommen; aber wie in
aller Welt können Sie das beweisen?
War' es denn nicht möglich, dafs zwei
verschiedne Genies, die einerlei Seelen-
kräfte auf einerlei Gegenstände anwen-
den, auch einerlei Ideen daraus entwik-
kelten? Oder ist es nicht in manchen
Fällen ganz sichtbar, dafs jeder zu dem
gemeinschaftlichen Resultat auf seinem
eignen Wege gekommen ? Und hängt
nicht oft der ganze Werth^ die ganze
Fruchtbarkeit einer Idee, von dem einzi-
gen .Umstände ab: ob sie sich an diese
oder jene Gedankenreihe hängte? von
diesen oder jenen Gründen das Resultat
AN HERRN DUTENS. 117
war? Freilich können Sie nun die
Alten noch immer Erfinder nennen: aber
nur im vorzüglichen, nicht im ausschlie-
fsenden Verstände; insoferne sie nehm-
lich die ersten waren, die gewisse Ideen
hatten oder vortrugen : aber das Ver-
dienst dabei fällt nun weg, und wird
Glück. Leibnitz, Locke, Cartesius, ste-
hen nun jenen Alten nicht weiter nach,
als insoferne sie später geboren wurden.
Ich klagte Sie neulich an, Herr Du-
tens, dafs Sie in dem ersten Keim eines
Systems sogleich das System, in dem Ele-
ment eines Gedankens sogleich den Ge-
danken fänden. Sehen Sie jetzt, wie ich
Sie rechtfertige! — Herr Dutens, setze
ich voraus, hatte die Werke der Neuern
eher, als die der Alten, gelesen. . In je-
nen hatte er alles das weiter ausgeführt,
näher bestimmt, richtig bewiesen gefim-
ii8 ERSTER BRIEF
den, was in diesen nur noch roh, dun-
kel und unbewiesen angegeben war. Er
hatte sich durch eine vertraute Bekannt-
schaft mit den Neuern gewöhnt, zu je-
dem Begriff seine Bestimmung, zu jedem
Satz seine Einschränkung, zu den Folgen
die Grunde, und zu den Gründen die
Folgen hinzuzudenken. Ihm hatte diese
von Andern geschehene Entwickeiung
kein eigenes Nachsinnen, nur Aufmerk-
samkeit auf den Vortrag seiner Lehrer,
gekostet. Er konnte sich also keiner
Mühe und Schwierigkeiten dabei bewufst
seyn; vielmehr war es ihm völlig habi-
tuell geworden, jede verworrne Idee zur
Deutlichkeit zu erheben, jede irrige zu
berichtigen, von den Folgen zu den Grün-
den, und von den Gründen zu den Fol-
gen mit gröfster Leichtigkeit auf - und
abzusteigen. So unterrichtet und so ge-
AN HERRN DUTEJNS. 119
wohnt, ging er an die Werke der Alten:
und was war nun natürlicher, als dafs er
gleich in ]eder dunklen Vermuthung die
helle Wahrheit, in jeder einzelnen Idee
die Reihe hinzugehöriger Ideen, in jeder
abgerissenen Trümmer das Gebäude ei-
nes Systems; kurz, dafs er in der Eichel
die Eiche sah ? die er gewifs nicht er-
kannt haben würde, wenn nie eine ge-
wachsen wäre. — ^>Wie!« rief noch neu-
lich ein Freund, dem ich von den elek-
trischen Versuchen Neutons sagte: ^^INeu-
ton keinen Funken gesehen? Sie scher-
zen. Er fährt ja so sichtbar heraus!« —
Ich komme wieder zu Ihrem Buche,
Herr Dutens. So lange es bei der ei-
gentlichen Philosophie bleibt, geht es mit
Ihrer Erklärungsart noch so ziemlich von
stalten; aber in Physik, Mathematik, und
andern ähnlichen Wissenschaften^ haben
I20 ERSTER BRIEF
die Neuern zu viel Eignes, als dafs man
so leicht mit ihnen fertig würde. Hier,
hätte ich geglaubt, würden Sie den Vor-
zug derselben offenherzig gestanden^ und
ihrem Genie wenigstens eben so viel als
dem Zuiall eingeräumt haben; aber ein-
mal hatten Sie Sich bei Gelegenheit der
philosophischen Materien zum Vortheil
der Alten erwärmt, und so rifs Sie denn,
der Enthusiasmus unvermerkt mit sich
fort. Der Mensch hat in seiner Natur
einen gewissen Trieb zur Vollendung, ver-
möge dessen er nichts gerne halb läfst.
Kommt er einmal ins Erheben oder Ver-
achten, so kommt er nicht so leicht wie-
der heraus. — Um mich nicht in einzel-
ne Capitel einzulassen; will ich Sie nur
an Ihre Vorrede erinnern. :»)In der Ver-
gleichung, sagen Sie, die man gemeinig-
lich über die Verdienste der Alten und
AN HERRN DUTENS. 121
der Neuern anstellt/ mufs man vornehm-
lich diejenigen Künste und Wissenschaf-
ten, die vorzüglich eine lange Erfahrung
und Ausübung erfordern^ Vi^enn sie zur
Vollkommenheit gedeihen sollen, von de-
nen unterscheiden, die allein von- Genie
und Talenten abhängen. . . . Man mufs
auch das nicht aus der Acht lassen, dafs
die mehresten der so bewundernswürdi-
gen und nützlichen Entdeckungen, deren
sich unser Zeitalter berühmt, als z. B.
I das Pulver, der Compafs, die Ferngläser,
u. s. w. nicht das Werk philosophischer
Genies, sondern die Wirkung des blofsen
Ungefährs oder die Versuche unwissen-
der Künstler gewesen sind.«
Der kurze Inhalt dieser ganzen Stelle
ist der: Was von langer Erfahrung und
Ausübung ab hing, das haben die Neuern
immer mehr und mehr erweitert und fast
122 ERSTER BRIEF
zu dem höchsten Grade der Vollkom-
menheit gebracht ; was von Genie und
Talenten abhing, das haben die Alten
schon alles weggenommen. Also blofs
der Fleil's, blofs das Sammeln und Beob-
achten, macht den Vorzug der Neuern
aus? Blofs in Botanik und Anatomie und
Chirurgie und andern von Ihnen ange-
führten Wissenschaften — die denn doch
immer auch Genie erfordern — sind sie
weiter gekommen? Sie haben gleichsam
nur unter den Augen der Alten nach
Maafsgabe der Ideen, die diese alleinige
Genies ihnen angegeben, jmechanisch fort-
gearbeitet? Und der Fortgang, den sie
in der Schiffahrt, in der Astronomie, in
allen Theilen der Physik gemacht, der
hinge blofs von der Erfindung des Com-
passes, der Ferngläser, der Vergröfse-
rüngsgläser und anderer Werkzeuge ; die-
AN HERRN DUTENS. 123
se Erfindung wieder vom Zufalle , und
also am Ende Alles vom Zufalle ab? —
Wahr ist es^ der Zufall hat dabei sehr
viel gethan, aber doch nimmermehr Al-
les. Viele der wichtigsten Erfindungen,
die uns grofse Aufschlüsse in der Natur
gegeben, sind nichts weniger als zufällige
Entdeckungen; es sind wahre, mit Ab-
sicht gesuchte Erfindungen gewesen» zu
denen aber freilich die Data erst mufs-
ten vorhanden seyn. Und dann hat auch
der Zufall zu jenen glücklichen Entdek-
kungen nur denAnlafs geliefert, den erst
das arbeitende Genie der Entdecker,
oder derer die ihre Entdeckungen auf-
fingen, zu seiner völligen zweckmäfsigen
Vollkommenheit ausbildete. Eine Ausbil-
dung, die nicht selten die künstlichsten
Ideenverbindungen und eine sehr lange
Reihe von Reflexionen erforderte. —
124 ERSTER BRIEF
Sonach dächte ich immer, Herr Du-
tens, dalis Sie zwar dem Zufalle liefsen was
ihm gebührt, aber auch gegen die Ver-
dienste der Neuern gerecht blieben. Wir
haben eben sowohl unsere Genies, und
haben gewifs eben so grolse Genies ge-
habt, als die Alten; auch wäre es in der
That sehr sonderbar, wenn es anders
wäre. Warum sollte denn nur die gei-
stige Natur an Kräften erschöpft seyn,
da die körperliche noch immer eben so
wacker und eben so voll Zeugungskraft
ist, als vordem? — Die Neuern haben
nicht blofs Erfahrungen angestellt, sie
haben auch vorlreilich darüber gedacht;
sie haben nicht blofs entdeckt, sie haben
auch wirklich erfunden; sie haben es in
ihren Entdeckungen nicht blofs bei dem
bewenden lassen was der Zufall that; sie
haben diese auch mit grofsem Verstände
AN HERRN DUTENS. 125
vervollkommnet, mit grolsem Verstände
die Beobachtungen verglichen, mit gro-
fsem Verstände Grundsätze heraus gezo-
gen, und zur Erweiterung und Bereiche-
rung der Wissenschaften angewandt.
Ich bin u. s. f.
120
NEUNTES STÜCK.
ZWEITER BRIEF AN HERRN
DUTENS.
öie scheinen mich wegen der Erinne-
rungen, die ich Ihnen entgegengesetzt,
einigermafsen in Verdacht zu haben, als
ob ich ein Verächter der Alten wäre. Sie
thun mir Unrecht, Herr Dutens. Man
darf ja denjenigen nicht gleich verachten,
den man nicht ganz allein und ausschlie-»
fsungs weise hochachten kann. In der
That gehöre ich zu den gröfsten Vereh-
rern der Alten, der ihnen nicht nur "viele
der Vorzüge und Verdienste, die Sie
ihnen beilegen , sondern überdas noch
manche andre des Vortrages und des
schriftstellerischen Charakters zugesteht.
AN HERRN DUTENS. 127
die schon allein zu ihrer eifrigsten Le-
sung ermuntern raüfstenr Nur das konn-
te ich nicht zugeben, dafs Sie die Genies
der Alten auf eine ungerechte Art, und
die zugleich den Muth des Philosophen
eher niederschlagen, als zu weiterm For-
sctien beseelen mufs, über alle n^uern
Genies hinausheben wollten. Der Rang-
streit ist, wie überall, so auch hier, ein
sehr unnützer Streit; und hier noch um
desto unnützer, da es in dieser Materie
der Zweifel und Dunkelheiten, der Viel-
leicht und der Vermuthlich so viele giebt,
dafs man nie eine sichre endliche Ent-
scheidung zu hoffen hat. Überdies, wenn
es ungereimt wäre, das Genie nur dem
einen Theile ausschliefsungsweise vor dem
andern beizulegen; so würde die ganze
Untersuchung zuletzt auf die Frage an-
kommen: welcher von beiden Th eilen
128 ZWEITER BRIEF
mehr, weldier. weniger Gtiiiien giejzeigt?
Aber wer hat' noch je einen richiigen
Maafsstab für die Genies erfmiden, oder
wer wird ihn erfinden?
Sie, mein Freund, vvaren bei Ihrein
Kenntnissen unstreitig au einem weit wich-
tigern und originalem Werke fähig» Ebteu
darum verdri eist 'es mich, dafs Sie jeneil
alten fast vergefsnen Rangstreit . wieder:
hervorgesucht haben: Die Auffeehrift Ih-
res Buchs: eine Untersuchung über den
Ursprung der' Elitdeckungen der Neuern,
versprach mir so viel! Ich erwartete von
dem Verfasser der Monadologie ujid dem
verdienstvollen Herausgeber der Leibnit^i-
schen Werke nichts Geringers >ials. ^afs
er den Systemen der Neuern bis zti den
ersten unvollkoramnen, zerstreuteil Ideen,
woraus sie geworden sindf nachspür ert^
dafs er mich voix' den vollen und tiefen
Strö- ■
j
AN HERRN DUTENS.
129
Strömen, die sich jetzt mit solcher Pracht
in 'das -allgemeine Meer der Erkenntnifs
erglefsen, bis zu den ersten nnansehnli-
chen Quellen hinaufbegleiten, und mir
während seines Ganges zeigen würde, wie
sie durch allmähliche Aufnahme einzelner
Zuflüsse bis zu ihrer jetzigen Fülle und
Herrlichkeit angewachsen. Kurz, ich er-
wartete ein Werk, worin nicht sowohl
die Philosophen, als die Ideen der Philo*-
sophen verglichen, und das allmähliche-
Wachsthum der menschlichen Erkennt-
nifs, w^enn auch nur zum Theil, wenn
auch nur in einigen Puncten, entwickelt
würde. Und in der That, liebstei* Freund,
hätten Sie die Schwierigkeiten, die sich
freilich bei so einem Werke finden, nur
mit einigem Glück überwunden; hätten
Sie die Ausführung nur einjgermafsen zu
den philosophischen Absichten hingelenkt,
r.ngels Philosopli, T. q
150 ZWEITER BRIEJP
um derentwillen so ein Werk eigentlich
gewünscht wird: was für Dank würden
Sie Sich nicht bei der gelehrten Welt er-
worben, und was für Erbauung bjei dem
Gelehrten sowohl als dem Denker gestif-
tet haben!
Lassen Sie mich hier einen der Ge-
sichtspuncte angeben , aus welchem ich
so eine Geschichte geschrieben wünsch-
te. — Wir sind unläugbar seit den Zei-
ten der Griechen und Römer weiter ge-
kommen: nicht blofs in solchen Wissen-
schaften > die sich unmittelbar auf Erfah-
rung und Beobachtung gründen, oder wo
erst ein glückliches Ungefähr neue Werk-
zeuge der Erfindung hergeben mufs; son-
dern auch in den höhern metaphysischen
Wissenschaften, auch in den abstractern
Speculationen über Gott und Welt und
Natur der Seele u. s. f. Wir finden über-
AN HERRN DUTENS. 131
all mehr Licht _, mehr Ordnung, mehr
Wahrheit und Evidenz in den neuern,
als in den altern Zeiten. Aber eben so
unläugbar ist's, dafs wir in andern wich-
tigen Stücken der Erkenntiüfs, trotz den
fortgesetzten unablässigen Bemühungen
der gröfsten Köpfe, noch immer eben so
unwissend sind, wie die Alten. Wenn
wir ja weiter gekommen ; so ist es nur
darin, dafs wir unser Unvermögen zu
wissen besser einsehen: denn auch dieses
heifst weiter kommen. — Wir haben auf
dem Felde der Wissenschaften einige nie-
drige Hügel, auch einige ansehnlichere
Höhen gewonnen, von denen herab wir
das alte Gebiet erweitert und reizende
Aussichten in neue Gegenden erhalten;
aber die wichtigsten Höhen, von denen
die weitesten Aussichten 2u hoffen waren^
und hinter denen es eine unermefsiiche
IS2
ZWEITER BRIEF
Beute von Erkenntnifs geben mui's : diese
haben wir noch immer , eben wie die
Alten, unerstiegen gelassen. Der ganze
Unterschied zwischen uns und ihnen
mögte der seyn : Die Alten suchten zu
dem unersteiglichen Gipfel nur auf eini-
gen Wegen zu gelangen; der Versuch
war umsonst: aber immer blieb noch die
Hoffnung, dais ein kühnes Genie von ir-
gend einer andern £eite glücklicher seyn
wurde. Wir hingegen haben, in der Fol-
ge der Zeit, nicht nur die alten Wege
von neuem betreten, und jede Ausbeu-
gung, jede Krümmung versucht, wo der
gerade Pfad zu steil war; wir sind auch
den ganzen Fufs der Höhe, so weit er
sich umgehen liefs, wirklich umgangen,
haben von jeder Seite den Versuch er-
neuert, und haben ihn von jeder vergeb-
lieh efunden. Wir haben also vor den
AN HERRN DUTENS. 155
Alten den Vortheil^ oder sollten ihn we-
nigstens haben : dafs wir alle Absichten
auf diese fruchtlosen Unternehmungen
aufgegeben, und nun unsre sämmtlichen
Kräfte dran setzen, um in den vor uns
liegenden ebenern Gegenden, wo die
Schwierigkeiten für .menschliche Kraft
überwindlich sind, immer mehr und
mehr wüstes Land zu gewinnen ujid ur-
bar zu machen.
Dieses, was ich hier nur im Allgemei-
nen angab, durch die einzelnen Materien
durchzuführen, nicht blofs in leeren Ti-
raden über das Unvermögen des mensch-
lichen Geistes zu declamiren, sondern die
wohlgefafsten Schwierigkeiten in den ein-
zelnen Fragen zu vergleichen, um die
allgemeinern herauszuziehen ; die so ge-
fundenen unauflöslichen Probleme unsrer
Erkenntnils in deutli(ihen S.irzen anziige-
134 ZWEITER BRIEF
ben, damit der Philosoph jede einzelne
Materie auf sie zurückführen, und wie
weit er sich einlassen dürfe, vorhersehen
könne: das, liebster Freund, wäre eine
der wichtigen, wahrhaftig philosophischen
Absichten , die der pragmatische Ge-
schieh tschreiber der Philosophie vor Au-
gen haben müfste, und die seinem Wer-
ke einen unsterblichen Werth geben wür-
den. Wenn die philosophische Geschich-
te, ihrem gröfsten Theil nach, eine Ge-
schichte der Verirrungen unsers Geistes
und seiner verschwendeten Kräfte ist: zu
welchem Endzwecke sollte) sie dann eher
hingerichtet werden, als dafs wir künftig
vor gleichen Verirrungen oder vor glei-
cher Verschwendung unsrer Kräfte be-
wahrt würden ? — In der That wird
noch immer so viel Vergebliches unter
uns geschrieben : Akademieen werfen Fra-
AN HERRN DUTENS. 155
gen auf^ und philosophische Köpfe stren«
gen ihren Scharfsinn an, sie zu beant-
worten; Fragen, worin sich der wesent-
liche Punct sogleich als unerklärlich zei-
gen würde, weim man sie auf eins von
jenen Problemen zurückbrächte.
Aber — könnten Sie sagen — gehört
nicht vielleicht diese ganze Idee in die
Zahl jener süfsen Träume, die so leicht
erdacht und so schwer realisirt sind? Ich
fürchte das nicht, liebster Freund. Denn,
wie Sie wissen, so ist in manchen schätz-
baren Werken schon vieles geschrieben
worden, woraus sich die Möglichkeit ei-
nes solchen Werkes begreifen läfst. Wä-
re dies nicht, so würde ich die ganze
Idee, ai.ch gegen Sie, unterdrückt haben;
denn ich hasse von ganzem Herzen die
schwindelnden Planmacher, die immer so
stolze und so unmöglich auszuführende
136 AN HERRN DUTENS.
Entwürfe mit einer Miene hinwerfen^ als
ob es nur auf ihren Willen ankäme, sie
auszuführen. Leider ist die Miene an
diesen Herren das Beste, wo nicht gar
Alles, Sollte es vom Reden zur That
kommen ; so mögten sie oft gegen die
getadelten und gehohnneckten Autoren,
denen sie von der Höhe ihrer Ideale her-
ab so verächtliche Blicke geben, nicht
viel besser, als Marsyas gegen den Apoll,
bestehen.
Ich bin u. s. w.
15'
^' • ' ZEHNTES STÜCK.
ijfBER EMILIA GALOTTI.
ERSTER BRIEF.
Oie haben Recht, liebster Freund: wenn
auch Einilia Qalotti alle die Fehler
hätte, die verschiedne Kunstrichter darin
haben finden wollen ; so würde man sie
doch alle über den einzigen Marinelli
vergessen. So sehr ich auch die Charak-
tere des Odoardo und der Orsinay we-
nigstens von gewissen Seiten und in ge-
wissen Situationen, bewundre; so bewun-
dre ich doch noch mehr den in allen
seinen kleinsten Theilen so wahren, so
ausgeführten, von Anfang bis zu Ende so
wohl erhaltnen Charakter des Marinelli,
Von der moralischen Seite betrachtet,
138 ÜBER
sei er so schwarz als er wolle ; ich bin
der erste, ihn zu verwünschen: aber von
der poetischen, ist er einer der schön-
sten und ausgeführtesten, die nur je auf
der Bühne erschienen sind.
Gleich zu Anfange erscheint Marinel-
li als der gewandte und verschlagene Höf-
ling, als der niederträchtige und durch
lange Übung im Laster ausgelernte Ver-
führer, der er das ganze Stück, hindurch
bleiben wird. Das Empressement, wo-
mit er zum Dienst eilt; die leichte Art,
womit er dem Fürsten Schmeicheleien
sagt; die Geschwindigkeit, womit er sich
nach jedem Winde dreht, und Alles wird
was sein Vortheil in jeder Situation aus
ihm haben will; der leichtsinnige, hämi-
sche, persiffürende Witz, womit er über
Appiajii und Orsiiia herfährt; die Vor-
urtheile von Geburt, von Ehrenstelle]\.
EMILIA GALOTTI. 139
von ersten Häusern ; die vollkommne
Einsicht, die er sich in den Charakter
des Fürsten erworben, und vennöge de-
ren er so vortreflich weifs, wie weit er
jedesmal gehen oder nicht gehen darf,
wie er ihn zu dem Puncte wo er ihn
haben will, hinbringen, oder wenn er
ihm abspringt, ihn wieder zurückholen
soll ; die meisterhaften Wendungen, wo-
mit er dem Härtesten was er zuweilen
sagen zu müssen glaubt, das Allzuauffal-
lende zu benehmen, und indem er es
wieder gut macht, es zu seinem gröfsten
Vortheil zu nutzen weifs ; die allertiefste
Vei'stellungskunst, womit er sich aus den
schlimmsten Händeln herauszureden und
seiae wahren Absichten gegen jedermann
zu verhüllen weifs ; die unbegreifliche
Kälte und Gleichmüthigkeit, die ihm im-
mer völlige Besonnenheit läfst , neue
i4o ÜBER
Hiilfsquellen zn erofnen und neue Räder
in die Maschine einzusetzen^ wenn es mit
den alten nicht mehr fort will; das krie-
chende Wesen, womit er wahre Grob-
heiten vom Prinzen hinnimmt, und ohne
böse zu werden, sich Thor und Narr
schelten läfst Doch wie kann ich
alle die einzelnen Zuge herzählen, die so
wohl zusammen geordnet, so fein in ein-
ander verflöfst, ein so lebendiges und
vollendetes Ganze geben, dafs ich nie
müde werde, es zu betrachten und zu
bewundern? Wenn ja der eine oder der
andre dieser Züge in einzelnen Stellen
weniger getroffen scheint ( welches doch
vielleicht nur im fünften Act der Fall ist,
wo Marinelli dem Prinzen eine für ihn
nicht schickliche Rolle aufträgt), so liegt
die Schuld wohl uns^reitig an dem we-
niger richtigen Charakter des Prinzen,
EMILIA GALOTTI. 141
der, wie Sie Selbst schon bemerkt ha-
ben, auch auf den Charakter des Mari-
nelli ein falsches Licht wirft.
, Aber, sagen Sie am Ende Ihres Brie-
fes^ ist nicht Marinelli vielleicht ein zu
schwarzer, zu rucjhloser Charakter? Bricht
nicht seine nichtswürdige Denkungsart in
allzuimgeheure , allzuschändliche Hand-
lungen aus? Sollte es je in der Natur ei-
nen Marinelli gegeben haben?
Herr Lesshig hat selbst so viel Wah-
res und Gutes gegen die grundlose Bos-
heit geschrieben, dafs es sonderbar wäre,
wenn er sich diesen Fehler in seinen eig-
nen Werken zu Schulden kommen liefse.
Aber Marinelli, deucht mir, hat zu seinen
Bosheiten Gründe, die nach seinem Cha-
rakter, seinen Umstünden, seinen \^orur-
theilen, entscheidend genug sind :"' nur
das könnte etwa beleidigen, dafs er diese
i4a ÜBER
Bosheiten mit so grofser Kälte und Ruh*
ausführt ; allein auch davon zeigt sich
der hinlängliche Grund in seiner langen
Gewohnheit des Lasters. Er hat es dar-
in zu einer Art mechanischer Fertigkeit
gebracht; sein Bubenstück geht ihm, wie
einem geübten Künstler sein Werk von
Händen, ohne dafs er oft selbst mehr
weifs, was und wie er es macht.
Die ehrloseste seiner Unthaten ist oh-
ne Zweifel der Meuchelmord des Appia-
ni. Aber schwerlich würde er so* weit
gegangen seyn , wenn ihn nicht seine
äufserste Feigheit, seine Furcht vor einem
imverm eidlichen Zweikampf, gleichsam
dazu gezwungen hätte ; wenigstens hat
Herr Lessing diecäen Umstand mit grofser
Kunst im Dunkeln gelassen. Nächst die-
sem Morde, erscheint er am häfsJichsten,
als — ich will es mit dem Worte der
EMILIA GALOTTI. 145
Cl.Tudia sagen — als der Kuppler des
Prinzen. Und zwar als ein so nieder-
trächtiger Kuppler^ dem der Schändlich-
ste Lug imd Trug^ dem das äufserste
Verderben einer achtungswurdigen Fami-
lie nichts ist, wenn er nur dem Prinzen
zu seinem Zwecke verhelfen kann. Die-
se Nichtswürdigkeit zu erklären, mufs
man sich in die ganze Situation eines
Mannes , wie Marinelli , hineindenken-
Lieblinge seiner Art verüben solche
Schandthaten, weil es die einzigen Mit-
tel zur Befriedigung ihrer eignen heifse-
sten Begierden sind; weil sie durch an-
ders nichts zu dem zu gelangen wissen,
was für sie die höchste, ja die einzige
Seligkeit des Lebens ist. Denken Sie
Sich diese Unglücklichen mit ihren jäm-
merlichen kleinen Vorurtheilen, die sie
7um Theil schon durch die ersten Ein-
i44 ÜBER
drücke ihrer Kindheit erhalten; mit ih^
ren so eingeschränkten, aber eben des^
wegen nur fester gegründeten Begriffen
von Hofleben, von Gnade, von der Per-
son des Prinzen, von Piang, von Einfiufs,
von Reich thum , von Ehrentiteln, von
Ordensbändern, von Schlüsseln. Der ge-
wöhnliche Gesellschafter des ^Prinzen zu
seyn, unangemeldet zu ihm hineintreten
zu dürfen, mit ihm zu fahren, bei der
Cour des gnädigsten Lächelns gewürdigt
zu werden, wohl gar in einem Winkel
mit ihm zu flüstern, seine eigne Anti-
chambre zu halten^ Aufwartungen von
den Vornehmsten zu bekommen : das
sind für sie die höchsten Seligkeiten des
Lebens, ohne die sie ihr Dasein hassen
würden, und auch Ursache hätten es zu
hassen. Denn was können doch diese
Armseligen, deren ganze Kenntnifs sich
auf
EMILIA GALOTTI. «45
auf Etikette und Ränke eins ehr änlct; was
können sie doch mit ihrem Leben noch
anfangen^ wenn für sie keine Coui-^ kei-
ne Tafel ^ keine Galla mehr ist ? Was
bleibt ihnen übrige als sich vor Langer-
weile den Tod zu wünschen und zu
sterben? Dazu kommt noch die unend-
liche Verachtung,, die sie dann um desto
empfindlicher treffen mufs^ je mehr sie
sich in ihrem blühenden Glücksstande
Feinde und Neider zugezogen haben.
Mit welcher Begierde müssen sie also
jenes Glück nicht suchen > und wenn sie
es einmal erlangt^ mit welcher Inbrunst
es festhalten!.
Ihre ganze Wohlfahrt hängt an der
Gnade des Prinzen; und diese zu erwer-
ben^ was giebt es für Mittel? Verdienste
um den Stadt; oder Verdienste um
sei^e Pez-jo/z. Zu jenen^ die noch üb er-
Engels Philosoph^ L Iq
i\6 ÜBER
dles^ wenri der Prinz ein Wollüstling
oder ein Mufsiggänger ist_, am wenigsten
geschätzt und belohnt werden^ haben sie
die Fähigkeiten; die Kenntnisse nicht — ^
die haben nur die würdigern Männer,
die CarniÜo Rota; — also bleibt ihnen
nichts übrig; als sich um die Person des
Prinzen verdient zu machen. Und wie
das? Indem sie siclf aus dem Charakter
des Prinzen ihr höchstes Studium ma-
chen, alle seine kleinsten Keigungen,
Schwächen, Eigensinnigkeiten ausforschen,
sich in allem darnach bequemen, ihnen
alle Mittel ziu* Befriedigung ihrer Begier-
den herbeischaffen, ihnen darin zuvor-
kommen. Das führt sie dann oft zu Nie-
derträchtigkeiten, die ihnen anfangs, eh*
sie noch in die Gewohnheit kommen,
sehr unangenehm seyn können: aber was
in aller Welt sollen sie machen ? Der
EMILIA GALOTTL 147
nichtswürdigen Seelen giebt es überall^
und nirgend mehr als in der Gegend der
Höfe: was also sie nicht thäten, würde
ein Anderer thun; dieser Andere würde
sie wegdrängen ^ würde an ihre Stelle
treten; wüxde sie um alle Wonne des
Hofes^ um aUe Seligkeiten des Lebens
bringen. — Von diesem kleinen Anfan-
ge geht dann die Bosheit schrittweise
weiter. Dem alten ausgelernten Höfling
genügt es nun nicht mehr^ den Neigun-
gen seines Prinzen vxvc riachzugehn ; er
sucht auch ausdrücklich sie zu erwecken:
er giebt sich die äufserste Mühe^ beson-
ders wenn der Prinz noch jung ist^ sei-
nen Charakter zu verderben^ seilte Be-
gierden zu reizen^ seine Lüste anzufa-
chen, damit er ihm zu ihrer Befriedigung
nothwendig werde. Zu dem allen gesellt
sich daxm noch die Cabale, der- Neid;
i48 ÜBER
die Lust an der Intrigue^ das Vergnügen,
die Kräfte seines Oeistes an der Ausfüh-
rung niifslicber Projecte zu üben.
So ^ liebster Freund.^ erkläre ich mir
den niederträchtigen Charakter d.es Ma-
rinelji und aller ihm ähnlichen Günsthn-
ge. — Ich weifs nicht^ wie Sie oder an-
dere denken; aber ich meines Orts bin
einem Dichter für einen wohlgezeichne-
ten bösen Charakter eben so $ehr und
oft mehr^ als für den bestgezeichneten
guten verbunden. Gemeiniglich lerne ich
daraus mehr in Absicht der Kenntnifs des
Menschen^ mehr m Absicht der Klugheit
des Lebens, mehr in Absicht der drama-
tischen Kunst. Auch haben dergleichen
Schiiderungen unmoralischer Charaktere
auf den Zuschauer eine sehr moralische
_Wirkung. Der Dichter, dei' das Laster
in seiner natürlichen Häfslichkeit darstellt^
EMILIA GALOTTI. 149
bessert oft mehr als ein andrer _, der nur
immer rühren, immer zärtliche Thränen
hervorlocken, immer dmxh Aufstellung
sanfter, unschuldiger, grofsmüthiger Ge-
mälde für die Tugend einnehmen Avill.
Es ist wahr, man darf die Tugend nur
kennen, um sie zu lieben; aber um sie
recht feurig zu lieben, mufs man noch
mehr, mufs man auch noch das Laster
kennen.
Ich hatte anfangs die Idee, eine klei-
ne Geschichte von dem Leben des Ma-
rinclli zu entwerfen, und Sie von der
Wahrheit dieses Charakters eben dadurch
zu überführen, dafs ich Ihnen die Art
seiner Bildung zeigte. Nachher ward ich
irme, dafs eine solche Ai'beit für meine
Kräfte vielleicht zu schwer und gewifs
für meine Zeit zu weitläuftig w\äre. Aber
warum nehmen doch unsre Romandich-
i5o ÜBER EMILU GALOTTI.
ter die Ideen zu ihren Werken nicht
dann und wann von der Bühne ^ und su-
chen vortrefiiche Charaktere, die der
dramatische Dichter nur in einzelnen Si-
tuationen bearbeiten konnte, weiter zu
entwickehi und bis zu ihrer ersten Ent-
stehung zu verfolgen? Durch nichts könn-
ten sie mehr Kenntnifs der Welt und
des Mensclien zeigen ; durch nichts mehr
unterrichten und bessern, als durch Wer-
ke dieser Art, die das in Absicht ganzer
Charaktere thäten, was Shakespears beste
Schauspiele in Absicht einzelner Leiden-
schaften thim : dafs sie ihnen nehmlich
von ihrer ersten Anlage bis zu ihrer letz-
ten völligen Ausbildung schrittweise nach-
gingen. -^
i5i
EILFTES STÜCK.
ZWEITER BRIEF.
XTLUch Über den Charakter des jf4ppiajii
bin ich im Ganzen mit Iluien einig ; er
enthält etwas aulTallcnd Sonderbares.
Der Mann hat alle mögliche Ursachen
zum Vei'gnügen ; er hat die liebenswür-
digste und geliebteste Braut; tritt in Ver-
bindung mit der achtungswerthesten Fa-
milie; wird der Sohn eines Vaters, der
seine ganze Bewunderung, seine zärtlich-
ste Ehrerbietung hat : und bei alle dem
ist er nicht nm' ernst, er ist tiefsinnig,
mürrisch. Wenn die Ursache davon nicht
in einem natürlichen Hange zur Melan-
cholie oder in einem Fehler des Charak-
i53 ÜBER
ters liegt — und das scheint hier nach
allen Umständen der Fall nicht zu seyn: —
so mufs sie nothwendig in seiner jetzi-
gen besondern Verfassung liegen ; aber
was wir da sehen, ist eine wirkliche Klei-
nigkeit. Es kann ihm ärgerlich seyn^, dafs
er bei dem Prinzen noch vorfahren und
ihm seine Vermählung kundmachen soll;
aber unmöglich kann so ein einziger klei-
ner Umstand ihn so völlig aus seiner
Fassung heben. Der wahre Hauptgrund
' seines Verdrusses liegt also in jenen ge-
heimnifsvollen Ahmuigeii, deren er ge-
gen Emilie und ihre Mutter erwähnt;
aber blofs erwähnt ;, ohne auch nur die
mindeste Veranlassung dazu zu zeigen.
Ich will nicht läugnen,, dafs derglei-
chen Ahnungen wirklich in der Natur
sind ; sie mögen _, wie der Verfasser der
\ Träume eines Geistersehers will;, aus ei-
EMILIA GALOTTI. 155
nem geheimen Commercinm der Seelen
entstellen : so viel aber weifs icli^ dafs
icli auf der Bühne noch immer lieber
Träume ;, als Ahnungen haben mögte'.
Jene sind gewöhnlicher^ und werden im
Schlafe^ wo die Seele vor den Eincb^ük-
ken der Wirklichkeit völlig verschlossen
ist_, durch eine freie umherschwärmende
Phantasie erzeugt; sie erlangen oft den
äufsersten Grad der Lebhaftigkeit^ imd
setzen dann das Blut in eine Wallung,
die Nerven in eine Erschütterung, die
oft lange nach dem Erwachen noch fort-
dauren und Bänglichkeit luid Schwer-
muth hervorbringen. Diese hingegen —
wenn ich sie auch nicht völlig von der
Bühne wegwünschte, so mögte ich sie
doch niemals imter solchen Umständen
und mit so au (seror deutlichen Wirkun-
gen, wie hier. Alle Gründe znm Ver-
154 ÜBER
c^ nugen sind hier so grofs^ so mannich-
altig, so in die Augen leuchtend ; der
einzige klar erkannte Grimd zum Verdnis-
se ist so nichtig, so unbedeutend, dafs
er das Züngelchen in der Wage kaum
um eine Linie verrücken sollte; und was
hält denn nun jenen Gründen das Gleich-
gewicht ? was giebt der Wage an der
entgegengesetzten Seite den Ausschlag?
was reifst sie so ganz auf den Boden
herunter? — Eine Ahnung, wovon nie-
mand, Appiani selbst nicht, weifs wo sie
herkommt ; ein gewisses unnennbares Et-
was, das sich vielleicht eben defs wegen
nicht nennen lafst, weil es ein blofses
Nichts ist.
Wie aber der Dichter auf diesen Zug
im Charakter gerathen sei? Ob er durch
dieses Mittel blolis. den Eindruck schwä-
chen wollen, den der nachj^erige Tod
EMILIA GxVLOTTI. 155
des Appiani macht, damit er uns nicht
zu sehr ivider den Endzweck des Stücks
interessire? oder ob er den Charakter
des Grafen^ den er so wenig Ptanm zu
entwickeln hatte, durch diesen frappan-
ten Zug nui' mehr herausheben wollen?
oder ob er vielleicht diesen Zusatz nö-
thig fand, -um zu einem gewissen Ziele,
zu dem er nothwendig hin mufste, desto
leichter und kiarzer hinzukommen: dar-
über mögte sich ohne seine eigne Erldä-
riuig schwerlich entscheiden lassen. —
Ich, liebster Freund, vermuthe das Letz-
tere, und ich will Ihnen hier die Gründe
dieser Yermuthung vorlegen, damit Sie
urtheilen können. Ist meine Hypothese
falsch ; nun so kann doch auch die Aus-
führung falscher Hj^DOthesen noch immer
Tiel Wahres imd Lehrreiches enthalten.
Das Ziel wo der Dichter zunächst
156 ÜBER
hin müfste^ war der Tod des Appiani.
Wäre der Graf beim Leben geblieben,
so sieht man nicht ab_, wie das Stuck so
bald hätte ausspielen können. Aber wenn
nun Marinelli diesen Tod gleich anfangs
und ohne allen weitern Bewegungsgrund
bey dem Angelo ausgemacht hätte ; so
wäre der ohnedies schon so schwarze
Günstling vollends zum Ungeheuer ge-
worden^ und der allzugrofse Abscheu hät-
te uns unser' ganzes Vergnügen an dem
Charakter verderbt. So aber hat Mari-
nelli anfangs noch keinen vollständigen
Plan: er will nur für's erste die Vermäh-
lung hindern und die Braut haben ; dafs
er nachher dem Angelo einknupft^ den
Grafen nicht blofs zu verwunden, son-
dern niederzuschiefsen: davon liegt der
wahre Grimd in seiner Furcht vor dem
Zweikampfe. Wie sollte nun aber der.
EMILIA GALOTTI. 157
Dichter zu diesem Zweikampfe hin? Bei-
de mufsten sich schon grofse Beleidigun-
gen sagen;, eh' es bis zur Ausfarderung
kam; es niufste geschimpft werden^ und
Appiani schimpft denn auch wirklich. —
Nehmen Sie jetzt diesen Appiani in einer
völlig heitern Gemüthsfassung an ; über-
legen Sie dabei den ganzen Charakter
des Marinelli : und dann sagen Sie mir,
wi-e der Dichter dieses Ziel, ohne einen
unnatürlichen Sprimg zu thun, so leicht
hätte erreichen sollen?
Ich will mich über diese Schwierig-
keit etwas näher erklären. MarinelK ist
ein Hofmann, und ist, wie alle Bösewich-
ter seiner Art, feigherzig. Als jener, sagt
er schwerlich Grobheiten, auch nicht ge-
gen Personen die er auf's tödtlichste
hafst ; er hat bei seinen Hofsitten auch
Hofton: Honig auf der Zunge, bei der
158 ÜB E R
bittersten Galle im Herzen. Wenn ein
feinerer Weltmann, und besonders so ein
abgescliliffner, versteckter, geschmeidiger
Höfling, wie Marinelli, der sich so ganz
in seiner Gewalt hat, beleidigt ; so ist es
weniger dmxh das was er sagt, als durch
die Ai^t, wie er es sagt; so ist es meh-
rentheils nur von ferne, nm- mit einer
heimlichen Wendung, mit einem bedeu-»
tenden Tone, mit einem flüchtigen Ach-
selzucken, mit einem spitzfindigen Lä-
cheln, mit einem höhnischen vor sich Nie-
dersehön, mit einem vornehmen Wieder-
aufblicken. Vollkommen so erscheint
auch hier Marinelli, der überhaupt vor-
trefiich geschildert ist : anfangs nichts als
Höflichkeiten, als Freundschaftsversiche-
rujigen, und auch da wo er das Härtest©
sagt, das ihm Appiani so hoch anrechnet^
noch immer Mäfsigung ' und Zuruckhal-
EMILIA GALOTTI.
159
tung! Ja^ es scheint^ dafs er nach seiner
Hofart und bei seiner Feigheit auch die«
sen Ausfall nicht einmal würde gewagt^
aiich diesen Ton der Spötterei sich nicht
würde erlaubt haben ^ wenn ihm nicht
Appiani schon so lange Dinge gesagt hät-
te, die ein Mann von weniger Verstel-
lungskunst und reizbarerer Galle nimmer-
mehr hätte anhören können. Wirklich
ist Appiani gleich anfangs beleidigend;
er sagt ihm alles was er denkt^ so rund
ins Gesicht; und doch isi. er auch Welt-
mann; obgleich von der rechtschaffnem^
edelgesinntem Art. Und y\^ie in aller
Welt kommt denn dieser feine und ge-
sittete Mann zu so einer Begegnung?
Empfände er das ganze Glück seiner Si-
tuation ; verlöre sich sein wollüstiger
Blick in den reizenden Aussichten, die
vor ihm liegen: so würde bei dieser gu-
i6o ÜBER
teiii Laune das Gespräch nach aller Wahr-
scheiiJichkeit anders fallen.
Der Graf, werden Sie mir vielleicht
einwenden^ kennt den Marinelli und ver-
achtet ihn. Gut ! das kann ein Mann^
wie Appiani , nicht anders. Aber die
Verachtung hat ja so manche Miene, so
manchen Ton; warum mufs sie sich eben
so bitter äufsern? — Maringlli^ werden
Sie fortfahren, steht dem Grafen entge-
gen; blofs um dieses Günstlings willen^
hat der Graf nicht aufkommen können.
Aber bedenken Sie auch, dafs gerade Ap-
piani der Mann ist, dem an diesem eit-
len Glücke wenig gelegen scheint? dem
es vielmehr lieb seyn kann, daran ver-
hindert zu seyn? der ein für allemal den
seligen Entschlufs gefalist hat, in seinen
väterlichen Thälern sich selbst zu leb§n?
Sehr leicht muCs iHm alsQ Appia^i.jdiese
i Be-
EMILIA GALOTTI. i6i
Beleidigimg, die für ihn eigentlich keine
istf verzeihen können ; der Hafs fällt weg,
lind es bleibt also nichts als Verachtung
übrig. Nun sieht man freilich den Manu
nicht gerne kommen, den man verach*
tet; Appiani kann verdrüfslich seyn, von
angenehmem Unterhaltungen dadmxh ab-
gerufen zu werden : aber dieser* kleine
flüchtige Verdrufs, sollte der Einflufs ge-
nug haben, ihn so auf einmal und so
ganz aus seiner Lage herauszusetzen? So-
nach bliebe Appiani in seiner völligen
Heiterkeit : und wie würde er da den
Marinelli empfangen ? welchen Ton ge-
gen ihn annehmen? Keinen vertraulichen,
aber auch keinen auffahrenden ; keinen
verbindlichen, abef auch keinen bittern;
keinen scherzhaften, aber auch keinen
mürrischen. Er würde den verächtlichen
Menschen^ wenn er sich zu nahe an ihn
Engels Philosoph, I. H
i6a ÜBER
machte^ mit einem sanften Drucke in
der gehörigen Entfernung halten , nicht
auf eine so rauhe gewaltsame Weise von
sich stofsen ; er würde ^ wenn er in ihm
nicht den Kammerherrn schonte^ wenig-
stens den Abgeordneten des Prinzen scho-
nen _, gegen den er doch immer Ach-
tung und Mäfsigimg zeigt. Finge dann
Marinelli aus muthwilligem Kitzel, oder
aus Verdrufs über seine fehlgeschlagenen.
Entwürfe an, über des Grafen Verbin-
dung zu spötteln ; was meinen Sie wohl,
dafs bei dem entzückten Liebhaber, bei
dem ruhigen gesetzten Manne , dieser
Spott eines Menschen, den er so herz-
lich verachtet, über den er sich so weit
hinausfühlt, für Wirkung thun könnte?
Sollt' er ihn aufbringen? in Harnisch ja-
gen? zu Anzüglichkeiten, zu Schimpfre*
den reizen? Nein, liebster Freimd: dann
EMILIA GALOTTI. 163
sollte der Graf Emilia Galotti nicht ha-
ben, nicht der Sohn eines Mannes wie
Odoardo werden. Wen er nicht werth
hält, dafs er mit ihm scherze, den soll
er nach weniger werth halten, dafs er
sich mit ihm schimpfe. Lächeln müfste
«r über die armseligen Vorurtheile die-
ses engen Kopfes und noch engern Her-
zens, ihm einen der mitleidigen Blicke
geben, womit der edle Mann auf ein In-
sect wie Marinelli herabblickt , dessen
Gift er nicht fürchtet, imd an dem er
nichts als seine verächtliche Kleinheit ge-
wahr wird ; ihn noch einmal mit einer
kategorischen Antwort abfertigen und
ihn laufen lassen. — So, denke ich, wür-
de das Gespräch in so einer Situation
und zwischen solchen Charakteren aus-
fallen müssen, wenn nicht irgend ein an-
drer Umstand hinzukäme.
i64 ÜBER
Aber wie gar anders^ wenn nun die-
ser hinzukömmt ! Nehmen Sie den Ap-
plani gleich zu Anfange so an^, wie ihn
der Dichter vorstellt: mürrisch _, tiefsin-
nig, ärgerlich; so wird nun die ganze
Scene nicht nur richtig imd wahr _, sie
wird auch eine der Meisterscenen in der
Emilie. Denn nun ist Appiani geneigt,
nicht sowohl die verächtliche als die has-
senswürdige Seite des Marinelli zu sehen;
nun wird er nicht blofs in seinem Ver-
gnügen, er wird in etwas weit anderm
unterbrochen, das die Seele weit mehr
interessirt, worauf sie ihren Blick weit
starrer hinheftet, in seinen trüben schwer-
müthigen Reverieen; nun ist er vorberei-
tet, alles hoch aufzunehmen, sich bei
dem ersten besten Anlasse zu erbittern;
sedner Würde uneingedenk sich mit ei-
nem Menschen zu zanken, den er ledig-
EMILIA GALOTTL 165
lieh verachten sollte^ sich den überlästi-
gen Besuch auf jede Art^ höflich oder
unliöflicH;» vom Halse zu schaffen. Und
dann spielt nun die ganze Scene natür-
lich w^eiter^ bis zui' Ausforderung;, und
bis zum Meuchelmorde des Appiani.
Ich bek'^nne Ihnen noch einmal_, mein
Freund: es ist sehr mifslich^ eines An-
dern bestimmte Absicht zu e'rrathen, wo
er ihrer mehrere haben komite ; und
\wenn ich also geträumt habe^ so verzei-
hen Sie mir ! Ich erwache wieder aus
meinem Traume. — Aber so viel, den-
ke ich^ ist doch immer ausgemacht: dafs,
wenn auch der Dichter bei der Schwer-
muth des Appiani nicht eigentlich auf die-
sen Endzweck gearbeitet, ihm wenigstens
diese Schwermuth zur Erreichung dieses
Endzwecks gute Dienste geleistet hat.
i66
ZWÖLFTES STÜCK.
DRITTER BRIEF.
JL)er Widerspruch^ den Sie in dem Cha-
rakter der Emilie glauben bemerkt zu
haben^ liegt meines Erachtens nicht in
den ersten Grundzügen des Charakters;
er entsteht nur durch die Art, wie die
letzten Scenen ausgeführt worden. Eben
das Mädchen^ sagen Sie y das wir im
Anfange so ängstlich, so furchtsam^ so
schüchtern sehen ; eben das Mädchen
kann nachher so herzhaft den Tod for-
dern? ihn so willig erdulden? Ist hier
nicht ein gröliserer Widerspruch, als in
dem Charakter der Iphigenia, den Ari-
stoteles um einer ähnlichen Ungleichheit
iler Sitten willen tadelt? — Nein^ mein
ÜBER EMILIA GALOTTI. 167
Freund _, nicht einmal ein eben so gro-
fser; und sobald Sie den Gang der Ideen
in Etniliens letzter Scene nur ein wenig
ändern wollen^ ganz und gar keiner.
Es giebt unter den Menschen viel©
solcher Charaktere^, in denen sich zwei
entgegengesetzte Eigenschaften vereini-
gen; und diese sind allemal^ wenn sie
wohl ausgeführt werden, nicht nur die
lehrreichsten, sondern auch wegen des
Wunderbaren das ihnen anhängt, die in«
teressantesten. Der Dichter muTs nur
nicht vergessen, zu zeigen, Wie sie mög-
lich sind; das heifst, er mufs uns den
GiTindzug im Charakter angeben, der den
scheinbaren Widerspruch aufhebt, und
die beiden so unverträglich scheinenden
Eigenschaften in Harmonie bringt. In
dem Charakter der Emilie findet sich die-
ser Grundzug wirklich. Sie ist weder
i68 ÜBER
«»US blofsem Temperament so fm-chtsam,
noch aus blofsem Temperament so ent-
schlossen den Tod zu leiden; sie ist bei-
des aus herrschender^ beinahe schwärme-
rischer Liebe zu ihrer Religion. Bei
ihrem Anfalle von Furcht, hat der Dich-
ter diesen Zug unvergleichlich herausge-
hoben; aber nicht eben sowohl bei ihrer
nachmaligen Herzhaftigkeit. Denn hier
äufsert Emilie in allem was . sie sagt und
thut^ mehr stoische räsonnirte Tugend^
als christliche Furcht vor der Sünde. Fast
das einzige Wort, das ganz ihrem Cha-
rakter entspricht, ist das : » Nichts Schlim-
»mers zu vermelden, sprangen Tausende
«in die Fluthen, und sind Heilige ; « aber
der Zug steht zu abgerissen;, zu einzeln
da: wir werden weder vor- noch nach-
her an die Religion weiter erinnert. Ja
selbst bei ihrem endlichen Hinsinken, bei
EMILIA GALOTTl. 169
dem letzten Zuschliefsen ihrer brechen-
den Auuen^ hören wir keinen Laut^ kei^
jien Seufzer _, der an Gott oder an ihre
Heilige geriehtet vräre. — Was aber das
Schlimmste ist, so rüiü t uns der Dichter
selbst irre^ und scheint seinen, ganzen
Vorthell freiwillig aus den Händen zu
geben. :»Du kennst sieget iäfst er die
Mutter zu Odoardo sagen: «sie ist die
»Furchtsamste und Entschlossenste im-
«sers Geschlechts. Ihrer ersten Eindi^ük-
»ke nie mächtig; aber nach der gering-
»sten Überlegung, in alles sich findend,
55 auf alles gefalst. Sie hält den Prinzen
w in einer Entfemimg ; sie spricht mit ihm
5) in einem Tone u. s. w. a Scheint es
nicht, als wenn der Dichter in dieser
Stelle, die doch, immer die Schwierigkeit
nur angeben würde statt sie aufzidösen,
als wenn er uns hier zu dem Folgenden
ijo ÜBER
vorbereiten^ als wenn er den Charakter
durch eine künstliche Wendung zum Ziel
herumlenken wolle? Gleichwohl brauchte
er das so wenig, wenrt er nur Emiliens
endliche Herzhaftigkeit aus eben der
Quelle entspringen liefs, woraus ihre an-
fängliche Furcht entstand.
Ich habe gegen die Ausführung der
letzten Scene noch eine andere Erinne-
rung zu machen, von der ich mich wun-
dre dafs sie noch sonst niemand gemacht
hat. Sie betrifft die an sich so vortref-
liche Stelle, worin Emilie über Gewalt
und Verführung philosophirt. Wenn ich
sie sagen höre : -»Ich habe Blut, mein
:» Vater; so jugendliches, so warmes Blut,
» als eine. Auch meine Sinne sind Sinne.
»Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts
« gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi.
«Es ist das Haus der Freude u. s. f.;cc so
EMILIA GALOTTI. 171
weifs ich iii der Tliat nicht, was aus dem
Mädchen geworden ist. Ich mögte fast
argwöhnen, dafs ihre Liebe .zu Appiani
blofse Coketterie gewesen. Denn sagen
Sie selbst, mein Freund; wie kann sich
Emilie, in ihrer jetzigen Lage, vor Ver-
führung fürchten ? und vor Verführung
vom Prinzen? Sie weils, wie sie selbst
gesteht, warum Appiani todt ist, dieser
ihr theuxer, geliebter Appiani, dessen
Tod ihr, wo sie nicht das nichtswürdig-
ste Mädchen ist, an die innerste Seele
gehen muls ; sie sieht gleichsam sein Blut
noch an den Händen des Prinzen kleben:
und wäre nun dieser Prinz ein Adonis,
wäre er der Liebenswürdigste aller Sterb-
lichen; so müfste er ihr doch um dieses
Blutes willen, in diesem ersten Augen-
blicke der empörten Leidenschaft, das
grälislichste , verabscheuungswürdigste Un-
172 ÜBER
geheuer dünken, das je die Erde getra-
gen. Dazu kommt noch, dafs sie den
ganzen Plan durchsieht, den er gegen
ihre Tugend gemacht_, diesen ehrlosen,
schändlichen Plan : und wie sehr mufs
nicht das, bei einem so frommen, so ehr-
liebenden , für ihre Seele so besorgten
Mädchen, den vorigen Abscheu noch ver-
stärken! Immer mag ihre Religion ihr sa-
gen^ dafs bei der Verderbnifs des mensch-
lichen Herzens kein Verbrechen immög-
lich sei; in der jetzigen Verfassung kann
ihre Seele auf keinen Gedanken achten,
keinen Gedanken annehmen, als der ih-
rem äufsersten ^bscheue gegen den Prin-
zen gemäfs ist, ihn verstärkt, ihn bestä-*
tigt. Wenn sie sich also nicht vor Ge-
walt fürchtet, vor eben der Gewalt, die
eben jene Heiligen vermeiden wollten,
da sie sich in die Fluthen stürzten: vor
EMILIA GALOTTI.
^73
was sonst kann sie sich fürchten? Davor
nimmermehr, dafs je der Prinz ihr gefal-
len, dafs ie ihr Bhit iur ihn wallen, dafs
je ihre Sinne an ihm. Gefallen finden soll-
ten; oder ich gestehe gern, dafs ich kei-
nen Begriff von dem habe, was mensch-
liches Herz ist. — Erklären Sie mich aber
nicht unrecht, mein Freund. Ich behaup-
te nicht, dafs Emilie ihren Appiani nicht
wirklich vergessen, nicht vielleicht schon
in einem Monate von dem Prinzen ver-
führt seyn könne; das kann sie sehr leicht,
imd sie wäre wohl nicht das erste Mäd-
chen. Ich sage nur, dafs sie jetzt^ ver-
möge ihres Charakters, vermöge der er-
sten Täuschung ihrer aufgebrachten Lei-
denschaft, das was an sich sehr möglich
ist , gar nicht für möglich erkennen
müsse.
Wie ? wenn also der Dichter diese
174 ÜBER
ganze Philosophie über Gewalt und Ver-
führuug^ so richtig und vortrei^lich sie an
sich selbst ist_, aufgeopfert^ und dafür fol-
gende Pteihe von Ideen gewählt hätte:
Der Prinz liebt mich ; er hat mir's er-
klärt; er wird nichts unversucht lassen;,
mich zu seinem Willen zu bewegen. Er
wird am Ende Gewalt brauchen; denn
kein Frevel in der Welt kann für den
noch zu grofs seyn^, der den liebenswür-
digsten aller Menschen ermorden konnte.
Er wird auch der Mörder meiner Seele
werden^ nachdem e^^ der Mörder meines
Geliebten geworden. Und diese Schande
kann mein Vater nicht zugeben; nimmer-
mehr^, oder er ist nicht mein Vater. Gott
und Natur haben mich an ihn als meinen
Beschützer gewiesen, und ich habe aulser
ihm keinen Retter. . . . Wie? wenn dann
der verwirrte^ in Wuth gesetzte^ erschüt-
EMILIA GALOTTI. 175
terte Vater^ der eben so sehr als Emili»
vorbereitet ist von dem Prinzen das Al-
lerärgste zu denken; wenn er ihr dann
den Dolch mit den Worten zeigte, dafs
er für sie keine andre Rettung sähe, als
durch den Tod; wenn Emilie ihm ant-
wortete, dafs, nichts Gering ers zu ver-
meiden. Tausende in die Fluthen spran-
gen und Heilige sind ; wenn dann der
Vater den Prinzen mit Marinelli zurück-
kommen hörte, und kaum seiner Sinnen
mächtig, indem ihn Wuth, Zärtlichkeit
und Ehrliebe gleich heftig bestürmten,
den tödtlichen Streich vollführte? Sollte
nicht durch so eine Wendung die Kata-
strophe weit natürlicher und den beiden
Charakteren, des Vaters sowohl als der
Emilie , weit angemefsner werden ? —
Freilich verlören wir dann manche un-
vergleichliche Züge ; aber die ersetzte ge-
17G Ü B E K
\yifs der reiche Geist des Dichters durch
aiidre^ die uns jene vergessen machten.
Für Sie, wcifs ich^ wäre schon das Er-
satzes genug, dafs Sie nun keiner Haar-
nadel erwähnen hörten^ die Sie — ich-
weifs nicht, mit welchem Rechte? — so
anstöfsig linden; dafs Sie nun keine Rose
mit einem Affecte zerpflücken sähen^ der
freilich für eine so gewaltsame Situation
ein wenig zu ruhig ist; dafs Sie nicht an
die Geschichte der Virgiiiie erinnert wür-
den, deren Katastrophe hier allerdings
unter sehr verschiednen Umständen zu
ähnlich nachgeahmt , worden ; und dafs
Emilie nicht mit einer Allegorie im Mun-
de stürbe.
Über das^ was ich hier von der Ge-
schichte der Virginie gesagt, erkläre ich
mich in meinem künftigen Briefe näher.
Ich
EMILIA GALOTTI. 177
Ich will darin von dem Charakter des
Odoardo reden;, der^ bis aul" die letzte
Scene mit seiner Tochter;» meine ganze
ßewiinderung^ hat.
liri'^ttls h'hilosoph , l. \ j,
»7S
DRElZlillNTES STÜCK.
VIERTER BRIEF.
Der Plan der Emilia Galotti isl^ deucht
iiiir^ ganz sichtbar ans der Geschichte der
T^irginie entstanden. Sie wissen^ mein
Freund^ dafs es in Italien eine fürstliche
Familie Gonzaga gab^ deren jüngere Li-
nie sich von Guastalla schrieb ; aber
wüfsten Sie von irgend einem Gojizaga
eine Anekdote, ans der sich ein Trauer-
sjiiel, wie Kniilie, hätte machen lassen?
Ich wenigstens — der ich zwar freilich
in der Geschichte der kleinen italiäni-
schen Häuser wenig bewandert bin —
wüfste keine ; und da auch sonst, in der
Ausführung der letzten Scenen, offenbare
Rücksicht auf die Geschichte J^irgUiiens
VBER ExMILIA GALOTTI. 179
genommen worden; so setze ich um so
zuversichtlicher voraus^ dafs der Dichter
die so interessante Katastrophe jener Ge-
schichte genommen^ und seinen übrigen
Plan ausdrücklich dazu erfunden habe.
Die grolse Schwierigkeit eines solchen
Unternehmens darf ich Ihnen wohl nicht
erst erklären; Sie werden sie fühlen. Es
scheint mir schon immer nicht die leich-
tere Arbeit des Genies^ von einigen ein-
zelnen unbestimmten Ideen anziüangen
imd ihnen diuxh nähere ßestimmimg das
Leben und die Wirklichkeit erst zu ge-
ben^ die sie in ihrer dürftigen Allgemein-
heit nicht hatten. Auch zweifle ich sehr
ob jemals ein episches Gedicht so ge-
macht worden^ wie der ehrliche Le Bos-
SU es geträumt hat. Das Genie ^ so viel
ich weifs^ arbeitet leichter aus der Wirk-
lichkeit heraus ; als in die Wirklichkeit
i8o ÜBER
hinein; es gelingt ihm besser^ dem schon
gefundenen Golde Glanz und Form zu
geben^ als das Gold selbst durch alchy-
mistischen Procels erst hervorzubring'en.
Je mehr schon die Natur , diese beste
Werkmeisterinn, ihm in die Hände gear-
beitet: desto bündiger _, fester^ gleicher
wird das Gewebe seines Plans ; desto
voller^ blühender ;, lebendiger ,wird sein
Werk in der Ausführmig. Glückliche Su-
jets^ worin das Wesentliche schon mei-
stens beisammen ist^ aus der wirklichen
selbstbeobachteten Welt gerissen, geben
daher immer die Meisterstücke der Dich-
ter. Sie haben hier weiter nichts zu
thun;, als dals sie den schon v^orhandenen
Stoff von allen anklebenden Schlacken
reinigen;, alle unwesentlichen Theile da-
von abschneiden, oder wenn ihn die
Kunst auch in wesentlichen Theilen nicht
EMIJCIA GALOTTL i^i
brauchen kann^ ihn ans der Füllf eben
der nahe umgebenden Namr, wo sie ihn
heraushoben , zu ergänzen und zu ver-
schönern suchen.
Noch schwieriger ward ^ in unserm
Falle_, das Unternehmen dadurch, dafs der
Dichter aus der Geschichte der Virginie
gerade das Letzte^ die Katastrophe, her-
aushob. Es scheint mir ausnehmend mils-
lich^ eine so bestimmte Katastrophe von
der Pieihe von Ursachen^ woran sie in
der ]\atur hing, loszureißen ^ und' sie an
eine ganz verschiedene zu knüpfen. Auf
was für eine Verbindung von Umständen
man auch verfallen^ was für eine Gesell-
schaft von Charaktei'en man auch versam-
meln mag, so wird man immer ^ wenn
man sich dem natürlichen Gange ^.Qr
- Handlimg überläfst^, auf ein etwas ande-
res Ende damit hinauskommen. Verschie-
i83 ÜBER
denheit in den Ursachen wird Verschie-
denheit in die Wirkungen bringen; und
nachdem sie dort wesentlich oder zufäl-
lig ist, wird sie's auch hier seyn. Am
gtöPsten aber scheint mir diese Schwie-
rigkeit dann', wenn die Katastrophe so
aufs er ordentlich, so ungewöhnlich, wie
hier ist. Ein rechtschaffener Vater durch-
bohrt seinem einzigen würdigen Kinde
das Herz, weil er sonst kein Mittel hat
es von der Schande zu retten. Wie ent-
setzlich, wie einzig ist diese That ! Wer
sollte nicht glauben, da ('s sie nur in ei-
nem eben so einzigen Falle, unter einer
eben so einzigen Verknüpfung von Um-
ständen, habe geschehen können? Und
wie kühn mufs also nicht der Dichter
scheinen, der damit ganz aus jener Re-
gierujigs Verfassung , jenen Verhältnissen
und Sitten des alten Roms herausgeht,
EMILIA GALOTTI. iS5
der sich dazu in einer völlig verschiede-
nen Welt gleich wahre Veranlassungen
auFsucht;, sich einen gleich bündigen Zu-
sammenhang von Begebenheiten und Um-
ständen, erdichten will, worin die Kata-
strophe eben so tief und augenscheinlich
gegründet sei, wie in jenen! — • Wenn
ich bedenke^ dafs Herr Lessiiig so sicher
der Mann war, der alle diese Schwierig-
keiten iühlte, so erstaune ich über den
Muth, womit er sich ihnen unterzog ; und
wenn ich dann sehe, bis zu welchem
Grade er sie überwunden hat, so erstau-
ne ich noch mehr über die Gröfse der
Kraft , die er dazu anwenden mufste.
Doch zugleich werde ich unwillig, dvifs
der Mann, der so sicher Genie hat, uns
bereden will er habe keines; wenn an-
dere, die so sicher keines haben, uns
durchaus wollen glauben machen, sie hät-
ten wplrhes.
184 ÜBER
Um den Ausspruch in meinem letzten
Briefe zu rechtfertigen^ werde ich die
Geschichte der Virginie mit der Ge-
schichte der Galotti vergleichen müssen.
Die letztere haben ^\^ gevvifs,, und ver-
muthlich auch die erstere, im Gedächt-
nifs; oder wo nicht^, so haben Sie Ihren
Livius bei der Hand^ um sie nachzuschla-
gen. Ich kann ako der Mühe^ sie zu
wiederholen^ entübriget seyn.
Livius sieht in dieser ganzen Geschich-
te mu' Eine Schwierigkeit ; er begreift
nichts mit welchem erträglichen Vorwan-
de Appins sein gesetzwidriges Urtheil
beschöniget habe. Niiduin, sagt er_, ui"
äetur proponendujn : decresse uindi-
das secunduin Servitut ein. Das kann
nun freilich wohl der Geschichtschreiber^
aber nicht der dramatische Dichter s*a-
gen; und doch mögt' es dem letztern
EMILIA GALOTTL i85
schwer werden, in der Aiifsuchang eines
solchen Vorwandes glücklicher als jener
zu seyn. Wenn indefs der Dichter nur
diese einzige Schwierigkeit überwunden
hat — wozu ihm vielleicht 'Dio?iys voti
Halikarjiafs behülflich seyn könnte —
so hat er sie auch alle überwunden; nur
noch diejenigen ausgenommen^ die sich
in Ansehung der dramatischen Form^ bei
Verth eilung der Handlung, Verbindung
der Auftritte u. s. w. ereignen mögten.
Der Zusammenhang der Geschichte selbst
ist so inni£f, als man ihn wünschen kann;
die historische Wahrheit hat alle poeti-
sche Wahrscheinlichkeit; jede Verbesse-
rung, die man anbringen w^ollte, wairde
Verschlimmerung werden. Es ist nichts
zu ergänzen, nichts umzuändern; die gan-
ze Arbeit besteht blofs in der Entwicke-
hmg der angegebenen Charaktere und
Situationen.
186 ÜBER
Vergleiche ich diese Geschichte mit
dem Plan der Emilie^ so fällt mir nichts
so schnell in die Augen ^ als dafs dort
der Bewegungsgrund zu der schreckli-
chen That des Vaters zwiefach, hier nur
einfach^ ist. Dort will nicht .nur der ehr-
liebende Mann von strengen Grundsätzen
und rauher Tugend sein Kind vor der
Entehrung sichern; der freie Römer^ dem
Sclaverei verhafster als Tod ist^ will es
auch d^m Elend der Knechtschaft ent-
reifsen. In den Yv^orten^ die ihm Livius^
eben da er die schrecklicjie That voll-
bringt^ in den Mund legt, wird dieses
letzten Bewegungsgrundes allein erwähnt:
hoc te uno f quo possmii, modo , filia,
in libcrtateiTi vindico; und bei Andern,
so Vvie auch nachher bei ihm selbst, steht
^ er vor: iXsvB-S^Jtv cre koh tvtr^^uova,, tckvov,
UTTOTzXXu TOii X.CCTCC y>jv 7r^eyövo<5. «^^ llbe-
EMILIA GALOTTL 187
rae ac pudlcae vii'ere licUuni fuissct,
etc. . . . Für Emilia Galotti darf ihr Va-
ter nicht beides, 'Sclaverei und Enieh-
rung; er darf nur Eins, nur das Letztere,
fürchten; und so hat jene Geschichte der
Virginie vor dieser der Emüie scJiun ei-
nen nicht verächthchen Vortheil ; denn
je mehr zu einer so schrecklichen That
der Bewegungsgründe sind, und je drin-
gender jeder an sich, desto besser. —
Doch so sehr wichtig ist dieser erste
Vorzug noch nicht ; denn allerdings kann
schon der einfaclie Bewegungsgrund, nach-
dem die Situation imd der Charakter ist,
auf den er wirkt, völlig entscheidend
werden: und ist er das wirklich, so hat
man dem Dichter weiter nichts vorzu-
werfen.
Aber hier zeigt sich nun, meines Er-
achtens, der zweite, der grofse Vorzug
i8S ÜBER
der Geschichte des Livius: der Vater der
Virginie hat einen völlig entscheidenden
Bewegiingsgrund; der Vater der Galotti
hingegen nicht. — Sie werden mir das
zugeben, hoff ich, sobald Sie nur die
beiden Situationen, der Virginie und der
Emilie, recht scharf in die Augen fassen»
Über Virginien ist der letzte richter-
liche Ausspruch von eben dem Manne
ergangen, der die hödiste obrigkeitliche
Gewalt in Ptom hat; es ist nicht blofs
mehr zu fürchten, nicht blofs mehr wahr-
scheinlich, dafs sie werde zur Sclavinn
erklärt werden: sie ist es schon wirklich.
Ihre Freiheit ist ohne Ptettmig dahin; und
in Absicht aui' ihre Ehre, läfst sich nicht
die geringste Schonung ^^^^i^. eine Scla-
vinn, niciit die geringste Mäfsigung von
einem Manne erwarten, der sich im An-
eesichte des ganzen Roms mit so erofser
EMILIA GALOTTI. 189 ^
Unverschämtheit betragen hatte. — - Das
Volk, das natürlicher Weise auf Seiten
des Beleidigten und des Mitbürgers war,
ist auf die Drohungen des Appius schüch-
tern zurück gewichen: allein und verlas-
sen steht mm auf der einen Seite Virgi-
nie mit ihren wenigen Freunden (deser-
ta praeda injuriae) ; auf der andern^
der mächtige Decemvir, den sein Anse-
hen im Staat und seine Lictoren schüz-
zen. Schon tritt man hinzu, Virginien
ihrem Tyrannen imd Ehrenschänder in
die Hände zu liefern : es ist der letzte
entscheidende Augenblick ; nur noch zwei
gewaltsame Mittel, dem Spiel ein Ende
zu machen, sind übrig. Der Vater mufs
den Dolch entweder ^Q^^^n Claudius und
den Decemvir, oder gegen das Herz sei-
nes eigenen Kindes zücken. — Welches
von beiden Mittdn würde ef wählen,
190 ÜBE 1\
wenn die Wahl ihm frei stände ? Und
welches ist er gezwungen zu wählen? —
Das Erstere, deucht mir^ beantwortet
sich gleich von selbst; denngewifs ist es
natürlicher^ dafs der Hirt den Woif^ als
dafs er das Lanun erschlage. Die Hand
des Vaters wird wider eben denjenigen
gerichtet seyn^ wider den sclion sein
Mund getobt hat; er wird lieber frem-
des^ als eigenes Blut vergielsen ; lieber
den Schuldigen^ als die Unschuldige, den
Bösewicht, als die Tugendhafte ermor-
den. Aber dieses natürlichste Rettungs-
mittel, auf das ihn Noth und Leidenschaft
gleich zuerst führen müssen , wird ihm
diurch die Beschaffenheit seiner Lage un-
möglich gemacht. Der Decemvir, der
sich, auf den Fall eines Tumults, gegen
ein ganzes Volk gerüstet hatte, ist ^^^^n
die Tapferkeit eines Einzelnen aHzuwohl
EJMILIA GALOTTI. 191
gesichert; Virginius könnte den ersten ;,
zweiten^ dritten Lictor niederstofisen: im-
ter den Streichen des vierten würde er
dennoch erliegen müssen. Diese seine
Aufopferung aber^ was für Nutzen würde
sie für Yirginien haben? Würde die Un-
glückliche weniger in Sclaverei gerathen?
weniger ein Raub der zügellosen Begier-
den des Decemvirs werden ? Es würde*
nicht echte Tapferkeit einer wahrhaft
grofsen Seele ; blinde tollkühne Wuth
würde es seyn^ einen so äufserst gefahr-
vollen und für Yiiginien so fruchtlosen
Versuch zu wagen.
Sie erkennen also^ mein Freund^ dafs
von den beiden gewaltthätigen Mitteln^
die hier noch übrig waren ^ das erste^
das an sich natürlichste^ unmöglich ge-
macht wird : und eben daduich wird
nun das zweite^ das an sich unnatürlich-
192 ÜBER
ste^ natürlich. Das Leben seines Kindes
ist dem Vater niehr^ als sein eigenes^
wcrth: er würde^ wenn er nicht zu ihrer
Piache Jeljte, das Messer aus ihrer Brust
nur herausreifsen, um es in seine eigene
zu stürzen; nur ein Einziges ist ihm mehr
werth^ als alles: ihre Freiheit und ihre
Ehre; es ist besser^ deucht ihm^ dafs er
sein Kind durch den Tod^ als dafs ei^'s
durch die Schande verliere. Also mit
der Fassung einer wahrhaft grofsen Seele,
die sich auch mitten in der schrecklich-
sten SiLuation noch besitzt^ wird er auf
einmal ruhig; verlangt nur, um sich von
der Wahrheit der vorgegebenen Geschicli-
te zu überzeugen, eine augenblickliche
Unterredung mit Tochter und Amme,
führt beide, nach erhaltener Erlaubnifs
vom Decemvir, seitwärts, und durchbohrt
der erstem, mit einem Messer, das er
von
EMILIA GALOTTI. 195
von der nächsten Schlachtbank ergreift^
das Herz. — Den vornehmsten Antrieb
zu dies.er That giebt ihm seine römische
Vaterliebe ^ so grofs und so echt_, als ^le
je in der Brust des kühnsten und stolze-
sten Mannes gew^ohnt hat; mitwirkende
Ursache bei dieser Tliat ist seine Wuth
gegen den Appius^ den er nun eben da-
dm ch elend macht^ dafs er ihm den Ge-
genstand seiner heifsesten Begierde ent-
rückt : imd die Zeit^ die zwischen That
und Gedanken verstreicht^ ist ein einzi-
ger dringender Augenblick^ über den hin-
aus vielleicht auch die grölste Menschen-
seele diese äufserste Spannung nicht wür-
de aushalten können.
Halten 3ie nun die Situation ^ worin
der Vater der Emilie ist^ g^g^i^ diese so
gewaltsame^ zwingende, worin Virginius
war. Zugegeben für's erste^ die Schande
Enar's Philosoph, I. I i)
i9i ÜBER
Emiliens sei vollkommen so entschieden^
als Virginiens Schicksal, und es bliebe
dem Vater zu ihrer Ptettung nichts, als
rlie Wahl zwischen jenen gewaltsamen
Mitteln übrig: warum mufs er denn ge-
rade das unnatürlichste wählen? warum
den Dolch nicht ins Herz des Ptäubers
und seines nichtswürdigen Gehülfen, son-
dern ins Herz seines eigenen Kindes sto-
Isen? — Freilich ist der Mann, den er
dann umbringen würde, der Prinz; aber
die er jetzt umbringt, ist seine Tochter:
und wenn sich alle Umstände vereinigen,
jene Betrachtung zu schwächen, so kom-
men dagegen alle zusammen, dieser den
gröfsten Nachdruck zu geben. Moralisch
unmöglich, scheint es, mufste die Ermor-
dung seines Kindes dem Väter noch eher
seyn, als die Ermordung des Prinzen:
und ' äufserlich möglich ist, iiac4i allen
EMILIA GALOTTI. 195
Umständen, das eine so gnt_, wie das anr
dre. — Auch Appiiis war die höchste
Obrigkeit Roms, und Virginiiis gewifs ein
eben so edeldenkender Mann, wie Odoar-
do: gleichwohl stand er keinen Augen-
blick an, das Volk g^gen den Tyrannen
aufzuwiegeln, imd würde eben so wenig
angestanden seyn, wenn es ihnÄjjj^onst
wäre möglich gewesen, ihn zu ermorden.
Aber ist denn in der That das Schick-
sal Emiliens so entschieden, dafs weder
dem Vater noch ihr selbst irgend ein an-
drer Weg zu ihrer Ptettiirig übrig bliebe?
Läfst nicht Odoardo zu schnell alle Hoff-
nung fahren^ gleichsam um dem Dichter
zu Ende zu helfen? Kahn er aiicht Be-
denldiehkeiten gegen den Auf ienthalt Emi-
liens im Hause der Grimaldi äufsern?
Kann er nicht darauf dringen, dafs sie
der Aufsicht des Camillo Rota^- oder ir-
19Ö U B E H
gend eines ändern rechtschaffnen Mannes,
deren es in Guastalla noch geben wird^
anvertraut werde? Bleibt er selbst nicht
frei^ uin Erkundigungen einzuziehn^ und
ist keine Möglichkeit mehr^ dafs noch in
der Zukunft für Emilien etwas geschehen
könne? Läfst sich nichts von dem Cha-
rakter eines Prinzen hoffen^ der doch
noch Gefühl von Ehre hat, und Wendim-
gen und Bemäntelungen sucht? Läfst sich,
was noch mehr ist;, von Emiliens Charak-
ter nichts hoffen? Müssen nicht alle die
Reden die sie führt, selbst ihre äulserste
Furcht vor ihrem Falle ^ den Vater weni-
ger besorgt, als sicher machen ? Mufs
nicht in seiner Seele, sobald er den fürch-
terlichen Gedanken fafst , den er ganz
durchzudenken so Viel Zeit hat, jeder noch
so schwache Anlafs zur Hoffnung wichtig,
jedes noch so unwahrscheinliche Mittel
EMILIA GALOTTI. 197
z\x anderweitiger Retumg wahrscheinlich
werden? Mtifs ihm nicht der Dolch^ d«n
er im ersten Augenblicke der Wuth ge-
zückt hatte ^ im zweiten Augenblicke der
Überlegung wieder entsinken? —
Ohne auf irgend eine dieser Fragen
bestimmt zu antworten^ wende ich mich
z,u dem dritten^ sehr wesentlichen^ Vor-
züge der Geschichte des Livius: und die-
ser besteht darin: dafs der Bewegirngs-
grimd^ der den Vater ziu Ermordimg sei-
nes eigenen Kindes treibt^ einen so aus-
nehmenden Grad von Evidenz hat. —
Man darf nur wissen^ was für ein elen-
des hülfloses Geschöpf^ ohne Recht und
ohne Schutz^ eine römische Sclavinn war;
darf denLictor nur hinzutreten sehn^ um
die Unglückliche ihrem Räuber^ zu jedem
beliebigen Mifsbrauch_, in die Hände zu
liefern; darf nur Einen Blick auf den
I9S ÜBER
wehrlosen verlafsnen Virginius und dann
auf den so wohl hewafneten uneiTeich-
baren Decemvir werfen: und man sieht
schlechterdings keine Möglichkeit zu Vir-
giniens Rettung, als dmxh den Tod. Man
erwartet schon die schreckliche That des
Vaters^ indem man ihn das Werkzeug dar
z,u ergreifen sielit^ und man billiget und
bewundert sie^ in dem Augenblick selbst,
da man davor erzittert. — Wie ganz an-
ders verhält sich dies in der letzten Si-
tuation der Erailie ! Wenn ich auch zu-
gebe, dafs der Dichter das ganze Stück
hindiu'ch eine Menge Züge hingestreut
habe, die man nur alle zusammen neh-
men, alle wohl erwägen und beherzigen-
dürfe, um Emiliens Schande eben so ent-
schieden, als Virginiens Schicksal zu fin- ''
den; wenn ich sogar einräume, dafs auch
kinlänglicher Griuid vorhanden sei, wai'-
EMILIA GALOTTI. 1519
um der Streich nicht den Prinzen^ son-
dern Emilien trift: so wird schon durch
das Einzige, dafs beides nicht unmittel-
bar in die Augen leoclitet, dafs man erst
Zweifel und Einwürfe heben;, sich erin-
nern, nachdenken niufs; schon dmxh die-
ses Einzige, sag' ich, wird die ganze Wir-
kiuig der Katastrophe vernichtet. Der
Streich ist geschehen, ehe man zur Illu-
sion gehörig vorbereitet war; und es hilft
nichts, dafs man hinterher nach gesche-
hener Untersuchimg einsieht, er sei den-
noch mit Recht geschehen.
Wie aber, wenn ich bisher in der gan-
zen Beurth eilung dieser Situation, durch
die beständige Piücksicht auf den Virgi-
nius, wäre irre gefüiirt worden? Wie,
wenn ich den Italiäner tu selir mit deut-
schen Augen betrachtet, und ihm einen
ßewcgungsgrund, den er nicht hatte, ge-
20O ÜBER
liehen hätte? — Die wirkliche Entehrung
Emiliens^ köniuen Sie sagen _, mag noch
immer unentschieden seyn; so ist doch
der Verlust ihres guten Namens entschie-
den. Entfernung von der Welt, wie ihr
Vater ganz recht sagt, ist das Einzige,
was ihr in ihren jetzigen Umständen ge-
ziemen würde. Sobald sie nach Guastal-
la in das Haus der Grimaldi gebracht
tind in gerichtliche Untersuchung gezogen
wird, so wird das Gerücht, als ob der
Graf durch einen begünstigten Nebenbuh-
ler aus dem Wege geräumt worden, be-
stätigt; und um Emiliens guten Ruf, so
wie um die Ehre ihrer Familie, ist es ge-
schehen. — Ich will nicht untersuchen,
mein Freund, welcher Bewegungsgrund
der bessere, edlere sei? ob es dem Odo-
ardo nicht mehr geziemen würde, seine
Tochter wegen der befürchteten wirkli-
EMILIA GALOTTI. 201
chen Erniedrigung und Verderbnifs ihres
Charakters aufzuopfern, als weil es ihn
yerdreufst dafs die Welt so und so von
ihr urth eilen werde ? Ich will nicht -an-
führen, dafs die That um desto mehr in-
teressiren mufs, je einer gröfsern richti-
gem Absicht gemäfs sie erfolgt; ich will
blofs fragen: ob wohl der Dichter selbst
diese Erklärung könne gewollt haben?
ob er durch irgend eine Rede in den
letzten Scenen nur mit einiger Deutlich-
keit darauf hinführe? ob nicht immer von
wirklicher Entehrung und Verführung die
Rede sei, ohne dafs der Schande vor der
Welt nur mit Einer, Silbe erwähnt wer-
de? Gleichwohl denke ich, wenn der
Dichter gewollt hätte, dafs Odoardo die
Lage seiner Tochter so vorzüglich aus
diesem Gesichtspuncte nehmen sollte; er
würde mehr Sorge getragen haben, dafs
203 ÜBER.
auch wir in eben diesen Gesichtspuiict
getreten ^ären. Er würde den Italiäner
eben hier^ und auf eine nicht verkenn-
bare Art^ zuvor als ItaHäner haben reden
lassen, ehe er als ein solcher gehandelt
hätte.
Wegen des zweiten Puncts, dafs der
Streich nicht den Prinzen, sondern Eini-
lien trift, könnten Sie sagen: dafs auch
hier Odoardo als ein echter Italiäner
handle. — Was wäre es, wenn er i die
Schande, die der Prinz auf sein Haus
bringen wollte, nur dadiu-ch zu rächen
suchte, dafs er ihn niederstiefse? Besser^
dafs er ihm sein ganzes künftiges Leben
verbittre, dafs er ihm diejenige, die ihm
so viel Trug und Verrath ja selbst einen
Meuchelmord werth war, in deni Augen-
blicke selbst entreifse, da er sie am sicher-
sten zu besitzen glaubt; dafs er ihm ci-
EMILIA GALOTTL 203
nen Gedanken in die Seele grabe, der
ihn wachend und träumend martrc. und
nach einem Leben voll Angst noch die
Schrecknisse seiner Todesstiuide vermeh-
re. — Ich will glauben^ mein Freund,
dafs eine Rachsucht niöglici^ ist, die für
ihre BefTiedigung alles, selbst ein ein-
ziges Kind, dahingiebt; aber gewifs ist
der Mensch der ihrer fähig ist, einer
der schwärzesten, verhafstesten Menschen:
und doch ist es deutlich, dafs der Dich-
ter den Odoardo vielmehr als einen ed-
len und hochachtungswürdigen habe schil-
dern wollen. Wie einen ganz falschen
Eindruck würde auch nun Emiliens Tod
auf uns machen, wenn wir wirklich diesen
Bewegungsgrund dabei erkennten, oder
auch nur muthmafsen könnten! Statt des
waln^en tragischen Schreckens, womit uns
die That des Virginius erfüllt, würde uns
2o4 ÜBER EMILIA GALOTTI.
diese des Odoardo mit Abscheu und Ent-
setzen erfüllen. — Erst müfsten wir^ wie
in der Geschichte beim Livius^ die völli-
ge Unmöglichli.eit erkennen,, dal's Emilie
anders als dmxh ihren eigenen Tod soll-
te gerettet werden; und dann mögte sich
die Wutli gegen den Verführer ^ eben
hiedurch erst auf's höchste getrieben^ mit
der väterlichen Liebe vereinigen^ um den
Streich zu vollführen: aber^ dal's bei der
Möglichkeit^ den Verführer selbst zu töd-
ten^ die Wuth oder vielmelir das schreck-
lichste Rafhnement der Rachsucht^ die
väterliche Liebe ersticken und den Dolch
freiwillig gegen die Tochter zücken soll-
te ; das sqheint mir viel zu scheuslich
und ungeheuer^ als dafs es Herr Lessing
gewollt haben sollte^ bei dem icli auch
in der That nicht die mindeste Spur da-
von finde.
205
VIERZEHNTES STUCK.
HYLAS UND PHILONOUS.
W enn auch die Materie, sagt nian_, ih-
rer Natur nach des Denkens unfähig ist:
kann ihr der Allmächtige nicht diese Ei-
genschaft mittheilen?
Dieser Einwurf wider die Immateria-
lität der Seele pflegt durch das Ansehen
eines grofsen Namens unterstutzt zu wer-
den. Locke hat ihn irgendwo *in seinen
Schriften vorgebracht; imd seit der Zeit
ist er von so manchem Schriftsteller mit
einem Triumphe wiederholt worden^ als
wenn nichts darauf zu antworten wäre.
Allein ich glaube^ der Engländer selbst
hat seinen Einfall für so unüberwindlich
nicht gehalten.
soG H Y L A S
Die Cartesianer lehrten: Wenn der
Körper des Denkens fähi^ sejTi sollte^ so
jnüfste sich durch Ausdehnung und Be-
wegung die Natur der Gedanken begreif-
lich machen lassen. Nun sind aber^ sag-
ten sie^ Gedanken und Ausdehnung^ Be-
wegung und Wahrnehmen oder inneres
Bewufstseyn der Bewegung^ von unglei-
cher Natur^ von disparaten Eigenschaften:
denn man mag die Theilchen der Mate-
rie versetzen und verbinden^ wie man
will ; so entsteht daraus noch kein Be-
griff> keine Vorstellung von dieser Ver-
setzung;, kein Wahrnehmen der dadurch
erzeugten Veränderung. Das Ausgedehn-
te, schlössen sie, muls also blofs beweg-
lich seyn, das Denken hingegen einer
nicht ausgedehnten Substanz, die der Be-
wegung unfähig ist, zukommeni
Da man durch diese Gründe nur zu
UND PHIL ONO US. 207
beweisen schien^ dafs die Gedanken der
Materie nicht nattirlicii sind ; so fragte
Locke mit Recht: ob nicht die Allmacht
der Materie eine Kraft verleihen könne,
die sie von selbst nicht haben würde?
So, wie andere Weltweise den Be-
weis für die Immaterialität der Seele ge-
führt haben, ist diese Frage gar nicht
mehr möglich. Wenn ziün Denken viele
Substanzen in einer Einzigeii (durch die
Vorstellung) zusammenkommen müssen;
die Materie hingegen niemals aufhört,
aus vielen zu bestehen : so läfst sich eine
denkende Materie eben so wenig ohne
Widerspruch einnehmen, als ein vierecki-
ger Kreis»
Aber auch selbst nach der anc^eführ-
tcn Cartesianischeii Beweisart, läfst sich
der Zweifel des Engländers auf eine sehr
einleuchtende Weise heben. Man kann
208 H Y L A S
zeigen, daPs die Eigenschaften sich nicht
mittheilen lassen, und dafs die Allmacht
selbst keinem Wesen eine Kraft zufegen
kann, die ihm seiner Natur nach nicht
zukommt. Man sehe hier ein Gespräch^
das über diesen Punct zwischen zwei
Weltweisen vorgefallen ist, die ich Hylas
und Philonous nennen will.
Hylas. Und wenn auch die Materie
an und für sich nicht denken kann; wird
ihr die Allmacht Gottes nicht die Kraft
zu denken mittheilen können?
Philoiioiis. Wir wollen sehen, mein
Freund. — Wie fängt es die Allmacht
an, dafs sie am Dorne Rosen wachsen
Jäfst? Erschaft sie etwa jährlich in der
Rosenzeit frische Knospen aus dem Nichts,
und befestiget sie an den Strauch?
Hylas. Das nicht. Vielmehr hat sie
in den Dorn selbst den Saamen gelegt,
aus
UND PHILONOUS. 209
aus welchem zu ihrer Zeit die Rosen
hervorsprossen.
Philoiious. Also^ wer den Rosensaa-
men zergliedern^ und seinen innern Bau
mit mikroskopischen Augen betrachten
kann; der wird deutlich einsehen, wie
aus dem fein organisirten Saamen, durch
die Entwickelung , Rosen aufblühen kön-
nen?
Hylas. Allerdings ! Wenn nur seine
Sinne zart genug sind, oder die Instru-
mente genug vergröfsern.
Philoiioiis. Gesetzt aber, die Allmacht
wollte am Rosenstocke, der nur Rosen-
saamen führt, Citronen wachsen lassen;
würde sie nicht diese dem Strauch un-
natürlichen Früchte besonders erschlaffen,
und an den Stengeln befestigen müssen?
Hylas. Nicht anders ! Aber alsdann
würden die Früchte am Rosenstocke nur
Engels Philosoph, I. l4
2IO H Y L A S
zu wachsen scheinen, nicht whklich
wachsen.
Philojious. Mehr aber als diesen blo-
fsen Sehern^ dankt mich, kann selbst die
Allmacht in diesem Fall nicht erhalten;-
sie müfste denn den Rosendorn in einen
Citronenbaum iwrwandebi: das heifst —
nach der Sprache einer gesunden Philo-
sophie — den Rosendorn uernichteii,
und einen Citronenbaum an die Stelle
setzen,
Hylas. Das wäre dann aber nicht das,
was wir verlangten.
Philo7ious. Freilich nicht ! Und es
bliebe also bei dem Vorigen : die All-
macht wurde die Citronen besonders er-
schaffen, imd mit dem Rosenstrauche ver-
binden müssen. — Wie aber? Der Stamm
führt ja keine Citronensäfte. Woher wer-
den denn die Früchte ihj-e Nahrung neh-
UND PHILONOU^ 2n
Hylas. Diese wird ihnen die Allmacht
aus der Luft oder sonst woher zuführen
müssen.
Fhilonous. Und wenn nun der Stock
vergeht ; haben die Citronen mehr als
ihre Stütze verloren ?
Hylas. Sicherlich nicht. Da derStamm^
an dem sie hingen, sie weder hervorge-
bracht noch genährt hatte.
Philojious. Nimm ehr wieder zu uns-
rer Haviptfrage! — Sie haben mir einge-
räumt, dafs die Materie an und für sich
nicht denken könne; das heifst, dafs sie^
vermöge ihier innern Strüctur, luiendli-
cher Gestalten, Farben und Bewegungen,
aber keiner Gedanken, fähig sei.
Hylas. Ich gebe zu, dafs Cartesius
dieses so gut als erwiesen hat.
Philo 71 aus. Der Grund zu den Ge-
danken liegt also aiicht in der Materie,
2iz HYLAS
so wenig als Citronensaamen im Rosen-
dorn. Aber Gott soll der Materie die
Kraft zu denken mittheilen. Muß er nicht
diese Kraft besonders erschaffen^ und mit
der Materie verbinden?
Hylas. Allerdings ! — so wie wir an
unserm Beispiele gesehen haben.
Thilonous. Dadurch aber erlangt die
Materie niu^ dem Scheine nach die Kraft
zudenken; diese kann ihr in derThat so
wenig eigenthümlich werden^ als am Ro-
senstocke wirklich Citronen wachsen kön-
nen?
Hylas. Auch das mufs ich zugeben.
Philonous. Die Frage war also nicht :
ob die Allmacht der Materie die Kraft zu
denken mittheilen könne? denn dies ist
unmöglich; sondern: ob sie nicht eine
Kraft zu denken erschaffen und mit der
Materie verbinden könne ? und siehe !
UND PHILONOUS. 213
dies hat sie wirklich gethan. Sie hat mit
gewissen Portionen organisirter Materie
eine besonders erschaffene Kraft zu den-
ken verbmiden_, imd beide zusammen ma-
chen das lebendige Tider aus. Wie die
Früchte zum fremden Stamme^ so verhält
sich die Kraft zu denken zur organisir-
ten Materie. Am Ende kann diese ver-
gehen^ ohne dafs jene mehr als ihre
Stütze verlöre.
Moses Mejidelssohn.
2l4
FÜNFZEHNTES STUCK.
DER BIENENKORB,
Aber um's Himmels willen! — sagte ein
jünger Deutscher^ Herr uoit Bertlieiuiy
zu Monsieur Le Grand, einem Pariser
grofsen Geist nach der Mode und einem
eifrigen Apostel des Atheismus -^ durch
was für eine andere Idee^ mein Herr,
wollen Sie mir diejenige, die Sie mir zu
nehmen suchen, ersetzen ? Ich erkenne
die Abhängigkeit meiner selbst und aller
mich umgebenden Pinge; ich suche, ver-
möge einer Noth wendigkeit meiner Ver-
nunft, wovon nichts mich entbinden kann,
eine ^rste, eine Grundursache der Dinge:
und diese Ursache —
DER BIENENKORB. 215
Werden Sie auf Ihrem Wege nie fin-
den.
Nie finden? Hab' ich sie nicht schon
in dem Gedanken von einem Gott ge-
funden ?
Wie.^ Die Ursache von Wirklichkeiten
in einem Gedanken? die Quelle von Rea-
litäten in einem Namen? in einem Schal-
le? — Sie wollen begreifen durch's Un-
begreifliche? wollen aufklären diurch Fin-
sternisse ?
Wenn das Ideen sincl^ was Sie da sa-
^en, nicht Worte
Eben Worte verwerf' ich !
Nun, so würdigen Sie einen Irrenden
Ihier Leitung ! Fuhren Sie mich zu eben
der Quelle der Weisheit, aus welcher Sie
Selbt mit so tiefen Zügen Gewifsheit
schöpften! — Ich wiederhole Ihnen: icli
Gliche eine erste Ursache der Dinge; ich
2i6 DER BIENENKORB.
bin durch eine Nothwendigkeit meiner
Vernunft gezwungen^ dafs ich sie suche;
diejenige^ welche ich in dem Gedanker
von einer Gottheit glaubte gefunden zu
haben, erklären Sie mir für 'l'raum,, für
Unwesen, für Nichts. Hoffentlich wer-
den Sie doch nun ein Wesen, ein Etwas,
eine Realität, an die Stelle setzen?
Wie sonst ? — Das erste und einzi-
ge Wesen, welches die aufgeklärte Ver-
nunft erkennt; die Quelle alles Gedenk-
baren, alles Wirklichen, alles, was Hirn'
mel und Erde, was Vergangenheit unl
Zukunft befassen!
Nun? mid diese Quelle wäre nLht
Gott?
Aberglaube ! Eindrücke von dej er-
sten Erziehung her! — Diese Quele ist
allein die Natur.
So hör' ich und so les' ich j'tzt oft.
DEZI BIENENKORB. 217
Aber wenn ich doch von dieser Na-
tur '.
Er wollte sagen : wenn ich doch ei-
nen Begriff von ihr hätte! Allein es v»^ir
nicht möglich^, zum Wort zu kommen.
Die Lunge aes Monsieur Le Grand hat-
te nun einmal Athem geschöpft ; vuid
sicher war' er der Erste aller Philoso-
phen gewesen^ wenn die Lunge und nicht
der Kopf den Philosophen machte. Er
setzte es als die erste ^ evidenteste^ un-
umstöfslichste Wahrheit fest : dafs Alles
in der Natm^ seinen Grund habe, imd
dafs es irgend etwas Nothwendiges und
Ewiges gebe, woraus sich Dasein und Be-
schaffenheit jedes Dinges begreifen lasse;
er fand dieses Nothwendige, dieses Ewi-
ge, in nichts anderm als in den beiden
allein reellen Ideen: Materie und Bewe-
gung; er liefs aus dieser Materie und Be-
218 DER BIENENKORB.
wegung Alles ^ was im Himmel und auf
Erden entstanden war, allein entstanden
seyn, spottete der trügerischen Idee ei-
nes freien, aus eigner Kraft wirkenden
Geistes, weil nichts selbstthätig sei, nichts
sich aus seiner eignen Kraft bewege, son-
dern AUes seine Bewegung von aulsen
erhalte ; er machte zur ersten und einzi-
gen Quelle dieser Bewegung, und also
aller durch sie entstandenen Dinge, die
Natui'; und erklärte dann doch diese Na-
tur eben durch den Zusammenflufs der
Materie und der mannichf altigen Bewe-
gungen der Materie. Er zeigte das Lä-
cherliche, das Ungereimte in dem Gedan-
ken eines ersten Bewegers, eines unsicht-
baren, nach keiner seiner Eigenschaften
zu begreifenden, nicht einmal zu denken-
den Gottes, schilderte mit schwarzen,
fürchterlichen Farben das Elend, welches
1
DER BIENENKORB. 219
Aberglaube und Pfaffenbetrug über die
Erde gebracht *) ; und lief diesen engen^
armseligen Kreis von Ideen so oft,, mit
so mannichfaltigen Wendungen^ wieder
durchs dafs Herr "vojt Bertheim alle Lust
ihn zu widerlegen verlor^ und nur auf
Mittel sann wie er sich losreifsen könn-
te. Er fand das Genie des Monsieur
Le Grand zu bewimderns würdige, als dafs
er's wagen dürfte^ sich mit ihm einzulas-
sen; er begriff nicht^ wie so viel Tiefsinn
sich mit so viel Wohlredenheit vereini-
gen liefse^ und bat um Zeit, alles das
Schöne und Grofse, was er gehört hätte,
zu fassen und zu durchdenken. Monsieur
Le Grand;, ohne den mindesten Ai^gwohn
von Ironie, die ihm für einen Deutschen
eine viel zu kühne Figur schien, schmei-
chelte sich mit der Ehre, Herrn von
*) Man sehe das Systdnie de la Nature.
220 DER BIENENKORB.
Bertheiin noch öfter zu unterhalten; und
die atheistische Declamation hatte ein
Ende. —
Die Scene dieser Unterredung war ein
G-arten auf dem Landgute der Marquise
'von Vaillac ^ einer erklärten Gönnerinn
und Beschützerinn des Monsieur Le Grand,
den sie, als einen vortreflichen Kopf, zu
allen ihren Soupers und Landpartieen zog.
Die gute Dame war nicht mehr jung ge-
nug für die Liebe, und noch nicht alt
genug für die Andacht : sie hatte sich,
um in der Zwischenzeit glänzen zu kön-
nen, in die Metaphysik geworfen, sam-
melte sich, durch witzigen Spott über
Himmel und Hölle, reichen Stoff für die
künftige Bufse, und arbeitete jetzt mit
an der Bekehrung des jungen Deutschen,
um dessen vortheilhaftes Aulsere ihr es
wehe that^ das Innere noch so verfinstert
7n Rnden. —
DER BIENENKORB. 221
Indem unsre Weltweisen um eine Ecke
der hintersten grofsen Allee des Gartens
beugten^ fanden sie sich plötzlich vor ei-
nem wilden unbebauten Platze^ der mit
dem zu gekünstelten, in zu regelmäfsige
Form gezwungenen^, Garten einen nicht
unangenehmen Absatz machte. Sie tra-
ten hinaus^, und stajiden hier bald vor
einer Reihe Bienenkörbe stille^ deren
kleine Bewohner die Nahnmg/ die ihnen
der Garten so reichlich darbot^ mit em-
sigem Fleifs in die Zellen '.rügen.
Wie, im endlich viel angenehmer^ fing
Herr von Bertheim an^ ist doch der An-
blick des Lebens^ als aller, auch der rei-
zendsten^ leblosen Schönheit! Wie weit
mehr^ als alle die Gänge und Blumen-
beete des Gartens^ den wir verlassen ha-
ben^ ergötzt mich die Betrachtung dieser
glücklichen Bürger eines so ordnungs-
222 DER BIENENKORB.
vollen^ so freien^ so ruhigen kleinen
Sr.aats ! —
Und der Anblick ihres Fleifses, ihrer
Geschäftigkeit, setzte Monsieur Le Grand
sehr richtig hinzu: denn sehen Sie^ wie
das unablässig kommt und geht; wie das
eilt und wimmelt; wie das keinen Augen-
blick rastet !
Ja wohl! Und vollends erst der Zweck
dieses Fleifses ! die Auferziehung einer
hpffnungsvollen Nachwelt! die Ernährung
der kleinen künftigen Burger ! —
Die denn doch aber nicht Haupt-,
nicht einziger Zweck ist. —
Ich weifs. Und wenn auch nicht ein-
ziger, da freilich diese Arbeiter auch für
das eigne künftige Bedürfnifs sammeln;
so ist sie doch immer Mitzweck : und
Jungenpflege , wo ich sie in der Natur
nur gewahr werde^ ist mir yberall so an-
DER BIENENKORB. 225
ziehend, so rührend! Jedes, auch das
verächtlichste Thier, sobald es mir als
aufmerksame liebende Mutter erscheint,
ist mir gleich so achtungswürdig, so un-
verletzlich, so heilig!
Aber, mein Herr — dafs Sie von Jun-
genpflege sprechen, das ist schon recht;
allein Sie sprechen nun auch von Müt-
tern. Sie sollten noch nie gehört ha-
ben — ? indem er einhielt.
Noch nie gehört haben? Was? —
Es läfst sich nicht sagen, mit welchem
grofsen Auge und welchem Blick voll Er-
staunens Monsieur Le Grand zurück trat.
Dafs man unfähig seyn könne, eine et-
was verwickelte Kette abstracter tiefsin-
niger Wahrheiten zu fassen, begriff er;
denn nur zu oft war ihm die grofsmüthi-
ge Absicht, Andre bis zu sich selbst zu
erheben, verunglückt: aber eine so tiefe
224 ^^^^ BIEJNENKOIIB,
Unwissenheit^ als Herr von Bertheim in
der gemeinsten Naturgeschichte zu ver-
rathen scl:)ien^ war ihm bis itzt nicht vor-
pfekommen. Dennoch befand es sich bei
der Nachfrage nicht anders ; Herr von
B^rtheim;, so viel Bienenzucht er auf sei-
nen eignen Gütern trieb, hörte jetzt zum
erstenmale in seinem Leben, dafs alle
die kleinen Fliegen, die er so fleifsig ar-
beiten sähe, ohne Geschlecht und ohne
Zeugungskraft wären ; er fand es zwar
unglaublich und wider alle Analogie der
Natur ; allein er niufst' es endlich für
Wahrheit nehmen, da Monsieur Le Grand
ihm auf Ehre versicherte, dafs es so wäre.
Gestehn Sie indessen^ fing er nach
mehrern Ausdrücken seines gröfsten Er-
staunens an, dafs die Sache nicht wenig
sonderbar ist. Denn die hier arbeiten-
den Bienen sind doch wohl nimmerniehr
so
DER BIENENKORB. 225
so alt^ als die Welt? sind doch wohl
auch^ wie alle andi'en irdischen Wesen,
sterblich? Gleichwohl^ wenn sie ohne
Zeugungskraft sind —
Nun?
Wie soll ich da immer und ewig ih-
ren Ursprung begreifen? Woher^ soll ich
denken^ dafs nach dem Tode der alten
Schwärme die neuen kommen?
Woher ? sagte Monsieur Le Grand^
und konnte unmöglich ein kleines spöt-
tisches Lächeln lassen. Sind denn die
hier sichtbaren arbeitenden Bienen die
einzigen in der Natiu: ? Müssen denn
nothwendig alle Bienen ausfliegen imd
Honig machen ? — Lassen Sie Sich sa-
gen^ mein Herr! — indem er in selbst-
zufriedner Stellung^ mit ausgestrecktem
Finger und weit gesperrten Füfsen, vor
ihn hintrat — Dort innerhalb dieses Kor-
Engnis Philosoph, I. j^
22(i DER BIENENKORB.
bes y und so innerhalb jedes andern^
wohnt eine kleine Königinn^ die von ih-
rem männlichen Serail^ wie ein Sultan
von seinem weiblichen^ umgeben^ in gnnz
eigentlichem Sinne das ist^ was sich uns-
re Königinnen nur nennen : Landesmut-
ter; eine Gottheit^ an deren Dasein die-
ses ganze System^ diese ganze kleine
Welt hängt, imd die in ihrer stolzen se-
ligen Unthätigkeit — —
Eine Gottheit? fiel ihm Herr von Bert-
heim ins Wort, und schlug, nach einem
kleinen flüchtigen Lächeln, den Blick wie
beschämt zur Erde nieder.
O, Sie verstehen mich, hoff ich. Ei-
ne Gottheit, wie eine Königiim: nur der
Ähnlichkeit wegen! nm- weil diese innre
verborgne Biene die erste Person ihres
Staats ist; weil sie allein ihn zusammen-
hält; weil ohne sie sich alles zerstreuen^
ajles verlieren wurde.
DER BIENENKORB. 227
Ja dann — wenn Sie Sich so erklä-
ren — Aber nach Ihrer Beschreibuno^ von
o
dieser Biene, von dieser innern ver-borg-
nen Biene, wie Sie sie nennen, mufs sie
wohl auch eine ganz andi'e Beschaffen-
heit, eine ganz andre Natur haben, als
die bisher mir bekannten Bienen?
Wenigstens ist sie gröfser, hat einen
andern Bau, eine andre Lebensart^ andre
Instincte.
Dafs ich also noch gar keinen Begriff
von ihr habe? dafs sie für mich im Grun-
de so viel wie nichts ist?
So viel wie Nichts? — Ist denn gleich
Alles nichts, wovon Sie nicht den hellen,
den vollen Begriff der Anschauung ha-
ben? Alufs denn Alles was für Sie etwas
seyn soll, mit Augen können gesehn oder
mit Händen gegriffen werden ? — Ein-
mal sind doch diese Bienen in der Na-
238 DER BIIlNENKORB.
tur; Sie sehen sie, hören sie; Sie dürf-
ten sie nur reizen^ um auch ihren Sta-
chel zu fühlen: und so denk' ich — wenn
diese Wesen nicht aus dem Nichts haben
hervorspringen sollen — ich denke ;, Sie
werden mir meine Mutterbiene schon
müssen gelten lassen.
Verzeihn Sie ! Ich hätte doch Lust^,
sie zu läugnen.
Wie ! sie zu läugnen ? — Wemi Sie
mir gleichwohl eingestehen, dafs diese
sichtbaren^ arbeitenden Bienen ohne Ge-
schlecht sind?
Wenn ich dieses auch eingestehe. Das
thut liier nichts.
Thut hier nichts ? — Nun beim Him-
mel! — imd er lachte^ dafs die Thränen
ihm aus den Augen liefen — Sie sind
von einer Naivetät zum Erstaimeil. Wie
in aller Welt wollen Sie denn nun den
DER BIENENKORB,
239
Ursprung der Bienen begreifen? Wo glau-
ben Sie, dafs die neuen Schwärme her-
kommen sollen? — Oder sind Sie etwa
schon wieder in Ihrem Schöpfungssystem?
haben Sie schon wieder Ihre erste Grund-
quelle der Wesen im Sinne ?
O Monsieur Le Grand! — mit einer
Miene, als ob er im Ernst empfindlich
wäre — ein Mann, wie Sie^ könnte spot-
ten, wo er Gelegenheit zu belehren hät-
te? Ich bin ja einmal Ihr Schüler.
Doch, Sie wollten auch v/ohl nicht spot-
ten, sondern nur meinen Scharfsinn wek-
ken. Sie wollten versuchen, ob ich aus
den Principien, die Sie mir so grofsmü-
thig mitgetheilt , das Räthsel nicht von
selbst würde lösen können. Und wirk-
lich — je mehr ich der Aufgabe nach-
sinne es ist mir, als ob ich schon
einen Schimmer von etwas sehr Schönem^,
sehr Bündigem sähe.
23© DER BIENENKORB.
Worauf ich unendlich neugierig bin;
ich versichere Sie.
Wenigstens ist es ganz nach Ihi^em
eignen Muster.
Schön! Um so lieber werde ich's mir
gefallen lassen.
Vielleicht. — Doch uiu^ als Anfänger
im Denken^ nicht etwa Fehler zu ma-
chen: erlauben Sie^ dafs ich mein Muster
noch einmal vor mir aufstelle und Ihr
ganzes Räsonnement wiederhole ! — Be»
haupteten Sie nicht als denkender Atheist^
der sich von den Vorurtheilen der Erzie-
hung losgerissen^ dafs die Idee einer un-
sichtbaren^ verborgnen^ nach keiner ihrer
Eigenschaften begriffenen Gottheit eine
hirnlose Idee^ und dafs es der wahnsin-
nigste aller Einfälle sei^ durch so eine
Gottheit die Entstehung einer Welt zu
erklären?
DER BIENENKORB. ^31
Nun ja! Und die Anwendung?
Behaupteten Sie nicht ferner als gründ-
licher Materialist _, der sich durch keine
Schattenbilder der Einbildung täuschen
läfst_, dafs die Idee eines sich selbst be-
stimmenden,, aus eigner Kraft handelnden
Wesens thöricht sei, und dafs, eigentlich
zu reden, alle Bestimmung, alle Bewe-
gung von aufsen komme?
Das behauptete ich; allerdings!
Wohl! — Sagten Sie nicht, dafs alle
Dinge nur dmxh Bewegung der Materie
entstanden wären? und müssen Sie also,
wenn alle Bewegimg von aufsen kommt,
nicht zugeben^ dafs bei keinem Dinge der
Grund seines Daseins und seiner Einrich-
tung in ihm selbst liege?
Freilich! Haben Sie Zweifel dagegen?
Ich würde sie anführen. — Heifst Ih-
nen das: Kein Ding hat den Grund sei-
23'i DER BIENENKORB.
ner Entstehung und Einrichtung in sich
selbst;, etwas anders^ als: Der Griuid sei-
ner Entstehung und Einrichtung, insofern
er in ihm selbst liegt, ist nichts?
Wenn Sie's so lieber hören — Was
liegt am Ausdruck^ mein Herr?
Dann und wann viel. — • Behaupteten
Sie nicht ^ dafs die Natur allein die ge-
suchte, noth wendige, ewige Ursache, die
einzige Quelle der Bewegung sei, die Al-
les wirke, hervorbringe, bilde?
Sehr richtig !
Und erklärten Sie nicht diese Natur
duixh den Zusammenilufs, die Summe,
die Verbindimg aller Dinge und aller Be-
wegungen, deren abei» keine ihren Ur
spnmg in den einzelnen Dingen selbst
habe, sondern nm: in der Kette des Gan-
zen ?
Wiederum richtig! — Aber ich sehe
DER BIENENKORB. 255
nichts wo Sie mit diesen Fragen hinaus
wollen?
Dahinaus^ wo ich schon bin. Denn
nur des grofsen^ Ihrem Systeme so eig-
nen _, mir noch so neuen Grundsatzes
wollt' ich gewifs sejn: dafs unzählig viel
Nichtgrunde in der Verbindung Grund,
unzählig viele Nichtbewegungen in der
Summe Bewegung geben, und dafs also
Nichts , zu Nichts hinzugethan , Etwas
werde. Mit diesem Axiom gerüstet, geh'
ich nun muthig an meine Aufgabe, und
bin gewifs, sie zu lösen. — Meine Ge-
dankenfolge ist diese: Ich sehe hi^er Bie-
nen arbeiten , die ohne Zeugungskraft
sind; ich spüre Eindrücke von ihnen auf
inein Gesicht, mein Gehör, meinen Gau-
men, auch, wenn ich sie reize, auf uiein
Gefühl: ich kann ihr Dasein nicht läug-
nen. Gleichwohl begreife ich auch, dafs
234 ^^^ BIENENKORB.
sie den Grund ihrer Entstehung aufs er
sich haben; dals sie nicht von sich selbst
sind^ nicht ewig. Wo soll ich denn aber
sonst ihren Ursprung suchen? In andern
ihnen ähnlichen Bienen? — Denen fehlt,
so gut wie ihnen selbst, die erzeugende
Kraft. — Also etwa in einer Mutterbie-
jie, die eher als sie und von ihnen ver-
schiedner Natur sei? — Aber wo wäre
denn die ? Und was sollte ich mir für ei-
nen Begriff von ihrer Beschaffenheit ma
chen? — Nein, das wäre sehr thöricht,
wenn ich nach leeren Unwesen haschte,
und Wirklichkeiten durch Namen, durch
Schall erklärte! — Besser, ich fasse die
sämmtlichen Bienen, die hier und anders-
wo arbeiten, in den allgemeinen Begriff:
Bienen -All; ihre sämmtlichen Zeugimgs-
kräfle in den allgemeinen Begriff : Bie-
nen-Natur. Nun ist zwar freilich, ein-
DER BIENENKORB. 235
zeln genommen^ jede dieser Zeugiings-
kräfte^ ein blofses Unding, ein Nichts ; —
aber wenn gleich! Unendlich viel Nichts,
hab' ich gelernt, giebt in der Summe all-
wirkendes Etwas; und so werden unzäh^
lig viel Unmöglichkeiten zu zeugen, in
Einen Begriff verbunden, zu Möglichkeit,
zu mehr als Möglichkeit werden, zu wirk-
lich zeugender Kraft. So also, durch ei-
^ne aus Nichts zusammengeflossene zeu-
gende Kraft, kamen diese Bienen zum
Vorschein; so entstand, was den Grund
seines Daseins nicht in sich selbst, nicht
in Dingen seiner eigenen Art haben konn-
te , und ihn doch auch in nichts Ver-
schiedenem hatte. Nun, Monsieur
Le Grand ? Sehen Sie, dafs ich Ihre
Schlulskette gefafst habe, und dafs ich
ohne Mutterbiene davon komme ? dafs
ich dieses verborgene, ungesehene, so
236 DER BIENENKORB.
wenig von mir begriffene Wesen nicht
brauche ? dafs ich mich nm^ lächerlich
würde gemacht haben , wenn ich mich
so leicht hätte fangen lassen ? — Oder
fmden Sie etwa meine Erklärung nicht
genugthuend? nicht für den gemeinsten
Verstand evident?
O ausnehmend genugthuend, ausneh-
mend evident! sagte Monsieur Le Grand,
und zuckte voll Bedaurens die Achseln.
— Theilen Sie Ihre Ideen dem Publicum
mit! Es wäre Jammer, wenn sie verloren
gingen.
Wenn Sie so meinen
Ich versichere Ihnen: Sie werden da-
von Ehre haben, alle ersinnliche Ehre! —
Die ich demjenigen zui'ückgeben wer-
de, dem sie gebührt. — Mit diesem küh-
len Tone verlop sich die Unterredung,
und beide gingen nun schweigend neben
einander her an die Tafek —
DER BIENENKORB. 2'^
Monsieur Le Grand konnte die Zeit
nicht erwarten ;, wo er mit der Marquis e
und der übrigen Gesellschaft allein wäre^
um ihnen von dem Vorgefallnen Bericht
zu geben. Doch versteht sich^ dais er
alles verschwieg, was seinem System oder
ihm selbst zum Nachtheil gereichte. —
So eine Unwissenheit, und so eine Al-
bernheit, wie die: durch lauter zeugungs-
unfähige Wesen Zeugung erklären zu wol-
len, konnte nicht fehlen, Gelächter, Ver-
achtung, Mitleiden, Spott, eins um's An-
dere zu erwecken. — Aber, sagte zukizt
die Marquise : gestehen Sie mir, meine
Herren, dafs eine so ungeheure Stupidi-
tät doch nirgend als jenseit des B.heins
erhört ist. Demi hier in Frankreich, dem
Himmel sei Dank ! sind wir doch eine
ganz andere Menschenart ; haben doch
ganz anders organisirte Gehirne. — Ja
238 DER BIENENKORB.
wohl! ja wohl! riefen Alle; und dann er-
hob sich ein lebhafter Streit: ob die Ur-
sache dieser Stupidität mehr im Klima,
oder im Gouvernement, oder in der Er-
ziehung, oder in irgend sonst etwas läge?
Indessen, über die Sache selbst war man
einig; und Herr von Bertheim, so viel
Hoffnung Anfangs die Marquis e von ihm
geschöpft hatte, sank auf einmal in eine
tiefe Verachtung.
239
SECHZEHNTES STLrCK,
TRAUM DES GALILEI *),
KjTalilei, der sich um die Wissenschaften
so unsterblich verdient gemacht hatte^
lebte jetzt in einem ruhigen und ruhm-
") Galilei ward zweimal vor die Inquisition in
Rom geladen , weil er das System des Coper-
nicus vertheidigte, das der heiligen Schrift ent-
gegen schien. Das zweitemal safs er lange
gefangen, und in gröfster Ungewilsheit wegen
«eines Schicksals ; endlich gab man ihn unter
der Bedingung frei, dafs er nicht aus dera
Herzogthume Florenz weichen sollte. Seine
wichtigsten astronomischen Entdeckungen, die
er theils allein , theils mit Andern zugleich
machte , sind diejenigen ,. deren in diesem
Traume erwähnt wird. Er lebte nach seiner
letzten Gefangenschaft auf seinem Landhause
zu Arceiri, verlor sein Gesicht, und genofs in
den letzten Jahren bis an seinen Tod der Ge-
sellschaft des Viviani, der nachher sein Leben
beschrieb , und seinen Namen nie anders als
24o T R A ü M
vollen Alter, zu Arcetri im Florentini-
schen. Er war bereits seines edelsten
Sinnes beraubt, aber er freute sich den-
noch des Frühlings : theils um der wie-
derkehrenden Nachtigall und der duften-
den Blüthen willen, theils um der leb-
haftem Erinnerung willen, die er an ehe-
malige Freuden hatte.
Einst, in seinem letzten Frühling, liefs
er sich von Viviaiii, seinem jüngsten und
dankbarsten Schüler, in das Feld um Ar-
cetri führen. Er merkte, dals er sich für
sei-
jiiit dem Zusätze zu unterzeiclinen pflegte:
Schüler des Galilei. Mit diesen wenigen An-
merkungen wird in dem nachlblgenden Auf-
satze liofTeatlicli nichts mehr dunkel «eyn.
Umständlichere Nachrichten findet man in
MonLucla Histoire des Math^matir/ues , Heu-
manns Actis Fhil. , und andern bekannten
Büchern. — (Man s. vor allen die jetzt er-
schienene Lebeusbesclueibung des Galilei von
Herrn Jagemann, )
DES GALILEI. 241
seine Kräfte zu weit entfernte, und bat
daher im Scherz seinen Führer, ihn nicht
über das Gebiet von Florenz zu bringen.
Du weifst, sagte er, was ich dem heili-
gen Gericht habe geloben müssen. —
Viviaiii setzte ihn, zum Ausruhen, auf
eine kleine Erhebimg des Erdreichs nie-
der; und da er hier, den Blumen und
Kräutern näher, gleichsam in einer Wol-
ke von Wohlgeruch safs, erinnerte er
sich der heifsen Sehnsucht nach Freiheit,
die ihn einst zu Pvom, bei Annäherung
des Frühlings, befallen hatte. Er wollte
jetzt eben den letzten Tropfen Bitterkeit,
der ihm noch übrig war, gegen seine
grausamen Verfolger ausschütten, als er
schnell wieder einhielt, und sich selbst
mit den Worten bestrafte : Der Geist
des Copernicus nixjgte zürjie?i.
Viviani, der noch von dem Trauai
Engels Phi/osoph, T. l(^
^242 TRAUM
nicht wufste^ auf den sich Galilei bezog,
bat ihn um Erläuterung dieser Worte.
Aber der Greis^ dem der Abend zu kühl
und für seine kranken Nerven zu feucht
ward^ wollte erst zurückgeführt seyn^ eh'
er sie gäbe.
Du weifst^ fing er dann nach einer
kurzen Erholung an^ wie hart mein Schick-
sal in Rom war^ und wie lange sich mei-
ne Befreiung verzögerte. Als ich fand,
dafs auch die kräftigste Fürsprache mei-
ner Beschützer, der Medici, und selbst
der Widerruf, zu dem ich mich herab-
liefs, noch ohne Wirkung blieben, warf
ich mich einst, voll feindseliger Betrach-
tungen über mein Schicksal und voll inn-
rer Empörung gegen die Vorsehung, auf
mein Lager nieder. — So weit du nur
denken kannst, rief ich aus, wie untadel-
haft ist dein Leben gewesen I Wie müh-
DES GALILEI. 243
sam bist du , im Eifer für deinen Be-
ruf^ die Irrgänge einer falschen Weisheit
durchwandert, um das Licht zu suchen,
das du nicht finden konntest ! Wie hast
du alle Kraft deiner Seele dran gesetzt,
um hindurch zur Wahrheit zu brechen,
und sie alle vor dir zu Boden zu käm-
pfen, die verjährten mächtigen Vorur-
theile, die dir den Weg vertraten I Wie
karg gegen dich selbst hast du oft die
Tafel geflohn, nach der dich gelüstete,
und den Becher den du ausleeren woll-
test, von deinen Lippen gezogen, um
nicht träge zu den Arbeiten des Geistes
zu werden! Wie hast du mit den Stun-
den des Schlafs gedarbt, um sie der Weis-
heit zu schenken! Wie oft, wenn alles
um dich her in sorgloser Ruhe lag und
den ermüdeten Leib zu neuen Wollüsten
stärkte; wie oft hast du vor Frost gezit-
:a44 TRAUM
tert^ um die Wunder des Firmaments zu
betrachten i oder in trüben umwölkten
Nächten beim Schimmer der Lampe ge-
wacht, um die Ehre der Gottheit zu ver-
kündigen tmd die Welt zu erleuchten! —
Elender! Und was ist nun die Frucht dei-
ner Arbeit? Was für Gewinn hast du nun
für alle Verherrlichung deines Schöpfers
und alle Aufklärung der Menschheit? —
Dafs der Gram über dein Schicksal die
Säfte aus deinen Augen trocknet ; dafs
sie dir täglich mehr absterben_, diese treu-
sten Gehülfen der Seele; dafs nun bald
diese Thränen, die du nicht halten kannst^
ihr dürftiges Licht auf ewig vertilgen
werden !
So sprach ich zu mir selbst, Viviani,
und dann warf ich einen Blick voll Neids
auf meine Verfolger. — Diese Unwürdi-
gen^ rief ich, die in geh eimnifsr eiche For-
DES GALILEI. »45
mein ihren Aberwitz und in ehrwürdiges
Gewand ihre Laster hüllen, die zur schnö-
den Ruhe für ihre Trägheit sich mensch-
liche Lügen zu Aussprüchen Gottes hei-
ligten, und den Weisen, der die Fackel
der Wahrheit empor hält, wüthend zu
Boden schlagen, dafs nicht sein Licht sie
in ihrem wollüstigen Schlummer störe;
diese Niederträchtigen^ die nur thätig für
ihre Lüste und das Verderben der Welt
sind: wie lachen sie, in ihren Pallästen,
des Kummers! wie geniefsen sie, in un-
aufhörlichem Taumel, des iTebens ! wie
haben sie dem Verdienste alles geraubt;
auch das heiligste seiner Güter, die Ehre!
wie stürzt vor ihnen andächtig das Volk
hin, das sie um die Frucht seiner Acker
betrügen, und sich Freudenmahle von dem
Fett seiner Heerden imd dem Most sei-
ner Trauben bereiten I — Und du, Vn-
246 TRAUM
glücklicher ! der du nur Gott und dei-
nem Berufe lebtest; der du nie in dei-
ner Seele eine Leidenschaft aufkommen
liefsest^ als die reinste luid heiligste, für
die Wahrheit; der du, ein besserer Prie-
ster Gottes, seine Wunder im Weltsy-
stem, seine Wunder im Wurm offenbar-
test: mufst du jetzt auch das Einzige mis-
sen, wornach du schmachtest? das Einzi-
ge, was selbst den Thieren des Waldes
und den Vögeln des Himmels gegeben
ist— Freiheit? Welches Auge wacht über
die Schicksale der Menschen? Welche ge-
rechte unparteiische Hand theilt die Gü-
ter des Lebens aus ? Den Unwürdigen
lälst sie alles an sich reifsen; dem Wür-,
digen alles entziehen!
Ich klagte fort, bis ich einschlief; und
alsbald kam es mir vor, als ob ein ehr-
würdiger Greis an mein Lager träte. Er
DES GALILEI. 247
stand, und betraclitete mich mit still-
schweigendem Wohlgefallen^ indefs mein
Auge voll Verwundrung auf seiner den-
kenden Stirne und den silbernen Locken
seines Haupthaars ruhte. — Galilei! sag-
te er endlich: was du jetzt leidest_, das
leidest du um Wahrheiten^ die ich dich
lehrte ; und eben der Aberglaube^ der
dich verfolgt, wurde auch mich verfol-
gen, hätte nicht der Tod mich in jene
ewige Freiheit gerettet. — Du bist Co-
pemicusl rief ich, und schlofs ihn, noch
eh' er mir antworten konnte, in meine
Arme. — O sie sind suis, Viviani, die
Verwandtschaften des Bluts, die schon
selbst die Natm- stiftet ; aber wie viel
süfser noch sind Verwandtschaften der
Seele ! Wie viel th eurer und inniger, als
selbst die Bande der Bruderliebe, sind
die Bande der Wahrheit! Mit wie seli-
248 TRAUM
gen Vorgefühlen des erweiterten Wir-
kungskreis es ;, der erhöheten Seelenkraft,
der freien Mittheilung aller Schätze der
Erkenntnifs, eilt man dem Freund entge-
gen, der an der Hand der Weisheit her-
eintritt !
Siehe ! sprach nach erAviederter Um-
armung der Greis : ich habe diese Hülle
zurückgenommen, die mich ehemals ein-
schlofs, und will dir schon itzt seyn, was
ich dir künftig seyn werde — dein Füh-
rer. Denn dort, wo der entfesselte Geist
in rastloser Thätigkeit unermüdet fort-
wirkt; dort ist die Huhe nur Tausch der
Arbeit; eignes Forschen in den Tiefen
der Gottheit wechselt nur mit dem Un-
terricht, den wir den spätem Ankömm-
lingen der Erde geben ; und der Erste,
der einst deine Seele in die Erkenntnifs
des Unendlichen leitet, bin IcJl. — Er
DES GALILEI. 249
führte mich bei der Hand zu einer nie-
dergesunkenen Wolke, und wir nahmen
unsern Fing in die unermefsliche Weite
des Himmels. Ich sah hier den Mond^,
Viviani, mit seinen Anhöhen und Thä-
lern; ich sah die Gestirne der Milchstra-
fse, der Plejaden, und des Orion; ich sah
die Flecken der Sonne, und die Monden
des Jupiter: alles, was ich hienieden zu-
erst sah, das sah ich dort besser mit un-
bewaffnetem Auge, und w^andelte am Him-
mel, voll Entzückens über mich selbst,
unter meinen Entdeckungen, wie auf Er-
den ein Menschenfreund unter seinen
Wohlthaten wandelt. Jede hier durchar-
beitete müh volle Stunde ward dort frucht-
bar an Glückseligkeit, an einer Glückse-
ligkeit, die der nie fühlen kann, der leer
an Erkenntnifs in jene Welt tritt. Und
darum will ich nie, Viviani, auch nicht
250 T R A U M
in diesem zitternden Alter, aufhören nach
Wahrheit zu forschen: denn wer sie hier
suchte, dem blüht dort Freude hervor,
wo er nur hinblickt; aus jeder bestätig-
ten Einsicht, aus jedem vernichteten Zwei-
fel, aus jedem enthüllten Geheimnifs, aus
jedem verschwindenden Irrthum. — Siehe!
ich fühlte dies alles in jenen Augenblik-
ken der Wonne; aber auch nur dies Ein-
zige, dqfs ich es fühlte, ist mir geblie-
ben; denn meine zu überhäufte Seele ver-
lor jede einzelne Glückseligkeit in dem
Meer ihrer aller.
Indem ich so sah und staunte, und
mich in Dessen Gröfse verlor, der dies
alles voll allmächtiger Weisheit schuf, u^d
diu-ch seine ewigwirksame Liebe trägt
und erhält, erhob mich das Gespräch
meines Führers zu noch höhern Begrif-
fen. — Nicht die Gränzen deiner Sinne,
DES GALILEI. 251
sagte er^ sind auch die Gränzen des Welt-.
alls^ obgleich aus undenkliclien Fernen
ein Heer von Sonnen zu dir herQber-
schiininert: noch viele tausende leuchten,
deinem Blick unbemerkbar, im endlosen
Äther; und jede Sonne, wie jede sie um-
kreisende Sphäre, ist mit empfindenden
Wesen, ist mit denkenden Seelen bevöl-
kert. Wo mu: Bahnen möglich waren,
da rollen Weltkörper, und wo niu: We-
sen sich glücklich fühlen konnten, da v/al-
len Wesen ! Nicht Eine Spanne blieb in
der ganzen Unermefslichkeit des Unend-
lichen, wo der sparsame Schöpfer nicht
Leben hinschuf, oder dienstbaren Stoff
für das Leben ; und diurch diese ganze
zahllose Mannichfaltigkeit von Wesen hin-
durch herrscht, bis zum kleinsten Atom
herab, imverbrächliche Ordnung: ewige
Gesetze stimmen Alles von Himmel zu
232 TRAUM
Himmel, und von Sonne zu Sonne, unä
von Erde zu Erde in entzückende Har-
monie. Unergründlich ist für den un-
sterblichen Weisen in die Ewigkeit aller
Ewigkeiten der Stoff zur Betrachtung, und
im erschöpf lieh der Quell seiner Seligkei-
ten. — Zwar, was sag' ich dir das schon
itzt, Galilei? Denn diese Seligkeiten fafst
doch ein Geist nicht, der, noch gefesselt
an einen trägen Gefährten, in seiner Ar-
beit nicht weiter kann, als der Gefährte
init ausdauert, und sich schon zum Stau-
be zurückgerissen fühlt, wenn er kaum
anfing sich zu erheben!
Er m.ag sie nicht fassen, rief ich, die-
se Seligkeiten, nach ihrer ganzen göttli-
chen Fülle ; aber gewifs, er kennt sie,
Copernicus, nach ihrer Natur, ihrem We-
sen.. Denn welche Freuden schafft nicht,
schon in diesem irdischen Leben, die
DES GALILEI. ;253
Weisheit ! Welche Wonne fühlt nichts
schon in diesen sterblichen Gliedern_, ein
Geist, wenn es nnn anfängt in der un-
gewissen Dämmerung seiner Begriffe zu
tagen, imd sich immer weiter mid wei-
ter der holde Schimmer verbreitet, bis
endlich das volle Licht der Erkenntnifs
aufgeht, das dem entzückten Auge Ge-
genden zeigt, voll unendlicher Schönheit!
— Erinnre dich, der du selbst so tief In
die Geheimnisse Gottes schautest und den
Plan seiner Schöpfung enthrUltest ; erinn-
re dich jenes Augenblicks, als der erste
kühne Gedanke in. dir- heraufstieg, und
sich freudig alle Kräfte deiner Seele hin-
zudrängten, ihn zu fassen, zu bilden, zu
ordnen ; erinnre dich, als nun alles in heri'-
licher Übereinstimmung vollendet stand^
mit wie trunkner Liebe du noch einmal
das schöne Werk deiner Seele überschau-
254 .TRAUM
test^ und deine Ähnlichkeit mit dem Un-
endlichen fühltest^ dem du nachdenken
konntest! — O ja, mein Führer! Auch
schon hienieden ist die Weisheit an himm-
lischen Freuden reich ; und wäre sie's
nicht: warum sahn wir aus ihrem Schoo-
fse so ruhig allen Eitelkeiten der Welt
zu?
Die Wolke, die uns trug, war zurück
zur Erde gesunken^ und liefs sich jetzt,
wie es mir däuchte, auf einen der Hügel
vor Rom nieder. Die Hauptstadt der
Welt lag vor uns; aber voll tiefer Ver-
achtung streckt' ich aus meiner Höhe die
Hand hin, und sprach: Sie mögen sich
grofs dünken, die stolzen Bewohner die-
ser, Palläste ! weil Purpur ihre Glieder
umhüllt, und Gold und Silber auf ihren
Tafeln das Kostbarste beut, was Europa
und Indien tragen! Aber, wie der Adler
DES GALILEI. 255
auf die Raujoe im Seidengespinnst ^ so
sieht auf diese Blöden der Weise herab ;
denn sie sind Gefangne an ihrer Seele^
die über das Blatt nicht hinaus können,
an dem sie kleben: indefs der freie Wei-
se auf seine Höhen tritt und die Welt
überschaut, oder sich auf Flügeln der Be-
trachtung hinauf zu Gott schwingt, und
unter Sternen einhergeht.
Da ich so sprach, Viviani, da umwölk-
te sich mit feierlichem Ernst die Stirn
meines Führers ; sein brüderlicher Arm
sank von meinen Schultern herab, und
sein Auge schofs einen drohenden Blick
bis ins Innerste meiner Seele. — Unwür-
diger! rief er: so hast du sie schon auf
Erden gefühlt, jene Freuden des Himmels?
hast deinen Namen herrlich gemacht vor
den Weisen der Nationen? hast sie alle
erhöht, deine Seelenkräfte, dafs sie bald
356 TRAUM
freier und mächtiger fortwirken im Er-
kenntnifs der Wahrheit , eine Ewigkeit
durch? Und nun dich Gott würdigt^ Ver-
folgiuig zu leiden, nun dir deine Weis-
heit Verdienst werden soll, und dein Herz
sich mit Tugenden schmücken, wie dein
Geist mit Erkenntnifs: nun ist es ohne
Spur vertilgt , das Gedächtnifs des Gu-
ten, und deine Seele empöret sich wider
Gott ? Hier erwacht' ich von mei-
nem Traum, sah mich aus aller Herrlich-
keit des Himmels in mein ödes Gefäng-
nifs zurück geworfen, vmd überschwemm-
te mit einer Fluth von Thränen mein
Lager. Dann erhob ich, mitten durch
die Schatten der Nacht, mein Auge, und
sprach: O Gott voll Liebe! Hat das Nichts,
das durch dich Etwas ward, deine Wege
getadelt? Hat der Staub, dem du Seele
gabst, hat er auf die Rechnimg seiner
Veri«
DES GALILEI. 257
Verdienste geschrieben^ was Geschenke
deiner Erbarmung waren? Hat der Unr
würdige^ den da in deinem Busen^ an
deinem Herzen nährtest, dem du so man-
chen Tropfen Seligkeit reichtest aus dei-
nem eigenen Becher; hat er deiner Gna-
den und seiner Vorzuge vergessen ? —
Schlage sein Auge mit Blindheit! lafs ihn
nie wieder die Stimme der Freundschaft
hören! lafs ihn grau werden im Kerker!
Mit willigem Geist soll er's tragen, dank-
bar gegen die Erinnerung seiner genofs-
nen Freuden, und selig in Erwartung der
Zukunft ! —
Es war meine ganze Seele, Viviani,
die ich in diesem Gebete hingofs ; aber
nicht das Murren des Unzufriednen, nur
die willige Ergebung des Dankbaren, hat-
te der Gott vernommen, der mich zu so
viel Seligkeit schuf! Denn siehe! ich lebe
Enfrels Philoso f>h, I. j'j
v58 TRAUM DES GALILEI.
hier frei zu Arcetri^ und nur heute noch
hat mich mein Freund unter die Blumen
des Frühlings geführt.
Er tappte nach der Hand seines Schü-
lers^ um sie dankbar zu drücken; aber
Viviani ergriff die seinige^ und führte sie
ehrerbietig att seine Lippen.
2-59
SIEBZEHNTES STÜCK.
DAS WEIHNACHTGESCHENK.
Ich nahm von der Toilette eines jungen
Frauenzimmers ein Buch auf, imd begrifF
nicht warum sie es so eilfertig wegrifs.
Sie erröthete über den Yerdacht_, den sie
zu erwecken schien ^ und las mir^ zu ih-
rer Pvechtfertigung, die ersten Seiten vor^
die von der Hand ihres Vaters waren.
Ich bat sie um eine Abschrift^ vmd sie
war gütig genüge mir eine zu geben.
Hier ist sie:
■>^So ein unbedeutendes Geschenk ei^
nige leere Blätter scheinen mögten: so
sind doch gewifs an dem heutigen Tage^
an dem selbst der Geiz und die Armuth
freigebig werden ; wenige mit so gutem
26o DAS WEIHNACHT-
Herzen gemacht worden ; und vielleicht
keines^ das dem Beschenkten so nützlich
wäre^ als du dieses dir machen kannst.«
wich habe es dir schon mehrmal ge-
sagt : Ein wenig Athem oder ein paar
Federstriche, die wir für unsre Gedan-
ken aufwenden _, so schwer uns auch
manchmal beides ankommen mag, wer-
den reichlich wieder durch die Deutlich-
keit, die Ordnung, und das Leben ein-
gebracht, das eben diese Gedanken da-
durch erhalten. Es ist seltsam, dafs man
von ei4ner so kleinen Ursache so grofse
Wirkungen verspricht; aber es ist wahr.
Solange der Mensch nicht reden konnte,
so sah, hörte, fühlte und schmeckte er
blofs ; aber er dachte nicht. Solange der
Mensch nicht schreiben konnte, dachte
er wenig, und redte schlecht. Die Zun-
ge und der Griffel machten endlich den
GESCHENK. 261
Menschen zu dem^ was er werden sollte.
Seine Begriffe wurden hell^ indem er sie
mitzutheilen suchte ; sie wurden metho-
disch^ indem er ihnen eine gewisse Fort-
dauer gab^ die sie der Verbesserung und
Ausbildung fähig machte. Und dieser
Weg_, den das ganze menschliche Ge-
schlecht nahm um klüger zu werden^ ist
auch immer noch der einzige für den
einzelnen Menschen, cc
55 Du^ mein Kind^ hast schon den ei-
nen grofsen Schritt zur Weisheit gethan.
Du hast Weise reden hören^ oder hast
das gelesen, was du von ihnen gewünscht
hättest zu hören. Wenn es heutiges Ta-
ges kein grofser Ruhm mehr für ein
Frauenzimmer ist, dafs es lies't; so ist es
noch immer einer, dafs es aus Lehrbe-
gierde lies't, um vernünftiger imd besser
zu werden. Die Eitelkeil, die sich jetzt
262 DAS WEIHKAGHT-
auf diese Seite gelenkt hat^ vernichtet
den Werth des Lesens, indem sie den
Endzweck desselben verkehrt, und ver-
wandelt die Weisheit in einen blofsen
Putz. Hunderte empfinden, indem sie
ein Buch lesen, kein Vergnügen stärker,
als dafs sie den Augenblick voraussehen,
wo sie werden sagen können; ich hab^
es gelesen ! — Du, mein Kind, kennst
die Absicht des Lesens besser, und es
fehlt dir nur noch etwas Muth und Übung,
um sie ganz zu erreichen.«
iiUnsre Seele ist ein Maler, der ent-
weder Originale nach der Natur, oder
Copieen von guten Originalen malt. Jene
sind ihre eignen Empfindungen, ihre eig-
nen Beobachtimgen und Schlüsse ; diese
sind alle die Begriffe, die wir durch Un-
terricht und Leetüre erhalten. Gute Mei-
ster verfertigen die Copieen nur als Schu-
GESCHENK. 263
len — so nennen sie ihre Übungsstücke
— um ein richtiges Auge und eine feste
Hand zu bekommen ; Sclilechte bleiben
dabei stehen^ und gründen darauf ihren
ganzen Ruhm, a
»Es kommt also alles darauf an^ das
was Andre aus ihren Erfahrungen durch
eine lange oder duixh eine kurze Reihe
von Schlüssen gefolgert haben — denn
auf Erfahrungen läfst sich doch am Ende
alles zurückbringen — so anzusehen^ als
ob wir es aus unsern eignen gezogen hät-
ten. Ehe wir selbst denken, müssen wir
erst einem andern nachdenken lernen.
Das ist also der zweite Schritt, den du
zwar auch schon versucht hast, den du
aber nun noch beherzter thun mufst: Wer-
de aus einer Leserinn zu einer Schrift-
stellerinn! Wenn du liesest, so sondi'e
den Gedanken vom Ausdiaicke ab : nimm
a64 E)AS WEIHNACHT-
ihm seinen Putz^ und unterbrich zuwei-
len das Vergnügen^ womit bei jedem
Menschen die Neugierde das Weiterge-
hen verknüpft^ so lange, bis du dir mit
ein paar Worten das denken kannst, was
der Verfasser vielleicht auf Seiten gesagt
hat. Diese paar Worte schreibe nieder;
sie sind alsdann dein, so wie der Gedan-
ke, den sie ausdrücken. Grolse Bücher
können auf diese Art in Blätter verwan-
delt werden, die für uns mehr werth
sind als die Bücher, und die uns schon
der Fähigkeit, selbst etwas Lesenswerthes
zu schreiben, einen Schritt naher bringen, cc
«Aber nicht lange werden diese Aus-
züge blofs abgekürzte fremde Gedanken
seyn ; du wirst in kurzem deine eignen
in ihnen entwickeln. Die Ideen entzün-
den einander, wie die electrischen Fun-
ken. Wenn die Seele einmal in Arbeit
GESCHENK. 265
und in Bewegung ist ; wenn sie einmal
den Faden des Denkens in der Hand hat:
so geht sie geschwinde von der Nachbil-
dung fremder begriffe zur Hervorbringung
eigner über. Ehe man sich's versieht,
kommt aus dem eignen Schatz unsrer
Empfindimgen ein Gedanke hervor _, der
lür sich selbst zu schwach war emporzu-
kommenj jetzt aber^ weil er dem Gedan-
ken des Verfassers nahe liegt ^ von die-
sem aufgeweckt und gehoben wird. —
Versuch' es, mein Kind ; denn ich bin
bei deinen Fähigkeiten gewifs^ dafs es
dir glücken mufs: und ist es dir nur ein-
mal geglückt, so bin ich eben so gewifs_,
dafs du fortfahren wirst. Das Denken
giebt uns ein so reines und ein so leb-
haftes Vergnügen, dafs, wer es nur ein-
mal in seinem Leben gekostet hat, es nie
wieder entbehren kann, «
Chr. Garv0,
266
ACHTZEHNTES STUCK.
DER HABICHT.
«Verdammter Dieb.'cc — schrie der hy.
pochondrische Tuff, als vor unoern Au-
gen ein Habicht auf ein Küchlein herab-
schofs und es erwürgte. — Sein äufserst
ängstlicher Ton machte mich lachen. Es
war^ als ob er die diebische Kla.ue an sei-
nem eigenen Herzen fühlte.
Freund ! fing ich an^ wenn Sie auf al-
les was junge Hühner stiehlt^ so ergrimmt
sind^ so mögt' ich wissen, wie Sie Sich
Selbst ertragen. Denn wohl bedach t_, sind
Sie der schlimmste Habicht im Lande, —
Tuffy wie man wissen mufs, lebte bei
seiner Brunnencur_, wie ein anderer Law
oder NeiUori, von nichts als Hühnern.
DER HABICHT. 267
Alles andere Fleisch^ sagte sein Arzt^ wä-
re zu schwer^ vmd Gemüse wäi'en zu blä-
hend.
Er fand, dafs ich Recht hatte ^ iind
ward noch ängstlicher als zuvor. —
Schlimm genug, sagte er endlich, dafs
ich armer schwächlicher Mann ohne Huh-
ner nicht leben kann l
Das kann der Habicht auch nicht,
mein lieber Tuff. Was Ihnen der Arzt
verbeut, das hat ihm selbst die Natur
verboten. Ihm bekommt kein Gemüse.
Dieser Grund war zu einleuchtend,
und setzte den Habicht zu genau in den
eignen Fall unsers Tuff, als dafs er noch
hätte weiter können. Er sah sich aus-
drücklich nach der Stelle inu, wo der
Fang geschehen war, und that dem Räu-
ber eine Ehrenerklärung, r— Aber, hng
er nun an: die Natur! die Natiur! Und
26S DER HABICHT.
dann rechnete er mir mit einer wun^
derns würdigen Fertigkeit des Gedächt-
jiisses — ob er gleich alles Gedächtnifs
glaubte verloren zu haben — eine Men-
ge von Raubthieren her^ die er aus alleii
Elementen und allen Himmelsstrichen zu-
sammen brachte. Ist nicht die Natur,
schlofs er endlich _, eine grausame Mut-
ter? Zeigt sich nicht ein offenbarer Wi-
derspruch in ihren Werken und Anstal-
ten?
Ein Widerspruch^ lieber Tuff? — Sie
bedenken nur nicht ^ was dann folgen
würde. Mit Widersprüchen könnte ja
die Natur nicht bestehen.
Warum nicht? — Sie besteht, wie
trotz allen seinen Krankheiten mein Kör-
per besteht; und Krankheiten sind ja auch
nichts anders, als Widerspruch« in der
Maschine.
DER HABICHT. 2G9
Aber Ihr Körper vergeht auch^ indefs
die Natur
Der Mann war zu krank_, um mir Recht
zu lassen. Er kehrte von einem Wege^
auf dem er kein Fortkommens sah^ plötz-
lich zurück^ und Hng von vorn wieder
an. — Wozu denn nun^ fragte er^ die-
ser liebreiche Instinct der Henne ^ ihr Ei
zu bebrüten^ das herausgebrütete Küch-
lein zu wärmen^ zu füttern^ zu locken^
zu schützen; wenn da oben in seiner Höhe
ein gieriger Räuber lauert^ es mit seinen
durchdringenden Augen ausspäht_, und auf
pfeilschnellen Flügeln her ab schiefst^ es zu
erwürgen ? — Wenn das nicht Wider*
Spruch in der Natur ist!
Nun es sei einer! Ich gebe nach_, lie-
ber Tuff. — Aber wenn Sie manchmal
die unangenehme Empfindung haben _, als
ob Sie läuten hörten: wo vermuthen Sie
-#
270 DER HABICHT.
dann> dafs dies Läuten ist? Auf dem
Thurme^ oder in Ihrem Kopfe ?
Sonderbar! Es ist freilich in meinem
Kopfe.
Und woher^ glauben Sie ^ dafs es
kommt ?
Von der Schwäche meiner IVerven ver-
muthlich.
Nun also! die Anwendung gemacht!
— ' Audi jene Widersprüche sind einzig
in Ihrem Kopfe ^ und entstehn von der
Schwäche Ihrer Vernunft*
Das kann seyn^ sagte Tuff; ich will's
glauben. — Aber wahrlich^ mein Freund!
— und er holte aus voller Brust einen
Seufzer — bei so schwachen Nerven^, wie
ich sie habe_, war' es besser^ lieber gar
nicht zu leben. Alan wird sein Leben
nur durch widrige Empfindungen inne. —
Und bei so ohnmächtigen Kräften unsrer
DER HABICHT. 271
Vernunft ; war' es da nicht auch besser^
lieber keine zu haben? Man merkt ja
kaum dafs man sie hat^ als durch Zwei-
fel und Unruhen.
Wie spricht denn aber Ihr Arzt_, wenn
Sie ihm Ihre Zufälle klagen ? /
Muth! Muth! spricht er imiuer.
Sehr recht! Denn auf Muth kommt's
nur an. — Mit etwas mehr Vertrauen
zu Ihren Kräften^ und einem etwas fieifsi-
gern Gebrauch dieser Kräfte, wurden Sie
bald — ai.icht zu einem völlig gesunden^
aber doch zu einem ganz erträglichen
Leben kommen. Mit der Vernunft, lie-
ber Tuff, ist's das Gleiche. Sie darf ih-
ren Ki'äften nur trauen^ und darf sie nur
unermudet gebrauchen ; so wird sie ge-
wifs — nicJit zu einer ganz zweifelfreien,
aber doch zu einer ganz beiTihigenden
Einsicht kommen. — Um mit dem vor-
s
272 DER HABICHT.
habenden Fall einen Versuch zu machen;
tragen Sie Ihren Widerspruch einmal vor!
Braucht es das noch? Ist es nicht klar^
was ich will? — Wenn ich von der Ei-
nen Seite die Natur betrachte; o da ist
alles so mütterlich^ so weise ^ so gütig!
Ich finde die vortrefflichsten Anstalten zur
Erhaltung ihrer Geschöpfe^ die sorgsam-
ste Verwahrimg der Innern Quellen des
Lebens^ die schicklichsten Werkzeuge zum
Ausspähen luid zum Ergreifen der Nah-
nmg^ unaufhörliche Thätigkeit aller Ele-
mente Nahrimg hervorzubringen^ uner-
schöpflichreiche Werkstätten der Erzeu-
gung^ mächtige Instincte ^ den Müttern
und Jimgen zur Erhaltung der Gattung
eingeprägt. Aber von der andern Seite?
— Oj da ist alles wieder so wild^ so
fürchterlich^ so tyrannisch ! Ich sehe so
viel mördrische, nach Blute lechzende;,
zum
DER HABICHT.
275
ziun Blutvergiefsen gerüstete Thiere; sehe
so viel Rachen und Klauen gewaffnet^ so
viel Gewebe und Gruben bereitet^ so viel
Stachel und Zangen vergiftet: dafs meine
ganze Vernunft daran irre wird^ und mein
ganzes Herz nicht weilis;, soll es mehr Ver-*
gnügen oder mehr Abscheu empfinden.
Versteh' ich Sie, lieber Tuff? Sie wol-
len sagen, dafs es die JVatiur fast so arg
macht, als der Herr dieses Landcruts. —
Die Gegend mnher war ihm zu offen, zu
öde; erwünschte den Prospect durch ein
schattiges Wäldchen zu schliefsen, mafs
ein unfruchtbares Stück Land ab , und
säte Fichten darauf. Jetzt, da die jungen
Bäume pfeilgerade neben einander aufge-
schossen sind und den lieblichsten Schat-
ten bieten; was thut er? Er schickt Ar*
heiter di'über, legt allenthalben eine un-
barmherzige Axt an, imd läTst weit über
Eneeh PJiilnsoph , T. l8
^74 I>ER HABICHT.
die Hälfte des Waldes niederhauen. —
Eben so nun, glauben Sie —
Nicht doch! nicht doch! rief Tuff. Je-
ner Aushau war nothwendig, selbst zur
Erhaltung des Waldes. Wenn alles so
in's Wilde hineinwüchse, so würde bald
nichts mehr wachsen ; denn Eins würde
das Andre ersticken. Wir würden am
Ende ein weit kleineres Wäldchen ha-
ben,- und dieses Wäldchen weit unvoll-
kommner.
Meinen Sie doch.^ Nun, so wäre ja
eben dies ein Beweis, dafs oft ein Zweck
durch Mittel erreicht wird, die ihm An-
fangs durchaus entgegen schienen. — Las-
sen Sie uns jetzt vor allen Dingen den
Zweck der Schöpfung suchen! — Worin
setzen Sie ihn ? In ihre todten oder in
ihre lebendigen Werke?
In die letztern, versteht sich.
DER HABICHT. 275
Also, wenn eben die Erhaltung des
Lebens, die Stärke des Lebens, die Fülle
des Lebens, jene Aufopfeiimgen nothwen-
dig machte; so wäre die Natur völlig ge-
rechtfertiget? Nicht? — Denn Sie wollen
doch so viel Leben, als nur bestehen
kann? Und wollen doch dieses Leben so
gesund, so blühend, als möglich?
Wie anders? — Wenn ich das Leben
als Zweck will, so mufs ich auch viel Le-
ben wollen, und glückliches Leben.
Gut, lieber Tuff ! Wir bevölkern also
alle Himmelsstriche , alle Elemente mit
Leben. Wo wir nur irgend ein Nahrungs,-
mittel in der leblosen Natur finden, da
setzen wir eine Thierart hin, die es ge-
ni eise. Nicht wahr?
Allerdings! —
Mithin behalten wir alle die Thierar-
ten bei, die sich von Gras, von Krau-
2-6 DER HABICHT.
»
tern^ von Wurzeln^ von Hölzern^ von Blu-
men^ von Blättern^ von Moos^ allenfalls
anch von den überfiüfsigen Säften der
andern Thiere nähren. Meinen Sie nicht?
Ohne Zweifel ! —
Hingegen alle Raubthiere schaffen wir
fort; alle blutgierigen Tieger verbannen
wir; alle Gruben der Ameislöwen schüt-
ten wir zu; alle hinterlistigen S25innewe-
ben stäuben wir aus allen Winkeln der
Natur rein heraus?
Ganz recht! Rein heraus! rief er freu-
dig.
Aber die Habichte^ Tuff? — Die lui-
gefiederten wenigstens !
Nein^ auch damit fort! lafs sie Gemü-
se essen! Auch mit den Iltissen fort!
Aus jedem Eie mufs nun ein Küchlein^
und aus jedem Küchlein ein Huhn wer-
den. —
DER HABICHT. 277
Recht! Und dann und wann auch ein.
Hahn ! Damit wir noch mehr Leben be-
kommen^ und glückliches Leben.
IViui ja wohl ! Auch ein Halm. Das
versteht sich. — O ich fange an^ mich
in die Natur ^ wie sie jetzt wird_, zu ver-
lieben. Dieses ungestörte Glück aller Ge-
schöpfe^ diese holdselige Einti'acht, die-
ser tiefe ^ unschuldige, allgemeine Frie-
den
Schön! Allerdings ! Aber wir wollen
doch mit der Vernunft einmal zusehn,
was wir hier mit der Einbildung gemacht
haben. — War' es Ihnen denn recht, lie-
ber Tuff, dafs kein andrer lebendiger
Laut in der ganzen Natur erschallte, als
Hahnengekräh und Hühnergeschrei ? —
Denn wenn alle die Hähne der ersten'
Generation zum Buhlen und alle die Hüh-
ner zum Brüten kommen, so sehen Sie
278 DER HABICHT.
wohl^ dafs schon bei der zehnten dieses
eine Geschlecht viele andern verdrängt
haben mufs. — Oder sähen Sie's lieber,
dafs ohne Unterlafs' eine allgemeine Seu-
che einbräche, die jede Thierart auf das
rechte Verhältnifs zurücksetzte, wobei je-
de bestehen könnte?
Warum das? Ich sehe die Nothwen-
digkeit nicht. — Schränken Sie nur die
gar zu grofse Vermehrbarkeit der Thiere
ein, und die Sch-wierigkeit ist gehoben.
Gehoben? So, dafs sieben andre ent-
stehen. — Denn mit jener Vermehrbar-
keit, Freund; w^ie viel Thätigkeit, Ver-
gnügen, Geselligkeit hört da auf! Und
wenn nun Krankheiten kommen; wenn
Revolutionen der leblosen Natur die Ge-
schlechter verwüsten: soll es Jahrhunder-
te dauren, ehe die Lücke sich wieder
ausfüllt ? ehe der Abgang des Lebens und
DER HABICHT. z-jg
.der Glückseligkeit in der Sciiöpfung wie-
der ersetzt wird?
Krankheiten? Revolutionen? — sagte
er nachdenkend.
Sie stocken schon, seh' ich. — Doch
gesetzt, dafs Sie auch hiewider noch Mit-
tel fänden: die Thiere können doch nicht
ewig so fortleben? Die Kräfte der Natur
müssen sich doch endlich erschöpfen?
Nun ja! erschöpfen freilich; niu- nicht
gewaltsam in der besten Blüthe vertilgt
werden.
Aber wenn sie sich nun erschöpfen?
— Wir bekommen da eine unendliche
Menge von Leichnamen; denn, wie wir
wissen, ist die Natur einer unbegreifli-
chen Menge Lebens fähig, luid so viel
Leben soll doch da seyn als nur immer
bestehen kann. — Was fangen wir mit
diesen Leichnamen an?
380 PER HABICHT,
Was die Natur damit anfängt! ..-«. Wir
fibergeben sie der Verwesung^ lassen die
zerstörten organischen Theile sich in ih-
re Elemente auflösen^ befruchten damit
den entkräfteten Erdboden^ treiben neue
Früchte und Nahrungsmittel zur Erlial-
tung jeder Nachwelt heraus; und so im
Kreisläufe fort !
Wenn nur das nicht Zeit brauchte,
mein Freund ! Wenn nur diese Auflösung
das Werk eines Augenblicks wäre ! -^
Erinnern Sie Sich^ wie es mis neulich
dicht am Fichtenwäldchen erging ? was
für schnelle Beine Sie da bekamen ?
O ums Himmels willen! rief Tuff^ in-
dem er mit abgewandtem und vor Ekel
ganz verzerrtem Gesichte zurücktrat: an
was erinnern Sie mich? Wissen Sie, dafs
mir das scheusliche Bild noch jetzt den
Athem versetzt? da(is ich die ganze Nacht
durch
DER HABICHT, 281
Stille! stille davon! Wo ich Sie in*s
Erzählen Ihrer Zufälle lasse ^ so ist's um
unser Gespräch gethan, und das wäre
doch Schade. — Sie sehn also nun;, dafs
nnsre zu weichherzige Güte Grausamkeit
wird ; dafs "war den Thieren die Luft^ die
sie einathmeU;, verpesten^ sie tausend un-
angenehmen und schmerzhaften Empfin-
dungen aussetzen, und ihnen endlich ein
frühes Grab bereiten. Sie sehen, daTs
wir über dem gar zu ängstlichen Schonen
des Lebens zu wirklichen Verschwendern
des Lebens werden, und die Welt, die
wir zum Paradiese verschönern w^ollten,
zu einem Kerker von Calcnta *) ver^
schlimmem. — Sehen Sie's nicht, lieber
Tuff ? —,
•) Wo die eingesperrten Engländer in ihren eig-
nen Dünsten ersticken mufsten. Man ä. Ives
Reisen.
282 DER HABICHT,
Nicht so recht ! Sie überschleichen
inich_, deucht mir. — Ich habe Ihnen nur
so viel Leben eingeräumt, als zusammen
bestehen könnte. Setzen Sie also gleich
Anfangs nicht mehr, als dafs keine Fäul-
nifs_, keine Verpestung der Luft zu be-
sorgen stehe.
Aber wenn ich das setze — können
Sie wissen, auf welche geringe Anzahl Sie
das Leben nun einschränken.^ Oder ist es
nicht blofser Eigensinn , zur Verhütung
alles Mordes, die Zahl der Wesen, die
sich ihres Daseins freuen und glücklich
seyn können, so sehr vermindern zu wol-
len .^ — : Sterben müssen sie doch, die
Thiere ; und wer sagt Ihnen denn, dafs
der gewaltsame Tod nicht, eben so wie
er der kürzeste ist, auch der leichteste
sei ? —
Der leichteste? Man stirbt noch leich-
DER HABICHT. 283
ter^ denk' ich, vor Alter_, wo Sterben nur
Einschlummern heifst. — Und kcmmt's
denn nur darauf an, leicht zu sterben?
Nicht auch, glücklich zu leben? Werden
die Thiere denn nicht zum 'Leben, nur
zum Tode geboren?
Aber sie dürfen nicht alle sterben.
Das heifst, den Tod der Natur nicht.
Wir sind schon einig über den Pimct.
Er stand stille, und überlegte ein we-
nig. — Schon einig ? Wir sind's noch
nicht! rief er aus. — Wie, wenn selbst
der Anblick beim Wäldchen mir hier zu
statten käme? Wie, wenn die Natur ihre
Anstalten wider die Verpestung bereits
gemacht hätte? —
Die mögt' ich kennen. Die wären? —
O erimiern Sie Sich! — Jene zahmem
Ptaubthiere , die sich aus der Luft, aus
den Wäldern, aus dem Staube herzu finr
284 I^ER HABICHT.
den^ die aus den Ruinen der todten Kör
per selbst zu Legionen geboren werden^ ^
ihre in Fäulnifs übergehenden Säfte so-
gleich wieder in frische verwandeln^ und
der Erde kaum andre Befruchtungstheile
lassen^ als die reinem^ gesundem, die
von ihnen selbst, als lebendigen Thieren,
abgetrieben und ausgedunstet werden. —
Sollten nicht diese Thiere zur Reinigung
der Luft, und mithin zur Erhaltung des
Lebens vmd der Gesundheit, hinlänglich
seyn?
Nein! Denn auch sie werden Leichen.
Es ist kein Grund vorhanden, warum wir
nur sie von der Begnadigung ausnehmen
wollten. — Und wenn also auch sie
sterben, so kommt ja das Übel, das wir
vermeiden wollten, zurück, obgleich frei-
lich ein wenig später.
Sei es! Es kommt zurück: aber ver-
DER HABICHT. 285
mindert. D.is Tljier hat bei seinem Le-
ben mehr körperliche Theile verzehrt,
als es bei seinem Tode zm^iickläfst. —
Und eben darum, dächt' ich, wenn wir
für jene Schwärme andre und wieder an-
dre ersännen, und wieder: endlich iviü[s~
ten wir dann so weit kommen, dafs der
eigentlichen unmittelbaren Verwesimg nur
wenig, ganz wenig bliebe.
Sehr fein! In der That! — Nur mögt*
ich dann einsehen, warum wir neulich
davon liefen? Jene Thiere, die der Ver-
pestung vorbeugen sollen, waren doch
so zahlreich vorhanden!
Ja! Aber der scheusliche Anblick —
O nicht doch ! Seyn Sie aufrichtig,
Freund ! Wenn der Anblick scheuslich
war, so war er's nur, weil er an die At-
mosphäre erimierte. Das Gesicht an sich
ist nicht ekel. — Und wo mir recht ist,
286 DER HABICHT.
so fuhren wir mit der Hand nach der
Nase^ nicht nach den Augen?
Er ward auf einmal stille^ und blickte
nieder. — Sie sehen, sagte er, wie er-
staunlich schwach jetzt mein Kopf ist.
Verzeihen Sie ! Nur die Sache war
schwach. Wer klüger als die Natur seyn
will, der zieht freilich den Kürzern. —
Sie geben mir also zu, dafs wir die Welt
durch unsre Einrichtung unendlich ver-
s chlimm er t . h ab en ? —
Es scheint wohl nicht anders.
Nun wohl denn! So müssen wir sehn,
wie wir helfen. — Ich wüfste hier frei-
lich ein Mittel , ein meines Bedünkens
sehr heilsames Mittel : allein — ob 5ie's
billigen werden?
Lassen Sie hören! Warum nicht? —
Die Vortheile zwar, die wir erhielten,
wären unendlich. Wir liefsen nicht nur
DER HABICHT. t.^-j
unsern fruchtfressenden Thieren ihre gan-
ze Vermehrbarkeit^ liefsen nicht nur Mil-
lionen^ die nach unserm ersten Plan wür-
den gefehlt haben^ geboren werden^, und
doch alle ihr Dasein geniefsen^ alle Freu-
de empfinden und Freude hervorbringen:
wir brächten auch noch mehr Leben,
noch mannichfaltigeres, höheres^ -wirksa-
meres Leben in die Natur^ das ohne die-
ses Mittel durchaus nicht da sejTi würde.
Und wie das? Wodmch das ? — rief
er ganz ungeduldig.
Durch — durch eben das_, was die
ganze Natur erhält; durch Kräfte^ die
einander entgegenkämpfen, einander das
Gleichgewicht halten, in richtigem Ver-
hältnisse neben einander fortdauren, und
immer kämpfen und sich immer das
Gleichgewicht halten.
Durch Einführung der Raubthiere, wol-
len Sie sagen.
2S3 . D Eli HABICHT.
Wie anders ? — Sollte wohl ein so
schwaches und kurzsichtiges Geschöpf^
wie der IVIensch^ auf wahrhaft weise Mit-
tel gerathen können;, die der alisehende
Schöpfer nicht schon lange vor ihm ge-
kannt und angewandt hätte ? Ist auch
nur der schwächste Schimmer von Licht
in unsrer Seele ^ den nicht unsre Finster-
nifs von ihm^ als der einzigen Quelle des
Lichtes, aufgefangen hätte ? Kann unser
Verstand etwas anders, als seiner Herr-
lichkeit nachsehn? Kurz, wir setzen
den Menschen in die Natur, dals er täg-
lich Millionen Leben zerstöre imd so-
gleich wieder in Lebenssäfte verv,^andle;
wir lassen für jede fruchtfressende Thier-
art auf Erden, in der Luft, in Flüssen,
im Meer, im Staube, in allen bewohnten
Elementen und Himmelsstrichen, Piäuber
zu, die immer für tausend und mehr Lei-
chen
DER HABICHT. 2Sg
chen nur Eine geben ;, ja zum Theil wie-
der andern zur Nahrung dienen _, ehe sie
selbst noch zu Leichen werden. Was
dann übrig bleibt^ das geben wir jenen
Thieren und Würmerri^ die von gefalle-
nen Körpern leben^ zum Raube. — Der
Mensch _, so wie er das Haupt der thieri-
schen Schöpfung ist_, so ist er auch das
wichtigste Mittel ihrer Erhaltung ; denn
sein Geschlecht ist sehr zahlreich^ er bringt
sein Leben sehr hoch^ er raubt durch alle
Gattungen duixh ^ er hat die Vernunft
seine Todten zu verbrennen, oder in die
Erde zu scharren, und wenn ihm der Lei-
chen von andern Thieren zu viel werden,
auch diese. — So und nicht anders, mein
Freund — — .
Ich seh' es; Sie haben R.echt ! fiel er
mir ein. Der Schöpfer hat wahrlich wohl
gethan — ' und er lächelte — dafs er seine
Engels Philosoph, I. 19
290 DER HABICHT.
Welt schuf, ohne meinen Rath zu erwar-
ten. Die Vortheile einer solchen Ein-
richtung sind in der That ganz unend-
lich. — Wir bringen nun alle die zahl-
losen Geschlechter der Raubthiere in die
Ntltur ; erlauben den fruchtfressenden
Thieren mehr Vergnügen der Liebe_, der
Begattung, der Jungenpflege; ziehen im-
mer neuen Anwach s zum schnellen Er-
satz des Verlorenen an; bringen mehr Ge-
selligkeit, mehr Thätigkeit in die Welt;
erhalten die Thiere bei einer reinem Luft
gesünder, fröhlicher, muntrer; gebenden
Raubthieren diese schärferen Sinne, die-
ses wärmere Blut, diese höhere Wirk-
samkeit, die ihr Leben um so viel Stu-
fen höher setzt, als das Leben der an-
dern Thiere. — In diesem Tone fuhr
er fort , und sprach mit einer Wärme,
mit einer Beredtsamkeit ! — dafs ich auf-
merksam, ward und ihn ansah.
DER HABICHT. 291
Ihre Cur^ rief ich, hat Wirkung ge-
than. Wie hält's um die Kxaiikheit_, mein
Freund ?
Sie war im Nu wieder da. Der Kopf
sank ihm matt auf die Schulter; die Füfse
erschleppten ihn kaum; es war der elen-
deste Mann, — Einbildung! Einbildung!
rief ich. Und ob er dem gleich aus al-
ler Macht widerstz'itt^ so gab ihm doch
die Erfahrung, die er so unvermuthet
von seinen Kräften gemacht, imd mein
vortheilhaftes Zeugnifs darüber, einen
sichtbaren Trost. Ich hoffe ^ der gute
Mann soll nc^ch werden.
Hätte ihm der Arzt nicht alle Beschäf-
tigung untersagt, so würde ich ihm ein
Büchlein empfoiden haben, das diese Ma-
terie mit viel Gründlichkeit abhandelt und
eine der vortrefflichsten Apologieen der
Vorsehung ist. Meinen nicht hypochou-
293 DEPt HABICHT.
drischen Lesern will ich's doch nennen;
es sind die Philosophischen Betrachtung
gen über die ihierische Schöpfung *).
Eine Schrift^ die eben so unterhaltend
durch die gewähltesten Beobachtungen^
als unterrichtend durch die wichtigen Ge-
sichtspuncte ist^ worein dieselben gestellt
werden. Auf allen Seiten wird Gott ver-
herrlicht _, die Vorsehung gerechtfertigt,
das Herz beruhigt. — Um die_, die es
noch nicht kennen mogten^ zu reizen,
will ich eine Stelle hersetzen^ die unge-
fähr das Resultat von den Untersuchun-
gen des Verfassers enthält.
i:> Leben ^ sagt er, ist eine Glückselig-
keit ; und der Wille des Schöpfers ist,
dafs unzählige Schaaren dieser Glückse-
ligkeit geniefsen sollen. Unter einer Men-
ge von Welten hat er auch diejenige er-
*) Aus dem Englischen, Leipzig, 1769.
DER HABICHT. ^ 295
schaffen^ die wir bewohnen: eine Welt^
die mit Bergen und Ebnen abwechselt,
diu-ch Flusse und Seen erfrischt, dmxh
Pflanzen und Bäume geschmückt, durch
die Strahlen der Sonne erleuchtet und er-
wärmt wird ; eine Welt, wo unsichtbare
Ursachen die lElemente, die niit allen Prin-
cipien des Lebens geschwängert sind, in
beständigem Umlauf erhalten ; wo die
Pflanzen, durch geheime noch wunderba-
rere Kräfte, die reichen Schätze der Ele-
mente an sich ziehen, aufsammeln, und
sie zur Erhaltung der thierischen Schö-
pfung zubereiten ; eine Welt — denn so
unendlich grofs ist die Mannichfaltigkeit
und die Anzahl der Gattungen — wo
jedes Ding in eine lebendige Substanz
gleichsam verwandelt , xmd alle natürli-
chen Kräfte, jede Begebenheit imd jedes
Wesen, durch ewige und unveränderliche
294 I^ER HABICHT.
<*resetre;, zur Hervotbringnllg und Erhal-
tung des Lebens nutzbar gemacht wird;
eine Welt_, wo, wenn die Arten sich ver-
vielfältigen, es dazu geschieht^ den Ver-
lust leicht wieder zu fersetzen^ dem ihre
Hinfälligkeit sie blofsstellt^ und wenn sie
sich einander aufreiben^ wenn ihr Dasein
in gewisse Gränzen eingeschränkt ist, die-
ses geschieht , das Übermaafs in ihrem
Anwachse zu verhüten. — Die grofse Ab-
sicht, auf die der ganze Plan der Schö-
pfung gerichtet ist, besteht in der Voll-
ständigkeit imd Erhaltung des thierischen
Systems. Es giebt allgemeine Gesetze,
die jede Classe der Geschöpfe antreiben,
diese Absicht zu befördern j und diese
Gefetze sind so genau mit einander ver-
knüpft , dafs sie noth wendig einander
wechselsweise voraussetzen und nach sich
ziehen, a
^95
NEUNZEHNTES STUCK.
PROBEN RABBINISCHER
WEISHEIT *).
I.
»Wer sich der Gerechtigkeit an-
nimmt, richtet das Land auf;
wer sich ihr entzieht, ist Schuld
an seinem Verderben, cc
Jtlabbi Assi war krank^ lag auf dem Bet-
te, von seinen Schülern umgeben^ und
bereitete sich zum Tode. Sein Neffe trat
zu ihm herein, und fand dafs er weinte.
— Was weinst du, Rabbi ? fragte er.
') Aus dem TaJmud und dem Midrasch gezogen.
Die Erzählungen beziehen sich auf Sprüche
der Schrift, die eben darum voranstehen.
296 P Pl O B E N
Mufs nicht jeder Blick in dein vollbrach-
tes Leben dir Freude bringen? Hast du
etwa das heilige Gesetz nicht genug ge-
lernt^ nicht genug gelehrt? Siehe, deine
Schüler hier sind Beweise vom Gegen-
theiL Hast du etw^ versäumt, Werke
der Gottseligkeit auszuüben? Jedermann
ist eines Bessern überführt. Und die De-
muth war die Krone aller deiner Tugen-
den! Niemals wolltest du erlauben, dafs
man dich zum Richter der Gemeinde
wählte, so sehr auch die Gemeinde es
wünschte.
Eben das, mein Sohn, antwortete Rab-
bi Assi, betrübt mich jetzt. Ich konnte
Recht und Gerechtigkeit unter den Men-
schenkindern handhaben, und aus mifs-
verstandener Demutb hab' ich es unter-
lassen. »Wer sich der Gerechtigkeit ent-
zieht, ist Schuld an dem Verderben des
l>ndes. «
RABBINISCHER WEISHEIT. 29-
51 Den Menschen und dem Viehe y^ /.
hilft der Herr.«
Auf seinein Zuge^ die Welt zu be-
zwingen, kam Alexander , der Macedo-
nier, zu einem Volke in Africa, das in
einem abgesonderten Winkel in friedli-
chen Hütten wohnte, und weder Krieg
noch Eroberer kannte. Man führte ihn
in die Hütte des Beherrschers, um ihn
zu bewirthen. Dieser setzte ihm goldene
Datteln, goldene Feigen, und goldnes
Brot vor. — Esset Ihr das Gold hier?
fragte Alexander. — Ich stelle rnir vor,
antwortete der Beherrscher: geniefsbare
Speisen hättest du in deinem Lande wohl
auch finden können. Warum bist du
denn zu uns gekommen? — Euer Gold
hat mich nicht hieher gelockt, sprach
293 PROBEN
Alexander; aber eure Sitten mögte ich
kennen lernen. — Nun wohl^ erwieder-
te jener, so weile denn bei unS;, so lange
es dir gefällt.
Indem sie sich unterhielten, kamen
zwei Bürger vor Gericht. Der Kläger
sprach: Ich habe von diesem Manne ein
Grundstück gekauft, und als ich den Bo-
den durchgrub, fand ich einen Schatz.
Dieser ist nicht mein: denn ich habe nur
das Grundstück erstanden, nicht den da-
rin verborgenen Schatz ; und gleichwohl
will ihn der Verkäufer nicht wiederneh-
inen. — Der Beklagte antwortete : Ich
bin eben so gewissenhaft, als mein Mit-
bürger. Ich habe ihm das Gut, sammt
allem was darin verborgen war, verkauft,
und also auch den Scliatz.
Der Richter wiederholte ihre Worte,
damit sie sähen, ob er sie recht verstan-
JEIABBINISCHER WEISHEIT. 299
den hätte; und nach einiger Überlegung
sprach er: Du hast einen Sohn_, Freund?
Nicht? — Ja! — Und du eine Tochter?
— Ja! — Nun wohl! dein Sohn soll dei-
ne Tochter heirathen^ und das Ehepaar
den Schatz zum Heirathsgute bekommen.
— Alexander schien betroffen. Ist etwa
mein Ausspruch ungerecht ? fragte der
Beherrscher. — O nein_, ferwiederte Ale-
xander, aber er befremdet mich. — Wie
würde denn die Sache in eui-em Lande
ausgefallen seyn ? fragte jener. — Die
Wahrheit zu gestehen_, antwortete Ale-
xander, wir würden beide Männer in Ver-
wahrung gehalten, und den Schatz für
den König in Besitz genommen haben. —
Für den König? fragte der Beherrscher
voller Verwimdrung . . . Scheinet auch
die Sonne auf jene Erde? — O ja! —
Regnet es dort? — Allerdings ! — Son-
300 PROBEN
derbar! Giebt es auch zahme_, krautfressen-
de Thiere dort? — Von mancherlei Art.
• — Nun^ sprach der Beherrscher, so wkd
wohl das allgütige Wesen_, um dieser un-
schuldigen Thiere willen _, in eurem Lan-
de die Sonne scheinen und regnen las-
sen. Ihr verdientet es nicht.
Das erste Weib.
Gott schuf der Weiber Erste
Nicht aus des Mannes Scheitel^
Dafs sie nicht eitel würde;
Nicht aus des Mannes Augen,
Das sie nicht lüstern würde;
Nicht aus des Mannes Zimge^
Dafs sie nicht schwatzhaft würde;
Nicht aus des Mannes Ohren,
Sie horchte sonst nach allem;
RABBINISCHER WEISHEIT. 301
Nicht aus des Mannes Händen,
Sie griffe sonst nach allem;
Nicht aus des Mannes Füfsen,
Sie liefe sonst nach allem.
Er schuf sie aus der Ribbe,
Der unbescholtnen Ribbe;
Doch haben ihre Töchter
Von jedes Gliedes Fehler
Ein kleines Theil bekommen.
>) Wer ein tugendhaft Weib ge- y.\
fanden , hat einen gröfsern
Schatz , denn köstliche Per-
len, cc
Einen solchen Schatz hatte Rabbi
Meir , der grofse Lehrer ;, gefunden. Er
safs am Sabbat in der LehrschiUe, und
302 PROBEN
unterwies das Volk. Unterdefs starben
seine beiden Söhne : beide schön von
Wuchs ^ und erleuchtet im Gesetz. Sei-
ne Hausfrau nahm sie^ trug sie auf den
Söller^ legte sie auf ihr Ehebette^ und
breitete ein weifses Gewand über ihre
Leichname. Abends kam Rabbi Meir
nach Haufe. — Wo sind meine Söhne,
fragte er, dafs ich ihnen den Segen gebe?
— Sie sind in die Lehrschule gegangen,
war ihre Antwort. — Ich habe mich um-
gesehen, erwiederte er^ imd bin sie nicht
gewahr worden. — — Sie reichte ihm
einen Becher ; er lobte den Herrn zum
Ausgange des Sabbats ^) ^ trank und frag-
te abern^ial: Wo sind meine Söhne, dafs
sie auch trinken vom Wein des Se-
•) Eine Ceremonle der Juden beim Ein- und Aus-
gange eines Festtages, und vornelimlich des
Sabbats.
RABBINISCHER WEISHEIT. 305
gens ? — Sie werden nicht weit sejn,
sprach sie^ und setzte ihm vor zu essen.
Er war guter Dinge^, und als er nach der
Mahlzeit gedankt hatte ;, sprach sie: Rab-
bi^ erlaube mir eine Frage! — So sprich
nur, meine Liebe! antwortete er. - — Vor
wenig Tagen, sprach sie, gab mir jemand
Kleinodien in Verwahrung, und jetzt for-
dert er sie zurück. Soll ich sie ihm wie-
dergeben ? — Dies sollte meine Frau
nicht erst fragen, sprach Rabbi Meir.
Wolltest du Anstand nehmen, einem je-
den das Seine wiederzugeben? — O nein!
versetzte sie ; aber auch wiedergeben
>v^ollte ich, ohne dein Vorwissen nicht. —
Bald darauf führte sie ihn auf den Söller,
trat hin, und nahm das Gewand von den
Leichnamen. — Ach meine Söhne! jam-
merte der Vater; meine Söhne . . . und
meine Lehrer ! Ich habe euch gezeugt,
So4 PROBEN
aber Ihr habt mir die Angen erleuchtet
im Gesetze. — Sie wendete sich hinweg
und weinte. Endlich ergriff sie ihn bei
der Hand tmd sprach : Piabbi^ hast du
mich nicht gelehrt^ man itlüsse sich nicht
weigern wiederzugeben was uns zur Ver-
wahrung vertraut Ward? Siehe^ der Herr
hat's gegeben^ der Herr hat's genommen;
der Namen des Herrn sei gelobet I —
Der Namen^des Herrn sei gelobet! stimm-
te Rabbi Meir mit ein. Wohl heifst es:
»Wer ein tugendhaft 'Weib gefunden,
hat einen gröfsern Schatz^ denn köstliche
Perlen. Sie thut ihren Mund auf mit
Weisheit, und auf ihrer Zunge ist hold-
selige Lehre. »
RABBIMSCHER WEISHEIT. 505
5..
Unterredung eines Weltweisen mit
einem Rabbi.
Ein Weltweiser sprach zu einem Rab-
bi: Euer Gott nennet sich in seiner Schrift
einen Eiferer , der keinen andern Gott
neben sich dulden kann^ und giebt bei
allen Gelegenheiten seinen Abscheu wi-
der den Götzendienst zu erkennen. Wie
kommt es aber^ dals er mehr die Anbe-
ter der Götzen^ als die Götzen selbst^ zu
hassen scheint ? — Ein gewisser Fürst^
antwortete der Rabbi, soll einen tmge-
horsamen Sohn haben. Unter andern
nichtswürdigen Streichen mancherlei Art^
hat er die Niedetträchtigkeit, seinen Hun-
den des Vaters Namen und Titel zu ge-
ben. Soll der Fürst auf den Prinzen^,
oder soll er auf die Hunde zürnen?
Engels Philosoph, I. 20
5o6 PROBEN
Wenn aber Gott die Götzen ausrot-
tete^ erwiederte jener^ so würde weniger
Gelegenheit zur Verführung seyn. — Ja,
versetzte der Rabbi, wenn die Thoren
blofs Dinge anbeteten, an welchen wei-
ter nichts gelegen wäre. Allein sie be-
ten auch Sonne, Mond, Gestirne, Flüsse,
Feuer, Luft, u. d. gl. an. Soll der Schö-
pfer, um dieser Thoren willen, seine
Welt zu Grunde richten? Wenn jemand
Getreide stiehlt und es einsäet ; soll das
Getreide nicht aufschiefsen, weil es ge-
stohlen ist? Soll eine sündliche Beiwoh-
nung darum nicht fruchtbar sejii, weil
sie sündlich ist? O nein! der weise Schö-
pfer läfst der von ihm selbst so wohl ge-
ordneten Natur ihren Lauf. Der Unver-
nünftige, der sie mifsbraucht, wird schon
zur Rechenschaft gefordert werden.
Wider die Vergelti:ng nach dem Tode
RABBINISCHER WEISHEIT. 507
machte ihm der Weltweise folgenden Ein-
wurf. Wenn Leib und Seele getrennt
sind^ wem wird die Schidd der begange-
nen Sünden zugerechnet ? Dem Leibe
wahrlich nicht ; denn dieser liegt ^ wenn
die Seele Abschied nimmt ^ wie ein Erd-
klos da;, und würde^, ohne die Seele,, auch
nie haben sündigen können. Und die
Seele? Ohne das Fleisch würde sie sich
eben so wenig mit der Sünde befleckt
haben. Sie schwebt in der reinsten äthe-
rischen Luft^ sobald sie durch den Leib
nicht mehr an die Erde gefesselt ist.
Welches von beiden soll also der Gegen-
stand der göttlichen Gerechtigkeit seyn?
Die Weisheit Gottes, antwortete der
Rabbi, kennet zwar allein die Wege sei-
ner Gerechtigkeit. Indefs ist dem Sterb-
lichen zuweilen vergönnt, auf die Spur
davon zu kommen. Jener HausheiT hat-
5o8 PROBEN
te in seinem Obstgarten zwei Sklaven,
wovon der eine lahm und der andere
blind war. Dort sehe ich köstliche Früch-
te, sprach der Lahme zum Blinden, an
den Bäumen hangen. Nimm mich auf
deine Schulter ; wir wollen davon bre-
chen. Dies thaten sie, und bestahlen ih-
ren Wohlthäter, der sie, als unbrauchba-
re Knechte, blofs aus Mitleiden ernährte.
Er kam, und stellte die Undankbaren zur
Rede. Jeder schob die Schuld von sich,
indem der Eine sein Unvermögen die
Früchte zu sehen, der Andere sein Un-
vermögen, zu ihnen hinanzukommen, vor-
schützte. Was that aber der Hausherr ?
Er setzte den Lahmen auf den Blinden,
und strafte sie in der Lage ab, in wel-
cher sie gesündiget hatten. — So auch
der Richter der Welt mit des Menschen
Leib und Seele.
RABBINISCHER WEISHEIT. 509
6.
Der Lehrer und der Schüler. X
Der LeJirer. Du willst die Bufse ver-
schieben? — Wohl! So lange es dir ge-
fällt. Nur befsre dich Eiiieii Tag vor
deinem Tode!
Der Schüler. Weifs ich den Tag
wann ich sterben werde?
Der LeJirer. Wenn du diesen nicht
weifst, so ist kein andrer Rath, als heute
noch anzufangen.
3iö PROBEN
7-
5) Du sollst den Herrn, deinen
Gott, lieb haben von ganzem
Herzen, von ganzer Seele, von
ganzem Vermögen, cc
Wer seinen Gott so liebet, wird die
Schuldigkeit einsehen, ihm für das Böse
das er uns widerfahren läfst, eben so in-
brünstig TU danken, als für das Gute. — -
Unter der tyrannischen Regierung der
Griechen, ward einst den Israeliten bei
Lebensstrafe verboten, in ihrem Gesetze
zu lesen. Rabbi Akiba hielt gleichwohl
öffentliche Versammlung, und unterwies
im Gesetze. Ihn fand Pappus, der Sohn
Juda, und sprach: Akiba I fürchtest du
nicht die Drohungen dieser Grausamen?
— Ich will dir" eine Fabel erzählen, sprach
RABBINISCHER WEISHEIT. 511
Rabbi Akiba^ die mit unsern Umständen
viel Aiinliches hat. Der Fuchs ging einst
am Ufer des Fluss^es auf und nieder, und
sah die Fische bald hier bald dort sich
zusammendrängen. — Was lauft Ihr da
so ängstlich umher? fragte der Fuchs. —
Die Menschenkinder werfen dort ihre
Netze aus_, antworteten die Fische _, und
wir suchen ihnen zu entkommen. — Wifst
Ihr was? erwiederte der Fuchs. Kommt
zu mir auf's Trockne! Wir wollen an ei-
nen sichern Ort ziehen, wo euch kein
Fischer nachstellen soll. — Bist du der
Fuchs, war ihre Antwort, den man sonst
für das klügste unter den Thieren hält?
Du mufst das einfältigste seyn, wenn du
ims diesen Rath im Ernste ertheilest.
Siehe! hier ist für uns das Element des
Lebens. Weil wir hier unsicher sind,
räthst du uns, in das Element des Todes
312 PROBEN
zu fliehen? r— Die Anwendung, Sohn
luda! ist leicht. Die Lehre Gottes ist für
uns Element des Lebens; denn so stehet
von ihr geschrieben : Sie ist dir Leben
und Länge der Tage, Werden wir gleich
in diesem Elemente verfolgt_, so müssen
wir es darum nicht verlassen und ins Ele-
ment des Todes flüphten,
Nicht lange, so ward Rabbi Akiba ver-
rathen, in Verhaft geiiommen und in ei-
nen Kerker gesperrt. Aber Pappus, der
Sohn Juda, ward auch verläumdet, ein-
gezogen, und in dasselbe Gefängnifs ge-
setzt. — Was hat dich hieb ergebrach r,
Pappus ? fragte Rabbi Akiba. — O wohl
dir, Rabbi Akiba ! antwortete Pappus, der
du leidest, weil du dich der Lehre Got-
tes angenommen hast ; aber wehe dem
Pappus, der leiden mufs, weil er sie ver-
nachläfsiget hat!
RABBINISCHER WEISHEIT. 51 ->
Rabbi Akiba ward zum Tode gefiihi t.
Unter den entsetzlichsten Martern^ wo-
mit sie ihn hinrichteten^ kam die Stunde,
das: Höre Israel! zu lesen. :»Höre^ Is-
rael! der Herr, unser Gott, ist ein eini-
ger Gott. Und du sollst den Herrn, dei-
nen Gott, lieb haben von ganzem Her-
zen, von ganzer Seele, von ganzem Ver-
mögen *).cc — In der Vorbereitimgsan-
dacht, unterwarf sich Rabbi Akiba der
göttlichen Regierung mit Freude und
kindlicher Ergebenheit. Seine Schüler
verwunderten sich über diese Fassung
seines Gemüths luiter solchen Qualen. —
O meine Lieben! sprach ihr Lehrer: zeit-
lebens habe ich nach der Gelegenheit ge-
banget, dieses göttliche Gebot halten zu
•) Dieses Capital der Schrift wiederholt jeder Jude
zweimal des Tages , nachdem er sich durcli
Vorbereltuiigsgebete dazu angeschickt hat.
5i4 PROBEN RABBÜnF. WEISHEIT.
können^ den Herrn^ meinen Golt^ von
ganzem Herzen und von ganzer Seele zu
lieben. Jetzt^ da sie mir geworden^ mufs
ich sie nicht vernachläfsigen. Er weilte
so lange bei den Worten : ein einiger
Gott ! bis sein Geist ihn verliels. Und
eine Stimme liefs sich vom Himmel ver-
nehmen: Wohl dir^ Akiba_, dessen Geist
sich ujiter solchen Worten emporschwang!
Gehe ein zu der ewigen Seligkeit, die
hier dein Lohn ist !
Moses Mendelssohtt.
3i5
ZWAiVfZiGSTES STÜCK.
PROBEN RABBINISCHER
WEISHEIT.
(FORTSETZUNG.)
Der Segen des Gastfreundes.
J_Jer alte B.abbi Isaak besuchte seinen
Freund, Piabbi Nachman. Mehrere Wo-
chen blieb er gastfreundlich in seinem
Hause, und die ganze Zeit über unter-
hielten sie sich vom Gesetz^ tauschten
Meinungen und Gründe^ und belehrten
sich gegenseitig. Die Stmide des Schei-
dens rückte heran. Rabbi Nachman war
gerührt. Der Gedanke^ dafs er seinen
bejahrten Freund wahrscheinlich nie wie-
5i6 PROBE N
dersähe, befeuchtete seine Augen. End^
licli sagte er zu ihm: Segne mich, ehr-
würdiger Freund, ehe du von dannen
scheidest! — Ich dich segnen? Dich,
du Vortrefflicher ? Bist du doch jenem
Pahnbaume so ähnlich ! — Welchem
Palmbaume, Rabbi? — Sieh, mein Lie-
ber l Einst gerieth ein Wandrer in ei-
ne Wüste. Er war ermüdet. Hunger
und Durst überfielen ihn ; er verlechzte
schier. Auf einmal erspäht sein Auge am
Ufer eines kleinen Bachs einen schönbe-
laubten Palmbaum , voll reifer Datteln.
Er eilt in dessen Schatten, lagert sich
hinein, stillt den Hunger mit den Früch^
ten des Baumes, und sättigt seinen bren-
nenden Durst aus dem Bache, wird er-
quickt und neu belebt. Nun steht er auf,
und blickt dankbar, beide Hände auf den
Wanderstab gestützt, in die Schatten.
RABBINISCHER WKISHEIT, 517
Wohlthätiger Bamn^ spricht er^ ich sollte
dich segnen. Aber womit kann ich dich
segnen? Sollen deine Früchte gedeihen?
O wie sind sie so süfs und würzhaft!
Sollen deine Zweige sich verbreiten ? O
wie schön wölbt sich deine Krone ^ wie
kühlend ist dein Schatten! Soll ein Bach
sich zu deinen Füfsen schlängeln? Fliefst
doch schon der klarste, hellste Krystall
neben dir hin! Dennoch, dennoch segne
ich dich, edler Baum : mögen alle deine
Spröfslinge dir gleichen! — So auch ich,
redlicher Gastfreund ! Siehe, du hast gro-
fse Kenntnisse erworben; Rang und Ver-
mögen ist dir zu Theil worden; das Be-
wufstsein eigener Würde, das Glück des
Hausvaters, die Achtung der Tugendhaf-
ten, besitzest du in seltner Fülle. Mögen
dann deine Kinder dir gleichen! Möge
ihr Loos wie das d einige seyn !
5i8 PROBEN
2.
Äufsrer Feind und innrer Ver-
räther.
Aus einer Eisensclimiede fuhr ein mit
neugehämmerten Äxten beladen er Wagen
durch den nahe gelegenen Wald. Die
Sonne glänzte auf den Stahl^ und die
Bäume des Waldes erzitterten ob der
Erscheinung. — Wer wird vor ihnen be-
stehen? Diese Eisen fällen uns alle'. So
klagte ihr Angstgeräusch. Aber eine be-
jahrte Eiche rief ihnen zu : Fürchtet
nichts ! Solange keiner von euch diesen
Äxten Stiele leiht, kann euch ihre Schärfe
nicht schaden
RABBINISCHER WEISHEIT. 319
Die Schöpfung des Weibes. /
Jene Matrone sagte zu Rabbi Josse:
In der Schöpfungsgeschichte der Eva er-
scheint euer Gott nicht in dem schön-
sten Lichte. Warum mufste er dem Adam
die Ribbe entwenden ? warum sie ihm
in tiefem Schlaf gleichsam rauben ? —
Vater ! sagte Ptabbi Josse's anwesende
Tochter : lafs inich ihr antworten ! —
Weifst du schon ^ edle Frau^ dafs diese
Nacht Diebe bei uns eingebrochen sind?
dafs sie uns eine Silberstange geraubt^
und ein goldnes schöngeärbeitetes Pracht-
gefäfs dafür hingesetzt haben? Sage^ was
däucht dir zu diesem Frevel ? — Du
scherzest^ Mädchen^ erwiederte die Ma-
trone : kannst du das Rauben nennen?
Kann eine solche Handlung dir Frevel
i20 PROBE N
scheinen ? — Nicht ? sagte die Jun»-
flau. So klage auch du unsern Gott nicht
3Y\, dafs er eine entbehrliche Pubbe nahm^
und statt ihrer eine unschätzbare Gehul-
hnn baute.
4»
Der Wein in irdnen Geftifsen.
Je mehr die Kaisertochter *) mit dem
Rabbi Josucij dem Sohn Ananias ^ sich
unterhielt, desto mehr ergötzte sie sein
Scharfsinn, erfreuten sie seine Kenntnisse/
erbauten sie seine Tugendlehren. Doch
entschlüpfte ihr einst, gleichsam unwill-
kürlich, das Wort: Welche schöne Seele
und welche widrige Hülle! Konnten so
lieb-
•) Vermuthlich die Tochter Antonin$ des Froin-
mer.
RABBINISCHER WEISHEIT. 321
liebliche Tugenden nicht in einem schö-
neren Körper wohnen? — Sage mir^ gro-
fse Fürstentochter^ fragte sie der Rab-
bi nach einer Weile: worin wird der ed-
le Piebensaft deines erhabnen Vaters auf-
bewahrt ? — In irdenen Gefäfsen. — -
Unmöglich ! Darin bewahrt ja den sei-
nigen jeder Bürger. Man sollte doch des
Kaisers Weine in goldenen und silbernen
aufbehalten. — Da hast nicht Unrecht^
erwiederte die Fürstinn: das wäre schick-
licher^ und das soll von nun an gesche-
hen. — Der Wein verdarb ; sein Geist
entfloh. — Du hast mich übel berathen^
sagte nach einiger Zeit die Fürstentoch-
ter. In den Prachtgefäfsen ist der Wein
meines Vaters verdorben. — Sehr mög-
lich ! erwiederte Josua : auch Tugend
und Kenntnisse gedeihen am besten in
wenig glänzenden Körpern.
Engels Philosopli, I, 2 t
322 PROBEN
\^ Die Reue des Frommen.
Ein alter Diener des Hauses Ainram
bracht' ein Mädchen aus der Gefangen-
schaft zurück. Räuber hatten sie den
Eltern entführt ; Rabbi Amram liefs sie
auslösen. Das Mädchen war in ihrer blü-
hendsten Jugend^ und von blendender
Schönheit. — Das Haus des Frommen ist
der Zufluchtsort der Tugend. — Führt
sie auf den Söller des Seitengebäudes,
sagte der Rabbi _, und nehmt die Leiter
weg die hinaufführt. Dort weile sie bis
morgen, wo ich sie dem weinenden Va-
ter überantworten will. — Aber kaum
war der Rabbi in sein Haus getreten, als
das Herz des Frommen von unlautrer Be-
gierde entbrannte. Das dankbare aus der
KABBINISCHER WEISHEIT. 523
Sclaverei losgekaufte Mädchen hatte ihn
liebevoll angeblickt, und das Feuer der
Leidenschaft in seinem Lmern entzündet.
Er kämpft, aber umsonst; das Herz wird
des Kopfes Meister. Er eilt in den Hof^
ergreift die beiseite gestelJte Leiter, er-
greift sie mit einer Kraft die nur heftige
Leidenschaft giebt, legt sie an, und be-
steigt sie. Das Mädchen tritt schüchtern
vor die Öfnung des Eintritts. Tugend
und Begier erneuern den Streit bei ihrer
Erscheinung. Endlich, auf halbem Wege,
ermannt sich Amram, erhebt plötzlich die
Stimme, und ruft, auf der Leiter stehend:
Feuer! es brennt ! Im Hause Amrams
brennt's ! — Auf sein durchdringendes
Geschrei eilen Hausgenossen, Nachbarn,
die ganze Schaar seiner Schüler herbei.
Der Fromme bleibt mit Feuerglulh im
Gesicht luid mit niedergeschlagenen Au-
524 P H O ß E N
gen stehen. Die Anwesenden schweigen
erstaunt ; aber ihr Blick irrt von dem Leh-
rer auf das Mädchen^ von dem Mcädchen
auf den Lehrer^ und sie verstehen den
Ausruf. Endlich öffnet er den Mund^ und
mit bewegter Stimme sagt er: Besser,
ich stehe jetzt beschämt vor euch in die-
ser Welt, als 'einst beschämt vor dem
ewigen Weltrichter in icner.
^*
Besclieidenlieit.
Rabbi E!fleser, der Sohn Simons^ reis'-
te von der hohen Schule Migdal eder
nach dem Orte, wohin man ihn zum Leh-
rer berufen hatte. Er ritt auf einem Esel,
war sehr heitern Gemuths, und überhob
sich innerlich der groisen Kenntnisse, die
schon im Jünglingsalter ilin zu ansehnli-
RABBINISCHER WEISHEIT. 325
chen Amtern führten. Ein Wandrer zu
Fufs holte ihn ein. Der JMann war un-
gestaltet und von schwärzlicher Farbe.
Friede sei mit dir^ grolser Piabbi ! rief
dieser ihm zu. Jener erwiedert den Grufs
nicht^ sondern sagt spöttisch zum Wan-
drer : Mensch I wie bist du so itngestal-
tet ! Sind alle Bewohner deines Geburts-
ortes so ? , — Ich weifs nicht, antwor-
tet der Mann beleidigt. Aber geh zum
Meister, der mich schuf und erhält, imd
frag' ihn, warmn er eintm solchen Un-
wesen das Dasein verlieh. — Rabbi
Elieser fühlte alsbald die Übereilung, zu
der ihn jugendlicher Übermuth verleitet
hatte; er w'arf sich vom Esel herab und
vor dem Wandrer auf die Pvniee : Ich
habe dich beleidigt ; vergieb mir ! —
Nein ! nein ! Hin zum INIeister, und frag'
ihn, warum er eine solche Mifsgestalt
526 PROBEN
schuf. — Er setzt seinen Wanderstab
weiter; der Rabbi folgt ihm, zerknirscht
von Reue. Unfern der Stadt strömen ih-
nen die Bürger entgegen. — Friede sei
mit dir, Rabbi ! Grofser Lehrer, sei uns
gesegnet ! — Wem gilt dieser Grufs,
dieser Zuruf? fragt hier der Wandrer.
— .Wem axiders, als dem Manne, der
dir nachtritt? — Wie? den nennt Ihr
Rabbi! den begriifst Ihr, als Lehrer? Mög-
te seines Gleichen keiner in Israel seyn!
— Warum? Was sprichst du? — Der
Ungestaltete erzählt ; der Rabbi bekennt
durch Stillschweigen die Übereilung. —
Ach vergieb ihm, Fremdling , den ju-
gendlichen Unbedaclit ; vergieb ihm um
seiner Gelehrsamkeit willen ! — Ich ver-
geh' ihm um Euretwillen ; nur mag er
nicht wieder fehlen!
Rabbi Elieser bestieg den folgenden
RABBINISCHER WEISHEIT. 327
Tag den Lehrstuhl mit dem Spruche: «Im-
mer sei der Mensch nachgebend wie das
Rohr, nicht unbiegsam, wie die Ceder. «
- 7-
Der weise Richter und die zärt-
liche Gattinn.
Einst führte ein Mann sein Eheweib
nach Sidon vor den Rabbi Shneon, den
Sohn Jochai. Grofser Lehrer ! sagte er
zu ihm, mit dieser Frau leb' ich nun zehn
voUe Jahre in Eintracht und Frieden ; aber
unsre Ehe ist kinderlos. Aus Ehrfurcht
für die Gesetze will ich ihr den Scheide-
brief geben. — Das Weib stand scham-
roth da wegen ihrer Unfruchtbarkeit, und
heifse Thränen flössen von ihren schönen
Augen. Gerührt wendete sich der Ehe-
mann zu ihr. O weine nicht, sprach er.
32S PROBEN
nimm was du willst_, nimm das Schätzbar-
ste aus dem Hause mit dir; ich gestatt^
es dir gerne: nur kehre ohne Unmuth in
das väterliche Haus zurück! — Die Trost-
lose schwieg, weinte bitterlich, und blick-
te auf den Ptichter. — Freund der Ge-
setze, sagte endlich der Rabbi ; als du
das Eheband knüpftest, nicht wahr? da
feiertest du ein Fest ? -— Freilich ! und
ein grofses und frohes, — So gehe hin,
und feire ein gleiches wieder, ehe du es
lösest.
Die Eheleute entfernten sich ehrerbie-
tig: er heitern Sinns, sie mit einem Strahl
von Hoffnung in der Seele.
Das Mahl wird bereitet. Das Fest be-
ginnt. Des Weines ist vollauf. Die Frau
hat Alles angeordnet. — Der Becher krei-
set, die Freunde trinken. Der Ehemann
wird heiter und fröhlich, zecht, leert Be-
RABBINISCHER WEISHEIT. 529
eher auf Becher^ und fällt endlich in tie-
fen Schlaf. — Kaum sind die Gäste ver-
schwunden; so winkt die wachsame Frau
den wartenden Sclavinnen. Diese tragen
leise und sorgfältig den Berauschten ins
schwiegerelterliche Haus. Um Mitternacht
erwacht er. Wo bin ich ? Wie komm'
ich in dieses Haus ? — Mein Lieber !
antwortet mit sanftem Tone die Frau,
ihn umarmend ; sagtest du nicht in Ge-
genwart des grofsen Lehrers: Nimm, was
du willst, nimm das Schätzbarste, und
kehre heim in's väterliche Haus ? Warst
nicht du das Schätzbarste in unserm Hau-
se? Zürnest du mir, dafs ich's nahm? —
Der Vorhang ßel. Der heilige Segen der
Ehe blieb nicht aus.
330 P K O B E IN
8.
Rabbi Elieser und seine Gegner.
Dafs Wunder keine Beweismittel für
Wahrheit sind_, ist eine unterscheidende
Lehre des Judenthums^ und wohl unmög-
lich konnte diese Lehre stärker vorgetra-
gen werden^ als in folgender so ganz
orientalisch gedichteten Erzählung des
Talmud^ worin besonders der letzte Zug
von der Freude der Gottheit über das
Festhalten an befsrer Einsicht jedem auf-
fallen wird.
In der Lehrschule entstand ein hefti-
ger Streit zwischen Rabbi Elieser und
andern Gesetzlehrern. Der Streit betraf
eine gewisse Anwendung der Lehre vom
Reinen und Um einen. Rabbi Elieser^ um
seine Meinung geltend zu machen^ brach-
te alle nur mögliche Gründe vor; aber
RABBINISGHER WEISHEIT. 331
jMan fand sie nicht überzeugend. — Ob
mein Ausspruch gegründet sei;, rief end-
lich Rabbi Elieser> mag dieser Bochs-
horn *) bezeugen! Auf dieses Wort
reifst sich der Baum von seiner Stelle^
und wird auf eine weite Strecke fortge-
führt. — Gut ! entgegnen die Mitstrei-
ter ; aber was beweis't man mit ent-
wurzelten Bochshornbäumen ? — Nun,
fährt Rabbi Elieser fort, so mag denn
dieses vorbeifiiefsende Wasser die Wahr-
heit meines Ausspruchs bezeugen. Und
siehe! das abwärts strömende Wasser än-
dert seinen Lauf, und fliefst aufwärts.
Die Gegner erwiedern : Was beweis't
zurückströmendes Wasser ? — So mö-
gen denn die Wände dieses Lehrsaals
zeugen, sagt Rabbi Elieser, ob nicht das
•) Johannisbrot -Baum.
533 PROBEN
Recht auf meiner Seite sei ! Was ge-
schieilt? Die Ecksteine des Hauses treten
aus^ und die Mauern neigen sich zum
Einsturz. Aber Rabbi Josua ruft ihnen
zu; Mauern! Mauern! Wenn Schüler
der Weisen mit einander wetteifern; was
mischt Ihr euch iia den Streit? Und nun
fallen sie nicht^ aus Ehrfurcht für den ei-
nen Lehrer^ richten sich auch nicht auf,
aus Ehrfurcht für den andern: überhan-
gend bleiben sie stehen.-
So entscheide denn die Stimme Got-
tes ! ruft endlich Rabbi Elieser aus. Und
fürwahr! eine Stimme vom Himmel er-
schallt und ruft : Was streitet Ilir mit
Rabbi Elieser? Sein Ausspruch entschei-
det. — Aber Rabbi Josua fährt auf, und
ruft der Stimme entgegen : Es ist nicht
im Hiimuell *)
*) Ein Halbrers aus folgender Stelle des 5. B.
flAßßJUN'lSCHEIl VVlilöHElT.
Ojj
Rabbi Jeremia deutete diese Gegen-
rede ; Vf'^i?^ achten auf keine Stimme
des Himmels ; denn in deinem Gesetz-
buch^ auf dem Berge Sinai hast du^ Gott_,
selbst gelehrt : IVach der Stimmenmehr-
heit^ nach der Menge ;» sollst du dich
neigen.
Als nun Ptabbi Nathan den Elia *)
fand^ und diesen fragte: Lieber! was
sagte um diese Stiuide die Gottheit? da
Mose, Cap. 3o, V. n, 12t »Denn dies Gebot,
das icb dir jetzt gebe, ist dir nicht verborgen,
aucb nicht ferne. Es ist nicht im Himmel,
dafs du etwa sagen mögtesl : wer steigt für
uns in den Himmel hinauf, um es herunterzu-
•) Der Prophet Elia aus Tisbi spielt im Talmud
eine sehr wichtige Rolle. Als Vorläufer des
Messias nicht allein; sondern immer , wenn
der Wahrheit einer Sache durch Autorität noch
ein Siegel aufgedrückt werden soll, läfst der
Talmud ihn erscheinen und wieder verschwin-
den.
534 PROBEN RABBIN. WEISHEIT.
erwiederte der Prophet: Die Gottheit lä-
chelte zufrieden , und spracli : Meine
Kindfer haben obgesiegt ! Meine Kinder
haben obgesiegt !
D. Friedländer.
335
EIN UND ZWANZIGSTES STUCK.
DIE BILDSÄULE.
\\ie traurig, rief ein jimger Schüler
Bonnets ^ dafs ich immer nur die Eigen-
schaften der Seele erforschen, immer nur
in der Entwickelung ihrer Kräfte fortfah-
ren, aber nie bis zur Erkenn tnifs ihres
eigentlichen Wesens gelangen soll! Die
ausdruckliche Erklärung meines Lehrers
benimmt mir alle Hoffnung dazu; die
Mystiker, die mir ein näheres Licht ver-
sprechen, führen anich in ein noch tiefe-
res Dimkel ; und alle meine eignen Be-
mühungen, bis zum Grundwesen meiner
Seele hindurchzudringen, sind fruchtlos.
— Der Mensch, sagt man, ist nicht für
diese Erkenntnifs gemacht. — Das fühl'
53Ö DIE 13ILD8AULE.
lieh leider; aber woher denn in mir die-
ser lebendige^ ungeduldige Trieb, sie zu
haben? Woher 'in einer sonst so weislich
eingerichteten JVatur, wie die meinige,
dieser Durst, wenn nirgend eine Quelle
Hiefst^ die ihn löschen könnte? Mag mir
doch die Antwort ausbleiben, wie lange
«ie wolle ; ich werde nicht aufhören kön-
nen, mich selbst zu fragen: Wer bin ich?
J'.ch empfindende , denkende , wollende
vSeele; was für ein Wesen hab' ich? Was
ist in mir das Unbekannte, dem jene mir
bekannten Eigenschaften beiwohnen? dem
sie anhangen? in dem sie sind? —
Einst, im Morgenschlummer, bemäch-
tigte sich bei unserm jungen Denker die
Phantasie dieser Grübeleien seiner Ver-
nunft, und webte aus dem luftigen Ge-
spinnst derselben eine ganze Folge von
Phänomenen. Er sah die philosophische
Dich-
DIE BILDSÄULE. 337
Dichtung seines Lehrers realisirt : eine
belebte menschliche Bildsäule y die also
mehr als Bildsäule, die ein Mittelding
zwischen der vollkommensten Pflanze und
dem unvollkommensten Thier war. Ihre
Sinne waren noch alle gebunden; sie er-
warteten noch alle die erste üühining,
den ersten Eindruck eines Objects: sonst
waren die Nerven gespannt, die Saite in
Umlauf; der Puls schlug, und sämmtlicüe
Verrichtungen des animalischen Lebens
gingen von Statten» — Man weifs^ zu
welchem Endzweck Bonnet und sein Vor-
ganger Condillac eine solche Bildsäule
erdichteten» Sie glaubten dadurch die
Untersuchung zu simplihciren und zu er-
leichtern, wie bei Gelegenheit der sinn-
lichen Eindrücke sich nach und nach die
Kräfte unsrer Seele, entwickeln.
Die lebhafte Freude des jungen Man-
Engels Philosoph, I. 22
55S I>IE BILDSÄULE-
nes,, der auf einmal Hoffnung zur Beant-
wortung der liefsinnigsten Fragen der
Weltweisheit fafste^ läfst sich nur den-
ken. Auch jene berühmte Frage des Mo-
lyneux, die Ähnlichkeit zwischen Gefühls-
und Gesichtseindrücken betreffend^ sah
tr nun im Geist schon entschieden. —
0_, rief er aus^ wenn ich doch von der
Göttinn der Weisheit eine ähnliche Gna-
de erbitten könnte^ wie sich einst Pyg-
malion von der Göttinn der Liebe er-
bat ! Wenn sie doch die versclilofsnen
gefesselten Sinne dieser wunderbaren Bild-
säule entlösen wollte ! .... Aber das
müfste nicht zugleich^ nicht zu plötzlich
seyn, theure Göttinn^ damit ich Raum
zum Beobachten hätte. Erst müfsten die
gröbern^ dann die feinern Sinne^ und nur
allmählich ^ nur langsam ^ immer einer
nach dem andern^ entbunden werden. —
DIE BILDSÄULE. 539
Kaum war der Wunsch vollendet; so hör-
te er schon den schnaubenden AtJiein
der Bildsäule, und sah entzückt wie sie
beide Nasenflügel bewegte. Er sprang
mit der höchsten Ungeduld eines Beob-
achters in's Feilster, und pflückte aus ei-
nem kleinen dort aufgestellten Blumen-
garten eine Rose^ die noch spät neben
einer frühzeitigen Nelke blühte.
Er bot der Bildsäiüe die Rose, und
sie zog mit sicjitbarem Vergnügen den
sanften Wohlgeruch ein. Er bot ihr die
Nelke, und mit noch sichtbarerm Ver-
gnügen schlürfte sie den erquickenden
aromatischen Aushauch in sich. — Him-
mel ! wenn sie doch auch nur spräche!
rief er. Denn was hilft's mir, dafs ich
ihre innern Veränderungen iiur so im
Allgemeinen erkenne .^ Das ganz Eigne
der Empfindungen ^ der Modißcationen
34o DIE BILDSÄULE.
ihrer Seele^ mögt' ich erfahren. . . . Aber
wie sie wohl alle Gebehrden verstellen
mögte, wenn ich plötzlich ihre Empfin-
dungen abänderte und widrigen Duft auf
Wohlgeruch folgen liefse? — ,In demsel-
bigen Nu sprang er wieder ins Fenster^
um eine Todtenblume^ die er ihrer Ge-
stalt wegen gepflegt hatte, zu brechen.
Die Bildsäule, die in Erwartung neuen
Vergnügens noch immer den Athem an
sich zog, fand sich trefiich betrogen. Sie
ward nicht sobald den widrigen Eindruck
inne, als sie mit geki'äuster Nase zurück
fuhr, und aus aller Kraft ihrer Lungen
den Duft hinwegblies.
Der junge Mann war jetzt in der un-
geduldigsten Erwartung, ob nicht bald
ein neuer Sinn sich entwickeln würde.
Aber welch ein weit gröfseres und uner-
wartetes Vergnügen stand ihm bevor !
DIE BILDSÄULE. 34i
Die Bildsäule warf plötzlich ernsthafte
Falten^ wie von einem tiefen Nachden-
ken^ auf die Stirne^ und siehe! sie konn-
te reden und räsonniren. — Das waren
zwei Eindi'ücke, rief sie^ von ganz ver-
schiedner Natur. Die eine Blume dufte-
te lieblich, die andre widrig; aber ich^
die ich beide Eindrücke empfand_, ich die
Riechende, bin von beiden verschieden,,
und bin nur Eins. War' es sonst mög-
lich, dafs ich diese Eindrücke verglichen,
sie einander entgegengesetzt, geurtheilc
hätte? Wenn ich denn aber etwas An-
ders, etwas, für mich Bestehendes bin;
was bin ich ? was für ein Wesen hab*^^
ich? . . . Wie jene Blumen dufteten, weifs
ich; aber wie mag wohl ich, die empfin-
dende, die geniefs ende Blume, duften? —
Die Frage war eben so drollicht als
unerwartet, imd unser Träumer lachte
34a DIE BILDSÄULE.
laut auf. — • Gute Bildsäule ! dacht' er,
lafs nur erst deine feinern Sinne in's Spiel
kommen^ und du wirst das Alberne dei-
ner Frage schon inne werden. Genie hast
du wirklich^ und das recht viel: denn in
so kurzer Zeit und über blolse Gegen-
stände des Geruchs eine so /metaphysi-
sche Frage zu thun; beim Piaton! das ist
mehr^ als ich hoffen durfte. Aber sich
die Seele wie eine Blume^ ihr Wesen wie
einen Duft zu denken; das ist denn doch
immer sehr lächerlich! sehr possierlich!
das schmeckt noch gar sehr nach der Bild-
säule! — Während dafs er nocla sprach,
fmg eine Nachtigall;, die schon seit Wo-
chen geschwiegen hatte, noch einmal zu
schlagen an ; und ihre Töne waren so
süfs, so hinreifsend, so schmelzend. Die
Bildsäule horchte hoch auf ; denn nun
hatte sich in ihr auch der Sinn des Ge-
DIE BILDSÄULE. 343
liörs entwickelt. Alle ihre Mienen zeig-
ten Ausdruck des innigsten Wohlgefal-
lens^ lind sie rief einmal über das andere
dem kleinen Virtuosen ein Bravo ! Die
Nachtigall schwieg ; und nun kam ein
Rabe mit gelähmtem Flügel, den unser
Philosoph zu seinem Vergnügen unter-
hielt, krächzend herbei "gehüpft, als ob
er sich auch ein Bravo hätte verdienen
wollen. Die Bildsäiüe schüttelte mifsfäl-
lig den Kopf, und schien zu wünschen
dafs der heisre widerwärtige Schreier ein
Ende machte. Dann warf sie wieder ei-
ne ernste tiefe Falte -auf ihre Stirne, imd
fing von neuem an zu vernünfteln. — Das
"Waren neue und abermals sehr verschie-
dene Eindrücke, sprach sie; aber ich, die
ich sie hatte, ich blieb dieselbige, und
bin noch jetzt dieselbige, welche die ver-
schieden en Gerüche einsog. Auch bin
544 I>IE BILDSÄULE,
ich Empfindende von dem ' Empfundnen
verschieden^ bin ein Wesen für mich, und
bin Eins. Aber was ich bm, und was für
eine Natur ich iiabe ; das ist mir noch
immer ein Räthsel. Sollt' ich vielleicht
ganz unrecht gefragt haben : wie duft'
ich? und sollte vielleicht die Frage so
müssen gefafst werden: wie tön' ich? —
Herrlich verbessert ! rief unser junge
Weltweise spöttisch. Wemi sich Abge*
schmacktheit gegen Abgeschmacktheit mes-
sen liefse; so mögt' ich sagen, dafs dieso
hier noch ärger als jene wäre. Denn
Duft ist bei alle dem doch noch etwas
Reelles_, etwas für sich Bestehendes; aber
ein Ton! was ist der mehr, als blofse
Veränderung, blolse Bewegmig ? — In,
diesem Augenblick iing die Bildsäule an,
auch die Finger zu rühren, den Arm zu
bewegen, mit der Hand um sich her zu
DIE BILDSÄULE. 545
greifen. Sie konnte nunmehr auch filJv
Icn. Der Piniosoph, der — ich weifs
nicht, ob Im Cicero oder selbst im Pia-
ton — gelesen hatte, dafs unter allen Fi-
guren die Sphäre die schönste sei, legte
schnell in die offne Hand der Bildsäule
eine kleine elfenbeinerne Kugel, und es
schien als ob sie die sanften Ujnrisse mit
Wohlgefallen betastete. Er sah sich eben
nach einem eckigen unregelmäfsigen Kör-
per um, der dem Gefühle unangenehm
wäre, als er für diesmal den zweiten wi-
drigen Eindiuck unnöthig fand; denn die
Bildsäule, ohne denselben abzuwarten,
fing von neuem ihr P».äsonnement an. Sie
lachte nun selbst der Albernheit ihrer vo-
rigen Fragen. — Nicht, wie ich duftQ^
oder wie ich töne, sagte sie, mufs ich
fragen: denn das sind nur Eigenschaften,
nicht Wesen. Jetzt endlich bin ich so
346 DIE BILDSÄULE.
glücklich^ dafs ich Wesen erkenne; und
die einzige Frage^ sehe ich wohl^ die ich
mit Verstände über mich aufwerfen kann^
ist die: welche Figur icii habe? Meine
Eigenschaft ist weder Duften noch Tö-
nen, sondern Empfinden ; aber welchem
Wesen, von weicher Figur, wohnt diese
Eigenschaft bei? —
Hier erwachte der Träumer, noch eh'
er das Vergnügen genossen hatte, Ge-
sichts - mit Gefühlseindrücken vergleichen
zu hören. Er wufste erst nicht, da er
seinem Traume nachdachte, ob er mehr
lachen oder sich ärgern sollte. Wie muth-
willig, sagte er endlich, spielt doch im
Traume die Phantasie mit der Vernunft!
Welch eine schale Dichterinn ist sie, wenn
sie nicht von der letztern geführt wird,
und welch eine noch schalere Philoso-
phinn! Sprache, noch vor geöfnetem Ohr!
DIE BILDSAULE. 547
Bewufstsein gleich auf^die erste Rührung
eines der dunkelsten Sinne! Fertigkeit in
Räsonnement und Rede, noch ehe die
mindeste Übung da war ! Bildliche Aus-
drücke von Sinnen her _, die noch aller
Empfindung verschlossen waren ! Tiefe
Metaphysik über ein paar verworrne_,
armselige Geruchsideen ; . . . welch ein
Haufen von Abgeschmacktheiten, wovon
gleich die erste mich hätte wecken sol-
len! Und kann ich denn die eben so gro-
fse Abgeschmacktheit der Fragen verges-
sen, die sie über sich selbst, über ihre
Natur, ihr Wesen aufwarf? Eine Seele,
die sich fühlen, betasten läfst; eine Seele,
die eine Figur hat; wie widersinnig! . . .
obgleich immer noch weniger widersin-
nig, als eine Seele, die sich hören, die
sich durch den Geruch erkennen läfst,
die tönt imd duftet ! Denn Figur
548 1>IE .BILDSÄULE.
Hier hielt er inne, bis er nach langem
Nachsinnen fortfuhr: Nun? und was ist
denn Figur? Was hat die Frage von der
Figur der Seele für einen begreiflichen
Vorzug vor der Frage von dem Ton oder
dem Duft der Seele ? In jeder derselben
liegt die Abgeschmacktheit, das Unnsimi-
liche sinnlich erkennen, das was nur durch
inneres Bewulstsein gefatst werden kann,
der äufsern Empfindung unterwerfen zu
wollen. ist weiter unter jenen Fragen
ein Unteischied, als dafs in der einen ge-
forscht wird, wie die Seele den feinern;
jn der andern, wie sie den, gröbern Sin-
nen erscheinen würde ? Und ist das Eine
zu fragen, im Grunde nicht eben so ab-
geschmackt, als das Andre zu fragen? —
Aber woher rührte es denn, dafs es
mir gleichwohl auf den ersten flüchtigen
Anblick weniger abgeschmackt schien?
DIE BILDSÄULE. 549
Daher vermuthlich : weil wir unter den
sinnlichen Empfindungen immer die der
dunklen Sinne auf die der klarem zu-
rückzuführen, jene an diese zu knüpfen,
sie nur in diesen, als ihnen einwohnend,
als von ilmen abhängig, zu denken pfle-
gen. An Figur und Solidität, diese Phä-
nomene für Gefühl und Auge, schliefst
sich nach unsrer Vorstellungsart, alles An-
dere an, was wir von Körpern kennen.
Was tönt ? was duftet ? was schmeckt ?
So fragt alle Welt; und alle Welt glaubt
diese Fragen beantwortet, wenn eben da,
wo das Ohr hört, die Nase riecht, die
Zunge schmeckt, wenn eben da auch die
Augen sehn und die Finger tasten kön-
nen. An die sichtbare Erscheinmig des
Honigs binden wir seinen Duft, seinen
Geschmack; und die sanfte Runde seiner
Bestandtheile, die mit so leichter Beruh-
550 DIE BILDSAULE.
rung über die Nervenspitzen des Gau-
mens hinwegrollen ^ mufs für Erklärung
seiner Süfsigkeit gelten. Der Sehende
will alles auf Gesichts -, der Blinde auf
Gefühlsideen zurückbringen : und war
es denn von meiner Bildsäule so abge-
schmackt, wenn sie^ mit noch verschlofs-
nem Auge: und noch fühlloser Hand^, auf
den klarsten Sinn^ womit sie bis dahin
empfunden hatte, auf den Sinn des Ge-
liörs, zurückging? —
Dennoch; dafs sie die Innern Modifi-
cationen ihres eigentlichen Selbst, Den-
ken und Empfinden, an die Idee eines
Tons knüpfen wollte — nun freilich !
wenn diese Ungereimheit ihr zu verzei-
hen war, so ist und bleibt sie doch Un-
gereimtheit. ^ Indessen keine gröfsre, als
die : jene Modificationen an eine Figur
DIE BILDSAULE. 5oi
knüpfen^ sie als dieser einwohnend und
von ihr unzertrennlich denken zu wollen.-
Wenn es schon in der B.egion äufserer
Empfindungen Täuschung ist^ die Ideen
des einen Sinns so an die des andern zu
bangen^ und die einen als raehr substan-
tiell, mehr für sich bestehend wie die
andern zu denken; so ist es vollends gro-
be Täuschung, die Innern Wahrnehmun-
gen des unsinnlichen Selbst auf ähnliche
Art an irgend eine äufsere Wahrnehmung
gleichsam anhängen, sie in diese, als in
ihr Grundwesen, gleichsam hineinbilden
zu wollen.
Wornach aber frage denn ich, v;"enh
ich, nach erkannten Eigenschaften und
Kräften der Seele, noch immer fortfahre
nach ihrem VTesefi zu forschen? Nicht
nach ihrer Figur : das wäre zu unphilo-
35a DIE BILDSÄULE.
sophisch^ zu abgeschmackt; sondern . . .
Hier hielt er abermals iime^ schärfte den
Innern Blick^ was er konnte^ und erstaun-
te am Ende^ sich mit einer Antwort ge-
martert zu haben ^ eh' er sich noch der
Frage bewufst war. — Sollt' es denn
möglich seyn^ rief er^ dals ich im Grunde
eben so abgeschmackt und noch ein we-
nig abgeschmackter^ als meine Bildsäule^
erschiene? Denn diese, so wunderlich
ihre Fragen auch klingen mogten, wufs-
te denn doch, was sie wollte. Sollt' ich
wirklich mit diesem mir angebornen Trie-
be, alle meine andern Empfindungen auf
die klarsten zurückzuführen, sie an diese
zu knüpfen und von ihnen abhängig zu
machen; sollt' ich mit, diesem Triebe,
ohne mir's zu gestehen und ohne viel-
leicht es zu muthmafsen^ auch die Er-
schei-
DIE BILDSAULE. 353
scheinungen meines Innern Selbst^ Den-
ken;, Wollen;, Empfinden^ an die klarste
meiner Vorstellungsaiten^ an die des Ge-
sichts tmd Gefühls^, haben anknüpfen Wol-
len ? Sollt' ich eben so unphilosophisch
sinnlich, als irgend einer aus dem gemei-
nen Haufen, gleichsam gefragt haben;
wie wohl meine Seele, Wenn sie sichtbar
wäre, dem Auge erscheinen wurde? . . *
Fast mufs ich fürchten, so ist's! Denn
setzte ich nicht die Erkenntnifs des We-*
sens meiner Seele der Erkenntnifs ihrer
Eigenschaften und Kräfte entgegen? Und
was für Ursache dazu ? Was trieb mich>
aufser dieser letztern Erkenntnifs, noch
jene andre zu suchen? Warum liefs ich
die ganze Summe aller ihrer Eigenschaf-
ten und Kräfte nicht für die ganze Seele
gelten? — Wahrlich, ich fürchte: meine
Engels Philosoph, L 23
554 DIE BILDSÄULE.
1
träumende Phantasie hat meine wachen-
de Vernunft beschämt ; aber dann hätte
sie ihr zugleich einen wichtigen Dienst
gethan: sie hätte sie vor einem schimpf-
lichen Irrwege gewarnet.
Doch ich will mich nicht übereilen.
Für künftige Mufse will ich es aufsparen,
die Richtigkeit dieses Gedankens zu prü-
fen. Was mir jetzt wahr scheint, ist dies:
So weit ich in der Entwickelung der Kräf-
te und Eigenschaften der Seele kam ; eben
so weit kam ich in der Erkenntnils von
ihrem Wesen. Ich kenne noch nicht ihr
Wesen; was heifst das? Ich habe von je-
ner Entwickelung nur noch einen so dürf-
tigen Anfang gemacht. Schaute ich alle
ihre Eigenschaften luid Kräfte in ihrem in-
nigsten Zusanunenhange durch und durch,
so würde ich eben damit ihr Wesen ken-
DIE BILDSÄULE. 355
nen; denn die eine Erkenntnifs ist auch
die andre : also will ich fleifsig in der
Erforschung von jenen fortfahren^ und
eben damit werd' ich zu einer hellem
Erkenntnifs von diesem kommen.
j5b
ZWEI UND ZWANZIGSTES STÜCK.
DIE GURMETHODEN.
JJer Mensch ist von Grund aus verderbt
— sagte Diumnler, mein stiller Nachbar^,
und schlug die Augen gen Himmel. —
Da ist nichts übrige als dafs er sich selbst
ertödte ; dafs er ganz neu werde ^ eine
ganz andere Creatur.
Und was denn für eine? — schrie
Drajigsturrn, mein wilder Nachbar^ und
stemmte seine Fäuste in beide Seiten. —
Der Mensch ist gut^ wie er ist, nur dafs
er zu zahm geworden: Kopfhangen, Herr,
zeigt ein mattes Herz an, und je muthi-
ger und je unbändiger, desto gesünder!
Der stille Nachbar gab mir einen weh-
müthig freundlichöJi Blick, und der wildi^
DIE CURMETHODEN. 357
schlug mich mit der Faust auf die Schul-
ter. Beide forderten mich auf zu ent
scheiden. — Der eine^ merkt man wohl,
war ein Frömmler, der sich über den
Menschen härmt , dafs er kein reiner
Geist ist; der andre ein Kraftgenie, das
in seiner Einfalt den leidenscliaftlichsten
Menschen, dieses Ideal der Dichtkunst,
für das Ideal des wirklichen Charakters
ansieht, und uns nun im ganzen Ernst
darnach umbilden mögte.
Sie beide, fing ich an, halten den
Menschen für krank, meine Herren, und
ich denke, Sie haben Recht; aber über
die Art der Krankheit und über die Me-
thode der Cur sind Sie nicht eiiüg, und
da kann nur Einer von Ihnen Piecht ha-
ben, oder auch alle beide Unrecht. —
Ihr Streit erinnert mich an eine Geschich-
te, die ich Ihnen erzählen könnte, wenn
358 DIE CURMETHODEN.
Sie Lust hätten mich anzuhören. — Sie
waren's beide zufrieden.
In einer Stadt also — in welcher des
lieben Vaterlandes? gilt gleich — lebten
einst drei vornehnre Herren, alle drei
gl^-"ch schwach und gleich krank. Ob sie
der Ceres oder dem Bacchus oder irgend
sonst einer Gottheit zu viel geopfert hat-
ten, oder ob auch das Gift schon aus
dem Blute ihrer edlen Ahnen in sie über-
gegangen war? kann ich nicht sagen. Ge-
nug, es waren blofse Gestalten von Men-
schen. Herr von Schlaff sah aus , wie
das Fieber; Herr voti Quöch, wie die
Auszehrung; und Herr von Hemm , wie
die Schwindsucht.
In eben dieser Stadt lebten drei vor-
züglich berühmte Arzte : Doctor Si'ifs,
Doctor Mark, Doctor SijtTt. Die beiden
erstem waren nicht viel mehr als Empi-
DIE CURMETHODEN. 359
riker oder Arzte von Hörensagen _, und
hatten sehr viel zu thim ; der letztere
war ein Mann voller Einsicht, aber es
fehlte an Praxis. Doctor Si/Js galt bei
dem schönen Geschlecht und bei den
Liebhabern der alten Leier ; Doctor
Mark machte sein Gluck bei der Jugend
und bei den Bewunderern des Neuen;
Doctor Si/i7i ward von den Klugen ge-
braucht, imd ging zu Fufse ; die andern
beiden aber fuhren in Kutschen.
Herr von ScJdaff fiel durch den Rath
seiner Tanten in die Hände des Doctors
SVifs. Doctor Süfs fand in seinem Kran-
ken nichts, als scharfgewordne Säfte, die
er versüfsen, schleimichte, die er verdün-
nen, und überhaupt nichts als verdorbne,
die er früh oder spät herausschaffen
müfste. Er griff also frisch zum Werke,
versüfste, verdünnte, führte ab und aus
36p die CURMETHODEN.
durch alle Wege und Öfnungen der Na-
tur, Morgens nahm Herr von Schlaff,
auf Verordnung, eine gute Portion Man-
na; Mittags sah man ihn bei einem Töpf-
phen voll Tamarindenmufs^ und vor Schla-
fengehen nahm er Cremor mit Zucker.
Sein gewöhnliche? Getränke war Mandel-
milch, und besonders Tisane von süfsen
Hölzern. Um die heilsame Ausdünstung
zu befördern, lag er wohl zugedeckt zwi-
schen Flanmbetten ; und aus dem Zim-
mer zu kommen, war ihm bei Strafe der
Apoplexie verboten. — Ein paar Wo-
chen vergingen, so war von dem ganzen
Herrn von Schlaff nichts mehr auszufüh-
ren, als seine Seele: und auch die schick-
te der Doctor Süfs mit dem letzten Man-
natränkchen gen Himmel.
Herr von Quöch, der nun awch an-
fing auf seine Cur zu denken, liefs sich
DIE CURMETHODEN. Z^x
durch dieses Beispiel warnen^ luid setzte
sein Vertrauen auf die Methode des Doc-
tors Mark. Doctor Mark dachte an kei-
ne Reinigung seines Kranken; er schüt-
telte nur den Kopf über die Schwachheit
des Pulses^ und verordnete Stärkungsmit-
tel. Alle Morgen tauchte er ihn bis über
den Kopf in ein Stahlbad ; Quassia mit
spanischem Weine trat an die Stelle des
Thees^ und roher Schinken mit einem
Schnitte Pumpernickel an die Stelle des
Frühstücks. Hart vor dem Essen ward
ein Schluck bittrer Magenessenz genom-
men, und vor Schlafengehen verschlang
Herr von Quöch noch eine derbe Portion
China, nicht in Extract_, sondern in Sub-
stanz. Das Lager war eine harte Matraz-
ze, mit Pferdehaaren gestopft, und das
Oberbette eine ganz leichte dünne Decke,
mit Baumwolle durchnäht. Auf diese Art.
563 DIE CÜRMETHODEN.
glaubte Doctor Mark^, müfste aus seinem
Kranken^ so schwach er jetzt wäre^ noch
ein Mann wie ein Herkules werden. So
etwas ward denn auch wirklich aus ihm;
aber ein Herkules auf dem Oeta: denn
der zu gestärkte Herr von Quöch fiel
plötzlich in eine Ptaserei, worin er ein
geladenes Pistol erhaschte,, und sich über
dem rechten Auge eine Kugel durch den
Kopf schofs. — Seine China hatt' er noch
eingenommen; Emilia Galotti lag auf dem
Pulte aufgeschlagen.
Durch beide Beispiele gewitzigt^ wand-
te sich nun Herr von Hemm an den de-
müthigen Fufsgänger^ den Doctor Sinji.
Doctor Sinn sah gar bald^ wo es fehlte.
Die festen Theile^, sagte er^, sind ge-
schwächt, und die Säfte übel gemischt:
Herr von Hemm hat nur immer genos-
sen und nichts gethan ; er hat gewisse
DIE GURMETHODEN. 363
Kräfte der Natur zu viel und andre zu
wenig geübt. Ihn so auf einmal reini-
gen wollen, das hiefse bei seiner Schwach-
heit ihn über den Haufen werfen ; und
ihn unmittelbar stärken wollen^ das hiefse
bei der schlechten Beschaffenheit seiner
Säfte, das Übel noch fester binden. Ich
sehe wohl, ich mufs auf beides zugleich
bedacht seyn, und vor Allem mufs mein
Kranker sich gelinde Bewegung machen
und gute Diät halten. Jenes wird nach
und nach den geschwächten Fibern ihren
Ton, und dieses den verderbten Säften
ihre gehörige Mischung wiedergeben. —
Zum guten Glück war Herr von Hemm
seinem Arzte folgsam; er hielt die ihm
vorgeschriebene Diät, machte sich die
ihm empfohlne Bewegung : und so lebt
er noch jetzt; nicht zwai' von allen An-
fällen frei, aber im Ganzen denn doch
gesund und zufrieden. — - — »-
564 DIE CURiVIETHODEJV.
Da sieht man Gottes Gnade ! sagte
der stille Nachbar; denn der mufste doch
allein das Gedeihen geben. — Ja, das
gab er auch, sagte der välde; denn er
gab dem Doctor Verstand ins Hirn, dal's
er von keiner Ertödtung und keiner neuen
Creatur phantasirte. — So ging der alte
Streit wieder an: der eine behauptete,
dafs die Natur grund verderbt, der andre,
dafs sie sehr gut sei : jener wollte sie
nichts als reiner, dieser sie nichts als stär-
ker haben. An die Anwendung meines
Geschichtchens ward nicht gedacht; und
ich sah zu spät, dafs es gleich vergebli-
che Arbeit ist, Mohren zu waschen, und
Leute die einmal Partei genommen, auf
andre Gedanken zu bringen.
ZUSATZ.
VV as sich die Verfasser dieser Schrift
bei der Wahl des Titels gedacht haben,
das wird sich durch die Schrift selbst am
besten zeigen. — Unter einem Fhiloso^
pheriy scheinen sie überhaupt einen Mann
zu verstehen, der irgend eine zur Philo-
sophie gehörige oder philosophisch be-
handelte Wahrheit vorträgt : gleichviel
welche? oder in welcher Gestalt ? und
imter der TVelt, das ganze gemengte Pu-
blicum, wo der Eine mehr für diese, der
Andre mehr für jene Gegenstände ist,
der £ine mehr diesen, der Andre mehr
jenen Ton liebt. — Das Einzige war da-
bei zu beobachten, dafs nichts mit unter-
liefe, was für irgend einen der schon, zu
566 Z U S A T Z.
dem feinern gebildetem Theile des Pu-
blicums gehört, ganz unverständlich oder
ganz ohne Reiz wäre.
Wenn jede bessere Kritik über thea-
tralische Werke Philosophie über den
Menschen enthalten muls, so konnten die
Briefe über Eniilia Galotti hier nicht
am unrechten Platze stehen, sobald sie
nur sonst ihres Platzes werth waren.
Dieses aber schienen sie doch immer zu
seyn, und werden es vielleicht in der
Folge noch mehr scheinen, so viel auch
noch Erinnerungen und Einwendungen
Statt finden mügten. Gegen den dritten
Brief habe ich selbst eine auf meinem
Herzen , die ich mich nicht enthalten
kann herzusetzen. •
Es ist offenbar, dünkt mich, dafs der
Verfasser in dem Charakter der Emilie
einen sehr wesentlichen Zug übersehen
ZUSATZ. 3Ö7
habe. Er scheint ihre ganze anfängliche
Schüchternheit aus dem Umstände herzu-
leiten: dafs sie an heiliger Stätte in den
Verrichtungen ihrer Andacht durch etwas
so Ungeziemendes, als ein Liebesantrag,
gestört worden; und das zwar von einem
Manne, der so viel zu bedeuten hat, und
wenn er Ernst macht, so gefährlich ist,
als der Prinz. Aber eigentlich entsteht
wohl diese so grofse Schüchternheit aus
dem Bewufstsein, wie wenig sie sich selbst
bei dem Prinzen zu trauen habe. Dieses
erklärt sich schon Anfangs, ehe sie es in
der letzten Scene mit ihrem Vater ziem-
lich deutlich sagt, dmxh einige Züge, die
zwar freilich, weil sie in Emiliens eignen
Reden liegen, sehr fein sind; besonders
aber erklärt es sich, wenn man Acht giebt,
durch ihr Verhalten nach dem Tode des
Grafen, Immer ist ihr erster Gedanke
SbS ZUSATZ.
auf ihre Mutter^ der zweite auf den Gra-
fen gerichtet. Was sie für diesen em-
pfindet^ scheint mehr Hochachtung und
Freundschaft zu seyn; als Liebe; sie scheint
ihm mehr aus Gehorsam gegen den Wil-
len ihres Vaters^ als aus eigner Wahl ihre
Hand zu geben. Ihr Herz hat heimlich
der Prinz; aber sie wagt es bei ihrer Tu-
gend imd Frömmigkeit nicht, diese straf-
bare Neigung zu nähren; sie kämpft ihr
vielmehr aus allen Kräften entgegen,, und
fürchtet und vermeidet den Anblick des-
sen, der diese Neigung in ihr erweckt
hat. Eben hieraus mm erklärt sich die
Furcht vor Verführung, die Emilie in der
letzten Scene mit ihrem Vater äufsert.
Es ist völlig eben die Furcht, die sie An-
fangs, da sie den Prinzen in der Messe
sprach, luid nachher da sie ihn in Dosa-
lo
ZUSATZ. 369
lo nnvermuthet wiedersah, 50 schüchtern^
so ängstlich machte. —
Um dem Verfasser der Briefe nicht
Unrecht zu thun, will ich auch das hier
anfuhren^ was ihm zu seiner Entschuldi-
gung übrig bleibt. Die Worte der Clau-
dia im vierten Act *), kann er sagen,
haben mich bei der Beurtheilung dieses
Charakters irre geführt. Auch ist keine
Rede der Emilie, die sich nicht so ver-
stehen liefse wie ich sie verstanden habe.
Die Züge wodurch sie ihr Herz verräth,
sind zu fein, und werden zum Theil da-
durch noch zweideutiger, weil der Lieb-
haber ein Prinz ist, gegen den sie sich
aus einem weit allgemeinern Grunde so
schüchtern zeigen könnte, als weil sie
ihn liebt. Gleichwohl ist dieser Umstand
im Charakter so wichtig, und hat auf die
•) M an s. oben S. i5g.
Engels Philosohpf I. 24
S70 Z U S A T Z.
Hauptscene des Stucks einen so grofsen
Einflufs^ dafs er wohl durch mehr und
durch bestimmtere Züge hätte sollen her-
ausgehoben werden. In Nebensachen er-
läfst man dem Dichter eine zu ängstliche
Vorbereitung, eine zu umständliche Ent-
wickelung gern ; aber über einen so we-
sentlichen und zur Einsicht ins Ganze so
unentbehrlichen Punct, sollte er völlig
bestimmt seyn. Man bedenke ferner, dafs
Emilie ihren Grafen ^ als einen sehr wür-
digen Mann und als den Liebling ilires
Vaters, doch immer sehr hochachtet; dafs
er als Freund und als künftiger Gemahl,
gegen den sie wenigstens nicht den min-
desten Widerwillen, vielmehr das Gegen-
theil zu erkennen giebt, auch Antheil an
ihrer Zärtlichkeit haben mufs; dafs ihre
Liebe gegen den Prinzen eine noch ganz
unentwickelte, noch gar nicht zur Reife
ZUSATZ. 371
gediehene Leidenschaft ist ; dafs die That,
derentwegen sie ihn in Verdacht hat, auch
wenn sie einen gleichgültigem Mann be-
träfe, ihn äufserst verabscheuungs würdig
zeigt; dafs endlich die Absicht bei dieser
That, die sie nur allzuwohl verr.iuthet,
ihr die schändlichste Art von Liebe zu
erkennen giebt, die ein so frommes und
sittsames Mädchen eher empören, als ein-
nehmen kann. Sollte nicht immer der
Einwurf noch gültig bleiben, dals Emilie,
so frisch nach der Entdeckung dieser That,
an keine Möglichkeit der Verführung den-
ken dürfe? — Ich überlasse die Entschei-
dung dem Leser, wer bei diesen Grün-
den und Gegengründen das meiste Recht
haben mag; ob der Verfasser der Briefe
oder der Dichter?
n. H,
ENDE DES ERSTEN BANDES,
Berlin.
Gedruckt bei Johann Friedrich Unger.
J