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Full text of "Der Priester : seine Vergangenheit und seine Zukunft"

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http://www.archive.org/details/derpriesterseine02horn 


AUGUST  HORNEFFER 

DER  PRIESTER 

SEINE  VERGANGENHEIT 
UND  SEINE  ZUKUNFT 


ZWEITER  BAND 


VERLEGT  BEI  EUGEN  DIEDERICHS 

JENA  1912 


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DER  PRIESTER  ALS  ARZT 


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I.  DER  RELIGIÖSE  HEILBERUF  im 


Zunächst  haben  wir  zu  erklären,  inwiefern  die  ärztliche  Tätigkeit  mit  dem 
religiösen  Kult  verwandt  ist.  Für  uns  Heutige  ist  der  Zusammenhang  nicht 
ohne  weiteres  erkennbar;  denn  das  Heilen  von  Krankheiten  scheint  mit  der 
Religion  nichts  gemein  zu  haben  und  der  Arzt  steht  mit  dem  Priester  eher 
in  feindlichen  als  freundlichen  Beziehungen.  ]\Iedizin  und  Theologie,  Kran- 
kenhaus und  Gotteshaus,  Therapie  und  Zauberkult  —  wie  reimt  sich  das 
zusammen?  Aber  bei  genauer  Prüfung  ist  der  Zusammenhang  auch  heute 
noch  zu  erkennen.  Am  Krankenbett  der  Christen  w-eilt  noch  immer  neben 
dem  Arzt  der  Priester ;  noch  immer  verabreicht  man  den  christlichen  Kran- 
ken neben  den  natürlichen  Heilmitteln  auch  religiöse  Mittel.  Noch  immer 
gilt  Gott  als  Ursache  mancher  oder  aller  Krankheiten ;  infolgedessen  ist  Gott 
auch  der  geeignetste  Helfer,  der  beste  Arzt ;  man  muß  ihn  bitten  und  über- 
reden, die  von  ihm  verhängte  Krankheit  wieder  zu  beseitigen.  Was  wird  die 
Aufgabe  des  ärztlichen  Fachmannes  sein?  Doch  nur,  die  Krankheit  als 
solche  festzustellen  und  allenfalls  noch  den  Heilvorgang,  der  durch  religiöse 
Mittel  bewirkt  wird,  zu  beobachten  und  zu  unterstützen.  Wenn  Gott  nicht 
will,  kann  alle  ärztliche  Kunst  nichts  ausrichten. 

Wer  bringt  aber  Gott  dahin,  daß  er  will?  Natürlich  sein  Vertrauter  und 
Vertreter.  Der  Kranke  muß  sich  an  den  Priester  wenden  und  ihn  ersuchen, 
die  Vermittlung  zwischen  ihm  und  dem  himmlischen  Krankheitsbringer  und 
Krankheitsvertreiber  zu  übernehmen.  Den  beabsichtigten  Zweck,  Gott  in 
Aktion  zu  setzen,  erreicht  der  Priester  auf  zweierlei  Weise.  Erstens  wirkt  er 
auf  den  Kranken  ein,  um  ihn  der  gnädigen  Hilfe  Gottes  w^ürdig  zu  machen. 
Die  Krankheit  ist  als  Strafe  für  ein  Vergehen  von  Gott  geschickt  worden, 
oder  sie  soll  eine  Prüfung,  ein  Aufmerksamkeitsbeweis  sein.  In  beiden  Fällen 
hat  der  Priester  zunächst  die  Aufgabe,  dem  Kranken  dieses  Entweder-Oder 
klarzulegen,  ihn  zum  Bewußtsein  seiner  Sünden  zu  bringen  und  ihn  zu 
völliger  und  ruhiger  Ergebung  in  Gottes  Willen  zu  ermahnen.  Er  muß  in 
dem  Kranken  Bußfertigkeit  und  Gottvertrauen  erwecken;  das  ist  die  Vor- 
bedingung des  religiösen  Heilverfahrens.  Dann  kommt  zweitens  die  Ein- 
wirkung des  Priesters  auf  Gott.  Das  Heilverfahren  besteht  in  der  dringenden 
Aufforderung  an  Gott,  dem  Kranken  sein  Leiden  abzunehmen.  Der  Priester 
betet  also,  vielleicht  in  Gemeinschaft  mit  dem  Kranken  und  seiner  Familie ; 
er  versichert  Gott,  daß  der  Kranke  wohl  vorbereitet  sei,  die  Gnade  würdig 
zu  empfangen  und  wendet  alle  ihm  bekannten  Mittel,  Gott  zu  beeinflussen 
und  zu  erweichen,  an.  Im  Grunde  wird  also  von  dem  Priester  Gott  als  Arzt 


herbeigerufen.  Der  Priester  will  nicht  eigentlich  selber  Arzt  sein.  Seiner 
Meinung  nach  ist  menschliches  Wissen  und  Können  Stückwerk  und  wahre 
Hilfe  nur  von  Gott  zu  erwarten. 

Die  Tätigkeit  des  Priesters  am  Krankenbett  ist  eine  Art  Gottesdienst,  eine 
Kulthandlung.  Denn  worin  besteht  ein  gottesdienstlicher  Kult  ?  Darin,  daß 
die  Gottheit  herbeigerufen  und  zu  Eingriffen  in  den  Lauf  der  Dinge  veran- 
laßt wird.  Der  Priester  vermittelt  dabei.  Die  Anlässe,  solche  Kulthand- 
lungen vorzunehmen,  sind,  wie  wir  gesehen  haben,  sehr  verschieden;  es  ist 
aber  nicht  überraschend,  daß  Krankheitsfälle  einen  besonders  dringenden 
und  häufigen  Anlaß  bilden.  In  Krankheit  und  Ungemach  tritt  der  Wunsch, 
sich  mit  der  Gottheit  in  Verbindung  zu  setzen  und  sie  um  Hilfe  anzugehen, 
am  stärksten  hervor.  Der  Kranke  verlangt  nach  dem  Priester  und  der  Prie- 
ster kommt,  um  mit  Gottes  Hilfe  Heilung  zu  erzielen. 

Wenn  der  Mensch  seine  Kräfte  erlahmen,  sein  Blut  stocken  fühlt,  wenn 
Wunden  und  Schmerzen  ihn  zu  Boden  werfen,  dann  entfällt  ihm  der  Mut, 
die  Welt  wird  trübe;  er  jammert  und  ruft  nach  Rettung  und  Hilfe.  Er  ver- 
sinkt in  religiöse  Stimmungen,  er  gibt  sich  in  die  Hände  des  Geister  bezwin- 
genden Medizinmannes.  Von  jeher  sind  die  Kranken  die  religiös  Bedürftig- 
sten gewesen.  Zeiten  schwerer  Seuchen  und  lähmender  Krankheiten  sind 
stets  goldene  Zeiten  für  den  Priester  gewesen.  Einen  guten  Teil  seines  Ein- 
flusses auf  die  Menschheit  hat  der  Priester  am  Krankenbett  errungen ;  denn 
am  Krankenbett  war  er  der  Starke,  der  Gebietende  und  Beschenkende.  Dort 
fand  er  die  Menschen  gefügig,  konnte  alles  von  ihnen  erreichen,  was  er  wollte, 
konnte  ihnen  ohne  Mühe  die  priesterliche  Denk-  und  Gefühlswelt  aufzwingen 
und  den  Glauben  an  des  Priesters  übernatürliche  Macht  tief  in  die  geäng- 
stigten Seelen  senken. 

Es  ist  also  recht  gut  verständlich,  daß  der  Priesterberuf  mit  dem  ärztlichen 
Beruf  in  nahem  Zusammenhang  steht  und  lange  Zeit  hindurch  mit  ihm  zu- 
sammenfiel. Und  zwar  ist  es  der  Privatpriester,  nicht  der  öffentliche  Priester, 
der  sich  vorwiegend  mit  der  Krankenheilung  abgibt.  Der  Auftrag  zur  ärzt- 
lichen Tätigkeit  geht  in  der  Regel  nicht  von  der  Gemeinde  aus,  sondern  von 
den  Einzelnen,  die  der  Hilfe  bedürfen.  Die  Gemeinde  als  solche  pflegte  sich 
in  früheren  Zeiten  nicht  viel  um  das  Wohlbefinden  oder  Übelbefinden  ihrer 
einzelnen  Mitglieder  zu  kümmern.  Ihre  und  ihres  Gemeindepriesters  Auf- 
gabe ist,  für  die  Gesamtheit  zu  sorgen.  Zu  diesem  Zweck  werden  die  von 
uns  beschriebenen  Kultfeiern  begangen,  es  finden  die  Gemeindeopfer  und 
Gemeindegottesdienste  statt.  Der  Priester  sorgt  für  günstige  Witterungs- 
verhältnisse, für  das  Reifen  der  Feld-  und  Baumfrüchte,  für  den  günstigen 
Ausgang  von  Kriegen  und  von  anderen  gemeinsamen  Unternehmungen, 
kurz,  für  das  allgemeine  Gedeihen  des  Verbandes.  Die  Behandlung  der  ein- 


zelnen  Kranken  dagegen  fällt  nicht  der  Gemeinde  und  ihrem  priesterlichen 
Vertreter  zu.  Wenn  der  Priester  sich  damit  abgibt,  so  ist  es  sein  Privat- 
unternehmen, und  die  Kuren,  die  er  anwendet,  gehören  zu  den  ,, Zauber- 
mitteln des  Einzellebens",  die  wir  im  vorigen  Kapitel  besprochen  haben, 
nicht  zum  ,, Gemeindekult".  Trotzdem  können  natürlich  der  Gemeinde- 
priester und  der  Priesterarzt  eine  Person  sein,  wie  wir  es  in  der  Tat  oft 
genug  finden.  Der  Gemeindepriester  treibt  ja  auch  die  anderen  priester- 
lichen Privatberufe  und  setzt  seinen  Ehrgeiz  darein,  das  Privatpriestertum 
zu  ersetzen  und  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Vollständig  ist  ihm  das  jedoch 
niemals  gelungen  und  zeitweise  hat  ihm  gerade  das  ärztliche  Privatpriester- 
tum, indem  es  sich  ihm  als  selbständigen  Beruf  entgegenstellte,  viel  zu 
schaffen  gemacht. 

Im  ganzen  hat  die  ärztUche  Tät'gkeit  das  stärkste  Verbindungsmittel 
zwischen  öffentlicher  und  privater  Priestertätigkeit  gebildet.  Die  Kranken- 
heilung hat  die  ,, Religion"  und  die  , .Zauberei"  am  festesten  aneinander  ge- 
kettet. Es  läßt  sich  begreifen,  daß  der  Gemeindepriester  wenn  irgendmöglich 
an  dem  Heil  beruf  festhielt;  einmal  wurde  er  sehr  dringend  darum  ange- 
gangen und  dann  konnte  er  wie  gesagt  die  Gemeindeglieder  durch  nichts 
so  tief  und  nachhaltig  beeinflussen  wie  durch  die  Einwirkung  im  leidenden 
und  geschwächten  Zustande.  Er  wollte  die  Bundesdämonen  und  Staats- 
götter auch  am  Krankenbett  zu  Ehren  bringen  und  die  bösen  Privatgeister 
auch  aus  den  Schlupfwinkeln  der  Krankenstube  vertreiben.  Er  suchte  daher 
die  Heilkunst  seines  privatpriesterlichen  Konkurrenten  zu  verdächtigen  und 
als  böse  Zauberei  in  Verachtung  zu  bringen,  suchte  dagegen  in  seinen  eigenen 
ärztlichen  Bemühungen  die  höhere  religiöse  Auffassung,  die  er  selber  ver- 
trat, zur  Geltung  kommen  zu  lassen.  ,,Ich  heile  mit  Hilfe  der  guten  Götter," 
erklärte  er,  ,,der  Privatpriester  heilt  mit  Hilfe  der  bösartigen  Naturgeister 
und  anderer  gefährlicher  Mächte!  Kommt  daher  zu  mir,  ihr  Kranken  und 
Beladenen;  vertraut  euch  meinen  bewährten  Kult-  und  Gnadenmitteln  an; 
werdet  frommer  und  besser!  Mißtraut  den  Künsten  und  Lockungen  der 
Zauberer,  die  euere  Seele  verderben,  selbst  wenn  sie  eueren  Leib  gesund 
machen." 

Die  Heilweise  des  Gemeindepriesters  wird  daher  geistiger  und  im  engeren 
Sinne  religiöser  sein  als  die  des  Privatpriesters.  Der  christliche  Priester  be- 
schränkt sich  als  Arzt  darauf,  die  Hilfe  der  Gottheit  und  der  heiligen  Für- 
sprecher anzurufen  und  den  Kranken  zu  bekehren.  Diese  Beschränkung  hat 
nun  den  Übelstand,  daß  sie  den  Erfolg  in  Frage  stellt.  Je  mehr  sich  der  ärzt- 
liche Gemeindepriester  auf  die  Trost-  und  Heilmittel  seiner  Religion  zurück- 
zieht, um  so  unbefriedigender  wird  seine  Heiltätigkeit  werden.  Der  Kranke 
wird  sich  nach  anderweitiger  Hilfe  umsehen  und  den  Privatpriester,  den 

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bösen  und  gottlosen,  aber  klugen  und  kühnen  Zauberer  herbeirufen.  Der 
Privatpriester  verfügt  über  eine  größere  Zahl  von  Heilmitteln,  weil  er 
religiös  nicht  so  gebunden  ist  wie  der  Gemeindepriester.  Er  kann  sich  mit 
den  verschiedenen  Geistern  einlassen  und  nach  immer  neuen  und  wirk- 
sameren Waffen  gegen  die  Krankheiten  suchen.  Er  wendet  sich  mehr  und 
mehr  der  vernünftigen  körperlichen  Behandlung  der  Krankheitszustände  zu, 
er  sammelt  Erfahrungen,  macht  wissenschaftliche  Versuche  und  verwandelt 
sich  allgemach  in  einen  forschenden  Gelehrten  und  gewiegten  Praktiker. 
Aus  dem  zaubernden  Privatpriester  wird  ein  Arzt. 

An  der  Entwicklung  der  wissenschaftlichen  Medizin  hat  aber  neben  dem 
Privatpriester  auch  das  Gemeindepriestertum  hie  und  da  Anteil  gehabt.  Da 
der  öffentlichen  Priesterschaft  soviel  daran  liegen  mußte,  sich  nicht  von 
den  Zauberern  aus  der  Krankenstube  verdrängen  zu  lassen,  bildete  sie  auch 
ihrerseits  ein  ärztliches  Spezialistentum  aus.  In  der  organisierten  Priester- 
schaft war  ja  die  Arbeitsteilung  mit  Erfolg  eingeführt  worden;  und  wie  man 
Opferspezialisten,  Berufssänger  usw.  hatte,  widmete  sich  nun  auch  eine 
priesterliche  Gruppe  eingehenden  medizinischen  Studien.  Innerhalb  der 
orientalischen  und  der  griechischen  Priesterorganisationen  z.  B.  gab  es  be- 
rufsmäßige Priesterärzte.  Indessen  konnten  diese  Priesterärzte  nicht  recht 
zur  wissenschaftlichen  Heilkunde  durchdringen,  weil  die  Grundsätze  der 
Priesterorganisationen  mit  den  wissenschaftlichen  Grundsätzen  schlecht  ver- 
einbar waren.  Außerdem  drängte  die  religiöse  Entwicklung  des  Altertums 
immer  weiter  von  den  Dingen  ab,  auf  deren  gründlichem  Studium  sich  die 
Medizin  aufbaut.  Die  Religion  begann  den  Körper  und  alles  Sinnlich-Natür- 
liche gering  zu  schätzen  und  ihre  Blicke  in  eine  andere,  eine  wahre  Welt  zu 
richten.  Mit  dieser  wahren  Welt  wußte  aber  die  ärztliche  Kunst  nicht  viel 
anzufangen.  Man  half  sich  wohl  so,  daß  die  Priesterärzte  nur  die  vornehmen, 
nämlich  die  seelischen  Krankheiten  behandelten  und  die  übrigen  auf  sich 
beruhen  ließen  oder  den  verachteten  Privatpriestern  übergaben.  Die  religiös- 
philosophische Heilmethode,  zu  der  sich  die  Gemeindepriester  nur  bereit 
fanden,  versprach  bei  äußeren  und  organischen  Krankheiten  wenig,  bei 
inneren  und  funktionellen  Krankheiten  viel  Erfolg.  Die  christlichen  Priester 
haben  bei  ihrer  ärztlichen  Tätigkeit  stets  die  letzteren  Krankheiten  bevor- 
zugt oder  sich  ganz  auf  sie  beschränkt.  Mit  Wunden  und  Verletzungen  aller- 
art  gaben  sie  sich  gar  nicht  oder  nur  ungern  ab.  Anatomische  und  physio- 
logische Studien  hatten  keinen  Reiz  für  sie.  Sie  beschmutzten  nicht  gern 
ihre  Finger.  Die  Chirurgie  blieb  fast  bis  ins  vorige  Jahrhundert  hinein  Sache 
der  Bader,  der  Feldscherer,  der  wandernden  Volksärzte  und  anderer  zweifel- 
hafter Berufe,  die  sämtlich  aus  der  alten  Zauberwerkstatt  des  Privatpriesters 
hervorgegangen  sind. 

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Der  Priester  der  höheren  Rehgionen  dachte  an  das  Heil  der  Seele,  nicht 
an  das  Heil  des  Leibes.  Irdische  Leiden  und  Kümmemisse  achtete  er  gering ; 
der  Friede  mit  Gott  war  das  Ziel  seines  Lebens  und  also  auch  das  Ziel  seiner 
Therapeutik.  In  diesem  Punkte  stimmt  der  Buddhismus  ganz  mit  dem 
Christentum  überein  und  auch  im  Islam  klingen  ähnliche  Töne  an.  Wie  soll 
bei  dieser  Anschauung  die  Medizin  gedeihen !  Hatte  doch  der  Priester  sogar 
entdeckt,  daß  ein  kranker  und  ruinierter  Leib,  ein  Leib  dem  das  Auge  aus- 
gerissen, die  Hand  verstümmelt  ist,  besser  für  das  Reich  Gottes  tauge  als 
ein  gesunder  und  blühender  Leib.  Je  schwächer  der  Leib,  um  so  freier  und 
frommer  werde  die  Seele;  denn  der  Seele  gelinge  es  weit  besser,  über  die 
Triebe  und  Begierden,  die  Leiden  und  Schmerzen  eines  geschwächten  Kör- 
pers Herr  zu  werden,  als  über  die  eines  starken  und  fordernden  Körpers. 
Wenn  der  Priester  daher  Kranke  heilte,  war  sein  Hauptaugenmerk  nicht 
auf  die  Beseitigung  der  körperlichen  Störungen  und  Schmerzen  gerichtet. 
Er  wollte  auf  die  Seele  des  Kranken  einwirken,  damit  die  Seele  ihrerseits 
den  Leib  zur  Ruhe  bringen  und  in  seine  Knechtspflichten  zurückweisen 
sollte.  Er  stärkte  also  den  Kranken  mit  himmlischer  Kost,  erfüllte  ihn  mit 
Glauben  und  Vertrauen,  lenkte  ihn  von  der  Beachtung  der  Leiden  ab.  Wir 
nennen  diese  Kur  heute  die  psychotherapeutische  und  denken  nicht  daran, 
ihr  die  Berechtigung  abzusprechen ;  die  Psychotherapie  hat  mehr  Menschen 
gesund  gemacht  als  die  medikamentöse.  Aber  die  priesterliche  Psychotherapie 
hat  auch  viel  Schaden  angerichtet  und  durch  einseitige  und  unverständige 
Anwendung  geradezu  verheerend  gewirkt.  Diese  priesterhchen  Heilkünstler 
waren  beinahe  stolz  darauf,  daß  sie  die  leibhchen  Vorgänge  nicht  emstnah- 
men  und  sich  mit  der  Natur  so  wenig  als  möglich  abgaben.  Was  über  den 
Menschen  wissenswert  schien,  lernte  man  aus  dem  Aristoteles.  Man  dachte 
aber  nicht  daran,  im  Geiste  des  Aristoteles  weiterzuarbeiten.  Aristoteles  und 
die  ganze  antike  Wissenschaft  war  von  der  priesterhchen  Abneigung  gegen 
das  Natürliche  und  Leibliche  sehr  weit  entfernt  gewesen.  Die  Medizin  hatte 
im  Altertum  bereits  eine  achtenswerte  Höhe  erreicht  und  war  über  die  kritik- 
lose Anwendung  des  psychotherapeutischen  Verfahrens  längst  hinausge- 
wachsen. 

Als  die  Neuzeit  anbrach,  kam  auch  für  die  Medizin  eine  Wiedergeburt. 
Die  wissenschaftliche  Forschung  und  die  einfache  Empirie  arbeiteten  Hand 
in  Hand  an  der  Fortführung  des  von  den  Griechen  begonnenen  Baues,  und 
die  christliche  Heilkunst  mußte  Schritt  für  Schritt  zurückweichen.  Die  Welt 
lächelte,  wenn  der  Priester  seine  medizinische  Philosophie  hervorholte  und 
dabei  büeb,  daß  es  nur  zwei  Arten  von  Heilkunst  gäbe :  die  Heilkunst  Gottes 
und  die  Heilkunst  des  Teufels;  jene  werde  von  ihm,  diese  von  den  Hexen 
und  Zauberern  betrieben. 

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Wenn  der  heutige  Berufspriester  sich  medizinisch  betätigt,  so  ist  er  in  den 
meisten  Fällen  ein  Kurpfuscher.  Er  versäumt  es,  sich  die  nötige  wissen- 
schaftliche Vorbildung  anzueignen  und  wandelt  auf  den  in  der  Medizin  so 
angenehmen  und  verführerischen  Wegen  des  Dilettantismus.  Unter  unseren 
kurierenden  Pfarrern  finden  sich  Vertreter  fast  aller  veralteten  Heilsysteme. 
Der  eine  heilt  durch  Handauflegen,  Beten  und  Salben,  ein  anderer  empfiehlt 
Lourdeswasser,  ein  dritter  ist  Homöopath,  ein  vierter  ist  ein  Freund  der 
Naturheilkunde  oder  ein  Erneuerer  anderer  Heilweisen.  Wir  können  auf  dem 
Gebiet  der  Medizin  bestätigt  sehen,  was  wir  über  das  Gemeindepriestertum 
und  seine  Entwicklung  im  allgemeinen  festgestellt  haben:  der  Gemeinde- 
priester wird  durch  seine  bevorzugte  Stellung  als  Beauftragter  und  Vertreter 
der  Gesamtheit  anfangs  hoch  über  den  geistigen  Standpunkt  des  Privat- 
priesters hinausgeführt;  er  ist  der  Gebildete,  Unterrichtete,  Leitende,  der 
Privatpriester  der  Zurückgebliebene,  Kleinliche,  Egoistische.  Allgemach  aber 
kehrt  sich  das  Verhältnis  um ;  der  Gemeindepriester  bleibt  zurück,  weil  er  an 
den  überlieferten  geistigen  Gütern  festhält  und  jede  Mehrung  und  Änderung 
des  Kulturbesitzes  als  Abfall  und  Gottlosigkeit  verwirft.  Der  Fortschritt  voll- 
zieht sich  daher  ohne  sein  Zutun  und  gegen  seinen  Willen.  Die  Privatpriester 
imd  ihre  Nachkommen  (Arzt,  Prophet,  Künstler,  Wissenschaftler)  über- 
nehmen die  geistige  Führung,  drängen  die  Gemeindepriesterschaft  beiseite, 
und  schließlich  steht  der  einstige  Zauberer  als  ein  redlicher  aufopferungs- 
freudiger Kulturträger  vor  uns,  während  der  einst  vornehme  Priester  zum 
dürftigen  Pfuscher,  zum  abergläubischen  Krankheitsbeschwörer  oder  gar 
zum  spekulierenden  Betrüger  herabsinkt. 

Die  Wissenschaft,  zumal  die  Medizin  mit  ihren  Hilfswissenschaften  ist  also, 
um  es  noch  einmal  hervorzuheben,  in  erster  Linie  eine  Errungenschaft  des 
Privatpriestertums.  Das  öffentliche  Priestertum  hat  wohl  mitgewirkt,  hat 
namentlich  die  Psychologie  und  Psychotherapie  gefördert,  aber  es  fehlte 
ihm  niu:  zu  oft  an  jenen  Grundvoraussetzungen  wissenschaftHcher  Siege :  an 
der  Freiheit  und  an  der  Liebe  zum  Leben. 

Wenn  wir  die  heilkundigen  Personen  vergangener  Zeiten  an  unserem  Auge 
vorüberziehen  lassen,  so  fallen  uns  drei  privatpriesterHche  Typen  besonders 
auf:  erstens  der  Schmied,  zweitens  der  Henker,  drittens  die  alte  Frau.  Die 
letztere,  das  Medizinweib,  treibt  ihr  ärztliches  Handwerk  noch  im  heutigen 
Europa  fort;  der  Schmied  und  der  Henker  haben  es  aufgegeben.  Wie  der 
Schmied  eigentlich  zur  ärztlichen  Tätigkeit  gekommen  ist,  läßt  sich  nicht 
leicht  sagen.  Allem  Anschein  nach  hat  das  Sehmiedegewerbe  für  die  primi- 
tive Menschheit  etwas  Unheimliches  gehabt.  Die  Eisenbearbeitung  trat 
überall  als  eine  umwälzende  Neuerung  in  die  einfachen  Kulturen  ein.  Die 
Wirkung  der  eisernen  Werkzeuge  schien  dämonischer  Art  zu  sein  und  wer 


sie  herstellte,  mußte  unbedingt  über  Zauberkünste  und  über  die  Hilfe  un- 
bekannter Dämonen  verfügen.  Das  Hantieren  mit  dem  Feuer  und  das  Aus- 
sehen des  berußten  Hexenmeisters  trug  ebenfalls  dazu  bei,  den  Schmied  in 
den  Ruf  besonderer  Fähigkeiten  zu  bringen.  In  manchen  Teilen  Afrikas 
leben  die  Schmiede  von  dem  übrigen  Volke  abgesondert.  Sie  werden  gemie- 
den, verachtet,  gefürchtet.  Auch  in  anderen  Weltgegenden  hält  man  sie  für 
zauberkundig,  hütet  sich  vor  ihnen,  sucht  aber  in  Notfällen  ihre  Hilfe  auf. 
Die  Schmiede  üben  ärztliche  Praxis  aus  und  sind  im  Besitze  heilkräftiger 
Geheimnisse.  Mythen  und  Sagen  berichten  sehr  viel  darüber  (vgl.  Andree 
in  den  Ethnographischen  Parallelen).  Sie  %vußten  auch  Mittel,  das  Vieh  zu 
behexen  und  behextes  Vieh  wieder  gesund  zu  machen.  Das  Hufeisen,  das 
der  Schmied  herstellte,  hatte  wie  die  übrigen  Eisengeräte  magische  Eigen- 
schaften. Bis  zum  heutigen  Tage  wird  das  Hufeisen  verwendet,  um  bösen 
Geistern  den  Eintritt  ins  Haus  zu  verwehren  und  gute  hereinzurufen.  Lanzen 
und  Pfeile,  die  der  Schmied  mit  eisernen  Spitzen  versieht,  haben  ebenfalls 
die  doppelte  Eigenschaft,  Wunden  zu  schlagen  und  zu  heilen.  Das  khngt 
noch  in  der  christlichen  Sage  von  der  heihgen  Lanze  nach,  bei  deren  Be- 
rührung sich  eine  unheilbare  Wunde  schließt. 

Auch  der  Henker  heilt  mit  Hilfe  der  Zauberkraft  seiner  Erzeugnisse  oder 
vielmehr  der  Erzeugnisse  seiner  Tätigkeit.  Die  Reste  der  Hingerichteten 
haben  nämlich  medizinischen  Wert.  Blut,  Haare,  Fingergheder  und  andere 
Reste  hingerichteter  Verbrecher  waren  bei  der  kranken  Menschheit  sehr  be- 
gehrt ;  man  konnte  sich  durch  sie  auch  gegen  künftige  Krankheiten  schützen 
und  konnte  sie,  wenn  man  sie  bei  sich  trug,  als  Amulette  gegen  den  bösen 
Blick  und  andere  Gefahren  verwerten.  Wie  sich  dieser  Glaube  erklärt,  haben 
wir  im  vorigen  Kapitel  dargelegt.  Das  ganze  Amulettwesen  steht  mit  dem 
ärztlichen  Kampf  gegen  die  Krankheit  im  engsten  Zusammenhang.  Die 
Teile  von  Menschen  galten,  Nvie  wir  sahen,  hauptsächlich  deshalb  für  kräf- 
tige Schutz-  und  Heilmittel,  weil  in  diesen  Körperabfällen  die  seelische  Kraft 
sitzt.  Aus  demselben  Grunde  wurden  im  Mittelalter  die  ägyptischen  Mumien 
zu  Arzneimitteln  verarbeitet.  Man  bereitete  ein  Pulver  aus  ihnen  und  ganz 
Europa  zählte  dieses  Mumienpulver  unter  seine  wertvollsten  Heilschätze. 
Bei  den  Hingerichteten  kam  dazu  noch  die  alte  religiöse  Vorstellung,  daß 
die  Hinrichtung  ein  Opfer  und  der  Geopferte  ein  Sinnbild  und  Vertreter  der 
Gottheit  sei.  Wenn  diese  Vorstellung  auch  längst  verblaßt  und  vöUig  ver- 
gessen war,  wirkte  sie  doch  immer  noch  nach;  sie  verlieh  den  Resten  der 
Hingerichteten  und  Ermordeten  einen  geheimnisvollen  Nimbus  und  dem 
Henker  Zauberer-  und  Arztwürde.  In  den  ältesten  Zeiten  lag  das  Henkeramt 
in  den  Händen  des  Vertreters  der  Rehgion,  also  des  Priesters  und  Häupt- 
lings, und  bis  zum  heutigen  Tage  haben  die  Reliquien  der  götthchen  und 

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heiligen  Personen,  der  Märtyrer  und  Heroen  heilende  Kraft.  Der  Priester 
hält  diese  Gegenstände  in  Verwahrung  und  zeigt  sie  bei  festlichen  Gelegen- 
heiten den  Kranken  und  Hilfsbedürftigen  vor,  damit  sie  ihre  wunderbare 
medizinische  Kraft  entfalten.  Ebenso  also  wie  man  sich  an  den  Priester  wendet 
und  ihn  um  Reliquien,  Kleider  und  andere  heilige  Gegenstände  bittet, 
wandten  sich  die  Kranken  auch  an  den  Henker  und  ließen  sich  von  ihm  die 
Reste  der  Gerichteten  geben.  Man  glaubte  den  Henker  auch  im  Besitz 
anderer  ärztlicher  Schätze  und  suchte  geheimnisvolle  Kenntnisse  bei  ihm. 
War  doch  sein  Handwerk  nicht  weniger  unheimlich  als  das  des  Schmieds 
und  des  Priesters. 

Das  Medizinweib  ist  oft  zugleich  Hebamme  und  Wahrsagerin.  Schon  bei 
den  Naturvölkern  sind  weibliche  Ärzte  keine  Seltenheit.  Sie  genießen  mit- 
unter das  größte  Ansehen.  Das  überrascht  uns  nicht;  denn  zur  Ausübung 
des  ärztlichen  Berufes,  wie  man  ihn  in  früheren  Zeiten  auffaßte,  eignet  sich 
die  Frau  in  hervorragendem  Grade.  Sie  ist  nicht  nur  eine  sorgliche  Pflegerin 
mit  geschickten  Händen,  sondern  auch  eine  Vertraute  der  Dämonen  und 
geheimen  Mächte.  Sie  besitzt  auch  zauberhafte  Arzneimittel,  z.  B.  das  Men- 
strualblut,  die  Nachgeburt,  die  Nabelschnur.  Überhaupt  ist  die  Frau  die 
geborene  Privatpriesterin.  Sie  wirkt  im  Stillen,  lebt  für  den  kleineren  Kreis 
ihrer  Blutsverwandten  und  Nachkommen,  wehrt  sich  gegen  den  Staat,  gegen 
den  pohtisch  und  rehgiös  organisierten  Männerbund.  Solange  die  Welt  steht, 
hat  es  die  Frau  immer  mit  älteren  und  engeren  religiösen  Idealen  gehalten 
und  gegen  die  Gemeindereligion  höherer  Art  konspiriert.  Zumal,  wenn  die 
Frau  altert,  hält  sie  an  dem  Kulturbesitz  einer  überwundenen  Vergangenheit 
fest  und  wird  mißtrauisch  gegen  die  Neuerungen  des  jungen  Geschlechts. 
Das  zieht  ihr  natürlich  den  Haß  der  Jugend  zu;  sie  wird  zur  ,,Hexe".  Wenn 
alles  gut  geht  und  die  Kultur  in  frischem  Eroberungsdrange  vorwärtsstrebt, 
läßt  man  diese  Hexen  und  ihre  Warnungen  unbeachtet.  Aber  wenn  böse 
Zeiten  kommen,  wenn  Krankheit  und  Ungemach  den  Mut  der  Siegesfrohen 
brechen,  gewinnt  die  ,,Alte"  an  Ansehen.  Man  braucht  sie,  sucht  sie  auf 
und  segnet  sie,  Sie  ist  dann  die  ,, weise  Frau",  von  der  man  sich  Rat  holt, 
die  kluge  Ärztin,  deren  altererbte  Heilmittel  man  sich  gerne  gefallen  läßt. 
Stets  haben  die  Hexen  ärztliche  Praxis  ausgeübt.  Es  tat  ihrem  medizinischen 
Ruf  keinen  Abbruch,  daß  sie  auch  Krankheiten  erregen  und  anderen  Scha- 
den anzurichten  vermochten.  Im  Gegenteil,  die  Furcht  vor  den  gefährlichen 
dämonischen  Kräften,  über  die  sie  geboten,  vermehrte  ihren  Ruf  nur.  Dämo- 
nische Kraft  war  es  ja,  was  man  in  erster  Linie  von  dem  Arzt  verlangte, 
mindestens,  daß  er  mit  solchen  Wesen  in  Beziehung  stehe.  Wenn  unsere 
Voreltern  zum  Arzt  gingen,  wendeten  sie  sich  nicht  eigentlich  an  eine  ge- 
lehrte und  erfahrene  Persönlichkeit,  sondern  an  einen  Zauberer,  der  seine 


Zauberkraft  in  Tätigkeit  setzen  und  seine  Geister  zur  Bekämpfung  der  Krank- 
heit aufbieten  sollte. 

Die  Hexe  war  Priesterin,  wenn  sie  Kranke  heilte,  ebenso  wie  der  ans  Kran- 
kenbett gerufene  Pfarrer.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  daß  die  Hilfsgeister 
der  Hexe  böse  sind,  d.  h.  der  bestehenden  Gemeindereligion  feindlich  gesinnt 
und  aus  einer  älteren  Religionsauffassung  herstammend,  während  der  Pfarrer 
die  guten  Geister  der  anerkannten  Gemeindereligion  zur  Verfügung  hat  und 
mit  ihrer  Hilfe  seine  ärztlichen  Wirkungen  erzielt.  Nun  ist  es  aber  sehr  wohl 
verständlich,  daß  der  Kranke  oft  die  Geister  der  Hexe,  will  sagen  die  Hilfe 
des  Privatpriestertums  den  guten  Heilgöttern  des  Gemeindepriesters  vor- 
zieht. Der  Mensch  wendet  sich  in  Krankheits-  und  Unglücksfällen  mit  Vor- 
liebe an  fremde,  unheimliche,  aus  grauer  Vergangenheit  stammende  Hilfs- 
kräfte. Warum  ?  Weil  durch  die  Krankheit  das  Vertrauen  zu  den  gewohnten 
Göttern  und  Lebensschätzen  erschüttert  ist.  Offenbar  haben  diese  Götter 
das  Unglück  nicht  fernhalten  können  oder  wollen !  Da  diese  trübselige  Be- 
trachtung aber  dem  Menschen  nicht  viel  hilft,  so  schließt  er  weiter,  daß  nur 
fremde  und  besondere  Mächte  ihm  helfen  könnten,  und  kommt  so  zur  Her- 
beirufung böser  Geister  und  zur  Anwendung  ,, unheiliger"  Kuren:  ,,Da  mir 
Gott  nicht  hilft,  muß  mir  der  Teufel  helfen!"  Ich  glaube,  daß  unzählige 
Kranke  mit  diesem  verzweifelten  Gedanken  den  Zauberarzt  oder  die  Zauber- 
ärztin herbeigeholt  haben.  Noch  heute  wird  mancher  fromme  Christ,  man- 
cher Berufspriester,  wenn  er  bei  eintretender  Krankheit  den  —  nur  zu  oft 
,, ungläubigen"  —  Arzt  rufen  läßt,  das  unangenehme  Gefühl  dabei  haben, 
daß  er  sich  einer  unheimlichen,  widergöttlichen  Macht  in  die  Hände  liefere 
und  seinem  Christentum  nicht  ganz  die  Treue  wahre. 

Die  weiblichen  Ärzte  wurden,  wie  sich  leicht  begreifen  läßt,  vor  allem  von 
den  Frauen  in  Anspruch  genommen.  Einmal  sind  die  Frauen  natürliche  Bun- 
desgenossinnen und  treten,  wo  sich  eine  geschlossene  Kultur  der  Männer 
entwickelt,  sogar  in  ausgesprochenen  Gegensatz  zu  den  Männern,  obwohl 
sich  dieser  Gegensatz  natürlich  in  gewissen  Grenzen  hält.  Zweitens  aber  sind 
die  Frauen  durch  ihr  Schicksal  und  durch  die  Vorgänge  des  weiblichen 
Lebens  miteinander  verbunden  und  auf  gegenseitige  Hilfe  angewiesen.  Das 
gilt  besonders  für  die  Geburtshilfe.  Wo  regelrechte  Geburtshilfe  geleistet 
wird  —  bei  den  Naturvölkern  fehlt  sie  oft,  vgl.  Ploss-Bartels  :  Das  Weib 
in  Natur  und  Völkerkunde  — ,  liegt  sie  meist  in  den  Händen  der  Frau.  Bis 
zum  heutigen  Tage  ist  das  der  Fall.  Hatte  sich  erst  ein  Berufsstand  für  die 
Geburtshilfe  ausgebildet,  so  pflegten  die  Geburtshelferinnen  ihre  Tätigkeit 
auch  auf  verwandte  Gebiete  auszudehnen.  Z.  B.  wußten  die  Wehemütter 
Rat  und  Hilfe,  um  die  unerwünschte  Frucht  abzutreiben;  sie  hatten  Mittel 
gegen  die  Empfängnis  bereit  und  widmeten  sich  auch  wohl  dem  Engelmachen. 

lO 


Diese  bedenklichen  medizinischen  Künste  hatten  bei  vielen  Völkern  eine 
religiöse  Seite,  sowie  das  ganze  ärztliche  und  hygienische  Wesen.  Der 
Wunsch,  den  Kindersegen  zu  beschränken  oder  ganz  ohne  Leibesnach- 
kommen zu  bleiben,  wurde  nicht  selten  religiös  begründet;  z.  B.  gebot  die 
reHgiöse  Sitte,  daß  gewisse  Frauen  oder  Familien  ganz  oder  zeitweilig  auf 
Kinder  verzichteten,  ohne  daß  ihnen  der  Geschlechtsverkehr  versagt  wurde. 
Und  zur  Erreichung  dieses  Zwecks  bedienten  sich  die  hilfreichen  Ärzte  bei- 
derlei Geschlechts  religiöser  Mittel,  suchten  z.  B.  die  Geister,  die  den  Kindes- 
keim in  die  Frau  gelegt  hatten,  zu  bewegen,  ihn  wieder  hinauszubefördern. 
Doch  wurden  neben  den  übernatürlichen  auch  sehr  natürliche  Mittel  zur 
Beseitigung  der  Leibesfrucht  angewendet:  Arzneien  und  manuelle  Mittel. 

Häufiger  und  erfreulicher  ist  die  entgegengesetzte  Bemühung  des  weib- 
lichen und  männlichen  Arztes:  unfruchtbare  Frauen  fruchtbar  zu  machen. 
Das  natürliche  Verlangen  des  Menschen  ist  auf  Nachkommenschaft  gerichtet 
und  dies  Verlangen  \^alrde  bei  den  meisten  Völkern  noch  durch  die  religiösen 
Vorstellungen  und  Sitten  unterstützt :  ohne  Kinder  kein  Glück,  ohne  Nach- 
kommen keine  Hilfe  im  Alter,  kein  Kult  nach  dem  Tode,  kein  Gedeihen  der 
Gesamtheit.  Fast  überall  galt  und  gilt  Kinderreichtum  als  Segen  der  Gott- 
heit und  als  Gewähr  politisch-wirtschaftlicher  Kraft.  Daher  waren  die  un- 
fruchtbaren Frauen  übel  daran;  sie  mußten  die  allgemeine  Verachtung  tra- 
gen ;  die  Männer  durften  sich  von  einer  unfruchtbaren  Frau  meist  ohne  wei- 
teres scheiden  lassen.  Kein  Wunder,  daß  diese  kein  Mittel  unversucht  ließ, 
das  Übel  zu  beseitigen,  daß  sie  gute  Geister  und  wenn  das  nicht  half,  böse 
Geister  anflehte,  den  Fluch  von  ihr  zu  nehmen.  Die  ältere  Medizin  weist 
eine  Fülle  von  Mitteln  gegen  die  Unfruchtbarkeit  auf.  Die  Medizinweiber, 
die  Zauberärzte  und  Priester  hatten  kaum  ein  wichtigeres  und  einträglicheres 
Geschäft,  als  den  verschlossenen  Leib  kinderloser  Frauen  zu  öffnen.  Ein 
großer  Teil  der  Hochzeitsbräuche  zielte,  wie  früher  erwähnt,  darauf,  die 
Braut  zu  segnen,  d.  h.  sie  zu  befruchten;  auch  das  vielbesprochene  jus 
primae  noctis  beruht  wahrscheinlich  auf  dem  Glauben,  daß  die  beginnende 
Ehe  durch  den  Priester  oder  Häupthng  fruchtbar  gemacht  werden  müßte. 
Die  Persönhchkeit,  die  mit  der  Braut  den  Zauberbeischlaf  vollzieht,  vertritt 
ganz  deuthch  die  Stelle  der  Gottheit,  sodaß  also  die  Gottheit  das  neuver- 
mählte Paar  befruchtete.  Wenn  die  Ehe  trotzdem  kinderlos  blieb,  so  wandte 
man  andere  Mittel  an,  um  die  widerwilligen  Fruchtbarkeitsgeister  zur  Be- 
fruchtung herbeizuziehen  und  die  störenden  Dämonen,  die  keine  Befruch- 
timg zustande  kommen  lassen  wollten,  fortzuscheuchen.  Das  geschah  durch 
Beschwörungen  allerart,  ferner  durch  beischlafähnliche  Handlungen,  sym- 
bolische Befruchtungen,  Obszönitäten  und  viele  andere  Zaubermittel. 

So  ist  denn  das  ärztliche  Personal  der  älteren  zaubergläubigen  Mensch- 

II 


heit  ziemlich  bunt  gemischt.  Es  besteht  aus  den  verachtetsten  und  den  ver- 
ehrtesten Mitgliedern  des  Volkes.  Der  bettelnde  Gaukler,  der  Schmied,  die 
Hexe  gehören  dem  ärztUchen  Stande  nicht  minder  an  als  der  vornehme 
Priester,  der  König,  ja  die  Gottheit  selber.  Jesus  Christus,  der  Sohn  Gottes, 
war  in  erster  Linie  ein  Heiland  im  wörtlichen  Sinne,  d.  h.  ein  Heilender, 
ein  Arzt.  Und  wie  die  heiligen  und  göttlichen  Personen  Ärzte  sind,  so  sind 
alle  mit  göttlicher  Substanz  erfüllten  Gegenstände  und  Geräte  Heiltümer 
im  wörtlichen  Sinne,  d.  h.  medizinische  Mittel.  Wie  die  Apostel  und  Pro- 
pheten, die  Heiligen,  die  Kaiser  und  Könige  Krankheiten  geheilt  und  Krüp- 
peln ihre  gerade  Gestalt  gegeben  haben,  so  sind  durch  die  Berührung  oder 
den  Genuß  heiliger  Dinge  alle  menschlichen  Gebrechen  geheilt,  alle  Schmer- 
zen, Nöte  und  Drangsale  beseitigt  worden.  Es  kam  also  der  kranken  Mensch- 
heit lediglich  darauf  an,  die  göttlichen  Personen  herbeizurufen  und  zur  Be- 
tätigung ihrer  heilenden  Kraft  zu  veranlassen,  zweitens  darauf,  die  gotter- 
füllten Gegenstände  herbeizuschaffen  und  auf  die  richtige  Art  zur  medizi- 
nischen Wirksamkeit  zu  bringen.  Wer  war  es  nun,  der  zu  diesem  und  jenem 
helfen  und  raten  konnte?  Doch  derjenige,  der  mit  göttlichen  Personen  in 
engem  Verkehr  steht  und  die  gotterfüllten  Gegenstände  in  Besitz  hat ;  noch 
mehr  derjenige,  der  selber  über  göttliche  Kräfte  verfügt  und  selber  ein  gott- 
erfüllter Gegenstand  ist.  Der  Dämonische  allein  kann  Arzt  sein,  der  Geistige 
und  Geistliche  allein  ist  imstande,  den  Kampf  mit  den  Krankheiten  sieg- 
reich durchzukämpfen.  Wer  nicht  dämonisch  ist,  wer  nicht  in  irgendeiner 
Weise  mit  der  Zauberwelt,  der  religiösen  Welt  im  weitesten  Sinne  verbunden 
ist,  eignet  sich  nach  Meinung  unserer  Ahnen  nicht  zur  Ausübung  des  ärzt- 
lichen Berufes. 


iPi     2.  DER  RELIGIÖSE  KRANKHEITSBEGRIFF     i^| 


Man  sieht  schon  hieraus,  daß  die  frühere  Menschheit  über  das  Wesen  und 
die  Ursachen  der  Krankheiten  etwas  anderer  Ansicht  war  als  wir  Heutigen. 
Die  Krankheit  war  etwas  Zauberhaftes;  die  Krankheitskunde  (Pathologie) 
gehörte  zum  Bereich  der  Dämonologie.  Die  Erfahrung  schien  es  so  deutlich 
zu  bestätigen:  wenn  den  gesunden  frischen  Menschen  plötzlich  die  Kraft 
verließ,  wenn  Schmerzen  ihn  quälten  und  das  Fieber  ihn  schüttelte  — - 
mußte  dabei  nicht  ein  Zauber  im  Spiel  sein  ?  Mußte  nicht  irgendwoher,  aus 
der  Luft  oder  aus  dem  Wasser,  von  Pflanzen,  Tieren  oder  Menschen  her 
dem  Erkrankten  etwas  Schädliches  angeflogen  sein?  Und  wie  hatte  man 
sich  diese  schädliche,  krankmachende  Substanz  vorzustellen?  Es  gab  ver- 
schiedene Arten,  sich  von  ihr  und  dem  durch  sie  verursachten  Krankheits- 
12 


Vorgang  ein  Bild  zu  machen.  Z.  B.  konnte  sie  ein  lebendes  Wesen,  ein  Ideines 
Tier,  eine  Art  Dämon  sein,  der  in  den  Leib  hineinkroch  und  den  Kranken  im 
Magen  oder  wo  der  Schmerz  sonst  saß,  zwickte;  oder  sie  konnte  ein  lebloser 
Gegenstand,  ein  Stein  oder  ein  Stückchen  Holz  sein,  das  durch  fremde  Zau- 
bermanipulationen in  den  Kranken  hineinbefördert  worden  war;  oder  diese 
fremde  Zauberkraft  konnte  aus  der  Ferne  wirken,  ohne  sich  eines  körper- 
lichen Übertragungsmittels  zu  bedienen;  ein  Geist  oder  ein  feindlicher 
Mensch  konnte  dem  Kranken  auf  geheimnisvolle  Weise  die  Kraft  entzogen, 
die  Seele  entwendet  haben,  konnte  durch  Beschwörungen  und  Blicke  die 
Krankheit  angehext  haben.  Wir  haben  zahlreiche  Zeugnisse,  daß  aUe  diese 
Vorstellungen  lebendig  gewesen  und  der  wirklichen  Therapie  zugrunde  ge- 
legt worden  sind.  Näheres  findet  man  in  den  Arbeiten  der  medizinischen 
Historiker  und  Ethnologen  (vgl.  namenthch  Bartels,  Die  Medizin  der 
Naturvölker,  ferner  die  vorzüglichen  Arbeiten  von  Höfler  und  vielen 
anderen  Forschern;  die  volkskundlichen  Zeitschriften  bringen  Einzelheiten 
in  Fülle). 

Man  darf  nicht  erwarten,  daß  die  Anschauungen  über  das  Wesen  der  Krank- 
heit von  den  zaubergläubigen  Völkern  in  ein  System  gebracht  worden  sind. 
So  wenig  einheitlich  und  logisch  durchdacht  die  Mythologie  und  das  son- 
stige Zauberwesen  ist,  so  wenig  ist  es  auch  auf  medizinischem  Gebiet  ge- 
lungen, folgerichtige  Theorien  über  die  Krankheit  und  ihre  Bekämpfung 
aufzustellen  und  auszubauen.  Nicht  einmal  darüber  sind  sich  die  vergan- 
genen und  heutigen  Völker  der  dämonologischen  Kulturstufe  klar  geworden, 
ob  die  Krankheit  immer  und  ausschließlich  zauberhaften  Ursprungs  ist,  oder 
ob  es  auch  ,, natürliche"  Krankheiten  gibt.  Bei  Verwundungen  im  Kriege 
und  anderen  äußeren  Verletzungen  drängte  sich  der  natürliche  Ursprung 
so  unzweideutig  auf,  daß  man  sich  wohl  damit  abfinden  mußte.  Jedoch 
wurde  dann  nicht  selten  der  Akt  des  Verwundens  selber  als  ein  zauberhaftes 
Geschehnis  aufgefaßt  und  in  den  Waffen  und  verletzenden  Gegenständen 
schien  sich  etwas  Dämonisches  zu  verbergen. 

Noch  mehr  schwankten  die  Ansichten  über  die  Wirkungsweise  des  Zaubers 
bei  den  verschiedenen  Einzelkrankheiten  und  die  Verknüpfung  zauberhafter 
Einwirkungen  mit  natürhchen.  Der  Medizinmann  dachte  sich  die  Sache  bald 
so,  bald  anders ;  er  fand  immer  neue  Krankheitserreger  heraus  und  niemand 
hinderte  ihn,  sich  den  Zusammenhang  seiner  Wahnideen  zurechtzulegen,  wie 
er  wollte.  Zwei  Erfahrungen  waren  es  hauptsächlich,  auf  denen  der  ärztliche 
Priester  aufbaute:  erstens  die,  daß  der  menschliche  Körper  von  außen  her 
günstig  und  ungünstig  beeinflußt  wird,  daß  z.  B.  der  Genuß  mancher 
Pflanzen  ihn  sättigt,  der  Genuß  anderer  ihn  rauschartig  erhebt,  andere  wie- 
derum ihm  Schmerzen  oder  Tod  bringen,  daß  auch  die  Temperatur  und  andere 

13 


willkürlich  erzeugte  oder  unbeabsichtigt  erlittene  Einwirkungen  von  außen 
ihn  krank  oder  gesund,  schwach  oder  stark  machen ;  zweitens  schien  die  Er- 
falu-ung  deutlich  zu  lehren,  daß  der  Mensch  aus  Leib  und  Seele  besteht, 
die  aufeinander  wirken  können,  daß  die  Seele  den  Leib  belebt  und  regiert, 
ihn  aber  auch  verlassen  kann.  Dies  Verlassen  kann  vorübergehend  oder 
dauernd  sein.  Im  zweiten  Falle  verwest  der  Leib,  im  ersten  ist  er  nur  krank 
oder  schlafend.  Es  kann,  während  die  Seele  anderswo  weilt  und  der  Mensch  also 
,, außer  sich"  ist,  ein  fremder  Geist  in  den  Leib  einkehren ;  dann  ist  der  Mensch 
,, besessen".  Die  Besessenheit  braucht  sich  nicht  auf  die  ganze  Persönlichkeit 
zu  erstrecken  wie  bei  vielen  Geisteskrankheiten ;  auch  der  körperlich  Kranke, 
dem  nur  ein  Organ  den  Dienst  versagt,  nur  ein  Glied  Schmerzen  verursacht, 
ist  besessen  von  einem  Krankheitsgeist  und  verlassen  von  der  Organseele„ 
die  sonst  in  dem  betreffenden  Körperteil  wohnt.  Der  Mensch  hat  nämlich  nach 
der  Meinung  vieler  Völker  nicht  nur  eine  allgemeine,  sondern  auch  Teilseelen. 
Die  beiden  Erfahrungen  des  heilbedürftigen  Kranken  und  heilbeflissenen 
Arztes  wurden  in  gleicher  Weise  dem  religiösen  Zauberglauben  dienstbar 
gemacht.  Was  den  Pflanzen  ihre  günstige  oder  ungünstige  Wirkung  verlieh, 
waren  ihre  Zaubereigenschaften;  Gifte  und  Heilkräuter  waren  dämonische 
Kräfte.  Ebenso  wurden  auch  die  anderen  Einflüsse  von  außen  im  Sinne  eines 
zauberhaften  und  seelischen  Wirkens  aufgefaßt.  In  den  Mittelpunkt  der  gan- 
zen Krankheitslehre  trat  der  Begriff  der  Besessenheit.  Nicht  bloß  Geistes- 
kranke gelten  für  besessen,  sondern,  wie  ich  eben  sagte,  auch  organisch  Er- 
krankte. Die  besitznehmenden  und  krankmachenden  Substanzen  wurden 
sehr  häufig  als  bestimmte  unterscheidbare  Wesen  gedacht.  Den  verschie- 
denen Krankheiten  teilte  man  verschiedene  Krankheitsdämonen  zu,  erfand 
für  dieselben  eine  Fülle  von  Namen  (z.  B.  im  alten  Babylon),  rief  sie  in 
Krankheitsfällen  an,  bildete  sie  zu  therapeutischen  Zwecken  ab.  Meist  gab 
man  den  Krankheitsdämonen  eine  scheußliche  Gestalt,  ein  verzerrtes  Ge- 
sicht ;  das  Körperglied,  das  sie  krank  zu  machen  pflegten,  trat  auffällig  her- 
vor. Sie  hausten  irgendwo  im  Walde,  an  unheimlichen  Orten;  man  mußte 
sich  hüten,  in  ihre  Nähe  zu  kommen  oder  mußte  sich  mit  schützenden  Amu- 
letten versehen,  mußte  Gegenzauber  anwenden,  um  die  lauernden  Geister 
abzuhalten.  Sie  konnten  sich  winzig  klein  machen,  um  in  den  Körper  zu 
gelangen,  konnten  die  Gestalt  von  Würmern,  Maden,  Ungeziefer  usw.  an- 
nehmen. Die  von  der  modernen  Wissenschaft  entdeckten  Mikroben  sind  in 
den  Krankheitsgeistern  der  Vergangenheit  vorausgeahnt.  Es  leuchtet  ohne 
weiteres  ein,  daß  der  Glaube  an  die  Krankheitsdämonen  sich  an  ganz  richtige 
Beobachtungen  anlehnte.  Nur  drückte  man  sich  falsch  aus  und  stellte  sich 
den  Hergang  und  die  Wirkung  der  Schädlinge  gröber  vor  als  wir  Heutigen 
auf  Grund  der  mikroskopischen  Forschungen. 

14 


Als  die  höheren  religiösen  Vorstellungen  zur  Herrschaft  kamen,  konnten 
die  Grundsätze  der  Zauber-  und  Dämonenmedizin  nicht  unbeeinflußt  von 
ihnen  bleiben.  Die  edleren  und  schöneren  Geister  beschnitten  den  mißgün- 
stigen und  kleinhchen  Krankheitsdämonen  ihre  Macht  über  die  geplagte 
Menschheit,  Mit  anderen  Worten :  Der  Mensch  erkannte,  daß  sein  Wohl  und 
Wehe  nicht  bloß  von  den  unmittelbaren  körperlichen  Einwirkungen  der  Um- 
welt abhing,  sondern  von  größeren  und  geistigeren  Gewalten.  Er  glaubte  also 
den  Krankheiten  eine  tiefere  Bedeutung  zusprechen  zu  müssen  und  faßte 
sie  nunmehr  als  Schickungen  der  Ahnengeister,  der  Naturdämonen,  der 
Stammesgötter  auf.  Während  die  alten  Krankheitsgeister  den  Menschen  ohne 
weiteren  Grund  anfielen,  weil  das  nun  einmal  ihre  Art  war,  hatten  die 
höheren  religiösen  Wesen  stets  ihre  Gründe,  wenn  sie  die  Menschen  mit 
Krankheit  schlugen.  Sie  fühlten  sich  beleidigt  oder  vernachlässigt  und  räch- 
ten sich  dafür  durch  die  Krankheit.  Hier  waren  zwei  verschiedene  Auffas- 
sungen möglich,  deren  Gegensatz  für  die  weitere  Krankheits-  und  Heilkunde 
von  großer  Bedeutung  wurde.  Entweder  kam  die  Krankheit  von  solchen 
Mächten,  die  den  Menschen  im  ganzen  wohlgesinnt  waren,  sodaß  die  Krank- 
heit nur  ein  energischer  Wink  war,  die  Pflichten  gegen  Gott  und  Menschheit 
besser  zu  erfüllen.  Oder  die  Krankheit  ging  von  feindlichen  flächten  aus, 
die  man  weder  gewinnen  konnte  noch  wollte,  gegen  die  man  also  die  Hilfe 
der  guten  Götter  und  die  eigene  Widerstandskraft  aufbieten  mußte. 

Wurde  der  Priesterarzt  zu  einem  Kranken  gerufen,  so  bestand  seine  dia- 
gnostische Aufgabe  also  wesentlich  darin,  zu  entscheiden,  ob  gute  oder  böse 
Mächte  die  Krankheit  geschickt  hatten.  Er  konnte  diagnostizieren:  unser 
Stammesgott,  mein  oder  des  Kranken  Schutz-  und  Geschlechtsgeist  ist  Ur- 
sache der  Krankheit ;  oder  ein  fremder  Geist,  den  wir  nicht  kennen,  der  uns 
verfolgt,  ist  Ursache.  Danach  ergriff  der  Priesterarzt  dann  seine  Maßregeln. 
Im  ersten  Falle  riet  er  natürlich  dazu,  sich  dem  Krankheitserreger  zu  unter- 
werfen und  das  gestörte  Freundschaftsverhältnis  zu  dem  vertrauten  Geiste 
videder  herzustellen.  Er  vertrat  auch  meist  die  Überzeugung,  daß  die  Krank- 
heit verdient  sei;  denn  wie  wir  früher  erkannten,  stellen  sich  die  höherent- 
wickelten Völker  ihre  Götter  nicht  bloß  mächtig  und  unwiderstehlich,  son- 
dern auch  gerecht  und  weise  vor.  Dagegen  gelten  die  fremden  und  feindlichen 
Götter  meist  als  ungerechte  und  bösartige,  wenn  auch  mächtige  Wesen. 
Ganz  natürlich;  denn  da  man  ihnen  keinen  Kult  widmet,  hat  man  nichts 
Gutes  von  ihnen  zu  erw^arten  und  die  Stimmung,  die  man  ihnen  gegenüber 
hat,  überträgt  man  auf  ihren  Charakter.  Sie  schicken  daher  die  unverdienten 
Krankheiten  und  lassen  z.  B.  ihren  Zorn  gegen  ganze  Stämme  durch  ver- 
heerende Seuchen  aus.  Dieser  feindseligen  ungerechten  Tätigkeit  pflegen 
sich  auch  die  Götter  der  unterworfenen  Stämme  hinzugeben,  unter  denen  die 

15 


herrschenden  leben.  Dadurch,  daß  diese  unterjochten  Götter  keinen  Kult 
mehr  erhalten,  werden  sie  böse  und  rachsüchtig.  Ihre  verlassenen  Kult- 
stätten werden  zu  gefährlichen  Krankheitsherden,  die  man  meidet,  wie  wir 
heute  sumpfige  Gegenden  meiden.  Manchmal  sinken  derartige  Götter  auch 
zu  niederen  Krankheitsdämonen  herab:  sie  lauem  dem  Vorübergehenden 
auf  und  fallen  ihn  an.  Ebenso  werden  mitunter  die  Ahnengeister,  die  ja 
meist  mit  den  Naturgeistern  in  enger  Verbindung  stehen,  zumal  die  stam- 
mesfremden Toten  und  die  nicht  richtig  Bestatteten,  zu  Gespenstern  und 
gefährlichen  Krankheitsträgern.  Sie  halten  sich  in  der  Nähe  der  Begräbnis- 
oder Todesstätte  auf,  gehen  aber  auch  in  die  Häuser,  legen  sich  als  Alp  auf 
die  Schlafenden,  saugen  ihnen  als  Vampyr  das  Blut  aus. 

Der  Kranke  stellt  sich  meistens  jene  diagnostische  Frage:  ob  seine  Krank- 
heit von  guten  oder  bösen  Mächten  verursacht  sein  mag,  meist  sofort,  ehe 
er  noch  den  Arzt  zu  Rate  gezogen  hat;  ja  er  entschließt  sich,  wenn  er  das 
letztere  annimmt,  oft  nicht  dazu,  den  Priester  der  guten  Geister  zu  rufen, 
sondern  wendet  sich  an  den  bösen  Zauberer,  weil  derselbe  mit  den  feind- 
lichen Dämonen  und  Gespenstern  auf  besserem  Fuße  steht  als  jener.  Die 
erstere  Annahme,  daß  nämlich  die  guten  und  vertrauten  Götter  die  Krank- 
heit geschickt  haben,  bringt  gewisse  Verlegenheiten  mit  sich.  Der  Priester 
erklärt  solche  Krankheiten  für  wohlverdient,  für  Aufforderungen  zur  Buße 
und  Einkehr,  insofern  auch  für  Gnadenbeweise  und  Liebesversicherungen 
der  Gottheit.  Er  versichert  dem  Kranken,  daß  er  sich  im  Grunde  über  seine 
Krankheit  freuen,  sie  in  frommer  Hingebung  tragen  und  als  ein  Gut  in 
Ehren  halten  müsse.  Diese  Betrachtungsweise  ist  nun  aber  nicht  jedermanns 
Sache,  sie  trägt  den  Stempel  priesterlicher  Herkunft  deutlich  an  der  Stirne 
und  kann  sich  nur  unter  gewissen  Umständen  die  Zustimmung  weiter  Volks- 
kreise erringen.  An  und  für  sich  zweifelt  ein  normaler  Mensch  keinen  Augen- 
blick daran,  daß  die  Krankheit  kein  Gut,  sondern  ein  Übel  ist,  daß  man  sie 
daher  so  bald  und  so  gründlich  wie  möglich  abschütteln  müsse.  Der  Priester 
dagegen  kam  infolge  seiner  Naturanlage  und  seiner  Berufspflichten  dahin, 
einige  Krankheitszustände  zu  lieben  und  aufzusuchen.  Er  wurde  durch 
Krankheit  nicht  berufsuntüchtiger,  nicht  unglücklicher,  sondern  wurde  gött- 
licher, tiefer,  freier,  weiser.  Mit  den  Schwäche-  und  Schmerzzuständen  waren 
Erhebungen  und  Erleuchtungen  verknüpft,  daher  zog  er  den  leicht  begreif- 
hchen  Schluß,  daß  auch  die  unangenehmen  Ursachen  dieser  erwünschten  Zu- 
stände etwas  Gutes  sein  müßten.  Auch  die  körperlichen  Unlustgefühle,  die 
Schmerzen  und  Übelkeiten  aller art,  die  der  rausch-  oder  traumartigen  Ver- 
göttlichung vorangingen,  zur  Seite  gingen,  nachlolgten,  mußten  Geschenke 
der  Gottheit  sein,  auf  die  der  Besitzer  stolz  zu  sein,  Ursache  hatte.  Und  da 
der  ,,  Wille  zur  Krankheit"  nicht  bloß  im  Priester,  sondern  in  allen  Menschen 

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lebt,  gelang  es  dem  Priester,  auch  die  Gemeinde  zu  dieser  Anschauung  zu 
bekehren  und  sie  mit  der  Krankheit  als  einer  Himmelsgabe  auszusöhnen. 

Indessen  war  diese  Anschauung  doch  zu  unnatürlich,  als  daß  sie  ohne 
Widerspruch  hätte  bleiben  können.  Die  Störungen  und  Hemmungen  dräng- 
ten sich  so  gebieterisch  als  das,  was  sie  waren,  auf,  nämlich  als  unerträgliche 
Übel,  daß  der  Priester  selber  bedenklich  wurde,  wenn  er  sie  verteidigen  und 
verherrlichen  wollte.  Es  war  leicht,  das  Unangenehme  gut,  das  Zerstörende 
göttlich  zu  nennen,  aber  schwer,  dem  Leidenden  diese  Paradoxe  als  Wahr- 
heiten fühlbar  zu  machen.  Auch  für  seine  eigene  Person  gelang  es  dem  Prie- 
ster nur  zeitweilig,  an  diesen  Paradoxen  festzuhalten.  Er  mochte  noch  so 
fromm  sein:  eines  Tages  verfluchte  er  doch  seine  Krankheit  und  sein  Un 
gemach  wie  der  fromme  Hiob.  Er  mochte  der  charaktervollste  Stoiker  sein : 
mitunter  mußte  seine  Überzeugung,  daß  Krankheiten  und  andere  Wider- 
wärtigkeiten für  den  Weisen  keine  Übel  seien,  doch  der  harten  Wirklichkeit 
weichen.  Wir  wollen  trotzdem  nicht  verkennen,  daß  in  dem  priesterlich- 
stoischen  Glauben  etwas  Großartiges  und  im  ethischen  Sinne  Berechtigtes 
liegt.  Er  gibt  dem  menschlichen  Streben,  daß  der  Geist  Herr  über  den  Körper 
sein  soll,  greifbaren  Ausdruck;  er  entspringt  einem  inneren  Kraft-  und 
Glücksgefühl,  das  sich  in  die  Lebensführung  und  die  religiös-philosophische 
Gedankenbildung  überträgt.  Die  in  Gott  glücklichen  Priesternaturen  wie 
etwa  Franz  von  Assisi  sind  so  davon  durchdrungen,  daß  Gott  gut  und  mäch- 
tig ist,  daß  sie  jedes  Schicksal  als  etwas  Gutes  und  Erfreuliches  hinnehmen; 
da  sie  in  Gottes  Hand  stehen,  kann  ihnen  nichts  Böses  widerfahren  und  alles 
scheinbare  Unglück  muß  verkapptes  Glück  sein:  auf  der  Leiter  der  schein- 
baren Übel  stiegen  sie  zur  himmlischen  Vollkommenheit  und  Glückseligkeit 
empor.  Bei  den  Stoikern  ist  die  Stimmung  wesentlich  gedämpfter.  Sie  fühlen 
sich  nicht  in  der  Hand  eines  gütigen  mächtigen  Wesens,  sondern  hüllen  sich 
in  den  Mantel  der  gefaßten  Würde.  Sie  suchen  ihre  Empfindungsfähigkeit 
möglichst  zu  schwächen,  ihre  Widerstandskraft  möghchst  zu  stärken  und 
machen  sich  von  den  Mächten  in  oder  über  der  Welt  möglichst  unabhängig. 

Aber  wie  gesagt,  diese  an  sich  verehrungswürdige  Haltung  gegenüber  den 
Übeln,  die  den  Menschen  heimsuchen,  läßt  sich  nicht  dauernd  behaupten, 
weil  die  menschliche  Natur  zu  lauten  Widerspruch  dagegen  erhebt.  Die 
Fragen:  Was  bedeutet  die  Krankheit?  Was  will  sie  von  mir?  Wie  begegne 
ich  ihr?  —  treten  neu  und  fordernd  vor  jeden  hin,  der  von  einer  ernstlichen 
Kranldieit  ergriffen  wird.  Und  immer  sagt  ihm  dann  sein  Gefühl,  daß  die 
Krankheit  ein  Übel  sei  und  möglichst  bald  wieder  vertrieben  werden  müsse. 
Vor  diesem  Gefühl  des  Gemarterten  und  Geschwächten  verwehen  alle  reli- 
giösen und  philosophischen  Theorien.  Siechtum,  Alter,  Schwäche,  Todes- 
angst sind  Erfahrungen,  die  jedes  Zeitalter,  jedes  Geschlecht,  jeder  einzelne 

2  Horneffer,  Der  Priester  II  I^ 


Mensch  als  etwas  durchaus  Neues  und  Erklärung  Heischendes  macht.  Daher 
sind  diese  Erfahrungen  so  oft  der  Anlaß  zu  religiösen  Krisen  und  der  Aus- 
gangspunkt für  religiöse  Neubildungen  gewesen.  Denn  dem  Kranken  und 
dem,  der  den  Tod  aus  der  Nähe  kennen  lernt,  wird  das  Leben  zu  einer  neuen 
Offenbarung.  Alle  angelernten  Meinungen,  alle  von  der  älteren  Generation 
überkommenen  Lehren  sinken  vor  diesen  Erlebnissen  in  sich  zusammen. 

Uns  Heutigen  bietet  sich  der  scheinbar  selbstverständliche  Ausweg  dar, 
daß  wir  den  Zusammenhang  der  Krankheiten  mit  der  Religion  und  der  gött- 
lichen Weltregierung  einfach  leugnen.  Die  Krankheit,  sagen  wir,  ist  ein 
natürlicher  Vorgang,  bei  dem  weder  Gott  noch  der  Teufel  beteiligt  ist.  Wir 
nennen  es  Aberglauben  und  Anmaßung,  das  All  mit  unseren  Zahnschmerzen 
und  unserem  Rheumatismus  in  Beziehung  zu  bringen.  Diese  Anschauung 
ist  vernünftig,  widerstreitet  aber  der  christlichen  Lehre  durchaus.  Nach  aus- 
drückhcher  Versicherung  der  Bibel  zählt  Gott  die  Haare  auf  unserem  Haupt 
und  schickt  uns  Krankheit  oder  Tod.  Wie  kann  es  für  einen  wahren  Christen 
„natürliche"  Krankheiten  und  Todesfälle  geben?  —  Das  Verhalten  angeb- 
hcher  Christen  bei  eigenen  und  fremden  Krankheits-  und  Sterbefällen  ist 
einer  der  unzweideutigsten  Beweise  für  den  Zusammenbruch  der  christlichen 
Weltanschauung.  Trotz  ihrer  frommen  Redensarten  glauben  sie  im  Ernste 
nicht  daran,  daß  Gott  den  Kranken  niederwerfe  und  heimsuche,  den  Sterben- 
den abberufe  und  erlöse.  Sonst  mußte  ihre  Handlungsweise  doch  anders  sein 
als  die  unsrige,  die  wir  die  christliche  Weltanschauung  preisgegeben  haben. 
Welch  eine  Gedankenlosigkeit  und  Ratlosigkeit  verraten  diese  angeblichen 
Christen,  wenn  sie  alles  Erdenkliche  tun,  um  die  Sterbenden  zu  ,, retten", 
die  Kranken  aus  der  göttlichen  Schule  herauszuziehen  !  In  einem  Atem  spre- 
chen sie  zwei  unvereinbare  Anschauungen  über  Wesen  und  Herkunft  der 
Krankheit  aus ;  in  einem  Atem  bekennen  und  leugnen  sie  den  allmächtigen 
Gott.  — 

Die  heidnische  Welt  war,  solange  sie  nicht  an  die  Allmacht  und  Allgüte 
Gottes  glaubte,  nicht  genötigt,  die  Götter  für  die  Krankheiten  verantwort- 
hch  zu  machen.  Es  ging  ja  nicht  alles,  was  geschah,  von  der  Gottheit  aus; 
nur  hie  und  da  griff  sie  in  den  Lauf  der  Dinge  und  in  die  menschlichen  Ge- 
schicke ein.  Daher  konnte  es  für  die  Heiden  an  und  für  sich  sehr  wohl  natür- 
liche Krankheiten  geben;  äußere  wie  innere  Krankheiten  konnten  durch  den 
„Zufall",  durch  Ungeschickhchkeit,  durch  die  einfachsten  und  banalsten 
Umstände  hervorgerufen  sein.  Von  dieser  Erklärung  machte  man  freihch, 
wie  ich  oben  schon  sagte,  nicht  allzuoft  Gebrauch.  Weshalb  ?  Weil  die  Krank- 
heit etwas  Auffallendes,  Erstaunliches,  ein  tief  einschneidendes  Ereignis  war. 
Man  fragte  nach  dem  ,, Täter",  man  nahm  die  Krankheit  nicht  einfach  hin, 
wie  die  tausend  alltäglichen  Erscheinungen  in  der  Welt.  Des  Mensch  fühlte 

l8 


in  dem  Krankheitsvorgange  zu  stark  das  Geheimnisvolle,  scheinbar  Wider- 
sinnige, Erklärung  Heischende. 

Diesem  Gefühl  entsprach  die  dämonische  Krankheitslehre  auf  das  beste. 
Da  es  Geistwesen  in  großer  Zahl,  jeden  Ranges  und  Charakters  in  der  Welt 
gab,  da  zauberhafte  Kräfte  die  Natur  und  den  Menschen  erfüllten,  war  es 
selbstverständlich,  wo  man  die  Erklärung  für  die  erheblicheren  und  bedeu- 
tenderen Krankheiten  suchen  mußte.  Je  nach  Umständen  und  Stimmung 
erkannte  man  gute  oder  böse,  große  oder  kleine  Mächte  als  Ursache  der 
Krankheit.  Man  konnte  die  begeisternde  Wirkung  der  Rauschgifte  auf  die 
Götter  zurückführen,  die  üblen  Nachwirkungen  der  Ausschweifung  als  das 
Werk  böser  und  neidischer  Geister  hassen;  man  konnte  Krankheiten,  die 
Sündengefühle  und  bußfertige  Gedanken  mit  sich  brachten,  als  verdiente 
Schickungen  empfinden  und  konnte  die  zornmütig  machenden  und  zu  un- 
gelegener Zeit  eintreffenden  Krankheiten  als  Tücke  der  Dämonen  oder 
menschlichen  Zauberer  auffassen.  Die  Krankheitslehre  spiegelte  die  allge- 
meine heidnische  Weltanschauung  wider,  daß  zwei  Arten  von  Kräften  in 
der  Welt  hausen  und  in  dem  Menschen  sich  streiten :  gute  und  böse,  helfende 
und  hemmende,  bauende  und  zerstörende.  Diese  heidnische  Weltanschau- 
ung des  ewigen  Kampfes  erringt  sich  heute  wieder  mehr  und  mehr  Aner- 
kennung, nur  daß  wir  Heutigen  den  Menschen  aus  der  passiven  Rolle  in  die 
aktive  und  herrschende  versetzen:  Der  Mensch  ist  es  in  erster  Linie,  der 
kämpft  und  der  Welt  seinen  Geist  und  Willen  einhaucht. 

Hier  werden  uns  die  heidnischen  Mythologien  und  ihr  Zusammenhang  mit 
der  priesterHch-zauberischen  Krankheitsauffassung  erst  ganz  verständlich. 
Wenn  der  Mensch  sich  stark  und  gesund  fühlte,  sagte  er  sich:  Die  guten 
Geister  sind  siegreich,  die  bösen  sind  geschlagen,  gefesselt,  in  ferne  Winkel 
gebannt.  Wenn  er  krank  und  schwach  wurde,  fühlte  er  die  bösen  Mächte  mit 
ihren  Ketten  rasseln,  fühlte,  wie  sie  sich  losrissen,  herausstürmten  und  den 
Göttern  eine  furchtbare  Schlacht  lieferten.  Sein  Geist  und  Leib  war  die 
Wahlstatt  jenes  Götterkampfes,  der  in  den  meisten  Mythologien  einen  so  ent- 
scheidenden Platz  einnimmt.  Zumal  der  Priester,  vermöge  seiner  nervösen 
Sensibüität,  sah  mit  greifbarer  Deutlichkeit  die  Geisterheere  daherbrausen, 
erlebte  auf  seinem  Krankenlager  alle  Stadien  der  ungehemren  Schlacht,  und 
wie  seine  Krankheit  zum  Guten  oder  Schlimmen  sich  neigte,  so  endete  auch 
der  Geisterkampf  mit  dem  Sieg  oder  der  Niederlage  der  guten  heiligen  Ge- 
walten. Alle  Ereignisse  der  überirdischen  Welt  sind  ja  der  Widerschein  der 
wechselnden  Zustände  des  menschlichen  Organismus. 

Die  Krankheitstheorie  hielt  mit  der  Vertiefung  und  Verinnerlichung  der 
rehgiösen  Glaubensgebilde  Schritt.  Die  Geisterscharen  verwandelten  sich  in 
wenige,  endüch  in  zwei  Gewalten,  die  Welt  schien  sich  in  zwei  Reiche,  das 

3'  19 


Reich  des  Guten  und  des  Bösen  zu  spalten ;  der  Mensch  war  nun  ein  glück- 
lich-ungKickliches  Zwitterwesen,  das  an  beiden  Reichen  teilhatte  und  zwi- 
schen Gut  und  Böse,  Leben  und  Tod  hin-  und  hergeworfen  \vurde.  Dieser 
Dualismus,  der  am  deutlichsten  in  der  persischen  Religion  hervortritt, 
machte  sich  auch  in  der  christlichen  Weltanschauung  weit  stärker  bemerk- 
bar, als  es  der  Glaube  an  den  allmächtigen  Gott  gestattet.  In  der  christlichen 
Mythologie,  die  sich  fälschlich  als  Monotheismus  bezeichnet,  finden  wir,  daß 
dem  Gotte  der  Heerscharen  ein  sehr  mächtiger  Gegengott  mit  einem  teuf- 
lischen Heere  gegenübersteht.  Gott  duldet  es,  daß  die  Teufel  beständig  auf 
den  Menschen  losgelassen  werden,  ihn  quälen  und  in  Versuchung  führen. 
Die  frömmsten  und  heiligsten  Menschen  sind  den  Angriffen  der  boshaften, 
gefährhchen  Geister  am  meisten  ausgesetzt.  Das  ist,  ich  wiederhole,  mensch- 
lich und  psychologisch  ganz  richtig  gedacht;  die  guten  und  bösen  Erfah- 
rungen, die  Glücks-  und  Unglückszustände,  die  Gesundheit  und  Krankheit 
—  das  läßt  sich  sehr  wohl  mit  dem  System  des  e\\igen  Kampfes  in  Einklang 
bringen.  Aber  ist  dies  System  nicht  eher  Duotheismus  als  Monotheismus? 
Darf  es  einen  Satan,  darf  es  all  das  entsetzhche  Elend  und  unaussprechliche 
Herzeleid  auf  Erden  geben,  wenn  Gott  allmächtig,  allgütig,  allwissend,  ohne 
Schranke  und  Unvollkommenheit  ist  ?  Dringt  das  Stöhnen  der  gemarterten 
Seelen  und  Leiber  nicht  an  das  Ohr  des  Alimächtigen?  Und  kann  er  bei 
diesen  Lauten  hart  bleiben,  kann  er  mit  Gelassenheit  die  Lob-  und  Dankreden 
derer  entgegennehmen,  die  sich  eines  glücklicheren  Lebens  erfreuen? 

Diese  Fragen  sind  gerade  hier  an  ihrem  Platze ;  denn,  wie  gesagt,  gibt  die 
Krankheit,  sei  es  die  eigene,  sei  es  Krankheit  und  Tod  der  Geliebten,  oft 
den  Anstoß  zu  rehgiösen  Krisen.  Tausende  ringen  täglich  mit  dem  Gedanken, 
wie  nur  der  allmächtige  Vatergott  zugleich  ein  Krankheitsdämon  imd  ein 
erbarmungsloser  Würgengel  sein  könne.  Tausende  bäumen  sich  in  ihren 
Leiden  gegen  diesen  Dämon  und  Würgengel  auf  und  andere  finden  in  der 
unchristlichen  Resignation  des  Hiobdichters  Trost.  Manche  sagen  sich,  das  • 
Reich  des  Bösen  nimmt  zu,  die  Götterdämmerung  naht,  der  Christengott 
erbleicht !  Oder  aber  er  nimmt  die  Züge  des  uralten  Sturm-  und  Rachegottes 
an,  des  zugleich  furchtbaren  und  segensreichen  Wesens  der  heidnischen  My- 
thologie, das  mit  dem  N\'ilden  Heer  durch  die  Luft  fährt,  schaffend  und  zer- 
störend, zeugend  und  tötend,  sodaß  die  Menschen  zitternd  sich  beugen, 
zitternd  ihm  nahen,  zitternd  ihn  weiterziehen  sehen. 

Was  wir  hier  über  Herkunft  und  Wesen  der  Krankheit  zu  sagen  versuchten, 
gibt  uns  nun  auch  den  Schlüssel  für  die  zunächst  befremdende  Tatsache,  daß 
nach  Ansicht  der  ganzen  dämonengläubigen  Menschheit  der  Heilbringer  zu- 
gleich Krankheitsbringer,  der  Arzt  zugleich  Schädiger  ist.  Alle  Welt  war 
überzeugt,  daß  wer  Krankheiten  heilen,  sie  auch  herbeirufen  könne.  Die 

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Krankheitsgeister  werden  als  Heildämonen  angerufen;  die  menschlichen 
Zauberer,  deren  Hexenkünste  ihre  Feinde  zu  spüren  haben,  üben  den  ärzt- 
lichen Beruf  aus.  Noch  Piaton  versichert  uns  an  einer  Stelle  seines  Staates, 
daß  ein  guter  Arzt  auch  imstande  sei,  die  Menschen  krank  zu  machen.  Diese 
Vorstellung  erklärt  sich  allein  aus  der  Annahme,  daß  die  Krankheit  etwas 
Substantielles  sei,  über  das  der  Arzt  nach  Belieben  verfüge.  Hippokrates 
hatte  zu  Piatons  Zeiten  zwar  schon  den  Krieg  gegen  die  dämonologische 
Medizin  eröffnet,  aber  seine  großen  Neuerungen  waren  den  Zeitgenossen 
noch  nicht  genügend  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen,  ließen  auch  dem 
alten  Heilaberglauben  noch  immer  viel  Raum.  Dieser  Heilaberglauben  be- 
ruht aber  ganz  und  gar  auf  dem  Gedanken,  daß  die  Heilung  in  der  Ablenkung 
und  Beseitigung  übernatürlicher  Einwirkungen  bestehe.  So  zweifelte  denn 
kein  Volk  daran,  daß  seine  Priester  und  Zauberer  so  gut  Krankheiten  erregen 
wie  wegschaffen  könnten.  Der  Zauberer  sitzt  auf  dem  Berge,  ein  giftiges 
Pulver  in  der  Hand  und  bläst  es  unter  Verwünschungen  gegen  einen  ab- 
wesenden Feind.  Oder  er  verbrennt  in  der  Zauberhütte  die  Exkremente  oder 
Kleidungsabfälle  des  Feindes,  der  dadurch  in  Siechtum  verfällt.  Das  Volk 
wendet  sich  nicht  nur,  wenn  es  seiner  Krankheit  ledig  sein  will,  sondern  auch, 
wenn  es  dem  Heben  Nächsten  Unheil  bereiten  möchte,  an  die  dämonischen 
Personen;  es  wünscht  wohl  auch  die  wertvolle  Kunst,  Krankheiten  zu  er- 
regen, selber  zu  erlernen  und  so  kommt  schließlich  ein  ganzer  Schatz  von 
Krankheitszaubermitteln  in  den  allgemeinen  Besitz  der  Menschheit.  Noch 
heute  treibt  im  christlichen  Europa  die  Kunst,  Krankheit  und  Tod  durch 
Zauber  zu  bewirken,  ihr  Wesen. 


iSI  3 .  DES  HEILANDS  KAMPF  MIT  DER  KRANKHEIT  IHI 

ISI     toi    -'  täi\     Fol 


Auch  die  zauberhafte  Heilkunst  lebt  noch  immer  unter  uns  fort;  sie  ist  ja 
nur  die  Kehrseite  der  krankheitserregenden  Kunst.  Mitunter  wird  beides, 
das  Erregen  und  das  Beseitigen  von  Krankheitszuständen,  in  einem  ein- 
zigen Akt  vereinigt.  Das  ist  bei  der  weitverbreiteten  Sitte  der  Krankheits- 
übertragung der  Fall.  Der  Kranke  kann  nämlich  seine  Krankheit  durch 
geistreiche  Mittel,  über  die  in  den  volksmedizinischen  Werken  Näheres  zu 
lesen  steht,  an  einen  anderen  Menschen,  an  ein  Tier,  an  einen  Baum  abgeben. 
Man  kann  die  Krankheit  auf  eine  fremde  Schwelle,  auf  einen  Weg  legen, 
damit  sie  einen  des  Weges  Kommenden  ergreift.  Damit  ist  der  bisherige 
Kranke  sie  los.  Man  kann  Seuchen  von  einem  Lande  oder  Gehöfte  abhalten, 
indem  man  an  der  Grenze  ein  bannendes  abschreckendes  Mal  aufrichtet, 
kann  durch  solche  bannende  Male  aber  auch  den  in  der  Nähe  Weilenden  die 

21 


Krankheit  zutreiben.  Oft  ist  dasselbe  Mittel  zugleich  krankheitserregend  und 
heilend.  Die  dämonologische  Menschheit  hängt  der  Homöopathie  an. 

Wild  jemand  von  einer  Krankheit  befallen,  so  hat  er  daher  nichts  Wich- 
tigeres zu  tun,  als  das  Mittel  zu  entdecken,  durch  das  er  krank  geworden  ist, 
damit  es  ihm  als  Heilmittel  diene.  Stellt  er  fest,  daß  ein  zauberkundiger 
Mensch,  sei  es  ein  Stammesgenosse  oder  ein  Stammesfremder,  die  Ursache 
der  Krankheit  ist,  so  sucht  er  ihn  mit  Güte  oder  Gewalt  zu  veranlassen, 
die  Krankheit  wieder  rückgängig  zu  machen  und  den  Zauber  durch  den 
homöopathischen  Gegenzauber  aufzuheben.  Wir  wissen  von  vielen  primi- 
tiven Völkern,  daß  dem  angeblichen  Krankheitserreger  Geschenke  und  gute 
Worte  gegeben  werden,  daß  er  auch  bedroht  und  verfolgt  wird,  um  die  Zu- 
rücknahme der  Krankheit  von  ihm  zu  erreichen.  Nun  ist  es  natürlich  nicht 
immer  leicht,  den  Täter  ausfindig  zu  machen,  da  er  sich  in  der  Regel  nicht 
als  solcher  zu  erkennen  gibt.  Der  Kranke  wendet  sich  daher  an  den  Priester- 
arzt und  übergibt  ihm  die  Nachforschung.  Diese  Nachforschung  nach  dem 
Täter  ist,  wie  wir  oben  schon  darlegten,  die  ärztliche  Diagnose  und  die  an 
die  Ermittlung  sich  anschließende  Einwirkung  auf  den  Täter,  daß  er  den 
Kranken  freigeben  möge,  ist  die  Therapie.  Genau  so  hegt  der  Fall  bei  dem 
erkrankten  König  der  Skythen  und  seiner  Heilung  durch  die  Wahrsager. 
Das  therapeutische  Verfahren,  wie  es  Herodot  schildert,  besteht  in  der  Er- 
mittlung und  Bestrafung  des  Bösewichts,  durch  dessen  Schuld  der  König 
krank  geworden  ist.  Nur  hat  dieser  Bösewicht  nicht  absichtlich,  nicht  durch 
Zauberkünste  den  König  krank  gemacht,  sondern  er  hat  die  königlichen  Haus- 
götter durch  einen  Meineid  so  gereizt,  daß  diese  ihren  Zorn  an  dem  König 
durch  Erregung  einer  Krankheit  ausgelassen  haben.  Augenscheinlich  ist  das 
eine  spätere  Vorstellung,  die  sich  aus  der  primitiven  Annahme  entwickelt 
hat,  daß  der  Beschuldigte  unmittelbar  die  Krankheit  angewünscht  und  dem 
König  beigebracht  habe. 

Wir  sehen,  daß  der  Priesterarzt  bei  dieser  Heilmethode  fast  unentbehrlich 
ist.  Er  bringt  bei  den  Skythen  durch  Orakelbefragung,  bei  anderen  Völkern 
durch  andere  Mittel,  die  ebenfalls  religiöser  Art  sind,  den  Krankheitserreger 
an  das  Tageslicht.  Die  Stellung  der  Diagnose  vollzieht  sich  wie  ein  heiliger 
Akt,  wie  eine  Kultzeremonie.  Besonders  ist  das  der  Fall,  wenn  man  in  dem 
Krankheitserreger  einen  Dämon  oder  Gott  vermutet.  Die  unmittelbar  darauf- 
folgende Kur  ist  dann  nur  die  Fortsetzung  des  religiösen  x\ktes  am  Kranken- 
bett. Wir  lesen  in  den  ethnologischen  Werken  ausführliche  Schilderungen 
derartiger  ärztlicher  Bemühungen,  die  in  den  verschiedenen  Weltgegenden 
auffallend  übereinstimmen.  Der  Priester  erscheint  in  seiner  priesterlichen 
Amtstracht,  führt  einen  musikbegleiteten  Tanz  auf,  um  sich  in  den  Begei- 
sterungszustand zu  versetzen,  und  vermag  in  diesem  Zustand  anzugeben, 

22 


welcher  Mensch  oder  Geist  die  Krankheit  geschickt  habe,  was  geschehen 
müsse,  um  diesen  Krankheitserreger  zu  versöhnen  oder  zu  bedrohen,  sodaß 
er  sich  zur  Zurücknahme  der  Krankheit  versteht.  Dann  wieder  sucht  der 
Priester  im  Schlaf  und  im  Traum  den  Täter  zu  ermitteln,  sich  mit  ihm  in 
Verbindung  zu  setzen  und  ihn  in  der  gewünschten  Richtung  zu  beeinflussen. 
Er  legt  sich  also  im  Tempel  zum  Schlaf  nieder  und  hofft  durch  ein  Traum- 
bild diagnostisch  und  therapeutisch  belehrt  zu  werden.  Oft  maß  auch  der 
Kranke  selbst  diesen  medizinischen  Tempelsclilaf  halten,  der  in  den  Mittel- 
meerländem  allgemein  üblich  war.  In  Griechenland,  wo  wir  über  den  Ge- 
brauch des  Tempelschlafes  genauer  unterrichtet  sind,  hatte  sich  der  ur- 
sprüngliche Sinn  dieser  Heilweise  schon  etwas  verschoben.  Die  kranken 
Griechen,  die  zum  Asklepiosheiligtum  wallfahrteten,  um  den  Tempelschlaf 
zu  halten,  wollten  nicht  den  Krankheitserreger  erfahren,  sondern  hofften 
mit  dem  Heilgott  Asklepios  in  Traumverkehr  zu  treten  und  von  ihm  An- 
gaben über  das  einzuschlagende  Heilverfahren  zu  erhalten.  Ursprünglich 
aber  war  dieser  Heilgott  vermutlich  zugleich  der  Krankheitsdämon,  und  der 
Tempelschlaf  hatte  den  Zweck,  die  Bedingungen  in  Erfahrung  zu  bringen, 
unter  denen  dieser  Dämon  den  Kranken  freigeben  würde.  Die  Erfüllung  der 
Bedingungen  war  dann  die  Therapie. 

Was  für  Bedingungen  sind  das  ?  Wie  versöhnt  man  Götter  und  Menschen 
und  bestimmt  sie  zur  Freigebung  der  mit  Krankheit  Geschlagenen?  Man 
gibt  ihnen  Geschenke,  man  opfert  ihnen.  Vielfach  benutzen  die  göttlichen 
und  menschlichen  Krankheitsbringer  die  Krankheiten  als  Erpressungs- 
mittel; sie  verschaffen  sich  durch  Erregung  von  Krankheiten,  durch  Ver- 
hängung von  Epidemien  Achtung  und  Einkünfte.  Durch  die  Krankheit  er- 
fahren die  Betroffenen  zuweilen  erst  von  dem  Dasein  und  der  Macht  des 
Dämons,  um  den  sie  sich  bisher  nicht  gekümmert  hatten.  Der  hellsichtige 
Priesterarzt  klärt  die  Kranken  auf,  beschreibt  ihnen  den  so  unangenehm 
bekannt  gewordenen  Dämon  und  gibt  ihnen  die  Mittel  an  die  Hand,  sich 
güthch  mit  ihm  auseinanderzusetzen.  Gelingt  es,  die  Forderungen  des 
Dämons  durch  den  Priester  herauszubringen,  so  kommt  es  unter  Vermitt- 
lung des  Arztes  zu  einem  Vertrage  zwischen  Krankheitsbringer  und  Patient. 
Sobald  dieser  Vertrag  dauernde  und  regelmäßige  Leistungen  vorsieht  und 
die  Lösungssumme  zu  einer  Dienstverpflichtung  wird,  hat  sich  der  Vertrag 
in  einen  Opferritus  verwandelt.  Die  Krankenheilung  ist  Kult  geworden. 
Diu-ch  den  Empfang  eines  Kultes  wiederum  wird  der  Dämon  zum  guten,  be- 
kannten Geist,  zum  Gott;  wir  sehen  also,  wie  sich  die  religiöse  Gottesver- 
ehrung lückenlos  aus  der  Zaubertherapie  entwickeln  kann.  Nur  ist  der  so 
entstandene  Kult  nicht  notwendig  ein  Gemeindekiilt,  also  keine  Religion  im 
engeren  Sinne.  Aber  Übergänge  von  dem  therapeutischen  Privatkult  zur 

23 


Gemeindereligion  sind  leicht  geschaffen.  Hervorragend  mächtige  Krank- 
heitsgeister, z.  B.  solche,  die  sich  an  Häuptlingen  und  Priestern  vergreifen, 
gelangen  leicht  dahin,  daß  sie  von  der  ganzen  Gemeinde  mit  Kultgaben  ver- 
sorgt werden ;  umgekehrt  werden  in  den  Krankheitsbringem  leicht  die  Ge- 
schlechts- und  Ortsgeister,  die  Tier-  und  Menschenahnen,  die  Stammes-  und 
Volksgottheiten  wiedererkannt.  Der  heilende  Priester  wird  schon  durch 
seinen  Vorteil  veranlaßt,  die  ihm  nahestehenden  und  bekannten  Geister  als 
Urheber  der  Krankheiten  zu  bezeichnen,  weil  die  Kultgaben  der  Kranken 
dann  ihm  als  dem  Diener  und  Vertreter  dieser  Mächte  zufallen.  Das  braucht 
nicht  schlaue  Berechnung  zu  sein,  sondern  kann  aus  dem  starken  Glauben 
an  die  Macht  dieser  Geister  entspringen.  Da  der  Priester  mit  diesen  Geistern, 
wohl  gar  mit  einem  einzigen  vom  ganzen  Volke  verehrten  Geiste  verkehrt  und 
ihn  immer  im  Sinne  hat,  so  gelangt  er  ganz  von  selber  dahin,  alles  Auffallende, 
was  geschieht,  mit  der  Tätigkeit  dieses  Geistes  in  Verbindung  zu  bringen 
und  ihn  überall  zu  wittern,  wo  sich  Unglücks-  und  Glücksfälle  ereignen. 

Das  Ergebnis  zahlloser  Konsultationen  des  Priesterarztes  lautet  daher  so : 
mein  Spezialgott  (oder:  unser  gemeinsamer  Stammesgott)  muß  neue  und 
reichlichere  Opferspenden  erhalten,  der  Kranke  muß  fromme  Stiftungen 
machen,  muß  sich  von  widergöttlichen  Bestrebungen  fernhalten,  muß  un- 
kirchlichen Vereinen  und  Zeitungen  die  Freundschaft  aufkündigen,  muß 
tapfer  für  Gott  streiten  und  ihm  gegen  seine  Feinde  beistehen.  Wenn  er  das 
alles  tut,  wird  ihm  Gottes  Hilfe  nicht  fehlen  und  die  Krankheit  wird  ver- 
schwinden. 

Wenn  so  jeder  Gott  zum  Krankheitsbringer  und  Heilgott  werden  kann,  so 
gab  es  doch  in  den  meisten  entwickelten  Religionssystemen  besondere  Heil- 
götter, die  den  Kampf  mit  den  Krankheiten  zu  ihrem  Lebensberuf  machten 
und  daher  von  den  Kranken  vor^\äegend  angerufen,  aufgesucht  und  mit 
Opfern  bedacht  wurden  (vgl.  Hopf:  Die  Heilgötter  und  Heilstätten  des 
Altertums).  In  Babylon  waren  Sin  und  Marduk,  in  Ägypten  Imhotep,  in 
Indien  die  Asvins,  in  Griechenland  Apollon  und  Asklepios  die  bevorzugten 
Götter  der  Leidenden.  Ferner  pflegen  die  mit  dem  Monde  zusammenhängen- 
den oder  gleichgesetzten  Gottheiten  sich  der  Heilung  von  Krankheiten  zu 
widmen.  Im  Christentum  ist  die  Mutter  Gottes  die  Heilgottheit;  dazu  kom- 
men eine  Reihe  von  LokalheiUgen.  Cosmas  und  Damian  sind  die  eigentlichen 
Schutzpatrone  der  Ärztezunft  und  Erben  des  Asklepios- Aeskulapius.  Maria 
hat  viele  Züge  mit  der  Heilgöttin  Isis  gemein. 

Wir  kehren  zu  dem  Heilvorgang  am  Krankenbett  zurück.  Dem  Priester- 
arzt und  dem  Patienten  scheint  es  vielfach  wünschenswert,  den  Dämon  oder 
Gott,  der  als  Krankheits-  und  Heilbringer  gilt,  in  Person  herbeizurufen,  da- 
mit er  in  Person  die  Therapie  angebe,  oder  die  Krankheit  gleich  wieder  mit 

24 


fortnähme.  Daher  zielen  viele  Zeremonien  am  Krankenbett,  die  uns  zunächst 
sinnlos  vorkommen,  auf  die  Geisterzitierung.  Beispiele  bieten  namenthch 
die  Schamanenvölker  in  Asien,  bei  denen  das  Zitieren  zu  therapeutischen 
Zwecken  einen  großen  Raum  einnimmt.  Der  Schamane,  mit  dem  Zauber- 
kleide angetan,  das  mit  Amuletten,  KHmperwerk,  Pelzstreifen  usw.  behängt 
ist,  betritt  nachts  die  Hütte  des  Kranken  und  führt  beim  umsicheren  Schein 
des  Feuers  einen  Tanz  auf,  springt  wie  rasend  umher,  brüllt  unverständliche 
Worte,  ahmt  Tierstimmen  nach,  ruft  den  oder  die  Namen  der  Geister.  Er 
schlägt  dazu  die  Zaubertrommel,  von  seinem  verzerrten  Gesicht  rinnt  der 
Schweiß  herab.  Endlich  kommen  die  Geister.  Er  zittert,  beginnt  mit  ihnen 
zu  reden,  sie  zu  fragen,  zu  bitten,  zu  bedrohen.  Die  Antworten,  die  die  Un- 
sichtbaren erteilen,  vernimmt  natürlich  nur  er.  Horchend  steckt  er  den  Kopf 
in  die  Trommel,  als  ob  die  Geister  aus  der  Trommel  sprächen ;  oder  er  wirft 
seine  Mütze  in  die  Luft,  als  ob  dadurch  die  Antwort  herabkäme.  Nach  einer 
Weile  beruhigt  er  sich,  gibt  die  Therapie  an  und  entfernt  sich.  Ein  solcher 
Krankenbesuch  ist,  wie  man  sieht,  ziemlich  angreifend,  für  den  Kranken 
nicht  minder  als  für  den  Arzt.  Jedoch  können  die  Suggestiv\\irkungen  sehr 
heilsam  sein  und  die  zahlreichen  Zuschauer  gehen  mit  Ergriffenheit  davon, 
wie  von  einem  Gottesdienst. 

Manchmal  soll  der  zitierte  Geist  nur  Auskunft  geben,  manchmal  soll  er 
sich  aktiv  an  der  Heilung  beteiligen.  Im  letzteren  Falle  kann  es  zu  einem 
fömüichen  Kampf  um  den  Kranken  kommen.  Der  herbeigerufene  Geist,  der 
in  diesem  Falle  ein  befreundeter  Schutzgott  ist  und  nicht  als  Krankheits- 
erreger aufgefaßt  wird,  kämpft  mit  den  die  Krankheit  verursachenden 
Dämonen.  Gott  und  Teufel  kann  man  sagen,  ringen  um  den  Kranken,  wel- 
cher Kampfplatz  und  Siegespreis  zugleich  ist.  Wir  sahen  schon,  daß  diese 
Auffassung  den  wirkhchen  Krankheitsvorgang  richtig  s\-mbohsiert.  Die 
Krankheit  und  ihre  Bezwingung  ist  ja  in  der  Tat  ein  Kampf  im  Menschen, 
ein  Kampf  der  ,, Lebensgeister"  mit  zerstörenden  Feinden.  Und  der  Priester- 
arzt tut  das  Seine,  um  den  guten  Geistern  zum  Siege  zu  verhelfen ;  er  unter- 
stützt sie  in  ihrem  Kampfe. 

Diese  Unterstützung  des  zitierten  und  kämpfenden  Heilgottes  durch  den 
Priester  ist  der  Anfang  dessen,  was  wir  heute  ärzthche  Tätigkeit  nennen. 
Nur  ein  Teil  von  den  Kampfmitteln  freiUch,  deren  sich  dieser  Mitkämpfer 
bedient,  nähern  sich  einem  rationellen  Heilverfahren.  Wir  können  die 
Kampfmittel  des  Priesterarztes  in  zwei  Gruppen  teilen,  entweder  er  \rirkt 
auf  Körper  und  Geist  des  Kranken  ein  oder  er  wirkt  auf  sich  selber  ein.  Nur 
im  ersten  Falle  kommt  eine  Heiltärigkeit  in  unserem  Sinne  zustande;  im 
zweiten  Falle  kann  höchstens  eine  indirekte  Beeinflussung  des  Krankheits- 
verlaufes stattfinden.  Wir  reden  zunächst  ^-on  dem  letzteren  Fall,  d.  h.  also 

25 


von  dem  Kampf  des  Arztes  mit  der  Krankheit,  ohne  direkte  Einwirkung 
auf  den  Kranken.  Hierhin  gehören  die  wunderhchen  Bräuche,  von  denen 
man  heute  mitunter  in  der  Zeitung  liest :  Der  Wunderdoktor  im  Dorfe  heilt 
seine  Kranken  dadurch,  daß  er  selber  die  ihnen  zugedachte  Medizin  ein- 
nimmt. Was  hat  das  für  einen  Sinn  ?  Der  Arzt  wird  durch  die  Medizin  zauber- 
kräftiger; denn  die  Medizin  enthält  dämonische  Stoffe,  sie  ist  Geist  und  er- 
füllt den  Arzt  mit  Geist.  Dadurch  erhält  der  Arzt  die  Befähigung,  eine 
magisch-zerstörende  Wirkung  auf  die  Krankheitsstoffe  in  dem  Kranken  aus- 
zuüben und  die  Krankheitsgeister,  die  den  Leidenden  gefangen  halten,  er- 
folgreich zu  bekämpfen.  Er  trinkt  gewissermaßen  den  helfenden  rettenden 
Gott  in  sich  hinein,  wird,  wie  der  Weintrinker,  zum  Gefäß  und  zur  Verkör- 
perung dieses  Gottes  und  erhält  dadurch  die  Kraft,  die  Krankheitsgeister 
zu  verscheuchen,  dem  Kranken  die  Gesundheit  zurückzugeben.  Denselben 
Zweck  erfüllen  die  schon  genannten  Begeisterungsmittel  des  primitiven 
Medizinmannes:  Musik  und  Tanz,  Fasten  und  Maskierung.  Immer  wieder 
wird  berichtet,  daß  im  Krankenzimmer  Tänze  aufgeführt  werden,  daß  Ge- 
sang und  rauschende  Musik  ertönt,  alles  Dinge,  die  uns  an  diesem  Orte  nicht 
besonders  passend  erscheinen.  Die  Absicht  ist  aber,  die  Dämonen  um  ihren 
Mut  und  ihren  Einfluß  auf  den  Kranken  zu  bringen.  Das  Tanzen  und  Singen 
erschreckt  sie,  der  Lärm,  den  der  Priester  erhebt  und  der  sich  oft  mit  Unter- 
stützung seiner  Gehilfen  und  der  Zuschauer  zum  ohrenbetäubenden  Getöse 
steigert,  veranlaßt  sie,  die  Flucht  zu  ergreifen. 

Zweitens  aber  wendet  sich  nun  der  Medizinmann  direkt  an  den  Kranken 
oder  vielmehr  an  den  im  Kranken  sitzenden  Dämon;  er  herrscht  ihn  an, 
bedroht  ihn,  nennt  die  Namen  aller  guten  Geister,  über  die  er  verfügt,  und 
„beschwört"  so  die  Krankheit.  Zahlreiche  Zaubersprüche  von  dieser  Art 
sind  uns  erhalten.  Alle  Töne  werden  in  ihnen  angeschlagen,  von  den  wüste- 
sten Beschimpfungen  bis  zu  den  achtungsvollsten  und  ergebensten  Bitten, 
den  Kranken  gefälligst  zu  verlassen.  Geheimnisvolle  Machtworte  wechseln 
mit  einfacher  Beschreibung  des  erwarteten  und  erwünschten  Ergebnisses. 
Als  die  eigentlich  bewegende  und  handelnde  Macht  wird  oft  eine  Gottheit 
eingefülirt,  zumal  in  solchen  Fällen,  wo  der  Zauberspruch  die  Gottheit  zu- 
gleich herbeiziehen  und  zum  Kampfe  gegen  die  Krankheit  aufrufen  will. 
Die  Krankenbeschwörung  wird  dann  zum  Gebet. 

Noch  heute  ,, bespricht"  man  im  Volke  manche  Krankheiten,  d.  h.  man 
kämpft  mit  Worten  gegen  sie  und  bringt  sie  durch  Beschreibung  des  Heil- 
vorganges oder  durch  Aufforderungen  und  Schimpfworte  dahin,  sich  aus 
dem  Staube  zu  machen. 

Um  es  den  Krankheitsgeistern  zu  erleichtern,  ihre  Wohnung  im  Kranken 
zu  räumen,  gibt  ihnen  der  Beschwörende  wohl  auch  Ratschläge,  wohin  sie 

26 


sich  etwa  wenden  können,  um  ein  anderes  Unterkommen  zu  finden.  Diesen 
wandernden  Krankheitsgeistem  ist  es  natürlich  nicht  lieb,  sich  obdachlos 
zu  sehen.  So  läßt  Jesus  die  Dämonen  in  die  Säue  fahren.  In  vielen  Zauber- 
sprüchen sind  ähnliche  Hinweise  und  Einladungen  enthalten. 

Die  Dämonenaustreibungen  im  Neuen  Testament  sind  die  treffendsten  und 
berühmtesten  Beispiele  für  die  kämpfende  Betätigung  des  Zauberarztes. 
Jesus  fühlt  sich  als  der  Beauftragte  des  guten  und  menschenfreundlichen 
Geisterreiches.  Sein  Geist  ist  der  gute,  der  heilige.  Im  Auftrage  und  unter 
dem  Schutze  dieses  von  dem  Herrn  der  Heerscharen  ausgegangenen  Geistes 
geht  Jesus  zu  den  Kranken,  Besessenen,  Aussätzigen,  Blutflüssigen  usw.  und 
beschwört  die  bösen  Krankheitsgeister.  Jede  Heilung,  die  Jesus  vollbringt, 
stellt  sich  dar  als  ein  Kampf  z\vischen  guten  und  bösen  Mächten,  bei  dem 
der  Heiland  den  Mitkämpfer  macht.  Das  Herbeirufen  und  Antreiben  des 
helfenden  Gottes  vollzieht  sich  sehr  einfach;  Jesus  hat  nicht  nötig,  die  alten 
Mittel  der  Schamanen  und  Medizinmänner  anzuwenden,  also  durch  Tanz 
und  Ekstase  den  Geist  herbeizuzwingen  und  sich  einzuverleiben.  Ein  Gebet 
genügt ;  ödes  auch  das  ist  nicht  nötig,  weil  der  Geist  ständig  bei  Jesus  gegen- 
wärtig ist;  denn  Jesus  ist  ja  die  Wohnung  des  heiligen  Geistes.  Der  Heilungs- 
akt besteht  bloß  darin,  daß  dieser  Geist  durch  den  Mimd  Jesu  den  Krank- 
heitsgeistern befiehlt,  das  Feld  zu  räumen.  Meist  wehren  sich  diese  nicht; 
sie  wissen,  mit  wem  sie  es  zu  tun  haben  und  fügen  sich  stillschweigend. 
Manchmal  erkennen  sie  auch  die  Überlegenheit  des  Heildämons  ausdrück- 
lich an. 

Man  nennt  diese  Krankenbehandlung  den  Exorzismus.  In  der  älteren 
christlichen  Kirche  waren  besondere  Exorzisten  angestellt,  die  das  Teufel- 
austreiben als  priesterhchen  Spezialberuf  betrieben.  Wie  großen  Einfluß 
diese  rehgiöse  Heiltätigkeit  auf  die  Anschauungen  und  Erfolge  des  beginnen- 
den Christentums  hatte,  ersieht  man  aus  Harnacks  Abhandlung:  Medizi- 
nisches in  der  ältesten  Kirchengeschichte  (Altchristliche  Texte  VIII,  4). 
Auch  heute  gibt  es  noch  katholische  GeistHche,  die  sich  dieses  Zweiges  des 
christlichen  Priesterbenifes  gelegentlich  erinnern  und  mit  Gebet,  Kruzifix 
und  Hostie  den  Krankheitsdämonen  entgegentreten. 

Unleugbaren  Erfolg  hat  der  Exorzismus  bei  hysterischen  und  epileptischen 
Zuständen.  Zumal  jene  dem  Psychiater  wohlbekannten  Fälle,  wo  der  Kranke 
in  Schimpfparoxysmus  verfällt  und  gotteslästerliche  Reden  führt,  sind  der 
exorzistischen  Behandlung  günstig.  Wenn  ein  frommer  und  ehrbarer  Christ 
- —  oft  sind  es  Frauen,  die  solchen  Anfällen  unterworfen  sind  —  plötzlich, 
etwa  während  des  Gottesdienstes,  teuflische  Flüche  und  Verwünschungen 
gegen  Gott  und  Kirche  hören  läßt,  so  kann  sich  ein  Bibelgläubiger  unmög- 
lich des  Gedankens  erwehren,  daß  der  Böse  von  dem  Kranken  Besitz  er- 

27 


griffen  habe.  Daher  führt  man  Gott  gegen  den  Bösen  ins  Feld,  um  ihn  zu 
verjagen. 

Jesus  hat  aber  offenbar  den  Begriff  der  Besessenheit  nicht  auf  bestimmte 
Geisteskrankheiten  beschränkt,  sondern  mit  der  ganzen  älteren  Menschheit 
geglaubt,  daß  auch  alle  anderen  Krankheiten  durch  das  Eindringen  von 
Dämonen  entstehen  könnten ;  daher  hat  Jesus  seine  exorzistische  Heilweise 
auch  bei  Blinden,  Tauben,  Aussätzigen,  Krüppeln  und  Lahmen  angewendet. 
Wie  viele  Erfolge  und  Mißerfolge  er  dabei  davongetragen  hat,  entzieht  sich 
natürlich  der  Feststellung.  Wir  wissen  heute,  daß  die  Psychotherapie  auch 
bei  organischen  Krankheiten  überraschende  Wirkungen  hervorbringen  kann. 

Dem  heilkräftigen  Wort  hat  Jesus  zuweilen  körperliche  Mittel  hinzugefügt 
und  durch  sie  die  Suggestivwirkung  verstärkt.  Er  hat  den  Kranken  die 
Hände  aufgelegt  und  hat  Speichel  und  Erde  zu  Hilfe  genommen.  Auch  diese 
ärztlichen  Maßnahmen  beruhen  auf  dem  Dämonenglauben;  auch  sie  sind 
Kampfmittel  gegen  die  Krankheit.  Durch  das  Auflegen  der  Hand  wird  der 
in  dem  Heiland  wohnende  Geist  in  den  Kranken  hinübergeleitet  und  damit 
der  böse  Krankheitsgeist  hinausgedrängt.  Es  ist  dasselbe,  was  uns  von  der 
Salbung,  der  Taufe  und  ähnlichen  heiligenden  und  reinigenden  Zeremonien 
her  bekannt  ist.  In  der  alten  christlichen  Kirche  gehörte  das  Salben  mit  öl 
zu  dem  Heilmittelschatz  und  die  , »letzte  Ölung"  hat  keinen  anderen  Sinn, 
als  daß  der  Sterbende  mit  dem  heiligen  Geist  ausgerüstet  wird,  um  den  Ge- 
fahren zu  entgehen,  die  seiner  Seele  von  dem  Teufel,  dem  Seelenverschhnger 
drohen.  Das  Abendmahl  erhält  der  Kranke  zu  demselben  Zweck. 

Was  den  Speichel  betrifft,  so  ist  er  bei  vielen  Völkern  ein  beliebtes  Heil- 
mittel. Schon  die  Tiere  belecken  ihre  und  ihrer  Kinder  Wunden.  Infolge  des 
Zauber-  und  Dämonenglaubens  wurde  die  unstreitig  lindernde  Wirkung  des 
Speichels  als  Übertragung  zauberhafter  Substanzen  gedeutet.  Wenn  der 
Naturmensch  sein  Schwert  bespuckt,  der  fromme  Gläubige  das  Götterbild 
bespuckt  oder  küßt,  so  überträgt  er  damit  Seele  und  verbindet  sich  mit 
diesen  heiligen  Gegenständen.  Beim  Kuß  empfängt  er  zugleich  die  in  dem 
geküßten  Gegenstand  enthaltene  Zauberkraft ;  daher  wurde  der  Kuß  zu  einer 
heiligen  Zeremonie.  Der  Priester,  der  Fürst,  der  Vater  gaben  durch  den  Kuß 
von  ihrer  göttlichen  Geisteskraft  an  die  des  Geistes  bedürftigen  Kranken, 
Untertanen,  Kinder  ab.  Der  Kuß  solcher  bevorzugten  Personen  hat  medi- 
zinische Kraft.  Denselben  Dienst  kann  das  Anhauchen  und  der  Nasengruß 
tun.  Alle  Gruß-  und  Segensgebräuche,  bei  denen  eine  körperliche  Berührung 
der  sich  Begrüßenden  stattfindet,  haben  den  Sinn,  seelische  Substanzen  zu 
übertragen  und  auszutauschen.  So  kann  Jesus  z.  B.  die  Tochter  des  Jairus 
dadurch  vom  Tode  erwecken,  daß  er  ihr  die  Hand  reicht  und  ein  befehlendes 
Kraftwort  dazu  spricht.  Er  leitet  auf  diese  Weise  den  ihn  besitzenden  heiügen 

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Lebensgeist  in  sie  hinein.  Man  vergleiche  damit  die  Heilweise  der  modernen 
Heilmagnetiseure,  die  es  allerdings  noch  nicht  bis  zu  Totenerweckungen  ge- 
bracht haben. 

Daß  Teile  von  Menschen,  namentlich  von  dämonischen  und  göttlichen 
Menschen,  wertvolle  Heilmittel  waren,  haben  wir  bereits  früher  erwähnt. 
Den  Speichel  Christi  konnte  die  Nachwelt  leider  nicht  aufbewahren;  aber 
die  übrigen  körperlichen  Reste  (Blut,  Schweiß),  ferner  die  Röcke,  Hemden, 
Windeln,  Kreuzessplitter  usw.  taten  denselben  Dienst.  Sie  heilten  jede 
Krankheit,  wenn  der  Kranke  sie  mit  seinem  Körper  in  Berührung  brachte 
oder  auch  nur  aus  der  Ferne  sah.  Der  Heiland  bekämpfte  durch  Vermitt- 
lung dieser  nachgelassenen  Reste  die  Krankheitsgeister.  Ferner  wurden 
Tuchstücke  und  andere  Gegenstände,  die  man  auf  Heiligengräber  legte,  zur 
Krankenheilung  benutzt.  Das  heilkräftige  Fluidum  ging  von  dem  Grabe  auf 
diese  Gegenstände  über  und  machte  sie  krankheitstötend.  Der  Kranke 
konnte  auch  die  Denkmalssteine  belecken,  die  Hüllen  der  Reliquien,  die 
Vorhänge  heiliger  Kapellen  küssen.  Oder  man  legte  ihm  die  heilige  Schrift 
als  Heilmittel  auf  den  kranken  Leib.  Bei  manchen  Naturvölkern  genügte  es, 
die  Kranken  an  heilige  Orte  zu  tragen  und  im  Tempel  aufzubahren.  Die 
Nähe  der  Geister,  die  sich  erfahrungsgemäß  im  Tempel  aufhielten,  machte 
ihn  gesund. 

Hier  mag  auch  auf  die  Bedeutung  aufmerksam  gemacht  werden,  die  man 
dem  Niesen  zuschrieb.  Mit  dem  Hauche  verläßt  etwas  SeeHsches  den  Menschen. 
Dieses  Seelische  kann  guter  oder  böser  Art  sein ;  es  kann  des  Menschen  eigener 
Geist  oder  es  kann  ein  Krankheitsdämon  sein.  Meist  nahm  man  das  letztere 
an;  das  krampfartige  Ausstoßen  von  Luft,  Speichel  und  Schleim  bewirkt  ja 
auch  wirklich  ein  Entfernen  schädlicher  Substanzen ;  es  schien,  als  ob  man 
die  Krankheit  ausniese;  das  Niesen  wurde  als  Zeichen  eintretender  Ge- 
nesung gedeutet.  Da  aber  der  ausfahrende  Krankheitsgeist  eine  Gefahr  für 
die  Anwesenden  bildete,  so  konnte  das  Niesen  auch  als  eine  schädliche  und 
feindselige,  als  Unglück  weissagende  Handlung  aufgefaßt  werden.  In  der 
Südsee  galt  es  als  ein  höchst  störendes  Vorkommnis,  wenn  jemand  bei  reli- 
giösen Feiern  nieste.  Der  Täter  entging  nur  schwer  dem  allgemeinen  Zorn. 

Den  anderen  Ausscheidungen  des  Menschen  konnte  ebenfalls  sowohl  eine 
segenbringende  als  eine  unheilvolle  Bedeutung  zugeschrieben  werden.  Kot 
und  Urin  gehören  zu  den  beliebtesten  Heilmitteln,  aber  auch  zu  den  ge- 
fürchtetsten  Zaubermitteln  von  der  Welt.  Daß  man  diesen  Ausscheidungen 
besondere  Kraft  zutraute,  ist  nur  verständlich  auf  Grund  des  Glaubens,  daß 
sie  seehsche  Substanzen  enthielten  (vgl.  Preuss,  im  Globus  Bd.  86).  Äußer- 
lich und  innerUch  taten  diese  wundersamen  Zauberarzneien  ihre  Wirkung. 
Das  erwähnte  Bespeien,  vielleicht  auch  das  Auflegen  von  Erde  auf  kranke 

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Glieder  ist  zum  Teil  nur  eine  Abschwächung  des  Kot-  und  Uringebrauches, 
der  mit  der  Zeit  zu  anstößig  wurde.  Näheres  über  die  Verwendung  dieser 
unappetitlichen  Mittel  enthält  die  berühmte  „heilsame  Dreckapotheke". 

Mit  dem  Kuß  als  Heil-  und  Weihemittel  ist  ein  bei  den  Naturvölkern  weit 
verbreitetes  ärztliches  Verfahren  verwandt,  nämlich  das  Heraussaugen  der 
Krankheit.  Der  Zauberarzt  berührt  den  Körper  des  Kranken  mit  dem 
Munde  und  beginnt  zu  saugen.  Manchmal  saugt  er  alle  Glieder  nacheinander 
ab,  manchmal  beschränkt  er  sich  auf  die  schmerzende  Stelle.  Was  hat  dieser 
Gebrauch  für  einen  Sinn  ?  Offenbar  sollen  die  schädlichen  Stoffe  und  bösen 
Krankheitsdämonen  auf  diese  Weise  ans  Licht  befördert  und  beseitigt  wer- 
den. Die  Berichte  der  Forschungsreisenden  lassen  keinen  Zweifel  darüber. 
Nachdem  der  Arzt  hinreichend  gesogen  hat,  geht  er  aus  der  Hütte  und  speit 
aus.  Entweder  gibt  er  nur  Luft  und  Speichel  von  sich;  häufig  aber  kann  er 
den  Krankheitsgeist  in  handgreiflicher  Gestalt  vorzeigen:  er  zaubert  einen 
kleinen  Stein,  ein  Stückchen  Holz  oder  Tuch,  einen  Käfer  oder  dergleichen 
aus  seinem  Munde  hervor  und  reicht  diesen  Gegenstand  dem  beglückten 
Kranken.  AUe  Anwesenden  —  meist  ist  die  ganze  Sippe  in  der  Krankenhütte 
versammelt  —  sind  überzeugt,  daß  er  den  angeblichen  Krankheitserreger 
wirklich  aus  dem  Körper  des  Kranken  herausgesogen  habe.  Der  Gegenstand 
wird  nicht  selten  als  Amulett  aufbewahrt;  denn  wie  er  die  Krankheit  ver- 
ursachen konnte,  hält  er  sie  auch,  vermöge  seiner  dämonischen  Eigenschaft, 
von  dem  Träger  und  Besitzer  fern. 

Daß  es  sich  bei  allen  diesen  Kuren  wirkhch  um  einen  Kampf  des  Arztes  mit 
geistigen  Wesenheiten,  um  das  Vertreiben  von  Krankheitsgeistern  handelt, 
sieht  man  auch  aus  den  übrigen  Verrichtungen,  mit  denen  die  Priesterärzte 
derartige  Kuren  begleiten.  Z.  B.  bläst  der  amerikanische  Medizinmann  ge- 
waltige Tabakswolken  gegen  das  kranke  Glied.  Der  Rauch,  d.  h.  der  in  dem 
Tabak  wohnende  Geist  soll  den  Dämon  verscheuchen.  Aber  der  Arzt  geht 
dem  Dämon  noch  kräftiger  zu  Leibe :  er  prügelt  ihn  aus  dem  Kranken  heraus; 
er  preßt  und  reibt  die  kranken  Körperstellen,  er  kneift  und  brennt  sie;  er 
setzt  ihm  durch  kaltes  Wasser,  durch  heiße  Dämpfe,  durch  Fußtritte  und 
andere  Mißhandlungen  zu,  bis  dem  Dämon  der  Aufenthalt  verleidet  ist  und 
er  das  Weite  sucht.  Auch  das  Auflegen  von  Kot  und  anderen  ekelerregenden 
Dingen,  das  Einreiben  mit  übelriechenden  Mitteln,  das  Trinken  und  Essen 
von  unangenehmen  und  giftigen  Stoffen,  das  Einführen  von  Flüssigkeiten 
in  den  After  usw.  verdankt  seinen  medizinischen  Ruf  zum  Teil  gewiß  dem- 
selben Bestreben,  den  Krankheitsdämon  zu  ärgern,  zu  mißhandeln,  zu  töten, 
zu  verjagen.  Sehr  wichtig  war  nun,  daß  einige  dieser  Mittel  sich  unter  Um- 
ständen als  sehr  vernünftige  Heilmaßregeln  erwiesen.  Aus  der  körperlichen 
Mißhandlung  des  Kranken  entwickelten  sich  die  Massagekuren  und  ein  Teil 

30 


des  Bade-  und  Brunnenwesens,  aus  der  Darreichung  äußerer  und  innerer 
Kraftstoffe  die  medikamentöse  Behandlung.  Wenn  man  schmerzende  Ghe- 
der  schlägt  und  reibt,  tritt  wirklich  in  vielen  Fällen  Linderung  ein.  Dampf- 
und  Wasserbäder,  Umschläge,  Klystiere,  Schröpfköpfe,  chirurgische  Ein- 
griffe usw.  gehören  dauernd  zum  ärztlichen  Heilschatze.  So  wandelte  sich  der 
Kampf  des  priesterlichen  Heilands  und  der  guten,  ihn  unterstützenden  Gei- 
ster mit  den  Krankheitsdämonen  allgemach  in  wissenschafthche  Heiltätig- 
keit um.  Die  Erfahrung  wurde  die  große  Lehrmeisterin,  die  Tradition  die 
große  Bewahrerin,  die  wissenschaftliche  Forschung  die  große  Mehrerin  und 
Ordnerin  der  ärztlichen  Kunst. 

Um  uns  nicht  der  Einseitigkeit  schuldig  zu  machen,  wollen  wir  nun  aus- 
drücklich darauf  hinweisen,  daß  die  dämonologische  Medizin,  d.  h.  der 
Kampf  gegen  die  Krankheitsgeister  nicht  die  einzige  und  nicht  die  älteste 
Wurzel  der  wissenschaftlichen  Medizin  ist.  Der  Priesterarzt  hat  zwar,  wie  ich 
überzeugt  bin  und  auch  dargetan  zu  haben  glaube,  die  Tatsache  der  Krank- 
heit zum  erstenmal  erklärt  und  eine  in  ihrer  Weise  ernste  und  gewissenhafte 
Heilpraxis  geschaffen ;  aber  das  Behandeln  und  Bekämpfen  von  Krankheiten 
führt  selbstverständlich  auf  einfache  menschhche  Triebe  zurück,  die  älter 
sind  als  aller  Aberglaube  und  sich  neben  dem  dämonologischen  Verfahren 
dauernd  geltend  gemacht  haben.  Wie  die  Zauberhandlung  aus  der  einfachen 
Ausdrucksbewegung  hervorgeht,  wie  die  religiöse  Kunst  und  die  Forschungs- 
tätigkeit, von  der  wir  im  achten  Kapitel  handeln  werden,  auf  unreligiösen 
Urtrieben,  dem  Spiel-,  Gestaltungs-  und  Erkenntnistrieb  beruht,  ebenso 
müssen  wir  auch  einen  urmenschlichen  Heiltrieb  anerkennen,  der  mit  der 
Religion  an  und  für  sich  nichts  zu  tun  hat.  Jeder  Organismus  wehrt  Schä- 
digungen ab  und  sucht  durch  Kratzen,  Reiben,  Drücken,  Lecken  usw.  die 
realen  Krankheitsgeister,  nämlich  die  Parasiten  und  Insekten  zu  entfernen. 
Erhöhung  der  Temperatur  will  er  durch  künstliche  Abkühlung,  Kälte  durch 
Erhitzung  ausgleichen.  Auch  die  Arzneien  zeigen  neben  ihren  Zaubereigen- 
schaften den  Ursprung  aus  einfachen  und  unreligiösen  Überlegungen.  Der 
Schwache  greift  nach  anreizenden  Mitteln,  nach  scharfen  Stoffen,  Gewürzen, 
Rauschgiften ;  der  Aufgeregte  umgekehrt  nach  beruhigenden,  schwächenden 
Mitteln,  also  nach  narkotisierenden  Giften,  nach  dem  allverbreiteten  Ader- 
laß usw.  Auch  die  Nährpflanzen  gehören  zum  ältesten  Medikamentenschatz. 
Daß  man  ferner  Wunden  verband,  um  die  Blutung  zu  hemmen  und  viele 
ähnliche  erhaltende  und  heilende  Maßregeln  ergriff,  beruhte  ebenfalls  auf 
einfachen  Beobachtungen  und  Schlüssen  und  war  nicht  notwendig  mit  aber- 
gläubischen Vorstellungen  verknüpft.  Das  alles  geben  wir  zu  und  stimmen 
insoweit  den  verständigen  Ausführungen  Hofschlägers  (im  Archiv  für  Ge- 
schichte der  Medizin  Bd.  IH)  bei. 

31 


Trotzdem  halten  wir  daran  fest,  daß  die  Medizin  durch  die  ReHgion  und 
ihren  priesterUchen  Vertreter  entscheidende  Anregungen  und  Förderungen 
erfahren  hat.  Die  Geschichte  der  Medizin  ist  von  der  dämonologischen  Welt- 
anschauung nicht  ablösbar;  die  zauberärztliche  Theorie  und  Praxis  hat 
sich  sämtlicher  durch  die  einfachen  Triebe  und  Nötigungen  gegebener  Heil- 
bemühungen bemächtigt  und  der  Priester  ist  Jahrtausende  hindurch  der 
berufene  Kenner  und  Bekämpfer  der  Krankheiten  gewesen.  Daran  läßt  sich 
nichts  ändern.  Und  wenn  wir  uns  die  Frage  stellen,  ob  die  religiöse  Medizin 
der  Menschheit  Gutes  gebracht  oder  nicht  und  ob  der  Priesterarzt  der  wissen- 
schaftlichen Heilkunde  zur  Zierde  gereicht  oder  nicht  —  was  werden  wir 
dann  antworten?  Es  scheint  auf  der  Hand  zu  liegen,  daß  der  Priester  die 
wissenschaftliche  Entwicklung  gehemmt  und  den  ärztlichen  Praktiker  durch 
die  religiösen  Phantasmen  in  verhängnisvoller  Weise  vom  rechten  Wege  ab- 
geführt hat.  Die  moderne  Wissenschaft  macht  ihm  mit  Recht  diesen  Vor- 
wurf. Aber  wir  sollten  gerecht  genug  sein,  anzuerkennen,  daß  der  Priester- 
arzt dem  Heilberuf  erst  Würde  und  Größe  verliehen  hat,  indem  er  die  Patho- 
logie und  Therapie  mit  dem  gesamten  Kulturstreben  der  Menschheit  orga- 
nisch verknüpft  hat.  Man  sage  nicht,  daß  es  um  die  Medizin  am  besten 
stünde,  wenn  sie  sich  von  der  übrigen  Kultur,  von  der  Kunst  und  Religion, 
Psychologie  und  Ethik  möglichst  getrennt  halte.  Das  ist  ein  Vorurteil  der 
heutigen  wissenschaftlichen  Medizin,  das  sich  bitter  rächen  wird,  wenn  man 
noch  lange  an  ihm  festhält.  Durch  die  religiöse  Medizin  und  ihren  Vertreter 
hat  die  Krankheits-  und  Heilkunde  Kraft,  Tiefe  und  sittlichen  Adel  erhalten. 
Durch  die  Verknüpfung  mit  der  Seelenkunde  und  Gotteskunde  ist  sie  zu  so 
beherrschender  Bedeutung  gelangt,  wie  es  ihr  durch  die  reine  Praxis  und 
reine  Forschung  niemals  hätte  gelingen  können.  Müssen  wir  nach  den  Ent- 
deckungen der  letzten  Jahrzehnte  über  den  Zusammenhang  von  geistiger 
Kraft  und  körperlicher  Gesundheit,  nach  den  wachsenden  Erfolgen  der 
Psychotherapie  nicht  allgemach  auf  den  Gedanken  kommen,  daß  der  priester- 
liche Seelenarzt  mit  Gott,  d.  h.  der  Glaubenskraft  im  Bunde  mehr  Gutes 
am  Krankenbett  gewirkt  hat,  als  ein  praktischer  Arzt  unserer  Zeit,  der  sich 
lediglich  auf  Pillen  und  Dekokte  verläßt?  Sollte  die  Betrachtung  und  Er- 
forschung der  Krankheitsvorgänge  als  dämonische  Einwirkungen  nicht  mehr 
zur  Aufhellung  der  menschlichen  Psyche  undPhysis  und  ihrer  medizinischen 
Beeinflußbarkeit  beigetragen  haben  als  die  empirische  Krankenbehandlung 
und  die  fach  wissenschaftliche  Theorie?  Wir  dürfen  den  rohen  materialisti- 
schen Standpunkt  doch  wolil  heute  für  überwunden  halten.  Es  scheint  aber, 
daß  viele  Ärzte  bewußt  oder  unbewußt  noch  immer  dem  Materialismus  an- 
hängen. Diese  Ärzte  verachten  und  meiden  die  Psychologie;  sie  glauben  ihrer 
Wissenschaft  und  der  ganzen  Menschheit  den  größten  Dienst  zu  erweisen, 

32 


wenn  sie  die  Medizin  lediglich  als  naturwissenschaftliche  Disziplin  und  als 
handwerkliche  Kunst  auffassen.  Die  Medizin  ist  ja  auch  beides  und  soll  es 
bleiben;  aber  sie  ist  noch  mehr  und  die  Mediziner  sollten  sich  auf  dies 
,,Mehr"  besinnen,  solange  es  noch  Zeit  ist.  Es  könnte  ihnen  der  von  allen 
Seiten  drohende  Ansturm  gegen  den  wissenschaftlichen  Heilbetrieb  sonst 
doch  gefährlich  werden. 

Die  heutige  Unzufriedenheit  mit  der  wissenschaftlichen  Medizin  ent- 
springt im  letzten  Grunde  daraus,  daß  die  Medizin  unreligiös  geworden  ist 
und  der  Arzt  aufgehört  hat,  ein  Priester  zu  sein.  Man  möge  diese  Ausdrücke 
nicht  falsch  verstehen,  sie  v/erden  weiterhin  ihre  Erklärung,  und  wie  ich 
hoffe,  ihre  Rechtfertigung  finden.  Ganz  neuerdings  kündigt  sich  ein  Um- 
schwung an:  Die  Zahl  der  Ärzte  wächst,  die  die  Macht  des  Geistes  wiederum 
in  Rechnung  stellen  und  der  Seelenheilkunde  eine  ungeahnte  Auferstehung 
zu  bereiten  beginnen.  Über  diese  hoffnungsvolle  Wendung  und  die  Folgen, 
die  sie  für  das  freie  Priestertum  der  Zukunft  haben  wird,  werden  wir  im 
letzten  Kapitel  ausführlicher  zu  sprechen  haben.  Hier  möchte  ich  nur  mit 
aller  Schärfe  betonen,  daß  Religion  und  Medizin,  Priester  und  Arzt  nie  ohne 
Verbindung  miteinander  sein  oder  gar  in  Feindschaft  miteinander  leben 
dürfen.  Die  Zeiten,  in  denen  es  der  Fall  gewesen  ist,  sind  stets  Zeiten  der 
Auflösung  und  chaotischen  Neubildung.  In  solchen  Zeiten  tut  entweder  die 
Religion  oder  die  Medizin  oder  alle  beide  nicht  ihre  volle  Pflicht.  Wie  unser 
Leib  das  Werkzeug  unserer  Seele,  unser  Leben  das  Werden  und  Wirken 
unseres  Gottes  ist,  so  müssen  auch  die  leibliche  Heilkunst  und  die  religiöse 
Erziehung,  die  medizinische  Theorie  und  die  gesamte  Welt-  und  Lebens- 
anschauung, die  Ärzteschaft  und  die  Priesterschaft  in  engster  Verbindung 
miteinander  stehen  und  gemeinsam  den  Menschen  dienen. 

Die  wissenschaftliche  Heilkunde  kämpft  einen  berechtigten  und  notwen- 
digen Kampf  gegen  den  Heilaberglauben  und  jede  Art  von  Kurpfuscherei. 
In  diesem  Kampfe  wollen  wir  sie  nach  Kräften  unterstützen,  wollen  der 
Leichtgläubigkeit  der  hilfsbedürftigen  Menschheit  und  den  schlauen  und  ge- 
wissenlosen Ausbeutern  dieser  Leichtgläubigkeit  mit  allen  Mitteln  zu  Leibe 
gehen.  Ferner  ist  es  nun  allbekannt,  daß  diese  Ausbeuter  fast  immer  auf 
überwundene  medizinische  Anschauungen  zurückgreifen,  und  diese  Anschau- 
ungen sind  unlöslich  mit  der  dämonologischen  Heilkunst  des  Priesters  ver- 
knüpft. Die  Stimmungen  des  Kranken  kommen  dem  Heilschwindel  wdüig 
entgegen,  denn  geschwächte  und  gequälte  j\Ienschen  verlangen  nach  Hand- 
greiflichkeiten, an  die  sie  sich  anklammem  können ;  der  Glaube  der  Gesunden 
und  Starken  bietet  ihnen  nicht  Halt  und  Trost  genug.  Der  Kranke  will  mehr ; 
er  erinnert  sich  des  Glaubens  seiner  Vorfahren,  er  greift  nach  dem  Kinder- 
glauben der  Menschheit;  er  lauscht  den  Stimmen,  die  aus  der  Tiefe  seines 

3  Horneffer,  Der  Priester  II  ^^ 


müden,  gepeinigten  Herzens  heraufklingen,  den  alten,  unterdrückten  und 
vergessenen  Geistern,  deren  er  in  gesunder  Zeit  spottet.  Da  kommt  ihm  der 
rehgiöse  Kurpfuscher  gelegen,  da  ergibt  er  sich  der  ,, christlichen  Wissen- 
schaft", der  magnetischen  Therapie  und  anderen  dunkeln  und  ungewöhn- 
lichen Heilverfahren,  die  sämtlich  mit  der  dämonologischen  Zauberheilkunst 
in  nahem  Zusammenhang  stehen. 

Diesem  Treiben  sieht  der  \vissenschaftliche  Arzt  mit  Ingrimm  zu  und 
kommt  nur  zu  leicht  zu  dem  Schlüsse,  daß  jede  Beeinflussung  der  Medizin 
durch  Psychologie  und  Religion  von  Übel  sei.  Er  hält  sich  und  uns  die  leidige 
Wahlverwandtschaft  zwischen  dem  Hilfe  suchenden  Aberglauben  der  Kran- 
ken und  dem  Hilfe  verheißenden  Aberglauben  der  Kurpfuscher  vor  Augen. 
Er  sieht  wie  seine  bessere  Hilfe  verschmäht  wird,  wie  jeder  Laie  sich  heraus- 
nimmt, die  Medizin  zu  verhöhnen  und  die  Ergebnisse  mühsamer  Forschung 
durch  alberne  Phrasen  beiseite  zu  schieben.  Kein  Wunder,  daß  er  dabei  die 
Geduld  verliert  und  einen  unversöhnlichen  Haß  gegen  jede  psychische 
Krankheitstheorie  und  Krankenbehandlung  faßt;  daß  er  sich  an  die  ge- 
sicherten Tatsachen  der  Naturwissenschaft  und  an  seine  praktische  Übung 
hält  und  mit  den  Kranken  umgeht,  als  wären  sie  seelenlose  Automaten  oder 
anatomisch  zu  präparierende  Leichen. 

Aber  er  muß  diese  Einseitigkeit  überwinden  und  die  Dinge  in  ihrem  wahren 
Lichte  betrachten  lernen.  Er  muß  sich  von  dem  Irrtum  losmachen,  daß  die 
gesamte  religiöse  Medizin  Unsinn  und  Betrug  sei  und  daß  die  ganze  ver- 
gangene ]\Ienschheit  in  ärztlichen  Dingen  auf  falschen  Wegen  gewandelt  sei, 
mit  Ausnahme  höchstens  der  Anfänge  der  rationellen  Medizin  im  Altertum 
und  der  durch  Erfahrung  gefundenen  Heilmittel  der  verschiedenen  Völker. 
Wohl  ist  es  richtig,  daß  sich  viel  Groteskes  und  Unsinniges  in  der  priester- 
lichen Medizin  befindet;  jeder  der  sich  mit  der  Geschichte  dieser  Medizin 
beschäftigt,  findet  hinreichend  Anlässe  über  die  Torheit  und  Verkehrtheit 
der  kranken  Menschheit  und  ihrer  priesterlichen  Ärzte  zu  lachen  und  zu 
schelten.  Aber  es  ist  unsere  Aufgabe,  wenn  wir  Historiker  und  gerechte  Be- 
urteiler sein  wollen,  die  Vernunft  in  der  Unvernunft  aufzusuchen  und  das 
innere  Band  aufzuzeigen,  das  unsere  heutige  Heilkunst  mit  der  der  Ver- 
gangenheit bis  hin  zu  den  primitivsten  Wilden  verknüpft.  Ein  solches  Band 
muß  vorhanden  sein;  es  ist  in  allen  anderen  Kulturgebieten  nachweisbar; 
die  Geschichte  der  Menschen  ist  nicht  Unsinn  und  Zufall,  sondern  stetige 
Entwicklung.  Daher  kann  ich  es  nicht  billigen,  wenn  verdiente  ärztliche 
Historiker  wie  Magnus  und  Pagel  die  religiöse  Medizin  ihren  Medizinstu- 
denten als  einen  Gegenstand  der  Belustigung  und  Entrüstung  vortragen. 

In  den  alten  Zauberärzten  lebte  zuweilen  eine  bessere  ärzthche  Kraft  und 
Weisheit  als  in  manchem  aufgeklärten  Dutzendarzte  unserer  Zeit.  Da  wird 

34 


uns  dann  verächtlich  erwidert,  die  Zauberärzte  hätten  doch  bloß  psychi- 
sche Kuren  zustande  gebracht!  Nun  ja;  die  meisten  Priesterkuren,  wenn  aucli 
nicht  alle,  beruhten  auf  Suggestivwirkungen  und  pädagogisch-ethischen 
Wirkungen.  Aber  ist  das  ein  Grund,  diese  Kuren  geringzuschätzen?  Ver- 
dient es  nicht  eher  Bewunderung,  daß  die  Priester  mit  psychischen  Mitteln 
so  viele  unstreitige  Erfolge  errungen  haben  ?  Ist  es  etwa  leicht,  die  Kranken 
mit  jenem  felsenfesten  Glauben  an  den  Arzt,  an  seine  Persönlichkeit  und 
sein  Heilverfahren  zu  erfüllen,  der  die  Vorbedingung  der  Heilung  ist  ?  Man 
glaube  doch  nicht,  daß  mit  bloßer  Charlatanerie  große  und  dauernde  Erfolge 
in  der  Psychotherapie  zu  erzielen  seien.  Der  Charlatan  kann  nur  in  verwirr- 
ten und  zerrissenen  Zeiten  wie  die  heutige  oder  das  ausgehende  Altertum 
und  Mittelalter  zu  gewissem  Ruhm  und  Ansehen  gelangen.  Unter  normalen 
Kulturverhältnissen  unterliegt  er  unfehlbar  dem  ehrlichen  Arzte,  der  Cha- 
rakter und  Aufopferungsfähigkeit  besitzt.  Nur  der  ehrliche,  kraftvolle  Arzt 
wird  in  großem  Maßstabe  suggestiv  und  erzieherisch  zu  wirken  imstande 
sein;  nur  er  wird  sich  der  Seele  des  Kranken  insoweit  bemächtigen,  daß  er 
dessen  Leib  bezwingen  und  dem  Kranken  zeigen  kann,  wie  er  sein  Leben 
gesund  und  fruchtbringend  gestalten  soll.  Wenn  der  Arzt  ein  haltloser 
Schwächling,  ein  phantastischer  Schwindler,  ein  gemütlicher  Philister  ist, 
%vird  ihm  das  gewiß  nicht  gelingen.  Aber  auch  dem  objektiven  Wissen- 
schaftler, mag  er  das  medizinische  Fach  noch  so  vollkommen  beherrschen, 
wird  es  nicht  gelingen.  Die  Seelenheilkunde  im  höchsten  Sinne  erfordert 
ganze  Menschen,  die  ihre  Persönlichkeit  rückhaltlos  einsetzen. 

Wie  schon  Löwenfeld  betont  (,, Lehrbuch  der  Psychotherapie"),  handelt 
es  sich  keineswegs  bloß  darum,  die  Kranken  zu  hypnotisieren,  sie  zu  über- 
rumpeln und  ihren  Willen  lahmzulegen.  Das  sind  höchstens  Hilfsmittel  der 
eigentlichen  Kur  und  die  hervorragendsten  Seelenärzte  verzichten  mehr  und 
mehr  auf  diese  nicht  unbedenklichen  Hilfsmittel.  Es  handelt  sich  vielmehr 
um  Entwicklung  und  Kräftigung  des  Willens,  um  eine  neue  Harmonisierung 
der  disparaten  Persönlichkeitselemente.  Krankheit  ist  Disgregation ;  der 
Arzt  soll  den  Disgregationsvorgang  aufhalten  und  womöglich  in  einen  heil- 
samen Emeuerungs-  und  Wiedergeburtsvorgang  umschaffen.  Das  Geheimnis 
dieser  höchsten  Gattung  ärzthcher  Kunst  erschließt  sich  nur  denen,  die  ihrer 
würdig  sind,  d.  h.  die  Kraft  haben,  sie  richtig  auszuüben.  Ich  glaube  fest,  daß 
unter  den  Priesterärzten  aller  Zeiten  viele  waren,  die  das  Geheimnis  kannten 
und  große,  wunderbar  erscheinende  Heilerfolge  erzielt  haben.  Dabei  kam 
ihnen  in  älteren  Zeiten  freilich  der  Umstand  zustatten,  daß  die  kindliche 
Menschheit  solchen  Kuren  zugänghcher  ist  als  die  reifere  Menschheit.  Die 
Aufgabe  der  Seelenärzte  wird  immer  schwieriger. 

Wir  wollen  gerne  zugeben,  daß  es  auch  unter  den  wissenschaftlichen 

35 


Ärzten  der  Gegenwart  Meister  in  der  Seelenheilkunde  gibt.  Sie  sind  es  aber 
nicht  so  sehr  ihrer  fachmännischen  und  naturwissenschaftlichen  Theorien 
wegen,  sondern  kraft  ihrer  Persönlichkeit  und  ihres  sittlichen  Charakters. 
Es  sind  religiöse  Naturen  im  besten  Sinne  des  Wortes,  sind  „Heilande",  die 
mit  dem  Kranken  gemeinsam  den  Kampf  gegen  die  bösen  und  zerstörenden 
Mächte  führen,  wie  einst  die  großen  Zauberärzte  der  älteren  Religionen. 

Macht  es  einen  großen  Unterschied,  daß  jene  alten  Heilande  sich  aber- 
gläubischer Mittel  bedienten?  Mir  scheint,  ihr  Verdienst  wird  dadurch  nicht 
geringer,  daß  sie  ohne  die  Hilfsmittel  der  wissenschaftlichen  Medizin  arbeiten 
mußten.  Und  wenn  wir  ehrlich  sein  wollen,  müssen  wir  den  gläubigen  Chri- 
sten zugeben,  daß  die  Religion  das  umfassendste  und  ewig  unentbehrliche 
Heilmittel  der  Menschheit  ist.  Ein  Heilmittel,  eine  Verteidigungs-  und  An- 
griffswaffe, ein  Linderungs-  und  Stärkungsmittel  zu  sein,  ist  die  ReHgion 
von  dem  Menschen  geschaffen  worden  und  hat  sich  als  solches  bewährt. 
Die  wirkungsvollsten  Arzneien,  die  die  menschlichen  Heilande  dargereicht 
haben  und  darreichen  werden,  sind :  Glaubensgebilde,  sittlich-religiöse  Leh- 
ren und  —  Liebe.  Ich  freue  mich,  in  diesem  Punkte  mit  einem  so  unchrist- 
lichen Arzte  wie  Paul  Dubois  (,,Die  Psychoneurosen  und  ihre  psychische 
Behandlung")  übereinzustimmen.  Da  wir  Heutigen  über  den  Zauberglauben 
und  die  übrigen  religiösen  Vorstellungen  und  Grundsätze  der  Vergangenheit 
hinausgewachsen  sind,  muß  die  ,, religiöse  Heilkunst"  natürlich  andere  In- 
halte haben  als  die  der  Priesterärzte,  und  jeden  Rückfall  in  die  abgetane 
Vorstellungs-  und  Zauberwelt  müssen  wir  bekämpfen:  er  ist  ein  Verrat  an 
der  Sache  der  Menschheit,  ein  Verrat  an  der  Religion,  so  religiös  sich  diese 
Rückfälligen  auch  gebärden.  Aber  das  darf  uns  nicht  verleiten,  die  Ärzte 
einer  älteren  Zeit,  für  die  jene  Glaubenswelt  volles  Leben  hatte,  zu  tadeln, 
weil  sie  die  damals  lebendige  Religion  als  Heilmittel  verwendeten.  Diese 
Priesterärzte  waren  auf  dem  rechten  Wege;  sie  gingen  gerade  auf  das  Ziel 
der  ärztlichen  Kunst  los:  die  Lebensgeister  des  Kranken  zu  wecken  und 
zum  Kampfe  gegen  die  Krankheit  aufzurufen.  Sie  traten  als  kraftübertra- 
gende Mitkämpfer  an  das  Bett  des  Kranken  und  flößten  ihm  das  Vertrauen 
ein,  daß  ,,Gott"  mit  ihm  sei.  Dieses  Vertrauen  machte  gesund  und  wird  in 
alle  Zukunft  gesund  machen.  Was  heißt  denn  hier  ,,Gott"  ?  Die  persönhche 
Kraft  des  Kranken  und  die  in  der  Person  des  Priesterarztes  symbolisierte 
Kraft  der  religiösen  und  sozialen  Gemeinschaft,  der  sie  beide  angehören. 
Von  diesem  Gott  kommt  in  der  Tat  die  stärkste  und  trostreichste  Hilfe 
gegen  die  bösen  Geister  der  Krankheit  und  alles  anderen  Ungemachs. 

Den  Zusammenhang  zwischen  Vertrauen  und  Gesundheit  haben  am  besten 
die  französischen  Psychiater  dargelegt.  Sie  haben  auch  erkannt,  daß  die 
alten  Priesterärzte  etwas  mehr  waren  als  Charlatane.  Charcot  ist  so  weit 

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gegangen,  den  Hysterischen,  die  er  nicht  zu  heilen  vermochte,  freizustellen,  ob 
sie  es  vielleicht  mit  der  Grotte  in  Lourdes  versuchen  wollten.  Was  seine  Sug- 
gestionen nicht  erzielten,  meinte  er,  würde  am  Ende  die  mächtige  Suggestion 
des  Wallfahrtsortes  und  seiner  heiligen  Quelle  bewirken.  Wie  werden  wir  die 
Wallfahrtsorte  im  allgemeinen  und  Lourdes  im  besonderen  beurteilen?  Ging 
Charcot  nicht  zu  weit,  wenn  er  seinen  Patienten  einen  so  gefährlichen  und 
verrufenen  Kurort  anempfahl?  (Vgl.  über  Lourdes  außer  Zola s  Roman  die 
Broschüre  E.  Aigners:  Lourdes  im  Lichte  der  medizinischen  Wissenschaft.) 

Religiöse  Kurorte  sind  eine  uralte  Einrichtung.  Schon  im  Altertum  gab 
es  solche  in  großer  Zahl.  Die  Tempel  des  Asklepios  waren  richtige  Wallfahrts- 
orte. Auch  dort  bildeten  heilige  Wässer  eines  der  hauptsächlichsten  Heil- 
mittel. Man  baute  die  Heilstätten  in  die  Nähe  warmer  und  minerahscher 
Quellen  und  benutzte  in  Griechenland  wie  in  anderen  Ländern  fast  alle 
Quellen  dieser  Art  zu  therapeutischen  Zwecken.  Genaueres  über  die  Kran- 
kenbehandlung in  den  griechischen  Wallfahrtsorten  wissen  wir  namentlich 
aus  Epidaurus,  wo  sich  ein  sehr  besuchtes  Asklepieion  befand.  Die  Kranken 
wurden  von  den  Priesterärzten  im  Tempel  umhergeführt,  sahen  die  un- 
zähhgen  Votivtafeln  und  Weihegaben  (Gliedmaßen  in  Marmor  oder  Ton, 
Münzen,  Asklepiosbilder),  die  die  dankbaren  Genesenen  gestiftet  hatten,  und 
legten  sich  endlich  zum  Schlafe  nieder,  damit  der  Gott  ihnen  im  Traum  die 
Heilmittel  angäbe  oder  sie  gleich  während  des  Schlafes  gesund  mache.  Meist 
trat  eine  rationelle  Behandlung  der  Leiden  hinzu.  Neben  diesen  Asklepios- 
krankenhäusem  gab  es  später  auch  solche  der  Isis  und  des  Serapis,  wo  ähn- 
liche Priesterkuren  vorgenommen  wurden.  Als  das  Christentum  aufkam, 
traten  die  christlichen  Heilgötter  und  Heilpatrone  an  die  Stelle  der  heidni- 
schen, die  christlichen  Wallfahrtsorte  an  die  Stelle  der  heidnischen  Priester- 
heilstätten. Durch  das  ganze  Mittelalter  und  die  Neuzeit  haben  solche 
religiöse  Kurorte  bestanden  und  haben  mit  Quellen  und  Reliquien,  mit 
wundertätigen  Bildern  und  pomphaften  gottesdienstlichen  Handlungen  die 
Kranken  zu  Tausenden  herbeigezogen  und  ohne  Zweifel  vielen  Hilfe  ge- 
bracht. Der  Kranke  sieht  die  Menge  der  Andächtigen,  die  in  derselben  sehn- 
süchtigen imd  hoffnungsvollen  Stimmung  sind  wie  er;  er  hört  die  Preis-  und 
Dankgebete  der  wirklich  oder  scheinbar  Geheilten ;  er  sieht  die  Weihegaben, 
die  Nachbildungen  von  Gliedmaßen  und  die  sonstigen  Opferspenden.  Er 
wird  von  dem  allgemeinen  Begeisterungstaumel  ergriffen  und  die  Erschüt- 
terung seines  Geistes  bringt  eine  heilsame  Erschütterung  der  von  den  Nerven 
geleiteten  Körperorgane  hervor. 

Gefähr hch  und  verderblich  werden  diese  religiösen  Heilstätten  erst  dann, 
wenn  die  Kultur  und  Religiosität  des  betreffenden  Volkes  über  die  dort 
geübte  Heilweise  und  die  ganze  magische  Weltauffassung  hinauswächst.  Sie 

ZI 


sind  dann  die  hartnäckigsten  Feinde  und  schwersten  Hemmnisse  einer 
neueren  höheren  Religion  und  Heilkunst.  Sie  werden  dann  auch  zu  einer 
Brutstätte  des  „frommen  Betruges",  auf  den  wir  sogleich  zu  sprechen  kom- 
men werden.  Ihr  eigentliches  Verbrechen  besteht  dann  darin,  daß  sie  das 
blinde  \'ertrauen  hilfsbedürftiger  verzweifelter  Seelen  mißbrauchen  und, 
wenn  sie  selbst  leibliche  Hilfe  bringen,  die  Geister  für  immer  krank  und  un- 
selbständig machen.  Daher  kann  man  dem  großen  Charcot  nicht  beipflich- 
ten, daß  er  hoffnungslosen  Patienten  Lourdes  empfiehlt,  es  sei  denn,  daß 
er  diesen  Rat  nur  den  geistig  Tiefstehendsten  gibt,  bei  denen  eine  Erhebung 
über  den  dämonologischen  Standpunkt  außer  dem  Bereich  der  Möglichkeit 
liegt.  In  diesem  Falle  kann  man  ihm  nicht  unrecht  geben;  denn  ohne  Frage 
ist  ein  bigotter  Gesunder  für  die  menschliche  Gesellschaft  nützhcher  als  ein 
bigotter  Kranker.  Und  es  gibt  eine  nicht  geringe  Zahl  solcher  Nachzügler, 
die  ohne  die  dämonologische  Weltauffassung  nicht  leben  können  und  es  auch 
nicht  lernen  werden.  Mögen  sie  nur  alle  nach  Lourdes  gehen !  Das  ist  besser, 
als  wenn  eine  höhere  und  freiere  Heilkunst  sich  vergeblich  mit  ihnen  abmüht. 
Im  ^Mittelalter  und  in  der  älteren  Zeit  des  Griechentums  waren  die  Wall- 
fahrtsorte und  Heiltempel  die  normalen  Krankenhäuser;  denn  die  dämono- 
logische W^eltauffassung  wurde  damals  nicht  nur  von  den  Nachzüglern,  son- 
dern auch  von  den  geistig  Führenden  geteilt.  Die  dort  gepflegte  Heilkunst 
war  daher  die  edelste  und  kulturgemäßeste,  die  man  hatte;  die  heilenden 
Priester  waren  in  ihrer  \\'eise  ernste  und  ehrwürdige  Ärzte.  Auf  welchem 
Wege  der  allmähliche  Umsch\\aing  eintrat  und  die  rehgiösen  Kurorte  zu 
Stätten  schmachvollen  Aberglaubens  wurden,  haben  wir  oben  schon  ange- 
deutet. Der  zum  Propheten,  Forscher  und  Arzt  umgewandelte  Zauberer 
rüttelte  die  Volksseele  aus  dem  dämonologischen  Schlafe  auf  und  stellte  der 
Priestertherapie  eine  höhere  weltliche  Therapie  gegenüber.  In  Griechenland 
kann  man  es  gut  beobachten,  wie  die  prophetischen  Geister  sich  gegen  das 
erstarrende  und  entartete  öffentHche  Priestertum  zur  Wehr  setzten,  wie  sich 
halb  religiöse,  halb  \\issenschaftliche  Laienbünde  bildeten,  die  die  Heilkunst 
zu  ihrem  Lebensberuf  machten  und  sie  auf  die  höhere  Stufe  der  neuen  Welt- 
und  Lebensanschauung  hoben.  So  gab  es  eine  Ärztegenossenschaft  der  Askle- 
piaden,  die  sich  rühmten,  von  Asklepios  abzustammen  und  von  ihm  und 
seinem  Sohne  Podaleirios  die  Geheimnisse  der  ärztlichen  Wissenschaft  emp- 
fangen zu  haben.  Sie  bildeten  einen  festen  Geheimbund;  der  neu  Aufgenom- 
mene mußte  ein  Gelübde  ablegen  und  wurde  fachmännisch  ausgebildet.  Wie 
das  Verhältnis  dieser  Asklepiaden  zu  den  Priestern  in  den  Wallfahrtsorten 
des  Asklepios  war,  ist  nicht  ganz  klar;  jedenfalls  schufen  sie  regelrechte 
Krankenhäuser  und  begründeten  die  wissenschaftliche  Medizin,  Ihr  berühm- 
testes Bundesmitghed  war  Hippokrates. 

38 


Die  Entwicklung  der  Medizin  in  der  christlichen  Epoche  können  wir  hier 
nicht  verfolgen.  Die  älteren  Christen,  zumal  die  Priester,  taten  sich  innerhalb 
des  römischen  Weltreiches  als  aufopfernde  Krankenpfleger  hervor.  Die 
Klöster  wurden  zu  Hospitälern  und  Schulen  in  der  Heilkunst.  Erst  im  spä- 
teren Mittelalter,  unter  dem  Einfluß  der  erstarkten  Universitäten  gelang  es, 
die  Trennung  des  ärzthchen  von  dem  priesterlichen  Berufe  durchzusetzen. 
Die  Kirche  untersagte  nunmehr  den  Geistlichen  das  ärztliche  Praktizieren; 
aber  die  Verwendung  der  Reliquien,  Kirchenkerzen,  heiligen  Quellen  zu 
ärztlichen  Zwecken  untersagte  sie  freilich  nicht,  sondern  ließ  es  sich  ruhig 
gefallen,  daß  eifrige  Priester  sie  zum  Hort  einer  überlebten,  die  Bedürfnisse 
der  Unmündigen  und  Hilflosen  klug  berücksichtigenden  Zauberheilkunst 
machten. 


iyi  4.  DER  FROMME  BETRUG  |i| 


Die  ärztliche  Tätigkeit  des  Priesters  ist  oft  als  ein  betrügerisches  Ausbeuten 
geängstigter  Toren  bezeichnet  worden.  Wenn  dieser  Vorwurf  in  seiner  Allge- 
meinheit auch  ungerechtfertigt  ist,  so  hat  sich  uns  doch  deutlich  genug  er- 
geben, daß  der  priesterliche  Arzt  mitunter  recht  bedenkliche  ,, Kuren" 
unternimmt  und  dem,  was  wir  auf  gut  Deutsch  ,, Betrug"  nennen,  mindestens 
sehr  nahekommt.  Die  ganze  Zauberei,  auch  als  Kult-  und  Opferwesen, 
erscheint  unserem  heutigen  Empfinden  nur  zu  leicht  als  Unredlichkeit  und 
Betrügerei.  Wir  wollen  dieser  Frage  daher  eine  eingehende  Betrachtung 
widmen  und  das  gesamte,  auf  dem  Zauber-  und  Dämonenglauben  beruhende 
Tun  und  Treiben  des  Priesters  vor  dem  Forum  der  Redhchkeit  und  Wahr- 
haftigkeit zu  prüfen  versuchen.  Dabei  überschreiten  wir  freilich  die  Grenzen 
des  Kapitels:  Der  Priester  als  Arzt;  denn  wir  wollen  unsere  Betrachtung 
auch  auf  das  Verhältnis  des  Kultpriesters  und  des.  Propheten  zum  Betrug 
ausdehnen.  Aber  da  die  Heiltätigkeit  des  Priesters  wohl  am  meisten  Anlaß 
zur  pia  fraus  gegeben  und  den  Priesterfeinden  am  häufigsten  zum  Angriffs- 
punkt gedient  hat,  steht  die  Besprechung  der  Frage  doch  hier  an  der  geeig- 
neten Stelle.  Ich  habe  im  vorigen  Kapitel  über  den  Priester  als  Zauberer 
und  Kultpfleger  absichtlich  vermieden,  auf  die  Anklage  ,, wegen  Betrugs" 
einzugehen,  die  die  Menschheit  von  jeher  gegen  den  Priester  erhoben  hat 
und  die  ihm  in  der  neueren  Zeit  immer  mehr  schwere  Stunden  bereitet. 
Auch  im  folgenden  Kapitel  über  den  Wortpriester,  den  Verkünder  des  gött- 
lichen Willens,  werden  wir  auf  diese  Anklage  nicht  mehr  zurückkommen, 
da  wir  sie  schon  jetzt  im  Zusammenhange  behandeln  und  soweit  möghch 
erledigen  werden. 

39 


„Du  Lügner!  Du  Betrüger!"  so  schallte  und  schallt  es  dem  Priester  ent- 
gegen. —  Wir  bemerken  aber  sofort,  daß  sich  diese  schwere,  vernichtende 
Beschuldigung  in  früheren  Zeiten  auf  wesentlich  andere  Gründe  stützte  als 
in  der  Gegenwart.  Gleich  von  vornherein  müssen  wir  einen  gnindsätzhchen 
Unterschied  machen  zwischen  solchen  Anklägern,  die  bloß  einzelne,  be- 
stimmte Zauberer,  Ärzte,  Propheten  für  Betrüger  halten,  und  jenen  anderen, 
die  in  jeder  Zauberwirkung,  jeder  Prophezeiung,  jedem  magischen  Heilsakt 
eine  bewußte  oder  unbewußte  Täuschung  erblicken.  Die  ältere  Menschheit 
zweifelte  keinen  Augenblick  daran,  daß  es  zauberhafte  Wirkungen,  mit 
Zauberkraft  begabte  Menschen  und  zaubernde  Dämonen  und  Götter  gäbe; 
unsere  heutige  Anschauung,  daß  alles,  was  geschieht,  mit  rechten  Dingen 
zugeht  und  mit  dem  angeblichen  Wirken  überirdischer  Mächte  gleichviel 
oder  gleich  wenig  zu  tun  hat,  war  unseren  Vorfahren,  auch  den  freigeistigsten, 
fremd.  Daher  war  man  fest  überzeugt,  daß  es  echte  Zauberer,  echte  Priester- 
ärzte und  Propheten  gab.  Die  Frage  war  nur,  ob  man  im  einzelnen  Falle 
einen  echten  oder  einen  falschen  vor  sich  hatte.  Man  zweifelte  auch  nicht 
daran,  daß  die  ,, bösen"  Zauberer  sowie  die  Priester  und  Propheten  fremder 
Religionen  ebensogut  echt  sein  konnten  als  die  guten  und  vertrauten  reli- 
giösen Personen.  Der  fremde  Medizinmann  zaubert  nicht  weniger  als  der 
eigene;  die  fremden  Geister  und  Götter  beweisen  ihre  ]\Iacht  nicht  weniger 
als  die  heimischen.  Als  Aaron  vor  Pharao  stand  und  ihm  ein  Zauberkunst- 
stück vormachte,  nämlich  seinen  Stab  in  eine  Schlange  verwandelte,  mach- 
ten es  ihm  die  ägyptischen  Priester  sofort  nach.  Nur  war  die  im  Namen  und 
i^uf trage  Jahwes  verübte  Zauberei  wirkungsvoller ;  sein  Stab  fraß  die  anderen 
auf.  Ebenso  bezweifelte  in  der  urchristlichen  Zeit  auch  der  gottgläubigste 
Christ  nicht,  daß  auch  die  heidnischen  Wunderdoktoren  Teufel  austreiben 
könnten.  Diese  heidnischen  Exorzisten  bedienten  sich  bei  der  Heilung  sogar 
hie  und  da  des  Namens  Christi.  Sie  übernahmen  also  die  Beschwörungsfor- 
meln ihrer  so  wunderbar  erfolgreichen  christlichen  Berufsgenossen  und  zwan- 
gen auch  ihrerseits  den  ihnen  feindlichen  Kultgott  Jesus  zum  Kampfe  gegen 
die  Krankheitsgeister.  Mit  Hilfe  der  heidnischen,  nach  christlicher  Meinung 
bösen,  Mächte  vermochten  sie  natürlich  ebenfalls  Heilwunder  und  andere 
Störungen  des  Naturlaufs  herbeizuführen.  Das  ganze  Mittelalter,  auch  noch 
Luther  und  die  Folgezeit  glaubten,  daß  die  Hexen  wirkhch  hexen  könnten, 
daß  überhaupt  der  Mensch  die  Höllengeister  in  seinen  Dienst  zwingen 
könnte,  so  gut  wie  der  Priester  in  der  Messe  den  Herrn  herbeizwang  und  der 
fromme  Beter  sich  Hilfe  von  Gott  und  den  Heiligen  holte.  Nach  christlicher 
Lehre  gehören  Zauberwirkungen  zu  den  bewiesenen  Tatsachen;  auf  diesen 
Tatsachen  erhebt  sich  das  ganze  Dogmengebäude,  das  in  dem  Apostohcum 
seinen  klassischen  Ausdruck  gefunden  hat.  Der  Christ  hat  nur  zu  prüfen, 

40 


ob  im  einzelnen  Falle  eine  Zauberwirkung,  ein  „Wunder"  vorliegt  oder  eine 
auf  geschickter  Benutzung  der  Naturkräfte  beruhende  Täuschung.  Die  ka- 
tholische Kirche  entscheidet  darüber  von  Amts  wegen;  im  Protestantismus 
muß  der  Einzelne  selber  entscheiden. 

Anders  liegt  die  Sache  für  uns,  die  wir  überhaupt  keine  Zauberwirkungen 
anerkennen.  Wir  fragen  nicht,  ob  dieser  oder  jener  Wundertäter,  Visionär, 
Zauberarzt ,, wirklich"  über  dämonische  Mächte  verfügt  und  ob  diese  Mächte 
göttlicher  oder  teuflischer  Herkunft  sind.  Wir  sind  auf  Grund  der  jahr- 
hundertelangen wissenschaftlichen  und  philosophischen  Arbeit  Europas  von 
vornherein  vom  Gegenteil  überzeugt.  Wir  fragen  nur,  ob  der  Wundermann 
absichtlich  oder  unabsichtlich  täuscht,  ob  er  falsch  deutet,  falsch  denkt  oder 
falsch  handelt  und  redet.  Die  gesamte  priesterliche  Berufstätigkeit  aller 
Zeiten,  soweit  sie  auf  Zauberei,  Kult,  Heilwunder,  Prophetie  und  Gebet 
hinausläuft,  beruht  auf  Selbstbetrug  und  Betrug  anderer;  jeder  direkte 
äußere  Erfolg,  den  der  Priester  mit  seinen  religiösen  Praktiken  erreicht 
haben  will,  ist  irrtümlich.  Es  ist  ein  schauerlicher  Gedanke,  daß  sich  der 
Mensch  Jahrtausende  lang  durch  Beobachtungsfehler  und  falsche  Ausdeu- 
tungen des  Geschehens  hat  narren  lassen,  daß  alle  die  unermüdlichen  und 
aufreibenden  Bemühungen,  dem  Schicksal  durch  Überlistung  und  Zauber- 
kunststücke beizukommen,  eitel  Torheit  und  Täuschung  gewesen  sind.  Wir 
können  uns  nur  dadurch  mit  dieser  traurigen  Tatsache  aussöhnen,  daß  wir 
uns  klar  machen,  daß  diese  Bemühungen  eben  doch  nicht  vergeblich  ge- 
wesen sind,  weil  der  Zauber- und  Kultgedanke  für  die  sittliche  Erziehung  des 
Menschengeschlechts  von  den  segensreichsten  Folgen  gewesen  ist. 

Doch  haben  wir  es  jetzt  nicht  mit  den  Irrtümern  und  unabsichtlichen 
Täuschungen  des  Priesters  zu  tun,  sondern  mit  den  absichtlichen  und  be- 
wußten Täuschungen.  Die  Frage  lautet :  glaubt  der  Priester  an  seine  eigenen 
Künste  und  Fähigkeiten  oder  durchschaut  er  die  Komödie  ?  Handelt  er  ehr- 
lich und  mit  religiöser  und  wissenschaftlicher  Überzeugung  oder  hat  er  die 
gläubige  Gemeinde  nur  zum  besten? 

Da  ist  es  nun  merkwürdig,  daß  sich  schon  in  den  rehgiösen  Bräuchen 
mancher  Naturvölker  regelrechte  ,, Komödien"  finden.  Ich  denke  vor  edlem 
an  die  Maskenaufführungen  der  Geheimbünde  in  Afrika,  in  der  Südsee  und 
in  Amerika.  Die  Mitglieder  dieser  Geheimbünde  verfertigen  sich  kunstvolle 
oder  kunstlose  Gesichtsmasken  und  phantastische  Gewänder.  Wenn  das 
Fest  herankommt,  legen  sie  diese  Masken  an  und  zeigen  sich  so  vor  dem 
nicht  eingeweihten  Volke.  Das  Volk  glaubt  und  soll  glauben,  daß  nicht  etwa 
die  Menschen,  die  ihnen  persönlich  bekannt  sind,  in  den  Masken  stecken, 
sondern  Geister.  Die  Dämonen,  so  heißt  es,  kommen  in  Gestalt  dieser 
Maskenträger,  um  das  Dorf  zu  besuchen,  sich  Opfer  zu  erpressen,  aber  auch 

41 


um  Fruchtbarkeit  und  Gedeihen  zu  bringen,  Schuldige  zu  bestrafen  und 
dem  Geheimbunde  die  allgemeine  Achtung  zu  erwirken.  Die  Maskenträger 
selber  und  ihre  Genossen  wissen  aber,  wer  in  den  ]\Iasken  steckt  und  wie  die 
ganze  Szene  zustande  kommt.  Sind  sie  also  nicht  offenbare  Betrüger? 

Dazu  liefert  uns  Preuss  folgende  Erklärung.  Er  erzählt,  daß  hie  und  da 
die  Kinder  bei  Gelegenheit  in  die  Geheimnisse  eingeweiht  werden,  indem  die 
Darsteller  der  Götter  nach  allerhand  Zeremonien  die  Masken  abnehmen,  so 
daß  der  menschliche  Träger  zum  Vorschein  kommt.  ,,Wir  haben  hier  den 
besten  Beweis,"  fährt  er  fort  (Archiv  f.  Religionswiss.  Bd.  7),  ,,daß  die  in 
solche  Maskeraden  Eingeweihten  durchaus  nicht  den  Glauben  an  die  Zere- 
monien zu  verlieren  brauchen;  denn  das  Übernatürliche  sitzt  hier  eben  in 
der  Maske,  und  die  Träger  sind  nur  dazu  da,  die  Maske,  d.  h.  die  Gottheit 
die  notwendigen  Zauberhandlungen  ausführen  zu  lassen".  Damit  erscheint 
dieser  Priesterbetrug  in  einem  anderen  Lichte.  Die  Maske  und  das  Masken- 
kleid enthalten  göttliche  Substanz;  die  priesterlichen  Träger  sind  Neben- 
sache ;  sie  wollen  weniger  den  Glauben  an  ihre  eigene  dämonische  Beschaffen- 
heit als  an  die  der  heiligen  Geräte,  Symbole  und  Handlungen  erwecken. 
Weiter  aber:  wenn  die  INIaskenträger  die  göttlichen  Kleidungsstücke  an- 
legen, geht  wirklich  etwas  von  der  dämonischen  Kraft  derselben  auf  sie  über. 
Der  maskierte  Priester  wird  wirklich  zum  Dämon ;  er  fühlt  sich  verwandelt 
und  erhöht,  ebenso  \ne  der  fromme  Christ  durch  den  Genuß  des  Abend- 
mahls und  durch  Berührung  heiliger  Gegenstände  verwandelt,  gekräftigt, 
geheilt  imd  mit  göttlicher  Wesenheit  erfüllt  wird. 

Wenn  der  Maskierte  keinen  ,, Glauben"  hat,  tritt  die  Venvandlung  natür- 
lich nicht  ein;  er  behält  das  Be\vußtsein,  ein  Mensch  und  kein  Dämon  zu 
sein ;  er  wird  zum  einfachen  Schauspieler.  Jedoch  kann  er  während  der  Hand- 
lung immer  noch  in  Hitze  kommen  und  sein  Persönlichkeitsgefühl  ganz  oder 
zum  Teil  verlieren.  Der  ganze  Vorgang  wirkt  ja  äußerst  suggestiv  und  wie 
\\ir  wissen,  vollzieht  sich  bei  Naturmenschen  und  hysterisch  Veranlagten 
der  Übergang  in  den  ,, zweiten  Zustand"  mit  großer  Leichtigkeit.  Man  sieht, 
die  Grenze  z\\ischen  Betrug  und  ehrlichem  Maskenspiel  ist  nicht  leicht  zu 
ziehen.  Der  Priester  weiß  oft  selber  nicht,  ob  er  sich  in  der  Maske  als  Gott 
fühlt  oder  nicht,  und  wenn  er  es  auch  weiß,  so  bleibt  doch  immer  die  Gött- 
lichkeit der  Maskengeräte,  die  er  in  Aktion  zu  setzen  hat,  bestehen.  Wenn 
diese  Aktion  die  Hauptsache  und  die  Irreführung  der  Menge  gar  nicht  der 
Zweck,  sondern  höchstens  eine  Nebenwirkung  der  heiligen  Vorführung  ist, 
kann  man  kaum  von  Betrug  sprechen.  Je  mehr  freilich  die  Irreführung,  Ein- 
schüchterung, Ausbeutung  der  Gläubigen  in  den  Vordergrund  tritt,  um  so 
mehr  verschiebt  sich  die  Tätigkeit  der  priesterlichen  Bünde  nach  der  Rich- 
tung des  schauspielerischen  Täuschens. 

42 


Wir  müssen  uns  an  das  früher  über  die  Hysterie  Gesagte  erinnern.  Jeder 
Psychiater  weiß,  wie  schwer  es  ist,  den  Hysterischen  nachzurechnen,  ob  und 
wann  sie  lügen.  In  vielen  Fällen  sind  sie  halb  oder  ein  Viertel  ehrlich  und 
sind  dann  tief  entrüstet,  wenn  man  sie  auf  den  unehrlichen  Rest  aufmerksam 
macht.  Die  Hysterischen  spielen  immer  Theater,  hat  man  gesagt.  Das  gilt 
auch  von  dem  hysterischen  Priester.  Woher  die  ungeheure  Verbreitung  des 
rehgiösen  Maskenwesens?  Von  der  unbezwinglichen  Neigung  hysterischer 
Personen,  zu  schauspielern  und  sich  selber  idealisiert,  und  vergöttlicht  zur 
Darstellung  zu  bringen.  Viele  hj^sterische  Schwindler  und  Hochstapler  aller 
Zeiten  haben  sich  zum  Priesterberuf  hingezogen  gefühlt  (aus  neuerer  Zeit 
erinnere  ich  an  Cagliostro,  Johnson,  Frau  Blavatsky  usw.),  und  umgekehrt 
sind  viele  Priester  durch  ihren  Beruf  an  oder  über  die  Grenze  der  Hoch- 
stapelei gedrängt  worden. 

Bei  den  hysterischen  Lügen  kann  man  beobachten,  daß  sie  das  Gewissen 
oft  nicht  im  geringsten  belasten.  Es  gehngt  dem  Hysterischen  —  ein  wenig 
hysterisch  ist  jeder  Mensch!  —  das  Unehrliche  seiner  Handlung  sofort  aus 
dem  Bewußtsein  zu  drängen  und  die  ehrlichen  und  lobenswürdigen  Bestand- 
teile sich  und  andern  als  die  allein  vorhandenen  hinzustellen.  Er  tilgt,  ab- 
sichtlich und  unabsichtlich,  alles  Verräterische  und  Widerspruchsvolle  seines 
Auftretens.  Alle  seine  Triebe  sind  in  geschäftiger  Tätigkeit,  das  was  er  dar- 
stellt, mit  dem  was  er  ist,  in  Einklang  zu  bringen,  die  Unebenheiten  auszu- 
gleichen, aus  der  Lüge  Wahrheit  werden  zu  lassen.  Entweder  richtet  sich 
dies  Bestreben  nur  auf  die  äußere  Darstellung,  manchmal  aber  auch  auf  das 
innere  Wesen.  Im  letzteren  Falle  haben  wir  nichts  als  eine  Übertreibung  des 
allgemein  menschHchen  Strebens  nach  Vervollkommnung  vor  uns.  Beim 
Priester  ist  der  menschliche  Drang  nach  Verwirkhchung  der  Wünsche  und 
Ideale  so  ungestüm  und  hemmungslos,  daß  er  sich  in  Form  des  hysterischen 
Spieles  durchsetzt. 

Damit  hängt  auch  die  priesterliche  Heuchelei  zusammen.  Die  ganze  mensch- 
liche Pädagogik  und  Ethik  ist  von  anarchistischen  Wahrheitsfanatikern  der 
Heuchelei  beschuldigt  worden.  Das  Kind  wird,  sagen  sie,  in  der  Kunst  zu 
heucheln  weit  sorgfältiger  als  in  allen  anderen  Künsten  unterwiesen.  Diese 
Behauptung  ist  nicht  so  unzutreffend,  wie  es  zunächst  den  Anschein  hat. 
Wirklich  richten  sich  die  pädagogischen  Bemühungen  der  Eltern,  Lehrer 
und  Erzieher  immerwährend  darauf,  daß  das  Kind  seine  Bedürfnisse, 
Wünsche,  Gefühlsregungen  nicht  merken  läßt  und  zeitweilig  oder  gänzlich 
verschweigt.  Es  wird  veranlaßt,  sich  Verhaltungsweisen  anzueignen,  die 
seinen  augenblicklichen  Empfindungen  nicht  entsprechen.  Es  lernt  Wünsche 
unterdrücken,  die  Befriedigung  von  Bedürfnissen  auf  bestimmte  Zeiten  zu 
verschieben  und  das  ganze  Leben  in  Regeln  zu  bringen,  die  sehr  oft  mit  den 

43 


Neigungen  im  Kampf  liegen.  Wir  nennen  die  menschlichen  Gesetze  und  Kon- 
ventionen niu:  deshalb  nicht  Heuchelei  und  Lüge,  weil  sie  nötig  und  zweck- 
mäßig sind.  Wenn  sie  es  nicht  sind,  wenn  eine  Sitte,  eine  Lebens-  und  Hand- 
lungsform sich  nicht  als  nötig,  zweckmäßig  und  förderlich  im  höchsten  Sinne 
zu  erweisen  vermag,  verfällt  sie  sofort  dem  berechtigten  Vorwurf :  lügnerisch 
und  betrügerisch  zu  sein. 

Weiter  lehrt  uns  die  Erfahnmg,  daß  schwache,  unterdrückte,  gequälte, 
unglückhche  Menschen  weit  eher  zm-  Lüge  imd  Heuchelei  veranlaßt  werden 
als  starke,  freie  und  glückliche.  Hysteriker  und  Kinder  lügen  aus  Schwäche 
—  von  der  künstlerischen  Phantasielüge  sehen  wir  hier  ab  — ;  die  Lüge  ist 
ihre  Waffe,  ist  ein  ]\Iittel,  zwischen  den  natürlichen  Trieben  und  den  von 
außen  herantretenden  Erziehungsanforderungen  eine  scheinbare  Einheit  her- 
zustellen. Der  Hysterische  gibt  sich  als  gut  oder  fromm  oder  stark,  ohne  es 
zu  sein,  ohne  auch  die  Kraft  zu  haben,  es  zu  werden.  Er  vermag  das  vorge- 
zeichnete und  erstrebte  Ideal  nicht  zu  verwirldichen  und  stellt  es  nur  schau- 
spielerisch, durch  lügnerische  Worte  und  Handlungen  dar.  Dadurch  sucht 
er  sich  diejenige  Achtung  zu  erringen,  die  den  wirklich  Strebenden  und 
Verwirklichenden  gezollt  wird. 

Diese  kurzen  Bemerkungen  über  das  Gesamtproblem :  Wahrheit  und  Lüge, 
müssen  genügen,  um  uns  über  die  Verwendung,  die  der  Priester  von  der 
Lüge  macht,  Licht  zu  verschaffen.  Die  Lüge  in  der  Religion  entspringt,  so- 
weit sie  nicht  mythologisches  Phantasiespiel  ist,  ganz  und  gar  aus  jenen 
beiden  Eigentümhchkeiten  des  Menschen:  er  stellt  das,  was  er  nicht  zu  er- 
reichen und  zu  vervvirklichen  vermag,  schauspielerisch  dar,  und  zweitens, 
er  sucht  mächtigeren  Gewalten,  deren  er  nicht  Herr  werden  kann,  durch 
Überhstung  imd  Irreführung  beizukommen.  Wie  das  Kind  verbotene  Ge- 
lüste befriedigt  und  es  hinterher  durch  Wort  und  ^liene  ableugnet,  so  erhstet 
sich  der  Mensch  Vorteile  von  Göttern  und  Geistern  und  naht  sich  ihnen  mit 
der  Miene  der  Unschuld  und  mit  lügnerischen  Ersatzleistungen  (Opfer, 
Sühneriten),  so  überhstet  auch  der  Priester  seine  Gemeinde,  indem  er  ihr 
Geld  und  Gut,  Gehorsam  und  Liebe  abnötigt  und  dafür  religiöse  Ersatz- 
leistungen bietet:  er  setzt  die  Gottesmaske  auf,  spielt  den  Menschen  das 
Ideal  vor,  dessen  Erfüllung  sie  ersehnen,  und  verspricht  kraft  seiner  angeb- 
hchen  Götthchkeit  ihnen  zur  Erfüllung  zu  verhelfen.  Der  ,, fromme  Betrug" 
wird  also  entweder  den  Göttern  oder  der  Gemeinde  gespielt. 

In  beiden  Fällen  des  frommen  Betruges  können  wir  eine  Stufenleiter  von 
der  fast  vöUigen  subjektiven  Ehrlichkeit  bis  zur  kalten  schnöden  Perfidie 
aufstellen.  Ich  sagte  schon,  daß  der  Hysterische  sich  alle  Mühe  gibt,  den  Be- 
trug zum  Selbstbetrug  werden  zu  lassen  und  das  Unehrliche  seiner  Hand- 
lungsweise aus  dem  Bewußtsein  zu  verdrängen.  Er  erschleicht  sich  dadurch 

44 


die  Billigung  jener  merkwürdigen  , .inneren  Stimme",  die  wir  Gewissen 
nennen  und  die  stets  zugleich  persönlichen  und  sozialen  Ursprungs  ist.  Er 
bietet  alles  auf,  um  bei  seinem  Tun  ein  gutes  Gewissen  zu  behalten  oder, 
wenn  das  Gewissen  Einspruch  erhebt,  es  wieder  zur  Ruhe  zu  bringen. 
Hysterische  Frauen  haben  in  dieser  Kunst  wohl  die  höchste  Virtuosität  er- 
reicht. Aber  auch  des  Priesters  Bemühungen  waren  immer  darauf  gerichtet, 
seine  Lügen  ehrlich  zu  machen,  d.  h.  zum  Selbstbetrüger  zu  werden  und  den 
Konflikt  zwischen  den  billigenden  und  verwerfenden  Instanzen  mit  allen 
Mitteln  beizulegen.  Sein  echtes  religiöses  Gefühl  verbindet  sich  so  fest  als 
möglich  mit  den  bedenklichen  Praktiken  und  so  treibt  er  die  Täuschung  auf 
der  Stufenleiter  zur  Ehrlichkeit  weit  hinauf.  Ich  glaube,  daß  die  krassen  Fälle, 
die  wir  als  schnöde  kalte  Perfidie  bezeichneten,  viel  seltener  sind,  als  die 
Priesterfeinde  annehmen.  Ein  wenig  Echtheit  und  Ehrlichkeit  fließt  fast 
immer  mit  hinein  und  der  Priester  setzt  alles  daran,  die  echten  und  ehrlichen 
Bestandteile  so  herauszuputzen  und  so  weit  in  den  Vordergrund  zu  rücken, 
daß  die  falschen  und  betrügerischen  ihm  und  den  andern  unmerkbar 
werden. 

In  diesem  Bemühen  findet  der  Priester  eine  wertvolle  Unterstützung  in 
dem  Umstand,  daß  sein  Betrug  selten  seine  persönliche  Erfindung  und  An- 
gelegenheit ist.  Hinter  ihm  steht  die  ganze  Priestergenossenschaft  mit  ihren 
Traditionen ;  die  Betrügereien  sind  alte,  durch  die  Zeit  geheiligte  Erbstücke 
der  religiösen  Vergangenheit.  Das  gibt  dem  einzelnen  Priester  einen  starken 
Rückhalt  und  erleichtert  ihm  die  Mühe,  den  Betrug  vor  sich  selber  zu  recht- 
fertigen, also  sich  das  unschätzbare  gute  Gewissen  zu  erhalten.  Der  Betrug 
wird  dadurch  auch  wirklich  entschuldbarer  und  heiliger. 

Nehmen  wir  ein  Beispiel!  In  jüngster  Zeit  ist  wieder  ein  Priesterbetrug 
aus  Altgriechenland  aufgedeckt  worden.  Man  hat  in  Korinth  die  Reste  eines 
archaischen  Orakelheiligtums  ausgegraben.  Ringsherum  zieht  sich  eine 
Mauer  und  an  einer  Stelle  dieser  Umfassungsmauer  war  eine  Inschrift  an- 
gebracht, die  das  Herantreten  an  diese  Stelle  bei  acht  Drachmen  Strafe  ver- 
bot. Warum  dies  Verbot?  Eine  der  Metopen,  die  die  Umfassungsmauer 
schmückten,  bildete  die  Tür  zu  einem  engen  Gang,  der  unter  den  Fußboden 
des  Tempels  führte,  und  in  dem  Fußboden  befand  sich  ein  trichterförmiges 
Loch.  Wenn  nun  Leute  kamen,  um  den  Gott  zu  befragen,  schlich  der  Priester 
durch  den  Gang  unter  den  Tempel  und  ließ  aus  der  Tiefe  durch  das  Loch 
die  Stimme  des  antwortenden  Gottes  erschallen.  Wir  haben  also  eine  ebenso 
unzweideutige  Täuschung  des  Volkes  vor  uns  wie  bei  den  Maskenfesten  der 
Geheimbünde,  Beide  Male  maßen  sich  Menschen,  Priester,  die  Rolle  der 
Gottheit  an  und  betrügen  dadurch  die  gläubigen  Laien.  Aber  in  beiden 
Fällen  geht  der  Betrug  von  einer  Genossenschaft  aus,  von  einem  das  Volk 

45 


regierenden  geistigen  Ausschuß ;  und  er  beruht  auf  altem,  durch  lange  Übung 
geschütztem  Herkommen.  Der  einzelne  Betrüger  fühlt  sich  daher  außer 
Schuld;  ja  der  korinthische  Orakelpriester  kann  ebenso  gläubig  und  gott- 
begeistert gewesen  sein  wie  der  dämonische  Maskentänzer.  Den  Spruch,  den 
er  aus  dem  Loch  hinaufrief,  kann  er  für  die  wirkliche  von  der  Gottheit  ein- 
gegebene Orakelantwort  gehalten  haben.  Indem  er  sprach,  fühlte  er  sich  — 
wer  weiß  ?  —  als  Gott,  und  die  betrügerische  Einkleidung  des  Orakelaktes 
war  eben  nur  ein  Mittel,  dem  törichten  Volke  Achtung  abzunötigen  und 
ihn  selber  in  die  heilige  Orakelstimmung  zu  bringen.  So  können  es  wenigstens 
einige  dieser  Orakelpriester  aufgefaßt  haben.  Daß  die  ideale,  die  ehriiche 
Betrügerei  recht  oft  in  unehrliche  und  gemeine  übergegangen  ist,  woUen 
wir  gewiß  nicht  leugnen. 

Einen  Hauptgrund  für  die  Anwendung  dieser  und  vieler  ähnlicher  Priester- 
künste bildet  die  betrübende  Tatsache,  daß  die  Gottheit  sich  den  Menschen 
leider  niemals  in  Person  zeigt,  niemals  mit  deutlichen  Worten  ihren  Willen 
kundtut,  niemals  in  den  Lauf  der  Dinge  mit  erkennbarer  Hand  eingreift. 
So  viele  Geister  und  Götter  die  Welt  bevölkern  und  bevölkert  haben  — 
in  dem  einen  Punkte  sind  sie  alle  einander  gleich:  sie  machen  sich  nur  auf 
Umwegen,  nur  durch  vieldeutige  Winke,  nur  durch  Mittelspersonen  bemerk- 
bar. Wie  gut  stände  es  auf  Erden,  wie  einträchtig  würden  die  Völker  und 
Einzelnen  miteinander  leben,  wie  gründlich  würde  der  ,, Unglaube"  verjagt 
und  ausgerottet  werden,  wenn  die  Götter  sich  nur  ein  einziges  Mal  die  Mühe 
geben  wollten,  für  jedermann  klar  und  glaubhaft  zu  erklären,  was  sie  von 
uns  verlangen,  was  ihr  Wille,  ihr  Ziel,  ihr  Wesen  ist !  Da  sie  Regenten  der 
Welt  sein  wollen,  sollten  sie  die  Weltregierung  auch  unzweideutig  in  die 
Hand  nehmen.  Aber  ach,  sie  haben  nur  immer  gemunkelt  und  gewinkt,  sind 
abwechselnd  verschwunden  und  unvermutet  wieder  aufgetaucht.  Die  arme 
Menschheit  hat  sich  bis  aufs  Blut  gequält,  den  widersprechenden  Anwei- 
sungen nachzukommen,  die  dunklen  Andeutungen  zu  verstehen,  die  wider- 
wiUigen  Götter  herbeizuziehen  und  ihre  launenhafte  Zurückhaltung  zu  be- 
siegen. Dem  Priester  hat  man  die  zwar  ehrenvoUe,  aber  höchst  undankbare 
Aufgabe  zuerteilt,  sich  mit  diesen  unbegreiflichen  Mächten  ins  Einverneh- 
men zu  setzen,  ihnen  klare  Befehle  abzuringen  und  sie  zur  dauernden  Über- 
nahme des  beanspruchten  Herrscheramtes  zu  veranlassen.  Was  soll  er  nun 
machen,  wenn  sie  ihn  einmal  im  Stiche  lassen,  wenn  sie  auf  den  gewohnten 
Ruf  hin  nicht  kommen  oder  ihm  einen  anderen  häßlichen  Streich  spielen? 
Das  Volk  will  unter  allen  Umständen  den  Gott  hören  oder  sehen ;  es  verlangt 
mit  drohender  Bestimmtheit,  daß  der  Priester  für  die  klare  Übermittlung 
des  götthchen  Willens,  für  die  Aufrechterhaltung  der  segensreichen  Verbin- 
dung mit  Gott  Sorge  trage.  Der  Priester  trägt  die  Verantwortung,  wenn  der 

46 


Gott  sein  Volk  meidet;  ihn  trifft  die  Schuld,  wenn  der  Gott  zürnt  und  sich 
unverständhch  oder  unglaubhaft  äußert. 

Für  gewöhnlich  gelang  es  dem  Priester,  durch  die  früher  beschriebenen 
Erregungsmittel  zur  Gottheit  durchzudringen  und  ihr  Erscheinen  und  Ein- 
greifen herbeizuführen.  Kraft  seiner  nervösen  Geistigkeit  und  sorgfältigen 
Übung  war  er  der  Gottheit  ziemlich  sicher,  fühlte  sich  eins  mit  ihr  und  ver- 
mochte mit  gutem  Gewissen  in  ihrem  Namen  zu  sprechen,  zu  heilen  und  zu 
wirken.  Sie  weilte  bei  ihm,  weilte  in  seinem  Fetisch,  im  Tempel,  im  Lande; 
sie  war  willig,  sobald  man  sie  brauchte.  Aber  wenn  diese  Bereitwilligkeit 
aufhörte?  Wenn  sich  die  Gottheit  dem  Priester  entzog,  wenn  sie  aus  dem 
Lande  wich  und  allen  Anrufen  taub  blieb  ?  Da  blieb  doch  dem  Priester  nichts 
übrig,  als  selber  für  die  Gottheit  einzutreten  und  ihren  leergelassenen  Platz^ 
auszufüllen.  Er  ,,half  nach" ;  er  brachte  die  Wunder,  die  das  Volk  erwartete 
und  forderte,  durch  List  und  Klugheit  hervor  und  ersetzte  die  ausbleibende 
ekstatische  Gotterfülltheit  durch  Schauspielerkünste. 

In  diese  Not  geriet  er  namentlich  dadurch,  daß  das  Herbeirufen,  Befragen 
und  Inanspruchnehmen  der  Gottheit  zur  regelmäßigen  Gewohnheit  wurde. 
Wenn  der  Orakelpriester  jedem  beliebigen  Ankömmling  als  Gott  entgegen- 
treten und  Bescheid  geben  soll,  wenn  der  Zauberarzt  jederzeit  sein  reli- 
giöses Heilverfahren  bereithalten  soll,  muß  er  notwendig  die  technische  Ge- 
schicklichkeit und  das  hysterische  Darstellungstalent  in  die  Lücken  seiner 
Gotterfülltheit  hineinwerfen.  Die  religiöse  Begeisterungsstimmung  läßt  sich 
wohl  innerhalb  gewisser  Grenzen  ,, kommandieren",  der  Priester  kann  die 
Anfälle  wdllkürlich  erzeugen  und  ist  nicht  genötigt,  sie  zu  simulieren;  so 
glaube  ich  z.  B.,  daß  die  delphischen  Pythien  über  die  Orakelhypnose  ziem- 
lich sicher  verfügen  konnten,  wie  auch  die  Schamanen,  Medizinmänner  und 
Propheten  anderer  Völker  weit  häufiger,  als  man  heute  annimmt,  ehrliche 
Gottbegeisterte  gewesen  sein  werden.  Aber  dennoch  hat  die  Macht  des  Gei- 
stes ihre  Grenze.  Vor  allem  erlischt  auch  nach  einiger  Zeit  die  geistige  Pro- 
duktivität im  Anfallszustande.  Der  Begeisterte  bringt  keine  wertvollen  Ge- 
danken mehr;  seine  Phantasie  erlahmt;  sein  unbewußtes  Seelenleben,  das 
im  Trance  an  die  Oberfläche  tritt,  verfügt  nur  über  einen  beschränkten 
Schatz  von  Ideen  und  Ideenverbindungen;  wenn  dieser  Schatz  verbraucht 
ist,  wird  der  Ekstatiker  leer  und  langweilig,  er  wiederholt  sich,  seine  Orakel 
befriedigen  das  Volk  nicht  mehr,  seine  Kuren  bleiben  erfolglos,  da  er  die 
Kranken  nicht  mehr  unter  den  Einfluß  seiner  Persönlichkeit  zu  bringen 
vermag. 

Wir  erleben  diesen  Niedergang  heute  an  fast  allen  spiritistischen  Medien. 
Eine  Zeitlang  sind  sie  phantasiereich  und  fruchtbar.  Der  Anfall  stellt  sich 
leicht  ein  und  fördert  alles  Gewünschte  zutage.  Allmählich  aber  werden  die 

4T 


Anfälle  unfruchtbarer  und  mühsamer,  die  Teilnahme  der  Gemeinde  nimmt 
ab,  und  das  Medium  fühlt  sich  bewogen,  ein  wenig  nachzuhelfen.  Es  sam- 
melt zunächst,  etwa  durch  Lektüre,  neues  Material  für  die  Anfälle;  oder  ss 
übt,  wenn  es  eine  Traumtänzerin  ist,  die  Tänze  vorher  ein.  Dann  lernt  es, 
das  Bewußtsein  im  Anfall  mehr  oder  weniger  zu  bewahren  und  die  Anfalls- 
erscheinungen willkürlich  zu  beeinflussen.  Das  Ende  ist  nachher  Betrug  und 
Entlarvung. 

Ebenso  Nvird  es  unzähhgen  Priestern  ergangen  sein,  nur  daß  die  Entlar- 
vung wohl  meist  ausgeblieben  ist,  weil  die  ältere  Menschheit  weniger  Beob- 
achtungsgabe und  Mißtrauen  besaß  als  wir,  femer  auch  deshalb,  weil  die 
Priester  trotz  ihres  Betruges  häufig  bedeutende  und  gescheite  Köpfe  waren. 
Indessen  wird  uns  berichtet,  daß  sich  die  P\i:hien  in  Delphi  mehrfach  Be- 
stechungen zugänghch  er\nesen  haben.  Einmal  \\'urde  eine  Pythia  deswegen 
abgesetzt ;  sie  hatte  ihre  Orakelsprüche  einer  mächtigen  und  reichen  Partei 
zuliebe  gefälscht. 

Aber  kein  Mensch  zog  damals  den  Schluß,  daß  das  ganze  Orakelwesen  Un- 
fug und  Betrug  sei,  so  wenig  sich  unsere  Spiritisten  durch  die  Entlarvung 
der  Medien  in  ihrer  Geistertheorie  beirren  lassen.  Der  Entlar\'te  ist  dann  nur 
ein  Unwürdiger,  ist  kein  echter  Vermittler  zwischen  Diesseits  und  Jenseits ; 
oder:  er  war  bisher  ein  echtes  Medium,  nur  in  diesem  einen  Falle  hat  ihn 
die  Kraft  verlassen  und  seine  Scham  darüber  hat  ihn  zum  Betrug  verleitet. 
Die  delphische  Institution  dauerte  ungestört  fort.  Daß  sie  ihr  Ansehen  all- 
mählich verlor,  lag  selbstverständhch  daxan,  daß  ihre  Orakel  nicht  mehr  die 
alte  Weisheit  und  Treffsicherheit  besaßen  und  zu  belanglosem  und  lügen- 
haftem  Geschwätz  entarteten.  Delphi  vermochte  nicht  mit  den  veränderten 
Aufgaben  der  späteren  Zeit  Schritt  zu  halten.  In  den  alten  Händeln  zwischen 
den  aufblühenden  Stadtstaaten  hatte  es  sich  vorzüghch  zurechtgefunden; 
viele  Male  hatte  es  mit  seinen  Ratschlägen  den  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen. 
Es  hatte  auch  die  großartige  Kolonisationstätigkeit  der  Griechen  in  glück- 
hcher  Weise  gefördert  und  in  die  religiöse  Entwicklung  mit  Klugheit  ein- 
gegriffen. Herodot  hat  uns  das  alles  trefflich  geschildert,  wenn  auch  in  über- 
treibenden Farben;  er  hatte  nämlich  das  ^laterial  für  sein  Geschichtswerk 
zum  Teil  von  der  Priesterschaft  in  Delphi  erhalten,  die  natürhch  den  Einfluß 
Delphis  möglichst  groß  darstellte  und  die  Geschichte  der  Welt  vom  kleri- 
kalen Standpunkt  aus  beurteilte.  Immerhin  ist  der  tiefgehende  und  im  gan- 
zen günstige  Einfluß  des  delphischen  Orakels  auf  das  ältere  Hellas  nicht  zu 
leugnen.  Zum  erstenmal  scheint  dann  die  Priesterschaft  in  den  Perser- 
kriegen versagt  zu  haben.  Delphi  nahm  bei  dieser  Gelegenheit  eine  zwei- 
deutige Haltung  ein,  liebäugelte  mit  den  Persem,  suchte  Athen  und  andere 
Städte  vom  Widerstände  gegen  das  eindringende  Asien  abzuschrecken.  Wie 

48 


es  scheint,  kam  der  nationale  Aufschwung  dem  Priesternest  unerwartet  und 
auch  ungelegen. 

Doch  wollen  wir  zu  unserer  Frage  zurückkehren.  In  Delphi  und  an  vielen 
anderen  Orakelstätten  wurde  die  göttliche  Prophetenweisheit  durch  nüch- 
terne Priester  überarbeitet  und  zurechtgestutzt.  Wohl  sprach  die  Gottheit 
in  Person  aus  den  begeisterten  Pythien  und  Orakelpropheten ;  aber  die  Äuße- 
rungen eigneten  sich  trotzdem  nicht  zur  unmittelbaren  Verkündigung  an 
das  Volk.  Wir  erwähnten  schon  früher,  daß  die  ekstatischen  Verlautbarungen 
der  delphischen  Pythia  von  einem  Priesterkollegium  angehört  und  in  Verse 
gebracht  wurden.  Wie  weit  dabei  der  Inhalt  in  betrügerischer  Weise  geän- 
dert oder  gar  erst  ein  vernünftiger  und  zweckentsprechender  Inhalt  herge- 
stellt wurde,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis.  Wir  sehen  aber,  daß  auch  die 
Zauberärzte  bei  manchen  Völkern  den  ekstatischen  Teil  ihres  Amtes  an  me- 
dizinische Assistenten  abtreten,  ähnlich  wie  bei  unseren  Spiritisten  oft  nicht 
das  Medium,  sondern  dessen  nüchterner  ,, Impresario"  die  produktive  und 
leitende  Persönlichkeit  ist.  Der  Zauberarzt  hält  sich  einen  geeigneten  Hyste- 
riker, ^vie  der  heutige  Arzt  ein  Instrumentarium ;  er  nimmt  ihn  zu  den  Patien- 
ten mit  und  läßt  ihn  dort  die  Herbeirufung  und  Ausforschung  der  Geister 
vornehmen,  läßt  ihn  tanzen  und  singen.  Ähnlich  ist  es,  wenn  der  Priester- 
arzt dem  Kranken  vorschreibt,  den  Tempelschlaf  zu  halten  und  auf  visionäre 
Heilträume  zu  warten.  Er  selber  will  wach  und  nüchtern  bleiben;  er  begnügt 
sich  damit,  die  Offenbarungen  des  Kranken  oder  des  ekstatischen  Assistenten 
zu  deuten  und  ihnen  den  Sinn  zu  geben,  den  er  für  seine  therapeutischen 
Zwecke  braucht.  Damit  wird  dem  bewußten  oder  halbbewußten  Betrüge 
eine  anerkannte  Stellung  innerhalb  des  ärztlichen  und  priesterlichen  Wir- 
kens zuerteilt.  Der  Priester  kommt  mehr  und  mehr  dahin,  sich  nur  auf  die 
irdische  Weisheit,  auf  Beobachtung  und  wissenschaftliches  Nachdenken  zu 
stützen  und  das  Offenbarungswesen  nur  noch  als  Aushängeschild  und  Maske 
zu  benutzen.  Die  geheimnisvollen  religiösen  Mittel  dienen  ihm  dazu,  das 
Volk  anzulocken,  irrezuführen  und  sich  gefügig  zu  erhalten.  Hinter  dem 
Zauberspuk  versteckt  wird  er  ein  vernünftiger,  aufgeklärter,  energischer 
Politiker  oder  Arzt  oder  geistiger  Führer.  In  sämtlichen  Ländern,  deren 
Kultur  über  die  primitive  Zauberreligion  hinausgelangt  ist,  können  wir  diese 
Entwicklung  verfolgen.  Es  konnte  ja  dem  Priester,  sofern  er  Herrschertalent 
und  geistige  Energie  besaß,  nicht  verborgen  bleiben,  daß  es  mit  der  Herr- 
schermacht Gottes  und  mit  der  Offenbarungsweisheit  der  Ekstatiker  eine 
unsichere  Sache  sei.  Er  war  einfach  gezwungen,  der  Gottheit  und  ihren  Pro- 
pheten unter  die  Arme  zu  greifen;  er  mußte  sich  wohl  oder  übel  entschheßen, 
sein  Volk  selbständig,  auf  Grund  seiner  Einsicht  und  Erfahrung  zu  leiten, 
mußte  alle  von  den  Göttern  im  Dunkel  gelassenen  Dinge  aufzuhellen,  alle 

4  Horneffer,  Der  Priester  II  AQ 


von  den  Göttern  nicht  gelösten  Sch\vierigkeiten  zu  beseitigen,  alles  von  den 
Göttern  nicht  beachtete  Leid  und  Elend  mit  irdischen  Mitteln  zu  bekämpfen 
suchen.  Er  ^\au•de  unfehlbar  zu  der  Überzeugung  geführt,  daß  Gott  uns  nur 
hilft,  wenn  vvir  uns  selber  helfen :  Gott  ist  nicht  mit  dem  tatlosen  Ekstatiker, 
nicht  mit  dem  spintisierenden  Zauberer,  nicht  mit  dem  brünstigen  Beter, 
sondern  mit  dem  handelnden,  denkenden,  vorsorgenden  Menschen.  Kurz, 
der  Priester  wurde  Freigeist. 

Die  \'ersuchung,  das  Volk  durch  Lüge  imd  Betrug  zu  führen  und  glücklich 
zu  machen,  trat  damit  an  den  Priester  in  unüberwindlicher  Stärke  heran.  Er 
war  mit  seiner  Erkenntnis  von  der  wahren  Weisheit  und  dem  wahren  Wege 
dem  Volke  vorausgeeilt.  Man  verstand  ihn  nicht,  wenn  er  das  neueEvangehum 
verkündete,  man  verfolgte  oder  verlachte  ihn.  Wollte  er  leben,  wollte  er 
herrschen  und  führen,  so  mußte  er  schweigen  und  lügen ;  er  mußte  sich  dem 
abergläubischen  Sinne  und  Bedürfnisse  des  Volkes  anpassen,  mußte  den 
Zauberkult  mitmachen  und  sein  priesterliches,  ärzthches,  pädagogisches, 
königliches  Wirken  als  unmittelbaren  Ausfluß  seines  Freundschaftsverhält- 
nisses zur  Gottheit  erscheinen  lassen.  Er  mußte  sich  hinter  Gott  verschanzen, 
damit  die  Menge  ihm  glaubte  und  folgte. 

So  bekannten  sich  denn  der  Priester  und  der  König,  überhaupt  jede  lei- 
tende Macht,  von  einer  gewissen  Kulturstufe  ab  bis  fast  zum  heutigen  Tage 
zu  folgendem  Regierungsgrundsatz:  ich  habe  das  Recht,  das  Volk  zu  be- 
trügen und  zu  belügen,  falls  ich  das  zum  besten  des  Volkes  und  im  Sinne 
einer  tieferen  Wahrhaftigkeit  tue.  Platon,  der  edle,  streng  sittliche  Priester- 
philosoph, hat  den  Herrschern  seines  Ideedstaates  ausdrückhch  das  Recht 
zur  Lüge  zuerkannt.  Den  ^Mitgliedern  des  Volkes  will  er  das  Lügen  gänzlich 
verbieten ;  aber  die  Herrscher,  meint  er,  sollen  das  \^olk,  wo  es  nicht  anders 
geht,  durch  Erfindungen  und  Märchen,  durch  Beeinflussung  angebhcher 
Götterentscheidungen  (Betrug  beim  Losen),  führen  und  glücklich  machen. 
Die  Lüge  dient  also  als  Erziehungsmittel  und  als  Mittel,  Schicksal  zu  spielen. 
Gehen  wir  zu  weit,  wenn  wir  behaupten,  daß  alle  Orakelstätten,  alle  geist- 
lichen und  weltlichen  Fürsten  älterer  und  neuerer  Zeit  sich  für  befugt  ge- 
halten haben,  in  diesem  platonischen  Sinne  zu  lügen  und  je  nach  Umständen 
götthche  Entscheidungen  zu  erfinden  und  abzuändern? 

Die  kathohsch- jesuitische  Moraltheologie  gibt  uns  recht  eigentümhche 
Fingerzeige  für  die  im  Katholizismus  geltenden  Anschauungen  über  Lüge, 
Betrug  und  Meineid.  Diese  fromme  und  heilige  Rehgionsgemeinde  verdammt 
natürlich  die  klare  und  nackte  Lüge;  aber  unter  anderem  Namen  werden 
Lüge,  Meineid  und  Betrug  entschuldigt  und  begünstigt.  Scharfsinnige  De- 
duktionen und  eine  feine  Kasuistik  verteidigen  eine  bedenkliche  Nützlich- 
keitsmoral und  stellen  die  Unaufrichtigkeit  und  Heimtücke  unter  götthchen 

50 


und  kirchlichen  Schutz.  Fast  erschreckend  hat  sich  die  Wirkung  dieser 
Moraltheologie  bei  Gelegenheit  des  sogenannten  Modemisteneides  gezeigt, 
wo  Tausende  von  Priestern  mit  leichtem  Gewissen  einen  Glauben  beschwo- 
ren, den  sie  nicht  haben.  Welche  Erziehung  müssen  diese  Priester  genossen 
haben,  wenn  sie  das  tun  können !  Wenn  wir  die  katholische  Moral  verstehen 
wollen,  müssen  wir  nun  aber  in  Rücksicht  ziehen,  daß  sie  eine  Kampfmoral 
ist,  in  der  Hauptsache  verfaßt  von  dem  Kampforden  der  Jesuiten.  Der  Ka- 
tholizismus befindet  sich  seit  vier  oder  fünf  Jahrhunderten  in  einer  Vertei- 
digungsstellung. Europa  will  sich  seiner  entledigen  und  hat  es  zu  einem  guten 
Teil  bereits  getan.  Da  aber  der  Katholizismus  das  Feld  nicht  räumen  will 
und  es  auch  nicht  darf,  solange  die  christlichen  Heilswahrheiten  noch  das 
Glück  von  Millionen  ausmachen,  so  muß  er  kämpfen,  muß  von  der  Vertei- 
digung zum  Angriff  übergehen  und  seine  Gläubigen  in  dauerndem  Kriegs- 
zustande erhalten.  Der  Jesuitenorden  ist  die  katholische  Leibtruppe,  die 
Moraltheologie  enthält  die  Kriegsartikel.  Es  liegt  aber  in  der  Natur  der 
Sache,  daß  morahsche  Kriegsartikel  auf  der  einen  Seite  lax,  auf  der  anderen 
Seite  drakonisch  sein  müssen.  Sie  messen  die  Menschen  und  ihre  Taten  mit 
zweierlei  Maß,  sind  ebenso  ungerecht  wie  kurzsichtig.  Im  Kriege  beherrscht 
der  Gedanke  an  den  Sieg  und  die  Niederwerfung  der  Feinde  alles  andere. 
Die  Mittel,  die  diesem  beherrschenden  Zwecke  dienen,  gewinnen  sich  leicht 
den  verklärenden  Heiligenschein;  die  sittlichen  Bedenken  gegen  Lug  und 
Trug  gehen  unter  in  dem  alles  überflutenden  Drange,  über  die  Feinde  zu 
triumphieren  (vgl.  meinen  Aufsatz:  14  Jahre  Jesuit,  Die  Tat  II,  g).  Da  nun 
in  heihgen  Kriegen  die  Feinde  überdies  die  Feinde  Gottes  sind,  also  not- 
wendig ein  verkommenes  Gesindel,  gegen  das  man  weiter  keine  Pflichten 
hat,  so  ist  die  Unbedenklichkeit  der  kathohschen  Kriegsmoral  nicht  nur 
begreiflich,  sondern  wird  uns  auch  in  einem  milderen  Lichte  erscheinen. 

Letzten  Endes  ist  die  Jesuitenmoral  nur  eine  besonders  konsequente  Aus- 
bildung derjenigen  Herrscher-  und  Priestermoral,  die  Platon  verkündet  und 
die  in  der  Welt  bisher  fast  durchweg  geherrscht  hat.  Es  ist  die  Moral  der 
despotischen  Kulturstufe.  Platon  hat  uns  vorzüglich  geschildert,  wie  die 
Herrscher  seines  Staates  dem  Volke  gegenüber  den  Rang  von  Göttern  ein- 
nehmen. Eigenthch  bilden  allein  die  Herrscher  den  Staat;  das  Volk  ist 
zum  Gehorchen  und  Dienen  da.  Das  Volk  hat  kein  Urteil,  keinen  Willen, 
es  muß  behandelt  werden  wie  Kinder  oder  (nach  christlicher  Terminologie) 
wie  Schafe.  Den  Herrschern  wohnt  schrankenlose  Autorität  inne;  sie  be- 
sitzen die  Wahrheit,  sie  denken,  urteilen  und  wollen  für  das  Volk.  So  hat 
Platon  seinen  Staat  organisiert;  so  ist  die  katholische  Kirche,  der  inter- 
nationale Gottesstaat  mit  seinem  unfehlbaren  Haupte  und  seinen  gotter- 
füllten Unterhäuptem  aufgebaut.  Bekannthch  hat  ein  neuerer  Gelehrter  den 

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Vergleich  zwischen  Platon  und  Rom  näher  durchgeführt  und  in  der  katho- 
lischen Kirche  die  vollkommene  Verwirklichung  des  platonischen  Philo- 
sophenstaates erkennen  woUen.  Dieser  Vergleich  ist  nicht  so  unzutreffend, 
wie  es  zunächst  den  Anschein  hat;  in  diesem  und  in  noch  einigen  anderen 
Punkten  hat  die  christliche  Kirche  in  der  Tat  erfüllt,  was  Platon  ersehnt 
hat.  Freilich:  wenn  Platon,  der  in  der  freien  griechischen  Polis  lebende  und 
wirkende  Weltweise,  diese  Erfüllung  hätte  voraussehen  können,  wenn  er  die 
Scholastik  (die  er  mit  seiner  idealen  „Dialektik"  ebenfalls  vorausgenommen 
hat),  dann  die  Gegenreformation  und  den  Jesuitismus  hätte  miterleben 
können,  so  hätte  er  sich  gewiß  voller  Entsetzen  von  seinem  eigenen  Werke 
abgewandt  und  hätte  sich  auf  die  Seite  des  tyrannen-  und  dogmenfeindlichen 
Hellenen-  und  Europäertums  gestellt.  Der  große  zweigesichtige  Platon 
hat  die  Woge  asiatischen  Despotentums,  die  dann  wirklich  Europa  über- 
flutete, prophetisch  vorausgeahnt  und  magisch  herbeigezogen ;  aber  Platon 
ist  es  auch,  der  Europa  die  Mittel  gegeben  hat,  diese  Woge  zurückzudämmen, 
und  uns  den  Weg  zu  dem  wahrhaft  europäischen  politisch-religiösen  Ideal 
gewiesen  hat. 

Diese  Betrachtung  war  an  dieser  Stelle  nötig;  denn  das  Problem:  ReUgion 
und  Betrug,  läßt  sich  nur  im  Zusammenhang  mit  dem  religiösen  und  poli- 
tisch-sozialen Gesamtproblem  lösen.  Wenn  Religion  und  Staat  despotisch 
organisiert  sind,  wenn  die  weltliche  Regierung  göttlich  und  unantastbar, 
die  kirchliche  Regierung  im  Besitze  der  ewigen  allumfassenden  Wahrheit 
ist,  dann  müssen  Lüge  und  Betrug  unter  die  Regierungsmittel  aufgenommen 
werden.  Eine  despotische  Kirche  muß  sich  das  Recht  zuerkennen,  zu  binden 
und  zu  lösen,  moralische  Werte  nach  ihrem  Belieben  aufzustellen  und  zu  ver- 
ändern. Sie  kann  und  muß  dem  Einzelnen  gegen  sein  eigenes  Gewissen  Hand- 
lungen und  Unterlassungen  vorschreiben ;  sie  lädt  ihm  Sünden  auf  und  ver- 
gibt sie  %vieder.  Das  Gewissen  des  einzelnen  Menschen  kommt  innerhalb  einer 
despotischen  Gemeinschaftsbildung  überhaupt  nicht  in  Betracht ;  die  Regie- 
rung ist  das  Gewissen  für  alle.  Ferner  muß  jede  Despotie  ihre  Mitglieder  in 
Regierende  und  Regierte,  in  Priester  und  Laien,  in  Hirten  und  Vieh,  in 
Wissende  und  Unwissende  gliedern.  Sie  muß  diese  Scheidung  mit  unerbittlicher 
Strenge  aufrechterhalten,  die  Entfernung  der  beiden  Schichten  voneinander 
so  groß  wie  möglich  machen ;  sie  muß  mit  allen  Mitteln  verhindern,  daß  das 
„Volk"  erwacht  und  sich  selber  zu  regieren  unternimmt.  Das  Volk  muß 
regierungsunfähig,  muß  unwissend,  muß  eine  ,, Herde"  bleiben,  Wohl  ist  die 
despotische  Regierung  darauf  bedacht,  das  Volk  soweit  zu  bilden,  daß  es  die 
„Wahrheit"  erkennt  und  anerkennt,  die  Befehle  und  Winke  der  Herrschen- 
den richtig  und  willig  zu  befolgen  vermag.  Aber  darüber  hinaus  darf  die  Er- 
ziehung nicht  gehen,  sonst  gräbt  sich  die  Despotie  selber  ihr  Grab.  Der  Unter- 

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rieht  hat  in  der  Weise  zu  erfolgen,  daß  dem  Volke  die  Dinge  „nach  seiner 
Fassungskraft"  dargestellt  werden,  d.  h.  daß  alles  ,, Unpassende"  verschwie- 
gen, alle  Widersprüche  mit  Lügen  und  Halb  Wahrheiten  zugedeckt,  die  Ein- 
zigkeit und  Göttlichkeit  der  Despotie  über  allen  Zweifel  erhoben  und  den 
Laienseelen  unverlierbar  eingeprägt  wdrd. 

Nach  Anschauung  des  despotischen  Priestertums  hat  Gott  selber  die 
Menschheit  durch  Lüge  und  Betrug  erzogen.  Gott  hat  den  Heiden,  so  erklärt 
man,  die  falschen  Vorstellungen  von  seinem  Wesen  und  von  dem  Welt- 
ganzen absichthch  beigebracht.  Er  hat  sich  den  jüdischen  Erzvätern  absicht- 
hch  in  falschen  Gestalten  gezeigt:  als  brennender  Dombusch,  als  Stimme, 
als  gewöhnlicher  Mensch  usw.  Er  hat  mit  Hilfe  der  Wunder  wohlberechnete 
pädagogische  Täuschungen  hervorgebracht.  Und  warum  diese  Unaufrichtig- 
keit?  Weil  die  Menschen,  heißt  es,  noch  nicht  reif  waren  für  die  reine  gött- 
liche Wahrheit.  Gott  mußte  seinen  Unterricht  nach  der  menschlichen  Fas- 
sungskraft einrichten  und  sich  ihrem  kindlichen  Unverstand  anpassen.  Da- 
nach Hegt  die  Annahme  nahe,  daß  uns  Gott  auch  jetzt  noch  die  reine  WaJir- 
heit  vorenthält,  uns  mit  verhüllten  und  halbwahren  Andeutungen  abspeist. 
Die  ganze  christhche  Religion  mit  ihren  Dogmen  und  Einrichtungen  ist  — 
wer  weiß  ?  —  am  Ende  ein  wohlmeinender  Erziehungsbetrug  Gottes.  Dieser 
Gedanke  ist  tatsächhch  mehr  als  einmal  ausgesprochen  worden ;  er  muß  sich 
jedem  aufdrängen,  der  den  Glauben  an  einen  allmächtigen  Gott  mit  den 
Widersprüchen  und  Irrwegen  der  menschlichen  Religionen  in  Einklang  brin- 
gen will.  Platon  war  noch  nicht  zum  Glauben  an  die  Allmacht  Gottes  ge- 
langt, hatte  infolgedessen  nicht  nötig,  Gottes  Pädagogik  näher  zu  prüfen. 
Er  erklärte  sich  vielmehr  mit  Entrüstung  gegen  die  Vorstellung,  daß  die 
Götter  lögen,  sich  verkleideten  und  verschiedene  Gestalten  annähmen.  Die 
Götter  seien  immer  wahr  und  aufrichtig;  niemals  suchten  sie  ihre  Zwecke 
durch  List  und  Verheimhchung  zu  erreichen.  Die  Mythologen  und  Dichter 
hätten  alle  derartigen  Berichte  erfunden  und  uns  die  Götter  in  einem  ganz 
falschen  Lichte  dargestellt,  weshalb  denn  auch  in  dem  vollkommenen  Staate 
die  Mythendichter  unter  strenge  Aufsicht  gestellt  werden. 

Die  Christen  dagegen  können  kaum  umhin,  die  Mythen  und  Zauberbräuche 
der  verschiedenen  Religionen  für  pädagogische  Erfindungen  Gottes  zu  er- 
klären. Es  sind  Zuchtmittel,  sind  Rute  und  Zuckerbrot,  um  die  Menschen 
allmählich  auf  den  richtigen  Weg  der  Gotteserkenntnis  und  GottesHebe  zu 
bringen.  Wirkhch  sind  die  mythologischen  Phantasmen  und  religiösen  Kult- 
bräuche die  bedeutendsten  Erziehungsmittel  der  Menschheit  gewesen.  Ohne 
diese  beiden  irrtümhchen  und  betrügerischen  Dinge  gäbe  es  keine  mensch- 
liche Kultur.  Wir  dürfen  aber  doch  wohl  fragen,  ob  es  einem  allmächtigen 
Gott  zuzutrauen  ist,  daß  er  sich  so  zweideutiger  Mittel  zur  Vervollkommnung 

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seiner  Geschöpfe  bedient  haben  sollte.  Um  die  Menschen  zur  Wahrheit  zu 
führen,  trat  er  seiner  eigenen  Wahrhaftigkeit  so  nahe?  Wußte  er  keinen 
anderen  Weg  zu  Gott  als  den  Weg  der  Hysterie,  der  phantastischen  Wunsch- 
träume, des  albernen  Zauberspuks,  der  theatralischen  Taschenspielerei?  In 
diesen  Sumpf  führte  er  uns  hinein,  um  uns  drüben  auf  das  trockene  Land  zu 
bringen  ?  In  seiner  Allweisheit  mußte  er  doch  voraussehen,  daß  die  Menschen 
nach  glückhcher  Gewinnung  des  festen  Landes  nicht  anders  glauben  würden, 
als  den  Weg  ohne  seine  Vaterhand,  ganz  aus  eigener  schwacher  Kraft  zurück- 
gelegt zu  haben.  Oder  war  das  seine  Absicht  ?  War  es  sein  Wüle,  daß  die  Er- 
wachsenen ihrem  Erzieher  den  Rücken  kehren  sollten  ?  Hat  er  uns  deshalb 
durch  den  Morast  geführt,  damit  seine  Spuren  sich  verwischen  und  seine 
Sorgfalt  von  uns  vergessen  werden  soUte? 

Wir  lassen  diese  Fragen  unbeantwortet  und  stellen  unsere  heutige  Beurtei- 
lung des  göttlich-priesterlichen  Betruges  der  Auffassung  der  despotischen 
Kulturen  gegenüber.  Ist  der  religiöse  und  politische  Despotismus  noch  im 
heutigen  Europa  berechtigt  und  notwendig?  Wenn  ja,  so  wird  und  muß  auch 
der  fromme  Betrug  fortdauern.  Despotie  und  pia  fraus  stehen  und  fallen  mit- 
einander. Wir  prüfen  daher  die  Berechtigung  des  Despotismus  im  heutigen 
Europa.  Der  Despotismus  entsteht  überall  da,  wo  eine  Herren-  und  eine 
Sklavenschicht  in  einem  gemeinsamen  Staatsverband  leben.  Wir  können  das 
in  aUen  älteren  politischen  Verbänden  feststellen.  Die  Frage  ist  also,  ob  auch 
das  heutige  Europa  eine  Herrenschicht  und  eine  Sklavenschicht  hat.  Wenn 
wir  diese  Frage  bejahen,  so  erklären  wir  uns  damit  auch  für  die  Fortdauer  des 
religiösen  Despotismus,  d.  h.  des  Papsttums  und  der  Bibelorthodoxie ;  wir 
erklären  uns  für  den  Satz :  dem  Volke  muß  die  Religion  erhalten  werden,  — 
welcher  Satz,  in  die  politische  Sprache  übersetzt,  folgenden  Sinn  hat:  die 
gehorchende  Schicht  muß  durch  die  Rute  und  das  Zuckerbrot  der  Religion 
gefügig  erhalten  werden,  damit  die  Herrenschicht  gut  bedient  und  versorgt 
wird  und  sich  ungestört  ihren  höheren  Aufgaben,  ihrem  göttlichen  Freiheits- 
leben widmen  kann.  Die  Herrenschicht  hat  natürlich  andere  Pflichten,  Freu- 
den und  Erziehungsgrundsätze,  also  auch  eine  andere  Rehgion,  als  die  Skla- 
venschicht. Wenn  die  Herrenschicht  sich  auch  ausdrücklich  zu  der  Religion 
der  Sklavenschicht  bekennt,  so  macht  sie  doch  von  dieser  Religion  eine  ganz 
andere  Anwendung  als  das  Volk,  dem  diese  Religion  erhalten  werden  soll. 
Der  „Herr"  ist  fromm,  wenn  er  regiert,  Kunst  und  Wissenschaft  treibt, 
Kirchen  baut,  den  Armen  Almosen  gibt,  Krieg  führt  und  vor  allem  dafür 
sorgt,  daß  in  der  sozialen  und  religiösen  Rangordnung  keine  Änderung  ein- 
tritt; das  ,,Volk"  dagegen  ist  fromm,  wenn  es  gehorcht,  entsagt,  auf  jen- 
seitigen Lohn  hofft  und  für  den  almosengebenden  Herrn  betet.  Ferner  er- 
laubt sich  der  Herr  auch,  Verbesserungen  und  Umformungen  mit  der  reh- 

54 


giösen  Weltanschauung  vorzunehmen,  manche  Glaubenssätze  fallen  zu  las- 
sen und  sich  Leben  und  Welt  auf  Grund  seines  freieren  und  weiteren  Blicks 
neu  aufzubauen.  Dies  alles  aber  hält  er  vor  dem  Volke  geheim :  Philosophie 
und  Religionswissenschaft  werden  bei  verschlossenen  Türen,  hinter  den 
Klostermauern  der  Universität,  im  Salon  bildungsfroher  Fürsten,  Priester 
und  ,, Kulturträger"  getrieben.  Dem  Volke  wird  unentwegt  die  Religion 
,, erhalten".  Auf  der  Straße  und  in  der  Kirche  wird  geheuchelt  zur  Ehre 
Gottes  und  zum  besten  der  despotischen  Gemeinschaftsform. 

Diese  ganze  Anschauungsweise  verwerfen  wir,  weil  wir  der  Meinung  sind, 
daß  die  europäische  Menschheit  sich  nicht  mehr  aus  einer  Herren-  und  einer 
Sklavenschicht  zusammensetzt.  Ehedem  hatte  Europa  eine  Herrenklasse, 
bekannte  sich  daher  mit  Recht  zum  politischen  und  religiösen  Despotismus ; 
heute  hat  sie  sie  nicht  mehr.  Heute  gibt  es  nur  noch  Bürger,  die  sämtlich  der 
Idee  nach  frei  und  selbständig  sind;  jeder  ist  sein  eigener  Priester;  jeder 
genießt  der  Idee  nach  die  gleiche  Erziehung,  jeder  hat  die  gleichen  politisch- 
religiösen Rechte  und  Pflichten.  Wenn  es  aber  so  ist  —  und  offen  wagt  das 
außer  dem  katholischen  Klerus  wohl  niemand  mehr  zu  bestreiten  — ,  so 
richtet  sich  der  despotische  Betrugsgrundsatz  selbst.  Die  Regierung,  die  dem 
Volke  heute  noch  die  bürgerlichen  Rechte  vorenthält  und  ihm  eine  Rehgion 
vorheuchelt,  die  sie  selber  nur  zum  Teil  bekennt,  kämpft,  ohne  es  zu  wissen, 
für  jene  soziale  Protestpartei,  die  den  Zukunftsstaat  und  den  Grundsatz: 
Rehgion  ist  Privatsache,  auf  ihre  Fahne  geschrieben  hat.  Jede,  auch  die 
kleinste  Unaufrichtigkeit,  deren  sich  heute  die  politischen,  geistigen,  reli- 
giösen Führer  dem  Volke  gegenüber  schuldig  machen  —  wenn  auch  in  der 
edelsten  Erziehungsabsicht  —  ist  ein  willkommener  Wink  an  die  Revo- 
lutionäre, die  bedrohten  Freiheitsgüter  gegen  ein  veraltetes  religiös-pohti- 
sches  System  zu  verteidigen. 

Es  bleibt  der  europäischen  Kulturwelt  keine  Wahl;  sie  muß  sich  rückhalt- 
los zu  dem  einzigen  Erziehungsmittel  freier  Organisationen  entschließen :  volle 
Wahrhaftigkeit  und  gemeinsame  Arbeit  aller  Volksgenossen  an  den  kleinsten 
wie  den  größten  menschlichen  Aufgaben.  Je  verantwortungsvoller  die  Stel- 
lung ist,  die  ein  Einzelner  innerhalb  des  Volksganzen  einnimmt,  um  so 
dringender  wird  für  ihn  die  Pflicht,  frei  und  ehrlich  vor  die  Gesamtheit  hin- 
zutreten und  offen  seine  Religion,  seine  Ziele,  seine  pohtischen,  sozialen, 
philosophischen  Ideale  zu  bekennen.  Wer  in  solcher  Lage  schweigt,  wer  sich 
mit  schmiegsamer  Leisetreterei  dieser  Pflicht  des  freien  Staatsbürgers  ent- 
zieht, begeht  ein  Verbrechen,  das  sich  an  der  Gesamtheit  rächt,  gleichviel 
ob  seine  Absichten  gut  sind  oder  nicht. 

Ganz  besonders  hat  der  Priester  heute  die  PfHcht,  wahr  und  offen  zu  sein. 
Er  darf  kein  Gelübde  ablegen,  das  er  nicht  vöUig  und  wörtlich  billigt,  darf 

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seine  Gemeinde  nicht  im  unklaren  über  seine  wahren  Überzeugungen  lassen. 
Wenn  doch  unsere  Priester  sich  erst  zu  dieser  Erkenntnis  durchgerungen 
hätten!  Aber  leider  wird  der  fromme  Betrug  von  den  heutigen  Pfarrern 
nicht  minder  geliebt  und  geübt  wie  von  den  pohtischen  und  gesellschaft- 
lichen Führern.  Um  nicht  „anzustoßen",  um  niemand  zu  „verwirren"  und 
aus  anderen  an  sich  recht  schätzenswerten  Absichten  verschweigt  man  der 
Gemeinde,  was  man  ihr  unbedingt  sagen  müßte,  kleidet  man  in  halbwahre 
vieldeutige  Worte,  was  in  nackter  Klarheit  vor  aller  Augen  stehen  müßte. 
Wollten  wir  diese  heute  fast  allgemein  übliche  Priesterpolitik  ,, Betrug" 
nennen,  so  würde  man  uns  entrüstet  widersprechen;  aber  hat  diese  Politik 
nicht  eine  unangenehme  Ähnhchkeit  mit  den  Priesterkünsten  auf  niederen 
Kulturstufen,  die  wir  oben  besprochen  haben?  Gewiß  ist  es  roher,  wenn  die 
älteren  Priester  Orakel  durch  Sprachrohre  erteilten,  wenn  sie  Götterbilder 
mit  beweglichen  Ghedem  ausstatteten,  um  nach  Bedarf  Wunder  zu  er- 
zeugen, wenn  sie  den  Kranken  bei  Nacht  in  der  Göttermaske  operierten, 
kurz,  wenn  sie  den  kindlicheren  Glauben  des  Volkes  benutzten,  um  Vorseli- 
ung  zu  spielen  und  die  Laien  gut  und  gesund  zu  machen.  Aber  hier  wie  dort 
handelt  es  sich  um  Unaufrichtigkeit  in  religiös-pädagogischer  Absicht. 

Man  glaube  doch  nicht,  daß  die  alten  Wundermänner  und  Orakelerteiler 
schlechtere  Absichten  gehabt  hätten,  als  unsere  vorsichtigen,  dem  Volke  die 
Religion  erhaltenden  Priester  und  Fürsten.  Es  gab  damals  nicht  weniger 
edle  und  hochachtbare  Naturen  als  heute.  Der  fromme  Betrug  läßt  sich  mit 
der  Menschenliebe  und  Gottesliebe  ebensogut  vereinigen  wie  die  Sklaverei. 
Es  fehlte  natürlich  auch  nicht  an  egoistischen  und  unwürdigen  Priestern; 
aber  solche  haben  wir,  dächte  ich,  auch  heute.  Wenn  ein  Priester  heute  aus 
Feigheit  oder  um  sich  materielle  Vorteile  zu  sichern,  einen  Glauben  vor  der 
Welt  vertritt  oder  unwidersprochen  läßt,  den  er  in  seinem  Herzen  verwirft, 
so  ist  das  meiner  Meinung  nach  nicht  anders  zu  beurteilen,  als  wenn  die 
Asklepiospriester  und  die  Schamanen  aus  der  Leichtgläubigkeit  des  Volkes 
Gewinn  zogen  und  die  Gläubigen  durch  krasse  Gaukeleien  ängstigten  und 
kirre  machten.  Der  Medizinmann,  der  ein  Steinchen  angebhch  aus  dem  Kran- 
ken heraussaugt,  verdient  denselben  Grad  von  Achtung  wie  ein  kathoHscher 
oder  lutherischer  Priester,  der  die  rehgiös-magischen  Handlungen  ohne  den 
Glauben  an  ihre  Kraft  und  mit  handwerksmäßigem  Gleichmut  ausübt.  Es 
nützt  ihnen  nichts,  daß  sie  sich  auf  den  guten  Zweck  und  guten  Erfolg  be- 
rufen; sie  bleiben  Betrüger,  auch  wenn  der  Kranke  genest  und  die  gläubige 
Gemeinde  sich  durch  die  heilige  Handlung  magisch  gestärkt  fühlt. 

Wir  haben  mit  dieser  Auseinandersetzung  ein  wenig  vorgegriffen;  denn 
die  Lage  und  Aufgabe  des  heutigen  Priestertums  soll  erst  im  letzten  Kapitel 
zur  Besprechung  kommen ;  aber  da  der  fromme  Betrug  sich  durch  die  ganze 

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Entwicklung  der  menschlichen  Rehgion  hindurchzieht  und  wir  zu  einem 
Werturteil  über  diese  Erscheinung  gelangen  mußten,  um  sie  uns  ganz  ver- 
ständlich zu  machen,  war  es  unvermeidlich,  die  heutigen  religiösen  und  sozia- 
len Zustände  zum  Vergleich  heranzuziehen.  Wir  konnten  nur  so  zu  dem 
Schlüsse  kommen,  daß  der  fromme  Betrug  als  umfassendes  und  anerkanntes 
Erziehungsmittel  ein  Recht  in  jenen  Kulturen  und  Zeiten  hat,  wo  zwischen 
den  Herrschenden  und  dem  Volk  große  soziale  und  geistige  Unterschiede 
bestehen.  Der  Herr  und  Priester  kann  und  darf  nur  betrügen,  wenn  er  erheb- 
lich klüger,  fortgeschrittener,  mächtiger,  göttlicher  ist  als  der  Untertan  und 
Laie.  Andernfalls  nützt  ihm  auch  sein  Bemühen  gar  nichts ;  das  Volk  sieht 
dann  nicht  den  Erleuchteten  und  Begnadeten  in  ihm,  vor  dem  jede  Kritik 
verstummt,  sondern  den  gefährlichen  Feind  des  Fortschritts  oder  den  harm- 
losen Gaukler.  Beispiele  des  heruntergekommenen  Zauberpriesters,  dessen 
religiöse  Handlungen  den  Charakter  von  Volksbelustigungen  angenommen 
haben,  bieten  die  indischen  Fakire,  die  mohammedanischen  Derwische,  die 
Fahrenden  im  Mittelalter.  Mitunter  können  diese  Priestergaukler  wohl  auch 
furchtbar  werden  und  dem  Volke  hohe  Achtung  abnötigen;  aber  ihre  Vor- 
führungen sind  kein  Gottesdienst  mehr;  sie  erbauen  nicht.  Höchstens  können 
sich  die  Vorführungen  zur  Kunst  im  höchsten  Sinne  steigern  und  dadurch 
den  verlorenen  Adel  zurückgewinnen.  Wenn  dagegen  der  Priester  das  Volk 
an  Kultur  weit  überragt,  wenn  er  wirklich  dessen  geistiger  Führer  ist,  wenn 
die  Priester-  und  Herrenklasse  vom  Volke  wirkHch  als  Geschöpfe  höherer 
Abkunft  betrachtet  wird,  dann  ist  der  Priesterbetrug  eine  religiöse  Notwen- 
digkeit, ebenso,  wie  die  Sklaverei  eine  soziale  Notwendigkeit.  Der  Priester 
verfolgte  und  erreichte  dann  durch  den  frommen  Betrug  ideale  Ziele  und 
erkannte  ihn  mit  Recht  als  ein  segensreiches  Hilfsmittel  zur  Leitung  und 
Beglückung  der  geistig  Unmündigen.  Daher  sollte  sich  jeder,  der  für  die 
religiöse  Gegenwart  und  Zukunft  kämpfen  will,  klar  machen,  daß  er  mit  dem 
frommen  Betrug  auch  die  dogmatische  Religion  verwirft,  mit  dem  pohti- 
schen  Despotismus  auch  den  religiösen  Despotismus,  mit  dem  Grundsatz: 
das  Volk  muß  betrogen  werden,  auch  den  Grundsatz :  dem  Volk  muß  die 
Religion  erhalten  werden.  — 

Zum  Schluß  ist  noch  ein  Wort  über  das  Verhältnis  des  Priesters  zum  welt- 
lichen Herrn  und  die  daraus  entstehende  Nötigung  zum  Betrug  zu  sagen. 
Wenn  das  Priestertum  aus  der  Schicht  der  pohtischen  Machthaber  (Geburts- 
adel oder  Plutokratie)  hervorgeht,  ist  seine  Stellung  frei  und  stark.  Der  Prie- 
ster gewinnt  dann  auch  auf  die  weltliche  Leitung  des  Verbandes  Einfluß 
und  kann  sich  in  religiöser  Hinsicht  zu  götthchem  Ansehen  emporschwingen. 
Der  fromme  Betrug,  dessen  er  sich  bedient,  wird  etwas  Großzügiges,  Cäsa- 
risches erhalten.  Wenn  er  dagegen  in  die  herrschende  Schicht  als  ein  Stam- 

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mesfremder  oder  ein  befreiter  Sklave  aufgenommen  \vird,  ist  seine  Lage, 
was  Wahrhaftigkeit  und  rehgiösen  Ernst  betrifft,  viel  ungünstiger.  Er  ist 
dann  ein  Schützhng  und  Werkzeug  der  Herren.  Sein  Auftrag  lautet  dann 
klar  und  deuthch  dahin,  diese  Herren,  bei  denen  er  in  Lohn  und  Brot  steht, 
vor  dem  Volke  und  vor  Gott  zu  rechtfertigen,  zu  preisen  und  ihnen  ein  gutes 
Gewissen  zu  erhalten.  Er  ist  Hofprediger.  Was  ist  das  Amt  des  Hofpredigers? 
Seinen  Brotherrn  als  von  Gott  eingesetzte,  Gott  wohlgefällige  Obrigkeit  hin- 
zustellen und  gegen  jedermann  zu  verteidigen.  Man  sieht,  daß  dabei  die 
religiöse  Aufrichtigkeit  des  Hofpredigers  in  großer  Gefahr  schwebt.  Muß  er 
nicht  zum  unbedenklichen  Poeten  werden  ?  Wird  er  nicht  die  Götter  zu  be- 
lügen, das  Volk  listig  zu  umgarnen  suchen,  um  seinen  Auftrag  zur  Zufrieden- 
heit seines  Brotherrn  auszuführen?  Oder  hätte  man  jemals  einen  Hof  Zau- 
berer und  Fürstenpriester  im  Namen  Gottes  oder  des  Volkes  seinem  Brot- 
herrn entgegentreten  und  ihm  seine  Sünden  vorhalten  sehen?  Er  würde  so- 
fort in  das  Nichts  zurücksinken,  aus  dem  ihn  der  Fürst  emporgehoben  hat; 
oder  aber  er  würde  sein  Amt  unvermerkt  mit  einem  genau  entgegengesetzten 
vertauschen,  nämlich  mit  dem  stolzen  und  ehrhchen  Amte  des  propheti- 
schen Volkspriesters. 

Wir  können  verallgemeinern :  die  Besoldung  und  Brotgebung  verführt  den 
Priester  zur  Lüge.  Wes  Brot  ich  esse,  des  Lied  ich  singe,  ist  ein  Spruch,  der 
seine  Wahrheit  nie  verheren  ^^ird.  Diese  Gefahr  jedoch  wird  dadurch  am 
besten  beschworen,  daß  der  gesamte  politisch-rehgiöse  Menschenkreis,  dem 
der  Priester  angehört,  Auftraggeber  und  Brotherr  wird.  Der  Sekten-  und 
Parteipriester  gerät  unvermeidlich  in  Abhängigkeit  von  den  egoistischen 
Zwecken  und  Wünschen  seiner  Gruppe ;  der  Priester  der  Gesamtheit  dagegen 
ist  höchstens  in  Gefahr,  für  diese  Gesamtheit  zu  lügen,  d.  h.  die  sehr  mannig- 
fachen Interessen  seines  Volkes  in  einem  religiösen  Glaubensbekenntnis  zu- 
sammenzufassen. Ein  solches  Glaubensbekenntnis  wird  sehr  allgemein,  da- 
her allgemeingültig  und  im  tiefsten  Sinne  wahr  sein.  Das  Beschränkte  und 
Unwahre  tritt  nur  dann  hervor,  wenn  der  Priester  Stellung  zu  anderen  Be- 
kenntnissen nimmt,  d.  h.  gegen  die  politischen  und  religiösen  Feinde  Krieg 
führt.  Man  kann  das  heute  sehr  gut  beobachten:  das  Gemeindepries tertum, 
soweit  es  noch  aufrichtig  gläubig  ist,  steht  innerhalb  des  Religionsbundes 
frei  und  unabhängig  da  und  dient  in  Treue  dem  gemeinsamen  religiösen 
Ideal.  Nach  außen  hin  aber  macht  sich  die  Gefahr  des  besoldeten  Priester- 
amtes recht  sehr  geltend :  der  christliche  Priester  hält  es  oft  genug  für  seine 
Pflicht,  gegen  Andersgläubige  und  Ungläubige  mit  skrupelloser  Unaufrich- 
tigkeit  zu  Werke  zu  gehen ;  ebenso  verfährt  der  fromme  Mohammedaner  mit 
den  ,, Christenhunden".  Im  Verkehr  der  Völker  und  Religionsgemeinden 
untereinander  ist  die  Wahrhaftigkeit  ein  seltener  Gast  und  die  lügnerische 

58 


Kriegslist  die  Regel.  Aber  innerhalb  seines  Volkes  und  seiner  Religionsge- 
meinde pflegt  der  von  der  Gesamtheit  beauftragte  Priester,  solange  er  wie 
gesagt  aufrichtig  gläubig  ist,  sein  Amt  mit  stolzer  Unabhängigkeit  im  Sinne 
der  religiösen  Wahrheit  zu  verwalten.  Die  Besoldung,  die  er  erhält,  verhert 
gänzlich  den  Sinn  der  Bestechung. 

Das  Hofpriestertum  ist  bestochenes  Priestertum.  Auch  andere  privat- 
priesterliche  Einrichtungen  älterer  Zeit  sind  offenbare  Bestechungseinrich- 
tungen. Wenn  ein  Priester  z.  B.  für  jeden  Dienst  einzeln  bezahlt  wird  und 
je  nach  der  Summe,  die  er  erhält,  seine  religiöse  Tätigkeit  regelt,  ist  er  nichts 
anderes  als  ein  Agent  für  Privatinteressen  und  niemand  wird  ein  aufrichtiges 
Gottespriestertum  von  ihm  erwarten.  Den  Reichen  macht  dieser  religiöse 
Agent  zum  Freund  der  Götter;  um  den  Armen  kümmert  er  sich  nicht.  Wenn 
zu  den  Orakeltempeln  Leute  mit  reichen  Geschenken  und  mächtigen  Namen 
kamen,  so  werden  die  Orakelpriester  ihnen  in  den  meisten  Fällen  wohl  einen 
erfreulicheren  Götterbescheid  erwirkt  haben,  als  dem  Armen,  der  mit  leeren 
Händen  kam.  Wie  oft  ist  wohl  von  guter-  und  schutzbedürftigen  Priestern 
im  Namen  Gottes  gelogen  worden!  Wir  können  es  dem  Priester  gar  nicht 
übelnehmen,  wenn  er  sich  in  seinem  Tun  und  Urteil  dadurch  beeinflussen 
läßt,  daß  ein  Gläubiger  ihm  Stiftungen  zuwendet  und  sich  seiner  Person 
und  seiner  Schicksale  freundlich  annimmt.  Denken  wir  über  die  daraus  ent- 
stehende fromme  Bestechhchkeit  nicht  zu  hart !  Danken  wir  aber  auch  den 
großen  Befreiern  Jesus  und  Buddha,  die  alles  daransetzten,  um  den  Priester 
jeder  Bestechungsmöghchkeit  zu  entziehen,  und  suchen  wir  ihr  unvollendet 
gebhebenes  Werk:  die  Befreiung  des  Priesters  von  Lüge  und  Betrug,  zum 
guten  Ende  zu  führen. 


59 


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lyi  I.  DER  PROPHET  UND  DAS  VOLK  ipl 

Der  Prophet  ist  schon  in  unserem  Kapitel  über  den  priesterhchen  Charakter 
dem  Priester  im  engeren  Sinne  gegenübergestellt  worden.  Der  Priester  ist 
der  Erhaltende,  der  Prophet  der  Umstürzende,  jener  der  Vertreter  der  Vielen, 
dieser  der  Alleinstehende.  Wir  dürfen  den  Propheten  als  den  Menschen  der 
Einsamkeit  definieren,  als  den  Herold  des  persönlichen,  ganz  auf  sich  selbst 
gestellten  Lebens.  Wir  vergessen  dabei  nicht,  daß  völlige  Einsamkeit  un- 
möghch  ist.  Auch  wer  die  Menschen  flieht,  bleibt  durch  viele  Fäden  an  die 
Gemeinde,  die  er  verlassen  hat,  gekettet.  Durchschneidet  er  diese  Fäden, 
so  geht  er  schnell  zugrunde  und  verschwindet  spurlos  aus  dem  Gedächtnis 
der  Menschheit.  Nur  wer  wirkt,  lebt,  und  Wirkung  ist  immer  irgendwie  W'ir- 
kung  auf  andere  Menschen.  Wenn  jemand  für  immer  als  Einsiedler  in  die 
Wildnis  geht,  sich  auf  eine  einsame  Insel  flüchtet  und  nur  noch  mit  den  Tieren 
und  der  Natur  verkehrt,  so  löscht  er  sich  damit  als  Mensch  aus.  Aristoteles 
hat  recht,  wenn  er  den  Menschen  als  das  gemeinschaftsbildende  Tier  be- 
zeichnet. Die  Geschichte  des  Menschen  beginnt  mit  der  Büdung  von  Ge- 
meinschaften, die  einerseits  auf  den  verwandtschaftlichen  Beziehungen, 
andererseits  auf  sozialen  Bedürfnissen  beruhen.  Der  Zweck  aller  wie  immer 
gearteten  Menschenbünde  ist  im  letzten  Grunde  immer  derselbe:  sie  wollen 
die  feindliche  Natur  bekämpfen  und  einen  Teil  der  Welt  dem  Menschen 
Untertan  und  willfährig  machen.  Der  Einzelne  ist  dazu  nicht  imstande;  er 
erhegt,  wenn  er  sich  absondert. 

Wie  kommt  es  aber,  daß  trotzdem  von  Zeit  zu  Zeit  der  Drang  nach  Ein- 
samkeit erwacht,  daß  einzelne  Menschen  sich  von  ihrem  Verbände  loslösen, 
in  die  \\'^üste  gehen  und  dort  ein  Leben  auf  eigene  Hand  beginnen  ?  Wir  er- 
kannten den  Eremiten  und  Klosterheiligen  als  einen  Kranken  und  Er- 
schöpften. Schon  bei  den  Tieren  beobachtet  man,  daß  verwundete,  erkrankte, 
altersschwache  Tiere  sich  verkriechen  und  absondern,  einesteils  um  den  Ver- 
folgern zu  entgehen,  denen  sie  sich  nicht  mehr  gewachsen  fühlen,  anderer- 
seits um  die  verlorenen  Kräfte  durch  Ruhe  und  Schlaf  wiederzugewinnen. 
Sie  verzichten  auf  Nahrung  und  Bewegung,  stellen  alle  Verrichtungen  des 
gesunden  Tieres  nach  Möglichkeit  ein  und  warten  in  Geduld  auf  die  selbst- 
tätige Wiederherstellung  ihrer  Kräfte.  Beruht  die  Erschöpfung  auf  Alters- 
schwäche, so  schlummert  das  Tier  in  seinem  Winkel  in  den  Tod  hinüber, 
ähnlich  wie  der  alternde  Brahmane,  der  sich  in  den  Wald  zurückgezogen  und 
alles  Welthche  abgetan  hatte;  er  baute  sich  dort  eine  Hütte  und  erwartete 
in  stillem  Sinnen  den  Tod.  Wohl  jeder  Greis  hat  mitunter  den  Wunsch,  sich 

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aus  der  Welt  in  die  Stille  zu  flüchten,  damit  das  flackernde  Lebenslämpchen 
ruhig  erlösche.  Wenn  die  wandernden  Nomadenstämme  die  Greise,  die  nicht 
mehr  weiter  konnten,  an  einer  Lagerstätte  oder  auf  freier  Steppe  zurück- 
ließen, so  werden  die  Alten  dem  Zuge  des  Lebens,  der  sich  in  der  Feme  ver- 
lor, wohl  eher  mit  Segenswünschen  als  mit  Flüchen  nachgeschaut  haben: 
, .ihnen  ziemt  es  zu  leben,  mir  ziemt  es  zu  sterben!"  Ähnlich  werden  bei 
vielen  Naturvölkern  die  Kranken  behandelt  und  behandelten  sich  selber 
so.  Sie  wurden  verlassen,  sie  verkrochen  sich  in  einen  Winkel,  sie  suchten  den 
Schlummer.  Wer  die  Krankheit  überstand,  erwachte  neu  gestärkt  wie  der 
Bär  aus  dem  Winterschlaf,  und  verheß  den  Schlupfwinkel,  um  einen  neuen 
Lebensfrühling  zu  beginnen. 

Ebenso  kehrte  mancher  Seelenkranke,  der  verstört  in  die  Wüste  geflohen 
war,  heil  und  als  ein  Prophet  des  Lebens  zu  den  Menschen  zurück.  Die 
Wüste,  der  Wald,  das  Gebirge  und  seine  Höhlen  —  das  waren  von  jeher  die 
Zufluchtsstätten  der  Erschütterten,  der  Todwunden,  der  Müden.  Wenn  die 
große  Stille  sie  aufgenommen  hatte,  sangen  sie  wie  Nietzsches  Zarathustra : 
„O  Einsamkeit,  o  meine  Heimat  Einsamkeit !"  Und  wenn  sie  in  der  Einsam- 
keit Genesung  gefunden  hatten,  wenn  sie  Einkehr  in  sich  gehalten  hatten 
und  dem  verlorenen  Gott  dort  in  der  Wüste  begegnet  waren,  trieb  es  sie 
wieder  zu  den  Menschen.  Sie  traten  als  Propheten  unter  die  INIenge  und  riefen 
Worte  des  Lebens  in  die  erneuerte,  frühhngstrunkene  Welt  hinein. 

Aber  die  Worte  des  Propheten  sind  hart.  Er  erschüttert  und  verstört  das 
Volk;  er  bringt  die  Wüste  zu  den  Menschen;  er  spricht  wie  die  Felsen  und 
Wildbäche  des  Gebirges,  wie  der  heiße  Wind  der  Wüste,  wie  das  Erschauern 
des  dunklen  Waldes.  Er  macht  jeden,  der  ihm  zuhört  und  nachfolgt,  so  ver- 
lassen, so  krank  und  wund,  wie  er  selber  war,  als  er  aus  der  Welt  entfloh 
und  sich  vor  den  Menschen  verbarg.  Jeder  wahre  Prophet  ist  ein  Störenfried 
und  ein  Schrecken  in  seinem  Volke;  jeder  wahre  Prophet  sagt:  wer  nicht 
haßt  seine  Nächsten  und  Liebsten,  wer  nicht  sich  selber  haßt,  wer  nicht  die 
Gemeinschaft,  der  er  angehört,  verläßt  und  zerstört,  der  kann  nicht  mein 
Jünger  sein. 

Wer  hätte  soviel  Furchtbares,  soviel  Not  und  Verwirrung,  Kampf  und  Tod 
gesät  wie  die  Propheten,  jene  Männer,  die  die  Geister  der  Wälder  und  Ein- 
öden über  die  frohen  Menschen  ergossen,  sodaß  die  eng  Verbundenen  aus- 
einanderstoben und  Kinder  wider  ihre  Eltern,  Brüder  wider  ihre  Brüder  strit- 
ten? Sprechen  wir  es  ruhig  aus:  der  Prophet  ist  ein  Vemichter,  ein  Prediger 
der  Verwüstung;  er  ist  nicht  nur  ein  Kranker,  sondern  ein  pestverbreitender 
Krankheitsdämon.  Wenn  das  Volk,  unter  dem  er  auftrat,  ihn  kreuzigte,  ihm 
den  Giftbecher  reichte,  ihn  auf  den  Holzstoß  führte,  so  wehrte  es  sich  nur 
seines  Lebens;  es  unterdrückte  eine  aufkeimende  Seuche,  erstickte  einen 

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aufflammenden  Brand.  Daß  der  Prophet  ein  Zerstörer  ist,  hat  keiner  so 
unumwunden  bekannt  wie  der  Prophet  aus  Gahläa,  der  das  Judentum  zer- 
sprengt, die  antike  Kultur  in  ihren  Grundfesten  erschüttert  und  das 
römische  Weltreich  aus  den  Angeln  gehoben  hat. 

Aber  der  Prophet  weiß  auch  die  Wunden  zu  heilen,  die  er  schlägt,  die 
Tempel  neu  zu  erbauen,  die  er  zerstört.  —  Warum  schlug  er  dann  aber  die 
Wunden  und  zerstörte  die  Tempel?  Nietzsche  sagt  einmal:  das  sei  rechte 
Priesterart,  zuerst  Unheil  zu  stiften  und  allen  Leuten  weiszumachen,  daß 
sie  krank  und  sündhaft  seien,  und  hinterdrein,  wenn  alles  voller  Verwirrung 
und  Angst  sei,  sich  als  Heiland  anzubieten  und  die  imaginären  Sünden  groß- 
mütig zu  vergeben.  Das  sei  nichts  weiter  als  raffinierte  Machtpolitik  und 
leider  sei  der  Priester  nur  zu  erfolgreich  gewesen:  er  habe  das  Volk  durch 
den  Sündwahn,  durch  Lockungen  und  Drohungen  unrettbar  in  sein  Netz 
getrieben.  —  Aber  gerade  Nietzsche  hätte  es  besser  wissen  können.  Wir 
wollen  nicht  leugnen,  daß  in  jedem  Propheten  ein  gefährlicher  ,, Wille  zur 
Macht"  lebt,  was  Nietzsche  übrigens  ihnen  nicht  vorwerfen  dürfte,  da  nach 
seiner  Meinung  der  Wille  zur  Macht  in  allem  Lebendigen  regiert;  jedoch  be- 
steht zwischen  diesem  \^'illen  und  einer  Machtpolitik,  wie  sie  die  Priester 
getrieben  haben  sollen,  ein  großer  Unterschied.  Meiner  Überzeugung  nach 
waren  es  immer  nur  Afterpropheten,  die  das  Volk  durch  berechnete  Künste 
gewonnen  haben.  Der  wahre  Prophet  hat  seine  Siege  anders  erfochten.  Er 
hat  nur  solche  Menschen  zur  Buße  gerufen,  die  der  Buße  bedurften,  nur 
solche  Nöte  und  Gefahren  geweissagt,  die  wirkHch  vorhanden  oder  nahe  be- 
vorstehend waren,  nur  solche  Bänder  zerrissen,  solche  Tempel  zerstört,  die 
des  Zerreißens  und  Zerstörens  würdig  waren.  Wie  würde  auch  das  Volk  ihn 
anhören  und  sich  zu  ihm  drängen,  wenn  er  nicht  aufregte,  was  sie  selber 
fühlen,  nicht  ausspräche,  was  in  ihnen  widerhallt!  Wenn  die  Wüste,  die  er 
mitbringt,  nicht  schon  in  den  Seelen  seiner  Zuhörer  wäre,  wenn  die  Krank- 
heit, die  er  verbreitet,  nicht  schon  vorbereitet  wäre,  das  Haus,  an  dem  er 
riittelt,  nicht  schon  vorher  Risse  gehabt  hätte !  Niemand  würde  ihn  ernst- 
nehmen, niemand  durch  ihn  krank  werden,  niemand  auf  sein  \^'ort  hin  das 
schützende  Dach  verlassen  und  die  Brüder  verfolgen. 

Der  wahre  Prophet  geht  nicht  um  seiner  Person  willen,  nicht  als  ein  Ver- 
lorener und  Todgeweihter  in  die  W^üste;  er  ist  nicht  ein  absterbendes  und 
unnützes  Glied,  das  die  Gemeinschaft  von  sich  stößt.  Vielmehr  geht  er  als 
ein  Abgesandter  des  Volkes,  als  ein  Suchender.  Und  was  sucht  er  in  der 
Wüste?  Wozu  hat  ihn  das  Volk  ausgeschickt?  —  Er  sucht  Gott,  den  ver- 
lorenen, aus  der  Gemeinschaft  entwichenen  Gott.  Das  allein  ist  die  Krankheit, 
die  das  Volk  ergriffen  hat,  das  hat  Unglück,  Freudlosigkeit  und  Feindseüg- 
keit  in  die  Gemeinschaft  getragen :  Gott  ist  tot,  Gott  wohnt  nicht  mehr  unter 

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seinem  Volke ;  die  Religion  ist  keine  Religion  mehr ;  der  politisch- verwandt- 
schaftliche Bund  ist  kein  Seelenbund  mehr. 

Dem  Volke  kommt  der  Verlust  Gottes  nur  dumpf  zum  Bewußtsein;  es 
treibt  die  leergewordenen  religiösen  Zeremonien  fort,  es  sucht  Ablenkung 
in  ausschweifenden  Genüssen  oder  harter  seelenloser  Arbeit,  es  schafft  sich 
Ersatz  durch  Kunst  und  Wissenschaft;  es  lebt  nach  außen  und  türmt 
tausend  Pflichten  und  Vergnügungen  vor  die  Tür  seines  Innersten,  um  die 
Wüste  und  Not  zu  vergessen,  die  dort  innen  herrscht.  Der  Prophet  aber  ver- 
mag nicht  zu  vergessen;  ihm  tönt  aus  allem,  was  er  angreift,  aus  jeder  Seele, 
in  die  er  hineinschaut,  der  Notschrei  entgegen:  ,,Gott  ist  tot,  wozu  noch 
leben!"  Er  versucht  es,  sich  wie  die  übrigen  zu  betäuben:  Wie  viele  Prophe- 
ten sind,  bevor  sie  in  die  Wüste  gingen,  voller  Eifer  beim  gottlosen  Gottes- 
dienst gewesen,  haben  sich  den  künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Freu- 
den, der  vergessenbringenden  Tagesarbeit  mit  Inbrunst  in  die  Arme  ge- 
worfen! Aber  es  gelang  ihnen  nicht,  die  Not,  die  sie  fühlten  und  sahen,  zu 
vergessen;  sie  konnten  ihre  Unbefriedigung  nicht  bannen,  die  Stimmen  von 
innen  und  außen  nicht  überhören.  Das  Leben  unter  den  seelenlosen  Men- 
schen wurde  ihnen  endlich  unerträglich  und  immer  lauter  rief  es  aus  der 
Wüste:  komm  in  die  Einsamkeit;  dort  findest  du  Ruhe,  findest  du  Gott, 
findest  du  dich  selber! 

Daher  kommt  der  aus  der  Wüste  Zurückkehrende  als  ein  Erwarteter,  als 
ein  Retter  und  Heilbringer,  wenn  auch  das  Volk  sich  dessen  nicht  bewußt 
ist,  daß  es  ihn  erwartet  hat.  Seine  Predigt  ist  zwar  hart  und  furchtbar,  aber 
auch  befruchtend  wie  der  Regen,  der  das  dürre  Land  bewässert.  Er  nimmt 
hinweg,  was  auf  den  Seelen  lastete,  durchbricht  die  harte  Decke,  zerreißt  die 
Schleier  und  Hüllen,  mit  denen  die  Menschen  ihre  innere  Not  vor  sich  selber 
verbargen.  Nackt  und  hüllenlos  sieht  ein  jeder  sein  Leben  und  Leiden  da- 
liegen, wenn  der  Prophet  mit  glühenden  Worten  zum  Volke  spricht.  AUes 
Verhehlte,  dessen  man  sich  schämte,  steigt  dann  herauf,  alle  Geister  des 
Guten  und  Bösen,  die  in  der  Tiefe  schliefen,  erwachen  und  streben  ans  Licht. 
Der  Prophet  ist  der  große  Verwandler  und  Totenerwecker.  Daher  sprießt 
durch  seine  Worte  ein  neues  Leben,  das  echte,  tiefe,  heilige  Leben  auf. 

So  kommt  es,  daß  der  Prophet  nicht  nur  den  Volksverband  zersprengt, 
sondern  einen  neuen  höheren  Verband  erschafft.  Um  ihn  herum  bildet  sich 
zuerst  ein  kleiner,  dann  allgemach  ein  größerer  Kreis.  Er  sammelt  Jünger, 
füUt  sie  mit  seinem  Geiste  und  sendet  sie  aus.  Wenn  er  ein  wahrer  Prophet, 
kein  matter  oder  lügnerischer  Afterprophet  ist,  d.  h.  wenn  er  ein  wirkhcher 
Herold  der  Not  und  Sehnsucht  des  Volkes  ist,  springt  das  Feuer,  das  in  ihm 
brennt,  auf  alle  über,  die  ihm  nahen.  In  allen  wird  die  Haupteigenschaft 
des  prophetischen  Menschentypus  aufkeimen :  der  Heroismus,  der  Wille  alles 

5  Horneffer,  Der  Priester  II  05 


zu  opfern,  Leben  und  Glück  hinzugeben  für  das  Eine,  Größte.  Dieser  Herois- 
mus gibt  dem  Propheten  und  seiner  allmählich  wachsenden  Gemeinde  jene 
unwiderstehliche  Kraft,  von  der  die  Geschichte  aller  Religionsgründungen 
berichtet.  Sie  siegen,  wohin  sie  kommen.  Auch  ihr  Unterliegen  ist  ein  Sieg; 
denn  jeder  Prophet  lehrt,  daß  wer  sein  Leben  verliert,  es  eben  damit  ge- 
winnt, und  wer  für  Gott  stirbt,  dem  Reiche  Gottes  damit  den  Sieg  verschafft. 
Diese  Lehre  entspricht  der  Wahrheit;  Tod  und  Niederlage  im  Kampfe  um 
Gott  ist  immer  zugleich  Leben  und  Sieg.  Wirbt  doch  auch  nichts  so  sehr  für 
eine  Sache,  als  wenn  deren  Anhänger  alles,  auch  das  Leben  für  sie  hingeben. 
Daher  ist  jede  Schlacht,  die  der  Prophet  an  der  Spitze  seines  Heeres  schlägt, 
für  ihn  gewonnen.  Die  Seinigen,  die  der  Feind  erschlägt,  leben  weiter,  ver- 
breiten lähmenden  Schrecken,  wecken  sehnsüchtige  Bewunderung.  Die  Ver- 
folger der  Christen  haben  das  oft  genug  erfahren  müssen;  alle  Besten  und 
Stärksten  unter  den  Heiden  gingen  am  Ende  zu  den  Christen  über,  weil  die 
Todesbereitschaft  und  das  sieghafte  Auge  der  Opfer  sie  überwältigte  und 
ihnen  den  Weg  in  eine  höhere  und  reinere  Welt  wies. 

Am  meisten  Widerstand  findet  der  Prophet  bei  den  Trägern  der  bisherigen 
Gemeinschaftsidee,  also  bei  den  Priestern,  den  Regierenden,  den  ,, Wäch- 
tern", d.  h.  den  Verwaltungs-  und  Kriegssoldaten.  Stets  gehen  zuerst  die 
unterdrückten  Schichten  zu  ihm  über,  weil  sie  nicht  nur  innerlich,  sondern 
auch  äußerlich  unbefriedigt  sind.  Mit  ihnen  verbinden  sich  die  gescheiterten, 
verunglückten,  hinausgedrängten  Einzelnen.  An  jeden  Propheten  drängt 
sich  zunächst  eine  bedenkliche  Bundesgenossenschaft  heran.  Auch  die  hoff- 
nungslos Kranken,  die  Entarteten,  die  Abenteurer  und  Glücksritter  kommen 
und  hoffen  von  dem  Propheten  Genesung,  Rehabilitierung,  Unterstützung. 
Jedoch  wird  er,  wenn  er  ein  wahrer  Prophet  ist,  von  allen  Unheilbaren  und 
Unehrlichen  bald  wieder  verlassen  und  mit  doppelter  Wut  verfolgt,  angeblich 
weil  er  ein  falscher  Prophet,  ein  armseliger  Betrüger  sei,  in  Wirklichkeit, 
weil  seine  Forderungen  ihnen  zu  schwer,  sein  Ernst  ihnen  unerträglich  ist. 
Sie  wollen  ihn  ausbeuten  und  verbrauchen;  das  verwehrt  er  ihnen.  Auch  die 
unterdrückten  und  dienenden  Volksschichten  werden  ihm  nur  dann  treu 
bleiben,  wenn  sie  zu  Unrecht  dienen  und  eigentlich  der  Freiheit  und  Herr- 
schaft würdig  wären.  Sonst  werden  auch  sie  sich  enttäuscht  von  ihm  ab- 
wenden, weil  sein  Gerechtigkeitssinn  unbeugsam  ist.  Aber  freilich  werden 
nur  in  solchen  Zeiten  wahre  Propheten  aufstehen,  wo  die  Gesellschafts- 
schichten im  Kampfe  miteinander  liegen  und  die  Verteilung  der  Lasten  und 
Rechte  nicht  dem  wirküchen  Wertverhältnisse  der  Gruppen  entspricht.  Pro- 
pheten treten  nur  dann  auf,  wenn  die  Volksgemeinschaft  brüchig  geworden 
ist  und  die  dienenden  Schichten  sich  mit  Recht  gegen  ihr  Los  empören.  Man 
wird  nun  einwenden,  daß  es  der  Prophet  doch  nur  mit  der  Religion  zu  tun 

66 


habe,  nicht  mit  Sozialpohtik.  Aber  mir  scheint,  daß  rehgiöse  Krisen  stets 
unlöslich  mit  sozialen  Krisen  verknüpft  sind.  Waren  nicht  alle  berühmten 
Propheten  der  Weltgeschichte  zugleich  gesellschaftliche  Reformatoren  oder 
Revolutionäre?  Ohne  Zweifel,  wenn  die  politisch-wirtschaftlichen  Folgen 
sich  vielleicht  auch  erst  lange  nach  dem  Auftreten  des  Propheten  bemerkbar 
machten  und  sich  wesentlich  anders  gestalteten,  als  die  Propheten  gewünscht 
hatten. 

Kann  überhaupt  ein  Volk  religiös  unbefriedigt  sein,  kann  sein  Gott  sterben 
und  entweichen,  wenn  es  sich  gesellschaftlich  und  wirtschaftlich  in  glück- 
lichem Zustande  befindet?  Ich  vermag  diese  Frage  nicht  zu  beantworten; 
jedenfalls  aber  lehrt  die  Geschichte,  daß  sich  an  den  Propheten  immer  die 
Unbefriedigten  und  Zurückgesetzten  anschließen.  Mit  ihrer  Hilfe  siegte  er; 
mit  seiner  Hilfe  setzten  sie  eine  Neugestaltung  oder  Umgestaltung  der  Ge- 
sellschaft ins  Werk.  Dabei  halfen  jedoch  oft  die  Besten  aus  den  bis  dahin 
herrschenden  Schichten  mit  und  dadurch  wurde  dann  die  revolutionäre  Ten- 
denz des  Propheten  gemildert.  Die  religiös-gesellschaftliche  Umgestaltung 
vollzog  sich  ohne  allzuschwere  Erschütterungen.  Der  Prophet  machte  Frie- 
den, er  wurde  von  den  Regierenden  als  Ratgeber,  als  Vertreter  des  Volks- 
willens berufen;  die  welthchen  Gewalten  wandten  sich  seinen  neuen  reli- 
giösen Lehren  zu. 

Der  alte  religiöse  Bund  und  seine  Priesterschaft  wird  dagegen  wohl  immer 
vor  ihm  weichen  müssen.  Der  Prophet  will  und  kann  mit  der  alten  religiösen 
Organisation  nicht  Frieden  schließen,  und  auch  die  Vertreter  dieser  Organi- 
sation stehen  ihm  mit  unversöhnlichem  Haß  gegenüber.  Hat  je  ein  Papst 
einen  Luther  zum  Ratgeber  berufen  und  ihm  die  friedliche  Neubildung  der 
Religion  und  Kirche  übertragen  ?  Die  Geschichte  kennt  keinen  solchen  Fall. 
Der  gegenseitige  Haß  und  das  gegenseitige  Mißverständnis  ist  zu  groß,  als 
daß  ein  gütlicher  Vergleich  und  ein  gemeinsames  Wirken  leicht  möglich 
wäre.  Man  kann  keiner  der  beiden  Parteien  einen  Vorwurf  daraus  machen. 
Des  Propheten  Rede  wendet  sich  ja  unmittelbar  gegen  die  bestehende  Ge- 
meindereligion und  ihre  Vertreter.  Was  den  Propheten  in  die  Wüste  trieb, 
war  vornehmlich  das  Ungenügen  an  dieser  Religion,  war  das  lähmende  Ge- 
fühl, daß  die  von  den  Priestern  gepredigte  Religion  nur  noch  ein  Leichnam 
sei,  das  Tun  der  Priester  ein  totes  Zeremonienwesen  oder  ein  betrügerisches 
Ausbeuten  des  Volkes.  Jeder  Prophet  hat  mehr  oder  weniger  schroff  ver- 
kündet, daß  die  Priester  Narren  und  Lügner,  ihre  Religion  ein  Nichts  sei. 
Kein  Wunder,  daß  die  Priester  einem  solchen  Propheten  nicht  wohlgesinnt 
waren  und  kein  Mittel  unversucht  ließen,  ihn  durch  das  Kreuz  oder  Gift 
oder  Feuer  zu  beseitigen. 

Insofern  ist  es  allerdings  oft  zu  einer  ,, Versöhnung"  gekommen,  als  die 

5*  67 


weltliche  Regierung,  wenn  sie  das  Heft  in  der  Hand  behielt,  die  Priester- 
schaft und  die  Prophetenanhänger  zum  Waffenstillstand  nötigte,  beide  Reli- 
gionen schützte  und  nebeneinander  bestehen  ließ.  Ferner  pflegen  einige  aus 
der  Priestergenossenschaft  zum  Propheten  überzugehen.  Gerade  die  Priester 
müssen  ja,  vorausgesetzt,  daß  sie  ihres  Berufes  würdig  sind,  die  Not  des 
Volkes  lebhaft  fühlen,  müssen  nach  Abstellung  dieser  Not  Verlangen  haben; 
und  so  werden  sie,  ob  sie  wollen  oder  nicht,  in  dem  Propheten  den  Retter 
und  Träger  einer  neuen  Religion  ahnen.  Der  Prophet  selber  geht  oft  aus 
dem  Priesterstande  hervor,  und  zieht  einen  Teil  der  Priesterschaft  nach  sich. 
,, Abgefallene"  Priester  übernahmen  daher  oft  die  Führung  in  dem  Kriege 
gegen  die  bisherige,  unbefriedigende  Religion,  wodurch  der  Kampf  einerseits 
eine  besondere  Schärfe  erhält  —  diese  abgefallenen  Priester  haben  am  schwer- 
sten unter  dem  entgötterten  Religionsbetrieb  gelitten  und  kennen  die  Schwä- 
chen der  alten  Priesterschaft  am  besten  — ;  andererseits  aber  findet  der 
Kampf  schneller  ein  Ende,  weil  religiöse  Naturen  den  Zustand  der  Religions- 
losigkeit nicht  lange  ertragen.  Der  zerstörende  Kampf  wandelt  sich  in  einen 
rettenden  und  aufbauenden  um. 

In  Wirklichkeit  verlaufen  religiöse  Kämpfe  nicht  so  einfach  und  durchsich- 
tig, wie  wir  es  hier  in  einem  Schema  darzustellen  versucht  haben.  Der  Ver- 
lauf wird  durch  die  jeweiligen  Zeit-  und  Kulturumstände  beeinflußt  und  ver- 
wickelter gemacht.  Auch  sind  der  Menschentypus  des  Priesters  und  der  des 
Propheten  nur  für  die  Psychologie  schroffe  Gegensätze;  oft  vereinigen  sich 
diese  beiden  Typen  in  einer  einzigen  Persönlichkeit;  vielleicht  ist  es  sogar 
die  Regel,  daß  jede  Priesternatur  etwas  vom  Propheten  in  sich  hat  und  um- 
gekehrt. So  wird  denn  auch  das  Wirken  der  bisherigen  Priesterschaft,  die 
der  Prophet  bekämpft,  nie  ganz  seelenlos  und  gottlos  sein,  demnach  die  reli- 
giöse und  politische  Organisation,  die  der  Prophet  zu  sprengen  oder  umzu- 
formen sucht,  nie  ein  völlig  erstarrtes  und  der  Vernichtung  würdiges  Ge- 
bilde. Denn  die  religiösen  und  sozialen  Schöpfungen  sind  doch  das  Werk 
lebendiger  Menschen;  sie  wachsen  und  wandeln  sich  mit  den  Menschen;  mit 
jeder  neuen  Generation  treten  kleine  Verschiebungen  ein.  Auch  bringt  jede 
Generation  notwendig  Propheten  in  kleinerem  Maßstabe  hervor :  die  Jugend 
tritt  mit  eigenen,  neuen  Idealen  in  die  Welt;  sie  nimmt  die  ererbten  Schätze 
nicht  unbesehen  in  Gebrauch.  Die  Jugend  ist  immer  ein  wenig  Prophet  und 
Revolutionär.  Sie  wird  daher  völlig  seelenlose  Erbstücke  ohne  \äel  Auf- 
hebens beiseite  legen  und  wird,  was  sie  bestehen  läßt,  mit  neuem  Geiste  zu 
füllen  suchen.  Daher  vollziehen  sich  auch  religiöse  und  soziale  Umwälzungen 
meist  mit  außerordenthcher  Langsamkeit  und  in  vielen  einzelnen  Stufen. 
Wann  hätte  eine  einzige  Generation  und  ein  einzelner  Prophet  die  Neuge- 

68 


staltung  des  Lebens  zugleich  vorbereitet  und  zur  Vollendung  gebracht! 
Mehrere  Generationen  und  Propheten  müssen  sich  die  Hände  dazu  reichen. 
Kein  Prophet  hat  die  Durchführung  dessen,  was  er  gepredigt  hat,  erlebt. 
Er  ist  vielleicht  ein  Frühlingssturm,  der  dem  Winter  ein  Ende  macht  und  der 
Sonne  freie  Bahn  schafft.  Aber  durch  einen  Frühhngssturm  ist  der  Sommer 
noch  nicht  herbeigezaubert;  die  Früchte  sitzen  noch  in  der  Knospe.  In  der 
Rehgion  ist  es  mit  Überrumpelungsangriffen  ganz  und  gar  nicht  getan,  denn 
die  alte  Religion  wächst  durch  ihren  Fall  und  schöpft  aus  ihrer  Niederlage 
neue  Kraft.  Wenn  ein  Prophet  mit  einem  neuen  Evangelium  auftritt,  weckt 
er  in  der  alten  Priesterschaft  schlafende  religiöse  Triebe  und  lockt  Gegen- 
propheten hervor.  Jeder  bekämpfte  Glaube  wird  neu  lebendig;  jede  be- 
drohte Organisation  schließt  sich  fester  zusammen  und  schickt  tapfere  Ver- 
teidiger aus,  die  den  Angreifern  die  wertvollste  Waffe  aus  der  Hand  zu 
winden  suchen.  Diese  wertvollste  Waffe  des  Propheten  ist  sein  Begeiste- 
rangsruf,  daß  er  das  Leben  bringe,  seine  Gegner  für  tote  Ideale  kämpften; 
damit  zwingt  er  alles,  was  Leben  in  sich  fühlt  und  inbrünstig  nach  Leben 
verlangt,  auf  seine  Seite  hinüber,  sodaß  die  Gegner  in  Leblosigkeit  und  Mut- 
losigkeit dastehen  (,,Lasset  die  Toten  ihre  Toten  begraben").  Die  Angegrif- 
fenen suchen  ihm  daher  zu  beweisen,  daß  auch  in  ihnen  und  ihren  Idealen 
noch  quellendes  Leben  wohnt.  Damit  steigern  sie  wieder  die  Kampflust  der 
Angreifer.  So  steht  Leben  gegen  Leben.  Nachdem  aber  beide  Parteien  ihren 
Gegner  achten  und  fürchten  gelernt  haben,  nimmt  der  Kampf  eine  ritter- 
liche, unblutige  Gestalt  an;  er  wird  zum  Wettkampf,  zum  religiösen  Wett- 
eifer und  dieser  schließt  notwendig  die  ehemaligen  Gegner,  so  sehr  er  sie 
scheinbar  auseinanderführt,  zu  einem  irgendwie  ausgedrückten  Freund- 
schaftsverhältnis zusammen. 

Hierzu  wirkt  auch  die  Stellung  des  Propheten  zu  der  fremdländischen 
Umwelt  und  zu  feindlichen  Stämmen  und  Organisationen  mit.  Der  Prophet, 
dieser  ebenso  großartige  wie  sonderbare  Menschentypus,  wird  uns  erst  ganz 
verständhch,  wenn  wir  auch  seine  Beziehungen  zu  anderen  Rehgionen  und 
anderen  Staaten  ins  Auge  fassen.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  sich  nie  ein 
sozialer  Verband  gebildet  hat,  der  nicht  die  Einwirkung  anderer  Verbände 
erführe;  keine  priesterliche  Gemeindereligion  ist  denkbar  ohne  freundliche 
oder  feindliche  Berührung  mit  fremden  Kulten  und  Kultgenossenschaften. 
Wir  bemerkten  früher,  daß  der  Zauberer,  d.  h.  der  Priester  eigener  Unter- 
nehmung, in  einem  geheimen  oder  offenen  Gegensatz  zu  der  herrschenden 
Gemeindereligion  steht ;  oft  ist  er  der  Priester  einer  unterdrückten  Religion 
und  entstammt  einem  unterworfenen  Volksstamm,  der  sich  mit  dem  Er- 
oberer- und  Herrschervolk  nur  äußerhch  ausgesöhnt  hat.  Entwickeltere 
religiös-soziale  Gebilde  entstehen  nie  durch  einen  einzigen  Volksstamm,  son- 

69 


dem  stets  durch  mehrere  Volksstämme  verschiedener  Abkunft,  die  durch 
den  Zwang  der  Verhältnisse  einander  nahegerückt  sind  und  durch  fried- 
liche oder  kriegerische  Eroberung  zu  einem  wirtschaftHch- politischen 
Ganzen  geworden  sind.  Die  innere  Verschmelzung  der  einzelnen  Bestand- 
teile geht  dann  bald  schneller,  bald  langsamer  vor  sich.  Ganz  gelingt  sie 
wohl  niemals;  namentlich  die  Religionen  leisten  zähen  Widerstand  und 
werden  zum  hauptsächlichen  Zufluchtsort  der  widerstrebenden  Persönlich- 
keiten. Wenn  dann  gar  der  Zusammenhang  sich  wieder  lockert,  flackern 
die  unterdrückten  Religionen  neu  auf;  ihre  Vertreter  werden  zu  Propheten, 
predigen  den  ..heihgen  Krieg"  gegen  die  ,, Unterdrücker";  sie  treten  als 
politische  Aufrührer,  als  soziale  Agitatoren  auf;  sie  suchen  alte,  halb  ver- 
gessene religiös-politische  Gedanken  wieder  hervor  und  verknüpfen  sie  mit 
neu  auftauchenden  revolutionären  Ideen. 

Dabei  treten  sie  nun  auch  in  Beziehung  zu  auswärtigen  Mächten  und  aus 
der  Fremde  stammenden  Gedanken.  Jeder  Kämpfer  sieht  sich  nach  Hilfs- 
truppen um;  jeder,  der  gegen  seine  eigenen  Herren  oder  Brüder  kämpft, 
holt  sich  diese  Hilfstruppen  aus  der  Fremde.  Meist  lassen  sich  die  umwohnen- 
den Völker  nicht  lange  bitten;  sie  unterstützen  aus  egoistischen  Gründen 
den  Propheten,  der  sie  um  Hilfe  angeht,  und  so  zieht  der  religiöse  Neuerer  an 
der  Spitze  fremder  Truppen  gegen  sein  Heimatland.  Er  läßt  es  nicht  mehr  als 
sein  Heimatland  gelten,  weil  es  angeblich  oder  wirklich  keine  ideale  Lebens- 
gemeinschaft mehr  ist. 

Die  Wüste,  in  die  der  Prophet  vor  seinem  Auftreten  sich  zurüclczieht,  ist 
oft  ein  fremdes  Land  und  Volk,  wo  er  das  Gastrecht  sucht.  Vielleicht  kommt 
er  dorthin  als  ein  Vertriebener.  Im  Leben  der  meisten  Propheten  gibt  es  eine 
,, Flucht"  (Hedschra)  zu  fremden  Menschen  und  oft  auch  zu  fremden  Göt- 
tern. Wie  lebt  er  in  der  Fremde?  Entweder  still  und  in  sich  gekehrt, 
seines  Vaterlandes  gedenkend ;  oder  er  predigt  den  Fremden  und  entflammt 
sie,  das  Vaterland  mit  ihm  zu  erobern,  das  er  mit  Güte  und  Überredung 
nicht  hatte  gewinnen  können.  Es  ist  eine  tiefe  Wahrheit,  daß  ein  Prophet  in 
seinem  Vaterlande  nichts  gilt,  weil  jeder  ihn  als  seinesgleichen  ansieht  und 
nicht  den  Gesandten  und  Gesalbten  in  ihm  zu  erkennen  vermag.  ,,Das  Gute 
und  Große  kommt  aus  der  Ferne,  kommt  vom  Himmel,  von  einer  unbekann- 
ten Welt  her!"  —  so  dachten  die  Menschen,  denen  es  schlecht  geht,  von  jeher 
und  werden  wohl  auch  in  alle  Zukunft  so  denken. 

Daher  denn  auch  der  kindliche  Glaube,  daß  ein  Prophet  aus  der  Fremde 
Erlösung  bringen  werde,  und  das  kindliche  Bestreben,  aus  dem  Propheten 
eine  geheimnisvolle  Wundergestalt  zu  machen.  Niemand  soll  so  recht  wissen, 
wer  der  Retter  eigentlich  ist,  woher  er  stammt,  wie  und  wo  er  aufgewachsen 
ist.  Sein  Vater  ist  ein  Gott,  seine  Mutter  ein  begnadetes  Weib  oder  ein  Fabel- 

70 


wesen,  ein  Tier  (Wölfin,  Hündin,  Kuh  usw.).  Seine  Jugend  ist  voller  Not  und 
Gefahr,  in  Niedrigkeit  hat  er  gelebt,  nur  die  wunderbare  Huld  Gottes  und 
die  Hilfe  der  schützenden  Geister  hat  ihn  vor  den  Anfeindungen  böser  Dä- 
monen und  neidischer  Menschen  bewahrt.  Es  ist  merkwürdig,  daß  die  Bio- 
graphien aller  Propheten  und  Heilbringer  aller  Völker  einander  aufs  Haar 
gleichen.  Von  jedem  werden  ähnliche  Schicksale  berichtet;  wie  unter  einem 
Zwange  statten  die  Menschen  die  Geburts-,  Jugend-,  Lebens-  und  Sterbe- 
geschichte ihrer  Retter  und  Führer  immer  wieder  mit  denselben  mythischen 
Zügen  aus  (vgl.  über  die  psychologischen  Gründe  dieser  auffallenden  Er- 
scheinung die  Schrift  von  Otto  Rank:  Der  Mythus  von  der  Geburt  des 
Helden,  in  Freuds  Schriften  zur  angewandten  Seelenkunde).  Von  Moses, 
ödipus,  Dionysos,  Kyros,  Buddha,  Pythagoras,  Jesus  und  vielen  anderen 
sagenhaften  oder  geschichtlichen  Helden  religiöser  oder  politischer  oder  all- 
gemein menschlicher  Art  werden  ähnliche  Erlebnisse  berichtet. 

Ein  fast  immer  wiederkehrender  Zug  ist  auch,  daß  der  Prophet  in  der 
Fremde  weilt,  aus  der  Fremde  kommt  und  in  seiner  Heimat  unbekannt  ist. 
Die  geschichtlichen  Propheten  kehren  ebenfalls  in  ihre  Heimat  als  Fremde 
zurück,  sei  es  mit,  sei  es  ohne  eine  in  der  Ferne  gesammelte  Anhängerschaft. 

Aber  der  Prophet  benutzt  sein  Verweilen  im  Auslände  zugleich  als  Lehr- 
zeit. Wenn  er  aus  der  Heimat  und  dem  gewohnten  Leben  entwich,  so  trieb 
ihn,  wie  wir  sagten,  die  Unbefriedigung  fort ;  die  heimische  Religion  und  das 
heimische  Leben  genügten  ihm  nicht.  Er  sucht  draußen,  was  er  zu  Hause 
nicht  gefunden  hat.  Er  schaut,  wie  andere  Menschen  leben,  fragt,  ob  sie  glück- 
lich sind,  forscht,  ob  sie  vielleicht  den  verlorenen  Gott  bei  sich  beherbergen. 
Er  gewinnt  dabei  in  jedem  Falle  und  erfährt  Einwirkungen  mannigfacher 
Art.  Wenn  er  heimkehrt,  bringt  er  wirklich  Neues,  im  besten  Falle  den  ver- 
mißten Gott  mit.  Wir  sehen,  wie  auf  diese  Weise  religiöse  Gedanken  wandern, 
wie  Kultformen,  Mythen  und  Lebensgewohnheiten  fremder  Völker  über- 
nommen werden.  Die  eigentliche  Tat  des  Propheten  besteht  in  solchen  Fällen 
darin,  daß  er  ein  Vermittler  und  Übertrager  dieser  Schätze  ist ;  er  frischt  das 
träge  gewordene  Blut  seiner  Brüder  durch  fremdes  Blut  und  Leben  auf. 
Auch  wenn  er  Waffengewalt  anwenden  muß  und  seinem  Volk  eine  Zeitlang 
als  ein  hochverräterischer  Vaterlandsfeind  gilt,  kämpft  er  doch  immer  für 
die  Erneuerung  der  heimischen  Religion  und  Kultur. 

Die  fremden  Schätze  werden  natürlich  selbständig  verarbeitet,  zunächst  von 
ihm,  dann  vom  Volke.  Unverändertes  Herübernehmen  ist  sehr  selten.  An- 
fangs macht  die  Einverleibung  große  Schwierigkeiten.  Die  fremden  Gedan- 
ken wirken  zunächst  zersetzend;  ihre  Neuheit  besticht  oder  stößt  ab.  Die 
Priesterschaft  und  die  sonstigen  Hauptvertreter  der  bisherigen  Kultur  mah- 
nen dann  nicht  mit  Unrecht  zur  Treue  gegen  die  Väter,  zur  Festigkeit  gegen 

71 


die  Flut  des  Fremden.  Die  Klügsten  aber  wenden  sich  den  neuen  Gedanken 
zu  und  ziehen  das  \'olk  nach  sich.  Verfügt  das  Volk  über  hinreichende 
Kräfte,  so  wird  das  Neue  dem  Alten  möghchst  angeghedert ;  die  Väter  wer- 
den nicht  verraten,  im  Gegenteil  wird  eine  Kultur  erst  durch  die  Berührung 
imd  Verbindung  mit  fremden  Kulturen  ihres  eigenen  Besitzstandes  recht 
inne  und  lernt  ihre  Kräfte  schöner  verwenden  als  vorher.  So  hatte  ja  auch 
der  Prophet  im  fremden  Lande  sich  selber  und  den  heimischen  Gott  wieder- 
gefunden und  durch  den  fremd  gewordenen  Propheten  lernt  wiederum  das 
Volk  sich  selber  verstehen  und  wird,  indem  es  scheinbar  das  Fremde,  aus 
einer  anderen  Welt  Stammende  anbetet,  zum  Selbstvertrauen  und  zur  Selbst- 
sicherheit zurückgeführt. 


PJä 


nnn  2.  die  Eingebung  === 


In  seinem  oft  erwähnten  Werke  hat  Wundt  die  Entwicklung  des  Pro- 
pheten aus  dem  Zauberer  und  Schamanen  ganz  im  Sinne  unserer  Darstellung 
geschildert.  Er  sagt:  ,,Wie  aus  dem  Medizinmann  der  primitiven  Kultge- 
nossenschaften der  Priester  hervorgeht,  so  erhebt  sich  der  Schamane  in 
Momenten  gesteigerter  rehgiöser  Motive  zum  Propheten.  Ein  Prophet  solcher 
Art  ist  auch  Mohammed,  und  der  Islam  hat  noch  manche  Züge  bewahrt, 
die  an  die  alten  Kulte  der  nomadischen  Steppenbewohner  erinnern.  Zum 
Propheten  hat  sich  aber  hier  die  Gestalt  des  religiösen  Visionärs  dadurch 
erhoben,  daß  er  die  Mischung  altassj^rischer,  jüdischer,  christlicher  Elemente 
mit  einer  Fülle  ursprünghcher  Ahnen-  und  Stammeskulte  zu  einem  mono- 
theistischen Ganzen  verschmolz."  Also  das  heimische  Gottesempfinden,  das 
uralte  religiöse  Erbe  ist  mit  fremden  religiösen  Vorstellungen  eine  enge  Ver- 
bindung eingegangen,  und  daraus  ist  eine  neue  Religion  erwachsen,  die  trotz 
der  fremden  Bestandteile  heimathch  und  echt  ist  und  die  aus  den  Wüsten- 
arabern ein  Volk  von  unwiderstehhcher  Eroberungskraft  gemacht  hat.  Der 
Islam  verdankt  seine  Siege  den  Arabern  und  ihrem  Propheten ;  erst  später 
setzten  andere  Völker  das  rehgiös-pohtische  Werk  Arabiens  fort  und  suchten 
auch  dem  Evangehum  Mohammeds  neue  religiöse  Gedanken  einzuverleiben. 
Mohammed  war  ein  verzückter  Schamane,  der  im  epileptischen  Anfall  mit 
der  Gottheit  verkehrte  und  sich,  wie  uns  ausdrückhch  berichtet  wird,  erst 
dann  zum  Prophetenberuf  entschlossen  hatte,  als  sich  diese  nervösen  Er- 
scheinungen bei  ihm  zeigten.  Aus  den  Krankheitszeichen  schloß  er,  daß 
Gott  ihn  auserw'ählt  habe,  und  wuchs  dann  immer  mehr  in  die  Rolle  des 
gottbegnadeten  Neuropathen  hinein.  Alle  seine  Predigten  und  der  aus  diesen 
Predigten  hervorgegangene  Koran  sind  angeblich  direkte  göttliche  Offen- 

72 


baningen,  die  ihm  im  Anfall  zuteil  geworden  sind.  Er  scheint  sich  große 
Übung  in  der  willkürlichen  Erzeugung  des  Anfalls  erworben  zu  haben ;  denn 
er  konnte  zu  rechter  Zeit  immer  mit  einer  neuen  Offenbarung  aufwarten, 
die  gerade  das  enthielt,  was  seinen  Zwecken  und  dem  Vorteile  der  jeweiligen 
Lage  diente. 

Sehr  nahe  verwandt  mit  Mohammed  sind  die  alttestamentlichen  Prophe- 
ten und  auch  einige  altgriechische  Propheten,  namenthch  Empedokles.  Die 
Propheten  Israels  und  Judas  sind  aus  jenen  halbverrückten  Enthusiasten 
hervorgegangen,  die  einzeln  oder  in  Scharen  durch  das  Land  zogen  und  deren 
Raserei  ansteckend  wirkte,  wie  aus  dem  i.  Sam.  lo  berichteten  Vorgang  er- 
hellt. Samuel  sagt  dem  soeben  gesalbten  Saul,  er  werde  in  Gibea  Gottes,  an 
der  Stelle,  wo  die  Säule  der  Philister  steht,  auf  einen  Trupp  Nebiim  stoßen. 
,,Vor  ihnen  her  ertönt  Harfe,  Pauke,  Flöte  und  Zither  und  sie  selber  sind 
in  prophetischer  Raserei.  Da  wird  dann  der  Geist  Jahwes  über  dich  kom- 
men, sodaß  du  ebenfalls  in  prophetische  Raserei  gerätst  und  eine  Verwand- 
lung mit  dir  vorgeht."  Das  geschah,  und  Saul  raste  mit  den  Propheten,  so- 
daß die  Leute  sagten:  ,, Gehört  denn  Saul  auch  zu  den  Propheten?" 

ScHWALLY  (,,Der  heilige  Krieg  in  Israel")  meint,  daß  es  sich  bei  diesen 
Nebiim  wohl  um  kriegerische  Begeisterung,  um  eine  Art  Berserkertum  ge- 
handelt habe.  Das  liegt  in  der  Tat  nahe ;  denn  der  Krieg  war  in  Israel  wie 
allerorten  eine  Sache  Gottes,  eine  heilige  Angelegenheit ;  die  Kämpfer  waren 
vom  Geiste  Jahwes  besessen.  Ein  solcher  Besessener  war  z.  B.  Simson,  und 
daß  die  Nebiim  ebenfalls  den  Geist  Jahwes  in  sich  hatten,  folgt  aus  den 
obigen  Worten;  diesen  Geist  übertrugen  sie  auf  Saul.  Ihr  verzücktes  Be- 
ginnen, die  Musikinstrumente,  die  sie  mit  sich  führen,  ihr  Singen  und  Lallen, 
das  wir  hinzudenken  müssen,  erinnert  lebhaft  an  den  die  Krankheit  aus- 
treibenden Zauberarzt,  aber  auch  an  die  heiUgen  Kriegs-  und  Festtänze  der 
Naturvölker,  durch  die  sie  sich  mit  den  helfenden  Dämonen  vereinigten  und 
selber  zu  Dämonen  wurden.  Der  Krieg  hat  an  und  für  sich  etwas  Begeisterung 
Weckendes  und  erzeugt  leicht  jene  prophetische  Stimmung,  die  der  Psychia- 
ter als  Eintreten  des  zweiten  Zustandes,  als  suggestiven  Anfall  bezeichnet. 
Auch  bei  Mohammed  trägt  der  religiöse  Enthusiasmus  deuthch  kriegerische 
Züge. 

Die  Mittel,  sich  in  den  Zustand  der  Gottbegeisterung  zu  setzen,  verfeinern 
sich  allmählich.  Musik  und  Tanz  fallen  fort.  Mohammed  und  die  hebräischen 
Propheten,, rasen"  nicht  mehr.  Wundt  macht  auf  den  Gebetskampf  zwischen 
EHas  und  den  Baalspriestern  aufmerksam.  Erstens  steht  Elias  als  ein  ein- 
zelner der  zahlreichen  Priesterschaft  gegenüber,  wodurch  der  Gegensatz 
zwischen  Prophetentum  und  Priestergenossenschaft  klar  gekennzeichnet  wird. 
Ferner  wendet  EHas  kein  anderes  Mittel  an  als  inbrünstige  Gebete,  während 

73 


die  Baalspriester  „in  stundenlangem  Rasen  und  ekstatischem  Taumel  den 
eigenen  Leib  zerfleischen".  Sie  stehen  also  noch  auf  der  niederen  Stufe  und 
suchen  ihren  Gott  nach  Schamanenart  herbeizuzwingen.  Es  gelingt  ihnen 
aber  nicht,  das  erwartete  Wunder  tritt  nicht  ein,  mit  anderen  Worten:  die 
Zuschauer  werden  nicht  von  ihnen  mit  fortgerissen  und  nehmen  die  beab- 
sichtigte Suggestion  nicht  an;  denn  Wunder  dieser  Art  sind  ja  fraglos  Sug- 
gestionskunststücke, bei  denen  der  Betrug  den  Mithelfer  macht.  Die  Zu- 
schauer dieser  Eliasszene,  wenigstens  ein  Teil  von  ihnen,  oder  noch  vorsich- 
tiger gesagt:  die  Berichterstatter  sind  über  die  grobsinnliche  Art  religiöser 
Wundererzeugung  hinausgewachsen.  Elias  mit  seinem  einfachen  Gebet  er- 
reicht, was  sie  mit  ihrem  umständlichen  Suggestivapparat  nicht  erreichen. 
Diese  Vereinfachung  und  Vergeistigung  der  religiösen  Hilfsmittel  geht  bei 
allen  entwickelteren  Völkern  vor  sich.  JMan  will  das  tolle  Gebaren  und  wüste 
Zauberwesen  nicht  mehr;  man  will  den  Geist,  nichts  als  den  Geist.  Jedoch 
bleibt  die  Vorstellung,  die  man  von  dem  Wesen  und  Wirken  des  Geistes  hat, 
immer  noch  in  dem  Zauberglauben  befangen ;  man  verlangt  vom  Propheten 
immer  noch,  daß  er  mit  dem  Geiste,  als  einer  fremden  Person,  in  Verkehr 
trete  und  sich  von  ihm  erfüllen  lasse. 

Die  Baalspriester  bilden  an  unserer  Stelle  insofern  keinen  bezeichnenden 
Gegensatz  zu  dem  Propheten,  als  auch  sie  den  Hauptwert  auf  die  Begeiste- 
rung legen.  Im  allgemeinen  sind  die  Priesterkollegien  ruhiger  und  gleich- 
mütiger; ihr  Kult  ist  Gewohnheitskult  und  wird  als  regelmäßige,  von  der 
Gemeinde  vorgeschriebene  Pflicht  ausgeübt.  Der  Privatpriester  pflegt  er- 
regter und  erschütterter  zu  sein,  weil  er  allein  steht  und  seine  religiöse 
Pflicht  nur  auf  Geheiß  des  Geistes  ausübt.  Er  gehorcht  dem  Drange  seines 
Innern;  sie  erledigen  ein  Pensum.  Doch  gibt  es  Ausnahmen,  Einerseits  be- 
treibt der  Privatpriester  sein  Gewerbe  oft  aus  Gewinnsucht,  wodurch  seine 
Begeisterung  künstlich  und  oft  unlauter  wird;  andererseits  bietet  der  Ge- 
meindekult Anlaß  zu  echten  und  tiefen  religiösen  Erregungen;  namentlich 
die  Jahreszeiten-  und  Ackerbaufeste  lernten  wir  als  orgiastische  Feiern  ken- 
nen. Der  Baalskult  in  Palästina  war  ebenfalls  von  dieser  Art,  und  so  erklärt 
es  sich  ganz  wohl,  daß  die  Baalspriester  im  Kampfe  mit  Elias  nicht  als  zere- 
monielle und  geschäftsmäßige  Gemeindebeamte  erscheinen,  sondern  als 
wilde  Gottbegeisterte  von  prophetisch-schamanistischem  Gepräge. 

In  der  Regel  also  ist  der  Prophet  des  Gottes  voll,  der  Priester  nicht.  Das 
Volk  fühlt,  daß  der  Prophet  den  unsichtbaren  Mächten  nähersteht,  und 
nimmt  die  prophetischen  Äußerungen  als  unmittelbare  Verlautbarungen 
dieser  Mächte  auf.  Wir  erwähnten,  daß  die  Propheten  ihren  Gott  fast  immer 
redend  einführen.  Gott  ist  ihnen  im  Wachen  oder  im  Traume  erschienen, 
hat  sie  berufen,  hat  ihnen  das  Evangelium,  das  sie  verkünden  sollen,  mit- 

74 


geteilt,  und  sie  geben  dasselbe  jetzt  so  wörtlich  wie  möglich  wieder.  ,,Der 
Herr  sprach  zu  mir"  —  ,,Und  es  erging  das  Wort  Jahwes  an  mich  also"  — 
so  beginnen  sie  ihre  mündliche  oder  schriftliche  Rede  an  das  Volk  und  fahren 
dann  in  der  ersten  Person  fort.  Ihre  ganze  Zuversicht  und  Unerschrockenheit 
schöpfen  sie  daraus,  daß  sie  nur  der  Mund  Jahwes  sind.  Auch  ihre  Hörer 
sehen  in  ihren  Äußerungen  bloße  Wiedergaben  göttlicher  Eingebungen. 

Wir  müssen  annehmen,  daß  die  echten  Propheten  wirkliche  Offenbarungen, 
will  sagen  Halluzinationen  hatten.  Dem  widerspricht  es  nicht,  wenn  Ed. 
Meyer  („Die  Israeliten  und  ihre  Nachbarstämme")  wahrscheinlich  macht, 
daß  die  jüdischen  Propheten  einem  Verkündigungsschema  folgten,  das  sich 
bereits  bei  den  Ägyptern  findet.  Die  meisten  Propheten  nämlich  weissagen 
eine  Zeit  furchtbaren  Elends,  wo  alles  Schreckliche,  das  sich  erdenken  läßt, 
eintreten  werde.  Danach  werde  Gott  wieder  gnädig  werden,  die  eingebro- 
chenen Feinde  verjagen  und  ein  Reich  des  Friedens  und  Glücks  begründen. 
Ed.  Meyer  bemerkt  dazu:  ,,Es  ist  klar,  daß  die  Propheten  hier  mit  tradi- 
tionellem Gut  arbeiten,  das  keiner  von  ihnen  geschaffen  hat  und  das  schon 
Jahrhunderte  vor  Arnos  bestanden  haben  wird;  ihr  individuelles  Eigentum 
ist  nur  die  Ausgestaltung  im  einzelnen,  die  Anwendung  auf  die  jedesmaHge 
Situation,  die  gewaltige  Vertiefung  der  zugrunde  liegenden  Gedanken." 
Mir  scheint,  dies  Schema  ist  das  Eigentum  sämtlicher  Propheten  der  Welt, 
weil  es  psychologisch  und  pathologisch  notwendig  ist.  Wer  wird  zum  Pro- 
pheten? Der  Schreckliches  ahnt  und  fühlt  (Unheilswahn).  Noch  Nietzsche 
weissagt  eine  Zeit  des  ,, europäischen  Nihilismus"  und  Anarchismus.  Hinter 
dieser  Zeit  leuchtet  aber  stets  ein  fernes  Glück,  die  Wiederkunft  des  gött- 
Uchen  Königs,  oder  wie  der  Prophet  es  sonst  ausdrückte,  auf.  Das  ist  eben- 
falls psychologisch  begründet.  Im  Grunde  hat  jeder  Mensch,  wenn  er  sich 
mit  Inbrunst  in  die  dunkle  Zukunft  versenkt,  das  Gefühl,  daß  es  zuerst  ab- 
wärts, nachher  aber  mit  Macht  aufwärts  gehen  werde. 

Ich  sage  also,  daß  die  Propheten  trotz  Tradition  und  Prophetieschema 
halluzinatorische  Naturen  von  erhöhter  Sensibilität  waren.  Sie  suchten  ge- 
flissentlich Einbrüche  ihres  unbewußten  Selbst  hervorzurufen.  Mit  aller 
W^elt  waren  sie  überzeugt,  daß  in  den  aus  dem  Unbewußten  stammenden 
Visionen  und  Stimmen  die  göttliche  Weisheit  zum  Ausdruck  komme.  Uns 
ist  diese  Anschauung  recht  fremd  geworden,  daher  wird  es  uns  so  schwer, 
für  das  Wesen  der  alten  Prophetie  das  rechte  Verständnis  zu  gewinnen. 
V^^ir  denken  entweder  an  Betrug,  oder  wenn  war  die  Echtheit  der  Halluzina- 
tionen und  Anfälle  zugeben,  bleibt  uns  unklar,  woher  die  Vernunft  und 
Größe  der  so  gewonnenen  Prophetenweisheit  stammt.  Wir  haben  verlernt, 
das  unbewußte  Seelenleben  als  Quelle  unseres  tiefsten  Wissens  anzusehen 
und  den  direkten  Weg  zu  diesem  unbewußten  Leben  aufzusuchen.  Wir  lieben 

75 


das  wache,  gesunde  Denken  und  mißtrauen  den  dunklen  Regungen,  die  in 
den  Träumen,  im  Rausch  und  im  Irrsinn  ans  Tageshcht  treten.  Mit  vollem 
Recht;  die  Arbeit  des  Menschengeschlechts  besteht  gerade  darin,  das  un- 
bewußte Seelenleben  durch  Regel  und  Gesetz  zu  bändigen  und  es  der  Zensur 
der  hellen  Vernunft  zu  unterwerfen.  Der  bewußte  Wille  und  die  Zweckvor- 
stellung nehmen  den  Thron  ein,  den  in  älteren  Zeiten  die  Halluzination  und 
Ekstase  eingenommen  haben.  Wer  heutigen  Tages  ,, Stimmen"  hört  und  uns 
mit  seinen  Gesichten  und  Offenbarungen  bekannt  machen  will,  den  führen 
wir  ins  Krankenhaus,  damit  dort  der  Arzt  alle  von  der  Wissenschaft  gefun- 
denen Mittel  anwendet,  um  diese  Stimmen  und  Offenbarungen  verschwinden 
zu  machen  und  also  die  ,, prophetische  Kraft"  des  Betreffenden  zu  vernichten. 
So  sehr  hat  sich  die  Anschauung  über  den  Wert  der  Prophetie  geändert. 
Oder  nicht  eigentlich  über  den  Wert  der  Prophetie ;  nur  über  den  Weg,  den 
die  Erzeugnisse  des  unbewußten  Seelenlebens  nehmen  sollen,  damit  sie  der 
Menschheit  und  dem  Propheten  selber  zum  Heile  gereichen  können.  Das 
Einbrechen  unbewußter  Seelenregungen  in  Form  von  Stimmen  und  Gesich- 
ten in  das  Bewußtsein  halten  wir  nicht  mehr  für  den  rechten  Weg ;  denn  da- 
bei wird  die  Zensur  der  höheren  Seelenkräfte  umgangen  und  das  Erzeugnis 
erhält  einen  krankhaften,  gesetzlosen  Charakter.  Ein  visionäres  Erlebnis, 
ein  in  der  Ekstase  gefundenes  Wort  kann  zwar  an  und  für  sich  Sinn  und  Wert 
haben,  hat  sogar  stets  Sinn  und  Wert,  denn  es  entspringt  stets  einem  tiefen 
Wünschen  und  Wähnen  des  Kranken  —  zufällige  und  sinnlose  Gebilde  er- 
zeugt unser  Geist  überhaupt  nicht,  auch  der  des  Irrsinnigen  nicht ;  alles  ist 
begründet,  alles  folgt  einer  inneren  Logik,  alles  hat  innerhalb  des  Trieb- 
lebens des  Kranken  seine  berechtigte  Stehe.  Aber  diese  innere  Logik  ent- 
zieht sich  bei  krankhaften  Einbrüchen  dem  Verständnis  der  übrigen  Men- 
schen, oft  auch  des  Visionärs  selber;  und  wenn  das  nicht  der  FaU  ist,  so 
entbehren  wenigstens  die  Erzeugnisse  der  Klarheit  und  Übersicht,  die  wir 
von  den  Äußerungen  führender  und  neuernder  Geister  verlangen.  Die  Seele 
des  Visionärs  weist  immer  einen  Riß  auf;  die  einheithche  Aktion  der  Funk- 
tionen ist  unterbrochen.  Dem  Halluzinanten  fehlt  die  Herrschaft  über  sich 
und  über  die  Gebilde  seiner  Wunschphantasie.  Er  gleicht  dem  Schlafenden, 
dessen  höhere  Geisteskräfte  in  Fesseln  geschlagen  sind,  sodaß  die  Träume 
sich  frei  und  zügellos  ergehen  können. 

Der  Unterschied  zwischen  der  heutigen  und  der  früheren  religiösen  Mensch- 
heit ist  daher  scheinbar  sehr  groß :  früher  suchte  man  Einbrüche  des  unbe- 
wußten Selbst  hervorzurufen,  weil  man  gerade  die  Unmittelbarkeit  und 
FesseUosigkeit  der  visionären  Erzeugnisse  hochschätzte;  heute  sucht  man 
umgekehrt  solche  Einbrüche  zu  verhindern  und  einzudämmen,  weil  man 
nur  von  dem  Zusammenwirken  der  unbewußten  mit  den  bewußten  Seelen- 

76 


Instanzen  Segen  und  Heil  erwartet.  Das  bewußte  Seelenleben  hat  sich  zu 
immer  größerer  Kraft  und  Umfänglichkeit  entwickelt.  Es  hat  dem  mensch- 
lichen Leben  und  der  Kultur  seine  Gesetze  des  logischen  Denkens  (d.  h.  des 
geordneten  Auswählens  bei  der  Vorstellungsassoziation)  und  des  zweck- 
vollen Handelns  aufgeprägt.  Der  Mensch  hat  seinem  Triebleben  Zügel  ange- 
legt, hat  die  ausschweifenden  Wünsche  und  Begehrungen,  die  sich  in  Träu- 
men, Visionen  und  Rauschzuständen  Luft  machen,  dem  höheren  organi- 
sierenden Leben  dienstbar  gemacht.  Wir  dürfen  nicht  verkennen,  daß  der 
Mensch  in  diesem  Streben  nach  Bewußtheit  mitunter  zu  weit  gegangen  ist  ; 
er  hat  vergessen,  daß  die  bewußte  Seelentätigkeit  ohne  die  Geister  des  Un- 
bewußten gar  nichts  ist.  Wir  leben  durch  diese  Geister,  durch  die  ewig  un- 
erkennbaren Kräfte,  die  in  den  krankhaften  Zuständen  die  Dämme  durch- 
brechen und  als  Rauschhandlung,  Halluzination  und  Wahnidee  emporlodern. 
Sie  sind  das  Schaffende ;  ihr  rastloses  Drängen  und  Wünschen  gibt  erst  die 
MögHchkeit  zu  leben  und  zu  gestalten.  Gedanken,  Willensantriebe,  Phanta- 
siebilder haben  nur  dann  Kraft  und  Tiefe,  wenn  sie  die  Bestätigung  dieser 
Geister  finden,  noch  mehr,  wenn  sie  ihr  Ausfluß  sind.  Andernfalls  sind  sie  ein 
oberflächliches  Spiel  und  werden  niemals  starke  Wirkung  auf  das  Leben 
ihres  Urhebers  und  der  übrigen  Menschen  ausüben.  Ihnen  fehlt  dann  die 
Eigenschaft,  die  den  Prophetenworten  und  Prophetenphantasien  der  älteren 
Menschheit  in  so  hohem  Grade  innewohnt:  die  innere  Wahrheit  und  Not- 
wendigkeit. 

Was  ist  wahr?  Der  Mensch  hat  diese  Frage  von  jeher  so  beantwortet: 
wahr  ist,  was  ich  mit  ganzer  Seele  auffassen  und  bejahen  kann,  was  den 
Widerhall  meines  ganzen  Seins  findet.  Darum  schienen  ihm  die  phantastischen 
Träume  des  Propheten  wahr  und  er  folgte  seinen  ernsten  Mahnungen  und 
schweren  Forderungen.  Die  Prophetenworte  fanden  in  der  Tiefe  der  Herzen 
Widerhall;  zu  den  Herzen  sprach  er.  Aus  der  Ekstase  geboren,  fanden  seine 
Worte  den  Weg  zu  dem  unbewußten  Reich  der  Wünsche  und  Phantasien  in 
den  aufhorchenden  Volksgenossen  und  entzündeten  in  ihnen  das  gleiche 
Feuer,  das  in  dem  Propheten  selber  lebte.  Er  wurde  verstanden,  obwohl  das, 
was  er  sagte,  dem  bewußten  Seelenleben  vielleicht  sehr  fremd  und  seltsam 
vorkam.  Die  unklaren  und  verstiegenen  Worte  der  Propheten  haben  oft 
mehr  gewrkt,  als  die  höchst  vernünftigen  Abhandlungen  neuerer  Theo- 
logen. Das  wäre  unbegreifhch,  wenn  das  dunkle  Prophetenwort  nicht  Ein- 
gang fände  in  Regionen  der  Seele,  in  denen  das  logische  Denken  nichts  zu 
sagen  hat.  Die  Zeitgenossen  verstanden  den  Propheten  durch  ein  anderes 
Organ,  so  wie  er  selber  sein  Evangelium  durch  ein  anderes  Organ  ans  Licht 
brachte,  als  wir  Neueren  zu  tun  pflegen.  Wir  entnehmen  unsere  Verkün- 
digungen —  wenn  anders  sie  Leben  und  Kraft  haben  —  zwar  ebenfalls  den 

11 


Regungen  des  unbewußten  Seelenlebens,  legen  sie  aber  der  Zensur  des  be- 
^v•ußten  Seelenlebens  vor  und  formen  sie  mit  Hilfe  der  Gesetze  des  vernünf- 
tigen Denkens  oder  des  künstlerischen  Gestaltens.  Das  tat  der  Prophet  nicht ; 
er  schaltete  das  BeNsnißtsein  aus  und  lockte  durch  Rausch-  und  Betäubungs- 
mittel unmittelbare  Äußerungen  der  unbewußten  Seelenkräfte  hervor.  Viel- 
leicht ordnete  und  bearbeitete  er  dieselben  hinterher,  oder  andere  taten  es 
für  ihn ;  aber  diese  nachträgliche  Bearbeitung  ist  etwas  ganz  anderes,  als 
die  Schaffensweise  des  Denkers  und  künstlerischen  Gestalters,  der  die  Form 
und  Ordnung  seiner  Erzeugnisse  sofort  mitschafft.  Nun  konnten  freilich 
manche  Propheten  sich  darauf  verlassen  —  wenn  uns  die  Berichte  nicht 
täuschen  — ,  daß  ihre  Erzeugnisse  auch  ohne  nachträgliche  Bearbeitung  ver- 
ständlich imd  eindrücklich  waren ;  das  heißt  ihr  Geist  bearbeitete  sie  schon 
während  der  Ekstase  und  ohne  Zutun  des  Bewußtseins  im  Sinne  der  Logik 
und  der  sinnlichen  Anschaulichkeit.  Wir  erwähnten  früher,  daß  die  Hypno- 
tisierten und  spontanen  Somnambulen  oft  sinn-  und  vernunftgemäß  handeln, 
sprechen  und  denken;  der  Prophet  mußte  selbstverständlich  dahin  streben, 
seinen  Äußerungen  in  der  Ekstase  und  seinen  visionären  Erlebnissen  eben- 
falls einen  vernünftig-anschaulichen  Charakter  zu  geben.  Bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  mag  er  das  durch  Übung  und  Autosuggestion  erreicht  haben. 
Es  ist  dann  während  des  Anfalls  eine  regulierende  und  zensurierende  Seelen- 
instanz in  ihm  tätig,  über  deren  Natur  vi-ir  allerdings  nicht  näher  unter- 
richtet sind. 

Trotzdem  bleibt  den  prophetischen  Visionen  und  Orakeln,  den  Weisheits- 
sprüchen und  Mahnworten  der  Wahrsager  fast  immer  eine  gewisse  Dunkel- 
heit und  Unlogik.  Sie  bewahren  eine  Ähnlichkeit  mit  unseren  Träumen  imd 
mit  den  Äußerungen  und  Erlebnissen  geistig  Kranker,  denen  sie  ja  auch  nahe 
verwandt  sind.  Es  erklärt  sich  also  ohne  Schwierigkeit,  daß  die  Äußerungen 
der  Propheten  eine  Mischung  von  Vernunft  und  Unvernunft,  von  Einfach- 
heit und  Verwirrtheit,  von  Schönheit  und  barocker  Tollheit  sind,  ganz  so, 
wie  die  Träume  und  Krankendehrien.  Warum  aber  spricht  der  Prophet  so- 
viele  wertvolle,  großartige  Wahrheiten  aus,  was  doch  bei  unseren  Traum- 
visionen und  den  Wahnerzeugnissen  unserer  Kranken  selten  oder  nie  der 
Fall  ist  ?  Erstens  waren  die  Propheten  hervorragende  Persönlichkeiten ;  zwei- 
tens erhielten  ihre  visionären  Schöpfungen  dadurch  Vernunft,  daß  sie  selber 
und  ihre  Zeitgenossen  die  Anfälle  als  gottgegebene  Erscheinungen  ansahen. 
Der  zweite  Punkt  ist  sehr  wichtig;  je  mehr  der  Mensch  eine  einzelne  Form 
seiner  seehschen  Betätigung  schätzt  und  pflegt,  um  so  mehr  fluten  alle  seine 
geistigen  Kräfte  in  diese  eine  Betätigung  hinein;  alle  Triebe  suchen  sie  als 
Weg  zu  ihrer  Befriedigung  zu  benutzen;  so  gewinnt  sie  Kraft  und  über- 
nimmt die  Führung  über  das  ganze  Wollen  und  Leben.  Daher  leisteten  die 

78 


Halluzinationen  des  Propheten  alles,  was  man  von  ihnen  erwartete;  seine 
beste  Weisheit  fand  der  Prophet  nicht  im  wachen  Zustande,  sondern  in  der 
halluzinatorischen  Ekstase. 

Dasselbe  gilt  aber  auch  von  den  Träumen  der  älteren  Zeiten.  Wie  wunder- 
lich kommt  es  uns  vor,  daß  ein  Traum  oft  genug  über  das  Schicksal  ganzer 
Völker  entschied!  Was  der  König,  der  Oberpriester,  der  Prophet  träumte, 
war  maßgebend  für  das  Volk.  Im  Traume  erschien  die  Gottheit,  teilte  ihren 
Willen  mit,  lenkte  die  Entschlüsse.  Eine  ganze  Anzahl  berühmter  Träume 
sind  uns  überliefert  worden ;  sie  sind  so  vernünftig  und  klug,  wie  heute  wohl 
kaum  noch  ein  Traum  sein  wird.  Wie  erklärt  sich  das  ?  Ganz  einfach  aus  der 
gespannten  Aufmerksamkeit,  mit  der  jedermann,  zumal  der  Herrscher  und 
Priester  auf  seine  Träume  achtete.  Das  Traumleben  galt  für  das  höhere, 
geistigere  Leben;  im  Traume  erhoffte  man  Aufschlüsse  über  alle  dunklen 
und  schwierigen  Fragen,  zumal  auch  über  die  Zukunft  zu  erhalten.  Dadurch 
wurde  die  unbewußte  seelische  Tätigkeit  angeregt,  sich  in  den  Traumphanta- 
sien zu  entladen ;  die  Kräfte,  die  uns  heute  im  normalen  Seelenzustande  zur 
Verfügung  stehen  und  unsere  Entschlüsse  als  Ergebnisse  logischer  Erwägun- 
gen erscheinen  lassen,  drängten  sich  damals  im  Schlaf  zustande  an  die  Ober- 
fläche und  gestalteten  die  Traumbilder  zu  sinnvollen  und  eindrucksvollen 
Erlebnissen.  Der  Traum  sprach  aus,  was  den  Wachen  beschäftigt  hatte,  und 
das  Unterbewußtsein  entschied,  was  das  Bewußtsein  nicht  zu  entscheiden 
vermocht  und  gewagt  hatte.  Freud  (,,Die  Traumdeutung")  wird  wohl  recht 
haben,  wenn  er  sagt,  daß  der  ^lensch  im  Traume  nicht  wirklich  die  Probleme 
löse,  sondern  schon  vorher  im  Wachen.  Der  Traum  stellt  nur  dar;  er  bringt 
die  Ergebnisse  des  unbewußten  Taglebens  in  Worte  und  Bilder.  Es  war  also 
nur  Schein,  wenn  der  Traum  und  der  im  Traume  erscheinende  Gott  sich  für 
den  Schöpfer  und  Finder  ausgab.  Gefunden  wurde  die  Antwort  ohne  Zutun 
des  Traumes;  der  Traumgott  sprach  sie  nur  aus.  Auch  heute  kommt  es  vor, 
daß  ein  lebhaft  erregter  Mensch  im  Traume  Lösungen  sieht,  die  er  im  Wachen 
nicht  zu  finden  vermocht  hatte ;  die  Lösung  ist  aber  nicht  durch  die  geistige 
Arbeit  während  des  Schlafes  zustande  gekommen,  sondern  war  schon  vorher 
durch  die  unbewußte  Arbeit  gefunden  worden.  Nur  gelang  es  dieser  unbe- 
wußten Geistesarbeit  nicht,  ihr  Ergebnis  durch  die  Decke  des  Bewußtseins 
hindurch  geltend  zu  machen  und  die  Gedanken,  die  sich  hindernd  vordräng- 
ten, beiseite  zu  schieben. 

Wenn  wir  freilich  die  Träume,  die  Xerxes  vor  Beginn  der  Perserkriege  ge- 
träumt haben  soll,  lesen,  wie  sie  uns  Herodot  erzählt,  so  merken  wir  auf 
der  Stelle,  daß  der  wohlmeinende  Historiker  sie  bearbeitet  und  dem  Ver- 
stände der  Leser  mundgerecht  gemacht  hat.  Solche  Reden,  wie  sie  die  ,, Ge- 
stalt" an  Xerxes  hält,  kommen  in  wirklichen  Träumen  wohl  nicht  vor.  Der 

79 


Träumer  selber  wird  die  Träume  schon  etwas  anders  erzählt  haben,  als  er 
sie  erlebt  hat ;  bei  jedem  Traumbericht  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß  der  Traum, 
teils  bewußt,  teils  unbewußt,  ins  Logische  und  Faßbare  übersetzt  und  so 
verfälscht  wird.  Die  traumgläubige  Vergangenheit  wird  dieser  Gefahr  noch 
weit  stärker  unterlegen  sein,  als  wir  Heutigen.  So  legt  sich  der  königliche  und 
priesterliche  Träumer  seinen  Traum  hinterher  so  zurecht,  wie  er  seiner  Mei- 
nung nach  hätte  verlaufen  müssen;  er  dichtet  hinzu  und  nimmt  hinweg. 
Damit  ist  wohl  am  einfachsten  das  gar  zu  Logische  und  Zusammenhängende 
vieler  heiliger  und  politischer  Träume  des  Altertums  erklärt.  Zumal  erklärt 
es  sich  wohl  auf  diese  Weise,  daß  die  Propheten  im  Traume  von  der  Gottheit 
lange  Reden  und  schöne  Verse  gehört  haben  wollen,  die  sie  nachher  angeb- 
lich treu  aus  dem  Gedächtnis  wiedergeben.  Wenn  wir  bedenken,  wie  schlecht 
es  mit  der  Beobachtungsgabe  und  ^vissenschaftlichen  Nüchternheit  dieser 
Propheten  bestellt  war,  scheint  es  nicht  zu  kühn,  wenn  wir  annehmen,  daß 
im  Traume  höchstens  die  Gestalt  des  Gottes  erschienen  ist  und  einige  halb- 
verständliche Worte  an  des  Schläfers  Ohr  gedrungen  sind.  Das  übrige  wird 
hinterher  hinzugedichtet,  was  natürlich  im  besten  Glauben  geschehen  kann. 

Andere  Träume,  wie  der  des  Pharao,  den  Josef  deutete,  oder  die  des 
Astyages,  die  die  Magier  deuteten,  mögen  wirklich  so  geträumt  worden  sein. 
Dafür  tritt  in  diesen  Fällen  aber  auch  der  ,, Traumdeuter"  als  eine  sehr 
wichtige  Unterstützung  der  Traumarbeit  auf  den  Plan.  Was  für  Menschen 
waren  wohl  die  Traumdeuter,  von  deren  zweifelhafter  Tätigkeit  wir  so  oft 
lesen?  Es  waren  prophetische  Geister,  die  den  in  der  Traum vision  enthal- 
tenen Götterwillen  herausfinden  und  in  klaren  Worten  und  Gedanken  aus- 
sprechen sollten.  Man  nahm  also  an,  daß  sie  sich  auf  den  Götterwillen  und 
überhaupt  auf  die  verborgenen  Dinge  in  der  Welt  besser  verständen  als  der 
Träumer,  der  an  und  für  sich  der  geeignetste  Deuter  seiner  Träume  sein 
müßte.  Die  Traumdeutung  war  überall  eine  Angelegenheit  der  Priesterschaft 
oder  einzelner  Seher  und  Orakelmänner.  Auch  der  Josef  der  biblischen  Tra- 
dition trägt  deutlich  Propheten-  und  Heilandszüge,  ebenso  wie  Moses  und 
Samuel.  In  den  orientalischen  Reichen  waren  überall  berufsmäßige  Traum- 
deuter vertreten ;  sie  bildeten  oft  eine  besondere  Gruppe  innerhalb  der  Prie- 
sterschaft; alles  Volk  kam  zu  ihnen,  erzählte  ihnen  Träume  und  vergalt 
deren  Deutung  durch  Geschenke.  Waren  diese  Traumdeuter  Betrüger? 
Waren  ihre  Deutungen  ein  bloßes  Spiel  mit  dem  Zufall? 

Bevor  ich  die  Schriften  S.  Freuds  kannte,  habe  ich  das  angenommen  und 
habe  das  Traumdeuten  mit  der  Astrologie,  dem  Kartenorakel  und  anderen 
unten  zu  besprechenden  Versuchen  des  Menschen,  das  Verborgene  zu  wissen, 
in  eine  Reihe  gesetzt.  Jetzt  sehe  ich  in  der  Traumdeutung  eine  Abzweigung  des 
visionären  Prophetenwesens.  Da  alle  Träume  Sinn  haben  und  da  der  Sinn  aller 

80 


Träume  eine  unbewußte  Seelenregung  des  Träumers  ist,  die  sich  im  wachen 
Leben  nicht  Luft  zu  schaffen  vermag,  können  die  Traumdeuter  sehr  wohl 
den  richtigen  Sinn  aus  den  ihnen  vorgetragenen  Träumen  herausgelesen 
haben,  zumal  wenn  sie  den  Träumenden  kannten  und  wußten,  was  ihn  be- 
wegte. Ihre  Deutung  ist  gewiß  nicht  rein  ins  Blaue  erfolgt,  sondern  legte 
wirklich  den  unbewußten  Wunsch,  den  verhüllten  Entschluß,  die  uneinge- 
standene  Wahrheit  bloß,  die  der  Traum  enthielt.  Und  für  die  Träume  der- 
jenigen, die  sie  nicht  kannten,  stand  ihnen  ihre  reiche  Erfahrung  und  die 
alte  Tradition  früher  gedeuteter  Träume  zu  Gebote.  Sie  besaßen  Regeln  und 
eine  Art  Traumgrammatik.  Diese  Traumgrammatik  war  insofern  von  Wert, 
als  eine  große  Anzahl  von  Traumerlebnissen  bei  allen  Menschen  wiederkehren 
und  immer  eine  verwandte  symbolische  Bedeutung  haben.  Ob  die  priester- 
lichen Traumdeuter  die  Traumsymbolik  stets  richtig  durchschaut  haben, 
müssen  wir  natürlich  dahingestellt  sein  lassen;  aber  allen  Anzeichen  nach 
haben  sie  an  der  Hand  der  psychologischen  Traumgesetze  eine  Art  Deutungs- 
system geschaffen,  mit  dessen  Hilfe  sie  Traumrätsel  zu  lösen  vermochten, 
die  uns  heute  unlösbar  erscheinen.  Diese  prophetisch  begabten  und  priester- 
lich geschulten  Männer  waren  über  gar  manche  Erscheinung  der  mensch- 
lichen Psyche  weit  besser  unterrichtet,  als  man  gemeinhin  annimmt.  Sie 
beschäftigten  sich  unaufhörlich  mit  diesen,  heute  so  verachteten  Erschei- 
nungen, weil  sie  göttliche  Einwirkungen  in  ihnen  sahen.  Und  das  war  nicht 
so  unrichtig;  Gott,  d.  h.  das  unbewußte  Seelenleben,  sprach  wirklich  aus  den 
Traumgesichten,  aus  den  Ekstasen  und  Offenbarungen,  ja  auch  aus  manchen 
körperhchen  Störungen:  Ghederzuckungen,  Schmerzen,  Lähmungen,  sexuel- 
len Empfindungen. 

Während  der  Traum  und  die  Wachhalluzination  an  und  für  sich  abnorme 
Quellen  der  Weisheit  und  abnorme  Äußerungen  des  göttlichen  Willens  sind 
—  weil  sich  in  ihnen  das  Unbewußte  fessellos  und  gesetzlos  äußert  — ,  wird 
durch  die  ergänzende  Tätigkeit  der  Traumdeuter  und  Orakelpriester  das 
bewußte  Seelenleben  wieder  in  seine  Rechte  eingesetzt;  der  Wahn-  und 
Traumgott  wird  durch  den  wachen  Vernunftgott  in  seine  Schranken  ver- 
wiesen. Am  besten  war  es  wohl,  wenn  der  Prophet  selber  imstande  war, 
seine  Halluzinationen  und  Träume  zu  deuten  und  zurechtzurücken;  wenn 
nicht,  übernahm  der  nüchterne  Priester,  der  Rivale  des  trunkenen  Priesters, 
diese  Pflicht,  und  beide  zusammen  bildeten  dann  die  denkbar  vollkommen- 
ste geistige  Behörde  für  die  Völker  auf  der  Halbkulturstufe.  Pfleiderer 
betont  bei  Besprechung  des  delphischen  Orakels,  wie  sich  die  Welt-  und 
Menschenkenntnis  der  delphischen  Priesterschaft  glücklich  mit  der  ver- 
zückten Weisheit  der  Pythia  verbunden  habe.  ,,Es  ist  das  ein  bemerkens- 
wertes Beispiel  von  der  auch  sonst  sich  öfter  in  der  Religionsgeschichte  be- 

6  Horneffer,  Der  Priester    II  Ol 


stätigenden  Erfahrung,  daß  aus  der  Verbindung  von  enthusiastischem  Pro- 
phetentum  und  priesterhcher  Weisheit  die  wirksamste  Beeinflussung  des 
Volkes  sich  ergab."  („Religion  und  Religionen".)  Wir  haben  die  Wirksam- 
keit Delphis  oben  ähnlich  charakterisiert.  Die  Priesterschaft  war  staats- 
männisch und  religiös  so  weitblickend  und  erhielt  sich  über  alle  wichtigen 
Ereignisse  so  gut  auf  dem  laufenden,  daß  die  unter  ihrem  Einfluß  stehende 
P3rthia,  wenn  sie  zur  Beantwortung  der  gestellten  Fragen  den  Anfall  hervor- 
rief, brauchbare  göttliche  Offenbarungen  lieferte.  Die  Ekstase  lieh  dem  rich- 
tigen Entschluß  Gestalt  und  Wert,  und  hinterher  tilgten  die  Priester  etwaige 
Mängel  und  brachten  die  Worte  in  Verse. 

\\'ir  dürfen  glauben,  daß  den  Priestern  in  Delphi  und  anderswo  der  Umweg 
über  die  Ekstase  mit  der  Zeit  lästig  wurde,  ebenso  wie  der  enthusiastische 
Prophet  allmählich  einsah,  daß  er  seine  Offenbarungen  ganz  gut  auch  in 
lebhaft  bewegten  Augenblicken  des  Wachlebens  hervorbringen  konnte.  Die 
Kluft  zwischen  überirdischer  und  irdischer  Weisheit  begann  sich  zu  schließen. 
Die  Menschheit  begann  zu  fühlen,  wenn  auch  lange  noch  nicht  klar  zu  er- 
kennen, daß  die  göttlichen  Stimmen  im  Anfall  und  im  Traum  auf  dieselbe 
Quelle  zurückgingen,  wie  die  Gedanken,  die  dem  normalen  Seelenleben  ent- 
sprangen. Der  Prophet  griff  es  ja  mit  Händen,  daß  die  Offenbarungen 
die  beste  Weisheit  und  tiefste  Sehnsucht  seiner  eigenen  Brust  waren,  also 
aus  ihm  selber  stamm^ten.  Dadurch  aber  verloren  die  Visionen  und  Stimmen 
ihre  krankhafte  Deutlichkeit;  die  Gottesweisheit  floß  mehr  und  mehr  mit 
den  eigenen  Denkergebnissen  und  wachen  Erfahrungen  zusammen.  Anfall 
und  Traum  \Mirden  zur  Nebensache;  der  Prophet  züchtete  die  visionären 
Zustände  nicht  mehr  und  gab  sich  keine  Mühe  mehr,  hysterisch  zu  werden ; 
er  bildete  sich  vielmehr  zum  klugen  und  besonnenen  geistigen  Führer  des 
Volkes  heraus.  Die  Pythien,  die  Orakelweisen,  die  verzückten  Nebiim  ver- 
schwanden oder  wurden  zu  Medien,  zu  gefügigen,  unselbständigen  Werkzeugen 
in  der  Hand  der  leitenden  Männer.  Leider  mußten  diese  leitenden  Männer 
immer  noch  auf  die  Vorstellungen  des  gläubigen  Volkes  eingehen,  mußten 
daher  Betrüger  und  Sklavenaufseher  sein,  mußten  verbergen,  daß  sie  sich 
auf  ihre  Erfahrung  und  gesunde  Vernunft,  nicht  auf  Stimmen  und  Ver- 
zückungen verließen.  Der  ,, heilige  Geist"  wurde  ihnen  zur  Maske. 

Bis  zum  heutigen  Tage  dauert  im  Volke  der  Glaube  an  die  übernatürliche 
Herkunft  der  tiefsten,  der  religiösen  Weisheit  fort.  Vorbedeutungen  und 
Träume  sind  noch  immer  Älitteilungen  aus  einer  anderen  Welt.  Kindliche 
Geister  stehen  nun  einmal  dem  Reiche  des  Unbewußten  näher  als  der  geistig 
erwachsene  Mensch.  Im  Seelenleben  der  Kinder  verweben  sich  Sinnesein- 
drücke und  Halluzinationen;  es  träumt  im  Wachen,  es  hört  und  sieht  die 
eigenen  Gedanken  und  Wünsche  als  Gebilde  der  Außenwelt,  es  gehorcht 

82 


mehr  den  Stimmen  seines  Herzens,  als  den  Forderungen  der  Vernunft.  Daran 
tut  es  auch  recht ;  denn  das  bewußte  Denken  und  Beobachten  ist  beim  Kinde 
noch  so  wenig  entwickelt,  daß  es  sich  seiner  Führung  nicht  anvertrauen  kann. 
Die  Wahngebilde  und  die  instinktiven  Regungen  leiten  es  sicherer ;  in  ihnen 
spricht  die  Weisheit  des  Unbewußten;  in  den  oft  unlogischen  Phantasien 
steckt  ebensoviel  innere  Logik,  wie  in  den  Gebilden  der  Märchenphantasie. 
Freigeistige  Kinder  sind  unnatürhch.  Dann  aber  wächst  die  bewußte  geistige 
Tätigkeit  allmählich  mit  den  unbewußten  Drängen  und  aus  ihnen  hervor- 
gehenden Phantasiebildungen  zusammen.  Wenn  das  Kind  diese  Entwick- 
lung nicht  bis  zu  Ende  durchmacht,  wenn  Lücken  zwischen  dem  unbewußten 
und  dem  bewußten  Seelenleben  bestehen  bleiben,  so  treten  krankhafte  Stö- 
rungen verschiedener  Art  auf:  hysterische  Symptome,  Schlafwandeln, 
Orakelanfälle,  Wahnideen,  schließlich  das  ganze  Bild  der  Dementia  praecox. 
Geisteskrankheit  ist  ein  Zurücksinken  auf  die  Stufe  des  kindhchen  Geistes 
(vgl.  Jung:  Psychologie  der  Dementia  praecox),  nur  daß  dem  Geisteskranken 
das  Wirken  des  traumhaften  Seelenlebens  verderblich  wird,  weil  die  Triebe 
und  Aufgaben  des  erwachsenen  Lebensalters  ganz  andere  sind,  als  die  des 
Kindes.  Wenn  ein  Erwachsener  zum  Kinde  wird,  nennen  wir  ihn  mit  Recht 
irre  oder  schwachsinnig,  und  wenn  diese  Kindlichkeit  sich  in  gewissen  Grenzen 
hält  und  in  einer  hervorragenden  Ausbildung  bestimmter  Triebgruppen  ihre 
Ursachen  hat,  so  nennen  wir  ihn  in  einigen  Fällen  einen  Träumer,  in  anderen 
Fällen  vielleicht  einen  ,, impulsiv-genialen"  Menschen.  Viele  Spiritisten, 
Theosophen,  Erweckungschristen  gehören  zu  diesen  geistig  nicht  ganz  Er- 
wachsenen. Sie  achten  auf  ,, Ahnungen",  warten  auf  ,, Erleuchtungen", 
suchen  Glück  und  Befreiung  in  der  Beschäftigung  mit  allerhand  geheim- 
nisvollen Vorgängen  ihres  Seelenlebens  und  mit  auffallenden  Ereignissen  in 
der  Welt.  Alter  und  neuer  Aberglaube  soll  ihnen  den  Zugang  zu  Gott,  d.  h. 
zur  Befriedigung  ihrer  unausgeghchenen  Triebe  gewähren.  Bei  Frauen  und 
Künstlern  findet  sich  zuweilen  eine  ähnliche  pathologische  Seelenverfassung. 
Das  heißt  pathologisch  dürfen  \vir  die  Neigung  zu  Aberglaube  und  Offen- 
barungsweisheit nur  dann  nennen,  wenn  diese  Neigung  mit  dem  Bildimgs- 
grade  des  Menschen  und  der  ganzen  Zeit  und  Kulturschicht  in  Widerspruch 
tritt.  Dieselben  Anschauungen,  die  bei  den  Negern  und  auch  noch  bei  den 
ärmeren  und  kulturfremden  Schichten  in  Europa  normal  sind,  müssen  bei 
höher  gebildeten  Europäern  als  Anzeichen  pathologischer  Seelenverfassung 
betrachtet  werden.  Höhere  Bildung  heißt  in  diesem  Zusammenhang  weiter 
nichts  als  Ausbildung  des  bewoißten  Seelenlebens  unter  Zuhüfenahme  der 
Kultur ergebnisse  und  überlieferten  Erfahrungen.  Durch  diese  Ausbildimg 
wird  das  unbewußte  Seelenleben  zurückgedrängt,  sodaß  es  nur  noch  in  und 
mit  dem  be\\aißten  zur  Geltung  kommen  kann.  Gelingt  dieser  Bildungs- 

83 


prozeß,  so  erlischt  im  Menschen  die  Fähigkeit  und  Neigung,  direkt  aus  dem 
Unbe\vußten  Weisheit  und  Entschlußkraft  zu  schöpfen;  es  erlischt  der  Glaube 
an  Offenbarungen  und  Vorbedeutungen.  Damit  hat  der  Mensch  auch  die 
Stufe  der  kindlichen  Weltanschauung,  des  Dämonismus  überwoinden. 

Jedoch  gibt  es  strenggenommen  verschwindend  wenige  Menschen,  bei 
denen  dieser  Bildungsprozeß  ganz  gelungen  wäre.  Fast  jeder  birgt  Reste  des 
Offenbarung?glaubens  in  sich ;  fast  bei  niemand  ist  das  unbewußte  und  das 
bewußte  Seelenleben  zu  vollkommener  Einheit  gelangt,  sodaß  in  jedem 
Augenblick  der  ganze  ungeteilte  Geist  wirkt.  Zumal  in  Zeiten  der  Schwäche 
und  der  Aufregung  geht  uns  die  Einheit  verloren.  Wenn  wir  krank  oder  von 
Leidenschaften  überwältigt  sind,  nähern  wir  uns  dem  kindlichen  Seelen- 
zustande;  wir  handeln  ,, blind",  wir  geben  abergläubischen  Regungen  nach. 
So  ergeht  es  Einzelnen  und  ebenso  ganzen  Völkern.  In  der  Ruhe  und  in  der 
Vollkraft  ist  der  menschliche  Geist  am  freiesten;  er  hat  dann  gar  kein  Ver- 
langen, den  Ahnungen  Gehör  zu  geben  und  auf  eigene  oder  fremde  Offen- 
barungen zu  warten. 

™  3.  DAS  ORAKELWESEN  p^3 

Ehe  wir  den  Propheten  in  seiner  wichtigsten  und  höchsten  Tätigkeit,  näm- 
lich als  Beter  und  Prediger  näher  ins  Auge  fassen,  wollen  wir  kurz  das  Orakel- 
wesen besprechen.  Wir  verstehen  unter  Orakeln  die  Mittel  und  Wege,  die 
der  Prophet  benutzte  und  anderen  empfahl,  um  das  Verborgene  und  das 
Zukünftige  zu  erkennen.  Das  hauptsächlichste  dieser  Mittel  haben  wir  bereits 
ausführlich  betrachtet ;  es  ist  das  die  prophetische  Halluzination  samt  dem 
Traum  und  den  wachen  Geistesstörungen.  Es  gibt  aber  noch  eine  Reihe  anderer 
Mittel;  sie  standen  bei  manchen  Völkern  in  höherem  Ansehen  und  wurden 
eifriger  benutzt,  als  das  direkte  Befragen  des  unbewußten  Seelenlebens. 
Wenn  wir  von  unseren  heutigen  Anschauungen  aus  das  Gebaren  der  orakel- 
heischenden Menschheit  zu  beurteilen  versuchen,  fällt  uns  vor  allen  Dingen 
auf,  daß  man  kaum  einen  Unterschied  machte  zwischen  den  Orakeln,  die 
sich  auf  gleichzeitige  Dinge  beziehen,  und  denen,  die  die  Zukunft  enträtseln 
sollen.  Das  Orakel  soll  beides  künden:  was  jetzt  vorgeht,  aber  im  Geheimen 
oder  in  der  Ferne,  und  was  in  Zukunft  geschehen  wird.  Die  Verbindung  zwi- 
schen diesen  beiden  Orakelfragen  bildet  der  Wunsch,  zu  wissen  was  man  tun 
soll,  um  die  Gegenwart  in  eine  glückliche  Zukunft  hinüberzuführen.  Aus 
bloßem  Wissensdurst  hat  kaum  je  ein  Mensch  ein  Orakel  befragt.  Immer 
führten  Wünsche  und  praktische  Bedürfnisse  zur  Einholung  göttlicher  Weis- 
heit. Der  Gott  sollte  helfen,  sollte  Aufklärung  geben,  welchen  Weg  man  gehen 

84 


müsse,  sollte  durch  sein  höheres  Wissen  den  kurzsichtigen  Blick  des  Menschen 
erweitem.  Daher  hören  wir  fast  nie,  daß  die  Orakelantworten  sich  mit  der 
Vergangenheit  oder  mit  wissenschaftlichen  Fragen  beschäftigten,  über  die  doch 
die  Gottheit  so  gut  hätte  Auskunft  geben  können.  Von  allen  den  Tausenden, 
die  nach  Delphi  strömten,  um  den  Seher  Apollon  zu  befragen,  kam  kaum 
einer  auf  den  Gedanken,  sich  über  die  Vorzeit  des  Volkes,  über  das  Wesen 
der  Naturerscheinungen,  über  Anfang  und  Ende  der  Welt  Auskunft  zu  er- 
bitten. Jeder  dachte  nur  an  sich  selber  und  an  die  Not,  in  der  er  sich  befand. 
Wenn  Apollon  einmal  beiläufig  geschichtliche  oder  religionswissenschaftliche 
Dinge  erwähnte,  gab  er  nur  wieder,  was  im  Homer  und  in  den  anderen  be- 
kannten Dichtungen  und  Sagenüberlieferungen  zu  lesen  stand.  Und  ebenso 
war  es  mit  anderen  Orakelstätten :  die  Zukunft  wollte  man  von  den  Göttern 
erfahren;  sie  sollten  raten,  wie  ma.n  sich  aus  den  Schwierigkeiten,  in  die  man 
sich  verstrickt  sah,  befreien  könnte.  Wer  den  Ausgang  wüßte!  Wer  den 
Schleier  lüften  könnte,  der  über  dem  Morgen  liegt! 

Die  Orakelbefragung  ist  wohl  das  Törichtste,  was  der  Priester  die  Menschen 
gelehrt  hat.  Und  doch  war  es  unvermeidlich,  daß  er  auf  diese  Torheit  verfiel, 
und  man  seinen  Anregungen  mit  Begierde  folgte.  Der  Mensch  wird  immer 
von  neuem  dahin  gedrängt,  sich  an  Weisere  zu  wenden  als  er  selber  ist,  um 
mit  Hilfe  dieser  Weiseren  sein  Leben  sinnvoller,  gewinnreicher  und  glück- 
licher zu  gestalten.  Er  gab  seinem  Anlehnungsbedürfnis  nach  und  ließ  sich 
von  dem  richtigen  Gefühl  leiten,  daß  der  Einzelne  den  Dunkelheiten  des 
Lebens  nicht  gewachsen  ist  und  sich  bei  dem  Gesamtwissen  aller  Rats  holen 
muß,  das  von  den  religiösen  Führern  verwaltet  wdrd.  Und  auch  das  ist  ver- 
ständlich, daß  man  nicht  offenbares  und  leicht  zugängliches  Wissen  suchte, 
sondern  geheimes  und  göttliches.  Man  fühlte,  daß  die  beste  Weisheit  aus  dem 
unbewußten  Seelenleben,  aus  der  Welt  der  tiefen  Triebe  und  Wünsche 
stammt.  Man  beging  nur  den  Irrtum,  anzunehmen,  daß  diese  göttliche  Weis- 
heit dem  Menschen  nicht  nur  Entschlußkraft  verleihe,  sondern  ihm  auch 
die  Folgen  seines  Handelns  voraussagen  könne.  Man  glaubte,  die  Zukunft 
läge  als  etwas  Fertiges  da ;  der  Seher  könne  in  ihr  wie  in  einem  Buche  lesen ; 
alles,  was  geschehen  werde,  sei  für  den  Gott  und  seinen  Vertrauten  bereits 
geschehen  und  könne  uns  auf  dem  Wege  des  Orakels  und  der  Vorbedeutung 
im  voraus  bekannt  gegeben  werden.  Eine  seltsame  Annahme !  Das  Zukünf- 
tige wird  ja  erst  durch  das  ZusammenfHeßen  unzähliger  Kausalreihen  ge- 
bildet und  unser  Handeln  ist  ebenfalls  in  diese  Kausalreihen  einbegriffen. 
Der  Orakelheischende  will  die  Zukunft  als  ein  bereits  Feststehendes  in  Er- 
fahrung bringen,  während  er  doch  selber  an  ihrer  Gestaltung  mitwirkt. 

Aber  diese  Überlegung,  die  uns  so  einfach  scheint  und  durch  die  jeder 
Versuch,  unvorhergesehene  Dinge  zu  prophezeien,  der  Lächerlichkeit  preis- 

85 


gegeben  wird,  beruht  auf  der  Erkenntnis,  daß  alles  Geschehen  gesetzmäßig 
ist  und  sich  Glied  um  Glied  mit  unbarmherziger  Folgerichtigkeit  entwickelt. 
Diese  Erkenntnis  fehlte  der  älteren  Menschheit  vollständig.  Sie  ist  ein  Er- 
gebnis der  naturwissenschaftlichen  und  philosophisch-historischen  Welter- 
forschung. Noch  heute  haben  die  meisten  Menschen  die  Tragweite  dieser 
Erkenntnis  nicht  erfaßt  und  von  denen,  die  sie  erfaßt  haben,  handeln  nicht 
alle  demgemäß.  Die  große  Überzahl  befindet  sich  noch  im  Banne  der  vor- 
\\-issenschaftlichen  Anschauung,  nach  der  das  Geschehen  in  der  Welt  und  das 
Handeln  der  Menschen  ein  willkürliches,  regelloses  Spiel  ist.  Die  wenigen 
aber  sind  häufig  der  Gefahr  ausgesetzt,  in  die  ältere  Willkürauffassung  zu- 
rückzufallen, weil  sie  zu  tief  eingewurzelt  und  fast  zum  Instinkt  geworden 
ist.  Zumal  wenn  wir  vor  wichtige  Entscheidungen  gestellt  sind  und  unter  der 
Last  des  Lebens  zusammenzubrechen  fürchten,  macht  sich  mit  großer  Gewalt 
das  Verlangen  geltend,  zu  wissen,  was  niemand  wissen  kann,  die  Entscheidung 
den  Göttern  zuzuschieben  und  selber  die  passive  Rolle  des  Orakeleinholenden 
einzunehmen. 

Es  gibt  einen  Krankheitszustand,  den  man  als  Abulie  bezeichnet;  wir 
können  im  Deutschen  etwa  Entschlußunfähigkeit  sagen.  Der  Kranke  kann 
nicht  zu  dem  einfachsten  Entschlüsse  kommen,  z.  B.  die  Tür  zu  öffnen, 
einen  Eintretenden  zu  begrüßen.  Er  fühlt  sich  dem  Entschlüsse  und  seinen 
Folgen  nicht  gewachsen.  Unbe\^alßte  Gegenregungen  beherrschen  ihn  so 
stark,  daß  sie  jede  Handlung  noch  vor  der  Ausführung  ungeschehen  machen, 
sodaß  es  mitunter  zu  völliger  Bewegungslosigkeit  und  Stummheit  kommt. 
Wenn  die  Abulie  geringeren  Grades  ist,  haben  diese  Menschen  eine  wahre 
Sucht,  Orakel  einzuholen.  Jedem  erklären  sie  ihre  Lage  und  ihre  Absichten, 
verlangen  Rat  und  Voraussage  des  Ausgangs.  Jedes  kleinste  Ereignis  wird 
ihnen  zur  Vorbedeutung;  sie  benutzen  aUe  Wahrsagungsarten,  alle  Omina, 
von  denen  sie  je  gehört  haben,  und  vermehren  noch  den  ohnehin  großen 
Schatz  von  Orakelmitteln  durch  eigene  Erfindungen.  Alles  soll  ihnen  helfen, 
ihre  Unentschlossenheit  zu  übermüden.  Sie  holen  sich  gleichsam  Hilfe  gegen 
sich  selber;  sie  wollen  um  jeden  Preis  die  Verantwortung  von  sich  abwälzen, 
wollen  sich  führen,  bestimmen,  zwingen  lassen.  Solche  Personen  pflegen  einen 
felsenfesten  Orakelglauben  zu  haben;  da  es  heutigen  Tages  leider  keine 
Orakelheiligtümer  und  prophetische  Priesterkollegien  mehr  gibt,  wenden  sie 
sich  an  weise  Frauen,  an  Kartenlegerinnen,  an  Astrologen.  Sie  machen  sich 
meist  nicht  klar,  wie  diese  weiblichen  und  männlichen  Zukunftskünder  dazu 
kommen,  das  Verborgene  und  noch  nicht  Seiende  zu  wissen;  Betrachtungen 
und  Erklärungen  darüber  vermeiden  sie  sogar.  Die  Wünsche  beherrschen 
ausschließlich  ihren  Geist;  sie  wollen  und  müssen  am  Orakelglauben  fest- 
halten, um  doch  etwas  zu  haben,  was  ihrem  Leben  Halt  gibt,  was  ihre  Abulie 

86 


verringert  und  ihnen  die  Furcht  vor  dem,  was  kommt,  nimmt.  Wenn  wir 
das  Verhalten  dieser  Kranken  —  an  der  Krankheit  der  Abuhe  leidet  aber 
jeder  Mensch  gelegentlich  ein  wenig  —  psychologisch  zu  erklären  versuchen, 
so  kommen  wir  wieder  auf  das  Verhältnis  des  be\vußten  Seelenlebens  zu  dem 
unbewußten.  Der  Abulische  ist  innerhch  zwiespältig;  sein  vom  Bewußtsein 
gebildeter  Entschluß  vermag  sich  nicht  durchzusetzen,  weil  er  nicht  die  Zu- 
stimmung der  unbewußten  Triebmächte  erhält.  Das  fühlt  der  Kranke,  ohne 
es  sich  ganz  klar  zu  machen  und  ohne  es  ändern  zu  können.  Von  den  Orakeln 
will  er  im  Grunde  nur  über  einen  Punkt  Aufschluß  haben:  sie  sollen  ihm 
sagen,  was  er  selber  will;  er  weiß  nicht,  was  er  ^vill,  d.  h.  was  die  treibenden 
Kräfte  in  der  Tiefe  seines  Wesens  wollen.  Er  wäll  Bundesgenossen,  Mit- 
kämpfer, wie  jeder  andere  Kranke. 

Die  orakelgläubige  Menschheit  begeht  einen  schweren  Irrtum,  wenn  sie 
behauptet,  sie  wolle  den  Willen  der  Gottheit  wissen.  Ihren  eigenen  Willen 
will  sie  wissen.  Wenn  der  Mensch  nach  der  Zukunft  fragt,  wenn  er  um  jeden 
Preis  den  Ausgang  seines  Unternehmens,  die  Folgen  seiner  Handlungsweise 
wissen  \vill,  so  möchte  er  im  Grunde  nur  den  eigenen  Anteil  an  der  Zukunft  er- 
fahren, möchte  die  eigenen  Eingriff e  in  das  Kräftespiel  der  Natur  mit  seinem 
wahren  Wesen  und  Willen  in  Einklang  bringen.  Je  einheitlicher  und  selbst- 
gewisser ein  Mensch  ist,  um  so  geringer  ist  sein  Orakelglaube  und  Orakel- 
bedürfnis. Er  hat  es  nicht  nötig,  die  Gottheit  in  der  Außenwelt  zu  suchen, 
er  braucht  sich  nicht  durch  eine  Sternschnuppe,  durch  einen  Wochentag, 
durch  ein  vorüberlaufendes  Tier,  durch  die  Spielkarten,  durch  die  Hand- 
hnien  belehren  zu  lassen,  ob  und  wie  er  handeln  soll,  ob  die  Zukunft  sich  so 
oder  so  gestalten  wird.  Er  findet  die  Gottheit  in  sich  selber,  er  gestaltet  die 
Zukunft  selber;  soweit  er  das  nicht  vermag,  läßt  er  das  Zukünftige  und  Ver- 
borgene auf  sich  beruhen. 

Da  solche  Menschen  selten  sind,  da  zumal  die  jugendliche  Menschheit  von 
dieser  Selbstsicherheit  noch  weiter  entfernt  war  als  die  reifere  Menschheit, 
war  das  Bedürfnis  nach  Orakeln  zu  allen  Zeiten  groß,  und  das  Wahrsagen 
wurde  eine  Haupttätigkeit  des  Priesters  aller  früheren  Religionen. 

Neben  den  dauernden  Orakelstätten  von  zum  Teil  großem  Ruf  und  noch 
größerem  Reichtum  gab  es  wandernde  Orakelmänner,  die  weissagend  von 
Ort  zu  Ort  zogen.  Manchmal  schlugen  sie  sich  nur  kümmerlich  durch;  ihr 
allbekanntes  Mittel,  sich  Geld  und  Gunst  zu  verschaffen,  war,  möglichst 
schmeichelhafte  und  angenehme  Dinge  zu  weissagen.  Wenn  ein  Wahrsager 
sich  getraut,  harte  und  böse  Dinge  zu  weissagen,  so  nähert  er  sich  schon  dem 
edleren  Prophetentypus.  Die  schmeichelhaften  Prophezeiungen  trafen  leider 
noch  seltener  ein  als  die  unangenehmen.  Dann  war  guter  Rat  teuer;  der 
Wahrsager  machte  sich  aus  dem  Staube  oder  erfand  Ausflüchte.  Allerorten 

87 


hat  sich  die  Seherzunft  darauf  verstanden,  die  Orakelsprüche  zweideutig 
oder  mehrdeutig  abzufassen,  und  einer  genaueren  Erklärung  aus  dem  Wege 
zu  gehen.  Hatte  die  Älenschheit  schon  mit  der  Dunkelheit  des  Lebens  zu 
schaffen,  so  kam  noch  die  Dunkelheit  der  göttlichen  Weisungen  hinzu.  Jeder, 
der  nach  einem  Orakel  handelte,  mußte  sich  mit  Bangen  fragen,  ob  er  es 
denn  nun  auch  richtig  verstanden  habe.  In  Griechenland  liefen  dunkle 
Sprüche  des  Bakis  um,  in  Rom  \\airden  sibj'llinische  Bücher  verwahrt. 
Jedermann  seufzte  über  die  Unklarheit  dieser  Weisheitsschätze.  Mancher 
suchte  Ersatz  in  deutlicheren  Weissagemitteln ;  aber  das  Üble  war,  daß  die 
deutlichsten  Orakel  zugleich  die  trügerischsten  waren.  Diese  deutlichen 
Orakel  sind  die  sogenannten  objektiven  Orakel,  die  ohne  Priester  und  Seher 
unmittelbaren  Bescheid  geben. 

Man  kann  nämlich  alle  Orakel  in  zwei  Gruppen  teilen:  die  subjektiven, 
die  entweder  vom  Priester  und  dessen  Stellvertreter  erteilt  werden,  oder 
wenigstens  von  ihm  gedeutet  werden;  hierhin  gehören  die  Sprüche,  Hallu- 
zinationen und  Träume;  zweitens  die  objektiven,  die  auf  unmittelbarer  Deu- 
tung äußerer  Ereignisse  beruhen.  Die  ersteren  sind  fast  immer  unklar,  treffen 
aber  oft  das  Richtige,  weil  sie  die  Weisheit  des  unbewaißten  Seelenlebens 
sind.  Die  letzteren  sind  fast  immer  unzweideutig,  aber  meist  völlig  wertlos, 
weil  die  gedeuteten  Ereignisse  nichts  mit  dem  Frager  und  der  Frage  zu 
tun  haben.  Die  objektiven  Orakel  kann  man  noch  \\deder  in  solche  teilen, 
die  keine  besondere  Kenntnis  und  Technik  erfordern,  und  in  solche,  die  durch 
Vermittlung  von  Fachleuten  eingeholt  werden.  Zu  jenen  gehören  vor  allem 
die  Losorakel.  Um  ein  Losorakel  einzuholen,  braucht  man  keinen  Priester. 
Jeder  Laie  kann  das  Los  befragen,  indem  er  beliebigen  Gegenständen  den 
Charakter  von  Losen  gibt  und  dieselben  nun  auf  irgendeine  Art  zum  Spre- 
chen bringt.  Am  einfachsten  ist  es,  wenn  das  Los  nur  über  Ja  und  Nein 
entscheiden  soll.  Man  kann  ihm  aber  auch  sachliche  Entscheidungen  ent- 
locken. Z.  B.  kann  man  die  Bibel  als  Orakel  benutzen,  indem  man  sie  aufs  Ge- 
ratewohl aufschlägt  und  den  Satz,  auf  den  das  Auge  zuerst  fällt,  zur  Richtschnur 
nimmt.  Die  Bibelstelle  wird  also  zum  Los,  das  man  zieht.  Dies  Bibelorakel 
war  früher  allgemein  üblich  und  erfreut  sich  noch  heute  großer  Beliebtheit. 

Eine  andere  Art  des  Losens  finden  wir  z.  B.  im  Homer  beschrieben.  Die 
Helden,  die  sich  zum  Zweikampf  mit  Hektor  bereiterklärt  haben,  werfen  je 
einen  vorbezeichneten  Gegenstand  in  einen  Helm.  Der  Helm  wird  geschüttelt, 
eines  der  Lose  springt  heraus,  und  der  Besitzer  dieses  Loses  ist  damit  von  der 
Gottheit  als  berufener  Kämpfer  auserwählt.  Ferner  gehören  unzählige  Vor- 
bedeutungen (Omina)  in  diese  Gruppe  der  Orakellose,  z.  B.  daß  es  Unglück 
bringe,  wenn  man  durch  eine  andere  Tür  hinausgehe  als  man  eingetreten  ist, 
oder  wenn  man  einen  Vogel  von  links  her  vorbeifhegen  sieht,  oder  wenn  man 

SS 


einer  alten  Frau  begegnet.  Die  Bedeutung  dieser  und  vieler  ähnlicher  Omina 
ist  durch  die  Tradition  ein  für  allemal  festgelegt  und  führt  in  den  meisten 
Fällen  auf  religiöse  Vorstellungen  zurück.  Die  neue  Generation  findet  die 
Deutung  vor  und  handhabt  die  Orakel  ohne  Hilfe  von  priesterlichen  Mittels- 
personen. Von  der  christlichen  Rehgion  werden  diese  Omina  meist  nicht  an- 
erkannt und  als  Aberglaube  bekämpft;  jedoch  erkennt  dieselbe  Rehgion 
sichtbare  „Winke"  Gottes  an,  die  auch  nichts  weiter  sind  als  Omina.  Z.  B. 
wenn  der  Blitz  dicht  neben  einem  Menschen  niedergeht,  oder  wenn  m.an 
anderen  merkwürdigen  Zufällen  ausgesetzt  ist,  erklärt  das  der  christliche 
Priester  für  Zeichen,  die  uns  die  Gottheit  gibt.  Ähnlich  wurde  bei  den  Grie- 
chen das  Geschrei  der  Eule  und  der  Flug  mancher  Vögel  als  unmittelbares 
Zeichen  der  Götter  aufgefaßt. 

Andere  Omina  kann  der  einzelne  in  jedem  Augenblick  neu  erfinden.  Er 
kann  gewissen  Gegenständen  und  Ereignissen  Unglücksbedeutung,  anderen 
Glücksbedeutung  beilegen.  Er  kann  z.  B.  sagen:  wenn  morgen  die  Sonne 
scheint,  so  führe  ich  das  geplante  Vorhaben  aus,  wenn  nicht,  lasse  ich  es 
fallen.  Dabei  kann  man  den  Einfluß  der  Abulie  deuthch  erkennen:  die 
Sonne,  oder  was  es  sonst  ist,  soll  uns  die  Verantwortung  abnehmen,  soll 
uns  schieben  und  bestimmen.  Die  Wahl  der  Glücks-  und  Unglücksomina  ist 
nur  scheinbar  zufällig,  meist  wirken  unbewußte  Vorstellungen  mit,  die  auf 
frühere  Erlebnisse  des  einzelnen  oder  der  Gemeinschaft  zurückgehen.  Ver- 
drängte Erinnerungen  beeinflussen  unser  Handeln  auf  Schritt  und  Tritt. 

Der  Priester  stand  von  jeher  unter  dem  besonderen  Einfluß  solcher  Er- 
innerungen, die  sich  auch  in  plastische  Gestalten  und  in  zeremonielle  Hand- 
lungen umsetzen  konnten,  worauf  wir  in  dem  Abschnitt  ,, Religion  und 
Spiel"  näher  eingehen  werden.  Der  Priester  fühlte  und  sah  überall  Vorbe- 
deutungen, überall  Mahnungen  und  Warnungen  der  Macht,  der  er  sich  er- 
geben hatte.  Diese  göttlichen  Fingerzeige  aber  waren  nichts  weiter  als  die 
Regungen  seines  eigenen  Seelenlebens,  teils  Bemühungen  des  Bewußtseins, 
die  unterdrückten  Geister  nicht  hochkommen  zu  lassen,  teils  Gegenwirkun- 
gen dieser  unterdrückten  Geister.  In  diesen  Fällen  sind  auch  die  rein  objek- 
tiven Orakel  sinnvoll  und  wertvoll.  Der  Priester  wählte  und  beachtete  eben 
diejenigen  Omina,  die  mit  seinem  Seelenleben  in  einem  wenn  auch  verbor- 
genen Zusammenhange  standen.  Die  Omina  können  geradezu  in  die  Stellung 
der  Erinyen,  des  sokratischen  Daimonions,  des  Gewissens,  einrücken.  Es 
wäre  eine  dankbare  Aufgabe,  die  Orakelgegenstände  und  vorbedeutenden 
Ereignisse  älterer  und  neuerer  Zeit  einmal  nach  diesem  psychologischen  Ge- 
sichtspunkt zu  untersuchen. 

Als  zweite  Gruppe  der  objektiven  Orakel  wollten  wir  diejenigen  bezeichnen, 
deren  Deutung  eine  fachmännische  Mitwirkung  erfordert.  Hier  fallen  uns 

89 


sogleich  die  Opferorakel  ins  Auge.  Bei  den  Griechen  und  Römern  gehörte  es 
zu  den  v\'ichtigsten  Obliegenheiten  der  Priester,  die  Vorgänge  während  der 
Opferung  zu  beobachten,  das  getötete  Opfertier  zu  untersuchen  und  aus  den 
Eingeweiden  festzustellen,  ob  das  Opfer  günstig  oder  ungünstig  sei.  Wenn 
etwas  \^'idriges  vorfiel,  wenn  die  Organe  abnorm  gebildet  waren,  abnorm 
gelagert  waren  oder  gar  ein  Organ  zu  fehlen  schien,  war  das  ein  sehr  übles 
"S'orzeichen.  Das  Unternehmen  mußte  aufgegeben  oder  das  Opfer  erneuert 
werden.  Die  römischen  Haruspices  hatten  eine  verwickelte  Opferschautech- 
nik ausgebildet,  und  von  den  Griechen  wissen  wir,  daß  mehr  als  ein  Krieg 
infolge  der  Opferergebnisse  ein  unerwartetes  Ende  genommen  hat.  Die 
Opferpriester  und  Propheten  wurden  bei  den  Griechen  und  bei  anderen 
"\^ölkern  mit  in  den  Krieg  genommen.  Bevor  man  eine  Schlacht  lieferte,  einen 
Fluß  überschritt  oder  einen  anderen  bedeutenden  Entschluß  faßte,  mußte 
die  Gottheit  befragt  und  ein  Orakelopfer  gebracht  werden.  Fiel  es  gut  aus, 
so  war  das  ganze  Heer  wohlgemut,  und  diese  belebende  Wirkung  hat  gewiß 
oft  dazu  beigetragen,  den  Götterwillen  wahrzumachen  und  die  Opferschau 
der  Priester  durch  den  Erfolg  zu  rechtfertigen.  Fiel  es  ungünstig  aus,  so 
unterblieb  entweder  das  Unternehmen,  oder,  wenn  der  Feldherr  seiner  Sache 
recht  gewiß  war  und  gar  nicht  an  Abulie  litt,  errang  er  die  göttliche  Zustim- 
mung dadurch,  daß  er  immerfort  von  neuem  opfern  ließ,  bis  er  ein  günstiges 
Ergebnis  erhielt.  Der  Priester  konnte  wohl  auch  ein  wenig  nachhelfen,  um 
die  Götter  in  Übereinstimmung  mit  dem  Feldherrn  zu  bringen.  Mindestens 
hat  sein  Wille  unbewußt  mitgewirkt;  die  überlieferten  Auslegungsregeln 
ließen  gewiß  hie  und  da  eine  kleine  Lücke,  wo  er  seine  schicksalsverbessernde 
Hand  hineinschieben  konnte.  Das  allgemeine  Streben  ging  freilich  dahin, 
die  Orakel  so  objektiv  wie  möglich  zu  machen;  der  subjektive  Wille  des 
Priesters  sollte  gänzlich  ausgeschaltet  werden.  Der  Priester  hatte  selber 
diesen  Wunsch,  solange  er  überzeugt  war,  daß  sich  %virklich  die  Gottheit 
durch  den  Zustand  der  Eingeweide  und  die  anderen  Orakel  kundtue.  Er 
wollte  nur  den  Willen  der  Gottheit  aus  diesen  Orakeln  so  untrüglich  wie  mög- 
lich herauslesen.  Daher  hielt  er  sich  streng  an  das  von  der  Tradition  über- 
kommene Deutungsverfahren  und  setzte  seinen  Ehrgeiz  nur  darein,  dies  Ver- 
fahren genau  zu  studieren  und  es  mit  Virtuosität  zu  handhaben.  Wenn  man 
ihn  dabei  ertappte,  daß  er  die  Regeln  falsch  anwandte,  erging  es  ihm  meist 
sehr  schlecht,  außer  wenn  der  pohtisch-kriegerische  Herr,  dem  er  diente,  so 
aufgeklärt  und  so  unbedenklich  war,  vom  Priester  bestimmte,  seinen  Zwecken 
entsprechende  Orakel  zu  verlangen  und  ihn  für  die  Fälschungen  zu  belohnen. 
Es  ist  heute  nicht  mehr  möglich,  über  diese  Dinge  klar  zu  sehen  und  den 
Anteil  zu  bestimmen,  den  das  eine  Mal  der  bewußte  Betrug,  ein  anderes  Mal 
die  unbewußte  Mithilfe,  ein  drittes  Mal  der  bare  Zufall  an  den  Orakelergeb- 

90 


nissen  gehabt  hat.  Der  fromme  Herodot  und  der  fromme  Xenophon  sind 
überzeugt,  daß  die  Opferorakel  immer  objektiv  und  immer  götthch  seien. 
Sie  haben  in  ihren  Geschichtswerken  den  Einfluß  dieser  Orakel  auf  die  Ge- 
schicke ihres  Volkes  mit  Vorhebe  betont;  auch  die  anderen  antiken  Histo- 
riker waren  mehr  oder  weniger  im  Orakelglauben  befangen.  Uns  erscheint 
es  heute  unfaßlich,  daß  die  größten  Entscheidungen  von  der  Leber  eines 
Rindes  oder  der  Niere  eines  Hammels  abhingen.  Wie  erklärt  es  sich,  daß 
die  Geschichte  der  alten  Völker  trotzdem  vernünftig  und  zusammenhängend 
verlaufen  ist  ?  Daß  die  Mantels  und  Opferschauer,  trotzdem  sie  ihre  Zeit  mit 
dem  Wühlen  in  Eingeweiden  und  dem  Beobachten  des  Vogelflugs  hinbrach- 
ten, so  kluge  und  einflußreiche  Berater  der  pohtischen  Gewalten  gewesen 
sind?  Die  subjektiven  Zutaten  zu  den  objektiven  Orakeln  müssen  doch  viel 
größer  gewesen  sein,  als  die  Berichterstatter  uns  verraten. 

Eines  der  folgenreichsten  objektiven  Orakel  —  um  andere,  weniger  wich- 
tige zu  übergehen  —  ist  die  Befragung  der  Gestirne.  Die  Wiege  der  Astro- 
logie scheint  in  Altbabylon  gestanden  zu  haben.  Jedenfalls  gab  es  dort  schon 
ein  ausgebildetes  astrologisches  System,  das  sich  in  seinen  Grundzügen  bis 
zum  heutigen  Tage  erhalten  hat.  Man  glaube  nicht,  daß  die  Astrologie  im 
heutigen  Europa  ausgestorben  ist.  Sie  nimmt  heute  sogar  einen  neuen  Auf- 
schwung und  gesellt  sich  den  übrigen  okkulten  Weisheitsquellen  hinzu,  die 
für  unsere  abulischen  Zeitgenossen  so  reichlich  fließen.  Dem  Glauben  an  die 
Bedeutung  der  Gestirne  für  das  menschliche  Schicksal  liegt  die  Beobachtung 
zugrunde,  daß  die  Sterne  in  auffallender  Weise  ihre  Stellung  verändern  und 
sich  immer  neu  gruppieren.  Die  babylonischen  Priester  machten  die  Ent- 
deckung, daß  diese  Bewegungen  gesetzmäßig  seien  und  ein  geheimnisvoller 
Rhythmus,  eine  in  Zahlen  darstellbare  Ordnung  sich  in  ihnen  ausdrücke. 
Da  sie  wie  später  die  Griechen  erkannten,  daß  Maß  und  Zahl  das  Weiseste 
und  Götthchste  in  der  Welt  sei,  lag  es  nahe,  die  Ordnung  hier  auf  Erden  und 
die  Rhythmen  des  Menschen  Schicksals  mit  jenen  himmlischen  Bewegungen 
in  Zusammenhang  zu  bringen.  Dem  rechnenden  und  schauenden  Priester 
schien  sich  ein  erhabener  Weg  zu  eröffnen,  den  Willen  der  göttlichen  Mächte 
zu  erkunden,  indem  er  die  kleinen  Ereignisse  hier  unten  droben  am  Himmels- 
gewölbe ablas.  Das  astrologische  Orakel  war  ebenso  objektiv,  wie  die  Opfer- 
schau. Der  Wille  des  deutenden  Priesters  schien  völlig  ausgeschaltet.  Darin 
lag  wohl  ein  Hauptreiz  dieses  Zweiges  der  priesterlichen  Orakeltätigkeit. 
Die  Astrologie  sah  so  wissenschaftlich  aus.  Sie  konnte  nicht  trügen ;  sie  be- 
ruhte ja  auf  den  nüchternsten  Berechnungen  und  deutlichsten  Beobach- 
tungen. Wer  Sinn  und  Bedeutung  der  Sternbewegungen  kannte,  für  den  gab 
es  auf  Erden  kein  Geheimnis  und  keine  Irrtümer  mehr.  Klar  lag  alles  Ge- 
schehen vor  ihm  da. 


Aber  freilich:  wer  kannte  Sinn  und  Bedeutung  des  himmlischen  Reigens? 
Wer  enträtselte  das  erhabene  Spiel  der  sieben  Planeten götter  und  der  Geister- 
gestalten, die  man  in  den  Sterngruppen  zu  erkennen  glaubte?  Das  war  der 
wunde  Punkt  dieser  wie  aller  anderen  Orakelweisheit.  Die  Priester  konnten 
nur  zwei  Quellen  für  ihre  Deutungen  angeben :  Offenbarung  und  Erfahrung. 
Entweder  hatten  die  Götter  selber  den  Sinn  der  Sternbewegungen,  der 
Opfereingeweide  und  aller  anderen  Zeichen  den  Priestern  verraten,  sei  es 
den  jetzigen  Priestern  durch  Gesichte,  sei  es  den  älteren  Geschlechtern,  von 
denen  es  die  nachgeborenen  Priester  überkommen  hatten.  Oder  aber  die 
Priester  hatten  durch  systematische  Beobachtung  der  Gestirne  und  durch 
Sammlung  aller  Fälle,  in  denen  bedeutende  Ereignisse  auf  der  Erde  mit  ent- 
sprechenden Ereignissen  am  Himmel  zusammengetroffen  waren,  den  Ge- 
stirngöttern ihre  Geheimnisse  abgelauscht.  Das  waren  die  beiden  Erkennt- 
nisquellen; beide  waren  unvollkommen  und  unzuverlässig.  Den  Priestern 
selber  kam  das  nicht  zum  Bewußtsein,  weil  der  Orakelglaube  als  solcher 
ihnen  unerschütterlich  feststand;  aber  wenn  sie  ehrlich  waren,  mußten  sie 
mit  Seufzen  bekennen,  daß  die  Gottheit  ihnen  immer  noch  ihre  letzte  Weisheit 
verberge,  sie  irreführe  und  betrüge.  Und  das  Volk  fühlte  sich  wiederum  von 
den  priesterlichen  Astrologen  betrogen.  Tacitus  sagt  an  einer  Stelle  seiner 
Annalen:  ,,Der  größte  Teil  der  Menschen  läßt  sich  den  Glauben  an  die  Vor- 
herbestimmung der  Lebensschicksale  jedes  Menschen  bei  seiner  Geburt 
nicht  nehmen.  Sie  geben  zwar  zu,  daß  die  Prophezeiungen  dieser  Schicksale 
sich  nicht  immer  bewahrheiten,  meinen  aber,  daß  das  an  den  falschen  und 
unwissenden  Propheten  läge.  Die  Astrologen  selber  erschütterten  den  Glau- 
ben an  eine  Wissenschaft,  die  ihre  Kraft  in  alter  und  neuer  Zeit  aufs  herr- 
lichste bewiesen  habe."  Tacitus  erzählt  nämlich  an  dieser  Stelle  von  dem 
Verhältnis  des  Kaisers  Tiberius  zur  Astrologie.  Tiberius,  und  mit  ihm  fast 
das  ganze  späte  Altertum,  glaubte  fest  an  die  astrologische ,,  Wissenschaft" ;  er 
hatte  sie  auf  Rhodus  genau  studiert.  Die  orientalischen  Astrologen,  die  ,,Chal- 
däer",  die  ,, Magier"  und  andere  Wundermänner  überschwemmten  damals 
das  Abendland.  Es  waren  Propheten  im  vollen  Sinne  des  Wortes.  Ihre  Weis- 
heit stammte  teils  von  den  gelehrten  babylonisch-assyrischen  Priesterschaf- 
ten her,  teils  aus  anderen  priesterlichen  Quellen  des  Orients.  In  Rom  hatten 
sie  besonders  festen  Fuß  gefaßt;  die  ganze  vornehme  Welt  lief  ihnen  zu. 
Wie  Tacitus  berichtet,  war  viel  zweifelhaftes  Gesindel  unter  ihnen,  und 
wenn  ihre  Prophezeiungen  politisch  unbequem  wurden,  suchte  man  sich 
ihrer  durch  schwere  Strafen  und  Verbannungsdekrete  zu  entledigen.  Tibe- 
rius hatte  einen  Hofastrologen,  namens  Trasullus,  dem  er  das  größte  Ver- 
trauen schenkte.  Er  nahm  seine  Aussprüche  als  untrügliche  Orakel  hin  und 
zog  ihn  in  seinen  engen  Freundeskreis.  Die  romantische  Geschichte,  wie 

92 


Tiberiuä  diesen  Trasullus  kennen  gelernt  und  auf  die  Probe  gestellt  hat,  lese 
man  bei  Tacitus  selber  nach  (Annalen,  Buch  6,  S.  zgSÜ.  meiner  Über- 
setzung). 

Von  der  christlichen  Kirche  wurde  die  Astrologie  mit  allen  anderen  Orakel- 
verfahren  des  Altertums  in  den  Bann  getan.  Nicht  eigentlich  deshalb,  weil 
man  das  Orakelwesen  für  sinnlos  und  die  Propheten  für  Betrüger  hielt;  nein, 
so  aufgeklärt  war  das  Mittelalter  nicht  und  ist  das  kirchhche  Christentum 
noch  heute  nicht.  Man  bekämpfte  die  alten  Götter,  und  die  Orakel  waren 
Ausflüsse  dieser  heidnischen  Mächte.  Daß  die  sieben  Planetengötter  der  alten 
Welt  weiterlebten,  bezeugt  ihre  Nachwirkung  in  den  christlichen  Urkunden 
und  Einrichtungen.  In  der  Engellehre  zumal  ist  viel  Astrologisches  ent- 
halten. Aber  das  waren  unfreiwillige  Entlehnungen ;  bewußt  wollte  das  Chri- 
stentum mit  dem  ganzen  Orakelwesen  aufräumen.  Der  Christ  sollte  sich  an 
Gott  und  die  christlichen  Untergötter  im  Gebet  wenden,  nicht  durch  Orakel. 
Die  christlichen  Gottheiten  offenbarten  sich  ohne  Vermittlung;  in  Gebet  und 
Ekstase  wurde  man  eins  mit  ihnen  und  hatte  daher  nicht  mehr  nötig,  mit 
Hilfe  von  künstlichen  Verfahren  ihren  Willen  zu  erforschen.  Der  Fromme 
trug  den  Geist  immer  mit  sich;  er  vertraute  sich  den  geheimen  Schicksals- 
mächten mit  voller  Seele  an  und  nahm  jedes  Ereignis  als  Gnadengabe  Gottes 
auf.  Diese  christliche  Lebensauffassung  ließ  in  der  Tat  für  das  Orakeiwesen 
keinen  Raum.  Wer  Orakel  einholt,  fühlt  sich  nicht  eins  mit  der  Gottheit, 
sondern  fühlt  das  All  als  eine  fremdartige,  dämonische  Macht.  Er  will  den 
Sinn  der  Geschehnisse  und  Zustände  in  der  Welt  erst  enträtseln ;  indem  er  das 
tut,  legt  er  natürlich  sich  selber  und  seine  eigenen  Zustände  in  die  Natur 
hinein. 

Der  heidnische  Priester  besitzt  nicht  das  gläubige  und  hingebende  Ver- 
trauen in  den  Gang  der  Dinge,  das  der  christliche  Priester  hat  oder  zu  haben 
vorgibt;  darin  drückt  sich  vielleicht  einer  der  Grundgegensätze  zwischen 
Christentum  und  Heidentum  aus.  Die  babylonischen,  ägyptischen  und  grie- 
chischen Priester  würden  in  der  christlichen  Gottseligkeit  wahrscheinlich 
die  Ehrfurcht  und  den  Stolz  vermißt  haben :  die  Ehrfurcht  vor  den  Geheim- 
nissen und  unfaßbaren  Willenskräften  der  Natur,  den  Stolz  des  selbständigen 
götterbezwingenden  Menschen  gegenüber  diesen  Naturmächten.  Der  Heide 
stand  mit  der  Gottheit  nicht  auf  Du  und  Du  wie  der  Christ;  er  nannte  sie 
nicht  Vater  und  Geliebter.  Sie  war  ein  Etwas,  das  es  zu  gewinnen  und  zu 
beugen  galt ;  der  Mensch  rang  der  Gottheit  sein  Leben  und  Glück  durch  die 
Tat  und  durch  die  religiösen  Hilfsmittel  ab. 

Der  Christ  muß,  wenn  er  ein  guter  treuer  Christ  sein  will,  in  jedem  Ver- 
such, die  Natur  zu  besiegen  und  aus  ihr  den  Willen  Gottes  herauszulesen, 
verwerfliches  Heidentum  erblicken.  Die  schlechten  Christen  waren  es,  die 

93 


am  Orakelwcsen  festhielten  und  es  in  immer  neuen  Formen  fortsetzten. 
Diese  schlechten  Christen  fanden  aber  dankbare  Abnehmer  genug ;  denn  wer 
erlebte  nicht  Stunden  der  „Anfechtung",  in  denen  das  Vertrauen  in  den 
liebenden  Vatergott  dahinstarb !  Die  Astrologie  feierte  in  der  Renaissancezeit 
eine  vollkommene  Auferstehung.  Sie  wurde  natürlich  nicht  von  den  Ver- 
tretern der  anerkannten  Gemeindereligion  gepflegt,  nicht  unter  die  Heils- 
schätze der  Kirche  eingereiht ;  aber  das  Volk  und  seine  privatpriesterlichen 
Führer  waren  ihr  so  treu  ergeben  wie  einst  im  Altertum.  Der  Privatzauberer 
hatte  seine  Entwicklung  zum  Gelehrten  durchgemacht  und  die  Haupt- 
wissenschaften, die  er  trieb,  hießen;  Heilkunde,  Alchimie,  Astrologie.  Alle 
drei  sind  durch  und  durch  heidnisch.  Das  streng  konsequente  Christentum 
verzichtet  auf  die  Wegschaffung  gottgesandter  Leiden,  verabscheut  den 
irdischen  Reichtum,  will  sein  Leben  nicht  dmrch  Orakel  und  den  ,,Tanz  der 
Sterne"  lenken  lassen.  Trotzdem  hatte  das  Christentum  längst  mit  diesen 
unchristhchen  Menschlichkeiten  Waffenstillstand  geschlossen  und  sog  nun 
immer  mehr  das  Gift  des  neueren  europäischen  Denkens  und  Forschens  ein. 
Das  Gemeindepries  tertum  gewöhnte  sich  daran  —  was  in  früheren  Kultur- 
epochen undenkbar  gewesen  wäre  — ,  von  dem  Zauberer,  d.  h.  von  der  selb- 
ständigen Persönlichkeit  und  von  gelehrten  Laiengenossenschaften  Weisheit 
zu  empfangen,  Lebensführung  zu  lernen,  sich  die  Welt  deuten  und  vertraut 
machen  zu  lassen.  Der  christHche  Priester  begab  sich  mehr  und  mehr  des 
alten  Grundrechtes,  selber  Weisheitsbote  und  Lehrer  der  Menschheit  zu 
sein.  Gott  zog  sich  von  den  Menschen  zurück,  daher  blieb  dem  Priester  in 
der  Tat  nichts  anderes  übrig,  als  in  die  Schule  der  heidnischen  Wissenschaft 
zu  gehen  und  sich  zu  den  Füßen  ungläubiger  Forscher  zu  setzen. 

Wir  lassen  heute  die  Astrologie,  Alchimie  und  dämonologische  Medizin 
nicht  mehr  als  Wissenschaften  gelten;  aber  die  Tendenz  dieser  ,, Vorwissen- 
schaften" war  genau  dieselbe,  wie  die  der  heutigen  Wissenschaften.  Nur  das 
zugrunde  liegende  Weltbild  war  anders,  daher  auch  die  Mittel,  die  der  for- 
schende Mensch  anwandte,  um  der  Natur  ihre  Geheimnisse  zu  entlocken 
und  sie  in  seinen  Dienst  zu  zwingen.  Die  damahge  Forschung  beging,  wie 
wir  heute  erkennen,  Irrtümer;  aber  diese  Irrtümer  waren  ebenso  ehrlich 
erobert,  wie  die  heutigen  Forschungsergebnisse,  die  einer  späteren  Zeit  viel- 
leicht ebenfalls  als  Irrtümer  gelten  werden.  Wenn  sich  ein  heutiger  Gelehrter 
zur  Astrologie  bekennen  woUte,  so  würde  er  damit  aus  dem  Kreise  der  For- 
scher ausscheiden,  ebenso,  wie  ein  Bekenner  der  christlichen  Dogmen  höch- 
stens in  einer  Einzelwissenschaft,  aber  nicht  im  Gesamtbereich  der  For- 
schung heimatsberechtigt  ist.  Zur  Zeit  Luthers  war  das  ganz  anders.  Damals 
fußte  aUe  Welt  auf  den  Voraussetzungen,  die  heute  von  den  Denkenden  auf- 
gegeben sind.  Daher  waren  der  Astrologe,  der  Theologe,  der  Wissenschaft- 

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liehe  Goldmacher  echte  Wahrheitsforscher  und  würdige  Führer  des  dama- 
ligen Denkens.  Sie  dienten  dem  Leben,  wie  der  heutige  Biologe  und  Soziologe. 
Statt  mit  den  heutigen  Gesetzen  und  Kräften  operierten  jene  alten  Forscher 
mit  „Intelligenzen",  ,, Emanationen",  kurz  mit  dämonenartigen  Wesen- 
heiten in  der  Welt  (vgl.  über  die  Geheimwissenschaften  die  Darstellung  bei 
Lehmann  :  Aberglaube  und  Zauberei).  Die  dämonologische  Weltanschauung 
zu  überwinden,  fehlte  es  jenen  Zeiten  an  den  wissenschaftlichen  Mitteln; 
was  man  von  den  Gelehrten  der  Renaissancezeit  verlangen  kann,  ist  nur: 
wissenschaftliche  Begründung  und  Verwertung  dieser  Weltanschauung.  Und 
das  haben  jene  Männer  wie  Agrippa,  Paracelsus  usw.  in  vollem  Maße  ge- 
leistet. Sie  waren  treue  Arbeiter  im  Dienste  des  hohen  Lebensideales,  das 
zuerst  von  den  Griechen  mit  Klarheit  geschaut  und  mit  Unerschrockenheit 
erobert  worden  ist. 

So  wenig  wir  es  den  Griechen  und  Römern  verargen,  daß  sie  an  Orakel 
glaubten  und  den  Versuch  machten,  die  Dämonologie  auf  eine  wissenschaft- 
liche Basis  zu  stellen,  so  wenig  dürfen  wir  es  den  Gelehrten  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  verargen.  Heute  dagegen  ist,  so  scheint  es  wenigstens  mir, 
der  Orakelglaube  und  jeder  Okkultismus  ein  Rudiment  oder  ein  Atavismus. 
Wir  bestreiten  nicht,  daß  uns  die  Vorgänge  und  Kräfte  in  der  Welt  in  vielem 
Betracht  noch  unerklärlich  und  verborgen  (okkult)  sind;  aber  die  Dämono- 
logie kann  diese  Dunkelheiten  nicht  erhellen;  die  dämonologische  Weltan- 
schauung ist  jedem  Denkenden  einfach  verboten.  Nur  innerhalb  dieser 
Weltanschauung  haben  aber  die  Zukunftsdeutung  und  das  ganze  Orakel- 
und  Offenbarungswesen  Sinn  und  Berechtigung.  Wir  werden  rettungslos  in 
die  alten  religiösen  Phantasmen  zurückgeschleudert  oder  sehen  uns  zur  Er- 
richtung eines  dürftigen  Neubaues,  wie  ihn  Du  Prel,  Davis,  Frau  Bla- 
VATSKY  und  andere  versucht  haben,  genötigt,  wenn  wir  die  Grundlagen  der 
wissenschaftlichen  Weltanschauung  der  letzten  Jahrhunderte  verlassen,  um 
die  angebhchen  okkulten  Erfahrungen  und  ausschweifenden  Wünsche  un- 
serer heutigen  Lebensromantiker  mit  dem  übrigen  Kulturbesitz  unserer  Zeit 
in  Einklang  zu  bringen.  ,    , 


iUi  4.  GEBET  UND  PREDIGT  — 

Der  Prophet  ist  Zauberer  und  Gelehrter ;  aber  er  ist  auch  Beter  und  Prediger. 
Jene  Fähigkeiten  liegen  nicht  so  weit  von  diesen  entfernt,  wie  es  zunächst 
den  Anschein  hat.  Was  ist  das  Gebet?  Zu  einem  guten  Teil  Zaubermittel. 
Was  ist  die  Predigt  ?  Zu  einem  guten  Teil  Darstellung  und  Nutzbarmachung 
von  Forschungs-  und  Denkergebnissen. 

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Das  Gebet  geht  Nvie  alle  religiösen  Verrichtungen  auf  menschliche  Urtriebe 
zurück.  Der  Geängstigte  und  Bedrängte  stößt  Wehlaute  aus,  der  freudig  Er- 
regte Jubellaute.  Gedanken  und  Bedürfnisse  werden  Wort,  sowie  sie  Hand- 
lungen werden.  Nachdem  sich  der  Zauberglaube  der  sprachhchen  Äußerun- 
gen des  Menschen  bemächtigt  hat,  wird  aus  diesen  Lauten  und  Worten  die 
primitive  Gebetform.  Das  primitive  Gebet  ist  ein  Machtwort,  durch  das 
Zauberwirkungen  hervorgerufen  werden  sollen.  Es  richtet  sich  noch  nicht 
an  eine  Person,  nicht  an  Dämonen  oder  Götter;  es  trägt  seine  Kraft  in  sich 
selber  und  verursacht  durch  seine  bloße  Existenz,  d.  h.  dadurch,  daß  es  aus- 
gesprochen wird,  Veränderungen  in  der  Welt.  Z.  B.  kann  man  durch  ein 
solches  Gebet  den  Pfeil  treffsicher  machen  oder  dem  Wind  Stille  gebieten. 
\'ielfach  genügt  die  einfache  Beschreibung  dessen,  was  man  erfüllt  sehen 
möchte.  Wenn  ich  z.  B.  sage:  jener  Mensch  wird  sofort  einen  Schmerz  in  der 
Brust  fühlen,  wird  umsinken  und  nach  kurzer  Krankheit  sterben  —  so  sind 
diese  Erklärungen,  wenn  sie  in  die  richtigen  zauberkräftigen  Worte  gebracht 
werden,  ein  Gebet,  das  sich  nach  Meinung  der  primitiven  Menschheit  unfehl- 
bar verwirklicht,  falls  kein  Gegenzauber  angewendet  wird.  Das  Wort  tötet, 
das  Wort  macht  lebendig,  das  Wort  ist  allmächtig!  Nur  muß  man  das  rich- 
tige Wort  finden  und  über  eine  genügende  Kraft  (,,Orenda")  verfügen.  Auf 
Gottes  Wort  hin  entstand  nach  Meinung  der  israelitischen  Priester  die  Welt ; 
auf  das  Wort  der  Priester  und  Zauberer  entstehen  Veränderungen  und  leben- 
dige Wirkungen  in  der  gottgeschaffenen  Welt. 

Die  uralte  Überzeugung  von  der  Macht  des  gesprochenen  Wortes  finden 
wir  heute  begreiflicher  und  berechtigter,  als  unsere  Eltern  vor  Entdeckung 
der  Suggestionswirkungen.  Wenn  ein  Starker  vor  willigen  und  gläubigen 
Hörern  spricht,  verwandelt  sich  in  der  Tat  das,  was  er  sagt,  in  Wirklichkeit. 
Er  zwingt  sie  zum  Glauben,  er  erweckt  die  Gefühle,  die  er  will,  verändert  ihre 
Gedanken,  läßt  Bilder  vor  ihnen  erscheinen,  erscliaf  f  t  ihnen  die  ganze  Welt  neu 
—  alles  das  durch  bloße  Worte.  Wohl  hat  die  Macht  des  Wortes  ihre  Gren- 
zen, aber  innerhalb  dieser  Grenzen  ist  sie  unvergleichlich.  Die  geringe  Be- 
wegung Ideiner  Organe  im  menschlichen  Kehlkopf  und  Rachen  bringt  mit 
Hilfe  hindurchstreichender  Luft  Wirkungen  hervor,  die  alle  anderen  Wir- 
kungen menschlicher  Kraft  weit  überragen.  Das  Beste,  was  der  Mensch  ge- 
schaffen und  ausgerichtet  hat,  verdankt  er  dem  Wort.  Das  Johannisevange- 
lium  hat  recht:  das  Wort  ist  Gott.  Den  primitiven  Völkern  mußte  dieser 
Glaube  noch  näherliegen  als  uns,  weil  sie  der  Suggestion  zugänglicher  sind 
als  der  Kulturmensch.  Es  steht  fest,  daß  das  Wort  des  Zauberers  viele  Men- 
schen krank  gemacht  und  getötet,  viele  geheilt,  viele  um  ihr  Gedächtnis  be- 
trogen, viele  zu  Halluzinationen  und  Wahnbildungen  gezwungen,  viele  zur 
Tatkraft  und  Selbstüberwindung  vermocht  hat. 

96 


Das  Gebet  besteht  oft,  wie  ich  schon  sagte,  in  einer  einfachen  Beschreibung 
des  erwarteten  und  erwünschten  Vorganges.  Der  Zauberer  schildert  Schritt 
für  Schritt,  was  sich  ereignen  wird;  je  anschauhcher  er  beschreibt,  je  klarer 
und  folgerichtiger  seine  Worte  den  Vorgang  malen,  um  so  fester  vertraut  er 
darauf,  daß  sie  sich  in  Wirklichkeit  verwandeln  werden.  Auf  diese  Weise 
wird  der  Zauberspruch  zum  dichterischen  Kunstwerk,  worauf  wir  im  näch- 
sten Kapitel  zurückkommen  werden. 

Das  Gebet  ist  oft  eine  Fluchformel.  Durch  das  Hersagen  der  verwünschen- 
den Worte  geht  ihr  Inhalt  in  Erfüllung.  Die  Formel  hat  unmittelbare  Zauber- 
kraft; sie  ist  daher  eine  vernichtende  Waffe.  Unberechtigter  Gebrauch  von 
Verwünschungsformeln  wird  in  den  älteren  Staaten  schwer  bestraft;  um  so 
mehr  sucht  sich  jeder  in  den  Besitz  solcher  Fluchgebete  zu  setzen,  und  wer 
eines  besitzt,  hält  es  geheim  oder  verkauft  es  nur  gegen  hohe  Belohnung. 
Wie  die  Priester  ihre  Arzneien  und  Gifte  verbargen  oder  teuer  hergaben,  so 
auch  ihre  Gebetsformeln.  Diese  Schätze  wurden  dem  priesterüchen  Nach- 
wuchs vererbt. 

An  den  zahlreichen  Grußworten  und  Glückwunschformeln  der  verschie- 
denen Sprachen  kann  man  ebenso  deutlich,  wie  an  den  noch  zahlreicheren 
Flüchen  und  Unglücksworten  ersehen,  wie  große  Bedeutung  der  Wortzauber 
in  der  Vorzeit  gehabt  hat.  Unsere  Voreltern  hätten  gewiß  nicht  fortwährend 
Wünsche  auf  den  Lippen  gehabt,  wenn  sie  nicht  an  deren  verwirkhchende 
Kraft  geglaubt  hätten.  Auch  heute  lebt  noch  ein  Rest  dieses  Glaubens  in 
uns.  Wenn  man  jemandem  Erfolg  und  Gesundheit  wünscht,  einen  anderen 
mit  dem  häßlichen  Wunsche  entläßt:  möge  ihn  der  Teufel  holen!,  so  hat  man 
ohne  Zweifel  das  Gefühl,  daß  diese  Wünsche  einen  wenn  auch  nur  geringen 
Einfluß  auf  das  Schicksal  des  Betreffenden  haben  werden.  Anderenfalls 
würde  man  sich  die  Wünsche  wohl  ersparen.  Wir  können  uns  diesen  unseren 
Wunschaberglauben  ruhig  eingestehen,  ohne  deshalb  Anhänger  R,  W. 
Trines  und  der  Mrs.  Eddy  werden  zu  müssen. 

Was  bei  dem  heutigen  Menschen  ein  Rudiment,  eine  falsche  Ausdeutung 
unseres  begründeten  Glaubens  an  die  Macht  der  Suggestion  ist,  war  dem 
primitiven  Menschen  religiöse  Gewißheit.  Das  Aussprechen  der  Fluchformel 
über  einen  Stammesgenossen  z.  B.  war  eine  der  feierlichsten  Handlungen  im 
öffentlichen  Leben  der  älteren  Staaten  und  Religionsgemeinden.  Das  Ver- 
fluchen war  an  sich  schon  eine  Bestrafung,  nicht  bloß  deshalb,  weil  der  Ver- 
fluchte aus  der  Gemeinde  ausgestoßen  wurde.  Die  in  der  Bannformel  ent- 
haltenen Unglückswünsche  mußten  sich,  so  meinte  man,  buchstäbhch  er- 
füllen, nachdem  der  Priester  oder  Häupthng  die  Formel  in  der  richtigen 
Weise,  unter  den  althergebrachten  Zeremonien  über  den  Verurteilten  ge- 
sprochen hatte. 

7  Horneffer,  Der  Priester   II  Oy 


Als  der  Dämonen-  und  Götterglaube  sich  durchsetzte  und  fortentwickelte, 
suchte  man  dem  Zauberspruch  dadurch  gesteigerte  Kraft  zu  verleihen,  daß 
man  ihn  mit  einer  Anrufung  der  höheren  Wesen  verband.  Dadurch  wurde  er 
zum  Gebet  im  geistigen,  heute  üblichen  Sinne.  Der  Zauberer  zog  die  Gottheit 
in  seine  Formeln  hinein ;  er  vermehrte  die  Zauberkraft,  die  er  selber  besaß, 
durch  die  Kraft  der  Geistwesen,  die  er  sich  geneigt  gemacht  hatte.  Schließ- 
lich überließ  er  die  ganze  Handlung  der  Gottheit.  Wenn  er  z.  B.  einen  Feind 
durch  einen  Spruch  krank  machen  wollte,  richtete  er  diesen  Spruch  nicht 
direkt  gegen  sein  Opfer,  sondern  wandte  sich  an  die  Gottheit  mit  dem  Er- 
suchen, ihre  Kraft  gegen  den  Betreffenden  in  Tätigkeit  zu  setzen.  Das  Gebet 
ist  ein  Umweg,  wie  wir  es  oben  von  den  Zauberhandlungen  im  allgemeinen 
gesagt  haben.  Die  Gottheit  wird  zu  Hilfe  gerufen,  um  irgendwelche  Wir- 
kungen hervorzubringen,  die  der  Beter  selber  nicht  zu  erzielen  vermag  und 
doch  gern  erreicht  sähe. 

Die  Form,  unter  der  die  götthche  Hilfe  in  Anspruch  genommen  wird, 
richtet  sich  nach  den  Vorstellungen  über  Wesen  und  Art  der  Götter,  die  das 
betreffende  Volk  hat.  Wenn  der  Priester  die  Gottheit  nicht  anwesend  glaubt, 
sucht  er  sie  herbeizuholen.  In  diesem  Fall  enthält  das  Gebet  laute  und  oft 
langanhaltende  Lockrufe,  und  wird  durch  Geräusche,  Musik,  Geisterzwang 
unterstützt.  Noch  in  den  höchsten  Religionen  beginnen  viele  Gebete  mit 
dem  Anrufe:  ,,Konim!"  oder  ,, Erscheine!"  oder  ,, Kehre  bei  uns  ein!"  Ein 
gutes  Beispiel  ist  auch  Sapphos  berühmtes  Gebet  an  Aphrodite,  wo  der 
dringende  Anruf  durch  eine  ausführliche  Beschreibung  des  Erscheinens  der 
Göttin  unterstützt  wird.  Sappho  erinnert  Aphrodite  daran,  daß  sie  ihr  schon 
früher  Beistand  geleistet  habe,  und  beschreibt  dabei  mit  schöner  Deuthch- 
keit,  wie  Aphrodite  damals  auf  den  Hilferuf  der  Dichterin  das  goldene  olym- 
pische Haus  verlassen,  den  Wagen  angeschirrt  und  über  die  dunkle  Erde 
dahergekommen  sei.  So  möge  sie  auch  jetzt  tun,  möge  herbeieilen  und  der 
Liebesgequälten  zum  Ziel  ihrer  Wünsche  verhelfen!  Diese  Schilderung  ist 
nach  allen  Regeln  der  uralten  Kunst  entworfen:  reale  Wirkungen  durch  be- 
schwörende Darstellung  des  gewünschten  Vorganges  zu  erzielen.  Das  Ge- 
dicht Sapphos  kann  als  ein  Muster  jener  Gebetsform  gelten,  bei  der  der  Zau- 
berspruch mit  dichterischer  Kunst  ausgeführt  und  mit  der  Anrufung  der 
Gottheit  verknüpft  ist. 

Wenn  möglich,  wird  der  Betende  der  Gottheit  den  Weg  ersparen.  Er  wird 
sie  dort  aufsuchen,  wo  sie  sich  erfahrungsgemäß  aufhält,  d.  h.  an  ihrer  hei- 
ligen Wohnstätte.  Es  begibt  sich  daher  zum  Tempel,  zum  Heroengrabe,  zum 
heiligen  Baume,  oder  wo  das  angebetete  Wesen  sonst  weilen  mag.  Auch  der 
Christ  hat  sich  davon  noch  nicht  losgemacht;  er  hält  ein  im  geweihten 
Räume  gesprochenes  Gebet,  einen  im  Hause  Gottes  abgehaltenen  Gottes- 

98 


dienst  für  wirksamer,  als  wenn  er  mit  Gott  an  einem  beliebigen  Orte  ver- 
kehrt. Wo  Gott  wohnt,  findet  man  ihn  am  leichtesten  und  wird  am  besten 
gehört.  Daher  wohnt  denn  auch  der  Priester  in  nächster  Nähe  der  Gottheit. 
Schon  bei  den  Naturvölkern  ist  des  Priesters  Behausung  an  oder  bei  der 
heiligen  Stätte.  So  kann  er  sich  jederzeit  des  Gottes  versichern,  kann  ver- 
traulich mit  ihm  reden  und  kann  auf  willige  Erhörung  seiner  Wünsche  rechnen. 

Ist  der  Priester  der  Gabe  teilhaftig,  sich  durch  hysterische  Anfälle  und 
im  religiösen  Rauschzustande  in  die  andere  Welt  hinaufzuschwingen,  so  fällt 
die  letzte  Scheidewand  zwischen  dem  Beter  und  dem  Angebeteten.  Das  Ge- 
bet ist  dann  ein  Mittel,  den  Priester  zur  Gottheit  hinzutragen,  damit  er  ihm 
sein  Anliegen  von  Angesicht  zu  Angesicht  vortragen  und  Gottes  liebende 
Zustimmung  körperlich  fühlen  kann.  Es  gibt  Gebete,  die  deuthch  den  Charak- 
ter von  Hypnotisierungsmitteln  tragen,  und  man  begreift,  daß  der  Priester 
solche  „erhebenden"  und  , .vergottenden"  Gebete  besonders  in  Ehren  hielt, 
sie  sammelte,  den  Gläubigen  anempfahl  und  der  Nachwelt  überlieferte. 
Diese  Gebete  leisteten  ja  das  Höchste,  was  man  von  einem  Gebete  verlangen 
kann :  sie  schlössen  mit  der  Bitte  zugleich  die  Zuversicht  ein.  Erhörung  ge- 
funden zu  haben.  Wer  ein  solches  Gebet  sprach  und  genügend  gläubige 
Suggestibilität  besaß,  erhob  sich  in  die  lichten  Höhen  der  Bewußtlosigkeit, 
vollzog  die  unio  mystica  mit  Gott  und  kehrte  als  ein  Beglückter  und  Be- 
gnadeter zurück.  Gott  hatte  diesen  Betenden  nicht  bloß  erhört,  sondern  ihn 
stärker  und  freier  gemacht. 

Die  Hypnotisierungswirkung  der  Gebete  wird  auf  verschiedene  Weise  er- 
reicht. Wir  wollen  vier  Mittel  nennen :  erstens  die  anschauliche  Beschreibung, 
die  wir  schon  hervorhoben  (dadurch  wird  die  Bildung  von  Halluzinationen 
angeregt),  zweitens  das  Nennen  heiliger  Namen  und  furchtbarer  Gegen- 
stände (was  Erschütterungen  des  Gemüts  und  Verwirrung  des  Denkens  er- 
zeugt), drittens  die  Wiederholung  derselben  Worte  (was  einschläfernd  oder 
aufregend  wirkt),  viertens  die  Herrichtung  einer  hypnotisierenden  Um- 
gebung. Wir  wollen  nur  über  den  vorletzten  Punkt  eingehender  sprechen. 
Warum  werden  in  fast  allen  Religionen  die  Gebete  mehr  als  einmal  ge- 
sprochen? Schon  der  Wilde  wiederholt  die  kurzen,  zum  Tanze  gesungenen 
Sprüche  hundert-  und  tausendmal.  Der  Mensch  der  Halbkulturstufe  plap- 
pert unermüdlich  die  gleichen  Gebetsformeln;  und  im  christlichen  Europa 
ist  die  Gebetswiederholung  ebenfalls  eine  allgemeine,  wenn  auch  oft  ver- 
urteilte und  verlachte  Erscheinung.  Offenbar  nehmen  doch  die  eifrigen  Beter 
an,  daß  ihr  Gebet  um  so  wirkungsvoller  wird,  je  öfter  sie  es  wiederholen. 
Wie  erklärt  sich  diese  wunderliche  Annahme? 

Zunächst  müssen  wir  wohl  die  Gedankenarmut  des  menschlichen  Geistes 
in  Rücksicht  ziehen.  Wenn  der  Zauberpriester  mit  der  Gemeinde  Regen  er- 

^*  99 


fleht,  ist  es  leichter,  die  Worte:  „Gib  uns  Regen!"  hundertmal  zu  wieder- 
holen, als  den  Wunsch  in  immer  neue  Worte  zu  kleiden.  Das  einmalige  Aus- 
sprechen der  drei  Worte  vermag  aber  die  Spannung  nicht  zu  lösen,  in  der 
die  Betenden  sich  befinden.  Dazu  braucht  es  längere  Zeit,  eigentlich  so  lange 
Zeit,  als  bis  das  Gebet  sich  erfüllt  hat.  Ehe  der  Regen  nicht  eingetreten  ist, 
wissen  diese  Kinder  ja  nicht  einmal,  ob  das  angerufene  Wesen  die  Bitte 
überhaupt  vernommen  hat,  weshalb  man  auch  beim  Beten  die  Stimme  immer 
mehr  anschwellen  läßt,  die  Tonhöhe  steigert  und  im  Tempo  immer  rascher 
und  wilder  wird.  Das  zeigt  deuthch  die  Verwandtschaft  der  betenden  Natur- 
völker mit  bittenden  und  drängenden  Kindern,  die  mit  wunderbarer  Hart- 
näckigkeit und  Leidenschaft  ihre  Wünsche  zu  erzwingen  suchen.  Götter  und 
Mütter,  so  scheint  es,  erliegen,  wenn  nicht  der  einfachen,  so  doch  der  endlos 
wiederholten  Bitte. 

Abgesehen  von  diesem  äußeren  Vorteil,  bringt  die  Gebetswiederholung 
noch  anderen  Gewinn.  Die  Erhörung  ist  bei  religiösen  Bitten  immerhin  zwei- 
felhaft, wenn  auch  bei  dem  Gebet  um  Regen  und  um  andere  von  der  Zeit 
abhängige  Dinge  die  Erfüllung  wirklich  um  so  näherrückt,  je  länger  man 
mit  Beten  fortfährt  —  nach  mehrwöchentlichem  Gebet  sollten  sich  die 
Regengötter  doch  wohl  erweichen  lassen !  —  aber  der  psychische  Erfolg  der 
Wiederholung  ist  fast  unfehlbar.  Die  Gebetswiederholung  wirkt  wie  ein  lange 
fortgeführter  Rauschtanz;  die  Betenden  geraten  endlich  in  einen  traum- 
haften Zustand  oder  in  ekstatische  Erregung.  Und  dadurch  wird  ebenfalls 
eine  Art  Erfüllung  des  Gebetes  erreicht,  wenigstens  eine  Phantasie-  und 
Gemütserfüllung.  Die  seelische  Spannung  löst  sich,  die  Begierden  finden  eine 
Ersatzbefriedigung.  Das  kann  durch  ein  kurzes  unwiederholtes  Gebet  nicht 
erzielt  werden,  oder  doch  nur  dann,  wenn  der  Betende  bereits  durch  andere 
Mittel  in  die  religiöse  Stimmung  versetzt  worden  ist,  sodaß  das  Gebet  die 
Schale  nur  zum  Überfließen  bringt. 

Wir  werden  auf  die  Bedeutung  der  Wiederholung  vielleicht  noch  im  näch- 
sten Kapitel,  bei  Besprechung  der  religiösen  Kunst,  zurückkommen.  Man 
darf  behaupten,  daß  ein  gut  Teil  der  menschlichen  Abhängigkeit  vom  Prie- 
ster und  den  priesterlichen  Schöpfungen  auf  der  geheimnisvollen  Wirkung 
der  Wiederholung  beruht.  Der  Priester,  als  der  größte  und  erfolgreichste 
Hypnotiseur  auf  Erden,  wußte  sehr  wohl,  was  er  tat,  als  er  den  Gläubigen 
verkündigte:  je  öfter  ihr  die  Gebete  wiederholt,  um  so  frommer  seid  ihr 
und  um  so  sicherer  findet  ihr  Erhörung !  —  Er  empfahl  außerdem  bestimmte, 
geheiligte  Gebetsformeln,  die  mit  Stimmungsgehalt  bereits  durchtränkt 
waren.  Er  lehrte:  Gott  will  nicht  beliebige  Gebetsformeln  hören,  die  der  ein- 
zelne erfindet,  sondern  immer  wieder  die  alten,  aus  der  Vorzeit  stammenden. 
Diese  Gebete  hat  Gott  selber  den  Menschen  gegeben;  in  ihnen  steckt  eine 

100 


ganz  besondere  Kraft.  Sie  muß  man  sprechen,  und  zwar  ohne  jede  Änderung, 
und  je  öfter  man  sie  spricht,  um  so  besser.  Hat  man  Gott  besondere  Wünsche 
vorzutragen,  so  füge  man  dieselben  in  die  Reihe  der  allgemeinen  Gebete  ein, 
oder  drücke  sie  in  ähnlichen  Wendungen  aus,  wie  sie  in  den  geheiligten  For- 
meln und  Urkunden  vorkommen.  So  beginnen  denn  viele  größere  Gebets- 
handlungen mit  allgemeinen  feststehenden  Gebeten ;  dann  kommen  die  wech- 
selnden, den  jeweiligen  Umständen  entsprungenen  Anrufe  und  Wünsche, 
und  den  Schluß  machen  wieder  allgemeine  Formeln,  Mit  der  Organisierung 
der  Gemeindereligion,  mit  der  genauen  Regelung  des  Kultes  durch  die  Prie- 
sterschaft, pflegt  auch  die  Regelung  der  Gebetsriten  zu  erfolgen.  Der  Prie- 
ster stellt  Satzungen  über  Art,  Zahl  und  Verteilung  d,er  Gebete  auf  und  be- 
steht auf  deren  strenger  Innehaltung. 

Zum  System  ist  die  Gebetswiederholung  in  dem  sogenannten  Rosenkranz 
erhoben  worden.  Der  Rosenkranz  ist  keine  Erfindung  der  christHchen  Kirche, 
er  gehört  zu  den  vielen  heidnischen  Erbstücken,  die  sich  die  christliche  Prie- 
sterschaft mit  gutem  Bedacht  angeeignet  hat.  Schon  die  Brahmanen  im 
alten  Indien  verwendeten  den  Rosenkranz.  Dann  ging  er  auf  den  Buddhis- 
mus über  und  bürgerte  sich  namentHch  in  Tibet  ein.  Tibet  hat  sich  bekannt- 
lich nicht  mit  dem  einfachen  Rosenkranz  begnügt,  sondern  mechanische 
Gebetseinrichtungen,  Gebetsmühlen  und  Gebetsräder  hinzugefügt.  Diese  Ge- 
betsmühlen sollen  den  Beter  entlasten  und  ihm  ermöglichen,  ohne  besondere 
Anstrengungen  eine  überwältigend  große  Zahl  von  Gebeten  zu  den  vergöt- 
terten Heiligen  emporzuschicken.  Damit  ist  der  psychische  Wert  der  Ge- 
betswiederholung allerdings  in  Frage  gestellt,  wenn  nicht  ganz  beseitigt; 
durch  die  Gebetsmühle  wird  keine  Ekstase  erzielt,  der  betende  Priester 
bleibt  gleichmütig.  Höchstens  mag  das  Drehen  einschläfernd  und  insofern 
heiligend  wirken.  Der  Rosenkranz  findet  auch  in  China  und  Japan  Verwen- 
dung; sehr  eifrig  bedient  sich  ferner  der  Islam  desselben.  Die  mohammeda- 
nischen Rosenkränze  pflegen  aus  Dattelkernen  zu  bestehen ;  anderwärts  be- 
nutzt man  auch  Muscheln,  Edelsteine,  Korallen,  Menschenzähne,  Holz- 
perlen und  dergleichen.  Aus  dem  Orient  hat  dann,  verhältnismäßig  spät, 
die  katholische  Kirche  den  Rosenkranz  übernommen. 

Der  Wunsch,  oft  und  lange  zu  beten  und  sich  wenn  möglich  in  einen 
dauernden  Gebetszusammenhang  mit  den  Göttern  zu  bringen,  hat  den  Prie- 
ster auch  noch  auf  andere  Wege  geführt.  So  hat  er  z.  B.  die  heiligsten  Gebets- 
formeln an  die  Wände  seines  Hauses  geschrieben,  hat  sie  überall  im  Tempel 
angebracht,  hat  sie  sich  in  Kapseln  an  den  Hals  gehängt.  Die  Götter  sollen 
das  Gebet  stets  vor  Augen  haben,  es  soll  sie  unaufhöriich  mahnen  und  ihnen 
das  angenehme  Bewußtsein  geben,  daß  ihrer  beständig  gedacht  wird.  Dabei 
drängt  sich  auch  der  ältere  Gedankengang  wieder  hervor,  daß  die  Gebets- 

lOI 


fomiel  ein  Amulett,  daß  sie  selber  ein  Gott,  ein  helfender  und  schützender 
Zaubergegenstand  sei,  den  man  aus  dem  gleichen  Grunde  an  dem  Körper, 
an  den  Geräten,  an  der  Wohnung  anbringt,  wie  andere  Amulette,  wie  Fe- 
tische und  Götterbilder.  Die  Koransprüche  sind  für  den  Mohammedaner 
vollgültige  Zauber-  und  Schutzmittel;  auch  die  Christenheit  bedient  sich 
der  Bibelsprüche  und  Hymnenverse  zu  allerhand  magischen  Zwecken.  Das 
„Wort"  führt  hier  ein  selbständiges,  dinghches  Leben.  In  Ägypten  wurden 
den  Toten  Gebetsfonneln  und  heilige  Sagen  mit  ins  Grab  gelegt  oder  in  der 
Grabkammer  an  die  Wand  gemalt.  Diese  Schriften  und  Buchstaben  sind 
mächtige  Helfer  auf  dem  schweren  Wege  ins  Jenseits  und  beim  Totengericht. 
Wer  die  Gebete  vorweisen  kann,  ist  gefeit  und  gerettet. 

Das  sind  altertümliche  Vorstellungen,  die  in  die  höheren  Religionen  eigent- 
lich nicht  mehr  hineinpassen;  denn  sie  fassen  die  Götter  als  Dämonen,  die 
man  zwingen  und  beschwören  kann.  Das  Gebet  als  Machtmittel  und  Zauber- 
beschwörung gehört  in  jene  Zeiten,  wo  sich  die  Menschheit  mit  Seelen  und 
Katurgeistern  herumschlug  und  ihnen  mit  Gewalt  oder  List  beizukommen 
suchte.  Das  Gebet  an  Dämonen  ist  daher  auch  vorwiegend  Drohung,  oder 
es  will  eine  Art  Vertrag  zwischen  Beter  und  Anbetungsgegenstand  herstellen, 
indem  es  dem  Dämon  Belohnungen  in  Aussicht  stellt  und  Geschenke  ver- 
spricht. Je  höher  die  Wesen  gedacht  werden,  an  die  der  betende  Mensch  sich 
richtet,  um  so  mehr  wird  das  Gebet  zur  bedingungslosen  Bitte:  hingebend 
und  vertrauend  unterwirft  sich  der  Beter  den  Mächten,  von  denen  alles 
Gute  und  Böse  kommt.  Neben  das  Bittgebet  tritt  allgemach  auch  das  Dank- 
und  Lobgebet.  Der  primitive  Mensch  kennt  das  Dankgebet  kaum.  Er 
nimmt,  wie  die  Kinder,  das  Gute,  das  ihm  zuteil  wird,  als  selbstverständlich 
hin  und  wendet  sich  an  die  religiösen  Mächte  nur,  wenn  er  Nöte  und  Bedürf- 
nisse fühlt.  Jedoch  löst  das  Glücksgefühl  triebhafte  Freudenlaute  aus,  und 
da  der  freudig  Erregte  stets  nach  einem  Gegenstand  sucht,  an  dem  er  die 
Freude  betätigen  imd  auslassen  kann,  oft  auch  nach  einem  Gefährten,  dem 
er  sein  Gefühl  mitteilen  kann,  so  stellen  sich  gar  bald  religiöse  Freudenlieder 
ein,  die  durch  eine  kleine  Wendung  zu  Preis-  und  Dankhymnen  werden.  Das 
bittende  und  wünschende  Gebet  bleibt  aber  immer  das  häufigste  und  natür- 
lichste. Das  Lob-  und  Dankgebet  bleibt  im  Hintergrunde,  tritt  auch  selten 
rein  auf;  wenn  man  die  Lobgebete  der  verschiedenen  Religionen  mustert, 
findet  man  sie  fast  immer  mit  einer  Bitte  verbunden.  Der  Priester  hat  auch 
in  der  Abfassung  von  Lobgebeten  seine  diplomatische  Kunst  glänzend  be- 
währt :  die  Bitte  kommt  ans  Ende,  nachdem  der  angebetete  Gott  durch  die 
schmeichelhaftesten  Lobsprüche  freundlich  gestimmt  und  in  Gebelaune  ver- 
setzt worden  ist.  Mitunter  erreichen  die  Schmeicheleien  eine  phantastische 
Höhe.  Die  vedischen  Hymnen  leisten  besonders  viel  darin :  der  betende  Brah- 

102 


mane  zählt  alle  Großtaten  des  Gottes,  an  den  sich  sein  Gebet  richtet,  auf 
und  erhebt  ihn  so  hoch,  daß  für  die  anderen  Götter  kaum  noch  Platz  bleibt. 
Da  er  aber  das  nächste  Mal  für  die  anderen  Götter  ebensoviel  Superlative 
bereit  hat,  merkt  man,  daß  die  Ausdrücke  nicht  so  ernst  gemeint  sind  und 
für  das  genommen  werden  müssen,  was  sie  sind,  für  kluge  Schmeicheleien. 
Auch  die  babylonischen  und  israelitischen  Lobgebete  sind  voll  superlati- 
vischer Unterwürfigkeit  und  wissen  die  Bitte  sehr  fein  in  den  Dank  und  Weih- 
rauch einzuhüllen.  Wir  wollen  aus  dieser  Gebetskunst  den  heiligen  Sängern, 
die  solche  Hymnen  dichteten,  keinen  Vorwurf  machen.  Es  ist  ganz  natür- 
lich, daß  man  mächtige  Wesen,  von  denen  man  etwas  erlangen  möchte, 
preist,  und  umgekehrt :  daß  einem  in  preisender  Glücksstimmung  die  Wün- 
sche einfallen,  deren  Erfüllung  noch  ausgebheben  ist,  vor  allem  der  Wunsch, 
daß  der  Gott  uns  seine  Gunst  weiterhin  erhalten  und  seine  Glücksgaben 
nicht  wieder  entziehen  möchte. 

Bei  den  alttestamentlichen  Psalmen  fällt  uns  der  persönliche  Charakter 
auf.  Obwohl  es,  wenigstens  zum  Teil,  Gemeindegebete  sind,  spricht  in  ihnen 
die  religiöse  Empfindung  Einzelner.  Es  sind  Zwiesprachen  zwischen  Seele 
und  Gott.  In  den  vedischen  Hymnen  spürt  man  das  auch  hie  und  da;  andere 
tragen  mehr  das  Gepräge  einer  amthchen  Priesterfrömmigkeit;  man  merkt 
ihnen  an,  daß  sie  bestellt  sind.  Wir  können  ganz  allgemein  diese  beiden 
Gruppen  von  Gebeten  unterscheiden:  gemeinsame  und  persönliche  Gebete, 
wobei  wir  uns  des  Gegensatzes  von  Gemeindereligion  und  Privatreligion  er- 
innern. Die  Gemeindereligion  erzeugt  feste  Gebetsformeln,  die  im  Kultus 
regelmäßige  Verwendung  finden  und  allgemeinen  Inhalts  sind.  Die  Privat- 
religion bildet  die  Zaubersprüche  und  Gelegenheitsgebete  der  primitiven 
Zeiten  zu  abwechslungsreichen  und  freibewegten  Hymnen  aus.  Die  Unter- 
scheidung läßt  sich  natürlich  nicht  streng  durchführen ;  aber  man  wird  deut- 
lich gewahr,  daß  sich  die  meisten  Gebete  entweder  der  ersten  oder  der 
zweiten  Gattung  einordnen  lassen.  Das  Gemeindegebet  wird  in  vielen  Fällen 
auch  von  der  ganzen  Gemeinde  gesprochen  oder  gesungen;  das  letztere  gilt 
für  die  Mehrzahl  der  weniger  entwickelten  Völker.  Der  Priester  ist  dann  Vor- 
sänger und  Chorleiter.  Er  gibt  den  Ton  an  oder  singt  das  Gebet  vor;  die 
Gemeinde  wiederholt  es  ganz  oder  stückweise.  Oft  wiederholt  die  Gemeinde 
nur  einen  Teil,  z.  B.  den  Schlußsatz.  Daraus  entsteht  die  Refrainform.  Oder 
Priester  und  Gemeinde  beten  abwechselnd  und  nicht  die  gleichen  Worte; 
dann  haben  wir  den  Wechselgesang  und  das  Responsorium.  Letzteres  beruht 
auf  einem  Frage-  und  Antwortspiel  zwischen  Priester  und  Gemeinde  oder 
verschiedenen  Priestern,  oder  verschiedenen  Gemeindegruppen  unterein- 
ander. Der  Priester  kann  dabei  die  Rolle  des  Gottes  übernehmen.  Es  kommt 
zu  mannigfachen  Gebilden,  die  in  das  Gebiet  der  religiösen  Kunst  gehören. 

103 


Auch  das  Einzelgebet  nimmt  künstlerische  Formen  an  und  gibt  dem  Priester 
Gelegenheit,  den  ganzen  Reichtum  seiner  gotterfüllten  Seele  auszuströmen 
und  die  ganze  Armut  seiner  gottentbehrenden  Seele  sehnsüchtig  zu  beklagen. 

Das  gemeinsame  Gebet,  oft  auch  das  einsame  Gebet,  findet  im  Gottes- 
dienste Verwendung.  Woraus  besteht  der  Gottesdienst,  den  der  Priester  mit 
der  Gemeinde  regelmäßig  und  pflichtmäßig  abhält  ?  Aus  heiligen  Handlungen 
imd  heiligen  Worten.  Die  heiligen  Handlungen  haben  wir  in  dem  Kapitel 
,,Der  Gemeindekult"  genauer  betrachtet,  haben  dort  auch  bereits  erwähnt, 
daß  die  Handlungen  oft,  fast  immer  sogar,  mit  Worten  eng  verbunden  sind. 
Mit  wachsender  Kultur  tritt  der  sprachliche  Teil  des  Gottesdienstes  immer 
mehr  in  den  Vordergrund.  Jedoch  ist  diese  Entwicklung  reich  an  Abweichun- 
gen und  Rückschlägen.  In  manchen  Gottesdienstordnungen  dient  das  Wort 
wesentlich  zur  Verdeutlichung  der  Handlungen;  es  begleitet  sie,  es  legt  sie 
aus.  In  anderen  imirahmen  die  Gesänge  und  Gebete  die  Handlungen;  die 
Kulthandlungen  bilden  den  Kern,  die  Worte  leiten  ein  und  schließen  ab. 
Gerade  in  diesem  Falle  pflegen  sie  deutlich  den  Charakter  von  Annifungen 
zu  zeigen.  Im  Anfang  soll  die  Gottheit  eingeladen  und  herbeigezogen  werden; 
am  Schluß  wird  ihr  für  ihren  Besuch  gedankt.  Viele  hymnen-  und  psalmen- 
artige Priesterschöpfungen  sind  ohne  Schwierigkeit  als  solche  Einladungen 
und  Abschieds  Worte  zu  erkennen. 

Die  Worte  im  Gottesdienst  können  sich  aber  auch  an  die  Gemeinde  richten. 
Sie  können  Ermahnungen  des  Priesters  sein,  Ruhe  und  Aufmerksamkeit  zu 
bewahren,  können  Anfragen  sein,  ob  die  Gemeinde  sich  durch  die  vorge- 
schriebenen Vorbereitungsmaßregeln  würdig  auf  den  Verkehr  mit  der  Gott- 
heit gerüstet  habe,  können  Einschärfungen  der  götthchen  Gebote  und  re- 
hgiösen  Pflichten  sein,  endlich  können  es  Schlußbemerkungen  sein,  durch 
die  der  Priester  die  Gemeinde  entläßt.  Aus  allen  diesen  an  die  Gemeinde 
gerichteten  Worten  des  Priesters  entwickelt  sich  die  Predigt. 

Was  ist  die  Predigt}  Wie  wird  aus  dem  Priester  ein  Prediger?  Man  kann 
den  Begriff  in  einem  weiteren  und  einem  engeren  Sinne  fassen.  Im  weiteren 
Sinne  gehört  jedes  Gebet,  jede  rehgiöse  Sprachäußerung  in  das  Gebiet  der 
Predigt.  Im  engeren  Sinne  ist  die  Predigt  diejenige  priesterhche  Verlaut- 
barung, die  im  Namen  und  Auftrage  der  Gottheit  an  die  Gemeinde  gerichtet 
wird.  Der  predigende  Priester  ist  Prophet,  d.  h.  er  spricht  als  Gott  zum 
Menschen.  Wir  werden  aber  nicht  jede  prophetische  Äußerung,  nicht  jede 
Offenbarung,  die  der  Priester  verkündet,  eine  Predigt  nennen ;  sonst  wären 
auch  die  Orakelsprüche  als  Predigten  zu  bezeichnen.  Nur  solche  Propheten- 
worte sind  Predigten,  die  Aufforderungen  enthalten,  Handlungs-  oder  Denk- 
weisen anempfehlen,  vorschreiben,  verurteilen,  verbieten  (vgl.  meinen  Auf- 
satz: Erbauung  und  Predigt,  Die  Tat,  I  lo).  Ich  weiß,  daß  man  den  Begriff 

104 


der  Predigt  vielfach  etwas  anders  faßt;  aber  ich  kann  mich  mit  den  vagen 
Erklärungen,  die  gegenwärtig  bevorzugt  werden,  nicht  befreunden.  Ent- 
weder ist,  wie  gesagt,  jede  religiöse  Verlautbarung  eine  Predigt,  oder,  nach 
meiner  Definition,  nur  die  paränetische  (auffordernde)  Priesterrede.  Ich 
führe  ein  paar  Sätze  aus  meinem  Aufsatz  an:  ,,Der  Prediger  empfiehlt  ge- 
wisse Handlungs-  oder  Denkweisen  und  rät  von  anderen  ab ;  er  will  nicht 
belehren,  will  nicht  über  irgendwelche  Tatsachen  unterrichten  und  auf- 
klären, sondern  will  den  Willen  seiner  Zuhörer  beeinflussen  und  lenken. 
Faßt  er  seine  Aufgabe  sehr  tief,  so  ist  sein  Ziel,  die  Zuhörer  zu  erbauen;  dies 
Wort  aber  nicht  in  der  abgeschwächten  und  geringschätzigen  Bedeutung 
genommen,  wie  es  heute  meist  geschieht,  sondern  in  dem  ursprüngHchen 
kraftvollen  Sinne  des  Aufbauens.  Der  Prediger  baut  die  Seelen  seiner  Zu- 
hörer auf,  er  greift  in  das  fremde  Willensleben  hinein,  bringt  es  in  eine  be- 
stimmte Richtung,  sammelt  die  zerstreuten  Triebe  um  einen  Mittelpunkt, 
stärkt  und  organisiert  die  fremden  Seelen." 

Die  ältesten  Predigten  sind  die  kurzen  Lebensregeln,  Sittensprüche  und 
religiösen  Sätze,  die  bei  den  primitiven  Völkern  mündlich  umlaufen.  Diese 
Sprüche  und  Regeln  rühren  nach  dem  Glauben  des  Volkes  und  nach  der  Ver- 
sicherung des  Priesters  unmittelbar  von  den  göttlichen  Heroen  und  Stam- 
mesgründem  her.  Es  sind  die  Keime  der  sittlich-religiösen  Gesetzgebung, 
wie  wir  es  früher  besprochen  haben.  Das  , .Gesetz"  wird  allgemach  umfang- 
reicher; es  wird  schließhch  aufgezeichnet  und  geordnet,  wird  zur  heiligen 
Urkunde.  Der  predigende  Priester  hest  dann  der  Gemeinde  aus  dieser  Ur- 
kunde, die  er  in  Verwahrung  hält,  vor,  legt,  wenn  nötig,  die  darin  enthaltenen 
Gebote  aus  und  wendet  sie  auf  die  jeweiligen  Verhältnisse,  auf  die  augen- 
bhcklich  gegebene  Lage  an.  Von  dieser  Art  waren  die  Predigten  bei  den 
Israehten.  Die  Israeliten  sind  das  älteste  Volk,  das  die  Sitte  des  Predigens  im 
heutigen  Sinne  übte.  Die  Babylonier,  brahmanischen  Indier,  Griechen  und 
Römer  besaßen  die  Einrichtung  des  Predigtgottesdienstes  nicht.  Bei  allen 
diesen  Völkern  hatte  sich  die  rehgiös-sittliche  Gesetzgebung  nicht  organisch 
mit  dem  öffentUchen  Kult  verbunden.  Der  geregelte  Gottesdienst  bestand 
aus  dem  Opfer,  aus  Gebetshandlungen  und  anderen  Zeremonien,  die  das 
Wort  entweder  gar  nicht  oder  als  Kunstmittel  benutzten.  Die  religiösen  Ur- 
kunden dieser  Völker  waren  keine  eigentHchen  Predigtsammlungen,  oder 
sie  wurden  der  Kultpflege  nicht  in  der  Weise  zugrunde  gelegt  wie  bei  den 
Juden  und  später  bei  den  Mohammedanern  und  den  Christen.  Die  Gottheiten 
jener  Völker  waren  nicht  in  erster  Linie  Gottheiten  des  Wortes,  sie  verkör- 
perten sich  nicht  in  Buchstaben,  nicht  in  Gesetzestafeln  und  Testamenten, 
sondern  in  lebendigen  Wirkungen,  in  Naturereignissen  und  Schicksalsfügun- 
gen. Daher  waren  die  Priester  jener  heidnischen  Völker  nicht  in  erster  Linie 


Prediger,  sondern  Kultpfleger.  Die  Aufgabe  des  Predigens  erfüllten  sie  neben 
ihren  öffentlichen  Pfhchten,  oder  sie  überheßen  die  Predigt  den  nicht  zur 
Zunft  gehörigen  Privatpriestern :  den  Propheten.  Wir  können  bei  den  Grie- 
chen sehen,  wie  sich  Kult  und  Predigt,  statt  zusammenzufheßen,  immer 
weiter  voneinander  entfernten.  Der  Priester  beschränkte  sich  darauf,  zu 
zaubern  und  zu  opfern ;  der  prophetische  Prediger  gab  seine  Zugehörigkeit 
zum  geisthchen  Stande  auf  und  ^vurde  , .Philosoph".  Die  Prediger  der  Grie- 
chen sind  ihre  Philosophen.  Diese  behandelten  öffenthch  oder  im  engeren 
Schülerkreise  die  sittlich-religiösen  Fragen,  stellten  Gesetze  auf,  predigten 
die  Tugenden  des  Bürgers,  des  Menschen,  des  Gottesmannes,  und  bekämpf- 
ten die  sittlich-religiösen  Irrwege  und  Laster.  Der  Unterschied  zwischen 
ihnen  und  den  israelitischen  Rabbis,  die  dem  Volke  das  Wort  Gottes  pre- 
digten, besteht  darin,  daß  der  griechische  Prediger  nicht  von  der  Gemeinde 
beauftragt  war  und  sich  nicht  auf  eine  autoritative  religiöse  Urkunde  stützte. 
Zwar  genossen  Homer  und  Hesiod  bei  den  Griechen  ein  großes  Ansehen 
und  die  jüngeren  Philosophen  beriefen  sich  auf  ihre  älteren  Vorgänger  als 
auf  religiöse  Autoritäten;  man  denke  etwa  an  das  Verhältnis  der  Pytha- 
goreer  zu  Pj^thagoras  und  an  den  Glauben,  den  die  späteren  Philosophen- 
schulen an  Sokrates,  Piaton  und  andere  Meister  hatten ;  aber  zu  einer ,, Bibel" 
wurden  die  Schöpfungen  der  älteren  Zeiten  den  griechischen  Predigern  nie- 
mals, wenigstens  falls  man  unter  dem  Ausdruck  ,, Bibel"  das  untrügliche, 
allverpflichtende,  unmittelbar  aus  Gottes  Munde  stammende  religiös-sitt- 
liche Gesetz  versteht. 

Die  jüdische  Predigt,  und  ihr  Abkomme:  die  christliche  Predigt,  haben 
eine  feste,  ewig  gleiche  Aufgabe  und  haben  infolgedessen  eine  feste  Form 
angenommen.  Die  Aufgabe  dieser  Predigten  ist,  der  Gemeinde  das  Gottes- 
wort vorzutragen,  die  von  Gott  vorgeschriebenen  Pflichten  einzuschärfen 
und  die  daran  geknüpften  Verheißungen  und  Tröstungen  in  Erinnerung  zu 
bringen.  Die  griechisch-römische  Predigt  hatte  solche  unzweideutige  Auf- 
gaben nicht;  sie  wollte  zwar  auch  die  Weisheit  der  Vergangenheit  vermitteln, 
die  Gebote  der  älteren  gottbegnadeten  Geschlechter  und  Männer  auslegen 
und  einprägen;  aber  zugleich  stellte  der  griechisch-römische  Prediger  der 
Vergangenheit  die  Gegenwart  als  selbständige  Macht  gegenüber;  er  schaltete 
frei  mit  den  alten  Urkunden  und  fühlte  die  Verpflichtung,  seine  Persönhch- 
keit  und  die  Weisheit  seiner  Zeit  verbessernd  gegen  die  überlieferten  reli- 
giösen Schätze  geltend  zu  machen. 

Während  die  jüdisch-christliche  Predigt  in  zwei  Teile,  in  die  Vorlesung 
und  die  Auslegung  zerfällt,  hat  die  griechisch-römische  Predigt  keine  feste 
Form  ausgebildet.  Sie  gestaltete  sich  verschieden,  je  nach  dem  Stoff,  je  nach 
dem  Zuhörerkreis  und  nach  dem  besonderen  Zwecke.  Die  Hauptarten  waren 

io6 


die  Lehrpredigt  und  die  Volksrede.  Jene  richtete  sich  an  die  Schüler  und 
wurde  gern  zum  Gespräch,  zum  Predigtdialog  und  zum  Kolloquium,  anderer- 
seits zum  philosophischen  und  überhaupt  zum  wissenschaftUchen  Vortrag. 
Damit  ging  der  Predigtcharakter  meist  verloren ;  die  Werke  des  Aristoteles 
enthalten  nur  wenig  Predigtartiges,  recht  im  Gegensatz  zu  Piatons  Werken. 
Die  Volksrede  wurde  leicht  zum  rhetorischen  Kunstwerk  oder  zur  politisch- 
juristischen Auseinandersetzung  und  büßte  dadurch  ebenfalls  den  Predigt- 
charakter ein ;  doch  zeigen  die  erhaltenen  Reden  und  die  Werke  über  Rheto- 
rik deutlich,  wie  stark  das  „Raten",  das  „Ermahnen",  das  Beeinflussen  und 
Erbauen  der  Zuhörer  betont  wurde. 

Näher  können  wir  darauf  nicht  eingehen,  da  sich  die  griechisch-römische 
Predigt  völlig  von  der  Priesterreligion  loslöste.  Wir  wollen  aber  darauf  hin- 
weisen, daß  das  Christentum  von  dieser  antiken  Predigtkultur  weit  ab- 
hängiger ist,  als  man  gewöhnhch  annimmt.  Die  alte  christhche  Literatur  ist 
zum  größten  Teil  Predigt:  die  Schriftsteller  verkündigen  das  Gotteswort, 
legen  es  aus  und  preisen  es  an,  bekämpfen  die  heidnischen  Ideale  und  von 
Gott  verbotenen  Denk-  und  Handlungsweisen.  Diese  Literatur  stützt  sich 
aber,  was  Stil,  Ausdmcksmittel  und  Wirkungsmittel  anlangt,  fast  durchweg 
auf  die  Erzeugnisse  der  philosophisch-paränetischen  Rhetorik  der  Griechen 
und  Römer.  Auch  in  der  weiteren  Entwcklung  der  christlichen  Predigt  zeigt 
sich  diese  Abhängigkeit.  Woran  bildeten  sich  die  Priesterlehrhnge  des 
Mittelalters  und  der  Neuzeit?  An  den  Schriften  der  Alten.  Im  Mittelalter 
galten  die  spätantiken  Rhetoren  am  meisten ;  in  der  Folgezeit  ging  man  auf 
die  originalen  Philosophen  und  Redner  zurück.  Was  wären  die  Domini- 
kanerprediger, was  wären  die  Jesuiten  ohne  ihre  heidnischen  Lehrmeister? 
Was  wäre  Bossuet  ohne  Cicero,  ohne  Platon  und  Demosthenes? 

Daneben  wirkte  natürlich  die  jüdische  Predigtkultur  in  der  christhchen 
fort.  Wir  erfahren  aus  dem  Neuen  Testament,  daß  der  gottesdienstliche  Ge- 
brauch der  Juden  einfach  fortgesetzt  wurde;  nur  trat  an  die  Stelle  des  bis- 
herigen Gotteswortes  allmählich  ein  neues ;  die  alte  Gesetzgebung  und  Ver- 
kündigung wurde  durch  die  neuen  Propheten  ergänzt  und  vermehrt.  In 
Afrika  hört  man  von  den  zwischen  Islam  und  Christentum  hin  und  her  ge- 
zogenen Negern  den  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Religionen  folgen- 
dermaßen definieren:  das  Christentum  ist  die  Religion  der  zwei  Bücher, 
der  Islam  die  Religion  des  einen  Buches.  Die  feste  dauernde  Grundlage  der 
christlichen  Predigt  bilden  die  beiden  Teile  der  Heiligen  Schrift.  Eine  christ- 
liche Predigt  muß  unbedingt,  wenn  nicht  direkt  so  indirekt,  ein  biblisches 
Thema  behandeln;  denn  der  Gegenstand  jeder  christlichen  Predigt  muß  die 
Verkündigung  und  Anempfehlung  der  göttlichen  Offenbarung  sein.  Gott 
aber  hat  sich  in  der  Schrift  offenbart.  Daher  sind  für  alles,  was  der  christliche 

107 


Priester  seiner  Gemeinde  zu  sagen  hat,  die  heiligen  Ereignisse  von  Erschaf- 
fung der  Welt  an  bis  zur  Gründung  der  ersten  christlichen  Gemeinden  und 
weiter  bis  zum  Ende  der  Welt,  zweitens  die  heiligen  Personen  von  Adam 
bis  zu  Christus  und  seinen  Jüngern  die  notwendigen  Ausgangspunkte. 

So  übernahm  denn  die  christliche  Predigt  von  der  jüdischen  Predigt  auch 
die  Form:  Vorlesung  und  Auslegung.  Der  heilige  Text  \rird  verlesen,  wird 
erklärt  und  angewandt ;  es  werden  also  auffordernde  und  aufbauende  Worte 
darangeschlossen.  Ebenso  wie  bei  den  Juden  konnte  das  Hauptgewicht  mehr 
auf  die  \'orlesung  oder  mehr  auf  die  eigenthche  Predigt  gelegt  werden.  Mit- 
unter schrumpfte  die  Predigt  zu  einem  bloßen  Gebet  vor  oder  nach  der  Vor- 
lesung zusammen,  mitunter  dehnte  sie  sich  weit  aus  und  von  der  \^orlesung 
blieb  kaum  ein  kurzer  Bibelspruch  übrig.  Die  christliche  Predigt  teilte  mit 
der  jüdischen  die  Beschränkung,  ein  für  allemal  an  das  ,,Buch"  gekettet  zu 
sein.  Aus  dem  oft  schwierigen  und  widerspenstigen  Bibeltext  soDte  der  Pre- 
diger immer  wieder  lebendige  Funken  herausschlagen.  Er  soUte  erklären, 
was  er  selber  zuweilen  nicht  verstand,  sollte  Härten  und  Widersprüche  glät- 
ten, sollte  Gott  dort  finden  und  dort  zeigen,  wo  die  veränderte  Zeit  beim 
besten  Wülen  nichts  Götthches  mehr  erblicken  konnte.  Er  verfiel  daher  auf 
den  gefährlichen  Abweg  des  Umdeutens  und  Symbolisierens.  Er  \vurde  zum 
Kabbalisten,  zum  AUegoristen;  er  suchte  tiefe  Geheimnisse  hinter  gleich- 
gültigen oder  anstößigen  Bibelworten;  er  bog  die  Texte  den  veränderten 
Anschauungen  entsprechend  um  und  gab  dem,  was  zu  ihm  und  seiner  Zeit 
nicht  mehr  sprechen  wollte,  ein  neues  künstliches  Leben.  Eine  Unsumme 
von  Geist  und  Frömmigkeit  hat  der  europäische  Priester  an  die  unmögliche 
Aufgabe  verschwendet:  Predigten  nach  griechisch-römischem  Vorbild  über 
einen  autoritativen  Buchtext  und  im  Sinne  einer  mehr  und  mehr  der  Zeit  ver- 
fallenen Welt-  und  Lebensanschauung  zu  halten.  Schon  daß  beide  Bücher, 
das  Alte  und  das  Neue  Testament,  gleichberechtigte  Gottesoffenbarungen 
sein  sollten,  wurde  für  den  Prediger  zu  einer  unversiegbaren  Quelle  von  Be- 
drängnissen und  Auslegungsnöten ;  denn  die  beiden  Bücher  wollten  nun  ein- 
mcd  nicht  zueinander  stimmen ;  zwei  verschiedene  Götter  sprachen  aus  ihnen. 
Der  Prediger  sollte  zwei  unvereinbare  Evangelien  zu  gleicher  Zeit  verkün- 
digen :  eines  von  einem  harten  Stammesdämon,  einer  harten  Priestergesetz- 
gebung, einer  sehnsüchtigen  Prophetenfrömmigkeit,  und  ein  anderes  von 
dem  hebenden  Heiland,  von  priesterloser  Gotteskindschaft,  von  weltflüch- 
tiger Gottsehgkeit.  Und  dazu  kam  das  dritte  Evangehum,  nämlich  das  aus 
dem  Herzen  des  Predigers  und  dem  religiösen  Willen  seiner  Zeit  quillende. 
Da  hieß  es  also:  vermitteln,  zurechtrücken,  vertuschen,  verkehren;  das 
eigene  Evangehum  mußte  in  die  Schrift  hineingedeutet  werden,  das  Neue 
Testament  im  Alten  aufgefunden  werden. 

I08 


Die  Auslegungs-  und  Einlegungskünste  vermehrten  sich  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht;  mit  ungeschwächtem  Vertrauen  ging  die  junge  Priesterschaft 
an  die  von  dem  älteren  Geschlecht  überkommene  Sisyphusarbeit.  Man  halte 
einmal  die  Predigten  der  verschiedenen  Jahrhunderte  und  Bekenntnisse 
gegeneinander!  Da  lernt  man  die  zähe  Ausdauer  bewundern,  mit  der  die 
religiösen  Geister  Europas  darum  gerungen  haben,  das  Wort  Gottes,  wie  es  im 
Buche  stand,  mit  dem  Worte  Gottes,  wie  es  in  ihrer  Seele  stand,  in  Einklang 
zu  bringen.  In  Gestalt  des  europäischen  Predigers  hat  der  erhaltende  Priester- 
typus mit  dem  vorwärtsdrängenden  Prophetent3^us  einen  erschütternden 
Kampf  durchgekämpft.  Gott  sollte  der  Prediger  verkünden  —  so  lautete  der 
Auftrag  der  Gemeinde  an  ihn;  aber  zugleich  sollte  er  die  unveränderlichen 
Meinungen  und  religiösen  Erlebnisse  einer  längst  vergangenen  Epoche  ver- 
kündigen. Das  heilige  Feuer,  das  in  seiner  Seele  brannte,  sollte  er  durch  seine 
Predigt  auf  alle  übertragen  und  sie  zum  Suchen  und  Erobern  Gottes  ent- 
flammen ;  aber  zugleich  sollte  er  gegebene  Texte  kunstgerecht  erklären  und 
keinen  Finger  breit  von  einer  vor  Zeiten  festgelegten  ,, Lehre"  abweichen. 

Diese  Not  machte  sich  in  dem  älteren  Christentum  weniger  bemerkbar, 
weil  die  Predigt  noch  nicht  den  Hauptteil  des  Gottesdienstes  bildete.  Das 
Sakrament,  die  Zelebrierung  der  Messe  war  der  Kern  des  alten  Gottes- 
dienstes geworden.  Die  Predigt  ging  nebenher;  sie  flüchtete  sich  in  den  Prie- 
sterkonvent, in  die  Literatur,  in  die  Schule.  Es  war  ein  Selbsterhaltungsin- 
stinkt, der  die  Kirche  bei  dieser  Regelung  der  religiösen  Betätigung  leitete. 
Die  Predigt  konnte  gefährlich  werden ;  sie  nährte  Prophetenstimmungen  und 
kettete  die  Gemeinde  zu  eng  an  den  einzelnen  Priester.  Die  heilige  Handlung 
war  ungefährlich ;  die  Persönlichkeit  des  ausführenden  Priesters  kam  dabei 
kaum  in  Betracht.  An  der  Bauart  der  christlichen  Kirchen  läßt  sich  deutlich 
nachweisen,  welche  Stellung  das  mittelalterliche  Christentum  der  Messe  im 
Vergleich  zur  Predigt  anwies :  der  Altar  bildet  den  Mittelpunkt  der  Kirche, 
die  Kanzel  klebt  irgendwo  an  einem  Pfeiler.  Die  Kanzel  hat  auf  die  Archi- 
tektonik des  Raumes  keinen  Einfluß,  sie  stört  höchstens ;  der  Altar  dagegen 
bestimmt  die  Gestalt  des  ganzen  Bauwerks. 

Allgemach  mußte  die  Kirche  nachgeben ;  der  europäische  Geist  zwang  sie, 
die  Predigt  immer  mehr  in  den  Vordergrund  zu  rücken.  Die  Bettelorden  ver- 
anstalteten große  Predigtreisen;  der  Protestantismus  machte  die  sonntäg- 
liche Predigt  zum  wichtigsten  Stück  des  religiösen  Lebens,  der  Katholizismus 
folgte  langsam  und  widerstrebend  nach.  Die  heilige  Sprache,  das  Lateinische, 
mußte  den  Volkssprachen  Platz  machen,  und  die  Predigten  näherten  sich 
unaufhaltsam  der  freieren  antiken  Weise  an.  Suchte  die  Kirche  dagegen  ein- 
zuschreiten, befahl  sie  den  Predigern,  die  ewigen  Wahrheiten,  nicht  die  Zeit- 
probleme zu  behandeln,  so  rächte  sich  das  dadurch,  daß  die  Gemeinde  Lange- 

109 


weile  hatte  und  aus  dem  Gottesdienst  fortblieb.  Wohl  fanden  sich  hie  und 
da  Prediger,  die  sich  mit  der  unmöglichen  Aufgabe,  begeisternde  und  doch 
kirchentreue  Predigten  zu  halten,  auf  glänzende  Weise  abzufinden  wußten; 
aber  diese  \\'underbare  Kunst  war  nur  wenigen  gegeben  und  war  nicht  lehr- 
bar. Die  Jesuiten  haben  das  beste  darin  geleistet  und  stellen  noch  heute 
bemerkenswerte  Kanzelredner  ins  Feld.  Aber  das  Übel  war  trotzdem  nicht 
auszurotten;  die  Predigt  wurde  immer  wieder  zum  Ausgangspunkt  ketze- 
rischer Schwarmgeisterei.  Entweder  treibt  die  Kirche  die  unbequemen,  aber 
von  der  Gemeinde  verehrten  und  geliebten  Prediger  hinaus:  dann  werden 
sie  zu  offenen  Kirchenfeinden ;  oder  sie  läßt  sie  predigen :  dann  wird  der  Geist 
der  Buchreligion  verfälscht  und  die  Selbstzersetzung  der  Kirche  beschleunigt. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  über  das  Verhältnis  von  Gebet  und  Predigt. 
Der  Sinn  der  Predigt  ist  Einwirkung  auf  den  Willen  der  Zuhörer;  der  Pre- 
diger spricht  als  Wissender  und  Beauftragter.  Nun  gehört  aber  der  Priester 
doch  zu  den  Suchenden  und  Unwissenden,  die  sich  an  die  wissende  Gottheit 
wenden.  Wir  sehen  hier  deutlich  die  Doppelstcllung  des  Priesters:  er  ist 
Gott  gegenüber  den  Menschen  und  ist  Gemeindevertreter  gegenüber  Gott. 
Die  Predigt  richtet  sich  an  die  Gemeinde,  insofern  ist  sie  Gottes  Wort,  und 
sie  richtet  sich  an  Gott,  insofern  ist  sie  Gebet,  ist  Hilferuf  und  Lobpreisung, 
Betrachtung  und  Versenkung.  Wohl  jede  christliche  Predigt  vereinigt  beides 
und  zeigt  also  den  Priester  als  den  doppelköpfigen  Mittler,  der  zugleich 
Mensch  und  Gott,  Herde  und  Hirt  ist.  Daher  beginnen  und  schheßen  die 
Predigten  häufig  mit  einem  Gebet.  Das  Anfangsgebet  soll  Gott  herbeiziehen 
und  den  Prediger  des  Gottes  voll  machen;  dies  Gebet  ist  ein  Nachkomme  der 
Rauschvorbereitungen  des  prophetischen  Zauberpriesters  und  des  Zauber- 
arztes. Und  das  Schlußgebet  pflegt  der  Priester  im  Namen  der  Gemeinde 
an  die  Gottheit  zu  richten;  es  ist  eine  Empfehlung,  ein  Abschiedsgruß,  mit 
dem  Gott  um  Entlassung  gebeten  wird.  In  den  primitiven  Religionen  ent- 
sprechen die  Bräuche,  durch  die  man  die  Götter  und  Geister  fortschickt 
und  sich  von  dem  religiösen  Heiligkeitszustande  befreit. 

Die  Predigt  als  Verkündigung  des  göttlichen  Wortes  und  Willens  nähert 
sich  der  religiösen  Lehre;  die  Predigt  als  Versenkung  in  Gott  kann  in  den 
Lehrvortrag  übergehen,  nähert  sich  also  ebenfalls  dem  pädagogischen  Teile 
der  priesterlichen  Tätigkeit,  zu  dem  wir  nunmehr  übergehen. 


fci        5.  DER  PRIESTERLICHE  UNTERRICHT        IHS 


Der  Priester  ist  ein  Erzieher ;  seine  ganze  Wirksamkeit  gipfelt  in  der  pädago- 
gischen Beeinflussung  der  Gemeinde.  Schon  sein  Dasein,  die  Gottesmaske,  die 

HO 


er  trägt,  seine  Lebens-  und  Handlungsweise  soll  suggestiv  wirken ;  das  Volk 
schaut  auf  ihn,  nimmt  ihn  sich  zum  Vorbild,  lebt  ihm  nach.  Dann  aber  wirkt  er 
auch  durch  unmittelbare  Unterweisung;  der  Verkündiger  und  Prediger  ist 
immer  zugleich  ein  Lehrer.  Alles  was  er  sagt,  hat  eine  Beziehung  zum  Handeln 
und  Denken  der  Gemeinde.  Selbst  die  einfache  Wahrsagung  wird  nicht  passiv 
entgegengenommen;  sie  wirkt  fort  und  bringt  oft  stärkere  Veränderungen 
in  den  Seelen  hervor  als  ein  pädagogischer  Priesterbefehl.  Denn  wenn  der 
Prophet  im  Namen  der  Gottheit  die  Zukunft  voraussagt,  so  befriedigt  er 
damit  nicht  nur  die  Wißbegier,  sondern  er  treibt  an,  die  Zukunft  der  gött- 
lichen Prophezeiung  gemäß  zu  gestalten.  Und  wenn  die  Gottheit  Geheim- 
nisse der  Gegenwart  oder  Vergangenheit  ans  Licht  bringt,  wenn  der  inspi- 
rierte Priester  von  der  Herkunft  des  Volkes,  von  den  Wanderungen,  von 
den  Naturerscheinungen  singt  und  sagt,  so  dringen  auch  diese  Offenbarungen 
tief  in  die  Seelen  ein,  erziehen  und  bestimmen  das  Volk.  Der  Priester  mag 
wollen  oder  nicht :  er  ist  eine  umfassende  pädagogische  Macht. 

Wir  haben  früher  gesehen,  daß  ihm  die  pädagogische  Absicht  oft  sehr  fern 
liegt.  Viele  Priesterschaften  wollten  durchaus  nicht,  daß  die  Laien  werden 
sollten  wie  sie  selber ;  sie  hielten  das  Volk  vielmehr  von  der  Nachfolge  Gottes 
zurück.  Noch  die  katholische  Kirche  macht  einen  grundsätzlichen  Unter- 
schied zwischen  Laienerziehung  und  Priestererziehung.  Der  Priester  soll  an- 
ders leben  als  die  anderen.  Die  Laien  sollen  Kinder  zeugen  und  Schätze  sam- 
meln ;  die  Priester  soUen  die  Weltlust  abschwören  und  zum  Besten  der  Laien 
beten  und  Messe  halten.  Ferner  sollen  die  Laien  nur  mit  Vorsicht  in  die 
religiösen  Lehren  eingeführt  werden.  Sie  sollen  das  Gotteswort  nicht  in  die 
Hand  nehmen,  die  götthche  Offenbarung  nicht  aus  erster  Quelle  kennen- 
lernen, sondern  nur  durch  Vermittlung  des  Priesters  das  Nötigste  erfahren. 
Die  Weisheit  von  Gott  und  Welt  ist  nicht  Sache  des  Laien,  sondern  ist  Be- 
rufsgeheimnis des  Priesters.  ÄhnUch  sind  die  Grundsätze  älterer  Priester- 
schaften, ja  sogar  schon  die  Grundsätze  der  primitiven  Medizinmänner.  Das 
Volk  soll  gehorchen  und  glauben,  aber  nicht  in  die  Priestergeheimnisse  ein- 
dringen, damit  es  nicht  zu  klug  werde  und  sich  über  des  Priesters  Kopf  mit 
Gott  in  unmittelbare  Verbindung  setze.  Wir  führten  aus,  daß  die  Laien  mit 
dieser  Verteilung  der  rehgiösen  Aufgaben  mitunter  ganz  einverstanden  sind. 
Sie  achten  die  Schranke  zwischen  dem  Gott  angehörigen  Priestertum  und 
dem  Weltmenschentum,  weil  der  Verkehr  mit  der  Gottheit  Gefahren  mit  sich 
bringt  und  Opfer  kostet,  die  der  Laie  nicht  zu  bringen  gewillt  und  imstande 
ist.  Sie  überlassen  dem  Priester  die  Ehren  und  Vorrechte  seines  Berufes 
samt  den  Beschränkungen  und  Mühseligkeiten. 

Je  strenger  die  Scheidung  zwischen  Priester  und  Laie  ist,  desto  weniger 
tritt  die  pädagogische  Betätigung  des  Priesters  hervor.  Nur  innerhalb  des 

III 


Standes  übt  auch  der  engherzige  Fachpriester  lebhafte  Lehr-  und  Erziehungs- 
tätigkeit aus.  Der  priesterHche  Nachwuchs  wird  in  die  Berufsgeheimnisse 
eingeweiht,  wird  mit  den  wirkungsvollen  Heilmitteln,  Zaubersprüchen  usw 
bekanntgemacht  und  in  der  Beherrschung  der  heiHgen  Kunst,  in  der  rich- 
tigen Ausführung  der  Kulthandlungen  unterwiesen.  Bei  manchen  Völkern 
ist  der  Priesterberuf  ein  freies  Gewerbe,  dem  sich  jeder  Volksgenosse  widmen 
kann;  der  Lehrling  wendet  sich  dann  an  einen  älteren  Priester  und  macht 
sich,  nachdem  er  genügend  Unterricht  empfangen  und  sich  die  priesterlichen 
Fertigkeiten  angeeignet  hat,  selbständig  (vgl.  Wissmann  über  die  Verhält- 
nisse in  Ostafrika:  ,, Meine  zweite  Durchquerung").  Anderwärts  finden  wir 
geschlossene  Kasten  oder  Orden.  Der  Eintretende  wird  ausdrücklich  zur  Ge- 
heimhaltung verpflichtet  und  bleibt  der  Priestergemeinschaft  angehörig. 
Nicht  jeder  Beliebige  wird  aufgenommen;  oft  muß  eine  Geldsumme,  eine 
Art  Lehrgeld  gezahlt  werden ;  auch  ist  die  Aufnahmefähigkeit  von  der  Zu- 
gehörigkeit zu  bestimmten  Familien  und  Gesellschaftsklassen  abhängig;  oder 
das  Priestergewerbe  vererbt  sich  ohne  weiteres  auf  die  Leibesnachkommen 
des  Priesters.  In  früheren  Zeiten  waren  fast  alle  Berufe  zunftmäßig  organi- 
siert und  jede  Zunft  hielt  ihre  Geheimnisse  ängstUch  fest.  Auf  diesen  Geheim- 
nissen beruhte  zum  Teil  die  Macht  und  das  Ansehen  der  Berufsorganisa- 
tionen. Es  ist  klar,  daß  der  Priesterstand  über  die  wertvollsten  Berufsge- 
heimnisse verfügte;  z.  B.  Regen  zu  erzeugen,  Krankheiten  zu  heilen,  Liebes- 
zauber zu  üben,  den  Nahrungsvorrat  zu  vermehren,  das  sind  Künste,  auf  die 
die  Priesterinnungen  gewiß  stolz  sein  durften.  Sie  hüteten  sich  natürlich, 
die  Mittel  und  Wege  zu  verraten,  durch  die  sie  so  wunderbare  Dinge  zu- 
stande brachten. 

Also  die  Lehr-  und  Erziehungstätigkeit  des  Priesters  hat  ihre  Grenzen. 
Dazu  kam  noch  etwas  anderes :  der  angehende  Priester  wurde  freüich  unter- 
richtet; aber  welcherart  waren  die  Lehrgegenstände,  die  man  ihm  ein- 
prägte ?  Beim  Priesterberuf  taten  es  die  Kenntnisse  und  Geschicklichkeiten 
nicht.  Wer  Priester  werden  will,  muß  erweckt  und  auserwählt  sein;  der  Geist 
muß  von  ihm  Besitz  ergreifen.  Diese  Anschauung  tritt  der  zunftmäßigen 
Auffassung  vom  Priesterberuf  ergänzend  und  berichtigend  gegenüber.  Die 
Zunft  konnte  in  der  Regel  nur  kluge  und  geübte  Fachmenschen  hervor- 
bringen, aber  keine  berufenen  ,, Geistlichen".  Wir  haben  hier  wieder  den 
Gegensatz  zwischen  persönlicher  Gotterfülltheit  und  herkömmlicher  Prie- 
sterfertigkeit. Der  Fachpriester  lernte  von  den  Fachgenossen  das  Handwerk, 
der  Prophet  ging  zur  Gottheit  selber  und  empfing  deren  unlernbare  Lehren, 

Trotzdem,  kam  die  Menschheit  schon  sehr  früh  auf  den  Gedanken,  daß 
auch  die  göttliche  Begeisterung  erlernt  werden  könne.  Man  bemerkte,  daß 
sich  die  Berufung  befördern,  die  Besitzergreifung  durch  Gott  und  die  Er- 

112 


leuchtung  künstlich  erzielen  lasse.  Wir  haben  die  religiöse  Rauschtechnik 
genau  kennen  gelernt:  sie  war  der  Weg  zu  den  begehrtesten  priesterlichen 
Künsten.  Daher  unterzog  sich  derjenige,  der  Priester  werden  wollte,  einer 
Erregungs-  und  Betäubungskur;  er  untergrub  methodisch  seine  Gesundheit, 
darin  bestand  bei  unzähligen  Völkern  das  theologische  Studium.  Der  Novize 
wurde  in  den  Wald  geschickt,  mußte  fasten  und  sich  mißhandeln;  oder  man 
gab  ihm  Gifte  ein,  man  lehrte  ihm  schlimme  Tänze  ausführen,  nötigte  ihn  zu 
sexuellen  Ausschweifungen,  zu  Perversitäten  oder  auch  zu  vöUiger  Enthal- 
tung. Bis  in  die  Kulturvölker  hinein  lassen  sich  Reste  dieses  priesterlichen 
Unterrichts  nachweisen.  Wenn  Jesus  vierzig  Tage  in  der  Wüste  lebt  und 
fastet,  so  ist  das  seine  Lehr-  und  Vorbereitungszeit  für  den  Prophetenberuf. 
Er  wartet  während  dieser  Zeit  auf  die  Belehnung  mit  dem  Geist  und  bereitet 
sich  vor,  Mund  und  Werkzeug  dieses  Geistes  zu  werden.  Bei  den  Schamanen- 
völkern in  Nordasien,  aber  auch  in  Afrika  und  anderwärts  finden  sich  ähn- 
liche, nur  ausführlichere  und  umfänglichere  Noviziatgebräuche.  Bisweilen 
haben  die  Novizen  sehr  grausame  und  geradezu  abscheuliche  Prüfungen  zu 
bestehen.  „Prüfung"  ist  eigentlich  nicht  der  rechte  Ausdruck;  der  Novize 
soll  im  Grunde  nicht  auf  die  Probe  gestellt,  sondern  durch  die  beschwerlichen 
und  schmerzhaften  Vornahmen  zur  Ausübung  des  Priesteramtes  befähigt 
werden;  er  soll  geistig  und  göttlich  werden.  Freilich  werden  die  Martern 
und  Rauschunterweisungen  ganz  von  selber  zu  Prüfungen.  Wer  dabei  stirbt 
oder  ihnen  entflieht,  dessen  Unwürdigkeit  und  Ungeistigkeit  ist  bewiesen: 
Gott  hat  ihn  verworfen.  Wer  dagegen  das  Studium  erfolgreich  absolviert, 
gilt  dann  als  ein  würdiger  Gottesdiener  und  ein  auserwähltes  Rüstzeug. 

Die  Vorbereitungszeit  findet  ihren  Abschluß  in  der  Regel  durch  eine  feier- 
liche Aufnahmehandlung.  Die  Zeremonien,  die  bei  dieser  Weihe  oder  Ordi- 
nation üblich  sind,  weisen  sämtlich  darauf  hin,  daß  in  den  jungen  Priester 
der  Geist  hineingeleitet  werden  soll.  Der  Novize  empfängt  die  heihge  Kraft 
und  damit  das  Apostelamt.  Die  Übertragung  kann  durch  Salbung  oder  Be- 
schneidung des  Haares  oder  der  Geschlechtsteile,  ferner  durch  Taufe,  Hand- 
auflegung, Handschlag,  Bekleidung  mit  einem  heiligen  Gewand  oder 
Schmuck,  ferner  durch  Teilnahme  an  einem  Opfermahl  und  auf  viele  andere 
Arten  geschehen.  Wie  man  sieht,  verschmilzt  die  Priesterweihe  mit  der  allge- 
meinen Aufnahme  der  Knaben  und  Mädchen  in  die  Gemeinde  der  Erwach- 
senen. Bei  der  Konfirmation  und  Firmung,  die  bei  fast  allen  Völkern  aller 
Rehgionen  ihre  Parallelen  hat,  vollzieht  sich  ebenfalls  eine  Vergeistigung 
mit  den  Kandidaten.  Das  herangewachsene  Geschlecht  wird  wiedergeboren 
und  tritt  mit  dem  Stammesdämon  und  Volksgott  in  Beziehung;  dadurch 
werden  die  jungen  Menschen  zu  Mitgliedern  des  Verbandes,  was  sie  bis  dahin 
nicht  waren,  denn  die  Kinder  gelten  nicht  als  Gemeindeangehörige.  Beim 

8  Horneffer,  Der  Priester   II  -^-^3 


Fest  der  Jugendweihe  werden  ähnliche  rehgiöse  Handlungen  vorgenommen 
wie  bei  der  Priesterweihe;  die  Novizen  werden  tätowiert,  beschnitten  oder 
fibuliert,  sie  haben  Schläge  und  Martern  verschiedener  Art  auszuhalten  (man 
denke  an  den  Lehrlings-  und  Ritterschlag,  an  die  Geißelung  der  spartani- 
schen Epheben),  sie  lernen  die  religiösen  Festtänze  kennen,  sie  erhalten  einen 
neuen  Namen,  und  was  dergleichen  mehr  ist.  Der  ursprünghche  Sinn  aller 
dieser  Gebräuche  ist  meiner  Meinung  nach,  die  Jugend  menschlich  und  er- 
wachsen, das  heißt  geistig  zu  machen.  Daher  auch  die  starken  Nervenreize, 
die  Erregungs-  und  Betäubungsgebräuche.  Erst  allmählich  wird  das  Geistige 
inteUektueUer  gefaßt  und  daher  die  Vorgänge  symbolisch  verflüchtigt. 

Wir  leugnen  natürlich  nicht,  daß  diese  Weihe-  und  Aufnahmezeremonien 
auch  anderen  religiösen  und  unreligiösen  Zwecken  dienen  können  und  ge- 
dient haben.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  durch  die  Martern  die  Standhaftig- 
keit  der  Jünglinge  geprüft  werden  soUte,  durch  die  Übungen  und  Kampf- 
spiele die  Waffenfähigkeit  und  andere  Tugenden.  Ferner  zielen  die  mit  den 
Geschlechtsteilen  vorgenommenen  Veränderungen  ohne  Zweifel  auch  darauf, 
die  Zeugungsfähigkeit  zu  beeinflussen,  teils  im  günstigen,  teils  im  ungün- 
stigen Sinne.  Ebenso  können  sich  die  übrigen  Gebräuche  mit  außerreligiösen 
Vorstellungen  verbinden;  das  ganze  Fest  konnte  zu  einer  vorwiegend  welt- 
lichen Angelegenheit  werden  und  die  Mitwirkung  des  Priesters  ablehnen. 
Indessen  ist  das  selten  der  Fall.  Der  Regel  nach  war  der  Priester,  als  Ver- 
treter der  Gemeindegeister,  der  Leiter  dieser  Jugendfeste.  Er  hatte  die  Jugend 
vorzubereiten,  hatte  die  Prüfung  vorzunehmen  und  die  Aufnahmehand- 
lungen zu  vollziehen. 

Auch  wenn  das  Jugendfest  in  einzelne  Teile  zerlegt  wurde  und  die  Zere- 
monien in  zwei  oder  mehr  Epochen  des  jugendlichen  Alters  nacheinander 
vorgenommen  wurden,  war  die  Beteiligung  des  Priesters  meist  unerläßlich. 
BekanntHch  ist  die  Beschneidung  und  die  Taufe  in  die  früheste  Kindheit 
zurückverlegt  worden,  hat  dadurch  aber  nicht  ihren  religiösen  Charakter 
verloren  und  erfordert  die  Mitwirkung  des  Priesters. 

Bemerkenswert  ist  das  Dekret  des  jetzigen  Papstes,  durch  das  auch  die 
erste  Kommunion  in  ein  früheres  Lebensalter  zurückverlegt  wird.  Die  Kin- 
der sollen  danach  bereits  mit  sieben  Jahren  zur  körperhch-seelischen  Einver- 
leibung Gottes  angehalten  und  also  schon  im  Zustande  kindlicher  Unmündig- 
keit in  die  Zahl  der  kirchhchen  Gemeindemitglieder  aufgenommen  werden. 
Die  Folge  ist,  daß  die  vorbereitende  Unterweisung,  die  der  priesterliche  Er- 
zieher zu  erteilen  hat,  zur  bescheidenen  Nebensache  herabgedrückt  wird; 
denn  wenn  der  Religionsunterricht  auch  nachgeholt  werden  kann  und  erst 
im  reifen  Alter  seinen  Abschluß  erhält,  so  geht  doch  der  eigentliche  Zweck 
dieses  Unterrichts  verloren:  die  Kinder  der  feierlichen  Aufnahmehandlung 

114 


würdig  zu  machen  und  sie  der  Gemeinde  als  vollwertige  Mitglieder  zuzu- 
führen. Das  Jugendfest  mit  der  Kommunion  muß  die  Krönung  der  religiösen 
Erziehung  bilden,  so  sagt  uns  die  Logik  und  die  Religionsgeschichte,  Aber 
es  ist  zuzugeben,  daß  sich  von  jeher  die  Neigung  geltend  gemacht  hat,  die 
Jugendweihe  möglichst  frühzeitig  vorzunehmen  und  die  entscheidenden  Zere- 
monien sogar  in  die  allerersten  Lebensjahre  zurückzuschieben.  Warum  wohl? 
Das  Kind  sollte  möghchst  bald  mit  der  Gottheit  in  Berührung  gebracht, 
möglichst  bald  für  den  Heilsbund  gewonnen  werden,  damit  es  den  feindlichen 
Dämonen  ein  für  allemal  entzogen  sei  und  sofort  mit  dem  Leben  der  Wieder- 
geburt beginnen  könne.  Das  ließ  sich  denn  auch  leicht  bewerkstelligen,  wenn 
man  sich  entschließen  wollte,  den  Aufnahme-  und  Wiedergeburtsvorgang 
als  einen  rein  zauberischen  Akt  zu  gestalten,  der  von  dem  Willen  und  Ver- 
stand des  Novizen  unabhängig  ist.  Die  Kindertaufe,  Kinderbeschneidung, 
Kinderkommunion  sind  Handlungen,  bei  denen  das  Kind  durch  eine  magi- 
sche Kraft  zum  Eigentum  Gottes  und  zu  einem  wiedergeborenen  Geistwesen 
gemacht  wird;  es  stände  daher  nichts  im  Wege,  auch  die  Kommunionshand- 
lung bereits  mit  dem  Säugling  vorzunehmen.  Die  Handlung  wirkt  auf  das 
Kind,  wie  ein  Zauberspruch  auf  die  Witterung,  wie  eine  Medizin  auf  den  Leib 
des  Kranken.  Der  zaubergläubige  Priester  mußte  unfehlbar  auf  den  Gedan- 
ken der  Kinderwiedergeburt  geraten  und  es  hat  daher  nichts  Auffälliges, 
daß  in  verschiedenen  Religionen  die  Weihehandlungen  ganz  oder  zum  Teil 
mit  den  Unmündigen  vorgenommen  werden. 

Da  aber  der  Priester  trotz  seines  Zauberglaubens  ein  kluger  und  verstän- 
diger Mann  war,  mußte  er  gewahr  werden,  daß  das  gewünschte  Ziel  durch 
diese  Zauberweihen  nur  unvollkommen  erreicht  wurde.  Wenn  er  die  wirk- 
liche Verbindung  der  Gemeinde  mit  Gott  herstellen  wollte  und,  was  beinahe 
gleichbedeutend  ist,  seinen  Einfluß  als  Mittler  mehren  und  bewahren  wollte, 
durfte  er  den  Unterricht  der  Heranwachsenden  nicht  vernachlässigen;  er 
mußte,  was  die  Zauberei  nicht  zuwege  gebracht  hatte,  durch  Erziehung,  d.  h. 
durch  wirkliche  körperlich-seelische  Einverleibung  der  religiösen  Heilsgüter 
nachzuholen  suchen.  Die  normale  Aufeinanderfolge  drehte  sich  also  um :  die 
Aufnahmezeremonie  kam  zuerst,  der  vorbereitende  Priesterunterricht  folgte. 
Da  man  aber  auf  das  Fest  der  Jugendweihe  nicht  verzichten  wollte,  feierte 
man  es  entweder  als  bloße  Lustbarkeit  oder  als  weltliches  „Absolutorium" 
oder  verwandelte  es  in  eine  Wiederholung  und  Bestätigung  der  Zauberauf- 
nahme in  der  frühen  Kindheit.  Die  Konfirmation  besiegelte  nun  die  Tauf- 
handlung ;  die  herangewachsene  Jugend  gab  am  Pubertätstage  ihren  Willen 
und  ihre  Fähigkeit  kund,  im  Sinne  der  magischen  Kindheitszeremonie  ein 
vollwertiges  Mitghed  des  religiösen  Bundes  zu  werden. 

Auf  diese  Weise  lassen  sich,  glaube  ich,  alle  Verschiedenheiten  und  Wider- 

8*  115 


Sprüche  in  den  religiösen  Jugendgebräuchen  leicht  erklären.  Bei  manchen 
Katurvölkem  spiegelt  sich  die  Zerteüung  des  Aufnahmefestes  auch  in  der 
Namengebung.  Das  Kind  erhält  zunächst  einen  vorläufigen  Namen,  dann 
beim  Jugendfest  einen  anderen ;  beim  Übergang  in  eine  höhere  Altersklasse 
vielleicht  wieder  einen  neuen.  Jedesmal  findet  eine  „Wiedergeburt"  statt 
und  der  neugeborene  Mensch  braucht  natürlich  auch  einen  neuen  Namen. 
Noch  heute  nimmt  die  christhche  Kirche  mit  den  Heiden,  wenn  sie  die  Taufe 
empfangen,  eine  Namensänderung  vor.  Jede  solche  Taufe  ist  ein  Weihefest 
im  uralten  Sinne;  der  priesterliche  Unterricht  pflegt,  wenn  der  Täufling  er- 
wachsen ist,  seine  richtige  Stelle  zu  haben,  nämlich  vor  der  Taufhandlung. 

In  den  höheren  Religionen  ist  der  priesterliche  Unterricht  begreiflicher 
Weise  umfänglicher  und  ausgiebiger  als  in  den  primitiven  Religionen,  Um 
ein  Christ  sein  zu  können,  muß  man  mehr  Unterweisung  erhalten  haben, 
als  wenn  man  ein  MitgUed  einer  Neger-  oder  Schamanenreligion  werden  will. 
Die  christlichen  Missionare  und  auch  die  europäischen  Priesterschaften 
machen  sich  freilich  ihre  Lehrpflicht  bisweilen  sehr  leicht  und  nehmen  Per- 
sonen in  den  Christenbund  auf,  die  die  Grundbegriffe  dieser  Religion  nicht 
im  entferntesten  erfaßt  haben ;  aber  das  ändert  an  der  Tatsache  nichts,  daß 
die  innere  und  wahrhaftige  Zugehörigkeit  zum  Christentum  nur  durch  ein- 
gehende Unterweisung  erworben  werden  kann  und  der  christliche  Priester 
daher  eine  bedeutendere  Erziehungsaufgabe  hat  als  der  Priester  der  niederen 
Religionen.  Daraus  ergibt  sich  auch,  daß  die  junge  Generation  erst  ein  ver- 
hältnismäßig hohes  Alter  erreichen  muß,  ehe  sie  als  dem  Religionsverbande 
zugehörig  angesehen  werden  kann.  Will  man  das  Fest  der  Jugendweihe  erst 
nach  Vollendung  der  gesamten  religiösen  Erziehungsarbeit  feiern,  so  kann  es 
nicht  im  Pubertätsalter,  sondern  muß  später  stattfinden.  Die  vierzehnjäh- 
rigen Knaben  und  Mädchen  sind  zwar  religiös  reifer  als  die  siebenjährigen 
oder  als  die  siebentägigen;  aber  auch  für  sie  kommt  die  religiöse  Großjährig- 
keitserklärung  noch  zu  früh.  Der  Priester  kann  bis  dahin  unmöglich  alles 
getan  haben,  was  er  als  Vertreter  der  Gemeinde  an  dem  religiösen  Nachwoichs 
tun  muß.  Die  Jugend  hat  mit  vierzehn  Jahren  noch  nicht  genug  gelernt  und 
verstanden,  um  den  Schritt  der  Christwerdung  mit  vollem  Verantwortungs- 
gefühl tun  zu  können.  Die  eigentliche  christliche  Erziehung  kann  in  diesem 
Alter  kaum  begonnen,  geschweige  denn  beendet  sein.  Dies  ist  wohl  auch  ein 
weiterer  Grund  für  die  älteren  und  neueren  Bestrebungen  gewesen,  den 
Weiheakt  von  dem  religiösen  Erziehungswesen  möglichst  unabhängig  zu 
machen  und  die  zauberhaften  Aufnahmehandlungen  recht  früh  abzumachen. 

Worin  besteht  nun  hauptsächlich  der  priesterliche  Unterricht?  Wie  ver- 
fährt der  Priester  bei  seiner  Lehrtätigkeit  ?  —  Das  ergibt  sich  aus  dem  Cha- 
rakter der  Religion,  in  die  er  die  Jugend  hineinzuerziehen  hat.  Wir  sagten 

ii6 


oben  schon,  in  welchen  Gegenständen  der  Priester  die  Priesteriehrhnge  unter- 
richtet: in  der  Kenntnis  der  Zauberformeln  und  sonstigen  Heilmittel,  in 
der  Handhabung  und  Ausführung  der  heiligen  Handlungen,  also  z.  B.  in  der 
Ausführung  der  religiösen  Tänze.  Dazu  kommt  die  Unterweisung  über  die 
Lebenspflichten,  z.  B.  über  die  Fastenregeln,  ferner  der  Unterricht  in  den 
theoretischen  Grundlagen  der  Religion,  in  der  Dogmatik,  Mythologie,  Sagen- 
kunde und  Geschichte.  Alle  diese  Gegenstände  werden  auch  im  religiösea 
Unterricht  der  Laienjugend  behandelt  werden,  jedoch  weniger  eingehend  und 
mit  Übergehung  der  etwaigen  Berufsgeheimnisse  der  Priesterschaft.  Wenn 
wir  die  allgemeine  Geschichte  der  Pädagogik  studieren,  finden  wir  durchweg, 
daß  der  Priester  entweder  nur  die  angehenden  Priester,  oder  auch  die  be- 
vorzugten Weltkinder  (den  Nachwuchs  der  herrschenden  Schichten),  oder 
endlich  die  gesamte  Jugend  des  Volkes  unterrichtet ;  und  zwar  erhalten  die 
Priesterkandidaten  den  sorgfältigsten  Unterricht,  die  Volksjugend  den 
mangelhaftesten.  Oft  werden  die  Kinder  dem  Priester  für  die  —  nicht  lange 
—  Unterrichtszeit  gänzlich  übergeben ;  sie  finden  Aufnahme  in  seinem  Hause 
oder  er  zieht  mit  ihnen  aus  dem  Dorf  in  den  Wald,  wo  Hütten  gebaut  werden 
und  eine  eigene  Niederlassung  entsteht.  Mitunter  entwickeln  sich  auch  die 
religiösen  Laienbünde  zu  Lehrinstituten ;  diese  erinnern  dann  an  die  christ- 
lichen Klosterschulen.  Dabei  wird  meist  die  Vorstellung  festgehalten  und 
ausdrücklich  betont,  daß  die  eigentlichen  Lehrmeister  nicht  die  mensch- 
lichen Priester  und  Bundesbrüder  seien,  sondern  die  Geister  in  Person. 

In  den  Religionen,  die  heilige  Urkunden  besitzen,  werden  diese  Urkunden 
der  Jugend  vorgetragen;  sie  muß  sie  sich  einprägen.  Der  indische  Brah- 
manenschüler  lernte  die  Veden  auswendig,  der  junge  Mohammedaner  den 
Koran,  die  christliche  Jugend  prägt  sich  Bibelsprüche,  Hymnen  und  Lieder, 
dogmatische  Erklärungen  usw.  ein.  Die  Erziehungsweisheit  gipfelte  meist  in 
der  gedächtnismäßigen  Aneignung,  und  wer  nicht  lernen  wollte,  wurde 
durch  handgreifliche  Mittel  dazu  ermuntert.  Die  Schulen  im  Bereiche  des 
Islam  und  ihr  sehr  einfaches  Unterrichtsverfahren  sind  oft  von  den  Reisen- 
den geschildert  worden ;  der  junge  Mohammedaner  ist  um  so  frommer  und 
gelehrter,  je  weiter  er  in  der  Aneignung  des  Koran  vorgedrungen  ist.  Aber 
auch  im  alten  Griechenland  bildete  das  Auswendiglernen  der  überlieferten 
religiös-poetischen  Denkmäler  den  Hauptteil  der  geistigen  Unterweisung. 
Wir  Heutigen  haben  gegen  den  pädagogischen  "W  ert  des  Auswendiglernens 
einige  Bedenken;  wir  bedauern  unsere  Jugend,  d;  ß  sie  sich  mit  dem  Kate- 
chismus, mit  Sprüchen  und  Gesangbuchliedern  ?  )mühen  muß,  und  wün- 
schen, daß  der  Religionsunterricht  anders  gehand  abt  werden  möchte.  In- 
dessen muß  man  sich  über  die  eigentlichen  Gründe  dieser  berechtigten 
Reformwünsche  ganz  klar  werden.  Ich  habe  die  Überzeugung,  daß  die  weit 

117 


verbreitete  Abneigung  gegen  den  Religionsunterricht  weit  mehr  von  der  Ab- 
neigung gegen  den  Unterrichtsstoff  und  die  zu  lernenden  Urkunden  her- 
rührt, als  von  der  Abneigung  gegen  das  Auswendiglernen  als  solches.  Die 
griechische  Jugend  hat  ihren  Homer  und  Hesiod  mit  Begeisterung  in  sich 
aufgenommen,  die  deutsche  Jugend  lernt,  wenn  sie  richtig  geleitet  und  an- 
geregt wird,  mit  Begeisterung  die  Denkmale  deutscher  Dichtkunst  auswen- 
dig. Daß  sie  sich  gegen  den  Katechismus  und  die  anderen  religiösen  Lehr- 
gegenstände wehrt  und  sie  nicht  in  den  Kopf,  geschweige  ins  Herz  zu  bringen 
vermag,  liegt  daran,  daß  ihr  diese  christlichen  Erzeugnisse  innerhch  fremd 
sind.  Ein  zweiter  Grund  ist,  daß  sie  nur  zum  Teil  eine  wertvolle  künstlerische 
Form  haben.  Ungestaltete  Dinge  sollte  man  aus  dem  Religionsunterricht 
soviel  wie  möglich  verbannen,  ungeliebte  und  unverstandene  Dinge  noch 
mehr;  weil  man  es  nicht  tut,  herrscht  heute  fast  allgemein  eine  feindseUge 
Gleichgültigkeit  gegen  die  ReUgion. 

Über  die  religiöse  Jugenderziehung  der  Zukunft  und  die  gesamte  Erzie- 
hungsaufgabe des  künftigen  rehgiösen  Führers  sprechen  wir  im  Schluß- 
kapitel. 


Tl8 


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DER  PRIESTER  ALS  KÜNSTLER 
UND  DENKER 


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iii  I.  RELIGION  UND  SPIEL  i^s 


Bei  Besprechung  der  religiösen  EiTegungs-  und  Betäubungsmittel  haben  wir 
den  Tanz  und  überhaupt  die  Bewegungsspiele  erwähnt.  Wenn  der  Mensch 
in  religiöser  Stimmung  ist,  bleibt  er  entweder  bewegungslos  und  versenkt 
sich  in  sein  Inneres  oder  er  sucht  die  lebhafte,  ja  stürmische  Bewegung.  Der 
seelische  Drang  verlangt  nach  körperlichem  Ausdruck,  das  Gefühl  will  Hand- 
lung werden,  der  Gedanke  will  Wort  werden.  Die  Religionsgeschichte  führt 
uns  eine  unübersehbare  Menge  von  heiligen  Handlungen,  heiligen  Sprach- 
äußerungen, heiligen  Bildschöpfungen  vor.  Wir  haben  diese  religiösen  Äuße- 
rungen nacheinander  betrachtet  und  haben  ihren  Zweck  und  Wert  kennen 
gelernt ;  es  zeigte  sich,  daß  der  weitaus  größte  Teil  von  ihnen  mit  dem  Zauber- 
glauben verknüpft  ist.  Der  Priester  will  durch  die  Vornahme  der  religiösen 
Zeremonien  Wirkungen  erzielen,  will  durch  sie  Veränderungen  im  Weltge- 
schehen hervorrufen.  Entweder  glaubt  er,  daß  die  Handlungen  und  Worte 
unmittelbar  die  Kraft  haben,  in  den  Lauf  der  Dinge  einzugreifen  (z.  B.  daß 
das  zeremonielle  Ausgießen  von  Wasser  unmittelbar  den  Regen  herbeiziehe, 
daß  die  Wunde  sich  auf  Befehl  eines  Zauberspruches  von  selber  schließe); 
oder  er  glaubt  durch  die  Handlungen  und  Worte  irgendwelche  Geistwesen 
zu  veranlassen,  ihrerseits  die  gewünschten  Wirkungen  hervorzubringen, 
z.  B.  glaubt  er,  daß  er  durch  ein  blutiges  Opfer  die  göttliche  Bundesgenossen- 
schaft gegen  die  Feinde  erzielen  und  durch  Gebete  einen  Toten  im  Jenseits 
unterstützen  könne. 

Aber  der  Wert  der  heiligen  Handlungen  liegt  nicht  bloß  in  ihrem  äußeren 
Zauberzweck;  wichtiger  ist  die  Rückwirkung,  die  die  Vornahme  der  Hand- 
lungen auf  den  Handelnden  und  Zuschauenden  ausübt.  Ja  nach  unserer 
heutigen  Anschauung  findet  überhaupt  keine  äußere  Wirkung  statt.  Die  hei- 
ligen Handlungen  und  Worte  sind,  wenn  man  ihren  Einfluß  auf  den  Natur- 
lauf prüft,  zweck-  und  wertlos;  höchstens  daß  die  Gläubigen  sich  durch  die 
heiligen  Akte  bewogen  fühlen,  ihr  Verhalten  so  einzurichten,  daß  die  ge- 
wünschten Veränderungen  im  Naturlauf  wirklich  eintreten.  Z.  B.  trifft  eine 
Weissagung  des  Propheten  deshalb  ein,  weil  die  Beteiligten  in  ihrem  ferneren 
Leben  bewußt  oder  unbewußt  auf  Erfüllung  der  Weissagung  hinarbeiten, 
und  ein  vom  Priester  Verfluchter  geht  wirklich  zugrunde,  weil  der  Fluch 
seinen  Lebensmut  vernichtet.  In  solchen  Fällen  kann  man  aber  nicht  eigent- 
lich sagen,  daß  die  Wirkung  von  der  heiligen  Handlung  selber  hervorgerufen 
worden  sei;  der  Glaube  der  Menschen  macht  die  Handlungen  wirksam.  So 
ist  es  mit  dem  gesamten  Riten-  und  Zauberwesen :  der  Erfolg  ist  nicht  phy- 

120 


sikalischer  Art,  sondern  wird  durch  den  Menschen  vermittelt.  Der  Mensch 
macht  den  Kult  wirksam,  dadurch,  daß  er  an  seine  Wirkung  glaubt. 

Wir  müssen  nun  eine  Unterscheidung  machen.  In  den  soeben  angeführten 
Fällen  wirkt  die  Handlung,  die  Weissagung  und  Verfluchung,  auf  den,  dem 
sie  gilt.  Ebenso  wirken  die  Ölung,  die  Zelebrierung  der  ]\Iesse  usw.  auf  die 
empfangende  und  zuhörende  Gemeinde  ein.  Zugleich  aber  findet  eine  Wir- 
kung auf  die  Ausübenden  statt,  und  diese  Wirkung  scheint  noch  tiefer  und 
bedeutender  zu  sein ;  mindestens  ist  sie  auffälliger  und  psychologisch  näher- 
liegend. Wenn  ich  eine  heilige  Handlung  vornehme,  z.  B,  ein  Opfer  bringe 
oder  ein  Gebet  spreche,  so  besteht  der  Wert  dieses  Tuns  zu  allererst  in  den 
psychischen  Begleiterscheinungen  und  Nachwirkungen;  ich  selber  werde  am 
meisten  durch  meine  Handlung  in  Bewegung  gebracht,  habe  infolgedessen 
den  meisten  Nutzen  von  ihr ;  erst  in  zweiter  Linie  haben  auch  andere  Nutzen. 
So  ist  es  wenigstens  unter  normalen  Umständen ;  daß  die  Priester  zu  Draht- 
ziehern eines  Puppentheaters  oder  selber  zu  Puppen  werden,  ihr  Publikum 
daher  weit  tiefer  von  ihren  Vorführungen  berührt  wird  als  sie  selber,  muß 
hier  außer  Betracht  bleiben. 

Wir  haben  gesehen,  daß  die  religiösen  Zeremonien  der  primitiven  Völker 
meist  Massenhandlungen  sind;  alle  Mitglieder  der  Gemeinde  wirken  mit. 
Auch  die  Zauberhandlungen  des  Einzellebens  sind  oft  von  solcher  Art,  daß 
sie  der  Gläubige  selber  vornehmen  muß;  ein  anderer  kann  sie  nicht  für  ihn 
übernehmen,  die  „Stellvertretung"  ist  nicht  statthaft,  weil  dann  die  Wirkung 
ausbleiben  würde.  Es  hat  seinen  guten  Sinn,  daß  man  die  Wirkung  religiöser 
Handlungen  von  der  persönlichen  Vornahme  abhängig  glaubt;  denn  der 
Wert  der  Handlung  hegt  wirklich  im  Tun  und  den  durch  das  Tun  hervorge- 
rufenen seelisch-leiblichen  Erscheinungen.  Wenn  die  Religionen  den  Satz 
aufstellen :  der  Glaube  macht  sehg,  der  Glaube  versetzt  Berge,  so  haben  sie 
auf  zweierlei  Weise  recht.  Erstens  schafft  der  Glaube  aus  dem  Geiste  des 
Gläubigen  alles  Zweifeln,  Zaudern,  Zagen  hinweg  und  richtet  ihn  auf  einen 
einzigen  Punkt;  zweitens  bewirkt  die  gläubig  vollzogene  heilige  Handlung 
unmittelbar  eine  Entladung  psychischer  Spannungen.  Der  gläubige  Opferer, 
Tänzer,  Beter  fühlt  sich  durch  die  bloße  Ausführung  der  Handlung  erleich- 
tert, ganz  abgesehen  von  dem  Glauben  an  ihre  zauberhaften  Folgen.  Die 
heilige  Handlung  stärkt  ihn  nicht  nur  dadurch,  daß  er  glaubt,  durch  sie  die 
Götter  in  Tätigkeit  gesetzt  und  den  Naturlauf  beeinflußt  zu  haben,  sondern 
durch  das  triebhafte  Wohlgefühl  und  Freiheitsgefühl,  das  sich  während  und 
nach  dem  religiösen  Akte  einstellt.  Warum  betet  er?  Im  letzten  Grunde  des- 
halb, weil  er  unter  einem  Wehgefühl,  einem  Mangelgefühl,  einer  seelischen 
Spannung  leidet,  die  er  vielleicht  gar  nicht  näher  erklären  kann.  Diese  Span- 
nung entlädt  sich,  diese  Gefühle  verschwinden,  wenn  er  die  Gebetsworte  aus- 

121 


spricht,  die  ihm  durch  seine  Religion  nahegelegt  oder  vorgeschrieben  werden. 
Das  Gebet  ist  ein  Reaktionsvorgang,  eine  Abfuhr  seelischer  Erregung.  Ähn- 
lich ist  es  mit  den  Opfern  und  allen  anderen  religiösen  Handlungen. 

Am  klarsten  tritt  das  Triebhafte  und  Spielähnliche  des  religiösen  Kult- 
wesens vielleicht  beim  Tanze  hervor.  Warum  tanzen  die  Naturvölker  bei 
allen  religiösen  Anlässen,  auch  bei  solchen,  wo  uns  das  Tanzen  recht  unge- 
hörig scheint,  z.  B.  bei  Totenfeiern  ?  Weil  es  kein  näherliegendes  und  natür- 
licheres Mittel  gibt,  sich  seiner  psychischen  Erregung  zu  entledigen  als  das 
rhythmische  Bewegen  der  Glieder.  Die  innere  Erregung  setzt  sich  in  Gebär- 
den, Schritte,  Sprünge  um;  es  sind  das  ,, Ausdrucksbewegungen",  wie  wir 
in  dem  Abschnitt  , .Religion  und  Zauberei"  mit  Wundt  sagten.  Wenn  der 
Mensch  innerlich  ruhig  und  gefaßt  ist,  wenn  wenig  in  ihm  vorgeht,  oder  wenn 
er  gelernt  hat,  sich  zu  beherrschen,  hält  er  sich  körperlich  ruhig;  er  macht 
keine  oder  nur  zweckvolle,  von  einer  bestimmten  Absicht  geleitete  Bewegun- 
gen. Je  größer  aber  seine  Erregung  wird,  um  so  schwerer  wird  es  ihm,  seine 
Haltung  zu  bewahren,  bis  es  schließlich  nicht  mehr  möglich  ist  und  die  Er- 
regung sich  in  zwecklosen  Bewegungen  und  Lauten  entlädt.  Das  Kind  und 
der  Natumiensch  unterliegen  dem  Drange,  sich  diirch  Ausdrucksbewegun- 
gen zu  erleichtem,  weit  leichter  und  hemmungsloser.  Der  kleinste  seelische 
Vorgang  löst  bei  ihnen  körperliche  Begleithandlungen  aus.  Der  Wert  dieser 
Handlungen  beruht  zunächst  lediglich  auf  ihrer  entladenden  Wirkung.  Die 
entstehenden  Bewegungen  und  Laute  können  ganz  sinnlos  sein,  ein  bloßes 
Zusammenziehen  von  Muskelgruppen,  ein  Hüpfen  und  Gestikiüieren,  ein 
Schreien,  Jauchzen,  Klagen.  Wir  beobachten  dcis  häufig  an  den  Kindern. 

Durch  die  Ausdrucksbewegungen  wird  aber  nicht  sofort  das  seelische 
Gleichgewicht  wiederhergestellt.  Dem  religiös  erregten  Menschen  z.  B.,  dem 
von  Furcht  oder  Freude,  von  Entbehrungsgefühl  oder  Glücksüberschwang 
erfüDten  Priester,  genügt  es  nicht,  ein  paar  Laute  hervorzustoßen  oder  ein 
paar  schnelle  Schritte  zu  machen.  So  leicht  kehrt  die  Ruhe  nicht  zurück. 
Die  Handlungen  müssen  eine  geraume  Zeit  fortgeführt,  die  Laute  weit  aus- 
gesponnen und  zu  umfangreichen  Lautgruppen  erweitert  werden.  Dabei  er- 
zeugt sich  ein  lebhaftes  Lustgefühl,  ja  mitunter  eine  neue  Erregung,  die 
immer  höhere  Wellen  schlägt  und  in  den  früher  beschriebenen  Rauschzu- 
stand übergeht.  Dann  erst  tritt,  mitunter  plötzlich,  Ruhe  ein. 

So  werden  die  religiösen  Handlungen  zum  Spiel.  Das  Spiel  ist,  wie  Karl 
Groos  erklärt,  eine  Tätigkeit,  die  um  ihrer  selbst  willen  ausgeübt  wird  und 
an  und  für  sich  Lustempfindungen  erzeugt.  Die  Spielhandlungen  haben 
sehr  wohl  Zweckmäßigkeit,  haben  einen  Sinn,  wenn  auch  nur  einen  spielenden 
Sinn.  Erstens  bewegen  sich  die  Glieder  dabei  harmonisch  und  meist  rhyth- 
misch, niemals  planlos  und  zufällig,  zweitens  schließen  sich  die  Bewegungen 

122 


zu  scheinbaren  Zweckhandlungen  zusammen,  z.  B.  zu  scheinbaren  An- 
griffs- oder  Verteidigungshandlungen,  zu  erotischen  Bewerbungshandlungen, 
zu  nachahmenden  Handlungen.  Damit  haben  wir  gleich  einige  Hauptgrup- 
pen der  menschlichen  und  zum  Teil  schon  der  tierischen  Spiele  genannt. 
Ebenso  gliedern  sich  die  Laute  und  werden  zu  Worten  und  Sätzen ;  es  ent- 
stehen Gebete,  lyrische  und  epische  Schöpfungen.  Und  die  Töne  werden  zu 
Tongruppen,  zu  Gesängen  und  instrumentalen  Vorführungen.  Mit  den 
künstlerischen  Eigenschaften  aller  dieser  erweiterten  Ausdrucksbewegungen 
werden  wir  uns  unten  näher  beschäftigen;  vorerst  bleiben  wir  bei  ihrem 
Spielcharakter  stehen. 

Insofern  die  religiösen  Handlungen  ihre  Entstehung  dem  menschlichen  Be- 
dürfnis verdanken,  psychische  Spannungen  physisch  zu  entladen  und  zwar 
in  Bewegungsgruppen,  die  ihren  Wert  und  Zweck  in  sich  selber  tragen,  sind 
sie  Spiele.  Es  ist  das  Natürlichste,  daß  die  Spiele  von  dem  vorgenommen 
werden,  der  ihrer  bedarf;  jedoch  ist  unser  menschhcher  Organismus  so  ein- 
gerichtet, daß  auch  dann  eine  Entladung  unserer  Spannung  erfolgt,  wenn 
wir  den  Spielhandlungen  eines  anderen  zuschauen,  oder  wenn  wir  ferne  Mit- 
wisser eines  vorgenommenen  Spieles  sind.  Die  Gef  ühls\virkung  tritt  auch  bei 
den  nur  passiv  Teilnehmenden  ein,  weil  der  Mensch  die  Gabe  der  sogenann- 
ten Einfühlung  oder  inneren  Nachahmung  besitzt.  Wenn  wir  einen  anderen 
etwas  tun  sehen  oder  sagen  hören,  so  hat  das  bei  gut  begabten  und  stark 
empfindenden  Menschen  fast  dieselbe  Wirkung,  als  wenn  wir  selber  es  tun 
oder  sagen.  Wir  erleben  das  Geschaute  und  Gehörte  mit,  begleiten  es  auch 
wohl  mit  geringen  Bewegungen  der  Glieder  und  der  Kehlkopfmuskeln.  Auf 
dieser  Fähigkeit  des  Mitfühlens  beruht  aller  Kunstgenuß  und  beruht  über- 
haupt alle  höhere  menschliche  Kultur. 

Für  das  Bewegungsspiel  tritt  also  das  Empfindungsspiel  ein,  das  eigene 
Ausführen  heihger  Handlungen  wird  ersetzt  durch  Anschauen  und  Anhören 
der  vom  Priester  vorgenommenen  Handlungen.  Wie  wir  im  Konzert  den 
Tönen  der  Musiker  lauschen,  so  sieht  der  gläubige  Katholik  das  heilige 
Schauspiel  der  Messe  an  und  fühlt  die  Gnadenwirkung  fast  ebenso  deuthch 
wie  der  Protestant,  der  selber  den  Abendmahlskelch  trinkt.  Ein  kleiner 
Unterschied  bleibt  allerdings  bestehen  und  unter  Umständen  wird  dieser 
Unterschied  sehr  wichtig.  Wenn  nämlich  die  nur  empfindend  Teilnehmenden 
sehr  lebhaft  bewegt  werden,  drängt  es  sie  zur  Aktivität ;  die  Passivität  wird 
ihnen  lästig,  weil  sie  die  Spannungen  nicht  ganz  löst :  sie  verlangen  dringend, 
die  Handlungen  selber  körperlich  zu  vollziehen.  Die  Gemeinde  will  mittun; 
die  Stellvertretung  des  Priesters  erscheint  unzureichend.  In  religiös  bewegten 
und  rehgiös  produktiven  Zeiten  tritt  daher  stets  das  Bedürfnis  nach  Massen- 
handlungen, Massengesang,  kurz  nach  gemeinsamer  rehgiöser  Spielbetätigung 

123 


des  Volkes  hervor.  In  solchen  Zeiten  nähert  sich  der  Mensch  wieder  dem  Zu- 
stande der  Kindheit;  denn  die  Kinder  und  die  Naturvölker  wollen  stets 
selber  in  Tätigkeit  treten,  zum  Teil  wohl  deshalb,  weil  die  Fähigkeit  des  Mit- 
fühlens  und  inneren  Mithandelns  noch  nicht  genügend  entwickelt  ist.  Der 
naive  Mensch  fühlt  sich  von  Spannung  und  Druck  nur  dann  befreit,  wenn  er 
sich  möglichst  umfassend  entladen,  also  starke  Bewegungen  machen,  laute 
Töne  und  Worte  von  sich  geben  kann.  Ihm  genügt  es  nicht,  wenn  der  prie- 
sterliche Künstler  vor  seinen  Augen  einen  Solotanz  aufführt  oder  kunstvolle 
musikalische  Vorführungen  darbietet ;  auch  die  solistische  Zauberhandlung, 
z.  B.  das  Schlachten  und  Verbrennen  eines  Opfertieres  genügt  ihm  nicht. 
Er  will  mithandeln,  mittanzen,  mitsingen,  will  von  dem  Opfer  essen.  Min- 
destens will  er  die  Rhythmen  des  Tanzes  durch  Händeklatschen,  durch 
Stampfen  mit  den  Füßen  oder  ähnliche  Tanzandeutungen  unterstützen ;  er 
will  in  die  Kernstellen  des  priesterlichen  Gesanges  einstimmen,  sie  wieder- 
holen und  beantworten;  er  will  bei  der  Opferhandlung  in  die  Knie  sinken, 
sie  mit  Gebeten  begleiten.  Kurz,  es  kommt  zu  Massenzeremonien  der  ganzen 
versammelten  Gemeinde.  Überall  wo  wir  Massenzeremonien  in  größerer 
Ausdehnung  finden,  herrscht  reges  religiöses  Empfinden:  der  innere  Drang 
sucht  volle  befriedigende  Entladung. 

Wir  dürfen  hierbei  nicht  die  Wirkung  der  ,, großen  Zahl"  vergessen.  Wenn 
die  ganze  Gemeinde  sich  versammelt,  steigert  sich  oder  erzeugt  sich  erst 
die  religiöse  Spannung.  Die  Gefühle,  die  bedrückenden  und  beglückenden 
Seelenregungen  der  Einzelnen  summieren  sich  dann  und  erreichen  eine 
solche  Höhe,  daß  nur  gemeinsame  Spielbetätigung  ihnen  Befriedigung  ver- 
schaffen kann.  Was  ist  des  Priesters  Aufgabe,  wenn  die  Gemeinde  sich  um 
ihn  sammelt?  Den  Bewegungsdrang  in  die  rechte  Bahn  zu  leiten  und  das 
Spiel  mit  wertvollem  religiösen  Gehalt  zu  füllen.  Er  wird  zum  Spielleiter, 
zum  künstlerischen  Organisator,  zum  Erfinder  großer  symbolischer  Massen- 
handlungen. 

In  religiös  gleichgültigen  Zeiten  ward  die  Gemeinde  keine  Neigung  haben, 
sich  zu  religiösen  Rauschfesten  zu  versammeln,  und  kein  Bedürfnis,  ge- 
meinsame Spiele  unter  priesterlicher  Leitung  zu  veranstalten.  Es  sind  das 
Zeiten,  wo  das  Volk  hinreichend  Gelegenheit  findet,  die  seelischen  Span- 
nungen im  werktätigen  Handeln  zu  entladen ;  oder  aber  die  Religion  und  ihr 
Vertreter  ist  den  Anforderungen  der  Zeit  nicht  gewachsen,  das  Volk  sucht 
in  unreligiösen  Spielen,  in  allerhand  Ausschweifungen  und  Zerstreuungen 
Ersatz  für  das,  was  ihm  der  Priester  nicht  zu  bieten  vermag. 

In  solchen  Zeiten  entsteht  also  eine  Entfremdung  zwischen  Priester  und 
Gemeinde,  ein  Mißverhältnis  zwischen  der  Rehgion  und  dem  Entladungs- 
bedürfnis des  Volkes.  Was  wird  in  solchen  Zeiten  aus  den  Kulthandlungen  ? 

124 


Der  Priester  vollzieht  sie  ohne  Mitwirkung,  oft  ohne  Anwesenheit  der  Ge- 
meinde. Dadurch  verlieren  sie  ihre  Einfachheit  und  Größe;  sie  werden 
fachmännischer,  formelhafter,  spielerischer.  Der  Priester  verliert  sich  in 
Spitzfindigkeiten,  in  zeremoniellem  Tand.  Aber  unter  Umständen  bildet  er 
die  Handlungen  auch  zu  feinen  Kunstwerken  aus.  Der  Priester  kann  sich 
in  solchen  Zeiten  nach  sehr  verschiedenen  Richtungen  hin  entwickeln; 
er  kann  zum  kabbalistischen  Wortverdreher  werden  oder  zum  virtuosen 
Dialektiker  oder  zum  steifen  Hüter  alter  Formen  und  Gebräuche  oder  zum 
toten  Heilsmechanismus  oder  zum  leidenschaftlichen  Freund  der  Unterhal- 
tungsspiele und  zerstreuenden  Genüsse,  oder  zum  behäbigen  Philister  oder 
endlich  zum  feinsinnigen  Artisten  und  feinnervigen  ,, Lebenskünstler".  Viel- 
leicht gelingt  es  ihm  sogar,  alle  diese  verschiedenen  und  doch  nahe  ver- 
wandten Charaktere  und  Neigungen  in  seiner  Person  zu  vereinigen.  Im  ka- 
tholischen Klerus  gibt  es  Beispiele  genug,  daß  solche  Vereinigung  sehr  wohl 
möglich  ist.  Der  Katholizismus  führt  uns  die  reinliche  Scheidung  von  Prie- 
stertum  und  Laientum,  die  Passivität  des  letzteren  und  die  fachmännisch- 
spielerische Religiosität  des  ersteren  deutlich  vor  Augen,  obwohl  keineswegs 
geleugnet  werden  soll,  daß  sich  im  Katholizismus  auch  Gegenströmungen 
bemerkbar  machen  und  in  früheren  Jahrhunderten  gemacht  haben.  Aber 
diese  religiösen  Gegenströmungen  wandten  sich  stets  gegen  das  Priestertum 
und  insofern  gegen  die  Grundlagen  der  gesamten  katholischen  Kirche.  Sie 
entstammten  dem  Ungenügen  religiös  gespannter  Naturen  an  dem  äußer- 
lichen und  fachmännischen  Religionsbetrieb  der  Kirche.  Diese  Naturen  fühl- 
ten ganz  richtig,  daß  eine  spielerische  Priesterschaft  ihren  Wert  und  ihre 
Daseinsberechtigung  einbüßt,  weil  sie  nicht  mehr  imstande  ist,  gewaltige 
seelische  Spannungen  im  Volke  zur  religiösen  Entladung  zu  bringen.  Daher 
verlangten  diese  prophetischen  Naturen  und  Volksbewegungen,  daß  die 
Laien  zur  aktiven  Mitwirkung  beim  Gottesdienst  zugelassen  werden  sollten. 
Nicht  mehr  sollte  der  Priester  für  alle  beten,  singen,  Messe  lesen,  den  Kelch 
trinken;  sondern  gemeinsam  wollte  man  Gott  dienen,  gemeinsam  sich  zu 
Gott  emporschwingen,  gemeinsam  singen,  beten,  kommunizieren.  So  erklärt 
es  sich,  daß  der  Laienkelch  zu  einem  Hauptzankapfel,  und  der  Gemeinde- 
gesang zu  einem  Grundpfeiler  des  Protestantismus  werden  konnte. 

Aber  wenn  die  Reformatoren  für  die  religiöse  Aktivität  der  Gemeinde 
kämpften,  kämpften  sie  zugleich  gegen  die  guten  und  großen  Seiten  der 
bisherigen  Priesterreligion,  nämlich  gegen  die  Verfeinerung  der  Kunst  und 
die  Vertiefung  der  Wissenschaft.  Die  Bilderstürmer  gehören  mit  Notwendig- 
keit in  die  Reformationsbewegung  hinein.  In  ihnen  kam  der  Haß  der  religiös 
bedürftigen  Laienwelt  gegen  die  religiöse  Virtuosität  der  Priester  zum  deut- 
lichsten, aber  auch  barbarischsten  Ausdruck.  Die  Kunst  des  ^Mittelalters  und 


der  Renaissance  hatte  sich  nur  unter  dem  Schutze  einer  Priesterreligion  ent- 
falten können.  Die  von  der  Religion  lebenden,  von  den  Bedrängnissen  des 
Volkes  wenig  berührten  Priester  hatten  ihre  Muße  zur  Ausbildung  und  Be- 
förderung dieser  Kunst  verwendet.  Sie  spielten  mit  ihren  religiösen  Gefühlen 
und  brachten  sie  in  schönen  Kunstwerken  zur  Darstellung.  Ihnen  war  die 
Religion  eine  lust-  und  nuancenreiche  Phantasiebetätigung.  Dagegen  em- 
pörten sich  die  gespannten  und  gequälten  Seelen  der  Reformationszeit.  Als 
Luther  in  Rom  war,  hatte  er  ganz  ähnliche  Empfindungen  wie  der  Buß- 
prediger Savonarola,  wenn  er  das  florentinische  Kunsttreiben  sah.  Und  wie 
Fra  Bartolomeo  seine  eigenen  Bilder  ins  Feuer  warf,  so  zerstörten  die  Bilder- 
stürmer die  Kunstwerke  der  deutschen  Kirchen.  Den  religiös  Erregten  ist 
zu  allen  Zeiten  das  künstlerische  Spielen  mit  den  menschlichen  Qualen  und 
Ängsten,  mit  den  Wonnen  und  Begehrungen,  mit  aUem  Höchsten  und  Tief- 
sten, unerträglich  gewesen.  Die  Reformationszeit  fragte :  wo  ist  der  strafende 
und  erlösende  Gottheiland  geblieben  ?  Er  ist  zu  einem  Vorwurf  für  geschickte 
Künstlerhände,  zu  einem  Genußgegenstand  für  betrachtende  Augen  ge- 
worden. Und  wo  ist  das  heilige  und  schaurige  Opfermysterium  geblieben? 
Es  ist  zu  einem  prächtigen  Schauspiel  und  einem  abwechslungsreichen  Ton- 
stück geworden. 

Kurz,  die  Reformatoren  woUten  die  Religion  vom  Spiel  zum  Ernst  zurück- 
führen, und  dasselbe  haben  die  religiösen  Propheten  und  Revolutionäre  zu 
allen  Zeiten  gewollt  und,  wenn  sie  glücklich  waren,  ausgeführt.  Sie  haben  das 
Dämonische  und  das  Tragische  wieder  in  der  Religion  zur  Geltung  gebracht ; 
die  bestehenden  Formen  der  religiösen  Triebentladung  erschienen  ihnen 
oberflächlich  und  hohl,  darum  zerstörten  sie  sie.  Sie  fühlten,  daß  das  reli- 
giöse Spiel  so,  wie  es  gehandhabt  wTirde,  nicht  mehr  den  heißesten  Strom 
rehgiöser  Erregung  in  sich  aufnehmen,  nicht  mehr  der  höchstgesteigerten 
religiösen  Spannung  zur  Entladung  dienen  konnte.  Die  Formen  zerbrachen 
von  selber,  als  sich  die  wilde  Kraft  des  Enthusiasmus  und  die  tiefe  Gewalt 
des  Heroismus  in  sie  ergießen  wollte.  Und  so  kehrt  der  religiöse  Mensch  in 
allen  großen,  neuernden  Epochen  zur  Einfachheit  zurück,  zur  Gemeinsam- 
keit der  heiligen  Handlungen,  Die  Reichhaltigkeit  und  fachmännische  Fein- 
heit des  religiösen  Spiels  geht  verloren;  statt  dessen  wird  es  monumentaler 
imd  allgemeingültiger. 

Das  Verhältnis  der  Religion  zum  Spiel  ist  also  nicht  leicht  auf  eine  ein- 
fache Formel  zu  bringen.  Wenn  wir  mit  Groos  den  Begriff  des  Spieles  dahin 
bestimmen,  daß  es  eine  lustvoUe  Triebbefriedigung  sei,  die  ihren  Zweck  nicht 
außer  sich,  sondern  in  sich  selber  trage,  so  scheinen  Religion  und  Spiel  ein- 
ander sogar  recht  fernzustehen.  Die  Religion  wird  häufig  als  eine  Gegen- 
macht gegen  den  Spieltrieb  angesehen:  sie  bekämpft  die  Befriedigung  des 

126 


lust vollen  und  zwecklosen  Betätigungsdranges  als  unreligiös,  oft  auch  als 
unsittlich.  Jedoch  ist  das  nur  der  Widerstand  gegen  einzelne  Arten  und  Rich- 
tungen der  spielenden  Triebbefriedigung,  nicht  gegen  eine  solche  Befrie- 
digung überhaupt.  Ohne  den  menschlichen  Spieltrieb  gäbe  es  kein  einziges 
religiöses  Glaubens-  und  Kultgebilde.  Groos  hat  nachgewiesen,  wie  tief  das 
Spiel  in  das  gesamte  Leben  der  höheren  organischen  Wesen  eingreift,  wie 
es  zugleich  eine  Art  Untergrund  und  eine  Art  Krönung  des  menschlichen 
Daseins  ist.  Nach  der  früheren  Anschauung,  die  besonders  von  Schiller 
in  den  ästhetischen  Briefen  und  von  Spencer  vertreten  worden  ist,  wäre  das 
Spiel  ein  Ausfluß  des  Kraftüberschusses  ungenügend  beschäftigter  Organis- 
men. Wenn  Kräfte  brachliegen,  wenn  der  Mensch  durch  den  Kampf  mit  der 
Lebensnot  nicht  vollauf  hingenommen  ist,  entlädt  sich  die  aufgespeicherte 
seelische  Energie  in  zwecklosen  Handlungen  und  Lauten.  Das  trifft  auch  für 
den  Priester  in  vielen  Fällen  zu;  denn  der  Priester  hat  sich  fast  stets  von 
der  körperlichen,  das  Leben  fristenden  Arbeit  zu  befreien  gewußt ;  er  verfügt 
also  über  einen  großen  Schatz  von  freier  seelischer  Kraft.  Indem  sich  diese 
Kraft  in  Handlung  umsetzt,  wird  der  Priester  zum  Erfinder  religiöser  Spiele. 

Gegen  die  Spencer  sehe  Theorie  hat  man  eingewendet,  daß  nicht  bloß  un- 
tätige Menschen  spielen,  die  einen  Überschuß  von  Kraft  haben,  sondern  auch 
überanstrengte  Menschen,  die  sich  im  Spiel  von  der  aufreibenden  Lebens- 
arbeit ausruhen  wollen.  Auf  diese  unbestreitbare  Tatsache  hat  man  eine 
zweite  Theorie  des  Spiels,  die  sogenannte  Erholungstheorie,  gegründet.  Auch 
für  sie  bietet  das  religiöse  Leben  zahlreiche  Beispiele.  Wie  oft  dient  die  Aus- 
führung reUgiöser  Zeremonien  z.  B.  das  Tanzen,  Waschen,  Beten  den  vom 
Leben  arg  bedrängten  und  niedergedrückten  Menschen  zur  Erholung  und 
Auffrischung  der  Kräfte!  Der  religiöse  Feiertag,  überhaupt  jedes  Fest  ist 
eine  Pause  zwischen  den  sauren  Wochen  der  Arbeit.  Der  Mensch  atmet  auf; 
er  zieht  einen  anderen  Menschen  an  (vgl.  meinen  Aufsatz:  Feste  und  Jubi- 
läen, Die  Tat  I,  ii).  Fast  immer  aber,  wenn  der  Mensch  das  Bedürfnis  hat, 
aufzuatmen  und  den  Festtagsmenschen  anzuziehen,  verfällt  er  auf  religiöse 
Betätigungen.  Die  Religion  ist  die  edelste  Form  menschlicher  Erholung. 
Der  Priester  und  der  Künstler  bieten  ihm  ihre  Spielerfindungen  dar  und 
begierig  greift  er  danach,  weil  er  fühlt,  daß  er  durch  das  religiöse  Spiel  am 
schönsten  seiner  Müdigkeit  Herr  wird,  am  sichersten  die  Sorgen  und  Küm- 
mernisse des  Werktags  verscheucht,  am  freiesten  sich  über  sich  selber  und 
die  Schranken,  die  ihn  umgeben,  erhebt. 

Diesen  beiden  Theorien,  die  einander  keineswegs  ausschließen,  hat  Groos 
noch  eine  Betrachtung  über  den  biologischen  Wert  des  Spieles  hinzugefügt. 
Ein  großer  Teil  der  Spiele,  namentlich  die  der  Kinderjahre,  sind  ein  unver- 
gleichliches Mittel,  die  Kräfte  und  Betätigungen  für  den  Ernstfall  einzuüben. 

127 


Was  das  Leben  vom  Erwachsenen  fordert,  lernt  die  Jugend  im  Spiel;  aber 
auch  der  Erwachsene  kann  spielend  Kräfte  zur  Entwicklung  bringen  oder 
sie  lebendig  erhalten.  Das  religiöse  Leben  vieler  Völker  bestätigt  auch  diese 
Übungstheorie  auf  Schritt  und  Tritt.  Namentlich  sind  hier  die  Kriegs-  und 
Jagdtänze  der  primitiven  Völker  zu  erwähnen,  die  eine  ähnliche  Bedeutung 
haben  wie  unsere  soldatischen  Übungen.  Auch  andere  rehgiöse  Handlungen 
stellen  sich  deutlich  als  Unterrichts-  und  Erziehungsveranstaltungen  dar. 
Bei  den  Kulturvölkern  wird  besonders  die  sittliche  Bildung  durch  die  reU- 
giösen  Übungen  gefördert  und  begründet.  Der  Rosenkranz,  die  Bußübungen, 
die  rituellen  Beschränkungen  können  in  hohem  Grade  disziplinierend  wirken. 
Der  Priester  ist  Spielleiter,  sagten  wir;  das  hieße  in  lateinischer  Übersetzung: 
er  ist  ludi  magister,  will  sagen  Schulmeister.  Schule,  Erholung,  Spiel  scheinen 
uns  zwar  heute  recht  verschiedene  und  sogar  gegensätzliche  Begriffe  zu  sein, 
aber  ursprünglich  waren  sie  fast  gleichbedeutend.  Wenn  der  christliche  Prie- 
ster bisweilen  in  dem  Spieltrieb  der  Jugend  einen  Feind  und  Nebenbuhler 
seiner  Erziehungstätigkeit  erblickt  hat,  so  hat  er  damit  nicht  bloß  seine 
eigene  priesterliche  Tätigkeit  und  Vergangenheit  verurteilt,  sondern  auch 
Verständnislosigkeit  gegenüber  den  Gesetzen  der  menschlichen  Psyche  be- 
wiesen. 

Und  doch  ist  es  begreiflich  und  berechtigt,  wenn  der  Priester  gegen  das 
Spielbedürfnis  der  jugendlichen  und  der  erwachsenen  Menschheit  eine  Ab- 
neigung empfand.  Er  wehrte  sich  gegen  den  Willkürcharakter  des  Spiels, 
gegen  die  selbstherrliche  Freiheit,  die  der  Spielende  genießt.  Seine  religiösen 
Spiele  trugen  eher  einen  Zwangscharakter;  er  fühlte  sich  nicht  frei,  wenn  er 
die  heiligen  Handlungen  vornahm  und  den  heiligen  Pflichten  nachkam.  Der 
ernste,  mit  sich  selber  ringende  Priester  will  weder  überflüssige  Kräfte  in 
Tätigkeit  setzen,  noch  sich  ausruhend  erholen,  noch  sich  für  den  Ernstfall 
einüben.  Wenn  er  sich  zu  Gott  wendet  und  in  Gebeten  oder  Handlungen  sich 
ausströmen  läßt,  gehorcht  er  einem  inneren  Zwange,  einer  quälenden  Seelen- 
not. In  den  religiösen  Handlungen  und  Phantasieschöpfungen  machen  sich 
unbewußte  Wünsche  und  Vorstellungen  Luft.  Die  Triebe,  die  er  unterdrückt 
hat,  die  Geister,  die  er  gefesselt  hat,  suchen  in  den  Kultzeremonien,  in  den 
Tänzen,  Festorgien,  Gesängen,  Klagen  Ausdruck,  wenn  auch  einen  entstell- 
ten und  pathologischen  Ausdruck.  Freud  hat  die  religiöse  Betätigung  mit 
den  Zwangshandlungen  der  Neurotiker  verglichen  und  die  Religion  als  eine 
universelle  Zwangsneurose  bezeichnet  (Kleine  Schriften  zur  Neurosenlehre 
II).  Das  klingt  im  ersten  Augenblick  ebenso  ungereimt,  als  wenn  man  die 
Religion  als  eine  Äußerung  des  menschlichen  Spieltriebes  bezeichnet.  Aber 
wie  diese  so  ist  jene  Bezeichnung  nicht  unzutreffend;  überdies  weisen  beide 
Definitionen  in  die  gleiche  Richtung. 

128 


Unter  Zwangshandlungen  versteht  man  die  merkwürdigen  Verrichtungen, 
mit  denen  manche  Ner\"enkranke  einen  guten  Teil  ihres  Lebens  hinbringen. 
Z.  B.  zählen  sie  alle  Fensterscheiben,  lesen  alle  Firmenschilder,  sprechen, 
bevor  sie  zu  wichtigen  Angelegenheiten  schreiten,  eine  Formel  viele  Male  vor 
sich  hin,  umgeben  die  täghchen  Handlungen,  wie  Ankleiden,  Waschen  usw. 
mit  einem  umständhchen  Zeremoniell.  Warum  tun  sie  alles  das?  Weil  sie 
müssen.  Sie  werden  von  furchtbarer  Unruhe  und  Angst  ergriffen,  wenn  sie 
eine  einzige  dieser  Zwangshandlungen  unterlassen  oder  vergessen.  Sie  opfern 
Zeit  und  Kraft  für  dies  scheinbar  so  nutzlose  Treiben,  das  eine  unverkenn- 
bare ÄhnHchkeit  mit  der  Spiel tätigkeit  hat.  Namentlich  wenn  das  Spielen 
zu  einer  Leidenschaft  wird,  geht  es  ohne  Zwischenstufe  in  das  krankhafte 
Spiel  der  Zwangsneurotiker  über. 

Wenn  der  Kranke  seine  spielerischen  Zwangshandlungen  richtig  innehält, 
fühlt  er  sich  ruhig  und  zufrieden.  Fragt  man  ihn  aber,  was  denn  diese  Hand- 
lungen eigenthch  bedeuten  und  warum  es  gerade  diese  und  keine  anderen 
sein  müssen,  so  kann  er  meist  keine  Antwort  darauf  geben.  Bei  eingehender 
Prüfung  stellt  sich  manchmal  der  Sinn  der  Handlungen  heraus.  Sie  waren 
ursprünghch  nicht  zwecklos,  sondern  haben  sich  das  erste  Mal,  wo  sie  vor- 
genommen wurden,  ganz  natürlich  aus  den  Umständen  ergeben.  Was  für 
Umstände  waren  das?  Wenn  Freud  recht  hat,  waren  es  peinhche,  tiefer- 
regende Vorfälle.  Der  Kranke  hat  ein  Erlebnis  gehabt,  bei  dem  sich  ein  quä- 
lender Kampf  zwischen  seinen  Trieben  und  den  sitthchen  Hemmungen  er- 
gab. Die  Triebe,  oft  sind  es  die  sexuellen,  meldeten  sich  zur  Unzeit  oder 
wurden  durch  einen  äußeren  Anlaß  gereizt,  während  das  sitthche  oder  soziale 
Gefühl  im  Einklang  mit  der  Vernunft  diese  Trieberregung  verurteilte  und 
zu  unterdrücken  suchte.  Das  erzeugte  eine  heftige  Spannung  und  diese  Span- 
nung entlud  sich  durch  eine  motorische  oder  lauthche  Handlung,  durch  ein 
paar  ablenkende  Worte  oder  Bewegungen,  durch  einen  Fluch,  ein  mecha- 
nisches Zählen,  kurz  durch  Abwehr-,  Schutz-  und  Beschwichtigungshand- 
lungen. Die  Handlung  oder  das  Wort  war  also  eine  Flucht,  ein  rettender  Aus- 
weg, ein  Bhtzableiter  gewissermaßen.  So  woirde  der  unerträgHche  innere 
Konfhkt  beseitigt.  Aber  nicht  dauernd  wmrde  er  beseitigt,  nicht  endgültig  war 
er  begraben.  Die  Ablenkung  durch  spielende  Zwangshandlungen  und  Zwangs- 
worte ist  ja  nur  ein  Kompromiß,  ein  Verschieben  der  Entscheidung;  die 
Handlungen  sind  kein  \virkhcher  Sieg  über  die  Dämonen,  sondern  nur  eine 
Beschwichtigimg  und  Einschläferung  derselben.  Dahermüssen  dieBeschwich- 
tigungs-  und  Ablenkungshandlungen  auch  immer  von  neuem  vorgenommen 
werden.  So  oft  die  bösen  Lüste  sich  wieder  melden,  so  oft  der  Konfhkt  durch 
äußere  Anlässe  oder  aus  inneren  Gründen  von  neuem  brennend  \sird,  schrei- 
tet der  Kranke  un\\allkürhch  zu  denselben  Schutzhandlungen,  die  ihm  da- 

9  Horneffer,  Der  Priester  II  I2Q 


mals  Entladung  und  Beruhigung  verschafften.  Er  wird  sich  des  Neuerwa- 
chens der  eingeschläferten  Geister  vielleicht  gar  nicht  bewußt;  noch  bevor 
sie  sich  deutlich  regen  und  über  die  Schwelle  des  Bewußtseins  treten,  werden 
sie  von  den  Türhütern,  nämlich  den  Abwehrhandlungen  und  Schutzformeln 
in  Empfang  genommen  und  unschädlich  gemacht.  Man  kann  daher  geradezu 
sagen :  das  Zeremoniell  der  Zwangskranken  ist  eine  unnatürliche  Form  ihrer 
Triebbefriedigung;  denn  die  Trieberregung  ergießt  sich  in  das  Bett  dieser 
ablenkenden  Handlungen;  indem  die  Erregung  abgewehrt  wird,  erfährt  sie 
zugleich  eine  Befriedigung ;  die  leidenschaf thche  Spannung  kommt  zur  Ent- 
ladung. Aber  wie  wir  schon  sagten,  ist  diese  Befriedigung  unvollkommen, 
ist  nur  ein  Surrogat,  nur  eine  Phantasiebefriedigung.  Alle  Zwangshandlungen 
sind  Surrogate,  wie  überhaupt  jedes  Spiel,  jedes  Scheintun  etwas  Surrogat- 
artiges hat. 

Bevor  wir  diese  pathologische  Betrachtung  auf  das  religiöse  Kultwesen 
anwenden,  wollen  wir  uns  an  einige  verwandte  Krankheitserscheinungen 
erinnern.  Was  wir  soeben  von  den  Zwangshandlungen  sagten,  trifft  zum  Teü 
auch  für  die  Zwangsgedanken,  die  Wahnvorstellungen,  die  Halluzinationen, 
die  Einbrüche  zu,  ja  auch  für  körperhche  Störungen  psychischen  Ursprungs, 
also  Lähmungen,  Anfälle  usw.  Man  wird  zuweilen  von  einem  Gedanken, 
einer  Melodie,  einem  Bude  unablässig  verfolgt  und  kann  es  nicht  aus  dem 
Kopfe  bringen.  Wie  sind  solche  Zwangsgedanken  zu  erklären  ?  Die  Gedanken 
und  Bilder  sind  uns  vielleicht  an  und  für  sich  gleichgültig,  sie  werden  uns 
im  höchsten  Grade  lästig  und  langweilig;  trotzdem  werden  wir,  wenn  wir 
geistig  unbeschäftigt  sind,  immer  wieder  zu  ihnen  zurückgeführt.  Es  ist  ein 
wirklicher  Zwang;  es  ist  ein  Spiel,  an  dem  wir  immer  wieder  teilnehmen 
müssen,  ob  wir  nun  wollen  oder  nicht.  Offenbar  erhalten  diese  hartnäckigen 
Zwangsgebilde  Nahrung  aus  dem  unbewußten  Seelenleben;  sie  zeigen  an, 
daß  in  uns  eine  psychische  Spannung  besteht,  die  vergeblich  nach  Lösung 
trachtet  und  die  sich  deshalb  durch  die  spielende  Wiederholung  jener 
Zwangsgebüde  eine  Ersatzbefriedigung  verschafft.  Irgendwie  ist  der  Zwangs- 
gedanke zweifellos  mit  den  Geistern  der  Tiefe  verknüpft  und  verkettet,  er 
ist  eine  Art  Bote  für  andere,  schlimmere,  Gedanken,  die  wir  aus  sittlichen 
oder  Vernunftgründen  unterdrückt  und  abgewehrt  haben.  Die  bösen  Ge- 
danken, die  verwerflichen  oder  traurigen  Gefühle  sind  wir  los:  aber  nur  um 
den  Preis,  daß  uns  andere,  an  sich  gleichgültige  Gedanken  und  Gefühle 
quälen,  in  die  die  Erregungssumme  jener  schlimmen  Geister  hineingeflossen 
ist.  Anstatt  Sklaven  unserer  Leidenschaften  sind  wir  nun  Sklaven  unserer 
Zwangsgedanken,  unserer  Wahnbildungen  und  Halluzinationen.  Auch  die 
Halluzinationen  im  Wachen  und  im  Traume  sind  Abgesandte  jener  Geister, 
die  sich  nicht  selber  an  das  Tageshcht  wagen.  Als  Traumphantasie  steigen 

130 


sie  aus  dem  Dunkel  herauf;  nackt  oder  in  verhüllenden  schamhaften  Ge- 
wändern tanzen  sie  ihren  Reigen  und  verschaffen  sich  die  Befriedigung,  die 
ihnen  der  nüchterne  und  wache  Geist  versagt.  Auch  hier  kommt  natürlich 
nur  eine  Scheinbefriedigung  zustande;  es  ist  nur  ein  Spiel;  die  „trotzigen 
Tyrannen",  wie  Platon  sagt,  werden  in  den  Traum-  und  Wachphantasien 
beschwichtigt  und  gleichsam  betrogen. 

Die  Traumphantasien  sind  entweder  beglückender  oder  beängstigender 
Art,  oder  sie  sind  gleichgültig  wie  manche  Zwangsgedanken  des  wachen 
Lebens.  Sowohl  Engel  wie  Teufel  treten  in  ihnen  auf,  sowohl  befriedigte  Be- 
gierden wie  Qualen  der  Furcht  und  der  Entbehrung.  Dieser  Gegensatz  ist 
nicht  so  tiefgehend,  wie  es  zunächst  den  Anschein  hat;  in  beiden  Fällen  findet 
eine  spielende  Spannungsentladung  statt.  Bei  den  beglückenden  Träumen, 
bei  den  reinen,  göttlichen  Phantasiebildungen  und  Halluzinationen  der  reh- 
giösen  Heiligen  ist  das  Spiel  gleichsam  den  positiven  Weg  gegangen:  die 
Wünsche  und  Triebe  selber  treten  in  subhmierter  Gestalt  als  ihre  eigenen  Er- 
füllungen auf.  Bei  den  schrecklichen  und  quälenden  Phantasien  dagegen 
haben  wir  eine  Darstellung  des  Kampfes  selber;  die  Spannung  löst  sich  da- 
durch, daß  sie  bloß  gestaltet  und  der  Kampf  mit  tiefer  Erregung  durchlebt 
wird.  Man  kann  sagen,  daß  der  Schreckenstraum  und  die  düsteren  Wach- 
phantasien das  Gerüst  für  die  Tragödie  hergeben ;  die  beseligenden  Phanta- 
sien dagegen  werden  zu  rehgiösen  Wunschmythen ;  aus  ihnen  entspringt  der 
Glaube  an  Götter  und  an  die  ewige  Seligkeit. 

Wir  sind  damit  schon  zur  Anwendung  der  genannten  Krankheitsvorgänge 
—  im  weiteren  Sinne  rechnen  wir  auch  den  Traum  zu  den  pathologischen 
Erscheinungen  —  auf  das  rehgiöse  Leben  und  die  Kultspiele  übergegangen. 
Wer  könnte  leugnen,  daß  die  Religion  zu  allen  Zeiten  auf  Regelung,  Be- 
schränkung, Unterdrückung  der  menschlichen  Triebregungen  ausgegangen 
ist?  Schon  die  primitivsten  religiösen  Äußerungen  entspringen  aus  dem 
Kampfe  des  Menschen  mit  der  Umwelt;  dieser  Kampf  aber  verbindet  sich 
notwendig  mit  einem  Kampf  in  der  menschUchen  Seele.  Wenn  der  Urmensch 
sich  gegen  wilde  Tiere  und  Naturereignisse  wehrt,  greift  er  zu  Kampfmitteln, 
die  eine  zeitweihge  Beherrschung  der  Triebe  z.  B.  des  Hungers  oder  der 
Furcht  erfordern.  Noch  weit  mehr  wird  er  im  feindlichen  und  freundlichen 
Verkehr  mit  den  Mitmenschen  zum  Ansichhalten  und  zur  Selbstbeschrän- 
kung  genötigt.  Es  erzeugen  sich  infolgedessen  oft  Spannungen,  die  nicht  so- 
fort oder  die  überhaupt  nicht  Entladung  finden.  Was  wird  aus  den  auf  diese 
Weise  aufgestauten  Energiesummen?  Sie  bedürfen  der  Ablenkung,  sie 
suchen  auf  Umwegen  nach  Lösung,  sie  erzwingen  sich  Ersatzhandlungen  und 
Ersatzvorstellungen.  Kurz,  sie  werden  zu  Wunschphantasien  und  treten  als 
rehgiöse  Kult-  und  Glaubensgebilde  hervor.  Der  Priester  erfindet  —  weil 

9'  131 


er  es  am  nötigsten  hat  —  religiöse  Blitzableiter  für  die  gehäuften  Spannun- 
gen, er  erfindet  Spiele  und  Scheinhandlungen,  Bußübungen,  Schutzformeln, 
Rosenkränze  imd  andere  unschuldige  Gelegenheiten  zur  ablenkenden  Ent- 
ladung. Das  Erfinden  dieser  Dinge  ist  kein  Willkürakt  des  Priesters,  kein 
berechnendes  Machtstreben ;  der  Priester  gehorcht  selber  einem  Zwange,  er 
steht,  wenn  er  für  die  Trieberregungen,  denen  die  natürliche  Befriedigung  ver- 
sagt ist,  Ersatzbefriedigungen  schafft,  unter  der  zwingenden  Gewalt  seines 
eigenen  psychischen  Zustandes.  Und  wenn  die  Gemeinde  unter  Führung  des 
Priesters  die  religiösen  Spiele  aufführt,  die  Kultzeremonien  vornimmt,  den 
Glaubensgebilden  nachdenkt  und  nachlebt,  gehorcht  sie  ebenfalls  einem 
inneren  Muß,  nicht  äußeren  Befehlen,  Lockungen  oder  Drohungen  des  Prie- 
sters. Das  greift  alles  auf  Grund  rein  psychischer  Gesetze  ineinander. 

Wir  finden  auch  die  obenerwähnten  Unterschiede  in  der  Richtung  der 
Ersatz-  undSpiels  chöpfungen  auf  religiösem  Gebiete  wieder.  Erstens  haben 
wir  religiöse  Gebilde,  bei  denen  die  Triebe,  die  verdrängt  und  abgelenkt  wer- 
den sollen,  unverhüllt  und  unentstellt  hervortreten.  Als  Beispiel  seien  die 
orgiastischen  Kultbräuche,  die  sexuellen  und  sonstigen  Ausschweifungen 
innerhalb  des  Gottesdienstes  angeführt;  auch  die  unsittlichen  mytholo- 
gischen Geschichten,  die  gräßlichen  Dämonenbilder,  die  ganzen  Spuk-  und 
Schreckensphantasien  gehören  hierher,  ebenso  die  ,, Versuchungen"  der  Hei- 
ligen. Zweitens  finden  wir  religiöse  Schöpfungen,  bei  denen  umgekehrt  jede 
Spur  der  Trieberregung  ausgetilgt  ist:  nur  der  siegende,  zur  Harmonie  ge- 
langte Mensch  kommt  in  ihnen  zur  Erscheinung.  Dahin  gehören  alle  religiösen 
Wunschgebilde,  die  guten  Götter,  die  Himmelsvisionen,  dazu  die  entspre- 
chenden Kultgebräuche,  Freudenhymnen,  Heiligungsriten,  ekstatischen 
Handlungen.  Ferner  finden  wir  religiöse  Schöpfungen,  in  denen  der  innere 
Kampf  des  Menschen  selber  zum  Ausdruck  gelangt.  Beispiele  liefern  die 
mythologischen  Götterkämpfe,  die  heiligen  Kampf-  und  Wettspiele,  die 
Opfer-  und  Totenbräuche,  die  Selbstmißhandlungen.  Der  gestorbene  Gott 
und  der  aus  tiefer  Not  schreiende  Sünder  sind  die  hervorragendsten  Gebilde 
dieser  Form,  unterdrückten  Trieben  eine  religiöse  Scheinbefriedigung  zu  ver- 
schaffen. 

Auch  die  gleichgültigen,  scheinbar  sinnlosen  Zwangshandlungen  finden  auf 
religiösem  Gebiet  ihre  Parallele.  Man  hört  oft  davon,  daß  die  Verrichtung  der 
Kultzeremonien  den  Frommen  und  zumal  den  Priestern  zur ,, zweiten  Natur" 
würde.  Sie  üben  sie  mit  mechanischer  Selbstverständlichkeit  aus,  denken  gar 
nichts  oder  etwas  nicht  Zugehöriges  dabei,  fühlen  sich  aber  äußerst  unbe- 
haglich, wenn  sie  einmal  verhindert  sind,  den  heiligen  Gewohnheiten  nach- 
zukommen. In  allen  Religionen  kann  man  wohl  Beispiele  für  diese  gewohn- 
heitsmäßige und  zwangsmäßige  Art  der  Kultübung  finden.  Die  heiligen 

132 


Handlungen  sind  oft  so  geartet,  daß  sie  dies  spielerische  Zwangstreiben  be- 
günstigen und  herausfordern,  ich  brauche  nur  an  das  krasse  Beispiel  der 
Gebetsmühlen  zu  erinnern. 

Die  christhche  Opferhandlung  ist  wohl  die  erhabenste  Kultzeremonie,  die 
wir  kennen.  In  ihr  fand  die  unerträgHche  Spannung  der  spätantiken  Men- 
schen rehgiöse  Entladung.  Der  Mensch  dieser  Jahrhunderte  litt  an  einem 
vernichtenden  Sündengefühl ;  die  Kluft  zwischen  den  sittlichen  Forderungen, 
die  er  an  sich  stellte,  und  den  inneren  Trieben  und  äußeren  Feinden,  denen 
er  erlag,  war  unüberbrückbar.  Der  Kampf  zerrieb  und  zermürbte  ihn,  die 
Todesangst  schüttelte  ihn.  Da  leuchtete  der  rettende  Kompromißgedanke 
auf:  ich  muß  mich  an  Gott  wie  das  Kind  an  der  Mutterbrust  festsaugen, 
ich  muß  mich  von  Gott  wie  das  Weib  vom  Manne  eheUchen  und  befruchten 
lassen,  ich  muß  Gott  wie  der  Verdurstende  den  Trank,  der  Verhungernde  das 
Brot  körperHch  essen  und  trinken.  Und  diese  Gedanken,  die  als  Wahn-  und 
Zwangsgebilde  vor  die  Seele  traten,  die  aus  der  Tiefe  uralter  Menschheits- 
erinnerung  auftauchten,  schufen  sich  Ausdruck  in  den  christlichen  Kult- 
riten, zumal  in  der  Abendmahls-  und  Taufhandlung.  Die  Gedanken  allein 
waren  nicht  stark  genug,  die  Spannung  zur  Entladung  zu  bringen,  die  Qual 
zu  beenden  und  die  Erlösung  zu  vollziehen.  Die  Handlung  mußte  hinzu- 
kommen; die  Vereinigung  mit  Gott  mußte  udrklich  vollzogen,  die  Rettung 
aus  dem  entsetzUchen  Kampf  mußte  im  symbohschen  Spiel  verwirklicht 
werden.  Sehen,  fühlen,  schmecken,  handelnd  ergreifen  wollte  der  Mensch 
das  Heil ;  nur  so  war  ihm  geholfen.  Aber  freihch,  so  sinnHch  die  frühe  Chri- 
stenheit den  Erlösungsakt  gestaltete,  blieb  er  doch  immer  nur  eine  Schein- 
handlung, eine  Phantasieerlösung.  Man  ,, versinnbildlichte"  die  Lösung  und 
beschwichtigte  dadurch  die  Dämonen,  leitete  die  Erregung  ab,  stillte  die 
unstillbare  Sehnsucht.  Kurz,  der  Mensch  betrog  sich  durch  das  religiöse 
Spiel  und  verschaffte  sich  eine  Ersatzbefriedigung,  ganz  ebenso  wie  der 
Zwangskranke  und  der  Hysterische  durch  die  Bildung  der  Krankheitssym- 
ptome und  Ausführung  der  Zwangshandlungen. 

Und  weiter:  wie  der  Kranke  seine  rettende  Kompromißhandlung  immer 
von  neuem  wiederholen  muß,  weil  der  Konfhkt  nur  zeitweilig  beschworen, 
nicht  endgültig  beseitigt  ist,  so  mußte  auch  die  Christenheit  die  erlösende 
Opferhandlung  immer  von  neuem  vornehmen,  um  die  trüben  und  bösen 
Geister,  die  sich  wieder  und  wieder  meldeten,  niederzuhalten  oder  in  Schlaf 
zu  lullen.  Die  Vornahme  des  rehgiösen  Zwangsspiels  brachte  Ruhe  und  er- 
möghchte  ein  glückhches  Leben,  ähnhch  wie  der  Zwangskranke,  wenn  er 
sein  Zeremoniell  innehält,  lebensfähig  und  lebensfreudig  ist.  Und  wie  dieser 
den  Sinn  seiner  Schutz-  und  Ablenkungshandlungen  nicht  weiß,  wie  er  sie 
mechanisch  und  infolgedessen  entstellend  und  vereinfachend  ausführt  — 


diese  „Vereinfachung"  ist  ein  Ausgangspunkt  für  das  künstlerische  Phäno- 
men des  Stilisierens  — ,  so  vergessen  auch  die  Christen  und  andere  Rehgionen 
oft  den  Sinn  der  Kulthandlungen.  Ohne  sich  der  tiefen  Bedeutung  des  hei- 
ligen Spieles  bewußt  zu  sein,  treibt  die  Gemeinde  es  fort  und  vererbt  es  an 
die  folgenden  Generationen.  Und  wenn  der  Priester  auch  den  Sinn  theore- 
tisch begriff  und  kannte  oder  einen  neuen  Sinn  unterlegte  — ,  so  trat  doch 
dies  priesterliche  Wissen  bei  Ausübung  der  Handlungen  in  den  Hintergrund. 
Man  wiederholte  sie,  ohne  an  die  ursprünglichen  Beweggründe  zu  denken, 
man  entstellte  und  vereinfachte  sie  auf  mancherlei  Weise.  Ein  dumpfer 
Drang,  ein  Ungenügen  und  Unsicherheitsgefühl,  wenn  man  sie  unterließ, 
trieb  zur  fortgesetzten  Wiederholung,  zur  dauernden  Einfügung  der  Hand- 
lungen in  das  Gemeinschaftsleben  des  Volkes. 

Das  Kultspiel  wurde  zu  einem  Hauptstück  des  religiösen  Lebens.  Der  Prie- 
ster verbrachte  einen  großen  Teil  seiner  Kraft  und  Zeit  mit  dem  regel- 
mäßigen Ausführen  heiliger  Zeremonien  und  auch  die  Laienwelt  fühlte  sich 
bewogen,  einen  erheblichen  Teil  des  Lebens  auf  diese  zwangsartigen  Blitz- 
ableiterhandlungen zu  verwenden.  Wir  sahen  früher,  einen  wie  großen 
Raum  die  religiösen  Handlungen  namentlich  bei  den  Naturvölkern  einneh- 
men ;  und  wenn  man  bedenkt,  wie  viele  fromme  Katholiken  ihr  Leben  lang 
jeden  Morgen  den  Weg  zur  Messe  gehen,  so  muß  man  sagen,  daß  auch  in 
Europa  noch  dem  wirkenden  Leben  durch  das  Kultwesen  erhebliche  Kräfte 
entzogen  werden. 

Im  allgemeinen  wird  allerdings  mit  wachsender  Kultur  das  Gebiet  des 
religiösen  Kults  mehr  und  mehr  eingeschränkt.  Der  Mensch  lernt,  die  psy- 
chischen Spannungen  in  zweckvoller  Arbeit,  statt  in  dem  religiösen  Zere- 
moniell zu  entladen.  Das  ist  eine  große,  kulturschaffende  Errungenschaft. 
Die  höheren  Götter  und  ihre  Propheten  erklären:  die  Gunst  der  Götter 
könne  nicht  durch  Opfer,  Spiele  und  Gebet  erlangt  werden,  sondern  nur 
durch  Tätigkeit,  zumal  durch  soziale  Liebestätigkeit.  Aber  wenn  wir  ge- 
nauer prüfen,  ist  die  Bemühung,  den  Kult  einzuschränken  oder  gänzlich 
aufzuheben,  doch  nur  scheinbar  erfolgreich  gewesen,  und  wo  sie  wirklich  er- 
folgreich war,  sind  der  Kultur  große  Gefahren  erwachsen.  Indem  der  Kultur- 
mensch gegen  die  zwecklose  religiöse  Zwangshandlung  ankämpfte,  hat  er  den 
außerreligiösen  Spielbetätigungen  immer  mehr  Platz  eingeräumt ;  und  ferner 
hat  die  Abschaffung  der  religiösen  Entladung  ein  starkes  Anwachsen  der 
Nerven-  und  Geisteskrankheiten  im  Gefolge  gehabt.  Der  religiöse  Kult 
wirkt  befreiend  und  erlösend,  weil  er  für  solche  Energien,  die  in  unserem 
Kulturleben  nun  einmal  nicht  normal  zur  Betätigung  gelangen  können,  eine 
Abfuhr  schafft.  Z.  B.  hat  es  unzählige  unbefriedigte  oder  verunglückte 
Frauen  vor  der  Neurose  und  völligem  Verfall  gerettet,  daß  sie  sich  an  den 

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Heiland  wenden  und  religiöse  Spiele  mit  ihm  ausführen  können.  Die  Religion 
kann  auch  die  bereits  vorhandene  Neurose  beseitigen,  indem  sie  die  in  die 
Krankheitsbahn  abgeirrten  psychischen  Energien  auf  das  religiöse  Gebiet 
hinüberlenkt.  Die  christlichen  Berichte  über  die  Heilung  Dämonischer  durch 
Jesus  und  seine  Nachfolger  veranschaulichen  diese  Tatsache  sehr  schön.  Aus 
Maria  von  Magdala  trieb  Jesus  sieben  Teufel  aus,  d.  h.  er  heilte  schwere 
psychische  Störungen.  Ähnlich  sind  auch  „Versuchungen",  d.  h.  verbreche- 
rische und  krankhafte  Neigungen  allerart  durch  Ablenkung  der  bedroh- 
lichen Spannung  ins  Religiöse  heilbar.  Und  wenn  die  religiösen  Heilshand- 
lungen regelmäßig  fortgeführt  werden,  so  werden  die  Versuchungen  oft 
dauernd  femgehalten  werden  können.  Die  bösen  Geister  werden  durch  die 
frommen  Übungen  gebannt;  sie  verschwinden  sofort,  wenn  man  Gebete, 
Waschungen  und  andere  Spielhandlungen  vornimmt,  mit  anderen  Worten: 
die  unterdrückten  Triebe,  die  sich  hervordrängen  wollen,  werden  durch 
Ausdrucksbewegungen  um  ihre  Kraft  gebracht  und  erfahren  durch  Schutz- 
handlungen eine  scheinbare  Entladung.  Nicht  immer  sind  freilich  die  Dämo- 
nen so  leicht  zu  verscheuchen;  die  hartnäckigsten  können  nur  durch  aus- 
führliche, höchst  beschwerhche  oder  höchst  schmerzhafte  religiöse  Mittel  ab- 
gefunden und  davongeschickt  werden.  Dadurch  erhält  das  rehgiöse  Spiel 
seinen  großen  Ernst  und  wird  zur  aufreibenden,  zerstörenden  Askese.  Buß- 
und  Wallfahrten,  Enthaltungen  und  Verstümmelungen  sind  der  Preis,  um 
den  der  innere  Friede  erkauft  und  die  Erlösung  vom  Übel  erlangt  wird. 

Mit  wachsender  Kultur  nämlich  werden  auch  die  Kämpfe  des  Menschen 
mit  sich  selber  und  mit  der  Außenwelt  immer  heftiger  und  vielfältiger.  Daher 
wachsen  auch  die  Energiesummen,  die  keine  Entladung  finden  können; 
immer  mehr  wird  der  Mensch  gezwungen,  Selbstbeherrschung  zu  üben  und 
seine  Triebregungen  zu  unterdrücken.  Das  Reich  der  bösen  Geister  wird 
mächtiger  und  drohender ;  sie  brechen  hervor,  sie  erzwingen  sich  Beachtung 
und  der  Mensch  muß  ihnen  Opfer  hinwerfen,  damit  sie  sich  still  halten.  Wel- 
cherart sind  diese  Opfer?  Es  sind  die  Verbrechen,  die  Perversionen,  die 
Krankheiten.  Die  inneren  Disharmonien  führen  zur  krankhaften  Sejunktion, 
zur  Spaltung  des  Bewußtseins,  zu  hysterischen  Erscheinungen,  zur  Geistes- 
und Charakterschwäche;  kurz,  der  Mensch  büßt  seine  Lebens-  und  Wir- 
kungsfähigkeit ganz  oder  zum  Teil  ein.  Andererseits  kommen  die  ungelösten 
Spannungen  auch  in  einem  ausschweifenden  Zerstreuungsleben  zu  einer 
notdürftigen  Entladung.  Während  sich  die  bedrängten  Seelen  früher  durch 
Kulthandlungen  und  religiöse  Spiele  erleichterten,  suchen  sie  jetzt  in  un- 
religiösen Spielen,  namentUch  den  Glücksspielen,  femer  im  Alkohol  oder  in  der 
lockeren  Muse,  in  übertriebenem  Sport  und  in  aufregenden  Zirkus-  und  Wett- 
vorführungen Erleichterang.  Auch  die  Kunst,  namentlich  die  Musik  wird 


heute  von  vielen  als  Betäubungs-  und  Erlösungsmittel  an  Stelle  des  früheren 
Kultwesens  verwendet.  Wir  werden  im  nächsten  Kapitel,  wenn  wir  die  heu- 
tige religiöse  Lage  näher  ins  Auge  fassen,  auf  diese  Dinge  zurückkommen, 
werden  dort  auch  auf  die  Mittel  hinweisen,  mit  denen  den  bedrohlichen 
Folgen  der  Kultauflösung  vielleicht  entgegengewirkt  werden  kann.  Es  rächt 
sich,  daß  Europa  den  Zusammenhang  zwischen  Religion  und  Spiel  zu  lockern 
und  gar  zu  zerreißen  begonnen  hat !  Die  Religion  ist  zu  nüchtern  und  geistig 
geworden;  sie  hat  sich  dem  Tanz  entfremdet;  sie  bietet  dem  Menschen  nicht 
mehr  Erlösung  durch  das  Spiel,  läßt  ihn  nicht  mehr  mit  Hilfe  rhythmischer 
Ausdruckshandlungen  die  drückenden  Disharmonien  des  Lebens  lösen. 
Schwer  und  düster  hegen  die  Rätsel  des  Lebens  auf  den  kämpfenden  und 
arbeitenden  Milhonen.  Der  Zwang  zum  Spiel  muß  sich  auf  häßliche,  unreli- 
giöse Weise  Luft  machen.  An  die  Stelle  religiöser  Entladung  tritt  Genuß- 
sucht und  ästhetisierendes  Wesen;  die  Religion  wird  als  ,, Privatsache"  in 
die  Ecke  gedrängt.  Wie  wenige  ahnen,  daß  damit  die  Quelle  alles  starken 
imd  schönen  Gemeinschaftslebens  verstopft  wird! 

Der  frühere  Mensch  löste  sich  von  dem  Druck,  der  auf  seinem  Leben 
lastete,  durch  religiöse  Spielbetätigung.  Er  regte  die  Glieder  zum  heiligen 
Reigen,  er  sang  seine  Not  von  der  Seele  herunter,  er  stellte  seine  verzehren- 
den Wünsche,  seine  wilden  Phantasien,  seine  Ängste  und  Freudengesichte 
im  Drama  dar  und  schilderte  sie  in  lyrisch-epischen  Liedern.  Jede  Bedräng- 
nis fand  Ausdruck  im  rehgiösen  Spiel,  jedes  große  Erlebnis,  das  über  die 
Kraft  des  einzelnen  ging,  wurde  im  Kult  verarbeitet  und  soweit  möghch 
dem  seehschen  Besitz  der  Gemeinde  einverleibt.  Nehmen  wir  z.  B.  die  Toten- 
feiern !  Wie  verstanden  es  die  älteren  Völker,  sich  die  Last  des  Todes  vom 
Herzen  zu  wälzen.  Sie  kannten  den  Gegenzauber  gegen  den  Zauberer  Tod; 
dieser  Gegenzauber  heißt:  Leben,  mächtiges,  göttliches  Leben!  Die  ganze 
trauernde  Gemeinde  versammelte  sich,  hielt  einen  Schmaus  und  ein  Gelage, 
führte  orgiastische  Tänze  auf  und  veranstaltete  Kampfspiele.  Die  lebens- 
vollsten Triebe  also,  der  Nahrungs-,  der  Geschlechts-  und  der  Kampftrieb 
feierten  angesichts  des  stillen,  bleichen  Gastes  ihr  Fest. 

Das  schönste  Beispiel  einer  Lebensfeier  am  Grabe  ist  wohl  das  Totenfest, 
das  Achilleus  zu  Ehren  seines  Freundes  Patroklos  dem  Griechenheere  gibt. 
Die  Ilias  erzählt  uns  zunächst  von  den  hemmungslosen  Schmerzäußerungen 
des  Leidtragenden  und  von  der  Rache,  in  der  er  sein  gequältes  Herz  sättigt. 
Dann  wird  der  Scheiterhaufen  aufgeschichtet  und  der  Grabhügel  ,,an  dem 
weiten  Hellespont"  errichtet.  Endlich  folgt  das  Kampf  fest.  Die  größten 
Recken  des  Griechenheeres  kämpfen  miteinander;  das  Heer  schaut  mit 
inniger  Kampflust  und  atemloser  Erregung  zu ;  Achilleus  verteilt  die  Preise 
an  die  Sieger.  Diese  Leichenfeier  ist  ein  echtes  religiöses  Spiel ;  die  durch  den 

136 


Tod  des  Helden  erzeugte  qualvolle  Spannung  löst  sich  auf  die  edelste  Weise 
und  jeder  Kriegsmann  konnte  dies  Fest  zugleich  als  eine  Trauerfeier  für 
seine  eigenen  gefallenen  Freunde  begehen.  Die  Spannung,  die  der  Krieg  als 
solcher  mit  sich  bringt,  entlud  sich  in  diesem  gemeinsamen  Spiel  zu  Ehren 
des  einen  Helden.  Die  tiefste  religiöse  Symbolik  klingt  dabei  an:  der  eine 
wird  zum  Symbol  aller;  die  Klage  um  ihn  wird  zur  Klage  um  das  Los  des 
gesamten  Geschlechts.  Und  das  Fest  bedeutet  zugleich  einen  Sieg  über  alle 
menschliche  Trauer  und  Angst ;  im  Spiel,  in  der  lustvollen  Befriedigung  der 
mächtigsten  Triebe  erleichtern  sich  die  Herzen  und  erheben  sich  zu  dem 
stolzen  Rauschglauben,  daß  das  Leben  unzerstörbar  und  die  Freude  der 
Urgrund  alles  Lebens  sei. 

Religiöse  Kampfspiele  waren  im  griechischen  und  römischen  Altertum 
einer  der  wichtigsten  Kulturfaktoren  und  blieben  es  bis  zum  Siege  des  frie- 
denssehnsüchtigen Christentums.  Die  sagenhafte  Leichenfeier  in  der  Ilias 
war  gleichsam  das  Vor-  und  Urbild  dieser  Kampfspiele.  Das  Besondere  und 
Wertvolle  dieser  antiken  Festveranstaltungen  war,  daß  sie  bei  aller  Ausge- 
lassenheit auf  einen  ernsten  Ton  gestimmt  waren  und  das  Volk  zu  ihnen 
wallfahrtete  als  zu  einer  erbauenden  und  erlösenden  religiösen  Feier.  Diese 
strahlenden  Feste  waren  eine  wirkliche  Erhöhung  des  Menschen,  eine  Be- 
freiung von  lastendem  Druck,  eine  Entladung  zwangsweise  zurückgehaltener 
psychischer  Energien. 

Man  kann  die  Spiele  des  Menschen  in  zwei  Hauptgruppen  scheiden;  die 
erste  würde  die  Liebes-  und  Kampfspiele,  sowie  die  einfachen  Bewegungs- 
und Sensibilitätsspiele  umfassen,  die  zweite  die  Nachahmungsspiele.  Das  reh- 
giöse  Nachahmungsspiel,  das  ebenfalls  in  Griechenland,  zumal  im  griechi- 
schen Drama,  seine  höchste  Ausbildung  erfahren  hat,  ist,  wie  wir  früher  ge- 
sehen haben,  ebenso  alt  wie  die  übrigen  religiösen  Ausdruckshandlungen. 
Die  Tiertänze  der  Wilden  gehören  zum  ältesten  Bestände  des  menschlichen 
Kultwesens.  Jeder  Tanz,  der  nicht  bloß  stilisierte  motorische  Entladung  ist, 
ist  ein  Nachahmungsspiel.  Die  religiösen  Tänze  bildeten  Ereignisse,  Natur- 
vorgänge und  Personen  nach  und  schafften  dadurch  den  Ausführenden  und 
Zuschauenden  Befreiung  von  Spannungen.  Hauptsächlich  wurden  die  reli- 
giösen Wunschwesen  und  Schreckens wesen  dargestellt.  Gott  und  Teufel  sind 
seit  Urzeiten  die  Hauptpersonen  des  religiösen  Schauspiels.  Wenn  der 
Mensch  von  seinen  Furcht-  und  Wunschphantasien  heimgesucht  wurde, 
wußte  seine  Natur  keinen  anderen  Ausweg,  als  diese  Phantasien  spielend  in 
Wirklichkeit  zu  verwandeln ;  der  Mensch  wurde  zum  Darsteller  von  Göttern 
und  Dämonen.  Nicht  freie  Willkür,  sondern  unwiderstehlicher  Zwang  ver- 
cinlaßte  ihn,  sich  in  Tier-  und  Geistermasken  zu  hüllen  und  tanzend  das 
Treiben  und  Wesen  dieser  Wahngebilde  zu  verkörpern.  Wer  lehrte  ihn  diese 


Geister  darzustellen  und  ihr  Wesen  nachzuahmen  ?  Seine  Gesichte  und  Stim- 
men hatten  ihm  die  Geister  gezeigt ;  er  kannte  sie  nur  allzu  gut ;  es  waren  die 
geliebtesten  und  gefürchtetsten  Kinder  seines  eigenen  Geistes,  und  indem  er 
ihnen  Gestalt  und  Leben  lieh,  befreite  er  sich  zugleich  von  ihnen. 

Der  dem  Menschen  angeborene  Nachahmungstrieb  vereinigt  zweierlei  in 
sich:  erstens  die  Fähigkeit,  äußere  Eindrücke  in  Gestalt  von  Bildern  und 
Lauten  geistig  aufzufassen,  zweitens  die  Fähigkeit,  diese  Eindrücke  so  mit 
inneren  Triebkräften  zu  verflechten,  daß  beides  als  Einheit  an  die  Ober- 
fläche tritt.  Der  Mensch  verwandelt  sich  gleichsam  in  die  eindnicksvoUen 
Erscheinungen  der  Umwelt;  dadurch  versteht  und  besiegt  er  sie,  denn  indem 
er  sich  in  sie  verwandelt,  verwandelt  er  sie  in  sich.  Nur  dort  gelingt  ihm  das 
Nachahmen,  wo  seine  eigenen  Triebe  und  Wünsche  sich  unter  der  Hülle 
des  Nachgeahmten  Luft  machen  können.  Im  Grunde  ist  immer  der  Mensch 
selber  der  Gegenstand  seiner  Schauspielkunst ;  denn  so  fremde  Dinge  er  dar- 
stellen mag,  befriedigt  sich  doch  immer  sein  eigenes  tiefstes  Triebleben  in 
seiner  Darstellung.  Namentlich  im  religiösen  Nachahmungsspiel  tritt  das 
Schöpferische  und  Persönliche  in  der  nachahmenden  Betätigung  deutlich 
hervor.  Der  Priester  maskiert  sich  als  Gott  und  wdrd  dadurch,  nach  seinem 
und  seiner  Gemeinde  Gefühl,  zum  Gott.  Das  Anlegen  der  Maske  hat  eine 
Änderung  des  Bewußtseinszustandes  zur  Folge;  die  Gebärden  und  Worte 
des  Maskierten  werden  göttlich.  Wir  haben  das  bei  Gelegenheit  des  Orakel- 
anfalls und  des  maskenartigen  Priestercharakters  näher  besprochen. 

Kleidung  und  Schmuck  haben  einen  großen  Einfluß  auf  das  Persönlich- 
keitsempfinden des  Menschen.  Ein  ungewohnter  Rock,  ein  Kranz  im  Haar 
macht  uns  zu  einem  anderen  Menschen.  Man  kann  das  besonders  bei  den 
volkstümHchen  Verkleidungen  und  Faschingsunterhaltungen  beobachten. 
Die  europäischen  Maskenbräuche  vor  Beginn  der  kirchlichen  Fastenzeit 
gehen  auf  die  altheidnische  Frühlingsfeier  zurück;  sie  haben  ursprüngHch 
durchaus  religiösen  Charakter.  Die  ^Maskierten  sind  dämonische  Wesen,  sind 
Naturgeister  undFruchtbarkeitsbringer.  MANNHARDThat  das  aufs  beste  nach- 
gewiesen. Da  man  sich  die  in  den  Masken  verkörperten  Geister  teils  als  tier- 
und  pflanzengestaltige  Wesen  dachte,  teils  als  unheimliche  verzerrte  Men- 
schengestalten, so  \\'urden  demgemäß  die  Kleidungsstücke,  die  man  anlegte, 
und  die  Gesichtsmasken,  die  man  vorband,  hergestellt.  Noch  heute  kann 
man  im  niederen  Volke  eine  Vorliebe  für  verzerrte  menschliche  Masken  und 
für  Tiermasken  beobachten.  Femer  kann  man  sich  noch  heute  von  der  psy- 
chischen Wirkung  der  Maske  auf  ihren  Träger  überzeugen.  Mit  der  Verklei- 
dung ändert  sich  das  Lebensgefühl.  Die  , .göttliche  Raserei",  von  der  die 
alten  Religionen  so  viel  zu  sagen  wußten,  kommt  noch  heute  über  den  Mas- 
kenträger; in  Süd-  und  Westdeutschland  mindestens  zeigen  sich  deutliche 

138 


Spuren  davon.  Mancher  ehrbare  und  vom  Ernst  des  Lebens  bedrückte  Mann 
zieht,  wenn  die  Zeit  der  Frühlingsgeister  naht  und  die  Masken  hervorgeholt 
werden,  einen  neuen  Menschen  an;  er  stürzt  sich  in  den  Wirbel  der  Masken- 
freude hinein  und  bereitet  den  Regungen  in  seiner  eigenen  Seele,  die  sich 
sonst  nicht  hervorwagen  können,  ein  Fest.  Unter  der  Hülle  der  Maskengeister 
schaffen  sich  die  eigenen  Geister  spielende  Befreiung. 

Wann  wird  das  Spiel  zur  Kunst  ?  Wenn  es  stilisiert  wird.  Die  unwillkür- 
lichen Ausdrucksbewegungen  bilden,  wie  wir  sahen,  die  Grundlage  für 
unsere  gesamte  Betätigung:  die  zweckvolle  und  die  zwecklose,  die  des  wir- 
kenden Lebens  und  die  religiös-spielende.  Bei  den  Kindern  und  Naturmenschen 
pflegen  sich  die  Ausdrucksbewegungen  fast  ungehemmt  zu  entfalten;  jede 
psychische  Spannung  will  sich  bei  ihnen  auf  der  Stelle  entladen.  Die  Er- 
ziehung zum  Kulturleben  besteht  darin,  daß  die  Ausdrucksbewegungen 
unter  die  Aufsicht  des  bewußten  Willens  gebracht,  dadurch  geregelt  und 
teilweise  ganz  unterdrückt  werden.  So  tritt  an  die  Stelle  regellosen  Bewe- 
gungsdranges und  unartikulierter  Lautreflexe  einerseits  das  zielbewußte 
Handeln  und  artikulierte  Sprechen,  andererseits  das  künstlerische  Spiel.  Mit 
dem  Handeln  (der  Arbeit)  und  der  außerkünstlerischen  Verwendung  der 
Sprache  haben  wir  es  hier  nicht  zu  tun,  sondern  nur  mit  der  zweiten  Gruppe: 
mit  den  stilisierten  Ausdrucksbewegungen,  die  man  als,, Kunst"  bezeichnet. 
Alle  künstlerischen  Schöpfungen  sind  Gliederungen  und  Rhythmisierungen 
von  Bewegungs-  und  Lautgruppen.  Der  Mensch  hat  in  das  Chaos  seiner  Be- 
wegungs-  und  Lautäußerungen  Ordnung  und  Schönheit  gebracht ;  er  hat  die 
Unvernunft  und  Blindheit  der  Reaktionen  geadelt,  indem  er  rhythmisch  und 
harmonisch  reagierte.  Dadurch  sind  die  Ausdrucksbewegungen  gleichsam  fest 
geworden,  sind  zum  sinnvollen  Geschehen  erhoben  worden.  So  besteht  denn 
Jedes  Kunstwerk,  das  die  Menschheit  hervorgebracht  hat,  aus  stihsierten, 
durch  GliederungzueinerselbständigenLebenseinheitgewordenenAusdrucks- 
bewegungen.  Daraus  erklärt  es  sich,  daß  das  künstlerische  Schaffen  und  Ge- 
nießen uns  innerlich  befreit.  Wir  erheben  uns  über  unsere  Leidenschaften, 
indem  wir  sie  gestalten  und  durch  den  ordnenden  Rhjrthmus  vergeistigen. 
Die  Kunst  macht  das  Leben  zu  einem  Tanz,  in  welchem  die  tiefsten  Kräfte 
entfesselt  und  die  quälendsten  Lebenskämpfe  vergegenständlicht  werden. 
Wie  steht  der  Priester  zur  Kunst?  Ähnlich  wie  er  zur  Arbeit,  d.  h.  zur 
zweckvollen,  erobernden  Willensbetätigung  steht.  Er  hat  die  Menschheit  auf 
dem  Wege  zur  Kunst  und  zur  Arbeit  kräftig  unterstützt,  hat  sich  selber  der 
Kunst  und  gewissen  Zweigen  der  Arbeit  mit  Hingabe  gewidmet  und  für 
beides  die  Hilfs-  und  Anregungsmittel  herbeigeschafft ;  das  sind  nämhch  die 
religiösen  Stoffe,  Gedanken  und  Ziele.  Ohne  den  Priester  hätte  sich  weder  die 

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Kunst  entfaltet,  noch  die  unverdrossene  Arbeitsfreude  der  kultivierten 
Menschheit  herausgebildet.  Trotzdem  ist  die  allverbreitete  Anschauung,  daß 
der  Priester  ein  Feind  der  Kunst  und  der  Arbeit  sei,  nicht  ohne  Berechtigung. 
Überall,  wo  des  Priesters  Einfluß  herrschend  ist,  kann  man  seinen  geheimen 
oder  offenen  Kampf  gegen  Kunst-  und  Tatleben  nachweisen.  Woran  liegt 
das?  Den  Gegensatz  des  Priesters  gegen  das  Tatleben  wollen  wir  an  dieser 
Stelle  unerörtert  lassen;  woher  aber  stammt  der  Gegensatz  zwischen  dem 
Priester  und  der  Kunst?  Wir  sagten  in  der  Schilderung  des  priesterlichen 
Charakters:  der  Priester  ist  nicht  stark  genug  zur  klassischen  Kunst;  er  ist 
als  Künstler  stets  Romantiker.  Was  heißt  das?  Damit  sollte  ausgedrückt 
werden,  daß  die  priesterliche  Kunst  das  Ziel  aller  Kunst :  rhythmische  Ent- 
ladung von  zurückgehaltenen  Energiesummen,  nicht  voll  erreicht.  Hinter 
diesem  Ziel  bleibt  der  Priester  in  zweierlei  Weise  zurück :  entweder  sind  seine 
Kunstschöpfungen  zügellos  und  uneinheitHch  und  verraten  den  Sieg  der 
Leidenschaften :  sie  sind  ein  bloßer  Erregungs-  und  Betäubungsrausch,  ein 
bloßes  Phantasieren  und  Halluzinieren,  eine  passive  Hingabe  an  Gott  und 
Teufel  statt  einer  Bezwingung  beider.  Alles  das  kommt  in  Form  und  Inhalt 
der  Kunsterzeugnisse  zur  Erscheinung.  —  Oder  zweitens  seine  Kunst  ist 
spielerisch  und  oberflächlich,  sie  speist  sich  nicht  aus  den  tiefsten  seelischen 
Spannungen,  sondern  hält  sich  gefUssentlich  von  den  Kämpfen  fern,  die  sie 
zur  Darstellung  bringen  sollte,  um  den  kämpfenden  Älenschen  dadurch  zu 
befreien  und  zu  reinigen.  Wir  erwähnten  oben,  daß  die  Religion,  wenn  sie 
von  den  Priestern  ohne  tätige  Mitwirkung  der  Laienwelt  getrieben  wird, 
leicht  etwas  KünstHches  oder  Theoretisches  oder  Spielerisches  bekommt. 
Der  Priester  verhert  sich  dann  in  allerhand  Feinheiten,  die  an  und  für  sich 
eine  Bereicherung  des  rehgiösen  Lebens  bedeuten,  aber  trotzdem  religiöse 
und  künstlerische  Gefahren  mit  sich  bringen.  Er  begnügt  sich  dann,  in  seiner 
Kunst  seiner  eigenen  verfeinerten  Seele  zur  Entladung  und  Rhythmisierung 
zu  verhelfen,  vergißt  aber  die  stärkeren  und  gequälteren  Seelen  des  Volkes. 
Auf  diese  Weise  werden  die  Formen  der  priesterHchen  Kunst  zu  leeren  Hül- 
sen, wie  wir  es  etwa  an  der  byzantinischen  Kunst  sehen.  Die  Laienwelt  em- 
pört sich  dann  dagegen,  sucht  unter  Führung  prophetischer  Geister  eine  revo- 
lutionäre Kunst  zu  schaffen  und  gerät  dabei  leicht  in  das  andere  Extrem  des 
priesterlichen  Kunstschaffens. 

Wir  können  diesen  Dingen  nicht  weiter  nachgehen,  weil  sie  uns  zu  tief  in 
das  ästhetische  Gebiet  hineinführen  würden.  Ich  muß  auf  meine  ästhetischen 
Arbeiten  verweisen  und  schreite  nun  zur  kurzen  Darlegung  der  künstlerischen 
Leistungen  und  Bestrebungen  des  Priesters. 


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ini      2.  DER  SCHMÜCKENDE  UND  BILDENDE 

§J|  PRIESTER  H 


Wir  beginnen  mit  den  Künsten  des  Gesichtssinnes,  die  sich  im  Räume  ent- 
falten. Die  älteste  und  einfachste  unter  ihnen  ist  die  Zierkunst.  Schon  die 
Naturvölker  haben  den  Drang,  ihren  Körper,  ihre  Gerätschaften  und  ihre 
Umgebung  zu  schmücken,  und  diese  Schmuckliebe  bleibt  in  wenig  vermin- 
derter Stärke  durch  alle  Kulturepochen  bestehen.  Woher  die  unbesiegliche 
Freude  am  Schmuck?  Es  gibt  eine  Reihe  verschiedener  Gründe  dafür:  die 
Formen  und  Farben  üben  eine  unmittelbare  Lustwirkung  auf  den  Menschen 
aus,  sie  versetzen  ihn  in  eine  erhöhte,  unter  Umständen  auch  eine  herabge- 
drückte Stimmung;  diese  Gefühlswirkung  läßt  sich  für  praktische  Zwecke 
ausnutzen.  Im  Vordergrunde  steht  unter  diesen  Zwecken  die  Verwendung 
des  Schmucks  im  Liebesleben ;  der  geschmückte  Mensch  ist  begehrter  als  der 
ungeschmückte  (Näheres  bei  Grosse:  Anfänge  der  Kunst,  und  Stoll:  Das 
Geschlechtsleben  in  der  Völkerpsychologie).  Aber  der  Schmuck  ist  auch  ein 
Mittel,  Feinde  zu  erschrecken ;  der  Mensch  macht  sich  und  seine  Umgebung 
durch  die  Erzeugnisse  der  Zierkunst  nicht  nur  anziehender,  sondern  auch 
furchtbarer  und  unheimlicher.  Außerdem  dient  der  Schmuck  häufig  als  Er- 
kennungszeichen für  die  Angehörigen  einer  sozialen  Gemeinschaft.  Alle  Mit- 
glieder wählen  die  gleichen  Schmuckgebilde  und  Schmuckweisen,  bringen 
dadurch  ihr  Zusammengehörigkeitsgefühl  zum  Ausdruck  und  heben  sich  von 
den  Mitghedern  anderer  Stämme  oder  Stammesgruppen  ab.  Der  Schmuck 
wird  also  zur  Marke  und  zum  Symbol  der  Vergesellschaftung. 

Neben  und  mit  allen  diesen  Aufgaben  aber,  die  der  Schmuck  erfüllt,  hat 
der  Schmuck  auch  rehgiöse  Aufgaben  zu  erfüllen.  Durch  die  ethnologischen 
Forschungen  hat  sich  immer  deutHcher  ergeben,  wie  unermeßlich  groß  die 
Bedeutung  des  Schmucks  und  der  verwandten  Kunstzweige  für  die  Ent- 
wicklung der  Rehgion  ist,  und  umgekehrt  wie  groß  der  Einfluß  der  Religion 
und  also  die  Einwirkung  des  Priesters  auf  die  Ent^^dcklung  der  schmückenden 
Kunst  ist.  Am  besten  unterrichtet  darüber  K.  Th.  Preuss  in  den  mehrfach 
genannten  Aufsätzen  über  den  Ursprung  der  Religion  und  Kunst  (Globus  86, 
87).  Die  Schmuckstücke,  die  der  primitive  Mensch  an  seinem  Körper  be- 
festigt, sind  Amulette.  Er  wählt  die  Tier-  oder  Menschenteile,  die  Haare, 
Zähne,  Klauen,  die  Vogelfedem,  auch  die  glänzenden  Muscheln,  Steine, 
Metalle  nicht  nur  deshalb,  weil  ihr  AnbHck  ihm  Freude  macht,  sondern  weü 
die  Gegenstände  geheime  Kräfte  haben,  weil  sie  Zauberstoffe  sind,  weü  dä- 
monische Gewalten  in  ihnen  verborgen  sind.  Dieser  Glaube  rührt  natürhch 

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zum  Teil  von  der  einfachen  Gefühlswirkung  her,  den  diese  Dinge  auf  ihn 
ausüben,  z.  B.  wird  der  Edelstein  deshalb  zum  Amulett  oder  Talisman,  weil 
er  leuchtet  und  sein  Anblick  für  den  Menschen  etwas  Anregendes  und  Auf- 
regendes hat.  Aber  der  Zauberglaube  gründet  sich  noch  auf  andere  Erfah- 
rungen und  Einbildungen,  die  wir  zum  Teil  früher  besprochen  haben.  Sie 
alle  wirken  zusammen  und  geben  dem  sinnlich-ästhetischen  Schmuckbedürf- 
nis Gestalt  und  Nachhaltigkeit,  Zum  Schmuck  gehören  auch  die  Körper- 
entstellungen und  Verstümmelungen,  deren  religiöse  Gründe  in  dem  Ab- 
schnitt über  die  Zaubermittel  dargelegt  wurden.  Der  Lippenpflock  so  gut 
wie  das  Penisfutteral  und  die  absonderlichen  Haartrachten  sind  Zauber- 
mittel und  Schmuck  zugleich;  die  betreffenden  Stämme  fühlen  sich  zugleich 
schön  und  zauberkräftig  damit.  Die  religiöse  Bedeutung  solcher  schützenden 
Schmuckweisen  gerät  mit  der  Zeit  in  der  Regel  in  Vergessenheit ;  aber  unter 
der  Oberfläche  wirkt  das  religiöse  Motiv  fort.  Fast  stets  bleibt  das  dunkle 
Gefühl  bestehen,  daß  es  um  den  Schmuck  eine  ernste  und  heihge  Sache  sei 
imd  daß  der  Einzelne  nicht  von  den  altererbten  Schmuckweisen  abweichen 
dürfe.  Man  kann  das  auch  noch  bei  den  Kulturvölkern  beobachten.  Wie 
strenge  halten  gerade  die  Priester  an  ihrer  Kleidung  und  den  Schmucküber- 
lieferungen, z.  B.  an  einer  bestimmten  Barttracht  fest !  Wer  Neuerungen  in 
diesen  Dingen  einführt,  wer  sich  z.  B.  einen  stattlichen  Schnurrbart  wachsen 
läßt,  gerät  in  den  Verdacht,  auch  im  Glauben  nicht  mehr  ganz  fest  zu  sein. 
Und  mit  Recht;  in  diesen  Äußerlichkeiten,  überhaupt  in  der  Behandlung 
des  leiblichen  Menschen  prägt  sich  das  Innere  aus.  Wenn  ein  Pfarrer  die 
Schmuck-  und  Kleidungsform  verläßt,  in  der  eine  religiöse  Überzeugung  und 
priesterliche  Gefühlsweise  ihr  passendes  Gewand  gefunden  hat,  so  will  er 
ganz  offenbar  fremde  und  zersetzende  Gedanken  in  den  religiösen  Bund 
hineintragen.  Im  Namen  einer  anderen  Religion,  deren  er  sich  vielleicht  noch 
gar  nicht  klar  bewußt  ist,  tritt  er  in  einem  anderen  Kleide  auf. 

Vom  Priester  sind  Kleidung  und  Schmuck  immer  besonders  wichtig  ge- 
nommen worden.  Bei  vielen  Völkern  ist  der  Priester  reicher  und  vollstän- 
diger bekleidet  als  die  übrigen  Stammesmitglieder.  Während  diese  in  bezug 
auf  Schmuck  und  Gewand  sehr  dürftig  bedacht  sind,  erscheint  der  Priester 
mit  zauberkräftigen  Zierstücken,  Ringen,  Fellen  usw.  überladen.  Zumal  wenn 
er  heilige  Handlungen  vollziehen  will,  schmückt  er  sich  mit  Amuletten,  ReU- 
quien,  Symbolen  und  heiligen  Gewändern. 

In  den  tropischen  Ländern  steht  an  Stelle  der  zierenden  und  religiös  be- 
deutungsvollen Bekleidung  oft  die  Bemalung  und  Tätowierung.  Mit  welchen 
Figuren  bemalt  und  tätowiert  der  Wilde  seinen  Körper?  Die  Muster  sind 
meist  einfach  und  scheinen  bloß  in  gereihten  Linien  und  gleichgültigen 
Schnörkeln  zu  bestehen.  Aber  es  hat  sich  herausgestellt,  daß  die  Muster  nur 

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sehr  selten  zufällige  Formen-  und  Farbenspielereien  sind;  meist  haben  sie 
einen  figürlichen  Sinn.  Die  ornamentalen  Gebilde  sollen  Tiere,  Pflanzen, 
Menschen  und  Teile  dieser  organischen  Wesen  darstellen.  Eine  Wellenlinie 
kann  z.  B.  eine  Schlange  bedeuten,  ein  Dreieck  eine  Fledermaus,  ein  Kreis 
ein  Auge  usw.  Daß  die  Darstellung  so  stark  vereinfacht  und  schematisiert 
ist,  rührt  einerseits  davon  her,  daß  die  Künstler  —  oft  sind  die  Priester  diese 
Künstler  —  aus  technischen  oder  anderen  Gründen  die  Figuren  nicht  deut- 
hcher  bilden  können,  anderseits  davon,  daß  der  naive  Mensch  ebenso  wie 
das  Kind  die  stilisierte  Darstellung  der  naturgetreuen  oft  vorzieht.  Die  orna- 
mentalen Figuren  wollen  mehr  Erinnerungs-  und  Schriftzeichen  sein  als 
bildüche  Wiedergaben.  Wenn  auch  rein  technische  Muster  in  erheblicher  Zahl 
vorkommen,  so  läßt  es  sich  doch  seit  v.  d.  Steinens  Werk  über  die  süd- 
amerikanischen Naturvölker  nicht  mehr  bestreiten,  daß  unzählige  Orna- 
mente aller  Zeiten  und  Kulturen,  die  auf  den  ersten  Blick  bedeutungslose 
Muster  zu  sein  scheinen,  einen  bestimmten  figürhchen  und  gedanklichen 
Sinn  haben. 

Was  für  Tiere  und  Naturgegenstände  wählt  der  Priester  aus,  wenn  er  Kör- 
per, Geräte  und  Waffen,  Hütten,  Bäume,  Felsen  mit  omamentalen  Darstel- 
lungen schmückt?  Offenbar  solche,  die  ihm  besonderen  Eindruck  machen 
und  besondere  Bedeutung  für  das  menschhche  Leben  und  Gedeihen  haben^ 
Also  erstens  gefährliche  Tiere  wie  den  Tiger,  den  Haifisch,  die  Giftschlange; 
zweitens  Nahrungstiere  wie  die  Antilope,  den  Büffel,  die  eßbaren  Fische; 
drittens  Tiere,  die  Einfluß  auf  das  Wetter,  auf  den  Regen  und  überhaupt 
auf  das  allgemeine  Wohl  zu  haben  scheinen,  wie  die  Insekten  und  andere 
kleinere  Tiere,  die  sich  bei  jenen  Naturvorgängen  zu  zeigen  pflegen;  viertens 
Tiere,  Pflanzen,  Gegenstände  allerart,  die  von  dem  religiös  erregten  Men- 
schen irgendwie  mit  seinem  Leben  in  Beziehung  gebracht  werden;  fünftens 
Erzeugnisse  der  Wach-  oder  Traumphantasie,  die  natürlich  stets  mit  den 
Erfahrungen  des  normalen  Lebens  Ähnlichkeit  haben.  Alle  diese  Vorwürfe 
des  schmückenden  und  bildenden  Menschen  zeigen  eine  enge  Verbindung 
mit  dem  Zauberwesen.  Der  Mensch  lebte  des  Glaubens,  und  der  Priester 
brachte  diesen  Glauben  auf  und  befürwortete  ihn,  daß  das  Abbilden  dieser 
Geschöpfe  Macht  über  dieselben  verleihe  und  sie  zu  einer  dem  Menschen  er- 
wünschten Tätigkeit  veranlasse.  Wenn  man  eine  Schlange  auf  den  Körper 
oder  die  Lanze  malt,  geht  die  Zauberkraft  der  Schlange  in  den  Körper  und 
die  Schlange  über.  Ein  Schlangenbiß  kann  dem  mit  der  Schlange  Geschmück- 
ten nichts  anhaben,  vielmehr  wirkt  das  Gift  vernichtend  auf  die  Feinde.  Und 
wenn  man  ein  Jagdwild  in  den  Pfosten  der  Hütte  oder  in  den  weichen  Ton 
der  Gefäße  ritzt,  stellt  sich  das  Wild  in  Wirklichkeit  ein  und  die  ersehnte 
Fleischnahrung  geht  niemals  aus.  Das  Zeichnen  ist  eine  Zauberhandlung^ 


ein  religiöser  Akt.  Was  ich  abbilde,  wird  dadurch  mein  eigen;  ich  kann 
darüber  nach  Beheben  verfügen. 

Diese  Vorstellung  ist  nach  zwei  Richtungen  weiterentwickelt  worden.  Ein- 
mal hat  sie  in  den  religiösen  Niederungen  fortgewuchert:  manche  Natur- 
völker sehen  eine  feindliche  Handlung  darin,  wenn  man  sie  oder  ihren  Besitz 
abzeichnet ;  noch  im  Aberglauben  Europas  findet  sich  unter  den  Rezepten, 
jemand  krank  zu  machen  oder  zu  töten,  folgendes:  man  macht  oder  ver- 
schafft sich  ein  Bild  von  dem  Betreffenden  und  durchsticht  es  oder  wirft  es 
ins  Feuer  oder  verletzt  es  auf  andere  Weise,  denn  was  mit  dem  Bilde  ge- 
schieht, fühlt  auch  das  lebendige  Urbild.  Zweitens  ist  der  Glaube  an  die 
Zaubermacht  des  Nachbildens  zum  Ausgangspunkt  für  die  gesamte  religiöse 
Bildkunst  geworden.  Die  dargestellten  Tiere  und  Gegenstände  werden  zu 
Schutzgeistern.  Überall  werden  dieselben  angebracht,  werden  auch  als  pla- 
stische Figuren  vor  oder  im  Hause  aufgestellt.  Die  Wappentiere,  die  der 
Kulturmensch  auf  seinen  Schild  malt  oder  in  seinen  Siegelring  gräbt,  sind 
die  Abkommen  der  Totemtiere  und  Stammesdämonen ;  aber  auch  die  Götter- 
bilder, die  gemalten,  gegossenen,  in  Stein  gehauenen,  in  Holz  geschnitzten 
Kunsterzeugnisse  aller  Völker  gehen  auf  die  Darstellungen  schützender  und 
schrecklicher  Geister  zurück.  Wie  der  Priester  durch  die  Maske  und  den 
mimischen  Tanz  die  Gottheit  ,,verwirldicht"  und  herbeizwingt,  so  auch  durch 
das  ruhende  Bild. 

Die  religiöse  Bildkunst  hat  bei  fast  aUen  entwickelteren  Völkern  einen 
sehr  großen  Umfang.  Im  Dienste  der  Religion  stehen  die  besten  und  zahl- 
reichsten künstlerischen  Kräfte.  Der  Priester  ist,  wenn  nicht  selber  Künstler, 
so  doch  der  Patron  und  Auftraggeber.  Er  gibt  Ziel  und  Richtung,  Stoff  und 
Form  an.  Die  ,,welthche"  Bildnerei  kommt  neben  der  heiligen  kaum  in  Be- 
tracht. Die  Künstler  arbeiteten  für  die  Tempel  und  Kultstätten,  die  Gräber 
und  Königspaläste,  kurz  für  öffenthche  oder  private  Heihgtümer.  Und  der 
Inhalt  ihres  Bildens  war  ein  für  allemal  der  religiöse  M5^hus.  Die  Götter, 
ihre  Taten  und  Leiden,  ihre  Hoheit  und  Macht,  ihre  Güte  und  Freundlich- 
keit, HäßHchkeit  und  Furchtbarkeit  war  der  immer  wiederholte  Gegenstand 
der  Kunst.  Vom  Priester  aber  stammte,  was  man  vom  Wesen  und  Wirken 
der  Götter  wußte.  Wenn  wir  durch  unsere  Museen,  durch  die  ethnographi- 
schen und  archäologischen  Sammlungen,  die  künstlerischen  Bilder-  und 
Skulpturengalerien  gehen,  sehen  wir  überall  Werke,  die  heilige  Dinge  zum 
Gegenstand  und  an  heiligen  Orten  ihre  Stelle  gehabt  haben.  Die  christlichen 
Gemälde  haben  als  Altarbilder  die  Kirchen  geziert ;  die  griechischen  Statuen- 
wälder haben  die  Tempel,  die  Festplätze,  die  Orakelstätten  gefüllt;- die 
ägyptischen  Kunstdenkmäler  sind  in  Gräbern,  in  heiligen  Bezirken,  in  Göt- 
terwohnungen angebracht  gewesen.   Und  was  stellen  aUe  diese  Kunstwerke 

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dar?  Religiöse  Gestalten,  religiöse  Handlungen,  religiöse  Ereignisse.  In  die 
Freude  an  dem  Kunstwerk  klang  stets  die  Verehrung  für  die  in  das  Bild  ge- 
bannte Göttlichkeit  hinein ;  die  Kunstwerke  behielten  immer  etwas  von  dem 
Charakter  eines  Fetisches,  zu  dem  man  betet  und  dem  man  opfert.  Aller- 
dings machte  sich  der  innere  Gegensatz  zwischen  Priester  und  Künstler, 
von  dem  wir  sprachen,  oft  genug  geltend.  Der  Priester  nämlich  wollte,  daß 
das  Bild  die  religiösen  Stimmungen  und  Gestalten  nur  eben  wecken,  daher 
nur  als  Anregungsmittel  für  die  kultisch-zauberische  Betätigung  der  Ge- 
meinde dienen  soDte;  er  verlangte  von  den  Werken  infolgedessen  entweder 
naturalistische  Stoffwirkung  oder  mystische  Stimmungswirkung.  Für  den 
Künstler  dagegen  war  das  Kunstwerk  als  solches  die  Hauptsache ;  er  wollte 
durch  das  Werk  selber  sich  und  die  Gemeinde  ,, erlösen",  d.  h.  durch  zwin- 
gende Verkörperung  der  Konflikte  und  Bedürfnisse  dieselben  aufheben, 
durch  den  Rhythmus  seiner  zum  Bilde  erstarrten  Leidenschaft  die  religiöse 
Spannung  lösen. 

Jedoch  ändert  dieser  Kampf  zwischen  Priester  und  Künstler  nichts  an  der 
Tatsache,  daß  der  Priester  bildliche  Symbole  brauchte,  die  ihm  nur  die 
Kunst  liefern  konnte,  und  daß  andererseits  der  Künstler  sich  die  Stoffe  und 
Anregungen  für  sein  Schaffen  aus  der  priesterlichen  Phantasie-  und  Gedan- 
kenwelt holen  mußte.  Sie  waren  auf  ein  Zusammenwirken  miteinander  ange- 
wiesen. Was  war  der  Priester  ohne  die  Kunst  ?  Seine  ganze  Naturanlage  und 
Lebensführung  trieb  ihn  zur  Verbildlichung  seiner  Wünsche,  Befürchtungen, 
Ideale,  Enttäuschungen.  Er  klammerte  sich  geradezu  an  die  Kunst  als  an 
eine  Retterin.  Und  auch  der  Künstler  konnte  den  Priester  nicht  entbehren ; 
denn  nur  die  religiösen  Gebilde  waren  groß  genug,  nur  die  religiösen  Seelen- 
kämpfe waren  gewaltig  genug,  um  seinen  künstlerischen  Schöpfungen  Ge- 
halt und  Würde  zu  geben.  Wenn  er  ein  wahrer  Künstler  sein  wollte,  mußte 
er  alles,  was  das  Leben  ihm  darbot,  alle  Erscheinungen  und  Vorgänge  mit 
ebenso  religiösem  Sinne  wie  der  Priester  aufnehmen  und  verarbeiten.  Tat  er 
das  nicht,  so  wurde  seine  Kunst  oberflächlich  und  spielerisch  wie  das  Zere- 
monienwesen des  entarteten  Priesters. 

Am  schönsten  zeigt  sich  die  Zusammengehörigkeit  von  Religion  und  Kunst 
in  den  Zeiten,  wo  in  die  Religion  neues  Leben  einströmt  und  der  Priester 
zum  Propheten  wird.  Der  Prophet  hat  stets  der  Kunst  neue  Bahnen  ge- 
wiesen, obwohl  er  anfangs  oft  als  Feind  der  Kunst  auftritt.  Aber  diese  Kunst- 
feindschaft prophetischer  Geister  und  Zeiten  ist  nicht  anders  zu  beurteilen 
als  die  angebliche  Religionsfeindschaft  solcher  Geister  und  Zeiten.  Der  Pro- 
phet meint  immer  nur  die  gewesene  Religion  und  Kunst ;  gegen  sie  wendet 
er  sich  im  Namen  einer  neuen  Religion  und  Kunst. 
Was  gibt  der  Prophet  der  Kunst?  Einen  neuen  Inhalt  und  eine  neue 

10  Horneffer,  Der  Priester  II  145 


Form.  Seine  veränderten  Lebens-  und  VVeltgefühle  verlangen  nach  Gestal- 
tung. Das  neue  religiöse  Denken  will  sich  in  Bilder  umsetzen,  das  neue  reli- 
giöse Empfinden  sucht  in  neuen  Ornamenten  und  Bauformen  nach  Aus- 
druck. Auch  rein  praktische  Aufgaben  stellt  die  erneuerte  Religion  der  Kunst. 
Z.  B.  änderte  sich  durch  den  Sieg  des  Christentums  über  die  antiken  Reli- 
gionen die  Form  der  heiligen  Gebäude.  Der  antike  Tempel  war  das  Wohn- 
haus der  Gottheit;  sie  stand  als  Bild  darin.  Weihgeschenke  und  Opfergaben 
schmückten  den  Raum;  das  Volk  trat  nur,  um  zu  schauen  und  zu  beten, 
hinein,  es  besuchte  den  Gott.  Im  Christentum  wurde  der  Tempel  zu  einem 
Versammlungsraum  der  Gemeinde;  die  großen  gottesdienstlichen  Hand- 
lungen, die  im  Altertum  vor  dem  Tempel  oder  an  anderen  offenen  Stätten 
abgehalten  worden  waren,  wurden  in  den  Tempelraum  verlegt.  Der  christ- 
liche Altar  bildet  den  Mittelpunkt  oder  Schwerpunkt  des  christlichen  Tem- 
pels, der  sich  als  große  Halle  mit  einem  schützenden  Dach  über  dem  Altar 
wölbt. 

Die  Geschichte  der  Baukunst  lehrt  denn  auch,  daß  der  christliche  Kirchen- 
bau nicht  an  den  griechisch-römischen  Tempel,  sondern  an  die  weltliche 
Versammlungshalle,  die  Basilika,  anknüpft.  Ferner  hatte  der  Künstler  für 
die  neue  Religion  Taufbecken  und  Sakramentschreine  herzustellen,  Stühle, 
Leuchter,  Kanzeln,  Altarschmuck  usw.  zweck-  und  sinnentsprechend  her- 
zurichten. Die  neuen  Stoffe,  die  in  der  Heilsgeschichte  und  den  Legenden 
niedergelegt  waren,  mußten  künstlerisch  verarbeitet  werden:  Wände,  Fen- 
ster, Altarnischen  verlangten  passenden  Bildschmuck ;  die  Ornamentik  fand 
ein  reiches  Betätigungsfeld;  Kleider,  Vorhänge,  Metall-,  Stein-  und  Holz- 
gegenstände allerart  wollten  mit  christlichen  Zeichen,  mit  ,, Tätowierungs- 
mustern", Wappenbildern,  Heilssymbolen  geschmückt  und  als  heihg  abge- 
stempelt sein.  Wo  er  ging  und  stand,  wollte  der  christliche  Priester  von  gött- 
lichen Darstellungen  und  Schutzzeichen  umgeben  sein. 

Die  gesamte  Baukunst  des  Menschengeschlechts  hat  sich  an  und  mit  der 
Rehgion  entfaltet  und  vervollkommnet.  Welches  ist  das  schönste  und  statt- 
lichste Haus  im  Orte  ?  Die  Kirche.  Schon  bei  den  primitiven  Völkern  steht, 
umgeben  von  den  armseligen  Wohnstätten,  die  größere  Hütte  des  Geistes, 
die  oft  auch  Versammlungshaus  und  Fremdenherberge  ist.  Von  jeher  hat 
der  Mensch  für  die  Geister  und  Götter  weit  schöner  gebaut  als  für  sich  selber. 
Für  sich  suchte  er  nur  Schutz  gegen  die  Witterung  und  gegen  tierische  und 
menschliche  Feinde;  aber  die  Götter  sollten  es  besser  haben.  Wenn  er  ihnen 
ein  Haus  baute,  strengte  er  seine  künstlerische  Phantasie  an,  wählte  größere 
Maße  und  gefälligere  Verhältnisse,  suchte  schwierigere  Konstruktionspro- 
bleme zu  lösen  und  brachte  Verzierungen  an,  wo  er  nur  konnte.  Manchmal 
sticht  die  Kostbarkeit  und  überladenheit  des  Gotteshauses  fast  grotesk  gegen 

146 


die  Schmucklosigkeit  der  Wohngebäude  ab.  Aller  Überfluß  an  Geld,  Kraft 
und  Künstlerschaft  wird  für  die  Errichtung  und  Ausschmückung  religiöser 
Bauwerke  aufgewendet.  Daher  sind  fast  alle  Wunder  der  Baukunst  in  alter 
und  neuerer  Zeit  heilige  Gebäude,  in  denen  der  Priester  haust  oder  über  die 
er  wenigstens  waltet.  Auch  die  ägyptischen  Pyramiden  sind  davon  nicht 
auszunehmen ;  sie  sind  Grabtempel.  Der  tote  König,  oder  wer  sonst  in  ihnen 
begraben  liegt,  wird  zum  Gott  und  empfängt  einen  Kult ;  die  Pyramide  soll 
nicht  nur  die  Leiche  aufbewahren,  sondern  ist  zugleich  eine  Kultstätte.  Auch 
die  Obelisken,  die  Rolandsäulen  usw.  haben  religiösen  Sinn.  Ferner  müssen 
wir  auch  die  großartigen  Theaterbauten  der  Alten  zu  den  religiösen  Bau- 
werken rechnen.  Der  Mittelpunkt  des  Theaters  war  die  Orchestra,  der  Platz, 
auf  dem  der  Chor  und  die  Schauspieler  sich  bewegten ;  und  in  der  Mitte  der 
Orchestra  stand  ein  Altar.  Religiöse  Gesänge  und  Tänze  waren  es,  die  ur- 
sprünglich im  antiken  Theater  vorgeführt  wurden ;  der  Gott  war  zugegen 
und  nahm  die  heiligen  Spiele  als  einen  Gottesdienst  in  Empfang. 


^  3.  DER  SINGENDE  UND  DICHTENDE  PRIESTER  U 


Ebenso  kurz  wie  die  Raumkunst  wollen  wir  nun  die  Zeitkünste  behandeln. 
In  der  Mitte  zwischen  diesen  und  jener  steht  die  gemeinsame  Urmutter  der 
Künste,  der  Tanz,  der  sich  in  Zeit  und  Raum  zugleich  entfaltet.  Im  religiösen 
Tanze  ist  es  dem  Menschen  zum  erstenmal  gelungen,  sein  inneres  und 
äußeres  Leben  künstlerisch  zusammenzufassen  und  die  Äußerungen  des  ani- 
malischen Spieltriebes  organisch  mit  dem  religiösen  Erleben  zu  verbinden. 
Wir  haben  früher  erwähnt,  daß  diese  Tänze  Zaubertänze  sind;  durch  ihre 
Aufführung  glaubte  man  bestimmte  magische  Zwecke  zu  erreichen,  und  dieser 
Glaube  rührte  wiederum  von  der  belebenden  und  berauschenden  Wirkung 
her,  die  das  rhythmische  Bewegungsspiel  auf  die  Ausübenden  und  in  zweiter 
Linie  auch  auf  die  Zuschauer  hat.  Ein  Kriegstanz  stärkt  die  zaubergläubigen 
Krieger  wirklich;  er  versetzt  sie  in  einen  göttlichen  Kraftzustand  und  er- 
zeugt das  sichere  Vertrauen,  daß  die  Feinde  dem  Ansturm  nicht  werden 
widerstehen  können.  Ebenso  hat  der  Glaube,  daß  die  Aufführung  erotischer 
Tänze  die  Fruchtbarkeit  der  Natur  fördere,  psychologische  Gründe  und 
ähnlich  ist  es  auch  mit  den  anderen  Arten  religiöser  Tänze. 

Erst  dadurch,  daß  der  Zauberglaube  und  Götterglaube  sich  des  Bewegungs- 
triebes bemächtigte,  erst  damals,  als  es  zu  einer  religiös  verdienstvollen 
Handlung  wurde,  sich  den  rhythmisierten  und  kunstvoll  gruppierten  Be- 
wegungsspielen hinzugeben,  war  der  Weg  zur  hohen  dramatischen  Kunst 
eröffnet.  Nun  flössen  alle  zurückgehaltenen  Energien  in  das  religiöse  Spiel 

jo*  147 


hinein ;  alle  unlösbaren  Konflikte  suchten  im  Tanz  ihre  Lösung ;  die  Tragödie 
wurde  geboren.  Jede  echte  Tragödie  ist  beides:  eine  religiöse  Tat  und  ein 
rhythmisches  Bewegungs-  und  Lautspiel.  Gar  oft  ging  im  Laufe  der  Kultur- 
en twäcklung  der  Zusammenhang  zwischen  Religion  und  Tanz  verloren; 
schon  bei  den  Naturvölkern  finden  wir  unreligiöse  Tänze.  Aber  eine  völlige 
Trennung  hatte  stets  verhängnisvolle  Wirkungen,  sowohl  für  die  Kunst  als 
auch  für  die  Religion ;  der  Tanz  wurde  seelenlos  und  entartete  zur  erotischen 
oder  rein  geselligen  Belustigung;  er  hatte  für  das  höhere  Leben  keine  Be- 
deutung mehr.  Denn  nur  dann  vermag  sich  das  Bewegungs-  und  Lautspiel 
zum  tragischen  Drama  zu  erheben,  wenn  es  den  tiefsten  religiösen  Regungen 
eines  ganzen  politisch-kulturellen  Verbandes  Ausdruck  verleiht. 

Daher  waren  es  wie  erwähnt  religiöse  Persönlichkeiten,  also  Priester  im 
weitesten  Sinne,  die  die  Massentänze  und  dramatischen  Volksspiele  leiteten 
und  schufen.  Der  Priester  war  Vortänzer,  Dichter,  Komponist.  Und  die  her- 
vorragendsten Volksmitglieder  waren  seine  Gehilfen  und  Stellvertreter.  Das 
Tanzen  war  eine  Ehre  und  ein  Vorrecht;  die  Führer  und  Vertreter  des 
Volkes  erfüllten  eine  hohe  Pflicht,  wenn  sie  an  den  heiligen  Aufführungen  han- 
delnd Anteil  nahmen.  Indem  sie  tanzten,  dichteten,  sangen,  führten  sie  Re- 
gierungshandlungen aus,  setzten  ihre  göttlich -heilige  Natur  in  Tätigkeit 
und  bewiesen,  daß  sie  bevorzugte  Mitglieder  des  Gemeinwesens  seien.  Das 
Zuschauen  ist  Sache  derer,  denen  die  Mitwirkung  verboten  oder  unmög- 
lich ist,  weil  sie  unwürdig  sind,  den  Göttern  im  vergöttlichenden  Tanz  zu 
dienen.  Die  Zuschauer  sind  also  vollständig  Nebensache.  Man  führt  die  Spiele 
nicht  als  Schauspiele  vor  einem  Unterhaltung  suchenden  Publikum  auf,  son- 
dern als  heilige  Übungen,  die  den  Ausführenden  selber  zum  Segen  gereichen 
sollten.  Mitunter  sind  gar  keine  Zuschauer  vorhanden,  weil  alle  Mithandelnde 
sind;  diejenigen,  die  nicht  mit  dem  ganzen  Körper  tanzen,  tanzen  wenigstens 
mit  der  Hand  und  dem  Mund.  Sie  klatschen  in  die  Hände,  schlagen  den  Takt, 
spielen  Musikinstrumente,  singen  und  schreien. 

Die  scharfe  Trennung  in  Ausführende  und  ,, Genießende"  ist  ähnlich  zu 
beurteilen,  wie  die  grundsätzliche  Trennung  des  religiösen  Verbandes  in 
Priester  und  Laien,  Wohl  mußte  diese  Scheidung  erfolgen ;  sie  war  eine  Folge 
der  unumgänglichen  Arbeitsteilung.  Nur  der  tanzende  Fachmann  konnte 
die  religiöse  Ausdruckskunst  zur  Höhe  und  Vollendung  führen.  Er  vermochte 
den  Regungen  des  in  allen  wirkenden  Triebes  viel  tiefer  und  treffender  Ge- 
stalt zu  verleihen,  als  die  ungeschickten  Laien.  Das  Volk  hielt  von  selber  in 
seinem  Massenspiel  inne;  es  fand  eine  reinere  Befriedigung,  wenn  es  den 
Tanz  des  künstlerischen  Priesters  mit  den  Augen  und  der  mitfühlenden  Seele 
begleitete.  Hier  trat  die  angeborene  Lust  an  der  sensiblen  Betätigung  in 
Kraft,  die  Lust  am  Sehen  und  Hören  eindrucksvoller  und  rhythmischer  Vor- 

148 


gänge.  Es  bildete  sich  daher  der  heutige  Zustand  heraus,  wo  nur  wenige  oder 
nur  einer  handelnd  spielen,  die  übrigen  sehend  und  hörend  spielen.  Jedoch 
muß  und  wird  es  in  religiös  kraftvollen  Zeiten  neben  dem  Spiel  weniger 
immer  auch  ein  Massenspiel  aller  geben. 

Ehe  wir  auf  die  poetische  Fortbildung  des  religiösen  Tanzes  eingehen, 
müssen  wir  einen  Blick  auf  die  Musik  werfen.  Ohne  Rhythmus  kein  Tanz; 
die  hörbare  Betonung  des  Rhythmus  aber  führt  ganz  von  selber  zur  Musik 
hinüber.  Fast  alle  rhythmischen  Bewegungshandlungen,  die  die  Menschheit 
seit  ihrer  Kindheit  ausgeführt  hat,  um  sich  zu  erfreuen  und  sich  zu  erlösen, 
sind  von  der  Musik  begleitet  und  unterstützt  worden.  Wenn  wir  uns  zunächst 
der  Instrumentalmusik  zuwenden,  so  leuchtet  die  religiöse  Eigenschaft  der- 
selben am  deutlichsten  daraus  hervor,  daß  die  Musikinstrumente  nach  Mei- 
nung der  meisten  primitiven  Völker  religiöse  Geräte  sind;  sie  werden  sogar 
als  Fetische,  als  geistbeseelte  Gegenstände  behandelt  (vgl.  Wallaschek, 
Anfänge  der  Musik).  Der  Priester  hält  sie  in  Verwahrung;  nur  zauberkräftige 
Personen  dürfen  sie  benutzen.  Die  Töne,  die  sie  von  sich  geben,  sind  die 
Sprache  der  Geister;  wer  gute  Ohren  hat,  kann  ihren  Willen,  kann  göttliche 
Orakelantworten  aus  den  Klängen  der  Instrumente  heraushören.  Manche 
Instrumente,  z.  B.  die  Pauke,  Trommel,  Posaune,  das  Schwirrholz,  sind  hei- 
liger als  andere,  vielleicht  weil  sie  sehr  alt  und  den  Nachgeborenen  besonders 
ehrwürdig  sind.  Neuere  Erfindungen  und  Erwerbungen  sind  weit  spröder 
gegen  die  Rehgion  als  die  altererbten  Besitztümer  der  Vorzeit.  Auf  dem  Ver- 
sammlungsplatz der  Gemeinde  wird  eine  Pauke  aufgestellt,  die  nur  bei  wich- 
tigen Gelegenheiten  geschlagen  werden  darf  und  als  eine  Art  Schutzgeist 
der  Gemeinde  verehrt  wird.  Man  erinnere  sich  auch  an  die  Posaunen  von 
Jericho,  durch  deren  Schall  die  Mauern  der  feindlichen  Stadt  zum  Einsturz 
gebracht  wurden.  Die  Töne  sind  gleichsam  Zauberworte;  sie  wirken  ebenso 
wie  die  anderen  rehgiösen  Machtmittel,  die  der  Priester  zur  Verfügung  hat. 
Die  Posaune  blieb  auch  im  Christentum  ein  heiliges  Instrument.  Daneben 
trat  die  Glocke,  die  ebenfalls  ein  uraltes  Zaubergerät  ist  und  sich  in  mancher- 
lei Abarten  (klingende  Stäbe,  Scheiben  usw.)  über  die  ganze  Erde  verbreitet 
findet.  Später  kam  die  Orgel  hinzu. 

Nachdem  sich  die  Göttervorstellungen  weiter  entwickelt  hatten,  konnte 
der  Priester  die  Instrumente  nicht  mehr  für  Götterstimmen  und  Götter- 
sitze ausgeben.  Sie  wurden  zu  ,, Attributen"  der  Götter.  In  allen  älteren 
Mythologien  erscheinen  einige  Göttergestalten  dauernd  mit  bestimmten 
Musikinstrumenten  verbunden ;  sie  haben  sie  erfunden,  haben  die  Menschen 
in  ihrer  Herstellung  und  ihrem  Gebrauch  unterwiesen  und  spielen  selber 
gern  darauf.  So  ist  z.  B.  die  Lyra  dem  Apollon,  die  Hirtenflöte  Pan  heilig. 
Von  den  Griechen  können  wir  auch  am  besten  lernen,  wie  die  ältere  Mensch- 

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heit  über  die  Zauberwirkung  der  Musik  dachte.  Eine  ganze  Reihe  von  Sagen 
berichtet  über  die  Kraft  der  Töne,  über  den  leben-  und  todüberwdndenden 
Zauber  des  rhythmischen  Hörspiels.  Der  Priesterarzt  zählte  fast  auf  der 
ganzen  Welt  die  Musik  zu  seinen  wertvollsten  Heilmitteln.  Er  nahm  sein 
Blas-  oder  Schlaginstrument  mit  an  das  Krankenbett,  nahm  auch  wohl 
seine  Priesterlehrlinge  als  Hilfsmusikanten  mit  und  veranstaltete  ein  regel- 
rechtes Konzert.  Er  war  überzeugt,  daß  die  Töne  die  Krankheitsgeister  ver- 
treiben und  den  eigenen  Lebensgeistern  des  Kranken  neue  Kraft  geben  wür- 
den. Das  geschah  auch  vielfach;  die  Musik  erfüllte  ihren  Suggestionszweck 
nicht  minder  gut  als  die  anderen  Mittel  der  religiösen  Therapeutik.  Der  junge 
Daxid  verscheuchte  dem  kranken  Saul  die  bösen  Geister  durch  Saitenspiel. 
Noch  vor  zwei  Jahrhunderten  zogen  die  Wanderärzte  in  Europa  mit  einer 
Musikkapelle  durch  die  Ortschaften.  Während  der  Arzt  die  Kranken  auf 
offenem  Platze  behandelte,  spielte  die  Musik ;  gewiß  nicht  bloß  deshalb,  um 
die  Schmerzenslaute  der  Kranken  zu  übertönen,  sondern  um  die  Schmerzen 
zu  Hndern  und  zur  Heilung  beizutragen. 

Deutlicher  noch  als  bei  der  Instrumentalmusik,  der  mit  Worten  und  Be- 
griffen schwer  beizukommen  ist,  deren  Erzeugnisse  daher  ebenso  gut  und 
so  schlecht  als  weltlich  wie  als  geistlich  angesprochen  werden  können,  läßt 
sich  der  religiöse  Charakter  bei  der  Gesangsmusik  nachweisen.  Der  Priester 
sang  und  mußte  singen;  wo  er  das  Singen  verlernte,  stand  es  um  ihn  ebenso 
schlimm  wie  um  die  singende  Muse.  Mit  Hilfe  dieser  Muse  hat  der  Priester 
fast  alle  seine  Siege  erfochten ;  mehr  durch  seine  Lieder  als  durch  seine  Pre- 
digten und  Lehren  hat  er  gewirkt.  Er  stahl  sich  den  Menschen  mit  den 
melodisch  und  rhythmisch  gehobenen  Worten  ins  Herz,  zwang  sie  zum  Mit- 
singen, zum  Mitglauben,  zum  willigen  Gehorchen.  Der  Gesang  ist  eine  wun- 
derbare Verbindung  von  Ausdruckslauten  der  Leidenschaft,  die  durch  Rhyth- 
mus und  ]\Ielodie  gebändigt  sind,  und  von  gedanklichen  Mitteilungen,  die 
mit  Hilfe  der  Sprache  von  Mensch  zu  Mensch  getragen  werden.  Der  Gesang 
vereinigt  Ton  und  ^^'ort.  Diese  Vereinigung  ist  für  die  Ausbildung  einer 
streng  künstlerischen  Vokalmusik  nicht  sehr  günstig,  wie  denn  auch  die 
Ästhetik  mit  den  Erzeugnissen  dieses  Kunstzweiges  viel  Not  hat;  aber 
für  den  Priester  kann  es  keine  erwünschtere  und  unentbehrlichere  Bundesge- 
nossin geben  als  diese  zweigesichtige  Gesangskunst.  Mit  ihrer  Hilfe  konnte 
er  beides  zugleich:  religiöse  Stimmung  hervorrufen  und  sie  zugleich  in  eine 
bestimmte  Vorstellungsbahn  leiten;  er  konnte  seine  Gemeinde  zugleich  er- 
heben und  belehren. 

Wie  die  Vokalmusik  entstanden  ist  und  welcherart  die  ältesten  Lieder 
waren,  kann  nur  vermutet  werden.  Karl  Bücher  hat  viel  zur  Aufhellung 
dieser  Frage  beigetragen,  indem  er  auf  die  x\rbeitsgeräusche  und  Arbeits- 


rufe  hingewiesen  hat.  Zum  Takte  der  Arbeit  sang  man  Laute  und  Lautfolgen, 
die  zunächst  keinen  begrifflichen  Wert  hatten  und  nur  rhythmische  Inter- 
jektionen waren.  Allmählich  erhielten  diese  primitiven  Arbeitslieder  einen 
Text  und  gewannen  poetische  Eigenschaften.  Diese  Theorie  bedarf  insofern 
der  Ergänzung,  als  das  religiöse  Lied  wahrscheinlich  noch  älter  ist  als  das 
Arbeitslied.  Schon  bevor  der  Mensch  regelmäßig  arbeitete,  führte  er  Tänze 
auf  und  begleitete  die  Körperbewegungen  durch  rhythmische  Laute,  also 
durch  primitive  Gesänge.  Zu  dem  Gliederspiel  gesellte  sich  unwillkürlich  das 
Lautspiel,  und  die  Laute  gaben  Gelegenheit,  den  anderen  Menschen  durch 
artikulierte  Worte  Vorstellungen  zu  vermitteln.  Der  Tänzer  sang  ein  Lied, 
auch  wenn  das  Lied  nur  aus  einem  kurzen  Satz  bestand,  der  unzählige  Male 
wiederholt  wurde.  Wir  kennen  viele  solcher  kurzer  Lieder;  ihr  Inhalt  ist 
sehr  verschieden,  meist  drücken  sie  die  augenblickliche  Gefühlslage  auf  ein- 
fache Weise  aus  und  leihen  dem  augenblicklichen  Vorstellungsgehalt  Worte. 
Es  sind  Gelegenheitsgedichte  im  strengsten  Sinne.  Jedoch  läßt  es  sich  häufig 
beobachten,  daß  die  Lieder  auch  einen  praktischen  Zweck  verfolgen:  sie 
bitten,  fordern,  drohen,  oder  sie  wollen  durch  Darlegung  eines  Tatbestandes, 
durch  Beschreibung  eines  Vorfalls,  durch  Voraussage  eines  Ereignisses 
magischen  Einfluß  auf  den  Lauf  der  Dinge  ausüben.  Kurz,  die  meisten  Lieder 
der  Naturvölker  sind  Zauberlieder  und  Beschwörungen,  also  ,, heilige  Hand- 
lungen". Das  gilt  auch  für  viele  Arbeitslieder.  Wenn  man  zur  Arbeit  sang, 
ging  die  Arbeit  besser  vonstatten;  also,  schloß  man,  übt  der  Gesang  eine 
zauberhafte  Wirkung  auf  den  Verlauf  der  Arbeit  aus.  Das  Lied  bezwingt  den 
Arbeitsgegenstand  und  macht  ihn  gefügig;  es  nimmt  z.  B.  dem  Baumstamm, 
aus  dem  man  ein  Boot  zimmert,  seine  Härte  und  Widerspenstigkeit;  es 
macht  die  Erde,  die  man  mit  der  Hacke  bearbeitet,  locker  und  fruchtbar. 
Auch  das  Arbeitsgerät  leistet  mehr,  wenn  man  es  durch  ein  Lied  ermuntert 
und  anfeuert ;  die  Axt  wird  schärfer,  das  Schwert  blutgieriger.  Es  ist  bekannt, 
wie  viele  Schwertlieder  sich  mit  Aufforderungen  an  das  Schwert  wenden; 
wie  das  Schwert  werden  auch  die  Arbeitswerkzeuge  als  kraftenthaltende 
Wesenheiten  aufgefaßt.  Man  schmückt  sie  mit  Zauberornamenten,  gibt  ihnen 
nicht  selten  die  Gestalt  lebendiger  Geschöpfe  und  singt  sie  an,  um  ihre  Zau- 
berkraft zu  erhöhen.  Nach  Anschauung  der  primitiven  Menschheit  ist  das 
wirkliche  Arbeiten  immer  nur  eine  Hilfs-  und  Nebentätigkeit.  Die  Erfolge 
kommen  nicht  in  erster  Linie  durch  das  körperliche  Handeln  zustande,  son- 
dern durch  die  Zauberei,  die  mit  und  bei  der  Arbeit  ist.  Nicht  der  Krieger 
erschlägt  eigentlich  den  Feind,  sondern  die  in  der  Waffe  enthaltene  Zauber- 
kraft und  der  dem  Krieger  beistehende  Geist.  Nicht  der  Arbeiter  bestellt  das 
Feld,  behaut  den  Baumstamm,  sondern  der  Geist,  der  sich  an  diesen  Tätig- 
keiten beteiligt.  Nicht  der  Mann  befruchtet  das  Weib,  sondern  der  beim 


Geschlechtsakt  oder  zu  anderer  Zeit  dem  Weibe  nahende  Fnichtbarkeits- 
dämon.  Daher  ist  es  nötig,  die  Zauberkräfte  oder  Tätigkeitsgeister  in  Be- 
wegung zu  setzen  und  zu  der  gewünschten  Handlung  zu  veranlassen.  Wie 
geschieht  das?  Einerseits  dadurch,  daß  der  Mensch  selber  sich  an  die  Arbeit 
macht,  anderseits  dadurch,  daß  er  Zaubermittel  in  Wirksamkeit  treten 
läßt,  z.  B.  Tanz,  Musik,  Beschwörung.  Daher  ist  das  begleitende  Lied  unent- 
behrlich zum  Gelingen  der  Arbeit.  Der  Arbeiter,  der  Krieger,  der  Ruderer, 
die  Festgenossen,  die  Hochzeitsversammlung  —  sie  alle  müssen  singen,  müs- 
sen die  Zaubermächte  herbeirufen  und  in  Dienst  stellen,  sonst  bleibt  der 
gewünschte  Erfolg  aus:  die  Arbeit  mißlingt,  die  Waffe  versagt,  das  Ruder 
widersetzt  sich,  die  Braut  bleibt  unfruchtbar.  So  sind  die  Feldrufe  und 
Schlachtgesänge  ebensowohl  rehgiöse  Begehungen  wie  die  Kulthymnen  und 
Opfergesänge.  Ohne  sie  kann  der  Krieg  nicht  gewonnen  werden. 

Man  muß  sich  diesen  wunderlichen  Gedankengang  beständig  vor  Augen 
halten,  um  zu  begreifen,  weshalb  die  ältere  Menschheit  auf  das  Singen  und 
Dichten  einen  so  ungeheuren  Wert  gelegt  hat.  Hätte  man  das  Liedersingen 
als  ein  bloßes  Vergnügen  betrachtet,  so  wäre  man  gewiß  nicht  darauf  ver- 
fallen, es  bei  allen  wichtigen  und  ernsten  Angelegenheiten  in  den  Mittel- 
punkt zu  rücken  und  es  oft  bis  zur  Erschöpfung  zu  treiben.  Die  Gesangs- 
literatur der  Vergangenheit  ist  Zauber  und  Kultliteratur !  Auch  wo  das  Be- 
wußtsein schwand,  daß  man  durch  den  Vortrag  des  Liedes  Zaubererfolge 
zu  erzielen  vermochte,  wenn  also  das  Lied  nicht  mehr  eine  bewußte  Zauber- 
beschwörung war,  wirkte  doch  das  Gefühl  davon  noch  im  Unterbewußtsein 
nach.  Das  Lied  behielt  einen  religiösen  Unterton,  auch  wenn  es  sich  ganz 
weltlich  und  unheilig  gab.  An  der  griechischen  Lyrik  tritt  das  deuthch  her- 
vor. Sapphos  Liebeslieder  z.  B.  haben  etwas  tief  Religiöses,  und  das  eine  von 
ihnen,  das  Gebet  an  Aphrodite,  ist  wie  oben  erwähnt  eine  kunstgerechte 
Zauberhjonne. 

Bei  den  Persem  konnte,  wie  Herodot  berichtet,  eine  regelrechte  Opfer- 
handlung nicht  ohne  Mitwirkung  eines  priesterlichen  Sängers  vorgenommen 
werden.  Der  Priester  mußte  die  ,,Theogonie"  singen.  Auch  in  Indien  wurde 
der  fachmännische  ,, Sprecher",  d.  h.  der  priesterliche  Hymnensänger  beim 
Opfer  unentbehrhch.  In  Griechenland  wurden  bei  Prozessionen  und  anderen 
religiösen  Feiern  meist  Chorlieder,  sogenannte  Dithyramben  gesungen.  Im 
Christentum  drangen  die  Hymnen  und  Choräle  nach  anfänglichem  Wider- 
stand siegreich  in  den  regelmäßigen  Gottesdienst  ein  und  bilden  bis  heute 
einen  wesentlichen  Bestandteil  desselben.  Bekanntlich  hat  sich  aus  diesen 
gottesdienstlichen  Gesängen  die  großartige  musikalische  Blüte  im  i6.  Jahr- 
hundert entfaltet;  auch  die  deutsche  Musik  des  i8.  Jahrhunderts  ist  ohne 
die  kirchlichen  Gesänge,  d.  h.  die  Messe  und  Motette,  undenkbar.  Von  ähn- 

152 


lieber  Bedeutung  wurde  der  religiöse  Chor-  und  Einzelgesang  für  die  grie- 
chische Kunst :  er  gab  dem  Drama  und  der  weltlichen  Lyrik  das  Leben.  Einen 
Teil  der  Sololyrik  können  wir  aus  den  Zauberformeln  ableiten ;  die  Chorlyrik 
geht  aus  den  Zauberrufen  größerer  Massen  hervor. 

Ursprünglich  entstammt  das  Lied  wohl  meist  der  augenblicklichen  Ein- 
gebung. Die  Naturvölker,  zumal  ihre  Priester  und  kunstbegabten  Laien 
haben  noch  heute  eine  bemerkenswerte  Fähigkeit,  einfache  Lieder  aus  dem 
Stegreif  zu  erfinden.  Die  gelungensten  prägen  sich  ein  und  finden  im  Volke 
Anklang,  wandern  auch  nicht  selten  über  die  Grenzen  des  Stammes  hinaus. 
Woher  kommt  es,  daß  die  Improvisation  allmählich  der  vorbereiteten 
Kunstschöpfung  weicht?  Warum  werden  manche  Lieder  aufbewahrt  und 
viele  Geschlechter  hindurch  unermüdlich  wiederholt  ?  —  Das  wird  verschie- 
dene Gründe  haben,  teils  künstlerische,  teils  psychologische;  auch  religiöse 
Gründe  wirken  mit.  Der  Priester  bevorzugte  diejenigen  Gesänge,  die  sich 
bewährt  hatten,  d.  h.  die  erfolgreich  gewesen  waren,  deren  Zaubergewalt  also 
außer  Zweifel  stand.  Hatte  er  durch  ein  Lied  einmal  einen  sichtbaren  Ein- 
druck auf  die  religiösen  Mächte  gemacht,  war  er  von  den  Geistern  ,, erhört" 
worden,  so  behielt  er  es  im  Gedächtnis  und  bediente  sich  desselben  immer  von 
neuem.  Das  Lied  wurde  zu  einer  festen  Gebetsformel.  Zimmer  (Altindisches 
Leben)  erzählt,  wie  in  den  priesterlichen  Sängerfamilien  der  Inder  berühmte 
Lieder  der  Vorfahren  getreulich  aufbewahrt  wurden,  ,,die  schon  öfter  sicht- 
lich die  Hilfe  der  Götter  verschafft  hatten".  Er  fügt  hinzu:  ,,nach  außen 
wurde  dieser  Schatz  sorgfältig  gehütet  und  die  Achtung  davor  auf  jede  Weise 
gesteigert."  Die  Lieder  wurden  also  wie  Zauberformeln  geheimgehalten  und 
durften  von  Laien  nicht  gesungen  werden.  Diese  Geheimhaltung  trug  nicht 
nur  zur  Steigerung  der  Achtung  bei,  sondern  auch  zur  Reinerhaltung  des 
Textes.  Wir  sahen,  wie  streng  man  bei  dem  Gebrauch  von  Zauberformeln 
auf  die  Wortfolge  achtete ;  die  Formel  wirkt  nur,  wenn  sie  wörtlich  und  ohne 
Fehler  gesprochen  wird.  Der  Zauberer  mußte  sie  daher  seinem  Gedächtnis 
so  treu  als  möglich  einprägen.  Ebenso  war  es  mit  den  Kultliedern  und  Ge- 
beten: der  Gott  erhörte  den  singenden  Priester  nur  dann,  wenn  er  die  alt 
bewährten  Lieder  immer  wieder  in  der  gleichen  Fassung  vortrug,  nichts 
wegheß  und  nichts  hinzufügte.  Dadurch  bildete  sich  der  Sinn  für  die  dich- 
terische und  musikahsche  Tradition  aus,  der  für  die  weitere  Kunstentwick- 
lung so  wichtig  wurde.  Der  priesterhche  Nachwuchs  lernte  die  Lieder  aus- 
wendig (von  Aufzeichnung  war  noch  keine  Rede)  und  vererbte  sie  ohne 
Änderung  an  die  folgende  Generation.  Vermehrungen  und  Erweiterungen 
des  Schatzes  fanden  wohl  statt,  aber  nur  in  großen,  stark  bewegten  Zeiten; 
nur  solche  Zeiten  und  die  in  ihnen  auftretenden  schöpferischen  Künstler- 
propheten hatten  Kraft  und  Mut  genug,  den  alten  Liedern  neue  und  eigene 


Erfindungen  hinzuzufügen.  Der  Künstlerprophet  übernahm  damit  keine  ge- 
ringe Verantwortung;  nur  wenn  ihm  die  persönhchen  Offenbarungen  keine 
Ruhe  heßen,  wenn  also  seine  und  seines  Volkes  Sehnsucht  sich  zu  religiösen 
Gebilden  verdichtete,  trat  er  mit  neuen  Liedern  hervor  und  wurde  Schöpfer 
neuer  künstlerischer  Formen. 

Wie  es  scheint,  haben  sämtliche  europäische  Völker  einst  einen  Stand  von 
priesterlichen  Rhapsoden  gehabt,  die  ein  Wanderleben  führten  und  dem 
Volke  an  den  religiösen  Festen  die  heiligen  Sagen  und  Sänge  vortrugen.  Sehr 
schön  hat  Krauss  über  die  südslavischen  Guslaren  und  ihre  Rhapsoden- 
kunst gehandelt  (vgl.  Krauss,  Slavische  Volksforschungen).  Auch  beiden 
Semiten  und  vielen  anderen  Völkergruppen  lassen  sich  volkstümliche  Prie- 
stersänger nachweisen,  die  den  Märchen-  und  Sagenschatz  verwalten  und  bei 
passenden  Gelegenheiten  daraus  mitteilen.  Oft  werden  derartige  Lieder  zum 
Tanze  gesungen;  das  bekannteste  Beispiel  haben  wir  in  der  Odyssee.  Zum 
Tanz  der  Phäaken Jünglinge  singt  der  Sänger  Demodokos  das  Lied  von  der 
schönen  Aphrodite,  die  ihren  Gemahl,  den  lahmen  Hephaistos,  mit  dem 
männermordenden  Ares  betrog,  bis  jener  das  Liebespaar  in  einem  kunst- 
reichen Netz  fing  und  es  dem  Gelächter  der  herbeigerufenen  Götter  preis- 
gab. Derselbe  Sänger  weiß  aber  auch  im  Saale  unter  den  zechenden  Helden 
von  den  trojanischen  Kämpfen  zu  erzählen.  Er  ist  also  zugleich  Historiker 
und  Mythologe.  Beides  hing  in  alten  Zeiten  sehr  nahe  zusammen;  denn  die 
großen  Ereignisse  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  waren  stets  auch  reli- 
giöse Ereignisse,  und  wie  der  Sänger  die  Geschichte  der  Götter  und  die  ge- 
samte Mythologie  kennt,  so  kennt  er  auch  die  Vergangenheit  des  Volkes 
und  die  Vorgänge  der  Gegenwart.  Er  ist  ,, Seher",  er  ist  der  Erleuchtete,  der 
Weise,  der  Welterfahrene. 

Die  Rhapsoden  nehmen  innerhalb  ihres  Volkes  eine  sehr  verschiedene  Stel- 
lung ein.  Manchmal  genießen  sie  großes  Ansehen  und  sind  im  Besitze  aller 
priesterlichen  Würden,  so  z.  B.  im  alten  Indien.  In  der  Regel  wandern  sie 
dann  auch  nicht,  sondern  gehören  zu  einem  Heiligtum;  das  Volk  und  die 
Könige  kommen  zu  ihnen,  um  sie  zu  hören;  nicht  sie  gehen  zum  Volke.  Der 
wandernde  Sänger  kann  eine  solche  Stellung  selten  erringen.  Durch  das 
Wandern  geht  unter  Umständen  sogar  der  priesterliche  Charakter  des  Rhap- 
sodenberufes ganz  verloren.  Wer  wandert,  ist  auf  die  Wohltätigkeit  der 
Menschen  angewiesen;  er  kann  zum  bettelnden  Gaukler  herabsinken.  Aber 
er  kann  sich  auch  zum  göttlichen  Wanderer,  zum  geheimnisvollen  Fremden, 
zum  ersehnten  Götterboten  erheben.  Es  hängt  das  von  der  Gewalt  seiner 
Persönlichkeit  und  von  der  religiösen  Empfänglichkeit  seiner  Wirte  ab.  Der 
nicht  wandernde  Sänger  nähert  sich  dem  Priestertypus  im  engeren  Sinn ;  der 
wandernde  dem  Prophetentypus.  Jenen  stützt  die  Priestergenossenschaft, 


deren  Mitglied  er  ist :  er  tritt  in  seiner  musikalisch-dichterischen  Wirksam- 
keit für  die  Gemeindereligion  ein.  Daher  pflegen  seine  Erzeugnisse  alle  die- 
jenigen Vorzüge  und  Mängel  zu  haben,  die  dem  Religionswesen  der  Gemein- 
schaften eigen  sind:  Sicherheit,  Reife,  formale  Durchbildung,  aber  auch 
Künstlichkeit,  Oberflächlichkeit,  Epigonenhaftigkeit.  Die  Kunst  des  wan- 
dernden Sängers  wird  umgekehrt  die  Eigenschaften  haben,  die  der  persön- 
lichen Religionsbildung  anhaften ;  sie  wird  etwas  Zufälliges,  Formloses,  Un- 
ausgeglichenes haben,  wird  sich  aber  zu  großer  Macht  und  Leidenschaft 
erheben  können. 

Man  kann  diese  beiden  Richtungen  in  der  Kunst  aller  Völker  bis  in  die 
europäische  Gegenwart  hinein  wiederfinden.  Überall  stehen  sich  priester- 
liche Künstler  und  prophetische  Künstler  gegenüber;  jene  sind  seßhaft, 
arbeiten  ruhig  und  methodisch,  stützen  sich  auf  feste  Traditionen,  diese 
haben  einen  Wandertrieb,  schaffen  in  visionärem  Enthusiasmus,  hassen  die 
Tradition.  Mancher  Künstler  erstrebt  und  erreicht  wohl  auch  eine  Über- 
windung und  Verbindung  dieser  gegensätzlichen  Richtungen.  Während  sich 
der  seßhafte  Künstler  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  heimisch  fühlt,  wie 
der  seßhafte  Priester  in  der  überlieferten  Gemeindereligion,  gerät  der  wan- 
dernde Künstler  leicht  in  einen  Gegensatz  zu  dieser  Gesellschaft,  ähnlich  wie 
der  Zauberer  und  priesterliche  Privatunternehmer. 

Die  fahrenden  Leute  des  Mittelalters,  die  Musikanten  und  Jokulatoren 
(Gaukler),  sind  die  Nachkommen  der  Rhapsoden  und  Barden  der  heidnischen 
Vorzeit.  Diese  Fahrenden  verloren  nie  ganz  ihre  Beziehung  zum  religiösen 
Handwerk ;  sie  übten  Zauberkünste  aus,  waren  Taschenspieler  und  Wunder- 
männer wie  die  Derwische  und  Fakire;  sie  behexten  Vieh  und  Menschen, 
heilten  auch  wohl  Krankheiten.  Von  dem  mittelalterlichen  Gaukler  stammen 
wiederum  die  modernen  Schauspieler,  Virtuosen  und  Musikanten  ab.  Das 
Wandern  bildet  noch  immer  einen  Grundzug  imCharakter  dieser  reproduktiven 
Künstlerberufe.  Jedoch  hat  sich  ihr  Ansehen  beständig  gehoben,  und  vielfach 
ist  eine  Vermischung  mit  dem  seßhaften  Künstlertjrpus  eingetreten.  Noch  vor 
kurzem  waren  die  Schauspieler  fast  durchweg  zugleich  Sänger.  Wer  auf  die 
Maskenbühne  treten  und  sich  im  dramatischen  Bewegungsspiel  zeigen  wollte, 
mußte  auch  singen  können ;  oft  konnte  er  auch  ein  oder  mehrere  Instrumente 
spielen,  auch  Zauberstückchen  vormachen.  Er  war  eben  ein  ,,  Fahren  der", 
ein  Priester  jener  göttlichen  Dämonen,  die  dem  Menschen  zugleich  Grauen 
und  Verachtung  einflößen,  ihn  ebensosehr  abstoßen,  wie  sie  ihn  anziehen. 

Was  sind  das  für  Dämonen  ?  Wie  kann  der  Fahrende  als  ein  Priester  gelten  ? 
Es  sind  die  entthronten  Heidengötter,  die  als  Teufel  in  die  Hölle,  als  Geister 
imd  Kobolde  in  die  Wälder  und  Felder  gebannt  worden  sind.  Dadurch  sind 
sie  nicht  nur  böse,  sondern  auch  lächerhch  und  verächtlich  geworden.  Diese 


Wandlung  haben  auch  ihre  Priester  durchgemacht.  Während  der  alte  Rhaf>- 
sode  ein  ehrwürdiger,  wenn  auch  vielleicht  armer  und  bedürftiger  Mann  war, 
ein  Bote  der  vom  Volke  verehrten  Götter  und  Halbgötter,  wurden  die  Volks- 
sänger in  christlicher  Zeit  zu  gefährlichen  und  belustigenden  Menschen,  mit 
denen  man  keine  nähere  Gemeinschaft  haben  wollte. 

Zum  Teil  waren  nun  jene  Heidengötter  schon  in  ihrer  Glanzzeit  böse  und 
lächerlich  gewesen;  es  verbargen  sich  hinter  ihnen  die  noch  weit  älteren 
Naturgeister  von  zugleich  schrecklicher  und  komischer  Art,  die  Fruchtbar- 
keitsdämonen, die  Wind-  und  Regengeister,  überhaupt  die  Gebilde  der  so- 
genannten niederen  Mythologie,  die  man  sich  in  Tiergestalt  oder  verzerrter 
Menschengestalt,  oder  als  Mischgeschöpfe  dachte.  Diese  Geister  haben  schon 
den  primitivsten  Menschen  zugleich  Gefühle  des  Grauens  und  des  wohligen 
Behagens  erregt;  sie  betrugen  sich  sehr  ungebärdig,  trieben  unzüchtige 
Dinge,  konnten  sehr  grimmig  werden,  aber  sie  waren  auch  lustig  und  droUig, 
ließen  sich  hänseln  und  überlisten;  und  schließhch  waren  sie  doch  auch  die 
gütigen  Spender  vieler  envünschter  Gaben.  Die  priesterhchen  Maskentänzer 
der  Naturvölker  stellen  in  ihren  lyrischen  und  mimischen  Vorführungen 
meist  solche  grotesken  Dämonen  dar;  auch  bei  den  kultivierteren  Völkern 
sind  die  Dämonenmasken  vertreten.  Wir  wissen  heute,  daß  diesen  komisch- 
gräßlichen Naturgeistern  eine  wichtige  Rolle  bei  der  Entstehung  des  reli- 
giösen Dramas  zuzuerkennen  ist.  Wir  sehen  sie  als  Satyren  auf  der  griechi- 
schen Bühne  erscheinen,  sehen  sie  bei  den  Mexikanern  auftreten,  treffen  sie 
als  lustige  Person,  als  Hanswurst  und  Harlekin  in  den  europäischen  Volks- 
spielen, als  Karagöz  in  der  mohammedanischen  Welt  (vgl.  Reich:  Der 
Mimus ;  Preuss  :  Phallische  Fruchtbarkeitsdämonen,  im  Archiv  für  Anthro- 
pologie, N.  F.  I).  In  der  erzählenden  Literatur  des  Christentums  sind  der 
dumme  genarrte  Teufel  und  der  ins  Lächerliche  gezogene  Petrus  häufige 
Figuren.  Ich  dächte,  darin  zeigt  sich  deutlich  der  Zusammenhang  dieser 
komischen  Gestalten  mit  der  religiösen  Welt.  Im  Grunde  haben  wir  in  den 
lustigen  Personen  stets  die  uralten  Natur-  und  Traumdämonen  vor  uns,  die 
,, komischen  Götter",  die  in  wirkungsvollem  Gegensatz  zu  den  tragisch- 
heroischen Göttern  der  ernsten  Priesterkunst  stehen. 

Gott  ist  zugleich  Tragödienheld  und  Komödienheld !  Ebenso  natürlich  der 
Priester.  Der  Priester  weiß  die  komische  Maske  so  gut  zu  tragen  wie  die 
tragische ;  er  ist  ein  erhabener  Gottesschauspieler  und  ein  skurriler  Teufels- 
darsteller. Das  ist  psychologisch  sehr  wohl  verständhch;  denn  Grauen  und 
Lachen,  Qual  und  Witz  wohnen  nahe  beieinander.  Bewegt  sich  doch  der 
Priester  auch  in  seinem  beruflichen  Wirken  oft  auf  der  Grenze  zwischen  dem 
Erhabenen  und  dem  Lächerlichen ;  seine  Würde  hat  stets  zum  Spott  gereizt ; 
sein  tragisches  Pathos  ist  als  Selbstironie  empfunden  worden.  Jedoch  strebte 

156 


der  Priester  auch  in  diesem  Punkte  nach  Arbeitsteilung.  Einige  Priester- 
typen übernahmen  mehr  die  tragischen  Fächer,  andere  die  komischen.  Der 
tragische  Priester  stieg  allmähhch  die  Stufen  zum  Weltenthron  empor  und 
hielt  den  Völkern  seinen  Pantoffel  zum  Küssen  hin;  freilich  führte  ihn  sein 
Weg  auch  nach  Golgatha  und  auf  manchen  Scheiterhaufen,  Der  komische 
Priester  wurde  zum  Lustigmacher  und  Bänkelsänger;  aber  sein  Weg  führte 
ihn  auch  auf  die  olympischen  Höhen  reiner  Künstlerschaf ;  und  zu  der  Er- 
kenntnis, daß  man  die  Nöte  der  Menschheit  durch  Gestaltung  heilen  und  die 
Widersprüche  durch  heitere  Anmut  hinweglachen  könne. 

Die  Entwicklung  der  religiösen  Schauspielkunst  und  Dichtkunst  können 
wir  hier  nicht  im  einzelnen  verfolgen.  Nur  darauf  sei  noch  einmal  hingewiesen, 
daß  der  dichtende  Priester  in  religiös  bewegten  Zeiten  erstens  die  Poesie 
stets  mit  der  Musik  verbinden  will,  also  zu  dem  ursprünglichen  Zustande  der 
Künste  zurückkehren  möchte  und  ihre  Sonderentwicklung  ungern  sieht, 
zweitens  daß  er  sich  eng  an  das  Volksmäßige  und  Allgemeingültige  hält.  Er 
greift  gern  auf  ältere  Kunstzweige  und  Kunstmittel  zurück  und  will  zum 
tiefsten  Herzen  aller  Volksgenossen  sprechen.  Durch  diese  beiden  Eigen- 
tümlichkeiten seines  Dichtens  wird  er  zum  künstlerischen  Neuerer.  Wie  die 
Religion  umschaffend  und  umformend  in  das  bildnerische  Schaffen  eingreift, 
so  auch  in  das  dichterische  Schaffen.  Wie  viel  hat  z.  B.  Luther  für  die  Ent- 
wicklung des  deutschen  Liedes  und  der  deutschen  Sprache  getan!  Seine 
Bibel  und  seine  Choräle  haben  eine  neue  Literatur  eingeleitet ;  auch  die  Ent- 
faltung der  deutschen  Musik  wäre  ohne  Luther  nicht  möglich  gewesen. 
Ebenso  haben  die  Propheten  Israels  rhetorisch  und  poetisch  epochemachend 
gewirkt.  Und  Mohammed  hat  den  volkstümlichen  Segvers  zu  einem  unver- 
gleichlichen Werkzeug  für  seine  poetischen  Predigten  erhoben  (vgl.  Hubert 
Grimme:  Mohammed).  Gerade  bei  den  genannten  Männern  tritt  aber  auch 
klar  hervor,  wie  einseitig  das  Verhältnis  des  Priesters  zur  Kunst  ist.  Soviel 
sie  den  redenden  Künsten  gaben,  soviel  nahmen  sie  den  mimischen  und  bil- 
denden. Die  arabische,  die  jüdische,  die  lutherische  Reformation  waren 
einig  in  der  Gegnerschaft  gegen  das  Drama  im  weitesten  Sinne,  und  noch 
mehr  gegen  die  Raum-  und  Bildkunst.  Sie  versetzten  diesen  Künsten  so 
schwere  Schläge,  daß  sie  sich  kaum  wieder  erholen  konnten.  Im  Islam  und 
Judentum  hörte  die  bildliche  Darstellung  der  sichtbaren  und  wünschbaren 
Welt  fast  ganz  auf;  man  entriß  den  Göttern  das  Schönste:  die  Augen  der 
Gläubigen  zu  laben.  Auch  der  Protestantismus  hat  auf  die  zeitgenössische 
und  nachfolgende  Bau-,  Bild-  und  Zierkunst  übler  gewirkt,  als  es  bei  ober- 
flächlicher Betrachtung  scheinen  mag.  Wir  leiden  noch  heute  an  der  künst- 
lerischen Einseitigkeit,  die  durch  Luther  und  seine  Geistesverwandten  in 
die  deutsche  Kultur  gekommen  ist. 


iii  4.  DER  MYTHUS  UND  DIE  KUNST  1^ 

Welchen  Inhalt  hat  die  priesterliche  Poesie?  Welche  Gegenstände  behan- 
delt der  dichtende  Priester,  und  woher  nimmt  er  sie? 

Sein  Thema  ist  der  Mythus.  Auch  wenn  er  weltliche  und  scheinbar  ge- 
legentliche Stoffe  wählt,  gibt  die  religiöse  Mythenwelt  dem  Dargestellten 
Leben  und  Bedeutung.  Auch  die  religiöse  Ljoik  ist  mythischen  Charakters. 
Man  muß  über  das  Wesen  der  Lyrik  umlernen:  gute  lyrische  Dichtwerke 
nähern  sich  stets  dem  Epischen.  Sie  berichten  und  teilen  Vorgänge  mit;  sie 
sind  nicht  gestaltlose  Gefühlsergüsse.  Nur  wird  das  Epische  musikalisch  ver- 
arbeitet ;  die  Gedanken  und  Bilder  erscheinen  als  rhythmisierte  Ausdrucks- 
laute. Den  Stoff  aber  gibt  der  Mythus  her.  Ein  Blick  auf  die  Hymnen-  und 
Psalmendichtung  Indiens,  Babylons,  Israels,  Europas  beweist  das.  Diese 
Hymnen  —  gleichviel  ob  sie  Einzel-  oder  Chorlyrik,  Tanz-  oder  Gesangs- 
lyrik sind  —  erzählen  von  den  Göttern,  ihren  Taten  und  Schicksalen,  ihren 
Kämpfen  und  Widersachern.  Ferner  enthalten  sie  auch  Betrachtungen  über 
die  Schöpfung  der  Welt,  über  das  Leben  in  der  Natur,  über  die  Gestirne, 
über  philosophische  Probleme.  Der  Unterschied  zwischen  lyrischen  und  epi- 
schen Gedichten  ist  vornehmlich  der,  daß  das  Epos  ruhiger  berichtet  und 
auf  den  Bericht  als  solchen  das  Hauptgewicht  legt,  während  bei  der  LjTik 
die  Schilderung  nur  ein  Mittel  zur  Äußerung  der  Gefühle  ist.  Der  Lyriker  will 
gefühlsmäßige  Spannungen  zur  Entladung  bringen  und  bedient  sich  dazu 
der  Phantasiebilder;  der  Epiker  will  umgekehrt  Phantasiebildem  plasti- 
schen Ausdruck  verleihen  und  bedient  sich  dazu  musikalisch-lyrischer  Hilfs- 
mittel. Die  beiden  Gattungen  können  einander  so  nahekommen,  daß  sie 
fast  miteinander  verschmelzen ;  sie  können  aber  auch  sehr  fem  voneinander 
rücken.  Im  letzteren  Falle  wird  das  Epos  entweder  zur  Prosaerzählung  oder 
zur  wissenschaftlichen  Abhandlung;  und  das  lyrische  Gedicht  zum  Halle- 
luja-  oder  Kyriegesang,  bei  dem  der  Text  unter  der  Musik  vöUig  ver- 
schwindet. Auch  beim  Drama  können  wir  zwei  Gattungen  unterscheiden, 
eine  mehr  epische,  wo  geschlossene  Handlungen  durch  Worte  und  Gebärden 
vorgeführt  werden  —  zu  dieser  Gattung  gehören  sämtliche  Dramen  der 
Kulturvölker  — ,  und  eine  mehr  l5n'ische,  bei  der  rhythmische  Gefühlsäuße- 
rungen im  Vordergrund  stehen;  dahin  gehören  die  mimischen  Tänze  und 
Reigen,  ferner  die  Aufzüge  und  Umzüge.  Je  weiter  sich  ein  Kunstwerk  von 
der  plastischen  Darstellung,  also  vom  Epos  entfernt,  um  so  weniger  mythi- 
sche Elemente  enthält  es  natürlich. 

Rein  lyrische  Erzeugnisse  sind  im  priesterlichen  Schaffen  sehr  häufig.  Der 

158 


Priester  neigt  mehr  auf  die  lyrische  als  auf  die  epische  Seite.  Wenn  der  Prie- 
ster dichtete,  wenn  es  ihn  zwang,  sich  dem  rhythmischen  Bewegungs-  und 
Lautspiel  hinzugeben,  litt  er  unter  dem  Druck  zuückgehaltener  Affekte  und 
ließ  sie  in  sein  Dichtwerk  hineinströmen,  das  dadurch  notwendig  zum  lyri- 
schen Werk  wurde.  Der  prophetische  Priester  hat  nicht  Ruhe  genug,  plasti- 
sche Bilder  vor  seiner  Seele  aufsteigen  zu  machen  und  sie  in  einem  erzählen- 
den Gedicht  oder  in  einer  dramatischen  Handlung  ebenso  plastisch  auszu- 
breiten. Überhaupt  gehört  die  Mythenbildung  als  solche  von  Haus  aus  nicht 
in  das  religiöse  Gebiet.  Nicht  der  Priester  ist  der  Erfinder  des  Märchens,  also 
der  ältesten  und  einfachsten  Äußerung  des  mythenbildenden  Triebes 
(worüber  Wundt  Klarheit  geschaffen  hat) ;  der  Priester  hat  das  Mythen- 
märchen nur  für  seine  Zwecke  benutzt  und  es  in  das  religiöse  Gebiet  hinein- 
gezogen, wie  er  es  mit  allen  anderen  geistigen  Lebensäußerungen  des  Men- 
schen getan  hat.  Es  ist  eine  allgemeine  menschliche  Fähigkeit,  Traum-  und 
Phantasiebilder  zu  sehen  und  Ereignisse  der  Umwelt  märchenhaft  aufzu- 
fassen ;  auch  die  Neigung  und  der  psychische  Zwang,  solche  geschauten  und 
gedachten  Dinge  redend  und  nachahmend  mitzuteilen,  ist  eine  Ureigentüm- 
lichkeit  des  Menschengeschlechts.  Der  Mensch  will  erzählen  und  nachbilden, 
und  zwar  anfangs  in  zusammenhangloser,  flüchtiger  Form.  Die  ältesten  epi- 
schen und  dramatischen  Versuche  sind  fragmentarische  Einzelheiten,  wie 
wir  aus  den  Märchen  der  Naturvölker  deutlich  erkennen.  Die  Ethnologie  hat 
uns  nach  und  nach  mit  sehr  zahlreichen  Märchen  primitiver  Völker  bekannt 
gemacht,  die  aus  kurzen  Augenblicksphantasien  und  lose  aneinander  ge- 
reihten Mythenmotiven  bestehen.  Erst  allmählich  hat  die  Menschheit  das 
dichterische  Komponieren  gelernt. 

Wann  ist  ein  Mythus  religiös  ?  Wenn  sich  in  ihm  die  Verknüpfung  des  ein- 
fachen Mitteilungs-  und  Darstellungstriebes  mit  dem  Zauber-  und  Kult- 
wesen oder  mindestens  mit  religiösen  Bedürfnissen  vollzieht.  Diese  Ver- 
knüpfung wird  durch  die  Organisation  des  menschlichen  Seelenlebens  ge- 
fordert. Der  Mensch  kann  nicht  anders,  als  sein  Handeln  mit  seinem  Vor- 
stellen ins  Einvernehmen  setzen ;  die  Erzeugnisse  seiner  Phantasie  verlangen 
nicht  nur  nach  Darstellung,  sondern  nötigen  auch  zu  Abwehrmaßregeln  und 
und  anderen  kultartigen  Handlungen.  So  treten  die  Mythen  mit  Zauber- 
handlungen in  Verbindung  und  die  gefühlsmäßig  ausgeübten  Entladungs- 
handlungen rufen  entsprechende  Mythen  hervor.  Wenn  die  Mondsichel  als 
ein  Kahn  gedeutet  wird,  der  über  den  Himmelsozean  fährt,  so  gehört  dieser 
mythische  Erklärungsversuch  an  und  für  sich  eher  in  das  wissenschaftliche 
als  in  das  religiöse  Gebiet ;  aber  wenn  dem  Monde  zauberhafte  Einwirkungen 
auf  das  menschliche  Leben  zugesprochen  werden  und  man  diesem  Glauben 
durch  Kulthandlungen  Ausdruck  und  Nachdruck  verleiht,  so  hat  man  damit 


das  Gebiet  der  religiösen  Mythenwelt  betreten.  Die  Grenze  läßt  sich  wohl 
nicht  immer  scharf  ziehen,  da  die  Mythengebilde  so  luftig  sind  und  ihr  reli- 
giöser Wert  sich  binnen  kurzem  verschieben,  sich  steigern  oder  ganz  ver- 
schwinden kann.  Die  Mjrthen  verdrängen  sich  gegenseitig,  vor  dem  neuen 
verblaßt  der  alte.  Durch  jeden  Sturm,  der  über  ein  Volk  dahinbraust,  wird 
der  Bestand  seines  Mythenwaldes  geändert;  unter  den  gefallenen  Stämmen 
wachsen  junge  Schößhnge  hervor.  Bei  vielen  Mythen,  z.  B.  bei  einem  Teil 
der  griechischen  und  germanischen,  wissen  wir  gar  nicht,  ob  und  wie  weit  sie 
mit  dem  religiösen  Leben  verwachsen  waren,  ob  es  ernste  und  tief  wurzelnde 
Erzeugnisse  des  religiösen  Geistes  waren  oder  flüchtige  Spiele  der  Phantasie. 
Der  Verdacht  der  Religionsforscher  wird  immer  stärker,  daß  manche  Götter- 
und  Natursagen  gar  nicht  so  ernst  gemeint  seien  wie  die  älteren  Mythologen 
angenommen  haben;  Mythen,  die  in  mythologischen  Werken  eine  zentrale 
Stelle  einnehmen,  haben  für  das  wirkliche  religiöse  Leben  jener  Völker  viel- 
leicht geringere  Bedeutung  gehabt,  als  die  unscheinbaren  Gebilde  der  Volks- 
phantasie, die  man  als  ,, Aberglaube"  geringschätzen  zu  können  meint.  Die 
philosophischen  Mythenschöpfungen  waren  oft  nur  in  einem  kleineren 
Kreise  von  Priesterkünstlern  lebendig,  die  in  glücklicher  Muße,  von  den 
Lebenskämpfen  unbehelligt,  dahinlebten.  Das  leidende  und  wirkende  Volk 
stand  diesen  schönen  Phantasiespielen  fern;  es  verlangte  derbere  und  ein- 
fachere jMythenkost,  verlangte  Glaubensgebilde,  die  man  im  Kult  verwerten 
und  für  den  Kampf  gegen  die  bösen  Geister  innen  und  außen  nutzbar  machen 
konnte. 

Das  muß  bei  Betrachtung  der  priesterlichen  Mythenbildung  im  Auge  be- 
halten werden.  Wenn  der  Priester  sich  in  den  Dienst  des  religiösen  Volks- 
bewoißtseins  stellte,  war  er  überhaupt  nicht  in  erster  Linie  Mythendichter 
und  Sagenerzähler,  sondern,  wie  früher  dargestellt,  Zauberer  und  Kultleiter. 
Es  drängte  ihn  zur  religiösen  Tat;  das  Mythologisieren  trieb  er  nebenher, 
es  war  ihm  nur  Mittel  zum  Zweck.  Daher  sind  auch  seine  Dichtungen  mehr 
lyrischer  als  epischer  Natur.  Das  Phantasieleben  dieses  Volkspriesters  ist 
nicht  reich  und  üppig;  es  kreist  immer  um  wenige  stark  gefühlsbetonte 
Wahngebilde,  in  die  sich  des  Volkes  ganzes  Hoffen  und  Fürchten  ergießt. 
Sein  Geist  ist  viel  zu  konzentriert,  um  sich  im  Reiche  der  Phantasie  und  des 
Gedankens  frei  ausbreiten  zu  können.  Was  er  auf  mythischem  Gebiete  schafft 
wird  von  elementarer  Wucht  und  Gedrungenheit  sein,  weil  es  die  Frucht 
seiner  aufs  äußerste  gespannten  Seele  ist.  Solche  Mythen  entstehen  als  Wehr 
und  Waffe  der  ringenden  Menschheit. 

Bei  allen  Völkern  finden  sich  diese  einfachen  und  gewaltigen  Mythenge- 
bilde. Sie  pflegen  von  großer  Zähigkeit  und  Dauerhaftigkeit  zu  sein;  auch 
wenn  sie  zeitweilig  zurückgedrängt  werden,  treten  sie  nachher  doch  wieder 

i6o 


an  die  Oberfläche  des  Glaubenslebens.  Sie  sind  inhaltlich  nahe  miteinander 
verwandt.  Gewisse  Mythen  und  Mythenkreise  kehren  in  allen  Weltteilen 
und  unter  allen  Himmelsstrichen  wieder.  Die  Übereinstimmung  ist  oft  so 
überraschend,  daß  manche  Forscher  annehmen,  diese  Mythen  entstammten 
einem  einzigen  Ausgangsherd  und  seien  durch  Wanderung  von  Volk  zu  Volk 
gelangt.  Dieser  Theorie  stehen  jedoch  schwere  Bedenken  entgegen  und  wir 
werden  uns  wohl  entschließen  müssen,  die  Gemeinsamkeit  des  menschlichen 
Mythenschatzes  wenigstens  zum  Teil  auf  die  gemeinsamen  Naturanlagen 
und  Schickscde  unseres  Geschlechts  zurückzuführen.  So  ist  z.  B.  der  Mythus 
von  der  großen  Flut,  der  in  der  neuen  Welt  ebenso  verbreitet  ist  wie  in  der 
alten,  gewiß  nicht  aus  einer  einzigen  Ursage  herzuleiten;  ebensowenig  die 
Menschenfresser-  und  Drachensagen  und  manche  anderen.  Sie  konnten  von 
allen  Völkern  selbständig  gefunden,  mußten  sogar  gefunden  werden.  Es 
liegt  nicht  in  unserer  Aufgabe,  genauer  auf  diese  Frage  einzugehen;  wir 
wollen  aber  darauf  aufmerksam  machen,  daß  weite  und  verhältnismäßig 
schnelle  Wanderungen  von  Mythen  nachweisbar  stattgefunden  haben. 

Wir  haben  es  mehr  mit  der  Frage  zu  tun,  wie  der  Priester  die  M5rthen- 
schätze  seines  Volkes  verwaltet  und  verarbeitet.  Es  hängt  von  vielen  Um- 
ständen ab,  ob  er  sie  in  Ehren  hält,  fortbildet,  vernachlässigt,  vergeudet. 
Die  Lebensverhältnisse  des  Volkes,  die  wirtschaftliche  und  gesellschafthch- 
politische  Lage  bestimmen  die  ganze  Stellung  und  Wirksamkeit  des  Prie- 
sters, also  auch  seine  mythologische  Tätigkeit.  Vielleicht  haben  auch  die 
Rassenunterschiede  und  sicher  die  klimatischen  Einfluß  auf  das  mytholo- 
gische Leben.  Der  Priester  hat  den  Anforderungen  nachzukommen,  die  die 
Lage  seines  Volkes  an  ihn  stellt.  Die  vorhandenen  Mythen  bearbeitet  er  in 
diesem  Sinne  und  bringt  auch  seine  schöpferische  Phantasie  in  die  erwünschte 
Richtung.  Wenn  sein  Volk  stark,  voller  Selbstvertrauen  und  Eroberungs- 
willen ist,  vnrd  der  mythenbildende  Trieb  sich  prächtig  entfalten  und  edle 
Früchte  treiben.  Reiche  und  glückliche  Zeiten  begünstigen  stets  auch  die 
Phantasie-  und  Gedankenproduktion.  Der  Priester  sieht  dann  die  Dinge  in 
der  Welt  nicht  mehr  bloß  als  Schrecken  und  Ungeheuer  an,  denen  er  ihre 
Schwächen  ablauern  will,  sondern  er  sieht  ihre  Schönheit  und  Mannigfaltig- 
keit. Er  freut  sich,  allenthalben  Leben  und  Streben  zu  finden,  er  beobachtet 
die  Pflanzen  und  Tiere,  phantasiert  über  die  Naturerscheinungen,  denkt 
über  die  Erlebnisse  der  Völker  und  Einzelnen  nach.  Er  hat  Kraft  und  Zeit 
zum  Spiel  mit  den  Dingen :  in  Gedanken  fügt  er  zusammen  und  trennt  und 
läßt  die  Phantasie  ihren  selbstherrlichen  Gelüsten  nachgehen.  Geschautes, 
Gewünschtes,  Gedachtes  verbindet  sich  zur  anmutigen  Einheit. 

Das  beste  Beispiel  eines  mythenfrohen  Zeitalters  ist  das  alte  Hellas.  Dort 
sproßten  die  Mythen  in  unerschöpflicher  Fülle  hervor.  Die  ganze  Welt  wurde 

II  Horneff  er,  Der  Priester  II  lOI 


bevölkert  mit  Göttern  und  Geistern,  Nymphen  und  Najaden,  \\'ald-  und 
Felddämonen.  Jedes  Erlebnis  wurde  zum  Anlaß  neuer  Mythenbildungen 
oder  zur  Wiederauffrischung  älterer  Sagen.  Dem  Griechen  verwandelte  sich 
alles,  was  er  sah,  hörte  und  dachte,  in  illusionäre  Gestalten,  in  phantastische 
Vorgänge,  in  sinnlich  empfundene  Einbildungen,  Wie  erklärt  sich  dieser 
Mythenreichtum  gegenüber  der  M5^thenarmut  anderer  Völker?  Zum  Teil 
ohne  Zweifel  aus  den  glücklichen  Lebensumständen,  in  denen  sich  die  ältere 
griechische  Kultur  befand.  Die  hellenische  Mythologie,  Philosophie,  Wissen- 
schaft und  Kunst  sind  Früchte  des  wirtschaftlichen  Wohlbefindens  der 
höheren  Volksschichten ;  dies  Wohlbefinden  hatte  einen  geistigen  Kraftüber- 
schuß zur  Folge.  Außerdem  war  das  griechische  \'olk  geistig  höher  begabt 
als  andere ;  diese  höhere  Begabung  hat  ihm  erst  ermöglicht,  sich  zu  großem 
wirtschaftlichen  Wohlbefinden  aufzuschwingen  und  sich  den  Bedingungen 
gut  anzupassen,  die  ihm  die  geographische  Lage,  die  Bodenbeschaffenheit, 
die  Nachbarn,  die  vorgefundene  Urbevölkerung  usw.  boten. 

Der  glückhche  Zustand  kam  aber  nur  der  Oberschicht  des  griechischen 
Volkes  zugute.  Nur  sie  nahm  infolgedessen  teil  an  der  reichen  geistigen  Ent- 
wicklung. Dem  mythologisch-künstlerischen  Überschwang  der  griechischen 
,, Herren"  steht  denn  auch  eine  weit  düsterere  Religionsauffassung,  eine 
weit  sparsamere  Phantasietätigkeit  und  gequältere  Gedankenbildung  gegen- 
über. Die  helle  Welt  Homers  war  nicht  für  alle  da;  die  poesievollen  Götter- 
mj^hen  sind  wahrscheinlich  gar  nicht  in  die  niederen  Volksschichten  ge- 
drungen; mindestens  haben  sie  dort  nicht  die  älteren,  barbarischeren  Vor- 
stellungen verdrängen  können  (Näheres  in  Rohdes  Psyche).  Unten  im  Volke 
waren  Religion  und  Leben  kein  göttliches  Spiel,  sondern  bitterer  Ernst. 
Auch  dort  spielte  man,  aber  nicht  das  freie  Spiel  des  Müßigen,  der  für  seine 
brachliegenden  Kräfte  Betätigung  sucht,  sondern  das  Zwangsspiel  des  Be- 
ladenen  und  von  bösen  Geistern  Verfolgten.  Auch  der  bedrückte  Mensch 
erfindet  M}i:hen,  sieht  Gestalten,  wenn  er  durch  den  Wald  wandert,  treibt 
Philosophie  und  Wissenschaft.  Aber  sein  Phantasieren  und  Nachdenken  geht 
andere  Wege  als  das  des  glücklich  heiteren  Menschen.  Vielleicht  können  wir 
folgende  Merkmale  für  das  Mythologisieren  unglücklicher  und  bedrückter 
Menschengruppen  festhalten:  es  herrschen  entweder  die  schrecklichen  und 
rohen  Mythengebilde  vor  oder  umgekehrt  die  ganz  vollkommenen,  allmäch- 
tigen und  allgütigen  Wesen;  Verdammnis  und  Paradies,  Teufel  und  Herr- 
gott sind  Schöpfungen  unterdrückter  Völker  und  Volksschichten.  Zweitens 
die  Mythologie  ist  entweder  arm  und  rein  praktisch,  d.  h.  sie  nimmt  unmittel- 
bar auf  die  Leiden  und  Betätigungen  der  Gläubigen  Bezug,  oder  sie  ist  um- 
gekehrt ein  wüster  Knäuel  von  gestaltlosen  Wahnschöpfungen,  die  zum 
Leben  der  Gläubigen  in  denkbar  größtem  Gegensatz  stehen.  Mit  Hilfe  dieser 

162 


Gesichtspunkte  läßt  sich  ein  wenig  Ordnung  in  die  Mythen-  und  Gedanken- 
welt des  Menschengeschlechts  bringen. 

In  ähnlichem  Sinne  hat  bereits  Nietzsche  zwei  Arten  des  menschlichen 
Schaffens  unterschieden:  ein  Schaffen  aus  der  Fülle  heraus  und  ein  Schaffen 
aus  dem  Mangel  heraus;  dieses  hat  andere  Gründe  als  jenes,  daher  sind  auch 
die  Ziele  und  Erfolge  verschieden.  Bei  jedem  Mythus  und  Gedanken  muß 
man  sich  die  Frage  stellen :  was  will  er  ?  aus  welchem  Grunde  und  zu  welchem 
Zwecke  ist  er  geschaffen  worden?  Jeder  Mythus  und  Gedanke  ist,  wie  wir 
früher  darstellten,  eine  psychische  Entladung  und  Erleichterung,  ist  die  Ab- 
fuhr einer  Energiesumme,  die  sich  nicht  in  körperliche  Bewegungen,  also 
in  die  Tat  hat  umsetzen  können.  Insofern  entspringt  auch  die  Phantasie- 
und  Gedankenschöpfung  des  starken  und  reichen  Menschen  einer  inneren 
Not,  einer  Unbefriedigung ;  auch  sie  wiU  einen  Druck  beseitigen  und  ein 
gestörtes  Gleichgewicht  wiederherstellen.  Jedoch  rührt  dieser  Druck  von 
einem  Zuviel  her,  die  Unbefriedigung  von  einer  Übersättigung ;  es  sucht  hier 
der  nie  rastende  Drang  nach  Empfindung  und  Betätigung  auf  rein  geistigem 
Gebiet  Befriedigung,  also  im  Aufnehmen  von  inneren  und  äußeren  Reizen 
feinerer  Art,  im  Ordnen  und  Zusammensetzen  der  aufgenommenen  Seelen- 
inhalte, im  rhythmischen  und  logischen  Verarbeiten  derselben.  Anders, 
wenn  der  Arme,  vom  Leben  hart  Bedrängte  mythologisiert  und  philoso- 
phiert; er  will  sich  dadurch  bereichern  und  entschädigen;  er  verlegt  sein 
Wünschen  und  Hoffen  in  eine  wahre  Welt,  ersinnt  belohnende  und  bestra- 
fende Mächte;  er  will  sich  mit  Hilfe  von  Phantasmen  über  die  Armut  und 
Bedürftigkeit,  unter  der  er  leidet,  hinwegheben. 

Es  versteht  sich  von  selber,  daß  in  jedem  mythologischen  und  philoso- 
phischen Schaffen  beides  zusammenwirkt:  die  Fülle  und  der  Mangel,  nur 
in  verschiedenem  Grade.  Es  gibt  keinen  ganz  reichen  und  keinen  ganz  armen 
Menschen,  geschweige  denn  ganze  Völker  und  Zeiten,  die  nur  aus  der  FüUe 
oder  nur  aus  dem  Mangel  geschaffen  hätten.  Wir  dürfen  nur  von  einem 
Mehr  oder  Minder  reden,  wenn  unsere  Einteilung  vor  der  Wirklichkeit  stand- 
halten soll.  Aber  so  ist  es  ja  mit  allen  psychologischen  Einteilungen  und 
Gruppierungen ;  der  Mensch  ist  kein  einfaches  Wesen,  sondern  vereinigt  viele 
widersprechende  Eigenschaften  in  sich;  die  Psychologie  legt  diese  Eigenschaf- 
ten auseinander  und  versucht  die  menschlichen  Zustände,  Sinnesrichtungen, 
Typen  reinlich  voneinander  zu  sondern.  Sie  muß  sich  dabei  aber  stets  bewußt 
bleiben,  daß  in  der  Praxis  alles  ohne  scharfe  Grenze  ineinander  übergeht. 

Griechenland  kann  uns  am  besten  als  Beispiel  für  den  Gegensatz  der  beiden 
genannten  Typen  und  auch  für  ihre  enge  Verbindung  dienen.  Die  neuere 
Altertumswissenschaft  hat  immer  mehr  die  ernste  und  düstere  Seite  des 
griechischen  Geisteslebens  in  den  Vordergrund  gerückt.  Früher  stellte  man 

II*  163 


sich  die  Griechen  als  ewig  heitere  Schönheitsenthusiasten  vor ;  heute  wissen 
wnr,  daß  unter  der  Oberfläche  ein  wildes  Leben  tobte,  daß  das  Volk  viel  litt 
und  von  inneren  Leidenschaften  nicht  minder  als  von  äußeren  Nöten  ge- 
quält \vurde.  Die  bösen  Geister  brachen  auch  offen  hervor  und  wirkten  nicht 
nur  in  und  mit  den  guten.  Grausige  häßliche  Mythen  ragten  aus  dunkler 
Vergangenheit  in  die  helleren  Zeiten  hinein;  das  niedere  Volk  hielt  dauernd 
an  barbarischen  Kultformen  fest,  lebte  in  Angst  vor  der  Natur  und  im  Banne 
schwankender  Gefühlsstimmungen,  nicht  viel  anders  als  die  schwachen  und 
kranken  Zauberpriester  der  Wilden.  Darum  ist  die  griechische  Mythologie 
ein  Gemisch  von  Roheit  und  Feinheit,  Zügellosigkeit  und  Gehaltenheit,  Düster- 
keit und  Heiterkeit,  Formlosigkeit  und  Gestaltungskraft.  In  den  Mythologien 
anderer  Völker  läßt  sich  dasselbe  beobachten,  jedoch  lange  nicht  so  klar;  vor 
allem  können  wir  nirgends  so  schön  wie  in  Griechenland  verfolgen,  daß  der 
Mythus  einerseits  in  die  Kunst,  andererseits  in  die  Philosophie  einmündet. 
Der  phantastische,  zaubernde  Priester  bildete  sich  Schritt  für  Schritt  fort  und 
wurde  einerseits  zum  Künstler,  andererseits  zum  freien  religiösen  Führer.  Frei- 
lich machte  nur  ein  Teil  der  Priester  diese  Wandlung  durch :  die  weniger  glück- 
lichen Volksschichten  wollten  nicht  auf  den  Priester  im  alten  Sinne  verzichten, 
der  Staat  wollte  am  Zauberkult  festhalten  und  viele  verlangten  nach  Wahr- 
sagung, Traumdeutung,  priesterlicher  Heilkunst.  Aber  trotzdem  hob  sich  der 
Geist  prachtvoll  empor.  Die  alten  Mythenschätze  gaben  die  Unterlage  ab  für 
eine  beispiellose  Entwicklung  der  bildenden  und  redenden  Künste ;  anderer- 
seits traten  forschende  Geister  auf,  die  sich  der  Welt  auf  eine  ganz  andere 
Weise  bemächtigten,  als  es  früher  der  phantasierende  Priester  vermocht  hatte. 
Die  Erlösung  von  dem  Zwangsdenken  und  Zwangsphantasieren  vollzog 
sich  also  dadurch,  daß  einerseits  die  Zwangsgebilde  gestaltet  und  in  ge- 
schlossene Kunstwerke  umgeschaffen  wurden,  daß  andererseits  der  Mensch 
den  Zwangsgebilden  durch  Forschen  und  Nachdenken  auf  den  Grund  ging 
und  so  die  Welt  zum  Eigentum  des  erkennenden  Geistes  machte.  Die  grie- 
chische Kunst  —  und  ebenso  jede  andere  ernste  und  hohe  Kunst  —  ist  eine 
Befreierin,  eine  Erlösung  vom  Zauberwahn.  Das  Volk,  das  ins  griechische 
Theater  strömte  und  die  Tempel  und  geschmückten  Hallen  besuchte,  fand 
dort  Befreiung  von  den  quälenden  Phantasiegebilden,  von  den  drängenden 
Lebenskonflikten,  den  religiösen  Ängsten  und  Schwierigkeiten.  Auf  welche 
Weise?  Indem  es  diese  Gefühle  und  Gebilde  vergegenständlicht,  rhythmi- 
siert, geadelt  vor  Augen  sah  und  diese  Erlebnisse  und  Konflikte  in  vergrößer- 
ter und  vertiefter  Gestalt  mit  Ohr  und  Geist  verfolgte.  Das  Theater  und  der 
Tempel  waren  die  öffentlichen  Beichtstühle  des  Griechenvolkes;  was  das 
Volk  dort  sehend  und  hörend  erlebte,  war  seine  eigene  Beichte,  war  seine 
büßende  Klage,  seine  harte  Selbstverdammung,  seine  freie  Selbstabsolution. 

164 


Indem  der  Priesterkünstler  dem  Volke  unter  dem  Bilde  der  alten  furcht- 
baren Mythen  —  man  denke  z.  B.  an  den  Mythus  von  ödipus,  der  seinen 
Vater  tötet  und  seine  Mutter  ehelicht  —  seine  eigenen  Sünden  und  Leiden 
vorhielt,  die  Seelen  erschütterte,  das  Tiefste,  Verborgenste,  Böseste  aus 
ihnen  hervorholte,  die  verwegensten  Wünsche  und  lähmendsten  Schauer  zu 
sichtbaren  und  greifbaren  Gestalten  verdichtete,  dies  alles  aber  nicht  als 
formlose  Gefühlsmassen,  als  wüste  Phantasieerzeugnisse  stehen  heß,  sondern 
es  in  rhythmisierter  und  organisierter  Form  vorbrachte,  —  befreite  er  die 
Seelen,  sprach  sie  los  und  befähigte  sie  zu  dem  schönsten  Gottesdienst  der 
Tat.  Die  religiöse  Kunst  —  und  alle  echte  Kunst  ist  religiös  —  wurde  den 
Griechen  zur  vornehmsten  religiösen  Betätigung  und  der  Künstler  wurde 
zum  vornehmsten  Mittler;  er  war  der  eigenthche  Priester. 

Das  Gesagte  gilt  nicht  bloß  für  Hellas,  sondern  für  jedes  Volk,  das  stark 
genug  ist,  den  mythenbildenden  Trieb  in  der  Kunstbetätigung  zu  befrie- 
digen. Hellas  hat  dies  am  besten  verstanden ;  dort  hat  sich  der  Zusammenhang 
zwischen  der  Kunst  als  einer  ideellen  Formgewalt  und  der  Rehgion,  zwi- 
schen dem  Dichterkomponisten  und  dem  Priester  inniger  gestaltet  als 
irgendvv'o  anders,  übrigens  waren  nicht  nur  die  Dichter  und  Musiker,  son- 
dern auch  die  Baumeister  und  Bildkünstler  Griechenlands  mit  der  Rehgion 
verwachsen;  nur  traten  sie  persönlich  mehr  zurück  und  genossen  weniger 
Achtung.  Das  hängt  mit  den  Vorurteilen  der  alten  Adelskulturen  zusammen : 
die  Steinmetzen,  Maler,  Töpfer,  Gießer  usw.  galten  als  Handwerker,  und  wer 
mit  der  Hand  wirkte,  nahm  einen  geringen  bürgerlichen  Rang  ein.  Die  Sänger 
und  Dichter  dagegen  arbeiteten  mit  dem  Geiste  und  durften  sich  deshalb  zur 
höheren  Gesellschaft  rechnen.  Sie  waren  Seher,  waren  Vertraute  und  Lieblinge 
der  Götter  und  \\'urden  durchaus  als  priesterliche  Persönlichkeiten  empfunden. 


ipi      5.  DIE  PRIESTERLICHE  WISSENSCHAFT      fei 

Wir  fahren  fort  und  betrachten  auch  die  Umwandlung  des  Mythus  in  die 
Wissenschaft  an  der  Hand  der  griechischen  Kultur.  Ebenso  wie  die  Griechen 
den  Mythus  zur  Kunst  erhoben,  ihn  also  durch  Rhythmisierung  seines  bar- 
barischen und  krankhaften  Charakters  entkleideten ,  haben  sie  aus  dem  Mythus 
auch  die  Welt-  und  Lebenskunde  entwickelt  und  die  phantastische  Natur- 
betrachtung in  geistige  Naturbeherrschung  zu  verwandeln  begonnen.  Schon 
im  vorbuddhistischen  Indien  erlebte  die  Philosophie  eine  erste  Blüte.  Die  Brah- 
manen  machten  sich  Gedanken  über  Wesen  und  Walten  der  Götter  und  den 
Zusammenhang  alles  Geschehens.  Sie  lösten  die  mythischen  Wahnschöpfungen 
in  philosophische  Symbole  auf  und  suchten  die  Einheit  im  Wechsel,  den  Sinn 

165 


im  Zufall  zu  ergreifen.  Aber  auch  sie  blieben  in  der  mythischen  Ausdrucks- 
weise befangen ;  ihr  Erkenntniswille  vermochte  die  letzten  Schranken  nicht  zu 
durchbrechen.  Anders  in  Griechenland.  Die  griechischen  Philosophen  zogen 
das  Priesterkleid  und  die  mythische  Gedankenhülle  aus.  Sie  erfaßten  die  Welt 
als  eine  nackte  Tatsächlichkeit  und  lehrten  ihre  Weisheit  nicht  mehr  als  gött- 
liche Offenbarungen,  sondern  als  schlichte  Ergebnisse  ihres  Wahrheitsuchens. 
Mitunter  fielen  sie  in  die  mythische  Denkweise  zurück  und  besannen  sich  dar- 
auf, daß  sie  doch  eigentlich  Propheten  und  Künder  göttlicher  Heilswahrheiten 
seien  nWc  ihre  priesterlichen  Ahnen,  die  sie  leibhaftig  in  den  Priestern  der 
alten  Nachbarreiche :  in  Ägypten,  Assjnrien,  Persien  vor  sich  sahen.  So  finden 
wir  es  bei  Empedokles,  bei  Pythagoras  und  anderen ;  noch  bei  Piaton  kann 
man  nicht  weniger  das  Mythische  als  auch  den  Anspruch  auf  begnadetes 
Prophetentum  nachweisen.  Aber  diese  Atavismen  beeinflußten  den  Charak- 
ter der  griechischen  Philosophie  nur  wenig.  Diese  Philosophie  suchte  die 
helle  Gedankenwahrheit,  sie  woUte  um  jeden  Preis  erkennen  und  bemühte 
sich,  die  Ergebnisse  des  Erkennens  für  das  gesamte  Leben  nutzbar  zu 
machen,  also  einerseits  für  das  religiöse,  andererseits  für  das  praktisch-wirt- 
schaftliche Leben.  Das  Religiöse  tritt  natürlich  am  stärksten  bei  denen  her- 
vor, die  sich  in  erster  Linie  an  den  sittlichen  IMenschen  wandten,  also  bei 
Pjrthagoras,  Sokrates,  Piaton  und  den  meisten  späteren.  Je  mehr  ein  Denker 
und  Forscher  den  Nachdruck  auf  die  bloße  Erkenntnis  legt,  je  mehr  er  vom 
handelnden  Leben  absieht,  um  so  weiter  entfernt  er  sich  vom  Priesterberuf. 
Der  Philosoph  und  Gelehrte  ist  dadurch  Priester,  daß  er  Prediger  ist,  daß 
er  mit  Hilfe  seines  Forschens  Leben  schaffen,  Nöte  lindern,  Zweifel  lösen, 
Ziele  setzen,  Pfhchten  lehren  wiU.  Wenn  er  das  ablehnt  und  sich  auf  die 
Theorie  beschränkt,  so  gehört  er  nicht  in  unsere  Betrachtung,  obwohl  er  auch 
in  diesem  Falle  seine  Abkunft  vom  Priester  nicht  verleugnen  kann.  Der 
reine  Wissenschaftler,  der  Fach-  und  Stubengelehrte  ist  ein  Nachkomme  des 
priesterhchen  Einsiedlers,  der  sein  Leben  fem  von  den  Brüdern  in  Gelassen- 
heit und  einförmiger  Arbeitsruhe  hinbringt.  Schon  manche  Zauberer  der 
Naturvölker  sind  in  diese  priesterliche  Untergruppe  zu  rechnen.  Sie  hat  sich 
dann  forterhalten  und  namentlich  von  jenen  Naturen  Zuzug  erhalten,  die 
sich  in  kampfreichen  Zeiten  dem  Gemeinschaftsleben  nicht  gewachsen  fühl- 
ten, sich  daher  zurückzogen,  eine  Klostermauer  um  ihr  Dasein  herumbauten 
und  es  ängstlich  vermieden,  die  Früchte  ihres  Nachdenkens  und  Forschens 
der  Allgemeinheit  auszuliefern.  Höchstens  taten  sie  sich  mit  Gleichgesinnten 
zusammen  und  gründeten  Genossenschaften,  um  sich  gegenseitig  ihre  Ge- 
heimnissse anzuvertrauen  und  einander  bei  den  Forschungen  zu  unter- 
stützen. In  Griechenland  konnten  diese  Geheimpriester  der  Wissenschaft 
nicht  so  recht  gedeihen.  Wer  sich  in  Hellas  der  Weisheitsliebe  widmete, 

l66 


fühlte  die  Pflicht,  auch  Lehrer  und  Prediger  zu  sein.  Er  sprach  und  schrieb 
so,  daß  alle  ihn  hören  und  verstehen  konnten.  Sein  höchstes  Glück  war,  auf 
das  Volk,  dem  er  angehörte,  unmittelbar  einzuwirken,  es  zu  bilden,  zu  führen, 
zu  erleuchten.  Der  griechische  Gelehrte  fühlte  sich  als  berufenen  Lehrer  seines 
Volkes;  er  forschte  nicht,  um  zu  forschen,  dachte  nicht,  um  zu  denken,  wie 
ein  allzu  großer  Teil  der  heutigen  Gelehrten,  sondern  forschte,  um  weise  zu 
werden,  dachte,  um  leben  zu  lernen,  lebte,  um  Führer  und  Priester  zu  sein. 

Im  weiteren  Verlauf  der  griechischen  Geschichte  änderte  sich  das  aller- 
dings. Mit  dem  Verfall  der  alten  einheitlichen  Kultur  verfiel  auch  der  freie 
Lehrberuf  und  der  Künstlerberuf.  Aus  dem  Künstler  wurde  ein  unreligiöser 
Virtuose  oder  ein  phantastischer  Wundermann,  aus  dem  Weisheitsfreund 
wurde  ein  wissenschaftlicher  Einsiedler  oder  ein  gespreizter  Rhetor.  Damit 
war  die  Loslösung  von  der  Religion  vollzogen,  oder  man  war  auf  eine  niedere 
Stufe  der  Religionsbildung  zurückgesunken.  Das  Volk  mußte  sich  andere 
religiöse  Führer  und  Mittler  suchen.  Woher  wohl  dieser  Niedergang  der 
Kunst  und  der  geistigen  Führerschaft?  Wie  kam  es  nur,  daß  eine  solche 
Kunst  und  Philosophie  den  Zusammenhang  mit  dem  tiefsten  religiösen 
Leben  ihrer  Zeit  verlor?  Warum  vermochte  die  Kunst  nicht  mehr  die  reli- 
giösen Gefühle  und  Bedürfnisse  des  Volkes  zu  gestalten  ?  Warum  vermochte 
die  Wissenschaft  nicht  ihr  sittliches  Führeramt  festzuhalten? 

Weil  die  Kämpfe  zu  schwer,  die  Nöte  zu  drückend  geworden  waren.  DieZeit 
des  glücklichen  Gemeinschaftslebens  und  frischen  Eroberungsdranges  war 
vorüber.  Die  damalige  Menschheit  hatte  nicht  mehr  Kraft  genug,  ihre  Sünden 
und  Leiden  durch  künstlerische  Vergegenständlichung  aufzuheben  und  zu 
überwinden ;  sie  verlangte  nach  einer  gröberen  und  handgreiflicheren  Erlösung. 
Und  ebenso  hatte  sie  nicht  mehr  Kraft  und  Freiheit  genug,  sich  durch  die 
Erkenntnis  und  logisch-empirische  Bewältigung  der  inneren  und  äußeren  Welt 
den  Weg  zum  hohen  Leben  der  Tat  zu  bahnen.  Sie  verzweifelte  an  der  Wissen- 
schaft und  entsagte  der  Kunst.  Sie  lauschte  auf  die  Stimme  neuer  Propheten, 
die  da  sagten :  Kunst  und  Erkenntnis  sind  Schein  und  Lüge ;  nur  der  Glaube  an 
mystische  Offenbarungen  und  die  Ausübung  mystischer  Heilszeremonien  kann 
uns  retten !  Man  tat  also  Buße  für  die  Sünden  des  heidnischen  Freiheitslebens, 
überließ  die  Kunst  den  Virtuosen,  die  Wissenschaft  den  Rhetoren  und  rettete 
sich  in  die  Mysterienreligionen,  aus  denen  dann  das  Christentum  hervorging. 
Gestaltlose  Mystik  und  asketische  Moral  hießen  nun  die  Erlösungsmittel. 

Es  ist  lehrreich,  die  Anschauungen  kennen  zu  lernen,  die  die  christlichen 
Prediger  und  Väter  der  ersten  Jahrhunderte  unserer  Zeitrechnung  über  Wis- 
senschaft und  Kunst  hatten.  Für  das  Neue  Testam.ent  gibt  es  überhaupt 
keine  Kunst  und  Wissenschaft.  Da  heißt  es:  eins  ist  not!  und  wer  dies  Eine 
versäumt  und  sich  mit  weltlichen  Dingen  abgibt,  bringt  sich  um  das  Heil. 

167 


Diese  negative  Stellung  schlägt  ganz  von  selber  in  die  Kampfstellung  um. 
Die  Kirchenväter  eifern  fortwährend  gegen  die  Weltlust  der  Kunst,  gegen 
die  Irrpfade  der  Erkenntnis.  Sie  sind  schroffe  Feinde  der  Wissenschaft,  ähn- 
lich wie  Luther  und  andere  schroffe  Prophetennaturen.  Alle  Propheten 
haben  gegen  das  Erkennen  und  das  künstlerische  Gestalten  eine  Abneigung 
gehabt,  imd  immer  aus  dem  oben  genannten  psychologischen  Grunde:  sie 
fühlten,  daß  sich  durch  Wissen  und  künstlerische  Darstellung  die  Krankheit, 
an  der  sie  litten,  nicht  heilen,  die  Konfhkte  und  Katastrophen,  die  ihr  Volk 
heimsuchten,  nicht  lösen  und  beseitigen  ließen.  Der  Weg  der  Kunst  und 
Erkenntnis  schien  ihnen  ein  Umweg;  sie  suchten  den  ,,graden"  Weg  zum 
Heil,  warfen  sich  dem  All  an  die  Brust,  klammerten  sich  an  Gott  an,  löschten 
die  Leiden  durch  Berauschungs-  und  Betäubungsmittel  aus. 

Dabei  kamen  sie  allerdings  meist  zu  der  Einsicht,  daß  ihnen  die  Kunst 
und  Wissenschaft  bei  diesem  Beginnen  unschätzbare  Dienste  tun  könnten. 
Sie  bemächtigten  sich  z.  B.  der  Musik,  ferner  der  philosophischen  Mystik; 
aber  auch  die  W^ortkunst  und  die  auslegende  Wissenschaft  (Philologie,  Dia- 
lektik) wußten  sie  ihren  Heilszwecken  dienstbar  zu  machen.  Schließlich 
ließen  sich  auch  die  Bau-  und  Zierkunst,  die  Medizin  und  Naturwissenschaft 
nicht  entbehren.  In  der  Entwicklung  des  alten  Christentums  kann  man  das 
alles  sehr  schön  verfolgen.  Es  gab  Christen,  die  sich  gegen  alles,  auch  gegen 
den  Hymnengesang  und  die  mystische  Spekulation  ablehnend  verhielten: 
nur  Glaube,  Kultübung  und  Nachfolge  Christi  gezieme  dem  wahren  Hei- 
ligen. Als  sich  alle  mit  dem  Eindringen  der  Musik  und  Spekulation  abgefun- 
den hatten,  leisteten  doch  viele  der  Rhetorik  und  Dialektik  Widerstand, 
weil  es  heidnische  Greuel  seien.  Mancher  lehnte  auch  die  weltliche  Heil- 
kunde als  unchristlich  ab.  Aber  auch  hier  mußten  die  prophetischen  Eiferer 
allmählich  nachgeben.  Das  Ende  war,  daß  sämtliche  heidnischen  Künste 
und  Wissenschaften  ihren  Einzug  in  das  Christentum  hielten.  In  innerem 
Zusammenhang  damit  vollzog  sich  die  soziale  Entwicklung  des  Christen- 
tums, d.  h.  die  Begründung  und  der  Ausbau  der  Kirche. 

Das  Mittelalter  erscheint  uns  Heutigen  nicht  als  eine  Blütezeit  von  Kunst 
und  Wissenschaft;  aber  wenn  man  genauer  zusieht,  muß  man  doch  aner- 
kennen, daß  auf  beiden  Gebieten  damals  so  eifrig  gearbeitet  wurde,  als  es  in 
Anbetracht  der  gesamten  Kulturlage  und  der  dogmatischen  Bindung  mög- 
lich war.  Einige  Künste  erreichten  eine  bewunderungswürdige  Höhe  und 
die  Spekulation  und  Dialektik  feierten  Triumphe.  Wie  in  Indien,  Äg5^ten 
und  Babylon  war  die  vor  der  Lebensnot  geschützte  Priesterschaft  die  Trä- 
gerin dieses  wissenschafthchen  und  künstlerischen  Lebens,  das  später  fort- 
gesetzt wurde  durch  die  Jesuiten.  Auf  Einzelgebieten  konnte  die  christliche 
Priesterschaft  Erkleckliches  leisten,  konnte  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  mit 

i68 


Mut  und  Eifer  an  die  geistige  Welteroberung  gehen,  zumal  sie  sich  unter  dem 
schützenden  Dach  der  Kirche  geborgen  und  im  übrigen  nicht  hinreichend 
beschäftigt  fühlte.  Da  die  Priesterschaft  aber  der  religiösen  Entartung  ver- 
fallen mußte,  sah  sich  das  erstarkte  Europa  genötigt,  der  kirchlichen  Wissen- 
schaft und  Kunst  eine  unkirchliche  gegenüberzustellen  und  so  begann  die 
Zeit  des  grenzenlosen  Suchens,  Eroberns,  Gestaltens  und  Wiederauf lösens, 
in  der  wir  uns  noch  heute  befinden. 

Um  das  Verhältnis  des  Priesters  zur  Wissenschaft  und  Kunst  nicht  ein- 
seitig aufzufassen,  müssen  wir  uns  immer  wieder  vergegenwärtigen,  daß  die 
Wissenschaft  und  Kunst  ja  doch  ihre  Hauptnahrung  aus  dem  religiösen 
Willen  des  Menschen  ziehen.  Der  einfache  Spieltrieb  und  Erkenntnistrieb 
hätte  die  großen  und  tiefwirkenden  Werke  nicht  schaffen  können,  wenn  sich 
nicht  der  Macht-  und  Eroberungswille  dieser  Triebe  für  seine  Zwecke  be- 
dient hätte.  Kunst  und  Wissenschaft  sind  Waffen  des  Menschen,  sind  Stär- 
kungs-,  Befreiungs-,  Entladungsmittel.  Aber  auch  die  Religion  ist  eine 
Waffe  und  ein  Heilmittel  des  Menschen.  Daher  die  eigenartige  Stellung  der 
Religion  zur  Kunst  und  Wissenschaft.  Sie  feindet  sie  als  Nebenbuhler  an 
und  muß  doch  wieder  ein  Bündnis  mit  ihnen  schließen.  Sie  trennt  sich  von 
ihnen  und  muß  sich  doch  wieder  zu  gemeinsamem  Handeln  mit  ihnen  ver- 
einigen. Kein  Zweifel,  daß  eine  ausgiebige  Pflege  der  Kunst  und  Wissen- 
schaft Muße,  Sicherheit  und  Reichtum  erfordert.  Wenn  der  Mensch  darbt 
und  leidet,  kann  er  sich  ihnen  nicht  widmen.  Er  empfindet  sie  als  Luxus  und 
fragt  durch  den  Mund  seines  Priesters :  was  nützt  es  mir,  über  den  Lauf  der 
Sterne,  über  das  Leben  unserer  Vorfahren,  über  die  Organe  des  mensch- 
lichen Körpers  unterrichtet  zu  sein?  Was  hilft  es  mir,  die  Laute  spielen, 
schöne  Mythen  erzählen,  im  heiligen  Schauspiel  auftreten  zu  können  ?  Aber 
ein  klügerer  priesterlicher  Rivale  antwortete  diesem  beschränkten  Priester 
folgendermaßen :  Wissen  ist  Macht,  künstlerisches  Spiel  bezwingt  die  Welt ! 
Das  Erkennen  zeigt  uns  Wege  zur  Überwindung  dessen ,  worunter  wir  leiden,  die 
künstlerische  Darstellung  hat  zauberhafte  Wirkung  auf  den  Gang  der  Dinge ! 

Inwiefern  diese  Antwort  für  die  Kunst  zutrifft,  haben  wir  früher  dargelegt. 
Jetzt  wollen  wir  es  auch  für  die  drei  soeben  genannten  Wissenschaften  (Ge- 
stirnkunde, Vergangenheitskunde,  Kunde  des  menschlichen  und  tierischen 
Körpers)  nachzuweisen  suchen. 

Wer  den  Lauf  der  Sterne  kennt,  kennt  das  eigene  Schicksal  und  kann 
seinem  Leben  dieselbe  Gesetzmäßigkeit  verleihen,  wie  sie  jene  wandernden 
Himmelskörper  haben.  Wir  erwähnten  bereits,  daß  die  Astrologie  von  den 
babylonischen  Priestern  begründet  und  ausgestaltet  worden  ist,  erwähnten 
auch  ihre  religiöse  Tragweite;  aber  die  Himmelskunde  ist  noch  älter,  sie 
wurde  schon  von  den  Priestern  der  Naturvölker  betrieben.  Zum  Teil  hatte 

169 


das  den  Grund,  daß  man  die  kultischen  Handlungen  und  Feste  zu  bestimmten 
Zeiten  v^orzunehmen  für  nötig  fand.  Wonach  aber  konnte  der  Priester  die  Zeit 
einteilen  und  die  Zeitfolgen  abgrenzen  ?  Allein  nach  dem  Stande  der  Himmels- 
körper. Die  Sonne,  der  Mond,  die  Planeten  haben  von  jeher  die  Anhaltspunkte 
für  die  menschlichen  Zeitbestimmungen  abgegeben.  Der  Priester  beobachtete 
die  Gestirne  und  stellte  danach  den  Fest-  und  Kultkalender  auf.  Er  verfolgte 
den  Auf-  und  Untergang  der  Sonne,  den  Rhythmus  der  Mondphasen,  die 
wechselnde  Gruppierung  der  Sternbilder.  Natürlich  haben  diese  Himmelsvor- 
gänge auch  die  Aufmerksamkeit  der  Laien  erregt,  aber  der  Priester  hatte  ein 
berufsmäßiges  Interesse  daran  und  brachte  daher  seine  Beobachtungen  in  eine 
systematische  Ordnung.  Er  knüpfte  an  die  Himmelserscheinungen  zahllose 
Mythen,  sah  in  den  Gestirnen  Götter  und  suchte  das  menschliche  Leben  mit 
den  göttlichen  Rh}- thmen  in  Einklang  zu  bringen.  Bei  allen  wichtigen  Unter- 
nehmungen wurde  er  um  Rat  gefragt,  ob  die  Zeit  günstig  sei.  Nach  seinen 
astronomischen  und  meteorologischen  Studien  richteten  sich  Beginn  und  Ende 
der  Jagden  und  Kriege,  richteten  sich  Aussaat  und  Ernte,Wanderungen,  Opfer- 
feste und  überhaupt  alle  bedeutenden  Ereignisse  im  Leben  des  Stammes  und 
\'olkes.  Der  Kalenderaberglaube  der  Kulturvölker  zeigt  deutliche  Reste  davon. 
Zweitens:  wer  das  Leben  der  Ahnen  kennt,  kann  sein  eigenes  besser  führen, 
kann  sich  an  den  Vorbildern  stärken  und  die  Geister  zu  Hilfe  rufen.  Die 
Ahnenkunde  ist  der  Keim  und  Kern  der  historischen  Wissenschaften,  und 
der  Priester  ist  überall  der  erste  Geschichtsforscher.  In  Indien  hatten  die 
Brahmanen  die  Stammbäume  der  Könige  zu  führen,  ebenso  die  ägyptischen 
und  babylonischen  Priester.  Bei  religiösen  Festen  trugen  die  priesterlichen 
Sänger  Geschichten  aus  der  Vergangenheit  des  Volkes  und  seiner  Führer 
vor.  Der  Priester,  der  das  religiöse  Leben  der  Vergangenheit  ver\valtet,  der 
die  überheferten  Gebräuche  kennt  und  für  ihre  getreue  Erhaltung  Sorge 
trägt,  muß  auch  Erklärungen  für  diese  Gebräuche,  historische  Rechtfer- 
tigungen der  Glaubensformen  geben.  Z.  B.  weiß  er  zur  Begründung  einer 
Festfeier  zu  erzählen,  daß  einmal  ein  großer  Häuptling  das  Fest  aus  Anlaß 
eines  Sieges  gestiftet  habe,  oder  daß  es  zum  Andenken  an  den  frühen  Tod 
eines  Helden  gefeiert  werde.  Derartige  priesterHche  Sagen  sind  die  älteste 
Form  der  Historie :  angebliche  Berichte  über  die  Entstehung  und  Bedeutung 
des  religiösen  Kultus,  ferner  über  die  Stammesgründung,  über  Wanderungen 
und  Schicksale  des  Stammes,  über  auffallende  Naturgegenstände  im  Lande, 
z.  B.  Wasserfälle,  Höhlen,  sonderbare  Gelände-  und  Felsformen.  Die  ge- 
schichthchen  Berichte  des  Priesters  werden  meist  in  poetischer  Form  ge- 
geben; seine  historischen  Abhandlungen  sind  epische  Lieder.  Kein  Mensch 
glaubte  in  jenen  Zeiten,  daß  diese  Lieder  erfunden  seien.  Sie  galten  als  voll- 
wertige Geschichte  und  enthielten  auch  oft  einen  wahren  Kern,  abgesehen 

170 


von  der  inneren,  religiös-künstlerischen  Wahrheit,  die  ihnen  in  höherem 
Maße  innewohnte  als  manchem  neueren  Geschichtswerk. 

Die  Priester  selber  hielten  sich  in  den  meisten  Fällen  für  treue  Bericht- 
erstatter; sie  wollten  keine  „Dichter"  sein.  Auch  Homer  und  Hesiod  wollten 
Geschichte  schreiben ;  ebenso  glaubten  die  Evangelisten,  daß  sie  das  Leben 
des  Heilands  wahrheitsgetreu  geschildert  hätten.  An  dem  Beispiel  der 
christlichen  Evangelisten  und  Legendenverfasser  sieht  man,  wie  der  Priester 
die  Historie  auffaßt:  als  religiöses  Mittel.  Er  will  durch  seine  Darstellung 
erbauen,  will  aufrichten,  erziehen,  heiligen.  Alle  priesterlichen  Geschichts- 
schreiber verfolgen  diesen  Zweck,  auch  jene  Hofhistoriker,  Tempelgenealogen, 
heiligen  ,, Schreiber",  bei  denen  z.  B.  Herodot  Stoff  für  sein  Gescbichtswerk 
sammelte.  Herodot  erwähnt,  daß  er  sich  in  Dodona,  Delphi,  Ägypten,  Thra- 
kien usw.  an  die  Priester  gewandt  habe,  um  Kunde  über  die  Vergangenheit 
einzuziehen.  Sie  allein  waren  in  den  älteren  Zeiten  die  ,, Archivare"  der 
Kultur ;  bei  ihnen  allein  war  Verständnis  für  den  Wert  der  Historie  zu  finden. 

Die  rein  weltliche  Geschichtsforschung  steht  in  alten  Zeiten  ganz  im  Hinter- 
grunde. Zwar  hat  es,  so  lange  Menschen  leben,  Geschichten,  Fabeln,  Märchen 
gegeben,  die  mit  Religion  undPriestertum  nichts  zu  tun  haben ;  aber  diese  Er- 
zeugnisse des  Erkenntnis-  und  Mitteilungstriebes  blieben  klein  und  unschein- 
bar. Der  ältere  Mensch  hat  sich  nur  dann  zu  großen  historisch-dichterischen 
Werken  aufgeschwomgen,  wenn  er  mit  der  Historie  und  von  ihr  etwas  wollte, 
wenn  sie  Wert  für  sein  Leben  hatte.  Und  welches  war  ihr  Wert  ?  Die  Zukunft 
durch  die  Vergangenheit  verbessern  zu  können.  Unter  diesem  Gedanken  aber, 
der  noch  heute  den  historischen  Wissenschaften  ihren  Wert  verleiht,  verbarg 
sich  noch  ein  anderer,  weit  altertümlicherer,  nämlich  der  Glaube  an  die  Zauber- 
wirkung des  Erzählens,  worauf  wir  schon  früher  aufmerksam  gemacht  haben. 
Der  primitive  Mensch  war  des  Glaubens,  daß  sich  das,  was  er  mit  Worten  be- 
schrieb, eben  dadurch  in  Wirklichkeit  verwandle.  Nicht  nur  was  man  drama- 
tisch darstellt,  geschieht,  sondern  auch  was  man  episch  erzählt.  Man  findet 
noch  im  heutigen  Aberglauben  Reste  dieser  von  K.  Th.  Preuss  zuerst  klar  er- 
kanntenVorstellung,  z.B.  in  demSatze :  wenn  man  vomTeufel  spricht,  erscheint 
er.  Das  will  doch  sagen:  das  Erwähnen  seinesNamens  und  das  Reden  über  ihn 
zieht  den  Teufel  herbei.  So  zog  der  Priester  die  Götter  und  Ahnen  dadurch 
herbei,  daß  er  von  ihnen  sang  und  ihre  Taten  schilderte .  Er ,  .vergegenwärtigte' ' 
alles,  was  er  wollte,  durch  seine  erzählende  Zauberei.  Und  wenn  er  einem  könig- 
lichen Helden  beim  Mahle  dessen  eigene  vollbrachte  Taten  vor  die  Seele  rief, 
zauberte  er  durch  diese  Beschreibungen  die  damals  bewiesene  Kraft  in  den 
Helden  zurück ;  er  entflammte  ihn  zu  neuen  Taten  und  verschaffte  ihm  für  die 
Zukunft  Segen  und  Sieg.  Das  ganze  Volk  wird  durch  den  Priestersänger  ge- 
stärkt und  vergöttlicht,  wenn  er  von  der  alten  großen  Zeit  und  ihren  Recken 

171 


erzählt.  Es  hat  einen  tiefen  Sinn,  daß  die  Geschichtsforscher  und  Redner  bis 
zum  heutigen  Tage  geneigt  sind,  die  Vergangenheit  auf  Kosten  der  Gegenwart 
zu  erheben ;  die  lobende  Beschreibung  der  früheren  Zeit  wirkt  ermutigend  und 
anstachelnd.  Man  sagt :  das  sei  die  Wirkung  alles  Vorbildlichen,  die  wir  ja  auch 
bei  den  Heldensagen  aUerVölker,  bei  den  LebensbeschreibungenPlutarchsusw. 
bemerken  können.  Ganz  recht ;  aber  diese  Wirkung  wurde  einst  als  ein  körper- 
licher Übertragungsvorgang,  der  durch  Zauberei  zustande  komme,  aufgefaßt. 

Drittens :  der  Priester  wurde  Anatom  und  Physiolog,  Mediziner  und  Natur- 
forscher. Bei  welchen  Gelegenheiten  hat  wohl  der  Mensch  zuerst  das  Innere 
seines  Körpers  kennen  gelernt?  Bei  schweren  Verwundungen  und  beim 
Kannibahsmus.  Die  Wunden  aber  hatte  der  Priester  zu  untersuchen  und  zu 
heilen,  die  Menschenopfer  wurden  von  ihm  getötet  und  zerlegt.  Der  priester- 
lichen Beobachtungsgabe  verdankte  der  Krieger  die  genaue  Kenntnis,  wie 
er  den  Feinden  schwere  und  tödliche  Streiche  beibringen  könne.  Er  segnete 
auch  die  Waffen  durch  Zauber  und  bestrich  sie  mit  Giften.  Er  bemühte  sich 
femer,  die  befreundeten  Toten  scheinbar  lebendig  zu  erhalten  und  sie  vor 
der  Verwesung  zu  bewahren.  Wir  kennen  mehrere  Verfahren  der  älteren 
Völker,  die  Leichen  durch  die  austrocknende  Sonne  oder  durch  chemische 
Mittel  bei  künsthchem  Leben  zu  erhalten;  am  berühmtesten  sind  die  Ein- 
balsajnieningsverfahren  der  ägyptischen  Priester  geworden.  Die  ärzthche 
Tätigkeit  des  Priesters  haben  wir  früher  schon  besprochen.  Er  scheute  nicht 
vor  kräftigen  chirurgischen  Eingriffen  zurück;  bei  vielen  Völkern  war  z.  B. 
der  Kaiserschnitt  bekannt,  und  Amputationen  und  Trepanationen  wurden  mit 
Geschick  und  Sachkenntnis  vorgenommen.  Auch  stand  dem  Priesterarzt  ein 
unverächtlicher  Schatz  von  inneren  Arzneimitteln  zu  Gebote.  Seine  Kenntnis 
der  Pflanzengifte,  überhaupt  sein  botanisches  Wissen  (z.  B.  denke  man  an  die 
Farbstoffe,  die  zur  Bemalung  verwendet  wurden)  war  nicht  gering.  Mit  den 
Tieren  und  ihren  Organen  wurde  er  durch  die  Tieropfer  bekannt ;  er  hatte  amt- 
lich etwaige  Anomalien  festzustellen  und  aus  den  Eingeweiden  zu  weissagen. 

Diese  ganze  wissenschaftliche  Betätigung  des  Priesters  steht,  wie  man  sieht, 
im  Dienste  der  Religion.  Es  ist  praktische,  nicht  theoretische  Wissenschaft. 
Aber  das  menschhche  Erkenntnis-  und  Kausalitätsbedürfnis  kam  dabei 
natürlich  ebenfalls  auf  seine  Rechnung.  Der  Priester  wurde  unmerldich  in 
das  Erkenntnisgebiet  in  strengem  Sinne  hinübergeführt.  Er  dehnte  seine 
Beobachtungen,  Versuche,  Schlüsse  imd  Spekulationen  immer  weiter  aus. 
Die  achtunggebietende  europäische  Wissenschaft  verdankt  dem  Priester  und 
seiner  uralten  Beschäftigung  mit  wissenschaftlichen  Dingen  sehr  viel.  Auf 
dem  Grunde  des  religiösen  Verlangens  und  Nachdenkens  ist  das  Erkenntnis- 
gebäude der  Menschheit  errichtet  worden. 

1/2 


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Wir  versuchen  nunmehr,  die  Folgerungen  aus  unseren  Betrachtungen 
zu  ziehen  und  das,  was  uns  unsere  weite  Wanderung  gelehrt  hat,  auf 
die  Gegenwart  und  die  Zukunft  anzuwenden.  Was  wir  von  der  priesterlichen 
Tätigkeit  und  Sinnesrichtung  erfahren  haben,  setzt  uns  ohne  Frage  in  den 
Stand,  ein  Gesamturteil  über  den  Priester  zu  fällen  und  ihm  das  Horoskop  für 
die  kommenden  Tage  zu  stellen.  Wie  wird  und  soll  der  Priester  sich  weiterhin 
entwickeln  und  betätigen  ?  Die  andere  Frage,  nämlich  ob  der  Priester  abge- 
schafft werden  soll  oder  nicht,  hat  wohl  schon  ihre  Beantwortung  gefunden. 
Wir  haben  wohl  gelernt,  daß  der  priesterliche  Menschentypus  niemals  aus- 
gerottet werden  kann.  Er  ist  eine  berechtigte  und  notwendige  Spielart  des 
menschlichen  Wesens.  In  allen  Zeiten  hat  die  Menschheit  priesterliche  Na- 
turen hervorgebracht  und  hat  sich  Mühe  gegeben,  diese  Naturen  als  kost- 
bare Werkzeuge  zur  Erhöhung  des  Menschentums  in  ihren  Dienst  zu  nehmen. 
Mitunter  versagten  diese  Werkzeuge  allerdings  den  Dienst :  das  Salz  wurde 
dumm.  Oder  sie  verwandelten  die  dienende  Stellung  in  eine  herrschende  und 
wurden  zu  bösen  Tyrannen  und  gefährlichen  Verführern.  Aber  dürfen  wir 
nicht  sagen,  daß  die  Schuld  daran  weniger  die  entarteten  Priester  als  den 
menschlichen  Verband  trifft,  der  diese  Entartung  zuließ  und  begünstigte? 
Wenn  ein  Glied  eines  Organismus  unbrauchbar  wird  oder  auf  Kosten  aller 
anderen  ein  herrisches  Schmarotzerdasein  führt,  so  trägt  doch  nicht  bloß 
das  eine  Glied,  sondern  der  ganze  Organismus  die  Schuld.  Wenn  das  Ganze 
nicht  Herr  seiner  Teile  zu  bleiben  vermag,  ist  es  krank  und  schwach;  es 
verdient  nichts  Besseres,  als  daß  ein  Teil  sich  der  Lebenskraft  des  Ganzen 
für  sein  Teilwachstum  bemächtigt.  Wenn  ein  Volk  und  eine  Kultur  nicht 
Herr  seiner  priesterlichen  Naturen  zu  bleiben  vermag,  nicht  diesen  Naturen 
ihre  nutzbringende  Stelle  innerhalb  des  Ganzen  anzuweisen  vermag,  ver- 
dient das  Volk  nichts  Besseres,  als  daß  die  Priester  es  knechten  und  der 
Kultur  egoistisch  ihr  Priesterideal  aufzwingen.  Wenn  dann  diese  Kultur, 
empört  über  die  Priester,  einen  blutigen  ,, Magiermord"  veranstalten  und 
die  priesterliche  Geistesrichtung  gänzlich  ausmerzen  möchte,  so  ist  das  ein 
neues  Zeichen  von  Schwäche.  Jene  Mahnung  des  Nazareners,  man  solle  die 
Glieder,  die  uns  ärgern,  abhauen  und  ausreißen,  damit  wir,  wenn  auch  ver- 
stümmelt, in  das  Reich  Gottes  eingehen,  stammt  aus  einer  kranken  und  er- 
schöpften Welt.  Ein  gesunder  und  starker  Organismus  reißt  weder  sein  Auge 
noch  sein  Zeugungsglied  aus ;  er  führt  die  ärgerlichen  Glieder  zu  ihrer  Dienst- 
pflicht zurück  und  ehrt  sie  als  wertvolle  Mitarbeiter  am  Gedeihen  des  Ganzen. 
Wir  werden  nicht  umhin  können,  das  gesamte  religiöse  Problem  der  Gegen- 
wart in  den  Kreis  unserer  Betrachtung  zu  ziehen;  denn  nur,  wenn  wir  die 
Stellung  kennen,  die  die  priesterlichen  Naturen  allerart  heutzutage  ein- 
nehmen, können  wir  die  Forderungen  aussprechen,  die  wir  auf  Grund  un- 


serer  historischen  und  psychologischen  Wanderung  an  den  Priester  der  Zu- 
kunft und  an  die  Kultur,  in  der  er  wirkt,  stellen  müssen.  Es  kann  nicht  aus- 
bleiben, daß  meine  Kritik  der  gegenwärtigen  religiösen  Lage  Widerspruch 
von  vielen  Seiten  findet;  denn  wir  rühren  damit  an  die  empfindlichsten 
Punkte  unseres  heutigen  Lebens  und  suchen  die  ungeklärtesten  Dinge  einer 
Entscheidung  entgegenzuführen.  Möchten  alle  diejenigen  Leser,  die  mir 
nicht  zuzustimmen  vermögen,  sich  wenigstens  durch  meine  offenen  Aus- 
führungen anregen  lassen,  auch  ihrerseits  zu  einer  unzweideutigen  Stellung- 
nahme zu  gelangen.  Und  möchten  diejenigen,  die  mir  entgegenzutreten  ge- 
denken, ihre  Argumente  ebenfalls  auf  die  Tatsachen  und  Ergebnisse  einer 
unbefangenen  Religionsforschung  gründen. 


iyi  I.  DIE  ERHÖHUNG  M 

^n^  MIM 


Fast  in  jedem  Kapitel  haben  wir  die  Beobachtung  gemacht,  daß  der  Prie- 
ster nach  Rausch  verlangt.  Er  strebt  hinweg  aus  der  Welt  der  Wirkhchkeit, 
aus  dem  einfachen  und  alltäglichen  Leben.  Er  drängt  hinauf  und  hinaus, 
aber  oft  nicht  hinauf  in  einen  umfassenderen  Pflichtenkreis,  oft  nicht  hinaus 
in  die  weite  und  große  Welt  der  Erscheinungen;  nein,  sein  Sehnen  ist  meist 
auf  eine  andere  Welt  gerichtet.  Er  will  nicht  kräftiger  handeln,  nicht  schärfer 
sehen  und  hören,  nicht  klarer  und  besonnener  denken  als  die  anderen  Men- 
schen, sondern  will  tiefer  fühlen,  will  in  die  Abgründe  von  Lust  und  Leid, 
Spannung  und  Abspannung  hinabsteigen,  will  die  Geheimnisse  seines  un- 
bewußten Seelenlebens  erlauschen,  will  träumen  und  ahnen.  Wir  hatten  dem 
Priester  einen  Willen  zur  Erregung  und  zur  Betäubung  zugeschrieben  und 
die  mannigfachen  Mittel  genannt,  deren  sich  der  Priester  zur  Erzeugung  der 
ersehnten  Zustände  bedient.  Wir  fragten  auch  nach  den  Gründen,  die  ihn 
und  mit  ihm  die  gesamte  Menschheit  auf  diesen  gefährlichen  ,, Heilsweg" 
gebracht  haben.  Wir  fanden  zwei  verschiedene  Gründe.  Erstens  ruft  der  Er- 
regungs-  und  Betäubungszustand  wonnige  Gefühle  hervor,  namentlich  das 
Gefühl  der  Freiheit,  Losgelöstheit,  Entrücktheit :  die  Erdenschwere  fällt  ab, 
ein  Erhabenheits-  und  Gottheitsbewußtsein  durchdringt  den  Berauschten, 
er  glaubt  alles  zu  vermögen  und  die  ganze  Welt  in  sich  zu  begreifen.  Zweitens 
befähigt  der  Rausch  zu  besonderen  Leistungen ;  die  Phantasie  ist  in  gestei- 
gerter Tätigkeit ;  der  Rauscherhöhte  erlebt  Visionen  und  Stimmen,  er  gerät 
in  jenen  göttlichen  Wahnsinn,  der  alle  großen  Propheten  und  Künstler  be- 
seelt hat  und  dem  das  geistige  Leben  der  ganzen  Menschheit  eine  Fülle  von 
Licht,  Wärme  und  Schönheit  verdankt.  Aber  auch  eine  Steigerung  des  han- 
delnden Lebens  im  engeren  Sinne  kann  durch  Rauscherlebnisse  hervorge- 

^75 


rufen  werden,  was  durch  die  Heilandsgüte  und  Liebeskraft  vieler  religiöser 
Ekstatiker  bewiesen  wird.  Diese  Rauschhelden  schöpften  aus  den  Erregungs- 
und Betäubungsvorgängen  Mut,  Freude  und  Unermüdlichkeit;  sie  fühlten 
sich  nicht  bloß  beglückt,  sondern  wirklich  erhöht.  Durch  das  Rauscherlebnis 
der  sogenannten  Bekehrung  ist  gar  mancher  auf  eine  höhere  Stufe  des  sitt- 
lichen und  sozialen  Handelns  gehoben  worden. 

Also  der  Priester  liebt  und  sucht  den  Rausch,  predigt  ihn  auch  dem  Volke, 
weil  der  Rausch  befreit,  vergöttlicht  und  die  geistige,  zeitweilig  auch  die 
körperliche  Tüchtigkeit  steigert.  Wir  wollen  für  den  Augenblick  die  Kehr- 
seite der  Sache  unberücksichtigt  lassen  und  erst  später  auf  die  Gefahren  des 
ganzen  religiösen  Rauschwesens  eingehen.  Vorderhand  bleiben  wir  bei  den 
Segnungen  des  Rausches  stehen  und  rufen  uns  ins  Gedächtnis  zurück,  daß 
die  Priester  aller  Zeiten  und  Völker  Freunde  des  Rausches  gewesen  sind. 
Durch  Diätverordnungen  der  verschiedensten,  oft  raffiniertesten  Art,  durch 
leibhche  und  geistige  Beeinflussungen  und  Mißhandlungen  hat  der  Priester 
den  Weg  zum  Rausch  gesucht  und  gefunden.  Wird  sich  das  in  Zukunft 
ändern  ?  Wird  die  Menschheit  fortan  dem  Rausche  entsagen,  wird  die  künf- 
tige Religion  die  alte  enge  Freundschaft  mit  den  Erhöhungsmitteln  auf- 
geben? Ich  glaube  es  nicht.  Der  Wille  zum  Rausch  wird  nicht  aussterben, 
solange  es  Menschen  gibt;  der  religiös  produktive  Mensch  wird  ewig  ein 
Rauschkünstler  bleiben.  Das  Ziel,  das  wir  uns  stecken  müssen,  kann  nur 
sein:  die  rechte  Auswahl  unter  den  Erhöhungsmitteln  zu  treffen  und  die 
rehgiösen  Rauschvirtuosen  in  die  gebührenden  Schranken  zu  verweisen. 

Das  Christentum  hat  wie  die  übrigen  Religionen  die  Rauschtechnik  in  be- 
stimmte Regeln  gebracht  und  sich  auf  einzelne  Rauschmittel  und  Rausch- 
verfahren beschränkt.  Besondere  Aufmerksamkeit  hat  es  dem  schon  er- 
wähnten Bekehrungs-  und  Beruf ungsakt  gewidmet.  Die  kirchlichen  Veran- 
staltungen zielen  darauf  hin,  die  Teilnehmer  zu  Gott  hinzuführen,  d.  h. 
sie  zu  , »erwecken",  zu  befreien,  zu  berauschen.  Die  größten  Hoffnungen  setzt 
man  in  dieser  Hinsicht  auf  die  feierhche  Aufnahmehandlung,  die  Konfirma- 
tion und  erste  Kommunion.  Der  Christ  soll  normaler  Weise  bei  dieser  Feier 
ein  großes  Erlebnis,  nämlich  das  Erlebnis  der  Wiedergeburt  haben,  deren 
pathologischen  Rauschcharakter  wir  früher  ausführlich  besprochen  haben. 
Dieses  Erlebnis  soll  dann  später  möglichst  oft  wiederholt  und  vertieft  wer- 
den, oder  wenn  es  bei  jenem  Aufnahmefest  ausgeblieben  ist,  durch  um  so 
eifrigere  religiöse  Betätigung  nachgeholt  werden.  Die  katholischen  ,, Exer- 
zitien" z.  B,  sind  musterhafte  Einrichtungen  zur  Erzielung  religiöser  Rausch- 
zustände auf  hysterisch-suggestiver  Grundlage. 

Besonderes  Gewicht  legt  man  natürlich  darauf,  daß  die  christlichen  Prie- 
ster wiedergeboren  werden.  Auch  bei  den  Protestanten,  die  die  Rehgion  so- 

176 


viel  nüchterner  und  kühler  auffassen  als  die  Katholiken,  spricht  man  noch 
immer  davon,  daß  die  Geistlichen  durch  eine  göttliche  Berufung  zu  ihrem 
Amte  auserwählt  ^vürden.  Diese  Berufung  ist  nichts  weiter  als  eine  Ab- 
schwächung  und  Vergeistigung  der  pathologischen  Wiedergeburt.  Wer  be- 
rufen wird,  erlebt  einen  religiösen  Anfall,  mag  dieser  auch  nur  leicht  und 
oberflächhch  sein,  d.  h.  ohne  erhebliche  Bewußtseinsstörung  und  körperhche 
Nebenerscheinungen  verlaufen.  Es  muß  immer  eine  rauschartige  Erhöhung 
des  Lebensgefühls  und  zugleich  eine  Trübung  des  Realitätsgefühls  eintreten ; 
sonst  kann  man  nicht  von  ,, Berufung"  sprechen.  Das  Wort  Berufung  weist 
sogar  auf  Gehörshalluzinationen  hin;  es  drückt  aus,  daß  man  dabei  einen 
Ruf  hört  und  einen  unmderstehlichen  Zug  zu  Gott  und  dem  göttlichen  Amt 
verspürt.  Damit  ist  notwendig  eine  Erschütterung,  eine  Änderung  des  see- 
hschen  Gleichgewichts  verknüpft.  Ob  diese  Änderung  sich  immer  als  eine 
plötzliche  Höherentwicklung  darstellt,  wie  Starbuck  in  seiner  ,,Rengions- 
psychologie"  meint,  wollen  wir  dahingestellt  sein  lassen.  Mir  scheint,  daß 
dieser  Bekehrungsanfall  auh  ein  plötzlicher  Absturz  sein  kann  und  eine 
Verengerung  der  geistigen  Persönhchkeit  im  Gefolge  haben  kann. 

In  den  älteren  Rehgionen  wurde  der  Anfall  durch  den  Rauschtanz,  durch 
Aufnahme  von  Giften  und  durch  ungesunde  Diät  (Ausschweifung,  Fasten, 
Keuschheit)  befördert,  und  allgemein  herrschte  die  Überzeugung,  daß  die 
religiösen  Führer  und  Mittler  die  Zustände  veränderten  und  erhöhten  Lebens- 
gefühls mit  besonderer  Kraft  und  Tiefe  durchmachen  müßten.  Wer  nicht  die 
Gottheit  gesehen  und  ,, erlebt"  hat,  wer  nicht  das  Einsgefühl  mit  dem  All 
und  mit  sich  selber,  w'er  nicht  die  göttliche  Freiheit  und  Losgelöstheit  in 
überwältigender  Lust  erfahren  hat,  eignet  sich  nicht  zum  Priester,  —  so 
urteilte  die  Menschheit  von  jeher  und  so  \vird  sie  wie  gesagt  wohl  auch  in  alle 
Zukunft  hinein  urteilen.  Wenn  von  manchen  unserer  frommen  Zeitgenossen, 
von  Priestern  wie  von  Laien,  der  rehgiöse  Rausch  als  ,, Überspanntheit"  ab- 
gelehnt und  verlacht  wird,  so  kann  das  nur  zwei  Gründe  haben :  entweder 
sind  diese  Christen  unchristUch  und  wissen  vom  Wesen  der  ReHgion  und 
zumal  von  ihrer  eigenen  sehr  wenig;  oder  sie  fühlen  sich  von  den  groben  und 
häßhchen  Formen  des  religiösen  Rausches  abgestoßen  und  suchen  nach 
edleren  und  kräftigeren  Mitteln  der  Erhöhung.  Im  zweiten  Falle  begrüßen 
wir  sie  als  unsere  Bundesgenossen,  müssen  sie  aber  darauf  aufmerksam 
machen,  daß  sie  die  christhche  ReHgion,  wie  sie  in  aller  Klarheit  und  Voll- 
kommenheit im  Neuen  Testament  gepredigt  und  beschrieben  wird,  zu  be- 
kämpfen und  zu  überwinden  begonnen  haben.  Es  ist  ein  unbestreitbares 
Verdienst  der  modernen  Erweckungssekten,  daß  sie  den  altchristhchen 
Rauschenthusiasmus  in  seiner  reinen  Gestalt  wieder  ans  Licht  gebracht  und 
überhaupt  das  enthusiastische  Element  der  Religion  wieder  in  den  Vorder- 

12  Horneffer,  Der  Priester  II  ^1^ 


grund  gerückt  haben.  Die  Sektenangehörigen  sind  heute  die  besten  Christen, 
und  wenn  wir  uns  z.  B.  das  Wirken  der  Heilsarmee  vergegenwärtigen,  müs- 
sen \\'ir  anerkennen,  daß  hier  nicht  nur  die  Gefühlsseite  des  religiösen  Rausch- 
wesens gepflegt  wird,  sondern  daß  auch  die  erhöhenden  und  befreienden 
Folgen  des  Rausches  für  das  sittlich-soziale  Handeln  zutage  treten. 

Viele  angeblich  religiöse  Menschen  leugnen  heute  den  Zusammenhang 
zwischen  Religion  und  Enthusiasmus;  sie  können  sich  mit  gutem  Gewissen 
auf  das  Treiben  innerhalb  des  Kirchenchristentums,  sowie  auf  viele  Pfarrer 
aller  Konfessionen  berufen,  die  mit  Wort  und  Tat  zu  beweisen  scheinen,  daß 
die  Religion  mit  dem  schrankenlosen  Erhöhungs-  und  Freiheitsdrang  des 
Menschen  nichts,  aber  auch  gar  nichts  zu  tun  hat.  Zwar  ist  an  diesen  rausch- 
losen Kirchenpriestern  mitunter  eine  deutliche  Vorhebe  für  gute  Tropfen, 
für  den  Tabaksgott  und  den  Spieldämon  zu  bemerken ;  aber  diese  Vorliebe 
hat  allerdings  mit  den  priesterlichen  Pflichten  dieser  Gottesdiener  keinen 
Zusammenhang,  Denn  die  Alkohol-,  Tabak-  und  Spielgötter  (Spiel  im  Sinne 
von  Glücksspiel)  können  zur  Erhöhung  und  Befreiung  der  Kulturmenschheit 
nicht  mehr  viel  beitragen  und  der  erste  und  dritte  dieser  Götter  sind  wegen 
ihrer  verheerenden  Folgen  schon  längst  aus  dem  heiligen  Gehege  der  Religion 
ausgewiesen  worden.  Der  Priester  hat  schon  früh  aufgehört,  die  Rauschgifte 
als  religiöse  Begeisterungsmittel  zu  gebrauchen  und  anzuempfehlen.  Von  den 
höheren  Religionen  werden  die  Rauschgifte  teils  verpönt,  teils  mit  Miß- 
trauen oder  Gleichgültigkeit  betrachtet.  Wenn  manche  christliche  Priester  und 
Ordensleute  ein  nahes  Verhältnis  zu  den  Giftgöttern  haben,  so  klingt  darin 
höchstens  ganz  leise  die  alte  Bundesfreundschaft  zwischen  Giftrausch  und 
religiöser  Erhebung  durch;  im  übrigen  benutzen  die  höheren  Religionen  wie 
erwähnt  geistigere  Mittel  zur  Erregung  des  göttlichen  Rausches.  Auch  der 
Tanzrausch  ist,  um  das  bei  dieser  Gelegenheit  anzuführen,  bei  den  Priestern 
der  Kulturrehgionen  in  Verachtung  geraten.  Im  Islam  z.  B.  halten  noch  die 
niederen  Priestergattungen,  die  dem  alten  schamanistischen  Priesterwesen 
nahestehen,  an  der  primitiven  Begeisterungstechnik  fest;  ich  denke  nament- 
lich an  die  tanzenden  und  die  heulenden  Derwische.  Das  öffentliche  Tempel- 
priestertum  des  Islams  weist  solche  Dinge  weit  von  sich. 

So  kann  man  denn  auch  von  den  Erweckungssekten,  den  Spiritisten  und 
Theosophen  unserer  Zeit  sagen,  daß  sie  auf  ältere  religiöse  Rauschmittel 
zurückgreifen.  Sie  verwenden  nämlich  in  unverhüllter  Weise  die  hysterische 
Anlage  des  Menschen,  suchen  also  Befreiung  und  Vergöttlichung  durch  Er- 
zeugung hysterischer  Krankheitserscheinungen,  Die  Hysterie,  die  uralte 
Führerin  und  Freundin  der  Priester,  war  aus  der  Rüstkammer  des  europäi- 
schen religiösen  Menschen  mehr  und  mehr  verschwunden.  Zwar  erhielt 
namenthch  der  Kathoüzismus  die  Erinnerung  aufrecht,  daß  die  heiügen  Ur- 

178 


künden  des  Christentums  fortwährend  von  hysterischen  Erscheinungen  be- 
richten und  die  Stifter  und  Heroen  des  Christentums  mit  Hilfe  der  Hysterie 
sich  und  ihre  Gemeinden  zu  Gott  geführt  haben;  auch  kamen  im  Katholi- 
zismus immer  wieder  Offenbarungen  und  Wundererscheinungen  vor.  Aber 
trotzdem  wurde  allgemach  die  Quelle  des  hysterischen  Rauschwesens  ver- 
schüttet; die  Wunder  wurden  seltener  und  die  Kirche  un^villige^,  sie  anzu- 
erkennen. Der  Protestantismus  erklärte  sich  trotz  Luthers  Veranlagung  noch 
schroffer  gegen  die  rehgiöse  Hysterie  als  der  Katholizispius.  Da  haben  jetzt 
die  modernen  Sekten  und  Gemeinschaftsbewegungen  eine  gründhche  Wand- 
lung durchgesetzt.  Diese  neuchristhchen  Strömungen  —  ich  nenne  sie  christ- 
lich, auch  wenn  sie  in  ihrem  Glaubensleben  oft  weit  von  den  kirchlichen 
Lehren  abweichen  und  manche  unchristhchen  Gedanken  in  sich  aufnehmen 
—  sind  zu  der  urchristlichen  Form,  religiöse  Begeisterungszustände  hervor- 
zurufen, zurückgekehrt.  Sie  zwingen  den  „Geist"  durch  Beten,  Versenkung, 
Verdunkelung  des  Zimmers  und  andere  suggestive  Praktiken  herbei,  arbei- 
ten sich  in  eine  hypnoide  Stimmung  hinein  und  bringen,  wenn  sie  begabt  und 
ausdauernd  sind,  regelrechte  rehgiöse  Anfälle  zustande.  Das  entspricht  den 
vom  Neuen  Testament  her  bekannten  und  im  Mittelalter  geübten  Gewohn- 
heiten. Wir  haben  aber  gesehen,  daß  diese  Rauschrezepte  sehr  viel  älter  sind 
und  schon  von  den  Zauberpriestem  der  Naturvölker  angewendet  werden. 

Wie  verhält  sich  das  öffentHche  Priestertum  unserer  Zeit  zu  dieser  Er- 
neuerung der  alten  religiösen  Begeisterungsformen?  Im  Grunde  kann  es 
nicht  viel  dagegen  einwenden ;  denn  die  Erweckten  berufen  sich  mit  vollem 
Recht  auf  die  Bibel;  sie  erklären  —  %vie  mir  einmal  ein  Mormonenapostel 
sagte  — ,  daß  nur  derjenige  Anspruch  auf  den  Namen  eines  christhchen 
Priesters  und  überhaupt  eines  wahren  Christen  habe,  der  sich  eigener  Offen- 
barungen rühmen  könne  und  über  die  christhchen  Geistesgaben :  weissagen, 
Teufel  austreiben,  Kranke  heilen,  verfüge.  Mit  voller  Entschiedenheit  wird 
im  Neuen  Testament  die  mystische  Erweckung  und  Heiligung  als  Kenn- 
zeichen echten  Christentums  bezeichnet.  Es  ist  ein  großer  Irrtum,  wenn  die 
heutigen  Theologen  und  Kirchenchristen  die  hysterische  Seite  des  Christen- 
tums für  belanglos  und  vergänglich  erklären.  Sie  sagen  sich  von  dieser  Reh- 
gion  los,  wenn  sie  die  Offenbarungen  und  Geisteswirkungen  leugnen.  Wenn 
ihnen  das  nicht  zum  Bewußtsein  kommt,  so  liegt  das  leider  in  \delen  Fällen 
daran,  daß  diese  Namenschristen  überhaupt  keine  Rehgion  haben  imd  das 
Erlebnis  aller  rehgiösen  Menschen  und  Bünde  aller  Zeiten  nicht  kennen, 
nämhch  das  Erlebnis  der  Einheit  mit  dem  All,  durch  das  auch  eine  Einheit 
des  Menschen  mit  sich  selber  und  mit  seinen  Brüdern  erzielt  wird. 

In  den  heutigen  Kirchen  und  bei  ihren  priesterlichen  Vertretern  spürt  man 
von  der  rehgiösen  Erhöhung  und  dem  enthusiastischen  Freiheitsdrang  wenig. 

12*  179 


Die  Pfarrer  sind  gleichmütige  Beamte  und  gleichen  aufs  Haar  jenen  älteren 
Priesterschaften,  die  ihre  Aufgabe  im  Festhalten  und  Wiederkäuen  über- 
lieferter religiöser  Wahrheiten  sahen.  Sie  erzählen  ihrer  Gemeinde  von  den 
göttüchen  Personen  und  von  religiösen  Erlebnissen  einer  grauen  Vergangen- 
heit; sie  suchen  zu  beweisen,  daß  die  religiösen  Urkunden  historische  Tat- 
sachen berichten,  und  suchen  ferner  zu  beweisen,  daß  die  in  den  Urkunden 
berichteten  Dinge  ewige  Gültigkeit  haben  und  allen  nachgeborenen  Ge- 
schlechtem bindende  Verpflichtungen  auferlegen.  Sie  behaupten,  daß  der- 
jenige Mensch  religiös  sei,  der  an  diese  Nachrichten  und  Forderungen  glaube, 
und  wer  das  nicht  tue,  unreligiös  sei.  Sie  versichern,  daß  Gott  in  einem  Buche 
stecke  und  daß  es  gefährlich  und  unrätlich  sei,  Gott  anderswo  zu  suchen,  daß 
man  daher  den  eigenen  religiösen  Erlebnissen  mißtrauen  müsse,  falls  sie 
nicht  genau  mit  den  in  jenem  Buche  überlieferten  Dingen  übereinstimmten. 
Wer  solche  nicht  übereinstimmenden  religiösen  Erlebnisse  habe  und  sie  höher 
halte  als  die  von  dem  kanonischen  Buche  vorgeschriebenen,  der  sei  irreligiös, 
sei  ein  ,, Religionsfeind". 

Viele  heutige  Kirchenpriester  gleichen  einem  Museumsverwalter ;  die  Ver- 
walter pflegen  aber  trotz  ihrer  guten  Kenntnis  und  technischen  Übung  das 
tiefste  Wesen  dessen,  was  sie  zu  verwalten  haben,  nicht  oder  falsch  zu  ver- 
stehen. Die  Laien,  die,  von  den  Kämpfen  des  Lebens  geschüttelt  und  be- 
drückt, in  die  religiöse  Halle  treten,  um  aufzuatmen,  um  alles  Kleine  zu 
vergessen  und  sich  in  freiem  Enthusiasmus  über  die  Welt  des  Werktags  hin- 
auszuheben, femer  die  Jugendlichen,  die  sich  im  Überschwang  ihrer  drän- 
genden Sehnsucht  um  die  religiöse  Quelle  scharen,  sie  verstehen  die  vom 
Priester  verwalteten  und  beaufsichtigten  Museumsschätze  weit  besser.  Dar- 
um wissen  sie  auch  von  ihnen  den  rechten  Gebrauch  zu  machen:  sie  ent- 
nehmen den  Denkmälern  alter  religiöser  Taten  den  zwingenden  Antrieb, 
eigene  religiöse  Taten  zu  tun  und  die  vorhandenen  Schätze  zu  mehren.  Sie 
lesen  aus  den  religiösen  Urkunden  die  Mahnung  heraus,  das  Leben  ebenso 
wahr  und  frei  und  stolz  zu  leben,  wie  jene  alten  Meister  des  erhöhten  Lebens. 

Es  ist  denn  auch  manchem  unserer  priesterlichen  Museumsverwalter  klar 
geworden,  daß  es  eine  ziemlich  traurige  Aufgabe  ist,  die  alten  Schätze  bloß 
vorzuzeigen  und  für  die  ungekürzte  Übermittlung  der  alten  Gebote  und  Ge- 
bräuche an  die  nächste  Generation  zu  sorgen.  Sie  sind  darangegangen,  die 
anvertrauten  Güter  gründlich  zu  studieren,  sie  in  ihre  Bestandteile  zu  zer- 
legen, ihre  Herkunft  zu  erforschen,  ihren  Wert  und  Wahrheitsgehalt  mit 
wissenschaftlichen  Mitteln  zu  prüfen.  Sie  sind  Religionsforscher  geworden. 
Ohne  Zweifel  ist  das  eine  schöne  und  nützliche  Beschäftigung;  aber  sollten 
nicht  die  Religionsforscher  begreifen,  daß  ihre  Beschäftigung  keine  eigent- 
lich priesterliche  ist?  Müßte  nicht,  wer  die  Religionsforschung  als  Haupt- 

i8o 


beruf  treibt,  sein  Priesteramt  niederlegen  ?  Wohl  ist  die  historische  und  psy- 
chologische Religionswissenschaft  ein  wertvolles  Hilfsmittel  und  Vorberei- 
tungsmittel für  die  priesterliche  Tätigkeit,  zumal  in  der  heutigen  Zeit,  aber 
dies  Mittel  zum  Zweck  darf  doch  nicht  in  den  Mittelpunkt  eines  Priester- 
lebens rücken.  Wie  ein  großer  Teil  der  heutigen  Theologen  —  so  und  nicht 
Priester  nennen  sie  sich  in  vernünftiger  Selbsterkenntnis  —  ihren  Beruf 
handhaben,  fällt  dem  theologischen  Studium  der  Löwenanteil  ihrer  Kraft 
und  Zeit  zu;  die  priesterlichen  Pfhchten  werden  nebenher  und  ohne  Ein- 
setzung der  ganzen  Persönlichkeit  abgetan. 

Auch  die  Bezeichnung  ,, Theologe"  trifft  für  viele  beamtete  religiöse  Führer 
und  Lehrer  der  Gegenwart  nicht  mehr  zu.  Theologie  heißt  Kunde  und  Lehre 
von  der  Gottheit.  Was  unsere  Theologen  treiben,  ist  aber  nicht  Gotteskunde, 
sondern  historische  Erforschung  gewisser  Ereignisse  und  historische  Kritik 
gewisser  Bücher.  Wenn  die  Theologen  wirklich  Gottesgelehrte  wären,  wenn 
sie  sich  die  Aufgabe  stellten,  die  Fragen  nach  dem  Sinn  aller  Dinge,  nach  der 
Bestimmung  des  Menschen,  nach  den  Kräften  und  Eigenschaften  des  Uni- 
versums mit  voller  Unbefangenheit  aufzuwerfen  und  mit  voller  Hingabe  zu 
beantworten,  so  würden  sie  ganz  von  selber  zu  ihrer  priesterhchen  Lebens- 
aufgabe zurückgeführt  werden.  Sie  würden  dann  nämlich  inne  werden,  daß 
das  Gottesproblem  nicht  durch  Gelehrtenschweiß  gelöst  werden  kann,  weil 
die  wissenschaf thchen  Forschungen,  so  unumgänglich  und  förderiich  sie  sind, 
nur  bis  an  die  Schwelle  des  Problems  führen.  Das  Universum  gibt  seine 
letzten  Rätsel  nicht  dem  über  das  Glas  gebeugten  oder  in  alten  Bibliotheken 
stöbernden  Menschen  preis,  sondern  nur  dem  hoch  aufgerichteten,  festUch 
begeisterten,  mit  glühender  Seele  schaffenden  Menschen.  Welch  ein  schlech- 
tes Zeugnis  stellen  unsere  Theologen  sich  selber  aus,  wenn  sie  achselzuckend 
sagen:  die  Gottheit  hülle  sich  in  undurchdringliche  Geheimnisse,  man  tue 
am  besten,  sich  mit  dem  Gottesproblem  so  wenig  wie  möglich  abzugeben  und 
sich  nur  an  die  W^elt  der  Erscheinungen  und  die  religiöse  Praxis  zu  halten ! 
Wie  bitter  wird  jeder  rehgiöse  Mensch  z.  B.  durch  das  Büchlein  von  W. 
Bousset:  ,, Unser  Gottesglaube"  enttäuscht!  Was  in  diesem  Buche  steht, 
sind  angenehme  Gedanken  und  freundliche  Phantasien  eines  Forschers,  aber 
nicht  Bekenntnisse  und  Verkündigungen  eines  Gottesweisen.  Der  Stolz  jedes 
echten  Priesters,  solange  es  überhaupt  Priester  in  der  Welt  gibt,  war:  die 
Gottheit  zu  kennen,  sie  von  Angesicht  zu  Angesicht  geschaut  zu  haben  und 
vertrauter  mit  ihr  zu  sein  als  mit  allen  anderen  Dingen.  Darum  haben  auch 
alle  echten  Priester  ihre  Aufgabe  darin  gesehen,  ihre  Kunde  von  Gott  auszu- 
breiten, von  Gott  zu  reden  und  zu  singen,  solange  sie  Atem  hatten.  Es  Heß 
ihnen  keine  Ruhe,  daß  die  anderen  Menschen  von  Gott  nichts  woißten  und 
ohne  d£is  beglückende  Freiheitsgefühl,  das  den  Priester  durchdrang,  durchs 

l8l 


Leben  gingen.  Der  Priester  rief  sein  enthusiastisches  Wissen  hinaus  in  alle 
Femen;  es  drängte  ihn,  von  seiner  Überfülle  abzugeben,  sein  Licht  auszu- 
strahlen und  die  letzten  dunkelsten  Winkel  in  der  Seele  der  ihm  anvertrauten 
Mitbrüder  zu  erhellen.  Gottesgelahrtheit,  wenn  sie  mit  Ehrfurcht  und  reiner 
WahrheitsHebe  getrieben  wird,  führt  notwendig  zur  Prophetenbegeisterung 
und  dadurch  zum  unwiderstehlichen  Antrieb,  religiöse  Erzieher-  und  Seel- 
sorgetätigkeit auszuüben.  Daß  unsere  Theologen  ihr  religiöses  Führeramt 
vernachlässigen,  ist  der  beste  Beweis  dafür,  daß  ihr  angebhches  Gottheits- 
studium sie  nicht  zu  Gott  hingeführt  hat  und  daß  alles,  was  sie  uns  von  der 
Gottesweisheit  und  Gottesbegeistening  früherer  Zeiten  und  Männer  erzählen 
und  rühmen,  tote  Gelehrsamkeit  ist.  Was  nützt  es  uns,  wenn  sie  versichern 
und  nachweisen,  daß  Gott  in  Jesus  lebendig  gewesen  sei?  In  ihnen  selber 
muß  Gott  lebendig  werden;  sie  selber  müssen  den  Freiheitsdurst  und  die 
glühende  Seele  Jesu  haben.  Der ,, Geist"  muß  bei  ihnen  einkehren ;  dann  allein 
sind  sie  imstande,  auch  ihrer  Gemeinde  den  Geist  einzuhauchen.  Aber  von 
alledem  ist  bei  unseren  Theologen  wenig  zu  entdecken ;  sie  sind  zu  kühl  und 
vernünftig  für  den  rehgiösen  Enthusiasmus,  darum  kann  uns  auch  die  von 
ihnen  vertretene  und  empfohlene  Rehgion  nicht  erhöhen  und  befreien.  Die 
Lehren  und  Riten,  die  sie  als  Weg  zu  Gott  anpreisen,  sind  zum  toten  Memorier- 
stoff geworden.  Auch  wenn  sie  ein  liberales  und  modernisiertes  Christentum 
predigen,  können  sie  höchstens  Gelehrtennaturen  und  genügsame  Seelen 
befriedigen. 

Viele  Geistliche  werden  gegen  diese  Kritik  Einspruch  erheben,  vor  allem 
jene  schlichten  Praktiker,  die  sich  ihrer  Lebtage  nicht  für  die  Rehgions- 
wissenschaft  erwärmt  haben,  sondern  ihr  Heil  in  der  seelsorgerischen  Wirk- 
samkeit suchen.  Sie  haben  recht:  der  Vorwurf,  das  Priesteramt  dem  For- 
scherberuf geopfert  zu  haben,  kann  sie  nicht  treffen.  Aber  fragen  wir  nun 
einmal  nach,  wie  denn  diese  geistlichen  Praktiker,  seien  sie  nun  orthodox 
oder  hberal,  ihr  Priesteramt  versehen !  Fragen  wir,  ob  sie  Führer  zur  Freiheit 
und  zur  Vergöttlichung  sind,  ob  sie  ihre  Gemeinde  emporheben  aus  dem 
Staube  und  Schlamme  des  kleinlichen  Genußlebens  und  des  egoistischen 
Bereicherungsstrebens !  Ob  sie  selber  wahrhaft  rehgiös  sind  und  auch  um 
sich  her  Religion  schaffen  und  verbreiten.  —  Diejenigen  unter  diesen  Geist- 
hchen,  deren  religiöse  Praxis  sich  darin  erschöpft,  daß  sie  die  kirchlichen 
Heilsgüter  vermitteln  und  die  biblischen  Lehren  vortragen  und  auslegen, 
werden  nur  einem  kleinen,  und  zwar  dem  zurückgebliebensten  Teil  ihrer 
Gemeinde  das  leisten,  was  ein  Priester  zu  leisten  die  Pflicht  hat ;  nur  diesen 
Zurückgebliebenen  werden  sie  Erzieher  und  Helfer  zur  religiösen  Vertiefung 
sein.  Die  besten  und  tüchtigsten  Gemeindegheder  dagegen  werden  in 
solchen  Geisthchen  nur  Kirchenbeamte  sehen,  denen  man  ebenso  kühl  gegen- 

182 


übersteht  wie  den  Staats-  und  Ortsbeamten.  Man  gibt  ihnen,  was  sie  im 
Namen  der  Gesellschaft  verlangen,  aber  man  gewährt  ihnen  nichts,  was 
darüber  hinausgeht.  Man  erlaubt  solchen  Pfarrern  nicht,  einem  ins  Herz  zu 
sehen  und  ins  Leben  einzugreifen.  Solche  Pfarrer  nötigen  alle  Tieferen  und 
Fortgeschritteneren,  die  religiösen  Erlebnisse  auf  eigene  Hand  zu  suchen 
oder  nach  nnderen  Priestern  und  Helfern  Umschau  zu  halten. 

Das  empfindet  denn  auch  mancher  wackere  Geistliche  deutlich  und 
schmerzlich.  Es  quält  ihn,  bloß  ein  historisches  Dekorationsstück  und  ein 
amtlicher  Agent  zu  sein.  Er  möchte  seiner  Gemeinde  mehr  geben,  er  will  in 
lebendige  Verbindung  mit  ihr  kommen  und  sucht  an  allem,  was  sie  inner- 
lich bewegt,  teilzunehmen.  Aber  wird  er  dadurch  zum  religiösen  Führer  und 
Wecker  seiner  Gemeinde?  Wir  alle  kennen  jene  sympathischen  Pfarrer,  die 
ihre  kirchlichen  Pflichten  nicht  für  ihren  Hauptberuf  halten,  sondern  vor 
allem  gute  Kameraden  ihrer  Gemeindebrüder  werden  möchten  und  die 
Türen  der  Kirche  und  des  Pfarrhauses  weit  dem  Leben  der  Gegenwart 
öffnen.  Sie  schreiten  mit  ihrer  Zeit  mit,  sind  gar  nicht  engherzig  und  phari- 
säisch, und  niemand  merkt  ihnen  an,  daß  sie  eine  beispiellos  strenge  Religion 
und  Sittlichkeit  zu  hüten  und  zu  lehren  sich  verpf hebtet  haben.  Ich  sage: 
diese  Pfarrer  sind  sympathische  Menschen;  sind  sie  aber  wahre  Priester? 
Fassen  sie  ihren  hohen  Beruf  so  auf,  wie  ihre  Meister  und  Ahnherren  es  getan 
haben?  Ich  dächte  doch,  daß  jeder  Priester  ein  sittHcher  Lehrer  sein  muß, 
ein  Künder  und  Herold  hoher  Ideale.  Das  schließt  selbstverständlich  nicht 
aus,  daß  er  sich  mitten  in  das  Leben  seiner  Gemeinde  hineinstellt  und  an 
allen  großen  Freuden,  Erhebungen,  Erheiterungen  innigen  Anteil  nimmt. 
Wir  haben  dargelegt,  wie  eng  die  Religion  mit  dem  Spiel  verknüpft  ist  und 
wie  die  Priester  einst  Festleiter,  Vortänzer  und  orgias tische  Freuden prediger 
gewesen  sind.  Aber  die  Feste  und  Spiele,  an  denen  der  Priester  teilnahm 
und  die  er  leitete,  waren  stets  religiöser  Art ;  sie  standen  in  engem  Zusammen- 
hang mit  den  heiligen  Riten  und  dienten  der  Erhöhung  und  Vergöttlichung 
der  Gemeinde.  Der  Priester  hat  die  wunderbare  Gabe  besessen,  das  ganze 
Erholungs-  und  Genuß wesen  in  das  Gebiet  der  Rehgion  hineinzuziehen;  er 
verstand  —  oder  suchte  wenigstens  —  die  Kunst,  die  Menschen  zu  erheben 
und  zu  heiligen,  indem  er  sie  zu  Spiel  und  Rausch,  zu  Freundschaft  und  Liebe, 
zu  Heiterkeit  und  Lebensfreude  führte.  Dagegen  sind  die  heutigen  Pfarrer, 
wenn  sie  der  Engherzigkeit  und  Spielverderberrolle  aus  dem  Wege  gehen  wol- 
len, oft  nahe  daran,  lustige  Brüder  und  gemütliche  Gesellschafter  zu  werden. 
Sie  sitzen  im  Wirtshaus,  im  Konzert  und  Theater,  sie  dichten  und  malen,  sie 
reisen  und  beobachten;  aber  sie  versäumen,  diese  an  sich  löblichen  oder 
weniger  löbUchen  Dinge  mit  ihrer  Rehgion  und  ihrem  Priesteramt  organisch 
zu  verbinden,  sodaß  ihr  Weltleben  ein  notwendiges  Stück  ihres  religiösen 

183 


Strebens  und  Lehrens  wäre.  Das  Christliche  und  das  Heidnische  steht  bei 
ihnen  im  verbunden  nebeneinander;  sie  ziehen  den  Priesterrock  abwechsehid 
aus  und  an. 

Heidnisch  dürfen  wir  ihr  Weltleben  nicht  einmal  nennen ;  denn  wenn  wir 
den  Begriff  „heidnisch"  streng  und  tief  fassen,  so  bezeichnet  er  gerade  jene 
alte  religiöse  Anschauung,  daß  die  Freude  und  der  aktive  Freudenrausch 
rehgiös  sei  und  religiös  verwertet  werden  müsse.  So  faßte  das  Griechentum 
seine  Religion  auf;  es  feierte  seine  Feste  als  Vergöttlichungsfeste.  Der 
Grieche  zog  das  heilige  Kleid  nicht  aus,  wenn  er  zu  Spiel  und  Tanz  ging, 
sondern  zog  es  dazu  an.  Die  Gottheit  weilte  mitten  unter  den  Spielenden. 
Weilt  Gott  auch  in  den  christlichen  Wirtshäusern,  wenn  der  Pfarrer  mit  am 
Tische  sitzt  ?  Weilt  Gott  in  unseren  Theatern  und  Konzertsälen,  zieht  er  mit 
den  \'ergnügungsreisenden  aus,  steht  er  hinter  den  schriftstellernden  und 
politisierenden  Pfarrern  ?  Ich  will  diese  Fragen  nicht  in  Bausch  und  Bogen 
verneinen,  sondern  werde  unten  auf  das  religiöse  Element  in  unserem  Kunst- 
leben und  öf f enthchen  Leben  zu  sprechen  kommen ;  aber  ich  bestreite,  daß 
die  modernen  Pfarrer  viel  dazu  getan  haben  und  tun,  daß  in  unserem  heu- 
tigen Weltleben  sich  rehgiöse  Triebe  geltend  zu  machen  beginnen.  Die 
christlichen  Priester  nehmen  an  dem  Fest-  und  Kunstleben  bloß  teil  wie  die 
anderen  Zeitgenossen  auch ;  sie  denken  gar  nicht  daran  —  sehr  wenige  aus- 
genommen—  daß  sie  überall,  wo  sie  weilen,  Priester  sein  und  bleiben  müssen 
und  zumal  unter  erhöhten,  aufatmenden  Festtagsmenschen  ihrer  priester- 
üchen  Pflicht  doppelt  eingedenk  sein  müssen,  der  Pflicht  nämlich,  die 
erhöhte  Stimmung  richtig  zu  leiten,  sie  rehgiös  zusammenzufassen  und  in  das 
Bekenntnis  der  Zusammengehörigkeit  der  feiernden  Mitbrüder  unterein- 
ander und  das  befreiende  Gefühl  der  Einheit  mit  dem  All  einmünden  zu 
lassen.  Jedes  Fest  muß  ein  Kommunionsfest  sein,  und  wenn  der  Priester 
an  Festen  teilnimmt,  ohne  sie  zu  Kommunionsfeiern  zu  gestalten  und  den 
Genossen  das  Gefülil  rehgiöser  Verbundenheit  greifbar  mitzuteilen,  wenn  er 
teilnimmt,  ohne  die  Gemeinde  zu  segnen  und  den  Segen  der  Gemeinde  zu 
empfangen,  so  versäumt  er  seine  priesterhche  Pflicht  und  ist  seines  hohen 
Priesternamens  nicht  würdig. 

Wir  kommen  in  dem  Abschnitt  ,, Kirche  und  Kultus"  auf  das  Verhältnis 
des  Spieles  zur  künftigen  Rehgion  zurück  und  wollen  hier  nur  noch  zur  Ent- 
schuldigung des  modernen  Priesters  anführen,  daß  seine  christhch-kirch- 
liche  Stellimg  ihm  leider  nicht  ermöglicht,  als  Weltmensch  und  Festmensch 
Priester  zu  bleiben,  weil  das  Christentum  die  Erhöhung  des  Menschen  auf 
anderem  Wege  und  mit  anderen  Mitteln  zu  erreichen  sucht  als  die  entchrist- 
lichte  moderne  Menschheit.  Der  Priester  muß  seinen  Priesterrock  ausziehen, 
wenn  er  zu  seiner  festlichen  Gemeinde  geht;  er  muß  in  ,, Zivil",  muß  als 

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Laie  kommen  und  das  Priesteramt  der  Freude  anderen  überlassen.  Er  hat 
nur  die  Wahl:  dem  weltlichen  und  festlichen  Leben  fernzubleiben  und  sich 
dadurch  der  inneren  Gemeinschaft  mit  seiner  Gemeinde  zu  begeben  —  denn 
in  der  Kirche,  im  Beichtstuhl,  als  Kranken-  und  Begräbnispriester  kann  er 
heute  nur  einen  eng  umgrenzten,  wenn  auch  innerhalb  dieser  Grenze  tiefen 
Einfluß  ausüben  — ,  oder  zweitens  an  dem  Weltleben  als  Wolf  unter  Wölfen 
teilzunehmen  und  sich  dadurch  seines  priesterlichen  Einflusses  noch  weit 
mehr  zu  begeben.  Denn  man  glaube  doch  nicht,  daß  irgend  jemand  das 
Christentum  eines  behaglichen,  kunst-  und  frohsinnigen  Allerweltspriesters 
ernstnimmt.  Einen  solchen  Priester  lassen  sich  wohl  die  kirchentreuen  Ortho- 
doxen als  religiösen  Vermittlungsbeamten  gefallen,  aber  niemand  sieht  in 
ihm  einen  gotterfüllten  Führer  und  Erzieher. 

Die  Erweckungssekten  fühlen  sich  daher  durch  die  kirchlichen  Priester 
nicht  befriedigt;  sie  scharen  sich  um  religiös  produktive  oder  wenigstens 
religiös  überreizte  Naturen  und  versuchen  unter  ihrer  Leitung  eigene  Ge- 
meinden zu  gründen.  Sie  werfen  dem  kirchlichen  Priestertum  mit  Recht 
Verweltlichung  und  Unchristlichkeit  vor,  und  man  muß  ihnen  zugestehen, 
daß  sie  selber  es  mit  der  christhchen  Religiosität  ernstnehmen.  Die  Sekten- 
priester leben  denn  auch  mit  ihren  Gemeinden  in  innigem  Verkehr  und  wis- 
sen die  Gemeindezusammenkünfte  zu  echten  religiösen  Festen  mit  Kom- 
mimionscharakter  zu  machen.  Aber  diese  Sekten  und  ihr  Bundeswesen 
stehen  im  Gegensatz  zu  dem  Lebens-  und  Festideal,  dem  die  heutige  Mensch- 
heit bewußt  und  unbewußt  zustrebt.  Wir  empfinden  heute  nicht  mehr 
christhch,  zumal  unsere  Befreiungs-  und  Erhebungsmittel  weichen  durchaus 
von  den  christhchen  ab;  die  Welt  ist  seit  längerer  Zeit  auf  dem  unaufhalt- 
samen Wege  zu  einer  neuen  Religion  des  Lebens  begriffen.  Das  fühlen  die 
heutigen  Geistlichen  und  schwanken  nun  unsicher  zwischen  dem  alten  und 
dem  neuen  Ideal  hin  und  her.  Teils  begünstigen  sie  das  Heidentum,  weil  sie 
selber  die  neuheidnischen  Instinkte  in  sich  tragen,  können  aber  natürlich 
nicht  offen  als  Propheten  des  heidnischen  Freiheits-  und  Vergöttlichungs- 
willens auftreten,  sondern  nur  als  halbe  und  laue  ,, Vermittler".  Aber  laue 
Seelen  erkennt  die  Menschheit  nicht  als  Priester  an,  darum  werden  diese 
wohlmeinenden  Vermittler  schlecht  gehört  und  die  freundlichen  Hände- 
drücke, die  sie  fortwährend  nach  allen  Richtungen  austeilen,  vermehren  ihr 
priesterliches  Ansehen  auch  nicht.  Die  anderen  wiederum  stemmen  sich  dem 
neuen  Heidentum  entgegen  und  möchten  an  dem  christlichen  Ideal  fest- 
halten. Sie  sehen  sich  aber  genötigt,  allenthalben  Abstriche  von  demselben 
zu  machen  und  mit  christlichen  Worten  sehr  unchristliche  Dinge  ,,S5mibo- 
lisch"  auszudriicken.  Die  Konsequenten,  die  auf  dem  Boden  der  strengsten 
Orthodoxie  stehen,  wissen  noch  immer  am  besten  ihren  Kreis  treuer  Gläu- 

185 


biger  zusammenzuhalten  und  haben,  wie  die  Sektenprediger,  den  meisten 
Anspruch  auf  den  Namen  Priester.  Unter  den  KathoHken  sind  diese  Kon- 
sequenten häufiger  als  unter  den  Protestanten. 

Da  also  die  öffentlichen,  von  der  Kirche  und  Gemeinde  beauftragten  Prie- 
ster dem  religiösen  Bedürfnis  unserer  Zeit  nur  in  geringem  Maße  genügen, 
fragen  xm  weiter,  wer  denn  die  von  der  öffentlichen  Priesterschaft  unausge- 
lüllt  gelassene  Stelle  einnimmt.  Die  menschliche  Gesellschaft  sucht  wie  die 
organischen  Wesen  für  ein  unbrauchbar  gewordenes  Ghed  Ersatz.  In  allen 
Zeiten,  wo  die  religiösen  Führer  ihre  Führerstellung  nur  unvollkommen  aus- 
gefüllt haben,  sind  Ersatzmänner  für  sie  eingetreten,  die  die  nach  Führung 
verlangende  Gemeinde  zu  befriedigen  und  hinter  sich  herzuziehen  versuchten. 
Wir  haben  gesehen,  daß  das  Privatpriestertum  in  allen  religiös  unbefriedig- 
ten Zeiten  sein  Haupt  erhebt.  Die  Gemeindereligion  löst  sich  dann  in  zahl- 
lose Einzelreligionen  auf,  der  geistige  Zusammenhang  zwischen  den  Men- 
schen lockert  sich,  ein  gärendes  Chaos  entsteht.  Propheten  treten  auf  und 
die  von  ihnen  entfesselte  Erregung  droht  über  die  Priesterreligion  und  ihre 
auf  überliefertem  Erbe  ausruhenden  Vertreter  hinwegzufluten.  Auch  in  der 
Gegenwart  gibt  es  eine  unübersehbare  Fülle  von  Privatreligionen  und  von 
prophetischen  Privatpriestern.  Der  Wert  dieser  persönHchen  Rehgionen  ist 
natürlich  sehr  verschieden,  ebenso  der  Wert  der  Propheten.  Wir  wollen  die 
letzteren  ein  wenig  näher  betrachten  und  wenn  möghch,  in  Gruppen  ein- 
teilen. 

Manche  nähern  sich  mehr  dem  Zauberertypus,  andere  mehr  dem  Künstler- 
t}^us;  manche  sind  ehrhche,  ja  verehrungswöirdige  und  gewaltige  Persön- 
hchkeiten,  andere  sind  Abenteurer  und  zweifelhafte  Charaktere,  Die  dem 
Zauberertypus  Angehörigen  holen  uralte  religiöse  Begeisterungsmittel  wieder 
hervor;  sie  führen  magische  Kunststücke  vor,  treiben  Taschenspielerei,  Ge- 
sundbeten und  Wcihrsagung.  In  diese  Gruppe  gehört  ein  Teil  der  oben  be- 
sprochenen Sektenstifter,  der  religiösen  Hysteriker,  wie  wir  sie  hauptsäch- 
lich unter  den  Spiritisten  und  Theosophen  finden.  Sie  sind  oft  von  echtem 
Enthusiasmus  erfüllt,  suchen  die  Freiheit  und  das  ,, wahre"  Leben.  Nur 
hält  sich  bei  ihnen  die  rehgiöse  Erhöhung  mehr  in  der  Sphäre  der  Phantasie 
und  des  Gefühls;  sie  überträgt  sich  nicht  auf  das  sittliche  Handeln.  Diese 
Leute  können  Schwächhnge  und  Tagediebe  sein,  sie  sind  meist  pathologisch 
veranlagt;  das  hindert  aber  nicht,  daß  sie  religiöse  Stimmungen  und  Zu- 
stände von  großer  Kraft  und  Feinheit  haben,  auch  auf  andere  Menschen 
einen  ähnhch  starken  Einfluß  haben  wie  die  Propheten  älterer  Zeit.  Sie 
wirken  so  faszinierend,  daß  sie  es  mitunter  wagen  dürfen,  sich  für  über- 
menschhche  Wesen  auszugeben;  als  solche  gebärden  sie  sich  dann  so  natür- 
lich, daß  man  annehmen  muß,  sie  halten  sich  wirklich  für  das,  was  sie  den 

l86 


Leuten  von  sich  sagen.  Wer  weiß,  ob  man  nicht  bei  CagHostro,  bei  den  rus- 
sischen Christussen  (z.  B.  Johann  von  Kronstadt)  und  den  theosophischen 
Heilanden  einen  ehrhchen  Götterwahn  annehmen  muß!  Hie  und  da  enden 
sie  wirklich  in  einer  Heilanstalt. 

Natürhch  gibt  es  unter  diesen  prophetischen  Zauberern  auch  einfache 
Schwindler,  die  sich  die  Zeitstimmung  zunutze  machen,  die  hysterische  An- 
lage und  Taschenspielergeschicklichkeit,  über  die  sie  verfügen,  gehörig  aus- 
bilden und  sich  dann  mit  größerem  oder  geringerem  Erfolg  dem  Propheten- 
handwerk widmen.  In  diese  Klasse  gehören  nicht  wenige  der  modernen 
Kurpfuscher.  Wir  haben  früher  dargelegt,  daß  der  ärzthche  Beruf  aus  dem 
des  zaubernden  Privatpriesters  hervorgegangen  ist,  und  haben  betont,  daß 
die  meisten  Priester  den  Wunsch  gehabt  haben,  als  Heilkünstler  und  Krank- 
heitsbekämpfer  ihr  Glück  zu  machen  und  das  Volk  für  sich  zu  gewinnen. 
So  werden  auch  die  heutigen  Propheten  in  die  Bahn  der  Krankenheilung 
gedrängt  und  wirken  darin  je  nach  Charakter  und  Wissen  Gutes  oder 
Schhmmes.  Gewöhnlich  fangen  sie  ihre  ärztliche  Laufbahn  mit  der  Behand- 
lung und  überraschenden  Heilung  ihrer  eigenen  nervösen  Leiden  an  und 
suchen  nun  dasselbe  Rezept  auf  alle  anderen  Krankheitsfälle  anzuwenden. 
Die  ersten  Erfolge  stärken  ihre  Kühnheit  und  locken  Glaubens-  und  Hei- 
lungsbedürftige in  wachsender  Zahl  an.  Bald  ist  der  Ruf  des  Wundermanns 
gesichert.  Ob  er  in  gutem  Glauben  handelt,  und  wenn  nicht,  ob  seine  Schwin- 
delei achtungswert,  d.  h.  von  menschenfreundlichen  Absichten  geleitet  ist, 
oder  ob  er  die  Leichtgläubigkeit  der  Kranken  mit  schamlosem  Egoismus 
ausbeutet,  läßt  sich  im  einzelnen  Falle  schwer  ausmachen.  Wir  wollen  uns 
hüten,  alle  Heilpropheten  unserer  Zeit  in  einen  Topf  zu  werfen.  Auch  bei  den 
Bedenkenerregenden  findet  man  nicht  selten,  daß  sich  unter  einem  Wust  von 
Verschrobenheit,  Fanatismus  und  Gewinnsucht  wahre  Schätze  von  Tapfer- 
keit und  Aufopferungswillen  verbergen.  Einem  unvoreingenommenen  Be- 
trachter muß  es  wehe  tun,  daß  diese  Schätze  nicht  zur  Geltung  kommen,  daß 
die  edlen  Eigenschaften  sich  nicht  die  Herrschaft  zu  erringen  vermögen. 

Was  fehlt  eigenthch  diesen  anechten  und  halbechten  Propheten,  die  wir 
auf  so  vielen  Gebieten  des  Lebens  sich  unheilvoll  hervortun  sehen  ?  Erzie- 
hung fehlt  ihnen,  Erziehung  zur  Klarheit,  zur  Selbstverantwortung  und  zum 
Heroismus.  Wenn  solche  gefährhch  begabten  Typen  scheitern  und  auf  Ab- 
wege geraten,  fäUt  die  Schuld  im  Grunde  denen  zu,  die  die  rehgiöse  Leitung 
und  Erziehung  unseres  Volkes  berufsmäßig  in  Händen  haben.  Warum  ge- 
lingt es  den  heutigen  Kirchenpriestern  und  pädagogischen  Führern  nicht, 
wenigstens  einen  Teil  der  vielen  Charlatane  auf  bessere  Wege  zu  bringen 
und  die  zahlreichen  Außenseiter  und  Revolutionäre  auf  medizinischem, 
reügiösem,  pohtisch-sozialem  und  künstlerischem  Gebiet  zu  fruchtbarem 

187 


Wirken  für  die  Gesamtheit  zu  erziehen?  Warum  haben  wir  heute  so  \-iele 
„Agitatoren",  die  mit  bewunderungswürdigem  Eifer  für  sinnlose  und  ver- 
brecherische Ideale  kämpfen?  —  Weil  diesen  Männern  nicht  die  rechten 
Ideale  gezeigt  und  mit  zwingender  Kraft  in  die  Seele  gebrannt  werden. 
Wenn  das  geschähe,  wenn  die  berufenen  religiösen  Lehrer  ihren  Zöglingen 
Begeisterung  für  kampfeswürdige  Ziele  und  Verständnis  für  die  Aufgaben 
eines  echten  Agitators,  d.  h.  Antreibers  imd  Weckers,  einzuflößen  vermöch- 
ten, so  würden  alle  diese  Naturen,  wofern  nur  der  kleinste  Gottesfunke  in 
ihnen  lebt,  zu  heroischen  Streitern  für  das  heilige  Leben  werden.  Der  Gottes- 
funke muß  nur  angeblasen  und  genährt  werden,  so  setzt  er  ganz  von  selber 
das  leicht  entzündliche  Prophetenherz  in  Flammen  und  verzehrt  alles  Klein- 
hche.  Niedrige,  Häßliche  im  Wesen  dieser  eigenartigen  Naturen.  Bei  der 
heutigen  Unzulänglichkeit  der  berufenen  Führer  aber  wächst  das  Niedrige 
und  Häßliche  heran,  erstickt  den  Gottesfunken  oder  entzündet  sich  an  ihm 
zu  unreiner  und  verderbhcher  Flamme. 

Auch  unter  den  \^erbrechern,  den  weiblichen  und  männlichen  Dirnen,  den 
Landstreichern,  den  Wirtshaushelden  gibt  es  hin  und  wieder  eine  miß- 
limgene  und  mißleitete  Prophetennatur.  Ebenso  wie  manche  Agitatoren, 
wie  manche  Kurpfuscher,  Wundermänner,  Gaukler,  Spezialitätenkünstler, 
sind  auch  viele  Verbrecher  und  \A'üstlinge  disharmonische  Menschen,  deren 
Kräfte. im  Kampf  miteinander  liegen  und  daher  nach  innen  und  nach  außen 
zerstörerisch  \nrken.  Oft  mögen  sie  unheilbar  sein,  teils  weil  ihre  intellek- 
tuelle Begabung  zu  gering  ist,  teils  weil  es  ihnen  an  Willen  fehlt ;  so  sind  sie 
ein  für  allemal  zu  einem  unnützen  oder  schädlichen  Leben  verurteilt.  Aber 
andere  haben  nur  sozusagen  den  Anschluß  versäumt;  sie  haben  nicht  die 
Erzieher,  nicht  die  Erlebnisse  gefunden,  die  den  guten  Geistern  in  ihnen 
zum  Siege  verholfen  hätten.  Auch  dann  wären  vermutlich  nicht  tüchtige 
Werktagsmenschen  aus  ihnen  geworden,  aber  do^^h  Agitatoren  im  guten 
Sinne,  Soldaten  und  Offiziere  im  Heere  Gottes,  Vorkämpfer  und  Drauf- 
gänger in  der  Schlacht  um  die  Religion  der  Freiheit. 

Die  Anschauungen  Lombrosos  über  die  Verwandtschaft  von  Genie  und 
Entartung  haben  berechtigten  Widerspruch  gefunden;  aber  daß  seiner 
Theorie  richtige  Beobachtungen  und  Erkenntnisse  zugrunde  hegen,  die  nur 
zu  voreilig  und  einseitig  gedeutet  worden  sind,  kann  niemand  leugnen,  der 
mit  offenen  Augen  die  merkwürdigen  Zwischentypen  verfolgt,  die  von  dem 
genialen  Rehgionsstifter  ohne  Lücke  zu  dem  prophetischen  Agitator,  weiter 
zu  den  Demagogen  aller  Schattierungen  und  endhch  zum  Charlatan,  zum 
Verbrecher  und  zum  perversen  Geisteskranken  führen.  Und  noch  merk- 
würdiger ist  es,  daß  sich  in  manchen  Menschen  die  Anlage  zu  allen  oder 
mehreren  dieser  Typen  nebeneinander  findet.  Sie  sind,  wie  wir  im  Kapitel 

i88 


über  den  priesterlichen  Charakter  sagten,  zugleich  die  Ersten  und  die  Letz- 
ten, und  es  hängt  von  ihrer  Erziehung  und  den  religiös-sittlichen  Einflüssen, 
die  sie  empfangen,  ab,  ob  sie  sich  zum  Edlen  und  Großen  durcharbeiten, 
oder  im  Niedrigen  und  Kranken  versinken. 

Wir  wissen  nicht,  ob  es  zu  anderen  Zeiten  ebensoviele  disharmonische 
Naturen  von  dieser  Art  gegeben  hat;  aber  das  sieht  jeder,  daß  sie  heute  einen 
wichtigen  Bestandteil  unseres  Volkslebens  bilden.  Und  es  ist  einer  der  Haupt- 
einwände gegen  das  moderne  Christentum  und  seine  Vertreter,  daß  diese 
Naturen  nicht  aus  einem  Fluch  in  einen  Segen  für  die  menschliche  Kultur  — 
oder  sagen  wir  vorläufig  für  die  deutsche  Kultur  —  umgeschaffen  werden. 
'Alle  prophetischen  Menschen,  von  den  höchststehenden  bis  zu  den  geringsten 
sind,  wie  Jesus  so  schön  sagte:  das  ,,Salz"  der  Erde;  sie  sind  ein  Gewürz,  ein 
Gärungsstoff,  ein  Rauschgift,  und  wirken  infolgedessen  anstachelnd  und  er- 
regend auf  erlahmende  und  erstarrende  Kulturen.  Sie  bringen  die  trägen 
Massen  in  Bewegung,  werfen  die  Brandfackel  in  die  herbstlichen  Steppen 
und  teilen  ihre  disharmonisch-revolutionäre  Seelenverfassung  allen  denen 
mit,  die  ihr  Wort  erreicht.  Wenn  niedere  Leidenschaften  oder  die  Geister 
der  Krankheit  aus  ihnen  sprechen,  tut  man  recht,  sie  zu  bestrafen  oder  ins 
Irrenhaus  zu  führen;  aber  sollte  es  nicht  zu  erreichen  sein,  daß  andere  Gei- 
ster und  Leidenschaften  von  ihnen  Besitz  ergreifen?  Sehen  wir  uns  die  heu- 
tigen Disharmonischen  an :  hier  erklärt  ein  Drogist  oder  eine  Hebamme  die 
ganze  ärzthche  Wissenschaft  für  Unsinn  und  beginnt  eine  ^vundervolle  mag- 
netische Heilmethode;  dort  wird  ein  Tagelöhner  zum  reUgiösen  Enthusia- 
sten und  klagt  die  gesamte  Theologie  teufhscher  Besessenheit  an ;  hier  wirft 
ein  politischer  Redner  den  Besitzenden  vor,  daß  sie  entmenschte  Blutsauger 
seien;  dort  beseitigt  ein  Anarchist  alle  sittlichen  und  sozialen  Grundsätze 
als  Sklaverei;  hier  verwirft  ein  Künstler  alle  Stilregeln  und  künstlerischen 
Erfahrungen  der  Vergangenheit,  dort  verwirft  ein  Moralfanatiker  alle  Kunst 
als  Tand  und  Verführung.  Alle  sind  gleichermaßen  darauf  bedacht,  unser 
Volk  in  Gärung  zu  versetzen,  ihm  den  bisherigen  Glauben  zu  nehmen  und 
ihm  alle  Autoritäten  zu  verleiden. 

Im  Grunde  hören  wir  aus  dem  Munde  der  Propheten  aller  Zeiten,  der  ech- 
ten wie  der  unechten,  immer  wieder  zwei  Worte,  in  denen  sie  ihre  Botschaft 
und  ihre  Tätigkeit  zusammenfassen ;  diese  beiden  Worte  sind  Freiheit  und 
W^ahrheit.  Für  Freiheit  und  Wahrheit,  gegen  Tjnrannei  und  Lüge  kämpfen 
sie.  Kann  es  etwas  Besseres  geben  ?  Sind  sie  damit  nicht  auf  demselben  Wege 
wie  alle  religiösen  Geister  im  engeren  Sinne?  Die  Religion  wollte  stets  die 
Menschen  befreien  und  erhöhen,  wollte  das  öde  und  gleichmäßig  dahin- 
schleichende  Leben  in  ein  erregtes  und  erhabenes  Rauschleben  verwandeln. 
Die  große  Schwierigkeit  war  immer  die,  die  Worte  Freiheit  und  Wahrheit 

189 


mit  würdigem  Inhalt  zu  erfüllen  und  das  erhöhte  Leben  auf  würdige  Ziele 
zu  lenken,  damit  nicht  die  religiöse  Bewegung  auf  Verwüstung  der  Kultur 
imd  Verblödung  der  Menschheit  hinauslaufe. 

Die  Frage,  wie  man  unserer  Zeit  über  diese  Gefahr  hinweghelfen  und  wie 
man  die  bedrohlichen  Disharmonischen,  die  als  anstachelnde  oder  lähmende 
Gifte  auf  die  gegenwärtige  Menschheit  einwirken,  dem  religiösen  Leben 
dienstbar  machen  und  in  eine  segensreiche  Priesterlaufbahn  hineinziehen 
kann,  werden  wir  in  den  ferneren  Abschnitten  näher  zu  erörtern  haben. 
Denn  die  Antwort  darauf  läßt  sich  nur  im  Zusammenhang  mit  der  Betrach- 
tung über  die  religiösen  Formen  und  das  neue  Priesteramt  erteilen.  Es  ist  ein 
und  dieselbe  Aufgabe :  unserem  teils  stockenden,  teils  chaotischen  religiösen 
Leben  neue  Stärke  und  Einheitlichkeit  zu  geben,  und  die  Prophetennaturen 
allerart  von  ihrem  zerstörerischen  Treiben  abzurufen  und  in  heilsamere 
Bahnen  zu  lenken. 

Wir  müsen  uns  jetzt  mit  einem  Manne  etwas  eingehender  beschäftigen, 
nämlich  mit  Friedrich  Nietzsche.  Nietzsche  gehört  mehr  der 
zweiten  Gruppe  der  Prophetennaturen,  also  dem  künstlerischen  Propheten- 
t5^us  an.  Er  ist  neben  Tolstoi  wohl  der  hervorragendste  Vertreter  der  heu- 
tigen Übergangsreligiosität ;  während  aber  Tolstoi  ein  Prophet  der  Askese 
und  Entsagung  ist,  daher  im  nächsten  Abschnitt  besprochen  werden  \vird,  ist 
Nietzsche  ein  Prophet  des  reUgiösen  Enthusiasmus,  ein  Herold  des  erhöh- 
ten, rauschfrohen  Menschentums.  Man  kann  mit  Hilfe  Nietzsches  alle  Er- 
scheinungen der  religiösen  Gegenwart  verstehen  lernen,  die  dem  dionysischen 
Streben  nach  Freiheit  und  Göttlichkeit  entspringen.  Ich  bekenne  gern,  daß 
mir  an  dem  Beispiele  Nietzsches  noch  mehr  aufgegangen  ist,  nämlich  das 
ganze  Problem  des  Priesters  und  seiner  Bedeutung  für  die  menschliche  Kul- 
tur. Ohne  die  langjährige  Beschäftigung  mit  Nietzsches  Persönhchkeit, 
Nietzsche  s  Werken  und  hinterlassenen  Handschriften  hätte  ich  weder  den 
Gedanken,  noch  den  Mut  gefaßt,  das  vorliegende  Buch  auszuführen. 
Nietzsche  hat  sich  selber  häufig  genug  mit  der  Psychologie  des  Priesters 
befaßt ;  meist  kam  er  dabei  allerdings  zu  dem  Ergebnis,  daß  der  Priester  eine 
heillose  und  verwerfhche  Art  Mensch  sei.  Aber  er  hat  trotzdem  gefühlt,  daß 
auch  in  seinen  Adern  Priesterblut  rollte  und  daß  sein  inneres  Leben  ein  be- 
ständiger Kampf  der  revolutionären  (prophetischen)  Instinkte  gegen  die 
konservativen  Priestereigenschaften  war,  die  er  in  sich  trug.  Äußerlich 
herrscht  bei  Nietzsche  der  prophetische  Priestertypus  vor,  wie  wir  ihn  früher 
geschildert  haben:  Nietzsche  wollte  umstürzen,  durcheinander  schütteln, 
neuwerten.  Aber  wer  ihm  nähertritt,  spürt  bei  Nietzsche  zugleich  ein  tiefes 
Sehnen  nach  Maß  und  Form,  eine  ehrfürchtige  Liebe  für  das  Alte  und  Ge- 

190 


regelte,  eine  lebhafte  Freude  an  Zeremoniell  und  Würde.  Wenn  Nietzsche 
das  zeitgenössische  Kirchen-  und  Priesterwesen  haßte  und  angriff,  so  wollte 
er  im  Grunde  mehr  das  Christliche  daran  treffen  als  das  Priesterliche.  Sein 
prophetischer  Anarchismus  richtete  sich  gegen  das  von  den  Priestern  ver- 
kündigte und  meist  mit  unerträglicher  Zweideutigkeit  verwässerte,  christ- 
liche Lebensideal.  Hinter  diesem  Kampf  aber  verbarg  sich  ein  schwererer 
Kampf:  der  Kampf  mit  sich  selber.  Wie  jeder  echte  Prophet  ging  Nietzsche 
in  die  Wüste,  in  der  Hoffnung,  den  Disharmonien  und  Qualen  seiner  Zeit 
entweichen  zu  können;  aber  er  nahm  seinen  schlimmsten  Feind  überallhin 
mit,  und  dieser  Feind  wuchs  in  der  Einsamkeit  noch  größer,  als  er  vordem 
gewesen  war.  Durch  lautes  Singen  und  frohen  Festrausch  suchte  er  den 
Feind  in  sich  zum  Schweigen  zu  bringen,  durch  schonungslose  Kritik  und 
bohrende  Wahrheitserforschung  suchte  er  sich  gegen  ihn  zu  verteidigen. 
Nietzsches  Prophetie  hat  daher  zwei  scheinbar  entgegengesetzte  Formen 
angenommen:  harte  Anklage  und  hinreißender  Siegesgesang,  entsprechend 
den  beiden  Seelenverfassungen,  die  bei  ihm  vorherrschten :  erhabene  Rausch- 
stimmung und  eisige  Nüchternheit.  Nietzsche  hat  sich  mit  Teufeln  herum- 
geschlagen wie  nur  irgendein  Heiliger  und  hat  Wonnen  der  Gotterfülltheit 
gekostet  wie  nur  irgendein  religiöser  Ekstatiker. 

In  seiner  Selbstbiographie  ,,Ecce  homo"  hat  Nietzsche  von  den  Zuständen 
und  Umständen  Kunde  gegeben,  die  seinem  Zarathustra  zum  Leben  ver- 
helfen haben.  Diese  Darstellung,  von  der  ich  hier  einen  Abschnitt  anführen 
will,  ist  allerdings  etwas  gefärbt ;  in  Wirklichkeit  nimmt  sich  die  Entstehung 
des  Zarathustra  wesentlich  normaler  und  begreiflicher  aus,  als  uns  Nietzsche 
im  Ecce  homo  glauben  machen  will  (vgl.  meine  Schrift:  Nietzsche  als 
Moralist  und  Schriftsteller).  Jedoch  gehört  die  agitatorische  Übertreibung 
und  die  preisende  Selbstbespiegelung,  die  sich  in  Nietzsches  Ecce  homo  so 
stark  geltend  macht,  mit  zu  den  Symptomen  akuter  Prophetenbegeisterung. 
Die  alten  Propheten  haben  sich  ebenfalls  für  Halbgötter  gehalten  und  mit 
großer  Kunst  ihre  Menschlichkeiten  zu  verbergen  oder  ins  Göttliche  umzu- 
deuten gewußt.  Im  Ecce  homo,  der  wenige  Monate  vor  dem  offenen  Aus- 
bruch von  Nietzsches  Paralyse  entstanden  ist,  sind  nun  freilich  deutliche 
Spuren  der  beginnenden  Geistesstörung  erkennbar;  aber  das  tut  wenig  zur 
Sache,  denn  die  Symptome  im  Anfangsstadium  der  Paralyse  unterscheiden 
sich  nur  wenig  von  den  Symptomen  vorübergehender  seelischer  Erkran- 
kungen; auch  eine  einfache  Neurose  kann  ähnliche  Exaltationen  herbei- 
führen und  infolgedessen  Anlaß  zur  Bildung  jener  Gedächtnisfälschungen 
und  Größenideen  bieten,  die  für  den  angehenden  Paralytiker  kennzeichnend 
sind.  Wir  erzählten  früher,  daß  der  griechische  Philosoph  Empedokles  sich 
für  einen  Gott  erklärte  und  in  feierlicher  Weise  durch  die  Städte  zog;  wer 

191 


will  wissen,  ob  dieser  Empedokles  bloß  ein  überreizter  Neurotiker,  oder  ein 
vorübergehend  Geistesgestörter  oder  ein  unheilbarer  Gehirnkranker  war? 
Nietzsche  fühlte  sich,  nebenbei  bemerkt,  von  Empedokles  besonders  an- 
gezogen ;  er  wollte  ihn  in  einem  Drama  behandeln  und  hat  den  unausgeführ- 
ten Schluß  seines  Zarathustra  in  Anlehnung  an  die  Überlieferung  kompo- 
niert, daß  Empedokles  sich  in  den  Ätna  gestürzt  habe,  um  nur  mehr  mit 
Göttern  zu  verkehren;  ebenso  sollte  der  Sarg  Zarathustras  in  einem  feier- 
lichen Begräbnisakt  von  seinen  Schülern  in  den  Vulkan  gestürzt  werden. 
Nach  diesen  Vorbemerkungen  wird  man  den  Wert  der  nachstehenden  Mit- 
teilungen richtig  einschätzen  können.  Nietzsche  schreibt  über  die  Entste- 
hung seines  Zarathustra  im  Ecce  homo  folgendes:  ,,Hat  jemand,  Ende  des 
neunzehnten  Jahrhunderts,  einen  deutlichen  Begriff  davon,  was  Dichter 
starker  Zeitalter  Inspiration  nannten?  Im  anderen  Falle  will  ichs  beschrei- 
ben. Mit  dem  geringsten  Rest  von  Aberglauben  in  sich  würde  man  in  der  Tat 
die  Vorstellung,  bloß  Inkarnation,  bloß  Mundstück,  bloß  Medium  über- 
mächtiger Gewalten  zu  sein,  kaum  abzuweisen  wissen.  Der  Begriff  Offen- 
barung in  dem  Sinne,  daß  plötzüch,  mit  unsäglicher  Sicherheit  und  Feinheit, 
etwas  sichtbar,  hörbar  wird,  etwas,  das  einen  im  Tiefsten  erschüttert  und 
umwirft,  beschreibt  einfach  den  Tatbestand.  Man  hört,  —  man  sucht  nicht; 
man  nimmt,  —  man  fragt  nicht,  wer  da  gibt ;  wie  ein  Bhtz  leuchtet  ein  Gedanke 
auf,  mit  Notwendigkeit,  in  der  Form  ohne  Zögern,  —  ich  habe  nie  eine  Wahl 
gehabt.  Eine  Entzückung,  deren  ungeheure  Spannung  sich  mitunter  in  einem 
Tränenstrom  auslöst,  bei  der  der  Schritt  unwillkürlich  bald  stürmt,  bald  lang- 
sam wird ;  ein  vollkommenes  Außersichsein  mit  dem  distinktesten  Bewnißtsein 
einer  Unzahl  feiner  Schauder  und  Überrieselungen  bis  in  die  Fußzehen ;  eine 
Glückstiefe,  in  der  das  Schmerzlichste  und  Düsterste  nicht  als  Gegensatz 
wirkt,  sondern  als  bedingt,  als  herausgefordert,  als  eine  notwendige  Farbe 
innerhalb  eines  solchen  Lichtüberflusses;  ein  Instinkt  rhythmischer  Ver- 
hältnisse, der  weite  Räume  von  Formen  überspannt  (die  Länge,  das  Bedürf- 
nis nach  einem  weitgespannten  Rhythmus  ist  beinahe  das  Maß  für  die  Ge- 
walt der  Inspiration,  eine  Art  Ausgleich  gegen  deren  Druck  und  Spannung). 
Alles  geschieht  im  höchsten  Grade  unfreiwillig,  aber  wie  in  einem  Sturm 
von  Freiheitsgefühl,  von  Unbesiegtsein,  von  Macht,  von  Göttlichkeit.  Die 
Unfreiwilligkeit  des  Bildes,  des  Gleichnisses  ist  das  Merkwürdigste ;  man  hat 
keinen  Begriff  mehr,  was  Büd,  was  Gleichnis  ist,  alles  bietet  sich  als  der 
nächste,  der  richtigste,  der  einfachste  Ausdruck  an.  Es  scheint  wirklich, 
um  an  ein  Wort  Zarathustras  zu  erinnern,  als  ob  die  Dinge  selber  heran- 
kämen und  Gleichnis  sein  möchten:  ,Hier  kommen  alle  Dinge  liebkosend  zu 
deiner  Rede  und  schmeicheln  dir,  denn  sie  wollen  auf  deinem  Rücken  reiten. 
Auf  jedem  Gleichnis  reitest  du  hier  zu  jeder  Wahrheit.  Hier  springen  dir  alles 

192 


Seins  Worte  und  Wortschreine  auf;  alles  Sein  will  hier  Wort  werden,  alles 
Werden  will  von  dir  reden  lernen'." 

In  diesem  Abschnitt  hat  Nietzsche  den  erhöhten  Zustand  der  propheti- 
schen Begeisterung  so  treffend  und  erschöpfend  geschildert,  wie  es  vielleicht 
nirgends  sonst  geschehen  ist.  Alle  Kennzeichen  des  religiösen  Rausches  hat 
er  aufgeführt ;  die  Begeisterung  geht  sogar  beinahe  in  den  religiösen  Anfall 
mit  Bewußtseinsstörung  und  körperhchen  Anomalien  über:  Nietzsche  er- 
wähnt Tränenströme,  zwangsartige  Tanzbewegungen,  Überrieselungen, 
Halluzinationen.  Ob  solche  Zustände  bei  ihm  häufig  eingetreten  sind,  ob  sie 
wirklich  den  angegebenen  Grad  erreicht  haben,  müssen  wir  dahingestellt 
sein  lassen.  Von  Halluzinationen  ist  Nietzsche  allem  Anschein  nach  zu  ver- 
schiedenen Lebenszeiten  heimgesucht  worden.  Dagegen  ist  die  Angabe,  daß 
er  die  Form  der  Gedanken  sofort  gefunden  und  nie  eine  Wahl  gehabt  habe, 
nachweisbar  eine  Übertreibung,  Der  Stil  des  Zarathustra  ist  das  Ergebnis 
mühevoller  Arbeit,  nicht  götthcher  Eingebung. 

In  jedem  Falle  können  wir  wohl  aus  dem  Auftreten  Nietzsches  lernen, 
daß  die  Zeiten  des  rehgiösen  Rausches  noch  nicht  vorüber  sind.  Sie  werden 
niemals  vorübergehen.  Die  Inspiration  wird  nie  aussterben;  sie  ist,  wie 
Nietzsches  Beispiel  lehrt,  nicht  an  den  Glauben  gebunden,  daß  tatsächlich 
ein  fremder  Geist  in  den  Menschen  eintrete  und  durch  seinen  Mund  rede.  Das 
Wort  Inspiration  ist  die  bildhche  Umschreibung  eines  psychologischen  Tat- 
bestandes. Erlaubt  man  doch  auch  den  Künstlern,  von  Inspiration  zu  reden ! 
Man  erkennt  im  künstlerischen  Schaffen  die  Inspiration  ungescheut  als  psy- 
chologischen Tatbestand  an,  obwohl  niemand  glaubt,  daß  dabei  wirldiche 
Eingebungen  stattfinden  und  eingebende  Dämonen  oder  Götter  beteihgt 
sind.  Es  soU  damit  nur  der  erhöhte  Zustand  bezeichnet  werden,  in  den  bevor- 
zugte Menschen  mitunter  geraten  und  dessen  Hauptkennzeichen  ein  gött- 
liches Freiheitsgefühl  und  eine  sehr  rege  und  sichere  Gedanken-  und  Phan- 
tasieproduktion ist.  In  geringerem  Grade  erlebt  jeder  Mensch  gelegentlich 
solche  Augenblicke,  jedoch  pflegt  bei  unpriesterhchen  Naturen  dann  nicht 
die  Schöpferkraft  gesteigert,  sondern  nur  das  Unsichere  und  WiUkürhche 
des  gewöhnlichen  Zustandes  durch  ein  Gefühl  des  freien  Müssens  ersetzt 
zu  sein. 

Was  die  Künstler  betrifft,  so  hat  es  Zeiten  gegeben,  in  denen  sie  von  ihren 
inspiratorischen  Fähigkeiten  sehr  wenig  Aufhebens  gemacht  und  die  Kunst- 
werke als  Ergebnis  des  Lernens  und  Arbeitens  bezeichnet  haben.  In  anderen 
Zeiten,  die  man  Geniezeiten  oder  Sturm-  und  Drangzeiten  nennt,  haben  sie 
sich  mit  Stolz  auf  ihre  götthchen  Eingebungen  berufen.  Sie  haben  dann  er- 
klärt, das  Künstlertum  beruhe  auf  der  Gabe,  visionäre  und  akoastische 
Rauschzustände  hervorrufen  zu  können,  haben  sich  mitunter  sogar  zu  der 

13  Horneffer,  Der  Priester  II  ^93 


Behauptung  verstiegen,  daß  das  Lernen  und  xA.rbeiten  der  schöpferischen 
Originalität  des  Künstlers  schade:  alles  müsse  aus  ihm  selber  kommen, 
daher  müsse  er  jene  Rauschaugenblicke  abwarten  und  ihr  Eintreten  künst- 
lich befördern.  Der  Künstler  spricht  dann  von  der  ,, Stimmung",  von  der 
alles  abhänge,  und  sieht  sich  nach  Mitteln  um,  sich  in  die  Stimmung  zu 
bringen.  Man  sieht,  wie  nahe  wir  hier  der  uralten  Rausch-  und  Hysterie- 
züchtung des  Priesters  kommen.  Auch  der  Priester  hatte  nichts  Wichtigeres 
zu  tun,  als  sich  in  der  Kunst  zu  üben,  die  Rauschzustände  beliebig  hervor- 
zurufen, in  denen  der  Geist  Besitz  von  ihm  ergriff.  Was  er  in  diesen  Zu- 
ständen zutage  förderte,  waren  untrügHche  Offenbarungen,  vor  denen  er  und 
die  ganze  Gemeinde  sich  kritiklos  beugten.  Ganz  ähnlich  züchten  die  Genie- 
künstler ihre  produktiven  Stimmungen  und  halten  die  Einfälle,  die  ihnen 
im  Zustande  der  Inspiration  kommen,  für  künstlerische  Offenbarungen,  an 
denen  man  hinterher  nicht  ohne  Schaden  ändern  könne. 

Welcher  Mittel  bedienen  sich  die  Künstler  zur  Erzeugung  und  Beförderung 
des  produktiven  Rausches?  Wir  finden  auch  da  die  alten  priesterhchen 
Rauschmittel  wieder:  Alkohol  und  Nikotin,  erotische  Erregungen,  Unregel- 
mäßigkeit in  der  Lebensweise,  Ernährungsexperimente,  Vermeidung  des 
Schlafes.  Ich  brauche  wohl  kaum  Beispiele  für  diese  Erhöhungstechnik  an- 
zuführen. Es  ist  z.  B.  bekannt,  daß  viele  ,, Schaffende"  bei  Nacht  arbeiten, 
weil  ihnen  dann  bessere  Gedanken  kommen,  wie  sie  sagen,  mit  anderen  Wor- 
ten: weil  die  körperhche  Erschöpfung  den  erwünschten  Erregungszustand 
herbeiführt.  Auf  die  Ernährung,  zumal  den  Vegetarismus  werden  wdr  im 
Abschnitt  über  die  Entsagung  zurückkommen.  Wie  gern  die  Künstler  die 
Liebe  in  allen  ihren  Gestalten  als  Mittel  zur  künstlerischen  Erregung  be- 
nutzen, ist  oft  genug  erörtert,  gelobt,  beklagt,  entschuldigt  worden.  Die 
erotischen  Tänze  und  Abbildungen  der  Naturvölker  haben  schon  denselben 
Zweck  und  Erfolg  wie  die  erotische  Betätigung  der  heutigen  Künstler ;  auch 
die  Perversionen,  die  Onanie  usw^  hat  der  moderne  Rauschkünstler  mit  dem 
Zauberpriester  aller  früheren  Kulturstufen  gemein.  Was  den  Alkohol  be- 
trifft, so  haben  zwar  neuerdings  einige  Umfragen  dargetan,  daß  viele  Künst- 
ler den  Rauschtrank  meiden  oder  ihn  wenigstens  nicht  als  künstlerisches 
Handwerkszeug  gelten  lassen  wollen ;  ich  vermute  aber,  daß  diese  Ablehnung 
des  altgeheiligten  Giftes  in  vielen  Fällen  darin  ihren  Grund  hat,  daß  wir 
Modernen  zu  schwach  und  zartners'ig  sind,  um  den  Gott  Alkohol  in  den 
Dienst  der  Muse  zwingen  zu  können.  Es  erfordert  eine  kräftige  Nervenver- 
fassung, durch  Alkoholgenuß  erhöht  und  künstlerisch  produktiv  zu  werden. 
Diese  hat  unsere  Zeit  nicht,  hat  sie  zum  Teil  vielleicht  dadurch  verloren, 
daß  sie  mit  dem  Alkohol  nicht  vorsichtig  genug  mngegangen  ist  und  ihn  in 
unerhörter  Weise  mißbraucht  hat.  Wir  kommen  auf  die  Mäßigkeits-  und 

194 


Enthaltungsbewegung  der  Gegenwart  später  noch  zurück:  deren  gute  Ab- 
sichten und  segensreiche  Wirkungen  sollen  keineswegs  verkannt  werden. 
Ich  wollte  hier  nur  betonen,  daß  die  Beweggründe  der  Alkoholgegner  nicht 
immer  so  ideal  sind,  wie  sie  es  manchmal  hinstellen.  Zumal  wenn  die  Künst- 
ler und  andere  nach  An-  und  Aufregung  verlangende  Menschen  den  Alkohol 
meiden,  so  hat  das  meist  den  Grund,  daß  sie  ihm  nicht  gewachsen  sind  und 
deshalb  anderen  Erbebimgsmitteln,  z.  B.  dem  Tabak  oder  dem  Kaffee,  den 
Vorzug  geben.  Diejenigen,  denen  der  Alkohol  wirklich  die  Sorgen  bricht  und 
Inspirationen  schenkt,  werden  niemals  auf  ihn  Verzicht  leisten.  Goethe 
sprach  im  höheren  Lebensalter  dem  Alkohol  tapfer  zu  und  erzählt  dasselbe 
von  Schiller,  der  die  widerwillige  Schöpferstimmung  durch  Likör  herbei- 
gezwungen habe.  Ferner  erzählt  Goethe,  daß  Schiller  faule  Äpfel  in  die 
Schublade  seines  Schreibtisches  gelegt  habe,  weil  deren  Geruch  ihn  beim 
Dichten  anregte.  Da  haben  wir  eine  deutliche  Parallele  zu  den  religiösen 
Räuchergebräuchen  und  Gevvöirzopfern.  Das  Lorbeerkauen  der  Pythia  steht 
mit  Schillers  faulen  Äpfeln  in  einer  Reihe. 

Nietzsche  nimmt  dadurch  eine  so  hervorragende  Stellung  unter  den  In- 
spirierten der  letzten  Jahrhunderte  ein,  weü  es  sif  h  bei  ihm  um  den  religiösen 
nicht  um  den  künstlerischen  Rausch  handelt.  Nietzsche  ist  ein  Prophet,  ein 
rehgiöser  Genius;  nur  ganz  nebenbei  ist  er  ein  Künstler  im  engeren  Sinne. 
Er  hat  uns  die  fast  vergessene  Tatsache  wieder  in  Erinnerung  gebracht,  daß 
die  Religion  ein  Kind  des  menschlichen  Enthusiasmus  sein  kann  und  sein 
muß,  und  —  was  noch  wichtiger  ist  —  daß  dieser  Enthusiasmus  nicht  auf  ein 
hysterisches  Sektenwesen,  nicht  auf  eine  Erneuerung  der  alten  Offenbarungs- 
dämonologie hinauszulaufen  braucht.  Nietzsches  Prophetie  hält  sich  auf 
der  Höhe  der  griechischen ;  sie  erwächst  aus  der  Weisheitsliebe  und  tritt  dem 
despotischen  Priesterglauben  entgegen.  Viele  werden  zwar  dagegen  Ein- 
spruch erheben,  daß  ich  Nietzsches  Künstlerschaft  in  den  Hintergrund 
schiebe :  der  Zarathustra  sei  doch  zunächst  ein  großes  Kunstwerk.  Ich  bin 
anderer  Meinung.  Gewiß,  wenn  man  jede  Rede  und  religiöse  Predigt  in  das 
Gebiet  der  Kunst  rechnet  —  wogegen  ich  nichts  einzuwenden  habe  — ,  ist 
Nietzsche  ein  hervorragender  Künstler;  aber  die  eigenthch  dichterischen 
Fähigkeiten,  nämlich  Erfindung  und  rhythmische  Kompositionskraft,  besaß 
er  nur  in  sehr  geringem  Maße ;  seine  Begabung  wies  ihn  durchaus  in  das  reli- 
giöse und  in  das  kritisch-psychologische  Gebiet.  Sein  Zarathustra  erhält 
seinen  Wert  durch  die  Prophetengewalt  und  Prophetenstimmung,  die  das 
Werk  durchwehen,  nicht  durch  das  dichterische  Beiwerk. 

Nietzsche  hat  uns  die  religiöse  Prophetie  zurückerobert !  Er  hat  die  Philo- 
sophie und  die  Kunst  wieder  in  den  Dienst  des  religiösen  Schaffens  gestellt 
und  ims  eingeschärft,  daß  wir  das  Heil  nur  von  den  religiös-sittlichen  Lehrern 

13»  195 


und  gotterfüllten  Verkündern  erwarten  dürfen.  Wie  die  Männer  der  alten 
großen  Zeiten  sucht  Nietzsche  die  Wahrheit  wieder  in  den  Ergebnissen  glück- 
licher Rauschaugenbhcke,  nicht  im  Grübeln  und  Rechnen.  Er  lehrt  uns  wie- 
der, daß  der  religiöse  Mensch  der  festliche  Mensch  ist  und  daß  wir  nie  das 
trübe,  rehgionslose  Wesen  der  Gegenwart  überwinden  werden,  wenn  wir 
nicht  die  Himmelsleiter  des  religiösen  Rausches  wiederfinden  und  ersteigen. 

Nicht  weniger  lehrreich  als  Nietzsche  ist  eine  andere  Persönlichkeit,  mit 
der  Nietzsche  nahe  verbunden  war :  Richard  Wagner.  Wagner  gehört 
ebenfalls  in  die  Gruppe  der  Künstlerpropheten,  nur  daß  seine  Natur  ihm 
den  Weg  zur  reinen  reügiösen  Prophetie  versperrte  und  ihn  ganz  in  das  ge- 
fährUche  Meer  der  Rauschkunst  hineinwarf.  Er  wollte  die  fehlende  Religion 
durch  die  Kunst  herbeizwdngen,  kam  aber  durch  diese  falsche  und  unaus- 
führbare Idee  in  die  Lage,  Kunst  und  Rausch  heillos  durcheinander  zu 
mischen. 

Mit  allen  obengenannten  rauschbefördernden  Mitteln  war  Wagner  eng 
vertraut:  Erotik  jeder  Art,  Alkohol,  Ernährungsstörungen,  Schlaflosigkeit. 
Er  fügte  noch  die  Rauschwirkung  der  Kleidung,  der  Maske,  der  Farbe  hinzu; 
er  liebte  es,  sich  in  historische  oder  phantastische  Kostüme  zu  werfen  und 
sogar  Frauenkleider  zu  tragen,  hatte  auch  viele  Freude  an  Seide  undSammet. 
Er  war  Schauspieler  von  Geburt  an,  wollte  immer  irgend  etwas  in  Szene 
setzen,  vor  allem  sich  selber.  Wer  erkennt  darin  nicht  den  priesterlichen 
Hang  zur  Körperlichmachung  des  Ideals,  zur  suggestiven  Gottesmaske 
wieder ! 

Aber  Wagner  blieb  nicht  in  den  ÄußerHchkeiten  des  kunstpriesterlichen 
Daseins  stecken;  er  drang  auch  ins  Innere,  er  wollte  rehgiös-sittlicher  Refor- 
mator sein.  Seine  Kunst  sollte  eine  ,, Mission"  erfüllen,  nämlich  den  Zentral- 
punkt einer  neu  zu  erweckenden  deutschen  Kultur  abgeben.  Mit  vollem 
Bedacht  nahm  er  jene  Stellung  für  sich  in  Anspruch,  die  von  jeher  die  Prie- 
ster höchsten  Ranges  eingenommen  haben ;  er  wollte  dieselbe  Aufgabe  lösen, 
die  sein  Schüler  und  späterer  Gegner  Nietzsche  als  die  ihm  zugefallene  an- 
sah. Was  Nietzsche  zu  Wagner  hinzog,  war  im  Grunde  dies  Religiöse  in 
Wagners  Persönhchkeit  und  Wirken;  und  was  ihn  später  von  Wagner  hin- 
wegtrieb, war  die  Erkenntnis,  daß  Wagner  nicht  imstande  war,  die  erweckten 
Erwartungen  zu  befriedigen,  also  dem  deutschen  Volke  die  verlorene  Reli- 
gion durch  die  Kunst  zu  ersetzen  und  eine  neue  Kultstätte,  ein  neues  Heilig- 
tum zu  gründen,  um  das  sich  die  zersprengte  Kulturgemeinschaft  neu  hätte 
sammeln  können.  Nietzsche  faßte  den  Verdacht,  daß  Wagner  nicht  nur  auf 
einem  falschen  Wege  begriffen,  sondern  überhaupt  kein  echter  Prophet  sei. 
Er  sei  ein  Cagliostro  und  Küngsohr,  ein  verlogener  Zauberer;  Bayreuth  sei 

196 


kein  Heiligtum,  sondern  ein  lüsterner  Jahrmarkt !  Um  so  ernster  trat  daher 
an  Nietzsche  die  Frage  heran,  wie  denn  überhaupt  eine  Religion  entstehe? 
Was  ein  Prophet  seinem  Volke  zu  leisten  und  zu  geben  habe? 

Nietzsches  Antwort  lautete:  aus  der  Wahrheitsliebe  muß  die  Religion 
kommen.  Wahrheit  solle  der  Prophet  geben,  vernichtende  und  zerstörende 
Wahrheit,  aber  nicht  künstlerische  Gaukeleien.  Aus  der  Wüste  müsse  man 
den  verlorenen  Gott  holen,  nicht  hinter  den  bunten  Lügen  einer  romanti- 
schen Kunst  sei  er  zu  finden.  Aus  der  schonungslosen  Kritik  und  der  nihi- 
listischen Skepsis  müsse  und  werde  sich  ein  trotziger  Lebenswille  und  eine 
erobernde  Weisheit  emporringen.  Dieser  Lebenswille  schaffe  große  Gedanken 
und  große  Gedanken  schüfen  Religion.  Nietzsche  ging  selber  daran,  reli- 
gionsbildende  Gedanken  zu  schaffen  und  auszusprechen;  so  wollen  seine 
Lehren  vom  Übermenschen  und  von  der  ewigen  Wiederkunft  verstanden 
werden. 

Wir  müssen  Nietzsche  in  dem  einen  Punkt  unbedingt  recht  geben:  die 
Kunst  kann  weder  Religion  schaffen  noch  ersetzen.  Unsere  zeitgenössische 
Kunst  krankt  daran,  daß  sie  diesem  unmöghchen  Ziele  nachjagt.  Die  Künst- 
ler wollen  Propheten  sein,  und  zwar  mit  Hilfe  der  Kunst.  Es  ist  ja  klar,  daß 
sie  mit  ihrem  feinen  Gefühl  für  die  Sehnsucht  der  Zeit  die  religiöse  Leere 
besonders  hart  empfinden;  denn  was  kann  die  Kunst  ohne  religiöse  Recht- 
fertigung und  Begründung  leisten?  Aber  die  Religiosität  der  Künstler  bleibt 
nur  zu  oft  in  der  Gefühls-  und  Phantasiesphäre ;  sie  ruht  nicht  auf  sittHchem 
Untergrunde.  Außerdem  ist  der  Künstler  nur  ausnahmsweise  imstande, 
nackte  religiöse  Gedanken  und  Worte  zu  finden;  davon  aber  muß  die  Pro- 
phetie  unweigerlich  ihren  Anfang  nehmen.  Man  gehe  die  hervorragenden 
Künstler  der  Gegenwart  und  näheren  Vergangenheit  durch :  die  meisten  be- 
wegen sich  auf  der  GrenzHnie  zwischen  Prophetie  und  Kunst  und  ringen 
vergeblich  um  die  Meisterschaft  in  jener  oder  dieser. 

Und  das  Volk,  das  sich  unbefriedigt  von  der  christlichen  Religion  und 
Kirche  abgewandt  hat,  sucht  bei  diesen  Künstlern  Ersatz  für  das  Verlorene, 
läßt  sich  von  ihnen  aufregen,  berauschen,  hypnotisieren  und  hofft  darüber 
die  Leere,  die  ihm  unerträglich  wird,  zu  vergessen.  Namentlich  die  Musik  soll 
als  Lückenbüßer  für  die  fehlende  Religion  dienen.  Die  wohlhabenderen 
Schichten  unserer  Stadtbevölkerung  sind  gänzhch  in  der  Musik  ertrunken. 
Töne  und  immer  nur  Töne  saugen  sie  ein,  wenn  sie  die  Tagesarbeit  nieder- 
gelegt haben  und  sich  erhöhen  und  befreien  wollen.  Die  Musik  nimmt  im 
Leben  des  heutigen  Menschen  der  wohlhabenderen  Klassen  einen  unverhält- 
nismäßig großen  Raum  ein,  den  Raum,  den  die  Religion  einnehmen  sollte. 
Das  kommt  der  Musik  als  Kunst  durchaus  nicht  zugute,  vielmehr  ist  der 
künstlerische  Wert  der  musikalischen  Schöpfungen  im  Laufe  des  neunzehn- 

197 


ten  Jahrhunderts  beständig  gesunken ;  die  Musik  wird  immer  mehr  zu  einer 
Art  von  Alkohol,  der  heißhungrig  eingeschlürft  wird,  aber  natürlich  weder 
sättigt  noch  lebenskräftiger  macht.  Die  Musik  wagnerisiert  sich!  Ein  Seiten- 
strom der  Musik  aber  verhert  sich  in  den  Sumpf  der  Virtuosität.  Auch  die 
älteren  Musikwerke  werden  durch  die  Vortragsweise  der  verirrten  religiösen 
Sehnsucht  des  modernen  Menschen  dienstbar  gemacht. 

Die  religiös  darbende  moderne  Menschheit  mtßbraiichi  die  Kunst  und  ver- 
dirbt die  Künstler.  Man  sieht  das  z.  B.  auch  daran,  wie  die  Persönlichkeiten 
der  Künstler,  die  in  guten  Zeiten  der  Kunst  hinter  den  Werken  zurück- 
treten, heute  in  den  Vordergrund  gezerrt  werden.  Mit  brennendem  Interesse 
verfolgt  das  Publikum  das  Leben  und  Treiben  der  dichtenden,  komponieren- 
den, bildenden  Künstler,  noch  aufmerksamer  das  der  Sänger,  Kapellmeister, 
Virtuosen,  Schauspieler,  Jedes  kleine  Ereignis  in  der  Kunstwelt  %vird  unver- 
gleichlich wichtiger  genommen  als  ein  großes  Ereignis  in  der  geistig-reH- 
giösen  Welt.  Die  Zeitungen  berichten  mit  aller  Ausführlichkeit  über  un- 
bedeutende Konzerte  imd  Aufführungen,  sie  registrieren  jedes  Räuspern  der 
bekannteren  Musenpriester;  aber  was  die  wirkhchen  Priester  und  die  gei- 
stigen Führer  tmd  Erzieher  der  Nation  wirken  und  erleben,  wird  kaum  mit 
einer  Zeile  erwähnt.  Höchstens  die  modernen  Sektenführer,  z.  B,  der  General 
der  Heilsarmee,  fordern  die  laute  Anteilnahme  der  zeitunglesenden  und 
zeitungschreibenden  Kreise  heraus.  Erst  ganz  neuerdings  beginnt  eine  Wand- 
lung einzutreten. 

Das  alles  ist  ein  luinatürlicher  Zustand.  Er  beweist  nicht  etwa  die  Höhe 
unserer  Kultur,  ist  nicht  einmal  das  Zeichen  wahren  künstlerischen  Lebens. 
Die  Künstler  geraten  durch  die  Ansprüche,  die  heute  an  sie  gestellt  werden, 
in  eine  falsche  Stellung  zu  sich  selber  und  zur  Kunst.  Sie  wissen  dem  Drängen 
des  Volkes  nicht  anders  zu  begegnen  als  dadurch,  daß  sie  sich  zu  unwahren 
Maskenträgern  entwickeln  und  immer  stärkere  Rauschgaben  austeilen.  Ihre 
Kunst  sucht  immer  raffiniertere  Effekte ;  nur  so  kann  sie  die  abgestumpften 
Nerven  immer  neu  reizen  und  die  gottsüchtige  Welt  von  der  religiösen  Not 
ablenken.  Die  beamteten  religiösen  Führer  sehen  diesem  Treiben  ohnmächtig 
zu;  sie  haben  längst  auf  die  Leitung  der  geistig  und  künstlerisch  gebildeten 
Schichten  verzichtet,  weil  sie  einsehen  mußten,  daß  sie  deren  rehgiöse  Be- 
dürfnisse in  keinem  Sinne  befriedigen  können.  Einige  Berufspriester  betei- 
ligen sich  sogar  mit  ahnungslosem  Eifer  an  der  Versorgung  unseres  Volkes 
mit  Kunstalkohol,  um  das  Volk  den  gröberen  und  gefährhcheren  Rausch- 
mitteln (Wirtshausleben,  Varieteerotik,  Schundliteratur)  zu  entziehen.  Die 
Absicht  ist  gut ;  aber  man  denke  nur  nicht,  daß  man  dadurch  unser  Volk  ge- 
sund machen  und  es  zu  einer  neuen  Rehgiosität  führen  kann.  So  ungemein 
wertvoll  es  ist,  daß  die  guten  Erzeugnisse  der  Kunst  und  die  Hauptergeb- 

198 


nisse  der  Wissenschaft  zum  Gemeingut  aller  gemacht  werden,  so  wird  da- 
durch doch  nicht  die  Arbeit  der  religiösen  Erzieher  und  prophetischen 
Führer  entbehrUch  gemacht. 

Überdies:  sehen  wir  nicht,  daß  auch  die  Kunsträusche  und  wissenschaft- 
lichen Freuden  unter  Umständen  verheerend  auf  den  seelischen  Organismus 
einwirken  können?  Es  ist  ein  offenes  Geheimnis,  daß  die  künstlerisch  und 
wissenschafthch  schlecht  versorgten  ärmeren  Volksschichten  heutzutage 
mehr  männhche  Tapferkeit  und  sittliche  Kraft  besitzen  als  die  wohlhaben- 
deren Kreise,  die  mit  vollen  Zügen  die  Gaben  der  Kunst  und  Wissenschaft 
einschlürfen.  Warum  fehlt  es  heute  den  zur  Führung  berufenen  Kreisen  an 
den  Charaktereigenschaften,  die  die  rehgiösen  Führer  älterer  Zeiten  besaßen  ? 
Weil  diese  Kreise  sich  genießend,  empfangend,  nachfühlend  befriedigen  und 
die  rehgiöse  Aktivität  eingebüßt  haben.  Ihre  Räusche  sind  nicht  Erhöhungs- 
mittel im  wahren  Sinne,  sie  leiten  nicht  in  das  handelnde  Leben  hinüber 
und  wecken  nicht  die  heroische  Tat;  ihre  Räusche  sind  nur  ein  frustranes 
Sicherregen,  ein  zielloses  Verpuffen  von  Kraft.  Diese  Rauschkünstler  er- 
reichen nicht,  was  durch  den  religiös  produktiven  Rausch  erreicht  werden 
soU:  die  Befreiung  und  Vergöttlichung  des  ganzen  Menschen. 

Wie  aber  gelangen  wir  zu  diesem  höchsten  religiösen  Ziel?  Wie  machen 
wir  unsere  religiös  bedürftige  Zeit  wieder  aktiv  und  produktiv  ?  —  Der  Weg 
führt  über  die  Askese \  Der  Rausch  allein  erhebt  den  Menschen  nicht;  sein 
Gegensatz,  die  Entsagung,  muß  sich  hinzugesellen. 


2.  DIE  ENTSAGUNG  iii 


Das  religiöse  Leben  zeigte  von  jeher  zwei  verschiedene  Seiten:  die  Lebens- 
weise des  Priesters  bewegte  sich  in  Extremen.  Einerseits  war  der  Priester 
der  Mensch  des  Rausches,  der  ausschweifende  Enthusiast,  der  sich  schran- 
kenlos ausbreiten  woUte,  der  in  Gefühlen  und  Phantasien,  in  Gedanken  und 
Spielhandlungen  schwelgte  und  durch  sie  frei  und  götthch  zu  werden  suchte ; 
andererseits  war  er  der  Mensch  des  Entsagens,  der  büßende  Asket,  der  sich 
krampfhaft  zusammenzog  und  einschränkte,  der  seine  Triebe,  Wünsche  und 
Phantasien  zu  unterdrücken  oder  au^  ein  einziges  enges  Ziel  hin  zu  lenken 
suchte.  Wir  haben  uns  soeben  überzeugt,  daß  der  enthusiastische  Priester- 
typus noch  heutigen  Tages  vorhanden  ist ;  er  hat  sich  zwar  aus  der  Gemeinde- 
rehgion  geflüchtet  und  wird  von  den  öffentlichen  Priestern  als  unrehgiös 
und  gottesfeindhch  verfolgt;  aber  er  besteht  und  beginnt  sich  neue,  wenn 
auch  nicht  immer  heilsame  Wege  des  Wirkens  zu  erobern.  Der  ,, Geist"  kann 
nicht  sterben;   wenn  die  berufenen  ,, Geistlichen"  den  Geist  verleugnen, 

199 


sucht  er  sich  N\'ürdigere  Wohnungen ;  er  drängt  sich,  wenn  die  entartete  Ge- 
meinderehgion  ihn  niederhalten  will,  um  so  fesselloser  hervor:  zerstörend 
und  befreiend.  Daraus  lernen  wir,  daß  der  enthusiastische  Priester  nie  ver- 
schwinden wird,  daß  er  heute  sogar  einer  neuen  Siegesepoche  entgegengeht. 
Wie  steht  es  mit  dem  entgegengesetzten  Priestertypus  ?  Wird  auch  der  ent- 
sagende Priester  ewig  leben,  als  ein  notwendiges  Ferment  in  der  mens(h- 
lichen  Kulturentwicklung?  Wird  die  Rehgion  der  Zukunft  asketische  Ele- 
mente enthalten,  wie  sie  ohne  Zweifel  dem  menschhchen  Rauschwillen 
weiten  Raum  gewähren  wird? 

Wir  rufen  uns  ins  Gedächtnis  zurück,  welche  Gründe  die  Entsagungsübun- 
gen und  Entsagungsforderungen  des  Priesters  hatten.  Was  war  es,  was  die 
Völker  aller  Weltteile  und  Kulturstufen  veranlaßt  hat,  auf  viele  Besitz- 
tümer, \dele  Freuden  und  Betätigungen  des  Lebens  zu  verzichten  und  in 
diesem  Verzicht  ein  religiöses  Verdienst  imd  erstrebenswertes  Ziel  zu  er- 
bhcken?  Warum  hat  die  Menschheit  die  düsteren  Bußprediger  und  Unglücks- 
propheten nicht  verachtet,  die  hohlwangigen  Wüstenheiligen  nicht  ausge- 
lacht? Warum  haben  jene  römischen  Richter,  die  (nach  Tacitus)  die  welt- 
und  lebensfeindlichen  Christen  ,,des  Hasses  gegen  das  Menschengeschlecht 
überführten",  so  wenig  Zustimmung  bei  der  Nachwelt  gefunden?  Kurz, 
warum  fanden  die  Helden  der  Entsagung  allgemeine  Verehrung,  Anbetung, 
Nachfolge  in  der  Welt  ? 

In  unseren  früheren  Betrachtungen  haben  wir  hauptsächlich  drei  Gründe 
für  diese  scheinbar  widersinnige  Wertung  ausfindig  gemacht.  Das  Ent- 
sagungswesen stützt  sich  erstens  auf  metaphysische  Gründe,  zweitens  auf 
ethische,  drittens  auf  psychologische.  Unter  den  metaphysischen  Gründen 
sind  die  abergläubischen  Vorstellungen  über  den  Wert  des  Zauberkultus  zu 
verstehen.  Die  Menschheit  glaubte  und  glaubt  zum  überwiegenden  Teil  noch 
heute,  daß  sie  durch  Opfer,  d.  h.  durch  Verzicht  auf  irgendwelche  begehrten 
Dinge  und  durch  Hingabe  von  Besitztümern  Zauberkraft  und  zauberhaften 
Einfluß  auf  Götter  und  Dämonen  gewinne.  Die  Opfer  sichern  dem  Menschen 
die  Bundesgenossenschaft  dieser  Mächte  und  bewirken,  daß  sie  ihm  wohl- 
gesinnt und  gnädig  sind.  Wer  nichts  opfert,  ist  kein  Freund  der  Götter  und 
keine  zauberkräftige  Persönlichkeit. 

Diese  ganze  Vorstellungsweise  ist  überlebt  und  wird  in  der  Religion  der 
Zukunft  keine  Stelle  mehr  haben.  Wenn  der  entsagende  Priester  noch  ferner- 
hin Daseinsberechtigung  haben  will,  kann  er  sich  daher  nur  auf  den  zweiten 
und  dritten  Grund  für  das  asketische  Streben  berufen.  Die  Entwicklung  der 
Rehgionen  zeigt  denn  auch  einen  allmähhchen  Übergang  von  der  meta- 
physisch-dämonologischen  zu  der  ethischen  Auffassung  der  Entsagung.  Die 
Forderung,  um  der  Götter  willen  zu  opfern,  wandelte  sich  in  eine  sittliche 

200 


Forderung  um.  Es  stellte  sich  mehr  und  mehr  heraus,  daß  Hingabe  und  Ver- 
zicht an  und  für  sich  wertvoll  sind.  Denn  durch  Hingabe  und  Verzicht  lernt 
der  Mensch,  seine  Triebe  zu  zügeln  und  der  vorsorgenden  Vernunft  zu  ge- 
horchen. Durch  Fortgeben  von  Gütern  wird  man  nicht  notwendig  ärmer, 
durch  Verzicht  auf  Genüsse  und  Betätigungen  nicht  notwendig  schwächer ; 
das  Opfer  kann  uns  reicher,  die  Entsagung  stärker  machen.  Denn  wir  ge- 
langen dadurch  zur  Herrschaft  über  uns  selber;  wir  lernen  unsere  Kräfte 
richtig  gebrauchen,  unsere  inneren  und  äußeren  Güter  ordnen  und  auf- 
sparen.  Die  Selbstbeherrschung  aber  führt  zur  Weltbeherrschung. 

Die  priesterhchen  Entsagungsgebote  hatten  daher  einen  von  dem  reh- 
giösen  Glauben  unabhängigen  Wert ;  sie  waren  Mittel  zur  Vergrößerung  des 
menschlichen  Machtbereiches,  waren  Anweisungen  zur  Vervollkommnung, 
zur  Befreiung  und  Vergöttlichung,  ähnlich  wie  die  priesterlichen  Rausch- 
rezepte. Und  weil  der  Priester  eine  größere  Entsagimgsfähigkeit  hatte  als  die 
übrigen,  erkannte  ihn  die  Gemeinde  willig  als  Führer  und  Gebieter  an.  Sie 
konnte  sich  des  Gefühls  nicht  erwehren,  daß  er,  der  alles  hinzugeben  ver- 
mochte, der  den  Begierden,  die  die  anderen  in  ihrem  Bann  hielten,  ein 
stolzes  Nein  entgegensetzte,  höher  stand  als  sie  alle  und  zum  Führer  berufen 
war.  Was  ein  solcher  Meister  der  Selbstüberwindung  und  Selbstentäußerung 
sagte,  mußte  tiefe,  unfehlbare  Weisheit,  mußte  Gottes  Wort  sein.  Jeder  be- 
strebte sich,  ihm  so  ähnlich  wie  möglich  zu  werden :  sein  Leben  wurde  zum 
Vorbild,  seine  Lehren  zu  göttlichen  Gesetzen. 

So  kam  es,  daß  die  Askese  das  Mittelstück  der  priesterhchen  Lebensphilo- 
sophie wurde.  Der  Priester  war  von  dem  Wunsche  beseelt,  die  Entsagung 
weiter  und  weiter  zu  treiben,  damit  der  Abstand  gegen  die  weniger  ent- 
sagungsfähigen Laien  möglichst  groß  blieb.  Wir  haben  früher  dargelegt,  wie 
bedeatungsvoU  die  priesterliche  Vergeltungslehre  für  die  Entwicklung  des 
ethischen  und  gesellschaftlichen  Empfindens  gewesen  ist.  Diese  Vergeltungs- 
lehre, d.  h.  also  die  Lehre  von  der  im  Diesseits  und  Jenseits  belohnenden  und 
bestrafenden  Gottheit,  verknüpfte  der  Priester  mit  den  asketischen  Forde- 
rungen und  schuf  dadurch  ohne  allen  Zweifel  ein  wundervolles  unvergleich- 
hch  wirksames  Erziehungs-  und  Zuchtmittel  für  das  aufstrebende  Menschen- 
geschlecht. Der  Priester  richtete  eine  Rangordnung  der  Menschen  ein,  je 
nachdem  sie  willens  und  imstande  seien,  zu  opfern  und  zu  verzichten;  der 
höchste  Rang  der  Würdigkeit  und  Heihgkeit  wurde  demjenigen  zuerteilt, 
dessen  ganzes  Leben  und  Sein  Entsagung  war,  und  der  Unheiligste  und  Gott 
Mißfälligste  war  der,  der  reich  und  mächtig  war  und  auf  nichts  Verzicht 
leisten  wollte.  Damit  war  der  magisch-metaphysische  Sinn  des  Opfer-  imd 
Entsagungswesens  ganz  in  der  ethischen  Begründung  aufgegangen.  Wir 
haben  feststellen  können,  daß  der  Glaube,  die  Gottheit  durch  Geschenke 

201 


bestechen  und  durch  Askese  mitleidig  stimmen  zu  können,  allmählich  einer 
tieferen  und  reineren  Vorstellung  weichen  mußte;  vor  allem  treten  die  Ge- 
schenke, die  Rinder  und  Früchte,  gegenüber  den  geistigen  Opfern  zurück: 
die  Kultpflichten  verwandeln  sich  in  die  Gebote  der  Weltflucht  und  der 
Nächstenliebe. 

Damit  erhielt  auch  der  dritte  Grund  für  den  priesterlichen  Willen  zur 
Askese  erhöhte  Bedeutung.  Von  jeher  hatte  sich  neben  dem  kultischen  und 
ethischen  Wert  der  Entsagung  der  einfache  psychologische  Wert  geltend 
gemacht.  Von  diesem  psychologischen  Wert  der  Askese  haben  wir  nun  etwas 
ausführlicher  zu  sprechen,  da  er  für  die  Religion  der  Zukunft  seine  volle 
Kraft  behalten  wird:  wie  aus  ethischen,  so  aus  psychologischen  Gründen 
mrd  die  Entsagung  auch  in  Zukunft  geehrt  und  geübt  werden. 

Wenn  ein  Mensch  freiwillig  auf  Formen  der  Lust  und  der  Betätigung  ver- 
zichtet, tut  er  es  auf  Geheiß  seiner  Konstitution.  Er  will  Kräfte  aufspeichern, 
will  Spannungen  erzeugen.  Gewaltige  Entladungen  gibt  es  nur  dort,  wo  ge- 
waltige Spannungen  vorhanden  sind;  mit  anderen  Worten:  große  Taten, 
tiefe  Entzückungen,  göttlicher  Enthusiasmus  können  nur  dann  zustande 
kommen,  wenn  Triebe  unbefriedigt  gelassen  worden  sind,  wenn  Kräfte  auf- 
gestaut, impulsive  Äußerungen  zurückgehalten  und  eingedämmt  worden 
sind.  Sobald  man  einer  Regung  nicht  willfährt,  einem  inneren  Antrieb  nicht 
gehorcht,  entsteht  eine  seelische  Spannung.  Das  Aufschieben  oder  gänzliche 
Vermeiden  von  Reaktionen  kommt  einer  Kapitalansammlung  gleich. 

Es  fragt  sich  nun,  warum  der  Mensch  im  einzelnen  Falle  nicht  reagiert, 
sondern  ruht  und  entsagt.  Es  geschieht  wohl  immer  deshalb,  weil  er  sich 
einer  zu  großen,  daher  zerstörenden  Anzahl  von  Reizen  gegenübersieht. 
Er  kann  sich  dann  nur  behaupten,  wenn  er  eine  Auswahl  unter  den 
Reizen  trifft,  sich  also  gewissen  Reizen,  z.  B.  der  gesamten  erotischen 
Welt  verschließt,  um  wie  der  Priester  es  nennt,  sich  ausschließlich  Gott 
zu  weihen.  Jeder  Mensch  trifft  fortwährend,  ohne  es  zu  wissen,  eine 
Auswahl  unter  den  auf  ihn  einstürmenden  Reizen;  jeder  opfert  und  entsagt 
unaufhörlich.  Die  Kunst,  die  der  Mensch  verstehen  muß  und  die  ihm  der 
Priester  und  überhaupt  jeder  Erzieher  (dem  Kinde  also  die  Mutter)  beizu- 
bringen sich  bemüht,  ist  die,  die  richtige  Auswahl  zu  treffen,  an  der  rechten 
Stelle  zu  verzichten,  um  den  wertvollen  Reizen  gewachsen  zu  sein  und  sich 
eine  möglichst  große  Reaktionsfähigkeit  zu  bewahren.  An  Stelle  von  Reak- 
tionsfähigkeit können  wir  auch  sagen :  Schöpferkraft  und  religiöse  Aktivität. 

Die  Entscheidung  über  die  Auswahl  der  Reize  ist  aber  sehr  schwierig  und 
hängt  zum  Teil  von  dem  Kräftemaß  des  Einzelnen  und  des  ganzen  Kultur- 
kreises ab.  Ein  ermüdetes  Volk  wählt  andere  Reize  aus  und  beschränkt  sich 
auf  geringere  Reizmengen  als  ein  jugendhch  kräftiges  Volk.  Wenn  jemand  den 

202 


Alkohol  meidet,  kann  es  entweder  deshalb  geschehen,  weil  er  sich  für  wert- 
vollere Erregungen  und  Entladungen  bewahren  will,  oder  deshalb,  weil  er 
sich  bereits  so  sehr  ausgegeben  hat,  daß  der  Alkohol  ihn  nicht  mehr  anregt, 
sondern  vollends  zerstört.  Der  Geschwächte  will  Ruhe;  aber  auch  der  Kämp- 
fer vor  der  Schlacht  will  Ruhe.  So  leben  die  Athleten  vor  ihrem  Auftreten 
enthaltsam,  ähnhch  wie  viele  Völker  vor  ihren  religiösen  Festen.  So  sparen 
gute  Frauen  ihre  Liebesfähigkeit  für  einen  einzigen  Mann  auf.  In  diesem 
Sinne  geübt,  hat  die  Askese  großen  kulturschaff  enden  Wert.  Was  wäre  aus 
dem  Menschengeschlecht  geworden,  wenn  der  Priester  nicht  immerfort  ge- 
predigt hätte:  haltet  an  euch,  verliert  euch  nicht  an  kleine  Lüste,  an  das 
zerstreuende  Weltleben,  sondern  spart  euch  auf  für  große  Erregungen  und 
lenkt  den  ganzen  Strom  eurer  Kraft  in  das  Bett  der  ReHgion! 

Wir  sehen  auch  an  vielen  geistig  hervorragenden  Menschen,  daß  sie  sich 
gegen  alle  ablenkenden  Reize  verschließen,  um  sich  ganz  auf  das  Eine,  Große 
zu  konzentrieren,  dem  sie  sich  gewidmet  haben.  Sie  erscheinen  im  täghchen 
Leben  oft  schwächer,  unelastischer  und  stumpfer  als  jene  geistreichen  Ge- 
sellschafter, die  jedem  Reiz  gewachsen,  jeder  Einwirkung  zugänglich,  aber 
zu  angespannter  Arbeit  unfähig  sind. 

Die  zweite  Form  der  Entsagung:  die  aus  Ermüdung,  ist  ebenfalls  in  der 
menschhchen  Konstitution  begründet.  Wenn  der  Geschwächte  und  Er- 
schöpfte Askese  übt,  folgt  er  dem  Instinkt  der  Selbsterhaltung  und  dem 
Willen  zur  Wiederherstellung.  Er  tut  recht,  wenn  er  in  die  Wüste  geht  und 
seine  Lebensäußerungen  nach  Möglichkeit  einschränkt.  Er  schraubt  sein 
Lämpchen  herab,  er  lebt  geistlich,  er  träumt  und  meditiert.  Aber  offenbar 
kann  die  Entsagung  in  diesem  Falle  nicht  als  ein  Verdienst  gelten;  sie  ist 
eine  Not-  und  Schutzmaßregel.  Wir  schätzen  auch  diesen  Asketentypus 
nicht  gering,  aber  wir  finden  ihn  nicht  besonders  verehrungswürdig.  Diese 
heiligen  und  unheiligen  Weltverleugner  und  Mäßigkeitsprediger  dürfen  nicht 
verlangen,  daß  wir  ihnen  ihre  Einschränkung  und  Entsagung  als  Heroismus 
anrechnen,  auch  nicht,  daß  wir  ihnen  nachfolgen,  falls  wir  nicht  dieselbe 
Diät  nötig  haben  wie  sie.  Sie  dürfen  sich  doch  auch  nicht  darüber  täuschen, 
daß  die  Askese  für  sie  eine  Lustquelle  höchster  Art  ist.  Die  Einschläferung 
der  Leidenschaften  und  Vermeidung  starker  Reaktionen  kann  sehr  starke 
Lustgefühle  mit  sich  führen ;  die  Reizlosigkeit  des  Lebens  bewirkt  eine  wun- 
dersame Befreiung  und  Vergöttlichung,  ganz  ähnlich  wie  das  Übermaß  star- 
ker Reize,  das  den  Dionysiker  zum  festlichen  Rausch  und  zur  enthusia- 
stischen Vereinigung  mit  Gott  führt. 

Alle  Büßenden  und  Entsagenden  haben  von  ihrem  Drang  nach  Freiheit 
und  Reinheit  gesprochen.  Wovon  wollten  sich  diese  Menschen  freimachen, 
wovon  sich  reinigen?  Sie  sagten :  vom  Leibe  und  von  der  Welt,  vom  Schmutz 

203 


der  Sünde  und  vom  Schlamme  der  Begierden  wollten  sie  sich  reinigen,  von 
allem  Drückenden,  Niederziehenden,  Hemmenden,  von  der  Last  der  irdi- 
schen Pflichten,  von  der  Prosa  des  Sorgens  und  Schaffens  sich  befreien.  Alle 
Entsagungshelden  haben  mehr  oder  weniger  deutlich  die  ,,Welt",  die  ,, Be- 
gierden", das  ,, Sorgen",  das  Leben  und  Wirken  für  den  Tag  bekämpft  und 
als  Hemmnis  der  wahren  Gottseligkeit  angeklagt.  Was  bedeutet  diese  selt- 
same Stellungnahme  gegen  die  Wurzeln  des  menschlichen  Daseins,  dieser  selt- 
same Haß  gegen  die  wackere,  emsige  Erfüllung  der  nächsten  und  beschei- 
densten Lebensforderungen  ?  Ich  kann  darin  nur  den  Instinkt  kranker  und 
erschöpfter  Vitalitäten  sehen,  die  sich  durch  Ruhe  und  Reizlosigkeit  regene- 
rieren wollen.  Wenn  der  Priester  sich  von  den  Freuden  und  Sorgen  des  Lebens 
rein  und  frei  erhalten  will,  gesteht  er  damit  doch  zu,  daß  er  als  Handelnder 
und  Genießender  sich  nicht  rein  und  frei  zu  erhalten  vermag.  Und  wenn  er 
auch  den  übrigen  Menschen  die  Welt  und  ihre  Lust  verleiden  möchte,  wenn 
er  sein  göttliches  Erzieheramt  in  dem  Sinne  ausübt,  daß  er  die  Gemeinde 
hinweglockt  aus  dem  Leben  des  Pflanzens  und  Bauens,  des  Tanzens  und 
Spielens,  so  heißt  das  doch,  daß  er  nicht  stark  genug  ist,  die  Menschen  diu-ch 
das  Leben  der  Tat  und  der  Lust  zur  Freiheit  zu  erheben.  Wer  nichts  anfaßt, 
wird  ja  wohl  rein  bleiben;  wer  dem  Häßlichen  und  Zwieträchtigen,  dem 
Schrecklichen  und  Schmutzigen  aus  dem  Wege  geht,  wird  sich  unbeschwert 
und  unbefleckt  fühlen.  Aber  diese  Reinheit  hat  offenbar  einen  beschränkten 
Wert ;  diese  Freiheit  ist  nicht  Tapferkeit  imd  Sieg.  Wer  in  diesem  Sinne  Ent- 
sagung übt  und  predigt,  mag  eine  zarte  und  liebliche  Himmelspflanze  sein, 
an  der  die  Kräftigeren  und  Derberen  sich  erfreuen  können  und  sollen;  er 
wird  auch  in  gewissem  Betracht  vorbildlich,  d.  h.  befreiend  und  erhöhend 
auf  die  übrigen  Menschen  wirken,  zmnal  in  solchen  Zeiten,  wo  der  Kampf  des 
Lebens  gar  zu  hart  und  sieglos,  das  Heer  der  Leidenschaften  gar  zu  wild  und 
fessellos  ist.  Ebenso  wie  die  gottestrunkenen  Rauschhelden  müssen  wir  auch 
diese  Entsagungshelden  in  Ehren  halten,  aber  wir  müssen  auch  ebenso  vor- 
sichtig und  zurückhaltend  ihnen  gegenüber  sein.  Die  Menschheit  verdankt 
diesen  beiden  priesterlichen  Extremen  gleich  viel,  im  Guten  wie  im  Bösen. 
Die  einen,  die  sich  des  Lebens  im  Rauschüberschwang  zu  bemächtigen 
suchten,  die  anderen,  die  sich  des  Lebens  in  sanfter  Ekstase  zu  entäußern 
suchten  —  ihnen  verdanken  wir,  daß  die  menschliche  Religion  nicht  eine 
trockene  und  nichtige  Sache  geworden  ist,  sondern  ein  unerschöpflicher 
Quell  schöpferischen  Lebens. 

Die  Askese  ist  dem  modernen  Menschen  anscheinend  viel  unverständlicher 
und  unerwünschter  als  der  Rausch.  Man  muß  sorgfältig  horchen,  ehe  man 
unter  der  Oberfläche  des  heutigen  Arbeits-  und  Genußlebens  die  Ströme  des 

204 


uralten  religiösen  Entsagungswillens  rauschen  hört.  Hat  man  aber  erst  auf 
die  asketischen  Erscheinungen  unserer  Zeit  achten  gelernt,  so  erkennt  man, 
daß  eine  ganz  gewaltige,  offenbar  noch  im  Anschwellen  begriffene  Ent- 
sagungsbewegung vorhanden  ist,  der  wir  nunmehr  unsere  Aufmerksamkeit 
zuzuwenden  haben. 

Zunächst  wollen  wir,  um  in  dem  Gedankengang  des  letzten  Blattes  zu 
bleiben,  die  Versuche  des  Pädagogen  F.  W.  Förster  erwähnen,  die  Ent- 
sagungspraxis des  älteren  Christentums  gegen  die  landläufigen  Vorwürfe  zu 
verteidigen  und  den  Wert  der  religiösen  Vergeltungsmoral  von  neuem  ins 
Licht  zu  stellen.  Förster  geht  von  richtigen  pädagogischen  Erwägungen 
aus  und  hat  die  Unhaltbarkeit  des  heutigen  Freiheitsbegriffes  klar  durch- 
schaut. Er  blickt  tiefer  als  viele  moderne  Pädagogen  und  Gelehrte.  Um  so 
beklagenswerter  ist  es,  daß  Förster  gegenüber  den  alten  religiösen  Er- 
ziehungsmächten die  kritische  Fähigkeit,  die  er  sonst  beweist,  gar  nicht  zur 
Anwendung  bringt ;  vielmehr  übersieht  er  geflissenthch  die  krankhaften  und 
gefährlichen   Züge   des   christlichen   Entsagungswesens   und   tritt   immer 
offener  als  Herold  der  kathoHschen  Lebensgrundsätze  auf.  Er  hat  in  seinem 
Buche  ,, Sexualethik  und  Sexualpädagogik"  den  ethischen  Wert  der  Askese 
gut  auseinandergesetzt,  hat  die  Heihgen  des  Mittelalters  als  Freiheitshelden 
gefeiert  und  sie  unserer  Zeit  als  Vorbilder  vor  Augen  gehalten.  Er  hat  aber 
nicht  klar  hervorgehoben,  daß  diese  Vorbilder  eine  krankhafte  Ausartung 
des  religiösen  Freiheitsdranges  darstellen  und  daß  es  nicht  unbedingt  be- 
wunderungswürdig ist,  sich  in  der  Weise  dieser  Entsagungshelden  rein  und 
frei  zu  erhalten.  Diese  Heiligen  sagten  mit  dem  Freiheitsprediger  Jesus: 
,,was  hülfe  es  dem  Menschen,  so  er  die  ganze  Welt  gewönne  und  nähme 
doch  Schaden  an  seiner  Seele!"  und  gaben  diesem  Spruch  die  richtige  Dea- 
tung:  Jesus  predigt  hier  wie  überall  das  Verlassen  der  Pflichten  und  die 
Flucht  zu  Gott.  Sie  retteten  sich  also;  sie  brachten  sich  in  Sicherheit;  das- 
selbe tut  Förster  heute  und  möchte  uns  alle  dazu  überreden.  Leider  fehlt 
es  ihm  nur  an  der  Konsequenz,  die  Jesus  und  das  ältere  Christentum  hatten. 
Förster  und  seine  katholischen  und  evangehschen  Freunde  möchten  ihre 
Seele  ins  Reich  Gottes  retten  und  zugleich  doch  auch  die  Welt  gewinnen. 
Die  alten  konsequenten  Christen  wußten  sehr  wohl,  daß  das  unmöglich  sei; 
sie  verzichteten  auf  das  Gewinnen  der  Welt  —  also  auf  die  höchste,  stolzeste 
Aufgabe  des  Menschengeschlechts,  —  damit  ihnen  das  „wahre"  Leben  nicht 
verloren  gehe  und  die  „wahre"  Aufgabe  des  Menschen  nicht  ungelöst  bleibe. 
Sie  fühlten  ganz  richtig,  daß  für  den  echten  Christen  die  Lebenspflichten 
nur  beschwerende  Fesseln,  die  Lebensfreuden  nur  Unrat  und  heidnischer 
Frevel  seien.  Dem  Leben  zu  dienen,  um  in  und  durch  diesen  Dienst  die  Frei- 
heit und  Reinheit  zu  erobern,  nach  der  der  Mensch  verlangt,  schien  ihnen 

205 


sinnlos ;  der  Weg  der  Pflicht  schien  diesen  Schwachen  und  Resignierten  dem 
Wege  zu  Gott  entgegengesetzt,  während  für  den  selbstvertrauenden  und 
welterobernden  Heiden  der  Weg  der  Pflicht  der  geradeste,  ja  der  einzige  Weg 
zu  Gott  ist.  Diese  Schwachen  erkannten,  daß  sie  der  Welt  den  Rücken 
kehren  ^nußten,  sich  der  tatlosen  Betrachtung  und  dem  beständigen  Gebet 
orgeben  mußten,  kurz,  daß  sie  fliehen  mußten,  wie  es  Jesus  seinen  Freunden 
und  Anhängern  so  eindringlich  und  hinreißend  angeraten  hat.  Jesus  predigt 
mit  klaren  Worten,  die  keine  wohlmeinende  Verdrehungskunst  aus  der  Welt 
schaffen  kann,  die  Loslösung  von  allen  irdischen  Banden,  die  Preisgabe  aller 
irdischen  Aufgaben,  das  Wegwerfen  aller  Sorgen,  die  Flucht  in  das  ,, König- 
tum Gottes",  in  welchem  die  Ersten  die  Letzten  sein  werden  und  alles  eine 
sorgenlose  und  tatenlose  Seligkeit  atmen  wird.  Die  alten  Asketen  haben 
Jesus  und  Paulus  richtig  verstanden,  wie  auch  die  älteren  Buddhistenmönchc 
ihren  Meister  Buddha  richtig  verstanden  haben. 

Möchten  doch  diejenigen,  die  sich  heute  noch  (oder  wieder)  Jünger  Christi 
nennen,  an  den  W^orten  ihres  göttlichen  Meisters  nicht  markten  und 
mäkeln,  sondern  sie  so  erfüllen,  wie  es  die  gepriesenen  Heiligen  der  früh- 
christlichen Zeit  getan  haben!  Dann  erst  kann  ihr  Christentum  ernstge- 
nommen und  ihr  Anspruch,  des  Nazareners  treue  Knechte  und  Sachwalter 
zu  heißen,  als  berechtigt  anerkannt  werden.  Förster  ist,  was  seine  Theo- 
logie und  Christlichkeit  anlangt,  ein  phantastischer  Romantiker,  der  sich 
ängstlich  die  Augen  verschließt,  nachdem  er  die  Schwierigkeit  der  von  unse- 
rem Zeitalter  zu  lösenden  Aufgabe  eingesehen  hat.  Er  möchte  Christ  sein 
und  bekennt  sich  doch  zugleich  zu  der  unchristHchen  Kultur  des  neueren 
Europa.  Dieser  Selbst  Widerspruch  macht  der  Kraft  seines  religiösen  Emp- 
findens wenig  Ehre.  Die  modernen  Prediger  des  ,, Alles  oder  Nichts"  wie 
Tolstoi,  wie  die  lebenskräftigen  Sekten,  z.  B.  die  Heilsarmee,  beschämen 
Förster  und  andere  Freunde  des  ,,Versöhnens"  und  ,, Vermitteins"  tief 
durch  Klarheit  und  Sicherheit  ihrer  Religiosität. 

Alles  kommt  darauf  an,  welcher  Typus  Mensch  für  den  höchsten  und  voll- 
kommensten gehalten  wird,  was  also  der  einzelne  Mensch  tun  muß,  um  voll- 
kommener und  göttlicher  zu  werden.  Das  Christentum  (und  ebenso  der 
Buddhismus)  erklären,  daß  am  höchsten  derjenige  steht,  der  es  in  der  Ent- 
sagung und  Entäußerung  am  weitesten  gebracht  hat.  Daher  wächst  jeder- 
mann an  Vollkommenheit,  wenn  er  seine  Entsagungsfähigkeit  steigert  und 
den  Verzicht  auf  die  Lebensgüter  (Betätigungen  und  Freuden)  weiter  und 
weiter  treibt.  Wer  für  die  Kultur  arbeitet,  wie  etwa  Goethe  oder  Bismarck, 
ist  ein  irrender  Tor  im  Vergleich  zu  dem  bedürfnislosen,  trieblosen,  willen- 
und  gedankenlosen  Anachoreten.  Wer  es  ernst  mit  seinem  Heile  nimmt, 
gibt,  so  lehrt  Jesus,  seine  Habe  den  Armen  und  folgt  dem  Prediger  der  sorg- 

206 


losen  Gotteskindschaft  nach.  Alles  was  er  sonst  treibt,  und  seien  es  die  edel- 
sten und  größten  Dinge,  führt  ihn  vom  rechten  Wege  ab  und  läßt  ihn  das 
Eine  versäumen,  das  not  tut.  Von  dieser  Lehre  Christi  hat  sich  Europa 
Schritt  für  Schritt  entfernt ;  die  Kirche  hat  ihr  Freiheitsideal  allgemach  um- 
modeln müssen,  bis  es  sich  in  sein  Gegenteil  verkehrt  hat :  die  heutigen  Chri- 
sten predigen  und  leben  im  Namen  Jesu  ein  heidnisches  Tatideal,  das  den 
Lehren  des  Neuen  Testaments  in  allen  entscheidenden  Punkten  widerspricht. 

Es  verlohnt  sich,  auf  einige  Etappen  des  Weges,  den  die  christliche  Kirche 
im  Kampfe  mit  dem  Entsagungsideal  ihrer  Stifter  zurückgelegt  hat,  hinzu- 
weisen. Schon  früh  erhob  sich  der  Unwille  der  schlechteren  Christen  gegen 
die  heilige  Tagedieberei  der  Frommsten.  Die  Mönche  wurden  mehr  und  mehr 
zur  Arbeit  angehalten  (also  dem  beständigen  Warten  auf  den  Herrn  und 
dem  asketisch-ekstatischen  Gottesdienst  entzogen) ;  sie  mußten  pflanzen  und 
schaffen,  lernen  und  lehren:  die  Klöster  begannen  sich  selber  zu  erhalten. 
Als  dann  Luther  auftrat  und  die  christliche  x\skese  zum  größten  Teil  be- 
seitigte, mußte  auch  die  alte  Kirche  neue  Zugeständnisse  machen.  Es  fand 
sich  ein  Mann,  der  eine  geniale  Verbindung  zwischen  christlicher  und  heid- 
nischer Lebensauffassung  schuf:  Ignatius  von  Loyola,  der  Begründer  des 
Jesuitenordens.  Die  Gesellschaft  Jesu  ist  wie  der  Protestantismus  ein  Misch- 
gebilde aus  Christentum  und  Heidentum.  Das  Mönchswesen  wurde  von 
Ignatius  gründlich  umgestaltet,  die  untätige  Entsagung  samt  den  Versen- 
kungs-  und  Vergöttlichungsübungen  eingeschränkt.  Der  Jesuit  sollte  in 
erster  Linie  ein  Soldat,  ein  Eroberer  der  Welt  sein.  Es  wurde  also  ein  heid- 
nischer Grundtrieb,  nämlich  der  Kampftrieb,  gegen  den  Jesus  und  die  alten 
christlichen  Lehrer  unermüdlich  geeifert  hatten,  als  berechtigt  anerkannt  und 
gepflegt.  Der  höchste  Mensch  war  nun  nicht  mehr  der  sanfte,  friedliche,  alles 
duldende  Entsagungsheld,  sondern  der  gewandte  und  unermüdliche  Gottes- 
streiter. Den  zweiten  heidnischen  Grundtrieb  verdammte  Ignatius  jedoch 
um  so  mehr,  nämlich  den  Geschlechtstrieb  mit  allem,  was  aus  ihm  folgt: 
der  Liebe  zur  Familie,  zu  Eltern  und  Verwandten,  zur  Heimat  und  zum 
Volke.  Der  wahre  Christ  hat  keine  anderen  Gehebten  als  Jesus  und  Maria, 
keine  andere  Familie  als  den  Orden  imd  die  Kirche,  keine  andere  Heimat  als 
das  jenseitige  Reich  Gottes. 

Und  noch  eine  dritte  Entsagungsforderung  behielt  Ignatius  bei  und 
schärfte  sie  seinen  Söhnen  mit  Klarheit  und  Härte  ein :  den  Verzicht  auf  das 
eigene  Denken  und  Wollen.  Fromm  und  heilig  ist  nach  christhcher  Anschau- 
ung nur  derjenige,  der  seine  Vernunft  ohne  jeden  Vorbehalt  unter  die  Weis- 
heit der  Bibel  und  der  kirchlichen  Oberen  beugt.  Absoluter  Gehorsam  und 
methodische  Zerstörung  der  eigenen  Entschlußfähigkeit  sind  die  Vorbedin- 
gungen, um  zu  Gott,  d.  h.  zur  Freiheit  und  Reinheit  zu  gelangen.  Wir  haben 

207 


hier  ein  schönes  Beispiel  für  das  enge  Verhältnis  zwischen  Askese  und  Frei- 
heitsdrang; nur  wer  sich  selbst  preisgibt,  wer  jede  Menschenwürde  verliert 
und  sich  zum  Sklaven  und  Automaten  erniedrigt,  wird,  so  lehrt  dies  Christen- 
tum, frei  und  göttlich.  Das  ist  ein  prachtvolles  Paradoxon.  Wie  tief  läßt  uns 
der  Jesuitismus  in  die  Geheimnisse  und  Abgründe  des  menschlichen  Ver- 
göttlichungsstrebens  blicken!  Wieviel  einheitlicher  und  psychologisch 
wahrer  ist  trotz  seiner  Konzessionen  an  das  Heidentum  der  jesuitische  Katho- 
lizismus als  der  Protestantismus  mit  seiner  form-  und  farblosen  Lehre  von 
dem  Glauben  an  das  Buch  der  Bücher!  Im  Protestantismus  ist  alles  das 
groß  und  echt,  was  er  gegen  die  christlichen  Grundsätze  geschaffen  und  er- 
kämpft hat,  während  im  Katholizismus  alles  das  groß  ist,  was  er  von  dem 
alten  christhchen  Erbe  gerettet  hat  und  in  Ehren  hält. 

In  späteren  Abschnitten  haben  wir  über  diese  Frage  weiterzuverhandeln. 
Jetzt  wollen  wir  fortfahren,  das  Leben  der  Gegenwart  und  ihr  Verhältnis 
zu  dem  priesterlichen  Entsagungswillen  zu  prüfen.  Wir  sagten  schon,  daß 
der  moderne  Mensch  anscheinend  nichts  von  Entsagung  hören  mag.  Er  will 
sich  ausleben,  aber  nicht  sich  kasteien,  will  Macht,  Ehre,  Reichtum  gewinnen, 
aber  nicht  die  Dornenkrone  dessen  tragen,  der  sein  Leben  hingab  für  die 
Sünden  anderer.  Das  religiöse  Bedürfnis  äußert  sich  heute,  wenn  man  ober- 
flächlich hinschaut,  weit  mehr  in  der  Form  des  Enthusiasmus  als  in  der  Form 
der  Aufopferung  und  Selbstbeschränkung.  Der  moderne  Mensch  sucht  die 
Freiheit  in  allerhand  erregenden  Veranstaltungen:  in  der  Rauschkunst,  in 
alkoholischen  und  erotischen  Freuden;  er  gibt  sich  ferner  dem  Genuß  der 
schönen  Natur  hin,  er  reist  in  die  Feme  und  erobert  die  Luft.  Alles  das  sieht 
nicht  nach  Entsagung  und  Einschränkung  aus. 

Aber  trotzdem  findet  doch  auch  die  Predigt  derer,  die  Verzicht  und  Verein- 
fachung fordern,  immer  mehr  Anhänger.  Überall  sehen  wir  Propheten  auf- 
stehen, die  die  Abkehr  von  den  Kulturgenüssen  und  die  Rückkehr  zu  dem 
,, naturgemäßen"  Leben  predigen.  Sie  suchen  den  Zeitgenossen  den  Alkohol 
und  Tabak  zu  verleiden,  sie  kämpfen  für  eine  ,, reizlose"  Kost,  ferner  für 
Abhärtung  und  Nacktkultur,  für  Abschaffung  des  Krieges,  des  Staates,  des 
Geldes  und  aller  Ungleichheit  unter  den  Menschen.  Sie  wollen  das  gesamte 
Leben  ,, reformieren"  und  dadurch  die  Genußsucht  und  Erwerbssucht  samt 
allen  anderen  Erscheinungen  unserer  ,, unnatürlichen"  Kultur  beseitigen. 

Manche  von  diesen  Propheten  sind  bekehrte  Weltmenschen,  die  an  dem 
Leben,  das  sie  jetzt  verdammen,  regen  Anteil  genommen  haben,  bis  sie  ihr 
Damaskus  erlebten.  Der  berühmteste  unter  diesen  Bekehrten  ist  Graf  Leo 
Tolstoi.  Tolstoi,  der  reiche,  rühm-  und  kindergesegnete  russische  Schrift- 
steller, wurde  zum  Führer  der  modernen  Entsagungsbewegung.  Er  widerrief 

208 


sein  Weltleben  und  predigte  Armut  und  Keuschheit,  fromme  Einfalt  und 
christliches  Mitleid ;  wir  sollen  uns  von  allen  hemmenden  und  drückenden 
Gewalten  losmachen,  sollen  rein  und  unschuldig  werden  wie  die  Kinder  und 
die  Tiere.  Es  gibt  heute  ein  große  Zahl  ähnlicher  Propheten  in  allen  Kultur- 
ländern. Viele  gehen  nicht  so  weit  wie  Tolstoi,  viele  beschränken  sich  mit 
ihrer  Entsagungspredigt  auf  eines  oder  wenige  Gebiete.  Sie  alle  pflegen  be- 
wundernd und  sehnsüchtig  von  der  „Natur",  zu  der  wir  zurückkehren  sollen, 
zu  sprechen;  sie  alle  kämpfen  gegen  die  Stärke  und  Fessellosigkeit  des  mo- 
dernen Geistes-  und  'J  riebiebens  an.  Auch  werden  sie  alle  von  reUgiösen  Ge- 
fühlen und  Absichten  geleitet,  selbst  wenn  sie  niemals  von  Religion  reden  oder 
sie  verächthch  als  eine  überwundene  Kulturerscheinung  zur  Seite  schieben. 

Diese  Propheten  finden  sich  in  den  Lagern  der  Vegetarier,  der  Natiurärzte, 
der  Erziehungsrevolutionäre ;  aber  es  gehören  auch  viele  soziale  Neuerer,  die 
Anarchisten,  ferner  die  Erweckungschnsten,  Spiritisten  usw.  dazu.  Sie  alle 
haben  das  Gemeinsame,  daß  sie  bewußt  oder  unbewußt  gegen  die  bestehende 
Gemeindereligion  und  das  von  dieser  Gemeindereligion  anerkannte  und  ge- 
schützte sittliche,  soziale,  künstlerische,  gesundheitliche  Volksleben  Protest 
erheben.  Von  der  Durchführung  ihrer  reformatorischen  Forderungen  er- 
hoffen sie  eine  Befreiung  und  Erhöhung  der  Menschheit,  einen  idealen  Glücks- 
und Friedenszustand;  Jesus  würde  sagen:  sie  erhoffen  die  Aufrichtung  des 
Reiches  Gottes,  den  Anbruch  der  göttlichen  ^Weltherrschaft.  Unsere  Pro- 
pheten wissen  die  glückliche  Zukunft  mit  Begeisterung  zu  schildern ;  einige 
haben  die  ganze  düstere  Leidenschaft  der  fanatischen  Asketen,  die  wir  aus 
der  Religionsgeschichte  kennen.  Fanatismus  und  Proselytenmacherei  sind 
heute  nirgends  so  zu  Hause,  wie  bei  den  Lebensreformem  und  den  rehgiösen 
Sektenanhängern,  die  einander  auch  sonst  sehr  nahestehen.  Wir  haben  im 
ersten  Abschnitt  die  Sektenbewegung  als  Ausfluß  des  Rausch-  und  Aus- 
schweifungswillens charakterisiert;  aber  das  ist  nur  ihre  eine  Seite.  Die 
ernsteren  Sekten  tragen  zugleich  asketischen  Charakter  und  erheben  sich,  wie 
man  namentlich  an  der  Heilsarmee,  aber  auch  an  den  russischen  Sekten 
sieht,  zum  echten  religiösen  Heroismus. 

Die  Lebensreformer  geben  ihnen,  was  Fanatismus  und  Heroismus  anlangt, 
nicht  viel  nach.  Diese  Leute  treibt  wirkhch  der  ,, Geist",  wenn  auch  kein 
sehr  intelligenter  und  wohl  auch  kein  heiliger  Geist.  Sie  haben  im  einzelnen 
oft  richtige  Gedanken,  vor  allem  ist  ihr  Gefühl  richtig,  daß  unserem  heutigen 
Leben  Reformen  dringend  not  tun.  Nur  übersehen  sie,  ähnlich  wie  die  wag- 
nerischen Kunstfreunde,  daß  man  das  Leben  nicht  von  der  Peripherie  her 
erneuern  kann :  die  Religion  läßt  sich  ebensowenig  durch  entsagende  Lebens- 
künste wie  durch  Musik  und  Theater,  oder  auch  durch  die  Wissenschaft  er- 
setzen. Sie  dringen  nicht  zum  Zentrum  durch.  Mit  dem  Worte  Natur  läßt 

14  Horneffer,  Der  Priester  II  20^ 


sich  religiös  nicht  \nel  anfangen,  weil  es  zu  nebelhaft  und  vieldeutig  ist. 
Zwar  sind  die  Sozialisten  im  Besitz  einer  wirklichen  religiösen  Idee;  aber 
leider  mußte  sich  diese  Idee  —  der  Zukunftsstaat  —  mit  fortschreitender 
Erkenntnis  mehr  und  mehr  verflüchtigen;  sie  enthüllte  ihre  Unbrauchbar- 
keit  und  wairde  zur  agitatorischen  Phrase.  Die  ganze  große  Bewegung,  die 
eine  Umformung  unseres  individuellen  und  sozialen  Lebens  im  Sinne  der 
Einfachheit,  Mäßigkeit,  Gleichheit  und  Freiheit  durchsetzen  will,  muß  heute 
als  gescheitert  gelten,  falls  sie  sich  nicht  auf  einzelne  sehr  nützliche  und 
segensreiche  Reformen  zurückgezogen  hat.  Sie  hat  nichts  Ganzes  durchsetzen 
können,  so  wenig  wie  die  von  Wagner  angefachte  künstlerische  Bewegung. 
Nach  den  rein  praktischen,  sei  es  nun  hygienischen  oder  wirtschafthchen 
Erfolgen  der  Lebensreformer  haben  wir  hier  nicht  zu  fragen ;  wir  haben  es 
nur  mit  dem  religiösen  Wert  und  Erfolg  ihrer  Bestrebungen  zu  tun  und  dieser 
ist  gering :  es  konnte  und  kann  ihnen  auf  keine  Weise  gelingen,  das  Leben  des 
heutigen  Menschen  \nrklich  zu  erhöhen  und  an  die  Stelle  der  unzulänghchen 
GemeindereUgion  etwas  Besseres  zu  setzen. 

Da  es  unmöglich  ist,  die  Bestrebungen  aller  modernen  Xaturapostel, 
Diätpropheten  und  sozialen  Heilande  in  Kürze  zu  besprechen  und  nach 
ihrer  rehgiösen  Bedeutung  zu  forschen,  woUen  wir  uns  auf  einen  besonders 
wichtigen  Zweig  des  heutigen  Reformwesens  beschränken,  nämlich  auf  die 
Emährungsreform.  Der  Vegetarismus  ist  eine  religiös  asketische  Bewegung. 
Inwiefern?  Zunächst  diu*ch  die  zwei  Gründe,  die  er  für  seine  Diätverord- 
nungen anzugeben  pflegt :  der  Mensch  müsse  die  höheren  Tiere  als  seine  un- 
mündigen Brüder  schonen,  und  der  Mensch  müsse  starke  Reize  vermeiden. 
Der  erste  Grund  ist  moralischer  und  metaphysischer  Art,  auch  wenn  man  die 
Seelenwanderungslehre  aus  dem  Spiel  läßt.  Der  zweite  Grund  stellt  den  Vege- 
tarismus in  eine  Reihe  mit  den  Enthaltungsvorschriften  aller  früheren  Reli- 
gionen. Wena  die  Vegetarier  eine  reizlose  Kost  für  die  natürliche  und  allge- 
mein erstrebenswerte  Ernährungsweise  erklären,  wenn  sie  das  Fleisch  des- 
halb verbannen,  weil  es  vorzugsweise  ein  erregendes  Genußmittel  und  nur 
nebenher  auch  ein  Nahrungsmittel  sei  —  Alkohol  und  Tabak  werden  von 
den  Vegetariern  meist  noch  strenger  abgewiesen  als  das  Fleisch,  was  durch- 
aus logisch  ist,  da  sie  weit  schärfere  Rauschmittel  und  für  die  Emälirung 
noch  unwesentlicher  sind  — ,  so  entspricht  das  genau  den  asketischen  Diät- 
maßregeln der  alten  Priester.  Der  Priester  hat  der  Reihe  nach  aDe  starken 
Reize  und  Erregungsmittel  verurteilt  und  sich  ihrer  enthalten.  Wie  wir  ge- 
sehen haben,  ist  der  Priester  trotzdem  nicht  genußarm  und  genußfeindlich 
geworden,  sondern  im  Gegenteil:  die  Ablehnung  gröberer  Genüsse  hat  ihn 
für  die  feineren  um  so  empfänglicher  gemacht;  seine  ,, Heiligkeit"  bestand 
darin,  daß  er  entlegenere  Reizmittel  suchte  oder  die  lustvoUe  Wirkung  der 

210 


gänzlichen  Ruhe  und  Reizlosigkeit  genoß.  Ähnlich  ist  es  mit  den  Vegetariern 
und  Naturfanatikern.  Wenn  diese  uns  entgegenhalten,  daß  bei  ihnen  von 
Askese  nicht  die  Rede  sei,  daher  der  Vegetarismus  auch  mit  der  Religion 
gar  nichts  zu  schaffen  habe,  so  fassen  sie  den  Begriff  der  Askese  zu  eng.  Das 
unangenehme  Gefühl,  etwas  Erwünschtes  zu  entbehren,  braucht  der  Asket 
keineswegs  zu  haben.  Der  Wille  zur  Ruhe  oder  zu  feineren  Genüssen  —  der 
Priester  sagte:  der  Wille  zur  Einheit  mit  Gott  oder  das  Verlangen  nach 
himmlischen  Freuden  —  kann  seinen  Geist  ausschließhch  beherrschen. 
Dieser  Wille  trägt  asketisch  religiösen  Charakter,  und  wenn  die  Freunde  der 
,, naturgemäßen  Lebensweise"  sich  genau  prüfen,  müssen  sie  zugeben,  daß 
dieser  Wille  in  ihnen  sehr  lebendig  ist.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß 
eine  reizarme  Kost  und  Lebensweise  die  Sensibilität  erhöht.  Der  Vegetarier 
bringt  seine  Lebensgeister  durch  Obstsäure  ebenso  heftig  in  Wallung  wie 
andere  durch  Alkohol ;  er  berauscht  sich  durch  Duschen,  Sonnenbäder  und 
dergleichen  so  gut  wie  andere  durch  Trink-  und  Rauchgelage.  Er  hat  gewiß 
recht,  wenn  er  seine  Reizmittel  für  unschuldiger  und  ungefährHcher  erklärt; 
aber  ob  er  uns  seine  Lebensweise  ohne  weiteres  als  die  natürliche  und  für  alle 
erstrebenswerte  anpreisen  darf,  ist  recht  zweifelhaft.  Denn  die  menschliche 
Kultur  und  ihre  Errungenschaften,  deren  sich  auch  die  Naturfanatiker  er- 
freuen, sind  zum  großen  Teil  die  Frucht  überstarker  Reize  und  gefährlicher 
Lebensweisen.  Wir  erwähnten  früher  die  biologische  Tatsache,  daß  jeder 
Reiz,  der  die  lebendige  Substanz  trifft,  als  ein  Angriff  auf  dieselbe  und  als 
eine  Schädigung  zu  gelten  habe.  Aber  der  Reiz  ruft  eine  produktive  Reaktion 
hervor  und  stachelt  die  Zelle,  beziehungsweise  den  Organismus  zu  befreien- 
den Taten  an.  Je  stärkere  Reize  ein  Organismus  mit  befreienden  Taten  zu 
beantworten  vermag,  desto  stärker  ist  er.  Alles  von  außen  Aufgenommene, 
das  er  sich  einverleiben  oder  das  er  als  Ansporn  verwerten  kann,  macht  ihn 
größer  und  widerstandsfähiger.  Daher  zeigt  uns  denn  auch  die  Geschichte 
der  Menschheit,  daß  unser  Geschlecht  von  jeher  nach  starken  Reizen  ver- 
langt hat  und  unter  Führung  der  Priester  und  der  welthchen  Eroberer  be- 
ständig neue  und  reichere  Reizquellen  aufgesucht  hat.  Unter  Hintansetzung 
des  Lebens  und  unter  Verlust  des  seeUsch-leiblichen  Gleichgewichts  haben 
alle  starken  Völker  und  Zeiten  nach  Erhöhung  und  Vergöttlichung  durch 
übermächtige  Reize  gestrebt;  sie  wollten  den  Rausch,  mußten  ihn  wollen, 
weil  der  Rausch  ihnen  die  Pforten  in  eine  freiere  und  stolzere  Welt  öffnete. 
Jedoch  kamen  Zeiten,  wo  die  Kraft  nicht  mehr  vorhanden  war,  heftige 
Reize  produktiv  zu  verwerten.  Die  geschwächten  Organismen  reagierten  auf 
die  Angriffe  und  Anfeuerungen  nicht  mehr  mit  Lustgefühlen  und  Leistungs- 
steigerung, sondern  mit  Unlust  und  Erschlaffung.  Dies  Nachlassen  der 
Reaktionsfähigkeit  äußerte  sich  am  stärksten  bei  den  Vorkämpfern  und  vor- 

14*  211 


geschobenen  Posten  der  Kultur ;  das  waren  die  Priester.  Infolgedessen  wur- 
den die  Priester  und  priesterlichen  Naturen  allerart  zu  Herolden  eines  reiz- 
ärmeren Lebens,  womöglich  eines  völlig  reizlosen  Traum- und  Nirwanalebens. 
Sie  verkündigten  dem  übersättigten  und  doch  hungrigen  Menschen :  daß  das 
,, Glück"  (d.  h.  die  Rauschlust)  und  die  „Vollkommenheit"  (d.  h.  die  Har- 
monie von  Gefühl  und  Handlung)  allein  durch  den  Verzicht  auf  die  starken 
Reizquellen  erreichbar  sei.  Nur  der  sanfte,  friedliche,  stille  Mensch  gelange 
zu  Gott,  nicht  der  wilde,  gewcdttätige,  dessen  Leben  ein  Spiel  gewaltiger 
Kontraste,  d.  h.  krampfhafter  Spannungen  und  explosiver  Entladungen  sei. 
Die  Priester  hatten  subjektiv  recht,  aber  nicht  objektiv.  Vor  allem  verkann- 
ten sie,  daß  auch  der  sanfteste  Idealmensch  durch  Reize  und  deren  Abwehr 
und  Verarbeitung  lebt.  Ebenso  verkennen  unsere  Vegetarier,  daß  der  be- 
dürfnislose Naturfreund  nicht  weniger  nach  den  Wonnen  des  religiösen 
Macht-  und  Freiheitsrausches  verlangt,  als  der  blut-  und  giftdurstige  , .Beef- 
steakesser". Er  wählt  nur  einen  anderen,  seiner  Konstitution  und  seinem 
Lebensgefühl  entsprechenden  Weg. 

Fast  alle  prophetischen  Naturen  unserer  Zeit,  samt  ihren  Anhängern  und 
näheren  oder  ferneren  Verwandten  haben  mit  dem  Vegetarismus  Bekannt- 
schaft gemacht  und  sich  mit  Diätexperimenten  allerart  beschäftigt.  Schon 
dieser  Umstand  ist  hinreichend,  den  religiösen  Zug  in  den  Bestrebungen  der 
Lebens-  und  Ernährungsreformer  zu  erweisen.  Ich  erwähne  z.  B.  Wagner 
und  Nietzsche.  Bei  Nietzsche,  der  jahrelang  vegetarisch  gelebt  hat,  kann 
man  deuthch  beobachten,  wie  nahe  sich  der  Wille  zur  Ausschweifung  — 
den  Nietzsche  nur  im  Denken  und  Phantasieren  betätigte  —  mit  dem 
Willen  zur  Entsagung  berührt.  Der  Gegensatz  ist  anscheinend  unüberbrück- 
bar und  doch  geht  in  der  Praxis  beides,  Askese  und  Rausch,  fortwährend 
ineinander  über.  Eines  setzt  auch  das  andere  voraus,  wie  wir  in  dem  Ab- 
schnitt „Erregung  und  Betäubung"  sahen,  und  ist  gleichsam  nur  eine  andere 
Erscheinungsform  derselben  Sache. 

Nietzsche  huldigte  auch  der  berühmten  Fastentheorie  Cornaros,  nach 
welcher  nicht  nur  eine  Beschränkung  auf  vegetabilische  Nahrung,  sondern 
auch  eine  Beschränkung  der  Nahrungsmenge  heilsam  ist.  Wie  die  alten  Prie- 
ster verkündigt  diese  verbreitete  moderne  Richtung:  je  weniger  ein  Mensch 
ißt,  um  so  gesunder,  um  so  besser,  höher,  gottähnlicher  ist  er.  Das  —  leider 
unerreichbare  —  Ideal  lautet:  den  Nahrungstrieb  gänzlich  zum  Schweigen 
zu  bringen,  damit  das  ,, Viehische"  im  Menschen  sterbe  und  allein  das  Gött- 
liche am  Leben  bleibe.  Wir  haben  zur  Genüge  kennen  gelernt,  wie  weit  die 
alten  asketischen  Heiligen  in  der  Erfüllung  dieses  Fastenideals  gekommen 
sind,  haben  auch  dargetan,  daß  sich  durch  Nahrungsbeschränkung  und  Nah- 
rungsenthaltung wundervolle  religiöse  Rauschwirkungen  erzielen  lassen. 

212 


Erstens  ist  die  Zeit  des  Fastens  selber  von  religiös  verwendbaren  Gefühls- 
regungen und  Gedanken  erfüllt,  zweitens  ruft  die  Wiederaufnahme  der  Nah- 
rungszufuhr Wonne-  und  Kraftgefühle  hervor,  auch  wenn  der  Fastende  nur 
die  bescheidenste  Mahlzeit,  z.  B.  ein  wenig  Obst,  zu  sich  nimmt.  Es  ist  daher 
kein  Wunder,  daß  in  allen  Epochen  akuter  Religiosität  das  Evangehum  des 
Fastens  und  —  last  stets  damit  verbunden  —  der  geschlechtlichen  Enthal- 
tung gepredigt  wird. 

Vielleicht  darf  ich  hier  einen  wunderlichen  Vertreter  des  Fastenideals  er- 
wähnen, der  zwar  nicht  ernstgenommen  werden  darf,  aber  eine  lobenswerte 
Konsequenz,  wenigstens  in  seinen  Worten,  an  den  Tag  legt.  Ich  meine  den 
in  Vegetarierkreisen  bekannten  August  Engelhardt,  der  auf  der  Insel 
Kabakon  im  Bismarckarchipel  lebt  und  in  Schriften  und  Gedichten  dafür 
eintritt,  daß  ein  wahrer  Mensch  nur  von  Kokosnüssen  leben  und  nackt  in 
der  Tropensonne  liegen  dürfe.  Alle  andere  Nahrung  sei  Schmutz,  die  ganze 
Lebensweise  der  Kulturmenschheit  sei  eine  Beleidigung  gegen  die  Sonnen- 
natur des  Menschen.  Natürlich  soll  man  auch  von  den  Kokosnüssen  so  wenig 
wie  möglich  essen,  Engelhardt  gibt  ein  Blättchen  heraus  mit  dem  Titel: 
,,Für  Sonne,  Tropen  und  Kokosnuß,  Zeitschrift  für  den  Gottesdienst  der 
Tat  und  für  die  Unsterblichkeit!  Organ  des  Sonnen-Ordens,  Äquatoriale 
Siedlungs-Gesellschaft  auf  Kabakon  und  des  internationalen  Kokovoren- 
bundes."  Das  Ausrufungszeichen  hinter  ,, Unsterblichkeit"  ist  nicht  von  mir 
hinzugesetzt,  sondern  steht  mit  auf  dem  Titel.  Die  Gedichte  und  Darlegun- 
gen in  dieser  Zeitschrift  und  Engelhardts  sonstige  Veröffenthchungen 
sind  kindisch,  sein  Anspruch,  Held  und  Erretter  unseres  Zeitalters  zu  sein, 
ist  komisch;  aber  niemand  kann  den  religiösen  Charakter  und  die  ernste 
Seite  dieser  Diätprophetie  verkennen.  Auch  die  Selbstüberhebung  Engel- 
hardts ist  ein  Zug,  der  bei  allen  Propheten,  ausschweifenden  und  asketi- 
schen, wiederkehrt.  Die  vernünftigeren  Verfechter  der  naturgemäßen  Lebens- 
weise halten  sich  zwar  nicht  für  Heilande,  aber  ein  wenig  Selbstverblendung 
und  fanatischer  Dünkel  läuft  auch  bei  ihnen  nicht  selten  mit  unter.  Minde- 
stens sind  sie  den  Gegenargumenten  gegen  ihre  Reformen  nur  wenig  zugäng- 
hch,  ein  Beweis,  wie  eng  ihre  Ideale  mit  ihrer  persönlichen  Konstitution 
und  ihren  religiösen  Bedürfnissen  verknüpft  sind. 

Bei  Nietzsche  wie  bei  vielen  anderen  ist  später  eine  Reaktion  gegen  das 
Ideal  des  reizlosen  Lebens  eingetreten.  Manche  finden  sich  allmählich, 
manche  plötzhch  wie  durch  einen  Bekehrungsakt,  zu  den  kräftigeren  Lebens- 
reizen zurück  und  meist  steht  damit  auch  eine  Änderung  ihrer  religiös- 
sittlichen Anschauungen  und  ihres  schriftstellerischen  und  bürgerlichen  Cha- 
rakters in  Zusammenhang.  Es  ist  klar,  daß  eine  beruhigende,  die  schwäche- 
ren Reize  bevorzugende  Lebens-  und  Ernährungsweise  nicht  ohne  Folgen 

213 


für  die  geistigen  Lebensäußerungen  eines  Menschen  bleiben  kann,  und  es 
ist  ein  Beweis  für  die  Vertiefung  des  religiösen  Gefühls  in  unserer  Zeit,  daß 
wieder  \ne  in  alten  Zeiten  Diät  und  Religion,  Leben  und  Lebensziel  in  un- 
mittelbare Wechselwirkung  zueinander  treten. 

Die  Freunde  des  Fastens  und  der  reizarmen  Kost  wollen  es  meist  nicht 
zugeben,  daß  ihre  Lebensweise  ein  Anzeichen  geschwächter  Widerstands- 
kraft und  eine  Art  Schlaf-  und  Krankheitsdiät  sei.  Sie  führen  als  Gegenbe- 
weis an,  daß  wenig  essende  Vegetarier  große  Sportsiege  erfechten  und  in 
Dauermärschen,  Radrennen,  Hochtouren  usw.  Hervorragendes  leisten;  also 
könne  man  doch  mit  dürftiger  und  reizarmer  Kost  mehr  erzielen  als  mit 
reichlicher  und  stark  anregender  Kost.  Auch  die  künstlerische  und  philo- 
sophische Produktivität  kann  zweifellos  eine  Zeitlang  durch  jene  Lebens- 
weise gesteigert  werden.  Dem  gegenüber  ist  aber  zu  betonen,  daß  es  sich  in 
allen  diesen  Fällen  um  Rauschleistungen  handelt,  die  deutlich  den  Charakter 
des  Übertriebenen  und  Krankhaften  tragen.  Wie  wir  an  den  alten  Priester- 
asketen gesehen  haben,  kann  sich  ein  halb  Verhungerter  nicht  bloß  zu  won- 
nigen Freiheits-  und  Gottheitsgefühlen  erheben,  sondern  kann  produktive 
Phantasie-  und  Verstandesorgien  feiern  und  eine  gesteigerte  Bewegungs-  und 
Muskelkraft  entwickeln.  Allerdings  sind  alle  diese  Mehrleistungen  zeitlich 
beschränkt  und  ziehen  Erschöpfungszustände  nach  sich,  wenn  die  Erschöp- 
fung sich  auch  erst  nach  Jahren  oder  wie  bei  manchen  Alkoholikern  erst 
bei  der  folgenden  Generation  bemerkbar  macht.  Die  Vergangenheit  Uefert 
uns  für  erstaunliche  Leistungen  Geschwächter  nicht  weniger  Beispiele  als 
die  Gegenwart.  Wie  einige  unterernährte  Geisteskranke  in  der  Erregung 
Riesenkräfte  bekommen,  so  vollbringen  die  Naturvölker  nach  aufreibenden 
Fastenzeiten  unglaubhche  Tanzleistungen;  und  ebenso  hören  wir,  daß 
manche  belagerten  und  notleidenden  Heere  plötzlich  in  einen  Berserker- 
zorn geraten  sind  und  ihre  weit  stärkeren  und  wohlgenährten  Belagerer, 
vor  denen  sie  sich  lange  gefürchtet,  wie  Hasen  vor  sich  hergetrieben  haben. 
Prophetische  Agitatoren  pflegten  dann  die  Rauschstimmung  anzufachen  und 
das  Volk  mit  sich  zu  reißen,  so  daß  es  in  unwiderstehlichem  Machtbewußt- 
sein Taten  vollbrachte,  die  es  in  normalem  Geistes-  und  Leibeszustande  nie- 
mals hätte  vollbringen  können. 


WIM 


3.  WILLE  ZUR  NORM  H 


Wir  machen  nunmehr  den  Versuch,  aus  den  Darlegungen  der  beiden  ersten 
Abschnitte  das  Zukunftsideal  herauszuschälen,  dem  unsere  Zeit  nur  halb 
bewußt  zustrebt.  Alle  Bedingungen  für  eine  Erneuerung  des  religiösen 

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Lebens  sind  gegeben,  von  Jahr  zu  Jahr  nimmt  der  Anteil  des  Volkes  an  den 
religiösen  Fragen  im  engeren  Sinne  zu  und  vvir  haben  soeben  gesehen,  daß 
sich  auch  das  Erwachen  der  alten  rehgiösen  Extreme  in  deutlichen  Anzeichen 
verrät.  Alle  Gefühle,  alle  religiösen  Sinnes-  und  Lebensweisen  der  Vergangen- 
heit feiern  ihre  Auferstehung;  prophetische  Typen  jeder  Art  finden  Gehör 
und  Anhängerschaft.  Die  kühlen  und  unrehgiösen  unter  unseren  Zeitge- 
nossen schauen  dem  allen  mit  Verwunderung  und  Abneigung  zu ;  sie  erheben 
ihre  warnende  Stimme  und  möchten  das  erwachende  religiöse  Leben  durch 
Wort  und  Tat  unterdrücken. 

Und  haben  sie  nicht  recht  ?  Zeigt  sich  nicht  allenthalben  das  Krankhafte 
und  Gefährliche  des  religiösen  Wesens  ?  Sind  nicht  die  enthusiastischen  Pro- 
pheten auf  der  einen  Seite,  die  Entsagungspropheten  auf  der  anderen  Seite 
bedrohliche  Wetterzeichen,  die  den  Fortbestand  und  die  stetige  Fortent- 
wicklung des  europäischen  Kulturlebens  in  Frage  stellen?  Sind  sie  nicht 
Krankheitssymptome?  Wäre  es  nicht  geraten,  zu  jedem  denkbaren  Mittel 
zu  greifen,  um  die  ,, religiöse  Krankheit"  schnell  wieder  zum  Verschwinden 
zu  bringen,  ehe  sie  noch  den  ganzen  Volksorganismus  gepackt  und  in  ihren 
Bann  gezogen  hat? 

Die  früheren  Betrachtungen  haben  uns  gelehrt,  daß  die  Religion  von  jeher 
mit  Krankheitserscheinungen  allerar t  eng  verknüpft  gewesen  ist.  Die  reli- 
giösesten Menschen  und  Zeiten  standen  von  jeher  unmittelbar  an  einem  Ab- 
grunde. Der  Wille  zur  Selbstzerstörung  durch  Erregung  und  Betäubung, 
durch  Rausch  und  Askese  war  in  diesen  Menschen  und  Zeiten  mächtig  und 
forderte  unzählige  Opfer.  Soll  dieser  Wille  auch  heute  wieder  zum  Siege  ge- 
langen ?  Soll  Europa  den  ausschweifenden  und  den  t5a-annischen  Menschen, 
die  sich  beide  als  Herolde  der  Freiheit  und  der  Natur  anpreisen,  die  Führung 
übertragen,  nachdem  den  Vertretern  der  bisherigen  Gemeinderehgion  die 
Zügel  entfallen  sind? 

Um  die  Antwort  auf  diese  Fragen  zu  finden,  müssen  wir  uns  noch  einmal 
die  krankhaften  Züge  des  Priesters  vor  Augen  führen  und  uns  seinen  bis- 
herigen Einfluß  auf  die  seelische  Gesundheit  der  Menschheit  klarmachen. 
Wir  nehmen  dabei  beständig  auf  die  Gegenwart  Bezug  und  knüpfen  an  die 
Ausführungen  über  die  moderne  Erhöhungs-  und  Entsagungsbewegung  an. 

Der  Kern  des  priesterhchen  Entsagungsstrebens  war  und  wird  bleiben: 
die  sexuelle  Entsagung.  Jeder  konsequente  Prediger  des  Verzichtes  und  der 
Reizeinschränkung  in  den  ältesten  wie  in  den  jüngsten  Zeiten  hat  sich  mit 
den  erotischen  Dingen  beschäftigt  und  entweder  völlige  Enthaltsamkeit  oder 
Mäßigkeit  gefordert.  Der  sexuelle  Trieb  ist  nun  einmal  die  stärkste  Lust- 
quelle des  Menschen  und  das  geeignetste  Objekt  für  den  entsagenden  Herois- 
mus, zugleich  auch  der  Ausgangspunkt  einer  großen  Zahl  von  krankhaften 

215 


Zuständen  und  Abimingen  von  der  Norm.  So  drückend  und  gefährlich  der 
vom  Priester  geforderte  und  geübte  Verzicht  auf  Nahrungs-  und  Genuß- 
mittel, auf  Bequemhchkeiten  allerart,  auf  die  Gesellschaft  der  Menschen, 
auf  den  Schlaf  und  nicht  zum  wenigsten  auf  die  Selbständigkeit  des  Denkens 
und  \\'ollens  war,  so  bleibt  doch  der  Verzicht  auf  die  erotische  Befriedigimg 
immer  der  schwerste  und  unnatürlichste.  Es  ist  kein  Zufedl,  daß  die  katho- 
lische Kirche  gerade  an  dieser  asketischen  Forderung  festgehalten  hat  und, 
wie  ich  überzeugt  bin,  auch  festhalten  wird,  solange  sie  ihren  Idealen  treu 
bleibt.  Wir  nehmen  hier  den  Ausdruck:  erotische  Befriedigung,  wieder  im 
weitesten  Sinne,  verstehen  also  nicht  nur  die  geschlechtliche  Betätigung 
darunter,  sondern  auch  die  Familiengründung,  den  Zusammenhang  mit  der 
Sippe,  mit  Heimat  und  Volk.  Mit  der  Proklamierung  des  geschlechtslosen 
Lebens  als  des  höchsten  Ideals  hat  der  Priester  seinen  höchsten  Trumpf 
gegen  das  Ideal  der  Norm  ausgespielt;  er  hat  mit  einem  Schlage  das  Ver- 
langen jedes  organischen  Wesens  nach  Vereinigung  mit  einem  Du,  nach 
Lösung  aller  Lebensspannungen  in  einem  schöpferischen  Ausgleich  zweier 
Wesen,  und  nach  dem  Willen  zur  Verlängerung,  Befestigung,  Verewigung 
des  Lebens  getroffen. 

Wie  der  Priester  auf  das  Keuschheitsideal  verfallen  ist,  haben  wir  früher 
begreifhch  zu  machen  versucht.  Alle  drei  Gründe,  die  oben  für  das  Rausch- 
und  Entsagungswesen  im  ganzen  angeführt  worden  sind,  haben  auch  die 
sexuelle  Entsagung  ins  Leben  rufen  und  zum  Ideal  erheben  helfen:  der 
metaphysisch-magische,  der  ethisch  soziale,  der  psychologisch-patholo- 
gische. Den  erstgenannten  können  wir  jetzt  füglich  beiseite  lassen,  da  er  für 
die  Religion  und  das  Priestertum  der  Zukunft  nicht  mehr  in  Betracht  kom- 
men kann:  der  kommende  Priester  wird  nicht  mehr  deshalb  auf  die  Liebe 
zum  anderen  Geschlecht  und  auf  Nachkommenschaft  verzichten,  weil  er  sich 
Gott  dadurch  zu  empfehlen  und  sich  zauberhafte  Vorteile  zu  verschaffen 
wünscht.  Der  zweite  Grund  kann  hier  ebenfalls  nur  kurz  erwähnt  werden, 
obwohl  wir  seine  Bedeutung  auch  für  die  Zukunft  keineswegs  unterschätzen. 
Ebenso  wie  die  anderen  Entsagungsgebote  hat  auch  die  Forderung  des  Prie- 
sters: die  sexuelle  Betätigung  einzuschränken  und  zu  regeln,  sehr  viel  zur 
Vergeistigung  und  Versittlichung  des  Menschengeschlechts  beigetragen. 
Ohne  die  erotische  Selbstbeherrschung  gäbe  es  keine  menschliche  Kultur. 
Die  Völkerkunde  lehrt,  daß  auch  auf  diesem  Gebiet  stets  der  Priester  der 
Führende  war.  Schon  bei  manchen  Naturvölkern  verlangt  sein  Beruf  ein 
sexuell  abnormes  Leben,  was  wir  früher  schon  besprochen  haben.  Auf  den 
Marchesasinseln  konnte  niemand  Priester  werden,  ohne  vorher  mehrere 
Jahre  keusch  gelebt  zu  haben.  Die  mexikanischen  Huichols  sind  der  Mei- 
nung, daß  ein  Mann,  der  ein  Medizinmann  werden  möchte,  seiner  Gattin 

2l6 


fünf  Jahre  lang  treu  bleiben  müsse ;  andernfalls  würde  er  erkranken  und  die 
Macht,  andere  zu  heilen,  verUeren.  Auch  bei  anderen  Völkern  sind  die  Prie- 
ster strenger  an  die  Ehe  gebunden  als  die  Laien,  müssen  sich  auch  zeitweilig 
ihres  Weibes  enthalten.  Bei  den  Hebräern  wurden  die  unkeuschen  Töchter 
von  Priestern  besonders  schwer  bestraft,  weil  sie  dur^h  ihr  Vergehen  auch 
den  Vater  entweihten.  Auch  im  christlichen  Europa  wird  dem  Priester  ein 
Ehebruch  und  eine  sexuelle  Übertretung  mehr  verdacht  als  einem  Laien. 
Es  herrscht  offenbar  das  Gefühl,  daß  der  Priester,  d.  h.  der  menschlich  Vor- 
bildliche und  rehgiös  Führende,  die  sexuelle  Lust  gar  nicht  oder  sehr  mäßig 
suchen  soll.  Von  da  ist  es  aber  zrm  Ideal  der  reinen  Geistigkeit  nicht  weit. 
Dies  Ideal  ist  die  Überspannung  der  Mäßigkeitsforderung,  die  Übertreibung 
des  menschlichen  Vergeistigungsstrebens. 

Mit  dieser  Überspannung  haben  wir  es  jetzt  vornehmlich  zu  tun.  Auf  sie 
war  und  ist  der  Priester  der  höheren  Religionen  stolz;  er  hat  viele  Geschlech- 
ter durch  Vorbild  und  Lehre  zu  der  Anschauung  zu  bekehren  gewußt,  daß 
der  höchste  Mensch  Eunuch  sein  müsse  und  die  ideale  Existenz  im  Jenseits 
eine  geschlechtslose  Existenz  sei.  Wie  vermochte  er  das  zu  erreichen  und 
welchen  Wert  hat  diese  Anschauung  für  uns  und  unsere  Nachkommen?  In 
der  Gegenwart  wird  das  Problem  der  Keuschheit  wieder  lebhaft  besprochen. 
Als  ihre  Verteidiger  sind  Philosophen  wie  Schopenhauer,  Übervölkerungs- 
theoretiker mit  religiösem  Einschlag,  Asketen  wie  Tolstoi,  Lebenskünstler 
und  sanfte  Schwärmer  aufgetreten.  Die  Kathohken,  die  natürhch  den  sitt- 
lichen Wert  der  Entsagung  möglichst  in  den  Vordergrund  rücken  und  das 
Pathologische  und  Widernatürliche  vergessen  machen  wollen,  erklären,  daß 
alle  Erzieher  und  sittlichen  Lehrer  viel  fordern  müßten,  um  niu:  etwas  zu 
erreichen.  Der  ehelose  Priester  sei  eine  unentbehrliche  Mahnung  für  das 
Volk,  sich  wenigstens  mit  einem  einzigen  Gegenstand  der  Liebe  zu  begnügen. 
Dvurchschlagender  als  diese  recht  bedenkliche  Begründimg  ist  eine  ganz  andere 
Erwägung,  die  unsere  Rassenhygieniker  anstellen.  Sie  sagen  nämHch,  daß 
die  Anhänger  des  Keuschheitsideals  meist  gute  Gründe  hätten,  sich  keine 
Nachkommenschaft  zu  wünschen.  Das  religiöse  Ideal  der  Enthaltsamkeit 
sei  ein  selbsttätiges  Ventil  zur  Gesunderhaltung  der  Rasse ;  die  Kranken  und 
Entarteten  schlössen  sich  damit  selber  von  der  Fortpflanzung  aus.  Dies  ist 
ohne  Zweifel  insofern  richtig,  als  sich  Gesunde  und  Starke  nur  durch  Beispiel 
oder  Theorie  zum  Ideal  der  reinen  Geistigkeit  bekehren  lassen  werden,  un- 
beeinflußt aber  niemals  auf  dies  Ideal  verfallen  würden.  Wer  eine  instinktive 
und  dauernde  Abneigung  gegen  Geschlechtsliebe  und  Nachkommenschaft 
hat,  ist  pathologisch  veranlagt;  und  wenn  er  als  Enthaltsamkeitsprediger 
auftritt,  bekennt  er  eigenthch  nur  seine  eigenen  abnormen  Empfindungen. 
Jene  Heüigen,  die  in  der  Liebe  zu  Gott  aufgingen  und  die  Liebe  zum  andern 

217 


Geschlecht  als  eine  niedere  Form  der  Liebe,  als  eine  gefährliche  Fußfessel, 
wohl  gar  als  widrig  und  ekelhaft  bezeichneten,  lieferten  damit  den  Beweis, 
daß  sie  nicht  gesund  genug  waren,  die  eheliche  Liebe  in  ihrer  wahren  Gestalt 
zu  erfahren,  und  nicht  stark  genug,  sich  zum  Ideal  der  Norm  zu  erheben. 
Noch  heutigen  Tages  kann  man  von  vielen  sexuell  Abnormen  hören,  daß 
das  normale  Liebesleben  eine  herabziehende  und  vergröbernde  Wirkung 
habe;  fast  jeder  Psychopath  erklärt  seine  krankhaft  gerichtete  Sexualität 
für  ,, reiner"  und  geistiger  a.ls  die  der  Normeden, 

Am  besten  kann  man  dies  heutigen  Tages  bei  den  Homosexuellen  beob- 
achten. Die  Homosexualität  nimmt  in  der  Gegenwart  eine  noch  bedeutendere 
und  ungleich  verhängnisvollere  Stellung  ein  als  die  Abstinenz  und  auch 
andere  erotische  Abnormitäten.  Wenn  unsere  Strafgesetze  sie  nicht  zur  Zu- 
rücldialtung  nötigten,  würden  die  Homosexuellen  sich  im  öffentlichen  Leben 
ebenso  bemerkbar  machen  wie  etwa  die  Erweckungssekten  und  die  Natur- 
fanatiker. Auch  bin  ich  überzeugt,  daß  das  Anschwellen  der  sexuellen  Per- 
versionen mit  dem  allgemeinen  chaotischen  Wesen  in  unserer  Zeit  zusammen- 
hängt und  unter  die  Symptome  des  religiösen  Erwachens  zu  rechnen  ist. 
Unter  den  Homosexuellen  gibt  es  wie  unter  allen  Abnormen  verehrungs- 
würdige und  verächtliche  Menschen ;  sie  bilden,  wie  wir  es  von  dem  Priester- 
typus behauptet  haben,  einen  Ausschuß  der  Menschheit  im  guten  und  im 
üblen  Sinne.  Sobald  man  sich  mit  einem  feiner  Empfindenden  unter  ihnen 
über  erotische  Dinge  unterhält,  stößt  man  auf  die  oben  erwähnte  Anschau- 
ung, daß  das  normale  Liebesleben  roh  und  ungeistig  sei.  Prüft  man  genauer, 
so  findet  man  bei  ihnen  wirklich  sehr  vergeistigte,  wohl  auch  verstiegene 
erotische  Regungen,  daneben  aber  oft  eine  schmutzige  Phantasie  und  ein 
Überwuchern  sexueller  Vorstellungen  und  Gefühle.  Sie  haben  dafür  zu 
büßen,  daß  sie  die  erotischen  Triebe  nicht  in  gesunden  Bahnen  haben  er- 
halten und  das  Sinnliche  mit  dem  Geistigen  harmonisch  haben  verbinden 
können.  Durch  Freuds  Forschungen  ist  es  wahrscheinlich  geworden,  daß 
der  Grund  für  die  meisten  sexuellen  Abnormitäten  in  der  Kindheit  gelegt 
wird;  krankhafte  sexuelle  Betätigung  vor  der  Pubertät  zieht  bei  dem  Er- 
wachsenen homosexuelle,  abstinente  und  sonstige  perverse  Neigungen  nach 
sich.  Es  macht  sich  dann  ein  starker  Drang  geltend,  die  erotischen  Begierden 
ins  Geistige  abzulenken  und  den  ganzen  Gedankenkomplex  aus  dem  Bewußt- 
sein zu  drängen :  der  Piatonismus  gelangt  zum  Siege. 

Es  wäre  unrecht,  die  Schönheit  und  Erhabenheit  der  Empfindungswelt 
vieler  Abnormer,  seien  es  nun  Priester  oder  Laien,  wegleugnen  zu  wollen. 
Die  ganze  Gedankenrichtung  solcher  Menschen  kann  echt  religiös  sein,  wie 
sich  das  gerade  bei  Piaton  deutlich  zeigt.  Der  Verkehr  mit  den  anderen 
Menschen,  zumal  mit  den  Nahestehenden,  erhält  eine  Innigkeit  und  In- 

2l8 


brunst,  die  er  bei  den  sexuell  Normalen  und  sexuell  Glücklichen  kaum  haben 
kann.  Auch  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  die  pädagogische  Wirkung,  die  jede 
Liebe  ausübt,  sich  bei  der  homosexuellen  Liebe  nach  gewissen  Richtungen 
leichter  entfalten  kann  als  bei  der  zweigeschlechtlichen  Liebe.  Man  kann 
einen  Geschlechtsgenossen  unmittelbar  zum  Vorbild  nehmen  und  ihn  zur 
„lebendigen  Gottheit"  erheben.  Der  griechische  Jüngling  liebte  in  seinem 
Päderasten  die  Verwirklichung  dessen,  was  er  selber  werden  und  erreichen 
wollte,  und  andererseits  liebte  der  Mann  in  dem  geliebten  Jüngling  die  bes- 
sere Zukunft :  der  Geliebte  soUte  erfüllen,  was  ihm  selber  versagt  geblieben 
war.  So  erzogen  und  veredelten  sie  sich  gegenseitig.  Die  ideale  Päderastie, 
die  die  großen  griechischen  Geister  so  laut  gepriesen  haben  und  die  in  ver- 
änderter Form  auch  im  Christentum  fortlebte,  ist  eine  Vertiefung  und  Ver- 
innerlichung  des  für  die  menschliche  Kultur  so  wichtigen  pädagogischen 
Verhältnisses  zwischen  der  jüngeren  und  der  älteren  Generation.  Man  muß 
die  antiken  Schriftsteller  selber  lesen,  um  inne  zu  werden,  wieviel  echt  reli- 
giöse Empfindung  in  das  päderastische  Verhältnis  hineingelegt  wurde. 

Ähnlich  war  es  mit  den  Liebesverhältnissen  der  Frauen  untereinander. 
Auch  das  jugendliche  Mädchen  blickt  zu  der  reifen  Frau  mit  Bewunderung 
und  leidenschaftlicher  Zuneigung  auf.  Es  wiU  ihr  gleich  werden.  Der  Marien- 
kultus der  Nonnen  und  weltlichen  Christinnen  ist  nur  zu  verstehen,  wenn 
man  ihn  aus  dem  begreiflichen  Liebesverlangen  erklärt,  das  jüngere  oder 
imvollkommenere  Menschen  gegenüber  reiferen  und  vollkommeneren  Ge- 
schlechtsgenossen empfinden.  Und  andererseits  neigt  sich  die  alternde  Frau 
zu  heranwachsenden  Mädchen,  um  sie  zu  büden  und  voller  Leidenschaft  die 
Jugend  und  Schönheit  in  ihnen  anzubeten,  die  ihr  selber  entschwunden  oder 
von  jeher  versagt  geblieben  ist.  Hat  man  nicht  bemerkt,  daß  besonders  die- 
jenigen Frauen,  die  von  der  Natur  stiefmütterlich  behandelt  oder  aus  irgend- 
einem Grunde  nicht  zur  weiblichen  Vollendung  und  Befriedigung  gekommen 
sind,  ihre  Liebesfähigkeit  gern  glücklicheren  und  womöglich  jüngeren  Ge- 
nossinnen zugute  kommen  lassen?  In  ihnen  werden  auch  sie  glückhch;  in 
deren  Befriedigung  finden  sie  Trost  und  Kraft  zur  Entsagung. 

Wir  erkennen  ausdrücklich  an,  daß  hierin  etwas  Großes  und  Wertvolles 
liegt.  Aber  daraus  folgt  weder,  daß  die  Homosexuahtät  eine  normale  Er- 
scheinung, noch  gar,  daß  sie  das  erstrebenswerte  Ideal  des  erotischen  Lebens 
ist.  Wir  verbitten  es  uns,  daß  unsere  homosexuellen  Zeitgenossen  ihre  Form 
der  Liebe  als  die  höhere,  die  himmlische  preisen,  ebenso  wie  wir  es  uns  ver- 
bitten, daß  die  Enthaltsamen  die  sexuelle  Entsagung  und  die  Unfähigkeit 
zur  normalen  erotischen  Betätigung  als  Ziel  des  Menschentums  und  Einheit 
mit  Gott  preisen.  Wer  das  tut,  ist  ein  Verräter  an  der  Religion  der  Norm,  die 
die  Religion  des  neuen  Europa  ist.  Jede  sexuelle  Abnormität,  und  mag  sie 

219 


in  noch  so  heiligem  und  unschuldigem  Gewände  auftreten,  verhindert  die 
Vereinheitlichung  von  Seele  und  Leib  und  damit  die  Harmonie  des  Lebens. 
Die  Geschlcchtlichkeit  muß  zugleich  sinnlich  und  seelisch  sein;  nur  dann 
erhöht  und  erlöst  sie  den  ganzen  Menschen.  Griechenland  hat  den  Versuch 
gemacht,  diese  volle  Erlösung  mit  Hilfe  der  Homosexualität  zu  erreichen: 
die  tiefe  und  große  Liebe  des  Griechen  war  meist  gleichgeschlechtlich.  Aber 
dieser  Versuch  mußte  scheitern,  weil  er  alle  natürlichen  Instinkte  schwächte 
und  zerstörte ;  der  Piatonismus  und  Uranismus  hat  sich  bitter  an  dem  ganzen 
Volke  gerächt. 

Die  sexuelle  Krise,  von  der  heute  so  viel  die  Rede  ist,  hat  für  die  Frauen 
noch  höhere  Bedeutung  als  für  die  Männer.  Die  Männer  haben  sich  von  jeher 
erlaubt,  ihr  sexuelles  Leben  möglichst  ihrer  Neigung  gemäß  einzurichten, 
während  sie  den  Frauen  eine  strenge  Regelung  vorschrieben  und  ihnen  viel 
Enthaltsamkeit  zumuteten.  Der  normale  Mann  wird  heute  nur  durch  Sug- 
gestionen von  zwingender  Gewalt  zur  Homosexualität  oder  zum  Mönchs- 
ideal verführt  werden.  Bei  den  Frauen  liegt  es  viel  näher,  daß  sie,  wenn  nicht 
zum  homosexuellen,  so  jedenfalls  zum  enthaltsamen  Lebensideal  gelangen. 
Ihr  wird  von  der  Gesellschaft  und  auch  von  ihren  weiblichen  Instinkten 
fortwährend  Ablenkung  und  Vergeistigung  des  sexuellen  Triebes  gepredigt. 
Sie  darf  keinen  sexuellen  Gedanken  und  Wünschen  nachgeben,  sie  soll  und 
will  sich  den  Anschein  geben,  als  ob  sie  rein  geistig  empfinde  und  begehre. 
Daraus  muß  sich  bei  nervösen  Mädchen,  wenn  ihre  seelische  Persönlichkeit 
gut  entwickelt  ist,  fast  notwendig  die  Neigung  zur  Klosterfrau  und  der  alten 
Jungfer  ergeben.  In  unseren  Frauen,  und  nicht  bloß  in  den  überspannten, 
findet  das  Ideal  der  reinen  Geistigkeit  seine  festeste  Stütze.  Bei  ihnen  ist  es 
am  engsten  mit  allen  edlen  und  tüchtigen  Regungen  verknüpft  und  zeigt 
seine  schönsten  und  verführerischsten  Seiten.  Der  Priester  der  Zukunft  muß 
nur  den  Weg  finden,  die  Keuschheitshebe  der  Frau  von  der  Verbindung 
mit  der  hysterischen  Gottsüchtigkeit  und  heuchlerischen  Frömmelei  zu 
lösen,  die  dm-chaus  nicht  notwendig  ist.  Dann  wird  zur  Beilegung  der  sexuel- 
len Nöte  weit  mehr  getan  sein,  als  wenn  man  den  Befürwortern  der  soge- 
nannten freien  Liebe  nachgibt. 

Es  soll  jedoch  nicht  geleugnet  werden,  daß  die  zahlreichen  Prediger  der 
sexuellen  Befreiung,  die  heute  ihre  Stimme  erheben,  auf  ihre  Weise  für  die 
Religion  der  Norm  wirken  wollen.  Die  Gründe  gegen  das  Ideal  der  reinen 
Geistigkeit,  die  sie  anführen,  sind  richtig,  sind  auch  von  uns  soeben  geltend 
gemacht  worden.  Jene  Prediger  der  sexuellen  Befreiung  sind  um  so  höher 
zu  schätzen,  wenn  sie  persönlich  mit  der  reinen  Geistigkeit  vertraut  sind 
und  ebenso  die  großen  wie  die  gefährlichen  Seiten  des  Entsagungsstrebers 
am  eigenen  Leibe  erprobt  haben.  Nur  wissende  Ehrfurcht  vor  der  Keusch- 

220 


heit  gibt  das  Recht,  das  Entsagungsideal  zu  bekämpfen;  aber  wer  diese 
wissende  Ehrfurcht  besitzt,  der  hat  freilich  nicht  nur  das  Recht,  sondern 
auch  die  Pflicht,  für  die  Norm  gegen  das  Mönchs-  und  Jungfernideal  ein- 
zutreten. 

Der  Priester  der  Zukunft  soll  die  Norm  predigen,  um  so  mehr,  je  weiter  er 
persönlich  von  der  Erfüllung  des  Normideals  entfernt  ist.  Sogar  Nietzsche, 
der  exzentrische  Prediger,  hat  das  erkannt  und  gesagt:  der  Ausnahme- 
mensch soll  einsehen,  daß  die  Regel  mehr  ist  als  die  Ausnahme.  Dieser  Satz 
gilt  gerade  für  das  sexuelle  Gebiet  am  meisten.  Trotz  alles  sonstigen  Reich- 
tums ist  der  Enthaltsame  unsäglich  arm;  und  wenn  er  uns  entgegenhält, 
daß  doch  die  Menschheit  mit  dem  Aufsteigen  zu  höheren  Kulturgraden  auch 
stets  zu  einer  Einschränkung  der  sexuellen  Betätigung  gelangt  sei,  also  die 
sexuelle  Betätigung  offenbar  als  etwas  zu  Überwindendes  betrachte,  so  ver- 
kennt er  den  Sinn  dieser  Einschränkung.  Die  Ehe  ist  deshalb  eine  höhere 
Form  des  sexuellen  Verkehres  als  die  freie  Liebe,  weil  durch  die  Ehe  das 
Liebesempfinden  vertieft  und  das  erotische  Leben  reicher  und  gewaltiger 
wird,  nicht  aber  weil  die  Ehe  eine  Zv/ischenstufe  zur  reinen  Geistigkeit  ist. 
Die  letztere  Anschauung,  der  z.  B.  Paulus  Ausdruck  gegeben  hat,  müssen 
wir  im  Namen  der  Religion  der  Norm  verwerfen.  Paulus  und  ganz  ebenso 
Jesus  erklärten:  am  besten  sei  Ehelosigkeit  und  Kastration;  wer  aber  dies 
Ideal  nicht  erreiche,  solle  sich  wenigstens  mit  einem  Weibe  begnügen.  Die 
Ehe  wird  also  als  Schutzmittel  gegen  die  „Hurerei"  anempfohlen,  also  als 
das  kleinere  von  zwei  Übeln.  —  Dieser  christlichen  Lehre  stellt  die  Religion 
der  Norm  die  andere  Lehre  gegenüber,  daß  die  Ehe  die  höchste  Form  und 
die  beiden  entgegengesetzten  Extreme  tiefere  Stufen  der  erotischen  Kultur 
sind.  Der  Ehelose  steht  tiefer  als  der  Verehelichte,  weil  er  seine  vergeistigten 
Triebe  mit  seiner  Körperlichkeit  nicht  hat  in  Harmonie  bringen  können  und 
das  Ziel  des  Menschen:  VersinnHchung  des  Ideellen,  VernatürHchung  des 
Unnatürlichen  nicht  hat  erreichen  können. 

Hier  greifen  wir  an  die  Wurzel  des  gesamten  Priesterproblems.  Sehen  wir 
uns  die  führenden  Geister  des  Menschengeschlechts  an:  sie  haben  fast  alle 
eine  Neigung  zum  Zölibat  gehabt ;  sie  haben,  um  ihren  hohen  Beruf  ganz  aus- 
füllen, um  ihrem  Gotte  in  aller  Treue  dienen  zu  können,  auf  das  Vollmen- 
schentum für  ihre  Person  verzichten  müssen.  Die  größten  Taten  in  der  Welt 
—  von  was  für  Menschen  sind  sie  getan  worden  ?  Von  Junggesellen  und  alten 
Jungfern !  Selbst  die  Künstler,  denen  man  so  oft  gesteigerte  geschlechtHche 
Bedürfnisse  zugeschrieben  hat,  sind  unsinnlicher  als  jeder  brave  Werktags- 
mensch. Sie  setzen,  wenn  sie  gute  und  echte  Künstler  sind,  den  größten  Teil 
ihrer  Sexualität  in  Kunst  um.  Sie  machen  heiße  Liebesgedichte,  statt  sich 
die  Geliebte  zu  erobern  und  im  Verkehre  mit  ihr  der  drückenden  Spannungen 

221 


ledig  zu  werden.  Sie  gestalten  ihr  Verlangen  und  machen  Kunstwerke  daraus. 
Ganz  ebenso  verfahren  die  Weisen  und  die  religiösen  Geister.  Der  religiös 
geniale  Mensch  entlädt  seine  Sexualität  in  religiösen  Ideen,  in  mythologi- 
schen Gebilden,  in  rituellen  Handlungen.  Seine  Sexualität  ist  ohne  ein  reales 
Objekt;  sie  richtet  sich  nicht  auf  ein  Wesen  des  anderen  Geschlechts,  wie  es 
normal  ist,  sondern  erhält  sich  frei  schwebend.  Auch  die  Künstler  sind  meist 
ohne  ein  normales  sexuelles  Objekt ;  nur  zeitweilig  pflegen  sie  ihre  sublimierte 
Sexualität  an  einem  einzelnen  Wesen  zu  entzünden ;  daher  die  Untreue  und 
..Flatterhaftigkeit"  der  Künstler. 

Selbst  die  Herrscher,  Gesetzgeber,  Staatengründer  sind  oft  sexuell  ent- 
haltsam gewesen.  Sie  wollten  und  konnten  sich  nicht  sexuell  ausgeben,  son- 
dern spannten  ihre  erotischen  Triebe  an  den  Wagen  ihrer  großen  Gedanken 
und  Willensentschlüsse.  Wann  wäre  ein  Mann,  dessen  die  Nachwelt  als  eines 
Helden  und  Halbgottes  gedachte,  ein  behaglicher  Genießer  und  ein  normaler 
Mensch  der  goldenen  Mitte  gewesen  ?  Die  Genießer  haben  ihren  Lohn  dahin 
und  die  arbeitsamen  Menschen  der  Mitte  pflanzen  sich  in  ihren  Kindern  und 
den  bescheidenen  Werken  ihrer  Hände  fort.  Anders  die  Führer  und  Priester, 
die  ,, Repräsentanten"  des  Menschengeschlechts,  die  mit  der  Fahne  des 
Ideals  vor  ihrem  Volke  einherziehen!  Sie  drängen  hinweg  von  der  Norm, 
sie  wollen  und  müssen  auf  das  Glück  und  Leben  ihrer  Brüder  verzichten. 
Sie  sind  zwar  Übermenschen,  aber  doch  zugleich  nur  halbe  Menschen,  sind 
zwar  Ideale,  aber  zugleich  Verzerrungen  menschlichen  Wesens.  Ideal  und 
Verzerrung!  Sollte  \4elleicht  jedes  Ideal  eine  Verzerrung  sein?  Daß  die  Idea- 
listen, die  Träger  des  Idealen  in  der  Welt,  so  oft  verzerrte  Menschen  sind, 
kann  unmöglich  ein  Zufall  sein.  Daß  die  schöpferischen  Geister,  die  wie  der 
Pflug  die  Ackererde  der  Zeit  aufreißen  und  wie  der  Säemann  die  Körner 
hineinwerfen,  so  häufig  unfruchtbare  Geschöpfe  sind,  muß  seine  tiefen 
Gründe  haben. 

Und  die  Menschheit  liebt  und  verehrt  diese  früchtelosen  Blumen,  diese 
veredelten  und  verzerrten  Menschenbilder.  Denken  wir  z.  B.  an  das  Ver- 
hältnis der  Frauenwelt  zu  den  Priestern!  Von  jeher  haben  zwei  Typen  am 
meisten  Gunst  bei  den  Frauen  genossen:  der  Kriegsmann  und  der  Priester. 
Das  Glück  des  Kriegsmannes  bei  den  Frauen  bedarf  wohl  kaum  der  Er- 
klänmg :  Mars  ist  der  berufene  Liebhaber  der  Venus ;  die  Kraft  des  Kriegs- 
mannes weckt  den  Hingebungswillen  des  Weibes  und  flößt  ihr  das  Vertrauen 
ein,  daß  er  sie  und  ihre  gesunde  Nachkommenschaft  zu  schützen  und  zu  er- 
halten imstande  sein  werde.  Aber  woher  das  Glück  des  Priesters  und  seiner 
geistigen  Verwandten?  Dem  Priester  fehlen  die  kräftigen  Arme,  die  er- 
obernde Gesundheit,  der  Wille  und  das  Vermögen,  das  Weib  gegen  die  ganze 
Welt  zu  behaupten  und  tüchtige  Kinder  mit  ihr  zu  zeugen.  Der  Priester  ist 

222 


schwach ;  er  weiß  nur  schöne  Reden  zu  führen  und  sanfte  Augen  zu  machen ; 
wenn  er  Künstler  ist,  weiß  er  süße  Weisen  zu  singen ;  wenn  er  Prophet  und 
Dichter  ist:  von  Himmel  und  Hölle,  Werden  und  Vergehen,  Glück  und  Un 
glück  zu  erzählen.  Wie  kann  er  damit  die  Frauen  in  seine  Netze  ziehen? 
Wenn  er  nur  die  abnormen  Frauen,  die  geborenen  alten  Jungfern,  die  ihm 
ähnlich  geartet  sind,  für  sich  gewänne,  so  wäre  die  Sache  nicht  \Minderbar; 
aber  mitunter  sitzen  die  gesundesten  und  weiblichsten  Frauen  zu  den  Füßen 
der  Priester,  der  Künstler,  der  Weisen  und  Gelehrten.  Wie  erklärt  sich  diese 
scheinbar  instinktwidrige  Vorhebe  des  Weibes  für  den  männUchen  Idea- 
listen ? 

Das  Weib  sucht  und  findet  bei  den  Idealisten  subUmierte  Sexualität. 
Nicht  die  Abwesenheit  des  erotischen  Triebes,  nicht  wdrldiche  Geschlechts- 
losigkeit könnte  und  würde  die  Frau  anziehen,  das  wäre  unsinnig  und  wird 
auch  durch  die  Erfahrung  \\iderlegt ;  nein,  ihre  Liebe  gilt  der  verhaltenen, 
der  vergeistigten  und  dadmrch  in  ge\vissem  Sinne  verstärkten  Geschlecht- 
hchkeit.  Der  priesterliche  Mensch  verbreitet  eine  von  subHmierter  Sexualität 
geschwängerte  Atmosphäre  um  sich;  was  er  sagt,  was  er  tut  und  berührt, 
wird  vergeistigte  Erotik.  Durch  seine  bloße  Gegenwart,  durch  jede  Lebens- 
äußerung vermag  er  befruchtende  Wirkung  auszuüben.  Er  trägt  beständig 
göttliche  Samenkörner  bei  sich  und  schickt  jene  dämonischen  Keime  und 
Fluida  aus,  die  nach  Meinung  der  primitiven  Völker  in  den  Schoß  der  Frauen 
eindringen  und  sie  befruchten.  Der  Priester,  der  Künstler,  der  Philosoph 
versteht  die  Kirnst,  durch  den  Geist  zu  befruchten.  Und  weil  die  Frau  durch 
ihr  ganzes  Dasein  eng  an  die  vegetative  Dumpfheit  des  Trieblebens  gekettet 
ist,  erscheint  ihr  die  Befruchtung,  Befriedigung  und  Erlösung  durch  den 
Geist  so  begehrenswert,  unter  Umständen  begehrenswerter  als  das  normale 
Liebesleben,  das  sie  ja  doppelt  fest  an  das  vegetative  Gattungsleben  knüpft. 

Hier  sehen  wir  recht  klar,  wie  gefähjrhch,  aber  auch  wie  wertvoll  der  prie- 
sterliche Mensch,  der  Ritter  vom  Geiste  für  das  menschliche  Kulturleben 
ist.  Auch  der  Mann  erhegt  dem  vergeistigenden  Einfluß  des  Priesters;  auch 
er  sehnt  sich  nach  Befruchtung  durch  den  Geist.  Nähert  die  Liebe  nicht 
jeden  Menschen  dem  Priestertx^Dus  an?  Die  Liebe  macht  uns  alle  geistiger 
imd  rchgiöser;  je  stärker  sie  ist,  um  so  mehr.  Der  wahrhaft  Liebende  wird 
von  antisinnhchen  Stimmungen  heimgesucht ;  er  wird  phantasiereicher,  poe- 
tischer. Auch  der  gröbste  Bauernknecht  erfährt  die  vergeistigende  Wirkimg 
der  Liebe;  er  verpriestert  sich  durch  sie.  Und  diese  Umwandlung  verheim- 
licht er  nicht  etwa  vor  seiner  Gehebten,  sondern  er  weiß,  daß  er  durch  Ver- 
geistigung seines  Wesens  am  sichersten  ihr  Herz  erobert.  Das  hebende  Weib 
und  überhaupt  jedes  Hebende  Wesen  verlangt  nach  Seele,  verlangt  nach 
Farben,  Tönen,  Rhythmen,  Symbolen,  Ideen,  kurz:  verlangt  nach  Religion. 

223 


Jeder  muß,  wenn  er  sein  eigenes  Herz  genügend  kennt,  dies  zugeben,  Mensch 
sein  heißt:  durch  den  Geist  erlöst  sein  wollen. 

Daher  ist  der  Priester  unentbehrlich;  daher  wendet  sich  die  Frauenwelt 
den  Rittern  vom  heiligen  Geiste  zu;  daher  drängen  sich  alle  Ungeistigen 
um  die  religiösen  Schätze  und  Schatzmeister.  Aber  daher  auch  die  Gefähr- 
lichkeit dieser  schätzehütenden  Geistesritter.  Wenn  wir  noch  einen  Augen- 
bhck  bei  den  Frauen  und  ihrer  Zuneigung  zu  den  Priestern  verweilen  dürfen 
—  wir  kommen  im  letzten  Abschnitt  bei  Besprechung  des  Beichtproblems 
noch  einmal  auf  diese  Verhältnisse  zurück  — :  der  Priester  hat  durch  seine 
geistige  und  geistliche  Beeinflussung  viele  der  besten  Frauen  verdorben  und 
ihr  Leben  zerstört.  Was  trieb  sie  zu  ihm?  Der  Überdruß  an  ihrer,  oft  auch  an 
ihres  Ehemannes  und  ihres  ganzen  Lebenskreises  Ungeistigkeit,  und  die 
Sehnsucht,  sich  und  ihr  Leben  mit  Geist  zu  erfüllen.  Was  tat  der  Priester? 
In  allzuvielen  Fällen  verführte  er  sie  zum  Leben  der  reinen  Geistigkeit ;  er 
vermehrte  ihre  Unzufriedenheit,  entfremdete  sie  dem  Leben  der  Norm,  zog 
sie  in  die  Zauberkreise  der  priesterlichen  Gefühlswelt  hinein  und  predigte 
ihr:  verlasse  alles,  was  du  hast,  und  flüchte  dich  zu  Gott !  Er  stellte  also  seine 
abnorme  Existenz  als  die  ideale  hin,  forderte  die  Menschen  auf,  ihm  nach- 
zufolgen und  wurde  dadurch  zum  Zerstörer,  statt  zum  heilsamen  Befruchter. 

Die  Ritter  vom  Geiste,  und  am  meisten  die  gepriesenen  und  vergötterten 
Ritter  vom  heiligen  Geiste  faßten  ihre  Aufgabe  falsch  auf:  sie  trieben  Ratten- 
fängerei  statt  Erziehung  und  Seelsorge.  Dadurch  haben  sie  sich  so  häufig 
den  berechtigten  Haß  der  gesunden  und  männlichen  Laienwelt  zugezogen. 
Auf  den  Grabstein  vieler  Beichtväter  und  frauengeliebter  Priesterschaften 
könnte  man  den  Satz  schreiben:  ,,sie  verdarben  die  Weiber  und  die  Jugend; 
darum  wurden  sie  von  den  Männern  gehaßt  und  verfolgt." 

Der  Fehler,  den  die  priesterlichen  Führer  der  Menschheit  begangen  haben, 
besteht  darin,  daß  sie  ihre  pathologisch  bedingte  Abneigung  gegen  das  kräf- 
tige Tatleben  und  die  normale  Geschlechtlichkeit  zum  Gesetz  für  alle  erheben 
wollten  oder  wenigstens  zum  Gesetz  für  die  Auserwählten  und  Vorbildhchen. 
Sie  haben  sich  ihre  Abnormität  zum  Verdienst  angerechnet  und  die  nach 
Geist  Dürstenden  glauben  gemacht,  daß  Gott  reiner  Geist  sei  und  der  Mensch 
sich  daher  entsinnlichen  müsse,  um  Gott  gleich  zu  werden.  Ihre  Pfücht  wäre 
umgekehrt  die  gewesen,  alle  aus  dem  normalen  Leben  Hinausdrängenden 
zu  warnen  und  sie  zur  Tat  und  zur  Sinnlichkeit  zurückzuführen.  Sie  hätten 
lehren  müssen:  Gott  ist  Geist  und  Leib;  wir  Priester  sind  nur  Karikaturen 
Gottes ;  wir  sind  zu  schwach,  um  Geist  und  Leib  in  unserer  Person  zur  gött- 
lichen Einheit  verbinden  zu  können. 

Wegweiser  zum  Leben  sollten  die  religiös-sittlichen  Führer  sein.  Wenn 
geisthungrige  Büßerinnen,  wenn  disharmonische  Verächter  des  Leibes  rat- 

224 


suchend  an  ihre  Tür  pochen,  sollten  sie  ihnen  helfen,  die  Disharmonien  zu 
überwinden  und  sich  zur  Norm  durchzuringen. 

Es  ist  begreiflich  und  entschuldbar,  daß  die  Ritter  vom  Geiste  für  ihre 
eigene  Person  eine  Abneigung  gegen  die  Norm  haben,  daß  sie  die  derbe  Sinn- 
lichkeit, das  dumpfe  Triebleben,  das  Werktagswesen  des  Volkes  von  sich 
fernhalten  möchten.  Aber  sie  müssen,  wenn  anders  ihnen  das  königUche 
Amt,  das  sie  bisher  geführt,  auch  in  Zukunft  verbleiben  soll,  diese  Abneigung 
überwinden  und  sich  zu  der  Erkenntnis  erheben,  daß  alles  Geistige  mit  festen 
Ketten  an  das  Leibliche  und  Triebhafte  gefesselt  bleiben  muß.  Gott  ist  die 
Norm!  nicht:  Gott  ist  priesterliche  Geistigkeit  und  Disharmonie!  —  soll 
ihr  Evangelium  lauten.  Wenn  der  Priester  nicht  den  Willen  zur  Norm  pre- 
digen will,  sondern  bei  der  bisherigen  Predigt  des  Willens  zur  Krankheit 
beharrt,  ist  er  ein  schädlicher  Egoist,  ein  Herold  des  Endes.  Das  Evangelium 
der  heiligen  Prediger  lief  leider  nur  zu  oft  auf  diesen  Egoismus  hinaus ;  ihre 
Weisheit  bestand  darin,  das  Volk  von  der  Arbeit  und  der  tapferen  Welt- 
eroberung hinwegzulocken  und  ihm  von  einem  mystischen  Reiche  Gottes 
zu  erzählen,  in  welchem  ewiger  Friede  und  ewige  Tatlosigkeit  herrschen 
werde.  Damit  erklärten  sie  ihr  eigenes  Priesterdasein  für  das  Maß  aller 
Dinge.  Weil  für  sie  das  Weltleben  Verführung  und  Verwirrung  brachte, 
sollten  alle  der  Welt  den  Rücken  kehren.  Weil  ihre  Tätigkeit  und  ihr  Glück 
nur  mit  Hilfe  von  Entsagung,  Einsamkeit  und  anderen  pathologischen  Lebens- 
bedingungen sich  entfalten  konnte,  sollten  alle  pathologisch  empfinden  und 
leben.  Weil  ihnen  das  Weib  eine  teuflische  Circe  und  ein  himmlisches  Ideal  war, 
sollten  alle  das  Weibliche  als  etwas  Teuflisches  und  Göttliches  betrachten.  Der 
Priester  war  bisher  das  größte  Hemmnis  für  die  Menschwerdung  des  Weibes. 

Der  priesterliche  Mensch  soll  einsehen,  daß  seine  Natur  ein  Exzeß  ist,  der 
des  Gegengewichtes  bedarf.  Nicht  nur  um  des  Ganzen  willen,  sondern  auch 
für  sich  selber  soll  er  die  Norm  lieben  und  suchen.  Die  menschliche  Kultur 
erzeugt,  wie  wir  gesehen  haben,  mit  Notwendigkeiten  Abnormitäten  mannig- 
facher Art.  In  jedem  Menschen  steckt  ein  Priester,  weil  jeder  zum  Exzeß 
hindrängt  und  in  zu  starken  oder  zu  schwachen  Reizen  Glück  und  Erhöhung 
sucht.  Es  ist  die  höchste  Zeit,  daß  den  gefährlichen  Folgen  dieses  Strebens 
dadurch  ein  Damm  entgegengesetzt  wird,  daß  die  geistigen  Führer  sich  zur 
Religion  der  Norm  bekennen.  Unwillkürlich  zielt  die  europäische  Kultur 
schon  seit  einigen  Jahrhunderten  dahin.  Ein  großer  Teil  der  christlichen 
Priester  hat  das  Evangelium  Jesu  und  Pauli  Schritt  für  Schritt  verfälscht 
und  verkehrt  und  predigt  heute  im  Namen  Christi  ein  volles  Antichristen- 
tum  (vgl.  meinen  Aufsatz:  Der  heidnische  Lebensweg,  Die  Tat  III,  i).  Möch- 
ten diese  Priester  doch  die  irreführende  Hülle  wegnehmen  I  Möchten  sie  doch 
offen  erklären,  daß  sie  Jesus  und  Paulus  nicht  für  typisch  vorbildliche  Men- 

15  Horneffer,  Der  Priester  II  225 


sehen  halten,  und  daß  deren  Leliren  ihrer  Predigt  der  Norm  in  den  meisten 
Punkten  zuwiderlaufen !  —  Jesus  und  Paulus  haben  den  Ausgleich  zwischen 
den  beiden  religiösen  Extremen:  Rausch  und  Askese,  Ausschweifung  und 
Ansichhalten,  weder  gesucht  noch  gefunden ;  sie  haben  klar  und  deuthch  die 
Zerstörung  der  Einheit  des  Lebens,  nicht  deren  Herstellung  gelehrt. 

Nicht  daraus  machen  wir  den  religiösen  Heroen  der  Vergangenheit  einen 
^'orwurf,  daß  in  ihnen  ein  Rausch-  und  Entsagungswille  lebte,  sondern 
daraus,  daß  sie  dieses  Willens  nicht  Herr  blieben.  Der  Wille  an  und  für  sich 
ist  von  höchstem  Werte;  denn  mit  dem  Rausch-  und  Entsagungswillen  ist 
jene  große  Unbefriedigung  verbunden,  die  rehgiös  so  fruchtbar  geworden  ist; 
auf  ihm  beruht  das  Vorwärts-  und  Aufwärtsdrängen,  das  den  Stolz  aller 
höheren  Kulturen  ausmacht.  Die  Menschen  aber,  in  denen  der  Rausch-  und 
Entsagungswille  zum  Siege  gelangt,  wirken  väe  ein  anreizender  Stoff,  wie 
ein  Gewürz  und  ein  Sauerteig  auf  die  Menschheit.  Sie  sind,  um  das  Wort 
Jesu  noch  einmal  zu  wiederholen:  das  Salz  der  Erde;  ein  ehrendes  Wort, 
das  zugleich  zur  Bescheidenheit  und  klugen  Selbsterkenntnis  mahnt.  Denn 
Salz,  Sauerteig  und  Rauschgift  sind  zwar  gute  und  unentbehrliche  Dinge; 
aber  sie  wollen  mit  Vorsicht  verwendet  sein.  Wer  sie  für  Nahrungsmittel 
nimmt  und  als  hauptsächliche  oder  gar  einzige  Stoffe  genießt,  der  zerstört 
sich  gar  bald.  Das  Salz  soll  würzen;  die  Rausch-  und  Entsagungshelden 
soUen  die  stumpfen  und  ungeistigen  Menschen  anstacheln,  ihnen  das  Blut 
lebhafter  durch  die  Adern  treiben,  ihren  Geist  zum  Reden  und  Khngen 
bringen  und  ihre  ganze  Existenz  erhöhen  und  verschönern. 

Aber  Gift  bleibt  Gift.  Die  exzentrischen  Priester  sind  Gifte.  Der  große 
Prophet  und  Selbstkenner  Sokrates  hat  sich  selber  mit  einer  Bremse  ver- 
glichen, die  dem  edlen,  aber  trägen  Pferde,  Athen  genannt,  aufgesetzt  sei. 
Wie  wohltätig  sticht  diese  Selbstbeurteilung  gegen  die  Anmaßung  so  vieler 
anderer  religiöser  Geister  ab,  die  sich  für  vollkommene  Musterbilder  des 
Menschentums  hielten!  Sokrates  wußte  auch,  daß  er  die  Norm  predigen 
müsse,  obwohl  er  selber  nicht  die  Norm  war.  Er  wußte,  daß  die  Regel  mehr 
ist  als  die  Ausnahme,  das  Pferd  mehr  als  die  Bremse.  Er  hatte  die  heroische 
Selbstverleugnung,  von  der  jene  sich  selbst  vergötternden  Priester  immer 
nur  gesprochen  haben,  ohne  sie  zu  üben.  Sokrates  stand  so  hoch  über  sich 
selber,  daß  er  sich  niemals  als  Muster,  niemals  als  Wissenden  und  Erleuch- 
teten hingestellt  hat.  Er  wollte  dem  Volke  nicht  die  unfehlbaren  Wahr- 
heiten einer  anderen  Welt  verkünden,  wollte  es  nicht  aus  dem  Leben  der  Tat 
und  der  Norm  herauslocken ;  sondern  umgekehrt :  er  wollte  von  der  Weisheit 
des  Volkes  lernen  und  die  Menschen  in  ihrem  Leben  befestigen  und  klären. 
Der  Athener  Sokrates  ist  das  edelste  Beispiel  eines  Predigers  der  Norm, 
das  wir  überhaupt  kennen. 

226 


Der  Grieche  warnte  gern  sich  und  andere  vor  einer  bösen  Eigenschaft,  die 
er  Hybris  nannte.  Die  Hybris  ist  stets  ein  Ausfluß  der  Disharmonie.  Wer 
sich  mit  sich  selber  und  mit  dem  engeren  und  weiteren  Lebenskreise,  inner- 
halb dessen  er  wirkt,  in  Harmonie  fühlt,  kann  nie  zur  Hybris  verführt  werden. 
Der  Kranke  dagegen,  dem  es  in  seiner  Haut  zu  eng  wird,  sucht  sein  Heil  in 
den  Größengefühlen  und  den  Extravaganzen  der  Phantasie  und  des  Han- 
delns. Im  Grunde  drückt  ihn  das  Bewußtsein  der  Niedrigkeit  und  Schwäche ; 
er  kommt  sich  klein  und  sündhaft  vor;  aber  er  verdrängt  diese  Gefühle, 
indem  er  durch  natürliche  oder  künstliche  Mittel  einen  Allmachtsrausch  in 
sich  erzeugt.  Er  fühlt  sich  in  diesem  Zustande  als  Gott  und  Herr  aller  Dinge ; 
nur  behindert  ihn  der  Leib,  den  er  infolgedessen  als  Kerker  haßt,  und  die 
Welt  der  Wirklichkeit,  die  er  infolgedessen  als  scheinbar  oder  verworfen 
bezeichnet.  Er  lebt  das  Leben  der  Hybris:  er  rasselt  mit  den  Ketten,  die  er 
trägt;  er  stemmt  sich  gegen  die  Mauer,  von  der  er  sich  umschlossen  fühlt; 
er  schreit  nach  Befreiung  und  findet  sie  im  Rausch  und  in  der  Askese. 

Die  Führer  der  Menschheit  sollen  sich  von  der  Hybris  losmachen.  Sie  sollen 
die  Disharmonien  des  Lebens,  die  auf  ihnen  so  viel  schwerer  lasten  als  auf 
den  übrigen  Menschen,  dadurch  überwinden,  daß  sie  den  Riß  zwischen  Ideal 
und  Wirklichkeit,  den  Gegensatz  zwischen  Seele  und  Leib  durch  das  Streben 
zur  Norm  aufheben  und  verschwinden  machen.  Sie  müssen  sich  wie  So krates 
so  fest  wie  möghch  an  die  sinnhche  Welt  knüpfen  und  dem  schlichten  werk- 
täglichem Leben  ihre  Liebe  zuwenden.  Sie,  die  ins  Grenzenlose  schweifen 
möchten,  müssen  das  kleine  begrenzte  Dasein  schätzen  lernen,  sie,  die  in 
allen  Himmeln  und  Höllen  zu  Hause  sind,  müssen  sich  in  die  Wunder  des 
Nächsten  und  Selbstverständlichen  vertiefen.  Die  Priester  der  höheren  Reli- 
gionen haben  so  eindringlich  die  Nächstenliebe  gepredigt,  haben  als  erste 
aller  Tugenden  gefordert,  daß  jeder  an  des  anderen  Schicksal  und  Seelen- 
stimmung mitleidenden  Anteil  nehmen  solle.  Aber  haben  die  Priester  die 
natürhchste  und  wichtigste  Folgerung  aus  ihrem  Gebot  der  Nächstenhebe 
gezogen?  Haben  sie  sich  selber  ohne  Vorbehalt  in  den  Kreis  ihrer  Brüder 
hineingestellt,  haben  sie  mit  ihnen  gearbeitet  und  Feste  gefeiert,  haben  sie 
ihnen  durch  ihr  Vorbild  gezeigt,  wie  sie  sich  immer  fester  aneinander  ketten 
sollen,  damit  jeder  in  dem  andern  seine  Heimat  fände  und  in  sich  selber  ge- 
festigt werde?  Umgekehrt!  Die  Priester  haben  durch  Wort  und  Vorbild 
gemahnt,  daß  man  sich  nicht  zu  fest  an  die  Erde  und  an  die  menschlichen 
Brüder  knüpfen  soUe;  denn  die  wahre  Heimat  des  Menschen  sei  das  Jenseits. 
Sie  haben  Loslösung  und  innere  Entfremdung  gepredigt.  Damit  aber  haben 
sie  ihre  eigene  Disharmonie  zum  Gesetz  und  Vorbild  erhoben ;  denn  die  Los- 
lösung von  der  Welt  erzeugt  notwendig  eine  Entzweiung  des  Menschen  mit 
sich  selber  und  zerstört  sein  inneres  Gleichgewicht.  Statt  Mitleid  mit  den 

15*  227 


Armen  und  Kranken  sollte  der  Priester  Mittat  mit  den  Gesunden  und  Star- 
ken üben  und  predigen. 

Wie  oft  wollten  die  Ritter  vom  heiligen  Geiste  Früchte  ernten,  die  sie  nicht 
gepflanzt,  die  sie  nur  mit  heißer  Sonne  bestrahlt  und  vorzeitig  zur  Reife 
gebracht  hatten!  Sie  haben  es  den  Menschen  immer  mehr  abgewöhnt,  Freude 
und  Erhebung  aus  dem  täglichen  Wirken  zu  schöpfen  und  religiöse  Erlösung 
in  der  schöpferischen  Tat  zu  finden.  Suchet  euer  Heil  nicht  in  der  Nähe,  son- 
dern in  der  Ferne !  haben  sie  gerufen ;  erwartet  euer  Glück  als  Geschenk  und 
Gnadengabe,  nicht  als  Frucht  eures  männlichen  Schaffens  und  Liebens !  Sie 
haben  alles  darangesetzt,  die  Menschen  zu  entwurzeln  und  zur  Beute  extremer 
Stimmungsschwankungen  werden  zu  lassen.  Die  Menschen  sollten,  wie  die 
Priester  selber,  sich  bald  als  Gott,  bald  als  Nichts  fühlen,  sollten  bald  zittern, 
bald  ausschweifend  prahlen.  Wäre  es  nicht  an  der  Zeit,  daß  die  Priester  be- 
gännen, ihrer  Predigt  den  entgegengesetzten  Inhalt  zu  geben?  Daß  sie  sich 
ein  für  allemal  entschlössen,  die  priesterlichen  Lebenswerte  nicht  mehr  als 
die  normativen  Lebenswerte  anzusehen,  sondern  das  Normative,  wie  es  in 
der  Ordnung  ist,  dem  Normalen  zu  entnehmen?  Die  trübe  und  entgötterte 
Welt  der  Gegenwart  würde  ein  ganz  anderes  Gesicht  ge^vinnen,  wenn  ihre 
rehgiösen  Führer  die  große  Bescheidenheit  lernten,  die  Sokrates  von  Athen 
besaß,  jene  Bescheidenheit,  die  sich  mit  echtem  Stolz  vermählt  und  auch 
um  sich  her  stolze  Bescheidenheit  verbreitet.  Die  Predigt  des  Priesters  soll 
sein :  der  Mensch  vergöttlicht  sich  durch  die  erobernde  Tat ;  er  wird  in  dem 
Maße  frei,  als  er  das  Glück  nicht  mehr  von  außen  und  oben  erwartet,  sondern 
es  selber  erschafft,  und  wird  in  dem  Maße  Gott,  als  er  wirkt  und  sich  mit  den 
Brüdern  gemeinsam  auferbaut. 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  noch  einmal  das  Verhältnis,  das  unserer  Meinung 
nach  zwischen  den  geistigen  Führern  und  dem  Volke  obwalten  sollte, 
mit  wenigen  Worten  umschreiben.  In  diesen  Führern  lebt  ein  starker  Wille  zur 
Krankheit  und  Normwidrigkeit.  Um  so  mehr  müssen  sie  die  Norm  suchen 
und  verehren,  und  wenn  sie  für  ihre  eigene  Person  nicht  zur  Norm  gelangen 
können,  als  Prediger  und  Vorkämpfer  der  Religion  der  Norm  auftreten.  Wir 
haben  nicht  das  Recht,  sie  wegen  ihrer  Abirrungen  von  der  Norm  anzu- 
klagen, solange  sie  dieselben  als  solche  erkennen  und  sich  ihrer  nicht  rühmen. 
Wir  wissen,  daß  sie  an  ihren  Abnormitäten  schwer  zu  tragen  haben  und 
ihnen  für  ihre  eigenen  Leistungen  viel  verdanken.  Aber  wir  dürfen  verlangen, 
daß  sie  sich  der  Verantwortung  bewußt  sind,  die  sie  als  Führer  und  Erwecker 
des  leicht  bestimmbaren  Volkes  übernehmen.  Ihnen  allen  ist  das  Wort  ge- 
sagt: ,,Arzt,  hilf  dir  selber!"  Sie  alle  sind  Ärzte,  die  sich  selber  nicht  zu  helfen 
vermögen  imd  deshalb  Gnmd  ziu:  Bescheidenheit  haben,  auch  Grund  dazu, 

228 


vom  Volke,  indem  sie  ihm  helfen,  ihrerseits  zu  lernen  und  dankbar  zu  empfan- 
gen. Sie  sollen  sich  an  den  Tisch  des  vollen  derben  Lebens  setzen,  und  wenn 
die  Speisen,  die  dort  aufgetragen  werden,  ihrer  empfindlichen  Konstitution 
nicht  behagen,  so  sollen  sie  trotzdem  nicht  anfangen  zu  schelten  oder  mit 
saurem  Gesicht  von  dannen  gehen,  sondern  sollen  mit  Offenheit  sich  selber 
anklagen  und  das  Volk  ermahnen,  dem  Leben  treu  zu  bleiben  und  die  er- 
obernde Tatkraft  aufs  höchste  zu  steigern.  Die  Ritter  vom  Geiste  sollen 
dem  Arbeits-  und  Freudenleben  des  Volkes  Würze  geben;  Würze  imd  Er- 
höhungsmittel zu  sein,  ist  ihre  Bestimmung. 


|i|        4.  GLAUBE  UND  LEHRE        IHl 

Bisher  haben  wir  den  heutigen  und  künftigen  Priester  von  der  psychologi- 
schen und  ethischen  Seite  aus  betrachtet.  Wir  suchten  Aufklärung  über  den 
Wert  und  die  Berechtigung  des  heute  und  in  alle  Zukunft  lebendig  bleibenden 
Rausch-  und  Entsagungswillens  der  priesterlichen  Naturen  und  stellten  als 
Lehr-  und  Lebensgrundsatz  der  religiösen  Führer  der  Zukunft  den  Willen 
zur  Norm  auf.  Nunmehr  wenden  wir  uns  zur  Schilderung  der  priesterHchen 
Aufgaben  im  einzelnen  und  treten  damit  erst  an  die  umstrittensten  Fragen 
des  heutigen  religiösen  Lebens  heran. 

Wir  beginnen  mit  dem  Problem  des  Glaubens  und  fragen,  ob  es  auch 
fernerhin  eine  Dogmatik  geben  wird  und  welche  Formen  dieselbe  etwa  an- 
nehmen wird.  Darauf  fragen  wir  nach  der  Zukunft  des  religiösen  Bundes- 
wesens und  des  Kults  und  handeln  zum  Schlüsse  von  dem  rehgiösen  Führer- 
und Seelsorgeramte  im  einzelnen. 

Was  heißt  Glaube?  Wie  kommt  es  zur  Bildung  von  religiösen  Überzeu- 
gimgen  und  woher  der  Drang,  diese  Überzeugungen  auch  in  anderen  Men- 
schen zu  wecken  und  für  unseren  Glauben  durch  sanfte  oder  harte  Mittel  zu 
werben  ?  —  über  die  Herkunft  des  Glaubens  gibt  es  zwei  entgegengesetzte 
Theorien.  Die  erste  Theorie  —  es  ist  die  der  Offenbarungsgläubigen  —  be- 
hauptet folgendes.  Der  Glaube  werde  dem  Menschen  von  der  Gottheit  ins 
Herz  gelegt  und  zwar  ein  bestimmter,  inhaltlich  ein  für  allemal  feststehender 
Glaube.  Jeder  gesundsinnige  und  brave  Mensch  bekenne  sich  zu  den  christ- 
lichen Dogmen;  er  könne  gar  nicht  anders,  falls  ihm  dieselben  nur  in  der 
richtigen  Weise  vorgetragen  und  unter  götthcher  Mitwirkung  einleuchtend 
gemacht  würden.  Von  Unfreiheit  und  Zwang  sei  dabei  keine  Rede;  denn  die 
christlichen  Dogmen  seien  nichts  anderes,  als  der  natürliche  Ausdruck  des 
menschlichen  Denkens  über  Welt  und  Ich.  Daher  würden  auch  die  Jugend 
und  die  noch  unchristlichen  Völker  freier,  reicher  und  gesunder,  wenn  man 

229 


sie  in  der  christlichen  Dogmatik  unterweise  und  ihnen  die  christlichen  Glau- 
benslehren durch  pädagogische  Veranstaltungen  zum  unverlierbaren  Eigen- 
tum mache. 

Das  ist  die  eine  Theorie  über  den  Glauben.  Alle  Of fenbarungsrehgionen  be- 
kennen sich  zu  ihr.  Das  Schlimme  ist  nur,  daß  diese  Religionen  in  ihren  Glau- 
benslehren nicht  übereinstimmen.  Die  eine  verwirft,  was  die  andere  für  eine 
heilige  und  unentbehrliche  Glaubenswahrheit  erklärt.  Die  Priester  der  einen 
müssen,  wenn  anders  sie  ihrem  Glaubensgrundsatz  treu  bleiben  wollen,  die 
Bekenner  der  anderen  für  verstockt  und  böswillig  oder  für  geisteskrank 
halten.  Wenn  sie  mit  ihnen  als  Freunden  verkehren  und  nicht  alles  ver- 
suchen, mn  sie  zum  , »wahren  Glauben"  hinzuführen,  vernachlässigen  sie  ihre 
wichtigste  Priesterpflicht  und  beschwören  den  Zorn  Gottes  —  der  sich  durch 
das  bloße  Dasein  der  ,, Ungläubigen"  beleidigt  fühlen  muß  —  auf  sich  herab. 
Priester  einer  OffenbarungsreUgion,  die  nicht  unentwegt  Proselyten  werben 
und  die  Teufelskünste  Andersgläubiger,  zumal  wenn  dieselben  vom  rechten 
Glauben  ,, abgefallen"  sind,  kraft  ihres  heiligen  Lehrauftrages  verfolgen  und 
entlarven,  sind  Verräter  an  ihrem  Gott  und  glauben  in  ihrem  Herzen  nicht 
das,  was  sie  mit  ihrem  Munde  bekennen,  nämlich  daß  die  Glaubenssätze 
ihrer  Kirche  auf  unmittelbaren  Verkündigungen  Gottes  beruhen  und  daher 
notwendige  Heilswahrheiten  sind. 

Europa  hat  sich  von  dieser  Glaubenstheorie  mehr  und  mehr  abgewandt, 
hat  den  heiligen  Eifer  der  Priester,  die  ihr  treu  anhingen,  als  lästigen  Dünkel 
und  aafdringHche  Beschränktheit  verurteilt  und  ihre  tapferen  Angriffe  und 
Verteidigungen  gegen  Andersgläubige  als  ,, Theologengezänk"  verspottet. 
Die  Priester  selber  sind  an  ihrer  Theorie  irre  geworden  oder  vertreten  sie 
wenigstens  mit  so  großer  Zaghaftigkeit  und  praktischer  Inkonsequenz,  daß 
man  die  Langmut  des  dogmatischen  Offenbarungsgottes  be wundem  muß, 
der  sich  so  nachlässige  Diener  gefallen  läßt. 

Die  zweite  Theorie  ist  die  der  reinen  Wissenschaft.  Dieselbe  lehrt,  daß 
der  Glaube  nur  durch  die  sinnliche  Erfahrung  und  das  vernünftige  Denken 
zustande  komme,  daher  auch  nie  über  die  Grenze  hinausgehen  dürfe,  die 
dem  sinnlichen  und  logischen  Erkennen  des  Menschen  gesteckt  sei.  An  Dog- 
men zu  glauben,  könne  nur  geistigen  Kindern  in  den  Sinn  kommen;  denn 
Dogmen  seien  unbeweisbare  und  nicht  nachprüfbare  Behauptungen;  ein 
reifer  Mensch  aber  weise  solche  Behauptungen  grundsätzlich  ab  und  ver- 
lange, daß  jede  angebhche  Wahrheit  empirisch  oder  logisch  erwiesen  werden 
könne. 

Diese  Anschauung  hat  für  alle,  die  den  Offenbarungsglauben  aufgegeben 
haben,  etwas  Bestechendes.  Durch  sie  scheint  das  Problem  des  Glaubens  auf 
die  einfachste  Weise  endgültig  gelöst  zu  sein.  Aber  auch  sie  hat  einen  Übel- 

230 


stand,  nämlich  daß  kein  Mensch  sich  wirklich  an  sie  hält.  Jeder,  und  sei  er 
der  vorsichtigste  und  kritischste  Gelehrte,  glaubt  an  viele  Dinge,  die  er 
weder  nachprüfen  noch  beweisen  kann,  glaubt  also  an  Dogmen.  Er  bildet 
sich  allgemeine  und  allgemeinste  Ansichten,  deren  Voraussetzungen  jen- 
seits der  wissenschaftlichen  Forschung  liegen.  Daher  haben  die  Philosophen 
sich  genötigt  gesehen,  eine  dritte  Theorie  aufzustellen,  die  zwischen  der 
ersten  und  der  zweiten  zu  vermitteln  sucht.  Diese  Philosophen  erklären, 
daß  der  Glaube  und  das  Wissen  zwei  getrennte  Welten  bilden,  die  einander 
niemalsberühren,  zweiReiche,  die  miteinander  nie  in  Streit  geraten  können.  Die 
empirisch-logische  Wissenschaft  habe  genau  abgrenzbare  Rechte  und  Kräfte. 
Unabhängig  von  ihr  baue  sich  der  Glaube  auf.  Auf  die  Frage,  was  wir  denn 
nun  glauben  müßten  und  warum,  antwortete  Kant:  der  Glaube  gründe  sich 
auf  die  sitthchen  Lebensbedingungen  des  Menschen;  wir  hätten  den  Glau- 
ben, der  praktisch  notwendig  sei.  Da  erhob  sich  denn  die  weitere  Frage, 
welche  Glaubenssätze  notwendig  und  dem  handelnden  Menschen  unent- 
behrlich seien.  Man  antwortete:  die,  welche  allen  Religionen  gemeinsam 
sind.  Die  Philosophen  gingen  also  daran,  auf  Grund  der  angebhchen  Über- 
einstimmung aller  Menschen  eine  Art  Mindestprogramm  des  Glaubens  auf- 
zustellen. Dieses  Mindestprogramm  erhielt  den  Namen :  natürliche  Religion. 
In  der  Regel  gab  man  der  natürlichen  Rehgion  drei  Dogmen:  den  Glauben 
an  Gott,  an  die  UnsterbUchkeit  der  Seele  und  an  die  menschhche  Freiheit. 
Im  i8.  Jahrhundert,  zum  Teil  noch  im  19.  und  20.  Jahrhundert  finden  wir 
bei  vielen  Rittern  und  Freunden  des  Geistes  die  Überzeugung,  daß  diese 
drei  Dogmen  unverlierbare  und  unentbehrHche  Wahrheiten  seien.  Ohne  sie 
sei  kein  Kulturleben  und  überhaupt  kein  menschenwürdiges  Dasein  möglich. 
Die  Wissenschaft  werde  niemals  imstande  sein,  in  das  Gehege  dieser  natür- 
Hchen  Religion  einzudringen. 

Aber  die  Wissenschaft  heß  sich  durch  die  glaubensfreudige  Bewegung,  die 
wir  als  Romantik  zu  bezeichnen  pflegen,  und  die  mit  und  ohne  Kant  das 
neuere  Europa  zu  erobern  begann,  nicht  einschüchtern.  Sie  wies  vor  allem 
nach,  daß  man  sich  unter  den  drei  Worten :  Gott,  Freiheit,  Unsterbhchkeit 
sehr  verschiedene  Dinge  denken  könne;  welche  Auffassung  die  richtige 
und  notwendige  sei,  stehe  dahin.  Femer  wies  sie  nach,  daß  die  Völker  und 
Zeiten  in  der  Tat  so  erhebhche  Unterschiede  in  der  Formulierung  der  soge- 
nannten natürHchen  Glaubenssätze  zeigen,  daß  von  einer  Einheithchkeit 
des  Glaubens  nicht  die  Rede  sein  könne.  Z.  B.  hat  ein  so  hochstehendes  Volk 
wie  die  Griechen  nicht  an  den  Gott  geglaubt,  den  das  philosophische  und 
theologische  Europa  der  neueren  Zeit  für  unentbehrhch  hält.  Die  Griechen 
der  starken  älteren  Zeiten  glaubten  zwar  an  Götter,  d.  h.  an  Kräfte  und 
Willensenergien  im  Weltall,  aber  nicht  an  Gott,  d.  h.  nicht  an  eine  allgütige 

231 


und  allweise  Weltregierung.  Der  allmächtige  Schöpfer  und  Erhalter  fand 
erst  in  den  Zeiten  des  sinkenden  Altertums  Gläubige,  Auch  der  Glaube  an 
die  Unsterbhchkeit  war  im  Altertum  nur  teilweise  und  in  ganz  anderem 
Sinne  lebendig  als  heute.  Wenn  die  Völker  sich  über  das  Schicksal  der  Toten 
Gedanken  machen  und  nicht  an  deren  sofortige  Vernichtung  glauben  wollen, 
so  sind  sie  doch  oft  weit  entfernt,  das  Fortleben  für  ein  ewiges  zu  halten. 
Und  sie  geben  dem  zweiten  Leben  einen  Inhalt,  der  ganz  und  gar  nicht  dazu 
angetan  ist,  es  in  einem  idealen  Lichte  erscheinen  zu  lassen  und  seinen  sitt- 
lichen Wert  außer  Zweifel  zu  stellen.  Trotzdem  lebten  diese  Völker,  waren 
stark  und  schön  und  fanden  sich  mit  den  menschlichen  Aufgaben  vielleicht 
besser  ab,  als  die  christlichen  Philosophiepriester  mit  den  ihrigen. 

Der  Glaube  ist  nicht  unabhängig  von  der  Wissenschaft;  er  ist  aach  durch 
viele  andere  Umstände  beeinflußbar  und  wandelt  sich  mit  den  Kräften  und 
Schicksalen  seiner  Bekenner.  Die  Wissenschaft  der  letzten  Jahrhunderte  hat, 
im  Bunde  mit  dem  neuen  Lebensgefühl  unserer  Zeit,  Glaubensburgen  er- 
stürmt oder  wenigstens  erschüttert,  die  man  vor  hundert  Jahren  noch  für 
uneinnehmbar  hielt.  Der  erkennende  und  der  handelnd  erobernde  Mensch 
ist  in  das  verbotene  Land  des  rehgiösen  Glaubens  hineingeschritten,  ohne 
auf  die  Warnungen  der  ängstlichen  Begriffskünstler  zu  hören  und  ohne  sich 
durch  das  Geschrei  der  despotischen  Glaubenswächter  irremachen  zu  lassen. 

Die  Kräftigen  wissen  (oder  fühlen,  ohne  es  sich  einzugestehen),  daß  das 
künftige  Europa  ohne  jene  drei  Dogmen  der  natürhchen  Religion  nicht  bloß 
leben  kann,  sondern  leben  wird,  wenn  anders  es  der  reichen  Güter  teilhaftig 
werden  will,  die  die  vergangenen  Geschlechter  in  treuer  Arbeit  aufgehäuft 
haben.  Die  Kunde  von  diesem  neuen  Leben  ist  zwar  noch  nicht  zu  allen 
gedrungen,  aber  wenn  auch  nur  ein  kleiner  Kreis  von  Menschen  imstande 
wäre,  ohne  diese  Dogmen  nicht  nur  ein  menschenwürdiges,  sondern  ein 
schönes  und  fruchtbares  Dasein  zu  führen,  wäre  die  Theorie  von  der  natür- 
lichen Rehgion  und  ilirer  Unabhängigkeit  von  den  wissenschaftlichen  For- 
schungen bereits  widerlegt. 

Wir  werden  wohl  zu  der  einfachen  unphilosophischen  Anschauung  zurück- 
kehren müssen,  daß  Glaube  und  Wissen  durcheinander  bedingt  sind  und  in 
Wechselwirkung  miteinander  stehen.  Die  Wissenschaft  allein  schafft  den 
Glauben  nicht,  aber  sie  gibt  den  Stoff  her,  mit  dem  der  Mensch  und  seine  Zeit 
sich  einen  Glauben  bilden.  Die  von  der  persönlichen  und  der  allgemeinen 
Erfahrung  geheferten  Materialien  werden  auf  Grund  des  Lebensgefühls  der 
Epoche  und  des  Einzelnen  verarbeitet.  Der  Grad  und  die  Richtung  dieser 
Verarbeitung  sind  sehr  mannigfaltig.  Bald  wirkt  die  äußere  Suggestion  stär- 
ker, bald  schwächer,  bald  wird  mehr  der  theoretische,  bald  mehr  der  prak- 
tische Gehalt  des  empirisch-logischen  Glaubensstoffes  aufgefaßt  und  einver- 

232 


leibt.  Der  Mutige  und  Männliche  greift  lebhaft  in  die  gegebenen  Tatsachen 
ein  und  gestaltet  sie  auf  Geheiß  seines  Eroberungswillens  zu  einem  macht- 
vollen Ganzen ;  der  Ängstliche  und  Schwache  wagt  nicht,  aus  den  Tatsachen 
weitreichende  Schlüsse  zu  ziehen,  wählt  auch  nur  gewisse,  seinem  Seelen- 
zustande  genehme  Tatsachen  aus  und  läßt  die  ergänzenden  unbeachtet,  weil 
er  ihnen  nicht  gewachsen  ist. 

Also  das  Gestaltende  ist  das  Lebensgefühl,  die  Willensorganisation.  Der 
Wille  bemächtigt  sich  der  Erfahrung-  und  Wissensschätze  und  schafft  aus 
ihnen  ein  Gefüge  von  Grundsätzen,  also  eine  Dogmatik.  Jeder  Glaube  ver- 
dankt seine  Entstehung  dem  Drange,  eine  Verbindung  zwischen  Gemüts- 
bedürfnissen und  empirisch-theoretischen  Daten  herzustellen.  Es  wirkt  stets 
beides  zusammen:  das  Persönliche  und  das  Objektive,  der  durch  das  Wort 
,, Offenbarung"  umschriebene  psychologische  Tatbestand  und  die  Wissen- 
schaft. Von  dem  Stärkeverhältnis  der  beiden  glaubenzeugenden  Faktoren 
hängt  es  ab,  welcher  von  beiden  das  Ergebnis  in  höherem  Grade  beeinflußt. 
Der  Wahnkranke  weist,  wie  wir  früher  sahen,  die  äußeren  Tatsachen,  seien 
sie  auch  noch  so  zwingend,  ab  und  räumt  ihnen  keinen  Einfluß  auf  seine 
Glaubensbildung  ein;  mindestens  verändert  und  verschiebt  er  sie  bis  zur 
Unkenntlichkeit.  Auch  bei  Kindern  und  geistig  zurückgebliebenen  Menschen- 
gruppen, aber  auch  bei  erregten,  innerlich  und  äußerlich  bedrängten  Men- 
schen finden  wir  eine  sehr  geringe  Fähigkeit  und  Bereitwilligkeit,  die  ge- 
gebene Welt  richtig  zu  sehen  und  das  Gesehene  zum  Aufbau  ihrer  Glaubens- 
welt zu  verwerten.  Das  hegt  entweder  an  der  zu  groben  Organisation  oder 
der  krankhaften  Veränderung  ihrer  seelischen  Funktionen.  Die  Bewußt- 
seinsorgane arbeiten  bei  ihnen  mangelhaft  und  können  sich  der  Tätigkeit 
der  unbewußten  Regungen  gegenüber  nicht  genügend  Geltung  verschaffen. 
Wir  erkannten,  daß  die  Arbeit  des  bewußten  Seelenlebens  auch  bei  den 
höchstorganisierten  und  klardenkendsten  Geistern  von  der  des  unbewußten 
Seelenlebens  abhängig  ist.  Die  Triebregungen  beeinflussen  die  Richtung  des 
Denkens  und  greifen  in  die  Tätigkeit  der  Sinnenapparate  ein.  Aber  das  ge- 
schieht in  viel  geringerer  und  geregelterer  Weise.  Das  Wichtigste  ist,  daß  die 
Bewußtseinstatsachen  überhaupt  zur  Verarbeitung  gelangen  und  auf  das 
Leben  der  Tiefe  entscheidenden  Einfluß  ausüben  können.  Wir  schreiben 
einem  Menschen  und  Volke  einen  um  so  höheren  Kulturgrad  zu,  je  mehr  das 
der  FaU  ist.  Insofern  ist  die  Stellung  zur  Wissenschaft — das  Wort  Wissenschaft 
im  weitesten  Sinne  genommen  —  ein  vorzüglicher  Gradmesser  der  Kultur. 

Nehmen  wir  den  Dämonenglauben  als  Beispiel,  weil  er  im  Mittelpunkte  der 
bisherigen  Glaubensbildung  gestanden  hat.  Der  Glaube  an  Geister  ist  die 
natürlichste  und  nächstliegende  Synthese  zwischen  sehr  starken  mensch- 
lichen Gemütsbedürfnissen  und  zahllosen,  wenn  auch  oberflächlichen  intel- 

233 


lektuellen  Erfahrungen.  Es  schien  unmöglich,  daß  die  Menschheit  je  von 
diesem  Glauben  loskommen  würde,  und  bisher  halt  auch  die  erdrückende 
Mehrzahl  der  Menschen  noch  an  ihm  fest.  Trotzdem  hat  sich  ein  Teil  der 
geistig  Führenden  von  ihm  freigemacht,  augenscheinlich  deshalb,  weil  der 
Intellekt  den  Verzicht  auf  ihn  erzwang.  Denn  unserem  Lebensgefühl  wider- 
streitet der  Dämonenglaube  doch  nicht  in  so  hohem  Grade,  daß  er  deshalb 
aufgegeben  werden  müßte.  Zumal  in  Gestalt  der  christlichen  Dogmatik 
kommt  der  Dämonenglaube  den  Gefühlsbedürfnissen  auch  des  modernen 
Menschen  aufs  beste  entgegen;  er  beruhigt  und  gibt  sitthche  Stärke.  Seine 
allmähhche  Verdrängung  kann  daher  nur  durch  seine  Unvereinbarkeit  mit 
den  Ergebnissen  der  erstarkten  Erkenntnis-  und  Beobachtungstätigkeit  ver- 
anlaßt sein.  Die  Wissenschaft  verbietet  uns  den  Dämonenglauben  und  keiner, 
dessen  Wahrheitsliebe  und  intellektuelle  Kraft  hinreichend  entwickelt  ist, 
kann  sich  diesem  Verbote  entziehen. 

Viele  kommt  es  sehr  hart  an,  die  christlichen  Heilsdogmen  fahren  zu  lassen ; 
warum  tun  sie  es  trotzdem?  Warum  kämpfen  die  Besten  und  Redlichsten 
aus  jeder  Priestergeneration  von  neuem  den  schweren,  zermürbenden  Kampf 
des  Zweifels,  bis  sie  zum  Unglauben  an  die  schöne  tröstliche  Wunderwelt  des 
Dämonenglaubens  gelangen?  Dieser  Kampf  ist  wahrhaftig  nicht  angenehm; 
er  macht  an  und  für  sich  auch  nicht  stärker  und  sittlicher,  sondern  zerstört 
vielmehr  die  freudige  Lebenskraft  und  bringt  den  Kämpfenden  oft  auch  in 
äußere  Nöte  und  Gefahren,  Sorge  und  Schande,  Mutlosigkeit  und  Freud- 
losigkeit sind  für  gar  manchen  die  Früchte,  die  ihm  der  Abfall  von  der  reli- 
giösen Wunder-  und  Gotteslehre  einbringt. 

Der  Christgläubige  lebt  mutig  und  getrost.  Wenn  der  Priester  mit  seiner 
Kirche  in  Eintracht  bleibt,  wenn  er  als  Bundesgenosse  Gottes  und  als  Be- 
auftragter der  gläubigen  Gemeinde  wider  alles  Ungöttliche  kämpfen  darf, 
liegt  ein  Leben  voller  Arbeit  und  Freude  vor  ihm.  Ich  wüßte  nichts  Befrie- 
digenderes als  ein  solches,  neuerdings  wieder  von  dem  Bischof  Keppler  an- 
ziehend geschildertes  Christen-  und  Priesterleben  (in  dem  Buche  ,,Mehr 
Freude"),  wenn  nur  die  objektiven  Grundlagen  dieses  Lebens  nicht  so  mangel- 
haft wären.  Hätte  Jesus  recht,  daß  er  die  Wahrheit  und  das  Leben  sei,  hätte 
die  Kirche  recht,  daß  ihr  Dogmengebäude  die  naturnotwendige  Deutung  der 
Tatsachen  weit  sei,  so  wären  wir  ja  Toren,  wenn  wir  uns  gegen  das  dogma- 
tische Christentum  sperrten.  Man  muß  sich  wundern,  daß  für  die  gläubigen 
Christen  Keppler  s  Mahnruf  überhaupt  nötig  ist  und  daß  es  so  wenig  Priester 
gibt,  die  ihrem  Glauben  Ehre  machen  und  als  frohe  Gotteskinder  und  unbe- 
siegliche  Gottesboten  ihren  Beruf  durchführen.  Offenbar  steht  der  Glaube 
der  meisten  christlichen  Priester  und  Laien  eben  doch  nicht  so  fest,  wie  sie 
sich  und  uns  glauben  machen  wollen. 

234 


Und  wie  leicht  ist  es,  den  Gläubigen  die  schrecklichen  Folgen  des  Zweifels 
und  Unglaubens  auszumalen !  Die  Ruhe  des  Menschen  ist  hin,  wenn  der  Zweifel 
ihn  packt ;  die  Sterne  erlöschen,  die  Stützen  entweichen,  der  Boden  schwankt. 
Der  Zweifelnde  hört  auf,  ein  Führer  und  starker  Freund  seiner  Mitbrüder  zu 
sein;  er  vermag  niemanden  mehr  aufzurichten,  niemandem  Freude  in  die 
geängstigte  Seele  zu  hauchen,  er  vermag  nichts  zu  schenken,  weil  er  selber 
arm  geworden  ist,  weil  er  sich  als  ein  gebrochenes  heimatloses,  aus  der  Bahn 
gerissenes  Geschöpf  fühlt  (vgl.  Hoensbroech:  14  Jahre  Jesuit).  Warum, 
frage  ich,  bheb  dieser  Mensch  nicht  in  seinem  Heimatlande?  Was  trieb  ihn 
in  die  freudlose  Fremde? 

Nichts  anderes  als  eine  neue  Erkenntnis,  als  ein  neues  Wissen  und  Er- 
fahren hat  ihn  in  die  Bahn  des  Zweifels  geworfen.  Seine  Sinne  und  sein  Ver- 
stand haben  seinen  alten  Glauben  getötet,  haben  ihn  gezwungen,  auf  die 
Wanderschaft  zu  gehen  und  in  die  Schauer  des  Nichts  hinabzutauchen. 
Hätte  er  seine  Sinne  und  Gedanken  im  Zaum  halten  können,  so  wäre  sein 
Leben  auch  fernerhin  glücklich  und  freudig  im  Sinne  Kepplers  verlaufen; 
er  wäre  ein  wackerer  und  reicher  Kämpfer  für  die  alten  Ideale  gebheben. 
Aber  seine  intellektuelle  EhrHchkeit  duldete  das  nicht ;  sie  gewann  den  Sieg 
über  das  Lust-  und  Beharrungsstreben,  das  in  ihm  wie  in  jedem  Menschen 
lebt.  Er  gab  alles  preis  und  ging  ins  Dunkel.  Erst  hinterher,  wenn  es  ihm 
gelang,  die  neue  Erkenntnis  mit  den  Gefühlsbedürfnissen  in  Einklang  zu 
bringen  und  sich  einen  neuen  Glauben  zu  erobern,  wurde  er  dem  Leben 
und  das  Leben  ihm  wiedergeschenkt. 

Darum :  Glaube  und  Wissen  sind  nicht  unabhängig  voneinander ;  der  Glaube 
ist  nicht  niur  ein  Erzeugnis  des  fühlenden  und  sittlich  bedürftigen  Men- 
schen, sondern  zugleich  auch  des  erkennenden  Menschen.  Nietzsche  ist  zu 
weit  gegangen,  wenn  er  behauptet,  der  Mensch  glaube  nur  an  das,  was  ihn 
glücklich  und  stark  mache  und  lehne  alles  ab,  was  sein  Gedeihen  in  Frage 
stelle.  Der  , .Beweis  der  Kraft"  hat  seine  Grenzen !  Der  Erkenntniswille  des 
Menschen  kann  nicht,  wie  Nietzsche  will  (vgl.  namenthch  über  den  ,, Willen 
ziu  Macht  als  Erkenntnis"  im  XV.  Bande  der  Werke),  dem  Machtwillen  ein- 
fach gleichgesetzt  werden.  Es  gibt  eine  bis  zu  einem  hohen  Grade  objektive 
Erkenntniskraft  im  Menschen  und  dieselbe  wirkt  bei  der  Glaubensbildung 
nicht  weniger  mit  als  der  unmittelbare  Macht-  und  Aneignungswille.  Nietz- 
sche hat  aber  mit  vollem  Recht  die  Anschauung  der  Gelehrten  und  unreh- 
giösen  Modernen  zurückgewiesen,  wonach  der  Glaube  sich  einzig  und  allein 
auf  den  mit  Wahrheitshebe  erkämpften  wissenschafthchen  Ergebnissen  auf- 
baut. Diese  Anschauung  ist  oberflächlich  und  weit  unpsychologischer  als  die 
der  Offenbarungsgläubigen  (vgl.  Schnabel:  Rehgion  und  Wissenschaft;  Die 

235 


Tat  III,  6).  Es  ist  hohe  Zeit,  daß  die  Gelehrten,  wenn  sie  schon  ihre  oberfläch- 
liche Anschauung  festhalten  wollen,  wenigstens  etwas  bescheidener  auftreten 
und  sich  nicht  als  \\'issende  und  Führende  im  Reiche  des  Glaubens  gebärden. 

Unter  den  Gelehrten  ist  die  Meinung  verbreitet,  daß  der  Zweifel  das  Gute, 
der  Glaube  das  Böse  sei.  Den  Glauben  nennen  sie  , .Illusion",  ,, Lebenslüge" 
usw.  und  verlangen,  daß  man  sich  von  diesen  Dingen  nach  Möglichkeit  frei- 
halten und  freimachen  müsse.  Dagegen  haben  mit  Recht  sowohl  die  Alt- 
gläubigen als  die  tieferblickenden  Geister  wie  Nietzsche,  Guyau,  James 
Einspruch  erhoben.  W.  James  hat  in  dem  Büchlein  „Der  Wille  zum  Glau- 
ben" (deutsch  von  Lorenz)  offen  erklärt,  daß  der  Glaube  des  Menschen 
bestes  Teil  sei.  Nicht  was  einer  weiß,  sondern  was  er  glaubt,  bestimme  seinen 
Wert  als  geistige  Persönlichkeit.  Ähnlich  haben  sich  auch  Nietzsche  und 
Guyau  geäußert,  und  das  Urteil  dieser  Männer  wiegt  um  so  schwerer,  weil 
sie  die  Quellen  des  Glaubens  nicht  in  einer  übernatürlichen  Welt  suchen  und 
das  Recht  der  Tatsachen  ungeschmälert  gelten  lassen.  Sie  lehren,  daß  der 
Mensch  glauben,  aber  Herr  seines  Glaubens  sein  müsse.  Dadurch  haben  sie 
dem  Priestertum  der  Zukunft  den  Weg  gewiesen. 

Die  Freiheit  des  glaubenden  Menschen  wird  am  schwersten  durch  die  reli- 
giösen Rausch-  und  Entsagungsregeln  beeinträchtigt.  Erregung  und  Er- 
schöpfung berauben  uns  der  Selbstbeherrschung  und  geistigen  Klarheit.  In- 
dem der  Priester  die  Erzeugung  dieser  Zustände  als  Weg  zu  Gott  und  zur 
Wahrheit  pries,  wurde  er  zum  Feinde  des  wahren,  d.  h.  aus  der  Synthese 
von  "U'ille  und  Erkenntnis  geborenen  Glaubens.  Der  Priester  brachte  es  da- 
hin, daß  die  Erkenntnis  als  etwas  Teuflisches,  als  ,,  Versuchung  der  Schlange" 
aufgefaßt  wurde;  er  schrieb  der  Gottheit  ein  erkenntnisfeindliches  Rausch- 
und  Traumdasein  zu.  Er  erklärte  jeden  freien  Geist  für  einen  kalten,  höhni- 
schen Mephistopheles  und  stellte  ihm  den  schlichten  gutgläubigen  Gottes- 
knecht als  religiöses  Ideal  gegenüber.  Vor  allem  klammerte  er  sich  an  die 
Ausschweifung  und  Askese  als  die  besten  teufelbannenden  und  glauben- 
fördernden Mittel  an.  Er  überzeugte  sich  immer  von  neuem,  daß  er  als  gottes- 
trunkener Beter,  als  ekstatischer  Tänzer  und  hungernder  Asket  am  besten 
gegen  den  Zweifel  gefeit  sei,  und  ergab  sich  ganz  dem  seligen  Macht-  und 
Sicherheitsgefühl,  das  er  der  Wirkung  der  glaubenschaffenden  Gottheit  zu- 
schrieb. Er  hatte  recht:  je  weiter  sich  der  Mensch  von  dem  normalen  Seelen- 
zustande  entfernt,  um  so  weniger  ist  er  zur  Aufnahme  und  Würdigung  von 
Erkenntnistatsachen,  zur  Bildung  von  Urteilen  und  zum  prüfenden  Nach- 
denken fähig.  Je  stärker  der  religiöse  Rausch,  um  so  loser  wird  die  Verbin- 
dung mit  der  Außenwelt  und  um  so  dünner  der  Gedankenfaden.  Eine  einzige 
Idee  wird  zur  unumschränkten  Herrin  des  Geistes  und  endlich  erlischt  das 
Bewußtsein  gänzlich:  der  religiöse  Anfall  erreicht  seine  Höhe  und  seinen 

236 


Abschluß.  Das  heutige  Europa  ist  ziemlich  einig  darüber,  daß  die  Priester 
in  ihren  berühmten  inspiratorischen  Zuständen  und  prophetischen  Anfällen 
zwar  Wahrheiten  von  hohem  persönlichen  Wert  und  sittlicher  Kraft  gefun- 
den und  gelehrt  haben,  aber  nicht  Wahrheiten,  die  zugleich  als  wissenschaft- 
liche Ergebnisse  und  als  Früchte  eines  nüchternen  Erkenntniswillens  gelten 
können.  Wissenschaftliche  Forschung  und  religiöse  Ekstase  sind  Gegensätze; 
der  bisherigen  Götter  Weisheit  steht  der  irdischen,  durch  treue  menschliche 
Arbeit  gewonnenen  Weisheit  feindlich  gegenüber. 

Daher  haben  die  Priester  bis  zum  heutigen  Tage  gegen  die  Krankheit  des 
Zweifels  eine  Rausch-  und  Entsagungskur  verordnet.  Der  eigentliche  Zweck 
derBußübungen,Wallfahrten,  Exerzitien,  Gebets- und  Versenkungspraktiken 
ist :  Betäubung  und  Schwächung  des  Erkenntniswillens,  damit  der  Glaubens- 
wille die  Oberhand  erhalte  und  der  mißhandelte  Organismus  sich  in  die  Arme 
rettender  Wahnbildungen  werfe.  Der  Organismus  wird  aufgereizt,  sich  der 
schwer  einverleibbaren  Erkenntnisstoffe  zu  entledigen  und  sich  durch  Phan- 
tasie- und  Gefühlsentfesselung  Erleichterung  zu  verschaffen.  Die  Richtung 
der  Phantasien  ergibt  sich  aus  dem  ererbten,  dem  kindlichen  Geiste  angepaßten 
Dogmenschatze,  den  die  Priester  in  Verwahrung  halten  und  den  Hilfe- 
suchenden zusammen  mit  den  Diätvorschriften  als  Medikamente  verabfolgen. 

Wir  verwerfen  diese  Kur;  aber  es  kann  Umstände  geben,  wo  der  Arzt 
derartige  Kuren  anwenden  muß,  gesetzt,  daß  er  das  Leben  seines  Patienten 
erhalten  will.  Es  gibt  Menschen,  auf  die  die  Erkenntnis  wie  ein  giftiger 
Bazillus  wirkt,  und  auch  stärkere  Menschen  erleben  Schwächezustände,  in 
denen  sie  die  Konflikte,  die  zwischen  dem  Lebensgefühl  und  dem  objektiv 
Gegebenen  sich  erheben,  nur  mit  Hilfe  von  ablenkenden  Rausch-  und  Ver- 
zichtpraktiken zu  beseitigen  vermögen.  Die  christlichen  Priester  führen 
stets  zugunsten  ihrer  Kuren  an,  daß  die  Menschen  durch  den  Zweifel  un- 
fehlbar zugrunde  gerichtet  würden,  daher  man  sie  in  den  Genesungsschlum- 
mer der  alten  Glaubensillusionen  einlullen  und  mit  den  Rauschgefühlen  der 
Gotteskindschaft  und  Auserwähltheit  füllen  und  dadurch  wieder  zu  Kräften 
bringen  müsse.  Wir  geben  den  Priestern  zu,  daß  es  solche  Menschen  gibt,  und 
überlassen  dieselben  mit  Freuden  ihrer  Rausch-  und  Traumkur,  zumal  wenn 
diese  Kur  den  Glaubenspatienten  wirklich  lebensfähig  und  tüchtig  macht. 
Wenn  das  nicht  der  Fall  ist,  wenn  die  Patienten  als  büßende  Bekehrte  ebenso 
untätig  sind,  wie  sie  als  Zweifelnde  und  Ungläubige  waren,  tut  der  Priester- 
arzt wohl  am  besten,  keine  Arbeit  an  sie  zu  verschwenden  und  sie  an  der 
Krankheit,  die  sie  ergriffen  hat,  sterben  zu  lassen. 

Der  Zweifel  ist  eine  Krankheit,  aber  wer  stark  genug  ist,  diese  Krankheit 
ohne  künstliche  Medikamente  zu  überstehen,  dem  schlägt  sie  zum  Heile  aus : 
er  erhebt  sich  vom  Krankenlager  zu  einem  neuen  Leben.  Der  Zweifel  bildet 

237 


den  Durchgang  und  Übergang  zum  wahren  gemäßen  Glauben  und  eröffnet 
neue  Kraftquellen.  Die  alten  Priester  haben  richtig  beobachtet,  wenn  sie  als 
Genesungszeichen  die  Einkehr  eines  neuen  Glaubens  angeben ;  eine  Art  Be- 
kehrung muß  stets  den  Abschluß  einer  Zweifelsperiode  bilden.  Aber  der  neue 
Glaube  muß  die  konträren  Tatsachen,  die  den  Zweifel  hervorgerufen  haben, 
in  ihrer  vollen  Kraft  bestehen  lassen  und  sie  als  Glaubensmaterial  verwerten. 
Wenn  der  Zweifel  durch  einen  Rückfall  in  den  alten  Glauben  beendet  wird 
und  der  Zweifelnde  hinfort  vor  den  konträren  Tatsachen  ängsthch  und 
zornig  die  Augen  schließt,  kann  von  Genesung  nicht  die  Rede  sein. 

Die  Priester  haben  auch  darin  recht,  daß  nur  der  glaubende  Mensch  wahr- 
haft Mensch  sei,  daß  nur  er  Religion  hat.  Der  Glaube  macht  selig  und  ver- 
setzt Berge,  wie  Jesus  es  ausdrückt.  Wenn  ein  Glaube  das  nicht  leistet,  wenn 
er  die  Gläubigen  nicht  beglückt,  ihr  Kräftemaß  nicht  bis  zum  höchsten 
Grade  steigert,  so  ist  es  ein  falscher  Glaube.  Nur  der  glaubende  Priester  ist 
auch  imstande,  eine  wirksame  priesterliche  Tätigkeit  auszuüben.  Heute  sind 
Wort  und  Begriff  des  Glaubens  in  Verruf  gekommen;  das  rührt  einesteils 
davon  her,  daß  die  dogmatischen  Offenbarungsgläubigen  nur  ihre  Auffas- 
sung des  Begriffes  gelten  lassen  wollen,  andererseits  daher,  daß  in  unserem 
Zeitalter  die  Gelehrten  einen  unnatürlich  großen  Einfluß  im  Kulturleben 
haben.  Die  Gelehrsamkeit  in  allen  Ehren  —  wir  haben  den  Wert  der  Wissen- 
schaft für  die  Glaubensbildung  soeben  deutlich  hervorgehoben  — ,  aber  der 
typische  Gelehrte  weiß  von  dem  Geheimnis  der  Glaubenssynthese  so  wenig 
wie  der  Blinde  von  der  Farbe.  Wie  gern  spotten  unsere  Vertreter  der  Wissen- 
schaft darüber,  daß  die  Menschheit  von  jeher  starken  Worten  mehr  geglaubt 
hat  als  gründlichen  Beweisen !  Die  Behauptungen  königlicher  Geister  haben 
zu  allen  Zeiten  mehr  gewirkt  als  die  Beweise  kluger  Dialektiker. 

Aber  ist  das  nicht  wirklich  beklagenswert  ?  Ist  es  nicht  eine  beschämende 
Schwäche  unseres  Geschlechts,  die  wir  überwinden  müssen  ?  —  Nein ;  es  gibt 
Fälle,  wo  eine  Behauptung  mehr  ist  als  ein  Beweis,  wo  die  einfache  Ver- 
sicherung mehr  Glauben  und  treueren  Gehorsam  verdient  als  die  ausführ- 
liche Begründung  und  Erklärung.  Hinter  den  Versicherungen,  die  uns  zum 
Glauben  und  Gehorsam  nötigen,  steht  nämlich  ein  ganzer  Mensch,  ja  eine 
ganze  Welt;  hinter  vielen  Beweisen  dagegen  steht  bloß  ein  tüchtiger  Intel- 
lekt, der  gut  zu  rechnen  und  zu  zerlegen  weiß.  Wenn  die  Menschheit  un- 
bewiesene Behauptungen  geglaubt  hat,  so  hat  sie  ihr  Vertrauen  den  Männern 
geschenkt,  die  für  sie  eintraten;  deren  Persönlichkeit,  deren  Leben  und  Tod 
war  der  Wahrheitsbeweis,  gewiß  ein  durchschlagenderer  Beweis  als  die  ge- 
schickte logische  Darlegung  eines  Stubengelehrten !  Die  Menschen  fühlen  die 
Kraft  in  den  Worten  ihrer  berufenen  Führer;  diese  Worte  hallen  in  ihnen 
wider,  sie  werden  verstanden  wie  nie  ein  Gelehrtenwort  verstanden  wird. 

238 


Und  weil  man  die  Worte  versteht  und  sich  mit  dem  Sprecher,  indem  man 
sie  hört,  eins  fühlt,  glaubt  und  folgt  man  ihnen.  Der  wahre  Priester  strahlt 
Kraft  aus  und  beweist  seinen  Glauben  durch  sein  Leben  —  das  sind  die 
beiden  Gründe  für  den  Erfolg  der  großen  religiösen  Lehrer. 

Die  Wissenschaftler,  die  gern  Lehrer  und  Priester  der  Gegenwart  und 
Zukunft  sein  möchten,  sollten  vor  allen  Dingen  lernen,  ihre  ganze  Persön- 
lichkeit in  jedes  ihrer  Werke  hineinzulegen;  dann  würden  sie  auch  die  Kraft 
gewinnen,  für  ihre  Lehren  mit  Gut  and  Blut  einzustehen.  Wie  wenige  tun 
das  heute!  Wie  viele  reden  und  schreiben  unaufhörlich,  ohne  im  mindesten 
daran  zu  denken,  die  Folgerungen  aus  ihren  eigenen  Lehren  zu  ziehen.  Wir 
müssen  hier  noch  einmal  auf  die  modernen  Theologen  hinweisen.  Deren 
Gelehrsamkeit,  deren  Scharfsinn  und  intellektuelle  Ehrlichkeit  verdient  alle 
Anerkennung,  aber  geben  sie  sich  nur  die  geringste  Mühe,  das  Evangelium 
Jesu,  zu  dem  sie  sich  bekennen,  zur  Tat  zu  machen  und  so  auf  die  wirksamste 
Weise  für  dasselbe  zu  werben?  Sie  erklären  Jesus  für  das  höchste  Vorbild 
und  die  ewige  Richtschnur  der  nachgeborenen  Menschheit;  aber  sie  leben 
in  keinem  Punkte  so,  wie  Jesus  gelebt  und  gelehrt  hat,  sondern  führen  ein 
heidnisches  Leben  ebenso  wie  wir,  die  wir  uns  vom  Christentum  losgesagt 
haben.  Sie  sorgen  und  arbeiten,  sie  widerstehen  dem  Bösen,  sie  wirken  für 
den  Staat  und  für  die  Familie,  sie  sammeln  irdische  Schätze  und  setzen  also 
ganz  offenbar  ihren  Stolz  darein,  alles  das  zu  tun,  was  Jesus  als  Ablenkungen 
und  Abhaltungen  von  dem  wahren  Leben  in  Gott  verurteilt  hat;  sie  ver- 
leugnen ihr  Vorbild  täghch  und  stündhch.  Das  Merkwürdigste  dabei  ist,  daß 
diese  selben  Männer  uns  den  wahren  Jesus  klar  und  deuthch  beschrieben 
haben ;  sie  \\dssen,  was  Jesus  gelehrt  und  wie  er  gelebt  hat,  und  halten  die 
schönsten  Predigten  über  christliche  und  unchristliche  Gesinnung.  Aber  es 
bleibt  bei  ihnen  bei  der  Theorie;  ihre  Kenntnis  und  ihre  klugen  Nachweise 
entbehren  der  praktischen  Kraft  und  führen  höchstens  zu  einem  schwäch- 
lichen Kompromiß.  Daher  finden  diese  Priestergelehrten  so  wenig  Glauben 
im  Volke.  Man  holt  sich  wissenschaftliche  Belehrung  von  ihnen,  läßt  sich 
auch  wohl  durch  sie  in  eine  flüchtige  Andachtsstimmung  versetzen;  aber 
niemand  richtet  sich  an  ihrem  Glauben  auf  und  wird  durch  sie  zum  prak- 
tischen Christentum  geführt.  Sie  sind  keine  Jünger  Jesu,  was  sie  uns  und 
sich  selber  auch  glauben  machen  mögen.  Ihr  Meister  lehrte  auf  Grund  eines 
felsenfesten  Glaubens  und  machte  Ernst  mit  diesem  Glauben ;  er  verlieB  wirk- 
hch  die  Welt,  um  des  Reiches  Gottes  wiUen,  diese  Welt,  in  der  die  heutigen 
Christen  sich's  wohl  sein  lassen ;  er  bewies  seine  unbewiesenen  Behauptungen 
durch  jeden  Atemzug,  den  er  tat.  Kurz:  er  hatte  Glauben,  darum  glaubte 
ihm  die  Menschheit;  viele  moderne  Theologen  haben  keinen  Glauben,  darum 
finden  sie  auch  keinen  Glauben. 

239 


Diese  glaubensschwachen  Theologen  sind  im  Gefühle  ihrer  Schwäche  auf 
einen  rettenden  Gedanken  verfallen.  Sie  erklären,  daß  es  in  der  Religion 
überhaupt  nicht  auf  den  Glauben  ankomme.  Die  Religion  sei  etwas  rein 
Praktisches,  eine  Sache  des  Gefühls  und  des  Handelns ;  was  man  glaube,  sei 
gleichgültig;  auch  den  großen  religiösen  Geistern  der  Vergangenheit  sei  der 
Glaube  und  die  dogmatische  Lehre  Nebensache  gewesen.  Diese  Anschauung 
vermischt  Richtiges  mit  Falschem.  Daß  die  Praxis  Anfang  und  Ende  der 
Rehgion  ist,  wissen  wir  alle;  aber  die  religiöse  Praxis  ist  ohne  Glaube,  d.  h. 
ohne  feste  Welt-  und  Lebensanschauung,  gar  nichts.  Die  modernen  Christen 
sind  nur  deshalb  so  schwache  Praktiker,  weil  sie  die  dogmatischen  Funda- 
mente des  Christentimis  verlassen  haben,  ohne  eine  neue  Grundlegung  des 
Glaubens  zu  versuchen.  Man  kann  die  Ethik  nicht  von  der  Metaphysik 
trennen;  eine  nur  ethische  Kultur  ist  ein  Widerspruch  in  sich  selber. 
Diese  Sätze  klingen,  wie  ich  wohl  weiß,  vielen  freigesinnten  Zeitgenossen 
befremdend ;  die  Gelehrten  auf  der  einen  Seite,  der  religiöse  Zusammenbruch 
auf  der  anderen  Seite  haben  das  Verständnis  für  den  sittlich-religiösen  Wert 
der  Metaphysik  getrübt;  aber  wer  sich  selber  kennt  und  in  der  Menschen- 
geschichte zu  lesen  versteht,  muß  einsehen,  daß  kräftige  Zeitalter  die  Meta- 
physik nie  haben  entbehren  können  noch  wollen. 

Folgt  daraus,  daß  der  Priester  der  Zukunft  Glaubenssätze  aufstellen  und 
predigen  soll?  —  Ja.  Er  kann  nicht  anders.  Jede  wirksame  Predigt  enthält 
dogmatische  Elemente;  sie  muß  ihre  Paränesen  und  sittUchen  Belehrungen 
auf  eine  Weltanschauung  gründen.  Natürlich  braucht  diese  Weltanschauung 
nicht  zu  einem  begrifflichen  System,  auch  nicht  zu  einer  geschlossenen  My- 
thologie zusammengefaßt  zu  werden ;  sie  braucht  überhaupt  nicht  formuliert, 
nicht  zum  Gegenstand  der ,, Lehre"  gemacht  zu  werden.  Aber  vorhanden  und 
unausgesprochen  wirksam  muß  sie  sein.  Bei  den  religiösen  Neuerern  bleibt 
die  Dogmatik  im  Hintergrunde.  Bei  Jesus  hat  man  das  Vorhandensein  einer 
Dogmatik  ganz  leugnen  wollen,  sehr  mit  Unrecht ;  Jesus  ist  nicht  so  undog- 
matisch, wie  die  Theologen,  die  über  das  Wesen  des  Christentums  schreiben, 
annehmen.  Da  der  Hauptzweck  jedes  prophetischen  Predigers  auf  das  han- 
delnde Leben  seines  Volkes  gerichtet  ist,  stellt  er  im  Anfange  seines  Auf- 
tretens naturgemäß  alles  nicht  unmittelbar  Praktische  zurück.  Er  begründet 
nicht;  er  läßt  die  mythologisch-metaphysische  Grundlage  seines  Evange- 
liums im  Dunkeln.  Je  bedrängter  er  und  sein  Volk  sind,  um  so  mehr  wird  das 
der  Fall  sein.  Aber  sehr  bald  wird  er  gewahr  werden,  daß  es  ohne  Begründung 
nicht  abgeht.  Die  Begründung  der  Ethik  kann  aber  nie  rein  empirisch  und 
logisch  sein;  die  Metaphysik  muß  zu  Hilfe  gerufen  werden.  Jeder  tiefe 
Mensch  will  sein  Leben  imd  Handeln  mit  dem  All  in  Zusammenhang  bringen, 
will  sich  in  das  Universum  einordnen  und  sein  Dasein  aus  dem  Gesamtdasein 

240 


verstehen  lernen.  Dabei  soll  ihm  der  Priester  behilflich  sein,  indem  er  seine 
Predigt  in  einem  festen  und  machtvollen  Glauben  verankert. 

Welches  aber  sind  die  Grundsätze  der  zukünftigen  Dogmatik  ?  Woher 
nimmt  der  Priester  der  Freiheit  die  Glaubensüberzeugungen,  die  er 
seiner  Gemeinde  predigen  soll  ?  —  Er  kann  sie  nur  aus  sich  selber  schöpfen ; 
denn  einen  Kanon  wird  es  nicht  mehr  geben.  Der  Priester  wird  auf  eigene 
Verantwortung  und  Gefahr  lehren. 

Aber  wird  das  religiöse  Leben  dadurch  nicht  zu  einem  chaotischen  Durch- 
einander und  Gegeneinander  von  Lehren  und  sittlichen  Idealen?  —  Nein; 
vorausgesetzt,  daß  der  Priester  zu  seinem  hohen  Amte  richtig  erzogen  und 
von  einer  richtig  erzogenen  Gemeinde  unterstützt  und  getragen  wird.  Der 
künftige  Priester  muß  zur  Freiheit  und  Selbstverantwortung,  nicht  wie  bis- 
her zur  dogmatischen  Gebundenheit  und  zum  religiösen  Leichtsinn  erzogen 
werden.  Das  Verantwortungsgefühl  und  die  Verantwortungsfähigkeit,  die 
bei  unseren  heutigen  Priesterkandidaten  systematisch  unterdrückt  werden, 
müssen  systematisch  entvidckelt  und  aufs  höchste  gesteigert  werden.  Statt 
dem  werdenden  religiösen  Lehrer  fertige  Dogmen  einzuflößen  oder  ihn  mit 
rein  wissenschaftlichem,  bibelkritischem  Können  auszustatten,  muß  man  ihn 
fähig  machen,  sich  eine  eigene  Glaubenswelt  zu  erbauen  und  dieselbe  mit 
Mut  und  BeharrHchkeit  zu  predigen,  wie  der  Dichter  seine  Gesichte  ver- 
kündigt und  der  Kriegsmann  seinen  Degen  gebraucht.  Die  Erziehungsmittel, 
die  dabei  in  Anwendung  zu  bringen  sind,  werden  von  den  Pädagogen  unserer 
Zeit  allgemach  deutlich  erkannt :  die  Erzieher  beginnen  einzusehen,  daß  die 
Entwicklung  des  Verantwortungsgefühls  der  Kern  der  neuen  Erziehung  ist 
und  daß  Arbeit  und  Spiel,  Selbstbetätigung  und  Gemeinsamkeit  die  Mächte 
sind,  durch  die  diese  Entwicklung  in  die  Wege  geleitet  werden  muß  (vgl.  die 
Arbeiten  Kerschensteiners  und  anderer).  Die  heutigen  Erziehungsbehör- 
den, die  weltlichen  wie  die  geistlichen,  sind  allerdings  vom  Verständnis  dieser 
pädagogischen  Grundfragen  noch  weit  entfernt.  Sie  leben  noch  immer  in  dem 
Banne  der  alten  Anschauung,  daß  Erziehung  nichts  weiter  als  Abrichtung 
und  theoretisch-technische  Unterweisung  sei.  Sie  setzen  sich  mit  unbegreif- 
lichem Leichtsinn  darüber  hinweg,  daß  die  europäische  Kultur  seit  einigen 
Jahrhunderten  eine  Wandlung  vom  Ideal  der  Heteronomie  zu  dem  der  Auto- 
nomie durchmacht  und  daß  durch  diese  Wandlung  das  ganze  Erziehungs- 
wesen in  seinen  Grundfesten  erschüttert  wird  und  auf  eine  andere  Basis  ge- 
stellt werden  muß. 

Wir  haben  es  hier  nur  mit  der  Erziehung  zum  religiösen  Erzieheramt  zu 
tun  (über  die  Frage  im  ganzen  vgl,  meine  „Erziehung  der  modernen  Seele" 
und  die  auf  diesem  Buch  weiterbauenden  pädagogischen  Aufsätze  in  der 

16  Home  ff  er,  Der  Priester  II  241 


,,Tat").  Bei  den  Priestern  macht  sich  die  Gefährlichkeit  des  neuen  Erzie- 
hungsideals am  stärksten  geltend;  die  Widersprüche  zwischen  den  Mitteln, 
Erfolgen  und  Absichten  der  priesterlichen  Erziehung  haben  eine  ungeheuer- 
liche Größe  erreicht.  Man  sieht  nicht  und  will  nicht  sehen,  wie  schwer  und 
wie  verantwortungsvoll  das  Priesteramt  in  dem  neuen  Sinne  ist.  Den  Ortho- 
doxen beider  Konfessionen  kann  man  keinen  Vorwurf  daraus  machen ;  denn 
sie  fassen  ja  den  Priester  immer  noch  als  Lehrer  alter  feststehender  Glaubens- 
wahrheiten auf,  nicht  als  Führer  zur  autonomen  Glaubensbildung.  Wer 
tin  orthodoxer  Priester  werden  will,  maß  sich  nur  den  alten  Glaubenskanon 
einprägen  und  die  Fähigkeit  zu  gewinnen  suchen,  ihn  lehrend  der  Gemeinde 
und  dem  jüngeren  Geschlecht  zu  übermitteln.  Ganz  anders  bei  den  Liberalen 
aller  Schattierungen,  die  so  laut  den  Grundsatz  der  persönlichen  Religiosität 
proklamieren.  Verlangen  und  schaffen  sie  für  die  von  ihnen  ersehnten  Prie- 
ster der  Freiheit  die  pädagogischen  Lebensbedingungen  ?  —  Was  lernen  denn 
die  angehenden  Theologen  auf  unseren  Universitäten?  Werden  sie  dort  zu 
selbständigen  Köpfen  und  Charakteren  erzogen  ?  Lernen  sie  die  unbegrenzte 
Welt  der  Tatsachen  auf  Grund  einer  tatkräftigen  Sittlichkeit  erobern  und 
verarbeiten  ?  Lernen  sie  die  Unerschrockenheit  des  Bekennens  und  den  Mut 
des  Zu-Ende-Denkens?  Wird  ihnen  die  Verantwortung,  die  sie  als  religiöse 
Führer  zu  tragen  haben,  in  ihrer  ganzen  Schwere  zum  Bewußtsein  gebracht? 
—  Ach  nein;  sehr  viele  unserer  Universitätslehrer  sind  gar  nicht  imstande, 
das  alles  zu  lehren,  weil  sie  es  selber  nicht  besitzen.  Die  Studenten  werden 
mit  theologischen  Kenntnissen  ausgerüstet,  mit  kritischer  Methode  bewaff- 
net, zur  Vorsicht  und  religiösen  Leisetreterei  ermahnt;  das  ist  alles.  Man 
muß  sich  wundern,  daß  es  trotzdem  unter  den  Pfarrern  immer  wieder  ein- 
zelne Männer  gibt,  die  das  Ideal  des  freien  Priestertums  mit  Kraft  zu  ver- 
wirkhchen  suchen.  Aber  sie  bleiben  naturgemäß  in  der  Minderzahl  und  ge- 
raten unfehlbar  mit  ihren  kirchlichen  Verpflichtungen  in  Widersprach. 

Das  Problem  der  Kirche  soll  uns  im  nächsten  Abschnitt  beschäftigen.  Hier 
ist  nur  auf  die  Unvereinbarkeit  des  christlichen  Kirchenbegriffs  mit  dem 
Glaubens-  und  Lehrbegriff  der  Zukunft  hinzuweisen.  Die  Kirche  verlangt 
von  den  Priestern  die  Ablegung  eines  Gelübdes.  Jeder  beamtete  religiöse 
Lehrer  unseres  Volkes  hat  sich  beim  Antritt  seines  Amtes  auf  bestimmte 
Dogmen  und  Lehrsätze  verpflichtet ;  es  werden  ihm  also  von  vornherein  die 
Hände  gebunden  und  die  Erziehungsaufgaben,  die  ein  freier  Priester  zu  er- 
füllen hat,  unmöglich  gemacht.  Über  die  traurige  Schmach  dieses  Gelübde- 
wesens findet  man  in  verschiedenen  Aufsätzen  der  Monatsschrift  ,,Die  Tat" 
Näheres.  Bevor  nicht  alle  dogmatischen  Gelübde  und  Eide  abgeschafft  sind, 
kann  von  der  Freiheit  des  Glaubens  und  der  Lehre,  mit  der  die  hberalen  und 
modernistischen  Geisthchen  sich  brüsten,  keine  Rede  sein;  und  wenn  diese 

242 


Geistlichen  nicht  einmütig  für  die  Abschaffung  eintreten  und  jedes  Mittel 
anwenden,  um  sie  durchzusetzen,  kann  ihr  Kampf  für  die  Bekenntnisfrei- 
heit nicht  ernstgenommen  werden. 

Erst  die  freien,  nur  sich  selber  verantwortlichen  Priester  werden  sich  einen 
eigenen  wertvollen  Glauben  schaffen  und  wirksame  Erzieher  zur  persönlichen 
Glaubensbildung  sein.  Erst  sie  werden  wieder  lernen,  was  die  Propheten  alter 
und  neuer  Zeiten  konnten :  aus  vollem  reinen  Herzen  zu  lehren  und  zu  pre- 
digen. Dann  wird  auch  das  Volk  aufhorchen,  wird  die  Priester  suchen  und 
verehren ;  und  das  Wort  Glaube  wird  neuen  edlen  Glanz  gewinnen. 

Dann  wird  sich  auch  zeigen,  daß  die  Folge  der  religiösen  Lehrfreiheit  nicht 
geistiger  Anarchismus  ist,  daß  der  unabhängige  Priester  nicht  ein  Führer 
zum  sittlichen  und  religiösen  Ruin  ist.  Vielmehr  wird  die  Proklamierung  der 
schrankenlosen  dogmatischen  Freiheit  eine  sittliche  Erneuerung  und  kräf- 
tige religiöse  Formbildung  zur  Folge  haben.  Wenn  die  Prediger  sich  von  dem 
Bewußtsein  durchdringen  lassen,  daß  sie  mit  ihrer  Predigt  die  Verantwor- 
tung für  das  Ganze,  für  das  Heil  der  Gemeinde  und  für  die  gesamte  Zukunft 
übernehmen,  werden  sie  Form,  Gesetz,  Fürsorge  für  alle  predigen.  Sie  wer- 
den ganz  neu  die  alte  Wahrheit  erfassen,  daß  des  Menschen  Natur  nicht 
Bosheit  und  Vemichtungslust  ist,  sondern  umgekehrt :  Wille  zur  Form,  zur 
Schönheit,  zur  Vergöttlichung.  Sie  werden  diejenigen  Kräfte  als  des  Men- 
schen schönstes  Besitztum  entdecken,  die  die  Offenbarungsgläubigen  den 
Wunsch wesen  einer  anderen  Welt  zugeschrieben  haben. 

Die  Freigabe  der  Dogmatik  wird  nicht  eine  noch  größere  Zerspaltung  der 
Geister  in  Glaubensfragen  nach  sich  ziehen,  sondern  wird  eine  vereinheit- 
lichende und  gemeinschaftsbildende  Wirkung  haben!  Schon  jetzt  verbirgt 
sich  hinter  den  tausend  widersprechenden  Meinungen  unserer  Zeitgenossen 
eine  keimhafte  Einheitlichkeit  des  Glaubens.  Die  Aufgabe  des  Priesters  der 
Freiheit  ist  die,  diesen  im  Keim  vorhandenen  Glauben  zum  Wachsen  zu 
bringen  und  zum  Siege  zu  führen.  Er  soll  ihn  aussprechen,  aber  so  aus- 
sprechen, daß  alle  ihn  als  den  ihrigen  erkennen  und  von  dem  unwidersteh- 
lichen Drange  erfüllt  werden,  ihn  wahrzumachen,  d.  h.  ihn  in  Leben  und 
Handeln  umzusetzen.  Auf,  ihr  Lehrer  unseres  Volkes,  ihr  Priester  der  Frei- 
heit! Gebt  uns  den  Glauben,  nach  dem  jede  lebendige  zukunftsfrohe  Seele 
des  Zeitalters  lechzt !  Werdet  so  frei,  so  wahr,  so  ganz,  daß  euer  Glaube  auch 
uns  frei  und  wahr  und  ganz  macht !  Eure  Lehre  sei  so  gewaltig,  daß  ihr  die 
religiöse  Spannung,  die  auf  unserem  Volke  lastet,  zur  vollen  beglückenden 
Entladung  bringt !  Seid  Geburtshelfer;  holet  das  Geheimste  aus  eurem  Herzen 
hervor,  denn  damit  habt  ihr  auch  aus  unserem  Herzen  das  Verborgenste 
hervorgezogen  und  unserem  eigenen  Glauben  zum  Leben  und  zur  kraft- 
vollen Entfaltung  verholfen!  — 

x6'  243 


Auch  an  einer  ausreichenden  \vissenschaftlichen  Ausrüstung  im  weiteren 
Sinne  fehlt  es  den  heutigen  rehgiösen  Führern.  Die  Wissenschaft  hat  große 
Reichtümer  aufgehäuft;  aber  sie  werden  viel  zu  wenig  für  die  Glaubens- 
bildung ausgenutzt.  Wer  erlöst  die  Philosophie,  Soziologie  und  Naturwissen- 
schaft aus  der  Gefangenschaft,  in  der  sie  die  Fachgelehrten  halten  ?  Fast  nur 
die  neuere  Biologie  ist  reügiös  versvertet  worden;  aber  so  viel  dieselbe  zu 
leisten  vermag,  sind  doch  die  Ergebnisse  einer  einseitig  biologischen  Glau- 
bensbildung notwendig  unzureichend,  daher  denn  die  zuerst  mit  großer  Be- 
geisterung aufgenommenen  naturwissenschaftlichen  Propheten  eine  tiefe 
Enttäuschung  hinterlassen  haben.  Die  Naturphilosophie  droht  heute  in 
Mystik  umzuschlagen,  weil  die  Naturphilosophie  cds  solche  nicht  religiös  be- 
friedigen kann  und  auch  niemals  befriedigt  hat.  Die  Geister  in  der  Tiefe 
der  Menschenbrust  verlangen  ihr  Recht ;  der  Mensch  mit  seinen  geheimsten 
Wünschen  und  Kräften  muß  den  Mittelpunkt  des  religiösen  Glaubens  bilden. 
Daher  muß  die  Wissenschaft  vom  geistigen  Menschen,  von  seiner  Entwick- 
lung und  seinen  Schicksalen,  seinen  Schöpfungen  und  Irrungen  ergänzend 
und  berichtigend  an  die  Seite  der  Naturwissenschaften  treten.  Die  Weisheit 
der  Ahnen  muß  in  viel  umfassenderer  Weise  zu  Rate  gezogen  werden,  als 
es  heute  trotz  unserer  Philologie  und  Geschichtswissenschaft  geschieht.  Es 
ist  lächerhch  und  traurig  anzusehen,  wie  achtlos  unsere  Zeit  z.  B.  an  den 
rehgiösen  Werten,  die  im  Griechentum  enthalten  sind,  vorübergeht.  Weder 
die  Philologen  noch  die  Theologen  ahnen,  wie  befruchtend  Hellas  auf  unser 
Glaubensleben  wirken  kann.  Die  Universität  und  die  Mittelschule  sind  sich 
leider  ihrer  rehgiös-pädagogischen  Pflichten  fast  gar  nicht  bewußt ;  sie  ver- 
stehen es  nicht,  wenn  man  ihnen  zuruft :  ihr  habt  für  die  Glaubensbüdimg  der 
jüngeren  Generationen  zu  sorgen;  ihr  seid  für  das  ,, Seelenheil"  eurer  Anver- 
trauten in  vollem  Umfang  verantworthch ;  der  Weg  zu  der  Religion,  nach  der 
imser  Zeitalter  verlangt,  führt  durch  die  Schulel 

Wir  wollen  hier  nur  eines  von  dem  erwähnen,  was  die  werdenden  Menschen 
in  der  Schule  für  den  Aufbau  ihres  Glaubens  gewännen  können  und  sollen. 
Sie  lernen  die  Gesetzmäßigkeit  und  Berechenbarkeit  des  Weltlaufes  kennen 
und  werden  mit  dem  Entwicklungsgedanken  vertraut  gemacht.  Geschieht 
das  in  richtiger  und  eindringlicher  Weise,  so  werden  die  jugendlichen  Geister 
tief  erschüttert  und  umgestaltet.  Denn  was  ist  der  Mensch,  solange  ihm  Welt 
und  Leben  eine  imdurchdringhche  Masse  von  Gesetzlosigkeit  sind?  Er  ist 
ein  ohnmächtiges,  angstvoll  und  unvernünftig  lebendes  Wesen ;  er  ist  wesent- 
lich passiv  und  läßt  die  Ereignisse  in  dumpfem  Fatalismus  über  sich  ergehen, 
falls  er  nicht  durch  religiöse  Zaubermittel  das  Weltgeschehen  zu  beeinflussen 
sucht.  Daher  ist  der  Glaube  der  vorwissenschaftlichen  Menschheit  Abhängig- 
keits-  und  Zauberglaube.  Mit  wachsender  Einsicht  in  die  Gesetze  des  Lebens 

244 


schwindet  das  Gefühl  „schlechthinniger  Abhängigkeit"  mehr  und  mehr;  es 
weicht  dem  Gefühl  der  Schöpferkraft  und  Herrschergewalt  des  Menschen. 
Der  erkennende  Mensch,  dem  die  Vorgänge  in  der  Natur  und  die  Eigen- 
schaften und  Erlebnisse  seines  Geschlechts  nicht  mehr  unverständliche  und 
zusammenhanglose  Einzelheiten  sind,  sondern  eine  Kette  durchschaubarer 
und  berechenbarer  Entwicklungserscheinungen,  sieht  dem  Weltlauf  mit 
ganz  anderen  Empfindungen  zu  und  fügt  sich  ihm  mit  ganz  anderem  Willen 
ein  als  der  blinde  und  unwissende  Mensch.  Er  arbeitet  mit,  er  sucht  immer 
tiefer  in  die  Geheimnisse  einzudringen,  macht  sich  dadurch  zum  Herrn  und 
Meister  und  beginnt  vor  allem  seine  und  seines  Volkes  Zukunft  mit  Vernunft 
zu  lenken  und  zu  regeln.  Den  Widerschein  der  wachsenden  Erkenntnis  sehen 
wir  auch  in  den  religiösen  Phantasieschöpfungen  des  Menschen.  Die  Götter 
sind  größer  und  vernünftiger  geworden ;  sie  erscheinen  schheßhch  als  perso- 
nifizierte Gesetze,  als  Schöpfer  der  Urzelle,  als  mythologischer  Ausdruck 
sitthcher  und  gedanklicher  Bedürfnisse  des  Menschen.  Der  Mensch,  der  die 
Natur  und  sich  selber  verstehen  lernte  und  aus  einem  bewußtlosen  Tier  zu 
einem  selbstbewußten  und  vorsorgenden  Wesen  wurde,  verlegte  seinen 
Schöpferwillen  nach  außen  und  nannte  ihn  Gott.  Wenn  unser  Zeitalter  die 
Gottheit  überhaupt  noch  klar  denkt  und  schaut,  so  kann  es  sie  nur  als  ein 
vergrößertes  Nachbild  der  menschhchen  Eigenschaften  und  Willensregungen 
schauen.  Gott  ist  der  mitkämpfende  Schatten  des  kämpfenden  Menschen. 
Faßt  man  Gott  anders,  nämlich  als  Inbegriff  des  Seins,  als  Weltseele  oder 
dergleichen,  so  fehlt  dem  Begriff  alle  rehgiöse  Kraft.  Der  Gott  der  Panthe- 
isten  —  auch  die  christliche  Dogmatik  ist,  wenn  sie  mit  den  Begriffen  All- 
macht, Allgegenwart,  Allwissenheit  Ernst  macht,  pantheistisch  —  ist  nur 
ein  Wort  für  das  gesetzmäßige  Weltgeschehen  oder  eine  Umschreibung 
euphorischer  Rauschgefühle.  Menschen  von  starkem  Lebensgefühl  haben 
niemals  an  die  Allmacht  und  Allgegenwart  Gottes  geglaubt,  aus  dem  ein- 
fachen Grunde,  weil  dieser  Glaube  das  Handeln  überflüssig  macht  und  die 
Entwicklung  aufhebt.  Aber  wie  dem  Lebensgefühl,  so  widerspricht  der  voll- 
kommene Gott  auch  den  gegebenen  Tatsachen  und  ihrer  wissenschaftlichen 
Deutung.  Nur  Mystiker  und  Ekstatiker  können  von  ganzem  Herzen  an  die- 
sen Gott  glauben,  also  daran,  daß  das  Ziel  alles  Lebens  bereits  erreicht  und  die 
höchste,  endgültige  Form  des  Seins  bereits  vorhanden  sei.  Die  kräftigen 
Menschen  haben,  ohne  es  zu  wissen,  diesem  Dogma  mit  jedem  Werk  und 
jedem  Atemzuge  den  Krieg  erklärt;  denn  jedes  kräftigen  jMenschen  Wirken 
zielt  darauf,  der  Idee  der  Vollkommenheit,  die  er  in  sich  trägt,  erst  zur  Ver- 
wirkhchung  zu  verhelfen.  Gott  ist  eine  Forderung,  nicht  eine  Tatsache! 
Dies  Glaubensbekenntnis  ist  am  schönsten  von  unserem  zeitgenössischen 
Propheten  Friedrich  Nietzsche  formuliert  worden  und  wir  vertrauen  dar- 

245 


auf,  daß  sich  alle  zukunftsfrohen  Geister  um  dasselbe  scharen  werden.  Schon 
hat  mehr  als  ein  christlicher  Priester  Nietzsches  Lehre  von  der  Vergottung 
der  Welt  angenommen;  möchten  diese  Priester  doch  den  Mut  finden,  sich 
offen  zu  dieser  Lehre  zu  bekennen  und  mit  uns  das  neue  Evangelium  zu 
predigen:  es  gibt  keinen  vollkommenen  Gott,  keinen  Weltenbaumeister, 
keinen  allwissenden  und  allgütigen  Vater  und  Schirmer,  der  im  Himmel 
thront  und  in  Gestalt  Christi  auf  die  Erde  herabgestiegen  ist!  Das 
alles  sind  nur  Umschreibungen  des  übermächtigen  Sehnsuchtsdranges 
des  Menschen,  die  Welt  zu  vergotten  und  ihr  den  menschhchen  Form- 
willen aufzuprägen.  Gott  ist  das  Endziel  der  W^elt,  nicht  ihr  Anfang,  und 
der  Mensch  ist  das  höchste  der  unbekannten  Organe  zur  Erreichung 
dieses  Endziels. 

Und  der  Priester?  Er  soll  das  Auge  und  der  überredende  Mund  sein.  Er 
schaut  mit  visionärer  Klarheit  den  Gott,  den  wir  zu  schaffen  haben,  und  ruft 
die  Säumigen  zur  Arbeit,  zum  heiligen  Tagewerk.  Er  ist  Aufseher  des  größten 
Tempelbaus,  ist  Antreiber  zur  Verwirklichung  der  sittlichen  Weltordnung, 
ist  Führer  zur  Vergottung  der  Natur  und  des  jMenschen. 

Jedoch  müssen  wir  hier  innehalten;  denn  es  ist  nicht  die  Absicht  dieses 
Buches,  den  Inhalt  des  neuen  Glaubens  zu  erforschen  und  die  metaphysisch- 
ethischen Fragen  um  ihrer  selbst  willen  zu  erörtern.  Die  Grundzüge  des 
künftigen  Gottesglaubens  aber  mußten  deshalb  angedeutet  werden,  weil  da- 
von die  Lehraufgabe  des  künftigen  Priestertums  abhängt.  Wie  in  alten  Zei- 
ten, wird  auch  in  Zukunft  der  Gottesglaube  und  die  Gotteslehre  der  Aus- 
gangspunkt des  priesterlichen  Wirkens  und  Predigens  sein.  Dem  All  soll  der 
Priester  vertraut  sein ;  die  Einheit  mit  dem  All,  zu  der  ihn  Wissenschaft  und 
Leben  geführt  hat,  soll  er  predigen.  Dann  wird  seine  Predigt  ganz  von  selber 
das  werden,  was  die  Predigt  der  heutigen  Priester  oft  in  so  unzureichender 
und  unpassender  Weise  ist,  nämlich  Moralpredigt.  Moralpredigten  sind  nur 
dann  wertvoll  und  überzeugend,  wenn  sie  sich  auf  einen  religiösen  Glauben 
gründen.  Wenn  die  modernen  Geistlichen  das  Moralpredigen  meiden  oder 
es  so  treiben,  daß  die  Gemeinde  sich  gelangweilt  oder  beleidigt  fühlt,  so  ist 
das  ein  deutlicher  Beweis  dafür,  daß  diese  Geistlichen  keine  wahren  Gottes- 
gläubigen und  Gottesweisen  sind. 

Freilich  haben  es  die  heutigen  Pfarrer  dadurch  sehr  schwer,  daß  ihre  Ge- 
meinde keine  geistige  Einheit  bildet.  Die  Gemeinde  hat  nicht  den  Glauben 
des  Priesters  und  auch  die  Gemeindeglieder  untereinander  weichen  in  ihrer 
Lebens-  und  Weltanschauung  weit  voneinander  ab.  Um  so  ernstlicher  tritt 
die  Forderung  an  den  Priester  heran,  sein  Predigtamt  so  zu  führen  wie  die 
echten  Propheten  alter  und  neuer  Zeit.  Er  muß  das  Volk  zur  rehgiösen  Ein- 
heit führen,  und  er  vermag  das,  wenn  er  nicht  müde  wird,  Gott  zu  suchen  und 

246 


zu  ergreifen.  Einem  Gottsucher,  der  alle  Lebens-  und  Erkenntnisschätze 
in  treuer  Arbeit  für  den  Aufbau  seiner  Glaubenswelt  verwertet,  wird  die  Ge- 
meinde vertrauen  und  folgen.  Die  Unterschiede  in  den  Glaubensinhalten  der 
Einzelnen  werden  zurücktreten  und  der  Prediger  wird  zu  einer  wirklichen 
Gemeinde,  der  Sitten-  und  Lebenslehrer  zu  verstehenden  und  mitstrebenden 
Brüdern  sprechen.  Sein  Glaube  wird  Berge  versetzen;  seine  Lehre  wird  die 
Zaubermacht  der  Propheten  werte  haben. 


Isi  5.  KIRCHE  UND  KULTUS  1^1 

Das  religiöse  Leben  hat  sich  stets  in  religiösen  Formen  entfaltet.  Der  Glaube 
wollte  Wort  und  Handlung,  d.  h.  Ritus  und  Kultus  werden,  und  die  Be- 
kenner  eines  und  desselben  Glaubens  schlössen  sich  zu  Bünden,  zu  soge- 
nannten Kirchen  zusammen,  um  sich  ihres  Glaubens  desto  fester  zu  ver- 
sichern und  ihn  wirkungsvoller  zu  betätigen.  Kirche  und  Kultus  gehören 
zusammen ;  eines  ohne  das  andere  kann  nicht  bestehen  oder  führt  doch  nur 
ein  schwaches  und  kümmerliches  Dasein.  Heute  befinden  sich  beide  in  Be- 
drängnis. Die  meisten  ,, Ungläubigen"  verwerfen  das  Kirchen-  und  Kult- 
wesen gänzlich,  ohne  freilich  die  praktische  Folgerung  aus  dieser  Verwerfung 
zu  ziehen,  d.  h.  auf  die  kirchlichen  Zeremonien  (namentlich  auf  die  Taufe, 
die  Konfirmation,  die  Trauung  und  rituelle  Beerdigung)  zu  verzichten  und 
den  Religionsbund,  dem  sie  angehören,  zu  verlassen.  Wenn  das  alle  Gegner 
des  kirchhchen  und  kultischen  Religionswesens  täten,  würden  die  Kirchen 
einen  großen  Teil  ihrer  Mitglieder  verheren.  Aber  auch  viele  von  den  halb 
oder  ganz  christlich  Gesinnten  schätzen  Kirche  und  Kultus  gering,  halten 
sich  von  den  Gottesdiensten  fem  oder  besuchen  sie  nur  aus  unreligiösen 
Gründen,  Bei  den  Protestanten  steht  es  in  diesem  Punkte  noch  schlimmer 
als  bei  den  Katholiken.  Der  Besuch  der  protestantischen  Kirchenakte  ist 
sehr  gering  und  von  den  Besuchern  haben  manche  nur  äußere  Motive,  andere 
kommen  um  eines  Vortrags,  nicht  um  der  kirchlichen  Handlung  willen.  Der 
protestantische  Kultus  übt  viel  weniger  Anziehung  aus  als  der  katholische. 
Wenn  die  katholische  Kirche  dem  Vortragsgottesdienst  auch  mehr  und  mehr 
Bedeutung  eingeräumt  hat  und  über  vorzügliche  Kanzelredner  verfügt, 
bildet  doch  immer  noch  die  Messe,  also  eine  rituelle  Begehung,  den  Mittel- 
punkt des  katholischen  Kirchenlebens.  Die  Messe  gilt  dem  frommen  Katho- 
liken unvergleichlich  mehr  als  dem  Protestanten  die  Liturgie.  Aach  die 
übrigen  kultischen  Pflichten  und  Übungen  nimmt  der  Katholik  ernster  als 
der  Protestant.  Woran  liegt  das?  Der  katholische  Kultus  muß  doch  wohl 
lebensvoller  und  die  katholische  Bundesbildung  kräftiger  sein.  Die  Prote- 

247 


stanten  irren  sich,  wenn  sie  glauben,  die  zahlreiche  und  eifrige  Teilnahme 
der  Kathohken  an  den  kultischen  Veranstaltungen  rühre  von  den  mora- 
lischen Zwangsmitteln  her,  die  die  Kirche  anwende.  Gewiß  übt  die  katho- 
hsche  Kirche  direkten  und  indirekten  Zwang  aus,  um  ihre  Angehörigen  zur 
pünktUchen  Erfüllung  ihrer  kirchlichen  Pflichten  anzuhalten ;  aber  es  fällt 
doch  heute  fast  niemandem  mehr  schwer,  sich  diesem  Zwang  zu  entziehen, 
sobald  er  einmal  das  Kindesaltcr  überschritten  hat.  Die  Zeit  der  Kirchen- 
strafen ist  vorüber ;  das  Drängen  und  Mahnen  der  kirchlichen  und  mitimter 
auch  der  weltlichen  Behörden  kann  zwar  lästig  werden,  wird  aber  die  Wider- 
willigen nicht  zu  fleißigen  Kirchen-  und  Beichtgängern  machen.  Nein,  die 
meisten  kathohschen  Kirchenbesucher  kommen  aus  freien  Stücken ;  sie  fin- 
den in  den  Kultübungen  und  in  der  Beteiligung  an  dem  kirchHchen  Gemein- 
schaftsleben Befriedigung  ilirer  religiösen  Bedürfnisse.  Das  kann  wie  gesagt 
nur  darin  seinen  Grund  haben,  daß  der  Kathohzismus  seinen  Anhängern 
etwas  rehgiös  Wertvolles  bietet.  Wertvolleres  als  der  Protestantismus  der 
nichtkatholischen  Christenheit. 

Der  Protestantismus  ist  in  bezug  auf  Kultus  und  Bundesleben  seines 
Namens  allzu  eingedenk  gebheben:  er  ist  der  Protest  gegen  eine  ReHgion, 
aber  nur  in  geringem  Maße  selber  eine  Religion.  Er  hat  allenthalben  Ab- 
striche von  den  katholischen  Formen  und  Forderungen  gemacht,  aber  wenig 
Neues  in  die  entstandenen  Lücken  eingefügt.  Alles  in  allem  hat  er  den  Kultus 
nüchtern  und  langweiUg  gemacht  und  dadurch  die  kirchHchen  Bande  ge- 
lockert. Die  protestantischen  Gemeinden  sind  gegen  Kirche  und  Kultus 
immer  gleichgültiger  geworden  und  haben  das  Gefühl  für  die  rehgiöse  Zu- 
sammengehörigkeit immer  mehr  verloren.  Sie  bilden  kaum  noch  einen  Bund, 
kaum  noch  eine  geschlossene  ReUgionsgemeinschaft,  w^ährend  bei  den  Ka- 
thohken das  GemeinsamkeitsbewTißtsein  bekanntlich  sehr  stark  entwickelt 
ist.  Kathohken  fühlen  sich  untereinander  wie  unter  Brüdern;  der  Bundes- 
geist weilt  stets  in  ihrer  Mitte.  Die  Priester  und  die  ,, ehrwürdigen  Schwe- 
stern" sind  die  lebendigen  SjTnbole  dieses  Bundesgeistes;  und  die  gemein- 
samen Kultformen,  namentlich  die  Messe  in  ihrer  internationcden  Allge- 
meingültigkeit, überbrücken  alle  Gegensätze  imd  bannen  alle  Fremdheiten. 

Wir  haben  die  Frage  zu  beantworten,  ob  die  Lockerung  der  religiösen  Ge- 
meinschaftsbande ein  Segen  oder  ein  Unsegen  für  die  Rehgion  ist.  Und  die 
Beantwortung  dieser  Frage  ist  nur  im  Zusammenhang  mit  der  Erwägung 
möglich,  ob  der  Kultus  ein  entbehrliches  oder  ein  imentbehrliches  Stück 
wahrer  Religiosität  ist;  denn  der  Kultus  ist  die  Seele  des  kirchlichen  Ge- 
meinschaftslebens. Ohne  Kultus  ist  die  Kirche  ein  bloßer  Verein,  ein  Vor- 
trags- und  Gesangverein  wie  es  heute  so  viele  gibt.  Nur  die  gemeinsam  ge- 
übten oder  von  dem  Vertreter  der  Gemeinde  vorgenommenen  heiligen  Hand- 

248 


lungen  erzeugen  jenes  starke  Bundesgefühl,  das  die  Religionsgemeinschatten 
von  jeher  ausgezeichnet  hat.  Nur  für  einen  Kultbund  setzen  die  Mitglieder 
ihr  Leben  ein,  opfern  sie  ihre  Güter  und  Kräfte,  bauen  gewaltige  Bundes- 
häuser und  verteidigen  ihre  Heiligtümer  gegen  die  ganze  Welt.  Daher  hängt 
die  Zukunft  des  religiösen  Bundeswesens  ausschließlich  von  der  Zukunft 
des  religiösen  Ritenwesens  ab.  Hat  der  Ritus  keine  Zukunft  und  ist  er  nur 
ein  Überbleibsel  einer  überwundenen  Stufe  des  menschlichen  Rehgions- 
lebens,  so  hat  auch  die  Kirche  keine  Zukunft  und  wird  höchstens  als  rehgiös- 
künstlerischer  Verein  fortleben.  Die  Religion  wird  forthin  „Privatsache" 
sein  und  kein  Gemeinschaftsdasein  mehr  führen. 

Fast  alle  freidenkenden  Zeitgenossen  halten  diese  Entwicklung  für  un- 
abwendbar und  für  wünschenswert.  Auch  mein  Bruder  und  ich  sind  früher 
dieser  Meinung  gewesen;  wir  haben  nicht  nur  an  dem  Kampfe  gegen  die 
bestehenden  Religionsbünde  teilgenommen,  sondern  auch  als  Endziel  der 
heutigen  religiösen  Krise  die  Gewinnung  eines  rein  persönlichen,  organisa- 
tionslosen Religionswesens  angesehen.  Allgemach  haben  wir  unsere  Meinung 
geändert;  einerseits  die  praktische  religiöse  Lehrtätigkeit,  andererseits  das 
Studium  der  religiösen  Vergangenheit  und  des  religiösen  Menschentypus  hat 
uns  zu  der  Überzeugung  gebracht,  daß  Kirche  und  Kultus  nicht  ein  Hemm- 
nis, sondern  die  Vorbedingung  kräftigen  religiösen  Lebens  sind.  Wir  glauben 
heute,  daß  auch  die  künftige  Rehgion  die  Gemeinschaftsbildung  und  das  reli- 
giöse Ritual  nicht  %vird  entbehren  können.  Der  am  häufigsten  erhobene  Ein- 
wand dagegen :  daß  nämlich  Kirche  und  Kultus  mit  völliger  religiöser  Frei- 
heit unvereinbar  seien,  ist  nicht  stichhaltig.  Die  religiöse  Bundesbildung  als 
solche  hat  mit  dem  Despotismus  der  dogmatischen  Kirchen  gar  nichts  zu 
tun.  Ebenso  wie  ein  Staat  kein  Despotenstaat  zu  sein  braucht  und  trotzdem 
große  Festigkeit  nach  innen  und  außen,  auch  Gesetze  und  Verfassung  haben 
kann,  so  kann  auch  ein  Rehgionsbund  Kraft  und  Dauer  haben,  wenn  er 
auf  dem  Grundsatze  der  Freiheit  aufgebaut  ist.  Der  Freistaat  ist  sogar  ein 
viel  stolzeres  und  mächtigeres  Gebilde  als  der  Tyrannenstaat.  So  wird  auch 
die  Freikirche  dem  menschlichen  Organisierungsdrang  weit  lohnendere  Be- 
tätigungsfelder eröffnen  als  die  Papstkirche  und  die  dogmatischen  Buch- 
kirchen. 

Wer  ist  denn  frei  ?  Im  Grunde  kann  nur  der  Bund,  nicht  der  Einzelmensch 
frei  sein.  Durch  den  Zusammenschluß  verwandtschaftlich  oder  sonstwie  Ver- 
bundener ist  die  Freiheit  in  die  Welt  gerufen  worden;  in  Gestalt  von  Bünden 
hat  die  Menschheit  sich  über  die  Tierheit  erhoben  und  mit  Hilfe  der  Gemein- 
schaftsbildung hat  sie  die  Kraft  gewonnen,  autonom,  d.  h.  nach  eigenen 
Gesetzen  zu  handeln  und  zu  leben.  Der  Gottesglaube  der  Zukunft,  wie  ich 
ihn  oben  zu  schildern  versuchte,  läßt  sich  nur  von  geschlossenen  Religions- 

249 


bünden,  nicht  von  versprengten  Einzelnen  bekennen  and  bewähren.  — 
Nietzsche  ist  leider  zu  früh  dahingegangen,  um  zu  dieser  Einsicht  durch- 
zudringen. Hie  und  da  ist  er  ihr  sehr  nahe  gekommen;  aber  immer  gewann 
wieder  sein  Haß  gegen  die  bestehenden  Kirchen  die  Oberhand  und  trübte 
ihm  den  Blick  für  das  Gemeinschaftsproblem  im  ganzen.  Meiner  Meinung 
nach  hätte  auch  Guyau,  wenn  er  länger  gelebt  hätte,  sein  Werk  ,,Die  Irr- 
religion der  Zukunft"  durch  ein  anderes  ergänzt,  worin  er  eine  neue  religiöse 
Gemeinschaftsbildung  befürwortet  hätte.  Ihn  machte  der  verfehlte  Versuch 
A.  CoMTES  irre. 

Vielleicht  dringen  wir  am  leichtesten  in  den  Kern  unserer  Frage  ein,  wenn 
wir  uns  für  einen  Augenblick  in  unser  östliches  Nachbarreich  begeben  und 
von  den  religiösen  Verhältnissen  in  Rußland  aus  diejenigen  des  übrigen 
Europa  zu  verstehen  suchen.  In  Rußland  ist  der  religiöse  Anarchismus  am 
stärksten  ausgebildet,  weil  dort  der  konsequenteste  religiöse  Despotismus 
herrscht  (vgl.  Dmitri  Mereschkowski:  Der  Zar  und  die  Revolution).  Die 
russische  Kirche  hat  an  dem  alten  Grundsatze  des  Gottkönigtums  festge- 
halten: der  Zar  ist  zugleich  Kaiser  und  Papst,  zugleich  oberster  weltlicher 
und  oberster  geistlicher  Herr.  Er  regiert  als  Inkarnation  der  Gottheit  und 
übt  infolgedessen  einen  schrankenlosen  Despotismus  aus,  der  durch  keine 
,, Verfassung"  und  keine  politische  Reformbewegung  aufgehoben  oder  auch 
nur  wesentlich  eingeschränkt  werden  kann.  Die  Dinge  liegen  also  ganz 
anders  als  im  übrigen  Europa,  wo  die  weltlichen  Herrscher  zwar  ,,von  Gottes 
Gnaden"  regieren,  aber  keine  religiöse  Machtvollkommenheit  besitzen.  Viel- 
mehr ist  für  die  Katholiken  aller  Länder  der  Papst  die  höchste  religiöse  In- 
stanz, und  die  Protestanten  und  sonstigen  Rehgionsgemeinschaften  haben 
eigene  Behörden,  die  nur  in  einem  beschränkten  Abhängigkeitsverhältnis 
zu  den  pohtischen  Obrigkeiten  stehen.  So  gibt  es  z.  B.  in  Deutschland  keine 
eigentliche  Staatsreligion,  sondern  mehrere  religiöse  Privatgesellschaften, 
die  vom  Staate  geschützt  und  unterstützt  werden. 

In  dem  Kapitel  ,,Der  Priester  als  Herrscher  und  Richter"  hatten  wir  er- 
kannt, daß  es  Stärke  und  Glück  anzeigt,  wenn  in  einem  Volke  Kirche  und 
Staat,  Kriegshäupthngschaft  und  priesterliche  Friedenshäuptlingschaft  zu- 
sammenfallen. Der  religiöse  Verband  ist  dann  die  Seele  des  politischen  Ver- 
bandes und  der  Gottkönig  ist  das  Symbol  des  gemeinsamen  Strebens  und 
Schaffens.  So  wie  der  menschliche  Organismus  eine  Einheit  ist,  wie  alle 
unsere  seelischen  und  leiblichen  Funktionen  durcheinander  bedingt  und  fest 
miteinander  verwachsen  sind,  so  ist  auch  der  vollkommene  Staat  eine  Ver- 
einheitlichung seiner  Bürger  in  allen  Dingen  des  Lebens,  des  geistigen  so  gut 
wie  des  wirtschaftHchen.  Der  vollkommene  Staat  ist  ein  Organismus,  nicht 
eine  äußere  Schutzanstalt  für  das  in  ihm  sich  entfaltende,  aber  von  ihm  un- 

250 


abhängige  Kulturleben.  Das  geistig-religiöse  Leben  ist  vielmehr  untrennbar 
mit  dem  politisch-wirtschaftlichen  Leben  verbunden. 

Wann  ist  nun  die  Einheit  von  Leib  und  Seele,  von  PoUtik  und  Kultur, 
von  Wirtschaft  und  Religion  am  vollkommensten?  Wenn  die  Leitung  in 
einer  Hand  hegt  oder  wenigstens  die  leitenden  Personen  und  Körperschaften 
in  enger  Verbindung  miteinander  stehen.  Das  Gottkönigtum  war  der  groß- 
artigste Versuch  der  Menschheit,  dem  Gemeinschaftsleben  Fruchtbarkeit 
und  Tiefe  zu  geben.  In  dem  Staate  des  Gottkönigs  wird  alles,  was  über  das 
Einzelleben  hinausweist,  von  der  Religion  vergeistigt  und  umgekehrt  alles 
ReUgiöse  im  Zusammenhang  mit  der  Wirtschaft,  der  Pohtik,  der  Erziehung, 
der  Kunst  geschaut.  Bewußt  und  unbewußt  war  das  Sehnen  der  Jahrtau- 
sende auf  diesen  Staat  des  Gottkönigs  gerichtet.  Der  religiös-politische  Ein- 
heitsbund bildete  den  Gegenstand  der  kühnsten  Träume  und  das  Ziel  des 
edelsten  Strebens  und  Arbeitens.  An  vielen  Stellen  der  Erde  entstanden 
Reiche,  die  das  Ziel  erreicht  zu  haben  glaubten:  „Königtümer  Gottes" 
dünkten  sie  sich  zu  sein.  Das  Wunder,  daß  die  Gottheit  auf  dem  welthchen 
Throne  saß,  schien  Wahrheit  geworden  zu  sein. 

Aber  es  war  nur  Schein  und  Selbstbetrug.  Kein  Einzelmensch  war  so  groß 
und  umfassend,  daß  er  die  Rolle  Gottes  auf  Erden  zu  spielen  vermochte; 
daher  war  die  Gottkönigsrolle  stets  mangelhaft  besetzt.  Lange  hat  es  freilich 
gedauert,  bis  die  Menschheit  zu  dem  Schlüsse  kam,  daß  die  Verwirklichung 
des  Gottkönigtums  ein  für  allemal  eine  UnmögUchkeit  sei  und  aus  inneren 
Gründen  niemals  geschehen  könne.  Die  Geschichte  aller  Kultur-  und  Halb- 
kulturvölker zeigt  uns  das  immer  erneute  Ringen  um  den  Gottesstaat.  Weil 
die  wirkliche  Aufrichtung  dieses  Staates  scheiterte,  flüchtete  sich  das  unaus- 
rottbare Verlangen  der  Menschen  in  die  Phantasie  weit.  „In  grauer  Ver- 
gangenheit", so  raunten  die  Priester,  „war  das,  was  die  Gegenwart  vergeb- 
lich sucht,  erfüllt :  Gott  war  König  und  Richter  und  unter  seinem  Szepter 
war  das  Volk  glücklich,  frei  und  reich;  aber  böse  Mächte  stießen  den  Herr- 
scher vom  Thron  und  er  wandte  sich  hinweg  in  den  fernen  Himmel.  Zwie- 
tracht und  Elend  hielten  ihren  Einzug  und  der  Satan  legte  die  Gottesmaske 
an  und  setzte  sich  auf  den  verlassenen  Thron."  Und  weiter  raunten  die  Prie- 
ster: „der  König,  der  jetzt  das  Regiment  führt,  das  Volk  plagt  und  uns  Prie- 
ster mißachtet,  ist  der  Antichrist !  Weil  ihr  das  Böse  in  eure  Herzen  aufge- 
nommen habt,  ist  das  Paradies  verscherzt,  der  Garten  Gottes  in  ein  Tal 
des  Schreckens  verwandelt  und  ihr  Knechte  des  widergötthchen  Tyrannen 
geworden.  Aber  noch  ist  nicht  alles  verloren:  beten  wir,  daß  Gott  uns  von 
dem  Übel  erlöse,  daß  er  in  Herrlichkeit  zurückkehre,  der  Schlange  den  Kopf 
zertrete  und  sein  Reich  neu  aufrichte!"  — 

Ist  das  nicht  der  Hauptinhalt  der  Rehgionsphilosophie  aller  jener  Völker, 


die  den  Glauben  an  das  alte  religiöse  Staatsideal  verloren  haben  ?  Trauer  um 
ein  sagenhaftes  vergangenes  Gottesreich  und  Hoffnung  auf  ein  zukünftiges, 
noch  viel  herrlicheres  Gottesreich !  —  Diese  religionspolitischen  Phantasien 
wurden  namentlich  zum  Trostmittel  derjenigen  Völker,  die  unter  einem  Gott- 
könig lebten  und  erkennen  mußten,  daß  er  ein  Tyrann  und  sie  seine  Sklaven 
seien.  Sie  begriffen,  welche  Torheit  es  sei,  von  einem  Menschen  die  Heilung 
aller  Gebrechen,  die  Versöhnung  aller  Gegensätze,  die  vollkommene  Leitung 
des  gesamten  inneren  und  äußeren  Gemeinschaftslebens  zu  erwarten.  Die 
Schwächen  und  Unvollkommenheiten  des  zum  Gott  Erhobenen  wuchsen  ins 
Gigantische;  das  Mißverhältnis  zwischen  Forderung  und  Erfüllung  trat  so 
grell  hervor,  daß  die  Bedrückten  in  dem  Erkorenen  den  leibhaftigen  Wider- 
gott  zu  sehen  vermeinen  mußten. 

Wir  dürfen  gegen  die  guten  Seiten  des  despotischen  Gemeinschaftsideales 
nicht  bhnd  sein.  Das  Gottkönigtum  hat  sowohl  politisch  als  religiös  Gewal- 
tiges geleistet.  Wir  brauchen  nur  an  die  babylonische  und  äg^'ptische  Kultur, 
an  das  assyrische  und  das  persische  Weltreich  und  deren  Erben:  die 
Diadochenreiche  und  das  kaiserliche  Rom  zu  denken.  Aber  gleichviel:  der 
politische  und  der  religiöse  Despotismus  gehören  einer  überwundenen  Kul- 
turepoche an;  der  russische  Zarismus  und  die  katholische  Kirche  sind  un- 
rettbar dem  Untergänge  verfallen,  so  stark  diese  letzten  Säulen  des  alten 
Ideals  heute  noch  dastehen  mögen.  Der  einfachste  und  direkteste  Weg, 
Staat  und  Religion,  Zivilisation  und  Kultur  zur  Einheit  zu  verbinden,  hat 
sich  als  ungangbar  erwiesen :  er  führt  von  dem  erstrebten  Ziele  nur  immer 
weiter  ab. 

Die  Folge  dieser  Erkenntnis  ist  nun  leider  die,  daß  der  europäische  Mensch 
ein  tiefes  Mißtrauen  gegen  jede  reHgiöse  Gemeinschaftsbildung  bekommen 
hat.  Ja,  sehr  viele  moderne  Europäer  verwerfen  jede  geistige  Organisation 
und  empfinden  auch  gegen  die  politische  Organisation  eine  kaum  verhehlte 
Abneigung.  Sie  wollen  jede  Regelung  des  Gemeinschaftslebens  aufheben  und 
predigen  den  Anarchismus  als  die  ideale  Lebensform  der  Zukunft.  Der 
Anarchismus  ist  der  natürliche  Gegenschlag  gegen  den  Despotismus  der 
vorangegangenen  Kulturepochen;  er  ist  die  konsequente  Lehre  jedes  frei- 
gewordenen Sklaven,  der  einmal  gründhch  aufatmen  und  jeder  Bindung 
ledig  sein  will.  Leider  kann  das  Problem  des  Anarchismus  hier  nicht  näher 
erörtert  werden,  so  wichtig  es  für  die  Psychologie  des  Propheten  und  für  das 
Verständnis  der  heutigen  religiösen  Stimmungen  ist.  Alle  Propheten  haben 
sich  den  anarchistischen  Lebensgrundsätzen  genähert;  es  ist  kein  Zufall, 
daß  unser  Zeitalter  Theoretiker  und  Praktiker  des  Anarchismus  in  großer 
Zahl  und  in  jeder  Schattierung  hervorbringt.  Am  stärksten  macht  sich  natur- 
gemäß der  Anarchismus  in  Rußland  bemerkbar;  denn  in  Rußland  ist  das 

252 


Gottkönigtum  noch  am  lebendigsten  und  knechtet  die  Seelen  und  Leiber  am 
härtesten.  Tolstoi  hat  am  erfolgreichsten,  wenn  auch  nicht  am  konsequen- 
testen der  anarchistischen  Stimmung  seines  Volkes  Ausdruck  gegeben;  der 
Widerhall,  den  seine  christlich-buddhistische  Predigt  in  allen  Ländern  ge- 
funden hat,  beweist,  daß  auch  in  der  übrigen  Kulturwelt  der  Druck  despo- 
tischer Gewalten  noch  stark  gefühlt  wird.  Allenthalben  erheben  antiorga- 
nisatorische Prediger  ihre  Stimme.  Ihre  Freiheits-  und  Persönlichkeitspre- 
digt richtet  sich,  wenn  sie  nicht  in  Rußland  leben,  natürlich  in  erster  Linie 
gegen  die  katholische  Kirche ;  denn  diese  Kirche  ist  außer  dem  Zarismus  die 
großartigste  despotische  Gemeinschaftsbildung  der  Kulturwelt.  Sie  hat,  ob- 
wohl sie  sich  als  Religionsbund  bezeichnet,  noch  keineswegs  den  Anspruch 
aufgegeben,  die  gesamte  Kultur  und  Zivilisation,  zumal  also  das  politische 
Leben  zu  leiten  und  zu  beeinflussen.  Der  Papst  ist  wie  der  Zar  ein  Gottkönig. 
Ob  die  weltlichen  Könige  und  republikanischen  Regierungen  sich  dem  Einfluß 
des  Papstes  entzogen  haben  oder  zu  entziehen  suchen,  ist  eine  Sache  für  sich. 
Die  Idee  des  Gottkönigtums  hat  sogar  dadurch,  daß  der  Papst  sein  Land 
verloren  und  seine  welthche  Herrschaft  notgedrungen  aufgegeben  hat,  neuen 
Glanz  gewonnen.  Der  Papst  wird  nun  nicht  mehr  als  Antichrist  empfunden 
wie  zu  Luthers  Zeit,  sondern  eher  als  der  Heiland,  der  das  Volk  von  der  Be- 
drückung durch  die  weltlichen  Mächte  erlöst.  Der  Staat  und  die  wirtschaft- 
lich Mächtigen  erscheinen  dem  kirchentreuen  Kathohken  jetzt  als  die 
Feinde  des  Gottesreichs,  wie  sie  denn  in  der  Tat  die  Feinde  des  alten  despoti- 
schen Rehgionsprinzips  sein  müssen.  Der  Katholik  sieht  sich  genötigt,  die 
Bundesgenossenschaft  der  politisch  und  geistig  auflösenden  Elemente  zu 
suchen.  Zwar  vermeidet  man  es,  sich  offen  für  die  revolutionären  Parteien 
zu  erklären  (hauptsächüch  deshalb,  weil  die  Katholiken  bei  den  heutigen 
Soziahsten  und  Anarchisten  zu  wenig  Gegenliebe  finden  und  weil  die  Kirche 
den  Büttel  Staat  nicht  mehr  entbehren  kann),  aber  die  Erfahrung  hat  ge- 
lehrt, daß  man  sich  nicht  scheut,  ihnen  im  Notfall  kräftige  Unterstützung 
zu  gewähren.  Der  Katholizismus  läuft  wenig  Gefahr  dabei,  denn  er  ist  orga- 
nisatorisch stark  genug,  um  einige  sozialistisch-anarchistische  Ideen  ver- 
dauen zu  können.  Auch  haben  die  christüchen  Lehren  nicht  geringe  Ver- 
wandtschaft mit  diesen  Ideen;  die  Kirche  muß  sich  nur  entschheßen,  das 
Neue  Testament  so  zu  lesen,  wie  die  urchristliche  Zeit  es  erlebt  und  verfaßt 
hat,  d.  h.  als  ein  Sehnsuchtslied,  das  die  Verneinung  und  Verleugnung  des 
heidnischen  Weltreichs  predigt  und  diesem  Weltreich  das  Königtum  Gottes 
gegenüberstellt.  In  diesem  Sinne  nehmen  z.  B.  die  russischen  Anarchisten  das 
Neue  Testament  nüt  Recht  für  sich  in  Anspruch;  auch  die  deutschen  und 
amerikanischen  Prediger  des  ,,persönhchen  Lebens",  z.B.  Johannes  Müller 
tmd  R.  W.  Trine,  verknüpfen  christliche  Gedanken  mit  staat-  und  kirchen- 

253 


losen  Anarchistenträumen.  Der  katholischen  Kirche,  die  eine  jahrhunderte- 
lange Anpassungs-  und  Einverleibungsarbeit  siegreich  geleistet  hat,  fällt  es 
nicht  schwer,  auch  diese  neueste  christliche  Strömung  in  ihr  Bett  hinüber- 
zulenken  und  so  erleben  wir  das  denkwürdige  Schauspiel,  daß  dasselbe  Buch 
(das  Neue  Testament)  und  dieselbe  Persönhchkeit  (der  Nazarener  Jesus)  zu- 
gleich dem  despotischen  Organisationsprinzip  (Papsttum  und  Zarismus)  und 
dem  anarchistischen  Freiheitsverlangen  zur  Stütze  dient.  Es  gibt  heute  nicht 
wenige  Christen,  in  deren  Herzen  diese  beiden  Gegensätze  friedlich  neben- 
einander wohnen:  je  nach  Umständen  kommt  der  Despot  oder  der  Anarchist 
zu  Worte.  Namenthch  unter  den  Katholiken  kann  man  solche  merkwürdigen 
Freunde  des  Reiches  Gottes,  das  nicht  von  dieser  Welt  ist  und  dann  plötz- 
lich doch  wieder  in  der  Kirche  verwirklicht  sein  soll,  finden. 

Ich  möchte  hier  wiederum  betonen,  wie  unumgänglich  nötig  es  für  unsere 
freigesinnten  Zeitgenossen  ist,  die  kathohsche  Kirche  mit  Aufmerksamkeit 
zu  studieren  und  die  Psyche  des  heutigen  KathoHken  richtig  verstehen  zu 
lernen.  Nur  auf  Grund  dieses  Studiums  gelangen  wir  zur  Würdigung  und 
Neugestaltung  des  Kirchen-  und  Kult wesens.  Wenn  wir  noch  einen  AugenbHck 
das  Verhältnis  von  Religion  und  Gesellschaft  ins  Auge  fassen  dürfen,  so  lehrt 
uns  der  Katholizismus,  daß  es  unmöghch  ist,  die  rehgiösen  Dinge  grundsätz- 
lich von  den  sozialen  und  wirtschaftlichen  zu  trennen.  Die  Katholiken  wis- 
sen, was  die  anderen  Parteien  und  kulturellen  Gruppen  vergessen  haben: 
daß  Reügion,  Pohtik  undW^irtschaft  zusammengehören.  Wenn  dieZentrums- 
partei  auch  diplomatisch  genug  ist,  sich  dem  trennungsliebenden  Zeitgeiste 
äußerlich  anzubequemen,  beruht  ihre  Stärke  doch  darauf,  daß  sie  zugleich 
eine  politische  und  eine  religiöse  Partei  ist  (vgl.  E.  Horneffer  :  Die  Kirche 
und  die  politischen  Parteien).  Wer  eine  reinliche  Scheidung  von  Religion 
und  öffentlichem  Leben  verlangt,  verkennt  die  gemeinschaftsbildende  Auf- 
gabe der  Rehgion.  Die  Theologen  und  Politiker  der  liberalen  Richtung  haben 
einen  zu  engen,  mitunter  geradezu  armseligen  Religionsbegriff ;  sie  haben  im 
Kampfe  mit  dem  religiösen  Despotismus  viel  zu  viel  preisgegeben.  Jeder 
Gesundsinnige  muß  doch  begreifen,  daß  die  Religion  mit  der  Moral,  die 
Moral  mit  dem  sozialen  Leben,  das  soziale  mit  dem  politischen  Leben  zu- 
sammengehört. Und  von  der  anderen  Seite  geht  die  Linie  von  der  Religion 
zur  Kunst,  zur  Wissenschaft,  zmn  technischen  und  Erwerbsleben  hinüber. 
Trennen  kann  man  hier  nur  theoretisch;  wer  es  praktisch  tut,  ist  entweder 
eine  einseitige  Gelehrtennatur  oder  ein  disharmonischer  Kranker,  der  auf 
Geheiß  der  Krankheitsdämonen  anarchistische  Zersetzung  erstrebt.  Un- 
glücklicherweise beherrschen  die  Gelehrten  und  die  Kranken  einen  großen 
Teil  unseres  öffentlichen  Lebens;  man  hat  nicht  unrichtig  die  ganze  soge- 
nannte Modernität  als  einen  Zersetzungsvorgang  definiert. 

254 


Dem  Zersetzungs willen  auf  religiösem,  politischem  und  allgemein  geistigem 
Gebiete  müssen  wir  entgegenarbeiten.  Der  synthetische  Wille  muß  neu  zu 
Ehren  kommen  und  dem  modernen  Chaos  ein  Ende  bereiten.  Die  Anzeichen 
mehren  sich,  daß  große  Kräfte  in  dieser  Richtung  am  Werke  sind.  Die  Be- 
deutung der  Organisation  wird  neu  begriffen,  der  Ruf  nach  Gemeinschafts- 
bildung findet  Gehör.  Die  große  Frage  ist :  nach  welchen  Grundsätzen  kann 
und  soU  der  Mensch  der  Freiheit  organisieren?  Wie  gelangen  wir  zu  einer 
antidespotischen  religiösen  Bundesbildung?  Viele  verzweifeln  daran,  dies 
Problem  befriedigend  zu  lösen.  Des  modernen  Anarchismus  müde,  wissen  sie 
keinen  anderen  Ausweg,  als  zu  dem  despotischen  Organisationsprinzip  zu- 
rückzukehren. Sie  flüchten  sich  in  den  Schoß  der  alten  Kirche  und  verherr- 
hchen  wieder  jenen  Autoritätsbegriff,  der  in  dem  Gottkönigtum  seine  kräf- 
tigste Ausprägung  erhalten  hat.  Es  sind  Erschöpfte  und  Resignierte:  wir 
müssen  ihren  Verrat  an  der  rehgiösen  Zukunft  milde  beurteilen,  weil  die 
Aufgabe  wirklich  über  alle  Maßen  schwierig  und  jeder  Schritt,  den  wir  zur 
rehgiösen  Neuorganisierung  tun,  über  alle  Maßen  verantwortungsvoll  ist. 
Der  hervorragendste  unter  den  neuen  Freunden  des  kathohschen  Kirchen- 
prinzips ist  der  oben  erwähnte  Pädagoge  F.  W.  Förster.  Es  läßt  sich  be- 
greifen, daß  sich  gerade  Pädagogen  heutzutage  durch  die  katholische  Kirche 
angezogen  fühlen ;  denn  wenn  der  Jugenderzieher  seines  Berufes  \^äirdig  ist, 
hat  er  den  dnngenden  Wunsch,  seinen  Anvertrauten  feste  Stützen  für  ihre 
sittliche  Persönhchkeit  zu  geben.  Wo  findet  er  aber  in  unserer  chaotischen 
Kultur  einen  haltbaren  Ankergrund?  Woher  nimmt  er  den  Rückhalt  für 
seine  sittlichen  Lehren?  Er  muß  in  seinen  eigenen  Busen  greifen;  er  muß 
selber  ein  ruhender  Punkt,  ein  lichtgebendes  Zentralfeuer,  eine  gemein- 
schaftsbildende Kraft  sein.  Nur  dann  kann  er  seine  Schüler  zu  schönen  und 
formgewaltigen  Organismen,  zu  selbständigen  Kraftspendern  oder  zu  krei- 
senden Planeten  erziehen.  Traut  er  sich  das  nicht  zu,  so  bleibt  ihm  allerdings 
nur  zweierlei  übrig:  entweder  erteilt  er  unrehgiösen  Unterricht  und  ver- 
zichtet auf  Erzieherschaft  im  höchsten  Sinne,  oder  er  wird  katholischer 
Christ,  versenkt  sich  in  den  großen  Erziehergeist  der  alten  Kirche  und  schheßt 
die  Augen  vor  der  Tatsache,  daß  die  Zeit  des  rehgiösen  Despotismus  end- 
gültig vorüber  ist.  Förster  hat  —  mit  belanglosen  Einschränkungen  —  den 
letzteren  Weg  gewählt,  und  ich  zweifle  nicht,  daß  er  Nachfolger  finden  wird, 
sobald  die  Pädagogen  und  pädagogischen  Theologen  den  Ernst  der  heutigen 
Lage  ganz  erfaßt  haben  werden.  Auf  eine  genauere  Kritik  des  Förster  sehen 
Buches  ,, Autorität  imd  Freiheit"  müssen  wir  verzichten,  sie  ergibt  sich  aus 
den  Darlegungen  des  vorliegenden  Werkes  von  selber.  Daß  ich  Förster 
hochschätze  und  verehre,  habe  ich  an  anderer  Stelle  (Die  Tat  I,  8)  zum  Aus- 
druck gebracht;  trotzdem  klage  ich  ihn  des  Verrates  an.    Förster  hat 

255 


resigniert  die  Schlachtreihe  verlassen  und  sich  in  Sicherheit  gebracht.  Sein 
Verrat  ist  um  so  tragischer,  als  er  gerade  jetzt  erfolgt  ist,  wo  in  den  Horizont 
der  Freidenkenden  endlich  der  Kirchen-  und  Kultgedanke  eingetreten  ist, 
die  religiöse  Zukunftsbewegung  also  eine  entscheidende  Wendung  zum 
Guten  genommen  hat. 

Wir  \\iederholen  unsere  Frage:  wie  soll  die  Kirche  der  Zukunft  beschaffen 
sein  ?  Auf  welcher  Grundlage  soll  sie  ruhen  ?  —  Hören  wir  die  Antwort, 
die  die  moderne  Erweckungsbewegung  darauf  erteilt.  Dieselbe  erklärt:  die 
Kirche  soll  Sekte  sein,  d.  h.  eine  rein  ideale,  alles  Irdische  (Politisch-Wirt- 
schaftliche) beiseite  lassende  Gemeinschaft  sehnsüchtiger  Lichtfreunde.  Dies 
Sektenideal  hat  A.  Bonus  in  seiner  Schrift:  ,,Die  Kirche"  treffend  geschil- 
dert. Er  hat  auch  erkannt,  daß  die  ältesten  Christengemeinden  die  schönsten 
Muster  solcher  Sektenkirchen  sind.  Die  christhchen  Gemeinden  der  ersten 
Jahrhunderte  bildeten  bekanntlich  sehr  enge  und  feste  Verbände.  Was  war 
es,  was  sie  zusammenhielt  ?  Sie  fühlten  sich  eins  durch  ein  lebendiges  Gottes- 
bewußtsein, durch  den  Rauschglauben,  Gott  für  sich  zu  haben  und  eine  hei- 
lige Genossenschaft  von  Auserwählten  und  Geretteten  zu  sein.  Sie  bildeten 
also  einen  antipolitischen  Geheimbund,  der  zugleich  auch  die  sozialen,  wissen- 
schaftlichen, künstlerischen  Ziele  jener  Epoche  verneinte,  also  gegen  die  ge- 
samte damalige  Kultur  und  ZiviHsation  gerichtet  war.  Er  glaubte  sich  im 
Besitze  höherer  Güter,  im  Besitze  der  götthchen  Weisheit  und  wartete  in 
stolzer  Siegeshoffnung  auf  den  Augenblick,  wo  sich  alle  Werte  umkehren  und 
die  Letzten  die  Ersten  sein  würden.  Der  Christenbund  stellte  an  seine  Mit- 
glieder sehr  strenge  Forderungen :  volle  Entsagung  war  nötig,  um  das  Heil 
zu  ge%vinnen  und  in  die  Gemeinde  der  Heiligen  aufgenommen  zu  werden. 
Als  die  Gemeinde  der  Heiligen  ihr  Ziel  scheinbar  erreicht  hatte,  nämlich 
ZOT  beherrschenden  Religionsgemeinschaft  in  der  Welt  geworden  war,  hörte 
sie  eben  damit  auf,  eine  Kirche  im  ursprünglichen  Sinne  zu  sein.  Die  ,, Sekte" 
starb,  die  Kirche  machte  ihren  Frieden  mit  der  Welt  und  der  Kultur.  End- 
hch  kam  der  Protestantismus  und  brachte  diese  Entwicklung  zum.  Abschluß. 
Nach  Bonus  ist  die  protestantische  Kirche  eine  Entartungsform  rehgiöser 
Gemeinschaftsbildung,  ein  Ende  des  sektenhaften  christlichen  Bundeswesens. 
Das  ist  richtig;  jedoch  liegt  im  Protestantismus,  wie  \sdr  gleich  sehen  werden, 
der  Keim  zu  einer  anderen,  dem  Sektenideal  entgegengesetzten  Bundesbil- 
dung. In  imd  neben  der  sich  umformenden  und  sich  ver\veltlichenden  Kirche 
trieb  das  ,, reine  Kirchenideal",  d.  h.  das  Ideal  der  Sekte  immer  neue  Schöß- 
linge. Es  tauchten  religiöse  Gemeinschaften  allerart  auf,  die  der  Kirche 
Veräiißerhchung  und  Erstarrung  vorwarfen  imd  ihrerseits  die  wahre  Ge- 
meinde der  Heiligen,  das  wahre  Salz  der  Erde  zu  sein  behaupteten.  Teils  blie- 

256 


ben  sie  innerhalb  des  großen  Kirchenbundes,  teils  traten  sie  in  offenen  Gegen- 
satz zu  ihm.  Diese  Sektenbildung  ist,  je  näher  wir  der  Gegenwart  kommen, 
immer  stärker  und  tiefgreifender  geworden.  Zumal  Amerika,  Rußland  und 
England  bringen  lebenskräftige  und  ausbreitungsfähige  Organisationen  die- 
ser Art  hervor.  Wie  weit  die  Sektenbewegung  auch  nach  Deutschland  über- 
greifen wird,  steht  noch  dahin.  Ich  bin  geneigt,  ihr  auch  in  Deutschland  eine 
gute  Zukunft  zu  prophezeien.  Alle  christhch  Empfindenden  werden  sich  mit 
der  Zeit  in  den  Sekten  sammeln.  Namenthch  werden  die  Anhänger  eines  per- 
sönlichen Christentums  und  alle  freigesinnten  Jünger  Jesu  in  den  Sekten 
untergehen.  Und  vielleicht  wird  eines  Tages,  wie  zur  Zeit  des  beginnenden 
Christentimis,  eine  einzige  Sekte  alle  anderen  aufsaugen.  Es  wird  das  wesent- 
lich davon  abhängen,  ob  die  Umstände,  die  zur  sektiererischen  Kirchenbil- 
dung veranlassen,  sich  ebenso  beherrschend  geltend  machen  wie  damals. 

Was  sind  das  für  Umstände?  Wann  und  warum  entsteht  eine  „Kirche" 
im  Sinne  des  Sektenideals?  —  Wenn  es  keinen  Kulturstaat  gibt;  wenn  die 
pohtisch-wirtschaftUche  Organisation  geistige  Kräfte  unterdrückt  und  un- 
genutzt läßt.  Die  Sektenkirche  ist  ein  Staat  der  Sehnsucht,  eine  Zufluchtsstätte 
für  solche,  die  sich  unbefriedigt  fühlen,  weil  ihnen  die  volle  Betätigung  ihrer 
Kräfte  durch  äußere  und  innere  Verhältnisse  versagt  ist.  Die  Enterbten,  die 
Darbenden,  die  Unglückhchen  flüchten  sich  zu  Gott,  suchen  Gleichgesinnte 
und  feiern  mit  ihnen  durch  Rauschzusammenkünfte  und  harte  Kasteiung 
die  Versöhnung  mit  dem  All.  Da  es  nun  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen  "Völkern 
Enterbte  und  Verunglückte  gibt,  ist  stets  eine  Neigung  zur  Sektenbildung 
vorhanden;  aber  diese  Neigung  kommt  nur  dann  zum  Siege,  sie  schafft  nur 
dann  eine  machtvolle  ,, Kirche",  wenn  die  Enterbten  groß  an  Zahl  und  gei- 
stig von  ausschlaggebender  Bedeutung  sind.  Das  wiederum  ist  nur  dann  der 
Fall,  wenn  das  poUtisch-wirtschaf  tliche  Leben  sich  von  dem  religiös-geistigen 
abgetrennt  hat,  also  die  Einheit  der  Kultur  verloren  gegangen  ist ;  Platon 
sagt:  wenn  der  Staat  die  ,, Gerechtigkeit"  verbannt  hat  und  ,, ungerecht" 
geworden  ist.  Dann  tritt  die  Kirche  als  ein  Siurogat  in  die  Lücke  und  die 
Menschen,  die  untereinander  und  mit  sich  selber  in  Feindschaft  geraten 
waren,  suchen  sich  durch  das  Mysterium  der  göttlichen  Kommunion  neu  zu 
organisieren. 

Demnach  ist  es  begreifhch,  daß  auch  unsere  Zeit  einen  Zug  zur  Sekte  und 
Sektenverbrüderung  verspürt.  Wir  haben  uns  zu  entscheiden,  ob  wir  diese 
Entwicklung  begünstigen  und  mitmachen  sollen,  ob  wir  die  Sektenstifter  er- 
muntern und  uns  selber  als  Sekte  konstituieren  sollen  ?  —  Ich  verneine  dies. 
Das  Sektenideal  muß  unbedingt  abgelehnt  und  bekämpft  werden.  Alle  ge- 
sunden, zur  klassischen  Lebensform  strebenden  Kräfte  imseres  Volkes  müs- 
sen sich  vereinigen,  um  den  Strom  der  Sektenfrömmigkeit  zurückzudämmen 

17  Horneffer,  Der  Priester  II  257 


und  dem  entgegengesetzten  Prinzip  religiösen  Organisierens  zum  Siege  zu 
verhelfen.  Der  Haupteinwand  gegen  die  Sektenkirche,  wie  sie  in  der  ur- 
christlichen Gemeinde  und  in  der  modernen  Erweckungsbewegung  am  deut- 
lichsten in  die  Erscheinung  tritt,  ist  ihr  krankhafter  Charakter.  Sie  ist  ein 
Krankheitssymptom  und  führt  notwendig  zum  religiösen  Despotismus,  also 
zur  Priesterherrschaft  zurück.  Scheinbar  allerdings  herrscht  in  der  Sekten- 
kirche volle  Freiheit;  jedes  Mitghed  ist  Priester  und  Gefäß  des  götthchen 
Geistes.  Aber  das  ändert  sich  schnell,  weil  als  Quelle  des  religiösen  Wissens 
und  als  Befäliigungsnachweis  für  das  Lehramt  ausschließlich  die  krankhafte 
Eingebung  gilt.  Es  kann  auf  die  Dauer  nicht  jeder  Offenbarungen  haben; 
die  meisten  Gemeindemitglieder  müssen  sich  daher  begnügen,  die  Weisheit 
der  Erleuchteten,  die  aus  übernatürhchen,  unkontrollierbaren  und  jeder  Kri- 
tik entzogenen  Quellen  schöpfen,  einfach  hinzunehmen.  Die  Hauptpfhcht 
der  Gemeinde  wird  infolgedessen;  den  Priestern  zu  glauben  und  zu  gehor- 
chen. Die  Kirche  wird  zur  Hüterin  und  Verwalterin  der  Offenbarungs- 
schätze, die  von  begnadeten  Stiftern  und  Propheten  herrühren,  und  der 
Priester  wird  zum  Papst,  d.  h.  zum  unfelübaren  Ausleger  und  Verkörperer 
der  Heilswahrheiten.  Das  alles  können  wir  an  der  Entwicklung  des  Christen- 
tums von  einer  ,,in  Christo  freien"  Urgemeinde  zu  der  konstituierten  Welt- 
kirche genau  verfolgen.  Ganz  ebenso  wird  sich  das  Schicksal  der  modernen 
Sektengründungen  gestalten.  So  frei  sich  diese  Sekten  dünken  und  so  scharfe 
Kritik  sie  an  den  dogmatischen  Kirchen  üben,  werden  sie  doch  in  Kürze 
eben  dahin  gelangen,  wohin  das  organisierte  Christentum  gelangt  ist:  zum 
dogmatischen  Despotismus. 

Worin  hegt  der  Fehler?  Wie  können  wir  eine  religiöse  Gemeinschaft  bilden, 
die  den  dogmatischen  Despotismus  dauernd  ausschließt  ?  Wer  zeigt  uns  den 
Weg  zur  europäischen  Freikirche,  in  der  freie  Priester  des  freien  Lehr-  und 
Erzieheramtes  walten  ?  —  Die  Grundvoraussetzung  ist  meiner  Meinung  nach 
die,  daß  die  religiöse  Organisation  möglichst  engen  Zusammenhang  mit  dem 
Staate  und  dem  gesamten  Kulturwillen  sucht.  Nicht  hinaus  aus  den  natür- 
lichen Verbänden  soll  uns  die  religiöse  Gemeinschaft  führen,  wie  Jesus  ver- 
langte, wie  auch  der  Jesuitenorden  und  die  Heilsarmee  verlangt ;  nicht  ver- 
lassen soll,  wer  sich  dem  religiösen  Bunde  anschließt,  seine  Brüder  und 
Eltern,  seine  wirtschaf  thchen  und  pohtischen  Pflichten ;  sondern  umgekehrt : 
durch  die  rehgiöse  Bundesschheßung  soll  das  Band  mit  der  ,,Welt"  um  so 
fester  geknüpft  werden.  Die  Freikirche  soll  nicht  die  übrigen  gesellschaft- 
lichen Gruppen  (Familie,  Berufsverband,  Interessenverein,  Staat  und  Volk) 
verneinen  und  zerstören,  sondern  deren  Verklärung  und  Bestätigung  sein. 
Sie  soll  die  Gegensätze  überbrücken,  die  sich  zwischen  den  Menschen,  ihren 
Absichten  und  Ansichten,  ihrer  Herkunft  und  ihrer  Lebensart  auftun;  da- 

258 


durch  verwandelt  sie  die  kalten  Zweckverbände  und  die  beschränkten  Natur- 
und  Zufallsverbände  in  einen  gewaltigen  Kulturorganismus.  Die  Kirche  Jesu 
hat  das  weder  wollen  noch  können;  die  Kirche  Jesu  war  und  ist  ein  Bund 
derer,  die  sich  loslösen  wollen  und  die  „wahre  Heimat"  suchen.  Für  die 
christliche  Urgemeinde  und  ebenso  für  die  moderne  Sekte  ist  nicht  der  Staat, 
nicht  Sippe  und  Volk  die  wahre  Heimat ;  die  Sektenkirche  will  nicht  in  und 
mit  dem  poHtisch-wirtschaftlichen  Ganzen,  in  dem  sie  ihre  Stätte  hat,  arbei- 
ten, will  nicht  das  irdische  Los  des  Menschen  verbessern,  will  ihre  Mitglieder 
nicht  in  dem  Boden  der  heimischen  Volkskultur  verankern.  Was  gilt  der 
Sekte  die  irdische  Weisheit,  die  tapfere  Arbeit,  die  hohe  Lebensfreude?  Sie 
bekämpft  geradezu  das  heidnische  Tatleben  und  das  kräftige  Selbstver- 
trauen ;  sie  zeigt  einen  anderen  Weg  zmr  Überwindung  der  Übel,  von  denen 
ihre  Anhänger  bedrängt  werden :  durch  Beten  und  Träumen,  durch  Rausch 
und  Askese  sollen  die  Übel  in  Vergessenheit  gebracht,  die  Schmerzen  über- 
tönt, die  Sehnsucht  gestillt  werden.  Die  wahrhaft  christHche  Kirche  ist  eine 
Feindin  des  wirkenden  Lebens,  wenn  auch  die  Kirche,  wie  wir  sie  heute  vor 
uns  sehen,  mit  dem  heidnischen  Leben  in  allen  Formen  Hebäugelt.  Sie  ist 
eine  Feindin  der  poHtischen  Organisation  und  der  geistigen  Welteroberung. 
Auch  die  soziale  Fürsorge  widerspricht  dem  reinen,  von  Jesus  und  Paulus 
erstrebten  Kirchenideal;  die  vorbildlichen  Christenheiligen  haben  nie  an 
soziale  Reformen  und  an  die  Hebung  der  arbeitenden  Schichten  gedacht. 
Sie  würden  auf  die  Forderungen  der  heutigen  christlichen  Arbeiterschaft  mit 
der  Zurechtweisung  geantwortet  haben:  betet,  ihr  Arbeiter,  und  freut  euch 
auf  den  Lohn,  der  euer  in  der  anderen  Welt  wartet ;  aber  verlangt  nicht  nach 
dem  unchristlichen  Tat-  und  Genußleben  der  Begüterten !  —  Daß  die  christ- 
lich-sozialen und  klerikalen  Führer  heutzutage  ihren  Arbeiterscharen  ganz 
andere  Lehren  geben  imd  als  tatkräftige  Reformfreunde  auftreten,  ist  wie- 
derum ein  Beweis  für  die  Entchristlichung  der  Kirche  und  für  die  Ver- 
quickung des  Sektenideals  mit  der  heidnischen  Organisationsform.  Die  sozial- 
demokratischen Arbeiter  sind  ehrlicher;  sie  haben  ein  gerechtfertigtes  Miß- 
trauen gegen  die  christlichen  Arbeiterfreunde  und  empfinden  die  Unverein- 
barkeit von  Christentum  und  werktätiger  Welteroberung.  Hinter  den  heid- 
nischen Worten  der  christHchen  Reformer  verbirgt  sich  die  Sektenliebe,  die 
sich  erbarmend  zu  schwachen  Sündern  herabneigt,  und  die  Sektensentimen- 
taütät,  die  jeden  Ärmsten  als  den  verkappten  Heiland  liebkosend  um- 
schmeichelt. 

Kurz:  Sekten  und  christHche  Kirchen  sind  Anstalten,  um  bedürftige  und 
sehnsüchtige  Menschen  zu  trösten  und  zu  retten,  aber  nicht  Anstalten,  in 
denen  zielbewußte  und  arbeitsfreudige  Menschen  miteinander  am  Tempel 
der  Weisheit,  Stärke  und  Schönheit  bauen.  Die  Kirche  im  christlichen  Sinne 


i/* 


259 


ist  ein  Verschwörerbund  gegen  die  menschliche  Kultur;  sie  will  das  Glück 
herbeiträumen,  will  die  Wiederkunft  Gottes  erharren.  Die  Freikirche  der 
Zukimft  wird  umgekehrt  ein  Kulturbund  sein,  der  das  Glück  erobern  und 
Gott  in  unermüdlicher  wacher  Arbeit  erschaffen  will.  Auch  die  Freikirche  ist 
auf  die  Bruderliebe  gegründet;  aber  diese  Liebe  hat  einen  anderen  Sinn  als 
die  christliche  Liebe  in  ihrer  ursprünglichen,  nicht  verwässerten  und  ver- 
fälschten Bedeutung.  Die  unchristliche  Bruderliebe  ist  jenes  Gefühl,  das  die 
gemeinsam  Schaffenden  durchdringt,  das  Gefühl,  das  im  Arbeitsrhythmus, 
im  heiligen  Tanze  und  Liede  ihren  Ausdruck  findet.  Viele,  die  sich  heute  noch 
Christen  nennen,  meinen  im  Grunde  diese  heidnische  Liebe;  sie  möchten 
die  Kirche  unvermerkt  in  einen  heidnischen  Kulturbund  umwandeln.  Aber 
das  ist  unmöglich;  eine  ,, christliche  Kulturkirche"  ist  ein  Widersinn.  Wer 
dafür  wirkt,  verstrickt  sich  in  unheilbare  Widersprüche  und  Zweideutigkeiten 
und  wird  auf  Schritt  und  Tritt  zu  Fälschungen  und  Verdrehungen  gezwun- 
gen. Es  ist  ein  Glück,  daß  die  Sektenpropheten  aufgetreten  sind  und  das 
christhche  Kirchenideal  in  seiner  Urgestalt  erneuert  haben.  Wie  mächtig  und 
wahr  wirken  diese  Sektenpropheten  bei  aller  Beschränktheit  im  Vergleich 
zu  den  schwächlichen  Vermittlem  und  Vermischern,  die  das  Christentum 
mit  der  europäischen  Kultur  aussöhnen  zu  können  glauben !  Die  liberalen 
Theologen  richten  mit  ihrer  Predigt  religiös  gar  nichts  aus  und  wirken  nicht 
im  mindesten  organisierend.  Man  genießt  ihre  Reden  und  Schriften  als  gut 
gemeinte,  geist-  und  kenntnisreiche  Verlautbarungen  hebenswürdiger  Per- 
sonen ;  aber  man  spürt  keine  gemeinschaftsbildende  Kraft,  die  die  modernen 
unkirchlichen  Propheten  und  Sektenführer  unstreitig  haben,  auch  dann, 
wenn  sie  gar  nicht  den  Willen  haben,  religiöse  Organisationen  zu  schaffen. 
Das  Verhältnis  der  Freikirche  zum  Staat  läßt  sich  vor  der  Hand  noch  nicht 
deutUch  bestimmen ;  es  muß  abgewartet  werden,  wie  sich  der  Staat  mit  der 
neuen  rehgiösen  Organisation  abfindet,  ob  er  seinen  eigenen  Vorteil  wahr- 
zunehmen weiß  und  seiner  Kulturaufgabe  gerecht  wird.  Klammert  er  sich 
noch  länger  an  die  christlichen  Konfessionen  an,  verfolgt  und  erschwert  er 
noch  länger  mit  brutaler  Blindheit  das  Entstehen  und  Wirken  unchristhcher 
Rehgionsgemeinschaf  ten,  so  drängt  er  die  unaufhaltsame  religiöse  Bewegung 
in  einen  Gegensatz  zum  ganzen  politischen  Wesen,  der  für  beide  Teile  ver- 
hängnisvoll sein  muß.  Das  Richtige  kann  uns  das  griechische  und  römische 
Altertum  zeigen.  Wie  war  das  Verhältnis  der  antiken  Religion  zum  antiken 
Gemeinwesen?  Es  gab  Staatskulte;  aber  trotzdem  war  das  rehgiöse  Leben 
in  hohem  Grade  unabhängig  von  den  politischen  Gewalten;  es  konnte  sich 
frei  entfalten  und  stand  mit  der  staatlichen  Fortentwicklung  in  lebendiger 
Wechselwirkung.  So  war  die  Rehgion  poütisch  und  national  bedingt,  ragte 
aber  trotzdem  hoch  über  die  staath«  hen  Schranken  hinaus.  Der  Gedanke 

260 


einer  übernationalen  Religion  war  dem  Altertum  nicht  durchaus  fremd  und 
ausländische  Kulte  fanden  ohne  Schwierigkeit  Eingang.  Auch  innerhalb  des 
Gemeinwesens  stieß  die  religiöse  Bundesbildung  nicht  auf  Hindernisse,  Daß 
jeder  zuallererst  Staatsbürger  und  Arbeiter  am  Wohle  des  Ganzen  sein 
müsse,  verstand  sich  für  den  antiken  Menschen  so  von  selber,  daß  die  reli- 
giösen Verbrüderungen  kaum  je  in  einen  Konfükt  mit  den  patriotischen, 
sozialen  und  allgemeinen  Kulturzielen  geraten  konnten.  Die  Reügion  war 
ein  Ausdruck  des  Kulturwdllens,  war  die  Seele  des  politisch- wirtschaftlichen 
Verbandes.  Ich  weiß  wohl,  daß  auch  Gegenströmungen  auftraten  und  zahl- 
reiche priesterlich-sektiererische  Bewegimgen  in  das  Verhältnis  von  Reügion 
und  Staat  störend  eingriffen  —  das  Schlimmste  war,  daß  sich  die  „Predigt" 
und  die  Wissenschaft  nicht  mit  dem  religiösen  Bundes-  und  Kultwesen  orga- 
nisch verband,  daher  die  Rehgion  ihre  Einheit  verlor  und  mit  der  gesamten 
Kultur  der  Auflösung  entgegenging  — ;  aber  das  hindert  nicht,  daß  wir  Heu- 
tigen mit  Hilfe  der  griechisch-römischen  Religionsbildung  unseren  eigenen 
Weg  finden  und  beschreiten  können.  Den  Betrachtern  hat  sich  ja  auch  der 
Unterschied  zwischen  der  christhchen  Kirche  und  den  heidnischen  Religions- 
bünden stets  aufgedrängt.  Im  Protestantismus  ist  allenthalben  die  Hinneigung 
zum  Ideal  dieses  vorchristlichen  Bundeswesens  zu  spüren.  Namentlich  aber 
hat  der  Freimaurerbimd  dem  antiken  Ideal  auf  wundervolle  Weise  zu  neuem 
Leben  verholfen;  der  Freimaurerbund  wird  für  die  Neugestaltung  imseres 
rehgiösen  Gemeinschaftslebens  vielleicht  eine  große  Bedeutung  gewinnen. 

Wie  ist  es  in  einem  freien  Rehgionsbunde  mit  der  Dogmatik  bestellt  ?  Da 
Lehre  und  Predigt  ein  unentbehrHches  Stück  seines  Gemeinschafts- 
lebens ist,  werden  Moralsätze  und  Glaubensüberzeugungen  fortwährend  in  ihm 
verkündigt,  eingeschärft  und  bekämpft  werden,  Lehre  ohne  Glaube  ist  ein 
Unding.  Folgt  daraus  nicht,  daß  auch  in  einem  solchen  Rehgionsbunde  der 
Dogmatismus  sehr  schnell  zum  Siege  kommen  muß  ?  —  Die  Freikirche  ist  sogar 
scheinbar  weit  dogmatischer  als  die  Sekte ;  denn  in  der  Sekte  im  strengen  Sinne 
des  Wortes  (vgl.  Bonus  :  Die  Kirche)  gibt  es  keine  klaren  Lehren,  keine  for- 
mulierten Gedanken,  keine  Sittengesetze.  Die  Sekte  ist  frei  in  Gott  und 
lebt  nur  fühlend  imd  ahnend,  lebt  das  unbewußte  geniale  Leben,  das  Jon. 
Müller  mit  so  warmer  Beredsamkeit  verherrHcht  hat.  Sie  hütet  sich  davor, 
eine  Welt-  und  Lebensanschauung  auszuarbeiten  und  will  alles  nur  aus  der 
Tiefe,  aus  Eingebungen  und  Offenbarungen,  kurz:  aus  dem  schöpferischen 
AugenbHck  schöpfen.  Darrnn  ist  die  Sekte  so  frei  und  gesetzlos.  Daß  imd 
warum  sie  unvermerkt  in  das  Gegenteil  umschlägt,  haben  wir  oben  darge- 
legt. Die  Freikirche  erstrebt  von  vornherein  eine  feste  Struktur;  sie  setzt 
sich  von  Anfang  an  das  Ziel,  das  unklare  rehgiöse  Sehnen  zur  Klarheit  zu 

261 


erheben,  dem  fühlenden  Wollen  und  ahnenden  Denken  Form  und  Stetigkeit 
zu  geben  und  Glaubenssätze  zu  finden,  in  denen  das  Ergebnis  des  gemein- 
samen Schaffens  Ausdruck  erhält.  Aber  die  Dogmen  der  Freikirche  treten 
immer  nur  als  H\^othesen  auf;  sie  unterliegen  der  beständigen  Kritik  der 
Wissenschaft  und  erfahren  eine  Fortbildung  und  Umbildung  durch  die 
Lebensenergie  und  die  Schicksale  des  Volkes.  Sie  sind  keine  übernatürlichen 
Offenbarungen,  sondern  sind  der  Extrakt  der  Willens-  und  Erkenntnis- 
schätze der  Epoche.  Unterwerfung  unter  sie  zu  fordern  wäre  lächerlich;  die 
Jugend  und  die  Priester  auf  sie  zu  verpflichten  wäre  unsinnig.  Die  Frei- 
kirche kann  ihren  Führern  und  Mitgliedern  überhaupt  keine  dogmatischen 
Verpflichtungen  auferlegen,  sondern  nur  sittliche.  Eine  unter  diesen  Ver- 
pflichtungen wird  lauten:  jeder  soll  an  der  Vertiefung,  Verbesserung  und 
Erweiterung  der  Glaubenswelt  mitarbeiten,  damit  der  Besitz  des  Bundes 
sich  mehrt.  Man  sieht,  wie  völlig  dies  ,, Gelübde"  dem  Sinn  und  Gebrauch  der 
dogmatischen  Kirchen,  aber  auch  der  Sekten  widerspricht.  Zur  Mitarbeit  an 
der  Glaubensbildung  aufzufordern,  ist  nach  kirchlicher  Anschauung  eine 
Blasphemie;  denn  für  den  Christen  ist  die  endgültige  Wahrheit  längst  ge- 
funden und  der  Gottmensch  hat  längst  die  Vollendung  alles  menschlichen 
Strebens  erreicht.  Ebenso  entziehen  sich  auch  die  Offenbarungen  der  Sekten 
der  Kritik  und  der  Weiterbildung.  Für  Offenbarungen  wird  stets  Glauben 
gefordert;  sie  wollen  „absolute"  Wahrheiten  sein  und  treten  aus  dem  Kreise 
der  sonstigen,  relativen  Erkenntnisse  heraus.  Die  Glaubenssätze  der  Zu- 
kunft dagegen  wollen  nichts  anderes  sein  als  Erklärungsversuche,  als  Er- 
oberungsmittel des  Menschen.  Auch  die  sittlichen  Forderungen,  die  ein  freier 
ReUgionsbund  stellt,  können  niemals  als  autoritative  Gebote  auftreten;  sie 
sind  Lebenshilfen,  die  ihre  Nützlichkeit  und  Gültigkeit  immer  neu  beweisen 
müssen. 

Wird  dabei  aber  ein  festes  und  dauerhaftes  Gemeinschaftsleben  möglich 
sein?  Wird  ein  solcher  Bund  nicht  häufig  Krisen  erleben  und  die  Menschen, 
statt  sie  zusammenzuführen,  eher  einander  entfremden  ?  —  Ich  habe  schon 
vorher  darauf  hingewiesen,  daß  in  jeder  Epoche,  auch  in  der  heutigen  chao- 
tischen, eine  latente  Gemeinschaft  des  Glaubens  vorhanden  ist,  die  nur  aus- 
gesprochen und  in  Form  gebracht  sein  will.  Ferner  aber:  Gegensätze  im 
Glauben  und  Leben  brauchen  nicht  zersetzend  zu  wirken,  sondern  können 
befruchtend  und  befestigend  wirken.  Solange  der  Bund  auf  einer  gesunden 
politisch-wirtschafthchen  Grundlage  ruht,  solange  das  Volk  große  gemein- 
same Aufgaben  zu  erfüllen  gewillt  und  genötigt  ist,  wird  seine  religiöse  Orga- 
nisation durch  Lehr-  und  Lebensgegensätze  nicht  in  ihrem  Bestand  gefährdet 
werden,  sondern  jedes  Mitghed  wird  sich  gedrungen  fühlen,  sich  um  so  inni- 
ger an  die  Mitbrüder  anzuschließen.  Die  Gegensätze  werden  die  Anziehimgs- 

262 


kraft  verstärken,  sowie  die  Geschlechtsliebe  ihre  Kraft  und  Süße  aus  der 
GegensätzUchkeit  saugt,  die  durch  Trieb  und  Bedürfnis  überwunden  wird. 
Wenn  verschieden  geartete  Menschen  von  tüchtigem  Wollen  sich  nicht  lie- 
ben, sondern  voreinander  fliehen,  sind  sie  und  ihre  Zeit  schwach;  die  dog- 
matischen Kirchen  können  ihren  Ursprung  aus  der  Schwäche  und  Armut 
nicht  deutlicher  beweisen  als  durch  ihre  Unfähigkeit,  Gegensätze  in  der 
Denk-  und  Handlungsweise  gelten  zu  lassen,  und  nicht  nur  gelten  zu  lassen, 
sondern  als  Gewähr  kräftigen  religiösen  Lebens  herbeizuführen  und  heraus- 
zufordern. Wo  Lebensfülle  ist,  erzeugen  sich  Kämpfe;  diese  Kämpfe  in  einen 
Segen  verwandeln  zu  können,  ist  das  große  Geheimnis  des  aufstrebenden 
organischen  Lebens.  Der  Mensch  hätte  sich  ohne  diese  Kämpfe  nicht  zum 
Menschen  entwickelt. 

Überhaupt :  was  heißt  denn  organisieren  ?  Gegensätze  binden  und  zu  einer 
höheren  Einheit  zusammenfassen.  Eine  Organisation,  die  keine  Gegensätze 
in  sich  birgt,  ist  ohne  Zeugungs- und  Eroberungskraft.  Wenn  unser  deutsches 
Volk  nicht  stark  genug  ist,  die  in  ihm  vorhandenen  Gegensätze  in  einer  freien 
Religionsgemeinschaft  zu  binden  und  dadurch  zu  überwinden,  so  bleibt  ihm 
allerdings  nur  zweierlei  übrig:  entweder  die  bestehenden  konfessionellen 
Bünde  neu  zu  beleben,  noch  besser  sie  wieder  in  der  allein  seligmachenden 
Kirche  zusammenzuführen,  oder  aber  sich  der  Sektenbildung  in  die  Arme  zu 
werfen.  Es  ist  das  einfach  eine  Kraftfrage.  Wer  an  die  Kraft  und  Gesundheit 
unseres  Volkes  glaubt,  muß  diese  beiden  Wege  ablehnen  und  für  die  heid- 
nische Bundesbildung  arbeiten.  Die  übrigen  mögen  mit  Förster  für  das 
alte  Kirchenideal  oder  mit  den  Sektenpropheten  für  den  Ausbau  des  Sekten- 
wesens oder  auch  mit  Jon.  Müller  für  die  Aufhebung  jeder  religiösen  Orga- 
nisation, also  für  den  idealen  Anarchismus  arbeiten. 

Kein  religiöser  Bund  ohne  Kult.  Die  Zukunft  des  Kults  ist  die  Kernfrage, 
von  der  die  Zukunft  des  ganzen  religiösen  Formwesens  abhängt.  In  den 
neueren  Werken  über  das  Kirchenproblem  wird  diese  Sachlage  fast  durch- 
weg verkannt.  Nicht  niu:  den  Kirchenfeinden,  sondern  auch  vielen  Kirchen- 
freunden ist  das  Verständnis  für  die  Bedeutung  des  religiösen  Ritus  verloren 
gegangen.  Darum  habe  ich  in  den  früheren  Kapiteln  auf  die  Schilderung  des 
Kultwesens  besonderen  Nachdruck  gelegt  und  den  Versuch  gemacht,  die 
rehgiösen  Begehungen  aller art,  die  Spiele  und  Aufführungen,  die  symboli- 
schen und  zauberischen  Gebräuche  historisch  und  psychologisch  zu  erklären 
und  zu  rechtfertigen.  Der  Priester  aller  Zeiten  und  Religionen  war  Kult- 
pfleger; die  Ausführung  der  heiligen  Handlungen  gehörte  zu  seinen  wich- 
tigsten Obliegenheiten.  Sollte  das  in  Zukunft  anders  sein  ?  Sollte  das  Riten- 
und  Formwesen  wirklich  etwas  Überwundenes  und  Veraltetes  sein? 

263 


Wo  sind  denn  die  Kräfte  und  Triebe  geblieben,  die  sich  früher  im  religiösen 
Ritus  betätigten  und  befriedigten  ?  Guyau  sagt :  sie  sind  in  die  Kunst  hinein- 
geströmt ;  die  Kunst  ist  die  Erbin  und  Nachfolgerin  des  Kults ;  der  Mensch 
der  Zukunft  kann  und  darf  sein  Bedürfnis  nach  Kultus  und  Ritus  nur  noch 
im  Schaffen,  Nachschaffen  und  Vorführen  von  Kunstwerken  befriedigen.  — 
An  dieser  Anschauung  ist  das  eine  richtig,  daß  die  Kunst  wirklich  aus  dem 
rehgiösen  Ritenwesen  hervorgewachsen  ist,  wenigstens  ihre  beste  Kraft  und 
ihre  größte  Schönheit  daraus  gesogen  hat.  Die  Zaubermanipulationen  wur- 
den zu  kunstvollen  Tänzen,  zu  bildlichen  Darstellungen,  zu  musikalisch- 
poetischen  Vorführungen.  Das  griechische  Drama,  das  wohl  als  Muster  hoher 
und  reiner  Kunst  gelten  kann,  hat  seine  Wurzel  im  Zauberritus.  Die  Griechen 
lernten  ihre  rehgiösen  Bedürfnisse  immer  mehr  durch  den  Genuß  dieser 
Kunstwerke  befriedigen,  statt  durch  groteskes  und  barbarisches  Zauber- 
wesen. Hieraus  scheint  sich  deuthch  zu  ergeben,  daß  durchweg  die  Kunst  in 
die  Stelle  des  Kultus  zu  treten  hat.  Und  eine  ähnliche  Lehre  scheint  uns 
die  Entwicklimg  und  Wertung  der  bildenden  Kunst  in  Griechenland  zu  er- 
teilen. Bei  anderen  Völkern  kann  man  ebenfalls  bemerken,  daß  die  rehgiösen 
Verpflichtungen  allmähhch  durch  künstlerische  Leistungen  eine  Art  Ab- 
lösung erfahren.  Ich  erinnere  hier  wieder  an  die  christliche  Messe.  Diese  kul- 
tische Begehung  nahm  immer  mehr  künstlerische  Gestalt  an;  sie  wurde  zu 
einem  Konzertstück.  Die  von  Bach,  Mozart,  Beethoven  komponierten  Mes- 
sen hängen  mit  dem  Kult  nur  noch  lose  zusammen;  sie  werden  von  den 
Hörern  als  Musikwerke,  nicht  als  heilige  Rituale  aufgenommen  und  ge- 
schätzt. Spricht  das  nicht  für  Guyaus  Anschauung,  daß  der  Kult  forthin 
ganz  durch  die  Kunst  ersetzt  werden  wird? 

Noch  durchschlagender  scheint  der  zweite  Einwand,  den  jeder  freiden- 
kende Mensch  gegen  die  Beibehaltung  kultischer  Handlungen  erheben  muß. 
Was  heißt  ,,Kult"?  Pflege  und  Verehrung  der  Götter.  Wenn  es  aber  keine 
Götter  gibt,  die  der  Pflege  bedürfen,  keine  höheren  Wesen,  die  an  unseren 
Geschenken  und  Verehrungskundgebungen  Freude  haben  —  wie  können 
wir  dann  noch  Kult  treiben  ?  Kult  ist  veredelte  Zauberei ;  die  Zauberei  aber 
ist  endgültig  abgetan.  —  Niui  hatten  wir  aber  gefunden,  daß  der  Kult  von 
jeher  nicht  bloß  den  Zweck  hatte,  irgendwelche  Geister  oder  Götter  zu 
pflegen,  sondern  daß  er  vor  allem  eine  Kommunionshandlung  zwischen  Gott 
und  Mensch  war.  Der  tiefste  Sinn  religiöser  Riten  ist,  ein  magisches  Band  um 
die  Gemeindemitgheder  und  den  Schutzgeist  der  Gemeinde  zu  schlingen. 
Hat  der  Kult  auch  in  dieser  Auffassung  seine  Daseinsberechtigung  verloren  ? 
Wie  es  scheint,  ja.  Denn  wir  glauben  nicht  mehr  an  die  magischen  Wirkungen 
des  Gottessens  und  der  unio  mystica.  Wir  glauben  nicht,  daß  eine  körper- 
liche Vereinigung  mit  überirdischen  Wesenheiten  möghch  und  heilbringend 

264 


sei,  schon  deshalb  nicht,  weil  wir  an  die  Existenz  überirdischer  Wesenheiten, 
die  irgendwie  zu  uns  in  Beziehung  treten  könnten,  zu  glauben  aufgehört 
haben.  Die  magisch-mystischen  Übertragungen  von  Geist  oder  Kraft  er- 
klären wir  als  einfache  Suggestionswirkungen.  Zwar  finden  sich  immer  wie- 
der Leute,  die  von  Femwirkungen,  Eingebungen  und  anderen  geheimnis- 
vollen Erscheinungen  zu  reden  wissen ;  aber  wenn  sich  dergleichen  auch  als 
beweisbare  Tatsache  herausstellen  sollte,  dürften  diese  Dinge  doch  für  die 
Kultfrage,  die  uns  hier  beschäftigt,  heute  und  in  alle  Zukunft  belanglos 
bleiben. 

Wenn  wir,  diesen  Einwänden  zum  Trotz,  an  dem  Kultus  festhalten  und 
ihm  in  der  künftigen  Rehgion  eine  bedeutende  Stelle  anweisen,  müssen  wir 
zimächst  offen  zugeben,  daß  der  Ausdruck  Kultus  mißverständlich  und  nicht 
zutreffend  ist.  Wir  behalten  das  Wort  nur  deshalb  bei,  weil  es  kein  besseres 
für  die  Sache  gibt,  um  die  es  sich  handelt,  und  weil  in  dem  Kultus  der  bis- 
herigen Religionen  neben  den  heute  überwundenen  Zwecken  und  Vorstel- 
lungen auch  das  enthalten  war,  was  den  ,,heihgen  Handlungen"  der  künf- 
tigen Rehgion  ihren  Wert  geben  wird.  Die  Zukunft  wird  nicht  mehr  mit 
höheren  Wesen  Kultus  treiben,  ebenso  wie  sie  nicht  mehr  eine  „Kirche"  im 
Wortsinne,  d.  h.  ein  Haus  und  einen  Bund  des  „Herrn"  (Kyriake)  gründen 
wird.  Neuerdings  hat  man  einige  Versuche  gemacht,  einen  Kultus  für  ver- 
ehrte Gegenstände  natürÜcher  Art  einzuführen.  Z.  B.  schufen  die  Revolu- 
tionäre einen  Kultus  der  Vernunft  oder  auch  der  Freiheit;  A,  Comte  rief 
einen  Kultus  der  Menschheit  ins  Leben;  andere  haben  vorgeschlagen,  daß 
man  der  Natur  im  ganzen  oder  der  Sonne  einen  Kult  widmen  sollte.  Ich 
halte  alle  diese  Versuche  für  verfehlt ;  es  sind  Spielereien  ohne  rehgiösen  Wert. 
Wie  können  wir  zu  einer  Göttin  Vernunft  beten,  da  doch  kein  Mensch  an  das 
Dasein  dieser  Göttin  glaubt!  Wie  können  wir  die  „Menschheit",  also  eine 
bloße  Abstraktion,  kultisch  verehren !  Auch  die  Natur-  und  Sonnenanbetung 
ist  für  uns  immöghch ;  denn  wir  wissen  doch,  daß  die  Sonne  ein  wüster  Feuer- 
ball ist  imd  daß  die  Natur  zwar  unsere  Mutter  und  Ernährerin,  aber  zugleich 
unsere  grausame  Feindin  und  Mörderin  ist.  Wir  mögen  der  Sonne,  der  Ver- 
nunft und  anderen  gewaltigen,  für  unser  Wohl  und  Wehe  entscheidenden 
Dingen  Gefühle  mannigfacher  Art  entgegenbringen,  mögen  diese  Gefühle 
auch  in  Hymnen,  Tänzen  und  anderen  heiligen  Handlungen  ausdrücken; 
aber  zu  einem  gemeinschaftsbildenden  Ritus  können  die  Begehungen,  die 
diurch  solche  Gegenstände  angeregt  werden,  in  Zukunft  wohl  kaum  noch 
werden. 

Der  Kultus  kann  hinfort  überhaupt  nicht  in  erster  Linie  in  Anbetungsakten 
bestehen ;  er  muß  auf  eine  ganz  neue  Grundlage  gestellt  werden.  Um  dieselbe 
zu  finden,  wollen  wir  von  dem  natürlichsten  Gegenstand  der  Verehrung  aus- 

265 


gehen,  den  es  gibt.  Was  verehrt  der  Mensch,  solange  es  Menschen  gegeben 
hat  und  geben  wird?  Seinen  Mitmenschen.  Nicht  eine  Menschheitsidee,  son- 
dern bestimmte  Einzelmenschen  nötigen  ihn  zm*  Liebe  und  verehrenden  Hul- 
digung. Diese  Menschen  mag  man  Übermenschen  oder  Gottmenschen  oder 
wie  sonst  nennen;  in  ihnen  ist  das,  was  ein  Kreis  von  Menschen  erstrebt,  in 
erhöhtem  Maße  und  in  verdichteter  Form  enthalten.  Sie  zu  verehren  und 
dadurch  an  ihrem  Sein  Anteil  zu  gewinnen,  ist  ein  unausrottbares  Bedürfnis 
unseres  Geschlechts.  Wir  haben  gesehen,  wie  der  Priester  dies  Bedürfnis 
zu  befriedigen  nicht  müde  geworden  ist ;  entweder  hat  er  sich  selber  als  ver- 
ehrungswürdigen Gottmenschen  der  Gemeinde  vorgestellt  oder  er  hat  andere, 
meist  vergangene  Persönhchkeiten  als  Gottmenschen  auf  den  Schild  erhoben. 
Ein  Teil  des  Kults  war  von  jeher  Heroenkult,  war  Verehrung  von  Reprä- 
sentanten des  Menschengeschlechts.  In  der  Regel  verband  sich  dieser  Kult 
mit  dem  Zauberglauben:  man  wollte  die  Heroen  veranlassen,  sich  gnädig 
imd  hilfsbereit  zu  er%veisen,  man  suchte  sie  mit  Güte  und  Gewalt  dahin  zu 
bringen,  ihre  übernatürliche  Kraft  zugunsten  der  Gemeinde  in  Tätigkeit  zu 
setzen.  Dies  Zaubermotiv  fällt  für  uns  weg.  Was  bleibt  übrig?  Der  Wille, 
das  Dankgefühl  auszudrücken  und  —  was  religiös  unvergleichlich  wichtiger 
ist  —  das  lustvolle  und  nicht  selten  zwangsartige  Streben,  sich  durch  Hul- 
digungsakte mit  dem  Sein  des  verehrten  Menschen  in  Einheit  zu  setzen.  In- 
dem die  Gemeinde  sich  das  Aussehen,  den  Lebenslauf,  die  Lehren  und  Werke 
ihrer  Heroen  immer  von  neuem  vergegenwärtigt,  versichert  sie  sich  ihrer 
Zusammengehörigkeit  mit  diesen  großen  Vorbildern  und  Vorkämpfern.  Wie 
geschieht  die  Vergegenwärtigung?  Durch  den  regelmäßigen  Vortrag  der 
Lehren,  die  Einprägung  der  verehrten  Züge,  die  epische  Beschreibung  und 
dramatische  Vorführung  der  vorbildlichen  Handlimgen  und  ergreifenden 
Schicksale.  Diese  Heldenverehrung  erhält  ganz  von  selber  rehgiös-rituellen 
Charakter ;  sie  braucht  nur  zur  feststehenden  Sitte  zu  werden.  So  oft  die  Ge- 
meinde, also  der  rehgiöse  Bund,  sich  versammelt,  gedenkt  er  in  Wort  und 
Handlung  der  verehrten  Männer,  zumal  des  angeblichen  oder  wirklichen 
Stifters  des  Bundes,  und  erneuert  den  verwandtschaftlichen  Zusammenhang 
mit  ihnen  durch  künstlerische  und  symbohsche  Akte.  Da  es  nun  ferner  eine 
Grundeigenschaft  des  Menschen  ist,  die  Inhalte  seines  Phantasie-  und  Ge- 
fühlslebens soweit  möglich  zu  vereinfachen  und  zu  verpersönHchen,  so  über- 
trägt er  seine  Verehrungsgefühle  auf  ganz  wenige  Personen  und  stattet  die- 
selben mit  allem  aus,  was  er  erlebt  hat  und  sich  wünscht.  Er  fühlt  sich  er- 
hoben, befreit  und  auferbaut,  wenn  er  diese  Idealmenschen  in  rituellen  Be- 
gehungen feiert  und  ihr  Leben  und  Wirken  sich  lebendig  vor  Augen  führt. 
Ich  glaube,  daß  eine  derartige  Heldenverehnmg  in  keinem  Rehgions- 
bunde  der  Zukunft  fehlen  wird.  Es  wird  ewig  dabei  bleiben,  daß  eng  ver- 

266 


1 


bundene  Menschen,  wenn  sie  eine  Zusammenkunft  halten,  sich  ,,im  Namen", 
„im  Geiste"  eines  oder  einiger  Heroen  vereinigt  fühlen  und  diesem  Gefühle 
sichtbaren  und  hörbaren  Ausdruck  zu  geben  wünschen.  Damit  unsere  frei 
denkenden  Freunde  sich  unter  solchen  „heiligen  Versammlungen"  nicht 
magische  und  abergläubische  Anbetungsfeiern  vorstellen,  wollen  wir  ein  ein- 
faches Beispiel  anführen. 

Jeder  heutige  Mensch  übt  gelegentlich  eine  rituelle  Handlung  aus,  die  dem 
Heroenkultus  angehört.  Diese  allgemeinste  rituelle  Handlung  ist  der  Toast. 
Wenn  man  in  einer  Versammlung  ein  Hoch  auf  einen  Anwesenden  oder  Ab- 
wesenden ausbringt  und  alle  in  den  Hochruf  einstimmen,  beim  Gelage  auch 
noch  die  Gläser  erheben  und  trinken,  so  tritt  der  Gefeierte  für  den  Augen- 
blick in  den  Mittelpunkt  des  Bewußtseins  der  Versammelten;  in  ihm  ver- 
einigen sie  sich  für  den  Augenblick  zu  einem  Bunde,  dessen  Symbol  der  Ge- 
feierte ist.  Der  Toast  ist  eine  primitive  Kommunionshandlung.  Sehr  klar 
tritt  das  z.  B.  bei  dem  ,, Kaiserhoch"  hervor.  Wenn  dem  Kaiserhoch  gar 
noch  eine  patriotische  Rede  vorausgeht  und  ihm  der  gemeinsame  Gesang 
der  Nationalhymne  folgt,  haben  wir  eine  vollständige  rituelle  Feier,  eine 
religiöse  Liturgie  vor  uns.  Der  Kommunionscharakter  dieses  Aktes  Hegt  auf 
der  Hand ;  er  bildet  eine  Art  Treuegelöbnis.  Die  Versammelten  geben  durch 
Ruf  und  Gesang  ihrem  Zugehörigkeitsgefühl  zu  einem  idealen  Verbände  Aus- 
druck, bekennen  sich  zu  den  Bundesgrundsätzen  und  tun  dies  alles  in  sym- 
bolisch-künstlerischer Form.  Der  Kaiser  vertritt  bei  dieser  Zeremonie  die 
Bundesidee;  er  nimmt  die  Stelle  ein,  die  in  den  alten  religiösen  Gemein- 
schaften der  Bundesdämon,  der  Stammgründer,  der  im  Priester  verkörperte 
religiöse  Heros  eingenommen  hat.  Denn  es  versteht  sich  von  selber,  daß  das 
Kaiserhoch  nicht  dem  zufälligen  Träger  der  Krone  als  einer  vielleicht  tüch- 
tigen und  achtbaren  EinzelpersönHchkeit  gilt;  der  gegenwärtige  Träger  ist 
nur  Vertreter  und  Symbol.  Man  huldigt  ihm  im  Namen  des  vaterländischen 
Ideals,  nicht  um  seiner  persönhchen  Tugenden  oder  Untugenden  willen.  Wir 
sehen  hier  also  beides :  daß  der  Mensch  Ideen  zu  verpersönlichen  sucht,  mit 
der  so  gewonnenen  Persönlichkeit  aber  durch  symboUsche  Riten  und  objek- 
ti  vierendeKunst  einen  geistigen  Bund  schHeßen  möchte.  Dieser  Bund  wird  zum 
zusammenhaltenden  Band  für  den  ganzen  gleichgesinnten  Kreis  vonMenschen. 

Wir  erhalten  somit  zwei  Hauptbestandteile  des  Kults :  Verpersönlichung  der 
Bundesidee  und  künstlerische  Objektivierung  des  Subjektiven.  Einen  dritten 
Bestandteil  bildet  die  unten  zu  besprechende  Formuhemng  und  symbohsche 
Ausübung  der  Bundespflichten.  Zunächst  ist  über  die  beiden  ersten  Bestand- 
teile noch  ein  Wort  zu  sagen.  Unter  den  Begriff  der  Verpersönhchung  der 
Bundesidee  fällt  ein  großer  Teil  der  religiösen  und  außerreligiösen  Mythen. 
In  jedem  lebenskräftigen  Mythus  ist  Phantasie  und  WirkHchkeit  zusammen- 

267 


geflossen;  er  vereinigt  Erlebnisse  des  Menschengeschlechts  mit  geträumten 
Wünschen,  so  z.  B.  der  Mythus  von  Jesus  dem  Christus.  Bei  diesem  wie  bei 
allen  anderen  Mythen  hält  es  schwer,  das  Gewünschte  von  dem  Erfahrenen 
wieder  zu  sondern ;  ein  Mythus  ist  gerade  dadurch  machtvoll  und  gemein- 
schaftsbildend, daß  er  die  historische  Wahrheit  mit  den  religiösen  Bedürf- 
nissen unlöslich  verknüpft.  Im  Falle  Jesu  steht  nur  fest,  daß  der  hypothe- 
tische Rabbi  aus  Nazareth,  der  um  seiner  prophetischen  Wirksamkeit  willen 
den  Kreuzestod  in  Jerusalem  erlitten  haben  soll,  erst  dadurch  zum  Kult- 
gegenstand und  zum  idealen  Mittelpunkt  des  christlichen  Religionsbundes 
geworden  ist,  daß  man  ihn  mythisch  bearbeitet  und  zum  Erfüller  aller  reli- 
giösen Wünsche  erhoben  hat.  Er  wurde  bekleidet  mit  dem  leuchtenden  Weiß 
der  göttlichen  Phantasiegestalten  und  zum  Symbol  der  religiösen  Gemein- 
schaft gemacht.  Wenn  die  Gemeinde  ihm  huldigt  und  in  seinem  Namen  kul- 
tische Handlungen  vornimmt,  so  gelten  diese  Akte  im  letzten  Grunde  nicht 
einem  Einzelmenschen,  der  möglicherw^eise  vor  2000  Jahren  in  Palästina 
gelebt  und  gewirkt  hat,  sondern  sie  gelten  der  Gemeinde  selber.  Die  wirk- 
liche Gottheit,  vor  der  die  Gemeinde  sich  nieder^^drft,  ist  die  Idee  ihres  Bun- 
des. Diese  Idee  tritt  nicht  als  klarer  Gedanke,  sondern  als  drängendes  Gefühl, 
als  mythische  Gestalt  vor  die  Seele  des  Christen.  Die  Idee  gewinnt  Leben, 
sie  wird  Mensch  und  vermag  so  erst  dem  Verlangen  zu  dienen,  das  den  reh- 
giösen  Menschen  beseelt:  sich  durch  Wort  und  Handlung,  d.  h.  also  durch 
den  Kult,  die  Idee  ganz  einzuverleiben  und  dem  Bimde  dadurch  die  Festig- 
keit eines  natürlichen  Organismus  zu  geben.  Die  persönlich  gewordene  Idee 
ist  nun  die  Seele  des  Bundes,  die  Gemeinde  der  Leib  dieser  Seele.  Jedesmal 
wenn  die  Gemeinde  sich  versammelt,  wird  sie  sich  ihrer  Einheit  bewußt  und 
naturgemäß  erwacht  dann  auch  die  Seele  der  Gemeinde,  mit  anderen  Wor- 
ten :  die  Versammelten  werden  zum  Kultbund  und  bringen  redend  und  han- 
delnd den  Geist,  der  sie  erfüllt,  zur  Erscheinung. 

Man  kann  aber  nur  darstellen,  indem  man  künstlerisch  gestaltet.  Wenn  das 
Bundesgefühl  Wort  und  Handlung  werden  will,  muß  es  Kunst  werden.  Das 
Personifizieren  und  Mythologisieren  ist  an  sich  schon  ein  künstlerischer  Akt 
im  weiteren  Sinne.  Die  Formen,  unter  denen  sich  die  rituelle  Darstellung 
religiöser  Gemeindegefühle  vollzieht,  sind  früher  von  uns  ausführhch  be- 
schrieben worden:  die  einfachste  und  stärkste  Form  ist,  daß  sich  die  ganze 
Gemeinde  oder  ihr  priesterlicher  Vertreter  geradezu  in  die  Gottheit  ,, ver- 
wandelt". Dvuch  Maske,  Ausrüstung,  mimischen  Tanz  wird  der  Bundesgeist 
unmittelbar  in  Aktion  gesetzt.  Wir  haben  darauf  hingewiesen,  daß  die  szeni- 
schen und  epischen  Aufführungen  bei  den  Kultfesten  der  höheren  Religionen 
zu  einem  guten  Teil  auf  diese  Lebendigmachung  und  mimische  Verwirk- 
lichung der  Gottheit  zurückgehen.  Es  bleibt  dem  Rehgionsforscher  über- 

268 


lassen,  ob  er  diese  künstlerischen  Aufführungen  sämtlich  noch  in  das  Gebiet 
des  religiösen  Kultus  ziehen  will.  Wenn  er  den  Begriff  des  Kultus  enger  faßt, 
als  wir,  wird  er  es  nicht  tun ;  er  wird  mit  Guyau  darauf  aufmerksam  machen, 
daß  sich  die  Beziehungen  zwischen  Poesie  und  Musik  einerseits  und  den  reli- 
giösen Riten  anderseits  immer  mehr  gelockert  haben,  und  wird  für  die  Zu- 
kunft eine  völlige  Trennung  wünschen  und  voraussagen.  Ohne  Zweifel  läßt 
der  geschichthche  Verlauf  diesen  Schluß  zu. 

Aber  wir  sind  anderer  Meinung.  Wir  glauben  aus  vielen  Anzeichen  schheßen 
zu  müssen :  erstens  daß  die  Kunst  ganz  neuerdings  engeren  Anschluß  an  dcis 
religiöse  Leben  sucht,  zweitens  daß  das  Verlangen  unseres  Volkes  nach  reli- 
giöser Bundesbildung  und  ritueller  Betätigung  so  stark  im  Wachsen  ist,  daß 
man  die  Kunst  als  Helferin  nicht  mehr  entbehren  kann.  Wer  fühlte  heute 
nicht,  daß  unser  Theater-  imd  Konzertwesen  zu  profan  geworden  ist  und 
nur  sehr  unvollkommen  das  Bedürfnis  der  Besseren  unseres  Volkes  nach  Er- 
bauung und  Erhebung  befriedigt !  Die  christlichen  Kultformen  aber  sind  un- 
genügend und  widersprechen  dem  Geiste,  der  heute  zur  religiösen  Bundes- 
bildung hindrängt.  In  der  Kunst  macht  sich  ein  Streben  nach  Monumenta- 
lität und  Einfachheit  geltend;  die  Pflege  der  Volksfestspiele,  die  Erneuerung 
der  Tanzkunst  und  manches  andere  läßt  den  religiösen  Zug  deutlich  er- 
kennen. Richard  Wagner  hat  diese  Entwicklung  mit  prophetischem 
Ahnungs vermögen  vorweggenommen.  Sein  Gedanke  eines  Gesamtkunst- 
werks zielt  offen  auf  die  Wiedervereinigung  von  Kunst  und  Kultus;  auch 
hat  Wagner  seinen  Werken  einen  reUgiösen  Ideengehalt  zu  geben  gesucht. 
Daß  ihm  die  Verwirklichung  seiner  Absichten  nicht  ganz  gelungen  und  sein 
ganzes  Lebenswerk  ein  Torso  geblieben  ist,  fällt  nicht  nur  seiner  Persönlich- 
keit, sondern  mehr  noch  der  Zeit  zur  Last,  die  für  die  rehgiöse  Erneuerung 
noch  nicht  reif  war.  Bayreuth  konnte  unmöglich  zum  Ausgangspunkt  einer 
neuen  ReHgion  werden. 

Das  neue  Jahrhundert  wird  glücklicher  sein.  Es  kann  dem  Ziele,  das 
Wagner  verfehlen  mußte,  mit  mehr  Besonnenheit  und  in  besserer  Aus- 
rüstung zusteuern.  Sobald  wir  den  ReHgionsbund  haben,  der  in  Kürze  ans 
Licht  treten  muß  und  wird,  werden  dessen  Zusammenkünfte  den  Charakter 
von  künstlerischen  Kultfesten  annehmen.  Die  dramatischen,  musikahschen, 
epischen  und  sonstigen  Vorführungen,  die  heute  im  Konzert,  Theater-  und 
Vortragssaal  als  Selbstzweck  erscheinen,  treten  dann  in  den  Rahmen  der 
rehgiösen  Feier  und  verbinden  sich  mit  den  philosophisch-paränetischen  Be- 
standteilen, die  wir  sogleich  erwähnen  werden,  zu  einem  einheithchen  reh- 
giösen Akt,  zu  einer  „Tempelarbeit",  wie  die  Freimaurer  es  nennen,  die 
solche  künstlerisch-symboHsche  Riten  bereits  besitzen,  wie  denn  überhaupt 
der  Freimaurerbund  in  bezug  auf  das  Kultwesen  geradezu  vorbildHch  ist. 

269 


Kultfeste  dieser  Art  sind  natürlich  erst  dann  möglich,  wenn  das  religiöse 
\'erlangen  unserer  Zeit  Gedanke  und  Wort  geworden  ist.  Propheten  und 
Philosophen  müssen  erst  Ziel  und  Weg  mit  Worten  aussprechen,  ehe  die 
Künstler  an  das  Mythologisieren,  Gestalten  und  Singen  gehen  können. 
Lehrer  und  Erzieher  müssen  dem  \^olke  erst  die  sittlichen  Forderungen  des 
neuen  Lebens  in  die  Seele  brennen,  ehe  es  die  neue  Sittlichkeit  verwirklichen, 
sie  in  Rhythmen  umsetzen  und  am  heiligen  Feste  nach  diesen  Rhythmen 
schreiten  und  spielen  kann.  Wir  können  keine  Religion  imd  Kunst  brauchen, 
die  nur  den  Bedürfnissen  einzelner  geistig  hochstehender  Persönlichkeiten 
dient.  Eine  geschlossene  ]\lasse  muß  Träger  der  Religion  und  Kunst  sein ; 
in  ihrem  Namen  müssen  die  rehgiös-schöpferischen  Geister  sprechen;  die 
Instinkte  des  Volkes  müssen  den  Resonanzboden  für  die  Gesänge  und  I*re- 
digten  der  führenden  Propheten  und  Künstler  abgeben. 

Wenn  nicht  alles  trügt,  regen  sich  in  der  Tiefe  unseres  Volkes  dieselben 
religiösen  Gefühle,  die  die  Fortgeschrittensten  soeben  in  Gedanken  imd  Bil- 
dern auszusprechen  beginnen,  \^>lch  eine  Fülle  des  lautersten  rehgiösen 
Idealismus  verbirgt  sich  unter  der  Maske  der  sozialdemokratisch-materia- 
listischen Volksbewegimg !  Die  Arbeitermassen,  die  so  ungestüm  ihre  Macht- 
und  Lohnforderungen  geltend  machen,  verlangen  im  Grunde  ihres  Herzens 
nach  Religion  und  Kunst;  aber  nach  einer  anderen  Rehgion,  als  die  christ- 
lichen Priester  ihnen  anbieten.  Und  von  der  anderen  Seite  her  rücken  die 
religiös  erregten  Einzelnen  heran.  So  individualistisch  und  aristokratisch  sich 
diese  Einzelnen  hie  und  da  gebärden  —  ich  verweise  auf  Nietzsche  — ,  so 
drängt  es  sie  doch  unwiderstehlich  zur  Verallgemeinerung  und  Verbreite- 
rung ihrer  Prophetie  und  Kunst  hin :  sie  streben  nach  Schlichtheit  und  Größe, 
sie  wollen  alles  Subjektive,  Modische  und  Launenhafte  abstreifen,  mit  an- 
deren Worten:  sie  wollen  sich  im  Volke  verankern.  So  zeigt  sich,  wenn  man 
durch  die  verhüllenden  Schleier  hindurchzubhcken  versteht,  allenthalben 
eine  Bewegung  nach  dem  Mittelpunkt  der  Kultmr  hin.  Der  Marsch  ins  Herz 
der  Dinge  ist  angetreten,  d.  h.  der  Eroberungskampf  um  eine  neue  Volks- 
rehgion  hat  begonnen. 

Wir  kommen  endlich  noch  zu  dem  moralisch-pädagogischen  Bestandteil 
des  Kults.  Wie  können  durch  den  Ritus  sittliche  Fordenmgen  zur  Geltimg 
gebracht  und  religiöse  Pflichten  der  Gemeinde  eingeprägt  werden?  Kann 
überhaupt  ein  rehgiöser  Kult  erzieherisch  wirken  ?  —  Unbedingt ;  wir  sehen 
es  ja  an  den  Kulten  der  bisherigen  Religionen.  Die  künstlerischen  Darbie- 
tungen haben  schon  an  und  für  sich  eine  versittlichende  Wirkung,  zumal 
wenn  sie  im  Rahmen  einer  religiösen  Feier  erscheinen,  wenn  sie  also  „Gottes- 
dienst" sind.  Die  Mitwirkung  beim  gemeinsamen  Gesang,  die  Teilnahme  an 
heiligen  Umzügen  und  Aufzügen,  das  Anhören  und  Anschauen  musikalischer 

270 


und  dichterischer  Vorführungen  wirkt  ungemein  belebend  auf  das  religiöse 
Bundesgefühl  ein,  verstärkt  den  Gleichklang  der  Seelen,  erhöht  und  erweitert 
jede  Einzelseele.  Je  reiner  der  Mensch  ein  Kunstwerk  aufzufassen  und  je 
vollständiger  er  sich  in  dessen  Schönheiten  hineinzuleben  vermag,  um  so 
kräftiger  ist  auch  dessen  religiös-sittliche  Wirkung  auf  ihn.  Unsere  Schulen 
und  Kirchen  wissen  von  der  Erziehung  durch  die  Kunst  als  solche  leider 
sehr  wenig;  sie  begnügen  sich  damit,  aus  den  Kunstwerken  das  stoffhch 
Belehrende  herauszuziehen  und  sie  als  Wissensobjekte  und  als  moralisierende 
Fabeln  zu  behandeln.  Auch  so  geben  die  Kunstwerke,  namentlich  die  Dich- 
tungen, eine  Fülle  pädagogisch  verwendbarer  Ideen  her.  Am  stärksten  wirkt 
natürlich  der  gestaltete  Mythus.  Das  Christentum  verdankt  seine  päda- 
gogischen Erfolge  nicht  zum  wenigsten  der  mythischen  Geschichte  des  Hei- 
lands, die  in  tausend  Kunstwerken,  in  Bildern  und  Ornamenten,  in  epischen 
und  dramatischen  Werken,  in  Solo-  und  Chorgesängen  versinnlicht  worden 
ist.  Aber  auch  die  Aufführung  von  Parabeln,  die  Darstellung  irgendeines 
menschlich  bedeutenden  Vorgangs  kann  im  Rahmen  einer  religiösen  Feier 
zu  einer  ,, Moralpredigt"  von  gewaltiger  Wirkung  werden. 

Wenn  doch  die  Künstler  sehen  möchten,  was  für  unabsehbare  Felder  sich 
hier  für  sie  eröffnen !  Die  Mutlosigkeit  und  Kleinlichkeit,  die  so  schwer  auf 
der  deutschen  Dichtkunst  und  der  mit  ihr  verschwisterten  Bewegungskunst 
lastet,  würde  mit  einem  i\Iale  verschwinden  und  einer  begeisterten  Emsig- 
keit Platz  machen.  Die  üblichen  Kunstformen  würden  durch  ältere  und  viel- 
leicht auch  durch  neugeschaffene  bereichert  werden.  Die  Wechselrede,  der 
Pantomimus,  der  Reigen  würde  zu  neuem  Leben  erwachen.  Die  rhyth- 
mische Gymnastik  des  genialen  Jaques-Dalcroze  würde  ihren,  bisher  nur 
von  wenigen  geahnten  religiösen  Wert  für  jedermann  enthüllen. 

Schließhch  kann  auch  der  einfache  Weisheitsspruch,  die  nackte  sitthche 
Mahnung  und  Aufforderung  kultische  Verwendung  finden.  Auch  hier  kann 
uns  das  Christentum  Vorbild  und  Warnung  zugleich  sein.  Im  christhchen 
Gottesdienst  werden  Bibelstellen  verlesen;  wichtige  Sprüche  werden  teils 
vom  Geistlichen,  teils  von  der  Gemeinde  gesprochen  oder  gesungen.  Diese 
Sprüche  sind  dem  kanonischen  Buch  der  Bücher  entnommen.  Auch  in  den 
Religionsbünden  der  Zukunft  werden  die  Kernworte,  die  das  Glaubens-  und 
Lebensbekenntnis  kurz  und  bündig  zum  Ausdruck  bringen,  von  der  Ge- 
meinde und  zu  ihr  oft  und  feierlich  gesprochen  werden  müssen.  Wer  wird 
uns  diese  Kemworte  geben  ?  Wir  haben  keine  autoritative  Glaubensurkunde 
und  werden  sie  niemals  haben.  Unsere  ,, Bibel"  ist  die  gesamte  menschhche 
Weisheit  der  Vergangenheit;  jedes  kommende  Zeitalter  hat  die  Pflicht,  diese 
Bibel  zu  erweitem  und  zu  berichtigen.  Zu  freiem  Wettbewerb  sollen  die  reli- 
giösen Geister  aller  Zeiten  zugelassen  werden  und  in  freier  Entscheidung  soU 

271 


der  werdende  Bund  seine  Merksprüche  und  Bekenntnisformeln  wählen.  Die 
Verfasser  mögen  aus  alter  oder  neuer  Zeit  stammen,  mögen  berühmt  oder 
unberühmt  sein ;  das  tut  zur  Sache  nichts.  Wer  kennt  denn  die  Verfasser  der 
schönen  Freimaurersprüche,  die  im  maurerischen  Ritual  eine  so  bedeutende 
Stelle  einnehmen?  Sie  sind  da  und  wirken  immer  wieder,  als  höre  man  sie 
zum  erstenmal,  ebenso  wie  die  mächtigsten  Bibelworte  durch  die  gottes- 
dienstliche Verwendung  nichts  von  ihrer  Kraft  einbüßen;  nur  drücken  die 
letzteren  imsere  heutigen  rehgiösen  Empfindungen  leider  nicht  mehr  über- 
zeugend aus,  während  die  drei  maurerischen  Sprüche  (,, Weisheit  leite  den 
Bau"  —  , .Stärke  führe  ihn  aus"  —  ,, Schönheit  ziere  ihn")  wie  ein  Evange- 
lium der  Zukunft  klingen. 

Der  Freimaurerbund  lehrt  uns  auch,  daß  eine  rehgiöse  Gemeinschaft  feste 
vererbbare  Ritualien  haben  kann,  ohne  der  dogmatischen  Erstarrung  zu  ver- 
fallen. Es  muß  nur  immer  das  Bewußtsein  lebendig  bleiben,  daß  das  Ritual 
nur  Form  ist,  nur  Gefäß  und  Raum  für  die  religiösen  Gestaltimgskräfte,  die 
sich  frei  und  ungehindert  in  ihm  ausbreiten  sollen.  Dann  können  die  rituellen 
Formen  ebensowenig  zur  Fessel  werden  wie  etwa  die  Formen  der  Kunst  oder 
des  sozialen  Lebens.  Das  ganze  menschliche  Leben  entfaltet  sich  ja  innerhalb 
gewisser  Formen,  die  einen  reichen  und  immer  neuen  Inhalt  aufzunehmen 
imstande  sind.  Kultur  und  Kunst  sind  geformtes  Leben ;  liegt  es  nicht  auf  der 
Hand,  daß  auch  die  Religion  Formen  braucht,  um  gedeihen  zu  können  ?  Frei- 
lich sind  die  Formen  nicht  ewig,  wie  die  bisherigen  Rehgionen  uns  glauben 
machen  wollen ;  auch  sie  vergehen  und  müssen  durch  andere  ersetzt  werden. 
Aber  im  Vergleich  zu  den  Inhalten  sind  sie  das  Dauernde.  Wo  das  Leben 
nicht  in  Form  gebracht  ist,  herrscht  Unsicherheit  und  Schwäche.  Die  gren- 
zenlose Zerfahrenheit  des  heutigen  religiösen  Lebens  rührt  davon  her,  daß 
die  alten  Formen  untauglich  geworden  und  neue  Formen  noch  nicht  ge- 
funden, auch  kaum  gesucht  worden  sind.  Die  Lage  wird  dadurch  noch  ver- 
wirrter, daß  sogar  die  theologischen  Fachmänner  zum  Teil  das  Verständnis 
für  die  Unentbehrlichkeit  religiöser  Formen  verloren  haben.  Sie  leisten  dem 
anarchistischen  \\'esen  V^orschub,  beteiligen  sich  direkt  oder  indirekt  am  Zer- 
schlagen der  bisherigen  Formen,  bemühen  sich  aber  nicht,  neue  an  ihre  Stelle 
zu  setzen. 

Im  Volke  findet  man  weit  richtigere  rehgiöse  Instinkte,  wenn  auch  natür- 
lich dort  die  Fähigkeit  zu  Neubildungen  fehlt.  Das  Volk  hält  z.  B.  an  den 
rituellen  Handlungen,  die  die  christliche  Kirche  für  die  religiösen  Feste  des 
Einzellebens  ausgebildet  hat,  auch  dann  fest,  wenn  es  ihnen  innerhch  keine 
Bedeutung  mehr  beilegt.  Geburt,  Pubertät,  Eheschließung,  Tod  müssen 
feierhch  begangen  und  als  Angelegenheiten  des  gesamten  religiösen  Bundes 
behandelt  werden  —  so  empfindet  das  Volk  mit  Recht.  Darum  wiU  man  auf 

272 


die  Beteiligung  des  christlichen  Priesters  nicht  verzichten,  auch  wenn  man 
im  übrigen  dem  kirchlichen  Leben  entfremdet  ist  und  dem  von  der  Kirche 
für  diese  Feste  dargebotenen  Kultzeremoniell  mit  geringer  Teilnahme  zu- 
schaut. Es  ist  eine  Verarmung,  wenn  der  Mensch  an  den  Wendepunkten 
seines  Lebens  nicht  der  Zugehörigkeit  zu  einem  idealen  Verbände  inne  wird, 
wenn  er  die  wichtigsten  Ereignisse  nicht  zum  Feste  gestaltet  und  sie  in  die 
rehgiöse  Sphäre  emporhebt. 

Die  Pfarrer  sind  dadurch,  daß  man  sie  zur  Vollziehung  der  Taufe,  der 
Konfirmation,  der  Trauung,  der  christlichen  Beerdigung  ruft,  ohne  sich  sonst 
im  geringsten  um  sie  zu  bekümmern,  in  eine  wenig  beneidenswerte  Lage 
gekommen.  Sie  wissen,  daß  man  sich  nur  in  Ermangelung  neuer  religiöser 
Riten  und  Bundesbevollmächtigter  an  sie  wendet,  müssen  aber  trotzdem 
ihres  Amtes  walten.  Sie  haben  nicht  die  Fähigkeit,  dem  unwürdigen  Ver- 
hältnis zwischen  der  Kirche  und  dem  modern  empfindenden  Menschen  ein 
Ende  zu  machen.  So  kommen  gerade  sie  dahin,  ihre  Kultpflichten  als  eine 
gleichgültige  Äußerlichkeit,  als  einen  ,,Zopf"  anzusehen  und  sie  demgemäß 
abzumachen.  Sie  verstehen  ihr  priesterliches  Amt  nicht  mehr  und  verkennen 
den  Sinn  der  Bundesbildung.  Das  alles  könnte  sich  ändern,  wenn  sämthche 
liberalen  und  modernistischen  GeistUchen  sich  aufraffen  und  ihren  veränder- 
ten Glauben  vor  aller  Welt  bekennen  wollten!  Dann  ^^ürden  sie  unaufhalt- 
sam —  mögen  sie  sich  auch  noch  eine  Zeitlang  gegen  diese  Konsequenzen 
wehren  —  in  eine  feindliche  Stellung  zur  Kirche  gedrängt  und  zur  religiösen 
Neubildung  gezwungen  werden.  Sobald  sich  diese  Pfarrer  der  starken  Be- 
wegung anschließen,  die  auf  die  Gründung  eines  unchristhchen,  aber  national 
gesinnten  und  die  gesamte  Kultur  zur  Einheit  führenden  rehgiösen  Bundes 
hinzielt,  wird  das  Vertrauen  des  Volkes,  das  sie  verloren  haben,  zurück- 
kehren. Ihre  schlumm-ernden  religiösen  Kräfte  werden  neu  erwachen;  ihre 
Augen  werden  den  Glanz  zurückgewinnen,  den  das  Auge  jedes  echten  reh- 
giösen Schöpfers  und  Führers  hat. 


M  6.  FÜHRUNG  UND  SEELSORGE  ^ 


Über  die  Zukunft  des  religiösen  Lehr-  und  Seelsorgeramtes  müssen  wir  noch 
kürzer  und  summarischer  handeln,  als  über  das  Kirchen-  und  Kultproblem. 
Wenn  man  über  das  Wesen  der  Seelsorge  und  der  religiösen  Erziehung  nach- 
denkt, \\'ird  man  so  tief  in  die  allgemeinsten  psychologischen  und  soziologi- 
schen Fragen  hineingeführt,  daß  wir  uns  am  Schlüsse  unseres  Werkes  un- 
möglich noch  auf  eine  ausführhche  Darlegung  des  ganzen  Problems  ein- 
lassen können.  Das  hieße  dem  Leser  zuviel  zumuten.  Wir  können  nur  über- 

i8  Horneffer,  Der  Priester  11  273 


blicken,  nur  Grundlinien  ziehen.  Das  Weitere  muß  späteren  Arbeiten  vor- 
behalten bleiben. 

Es  hat  sich  ergeben,  daß  der  Priester  in  alten  Zeiten  der  Führer  seiner  Ge- 
meinde auf  fast  allen  Gebieten  des  Lebens  war.  Als  Lehrer  und  Herrscher, 
als  Arzt  und  Künstler  lebte  er  in  seinem  Volke.  Allgemach  hat  sich  der 
Kreis  seiner  Betätigung  verengert.  Die  geistigen  und  leitenden  Berufe  haben 
sich  nacheinander  von  dem  priesterlichen  Mutterberuf  abgetrennt  und  sich 
selbständig  gemacht.  Was  wird  dem  Priester  der  Zukunft  übrigbleiben? 
In  unserer  Zeit  sehen  wir,  wie  auch  der  Beruf  des  Lehrers,  der  dem  priester- 
lichen im  engeren  Sinne  am  nächsten  steht,  die  Verbindungsfäden  mit  dem 
rehgiösen  Lehramt  durchschneidet.  Die  Lehrer  haben  sich  im  Laufe  der  letz- 
ten Jahrhunderte  zu  einem  eignen  Stande  entwickelt.  An  unseren  Mittel- 
schulen lehren  nicht  mehr  Theologen,  sondern  fachmännisch  gebildete  Päda- 
gogen ;  auf  den  Hochschulen  hat  die  theologische  Fakultät  ihre  beherrschende 
Stellung  eingebüßt ;  die  Volksschule  kämpft  gegen  die  Beaufsichtigung  durch 
die  Geistlichkeit.  Überall  tritt  das  ,, Weltliche"  mit  dem  Anspruch  auf, 
Mittelpunkt  und  Krone  der  Jugenderziehung  zu  sein;  dem  Religionsunter- 
richt ist  nur  eine  bescheidene  Stundenzahl  verblieben;  die  Jugend  der 
höheren  Schulen  und  allgemach  auch  der  Volksschulen  lernt  diesen  Unter- 
richt und  den  Religionslehrer,  der  ihn  erteilt,  als  eine  Art  Anhängsel  zu  dem 
eigentlichen  Schulbetrieb  ansehen. 

Was  bedeutet  diese  immer  weitergehende  Ausschaltung  des  priesterlichen 
Einflusses?  Welche  Folgen  hat  es  für  das  Volksleben,  wenn  die  Fachleute 
den  rehgiösen  Erzieher  aus  allen  seinen  Stellungen  verdrängen  ?  —  Wir  wol- 
len zunächst  bei  dem  Schulwesen  stehenbleiben  und  das  heutige  Verhältnis 
zwischen  Lehrer  und  Priester  etwas  näher  ins  Auge  fassen.  Daß  die  Volks- 
schullehrer mit  den  Pfarrern,  die  Universitäten  mit  der  kirchlichen  Theo- 
logie im  Kampfe  liegen,  ist  ohne  Zweifel  eine  beklagenswerte  Erscheinung. 
Wer  ist  schuld  daran  ?  Wir  haben  es  schon  oben  gesagt :  die  öffentliche  Prie- 
sterschaft ist  nicht  mehr  imstande,  die  Führung  unserer  Kultur  und  also 
auch  unserer  Jugend  in  Händen  zu  halten;  sie  ist  zurückgeblieben.  Die 
Kämpfer  für  die  weltliche  Schule  und  für  die  Abschaffung  der  theologischen 
Fakultäten  sind  daher  im  Recht,  sie  haben  mitunter  mehr  religiösen  Sinn 
und  mehr  wahres  Priestertum  als  die  geistlichen  Herren,  die  sehr  bewegUch 
über  den  materialistischen  Zeitgeist  klagen,  aber  nicht  merken,  daß  sie  mit 
ihren  verstaubten  religiösen  Erziehungsmitteln  das  Übel  eher  verschhmmem 
als  verringern.  Andererseits  haben  die  Priester  und  ihre  Freunde  vollständig 
recht,  wenn  sie  dagegen  Einspruch  erheben,  daß  aus  unseren  Schulen  tech- 
nische Lehrinstitute  ohne  rehgiös-sitthche  Erziehung  gemacht  werden  sollen. 
Die  —  richtig  verstandene  und  richtig  gelehrte  —  Religion  muß  im  Mittel- 

274 


punkte  der  Jugendbildung  stehen.  Schulen,  die  nur  Kenntnisse  und  Fertig- 
keiten vermitteln  wollen,  sind  unziureichend,  ebenso  wie  diejenigen  Lehrer 
unzureichend  sind,  die  nur  fachmännische  Schulbeamte  oder  gar  nur  ge- 
lehrte Forscher  und  Züchter  von  Forschern  sein  wollen.  Die  Schule  soll  er- 
ziehen, und  erziehen  können  nur  Menschen,  die  Religion  haben  und  auch 
ihre  Anvertrauten  zu  religiösen  Menschen  machen  wollen.  Das  werden  die 
Klerikalen  gern  hören ;  sie  begehen  nur  leider  den  Irrtum,  ihre  Rehgion  für 
die  einzig  mögliche  und  einzig  heilsame  zu  halten. 

Die  Schwierigkeit,  unseren  Schulen  die  rechte  Gestalt  und  die  rechten 
Lehrer  zu  geben,  rührt  daher,  daß  wir  in  einem  rehgiösen  Interregnum  leben. 
Der  Staat,  d.  h.  die  große  beauftragende  Lebensgemeinschaft,  befindet  sich 
als  Schulpatron  in  großer  Verlegenheit;  er  kann  nicht  eine  einzige  Rehgion 
durch  berufene  religiöse  Führer  lehren  lassen,  weil  es  weder  diese  eine  Reli- 
gion noch  diese  berufenen  religiösen  Führer  gibt.  Er  muß  mit  dem  Neben- 
einander mehrerer  widersprechender  Religionen  rechnen.  Was  wird  dabei 
aus  der  Schule  ?  Entweder  muß  die  Schule  neutralisiert  werden  oder  es  müs- 
sen, wie  z.  B.  der  Pädagoge  Rein  vorschlägt,  für  die  verschiedenen  religiös- 
geistigen Richtungen  und  Gemeinschaften  getrennte  Schulen  geschaffen  wer- 
den, die  der  neutrale  Staat  sämthch  unter  seinen  Schutz  nimmt.  Im  ersten 
Falle,  wenn  also  eine  neutrale  Schule  für  alle  Parteien  vorhanden  ist,  in  der 
nur  das  gelehrt  wird,  was  allen  Staatsbürgern  gemeinsam  ist,  sind  neben 
dieser  Schule  noch  andere,  ergänzende  Schulen  unentbehrlich,  die  sich  die 
religiösen  Gesellschaften  selber  schaffen,  damit  in  ihnen  die  Jugend  mit  den 
besonderen  Zielen  und  Gedanken  der  einzelnen  Bünde  durch  besondere  Lehr- 
priester vertraut  gemacht  wird.  Diese  Einrichtung  besteht  schon  heute :  der 
konfessionelle  Religionsunterricht,  der  Konfirmandenunterricht,  der  Moral- 
unterricht der  freireligiösen  Gemeinden  stellt  solche  Parteischulen  neben  der 
neutralen  Allgemeinschule  dar,  wobei  freihch  zu  erwähnen  ist,  daß  die  Neu- 
trahtät  der  Staatsschule  manches  zu  wünschen  übrigläßt.  Das  kann  nie- 
mand wundernehmen;  denn  eine  neutrale  Jugendbildung  ist  im  strengen 
Sinne  eine  UnmögHchkeit.  Die  Klerikalen  haben  auch  hier  wieder  recht:  ein 
guter  Lehrer  kann  in  keinem  Unterrichtsfach  seine  religiöse  Richtung  ganz 
verleugnen ;  wenn  er  seine  ganze  Persönhchkeit  einsetzt,  wird  er  seine  Schü- 
ler nicht  nur  kenntnisreicher  machen,  sondern  sie  auch  rehgiös  beeinflussen. 
Daher  wird  in  rehgiös  empfindenden  Kreisen  stets  der  Wunsch  entstehen, 
den  Nachwuchs  in  eigenen  Schulen  nach  geschlossenem  Plane  zu  erziehen 
und  auf  die  neutrale  Jugendbildung  zu  verzichten;  d.  h.  also:  jede  rehgiöse 
Gemeinschaft  oder  Partei  sorgt  für  Schulen  und  Lehrer,  die  die  Jugend  in 
dem  gewünschten  Geist  heranbilden.  Das  läßt  sich  natürHch  nur  dann  durch- 
führen, wenn  der  Staat  keine  der  bestehenden  und  entstehenden  Religions- 

i8.  275 


verbände  bevorzugt  oder  behindert.  Er  muß  über  den  Parteien  stehen  und 
diu"ch  die  Wucht  seiner  nationalen  Ziele  und  sozialpolitischen  Leistimgen  die 
religiösen  Gegensätze  in  Schranken  halten. 

Die  Neutralität  des  Staates  in  Sachen  der  religiösen  Erziehung  zu  erreichen, 
ist  das  Ziel  der  kulturpolitischen  Kämpfe,  die  seit  geraumer  Zeit  geführt 
werden  und  in  den  nächsten  Jahren  wahrscheinlich  eine  große  Heftigkeit 
annehmen  werden.  Heute  behandelt  der  Staat  diejenigen,  die  nicht  zu  den 
christlichen  Religionsverbänden,  auch  nicht  zum  jüdischen,  gehören,  als  Ver- 
brecher oder  wenigstens  als  verdächtige  Persönlichkeiten.  Er  erschwert  oder 
verbietet  ihnen,  ihre  Kinder  in  ihrem  Geiste  heranzubilden.  Der  Staat  kann 
zu  seiner  Entschuldigung  anführen,  daß  die  freiheitliche  reUgiöse  Bewegung 
bisher  allzu  uneinheitlich  war  und  dem  auf  seinGedeihen  bedachten  Staat  wenig 
\'ertrauen  einzuflößen  vermochte.  Aber  die  despotische  Unterdrückungs- 
politik, die  er,  unterstützt  und  beraten  von  den  christUchen  Priesterschaften, 
bisher  befolgte,  war  trotzdem  falsch  und  verwerfHch  und  wird  es  immer 
mehr,  je  mehr  sich  die  freiheitlichen  Organisationen  befestigen  und  in  ihren 
positiven  Zielen  zusammenwachsen.  Der  Staat  \vird  einst  gewahr  werden, 
daß  er  bei  den  ,, Freidenkern"  echtere  Freunde  hat  als  bei  den  geschäftigen 
Klerikalen,  deren  heiligste  Christenpflicht  es  ist,  den  Staat  der  allumfassen- 
den Weltkirche  Untertan  zu  machen. 

Überhaupt  wird  der  Staat  bald  inne  werden,  daß  er  am  besten  fährt,  wenn 
er  sich  vorderhand  nicht  in  die  reHgiösen  Kämpfe  einmischt,  sondern  allen 
religiösen  Gruppen  Bewegungs-  und  Gestaltungsfreiheit  gewährt.  Er  möge 
nicht  fürchten,  daß  die  Gruppenbildung  zersetzend  auf  das  Staatsganze 
wirke ;  der  heutige  Zustand,  daß  also  der  Staat  sich  zum  Büttel  bestimmter 
religiöser  Verbände  hergibt,  die  von  den  geistig  Führenden  abgelehnt  werden, 
ist  für  den  politisch-nationalen  Bund  weit  gefährlicher;  denn  durch  dies  Ver- 
halten drängt  der  Staat  die  religiös  neuemden  Volkskreise  in  das  pohtisch 
revolutionäre  Lager  hinüber  (vgl.  E.  Horneffers  Aufsatz:  Der  Kaiser  und 
die  Rehgion;  Die  Tat  II,  9). 

Die  Grundsätze,  auf  denen  sich  die  Jugendbildung  des  freien  Religions- 
bundes aufbauen  wird,  für  den  mein  Bruder  und  ich  kämpfen,  sind  an  anderer 
Stelle  dargelegt  worden.  Das  Ziel,  das  diese  Jugendbildung  sich  setzt,  ist: 
die  Heranwachsenden  zu  befähigen,  ihre  eigenen  religiösen  Wahrheiten  und 
sittlichen  Ideale  zu  finden  und  sich  als  tätige  Mitarbeiter  in  den  kleineren 
und  größeren  Lebenskreis  einzuordnen,  dem  sie  angehören.  Die  Unterrichts- 
mittel, um  dies  Ziel  zu  erreichen,  sind:  lebendige  Vorführung  des  pädago- 
gisch Wertvollen  aus  der  menschlichen  Vergangenheit  und  der  mythologisch- 
dichterischen Welt,  damit  die  Jugend  erfährt,  wie  große  Zeiten  und  Männer 
um  Wahrheit  und  Leben  gerungen  haben ;  zweitens  Pflanzung  von  Kultur- 

276 


Instinkten  und  Entfaltung  des  Charakters  durch  Übung,  d.  h.  durch  künst- 
lerische und  Arbeitserziehung.  Die  Gestaltung  des  Unterrichts  im  einzelnen 
kann  hier  nicht  erörtert  werden. 

Welcherart  werden  die  Lehrer  dieser  Schule  sein  ?  Wie  soll  überhaupt  der 
Jugenderzieher  der  Zukunft  beschaffen  sein?  —  Er  muß  ein  gutes  Stück 
echten  Priestergeistes  haben  und  muß  sich  von  der  einseitigen  Schätzung 
des  technischen  und  wissenschaftlichen  Fachwesens,  wie  es  heute  herrscht, 
freimachen.  Der  Lehrer  muß  dafür  sorgen,  daß  der  Geist  im  Leben  des  ge- 
samten Volkes  mehr  zur  Geltung  kommt  als  heute.  Die  Vertreter  des  Geistes 
haben  sich  aus  dem  Volksleben  allzusehr  zurückgezogen;  sie,  die  zur  Füh- 
rung im  Großen  und  Größten  berufen  wären,  haben  sich  in  wissenschafthche 
und  pädagogische  Klöster  eingesponnen  und  ihre  Weisheit  nur  wenigen  Aus- 
erwählten zugängHch  gemacht.  Die  Hochschule  hat  sich  ihren  Pfhchten 
gegen.,  das  ganze,  freie,  gleichberechtigte  und  gleichverpflichtete  Volk  in 
schnöder  Weise  entzogen  und  begnügt  sich  mit  Kopfschütteln  festzustellen, 
daß  die  religiös-sittliche  Bildung  des  Volkes  nachlasse.  Daß  sie,  die  Ver- 
treterin und  Übermittlerin  aller  geistigen  Werte  für  die  Bildung  des  Volkes 
verantwortlich  ist,  hat  sie  über  ihrem  wissenschafthchen  Fachwesen  ver- 
gessen. Ähnlich  ist  es  mit  der  Künstlerschaft.  Die  Künstler  haben  vergessen, 
daß  sie  in  erster  Linie  Erzieher  sind,  haben  die  uralte  Wahrheit,  daß  es  zwei 
untrennbar  verbundene  Aufgaben  sind:  Kunstwerke  zu  formen  und  jugend- 
hche  Menschenseelen  zu  formen,  —  unter  dem  Schutt  eitler  Spielereien  und 
romantischer  Sehnsuchtsträume  begraben.  Die  Kunst  gehört  in  die  Schule! 
Die  Philosophie  und  Wissenschaft  gehört  auf  den  Markt,  will  sagen  auf  den 
gemeinsamen  Versammlungsplatz  von  jung  und  alt! 

Die  lehrenden  Männer  des  Geistes  schelten  auf  die  Priester  und  scheuchen 
sie  von  der  Erziehung  der  Kinder  und  der  Erwachsenen  hinweg.  Aber  sie 
denken  nicht  daran,  das,  was  die  Priester  bisher  getan  haben,  nun  ihrerseits  zu 
übernehmen,  also  die  priesterHchen  Pädagogen  zu  ersetzen.  Die  Universitäts- 
lehrer weisen  es  als  ein  törichtes  Ansinnen  von  sich,  wenn  man  ihnen  zuruft: 
zeigt  uns  den  Weg  zum  großen,  heihgen  Leben,  seid  Priester  des  neuen 
Gottes  und  Propheten  der  Freiheit !  —  Die  Lehrer  der  Mittelschulen  zucken 
die  Achseln,  wenn  man  von  ihnen  verlangt,  die  religiös-sitthche  Bildung 
der  reifen  Jugend  in  ihre  Hand  zu  nehmen  und  der  Verwahrlosung  unseres 
Nachwuchses  in  den  wichtigsten  Lebensfragen  zu  steuern.  Noch  am  besten 
kommen  die  Volksschullehrer  ihren  priesterhchen  Pflichten  gegen  die  Kinder 
und  auch  gegen  das  Volk  im  ganzen  nach.  Denn  der  Jugendbildner  hat  ja 
auch  Erziehungspflichten  gegenüber  der  Allgemeinheit;  jeder  Lehrer  muß 
zugleich  Volkserzieher  sein ;  er  kann  gar  nicht  anders  als  seine  pädagogische 
Tätigkeit  über  die  Schulmauern  und  Schulkinder  hinaus  auf  die  Erwach- 

277 


senen  und  ihr  geistiges  Leben  auszudehnen, — wenn  anders  er  seinem  Beruf 
als  ein  Berufener  und  nicht  als  ein  Unberechtigter  angehört. 

Man  überlege  sich  einmal,  was  die  akademisch  und  nicht  akademisch  ge- 
bildeten Lehrer  für  die  Volkskultur  leisten  könnten,  wenn  sie  sich  ihrer  gei- 
stigen Überlegenheit  in  der  rechten  Weise  bedienen  wollten!  In  kleineren 
Orten  namentlich  sind  sie  die  berufenen  Kulturträger;  auf  sie  schaut  man 
als  auf  die  ^^^issenden  und  Leitenden,  denn  den  Pfarrer  läßt  man  häufig 
nicht  mehr  als  den  geistig  Führenden  gelten.  Aber  wie  oft  ziehen  es  die 
Lehrer  vor,  ihren  Privatliebhabereien  nachzugehen  oder  sich  der  vergnüg- 
lichen ,, Geselligkeit"  hinzugeben.  Sie  sollten  sich  die  Aufgabe  stellen,  die 
ganze  Gemeinde  wissenschafthch  und  künstlerisch  zu  heben,  sie  zu  den  ern- 
steren und  tieferen  Dingen  hinzuführen,  die  ihnen  der  Pfarrer  in  einseitiger 
und  unzureichender  Weise  nahebringt.  Wenn  die  Lehrer  versichern,  daß  für 
derartige  Veredlungs-  und  Vertiefungsbestrebungen  kein  , »Interesse"  vor- 
handen sei,  so  irren  sie  sich  gründlich.  Unser  Volk  ist  nie  so  bildungsbedürftig 
und  für  geistige  Nahrung  so  dankbar  gewesen  wie  heute.  Man  versteht  diese 
Stimmung  nur  nicht  richtig  zu  benutzen  und  zu  leiten.  Die  einen  sind  hoch- 
fahrend und  verlangen  zuviel;  die  anderen  kommen  mit  kirchUchen 
Dingen  und  schrecken  dadurch  die  Eifrigsten  ab,  zumal  wenn  sie  merken 
lassen,  daß  die  ,, gefährlichen"  Ergebnisse  der  Wissenschaft  dem  Volke  vor- 
enthalten werden  müßten.  Im  Grunde  haben  unsere  Gebildeten  und  Unter- 
richteten einfach  nicht  die  Fähigkeit  und  nicht  die  Lust,  sich  der  Volks- 
bildung mit  ganzem  Herzen  hinzugeben;  das  ist  die  traurige  Wahrheit. 
Es  fehlt  ihnen  an  Liebe,  an  Religion,  an  aufopfernder  Priestergesinnung.  Ihr 
eigenes  Wesen  und  Leben  ist  Stückwerk;  darum  können  sie  auch  anderen 
nichts  Ganzes,  nichts  wahrhaft  Befreiendes  und  Bildendes  geben.  Neuer- 
dings hat  zwar  eine  kräftige  Volksbildungsbewegung  eingesetzt,  die  viel 
Gutes  leistet;  aber  noch  immer  stehen  viel  zu  viele  der  Berufenen  in  miß- 
mutigem Egoismus  abseits.  Auch  die  Tätigen  greifen  die  Aufgabe  nicht 
immer  richtig  an,  weil  sie  unter  ,, Volksbildung"  nur  Popularisierung  der 
Wissenschaft  und  Versorgung  mit  guter  Kunst  verstehen,  sich  daher  vom 
Wichtigsten,  von  der  religiös-sittlichen  Belehrung  und  Beeinflussung  des 
Volkes  ängstlich  fernhalten. 

Die  Hauptschuld  daran  trifft  die  Hochschule,  denn  deren  Pflicht  ist  es, 
die  Volkskultur  von  hoher  Warte  aus  zu  leiten  (vgl.  meine  Schrift :  Der  Ver- 
fall der  Hochschule,  1907).  Die  Hochschulprofessoren  sollten  ihre  Aufgabe 
darin  sehen,  in  ihren  Schülern  den  Willen  und  die  Fähigkeit  zu  erzeugen,  als 
Volksführer  und  Kulturpriester  zu  wirken.  Das  tun  sie  nicht.  Sie  wollen  ihre 
Schüler  nur  recht  gelehrt  und  in  ihrem  Fach  geschickt  machen.  Was  ist  die 
notwendige  Folge?  Daß  unsere  Kultur  auseinanderfällt  und  das  Volk  sich 

278 


selber  zu  helfen  sucht.  Auf  welche  Weise,  haben  wir  früher  gesehen :  es  hört 
auf  die  Stimme  unklarer  Sektierer,  wunderlicher  Lebens-  und  Diätpropheten, 
ungebildeter  Popularisten  und  Schundschriftsteller.  Oder  es  hält  sich  an  die 
alten  legitimen  Volksführer,  nämlich  an  die  Priester. 

Warum  steht  die  religiöse  und  politische  Partei  der  Katholiken  so  ge- 
schlossen und  kraftvoll  da?  Warum  finden  wir  bei  den  altmodischen  und 
kirchentreuen  Menschen  oft  eine  Sicherheit  und  Klarheit  des  Handelns  und 
Fühlens,  gegen  die  das  unsichere  Geflacker  der  Modernen  so  betrübend  ab- 
sticht ?  —  Zwischen  den  Kirchentreuen  und  ihren  geistigen  Führern  besteht 
noch  das  innige  und  schöne  Verhältnis,  das  zwischen  Gemeinde  und  Ge- 
meindeleiter obwalten  muß.  Viele  katholische  (und  auch  manche  evange- 
lische) Pfarrer  sind  ihrer  Gemeinde  noch  alles;  die  evangelischen  aus  dem 
Grunde  seltener,  weil  die  evangelische  Bevölkerung  zuviel  von  dem  neuen 
Geiste  aufgenommen  hat,  der  dem  christlichen  Kirchen-  und  Priestertum 
feindhch  ist.  Die  katholischen  Gegenden  sind  mit  diesem  Geiste  noch  nicht 
in  so  enge  Berührung  gekommen ;  die  Gemeinden  folgen  noch  ihrem  Seelen- 
hirten in  vollem  Vertrauen,  selbstverständlich  auch  auf  dem  Gebiete  der 
PoHtik  und  Gemeindeverwaltung.  Die  kathohsche  Geistlichkeit  gibt  sich 
auch  redlich  Mühe,  das  Vertrauen  zu  rechtfertigen;  sie  sammelt  die  Ge- 
meinde in  den  katholischen  Volks  vereinen,  in  Arbeiter-,  Frauenvereinen 
usw. ;  sie  weiß  die  künstlerisch  und  wissenschaftlich  Gebildeten,  die  Reichen 
und  PfHchtenlosen  heranzuziehen  und  im  Namen  der  Religion  zur  Mitwir- 
kung bei  der  Leitung  des  Volkes  zu  gewinnen.  Die  Katholiken  haben  noch 
Aufopferungsfähigkeit!  Höchstens  bei  den  Sozialdemokraten  findet  man 
diese  religiöse  Grundtugend  reicher  entwickelt.  In  den  übrigen  Volkskreisen 
blüht  der  OpferwiUe  nur  im  Verborgenen;  die  zur  geistigen  Führung  Be- 
rufenen sind  meist  ganz  frei  von  ihm. 

Es  soll  nicht  geleugnet  werden,  daß  es  unvergleichhch  schwerer  und  ver- 
antwortungsvoller ist,  freie  Menschen  zu  führen  und  Werdende  zur  Freiheit 
zu  erziehen,  als  eine  dogmatisch  gebundene,  geistig  uniforme  Herde  zu  wei- 
den. Es  war  wohl  unausbleibhch,  daß  die  Erzieher  zur  Freiheit  zunächst 
scheitern  mußten  und  das  neue  Erziehungsproblem  trotz  immer  erneuter 
Experimente  ungelöst  bheb.  Das  nach  Freiheit  verlangende  Europa  mußte 
dem  anarchistischen  Ideale  verfallen  und  mit  Rousseau  jede  pädagogische 
Beeinflussung  verwerfen.  Weil  man  den  despotischen  Priester  hassen  gelernt 
hatte,  mißtraute  man  nun  jedem  priesterhch  gearteten  Menschen  und  wollte 
von  geistiger  Führerschaft  überhaupt  nichts  mehr  hören.  Die  geborenen  Prie- 
ster begannen  sich  ihrer  Anlage  zu  schämen,  verleugneten  und  erstickten 
ihre  Erzieherneigung,  wurden  Wissenschaftler  oder  suchten  in  anderen  Be- 
riifen  Unterschlupf.  Wenn  sie  Lehrer  von  Fach  wurden,  betonten  sie  ge- 

279 


flissentlich,  daß  sie  nicht  Erziehung  im  alten  Sinne  trieben,  iind  vermieden 
ängsthch  jede  energische  Beeinflussmig  mid  Formmig  der  Jugend,  wenigstens 
der  erwachsenen  Jugend ;  noch  ängstlicher  vermieden  sie  die  religiöse  Beein- 
flussimg und  Erziehung  des  ganzen  Volkes. 

Wir  besitzen  politische  und  wirtschaftHche  Agitatoren,  d.  h.  Antreiber  und 
Volksführer,  in  genügender  Zahl;  auch  zu  aufklärenden  und  belehrenden 
Vorträgen  über  allerhand  Gegenstände  finden  sich  immer  mehr  Menschen 
bereit.  Aber  religiös  zu  erziehen,  sitthche  Predigten  zu  halten,  daran  wagt 
sich  fast  niemand.  Ich  sagte  oben  schon,  was  für  Folgen  das  haben  muß: 
dem  Volke,  soweit  es  nicht  mehr  im  pädagogischen  Bannkreis  der  Kirchen 
lebt,  geht  das  Verantwortungsgefühl,  der  sittliche  Ernst  und  Adel  verloren ; 
schrankenloser  Egoismus,  wider  Konkurrenzkampf,  Klassen-  und  Partei- 
hader herrschen.  Es  ist  hohe  Zeit,  diesem  Zustande  mit  allen  Mitteln  ein 
Ende  zu  machen.  Wir  brauchen  Erzieher,  brauchen  unerschrockene,  von 
reinem  Idealismus  getragene  Männer,  die  die  Aufgabe  der  alten  Priester- 
schaften in  veredelter  und  freierer  Weise  wieder  auf  sich  nehmen.  Fürchtet 
man,  daß  diese  neuen  Priester  der  Freiheit  zu  nahetreten  werden  ?  Wenn  ein 
Volk  sich  von  seinen  Priestern  knechten  läßt,  richtet  es  sich  selber  und  ver- 
dient es  nicht  besser.  Die  neuen  Erzieher  sollen  niemand  bevormunden,  nie- 
mand in  Dogmen  einschnüren;  sie  sollen  nur  helfen  und  erleichtern.  Das 
Volk  und  die  Werdenden  verlangen  nach  Hilfe  und  Rat ;  sie  sind  anlehnungs- 
bedürftig und  haben  ein  Recht  darauf,  pädagogisch  unterstützt  und  auf  die 
wichtigsten  Dinge  hingelenkt  zu  werden.  Jede  Schule,  wenn  sie  eine  allge- 
meine Bildungsschule  sein  will,  muß  die  sittHch-religiöse  Erziehimg  in  den 
Vordergrund  rücken;  jeder  geistige  Beruf,  jeder  Stand,  der  in  irgendeinem 
Sinne  führen  und  regieren  wiU,  muß  sich  zum  religiösen  Lehrstand  rechnen 
und  in  der  Veredelung,  Vertiefung  und  Verschönerung  der  Menschen  seine 
schönste  Aufgabe  erkennen.  Heilen  wir  endlich  die  geheime  Wunde,  an  der 
unsere  Kultur  zu  verbluten  droht!  Diese  geheime  Wunde  ist,  daß  es  keine 
Priester  mehr  gibt,  weil  der  „Lehrstand"  nicht  mehr  ein  Führerstand 
sein  will. 

Wir  wollen  einige  der  wichtigsten  Berufe  auf  diesen  Gesichtspunkt  hin 
durchgehen  und  nachfragen,  was  sie  für  die  Erziehung,  die  Versitthchung 
und  Vergottung  unseres  Volkes  tun  könnten  und  tun  sollten.  Den  Berufs- 
pädagogen sind  am  nächsten  verwandt  die  militärischen  Vorgesetzten,  also 
die  Offiziere  und  Unteroffiziere.  Dieselben  sind  in  ihrem  Hauptberuf  Lehrer 
und  Führer;  jeder  gesunde  Staatsbürger  ist  ein  bis  drei  Jahre  seines  reifen 
Jugendalters  ihrem  täghchen  und  stündlichen  Einflüsse  imterworfen.  Was 
könnte  und  müßte  während  dieser  Zeit  alles  gepflanzt,  entfaltet,  befestigt 
werden !  Die  soldatische  Schulung  im  engeren  Sinne  ist  freilich  schon  durch 

280 


sich  selber  von  hohem  sittHchen  Wert;  jede  formale  Bildung  wirkt  auf  den 
Charakter  und  mittelbar  auf  das  Glaubensleben  ein.  Aber  die  formale  Bil- 
dung, die  unsere  Soldaten  erhalten,  müßte  ergänzt  werden  diuch  rein 
menschhche  Einwirkung  der  Vorgesetzten  auf  die  Leute.  Ich  meine  wahr- 
haftig nicht,  daß  man  sentimentale  Reden  an  die  Mannschaft  halten  soll; 
das  tun  die  Militärpfarrer  genug  und  erzielen  wohl  keine  allzu  großen  Er- 
folge damit.  Es  stehen  den  miütärischen  Oberen  andere  Wege  offen,  sich 
das  Vertrauen  der  Leute  zu  erwerben  und  den  Samen  eines  schöneren  und 
freieren  Menschentums  in  die  empfänglichen  Gemüter  zu  senken.  Gelegen- 
heit dazu  würden  die  Mannschaftsstuben,  aber  auch  die  Instruktionsstunden 
und  die  sehr  wünschenswerten  geselligen  Zusammenkünfte  der  Truppe 
außerhalb  des  Dienstes  bieten  können.  Wie  die  militärischen  Oberen  heute 
vorgebildet  werden,  sind  sie  natürhch  kaum  befähigt,  ihren  Beruf  in  einem 
so  hohen  Sinne  auszuüben.  Sie  sind  selber  in  religiös-sittlichen  Dingen  roh 
und  vernachlässigt;  man  lehrt  sie,  sich  stets  nur  an  das  rein  Sachhche  und 
Fachmännische  zu  halten,  und  vermeidet  es,  ihnen  ihren  Beruf  in  seiner 
ganzen  Größe  und  Macht  vor  Augen  zu  stellen.  So  kann  man  nicht  verlangen, 
daß  sie  ihren  Soldaten  später  wirkliche  Erzieher  und  führende  Freunde  wer- 
den. Auch  hier  fällt  die  Schuld  letzten  Endes  den  verantwortlichen  Leitern 
unseres  ganzen  Kulturlebens,  d.  h.  den  Hochschullehrern  zu.  Sie  lassen  alles 
gehen  wie  es  gehen  will,  und  stecken  ihren  Kopf  immer  tiefer  in  den  Sand 
der  Gelehrsamkeit.  Höchstens  verwundern  sie  sich,  wie  es  doch  zugeht,  daß 
die  jungen  Leute,  kaum  daß  sie  den  Soldatenrock  ausgezogen  haben.  Feinde 
des  Heeres  und  des  nationalen  Ideals  werden  und  in  Scharen  zu  den  Sozial- 
demokraten und  Anarchisten  übergehen. 

Weiter  wollen  wir  an  die  Juristen  denken.  Ist  nicht  der  Hüter,  Ausleger 
und  Handhaber  des  Rechts  ein  berufener  Volkserzieher?  Recht  und  Moral 
lassen  sich  trotz  aller  Definitionen  engherziger  Theoretiker  nicht  voneinander 
trennen.  Den  Richter,  den  Staats-  und  Rechtsanwalt  bringt  sein  Beruf  fort- 
während mit  Schwachen,  Verirrten,  Verunglückten  zusammen.  Wenn  diesen 
überhaupt  noch  zu  helfen  ist,  ist  ihnen  doch  nur  durch  Erziehung  und  Seel- 
sorge zu  helfen.  Der  Jurist  hat  stets  mit  Konflikten  und  MißheUigkeiten 
irgendwelcher  Art  zu  tun;  er  soll  auflösen,  beilegen,  zurechtbringen.  Das 
ist  die  Aufgabe  jedes  Erziehers.  Ich  kann  mir  nicht  denken,  daß  ein  Richter 
allen  seinen  Pfhchten  nachkommt,  wenn  er  nur  eine  Paragraphenmaschine 
oder  ein  durchdringender  Psychologe  ist,  imd  daß  ein  Anwalt  den  Anfor- 
derungen seines  Berufes  genügt,  wenn  er  nur  ein  findiger  Kopf  oder  ein 
unbedenkhcher  Dialektiker  ist.  Unsere  Altvorderen  dachten  von  Recht  und 
Gericht  viel  höher  und  schöner  als  die  neuere  Zeit.  Ihnen  waren  es  heihge 
Dinge  und  die  Gottheit  selber  war  ihnen  Richter  und  Anwalt.  Ehrfürchtigen 

281 


Sinnes  ging  man  zur  Gerichtsstätte.  Wir  haben  keine  Ursache,  uns  mit 
unserem  kalten  und  gottlosen  Rechtsvvesen  zu  brüsten,  mögen  unsere  Ge- 
setze auch  \del  humaner  und  logisch  besser  durchdacht  sein.  Zwar  ist  es  ohne 
Zweifel  ein  Glück,  daß  der  Zauberpriester  vom  Richterstuhl  und  der  Gesetz- 
gebung vertrieben  worden  ist;  aber  der  an  seine  Stelle  tretende  Richter 
müßte  nun  doch  das,  was  der  richtende  Priester  Gutes  gewirkt  hat,  auf  seine 
eigenen  Schultern  nehmen ;  er  müßte  zu  einer  rehgiös-pädagogischen  Persön- 
lichkeit werden.  Daß  die  Schwierigkeiten  groß  sind,  mit  denen  eine  sittlich 
vertiefte  Rechtspflege  zu  kämpfen  hätte,  wissen  wir  alle ;  aber  diese  Schwie- 
rigkeiten müssen  lösbar  sein.  Die  Amoralität  des  Rechtswesens  darf  nicht 
fortdauern ;  das  Strafrecht  muß  endlich  über  den  Standpunkt,  auf  dem  vor 
Zeiten  die  Irrenpflege  stand,  hinausgeführt  werden.  Heute  behandelt  das 
Recht  die  Verbrecher  noch  genau  so,  wie  einst  die  irrenärzthchen  Fachleute 
und  Laien  die  Geisteskranken :  man  schlägt,  fesselt,  schädigt  sie.  Inzwischen 
ist  die  Psychiatrie  längst  zu  anderen  Heilverfahren  gelangt ;  sollte  die  Rechts- 
pflege ihrem  Beispiel  nicht  folgen  können?  —  Auch  hier  gilt  das  oben  Ge- 
sagte :  die  Vorbildung  muß  anders  werden.  Den  angehenden  Jturisten  müssen 
die  Mittel  zur  würdigen  Ausübung  ihres  hohen  Amtes  gegeben  und  die 
Pfhchten,  die  sie  gegen  die  Allgemeinheit  zu  erfüllen  haben,  mit  religiösem 
Ernste  eingeschärft  werden. 

Weiter  kommen  wir  zu  den  JournaMsten.  Der  Journalist  ist  eine  der  be- 
deutendsten Erziehungsmächte  der  Gegenwart.  Wir  erwähnten  schon,  daß 
die  Zeitung  im  modernen  Europa  die  Stelle  der  alten  Volkssänger,  der  Rhap- 
soden imd  Wanderprediger  ausfüllt.  Früher  schöpfte  das  Volk  aus  den  Lie- 
dern und  Erzählungen  dieser  priesterlichen  Personen,  was  es  jetzt  aus  Zei- 
tungen, Flugblättern  und  periodischen  Schriften  schöpft.  Ein  breiter  Strom 
von  Nachrichten,  Anschauungen  und  Werturteilen  ergießt  sich  Tag  für  Tag 
durch  die  Zeitungen  in  das  Volk.  Müßte  nicht  alles  getan  werden,  um  diesem 
Strom  einen  heilsamen  und  veredelnden  Gehalt  zu  geben?  Die  Zeitungs- 
schreiber übernehmen  eine  gewaltige  Verantwortung;  sind  sie  sich  dessen 
immer  bewußt  ?  Machen  ihre  Lehrer  auf  der  Mittel-  und  Hochschule  ihnen 
klar,  daß  der  Journalist  ein  Prediger  ist  ?  Stellen  sie  ihnen  vor,  was  Eitelkeit, 
Leichtsinn,  Gewinnsucht  imd  Gewissenlosigkeit  für  Verheerungen  im  Volke 
anrichten,  wenn  sie  dem  Zeitungsschreiber  die  Feder  führen?  Dem  einzelnen 
JournaHsten  kann  man  kaum  einen  Vorwurf  daraus  machen,  daß  er  die 
Tragweite  seines  Tuns  nicht  übersieht  und  überhaupt  ohne  echte  Bildung 
in  seinen  Beruf  eintritt.  Der  Vorwurf  gebührt  anderen. 

Auch  von  dem  kaufmännischen  und  industriellen  Unternehmer,  von  dem 
ländhchen  Besitzer,  von  dem  höheren  Beamten,  überhaupt  von  allen  denen, 
die  mit  Untergebenen  und  Angestellten  zu  tun  haben,  müssen  wir  reden. 

282 


i 


Sie  alle  sind  führende  Menschen  und  haben  infolgedessen  Erziehungs-  und 
Seelsorgepflichten.  Einst  standen,  wie  wir  gesehen  haben,  alle  diese  leitenden 
Persönlichkeiten  dem  Priesterberuf  sehr  nahe.  Der  Patriarch,  der  ,, Vater" 
im  verwandtschaftlichen,  wirtschaftHchen  und  gesellschaftlichen  Sinne  übte 
priesterhche  Funktionen  aus.  Er  fühlte  sich  für  den  Kreis,  den  er  beherrschte, 
religiös-sittlich  verantwortlich,  begnügte  sich  also  nicht  damit,  für  das  leib- 
liche Gedeihen  und  äußere  Glück  seiner  Anvertrauten  zu  sorgen.  Zwischen 
den  herrschenden  und  den  dienenden  Mitgliedern  der  Gruppen  und  Ver- 
bände waltete  gegenseitiges  Vertrauen  und  Verständnis  ob.  Wie  sehr  hat  sich 
das  unter  dem  Einfluß  der  sozialen  Umwälzungen  geändert!  Man  sollte 
meinen,  daß  die  Führenden  und  Geführten  durch  diese  Umwälzungen  ein- 
ander nähergekommen  wären ;  denn  die  letzteren  sind  zu  gleichberechtigten 
Staatsbürgern  geworden;  es  gibt  keine  Herren  und  Knechte  mehr,  sondern 
nur  reichere  und  ärmere,  gescheitere  und  weniger  gescheite  Mitglieder  des 
allgemeinen  Verbandes,  die  freie  Arbeitsverträge  miteinander  schließen. 
Müßten  die  heutigen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  einander  nicht  viel 
besser  verstehen,  als  die  Herrschenden  und  Dienenden  früherer  Zeiten?  Wir 
sehen  aber  das  Gegenteil;  die  beiden  Gruppen  stehen  einander  als  Feinde 
gegenüber.  Welch  ein  unnatürlicher  und  unsittlicher  Zustand  ist  das!  Wie 
krank  muß  die  Gesellschaft  sein,  in  der  er  herrscht!  Während  die  überge- 
ordneten Schichten  die  ,, Emanzipation"  der  Untergeordneten  halb  freiwilüg, 
halb  gezviTingen  vollzogen,  versäumten  sie,  an  die  Stelle  des  alten  patriarcha- 
lischen Verhältnisses  ein  anderes  Herzensverhältnis  zu  setzen,  das  der  neuen 
beiderseitigen  Stellung  entsprach.  Entweder  kehrten  sie  auch  weiterhin  den 
Herrn  heraus,  behandelten  also  ihre  Untergebenen  und  Angestellten  als  Leib- 
eigene, als  ,, Kinder",  wie  die  Griechen  ihre  Sklaven  nannten;  oder  sie  be- 
schränkten sich  auf  den  rein  geschäftlichen  Verkehr,  behandelten  ihre  An- 
gestellten als  ,, Arbeitskräfte",  deren  Wohl  und  Wehe,  Denken  und  Fühlen 
ihnen  vollkommen  gleichgültig  war.  An  dieser  Entfremdung  der  Stände  sind 
natürlich  die  arbeitnehmenden  Schichten  mitschuldig;  sie  wußten  sich  der 
eingeräumten  Rechte  und  Vergünstigungen  nicht  mit  richtiger  Selbstbeur- 
teilung zu  bedienen  und  kehrten  sich  brüsk  gegen  ihre  Arbeitgeber,  ohne  auf 
das  Wohl  der  Gesamtheit  Rücksicht  zu  nehmen,  der  sie  doch  nun  als  voll- 
gültige Mitglieder  angehören.  Ich  frage  aber:  wer  hat  die  Arbeiter  gelehrt, 
ihre  neuen  Pflichten  gegen  die  Gesellschaft  zu  begreifen  und  zu  erfüllen? 
Wer  ist  ihnen  mit  herzlicher  Kameradschaftlichkeit  entgegengekommen  und 
hat  ihnen  die  Bruderhand  geboten?  Kann  man  von  den  kaum  befreiten 
Schichten  verlangen,  daß  sie  sich  ohne  Unterstützung  der  Führenden,  die 
sich  doch  bisher  allein  im  Besitze  der  Kulturschätze  befunden  haben,  in  all 
das  Neue  und  Ungewohnte  finden?  Können  sie  ohne  rehgiös-sittHche  Bil- 

283 


düng  zu  selbstverantwortlichen  Menschen,  ohne  Hilfe  der  geistig  und  wirt- 
schaftlich Führenden  zu  freudigen  und  verständigen  Staatsbürgern  heran- 
reifen? Niemand  wird  verkennen,  daß  durch  das  Volksschulwesen,  durch  den 
gemeinsamen  Militärdienst,  dm^ch  die  soziale  Gesetzgebung  und  die  Für- 
sorgebestrebungen viel  zur  Annäherung  und  Versöhnung  der  verschiedenen 
Volksschichten  getan  ist ;  aber  an  dem  Besten  und  Wichtigsten  läßt  man  es 
noch  immer  fehlen.  Die  Unternehmer,  Leiter  und  höheren  Angestellten  ver- 
säumen ihre  Erziehimgspflichten ;  entweder  sind  sie  selber  ohne  rehgiös-sitt- 
liche  Bildung  und  verdienen  die  Stellung  nicht,  die  sie  einnehmen;  oder  sie 
verschließen  sich  aus  Selbstsucht  oder  aus  kurzsichtigem  Unverstand  gegen 
das,  was  nottut.  Sie  wollen  nicht  sehen,  daß  ihre  und  aller  Zukunft  davon 
abhängt,  daß  das  kräftige  egoistische  Wirken  der  verschiedenen  Volksteile 
sich  zu  einem  \^'irken  für  und  mit  der  Gesamtheit  erweitert. 

Endlich  ist  noch  der  ärztliche  Beruf  zu  erwähnen.  Noch  näher  vielleicht 
als  der  Beruf  des  Lehrers  steht  der  des  Arztes  dem  priesterHch-seelsorge- 
rischen  Beruf.  Jedem  Denkenden  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  daß  der  Arzt 
für  die  sittliche  Bildung  seines  Volkes  sehr  viel  leisten  kann  und  leisten  muß. 
Wir  haben  in  dem  Kapitel  ,,Der  Priester  als  Arzt"  den  modernen  Ärzten 
bereits  den  \'orwm-f  gemacht,  daß  sie  es  mit  dieser  Pfhcht  zu  leicht  nehmen. 
Sie  sind  zu  wissenschafthchen  Fachmännern  geworden,  die  mit  kühler  Sach- 
hchkeit  die  einzelnen  Kranklieiten  und  Krankheitszustände  behandeln,  aber 
sich  um  die  Psyche  des  Kranken  nicht  im  geringsten  kümmern.  Am  ehesten 
findet  man  noch  unter  den  einfachen  Landärzten  solche,  die  auf  geräusch- 
lose Weise  auch  ihre  priesterlichen  Pflichten  zu  erfüllen  suchen  und  mitunter 
den  Namen  Seelsorger  in  weit  höherem  Maße  verdienen  als  der  geistliche 
Berufsseelsorger.  In  welchem  Verhältnis  steht  ein  Kranker  zu  seinem  Arzt  ? 
Normalerweise  hat  er  Vertrauen  zu  ihm,  er  fühlt  das  Bedürfnis,  ihm  auch 
die  seehschen  Nöte  und  Beschwerden,  unter  denen  er  leidet,  mitzuteilen  und 
seine  Ratschläge  zu  erbitten.  Der  Arzt  tritt  an  das  Bett  des  Kranken  und 
hilfsbedürftigen  Menschen  als  der  Starke,  Klare,  Überlegene;  er  gibt,  wenn 
nicht  durch  Zureden,  so  durch  seine  therapeutischen  Eingriffe  auch  dem 
Kranken  Klarheit  und  Festigkeit,  lehrt  ihn  andererseits  Geduld,  Stand- 
haftigkeit,  Nachgiebigkeit.  Er  merkt,  wo  die  Leute  der  Schuh  drückt ;  er  läßt 
sich  nichts  vormachen  wie  der  Pfarrer  nur  zu  oft  tut.  Hat  er  doch  durch  sein 
medizinisches  Studium  gelernt,  stets  den  Dingen  auf  den  Grund  zu  gehen 
und  sich  nicht  mit  schönen  Reden  und  unklaren  Halbheiten  zufriedenzu- 
geben. Die  Seelsorgetätigkeit  des  Pfarrers  besteht  leider  sehr  häufig  darin, 
die  Bedrängten  und  Hilfsbedürftigen  mit  ohnmächtigen  Trostworten  abzu- 
speisen und  die  wirkhche  Lage  der  Dinge  durch  Nebelerzeugung  zu  ver- 
schleiern. 

284 


Es  täte  aber  not,  daß  die  Ärzte  auf  diese  Seite  ihrer  Tätigkeit  vorbereitet 
würden  und  auf  der  Universität  neben  der  Leibesheilkunde  auch  die  Seelen- 
heükunde  und  Seelengeburtshilfe  erlernten.  Man  hört  oft  über  die  Roheit 
und  den  Zynismus  der  medizinischen  Studenten  und  der  Ärzte  klagen ;  nicht 
ohne  Grund;  aber  diese,  dem  Krankenfreund  und  Heiland  so  übel  anstehen- 
den Eigenschaften  sind  in  den  meisten  Fällen  Erzeugnisse  einer  falschen  und 
unzureichenden  Erziehung,  nicht  angeborene  Fehler.  Roheit  ist,  wenn  nicht 
eine  Entartungserscheinung,  so  der  Ausdruck  ungebildeter  Kraft ;  und  Zynis- 
mus ist  der  Ausdruck  rücksichtsloser  Wahrheitsliebe,  die  zum  Unglauben 
an  die  „Tugend"  und  zur  Angriffsstimmung  gegen  alle  scheinbare  oder  wirk- 
liche Heuchelei  geführt  hat.  Kraft  und  WahrheitsUebe  braucht  der  Arzt  un- 
bedingt ;  fänden  diese  beiden  großen  Dinge  die  rechte  Pflege,  so  würden  sich 
edle  Männhchkeit  und  rehgiöser  Heroismus  aus  ihnen  entwickeln.  Viele  rohe 
und  zynische  Mediziner  verbergen  ein  weiches  Gemüt  und  eine  schönheits- 
durstige Seele ;  sie  wagen  sich  damit  nicht  hervor,  weil  man  sie  nicht  gelehrt 
hat,  ihre  Gemütstiefe  und  Liebe  zur  Tugend  mit  dem  rücksichtslosen  Tat- 
wesen, das  ihr  Beruf  fordert,  zur  Einheit  zu  verbinden.  Sie  schämen  sich 
einfach,  priesterliche  Eigenschaften  bei  sich  zu  entdecken.  Durch  die  un- 
zureichenden und  sentimentalen  Berufsseelsorger  einerseits,  durch  die  zu 
Fachgelehrten  herabgesunkenen  Universitätslehrer  und  geistigen  Führer 
andererseits  sind  Begriff  und  Name  des  Priesters  und  Seelsorgers  in  Verruf 
gekommen,  sodaß  jedermann  sich  mögUchst  fern  davon  hält.  Rehgion  und 
Sittlichkeit  haben  einen  schwächlichen  und  weinerHchen  Beigeschmack  er- 
halten. Wie  verhängnisvoll  das  ist,  ein  wie  beschämendes  Zeichen  für  die 
Krankhaftigkeit  unserer  Kultur  und  die  Verwahrlosung  der  erziehungsbe- 
dürftigen Menschheit,  scheint  den  selbstgerechten  Leitern  und  Lehrern 
unseres  Volkes  noch  nicht  klar  geworden  zu  sein. 

Zur  Ehre  der  Ärzte  sei  es  gesagt,  daß  sie  selbständig  den  Weg  zur  priester- 
lichen Heilkunde  im  edelsten  Sinne  wiederzufinden  beginnen.  Ich  erwähnte 
schon  den  Aufschwung  der  Psychotherapie  und  nannte  die  Namen  Dubois 
und  Freud.  Sie  und  ihre  an  Zahl  zunehmenden  Gesinnungsverwandten  und 
Schüler  bekennen  sich  offen  als  Seelenärzte  und  treiben,  wenn  sie  zu  ihren 
Kranken  gehen,  regelrechte  Seelsorge.  Wir  müssen  auf  ihr  Verfahren  etwas 
näher  eingehen,  weil  es  die  Grundlage  für  die  seelsorgerische  Praxis  des  künf- 
tigen Priesters  abgibt.  Das  Verhältnis  des  künftigen  Priesters  zum  Arzt  wer- 
den wir  unten  darlegen,  wenn  wir  die  Tätigkeit  dieses  künftigen  Fachprie- 
sters schildern  und  sie  gegen  die  priesterliche  Tätigkeit  der  übrigen  lehrenden 
und  führenden  Berufe  abgrenzen,  die  wir  soeben  der  Reihe  nach  besprochen 
haben. 
Bei  Ereud  steht  die  Beichte,  bei  Dubois  die  Paränese  und  Überredung 

285 


im  Vordergrunde.  Das  sind  die  beiden  Hauptbestandteile  jeder  Seelsorge. 
Solange  sich  die  Priester  mit  der  Seelenfürsorge  für  ihre  Gemeinde  abgeben, 
haben  sie  entweder  auf  das  eine  oder  auf  das  andere  ihr  Hauptaugenmerk 
gerichtet :  sie  haben  ihre  geistlichen  Anvertrauten  zu  einem  Bekenntnis  ver- 
anlaßt und  haben  ihnen  zweitens  Ratschläge  erteilt,  haben  Mahnungen  und 
Aufforderungen  an  sie  gerichtet. 

Wir  reden  zunächst  von  der  Beichte.  Worin  liegt  der  Sinn  und  Wert  eines 
Selbstbekenntnisses,  wenn  dasselbe  zugleich  ein  Sündenbekenntnis  ist?  Ist 
die  Beichte  nm:  eine  Erfindung  der  Priester,  um  das  Volk  in  ihre  Gewalt  und 
alle  öffentHchen  und  geheimen  Angelegenheiten  unter  ihre  Aufsicht  zu  brin- 
gen? —  Nein,  die  Beichte  ist  älter  als  die  Priesterherrschaft  und  beruht  auf 
ursprünglichen  menschlichen  Bedürfnissen,  die  der  Priester  wohl  benutzt, 
aber  nicht  geschaffen  hat.  Jedem  Menschen  gewährt  es  Erleichterung,  sich 
aussprechen  zu  können.  Je  bedrückter  und  beladener  einer  ist,  um  so  größer 
ist  sein  Verlangen,  sich  in  Worten  und  Handlungen  (d.  h.  in  Gebärden,  mimi- 
schen Ausdrucksbewegungen,  durch  Lachen,  Weinen,  Schlagen,  Liebkosen 
usw.)  zu  entladen.  Wir  haben  es  hier  mit  den  Fällen  zu  tun,  wo  der  seelische 
Druck  diu^ch  solche  Vorstellungen,  Handlungen,  Erlebnisse  hervorgerufen 
worden  ist,  die  im  Widerspruch  zu  dem  idealen  Streben  des  Einzelnen  und 
der  ganzen  Gemeinschaft  stehen ;  mit  anderen  Worten :  wenn  der  Betreffende 
Sünden  begangen  oder  hat  begehen  sehen.  Unter  einer  ,, Sünde"  ist  psycho- 
logisch nichts  anderes  zu  verstehen  als  eine  Lebensäußerung,  die  sich  mit 
dem  höheren  Wollen  und  Denken  des  Täters  nicht  verträgt.  Wer  eine  Sünde 
begeht,  setzt  sich  mit  sich  selber  in  Widerspruch;  er  gibt  Regungen  nach, 
die  durch  andere  Regungen  mißbilligt  werden ;  dadurch  wird  die  innere  Ein- 
heit zerstört  und  eine  Seiunktion,  also  ein  Krankheitszustand  hervorgerufen. 
Es  ist  durchaus  keine  Sünde,  wenn  ich  etwas  tue  oder  unterlasse,  was  nur 
den  Idealen  anderer  Menschen,  nicht  meinen  eigenen  widerspricht;  ich  fühle 
mich  dann  auch  nicht  bedrückt  und  beichtbedürftig,  höchstens  bin  ich  um 
mein  Wohlergehen  besorgt,  wenn  diese  anderen  mächtig  und  mir  feindlich 
gesinnt  sind.  Jedoch  kommt  es  äußerst  selten  vor,  daß  das  sittliche  Gefühl 
imd  Urteil  eines  Menschen  völlig  unabhängig  von  den  Idealen  seines  engeren 
und  weiteren  Lebenskreises  ist.  Was  die  anderen  billigen  und  mißbiUigen, 
erzwingt  sich  auch  meine  Billigung  und  Mißbilligung,  mag  ich  mich  noch 
so  heftig  dagegen  wehren.  Daher  erwacht,  wenn  ich  im  Gegensatz  zu  der  sitt- 
lichen Wertung  der  Gemeinschaft  handle,  der  ich  angehöre,  das  ,,böse  Ge- 
wissen" in  mir.  Dies  böse  Gewissen  ist  immer  zugleich  die  Stimme  der  Gre- 
samtheit  und  meiner  eigenen  Brust. 

In  der  Beichte  hat  die  organisierte  Priesterschaft  eine  Entladungseinrich- 
tung für  den  Druck  des  bösen  Gewissens  geschaffen.  Der  Beichtvater  nimmt 

286 


im  Auftrage  und  in  der  Vertretung  Gottes  das  Geständnis  des  Sünders  in 
Empfang  und  erteilt  darauf  die  Absolution.  Theologisch  ist  die  Absolution 
eine  Neuaufnahme  des  abgefallenen  Bundesmitgliedes;  psychologisch  be- 
deutet sie:  daß  eine  Versöhnung  der  miteinander  zerfallenen  Kräfte  und 
Triebe  hervorgebracht,  der  entstandene  Riß  geheilt,  die  Seiunktion  aufge- 
hoben worden  ist.  Ein  so  erstaunliches  Ergebnis  kann  also  durch  ein  bloßes 
Bekenntnis  des  Beichtenden  und  eine  bloße  Rechtfertigungserklärung  und 
Segnung  von  Seiten  des  Beichtvaters  erzielt  werden ;  es  ist  das  eine  Tatsache, 
an  der  sich  nicht  rütteln  läßt.  Zur  Erklärung  des  psychologisch-sitthchen 
Beichterfolges  haben  die  Neurologen  Breuer  und  Freud  in  ihrem  Werke: 
,, Studien  über  Hysterie"  den  Weg  gezeigt.  Wir  können  hier  nur  die  folgenden 
Angaben  darüber  machen. 

Die  Beichte  hat  sich  als  ein  Heilmittel  gegen  die  Hysterie  und  verwandte 
Krankheiten  erwiesen.  Das  ist  nur  möglich,  wenn  diese  Krankheiten  ,, Folgen 
der  Sünde"  sind,  d.  h.  wenn  sie  durch  Konflikte  des  Menschen  mit  sich 
selber  und  mit  der  Gemeinde  hervorgerufen  oder  wenigstens  unterstützt  und 
großgezogen  worden  sind.  Das  menschliche  Leben  bringt  uns  fortwährend 
in  solche  Konfhkte;  das,  was  wir  Kultur  nennen,  baut  sich  auf  der  Über- 
vvindung  der  Konflikte,  auf  dem  Siege  höherer  Triebe  über  niedere  auf.  Was 
wird  aus  den  besiegten  Trieben,  aus  den  unterlegenen  Neigungen  und  Ge- 
fühlsrichtungen? Im  günstigsten  Falle  gelingt  es,  sie  in  den  Dienst  der 
höheren  zu  stellen  und  ein  harmonisches  Zusammenwirken  aller  Kräfte  zu 
erzielen.  Damit  ist  die  von  den  Priestern  gepriesene  ,, Einheit  mit  Gott", 
die  ,, Vollkommenheit"  erreicht;  die  Freimaurer  würden  sagen:  die  ,, Meister- 
schaft in  der  königlichen  Kunst".  Gelingt  das  nicht  —  und  es  gehngt  auch 
den  Stärksten  und  Glückhchsten  nur  zeitweilig  — ,  so  sind  die  Bedingungen 
für  das  Entstehen  der  Sünde  und  der  nervös-psychischen  Krankheiten  ge- 
geben. Die  Sünde  erscheint,  wenn  die  zu  bändigenden  Triebe  sich  freimachen 
und  den  ganzen  Menschen  zeitweilig  in  Dienst  nehmen;  die  Krankheit  tritt 
ein,  wenn  die  Triebe  eine  abnorme  Befreiung  in  körperlichen  und  seeHschen 
Krankheitssymptomen  suchen.  Die  zu  Krankheitssymptomen  gewordenen 
Triebentladungen  sind:  Schmerzen  allerart,  unangenehme  oder  lustvolle 
Empfindungen  ohne  erkennbare  Ursache,  Lähmungen,  Anfälle,  Zwangser- 
scheinungen, Phantasien,  Halluzinationen  usw.  Das  alles  sind  Blitzableiter, 
sind  unnatürhche  Mittel,  innere  Spannungen  zu  lösen,  die  sich  infolge  gei- 
stiger und  sittlicher  Hemmungen  nicht  normal  entladen  können. 

Je  nach  der  sittlichen  Kraft,  über  die  ein  Mensch  verfügt  und  je  nach  den 
Verhältnissen,  die  ihn  in  Konfhkte  hineintreiben,  verfällt  also  der  Mensch 
entweder  der  Schuld  oder  der  Krankheit ;  oft  wird  er  beides :  schiddig  und 
krank,  denn  die  Grenze  ist,  wie  man  sieht,  fließend.  —  Wie  sucht  der 

287 


Mensch  Erlösung  von  der  Schuld  und  der  Krankheit  ?  Von  der  Schuld  befreit 
ihn  das  Erkennen  und  Bekennen  derselben  ( —  daß  damit  noch  keine  aus- 
reichende Befreiung  erzielt  wird,  werden  wir  unten  erfahren  — );  wie  aber 
kommt  er  von  der  Krankheit  los?  Der  Kranke  weiß  doch  nicht,  daß  seine 
Krankheit  durch  unbefriedigte  und  abgelenkte  Triebe  hervorgerufen  ist,  und 
wenn  man  ihm  das  glaublich  macht,  weiß  er  nicht,  wde  gerade  in  seinem  Falle 
die  Umformung  und  abnorme  Entladung  zustande  gekommen  ist.  Hier 
setzen  Breuer  und  Freud  ein  und  erklären:  der  Arzt  muß  den  Kranken 
zum  Be^^'ußtsein  dieses  Sachverhaltes  bringen;  er  muß  gemeinsam  mit  dem 
Kranken  die  seelischen  Konflikte,  die  durch  die  Krankheitss\TTiptome  zu 
einer  Scheinlösung  gelangt  sind,  zu  ihrem  Ursprung  zurückverfolgen,  muß 
also  den  Kranken  zu  einer  Beichte  über  Regungen  und  Erlebnisse  bringen, 
die  von  diesem  selber  vergessen  sind,  d.  h.  die  sein  höheres  Ich  aus  dem  Be- 
wußtsein verdrängt  und  dadurch  zum  Abfließen  in  abnorme  Bahnen  ge- 
nötigt hat.  Kurz,  Freuds  psychoanalytisches  Verfahren  läuft  auf  eine 
Beichte  nicht  begangener  und  nicht  bewußter  Sünden  hinaus,  die  trotzdem 
den  Menschen  belasten  und  zum  freien  starken  Leben  untüchtig  machen. 

Wenn  man  über  dies  zunächst  befremdende  und  selbst  ungereimt  erschei- 
nende Heilverfahren  nachdenkt,  bemerkt  man,  daß  auch  in  der  religiös- 
sitthchen  Beichte,  %vie  sie  die  bisherigen  Priester  handhaben,  nicht  bloß  be- 
stimmte und  bewußte  Verfehlungen  gebeichtet  werden,  sondern  daß  zugleich 
immer  eine  Entladung  vom  Drucke  unbewußter  und  nicht  begangener  Sün- 
den stattfindet.  Niemand  kann  ein  einzelnes  Vergehen  bekennen  —  , .be- 
kennen" mit  dem  Zugeständnis,  unrecht  getan  zu  haben,  und  dem  Vorsatze, 
hinfort  nicht  mehr  zu  sündigen  — ,  ohne  daß  sich  die  latenten  Spannungen 
mit  entladen  und  die  ungekannten  Quälgeister  mit  ausfahren.  Jedes  Be- 
kenntnis, wenn  es  ganz  aufrichtig  ist,  entsühnt  ge\\'issermaßen  den  ganzen 
Menschen.  Er  erlebt  eine  allgemeine  Befreiung,  wird  stärker,  einheitUcher, 
\ollkommener.  Wir  hatten  schon  früher  gesehen,  daß  das  rehgiöse  Erlösungs- 
bedürfnis nicht  so  sehr  aus  dem  Bewnißtsein  entspringt,  bestimmte  Verfeh- 
limgen  begangen  zu  haben,  als  aus  einem  unbestimmten  Schuldgefühl  über- 
haupt. Im  Zustande  des  reHgiösen  Heilsverlangens  fühlt  sich  der  ganze 
Mensch  unbefriedigt  und  bedrückt;  er  hat  Angst  vor  allem,  vor  dem  Leben, 
vor  der  Zukunft,  vor  sich  selber.  Die  Angst  ist  eine  Haupttriebfeder  zum 
Beichten;  die  Angst  ist  andererseits  eines  der  dankbarsten  Gebiete  für  die 
psychoanalytische  Krankenbehandlung  (vgl.  Stekel:  Nervöse  Angstzu- 
stände). 

Nachdem  wir  soviel  zur  Rechtfertigung  der  Beichte  und  zur  Erklänmg  der 
angeblichen  und  wirklichen  Beichterfolge  in  der  Rehgion  imd  der  Medizin 
gesagt  haben,  müssen  wir  nun  auch  auf  die  Einwände  hören,  die  mit  Recht 

288 


gegen  das  Beichtwesen  gemacht  worden  sind  und  die  seit  RehabiHtiening 
des  Beichtwesens  durch  die  Neurologen  doppelt  aufmerksame  Prüfung  ver- 
dienen. Das  Ergebnis  des  Für  und  Wider  wird  meiner  Überzeugung  nach 
sein,  daß  die  Beichte  in  dem  künftigen  Religionsbetriebe  —  und  ähnlich  auch 
in  dem  künftigen  Heilverfahren  —  eine  nicht  unwichtige,  aber  keineswegs 
eine  beherrschende  Stelle  einnehmen  wird.  Das  Beichten  zur  Pflicht  zu  er- 
heben, ist  verwerflich.  Schon  die  Regelung  und  gleichsam  amtliche  Ent- 
gegennahme durch  beauftragte  Beichtväter  ist  äußerst  bedenkhch. 

Wer  hat  das  stärkste  Bedürfnis,  zu  beichten?  Die  Schwachen  und  Unter- 
liegenden, die  Zweifelnden  und  Verzweifelnden,  die  mit  ihrem  Leben  nicht 
fertig  zu  werden  vermögen.  Diese  Menschen  aber,  so  hat  Nietzsche  gemeint, 
solle  man  ihrem  Schicksal  überlassen  und  nicht  durch  religiöse  Vorrich- 
tungen künstlich  am  Leben  erhalten:  wer  nicht  aus  eigener  Kraft  stehen 
könne,  möge  fallen,  und  was  fällt,  solle  man  noch  stoßen.  —  In  der  Tat 
drängen  sich  zur  Beichte  mit  Vorliebe  die  Unheilbären,  die  dauernd  Schwa- 
chen, die  sich  schmarotzerhaft  an  die  Stärkeren  anlehnen  wollen.  An  die 
Seelsorger  imd  Heilande  wenden  sich  stets  die  verlorenen  Existenzen;  durch 
häufiges  und  immer  häufigeres  Beichten  wollen  sie  ihre  Lebensunfähigkeit  vor 
sich  und  anderen  verschleiern;  ohne  Scham  decken  sie  immer  von  neuem 
ihre  Jämmerhchkeit  auf  und  schreien  nach  Erlösung,  die  ihnen  doch  niemals 
zuteil  werden  kann.  Die  meisten  religiösen  Führer,  die  mütterlich  hebe  vollen 
Naturen  beiderlei  Geschlechts  haben  von  jeher  einen  viel  zu  großen  Teil 
ihrer  Kraft  und  Zeit  an  diese  heillosen  Schwächlinge  verloren,  haben  sich 
durch  die  Aufrichtigkeit  ihrer  Reue  täuschen,  durch  die  Schrankenlosigkeit 
ihrer  Hingabe  rühren  lassen.  So  ist  die  Mahnung  an  die  Beichtväter  und 
Erzieher  wohl  berechtigt:  seid  hart  und  verschwendet  euch  nicht  an  die 
Unheilbaren!  Spart  euch  für  die  Heilbaren  auf  und  lehrt  sie  ihre  eigenen 
Kräfte  zu  gebrauchen !  Seht  zu,  daß  ihr  euch  möglichst  entbelirlich  und  über- 
flüssig macht ! 

Hieraus  hat  man  den  weiteren  Schluß  gezogen,  daß  das  Beichtbedürfnis 
nicht  geweckt,  sondern  im  Gegenteil  zurückgedrängt  werden  müsse.  Ge- 
ständnisse haben  keinen  Wert  —  so  denkt  der  größere  Teil  der  Protestanten 
und  der  Freidenker  — ;  die  Sünden  werden  nicht  durch  Beichte  und  Abso- 
lution, sondern  durch  Änderung  der  Sinnesweise  vergeben.  Das  ist  natürhch 
ganz  richtig;  die  Art  wie  manche  sehr  fromme  Katholiken  beichten  und 
manche  sehr  fromme  Beichtväter  die  Beichten  in  Empfang  nehmen,  ist  ein 
Hohn  auf  jede  wahre  Seelsorge.  Es  wird  dadurch  die  rehgiöse  Unselbständig- 
keit und  die  sittHche  Unzurechmmgsfähigkeit  aus  dem  Kindesalter  künst- 
lich forterhalten  und  die  Entwicklung  eines  charaktervollen  Verantwortimgs- 
gefühls  unmöglich  gemacht.  Indessen  irrt  man,  wenn  man  dem  Bekenntnis 

19  Horneffer,  Der  Priester  II  2oQ 


als  solchen  den  sittlichen  Wert  abspricht  und  das  Verlangen  danach  für  ein 
übles  Anzeichen  von  Charakterschwäche  hält.  Nicht  nur  wertlose  Menschen, 
sondern  gerade  die  wertvollsten  und  reichsten  Naturen  kommen  in  Lagen, 
wo  sie  dem  Leben  ratlos  gegenüberstehen  und  sich  nicht  ohne  seelsorgerische 
Hilfe  herausfinden.  Sie  wollen  und  müssen  beichten;  die  Konflikte  quälen 
sie  derart,  daß  sie  unbedingt  Entladung  in  einem  Geständnis  brauchen. 
Finden  sie  keinen  würdigen  Freund  und  Beichtvater,  so  eröffnen  sie  sich 
einem  Beliebigen,  der  ihnen  in  den  Weg  kommt  und  Interesse  genug  hat, 
ihre  unaufhaltsam  hervorquellenden  Bekenn  Inisströme  entgegenzunehmen. 
Obwohl  diese  Beichtbedürftigen  mehr  zu  sich  selber  als  zu  ihrem  Zuhörer 
sprechen,  gewährt  ihnen  die  Beichte  ohne  Zuhörer  doch  keine  Erleichterung. 
Nach  protestantischer  Lehre  soll  Gott  der  ständige  und  einzige  Zuhörer  des 
beichtenden  ^Menschen  sein  und  mancher  Gottgläubige  besitzt  ohne  Zweifel 
genügend  halluzinatorische  Phantasie,  um  sich  durch  ein  Bekenntnis  vor 
dem  unsichtbaren  Gott  erleichtert  zu  fühlen.  Aber  das  gilt  nicht  für  alle; 
die  Zahl  dieser  Gottgläubigen  ninunt  überdies  immer  mehr  ab;  der  prote- 
stantische Gott  weicht  in  immer  größere  Fernen  zurück  und  läßt  die  bela- 
denen  Menschen  immer  mehr  allein.  Das  Bedürfnis  nach  würdigen  Seel- 
sorgern, die  den  Bedrängten  einen  Teil  ihrer  Last  abnehmen  und  ihnen  die 
^^'ohltat,  sich  auszusprechen,  verschaffen,  wächst  daher. 

Zumal  die  Jugend  in  den  Entwicklungsjahren,  vom  fünfzehnten  bis  etwa 
zum  fünfundzwanzigsten  Jahre  wird  in  Konflikte  geführt,  mit  denen  sie  nicht 
allein  fertig  werden  kann.  Man  weiß,  wie  groß  das  Anlehnungsbedürfnis,  ge- 
mischt mit  Selbständigkeitsbedürfnis,  in  diesem  Alter  ist  und  wie  leicht  die 
jugendliche  Vertrauensseligkeit  in  die  Irre  geht.  Das  erwachende  Triebleben 
und  die  äußeren  Erfahrungen  und  Anforderungen  zu  bewältigen,  fällt  gerade 
den  ungewöhnlich  Begabten  sehr  schwer.  Niederlagen  sind  unvermeidhch, 
daher  macht  sich  das  zwingende  Bedürfnis  nach  Bekenntnis  und  seelsorge- 
rischer Hilfe  geltend.  SoU  doch  der  Nachwuchs  in  diesen  Jahren  in  den  Bund 
der  Erwachsenen  eingeführt,  mit  den  Zielen  der  Gemeinschaft  vertraut  ge- 
macht werden.  Wenn  wir  sehen,  wie  leichtsinnig  und  oberflächhch  heutzu- 
tage die  Seelsorge  an  unserer  Jugend  gehandhabt  wird,  so  müssen  wir  aller- 
dings annehmen,  daß  die  Erzieher  und  Seelsorger  kaum  eine  Ahnung  davon 
haben,  was  hier  auf  dem  Spiele  steht  und  wie  der  immer  mehr  um  sich  grei- 
fenden Verwahrlosung  unserer  Jugend  —  ich  denke  z.  B.  an  die  geschlecht- 
lichen Verimingen,  an  den  zunehmenden  Mangel  an  Ehrfurcht  vor  Lehrern, 
Eltern,  Traditionen,  ferner  an  die  Schülerselbstmorde  —  gesteuert  werden 
muß.  Das  erste,  was  die  Jugend  von  ihren  seelsorgerischen  Führern  verlangt, 
ist  Klarheit  über  sich  selber.  Der  jugendliche  Mensch  will  sein  Ich  verstehen 
lernen,  will  wissen,    was   die   unklaren  Wünsche   und   widersprechenden 

290 


Regungen,  die  er  fühlt,  bedeuten  und  wie  er  ihnen  begegnen  kann.  Daher 
verlangt  er,  daß  der  Lehrer  seine  Zweifel  und  Bekenntnisse  anhört,  ihn  zum 
Bekennen  anregt  und  ihm  mit  aller  psychoanalytischen  Kunst  auch  über 
die  Sünden,  die  er  nicht  oder  unbewußt  begangen  hat,  Klarheit  verschafft. 
Wenn  die  Lehrer,  wie  es  heute  sehr  oft  der  Fall  ist,  das  versäumen  und  sich 
über  ihre  seelsorgerischen  Pflichten  auch  fernerhin  hinwegsetzen,  so  wird  die 
Zahl  der  Mißratenen,  \'erirrten.  Unglücklichen,  deren  unsere  Kultur  schon 
zu  viele  hat,  immer  mehr  anwachsen.  Ich  behaupte  sogar,  daß  fast  alle  Men- 
schen der  Gegenwart  in  ihrem  sitthchen  Leben  Spuren  erkennen  lassen,  daß 
es  ihnen  in  der  Ent^\^cklungszeit  an  Seelsorge  gefehlt  hat.  Haus  und  Schule 
haben  beide  gleichviel  Schuld.  Für  die  Schule  hat  natürlich  die  Ausübung 
der  persönhchen  Seelsorge  viele  Schwierigkeiten,  weil  die  Zahl  der  Lehrer 
viel  zu  klein  ist.  Die  Lehrer  können  kaum  den  Unterricht  bewältigen  und 
müssen  sich  oft  mit  der  unpersönhchen  Seelsorge  begnügen.  Ich  verstehe 
darunter  die  offene,  ernste,  rehgiös-pädagogische  Erörterung  der  tiefsten 
Lebensfragen  vor  der  Klasse.  Je  älter  die  Schüler  werden,  um  so  nötiger  und 
segenbringender  ist  es,  sich  mit  ihnen  über  die  sexuellen,  die  sozialen  und 
poHtischen,  die  sittlichen  und  rehgiösen  Probleme  auszusprechen.  Auf  den 
Hochschulen  imd  Volkshochschulen  müßte  das  in  ausgiebiger  Weise  ge- 
schehen. Unzähligen  Jünglingen  würden  dadurch  aufreibende  Kämpfe  er- 
spart und  Wege  zur  schönen  und  nutzbringenden  Betätigung  ihrer  über- 
schäumenden Kräfte  gewiesen  werden. 

Ich  glaube  aber,  daß  bei  gutem  WiUen  auch  Gelegenheit  zu  persönlicher 
Seelsorge  geschaffen  werden  könnte.  Es  muß  einfach  gehen,  daß  die  erwach- 
sene Jugend  mit  ihren  Lehrern  persönhchen,  Vertrauen  heischenden  und 
weckenden  Verkehr  pflegt.  Soweit  die  Fach-  und  Berufslehrer  nicht  Zeit  und 
Kraft  dazu  haben,  müssen  die  vielen  ]\Iänner  und  Frauen,  die  pädagogisch 
nicht  in  Anspruch  genommen  und  durch  den  Lebenskampf  nicht  bedrängt 
werden,  in  die  Lücke  treten.  Ist  es  nicht  eine  Schmach,  daß  es  in  unserer  Zeit 
eine  Unmenge  pfhchtenloser  und  ihr  Leben  verschwendender  Männer  und 
Frauen  gibt,  während  auf  der  anderen  Seite  unsere  Jugend  darben  muß  und 
vergebens  nach  Umgang  mit  reifen  ]\IitgHedem  der  Kultur  und  nach  mensch- 
hcher  Führung  und  Beeinflussung  ruft?  Die  Junggesellen  und  Jungfrauen 
der  bemittelteren  Stände,  die  in  früheren  Zeiten  als  Priester  und  Priesterinnen, 
als  Väter  und  Mütter  der  gesamten  Jugend  und  aller  HiLfs-  und  Fürsorge- 
bedürftigen unter  den  Erwachsenen  tätig  waren,  sind  heute  zu  entarteten 
Geuüßlingen,  zu  nichtstuerischen  Egoisten,  bestenfalls  zu  gleichmütigen  Be- 
ruf smenschen  geworden;  das  halte  ich  für  eine  Hauptursache  des  heutigen 
sitthch-sozialen  Elends  und  für  ein  Hauptsymptom  der  lebensgefährlichen 
Kulturkrise,  die  Europa  gegenwärtig  durchmacht. 

19'  291 


Wer  das  vorliegende  Buch  aufmerksam  gelesen  hat,  muß  mir  recht  geben. 
Die  Geschichte  des  Priestertums  lehrt  uns,  daß  die  Erzieher  und  Seelsorger 
fast  immer  aus  der  Zahl  der  Ehelosen,  Kinderlosen,  Pflichtenlosen,  also  der 
Freien  und  Allzufreien  entnommen  worden  sind.  Während  die  Verheirateten 
für  ihre  Kinder,  die  in  bestimmte  Pflichten  Eingespannten  für  ihren  kleinen 
Lebenskreis  sorgen  und  schaffen,  widmen  sich  die  Junggesellen  und  Jung- 
frauen der  Jugend,  der  Allgemeinheit,  —  widmen  sich  Gott.  Welche  natürliche 
Logik  und  weise  Ökonomie  liegt  in  dieser  Verteilung  der  Aufgaben !  —  Wie 
beschämend,  wenn  wir  damit  die  unökonomischen  und  unsittlichen  Zustände 
in  der  heutigen  Kulturwelt  vergleichen!  Kennt  man  sie  nicht,  die  reisenden, 
malenden,  sich  unaufhörlich  bildenden,  die  Sanatorien  bevölkernden  Damen  ? 
Sie  leben  ein  egoistisches  Drohnenleben  und  fühlen  sich  dabei  so  unbefrie- 
digt, daß  irgendeine  interessante  Krankheit  schließlich  ihre  Rettung  und 
lebenausfüllende  Beschäftigung  wird.  Kennt  man  sie  nicht,  die  stickenden 
und  musizierenden,  Briefe  schreibenden  und  sich  langweilenden  ,, Haus- 
töchter", die  auf  den  rettenden  Mann  warten  und  durch  ihr  angeblich  Kräfte 
sparendes  und  sammelndes  Leben  nur  immer  ärmer  werden  ?  Kennt  man  sie 
nicht,  die  Junggesellen,  die  neben  ihrem  Amt  nur  egoistische  Beschäftigun- 
gen imd  Vergnügungen  kennen:  Sport,  Varietekunst,  Wirtshausleben,  Rei- 
sen, wechselnde  Liebesverhältnisse?  Sie  heiraten  nicht,  weil  sie  sich  nicht 
binden  und  auf  den  persönlichen  Verbrauch  ihres  Einkommens  nicht  ver- 
zichten wollen.  Nur  keine  Sorgen  und  Pfhchten  menschhcher  und  sittlich- 
pädagogischer Art !  Das  ist  das  tägliche  Gebet  dieser  entarteten  Typen,  die 
sich  heute  ihrer  ,, Lebensphilosophie"  gar  noch  rühmen  dürfen,  ohne  von  der 
allgemeinen  Verachtung  getroffen  zu  werden. 

Es  ist  ein  Unglück,  daß  die  grundsätzliche  Verschiedenheit  der  Lebens- 
pflichten Verheirateter  und  Unverheirateter  heute  absichtlich  verwischt 
wird.  Man  muß  zu  den  Landleuten  und  zu  den  Naturvölkern  gehen,  um  dcis 
rechte  und  vernünftige  Verhältnis  kennen  zu  lernen.  Vielfach  bildeten  und 
bilden  die  Ehelosen  eine  besondere  Klasse  und  wohnen  zusammen  in  einem 
Junggesellenhaus.  Wenn  sie  dann  nicht  in  den  Stand  der  Verehelichten  hin- 
übertreten, rücken  sie  in  priesterliche  Stellungen  ein;  sie  werden  Lehrer, 
Ordensleute,  Nonnen,  Krankenpfleger  usw.  Diejenigen,  die  zu  schwach  und 
zu  abnorm  sind,  um  tatkräftig  für  die  Allgemeinheit  zu  arbeiten,  werden 
wenigstens  Einsiedler,  ekstatische  Beter,  \'orbilder  in  religiöser  Askese  und 
Rauscherhöhung.  Heute  tut  alle  Welt  so,  als  ob  es  keinen  Unterschied  mache, 
daß  der  eine  neben  einem  öffentlichen  Beruf  noch  den  eines  Famihenvaters 
hat,  der  andere  alle  Familienpfhchten  von  sich  fernhält,  die  eine  als  Gattin 
und  Mutter  wertvolle,  die  ganze  weibhche  Kraft  anspannende  Dienste  tut, 
die  andere  ihre  Zeit  mit  Tand  und  Gefühlskultus  verbringt.  Die  ehelosen 

292 


Frauen  haben  neuerdings  begonnen,  sich  aus  ihrer  unwürdigen  Lage  zu  be- 
freien und  ein  neues  Frauenideal  aufzustellen.  Leider  haben  gerade  diese 
Bestrebungen  die  Verwirrung  teilweise  noch  vergrößert,  weil  sie  zu  viel 
Widersprechendes  in  sich  bergen.  Doch  muß  mit  Freude  anerkannt  werden, 
daß  in  der  sogenannten  Frauenbewegung  kräftige  religiöse  Instinkte  wirk- 
sam sind,  und  daß  das  Verlangen  der  tüchtigsten  unter  den  revoltierenden 
oder  reformierenden  Frauen  sich  genau  auf  das  richtet,  was  ich  zum  Zwecke 
der  rehgiös-sitthchen  Gesundung  unserer  Kultur  fordere :  Verwendung  aller 
nicht  genügend  Ausgefüllten,  zumal  also  der  Ehelosen,  für  die  Erziehung, 
die  Seelsorge,  die  Heil-  und  Pflegetätigkeit. 

Die  Ausdehnung  des  Fortbildungsschulwesens,  die  Verbesserung  der  Für- 
sorge- und  Heilanstalten,  das  allmähhche  Festwurzeln  des  Volkshochschul- 
gedankens, die  Gründung  des  deutschen  Jugendverbandes  und  anderer 
Bünde  zur  Sammlung  und  Förderung  der  erwachsenen  Jugend  beider  Ge- 
schlechter und  aller  Stände  und  Bildungsgrade,  —  das  alles  läßt  erkennen, 
daß  das  Verständnis  für  die  seelsorgerischen  Aufgaben,  die  so  furchtbar  ver- 
nachlässigt worden  sind,  im  Wachsen  begriffen  ist.  Und  es  wird  si  h  ganz  von 
selber  ergeben,  daß  Ehelose,  Verwitwete,  Kinderlose,  überhaupt  alle,  die 
nicht  mit  festen  Banden  in  einem  geschlossenen  PfHchtenkreise  gehalten 
werden,  den  großen  Bedarf  an  Lehrern  und  führenden  Freunden  werden 
decken  müssen.  Der  widerwärtige  Junggesellenegoismus  wird  einer  Erneue- 
rung der  priesterlichen  Junggesellentugenden  Platz  machen  und  man  wird 
aufhören,  mit  der  ,, alten  Jungfer"  und  ihrem  männhchen  Genossen  als  mit 
lächerlich-unnützen  Menschentypen  Spott  zu  treiben.  Die  Ehelosen  werden 
wieder  zum  Segen  werden,  wie  in  früheren  Zeiten ;  man  wird  ihnen  begegnen, 
wie  der  fromme  Kathohk  den  lehrenden.  Kranke  pflegenden,  Seelsorge  trei- 
benden priesterlichen  Personen  beiderlei  Geschlechts. 

Die  Seelsorge  darf  sich  nicht  auf  die  Jugend  beschränken ;  auch  in  späteren 
Lebensjahren  kommt  mancher  tüchtige  und  wertvolle  Mensch  in  die  Lage, 
Rat  und  Hilfe  zu  brauchen.  Wo  findet  er  heutzutage,  was  er  verlangt  ?  Zum 
Berufspriester  will  er  nicht  gehen  und  wenn  er  es  tut,  muß  er  in  den  meisten 
Fällen  erfahren,  daß  ihm  dort  nicht  geholfen  werden  kann.  Wie  viele  Pasto- 
ren gibt  es,  die  den  ratsuchenden  Unglücklichen  nur  das  eine  zu  sagen 
wissen:  ,, Beten  Sie  und  nehmen  Sie  an  Frömmigkeit  zu!  Dann  wird  Gott 
Ihnen  gewiß  helfen!"  Hinter  einer  solchen  Auskunft  verbirgt  sich  völlige 
seelsorgerische  Unfähigkeit;  ein  Pfarrer,  der  die  Leute  mit  solchen  Reden 
abspeist,  ist  zwar  ein  treuer  Diener  seiner  Kirche  und  des  christlichen  Gottes ; 
aber  er  ist  der  Aufgabe,  die  das  Priesteramt  über  mündige  Menschen  stellt, 
in  keiner  Weise  gewachsen.  Er  treibt  die  Wackeren  und  Lebensvollen  zum 
Abfall  von  der  bisherigen  rehgiösen  Gemeinschaft  und  fördert  einesteils  den 

293 


Anarchismus,  anderenteils  die  neue  Gemeinschaftsbildung.  Denn  das  ist 
doch  wohl  klar,  daß  fruchtbare  Seelsorge  an  Erwachsenen  nur  von  und  in 
einer  religiös-sitthchen  Organisation,  von  und  in  einem  Bunde  getrieben  wer- 
den kann.  Als  die  christliche  Kirche  noch  stark  und  gesund  war  und  die 
Einzelgemeinde  alle  ihre  Mitglieder  zu  einer  eng  verbundenen  Familie  zu- 
sammenschloß, konnte  die  Seelsorge  überhaupt  nicht  zum  Problem  werden : 
es  verstand  sich  von  selber,  daß  man  dem  Bedrängten  beistand  und  dieser 
sich  auch  in  den  ärgsten  Stürmen  sicher  und  geborgen  fühlte.  Man  hatte  Ver- 
trauen zueinander  und  zu  den  Führern.  Das  ist  heute  anders  geworden;  der 
kirchliche  Bund  schheßt  nur  noch  einen  verhältnismäßig  kleinen  Teil  des 
Volkes  zu  einer  festen  Schutzgenossenschaft  aneinander;  das  gegenseitige 
Vertrauen  fehlt.  Auch  sind  die  Gemeinden  viel  zu  zahlreich  geworden;  die 
iMitgheder  kennen  einander  kaum ;  \^de  sollten  sie  einander  mit  dem  brüder- 
lichen oder  väterlichen  Sinne  zu  Hilfe  kommen,  vAe  es  das  ursprüngliche 
Christentum  verlangte  und  wie  es  jeder  religiöse  Bund  von  seinen  Mitgliedern 
verlangen  muß! 

Man  sieht,  daß  ich  die  seelsorgerische  Tätigkeit  nicht  dem  priesterhchen 
Führer  allein  vorbehalten  sehen  möchte.  Jeder  seelisch  Gesunde  und  religiös 
Gefestigte  ist  berechtigt  und  verpflichtet,  den  schwächeren  und  beladeneren 
Brüdern  und  Schwestern  zur  Seite  zu  stehen,  ihrem  Bekenntnisverlangen 
entgegenzukommen  und  ihre  Schuld  auf  sich  zu  nehmen,  d.  h.  das  Schuld- 
und  Mangelgefühl  kraft  seines  ausgleichenden  Freiheits-  und  Glücksgefühls 
aufzuheben.  Das  \\iderspricht  allerdings  dem  christlichen  Seelsorgebegriff. 
Der  Christ  erkennt  im  Grunde  nur  Gott  als  Seelsorger  und  Beichtvater  an. 
Der  Priester  ist  nur  Ohr,  nur  Vermittler.  Daher  kann  nur  der  Geweihte, 
von  Gott  zum  priesterlichen  Mittleramt  Berufene  Beichten  in  Empfang 
nehmen,  Absolution  erteilen  und  auf  andere  Weise  seelsorgerisch  tätig  sein. 
Diese  Auffassung  ist  teilweise  schon  durch  Luther  beseitigt  worden ;  Luther 
sagte:  es  gäbe  gar  keine  ,, Geweihten",  keine  ,, Mittler"  in  dem  bisherigen 
christHchen  Sinne.  Daraus  schloß  er,  daß  das  Institut  der  Ohrenbeichte  un- 
haltbar sei  und  der  Priester  nur  als  Laie  unter  Laien  Seelsorge  treiben  könne. 
Darin  folgen  wir  Luther ;  nur  kann  uns  die  Beichte  vor  Gott  nicht  mehr  ge- 
nügen, daher  verlangen  wir  weit  mehr  als  die  orthodoxen  Protestanten,  daß 
die  Priester  Vertrauens-  und  verehrungsuürdige  Persönlichkeiten  sind,  denen 
die  seelsorgerischen  Fähigkeiten  in  möglichst  hohem  Maße  zu  eigen  sind.  Es 
fehlt  an  Menschen,  denen  ein  modemer  Seelsorgebedürf  tiger  das  sagen  möchte, 
was  der  Katholik  dem  geweihten  Priester,  der  Protestant  seinem  Herrgott  sagt. 
Es  fehlt  an  keuschen  und  edlen  Charakteren,  denen  Kraft  und  Liebe  so  be- 
zwingend aus  den  Augen  leuchten,  daß  sich  dem  Bedrängten  unwiderstehlich 
das  Herz  öffnet,  daß  er  eine  unbezwingüche  Sehnsucht  empfindet,  vor  einer 

294 


solchen  Persönlichkeit  nackt  und  bloß  dazustehen,  alle  Leiden  und  Verfeh- 
lungen auf  den  Starken  abzuwälzen  und  seinen  befreienden  Segen  zu  empfan- 
gen. Es  ist  das  Schwerste  auf  Erden,  Absolution  erteilen  zu  können,  durch 
das  Anhören  und  Hinnehmen  von  Bekenntnissen  erlösen  und  stärken  zu 
können.  Der  milde  Heiland  der  Christen  konnte  es,  aber  freilich  nur  dadurch, 
daß  er  sich  und  seine  Beichtkinder  von  der  Welt  loslöste  und  in  die  Traum- 
und Jenseitswelt  des  ,, Reiches  Gottes"  hinüberlockte.  Wohl  nahm  er  die 
Sünden  der  Welt  auf  sich ;  aber  er  starb  an  diesen  Sünden ;  er  vermochte  an- 
gesichts der  Schuld  und  des  Leidens  nicht  dem  Leben  treu  zu  bleiben,  nicht 
das  heilige  versöhnende  Ja  zu  sprechen.  Nur  als  Hinwegschauender  war  er 
stark,  nur  im  Namen  eines  anderen,  eines  ,, Vaters"  vergab  er  Sünden;  mit 
anderen  Worten :  er  holte  sich  die  Kraft  zur  Seelsorge  aus  dem ,, Unendlichen", 
will  sagen  aus  dem  Traumrausch  und  einer  begehningslosen  Gefühlsseligkeit. 
Mit  dem  Hinweis  auf  das  Unendliche  wollte  er  denn  auch  die  Erlösungs- 
sehnsucht der  Menschheit  befriedigen. 

Wenn  doch  unsere  Seelsorger  die  Reinheit  und  Schönheit  Jesu  wieder- 
gewinnen und  sie  mit  dem  robusten  Lebensmut  der  Griechen  verbinden 
könnten!  Oder  hätten  wir  zviäschen  beiden  zu  wählen  und  wäre  Jesu  seel- 
sorgerisches Genie  an  die  christliche  Weltverneinung  gebunden,  während 
die  Weltbejahung  notwendig  zur  Feindschaft  gegen  die  Seelsorge  und  zur 
Verwahrlosung  des  Priesterberufes  führte?  —  Ich  kann  es  nicht  glauben 
und  bin  im  Gegenteil  der  Meinung,  daß  der  Sieg  des  neuen  rehgiösen  Geistes 
priesterliche  Persönlichkeiten,  die  der  Welt  Sünde  zu  tragen  vermögen,  ohne 
dem  Leben  feind  zu  werden,  in  reicher  Fülle  hervortreiben  wird.  Wir  müssen 
nur  das  Unsere  tun,  um  ihre  Entstehungs-  und  Wachstumsbedingungen 
möghchst  günstig  zu  gestalten ;  wir  müssen  für  eine  bessere  rehgiös-sittHche 
Erziehung  unseres  Volkes,  zumal  seiner  künftigen  Führer  und  Berater  sorgen. 
Diese  Forderung  muß  immer  von  neuem  wiederholt  werden,  weil  von  ihrer 
Erfüllung  alles  andere  abhängt.  Wenn  unsere  jungen  Leute  zur  geistigen 
Führerschaft  erzogen  werden,  wenn  sie  unbedingte  Wahrhaftigkeit,  Selbst- 
verantwortung, Beschränkung  in  der  Freiheit  lernen,  werden  sie  später  auch 
anderen  Schirm  und  Stütze  sein  können,  ohne  mit  dem  Reiche  Gottes  locken 
und  mit  dem  Teufel  drohen  zu  müssen.  Sie  werden  wie  Sokrates  und  die 
anderen  großen  Lehrer  des  Altertums  Seelengeburtshelfer  sein,  werden 
jeden  seine  Kräfte  gebrauchen,  die  bestehenden  Hemmungen  beseitigen, 
die  inneren  Zwiespalte  lösen  lehren. 

Die  Christen  bestreiten,  daß  diese  Art  der  Seelsorge  ausreichend  sei.  Vielen 
Unglücklichen,  so  versichern  sie,  helfe  weiter  nichts,  als  was  Jesus  und  seine 
priesterhchen  Jünger  getan  hätten :  der  Seelsorger  müsse  trösten  durch  den 
Hinweis  auf  das  Gericht  und  die  ewige  Verdammnis.  Hierauf  erwidern  wir : 

295 


wohl  gibt  es  solche,  denen  mit  unserem  Seelsorgeverfahren  nicht  gedient  ist ; 
aber  auf  diese  e^^^g  Unerwachsenen  und  Unheilbaren  verzichten  wir  gern. 
Wer  Gott,  Papst  und  Absolutionsmaschinerie  braucht,  der  wende  sich  auch 
weiterhin  an  die  kirchlich  beamteten  Seelsorger!  Er  N\ird  das  ohne  imsere 
Aufforderung  tun,  sodaß  die  Seelsorger,  denen  wir  zum  Leben  verhelfen 
möchten,  niemals  in  die  Lage  kommen  werden,  ihre  Kunst  an  ilim  zu  ver- 
suchen. Die  Geister  mögen  sich  scheiden !  Der  Schoß  der  Kirche  und  der 
Beichtstuhl  Gottes  möge  alle  diejenigen  aufnehmen,  die  das  Leben  der  Frei- 
heit nicht  zu  ertragen,  auch  nicht  zu  verstehen  vermögen.  Es  ist  besser, 
ein  wackerer  Katholik  zu  sein  als  ein  schwankender  Modernist,  der  mit  dem 
\'erzicht  auf  die  Gnaden-  und  Erlösimgsmittel  der  Kirche  auch  die  Kraft 
einbüßt,  ein  fruchtbares  und  nutzbringendes  Leben  zu  führen. 

Wir  sind  mit  diesen  Ausfühnmgen  über  das  Gebiet  der  Beichte  schon  weit 
hinausgeschritten  und  haben  die  Erörterung  des  zweiten  Hauptbestandteils 
der  Seelsorge  begonnen:  die  Aufforderung  und  rehgiös-sittliche  Führung. 
Von  diesem  paränetischen  Teil  der  Seelsorge  haben  wir  nun  noch  etwas  näher 
zu  sprechen.  Ich  sagte :  Freud  stellt  die  Beichte  in  den  Vordergrund,  Dubois 
die  Aufforderung  und  Belehrung.  Nach  Freud  hat  die  bloße  Selbsterkennt- 
nis bereits  heilende  Kraft.  Wenn  der  Kranke  durch  das  Bekenntnis  und 
dessen  Deutung  durch  den  Arzt  sich  selber  hat  verstehen  lernen  und  sein 
Triebleben  hinfort  richtig  zu  beiirteilen  vermag,  so  ist  er  gesimd  und  lebens- 
tüchtig geworden;  diese  Anschammg  hegt  dem  psychoanah^tischen  Ver- 
fahren Freuds  zugrunde.  Dubois  geht  weiter  imd  sagt:  der  Kranke  muß  auch 
lernen,  die  Welt  zu  verstehen:  der  Arzt  muß  ihm  eine  Weltanschauung  geben 
und  ihm  helfen,  sich  besser  als  bisher  in  seinen  engeren  und  weiteren  Pflich- 
tenkreis einzuordnen;  also:  der  Arzt  muß  direkt  belehrend  und  charakter- 
bildend wirken.  Eine  älinhche  Stellung  nimmt  auch  z.  B.  Marcinowski  ein 
(vgl.  dessen  ,,Ner\-osität  und  Weltanschaumig").  Dubois  mid  viele  andere 
Ärzte  haben  sich  sogar  gegen  das  psychoanal\-tische  Verfahren  Freuds  er- 
klärt. Sie  halten  den  Nutzen  des  ausgiebigen  Beichtens  für  fraglich,  zumal 
wenn  die  Beichte  das  sexuelle  Gebiet  betrifft.  Freud  hat  nämlich  die  Theorie 
aufgestellt,  daß  die  nervösen  imd  geistigen  Erkrankungen  ihre  Wurzel  fast 
immer  in  sexuellen  Konflikten  imd  Schädigungen  hätten.  Daher  läuft  seine 
Psychoanalyse  auf  ein  erotisches  Examen  hinaus.  Ob  Freuds  sexuelle 
Theorie  richtig  ist  oder  einseitig,  können  \rir  nicht  entscheiden;  doch  wird 
jeder  Tieferbückende  anerkennen,  daß  die  erotischen  Dinge  in  der  Tat  häu- 
fig ziu  Quelle  seehscher  Kämpfe,  Leiden,  Entbehrungen  werden.  Nach  Seel- 
sorge haben  die  sexuell  L'nbefriedigten  mid  Unglücklichen  ungleich  mehr 
Verlangen,  als  die  Glücklichen  und  Befriedigten;  jene  halten  den  Aufgaben 
und  Widerwärtigkeiten  des  Lebens  weit  schwerer  stand  als  diese,  die  in  sich 

296 


gefestigter  und  ruhiger  sind.  Wir  verstehen  das  Wort  „sexuell"  wieder  im 
weitesten  Sinne,  schließen  also  das  gesamte  Liebes-  und  Eheleben  und  dessen 
Folgen  mit  ein. 

Von  jeher  sind  es  die  sexuellen  Nöte  gewesen,  die  die  Menschen  zu  Freun- 
den und  Vertrauten,  zu  Seelsorgern  und  Beichtigern  getrieben  haben.  In  den 
äußeren  Nöten  des  Lebens  kann  ja  der  Seelsorger  nicht  gar  soviel  helfen; 
da  müssen  andere  Mächte  eingreifen.  Und  die  inneren  Schwierigkeiten,  die 
sittlich-sozialen  und  geistig-religiösen,  hängen  stets  irgendwie  mit  Konflikten 
auf  sexuellem  Gebiet  (in  dem  angegebenen  Sinne)  zusammen.  Es  ist  unbe- 
streitbar, daß  die  Verdüsterung  und  Schwächung  des  Kulturmenschen,  die 
Verwirrung  in  seinem  Triebleben  zum  großen  Teile  von  den  Einschränkungen 
und  Erschwerungen  der  sexuellen  Betätigung  herrührt.  Die  Ehe  und  alles 
was  an  sittlich-sozialen  Einrichtungen  und  Geboten  aus  ihr  gefolgert  worden 
ist,  hat  die  Menschheit  unsägliche  Opfer  an  Freude  und  Sicherheit  des  Lebens 
gekostet ;  gerade  in  Zeiten  wie  die  heutige,  wo  das  Leben  auf  fast  allen  Ge- 
bieten Anlaß  zu  Krisen  gibt,  fordert  die  durch  Gesetz  und  Gewohnheit  ge- 
schaffene Regelung  des  sexuellen  Lebens  sehr  schwere  Opfer. 

Will  man  trotzdem  an  der  Ehe  festhalten,  so  wird  man  sich  wohl  ent- 
schließen müssen,  auch  die  bisherige  sexuelle  Erziehung,  die  Förster  tref- 
fend als  Erziehung  der  Ablenkung  bezeichnet  hat,  beizubehalten.  Das  bis- 
herige und  heute  viel  angegriffene  Verfahren  der  Lehrer  und  Eltern  gegen- 
über den  Heranwachsenden  war :  die  sexuellen  Dinge  zu  übergehen  und  als 
nicht  vorhanden  zu  betrachten.  Auch  im  Verkehr  der  Erwachsenen  unter- 
einander, ja  im  Verkehr  mit  sich  selber  schaltete  man  das  Sexuelle  nach  Mög- 
hchkeit  aus,  sprach  wenig  davon  und  daher  dachten  wenigstens  die  feiner 
Empfindenden  auch  wenig  daran.  Die  Kulturmenschheit,  nicht  bloß  die 
christliche,  bemüht  sich  ohne  Zweifel,  die  Aufmerksamkeit  von  den  körper- 
lichen Sexual  Vorgängen  möglichst  abzulenken.  Warum  das  geschieht?  Weil 
die  Ablenkung  ein  unentbehrliches  Mittel  zur  Vergeistigung  des  Sexual- 
triebes ist  und  nur  mit  Hilfe  der  Vergeistigung  eine  Regelung  und  Ein- 
schränkung möglich  und  sittlich  wertvoll  ist.  Wenn  die  körperliche  Sexuali- 
tät ins  Bewußtsein  gehoben  und  ihre  unentrinnbare  Gewalt  klar  durchschaut 
wird,  ist  es  weit  schwerer,  das  Liebesgefühl  zu  vergeistigen  und  zu  verper- 
sönlichen, als  wenn  man  der  Methode  der  bisherigen  priesterhchen  Päda- 
gogen folgt.  Über  diese  Seite  der  Sache  gehen  die  Verfechter  der  sexuellen 
Aufklärung  zu  leicht  hinweg;  auch  Freud  und  die  übrigen  Anhänger  des 
therapeutischen  Beichtwesens  beachten  die  menschlich-sittlichen  Folgen 
sexueller  Psychoanalyse  nicht  genügend.  Die  Frage  in  ihrer  Allgemeinheit 
kann  hier  natürlich  nicht  zur  Entscheidung  gebracht  werden ;  es  liegt  uns 
nur  ob,  auf  Grund  unserer  psychologischen  und  historischen  Ergebnisse 

297 


darauf  hinzuweisen,  daß  das  gesamte  höhere  menschUche  Leben  auf  der  Ver- 
drängung und  Vergeistigung  tierischer  Triebe,  zumal  des  Sexualtriebes  be- 
ruht. Wir  haben  gesehen,  daß  das  Christentum  die  Verdrängung  übertrieben 
hat  und  sich  wie  der  Buddhismus  zu  einem  krankhaften  Ideal  der  reinen 
Geistigkeit  verirrt  hat.  Älöge  unser  Zeitalter  sich  vor  dem  entgegengesetzten 
Extrem  hüten !  Möge  der  Seelsorger  der  Zukunft  sich  gewissenhaft  die  Frage 
vorlegen,  wie  weit  er  in  jedem  einzelnen  Falle  die  Erziehung  der  Ablenkung 
verlassen  und  sie  durch  die  Erziehung  der  Selbsterforschung  und  Triebent- 
blößung ersetzen  darf!  Durch  die  sexuelle  Aufklärung  und  die  FREUDsche 
Psychoanalyse  wird  vielfach  nichts  weiter  erreicht,  als  daß  ein  begonnenes 
Gebäude  der  Verdrängung  und  Ablenkung  wieder  abgetragen  wird.  Ideale 
Empfindungen  werden  auf  körperliche  Trivialitäten  zurückgeführt,  Krank- 
heitserscheinmigen  werden  gegeneinander  ausgetauscht.  Der  Kranke  wird 
von  dieser  Kur  doch  nur  dann  Nutzen  haben,  wenn  er  stark  genug  ist,  die 
pathologische  Umformung  und  Befriedigung  der  sexuellen  Bedürfnisse  nun- 
mehr zu  ersetzen  durch  eine  gesunde  Vergeistigung.  Man  kann  es  so  aus- 
drücken: jede  Beichte,  jede  Bewußtmachung  des  Trieblebens  bringt  den 
^Menschen  der  Norm  näher;  sie  schafft  Erleichterung  und  Erfrischung. 
Welche  Art  von  Norm  aber  ist  hier  gemeint  ?  Auch  der  Zustand  des  trieb- 
haft-vegetativen ]\Ienschen  kann  normal  heißen.  Wird  der  psychoanaly- 
tische Seelsorger  den  Kranken  zu  dieser  Norm  führen  oder  zu  der  Norm 
des  sittlichen  Helden,  der  seine  Triebe  harmonisch  mit  den  geistigen  Idealen 
verknüpft  hat?  Wird  der  katholisch- jesuitische  Beichtvater,  der  seine 
Beichtkinder  nach  sexuellen  Lastern  und  Perversitäten  ausfragt,  der  alle 
schmutzigen  Gedanken  und  Gefühle,  die  das  Beichtkind  etwa  gehabt  hat, 
genau  zu  erfahren  begehrt,  dasselbe  dadurch  menschlich  heben  und  es  zu 
der  edlen,  vergeistigten  Sexualität  hinleiten,  die  in  dem  Sakrament  der  Ehe 
ihre  Verherrlichung  gefunden  hat? 

Ich  zweifle.  Ich  glaube,  daß  die  schonungslose  Zudringlichkeit  des  Arztes 
und  Seelsorgers  nicht  vielen  zum  Segen  gereicht.  Viele  werden  durch  das 
Bloßlegen  der  sexuellen  und  sonstigen  Menschlichkeiten  in  um  so  größere 
Konfhkte  gestürzt,  falls  sie  nicht  gar  zur  resignierten  Anerkennung  des 
Tieres  im  Menschen  und  zur  skrupellosen  Befriedigung  aller  Triebregungen 
gelangen.  Wem  wird  das  Bewußtmachen  und  Durchsprechen  der  sexuellen 
Tiefen  und  Untiefen  zum  Heile  ausschlagen  ?  Dem,  der  in  die  Lage  versetzt 
wird,  für  das  bewußt  gewordene  Sexualempfinden  einen  würdigen  Gegen- 
stand und  für  die  durch  die  Beichte  aufgeregten  Liebesbedürfnisse  gesunde 
Befriedigung  bei  einer  Person  des  anderen  Geschlechts  zu  finden.  Die  psycho- 
analytische Beichte  wie  überhaupt  jede  vertrauliche  Aussprache  mit  einem 
Seelsorger  bringt  das  Liebesverlangen  des  Beichtenden  an  die  Oberfläche, 

298 


der  nun  von  dem  Seelsorger  selbstverständlich  die  Stillung  dieses  Verlangens 
erwartet.  Der  Seelsorger  soll  die  in  dem  Beichtenden  entstandene  Erregung 
und  Erschütterung  auch  wiederum  zur  Ruhe  bringen,  soll  ihm  neues  Leben 
einhauchen  und  die  zum  Bewußtsein  gebrachte  Bedürftigkeit  und  Sehn- 
sucht durch  normale  Befriedigung  aufheben.  Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  daß 
Frauen  lieber  beichten  als  Männer  und  eine  ebenso  alte  Erfahrung,  daß 
beichtende  Frauen  eine  leidenschaftliche  Liebe  zu  ihrem  Seelsorger  fassen. 
Aber  auch  die  nach  Seelsorge  verlangenden  Jünglinge  geraten  leicht  in  eine 
ideale  erotische  Abhängigkeit  von  ihren  lehrenden  Freunden,  wie  wir  es  am 
deutlichsten  im  griechischen  Altertum  sehen. 

Diesen  gefährlichen  Seelsorgeerfolg  hat  ein  so  feiner  Psychologe  wie  Freud 
natürlich  ebenfalls  bemerkt.  Er  gibt  in  seinem  Schriftchen:  ,,Der  Wahn  und 
die  Träume  in  W.  Jensens  Gradiva"  zu,  daß  die  bewußt  gemachte  und  da- 
durch neu  geweckte  Leidenschaft  des  hysterisch  Gehemmten  jedesmal  die 
Person  des  ärztlichen  Seelsorgers  zu  ihrem  Objekte  wählt.  Die  Liebesfähig- 
keit wird  frei  und  wendet  sich  mit  Notwendigkeit  dem  Befreier  zu ;  der  Seel- 
sorger und  helfende  Vertraute  wird  zum  ,, Erlöser",  zum  Prinz  des  Märchens, 
der  die  Dornhecke  überwindet  und  das  schlafende  Dornröschen  weckt !  Wie 
jede  Liebeseroberung  durch  eine  Befreiung  gehemmter  und  abgelenkter 
Triebströme  zustande  kommt,  so  verwandelt  sich  jede  Beichte,  bei  der  ein 
bedürftiges  und  beladenes  Menschenkind  sein  ganzes  Herz  ausschüttet,  in 
ein  Liebesgeständnis. 

Man  glaube  nicht,  daß  diese  Betrachtung  für  das  Priesterproblem  und  die 
Zukunft  des  religiösen  Seelsorgewesens  von  nebensäclilicher  Bedeutung  sei. 
Nein;  %vir  rühren  hier  an  die  wundeste  Stelle  der  priesterlichen  Tätigkeit 
überhaupt.  Wenn  der  Priester  gehaßt  und  sein  Wirken  mit  Mißtrauen  ver- 
folgt wird,  so  gilt  dieser  Haß  in  erster  Linie  dem  Zerstörer  des  auf  der  Ehe 
und  Familie  beruhenden  tätigen  Genossenschaftsgeistes.  Wenn  gegen  die 
Ohrenbeichte  und  gegen  jede  persönliche  Seelsorgetätigkeit  angekämpft 
wird,  so  kämpfen  die  Ehemänner  um  ihre  Gattinnen,  die  Eltern  um  ihre 
Kinder,  kämpft  die  Familie  gegen  den  unterminierenden  Einfluß  des  frem- 
den Eindringlings,  der  die  Sehnsucht  der  unbefriedigten  Familienglieder  auf 
sich  und  sein  familienloses  Ideal  konzentriert.  —  Wie  kann  und  soll  der 
Priester  das  vermeiden?  Wie  kann  der  unentbehrlichen  Einrichtung  der 
religiös-medizinischen  Seelsorge  ihr  gefährlicher  Charakter  genommen  wer- 
den? Freud  sagt:  ,,Der  Arzt  muß  trachten,  nach  der  Heilung  wieder  ein 
Fremder  zu  werden;  er  weiß  den  Geheilten  oft  nicht  zu  raten,  wie  sie  ihre 
wiedergewonnene  oder  überhaupt  erst  gewonnene  Liebesfähigkeit  im  Leben 
verwenden  können."  Aber:  ,,mit  welchen  Auskunftsmitteln  und  Surrogaten 
sich  dann  der  Arzt  behilft"  .  .  .  versäumt  Freud,  uns  näher  anzugeben,  ob- 

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wohl  darauf  viel,  ja  fast  alles  ankommt.  Ich  v\'ürde  raten,  daß  der  ärztliche 
Seelsorger  in  allen  Fällen,  wo  er  nicht  von  vornherein  darauf  rechnen  kann, 
daß  der  Kranke  oder  Ratsuchende  seine  freigewordene  Liebesfähigkeit  auf 
schöne  und  normale  Weise  betätigen  und  binden  kann,  äußerst  vorsichtig 
mit  dem  psychoanalytischen  Beichtverfahren  sein  möge.  Er  möge  tun,  was 
er  kann,  imi  das  gewünschte  Ziel  ohne  Freilegung  und  Bewußtmachung  der 
unbefriedigten  Triebe  zu  erreichen.  Das  ist  möglich,  wie  tausend  Beispiele 
aus  dem  Leben  und  aus  der  Priestergeschichte  beweisen.  Von  den  körper- 
hchen  Heilmiteln  gegen  nervöse  Erkrankungen  und  den  äußeren  Linde- 
rungsmitteln gegen  seelische  Nöte  haben  wir  hier  nicht  zu  reden ;  sie  gehören 
in  das  rein  medizinische  und  das  sozialpolitische  Gebiet.  Aber  es  gibt  auch 
rehgiöse  Heilmittel  und  geistig-sittliche  Linderungsmittel;  mit  ihrer  Hilfe 
ist  es  möghch,  vielen  Menschen  Stärkung  und  Gesundung  zu  bringen,  ohne 
zur  Sezienmg  des  Hilfesuchenden  zu  schreiten  und  ohne  die  Aufhebung  der 
Ablenkimg,  die  Vernichtung  der  Konversion  direkt  durchzusetzen. 

Auf  den  Hauptpunkt  haben  wir  schon  hingewiesen:  der  Seelsorger  soll 
dem  Kranken  und  Hilfsbedürftigen  eine  heilende  Lebensphilosophie  in  die 
Hand  geben ;  er  soll  ihm  zeigen,  wieviel  Willens-  und  Geisteskräfte  ungenutzt 
in  ihm  schlummern,  und  ihn  zur  Hebung  und  Verwertung  dieser  Schätze 
anleiten.  Geschieht  das,  so  werden  die  Hemmungen  von  selber  verschwinden ; 
den  seelischen  und  leiblichen  Krankheitserscheinungen  wird  die  Nahrung 
imd  der  Boden  entzogen.  Für  die  Möglichkeit  und  Trefflichkeit  dieser  Kur 
stehen  außer  Dubois  zahllose  Arzte,  Priester  und  Seelsorger  aller  Zeiten 
ein.  Es  ist  eine  vielleicht  wunderbare,  aber  durch  die  Erfahrung  bewiesene 
Tatsache,  daß  Überredung  und  Überzeugung,  daß  Wissen  und  Glaube 
Kranke  heilen.  Mutlose  ermutigen,  Unglückliche  beglücken.  Schwache  stär- 
ken kann.  Der  Gedrückte  wird  frei,  der  Unbefriedigte  ruhig,  wenn  eine  Ver- 
trauens- und  verehnmgswürdige  Persönhchkeit  ihm  Weg  und  Ziel  weist  und 
ihn  an  die  Stelle  führt,  wo  er  für  sich  und  andere  segenbringend  arbeiten 
kann.  Obwohl  durch  diese  paränetische  Seelsorge  die  vorhandenen  Konfhkte 
keine  direkte  Auflösung  finden,  die  sexuellen  Bedürfnisse  nicht  unmittelbar 
befriedigt  werden,  vielmehr  dem  Triebe  die  abnorme  Bahn,  in  die  er  bisher 
abfloß,  verstopft  wird,  findet  trotzdem  eine  allseitige  Befreiung  und  Gesun- 
dung, also  auch  eine  sexuelle  Erleichterung  statt.  Der  Mensch  wird  aus  dem 
Bann  des  Egoismus  (zuweilen  auch  des  egoistischen  Autoerotismus)  erlöst; 
er  sieht  sich  nun  in  einem  Kreise  von  Brüdern,  sieht  sich  vor  lohnende  Auf- 
gaben gestellt  und  empfindet  das  bis  dahin  vergebhch  gesuchte  Glück  der 
Pfhchterfüllung.  Die  Liebe  im  aktiven  Sinne  zieht  bei  ihm  ein,  und  wenn  es 
auch  nicht  die  normale  Geschlechtsliebe  ist,  so  ist  es  eine  ihr  verwandte,  die 
fast  vollkommenen  Ersatz  für  jene  zu  bieten  vermag.  Der  Geheilte  nähert 

300 


sich  dann  der  Gefühlsrichtung  der  besten  Priesternaturen;  er  rückt  in  die 
Reihe  der  heiUgen  Junggesellen  und  Jungfrauen  ein,  deren  vergeistigte 
Sexualität  der  Menschheit  soviel  Gutes  geschenkt  hat  und  auch  in  Zukunft 
schenken  wird. 

Wenn  unser  Zeitalter  diese  Art  der  Seelsorge  neu  erlernen  und  im  Großen 
erfolgreich  betätigen  will,  muß  es  sich  freilich  erst  eine  starke  Lebensphilo- 
sophie erobern,  muß  es  erst  zu  einem  Glauben,  wie  wir  ihn  oben  charakteri- 
sierten, gelangen.  Es  gilt,  die  unrettbar  der  Zeit  verfallene  christliche  Philo- 
sophie zu  ersetzen.  Dubois,  Marcinowski  und  andere  empfinden  das  sehr 
deutlich;  jedoch  sind  sie  im  Irrtum,  wenn  sie  meinen,  diesen  Ersatz  bereits 
gefunden  zu  haben.  Die  stoische  Vernunftphilosophie,  die  Dubois  in  seinem 
Buche  ,, Selbsterziehung"  vorträgt,  ist  gewiß  nicht  zu  verachten;  er  will  seine 
Patienten  ,, richtig  denken"  lehren  und  sie  zur  Erkenntnis  ihres  ,, wahren 
Vorteils"  führen.  Aber  damit  ist  bei  weitem  nicht  alles  getan.  Der  Seelsorger 
muß  viel  wirksamere  Glaubens-  und  Lebensmedizinen  verabreichen;  die 
Philosophen  haben  die  Aufgabe  sie  zu  bereiten ;  den  Männern,  die  sich  rüh- 
men, geistige  Führer  unseres  Volkes  zu  sein,  fällt  die  unaufschiebbare  Pflicht 
zu,  den  religiösen  und  medizinischen  Seelsorgern  eine  Philosophie  in  die 
Hand  zu  geben,  die  ebensoviel  und  noch  mehr  leistet,  als  die  christHche  Philo- 
sophie in  ihrer  lebendigen  und  kräftigen  Zeit  geleistet  hat.  Es  ist  schlimm, 
daß  die  beamteten  Staats-  und  Universitätsphilosophen  sich  dieser  Pfhcht 
unter  den  nichtigsten  Vorwänden  entziehen.  Sie  sollten  mutiger  und  rehgiöser 
werden,  sollten  lernen,  ihr  ganzes  sinnliches  und  gemütliches  ]\Ienschentum 
in  den  Schmelztiegel  ihrer  Abstraktionen  hineinzuwerfen ;  dann  werden  ihre 
Ergebnisse  nicht  mehr  so  blaß  und  spinngewebsartig  aussehen;  ihre  Ge- 
danken werden  stärkendes  Leben  und  heilende  Kraft  ausströmen.  Von  den 
Ärzten  und  praktischen  Seelsorgern  kann  man  nicht  verlangen,  daß  sie 
schöpferische  ReUgionsphilosophen  sind;  man  muß  sich  vielmehr  freuen,  daß 
Dubois  und  andere  so  tapfer  in  die  Lücke  treten,  die  von  der  unzulänghchen 
und  verstaubten  Fachphilosophie  gelassen  wird. 

Welches  wird  der  Kernpunkt  dieser  Lebensphilosophie  sein,  die  der  künf- 
tige Seelsorger  seinen  Anvertrauten  einhauchen  soll?  Wodurch  wird  es 
dieser  Lebensphilosophie  gelingen,  die  christHche  Philosophie  zu  ersetzen, 
nachdem  die  letztere  ihre  Wirksamkeit  eingebüßt  und  ihre  Macht  über  die 
Gemüter  verloren  hat?  —  Es  wird  eine  Philosophie  des  Schaffens  sein.  Sie 
wird  dem  christhchen  Harren  und  Dulden  ein  heidnisches  Bauen  und  Arbei- 
ten, den  christhchen  Tugenden  Glaube,  Liebe,  Hoffnung  die  maurerischen 
Tugenden  Weisheit,  Stärke,  Schönheit  gegenüberstellen.  Sie  wird  lehren,  daß 
jeder  Mensch,  der  Kleinste  wie  der  Größte,  der  Schwächste  wie  der  Stärkste 
zur  Mitarbeit  an  der  Aufrichtung  des  Tempels  berufen  ist,  zu  dem  der  Grund  in 

301 


aller  Stille  bereits  gelegt  worden  ist.  Wer  sähe  nicht,  daß  der  Seelsorger 
diesem  Gedanken  therapeutische  Ratschläge  von  höchstem  Wert  entnehmen 
kann  ?  Alle,  die  nach  Beichte  und  Aufrichtung  verlangen  und  nicht  unheilbar 
krank  und  entartet  sind,  haben  im  Grunde  Verlangen  nach  Arbeit.  Auch 
wer  müde  und  von  Anstrengungen  erschöpft  ist,  kann  nur  durch  Arbeit  er- 
frischt und  geheilt  werden,  aber  durch  Arbeit,  die  ihm  gemäß  ist.  Arbeit 
macht  nur  denjenigen  krank  imd  hilfsbedürftig,  der  nicht  die  rechte  Arbeit 
tut  und  nicht  an  der  rechten  Stelle  des  Bauplatzes  steht.  Der  Arzt  und  Seel- 
sorger soll  ihm  die  rechte  Stelle  anweisen,  soll  ihn  lehren,  was  und  wie  er 
arbeiten  soll. 

Auch  die  so  geübte  Seelsorge  kann  nicht  ohne  Beichte  auskommen;  denn 
der  Seelsorger  muß  den  Arbeitsuchenden  kennen  lernen,  was  nicht  ohne 
dessen  Unterstützung  möglich  ist.  Bekenntnis  und  Selbsterforschung  sind 
auch  hier  die  notwendigen  Hilfsmittel.  Aber  die  Beichte  erhält  einen  anderen 
Sinn.  Seelsorger  und  Beichtender  bemühen  sich,  die  Kräfte  und  Tugenden 
des  letzteren  ans  Tageslicht  zu  bringen,  nicht,  wie  bei  der  Freud  sehen 
Psychoanalyse  und  der  christlichen  Beichte,  die  Schwächen  und  Verfeh- 
lungen. Nicht  was  einer  gesündigt  und  verabsäumt  hat,  wird  hervorgezogen 
und  eingehend  besprochen,  sondern  der  Wille  zum  Guten,  den  einer  bewiesen 
hat,  der  Drang  zum  Licht,  der  sich  auch  in  den  Verfehlungen  und  Verirrun- 
gen  kundtut,  wird  zum  Gegenstand  der  Beichtbefragung  und  paränetischen 
Lossprechung.  Der  christliche  Priester  und  auch  der  psychoanalytische 
Neurologe  legen  den  Nachdruck  darauf,  den  Menschen  an  die  Fesseln  zu 
erinnern,  die  ihn  umschnüren,  und  ihm  die  Gewichte  zum  Bewußtsein  zu 
bringen,  unter  denen  er  seufzt.  Der  Seelsorger  sollte  umgekehrt  den  Nach- 
druck darauf  legen,  den  Menschen  die  Flügel  benutzen  zu  lehren,  die  er 
besitzt,  und  ihm  die  Schwungkraft  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  die  ihn  hin- 
auf in  die  Freiheit  zu  ziehen  vermag. 

Damit  könnten  wir  unser  Werk  abschließen ;  denn  die  nähere  Ausführung 
des  im  letzten  Kapitel  Berührten  muß  späteren  Arbeiten  und  der  religiösen 
Praxis  vorbehalten  bleiben.  Jedoch  wird  mancher  noch  die  klare  und  ein- 
deutige Antwort  auf  die  zu  Anfang  gestellte  Frage  vermissen :  nämlich  nach 
der  Zukunft  des  berufsmäßigen  Priesters  und  Seelsorgers.  Wir  haben  die 
Aufgaben,  die  der  Priester  bisher  als  sein  ausschheßliches  Eigentum  ansah, 
allen  führenden  und  leitenden  Berufen  zugewiesen.  Der  Lehrer  und  der  mili- 
tärische Obere,  der  Richter  und  der  Journahst,  der  Unternehmer  und  der 
Arbeitgeber,  vor  allem  aber  der  Arzt  —  sie  sollen  ihren  Beruf  als  einen 
priesterüch-seelsorgerischen  ausüben,  sollen  sich  beständig  vor  Augen  halten, 
daß  sie  religiös-sittliche  Führer  und  Berater  ihres  Volkes  sein  müssen.  Bleibt 

302 


dabei  noch  Raum  für  den  Berufspriester?  Wird  der  Religionsbeamte,  der 
„Geistliche"  nicht  überflüssig?  —  Ich  glaube  nicht.  Mir  scheint,  daß  es  auch 
fernerhin  ein  Berufspriestertum  geben  muß.  Zunächst  müssen  wir  uns  sagen, 
daß  die  genannten  Berufe  durch  ihre  Berufspflichten  so  in  Anspruch  ge- 
nommen sind,  daß  sie  die  seelsorgerische  Tätigkeit  nicht  in  den  Mittelpunkt 
stellen  können.  Das  Kulturleben  gründet  sich  nun  einmal  auf  die  Arbeits- 
teilung, und  so  nötig  es  ist,  daß  immer  wieder  die  Forderung  erhoben  wird, 
daß  jeder  sich  möglichst  zum  ganzen  Menschen  runden  und  die  Einseitigkeit 
des  Fachstrebens  überwinden  soll,  zumal  wer  zu  den  Führenden  und  Wissen- 
den gehören  will,  so  läßt  sich  doch  an  dem  Grundsatz  der  Arbeitsteilung 
nicht  rütteln.  Die  genannten  Berufe  können  die  tiefsten  Lebensfragen  nicht 
selbständig  lösen,  haben  auch  nicht  Geduld  und  Kraft  genug,  um  dem  Volke 
im  ganzen  aus  den  schwersten  und  allgemeinsten  Nöten  heraushelfen  zu 
können.  Ihre  Berufspflichten  lenken  sie  fortwährend  auf  das  Einzelne  und 
das  Profane ;  sie  haben  Mühe,  die  großen  Ziele  des  Gesamtschaffens  im  Auge 
zu  behalten,  haben  Mühe,  ihren  gebückten  Leib  und  Geist  emporzurichten 
und  das  aufzunehmen,  was  Freiere  und  Weiterschauende  lebend  und  redend 
verkünden.  Wir  brauchen  Fahnenträger  des  Ideals,  die,  den  äußeren  Sorgen 
und  Berufsgeschäften  enthoben,  klar  und  rein  zu  zeigen  vermögen,  wohin 
der  Weg  geht  und  wo  die  Sonne  steht.  Ihr  Lebensberuf  ist  es,  gegen  die 
Stumpfheit  und  Flachheit  anzukämpfen. 

Man  wird  sagen,  daß  die  Künstler  und  die  von  Berufspflichten  freien  Ge- 
lehrten diese  Aufgabe  erfüllen.  Ja;  nur  kann  sich  der  einzelne  nicht  an  sie 
wenden ;  sie  wollen  nicht  Führer  und  Berater  im  eigentlichen  Sinne  sein .  Ferner 
felüt  es  ihnen  an  prophetischem  Willen  und  Vermögen;  d.  h.  sie  verstecken 
sich  hinter  ihren  Werken  und  vermeiden  jene  persönhche  Wirksamkeit,  auf 
die  in  der  Religion  alles  ankommt.  Es  hängt  das  mit  dem  Wesen  der  Kunst 
und  der  Wissenschaft  zusammen  und  soll  kein  Vorwurf  gegen  deren  Jünger 
und  Meister  sein. 

Aber  die  Gefahren  des  Priester-  und  Prophetentums !  Haben  wir  nicht 
wieder  und  wieder  gesehen,  daß  der  Priester  das  Unglück  der  Menschheit,  der 
Prophet  der  Verwirrer  und  Verführer  der  Jahrtausende  war  ?  Sollte  es  nicht 
endlich  an  der  Zeit  sein,  den  Priester  abzuschaffen  und  lieber  auf  das  Gute, 
das  er  \äelleicht  tun  könnte,  zu  verzichten,  als  dem  Bösen,  das  sein  Wirken 
notwendig  mit  sich  bringt,  Tür  und  Tor  zu  öffnen?  —  Wir  haben  darauf 
schon  erwidert,  daß  es  unmöglich  ist,  den  Priester  abzuschaffen,  weil  die 
priesterlichen  Natiuren  aUen  unseren  Wünschen  zum  Trotze  weiterleben 
werden.  Und  wenn  wir  sie  unterdrücken,  sie  ohne  Pflege  lassen,  ihnen  die 
freie  Betätigung  ihrer  Kräfte  verwehren,  bricht  ihre  Natur  nur  um  so  gewalt- 
samer hervor  und  es  zeigen  sich  alle  die  bedrohlichen  Erscheinungen,  die  wir 


im  religiösen  Leben  der  Gegenwart  beobachten  können.  Wir  haben  zu  wäh- 
len zwischen  der  ungehemmten,  ungeregelten  Priestertätigkeit  und  der  ge- 
zügelten,  in  das  Kulturleben  harmonisch  eingeordneten.  Die  Entscheidung 
kann  uns,  wenn  wir  den  Dingen  nüchtern  ins  Auge  sehen,  nicht  schwer  fallen. 
Es  ist  die  Entscheidung  zwischen  Anarchismus  und  Organisierung,  eine  Ent- 
scheidung, vor  die  die  heutige  Menschheit  auf  allen  Gebieten  des  Lebens 
gestellt  ist. 

Jedoch  nehmen  wir  die  Anklagen  gegen  den  Priester  wahrhaftig  nicht 
leicht  und  wollen  zum  Beweise  dessen  noch  einmal  die  Hauptgefahren  kurz 
zusammenfassen,  die  der  Weiterentwicklimg  unserer  Kultur  von  dem  Be- 
ruf spriestertum  drohen.  Jeder  menschhche  Typus  wird  dann  schädlich,  wenn 
er  entartet ;  seine  Entartung  hängt  aber  stets  mit  einer  Erkrankung  des  ge- 
samten Kultiukörpers  zusammen.  Die  Entartung  des  Priesters  ist  ein  Symp- 
tom für  die  Entartung  des  Kulturkreises,  in  dem  er  wirkt.  Gelingt  es,  die 
ganze  Kultur  ziu-  Gesundheit  zurückzuführen,  so  gesundet  auch  der  Priester ; 
gelingt  es  nicht,  so  hat  es  weder  Zweck  noch  Berechtigung,  den  Priester  zur 
Verantwortung  zu  ziehen  und  ihn  als  Sündenbock  zu  schlachten.  Ein  Volk, 
das  entartete  Priester  hat,  verdient  keine  besseren. 

Wie  entartet  der  Priester?  Erstens:  er  wird  zum  Despoten,  zum  ,, Pfaffen". 
Gegen  diese  Entartungsform  gibt  es  kein  anderes  Heilmittel,  als  die  geistige 
Befreiimg  und  Verselbständigung  des  ganzen  Volkes.  Sobald  unsere  Grund- 
sätze der  Glaubens-  und  Lehrfreiheit  allgemeine  Anerkennung  gefunden 
haben,  ist  der  despotische  Priester  verschwunden,  weil  er  keine  Lebens-  und 
Wirkungsmöglichkeit  mehr  findet.  Der  freie  Religionsbund  duldet  keine 
Priester,  die  auf  Grund  von  Offenbarungen  und  Überlieferungen  autorita- 
tive Glaubenswahrheiten  lehren  und  die  Gemeinde  zum  Gehorsam  gegen  die- 
selben zwingen  wollen.  Wer  das  versucht,  richtet  sich  selber;  er  ist  ein 
,, Gotteslästerer".  Sollte  der  Rehgionsbund  diese  Grundsätze  einst  wieder 
verlassen,  sollte  unser  Volk  einst  in  die  dogmatisch-despotische  Sphäre  zu- 
rücksinken, so  wird  es  auch  wieder  ,, Pfaffen"  haben;  keine  Macht  der  Welt 
kann  das  verhindern.  Es  verdient  dann  nichts  Besseres.  Kann  aber  dieser 
AusbHck  in  eine  etwaige  Entartungsepoche  der  Zukunft  uns  verhindern, 
heute  an  der  Gesundung  unseres  Volkes  und  der  Schaffung  eines  freien  Prie- 
stertums  zu  arbeiten? 

Zweitens:  er  wird  ein  Phantast  und  Rattenfänger;  er  verführt  das  Volk 
zum  widernatürüchen  Leben.  Wir  haben  oben  ausführlich  dargelegt,  daß 
der  Priester  von  der  Norm  abweicht,  daß  er  eine  Karikatur  Gottes  ist  und 
in  Gefahr  schwebt,  zum  Don  Quixote  und  hilflosen  Narren  zu  werden,  haben 
aber  auch  gezeigt,  wie  er  trotzdem  seine  Führer-  und  Erzieheraufgaben  ge- 
treu erfüllen  kann  und  soll.  Er  soll  die  Norm  predigen,  auch  wenn  er  für 

304 


seine  Person  nicht  die  Norm  verwirklichen  kann.  Tut  er  das  nicht  und  findet 
er  mit  seinem  Todesevangehum  von  der  ,, wahren"  und  geschlechtslosen 
Jenseitswelt  Beifall  in  seinem  Volke,  so  ist  nicht  nur  er,  sondern  die  ganze 
Kultur  krank  und  entartet.  Das  Heilmittel  heißt  daher  auch  hier:  allge- 
meine Gesundung  und  Befreiung.  Dem  freien  Religionsbunde  werden  die 
Lockrufe  der  Todesherolde  nichts  anhaben ;  er  wird  den  Jenseitspriester  als 
verunglückten  und  bedauernswerten  Kranken  behandeln. 

Drittens:  er  wird  zum  Heuchler  imd  Charlatan.  Kein  Beruf  verführt  so  zur 
Lüge  wie  der  des  Priesters,  weil  der  Priester  ein  vorbildlicher  Mensch  sein 
soU.  Wenn  er  nicht  ein  ganz  gesunder  und  starker  Charakter  ist,  verfällt  er 
unweigerlich  der  schauspielerischen  Entartung :  er  steUt  dar,  was  er  nicht  ist, 
ohne  sich  Mühe  zu  geben,  den  Abstand  zwischen  Schein  imd  Wirklichkeit 
Schritt  für  Schritt  zu  verringern.  Auch  hier  fäUt  es  der  Gemeinde  im  ganzen 
ziu:  Last,  wenn  sie  solche  Priester  duldet  und  gar  züchtet.  Heuchlerische 
Priester  gibt  es  nur  in  heuchlerischen  Völkern.  Wenn  in  der  Gegenwart  die 
Heuchelei  unter  den  reUgiösen  Führern  und  Beamten  überhandnimmt,  wenn 
Jesu  Wort  von  den  ,, übertünchten  Gräbern"  schauerliche  Wahrheit  gewor- 
den ist,  so  ist  diese  Erscheinung  aufs  engste  mit  der  allgemeinen  rehgiösen 
Verlogenheit  und  Feigheit  unserer  Zeitgenossen  verknüpft.  Alle  Welt  ent- 
windet sich  hstig  und  ängstlich  der  Verpflichtung,  die  religiösen  Folgerungen 
aus  dem  veränderten  Weltbild  und  Lebenswillen  zu  ziehen.  Alle  Welt  hält 
dem  Worte  imd  Scheine  nach  an  der  überwundenen  Gottesauffassung  fest, 
nach  der  Gott  ein  vollkommenes,  entwicklungsloses  Wesen  ist,  das  in  starrer 
Majestät  über  den  ewig  ringenden,  ewig  sündigenden  Menschen  thront. 
Dieser  Glaube  aber  macht  den  Priester  zum  Heucliler,  denn  der  Priester  soU 
doch  ein  Ebenbild  Gottes  sein ;  auch  er  soll  vollkommen  sein,  soU  sich  nicht 
entwickeln,  sich  nicht  wandeln,  nicht  umlernen,  nicht  ^viderrufen,  nicht 
zweifeln  und  irren.  Kurz :  er  soll  nur  scheinen,  mir  Pharisäer  und  Tugendbold 
sein,  der  in  göttUcher  Erhabenheit  auf  die  Strauchelnden  und  Suchenden 
herabschaut.  Das  einzig  menschen-  und  priesterwürdige  Streben :  in  Wahr- 
haftigkeit und  Treue  den  ewigen  Kampf  um  die  Vergottung  der  Welt  zu 
kämpfen,  ist  damit  in  Acht  und  Bann  getan.  Der  freie  Rehgionsbund  wird 
der  Priesterheuchelei  den  Boden  entziehen,  weil  er  nur  Suchende  und  Irrende 
kennt  und  anerkennt.  Wer  am  redhchsten  strebt  und  am  tiefsten  von  seinem 
Nichtwissen  und  von  der  Unvohkommenheit  Gottes  durchdrungen  ist,  er- 
wirbt sich  am  meisten  Anrecht  auf  das  Priesteramt. 

Viertens:  er  \vird  zum  gleichgültigen  Berufsmenschen,  der  seine  heiligen 
Pfhchten  abmacht  als  spinne  er  Flachs.  Jeder  kennt  die  Pfarrer,  denen  man 
die  innere  Kälte  auf  dem  gelangweilten  Gesicht  abUest.  Wohl  wissen  sie  bei 
einer  Beerdigung  eine  düstere,  bei  der  gleich  darauffolgenden  Hochzeit  eine 

20  Horneffer,  Der  Priester  II  305 


feierlich-frohe  Miene  aufzusetzen;  wohl  halten  sie  für  jeden,  der  ihre  Seel- 
sorge sucht,  ein  paar  tröstliche  Phrasen  bereit;  aber  ihr  Herz  weilt  anderswo. 
Man  entdeckt  erst,  daß  sie  Menschen  sind,  wenn  man  sie  außerhalb  ihrer 
Amtstätigkeit  kennen  lernt.  Vielleicht  ist  dieser  Vorwurf  der  schwerste,  der 
dem  Priester  gemacht  werden  kann,  und  dieser  Einwand  der  durchschla- 
gendste, der  gegen  die  berufliche  Ausübung  religiöser  Pflichten  und  Hand- 
lungen erhoben  werden  kann :  aus  der  Frömmigkeit  darf  kein  Geschäft,  aus 
der  Religion  kein  Beruf  gemacht  werden!  —  Indessen  läßt  sich  auch  dieser 
Gefahr  begegnen.  Die  berufsmäßige  Ausübung  der  Kunst  hat  man  ebenfalls 
angegriffen  und  sicherlich  ergeben  sich  aus  ihr  dieselben  Unzuträglichkeiten 
wie  aus  der  berufsmäßigen  Religionsausübung :  es  ist  eine  ebenso  schwierige 
und  gefährliche  Sache,  das  Dichten  oder  Komponieren  als  Lebensberuf  zu 
treiben,  wie  Priester  und  Seelsorger,  oder  auch  wie  Denker  und  Erfinder, 
Herrscher  und  Kriegsmann  von  Berufs  und  Amts  wegen  zu  sein.  Aber  die 
dilettantische,  nur  von  der  ,, Eingebung"  geleitete  Ausübung  dieser  größten 
und  wichtigsten  Verrichtungen  bringt  noch  größere  Gefahren  mit  sich ;  ein 
stetiges  Kulturleben  könnte  sich  dabei  unmöghch  entwickeln.  Wir  müssen 
unbedingt  dabei  bleiben,  daß  gewisse  Personen  ihr  ganzes  Leben  der  künst- 
lerischen oder  religiösen  oder  wissenschaftlichen  oder  regierenden  Tätigkeit 
widmen  und  dieselbe  als  ihren  wirklichen,  von  aller  Welt  anerkannten  Beruf 
betreiben.  Verderblich  wird  das  nur  dann,  wenn  das  Volk  im  ganzen  nicht 
stark  und  frei  genug  ist,  diese  Personen  in  Schranken  zu  halten,  die  richtigen 
auszuwählen,  die  entartenden  auszuscheiden,  den  erlahmenden  und  erstar- 
renden frisches  Leben  einzuhauchen. 

Der  Priester  ist  wie  ein  Spiegel,  der  alle  Stimmungen  der  Gemeinde  zurück- 
strahlt. Er  soll  und  muß  alles  miterleben,  was  seinen  Anvertrauten  begegnet. 
Daher  kann  er  nicht  alle  Stimmungen  mit  derselben  Stärke  durchmachen 
wie  die  Betroffenen.  Er  kann  sich  nur  auf  Augenblicke  mit  dem  Einzelnen, 
der  ihn  als  Seelsorger  in  Anspruch  nimmt,  und  mit  den  Versammelten  bei 
religiösen  Akten  gleichsetzen.  Sein  Gemüt  muß  beweglich  und  aufnahmefähig 
sein  wie  das  des  Künstlers.  Aber  zugleich  muß  er  eine  gleichmäßige  Ruhe 
wahren;  denn  er  steht  als  Vertreter  des  Bundesgeistes  da,  er  soll  so  stark 
sein,  daß  er  einen  Ausgleich  schaffen  und  die  in  die  Höhe  geschnellte  oder  in 
die  Tiefe  gesunkene  Schale  zum  Gleichgewichtspunkte  zurückführen  kann. 
Wenn  er  das  vermag  —  und  daß  er  es  vermag,  dafür  müssen  seine  Natur  und 
seine  Erziehung  sorgen  — ,  so  wird  er  sich  nicht  nur  von  der  geschäftsmäßigen 
Kälte,  sondern  auch  von  der  Erheuchelung  des  Mitgefühls  freihalten. 

Und  so  komme  ich  zu  dem  Schlüsse :  trotz  aller  Einwände,  die  gegen  den 
Priesterberuf  mit  Recht  erhoben  worden  sind  und  die  in  unserer  Zeit  zu 
einer  großen  vielstimmigen  Anklage  gegen  ihn  angeschwollen  sind,  müssen 

306 


wir  für  die  Zukunft  dieses  Berufes  eintreten.  Halten  wir  den  Priester  in  Ehren ! 
Nutzen  wir  ihn  I  Aber  gestalten  wir  den  Beruf  so,  daß  er  wirldichen  Nutzen 
zu  stiften  vermag,  und  weisen  wir  ihm  die  Stelle  an,  die  ihm  innerhalb  eines 
freien  religiösen  Bundes  und  als  Glied  des  allgemeinen  Kulturorganismus 
zukommt. 


iii  REGISTER  BSE 

Ena  Ena 


1^ 


Aaron  II  40. 

Abendmahl  I  192,  279,  307,  311,  II  28, 
christliches  I  221,  als  Scheinhand- 
lung I  241 ;  Abendmahlshandlung 
II  133,  -kelch  I  301,  II  123. 

Aberglaube  I  251  f.,  II  83. 

Ablenkung,  Erziehung  der  II  297. 

Abnormität  des  Priesters  1 29,  II  224 f., 
sexuelle  II  218  f. 

Abraxas  I  256. 

Abseitsstellung  des  Pr.  I  29. 

Absinth  I  216. 

Absolution  II  287,  289,  2941. 

Absurdität  der  Dogmen  I  137. 

Abtötung  I  31. 

Abtreibung  der  Frucht  II  10  f. 

Abulie  II  86 f..   89. 

Abwehrmaßregeln,  die  nervösen  Er- 
scheinungen sind  I  125. 

Abwesenheit  des  Geistes  I  185. 

Achilleus  II  136. 

Ackerbaukult  I  201. 

Agamemnon  I  289. 

Agitation,  motorische  I  184. 

Agitator  II  188,  280. 

Agrippa,  Gelehrter  II  95. 

Ahnenbild  I  261 ;  Ahnenkunde,  als 
Keim  der  Geschichte  II  170. 

Ahnungen  II  83. 

Aigner,  Ed.,  über  Lourdes  II  ^y. 

Ainustämme  I  148. 

Alchimie  II  94. 

Alkohol  I  21 3 ff.,  II  135,  194 ff.,  202 f., 
208,  2iof.,  als  Zauberarznei  I  266, 
beim  christl.  Abendmahl  I  221. 

Allegorist  II  108. 

Allerheiligste  I  301. 

Allmachtsrausch  II  227. 

Almosen  I  309. 

Alp  II  16. 

Altar  II  109,   I46f. 

Altersschwachsinn  I   132. 

Amnesie  I  182. 

308 


Amokläufer  I  210. 

Amos  II  75. 

Amulett  I  174,  193,  201,  256ff.,  287, 
298.  II  8,  30. 

Anachoret  II  206. 

Anarchismus  II  75,   250,   252 f.,   263. 

Anarchisten  II  209. 

Anatora,  Priester  als  II  172. 

Andree,  R.,  über  Weihegaben  I  308, 
über  den  Schmied  II  8. 

Anfall  I  149,  II  73,  236f.,  287,  epilep- 
tischer I  122,  und  hysterischer  I  125, 
128,  hysterieartiger  I  122,  I  175 ff., 
religiöser  II  179. 

Angst,  des  Pr.  I  2 17 f.,  als  Triebfeder 
des  Beichtens  II  288. 

Animismus  I  237. 

Antichrist  II  251,   253. 

Aphrodite  II  98,  154,  —  Astarte  I  25. 

Apokalypse  I  185. 

Apollon  I  177,  181,  223,  II  24,  85,  149. 

Apostel  II  12;  Apostelgeschichte  I  38, 
186;  Apostolikum  II  40. 

Arbeit,  wird  verachtet  I  15. 

Ares  II  154. 

Aristoteles  II  6,  62,   107. 

Arzneimittel  II  172. 

Arzt  II  2  ff.,  284  f. 

Aschaffenburg,  Psychiater  I  195. 

Askese  II  135,  199  ff.,  236,  292,  als 
Opfer  I  266 ff.,  ihr  kulturschaffen- 
der  Wert  II  203;  Asket  I  30,  32,  122, 
197,  203,  210;  asketische  Übungen 
I  30. 

Asklepios  II 23 f .,  37 ;  Asklepiaden II 38. 

Astrologie  II  80,  91  f.,  i69f. ;  Astrologe 

I  76,   II  86. 
Astyages  II  80. 
Asvins  II  24. 
Äther  I  216. 

Athos,  Mönche  am  I  180. 

Attribut,     göttliches     I     191,     222  f.» 

II  I49f. 


Aufklärung,  sexuelle  II  297. 

Aufzug,  Prozession  II  270. 

Augenamulett  I  140. 

Augustinus  I  41. 

Ausdrucksbewegungen,  als  Wurzel  der 
Zauberhandlungen  I  233  ff.,  242, 
II   122. 

Ausschweifung,  ihre  religiöse  Bedeu- 
tung I  i3of.,  206,  II  113,  132,  177, 
236. 

Autoerotismus  I  199,  202,  II  300. 

Automatismen  I  128. 

Autonomie  I   108,  II  241. 

Autosuggestion  I  166  f. 

Baalspriester  I  267,  II  73  f. 

Bacchanten  I   176,  202,   224,  296. 

Bach,  Seb.  II  264. 

Bach,  heiüger  I  150. 

Bader  II  5. 

Bäder,  deren  rel.  Zweck  I  196,   240. 

Badewesen  I  263  f.,  II  31. 

Bahnsen,  Jul.  I  14. 

Bajadere  I  25. 

Bakis  II  88. 

Barden  II  155. 

Bartels,  üb.  primitive  Medizin  II  13. 

Bartolomeo,  Fra  II  126. 

Basihka  II  146. 

Baukunst  II  168. 

Baum,  d.  heihge  I  150;  Baum-  vmd 

Pflanzensäfte  I  213. 
Ba3n:euth  II  196. 
Beerdigung  II  247,  273,  305. 
Beethoven  II  264. 
Befreiung,  Drang  nach  II  203  ff. 
Begeisterung,  religiöse  I  153 f.,  295. 
Begnadigung,    durch    höhere    Mächte 

I  122,   128. 

Beichte  I  31,  II  285  ff.;  Beicht- 
groschen    I     249;     Beichtproblem 

II  224;   Beichtstuhl   der   Griechen 
II  164;  Beichtväter  II  224. 

Beischlaf,  zauberhafter  II  11. 
Bekehrungen  I  34,   135,   160. 
Bekenntnis,  Beicht-  II  286. 
Bemalung,  des  Körpers  I  259. 
Berauschtheit  I  122;  s.  auch  Rausch. 


Bemheim,  über  Suggestion  I  166. 
Berserker  II  73;   Berserkerzom  I  173. 
Berufung,  zum  Pr.  I  135,  149,  II  176!. 
Berufscharakter  I  13;  Berufspriester- 

tum  II  305  ff. 
Berufsgeheimnisse,    des    Pr.    I    275, 

II  III. 
Beschneidung  I  265 f.,  II   113 f.;  Be- 

schneidungsfest  I  274. 
Beschwichtigungshandlungen  II    129. 
Beschwörung   I   6,    114,    II    151,    der 

Krankheit  II  26. 
Besessene,    Besessenheit   I    153,    162, 

176,  II  14. 
Bestechung    Gottes    durch    den    Pr. 

I  108. 
Betäubung  I   128. 
Betel,  Kaugift  I  213. 
Bethe,   E.,   über  dorische   Päderastie 

I  28. 

Bettelorden  II  109;  Bettler,  priester- 
licher I  16,  75. 

Betrüger  I   117,   136. 

Bewußtseinszustand,  veränderter  I 
130;  bewußte  Seelentätigkeit  II 
76ff. 

Bibel,  als  Urkunde  II  loöff. ;  als 
Orakel  II  88. 

Bier  I  220,  293. 

Bilderstürmer  II  125, 

Binet,  Psychiater  I  159. 

Bins wanger,  über  Hysterie  I   170. 

Biologie  II  244. 

Bischof  I  248. 

Bismarck  II  206. 

Blavatsky,   Frau,   Theosophin  II   43, 

95- 

Bück,  der  böse  I  140,  234. 

Blut,  als  Farbstoff  I  211  f.;  Blut- 
trinken I  288. 

Bonus,  Arthur,  über  d.  Kirche  II 
256f.,  261. 

Bossuet  II  107. 

Bousset,  Wilh.  I  92,   II   181. 

Botanisches  Wissen  des  Pr.  II  172. 

Brahmane  I  15,  46,  66,  93,  249,  303, 

II  62,   165,   170. 

Brautlager,  d.  heihge  I  201,  279,  283. 


309 


Breuer,  Neurologe  I  170,  II  287  f. 
Briefe,  paulinische  I  38. 
Brüder,  tanzende  I  172. 
Brunstzeit  I  199. 
Buchenstäbchen,  Orakel  I  114. 
Bücher,  Karl,  über  Arbeitsvereinig^ng 

I  72,  über  Rhythmus  I  208  f.,  über 
Gesang  II  150! 

Buddha  I  45,  61,  64,   188,  194,  308, 

II  59,  71,  206;  Buddhismus  I  221, 
301;  Buddhistenheihge  I  133;  Bud- 
dhistenmönche I  66. 

Bünde,    religiöse    I    73  f.,     loi,    267, 
II    248ff.,    290,    294;    Bundesfest 

I  288 ff.;  Bundeslade  I  86,  97; 
Bundesopfer  I  287  ff. 

Buschan,  Ethnologe  I  112. 
Bußübungen  II  128,  237. 

Cäsar  I  177. 

Caghostro  II  53,   196. 

Camorra  I   102. 

Chaldäer  II  92. 

Charakter,  d.  hysterische  I  171. 

Charcot,  Psychiater  I  176,  II  36,  38. 

Charlatan  II  35,   187,  305. 

Chirurgie  II  5. 

Chlüsten,  russische  Sekte  I  210. 

Chor,  Raum  in  der  Kirche  I  301. 

Choral  II   152. 

Chorea  I  153. 

Chorführer  I  299. 

Christus,  Kultgott  I  274,  286;  christ- 

üche  Wissenschaft  II  34. 
Cicero  II   107. 
Comte,  A.  II  250,  265. 
Cornaro,  über  das  Fasten  II  212. 
Cosmas  und  Damian  II  24. 

Dämmerzustände  I  183. 
Dämonenaustreibung   II   27,    -glaube 

II  2331 

Daimonion  des  Sokrates  II  89. 

Dalai  Lama  I  46. 

Dante  I   149. 

David  I  85,  285. 

Davis.  Spiritist  I  175,   182,  II  95. 

Debora  I  28. 


D6g6n6r6  superieur  I  184,  203. 

Dekane  I  248. 

Dementia  praecox  I  132,  II  83. 

Demeter  und  Köre  I  202. 

Demodokos  II  154. 

Demosthenes  II  107. 

Derwisch  I   14,  309,  II  57,   155,  178. 

Despotismus  II  52  ff.,  249 f.,  252,  258. 

Dewey,  Arzt  I  193. 

Diagnose  II  22. 

Dialektik  II  168. 

Diät  I  203,  ungesunde  II  177,  gegen 

den  Zweifel  II  237;  Diätpropheten 

II  210;  Diätverordnungen  II  176; 

reügiöse  I   192  ff. 
Dichter  II   171,   198. 
Dieterich,  A.  I  26,  92,   161,  286. 
Differenzierung     des     Priesterberufs 

I  76. 
Dionysos    I     176,     202.    223,    II    71. 
Dionysosdienst  I  122,  -kult  I  22of. 
Diplomat,   Pr.  als  I   12. 
Dirne,  heihge  I  25. 
Disharmonie  I  33!.,  II  225. 
Dithyrambus  II  152. 
Dogma  I  9.  Dogmatik  II  117,  229ff., 

261 ;  Dogmensysteme  I  156,  158. 
Domherren  I  248. 
Dominikaner  I  75,   II  107. 
Don  Quixote  I  159,  II  304. 
Doppel-Ich  I   158  ff. 
Drama  I  2iof.,  285f.,  II  137,  148,  264. 
Dryade  I   145. 
Dualistische  Lehre  I  34. 
Dubois,  Paul  II  36,  285,  296ff. 
Düfte,  himmlische  und  höllische  I  222. 

Eddy,  Mrs.  II  97. 

Egoismus  der  Einsiedler  I  i8. 

Ehe  II  221,  297,  geisthche  I  210; 
Ehelose  I  30,  II  292!.;  Ehe- 
schließung II  272. 

Eid  I  112 f.;  Eideshelfer  Im;  Eides- 
handlungen I  112  f. 

Eigentum  I  102  f. 

Einbalsamierung  II  172. 

Einbrüche  I   167,   II  75. 

Einfühlung  II  123. 


310 


Eingebung  I  138,   I46ff.,  II  265. 
Einheit,  mit  Gott  II  287. 
Einsamkeit  II  225,  als  Rauschmittel 

I  i94f. 

Einsiedler  II  62,   166,  292. 

Ekstase  I  114,  129,  178 f.,  186,  II  76, 
81.  93.  236,  erotische  I  202;  Eksta- 
tiker    I    32,    148,    155  f.,    184,    211, 

II  176. 

Eüas  I  61.  II  73  f. 

EUis,  Havelock  I   199. 

Emmerich,   Katharina  I   175. 

Empedokles  II  73.   166,   191  f. 

Empfängnis,  Verhinderung  der  II  10  f. 

Engelhardt,  A.  II  213. 

Engelmachen  II   10. 

Entartung  I  130  ff.,  200;  Entartungs- 
irresein I   132. 

Entbehrung  I  218. 

Enthaltsamkeit  I  203,  269,  II  2 15  ff. ; 
Enthaltung  II   113,   135. 

Entheos  I  176;  Enthusiasmus  I  176, 
II  126,   ijjii-,   182,   186,   195,  202. 

Entsagung  I  266 ff.,  II  199 ff.,  225, 
256;  Entsagungsbräuche  I  268. 

Entwicklungskrankheit  I  133,   135. 

Entziehungserscheinungen  I  217. 

Entzückungen  I   149. 

Epheben  I  265,  II   114. 

Ephod  I  113. 

Epidemien,  reügiöse  I  172. 

Epilepsie  I  176 f.;  Epileptiker  I  215. 

Epiphanie  I  221. 

Episcopus,  summus  I  82. 

Epos  I  211,  II   1581 

Erdspalte,  in  Delphi  I  224. 

Eremit  I  145,  210,  II  62. 

Erleuchtungen  I  138,  155,  II  83. 

Erlösung  II   133,   164,  289. 

Ermüdung  I  218,   Gefühl  der  I   188. 

Ernährung  1 189 ff.,  -Störungen  II 194  f. 

Erotik  I  189,   I98f.,   II  196. 

Erregung  I  125,  128,  erotische,  II  194, 
und  Betäubung  II  113,   175  ff. 

Ersatzbefriedigung  II   132. 

Erscheinungen,  Visionen  I   147. 

Erschöpfung  I  131,  II  203;  Erschöp- 
fungszustände I  122. 


Erweckungsbewegung  II  256,  -sekten 

I  165,    175,    II    i77f.,    185,    20g, 
-Christen  II  83. 

Erziehung    des    Priesters    II    241  ff., 
durch  den  Pr.  II   iioff.,  224,  295. 
Eschatologen  I   185. 
Esra  I  86. 
Evangelisten  II   171. 
Exerzitien,  kathoüsche  II  176,  237. 
Exorzismus,  Exorzisten  II  27,  40. 
Exzeß  II  225, 

Fahrende,  im  Mittelalter  II  57,   155. 
Fakir  I  133,   173,  II  57,   155. 
Fanatiker  I  138;  Fanatismus  I  41  ff., 

II  209. 

Farbe,  ihre  Rauschwirkung  I  211  f. 

Fasching  II  138. 

Fasten  I  130,  191  ff.,  218,  II  26,  als 
Opfer  I  266  ff. ;  Fastengebote  I  193; 
Fastenideal  II  2i2f. ;  Fastenregeln 
II  117;  Fastenzeit  II  138. 

Fehme  I   102. 

Feldscherer  II  5. 

Fere,  Psychiater  I   159. 

Fem  Wirkungen  I  235,  II  265. 

Fest,  reügiöses  I  271  ff.,  294,  II  127; 
Festordner  I  299 ;  Festorgien  1 190  f. ; 
Festtänze  I  6. 

Fetisch  16,  iii,  113 f.,  202,  238, 
256f.,  II   145. 

Feuerproben  I   113. 

Feuertod  I   116. 

Fibuherung  II  114. 

Firmung  I  274,  286,  II   113. 

Fleischgenuß  I  190. 

Flughalluzinationen  I  149. 

Förster,  F.  W.  II  205!.,  255 f.,  263, 
297. 

Forel,  A.  I   181  f. 

Formen,  rehgiöse  II  272. 

Forscher,  Forscherberuf  I  6,  253. 

Franz  v.  Assisi  I  41,  II  17;  Franzis- 
kanerorden I  75. 

Frau  I  21,  23,  24,  II  83;  als  Priester 
I  2iff. ;  als  Arzt  II  7,  9!,  Verhältnis 
zum  Priester  I  169,  II  222  f.; 
Frauenbewegung  II  293. 


311 


Freiheitsgefühl  II  1750. 

Freikirche  II  249,   258,  26of. 

Freimaurer  II  287,  -bund  I  74 f.,  II 
261,  269;  -Sprüche  II  272. 

Freud,  S.  I  32,  151,  170,  197,  199, 
II  71,  79f.,  I28f.,  218,  285 ff.,  296 ff. 

Friede  will  der  Pr.  I  19;  Friedens- 
häuptüng  I  80  f.,  117;  Friedens- 
pfeife I  218. 

Friedmann,  Psychiater  I  136. 

Frobenius,  Ethnologe  I  27. 

Frömmigkeit  I   128. 

Fruchtbarkeit  der  Frau  II 11 ;  Frucht- 
barkeitszauber I  25,  282,  299. 

Furcht  I  188;  s.  auch  Angst. 

Ganga  I  iii, 

Gaukler  II   12,  57,   i54f. 

Gebärmutter  I  170. 

Gebet  I  114,  207,  240,  285,  311, 
II  121,  als  Heilmittel  II  7;  Gebets- 
mühlen II  loi,   133. 

Geburt  II  272;  Geburtsdämonen  I  23; 
Geburtshilfe  I  274,  II   10. 

Geheünbünde  I  74,  92,  102,  247, 
II  38,  41;  s.  auch  Bund. 

Geheimkulte  I  92. 

Geißeln,  Geißelung  I  130,  i96f.,  240. 

Geist  II  223 f.;  Geisterbeschwören  I 
230,  Geistererscheinung  I  193, 
-Sprüche  I  179,  -Zitierung  II  25; 
Geistesgaben  II  179,  -krankheit 
I  2131,  -Störung  I  122;  Geistigkeit, 
reine  I  32. 

Gelübde  II  38,  55 f.,  242 f. 

Gemeindefeste  I  300  f.,  -gesang  II  125, 
-kult  I  247. 

Gemeinschafts bewegung  II  179,  -bil- 
dung  I  59,  246  f.,  II  252  ff.,  -leben 

I  276ff. 

Gerechtigkeit  I  108;  Gericht,  jüngstes 

II  295  ;  Gerichtsverhandlung  I  1 1 1  f . 
Geruchshalluzination   I    149,    -sinn   I 

222f. 

Gesang,  gemeinsamer  II  270. 
Geschichte,  als  Wissenschaft  II 1 1 7, 1 70. 
Geschlechtsakt  I  25,  200 ff.,  268,  -losig- 
keit  I  31. 


Gesellschaftsschichten  II  66  f. 

Gesetz  I  iio,  als  Predigttext  II  105. 

Gesichtsmaske  I  54;  s.  auch  Maske. 

Gestammel  I   185  f. 

Gestirnkult  I  276ff. 

Gesundbeten  II   186. 

Gewänder,  heihge  I  259. 

Gewissen  II  45,  89,  286. 

Gewohnheit  I  263,  II  132  f. 

Gewürz  I  190,  222 ff.,  -opfer  II  195. 

Gift  I  211  ff.,  II  113,  177,  226;  Gift- 
trinken I  113. 

Glaube  I  139,  236,  II  96,  i2of.,  168, 
229ff.,  261,  301. 

Gleichnisse  Jesu  I  40. 

Glocke  II  149. 

Glücksspiel  II  135. 

Goethe  I  95,  II  195,  206. 

Goldscheider,  Physiolog  I   131. 

Gott,  als  Arzt  II  2;  Götterglaube 
l238f.,  -kämpf  II  19,  -wahn  II  187; 
GotterfüUtheit  I  215;  Gottesbilder 
I   88,   -dienst   II    104,    -gnadentum 

I  78,  -Staat  I  93 ff.,  -urteil  I  iiif. ; 
Gottkönig  I  78,  184,  246f.,  II  25off., 
-mensch  II  266,  -sehgkeit  I  128. 

Graß,  über  russische  Sekten  I  210. 
Grimm,  Jakob  I  iii,  252. 
Grimme,  Hubert  II   157. 
Größenideen  I  141,  -wahn  I  139,  141  f., 

215. 
Groos,  Karl  I  212,  II  122,  I26f. 
Grosse,  H.  I  212,  260,  II   141. 
Grußformeln  II  97. 
Gunkel,  Theologe  I  92. 
Guslaren  II  154. 
Guyau,  J.  M.  I  237,  II  236f.,  250,  264. 

Haare   I   26of. ;    Haarscheren   I   261, 

-tracht  260 ff.,  II  142. 
Hahn,  Ed.  I  22. 
Halluzination  I  134,  145  ff.,  154,  185, 

II  75  ff.,   130 f.,  287. 
Handauflegen  II  7,   113. 
Handlungen,    heilige    II    117,    248 f., 

263  ff. ;  s.  auch  Kult. 
Hanf  I   196,  216. 
Hanswurst  II  156. 


312 


Haoma  I  293. 

Harlekin  II  156. 

Hamack,  Ad.  II  27. 

Hartmann,  E.  v.  I   152. 

Haruspices  II  90. 

Haschisch  I  216. 

Hausgötter  I   115,   -vater  I   77,   302. 

Havenstein,  M.  I  37. 

Hebamme  I  274,  II  9. 

Hedschra  II  70. 

Heidnisch,  als  Begriff  II   184. 

Heiland  I  226,  230,  II  12,  253,  289; 

Heilbringer  II  20  f. ;  Heilgötter  II  24. 
Heilige,  religiöse  I  31,  197,  270,  II  205; 

heiüge  Krieg  I  65,  —  Schrift  I  113; 

Heihgung  I  159. 
Heilmagnetiseur  II   29;   Heilmittel  I 

191;   Heilsgut  I   193,   229,   II   182; 

Heilverfahren  II  2,  -weise  I  115. 
Heilsarmee  I   186,   II   178,   198,  206, 

209,  258. 
Heiratsbräuche  1 200 ;  s.  auch  Hochzeit. 
Hektor  II  88. 
HeUwig,  A.  I  104. 
Henker,  II  ji. 
Herakht  I  285. 
Herodot  I  25  ff.,   114,   116,   196,  262, 

II  22,  48,  79,  91,  152,  171,  262. 
Heroengrab  II  98,  -kult  II  266 f. 
Heroismus  II  65  f.,  126,  203,  209,  285. 
Hesiod  II  106,   118,  171. 
Heuchelei,  Heuchler  II  43  f.,  305. 
Hexe  I   19,   22,   24,    173,   II  9f.,   40; 

Hexenmale  I   174. 
Hierarchie  I  66. 
Hierodule  I  25. 
Himmelfahrten  I  149. 
Hieb  I  119,  II  17. 
Hippokrates  II  21,  38. 
Hochzeit    II    305;    Hochzeitsbräuche 

I  26,  205  f.,  283,  II  II,  -fest  I  274, 
-gesänge  I  205  f. 

Hoensbroech,  Graf  Paul  II  235. 
Höfler,  Ethnologe  II  13. 
Hofprediger  I  249,  II  58 f.;  -zeremo- 
niell I  56,  78. 
Hof  Schläger,  über  Anfänge  d.  Medizin 

II  31. 


Hohe  Lied  Salomonis  I  205  f. 

Höllenfahrt  I  149. 

Homer  I  293,  II  85.  88,  106,  118.  162, 
171. 

Homöopathie  II  7,  22. 

Homosexuell  I  28f.,  II  2i8f. 

Honigtrank  I  213. 

Hopf,  L.  II  24. 

Horneffer,  E.  I  243,  II  254,  276. 

Hostie  I  279. 

Hufeisen  II  8. 

Hungerkur,  Hungerkünste  I  32,  133, 
162,   192 ff.,  240. 

Hybris  II  227. 

Hymnenl  23of.,  II  i02f.,  152, 168,  265. 

Hypnose  I  i63ff. ;  Hypnotisierung 
II  99  ff. 

Hysterie,  Hysteriker,  hysterische  Er- 
scheinungen I  24,  31,  131,  135,  159, 
168,  195,  215,  II  43f.,  83,  135,  178. 

Idealismus  I  62,  67  ff. 

Ideenflucht  I  191. 

Ignatius  v.  Loyola  I  41,  II  207. 

Illusionen  I  145  f. 

Imhotep  II  24. 

Imperativische  Halluz,  I  147. 

Incubus  I  148. 

Individualist    I     253;     Individuation 

I  154- 
Indra  I  220. 
Inkarnation  I  221. 
Inspiration  I  153,  185,  II  I92ff. 
Instrumente,  Musik-  II  149  f- 
Iphigenie  I  290. 

Isis  II  24,  37. 
Islam  I  221. 

Jagdtänze  I  208;  -tiere  I  16. 
Jahreszeitenfeste  I  2 76 ff.,  -kult  I  201, 

298  f.,  -tanze  I  208. 
James,  W.  I  8,  34,  154,  155,  157,  165, 

II  236. 

Janet,  Pierre  I  17!.,   159. 
Jaques-Dalcroze  II  271. 
Jeanne  d'Arc  I  28. 
Jenseits  I   106  f. 
Jephta  I  289. 


313 


Jesaias  I  6i. 

Jesuiten,  -orden  II  50f.,  107,  iio,  168, 
20'ji.,  258. 

Jesus  I  37 ff.,  61,  63 f.,  109,  148,  156, 
192,  221,  230,  255,  308,  309,  310, 
II  12,  27ff.,  40,  59,  71,   113,   135, 

182,     205  f.,     209,     221,     225f.,     234, 

238f.,  254,  257,   2581.   268,  295. 

Johann  v.  Kronstadt  II  187. 

Johannisevangelium  I  38,  II  96. 

Johnson,  rel.  Hochstapler  II  43. 

Jokulator  II  155. 

Josef  II  80. 

JoumaUst  II  282. 

Jugend,  hat  Beichtbedürfnis  II  290, 
-bildung  II  276 f.,  -fest  (s.  auch 
Pubertätsfest)  I  274,  -irresein  I  135, 
-weihe  II  113  ff. 

Jung,  Psychiater  I  159,  II  83. 

Jungfrau,  rel.  I  25 f.;  Jungfrauen- 
kinder I  27. 

Junggesellen  II  291  f.,  -haus  II  292. 

Jurist  II  281  f. 

Jus,  primae  noctis  II  11. 

Kabbaiist  II   108. 

Kaffee  I  213,  II  195. 

Kaiserschnitt  II   172. 

Kalender  II  170. 

Kampf,   im  Menschen  I   125,   II  25, 

-spiele  II   132,   137,  -Instinkt  I   17. 
KannibaHsmus  I  288 ff.,  II  172. 
Kant,  I.  II  231. 
Kanzel  II  109,   146. 
Kapseln,  Gebets-  II  10 1. 
Karagöz  II   156. 
Kardec,  Allan  I   175. 
Karl  d.  Große  I  93. 
Kartenlegerin  II  86,  -Orakel  II  80. 
Kaste  II  112. 
Katalepsie  I   153. 
Katechismus  II  117  f. 
Kautzsch,  Theologe  I  85. 
Kawawurzel  I  180,  219. 
Keppler,  Bischof  II  234  f. 
Kerschensteiner,  Georg  II  241. 
Ketzer   I   89,   -richter   I   70,   -verfol- 

gfungen  I  250. 


Keuschheit  I  203,  268,  II  177,  216  ff. 

Kindeskeim  I  26. 

Kirche  I  82  f.,  90,  96,  II  146,  247 ff., 
265;  Kirchenfürst  I  15,  46,  -väter 
II  1671 

Kleid,  Kleidung  I  258 f.,  275,  II  196. 

Kleinheitsideen  I  141. 

Klimakterium  I   160. 

Klingsohr  II  196. 

Kloster  II  207,  -schulen  II  117. 

Koka,  Kokain  I  213,  216. 

Kola  I  213. 

Kommunion  I  275,  29of.,  II  114,  176, 
184,  257,  264,  267. 

Komponist  II  148. 

Konfirmation  I  274,  286,  II  113,  176, 
247,  273  ff. 

Konflikte  II  287,  290. 

König,  und  Priester  I  95ff. ;  Königs- 
gräber I  78,  -palast  II  144. 

Konservativer  Sinn  I  56  ff. 

Koran  I   146,   II  72,   117. 

Kosimpu  I   148  f. 

Kot  und  Urin  II  2gi. 

Kraepelin,  Psychiater  I  136,  215  f. 

Krafft-Ebing,  Psychiater  I  197. 

Krämpfe  I   153,   181. 

Krankheit  II  2,  i2ff. ;  Krankheits- 
dämon II  14,  -merkmale  I  124, 
-Übertragung  II  21 ;  Krankenheilung 
II  3,  -pfleger  II  292. 

Krauss,  F.  S.  II  154. 

Krieg  I  276,  300,  II  70;  Kriegshäupt- 
üng  II  250,  -tanze  I  147,  206,  208. 

Krise,  reügiöse  I  4. 

Kruzifix  I  6,   113 f.,  257. 

Kult  I  238f.,  II  I5ff.,  247ff.,  263ff., 
-feste  II  26gi.,  -gebrauche  I  201, 
-handlungen  I  6,  232,  277  ff.,  -pfleger 

I  226,  -statte  II  144,  -Übung  II  168. 
Kunst  I  36,  II  I39f.,  I97f.,  264,  269, 

306,  -werk  II  271;  Künstler  I  253, 

II  83,   193  ff.,  221. 

Kur  I  115,  II  22,  -orte  II  37,  -pfuscher 

II  7.  33.   187. 
Kuß  II  28. 
Kybele  I  282. 
Kyros  II  71. 


314 


.Lähmungen  I  153,  191,  II  81,  287. 

Laienkelch  II   125. 

Lanze,  heilige  II  8. 

Lasch,  Ethnologe  I   112. 

Lebensreformer  II  209,  -regeln  II  105, 
-weise  II  194,  -wille  I  228. 

Lehmann,  A.  I  173,  251,  II  95. 

Lehre  II  182,  261;  Lehrer  II  274  ff. ; 
Lehrlingsschlag  II  114,  Lehrver- 
pflichtung I  9,  -zeit  II  113. 

Leviten  I  iio. 

Liebe  I  i8f. ;  Liebeszauber  I  267. 

Lied  I  206 ff.,  211,  II  i5off. 

Linoslied  I   143. 

Lippert,  Julius  I  8,  63,  65,  223,  246, 
249,  309. 

Liturgie  II  247. 

Löwenfeld,  Neurologe  II  35. 

Lombroso,  Psychiater  II  188. 

Lorbeer  I  223,  -kauen  II  195. 

Lorenz,  Übersetzer  von  James  II  236. 

Los  I   113,  -Orakel  I   ii4f.,   II  88. 

Lourdes  II  36  ff.,  -wasser  II  7. 

Lublinski,  Sam.  I  37,  92. 

Lucian  I  50. 

Lüge  II  50  f. 

Luperci  I  283. 

Lustempfindungen  I  132. 

Lustration  I  263  f. 

Luther  I  41,  61,  64,  66,  II  67,  94, 
126,   157,   168,    179,   207,   253,   294. 

Lyrik  II  158. 

Männerbund  I  21,   29,  81,  162,  202, 

II  9. 
Märchen  II  159. 
Märtyrer  I  173. 
Magier  II  92. 

Magnus,  über  rel.  Medizin  II  34. 
Mahl,    gemeinsames    I    205;    s.    auch 

Abendmahl. 
Mannbarkeit  I  265,  267. 
Mannhardt,    Wilh.    I   281,    293,    299, 

II  138. 
Mantis  II  91. 
Manus  Gesetzbuch  I   iii. 
Marcinowski,  Neurologe  II  296,  301. 
Marduk  II  24. 


Maria  v.  Magdala  II  135. 

Mariner  über  die  Tongainseln  I  i8off. 

Maske  I  12,  49,  98,  177,  283f.,  II  41  f., 

138,    144,    196,    268;    Maskentänze 

II    156,    -verfertiger    I    299;    Mas- 
kierung I  102,  II  26. 
Masochist  I   I97f.,  210. 
Massage  II  30. 
Massensuggestion  I  172  f.,  -Zeremonie 

II   121,   124. 
Masturbation  I  31. 
Matabulen  I  180. 
Maurenbrecher,  Max  I  92. 
Medium  1  i35f.,  172,  i78f.,  181,  184, 

II  47 f.,  49,  82, 
Medizinmann  I  163,  172,  II  72;  -weib 

II  7,  gi. 
Meineid  I   112. 
Menschenfett    I    190;    -opfer   II    172, 

-typus  I  4. 
Menstrualblut  II  9;  Menstruation  I  23. 
Mereschkowski,  Dmitri  II  250. 
Merker,  Ethnologe  I  80. 
Mesembryanthemum  I  213. 
Messe  I  306,  II  109,  121,  123,  134,  152, 

247,  264. 
Met  I  220,  293. 
Metaphysik  I  229,   II  240. 
Meyer,  Ed.  I  84,  II  75. 
Mikado  I  117. 
Mißhandlung  I   122. 
Missionar  I  6. 
Mitleid  I   19! 
Mittler  I  135. 
Modemisteneid  II  51. 
Möbius,  P.  I  123. 
Mönchsorden  I  195. 
Mönkemöller,  Psychiater  I  175. 
Mohammed   I   61,    64,    66,    122,    146, 

149,    177,    185,   308,   II  72f. 
Moiren  I  28. 
Moll,  Psychiater  I  31. 
Monomanie  I  158. 
Moralpredigt  II   246,    271,   -theologie 

I  31,  II  50,  -Unterricht  II  275. 
Mormonenapostel  II  179. 
Morphium  I  213,  2 15  f. 
Moses  II  71. 


Motette  II  152. 

Mozart  II  264. 

Müller,   Joh.   II  253,  261,  263. 

Mumien  II  8. 

Munsa  I  285. 

Musik  I  2iof.,  II  26,  I49ff.,  168,  186, 

197  f- 
Muskelzuckungen  I   181. 
Mutterrecht  I  21. 
Mylitta  I  25. 
Myrrhen  I  222. 
Myste  I  143;  Mysterienkulte  I  285  f., 

-Sekten   I   74,    161 ;   Mystik  I   149, 

II  167;  Mystiker  I  127,  I54f.,  184. 
Mythologie  I  146,  227 ff.,  II  117,  154; 

Mythus    I    232 f.,    239,    241,    262, 

II  144,   158,   164,  2671 

Nabelschnur  II  9. 

Nachahmungsspiel  II  137. 

Nachgeburt  I  23,  II  9. 

Nächstenliebe  II  202,  227. 

Nacktkultur  II  208. 

Namensfest  I  274;  Namengebung 
II  116. 

Napoleon  I  55,   177. 

Naturapostel  I  127,  II  210,  -arzt 
II  209,  -empfindung  I  227  ff., 
-gemäße  Lebensweise  II  208  f.,  -heil- 
kunde  II  7,  -Wissenschaften  II  168, 
172. 

Ndembobund  I  161. 

Nebiim  I  85,  II  73,  82. 

Nehemia  I  86. 

Nektar  I  220. 

Nervenzufall  I  129. 

Niesen  II  29. 

Nietzsche,  Fr.  I  19,  44,  55,  124,  136, 
295,    II   631,   75,    163,  i9off.,    195, 

2I2f.,  221,  235f.,  245,  250,  270,  289. 

Nikotin  II  194. 
Nonne  II  292. 
Norm  II  228,  298. 

Obeüsk  II  147. 

Odyssee  II  154;  Odysseus  I  149. 

Ödipus  II  71,   165. 

Ölung  II  28,  121. 

316 


Offenbarung  I  128,  146!,  150,  152, 
I55ff.,  167,  i8of.,  I93f..  II  72f., 
75,  107.  166,  179,  258,  304;  Offen- 
barungsglaube II  84,  229  f. 

Offizier  II  280. 

Ohnmacht  I  184. 

Ohrenbeichte  II  294,  299. 

Okkultismus  I   173,   II  95. 

Oldenberg,  H.  I  248,  264. 

Omina  II  86,  88  f. 

Onanie  1  200,  202,  II  194. 

Opfer  I  65,  114,  193,  220,  269 f.,  287 f., 
292ff.,  302,  304f..  II  23,  132,  135, 
200,  -gedanke  I  265  f.,  304  f.,  -gerate 

I  201,    -handlung    I    241,    304f., 

II  133,  -mahl  I  222,  279,  II  113, 
-Orakel  II  90  f.,  -schauer  II  90  f., 
-tod  Gottes  I  306. 

Opium  I  216. 

Orakel  I  113,  129,  150,  179,  II  78, 
84ff.,  88,  -anfaU  II  47f.,  83,  -betrug 
II   45,   -männer   II   87  f.,   -priester 

I  114,  179,  182,  209,  219,  -statten 

II  87. 
Orchestra  II  147. 
Ordal  I  Ulf.,  114. 

Orden  II  112;  Ordensleute  II  292. 

Ordination  II  113. 

Orenda  I  234,  II  96. 

Orgel  II  149. 

Orgiastische     Kultbräuche     II     132; 

Orgien,  sexuelle  I  200,  206. 
Ornament  I  275,  Ornamentik  I  259 f., 

II  i4iff.,  151. 
Orpheus  I  149. 
Osterfest  I  301. 

Pagel,  über  rel.  Medizin  II  34. 

Palast,  als  Tempel  I  78. 

Fan  II  149. 

Pantomimus  II  271. 

Papst  I  46,  96,  118,  II  67,  250,  253ff., 

258,  -tum  II  54. 
Paracelsus  II  95. 
Paränese  II  285,  296. 
Paranoiker  I  138. 
Parkinson,  Ethnologe  I  74,  247  f. 
Partei,  klerikale  I  89. 


Pastor  I  72. 

Pathographie  I  123. 

Pathologie  I  122;  Pathologisches  beim 

Pr.  I  30. 
Patriarch  I  77,  II  283. 
Patroklos  II  136. 
Patronat  I  248. 
Pauke  II  149. 

Paulus   I   38ff.,   65,    122,    156,    161  f., 
177,    265,   II  206,   221,   225  f.,   259. 
Persönhchkeit,  Spaltung  der  I  158  ff. 
Pervers  I  130,   197;  Perversion  I  28, 
200,  II  194,  218;  Perversität  II  113. 
Pessimist  I  33. 
Petras  I  94,  II   156. 
Pfaffe  II  304. 
Pfingstfest  I  301. 

Pflanze,  als  Heilmittel  II 14 ;  Pflanzen- 
gifte II  172,  -opfer  I  293  f. 
Pfleiderer,  Otto  II  81  f. 
PhaUos  I  283,  "Prozessionen  I  202. 
Pharao  II  40,  80. 
Philosoph,  Philosophie  I  230,  II  106 f., 

166,  231. 
Physiolog,  Priester  als  II  172. 
Pilsudski,  Ethnolog  I  148. 
Pitcheriwurzel  I  213. 
Piaton  I  42,   168,   220,   II  21,   5off., 

II  io6f.,  131,   166,  218,  257. 
Plönies,  Psychiater  I  192. 
Ploß-Bartels  II   10. 
Podaleirios  II  38. 
Pontifex  maximus  I  63,  93,  248. 
Pope  I  299. 
Posaune  II  149. 
Post,  Ethnologe  I  iii. 
Prediger  II   166 f.;  Predigt  II  I04ff., 

240,  261. 
Presbyter  I  72. 
Prel,  du  II  95. 
Preuß,  K.  Th.  I  232,  277,  279!,  281, 

II  29,  42,   141,   156,   171. 
Priesterarzt  I  117,  II  5,  -famihen  I  14, 
-häuptling    I    75,    -könig    I    77  f., 
-Staat  I  90,  -tyrann  I  49,  184. 
Privatpriester  1 246  ff.,  II 3  ff.,  74, 1 86  ff. 
Prophet  I  61  f.,  66,  86,  99,  127,  253f., 
II  73;  prophet.  Gabe  I  173. 


Prozession  I  282,   II   152. 
Psalmen  I  231,  II  103. 
Psychoanalyse  I  170,  II  288,  296  f. 
Psychologie  I  68. 
Psychotherapie  II  6,  32,  35,  285. 
Pubertät  II  272;  Pubertätsfest  I  161, 

274,  286f.,  -zeit  I  135,   i6off. 
Pyramiden  II   147. 
Pythagoras  I  194,  II  71,  106,  166. 
Pythia  I  27,  177,  179,   184,  186,  192, 

223f.,  II  47ff.,   81  f.,   195. 

Quellen,  heiUge  I  224,  therapeutische 
n  37- 

Rache  I  16. 

Radenija  I  210. 

Rangklassen  I  76. 

Rank,  Otto  II  71. 

Rassenhygiene  II  217. 

Räucherung  I  264;  Räuchergebräuche 

II   195- 
Rausch    I    126,    129,    130,    136,    189, 
204ff.,    215,    II    I75ff.,    195,    211, 
236f.,  -erhöhung  II  292,  -gifte  I  127, 
189,    294,    -mittel    I    128,    212  ff., 
-pflanzen    I    293,     -tanz    II     177, 
-technik  II  113,  -trank  I  220,  -trieb 
I  128,  193,  -zustand  I  114,  122. 
Reaktionsfähigkeit  II  202,  211. 
Reformator  I  253. 
Reich,  H.  II  156. 
Reigen  II  271. 
Rein,  Pädagoge  II  275. 
Reinheit  II  203  f. 
Reitzenstein,  Ethnologe  I  26. 
Reiz  I  131,  II  211. 
ReHgion    I    123,    249ff.,    254f. ;    Reü- 
gionsforschung  I  8,  -mischung  I  91, 
-typus  I  295,  -Unterricht  II  ii4ff., 
274  f. 
Rehquie  I  78,  202,  302,  II  8f. 
Responsorium  II  103. 
Reue  II  289. 
Rhapsode  II  154!,  282. 
Rhea  I  282. 

Rhjrthmus  I  204ff.,  2o8ff.,  II  149. 
Ribot,  Psychologe  I  159. 


Richer,  über  Hysterie  I  176. 
Richter  I   104 ff..   II  281  f. 
Ritterorden  I  74  f.,  -schlag  I  267. 
Ritus  II  247 ff.,  263 ff. 
Rock,  heihger  I  98  f. 
Rohde,  Erwin  I  202,  II  162. 
Rolandsäule  II  147. 
Rosenkranz  II   loi,   128. 
Rosse,  heiüge  I  150. 
Rousseau  II  279. 
Rute,  Lebens-  I  265  f. 

Sagenkunde  II   117. 

Sakrament,  s.  Abendmahl,  Taufe  usw. ; 
Sakramentsschrein  II   146. 

Salbe  II  7;  Salbung  I  85,  222,  II  113. 

Salier,   Priesterkollegium  I  248. 

Salomo  I  86. 

Salz  II  226. 

Samuel  I  85  f.,  93,  II  73. 

Sappho  II  98,   152. 

Satyr  II   156. 

Saugen,  als  Heilmittel  II  30. 

Saul  I  851,  93.  II  73. 

Savonarola  II  126. 

Schamane  I  15,  127,  145,  I48f.,  173, 
177,   258,  II  25,  72,   113. 

Schauspieler  I  52. 

Scheinhandlungen  I  278f.,  II  132. 

Schiller  I  208,  II  127,   195. 

Schlaf  I  125,  188,  i94f. ;  Schlaflosig- 
keit I  218,  II  194,  196,  -wandeln 
I  128,   195,  II  83. 

Schmied,  als  Pr.  II  7f. 

Schmuck  I  258f.,  260,   275,   II   141  f. 

Schnabel,  H.   II  235. 

Schnyder,   Psychiater  I   134. 

Schoen,    über    Berauschungsmittel 

I  213. 
Schopenhauer,  A.   II  217. 
Schreiber,  heihge  II   171. 
Schröder,  L.  von  I  282. 
Schuldbewußtsein  I  240,  -gefühl  I  268. 
Schule   II   275  ff.,    291;    Schulmeister 

II  128. 

Schurtz,  Heinr.   I  22,  74,   161  f. 
Schwally,  Theologe  I  300,  II  73. 
Schweigegebot  I  194  f. 

318 


Schweinfurth,  Ethnologe  I  190. 

Schwert  I  113,  II  151,  -tanze  I  282. 

Schwestern,  ehrwürdige  II  248. 

Sch\viegermutter,  als  Hexe  I  22, 

Schwirrholz  I  21,  II  149. 

Schwitzen,  als  rel.  Leistung  I  195 : 
Schwitzhütten  I   195  f. 

Seele  I  237!.,  272,  II  i4f. ;  Seelsorge 
II  224,  273  ff. 

Segvers  II  157. 

Seher  II  85,  154,  -innen  I  27. 

Seiunktion  II  286 f. 

Sekte  I  133,  210,  II  256ff. ;  Sekten- 
stifter II  186. 

Selbstmißhandlung  I  I96f.,  II  132, 
-Zerstörung  I  36,   132,  II  215. 

Serapis  II  37. 

Sexualität  I  129,  I98ff.,  204,  II  223; 
Sexualleben  I  170,  218;  sexuelle 
Abhängigkeit  I  22  f.,  -Nöte  II  297 f. 

Sibylle  I  178,  -inische  Bücher  II  88. 

Simson  I  260,   II  73. 

Simulation  I   178,   181  f. 

Sin  II  24. 

Sinnestäuschung  I   128,   136,   145  ff. 

Skythen  I   114  ff. 

Smerdis  I  87. 

Smith,  Robertson  I  288,  290. 

Sokrates  II   106,   166,  226 ff.,   295. 

Soma  I  220  ff.,  293. 

Somnambule  I  164. 

Soziahsten  II  210. 

Spaltung  des  Bewußtseins  II  135. 

Spannungen  II  287  f. 

Speichel  als  Heilmittel  II  28  f. 

Spekulation  II  168. 

Spencer,  H.   II   127. 

Spiel  I  2o8f.,  302,  II  I22ff.,  263f. 

Spiritismus  I  173,  180,  -ten  I  175,  178, 
II  83,   186,  209. 

Sport  II  135. 

Spruch  II  271;  s.  auch  Zauberspruch. 

Staatskult  I  82,   115,  II  260. 

Starbuck  über  Bekehrung  I  160, 
II   177. 

Steinen,   K.  v.  d.   I   16,  II   143. 

Steinmetz,  Ethnologe  I   13 f.,  81. 

Stekel,  Neurologe  II  288. 


Stigma  I  24,  -tisierung  I   175. 

Stimmen  (Halluzinationen)  I  145 f., 
150,  II  76,   175. 

Stimmung  II   194. 

Stoiker  I   195,   II   17. 

Stolgebühr  I  249. 

Stoll,  Otto  1  172,  175,  ij6i.,  200, 
II   141. 

Strafe,  der  Gottheit  I  118. 

Substanzen,   Zauber-  II   12  f. 

Sühnopfer  I  305  f. 

Sünde  II  286,  Sündenbock  I  116, 
-gefühl  I   143. 

Suggestion  I  162,  i64ff.,  II  96ff. ; 
SuggestibiUtät  I  i66ff. ;  Suggestiv- 
kur II  34  f. 

Swedenborg  I  149,   160. 

Symbol  I  50,  191,  222,  259,  II  137, 
145,   165,  267. 

Sympathiemittel  I  236. 

Tabak  I  213,  2i8f.,  266,  II  30,   195, 

208. 
Tabu  I  103,  269,  -Vorschriften  I  6. 
Tacitus  I  27,  88,  114,  207,  219,  II  92 f., 

200. 
Tätowierung    I    259 f.,    275,    II    114, 

142  f. 
Tahsman  I  256 ff.,  287. 
Talma  I  55. 
Tanz  I   130,   201  f.,   204ff.,   223,   240, 

273,  276 ff.,  II  26,  113,  117,  120 ff., 

1471,  265,  268. 
Taschenspielereil  133,  180,  II 155,  186. 
Tasthalluzination  I  148. 
Tatrausch  I  210. 
Taube,  im  N.  T.  I  289. 
Taufe  I  161,  26^i.,  274,  311,  II  113!, 

116,  247,  273;  Taufbecken  II  146, 

-handlung  II  133. 
Telepathie  I  180. 
Tempel  I  iio,  201,  II  98,  144,  i46f., 

"Prostitution    I    25,    -schlaf   I    150, 

II  23,  49. 
Testament,  Altes  I  84,  iio,  181,  205, 

Neues  I  165,  173,  255,  II  107,  167, 

177,   179. 
Theater  II  164,  -bauten  II  147. 


Theokratie  I  78 f.,  99. 

Theologe  I  15,  II  239;  Theologie  II181. 

Theosoph   I    179,   II   83,    I78f..    186. 

Theosophie  I   180. 

Thyrsusstab  I  224. 

Tiberius  II  92. 

Tier    I    283,    -kult    I    276ff.,    298 f., 

-tanz  II  137. 
Tischrücken  I   178. 
Toast  II  267. 
Tod  I  129,  II  272;  Tote,  der  I  103; 

Totenbräuche  II  132,  -feier  II  122, 

i36f.,  -fest  I  271  f.,  -gericht  I  io6f., 

-klage  I  272,  290,  -kult  I  196,  273 f., 

-priester  I  273  f. 
Toleranz  I  42. 
Tolstoi,  Graf  Leo  I  160,  II  190,  206, 

2o8f.,  217,  253. 
Tonsur  I  262,  267. 
Totemismus  I  287;  Totemtier  I  288  ff., 

II   144. 
Tracht  I  262. 
Tragödie  II   131,   148. 
Trance   I    114,    i78f.,    181,    184,    192, 

-anfaU  I   186. 
Trankopfer  I  220. 
TrasuUus  II  92. 
Trauerbräuche  I  2  72  f. 
Traum  I  128  f.,  149 ff.,  154,  157,  195, 

241  f.,    II   77,   79ff.,    130 f.,   -deuter 

I  76,    II   8of.,   -grammatik  II   81, 
-kult  I   192. 

Trauung  II  247,   273. 
Trine,   R.  W.  II  97,  253. 
Trommel  II   149. 
Tylor,  Ethnologe  I  122. 

Umzug,  Prozession  I  301,  II  270. 
Unbewußtes     Seelenleben     I     151  ff., 

II  77f-,  85- 
Unempfindlichkeit  I   173  f. 
Unerforschlichkeit  I   118. 
Unfruchtbarkeit  II  11. 
Unglücks  Vorzeichen  I  270. 
Unheilswahn  II  75. 

Unio  mystica  I  286,  295,  II  264  f. 
Unrein,  als  Begriff  I  270. 
Urchristentum  I  254  f. 


319 


Ursprung,  der  Religion  I  232. 
Usener,  H.  I  201,  246. 

Vampyr  II  16. 

Veden  II   102  f.,   117. 

Vegetarier  II  209;  Vegetarismus 
II  194,  2ioff. 

Vegetationskult  I  276ff.,  298! 

Veitstanz  I   128,   191. 

Velaeda  I  27. 

Verdrängung  II  298. 

Verfolgungen,  der  alten  Christen  I  63. 

Verfolgungswahn  I  139,  141  f. 

Vergeistigung  II  297  f. 

Vergiftung  I   122. 

Verkündigungsschema  II  75. 

Vermischung,  unio  I  289. 

Verrücktheit  I   122. 

Versenkung  I  180,  II  179. 

Versittlichung  der  Religion  I  57 f. 

Versteinerung  der  Kultur  I  i3off. 

Verstümmelung  II   135. 

Versuchung  II  132,   135. 

Versündigungswahn  I   142  f. 

Vervollkommnung  I   128. 

Verwandlung  I   126,   162,  II  42. 

Verworn,  Physiolog  I  131. 

Verwünschung  I  240 ;  Verwünschungs- 
formel II  97. 

Verzicht  II  200. 

Vestalinnen  I  27. 

Vierkandt,  Alfred  I  232,  235,  243. 

Virtuose  II   167. 

Vision  I  147,  185,  II  77,  175;  Visionär 
I  148. 

Volksgewissen,  Priester  dessen  Organ 

I  116. 
Vorbedeutungen  II  82. 
Vorbereitungszeit  I   162. 
Vortänzer  I  299,  II   148. 

"Wachen  (Schlaflosigkeit)   I  130,   195; 

Wachhalluzination  II  81. 
Waffen,  ihre  rel.  Bedeutung  I  258. 
Wagner,  Richard  II  i96ff.,  210,  212, 

269. 
Wallaschek,    über    Musikinstrumente 

II  149. 


Wahnbildung  I  128,  i36ff.,  -idee  1 134, 
154,  -kranker  II  233,  -sinn  I  165, 
-Vorstellungen  II  130 f. 

Wahrheit  I  68. 

Wahrsagung  I   114,   II  9,   86 ff.,   186. 

Wallfahrt  I  240,  II  135,  237;  Wall- 
fahrtsort II  37  f. 

Wanderprediger  II  282. 

Wappentiere  II  144. 

Waschung,   religiöse  I  263 f.,   II   127. 

Wasser  des  Lebens  I  224;  auf  dem  W. 
wandeln  I  148;  Wasserproben  I  113. 

Wechselrede  II  271. 

Weibmänner  I  28. 

Weidenruten  beim  Orakel  I  114. 

Weihe,  des  Pr.  I  267,  II  113. 

Weihnachtsfest  I  301. 

Weihrauch  I  222 f. 

Wein  I  221,  293,  -rausch  I  122. 

Weinhold,  über  altnordisches  Leben 
I  117. 

Weise  Frau  II  9. 

Wellhausen,   Jul.  I  84  f. 

Weltanschauung  II  240,  -flucht  II  202, 
-gericht  I   109. 

Werke,  gute  I  309. 

Werkzeug,  als  Kultgegenstand  I  258, 
—  Gottes  I  118. 

Wernicke,  Psychiater  I  157 f.,   188. 

Werwolfsagen  I  162  f. 

Westermarck,  Ethnologe  I  28. 

Wettermachen  I   117. 

Wettläufe,  als  Kult  I  201. 

Widersprüche    in    der   rel.    Ideenwelt 

I  137- 
Wiedergeburt  I  135,  149,  I59ff.,  162, 

265,  286,   II   116,   176. 
Wiederholung  II  99  ff. 
Wille,  der  freie  I  166 f. 
Wissenschaft  und  Glaube  II  230  ff. 
Wißmann  über  Ostafrika  II  112. 
Witterung  und  Kult  I  276 ff. 
Wohlgerüche  I  222  f. 
Wünsche,  Richard  I  224. 
Würde,  des  Pr.  I  52  f. 
Wüste  I   18,   194. 
Wundenmale  I   174  f. 
Wunder  II  41. 


320 


Wundt,  Wilh.  I  3,  7  232,  237,  242 ff., 
262f.,  287,  II  72f.,  122,  159. 

Xenophon  II  91. 
Xerxes  II  79. 

Yogi  I  295. 

Zahl  I  205. 

Zarismus  II  250 f.,  254. 
Zauberer  I  15,  226ff.,   245 ff.,   250 f., 
Zauberformel  II    117,    153 f.,    -gerate 
I  6,  -gesang  I  236,  260,  -handlungen 

I  137.  239ff.,  277ff.,  II  i59f., 
-kraft  II  200,  -künste  I  139,  -kult 

II  264,  -lied  II  151,  -ruf  I  234, 
-sprach  I  235,  II  26,  -trank  I  174, 
193,  -wort  II  96. 


Zeichnen  II   143  f. 

Zeremonien,  religiöse  I  207 f.;  s.  auch 
Kult. 

Zeuge,  vor  Gericht  I   iii. 

Zeugung,  menschliche  I  282  f. 

Ziegenbock,  heiüger  I  26. 

Ziehen,  Psychiater  I   145. 

Zimmer,  über  indische  Lieder  II  153. 

Zöhbat  I  31,  II  221. 

Zola,  E.  II  37. 

Zukunftsdeutung  II  85f. 

Zungenreden  I   129,   186  f. 

Zvvangserscheinungen  II  287,  -hand- 
lungen II  128  ff. 

Zweifel  II  235  ff. 

Zweikampf  I   113. 

Z^vitterstellung  des  Pr.  I   12. 


m^xf^aatä 


SSSS^^SJSS^^g^gJ^^ 


21  Horneffer,  Der  Priester  II 


321 


INHALTSVERZEICHNIS  DES  IL  BANDES      i^ 


DER  PRIESTER  ALS  ARZT 

1.  Der  religiöse  Heilberuf 2 

2.  Der  religiöse  Krankheitsbegriff 12 

3.  Des  Heilands  Kampf  mit  der  Krankheit 21 

4.  Der  fromme  Betrug 39 

DER  PRIESTER  ALS  PROPHET  UND  LEHRER 

1.  Der  Prophet  und  das  Volk 62 

2.  Die  Eingebung 72 

3.  Das  Orakelwesen 84 

4.  Gebet  und  Predigt 95 

5.  Der  priesterliche  Unterricht iio 

DER  PRIESTER  ALS  KÜNSTLER  UND  DENKER 

1.  Religion  und  Spiel 120 

2.  Der  schmückende  und  bildende  Priester 141 

3.  Der  singende  und  dichtende  Priester 147 

4.  Der  Mythus  und  die  Kirnst 158 

5.  Die  priesterliche  Wissenschaft 165 

DER  PRIESTER  DER  ZUKUNFT 

1.  Die  Erhöhung 175 

2.  Die  Entsagung 199 

3.  Wille  zur  Norm 214 

4.  Glaube  und  Lehre 229 

5.  Kirche  und  Kultus 247 

6.  Führung  und  Seelsorge 273 

REGISTER 308 


DRUCK  VON  DER  SPAMERSCHEN  BUCHDRUCKEREI  IN  LEIPZIG 


EUGEN  DIEDERICHS  VERLAG  IN  JENA 

AUGUST  HORNEFFER,  Nietzsche  als  Moralist  und  Schrift- 
steller.   Brosch.  M  2.50;  geb.  M  3.30 

Literarisches  Zentralblatt:  Eine  inhaltreiche  Studie,  eine  von  den  wenigen 
in  dem  ganzenWust  der  NietzscheUteratur ,  die  unser  Verständnis  wirklich  fördern. 

PAUL  DREWS,  Der  evangelische  Geistliche  in  der  deutschen 
Vergangenheit.  Mit  iio  Nachbildungen  alter  Kupferstiche  und  Holz- 
schnitte.  5.  Tausend.    Brosch.  M  4. — ;  geb.  M  5.50 

Die  einzige  vorhandene  Standesgeschichte  des  evangelischen  Pfarrers  \on 
Luther  bis  zum  19.  Jahrhundert.  Die  ..Christliche  Welt"  schrieb  darüber: 
Die  bloße  Vorstellung  vom  Pfarrerstand  in  wirkliche  Anschauung  zu  verwandeln, 
dazu  ist  das  Werk  von  Drews  vorzüghch  geeignet.  Der  Verfasser  hat  mehr 
bezweckt  als  die  Mitteilung  einer  großen  Reihe  merkwürdiger  oder  auch  cha- 
rakteristischer Einzelheiten.  Auf  Zusammenhang,  Entwicklung,  Hervorhebung 
großer  Gesichtspunkte  kam  es  ihm  an.  Schulmeisterhch  verfährt  der  Verfasser 
nie;  wer  aber  mit  dem  Gegenstand  etwas  näher  bekannt  ist,  der  weiß,  welche 
Arbeit  in  seiner  Darstellung  steckt. 

Zur  Frage  der  Trennung  von  Staat  und  Kirche 

GOTTFRIED  TRAUE,  Staatschristentum  oder  Volkskirche. 
18.  Tausend.    Brosch.  M  — .80 

Evangelische  Freiheit:  Traub  hat  seinen  Gegnern  ein  volles  persönhches 
Bekenntnis  ohne  Hörner  und  Zähne  geboten,  das  ein  Analogon  zu  Jathos  Antwort 
auf  die  Frage  des  Oberkirchenrats  darstellt.  Dasselbe  zeichnet  sich  durch  starke 
Innerüchkeit  und  ideale  Humanität,  durch  ein  Christentum  dienstbarer  Gesin- 
nung und  durch  vreitgehendes  Unvermögen  aus,  die  lehrhaften  und  geschichtüchen 
Elemente  des  traditionellen  Christentums  in  ihrem  Wert  zu  erfassen. 

EMIL  FELDEN,  Die  Trennung  von  Staat  und  Kirche.  Brosch. 
M  —.80 

Badischer  Generalanzeiger:  Felden  stellt  eine  energische  Forderung  der 
Ge-nässensfreiheit  auf  Grund  der  aus  der  Jathobewegung  gezogenen  Konsequenzen 
dar.  Pflege  des  IndividuaUsmus  in  der  Einzelgemeinde !  Befreiung  der  Religion 
von  allen  Fesseln  äußerer  Autorität;  Fortschreiten  auf  der  Bahn  des  jungen 
Luthertums;  Nachholen  dessen,  was  die  Reformation  versäumte. 

KARL  KÖNIG,  Staat  und  Kirche.  Der  deutsche  Weg  zur  Zukunft. 
Brosch.  M  i. — 

Hier  beleuchtet  einer  der  Führer  des  Protestantenvereins  die  immer  aktueller 
werdende  Frage  der  Trennung  von  Staat  und  Kirche  und  stellt  die  Demokrati- 
sierung nach  Basler  Vorbild  uns  als  Ideal  dar. 

WILHELM  MÜLLER,  Das  rehgiöse  Leben  in  Amerika.  Brosch. 
M4.50;  kart.  M5.30 

Vogtl.  Anzeiger  und  Tageblatt:  Der  Verfasser  gibt  uns  in  dem  anregend 
geschriebenen  Buche  seine  verschiedenen  Eindrücke  wieder,  die  er  unbefangen 
hat  auf  sich  wirken  lassen.  Ein  jugendHch  tatenfrohes,  lebenskräftiges  und  vor 
allem  praktisches  Volk  in  seiner  Stellung  zur  rehgiösen  Frage  zu  belauschen, 
die  wir  mit  Vorliebe  zur  ,,rein"  wissenschaftlichen,  vom  praktischen  Leben  los- 
gelösten Betrachtungsweise  der  Dinge  neigen,  recht  wertvoU.  Kehren  doch  fast 
alle  Probleme,  die  uns  hier  in  Deutschland  auf  rehgiösem  Gebiete  heute  so 
staxk  in  Anspruch  nehmen  —  ich  nenne  nur  die  Stellung  von  Staat  und  Kirche, 
von  Schule  und  Kirche  zueinander  —  auch  drüben  wieder. 


EUGEN  DIEDERICHS  VERLAG  IN  JENA 

ARTHUR  BONUS,  Zur  religiösen  Krisis 

I.  Zur  Germanisierung  des  Christentums.    Kart.  M  3. — ;geb.  M4, — 
II.  Religion  und  Fremdkultur  (erscheint  1913) 

III.  Religiöse  Spannungen.    Kart.  M  4. — ;  geb.  M  5. — 

IV.  Vom  neuen  Mythos.    Kart.  M  3.—  ;  geb.  M  4, — 

Anhaltische  Blätter  für  religiöse  Weiterbildung:  Es  ist  nicht  ganz 
leicht  und  nicht  für  jeden  ein  bequemes  Vergnügen,  Arthur  Bonus'  Schriften 
zu  lesen.  Er  schreibt  in  eigenartigem,  kraftvollem  Ausdruck,  aber  seine  Ge- 
danken sind  doch  bisweilen  recht  abstrakt  und  allgemein  gefaßt;  jeder  will 
nach-  und  durchgedacht  sein,  und  das  erfordert  keine  geringe  Anstrengung. 
Der  schulmäßig  Gebildete  wird  sich  manchmal  ärgern,  daß  eine  logische  Ent- 
wicklung nicht  immer  angestrebt  ist,  sondern  die  Gedanken  mehr  oder  weniger 
abgerissen  nebeneinandergestellt  werden  und  oft  wiederkehren.  Aber  das 
geschieht  in  immer  neuem  Zusammenhang  und  neuer  Beleuchtung,  und  so 
prägen  sie  sich  um  so  fester  ein.  Anderseits  stellt  er  sie  nicht  selten  mit  einer 
erschreckenden  Schroffheit  und  Einseitigkeit  hin,  daß  man  sich  daran  stoßen 
muß.  Aber  man  kann  nicht  um  sie  herumgehen.  Er  kennt  keine  Abschwächung, 
keinen  Kompromiß  und  schwingt  seine  kritische  Geißel  in  gleicher  Weise  über 
Orthodoxie  und  kirchhchen  Liberalismus,  über  Dogmaglauben  wie  Vernunft- 
glauben, über  Gewohnheitschristentum  wie  religionsfeindliche  Angriffe  der 
Naturwissenschaft;  er  scheidet  aufs  schärfste  Wissenschaft  von  Religion, 
zwischen  denen  er  im  Grunde  jede  Gemeinschaft  leugnet. 

JOHN  M.  ROBERTSON,  Die  Evangelien-Mythen.  Brosch. 
M  3.—;  geb.  M  4.— 

Aus  dem  Inhalt:  Die  Jungfrauengeburt /Die  mythischen  Marien /Der  Joseph- 
Mythus  /  Der  Kindermord  von  Bethlehem  /  Das  Wasser-  und  Wein- Wunder  /  Der 
Mythus  von  den  12  Aposteln  /  Das  Abendmahl  /  Das  mythische  Kreuz  /  Der  un- 
genähte  Rock  /  Die  Himmelfahrt  /  Die  Bergpredigt  /  Das  Vaterunser  /  Gnostische 

und  kryptische  Parabeln. 
Theologischer  Jahresbericht:  Das  Werk  enthält  ein  wahres  Arsenal  von 
reügionsgeschichtiichem  Stoff,  der  aber  freihch  in  den  Stoff  der  Evangelien  oft 
wie  in  ein  Prokrustesbett  gespannt  erscheint.  Trotzdem  vermag  es  wohl  auch 
dem  Blödesten  die  Augen  darüber  zu  öffnen,  wieviel  beiderseitig  verwandtes 
Material  vorüegt,  und  wie  dringend  die  Aufgabe  ist,  die  wirklichen  Beziehungen 
zwischen  beiderlei  Stoff  klarzustellen  und  abzugrenzen. 

G.  A.  VAN  DEN  BERGH  VAN  EYSINGA,  Die  holländische 
radikale  Kritik  des  Neuen  Testaments.  Ihre  Geschichte  und  Be- 
deutung für  die  Erkenntnis  der  Entstehung  des  Christentums.  Brosch. 
M  4. — ;  geb.  M  5.20 

Der  Verfasser  dieses  Buches  ist  einer  der  jüngsten  Vertreter  des  sog.  hollän- 
dischen Radikalismus  auf  dem  Gebiete  der  neutestamentlichen  Kritik.  Was  er 
über  diese  Richtung  mitzuteilen  hat,  wird  gerade  jetzt  mit  größtem  Interesse 
empfangen  werden,  nun  die  seit  Bruno  Bauer  unter  uns  ruhende  Frage  der  Histo- 
rizität Jesu  und  der  Echtheit  der  Paulinischen  Hauptbriefe  wieder  erwacht  ist. 
Es  scheint  angemessen,  jetzt  die  holländische  wissenschaftliche  Fortsetzung  und 
Umbildung  der  Bauerschen  Hypothesen  eine  Periode  von  40  Jahren  hindurch 
unter  Führung  eines  Fachmannes  zu  verfolgen,  vor  allen  Dingen,  weil  wir 
Deutschen  die  Ergebnisse  der  radikalen  Schule  im  stammverwandten  Nachbar- 
lande nur  sehr  mangelhaft  kennen. 


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PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


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