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AUGUST HORNEFFER
DER PRIESTER
SEINE VERGANGENHEIT
UND SEINE ZUKUNFT
ZWEITER BAND
VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS
JENA 1912
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DER PRIESTER ALS ARZT
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I. DER RELIGIÖSE HEILBERUF im
Zunächst haben wir zu erklären, inwiefern die ärztliche Tätigkeit mit dem
religiösen Kult verwandt ist. Für uns Heutige ist der Zusammenhang nicht
ohne weiteres erkennbar; denn das Heilen von Krankheiten scheint mit der
Religion nichts gemein zu haben und der Arzt steht mit dem Priester eher
in feindlichen als freundlichen Beziehungen. ]\Iedizin und Theologie, Kran-
kenhaus und Gotteshaus, Therapie und Zauberkult — wie reimt sich das
zusammen? Aber bei genauer Prüfung ist der Zusammenhang auch heute
noch zu erkennen. Am Krankenbett der Christen w-eilt noch immer neben
dem Arzt der Priester ; noch immer verabreicht man den christlichen Kran-
ken neben den natürlichen Heilmitteln auch religiöse Mittel. Noch immer
gilt Gott als Ursache mancher oder aller Krankheiten ; infolgedessen ist Gott
auch der geeignetste Helfer, der beste Arzt ; man muß ihn bitten und über-
reden, die von ihm verhängte Krankheit wieder zu beseitigen. Was wird die
Aufgabe des ärztlichen Fachmannes sein? Doch nur, die Krankheit als
solche festzustellen und allenfalls noch den Heilvorgang, der durch religiöse
Mittel bewirkt wird, zu beobachten und zu unterstützen. Wenn Gott nicht
will, kann alle ärztliche Kunst nichts ausrichten.
Wer bringt aber Gott dahin, daß er will? Natürlich sein Vertrauter und
Vertreter. Der Kranke muß sich an den Priester wenden und ihn ersuchen,
die Vermittlung zwischen ihm und dem himmlischen Krankheitsbringer und
Krankheitsvertreiber zu übernehmen. Den beabsichtigten Zweck, Gott in
Aktion zu setzen, erreicht der Priester auf zweierlei Weise. Erstens wirkt er
auf den Kranken ein, um ihn der gnädigen Hilfe Gottes w^ürdig zu machen.
Die Krankheit ist als Strafe für ein Vergehen von Gott geschickt worden,
oder sie soll eine Prüfung, ein Aufmerksamkeitsbeweis sein. In beiden Fällen
hat der Priester zunächst die Aufgabe, dem Kranken dieses Entweder-Oder
klarzulegen, ihn zum Bewußtsein seiner Sünden zu bringen und ihn zu
völliger und ruhiger Ergebung in Gottes Willen zu ermahnen. Er muß in
dem Kranken Bußfertigkeit und Gottvertrauen erwecken; das ist die Vor-
bedingung des religiösen Heilverfahrens. Dann kommt zweitens die Ein-
wirkung des Priesters auf Gott. Das Heilverfahren besteht in der dringenden
Aufforderung an Gott, dem Kranken sein Leiden abzunehmen. Der Priester
betet also, vielleicht in Gemeinschaft mit dem Kranken und seiner Familie ;
er versichert Gott, daß der Kranke wohl vorbereitet sei, die Gnade würdig
zu empfangen und wendet alle ihm bekannten Mittel, Gott zu beeinflussen
und zu erweichen, an. Im Grunde wird also von dem Priester Gott als Arzt
herbeigerufen. Der Priester will nicht eigentlich selber Arzt sein. Seiner
Meinung nach ist menschliches Wissen und Können Stückwerk und wahre
Hilfe nur von Gott zu erwarten.
Die Tätigkeit des Priesters am Krankenbett ist eine Art Gottesdienst, eine
Kulthandlung. Denn worin besteht ein gottesdienstlicher Kult ? Darin, daß
die Gottheit herbeigerufen und zu Eingriffen in den Lauf der Dinge veran-
laßt wird. Der Priester vermittelt dabei. Die Anlässe, solche Kulthand-
lungen vorzunehmen, sind, wie wir gesehen haben, sehr verschieden; es ist
aber nicht überraschend, daß Krankheitsfälle einen besonders dringenden
und häufigen Anlaß bilden. In Krankheit und Ungemach tritt der Wunsch,
sich mit der Gottheit in Verbindung zu setzen und sie um Hilfe anzugehen,
am stärksten hervor. Der Kranke verlangt nach dem Priester und der Prie-
ster kommt, um mit Gottes Hilfe Heilung zu erzielen.
Wenn der Mensch seine Kräfte erlahmen, sein Blut stocken fühlt, wenn
Wunden und Schmerzen ihn zu Boden werfen, dann entfällt ihm der Mut,
die Welt wird trübe; er jammert und ruft nach Rettung und Hilfe. Er ver-
sinkt in religiöse Stimmungen, er gibt sich in die Hände des Geister bezwin-
genden Medizinmannes. Von jeher sind die Kranken die religiös Bedürftig-
sten gewesen. Zeiten schwerer Seuchen und lähmender Krankheiten sind
stets goldene Zeiten für den Priester gewesen. Einen guten Teil seines Ein-
flusses auf die Menschheit hat der Priester am Krankenbett errungen ; denn
am Krankenbett war er der Starke, der Gebietende und Beschenkende. Dort
fand er die Menschen gefügig, konnte alles von ihnen erreichen, was er wollte,
konnte ihnen ohne Mühe die priesterliche Denk- und Gefühlswelt aufzwingen
und den Glauben an des Priesters übernatürliche Macht tief in die geäng-
stigten Seelen senken.
Es ist also recht gut verständlich, daß der Priesterberuf mit dem ärztlichen
Beruf in nahem Zusammenhang steht und lange Zeit hindurch mit ihm zu-
sammenfiel. Und zwar ist es der Privatpriester, nicht der öffentliche Priester,
der sich vorwiegend mit der Krankenheilung abgibt. Der Auftrag zur ärzt-
lichen Tätigkeit geht in der Regel nicht von der Gemeinde aus, sondern von
den Einzelnen, die der Hilfe bedürfen. Die Gemeinde als solche pflegte sich
in früheren Zeiten nicht viel um das Wohlbefinden oder Übelbefinden ihrer
einzelnen Mitglieder zu kümmern. Ihre und ihres Gemeindepriesters Auf-
gabe ist, für die Gesamtheit zu sorgen. Zu diesem Zweck werden die von
uns beschriebenen Kultfeiern begangen, es finden die Gemeindeopfer und
Gemeindegottesdienste statt. Der Priester sorgt für günstige Witterungs-
verhältnisse, für das Reifen der Feld- und Baumfrüchte, für den günstigen
Ausgang von Kriegen und von anderen gemeinsamen Unternehmungen,
kurz, für das allgemeine Gedeihen des Verbandes. Die Behandlung der ein-
zelnen Kranken dagegen fällt nicht der Gemeinde und ihrem priesterlichen
Vertreter zu. Wenn der Priester sich damit abgibt, so ist es sein Privat-
unternehmen, und die Kuren, die er anwendet, gehören zu den ,, Zauber-
mitteln des Einzellebens", die wir im vorigen Kapitel besprochen haben,
nicht zum ,, Gemeindekult". Trotzdem können natürlich der Gemeinde-
priester und der Priesterarzt eine Person sein, wie wir es in der Tat oft
genug finden. Der Gemeindepriester treibt ja auch die anderen priester-
lichen Privatberufe und setzt seinen Ehrgeiz darein, das Privatpriestertum
zu ersetzen und aus der Welt zu schaffen. Vollständig ist ihm das jedoch
niemals gelungen und zeitweise hat ihm gerade das ärztliche Privatpriester-
tum, indem es sich ihm als selbständigen Beruf entgegenstellte, viel zu
schaffen gemacht.
Im ganzen hat die ärztUche Tät'gkeit das stärkste Verbindungsmittel
zwischen öffentlicher und privater Priestertätigkeit gebildet. Die Kranken-
heilung hat die ,, Religion" und die , .Zauberei" am festesten aneinander ge-
kettet. Es läßt sich begreifen, daß der Gemeindepriester wenn irgendmöglich
an dem Heil beruf festhielt; einmal wurde er sehr dringend darum ange-
gangen und dann konnte er wie gesagt die Gemeindeglieder durch nichts
so tief und nachhaltig beeinflussen wie durch die Einwirkung im leidenden
und geschwächten Zustande. Er wollte die Bundesdämonen und Staats-
götter auch am Krankenbett zu Ehren bringen und die bösen Privatgeister
auch aus den Schlupfwinkeln der Krankenstube vertreiben. Er suchte daher
die Heilkunst seines privatpriesterlichen Konkurrenten zu verdächtigen und
als böse Zauberei in Verachtung zu bringen, suchte dagegen in seinen eigenen
ärztlichen Bemühungen die höhere religiöse Auffassung, die er selber ver-
trat, zur Geltung kommen zu lassen. ,,Ich heile mit Hilfe der guten Götter,"
erklärte er, ,,der Privatpriester heilt mit Hilfe der bösartigen Naturgeister
und anderer gefährlicher Mächte! Kommt daher zu mir, ihr Kranken und
Beladenen; vertraut euch meinen bewährten Kult- und Gnadenmitteln an;
werdet frommer und besser! Mißtraut den Künsten und Lockungen der
Zauberer, die euere Seele verderben, selbst wenn sie eueren Leib gesund
machen."
Die Heilweise des Gemeindepriesters wird daher geistiger und im engeren
Sinne religiöser sein als die des Privatpriesters. Der christliche Priester be-
schränkt sich als Arzt darauf, die Hilfe der Gottheit und der heiligen Für-
sprecher anzurufen und den Kranken zu bekehren. Diese Beschränkung hat
nun den Übelstand, daß sie den Erfolg in Frage stellt. Je mehr sich der ärzt-
liche Gemeindepriester auf die Trost- und Heilmittel seiner Religion zurück-
zieht, um so unbefriedigender wird seine Heiltätigkeit werden. Der Kranke
wird sich nach anderweitiger Hilfe umsehen und den Privatpriester, den
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bösen und gottlosen, aber klugen und kühnen Zauberer herbeirufen. Der
Privatpriester verfügt über eine größere Zahl von Heilmitteln, weil er
religiös nicht so gebunden ist wie der Gemeindepriester. Er kann sich mit
den verschiedenen Geistern einlassen und nach immer neuen und wirk-
sameren Waffen gegen die Krankheiten suchen. Er wendet sich mehr und
mehr der vernünftigen körperlichen Behandlung der Krankheitszustände zu,
er sammelt Erfahrungen, macht wissenschaftliche Versuche und verwandelt
sich allgemach in einen forschenden Gelehrten und gewiegten Praktiker.
Aus dem zaubernden Privatpriester wird ein Arzt.
An der Entwicklung der wissenschaftlichen Medizin hat aber neben dem
Privatpriester auch das Gemeindepriestertum hie und da Anteil gehabt. Da
der öffentlichen Priesterschaft soviel daran liegen mußte, sich nicht von
den Zauberern aus der Krankenstube verdrängen zu lassen, bildete sie auch
ihrerseits ein ärztliches Spezialistentum aus. In der organisierten Priester-
schaft war ja die Arbeitsteilung mit Erfolg eingeführt worden; und wie man
Opferspezialisten, Berufssänger usw. hatte, widmete sich nun auch eine
priesterliche Gruppe eingehenden medizinischen Studien. Innerhalb der
orientalischen und der griechischen Priesterorganisationen z. B. gab es be-
rufsmäßige Priesterärzte. Indessen konnten diese Priesterärzte nicht recht
zur wissenschaftlichen Heilkunde durchdringen, weil die Grundsätze der
Priesterorganisationen mit den wissenschaftlichen Grundsätzen schlecht ver-
einbar waren. Außerdem drängte die religiöse Entwicklung des Altertums
immer weiter von den Dingen ab, auf deren gründlichem Studium sich die
Medizin aufbaut. Die Religion begann den Körper und alles Sinnlich-Natür-
liche gering zu schätzen und ihre Blicke in eine andere, eine wahre Welt zu
richten. Mit dieser wahren Welt wußte aber die ärztliche Kunst nicht viel
anzufangen. Man half sich wohl so, daß die Priesterärzte nur die vornehmen,
nämlich die seelischen Krankheiten behandelten und die übrigen auf sich
beruhen ließen oder den verachteten Privatpriestern übergaben. Die religiös-
philosophische Heilmethode, zu der sich die Gemeindepriester nur bereit
fanden, versprach bei äußeren und organischen Krankheiten wenig, bei
inneren und funktionellen Krankheiten viel Erfolg. Die christlichen Priester
haben bei ihrer ärztlichen Tätigkeit stets die letzteren Krankheiten bevor-
zugt oder sich ganz auf sie beschränkt. Mit Wunden und Verletzungen aller-
art gaben sie sich gar nicht oder nur ungern ab. Anatomische und physio-
logische Studien hatten keinen Reiz für sie. Sie beschmutzten nicht gern
ihre Finger. Die Chirurgie blieb fast bis ins vorige Jahrhundert hinein Sache
der Bader, der Feldscherer, der wandernden Volksärzte und anderer zweifel-
hafter Berufe, die sämtlich aus der alten Zauberwerkstatt des Privatpriesters
hervorgegangen sind.
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Der Priester der höheren Rehgionen dachte an das Heil der Seele, nicht
an das Heil des Leibes. Irdische Leiden und Kümmemisse achtete er gering ;
der Friede mit Gott war das Ziel seines Lebens und also auch das Ziel seiner
Therapeutik. In diesem Punkte stimmt der Buddhismus ganz mit dem
Christentum überein und auch im Islam klingen ähnliche Töne an. Wie soll
bei dieser Anschauung die Medizin gedeihen ! Hatte doch der Priester sogar
entdeckt, daß ein kranker und ruinierter Leib, ein Leib dem das Auge aus-
gerissen, die Hand verstümmelt ist, besser für das Reich Gottes tauge als
ein gesunder und blühender Leib. Je schwächer der Leib, um so freier und
frommer werde die Seele; denn der Seele gelinge es weit besser, über die
Triebe und Begierden, die Leiden und Schmerzen eines geschwächten Kör-
pers Herr zu werden, als über die eines starken und fordernden Körpers.
Wenn der Priester daher Kranke heilte, war sein Hauptaugenmerk nicht
auf die Beseitigung der körperlichen Störungen und Schmerzen gerichtet.
Er wollte auf die Seele des Kranken einwirken, damit die Seele ihrerseits
den Leib zur Ruhe bringen und in seine Knechtspflichten zurückweisen
sollte. Er stärkte also den Kranken mit himmlischer Kost, erfüllte ihn mit
Glauben und Vertrauen, lenkte ihn von der Beachtung der Leiden ab. Wir
nennen diese Kur heute die psychotherapeutische und denken nicht daran,
ihr die Berechtigung abzusprechen ; die Psychotherapie hat mehr Menschen
gesund gemacht als die medikamentöse. Aber die priesterliche Psychotherapie
hat auch viel Schaden angerichtet und durch einseitige und unverständige
Anwendung geradezu verheerend gewirkt. Diese priesterhchen Heilkünstler
waren beinahe stolz darauf, daß sie die leibhchen Vorgänge nicht emstnah-
men und sich mit der Natur so wenig als möglich abgaben. Was über den
Menschen wissenswert schien, lernte man aus dem Aristoteles. Man dachte
aber nicht daran, im Geiste des Aristoteles weiterzuarbeiten. Aristoteles und
die ganze antike Wissenschaft war von der priesterhchen Abneigung gegen
das Natürliche und Leibliche sehr weit entfernt gewesen. Die Medizin hatte
im Altertum bereits eine achtenswerte Höhe erreicht und war über die kritik-
lose Anwendung des psychotherapeutischen Verfahrens längst hinausge-
wachsen.
Als die Neuzeit anbrach, kam auch für die Medizin eine Wiedergeburt.
Die wissenschaftliche Forschung und die einfache Empirie arbeiteten Hand
in Hand an der Fortführung des von den Griechen begonnenen Baues, und
die christliche Heilkunst mußte Schritt für Schritt zurückweichen. Die Welt
lächelte, wenn der Priester seine medizinische Philosophie hervorholte und
dabei büeb, daß es nur zwei Arten von Heilkunst gäbe : die Heilkunst Gottes
und die Heilkunst des Teufels; jene werde von ihm, diese von den Hexen
und Zauberern betrieben.
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Wenn der heutige Berufspriester sich medizinisch betätigt, so ist er in den
meisten Fällen ein Kurpfuscher. Er versäumt es, sich die nötige wissen-
schaftliche Vorbildung anzueignen und wandelt auf den in der Medizin so
angenehmen und verführerischen Wegen des Dilettantismus. Unter unseren
kurierenden Pfarrern finden sich Vertreter fast aller veralteten Heilsysteme.
Der eine heilt durch Handauflegen, Beten und Salben, ein anderer empfiehlt
Lourdeswasser, ein dritter ist Homöopath, ein vierter ist ein Freund der
Naturheilkunde oder ein Erneuerer anderer Heilweisen. Wir können auf dem
Gebiet der Medizin bestätigt sehen, was wir über das Gemeindepriestertum
und seine Entwicklung im allgemeinen festgestellt haben: der Gemeinde-
priester wird durch seine bevorzugte Stellung als Beauftragter und Vertreter
der Gesamtheit anfangs hoch über den geistigen Standpunkt des Privat-
priesters hinausgeführt; er ist der Gebildete, Unterrichtete, Leitende, der
Privatpriester der Zurückgebliebene, Kleinliche, Egoistische. Allgemach aber
kehrt sich das Verhältnis um ; der Gemeindepriester bleibt zurück, weil er an
den überlieferten geistigen Gütern festhält und jede Mehrung und Änderung
des Kulturbesitzes als Abfall und Gottlosigkeit verwirft. Der Fortschritt voll-
zieht sich daher ohne sein Zutun und gegen seinen Willen. Die Privatpriester
imd ihre Nachkommen (Arzt, Prophet, Künstler, Wissenschaftler) über-
nehmen die geistige Führung, drängen die Gemeindepriesterschaft beiseite,
und schließlich steht der einstige Zauberer als ein redlicher aufopferungs-
freudiger Kulturträger vor uns, während der einst vornehme Priester zum
dürftigen Pfuscher, zum abergläubischen Krankheitsbeschwörer oder gar
zum spekulierenden Betrüger herabsinkt.
Die Wissenschaft, zumal die Medizin mit ihren Hilfswissenschaften ist also,
um es noch einmal hervorzuheben, in erster Linie eine Errungenschaft des
Privatpriestertums. Das öffentliche Priestertum hat wohl mitgewirkt, hat
namentlich die Psychologie und Psychotherapie gefördert, aber es fehlte
ihm niu: zu oft an jenen Grundvoraussetzungen wissenschaftHcher Siege : an
der Freiheit und an der Liebe zum Leben.
Wenn wir die heilkundigen Personen vergangener Zeiten an unserem Auge
vorüberziehen lassen, so fallen uns drei privatpriesterHche Typen besonders
auf: erstens der Schmied, zweitens der Henker, drittens die alte Frau. Die
letztere, das Medizinweib, treibt ihr ärztliches Handwerk noch im heutigen
Europa fort; der Schmied und der Henker haben es aufgegeben. Wie der
Schmied eigentlich zur ärztlichen Tätigkeit gekommen ist, läßt sich nicht
leicht sagen. Allem Anschein nach hat das Sehmiedegewerbe für die primi-
tive Menschheit etwas Unheimliches gehabt. Die Eisenbearbeitung trat
überall als eine umwälzende Neuerung in die einfachen Kulturen ein. Die
Wirkung der eisernen Werkzeuge schien dämonischer Art zu sein und wer
sie herstellte, mußte unbedingt über Zauberkünste und über die Hilfe un-
bekannter Dämonen verfügen. Das Hantieren mit dem Feuer und das Aus-
sehen des berußten Hexenmeisters trug ebenfalls dazu bei, den Schmied in
den Ruf besonderer Fähigkeiten zu bringen. In manchen Teilen Afrikas
leben die Schmiede von dem übrigen Volke abgesondert. Sie werden gemie-
den, verachtet, gefürchtet. Auch in anderen Weltgegenden hält man sie für
zauberkundig, hütet sich vor ihnen, sucht aber in Notfällen ihre Hilfe auf.
Die Schmiede üben ärztliche Praxis aus und sind im Besitze heilkräftiger
Geheimnisse. Mythen und Sagen berichten sehr viel darüber (vgl. Andree
in den Ethnographischen Parallelen). Sie %vußten auch Mittel, das Vieh zu
behexen und behextes Vieh wieder gesund zu machen. Das Hufeisen, das
der Schmied herstellte, hatte wie die übrigen Eisengeräte magische Eigen-
schaften. Bis zum heutigen Tage wird das Hufeisen verwendet, um bösen
Geistern den Eintritt ins Haus zu verwehren und gute hereinzurufen. Lanzen
und Pfeile, die der Schmied mit eisernen Spitzen versieht, haben ebenfalls
die doppelte Eigenschaft, Wunden zu schlagen und zu heilen. Das khngt
noch in der christlichen Sage von der heihgen Lanze nach, bei deren Be-
rührung sich eine unheilbare Wunde schließt.
Auch der Henker heilt mit Hilfe der Zauberkraft seiner Erzeugnisse oder
vielmehr der Erzeugnisse seiner Tätigkeit. Die Reste der Hingerichteten
haben nämlich medizinischen Wert. Blut, Haare, Fingergheder und andere
Reste hingerichteter Verbrecher waren bei der kranken Menschheit sehr be-
gehrt ; man konnte sich durch sie auch gegen künftige Krankheiten schützen
und konnte sie, wenn man sie bei sich trug, als Amulette gegen den bösen
Blick und andere Gefahren verwerten. Wie sich dieser Glaube erklärt, haben
wir im vorigen Kapitel dargelegt. Das ganze Amulettwesen steht mit dem
ärztlichen Kampf gegen die Krankheit im engsten Zusammenhang. Die
Teile von Menschen galten, Nvie wir sahen, hauptsächlich deshalb für kräf-
tige Schutz- und Heilmittel, weil in diesen Körperabfällen die seelische Kraft
sitzt. Aus demselben Grunde wurden im Mittelalter die ägyptischen Mumien
zu Arzneimitteln verarbeitet. Man bereitete ein Pulver aus ihnen und ganz
Europa zählte dieses Mumienpulver unter seine wertvollsten Heilschätze.
Bei den Hingerichteten kam dazu noch die alte religiöse Vorstellung, daß
die Hinrichtung ein Opfer und der Geopferte ein Sinnbild und Vertreter der
Gottheit sei. Wenn diese Vorstellung auch längst verblaßt und vöUig ver-
gessen war, wirkte sie doch immer noch nach; sie verlieh den Resten der
Hingerichteten und Ermordeten einen geheimnisvollen Nimbus und dem
Henker Zauberer- und Arztwürde. In den ältesten Zeiten lag das Henkeramt
in den Händen des Vertreters der Rehgion, also des Priesters und Häupt-
lings, und bis zum heutigen Tage haben die Reliquien der götthchen und
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heiligen Personen, der Märtyrer und Heroen heilende Kraft. Der Priester
hält diese Gegenstände in Verwahrung und zeigt sie bei festlichen Gelegen-
heiten den Kranken und Hilfsbedürftigen vor, damit sie ihre wunderbare
medizinische Kraft entfalten. Ebenso also wie man sich an den Priester wendet
und ihn um Reliquien, Kleider und andere heilige Gegenstände bittet,
wandten sich die Kranken auch an den Henker und ließen sich von ihm die
Reste der Gerichteten geben. Man glaubte den Henker auch im Besitz
anderer ärztlicher Schätze und suchte geheimnisvolle Kenntnisse bei ihm.
War doch sein Handwerk nicht weniger unheimlich als das des Schmieds
und des Priesters.
Das Medizinweib ist oft zugleich Hebamme und Wahrsagerin. Schon bei
den Naturvölkern sind weibliche Ärzte keine Seltenheit. Sie genießen mit-
unter das größte Ansehen. Das überrascht uns nicht; denn zur Ausübung
des ärztlichen Berufes, wie man ihn in früheren Zeiten auffaßte, eignet sich
die Frau in hervorragendem Grade. Sie ist nicht nur eine sorgliche Pflegerin
mit geschickten Händen, sondern auch eine Vertraute der Dämonen und
geheimen Mächte. Sie besitzt auch zauberhafte Arzneimittel, z. B. das Men-
strualblut, die Nachgeburt, die Nabelschnur. Überhaupt ist die Frau die
geborene Privatpriesterin. Sie wirkt im Stillen, lebt für den kleineren Kreis
ihrer Blutsverwandten und Nachkommen, wehrt sich gegen den Staat, gegen
den pohtisch und rehgiös organisierten Männerbund. Solange die Welt steht,
hat es die Frau immer mit älteren und engeren religiösen Idealen gehalten
und gegen die Gemeindereligion höherer Art konspiriert. Zumal, wenn die
Frau altert, hält sie an dem Kulturbesitz einer überwundenen Vergangenheit
fest und wird mißtrauisch gegen die Neuerungen des jungen Geschlechts.
Das zieht ihr natürlich den Haß der Jugend zu; sie wird zur ,,Hexe". Wenn
alles gut geht und die Kultur in frischem Eroberungsdrange vorwärtsstrebt,
läßt man diese Hexen und ihre Warnungen unbeachtet. Aber wenn böse
Zeiten kommen, wenn Krankheit und Ungemach den Mut der Siegesfrohen
brechen, gewinnt die ,,Alte" an Ansehen. Man braucht sie, sucht sie auf
und segnet sie, Sie ist dann die ,, weise Frau", von der man sich Rat holt,
die kluge Ärztin, deren altererbte Heilmittel man sich gerne gefallen läßt.
Stets haben die Hexen ärztliche Praxis ausgeübt. Es tat ihrem medizinischen
Ruf keinen Abbruch, daß sie auch Krankheiten erregen und anderen Scha-
den anzurichten vermochten. Im Gegenteil, die Furcht vor den gefährlichen
dämonischen Kräften, über die sie geboten, vermehrte ihren Ruf nur. Dämo-
nische Kraft war es ja, was man in erster Linie von dem Arzt verlangte,
mindestens, daß er mit solchen Wesen in Beziehung stehe. Wenn unsere
Voreltern zum Arzt gingen, wendeten sie sich nicht eigentlich an eine ge-
lehrte und erfahrene Persönlichkeit, sondern an einen Zauberer, der seine
Zauberkraft in Tätigkeit setzen und seine Geister zur Bekämpfung der Krank-
heit aufbieten sollte.
Die Hexe war Priesterin, wenn sie Kranke heilte, ebenso wie der ans Kran-
kenbett gerufene Pfarrer. Der Unterschied ist nur der, daß die Hilfsgeister
der Hexe böse sind, d. h. der bestehenden Gemeindereligion feindlich gesinnt
und aus einer älteren Religionsauffassung herstammend, während der Pfarrer
die guten Geister der anerkannten Gemeindereligion zur Verfügung hat und
mit ihrer Hilfe seine ärztlichen Wirkungen erzielt. Nun ist es aber sehr wohl
verständlich, daß der Kranke oft die Geister der Hexe, will sagen die Hilfe
des Privatpriestertums den guten Heilgöttern des Gemeindepriesters vor-
zieht. Der Mensch wendet sich in Krankheits- und Unglücksfällen mit Vor-
liebe an fremde, unheimliche, aus grauer Vergangenheit stammende Hilfs-
kräfte. Warum ? Weil durch die Krankheit das Vertrauen zu den gewohnten
Göttern und Lebensschätzen erschüttert ist. Offenbar haben diese Götter
das Unglück nicht fernhalten können oder wollen ! Da diese trübselige Be-
trachtung aber dem Menschen nicht viel hilft, so schließt er weiter, daß nur
fremde und besondere Mächte ihm helfen könnten, und kommt so zur Her-
beirufung böser Geister und zur Anwendung ,, unheiliger" Kuren: ,,Da mir
Gott nicht hilft, muß mir der Teufel helfen!" Ich glaube, daß unzählige
Kranke mit diesem verzweifelten Gedanken den Zauberarzt oder die Zauber-
ärztin herbeigeholt haben. Noch heute wird mancher fromme Christ, man-
cher Berufspriester, wenn er bei eintretender Krankheit den — nur zu oft
,, ungläubigen" — Arzt rufen läßt, das unangenehme Gefühl dabei haben,
daß er sich einer unheimlichen, widergöttlichen Macht in die Hände liefere
und seinem Christentum nicht ganz die Treue wahre.
Die weiblichen Ärzte wurden, wie sich leicht begreifen läßt, vor allem von
den Frauen in Anspruch genommen. Einmal sind die Frauen natürliche Bun-
desgenossinnen und treten, wo sich eine geschlossene Kultur der Männer
entwickelt, sogar in ausgesprochenen Gegensatz zu den Männern, obwohl
sich dieser Gegensatz natürlich in gewissen Grenzen hält. Zweitens aber sind
die Frauen durch ihr Schicksal und durch die Vorgänge des weiblichen
Lebens miteinander verbunden und auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Das
gilt besonders für die Geburtshilfe. Wo regelrechte Geburtshilfe geleistet
wird — bei den Naturvölkern fehlt sie oft, vgl. Ploss-Bartels : Das Weib
in Natur und Völkerkunde — , liegt sie meist in den Händen der Frau. Bis
zum heutigen Tage ist das der Fall. Hatte sich erst ein Berufsstand für die
Geburtshilfe ausgebildet, so pflegten die Geburtshelferinnen ihre Tätigkeit
auch auf verwandte Gebiete auszudehnen. Z. B. wußten die Wehemütter
Rat und Hilfe, um die unerwünschte Frucht abzutreiben; sie hatten Mittel
gegen die Empfängnis bereit und widmeten sich auch wohl dem Engelmachen.
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Diese bedenklichen medizinischen Künste hatten bei vielen Völkern eine
religiöse Seite, sowie das ganze ärztliche und hygienische Wesen. Der
Wunsch, den Kindersegen zu beschränken oder ganz ohne Leibesnach-
kommen zu bleiben, wurde nicht selten religiös begründet; z. B. gebot die
reHgiöse Sitte, daß gewisse Frauen oder Familien ganz oder zeitweilig auf
Kinder verzichteten, ohne daß ihnen der Geschlechtsverkehr versagt wurde.
Und zur Erreichung dieses Zwecks bedienten sich die hilfreichen Ärzte bei-
derlei Geschlechts religiöser Mittel, suchten z. B. die Geister, die den Kindes-
keim in die Frau gelegt hatten, zu bewegen, ihn wieder hinauszubefördern.
Doch wurden neben den übernatürlichen auch sehr natürliche Mittel zur
Beseitigung der Leibesfrucht angewendet: Arzneien und manuelle Mittel.
Häufiger und erfreulicher ist die entgegengesetzte Bemühung des weib-
lichen und männlichen Arztes: unfruchtbare Frauen fruchtbar zu machen.
Das natürliche Verlangen des Menschen ist auf Nachkommenschaft gerichtet
und dies Verlangen \^alrde bei den meisten Völkern noch durch die religiösen
Vorstellungen und Sitten unterstützt : ohne Kinder kein Glück, ohne Nach-
kommen keine Hilfe im Alter, kein Kult nach dem Tode, kein Gedeihen der
Gesamtheit. Fast überall galt und gilt Kinderreichtum als Segen der Gott-
heit und als Gewähr politisch-wirtschaftlicher Kraft. Daher waren die un-
fruchtbaren Frauen übel daran; sie mußten die allgemeine Verachtung tra-
gen ; die Männer durften sich von einer unfruchtbaren Frau meist ohne wei-
teres scheiden lassen. Kein Wunder, daß diese kein Mittel unversucht ließ,
das Übel zu beseitigen, daß sie gute Geister und wenn das nicht half, böse
Geister anflehte, den Fluch von ihr zu nehmen. Die ältere Medizin weist
eine Fülle von Mitteln gegen die Unfruchtbarkeit auf. Die Medizinweiber,
die Zauberärzte und Priester hatten kaum ein wichtigeres und einträglicheres
Geschäft, als den verschlossenen Leib kinderloser Frauen zu öffnen. Ein
großer Teil der Hochzeitsbräuche zielte, wie früher erwähnt, darauf, die
Braut zu segnen, d. h. sie zu befruchten; auch das vielbesprochene jus
primae noctis beruht wahrscheinlich auf dem Glauben, daß die beginnende
Ehe durch den Priester oder Häupthng fruchtbar gemacht werden müßte.
Die Persönhchkeit, die mit der Braut den Zauberbeischlaf vollzieht, vertritt
ganz deuthch die Stelle der Gottheit, sodaß also die Gottheit das neuver-
mählte Paar befruchtete. Wenn die Ehe trotzdem kinderlos blieb, so wandte
man andere Mittel an, um die widerwilligen Fruchtbarkeitsgeister zur Be-
fruchtung herbeizuziehen und die störenden Dämonen, die keine Befruch-
timg zustande kommen lassen wollten, fortzuscheuchen. Das geschah durch
Beschwörungen allerart, ferner durch beischlafähnliche Handlungen, sym-
bolische Befruchtungen, Obszönitäten und viele andere Zaubermittel.
So ist denn das ärztliche Personal der älteren zaubergläubigen Mensch-
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heit ziemlich bunt gemischt. Es besteht aus den verachtetsten und den ver-
ehrtesten Mitgliedern des Volkes. Der bettelnde Gaukler, der Schmied, die
Hexe gehören dem ärztUchen Stande nicht minder an als der vornehme
Priester, der König, ja die Gottheit selber. Jesus Christus, der Sohn Gottes,
war in erster Linie ein Heiland im wörtlichen Sinne, d. h. ein Heilender,
ein Arzt. Und wie die heiligen und göttlichen Personen Ärzte sind, so sind
alle mit göttlicher Substanz erfüllten Gegenstände und Geräte Heiltümer
im wörtlichen Sinne, d. h. medizinische Mittel. Wie die Apostel und Pro-
pheten, die Heiligen, die Kaiser und Könige Krankheiten geheilt und Krüp-
peln ihre gerade Gestalt gegeben haben, so sind durch die Berührung oder
den Genuß heiliger Dinge alle menschlichen Gebrechen geheilt, alle Schmer-
zen, Nöte und Drangsale beseitigt worden. Es kam also der kranken Mensch-
heit lediglich darauf an, die göttlichen Personen herbeizurufen und zur Be-
tätigung ihrer heilenden Kraft zu veranlassen, zweitens darauf, die gotter-
füllten Gegenstände herbeizuschaffen und auf die richtige Art zur medizi-
nischen Wirksamkeit zu bringen. Wer war es nun, der zu diesem und jenem
helfen und raten konnte? Doch derjenige, der mit göttlichen Personen in
engem Verkehr steht und die gotterfüllten Gegenstände in Besitz hat ; noch
mehr derjenige, der selber über göttliche Kräfte verfügt und selber ein gott-
erfüllter Gegenstand ist. Der Dämonische allein kann Arzt sein, der Geistige
und Geistliche allein ist imstande, den Kampf mit den Krankheiten sieg-
reich durchzukämpfen. Wer nicht dämonisch ist, wer nicht in irgendeiner
Weise mit der Zauberwelt, der religiösen Welt im weitesten Sinne verbunden
ist, eignet sich nach Meinung unserer Ahnen nicht zur Ausübung des ärzt-
lichen Berufes.
iPi 2. DER RELIGIÖSE KRANKHEITSBEGRIFF i^|
Man sieht schon hieraus, daß die frühere Menschheit über das Wesen und
die Ursachen der Krankheiten etwas anderer Ansicht war als wir Heutigen.
Die Krankheit war etwas Zauberhaftes; die Krankheitskunde (Pathologie)
gehörte zum Bereich der Dämonologie. Die Erfahrung schien es so deutlich
zu bestätigen: wenn den gesunden frischen Menschen plötzlich die Kraft
verließ, wenn Schmerzen ihn quälten und das Fieber ihn schüttelte — -
mußte dabei nicht ein Zauber im Spiel sein ? Mußte nicht irgendwoher, aus
der Luft oder aus dem Wasser, von Pflanzen, Tieren oder Menschen her
dem Erkrankten etwas Schädliches angeflogen sein? Und wie hatte man
sich diese schädliche, krankmachende Substanz vorzustellen? Es gab ver-
schiedene Arten, sich von ihr und dem durch sie verursachten Krankheits-
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Vorgang ein Bild zu machen. Z. B. konnte sie ein lebendes Wesen, ein Ideines
Tier, eine Art Dämon sein, der in den Leib hineinkroch und den Kranken im
Magen oder wo der Schmerz sonst saß, zwickte; oder sie konnte ein lebloser
Gegenstand, ein Stein oder ein Stückchen Holz sein, das durch fremde Zau-
bermanipulationen in den Kranken hineinbefördert worden war; oder diese
fremde Zauberkraft konnte aus der Ferne wirken, ohne sich eines körper-
lichen Übertragungsmittels zu bedienen; ein Geist oder ein feindlicher
Mensch konnte dem Kranken auf geheimnisvolle Weise die Kraft entzogen,
die Seele entwendet haben, konnte durch Beschwörungen und Blicke die
Krankheit angehext haben. Wir haben zahlreiche Zeugnisse, daß aUe diese
Vorstellungen lebendig gewesen und der wirklichen Therapie zugrunde ge-
legt worden sind. Näheres findet man in den Arbeiten der medizinischen
Historiker und Ethnologen (vgl. namenthch Bartels, Die Medizin der
Naturvölker, ferner die vorzüglichen Arbeiten von Höfler und vielen
anderen Forschern; die volkskundlichen Zeitschriften bringen Einzelheiten
in Fülle).
Man darf nicht erwarten, daß die Anschauungen über das Wesen der Krank-
heit von den zaubergläubigen Völkern in ein System gebracht worden sind.
So wenig einheitlich und logisch durchdacht die Mythologie und das son-
stige Zauberwesen ist, so wenig ist es auch auf medizinischem Gebiet ge-
lungen, folgerichtige Theorien über die Krankheit und ihre Bekämpfung
aufzustellen und auszubauen. Nicht einmal darüber sind sich die vergan-
genen und heutigen Völker der dämonologischen Kulturstufe klar geworden,
ob die Krankheit immer und ausschließlich zauberhaften Ursprungs ist, oder
ob es auch ,, natürliche" Krankheiten gibt. Bei Verwundungen im Kriege
und anderen äußeren Verletzungen drängte sich der natürliche Ursprung
so unzweideutig auf, daß man sich wohl damit abfinden mußte. Jedoch
wurde dann nicht selten der Akt des Verwundens selber als ein zauberhaftes
Geschehnis aufgefaßt und in den Waffen und verletzenden Gegenständen
schien sich etwas Dämonisches zu verbergen.
Noch mehr schwankten die Ansichten über die Wirkungsweise des Zaubers
bei den verschiedenen Einzelkrankheiten und die Verknüpfung zauberhafter
Einwirkungen mit natürhchen. Der Medizinmann dachte sich die Sache bald
so, bald anders ; er fand immer neue Krankheitserreger heraus und niemand
hinderte ihn, sich den Zusammenhang seiner Wahnideen zurechtzulegen, wie
er wollte. Zwei Erfahrungen waren es hauptsächlich, auf denen der ärztliche
Priester aufbaute: erstens die, daß der menschliche Körper von außen her
günstig und ungünstig beeinflußt wird, daß z. B. der Genuß mancher
Pflanzen ihn sättigt, der Genuß anderer ihn rauschartig erhebt, andere wie-
derum ihm Schmerzen oder Tod bringen, daß auch die Temperatur und andere
13
willkürlich erzeugte oder unbeabsichtigt erlittene Einwirkungen von außen
ihn krank oder gesund, schwach oder stark machen ; zweitens schien die Er-
falu-ung deutlich zu lehren, daß der Mensch aus Leib und Seele besteht,
die aufeinander wirken können, daß die Seele den Leib belebt und regiert,
ihn aber auch verlassen kann. Dies Verlassen kann vorübergehend oder
dauernd sein. Im zweiten Falle verwest der Leib, im ersten ist er nur krank
oder schlafend. Es kann, während die Seele anderswo weilt und der Mensch also
,, außer sich" ist, ein fremder Geist in den Leib einkehren ; dann ist der Mensch
,, besessen". Die Besessenheit braucht sich nicht auf die ganze Persönlichkeit
zu erstrecken wie bei vielen Geisteskrankheiten ; auch der körperlich Kranke,
dem nur ein Organ den Dienst versagt, nur ein Glied Schmerzen verursacht,
ist besessen von einem Krankheitsgeist und verlassen von der Organseele„
die sonst in dem betreffenden Körperteil wohnt. Der Mensch hat nämlich nach
der Meinung vieler Völker nicht nur eine allgemeine, sondern auch Teilseelen.
Die beiden Erfahrungen des heilbedürftigen Kranken und heilbeflissenen
Arztes wurden in gleicher Weise dem religiösen Zauberglauben dienstbar
gemacht. Was den Pflanzen ihre günstige oder ungünstige Wirkung verlieh,
waren ihre Zaubereigenschaften; Gifte und Heilkräuter waren dämonische
Kräfte. Ebenso wurden auch die anderen Einflüsse von außen im Sinne eines
zauberhaften und seelischen Wirkens aufgefaßt. In den Mittelpunkt der gan-
zen Krankheitslehre trat der Begriff der Besessenheit. Nicht bloß Geistes-
kranke gelten für besessen, sondern, wie ich eben sagte, auch organisch Er-
krankte. Die besitznehmenden und krankmachenden Substanzen wurden
sehr häufig als bestimmte unterscheidbare Wesen gedacht. Den verschie-
denen Krankheiten teilte man verschiedene Krankheitsdämonen zu, erfand
für dieselben eine Fülle von Namen (z. B. im alten Babylon), rief sie in
Krankheitsfällen an, bildete sie zu therapeutischen Zwecken ab. Meist gab
man den Krankheitsdämonen eine scheußliche Gestalt, ein verzerrtes Ge-
sicht ; das Körperglied, das sie krank zu machen pflegten, trat auffällig her-
vor. Sie hausten irgendwo im Walde, an unheimlichen Orten; man mußte
sich hüten, in ihre Nähe zu kommen oder mußte sich mit schützenden Amu-
letten versehen, mußte Gegenzauber anwenden, um die lauernden Geister
abzuhalten. Sie konnten sich winzig klein machen, um in den Körper zu
gelangen, konnten die Gestalt von Würmern, Maden, Ungeziefer usw. an-
nehmen. Die von der modernen Wissenschaft entdeckten Mikroben sind in
den Krankheitsgeistern der Vergangenheit vorausgeahnt. Es leuchtet ohne
weiteres ein, daß der Glaube an die Krankheitsdämonen sich an ganz richtige
Beobachtungen anlehnte. Nur drückte man sich falsch aus und stellte sich
den Hergang und die Wirkung der Schädlinge gröber vor als wir Heutigen
auf Grund der mikroskopischen Forschungen.
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Als die höheren religiösen Vorstellungen zur Herrschaft kamen, konnten
die Grundsätze der Zauber- und Dämonenmedizin nicht unbeeinflußt von
ihnen bleiben. Die edleren und schöneren Geister beschnitten den mißgün-
stigen und kleinhchen Krankheitsdämonen ihre Macht über die geplagte
Menschheit, Mit anderen Worten : Der Mensch erkannte, daß sein Wohl und
Wehe nicht bloß von den unmittelbaren körperlichen Einwirkungen der Um-
welt abhing, sondern von größeren und geistigeren Gewalten. Er glaubte also
den Krankheiten eine tiefere Bedeutung zusprechen zu müssen und faßte
sie nunmehr als Schickungen der Ahnengeister, der Naturdämonen, der
Stammesgötter auf. Während die alten Krankheitsgeister den Menschen ohne
weiteren Grund anfielen, weil das nun einmal ihre Art war, hatten die
höheren religiösen Wesen stets ihre Gründe, wenn sie die Menschen mit
Krankheit schlugen. Sie fühlten sich beleidigt oder vernachlässigt und räch-
ten sich dafür durch die Krankheit. Hier waren zwei verschiedene Auffas-
sungen möglich, deren Gegensatz für die weitere Krankheits- und Heilkunde
von großer Bedeutung wurde. Entweder kam die Krankheit von solchen
Mächten, die den Menschen im ganzen wohlgesinnt waren, sodaß die Krank-
heit nur ein energischer Wink war, die Pflichten gegen Gott und Menschheit
besser zu erfüllen. Oder die Krankheit ging von feindlichen flächten aus,
die man weder gewinnen konnte noch wollte, gegen die man also die Hilfe
der guten Götter und die eigene Widerstandskraft aufbieten mußte.
Wurde der Priesterarzt zu einem Kranken gerufen, so bestand seine dia-
gnostische Aufgabe also wesentlich darin, zu entscheiden, ob gute oder böse
Mächte die Krankheit geschickt hatten. Er konnte diagnostizieren: unser
Stammesgott, mein oder des Kranken Schutz- und Geschlechtsgeist ist Ur-
sache der Krankheit ; oder ein fremder Geist, den wir nicht kennen, der uns
verfolgt, ist Ursache. Danach ergriff der Priesterarzt dann seine Maßregeln.
Im ersten Falle riet er natürlich dazu, sich dem Krankheitserreger zu unter-
werfen und das gestörte Freundschaftsverhältnis zu dem vertrauten Geiste
videder herzustellen. Er vertrat auch meist die Überzeugung, daß die Krank-
heit verdient sei; denn wie wir früher erkannten, stellen sich die höherent-
wickelten Völker ihre Götter nicht bloß mächtig und unwiderstehlich, son-
dern auch gerecht und weise vor. Dagegen gelten die fremden und feindlichen
Götter meist als ungerechte und bösartige, wenn auch mächtige Wesen.
Ganz natürlich; denn da man ihnen keinen Kult widmet, hat man nichts
Gutes von ihnen zu erw^arten und die Stimmung, die man ihnen gegenüber
hat, überträgt man auf ihren Charakter. Sie schicken daher die unverdienten
Krankheiten und lassen z. B. ihren Zorn gegen ganze Stämme durch ver-
heerende Seuchen aus. Dieser feindseligen ungerechten Tätigkeit pflegen
sich auch die Götter der unterworfenen Stämme hinzugeben, unter denen die
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herrschenden leben. Dadurch, daß diese unterjochten Götter keinen Kult
mehr erhalten, werden sie böse und rachsüchtig. Ihre verlassenen Kult-
stätten werden zu gefährlichen Krankheitsherden, die man meidet, wie wir
heute sumpfige Gegenden meiden. Manchmal sinken derartige Götter auch
zu niederen Krankheitsdämonen herab: sie lauem dem Vorübergehenden
auf und fallen ihn an. Ebenso werden mitunter die Ahnengeister, die ja
meist mit den Naturgeistern in enger Verbindung stehen, zumal die stam-
mesfremden Toten und die nicht richtig Bestatteten, zu Gespenstern und
gefährlichen Krankheitsträgern. Sie halten sich in der Nähe der Begräbnis-
oder Todesstätte auf, gehen aber auch in die Häuser, legen sich als Alp auf
die Schlafenden, saugen ihnen als Vampyr das Blut aus.
Der Kranke stellt sich meistens jene diagnostische Frage: ob seine Krank-
heit von guten oder bösen Mächten verursacht sein mag, meist sofort, ehe
er noch den Arzt zu Rate gezogen hat; ja er entschließt sich, wenn er das
letztere annimmt, oft nicht dazu, den Priester der guten Geister zu rufen,
sondern wendet sich an den bösen Zauberer, weil derselbe mit den feind-
lichen Dämonen und Gespenstern auf besserem Fuße steht als jener. Die
erstere Annahme, daß nämlich die guten und vertrauten Götter die Krank-
heit geschickt haben, bringt gewisse Verlegenheiten mit sich. Der Priester
erklärt solche Krankheiten für wohlverdient, für Aufforderungen zur Buße
und Einkehr, insofern auch für Gnadenbeweise und Liebesversicherungen
der Gottheit. Er versichert dem Kranken, daß er sich im Grunde über seine
Krankheit freuen, sie in frommer Hingebung tragen und als ein Gut in
Ehren halten müsse. Diese Betrachtungsweise ist nun aber nicht jedermanns
Sache, sie trägt den Stempel priesterlicher Herkunft deutlich an der Stirne
und kann sich nur unter gewissen Umständen die Zustimmung weiter Volks-
kreise erringen. An und für sich zweifelt ein normaler Mensch keinen Augen-
blick daran, daß die Krankheit kein Gut, sondern ein Übel ist, daß man sie
daher so bald und so gründlich wie möglich abschütteln müsse. Der Priester
dagegen kam infolge seiner Naturanlage und seiner Berufspflichten dahin,
einige Krankheitszustände zu lieben und aufzusuchen. Er wurde durch
Krankheit nicht berufsuntüchtiger, nicht unglücklicher, sondern wurde gött-
licher, tiefer, freier, weiser. Mit den Schwäche- und Schmerzzuständen waren
Erhebungen und Erleuchtungen verknüpft, daher zog er den leicht begreif-
hchen Schluß, daß auch die unangenehmen Ursachen dieser erwünschten Zu-
stände etwas Gutes sein müßten. Auch die körperlichen Unlustgefühle, die
Schmerzen und Übelkeiten aller art, die der rausch- oder traumartigen Ver-
göttlichung vorangingen, zur Seite gingen, nachlolgten, mußten Geschenke
der Gottheit sein, auf die der Besitzer stolz zu sein, Ursache hatte. Und da
der ,, Wille zur Krankheit" nicht bloß im Priester, sondern in allen Menschen
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lebt, gelang es dem Priester, auch die Gemeinde zu dieser Anschauung zu
bekehren und sie mit der Krankheit als einer Himmelsgabe auszusöhnen.
Indessen war diese Anschauung doch zu unnatürlich, als daß sie ohne
Widerspruch hätte bleiben können. Die Störungen und Hemmungen dräng-
ten sich so gebieterisch als das, was sie waren, auf, nämlich als unerträgliche
Übel, daß der Priester selber bedenklich wurde, wenn er sie verteidigen und
verherrlichen wollte. Es war leicht, das Unangenehme gut, das Zerstörende
göttlich zu nennen, aber schwer, dem Leidenden diese Paradoxe als Wahr-
heiten fühlbar zu machen. Auch für seine eigene Person gelang es dem Prie-
ster nur zeitweilig, an diesen Paradoxen festzuhalten. Er mochte noch so
fromm sein: eines Tages verfluchte er doch seine Krankheit und sein Un
gemach wie der fromme Hiob. Er mochte der charaktervollste Stoiker sein :
mitunter mußte seine Überzeugung, daß Krankheiten und andere Wider-
wärtigkeiten für den Weisen keine Übel seien, doch der harten Wirklichkeit
weichen. Wir wollen trotzdem nicht verkennen, daß in dem priesterlich-
stoischen Glauben etwas Großartiges und im ethischen Sinne Berechtigtes
liegt. Er gibt dem menschlichen Streben, daß der Geist Herr über den Körper
sein soll, greifbaren Ausdruck; er entspringt einem inneren Kraft- und
Glücksgefühl, das sich in die Lebensführung und die religiös-philosophische
Gedankenbildung überträgt. Die in Gott glücklichen Priesternaturen wie
etwa Franz von Assisi sind so davon durchdrungen, daß Gott gut und mäch-
tig ist, daß sie jedes Schicksal als etwas Gutes und Erfreuliches hinnehmen;
da sie in Gottes Hand stehen, kann ihnen nichts Böses widerfahren und alles
scheinbare Unglück muß verkapptes Glück sein: auf der Leiter der schein-
baren Übel stiegen sie zur himmlischen Vollkommenheit und Glückseligkeit
empor. Bei den Stoikern ist die Stimmung wesentlich gedämpfter. Sie fühlen
sich nicht in der Hand eines gütigen mächtigen Wesens, sondern hüllen sich
in den Mantel der gefaßten Würde. Sie suchen ihre Empfindungsfähigkeit
möglichst zu schwächen, ihre Widerstandskraft möghchst zu stärken und
machen sich von den Mächten in oder über der Welt möglichst unabhängig.
Aber wie gesagt, diese an sich verehrungswürdige Haltung gegenüber den
Übeln, die den Menschen heimsuchen, läßt sich nicht dauernd behaupten,
weil die menschliche Natur zu lauten Widerspruch dagegen erhebt. Die
Fragen: Was bedeutet die Krankheit? Was will sie von mir? Wie begegne
ich ihr? — treten neu und fordernd vor jeden hin, der von einer ernstlichen
Kranldieit ergriffen wird. Und immer sagt ihm dann sein Gefühl, daß die
Krankheit ein Übel sei und möglichst bald wieder vertrieben werden müsse.
Vor diesem Gefühl des Gemarterten und Geschwächten verwehen alle reli-
giösen und philosophischen Theorien. Siechtum, Alter, Schwäche, Todes-
angst sind Erfahrungen, die jedes Zeitalter, jedes Geschlecht, jeder einzelne
2 Horneffer, Der Priester II I^
Mensch als etwas durchaus Neues und Erklärung Heischendes macht. Daher
sind diese Erfahrungen so oft der Anlaß zu religiösen Krisen und der Aus-
gangspunkt für religiöse Neubildungen gewesen. Denn dem Kranken und
dem, der den Tod aus der Nähe kennen lernt, wird das Leben zu einer neuen
Offenbarung. Alle angelernten Meinungen, alle von der älteren Generation
überkommenen Lehren sinken vor diesen Erlebnissen in sich zusammen.
Uns Heutigen bietet sich der scheinbar selbstverständliche Ausweg dar,
daß wir den Zusammenhang der Krankheiten mit der Religion und der gött-
lichen Weltregierung einfach leugnen. Die Krankheit, sagen wir, ist ein
natürlicher Vorgang, bei dem weder Gott noch der Teufel beteiligt ist. Wir
nennen es Aberglauben und Anmaßung, das All mit unseren Zahnschmerzen
und unserem Rheumatismus in Beziehung zu bringen. Diese Anschauung
ist vernünftig, widerstreitet aber der christlichen Lehre durchaus. Nach aus-
drückhcher Versicherung der Bibel zählt Gott die Haare auf unserem Haupt
und schickt uns Krankheit oder Tod. Wie kann es für einen wahren Christen
„natürliche" Krankheiten und Todesfälle geben? — Das Verhalten angeb-
hcher Christen bei eigenen und fremden Krankheits- und Sterbefällen ist
einer der unzweideutigsten Beweise für den Zusammenbruch der christlichen
Weltanschauung. Trotz ihrer frommen Redensarten glauben sie im Ernste
nicht daran, daß Gott den Kranken niederwerfe und heimsuche, den Sterben-
den abberufe und erlöse. Sonst mußte ihre Handlungsweise doch anders sein
als die unsrige, die wir die christliche Weltanschauung preisgegeben haben.
Welch eine Gedankenlosigkeit und Ratlosigkeit verraten diese angeblichen
Christen, wenn sie alles Erdenkliche tun, um die Sterbenden zu ,, retten",
die Kranken aus der göttlichen Schule herauszuziehen ! In einem Atem spre-
chen sie zwei unvereinbare Anschauungen über Wesen und Herkunft der
Krankheit aus ; in einem Atem bekennen und leugnen sie den allmächtigen
Gott. —
Die heidnische Welt war, solange sie nicht an die Allmacht und Allgüte
Gottes glaubte, nicht genötigt, die Götter für die Krankheiten verantwort-
hch zu machen. Es ging ja nicht alles, was geschah, von der Gottheit aus;
nur hie und da griff sie in den Lauf der Dinge und in die menschlichen Ge-
schicke ein. Daher konnte es für die Heiden an und für sich sehr wohl natür-
liche Krankheiten geben; äußere wie innere Krankheiten konnten durch den
„Zufall", durch Ungeschickhchkeit, durch die einfachsten und banalsten
Umstände hervorgerufen sein. Von dieser Erklärung machte man freihch,
wie ich oben schon sagte, nicht allzuoft Gebrauch. Weshalb ? Weil die Krank-
heit etwas Auffallendes, Erstaunliches, ein tief einschneidendes Ereignis war.
Man fragte nach dem ,, Täter", man nahm die Krankheit nicht einfach hin,
wie die tausend alltäglichen Erscheinungen in der Welt. Des Mensch fühlte
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in dem Krankheitsvorgange zu stark das Geheimnisvolle, scheinbar Wider-
sinnige, Erklärung Heischende.
Diesem Gefühl entsprach die dämonische Krankheitslehre auf das beste.
Da es Geistwesen in großer Zahl, jeden Ranges und Charakters in der Welt
gab, da zauberhafte Kräfte die Natur und den Menschen erfüllten, war es
selbstverständlich, wo man die Erklärung für die erheblicheren und bedeu-
tenderen Krankheiten suchen mußte. Je nach Umständen und Stimmung
erkannte man gute oder böse, große oder kleine Mächte als Ursache der
Krankheit. Man konnte die begeisternde Wirkung der Rauschgifte auf die
Götter zurückführen, die üblen Nachwirkungen der Ausschweifung als das
Werk böser und neidischer Geister hassen; man konnte Krankheiten, die
Sündengefühle und bußfertige Gedanken mit sich brachten, als verdiente
Schickungen empfinden und konnte die zornmütig machenden und zu un-
gelegener Zeit eintreffenden Krankheiten als Tücke der Dämonen oder
menschlichen Zauberer auffassen. Die Krankheitslehre spiegelte die allge-
meine heidnische Weltanschauung wider, daß zwei Arten von Kräften in
der Welt hausen und in dem Menschen sich streiten : gute und böse, helfende
und hemmende, bauende und zerstörende. Diese heidnische Weltanschau-
ung des ewigen Kampfes erringt sich heute wieder mehr und mehr Aner-
kennung, nur daß wir Heutigen den Menschen aus der passiven Rolle in die
aktive und herrschende versetzen: Der Mensch ist es in erster Linie, der
kämpft und der Welt seinen Geist und Willen einhaucht.
Hier werden uns die heidnischen Mythologien und ihr Zusammenhang mit
der priesterHch-zauberischen Krankheitsauffassung erst ganz verständlich.
Wenn der Mensch sich stark und gesund fühlte, sagte er sich: Die guten
Geister sind siegreich, die bösen sind geschlagen, gefesselt, in ferne Winkel
gebannt. Wenn er krank und schwach wurde, fühlte er die bösen Mächte mit
ihren Ketten rasseln, fühlte, wie sie sich losrissen, herausstürmten und den
Göttern eine furchtbare Schlacht lieferten. Sein Geist und Leib war die
Wahlstatt jenes Götterkampfes, der in den meisten Mythologien einen so ent-
scheidenden Platz einnimmt. Zumal der Priester, vermöge seiner nervösen
Sensibüität, sah mit greifbarer Deutlichkeit die Geisterheere daherbrausen,
erlebte auf seinem Krankenlager alle Stadien der ungehemren Schlacht, und
wie seine Krankheit zum Guten oder Schlimmen sich neigte, so endete auch
der Geisterkampf mit dem Sieg oder der Niederlage der guten heiligen Ge-
walten. Alle Ereignisse der überirdischen Welt sind ja der Widerschein der
wechselnden Zustände des menschlichen Organismus.
Die Krankheitstheorie hielt mit der Vertiefung und Verinnerlichung der
rehgiösen Glaubensgebilde Schritt. Die Geisterscharen verwandelten sich in
wenige, endüch in zwei Gewalten, die Welt schien sich in zwei Reiche, das
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Reich des Guten und des Bösen zu spalten ; der Mensch war nun ein glück-
lich-ungKickliches Zwitterwesen, das an beiden Reichen teilhatte und zwi-
schen Gut und Böse, Leben und Tod hin- und hergeworfen \vurde. Dieser
Dualismus, der am deutlichsten in der persischen Religion hervortritt,
machte sich auch in der christlichen Weltanschauung weit stärker bemerk-
bar, als es der Glaube an den allmächtigen Gott gestattet. In der christlichen
Mythologie, die sich fälschlich als Monotheismus bezeichnet, finden wir, daß
dem Gotte der Heerscharen ein sehr mächtiger Gegengott mit einem teuf-
lischen Heere gegenübersteht. Gott duldet es, daß die Teufel beständig auf
den Menschen losgelassen werden, ihn quälen und in Versuchung führen.
Die frömmsten und heiligsten Menschen sind den Angriffen der boshaften,
gefährhchen Geister am meisten ausgesetzt. Das ist, ich wiederhole, mensch-
lich und psychologisch ganz richtig gedacht; die guten und bösen Erfah-
rungen, die Glücks- und Unglückszustände, die Gesundheit und Krankheit
— das läßt sich sehr wohl mit dem System des e\\igen Kampfes in Einklang
bringen. Aber ist dies System nicht eher Duotheismus als Monotheismus?
Darf es einen Satan, darf es all das entsetzhche Elend und unaussprechliche
Herzeleid auf Erden geben, wenn Gott allmächtig, allgütig, allwissend, ohne
Schranke und Unvollkommenheit ist ? Dringt das Stöhnen der gemarterten
Seelen und Leiber nicht an das Ohr des Alimächtigen? Und kann er bei
diesen Lauten hart bleiben, kann er mit Gelassenheit die Lob- und Dankreden
derer entgegennehmen, die sich eines glücklicheren Lebens erfreuen?
Diese Fragen sind gerade hier an ihrem Platze ; denn, wie gesagt, gibt die
Krankheit, sei es die eigene, sei es Krankheit und Tod der Geliebten, oft
den Anstoß zu rehgiösen Krisen. Tausende ringen täglich mit dem Gedanken,
wie nur der allmächtige Vatergott zugleich ein Krankheitsdämon imd ein
erbarmungsloser Würgengel sein könne. Tausende bäumen sich in ihren
Leiden gegen diesen Dämon und Würgengel auf und andere finden in der
unchristlichen Resignation des Hiobdichters Trost. Manche sagen sich, das •
Reich des Bösen nimmt zu, die Götterdämmerung naht, der Christengott
erbleicht ! Oder aber er nimmt die Züge des uralten Sturm- und Rachegottes
an, des zugleich furchtbaren und segensreichen Wesens der heidnischen My-
thologie, das mit dem N\'ilden Heer durch die Luft fährt, schaffend und zer-
störend, zeugend und tötend, sodaß die Menschen zitternd sich beugen,
zitternd ihm nahen, zitternd ihn weiterziehen sehen.
Was wir hier über Herkunft und Wesen der Krankheit zu sagen versuchten,
gibt uns nun auch den Schlüssel für die zunächst befremdende Tatsache, daß
nach Ansicht der ganzen dämonengläubigen Menschheit der Heilbringer zu-
gleich Krankheitsbringer, der Arzt zugleich Schädiger ist. Alle Welt war
überzeugt, daß wer Krankheiten heilen, sie auch herbeirufen könne. Die
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Krankheitsgeister werden als Heildämonen angerufen; die menschlichen
Zauberer, deren Hexenkünste ihre Feinde zu spüren haben, üben den ärzt-
lichen Beruf aus. Noch Piaton versichert uns an einer Stelle seines Staates,
daß ein guter Arzt auch imstande sei, die Menschen krank zu machen. Diese
Vorstellung erklärt sich allein aus der Annahme, daß die Krankheit etwas
Substantielles sei, über das der Arzt nach Belieben verfüge. Hippokrates
hatte zu Piatons Zeiten zwar schon den Krieg gegen die dämonologische
Medizin eröffnet, aber seine großen Neuerungen waren den Zeitgenossen
noch nicht genügend in Fleisch und Blut übergegangen, ließen auch dem
alten Heilaberglauben noch immer viel Raum. Dieser Heilaberglauben be-
ruht aber ganz und gar auf dem Gedanken, daß die Heilung in der Ablenkung
und Beseitigung übernatürlicher Einwirkungen bestehe. So zweifelte denn
kein Volk daran, daß seine Priester und Zauberer so gut Krankheiten erregen
wie wegschaffen könnten. Der Zauberer sitzt auf dem Berge, ein giftiges
Pulver in der Hand und bläst es unter Verwünschungen gegen einen ab-
wesenden Feind. Oder er verbrennt in der Zauberhütte die Exkremente oder
Kleidungsabfälle des Feindes, der dadurch in Siechtum verfällt. Das Volk
wendet sich nicht nur, wenn es seiner Krankheit ledig sein will, sondern auch,
wenn es dem Heben Nächsten Unheil bereiten möchte, an die dämonischen
Personen; es wünscht wohl auch die wertvolle Kunst, Krankheiten zu er-
regen, selber zu erlernen und so kommt schließlich ein ganzer Schatz von
Krankheitszaubermitteln in den allgemeinen Besitz der Menschheit. Noch
heute treibt im christlichen Europa die Kunst, Krankheit und Tod durch
Zauber zu bewirken, ihr Wesen.
iSI 3 . DES HEILANDS KAMPF MIT DER KRANKHEIT IHI
ISI toi -' täi\ Fol
Auch die zauberhafte Heilkunst lebt noch immer unter uns fort; sie ist ja
nur die Kehrseite der krankheitserregenden Kunst. Mitunter wird beides,
das Erregen und das Beseitigen von Krankheitszuständen, in einem ein-
zigen Akt vereinigt. Das ist bei der weitverbreiteten Sitte der Krankheits-
übertragung der Fall. Der Kranke kann nämlich seine Krankheit durch
geistreiche Mittel, über die in den volksmedizinischen Werken Näheres zu
lesen steht, an einen anderen Menschen, an ein Tier, an einen Baum abgeben.
Man kann die Krankheit auf eine fremde Schwelle, auf einen Weg legen,
damit sie einen des Weges Kommenden ergreift. Damit ist der bisherige
Kranke sie los. Man kann Seuchen von einem Lande oder Gehöfte abhalten,
indem man an der Grenze ein bannendes abschreckendes Mal aufrichtet,
kann durch solche bannende Male aber auch den in der Nähe Weilenden die
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Krankheit zutreiben. Oft ist dasselbe Mittel zugleich krankheitserregend und
heilend. Die dämonologische Menschheit hängt der Homöopathie an.
Wild jemand von einer Krankheit befallen, so hat er daher nichts Wich-
tigeres zu tun, als das Mittel zu entdecken, durch das er krank geworden ist,
damit es ihm als Heilmittel diene. Stellt er fest, daß ein zauberkundiger
Mensch, sei es ein Stammesgenosse oder ein Stammesfremder, die Ursache
der Krankheit ist, so sucht er ihn mit Güte oder Gewalt zu veranlassen,
die Krankheit wieder rückgängig zu machen und den Zauber durch den
homöopathischen Gegenzauber aufzuheben. Wir wissen von vielen primi-
tiven Völkern, daß dem angeblichen Krankheitserreger Geschenke und gute
Worte gegeben werden, daß er auch bedroht und verfolgt wird, um die Zu-
rücknahme der Krankheit von ihm zu erreichen. Nun ist es natürlich nicht
immer leicht, den Täter ausfindig zu machen, da er sich in der Regel nicht
als solcher zu erkennen gibt. Der Kranke wendet sich daher an den Priester-
arzt und übergibt ihm die Nachforschung. Diese Nachforschung nach dem
Täter ist, wie wir oben schon darlegten, die ärztliche Diagnose und die an
die Ermittlung sich anschließende Einwirkung auf den Täter, daß er den
Kranken freigeben möge, ist die Therapie. Genau so hegt der Fall bei dem
erkrankten König der Skythen und seiner Heilung durch die Wahrsager.
Das therapeutische Verfahren, wie es Herodot schildert, besteht in der Er-
mittlung und Bestrafung des Bösewichts, durch dessen Schuld der König
krank geworden ist. Nur hat dieser Bösewicht nicht absichtlich, nicht durch
Zauberkünste den König krank gemacht, sondern er hat die königlichen Haus-
götter durch einen Meineid so gereizt, daß diese ihren Zorn an dem König
durch Erregung einer Krankheit ausgelassen haben. Augenscheinlich ist das
eine spätere Vorstellung, die sich aus der primitiven Annahme entwickelt
hat, daß der Beschuldigte unmittelbar die Krankheit angewünscht und dem
König beigebracht habe.
Wir sehen, daß der Priesterarzt bei dieser Heilmethode fast unentbehrlich
ist. Er bringt bei den Skythen durch Orakelbefragung, bei anderen Völkern
durch andere Mittel, die ebenfalls religiöser Art sind, den Krankheitserreger
an das Tageslicht. Die Stellung der Diagnose vollzieht sich wie ein heiliger
Akt, wie eine Kultzeremonie. Besonders ist das der Fall, wenn man in dem
Krankheitserreger einen Dämon oder Gott vermutet. Die unmittelbar darauf-
folgende Kur ist dann nur die Fortsetzung des religiösen x\ktes am Kranken-
bett. Wir lesen in den ethnologischen Werken ausführliche Schilderungen
derartiger ärztlicher Bemühungen, die in den verschiedenen Weltgegenden
auffallend übereinstimmen. Der Priester erscheint in seiner priesterlichen
Amtstracht, führt einen musikbegleiteten Tanz auf, um sich in den Begei-
sterungszustand zu versetzen, und vermag in diesem Zustand anzugeben,
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welcher Mensch oder Geist die Krankheit geschickt habe, was geschehen
müsse, um diesen Krankheitserreger zu versöhnen oder zu bedrohen, sodaß
er sich zur Zurücknahme der Krankheit versteht. Dann wieder sucht der
Priester im Schlaf und im Traum den Täter zu ermitteln, sich mit ihm in
Verbindung zu setzen und ihn in der gewünschten Richtung zu beeinflussen.
Er legt sich also im Tempel zum Schlaf nieder und hofft durch ein Traum-
bild diagnostisch und therapeutisch belehrt zu werden. Oft maß auch der
Kranke selbst diesen medizinischen Tempelsclilaf halten, der in den Mittel-
meerländem allgemein üblich war. In Griechenland, wo wir über den Ge-
brauch des Tempelschlafes genauer unterrichtet sind, hatte sich der ur-
sprüngliche Sinn dieser Heilweise schon etwas verschoben. Die kranken
Griechen, die zum Asklepiosheiligtum wallfahrteten, um den Tempelschlaf
zu halten, wollten nicht den Krankheitserreger erfahren, sondern hofften
mit dem Heilgott Asklepios in Traumverkehr zu treten und von ihm An-
gaben über das einzuschlagende Heilverfahren zu erhalten. Ursprünglich
aber war dieser Heilgott vermutlich zugleich der Krankheitsdämon, und der
Tempelschlaf hatte den Zweck, die Bedingungen in Erfahrung zu bringen,
unter denen dieser Dämon den Kranken freigeben würde. Die Erfüllung der
Bedingungen war dann die Therapie.
Was für Bedingungen sind das ? Wie versöhnt man Götter und Menschen
und bestimmt sie zur Freigebung der mit Krankheit Geschlagenen? Man
gibt ihnen Geschenke, man opfert ihnen. Vielfach benutzen die göttlichen
und menschlichen Krankheitsbringer die Krankheiten als Erpressungs-
mittel; sie verschaffen sich durch Erregung von Krankheiten, durch Ver-
hängung von Epidemien Achtung und Einkünfte. Durch die Krankheit er-
fahren die Betroffenen zuweilen erst von dem Dasein und der Macht des
Dämons, um den sie sich bisher nicht gekümmert hatten. Der hellsichtige
Priesterarzt klärt die Kranken auf, beschreibt ihnen den so unangenehm
bekannt gewordenen Dämon und gibt ihnen die Mittel an die Hand, sich
güthch mit ihm auseinanderzusetzen. Gelingt es, die Forderungen des
Dämons durch den Priester herauszubringen, so kommt es unter Vermitt-
lung des Arztes zu einem Vertrage zwischen Krankheitsbringer und Patient.
Sobald dieser Vertrag dauernde und regelmäßige Leistungen vorsieht und
die Lösungssumme zu einer Dienstverpflichtung wird, hat sich der Vertrag
in einen Opferritus verwandelt. Die Krankenheilung ist Kult geworden.
Diu-ch den Empfang eines Kultes wiederum wird der Dämon zum guten, be-
kannten Geist, zum Gott; wir sehen also, wie sich die religiöse Gottesver-
ehrung lückenlos aus der Zaubertherapie entwickeln kann. Nur ist der so
entstandene Kult nicht notwendig ein Gemeindekiilt, also keine Religion im
engeren Sinne. Aber Übergänge von dem therapeutischen Privatkult zur
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Gemeindereligion sind leicht geschaffen. Hervorragend mächtige Krank-
heitsgeister, z. B. solche, die sich an Häuptlingen und Priestern vergreifen,
gelangen leicht dahin, daß sie von der ganzen Gemeinde mit Kultgaben ver-
sorgt werden ; umgekehrt werden in den Krankheitsbringem leicht die Ge-
schlechts- und Ortsgeister, die Tier- und Menschenahnen, die Stammes- und
Volksgottheiten wiedererkannt. Der heilende Priester wird schon durch
seinen Vorteil veranlaßt, die ihm nahestehenden und bekannten Geister als
Urheber der Krankheiten zu bezeichnen, weil die Kultgaben der Kranken
dann ihm als dem Diener und Vertreter dieser Mächte zufallen. Das braucht
nicht schlaue Berechnung zu sein, sondern kann aus dem starken Glauben
an die Macht dieser Geister entspringen. Da der Priester mit diesen Geistern,
wohl gar mit einem einzigen vom ganzen Volke verehrten Geiste verkehrt und
ihn immer im Sinne hat, so gelangt er ganz von selber dahin, alles Auffallende,
was geschieht, mit der Tätigkeit dieses Geistes in Verbindung zu bringen
und ihn überall zu wittern, wo sich Unglücks- und Glücksfälle ereignen.
Das Ergebnis zahlloser Konsultationen des Priesterarztes lautet daher so :
mein Spezialgott (oder: unser gemeinsamer Stammesgott) muß neue und
reichlichere Opferspenden erhalten, der Kranke muß fromme Stiftungen
machen, muß sich von widergöttlichen Bestrebungen fernhalten, muß un-
kirchlichen Vereinen und Zeitungen die Freundschaft aufkündigen, muß
tapfer für Gott streiten und ihm gegen seine Feinde beistehen. Wenn er das
alles tut, wird ihm Gottes Hilfe nicht fehlen und die Krankheit wird ver-
schwinden.
Wenn so jeder Gott zum Krankheitsbringer und Heilgott werden kann, so
gab es doch in den meisten entwickelten Religionssystemen besondere Heil-
götter, die den Kampf mit den Krankheiten zu ihrem Lebensberuf machten
und daher von den Kranken vor^\äegend angerufen, aufgesucht und mit
Opfern bedacht wurden (vgl. Hopf: Die Heilgötter und Heilstätten des
Altertums). In Babylon waren Sin und Marduk, in Ägypten Imhotep, in
Indien die Asvins, in Griechenland Apollon und Asklepios die bevorzugten
Götter der Leidenden. Ferner pflegen die mit dem Monde zusammenhängen-
den oder gleichgesetzten Gottheiten sich der Heilung von Krankheiten zu
widmen. Im Christentum ist die Mutter Gottes die Heilgottheit; dazu kom-
men eine Reihe von LokalheiUgen. Cosmas und Damian sind die eigentlichen
Schutzpatrone der Ärztezunft und Erben des Asklepios- Aeskulapius. Maria
hat viele Züge mit der Heilgöttin Isis gemein.
Wir kehren zu dem Heilvorgang am Krankenbett zurück. Dem Priester-
arzt und dem Patienten scheint es vielfach wünschenswert, den Dämon oder
Gott, der als Krankheits- und Heilbringer gilt, in Person herbeizurufen, da-
mit er in Person die Therapie angebe, oder die Krankheit gleich wieder mit
24
fortnähme. Daher zielen viele Zeremonien am Krankenbett, die uns zunächst
sinnlos vorkommen, auf die Geisterzitierung. Beispiele bieten namenthch
die Schamanenvölker in Asien, bei denen das Zitieren zu therapeutischen
Zwecken einen großen Raum einnimmt. Der Schamane, mit dem Zauber-
kleide angetan, das mit Amuletten, KHmperwerk, Pelzstreifen usw. behängt
ist, betritt nachts die Hütte des Kranken und führt beim umsicheren Schein
des Feuers einen Tanz auf, springt wie rasend umher, brüllt unverständliche
Worte, ahmt Tierstimmen nach, ruft den oder die Namen der Geister. Er
schlägt dazu die Zaubertrommel, von seinem verzerrten Gesicht rinnt der
Schweiß herab. Endlich kommen die Geister. Er zittert, beginnt mit ihnen
zu reden, sie zu fragen, zu bitten, zu bedrohen. Die Antworten, die die Un-
sichtbaren erteilen, vernimmt natürlich nur er. Horchend steckt er den Kopf
in die Trommel, als ob die Geister aus der Trommel sprächen ; oder er wirft
seine Mütze in die Luft, als ob dadurch die Antwort herabkäme. Nach einer
Weile beruhigt er sich, gibt die Therapie an und entfernt sich. Ein solcher
Krankenbesuch ist, wie man sieht, ziemlich angreifend, für den Kranken
nicht minder als für den Arzt. Jedoch können die Suggestiv\\irkungen sehr
heilsam sein und die zahlreichen Zuschauer gehen mit Ergriffenheit davon,
wie von einem Gottesdienst.
Manchmal soll der zitierte Geist nur Auskunft geben, manchmal soll er
sich aktiv an der Heilung beteiligen. Im letzteren Falle kann es zu einem
fömüichen Kampf um den Kranken kommen. Der herbeigerufene Geist, der
in diesem Falle ein befreundeter Schutzgott ist und nicht als Krankheits-
erreger aufgefaßt wird, kämpft mit den die Krankheit verursachenden
Dämonen. Gott und Teufel kann man sagen, ringen um den Kranken, wel-
cher Kampfplatz und Siegespreis zugleich ist. Wir sahen schon, daß diese
Auffassung den wirkhchen Krankheitsvorgang richtig s\-mbohsiert. Die
Krankheit und ihre Bezwingung ist ja in der Tat ein Kampf im Menschen,
ein Kampf der ,, Lebensgeister" mit zerstörenden Feinden. Und der Priester-
arzt tut das Seine, um den guten Geistern zum Siege zu verhelfen ; er unter-
stützt sie in ihrem Kampfe.
Diese Unterstützung des zitierten und kämpfenden Heilgottes durch den
Priester ist der Anfang dessen, was wir heute ärzthche Tätigkeit nennen.
Nur ein Teil von den Kampfmitteln freiUch, deren sich dieser Mitkämpfer
bedient, nähern sich einem rationellen Heilverfahren. Wir können die
Kampfmittel des Priesterarztes in zwei Gruppen teilen, entweder er \rirkt
auf Körper und Geist des Kranken ein oder er wirkt auf sich selber ein. Nur
im ersten Falle kommt eine Heiltärigkeit in unserem Sinne zustande; im
zweiten Falle kann höchstens eine indirekte Beeinflussung des Krankheits-
verlaufes stattfinden. Wir reden zunächst ^-on dem letzteren Fall, d. h. also
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von dem Kampf des Arztes mit der Krankheit, ohne direkte Einwirkung
auf den Kranken. Hierhin gehören die wunderhchen Bräuche, von denen
man heute mitunter in der Zeitung liest : Der Wunderdoktor im Dorfe heilt
seine Kranken dadurch, daß er selber die ihnen zugedachte Medizin ein-
nimmt. Was hat das für einen Sinn ? Der Arzt wird durch die Medizin zauber-
kräftiger; denn die Medizin enthält dämonische Stoffe, sie ist Geist und er-
füllt den Arzt mit Geist. Dadurch erhält der Arzt die Befähigung, eine
magisch-zerstörende Wirkung auf die Krankheitsstoffe in dem Kranken aus-
zuüben und die Krankheitsgeister, die den Leidenden gefangen halten, er-
folgreich zu bekämpfen. Er trinkt gewissermaßen den helfenden rettenden
Gott in sich hinein, wird, wie der Weintrinker, zum Gefäß und zur Verkör-
perung dieses Gottes und erhält dadurch die Kraft, die Krankheitsgeister
zu verscheuchen, dem Kranken die Gesundheit zurückzugeben. Denselben
Zweck erfüllen die schon genannten Begeisterungsmittel des primitiven
Medizinmannes: Musik und Tanz, Fasten und Maskierung. Immer wieder
wird berichtet, daß im Krankenzimmer Tänze aufgeführt werden, daß Ge-
sang und rauschende Musik ertönt, alles Dinge, die uns an diesem Orte nicht
besonders passend erscheinen. Die Absicht ist aber, die Dämonen um ihren
Mut und ihren Einfluß auf den Kranken zu bringen. Das Tanzen und Singen
erschreckt sie, der Lärm, den der Priester erhebt und der sich oft mit Unter-
stützung seiner Gehilfen und der Zuschauer zum ohrenbetäubenden Getöse
steigert, veranlaßt sie, die Flucht zu ergreifen.
Zweitens aber wendet sich nun der Medizinmann direkt an den Kranken
oder vielmehr an den im Kranken sitzenden Dämon; er herrscht ihn an,
bedroht ihn, nennt die Namen aller guten Geister, über die er verfügt, und
„beschwört" so die Krankheit. Zahlreiche Zaubersprüche von dieser Art
sind uns erhalten. Alle Töne werden in ihnen angeschlagen, von den wüste-
sten Beschimpfungen bis zu den achtungsvollsten und ergebensten Bitten,
den Kranken gefälligst zu verlassen. Geheimnisvolle Machtworte wechseln
mit einfacher Beschreibung des erwarteten und erwünschten Ergebnisses.
Als die eigentlich bewegende und handelnde Macht wird oft eine Gottheit
eingefülirt, zumal in solchen Fällen, wo der Zauberspruch die Gottheit zu-
gleich herbeiziehen und zum Kampfe gegen die Krankheit aufrufen will.
Die Krankenbeschwörung wird dann zum Gebet.
Noch heute ,, bespricht" man im Volke manche Krankheiten, d. h. man
kämpft mit Worten gegen sie und bringt sie durch Beschreibung des Heil-
vorganges oder durch Aufforderungen und Schimpfworte dahin, sich aus
dem Staube zu machen.
Um es den Krankheitsgeistern zu erleichtern, ihre Wohnung im Kranken
zu räumen, gibt ihnen der Beschwörende wohl auch Ratschläge, wohin sie
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sich etwa wenden können, um ein anderes Unterkommen zu finden. Diesen
wandernden Krankheitsgeistem ist es natürlich nicht lieb, sich obdachlos
zu sehen. So läßt Jesus die Dämonen in die Säue fahren. In vielen Zauber-
sprüchen sind ähnliche Hinweise und Einladungen enthalten.
Die Dämonenaustreibungen im Neuen Testament sind die treffendsten und
berühmtesten Beispiele für die kämpfende Betätigung des Zauberarztes.
Jesus fühlt sich als der Beauftragte des guten und menschenfreundlichen
Geisterreiches. Sein Geist ist der gute, der heilige. Im Auftrage und unter
dem Schutze dieses von dem Herrn der Heerscharen ausgegangenen Geistes
geht Jesus zu den Kranken, Besessenen, Aussätzigen, Blutflüssigen usw. und
beschwört die bösen Krankheitsgeister. Jede Heilung, die Jesus vollbringt,
stellt sich dar als ein Kampf z\vischen guten und bösen Mächten, bei dem
der Heiland den Mitkämpfer macht. Das Herbeirufen und Antreiben des
helfenden Gottes vollzieht sich sehr einfach; Jesus hat nicht nötig, die alten
Mittel der Schamanen und Medizinmänner anzuwenden, also durch Tanz
und Ekstase den Geist herbeizuzwingen und sich einzuverleiben. Ein Gebet
genügt ; ödes auch das ist nicht nötig, weil der Geist ständig bei Jesus gegen-
wärtig ist; denn Jesus ist ja die Wohnung des heiligen Geistes. Der Heilungs-
akt besteht bloß darin, daß dieser Geist durch den Mimd Jesu den Krank-
heitsgeistern befiehlt, das Feld zu räumen. Meist wehren sich diese nicht;
sie wissen, mit wem sie es zu tun haben und fügen sich stillschweigend.
Manchmal erkennen sie auch die Überlegenheit des Heildämons ausdrück-
lich an.
Man nennt diese Krankenbehandlung den Exorzismus. In der älteren
christlichen Kirche waren besondere Exorzisten angestellt, die das Teufel-
austreiben als priesterhchen Spezialberuf betrieben. Wie großen Einfluß
diese rehgiöse Heiltätigkeit auf die Anschauungen und Erfolge des beginnen-
den Christentums hatte, ersieht man aus Harnacks Abhandlung: Medizi-
nisches in der ältesten Kirchengeschichte (Altchristliche Texte VIII, 4).
Auch heute gibt es noch katholische GeistHche, die sich dieses Zweiges des
christlichen Priesterbenifes gelegentlich erinnern und mit Gebet, Kruzifix
und Hostie den Krankheitsdämonen entgegentreten.
Unleugbaren Erfolg hat der Exorzismus bei hysterischen und epileptischen
Zuständen. Zumal jene dem Psychiater wohlbekannten Fälle, wo der Kranke
in Schimpfparoxysmus verfällt und gotteslästerliche Reden führt, sind der
exorzistischen Behandlung günstig. Wenn ein frommer und ehrbarer Christ
- — oft sind es Frauen, die solchen Anfällen unterworfen sind — plötzlich,
etwa während des Gottesdienstes, teuflische Flüche und Verwünschungen
gegen Gott und Kirche hören läßt, so kann sich ein Bibelgläubiger unmög-
lich des Gedankens erwehren, daß der Böse von dem Kranken Besitz er-
27
griffen habe. Daher führt man Gott gegen den Bösen ins Feld, um ihn zu
verjagen.
Jesus hat aber offenbar den Begriff der Besessenheit nicht auf bestimmte
Geisteskrankheiten beschränkt, sondern mit der ganzen älteren Menschheit
geglaubt, daß auch alle anderen Krankheiten durch das Eindringen von
Dämonen entstehen könnten ; daher hat Jesus seine exorzistische Heilweise
auch bei Blinden, Tauben, Aussätzigen, Krüppeln und Lahmen angewendet.
Wie viele Erfolge und Mißerfolge er dabei davongetragen hat, entzieht sich
natürlich der Feststellung. Wir wissen heute, daß die Psychotherapie auch
bei organischen Krankheiten überraschende Wirkungen hervorbringen kann.
Dem heilkräftigen Wort hat Jesus zuweilen körperliche Mittel hinzugefügt
und durch sie die Suggestivwirkung verstärkt. Er hat den Kranken die
Hände aufgelegt und hat Speichel und Erde zu Hilfe genommen. Auch diese
ärztlichen Maßnahmen beruhen auf dem Dämonenglauben; auch sie sind
Kampfmittel gegen die Krankheit. Durch das Auflegen der Hand wird der
in dem Heiland wohnende Geist in den Kranken hinübergeleitet und damit
der böse Krankheitsgeist hinausgedrängt. Es ist dasselbe, was uns von der
Salbung, der Taufe und ähnlichen heiligenden und reinigenden Zeremonien
her bekannt ist. In der alten christlichen Kirche gehörte das Salben mit öl
zu dem Heilmittelschatz und die , »letzte Ölung" hat keinen anderen Sinn,
als daß der Sterbende mit dem heiligen Geist ausgerüstet wird, um den Ge-
fahren zu entgehen, die seiner Seele von dem Teufel, dem Seelenverschhnger
drohen. Das Abendmahl erhält der Kranke zu demselben Zweck.
Was den Speichel betrifft, so ist er bei vielen Völkern ein beliebtes Heil-
mittel. Schon die Tiere belecken ihre und ihrer Kinder Wunden. Infolge des
Zauber- und Dämonenglaubens wurde die unstreitig lindernde Wirkung des
Speichels als Übertragung zauberhafter Substanzen gedeutet. Wenn der
Naturmensch sein Schwert bespuckt, der fromme Gläubige das Götterbild
bespuckt oder küßt, so überträgt er damit Seele und verbindet sich mit
diesen heiligen Gegenständen. Beim Kuß empfängt er zugleich die in dem
geküßten Gegenstand enthaltene Zauberkraft ; daher wurde der Kuß zu einer
heiligen Zeremonie. Der Priester, der Fürst, der Vater gaben durch den Kuß
von ihrer göttlichen Geisteskraft an die des Geistes bedürftigen Kranken,
Untertanen, Kinder ab. Der Kuß solcher bevorzugten Personen hat medi-
zinische Kraft. Denselben Dienst kann das Anhauchen und der Nasengruß
tun. Alle Gruß- und Segensgebräuche, bei denen eine körperliche Berührung
der sich Begrüßenden stattfindet, haben den Sinn, seelische Substanzen zu
übertragen und auszutauschen. So kann Jesus z. B. die Tochter des Jairus
dadurch vom Tode erwecken, daß er ihr die Hand reicht und ein befehlendes
Kraftwort dazu spricht. Er leitet auf diese Weise den ihn besitzenden heiügen
28
Lebensgeist in sie hinein. Man vergleiche damit die Heilweise der modernen
Heilmagnetiseure, die es allerdings noch nicht bis zu Totenerweckungen ge-
bracht haben.
Daß Teile von Menschen, namentlich von dämonischen und göttlichen
Menschen, wertvolle Heilmittel waren, haben wir bereits früher erwähnt.
Den Speichel Christi konnte die Nachwelt leider nicht aufbewahren; aber
die übrigen körperlichen Reste (Blut, Schweiß), ferner die Röcke, Hemden,
Windeln, Kreuzessplitter usw. taten denselben Dienst. Sie heilten jede
Krankheit, wenn der Kranke sie mit seinem Körper in Berührung brachte
oder auch nur aus der Ferne sah. Der Heiland bekämpfte durch Vermitt-
lung dieser nachgelassenen Reste die Krankheitsgeister. Ferner wurden
Tuchstücke und andere Gegenstände, die man auf Heiligengräber legte, zur
Krankenheilung benutzt. Das heilkräftige Fluidum ging von dem Grabe auf
diese Gegenstände über und machte sie krankheitstötend. Der Kranke
konnte auch die Denkmalssteine belecken, die Hüllen der Reliquien, die
Vorhänge heiliger Kapellen küssen. Oder man legte ihm die heilige Schrift
als Heilmittel auf den kranken Leib. Bei manchen Naturvölkern genügte es,
die Kranken an heilige Orte zu tragen und im Tempel aufzubahren. Die
Nähe der Geister, die sich erfahrungsgemäß im Tempel aufhielten, machte
ihn gesund.
Hier mag auch auf die Bedeutung aufmerksam gemacht werden, die man
dem Niesen zuschrieb. Mit dem Hauche verläßt etwas SeeHsches den Menschen.
Dieses Seelische kann guter oder böser Art sein ; es kann des Menschen eigener
Geist oder es kann ein Krankheitsdämon sein. Meist nahm man das letztere
an; das krampfartige Ausstoßen von Luft, Speichel und Schleim bewirkt ja
auch wirklich ein Entfernen schädlicher Substanzen ; es schien, als ob man
die Krankheit ausniese; das Niesen wurde als Zeichen eintretender Ge-
nesung gedeutet. Da aber der ausfahrende Krankheitsgeist eine Gefahr für
die Anwesenden bildete, so konnte das Niesen auch als eine schädliche und
feindselige, als Unglück weissagende Handlung aufgefaßt werden. In der
Südsee galt es als ein höchst störendes Vorkommnis, wenn jemand bei reli-
giösen Feiern nieste. Der Täter entging nur schwer dem allgemeinen Zorn.
Den anderen Ausscheidungen des Menschen konnte ebenfalls sowohl eine
segenbringende als eine unheilvolle Bedeutung zugeschrieben werden. Kot
und Urin gehören zu den beliebtesten Heilmitteln, aber auch zu den ge-
fürchtetsten Zaubermitteln von der Welt. Daß man diesen Ausscheidungen
besondere Kraft zutraute, ist nur verständlich auf Grund des Glaubens, daß
sie seehsche Substanzen enthielten (vgl. Preuss, im Globus Bd. 86). Äußer-
lich und innerUch taten diese wundersamen Zauberarzneien ihre Wirkung.
Das erwähnte Bespeien, vielleicht auch das Auflegen von Erde auf kranke
29
Glieder ist zum Teil nur eine Abschwächung des Kot- und Uringebrauches,
der mit der Zeit zu anstößig wurde. Näheres über die Verwendung dieser
unappetitlichen Mittel enthält die berühmte „heilsame Dreckapotheke".
Mit dem Kuß als Heil- und Weihemittel ist ein bei den Naturvölkern weit
verbreitetes ärztliches Verfahren verwandt, nämlich das Heraussaugen der
Krankheit. Der Zauberarzt berührt den Körper des Kranken mit dem
Munde und beginnt zu saugen. Manchmal saugt er alle Glieder nacheinander
ab, manchmal beschränkt er sich auf die schmerzende Stelle. Was hat dieser
Gebrauch für einen Sinn ? Offenbar sollen die schädlichen Stoffe und bösen
Krankheitsdämonen auf diese Weise ans Licht befördert und beseitigt wer-
den. Die Berichte der Forschungsreisenden lassen keinen Zweifel darüber.
Nachdem der Arzt hinreichend gesogen hat, geht er aus der Hütte und speit
aus. Entweder gibt er nur Luft und Speichel von sich; häufig aber kann er
den Krankheitsgeist in handgreiflicher Gestalt vorzeigen: er zaubert einen
kleinen Stein, ein Stückchen Holz oder Tuch, einen Käfer oder dergleichen
aus seinem Munde hervor und reicht diesen Gegenstand dem beglückten
Kranken. AUe Anwesenden — meist ist die ganze Sippe in der Krankenhütte
versammelt — sind überzeugt, daß er den angeblichen Krankheitserreger
wirklich aus dem Körper des Kranken herausgesogen habe. Der Gegenstand
wird nicht selten als Amulett aufbewahrt; denn wie er die Krankheit ver-
ursachen konnte, hält er sie auch, vermöge seiner dämonischen Eigenschaft,
von dem Träger und Besitzer fern.
Daß es sich bei allen diesen Kuren wirkhch um einen Kampf des Arztes mit
geistigen Wesenheiten, um das Vertreiben von Krankheitsgeistern handelt,
sieht man auch aus den übrigen Verrichtungen, mit denen die Priesterärzte
derartige Kuren begleiten. Z. B. bläst der amerikanische Medizinmann ge-
waltige Tabakswolken gegen das kranke Glied. Der Rauch, d. h. der in dem
Tabak wohnende Geist soll den Dämon verscheuchen. Aber der Arzt geht
dem Dämon noch kräftiger zu Leibe : er prügelt ihn aus dem Kranken heraus;
er preßt und reibt die kranken Körperstellen, er kneift und brennt sie; er
setzt ihm durch kaltes Wasser, durch heiße Dämpfe, durch Fußtritte und
andere Mißhandlungen zu, bis dem Dämon der Aufenthalt verleidet ist und
er das Weite sucht. Auch das Auflegen von Kot und anderen ekelerregenden
Dingen, das Einreiben mit übelriechenden Mitteln, das Trinken und Essen
von unangenehmen und giftigen Stoffen, das Einführen von Flüssigkeiten
in den After usw. verdankt seinen medizinischen Ruf zum Teil gewiß dem-
selben Bestreben, den Krankheitsdämon zu ärgern, zu mißhandeln, zu töten,
zu verjagen. Sehr wichtig war nun, daß einige dieser Mittel sich unter Um-
ständen als sehr vernünftige Heilmaßregeln erwiesen. Aus der körperlichen
Mißhandlung des Kranken entwickelten sich die Massagekuren und ein Teil
30
des Bade- und Brunnenwesens, aus der Darreichung äußerer und innerer
Kraftstoffe die medikamentöse Behandlung. Wenn man schmerzende Ghe-
der schlägt und reibt, tritt wirklich in vielen Fällen Linderung ein. Dampf-
und Wasserbäder, Umschläge, Klystiere, Schröpfköpfe, chirurgische Ein-
griffe usw. gehören dauernd zum ärztlichen Heilschatze. So wandelte sich der
Kampf des priesterlichen Heilands und der guten, ihn unterstützenden Gei-
ster mit den Krankheitsdämonen allgemach in wissenschafthche Heiltätig-
keit um. Die Erfahrung wurde die große Lehrmeisterin, die Tradition die
große Bewahrerin, die wissenschaftliche Forschung die große Mehrerin und
Ordnerin der ärztlichen Kunst.
Um uns nicht der Einseitigkeit schuldig zu machen, wollen wir nun aus-
drücklich darauf hinweisen, daß die dämonologische Medizin, d. h. der
Kampf gegen die Krankheitsgeister nicht die einzige und nicht die älteste
Wurzel der wissenschaftlichen Medizin ist. Der Priesterarzt hat zwar, wie ich
überzeugt bin und auch dargetan zu haben glaube, die Tatsache der Krank-
heit zum erstenmal erklärt und eine in ihrer Weise ernste und gewissenhafte
Heilpraxis geschaffen ; aber das Behandeln und Bekämpfen von Krankheiten
führt selbstverständlich auf einfache menschhche Triebe zurück, die älter
sind als aller Aberglaube und sich neben dem dämonologischen Verfahren
dauernd geltend gemacht haben. Wie die Zauberhandlung aus der einfachen
Ausdrucksbewegung hervorgeht, wie die religiöse Kunst und die Forschungs-
tätigkeit, von der wir im achten Kapitel handeln werden, auf unreligiösen
Urtrieben, dem Spiel-, Gestaltungs- und Erkenntnistrieb beruht, ebenso
müssen wir auch einen urmenschlichen Heiltrieb anerkennen, der mit der
Religion an und für sich nichts zu tun hat. Jeder Organismus wehrt Schä-
digungen ab und sucht durch Kratzen, Reiben, Drücken, Lecken usw. die
realen Krankheitsgeister, nämlich die Parasiten und Insekten zu entfernen.
Erhöhung der Temperatur will er durch künstliche Abkühlung, Kälte durch
Erhitzung ausgleichen. Auch die Arzneien zeigen neben ihren Zaubereigen-
schaften den Ursprung aus einfachen und unreligiösen Überlegungen. Der
Schwache greift nach anreizenden Mitteln, nach scharfen Stoffen, Gewürzen,
Rauschgiften ; der Aufgeregte umgekehrt nach beruhigenden, schwächenden
Mitteln, also nach narkotisierenden Giften, nach dem allverbreiteten Ader-
laß usw. Auch die Nährpflanzen gehören zum ältesten Medikamentenschatz.
Daß man ferner Wunden verband, um die Blutung zu hemmen und viele
ähnliche erhaltende und heilende Maßregeln ergriff, beruhte ebenfalls auf
einfachen Beobachtungen und Schlüssen und war nicht notwendig mit aber-
gläubischen Vorstellungen verknüpft. Das alles geben wir zu und stimmen
insoweit den verständigen Ausführungen Hofschlägers (im Archiv für Ge-
schichte der Medizin Bd. IH) bei.
31
Trotzdem halten wir daran fest, daß die Medizin durch die ReHgion und
ihren priesterUchen Vertreter entscheidende Anregungen und Förderungen
erfahren hat. Die Geschichte der Medizin ist von der dämonologischen Welt-
anschauung nicht ablösbar; die zauberärztliche Theorie und Praxis hat
sich sämtlicher durch die einfachen Triebe und Nötigungen gegebener Heil-
bemühungen bemächtigt und der Priester ist Jahrtausende hindurch der
berufene Kenner und Bekämpfer der Krankheiten gewesen. Daran läßt sich
nichts ändern. Und wenn wir uns die Frage stellen, ob die religiöse Medizin
der Menschheit Gutes gebracht oder nicht und ob der Priesterarzt der wissen-
schaftlichen Heilkunde zur Zierde gereicht oder nicht — was werden wir
dann antworten? Es scheint auf der Hand zu liegen, daß der Priester die
wissenschaftliche Entwicklung gehemmt und den ärztlichen Praktiker durch
die religiösen Phantasmen in verhängnisvoller Weise vom rechten Wege ab-
geführt hat. Die moderne Wissenschaft macht ihm mit Recht diesen Vor-
wurf. Aber wir sollten gerecht genug sein, anzuerkennen, daß der Priester-
arzt dem Heilberuf erst Würde und Größe verliehen hat, indem er die Patho-
logie und Therapie mit dem gesamten Kulturstreben der Menschheit orga-
nisch verknüpft hat. Man sage nicht, daß es um die Medizin am besten
stünde, wenn sie sich von der übrigen Kultur, von der Kunst und Religion,
Psychologie und Ethik möglichst getrennt halte. Das ist ein Vorurteil der
heutigen wissenschaftlichen Medizin, das sich bitter rächen wird, wenn man
noch lange an ihm festhält. Durch die religiöse Medizin und ihren Vertreter
hat die Krankheits- und Heilkunde Kraft, Tiefe und sittlichen Adel erhalten.
Durch die Verknüpfung mit der Seelenkunde und Gotteskunde ist sie zu so
beherrschender Bedeutung gelangt, wie es ihr durch die reine Praxis und
reine Forschung niemals hätte gelingen können. Müssen wir nach den Ent-
deckungen der letzten Jahrzehnte über den Zusammenhang von geistiger
Kraft und körperlicher Gesundheit, nach den wachsenden Erfolgen der
Psychotherapie nicht allgemach auf den Gedanken kommen, daß der priester-
liche Seelenarzt mit Gott, d. h. der Glaubenskraft im Bunde mehr Gutes
am Krankenbett gewirkt hat, als ein praktischer Arzt unserer Zeit, der sich
lediglich auf Pillen und Dekokte verläßt? Sollte die Betrachtung und Er-
forschung der Krankheitsvorgänge als dämonische Einwirkungen nicht mehr
zur Aufhellung der menschlichen Psyche undPhysis und ihrer medizinischen
Beeinflußbarkeit beigetragen haben als die empirische Krankenbehandlung
und die fach wissenschaftliche Theorie? Wir dürfen den rohen materialisti-
schen Standpunkt doch wolil heute für überwunden halten. Es scheint aber,
daß viele Ärzte bewußt oder unbewußt noch immer dem Materialismus an-
hängen. Diese Ärzte verachten und meiden die Psychologie; sie glauben ihrer
Wissenschaft und der ganzen Menschheit den größten Dienst zu erweisen,
32
wenn sie die Medizin lediglich als naturwissenschaftliche Disziplin und als
handwerkliche Kunst auffassen. Die Medizin ist ja auch beides und soll es
bleiben; aber sie ist noch mehr und die Mediziner sollten sich auf dies
,,Mehr" besinnen, solange es noch Zeit ist. Es könnte ihnen der von allen
Seiten drohende Ansturm gegen den wissenschaftlichen Heilbetrieb sonst
doch gefährlich werden.
Die heutige Unzufriedenheit mit der wissenschaftlichen Medizin ent-
springt im letzten Grunde daraus, daß die Medizin unreligiös geworden ist
und der Arzt aufgehört hat, ein Priester zu sein. Man möge diese Ausdrücke
nicht falsch verstehen, sie v/erden weiterhin ihre Erklärung, und wie ich
hoffe, ihre Rechtfertigung finden. Ganz neuerdings kündigt sich ein Um-
schwung an: Die Zahl der Ärzte wächst, die die Macht des Geistes wiederum
in Rechnung stellen und der Seelenheilkunde eine ungeahnte Auferstehung
zu bereiten beginnen. Über diese hoffnungsvolle Wendung und die Folgen,
die sie für das freie Priestertum der Zukunft haben wird, werden wir im
letzten Kapitel ausführlicher zu sprechen haben. Hier möchte ich nur mit
aller Schärfe betonen, daß Religion und Medizin, Priester und Arzt nie ohne
Verbindung miteinander sein oder gar in Feindschaft miteinander leben
dürfen. Die Zeiten, in denen es der Fall gewesen ist, sind stets Zeiten der
Auflösung und chaotischen Neubildung. In solchen Zeiten tut entweder die
Religion oder die Medizin oder alle beide nicht ihre volle Pflicht. Wie unser
Leib das Werkzeug unserer Seele, unser Leben das Werden und Wirken
unseres Gottes ist, so müssen auch die leibliche Heilkunst und die religiöse
Erziehung, die medizinische Theorie und die gesamte Welt- und Lebens-
anschauung, die Ärzteschaft und die Priesterschaft in engster Verbindung
miteinander stehen und gemeinsam den Menschen dienen.
Die wissenschaftliche Heilkunde kämpft einen berechtigten und notwen-
digen Kampf gegen den Heilaberglauben und jede Art von Kurpfuscherei.
In diesem Kampfe wollen wir sie nach Kräften unterstützen, wollen der
Leichtgläubigkeit der hilfsbedürftigen Menschheit und den schlauen und ge-
wissenlosen Ausbeutern dieser Leichtgläubigkeit mit allen Mitteln zu Leibe
gehen. Ferner ist es nun allbekannt, daß diese Ausbeuter fast immer auf
überwundene medizinische Anschauungen zurückgreifen, und diese Anschau-
ungen sind unlöslich mit der dämonologischen Heilkunst des Priesters ver-
knüpft. Die Stimmungen des Kranken kommen dem Heilschwindel wdüig
entgegen, denn geschwächte und gequälte j\Ienschen verlangen nach Hand-
greiflichkeiten, an die sie sich anklammem können ; der Glaube der Gesunden
und Starken bietet ihnen nicht Halt und Trost genug. Der Kranke will mehr ;
er erinnert sich des Glaubens seiner Vorfahren, er greift nach dem Kinder-
glauben der Menschheit; er lauscht den Stimmen, die aus der Tiefe seines
3 Horneffer, Der Priester II ^^
müden, gepeinigten Herzens heraufklingen, den alten, unterdrückten und
vergessenen Geistern, deren er in gesunder Zeit spottet. Da kommt ihm der
rehgiöse Kurpfuscher gelegen, da ergibt er sich der ,, christlichen Wissen-
schaft", der magnetischen Therapie und anderen dunkeln und ungewöhn-
lichen Heilverfahren, die sämtlich mit der dämonologischen Zauberheilkunst
in nahem Zusammenhang stehen.
Diesem Treiben sieht der \vissenschaftliche Arzt mit Ingrimm zu und
kommt nur zu leicht zu dem Schlüsse, daß jede Beeinflussung der Medizin
durch Psychologie und Religion von Übel sei. Er hält sich und uns die leidige
Wahlverwandtschaft zwischen dem Hilfe suchenden Aberglauben der Kran-
ken und dem Hilfe verheißenden Aberglauben der Kurpfuscher vor Augen.
Er sieht wie seine bessere Hilfe verschmäht wird, wie jeder Laie sich heraus-
nimmt, die Medizin zu verhöhnen und die Ergebnisse mühsamer Forschung
durch alberne Phrasen beiseite zu schieben. Kein Wunder, daß er dabei die
Geduld verliert und einen unversöhnlichen Haß gegen jede psychische
Krankheitstheorie und Krankenbehandlung faßt; daß er sich an die ge-
sicherten Tatsachen der Naturwissenschaft und an seine praktische Übung
hält und mit den Kranken umgeht, als wären sie seelenlose Automaten oder
anatomisch zu präparierende Leichen.
Aber er muß diese Einseitigkeit überwinden und die Dinge in ihrem wahren
Lichte betrachten lernen. Er muß sich von dem Irrtum losmachen, daß die
gesamte religiöse Medizin Unsinn und Betrug sei und daß die ganze ver-
gangene ]\Ienschheit in ärztlichen Dingen auf falschen Wegen gewandelt sei,
mit Ausnahme höchstens der Anfänge der rationellen Medizin im Altertum
und der durch Erfahrung gefundenen Heilmittel der verschiedenen Völker.
Wohl ist es richtig, daß sich viel Groteskes und Unsinniges in der priester-
lichen Medizin befindet; jeder der sich mit der Geschichte dieser Medizin
beschäftigt, findet hinreichend Anlässe über die Torheit und Verkehrtheit
der kranken Menschheit und ihrer priesterlichen Ärzte zu lachen und zu
schelten. Aber es ist unsere Aufgabe, wenn wir Historiker und gerechte Be-
urteiler sein wollen, die Vernunft in der Unvernunft aufzusuchen und das
innere Band aufzuzeigen, das unsere heutige Heilkunst mit der der Ver-
gangenheit bis hin zu den primitivsten Wilden verknüpft. Ein solches Band
muß vorhanden sein; es ist in allen anderen Kulturgebieten nachweisbar;
die Geschichte der Menschen ist nicht Unsinn und Zufall, sondern stetige
Entwicklung. Daher kann ich es nicht billigen, wenn verdiente ärztliche
Historiker wie Magnus und Pagel die religiöse Medizin ihren Medizinstu-
denten als einen Gegenstand der Belustigung und Entrüstung vortragen.
In den alten Zauberärzten lebte zuweilen eine bessere ärzthche Kraft und
Weisheit als in manchem aufgeklärten Dutzendarzte unserer Zeit. Da wird
34
uns dann verächtlich erwidert, die Zauberärzte hätten doch bloß psychi-
sche Kuren zustande gebracht! Nun ja; die meisten Priesterkuren, wenn aucli
nicht alle, beruhten auf Suggestivwirkungen und pädagogisch-ethischen
Wirkungen. Aber ist das ein Grund, diese Kuren geringzuschätzen? Ver-
dient es nicht eher Bewunderung, daß die Priester mit psychischen Mitteln
so viele unstreitige Erfolge errungen haben ? Ist es etwa leicht, die Kranken
mit jenem felsenfesten Glauben an den Arzt, an seine Persönlichkeit und
sein Heilverfahren zu erfüllen, der die Vorbedingung der Heilung ist ? Man
glaube doch nicht, daß mit bloßer Charlatanerie große und dauernde Erfolge
in der Psychotherapie zu erzielen seien. Der Charlatan kann nur in verwirr-
ten und zerrissenen Zeiten wie die heutige oder das ausgehende Altertum
und Mittelalter zu gewissem Ruhm und Ansehen gelangen. Unter normalen
Kulturverhältnissen unterliegt er unfehlbar dem ehrlichen Arzte, der Cha-
rakter und Aufopferungsfähigkeit besitzt. Nur der ehrliche, kraftvolle Arzt
wird in großem Maßstabe suggestiv und erzieherisch zu wirken imstande
sein; nur er wird sich der Seele des Kranken insoweit bemächtigen, daß er
dessen Leib bezwingen und dem Kranken zeigen kann, wie er sein Leben
gesund und fruchtbringend gestalten soll. Wenn der Arzt ein haltloser
Schwächling, ein phantastischer Schwindler, ein gemütlicher Philister ist,
%vird ihm das gewiß nicht gelingen. Aber auch dem objektiven Wissen-
schaftler, mag er das medizinische Fach noch so vollkommen beherrschen,
wird es nicht gelingen. Die Seelenheilkunde im höchsten Sinne erfordert
ganze Menschen, die ihre Persönlichkeit rückhaltlos einsetzen.
Wie schon Löwenfeld betont (,, Lehrbuch der Psychotherapie"), handelt
es sich keineswegs bloß darum, die Kranken zu hypnotisieren, sie zu über-
rumpeln und ihren Willen lahmzulegen. Das sind höchstens Hilfsmittel der
eigentlichen Kur und die hervorragendsten Seelenärzte verzichten mehr und
mehr auf diese nicht unbedenklichen Hilfsmittel. Es handelt sich vielmehr
um Entwicklung und Kräftigung des Willens, um eine neue Harmonisierung
der disparaten Persönlichkeitselemente. Krankheit ist Disgregation ; der
Arzt soll den Disgregationsvorgang aufhalten und womöglich in einen heil-
samen Emeuerungs- und Wiedergeburtsvorgang umschaffen. Das Geheimnis
dieser höchsten Gattung ärzthcher Kunst erschließt sich nur denen, die ihrer
würdig sind, d. h. die Kraft haben, sie richtig auszuüben. Ich glaube fest, daß
unter den Priesterärzten aller Zeiten viele waren, die das Geheimnis kannten
und große, wunderbar erscheinende Heilerfolge erzielt haben. Dabei kam
ihnen in älteren Zeiten freilich der Umstand zustatten, daß die kindliche
Menschheit solchen Kuren zugänghcher ist als die reifere Menschheit. Die
Aufgabe der Seelenärzte wird immer schwieriger.
Wir wollen gerne zugeben, daß es auch unter den wissenschaftlichen
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Ärzten der Gegenwart Meister in der Seelenheilkunde gibt. Sie sind es aber
nicht so sehr ihrer fachmännischen und naturwissenschaftlichen Theorien
wegen, sondern kraft ihrer Persönlichkeit und ihres sittlichen Charakters.
Es sind religiöse Naturen im besten Sinne des Wortes, sind „Heilande", die
mit dem Kranken gemeinsam den Kampf gegen die bösen und zerstörenden
Mächte führen, wie einst die großen Zauberärzte der älteren Religionen.
Macht es einen großen Unterschied, daß jene alten Heilande sich aber-
gläubischer Mittel bedienten? Mir scheint, ihr Verdienst wird dadurch nicht
geringer, daß sie ohne die Hilfsmittel der wissenschaftlichen Medizin arbeiten
mußten. Und wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir den gläubigen Chri-
sten zugeben, daß die Religion das umfassendste und ewig unentbehrliche
Heilmittel der Menschheit ist. Ein Heilmittel, eine Verteidigungs- und An-
griffswaffe, ein Linderungs- und Stärkungsmittel zu sein, ist die ReHgion
von dem Menschen geschaffen worden und hat sich als solches bewährt.
Die wirkungsvollsten Arzneien, die die menschlichen Heilande dargereicht
haben und darreichen werden, sind : Glaubensgebilde, sittlich-religiöse Leh-
ren und — Liebe. Ich freue mich, in diesem Punkte mit einem so unchrist-
lichen Arzte wie Paul Dubois (,,Die Psychoneurosen und ihre psychische
Behandlung") übereinzustimmen. Da wir Heutigen über den Zauberglauben
und die übrigen religiösen Vorstellungen und Grundsätze der Vergangenheit
hinausgewachsen sind, muß die ,, religiöse Heilkunst" natürlich andere In-
halte haben als die der Priesterärzte, und jeden Rückfall in die abgetane
Vorstellungs- und Zauberwelt müssen wir bekämpfen: er ist ein Verrat an
der Sache der Menschheit, ein Verrat an der Religion, so religiös sich diese
Rückfälligen auch gebärden. Aber das darf uns nicht verleiten, die Ärzte
einer älteren Zeit, für die jene Glaubenswelt volles Leben hatte, zu tadeln,
weil sie die damals lebendige Religion als Heilmittel verwendeten. Diese
Priesterärzte waren auf dem rechten Wege; sie gingen gerade auf das Ziel
der ärztlichen Kunst los: die Lebensgeister des Kranken zu wecken und
zum Kampfe gegen die Krankheit aufzurufen. Sie traten als kraftübertra-
gende Mitkämpfer an das Bett des Kranken und flößten ihm das Vertrauen
ein, daß ,,Gott" mit ihm sei. Dieses Vertrauen machte gesund und wird in
alle Zukunft gesund machen. Was heißt denn hier ,,Gott" ? Die persönhche
Kraft des Kranken und die in der Person des Priesterarztes symbolisierte
Kraft der religiösen und sozialen Gemeinschaft, der sie beide angehören.
Von diesem Gott kommt in der Tat die stärkste und trostreichste Hilfe
gegen die bösen Geister der Krankheit und alles anderen Ungemachs.
Den Zusammenhang zwischen Vertrauen und Gesundheit haben am besten
die französischen Psychiater dargelegt. Sie haben auch erkannt, daß die
alten Priesterärzte etwas mehr waren als Charlatane. Charcot ist so weit
36
gegangen, den Hysterischen, die er nicht zu heilen vermochte, freizustellen, ob
sie es vielleicht mit der Grotte in Lourdes versuchen wollten. Was seine Sug-
gestionen nicht erzielten, meinte er, würde am Ende die mächtige Suggestion
des Wallfahrtsortes und seiner heiligen Quelle bewirken. Wie werden wir die
Wallfahrtsorte im allgemeinen und Lourdes im besonderen beurteilen? Ging
Charcot nicht zu weit, wenn er seinen Patienten einen so gefährlichen und
verrufenen Kurort anempfahl? (Vgl. über Lourdes außer Zola s Roman die
Broschüre E. Aigners: Lourdes im Lichte der medizinischen Wissenschaft.)
Religiöse Kurorte sind eine uralte Einrichtung. Schon im Altertum gab
es solche in großer Zahl. Die Tempel des Asklepios waren richtige Wallfahrts-
orte. Auch dort bildeten heilige Wässer eines der hauptsächlichsten Heil-
mittel. Man baute die Heilstätten in die Nähe warmer und minerahscher
Quellen und benutzte in Griechenland wie in anderen Ländern fast alle
Quellen dieser Art zu therapeutischen Zwecken. Genaueres über die Kran-
kenbehandlung in den griechischen Wallfahrtsorten wissen wir namentlich
aus Epidaurus, wo sich ein sehr besuchtes Asklepieion befand. Die Kranken
wurden von den Priesterärzten im Tempel umhergeführt, sahen die un-
zähhgen Votivtafeln und Weihegaben (Gliedmaßen in Marmor oder Ton,
Münzen, Asklepiosbilder), die die dankbaren Genesenen gestiftet hatten, und
legten sich endlich zum Schlafe nieder, damit der Gott ihnen im Traum die
Heilmittel angäbe oder sie gleich während des Schlafes gesund mache. Meist
trat eine rationelle Behandlung der Leiden hinzu. Neben diesen Asklepios-
krankenhäusem gab es später auch solche der Isis und des Serapis, wo ähn-
liche Priesterkuren vorgenommen wurden. Als das Christentum aufkam,
traten die christlichen Heilgötter und Heilpatrone an die Stelle der heidni-
schen, die christlichen Wallfahrtsorte an die Stelle der heidnischen Priester-
heilstätten. Durch das ganze Mittelalter und die Neuzeit haben solche
religiöse Kurorte bestanden und haben mit Quellen und Reliquien, mit
wundertätigen Bildern und pomphaften gottesdienstlichen Handlungen die
Kranken zu Tausenden herbeigezogen und ohne Zweifel vielen Hilfe ge-
bracht. Der Kranke sieht die Menge der Andächtigen, die in derselben sehn-
süchtigen imd hoffnungsvollen Stimmung sind wie er; er hört die Preis- und
Dankgebete der wirklich oder scheinbar Geheilten ; er sieht die Weihegaben,
die Nachbildungen von Gliedmaßen und die sonstigen Opferspenden. Er
wird von dem allgemeinen Begeisterungstaumel ergriffen und die Erschüt-
terung seines Geistes bringt eine heilsame Erschütterung der von den Nerven
geleiteten Körperorgane hervor.
Gefähr hch und verderblich werden diese religiösen Heilstätten erst dann,
wenn die Kultur und Religiosität des betreffenden Volkes über die dort
geübte Heilweise und die ganze magische Weltauffassung hinauswächst. Sie
ZI
sind dann die hartnäckigsten Feinde und schwersten Hemmnisse einer
neueren höheren Religion und Heilkunst. Sie werden dann auch zu einer
Brutstätte des „frommen Betruges", auf den wir sogleich zu sprechen kom-
men werden. Ihr eigentliches Verbrechen besteht dann darin, daß sie das
blinde \'ertrauen hilfsbedürftiger verzweifelter Seelen mißbrauchen und,
wenn sie selbst leibliche Hilfe bringen, die Geister für immer krank und un-
selbständig machen. Daher kann man dem großen Charcot nicht beipflich-
ten, daß er hoffnungslosen Patienten Lourdes empfiehlt, es sei denn, daß
er diesen Rat nur den geistig Tiefstehendsten gibt, bei denen eine Erhebung
über den dämonologischen Standpunkt außer dem Bereich der Möglichkeit
liegt. In diesem Falle kann man ihm nicht unrecht geben; denn ohne Frage
ist ein bigotter Gesunder für die menschliche Gesellschaft nützhcher als ein
bigotter Kranker. Und es gibt eine nicht geringe Zahl solcher Nachzügler,
die ohne die dämonologische Weltauffassung nicht leben können und es auch
nicht lernen werden. Mögen sie nur alle nach Lourdes gehen ! Das ist besser,
als wenn eine höhere und freiere Heilkunst sich vergeblich mit ihnen abmüht.
Im ^Mittelalter und in der älteren Zeit des Griechentums waren die Wall-
fahrtsorte und Heiltempel die normalen Krankenhäuser; denn die dämono-
logische W^eltauffassung wurde damals nicht nur von den Nachzüglern, son-
dern auch von den geistig Führenden geteilt. Die dort gepflegte Heilkunst
war daher die edelste und kulturgemäßeste, die man hatte; die heilenden
Priester waren in ihrer \\'eise ernste und ehrwürdige Ärzte. Auf welchem
Wege der allmähliche Umsch\\aing eintrat und die rehgiösen Kurorte zu
Stätten schmachvollen Aberglaubens wurden, haben wir oben schon ange-
deutet. Der zum Propheten, Forscher und Arzt umgewandelte Zauberer
rüttelte die Volksseele aus dem dämonologischen Schlafe auf und stellte der
Priestertherapie eine höhere weltliche Therapie gegenüber. In Griechenland
kann man es gut beobachten, wie die prophetischen Geister sich gegen das
erstarrende und entartete öffentHche Priestertum zur Wehr setzten, wie sich
halb religiöse, halb \\issenschaftliche Laienbünde bildeten, die die Heilkunst
zu ihrem Lebensberuf machten und sie auf die höhere Stufe der neuen Welt-
und Lebensanschauung hoben. So gab es eine Ärztegenossenschaft der Askle-
piaden, die sich rühmten, von Asklepios abzustammen und von ihm und
seinem Sohne Podaleirios die Geheimnisse der ärztlichen Wissenschaft emp-
fangen zu haben. Sie bildeten einen festen Geheimbund; der neu Aufgenom-
mene mußte ein Gelübde ablegen und wurde fachmännisch ausgebildet. Wie
das Verhältnis dieser Asklepiaden zu den Priestern in den Wallfahrtsorten
des Asklepios war, ist nicht ganz klar; jedenfalls schufen sie regelrechte
Krankenhäuser und begründeten die wissenschaftliche Medizin, Ihr berühm-
testes Bundesmitghed war Hippokrates.
38
Die Entwicklung der Medizin in der christlichen Epoche können wir hier
nicht verfolgen. Die älteren Christen, zumal die Priester, taten sich innerhalb
des römischen Weltreiches als aufopfernde Krankenpfleger hervor. Die
Klöster wurden zu Hospitälern und Schulen in der Heilkunst. Erst im spä-
teren Mittelalter, unter dem Einfluß der erstarkten Universitäten gelang es,
die Trennung des ärzthchen von dem priesterlichen Berufe durchzusetzen.
Die Kirche untersagte nunmehr den Geistlichen das ärztliche Praktizieren;
aber die Verwendung der Reliquien, Kirchenkerzen, heiligen Quellen zu
ärztlichen Zwecken untersagte sie freilich nicht, sondern ließ es sich ruhig
gefallen, daß eifrige Priester sie zum Hort einer überlebten, die Bedürfnisse
der Unmündigen und Hilflosen klug berücksichtigenden Zauberheilkunst
machten.
iyi 4. DER FROMME BETRUG |i|
Die ärztliche Tätigkeit des Priesters ist oft als ein betrügerisches Ausbeuten
geängstigter Toren bezeichnet worden. Wenn dieser Vorwurf in seiner Allge-
meinheit auch ungerechtfertigt ist, so hat sich uns doch deutlich genug er-
geben, daß der priesterliche Arzt mitunter recht bedenkliche ,, Kuren"
unternimmt und dem, was wir auf gut Deutsch ,, Betrug" nennen, mindestens
sehr nahekommt. Die ganze Zauberei, auch als Kult- und Opferwesen,
erscheint unserem heutigen Empfinden nur zu leicht als Unredlichkeit und
Betrügerei. Wir wollen dieser Frage daher eine eingehende Betrachtung
widmen und das gesamte, auf dem Zauber- und Dämonenglauben beruhende
Tun und Treiben des Priesters vor dem Forum der Redhchkeit und Wahr-
haftigkeit zu prüfen versuchen. Dabei überschreiten wir freilich die Grenzen
des Kapitels: Der Priester als Arzt; denn wir wollen unsere Betrachtung
auch auf das Verhältnis des Kultpriesters und des. Propheten zum Betrug
ausdehnen. Aber da die Heiltätigkeit des Priesters wohl am meisten Anlaß
zur pia fraus gegeben und den Priesterfeinden am häufigsten zum Angriffs-
punkt gedient hat, steht die Besprechung der Frage doch hier an der geeig-
neten Stelle. Ich habe im vorigen Kapitel über den Priester als Zauberer
und Kultpfleger absichtlich vermieden, auf die Anklage ,, wegen Betrugs"
einzugehen, die die Menschheit von jeher gegen den Priester erhoben hat
und die ihm in der neueren Zeit immer mehr schwere Stunden bereitet.
Auch im folgenden Kapitel über den Wortpriester, den Verkünder des gött-
lichen Willens, werden wir auf diese Anklage nicht mehr zurückkommen,
da wir sie schon jetzt im Zusammenhange behandeln und soweit möghch
erledigen werden.
39
„Du Lügner! Du Betrüger!" so schallte und schallt es dem Priester ent-
gegen. — Wir bemerken aber sofort, daß sich diese schwere, vernichtende
Beschuldigung in früheren Zeiten auf wesentlich andere Gründe stützte als
in der Gegenwart. Gleich von vornherein müssen wir einen gnindsätzhchen
Unterschied machen zwischen solchen Anklägern, die bloß einzelne, be-
stimmte Zauberer, Ärzte, Propheten für Betrüger halten, und jenen anderen,
die in jeder Zauberwirkung, jeder Prophezeiung, jedem magischen Heilsakt
eine bewußte oder unbewußte Täuschung erblicken. Die ältere Menschheit
zweifelte keinen Augenblick daran, daß es zauberhafte Wirkungen, mit
Zauberkraft begabte Menschen und zaubernde Dämonen und Götter gäbe;
unsere heutige Anschauung, daß alles, was geschieht, mit rechten Dingen
zugeht und mit dem angeblichen Wirken überirdischer Mächte gleichviel
oder gleich wenig zu tun hat, war unseren Vorfahren, auch den freigeistigsten,
fremd. Daher war man fest überzeugt, daß es echte Zauberer, echte Priester-
ärzte und Propheten gab. Die Frage war nur, ob man im einzelnen Falle
einen echten oder einen falschen vor sich hatte. Man zweifelte auch nicht
daran, daß die ,, bösen" Zauberer sowie die Priester und Propheten fremder
Religionen ebensogut echt sein konnten als die guten und vertrauten reli-
giösen Personen. Der fremde Medizinmann zaubert nicht weniger als der
eigene; die fremden Geister und Götter beweisen ihre ]\Iacht nicht weniger
als die heimischen. Als Aaron vor Pharao stand und ihm ein Zauberkunst-
stück vormachte, nämlich seinen Stab in eine Schlange verwandelte, mach-
ten es ihm die ägyptischen Priester sofort nach. Nur war die im Namen und
i^uf trage Jahwes verübte Zauberei wirkungsvoller ; sein Stab fraß die anderen
auf. Ebenso bezweifelte in der urchristlichen Zeit auch der gottgläubigste
Christ nicht, daß auch die heidnischen Wunderdoktoren Teufel austreiben
könnten. Diese heidnischen Exorzisten bedienten sich bei der Heilung sogar
hie und da des Namens Christi. Sie übernahmen also die Beschwörungsfor-
meln ihrer so wunderbar erfolgreichen christlichen Berufsgenossen und zwan-
gen auch ihrerseits den ihnen feindlichen Kultgott Jesus zum Kampfe gegen
die Krankheitsgeister. Mit Hilfe der heidnischen, nach christlicher Meinung
bösen, Mächte vermochten sie natürlich ebenfalls Heilwunder und andere
Störungen des Naturlaufs herbeizuführen. Das ganze Mittelalter, auch noch
Luther und die Folgezeit glaubten, daß die Hexen wirkhch hexen könnten,
daß überhaupt der Mensch die Höllengeister in seinen Dienst zwingen
könnte, so gut wie der Priester in der Messe den Herrn herbeizwang und der
fromme Beter sich Hilfe von Gott und den Heiligen holte. Nach christlicher
Lehre gehören Zauberwirkungen zu den bewiesenen Tatsachen; auf diesen
Tatsachen erhebt sich das ganze Dogmengebäude, das in dem Apostohcum
seinen klassischen Ausdruck gefunden hat. Der Christ hat nur zu prüfen,
40
ob im einzelnen Falle eine Zauberwirkung, ein „Wunder" vorliegt oder eine
auf geschickter Benutzung der Naturkräfte beruhende Täuschung. Die ka-
tholische Kirche entscheidet darüber von Amts wegen; im Protestantismus
muß der Einzelne selber entscheiden.
Anders liegt die Sache für uns, die wir überhaupt keine Zauberwirkungen
anerkennen. Wir fragen nicht, ob dieser oder jener Wundertäter, Visionär,
Zauberarzt ,, wirklich" über dämonische Mächte verfügt und ob diese Mächte
göttlicher oder teuflischer Herkunft sind. Wir sind auf Grund der jahr-
hundertelangen wissenschaftlichen und philosophischen Arbeit Europas von
vornherein vom Gegenteil überzeugt. Wir fragen nur, ob der Wundermann
absichtlich oder unabsichtlich täuscht, ob er falsch deutet, falsch denkt oder
falsch handelt und redet. Die gesamte priesterliche Berufstätigkeit aller
Zeiten, soweit sie auf Zauberei, Kult, Heilwunder, Prophetie und Gebet
hinausläuft, beruht auf Selbstbetrug und Betrug anderer; jeder direkte
äußere Erfolg, den der Priester mit seinen religiösen Praktiken erreicht
haben will, ist irrtümlich. Es ist ein schauerlicher Gedanke, daß sich der
Mensch Jahrtausende lang durch Beobachtungsfehler und falsche Ausdeu-
tungen des Geschehens hat narren lassen, daß alle die unermüdlichen und
aufreibenden Bemühungen, dem Schicksal durch Überlistung und Zauber-
kunststücke beizukommen, eitel Torheit und Täuschung gewesen sind. Wir
können uns nur dadurch mit dieser traurigen Tatsache aussöhnen, daß wir
uns klar machen, daß diese Bemühungen eben doch nicht vergeblich ge-
wesen sind, weil der Zauber- und Kultgedanke für die sittliche Erziehung des
Menschengeschlechts von den segensreichsten Folgen gewesen ist.
Doch haben wir es jetzt nicht mit den Irrtümern und unabsichtlichen
Täuschungen des Priesters zu tun, sondern mit den absichtlichen und be-
wußten Täuschungen. Die Frage lautet : glaubt der Priester an seine eigenen
Künste und Fähigkeiten oder durchschaut er die Komödie ? Handelt er ehr-
lich und mit religiöser und wissenschaftlicher Überzeugung oder hat er die
gläubige Gemeinde nur zum besten?
Da ist es nun merkwürdig, daß sich schon in den rehgiösen Bräuchen
mancher Naturvölker regelrechte ,, Komödien" finden. Ich denke vor edlem
an die Maskenaufführungen der Geheimbünde in Afrika, in der Südsee und
in Amerika. Die Mitglieder dieser Geheimbünde verfertigen sich kunstvolle
oder kunstlose Gesichtsmasken und phantastische Gewänder. Wenn das
Fest herankommt, legen sie diese Masken an und zeigen sich so vor dem
nicht eingeweihten Volke. Das Volk glaubt und soll glauben, daß nicht etwa
die Menschen, die ihnen persönlich bekannt sind, in den Masken stecken,
sondern Geister. Die Dämonen, so heißt es, kommen in Gestalt dieser
Maskenträger, um das Dorf zu besuchen, sich Opfer zu erpressen, aber auch
41
um Fruchtbarkeit und Gedeihen zu bringen, Schuldige zu bestrafen und
dem Geheimbunde die allgemeine Achtung zu erwirken. Die Maskenträger
selber und ihre Genossen wissen aber, wer in den ]\Iasken steckt und wie die
ganze Szene zustande kommt. Sind sie also nicht offenbare Betrüger?
Dazu liefert uns Preuss folgende Erklärung. Er erzählt, daß hie und da
die Kinder bei Gelegenheit in die Geheimnisse eingeweiht werden, indem die
Darsteller der Götter nach allerhand Zeremonien die Masken abnehmen, so
daß der menschliche Träger zum Vorschein kommt. ,,Wir haben hier den
besten Beweis," fährt er fort (Archiv f. Religionswiss. Bd. 7), ,,daß die in
solche Maskeraden Eingeweihten durchaus nicht den Glauben an die Zere-
monien zu verlieren brauchen; denn das Übernatürliche sitzt hier eben in
der Maske, und die Träger sind nur dazu da, die Maske, d. h. die Gottheit
die notwendigen Zauberhandlungen ausführen zu lassen". Damit erscheint
dieser Priesterbetrug in einem anderen Lichte. Die Maske und das Masken-
kleid enthalten göttliche Substanz; die priesterlichen Träger sind Neben-
sache ; sie wollen weniger den Glauben an ihre eigene dämonische Beschaffen-
heit als an die der heiligen Geräte, Symbole und Handlungen erwecken.
Weiter aber: wenn die INIaskenträger die göttlichen Kleidungsstücke an-
legen, geht wirklich etwas von der dämonischen Kraft derselben auf sie über.
Der maskierte Priester wird wirklich zum Dämon ; er fühlt sich verwandelt
und erhöht, ebenso \ne der fromme Christ durch den Genuß des Abend-
mahls und durch Berührung heiliger Gegenstände verwandelt, gekräftigt,
geheilt imd mit göttlicher Wesenheit erfüllt wird.
Wenn der Maskierte keinen ,, Glauben" hat, tritt die Venvandlung natür-
lich nicht ein; er behält das Be\vußtsein, ein Mensch und kein Dämon zu
sein ; er wird zum einfachen Schauspieler. Jedoch kann er während der Hand-
lung immer noch in Hitze kommen und sein Persönlichkeitsgefühl ganz oder
zum Teil verlieren. Der ganze Vorgang wirkt ja äußerst suggestiv und wie
\\ir wissen, vollzieht sich bei Naturmenschen und hysterisch Veranlagten
der Übergang in den ,, zweiten Zustand" mit großer Leichtigkeit. Man sieht,
die Grenze z\\ischen Betrug und ehrlichem Maskenspiel ist nicht leicht zu
ziehen. Der Priester weiß oft selber nicht, ob er sich in der Maske als Gott
fühlt oder nicht, und wenn er es auch weiß, so bleibt doch immer die Gött-
lichkeit der Maskengeräte, die er in Aktion zu setzen hat, bestehen. Wenn
diese Aktion die Hauptsache und die Irreführung der Menge gar nicht der
Zweck, sondern höchstens eine Nebenwirkung der heiligen Vorführung ist,
kann man kaum von Betrug sprechen. Je mehr freilich die Irreführung, Ein-
schüchterung, Ausbeutung der Gläubigen in den Vordergrund tritt, um so
mehr verschiebt sich die Tätigkeit der priesterlichen Bünde nach der Rich-
tung des schauspielerischen Täuschens.
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Wir müssen uns an das früher über die Hysterie Gesagte erinnern. Jeder
Psychiater weiß, wie schwer es ist, den Hysterischen nachzurechnen, ob und
wann sie lügen. In vielen Fällen sind sie halb oder ein Viertel ehrlich und
sind dann tief entrüstet, wenn man sie auf den unehrlichen Rest aufmerksam
macht. Die Hysterischen spielen immer Theater, hat man gesagt. Das gilt
auch von dem hysterischen Priester. Woher die ungeheure Verbreitung des
rehgiösen Maskenwesens? Von der unbezwinglichen Neigung hysterischer
Personen, zu schauspielern und sich selber idealisiert, und vergöttlicht zur
Darstellung zu bringen. Viele hj^sterische Schwindler und Hochstapler aller
Zeiten haben sich zum Priesterberuf hingezogen gefühlt (aus neuerer Zeit
erinnere ich an Cagliostro, Johnson, Frau Blavatsky usw.), und umgekehrt
sind viele Priester durch ihren Beruf an oder über die Grenze der Hoch-
stapelei gedrängt worden.
Bei den hysterischen Lügen kann man beobachten, daß sie das Gewissen
oft nicht im geringsten belasten. Es gehngt dem Hysterischen — ein wenig
hysterisch ist jeder Mensch! — das Unehrliche seiner Handlung sofort aus
dem Bewußtsein zu drängen und die ehrlichen und lobenswürdigen Bestand-
teile sich und andern als die allein vorhandenen hinzustellen. Er tilgt, ab-
sichtlich und unabsichtlich, alles Verräterische und Widerspruchsvolle seines
Auftretens. Alle seine Triebe sind in geschäftiger Tätigkeit, das was er dar-
stellt, mit dem was er ist, in Einklang zu bringen, die Unebenheiten auszu-
gleichen, aus der Lüge Wahrheit werden zu lassen. Entweder richtet sich
dies Bestreben nur auf die äußere Darstellung, manchmal aber auch auf das
innere Wesen. Im letzteren Falle haben wir nichts als eine Übertreibung des
allgemein menschHchen Strebens nach Vervollkommnung vor uns. Beim
Priester ist der menschliche Drang nach Verwirkhchung der Wünsche und
Ideale so ungestüm und hemmungslos, daß er sich in Form des hysterischen
Spieles durchsetzt.
Damit hängt auch die priesterliche Heuchelei zusammen. Die ganze mensch-
liche Pädagogik und Ethik ist von anarchistischen Wahrheitsfanatikern der
Heuchelei beschuldigt worden. Das Kind wird, sagen sie, in der Kunst zu
heucheln weit sorgfältiger als in allen anderen Künsten unterwiesen. Diese
Behauptung ist nicht so unzutreffend, wie es zunächst den Anschein hat.
Wirklich richten sich die pädagogischen Bemühungen der Eltern, Lehrer
und Erzieher immerwährend darauf, daß das Kind seine Bedürfnisse,
Wünsche, Gefühlsregungen nicht merken läßt und zeitweilig oder gänzlich
verschweigt. Es wird veranlaßt, sich Verhaltungsweisen anzueignen, die
seinen augenblicklichen Empfindungen nicht entsprechen. Es lernt Wünsche
unterdrücken, die Befriedigung von Bedürfnissen auf bestimmte Zeiten zu
verschieben und das ganze Leben in Regeln zu bringen, die sehr oft mit den
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Neigungen im Kampf liegen. Wir nennen die menschlichen Gesetze und Kon-
ventionen niu: deshalb nicht Heuchelei und Lüge, weil sie nötig und zweck-
mäßig sind. Wenn sie es nicht sind, wenn eine Sitte, eine Lebens- und Hand-
lungsform sich nicht als nötig, zweckmäßig und förderlich im höchsten Sinne
zu erweisen vermag, verfällt sie sofort dem berechtigten Vorwurf : lügnerisch
und betrügerisch zu sein.
Weiter lehrt uns die Erfahnmg, daß schwache, unterdrückte, gequälte,
unglückhche Menschen weit eher zm- Lüge imd Heuchelei veranlaßt werden
als starke, freie und glückliche. Hysteriker und Kinder lügen aus Schwäche
— von der künstlerischen Phantasielüge sehen wir hier ab — ; die Lüge ist
ihre Waffe, ist ein ]\Iittel, zwischen den natürlichen Trieben und den von
außen herantretenden Erziehungsanforderungen eine scheinbare Einheit her-
zustellen. Der Hysterische gibt sich als gut oder fromm oder stark, ohne es
zu sein, ohne auch die Kraft zu haben, es zu werden. Er vermag das vorge-
zeichnete und erstrebte Ideal nicht zu verwirldichen und stellt es nur schau-
spielerisch, durch lügnerische Worte und Handlungen dar. Dadurch sucht
er sich diejenige Achtung zu erringen, die den wirklich Strebenden und
Verwirklichenden gezollt wird.
Diese kurzen Bemerkungen über das Gesamtproblem : Wahrheit und Lüge,
müssen genügen, um uns über die Verwendung, die der Priester von der
Lüge macht, Licht zu verschaffen. Die Lüge in der Religion entspringt, so-
weit sie nicht mythologisches Phantasiespiel ist, ganz und gar aus jenen
beiden Eigentümhchkeiten des Menschen: er stellt das, was er nicht zu er-
reichen und zu vervvirklichen vermag, schauspielerisch dar, und zweitens,
er sucht mächtigeren Gewalten, deren er nicht Herr werden kann, durch
Überhstung imd Irreführung beizukommen. Wie das Kind verbotene Ge-
lüste befriedigt und es hinterher durch Wort und ^liene ableugnet, so erhstet
sich der Mensch Vorteile von Göttern und Geistern und naht sich ihnen mit
der Miene der Unschuld und mit lügnerischen Ersatzleistungen (Opfer,
Sühneriten), so überhstet auch der Priester seine Gemeinde, indem er ihr
Geld und Gut, Gehorsam und Liebe abnötigt und dafür religiöse Ersatz-
leistungen bietet: er setzt die Gottesmaske auf, spielt den Menschen das
Ideal vor, dessen Erfüllung sie ersehnen, und verspricht kraft seiner angeb-
hchen Götthchkeit ihnen zur Erfüllung zu verhelfen. Der ,, fromme Betrug"
wird also entweder den Göttern oder der Gemeinde gespielt.
In beiden Fällen des frommen Betruges können wir eine Stufenleiter von
der fast vöUigen subjektiven Ehrlichkeit bis zur kalten schnöden Perfidie
aufstellen. Ich sagte schon, daß der Hysterische sich alle Mühe gibt, den Be-
trug zum Selbstbetrug werden zu lassen und das Unehrliche seiner Hand-
lungsweise aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Er erschleicht sich dadurch
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die Billigung jener merkwürdigen , .inneren Stimme", die wir Gewissen
nennen und die stets zugleich persönlichen und sozialen Ursprungs ist. Er
bietet alles auf, um bei seinem Tun ein gutes Gewissen zu behalten oder,
wenn das Gewissen Einspruch erhebt, es wieder zur Ruhe zu bringen.
Hysterische Frauen haben in dieser Kunst wohl die höchste Virtuosität er-
reicht. Aber auch des Priesters Bemühungen waren immer darauf gerichtet,
seine Lügen ehrlich zu machen, d. h. zum Selbstbetrüger zu werden und den
Konflikt zwischen den billigenden und verwerfenden Instanzen mit allen
Mitteln beizulegen. Sein echtes religiöses Gefühl verbindet sich so fest als
möglich mit den bedenklichen Praktiken und so treibt er die Täuschung auf
der Stufenleiter zur Ehrlichkeit weit hinauf. Ich glaube, daß die krassen Fälle,
die wir als schnöde kalte Perfidie bezeichneten, viel seltener sind, als die
Priesterfeinde annehmen. Ein wenig Echtheit und Ehrlichkeit fließt fast
immer mit hinein und der Priester setzt alles daran, die echten und ehrlichen
Bestandteile so herauszuputzen und so weit in den Vordergrund zu rücken,
daß die falschen und betrügerischen ihm und den andern unmerkbar
werden.
In diesem Bemühen findet der Priester eine wertvolle Unterstützung in
dem Umstand, daß sein Betrug selten seine persönliche Erfindung und An-
gelegenheit ist. Hinter ihm steht die ganze Priestergenossenschaft mit ihren
Traditionen ; die Betrügereien sind alte, durch die Zeit geheiligte Erbstücke
der religiösen Vergangenheit. Das gibt dem einzelnen Priester einen starken
Rückhalt und erleichtert ihm die Mühe, den Betrug vor sich selber zu recht-
fertigen, also sich das unschätzbare gute Gewissen zu erhalten. Der Betrug
wird dadurch auch wirklich entschuldbarer und heiliger.
Nehmen wir ein Beispiel! In jüngster Zeit ist wieder ein Priesterbetrug
aus Altgriechenland aufgedeckt worden. Man hat in Korinth die Reste eines
archaischen Orakelheiligtums ausgegraben. Ringsherum zieht sich eine
Mauer und an einer Stelle dieser Umfassungsmauer war eine Inschrift an-
gebracht, die das Herantreten an diese Stelle bei acht Drachmen Strafe ver-
bot. Warum dies Verbot? Eine der Metopen, die die Umfassungsmauer
schmückten, bildete die Tür zu einem engen Gang, der unter den Fußboden
des Tempels führte, und in dem Fußboden befand sich ein trichterförmiges
Loch. Wenn nun Leute kamen, um den Gott zu befragen, schlich der Priester
durch den Gang unter den Tempel und ließ aus der Tiefe durch das Loch
die Stimme des antwortenden Gottes erschallen. Wir haben also eine ebenso
unzweideutige Täuschung des Volkes vor uns wie bei den Maskenfesten der
Geheimbünde, Beide Male maßen sich Menschen, Priester, die Rolle der
Gottheit an und betrügen dadurch die gläubigen Laien. Aber in beiden
Fällen geht der Betrug von einer Genossenschaft aus, von einem das Volk
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regierenden geistigen Ausschuß ; und er beruht auf altem, durch lange Übung
geschütztem Herkommen. Der einzelne Betrüger fühlt sich daher außer
Schuld; ja der korinthische Orakelpriester kann ebenso gläubig und gott-
begeistert gewesen sein wie der dämonische Maskentänzer. Den Spruch, den
er aus dem Loch hinaufrief, kann er für die wirkliche von der Gottheit ein-
gegebene Orakelantwort gehalten haben. Indem er sprach, fühlte er sich —
wer weiß ? — als Gott, und die betrügerische Einkleidung des Orakelaktes
war eben nur ein Mittel, dem törichten Volke Achtung abzunötigen und
ihn selber in die heilige Orakelstimmung zu bringen. So können es wenigstens
einige dieser Orakelpriester aufgefaßt haben. Daß die ideale, die ehriiche
Betrügerei recht oft in unehrliche und gemeine übergegangen ist, woUen
wir gewiß nicht leugnen.
Einen Hauptgrund für die Anwendung dieser und vieler ähnlicher Priester-
künste bildet die betrübende Tatsache, daß die Gottheit sich den Menschen
leider niemals in Person zeigt, niemals mit deutlichen Worten ihren Willen
kundtut, niemals in den Lauf der Dinge mit erkennbarer Hand eingreift.
So viele Geister und Götter die Welt bevölkern und bevölkert haben —
in dem einen Punkte sind sie alle einander gleich: sie machen sich nur auf
Umwegen, nur durch vieldeutige Winke, nur durch Mittelspersonen bemerk-
bar. Wie gut stände es auf Erden, wie einträchtig würden die Völker und
Einzelnen miteinander leben, wie gründlich würde der ,, Unglaube" verjagt
und ausgerottet werden, wenn die Götter sich nur ein einziges Mal die Mühe
geben wollten, für jedermann klar und glaubhaft zu erklären, was sie von
uns verlangen, was ihr Wille, ihr Ziel, ihr Wesen ist ! Da sie Regenten der
Welt sein wollen, sollten sie die Weltregierung auch unzweideutig in die
Hand nehmen. Aber ach, sie haben nur immer gemunkelt und gewinkt, sind
abwechselnd verschwunden und unvermutet wieder aufgetaucht. Die arme
Menschheit hat sich bis aufs Blut gequält, den widersprechenden Anwei-
sungen nachzukommen, die dunklen Andeutungen zu verstehen, die wider-
wiUigen Götter herbeizuziehen und ihre launenhafte Zurückhaltung zu be-
siegen. Dem Priester hat man die zwar ehrenvoUe, aber höchst undankbare
Aufgabe zuerteilt, sich mit diesen unbegreiflichen Mächten ins Einverneh-
men zu setzen, ihnen klare Befehle abzuringen und sie zur dauernden Über-
nahme des beanspruchten Herrscheramtes zu veranlassen. Was soll er nun
machen, wenn sie ihn einmal im Stiche lassen, wenn sie auf den gewohnten
Ruf hin nicht kommen oder ihm einen anderen häßlichen Streich spielen?
Das Volk will unter allen Umständen den Gott hören oder sehen ; es verlangt
mit drohender Bestimmtheit, daß der Priester für die klare Übermittlung
des götthchen Willens, für die Aufrechterhaltung der segensreichen Verbin-
dung mit Gott Sorge trage. Der Priester trägt die Verantwortung, wenn der
46
Gott sein Volk meidet; ihn trifft die Schuld, wenn der Gott zürnt und sich
unverständhch oder unglaubhaft äußert.
Für gewöhnlich gelang es dem Priester, durch die früher beschriebenen
Erregungsmittel zur Gottheit durchzudringen und ihr Erscheinen und Ein-
greifen herbeizuführen. Kraft seiner nervösen Geistigkeit und sorgfältigen
Übung war er der Gottheit ziemlich sicher, fühlte sich eins mit ihr und ver-
mochte mit gutem Gewissen in ihrem Namen zu sprechen, zu heilen und zu
wirken. Sie weilte bei ihm, weilte in seinem Fetisch, im Tempel, im Lande;
sie war willig, sobald man sie brauchte. Aber wenn diese Bereitwilligkeit
aufhörte? Wenn sich die Gottheit dem Priester entzog, wenn sie aus dem
Lande wich und allen Anrufen taub blieb ? Da blieb doch dem Priester nichts
übrig, als selber für die Gottheit einzutreten und ihren leergelassenen Platz^
auszufüllen. Er ,,half nach" ; er brachte die Wunder, die das Volk erwartete
und forderte, durch List und Klugheit hervor und ersetzte die ausbleibende
ekstatische Gotterfülltheit durch Schauspielerkünste.
In diese Not geriet er namentlich dadurch, daß das Herbeirufen, Befragen
und Inanspruchnehmen der Gottheit zur regelmäßigen Gewohnheit wurde.
Wenn der Orakelpriester jedem beliebigen Ankömmling als Gott entgegen-
treten und Bescheid geben soll, wenn der Zauberarzt jederzeit sein reli-
giöses Heilverfahren bereithalten soll, muß er notwendig die technische Ge-
schicklichkeit und das hysterische Darstellungstalent in die Lücken seiner
Gotterfülltheit hineinwerfen. Die religiöse Begeisterungsstimmung läßt sich
wohl innerhalb gewisser Grenzen ,, kommandieren", der Priester kann die
Anfälle wdllkürlich erzeugen und ist nicht genötigt, sie zu simulieren; so
glaube ich z. B., daß die delphischen Pythien über die Orakelhypnose ziem-
lich sicher verfügen konnten, wie auch die Schamanen, Medizinmänner und
Propheten anderer Völker weit häufiger, als man heute annimmt, ehrliche
Gottbegeisterte gewesen sein werden. Aber dennoch hat die Macht des Gei-
stes ihre Grenze. Vor allem erlischt auch nach einiger Zeit die geistige Pro-
duktivität im Anfallszustande. Der Begeisterte bringt keine wertvollen Ge-
danken mehr; seine Phantasie erlahmt; sein unbewußtes Seelenleben, das
im Trance an die Oberfläche tritt, verfügt nur über einen beschränkten
Schatz von Ideen und Ideenverbindungen; wenn dieser Schatz verbraucht
ist, wird der Ekstatiker leer und langweilig, er wiederholt sich, seine Orakel
befriedigen das Volk nicht mehr, seine Kuren bleiben erfolglos, da er die
Kranken nicht mehr unter den Einfluß seiner Persönlichkeit zu bringen
vermag.
Wir erleben diesen Niedergang heute an fast allen spiritistischen Medien.
Eine Zeitlang sind sie phantasiereich und fruchtbar. Der Anfall stellt sich
leicht ein und fördert alles Gewünschte zutage. Allmählich aber werden die
4T
Anfälle unfruchtbarer und mühsamer, die Teilnahme der Gemeinde nimmt
ab, und das Medium fühlt sich bewogen, ein wenig nachzuhelfen. Es sam-
melt zunächst, etwa durch Lektüre, neues Material für die Anfälle; oder ss
übt, wenn es eine Traumtänzerin ist, die Tänze vorher ein. Dann lernt es,
das Bewußtsein im Anfall mehr oder weniger zu bewahren und die Anfalls-
erscheinungen willkürlich zu beeinflussen. Das Ende ist nachher Betrug und
Entlarvung.
Ebenso Nvird es unzähhgen Priestern ergangen sein, nur daß die Entlar-
vung wohl meist ausgeblieben ist, weil die ältere Menschheit weniger Beob-
achtungsgabe und Mißtrauen besaß als wir, femer auch deshalb, weil die
Priester trotz ihres Betruges häufig bedeutende und gescheite Köpfe waren.
Indessen wird uns berichtet, daß sich die P\i:hien in Delphi mehrfach Be-
stechungen zugänghch er\nesen haben. Einmal \\'urde eine Pythia deswegen
abgesetzt ; sie hatte ihre Orakelsprüche einer mächtigen und reichen Partei
zuliebe gefälscht.
Aber kein Mensch zog damals den Schluß, daß das ganze Orakelwesen Un-
fug und Betrug sei, so wenig sich unsere Spiritisten durch die Entlarvung
der Medien in ihrer Geistertheorie beirren lassen. Der Entlar\'te ist dann nur
ein Unwürdiger, ist kein echter Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits ;
oder: er war bisher ein echtes Medium, nur in diesem einen Falle hat ihn
die Kraft verlassen und seine Scham darüber hat ihn zum Betrug verleitet.
Die delphische Institution dauerte ungestört fort. Daß sie ihr Ansehen all-
mählich verlor, lag selbstverständhch daxan, daß ihre Orakel nicht mehr die
alte Weisheit und Treffsicherheit besaßen und zu belanglosem und lügen-
haftem Geschwätz entarteten. Delphi vermochte nicht mit den veränderten
Aufgaben der späteren Zeit Schritt zu halten. In den alten Händeln zwischen
den aufblühenden Stadtstaaten hatte es sich vorzüghch zurechtgefunden;
viele Male hatte es mit seinen Ratschlägen den Nagel auf den Kopf getroffen.
Es hatte auch die großartige Kolonisationstätigkeit der Griechen in glück-
hcher Weise gefördert und in die religiöse Entwicklung mit Klugheit ein-
gegriffen. Herodot hat uns das alles trefflich geschildert, wenn auch in über-
treibenden Farben; er hatte nämlich das ^laterial für sein Geschichtswerk
zum Teil von der Priesterschaft in Delphi erhalten, die natürhch den Einfluß
Delphis möglichst groß darstellte und die Geschichte der Welt vom kleri-
kalen Standpunkt aus beurteilte. Immerhin ist der tiefgehende und im gan-
zen günstige Einfluß des delphischen Orakels auf das ältere Hellas nicht zu
leugnen. Zum erstenmal scheint dann die Priesterschaft in den Perser-
kriegen versagt zu haben. Delphi nahm bei dieser Gelegenheit eine zwei-
deutige Haltung ein, liebäugelte mit den Persem, suchte Athen und andere
Städte vom Widerstände gegen das eindringende Asien abzuschrecken. Wie
48
es scheint, kam der nationale Aufschwung dem Priesternest unerwartet und
auch ungelegen.
Doch wollen wir zu unserer Frage zurückkehren. In Delphi und an vielen
anderen Orakelstätten wurde die göttliche Prophetenweisheit durch nüch-
terne Priester überarbeitet und zurechtgestutzt. Wohl sprach die Gottheit
in Person aus den begeisterten Pythien und Orakelpropheten ; aber die Äuße-
rungen eigneten sich trotzdem nicht zur unmittelbaren Verkündigung an
das Volk. Wir erwähnten schon früher, daß die ekstatischen Verlautbarungen
der delphischen Pythia von einem Priesterkollegium angehört und in Verse
gebracht wurden. Wie weit dabei der Inhalt in betrügerischer Weise geän-
dert oder gar erst ein vernünftiger und zweckentsprechender Inhalt herge-
stellt wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir sehen aber, daß auch die
Zauberärzte bei manchen Völkern den ekstatischen Teil ihres Amtes an me-
dizinische Assistenten abtreten, ähnlich wie bei unseren Spiritisten oft nicht
das Medium, sondern dessen nüchterner ,, Impresario" die produktive und
leitende Persönlichkeit ist. Der Zauberarzt hält sich einen geeigneten Hyste-
riker, ^vie der heutige Arzt ein Instrumentarium ; er nimmt ihn zu den Patien-
ten mit und läßt ihn dort die Herbeirufung und Ausforschung der Geister
vornehmen, läßt ihn tanzen und singen. Ähnlich ist es, wenn der Priester-
arzt dem Kranken vorschreibt, den Tempelschlaf zu halten und auf visionäre
Heilträume zu warten. Er selber will wach und nüchtern bleiben; er begnügt
sich damit, die Offenbarungen des Kranken oder des ekstatischen Assistenten
zu deuten und ihnen den Sinn zu geben, den er für seine therapeutischen
Zwecke braucht. Damit wird dem bewußten oder halbbewußten Betrüge
eine anerkannte Stellung innerhalb des ärztlichen und priesterlichen Wir-
kens zuerteilt. Der Priester kommt mehr und mehr dahin, sich nur auf die
irdische Weisheit, auf Beobachtung und wissenschaftliches Nachdenken zu
stützen und das Offenbarungswesen nur noch als Aushängeschild und Maske
zu benutzen. Die geheimnisvollen religiösen Mittel dienen ihm dazu, das
Volk anzulocken, irrezuführen und sich gefügig zu erhalten. Hinter dem
Zauberspuk versteckt wird er ein vernünftiger, aufgeklärter, energischer
Politiker oder Arzt oder geistiger Führer. In sämtlichen Ländern, deren
Kultur über die primitive Zauberreligion hinausgelangt ist, können wir diese
Entwicklung verfolgen. Es konnte ja dem Priester, sofern er Herrschertalent
und geistige Energie besaß, nicht verborgen bleiben, daß es mit der Herr-
schermacht Gottes und mit der Offenbarungsweisheit der Ekstatiker eine
unsichere Sache sei. Er war einfach gezwungen, der Gottheit und ihren Pro-
pheten unter die Arme zu greifen; er mußte sich wohl oder übel entschheßen,
sein Volk selbständig, auf Grund seiner Einsicht und Erfahrung zu leiten,
mußte alle von den Göttern im Dunkel gelassenen Dinge aufzuhellen, alle
4 Horneffer, Der Priester II AQ
von den Göttern nicht gelösten Sch\vierigkeiten zu beseitigen, alles von den
Göttern nicht beachtete Leid und Elend mit irdischen Mitteln zu bekämpfen
suchen. Er ^\au•de unfehlbar zu der Überzeugung geführt, daß Gott uns nur
hilft, wenn vvir uns selber helfen : Gott ist nicht mit dem tatlosen Ekstatiker,
nicht mit dem spintisierenden Zauberer, nicht mit dem brünstigen Beter,
sondern mit dem handelnden, denkenden, vorsorgenden Menschen. Kurz,
der Priester wurde Freigeist.
Die \'ersuchung, das Volk durch Lüge imd Betrug zu führen und glücklich
zu machen, trat damit an den Priester in unüberwindlicher Stärke heran. Er
war mit seiner Erkenntnis von der wahren Weisheit und dem wahren Wege
dem Volke vorausgeeilt. Man verstand ihn nicht, wenn er das neueEvangehum
verkündete, man verfolgte oder verlachte ihn. Wollte er leben, wollte er
herrschen und führen, so mußte er schweigen und lügen ; er mußte sich dem
abergläubischen Sinne und Bedürfnisse des Volkes anpassen, mußte den
Zauberkult mitmachen und sein priesterliches, ärzthches, pädagogisches,
königliches Wirken als unmittelbaren Ausfluß seines Freundschaftsverhält-
nisses zur Gottheit erscheinen lassen. Er mußte sich hinter Gott verschanzen,
damit die Menge ihm glaubte und folgte.
So bekannten sich denn der Priester und der König, überhaupt jede lei-
tende Macht, von einer gewissen Kulturstufe ab bis fast zum heutigen Tage
zu folgendem Regierungsgrundsatz: ich habe das Recht, das Volk zu be-
trügen und zu belügen, falls ich das zum besten des Volkes und im Sinne
einer tieferen Wahrhaftigkeit tue. Platon, der edle, streng sittliche Priester-
philosoph, hat den Herrschern seines Ideedstaates ausdrückhch das Recht
zur Lüge zuerkannt. Den ^Mitgliedern des Volkes will er das Lügen gänzlich
verbieten ; aber die Herrscher, meint er, sollen das \^olk, wo es nicht anders
geht, durch Erfindungen und Märchen, durch Beeinflussung angebhcher
Götterentscheidungen (Betrug beim Losen), führen und glücklich machen.
Die Lüge dient also als Erziehungsmittel und als Mittel, Schicksal zu spielen.
Gehen wir zu weit, wenn wir behaupten, daß alle Orakelstätten, alle geist-
lichen und weltlichen Fürsten älterer und neuerer Zeit sich für befugt ge-
halten haben, in diesem platonischen Sinne zu lügen und je nach Umständen
götthche Entscheidungen zu erfinden und abzuändern?
Die kathohsch- jesuitische Moraltheologie gibt uns recht eigentümhche
Fingerzeige für die im Katholizismus geltenden Anschauungen über Lüge,
Betrug und Meineid. Diese fromme und heilige Rehgionsgemeinde verdammt
natürlich die klare und nackte Lüge; aber unter anderem Namen werden
Lüge, Meineid und Betrug entschuldigt und begünstigt. Scharfsinnige De-
duktionen und eine feine Kasuistik verteidigen eine bedenkliche Nützlich-
keitsmoral und stellen die Unaufrichtigkeit und Heimtücke unter götthchen
50
und kirchlichen Schutz. Fast erschreckend hat sich die Wirkung dieser
Moraltheologie bei Gelegenheit des sogenannten Modemisteneides gezeigt,
wo Tausende von Priestern mit leichtem Gewissen einen Glauben beschwo-
ren, den sie nicht haben. Welche Erziehung müssen diese Priester genossen
haben, wenn sie das tun können ! Wenn wir die katholische Moral verstehen
wollen, müssen wir nun aber in Rücksicht ziehen, daß sie eine Kampfmoral
ist, in der Hauptsache verfaßt von dem Kampforden der Jesuiten. Der Ka-
tholizismus befindet sich seit vier oder fünf Jahrhunderten in einer Vertei-
digungsstellung. Europa will sich seiner entledigen und hat es zu einem guten
Teil bereits getan. Da aber der Katholizismus das Feld nicht räumen will
und es auch nicht darf, solange die christlichen Heilswahrheiten noch das
Glück von Millionen ausmachen, so muß er kämpfen, muß von der Vertei-
digung zum Angriff übergehen und seine Gläubigen in dauerndem Kriegs-
zustande erhalten. Der Jesuitenorden ist die katholische Leibtruppe, die
Moraltheologie enthält die Kriegsartikel. Es liegt aber in der Natur der
Sache, daß morahsche Kriegsartikel auf der einen Seite lax, auf der anderen
Seite drakonisch sein müssen. Sie messen die Menschen und ihre Taten mit
zweierlei Maß, sind ebenso ungerecht wie kurzsichtig. Im Kriege beherrscht
der Gedanke an den Sieg und die Niederwerfung der Feinde alles andere.
Die Mittel, die diesem beherrschenden Zwecke dienen, gewinnen sich leicht
den verklärenden Heiligenschein; die sittlichen Bedenken gegen Lug und
Trug gehen unter in dem alles überflutenden Drange, über die Feinde zu
triumphieren (vgl. meinen Aufsatz: 14 Jahre Jesuit, Die Tat II, g). Da nun
in heihgen Kriegen die Feinde überdies die Feinde Gottes sind, also not-
wendig ein verkommenes Gesindel, gegen das man weiter keine Pflichten
hat, so ist die Unbedenklichkeit der kathohschen Kriegsmoral nicht nur
begreiflich, sondern wird uns auch in einem milderen Lichte erscheinen.
Letzten Endes ist die Jesuitenmoral nur eine besonders konsequente Aus-
bildung derjenigen Herrscher- und Priestermoral, die Platon verkündet und
die in der Welt bisher fast durchweg geherrscht hat. Es ist die Moral der
despotischen Kulturstufe. Platon hat uns vorzüglich geschildert, wie die
Herrscher seines Staates dem Volke gegenüber den Rang von Göttern ein-
nehmen. Eigenthch bilden allein die Herrscher den Staat; das Volk ist
zum Gehorchen und Dienen da. Das Volk hat kein Urteil, keinen Willen,
es muß behandelt werden wie Kinder oder (nach christlicher Terminologie)
wie Schafe. Den Herrschern wohnt schrankenlose Autorität inne; sie be-
sitzen die Wahrheit, sie denken, urteilen und wollen für das Volk. So hat
Platon seinen Staat organisiert; so ist die katholische Kirche, der inter-
nationale Gottesstaat mit seinem unfehlbaren Haupte und seinen gotter-
füllten Unterhäuptem aufgebaut. Bekannthch hat ein neuerer Gelehrter den
51
Vergleich zwischen Platon und Rom näher durchgeführt und in der katho-
lischen Kirche die vollkommene Verwirklichung des platonischen Philo-
sophenstaates erkennen woUen. Dieser Vergleich ist nicht so unzutreffend,
wie es zunächst den Anschein hat; in diesem und in noch einigen anderen
Punkten hat die christliche Kirche in der Tat erfüllt, was Platon ersehnt
hat. Freilich: wenn Platon, der in der freien griechischen Polis lebende und
wirkende Weltweise, diese Erfüllung hätte voraussehen können, wenn er die
Scholastik (die er mit seiner idealen „Dialektik" ebenfalls vorausgenommen
hat), dann die Gegenreformation und den Jesuitismus hätte miterleben
können, so hätte er sich gewiß voller Entsetzen von seinem eigenen Werke
abgewandt und hätte sich auf die Seite des tyrannen- und dogmenfeindlichen
Hellenen- und Europäertums gestellt. Der große zweigesichtige Platon
hat die Woge asiatischen Despotentums, die dann wirklich Europa über-
flutete, prophetisch vorausgeahnt und magisch herbeigezogen ; aber Platon
ist es auch, der Europa die Mittel gegeben hat, diese Woge zurückzudämmen,
und uns den Weg zu dem wahrhaft europäischen politisch-religiösen Ideal
gewiesen hat.
Diese Betrachtung war an dieser Stelle nötig; denn das Problem: ReUgion
und Betrug, läßt sich nur im Zusammenhang mit dem religiösen und poli-
tisch-sozialen Gesamtproblem lösen. Wenn Religion und Staat despotisch
organisiert sind, wenn die weltliche Regierung göttlich und unantastbar,
die kirchliche Regierung im Besitze der ewigen allumfassenden Wahrheit
ist, dann müssen Lüge und Betrug unter die Regierungsmittel aufgenommen
werden. Eine despotische Kirche muß sich das Recht zuerkennen, zu binden
und zu lösen, moralische Werte nach ihrem Belieben aufzustellen und zu ver-
ändern. Sie kann und muß dem Einzelnen gegen sein eigenes Gewissen Hand-
lungen und Unterlassungen vorschreiben ; sie lädt ihm Sünden auf und ver-
gibt sie %vieder. Das Gewissen des einzelnen Menschen kommt innerhalb einer
despotischen Gemeinschaftsbildung überhaupt nicht in Betracht ; die Regie-
rung ist das Gewissen für alle. Ferner muß jede Despotie ihre Mitglieder in
Regierende und Regierte, in Priester und Laien, in Hirten und Vieh, in
Wissende und Unwissende gliedern. Sie muß diese Scheidung mit unerbittlicher
Strenge aufrechterhalten, die Entfernung der beiden Schichten voneinander
so groß wie möglich machen ; sie muß mit allen Mitteln verhindern, daß das
„Volk" erwacht und sich selber zu regieren unternimmt. Das Volk muß
regierungsunfähig, muß unwissend, muß eine ,, Herde" bleiben, Wohl ist die
despotische Regierung darauf bedacht, das Volk soweit zu bilden, daß es die
„Wahrheit" erkennt und anerkennt, die Befehle und Winke der Herrschen-
den richtig und willig zu befolgen vermag. Aber darüber hinaus darf die Er-
ziehung nicht gehen, sonst gräbt sich die Despotie selber ihr Grab. Der Unter-
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rieht hat in der Weise zu erfolgen, daß dem Volke die Dinge „nach seiner
Fassungskraft" dargestellt werden, d. h. daß alles ,, Unpassende" verschwie-
gen, alle Widersprüche mit Lügen und Halb Wahrheiten zugedeckt, die Ein-
zigkeit und Göttlichkeit der Despotie über allen Zweifel erhoben und den
Laienseelen unverlierbar eingeprägt wdrd.
Nach Anschauung des despotischen Priestertums hat Gott selber die
Menschheit durch Lüge und Betrug erzogen. Gott hat den Heiden, so erklärt
man, die falschen Vorstellungen von seinem Wesen und von dem Welt-
ganzen absichthch beigebracht. Er hat sich den jüdischen Erzvätern absicht-
hch in falschen Gestalten gezeigt: als brennender Dombusch, als Stimme,
als gewöhnlicher Mensch usw. Er hat mit Hilfe der Wunder wohlberechnete
pädagogische Täuschungen hervorgebracht. Und warum diese Unaufrichtig-
keit? Weil die Menschen, heißt es, noch nicht reif waren für die reine gött-
liche Wahrheit. Gott mußte seinen Unterricht nach der menschlichen Fas-
sungskraft einrichten und sich ihrem kindlichen Unverstand anpassen. Da-
nach Hegt die Annahme nahe, daß uns Gott auch jetzt noch die reine WaJir-
heit vorenthält, uns mit verhüllten und halbwahren Andeutungen abspeist.
Die ganze christhche Religion mit ihren Dogmen und Einrichtungen ist —
wer weiß ? — am Ende ein wohlmeinender Erziehungsbetrug Gottes. Dieser
Gedanke ist tatsächhch mehr als einmal ausgesprochen worden ; er muß sich
jedem aufdrängen, der den Glauben an einen allmächtigen Gott mit den
Widersprüchen und Irrwegen der menschlichen Religionen in Einklang brin-
gen will. Platon war noch nicht zum Glauben an die Allmacht Gottes ge-
langt, hatte infolgedessen nicht nötig, Gottes Pädagogik näher zu prüfen.
Er erklärte sich vielmehr mit Entrüstung gegen die Vorstellung, daß die
Götter lögen, sich verkleideten und verschiedene Gestalten annähmen. Die
Götter seien immer wahr und aufrichtig; niemals suchten sie ihre Zwecke
durch List und Verheimhchung zu erreichen. Die Mythologen und Dichter
hätten alle derartigen Berichte erfunden und uns die Götter in einem ganz
falschen Lichte dargestellt, weshalb denn auch in dem vollkommenen Staate
die Mythendichter unter strenge Aufsicht gestellt werden.
Die Christen dagegen können kaum umhin, die Mythen und Zauberbräuche
der verschiedenen Religionen für pädagogische Erfindungen Gottes zu er-
klären. Es sind Zuchtmittel, sind Rute und Zuckerbrot, um die Menschen
allmählich auf den richtigen Weg der Gotteserkenntnis und GottesHebe zu
bringen. Wirkhch sind die mythologischen Phantasmen und religiösen Kult-
bräuche die bedeutendsten Erziehungsmittel der Menschheit gewesen. Ohne
diese beiden irrtümhchen und betrügerischen Dinge gäbe es keine mensch-
liche Kultur. Wir dürfen aber doch wohl fragen, ob es einem allmächtigen
Gott zuzutrauen ist, daß er sich so zweideutiger Mittel zur Vervollkommnung
53
seiner Geschöpfe bedient haben sollte. Um die Menschen zur Wahrheit zu
führen, trat er seiner eigenen Wahrhaftigkeit so nahe? Wußte er keinen
anderen Weg zu Gott als den Weg der Hysterie, der phantastischen Wunsch-
träume, des albernen Zauberspuks, der theatralischen Taschenspielerei? In
diesen Sumpf führte er uns hinein, um uns drüben auf das trockene Land zu
bringen ? In seiner Allweisheit mußte er doch voraussehen, daß die Menschen
nach glückhcher Gewinnung des festen Landes nicht anders glauben würden,
als den Weg ohne seine Vaterhand, ganz aus eigener schwacher Kraft zurück-
gelegt zu haben. Oder war das seine Absicht ? War es sein Wüle, daß die Er-
wachsenen ihrem Erzieher den Rücken kehren sollten ? Hat er uns deshalb
durch den Morast geführt, damit seine Spuren sich verwischen und seine
Sorgfalt von uns vergessen werden soUte?
Wir lassen diese Fragen unbeantwortet und stellen unsere heutige Beurtei-
lung des göttlich-priesterlichen Betruges der Auffassung der despotischen
Kulturen gegenüber. Ist der religiöse und politische Despotismus noch im
heutigen Europa berechtigt und notwendig? Wenn ja, so wird und muß auch
der fromme Betrug fortdauern. Despotie und pia fraus stehen und fallen mit-
einander. Wir prüfen daher die Berechtigung des Despotismus im heutigen
Europa. Der Despotismus entsteht überall da, wo eine Herren- und eine
Sklavenschicht in einem gemeinsamen Staatsverband leben. Wir können das
in aUen älteren politischen Verbänden feststellen. Die Frage ist also, ob auch
das heutige Europa eine Herrenschicht und eine Sklavenschicht hat. Wenn
wir diese Frage bejahen, so erklären wir uns damit auch für die Fortdauer des
religiösen Despotismus, d. h. des Papsttums und der Bibelorthodoxie ; wir
erklären uns für den Satz : dem Volke muß die Religion erhalten werden, —
welcher Satz, in die politische Sprache übersetzt, folgenden Sinn hat: die
gehorchende Schicht muß durch die Rute und das Zuckerbrot der Religion
gefügig erhalten werden, damit die Herrenschicht gut bedient und versorgt
wird und sich ungestört ihren höheren Aufgaben, ihrem göttlichen Freiheits-
leben widmen kann. Die Herrenschicht hat natürlich andere Pflichten, Freu-
den und Erziehungsgrundsätze, also auch eine andere Rehgion, als die Skla-
venschicht. Wenn die Herrenschicht sich auch ausdrücklich zu der Religion
der Sklavenschicht bekennt, so macht sie doch von dieser Religion eine ganz
andere Anwendung als das Volk, dem diese Religion erhalten werden soll.
Der „Herr" ist fromm, wenn er regiert, Kunst und Wissenschaft treibt,
Kirchen baut, den Armen Almosen gibt, Krieg führt und vor allem dafür
sorgt, daß in der sozialen und religiösen Rangordnung keine Änderung ein-
tritt; das ,,Volk" dagegen ist fromm, wenn es gehorcht, entsagt, auf jen-
seitigen Lohn hofft und für den almosengebenden Herrn betet. Ferner er-
laubt sich der Herr auch, Verbesserungen und Umformungen mit der reh-
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giösen Weltanschauung vorzunehmen, manche Glaubenssätze fallen zu las-
sen und sich Leben und Welt auf Grund seines freieren und weiteren Blicks
neu aufzubauen. Dies alles aber hält er vor dem Volke geheim : Philosophie
und Religionswissenschaft werden bei verschlossenen Türen, hinter den
Klostermauern der Universität, im Salon bildungsfroher Fürsten, Priester
und ,, Kulturträger" getrieben. Dem Volke wird unentwegt die Religion
,, erhalten". Auf der Straße und in der Kirche wird geheuchelt zur Ehre
Gottes und zum besten der despotischen Gemeinschaftsform.
Diese ganze Anschauungsweise verwerfen wir, weil wir der Meinung sind,
daß die europäische Menschheit sich nicht mehr aus einer Herren- und einer
Sklavenschicht zusammensetzt. Ehedem hatte Europa eine Herrenklasse,
bekannte sich daher mit Recht zum politischen und religiösen Despotismus ;
heute hat sie sie nicht mehr. Heute gibt es nur noch Bürger, die sämtlich der
Idee nach frei und selbständig sind; jeder ist sein eigener Priester; jeder
genießt der Idee nach die gleiche Erziehung, jeder hat die gleichen politisch-
religiösen Rechte und Pflichten. Wenn es aber so ist — und offen wagt das
außer dem katholischen Klerus wohl niemand mehr zu bestreiten — , so
richtet sich der despotische Betrugsgrundsatz selbst. Die Regierung, die dem
Volke heute noch die bürgerlichen Rechte vorenthält und ihm eine Rehgion
vorheuchelt, die sie selber nur zum Teil bekennt, kämpft, ohne es zu wissen,
für jene soziale Protestpartei, die den Zukunftsstaat und den Grundsatz:
Rehgion ist Privatsache, auf ihre Fahne geschrieben hat. Jede, auch die
kleinste Unaufrichtigkeit, deren sich heute die politischen, geistigen, reli-
giösen Führer dem Volke gegenüber schuldig machen — wenn auch in der
edelsten Erziehungsabsicht — ist ein willkommener Wink an die Revo-
lutionäre, die bedrohten Freiheitsgüter gegen ein veraltetes religiös-pohti-
sches System zu verteidigen.
Es bleibt der europäischen Kulturwelt keine Wahl; sie muß sich rückhalt-
los zu dem einzigen Erziehungsmittel freier Organisationen entschließen : volle
Wahrhaftigkeit und gemeinsame Arbeit aller Volksgenossen an den kleinsten
wie den größten menschlichen Aufgaben. Je verantwortungsvoller die Stel-
lung ist, die ein Einzelner innerhalb des Volksganzen einnimmt, um so
dringender wird für ihn die Pflicht, frei und ehrlich vor die Gesamtheit hin-
zutreten und offen seine Religion, seine Ziele, seine pohtischen, sozialen,
philosophischen Ideale zu bekennen. Wer in solcher Lage schweigt, wer sich
mit schmiegsamer Leisetreterei dieser Pflicht des freien Staatsbürgers ent-
zieht, begeht ein Verbrechen, das sich an der Gesamtheit rächt, gleichviel
ob seine Absichten gut sind oder nicht.
Ganz besonders hat der Priester heute die PfHcht, wahr und offen zu sein.
Er darf kein Gelübde ablegen, das er nicht vöUig und wörtlich billigt, darf
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seine Gemeinde nicht im unklaren über seine wahren Überzeugungen lassen.
Wenn doch unsere Priester sich erst zu dieser Erkenntnis durchgerungen
hätten! Aber leider wird der fromme Betrug von den heutigen Pfarrern
nicht minder geliebt und geübt wie von den pohtischen und gesellschaft-
lichen Führern. Um nicht „anzustoßen", um niemand zu „verwirren" und
aus anderen an sich recht schätzenswerten Absichten verschweigt man der
Gemeinde, was man ihr unbedingt sagen müßte, kleidet man in halbwahre
vieldeutige Worte, was in nackter Klarheit vor aller Augen stehen müßte.
Wollten wir diese heute fast allgemein übliche Priesterpolitik ,, Betrug"
nennen, so würde man uns entrüstet widersprechen; aber hat diese Politik
nicht eine unangenehme Ähnhchkeit mit den Priesterkünsten auf niederen
Kulturstufen, die wir oben besprochen haben? Gewiß ist es roher, wenn die
älteren Priester Orakel durch Sprachrohre erteilten, wenn sie Götterbilder
mit beweglichen Ghedem ausstatteten, um nach Bedarf Wunder zu er-
zeugen, wenn sie den Kranken bei Nacht in der Göttermaske operierten,
kurz, wenn sie den kindlicheren Glauben des Volkes benutzten, um Vorseli-
ung zu spielen und die Laien gut und gesund zu machen. Aber hier wie dort
handelt es sich um Unaufrichtigkeit in religiös-pädagogischer Absicht.
Man glaube doch nicht, daß die alten Wundermänner und Orakelerteiler
schlechtere Absichten gehabt hätten, als unsere vorsichtigen, dem Volke die
Religion erhaltenden Priester und Fürsten. Es gab damals nicht weniger
edle und hochachtbare Naturen als heute. Der fromme Betrug läßt sich mit
der Menschenliebe und Gottesliebe ebensogut vereinigen wie die Sklaverei.
Es fehlte natürlich auch nicht an egoistischen und unwürdigen Priestern;
aber solche haben wir, dächte ich, auch heute. Wenn ein Priester heute aus
Feigheit oder um sich materielle Vorteile zu sichern, einen Glauben vor der
Welt vertritt oder unwidersprochen läßt, den er in seinem Herzen verwirft,
so ist das meiner Meinung nach nicht anders zu beurteilen, als wenn die
Asklepiospriester und die Schamanen aus der Leichtgläubigkeit des Volkes
Gewinn zogen und die Gläubigen durch krasse Gaukeleien ängstigten und
kirre machten. Der Medizinmann, der ein Steinchen angebhch aus dem Kran-
ken heraussaugt, verdient denselben Grad von Achtung wie ein kathoHscher
oder lutherischer Priester, der die rehgiös-magischen Handlungen ohne den
Glauben an ihre Kraft und mit handwerksmäßigem Gleichmut ausübt. Es
nützt ihnen nichts, daß sie sich auf den guten Zweck und guten Erfolg be-
rufen; sie bleiben Betrüger, auch wenn der Kranke genest und die gläubige
Gemeinde sich durch die heilige Handlung magisch gestärkt fühlt.
Wir haben mit dieser Auseinandersetzung ein wenig vorgegriffen; denn
die Lage und Aufgabe des heutigen Priestertums soll erst im letzten Kapitel
zur Besprechung kommen ; aber da der fromme Betrug sich durch die ganze
56
Entwicklung der menschlichen Rehgion hindurchzieht und wir zu einem
Werturteil über diese Erscheinung gelangen mußten, um sie uns ganz ver-
ständlich zu machen, war es unvermeidlich, die heutigen religiösen und sozia-
len Zustände zum Vergleich heranzuziehen. Wir konnten nur so zu dem
Schlüsse kommen, daß der fromme Betrug als umfassendes und anerkanntes
Erziehungsmittel ein Recht in jenen Kulturen und Zeiten hat, wo zwischen
den Herrschenden und dem Volk große soziale und geistige Unterschiede
bestehen. Der Herr und Priester kann und darf nur betrügen, wenn er erheb-
lich klüger, fortgeschrittener, mächtiger, göttlicher ist als der Untertan und
Laie. Andernfalls nützt ihm auch sein Bemühen gar nichts ; das Volk sieht
dann nicht den Erleuchteten und Begnadeten in ihm, vor dem jede Kritik
verstummt, sondern den gefährlichen Feind des Fortschritts oder den harm-
losen Gaukler. Beispiele des heruntergekommenen Zauberpriesters, dessen
religiöse Handlungen den Charakter von Volksbelustigungen angenommen
haben, bieten die indischen Fakire, die mohammedanischen Derwische, die
Fahrenden im Mittelalter. Mitunter können diese Priestergaukler wohl auch
furchtbar werden und dem Volke hohe Achtung abnötigen; aber ihre Vor-
führungen sind kein Gottesdienst mehr; sie erbauen nicht. Höchstens können
sich die Vorführungen zur Kunst im höchsten Sinne steigern und dadurch
den verlorenen Adel zurückgewinnen. Wenn dagegen der Priester das Volk
an Kultur weit überragt, wenn er wirklich dessen geistiger Führer ist, wenn
die Priester- und Herrenklasse vom Volke wirkHch als Geschöpfe höherer
Abkunft betrachtet wird, dann ist der Priesterbetrug eine religiöse Notwen-
digkeit, ebenso, wie die Sklaverei eine soziale Notwendigkeit. Der Priester
verfolgte und erreichte dann durch den frommen Betrug ideale Ziele und
erkannte ihn mit Recht als ein segensreiches Hilfsmittel zur Leitung und
Beglückung der geistig Unmündigen. Daher sollte sich jeder, der für die
religiöse Gegenwart und Zukunft kämpfen will, klar machen, daß er mit dem
frommen Betrug auch die dogmatische Religion verwirft, mit dem pohti-
schen Despotismus auch den religiösen Despotismus, mit dem Grundsatz:
das Volk muß betrogen werden, auch den Grundsatz : dem Volk muß die
Religion erhalten werden. —
Zum Schluß ist noch ein Wort über das Verhältnis des Priesters zum welt-
lichen Herrn und die daraus entstehende Nötigung zum Betrug zu sagen.
Wenn das Priestertum aus der Schicht der pohtischen Machthaber (Geburts-
adel oder Plutokratie) hervorgeht, ist seine Stellung frei und stark. Der Prie-
ster gewinnt dann auch auf die weltliche Leitung des Verbandes Einfluß
und kann sich in religiöser Hinsicht zu götthchem Ansehen emporschwingen.
Der fromme Betrug, dessen er sich bedient, wird etwas Großzügiges, Cäsa-
risches erhalten. Wenn er dagegen in die herrschende Schicht als ein Stam-
57
mesfremder oder ein befreiter Sklave aufgenommen \vird, ist seine Lage,
was Wahrhaftigkeit und rehgiösen Ernst betrifft, viel ungünstiger. Er ist
dann ein Schützhng und Werkzeug der Herren. Sein Auftrag lautet dann
klar und deuthch dahin, diese Herren, bei denen er in Lohn und Brot steht,
vor dem Volke und vor Gott zu rechtfertigen, zu preisen und ihnen ein gutes
Gewissen zu erhalten. Er ist Hofprediger. Was ist das Amt des Hofpredigers?
Seinen Brotherrn als von Gott eingesetzte, Gott wohlgefällige Obrigkeit hin-
zustellen und gegen jedermann zu verteidigen. Man sieht, daß dabei die
religiöse Aufrichtigkeit des Hofpredigers in großer Gefahr schwebt. Muß er
nicht zum unbedenklichen Poeten werden ? Wird er nicht die Götter zu be-
lügen, das Volk listig zu umgarnen suchen, um seinen Auftrag zur Zufrieden-
heit seines Brotherrn auszuführen? Oder hätte man jemals einen Hof Zau-
berer und Fürstenpriester im Namen Gottes oder des Volkes seinem Brot-
herrn entgegentreten und ihm seine Sünden vorhalten sehen? Er würde so-
fort in das Nichts zurücksinken, aus dem ihn der Fürst emporgehoben hat;
oder aber er würde sein Amt unvermerkt mit einem genau entgegengesetzten
vertauschen, nämlich mit dem stolzen und ehrhchen Amte des propheti-
schen Volkspriesters.
Wir können verallgemeinern : die Besoldung und Brotgebung verführt den
Priester zur Lüge. Wes Brot ich esse, des Lied ich singe, ist ein Spruch, der
seine Wahrheit nie verheren ^^ird. Diese Gefahr jedoch wird dadurch am
besten beschworen, daß der gesamte politisch-rehgiöse Menschenkreis, dem
der Priester angehört, Auftraggeber und Brotherr wird. Der Sekten- und
Parteipriester gerät unvermeidlich in Abhängigkeit von den egoistischen
Zwecken und Wünschen seiner Gruppe ; der Priester der Gesamtheit dagegen
ist höchstens in Gefahr, für diese Gesamtheit zu lügen, d. h. die sehr mannig-
fachen Interessen seines Volkes in einem religiösen Glaubensbekenntnis zu-
sammenzufassen. Ein solches Glaubensbekenntnis wird sehr allgemein, da-
her allgemeingültig und im tiefsten Sinne wahr sein. Das Beschränkte und
Unwahre tritt nur dann hervor, wenn der Priester Stellung zu anderen Be-
kenntnissen nimmt, d. h. gegen die politischen und religiösen Feinde Krieg
führt. Man kann das heute sehr gut beobachten: das Gemeindepries tertum,
soweit es noch aufrichtig gläubig ist, steht innerhalb des Religionsbundes
frei und unabhängig da und dient in Treue dem gemeinsamen religiösen
Ideal. Nach außen hin aber macht sich die Gefahr des besoldeten Priester-
amtes recht sehr geltend : der christliche Priester hält es oft genug für seine
Pflicht, gegen Andersgläubige und Ungläubige mit skrupelloser Unaufrich-
tigkeit zu Werke zu gehen ; ebenso verfährt der fromme Mohammedaner mit
den ,, Christenhunden". Im Verkehr der Völker und Religionsgemeinden
untereinander ist die Wahrhaftigkeit ein seltener Gast und die lügnerische
58
Kriegslist die Regel. Aber innerhalb seines Volkes und seiner Religionsge-
meinde pflegt der von der Gesamtheit beauftragte Priester, solange er wie
gesagt aufrichtig gläubig ist, sein Amt mit stolzer Unabhängigkeit im Sinne
der religiösen Wahrheit zu verwalten. Die Besoldung, die er erhält, verhert
gänzlich den Sinn der Bestechung.
Das Hofpriestertum ist bestochenes Priestertum. Auch andere privat-
priesterliche Einrichtungen älterer Zeit sind offenbare Bestechungseinrich-
tungen. Wenn ein Priester z. B. für jeden Dienst einzeln bezahlt wird und
je nach der Summe, die er erhält, seine religiöse Tätigkeit regelt, ist er nichts
anderes als ein Agent für Privatinteressen und niemand wird ein aufrichtiges
Gottespriestertum von ihm erwarten. Den Reichen macht dieser religiöse
Agent zum Freund der Götter; um den Armen kümmert er sich nicht. Wenn
zu den Orakeltempeln Leute mit reichen Geschenken und mächtigen Namen
kamen, so werden die Orakelpriester ihnen in den meisten Fällen wohl einen
erfreulicheren Götterbescheid erwirkt haben, als dem Armen, der mit leeren
Händen kam. Wie oft ist wohl von guter- und schutzbedürftigen Priestern
im Namen Gottes gelogen worden! Wir können es dem Priester gar nicht
übelnehmen, wenn er sich in seinem Tun und Urteil dadurch beeinflussen
läßt, daß ein Gläubiger ihm Stiftungen zuwendet und sich seiner Person
und seiner Schicksale freundlich annimmt. Denken wir über die daraus ent-
stehende fromme Bestechhchkeit nicht zu hart ! Danken wir aber auch den
großen Befreiern Jesus und Buddha, die alles daransetzten, um den Priester
jeder Bestechungsmöghchkeit zu entziehen, und suchen wir ihr unvollendet
gebhebenes Werk: die Befreiung des Priesters von Lüge und Betrug, zum
guten Ende zu führen.
59
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lyi I. DER PROPHET UND DAS VOLK ipl
Der Prophet ist schon in unserem Kapitel über den priesterhchen Charakter
dem Priester im engeren Sinne gegenübergestellt worden. Der Priester ist
der Erhaltende, der Prophet der Umstürzende, jener der Vertreter der Vielen,
dieser der Alleinstehende. Wir dürfen den Propheten als den Menschen der
Einsamkeit definieren, als den Herold des persönlichen, ganz auf sich selbst
gestellten Lebens. Wir vergessen dabei nicht, daß völlige Einsamkeit un-
möghch ist. Auch wer die Menschen flieht, bleibt durch viele Fäden an die
Gemeinde, die er verlassen hat, gekettet. Durchschneidet er diese Fäden,
so geht er schnell zugrunde und verschwindet spurlos aus dem Gedächtnis
der Menschheit. Nur wer wirkt, lebt, und Wirkung ist immer irgendwie W'ir-
kung auf andere Menschen. Wenn jemand für immer als Einsiedler in die
Wildnis geht, sich auf eine einsame Insel flüchtet und nur noch mit den Tieren
und der Natur verkehrt, so löscht er sich damit als Mensch aus. Aristoteles
hat recht, wenn er den Menschen als das gemeinschaftsbildende Tier be-
zeichnet. Die Geschichte des Menschen beginnt mit der Büdung von Ge-
meinschaften, die einerseits auf den verwandtschaftlichen Beziehungen,
andererseits auf sozialen Bedürfnissen beruhen. Der Zweck aller wie immer
gearteten Menschenbünde ist im letzten Grunde immer derselbe: sie wollen
die feindliche Natur bekämpfen und einen Teil der Welt dem Menschen
Untertan und willfährig machen. Der Einzelne ist dazu nicht imstande; er
erhegt, wenn er sich absondert.
Wie kommt es aber, daß trotzdem von Zeit zu Zeit der Drang nach Ein-
samkeit erwacht, daß einzelne Menschen sich von ihrem Verbände loslösen,
in die \\'^üste gehen und dort ein Leben auf eigene Hand beginnen ? Wir er-
kannten den Eremiten und Klosterheiligen als einen Kranken und Er-
schöpften. Schon bei den Tieren beobachtet man, daß verwundete, erkrankte,
altersschwache Tiere sich verkriechen und absondern, einesteils um den Ver-
folgern zu entgehen, denen sie sich nicht mehr gewachsen fühlen, anderer-
seits um die verlorenen Kräfte durch Ruhe und Schlaf wiederzugewinnen.
Sie verzichten auf Nahrung und Bewegung, stellen alle Verrichtungen des
gesunden Tieres nach Möglichkeit ein und warten in Geduld auf die selbst-
tätige Wiederherstellung ihrer Kräfte. Beruht die Erschöpfung auf Alters-
schwäche, so schlummert das Tier in seinem Winkel in den Tod hinüber,
ähnlich wie der alternde Brahmane, der sich in den Wald zurückgezogen und
alles Welthche abgetan hatte; er baute sich dort eine Hütte und erwartete
in stillem Sinnen den Tod. Wohl jeder Greis hat mitunter den Wunsch, sich
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aus der Welt in die Stille zu flüchten, damit das flackernde Lebenslämpchen
ruhig erlösche. Wenn die wandernden Nomadenstämme die Greise, die nicht
mehr weiter konnten, an einer Lagerstätte oder auf freier Steppe zurück-
ließen, so werden die Alten dem Zuge des Lebens, der sich in der Feme ver-
lor, wohl eher mit Segenswünschen als mit Flüchen nachgeschaut haben:
, .ihnen ziemt es zu leben, mir ziemt es zu sterben!" Ähnlich werden bei
vielen Naturvölkern die Kranken behandelt und behandelten sich selber
so. Sie wurden verlassen, sie verkrochen sich in einen Winkel, sie suchten den
Schlummer. Wer die Krankheit überstand, erwachte neu gestärkt wie der
Bär aus dem Winterschlaf, und verheß den Schlupfwinkel, um einen neuen
Lebensfrühling zu beginnen.
Ebenso kehrte mancher Seelenkranke, der verstört in die Wüste geflohen
war, heil und als ein Prophet des Lebens zu den Menschen zurück. Die
Wüste, der Wald, das Gebirge und seine Höhlen — das waren von jeher die
Zufluchtsstätten der Erschütterten, der Todwunden, der Müden. Wenn die
große Stille sie aufgenommen hatte, sangen sie wie Nietzsches Zarathustra :
„O Einsamkeit, o meine Heimat Einsamkeit !" Und wenn sie in der Einsam-
keit Genesung gefunden hatten, wenn sie Einkehr in sich gehalten hatten
und dem verlorenen Gott dort in der Wüste begegnet waren, trieb es sie
wieder zu den Menschen. Sie traten als Propheten unter die INIenge und riefen
Worte des Lebens in die erneuerte, frühhngstrunkene Welt hinein.
Aber die Worte des Propheten sind hart. Er erschüttert und verstört das
Volk; er bringt die Wüste zu den Menschen; er spricht wie die Felsen und
Wildbäche des Gebirges, wie der heiße Wind der Wüste, wie das Erschauern
des dunklen Waldes. Er macht jeden, der ihm zuhört und nachfolgt, so ver-
lassen, so krank und wund, wie er selber war, als er aus der Welt entfloh
und sich vor den Menschen verbarg. Jeder wahre Prophet ist ein Störenfried
und ein Schrecken in seinem Volke; jeder wahre Prophet sagt: wer nicht
haßt seine Nächsten und Liebsten, wer nicht sich selber haßt, wer nicht die
Gemeinschaft, der er angehört, verläßt und zerstört, der kann nicht mein
Jünger sein.
Wer hätte soviel Furchtbares, soviel Not und Verwirrung, Kampf und Tod
gesät wie die Propheten, jene Männer, die die Geister der Wälder und Ein-
öden über die frohen Menschen ergossen, sodaß die eng Verbundenen aus-
einanderstoben und Kinder wider ihre Eltern, Brüder wider ihre Brüder strit-
ten? Sprechen wir es ruhig aus: der Prophet ist ein Vemichter, ein Prediger
der Verwüstung; er ist nicht nur ein Kranker, sondern ein pestverbreitender
Krankheitsdämon. Wenn das Volk, unter dem er auftrat, ihn kreuzigte, ihm
den Giftbecher reichte, ihn auf den Holzstoß führte, so wehrte es sich nur
seines Lebens; es unterdrückte eine aufkeimende Seuche, erstickte einen
63
aufflammenden Brand. Daß der Prophet ein Zerstörer ist, hat keiner so
unumwunden bekannt wie der Prophet aus Gahläa, der das Judentum zer-
sprengt, die antike Kultur in ihren Grundfesten erschüttert und das
römische Weltreich aus den Angeln gehoben hat.
Aber der Prophet weiß auch die Wunden zu heilen, die er schlägt, die
Tempel neu zu erbauen, die er zerstört. — Warum schlug er dann aber die
Wunden und zerstörte die Tempel? Nietzsche sagt einmal: das sei rechte
Priesterart, zuerst Unheil zu stiften und allen Leuten weiszumachen, daß
sie krank und sündhaft seien, und hinterdrein, wenn alles voller Verwirrung
und Angst sei, sich als Heiland anzubieten und die imaginären Sünden groß-
mütig zu vergeben. Das sei nichts weiter als raffinierte Machtpolitik und
leider sei der Priester nur zu erfolgreich gewesen: er habe das Volk durch
den Sündwahn, durch Lockungen und Drohungen unrettbar in sein Netz
getrieben. — Aber gerade Nietzsche hätte es besser wissen können. Wir
wollen nicht leugnen, daß in jedem Propheten ein gefährlicher ,, Wille zur
Macht" lebt, was Nietzsche übrigens ihnen nicht vorwerfen dürfte, da nach
seiner Meinung der Wille zur Macht in allem Lebendigen regiert; jedoch be-
steht zwischen diesem \^'illen und einer Machtpolitik, wie sie die Priester
getrieben haben sollen, ein großer Unterschied. Meiner Überzeugung nach
waren es immer nur Afterpropheten, die das Volk durch berechnete Künste
gewonnen haben. Der wahre Prophet hat seine Siege anders erfochten. Er
hat nur solche Menschen zur Buße gerufen, die der Buße bedurften, nur
solche Nöte und Gefahren geweissagt, die wirkHch vorhanden oder nahe be-
vorstehend waren, nur solche Bänder zerrissen, solche Tempel zerstört, die
des Zerreißens und Zerstörens würdig waren. Wie würde auch das Volk ihn
anhören und sich zu ihm drängen, wenn er nicht aufregte, was sie selber
fühlen, nicht ausspräche, was in ihnen widerhallt! Wenn die Wüste, die er
mitbringt, nicht schon in den Seelen seiner Zuhörer wäre, wenn die Krank-
heit, die er verbreitet, nicht schon vorbereitet wäre, das Haus, an dem er
riittelt, nicht schon vorher Risse gehabt hätte ! Niemand würde ihn ernst-
nehmen, niemand durch ihn krank werden, niemand auf sein \^'ort hin das
schützende Dach verlassen und die Brüder verfolgen.
Der wahre Prophet geht nicht um seiner Person willen, nicht als ein Ver-
lorener und Todgeweihter in die W^üste; er ist nicht ein absterbendes und
unnützes Glied, das die Gemeinschaft von sich stößt. Vielmehr geht er als
ein Abgesandter des Volkes, als ein Suchender. Und was sucht er in der
Wüste? Wozu hat ihn das Volk ausgeschickt? — Er sucht Gott, den ver-
lorenen, aus der Gemeinschaft entwichenen Gott. Das allein ist die Krankheit,
die das Volk ergriffen hat, das hat Unglück, Freudlosigkeit und Feindseüg-
keit in die Gemeinschaft getragen : Gott ist tot, Gott wohnt nicht mehr unter
64
seinem Volke ; die Religion ist keine Religion mehr ; der politisch- verwandt-
schaftliche Bund ist kein Seelenbund mehr.
Dem Volke kommt der Verlust Gottes nur dumpf zum Bewußtsein; es
treibt die leergewordenen religiösen Zeremonien fort, es sucht Ablenkung
in ausschweifenden Genüssen oder harter seelenloser Arbeit, es schafft sich
Ersatz durch Kunst und Wissenschaft; es lebt nach außen und türmt
tausend Pflichten und Vergnügungen vor die Tür seines Innersten, um die
Wüste und Not zu vergessen, die dort innen herrscht. Der Prophet aber ver-
mag nicht zu vergessen; ihm tönt aus allem, was er angreift, aus jeder Seele,
in die er hineinschaut, der Notschrei entgegen: ,,Gott ist tot, wozu noch
leben!" Er versucht es, sich wie die übrigen zu betäuben: Wie viele Prophe-
ten sind, bevor sie in die Wüste gingen, voller Eifer beim gottlosen Gottes-
dienst gewesen, haben sich den künstlerischen und wissenschaftlichen Freu-
den, der vergessenbringenden Tagesarbeit mit Inbrunst in die Arme ge-
worfen! Aber es gelang ihnen nicht, die Not, die sie fühlten und sahen, zu
vergessen; sie konnten ihre Unbefriedigung nicht bannen, die Stimmen von
innen und außen nicht überhören. Das Leben unter den seelenlosen Men-
schen wurde ihnen endlich unerträglich und immer lauter rief es aus der
Wüste: komm in die Einsamkeit; dort findest du Ruhe, findest du Gott,
findest du dich selber!
Daher kommt der aus der Wüste Zurückkehrende als ein Erwarteter, als
ein Retter und Heilbringer, wenn auch das Volk sich dessen nicht bewußt
ist, daß es ihn erwartet hat. Seine Predigt ist zwar hart und furchtbar, aber
auch befruchtend wie der Regen, der das dürre Land bewässert. Er nimmt
hinweg, was auf den Seelen lastete, durchbricht die harte Decke, zerreißt die
Schleier und Hüllen, mit denen die Menschen ihre innere Not vor sich selber
verbargen. Nackt und hüllenlos sieht ein jeder sein Leben und Leiden da-
liegen, wenn der Prophet mit glühenden Worten zum Volke spricht. AUes
Verhehlte, dessen man sich schämte, steigt dann herauf, alle Geister des
Guten und Bösen, die in der Tiefe schliefen, erwachen und streben ans Licht.
Der Prophet ist der große Verwandler und Totenerwecker. Daher sprießt
durch seine Worte ein neues Leben, das echte, tiefe, heilige Leben auf.
So kommt es, daß der Prophet nicht nur den Volksverband zersprengt,
sondern einen neuen höheren Verband erschafft. Um ihn herum bildet sich
zuerst ein kleiner, dann allgemach ein größerer Kreis. Er sammelt Jünger,
füUt sie mit seinem Geiste und sendet sie aus. Wenn er ein wahrer Prophet,
kein matter oder lügnerischer Afterprophet ist, d. h. wenn er ein wirkhcher
Herold der Not und Sehnsucht des Volkes ist, springt das Feuer, das in ihm
brennt, auf alle über, die ihm nahen. In allen wird die Haupteigenschaft
des prophetischen Menschentypus aufkeimen : der Heroismus, der Wille alles
5 Horneffer, Der Priester II 05
zu opfern, Leben und Glück hinzugeben für das Eine, Größte. Dieser Herois-
mus gibt dem Propheten und seiner allmählich wachsenden Gemeinde jene
unwiderstehliche Kraft, von der die Geschichte aller Religionsgründungen
berichtet. Sie siegen, wohin sie kommen. Auch ihr Unterliegen ist ein Sieg;
denn jeder Prophet lehrt, daß wer sein Leben verliert, es eben damit ge-
winnt, und wer für Gott stirbt, dem Reiche Gottes damit den Sieg verschafft.
Diese Lehre entspricht der Wahrheit; Tod und Niederlage im Kampfe um
Gott ist immer zugleich Leben und Sieg. Wirbt doch auch nichts so sehr für
eine Sache, als wenn deren Anhänger alles, auch das Leben für sie hingeben.
Daher ist jede Schlacht, die der Prophet an der Spitze seines Heeres schlägt,
für ihn gewonnen. Die Seinigen, die der Feind erschlägt, leben weiter, ver-
breiten lähmenden Schrecken, wecken sehnsüchtige Bewunderung. Die Ver-
folger der Christen haben das oft genug erfahren müssen; alle Besten und
Stärksten unter den Heiden gingen am Ende zu den Christen über, weil die
Todesbereitschaft und das sieghafte Auge der Opfer sie überwältigte und
ihnen den Weg in eine höhere und reinere Welt wies.
Am meisten Widerstand findet der Prophet bei den Trägern der bisherigen
Gemeinschaftsidee, also bei den Priestern, den Regierenden, den ,, Wäch-
tern", d. h. den Verwaltungs- und Kriegssoldaten. Stets gehen zuerst die
unterdrückten Schichten zu ihm über, weil sie nicht nur innerlich, sondern
auch äußerlich unbefriedigt sind. Mit ihnen verbinden sich die gescheiterten,
verunglückten, hinausgedrängten Einzelnen. An jeden Propheten drängt
sich zunächst eine bedenkliche Bundesgenossenschaft heran. Auch die hoff-
nungslos Kranken, die Entarteten, die Abenteurer und Glücksritter kommen
und hoffen von dem Propheten Genesung, Rehabilitierung, Unterstützung.
Jedoch wird er, wenn er ein wahrer Prophet ist, von allen Unheilbaren und
Unehrlichen bald wieder verlassen und mit doppelter Wut verfolgt, angeblich
weil er ein falscher Prophet, ein armseliger Betrüger sei, in Wirklichkeit,
weil seine Forderungen ihnen zu schwer, sein Ernst ihnen unerträglich ist.
Sie wollen ihn ausbeuten und verbrauchen; das verwehrt er ihnen. Auch die
unterdrückten und dienenden Volksschichten werden ihm nur dann treu
bleiben, wenn sie zu Unrecht dienen und eigentlich der Freiheit und Herr-
schaft würdig wären. Sonst werden auch sie sich enttäuscht von ihm ab-
wenden, weil sein Gerechtigkeitssinn unbeugsam ist. Aber freilich werden
nur in solchen Zeiten wahre Propheten aufstehen, wo die Gesellschafts-
schichten im Kampfe miteinander liegen und die Verteilung der Lasten und
Rechte nicht dem wirküchen Wertverhältnisse der Gruppen entspricht. Pro-
pheten treten nur dann auf, wenn die Volksgemeinschaft brüchig geworden
ist und die dienenden Schichten sich mit Recht gegen ihr Los empören. Man
wird nun einwenden, daß es der Prophet doch nur mit der Religion zu tun
66
habe, nicht mit Sozialpohtik. Aber mir scheint, daß rehgiöse Krisen stets
unlöslich mit sozialen Krisen verknüpft sind. Waren nicht alle berühmten
Propheten der Weltgeschichte zugleich gesellschaftliche Reformatoren oder
Revolutionäre? Ohne Zweifel, wenn die politisch-wirtschaftlichen Folgen
sich vielleicht auch erst lange nach dem Auftreten des Propheten bemerkbar
machten und sich wesentlich anders gestalteten, als die Propheten gewünscht
hatten.
Kann überhaupt ein Volk religiös unbefriedigt sein, kann sein Gott sterben
und entweichen, wenn es sich gesellschaftlich und wirtschaftlich in glück-
lichem Zustande befindet? Ich vermag diese Frage nicht zu beantworten;
jedenfalls aber lehrt die Geschichte, daß sich an den Propheten immer die
Unbefriedigten und Zurückgesetzten anschließen. Mit ihrer Hilfe siegte er;
mit seiner Hilfe setzten sie eine Neugestaltung oder Umgestaltung der Ge-
sellschaft ins Werk. Dabei halfen jedoch oft die Besten aus den bis dahin
herrschenden Schichten mit und dadurch wurde dann die revolutionäre Ten-
denz des Propheten gemildert. Die religiös-gesellschaftliche Umgestaltung
vollzog sich ohne allzuschwere Erschütterungen. Der Prophet machte Frie-
den, er wurde von den Regierenden als Ratgeber, als Vertreter des Volks-
willens berufen; die welthchen Gewalten wandten sich seinen neuen reli-
giösen Lehren zu.
Der alte religiöse Bund und seine Priesterschaft wird dagegen wohl immer
vor ihm weichen müssen. Der Prophet will und kann mit der alten religiösen
Organisation nicht Frieden schließen, und auch die Vertreter dieser Organi-
sation stehen ihm mit unversöhnlichem Haß gegenüber. Hat je ein Papst
einen Luther zum Ratgeber berufen und ihm die friedliche Neubildung der
Religion und Kirche übertragen ? Die Geschichte kennt keinen solchen Fall.
Der gegenseitige Haß und das gegenseitige Mißverständnis ist zu groß, als
daß ein gütlicher Vergleich und ein gemeinsames Wirken leicht möglich
wäre. Man kann keiner der beiden Parteien einen Vorwurf daraus machen.
Des Propheten Rede wendet sich ja unmittelbar gegen die bestehende Ge-
meindereligion und ihre Vertreter. Was den Propheten in die Wüste trieb,
war vornehmlich das Ungenügen an dieser Religion, war das lähmende Ge-
fühl, daß die von den Priestern gepredigte Religion nur noch ein Leichnam
sei, das Tun der Priester ein totes Zeremonienwesen oder ein betrügerisches
Ausbeuten des Volkes. Jeder Prophet hat mehr oder weniger schroff ver-
kündet, daß die Priester Narren und Lügner, ihre Religion ein Nichts sei.
Kein Wunder, daß die Priester einem solchen Propheten nicht wohlgesinnt
waren und kein Mittel unversucht ließen, ihn durch das Kreuz oder Gift
oder Feuer zu beseitigen.
Insofern ist es allerdings oft zu einer ,, Versöhnung" gekommen, als die
5* 67
weltliche Regierung, wenn sie das Heft in der Hand behielt, die Priester-
schaft und die Prophetenanhänger zum Waffenstillstand nötigte, beide Reli-
gionen schützte und nebeneinander bestehen ließ. Ferner pflegen einige aus
der Priestergenossenschaft zum Propheten überzugehen. Gerade die Priester
müssen ja, vorausgesetzt, daß sie ihres Berufes würdig sind, die Not des
Volkes lebhaft fühlen, müssen nach Abstellung dieser Not Verlangen haben;
und so werden sie, ob sie wollen oder nicht, in dem Propheten den Retter
und Träger einer neuen Religion ahnen. Der Prophet selber geht oft aus
dem Priesterstande hervor, und zieht einen Teil der Priesterschaft nach sich.
,, Abgefallene" Priester übernahmen daher oft die Führung in dem Kriege
gegen die bisherige, unbefriedigende Religion, wodurch der Kampf einerseits
eine besondere Schärfe erhält — diese abgefallenen Priester haben am schwer-
sten unter dem entgötterten Religionsbetrieb gelitten und kennen die Schwä-
chen der alten Priesterschaft am besten — ; andererseits aber findet der
Kampf schneller ein Ende, weil religiöse Naturen den Zustand der Religions-
losigkeit nicht lange ertragen. Der zerstörende Kampf wandelt sich in einen
rettenden und aufbauenden um.
In Wirklichkeit verlaufen religiöse Kämpfe nicht so einfach und durchsich-
tig, wie wir es hier in einem Schema darzustellen versucht haben. Der Ver-
lauf wird durch die jeweiligen Zeit- und Kulturumstände beeinflußt und ver-
wickelter gemacht. Auch sind der Menschentypus des Priesters und der des
Propheten nur für die Psychologie schroffe Gegensätze; oft vereinigen sich
diese beiden Typen in einer einzigen Persönlichkeit; vielleicht ist es sogar
die Regel, daß jede Priesternatur etwas vom Propheten in sich hat und um-
gekehrt. So wird denn auch das Wirken der bisherigen Priesterschaft, die
der Prophet bekämpft, nie ganz seelenlos und gottlos sein, demnach die reli-
giöse und politische Organisation, die der Prophet zu sprengen oder umzu-
formen sucht, nie ein völlig erstarrtes und der Vernichtung würdiges Ge-
bilde. Denn die religiösen und sozialen Schöpfungen sind doch das Werk
lebendiger Menschen; sie wachsen und wandeln sich mit den Menschen; mit
jeder neuen Generation treten kleine Verschiebungen ein. Auch bringt jede
Generation notwendig Propheten in kleinerem Maßstabe hervor : die Jugend
tritt mit eigenen, neuen Idealen in die Welt; sie nimmt die ererbten Schätze
nicht unbesehen in Gebrauch. Die Jugend ist immer ein wenig Prophet und
Revolutionär. Sie wird daher völlig seelenlose Erbstücke ohne \äel Auf-
hebens beiseite legen und wird, was sie bestehen läßt, mit neuem Geiste zu
füllen suchen. Daher vollziehen sich auch religiöse und soziale Umwälzungen
meist mit außerordenthcher Langsamkeit und in vielen einzelnen Stufen.
Wann hätte eine einzige Generation und ein einzelner Prophet die Neuge-
68
staltung des Lebens zugleich vorbereitet und zur Vollendung gebracht!
Mehrere Generationen und Propheten müssen sich die Hände dazu reichen.
Kein Prophet hat die Durchführung dessen, was er gepredigt hat, erlebt.
Er ist vielleicht ein Frühlingssturm, der dem Winter ein Ende macht und der
Sonne freie Bahn schafft. Aber durch einen Frühhngssturm ist der Sommer
noch nicht herbeigezaubert; die Früchte sitzen noch in der Knospe. In der
Rehgion ist es mit Überrumpelungsangriffen ganz und gar nicht getan, denn
die alte Religion wächst durch ihren Fall und schöpft aus ihrer Niederlage
neue Kraft. Wenn ein Prophet mit einem neuen Evangelium auftritt, weckt
er in der alten Priesterschaft schlafende religiöse Triebe und lockt Gegen-
propheten hervor. Jeder bekämpfte Glaube wird neu lebendig; jede be-
drohte Organisation schließt sich fester zusammen und schickt tapfere Ver-
teidiger aus, die den Angreifern die wertvollste Waffe aus der Hand zu
winden suchen. Diese wertvollste Waffe des Propheten ist sein Begeiste-
rangsruf, daß er das Leben bringe, seine Gegner für tote Ideale kämpften;
damit zwingt er alles, was Leben in sich fühlt und inbrünstig nach Leben
verlangt, auf seine Seite hinüber, sodaß die Gegner in Leblosigkeit und Mut-
losigkeit dastehen (,,Lasset die Toten ihre Toten begraben"). Die Angegrif-
fenen suchen ihm daher zu beweisen, daß auch in ihnen und ihren Idealen
noch quellendes Leben wohnt. Damit steigern sie wieder die Kampflust der
Angreifer. So steht Leben gegen Leben. Nachdem aber beide Parteien ihren
Gegner achten und fürchten gelernt haben, nimmt der Kampf eine ritter-
liche, unblutige Gestalt an; er wird zum Wettkampf, zum religiösen Wett-
eifer und dieser schließt notwendig die ehemaligen Gegner, so sehr er sie
scheinbar auseinanderführt, zu einem irgendwie ausgedrückten Freund-
schaftsverhältnis zusammen.
Hierzu wirkt auch die Stellung des Propheten zu der fremdländischen
Umwelt und zu feindlichen Stämmen und Organisationen mit. Der Prophet,
dieser ebenso großartige wie sonderbare Menschentypus, wird uns erst ganz
verständhch, wenn wir auch seine Beziehungen zu anderen Rehgionen und
anderen Staaten ins Auge fassen. Es ist selbstverständlich, daß sich nie ein
sozialer Verband gebildet hat, der nicht die Einwirkung anderer Verbände
erführe; keine priesterliche Gemeindereligion ist denkbar ohne freundliche
oder feindliche Berührung mit fremden Kulten und Kultgenossenschaften.
Wir bemerkten früher, daß der Zauberer, d. h. der Priester eigener Unter-
nehmung, in einem geheimen oder offenen Gegensatz zu der herrschenden
Gemeindereligion steht ; oft ist er der Priester einer unterdrückten Religion
und entstammt einem unterworfenen Volksstamm, der sich mit dem Er-
oberer- und Herrschervolk nur äußerhch ausgesöhnt hat. Entwickeltere
religiös-soziale Gebilde entstehen nie durch einen einzigen Volksstamm, son-
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dem stets durch mehrere Volksstämme verschiedener Abkunft, die durch
den Zwang der Verhältnisse einander nahegerückt sind und durch fried-
liche oder kriegerische Eroberung zu einem wirtschaftHch- politischen
Ganzen geworden sind. Die innere Verschmelzung der einzelnen Bestand-
teile geht dann bald schneller, bald langsamer vor sich. Ganz gelingt sie
wohl niemals; namentlich die Religionen leisten zähen Widerstand und
werden zum hauptsächlichen Zufluchtsort der widerstrebenden Persönlich-
keiten. Wenn dann gar der Zusammenhang sich wieder lockert, flackern
die unterdrückten Religionen neu auf; ihre Vertreter werden zu Propheten,
predigen den ..heihgen Krieg" gegen die ,, Unterdrücker"; sie treten als
politische Aufrührer, als soziale Agitatoren auf; sie suchen alte, halb ver-
gessene religiös-politische Gedanken wieder hervor und verknüpfen sie mit
neu auftauchenden revolutionären Ideen.
Dabei treten sie nun auch in Beziehung zu auswärtigen Mächten und aus
der Fremde stammenden Gedanken. Jeder Kämpfer sieht sich nach Hilfs-
truppen um; jeder, der gegen seine eigenen Herren oder Brüder kämpft,
holt sich diese Hilfstruppen aus der Fremde. Meist lassen sich die umwohnen-
den Völker nicht lange bitten; sie unterstützen aus egoistischen Gründen
den Propheten, der sie um Hilfe angeht, und so zieht der religiöse Neuerer an
der Spitze fremder Truppen gegen sein Heimatland. Er läßt es nicht mehr als
sein Heimatland gelten, weil es angeblich oder wirklich keine ideale Lebens-
gemeinschaft mehr ist.
Die Wüste, in die der Prophet vor seinem Auftreten sich zurüclczieht, ist
oft ein fremdes Land und Volk, wo er das Gastrecht sucht. Vielleicht kommt
er dorthin als ein Vertriebener. Im Leben der meisten Propheten gibt es eine
,, Flucht" (Hedschra) zu fremden Menschen und oft auch zu fremden Göt-
tern. Wie lebt er in der Fremde? Entweder still und in sich gekehrt,
seines Vaterlandes gedenkend ; oder er predigt den Fremden und entflammt
sie, das Vaterland mit ihm zu erobern, das er mit Güte und Überredung
nicht hatte gewinnen können. Es ist eine tiefe Wahrheit, daß ein Prophet in
seinem Vaterlande nichts gilt, weil jeder ihn als seinesgleichen ansieht und
nicht den Gesandten und Gesalbten in ihm zu erkennen vermag. ,,Das Gute
und Große kommt aus der Ferne, kommt vom Himmel, von einer unbekann-
ten Welt her!" — so dachten die Menschen, denen es schlecht geht, von jeher
und werden wohl auch in alle Zukunft so denken.
Daher denn auch der kindliche Glaube, daß ein Prophet aus der Fremde
Erlösung bringen werde, und das kindliche Bestreben, aus dem Propheten
eine geheimnisvolle Wundergestalt zu machen. Niemand soll so recht wissen,
wer der Retter eigentlich ist, woher er stammt, wie und wo er aufgewachsen
ist. Sein Vater ist ein Gott, seine Mutter ein begnadetes Weib oder ein Fabel-
70
wesen, ein Tier (Wölfin, Hündin, Kuh usw.). Seine Jugend ist voller Not und
Gefahr, in Niedrigkeit hat er gelebt, nur die wunderbare Huld Gottes und
die Hilfe der schützenden Geister hat ihn vor den Anfeindungen böser Dä-
monen und neidischer Menschen bewahrt. Es ist merkwürdig, daß die Bio-
graphien aller Propheten und Heilbringer aller Völker einander aufs Haar
gleichen. Von jedem werden ähnliche Schicksale berichtet; wie unter einem
Zwange statten die Menschen die Geburts-, Jugend-, Lebens- und Sterbe-
geschichte ihrer Retter und Führer immer wieder mit denselben mythischen
Zügen aus (vgl. über die psychologischen Gründe dieser auffallenden Er-
scheinung die Schrift von Otto Rank: Der Mythus von der Geburt des
Helden, in Freuds Schriften zur angewandten Seelenkunde). Von Moses,
ödipus, Dionysos, Kyros, Buddha, Pythagoras, Jesus und vielen anderen
sagenhaften oder geschichtlichen Helden religiöser oder politischer oder all-
gemein menschlicher Art werden ähnliche Erlebnisse berichtet.
Ein fast immer wiederkehrender Zug ist auch, daß der Prophet in der
Fremde weilt, aus der Fremde kommt und in seiner Heimat unbekannt ist.
Die geschichtlichen Propheten kehren ebenfalls in ihre Heimat als Fremde
zurück, sei es mit, sei es ohne eine in der Ferne gesammelte Anhängerschaft.
Aber der Prophet benutzt sein Verweilen im Auslände zugleich als Lehr-
zeit. Wenn er aus der Heimat und dem gewohnten Leben entwich, so trieb
ihn, wie wir sagten, die Unbefriedigung fort ; die heimische Religion und das
heimische Leben genügten ihm nicht. Er sucht draußen, was er zu Hause
nicht gefunden hat. Er schaut, wie andere Menschen leben, fragt, ob sie glück-
lich sind, forscht, ob sie vielleicht den verlorenen Gott bei sich beherbergen.
Er gewinnt dabei in jedem Falle und erfährt Einwirkungen mannigfacher
Art. Wenn er heimkehrt, bringt er wirklich Neues, im besten Falle den ver-
mißten Gott mit. Wir sehen, wie auf diese Weise religiöse Gedanken wandern,
wie Kultformen, Mythen und Lebensgewohnheiten fremder Völker über-
nommen werden. Die eigentliche Tat des Propheten besteht in solchen Fällen
darin, daß er ein Vermittler und Übertrager dieser Schätze ist ; er frischt das
träge gewordene Blut seiner Brüder durch fremdes Blut und Leben auf.
Auch wenn er Waffengewalt anwenden muß und seinem Volk eine Zeitlang
als ein hochverräterischer Vaterlandsfeind gilt, kämpft er doch immer für
die Erneuerung der heimischen Religion und Kultur.
Die fremden Schätze werden natürlich selbständig verarbeitet, zunächst von
ihm, dann vom Volke. Unverändertes Herübernehmen ist sehr selten. An-
fangs macht die Einverleibung große Schwierigkeiten. Die fremden Gedan-
ken wirken zunächst zersetzend; ihre Neuheit besticht oder stößt ab. Die
Priesterschaft und die sonstigen Hauptvertreter der bisherigen Kultur mah-
nen dann nicht mit Unrecht zur Treue gegen die Väter, zur Festigkeit gegen
71
die Flut des Fremden. Die Klügsten aber wenden sich den neuen Gedanken
zu und ziehen das \'olk nach sich. Verfügt das Volk über hinreichende
Kräfte, so wird das Neue dem Alten möghchst angeghedert ; die Väter wer-
den nicht verraten, im Gegenteil wird eine Kultur erst durch die Berührung
imd Verbindung mit fremden Kulturen ihres eigenen Besitzstandes recht
inne und lernt ihre Kräfte schöner verwenden als vorher. So hatte ja auch
der Prophet im fremden Lande sich selber und den heimischen Gott wieder-
gefunden und durch den fremd gewordenen Propheten lernt wiederum das
Volk sich selber verstehen und wird, indem es scheinbar das Fremde, aus
einer anderen Welt Stammende anbetet, zum Selbstvertrauen und zur Selbst-
sicherheit zurückgeführt.
PJä
nnn 2. die Eingebung ===
In seinem oft erwähnten Werke hat Wundt die Entwicklung des Pro-
pheten aus dem Zauberer und Schamanen ganz im Sinne unserer Darstellung
geschildert. Er sagt: ,,Wie aus dem Medizinmann der primitiven Kultge-
nossenschaften der Priester hervorgeht, so erhebt sich der Schamane in
Momenten gesteigerter rehgiöser Motive zum Propheten. Ein Prophet solcher
Art ist auch Mohammed, und der Islam hat noch manche Züge bewahrt,
die an die alten Kulte der nomadischen Steppenbewohner erinnern. Zum
Propheten hat sich aber hier die Gestalt des religiösen Visionärs dadurch
erhoben, daß er die Mischung altassj^rischer, jüdischer, christlicher Elemente
mit einer Fülle ursprünghcher Ahnen- und Stammeskulte zu einem mono-
theistischen Ganzen verschmolz." Also das heimische Gottesempfinden, das
uralte religiöse Erbe ist mit fremden religiösen Vorstellungen eine enge Ver-
bindung eingegangen, und daraus ist eine neue Religion erwachsen, die trotz
der fremden Bestandteile heimathch und echt ist und die aus den Wüsten-
arabern ein Volk von unwiderstehhcher Eroberungskraft gemacht hat. Der
Islam verdankt seine Siege den Arabern und ihrem Propheten ; erst später
setzten andere Völker das rehgiös-pohtische Werk Arabiens fort und suchten
auch dem Evangehum Mohammeds neue religiöse Gedanken einzuverleiben.
Mohammed war ein verzückter Schamane, der im epileptischen Anfall mit
der Gottheit verkehrte und sich, wie uns ausdrückhch berichtet wird, erst
dann zum Prophetenberuf entschlossen hatte, als sich diese nervösen Er-
scheinungen bei ihm zeigten. Aus den Krankheitszeichen schloß er, daß
Gott ihn auserw'ählt habe, und wuchs dann immer mehr in die Rolle des
gottbegnadeten Neuropathen hinein. Alle seine Predigten und der aus diesen
Predigten hervorgegangene Koran sind angeblich direkte göttliche Offen-
72
baningen, die ihm im Anfall zuteil geworden sind. Er scheint sich große
Übung in der willkürlichen Erzeugung des Anfalls erworben zu haben ; denn
er konnte zu rechter Zeit immer mit einer neuen Offenbarung aufwarten,
die gerade das enthielt, was seinen Zwecken und dem Vorteile der jeweiligen
Lage diente.
Sehr nahe verwandt mit Mohammed sind die alttestamentlichen Prophe-
ten und auch einige altgriechische Propheten, namenthch Empedokles. Die
Propheten Israels und Judas sind aus jenen halbverrückten Enthusiasten
hervorgegangen, die einzeln oder in Scharen durch das Land zogen und deren
Raserei ansteckend wirkte, wie aus dem i. Sam. lo berichteten Vorgang er-
hellt. Samuel sagt dem soeben gesalbten Saul, er werde in Gibea Gottes, an
der Stelle, wo die Säule der Philister steht, auf einen Trupp Nebiim stoßen.
,,Vor ihnen her ertönt Harfe, Pauke, Flöte und Zither und sie selber sind
in prophetischer Raserei. Da wird dann der Geist Jahwes über dich kom-
men, sodaß du ebenfalls in prophetische Raserei gerätst und eine Verwand-
lung mit dir vorgeht." Das geschah, und Saul raste mit den Propheten, so-
daß die Leute sagten: ,, Gehört denn Saul auch zu den Propheten?"
ScHWALLY (,,Der heilige Krieg in Israel") meint, daß es sich bei diesen
Nebiim wohl um kriegerische Begeisterung, um eine Art Berserkertum ge-
handelt habe. Das liegt in der Tat nahe ; denn der Krieg war in Israel wie
allerorten eine Sache Gottes, eine heilige Angelegenheit ; die Kämpfer waren
vom Geiste Jahwes besessen. Ein solcher Besessener war z. B. Simson, und
daß die Nebiim ebenfalls den Geist Jahwes in sich hatten, folgt aus den
obigen Worten; diesen Geist übertrugen sie auf Saul. Ihr verzücktes Be-
ginnen, die Musikinstrumente, die sie mit sich führen, ihr Singen und Lallen,
das wir hinzudenken müssen, erinnert lebhaft an den die Krankheit aus-
treibenden Zauberarzt, aber auch an die heiUgen Kriegs- und Festtänze der
Naturvölker, durch die sie sich mit den helfenden Dämonen vereinigten und
selber zu Dämonen wurden. Der Krieg hat an und für sich etwas Begeisterung
Weckendes und erzeugt leicht jene prophetische Stimmung, die der Psychia-
ter als Eintreten des zweiten Zustandes, als suggestiven Anfall bezeichnet.
Auch bei Mohammed trägt der religiöse Enthusiasmus deuthch kriegerische
Züge.
Die Mittel, sich in den Zustand der Gottbegeisterung zu setzen, verfeinern
sich allmählich. Musik und Tanz fallen fort. Mohammed und die hebräischen
Propheten,, rasen" nicht mehr. Wundt macht auf den Gebetskampf zwischen
EHas und den Baalspriestern aufmerksam. Erstens steht Elias als ein ein-
zelner der zahlreichen Priesterschaft gegenüber, wodurch der Gegensatz
zwischen Prophetentum und Priestergenossenschaft klar gekennzeichnet wird.
Ferner wendet EHas kein anderes Mittel an als inbrünstige Gebete, während
73
die Baalspriester „in stundenlangem Rasen und ekstatischem Taumel den
eigenen Leib zerfleischen". Sie stehen also noch auf der niederen Stufe und
suchen ihren Gott nach Schamanenart herbeizuzwingen. Es gelingt ihnen
aber nicht, das erwartete Wunder tritt nicht ein, mit anderen Worten: die
Zuschauer werden nicht von ihnen mit fortgerissen und nehmen die beab-
sichtigte Suggestion nicht an; denn Wunder dieser Art sind ja fraglos Sug-
gestionskunststücke, bei denen der Betrug den Mithelfer macht. Die Zu-
schauer dieser Eliasszene, wenigstens ein Teil von ihnen, oder noch vorsich-
tiger gesagt: die Berichterstatter sind über die grobsinnliche Art religiöser
Wundererzeugung hinausgewachsen. Elias mit seinem einfachen Gebet er-
reicht, was sie mit ihrem umständlichen Suggestivapparat nicht erreichen.
Diese Vereinfachung und Vergeistigung der religiösen Hilfsmittel geht bei
allen entwickelteren Völkern vor sich. JMan will das tolle Gebaren und wüste
Zauberwesen nicht mehr; man will den Geist, nichts als den Geist. Jedoch
bleibt die Vorstellung, die man von dem Wesen und Wirken des Geistes hat,
immer noch in dem Zauberglauben befangen ; man verlangt vom Propheten
immer noch, daß er mit dem Geiste, als einer fremden Person, in Verkehr
trete und sich von ihm erfüllen lasse.
Die Baalspriester bilden an unserer Stelle insofern keinen bezeichnenden
Gegensatz zu dem Propheten, als auch sie den Hauptwert auf die Begeiste-
rung legen. Im allgemeinen sind die Priesterkollegien ruhiger und gleich-
mütiger; ihr Kult ist Gewohnheitskult und wird als regelmäßige, von der
Gemeinde vorgeschriebene Pflicht ausgeübt. Der Privatpriester pflegt er-
regter und erschütterter zu sein, weil er allein steht und seine religiöse
Pflicht nur auf Geheiß des Geistes ausübt. Er gehorcht dem Drange seines
Innern; sie erledigen ein Pensum. Doch gibt es Ausnahmen, Einerseits be-
treibt der Privatpriester sein Gewerbe oft aus Gewinnsucht, wodurch seine
Begeisterung künstlich und oft unlauter wird; andererseits bietet der Ge-
meindekult Anlaß zu echten und tiefen religiösen Erregungen; namentlich
die Jahreszeiten- und Ackerbaufeste lernten wir als orgiastische Feiern ken-
nen. Der Baalskult in Palästina war ebenfalls von dieser Art, und so erklärt
es sich ganz wohl, daß die Baalspriester im Kampfe mit Elias nicht als zere-
monielle und geschäftsmäßige Gemeindebeamte erscheinen, sondern als
wilde Gottbegeisterte von prophetisch-schamanistischem Gepräge.
In der Regel also ist der Prophet des Gottes voll, der Priester nicht. Das
Volk fühlt, daß der Prophet den unsichtbaren Mächten nähersteht, und
nimmt die prophetischen Äußerungen als unmittelbare Verlautbarungen
dieser Mächte auf. Wir erwähnten, daß die Propheten ihren Gott fast immer
redend einführen. Gott ist ihnen im Wachen oder im Traume erschienen,
hat sie berufen, hat ihnen das Evangelium, das sie verkünden sollen, mit-
74
geteilt, und sie geben dasselbe jetzt so wörtlich wie möglich wieder. ,,Der
Herr sprach zu mir" — ,,Und es erging das Wort Jahwes an mich also" —
so beginnen sie ihre mündliche oder schriftliche Rede an das Volk und fahren
dann in der ersten Person fort. Ihre ganze Zuversicht und Unerschrockenheit
schöpfen sie daraus, daß sie nur der Mund Jahwes sind. Auch ihre Hörer
sehen in ihren Äußerungen bloße Wiedergaben göttlicher Eingebungen.
Wir müssen annehmen, daß die echten Propheten wirkliche Offenbarungen,
will sagen Halluzinationen hatten. Dem widerspricht es nicht, wenn Ed.
Meyer („Die Israeliten und ihre Nachbarstämme") wahrscheinlich macht,
daß die jüdischen Propheten einem Verkündigungsschema folgten, das sich
bereits bei den Ägyptern findet. Die meisten Propheten nämlich weissagen
eine Zeit furchtbaren Elends, wo alles Schreckliche, das sich erdenken läßt,
eintreten werde. Danach werde Gott wieder gnädig werden, die eingebro-
chenen Feinde verjagen und ein Reich des Friedens und Glücks begründen.
Ed. Meyer bemerkt dazu: ,,Es ist klar, daß die Propheten hier mit tradi-
tionellem Gut arbeiten, das keiner von ihnen geschaffen hat und das schon
Jahrhunderte vor Arnos bestanden haben wird; ihr individuelles Eigentum
ist nur die Ausgestaltung im einzelnen, die Anwendung auf die jedesmaHge
Situation, die gewaltige Vertiefung der zugrunde liegenden Gedanken."
Mir scheint, dies Schema ist das Eigentum sämtlicher Propheten der Welt,
weil es psychologisch und pathologisch notwendig ist. Wer wird zum Pro-
pheten? Der Schreckliches ahnt und fühlt (Unheilswahn). Noch Nietzsche
weissagt eine Zeit des ,, europäischen Nihilismus" und Anarchismus. Hinter
dieser Zeit leuchtet aber stets ein fernes Glück, die Wiederkunft des gött-
Uchen Königs, oder wie der Prophet es sonst ausdrückte, auf. Das ist eben-
falls psychologisch begründet. Im Grunde hat jeder Mensch, wenn er sich
mit Inbrunst in die dunkle Zukunft versenkt, das Gefühl, daß es zuerst ab-
wärts, nachher aber mit Macht aufwärts gehen werde.
Ich sage also, daß die Propheten trotz Tradition und Prophetieschema
halluzinatorische Naturen von erhöhter Sensibilität waren. Sie suchten ge-
flissentlich Einbrüche ihres unbewußten Selbst hervorzurufen. Mit aller
W^elt waren sie überzeugt, daß in den aus dem Unbewußten stammenden
Visionen und Stimmen die göttliche Weisheit zum Ausdruck komme. Uns
ist diese Anschauung recht fremd geworden, daher wird es uns so schwer,
für das Wesen der alten Prophetie das rechte Verständnis zu gewinnen.
V^^ir denken entweder an Betrug, oder wenn war die Echtheit der Halluzina-
tionen und Anfälle zugeben, bleibt uns unklar, woher die Vernunft und
Größe der so gewonnenen Prophetenweisheit stammt. Wir haben verlernt,
das unbewußte Seelenleben als Quelle unseres tiefsten Wissens anzusehen
und den direkten Weg zu diesem unbewußten Leben aufzusuchen. Wir lieben
75
das wache, gesunde Denken und mißtrauen den dunklen Regungen, die in
den Träumen, im Rausch und im Irrsinn ans Tageshcht treten. Mit vollem
Recht; die Arbeit des Menschengeschlechts besteht gerade darin, das un-
bewußte Seelenleben durch Regel und Gesetz zu bändigen und es der Zensur
der hellen Vernunft zu unterwerfen. Der bewußte Wille und die Zweckvor-
stellung nehmen den Thron ein, den in älteren Zeiten die Halluzination und
Ekstase eingenommen haben. Wer heutigen Tages ,, Stimmen" hört und uns
mit seinen Gesichten und Offenbarungen bekannt machen will, den führen
wir ins Krankenhaus, damit dort der Arzt alle von der Wissenschaft gefun-
denen Mittel anwendet, um diese Stimmen und Offenbarungen verschwinden
zu machen und also die ,, prophetische Kraft" des Betreffenden zu vernichten.
So sehr hat sich die Anschauung über den Wert der Prophetie geändert.
Oder nicht eigentlich über den Wert der Prophetie ; nur über den Weg, den
die Erzeugnisse des unbewußten Seelenlebens nehmen sollen, damit sie der
Menschheit und dem Propheten selber zum Heile gereichen können. Das
Einbrechen unbewußter Seelenregungen in Form von Stimmen und Gesich-
ten in das Bewußtsein halten wir nicht mehr für den rechten Weg ; denn da-
bei wird die Zensur der höheren Seelenkräfte umgangen und das Erzeugnis
erhält einen krankhaften, gesetzlosen Charakter. Ein visionäres Erlebnis,
ein in der Ekstase gefundenes Wort kann zwar an und für sich Sinn und Wert
haben, hat sogar stets Sinn und Wert, denn es entspringt stets einem tiefen
Wünschen und Wähnen des Kranken — zufällige und sinnlose Gebilde er-
zeugt unser Geist überhaupt nicht, auch der des Irrsinnigen nicht ; alles ist
begründet, alles folgt einer inneren Logik, alles hat innerhalb des Trieb-
lebens des Kranken seine berechtigte Stehe. Aber diese innere Logik ent-
zieht sich bei krankhaften Einbrüchen dem Verständnis der übrigen Men-
schen, oft auch des Visionärs selber; und wenn das nicht der FaU ist, so
entbehren wenigstens die Erzeugnisse der Klarheit und Übersicht, die wir
von den Äußerungen führender und neuernder Geister verlangen. Die Seele
des Visionärs weist immer einen Riß auf; die einheithche Aktion der Funk-
tionen ist unterbrochen. Dem Halluzinanten fehlt die Herrschaft über sich
und über die Gebilde seiner Wunschphantasie. Er gleicht dem Schlafenden,
dessen höhere Geisteskräfte in Fesseln geschlagen sind, sodaß die Träume
sich frei und zügellos ergehen können.
Der Unterschied zwischen der heutigen und der früheren religiösen Mensch-
heit ist daher scheinbar sehr groß : früher suchte man Einbrüche des unbe-
wußten Selbst hervorzurufen, weil man gerade die Unmittelbarkeit und
FesseUosigkeit der visionären Erzeugnisse hochschätzte; heute sucht man
umgekehrt solche Einbrüche zu verhindern und einzudämmen, weil man
nur von dem Zusammenwirken der unbewußten mit den bewußten Seelen-
76
Instanzen Segen und Heil erwartet. Das bewußte Seelenleben hat sich zu
immer größerer Kraft und Umfänglichkeit entwickelt. Es hat dem mensch-
lichen Leben und der Kultur seine Gesetze des logischen Denkens (d. h. des
geordneten Auswählens bei der Vorstellungsassoziation) und des zweck-
vollen Handelns aufgeprägt. Der Mensch hat seinem Triebleben Zügel ange-
legt, hat die ausschweifenden Wünsche und Begehrungen, die sich in Träu-
men, Visionen und Rauschzuständen Luft machen, dem höheren organi-
sierenden Leben dienstbar gemacht. Wir dürfen nicht verkennen, daß der
Mensch in diesem Streben nach Bewußtheit mitunter zu weit gegangen ist ;
er hat vergessen, daß die bewußte Seelentätigkeit ohne die Geister des Un-
bewußten gar nichts ist. Wir leben durch diese Geister, durch die ewig un-
erkennbaren Kräfte, die in den krankhaften Zuständen die Dämme durch-
brechen und als Rauschhandlung, Halluzination und Wahnidee emporlodern.
Sie sind das Schaffende ; ihr rastloses Drängen und Wünschen gibt erst die
MögHchkeit zu leben und zu gestalten. Gedanken, Willensantriebe, Phanta-
siebilder haben nur dann Kraft und Tiefe, wenn sie die Bestätigung dieser
Geister finden, noch mehr, wenn sie ihr Ausfluß sind. Andernfalls sind sie ein
oberflächliches Spiel und werden niemals starke Wirkung auf das Leben
ihres Urhebers und der übrigen Menschen ausüben. Ihnen fehlt dann die
Eigenschaft, die den Prophetenworten und Prophetenphantasien der älteren
Menschheit in so hohem Grade innewohnt: die innere Wahrheit und Not-
wendigkeit.
Was ist wahr? Der Mensch hat diese Frage von jeher so beantwortet:
wahr ist, was ich mit ganzer Seele auffassen und bejahen kann, was den
Widerhall meines ganzen Seins findet. Darum schienen ihm die phantastischen
Träume des Propheten wahr und er folgte seinen ernsten Mahnungen und
schweren Forderungen. Die Prophetenworte fanden in der Tiefe der Herzen
Widerhall; zu den Herzen sprach er. Aus der Ekstase geboren, fanden seine
Worte den Weg zu dem unbewußten Reich der Wünsche und Phantasien in
den aufhorchenden Volksgenossen und entzündeten in ihnen das gleiche
Feuer, das in dem Propheten selber lebte. Er wurde verstanden, obwohl das,
was er sagte, dem bewußten Seelenleben vielleicht sehr fremd und seltsam
vorkam. Die unklaren und verstiegenen Worte der Propheten haben oft
mehr gewrkt, als die höchst vernünftigen Abhandlungen neuerer Theo-
logen. Das wäre unbegreifhch, wenn das dunkle Prophetenwort nicht Ein-
gang fände in Regionen der Seele, in denen das logische Denken nichts zu
sagen hat. Die Zeitgenossen verstanden den Propheten durch ein anderes
Organ, so wie er selber sein Evangelium durch ein anderes Organ ans Licht
brachte, als wir Neueren zu tun pflegen. Wir entnehmen unsere Verkün-
digungen — wenn anders sie Leben und Kraft haben — zwar ebenfalls den
11
Regungen des unbewußten Seelenlebens, legen sie aber der Zensur des be-
^v•ußten Seelenlebens vor und formen sie mit Hilfe der Gesetze des vernünf-
tigen Denkens oder des künstlerischen Gestaltens. Das tat der Prophet nicht ;
er schaltete das BeNsnißtsein aus und lockte durch Rausch- und Betäubungs-
mittel unmittelbare Äußerungen der unbewußten Seelenkräfte hervor. Viel-
leicht ordnete und bearbeitete er dieselben hinterher, oder andere taten es
für ihn ; aber diese nachträgliche Bearbeitung ist etwas ganz anderes, als
die Schaffensweise des Denkers und künstlerischen Gestalters, der die Form
und Ordnung seiner Erzeugnisse sofort mitschafft. Nun konnten freilich
manche Propheten sich darauf verlassen — wenn uns die Berichte nicht
täuschen — , daß ihre Erzeugnisse auch ohne nachträgliche Bearbeitung ver-
ständlich imd eindrücklich waren ; das heißt ihr Geist bearbeitete sie schon
während der Ekstase und ohne Zutun des Bewußtseins im Sinne der Logik
und der sinnlichen Anschaulichkeit. Wir erwähnten früher, daß die Hypno-
tisierten und spontanen Somnambulen oft sinn- und vernunftgemäß handeln,
sprechen und denken; der Prophet mußte selbstverständlich dahin streben,
seinen Äußerungen in der Ekstase und seinen visionären Erlebnissen eben-
falls einen vernünftig-anschaulichen Charakter zu geben. Bis zu einem ge-
wissen Grade mag er das durch Übung und Autosuggestion erreicht haben.
Es ist dann während des Anfalls eine regulierende und zensurierende Seelen-
instanz in ihm tätig, über deren Natur vi-ir allerdings nicht näher unter-
richtet sind.
Trotzdem bleibt den prophetischen Visionen und Orakeln, den Weisheits-
sprüchen und Mahnworten der Wahrsager fast immer eine gewisse Dunkel-
heit und Unlogik. Sie bewahren eine Ähnlichkeit mit unseren Träumen imd
mit den Äußerungen und Erlebnissen geistig Kranker, denen sie ja auch nahe
verwandt sind. Es erklärt sich also ohne Schwierigkeit, daß die Äußerungen
der Propheten eine Mischung von Vernunft und Unvernunft, von Einfach-
heit und Verwirrtheit, von Schönheit und barocker Tollheit sind, ganz so,
wie die Träume und Krankendehrien. Warum aber spricht der Prophet so-
viele wertvolle, großartige Wahrheiten aus, was doch bei unseren Traum-
visionen und den Wahnerzeugnissen unserer Kranken selten oder nie der
Fall ist ? Erstens waren die Propheten hervorragende Persönlichkeiten ; zwei-
tens erhielten ihre visionären Schöpfungen dadurch Vernunft, daß sie selber
und ihre Zeitgenossen die Anfälle als gottgegebene Erscheinungen ansahen.
Der zweite Punkt ist sehr wichtig; je mehr der Mensch eine einzelne Form
seiner seehschen Betätigung schätzt und pflegt, um so mehr fluten alle seine
geistigen Kräfte in diese eine Betätigung hinein; alle Triebe suchen sie als
Weg zu ihrer Befriedigung zu benutzen; so gewinnt sie Kraft und über-
nimmt die Führung über das ganze Wollen und Leben. Daher leisteten die
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Halluzinationen des Propheten alles, was man von ihnen erwartete; seine
beste Weisheit fand der Prophet nicht im wachen Zustande, sondern in der
halluzinatorischen Ekstase.
Dasselbe gilt aber auch von den Träumen der älteren Zeiten. Wie wunder-
lich kommt es uns vor, daß ein Traum oft genug über das Schicksal ganzer
Völker entschied! Was der König, der Oberpriester, der Prophet träumte,
war maßgebend für das Volk. Im Traume erschien die Gottheit, teilte ihren
Willen mit, lenkte die Entschlüsse. Eine ganze Anzahl berühmter Träume
sind uns überliefert worden ; sie sind so vernünftig und klug, wie heute wohl
kaum noch ein Traum sein wird. Wie erklärt sich das ? Ganz einfach aus der
gespannten Aufmerksamkeit, mit der jedermann, zumal der Herrscher und
Priester auf seine Träume achtete. Das Traumleben galt für das höhere,
geistigere Leben; im Traume erhoffte man Aufschlüsse über alle dunklen
und schwierigen Fragen, zumal auch über die Zukunft zu erhalten. Dadurch
wurde die unbewußte seelische Tätigkeit angeregt, sich in den Traumphanta-
sien zu entladen ; die Kräfte, die uns heute im normalen Seelenzustande zur
Verfügung stehen und unsere Entschlüsse als Ergebnisse logischer Erwägun-
gen erscheinen lassen, drängten sich damals im Schlaf zustande an die Ober-
fläche und gestalteten die Traumbilder zu sinnvollen und eindrucksvollen
Erlebnissen. Der Traum sprach aus, was den Wachen beschäftigt hatte, und
das Unterbewußtsein entschied, was das Bewußtsein nicht zu entscheiden
vermocht und gewagt hatte. Freud (,,Die Traumdeutung") wird wohl recht
haben, wenn er sagt, daß der ^lensch im Traume nicht wirklich die Probleme
löse, sondern schon vorher im Wachen. Der Traum stellt nur dar; er bringt
die Ergebnisse des unbewußten Taglebens in Worte und Bilder. Es war also
nur Schein, wenn der Traum und der im Traume erscheinende Gott sich für
den Schöpfer und Finder ausgab. Gefunden wurde die Antwort ohne Zutun
des Traumes; der Traumgott sprach sie nur aus. Auch heute kommt es vor,
daß ein lebhaft erregter Mensch im Traume Lösungen sieht, die er im Wachen
nicht zu finden vermocht hatte ; die Lösung ist aber nicht durch die geistige
Arbeit während des Schlafes zustande gekommen, sondern war schon vorher
durch die unbewußte Arbeit gefunden worden. Nur gelang es dieser unbe-
wußten Geistesarbeit nicht, ihr Ergebnis durch die Decke des Bewußtseins
hindurch geltend zu machen und die Gedanken, die sich hindernd vordräng-
ten, beiseite zu schieben.
Wenn wir freilich die Träume, die Xerxes vor Beginn der Perserkriege ge-
träumt haben soll, lesen, wie sie uns Herodot erzählt, so merken wir auf
der Stelle, daß der wohlmeinende Historiker sie bearbeitet und dem Ver-
stände der Leser mundgerecht gemacht hat. Solche Reden, wie sie die ,, Ge-
stalt" an Xerxes hält, kommen in wirklichen Träumen wohl nicht vor. Der
79
Träumer selber wird die Träume schon etwas anders erzählt haben, als er
sie erlebt hat ; bei jedem Traumbericht liegt die Gefahr nahe, daß der Traum,
teils bewußt, teils unbewußt, ins Logische und Faßbare übersetzt und so
verfälscht wird. Die traumgläubige Vergangenheit wird dieser Gefahr noch
weit stärker unterlegen sein, als wir Heutigen. So legt sich der königliche und
priesterliche Träumer seinen Traum hinterher so zurecht, wie er seiner Mei-
nung nach hätte verlaufen müssen; er dichtet hinzu und nimmt hinweg.
Damit ist wohl am einfachsten das gar zu Logische und Zusammenhängende
vieler heiliger und politischer Träume des Altertums erklärt. Zumal erklärt
es sich wohl auf diese Weise, daß die Propheten im Traume von der Gottheit
lange Reden und schöne Verse gehört haben wollen, die sie nachher angeb-
lich treu aus dem Gedächtnis wiedergeben. Wenn wir bedenken, wie schlecht
es mit der Beobachtungsgabe und ^vissenschaftlichen Nüchternheit dieser
Propheten bestellt war, scheint es nicht zu kühn, wenn wir annehmen, daß
im Traume höchstens die Gestalt des Gottes erschienen ist und einige halb-
verständliche Worte an des Schläfers Ohr gedrungen sind. Das übrige wird
hinterher hinzugedichtet, was natürlich im besten Glauben geschehen kann.
Andere Träume, wie der des Pharao, den Josef deutete, oder die des
Astyages, die die Magier deuteten, mögen wirklich so geträumt worden sein.
Dafür tritt in diesen Fällen aber auch der ,, Traumdeuter" als eine sehr
wichtige Unterstützung der Traumarbeit auf den Plan. Was für Menschen
waren wohl die Traumdeuter, von deren zweifelhafter Tätigkeit wir so oft
lesen? Es waren prophetische Geister, die den in der Traum vision enthal-
tenen Götterwillen herausfinden und in klaren Worten und Gedanken aus-
sprechen sollten. Man nahm also an, daß sie sich auf den Götterwillen und
überhaupt auf die verborgenen Dinge in der Welt besser verständen als der
Träumer, der an und für sich der geeignetste Deuter seiner Träume sein
müßte. Die Traumdeutung war überall eine Angelegenheit der Priesterschaft
oder einzelner Seher und Orakelmänner. Auch der Josef der biblischen Tra-
dition trägt deutlich Propheten- und Heilandszüge, ebenso wie Moses und
Samuel. In den orientalischen Reichen waren überall berufsmäßige Traum-
deuter vertreten ; sie bildeten oft eine besondere Gruppe innerhalb der Prie-
sterschaft; alles Volk kam zu ihnen, erzählte ihnen Träume und vergalt
deren Deutung durch Geschenke. Waren diese Traumdeuter Betrüger?
Waren ihre Deutungen ein bloßes Spiel mit dem Zufall?
Bevor ich die Schriften S. Freuds kannte, habe ich das angenommen und
habe das Traumdeuten mit der Astrologie, dem Kartenorakel und anderen
unten zu besprechenden Versuchen des Menschen, das Verborgene zu wissen,
in eine Reihe gesetzt. Jetzt sehe ich in der Traumdeutung eine Abzweigung des
visionären Prophetenwesens. Da alle Träume Sinn haben und da der Sinn aller
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Träume eine unbewußte Seelenregung des Träumers ist, die sich im wachen
Leben nicht Luft zu schaffen vermag, können die Traumdeuter sehr wohl
den richtigen Sinn aus den ihnen vorgetragenen Träumen herausgelesen
haben, zumal wenn sie den Träumenden kannten und wußten, was ihn be-
wegte. Ihre Deutung ist gewiß nicht rein ins Blaue erfolgt, sondern legte
wirklich den unbewußten Wunsch, den verhüllten Entschluß, die uneinge-
standene Wahrheit bloß, die der Traum enthielt. Und für die Träume der-
jenigen, die sie nicht kannten, stand ihnen ihre reiche Erfahrung und die
alte Tradition früher gedeuteter Träume zu Gebote. Sie besaßen Regeln und
eine Art Traumgrammatik. Diese Traumgrammatik war insofern von Wert,
als eine große Anzahl von Traumerlebnissen bei allen Menschen wiederkehren
und immer eine verwandte symbolische Bedeutung haben. Ob die priester-
lichen Traumdeuter die Traumsymbolik stets richtig durchschaut haben,
müssen wir natürlich dahingestellt sein lassen; aber allen Anzeichen nach
haben sie an der Hand der psychologischen Traumgesetze eine Art Deutungs-
system geschaffen, mit dessen Hilfe sie Traumrätsel zu lösen vermochten,
die uns heute unlösbar erscheinen. Diese prophetisch begabten und priester-
lich geschulten Männer waren über gar manche Erscheinung der mensch-
lichen Psyche weit besser unterrichtet, als man gemeinhin annimmt. Sie
beschäftigten sich unaufhörlich mit diesen, heute so verachteten Erschei-
nungen, weil sie göttliche Einwirkungen in ihnen sahen. Und das war nicht
so unrichtig; Gott, d. h. das unbewußte Seelenleben, sprach wirklich aus den
Traumgesichten, aus den Ekstasen und Offenbarungen, ja auch aus manchen
körperhchen Störungen: Ghederzuckungen, Schmerzen, Lähmungen, sexuel-
len Empfindungen.
Während der Traum und die Wachhalluzination an und für sich abnorme
Quellen der Weisheit und abnorme Äußerungen des göttlichen Willens sind
— weil sich in ihnen das Unbewußte fessellos und gesetzlos äußert — , wird
durch die ergänzende Tätigkeit der Traumdeuter und Orakelpriester das
bewußte Seelenleben wieder in seine Rechte eingesetzt; der Wahn- und
Traumgott wird durch den wachen Vernunftgott in seine Schranken ver-
wiesen. Am besten war es wohl, wenn der Prophet selber imstande war,
seine Halluzinationen und Träume zu deuten und zurechtzurücken; wenn
nicht, übernahm der nüchterne Priester, der Rivale des trunkenen Priesters,
diese Pflicht, und beide zusammen bildeten dann die denkbar vollkommen-
ste geistige Behörde für die Völker auf der Halbkulturstufe. Pfleiderer
betont bei Besprechung des delphischen Orakels, wie sich die Welt- und
Menschenkenntnis der delphischen Priesterschaft glücklich mit der ver-
zückten Weisheit der Pythia verbunden habe. ,,Es ist das ein bemerkens-
wertes Beispiel von der auch sonst sich öfter in der Religionsgeschichte be-
6 Horneffer, Der Priester II Ol
stätigenden Erfahrung, daß aus der Verbindung von enthusiastischem Pro-
phetentum und priesterhcher Weisheit die wirksamste Beeinflussung des
Volkes sich ergab." („Religion und Religionen".) Wir haben die Wirksam-
keit Delphis oben ähnlich charakterisiert. Die Priesterschaft war staats-
männisch und religiös so weitblickend und erhielt sich über alle wichtigen
Ereignisse so gut auf dem laufenden, daß die unter ihrem Einfluß stehende
P3rthia, wenn sie zur Beantwortung der gestellten Fragen den Anfall hervor-
rief, brauchbare göttliche Offenbarungen lieferte. Die Ekstase lieh dem rich-
tigen Entschluß Gestalt und Wert, und hinterher tilgten die Priester etwaige
Mängel und brachten die Worte in Verse.
\\'ir dürfen glauben, daß den Priestern in Delphi und anderswo der Umweg
über die Ekstase mit der Zeit lästig wurde, ebenso wie der enthusiastische
Prophet allmählich einsah, daß er seine Offenbarungen ganz gut auch in
lebhaft bewegten Augenblicken des Wachlebens hervorbringen konnte. Die
Kluft zwischen überirdischer und irdischer Weisheit begann sich zu schließen.
Die Menschheit begann zu fühlen, wenn auch lange noch nicht klar zu er-
kennen, daß die göttlichen Stimmen im Anfall und im Traum auf dieselbe
Quelle zurückgingen, wie die Gedanken, die dem normalen Seelenleben ent-
sprangen. Der Prophet griff es ja mit Händen, daß die Offenbarungen
die beste Weisheit und tiefste Sehnsucht seiner eigenen Brust waren, also
aus ihm selber stamm^ten. Dadurch aber verloren die Visionen und Stimmen
ihre krankhafte Deutlichkeit; die Gottesweisheit floß mehr und mehr mit
den eigenen Denkergebnissen und wachen Erfahrungen zusammen. Anfall
und Traum \Mirden zur Nebensache; der Prophet züchtete die visionären
Zustände nicht mehr und gab sich keine Mühe mehr, hysterisch zu werden ;
er bildete sich vielmehr zum klugen und besonnenen geistigen Führer des
Volkes heraus. Die Pythien, die Orakelweisen, die verzückten Nebiim ver-
schwanden oder wurden zu Medien, zu gefügigen, unselbständigen Werkzeugen
in der Hand der leitenden Männer. Leider mußten diese leitenden Männer
immer noch auf die Vorstellungen des gläubigen Volkes eingehen, mußten
daher Betrüger und Sklavenaufseher sein, mußten verbergen, daß sie sich
auf ihre Erfahrung und gesunde Vernunft, nicht auf Stimmen und Ver-
zückungen verließen. Der ,, heilige Geist" wurde ihnen zur Maske.
Bis zum heutigen Tage dauert im Volke der Glaube an die übernatürliche
Herkunft der tiefsten, der religiösen Weisheit fort. Vorbedeutungen und
Träume sind noch immer Älitteilungen aus einer anderen Welt. Kindliche
Geister stehen nun einmal dem Reiche des Unbewußten näher als der geistig
erwachsene Mensch. Im Seelenleben der Kinder verweben sich Sinnesein-
drücke und Halluzinationen; es träumt im Wachen, es hört und sieht die
eigenen Gedanken und Wünsche als Gebilde der Außenwelt, es gehorcht
82
mehr den Stimmen seines Herzens, als den Forderungen der Vernunft. Daran
tut es auch recht ; denn das bewußte Denken und Beobachten ist beim Kinde
noch so wenig entwickelt, daß es sich seiner Führung nicht anvertrauen kann.
Die Wahngebilde und die instinktiven Regungen leiten es sicherer ; in ihnen
spricht die Weisheit des Unbewußten; in den oft unlogischen Phantasien
steckt ebensoviel innere Logik, wie in den Gebilden der Märchenphantasie.
Freigeistige Kinder sind unnatürhch. Dann aber wächst die bewußte geistige
Tätigkeit allmählich mit den unbewußten Drängen und aus ihnen hervor-
gehenden Phantasiebildungen zusammen. Wenn das Kind diese Entwick-
lung nicht bis zu Ende durchmacht, wenn Lücken zwischen dem unbewußten
und dem bewußten Seelenleben bestehen bleiben, so treten krankhafte Stö-
rungen verschiedener Art auf: hysterische Symptome, Schlafwandeln,
Orakelanfälle, Wahnideen, schließlich das ganze Bild der Dementia praecox.
Geisteskrankheit ist ein Zurücksinken auf die Stufe des kindhchen Geistes
(vgl. Jung: Psychologie der Dementia praecox), nur daß dem Geisteskranken
das Wirken des traumhaften Seelenlebens verderblich wird, weil die Triebe
und Aufgaben des erwachsenen Lebensalters ganz andere sind, als die des
Kindes. Wenn ein Erwachsener zum Kinde wird, nennen wir ihn mit Recht
irre oder schwachsinnig, und wenn diese Kindlichkeit sich in gewissen Grenzen
hält und in einer hervorragenden Ausbildung bestimmter Triebgruppen ihre
Ursachen hat, so nennen wir ihn in einigen Fällen einen Träumer, in anderen
Fällen vielleicht einen ,, impulsiv-genialen" Menschen. Viele Spiritisten,
Theosophen, Erweckungschristen gehören zu diesen geistig nicht ganz Er-
wachsenen. Sie achten auf ,, Ahnungen", warten auf ,, Erleuchtungen",
suchen Glück und Befreiung in der Beschäftigung mit allerhand geheim-
nisvollen Vorgängen ihres Seelenlebens und mit auffallenden Ereignissen in
der Welt. Alter und neuer Aberglaube soll ihnen den Zugang zu Gott, d. h.
zur Befriedigung ihrer unausgeghchenen Triebe gewähren. Bei Frauen und
Künstlern findet sich zuweilen eine ähnliche pathologische Seelenverfassung.
Das heißt pathologisch dürfen \vir die Neigung zu Aberglaube und Offen-
barungsweisheit nur dann nennen, wenn diese Neigung mit dem Bildimgs-
grade des Menschen und der ganzen Zeit und Kulturschicht in Widerspruch
tritt. Dieselben Anschauungen, die bei den Negern und auch noch bei den
ärmeren und kulturfremden Schichten in Europa normal sind, müssen bei
höher gebildeten Europäern als Anzeichen pathologischer Seelenverfassung
betrachtet werden. Höhere Bildung heißt in diesem Zusammenhang weiter
nichts als Ausbildung des bewoißten Seelenlebens unter Zuhüfenahme der
Kultur ergebnisse und überlieferten Erfahrungen. Durch diese Ausbildimg
wird das unbewußte Seelenleben zurückgedrängt, sodaß es nur noch in und
mit dem be\\aißten zur Geltung kommen kann. Gelingt dieser Bildungs-
83
prozeß, so erlischt im Menschen die Fähigkeit und Neigung, direkt aus dem
Unbe\vußten Weisheit und Entschlußkraft zu schöpfen; es erlischt der Glaube
an Offenbarungen und Vorbedeutungen. Damit hat der Mensch auch die
Stufe der kindlichen Weltanschauung, des Dämonismus überwoinden.
Jedoch gibt es strenggenommen verschwindend wenige Menschen, bei
denen dieser Bildungsprozeß ganz gelungen wäre. Fast jeder birgt Reste des
Offenbarung?glaubens in sich ; fast bei niemand ist das unbewußte und das
bewußte Seelenleben zu vollkommener Einheit gelangt, sodaß in jedem
Augenblick der ganze ungeteilte Geist wirkt. Zumal in Zeiten der Schwäche
und der Aufregung geht uns die Einheit verloren. Wenn wir krank oder von
Leidenschaften überwältigt sind, nähern wir uns dem kindlichen Seelen-
zustande; wir handeln ,, blind", wir geben abergläubischen Regungen nach.
So ergeht es Einzelnen und ebenso ganzen Völkern. In der Ruhe und in der
Vollkraft ist der menschliche Geist am freiesten; er hat dann gar kein Ver-
langen, den Ahnungen Gehör zu geben und auf eigene oder fremde Offen-
barungen zu warten.
™ 3. DAS ORAKELWESEN p^3
Ehe wir den Propheten in seiner wichtigsten und höchsten Tätigkeit, näm-
lich als Beter und Prediger näher ins Auge fassen, wollen wir kurz das Orakel-
wesen besprechen. Wir verstehen unter Orakeln die Mittel und Wege, die
der Prophet benutzte und anderen empfahl, um das Verborgene und das
Zukünftige zu erkennen. Das hauptsächlichste dieser Mittel haben wir bereits
ausführlich betrachtet ; es ist das die prophetische Halluzination samt dem
Traum und den wachen Geistesstörungen. Es gibt aber noch eine Reihe anderer
Mittel; sie standen bei manchen Völkern in höherem Ansehen und wurden
eifriger benutzt, als das direkte Befragen des unbewußten Seelenlebens.
Wenn wir von unseren heutigen Anschauungen aus das Gebaren der orakel-
heischenden Menschheit zu beurteilen versuchen, fällt uns vor allen Dingen
auf, daß man kaum einen Unterschied machte zwischen den Orakeln, die
sich auf gleichzeitige Dinge beziehen, und denen, die die Zukunft enträtseln
sollen. Das Orakel soll beides künden: was jetzt vorgeht, aber im Geheimen
oder in der Ferne, und was in Zukunft geschehen wird. Die Verbindung zwi-
schen diesen beiden Orakelfragen bildet der Wunsch, zu wissen was man tun
soll, um die Gegenwart in eine glückliche Zukunft hinüberzuführen. Aus
bloßem Wissensdurst hat kaum je ein Mensch ein Orakel befragt. Immer
führten Wünsche und praktische Bedürfnisse zur Einholung göttlicher Weis-
heit. Der Gott sollte helfen, sollte Aufklärung geben, welchen Weg man gehen
84
müsse, sollte durch sein höheres Wissen den kurzsichtigen Blick des Menschen
erweitem. Daher hören wir fast nie, daß die Orakelantworten sich mit der
Vergangenheit oder mit wissenschaftlichen Fragen beschäftigten, über die doch
die Gottheit so gut hätte Auskunft geben können. Von allen den Tausenden,
die nach Delphi strömten, um den Seher Apollon zu befragen, kam kaum
einer auf den Gedanken, sich über die Vorzeit des Volkes, über das Wesen
der Naturerscheinungen, über Anfang und Ende der Welt Auskunft zu er-
bitten. Jeder dachte nur an sich selber und an die Not, in der er sich befand.
Wenn Apollon einmal beiläufig geschichtliche oder religionswissenschaftliche
Dinge erwähnte, gab er nur wieder, was im Homer und in den anderen be-
kannten Dichtungen und Sagenüberlieferungen zu lesen stand. Und ebenso
war es mit anderen Orakelstätten : die Zukunft wollte man von den Göttern
erfahren; sie sollten raten, wie ma.n sich aus den Schwierigkeiten, in die man
sich verstrickt sah, befreien könnte. Wer den Ausgang wüßte! Wer den
Schleier lüften könnte, der über dem Morgen liegt!
Die Orakelbefragung ist wohl das Törichtste, was der Priester die Menschen
gelehrt hat. Und doch war es unvermeidlich, daß er auf diese Torheit verfiel,
und man seinen Anregungen mit Begierde folgte. Der Mensch wird immer
von neuem dahin gedrängt, sich an Weisere zu wenden als er selber ist, um
mit Hilfe dieser Weiseren sein Leben sinnvoller, gewinnreicher und glück-
licher zu gestalten. Er gab seinem Anlehnungsbedürfnis nach und ließ sich
von dem richtigen Gefühl leiten, daß der Einzelne den Dunkelheiten des
Lebens nicht gewachsen ist und sich bei dem Gesamtwissen aller Rats holen
muß, das von den religiösen Führern verwaltet wdrd. Und auch das ist ver-
ständlich, daß man nicht offenbares und leicht zugängliches Wissen suchte,
sondern geheimes und göttliches. Man fühlte, daß die beste Weisheit aus dem
unbewußten Seelenleben, aus der Welt der tiefen Triebe und Wünsche
stammt. Man beging nur den Irrtum, anzunehmen, daß diese göttliche Weis-
heit dem Menschen nicht nur Entschlußkraft verleihe, sondern ihm auch
die Folgen seines Handelns voraussagen könne. Man glaubte, die Zukunft
läge als etwas Fertiges da ; der Seher könne in ihr wie in einem Buche lesen ;
alles, was geschehen werde, sei für den Gott und seinen Vertrauten bereits
geschehen und könne uns auf dem Wege des Orakels und der Vorbedeutung
im voraus bekannt gegeben werden. Eine seltsame Annahme ! Das Zukünf-
tige wird ja erst durch das ZusammenfHeßen unzähliger Kausalreihen ge-
bildet und unser Handeln ist ebenfalls in diese Kausalreihen einbegriffen.
Der Orakelheischende will die Zukunft als ein bereits Feststehendes in Er-
fahrung bringen, während er doch selber an ihrer Gestaltung mitwirkt.
Aber diese Überlegung, die uns so einfach scheint und durch die jeder
Versuch, unvorhergesehene Dinge zu prophezeien, der Lächerlichkeit preis-
85
gegeben wird, beruht auf der Erkenntnis, daß alles Geschehen gesetzmäßig
ist und sich Glied um Glied mit unbarmherziger Folgerichtigkeit entwickelt.
Diese Erkenntnis fehlte der älteren Menschheit vollständig. Sie ist ein Er-
gebnis der naturwissenschaftlichen und philosophisch-historischen Welter-
forschung. Noch heute haben die meisten Menschen die Tragweite dieser
Erkenntnis nicht erfaßt und von denen, die sie erfaßt haben, handeln nicht
alle demgemäß. Die große Überzahl befindet sich noch im Banne der vor-
\\-issenschaftlichen Anschauung, nach der das Geschehen in der Welt und das
Handeln der Menschen ein willkürliches, regelloses Spiel ist. Die wenigen
aber sind häufig der Gefahr ausgesetzt, in die ältere Willkürauffassung zu-
rückzufallen, weil sie zu tief eingewurzelt und fast zum Instinkt geworden
ist. Zumal wenn wir vor wichtige Entscheidungen gestellt sind und unter der
Last des Lebens zusammenzubrechen fürchten, macht sich mit großer Gewalt
das Verlangen geltend, zu wissen, was niemand wissen kann, die Entscheidung
den Göttern zuzuschieben und selber die passive Rolle des Orakeleinholenden
einzunehmen.
Es gibt einen Krankheitszustand, den man als Abulie bezeichnet; wir
können im Deutschen etwa Entschlußunfähigkeit sagen. Der Kranke kann
nicht zu dem einfachsten Entschlüsse kommen, z. B. die Tür zu öffnen,
einen Eintretenden zu begrüßen. Er fühlt sich dem Entschlüsse und seinen
Folgen nicht gewachsen. Unbe\^alßte Gegenregungen beherrschen ihn so
stark, daß sie jede Handlung noch vor der Ausführung ungeschehen machen,
sodaß es mitunter zu völliger Bewegungslosigkeit und Stummheit kommt.
Wenn die Abulie geringeren Grades ist, haben diese Menschen eine wahre
Sucht, Orakel einzuholen. Jedem erklären sie ihre Lage und ihre Absichten,
verlangen Rat und Voraussage des Ausgangs. Jedes kleinste Ereignis wird
ihnen zur Vorbedeutung; sie benutzen aUe Wahrsagungsarten, alle Omina,
von denen sie je gehört haben, und vermehren noch den ohnehin großen
Schatz von Orakelmitteln durch eigene Erfindungen. Alles soll ihnen helfen,
ihre Unentschlossenheit zu übermüden. Sie holen sich gleichsam Hilfe gegen
sich selber; sie wollen um jeden Preis die Verantwortung von sich abwälzen,
wollen sich führen, bestimmen, zwingen lassen. Solche Personen pflegen einen
felsenfesten Orakelglauben zu haben; da es heutigen Tages leider keine
Orakelheiligtümer und prophetische Priesterkollegien mehr gibt, wenden sie
sich an weise Frauen, an Kartenlegerinnen, an Astrologen. Sie machen sich
meist nicht klar, wie diese weiblichen und männlichen Zukunftskünder dazu
kommen, das Verborgene und noch nicht Seiende zu wissen; Betrachtungen
und Erklärungen darüber vermeiden sie sogar. Die Wünsche beherrschen
ausschließlich ihren Geist; sie wollen und müssen am Orakelglauben fest-
halten, um doch etwas zu haben, was ihrem Leben Halt gibt, was ihre Abulie
86
verringert und ihnen die Furcht vor dem, was kommt, nimmt. Wenn wir
das Verhalten dieser Kranken — an der Krankheit der Abuhe leidet aber
jeder Mensch gelegentlich ein wenig — psychologisch zu erklären versuchen,
so kommen wir wieder auf das Verhältnis des be\vußten Seelenlebens zu dem
unbewußten. Der Abulische ist innerhch zwiespältig; sein vom Bewußtsein
gebildeter Entschluß vermag sich nicht durchzusetzen, weil er nicht die Zu-
stimmung der unbewußten Triebmächte erhält. Das fühlt der Kranke, ohne
es sich ganz klar zu machen und ohne es ändern zu können. Von den Orakeln
will er im Grunde nur über einen Punkt Aufschluß haben: sie sollen ihm
sagen, was er selber will; er weiß nicht, was er ^vill, d. h. was die treibenden
Kräfte in der Tiefe seines Wesens wollen. Er wäll Bundesgenossen, Mit-
kämpfer, wie jeder andere Kranke.
Die orakelgläubige Menschheit begeht einen schweren Irrtum, wenn sie
behauptet, sie wolle den Willen der Gottheit wissen. Ihren eigenen Willen
will sie wissen. Wenn der Mensch nach der Zukunft fragt, wenn er um jeden
Preis den Ausgang seines Unternehmens, die Folgen seiner Handlungsweise
wissen \vill, so möchte er im Grunde nur den eigenen Anteil an der Zukunft er-
fahren, möchte die eigenen Eingriff e in das Kräftespiel der Natur mit seinem
wahren Wesen und Willen in Einklang bringen. Je einheitlicher und selbst-
gewisser ein Mensch ist, um so geringer ist sein Orakelglaube und Orakel-
bedürfnis. Er hat es nicht nötig, die Gottheit in der Außenwelt zu suchen,
er braucht sich nicht durch eine Sternschnuppe, durch einen Wochentag,
durch ein vorüberlaufendes Tier, durch die Spielkarten, durch die Hand-
hnien belehren zu lassen, ob und wie er handeln soll, ob die Zukunft sich so
oder so gestalten wird. Er findet die Gottheit in sich selber, er gestaltet die
Zukunft selber; soweit er das nicht vermag, läßt er das Zukünftige und Ver-
borgene auf sich beruhen.
Da solche Menschen selten sind, da zumal die jugendliche Menschheit von
dieser Selbstsicherheit noch weiter entfernt war als die reifere Menschheit,
war das Bedürfnis nach Orakeln zu allen Zeiten groß, und das Wahrsagen
wurde eine Haupttätigkeit des Priesters aller früheren Religionen.
Neben den dauernden Orakelstätten von zum Teil großem Ruf und noch
größerem Reichtum gab es wandernde Orakelmänner, die weissagend von
Ort zu Ort zogen. Manchmal schlugen sie sich nur kümmerlich durch; ihr
allbekanntes Mittel, sich Geld und Gunst zu verschaffen, war, möglichst
schmeichelhafte und angenehme Dinge zu weissagen. Wenn ein Wahrsager
sich getraut, harte und böse Dinge zu weissagen, so nähert er sich schon dem
edleren Prophetentypus. Die schmeichelhaften Prophezeiungen trafen leider
noch seltener ein als die unangenehmen. Dann war guter Rat teuer; der
Wahrsager machte sich aus dem Staube oder erfand Ausflüchte. Allerorten
87
hat sich die Seherzunft darauf verstanden, die Orakelsprüche zweideutig
oder mehrdeutig abzufassen, und einer genaueren Erklärung aus dem Wege
zu gehen. Hatte die Älenschheit schon mit der Dunkelheit des Lebens zu
schaffen, so kam noch die Dunkelheit der göttlichen Weisungen hinzu. Jeder,
der nach einem Orakel handelte, mußte sich mit Bangen fragen, ob er es
denn nun auch richtig verstanden habe. In Griechenland liefen dunkle
Sprüche des Bakis um, in Rom \\airden sibj'llinische Bücher verwahrt.
Jedermann seufzte über die Unklarheit dieser Weisheitsschätze. Mancher
suchte Ersatz in deutlicheren Weissagemitteln ; aber das Üble war, daß die
deutlichsten Orakel zugleich die trügerischsten waren. Diese deutlichen
Orakel sind die sogenannten objektiven Orakel, die ohne Priester und Seher
unmittelbaren Bescheid geben.
Man kann nämlich alle Orakel in zwei Gruppen teilen: die subjektiven,
die entweder vom Priester und dessen Stellvertreter erteilt werden, oder
wenigstens von ihm gedeutet werden; hierhin gehören die Sprüche, Hallu-
zinationen und Träume; zweitens die objektiven, die auf unmittelbarer Deu-
tung äußerer Ereignisse beruhen. Die ersteren sind fast immer unklar, treffen
aber oft das Richtige, weil sie die Weisheit des unbewaißten Seelenlebens
sind. Die letzteren sind fast immer unzweideutig, aber meist völlig wertlos,
weil die gedeuteten Ereignisse nichts mit dem Frager und der Frage zu
tun haben. Die objektiven Orakel kann man noch \\deder in solche teilen,
die keine besondere Kenntnis und Technik erfordern, und in solche, die durch
Vermittlung von Fachleuten eingeholt werden. Zu jenen gehören vor allem
die Losorakel. Um ein Losorakel einzuholen, braucht man keinen Priester.
Jeder Laie kann das Los befragen, indem er beliebigen Gegenständen den
Charakter von Losen gibt und dieselben nun auf irgendeine Art zum Spre-
chen bringt. Am einfachsten ist es, wenn das Los nur über Ja und Nein
entscheiden soll. Man kann ihm aber auch sachliche Entscheidungen ent-
locken. Z. B. kann man die Bibel als Orakel benutzen, indem man sie aufs Ge-
ratewohl aufschlägt und den Satz, auf den das Auge zuerst fällt, zur Richtschnur
nimmt. Die Bibelstelle wird also zum Los, das man zieht. Dies Bibelorakel
war früher allgemein üblich und erfreut sich noch heute großer Beliebtheit.
Eine andere Art des Losens finden wir z. B. im Homer beschrieben. Die
Helden, die sich zum Zweikampf mit Hektor bereiterklärt haben, werfen je
einen vorbezeichneten Gegenstand in einen Helm. Der Helm wird geschüttelt,
eines der Lose springt heraus, und der Besitzer dieses Loses ist damit von der
Gottheit als berufener Kämpfer auserwählt. Ferner gehören unzählige Vor-
bedeutungen (Omina) in diese Gruppe der Orakellose, z. B. daß es Unglück
bringe, wenn man durch eine andere Tür hinausgehe als man eingetreten ist,
oder wenn man einen Vogel von links her vorbeifhegen sieht, oder wenn man
SS
einer alten Frau begegnet. Die Bedeutung dieser und vieler ähnlicher Omina
ist durch die Tradition ein für allemal festgelegt und führt in den meisten
Fällen auf religiöse Vorstellungen zurück. Die neue Generation findet die
Deutung vor und handhabt die Orakel ohne Hilfe von priesterlichen Mittels-
personen. Von der christlichen Rehgion werden diese Omina meist nicht an-
erkannt und als Aberglaube bekämpft; jedoch erkennt dieselbe Rehgion
sichtbare „Winke" Gottes an, die auch nichts weiter sind als Omina. Z. B.
wenn der Blitz dicht neben einem Menschen niedergeht, oder wenn m.an
anderen merkwürdigen Zufällen ausgesetzt ist, erklärt das der christliche
Priester für Zeichen, die uns die Gottheit gibt. Ähnlich wurde bei den Grie-
chen das Geschrei der Eule und der Flug mancher Vögel als unmittelbares
Zeichen der Götter aufgefaßt.
Andere Omina kann der einzelne in jedem Augenblick neu erfinden. Er
kann gewissen Gegenständen und Ereignissen Unglücksbedeutung, anderen
Glücksbedeutung beilegen. Er kann z. B. sagen: wenn morgen die Sonne
scheint, so führe ich das geplante Vorhaben aus, wenn nicht, lasse ich es
fallen. Dabei kann man den Einfluß der Abulie deuthch erkennen: die
Sonne, oder was es sonst ist, soll uns die Verantwortung abnehmen, soll
uns schieben und bestimmen. Die Wahl der Glücks- und Unglücksomina ist
nur scheinbar zufällig, meist wirken unbewußte Vorstellungen mit, die auf
frühere Erlebnisse des einzelnen oder der Gemeinschaft zurückgehen. Ver-
drängte Erinnerungen beeinflussen unser Handeln auf Schritt und Tritt.
Der Priester stand von jeher unter dem besonderen Einfluß solcher Er-
innerungen, die sich auch in plastische Gestalten und in zeremonielle Hand-
lungen umsetzen konnten, worauf wir in dem Abschnitt ,, Religion und
Spiel" näher eingehen werden. Der Priester fühlte und sah überall Vorbe-
deutungen, überall Mahnungen und Warnungen der Macht, der er sich er-
geben hatte. Diese göttlichen Fingerzeige aber waren nichts weiter als die
Regungen seines eigenen Seelenlebens, teils Bemühungen des Bewußtseins,
die unterdrückten Geister nicht hochkommen zu lassen, teils Gegenwirkun-
gen dieser unterdrückten Geister. In diesen Fällen sind auch die rein objek-
tiven Orakel sinnvoll und wertvoll. Der Priester wählte und beachtete eben
diejenigen Omina, die mit seinem Seelenleben in einem wenn auch verbor-
genen Zusammenhange standen. Die Omina können geradezu in die Stellung
der Erinyen, des sokratischen Daimonions, des Gewissens, einrücken. Es
wäre eine dankbare Aufgabe, die Orakelgegenstände und vorbedeutenden
Ereignisse älterer und neuerer Zeit einmal nach diesem psychologischen Ge-
sichtspunkt zu untersuchen.
Als zweite Gruppe der objektiven Orakel wollten wir diejenigen bezeichnen,
deren Deutung eine fachmännische Mitwirkung erfordert. Hier fallen uns
89
sogleich die Opferorakel ins Auge. Bei den Griechen und Römern gehörte es
zu den v\'ichtigsten Obliegenheiten der Priester, die Vorgänge während der
Opferung zu beobachten, das getötete Opfertier zu untersuchen und aus den
Eingeweiden festzustellen, ob das Opfer günstig oder ungünstig sei. Wenn
etwas \^'idriges vorfiel, wenn die Organe abnorm gebildet waren, abnorm
gelagert waren oder gar ein Organ zu fehlen schien, war das ein sehr übles
"S'orzeichen. Das Unternehmen mußte aufgegeben oder das Opfer erneuert
werden. Die römischen Haruspices hatten eine verwickelte Opferschautech-
nik ausgebildet, und von den Griechen wissen wir, daß mehr als ein Krieg
infolge der Opferergebnisse ein unerwartetes Ende genommen hat. Die
Opferpriester und Propheten wurden bei den Griechen und bei anderen
"\^ölkern mit in den Krieg genommen. Bevor man eine Schlacht lieferte, einen
Fluß überschritt oder einen anderen bedeutenden Entschluß faßte, mußte
die Gottheit befragt und ein Orakelopfer gebracht werden. Fiel es gut aus,
so war das ganze Heer wohlgemut, und diese belebende Wirkung hat gewiß
oft dazu beigetragen, den Götterwillen wahrzumachen und die Opferschau
der Priester durch den Erfolg zu rechtfertigen. Fiel es ungünstig aus, so
unterblieb entweder das Unternehmen, oder, wenn der Feldherr seiner Sache
recht gewiß war und gar nicht an Abulie litt, errang er die göttliche Zustim-
mung dadurch, daß er immerfort von neuem opfern ließ, bis er ein günstiges
Ergebnis erhielt. Der Priester konnte wohl auch ein wenig nachhelfen, um
die Götter in Übereinstimmung mit dem Feldherrn zu bringen. Mindestens
hat sein Wille unbewußt mitgewirkt; die überlieferten Auslegungsregeln
ließen gewiß hie und da eine kleine Lücke, wo er seine schicksalsverbessernde
Hand hineinschieben konnte. Das allgemeine Streben ging freilich dahin,
die Orakel so objektiv wie möglich zu machen; der subjektive Wille des
Priesters sollte gänzlich ausgeschaltet werden. Der Priester hatte selber
diesen Wunsch, solange er überzeugt war, daß sich %virklich die Gottheit
durch den Zustand der Eingeweide und die anderen Orakel kundtue. Er
wollte nur den Willen der Gottheit aus diesen Orakeln so untrüglich wie mög-
lich herauslesen. Daher hielt er sich streng an das von der Tradition über-
kommene Deutungsverfahren und setzte seinen Ehrgeiz nur darein, dies Ver-
fahren genau zu studieren und es mit Virtuosität zu handhaben. Wenn man
ihn dabei ertappte, daß er die Regeln falsch anwandte, erging es ihm meist
sehr schlecht, außer wenn der pohtisch-kriegerische Herr, dem er diente, so
aufgeklärt und so unbedenklich war, vom Priester bestimmte, seinen Zwecken
entsprechende Orakel zu verlangen und ihn für die Fälschungen zu belohnen.
Es ist heute nicht mehr möglich, über diese Dinge klar zu sehen und den
Anteil zu bestimmen, den das eine Mal der bewußte Betrug, ein anderes Mal
die unbewußte Mithilfe, ein drittes Mal der bare Zufall an den Orakelergeb-
90
nissen gehabt hat. Der fromme Herodot und der fromme Xenophon sind
überzeugt, daß die Opferorakel immer objektiv und immer götthch seien.
Sie haben in ihren Geschichtswerken den Einfluß dieser Orakel auf die Ge-
schicke ihres Volkes mit Vorhebe betont; auch die anderen antiken Histo-
riker waren mehr oder weniger im Orakelglauben befangen. Uns erscheint
es heute unfaßlich, daß die größten Entscheidungen von der Leber eines
Rindes oder der Niere eines Hammels abhingen. Wie erklärt es sich, daß
die Geschichte der alten Völker trotzdem vernünftig und zusammenhängend
verlaufen ist ? Daß die Mantels und Opferschauer, trotzdem sie ihre Zeit mit
dem Wühlen in Eingeweiden und dem Beobachten des Vogelflugs hinbrach-
ten, so kluge und einflußreiche Berater der pohtischen Gewalten gewesen
sind? Die subjektiven Zutaten zu den objektiven Orakeln müssen doch viel
größer gewesen sein, als die Berichterstatter uns verraten.
Eines der folgenreichsten objektiven Orakel — um andere, weniger wich-
tige zu übergehen — ist die Befragung der Gestirne. Die Wiege der Astro-
logie scheint in Altbabylon gestanden zu haben. Jedenfalls gab es dort schon
ein ausgebildetes astrologisches System, das sich in seinen Grundzügen bis
zum heutigen Tage erhalten hat. Man glaube nicht, daß die Astrologie im
heutigen Europa ausgestorben ist. Sie nimmt heute sogar einen neuen Auf-
schwung und gesellt sich den übrigen okkulten Weisheitsquellen hinzu, die
für unsere abulischen Zeitgenossen so reichlich fließen. Dem Glauben an die
Bedeutung der Gestirne für das menschliche Schicksal liegt die Beobachtung
zugrunde, daß die Sterne in auffallender Weise ihre Stellung verändern und
sich immer neu gruppieren. Die babylonischen Priester machten die Ent-
deckung, daß diese Bewegungen gesetzmäßig seien und ein geheimnisvoller
Rhythmus, eine in Zahlen darstellbare Ordnung sich in ihnen ausdrücke.
Da sie wie später die Griechen erkannten, daß Maß und Zahl das Weiseste
und Götthchste in der Welt sei, lag es nahe, die Ordnung hier auf Erden und
die Rhythmen des Menschen Schicksals mit jenen himmlischen Bewegungen
in Zusammenhang zu bringen. Dem rechnenden und schauenden Priester
schien sich ein erhabener Weg zu eröffnen, den Willen der göttlichen Mächte
zu erkunden, indem er die kleinen Ereignisse hier unten droben am Himmels-
gewölbe ablas. Das astrologische Orakel war ebenso objektiv, wie die Opfer-
schau. Der Wille des deutenden Priesters schien völlig ausgeschaltet. Darin
lag wohl ein Hauptreiz dieses Zweiges der priesterlichen Orakeltätigkeit.
Die Astrologie sah so wissenschaftlich aus. Sie konnte nicht trügen ; sie be-
ruhte ja auf den nüchternsten Berechnungen und deutlichsten Beobach-
tungen. Wer Sinn und Bedeutung der Sternbewegungen kannte, für den gab
es auf Erden kein Geheimnis und keine Irrtümer mehr. Klar lag alles Ge-
schehen vor ihm da.
Aber freilich: wer kannte Sinn und Bedeutung des himmlischen Reigens?
Wer enträtselte das erhabene Spiel der sieben Planeten götter und der Geister-
gestalten, die man in den Sterngruppen zu erkennen glaubte? Das war der
wunde Punkt dieser wie aller anderen Orakelweisheit. Die Priester konnten
nur zwei Quellen für ihre Deutungen angeben : Offenbarung und Erfahrung.
Entweder hatten die Götter selber den Sinn der Sternbewegungen, der
Opfereingeweide und aller anderen Zeichen den Priestern verraten, sei es
den jetzigen Priestern durch Gesichte, sei es den älteren Geschlechtern, von
denen es die nachgeborenen Priester überkommen hatten. Oder aber die
Priester hatten durch systematische Beobachtung der Gestirne und durch
Sammlung aller Fälle, in denen bedeutende Ereignisse auf der Erde mit ent-
sprechenden Ereignissen am Himmel zusammengetroffen waren, den Ge-
stirngöttern ihre Geheimnisse abgelauscht. Das waren die beiden Erkennt-
nisquellen; beide waren unvollkommen und unzuverlässig. Den Priestern
selber kam das nicht zum Bewußtsein, weil der Orakelglaube als solcher
ihnen unerschütterlich feststand; aber wenn sie ehrlich waren, mußten sie
mit Seufzen bekennen, daß die Gottheit ihnen immer noch ihre letzte Weisheit
verberge, sie irreführe und betrüge. Und das Volk fühlte sich wiederum von
den priesterlichen Astrologen betrogen. Tacitus sagt an einer Stelle seiner
Annalen: ,,Der größte Teil der Menschen läßt sich den Glauben an die Vor-
herbestimmung der Lebensschicksale jedes Menschen bei seiner Geburt
nicht nehmen. Sie geben zwar zu, daß die Prophezeiungen dieser Schicksale
sich nicht immer bewahrheiten, meinen aber, daß das an den falschen und
unwissenden Propheten läge. Die Astrologen selber erschütterten den Glau-
ben an eine Wissenschaft, die ihre Kraft in alter und neuer Zeit aufs herr-
lichste bewiesen habe." Tacitus erzählt nämlich an dieser Stelle von dem
Verhältnis des Kaisers Tiberius zur Astrologie. Tiberius, und mit ihm fast
das ganze späte Altertum, glaubte fest an die astrologische ,, Wissenschaft" ; er
hatte sie auf Rhodus genau studiert. Die orientalischen Astrologen, die ,,Chal-
däer", die ,, Magier" und andere Wundermänner überschwemmten damals
das Abendland. Es waren Propheten im vollen Sinne des Wortes. Ihre Weis-
heit stammte teils von den gelehrten babylonisch-assyrischen Priesterschaf-
ten her, teils aus anderen priesterlichen Quellen des Orients. In Rom hatten
sie besonders festen Fuß gefaßt; die ganze vornehme Welt lief ihnen zu.
Wie Tacitus berichtet, war viel zweifelhaftes Gesindel unter ihnen, und
wenn ihre Prophezeiungen politisch unbequem wurden, suchte man sich
ihrer durch schwere Strafen und Verbannungsdekrete zu entledigen. Tibe-
rius hatte einen Hofastrologen, namens Trasullus, dem er das größte Ver-
trauen schenkte. Er nahm seine Aussprüche als untrügliche Orakel hin und
zog ihn in seinen engen Freundeskreis. Die romantische Geschichte, wie
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Tiberiuä diesen Trasullus kennen gelernt und auf die Probe gestellt hat, lese
man bei Tacitus selber nach (Annalen, Buch 6, S. zgSÜ. meiner Über-
setzung).
Von der christlichen Kirche wurde die Astrologie mit allen anderen Orakel-
verfahren des Altertums in den Bann getan. Nicht eigentlich deshalb, weil
man das Orakelwesen für sinnlos und die Propheten für Betrüger hielt; nein,
so aufgeklärt war das Mittelalter nicht und ist das kirchhche Christentum
noch heute nicht. Man bekämpfte die alten Götter, und die Orakel waren
Ausflüsse dieser heidnischen Mächte. Daß die sieben Planetengötter der alten
Welt weiterlebten, bezeugt ihre Nachwirkung in den christlichen Urkunden
und Einrichtungen. In der Engellehre zumal ist viel Astrologisches ent-
halten. Aber das waren unfreiwillige Entlehnungen ; bewußt wollte das Chri-
stentum mit dem ganzen Orakelwesen aufräumen. Der Christ sollte sich an
Gott und die christlichen Untergötter im Gebet wenden, nicht durch Orakel.
Die christlichen Gottheiten offenbarten sich ohne Vermittlung; in Gebet und
Ekstase wurde man eins mit ihnen und hatte daher nicht mehr nötig, mit
Hilfe von künstlichen Verfahren ihren Willen zu erforschen. Der Fromme
trug den Geist immer mit sich; er vertraute sich den geheimen Schicksals-
mächten mit voller Seele an und nahm jedes Ereignis als Gnadengabe Gottes
auf. Diese christliche Lebensauffassung ließ in der Tat für das Orakeiwesen
keinen Raum. Wer Orakel einholt, fühlt sich nicht eins mit der Gottheit,
sondern fühlt das All als eine fremdartige, dämonische Macht. Er will den
Sinn der Geschehnisse und Zustände in der Welt erst enträtseln ; indem er das
tut, legt er natürlich sich selber und seine eigenen Zustände in die Natur
hinein.
Der heidnische Priester besitzt nicht das gläubige und hingebende Ver-
trauen in den Gang der Dinge, das der christliche Priester hat oder zu haben
vorgibt; darin drückt sich vielleicht einer der Grundgegensätze zwischen
Christentum und Heidentum aus. Die babylonischen, ägyptischen und grie-
chischen Priester würden in der christlichen Gottseligkeit wahrscheinlich
die Ehrfurcht und den Stolz vermißt haben : die Ehrfurcht vor den Geheim-
nissen und unfaßbaren Willenskräften der Natur, den Stolz des selbständigen
götterbezwingenden Menschen gegenüber diesen Naturmächten. Der Heide
stand mit der Gottheit nicht auf Du und Du wie der Christ; er nannte sie
nicht Vater und Geliebter. Sie war ein Etwas, das es zu gewinnen und zu
beugen galt ; der Mensch rang der Gottheit sein Leben und Glück durch die
Tat und durch die religiösen Hilfsmittel ab.
Der Christ muß, wenn er ein guter treuer Christ sein will, in jedem Ver-
such, die Natur zu besiegen und aus ihr den Willen Gottes herauszulesen,
verwerfliches Heidentum erblicken. Die schlechten Christen waren es, die
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am Orakelwcsen festhielten und es in immer neuen Formen fortsetzten.
Diese schlechten Christen fanden aber dankbare Abnehmer genug ; denn wer
erlebte nicht Stunden der „Anfechtung", in denen das Vertrauen in den
liebenden Vatergott dahinstarb ! Die Astrologie feierte in der Renaissancezeit
eine vollkommene Auferstehung. Sie wurde natürlich nicht von den Ver-
tretern der anerkannten Gemeindereligion gepflegt, nicht unter die Heils-
schätze der Kirche eingereiht ; aber das Volk und seine privatpriesterlichen
Führer waren ihr so treu ergeben wie einst im Altertum. Der Privatzauberer
hatte seine Entwicklung zum Gelehrten durchgemacht und die Haupt-
wissenschaften, die er trieb, hießen; Heilkunde, Alchimie, Astrologie. Alle
drei sind durch und durch heidnisch. Das streng konsequente Christentum
verzichtet auf die Wegschaffung gottgesandter Leiden, verabscheut den
irdischen Reichtum, will sein Leben nicht dmrch Orakel und den ,,Tanz der
Sterne" lenken lassen. Trotzdem hatte das Christentum längst mit diesen
unchristhchen Menschlichkeiten Waffenstillstand geschlossen und sog nun
immer mehr das Gift des neueren europäischen Denkens und Forschens ein.
Das Gemeindepries tertum gewöhnte sich daran — was in früheren Kultur-
epochen undenkbar gewesen wäre — , von dem Zauberer, d. h. von der selb-
ständigen Persönlichkeit und von gelehrten Laiengenossenschaften Weisheit
zu empfangen, Lebensführung zu lernen, sich die Welt deuten und vertraut
machen zu lassen. Der christHche Priester begab sich mehr und mehr des
alten Grundrechtes, selber Weisheitsbote und Lehrer der Menschheit zu
sein. Gott zog sich von den Menschen zurück, daher blieb dem Priester in
der Tat nichts anderes übrig, als in die Schule der heidnischen Wissenschaft
zu gehen und sich zu den Füßen ungläubiger Forscher zu setzen.
Wir lassen heute die Astrologie, Alchimie und dämonologische Medizin
nicht mehr als Wissenschaften gelten; aber die Tendenz dieser ,, Vorwissen-
schaften" war genau dieselbe, wie die der heutigen Wissenschaften. Nur das
zugrunde liegende Weltbild war anders, daher auch die Mittel, die der for-
schende Mensch anwandte, um der Natur ihre Geheimnisse zu entlocken
und sie in seinen Dienst zu zwingen. Die damahge Forschung beging, wie
wir heute erkennen, Irrtümer; aber diese Irrtümer waren ebenso ehrlich
erobert, wie die heutigen Forschungsergebnisse, die einer späteren Zeit viel-
leicht ebenfalls als Irrtümer gelten werden. Wenn sich ein heutiger Gelehrter
zur Astrologie bekennen woUte, so würde er damit aus dem Kreise der For-
scher ausscheiden, ebenso, wie ein Bekenner der christlichen Dogmen höch-
stens in einer Einzelwissenschaft, aber nicht im Gesamtbereich der For-
schung heimatsberechtigt ist. Zur Zeit Luthers war das ganz anders. Damals
fußte aUe Welt auf den Voraussetzungen, die heute von den Denkenden auf-
gegeben sind. Daher waren der Astrologe, der Theologe, der Wissenschaft-
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liehe Goldmacher echte Wahrheitsforscher und würdige Führer des dama-
ligen Denkens. Sie dienten dem Leben, wie der heutige Biologe und Soziologe.
Statt mit den heutigen Gesetzen und Kräften operierten jene alten Forscher
mit „Intelligenzen", ,, Emanationen", kurz mit dämonenartigen Wesen-
heiten in der Welt (vgl. über die Geheimwissenschaften die Darstellung bei
Lehmann : Aberglaube und Zauberei). Die dämonologische Weltanschauung
zu überwinden, fehlte es jenen Zeiten an den wissenschaftlichen Mitteln;
was man von den Gelehrten der Renaissancezeit verlangen kann, ist nur:
wissenschaftliche Begründung und Verwertung dieser Weltanschauung. Und
das haben jene Männer wie Agrippa, Paracelsus usw. in vollem Maße ge-
leistet. Sie waren treue Arbeiter im Dienste des hohen Lebensideales, das
zuerst von den Griechen mit Klarheit geschaut und mit Unerschrockenheit
erobert worden ist.
So wenig wir es den Griechen und Römern verargen, daß sie an Orakel
glaubten und den Versuch machten, die Dämonologie auf eine wissenschaft-
liche Basis zu stellen, so wenig dürfen wir es den Gelehrten des sechzehnten
Jahrhunderts verargen. Heute dagegen ist, so scheint es wenigstens mir,
der Orakelglaube und jeder Okkultismus ein Rudiment oder ein Atavismus.
Wir bestreiten nicht, daß uns die Vorgänge und Kräfte in der Welt in vielem
Betracht noch unerklärlich und verborgen (okkult) sind; aber die Dämono-
logie kann diese Dunkelheiten nicht erhellen; die dämonologische Weltan-
schauung ist jedem Denkenden einfach verboten. Nur innerhalb dieser
Weltanschauung haben aber die Zukunftsdeutung und das ganze Orakel-
und Offenbarungswesen Sinn und Berechtigung. Wir werden rettungslos in
die alten religiösen Phantasmen zurückgeschleudert oder sehen uns zur Er-
richtung eines dürftigen Neubaues, wie ihn Du Prel, Davis, Frau Bla-
VATSKY und andere versucht haben, genötigt, wenn wir die Grundlagen der
wissenschaftlichen Weltanschauung der letzten Jahrhunderte verlassen, um
die angebhchen okkulten Erfahrungen und ausschweifenden Wünsche un-
serer heutigen Lebensromantiker mit dem übrigen Kulturbesitz unserer Zeit
in Einklang zu bringen. , ,
iUi 4. GEBET UND PREDIGT —
Der Prophet ist Zauberer und Gelehrter ; aber er ist auch Beter und Prediger.
Jene Fähigkeiten liegen nicht so weit von diesen entfernt, wie es zunächst
den Anschein hat. Was ist das Gebet? Zu einem guten Teil Zaubermittel.
Was ist die Predigt ? Zu einem guten Teil Darstellung und Nutzbarmachung
von Forschungs- und Denkergebnissen.
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Das Gebet geht Nvie alle religiösen Verrichtungen auf menschliche Urtriebe
zurück. Der Geängstigte und Bedrängte stößt Wehlaute aus, der freudig Er-
regte Jubellaute. Gedanken und Bedürfnisse werden Wort, sowie sie Hand-
lungen werden. Nachdem sich der Zauberglaube der sprachhchen Äußerun-
gen des Menschen bemächtigt hat, wird aus diesen Lauten und Worten die
primitive Gebetform. Das primitive Gebet ist ein Machtwort, durch das
Zauberwirkungen hervorgerufen werden sollen. Es richtet sich noch nicht
an eine Person, nicht an Dämonen oder Götter; es trägt seine Kraft in sich
selber und verursacht durch seine bloße Existenz, d. h. dadurch, daß es aus-
gesprochen wird, Veränderungen in der Welt. Z. B. kann man durch ein
solches Gebet den Pfeil treffsicher machen oder dem Wind Stille gebieten.
\'ielfach genügt die einfache Beschreibung dessen, was man erfüllt sehen
möchte. Wenn ich z. B. sage: jener Mensch wird sofort einen Schmerz in der
Brust fühlen, wird umsinken und nach kurzer Krankheit sterben — so sind
diese Erklärungen, wenn sie in die richtigen zauberkräftigen Worte gebracht
werden, ein Gebet, das sich nach Meinung der primitiven Menschheit unfehl-
bar verwirklicht, falls kein Gegenzauber angewendet wird. Das Wort tötet,
das Wort macht lebendig, das Wort ist allmächtig! Nur muß man das rich-
tige Wort finden und über eine genügende Kraft (,,Orenda") verfügen. Auf
Gottes Wort hin entstand nach Meinung der israelitischen Priester die Welt ;
auf das Wort der Priester und Zauberer entstehen Veränderungen und leben-
dige Wirkungen in der gottgeschaffenen Welt.
Die uralte Überzeugung von der Macht des gesprochenen Wortes finden
wir heute begreiflicher und berechtigter, als unsere Eltern vor Entdeckung
der Suggestionswirkungen. Wenn ein Starker vor willigen und gläubigen
Hörern spricht, verwandelt sich in der Tat das, was er sagt, in Wirklichkeit.
Er zwingt sie zum Glauben, er erweckt die Gefühle, die er will, verändert ihre
Gedanken, läßt Bilder vor ihnen erscheinen, erscliaf f t ihnen die ganze Welt neu
— alles das durch bloße Worte. Wohl hat die Macht des Wortes ihre Gren-
zen, aber innerhalb dieser Grenzen ist sie unvergleichlich. Die geringe Be-
wegung Ideiner Organe im menschlichen Kehlkopf und Rachen bringt mit
Hilfe hindurchstreichender Luft Wirkungen hervor, die alle anderen Wir-
kungen menschlicher Kraft weit überragen. Das Beste, was der Mensch ge-
schaffen und ausgerichtet hat, verdankt er dem Wort. Das Johannisevange-
lium hat recht: das Wort ist Gott. Den primitiven Völkern mußte dieser
Glaube noch näherliegen als uns, weil sie der Suggestion zugänglicher sind
als der Kulturmensch. Es steht fest, daß das Wort des Zauberers viele Men-
schen krank gemacht und getötet, viele geheilt, viele um ihr Gedächtnis be-
trogen, viele zu Halluzinationen und Wahnbildungen gezwungen, viele zur
Tatkraft und Selbstüberwindung vermocht hat.
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Das Gebet besteht oft, wie ich schon sagte, in einer einfachen Beschreibung
des erwarteten und erwünschten Vorganges. Der Zauberer schildert Schritt
für Schritt, was sich ereignen wird; je anschauhcher er beschreibt, je klarer
und folgerichtiger seine Worte den Vorgang malen, um so fester vertraut er
darauf, daß sie sich in Wirklichkeit verwandeln werden. Auf diese Weise
wird der Zauberspruch zum dichterischen Kunstwerk, worauf wir im näch-
sten Kapitel zurückkommen werden.
Das Gebet ist oft eine Fluchformel. Durch das Hersagen der verwünschen-
den Worte geht ihr Inhalt in Erfüllung. Die Formel hat unmittelbare Zauber-
kraft; sie ist daher eine vernichtende Waffe. Unberechtigter Gebrauch von
Verwünschungsformeln wird in den älteren Staaten schwer bestraft; um so
mehr sucht sich jeder in den Besitz solcher Fluchgebete zu setzen, und wer
eines besitzt, hält es geheim oder verkauft es nur gegen hohe Belohnung.
Wie die Priester ihre Arzneien und Gifte verbargen oder teuer hergaben, so
auch ihre Gebetsformeln. Diese Schätze wurden dem priesterüchen Nach-
wuchs vererbt.
An den zahlreichen Grußworten und Glückwunschformeln der verschie-
denen Sprachen kann man ebenso deutlich, wie an den noch zahlreicheren
Flüchen und Unglücksworten ersehen, wie große Bedeutung der Wortzauber
in der Vorzeit gehabt hat. Unsere Voreltern hätten gewiß nicht fortwährend
Wünsche auf den Lippen gehabt, wenn sie nicht an deren verwirkhchende
Kraft geglaubt hätten. Auch heute lebt noch ein Rest dieses Glaubens in
uns. Wenn man jemandem Erfolg und Gesundheit wünscht, einen anderen
mit dem häßlichen Wunsche entläßt: möge ihn der Teufel holen!, so hat man
ohne Zweifel das Gefühl, daß diese Wünsche einen wenn auch nur geringen
Einfluß auf das Schicksal des Betreffenden haben werden. Anderenfalls
würde man sich die Wünsche wohl ersparen. Wir können uns diesen unseren
Wunschaberglauben ruhig eingestehen, ohne deshalb Anhänger R, W.
Trines und der Mrs. Eddy werden zu müssen.
Was bei dem heutigen Menschen ein Rudiment, eine falsche Ausdeutung
unseres begründeten Glaubens an die Macht der Suggestion ist, war dem
primitiven Menschen religiöse Gewißheit. Das Aussprechen der Fluchformel
über einen Stammesgenossen z. B. war eine der feierlichsten Handlungen im
öffentlichen Leben der älteren Staaten und Religionsgemeinden. Das Ver-
fluchen war an sich schon eine Bestrafung, nicht bloß deshalb, weil der Ver-
fluchte aus der Gemeinde ausgestoßen wurde. Die in der Bannformel ent-
haltenen Unglückswünsche mußten sich, so meinte man, buchstäbhch er-
füllen, nachdem der Priester oder Häupthng die Formel in der richtigen
Weise, unter den althergebrachten Zeremonien über den Verurteilten ge-
sprochen hatte.
7 Horneffer, Der Priester II Oy
Als der Dämonen- und Götterglaube sich durchsetzte und fortentwickelte,
suchte man dem Zauberspruch dadurch gesteigerte Kraft zu verleihen, daß
man ihn mit einer Anrufung der höheren Wesen verband. Dadurch wurde er
zum Gebet im geistigen, heute üblichen Sinne. Der Zauberer zog die Gottheit
in seine Formeln hinein ; er vermehrte die Zauberkraft, die er selber besaß,
durch die Kraft der Geistwesen, die er sich geneigt gemacht hatte. Schließ-
lich überließ er die ganze Handlung der Gottheit. Wenn er z. B. einen Feind
durch einen Spruch krank machen wollte, richtete er diesen Spruch nicht
direkt gegen sein Opfer, sondern wandte sich an die Gottheit mit dem Er-
suchen, ihre Kraft gegen den Betreffenden in Tätigkeit zu setzen. Das Gebet
ist ein Umweg, wie wir es oben von den Zauberhandlungen im allgemeinen
gesagt haben. Die Gottheit wird zu Hilfe gerufen, um irgendwelche Wir-
kungen hervorzubringen, die der Beter selber nicht zu erzielen vermag und
doch gern erreicht sähe.
Die Form, unter der die götthche Hilfe in Anspruch genommen wird,
richtet sich nach den Vorstellungen über Wesen und Art der Götter, die das
betreffende Volk hat. Wenn der Priester die Gottheit nicht anwesend glaubt,
sucht er sie herbeizuholen. In diesem Fall enthält das Gebet laute und oft
langanhaltende Lockrufe, und wird durch Geräusche, Musik, Geisterzwang
unterstützt. Noch in den höchsten Religionen beginnen viele Gebete mit
dem Anrufe: ,,Konim!" oder ,, Erscheine!" oder ,, Kehre bei uns ein!" Ein
gutes Beispiel ist auch Sapphos berühmtes Gebet an Aphrodite, wo der
dringende Anruf durch eine ausführliche Beschreibung des Erscheinens der
Göttin unterstützt wird. Sappho erinnert Aphrodite daran, daß sie ihr schon
früher Beistand geleistet habe, und beschreibt dabei mit schöner Deuthch-
keit, wie Aphrodite damals auf den Hilferuf der Dichterin das goldene olym-
pische Haus verlassen, den Wagen angeschirrt und über die dunkle Erde
dahergekommen sei. So möge sie auch jetzt tun, möge herbeieilen und der
Liebesgequälten zum Ziel ihrer Wünsche verhelfen! Diese Schilderung ist
nach allen Regeln der uralten Kunst entworfen: reale Wirkungen durch be-
schwörende Darstellung des gewünschten Vorganges zu erzielen. Das Ge-
dicht Sapphos kann als ein Muster jener Gebetsform gelten, bei der der Zau-
berspruch mit dichterischer Kunst ausgeführt und mit der Anrufung der
Gottheit verknüpft ist.
Wenn möglich, wird der Betende der Gottheit den Weg ersparen. Er wird
sie dort aufsuchen, wo sie sich erfahrungsgemäß aufhält, d. h. an ihrer hei-
ligen Wohnstätte. Es begibt sich daher zum Tempel, zum Heroengrabe, zum
heiligen Baume, oder wo das angebetete Wesen sonst weilen mag. Auch der
Christ hat sich davon noch nicht losgemacht; er hält ein im geweihten
Räume gesprochenes Gebet, einen im Hause Gottes abgehaltenen Gottes-
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dienst für wirksamer, als wenn er mit Gott an einem beliebigen Orte ver-
kehrt. Wo Gott wohnt, findet man ihn am leichtesten und wird am besten
gehört. Daher wohnt denn auch der Priester in nächster Nähe der Gottheit.
Schon bei den Naturvölkern ist des Priesters Behausung an oder bei der
heiligen Stätte. So kann er sich jederzeit des Gottes versichern, kann ver-
traulich mit ihm reden und kann auf willige Erhörung seiner Wünsche rechnen.
Ist der Priester der Gabe teilhaftig, sich durch hysterische Anfälle und
im religiösen Rauschzustande in die andere Welt hinaufzuschwingen, so fällt
die letzte Scheidewand zwischen dem Beter und dem Angebeteten. Das Ge-
bet ist dann ein Mittel, den Priester zur Gottheit hinzutragen, damit er ihm
sein Anliegen von Angesicht zu Angesicht vortragen und Gottes liebende
Zustimmung körperlich fühlen kann. Es gibt Gebete, die deuthch den Charak-
ter von Hypnotisierungsmitteln tragen, und man begreift, daß der Priester
solche „erhebenden" und , .vergottenden" Gebete besonders in Ehren hielt,
sie sammelte, den Gläubigen anempfahl und der Nachwelt überlieferte.
Diese Gebete leisteten ja das Höchste, was man von einem Gebete verlangen
kann : sie schlössen mit der Bitte zugleich die Zuversicht ein. Erhörung ge-
funden zu haben. Wer ein solches Gebet sprach und genügend gläubige
Suggestibilität besaß, erhob sich in die lichten Höhen der Bewußtlosigkeit,
vollzog die unio mystica mit Gott und kehrte als ein Beglückter und Be-
gnadeter zurück. Gott hatte diesen Betenden nicht bloß erhört, sondern ihn
stärker und freier gemacht.
Die Hypnotisierungswirkung der Gebete wird auf verschiedene Weise er-
reicht. Wir wollen vier Mittel nennen : erstens die anschauliche Beschreibung,
die wir schon hervorhoben (dadurch wird die Bildung von Halluzinationen
angeregt), zweitens das Nennen heiliger Namen und furchtbarer Gegen-
stände (was Erschütterungen des Gemüts und Verwirrung des Denkens er-
zeugt), drittens die Wiederholung derselben Worte (was einschläfernd oder
aufregend wirkt), viertens die Herrichtung einer hypnotisierenden Um-
gebung. Wir wollen nur über den vorletzten Punkt eingehender sprechen.
Warum werden in fast allen Religionen die Gebete mehr als einmal ge-
sprochen? Schon der Wilde wiederholt die kurzen, zum Tanze gesungenen
Sprüche hundert- und tausendmal. Der Mensch der Halbkulturstufe plap-
pert unermüdlich die gleichen Gebetsformeln; und im christlichen Europa
ist die Gebetswiederholung ebenfalls eine allgemeine, wenn auch oft ver-
urteilte und verlachte Erscheinung. Offenbar nehmen doch die eifrigen Beter
an, daß ihr Gebet um so wirkungsvoller wird, je öfter sie es wiederholen.
Wie erklärt sich diese wunderliche Annahme?
Zunächst müssen wir wohl die Gedankenarmut des menschlichen Geistes
in Rücksicht ziehen. Wenn der Zauberpriester mit der Gemeinde Regen er-
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fleht, ist es leichter, die Worte: „Gib uns Regen!" hundertmal zu wieder-
holen, als den Wunsch in immer neue Worte zu kleiden. Das einmalige Aus-
sprechen der drei Worte vermag aber die Spannung nicht zu lösen, in der
die Betenden sich befinden. Dazu braucht es längere Zeit, eigentlich so lange
Zeit, als bis das Gebet sich erfüllt hat. Ehe der Regen nicht eingetreten ist,
wissen diese Kinder ja nicht einmal, ob das angerufene Wesen die Bitte
überhaupt vernommen hat, weshalb man auch beim Beten die Stimme immer
mehr anschwellen läßt, die Tonhöhe steigert und im Tempo immer rascher
und wilder wird. Das zeigt deuthch die Verwandtschaft der betenden Natur-
völker mit bittenden und drängenden Kindern, die mit wunderbarer Hart-
näckigkeit und Leidenschaft ihre Wünsche zu erzwingen suchen. Götter und
Mütter, so scheint es, erliegen, wenn nicht der einfachen, so doch der endlos
wiederholten Bitte.
Abgesehen von diesem äußeren Vorteil, bringt die Gebetswiederholung
noch anderen Gewinn. Die Erhörung ist bei religiösen Bitten immerhin zwei-
felhaft, wenn auch bei dem Gebet um Regen und um andere von der Zeit
abhängige Dinge die Erfüllung wirklich um so näherrückt, je länger man
mit Beten fortfährt — nach mehrwöchentlichem Gebet sollten sich die
Regengötter doch wohl erweichen lassen ! — aber der psychische Erfolg der
Wiederholung ist fast unfehlbar. Die Gebetswiederholung wirkt wie ein lange
fortgeführter Rauschtanz; die Betenden geraten endlich in einen traum-
haften Zustand oder in ekstatische Erregung. Und dadurch wird ebenfalls
eine Art Erfüllung des Gebetes erreicht, wenigstens eine Phantasie- und
Gemütserfüllung. Die seelische Spannung löst sich, die Begierden finden eine
Ersatzbefriedigung. Das kann durch ein kurzes unwiederholtes Gebet nicht
erzielt werden, oder doch nur dann, wenn der Betende bereits durch andere
Mittel in die religiöse Stimmung versetzt worden ist, sodaß das Gebet die
Schale nur zum Überfließen bringt.
Wir werden auf die Bedeutung der Wiederholung vielleicht noch im näch-
sten Kapitel, bei Besprechung der religiösen Kunst, zurückkommen. Man
darf behaupten, daß ein gut Teil der menschlichen Abhängigkeit vom Prie-
ster und den priesterlichen Schöpfungen auf der geheimnisvollen Wirkung
der Wiederholung beruht. Der Priester, als der größte und erfolgreichste
Hypnotiseur auf Erden, wußte sehr wohl, was er tat, als er den Gläubigen
verkündigte: je öfter ihr die Gebete wiederholt, um so frommer seid ihr
und um so sicherer findet ihr Erhörung ! — Er empfahl außerdem bestimmte,
geheiligte Gebetsformeln, die mit Stimmungsgehalt bereits durchtränkt
waren. Er lehrte: Gott will nicht beliebige Gebetsformeln hören, die der ein-
zelne erfindet, sondern immer wieder die alten, aus der Vorzeit stammenden.
Diese Gebete hat Gott selber den Menschen gegeben; in ihnen steckt eine
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ganz besondere Kraft. Sie muß man sprechen, und zwar ohne jede Änderung,
und je öfter man sie spricht, um so besser. Hat man Gott besondere Wünsche
vorzutragen, so füge man dieselben in die Reihe der allgemeinen Gebete ein,
oder drücke sie in ähnlichen Wendungen aus, wie sie in den geheiligten For-
meln und Urkunden vorkommen. So beginnen denn viele größere Gebets-
handlungen mit allgemeinen feststehenden Gebeten ; dann kommen die wech-
selnden, den jeweiligen Umständen entsprungenen Anrufe und Wünsche,
und den Schluß machen wieder allgemeine Formeln, Mit der Organisierung
der Gemeindereligion, mit der genauen Regelung des Kultes durch die Prie-
sterschaft, pflegt auch die Regelung der Gebetsriten zu erfolgen. Der Prie-
ster stellt Satzungen über Art, Zahl und Verteilung d,er Gebete auf und be-
steht auf deren strenger Innehaltung.
Zum System ist die Gebetswiederholung in dem sogenannten Rosenkranz
erhoben worden. Der Rosenkranz ist keine Erfindung der christHchen Kirche,
er gehört zu den vielen heidnischen Erbstücken, die sich die christliche Prie-
sterschaft mit gutem Bedacht angeeignet hat. Schon die Brahmanen im
alten Indien verwendeten den Rosenkranz. Dann ging er auf den Buddhis-
mus über und bürgerte sich namentHch in Tibet ein. Tibet hat sich bekannt-
lich nicht mit dem einfachen Rosenkranz begnügt, sondern mechanische
Gebetseinrichtungen, Gebetsmühlen und Gebetsräder hinzugefügt. Diese Ge-
betsmühlen sollen den Beter entlasten und ihm ermöglichen, ohne besondere
Anstrengungen eine überwältigend große Zahl von Gebeten zu den vergöt-
terten Heiligen emporzuschicken. Damit ist der psychische Wert der Ge-
betswiederholung allerdings in Frage gestellt, wenn nicht ganz beseitigt;
durch die Gebetsmühle wird keine Ekstase erzielt, der betende Priester
bleibt gleichmütig. Höchstens mag das Drehen einschläfernd und insofern
heiligend wirken. Der Rosenkranz findet auch in China und Japan Verwen-
dung; sehr eifrig bedient sich ferner der Islam desselben. Die mohammeda-
nischen Rosenkränze pflegen aus Dattelkernen zu bestehen ; anderwärts be-
nutzt man auch Muscheln, Edelsteine, Korallen, Menschenzähne, Holz-
perlen und dergleichen. Aus dem Orient hat dann, verhältnismäßig spät,
die katholische Kirche den Rosenkranz übernommen.
Der Wunsch, oft und lange zu beten und sich wenn möglich in einen
dauernden Gebetszusammenhang mit den Göttern zu bringen, hat den Prie-
ster auch noch auf andere Wege geführt. So hat er z. B. die heiligsten Gebets-
formeln an die Wände seines Hauses geschrieben, hat sie überall im Tempel
angebracht, hat sie sich in Kapseln an den Hals gehängt. Die Götter sollen
das Gebet stets vor Augen haben, es soll sie unaufhöriich mahnen und ihnen
das angenehme Bewußtsein geben, daß ihrer beständig gedacht wird. Dabei
drängt sich auch der ältere Gedankengang wieder hervor, daß die Gebets-
lOI
fomiel ein Amulett, daß sie selber ein Gott, ein helfender und schützender
Zaubergegenstand sei, den man aus dem gleichen Grunde an dem Körper,
an den Geräten, an der Wohnung anbringt, wie andere Amulette, wie Fe-
tische und Götterbilder. Die Koransprüche sind für den Mohammedaner
vollgültige Zauber- und Schutzmittel; auch die Christenheit bedient sich
der Bibelsprüche und Hymnenverse zu allerhand magischen Zwecken. Das
„Wort" führt hier ein selbständiges, dinghches Leben. In Ägypten wurden
den Toten Gebetsfonneln und heilige Sagen mit ins Grab gelegt oder in der
Grabkammer an die Wand gemalt. Diese Schriften und Buchstaben sind
mächtige Helfer auf dem schweren Wege ins Jenseits und beim Totengericht.
Wer die Gebete vorweisen kann, ist gefeit und gerettet.
Das sind altertümliche Vorstellungen, die in die höheren Religionen eigent-
lich nicht mehr hineinpassen; denn sie fassen die Götter als Dämonen, die
man zwingen und beschwören kann. Das Gebet als Machtmittel und Zauber-
beschwörung gehört in jene Zeiten, wo sich die Menschheit mit Seelen und
Katurgeistern herumschlug und ihnen mit Gewalt oder List beizukommen
suchte. Das Gebet an Dämonen ist daher auch vorwiegend Drohung, oder
es will eine Art Vertrag zwischen Beter und Anbetungsgegenstand herstellen,
indem es dem Dämon Belohnungen in Aussicht stellt und Geschenke ver-
spricht. Je höher die Wesen gedacht werden, an die der betende Mensch sich
richtet, um so mehr wird das Gebet zur bedingungslosen Bitte: hingebend
und vertrauend unterwirft sich der Beter den Mächten, von denen alles
Gute und Böse kommt. Neben das Bittgebet tritt allgemach auch das Dank-
und Lobgebet. Der primitive Mensch kennt das Dankgebet kaum. Er
nimmt, wie die Kinder, das Gute, das ihm zuteil wird, als selbstverständlich
hin und wendet sich an die religiösen Mächte nur, wenn er Nöte und Bedürf-
nisse fühlt. Jedoch löst das Glücksgefühl triebhafte Freudenlaute aus, und
da der freudig Erregte stets nach einem Gegenstand sucht, an dem er die
Freude betätigen imd auslassen kann, oft auch nach einem Gefährten, dem
er sein Gefühl mitteilen kann, so stellen sich gar bald religiöse Freudenlieder
ein, die durch eine kleine Wendung zu Preis- und Dankhymnen werden. Das
bittende und wünschende Gebet bleibt aber immer das häufigste und natür-
lichste. Das Lob- und Dankgebet bleibt im Hintergrunde, tritt auch selten
rein auf; wenn man die Lobgebete der verschiedenen Religionen mustert,
findet man sie fast immer mit einer Bitte verbunden. Der Priester hat auch
in der Abfassung von Lobgebeten seine diplomatische Kunst glänzend be-
währt : die Bitte kommt ans Ende, nachdem der angebetete Gott durch die
schmeichelhaftesten Lobsprüche freundlich gestimmt und in Gebelaune ver-
setzt worden ist. Mitunter erreichen die Schmeicheleien eine phantastische
Höhe. Die vedischen Hymnen leisten besonders viel darin : der betende Brah-
102
mane zählt alle Großtaten des Gottes, an den sich sein Gebet richtet, auf
und erhebt ihn so hoch, daß für die anderen Götter kaum noch Platz bleibt.
Da er aber das nächste Mal für die anderen Götter ebensoviel Superlative
bereit hat, merkt man, daß die Ausdrücke nicht so ernst gemeint sind und
für das genommen werden müssen, was sie sind, für kluge Schmeicheleien.
Auch die babylonischen und israelitischen Lobgebete sind voll superlati-
vischer Unterwürfigkeit und wissen die Bitte sehr fein in den Dank und Weih-
rauch einzuhüllen. Wir wollen aus dieser Gebetskunst den heiligen Sängern,
die solche Hymnen dichteten, keinen Vorwurf machen. Es ist ganz natür-
lich, daß man mächtige Wesen, von denen man etwas erlangen möchte,
preist, und umgekehrt : daß einem in preisender Glücksstimmung die Wün-
sche einfallen, deren Erfüllung noch ausgebheben ist, vor allem der Wunsch,
daß der Gott uns seine Gunst weiterhin erhalten und seine Glücksgaben
nicht wieder entziehen möchte.
Bei den alttestamentlichen Psalmen fällt uns der persönliche Charakter
auf. Obwohl es, wenigstens zum Teil, Gemeindegebete sind, spricht in ihnen
die religiöse Empfindung Einzelner. Es sind Zwiesprachen zwischen Seele
und Gott. In den vedischen Hymnen spürt man das auch hie und da; andere
tragen mehr das Gepräge einer amthchen Priesterfrömmigkeit; man merkt
ihnen an, daß sie bestellt sind. Wir können ganz allgemein diese beiden
Gruppen von Gebeten unterscheiden: gemeinsame und persönliche Gebete,
wobei wir uns des Gegensatzes von Gemeindereligion und Privatreligion er-
innern. Die Gemeindereligion erzeugt feste Gebetsformeln, die im Kultus
regelmäßige Verwendung finden und allgemeinen Inhalts sind. Die Privat-
religion bildet die Zaubersprüche und Gelegenheitsgebete der primitiven
Zeiten zu abwechslungsreichen und freibewegten Hymnen aus. Die Unter-
scheidung läßt sich natürlich nicht streng durchführen ; aber man wird deut-
lich gewahr, daß sich die meisten Gebete entweder der ersten oder der
zweiten Gattung einordnen lassen. Das Gemeindegebet wird in vielen Fällen
auch von der ganzen Gemeinde gesprochen oder gesungen; das letztere gilt
für die Mehrzahl der weniger entwickelten Völker. Der Priester ist dann Vor-
sänger und Chorleiter. Er gibt den Ton an oder singt das Gebet vor; die
Gemeinde wiederholt es ganz oder stückweise. Oft wiederholt die Gemeinde
nur einen Teil, z. B. den Schlußsatz. Daraus entsteht die Refrainform. Oder
Priester und Gemeinde beten abwechselnd und nicht die gleichen Worte;
dann haben wir den Wechselgesang und das Responsorium. Letzteres beruht
auf einem Frage- und Antwortspiel zwischen Priester und Gemeinde oder
verschiedenen Priestern, oder verschiedenen Gemeindegruppen unterein-
ander. Der Priester kann dabei die Rolle des Gottes übernehmen. Es kommt
zu mannigfachen Gebilden, die in das Gebiet der religiösen Kunst gehören.
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Auch das Einzelgebet nimmt künstlerische Formen an und gibt dem Priester
Gelegenheit, den ganzen Reichtum seiner gotterfüllten Seele auszuströmen
und die ganze Armut seiner gottentbehrenden Seele sehnsüchtig zu beklagen.
Das gemeinsame Gebet, oft auch das einsame Gebet, findet im Gottes-
dienste Verwendung. Woraus besteht der Gottesdienst, den der Priester mit
der Gemeinde regelmäßig und pflichtmäßig abhält ? Aus heiligen Handlungen
imd heiligen Worten. Die heiligen Handlungen haben wir in dem Kapitel
,,Der Gemeindekult" genauer betrachtet, haben dort auch bereits erwähnt,
daß die Handlungen oft, fast immer sogar, mit Worten eng verbunden sind.
Mit wachsender Kultur tritt der sprachliche Teil des Gottesdienstes immer
mehr in den Vordergrund. Jedoch ist diese Entwicklung reich an Abweichun-
gen und Rückschlägen. In manchen Gottesdienstordnungen dient das Wort
wesentlich zur Verdeutlichung der Handlungen; es begleitet sie, es legt sie
aus. In anderen imirahmen die Gesänge und Gebete die Handlungen; die
Kulthandlungen bilden den Kern, die Worte leiten ein und schließen ab.
Gerade in diesem Falle pflegen sie deutlich den Charakter von Annifungen
zu zeigen. Im Anfang soll die Gottheit eingeladen und herbeigezogen werden;
am Schluß wird ihr für ihren Besuch gedankt. Viele hymnen- und psalmen-
artige Priesterschöpfungen sind ohne Schwierigkeit als solche Einladungen
und Abschieds Worte zu erkennen.
Die Worte im Gottesdienst können sich aber auch an die Gemeinde richten.
Sie können Ermahnungen des Priesters sein, Ruhe und Aufmerksamkeit zu
bewahren, können Anfragen sein, ob die Gemeinde sich durch die vorge-
schriebenen Vorbereitungsmaßregeln würdig auf den Verkehr mit der Gott-
heit gerüstet habe, können Einschärfungen der götthchen Gebote und re-
hgiösen Pflichten sein, endlich können es Schlußbemerkungen sein, durch
die der Priester die Gemeinde entläßt. Aus allen diesen an die Gemeinde
gerichteten Worten des Priesters entwickelt sich die Predigt.
Was ist die Predigt} Wie wird aus dem Priester ein Prediger? Man kann
den Begriff in einem weiteren und einem engeren Sinne fassen. Im weiteren
Sinne gehört jedes Gebet, jede rehgiöse Sprachäußerung in das Gebiet der
Predigt. Im engeren Sinne ist die Predigt diejenige priesterhche Verlaut-
barung, die im Namen und Auftrage der Gottheit an die Gemeinde gerichtet
wird. Der predigende Priester ist Prophet, d. h. er spricht als Gott zum
Menschen. Wir werden aber nicht jede prophetische Äußerung, nicht jede
Offenbarung, die der Priester verkündet, eine Predigt nennen ; sonst wären
auch die Orakelsprüche als Predigten zu bezeichnen. Nur solche Propheten-
worte sind Predigten, die Aufforderungen enthalten, Handlungs- oder Denk-
weisen anempfehlen, vorschreiben, verurteilen, verbieten (vgl. meinen Auf-
satz: Erbauung und Predigt, Die Tat, I lo). Ich weiß, daß man den Begriff
104
der Predigt vielfach etwas anders faßt; aber ich kann mich mit den vagen
Erklärungen, die gegenwärtig bevorzugt werden, nicht befreunden. Ent-
weder ist, wie gesagt, jede religiöse Verlautbarung eine Predigt, oder, nach
meiner Definition, nur die paränetische (auffordernde) Priesterrede. Ich
führe ein paar Sätze aus meinem Aufsatz an: ,,Der Prediger empfiehlt ge-
wisse Handlungs- oder Denkweisen und rät von anderen ab ; er will nicht
belehren, will nicht über irgendwelche Tatsachen unterrichten und auf-
klären, sondern will den Willen seiner Zuhörer beeinflussen und lenken.
Faßt er seine Aufgabe sehr tief, so ist sein Ziel, die Zuhörer zu erbauen; dies
Wort aber nicht in der abgeschwächten und geringschätzigen Bedeutung
genommen, wie es heute meist geschieht, sondern in dem ursprüngHchen
kraftvollen Sinne des Aufbauens. Der Prediger baut die Seelen seiner Zu-
hörer auf, er greift in das fremde Willensleben hinein, bringt es in eine be-
stimmte Richtung, sammelt die zerstreuten Triebe um einen Mittelpunkt,
stärkt und organisiert die fremden Seelen."
Die ältesten Predigten sind die kurzen Lebensregeln, Sittensprüche und
religiösen Sätze, die bei den primitiven Völkern mündlich umlaufen. Diese
Sprüche und Regeln rühren nach dem Glauben des Volkes und nach der Ver-
sicherung des Priesters unmittelbar von den göttlichen Heroen und Stam-
mesgründem her. Es sind die Keime der sittlich-religiösen Gesetzgebung,
wie wir es früher besprochen haben. Das , .Gesetz" wird allgemach umfang-
reicher; es wird schließhch aufgezeichnet und geordnet, wird zur heiligen
Urkunde. Der predigende Priester hest dann der Gemeinde aus dieser Ur-
kunde, die er in Verwahrung hält, vor, legt, wenn nötig, die darin enthaltenen
Gebote aus und wendet sie auf die jeweiligen Verhältnisse, auf die augen-
bhcklich gegebene Lage an. Von dieser Art waren die Predigten bei den
Israehten. Die Israeliten sind das älteste Volk, das die Sitte des Predigens im
heutigen Sinne übte. Die Babylonier, brahmanischen Indier, Griechen und
Römer besaßen die Einrichtung des Predigtgottesdienstes nicht. Bei allen
diesen Völkern hatte sich die rehgiös-sittliche Gesetzgebung nicht organisch
mit dem öffentUchen Kult verbunden. Der geregelte Gottesdienst bestand
aus dem Opfer, aus Gebetshandlungen und anderen Zeremonien, die das
Wort entweder gar nicht oder als Kunstmittel benutzten. Die religiösen Ur-
kunden dieser Völker waren keine eigentHchen Predigtsammlungen, oder
sie wurden der Kultpflege nicht in der Weise zugrunde gelegt wie bei den
Juden und später bei den Mohammedanern und den Christen. Die Gottheiten
jener Völker waren nicht in erster Linie Gottheiten des Wortes, sie verkör-
perten sich nicht in Buchstaben, nicht in Gesetzestafeln und Testamenten,
sondern in lebendigen Wirkungen, in Naturereignissen und Schicksalsfügun-
gen. Daher waren die Priester jener heidnischen Völker nicht in erster Linie
Prediger, sondern Kultpfleger. Die Aufgabe des Predigens erfüllten sie neben
ihren öffentlichen Pfhchten, oder sie überheßen die Predigt den nicht zur
Zunft gehörigen Privatpriestern : den Propheten. Wir können bei den Grie-
chen sehen, wie sich Kult und Predigt, statt zusammenzufheßen, immer
weiter voneinander entfernten. Der Priester beschränkte sich darauf, zu
zaubern und zu opfern ; der prophetische Prediger gab seine Zugehörigkeit
zum geisthchen Stande auf und ^vurde , .Philosoph". Die Prediger der Grie-
chen sind ihre Philosophen. Diese behandelten öffenthch oder im engeren
Schülerkreise die sittlich-religiösen Fragen, stellten Gesetze auf, predigten
die Tugenden des Bürgers, des Menschen, des Gottesmannes, und bekämpf-
ten die sittlich-religiösen Irrwege und Laster. Der Unterschied zwischen
ihnen und den israelitischen Rabbis, die dem Volke das Wort Gottes pre-
digten, besteht darin, daß der griechische Prediger nicht von der Gemeinde
beauftragt war und sich nicht auf eine autoritative religiöse Urkunde stützte.
Zwar genossen Homer und Hesiod bei den Griechen ein großes Ansehen
und die jüngeren Philosophen beriefen sich auf ihre älteren Vorgänger als
auf religiöse Autoritäten; man denke etwa an das Verhältnis der Pytha-
goreer zu Pj^thagoras und an den Glauben, den die späteren Philosophen-
schulen an Sokrates, Piaton und andere Meister hatten ; aber zu einer ,, Bibel"
wurden die Schöpfungen der älteren Zeiten den griechischen Predigern nie-
mals, wenigstens falls man unter dem Ausdruck ,, Bibel" das untrügliche,
allverpflichtende, unmittelbar aus Gottes Munde stammende religiös-sitt-
liche Gesetz versteht.
Die jüdische Predigt, und ihr Abkomme: die christliche Predigt, haben
eine feste, ewig gleiche Aufgabe und haben infolgedessen eine feste Form
angenommen. Die Aufgabe dieser Predigten ist, der Gemeinde das Gottes-
wort vorzutragen, die von Gott vorgeschriebenen Pflichten einzuschärfen
und die daran geknüpften Verheißungen und Tröstungen in Erinnerung zu
bringen. Die griechisch-römische Predigt hatte solche unzweideutige Auf-
gaben nicht; sie wollte zwar auch die Weisheit der Vergangenheit vermitteln,
die Gebote der älteren gottbegnadeten Geschlechter und Männer auslegen
und einprägen; aber zugleich stellte der griechisch-römische Prediger der
Vergangenheit die Gegenwart als selbständige Macht gegenüber; er schaltete
frei mit den alten Urkunden und fühlte die Verpflichtung, seine Persönhch-
keit und die Weisheit seiner Zeit verbessernd gegen die überlieferten reli-
giösen Schätze geltend zu machen.
Während die jüdisch-christliche Predigt in zwei Teile, in die Vorlesung
und die Auslegung zerfällt, hat die griechisch-römische Predigt keine feste
Form ausgebildet. Sie gestaltete sich verschieden, je nach dem Stoff, je nach
dem Zuhörerkreis und nach dem besonderen Zwecke. Die Hauptarten waren
io6
die Lehrpredigt und die Volksrede. Jene richtete sich an die Schüler und
wurde gern zum Gespräch, zum Predigtdialog und zum Kolloquium, anderer-
seits zum philosophischen und überhaupt zum wissenschaftUchen Vortrag.
Damit ging der Predigtcharakter meist verloren ; die Werke des Aristoteles
enthalten nur wenig Predigtartiges, recht im Gegensatz zu Piatons Werken.
Die Volksrede wurde leicht zum rhetorischen Kunstwerk oder zur politisch-
juristischen Auseinandersetzung und büßte dadurch ebenfalls den Predigt-
charakter ein ; doch zeigen die erhaltenen Reden und die Werke über Rheto-
rik deutlich, wie stark das „Raten", das „Ermahnen", das Beeinflussen und
Erbauen der Zuhörer betont wurde.
Näher können wir darauf nicht eingehen, da sich die griechisch-römische
Predigt völlig von der Priesterreligion loslöste. Wir wollen aber darauf hin-
weisen, daß das Christentum von dieser antiken Predigtkultur weit ab-
hängiger ist, als man gewöhnhch annimmt. Die alte christhche Literatur ist
zum größten Teil Predigt: die Schriftsteller verkündigen das Gotteswort,
legen es aus und preisen es an, bekämpfen die heidnischen Ideale und von
Gott verbotenen Denk- und Handlungsweisen. Diese Literatur stützt sich
aber, was Stil, Ausdmcksmittel und Wirkungsmittel anlangt, fast durchweg
auf die Erzeugnisse der philosophisch-paränetischen Rhetorik der Griechen
und Römer. Auch in der weiteren Entwcklung der christlichen Predigt zeigt
sich diese Abhängigkeit. Woran bildeten sich die Priesterlehrhnge des
Mittelalters und der Neuzeit? An den Schriften der Alten. Im Mittelalter
galten die spätantiken Rhetoren am meisten ; in der Folgezeit ging man auf
die originalen Philosophen und Redner zurück. Was wären die Domini-
kanerprediger, was wären die Jesuiten ohne ihre heidnischen Lehrmeister?
Was wäre Bossuet ohne Cicero, ohne Platon und Demosthenes?
Daneben wirkte natürlich die jüdische Predigtkultur in der christhchen
fort. Wir erfahren aus dem Neuen Testament, daß der gottesdienstliche Ge-
brauch der Juden einfach fortgesetzt wurde; nur trat an die Stelle des bis-
herigen Gotteswortes allmählich ein neues ; die alte Gesetzgebung und Ver-
kündigung wurde durch die neuen Propheten ergänzt und vermehrt. In
Afrika hört man von den zwischen Islam und Christentum hin und her ge-
zogenen Negern den Unterschied zwischen diesen beiden Religionen folgen-
dermaßen definieren: das Christentum ist die Religion der zwei Bücher,
der Islam die Religion des einen Buches. Die feste dauernde Grundlage der
christlichen Predigt bilden die beiden Teile der Heiligen Schrift. Eine christ-
liche Predigt muß unbedingt, wenn nicht direkt so indirekt, ein biblisches
Thema behandeln; denn der Gegenstand jeder christlichen Predigt muß die
Verkündigung und Anempfehlung der göttlichen Offenbarung sein. Gott
aber hat sich in der Schrift offenbart. Daher sind für alles, was der christliche
107
Priester seiner Gemeinde zu sagen hat, die heiligen Ereignisse von Erschaf-
fung der Welt an bis zur Gründung der ersten christlichen Gemeinden und
weiter bis zum Ende der Welt, zweitens die heiligen Personen von Adam
bis zu Christus und seinen Jüngern die notwendigen Ausgangspunkte.
So übernahm denn die christliche Predigt von der jüdischen Predigt auch
die Form: Vorlesung und Auslegung. Der heilige Text \rird verlesen, wird
erklärt und angewandt ; es werden also auffordernde und aufbauende Worte
darangeschlossen. Ebenso wie bei den Juden konnte das Hauptgewicht mehr
auf die \'orlesung oder mehr auf die eigenthche Predigt gelegt werden. Mit-
unter schrumpfte die Predigt zu einem bloßen Gebet vor oder nach der Vor-
lesung zusammen, mitunter dehnte sie sich weit aus und von der \^orlesung
blieb kaum ein kurzer Bibelspruch übrig. Die christliche Predigt teilte mit
der jüdischen die Beschränkung, ein für allemal an das ,,Buch" gekettet zu
sein. Aus dem oft schwierigen und widerspenstigen Bibeltext soDte der Pre-
diger immer wieder lebendige Funken herausschlagen. Er soUte erklären,
was er selber zuweilen nicht verstand, sollte Härten und Widersprüche glät-
ten, sollte Gott dort finden und dort zeigen, wo die veränderte Zeit beim
besten Wülen nichts Götthches mehr erblicken konnte. Er verfiel daher auf
den gefährlichen Abweg des Umdeutens und Symbolisierens. Er \vurde zum
Kabbalisten, zum AUegoristen; er suchte tiefe Geheimnisse hinter gleich-
gültigen oder anstößigen Bibelworten; er bog die Texte den veränderten
Anschauungen entsprechend um und gab dem, was zu ihm und seiner Zeit
nicht mehr sprechen wollte, ein neues künstliches Leben. Eine Unsumme
von Geist und Frömmigkeit hat der europäische Priester an die unmögliche
Aufgabe verschwendet: Predigten nach griechisch-römischem Vorbild über
einen autoritativen Buchtext und im Sinne einer mehr und mehr der Zeit ver-
fallenen Welt- und Lebensanschauung zu halten. Schon daß beide Bücher,
das Alte und das Neue Testament, gleichberechtigte Gottesoffenbarungen
sein sollten, wurde für den Prediger zu einer unversiegbaren Quelle von Be-
drängnissen und Auslegungsnöten ; denn die beiden Bücher wollten nun ein-
mcd nicht zueinander stimmen ; zwei verschiedene Götter sprachen aus ihnen.
Der Prediger sollte zwei unvereinbare Evangelien zu gleicher Zeit verkün-
digen : eines von einem harten Stammesdämon, einer harten Priestergesetz-
gebung, einer sehnsüchtigen Prophetenfrömmigkeit, und ein anderes von
dem hebenden Heiland, von priesterloser Gotteskindschaft, von weltflüch-
tiger Gottsehgkeit. Und dazu kam das dritte Evangehum, nämlich das aus
dem Herzen des Predigers und dem religiösen Willen seiner Zeit quillende.
Da hieß es also: vermitteln, zurechtrücken, vertuschen, verkehren; das
eigene Evangehum mußte in die Schrift hineingedeutet werden, das Neue
Testament im Alten aufgefunden werden.
I08
Die Auslegungs- und Einlegungskünste vermehrten sich von Geschlecht
zu Geschlecht; mit ungeschwächtem Vertrauen ging die junge Priesterschaft
an die von dem älteren Geschlecht überkommene Sisyphusarbeit. Man halte
einmal die Predigten der verschiedenen Jahrhunderte und Bekenntnisse
gegeneinander! Da lernt man die zähe Ausdauer bewundern, mit der die
religiösen Geister Europas darum gerungen haben, das Wort Gottes, wie es im
Buche stand, mit dem Worte Gottes, wie es in ihrer Seele stand, in Einklang
zu bringen. In Gestalt des europäischen Predigers hat der erhaltende Priester-
typus mit dem vorwärtsdrängenden Prophetent3^us einen erschütternden
Kampf durchgekämpft. Gott sollte der Prediger verkünden — so lautete der
Auftrag der Gemeinde an ihn; aber zugleich sollte er die unveränderlichen
Meinungen und religiösen Erlebnisse einer längst vergangenen Epoche ver-
kündigen. Das heilige Feuer, das in seiner Seele brannte, sollte er durch seine
Predigt auf alle übertragen und sie zum Suchen und Erobern Gottes ent-
flammen ; aber zugleich sollte er gegebene Texte kunstgerecht erklären und
keinen Finger breit von einer vor Zeiten festgelegten ,, Lehre" abweichen.
Diese Not machte sich in dem älteren Christentum weniger bemerkbar,
weil die Predigt noch nicht den Hauptteil des Gottesdienstes bildete. Das
Sakrament, die Zelebrierung der Messe war der Kern des alten Gottes-
dienstes geworden. Die Predigt ging nebenher; sie flüchtete sich in den Prie-
sterkonvent, in die Literatur, in die Schule. Es war ein Selbsterhaltungsin-
stinkt, der die Kirche bei dieser Regelung der religiösen Betätigung leitete.
Die Predigt konnte gefährlich werden ; sie nährte Prophetenstimmungen und
kettete die Gemeinde zu eng an den einzelnen Priester. Die heilige Handlung
war ungefährlich ; die Persönlichkeit des ausführenden Priesters kam dabei
kaum in Betracht. An der Bauart der christlichen Kirchen läßt sich deutlich
nachweisen, welche Stellung das mittelalterliche Christentum der Messe im
Vergleich zur Predigt anwies : der Altar bildet den Mittelpunkt der Kirche,
die Kanzel klebt irgendwo an einem Pfeiler. Die Kanzel hat auf die Archi-
tektonik des Raumes keinen Einfluß, sie stört höchstens ; der Altar dagegen
bestimmt die Gestalt des ganzen Bauwerks.
Allgemach mußte die Kirche nachgeben ; der europäische Geist zwang sie,
die Predigt immer mehr in den Vordergrund zu rücken. Die Bettelorden ver-
anstalteten große Predigtreisen; der Protestantismus machte die sonntäg-
liche Predigt zum wichtigsten Stück des religiösen Lebens, der Katholizismus
folgte langsam und widerstrebend nach. Die heilige Sprache, das Lateinische,
mußte den Volkssprachen Platz machen, und die Predigten näherten sich
unaufhaltsam der freieren antiken Weise an. Suchte die Kirche dagegen ein-
zuschreiten, befahl sie den Predigern, die ewigen Wahrheiten, nicht die Zeit-
probleme zu behandeln, so rächte sich das dadurch, daß die Gemeinde Lange-
109
weile hatte und aus dem Gottesdienst fortblieb. Wohl fanden sich hie und
da Prediger, die sich mit der unmöglichen Aufgabe, begeisternde und doch
kirchentreue Predigten zu halten, auf glänzende Weise abzufinden wußten;
aber diese \\'underbare Kunst war nur wenigen gegeben und war nicht lehr-
bar. Die Jesuiten haben das beste darin geleistet und stellen noch heute
bemerkenswerte Kanzelredner ins Feld. Aber das Übel war trotzdem nicht
auszurotten; die Predigt wurde immer wieder zum Ausgangspunkt ketze-
rischer Schwarmgeisterei. Entweder treibt die Kirche die unbequemen, aber
von der Gemeinde verehrten und geliebten Prediger hinaus: dann werden
sie zu offenen Kirchenfeinden ; oder sie läßt sie predigen : dann wird der Geist
der Buchreligion verfälscht und die Selbstzersetzung der Kirche beschleunigt.
Zum Schluß noch ein Wort über das Verhältnis von Gebet und Predigt.
Der Sinn der Predigt ist Einwirkung auf den Willen der Zuhörer; der Pre-
diger spricht als Wissender und Beauftragter. Nun gehört aber der Priester
doch zu den Suchenden und Unwissenden, die sich an die wissende Gottheit
wenden. Wir sehen hier deutlich die Doppelstcllung des Priesters: er ist
Gott gegenüber den Menschen und ist Gemeindevertreter gegenüber Gott.
Die Predigt richtet sich an die Gemeinde, insofern ist sie Gottes Wort, und
sie richtet sich an Gott, insofern ist sie Gebet, ist Hilferuf und Lobpreisung,
Betrachtung und Versenkung. Wohl jede christliche Predigt vereinigt beides
und zeigt also den Priester als den doppelköpfigen Mittler, der zugleich
Mensch und Gott, Herde und Hirt ist. Daher beginnen und schheßen die
Predigten häufig mit einem Gebet. Das Anfangsgebet soll Gott herbeiziehen
und den Prediger des Gottes voll machen; dies Gebet ist ein Nachkomme der
Rauschvorbereitungen des prophetischen Zauberpriesters und des Zauber-
arztes. Und das Schlußgebet pflegt der Priester im Namen der Gemeinde
an die Gottheit zu richten; es ist eine Empfehlung, ein Abschiedsgruß, mit
dem Gott um Entlassung gebeten wird. In den primitiven Religionen ent-
sprechen die Bräuche, durch die man die Götter und Geister fortschickt
und sich von dem religiösen Heiligkeitszustande befreit.
Die Predigt als Verkündigung des göttlichen Wortes und Willens nähert
sich der religiösen Lehre; die Predigt als Versenkung in Gott kann in den
Lehrvortrag übergehen, nähert sich also ebenfalls dem pädagogischen Teile
der priesterlichen Tätigkeit, zu dem wir nunmehr übergehen.
fci 5. DER PRIESTERLICHE UNTERRICHT IHS
Der Priester ist ein Erzieher ; seine ganze Wirksamkeit gipfelt in der pädago-
gischen Beeinflussung der Gemeinde. Schon sein Dasein, die Gottesmaske, die
HO
er trägt, seine Lebens- und Handlungsweise soll suggestiv wirken ; das Volk
schaut auf ihn, nimmt ihn sich zum Vorbild, lebt ihm nach. Dann aber wirkt er
auch durch unmittelbare Unterweisung; der Verkündiger und Prediger ist
immer zugleich ein Lehrer. Alles was er sagt, hat eine Beziehung zum Handeln
und Denken der Gemeinde. Selbst die einfache Wahrsagung wird nicht passiv
entgegengenommen; sie wirkt fort und bringt oft stärkere Veränderungen
in den Seelen hervor als ein pädagogischer Priesterbefehl. Denn wenn der
Prophet im Namen der Gottheit die Zukunft voraussagt, so befriedigt er
damit nicht nur die Wißbegier, sondern er treibt an, die Zukunft der gött-
lichen Prophezeiung gemäß zu gestalten. Und wenn die Gottheit Geheim-
nisse der Gegenwart oder Vergangenheit ans Licht bringt, wenn der inspi-
rierte Priester von der Herkunft des Volkes, von den Wanderungen, von
den Naturerscheinungen singt und sagt, so dringen auch diese Offenbarungen
tief in die Seelen ein, erziehen und bestimmen das Volk. Der Priester mag
wollen oder nicht : er ist eine umfassende pädagogische Macht.
Wir haben früher gesehen, daß ihm die pädagogische Absicht oft sehr fern
liegt. Viele Priesterschaften wollten durchaus nicht, daß die Laien werden
sollten wie sie selber ; sie hielten das Volk vielmehr von der Nachfolge Gottes
zurück. Noch die katholische Kirche macht einen grundsätzlichen Unter-
schied zwischen Laienerziehung und Priestererziehung. Der Priester soll an-
ders leben als die anderen. Die Laien sollen Kinder zeugen und Schätze sam-
meln ; die Priester soUen die Weltlust abschwören und zum Besten der Laien
beten und Messe halten. Ferner sollen die Laien nur mit Vorsicht in die
religiösen Lehren eingeführt werden. Sie sollen das Gotteswort nicht in die
Hand nehmen, die götthche Offenbarung nicht aus erster Quelle kennen-
lernen, sondern nur durch Vermittlung des Priesters das Nötigste erfahren.
Die Weisheit von Gott und Welt ist nicht Sache des Laien, sondern ist Be-
rufsgeheimnis des Priesters. ÄhnUch sind die Grundsätze älterer Priester-
schaften, ja sogar schon die Grundsätze der primitiven Medizinmänner. Das
Volk soll gehorchen und glauben, aber nicht in die Priestergeheimnisse ein-
dringen, damit es nicht zu klug werde und sich über des Priesters Kopf mit
Gott in unmittelbare Verbindung setze. Wir führten aus, daß die Laien mit
dieser Verteilung der rehgiösen Aufgaben mitunter ganz einverstanden sind.
Sie achten die Schranke zwischen dem Gott angehörigen Priestertum und
dem Weltmenschentum, weil der Verkehr mit der Gottheit Gefahren mit sich
bringt und Opfer kostet, die der Laie nicht zu bringen gewillt und imstande
ist. Sie überlassen dem Priester die Ehren und Vorrechte seines Berufes
samt den Beschränkungen und Mühseligkeiten.
Je strenger die Scheidung zwischen Priester und Laie ist, desto weniger
tritt die pädagogische Betätigung des Priesters hervor. Nur innerhalb des
III
Standes übt auch der engherzige Fachpriester lebhafte Lehr- und Erziehungs-
tätigkeit aus. Der priesterHche Nachwuchs wird in die Berufsgeheimnisse
eingeweiht, wird mit den wirkungsvollen Heilmitteln, Zaubersprüchen usw
bekanntgemacht und in der Beherrschung der heiHgen Kunst, in der rich-
tigen Ausführung der Kulthandlungen unterwiesen. Bei manchen Völkern
ist der Priesterberuf ein freies Gewerbe, dem sich jeder Volksgenosse widmen
kann; der Lehrling wendet sich dann an einen älteren Priester und macht
sich, nachdem er genügend Unterricht empfangen und sich die priesterlichen
Fertigkeiten angeeignet hat, selbständig (vgl. Wissmann über die Verhält-
nisse in Ostafrika: ,, Meine zweite Durchquerung"). Anderwärts finden wir
geschlossene Kasten oder Orden. Der Eintretende wird ausdrücklich zur Ge-
heimhaltung verpflichtet und bleibt der Priestergemeinschaft angehörig.
Nicht jeder Beliebige wird aufgenommen; oft muß eine Geldsumme, eine
Art Lehrgeld gezahlt werden ; auch ist die Aufnahmefähigkeit von der Zu-
gehörigkeit zu bestimmten Familien und Gesellschaftsklassen abhängig; oder
das Priestergewerbe vererbt sich ohne weiteres auf die Leibesnachkommen
des Priesters. In früheren Zeiten waren fast alle Berufe zunftmäßig organi-
siert und jede Zunft hielt ihre Geheimnisse ängstUch fest. Auf diesen Geheim-
nissen beruhte zum Teil die Macht und das Ansehen der Berufsorganisa-
tionen. Es ist klar, daß der Priesterstand über die wertvollsten Berufsge-
heimnisse verfügte; z. B. Regen zu erzeugen, Krankheiten zu heilen, Liebes-
zauber zu üben, den Nahrungsvorrat zu vermehren, das sind Künste, auf die
die Priesterinnungen gewiß stolz sein durften. Sie hüteten sich natürlich,
die Mittel und Wege zu verraten, durch die sie so wunderbare Dinge zu-
stande brachten.
Also die Lehr- und Erziehungstätigkeit des Priesters hat ihre Grenzen.
Dazu kam noch etwas anderes : der angehende Priester wurde freüich unter-
richtet; aber welcherart waren die Lehrgegenstände, die man ihm ein-
prägte ? Beim Priesterberuf taten es die Kenntnisse und Geschicklichkeiten
nicht. Wer Priester werden will, muß erweckt und auserwählt sein; der Geist
muß von ihm Besitz ergreifen. Diese Anschauung tritt der zunftmäßigen
Auffassung vom Priesterberuf ergänzend und berichtigend gegenüber. Die
Zunft konnte in der Regel nur kluge und geübte Fachmenschen hervor-
bringen, aber keine berufenen ,, Geistlichen". Wir haben hier wieder den
Gegensatz zwischen persönlicher Gotterfülltheit und herkömmlicher Prie-
sterfertigkeit. Der Fachpriester lernte von den Fachgenossen das Handwerk,
der Prophet ging zur Gottheit selber und empfing deren unlernbare Lehren,
Trotzdem, kam die Menschheit schon sehr früh auf den Gedanken, daß
auch die göttliche Begeisterung erlernt werden könne. Man bemerkte, daß
sich die Berufung befördern, die Besitzergreifung durch Gott und die Er-
112
leuchtung künstlich erzielen lasse. Wir haben die religiöse Rauschtechnik
genau kennen gelernt: sie war der Weg zu den begehrtesten priesterlichen
Künsten. Daher unterzog sich derjenige, der Priester werden wollte, einer
Erregungs- und Betäubungskur; er untergrub methodisch seine Gesundheit,
darin bestand bei unzähligen Völkern das theologische Studium. Der Novize
wurde in den Wald geschickt, mußte fasten und sich mißhandeln; oder man
gab ihm Gifte ein, man lehrte ihm schlimme Tänze ausführen, nötigte ihn zu
sexuellen Ausschweifungen, zu Perversitäten oder auch zu vöUiger Enthal-
tung. Bis in die Kulturvölker hinein lassen sich Reste dieses priesterlichen
Unterrichts nachweisen. Wenn Jesus vierzig Tage in der Wüste lebt und
fastet, so ist das seine Lehr- und Vorbereitungszeit für den Prophetenberuf.
Er wartet während dieser Zeit auf die Belehnung mit dem Geist und bereitet
sich vor, Mund und Werkzeug dieses Geistes zu werden. Bei den Schamanen-
völkern in Nordasien, aber auch in Afrika und anderwärts finden sich ähn-
liche, nur ausführlichere und umfänglichere Noviziatgebräuche. Bisweilen
haben die Novizen sehr grausame und geradezu abscheuliche Prüfungen zu
bestehen. „Prüfung" ist eigentlich nicht der rechte Ausdruck; der Novize
soll im Grunde nicht auf die Probe gestellt, sondern durch die beschwerlichen
und schmerzhaften Vornahmen zur Ausübung des Priesteramtes befähigt
werden; er soll geistig und göttlich werden. Freilich werden die Martern
und Rauschunterweisungen ganz von selber zu Prüfungen. Wer dabei stirbt
oder ihnen entflieht, dessen Unwürdigkeit und Ungeistigkeit ist bewiesen:
Gott hat ihn verworfen. Wer dagegen das Studium erfolgreich absolviert,
gilt dann als ein würdiger Gottesdiener und ein auserwähltes Rüstzeug.
Die Vorbereitungszeit findet ihren Abschluß in der Regel durch eine feier-
liche Aufnahmehandlung. Die Zeremonien, die bei dieser Weihe oder Ordi-
nation üblich sind, weisen sämtlich darauf hin, daß in den jungen Priester
der Geist hineingeleitet werden soll. Der Novize empfängt die heihge Kraft
und damit das Apostelamt. Die Übertragung kann durch Salbung oder Be-
schneidung des Haares oder der Geschlechtsteile, ferner durch Taufe, Hand-
auflegung, Handschlag, Bekleidung mit einem heiligen Gewand oder
Schmuck, ferner durch Teilnahme an einem Opfermahl und auf viele andere
Arten geschehen. Wie man sieht, verschmilzt die Priesterweihe mit der allge-
meinen Aufnahme der Knaben und Mädchen in die Gemeinde der Erwach-
senen. Bei der Konfirmation und Firmung, die bei fast allen Völkern aller
Rehgionen ihre Parallelen hat, vollzieht sich ebenfalls eine Vergeistigung
mit den Kandidaten. Das herangewachsene Geschlecht wird wiedergeboren
und tritt mit dem Stammesdämon und Volksgott in Beziehung; dadurch
werden die jungen Menschen zu Mitgliedern des Verbandes, was sie bis dahin
nicht waren, denn die Kinder gelten nicht als Gemeindeangehörige. Beim
8 Horneffer, Der Priester II -^-^3
Fest der Jugendweihe werden ähnliche rehgiöse Handlungen vorgenommen
wie bei der Priesterweihe; die Novizen werden tätowiert, beschnitten oder
fibuliert, sie haben Schläge und Martern verschiedener Art auszuhalten (man
denke an den Lehrlings- und Ritterschlag, an die Geißelung der spartani-
schen Epheben), sie lernen die religiösen Festtänze kennen, sie erhalten einen
neuen Namen, und was dergleichen mehr ist. Der ursprünghche Sinn aller
dieser Gebräuche ist meiner Meinung nach, die Jugend menschlich und er-
wachsen, das heißt geistig zu machen. Daher auch die starken Nervenreize,
die Erregungs- und Betäubungsgebräuche. Erst allmählich wird das Geistige
inteUektueUer gefaßt und daher die Vorgänge symbolisch verflüchtigt.
Wir leugnen natürlich nicht, daß diese Weihe- und Aufnahmezeremonien
auch anderen religiösen und unreligiösen Zwecken dienen können und ge-
dient haben. Es liegt auf der Hand, daß durch die Martern die Standhaftig-
keit der Jünglinge geprüft werden soUte, durch die Übungen und Kampf-
spiele die Waffenfähigkeit und andere Tugenden. Ferner zielen die mit den
Geschlechtsteilen vorgenommenen Veränderungen ohne Zweifel auch darauf,
die Zeugungsfähigkeit zu beeinflussen, teils im günstigen, teils im ungün-
stigen Sinne. Ebenso können sich die übrigen Gebräuche mit außerreligiösen
Vorstellungen verbinden; das ganze Fest konnte zu einer vorwiegend welt-
lichen Angelegenheit werden und die Mitwirkung des Priesters ablehnen.
Indessen ist das selten der Fall. Der Regel nach war der Priester, als Ver-
treter der Gemeindegeister, der Leiter dieser Jugendfeste. Er hatte die Jugend
vorzubereiten, hatte die Prüfung vorzunehmen und die Aufnahmehand-
lungen zu vollziehen.
Auch wenn das Jugendfest in einzelne Teile zerlegt wurde und die Zere-
monien in zwei oder mehr Epochen des jugendlichen Alters nacheinander
vorgenommen wurden, war die Beteiligung des Priesters meist unerläßlich.
BekanntHch ist die Beschneidung und die Taufe in die früheste Kindheit
zurückverlegt worden, hat dadurch aber nicht ihren religiösen Charakter
verloren und erfordert die Mitwirkung des Priesters.
Bemerkenswert ist das Dekret des jetzigen Papstes, durch das auch die
erste Kommunion in ein früheres Lebensalter zurückverlegt wird. Die Kin-
der sollen danach bereits mit sieben Jahren zur körperhch-seelischen Einver-
leibung Gottes angehalten und also schon im Zustande kindlicher Unmündig-
keit in die Zahl der kirchhchen Gemeindemitglieder aufgenommen werden.
Die Folge ist, daß die vorbereitende Unterweisung, die der priesterliche Er-
zieher zu erteilen hat, zur bescheidenen Nebensache herabgedrückt wird;
denn wenn der Religionsunterricht auch nachgeholt werden kann und erst
im reifen Alter seinen Abschluß erhält, so geht doch der eigentliche Zweck
dieses Unterrichts verloren: die Kinder der feierlichen Aufnahmehandlung
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würdig zu machen und sie der Gemeinde als vollwertige Mitglieder zuzu-
führen. Das Jugendfest mit der Kommunion muß die Krönung der religiösen
Erziehung bilden, so sagt uns die Logik und die Religionsgeschichte, Aber
es ist zuzugeben, daß sich von jeher die Neigung geltend gemacht hat, die
Jugendweihe möglichst frühzeitig vorzunehmen und die entscheidenden Zere-
monien sogar in die allerersten Lebensjahre zurückzuschieben. Warum wohl?
Das Kind sollte möghchst bald mit der Gottheit in Berührung gebracht,
möglichst bald für den Heilsbund gewonnen werden, damit es den feindlichen
Dämonen ein für allemal entzogen sei und sofort mit dem Leben der Wieder-
geburt beginnen könne. Das ließ sich denn auch leicht bewerkstelligen, wenn
man sich entschließen wollte, den Aufnahme- und Wiedergeburtsvorgang
als einen rein zauberischen Akt zu gestalten, der von dem Willen und Ver-
stand des Novizen unabhängig ist. Die Kindertaufe, Kinderbeschneidung,
Kinderkommunion sind Handlungen, bei denen das Kind durch eine magi-
sche Kraft zum Eigentum Gottes und zu einem wiedergeborenen Geistwesen
gemacht wird; es stände daher nichts im Wege, auch die Kommunionshand-
lung bereits mit dem Säugling vorzunehmen. Die Handlung wirkt auf das
Kind, wie ein Zauberspruch auf die Witterung, wie eine Medizin auf den Leib
des Kranken. Der zaubergläubige Priester mußte unfehlbar auf den Gedan-
ken der Kinderwiedergeburt geraten und es hat daher nichts Auffälliges,
daß in verschiedenen Religionen die Weihehandlungen ganz oder zum Teil
mit den Unmündigen vorgenommen werden.
Da aber der Priester trotz seines Zauberglaubens ein kluger und verstän-
diger Mann war, mußte er gewahr werden, daß das gewünschte Ziel durch
diese Zauberweihen nur unvollkommen erreicht wurde. Wenn er die wirk-
liche Verbindung der Gemeinde mit Gott herstellen wollte und, was beinahe
gleichbedeutend ist, seinen Einfluß als Mittler mehren und bewahren wollte,
durfte er den Unterricht der Heranwachsenden nicht vernachlässigen; er
mußte, was die Zauberei nicht zuwege gebracht hatte, durch Erziehung, d. h.
durch wirkliche körperlich-seelische Einverleibung der religiösen Heilsgüter
nachzuholen suchen. Die normale Aufeinanderfolge drehte sich also um : die
Aufnahmezeremonie kam zuerst, der vorbereitende Priesterunterricht folgte.
Da man aber auf das Fest der Jugendweihe nicht verzichten wollte, feierte
man es entweder als bloße Lustbarkeit oder als weltliches „Absolutorium"
oder verwandelte es in eine Wiederholung und Bestätigung der Zauberauf-
nahme in der frühen Kindheit. Die Konfirmation besiegelte nun die Tauf-
handlung ; die herangewachsene Jugend gab am Pubertätstage ihren Willen
und ihre Fähigkeit kund, im Sinne der magischen Kindheitszeremonie ein
vollwertiges Mitghed des religiösen Bundes zu werden.
Auf diese Weise lassen sich, glaube ich, alle Verschiedenheiten und Wider-
8* 115
Sprüche in den religiösen Jugendgebräuchen leicht erklären. Bei manchen
Katurvölkem spiegelt sich die Zerteüung des Aufnahmefestes auch in der
Namengebung. Das Kind erhält zunächst einen vorläufigen Namen, dann
beim Jugendfest einen anderen ; beim Übergang in eine höhere Altersklasse
vielleicht wieder einen neuen. Jedesmal findet eine „Wiedergeburt" statt
und der neugeborene Mensch braucht natürlich auch einen neuen Namen.
Noch heute nimmt die christhche Kirche mit den Heiden, wenn sie die Taufe
empfangen, eine Namensänderung vor. Jede solche Taufe ist ein Weihefest
im uralten Sinne; der priesterliche Unterricht pflegt, wenn der Täufling er-
wachsen ist, seine richtige Stelle zu haben, nämlich vor der Taufhandlung.
In den höheren Religionen ist der priesterliche Unterricht begreiflicher
Weise umfänglicher und ausgiebiger als in den primitiven Religionen, Um
ein Christ sein zu können, muß man mehr Unterweisung erhalten haben,
als wenn man ein MitgUed einer Neger- oder Schamanenreligion werden will.
Die christlichen Missionare und auch die europäischen Priesterschaften
machen sich freilich ihre Lehrpflicht bisweilen sehr leicht und nehmen Per-
sonen in den Christenbund auf, die die Grundbegriffe dieser Religion nicht
im entferntesten erfaßt haben ; aber das ändert an der Tatsache nichts, daß
die innere und wahrhaftige Zugehörigkeit zum Christentum nur durch ein-
gehende Unterweisung erworben werden kann und der christliche Priester
daher eine bedeutendere Erziehungsaufgabe hat als der Priester der niederen
Religionen. Daraus ergibt sich auch, daß die junge Generation erst ein ver-
hältnismäßig hohes Alter erreichen muß, ehe sie als dem Religionsverbande
zugehörig angesehen werden kann. Will man das Fest der Jugendweihe erst
nach Vollendung der gesamten religiösen Erziehungsarbeit feiern, so kann es
nicht im Pubertätsalter, sondern muß später stattfinden. Die vierzehnjäh-
rigen Knaben und Mädchen sind zwar religiös reifer als die siebenjährigen
oder als die siebentägigen; aber auch für sie kommt die religiöse Großjährig-
keitserklärung noch zu früh. Der Priester kann bis dahin unmöglich alles
getan haben, was er als Vertreter der Gemeinde an dem religiösen Nachwoichs
tun muß. Die Jugend hat mit vierzehn Jahren noch nicht genug gelernt und
verstanden, um den Schritt der Christwerdung mit vollem Verantwortungs-
gefühl tun zu können. Die eigentliche christliche Erziehung kann in diesem
Alter kaum begonnen, geschweige denn beendet sein. Dies ist wohl auch ein
weiterer Grund für die älteren und neueren Bestrebungen gewesen, den
Weiheakt von dem religiösen Erziehungswesen möglichst unabhängig zu
machen und die zauberhaften Aufnahmehandlungen recht früh abzumachen.
Worin besteht nun hauptsächlich der priesterliche Unterricht? Wie ver-
fährt der Priester bei seiner Lehrtätigkeit ? — Das ergibt sich aus dem Cha-
rakter der Religion, in die er die Jugend hineinzuerziehen hat. Wir sagten
ii6
oben schon, in welchen Gegenständen der Priester die Priesteriehrhnge unter-
richtet: in der Kenntnis der Zauberformeln und sonstigen Heilmittel, in
der Handhabung und Ausführung der heiligen Handlungen, also z. B. in der
Ausführung der religiösen Tänze. Dazu kommt die Unterweisung über die
Lebenspflichten, z. B. über die Fastenregeln, ferner der Unterricht in den
theoretischen Grundlagen der Religion, in der Dogmatik, Mythologie, Sagen-
kunde und Geschichte. Alle diese Gegenstände werden auch im religiösea
Unterricht der Laienjugend behandelt werden, jedoch weniger eingehend und
mit Übergehung der etwaigen Berufsgeheimnisse der Priesterschaft. Wenn
wir die allgemeine Geschichte der Pädagogik studieren, finden wir durchweg,
daß der Priester entweder nur die angehenden Priester, oder auch die be-
vorzugten Weltkinder (den Nachwuchs der herrschenden Schichten), oder
endlich die gesamte Jugend des Volkes unterrichtet ; und zwar erhalten die
Priesterkandidaten den sorgfältigsten Unterricht, die Volksjugend den
mangelhaftesten. Oft werden die Kinder dem Priester für die — nicht lange
— Unterrichtszeit gänzlich übergeben ; sie finden Aufnahme in seinem Hause
oder er zieht mit ihnen aus dem Dorf in den Wald, wo Hütten gebaut werden
und eine eigene Niederlassung entsteht. Mitunter entwickeln sich auch die
religiösen Laienbünde zu Lehrinstituten ; diese erinnern dann an die christ-
lichen Klosterschulen. Dabei wird meist die Vorstellung festgehalten und
ausdrücklich betont, daß die eigentlichen Lehrmeister nicht die mensch-
lichen Priester und Bundesbrüder seien, sondern die Geister in Person.
In den Religionen, die heilige Urkunden besitzen, werden diese Urkunden
der Jugend vorgetragen; sie muß sie sich einprägen. Der indische Brah-
manenschüler lernte die Veden auswendig, der junge Mohammedaner den
Koran, die christliche Jugend prägt sich Bibelsprüche, Hymnen und Lieder,
dogmatische Erklärungen usw. ein. Die Erziehungsweisheit gipfelte meist in
der gedächtnismäßigen Aneignung, und wer nicht lernen wollte, wurde
durch handgreifliche Mittel dazu ermuntert. Die Schulen im Bereiche des
Islam und ihr sehr einfaches Unterrichtsverfahren sind oft von den Reisen-
den geschildert worden ; der junge Mohammedaner ist um so frommer und
gelehrter, je weiter er in der Aneignung des Koran vorgedrungen ist. Aber
auch im alten Griechenland bildete das Auswendiglernen der überlieferten
religiös-poetischen Denkmäler den Hauptteil der geistigen Unterweisung.
Wir Heutigen haben gegen den pädagogischen "W ert des Auswendiglernens
einige Bedenken; wir bedauern unsere Jugend, d; ß sie sich mit dem Kate-
chismus, mit Sprüchen und Gesangbuchliedern ? )mühen muß, und wün-
schen, daß der Religionsunterricht anders gehand abt werden möchte. In-
dessen muß man sich über die eigentlichen Gründe dieser berechtigten
Reformwünsche ganz klar werden. Ich habe die Überzeugung, daß die weit
117
verbreitete Abneigung gegen den Religionsunterricht weit mehr von der Ab-
neigung gegen den Unterrichtsstoff und die zu lernenden Urkunden her-
rührt, als von der Abneigung gegen das Auswendiglernen als solches. Die
griechische Jugend hat ihren Homer und Hesiod mit Begeisterung in sich
aufgenommen, die deutsche Jugend lernt, wenn sie richtig geleitet und an-
geregt wird, mit Begeisterung die Denkmale deutscher Dichtkunst auswen-
dig. Daß sie sich gegen den Katechismus und die anderen religiösen Lehr-
gegenstände wehrt und sie nicht in den Kopf, geschweige ins Herz zu bringen
vermag, liegt daran, daß ihr diese christlichen Erzeugnisse innerhch fremd
sind. Ein zweiter Grund ist, daß sie nur zum Teil eine wertvolle künstlerische
Form haben. Ungestaltete Dinge sollte man aus dem Religionsunterricht
soviel wie möglich verbannen, ungeliebte und unverstandene Dinge noch
mehr; weil man es nicht tut, herrscht heute fast allgemein eine feindseUge
Gleichgültigkeit gegen die ReUgion.
Über die religiöse Jugenderziehung der Zukunft und die gesamte Erzie-
hungsaufgabe des künftigen rehgiösen Führers sprechen wir im Schluß-
kapitel.
Tl8
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^@@@@@^^^^
DER PRIESTER ALS KÜNSTLER
UND DENKER
i@SiiS@@@@@@@@@SI^@@@@@@@@@@@@IS^@@^ES@^^@^@@@@^@@@^^^ä
iii I. RELIGION UND SPIEL i^s
Bei Besprechung der religiösen EiTegungs- und Betäubungsmittel haben wir
den Tanz und überhaupt die Bewegungsspiele erwähnt. Wenn der Mensch
in religiöser Stimmung ist, bleibt er entweder bewegungslos und versenkt
sich in sein Inneres oder er sucht die lebhafte, ja stürmische Bewegung. Der
seelische Drang verlangt nach körperlichem Ausdruck, das Gefühl will Hand-
lung werden, der Gedanke will Wort werden. Die Religionsgeschichte führt
uns eine unübersehbare Menge von heiligen Handlungen, heiligen Sprach-
äußerungen, heiligen Bildschöpfungen vor. Wir haben diese religiösen Äuße-
rungen nacheinander betrachtet und haben ihren Zweck und Wert kennen
gelernt ; es zeigte sich, daß der weitaus größte Teil von ihnen mit dem Zauber-
glauben verknüpft ist. Der Priester will durch die Vornahme der religiösen
Zeremonien Wirkungen erzielen, will durch sie Veränderungen im Weltge-
schehen hervorrufen. Entweder glaubt er, daß die Handlungen und Worte
unmittelbar die Kraft haben, in den Lauf der Dinge einzugreifen (z. B. daß
das zeremonielle Ausgießen von Wasser unmittelbar den Regen herbeiziehe,
daß die Wunde sich auf Befehl eines Zauberspruches von selber schließe);
oder er glaubt durch die Handlungen und Worte irgendwelche Geistwesen
zu veranlassen, ihrerseits die gewünschten Wirkungen hervorzubringen,
z. B. glaubt er, daß er durch ein blutiges Opfer die göttliche Bundesgenossen-
schaft gegen die Feinde erzielen und durch Gebete einen Toten im Jenseits
unterstützen könne.
Aber der Wert der heiligen Handlungen liegt nicht bloß in ihrem äußeren
Zauberzweck; wichtiger ist die Rückwirkung, die die Vornahme der Hand-
lungen auf den Handelnden und Zuschauenden ausübt. Ja nach unserer
heutigen Anschauung findet überhaupt keine äußere Wirkung statt. Die hei-
ligen Handlungen und Worte sind, wenn man ihren Einfluß auf den Natur-
lauf prüft, zweck- und wertlos; höchstens daß die Gläubigen sich durch die
heiligen Akte bewogen fühlen, ihr Verhalten so einzurichten, daß die ge-
wünschten Veränderungen im Naturlauf wirklich eintreten. Z. B. trifft eine
Weissagung des Propheten deshalb ein, weil die Beteiligten in ihrem ferneren
Leben bewußt oder unbewußt auf Erfüllung der Weissagung hinarbeiten,
und ein vom Priester Verfluchter geht wirklich zugrunde, weil der Fluch
seinen Lebensmut vernichtet. In solchen Fällen kann man aber nicht eigent-
lich sagen, daß die Wirkung von der heiligen Handlung selber hervorgerufen
worden sei; der Glaube der Menschen macht die Handlungen wirksam. So
ist es mit dem gesamten Riten- und Zauberwesen : der Erfolg ist nicht phy-
120
sikalischer Art, sondern wird durch den Menschen vermittelt. Der Mensch
macht den Kult wirksam, dadurch, daß er an seine Wirkung glaubt.
Wir müssen nun eine Unterscheidung machen. In den soeben angeführten
Fällen wirkt die Handlung, die Weissagung und Verfluchung, auf den, dem
sie gilt. Ebenso wirken die Ölung, die Zelebrierung der ]\Iesse usw. auf die
empfangende und zuhörende Gemeinde ein. Zugleich aber findet eine Wir-
kung auf die Ausübenden statt, und diese Wirkung scheint noch tiefer und
bedeutender zu sein ; mindestens ist sie auffälliger und psychologisch näher-
liegend. Wenn ich eine heilige Handlung vornehme, z. B, ein Opfer bringe
oder ein Gebet spreche, so besteht der Wert dieses Tuns zu allererst in den
psychischen Begleiterscheinungen und Nachwirkungen; ich selber werde am
meisten durch meine Handlung in Bewegung gebracht, habe infolgedessen
den meisten Nutzen von ihr ; erst in zweiter Linie haben auch andere Nutzen.
So ist es wenigstens unter normalen Umständen ; daß die Priester zu Draht-
ziehern eines Puppentheaters oder selber zu Puppen werden, ihr Publikum
daher weit tiefer von ihren Vorführungen berührt wird als sie selber, muß
hier außer Betracht bleiben.
Wir haben gesehen, daß die religiösen Zeremonien der primitiven Völker
meist Massenhandlungen sind; alle Mitglieder der Gemeinde wirken mit.
Auch die Zauberhandlungen des Einzellebens sind oft von solcher Art, daß
sie der Gläubige selber vornehmen muß; ein anderer kann sie nicht für ihn
übernehmen, die „Stellvertretung" ist nicht statthaft, weil dann die Wirkung
ausbleiben würde. Es hat seinen guten Sinn, daß man die Wirkung religiöser
Handlungen von der persönlichen Vornahme abhängig glaubt; denn der
Wert der Handlung hegt wirklich im Tun und den durch das Tun hervorge-
rufenen seelisch-leiblichen Erscheinungen. Wenn die Religionen den Satz
aufstellen : der Glaube macht sehg, der Glaube versetzt Berge, so haben sie
auf zweierlei Weise recht. Erstens schafft der Glaube aus dem Geiste des
Gläubigen alles Zweifeln, Zaudern, Zagen hinweg und richtet ihn auf einen
einzigen Punkt; zweitens bewirkt die gläubig vollzogene heilige Handlung
unmittelbar eine Entladung psychischer Spannungen. Der gläubige Opferer,
Tänzer, Beter fühlt sich durch die bloße Ausführung der Handlung erleich-
tert, ganz abgesehen von dem Glauben an ihre zauberhaften Folgen. Die
heilige Handlung stärkt ihn nicht nur dadurch, daß er glaubt, durch sie die
Götter in Tätigkeit gesetzt und den Naturlauf beeinflußt zu haben, sondern
durch das triebhafte Wohlgefühl und Freiheitsgefühl, das sich während und
nach dem religiösen Akte einstellt. Warum betet er? Im letzten Grunde des-
halb, weil er unter einem Wehgefühl, einem Mangelgefühl, einer seelischen
Spannung leidet, die er vielleicht gar nicht näher erklären kann. Diese Span-
nung entlädt sich, diese Gefühle verschwinden, wenn er die Gebetsworte aus-
121
spricht, die ihm durch seine Religion nahegelegt oder vorgeschrieben werden.
Das Gebet ist ein Reaktionsvorgang, eine Abfuhr seelischer Erregung. Ähn-
lich ist es mit den Opfern und allen anderen religiösen Handlungen.
Am klarsten tritt das Triebhafte und Spielähnliche des religiösen Kult-
wesens vielleicht beim Tanze hervor. Warum tanzen die Naturvölker bei
allen religiösen Anlässen, auch bei solchen, wo uns das Tanzen recht unge-
hörig scheint, z. B. bei Totenfeiern ? Weil es kein näherliegendes und natür-
licheres Mittel gibt, sich seiner psychischen Erregung zu entledigen als das
rhythmische Bewegen der Glieder. Die innere Erregung setzt sich in Gebär-
den, Schritte, Sprünge um; es sind das ,, Ausdrucksbewegungen", wie wir
in dem Abschnitt , .Religion und Zauberei" mit Wundt sagten. Wenn der
Mensch innerlich ruhig und gefaßt ist, wenn wenig in ihm vorgeht, oder wenn
er gelernt hat, sich zu beherrschen, hält er sich körperlich ruhig; er macht
keine oder nur zweckvolle, von einer bestimmten Absicht geleitete Bewegun-
gen. Je größer aber seine Erregung wird, um so schwerer wird es ihm, seine
Haltung zu bewahren, bis es schließlich nicht mehr möglich ist und die Er-
regung sich in zwecklosen Bewegungen und Lauten entlädt. Das Kind und
der Natumiensch unterliegen dem Drange, sich diirch Ausdrucksbewegun-
gen zu erleichtem, weit leichter und hemmungsloser. Der kleinste seelische
Vorgang löst bei ihnen körperliche Begleithandlungen aus. Der Wert dieser
Handlungen beruht zunächst lediglich auf ihrer entladenden Wirkung. Die
entstehenden Bewegungen und Laute können ganz sinnlos sein, ein bloßes
Zusammenziehen von Muskelgruppen, ein Hüpfen und Gestikiüieren, ein
Schreien, Jauchzen, Klagen. Wir beobachten dcis häufig an den Kindern.
Durch die Ausdrucksbewegungen wird aber nicht sofort das seelische
Gleichgewicht wiederhergestellt. Dem religiös erregten Menschen z. B., dem
von Furcht oder Freude, von Entbehrungsgefühl oder Glücksüberschwang
erfüDten Priester, genügt es nicht, ein paar Laute hervorzustoßen oder ein
paar schnelle Schritte zu machen. So leicht kehrt die Ruhe nicht zurück.
Die Handlungen müssen eine geraume Zeit fortgeführt, die Laute weit aus-
gesponnen und zu umfangreichen Lautgruppen erweitert werden. Dabei er-
zeugt sich ein lebhaftes Lustgefühl, ja mitunter eine neue Erregung, die
immer höhere Wellen schlägt und in den früher beschriebenen Rauschzu-
stand übergeht. Dann erst tritt, mitunter plötzlich, Ruhe ein.
So werden die religiösen Handlungen zum Spiel. Das Spiel ist, wie Karl
Groos erklärt, eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird und
an und für sich Lustempfindungen erzeugt. Die Spielhandlungen haben
sehr wohl Zweckmäßigkeit, haben einen Sinn, wenn auch nur einen spielenden
Sinn. Erstens bewegen sich die Glieder dabei harmonisch und meist rhyth-
misch, niemals planlos und zufällig, zweitens schließen sich die Bewegungen
122
zu scheinbaren Zweckhandlungen zusammen, z. B. zu scheinbaren An-
griffs- oder Verteidigungshandlungen, zu erotischen Bewerbungshandlungen,
zu nachahmenden Handlungen. Damit haben wir gleich einige Hauptgrup-
pen der menschlichen und zum Teil schon der tierischen Spiele genannt.
Ebenso gliedern sich die Laute und werden zu Worten und Sätzen ; es ent-
stehen Gebete, lyrische und epische Schöpfungen. Und die Töne werden zu
Tongruppen, zu Gesängen und instrumentalen Vorführungen. Mit den
künstlerischen Eigenschaften aller dieser erweiterten Ausdrucksbewegungen
werden wir uns unten näher beschäftigen; vorerst bleiben wir bei ihrem
Spielcharakter stehen.
Insofern die religiösen Handlungen ihre Entstehung dem menschlichen Be-
dürfnis verdanken, psychische Spannungen physisch zu entladen und zwar
in Bewegungsgruppen, die ihren Wert und Zweck in sich selber tragen, sind
sie Spiele. Es ist das Natürlichste, daß die Spiele von dem vorgenommen
werden, der ihrer bedarf; jedoch ist unser menschhcher Organismus so ein-
gerichtet, daß auch dann eine Entladung unserer Spannung erfolgt, wenn
wir den Spielhandlungen eines anderen zuschauen, oder wenn wir ferne Mit-
wisser eines vorgenommenen Spieles sind. Die Gef ühls\virkung tritt auch bei
den nur passiv Teilnehmenden ein, weil der Mensch die Gabe der sogenann-
ten Einfühlung oder inneren Nachahmung besitzt. Wenn wir einen anderen
etwas tun sehen oder sagen hören, so hat das bei gut begabten und stark
empfindenden Menschen fast dieselbe Wirkung, als wenn wir selber es tun
oder sagen. Wir erleben das Geschaute und Gehörte mit, begleiten es auch
wohl mit geringen Bewegungen der Glieder und der Kehlkopfmuskeln. Auf
dieser Fähigkeit des Mitfühlens beruht aller Kunstgenuß und beruht über-
haupt alle höhere menschliche Kultur.
Für das Bewegungsspiel tritt also das Empfindungsspiel ein, das eigene
Ausführen heihger Handlungen wird ersetzt durch Anschauen und Anhören
der vom Priester vorgenommenen Handlungen. Wie wir im Konzert den
Tönen der Musiker lauschen, so sieht der gläubige Katholik das heilige
Schauspiel der Messe an und fühlt die Gnadenwirkung fast ebenso deuthch
wie der Protestant, der selber den Abendmahlskelch trinkt. Ein kleiner
Unterschied bleibt allerdings bestehen und unter Umständen wird dieser
Unterschied sehr wichtig. Wenn nämlich die nur empfindend Teilnehmenden
sehr lebhaft bewegt werden, drängt es sie zur Aktivität ; die Passivität wird
ihnen lästig, weil sie die Spannungen nicht ganz löst : sie verlangen dringend,
die Handlungen selber körperlich zu vollziehen. Die Gemeinde will mittun;
die Stellvertretung des Priesters erscheint unzureichend. In religiös bewegten
und rehgiös produktiven Zeiten tritt daher stets das Bedürfnis nach Massen-
handlungen, Massengesang, kurz nach gemeinsamer rehgiöser Spielbetätigung
123
des Volkes hervor. In solchen Zeiten nähert sich der Mensch wieder dem Zu-
stande der Kindheit; denn die Kinder und die Naturvölker wollen stets
selber in Tätigkeit treten, zum Teil wohl deshalb, weil die Fähigkeit des Mit-
fühlens und inneren Mithandelns noch nicht genügend entwickelt ist. Der
naive Mensch fühlt sich von Spannung und Druck nur dann befreit, wenn er
sich möglichst umfassend entladen, also starke Bewegungen machen, laute
Töne und Worte von sich geben kann. Ihm genügt es nicht, wenn der prie-
sterliche Künstler vor seinen Augen einen Solotanz aufführt oder kunstvolle
musikalische Vorführungen darbietet ; auch die solistische Zauberhandlung,
z. B. das Schlachten und Verbrennen eines Opfertieres genügt ihm nicht.
Er will mithandeln, mittanzen, mitsingen, will von dem Opfer essen. Min-
destens will er die Rhythmen des Tanzes durch Händeklatschen, durch
Stampfen mit den Füßen oder ähnliche Tanzandeutungen unterstützen ; er
will in die Kernstellen des priesterlichen Gesanges einstimmen, sie wieder-
holen und beantworten; er will bei der Opferhandlung in die Knie sinken,
sie mit Gebeten begleiten. Kurz, es kommt zu Massenzeremonien der ganzen
versammelten Gemeinde. Überall wo wir Massenzeremonien in größerer
Ausdehnung finden, herrscht reges religiöses Empfinden: der innere Drang
sucht volle befriedigende Entladung.
Wir dürfen hierbei nicht die Wirkung der ,, großen Zahl" vergessen. Wenn
die ganze Gemeinde sich versammelt, steigert sich oder erzeugt sich erst
die religiöse Spannung. Die Gefühle, die bedrückenden und beglückenden
Seelenregungen der Einzelnen summieren sich dann und erreichen eine
solche Höhe, daß nur gemeinsame Spielbetätigung ihnen Befriedigung ver-
schaffen kann. Was ist des Priesters Aufgabe, wenn die Gemeinde sich um
ihn sammelt? Den Bewegungsdrang in die rechte Bahn zu leiten und das
Spiel mit wertvollem religiösen Gehalt zu füllen. Er wird zum Spielleiter,
zum künstlerischen Organisator, zum Erfinder großer symbolischer Massen-
handlungen.
In religiös gleichgültigen Zeiten ward die Gemeinde keine Neigung haben,
sich zu religiösen Rauschfesten zu versammeln, und kein Bedürfnis, ge-
meinsame Spiele unter priesterlicher Leitung zu veranstalten. Es sind das
Zeiten, wo das Volk hinreichend Gelegenheit findet, die seelischen Span-
nungen im werktätigen Handeln zu entladen ; oder aber die Religion und ihr
Vertreter ist den Anforderungen der Zeit nicht gewachsen, das Volk sucht
in unreligiösen Spielen, in allerhand Ausschweifungen und Zerstreuungen
Ersatz für das, was ihm der Priester nicht zu bieten vermag.
In solchen Zeiten entsteht also eine Entfremdung zwischen Priester und
Gemeinde, ein Mißverhältnis zwischen der Rehgion und dem Entladungs-
bedürfnis des Volkes. Was wird in solchen Zeiten aus den Kulthandlungen ?
124
Der Priester vollzieht sie ohne Mitwirkung, oft ohne Anwesenheit der Ge-
meinde. Dadurch verlieren sie ihre Einfachheit und Größe; sie werden
fachmännischer, formelhafter, spielerischer. Der Priester verliert sich in
Spitzfindigkeiten, in zeremoniellem Tand. Aber unter Umständen bildet er
die Handlungen auch zu feinen Kunstwerken aus. Der Priester kann sich
in solchen Zeiten nach sehr verschiedenen Richtungen hin entwickeln;
er kann zum kabbalistischen Wortverdreher werden oder zum virtuosen
Dialektiker oder zum steifen Hüter alter Formen und Gebräuche oder zum
toten Heilsmechanismus oder zum leidenschaftlichen Freund der Unterhal-
tungsspiele und zerstreuenden Genüsse, oder zum behäbigen Philister oder
endlich zum feinsinnigen Artisten und feinnervigen ,, Lebenskünstler". Viel-
leicht gelingt es ihm sogar, alle diese verschiedenen und doch nahe ver-
wandten Charaktere und Neigungen in seiner Person zu vereinigen. Im ka-
tholischen Klerus gibt es Beispiele genug, daß solche Vereinigung sehr wohl
möglich ist. Der Katholizismus führt uns die reinliche Scheidung von Prie-
stertum und Laientum, die Passivität des letzteren und die fachmännisch-
spielerische Religiosität des ersteren deutlich vor Augen, obwohl keineswegs
geleugnet werden soll, daß sich im Katholizismus auch Gegenströmungen
bemerkbar machen und in früheren Jahrhunderten gemacht haben. Aber
diese religiösen Gegenströmungen wandten sich stets gegen das Priestertum
und insofern gegen die Grundlagen der gesamten katholischen Kirche. Sie
entstammten dem Ungenügen religiös gespannter Naturen an dem äußer-
lichen und fachmännischen Religionsbetrieb der Kirche. Diese Naturen fühl-
ten ganz richtig, daß eine spielerische Priesterschaft ihren Wert und ihre
Daseinsberechtigung einbüßt, weil sie nicht mehr imstande ist, gewaltige
seelische Spannungen im Volke zur religiösen Entladung zu bringen. Daher
verlangten diese prophetischen Naturen und Volksbewegungen, daß die
Laien zur aktiven Mitwirkung beim Gottesdienst zugelassen werden sollten.
Nicht mehr sollte der Priester für alle beten, singen, Messe lesen, den Kelch
trinken; sondern gemeinsam wollte man Gott dienen, gemeinsam sich zu
Gott emporschwingen, gemeinsam singen, beten, kommunizieren. So erklärt
es sich, daß der Laienkelch zu einem Hauptzankapfel, und der Gemeinde-
gesang zu einem Grundpfeiler des Protestantismus werden konnte.
Aber wenn die Reformatoren für die religiöse Aktivität der Gemeinde
kämpften, kämpften sie zugleich gegen die guten und großen Seiten der
bisherigen Priesterreligion, nämlich gegen die Verfeinerung der Kunst und
die Vertiefung der Wissenschaft. Die Bilderstürmer gehören mit Notwendig-
keit in die Reformationsbewegung hinein. In ihnen kam der Haß der religiös
bedürftigen Laienwelt gegen die religiöse Virtuosität der Priester zum deut-
lichsten, aber auch barbarischsten Ausdruck. Die Kunst des ^Mittelalters und
der Renaissance hatte sich nur unter dem Schutze einer Priesterreligion ent-
falten können. Die von der Religion lebenden, von den Bedrängnissen des
Volkes wenig berührten Priester hatten ihre Muße zur Ausbildung und Be-
förderung dieser Kunst verwendet. Sie spielten mit ihren religiösen Gefühlen
und brachten sie in schönen Kunstwerken zur Darstellung. Ihnen war die
Religion eine lust- und nuancenreiche Phantasiebetätigung. Dagegen em-
pörten sich die gespannten und gequälten Seelen der Reformationszeit. Als
Luther in Rom war, hatte er ganz ähnliche Empfindungen wie der Buß-
prediger Savonarola, wenn er das florentinische Kunsttreiben sah. Und wie
Fra Bartolomeo seine eigenen Bilder ins Feuer warf, so zerstörten die Bilder-
stürmer die Kunstwerke der deutschen Kirchen. Den religiös Erregten ist
zu allen Zeiten das künstlerische Spielen mit den menschlichen Qualen und
Ängsten, mit den Wonnen und Begehrungen, mit aUem Höchsten und Tief-
sten, unerträglich gewesen. Die Reformationszeit fragte : wo ist der strafende
und erlösende Gottheiland geblieben ? Er ist zu einem Vorwurf für geschickte
Künstlerhände, zu einem Genußgegenstand für betrachtende Augen ge-
worden. Und wo ist das heilige und schaurige Opfermysterium geblieben?
Es ist zu einem prächtigen Schauspiel und einem abwechslungsreichen Ton-
stück geworden.
Kurz, die Reformatoren woUten die Religion vom Spiel zum Ernst zurück-
führen, und dasselbe haben die religiösen Propheten und Revolutionäre zu
allen Zeiten gewollt und, wenn sie glücklich waren, ausgeführt. Sie haben das
Dämonische und das Tragische wieder in der Religion zur Geltung gebracht ;
die bestehenden Formen der religiösen Triebentladung erschienen ihnen
oberflächlich und hohl, darum zerstörten sie sie. Sie fühlten, daß das reli-
giöse Spiel so, wie es gehandhabt wTirde, nicht mehr den heißesten Strom
rehgiöser Erregung in sich aufnehmen, nicht mehr der höchstgesteigerten
religiösen Spannung zur Entladung dienen konnte. Die Formen zerbrachen
von selber, als sich die wilde Kraft des Enthusiasmus und die tiefe Gewalt
des Heroismus in sie ergießen wollte. Und so kehrt der religiöse Mensch in
allen großen, neuernden Epochen zur Einfachheit zurück, zur Gemeinsam-
keit der heiligen Handlungen, Die Reichhaltigkeit und fachmännische Fein-
heit des religiösen Spiels geht verloren; statt dessen wird es monumentaler
imd allgemeingültiger.
Das Verhältnis der Religion zum Spiel ist also nicht leicht auf eine ein-
fache Formel zu bringen. Wenn wir mit Groos den Begriff des Spieles dahin
bestimmen, daß es eine lustvoUe Triebbefriedigung sei, die ihren Zweck nicht
außer sich, sondern in sich selber trage, so scheinen Religion und Spiel ein-
ander sogar recht fernzustehen. Die Religion wird häufig als eine Gegen-
macht gegen den Spieltrieb angesehen: sie bekämpft die Befriedigung des
126
lust vollen und zwecklosen Betätigungsdranges als unreligiös, oft auch als
unsittlich. Jedoch ist das nur der Widerstand gegen einzelne Arten und Rich-
tungen der spielenden Triebbefriedigung, nicht gegen eine solche Befrie-
digung überhaupt. Ohne den menschlichen Spieltrieb gäbe es kein einziges
religiöses Glaubens- und Kultgebilde. Groos hat nachgewiesen, wie tief das
Spiel in das gesamte Leben der höheren organischen Wesen eingreift, wie
es zugleich eine Art Untergrund und eine Art Krönung des menschlichen
Daseins ist. Nach der früheren Anschauung, die besonders von Schiller
in den ästhetischen Briefen und von Spencer vertreten worden ist, wäre das
Spiel ein Ausfluß des Kraftüberschusses ungenügend beschäftigter Organis-
men. Wenn Kräfte brachliegen, wenn der Mensch durch den Kampf mit der
Lebensnot nicht vollauf hingenommen ist, entlädt sich die aufgespeicherte
seelische Energie in zwecklosen Handlungen und Lauten. Das trifft auch für
den Priester in vielen Fällen zu; denn der Priester hat sich fast stets von
der körperlichen, das Leben fristenden Arbeit zu befreien gewußt ; er verfügt
also über einen großen Schatz von freier seelischer Kraft. Indem sich diese
Kraft in Handlung umsetzt, wird der Priester zum Erfinder religiöser Spiele.
Gegen die Spencer sehe Theorie hat man eingewendet, daß nicht bloß un-
tätige Menschen spielen, die einen Überschuß von Kraft haben, sondern auch
überanstrengte Menschen, die sich im Spiel von der aufreibenden Lebens-
arbeit ausruhen wollen. Auf diese unbestreitbare Tatsache hat man eine
zweite Theorie des Spiels, die sogenannte Erholungstheorie, gegründet. Auch
für sie bietet das religiöse Leben zahlreiche Beispiele. Wie oft dient die Aus-
führung reUgiöser Zeremonien z. B. das Tanzen, Waschen, Beten den vom
Leben arg bedrängten und niedergedrückten Menschen zur Erholung und
Auffrischung der Kräfte! Der religiöse Feiertag, überhaupt jedes Fest ist
eine Pause zwischen den sauren Wochen der Arbeit. Der Mensch atmet auf;
er zieht einen anderen Menschen an (vgl. meinen Aufsatz: Feste und Jubi-
läen, Die Tat I, ii). Fast immer aber, wenn der Mensch das Bedürfnis hat,
aufzuatmen und den Festtagsmenschen anzuziehen, verfällt er auf religiöse
Betätigungen. Die Religion ist die edelste Form menschlicher Erholung.
Der Priester und der Künstler bieten ihm ihre Spielerfindungen dar und
begierig greift er danach, weil er fühlt, daß er durch das religiöse Spiel am
schönsten seiner Müdigkeit Herr wird, am sichersten die Sorgen und Küm-
mernisse des Werktags verscheucht, am freiesten sich über sich selber und
die Schranken, die ihn umgeben, erhebt.
Diesen beiden Theorien, die einander keineswegs ausschließen, hat Groos
noch eine Betrachtung über den biologischen Wert des Spieles hinzugefügt.
Ein großer Teil der Spiele, namentlich die der Kinderjahre, sind ein unver-
gleichliches Mittel, die Kräfte und Betätigungen für den Ernstfall einzuüben.
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Was das Leben vom Erwachsenen fordert, lernt die Jugend im Spiel; aber
auch der Erwachsene kann spielend Kräfte zur Entwicklung bringen oder
sie lebendig erhalten. Das religiöse Leben vieler Völker bestätigt auch diese
Übungstheorie auf Schritt und Tritt. Namentlich sind hier die Kriegs- und
Jagdtänze der primitiven Völker zu erwähnen, die eine ähnliche Bedeutung
haben wie unsere soldatischen Übungen. Auch andere rehgiöse Handlungen
stellen sich deutlich als Unterrichts- und Erziehungsveranstaltungen dar.
Bei den Kulturvölkern wird besonders die sittliche Bildung durch die reU-
giösen Übungen gefördert und begründet. Der Rosenkranz, die Bußübungen,
die rituellen Beschränkungen können in hohem Grade disziplinierend wirken.
Der Priester ist Spielleiter, sagten wir; das hieße in lateinischer Übersetzung:
er ist ludi magister, will sagen Schulmeister. Schule, Erholung, Spiel scheinen
uns zwar heute recht verschiedene und sogar gegensätzliche Begriffe zu sein,
aber ursprünglich waren sie fast gleichbedeutend. Wenn der christliche Prie-
ster bisweilen in dem Spieltrieb der Jugend einen Feind und Nebenbuhler
seiner Erziehungstätigkeit erblickt hat, so hat er damit nicht bloß seine
eigene priesterliche Tätigkeit und Vergangenheit verurteilt, sondern auch
Verständnislosigkeit gegenüber den Gesetzen der menschlichen Psyche be-
wiesen.
Und doch ist es begreiflich und berechtigt, wenn der Priester gegen das
Spielbedürfnis der jugendlichen und der erwachsenen Menschheit eine Ab-
neigung empfand. Er wehrte sich gegen den Willkürcharakter des Spiels,
gegen die selbstherrliche Freiheit, die der Spielende genießt. Seine religiösen
Spiele trugen eher einen Zwangscharakter; er fühlte sich nicht frei, wenn er
die heiligen Handlungen vornahm und den heiligen Pflichten nachkam. Der
ernste, mit sich selber ringende Priester will weder überflüssige Kräfte in
Tätigkeit setzen, noch sich ausruhend erholen, noch sich für den Ernstfall
einüben. Wenn er sich zu Gott wendet und in Gebeten oder Handlungen sich
ausströmen läßt, gehorcht er einem inneren Zwange, einer quälenden Seelen-
not. In den religiösen Handlungen und Phantasieschöpfungen machen sich
unbewußte Wünsche und Vorstellungen Luft. Die Triebe, die er unterdrückt
hat, die Geister, die er gefesselt hat, suchen in den Kultzeremonien, in den
Tänzen, Festorgien, Gesängen, Klagen Ausdruck, wenn auch einen entstell-
ten und pathologischen Ausdruck. Freud hat die religiöse Betätigung mit
den Zwangshandlungen der Neurotiker verglichen und die Religion als eine
universelle Zwangsneurose bezeichnet (Kleine Schriften zur Neurosenlehre
II). Das klingt im ersten Augenblick ebenso ungereimt, als wenn man die
Religion als eine Äußerung des menschlichen Spieltriebes bezeichnet. Aber
wie diese so ist jene Bezeichnung nicht unzutreffend; überdies weisen beide
Definitionen in die gleiche Richtung.
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Unter Zwangshandlungen versteht man die merkwürdigen Verrichtungen,
mit denen manche Ner\"enkranke einen guten Teil ihres Lebens hinbringen.
Z. B. zählen sie alle Fensterscheiben, lesen alle Firmenschilder, sprechen,
bevor sie zu wichtigen Angelegenheiten schreiten, eine Formel viele Male vor
sich hin, umgeben die täghchen Handlungen, wie Ankleiden, Waschen usw.
mit einem umständhchen Zeremoniell. Warum tun sie alles das? Weil sie
müssen. Sie werden von furchtbarer Unruhe und Angst ergriffen, wenn sie
eine einzige dieser Zwangshandlungen unterlassen oder vergessen. Sie opfern
Zeit und Kraft für dies scheinbar so nutzlose Treiben, das eine unverkenn-
bare ÄhnHchkeit mit der Spiel tätigkeit hat. Namentlich wenn das Spielen
zu einer Leidenschaft wird, geht es ohne Zwischenstufe in das krankhafte
Spiel der Zwangsneurotiker über.
Wenn der Kranke seine spielerischen Zwangshandlungen richtig innehält,
fühlt er sich ruhig und zufrieden. Fragt man ihn aber, was denn diese Hand-
lungen eigenthch bedeuten und warum es gerade diese und keine anderen
sein müssen, so kann er meist keine Antwort darauf geben. Bei eingehender
Prüfung stellt sich manchmal der Sinn der Handlungen heraus. Sie waren
ursprünghch nicht zwecklos, sondern haben sich das erste Mal, wo sie vor-
genommen wurden, ganz natürlich aus den Umständen ergeben. Was für
Umstände waren das? Wenn Freud recht hat, waren es peinhche, tiefer-
regende Vorfälle. Der Kranke hat ein Erlebnis gehabt, bei dem sich ein quä-
lender Kampf zwischen seinen Trieben und den sitthchen Hemmungen er-
gab. Die Triebe, oft sind es die sexuellen, meldeten sich zur Unzeit oder
wurden durch einen äußeren Anlaß gereizt, während das sitthche oder soziale
Gefühl im Einklang mit der Vernunft diese Trieberregung verurteilte und
zu unterdrücken suchte. Das erzeugte eine heftige Spannung und diese Span-
nung entlud sich durch eine motorische oder lauthche Handlung, durch ein
paar ablenkende Worte oder Bewegungen, durch einen Fluch, ein mecha-
nisches Zählen, kurz durch Abwehr-, Schutz- und Beschwichtigungshand-
lungen. Die Handlung oder das Wort war also eine Flucht, ein rettender Aus-
weg, ein Bhtzableiter gewissermaßen. So woirde der unerträgHche innere
Konfhkt beseitigt. Aber nicht dauernd wmrde er beseitigt, nicht endgültig war
er begraben. Die Ablenkung durch spielende Zwangshandlungen und Zwangs-
worte ist ja nur ein Kompromiß, ein Verschieben der Entscheidung; die
Handlungen sind kein \virkhcher Sieg über die Dämonen, sondern nur eine
Beschwichtigimg und Einschläferung derselben. Dahermüssen dieBeschwich-
tigungs- und Ablenkungshandlungen auch immer von neuem vorgenommen
werden. So oft die bösen Lüste sich wieder melden, so oft der Konfhkt durch
äußere Anlässe oder aus inneren Gründen von neuem brennend \sird, schrei-
tet der Kranke un\\allkürhch zu denselben Schutzhandlungen, die ihm da-
9 Horneffer, Der Priester II I2Q
mals Entladung und Beruhigung verschafften. Er wird sich des Neuerwa-
chens der eingeschläferten Geister vielleicht gar nicht bewußt; noch bevor
sie sich deutlich regen und über die Schwelle des Bewußtseins treten, werden
sie von den Türhütern, nämlich den Abwehrhandlungen und Schutzformeln
in Empfang genommen und unschädlich gemacht. Man kann daher geradezu
sagen : das Zeremoniell der Zwangskranken ist eine unnatürliche Form ihrer
Triebbefriedigung; denn die Trieberregung ergießt sich in das Bett dieser
ablenkenden Handlungen; indem die Erregung abgewehrt wird, erfährt sie
zugleich eine Befriedigung ; die leidenschaf thche Spannung kommt zur Ent-
ladung. Aber wie wir schon sagten, ist diese Befriedigung unvollkommen,
ist nur ein Surrogat, nur eine Phantasiebefriedigung. Alle Zwangshandlungen
sind Surrogate, wie überhaupt jedes Spiel, jedes Scheintun etwas Surrogat-
artiges hat.
Bevor wir diese pathologische Betrachtung auf das religiöse Kultwesen
anwenden, wollen wir uns an einige verwandte Krankheitserscheinungen
erinnern. Was wir soeben von den Zwangshandlungen sagten, trifft zum Teü
auch für die Zwangsgedanken, die Wahnvorstellungen, die Halluzinationen,
die Einbrüche zu, ja auch für körperhche Störungen psychischen Ursprungs,
also Lähmungen, Anfälle usw. Man wird zuweilen von einem Gedanken,
einer Melodie, einem Bude unablässig verfolgt und kann es nicht aus dem
Kopfe bringen. Wie sind solche Zwangsgedanken zu erklären ? Die Gedanken
und Bilder sind uns vielleicht an und für sich gleichgültig, sie werden uns
im höchsten Grade lästig und langweilig; trotzdem werden wir, wenn wir
geistig unbeschäftigt sind, immer wieder zu ihnen zurückgeführt. Es ist ein
wirklicher Zwang; es ist ein Spiel, an dem wir immer wieder teilnehmen
müssen, ob wir nun wollen oder nicht. Offenbar erhalten diese hartnäckigen
Zwangsgebilde Nahrung aus dem unbewußten Seelenleben; sie zeigen an,
daß in uns eine psychische Spannung besteht, die vergeblich nach Lösung
trachtet und die sich deshalb durch die spielende Wiederholung jener
Zwangsgebüde eine Ersatzbefriedigung verschafft. Irgendwie ist der Zwangs-
gedanke zweifellos mit den Geistern der Tiefe verknüpft und verkettet, er
ist eine Art Bote für andere, schlimmere, Gedanken, die wir aus sittlichen
oder Vernunftgründen unterdrückt und abgewehrt haben. Die bösen Ge-
danken, die verwerflichen oder traurigen Gefühle sind wir los: aber nur um
den Preis, daß uns andere, an sich gleichgültige Gedanken und Gefühle
quälen, in die die Erregungssumme jener schlimmen Geister hineingeflossen
ist. Anstatt Sklaven unserer Leidenschaften sind wir nun Sklaven unserer
Zwangsgedanken, unserer Wahnbildungen und Halluzinationen. Auch die
Halluzinationen im Wachen und im Traume sind Abgesandte jener Geister,
die sich nicht selber an das Tageshcht wagen. Als Traumphantasie steigen
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sie aus dem Dunkel herauf; nackt oder in verhüllenden schamhaften Ge-
wändern tanzen sie ihren Reigen und verschaffen sich die Befriedigung, die
ihnen der nüchterne und wache Geist versagt. Auch hier kommt natürlich
nur eine Scheinbefriedigung zustande; es ist nur ein Spiel; die „trotzigen
Tyrannen", wie Platon sagt, werden in den Traum- und Wachphantasien
beschwichtigt und gleichsam betrogen.
Die Traumphantasien sind entweder beglückender oder beängstigender
Art, oder sie sind gleichgültig wie manche Zwangsgedanken des wachen
Lebens. Sowohl Engel wie Teufel treten in ihnen auf, sowohl befriedigte Be-
gierden wie Qualen der Furcht und der Entbehrung. Dieser Gegensatz ist
nicht so tiefgehend, wie es zunächst den Anschein hat; in beiden Fällen findet
eine spielende Spannungsentladung statt. Bei den beglückenden Träumen,
bei den reinen, göttlichen Phantasiebildungen und Halluzinationen der reh-
giösen Heiligen ist das Spiel gleichsam den positiven Weg gegangen: die
Wünsche und Triebe selber treten in subhmierter Gestalt als ihre eigenen Er-
füllungen auf. Bei den schrecklichen und quälenden Phantasien dagegen
haben wir eine Darstellung des Kampfes selber; die Spannung löst sich da-
durch, daß sie bloß gestaltet und der Kampf mit tiefer Erregung durchlebt
wird. Man kann sagen, daß der Schreckenstraum und die düsteren Wach-
phantasien das Gerüst für die Tragödie hergeben ; die beseligenden Phanta-
sien dagegen werden zu rehgiösen Wunschmythen ; aus ihnen entspringt der
Glaube an Götter und an die ewige Seligkeit.
Wir sind damit schon zur Anwendung der genannten Krankheitsvorgänge
— im weiteren Sinne rechnen wir auch den Traum zu den pathologischen
Erscheinungen — auf das rehgiöse Leben und die Kultspiele übergegangen.
Wer könnte leugnen, daß die Religion zu allen Zeiten auf Regelung, Be-
schränkung, Unterdrückung der menschlichen Triebregungen ausgegangen
ist? Schon die primitivsten religiösen Äußerungen entspringen aus dem
Kampfe des Menschen mit der Umwelt; dieser Kampf aber verbindet sich
notwendig mit einem Kampf in der menschUchen Seele. Wenn der Urmensch
sich gegen wilde Tiere und Naturereignisse wehrt, greift er zu Kampfmitteln,
die eine zeitweihge Beherrschung der Triebe z. B. des Hungers oder der
Furcht erfordern. Noch weit mehr wird er im feindlichen und freundlichen
Verkehr mit den Mitmenschen zum Ansichhalten und zur Selbstbeschrän-
kung genötigt. Es erzeugen sich infolgedessen oft Spannungen, die nicht so-
fort oder die überhaupt nicht Entladung finden. Was wird aus den auf diese
Weise aufgestauten Energiesummen? Sie bedürfen der Ablenkung, sie
suchen auf Umwegen nach Lösung, sie erzwingen sich Ersatzhandlungen und
Ersatzvorstellungen. Kurz, sie werden zu Wunschphantasien und treten als
rehgiöse Kult- und Glaubensgebilde hervor. Der Priester erfindet — weil
9' 131
er es am nötigsten hat — religiöse Blitzableiter für die gehäuften Spannun-
gen, er erfindet Spiele und Scheinhandlungen, Bußübungen, Schutzformeln,
Rosenkränze imd andere unschuldige Gelegenheiten zur ablenkenden Ent-
ladung. Das Erfinden dieser Dinge ist kein Willkürakt des Priesters, kein
berechnendes Machtstreben ; der Priester gehorcht selber einem Zwange, er
steht, wenn er für die Trieberregungen, denen die natürliche Befriedigung ver-
sagt ist, Ersatzbefriedigungen schafft, unter der zwingenden Gewalt seines
eigenen psychischen Zustandes. Und wenn die Gemeinde unter Führung des
Priesters die religiösen Spiele aufführt, die Kultzeremonien vornimmt, den
Glaubensgebilden nachdenkt und nachlebt, gehorcht sie ebenfalls einem
inneren Muß, nicht äußeren Befehlen, Lockungen oder Drohungen des Prie-
sters. Das greift alles auf Grund rein psychischer Gesetze ineinander.
Wir finden auch die obenerwähnten Unterschiede in der Richtung der
Ersatz- undSpiels chöpfungen auf religiösem Gebiete wieder. Erstens haben
wir religiöse Gebilde, bei denen die Triebe, die verdrängt und abgelenkt wer-
den sollen, unverhüllt und unentstellt hervortreten. Als Beispiel seien die
orgiastischen Kultbräuche, die sexuellen und sonstigen Ausschweifungen
innerhalb des Gottesdienstes angeführt; auch die unsittlichen mytholo-
gischen Geschichten, die gräßlichen Dämonenbilder, die ganzen Spuk- und
Schreckensphantasien gehören hierher, ebenso die ,, Versuchungen" der Hei-
ligen. Zweitens finden wir religiöse Schöpfungen, bei denen umgekehrt jede
Spur der Trieberregung ausgetilgt ist: nur der siegende, zur Harmonie ge-
langte Mensch kommt in ihnen zur Erscheinung. Dahin gehören alle religiösen
Wunschgebilde, die guten Götter, die Himmelsvisionen, dazu die entspre-
chenden Kultgebräuche, Freudenhymnen, Heiligungsriten, ekstatischen
Handlungen. Ferner finden wir religiöse Schöpfungen, in denen der innere
Kampf des Menschen selber zum Ausdruck gelangt. Beispiele liefern die
mythologischen Götterkämpfe, die heiligen Kampf- und Wettspiele, die
Opfer- und Totenbräuche, die Selbstmißhandlungen. Der gestorbene Gott
und der aus tiefer Not schreiende Sünder sind die hervorragendsten Gebilde
dieser Form, unterdrückten Trieben eine religiöse Scheinbefriedigung zu ver-
schaffen.
Auch die gleichgültigen, scheinbar sinnlosen Zwangshandlungen finden auf
religiösem Gebiet ihre Parallele. Man hört oft davon, daß die Verrichtung der
Kultzeremonien den Frommen und zumal den Priestern zur ,, zweiten Natur"
würde. Sie üben sie mit mechanischer Selbstverständlichkeit aus, denken gar
nichts oder etwas nicht Zugehöriges dabei, fühlen sich aber äußerst unbe-
haglich, wenn sie einmal verhindert sind, den heiligen Gewohnheiten nach-
zukommen. In allen Religionen kann man wohl Beispiele für diese gewohn-
heitsmäßige und zwangsmäßige Art der Kultübung finden. Die heiligen
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Handlungen sind oft so geartet, daß sie dies spielerische Zwangstreiben be-
günstigen und herausfordern, ich brauche nur an das krasse Beispiel der
Gebetsmühlen zu erinnern.
Die christhche Opferhandlung ist wohl die erhabenste Kultzeremonie, die
wir kennen. In ihr fand die unerträgHche Spannung der spätantiken Men-
schen rehgiöse Entladung. Der Mensch dieser Jahrhunderte litt an einem
vernichtenden Sündengefühl ; die Kluft zwischen den sittlichen Forderungen,
die er an sich stellte, und den inneren Trieben und äußeren Feinden, denen
er erlag, war unüberbrückbar. Der Kampf zerrieb und zermürbte ihn, die
Todesangst schüttelte ihn. Da leuchtete der rettende Kompromißgedanke
auf: ich muß mich an Gott wie das Kind an der Mutterbrust festsaugen,
ich muß mich von Gott wie das Weib vom Manne eheUchen und befruchten
lassen, ich muß Gott wie der Verdurstende den Trank, der Verhungernde das
Brot körperHch essen und trinken. Und diese Gedanken, die als Wahn- und
Zwangsgebilde vor die Seele traten, die aus der Tiefe uralter Menschheits-
erinnerung auftauchten, schufen sich Ausdruck in den christlichen Kult-
riten, zumal in der Abendmahls- und Taufhandlung. Die Gedanken allein
waren nicht stark genug, die Spannung zur Entladung zu bringen, die Qual
zu beenden und die Erlösung zu vollziehen. Die Handlung mußte hinzu-
kommen; die Vereinigung mit Gott mußte udrklich vollzogen, die Rettung
aus dem entsetzUchen Kampf mußte im symbohschen Spiel verwirklicht
werden. Sehen, fühlen, schmecken, handelnd ergreifen wollte der Mensch
das Heil ; nur so war ihm geholfen. Aber freihch, so sinnHch die frühe Chri-
stenheit den Erlösungsakt gestaltete, blieb er doch immer nur eine Schein-
handlung, eine Phantasieerlösung. Man ,, versinnbildlichte" die Lösung und
beschwichtigte dadurch die Dämonen, leitete die Erregung ab, stillte die
unstillbare Sehnsucht. Kurz, der Mensch betrog sich durch das religiöse
Spiel und verschaffte sich eine Ersatzbefriedigung, ganz ebenso wie der
Zwangskranke und der Hysterische durch die Bildung der Krankheitssym-
ptome und Ausführung der Zwangshandlungen.
Und weiter: wie der Kranke seine rettende Kompromißhandlung immer
von neuem wiederholen muß, weil der Konfhkt nur zeitweilig beschworen,
nicht endgültig beseitigt ist, so mußte auch die Christenheit die erlösende
Opferhandlung immer von neuem vornehmen, um die trüben und bösen
Geister, die sich wieder und wieder meldeten, niederzuhalten oder in Schlaf
zu lullen. Die Vornahme des rehgiösen Zwangsspiels brachte Ruhe und er-
möghchte ein glückhches Leben, ähnhch wie der Zwangskranke, wenn er
sein Zeremoniell innehält, lebensfähig und lebensfreudig ist. Und wie dieser
den Sinn seiner Schutz- und Ablenkungshandlungen nicht weiß, wie er sie
mechanisch und infolgedessen entstellend und vereinfachend ausführt —
diese „Vereinfachung" ist ein Ausgangspunkt für das künstlerische Phäno-
men des Stilisierens — , so vergessen auch die Christen und andere Rehgionen
oft den Sinn der Kulthandlungen. Ohne sich der tiefen Bedeutung des hei-
ligen Spieles bewußt zu sein, treibt die Gemeinde es fort und vererbt es an
die folgenden Generationen. Und wenn der Priester auch den Sinn theore-
tisch begriff und kannte oder einen neuen Sinn unterlegte — , so trat doch
dies priesterliche Wissen bei Ausübung der Handlungen in den Hintergrund.
Man wiederholte sie, ohne an die ursprünglichen Beweggründe zu denken,
man entstellte und vereinfachte sie auf mancherlei Weise. Ein dumpfer
Drang, ein Ungenügen und Unsicherheitsgefühl, wenn man sie unterließ,
trieb zur fortgesetzten Wiederholung, zur dauernden Einfügung der Hand-
lungen in das Gemeinschaftsleben des Volkes.
Das Kultspiel wurde zu einem Hauptstück des religiösen Lebens. Der Prie-
ster verbrachte einen großen Teil seiner Kraft und Zeit mit dem regel-
mäßigen Ausführen heiliger Zeremonien und auch die Laienwelt fühlte sich
bewogen, einen erheblichen Teil des Lebens auf diese zwangsartigen Blitz-
ableiterhandlungen zu verwenden. Wir sahen früher, einen wie großen
Raum die religiösen Handlungen namentlich bei den Naturvölkern einneh-
men ; und wenn man bedenkt, wie viele fromme Katholiken ihr Leben lang
jeden Morgen den Weg zur Messe gehen, so muß man sagen, daß auch in
Europa noch dem wirkenden Leben durch das Kultwesen erhebliche Kräfte
entzogen werden.
Im allgemeinen wird allerdings mit wachsender Kultur das Gebiet des
religiösen Kults mehr und mehr eingeschränkt. Der Mensch lernt, die psy-
chischen Spannungen in zweckvoller Arbeit, statt in dem religiösen Zere-
moniell zu entladen. Das ist eine große, kulturschaffende Errungenschaft.
Die höheren Götter und ihre Propheten erklären: die Gunst der Götter
könne nicht durch Opfer, Spiele und Gebet erlangt werden, sondern nur
durch Tätigkeit, zumal durch soziale Liebestätigkeit. Aber wenn wir ge-
nauer prüfen, ist die Bemühung, den Kult einzuschränken oder gänzlich
aufzuheben, doch nur scheinbar erfolgreich gewesen, und wo sie wirklich er-
folgreich war, sind der Kultur große Gefahren erwachsen. Indem der Kultur-
mensch gegen die zwecklose religiöse Zwangshandlung ankämpfte, hat er den
außerreligiösen Spielbetätigungen immer mehr Platz eingeräumt ; und ferner
hat die Abschaffung der religiösen Entladung ein starkes Anwachsen der
Nerven- und Geisteskrankheiten im Gefolge gehabt. Der religiöse Kult
wirkt befreiend und erlösend, weil er für solche Energien, die in unserem
Kulturleben nun einmal nicht normal zur Betätigung gelangen können, eine
Abfuhr schafft. Z. B. hat es unzählige unbefriedigte oder verunglückte
Frauen vor der Neurose und völligem Verfall gerettet, daß sie sich an den
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Heiland wenden und religiöse Spiele mit ihm ausführen können. Die Religion
kann auch die bereits vorhandene Neurose beseitigen, indem sie die in die
Krankheitsbahn abgeirrten psychischen Energien auf das religiöse Gebiet
hinüberlenkt. Die christlichen Berichte über die Heilung Dämonischer durch
Jesus und seine Nachfolger veranschaulichen diese Tatsache sehr schön. Aus
Maria von Magdala trieb Jesus sieben Teufel aus, d. h. er heilte schwere
psychische Störungen. Ähnlich sind auch „Versuchungen", d. h. verbreche-
rische und krankhafte Neigungen allerart durch Ablenkung der bedroh-
lichen Spannung ins Religiöse heilbar. Und wenn die religiösen Heilshand-
lungen regelmäßig fortgeführt werden, so werden die Versuchungen oft
dauernd femgehalten werden können. Die bösen Geister werden durch die
frommen Übungen gebannt; sie verschwinden sofort, wenn man Gebete,
Waschungen und andere Spielhandlungen vornimmt, mit anderen Worten:
die unterdrückten Triebe, die sich hervordrängen wollen, werden durch
Ausdrucksbewegungen um ihre Kraft gebracht und erfahren durch Schutz-
handlungen eine scheinbare Entladung. Nicht immer sind freilich die Dämo-
nen so leicht zu verscheuchen; die hartnäckigsten können nur durch aus-
führliche, höchst beschwerhche oder höchst schmerzhafte religiöse Mittel ab-
gefunden und davongeschickt werden. Dadurch erhält das rehgiöse Spiel
seinen großen Ernst und wird zur aufreibenden, zerstörenden Askese. Buß-
und Wallfahrten, Enthaltungen und Verstümmelungen sind der Preis, um
den der innere Friede erkauft und die Erlösung vom Übel erlangt wird.
Mit wachsender Kultur nämlich werden auch die Kämpfe des Menschen
mit sich selber und mit der Außenwelt immer heftiger und vielfältiger. Daher
wachsen auch die Energiesummen, die keine Entladung finden können;
immer mehr wird der Mensch gezwungen, Selbstbeherrschung zu üben und
seine Triebregungen zu unterdrücken. Das Reich der bösen Geister wird
mächtiger und drohender ; sie brechen hervor, sie erzwingen sich Beachtung
und der Mensch muß ihnen Opfer hinwerfen, damit sie sich still halten. Wel-
cherart sind diese Opfer? Es sind die Verbrechen, die Perversionen, die
Krankheiten. Die inneren Disharmonien führen zur krankhaften Sejunktion,
zur Spaltung des Bewußtseins, zu hysterischen Erscheinungen, zur Geistes-
und Charakterschwäche; kurz, der Mensch büßt seine Lebens- und Wir-
kungsfähigkeit ganz oder zum Teil ein. Andererseits kommen die ungelösten
Spannungen auch in einem ausschweifenden Zerstreuungsleben zu einer
notdürftigen Entladung. Während sich die bedrängten Seelen früher durch
Kulthandlungen und religiöse Spiele erleichterten, suchen sie jetzt in un-
religiösen Spielen, namentUch den Glücksspielen, femer im Alkohol oder in der
lockeren Muse, in übertriebenem Sport und in aufregenden Zirkus- und Wett-
vorführungen Erleichterang. Auch die Kunst, namentlich die Musik wird
heute von vielen als Betäubungs- und Erlösungsmittel an Stelle des früheren
Kultwesens verwendet. Wir werden im nächsten Kapitel, wenn wir die heu-
tige religiöse Lage näher ins Auge fassen, auf diese Dinge zurückkommen,
werden dort auch auf die Mittel hinweisen, mit denen den bedrohlichen
Folgen der Kultauflösung vielleicht entgegengewirkt werden kann. Es rächt
sich, daß Europa den Zusammenhang zwischen Religion und Spiel zu lockern
und gar zu zerreißen begonnen hat ! Die Religion ist zu nüchtern und geistig
geworden; sie hat sich dem Tanz entfremdet; sie bietet dem Menschen nicht
mehr Erlösung durch das Spiel, läßt ihn nicht mehr mit Hilfe rhythmischer
Ausdruckshandlungen die drückenden Disharmonien des Lebens lösen.
Schwer und düster hegen die Rätsel des Lebens auf den kämpfenden und
arbeitenden Milhonen. Der Zwang zum Spiel muß sich auf häßliche, unreli-
giöse Weise Luft machen. An die Stelle religiöser Entladung tritt Genuß-
sucht und ästhetisierendes Wesen; die Religion wird als ,, Privatsache" in
die Ecke gedrängt. Wie wenige ahnen, daß damit die Quelle alles starken
imd schönen Gemeinschaftslebens verstopft wird!
Der frühere Mensch löste sich von dem Druck, der auf seinem Leben
lastete, durch religiöse Spielbetätigung. Er regte die Glieder zum heiligen
Reigen, er sang seine Not von der Seele herunter, er stellte seine verzehren-
den Wünsche, seine wilden Phantasien, seine Ängste und Freudengesichte
im Drama dar und schilderte sie in lyrisch-epischen Liedern. Jede Bedräng-
nis fand Ausdruck im rehgiösen Spiel, jedes große Erlebnis, das über die
Kraft des einzelnen ging, wurde im Kult verarbeitet und soweit möghch
dem seehschen Besitz der Gemeinde einverleibt. Nehmen wir z. B. die Toten-
feiern ! Wie verstanden es die älteren Völker, sich die Last des Todes vom
Herzen zu wälzen. Sie kannten den Gegenzauber gegen den Zauberer Tod;
dieser Gegenzauber heißt: Leben, mächtiges, göttliches Leben! Die ganze
trauernde Gemeinde versammelte sich, hielt einen Schmaus und ein Gelage,
führte orgiastische Tänze auf und veranstaltete Kampfspiele. Die lebens-
vollsten Triebe also, der Nahrungs-, der Geschlechts- und der Kampftrieb
feierten angesichts des stillen, bleichen Gastes ihr Fest.
Das schönste Beispiel einer Lebensfeier am Grabe ist wohl das Totenfest,
das Achilleus zu Ehren seines Freundes Patroklos dem Griechenheere gibt.
Die Ilias erzählt uns zunächst von den hemmungslosen Schmerzäußerungen
des Leidtragenden und von der Rache, in der er sein gequältes Herz sättigt.
Dann wird der Scheiterhaufen aufgeschichtet und der Grabhügel ,,an dem
weiten Hellespont" errichtet. Endlich folgt das Kampf fest. Die größten
Recken des Griechenheeres kämpfen miteinander; das Heer schaut mit
inniger Kampflust und atemloser Erregung zu ; Achilleus verteilt die Preise
an die Sieger. Diese Leichenfeier ist ein echtes religiöses Spiel ; die durch den
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Tod des Helden erzeugte qualvolle Spannung löst sich auf die edelste Weise
und jeder Kriegsmann konnte dies Fest zugleich als eine Trauerfeier für
seine eigenen gefallenen Freunde begehen. Die Spannung, die der Krieg als
solcher mit sich bringt, entlud sich in diesem gemeinsamen Spiel zu Ehren
des einen Helden. Die tiefste religiöse Symbolik klingt dabei an: der eine
wird zum Symbol aller; die Klage um ihn wird zur Klage um das Los des
gesamten Geschlechts. Und das Fest bedeutet zugleich einen Sieg über alle
menschliche Trauer und Angst ; im Spiel, in der lustvollen Befriedigung der
mächtigsten Triebe erleichtern sich die Herzen und erheben sich zu dem
stolzen Rauschglauben, daß das Leben unzerstörbar und die Freude der
Urgrund alles Lebens sei.
Religiöse Kampfspiele waren im griechischen und römischen Altertum
einer der wichtigsten Kulturfaktoren und blieben es bis zum Siege des frie-
denssehnsüchtigen Christentums. Die sagenhafte Leichenfeier in der Ilias
war gleichsam das Vor- und Urbild dieser Kampfspiele. Das Besondere und
Wertvolle dieser antiken Festveranstaltungen war, daß sie bei aller Ausge-
lassenheit auf einen ernsten Ton gestimmt waren und das Volk zu ihnen
wallfahrtete als zu einer erbauenden und erlösenden religiösen Feier. Diese
strahlenden Feste waren eine wirkliche Erhöhung des Menschen, eine Be-
freiung von lastendem Druck, eine Entladung zwangsweise zurückgehaltener
psychischer Energien.
Man kann die Spiele des Menschen in zwei Hauptgruppen scheiden; die
erste würde die Liebes- und Kampfspiele, sowie die einfachen Bewegungs-
und Sensibilitätsspiele umfassen, die zweite die Nachahmungsspiele. Das reh-
giöse Nachahmungsspiel, das ebenfalls in Griechenland, zumal im griechi-
schen Drama, seine höchste Ausbildung erfahren hat, ist, wie wir früher ge-
sehen haben, ebenso alt wie die übrigen religiösen Ausdruckshandlungen.
Die Tiertänze der Wilden gehören zum ältesten Bestände des menschlichen
Kultwesens. Jeder Tanz, der nicht bloß stilisierte motorische Entladung ist,
ist ein Nachahmungsspiel. Die religiösen Tänze bildeten Ereignisse, Natur-
vorgänge und Personen nach und schafften dadurch den Ausführenden und
Zuschauenden Befreiung von Spannungen. Hauptsächlich wurden die reli-
giösen Wunschwesen und Schreckens wesen dargestellt. Gott und Teufel sind
seit Urzeiten die Hauptpersonen des religiösen Schauspiels. Wenn der
Mensch von seinen Furcht- und Wunschphantasien heimgesucht wurde,
wußte seine Natur keinen anderen Ausweg, als diese Phantasien spielend in
Wirklichkeit zu verwandeln ; der Mensch wurde zum Darsteller von Göttern
und Dämonen. Nicht freie Willkür, sondern unwiderstehlicher Zwang ver-
cinlaßte ihn, sich in Tier- und Geistermasken zu hüllen und tanzend das
Treiben und Wesen dieser Wahngebilde zu verkörpern. Wer lehrte ihn diese
Geister darzustellen und ihr Wesen nachzuahmen ? Seine Gesichte und Stim-
men hatten ihm die Geister gezeigt ; er kannte sie nur allzu gut ; es waren die
geliebtesten und gefürchtetsten Kinder seines eigenen Geistes, und indem er
ihnen Gestalt und Leben lieh, befreite er sich zugleich von ihnen.
Der dem Menschen angeborene Nachahmungstrieb vereinigt zweierlei in
sich: erstens die Fähigkeit, äußere Eindrücke in Gestalt von Bildern und
Lauten geistig aufzufassen, zweitens die Fähigkeit, diese Eindrücke so mit
inneren Triebkräften zu verflechten, daß beides als Einheit an die Ober-
fläche tritt. Der Mensch verwandelt sich gleichsam in die eindnicksvoUen
Erscheinungen der Umwelt; dadurch versteht und besiegt er sie, denn indem
er sich in sie verwandelt, verwandelt er sie in sich. Nur dort gelingt ihm das
Nachahmen, wo seine eigenen Triebe und Wünsche sich unter der Hülle
des Nachgeahmten Luft machen können. Im Grunde ist immer der Mensch
selber der Gegenstand seiner Schauspielkunst ; denn so fremde Dinge er dar-
stellen mag, befriedigt sich doch immer sein eigenes tiefstes Triebleben in
seiner Darstellung. Namentlich im religiösen Nachahmungsspiel tritt das
Schöpferische und Persönliche in der nachahmenden Betätigung deutlich
hervor. Der Priester maskiert sich als Gott und wdrd dadurch, nach seinem
und seiner Gemeinde Gefühl, zum Gott. Das Anlegen der Maske hat eine
Änderung des Bewußtseinszustandes zur Folge; die Gebärden und Worte
des Maskierten werden göttlich. Wir haben das bei Gelegenheit des Orakel-
anfalls und des maskenartigen Priestercharakters näher besprochen.
Kleidung und Schmuck haben einen großen Einfluß auf das Persönlich-
keitsempfinden des Menschen. Ein ungewohnter Rock, ein Kranz im Haar
macht uns zu einem anderen Menschen. Man kann das besonders bei den
volkstümHchen Verkleidungen und Faschingsunterhaltungen beobachten.
Die europäischen Maskenbräuche vor Beginn der kirchlichen Fastenzeit
gehen auf die altheidnische Frühlingsfeier zurück; sie haben ursprüngHch
durchaus religiösen Charakter. Die ^Maskierten sind dämonische Wesen, sind
Naturgeister undFruchtbarkeitsbringer. MANNHARDThat das aufs beste nach-
gewiesen. Da man sich die in den Masken verkörperten Geister teils als tier-
und pflanzengestaltige Wesen dachte, teils als unheimliche verzerrte Men-
schengestalten, so \\'urden demgemäß die Kleidungsstücke, die man anlegte,
und die Gesichtsmasken, die man vorband, hergestellt. Noch heute kann
man im niederen Volke eine Vorliebe für verzerrte menschliche Masken und
für Tiermasken beobachten. Femer kann man sich noch heute von der psy-
chischen Wirkung der Maske auf ihren Träger überzeugen. Mit der Verklei-
dung ändert sich das Lebensgefühl. Die , .göttliche Raserei", von der die
alten Religionen so viel zu sagen wußten, kommt noch heute über den Mas-
kenträger; in Süd- und Westdeutschland mindestens zeigen sich deutliche
138
Spuren davon. Mancher ehrbare und vom Ernst des Lebens bedrückte Mann
zieht, wenn die Zeit der Frühlingsgeister naht und die Masken hervorgeholt
werden, einen neuen Menschen an; er stürzt sich in den Wirbel der Masken-
freude hinein und bereitet den Regungen in seiner eigenen Seele, die sich
sonst nicht hervorwagen können, ein Fest. Unter der Hülle der Maskengeister
schaffen sich die eigenen Geister spielende Befreiung.
Wann wird das Spiel zur Kunst ? Wenn es stilisiert wird. Die unwillkür-
lichen Ausdrucksbewegungen bilden, wie wir sahen, die Grundlage für
unsere gesamte Betätigung: die zweckvolle und die zwecklose, die des wir-
kenden Lebens und die religiös-spielende. Bei den Kindern und Naturmenschen
pflegen sich die Ausdrucksbewegungen fast ungehemmt zu entfalten; jede
psychische Spannung will sich bei ihnen auf der Stelle entladen. Die Er-
ziehung zum Kulturleben besteht darin, daß die Ausdrucksbewegungen
unter die Aufsicht des bewußten Willens gebracht, dadurch geregelt und
teilweise ganz unterdrückt werden. So tritt an die Stelle regellosen Bewe-
gungsdranges und unartikulierter Lautreflexe einerseits das zielbewußte
Handeln und artikulierte Sprechen, andererseits das künstlerische Spiel. Mit
dem Handeln (der Arbeit) und der außerkünstlerischen Verwendung der
Sprache haben wir es hier nicht zu tun, sondern nur mit der zweiten Gruppe:
mit den stilisierten Ausdrucksbewegungen, die man als,, Kunst" bezeichnet.
Alle künstlerischen Schöpfungen sind Gliederungen und Rhythmisierungen
von Bewegungs- und Lautgruppen. Der Mensch hat in das Chaos seiner Be-
wegungs- und Lautäußerungen Ordnung und Schönheit gebracht ; er hat die
Unvernunft und Blindheit der Reaktionen geadelt, indem er rhythmisch und
harmonisch reagierte. Dadurch sind die Ausdrucksbewegungen gleichsam fest
geworden, sind zum sinnvollen Geschehen erhoben worden. So besteht denn
Jedes Kunstwerk, das die Menschheit hervorgebracht hat, aus stihsierten,
durch GliederungzueinerselbständigenLebenseinheitgewordenenAusdrucks-
bewegungen. Daraus erklärt es sich, daß das künstlerische Schaffen und Ge-
nießen uns innerlich befreit. Wir erheben uns über unsere Leidenschaften,
indem wir sie gestalten und durch den ordnenden Rhjrthmus vergeistigen.
Die Kunst macht das Leben zu einem Tanz, in welchem die tiefsten Kräfte
entfesselt und die quälendsten Lebenskämpfe vergegenständlicht werden.
Wie steht der Priester zur Kunst? Ähnlich wie er zur Arbeit, d. h. zur
zweckvollen, erobernden Willensbetätigung steht. Er hat die Menschheit auf
dem Wege zur Kunst und zur Arbeit kräftig unterstützt, hat sich selber der
Kunst und gewissen Zweigen der Arbeit mit Hingabe gewidmet und für
beides die Hilfs- und Anregungsmittel herbeigeschafft ; das sind nämhch die
religiösen Stoffe, Gedanken und Ziele. Ohne den Priester hätte sich weder die
139
Kunst entfaltet, noch die unverdrossene Arbeitsfreude der kultivierten
Menschheit herausgebildet. Trotzdem ist die allverbreitete Anschauung, daß
der Priester ein Feind der Kunst und der Arbeit sei, nicht ohne Berechtigung.
Überall, wo des Priesters Einfluß herrschend ist, kann man seinen geheimen
oder offenen Kampf gegen Kunst- und Tatleben nachweisen. Woran liegt
das? Den Gegensatz des Priesters gegen das Tatleben wollen wir an dieser
Stelle unerörtert lassen; woher aber stammt der Gegensatz zwischen dem
Priester und der Kunst? Wir sagten in der Schilderung des priesterlichen
Charakters: der Priester ist nicht stark genug zur klassischen Kunst; er ist
als Künstler stets Romantiker. Was heißt das? Damit sollte ausgedrückt
werden, daß die priesterliche Kunst das Ziel aller Kunst : rhythmische Ent-
ladung von zurückgehaltenen Energiesummen, nicht voll erreicht. Hinter
diesem Ziel bleibt der Priester in zweierlei Weise zurück : entweder sind seine
Kunstschöpfungen zügellos und uneinheitHch und verraten den Sieg der
Leidenschaften : sie sind ein bloßer Erregungs- und Betäubungsrausch, ein
bloßes Phantasieren und Halluzinieren, eine passive Hingabe an Gott und
Teufel statt einer Bezwingung beider. Alles das kommt in Form und Inhalt
der Kunsterzeugnisse zur Erscheinung. — Oder zweitens seine Kunst ist
spielerisch und oberflächlich, sie speist sich nicht aus den tiefsten seelischen
Spannungen, sondern hält sich gefUssentlich von den Kämpfen fern, die sie
zur Darstellung bringen sollte, um den kämpfenden Älenschen dadurch zu
befreien und zu reinigen. Wir erwähnten oben, daß die Religion, wenn sie
von den Priestern ohne tätige Mitwirkung der Laienwelt getrieben wird,
leicht etwas KünstHches oder Theoretisches oder Spielerisches bekommt.
Der Priester verhert sich dann in allerhand Feinheiten, die an und für sich
eine Bereicherung des rehgiösen Lebens bedeuten, aber trotzdem religiöse
und künstlerische Gefahren mit sich bringen. Er begnügt sich dann, in seiner
Kunst seiner eigenen verfeinerten Seele zur Entladung und Rhythmisierung
zu verhelfen, vergißt aber die stärkeren und gequälteren Seelen des Volkes.
Auf diese Weise werden die Formen der priesterHchen Kunst zu leeren Hül-
sen, wie wir es etwa an der byzantinischen Kunst sehen. Die Laienwelt em-
pört sich dann dagegen, sucht unter Führung prophetischer Geister eine revo-
lutionäre Kunst zu schaffen und gerät dabei leicht in das andere Extrem des
priesterlichen Kunstschaffens.
Wir können diesen Dingen nicht weiter nachgehen, weil sie uns zu tief in
das ästhetische Gebiet hineinführen würden. Ich muß auf meine ästhetischen
Arbeiten verweisen und schreite nun zur kurzen Darlegung der künstlerischen
Leistungen und Bestrebungen des Priesters.
140
ini 2. DER SCHMÜCKENDE UND BILDENDE
§J| PRIESTER H
Wir beginnen mit den Künsten des Gesichtssinnes, die sich im Räume ent-
falten. Die älteste und einfachste unter ihnen ist die Zierkunst. Schon die
Naturvölker haben den Drang, ihren Körper, ihre Gerätschaften und ihre
Umgebung zu schmücken, und diese Schmuckliebe bleibt in wenig vermin-
derter Stärke durch alle Kulturepochen bestehen. Woher die unbesiegliche
Freude am Schmuck? Es gibt eine Reihe verschiedener Gründe dafür: die
Formen und Farben üben eine unmittelbare Lustwirkung auf den Menschen
aus, sie versetzen ihn in eine erhöhte, unter Umständen auch eine herabge-
drückte Stimmung; diese Gefühlswirkung läßt sich für praktische Zwecke
ausnutzen. Im Vordergrunde steht unter diesen Zwecken die Verwendung
des Schmucks im Liebesleben ; der geschmückte Mensch ist begehrter als der
ungeschmückte (Näheres bei Grosse: Anfänge der Kunst, und Stoll: Das
Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie). Aber der Schmuck ist auch ein
Mittel, Feinde zu erschrecken ; der Mensch macht sich und seine Umgebung
durch die Erzeugnisse der Zierkunst nicht nur anziehender, sondern auch
furchtbarer und unheimlicher. Außerdem dient der Schmuck häufig als Er-
kennungszeichen für die Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft. Alle Mit-
glieder wählen die gleichen Schmuckgebilde und Schmuckweisen, bringen
dadurch ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck und heben sich von
den Mitghedern anderer Stämme oder Stammesgruppen ab. Der Schmuck
wird also zur Marke und zum Symbol der Vergesellschaftung.
Neben und mit allen diesen Aufgaben aber, die der Schmuck erfüllt, hat
der Schmuck auch rehgiöse Aufgaben zu erfüllen. Durch die ethnologischen
Forschungen hat sich immer deutHcher ergeben, wie unermeßlich groß die
Bedeutung des Schmucks und der verwandten Kunstzweige für die Ent-
wicklung der Rehgion ist, und umgekehrt wie groß der Einfluß der Religion
und also die Einwirkung des Priesters auf die Ent^^dcklung der schmückenden
Kunst ist. Am besten unterrichtet darüber K. Th. Preuss in den mehrfach
genannten Aufsätzen über den Ursprung der Religion und Kunst (Globus 86,
87). Die Schmuckstücke, die der primitive Mensch an seinem Körper be-
festigt, sind Amulette. Er wählt die Tier- oder Menschenteile, die Haare,
Zähne, Klauen, die Vogelfedem, auch die glänzenden Muscheln, Steine,
Metalle nicht nur deshalb, weil ihr AnbHck ihm Freude macht, sondern weü
die Gegenstände geheime Kräfte haben, weil sie Zauberstoffe sind, weü dä-
monische Gewalten in ihnen verborgen sind. Dieser Glaube rührt natürhch
141
zum Teil von der einfachen Gefühlswirkung her, den diese Dinge auf ihn
ausüben, z. B. wird der Edelstein deshalb zum Amulett oder Talisman, weil
er leuchtet und sein Anblick für den Menschen etwas Anregendes und Auf-
regendes hat. Aber der Zauberglaube gründet sich noch auf andere Erfah-
rungen und Einbildungen, die wir zum Teil früher besprochen haben. Sie
alle wirken zusammen und geben dem sinnlich-ästhetischen Schmuckbedürf-
nis Gestalt und Nachhaltigkeit, Zum Schmuck gehören auch die Körper-
entstellungen und Verstümmelungen, deren religiöse Gründe in dem Ab-
schnitt über die Zaubermittel dargelegt wurden. Der Lippenpflock so gut
wie das Penisfutteral und die absonderlichen Haartrachten sind Zauber-
mittel und Schmuck zugleich; die betreffenden Stämme fühlen sich zugleich
schön und zauberkräftig damit. Die religiöse Bedeutung solcher schützenden
Schmuckweisen gerät mit der Zeit in der Regel in Vergessenheit ; aber unter
der Oberfläche wirkt das religiöse Motiv fort. Fast stets bleibt das dunkle
Gefühl bestehen, daß es um den Schmuck eine ernste und heihge Sache sei
imd daß der Einzelne nicht von den altererbten Schmuckweisen abweichen
dürfe. Man kann das auch noch bei den Kulturvölkern beobachten. Wie
strenge halten gerade die Priester an ihrer Kleidung und den Schmucküber-
lieferungen, z. B. an einer bestimmten Barttracht fest ! Wer Neuerungen in
diesen Dingen einführt, wer sich z. B. einen stattlichen Schnurrbart wachsen
läßt, gerät in den Verdacht, auch im Glauben nicht mehr ganz fest zu sein.
Und mit Recht; in diesen Äußerlichkeiten, überhaupt in der Behandlung
des leiblichen Menschen prägt sich das Innere aus. Wenn ein Pfarrer die
Schmuck- und Kleidungsform verläßt, in der eine religiöse Überzeugung und
priesterliche Gefühlsweise ihr passendes Gewand gefunden hat, so will er
ganz offenbar fremde und zersetzende Gedanken in den religiösen Bund
hineintragen. Im Namen einer anderen Religion, deren er sich vielleicht noch
gar nicht klar bewußt ist, tritt er in einem anderen Kleide auf.
Vom Priester sind Kleidung und Schmuck immer besonders wichtig ge-
nommen worden. Bei vielen Völkern ist der Priester reicher und vollstän-
diger bekleidet als die übrigen Stammesmitglieder. Während diese in bezug
auf Schmuck und Gewand sehr dürftig bedacht sind, erscheint der Priester
mit zauberkräftigen Zierstücken, Ringen, Fellen usw. überladen. Zumal wenn
er heilige Handlungen vollziehen will, schmückt er sich mit Amuletten, ReU-
quien, Symbolen und heiligen Gewändern.
In den tropischen Ländern steht an Stelle der zierenden und religiös be-
deutungsvollen Bekleidung oft die Bemalung und Tätowierung. Mit welchen
Figuren bemalt und tätowiert der Wilde seinen Körper? Die Muster sind
meist einfach und scheinen bloß in gereihten Linien und gleichgültigen
Schnörkeln zu bestehen. Aber es hat sich herausgestellt, daß die Muster nur
142
sehr selten zufällige Formen- und Farbenspielereien sind; meist haben sie
einen figürlichen Sinn. Die ornamentalen Gebilde sollen Tiere, Pflanzen,
Menschen und Teile dieser organischen Wesen darstellen. Eine Wellenlinie
kann z. B. eine Schlange bedeuten, ein Dreieck eine Fledermaus, ein Kreis
ein Auge usw. Daß die Darstellung so stark vereinfacht und schematisiert
ist, rührt einerseits davon her, daß die Künstler — oft sind die Priester diese
Künstler — aus technischen oder anderen Gründen die Figuren nicht deut-
hcher bilden können, anderseits davon, daß der naive Mensch ebenso wie
das Kind die stilisierte Darstellung der naturgetreuen oft vorzieht. Die orna-
mentalen Figuren wollen mehr Erinnerungs- und Schriftzeichen sein als
bildüche Wiedergaben. Wenn auch rein technische Muster in erheblicher Zahl
vorkommen, so läßt es sich doch seit v. d. Steinens Werk über die süd-
amerikanischen Naturvölker nicht mehr bestreiten, daß unzählige Orna-
mente aller Zeiten und Kulturen, die auf den ersten Blick bedeutungslose
Muster zu sein scheinen, einen bestimmten figürhchen und gedanklichen
Sinn haben.
Was für Tiere und Naturgegenstände wählt der Priester aus, wenn er Kör-
per, Geräte und Waffen, Hütten, Bäume, Felsen mit omamentalen Darstel-
lungen schmückt? Offenbar solche, die ihm besonderen Eindruck machen
und besondere Bedeutung für das menschhche Leben und Gedeihen haben^
Also erstens gefährliche Tiere wie den Tiger, den Haifisch, die Giftschlange;
zweitens Nahrungstiere wie die Antilope, den Büffel, die eßbaren Fische;
drittens Tiere, die Einfluß auf das Wetter, auf den Regen und überhaupt
auf das allgemeine Wohl zu haben scheinen, wie die Insekten und andere
kleinere Tiere, die sich bei jenen Naturvorgängen zu zeigen pflegen; viertens
Tiere, Pflanzen, Gegenstände allerart, die von dem religiös erregten Men-
schen irgendwie mit seinem Leben in Beziehung gebracht werden; fünftens
Erzeugnisse der Wach- oder Traumphantasie, die natürlich stets mit den
Erfahrungen des normalen Lebens Ähnlichkeit haben. Alle diese Vorwürfe
des schmückenden und bildenden Menschen zeigen eine enge Verbindung
mit dem Zauberwesen. Der Mensch lebte des Glaubens, und der Priester
brachte diesen Glauben auf und befürwortete ihn, daß das Abbilden dieser
Geschöpfe Macht über dieselben verleihe und sie zu einer dem Menschen er-
wünschten Tätigkeit veranlasse. Wenn man eine Schlange auf den Körper
oder die Lanze malt, geht die Zauberkraft der Schlange in den Körper und
die Schlange über. Ein Schlangenbiß kann dem mit der Schlange Geschmück-
ten nichts anhaben, vielmehr wirkt das Gift vernichtend auf die Feinde. Und
wenn man ein Jagdwild in den Pfosten der Hütte oder in den weichen Ton
der Gefäße ritzt, stellt sich das Wild in Wirklichkeit ein und die ersehnte
Fleischnahrung geht niemals aus. Das Zeichnen ist eine Zauberhandlung^
ein religiöser Akt. Was ich abbilde, wird dadurch mein eigen; ich kann
darüber nach Beheben verfügen.
Diese Vorstellung ist nach zwei Richtungen weiterentwickelt worden. Ein-
mal hat sie in den religiösen Niederungen fortgewuchert: manche Natur-
völker sehen eine feindliche Handlung darin, wenn man sie oder ihren Besitz
abzeichnet ; noch im Aberglauben Europas findet sich unter den Rezepten,
jemand krank zu machen oder zu töten, folgendes: man macht oder ver-
schafft sich ein Bild von dem Betreffenden und durchsticht es oder wirft es
ins Feuer oder verletzt es auf andere Weise, denn was mit dem Bilde ge-
schieht, fühlt auch das lebendige Urbild. Zweitens ist der Glaube an die
Zaubermacht des Nachbildens zum Ausgangspunkt für die gesamte religiöse
Bildkunst geworden. Die dargestellten Tiere und Gegenstände werden zu
Schutzgeistern. Überall werden dieselben angebracht, werden auch als pla-
stische Figuren vor oder im Hause aufgestellt. Die Wappentiere, die der
Kulturmensch auf seinen Schild malt oder in seinen Siegelring gräbt, sind
die Abkommen der Totemtiere und Stammesdämonen ; aber auch die Götter-
bilder, die gemalten, gegossenen, in Stein gehauenen, in Holz geschnitzten
Kunsterzeugnisse aller Völker gehen auf die Darstellungen schützender und
schrecklicher Geister zurück. Wie der Priester durch die Maske und den
mimischen Tanz die Gottheit ,,verwirldicht" und herbeizwingt, so auch durch
das ruhende Bild.
Die religiöse Bildkunst hat bei fast aUen entwickelteren Völkern einen
sehr großen Umfang. Im Dienste der Religion stehen die besten und zahl-
reichsten künstlerischen Kräfte. Der Priester ist, wenn nicht selber Künstler,
so doch der Patron und Auftraggeber. Er gibt Ziel und Richtung, Stoff und
Form an. Die ,,welthche" Bildnerei kommt neben der heiligen kaum in Be-
tracht. Die Künstler arbeiteten für die Tempel und Kultstätten, die Gräber
und Königspaläste, kurz für öffenthche oder private Heihgtümer. Und der
Inhalt ihres Bildens war ein für allemal der religiöse M5^hus. Die Götter,
ihre Taten und Leiden, ihre Hoheit und Macht, ihre Güte und Freundlich-
keit, HäßHchkeit und Furchtbarkeit war der immer wiederholte Gegenstand
der Kunst. Vom Priester aber stammte, was man vom Wesen und Wirken
der Götter wußte. Wenn wir durch unsere Museen, durch die ethnographi-
schen und archäologischen Sammlungen, die künstlerischen Bilder- und
Skulpturengalerien gehen, sehen wir überall Werke, die heilige Dinge zum
Gegenstand und an heiligen Orten ihre Stelle gehabt haben. Die christlichen
Gemälde haben als Altarbilder die Kirchen geziert ; die griechischen Statuen-
wälder haben die Tempel, die Festplätze, die Orakelstätten gefüllt;- die
ägyptischen Kunstdenkmäler sind in Gräbern, in heiligen Bezirken, in Göt-
terwohnungen angebracht gewesen. Und was stellen aUe diese Kunstwerke
144
dar? Religiöse Gestalten, religiöse Handlungen, religiöse Ereignisse. In die
Freude an dem Kunstwerk klang stets die Verehrung für die in das Bild ge-
bannte Göttlichkeit hinein ; die Kunstwerke behielten immer etwas von dem
Charakter eines Fetisches, zu dem man betet und dem man opfert. Aller-
dings machte sich der innere Gegensatz zwischen Priester und Künstler,
von dem wir sprachen, oft genug geltend. Der Priester nämlich wollte, daß
das Bild die religiösen Stimmungen und Gestalten nur eben wecken, daher
nur als Anregungsmittel für die kultisch-zauberische Betätigung der Ge-
meinde dienen soDte; er verlangte von den Werken infolgedessen entweder
naturalistische Stoffwirkung oder mystische Stimmungswirkung. Für den
Künstler dagegen war das Kunstwerk als solches die Hauptsache ; er wollte
durch das Werk selber sich und die Gemeinde ,, erlösen", d. h. durch zwin-
gende Verkörperung der Konflikte und Bedürfnisse dieselben aufheben,
durch den Rhythmus seiner zum Bilde erstarrten Leidenschaft die religiöse
Spannung lösen.
Jedoch ändert dieser Kampf zwischen Priester und Künstler nichts an der
Tatsache, daß der Priester bildliche Symbole brauchte, die ihm nur die
Kunst liefern konnte, und daß andererseits der Künstler sich die Stoffe und
Anregungen für sein Schaffen aus der priesterlichen Phantasie- und Gedan-
kenwelt holen mußte. Sie waren auf ein Zusammenwirken miteinander ange-
wiesen. Was war der Priester ohne die Kunst ? Seine ganze Naturanlage und
Lebensführung trieb ihn zur Verbildlichung seiner Wünsche, Befürchtungen,
Ideale, Enttäuschungen. Er klammerte sich geradezu an die Kunst als an
eine Retterin. Und auch der Künstler konnte den Priester nicht entbehren ;
denn nur die religiösen Gebilde waren groß genug, nur die religiösen Seelen-
kämpfe waren gewaltig genug, um seinen künstlerischen Schöpfungen Ge-
halt und Würde zu geben. Wenn er ein wahrer Künstler sein wollte, mußte
er alles, was das Leben ihm darbot, alle Erscheinungen und Vorgänge mit
ebenso religiösem Sinne wie der Priester aufnehmen und verarbeiten. Tat er
das nicht, so wurde seine Kunst oberflächlich und spielerisch wie das Zere-
monienwesen des entarteten Priesters.
Am schönsten zeigt sich die Zusammengehörigkeit von Religion und Kunst
in den Zeiten, wo in die Religion neues Leben einströmt und der Priester
zum Propheten wird. Der Prophet hat stets der Kunst neue Bahnen ge-
wiesen, obwohl er anfangs oft als Feind der Kunst auftritt. Aber diese Kunst-
feindschaft prophetischer Geister und Zeiten ist nicht anders zu beurteilen
als die angebliche Religionsfeindschaft solcher Geister und Zeiten. Der Pro-
phet meint immer nur die gewesene Religion und Kunst ; gegen sie wendet
er sich im Namen einer neuen Religion und Kunst.
Was gibt der Prophet der Kunst? Einen neuen Inhalt und eine neue
10 Horneffer, Der Priester II 145
Form. Seine veränderten Lebens- und VVeltgefühle verlangen nach Gestal-
tung. Das neue religiöse Denken will sich in Bilder umsetzen, das neue reli-
giöse Empfinden sucht in neuen Ornamenten und Bauformen nach Aus-
druck. Auch rein praktische Aufgaben stellt die erneuerte Religion der Kunst.
Z. B. änderte sich durch den Sieg des Christentums über die antiken Reli-
gionen die Form der heiligen Gebäude. Der antike Tempel war das Wohn-
haus der Gottheit; sie stand als Bild darin. Weihgeschenke und Opfergaben
schmückten den Raum; das Volk trat nur, um zu schauen und zu beten,
hinein, es besuchte den Gott. Im Christentum wurde der Tempel zu einem
Versammlungsraum der Gemeinde; die großen gottesdienstlichen Hand-
lungen, die im Altertum vor dem Tempel oder an anderen offenen Stätten
abgehalten worden waren, wurden in den Tempelraum verlegt. Der christ-
liche Altar bildet den Mittelpunkt oder Schwerpunkt des christlichen Tem-
pels, der sich als große Halle mit einem schützenden Dach über dem Altar
wölbt.
Die Geschichte der Baukunst lehrt denn auch, daß der christliche Kirchen-
bau nicht an den griechisch-römischen Tempel, sondern an die weltliche
Versammlungshalle, die Basilika, anknüpft. Ferner hatte der Künstler für
die neue Religion Taufbecken und Sakramentschreine herzustellen, Stühle,
Leuchter, Kanzeln, Altarschmuck usw. zweck- und sinnentsprechend her-
zurichten. Die neuen Stoffe, die in der Heilsgeschichte und den Legenden
niedergelegt waren, mußten künstlerisch verarbeitet werden: Wände, Fen-
ster, Altarnischen verlangten passenden Bildschmuck ; die Ornamentik fand
ein reiches Betätigungsfeld; Kleider, Vorhänge, Metall-, Stein- und Holz-
gegenstände allerart wollten mit christlichen Zeichen, mit ,, Tätowierungs-
mustern", Wappenbildern, Heilssymbolen geschmückt und als heihg abge-
stempelt sein. Wo er ging und stand, wollte der christliche Priester von gött-
lichen Darstellungen und Schutzzeichen umgeben sein.
Die gesamte Baukunst des Menschengeschlechts hat sich an und mit der
Rehgion entfaltet und vervollkommnet. Welches ist das schönste und statt-
lichste Haus im Orte ? Die Kirche. Schon bei den primitiven Völkern steht,
umgeben von den armseligen Wohnstätten, die größere Hütte des Geistes,
die oft auch Versammlungshaus und Fremdenherberge ist. Von jeher hat
der Mensch für die Geister und Götter weit schöner gebaut als für sich selber.
Für sich suchte er nur Schutz gegen die Witterung und gegen tierische und
menschliche Feinde; aber die Götter sollten es besser haben. Wenn er ihnen
ein Haus baute, strengte er seine künstlerische Phantasie an, wählte größere
Maße und gefälligere Verhältnisse, suchte schwierigere Konstruktionspro-
bleme zu lösen und brachte Verzierungen an, wo er nur konnte. Manchmal
sticht die Kostbarkeit und überladenheit des Gotteshauses fast grotesk gegen
146
die Schmucklosigkeit der Wohngebäude ab. Aller Überfluß an Geld, Kraft
und Künstlerschaft wird für die Errichtung und Ausschmückung religiöser
Bauwerke aufgewendet. Daher sind fast alle Wunder der Baukunst in alter
und neuerer Zeit heilige Gebäude, in denen der Priester haust oder über die
er wenigstens waltet. Auch die ägyptischen Pyramiden sind davon nicht
auszunehmen ; sie sind Grabtempel. Der tote König, oder wer sonst in ihnen
begraben liegt, wird zum Gott und empfängt einen Kult ; die Pyramide soll
nicht nur die Leiche aufbewahren, sondern ist zugleich eine Kultstätte. Auch
die Obelisken, die Rolandsäulen usw. haben religiösen Sinn. Ferner müssen
wir auch die großartigen Theaterbauten der Alten zu den religiösen Bau-
werken rechnen. Der Mittelpunkt des Theaters war die Orchestra, der Platz,
auf dem der Chor und die Schauspieler sich bewegten ; und in der Mitte der
Orchestra stand ein Altar. Religiöse Gesänge und Tänze waren es, die ur-
sprünglich im antiken Theater vorgeführt wurden ; der Gott war zugegen
und nahm die heiligen Spiele als einen Gottesdienst in Empfang.
^ 3. DER SINGENDE UND DICHTENDE PRIESTER U
Ebenso kurz wie die Raumkunst wollen wir nun die Zeitkünste behandeln.
In der Mitte zwischen diesen und jener steht die gemeinsame Urmutter der
Künste, der Tanz, der sich in Zeit und Raum zugleich entfaltet. Im religiösen
Tanze ist es dem Menschen zum erstenmal gelungen, sein inneres und
äußeres Leben künstlerisch zusammenzufassen und die Äußerungen des ani-
malischen Spieltriebes organisch mit dem religiösen Erleben zu verbinden.
Wir haben früher erwähnt, daß diese Tänze Zaubertänze sind; durch ihre
Aufführung glaubte man bestimmte magische Zwecke zu erreichen, und dieser
Glaube rührte wiederum von der belebenden und berauschenden Wirkung
her, die das rhythmische Bewegungsspiel auf die Ausübenden und in zweiter
Linie auch auf die Zuschauer hat. Ein Kriegstanz stärkt die zaubergläubigen
Krieger wirklich; er versetzt sie in einen göttlichen Kraftzustand und er-
zeugt das sichere Vertrauen, daß die Feinde dem Ansturm nicht werden
widerstehen können. Ebenso hat der Glaube, daß die Aufführung erotischer
Tänze die Fruchtbarkeit der Natur fördere, psychologische Gründe und
ähnlich ist es auch mit den anderen Arten religiöser Tänze.
Erst dadurch, daß der Zauberglaube und Götterglaube sich des Bewegungs-
triebes bemächtigte, erst damals, als es zu einer religiös verdienstvollen
Handlung wurde, sich den rhythmisierten und kunstvoll gruppierten Be-
wegungsspielen hinzugeben, war der Weg zur hohen dramatischen Kunst
eröffnet. Nun flössen alle zurückgehaltenen Energien in das religiöse Spiel
jo* 147
hinein ; alle unlösbaren Konflikte suchten im Tanz ihre Lösung ; die Tragödie
wurde geboren. Jede echte Tragödie ist beides: eine religiöse Tat und ein
rhythmisches Bewegungs- und Lautspiel. Gar oft ging im Laufe der Kultur-
en twäcklung der Zusammenhang zwischen Religion und Tanz verloren;
schon bei den Naturvölkern finden wir unreligiöse Tänze. Aber eine völlige
Trennung hatte stets verhängnisvolle Wirkungen, sowohl für die Kunst als
auch für die Religion ; der Tanz wurde seelenlos und entartete zur erotischen
oder rein geselligen Belustigung; er hatte für das höhere Leben keine Be-
deutung mehr. Denn nur dann vermag sich das Bewegungs- und Lautspiel
zum tragischen Drama zu erheben, wenn es den tiefsten religiösen Regungen
eines ganzen politisch-kulturellen Verbandes Ausdruck verleiht.
Daher waren es wie erwähnt religiöse Persönlichkeiten, also Priester im
weitesten Sinne, die die Massentänze und dramatischen Volksspiele leiteten
und schufen. Der Priester war Vortänzer, Dichter, Komponist. Und die her-
vorragendsten Volksmitglieder waren seine Gehilfen und Stellvertreter. Das
Tanzen war eine Ehre und ein Vorrecht; die Führer und Vertreter des
Volkes erfüllten eine hohe Pflicht, wenn sie an den heiligen Aufführungen han-
delnd Anteil nahmen. Indem sie tanzten, dichteten, sangen, führten sie Re-
gierungshandlungen aus, setzten ihre göttlich -heilige Natur in Tätigkeit
und bewiesen, daß sie bevorzugte Mitglieder des Gemeinwesens seien. Das
Zuschauen ist Sache derer, denen die Mitwirkung verboten oder unmög-
lich ist, weil sie unwürdig sind, den Göttern im vergöttlichenden Tanz zu
dienen. Die Zuschauer sind also vollständig Nebensache. Man führt die Spiele
nicht als Schauspiele vor einem Unterhaltung suchenden Publikum auf, son-
dern als heilige Übungen, die den Ausführenden selber zum Segen gereichen
sollten. Mitunter sind gar keine Zuschauer vorhanden, weil alle Mithandelnde
sind; diejenigen, die nicht mit dem ganzen Körper tanzen, tanzen wenigstens
mit der Hand und dem Mund. Sie klatschen in die Hände, schlagen den Takt,
spielen Musikinstrumente, singen und schreien.
Die scharfe Trennung in Ausführende und ,, Genießende" ist ähnlich zu
beurteilen, wie die grundsätzliche Trennung des religiösen Verbandes in
Priester und Laien, Wohl mußte diese Scheidung erfolgen ; sie war eine Folge
der unumgänglichen Arbeitsteilung. Nur der tanzende Fachmann konnte
die religiöse Ausdruckskunst zur Höhe und Vollendung führen. Er vermochte
den Regungen des in allen wirkenden Triebes viel tiefer und treffender Ge-
stalt zu verleihen, als die ungeschickten Laien. Das Volk hielt von selber in
seinem Massenspiel inne; es fand eine reinere Befriedigung, wenn es den
Tanz des künstlerischen Priesters mit den Augen und der mitfühlenden Seele
begleitete. Hier trat die angeborene Lust an der sensiblen Betätigung in
Kraft, die Lust am Sehen und Hören eindrucksvoller und rhythmischer Vor-
148
gänge. Es bildete sich daher der heutige Zustand heraus, wo nur wenige oder
nur einer handelnd spielen, die übrigen sehend und hörend spielen. Jedoch
muß und wird es in religiös kraftvollen Zeiten neben dem Spiel weniger
immer auch ein Massenspiel aller geben.
Ehe wir auf die poetische Fortbildung des religiösen Tanzes eingehen,
müssen wir einen Blick auf die Musik werfen. Ohne Rhythmus kein Tanz;
die hörbare Betonung des Rhythmus aber führt ganz von selber zur Musik
hinüber. Fast alle rhythmischen Bewegungshandlungen, die die Menschheit
seit ihrer Kindheit ausgeführt hat, um sich zu erfreuen und sich zu erlösen,
sind von der Musik begleitet und unterstützt worden. Wenn wir uns zunächst
der Instrumentalmusik zuwenden, so leuchtet die religiöse Eigenschaft der-
selben am deutlichsten daraus hervor, daß die Musikinstrumente nach Mei-
nung der meisten primitiven Völker religiöse Geräte sind; sie werden sogar
als Fetische, als geistbeseelte Gegenstände behandelt (vgl. Wallaschek,
Anfänge der Musik). Der Priester hält sie in Verwahrung; nur zauberkräftige
Personen dürfen sie benutzen. Die Töne, die sie von sich geben, sind die
Sprache der Geister; wer gute Ohren hat, kann ihren Willen, kann göttliche
Orakelantworten aus den Klängen der Instrumente heraushören. Manche
Instrumente, z. B. die Pauke, Trommel, Posaune, das Schwirrholz, sind hei-
liger als andere, vielleicht weil sie sehr alt und den Nachgeborenen besonders
ehrwürdig sind. Neuere Erfindungen und Erwerbungen sind weit spröder
gegen die Rehgion als die altererbten Besitztümer der Vorzeit. Auf dem Ver-
sammlungsplatz der Gemeinde wird eine Pauke aufgestellt, die nur bei wich-
tigen Gelegenheiten geschlagen werden darf und als eine Art Schutzgeist
der Gemeinde verehrt wird. Man erinnere sich auch an die Posaunen von
Jericho, durch deren Schall die Mauern der feindlichen Stadt zum Einsturz
gebracht wurden. Die Töne sind gleichsam Zauberworte; sie wirken ebenso
wie die anderen rehgiösen Machtmittel, die der Priester zur Verfügung hat.
Die Posaune blieb auch im Christentum ein heiliges Instrument. Daneben
trat die Glocke, die ebenfalls ein uraltes Zaubergerät ist und sich in mancher-
lei Abarten (klingende Stäbe, Scheiben usw.) über die ganze Erde verbreitet
findet. Später kam die Orgel hinzu.
Nachdem sich die Göttervorstellungen weiter entwickelt hatten, konnte
der Priester die Instrumente nicht mehr für Götterstimmen und Götter-
sitze ausgeben. Sie wurden zu ,, Attributen" der Götter. In allen älteren
Mythologien erscheinen einige Göttergestalten dauernd mit bestimmten
Musikinstrumenten verbunden ; sie haben sie erfunden, haben die Menschen
in ihrer Herstellung und ihrem Gebrauch unterwiesen und spielen selber
gern darauf. So ist z. B. die Lyra dem Apollon, die Hirtenflöte Pan heilig.
Von den Griechen können wir auch am besten lernen, wie die ältere Mensch-
149
heit über die Zauberwirkung der Musik dachte. Eine ganze Reihe von Sagen
berichtet über die Kraft der Töne, über den leben- und todüberwdndenden
Zauber des rhythmischen Hörspiels. Der Priesterarzt zählte fast auf der
ganzen Welt die Musik zu seinen wertvollsten Heilmitteln. Er nahm sein
Blas- oder Schlaginstrument mit an das Krankenbett, nahm auch wohl
seine Priesterlehrlinge als Hilfsmusikanten mit und veranstaltete ein regel-
rechtes Konzert. Er war überzeugt, daß die Töne die Krankheitsgeister ver-
treiben und den eigenen Lebensgeistern des Kranken neue Kraft geben wür-
den. Das geschah auch vielfach; die Musik erfüllte ihren Suggestionszweck
nicht minder gut als die anderen Mittel der religiösen Therapeutik. Der junge
Daxid verscheuchte dem kranken Saul die bösen Geister durch Saitenspiel.
Noch vor zwei Jahrhunderten zogen die Wanderärzte in Europa mit einer
Musikkapelle durch die Ortschaften. Während der Arzt die Kranken auf
offenem Platze behandelte, spielte die Musik ; gewiß nicht bloß deshalb, um
die Schmerzenslaute der Kranken zu übertönen, sondern um die Schmerzen
zu Hndern und zur Heilung beizutragen.
Deutlicher noch als bei der Instrumentalmusik, der mit Worten und Be-
griffen schwer beizukommen ist, deren Erzeugnisse daher ebenso gut und
so schlecht als weltlich wie als geistlich angesprochen werden können, läßt
sich der religiöse Charakter bei der Gesangsmusik nachweisen. Der Priester
sang und mußte singen; wo er das Singen verlernte, stand es um ihn ebenso
schlimm wie um die singende Muse. Mit Hilfe dieser Muse hat der Priester
fast alle seine Siege erfochten ; mehr durch seine Lieder als durch seine Pre-
digten und Lehren hat er gewirkt. Er stahl sich den Menschen mit den
melodisch und rhythmisch gehobenen Worten ins Herz, zwang sie zum Mit-
singen, zum Mitglauben, zum willigen Gehorchen. Der Gesang ist eine wun-
derbare Verbindung von Ausdruckslauten der Leidenschaft, die durch Rhyth-
mus und ]\Ielodie gebändigt sind, und von gedanklichen Mitteilungen, die
mit Hilfe der Sprache von Mensch zu Mensch getragen werden. Der Gesang
vereinigt Ton und ^^'ort. Diese Vereinigung ist für die Ausbildung einer
streng künstlerischen Vokalmusik nicht sehr günstig, wie denn auch die
Ästhetik mit den Erzeugnissen dieses Kunstzweiges viel Not hat; aber
für den Priester kann es keine erwünschtere und unentbehrlichere Bundesge-
nossin geben als diese zweigesichtige Gesangskunst. Mit ihrer Hilfe konnte
er beides zugleich: religiöse Stimmung hervorrufen und sie zugleich in eine
bestimmte Vorstellungsbahn leiten; er konnte seine Gemeinde zugleich er-
heben und belehren.
Wie die Vokalmusik entstanden ist und welcherart die ältesten Lieder
waren, kann nur vermutet werden. Karl Bücher hat viel zur Aufhellung
dieser Frage beigetragen, indem er auf die x\rbeitsgeräusche und Arbeits-
rufe hingewiesen hat. Zum Takte der Arbeit sang man Laute und Lautfolgen,
die zunächst keinen begrifflichen Wert hatten und nur rhythmische Inter-
jektionen waren. Allmählich erhielten diese primitiven Arbeitslieder einen
Text und gewannen poetische Eigenschaften. Diese Theorie bedarf insofern
der Ergänzung, als das religiöse Lied wahrscheinlich noch älter ist als das
Arbeitslied. Schon bevor der Mensch regelmäßig arbeitete, führte er Tänze
auf und begleitete die Körperbewegungen durch rhythmische Laute, also
durch primitive Gesänge. Zu dem Gliederspiel gesellte sich unwillkürlich das
Lautspiel, und die Laute gaben Gelegenheit, den anderen Menschen durch
artikulierte Worte Vorstellungen zu vermitteln. Der Tänzer sang ein Lied,
auch wenn das Lied nur aus einem kurzen Satz bestand, der unzählige Male
wiederholt wurde. Wir kennen viele solcher kurzer Lieder; ihr Inhalt ist
sehr verschieden, meist drücken sie die augenblickliche Gefühlslage auf ein-
fache Weise aus und leihen dem augenblicklichen Vorstellungsgehalt Worte.
Es sind Gelegenheitsgedichte im strengsten Sinne. Jedoch läßt es sich häufig
beobachten, daß die Lieder auch einen praktischen Zweck verfolgen: sie
bitten, fordern, drohen, oder sie wollen durch Darlegung eines Tatbestandes,
durch Beschreibung eines Vorfalls, durch Voraussage eines Ereignisses
magischen Einfluß auf den Lauf der Dinge ausüben. Kurz, die meisten Lieder
der Naturvölker sind Zauberlieder und Beschwörungen, also ,, heilige Hand-
lungen". Das gilt auch für viele Arbeitslieder. Wenn man zur Arbeit sang,
ging die Arbeit besser vonstatten; also, schloß man, übt der Gesang eine
zauberhafte Wirkung auf den Verlauf der Arbeit aus. Das Lied bezwingt den
Arbeitsgegenstand und macht ihn gefügig; es nimmt z. B. dem Baumstamm,
aus dem man ein Boot zimmert, seine Härte und Widerspenstigkeit; es
macht die Erde, die man mit der Hacke bearbeitet, locker und fruchtbar.
Auch das Arbeitsgerät leistet mehr, wenn man es durch ein Lied ermuntert
und anfeuert ; die Axt wird schärfer, das Schwert blutgieriger. Es ist bekannt,
wie viele Schwertlieder sich mit Aufforderungen an das Schwert wenden;
wie das Schwert werden auch die Arbeitswerkzeuge als kraftenthaltende
Wesenheiten aufgefaßt. Man schmückt sie mit Zauberornamenten, gibt ihnen
nicht selten die Gestalt lebendiger Geschöpfe und singt sie an, um ihre Zau-
berkraft zu erhöhen. Nach Anschauung der primitiven Menschheit ist das
wirkliche Arbeiten immer nur eine Hilfs- und Nebentätigkeit. Die Erfolge
kommen nicht in erster Linie durch das körperliche Handeln zustande, son-
dern durch die Zauberei, die mit und bei der Arbeit ist. Nicht der Krieger
erschlägt eigentlich den Feind, sondern die in der Waffe enthaltene Zauber-
kraft und der dem Krieger beistehende Geist. Nicht der Arbeiter bestellt das
Feld, behaut den Baumstamm, sondern der Geist, der sich an diesen Tätig-
keiten beteiligt. Nicht der Mann befruchtet das Weib, sondern der beim
Geschlechtsakt oder zu anderer Zeit dem Weibe nahende Fnichtbarkeits-
dämon. Daher ist es nötig, die Zauberkräfte oder Tätigkeitsgeister in Be-
wegung zu setzen und zu der gewünschten Handlung zu veranlassen. Wie
geschieht das? Einerseits dadurch, daß der Mensch selber sich an die Arbeit
macht, anderseits dadurch, daß er Zaubermittel in Wirksamkeit treten
läßt, z. B. Tanz, Musik, Beschwörung. Daher ist das begleitende Lied unent-
behrlich zum Gelingen der Arbeit. Der Arbeiter, der Krieger, der Ruderer,
die Festgenossen, die Hochzeitsversammlung — sie alle müssen singen, müs-
sen die Zaubermächte herbeirufen und in Dienst stellen, sonst bleibt der
gewünschte Erfolg aus: die Arbeit mißlingt, die Waffe versagt, das Ruder
widersetzt sich, die Braut bleibt unfruchtbar. So sind die Feldrufe und
Schlachtgesänge ebensowohl rehgiöse Begehungen wie die Kulthymnen und
Opfergesänge. Ohne sie kann der Krieg nicht gewonnen werden.
Man muß sich diesen wunderlichen Gedankengang beständig vor Augen
halten, um zu begreifen, weshalb die ältere Menschheit auf das Singen und
Dichten einen so ungeheuren Wert gelegt hat. Hätte man das Liedersingen
als ein bloßes Vergnügen betrachtet, so wäre man gewiß nicht darauf ver-
fallen, es bei allen wichtigen und ernsten Angelegenheiten in den Mittel-
punkt zu rücken und es oft bis zur Erschöpfung zu treiben. Die Gesangs-
literatur der Vergangenheit ist Zauber und Kultliteratur ! Auch wo das Be-
wußtsein schwand, daß man durch den Vortrag des Liedes Zaubererfolge
zu erzielen vermochte, wenn also das Lied nicht mehr eine bewußte Zauber-
beschwörung war, wirkte doch das Gefühl davon noch im Unterbewußtsein
nach. Das Lied behielt einen religiösen Unterton, auch wenn es sich ganz
weltlich und unheilig gab. An der griechischen Lyrik tritt das deuthch her-
vor. Sapphos Liebeslieder z. B. haben etwas tief Religiöses, und das eine von
ihnen, das Gebet an Aphrodite, ist wie oben erwähnt eine kunstgerechte
Zauberhjonne.
Bei den Persem konnte, wie Herodot berichtet, eine regelrechte Opfer-
handlung nicht ohne Mitwirkung eines priesterlichen Sängers vorgenommen
werden. Der Priester mußte die ,,Theogonie" singen. Auch in Indien wurde
der fachmännische ,, Sprecher", d. h. der priesterliche Hymnensänger beim
Opfer unentbehrhch. In Griechenland wurden bei Prozessionen und anderen
religiösen Feiern meist Chorlieder, sogenannte Dithyramben gesungen. Im
Christentum drangen die Hymnen und Choräle nach anfänglichem Wider-
stand siegreich in den regelmäßigen Gottesdienst ein und bilden bis heute
einen wesentlichen Bestandteil desselben. Bekanntlich hat sich aus diesen
gottesdienstlichen Gesängen die großartige musikalische Blüte im i6. Jahr-
hundert entfaltet; auch die deutsche Musik des i8. Jahrhunderts ist ohne
die kirchlichen Gesänge, d. h. die Messe und Motette, undenkbar. Von ähn-
152
lieber Bedeutung wurde der religiöse Chor- und Einzelgesang für die grie-
chische Kunst : er gab dem Drama und der weltlichen Lyrik das Leben. Einen
Teil der Sololyrik können wir aus den Zauberformeln ableiten ; die Chorlyrik
geht aus den Zauberrufen größerer Massen hervor.
Ursprünglich entstammt das Lied wohl meist der augenblicklichen Ein-
gebung. Die Naturvölker, zumal ihre Priester und kunstbegabten Laien
haben noch heute eine bemerkenswerte Fähigkeit, einfache Lieder aus dem
Stegreif zu erfinden. Die gelungensten prägen sich ein und finden im Volke
Anklang, wandern auch nicht selten über die Grenzen des Stammes hinaus.
Woher kommt es, daß die Improvisation allmählich der vorbereiteten
Kunstschöpfung weicht? Warum werden manche Lieder aufbewahrt und
viele Geschlechter hindurch unermüdlich wiederholt ? — Das wird verschie-
dene Gründe haben, teils künstlerische, teils psychologische; auch religiöse
Gründe wirken mit. Der Priester bevorzugte diejenigen Gesänge, die sich
bewährt hatten, d. h. die erfolgreich gewesen waren, deren Zaubergewalt also
außer Zweifel stand. Hatte er durch ein Lied einmal einen sichtbaren Ein-
druck auf die religiösen Mächte gemacht, war er von den Geistern ,, erhört"
worden, so behielt er es im Gedächtnis und bediente sich desselben immer von
neuem. Das Lied wurde zu einer festen Gebetsformel. Zimmer (Altindisches
Leben) erzählt, wie in den priesterlichen Sängerfamilien der Inder berühmte
Lieder der Vorfahren getreulich aufbewahrt wurden, ,,die schon öfter sicht-
lich die Hilfe der Götter verschafft hatten". Er fügt hinzu: ,,nach außen
wurde dieser Schatz sorgfältig gehütet und die Achtung davor auf jede Weise
gesteigert." Die Lieder wurden also wie Zauberformeln geheimgehalten und
durften von Laien nicht gesungen werden. Diese Geheimhaltung trug nicht
nur zur Steigerung der Achtung bei, sondern auch zur Reinerhaltung des
Textes. Wir sahen, wie streng man bei dem Gebrauch von Zauberformeln
auf die Wortfolge achtete ; die Formel wirkt nur, wenn sie wörtlich und ohne
Fehler gesprochen wird. Der Zauberer mußte sie daher seinem Gedächtnis
so treu als möglich einprägen. Ebenso war es mit den Kultliedern und Ge-
beten: der Gott erhörte den singenden Priester nur dann, wenn er die alt
bewährten Lieder immer wieder in der gleichen Fassung vortrug, nichts
wegheß und nichts hinzufügte. Dadurch bildete sich der Sinn für die dich-
terische und musikahsche Tradition aus, der für die weitere Kunstentwick-
lung so wichtig wurde. Der priesterhche Nachwuchs lernte die Lieder aus-
wendig (von Aufzeichnung war noch keine Rede) und vererbte sie ohne
Änderung an die folgende Generation. Vermehrungen und Erweiterungen
des Schatzes fanden wohl statt, aber nur in großen, stark bewegten Zeiten;
nur solche Zeiten und die in ihnen auftretenden schöpferischen Künstler-
propheten hatten Kraft und Mut genug, den alten Liedern neue und eigene
Erfindungen hinzuzufügen. Der Künstlerprophet übernahm damit keine ge-
ringe Verantwortung; nur wenn ihm die persönhchen Offenbarungen keine
Ruhe heßen, wenn also seine und seines Volkes Sehnsucht sich zu religiösen
Gebilden verdichtete, trat er mit neuen Liedern hervor und wurde Schöpfer
neuer künstlerischer Formen.
Wie es scheint, haben sämtliche europäische Völker einst einen Stand von
priesterlichen Rhapsoden gehabt, die ein Wanderleben führten und dem
Volke an den religiösen Festen die heiligen Sagen und Sänge vortrugen. Sehr
schön hat Krauss über die südslavischen Guslaren und ihre Rhapsoden-
kunst gehandelt (vgl. Krauss, Slavische Volksforschungen). Auch beiden
Semiten und vielen anderen Völkergruppen lassen sich volkstümliche Prie-
stersänger nachweisen, die den Märchen- und Sagenschatz verwalten und bei
passenden Gelegenheiten daraus mitteilen. Oft werden derartige Lieder zum
Tanze gesungen; das bekannteste Beispiel haben wir in der Odyssee. Zum
Tanz der Phäaken Jünglinge singt der Sänger Demodokos das Lied von der
schönen Aphrodite, die ihren Gemahl, den lahmen Hephaistos, mit dem
männermordenden Ares betrog, bis jener das Liebespaar in einem kunst-
reichen Netz fing und es dem Gelächter der herbeigerufenen Götter preis-
gab. Derselbe Sänger weiß aber auch im Saale unter den zechenden Helden
von den trojanischen Kämpfen zu erzählen. Er ist also zugleich Historiker
und Mythologe. Beides hing in alten Zeiten sehr nahe zusammen; denn die
großen Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart waren stets auch reli-
giöse Ereignisse, und wie der Sänger die Geschichte der Götter und die ge-
samte Mythologie kennt, so kennt er auch die Vergangenheit des Volkes
und die Vorgänge der Gegenwart. Er ist ,, Seher", er ist der Erleuchtete, der
Weise, der Welterfahrene.
Die Rhapsoden nehmen innerhalb ihres Volkes eine sehr verschiedene Stel-
lung ein. Manchmal genießen sie großes Ansehen und sind im Besitze aller
priesterlichen Würden, so z. B. im alten Indien. In der Regel wandern sie
dann auch nicht, sondern gehören zu einem Heiligtum; das Volk und die
Könige kommen zu ihnen, um sie zu hören; nicht sie gehen zum Volke. Der
wandernde Sänger kann eine solche Stellung selten erringen. Durch das
Wandern geht unter Umständen sogar der priesterliche Charakter des Rhap-
sodenberufes ganz verloren. Wer wandert, ist auf die Wohltätigkeit der
Menschen angewiesen; er kann zum bettelnden Gaukler herabsinken. Aber
er kann sich auch zum göttlichen Wanderer, zum geheimnisvollen Fremden,
zum ersehnten Götterboten erheben. Es hängt das von der Gewalt seiner
Persönlichkeit und von der religiösen Empfänglichkeit seiner Wirte ab. Der
nicht wandernde Sänger nähert sich dem Priestertypus im engeren Sinn ; der
wandernde dem Prophetentypus. Jenen stützt die Priestergenossenschaft,
deren Mitglied er ist : er tritt in seiner musikalisch-dichterischen Wirksam-
keit für die Gemeindereligion ein. Daher pflegen seine Erzeugnisse alle die-
jenigen Vorzüge und Mängel zu haben, die dem Religionswesen der Gemein-
schaften eigen sind: Sicherheit, Reife, formale Durchbildung, aber auch
Künstlichkeit, Oberflächlichkeit, Epigonenhaftigkeit. Die Kunst des wan-
dernden Sängers wird umgekehrt die Eigenschaften haben, die der persön-
lichen Religionsbildung anhaften ; sie wird etwas Zufälliges, Formloses, Un-
ausgeglichenes haben, wird sich aber zu großer Macht und Leidenschaft
erheben können.
Man kann diese beiden Richtungen in der Kunst aller Völker bis in die
europäische Gegenwart hinein wiederfinden. Überall stehen sich priester-
liche Künstler und prophetische Künstler gegenüber; jene sind seßhaft,
arbeiten ruhig und methodisch, stützen sich auf feste Traditionen, diese
haben einen Wandertrieb, schaffen in visionärem Enthusiasmus, hassen die
Tradition. Mancher Künstler erstrebt und erreicht wohl auch eine Über-
windung und Verbindung dieser gegensätzlichen Richtungen. Während sich
der seßhafte Künstler in der bürgerlichen Gesellschaft heimisch fühlt, wie
der seßhafte Priester in der überlieferten Gemeindereligion, gerät der wan-
dernde Künstler leicht in einen Gegensatz zu dieser Gesellschaft, ähnlich wie
der Zauberer und priesterliche Privatunternehmer.
Die fahrenden Leute des Mittelalters, die Musikanten und Jokulatoren
(Gaukler), sind die Nachkommen der Rhapsoden und Barden der heidnischen
Vorzeit. Diese Fahrenden verloren nie ganz ihre Beziehung zum religiösen
Handwerk ; sie übten Zauberkünste aus, waren Taschenspieler und Wunder-
männer wie die Derwische und Fakire; sie behexten Vieh und Menschen,
heilten auch wohl Krankheiten. Von dem mittelalterlichen Gaukler stammen
wiederum die modernen Schauspieler, Virtuosen und Musikanten ab. Das
Wandern bildet noch immer einen Grundzug imCharakter dieser reproduktiven
Künstlerberufe. Jedoch hat sich ihr Ansehen beständig gehoben, und vielfach
ist eine Vermischung mit dem seßhaften Künstlertjrpus eingetreten. Noch vor
kurzem waren die Schauspieler fast durchweg zugleich Sänger. Wer auf die
Maskenbühne treten und sich im dramatischen Bewegungsspiel zeigen wollte,
mußte auch singen können ; oft konnte er auch ein oder mehrere Instrumente
spielen, auch Zauberstückchen vormachen. Er war eben ein ,, Fahren der",
ein Priester jener göttlichen Dämonen, die dem Menschen zugleich Grauen
und Verachtung einflößen, ihn ebensosehr abstoßen, wie sie ihn anziehen.
Was sind das für Dämonen ? Wie kann der Fahrende als ein Priester gelten ?
Es sind die entthronten Heidengötter, die als Teufel in die Hölle, als Geister
imd Kobolde in die Wälder und Felder gebannt worden sind. Dadurch sind
sie nicht nur böse, sondern auch lächerhch und verächtlich geworden. Diese
Wandlung haben auch ihre Priester durchgemacht. Während der alte Rhaf>-
sode ein ehrwürdiger, wenn auch vielleicht armer und bedürftiger Mann war,
ein Bote der vom Volke verehrten Götter und Halbgötter, wurden die Volks-
sänger in christlicher Zeit zu gefährlichen und belustigenden Menschen, mit
denen man keine nähere Gemeinschaft haben wollte.
Zum Teil waren nun jene Heidengötter schon in ihrer Glanzzeit böse und
lächerlich gewesen; es verbargen sich hinter ihnen die noch weit älteren
Naturgeister von zugleich schrecklicher und komischer Art, die Fruchtbar-
keitsdämonen, die Wind- und Regengeister, überhaupt die Gebilde der so-
genannten niederen Mythologie, die man sich in Tiergestalt oder verzerrter
Menschengestalt, oder als Mischgeschöpfe dachte. Diese Geister haben schon
den primitivsten Menschen zugleich Gefühle des Grauens und des wohligen
Behagens erregt; sie betrugen sich sehr ungebärdig, trieben unzüchtige
Dinge, konnten sehr grimmig werden, aber sie waren auch lustig und droUig,
ließen sich hänseln und überlisten; und schließhch waren sie doch auch die
gütigen Spender vieler envünschter Gaben. Die priesterhchen Maskentänzer
der Naturvölker stellen in ihren lyrischen und mimischen Vorführungen
meist solche grotesken Dämonen dar; auch bei den kultivierteren Völkern
sind die Dämonenmasken vertreten. Wir wissen heute, daß diesen komisch-
gräßlichen Naturgeistern eine wichtige Rolle bei der Entstehung des reli-
giösen Dramas zuzuerkennen ist. Wir sehen sie als Satyren auf der griechi-
schen Bühne erscheinen, sehen sie bei den Mexikanern auftreten, treffen sie
als lustige Person, als Hanswurst und Harlekin in den europäischen Volks-
spielen, als Karagöz in der mohammedanischen Welt (vgl. Reich: Der
Mimus ; Preuss : Phallische Fruchtbarkeitsdämonen, im Archiv für Anthro-
pologie, N. F. I). In der erzählenden Literatur des Christentums sind der
dumme genarrte Teufel und der ins Lächerliche gezogene Petrus häufige
Figuren. Ich dächte, darin zeigt sich deutlich der Zusammenhang dieser
komischen Gestalten mit der religiösen Welt. Im Grunde haben wir in den
lustigen Personen stets die uralten Natur- und Traumdämonen vor uns, die
,, komischen Götter", die in wirkungsvollem Gegensatz zu den tragisch-
heroischen Göttern der ernsten Priesterkunst stehen.
Gott ist zugleich Tragödienheld und Komödienheld ! Ebenso natürlich der
Priester. Der Priester weiß die komische Maske so gut zu tragen wie die
tragische ; er ist ein erhabener Gottesschauspieler und ein skurriler Teufels-
darsteller. Das ist psychologisch sehr wohl verständhch; denn Grauen und
Lachen, Qual und Witz wohnen nahe beieinander. Bewegt sich doch der
Priester auch in seinem beruflichen Wirken oft auf der Grenze zwischen dem
Erhabenen und dem Lächerlichen ; seine Würde hat stets zum Spott gereizt ;
sein tragisches Pathos ist als Selbstironie empfunden worden. Jedoch strebte
156
der Priester auch in diesem Punkte nach Arbeitsteilung. Einige Priester-
typen übernahmen mehr die tragischen Fächer, andere die komischen. Der
tragische Priester stieg allmähhch die Stufen zum Weltenthron empor und
hielt den Völkern seinen Pantoffel zum Küssen hin; freilich führte ihn sein
Weg auch nach Golgatha und auf manchen Scheiterhaufen, Der komische
Priester wurde zum Lustigmacher und Bänkelsänger; aber sein Weg führte
ihn auch auf die olympischen Höhen reiner Künstlerschaf ; und zu der Er-
kenntnis, daß man die Nöte der Menschheit durch Gestaltung heilen und die
Widersprüche durch heitere Anmut hinweglachen könne.
Die Entwicklung der religiösen Schauspielkunst und Dichtkunst können
wir hier nicht im einzelnen verfolgen. Nur darauf sei noch einmal hingewiesen,
daß der dichtende Priester in religiös bewegten Zeiten erstens die Poesie
stets mit der Musik verbinden will, also zu dem ursprünglichen Zustande der
Künste zurückkehren möchte und ihre Sonderentwicklung ungern sieht,
zweitens daß er sich eng an das Volksmäßige und Allgemeingültige hält. Er
greift gern auf ältere Kunstzweige und Kunstmittel zurück und will zum
tiefsten Herzen aller Volksgenossen sprechen. Durch diese beiden Eigen-
tümlichkeiten seines Dichtens wird er zum künstlerischen Neuerer. Wie die
Religion umschaffend und umformend in das bildnerische Schaffen eingreift,
so auch in das dichterische Schaffen. Wie viel hat z. B. Luther für die Ent-
wicklung des deutschen Liedes und der deutschen Sprache getan! Seine
Bibel und seine Choräle haben eine neue Literatur eingeleitet ; auch die Ent-
faltung der deutschen Musik wäre ohne Luther nicht möglich gewesen.
Ebenso haben die Propheten Israels rhetorisch und poetisch epochemachend
gewirkt. Und Mohammed hat den volkstümlichen Segvers zu einem unver-
gleichlichen Werkzeug für seine poetischen Predigten erhoben (vgl. Hubert
Grimme: Mohammed). Gerade bei den genannten Männern tritt aber auch
klar hervor, wie einseitig das Verhältnis des Priesters zur Kunst ist. Soviel
sie den redenden Künsten gaben, soviel nahmen sie den mimischen und bil-
denden. Die arabische, die jüdische, die lutherische Reformation waren
einig in der Gegnerschaft gegen das Drama im weitesten Sinne, und noch
mehr gegen die Raum- und Bildkunst. Sie versetzten diesen Künsten so
schwere Schläge, daß sie sich kaum wieder erholen konnten. Im Islam und
Judentum hörte die bildliche Darstellung der sichtbaren und wünschbaren
Welt fast ganz auf; man entriß den Göttern das Schönste: die Augen der
Gläubigen zu laben. Auch der Protestantismus hat auf die zeitgenössische
und nachfolgende Bau-, Bild- und Zierkunst übler gewirkt, als es bei ober-
flächlicher Betrachtung scheinen mag. Wir leiden noch heute an der künst-
lerischen Einseitigkeit, die durch Luther und seine Geistesverwandten in
die deutsche Kultur gekommen ist.
iii 4. DER MYTHUS UND DIE KUNST 1^
Welchen Inhalt hat die priesterliche Poesie? Welche Gegenstände behan-
delt der dichtende Priester, und woher nimmt er sie?
Sein Thema ist der Mythus. Auch wenn er weltliche und scheinbar ge-
legentliche Stoffe wählt, gibt die religiöse Mythenwelt dem Dargestellten
Leben und Bedeutung. Auch die religiöse Ljoik ist mythischen Charakters.
Man muß über das Wesen der Lyrik umlernen: gute lyrische Dichtwerke
nähern sich stets dem Epischen. Sie berichten und teilen Vorgänge mit; sie
sind nicht gestaltlose Gefühlsergüsse. Nur wird das Epische musikalisch ver-
arbeitet ; die Gedanken und Bilder erscheinen als rhythmisierte Ausdrucks-
laute. Den Stoff aber gibt der Mythus her. Ein Blick auf die Hymnen- und
Psalmendichtung Indiens, Babylons, Israels, Europas beweist das. Diese
Hymnen — gleichviel ob sie Einzel- oder Chorlyrik, Tanz- oder Gesangs-
lyrik sind — erzählen von den Göttern, ihren Taten und Schicksalen, ihren
Kämpfen und Widersachern. Ferner enthalten sie auch Betrachtungen über
die Schöpfung der Welt, über das Leben in der Natur, über die Gestirne,
über philosophische Probleme. Der Unterschied zwischen lyrischen und epi-
schen Gedichten ist vornehmlich der, daß das Epos ruhiger berichtet und
auf den Bericht als solchen das Hauptgewicht legt, während bei der LjTik
die Schilderung nur ein Mittel zur Äußerung der Gefühle ist. Der Lyriker will
gefühlsmäßige Spannungen zur Entladung bringen und bedient sich dazu
der Phantasiebilder; der Epiker will umgekehrt Phantasiebildem plasti-
schen Ausdruck verleihen und bedient sich dazu musikalisch-lyrischer Hilfs-
mittel. Die beiden Gattungen können einander so nahekommen, daß sie
fast miteinander verschmelzen ; sie können aber auch sehr fem voneinander
rücken. Im letzteren Falle wird das Epos entweder zur Prosaerzählung oder
zur wissenschaftlichen Abhandlung; und das lyrische Gedicht zum Halle-
luja- oder Kyriegesang, bei dem der Text unter der Musik vöUig ver-
schwindet. Auch beim Drama können wir zwei Gattungen unterscheiden,
eine mehr epische, wo geschlossene Handlungen durch Worte und Gebärden
vorgeführt werden — zu dieser Gattung gehören sämtliche Dramen der
Kulturvölker — , und eine mehr l5n'ische, bei der rhythmische Gefühlsäuße-
rungen im Vordergrund stehen; dahin gehören die mimischen Tänze und
Reigen, ferner die Aufzüge und Umzüge. Je weiter sich ein Kunstwerk von
der plastischen Darstellung, also vom Epos entfernt, um so weniger mythi-
sche Elemente enthält es natürlich.
Rein lyrische Erzeugnisse sind im priesterlichen Schaffen sehr häufig. Der
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Priester neigt mehr auf die lyrische als auf die epische Seite. Wenn der Prie-
ster dichtete, wenn es ihn zwang, sich dem rhythmischen Bewegungs- und
Lautspiel hinzugeben, litt er unter dem Druck zuückgehaltener Affekte und
ließ sie in sein Dichtwerk hineinströmen, das dadurch notwendig zum lyri-
schen Werk wurde. Der prophetische Priester hat nicht Ruhe genug, plasti-
sche Bilder vor seiner Seele aufsteigen zu machen und sie in einem erzählen-
den Gedicht oder in einer dramatischen Handlung ebenso plastisch auszu-
breiten. Überhaupt gehört die Mythenbildung als solche von Haus aus nicht
in das religiöse Gebiet. Nicht der Priester ist der Erfinder des Märchens, also
der ältesten und einfachsten Äußerung des mythenbildenden Triebes
(worüber Wundt Klarheit geschaffen hat) ; der Priester hat das Mythen-
märchen nur für seine Zwecke benutzt und es in das religiöse Gebiet hinein-
gezogen, wie er es mit allen anderen geistigen Lebensäußerungen des Men-
schen getan hat. Es ist eine allgemeine menschliche Fähigkeit, Traum- und
Phantasiebilder zu sehen und Ereignisse der Umwelt märchenhaft aufzu-
fassen ; auch die Neigung und der psychische Zwang, solche geschauten und
gedachten Dinge redend und nachahmend mitzuteilen, ist eine Ureigentüm-
lichkeit des Menschengeschlechts. Der Mensch will erzählen und nachbilden,
und zwar anfangs in zusammenhangloser, flüchtiger Form. Die ältesten epi-
schen und dramatischen Versuche sind fragmentarische Einzelheiten, wie
wir aus den Märchen der Naturvölker deutlich erkennen. Die Ethnologie hat
uns nach und nach mit sehr zahlreichen Märchen primitiver Völker bekannt
gemacht, die aus kurzen Augenblicksphantasien und lose aneinander ge-
reihten Mythenmotiven bestehen. Erst allmählich hat die Menschheit das
dichterische Komponieren gelernt.
Wann ist ein Mythus religiös ? Wenn sich in ihm die Verknüpfung des ein-
fachen Mitteilungs- und Darstellungstriebes mit dem Zauber- und Kult-
wesen oder mindestens mit religiösen Bedürfnissen vollzieht. Diese Ver-
knüpfung wird durch die Organisation des menschlichen Seelenlebens ge-
fordert. Der Mensch kann nicht anders, als sein Handeln mit seinem Vor-
stellen ins Einvernehmen setzen ; die Erzeugnisse seiner Phantasie verlangen
nicht nur nach Darstellung, sondern nötigen auch zu Abwehrmaßregeln und
und anderen kultartigen Handlungen. So treten die Mythen mit Zauber-
handlungen in Verbindung und die gefühlsmäßig ausgeübten Entladungs-
handlungen rufen entsprechende Mythen hervor. Wenn die Mondsichel als
ein Kahn gedeutet wird, der über den Himmelsozean fährt, so gehört dieser
mythische Erklärungsversuch an und für sich eher in das wissenschaftliche
als in das religiöse Gebiet ; aber wenn dem Monde zauberhafte Einwirkungen
auf das menschliche Leben zugesprochen werden und man diesem Glauben
durch Kulthandlungen Ausdruck und Nachdruck verleiht, so hat man damit
das Gebiet der religiösen Mythenwelt betreten. Die Grenze läßt sich wohl
nicht immer scharf ziehen, da die Mythengebilde so luftig sind und ihr reli-
giöser Wert sich binnen kurzem verschieben, sich steigern oder ganz ver-
schwinden kann. Die Mjrthen verdrängen sich gegenseitig, vor dem neuen
verblaßt der alte. Durch jeden Sturm, der über ein Volk dahinbraust, wird
der Bestand seines Mythenwaldes geändert; unter den gefallenen Stämmen
wachsen junge Schößhnge hervor. Bei vielen Mythen, z. B. bei einem Teil
der griechischen und germanischen, wissen wir gar nicht, ob und wie weit sie
mit dem religiösen Leben verwachsen waren, ob es ernste und tief wurzelnde
Erzeugnisse des religiösen Geistes waren oder flüchtige Spiele der Phantasie.
Der Verdacht der Religionsforscher wird immer stärker, daß manche Götter-
und Natursagen gar nicht so ernst gemeint seien wie die älteren Mythologen
angenommen haben; Mythen, die in mythologischen Werken eine zentrale
Stelle einnehmen, haben für das wirkliche religiöse Leben jener Völker viel-
leicht geringere Bedeutung gehabt, als die unscheinbaren Gebilde der Volks-
phantasie, die man als ,, Aberglaube" geringschätzen zu können meint. Die
philosophischen Mythenschöpfungen waren oft nur in einem kleineren
Kreise von Priesterkünstlern lebendig, die in glücklicher Muße, von den
Lebenskämpfen unbehelligt, dahinlebten. Das leidende und wirkende Volk
stand diesen schönen Phantasiespielen fern; es verlangte derbere und ein-
fachere jMythenkost, verlangte Glaubensgebilde, die man im Kult verwerten
und für den Kampf gegen die bösen Geister innen und außen nutzbar machen
konnte.
Das muß bei Betrachtung der priesterlichen Mythenbildung im Auge be-
halten werden. Wenn der Priester sich in den Dienst des religiösen Volks-
bewoißtseins stellte, war er überhaupt nicht in erster Linie Mythendichter
und Sagenerzähler, sondern, wie früher dargestellt, Zauberer und Kultleiter.
Es drängte ihn zur religiösen Tat; das Mythologisieren trieb er nebenher,
es war ihm nur Mittel zum Zweck. Daher sind auch seine Dichtungen mehr
lyrischer als epischer Natur. Das Phantasieleben dieses Volkspriesters ist
nicht reich und üppig; es kreist immer um wenige stark gefühlsbetonte
Wahngebilde, in die sich des Volkes ganzes Hoffen und Fürchten ergießt.
Sein Geist ist viel zu konzentriert, um sich im Reiche der Phantasie und des
Gedankens frei ausbreiten zu können. Was er auf mythischem Gebiete schafft
wird von elementarer Wucht und Gedrungenheit sein, weil es die Frucht
seiner aufs äußerste gespannten Seele ist. Solche Mythen entstehen als Wehr
und Waffe der ringenden Menschheit.
Bei allen Völkern finden sich diese einfachen und gewaltigen Mythenge-
bilde. Sie pflegen von großer Zähigkeit und Dauerhaftigkeit zu sein; auch
wenn sie zeitweilig zurückgedrängt werden, treten sie nachher doch wieder
i6o
an die Oberfläche des Glaubenslebens. Sie sind inhaltlich nahe miteinander
verwandt. Gewisse Mythen und Mythenkreise kehren in allen Weltteilen
und unter allen Himmelsstrichen wieder. Die Übereinstimmung ist oft so
überraschend, daß manche Forscher annehmen, diese Mythen entstammten
einem einzigen Ausgangsherd und seien durch Wanderung von Volk zu Volk
gelangt. Dieser Theorie stehen jedoch schwere Bedenken entgegen und wir
werden uns wohl entschließen müssen, die Gemeinsamkeit des menschlichen
Mythenschatzes wenigstens zum Teil auf die gemeinsamen Naturanlagen
und Schickscde unseres Geschlechts zurückzuführen. So ist z. B. der Mythus
von der großen Flut, der in der neuen Welt ebenso verbreitet ist wie in der
alten, gewiß nicht aus einer einzigen Ursage herzuleiten; ebensowenig die
Menschenfresser- und Drachensagen und manche anderen. Sie konnten von
allen Völkern selbständig gefunden, mußten sogar gefunden werden. Es
liegt nicht in unserer Aufgabe, genauer auf diese Frage einzugehen; wir
wollen aber darauf aufmerksam machen, daß weite und verhältnismäßig
schnelle Wanderungen von Mythen nachweisbar stattgefunden haben.
Wir haben es mehr mit der Frage zu tun, wie der Priester die M5rthen-
schätze seines Volkes verwaltet und verarbeitet. Es hängt von vielen Um-
ständen ab, ob er sie in Ehren hält, fortbildet, vernachlässigt, vergeudet.
Die Lebensverhältnisse des Volkes, die wirtschaftliche und gesellschafthch-
politische Lage bestimmen die ganze Stellung und Wirksamkeit des Prie-
sters, also auch seine mythologische Tätigkeit. Vielleicht haben auch die
Rassenunterschiede und sicher die klimatischen Einfluß auf das mytholo-
gische Leben. Der Priester hat den Anforderungen nachzukommen, die die
Lage seines Volkes an ihn stellt. Die vorhandenen Mythen bearbeitet er in
diesem Sinne und bringt auch seine schöpferische Phantasie in die erwünschte
Richtung. Wenn sein Volk stark, voller Selbstvertrauen und Eroberungs-
willen ist, vnrd der mythenbildende Trieb sich prächtig entfalten und edle
Früchte treiben. Reiche und glückliche Zeiten begünstigen stets auch die
Phantasie- und Gedankenproduktion. Der Priester sieht dann die Dinge in
der Welt nicht mehr bloß als Schrecken und Ungeheuer an, denen er ihre
Schwächen ablauern will, sondern er sieht ihre Schönheit und Mannigfaltig-
keit. Er freut sich, allenthalben Leben und Streben zu finden, er beobachtet
die Pflanzen und Tiere, phantasiert über die Naturerscheinungen, denkt
über die Erlebnisse der Völker und Einzelnen nach. Er hat Kraft und Zeit
zum Spiel mit den Dingen : in Gedanken fügt er zusammen und trennt und
läßt die Phantasie ihren selbstherrlichen Gelüsten nachgehen. Geschautes,
Gewünschtes, Gedachtes verbindet sich zur anmutigen Einheit.
Das beste Beispiel eines mythenfrohen Zeitalters ist das alte Hellas. Dort
sproßten die Mythen in unerschöpflicher Fülle hervor. Die ganze Welt wurde
II Horneff er, Der Priester II lOI
bevölkert mit Göttern und Geistern, Nymphen und Najaden, \\'ald- und
Felddämonen. Jedes Erlebnis wurde zum Anlaß neuer Mythenbildungen
oder zur Wiederauffrischung älterer Sagen. Dem Griechen verwandelte sich
alles, was er sah, hörte und dachte, in illusionäre Gestalten, in phantastische
Vorgänge, in sinnlich empfundene Einbildungen, Wie erklärt sich dieser
Mythenreichtum gegenüber der M5^thenarmut anderer Völker? Zum Teil
ohne Zweifel aus den glücklichen Lebensumständen, in denen sich die ältere
griechische Kultur befand. Die hellenische Mythologie, Philosophie, Wissen-
schaft und Kunst sind Früchte des wirtschaftlichen Wohlbefindens der
höheren Volksschichten ; dies Wohlbefinden hatte einen geistigen Kraftüber-
schuß zur Folge. Außerdem war das griechische \'olk geistig höher begabt
als andere ; diese höhere Begabung hat ihm erst ermöglicht, sich zu großem
wirtschaftlichen Wohlbefinden aufzuschwingen und sich den Bedingungen
gut anzupassen, die ihm die geographische Lage, die Bodenbeschaffenheit,
die Nachbarn, die vorgefundene Urbevölkerung usw. boten.
Der glückhche Zustand kam aber nur der Oberschicht des griechischen
Volkes zugute. Nur sie nahm infolgedessen teil an der reichen geistigen Ent-
wicklung. Dem mythologisch-künstlerischen Überschwang der griechischen
,, Herren" steht denn auch eine weit düsterere Religionsauffassung, eine
weit sparsamere Phantasietätigkeit und gequältere Gedankenbildung gegen-
über. Die helle Welt Homers war nicht für alle da; die poesievollen Götter-
mj^hen sind wahrscheinlich gar nicht in die niederen Volksschichten ge-
drungen; mindestens haben sie dort nicht die älteren, barbarischeren Vor-
stellungen verdrängen können (Näheres in Rohdes Psyche). Unten im Volke
waren Religion und Leben kein göttliches Spiel, sondern bitterer Ernst.
Auch dort spielte man, aber nicht das freie Spiel des Müßigen, der für seine
brachliegenden Kräfte Betätigung sucht, sondern das Zwangsspiel des Be-
ladenen und von bösen Geistern Verfolgten. Auch der bedrückte Mensch
erfindet M}i:hen, sieht Gestalten, wenn er durch den Wald wandert, treibt
Philosophie und Wissenschaft. Aber sein Phantasieren und Nachdenken geht
andere Wege als das des glücklich heiteren Menschen. Vielleicht können wir
folgende Merkmale für das Mythologisieren unglücklicher und bedrückter
Menschengruppen festhalten: es herrschen entweder die schrecklichen und
rohen Mythengebilde vor oder umgekehrt die ganz vollkommenen, allmäch-
tigen und allgütigen Wesen; Verdammnis und Paradies, Teufel und Herr-
gott sind Schöpfungen unterdrückter Völker und Volksschichten. Zweitens
die Mythologie ist entweder arm und rein praktisch, d. h. sie nimmt unmittel-
bar auf die Leiden und Betätigungen der Gläubigen Bezug, oder sie ist um-
gekehrt ein wüster Knäuel von gestaltlosen Wahnschöpfungen, die zum
Leben der Gläubigen in denkbar größtem Gegensatz stehen. Mit Hilfe dieser
162
Gesichtspunkte läßt sich ein wenig Ordnung in die Mythen- und Gedanken-
welt des Menschengeschlechts bringen.
In ähnlichem Sinne hat bereits Nietzsche zwei Arten des menschlichen
Schaffens unterschieden: ein Schaffen aus der Fülle heraus und ein Schaffen
aus dem Mangel heraus; dieses hat andere Gründe als jenes, daher sind auch
die Ziele und Erfolge verschieden. Bei jedem Mythus und Gedanken muß
man sich die Frage stellen : was will er ? aus welchem Grunde und zu welchem
Zwecke ist er geschaffen worden? Jeder Mythus und Gedanke ist, wie wir
früher darstellten, eine psychische Entladung und Erleichterung, ist die Ab-
fuhr einer Energiesumme, die sich nicht in körperliche Bewegungen, also
in die Tat hat umsetzen können. Insofern entspringt auch die Phantasie-
und Gedankenschöpfung des starken und reichen Menschen einer inneren
Not, einer Unbefriedigung ; auch sie wiU einen Druck beseitigen und ein
gestörtes Gleichgewicht wiederherstellen. Jedoch rührt dieser Druck von
einem Zuviel her, die Unbefriedigung von einer Übersättigung ; es sucht hier
der nie rastende Drang nach Empfindung und Betätigung auf rein geistigem
Gebiet Befriedigung, also im Aufnehmen von inneren und äußeren Reizen
feinerer Art, im Ordnen und Zusammensetzen der aufgenommenen Seelen-
inhalte, im rhythmischen und logischen Verarbeiten derselben. Anders,
wenn der Arme, vom Leben hart Bedrängte mythologisiert und philoso-
phiert; er will sich dadurch bereichern und entschädigen; er verlegt sein
Wünschen und Hoffen in eine wahre Welt, ersinnt belohnende und bestra-
fende Mächte; er will sich mit Hilfe von Phantasmen über die Armut und
Bedürftigkeit, unter der er leidet, hinwegheben.
Es versteht sich von selber, daß in jedem mythologischen und philoso-
phischen Schaffen beides zusammenwirkt: die Fülle und der Mangel, nur
in verschiedenem Grade. Es gibt keinen ganz reichen und keinen ganz armen
Menschen, geschweige denn ganze Völker und Zeiten, die nur aus der FüUe
oder nur aus dem Mangel geschaffen hätten. Wir dürfen nur von einem
Mehr oder Minder reden, wenn unsere Einteilung vor der Wirklichkeit stand-
halten soll. Aber so ist es ja mit allen psychologischen Einteilungen und
Gruppierungen ; der Mensch ist kein einfaches Wesen, sondern vereinigt viele
widersprechende Eigenschaften in sich; die Psychologie legt diese Eigenschaf-
ten auseinander und versucht die menschlichen Zustände, Sinnesrichtungen,
Typen reinlich voneinander zu sondern. Sie muß sich dabei aber stets bewußt
bleiben, daß in der Praxis alles ohne scharfe Grenze ineinander übergeht.
Griechenland kann uns am besten als Beispiel für den Gegensatz der beiden
genannten Typen und auch für ihre enge Verbindung dienen. Die neuere
Altertumswissenschaft hat immer mehr die ernste und düstere Seite des
griechischen Geisteslebens in den Vordergrund gerückt. Früher stellte man
II* 163
sich die Griechen als ewig heitere Schönheitsenthusiasten vor ; heute wissen
wnr, daß unter der Oberfläche ein wildes Leben tobte, daß das Volk viel litt
und von inneren Leidenschaften nicht minder als von äußeren Nöten ge-
quält \vurde. Die bösen Geister brachen auch offen hervor und wirkten nicht
nur in und mit den guten. Grausige häßliche Mythen ragten aus dunkler
Vergangenheit in die helleren Zeiten hinein; das niedere Volk hielt dauernd
an barbarischen Kultformen fest, lebte in Angst vor der Natur und im Banne
schwankender Gefühlsstimmungen, nicht viel anders als die schwachen und
kranken Zauberpriester der Wilden. Darum ist die griechische Mythologie
ein Gemisch von Roheit und Feinheit, Zügellosigkeit und Gehaltenheit, Düster-
keit und Heiterkeit, Formlosigkeit und Gestaltungskraft. In den Mythologien
anderer Völker läßt sich dasselbe beobachten, jedoch lange nicht so klar; vor
allem können wir nirgends so schön wie in Griechenland verfolgen, daß der
Mythus einerseits in die Kunst, andererseits in die Philosophie einmündet.
Der phantastische, zaubernde Priester bildete sich Schritt für Schritt fort und
wurde einerseits zum Künstler, andererseits zum freien religiösen Führer. Frei-
lich machte nur ein Teil der Priester diese Wandlung durch : die weniger glück-
lichen Volksschichten wollten nicht auf den Priester im alten Sinne verzichten,
der Staat wollte am Zauberkult festhalten und viele verlangten nach Wahr-
sagung, Traumdeutung, priesterlicher Heilkunst. Aber trotzdem hob sich der
Geist prachtvoll empor. Die alten Mythenschätze gaben die Unterlage ab für
eine beispiellose Entwicklung der bildenden und redenden Künste ; anderer-
seits traten forschende Geister auf, die sich der Welt auf eine ganz andere
Weise bemächtigten, als es früher der phantasierende Priester vermocht hatte.
Die Erlösung von dem Zwangsdenken und Zwangsphantasieren vollzog
sich also dadurch, daß einerseits die Zwangsgebilde gestaltet und in ge-
schlossene Kunstwerke umgeschaffen wurden, daß andererseits der Mensch
den Zwangsgebilden durch Forschen und Nachdenken auf den Grund ging
und so die Welt zum Eigentum des erkennenden Geistes machte. Die grie-
chische Kunst — und ebenso jede andere ernste und hohe Kunst — ist eine
Befreierin, eine Erlösung vom Zauberwahn. Das Volk, das ins griechische
Theater strömte und die Tempel und geschmückten Hallen besuchte, fand
dort Befreiung von den quälenden Phantasiegebilden, von den drängenden
Lebenskonflikten, den religiösen Ängsten und Schwierigkeiten. Auf welche
Weise? Indem es diese Gefühle und Gebilde vergegenständlicht, rhythmi-
siert, geadelt vor Augen sah und diese Erlebnisse und Konflikte in vergrößer-
ter und vertiefter Gestalt mit Ohr und Geist verfolgte. Das Theater und der
Tempel waren die öffentlichen Beichtstühle des Griechenvolkes; was das
Volk dort sehend und hörend erlebte, war seine eigene Beichte, war seine
büßende Klage, seine harte Selbstverdammung, seine freie Selbstabsolution.
164
Indem der Priesterkünstler dem Volke unter dem Bilde der alten furcht-
baren Mythen — man denke z. B. an den Mythus von ödipus, der seinen
Vater tötet und seine Mutter ehelicht — seine eigenen Sünden und Leiden
vorhielt, die Seelen erschütterte, das Tiefste, Verborgenste, Böseste aus
ihnen hervorholte, die verwegensten Wünsche und lähmendsten Schauer zu
sichtbaren und greifbaren Gestalten verdichtete, dies alles aber nicht als
formlose Gefühlsmassen, als wüste Phantasieerzeugnisse stehen heß, sondern
es in rhythmisierter und organisierter Form vorbrachte, — befreite er die
Seelen, sprach sie los und befähigte sie zu dem schönsten Gottesdienst der
Tat. Die religiöse Kunst — und alle echte Kunst ist religiös — wurde den
Griechen zur vornehmsten religiösen Betätigung und der Künstler wurde
zum vornehmsten Mittler; er war der eigenthche Priester.
Das Gesagte gilt nicht bloß für Hellas, sondern für jedes Volk, das stark
genug ist, den mythenbildenden Trieb in der Kunstbetätigung zu befrie-
digen. Hellas hat dies am besten verstanden ; dort hat sich der Zusammenhang
zwischen der Kunst als einer ideellen Formgewalt und der Rehgion, zwi-
schen dem Dichterkomponisten und dem Priester inniger gestaltet als
irgendvv'o anders, übrigens waren nicht nur die Dichter und Musiker, son-
dern auch die Baumeister und Bildkünstler Griechenlands mit der Rehgion
verwachsen; nur traten sie persönlich mehr zurück und genossen weniger
Achtung. Das hängt mit den Vorurteilen der alten Adelskulturen zusammen :
die Steinmetzen, Maler, Töpfer, Gießer usw. galten als Handwerker, und wer
mit der Hand wirkte, nahm einen geringen bürgerlichen Rang ein. Die Sänger
und Dichter dagegen arbeiteten mit dem Geiste und durften sich deshalb zur
höheren Gesellschaft rechnen. Sie waren Seher, waren Vertraute und Lieblinge
der Götter und \\'urden durchaus als priesterliche Persönlichkeiten empfunden.
ipi 5. DIE PRIESTERLICHE WISSENSCHAFT fei
Wir fahren fort und betrachten auch die Umwandlung des Mythus in die
Wissenschaft an der Hand der griechischen Kultur. Ebenso wie die Griechen
den Mythus zur Kunst erhoben, ihn also durch Rhythmisierung seines bar-
barischen und krankhaften Charakters entkleideten , haben sie aus dem Mythus
auch die Welt- und Lebenskunde entwickelt und die phantastische Natur-
betrachtung in geistige Naturbeherrschung zu verwandeln begonnen. Schon
im vorbuddhistischen Indien erlebte die Philosophie eine erste Blüte. Die Brah-
manen machten sich Gedanken über Wesen und Walten der Götter und den
Zusammenhang alles Geschehens. Sie lösten die mythischen Wahnschöpfungen
in philosophische Symbole auf und suchten die Einheit im Wechsel, den Sinn
165
im Zufall zu ergreifen. Aber auch sie blieben in der mythischen Ausdrucks-
weise befangen ; ihr Erkenntniswille vermochte die letzten Schranken nicht zu
durchbrechen. Anders in Griechenland. Die griechischen Philosophen zogen
das Priesterkleid und die mythische Gedankenhülle aus. Sie erfaßten die Welt
als eine nackte Tatsächlichkeit und lehrten ihre Weisheit nicht mehr als gött-
liche Offenbarungen, sondern als schlichte Ergebnisse ihres Wahrheitsuchens.
Mitunter fielen sie in die mythische Denkweise zurück und besannen sich dar-
auf, daß sie doch eigentlich Propheten und Künder göttlicher Heilswahrheiten
seien nWc ihre priesterlichen Ahnen, die sie leibhaftig in den Priestern der
alten Nachbarreiche : in Ägypten, Assjnrien, Persien vor sich sahen. So finden
wir es bei Empedokles, bei Pythagoras und anderen ; noch bei Piaton kann
man nicht weniger das Mythische als auch den Anspruch auf begnadetes
Prophetentum nachweisen. Aber diese Atavismen beeinflußten den Charak-
ter der griechischen Philosophie nur wenig. Diese Philosophie suchte die
helle Gedankenwahrheit, sie woUte um jeden Preis erkennen und bemühte
sich, die Ergebnisse des Erkennens für das gesamte Leben nutzbar zu
machen, also einerseits für das religiöse, andererseits für das praktisch-wirt-
schaftliche Leben. Das Religiöse tritt natürlich am stärksten bei denen her-
vor, die sich in erster Linie an den sittlichen IMenschen wandten, also bei
Pjrthagoras, Sokrates, Piaton und den meisten späteren. Je mehr ein Denker
und Forscher den Nachdruck auf die bloße Erkenntnis legt, je mehr er vom
handelnden Leben absieht, um so weiter entfernt er sich vom Priesterberuf.
Der Philosoph und Gelehrte ist dadurch Priester, daß er Prediger ist, daß
er mit Hilfe seines Forschens Leben schaffen, Nöte lindern, Zweifel lösen,
Ziele setzen, Pfhchten lehren wiU. Wenn er das ablehnt und sich auf die
Theorie beschränkt, so gehört er nicht in unsere Betrachtung, obwohl er auch
in diesem Falle seine Abkunft vom Priester nicht verleugnen kann. Der
reine Wissenschaftler, der Fach- und Stubengelehrte ist ein Nachkomme des
priesterhchen Einsiedlers, der sein Leben fem von den Brüdern in Gelassen-
heit und einförmiger Arbeitsruhe hinbringt. Schon manche Zauberer der
Naturvölker sind in diese priesterliche Untergruppe zu rechnen. Sie hat sich
dann forterhalten und namentlich von jenen Naturen Zuzug erhalten, die
sich in kampfreichen Zeiten dem Gemeinschaftsleben nicht gewachsen fühl-
ten, sich daher zurückzogen, eine Klostermauer um ihr Dasein herumbauten
und es ängstlich vermieden, die Früchte ihres Nachdenkens und Forschens
der Allgemeinheit auszuliefern. Höchstens taten sie sich mit Gleichgesinnten
zusammen und gründeten Genossenschaften, um sich gegenseitig ihre Ge-
heimnissse anzuvertrauen und einander bei den Forschungen zu unter-
stützen. In Griechenland konnten diese Geheimpriester der Wissenschaft
nicht so recht gedeihen. Wer sich in Hellas der Weisheitsliebe widmete,
l66
fühlte die Pflicht, auch Lehrer und Prediger zu sein. Er sprach und schrieb
so, daß alle ihn hören und verstehen konnten. Sein höchstes Glück war, auf
das Volk, dem er angehörte, unmittelbar einzuwirken, es zu bilden, zu führen,
zu erleuchten. Der griechische Gelehrte fühlte sich als berufenen Lehrer seines
Volkes; er forschte nicht, um zu forschen, dachte nicht, um zu denken, wie
ein allzu großer Teil der heutigen Gelehrten, sondern forschte, um weise zu
werden, dachte, um leben zu lernen, lebte, um Führer und Priester zu sein.
Im weiteren Verlauf der griechischen Geschichte änderte sich das aller-
dings. Mit dem Verfall der alten einheitlichen Kultur verfiel auch der freie
Lehrberuf und der Künstlerberuf. Aus dem Künstler wurde ein unreligiöser
Virtuose oder ein phantastischer Wundermann, aus dem Weisheitsfreund
wurde ein wissenschaftlicher Einsiedler oder ein gespreizter Rhetor. Damit
war die Loslösung von der Religion vollzogen, oder man war auf eine niedere
Stufe der Religionsbildung zurückgesunken. Das Volk mußte sich andere
religiöse Führer und Mittler suchen. Woher wohl dieser Niedergang der
Kunst und der geistigen Führerschaft? Wie kam es nur, daß eine solche
Kunst und Philosophie den Zusammenhang mit dem tiefsten religiösen
Leben ihrer Zeit verlor? Warum vermochte die Kunst nicht mehr die reli-
giösen Gefühle und Bedürfnisse des Volkes zu gestalten ? Warum vermochte
die Wissenschaft nicht ihr sittliches Führeramt festzuhalten?
Weil die Kämpfe zu schwer, die Nöte zu drückend geworden waren. DieZeit
des glücklichen Gemeinschaftslebens und frischen Eroberungsdranges war
vorüber. Die damalige Menschheit hatte nicht mehr Kraft genug, ihre Sünden
und Leiden durch künstlerische Vergegenständlichung aufzuheben und zu
überwinden ; sie verlangte nach einer gröberen und handgreiflicheren Erlösung.
Und ebenso hatte sie nicht mehr Kraft und Freiheit genug, sich durch die
Erkenntnis und logisch-empirische Bewältigung der inneren und äußeren Welt
den Weg zum hohen Leben der Tat zu bahnen. Sie verzweifelte an der Wissen-
schaft und entsagte der Kunst. Sie lauschte auf die Stimme neuer Propheten,
die da sagten : Kunst und Erkenntnis sind Schein und Lüge ; nur der Glaube an
mystische Offenbarungen und die Ausübung mystischer Heilszeremonien kann
uns retten ! Man tat also Buße für die Sünden des heidnischen Freiheitslebens,
überließ die Kunst den Virtuosen, die Wissenschaft den Rhetoren und rettete
sich in die Mysterienreligionen, aus denen dann das Christentum hervorging.
Gestaltlose Mystik und asketische Moral hießen nun die Erlösungsmittel.
Es ist lehrreich, die Anschauungen kennen zu lernen, die die christlichen
Prediger und Väter der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung über Wis-
senschaft und Kunst hatten. Für das Neue Testam.ent gibt es überhaupt
keine Kunst und Wissenschaft. Da heißt es: eins ist not! und wer dies Eine
versäumt und sich mit weltlichen Dingen abgibt, bringt sich um das Heil.
167
Diese negative Stellung schlägt ganz von selber in die Kampfstellung um.
Die Kirchenväter eifern fortwährend gegen die Weltlust der Kunst, gegen
die Irrpfade der Erkenntnis. Sie sind schroffe Feinde der Wissenschaft, ähn-
lich wie Luther und andere schroffe Prophetennaturen. Alle Propheten
haben gegen das Erkennen und das künstlerische Gestalten eine Abneigung
gehabt, imd immer aus dem oben genannten psychologischen Grunde: sie
fühlten, daß sich durch Wissen und künstlerische Darstellung die Krankheit,
an der sie litten, nicht heilen, die Konfhkte und Katastrophen, die ihr Volk
heimsuchten, nicht lösen und beseitigen ließen. Der Weg der Kunst und
Erkenntnis schien ihnen ein Umweg; sie suchten den ,,graden" Weg zum
Heil, warfen sich dem All an die Brust, klammerten sich an Gott an, löschten
die Leiden durch Berauschungs- und Betäubungsmittel aus.
Dabei kamen sie allerdings meist zu der Einsicht, daß ihnen die Kunst
und Wissenschaft bei diesem Beginnen unschätzbare Dienste tun könnten.
Sie bemächtigten sich z. B. der Musik, ferner der philosophischen Mystik;
aber auch die W^ortkunst und die auslegende Wissenschaft (Philologie, Dia-
lektik) wußten sie ihren Heilszwecken dienstbar zu machen. Schließlich
ließen sich auch die Bau- und Zierkunst, die Medizin und Naturwissenschaft
nicht entbehren. In der Entwicklung des alten Christentums kann man das
alles sehr schön verfolgen. Es gab Christen, die sich gegen alles, auch gegen
den Hymnengesang und die mystische Spekulation ablehnend verhielten:
nur Glaube, Kultübung und Nachfolge Christi gezieme dem wahren Hei-
ligen. Als sich alle mit dem Eindringen der Musik und Spekulation abgefun-
den hatten, leisteten doch viele der Rhetorik und Dialektik Widerstand,
weil es heidnische Greuel seien. Mancher lehnte auch die weltliche Heil-
kunde als unchristlich ab. Aber auch hier mußten die prophetischen Eiferer
allmählich nachgeben. Das Ende war, daß sämtliche heidnischen Künste
und Wissenschaften ihren Einzug in das Christentum hielten. In innerem
Zusammenhang damit vollzog sich die soziale Entwicklung des Christen-
tums, d. h. die Begründung und der Ausbau der Kirche.
Das Mittelalter erscheint uns Heutigen nicht als eine Blütezeit von Kunst
und Wissenschaft; aber wenn man genauer zusieht, muß man doch aner-
kennen, daß auf beiden Gebieten damals so eifrig gearbeitet wurde, als es in
Anbetracht der gesamten Kulturlage und der dogmatischen Bindung mög-
lich war. Einige Künste erreichten eine bewunderungswürdige Höhe und
die Spekulation und Dialektik feierten Triumphe. Wie in Indien, Äg5^ten
und Babylon war die vor der Lebensnot geschützte Priesterschaft die Trä-
gerin dieses wissenschafthchen und künstlerischen Lebens, das später fort-
gesetzt wurde durch die Jesuiten. Auf Einzelgebieten konnte die christliche
Priesterschaft Erkleckliches leisten, konnte bis zu einer gewissen Grenze mit
i68
Mut und Eifer an die geistige Welteroberung gehen, zumal sie sich unter dem
schützenden Dach der Kirche geborgen und im übrigen nicht hinreichend
beschäftigt fühlte. Da die Priesterschaft aber der religiösen Entartung ver-
fallen mußte, sah sich das erstarkte Europa genötigt, der kirchlichen Wissen-
schaft und Kunst eine unkirchliche gegenüberzustellen und so begann die
Zeit des grenzenlosen Suchens, Eroberns, Gestaltens und Wiederauf lösens,
in der wir uns noch heute befinden.
Um das Verhältnis des Priesters zur Wissenschaft und Kunst nicht ein-
seitig aufzufassen, müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen, daß die
Wissenschaft und Kunst ja doch ihre Hauptnahrung aus dem religiösen
Willen des Menschen ziehen. Der einfache Spieltrieb und Erkenntnistrieb
hätte die großen und tiefwirkenden Werke nicht schaffen können, wenn sich
nicht der Macht- und Eroberungswille dieser Triebe für seine Zwecke be-
dient hätte. Kunst und Wissenschaft sind Waffen des Menschen, sind Stär-
kungs-, Befreiungs-, Entladungsmittel. Aber auch die Religion ist eine
Waffe und ein Heilmittel des Menschen. Daher die eigenartige Stellung der
Religion zur Kunst und Wissenschaft. Sie feindet sie als Nebenbuhler an
und muß doch wieder ein Bündnis mit ihnen schließen. Sie trennt sich von
ihnen und muß sich doch wieder zu gemeinsamem Handeln mit ihnen ver-
einigen. Kein Zweifel, daß eine ausgiebige Pflege der Kunst und Wissen-
schaft Muße, Sicherheit und Reichtum erfordert. Wenn der Mensch darbt
und leidet, kann er sich ihnen nicht widmen. Er empfindet sie als Luxus und
fragt durch den Mund seines Priesters : was nützt es mir, über den Lauf der
Sterne, über das Leben unserer Vorfahren, über die Organe des mensch-
lichen Körpers unterrichtet zu sein? Was hilft es mir, die Laute spielen,
schöne Mythen erzählen, im heiligen Schauspiel auftreten zu können ? Aber
ein klügerer priesterlicher Rivale antwortete diesem beschränkten Priester
folgendermaßen : Wissen ist Macht, künstlerisches Spiel bezwingt die Welt !
Das Erkennen zeigt uns Wege zur Überwindung dessen , worunter wir leiden, die
künstlerische Darstellung hat zauberhafte Wirkung auf den Gang der Dinge !
Inwiefern diese Antwort für die Kunst zutrifft, haben wir früher dargelegt.
Jetzt wollen wir es auch für die drei soeben genannten Wissenschaften (Ge-
stirnkunde, Vergangenheitskunde, Kunde des menschlichen und tierischen
Körpers) nachzuweisen suchen.
Wer den Lauf der Sterne kennt, kennt das eigene Schicksal und kann
seinem Leben dieselbe Gesetzmäßigkeit verleihen, wie sie jene wandernden
Himmelskörper haben. Wir erwähnten bereits, daß die Astrologie von den
babylonischen Priestern begründet und ausgestaltet worden ist, erwähnten
auch ihre religiöse Tragweite; aber die Himmelskunde ist noch älter, sie
wurde schon von den Priestern der Naturvölker betrieben. Zum Teil hatte
169
das den Grund, daß man die kultischen Handlungen und Feste zu bestimmten
Zeiten v^orzunehmen für nötig fand. Wonach aber konnte der Priester die Zeit
einteilen und die Zeitfolgen abgrenzen ? Allein nach dem Stande der Himmels-
körper. Die Sonne, der Mond, die Planeten haben von jeher die Anhaltspunkte
für die menschlichen Zeitbestimmungen abgegeben. Der Priester beobachtete
die Gestirne und stellte danach den Fest- und Kultkalender auf. Er verfolgte
den Auf- und Untergang der Sonne, den Rhythmus der Mondphasen, die
wechselnde Gruppierung der Sternbilder. Natürlich haben diese Himmelsvor-
gänge auch die Aufmerksamkeit der Laien erregt, aber der Priester hatte ein
berufsmäßiges Interesse daran und brachte daher seine Beobachtungen in eine
systematische Ordnung. Er knüpfte an die Himmelserscheinungen zahllose
Mythen, sah in den Gestirnen Götter und suchte das menschliche Leben mit
den göttlichen Rh}- thmen in Einklang zu bringen. Bei allen wichtigen Unter-
nehmungen wurde er um Rat gefragt, ob die Zeit günstig sei. Nach seinen
astronomischen und meteorologischen Studien richteten sich Beginn und Ende
der Jagden und Kriege, richteten sich Aussaat und Ernte,Wanderungen, Opfer-
feste und überhaupt alle bedeutenden Ereignisse im Leben des Stammes und
\'olkes. Der Kalenderaberglaube der Kulturvölker zeigt deutliche Reste davon.
Zweitens: wer das Leben der Ahnen kennt, kann sein eigenes besser führen,
kann sich an den Vorbildern stärken und die Geister zu Hilfe rufen. Die
Ahnenkunde ist der Keim und Kern der historischen Wissenschaften, und
der Priester ist überall der erste Geschichtsforscher. In Indien hatten die
Brahmanen die Stammbäume der Könige zu führen, ebenso die ägyptischen
und babylonischen Priester. Bei religiösen Festen trugen die priesterlichen
Sänger Geschichten aus der Vergangenheit des Volkes und seiner Führer
vor. Der Priester, der das religiöse Leben der Vergangenheit ver\valtet, der
die überheferten Gebräuche kennt und für ihre getreue Erhaltung Sorge
trägt, muß auch Erklärungen für diese Gebräuche, historische Rechtfer-
tigungen der Glaubensformen geben. Z. B. weiß er zur Begründung einer
Festfeier zu erzählen, daß einmal ein großer Häuptling das Fest aus Anlaß
eines Sieges gestiftet habe, oder daß es zum Andenken an den frühen Tod
eines Helden gefeiert werde. Derartige priesterHche Sagen sind die älteste
Form der Historie : angebliche Berichte über die Entstehung und Bedeutung
des religiösen Kultus, ferner über die Stammesgründung, über Wanderungen
und Schicksale des Stammes, über auffallende Naturgegenstände im Lande,
z. B. Wasserfälle, Höhlen, sonderbare Gelände- und Felsformen. Die ge-
schichthchen Berichte des Priesters werden meist in poetischer Form ge-
geben; seine historischen Abhandlungen sind epische Lieder. Kein Mensch
glaubte in jenen Zeiten, daß diese Lieder erfunden seien. Sie galten als voll-
wertige Geschichte und enthielten auch oft einen wahren Kern, abgesehen
170
von der inneren, religiös-künstlerischen Wahrheit, die ihnen in höherem
Maße innewohnte als manchem neueren Geschichtswerk.
Die Priester selber hielten sich in den meisten Fällen für treue Bericht-
erstatter; sie wollten keine „Dichter" sein. Auch Homer und Hesiod wollten
Geschichte schreiben ; ebenso glaubten die Evangelisten, daß sie das Leben
des Heilands wahrheitsgetreu geschildert hätten. An dem Beispiel der
christlichen Evangelisten und Legendenverfasser sieht man, wie der Priester
die Historie auffaßt: als religiöses Mittel. Er will durch seine Darstellung
erbauen, will aufrichten, erziehen, heiligen. Alle priesterlichen Geschichts-
schreiber verfolgen diesen Zweck, auch jene Hofhistoriker, Tempelgenealogen,
heiligen ,, Schreiber", bei denen z. B. Herodot Stoff für sein Gescbichtswerk
sammelte. Herodot erwähnt, daß er sich in Dodona, Delphi, Ägypten, Thra-
kien usw. an die Priester gewandt habe, um Kunde über die Vergangenheit
einzuziehen. Sie allein waren in den älteren Zeiten die ,, Archivare" der
Kultur ; bei ihnen allein war Verständnis für den Wert der Historie zu finden.
Die rein weltliche Geschichtsforschung steht in alten Zeiten ganz im Hinter-
grunde. Zwar hat es, so lange Menschen leben, Geschichten, Fabeln, Märchen
gegeben, die mit Religion undPriestertum nichts zu tun haben ; aber diese Er-
zeugnisse des Erkenntnis- und Mitteilungstriebes blieben klein und unschein-
bar. Der ältere Mensch hat sich nur dann zu großen historisch-dichterischen
Werken aufgeschwomgen, wenn er mit der Historie und von ihr etwas wollte,
wenn sie Wert für sein Leben hatte. Und welches war ihr Wert ? Die Zukunft
durch die Vergangenheit verbessern zu können. Unter diesem Gedanken aber,
der noch heute den historischen Wissenschaften ihren Wert verleiht, verbarg
sich noch ein anderer, weit altertümlicherer, nämlich der Glaube an die Zauber-
wirkung des Erzählens, worauf wir schon früher aufmerksam gemacht haben.
Der primitive Mensch war des Glaubens, daß sich das, was er mit Worten be-
schrieb, eben dadurch in Wirklichkeit verwandle. Nicht nur was man drama-
tisch darstellt, geschieht, sondern auch was man episch erzählt. Man findet
noch im heutigen Aberglauben Reste dieser von K. Th. Preuss zuerst klar er-
kanntenVorstellung, z.B. in demSatze : wenn man vomTeufel spricht, erscheint
er. Das will doch sagen: das Erwähnen seinesNamens und das Reden über ihn
zieht den Teufel herbei. So zog der Priester die Götter und Ahnen dadurch
herbei, daß er von ihnen sang und ihre Taten schilderte . Er , .vergegenwärtigte' '
alles, was er wollte, durch seine erzählende Zauberei. Und wenn er einem könig-
lichen Helden beim Mahle dessen eigene vollbrachte Taten vor die Seele rief,
zauberte er durch diese Beschreibungen die damals bewiesene Kraft in den
Helden zurück ; er entflammte ihn zu neuen Taten und verschaffte ihm für die
Zukunft Segen und Sieg. Das ganze Volk wird durch den Priestersänger ge-
stärkt und vergöttlicht, wenn er von der alten großen Zeit und ihren Recken
171
erzählt. Es hat einen tiefen Sinn, daß die Geschichtsforscher und Redner bis
zum heutigen Tage geneigt sind, die Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart
zu erheben ; die lobende Beschreibung der früheren Zeit wirkt ermutigend und
anstachelnd. Man sagt : das sei die Wirkung alles Vorbildlichen, die wir ja auch
bei den Heldensagen aUerVölker, bei den LebensbeschreibungenPlutarchsusw.
bemerken können. Ganz recht ; aber diese Wirkung wurde einst als ein körper-
licher Übertragungsvorgang, der durch Zauberei zustande komme, aufgefaßt.
Drittens : der Priester wurde Anatom und Physiolog, Mediziner und Natur-
forscher. Bei welchen Gelegenheiten hat wohl der Mensch zuerst das Innere
seines Körpers kennen gelernt? Bei schweren Verwundungen und beim
Kannibahsmus. Die Wunden aber hatte der Priester zu untersuchen und zu
heilen, die Menschenopfer wurden von ihm getötet und zerlegt. Der priester-
lichen Beobachtungsgabe verdankte der Krieger die genaue Kenntnis, wie
er den Feinden schwere und tödliche Streiche beibringen könne. Er segnete
auch die Waffen durch Zauber und bestrich sie mit Giften. Er bemühte sich
femer, die befreundeten Toten scheinbar lebendig zu erhalten und sie vor
der Verwesung zu bewahren. Wir kennen mehrere Verfahren der älteren
Völker, die Leichen durch die austrocknende Sonne oder durch chemische
Mittel bei künsthchem Leben zu erhalten; am berühmtesten sind die Ein-
balsajnieningsverfahren der ägyptischen Priester geworden. Die ärzthche
Tätigkeit des Priesters haben wir früher schon besprochen. Er scheute nicht
vor kräftigen chirurgischen Eingriffen zurück; bei vielen Völkern war z. B.
der Kaiserschnitt bekannt, und Amputationen und Trepanationen wurden mit
Geschick und Sachkenntnis vorgenommen. Auch stand dem Priesterarzt ein
unverächtlicher Schatz von inneren Arzneimitteln zu Gebote. Seine Kenntnis
der Pflanzengifte, überhaupt sein botanisches Wissen (z. B. denke man an die
Farbstoffe, die zur Bemalung verwendet wurden) war nicht gering. Mit den
Tieren und ihren Organen wurde er durch die Tieropfer bekannt ; er hatte amt-
lich etwaige Anomalien festzustellen und aus den Eingeweiden zu weissagen.
Diese ganze wissenschaftliche Betätigung des Priesters steht, wie man sieht,
im Dienste der Religion. Es ist praktische, nicht theoretische Wissenschaft.
Aber das menschhche Erkenntnis- und Kausalitätsbedürfnis kam dabei
natürlich ebenfalls auf seine Rechnung. Der Priester wurde unmerldich in
das Erkenntnisgebiet in strengem Sinne hinübergeführt. Er dehnte seine
Beobachtungen, Versuche, Schlüsse imd Spekulationen immer weiter aus.
Die achtunggebietende europäische Wissenschaft verdankt dem Priester und
seiner uralten Beschäftigung mit wissenschaftlichen Dingen sehr viel. Auf
dem Grunde des religiösen Verlangens und Nachdenkens ist das Erkenntnis-
gebäude der Menschheit errichtet worden.
1/2
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i DER PRIESTER DER ZUKUNFT 1
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Wir versuchen nunmehr, die Folgerungen aus unseren Betrachtungen
zu ziehen und das, was uns unsere weite Wanderung gelehrt hat, auf
die Gegenwart und die Zukunft anzuwenden. Was wir von der priesterlichen
Tätigkeit und Sinnesrichtung erfahren haben, setzt uns ohne Frage in den
Stand, ein Gesamturteil über den Priester zu fällen und ihm das Horoskop für
die kommenden Tage zu stellen. Wie wird und soll der Priester sich weiterhin
entwickeln und betätigen ? Die andere Frage, nämlich ob der Priester abge-
schafft werden soll oder nicht, hat wohl schon ihre Beantwortung gefunden.
Wir haben wohl gelernt, daß der priesterliche Menschentypus niemals aus-
gerottet werden kann. Er ist eine berechtigte und notwendige Spielart des
menschlichen Wesens. In allen Zeiten hat die Menschheit priesterliche Na-
turen hervorgebracht und hat sich Mühe gegeben, diese Naturen als kost-
bare Werkzeuge zur Erhöhung des Menschentums in ihren Dienst zu nehmen.
Mitunter versagten diese Werkzeuge allerdings den Dienst : das Salz wurde
dumm. Oder sie verwandelten die dienende Stellung in eine herrschende und
wurden zu bösen Tyrannen und gefährlichen Verführern. Aber dürfen wir
nicht sagen, daß die Schuld daran weniger die entarteten Priester als den
menschlichen Verband trifft, der diese Entartung zuließ und begünstigte?
Wenn ein Glied eines Organismus unbrauchbar wird oder auf Kosten aller
anderen ein herrisches Schmarotzerdasein führt, so trägt doch nicht bloß
das eine Glied, sondern der ganze Organismus die Schuld. Wenn das Ganze
nicht Herr seiner Teile zu bleiben vermag, ist es krank und schwach; es
verdient nichts Besseres, als daß ein Teil sich der Lebenskraft des Ganzen
für sein Teilwachstum bemächtigt. Wenn ein Volk und eine Kultur nicht
Herr seiner priesterlichen Naturen zu bleiben vermag, nicht diesen Naturen
ihre nutzbringende Stelle innerhalb des Ganzen anzuweisen vermag, ver-
dient das Volk nichts Besseres, als daß die Priester es knechten und der
Kultur egoistisch ihr Priesterideal aufzwingen. Wenn dann diese Kultur,
empört über die Priester, einen blutigen ,, Magiermord" veranstalten und
die priesterliche Geistesrichtung gänzlich ausmerzen möchte, so ist das ein
neues Zeichen von Schwäche. Jene Mahnung des Nazareners, man solle die
Glieder, die uns ärgern, abhauen und ausreißen, damit wir, wenn auch ver-
stümmelt, in das Reich Gottes eingehen, stammt aus einer kranken und er-
schöpften Welt. Ein gesunder und starker Organismus reißt weder sein Auge
noch sein Zeugungsglied aus ; er führt die ärgerlichen Glieder zu ihrer Dienst-
pflicht zurück und ehrt sie als wertvolle Mitarbeiter am Gedeihen des Ganzen.
Wir werden nicht umhin können, das gesamte religiöse Problem der Gegen-
wart in den Kreis unserer Betrachtung zu ziehen; denn nur, wenn wir die
Stellung kennen, die die priesterlichen Naturen allerart heutzutage ein-
nehmen, können wir die Forderungen aussprechen, die wir auf Grund un-
serer historischen und psychologischen Wanderung an den Priester der Zu-
kunft und an die Kultur, in der er wirkt, stellen müssen. Es kann nicht aus-
bleiben, daß meine Kritik der gegenwärtigen religiösen Lage Widerspruch
von vielen Seiten findet; denn wir rühren damit an die empfindlichsten
Punkte unseres heutigen Lebens und suchen die ungeklärtesten Dinge einer
Entscheidung entgegenzuführen. Möchten alle diejenigen Leser, die mir
nicht zuzustimmen vermögen, sich wenigstens durch meine offenen Aus-
führungen anregen lassen, auch ihrerseits zu einer unzweideutigen Stellung-
nahme zu gelangen. Und möchten diejenigen, die mir entgegenzutreten ge-
denken, ihre Argumente ebenfalls auf die Tatsachen und Ergebnisse einer
unbefangenen Religionsforschung gründen.
iyi I. DIE ERHÖHUNG M
^n^ MIM
Fast in jedem Kapitel haben wir die Beobachtung gemacht, daß der Prie-
ster nach Rausch verlangt. Er strebt hinweg aus der Welt der Wirkhchkeit,
aus dem einfachen und alltäglichen Leben. Er drängt hinauf und hinaus,
aber oft nicht hinauf in einen umfassenderen Pflichtenkreis, oft nicht hinaus
in die weite und große Welt der Erscheinungen; nein, sein Sehnen ist meist
auf eine andere Welt gerichtet. Er will nicht kräftiger handeln, nicht schärfer
sehen und hören, nicht klarer und besonnener denken als die anderen Men-
schen, sondern will tiefer fühlen, will in die Abgründe von Lust und Leid,
Spannung und Abspannung hinabsteigen, will die Geheimnisse seines un-
bewußten Seelenlebens erlauschen, will träumen und ahnen. Wir hatten dem
Priester einen Willen zur Erregung und zur Betäubung zugeschrieben und
die mannigfachen Mittel genannt, deren sich der Priester zur Erzeugung der
ersehnten Zustände bedient. Wir fragten auch nach den Gründen, die ihn
und mit ihm die gesamte Menschheit auf diesen gefährlichen ,, Heilsweg"
gebracht haben. Wir fanden zwei verschiedene Gründe. Erstens ruft der Er-
regungs- und Betäubungszustand wonnige Gefühle hervor, namentlich das
Gefühl der Freiheit, Losgelöstheit, Entrücktheit : die Erdenschwere fällt ab,
ein Erhabenheits- und Gottheitsbewußtsein durchdringt den Berauschten,
er glaubt alles zu vermögen und die ganze Welt in sich zu begreifen. Zweitens
befähigt der Rausch zu besonderen Leistungen ; die Phantasie ist in gestei-
gerter Tätigkeit ; der Rauscherhöhte erlebt Visionen und Stimmen, er gerät
in jenen göttlichen Wahnsinn, der alle großen Propheten und Künstler be-
seelt hat und dem das geistige Leben der ganzen Menschheit eine Fülle von
Licht, Wärme und Schönheit verdankt. Aber auch eine Steigerung des han-
delnden Lebens im engeren Sinne kann durch Rauscherlebnisse hervorge-
^75
rufen werden, was durch die Heilandsgüte und Liebeskraft vieler religiöser
Ekstatiker bewiesen wird. Diese Rauschhelden schöpften aus den Erregungs-
und Betäubungsvorgängen Mut, Freude und Unermüdlichkeit; sie fühlten
sich nicht bloß beglückt, sondern wirklich erhöht. Durch das Rauscherlebnis
der sogenannten Bekehrung ist gar mancher auf eine höhere Stufe des sitt-
lichen und sozialen Handelns gehoben worden.
Also der Priester liebt und sucht den Rausch, predigt ihn auch dem Volke,
weil der Rausch befreit, vergöttlicht und die geistige, zeitweilig auch die
körperliche Tüchtigkeit steigert. Wir wollen für den Augenblick die Kehr-
seite der Sache unberücksichtigt lassen und erst später auf die Gefahren des
ganzen religiösen Rauschwesens eingehen. Vorderhand bleiben wir bei den
Segnungen des Rausches stehen und rufen uns ins Gedächtnis zurück, daß
die Priester aller Zeiten und Völker Freunde des Rausches gewesen sind.
Durch Diätverordnungen der verschiedensten, oft raffiniertesten Art, durch
leibhche und geistige Beeinflussungen und Mißhandlungen hat der Priester
den Weg zum Rausch gesucht und gefunden. Wird sich das in Zukunft
ändern ? Wird die Menschheit fortan dem Rausche entsagen, wird die künf-
tige Religion die alte enge Freundschaft mit den Erhöhungsmitteln auf-
geben? Ich glaube es nicht. Der Wille zum Rausch wird nicht aussterben,
solange es Menschen gibt; der religiös produktive Mensch wird ewig ein
Rauschkünstler bleiben. Das Ziel, das wir uns stecken müssen, kann nur
sein: die rechte Auswahl unter den Erhöhungsmitteln zu treffen und die
rehgiösen Rauschvirtuosen in die gebührenden Schranken zu verweisen.
Das Christentum hat wie die übrigen Religionen die Rauschtechnik in be-
stimmte Regeln gebracht und sich auf einzelne Rauschmittel und Rausch-
verfahren beschränkt. Besondere Aufmerksamkeit hat es dem schon er-
wähnten Bekehrungs- und Beruf ungsakt gewidmet. Die kirchlichen Veran-
staltungen zielen darauf hin, die Teilnehmer zu Gott hinzuführen, d. h.
sie zu , »erwecken", zu befreien, zu berauschen. Die größten Hoffnungen setzt
man in dieser Hinsicht auf die feierhche Aufnahmehandlung, die Konfirma-
tion und erste Kommunion. Der Christ soll normaler Weise bei dieser Feier
ein großes Erlebnis, nämlich das Erlebnis der Wiedergeburt haben, deren
pathologischen Rauschcharakter wir früher ausführlich besprochen haben.
Dieses Erlebnis soll dann später möglichst oft wiederholt und vertieft wer-
den, oder wenn es bei jenem Aufnahmefest ausgeblieben ist, durch um so
eifrigere religiöse Betätigung nachgeholt werden. Die katholischen ,, Exer-
zitien" z. B, sind musterhafte Einrichtungen zur Erzielung religiöser Rausch-
zustände auf hysterisch-suggestiver Grundlage.
Besonderes Gewicht legt man natürlich darauf, daß die christlichen Prie-
ster wiedergeboren werden. Auch bei den Protestanten, die die Rehgion so-
176
viel nüchterner und kühler auffassen als die Katholiken, spricht man noch
immer davon, daß die Geistlichen durch eine göttliche Berufung zu ihrem
Amte auserwählt ^vürden. Diese Berufung ist nichts weiter als eine Ab-
schwächung und Vergeistigung der pathologischen Wiedergeburt. Wer be-
rufen wird, erlebt einen religiösen Anfall, mag dieser auch nur leicht und
oberflächhch sein, d. h. ohne erhebliche Bewußtseinsstörung und körperhche
Nebenerscheinungen verlaufen. Es muß immer eine rauschartige Erhöhung
des Lebensgefühls und zugleich eine Trübung des Realitätsgefühls eintreten ;
sonst kann man nicht von ,, Berufung" sprechen. Das Wort Berufung weist
sogar auf Gehörshalluzinationen hin; es drückt aus, daß man dabei einen
Ruf hört und einen unmderstehlichen Zug zu Gott und dem göttlichen Amt
verspürt. Damit ist notwendig eine Erschütterung, eine Änderung des see-
hschen Gleichgewichts verknüpft. Ob diese Änderung sich immer als eine
plötzliche Höherentwicklung darstellt, wie Starbuck in seiner ,,Rengions-
psychologie" meint, wollen wir dahingestellt sein lassen. Mir scheint, daß
dieser Bekehrungsanfall auh ein plötzlicher Absturz sein kann und eine
Verengerung der geistigen Persönhchkeit im Gefolge haben kann.
In den älteren Rehgionen wurde der Anfall durch den Rauschtanz, durch
Aufnahme von Giften und durch ungesunde Diät (Ausschweifung, Fasten,
Keuschheit) befördert, und allgemein herrschte die Überzeugung, daß die
religiösen Führer und Mittler die Zustände veränderten und erhöhten Lebens-
gefühls mit besonderer Kraft und Tiefe durchmachen müßten. Wer nicht die
Gottheit gesehen und ,, erlebt" hat, wer nicht das Einsgefühl mit dem All
und mit sich selber, w'er nicht die göttliche Freiheit und Losgelöstheit in
überwältigender Lust erfahren hat, eignet sich nicht zum Priester, — so
urteilte die Menschheit von jeher und so \vird sie wie gesagt wohl auch in alle
Zukunft hinein urteilen. Wenn von manchen unserer frommen Zeitgenossen,
von Priestern wie von Laien, der rehgiöse Rausch als ,, Überspanntheit" ab-
gelehnt und verlacht wird, so kann das nur zwei Gründe haben : entweder
sind diese Christen unchristUch und wissen vom Wesen der ReHgion und
zumal von ihrer eigenen sehr wenig; oder sie fühlen sich von den groben und
häßhchen Formen des religiösen Rausches abgestoßen und suchen nach
edleren und kräftigeren Mitteln der Erhöhung. Im zweiten Falle begrüßen
wir sie als unsere Bundesgenossen, müssen sie aber darauf aufmerksam
machen, daß sie die christhche ReHgion, wie sie in aller Klarheit und Voll-
kommenheit im Neuen Testament gepredigt und beschrieben wird, zu be-
kämpfen und zu überwinden begonnen haben. Es ist ein unbestreitbares
Verdienst der modernen Erweckungssekten, daß sie den altchristhchen
Rauschenthusiasmus in seiner reinen Gestalt wieder ans Licht gebracht und
überhaupt das enthusiastische Element der Religion wieder in den Vorder-
12 Horneffer, Der Priester II ^1^
grund gerückt haben. Die Sektenangehörigen sind heute die besten Christen,
und wenn wir uns z. B. das Wirken der Heilsarmee vergegenwärtigen, müs-
sen \\'ir anerkennen, daß hier nicht nur die Gefühlsseite des religiösen Rausch-
wesens gepflegt wird, sondern daß auch die erhöhenden und befreienden
Folgen des Rausches für das sittlich-soziale Handeln zutage treten.
Viele angeblich religiöse Menschen leugnen heute den Zusammenhang
zwischen Religion und Enthusiasmus; sie können sich mit gutem Gewissen
auf das Treiben innerhalb des Kirchenchristentums, sowie auf viele Pfarrer
aller Konfessionen berufen, die mit Wort und Tat zu beweisen scheinen, daß
die Religion mit dem schrankenlosen Erhöhungs- und Freiheitsdrang des
Menschen nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Zwar ist an diesen rausch-
losen Kirchenpriestern mitunter eine deutliche Vorhebe für gute Tropfen,
für den Tabaksgott und den Spieldämon zu bemerken ; aber diese Vorliebe
hat allerdings mit den priesterlichen Pflichten dieser Gottesdiener keinen
Zusammenhang, Denn die Alkohol-, Tabak- und Spielgötter (Spiel im Sinne
von Glücksspiel) können zur Erhöhung und Befreiung der Kulturmenschheit
nicht mehr viel beitragen und der erste und dritte dieser Götter sind wegen
ihrer verheerenden Folgen schon längst aus dem heiligen Gehege der Religion
ausgewiesen worden. Der Priester hat schon früh aufgehört, die Rauschgifte
als religiöse Begeisterungsmittel zu gebrauchen und anzuempfehlen. Von den
höheren Religionen werden die Rauschgifte teils verpönt, teils mit Miß-
trauen oder Gleichgültigkeit betrachtet. Wenn manche christliche Priester und
Ordensleute ein nahes Verhältnis zu den Giftgöttern haben, so klingt darin
höchstens ganz leise die alte Bundesfreundschaft zwischen Giftrausch und
religiöser Erhebung durch; im übrigen benutzen die höheren Religionen wie
erwähnt geistigere Mittel zur Erregung des göttlichen Rausches. Auch der
Tanzrausch ist, um das bei dieser Gelegenheit anzuführen, bei den Priestern
der Kulturrehgionen in Verachtung geraten. Im Islam z. B. halten noch die
niederen Priestergattungen, die dem alten schamanistischen Priesterwesen
nahestehen, an der primitiven Begeisterungstechnik fest; ich denke nament-
lich an die tanzenden und die heulenden Derwische. Das öffentliche Tempel-
priestertum des Islams weist solche Dinge weit von sich.
So kann man denn auch von den Erweckungssekten, den Spiritisten und
Theosophen unserer Zeit sagen, daß sie auf ältere religiöse Rauschmittel
zurückgreifen. Sie verwenden nämlich in unverhüllter Weise die hysterische
Anlage des Menschen, suchen also Befreiung und Vergöttlichung durch Er-
zeugung hysterischer Krankheitserscheinungen, Die Hysterie, die uralte
Führerin und Freundin der Priester, war aus der Rüstkammer des europäi-
schen religiösen Menschen mehr und mehr verschwunden. Zwar erhielt
namenthch der Kathoüzismus die Erinnerung aufrecht, daß die heiügen Ur-
178
künden des Christentums fortwährend von hysterischen Erscheinungen be-
richten und die Stifter und Heroen des Christentums mit Hilfe der Hysterie
sich und ihre Gemeinden zu Gott geführt haben; auch kamen im Katholi-
zismus immer wieder Offenbarungen und Wundererscheinungen vor. Aber
trotzdem wurde allgemach die Quelle des hysterischen Rauschwesens ver-
schüttet; die Wunder wurden seltener und die Kirche un^villige^, sie anzu-
erkennen. Der Protestantismus erklärte sich trotz Luthers Veranlagung noch
schroffer gegen die rehgiöse Hysterie als der Katholizispius. Da haben jetzt
die modernen Sekten und Gemeinschaftsbewegungen eine gründhche Wand-
lung durchgesetzt. Diese neuchristhchen Strömungen — ich nenne sie christ-
lich, auch wenn sie in ihrem Glaubensleben oft weit von den kirchlichen
Lehren abweichen und manche unchristhchen Gedanken in sich aufnehmen
— sind zu der urchristlichen Form, religiöse Begeisterungszustände hervor-
zurufen, zurückgekehrt. Sie zwingen den „Geist" durch Beten, Versenkung,
Verdunkelung des Zimmers und andere suggestive Praktiken herbei, arbei-
ten sich in eine hypnoide Stimmung hinein und bringen, wenn sie begabt und
ausdauernd sind, regelrechte rehgiöse Anfälle zustande. Das entspricht den
vom Neuen Testament her bekannten und im Mittelalter geübten Gewohn-
heiten. Wir haben aber gesehen, daß diese Rauschrezepte sehr viel älter sind
und schon von den Zauberpriestem der Naturvölker angewendet werden.
Wie verhält sich das öffentHche Priestertum unserer Zeit zu dieser Er-
neuerung der alten religiösen Begeisterungsformen? Im Grunde kann es
nicht viel dagegen einwenden ; denn die Erweckten berufen sich mit vollem
Recht auf die Bibel; sie erklären — %vie mir einmal ein Mormonenapostel
sagte — , daß nur derjenige Anspruch auf den Namen eines christhchen
Priesters und überhaupt eines wahren Christen habe, der sich eigener Offen-
barungen rühmen könne und über die christhchen Geistesgaben : weissagen,
Teufel austreiben, Kranke heilen, verfüge. Mit voller Entschiedenheit wird
im Neuen Testament die mystische Erweckung und Heiligung als Kenn-
zeichen echten Christentums bezeichnet. Es ist ein großer Irrtum, wenn die
heutigen Theologen und Kirchenchristen die hysterische Seite des Christen-
tums für belanglos und vergänglich erklären. Sie sagen sich von dieser Reh-
gion los, wenn sie die Offenbarungen und Geisteswirkungen leugnen. Wenn
ihnen das nicht zum Bewußtsein kommt, so liegt das leider in \delen Fällen
daran, daß diese Namenschristen überhaupt keine Rehgion haben imd das
Erlebnis aller rehgiösen Menschen und Bünde aller Zeiten nicht kennen,
nämhch das Erlebnis der Einheit mit dem All, durch das auch eine Einheit
des Menschen mit sich selber und mit seinen Brüdern erzielt wird.
In den heutigen Kirchen und bei ihren priesterlichen Vertretern spürt man
von der rehgiösen Erhöhung und dem enthusiastischen Freiheitsdrang wenig.
12* 179
Die Pfarrer sind gleichmütige Beamte und gleichen aufs Haar jenen älteren
Priesterschaften, die ihre Aufgabe im Festhalten und Wiederkäuen über-
lieferter religiöser Wahrheiten sahen. Sie erzählen ihrer Gemeinde von den
göttüchen Personen und von religiösen Erlebnissen einer grauen Vergangen-
heit; sie suchen zu beweisen, daß die religiösen Urkunden historische Tat-
sachen berichten, und suchen ferner zu beweisen, daß die in den Urkunden
berichteten Dinge ewige Gültigkeit haben und allen nachgeborenen Ge-
schlechtem bindende Verpflichtungen auferlegen. Sie behaupten, daß der-
jenige Mensch religiös sei, der an diese Nachrichten und Forderungen glaube,
und wer das nicht tue, unreligiös sei. Sie versichern, daß Gott in einem Buche
stecke und daß es gefährlich und unrätlich sei, Gott anderswo zu suchen, daß
man daher den eigenen religiösen Erlebnissen mißtrauen müsse, falls sie
nicht genau mit den in jenem Buche überlieferten Dingen übereinstimmten.
Wer solche nicht übereinstimmenden religiösen Erlebnisse habe und sie höher
halte als die von dem kanonischen Buche vorgeschriebenen, der sei irreligiös,
sei ein ,, Religionsfeind".
Viele heutige Kirchenpriester gleichen einem Museumsverwalter ; die Ver-
walter pflegen aber trotz ihrer guten Kenntnis und technischen Übung das
tiefste Wesen dessen, was sie zu verwalten haben, nicht oder falsch zu ver-
stehen. Die Laien, die, von den Kämpfen des Lebens geschüttelt und be-
drückt, in die religiöse Halle treten, um aufzuatmen, um alles Kleine zu
vergessen und sich in freiem Enthusiasmus über die Welt des Werktags hin-
auszuheben, femer die Jugendlichen, die sich im Überschwang ihrer drän-
genden Sehnsucht um die religiöse Quelle scharen, sie verstehen die vom
Priester verwalteten und beaufsichtigten Museumsschätze weit besser. Dar-
um wissen sie auch von ihnen den rechten Gebrauch zu machen: sie ent-
nehmen den Denkmälern alter religiöser Taten den zwingenden Antrieb,
eigene religiöse Taten zu tun und die vorhandenen Schätze zu mehren. Sie
lesen aus den religiösen Urkunden die Mahnung heraus, das Leben ebenso
wahr und frei und stolz zu leben, wie jene alten Meister des erhöhten Lebens.
Es ist denn auch manchem unserer priesterlichen Museumsverwalter klar
geworden, daß es eine ziemlich traurige Aufgabe ist, die alten Schätze bloß
vorzuzeigen und für die ungekürzte Übermittlung der alten Gebote und Ge-
bräuche an die nächste Generation zu sorgen. Sie sind darangegangen, die
anvertrauten Güter gründlich zu studieren, sie in ihre Bestandteile zu zer-
legen, ihre Herkunft zu erforschen, ihren Wert und Wahrheitsgehalt mit
wissenschaftlichen Mitteln zu prüfen. Sie sind Religionsforscher geworden.
Ohne Zweifel ist das eine schöne und nützliche Beschäftigung; aber sollten
nicht die Religionsforscher begreifen, daß ihre Beschäftigung keine eigent-
lich priesterliche ist? Müßte nicht, wer die Religionsforschung als Haupt-
i8o
beruf treibt, sein Priesteramt niederlegen ? Wohl ist die historische und psy-
chologische Religionswissenschaft ein wertvolles Hilfsmittel und Vorberei-
tungsmittel für die priesterliche Tätigkeit, zumal in der heutigen Zeit, aber
dies Mittel zum Zweck darf doch nicht in den Mittelpunkt eines Priester-
lebens rücken. Wie ein großer Teil der heutigen Theologen — so und nicht
Priester nennen sie sich in vernünftiger Selbsterkenntnis — ihren Beruf
handhaben, fällt dem theologischen Studium der Löwenanteil ihrer Kraft
und Zeit zu; die priesterlichen Pfhchten werden nebenher und ohne Ein-
setzung der ganzen Persönlichkeit abgetan.
Auch die Bezeichnung ,, Theologe" trifft für viele beamtete religiöse Führer
und Lehrer der Gegenwart nicht mehr zu. Theologie heißt Kunde und Lehre
von der Gottheit. Was unsere Theologen treiben, ist aber nicht Gotteskunde,
sondern historische Erforschung gewisser Ereignisse und historische Kritik
gewisser Bücher. Wenn die Theologen wirklich Gottesgelehrte wären, wenn
sie sich die Aufgabe stellten, die Fragen nach dem Sinn aller Dinge, nach der
Bestimmung des Menschen, nach den Kräften und Eigenschaften des Uni-
versums mit voller Unbefangenheit aufzuwerfen und mit voller Hingabe zu
beantworten, so würden sie ganz von selber zu ihrer priesterhchen Lebens-
aufgabe zurückgeführt werden. Sie würden dann nämlich inne werden, daß
das Gottesproblem nicht durch Gelehrtenschweiß gelöst werden kann, weil
die wissenschaf thchen Forschungen, so unumgänglich und förderiich sie sind,
nur bis an die Schwelle des Problems führen. Das Universum gibt seine
letzten Rätsel nicht dem über das Glas gebeugten oder in alten Bibliotheken
stöbernden Menschen preis, sondern nur dem hoch aufgerichteten, festUch
begeisterten, mit glühender Seele schaffenden Menschen. Welch ein schlech-
tes Zeugnis stellen unsere Theologen sich selber aus, wenn sie achselzuckend
sagen: die Gottheit hülle sich in undurchdringliche Geheimnisse, man tue
am besten, sich mit dem Gottesproblem so wenig wie möglich abzugeben und
sich nur an die W^elt der Erscheinungen und die religiöse Praxis zu halten !
Wie bitter wird jeder rehgiöse Mensch z. B. durch das Büchlein von W.
Bousset: ,, Unser Gottesglaube" enttäuscht! Was in diesem Buche steht,
sind angenehme Gedanken und freundliche Phantasien eines Forschers, aber
nicht Bekenntnisse und Verkündigungen eines Gottesweisen. Der Stolz jedes
echten Priesters, solange es überhaupt Priester in der Welt gibt, war: die
Gottheit zu kennen, sie von Angesicht zu Angesicht geschaut zu haben und
vertrauter mit ihr zu sein als mit allen anderen Dingen. Darum haben auch
alle echten Priester ihre Aufgabe darin gesehen, ihre Kunde von Gott auszu-
breiten, von Gott zu reden und zu singen, solange sie Atem hatten. Es Heß
ihnen keine Ruhe, daß die anderen Menschen von Gott nichts woißten und
ohne d£is beglückende Freiheitsgefühl, das den Priester durchdrang, durchs
l8l
Leben gingen. Der Priester rief sein enthusiastisches Wissen hinaus in alle
Femen; es drängte ihn, von seiner Überfülle abzugeben, sein Licht auszu-
strahlen und die letzten dunkelsten Winkel in der Seele der ihm anvertrauten
Mitbrüder zu erhellen. Gottesgelahrtheit, wenn sie mit Ehrfurcht und reiner
WahrheitsHebe getrieben wird, führt notwendig zur Prophetenbegeisterung
und dadurch zum unwiderstehlichen Antrieb, religiöse Erzieher- und Seel-
sorgetätigkeit auszuüben. Daß unsere Theologen ihr religiöses Führeramt
vernachlässigen, ist der beste Beweis dafür, daß ihr angebhches Gottheits-
studium sie nicht zu Gott hingeführt hat und daß alles, was sie uns von der
Gottesweisheit und Gottesbegeistening früherer Zeiten und Männer erzählen
und rühmen, tote Gelehrsamkeit ist. Was nützt es uns, wenn sie versichern
und nachweisen, daß Gott in Jesus lebendig gewesen sei? In ihnen selber
muß Gott lebendig werden; sie selber müssen den Freiheitsdurst und die
glühende Seele Jesu haben. Der ,, Geist" muß bei ihnen einkehren ; dann allein
sind sie imstande, auch ihrer Gemeinde den Geist einzuhauchen. Aber von
alledem ist bei unseren Theologen wenig zu entdecken ; sie sind zu kühl und
vernünftig für den rehgiösen Enthusiasmus, darum kann uns auch die von
ihnen vertretene und empfohlene Rehgion nicht erhöhen und befreien. Die
Lehren und Riten, die sie als Weg zu Gott anpreisen, sind zum toten Memorier-
stoff geworden. Auch wenn sie ein liberales und modernisiertes Christentum
predigen, können sie höchstens Gelehrtennaturen und genügsame Seelen
befriedigen.
Viele Geistliche werden gegen diese Kritik Einspruch erheben, vor allem
jene schlichten Praktiker, die sich ihrer Lebtage nicht für die Rehgions-
wissenschaft erwärmt haben, sondern ihr Heil in der seelsorgerischen Wirk-
samkeit suchen. Sie haben recht: der Vorwurf, das Priesteramt dem For-
scherberuf geopfert zu haben, kann sie nicht treffen. Aber fragen wir nun
einmal nach, wie denn diese geistlichen Praktiker, seien sie nun orthodox
oder hberal, ihr Priesteramt versehen ! Fragen wir, ob sie Führer zur Freiheit
und zur Vergöttlichung sind, ob sie ihre Gemeinde emporheben aus dem
Staube und Schlamme des kleinlichen Genußlebens und des egoistischen
Bereicherungsstrebens ! Ob sie selber wahrhaft rehgiös sind und auch um
sich her Religion schaffen und verbreiten. — Diejenigen unter diesen Geist-
hchen, deren religiöse Praxis sich darin erschöpft, daß sie die kirchlichen
Heilsgüter vermitteln und die biblischen Lehren vortragen und auslegen,
werden nur einem kleinen, und zwar dem zurückgebliebensten Teil ihrer
Gemeinde das leisten, was ein Priester zu leisten die Pflicht hat ; nur diesen
Zurückgebliebenen werden sie Erzieher und Helfer zur religiösen Vertiefung
sein. Die besten und tüchtigsten Gemeindegheder dagegen werden in
solchen Geisthchen nur Kirchenbeamte sehen, denen man ebenso kühl gegen-
182
übersteht wie den Staats- und Ortsbeamten. Man gibt ihnen, was sie im
Namen der Gesellschaft verlangen, aber man gewährt ihnen nichts, was
darüber hinausgeht. Man erlaubt solchen Pfarrern nicht, einem ins Herz zu
sehen und ins Leben einzugreifen. Solche Pfarrer nötigen alle Tieferen und
Fortgeschritteneren, die religiösen Erlebnisse auf eigene Hand zu suchen
oder nach nnderen Priestern und Helfern Umschau zu halten.
Das empfindet denn auch mancher wackere Geistliche deutlich und
schmerzlich. Es quält ihn, bloß ein historisches Dekorationsstück und ein
amtlicher Agent zu sein. Er möchte seiner Gemeinde mehr geben, er will in
lebendige Verbindung mit ihr kommen und sucht an allem, was sie inner-
lich bewegt, teilzunehmen. Aber wird er dadurch zum religiösen Führer und
Wecker seiner Gemeinde? Wir alle kennen jene sympathischen Pfarrer, die
ihre kirchlichen Pflichten nicht für ihren Hauptberuf halten, sondern vor
allem gute Kameraden ihrer Gemeindebrüder werden möchten und die
Türen der Kirche und des Pfarrhauses weit dem Leben der Gegenwart
öffnen. Sie schreiten mit ihrer Zeit mit, sind gar nicht engherzig und phari-
säisch, und niemand merkt ihnen an, daß sie eine beispiellos strenge Religion
und Sittlichkeit zu hüten und zu lehren sich verpf hebtet haben. Ich sage:
diese Pfarrer sind sympathische Menschen; sind sie aber wahre Priester?
Fassen sie ihren hohen Beruf so auf, wie ihre Meister und Ahnherren es getan
haben? Ich dächte doch, daß jeder Priester ein sittHcher Lehrer sein muß,
ein Künder und Herold hoher Ideale. Das schließt selbstverständlich nicht
aus, daß er sich mitten in das Leben seiner Gemeinde hineinstellt und an
allen großen Freuden, Erhebungen, Erheiterungen innigen Anteil nimmt.
Wir haben dargelegt, wie eng die Religion mit dem Spiel verknüpft ist und
wie die Priester einst Festleiter, Vortänzer und orgias tische Freuden prediger
gewesen sind. Aber die Feste und Spiele, an denen der Priester teilnahm
und die er leitete, waren stets religiöser Art ; sie standen in engem Zusammen-
hang mit den heiligen Riten und dienten der Erhöhung und Vergöttlichung
der Gemeinde. Der Priester hat die wunderbare Gabe besessen, das ganze
Erholungs- und Genuß wesen in das Gebiet der Rehgion hineinzuziehen; er
verstand — oder suchte wenigstens — die Kunst, die Menschen zu erheben
und zu heiligen, indem er sie zu Spiel und Rausch, zu Freundschaft und Liebe,
zu Heiterkeit und Lebensfreude führte. Dagegen sind die heutigen Pfarrer,
wenn sie der Engherzigkeit und Spielverderberrolle aus dem Wege gehen wol-
len, oft nahe daran, lustige Brüder und gemütliche Gesellschafter zu werden.
Sie sitzen im Wirtshaus, im Konzert und Theater, sie dichten und malen, sie
reisen und beobachten; aber sie versäumen, diese an sich löblichen oder
weniger löbUchen Dinge mit ihrer Rehgion und ihrem Priesteramt organisch
zu verbinden, sodaß ihr Weltleben ein notwendiges Stück ihres religiösen
183
Strebens und Lehrens wäre. Das Christliche und das Heidnische steht bei
ihnen im verbunden nebeneinander; sie ziehen den Priesterrock abwechsehid
aus und an.
Heidnisch dürfen wir ihr Weltleben nicht einmal nennen ; denn wenn wir
den Begriff „heidnisch" streng und tief fassen, so bezeichnet er gerade jene
alte religiöse Anschauung, daß die Freude und der aktive Freudenrausch
rehgiös sei und religiös verwertet werden müsse. So faßte das Griechentum
seine Religion auf; es feierte seine Feste als Vergöttlichungsfeste. Der
Grieche zog das heilige Kleid nicht aus, wenn er zu Spiel und Tanz ging,
sondern zog es dazu an. Die Gottheit weilte mitten unter den Spielenden.
Weilt Gott auch in den christlichen Wirtshäusern, wenn der Pfarrer mit am
Tische sitzt ? Weilt Gott in unseren Theatern und Konzertsälen, zieht er mit
den \'ergnügungsreisenden aus, steht er hinter den schriftstellernden und
politisierenden Pfarrern ? Ich will diese Fragen nicht in Bausch und Bogen
verneinen, sondern werde unten auf das religiöse Element in unserem Kunst-
leben und öf f enthchen Leben zu sprechen kommen ; aber ich bestreite, daß
die modernen Pfarrer viel dazu getan haben und tun, daß in unserem heu-
tigen Weltleben sich rehgiöse Triebe geltend zu machen beginnen. Die
christlichen Priester nehmen an dem Fest- und Kunstleben bloß teil wie die
anderen Zeitgenossen auch ; sie denken gar nicht daran — sehr wenige aus-
genommen— daß sie überall, wo sie weilen, Priester sein und bleiben müssen
und zumal unter erhöhten, aufatmenden Festtagsmenschen ihrer priester-
üchen Pflicht doppelt eingedenk sein müssen, der Pflicht nämlich, die
erhöhte Stimmung richtig zu leiten, sie rehgiös zusammenzufassen und in das
Bekenntnis der Zusammengehörigkeit der feiernden Mitbrüder unterein-
ander und das befreiende Gefühl der Einheit mit dem All einmünden zu
lassen. Jedes Fest muß ein Kommunionsfest sein, und wenn der Priester
an Festen teilnimmt, ohne sie zu Kommunionsfeiern zu gestalten und den
Genossen das Gefülil rehgiöser Verbundenheit greifbar mitzuteilen, wenn er
teilnimmt, ohne die Gemeinde zu segnen und den Segen der Gemeinde zu
empfangen, so versäumt er seine priesterhche Pflicht und ist seines hohen
Priesternamens nicht würdig.
Wir kommen in dem Abschnitt ,, Kirche und Kultus" auf das Verhältnis
des Spieles zur künftigen Rehgion zurück und wollen hier nur noch zur Ent-
schuldigung des modernen Priesters anführen, daß seine christhch-kirch-
liche Stellimg ihm leider nicht ermöglicht, als Weltmensch und Festmensch
Priester zu bleiben, weil das Christentum die Erhöhung des Menschen auf
anderem Wege und mit anderen Mitteln zu erreichen sucht als die entchrist-
lichte moderne Menschheit. Der Priester muß seinen Priesterrock ausziehen,
wenn er zu seiner festlichen Gemeinde geht; er muß in ,, Zivil", muß als
184
Laie kommen und das Priesteramt der Freude anderen überlassen. Er hat
nur die Wahl: dem weltlichen und festlichen Leben fernzubleiben und sich
dadurch der inneren Gemeinschaft mit seiner Gemeinde zu begeben — denn
in der Kirche, im Beichtstuhl, als Kranken- und Begräbnispriester kann er
heute nur einen eng umgrenzten, wenn auch innerhalb dieser Grenze tiefen
Einfluß ausüben — , oder zweitens an dem Weltleben als Wolf unter Wölfen
teilzunehmen und sich dadurch seines priesterlichen Einflusses noch weit
mehr zu begeben. Denn man glaube doch nicht, daß irgend jemand das
Christentum eines behaglichen, kunst- und frohsinnigen Allerweltspriesters
ernstnimmt. Einen solchen Priester lassen sich wohl die kirchentreuen Ortho-
doxen als religiösen Vermittlungsbeamten gefallen, aber niemand sieht in
ihm einen gotterfüllten Führer und Erzieher.
Die Erweckungssekten fühlen sich daher durch die kirchlichen Priester
nicht befriedigt; sie scharen sich um religiös produktive oder wenigstens
religiös überreizte Naturen und versuchen unter ihrer Leitung eigene Ge-
meinden zu gründen. Sie werfen dem kirchlichen Priestertum mit Recht
Verweltlichung und Unchristlichkeit vor, und man muß ihnen zugestehen,
daß sie selber es mit der christhchen Religiosität ernstnehmen. Die Sekten-
priester leben denn auch mit ihren Gemeinden in innigem Verkehr und wis-
sen die Gemeindezusammenkünfte zu echten religiösen Festen mit Kom-
mimionscharakter zu machen. Aber diese Sekten und ihr Bundeswesen
stehen im Gegensatz zu dem Lebens- und Festideal, dem die heutige Mensch-
heit bewußt und unbewußt zustrebt. Wir empfinden heute nicht mehr
christhch, zumal unsere Befreiungs- und Erhebungsmittel weichen durchaus
von den christhchen ab; die Welt ist seit längerer Zeit auf dem unaufhalt-
samen Wege zu einer neuen Religion des Lebens begriffen. Das fühlen die
heutigen Geistlichen und schwanken nun unsicher zwischen dem alten und
dem neuen Ideal hin und her. Teils begünstigen sie das Heidentum, weil sie
selber die neuheidnischen Instinkte in sich tragen, können aber natürlich
nicht offen als Propheten des heidnischen Freiheits- und Vergöttlichungs-
willens auftreten, sondern nur als halbe und laue ,, Vermittler". Aber laue
Seelen erkennt die Menschheit nicht als Priester an, darum werden diese
wohlmeinenden Vermittler schlecht gehört und die freundlichen Hände-
drücke, die sie fortwährend nach allen Richtungen austeilen, vermehren ihr
priesterliches Ansehen auch nicht. Die anderen wiederum stemmen sich dem
neuen Heidentum entgegen und möchten an dem christlichen Ideal fest-
halten. Sie sehen sich aber genötigt, allenthalben Abstriche von demselben
zu machen und mit christlichen Worten sehr unchristliche Dinge ,,S5mibo-
lisch" auszudriicken. Die Konsequenten, die auf dem Boden der strengsten
Orthodoxie stehen, wissen noch immer am besten ihren Kreis treuer Gläu-
185
biger zusammenzuhalten und haben, wie die Sektenprediger, den meisten
Anspruch auf den Namen Priester. Unter den KathoHken sind diese Kon-
sequenten häufiger als unter den Protestanten.
Da also die öffentlichen, von der Kirche und Gemeinde beauftragten Prie-
ster dem religiösen Bedürfnis unserer Zeit nur in geringem Maße genügen,
fragen xm weiter, wer denn die von der öffentlichen Priesterschaft unausge-
lüllt gelassene Stelle einnimmt. Die menschliche Gesellschaft sucht wie die
organischen Wesen für ein unbrauchbar gewordenes Ghed Ersatz. In allen
Zeiten, wo die religiösen Führer ihre Führerstellung nur unvollkommen aus-
gefüllt haben, sind Ersatzmänner für sie eingetreten, die die nach Führung
verlangende Gemeinde zu befriedigen und hinter sich herzuziehen versuchten.
Wir haben gesehen, daß das Privatpriestertum in allen religiös unbefriedig-
ten Zeiten sein Haupt erhebt. Die Gemeindereligion löst sich dann in zahl-
lose Einzelreligionen auf, der geistige Zusammenhang zwischen den Men-
schen lockert sich, ein gärendes Chaos entsteht. Propheten treten auf und
die von ihnen entfesselte Erregung droht über die Priesterreligion und ihre
auf überliefertem Erbe ausruhenden Vertreter hinwegzufluten. Auch in der
Gegenwart gibt es eine unübersehbare Fülle von Privatreligionen und von
prophetischen Privatpriestern. Der Wert dieser persönHchen Rehgionen ist
natürlich sehr verschieden, ebenso der Wert der Propheten. Wir wollen die
letzteren ein wenig näher betrachten und wenn möghch, in Gruppen ein-
teilen.
Manche nähern sich mehr dem Zauberertypus, andere mehr dem Künstler-
t}^us; manche sind ehrhche, ja verehrungswöirdige und gewaltige Persön-
hchkeiten, andere sind Abenteurer und zweifelhafte Charaktere, Die dem
Zauberertypus Angehörigen holen uralte religiöse Begeisterungsmittel wieder
hervor; sie führen magische Kunststücke vor, treiben Taschenspielerei, Ge-
sundbeten und Wcihrsagung. In diese Gruppe gehört ein Teil der oben be-
sprochenen Sektenstifter, der religiösen Hysteriker, wie wir sie hauptsäch-
lich unter den Spiritisten und Theosophen finden. Sie sind oft von echtem
Enthusiasmus erfüllt, suchen die Freiheit und das ,, wahre" Leben. Nur
hält sich bei ihnen die rehgiöse Erhöhung mehr in der Sphäre der Phantasie
und des Gefühls; sie überträgt sich nicht auf das sittliche Handeln. Diese
Leute können Schwächhnge und Tagediebe sein, sie sind meist pathologisch
veranlagt; das hindert aber nicht, daß sie religiöse Stimmungen und Zu-
stände von großer Kraft und Feinheit haben, auch auf andere Menschen
einen ähnhch starken Einfluß haben wie die Propheten älterer Zeit. Sie
wirken so faszinierend, daß sie es mitunter wagen dürfen, sich für über-
menschhche Wesen auszugeben; als solche gebärden sie sich dann so natür-
lich, daß man annehmen muß, sie halten sich wirklich für das, was sie den
l86
Leuten von sich sagen. Wer weiß, ob man nicht bei CagHostro, bei den rus-
sischen Christussen (z. B. Johann von Kronstadt) und den theosophischen
Heilanden einen ehrhchen Götterwahn annehmen muß! Hie und da enden
sie wirklich in einer Heilanstalt.
Natürhch gibt es unter diesen prophetischen Zauberern auch einfache
Schwindler, die sich die Zeitstimmung zunutze machen, die hysterische An-
lage und Taschenspielergeschicklichkeit, über die sie verfügen, gehörig aus-
bilden und sich dann mit größerem oder geringerem Erfolg dem Propheten-
handwerk widmen. In diese Klasse gehören nicht wenige der modernen
Kurpfuscher. Wir haben früher dargelegt, daß der ärzthche Beruf aus dem
des zaubernden Privatpriesters hervorgegangen ist, und haben betont, daß
die meisten Priester den Wunsch gehabt haben, als Heilkünstler und Krank-
heitsbekämpfer ihr Glück zu machen und das Volk für sich zu gewinnen.
So werden auch die heutigen Propheten in die Bahn der Krankenheilung
gedrängt und wirken darin je nach Charakter und Wissen Gutes oder
Schhmmes. Gewöhnlich fangen sie ihre ärztliche Laufbahn mit der Behand-
lung und überraschenden Heilung ihrer eigenen nervösen Leiden an und
suchen nun dasselbe Rezept auf alle anderen Krankheitsfälle anzuwenden.
Die ersten Erfolge stärken ihre Kühnheit und locken Glaubens- und Hei-
lungsbedürftige in wachsender Zahl an. Bald ist der Ruf des Wundermanns
gesichert. Ob er in gutem Glauben handelt, und wenn nicht, ob seine Schwin-
delei achtungswert, d. h. von menschenfreundlichen Absichten geleitet ist,
oder ob er die Leichtgläubigkeit der Kranken mit schamlosem Egoismus
ausbeutet, läßt sich im einzelnen Falle schwer ausmachen. Wir wollen uns
hüten, alle Heilpropheten unserer Zeit in einen Topf zu werfen. Auch bei den
Bedenkenerregenden findet man nicht selten, daß sich unter einem Wust von
Verschrobenheit, Fanatismus und Gewinnsucht wahre Schätze von Tapfer-
keit und Aufopferungswillen verbergen. Einem unvoreingenommenen Be-
trachter muß es wehe tun, daß diese Schätze nicht zur Geltung kommen, daß
die edlen Eigenschaften sich nicht die Herrschaft zu erringen vermögen.
Was fehlt eigenthch diesen anechten und halbechten Propheten, die wir
auf so vielen Gebieten des Lebens sich unheilvoll hervortun sehen ? Erzie-
hung fehlt ihnen, Erziehung zur Klarheit, zur Selbstverantwortung und zum
Heroismus. Wenn solche gefährhch begabten Typen scheitern und auf Ab-
wege geraten, fäUt die Schuld im Grunde denen zu, die die rehgiöse Leitung
und Erziehung unseres Volkes berufsmäßig in Händen haben. Warum ge-
lingt es den heutigen Kirchenpriestern und pädagogischen Führern nicht,
wenigstens einen Teil der vielen Charlatane auf bessere Wege zu bringen
und die zahlreichen Außenseiter und Revolutionäre auf medizinischem,
reügiösem, pohtisch-sozialem und künstlerischem Gebiet zu fruchtbarem
187
Wirken für die Gesamtheit zu erziehen? Warum haben wir heute so \-iele
„Agitatoren", die mit bewunderungswürdigem Eifer für sinnlose und ver-
brecherische Ideale kämpfen? — Weil diesen Männern nicht die rechten
Ideale gezeigt und mit zwingender Kraft in die Seele gebrannt werden.
Wenn das geschähe, wenn die berufenen religiösen Lehrer ihren Zöglingen
Begeisterung für kampfeswürdige Ziele und Verständnis für die Aufgaben
eines echten Agitators, d. h. Antreibers imd Weckers, einzuflößen vermöch-
ten, so würden alle diese Naturen, wofern nur der kleinste Gottesfunke in
ihnen lebt, zu heroischen Streitern für das heilige Leben werden. Der Gottes-
funke muß nur angeblasen und genährt werden, so setzt er ganz von selber
das leicht entzündliche Prophetenherz in Flammen und verzehrt alles Klein-
hche. Niedrige, Häßliche im Wesen dieser eigenartigen Naturen. Bei der
heutigen Unzulänglichkeit der berufenen Führer aber wächst das Niedrige
und Häßliche heran, erstickt den Gottesfunken oder entzündet sich an ihm
zu unreiner und verderbhcher Flamme.
Auch unter den \^erbrechern, den weiblichen und männlichen Dirnen, den
Landstreichern, den Wirtshaushelden gibt es hin und wieder eine miß-
limgene und mißleitete Prophetennatur. Ebenso wie manche Agitatoren,
wie manche Kurpfuscher, Wundermänner, Gaukler, Spezialitätenkünstler,
sind auch viele Verbrecher und \A'üstlinge disharmonische Menschen, deren
Kräfte. im Kampf miteinander liegen und daher nach innen und nach außen
zerstörerisch \nrken. Oft mögen sie unheilbar sein, teils weil ihre intellek-
tuelle Begabung zu gering ist, teils weil es ihnen an Willen fehlt ; so sind sie
ein für allemal zu einem unnützen oder schädlichen Leben verurteilt. Aber
andere haben nur sozusagen den Anschluß versäumt; sie haben nicht die
Erzieher, nicht die Erlebnisse gefunden, die den guten Geistern in ihnen
zum Siege verholfen hätten. Auch dann wären vermutlich nicht tüchtige
Werktagsmenschen aus ihnen geworden, aber do^^h Agitatoren im guten
Sinne, Soldaten und Offiziere im Heere Gottes, Vorkämpfer und Drauf-
gänger in der Schlacht um die Religion der Freiheit.
Die Anschauungen Lombrosos über die Verwandtschaft von Genie und
Entartung haben berechtigten Widerspruch gefunden; aber daß seiner
Theorie richtige Beobachtungen und Erkenntnisse zugrunde hegen, die nur
zu voreilig und einseitig gedeutet worden sind, kann niemand leugnen, der
mit offenen Augen die merkwürdigen Zwischentypen verfolgt, die von dem
genialen Rehgionsstifter ohne Lücke zu dem prophetischen Agitator, weiter
zu den Demagogen aller Schattierungen und endhch zum Charlatan, zum
Verbrecher und zum perversen Geisteskranken führen. Und noch merk-
würdiger ist es, daß sich in manchen Menschen die Anlage zu allen oder
mehreren dieser Typen nebeneinander findet. Sie sind, wie wir im Kapitel
i88
über den priesterlichen Charakter sagten, zugleich die Ersten und die Letz-
ten, und es hängt von ihrer Erziehung und den religiös-sittlichen Einflüssen,
die sie empfangen, ab, ob sie sich zum Edlen und Großen durcharbeiten,
oder im Niedrigen und Kranken versinken.
Wir wissen nicht, ob es zu anderen Zeiten ebensoviele disharmonische
Naturen von dieser Art gegeben hat; aber das sieht jeder, daß sie heute einen
wichtigen Bestandteil unseres Volkslebens bilden. Und es ist einer der Haupt-
einwände gegen das moderne Christentum und seine Vertreter, daß diese
Naturen nicht aus einem Fluch in einen Segen für die menschliche Kultur —
oder sagen wir vorläufig für die deutsche Kultur — umgeschaffen werden.
'Alle prophetischen Menschen, von den höchststehenden bis zu den geringsten
sind, wie Jesus so schön sagte: das ,,Salz" der Erde; sie sind ein Gewürz, ein
Gärungsstoff, ein Rauschgift, und wirken infolgedessen anstachelnd und er-
regend auf erlahmende und erstarrende Kulturen. Sie bringen die trägen
Massen in Bewegung, werfen die Brandfackel in die herbstlichen Steppen
und teilen ihre disharmonisch-revolutionäre Seelenverfassung allen denen
mit, die ihr Wort erreicht. Wenn niedere Leidenschaften oder die Geister
der Krankheit aus ihnen sprechen, tut man recht, sie zu bestrafen oder ins
Irrenhaus zu führen; aber sollte es nicht zu erreichen sein, daß andere Gei-
ster und Leidenschaften von ihnen Besitz ergreifen? Sehen wir uns die heu-
tigen Disharmonischen an : hier erklärt ein Drogist oder eine Hebamme die
ganze ärzthche Wissenschaft für Unsinn und beginnt eine ^vundervolle mag-
netische Heilmethode; dort wird ein Tagelöhner zum reUgiösen Enthusia-
sten und klagt die gesamte Theologie teufhscher Besessenheit an ; hier wirft
ein politischer Redner den Besitzenden vor, daß sie entmenschte Blutsauger
seien; dort beseitigt ein Anarchist alle sittlichen und sozialen Grundsätze
als Sklaverei; hier verwirft ein Künstler alle Stilregeln und künstlerischen
Erfahrungen der Vergangenheit, dort verwirft ein Moralfanatiker alle Kunst
als Tand und Verführung. Alle sind gleichermaßen darauf bedacht, unser
Volk in Gärung zu versetzen, ihm den bisherigen Glauben zu nehmen und
ihm alle Autoritäten zu verleiden.
Im Grunde hören wir aus dem Munde der Propheten aller Zeiten, der ech-
ten wie der unechten, immer wieder zwei Worte, in denen sie ihre Botschaft
und ihre Tätigkeit zusammenfassen ; diese beiden Worte sind Freiheit und
W^ahrheit. Für Freiheit und Wahrheit, gegen Tjnrannei und Lüge kämpfen
sie. Kann es etwas Besseres geben ? Sind sie damit nicht auf demselben Wege
wie alle religiösen Geister im engeren Sinne? Die Religion wollte stets die
Menschen befreien und erhöhen, wollte das öde und gleichmäßig dahin-
schleichende Leben in ein erregtes und erhabenes Rauschleben verwandeln.
Die große Schwierigkeit war immer die, die Worte Freiheit und Wahrheit
189
mit würdigem Inhalt zu erfüllen und das erhöhte Leben auf würdige Ziele
zu lenken, damit nicht die religiöse Bewegung auf Verwüstung der Kultur
imd Verblödung der Menschheit hinauslaufe.
Die Frage, wie man unserer Zeit über diese Gefahr hinweghelfen und wie
man die bedrohlichen Disharmonischen, die als anstachelnde oder lähmende
Gifte auf die gegenwärtige Menschheit einwirken, dem religiösen Leben
dienstbar machen und in eine segensreiche Priesterlaufbahn hineinziehen
kann, werden wir in den ferneren Abschnitten näher zu erörtern haben.
Denn die Antwort darauf läßt sich nur im Zusammenhang mit der Betrach-
tung über die religiösen Formen und das neue Priesteramt erteilen. Es ist ein
und dieselbe Aufgabe : unserem teils stockenden, teils chaotischen religiösen
Leben neue Stärke und Einheitlichkeit zu geben, und die Prophetennaturen
allerart von ihrem zerstörerischen Treiben abzurufen und in heilsamere
Bahnen zu lenken.
Wir müsen uns jetzt mit einem Manne etwas eingehender beschäftigen,
nämlich mit Friedrich Nietzsche. Nietzsche gehört mehr der
zweiten Gruppe der Prophetennaturen, also dem künstlerischen Propheten-
t5^us an. Er ist neben Tolstoi wohl der hervorragendste Vertreter der heu-
tigen Übergangsreligiosität ; während aber Tolstoi ein Prophet der Askese
und Entsagung ist, daher im nächsten Abschnitt besprochen werden \vird, ist
Nietzsche ein Prophet des reUgiösen Enthusiasmus, ein Herold des erhöh-
ten, rauschfrohen Menschentums. Man kann mit Hilfe Nietzsches alle Er-
scheinungen der religiösen Gegenwart verstehen lernen, die dem dionysischen
Streben nach Freiheit und Göttlichkeit entspringen. Ich bekenne gern, daß
mir an dem Beispiele Nietzsches noch mehr aufgegangen ist, nämlich das
ganze Problem des Priesters und seiner Bedeutung für die menschliche Kul-
tur. Ohne die langjährige Beschäftigung mit Nietzsches Persönhchkeit,
Nietzsche s Werken und hinterlassenen Handschriften hätte ich weder den
Gedanken, noch den Mut gefaßt, das vorliegende Buch auszuführen.
Nietzsche hat sich selber häufig genug mit der Psychologie des Priesters
befaßt ; meist kam er dabei allerdings zu dem Ergebnis, daß der Priester eine
heillose und verwerfhche Art Mensch sei. Aber er hat trotzdem gefühlt, daß
auch in seinen Adern Priesterblut rollte und daß sein inneres Leben ein be-
ständiger Kampf der revolutionären (prophetischen) Instinkte gegen die
konservativen Priestereigenschaften war, die er in sich trug. Äußerlich
herrscht bei Nietzsche der prophetische Priestertypus vor, wie wir ihn früher
geschildert haben: Nietzsche wollte umstürzen, durcheinander schütteln,
neuwerten. Aber wer ihm nähertritt, spürt bei Nietzsche zugleich ein tiefes
Sehnen nach Maß und Form, eine ehrfürchtige Liebe für das Alte und Ge-
190
regelte, eine lebhafte Freude an Zeremoniell und Würde. Wenn Nietzsche
das zeitgenössische Kirchen- und Priesterwesen haßte und angriff, so wollte
er im Grunde mehr das Christliche daran treffen als das Priesterliche. Sein
prophetischer Anarchismus richtete sich gegen das von den Priestern ver-
kündigte und meist mit unerträglicher Zweideutigkeit verwässerte, christ-
liche Lebensideal. Hinter diesem Kampf aber verbarg sich ein schwererer
Kampf: der Kampf mit sich selber. Wie jeder echte Prophet ging Nietzsche
in die Wüste, in der Hoffnung, den Disharmonien und Qualen seiner Zeit
entweichen zu können; aber er nahm seinen schlimmsten Feind überallhin
mit, und dieser Feind wuchs in der Einsamkeit noch größer, als er vordem
gewesen war. Durch lautes Singen und frohen Festrausch suchte er den
Feind in sich zum Schweigen zu bringen, durch schonungslose Kritik und
bohrende Wahrheitserforschung suchte er sich gegen ihn zu verteidigen.
Nietzsches Prophetie hat daher zwei scheinbar entgegengesetzte Formen
angenommen: harte Anklage und hinreißender Siegesgesang, entsprechend
den beiden Seelenverfassungen, die bei ihm vorherrschten : erhabene Rausch-
stimmung und eisige Nüchternheit. Nietzsche hat sich mit Teufeln herum-
geschlagen wie nur irgendein Heiliger und hat Wonnen der Gotterfülltheit
gekostet wie nur irgendein religiöser Ekstatiker.
In seiner Selbstbiographie ,,Ecce homo" hat Nietzsche von den Zuständen
und Umständen Kunde gegeben, die seinem Zarathustra zum Leben ver-
helfen haben. Diese Darstellung, von der ich hier einen Abschnitt anführen
will, ist allerdings etwas gefärbt ; in Wirklichkeit nimmt sich die Entstehung
des Zarathustra wesentlich normaler und begreiflicher aus, als uns Nietzsche
im Ecce homo glauben machen will (vgl. meine Schrift: Nietzsche als
Moralist und Schriftsteller). Jedoch gehört die agitatorische Übertreibung
und die preisende Selbstbespiegelung, die sich in Nietzsches Ecce homo so
stark geltend macht, mit zu den Symptomen akuter Prophetenbegeisterung.
Die alten Propheten haben sich ebenfalls für Halbgötter gehalten und mit
großer Kunst ihre Menschlichkeiten zu verbergen oder ins Göttliche umzu-
deuten gewußt. Im Ecce homo, der wenige Monate vor dem offenen Aus-
bruch von Nietzsches Paralyse entstanden ist, sind nun freilich deutliche
Spuren der beginnenden Geistesstörung erkennbar; aber das tut wenig zur
Sache, denn die Symptome im Anfangsstadium der Paralyse unterscheiden
sich nur wenig von den Symptomen vorübergehender seelischer Erkran-
kungen; auch eine einfache Neurose kann ähnliche Exaltationen herbei-
führen und infolgedessen Anlaß zur Bildung jener Gedächtnisfälschungen
und Größenideen bieten, die für den angehenden Paralytiker kennzeichnend
sind. Wir erzählten früher, daß der griechische Philosoph Empedokles sich
für einen Gott erklärte und in feierlicher Weise durch die Städte zog; wer
191
will wissen, ob dieser Empedokles bloß ein überreizter Neurotiker, oder ein
vorübergehend Geistesgestörter oder ein unheilbarer Gehirnkranker war?
Nietzsche fühlte sich, nebenbei bemerkt, von Empedokles besonders an-
gezogen ; er wollte ihn in einem Drama behandeln und hat den unausgeführ-
ten Schluß seines Zarathustra in Anlehnung an die Überlieferung kompo-
niert, daß Empedokles sich in den Ätna gestürzt habe, um nur mehr mit
Göttern zu verkehren; ebenso sollte der Sarg Zarathustras in einem feier-
lichen Begräbnisakt von seinen Schülern in den Vulkan gestürzt werden.
Nach diesen Vorbemerkungen wird man den Wert der nachstehenden Mit-
teilungen richtig einschätzen können. Nietzsche schreibt über die Entste-
hung seines Zarathustra im Ecce homo folgendes: ,,Hat jemand, Ende des
neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter
starker Zeitalter Inspiration nannten? Im anderen Falle will ichs beschrei-
ben. Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Tat
die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium über-
mächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offen-
barung in dem Sinne, daß plötzüch, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit,
etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und
umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, — man sucht nicht;
man nimmt, — man fragt nicht, wer da gibt ; wie ein Bhtz leuchtet ein Gedanke
auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern, — ich habe nie eine Wahl
gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einem
Tränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald lang-
sam wird ; ein vollkommenes Außersichsein mit dem distinktesten Bewnißtsein
einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fußzehen ; eine
Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz
wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, als eine notwendige Farbe
innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Ver-
hältnisse, der weite Räume von Formen überspannt (die Länge, das Bedürf-
nis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maß für die Ge-
walt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung).
Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturm
von Freiheitsgefühl, von Unbesiegtsein, von Macht, von Göttlichkeit. Die
Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste ; man hat
keinen Begriff mehr, was Büd, was Gleichnis ist, alles bietet sich als der
nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck an. Es scheint wirklich,
um an ein Wort Zarathustras zu erinnern, als ob die Dinge selber heran-
kämen und Gleichnis sein möchten: ,Hier kommen alle Dinge liebkosend zu
deiner Rede und schmeicheln dir, denn sie wollen auf deinem Rücken reiten.
Auf jedem Gleichnis reitest du hier zu jeder Wahrheit. Hier springen dir alles
192
Seins Worte und Wortschreine auf; alles Sein will hier Wort werden, alles
Werden will von dir reden lernen'."
In diesem Abschnitt hat Nietzsche den erhöhten Zustand der propheti-
schen Begeisterung so treffend und erschöpfend geschildert, wie es vielleicht
nirgends sonst geschehen ist. Alle Kennzeichen des religiösen Rausches hat
er aufgeführt ; die Begeisterung geht sogar beinahe in den religiösen Anfall
mit Bewußtseinsstörung und körperhchen Anomalien über: Nietzsche er-
wähnt Tränenströme, zwangsartige Tanzbewegungen, Überrieselungen,
Halluzinationen. Ob solche Zustände bei ihm häufig eingetreten sind, ob sie
wirklich den angegebenen Grad erreicht haben, müssen wir dahingestellt
sein lassen. Von Halluzinationen ist Nietzsche allem Anschein nach zu ver-
schiedenen Lebenszeiten heimgesucht worden. Dagegen ist die Angabe, daß
er die Form der Gedanken sofort gefunden und nie eine Wahl gehabt habe,
nachweisbar eine Übertreibung, Der Stil des Zarathustra ist das Ergebnis
mühevoller Arbeit, nicht götthcher Eingebung.
In jedem Falle können wir wohl aus dem Auftreten Nietzsches lernen,
daß die Zeiten des rehgiösen Rausches noch nicht vorüber sind. Sie werden
niemals vorübergehen. Die Inspiration wird nie aussterben; sie ist, wie
Nietzsches Beispiel lehrt, nicht an den Glauben gebunden, daß tatsächlich
ein fremder Geist in den Menschen eintrete und durch seinen Mund rede. Das
Wort Inspiration ist die bildhche Umschreibung eines psychologischen Tat-
bestandes. Erlaubt man doch auch den Künstlern, von Inspiration zu reden !
Man erkennt im künstlerischen Schaffen die Inspiration ungescheut als psy-
chologischen Tatbestand an, obwohl niemand glaubt, daß dabei wirldiche
Eingebungen stattfinden und eingebende Dämonen oder Götter beteihgt
sind. Es soU damit nur der erhöhte Zustand bezeichnet werden, in den bevor-
zugte Menschen mitunter geraten und dessen Hauptkennzeichen ein gött-
liches Freiheitsgefühl und eine sehr rege und sichere Gedanken- und Phan-
tasieproduktion ist. In geringerem Grade erlebt jeder Mensch gelegentlich
solche Augenblicke, jedoch pflegt bei unpriesterhchen Naturen dann nicht
die Schöpferkraft gesteigert, sondern nur das Unsichere und WiUkürhche
des gewöhnlichen Zustandes durch ein Gefühl des freien Müssens ersetzt
zu sein.
Was die Künstler betrifft, so hat es Zeiten gegeben, in denen sie von ihren
inspiratorischen Fähigkeiten sehr wenig Aufhebens gemacht und die Kunst-
werke als Ergebnis des Lernens und Arbeitens bezeichnet haben. In anderen
Zeiten, die man Geniezeiten oder Sturm- und Drangzeiten nennt, haben sie
sich mit Stolz auf ihre götthchen Eingebungen berufen. Sie haben dann er-
klärt, das Künstlertum beruhe auf der Gabe, visionäre und akoastische
Rauschzustände hervorrufen zu können, haben sich mitunter sogar zu der
13 Horneffer, Der Priester II ^93
Behauptung verstiegen, daß das Lernen und xA.rbeiten der schöpferischen
Originalität des Künstlers schade: alles müsse aus ihm selber kommen,
daher müsse er jene Rauschaugenblicke abwarten und ihr Eintreten künst-
lich befördern. Der Künstler spricht dann von der ,, Stimmung", von der
alles abhänge, und sieht sich nach Mitteln um, sich in die Stimmung zu
bringen. Man sieht, wie nahe wir hier der uralten Rausch- und Hysterie-
züchtung des Priesters kommen. Auch der Priester hatte nichts Wichtigeres
zu tun, als sich in der Kunst zu üben, die Rauschzustände beliebig hervor-
zurufen, in denen der Geist Besitz von ihm ergriff. Was er in diesen Zu-
ständen zutage förderte, waren untrügHche Offenbarungen, vor denen er und
die ganze Gemeinde sich kritiklos beugten. Ganz ähnlich züchten die Genie-
künstler ihre produktiven Stimmungen und halten die Einfälle, die ihnen
im Zustande der Inspiration kommen, für künstlerische Offenbarungen, an
denen man hinterher nicht ohne Schaden ändern könne.
Welcher Mittel bedienen sich die Künstler zur Erzeugung und Beförderung
des produktiven Rausches? Wir finden auch da die alten priesterhchen
Rauschmittel wieder: Alkohol und Nikotin, erotische Erregungen, Unregel-
mäßigkeit in der Lebensweise, Ernährungsexperimente, Vermeidung des
Schlafes. Ich brauche wohl kaum Beispiele für diese Erhöhungstechnik an-
zuführen. Es ist z. B. bekannt, daß viele ,, Schaffende" bei Nacht arbeiten,
weil ihnen dann bessere Gedanken kommen, wie sie sagen, mit anderen Wor-
ten: weil die körperhche Erschöpfung den erwünschten Erregungszustand
herbeiführt. Auf die Ernährung, zumal den Vegetarismus werden wdr im
Abschnitt über die Entsagung zurückkommen. Wie gern die Künstler die
Liebe in allen ihren Gestalten als Mittel zur künstlerischen Erregung be-
nutzen, ist oft genug erörtert, gelobt, beklagt, entschuldigt worden. Die
erotischen Tänze und Abbildungen der Naturvölker haben schon denselben
Zweck und Erfolg wie die erotische Betätigung der heutigen Künstler ; auch
die Perversionen, die Onanie usw^ hat der moderne Rauschkünstler mit dem
Zauberpriester aller früheren Kulturstufen gemein. Was den Alkohol be-
trifft, so haben zwar neuerdings einige Umfragen dargetan, daß viele Künst-
ler den Rauschtrank meiden oder ihn wenigstens nicht als künstlerisches
Handwerkszeug gelten lassen wollen ; ich vermute aber, daß diese Ablehnung
des altgeheiligten Giftes in vielen Fällen darin ihren Grund hat, daß wir
Modernen zu schwach und zartners'ig sind, um den Gott Alkohol in den
Dienst der Muse zwingen zu können. Es erfordert eine kräftige Nervenver-
fassung, durch Alkoholgenuß erhöht und künstlerisch produktiv zu werden.
Diese hat unsere Zeit nicht, hat sie zum Teil vielleicht dadurch verloren,
daß sie mit dem Alkohol nicht vorsichtig genug mngegangen ist und ihn in
unerhörter Weise mißbraucht hat. Wir kommen auf die Mäßigkeits- und
194
Enthaltungsbewegung der Gegenwart später noch zurück: deren gute Ab-
sichten und segensreiche Wirkungen sollen keineswegs verkannt werden.
Ich wollte hier nur betonen, daß die Beweggründe der Alkoholgegner nicht
immer so ideal sind, wie sie es manchmal hinstellen. Zumal wenn die Künst-
ler und andere nach An- und Aufregung verlangende Menschen den Alkohol
meiden, so hat das meist den Grund, daß sie ihm nicht gewachsen sind und
deshalb anderen Erbebimgsmitteln, z. B. dem Tabak oder dem Kaffee, den
Vorzug geben. Diejenigen, denen der Alkohol wirklich die Sorgen bricht und
Inspirationen schenkt, werden niemals auf ihn Verzicht leisten. Goethe
sprach im höheren Lebensalter dem Alkohol tapfer zu und erzählt dasselbe
von Schiller, der die widerwillige Schöpferstimmung durch Likör herbei-
gezwungen habe. Ferner erzählt Goethe, daß Schiller faule Äpfel in die
Schublade seines Schreibtisches gelegt habe, weil deren Geruch ihn beim
Dichten anregte. Da haben wir eine deutliche Parallele zu den religiösen
Räuchergebräuchen und Gevvöirzopfern. Das Lorbeerkauen der Pythia steht
mit Schillers faulen Äpfeln in einer Reihe.
Nietzsche nimmt dadurch eine so hervorragende Stellung unter den In-
spirierten der letzten Jahrhunderte ein, weü es sif h bei ihm um den religiösen
nicht um den künstlerischen Rausch handelt. Nietzsche ist ein Prophet, ein
rehgiöser Genius; nur ganz nebenbei ist er ein Künstler im engeren Sinne.
Er hat uns die fast vergessene Tatsache wieder in Erinnerung gebracht, daß
die Religion ein Kind des menschlichen Enthusiasmus sein kann und sein
muß, und — was noch wichtiger ist — daß dieser Enthusiasmus nicht auf ein
hysterisches Sektenwesen, nicht auf eine Erneuerung der alten Offenbarungs-
dämonologie hinauszulaufen braucht. Nietzsches Prophetie hält sich auf
der Höhe der griechischen ; sie erwächst aus der Weisheitsliebe und tritt dem
despotischen Priesterglauben entgegen. Viele werden zwar dagegen Ein-
spruch erheben, daß ich Nietzsches Künstlerschaft in den Hintergrund
schiebe : der Zarathustra sei doch zunächst ein großes Kunstwerk. Ich bin
anderer Meinung. Gewiß, wenn man jede Rede und religiöse Predigt in das
Gebiet der Kunst rechnet — wogegen ich nichts einzuwenden habe — , ist
Nietzsche ein hervorragender Künstler; aber die eigenthch dichterischen
Fähigkeiten, nämlich Erfindung und rhythmische Kompositionskraft, besaß
er nur in sehr geringem Maße ; seine Begabung wies ihn durchaus in das reli-
giöse und in das kritisch-psychologische Gebiet. Sein Zarathustra erhält
seinen Wert durch die Prophetengewalt und Prophetenstimmung, die das
Werk durchwehen, nicht durch das dichterische Beiwerk.
Nietzsche hat uns die religiöse Prophetie zurückerobert ! Er hat die Philo-
sophie und die Kunst wieder in den Dienst des religiösen Schaffens gestellt
und ims eingeschärft, daß wir das Heil nur von den religiös-sittlichen Lehrern
13» 195
und gotterfüllten Verkündern erwarten dürfen. Wie die Männer der alten
großen Zeiten sucht Nietzsche die Wahrheit wieder in den Ergebnissen glück-
licher Rauschaugenbhcke, nicht im Grübeln und Rechnen. Er lehrt uns wie-
der, daß der religiöse Mensch der festliche Mensch ist und daß wir nie das
trübe, rehgionslose Wesen der Gegenwart überwinden werden, wenn wir
nicht die Himmelsleiter des religiösen Rausches wiederfinden und ersteigen.
Nicht weniger lehrreich als Nietzsche ist eine andere Persönlichkeit, mit
der Nietzsche nahe verbunden war : Richard Wagner. Wagner gehört
ebenfalls in die Gruppe der Künstlerpropheten, nur daß seine Natur ihm
den Weg zur reinen reügiösen Prophetie versperrte und ihn ganz in das ge-
fährUche Meer der Rauschkunst hineinwarf. Er wollte die fehlende Religion
durch die Kunst herbeizwdngen, kam aber durch diese falsche und unaus-
führbare Idee in die Lage, Kunst und Rausch heillos durcheinander zu
mischen.
Mit allen obengenannten rauschbefördernden Mitteln war Wagner eng
vertraut: Erotik jeder Art, Alkohol, Ernährungsstörungen, Schlaflosigkeit.
Er fügte noch die Rauschwirkung der Kleidung, der Maske, der Farbe hinzu;
er liebte es, sich in historische oder phantastische Kostüme zu werfen und
sogar Frauenkleider zu tragen, hatte auch viele Freude an Seide undSammet.
Er war Schauspieler von Geburt an, wollte immer irgend etwas in Szene
setzen, vor allem sich selber. Wer erkennt darin nicht den priesterlichen
Hang zur Körperlichmachung des Ideals, zur suggestiven Gottesmaske
wieder !
Aber Wagner blieb nicht in den ÄußerHchkeiten des kunstpriesterlichen
Daseins stecken; er drang auch ins Innere, er wollte rehgiös-sittlicher Refor-
mator sein. Seine Kunst sollte eine ,, Mission" erfüllen, nämlich den Zentral-
punkt einer neu zu erweckenden deutschen Kultur abgeben. Mit vollem
Bedacht nahm er jene Stellung für sich in Anspruch, die von jeher die Prie-
ster höchsten Ranges eingenommen haben ; er wollte dieselbe Aufgabe lösen,
die sein Schüler und späterer Gegner Nietzsche als die ihm zugefallene an-
sah. Was Nietzsche zu Wagner hinzog, war im Grunde dies Religiöse in
Wagners Persönhchkeit und Wirken; und was ihn später von Wagner hin-
wegtrieb, war die Erkenntnis, daß Wagner nicht imstande war, die erweckten
Erwartungen zu befriedigen, also dem deutschen Volke die verlorene Reli-
gion durch die Kunst zu ersetzen und eine neue Kultstätte, ein neues Heilig-
tum zu gründen, um das sich die zersprengte Kulturgemeinschaft neu hätte
sammeln können. Nietzsche faßte den Verdacht, daß Wagner nicht nur auf
einem falschen Wege begriffen, sondern überhaupt kein echter Prophet sei.
Er sei ein Cagliostro und Küngsohr, ein verlogener Zauberer; Bayreuth sei
196
kein Heiligtum, sondern ein lüsterner Jahrmarkt ! Um so ernster trat daher
an Nietzsche die Frage heran, wie denn überhaupt eine Religion entstehe?
Was ein Prophet seinem Volke zu leisten und zu geben habe?
Nietzsches Antwort lautete: aus der Wahrheitsliebe muß die Religion
kommen. Wahrheit solle der Prophet geben, vernichtende und zerstörende
Wahrheit, aber nicht künstlerische Gaukeleien. Aus der Wüste müsse man
den verlorenen Gott holen, nicht hinter den bunten Lügen einer romanti-
schen Kunst sei er zu finden. Aus der schonungslosen Kritik und der nihi-
listischen Skepsis müsse und werde sich ein trotziger Lebenswille und eine
erobernde Weisheit emporringen. Dieser Lebenswille schaffe große Gedanken
und große Gedanken schüfen Religion. Nietzsche ging selber daran, reli-
gionsbildende Gedanken zu schaffen und auszusprechen; so wollen seine
Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkunft verstanden
werden.
Wir müssen Nietzsche in dem einen Punkt unbedingt recht geben: die
Kunst kann weder Religion schaffen noch ersetzen. Unsere zeitgenössische
Kunst krankt daran, daß sie diesem unmöghchen Ziele nachjagt. Die Künst-
ler wollen Propheten sein, und zwar mit Hilfe der Kunst. Es ist ja klar, daß
sie mit ihrem feinen Gefühl für die Sehnsucht der Zeit die religiöse Leere
besonders hart empfinden; denn was kann die Kunst ohne religiöse Recht-
fertigung und Begründung leisten? Aber die Religiosität der Künstler bleibt
nur zu oft in der Gefühls- und Phantasiesphäre ; sie ruht nicht auf sittHchem
Untergrunde. Außerdem ist der Künstler nur ausnahmsweise imstande,
nackte religiöse Gedanken und Worte zu finden; davon aber muß die Pro-
phetie unweigerlich ihren Anfang nehmen. Man gehe die hervorragenden
Künstler der Gegenwart und näheren Vergangenheit durch : die meisten be-
wegen sich auf der GrenzHnie zwischen Prophetie und Kunst und ringen
vergeblich um die Meisterschaft in jener oder dieser.
Und das Volk, das sich unbefriedigt von der christlichen Religion und
Kirche abgewandt hat, sucht bei diesen Künstlern Ersatz für das Verlorene,
läßt sich von ihnen aufregen, berauschen, hypnotisieren und hofft darüber
die Leere, die ihm unerträglich wird, zu vergessen. Namentlich die Musik soll
als Lückenbüßer für die fehlende Religion dienen. Die wohlhabenderen
Schichten unserer Stadtbevölkerung sind gänzhch in der Musik ertrunken.
Töne und immer nur Töne saugen sie ein, wenn sie die Tagesarbeit nieder-
gelegt haben und sich erhöhen und befreien wollen. Die Musik nimmt im
Leben des heutigen Menschen der wohlhabenderen Klassen einen unverhält-
nismäßig großen Raum ein, den Raum, den die Religion einnehmen sollte.
Das kommt der Musik als Kunst durchaus nicht zugute, vielmehr ist der
künstlerische Wert der musikalischen Schöpfungen im Laufe des neunzehn-
197
ten Jahrhunderts beständig gesunken ; die Musik wird immer mehr zu einer
Art von Alkohol, der heißhungrig eingeschlürft wird, aber natürlich weder
sättigt noch lebenskräftiger macht. Die Musik wagnerisiert sich! Ein Seiten-
strom der Musik aber verhert sich in den Sumpf der Virtuosität. Auch die
älteren Musikwerke werden durch die Vortragsweise der verirrten religiösen
Sehnsucht des modernen Menschen dienstbar gemacht.
Die religiös darbende moderne Menschheit mtßbraiichi die Kunst und ver-
dirbt die Künstler. Man sieht das z. B. auch daran, wie die Persönlichkeiten
der Künstler, die in guten Zeiten der Kunst hinter den Werken zurück-
treten, heute in den Vordergrund gezerrt werden. Mit brennendem Interesse
verfolgt das Publikum das Leben und Treiben der dichtenden, komponieren-
den, bildenden Künstler, noch aufmerksamer das der Sänger, Kapellmeister,
Virtuosen, Schauspieler, Jedes kleine Ereignis in der Kunstwelt %vird unver-
gleichlich wichtiger genommen als ein großes Ereignis in der geistig-reH-
giösen Welt. Die Zeitungen berichten mit aller Ausführlichkeit über un-
bedeutende Konzerte imd Aufführungen, sie registrieren jedes Räuspern der
bekannteren Musenpriester; aber was die wirkhchen Priester und die gei-
stigen Führer tmd Erzieher der Nation wirken und erleben, wird kaum mit
einer Zeile erwähnt. Höchstens die modernen Sektenführer, z. B, der General
der Heilsarmee, fordern die laute Anteilnahme der zeitunglesenden und
zeitungschreibenden Kreise heraus. Erst ganz neuerdings beginnt eine Wand-
lung einzutreten.
Das alles ist ein luinatürlicher Zustand. Er beweist nicht etwa die Höhe
unserer Kultur, ist nicht einmal das Zeichen wahren künstlerischen Lebens.
Die Künstler geraten durch die Ansprüche, die heute an sie gestellt werden,
in eine falsche Stellung zu sich selber und zur Kunst. Sie wissen dem Drängen
des Volkes nicht anders zu begegnen als dadurch, daß sie sich zu unwahren
Maskenträgern entwickeln und immer stärkere Rauschgaben austeilen. Ihre
Kunst sucht immer raffiniertere Effekte ; nur so kann sie die abgestumpften
Nerven immer neu reizen und die gottsüchtige Welt von der religiösen Not
ablenken. Die beamteten religiösen Führer sehen diesem Treiben ohnmächtig
zu; sie haben längst auf die Leitung der geistig und künstlerisch gebildeten
Schichten verzichtet, weil sie einsehen mußten, daß sie deren rehgiöse Be-
dürfnisse in keinem Sinne befriedigen können. Einige Berufspriester betei-
ligen sich sogar mit ahnungslosem Eifer an der Versorgung unseres Volkes
mit Kunstalkohol, um das Volk den gröberen und gefährhcheren Rausch-
mitteln (Wirtshausleben, Varieteerotik, Schundliteratur) zu entziehen. Die
Absicht ist gut ; aber man denke nur nicht, daß man dadurch unser Volk ge-
sund machen und es zu einer neuen Rehgiosität führen kann. So ungemein
wertvoll es ist, daß die guten Erzeugnisse der Kunst und die Hauptergeb-
198
nisse der Wissenschaft zum Gemeingut aller gemacht werden, so wird da-
durch doch nicht die Arbeit der religiösen Erzieher und prophetischen
Führer entbehrUch gemacht.
Überdies: sehen wir nicht, daß auch die Kunsträusche und wissenschaft-
lichen Freuden unter Umständen verheerend auf den seelischen Organismus
einwirken können? Es ist ein offenes Geheimnis, daß die künstlerisch und
wissenschafthch schlecht versorgten ärmeren Volksschichten heutzutage
mehr männhche Tapferkeit und sittliche Kraft besitzen als die wohlhaben-
deren Kreise, die mit vollen Zügen die Gaben der Kunst und Wissenschaft
einschlürfen. Warum fehlt es heute den zur Führung berufenen Kreisen an
den Charaktereigenschaften, die die rehgiösen Führer älterer Zeiten besaßen ?
Weil diese Kreise sich genießend, empfangend, nachfühlend befriedigen und
die rehgiöse Aktivität eingebüßt haben. Ihre Räusche sind nicht Erhöhungs-
mittel im wahren Sinne, sie leiten nicht in das handelnde Leben hinüber
und wecken nicht die heroische Tat; ihre Räusche sind nur ein frustranes
Sicherregen, ein zielloses Verpuffen von Kraft. Diese Rauschkünstler er-
reichen nicht, was durch den religiös produktiven Rausch erreicht werden
soU: die Befreiung und Vergöttlichung des ganzen Menschen.
Wie aber gelangen wir zu diesem höchsten religiösen Ziel? Wie machen
wir unsere religiös bedürftige Zeit wieder aktiv und produktiv ? — Der Weg
führt über die Askese \ Der Rausch allein erhebt den Menschen nicht; sein
Gegensatz, die Entsagung, muß sich hinzugesellen.
2. DIE ENTSAGUNG iii
Das religiöse Leben zeigte von jeher zwei verschiedene Seiten: die Lebens-
weise des Priesters bewegte sich in Extremen. Einerseits war der Priester
der Mensch des Rausches, der ausschweifende Enthusiast, der sich schran-
kenlos ausbreiten woUte, der in Gefühlen und Phantasien, in Gedanken und
Spielhandlungen schwelgte und durch sie frei und götthch zu werden suchte ;
andererseits war er der Mensch des Entsagens, der büßende Asket, der sich
krampfhaft zusammenzog und einschränkte, der seine Triebe, Wünsche und
Phantasien zu unterdrücken oder au^ ein einziges enges Ziel hin zu lenken
suchte. Wir haben uns soeben überzeugt, daß der enthusiastische Priester-
typus noch heutigen Tages vorhanden ist ; er hat sich zwar aus der Gemeinde-
rehgion geflüchtet und wird von den öffentlichen Priestern als unrehgiös
und gottesfeindhch verfolgt; aber er besteht und beginnt sich neue, wenn
auch nicht immer heilsame Wege des Wirkens zu erobern. Der ,, Geist" kann
nicht sterben; wenn die berufenen ,, Geistlichen" den Geist verleugnen,
199
sucht er sich N\'ürdigere Wohnungen ; er drängt sich, wenn die entartete Ge-
meinderehgion ihn niederhalten will, um so fesselloser hervor: zerstörend
und befreiend. Daraus lernen wir, daß der enthusiastische Priester nie ver-
schwinden wird, daß er heute sogar einer neuen Siegesepoche entgegengeht.
Wie steht es mit dem entgegengesetzten Priestertypus ? Wird auch der ent-
sagende Priester ewig leben, als ein notwendiges Ferment in der mens(h-
lichen Kulturentwicklung? Wird die Rehgion der Zukunft asketische Ele-
mente enthalten, wie sie ohne Zweifel dem menschhchen Rauschwillen
weiten Raum gewähren wird?
Wir rufen uns ins Gedächtnis zurück, welche Gründe die Entsagungsübun-
gen und Entsagungsforderungen des Priesters hatten. Was war es, was die
Völker aller Weltteile und Kulturstufen veranlaßt hat, auf viele Besitz-
tümer, \dele Freuden und Betätigungen des Lebens zu verzichten und in
diesem Verzicht ein religiöses Verdienst imd erstrebenswertes Ziel zu er-
bhcken? Warum hat die Menschheit die düsteren Bußprediger und Unglücks-
propheten nicht verachtet, die hohlwangigen Wüstenheiligen nicht ausge-
lacht? Warum haben jene römischen Richter, die (nach Tacitus) die welt-
und lebensfeindlichen Christen ,,des Hasses gegen das Menschengeschlecht
überführten", so wenig Zustimmung bei der Nachwelt gefunden? Kurz,
warum fanden die Helden der Entsagung allgemeine Verehrung, Anbetung,
Nachfolge in der Welt ?
In unseren früheren Betrachtungen haben wir hauptsächlich drei Gründe
für diese scheinbar widersinnige Wertung ausfindig gemacht. Das Ent-
sagungswesen stützt sich erstens auf metaphysische Gründe, zweitens auf
ethische, drittens auf psychologische. Unter den metaphysischen Gründen
sind die abergläubischen Vorstellungen über den Wert des Zauberkultus zu
verstehen. Die Menschheit glaubte und glaubt zum überwiegenden Teil noch
heute, daß sie durch Opfer, d. h. durch Verzicht auf irgendwelche begehrten
Dinge und durch Hingabe von Besitztümern Zauberkraft und zauberhaften
Einfluß auf Götter und Dämonen gewinne. Die Opfer sichern dem Menschen
die Bundesgenossenschaft dieser Mächte und bewirken, daß sie ihm wohl-
gesinnt und gnädig sind. Wer nichts opfert, ist kein Freund der Götter und
keine zauberkräftige Persönlichkeit.
Diese ganze Vorstellungsweise ist überlebt und wird in der Religion der
Zukunft keine Stelle mehr haben. Wenn der entsagende Priester noch ferner-
hin Daseinsberechtigung haben will, kann er sich daher nur auf den zweiten
und dritten Grund für das asketische Streben berufen. Die Entwicklung der
Rehgionen zeigt denn auch einen allmähhchen Übergang von der meta-
physisch-dämonologischen zu der ethischen Auffassung der Entsagung. Die
Forderung, um der Götter willen zu opfern, wandelte sich in eine sittliche
200
Forderung um. Es stellte sich mehr und mehr heraus, daß Hingabe und Ver-
zicht an und für sich wertvoll sind. Denn durch Hingabe und Verzicht lernt
der Mensch, seine Triebe zu zügeln und der vorsorgenden Vernunft zu ge-
horchen. Durch Fortgeben von Gütern wird man nicht notwendig ärmer,
durch Verzicht auf Genüsse und Betätigungen nicht notwendig schwächer ;
das Opfer kann uns reicher, die Entsagung stärker machen. Denn wir ge-
langen dadurch zur Herrschaft über uns selber; wir lernen unsere Kräfte
richtig gebrauchen, unsere inneren und äußeren Güter ordnen und auf-
sparen. Die Selbstbeherrschung aber führt zur Weltbeherrschung.
Die priesterhchen Entsagungsgebote hatten daher einen von dem reh-
giösen Glauben unabhängigen Wert ; sie waren Mittel zur Vergrößerung des
menschlichen Machtbereiches, waren Anweisungen zur Vervollkommnung,
zur Befreiung und Vergöttlichung, ähnlich wie die priesterlichen Rausch-
rezepte. Und weil der Priester eine größere Entsagimgsfähigkeit hatte als die
übrigen, erkannte ihn die Gemeinde willig als Führer und Gebieter an. Sie
konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß er, der alles hinzugeben ver-
mochte, der den Begierden, die die anderen in ihrem Bann hielten, ein
stolzes Nein entgegensetzte, höher stand als sie alle und zum Führer berufen
war. Was ein solcher Meister der Selbstüberwindung und Selbstentäußerung
sagte, mußte tiefe, unfehlbare Weisheit, mußte Gottes Wort sein. Jeder be-
strebte sich, ihm so ähnlich wie möglich zu werden : sein Leben wurde zum
Vorbild, seine Lehren zu göttlichen Gesetzen.
So kam es, daß die Askese das Mittelstück der priesterhchen Lebensphilo-
sophie wurde. Der Priester war von dem Wunsche beseelt, die Entsagung
weiter und weiter zu treiben, damit der Abstand gegen die weniger ent-
sagungsfähigen Laien möglichst groß blieb. Wir haben früher dargelegt, wie
bedeatungsvoU die priesterliche Vergeltungslehre für die Entwicklung des
ethischen und gesellschaftlichen Empfindens gewesen ist. Diese Vergeltungs-
lehre, d. h. also die Lehre von der im Diesseits und Jenseits belohnenden und
bestrafenden Gottheit, verknüpfte der Priester mit den asketischen Forde-
rungen und schuf dadurch ohne allen Zweifel ein wundervolles unvergleich-
hch wirksames Erziehungs- und Zuchtmittel für das aufstrebende Menschen-
geschlecht. Der Priester richtete eine Rangordnung der Menschen ein, je
nachdem sie willens und imstande seien, zu opfern und zu verzichten; der
höchste Rang der Würdigkeit und Heihgkeit wurde demjenigen zuerteilt,
dessen ganzes Leben und Sein Entsagung war, und der Unheiligste und Gott
Mißfälligste war der, der reich und mächtig war und auf nichts Verzicht
leisten wollte. Damit war der magisch-metaphysische Sinn des Opfer- imd
Entsagungswesens ganz in der ethischen Begründung aufgegangen. Wir
haben feststellen können, daß der Glaube, die Gottheit durch Geschenke
201
bestechen und durch Askese mitleidig stimmen zu können, allmählich einer
tieferen und reineren Vorstellung weichen mußte; vor allem treten die Ge-
schenke, die Rinder und Früchte, gegenüber den geistigen Opfern zurück:
die Kultpflichten verwandeln sich in die Gebote der Weltflucht und der
Nächstenliebe.
Damit erhielt auch der dritte Grund für den priesterlichen Willen zur
Askese erhöhte Bedeutung. Von jeher hatte sich neben dem kultischen und
ethischen Wert der Entsagung der einfache psychologische Wert geltend
gemacht. Von diesem psychologischen Wert der Askese haben wir nun etwas
ausführlicher zu sprechen, da er für die Religion der Zukunft seine volle
Kraft behalten wird: wie aus ethischen, so aus psychologischen Gründen
mrd die Entsagung auch in Zukunft geehrt und geübt werden.
Wenn ein Mensch freiwillig auf Formen der Lust und der Betätigung ver-
zichtet, tut er es auf Geheiß seiner Konstitution. Er will Kräfte aufspeichern,
will Spannungen erzeugen. Gewaltige Entladungen gibt es nur dort, wo ge-
waltige Spannungen vorhanden sind; mit anderen Worten: große Taten,
tiefe Entzückungen, göttlicher Enthusiasmus können nur dann zustande
kommen, wenn Triebe unbefriedigt gelassen worden sind, wenn Kräfte auf-
gestaut, impulsive Äußerungen zurückgehalten und eingedämmt worden
sind. Sobald man einer Regung nicht willfährt, einem inneren Antrieb nicht
gehorcht, entsteht eine seelische Spannung. Das Aufschieben oder gänzliche
Vermeiden von Reaktionen kommt einer Kapitalansammlung gleich.
Es fragt sich nun, warum der Mensch im einzelnen Falle nicht reagiert,
sondern ruht und entsagt. Es geschieht wohl immer deshalb, weil er sich
einer zu großen, daher zerstörenden Anzahl von Reizen gegenübersieht.
Er kann sich dann nur behaupten, wenn er eine Auswahl unter den
Reizen trifft, sich also gewissen Reizen, z. B. der gesamten erotischen
Welt verschließt, um wie der Priester es nennt, sich ausschließlich Gott
zu weihen. Jeder Mensch trifft fortwährend, ohne es zu wissen, eine
Auswahl unter den auf ihn einstürmenden Reizen; jeder opfert und entsagt
unaufhörlich. Die Kunst, die der Mensch verstehen muß und die ihm der
Priester und überhaupt jeder Erzieher (dem Kinde also die Mutter) beizu-
bringen sich bemüht, ist die, die richtige Auswahl zu treffen, an der rechten
Stelle zu verzichten, um den wertvollen Reizen gewachsen zu sein und sich
eine möglichst große Reaktionsfähigkeit zu bewahren. An Stelle von Reak-
tionsfähigkeit können wir auch sagen : Schöpferkraft und religiöse Aktivität.
Die Entscheidung über die Auswahl der Reize ist aber sehr schwierig und
hängt zum Teil von dem Kräftemaß des Einzelnen und des ganzen Kultur-
kreises ab. Ein ermüdetes Volk wählt andere Reize aus und beschränkt sich
auf geringere Reizmengen als ein jugendhch kräftiges Volk. Wenn jemand den
202
Alkohol meidet, kann es entweder deshalb geschehen, weil er sich für wert-
vollere Erregungen und Entladungen bewahren will, oder deshalb, weil er
sich bereits so sehr ausgegeben hat, daß der Alkohol ihn nicht mehr anregt,
sondern vollends zerstört. Der Geschwächte will Ruhe; aber auch der Kämp-
fer vor der Schlacht will Ruhe. So leben die Athleten vor ihrem Auftreten
enthaltsam, ähnhch wie viele Völker vor ihren religiösen Festen. So sparen
gute Frauen ihre Liebesfähigkeit für einen einzigen Mann auf. In diesem
Sinne geübt, hat die Askese großen kulturschaff enden Wert. Was wäre aus
dem Menschengeschlecht geworden, wenn der Priester nicht immerfort ge-
predigt hätte: haltet an euch, verliert euch nicht an kleine Lüste, an das
zerstreuende Weltleben, sondern spart euch auf für große Erregungen und
lenkt den ganzen Strom eurer Kraft in das Bett der ReHgion!
Wir sehen auch an vielen geistig hervorragenden Menschen, daß sie sich
gegen alle ablenkenden Reize verschließen, um sich ganz auf das Eine, Große
zu konzentrieren, dem sie sich gewidmet haben. Sie erscheinen im täghchen
Leben oft schwächer, unelastischer und stumpfer als jene geistreichen Ge-
sellschafter, die jedem Reiz gewachsen, jeder Einwirkung zugänglich, aber
zu angespannter Arbeit unfähig sind.
Die zweite Form der Entsagung: die aus Ermüdung, ist ebenfalls in der
menschhchen Konstitution begründet. Wenn der Geschwächte und Er-
schöpfte Askese übt, folgt er dem Instinkt der Selbsterhaltung und dem
Willen zur Wiederherstellung. Er tut recht, wenn er in die Wüste geht und
seine Lebensäußerungen nach Möglichkeit einschränkt. Er schraubt sein
Lämpchen herab, er lebt geistlich, er träumt und meditiert. Aber offenbar
kann die Entsagung in diesem Falle nicht als ein Verdienst gelten; sie ist
eine Not- und Schutzmaßregel. Wir schätzen auch diesen Asketentypus
nicht gering, aber wir finden ihn nicht besonders verehrungswürdig. Diese
heiligen und unheiligen Weltverleugner und Mäßigkeitsprediger dürfen nicht
verlangen, daß wir ihnen ihre Einschränkung und Entsagung als Heroismus
anrechnen, auch nicht, daß wir ihnen nachfolgen, falls wir nicht dieselbe
Diät nötig haben wie sie. Sie dürfen sich doch auch nicht darüber täuschen,
daß die Askese für sie eine Lustquelle höchster Art ist. Die Einschläferung
der Leidenschaften und Vermeidung starker Reaktionen kann sehr starke
Lustgefühle mit sich führen ; die Reizlosigkeit des Lebens bewirkt eine wun-
dersame Befreiung und Vergöttlichung, ganz ähnlich wie das Übermaß star-
ker Reize, das den Dionysiker zum festlichen Rausch und zur enthusia-
stischen Vereinigung mit Gott führt.
Alle Büßenden und Entsagenden haben von ihrem Drang nach Freiheit
und Reinheit gesprochen. Wovon wollten sich diese Menschen freimachen,
wovon sich reinigen? Sie sagten : vom Leibe und von der Welt, vom Schmutz
203
der Sünde und vom Schlamme der Begierden wollten sie sich reinigen, von
allem Drückenden, Niederziehenden, Hemmenden, von der Last der irdi-
schen Pflichten, von der Prosa des Sorgens und Schaffens sich befreien. Alle
Entsagungshelden haben mehr oder weniger deutlich die ,,Welt", die ,, Be-
gierden", das ,, Sorgen", das Leben und Wirken für den Tag bekämpft und
als Hemmnis der wahren Gottseligkeit angeklagt. Was bedeutet diese selt-
same Stellungnahme gegen die Wurzeln des menschlichen Daseins, dieser selt-
same Haß gegen die wackere, emsige Erfüllung der nächsten und beschei-
densten Lebensforderungen ? Ich kann darin nur den Instinkt kranker und
erschöpfter Vitalitäten sehen, die sich durch Ruhe und Reizlosigkeit regene-
rieren wollen. Wenn der Priester sich von den Freuden und Sorgen des Lebens
rein und frei erhalten will, gesteht er damit doch zu, daß er als Handelnder
und Genießender sich nicht rein und frei zu erhalten vermag. Und wenn er
auch den übrigen Menschen die Welt und ihre Lust verleiden möchte, wenn
er sein göttliches Erzieheramt in dem Sinne ausübt, daß er die Gemeinde
hinweglockt aus dem Leben des Pflanzens und Bauens, des Tanzens und
Spielens, so heißt das doch, daß er nicht stark genug ist, die Menschen diu-ch
das Leben der Tat und der Lust zur Freiheit zu erheben. Wer nichts anfaßt,
wird ja wohl rein bleiben; wer dem Häßlichen und Zwieträchtigen, dem
Schrecklichen und Schmutzigen aus dem Wege geht, wird sich unbeschwert
und unbefleckt fühlen. Aber diese Reinheit hat offenbar einen beschränkten
Wert ; diese Freiheit ist nicht Tapferkeit imd Sieg. Wer in diesem Sinne Ent-
sagung übt und predigt, mag eine zarte und liebliche Himmelspflanze sein,
an der die Kräftigeren und Derberen sich erfreuen können und sollen; er
wird auch in gewissem Betracht vorbildlich, d. h. befreiend und erhöhend
auf die übrigen Menschen wirken, zmnal in solchen Zeiten, wo der Kampf des
Lebens gar zu hart und sieglos, das Heer der Leidenschaften gar zu wild und
fessellos ist. Ebenso wie die gottestrunkenen Rauschhelden müssen wir auch
diese Entsagungshelden in Ehren halten, aber wir müssen auch ebenso vor-
sichtig und zurückhaltend ihnen gegenüber sein. Die Menschheit verdankt
diesen beiden priesterlichen Extremen gleich viel, im Guten wie im Bösen.
Die einen, die sich des Lebens im Rauschüberschwang zu bemächtigen
suchten, die anderen, die sich des Lebens in sanfter Ekstase zu entäußern
suchten — ihnen verdanken wir, daß die menschliche Religion nicht eine
trockene und nichtige Sache geworden ist, sondern ein unerschöpflicher
Quell schöpferischen Lebens.
Die Askese ist dem modernen Menschen anscheinend viel unverständlicher
und unerwünschter als der Rausch. Man muß sorgfältig horchen, ehe man
unter der Oberfläche des heutigen Arbeits- und Genußlebens die Ströme des
204
uralten religiösen Entsagungswillens rauschen hört. Hat man aber erst auf
die asketischen Erscheinungen unserer Zeit achten gelernt, so erkennt man,
daß eine ganz gewaltige, offenbar noch im Anschwellen begriffene Ent-
sagungsbewegung vorhanden ist, der wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit
zuzuwenden haben.
Zunächst wollen wir, um in dem Gedankengang des letzten Blattes zu
bleiben, die Versuche des Pädagogen F. W. Förster erwähnen, die Ent-
sagungspraxis des älteren Christentums gegen die landläufigen Vorwürfe zu
verteidigen und den Wert der religiösen Vergeltungsmoral von neuem ins
Licht zu stellen. Förster geht von richtigen pädagogischen Erwägungen
aus und hat die Unhaltbarkeit des heutigen Freiheitsbegriffes klar durch-
schaut. Er blickt tiefer als viele moderne Pädagogen und Gelehrte. Um so
beklagenswerter ist es, daß Förster gegenüber den alten religiösen Er-
ziehungsmächten die kritische Fähigkeit, die er sonst beweist, gar nicht zur
Anwendung bringt ; vielmehr übersieht er geflissenthch die krankhaften und
gefährlichen Züge des christlichen Entsagungswesens und tritt immer
offener als Herold der kathoHschen Lebensgrundsätze auf. Er hat in seinem
Buche ,, Sexualethik und Sexualpädagogik" den ethischen Wert der Askese
gut auseinandergesetzt, hat die Heihgen des Mittelalters als Freiheitshelden
gefeiert und sie unserer Zeit als Vorbilder vor Augen gehalten. Er hat aber
nicht klar hervorgehoben, daß diese Vorbilder eine krankhafte Ausartung
des religiösen Freiheitsdranges darstellen und daß es nicht unbedingt be-
wunderungswürdig ist, sich in der Weise dieser Entsagungshelden rein und
frei zu erhalten. Diese Heiligen sagten mit dem Freiheitsprediger Jesus:
,,was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme
doch Schaden an seiner Seele!" und gaben diesem Spruch die richtige Dea-
tung: Jesus predigt hier wie überall das Verlassen der Pflichten und die
Flucht zu Gott. Sie retteten sich also; sie brachten sich in Sicherheit; das-
selbe tut Förster heute und möchte uns alle dazu überreden. Leider fehlt
es ihm nur an der Konsequenz, die Jesus und das ältere Christentum hatten.
Förster und seine katholischen und evangehschen Freunde möchten ihre
Seele ins Reich Gottes retten und zugleich doch auch die Welt gewinnen.
Die alten konsequenten Christen wußten sehr wohl, daß das unmöglich sei;
sie verzichteten auf das Gewinnen der Welt — also auf die höchste, stolzeste
Aufgabe des Menschengeschlechts, — damit ihnen das „wahre" Leben nicht
verloren gehe und die „wahre" Aufgabe des Menschen nicht ungelöst bleibe.
Sie fühlten ganz richtig, daß für den echten Christen die Lebenspflichten
nur beschwerende Fesseln, die Lebensfreuden nur Unrat und heidnischer
Frevel seien. Dem Leben zu dienen, um in und durch diesen Dienst die Frei-
heit und Reinheit zu erobern, nach der der Mensch verlangt, schien ihnen
205
sinnlos ; der Weg der Pflicht schien diesen Schwachen und Resignierten dem
Wege zu Gott entgegengesetzt, während für den selbstvertrauenden und
welterobernden Heiden der Weg der Pflicht der geradeste, ja der einzige Weg
zu Gott ist. Diese Schwachen erkannten, daß sie der Welt den Rücken
kehren ^nußten, sich der tatlosen Betrachtung und dem beständigen Gebet
orgeben mußten, kurz, daß sie fliehen mußten, wie es Jesus seinen Freunden
und Anhängern so eindringlich und hinreißend angeraten hat. Jesus predigt
mit klaren Worten, die keine wohlmeinende Verdrehungskunst aus der Welt
schaffen kann, die Loslösung von allen irdischen Banden, die Preisgabe aller
irdischen Aufgaben, das Wegwerfen aller Sorgen, die Flucht in das ,, König-
tum Gottes", in welchem die Ersten die Letzten sein werden und alles eine
sorgenlose und tatenlose Seligkeit atmen wird. Die alten Asketen haben
Jesus und Paulus richtig verstanden, wie auch die älteren Buddhistenmönchc
ihren Meister Buddha richtig verstanden haben.
Möchten doch diejenigen, die sich heute noch (oder wieder) Jünger Christi
nennen, an den W^orten ihres göttlichen Meisters nicht markten und
mäkeln, sondern sie so erfüllen, wie es die gepriesenen Heiligen der früh-
christlichen Zeit getan haben! Dann erst kann ihr Christentum ernstge-
nommen und ihr Anspruch, des Nazareners treue Knechte und Sachwalter
zu heißen, als berechtigt anerkannt werden. Förster ist, was seine Theo-
logie und Christlichkeit anlangt, ein phantastischer Romantiker, der sich
ängstlich die Augen verschließt, nachdem er die Schwierigkeit der von unse-
rem Zeitalter zu lösenden Aufgabe eingesehen hat. Er möchte Christ sein
und bekennt sich doch zugleich zu der unchristHchen Kultur des neueren
Europa. Dieser Selbst Widerspruch macht der Kraft seines religiösen Emp-
findens wenig Ehre. Die modernen Prediger des ,, Alles oder Nichts" wie
Tolstoi, wie die lebenskräftigen Sekten, z. B. die Heilsarmee, beschämen
Förster und andere Freunde des ,,Versöhnens" und ,, Vermitteins" tief
durch Klarheit und Sicherheit ihrer Religiosität.
Alles kommt darauf an, welcher Typus Mensch für den höchsten und voll-
kommensten gehalten wird, was also der einzelne Mensch tun muß, um voll-
kommener und göttlicher zu werden. Das Christentum (und ebenso der
Buddhismus) erklären, daß am höchsten derjenige steht, der es in der Ent-
sagung und Entäußerung am weitesten gebracht hat. Daher wächst jeder-
mann an Vollkommenheit, wenn er seine Entsagungsfähigkeit steigert und
den Verzicht auf die Lebensgüter (Betätigungen und Freuden) weiter und
weiter treibt. Wer für die Kultur arbeitet, wie etwa Goethe oder Bismarck,
ist ein irrender Tor im Vergleich zu dem bedürfnislosen, trieblosen, willen-
und gedankenlosen Anachoreten. Wer es ernst mit seinem Heile nimmt,
gibt, so lehrt Jesus, seine Habe den Armen und folgt dem Prediger der sorg-
206
losen Gotteskindschaft nach. Alles was er sonst treibt, und seien es die edel-
sten und größten Dinge, führt ihn vom rechten Wege ab und läßt ihn das
Eine versäumen, das not tut. Von dieser Lehre Christi hat sich Europa
Schritt für Schritt entfernt ; die Kirche hat ihr Freiheitsideal allgemach um-
modeln müssen, bis es sich in sein Gegenteil verkehrt hat : die heutigen Chri-
sten predigen und leben im Namen Jesu ein heidnisches Tatideal, das den
Lehren des Neuen Testaments in allen entscheidenden Punkten widerspricht.
Es verlohnt sich, auf einige Etappen des Weges, den die christliche Kirche
im Kampfe mit dem Entsagungsideal ihrer Stifter zurückgelegt hat, hinzu-
weisen. Schon früh erhob sich der Unwille der schlechteren Christen gegen
die heilige Tagedieberei der Frommsten. Die Mönche wurden mehr und mehr
zur Arbeit angehalten (also dem beständigen Warten auf den Herrn und
dem asketisch-ekstatischen Gottesdienst entzogen) ; sie mußten pflanzen und
schaffen, lernen und lehren: die Klöster begannen sich selber zu erhalten.
Als dann Luther auftrat und die christliche x\skese zum größten Teil be-
seitigte, mußte auch die alte Kirche neue Zugeständnisse machen. Es fand
sich ein Mann, der eine geniale Verbindung zwischen christlicher und heid-
nischer Lebensauffassung schuf: Ignatius von Loyola, der Begründer des
Jesuitenordens. Die Gesellschaft Jesu ist wie der Protestantismus ein Misch-
gebilde aus Christentum und Heidentum. Das Mönchswesen wurde von
Ignatius gründlich umgestaltet, die untätige Entsagung samt den Versen-
kungs- und Vergöttlichungsübungen eingeschränkt. Der Jesuit sollte in
erster Linie ein Soldat, ein Eroberer der Welt sein. Es wurde also ein heid-
nischer Grundtrieb, nämlich der Kampftrieb, gegen den Jesus und die alten
christlichen Lehrer unermüdlich geeifert hatten, als berechtigt anerkannt und
gepflegt. Der höchste Mensch war nun nicht mehr der sanfte, friedliche, alles
duldende Entsagungsheld, sondern der gewandte und unermüdliche Gottes-
streiter. Den zweiten heidnischen Grundtrieb verdammte Ignatius jedoch
um so mehr, nämlich den Geschlechtstrieb mit allem, was aus ihm folgt:
der Liebe zur Familie, zu Eltern und Verwandten, zur Heimat und zum
Volke. Der wahre Christ hat keine anderen Gehebten als Jesus und Maria,
keine andere Familie als den Orden imd die Kirche, keine andere Heimat als
das jenseitige Reich Gottes.
Und noch eine dritte Entsagungsforderung behielt Ignatius bei und
schärfte sie seinen Söhnen mit Klarheit und Härte ein : den Verzicht auf das
eigene Denken und Wollen. Fromm und heilig ist nach christhcher Anschau-
ung nur derjenige, der seine Vernunft ohne jeden Vorbehalt unter die Weis-
heit der Bibel und der kirchlichen Oberen beugt. Absoluter Gehorsam und
methodische Zerstörung der eigenen Entschlußfähigkeit sind die Vorbedin-
gungen, um zu Gott, d. h. zur Freiheit und Reinheit zu gelangen. Wir haben
207
hier ein schönes Beispiel für das enge Verhältnis zwischen Askese und Frei-
heitsdrang; nur wer sich selbst preisgibt, wer jede Menschenwürde verliert
und sich zum Sklaven und Automaten erniedrigt, wird, so lehrt dies Christen-
tum, frei und göttlich. Das ist ein prachtvolles Paradoxon. Wie tief läßt uns
der Jesuitismus in die Geheimnisse und Abgründe des menschlichen Ver-
göttlichungsstrebens blicken! Wieviel einheitlicher und psychologisch
wahrer ist trotz seiner Konzessionen an das Heidentum der jesuitische Katho-
lizismus als der Protestantismus mit seiner form- und farblosen Lehre von
dem Glauben an das Buch der Bücher! Im Protestantismus ist alles das
groß und echt, was er gegen die christlichen Grundsätze geschaffen und er-
kämpft hat, während im Katholizismus alles das groß ist, was er von dem
alten christhchen Erbe gerettet hat und in Ehren hält.
In späteren Abschnitten haben wir über diese Frage weiterzuverhandeln.
Jetzt wollen wir fortfahren, das Leben der Gegenwart und ihr Verhältnis
zu dem priesterlichen Entsagungswillen zu prüfen. Wir sagten schon, daß
der moderne Mensch anscheinend nichts von Entsagung hören mag. Er will
sich ausleben, aber nicht sich kasteien, will Macht, Ehre, Reichtum gewinnen,
aber nicht die Dornenkrone dessen tragen, der sein Leben hingab für die
Sünden anderer. Das religiöse Bedürfnis äußert sich heute, wenn man ober-
flächlich hinschaut, weit mehr in der Form des Enthusiasmus als in der Form
der Aufopferung und Selbstbeschränkung. Der moderne Mensch sucht die
Freiheit in allerhand erregenden Veranstaltungen: in der Rauschkunst, in
alkoholischen und erotischen Freuden; er gibt sich ferner dem Genuß der
schönen Natur hin, er reist in die Feme und erobert die Luft. Alles das sieht
nicht nach Entsagung und Einschränkung aus.
Aber trotzdem findet doch auch die Predigt derer, die Verzicht und Verein-
fachung fordern, immer mehr Anhänger. Überall sehen wir Propheten auf-
stehen, die die Abkehr von den Kulturgenüssen und die Rückkehr zu dem
,, naturgemäßen" Leben predigen. Sie suchen den Zeitgenossen den Alkohol
und Tabak zu verleiden, sie kämpfen für eine ,, reizlose" Kost, ferner für
Abhärtung und Nacktkultur, für Abschaffung des Krieges, des Staates, des
Geldes und aller Ungleichheit unter den Menschen. Sie wollen das gesamte
Leben ,, reformieren" und dadurch die Genußsucht und Erwerbssucht samt
allen anderen Erscheinungen unserer ,, unnatürlichen" Kultur beseitigen.
Manche von diesen Propheten sind bekehrte Weltmenschen, die an dem
Leben, das sie jetzt verdammen, regen Anteil genommen haben, bis sie ihr
Damaskus erlebten. Der berühmteste unter diesen Bekehrten ist Graf Leo
Tolstoi. Tolstoi, der reiche, rühm- und kindergesegnete russische Schrift-
steller, wurde zum Führer der modernen Entsagungsbewegung. Er widerrief
208
sein Weltleben und predigte Armut und Keuschheit, fromme Einfalt und
christliches Mitleid ; wir sollen uns von allen hemmenden und drückenden
Gewalten losmachen, sollen rein und unschuldig werden wie die Kinder und
die Tiere. Es gibt heute ein große Zahl ähnlicher Propheten in allen Kultur-
ländern. Viele gehen nicht so weit wie Tolstoi, viele beschränken sich mit
ihrer Entsagungspredigt auf eines oder wenige Gebiete. Sie alle pflegen be-
wundernd und sehnsüchtig von der „Natur", zu der wir zurückkehren sollen,
zu sprechen; sie alle kämpfen gegen die Stärke und Fessellosigkeit des mo-
dernen Geistes- und 'J riebiebens an. Auch werden sie alle von reUgiösen Ge-
fühlen und Absichten geleitet, selbst wenn sie niemals von Religion reden oder
sie verächthch als eine überwundene Kulturerscheinung zur Seite schieben.
Diese Propheten finden sich in den Lagern der Vegetarier, der Natiurärzte,
der Erziehungsrevolutionäre ; aber es gehören auch viele soziale Neuerer, die
Anarchisten, ferner die Erweckungschnsten, Spiritisten usw. dazu. Sie alle
haben das Gemeinsame, daß sie bewußt oder unbewußt gegen die bestehende
Gemeindereligion und das von dieser Gemeindereligion anerkannte und ge-
schützte sittliche, soziale, künstlerische, gesundheitliche Volksleben Protest
erheben. Von der Durchführung ihrer reformatorischen Forderungen er-
hoffen sie eine Befreiung und Erhöhung der Menschheit, einen idealen Glücks-
und Friedenszustand; Jesus würde sagen: sie erhoffen die Aufrichtung des
Reiches Gottes, den Anbruch der göttlichen ^Weltherrschaft. Unsere Pro-
pheten wissen die glückliche Zukunft mit Begeisterung zu schildern ; einige
haben die ganze düstere Leidenschaft der fanatischen Asketen, die wir aus
der Religionsgeschichte kennen. Fanatismus und Proselytenmacherei sind
heute nirgends so zu Hause, wie bei den Lebensreformem und den rehgiösen
Sektenanhängern, die einander auch sonst sehr nahestehen. Wir haben im
ersten Abschnitt die Sektenbewegung als Ausfluß des Rausch- und Aus-
schweifungswillens charakterisiert; aber das ist nur ihre eine Seite. Die
ernsteren Sekten tragen zugleich asketischen Charakter und erheben sich, wie
man namentlich an der Heilsarmee, aber auch an den russischen Sekten
sieht, zum echten religiösen Heroismus.
Die Lebensreformer geben ihnen, was Fanatismus und Heroismus anlangt,
nicht viel nach. Diese Leute treibt wirkhch der ,, Geist", wenn auch kein
sehr intelligenter und wohl auch kein heiliger Geist. Sie haben im einzelnen
oft richtige Gedanken, vor allem ist ihr Gefühl richtig, daß unserem heutigen
Leben Reformen dringend not tun. Nur übersehen sie, ähnlich wie die wag-
nerischen Kunstfreunde, daß man das Leben nicht von der Peripherie her
erneuern kann : die Religion läßt sich ebensowenig durch entsagende Lebens-
künste wie durch Musik und Theater, oder auch durch die Wissenschaft er-
setzen. Sie dringen nicht zum Zentrum durch. Mit dem Worte Natur läßt
14 Horneffer, Der Priester II 20^
sich religiös nicht \nel anfangen, weil es zu nebelhaft und vieldeutig ist.
Zwar sind die Sozialisten im Besitz einer wirklichen religiösen Idee; aber
leider mußte sich diese Idee — der Zukunftsstaat — mit fortschreitender
Erkenntnis mehr und mehr verflüchtigen; sie enthüllte ihre Unbrauchbar-
keit und wairde zur agitatorischen Phrase. Die ganze große Bewegung, die
eine Umformung unseres individuellen und sozialen Lebens im Sinne der
Einfachheit, Mäßigkeit, Gleichheit und Freiheit durchsetzen will, muß heute
als gescheitert gelten, falls sie sich nicht auf einzelne sehr nützliche und
segensreiche Reformen zurückgezogen hat. Sie hat nichts Ganzes durchsetzen
können, so wenig wie die von Wagner angefachte künstlerische Bewegung.
Nach den rein praktischen, sei es nun hygienischen oder wirtschafthchen
Erfolgen der Lebensreformer haben wir hier nicht zu fragen ; wir haben es
nur mit dem religiösen Wert und Erfolg ihrer Bestrebungen zu tun und dieser
ist gering : es konnte und kann ihnen auf keine Weise gelingen, das Leben des
heutigen Menschen \nrklich zu erhöhen und an die Stelle der unzulänghchen
GemeindereUgion etwas Besseres zu setzen.
Da es unmöglich ist, die Bestrebungen aller modernen Xaturapostel,
Diätpropheten und sozialen Heilande in Kürze zu besprechen und nach
ihrer rehgiösen Bedeutung zu forschen, woUen wir uns auf einen besonders
wichtigen Zweig des heutigen Reformwesens beschränken, nämlich auf die
Emährungsreform. Der Vegetarismus ist eine religiös asketische Bewegung.
Inwiefern? Zunächst diu*ch die zwei Gründe, die er für seine Diätverord-
nungen anzugeben pflegt : der Mensch müsse die höheren Tiere als seine un-
mündigen Brüder schonen, und der Mensch müsse starke Reize vermeiden.
Der erste Grund ist moralischer und metaphysischer Art, auch wenn man die
Seelenwanderungslehre aus dem Spiel läßt. Der zweite Grund stellt den Vege-
tarismus in eine Reihe mit den Enthaltungsvorschriften aller früheren Reli-
gionen. Wena die Vegetarier eine reizlose Kost für die natürliche und allge-
mein erstrebenswerte Ernährungsweise erklären, wenn sie das Fleisch des-
halb verbannen, weil es vorzugsweise ein erregendes Genußmittel und nur
nebenher auch ein Nahrungsmittel sei — Alkohol und Tabak werden von
den Vegetariern meist noch strenger abgewiesen als das Fleisch, was durch-
aus logisch ist, da sie weit schärfere Rauschmittel und für die Emälirung
noch unwesentlicher sind — , so entspricht das genau den asketischen Diät-
maßregeln der alten Priester. Der Priester hat der Reihe nach aDe starken
Reize und Erregungsmittel verurteilt und sich ihrer enthalten. Wie wir ge-
sehen haben, ist der Priester trotzdem nicht genußarm und genußfeindlich
geworden, sondern im Gegenteil: die Ablehnung gröberer Genüsse hat ihn
für die feineren um so empfänglicher gemacht; seine ,, Heiligkeit" bestand
darin, daß er entlegenere Reizmittel suchte oder die lustvoUe Wirkung der
210
gänzlichen Ruhe und Reizlosigkeit genoß. Ähnlich ist es mit den Vegetariern
und Naturfanatikern. Wenn diese uns entgegenhalten, daß bei ihnen von
Askese nicht die Rede sei, daher der Vegetarismus auch mit der Religion
gar nichts zu schaffen habe, so fassen sie den Begriff der Askese zu eng. Das
unangenehme Gefühl, etwas Erwünschtes zu entbehren, braucht der Asket
keineswegs zu haben. Der Wille zur Ruhe oder zu feineren Genüssen — der
Priester sagte: der Wille zur Einheit mit Gott oder das Verlangen nach
himmlischen Freuden — kann seinen Geist ausschließhch beherrschen.
Dieser Wille trägt asketisch religiösen Charakter, und wenn die Freunde der
,, naturgemäßen Lebensweise" sich genau prüfen, müssen sie zugeben, daß
dieser Wille in ihnen sehr lebendig ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß
eine reizarme Kost und Lebensweise die Sensibilität erhöht. Der Vegetarier
bringt seine Lebensgeister durch Obstsäure ebenso heftig in Wallung wie
andere durch Alkohol ; er berauscht sich durch Duschen, Sonnenbäder und
dergleichen so gut wie andere durch Trink- und Rauchgelage. Er hat gewiß
recht, wenn er seine Reizmittel für unschuldiger und ungefährHcher erklärt;
aber ob er uns seine Lebensweise ohne weiteres als die natürliche und für alle
erstrebenswerte anpreisen darf, ist recht zweifelhaft. Denn die menschliche
Kultur und ihre Errungenschaften, deren sich auch die Naturfanatiker er-
freuen, sind zum großen Teil die Frucht überstarker Reize und gefährlicher
Lebensweisen. Wir erwähnten früher die biologische Tatsache, daß jeder
Reiz, der die lebendige Substanz trifft, als ein Angriff auf dieselbe und als
eine Schädigung zu gelten habe. Aber der Reiz ruft eine produktive Reaktion
hervor und stachelt die Zelle, beziehungsweise den Organismus zu befreien-
den Taten an. Je stärkere Reize ein Organismus mit befreienden Taten zu
beantworten vermag, desto stärker ist er. Alles von außen Aufgenommene,
das er sich einverleiben oder das er als Ansporn verwerten kann, macht ihn
größer und widerstandsfähiger. Daher zeigt uns denn auch die Geschichte
der Menschheit, daß unser Geschlecht von jeher nach starken Reizen ver-
langt hat und unter Führung der Priester und der welthchen Eroberer be-
ständig neue und reichere Reizquellen aufgesucht hat. Unter Hintansetzung
des Lebens und unter Verlust des seeUsch-leiblichen Gleichgewichts haben
alle starken Völker und Zeiten nach Erhöhung und Vergöttlichung durch
übermächtige Reize gestrebt; sie wollten den Rausch, mußten ihn wollen,
weil der Rausch ihnen die Pforten in eine freiere und stolzere Welt öffnete.
Jedoch kamen Zeiten, wo die Kraft nicht mehr vorhanden war, heftige
Reize produktiv zu verwerten. Die geschwächten Organismen reagierten auf
die Angriffe und Anfeuerungen nicht mehr mit Lustgefühlen und Leistungs-
steigerung, sondern mit Unlust und Erschlaffung. Dies Nachlassen der
Reaktionsfähigkeit äußerte sich am stärksten bei den Vorkämpfern und vor-
14* 211
geschobenen Posten der Kultur ; das waren die Priester. Infolgedessen wur-
den die Priester und priesterlichen Naturen allerart zu Herolden eines reiz-
ärmeren Lebens, womöglich eines völlig reizlosen Traum- und Nirwanalebens.
Sie verkündigten dem übersättigten und doch hungrigen Menschen : daß das
,, Glück" (d. h. die Rauschlust) und die „Vollkommenheit" (d. h. die Har-
monie von Gefühl und Handlung) allein durch den Verzicht auf die starken
Reizquellen erreichbar sei. Nur der sanfte, friedliche, stille Mensch gelange
zu Gott, nicht der wilde, gewcdttätige, dessen Leben ein Spiel gewaltiger
Kontraste, d. h. krampfhafter Spannungen und explosiver Entladungen sei.
Die Priester hatten subjektiv recht, aber nicht objektiv. Vor allem verkann-
ten sie, daß auch der sanfteste Idealmensch durch Reize und deren Abwehr
und Verarbeitung lebt. Ebenso verkennen unsere Vegetarier, daß der be-
dürfnislose Naturfreund nicht weniger nach den Wonnen des religiösen
Macht- und Freiheitsrausches verlangt, als der blut- und giftdurstige , .Beef-
steakesser". Er wählt nur einen anderen, seiner Konstitution und seinem
Lebensgefühl entsprechenden Weg.
Fast alle prophetischen Naturen unserer Zeit, samt ihren Anhängern und
näheren oder ferneren Verwandten haben mit dem Vegetarismus Bekannt-
schaft gemacht und sich mit Diätexperimenten allerart beschäftigt. Schon
dieser Umstand ist hinreichend, den religiösen Zug in den Bestrebungen der
Lebens- und Ernährungsreformer zu erweisen. Ich erwähne z. B. Wagner
und Nietzsche. Bei Nietzsche, der jahrelang vegetarisch gelebt hat, kann
man deuthch beobachten, wie nahe sich der Wille zur Ausschweifung —
den Nietzsche nur im Denken und Phantasieren betätigte — mit dem
Willen zur Entsagung berührt. Der Gegensatz ist anscheinend unüberbrück-
bar und doch geht in der Praxis beides, Askese und Rausch, fortwährend
ineinander über. Eines setzt auch das andere voraus, wie wir in dem Ab-
schnitt „Erregung und Betäubung" sahen, und ist gleichsam nur eine andere
Erscheinungsform derselben Sache.
Nietzsche huldigte auch der berühmten Fastentheorie Cornaros, nach
welcher nicht nur eine Beschränkung auf vegetabilische Nahrung, sondern
auch eine Beschränkung der Nahrungsmenge heilsam ist. Wie die alten Prie-
ster verkündigt diese verbreitete moderne Richtung: je weniger ein Mensch
ißt, um so gesunder, um so besser, höher, gottähnlicher ist er. Das — leider
unerreichbare — Ideal lautet: den Nahrungstrieb gänzlich zum Schweigen
zu bringen, damit das ,, Viehische" im Menschen sterbe und allein das Gött-
liche am Leben bleibe. Wir haben zur Genüge kennen gelernt, wie weit die
alten asketischen Heiligen in der Erfüllung dieses Fastenideals gekommen
sind, haben auch dargetan, daß sich durch Nahrungsbeschränkung und Nah-
rungsenthaltung wundervolle religiöse Rauschwirkungen erzielen lassen.
212
Erstens ist die Zeit des Fastens selber von religiös verwendbaren Gefühls-
regungen und Gedanken erfüllt, zweitens ruft die Wiederaufnahme der Nah-
rungszufuhr Wonne- und Kraftgefühle hervor, auch wenn der Fastende nur
die bescheidenste Mahlzeit, z. B. ein wenig Obst, zu sich nimmt. Es ist daher
kein Wunder, daß in allen Epochen akuter Religiosität das Evangehum des
Fastens und — last stets damit verbunden — der geschlechtlichen Enthal-
tung gepredigt wird.
Vielleicht darf ich hier einen wunderlichen Vertreter des Fastenideals er-
wähnen, der zwar nicht ernstgenommen werden darf, aber eine lobenswerte
Konsequenz, wenigstens in seinen Worten, an den Tag legt. Ich meine den
in Vegetarierkreisen bekannten August Engelhardt, der auf der Insel
Kabakon im Bismarckarchipel lebt und in Schriften und Gedichten dafür
eintritt, daß ein wahrer Mensch nur von Kokosnüssen leben und nackt in
der Tropensonne liegen dürfe. Alle andere Nahrung sei Schmutz, die ganze
Lebensweise der Kulturmenschheit sei eine Beleidigung gegen die Sonnen-
natur des Menschen. Natürlich soll man auch von den Kokosnüssen so wenig
wie möglich essen, Engelhardt gibt ein Blättchen heraus mit dem Titel:
,,Für Sonne, Tropen und Kokosnuß, Zeitschrift für den Gottesdienst der
Tat und für die Unsterblichkeit! Organ des Sonnen-Ordens, Äquatoriale
Siedlungs-Gesellschaft auf Kabakon und des internationalen Kokovoren-
bundes." Das Ausrufungszeichen hinter ,, Unsterblichkeit" ist nicht von mir
hinzugesetzt, sondern steht mit auf dem Titel. Die Gedichte und Darlegun-
gen in dieser Zeitschrift und Engelhardts sonstige Veröffenthchungen
sind kindisch, sein Anspruch, Held und Erretter unseres Zeitalters zu sein,
ist komisch; aber niemand kann den religiösen Charakter und die ernste
Seite dieser Diätprophetie verkennen. Auch die Selbstüberhebung Engel-
hardts ist ein Zug, der bei allen Propheten, ausschweifenden und asketi-
schen, wiederkehrt. Die vernünftigeren Verfechter der naturgemäßen Lebens-
weise halten sich zwar nicht für Heilande, aber ein wenig Selbstverblendung
und fanatischer Dünkel läuft auch bei ihnen nicht selten mit unter. Minde-
stens sind sie den Gegenargumenten gegen ihre Reformen nur wenig zugäng-
hch, ein Beweis, wie eng ihre Ideale mit ihrer persönlichen Konstitution
und ihren religiösen Bedürfnissen verknüpft sind.
Bei Nietzsche wie bei vielen anderen ist später eine Reaktion gegen das
Ideal des reizlosen Lebens eingetreten. Manche finden sich allmählich,
manche plötzhch wie durch einen Bekehrungsakt, zu den kräftigeren Lebens-
reizen zurück und meist steht damit auch eine Änderung ihrer religiös-
sittlichen Anschauungen und ihres schriftstellerischen und bürgerlichen Cha-
rakters in Zusammenhang. Es ist klar, daß eine beruhigende, die schwäche-
ren Reize bevorzugende Lebens- und Ernährungsweise nicht ohne Folgen
213
für die geistigen Lebensäußerungen eines Menschen bleiben kann, und es
ist ein Beweis für die Vertiefung des religiösen Gefühls in unserer Zeit, daß
wieder \ne in alten Zeiten Diät und Religion, Leben und Lebensziel in un-
mittelbare Wechselwirkung zueinander treten.
Die Freunde des Fastens und der reizarmen Kost wollen es meist nicht
zugeben, daß ihre Lebensweise ein Anzeichen geschwächter Widerstands-
kraft und eine Art Schlaf- und Krankheitsdiät sei. Sie führen als Gegenbe-
weis an, daß wenig essende Vegetarier große Sportsiege erfechten und in
Dauermärschen, Radrennen, Hochtouren usw. Hervorragendes leisten; also
könne man doch mit dürftiger und reizarmer Kost mehr erzielen als mit
reichlicher und stark anregender Kost. Auch die künstlerische und philo-
sophische Produktivität kann zweifellos eine Zeitlang durch jene Lebens-
weise gesteigert werden. Dem gegenüber ist aber zu betonen, daß es sich in
allen diesen Fällen um Rauschleistungen handelt, die deutlich den Charakter
des Übertriebenen und Krankhaften tragen. Wie wir an den alten Priester-
asketen gesehen haben, kann sich ein halb Verhungerter nicht bloß zu won-
nigen Freiheits- und Gottheitsgefühlen erheben, sondern kann produktive
Phantasie- und Verstandesorgien feiern und eine gesteigerte Bewegungs- und
Muskelkraft entwickeln. Allerdings sind alle diese Mehrleistungen zeitlich
beschränkt und ziehen Erschöpfungszustände nach sich, wenn die Erschöp-
fung sich auch erst nach Jahren oder wie bei manchen Alkoholikern erst
bei der folgenden Generation bemerkbar macht. Die Vergangenheit Uefert
uns für erstaunliche Leistungen Geschwächter nicht weniger Beispiele als
die Gegenwart. Wie einige unterernährte Geisteskranke in der Erregung
Riesenkräfte bekommen, so vollbringen die Naturvölker nach aufreibenden
Fastenzeiten unglaubhche Tanzleistungen; und ebenso hören wir, daß
manche belagerten und notleidenden Heere plötzlich in einen Berserker-
zorn geraten sind und ihre weit stärkeren und wohlgenährten Belagerer,
vor denen sie sich lange gefürchtet, wie Hasen vor sich hergetrieben haben.
Prophetische Agitatoren pflegten dann die Rauschstimmung anzufachen und
das Volk mit sich zu reißen, so daß es in unwiderstehlichem Machtbewußt-
sein Taten vollbrachte, die es in normalem Geistes- und Leibeszustande nie-
mals hätte vollbringen können.
WIM
3. WILLE ZUR NORM H
Wir machen nunmehr den Versuch, aus den Darlegungen der beiden ersten
Abschnitte das Zukunftsideal herauszuschälen, dem unsere Zeit nur halb
bewußt zustrebt. Alle Bedingungen für eine Erneuerung des religiösen
214
Lebens sind gegeben, von Jahr zu Jahr nimmt der Anteil des Volkes an den
religiösen Fragen im engeren Sinne zu und vvir haben soeben gesehen, daß
sich auch das Erwachen der alten rehgiösen Extreme in deutlichen Anzeichen
verrät. Alle Gefühle, alle religiösen Sinnes- und Lebensweisen der Vergangen-
heit feiern ihre Auferstehung; prophetische Typen jeder Art finden Gehör
und Anhängerschaft. Die kühlen und unrehgiösen unter unseren Zeitge-
nossen schauen dem allen mit Verwunderung und Abneigung zu ; sie erheben
ihre warnende Stimme und möchten das erwachende religiöse Leben durch
Wort und Tat unterdrücken.
Und haben sie nicht recht ? Zeigt sich nicht allenthalben das Krankhafte
und Gefährliche des religiösen Wesens ? Sind nicht die enthusiastischen Pro-
pheten auf der einen Seite, die Entsagungspropheten auf der anderen Seite
bedrohliche Wetterzeichen, die den Fortbestand und die stetige Fortent-
wicklung des europäischen Kulturlebens in Frage stellen? Sind sie nicht
Krankheitssymptome? Wäre es nicht geraten, zu jedem denkbaren Mittel
zu greifen, um die ,, religiöse Krankheit" schnell wieder zum Verschwinden
zu bringen, ehe sie noch den ganzen Volksorganismus gepackt und in ihren
Bann gezogen hat?
Die früheren Betrachtungen haben uns gelehrt, daß die Religion von jeher
mit Krankheitserscheinungen allerar t eng verknüpft gewesen ist. Die reli-
giösesten Menschen und Zeiten standen von jeher unmittelbar an einem Ab-
grunde. Der Wille zur Selbstzerstörung durch Erregung und Betäubung,
durch Rausch und Askese war in diesen Menschen und Zeiten mächtig und
forderte unzählige Opfer. Soll dieser Wille auch heute wieder zum Siege ge-
langen ? Soll Europa den ausschweifenden und den t5a-annischen Menschen,
die sich beide als Herolde der Freiheit und der Natur anpreisen, die Führung
übertragen, nachdem den Vertretern der bisherigen Gemeinderehgion die
Zügel entfallen sind?
Um die Antwort auf diese Fragen zu finden, müssen wir uns noch einmal
die krankhaften Züge des Priesters vor Augen führen und uns seinen bis-
herigen Einfluß auf die seelische Gesundheit der Menschheit klarmachen.
Wir nehmen dabei beständig auf die Gegenwart Bezug und knüpfen an die
Ausführungen über die moderne Erhöhungs- und Entsagungsbewegung an.
Der Kern des priesterhchen Entsagungsstrebens war und wird bleiben:
die sexuelle Entsagung. Jeder konsequente Prediger des Verzichtes und der
Reizeinschränkung in den ältesten wie in den jüngsten Zeiten hat sich mit
den erotischen Dingen beschäftigt und entweder völlige Enthaltsamkeit oder
Mäßigkeit gefordert. Der sexuelle Trieb ist nun einmal die stärkste Lust-
quelle des Menschen und das geeignetste Objekt für den entsagenden Herois-
mus, zugleich auch der Ausgangspunkt einer großen Zahl von krankhaften
215
Zuständen und Abimingen von der Norm. So drückend und gefährlich der
vom Priester geforderte und geübte Verzicht auf Nahrungs- und Genuß-
mittel, auf Bequemhchkeiten allerart, auf die Gesellschaft der Menschen,
auf den Schlaf und nicht zum wenigsten auf die Selbständigkeit des Denkens
und \\'ollens war, so bleibt doch der Verzicht auf die erotische Befriedigimg
immer der schwerste und unnatürlichste. Es ist kein Zufedl, daß die katho-
lische Kirche gerade an dieser asketischen Forderung festgehalten hat und,
wie ich überzeugt bin, auch festhalten wird, solange sie ihren Idealen treu
bleibt. Wir nehmen hier den Ausdruck: erotische Befriedigung, wieder im
weitesten Sinne, verstehen also nicht nur die geschlechtliche Betätigung
darunter, sondern auch die Familiengründung, den Zusammenhang mit der
Sippe, mit Heimat und Volk. Mit der Proklamierung des geschlechtslosen
Lebens als des höchsten Ideals hat der Priester seinen höchsten Trumpf
gegen das Ideal der Norm ausgespielt; er hat mit einem Schlage das Ver-
langen jedes organischen Wesens nach Vereinigung mit einem Du, nach
Lösung aller Lebensspannungen in einem schöpferischen Ausgleich zweier
Wesen, und nach dem Willen zur Verlängerung, Befestigung, Verewigung
des Lebens getroffen.
Wie der Priester auf das Keuschheitsideal verfallen ist, haben wir früher
begreifhch zu machen versucht. Alle drei Gründe, die oben für das Rausch-
und Entsagungswesen im ganzen angeführt worden sind, haben auch die
sexuelle Entsagung ins Leben rufen und zum Ideal erheben helfen: der
metaphysisch-magische, der ethisch soziale, der psychologisch-patholo-
gische. Den erstgenannten können wir jetzt füglich beiseite lassen, da er für
die Religion und das Priestertum der Zukunft nicht mehr in Betracht kom-
men kann: der kommende Priester wird nicht mehr deshalb auf die Liebe
zum anderen Geschlecht und auf Nachkommenschaft verzichten, weil er sich
Gott dadurch zu empfehlen und sich zauberhafte Vorteile zu verschaffen
wünscht. Der zweite Grund kann hier ebenfalls nur kurz erwähnt werden,
obwohl wir seine Bedeutung auch für die Zukunft keineswegs unterschätzen.
Ebenso wie die anderen Entsagungsgebote hat auch die Forderung des Prie-
sters: die sexuelle Betätigung einzuschränken und zu regeln, sehr viel zur
Vergeistigung und Versittlichung des Menschengeschlechts beigetragen.
Ohne die erotische Selbstbeherrschung gäbe es keine menschliche Kultur.
Die Völkerkunde lehrt, daß auch auf diesem Gebiet stets der Priester der
Führende war. Schon bei manchen Naturvölkern verlangt sein Beruf ein
sexuell abnormes Leben, was wir früher schon besprochen haben. Auf den
Marchesasinseln konnte niemand Priester werden, ohne vorher mehrere
Jahre keusch gelebt zu haben. Die mexikanischen Huichols sind der Mei-
nung, daß ein Mann, der ein Medizinmann werden möchte, seiner Gattin
2l6
fünf Jahre lang treu bleiben müsse ; andernfalls würde er erkranken und die
Macht, andere zu heilen, verUeren. Auch bei anderen Völkern sind die Prie-
ster strenger an die Ehe gebunden als die Laien, müssen sich auch zeitweilig
ihres Weibes enthalten. Bei den Hebräern wurden die unkeuschen Töchter
von Priestern besonders schwer bestraft, weil sie dur^h ihr Vergehen auch
den Vater entweihten. Auch im christlichen Europa wird dem Priester ein
Ehebruch und eine sexuelle Übertretung mehr verdacht als einem Laien.
Es herrscht offenbar das Gefühl, daß der Priester, d. h. der menschlich Vor-
bildliche und rehgiös Führende, die sexuelle Lust gar nicht oder sehr mäßig
suchen soll. Von da ist es aber zrm Ideal der reinen Geistigkeit nicht weit.
Dies Ideal ist die Überspannung der Mäßigkeitsforderung, die Übertreibung
des menschlichen Vergeistigungsstrebens.
Mit dieser Überspannung haben wir es jetzt vornehmlich zu tun. Auf sie
war und ist der Priester der höheren Religionen stolz; er hat viele Geschlech-
ter durch Vorbild und Lehre zu der Anschauung zu bekehren gewußt, daß
der höchste Mensch Eunuch sein müsse und die ideale Existenz im Jenseits
eine geschlechtslose Existenz sei. Wie vermochte er das zu erreichen und
welchen Wert hat diese Anschauung für uns und unsere Nachkommen? In
der Gegenwart wird das Problem der Keuschheit wieder lebhaft besprochen.
Als ihre Verteidiger sind Philosophen wie Schopenhauer, Übervölkerungs-
theoretiker mit religiösem Einschlag, Asketen wie Tolstoi, Lebenskünstler
und sanfte Schwärmer aufgetreten. Die Kathohken, die natürhch den sitt-
lichen Wert der Entsagung möglichst in den Vordergrund rücken und das
Pathologische und Widernatürliche vergessen machen wollen, erklären, daß
alle Erzieher und sittlichen Lehrer viel fordern müßten, um niu: etwas zu
erreichen. Der ehelose Priester sei eine unentbehrliche Mahnung für das
Volk, sich wenigstens mit einem einzigen Gegenstand der Liebe zu begnügen.
Dvurchschlagender als diese recht bedenkliche Begründimg ist eine ganz andere
Erwägung, die unsere Rassenhygieniker anstellen. Sie sagen nämHch, daß
die Anhänger des Keuschheitsideals meist gute Gründe hätten, sich keine
Nachkommenschaft zu wünschen. Das religiöse Ideal der Enthaltsamkeit
sei ein selbsttätiges Ventil zur Gesunderhaltung der Rasse ; die Kranken und
Entarteten schlössen sich damit selber von der Fortpflanzung aus. Dies ist
ohne Zweifel insofern richtig, als sich Gesunde und Starke nur durch Beispiel
oder Theorie zum Ideal der reinen Geistigkeit bekehren lassen werden, un-
beeinflußt aber niemals auf dies Ideal verfallen würden. Wer eine instinktive
und dauernde Abneigung gegen Geschlechtsliebe und Nachkommenschaft
hat, ist pathologisch veranlagt; und wenn er als Enthaltsamkeitsprediger
auftritt, bekennt er eigenthch nur seine eigenen abnormen Empfindungen.
Jene Heüigen, die in der Liebe zu Gott aufgingen und die Liebe zum andern
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Geschlecht als eine niedere Form der Liebe, als eine gefährliche Fußfessel,
wohl gar als widrig und ekelhaft bezeichneten, lieferten damit den Beweis,
daß sie nicht gesund genug waren, die eheliche Liebe in ihrer wahren Gestalt
zu erfahren, und nicht stark genug, sich zum Ideal der Norm zu erheben.
Noch heutigen Tages kann man von vielen sexuell Abnormen hören, daß
das normale Liebesleben eine herabziehende und vergröbernde Wirkung
habe; fast jeder Psychopath erklärt seine krankhaft gerichtete Sexualität
für ,, reiner" und geistiger a.ls die der Normeden,
Am besten kann man dies heutigen Tages bei den Homosexuellen beob-
achten. Die Homosexualität nimmt in der Gegenwart eine noch bedeutendere
und ungleich verhängnisvollere Stellung ein als die Abstinenz und auch
andere erotische Abnormitäten. Wenn unsere Strafgesetze sie nicht zur Zu-
rücldialtung nötigten, würden die Homosexuellen sich im öffentlichen Leben
ebenso bemerkbar machen wie etwa die Erweckungssekten und die Natur-
fanatiker. Auch bin ich überzeugt, daß das Anschwellen der sexuellen Per-
versionen mit dem allgemeinen chaotischen Wesen in unserer Zeit zusammen-
hängt und unter die Symptome des religiösen Erwachens zu rechnen ist.
Unter den Homosexuellen gibt es wie unter allen Abnormen verehrungs-
würdige und verächtliche Menschen ; sie bilden, wie wir es von dem Priester-
typus behauptet haben, einen Ausschuß der Menschheit im guten und im
üblen Sinne. Sobald man sich mit einem feiner Empfindenden unter ihnen
über erotische Dinge unterhält, stößt man auf die oben erwähnte Anschau-
ung, daß das normale Liebesleben roh und ungeistig sei. Prüft man genauer,
so findet man bei ihnen wirklich sehr vergeistigte, wohl auch verstiegene
erotische Regungen, daneben aber oft eine schmutzige Phantasie und ein
Überwuchern sexueller Vorstellungen und Gefühle. Sie haben dafür zu
büßen, daß sie die erotischen Triebe nicht in gesunden Bahnen haben er-
halten und das Sinnliche mit dem Geistigen harmonisch haben verbinden
können. Durch Freuds Forschungen ist es wahrscheinlich geworden, daß
der Grund für die meisten sexuellen Abnormitäten in der Kindheit gelegt
wird; krankhafte sexuelle Betätigung vor der Pubertät zieht bei dem Er-
wachsenen homosexuelle, abstinente und sonstige perverse Neigungen nach
sich. Es macht sich dann ein starker Drang geltend, die erotischen Begierden
ins Geistige abzulenken und den ganzen Gedankenkomplex aus dem Bewußt-
sein zu drängen : der Piatonismus gelangt zum Siege.
Es wäre unrecht, die Schönheit und Erhabenheit der Empfindungswelt
vieler Abnormer, seien es nun Priester oder Laien, wegleugnen zu wollen.
Die ganze Gedankenrichtung solcher Menschen kann echt religiös sein, wie
sich das gerade bei Piaton deutlich zeigt. Der Verkehr mit den anderen
Menschen, zumal mit den Nahestehenden, erhält eine Innigkeit und In-
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brunst, die er bei den sexuell Normalen und sexuell Glücklichen kaum haben
kann. Auch liegt es auf der Hand, daß die pädagogische Wirkung, die jede
Liebe ausübt, sich bei der homosexuellen Liebe nach gewissen Richtungen
leichter entfalten kann als bei der zweigeschlechtlichen Liebe. Man kann
einen Geschlechtsgenossen unmittelbar zum Vorbild nehmen und ihn zur
„lebendigen Gottheit" erheben. Der griechische Jüngling liebte in seinem
Päderasten die Verwirklichung dessen, was er selber werden und erreichen
wollte, und andererseits liebte der Mann in dem geliebten Jüngling die bes-
sere Zukunft : der Geliebte soUte erfüllen, was ihm selber versagt geblieben
war. So erzogen und veredelten sie sich gegenseitig. Die ideale Päderastie,
die die großen griechischen Geister so laut gepriesen haben und die in ver-
änderter Form auch im Christentum fortlebte, ist eine Vertiefung und Ver-
innerlichung des für die menschliche Kultur so wichtigen pädagogischen
Verhältnisses zwischen der jüngeren und der älteren Generation. Man muß
die antiken Schriftsteller selber lesen, um inne zu werden, wieviel echt reli-
giöse Empfindung in das päderastische Verhältnis hineingelegt wurde.
Ähnlich war es mit den Liebesverhältnissen der Frauen untereinander.
Auch das jugendliche Mädchen blickt zu der reifen Frau mit Bewunderung
und leidenschaftlicher Zuneigung auf. Es wiU ihr gleich werden. Der Marien-
kultus der Nonnen und weltlichen Christinnen ist nur zu verstehen, wenn
man ihn aus dem begreiflichen Liebesverlangen erklärt, das jüngere oder
imvollkommenere Menschen gegenüber reiferen und vollkommeneren Ge-
schlechtsgenossen empfinden. Und andererseits neigt sich die alternde Frau
zu heranwachsenden Mädchen, um sie zu büden und voller Leidenschaft die
Jugend und Schönheit in ihnen anzubeten, die ihr selber entschwunden oder
von jeher versagt geblieben ist. Hat man nicht bemerkt, daß besonders die-
jenigen Frauen, die von der Natur stiefmütterlich behandelt oder aus irgend-
einem Grunde nicht zur weiblichen Vollendung und Befriedigung gekommen
sind, ihre Liebesfähigkeit gern glücklicheren und womöglich jüngeren Ge-
nossinnen zugute kommen lassen? In ihnen werden auch sie glückhch; in
deren Befriedigung finden sie Trost und Kraft zur Entsagung.
Wir erkennen ausdrücklich an, daß hierin etwas Großes und Wertvolles
liegt. Aber daraus folgt weder, daß die Homosexuahtät eine normale Er-
scheinung, noch gar, daß sie das erstrebenswerte Ideal des erotischen Lebens
ist. Wir verbitten es uns, daß unsere homosexuellen Zeitgenossen ihre Form
der Liebe als die höhere, die himmlische preisen, ebenso wie wir es uns ver-
bitten, daß die Enthaltsamen die sexuelle Entsagung und die Unfähigkeit
zur normalen erotischen Betätigung als Ziel des Menschentums und Einheit
mit Gott preisen. Wer das tut, ist ein Verräter an der Religion der Norm, die
die Religion des neuen Europa ist. Jede sexuelle Abnormität, und mag sie
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in noch so heiligem und unschuldigem Gewände auftreten, verhindert die
Vereinheitlichung von Seele und Leib und damit die Harmonie des Lebens.
Die Geschlcchtlichkeit muß zugleich sinnlich und seelisch sein; nur dann
erhöht und erlöst sie den ganzen Menschen. Griechenland hat den Versuch
gemacht, diese volle Erlösung mit Hilfe der Homosexualität zu erreichen:
die tiefe und große Liebe des Griechen war meist gleichgeschlechtlich. Aber
dieser Versuch mußte scheitern, weil er alle natürlichen Instinkte schwächte
und zerstörte ; der Piatonismus und Uranismus hat sich bitter an dem ganzen
Volke gerächt.
Die sexuelle Krise, von der heute so viel die Rede ist, hat für die Frauen
noch höhere Bedeutung als für die Männer. Die Männer haben sich von jeher
erlaubt, ihr sexuelles Leben möglichst ihrer Neigung gemäß einzurichten,
während sie den Frauen eine strenge Regelung vorschrieben und ihnen viel
Enthaltsamkeit zumuteten. Der normale Mann wird heute nur durch Sug-
gestionen von zwingender Gewalt zur Homosexualität oder zum Mönchs-
ideal verführt werden. Bei den Frauen liegt es viel näher, daß sie, wenn nicht
zum homosexuellen, so jedenfalls zum enthaltsamen Lebensideal gelangen.
Ihr wird von der Gesellschaft und auch von ihren weiblichen Instinkten
fortwährend Ablenkung und Vergeistigung des sexuellen Triebes gepredigt.
Sie darf keinen sexuellen Gedanken und Wünschen nachgeben, sie soll und
will sich den Anschein geben, als ob sie rein geistig empfinde und begehre.
Daraus muß sich bei nervösen Mädchen, wenn ihre seelische Persönlichkeit
gut entwickelt ist, fast notwendig die Neigung zur Klosterfrau und der alten
Jungfer ergeben. In unseren Frauen, und nicht bloß in den überspannten,
findet das Ideal der reinen Geistigkeit seine festeste Stütze. Bei ihnen ist es
am engsten mit allen edlen und tüchtigen Regungen verknüpft und zeigt
seine schönsten und verführerischsten Seiten. Der Priester der Zukunft muß
nur den Weg finden, die Keuschheitshebe der Frau von der Verbindung
mit der hysterischen Gottsüchtigkeit und heuchlerischen Frömmelei zu
lösen, die dm-chaus nicht notwendig ist. Dann wird zur Beilegung der sexuel-
len Nöte weit mehr getan sein, als wenn man den Befürwortern der soge-
nannten freien Liebe nachgibt.
Es soll jedoch nicht geleugnet werden, daß die zahlreichen Prediger der
sexuellen Befreiung, die heute ihre Stimme erheben, auf ihre Weise für die
Religion der Norm wirken wollen. Die Gründe gegen das Ideal der reinen
Geistigkeit, die sie anführen, sind richtig, sind auch von uns soeben geltend
gemacht worden. Jene Prediger der sexuellen Befreiung sind um so höher
zu schätzen, wenn sie persönlich mit der reinen Geistigkeit vertraut sind
und ebenso die großen wie die gefährlichen Seiten des Entsagungsstrebers
am eigenen Leibe erprobt haben. Nur wissende Ehrfurcht vor der Keusch-
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heit gibt das Recht, das Entsagungsideal zu bekämpfen; aber wer diese
wissende Ehrfurcht besitzt, der hat freilich nicht nur das Recht, sondern
auch die Pflicht, für die Norm gegen das Mönchs- und Jungfernideal ein-
zutreten.
Der Priester der Zukunft soll die Norm predigen, um so mehr, je weiter er
persönlich von der Erfüllung des Normideals entfernt ist. Sogar Nietzsche,
der exzentrische Prediger, hat das erkannt und gesagt: der Ausnahme-
mensch soll einsehen, daß die Regel mehr ist als die Ausnahme. Dieser Satz
gilt gerade für das sexuelle Gebiet am meisten. Trotz alles sonstigen Reich-
tums ist der Enthaltsame unsäglich arm; und wenn er uns entgegenhält,
daß doch die Menschheit mit dem Aufsteigen zu höheren Kulturgraden auch
stets zu einer Einschränkung der sexuellen Betätigung gelangt sei, also die
sexuelle Betätigung offenbar als etwas zu Überwindendes betrachte, so ver-
kennt er den Sinn dieser Einschränkung. Die Ehe ist deshalb eine höhere
Form des sexuellen Verkehres als die freie Liebe, weil durch die Ehe das
Liebesempfinden vertieft und das erotische Leben reicher und gewaltiger
wird, nicht aber weil die Ehe eine Zv/ischenstufe zur reinen Geistigkeit ist.
Die letztere Anschauung, der z. B. Paulus Ausdruck gegeben hat, müssen
wir im Namen der Religion der Norm verwerfen. Paulus und ganz ebenso
Jesus erklärten: am besten sei Ehelosigkeit und Kastration; wer aber dies
Ideal nicht erreiche, solle sich wenigstens mit einem Weibe begnügen. Die
Ehe wird also als Schutzmittel gegen die „Hurerei" anempfohlen, also als
das kleinere von zwei Übeln. — Dieser christlichen Lehre stellt die Religion
der Norm die andere Lehre gegenüber, daß die Ehe die höchste Form und
die beiden entgegengesetzten Extreme tiefere Stufen der erotischen Kultur
sind. Der Ehelose steht tiefer als der Verehelichte, weil er seine vergeistigten
Triebe mit seiner Körperlichkeit nicht hat in Harmonie bringen können und
das Ziel des Menschen: VersinnHchung des Ideellen, VernatürHchung des
Unnatürlichen nicht hat erreichen können.
Hier greifen wir an die Wurzel des gesamten Priesterproblems. Sehen wir
uns die führenden Geister des Menschengeschlechts an: sie haben fast alle
eine Neigung zum Zölibat gehabt ; sie haben, um ihren hohen Beruf ganz aus-
füllen, um ihrem Gotte in aller Treue dienen zu können, auf das Vollmen-
schentum für ihre Person verzichten müssen. Die größten Taten in der Welt
— von was für Menschen sind sie getan worden ? Von Junggesellen und alten
Jungfern ! Selbst die Künstler, denen man so oft gesteigerte geschlechtHche
Bedürfnisse zugeschrieben hat, sind unsinnlicher als jeder brave Werktags-
mensch. Sie setzen, wenn sie gute und echte Künstler sind, den größten Teil
ihrer Sexualität in Kunst um. Sie machen heiße Liebesgedichte, statt sich
die Geliebte zu erobern und im Verkehre mit ihr der drückenden Spannungen
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ledig zu werden. Sie gestalten ihr Verlangen und machen Kunstwerke daraus.
Ganz ebenso verfahren die Weisen und die religiösen Geister. Der religiös
geniale Mensch entlädt seine Sexualität in religiösen Ideen, in mythologi-
schen Gebilden, in rituellen Handlungen. Seine Sexualität ist ohne ein reales
Objekt; sie richtet sich nicht auf ein Wesen des anderen Geschlechts, wie es
normal ist, sondern erhält sich frei schwebend. Auch die Künstler sind meist
ohne ein normales sexuelles Objekt ; nur zeitweilig pflegen sie ihre sublimierte
Sexualität an einem einzelnen Wesen zu entzünden ; daher die Untreue und
..Flatterhaftigkeit" der Künstler.
Selbst die Herrscher, Gesetzgeber, Staatengründer sind oft sexuell ent-
haltsam gewesen. Sie wollten und konnten sich nicht sexuell ausgeben, son-
dern spannten ihre erotischen Triebe an den Wagen ihrer großen Gedanken
und Willensentschlüsse. Wann wäre ein Mann, dessen die Nachwelt als eines
Helden und Halbgottes gedachte, ein behaglicher Genießer und ein normaler
Mensch der goldenen Mitte gewesen ? Die Genießer haben ihren Lohn dahin
und die arbeitsamen Menschen der Mitte pflanzen sich in ihren Kindern und
den bescheidenen Werken ihrer Hände fort. Anders die Führer und Priester,
die ,, Repräsentanten" des Menschengeschlechts, die mit der Fahne des
Ideals vor ihrem Volke einherziehen! Sie drängen hinweg von der Norm,
sie wollen und müssen auf das Glück und Leben ihrer Brüder verzichten.
Sie sind zwar Übermenschen, aber doch zugleich nur halbe Menschen, sind
zwar Ideale, aber zugleich Verzerrungen menschlichen Wesens. Ideal und
Verzerrung! Sollte \4elleicht jedes Ideal eine Verzerrung sein? Daß die Idea-
listen, die Träger des Idealen in der Welt, so oft verzerrte Menschen sind,
kann unmöglich ein Zufall sein. Daß die schöpferischen Geister, die wie der
Pflug die Ackererde der Zeit aufreißen und wie der Säemann die Körner
hineinwerfen, so häufig unfruchtbare Geschöpfe sind, muß seine tiefen
Gründe haben.
Und die Menschheit liebt und verehrt diese früchtelosen Blumen, diese
veredelten und verzerrten Menschenbilder. Denken wir z. B. an das Ver-
hältnis der Frauenwelt zu den Priestern! Von jeher haben zwei Typen am
meisten Gunst bei den Frauen genossen: der Kriegsmann und der Priester.
Das Glück des Kriegsmannes bei den Frauen bedarf wohl kaum der Er-
klänmg : Mars ist der berufene Liebhaber der Venus ; die Kraft des Kriegs-
mannes weckt den Hingebungswillen des Weibes und flößt ihr das Vertrauen
ein, daß er sie und ihre gesunde Nachkommenschaft zu schützen und zu er-
halten imstande sein werde. Aber woher das Glück des Priesters und seiner
geistigen Verwandten? Dem Priester fehlen die kräftigen Arme, die er-
obernde Gesundheit, der Wille und das Vermögen, das Weib gegen die ganze
Welt zu behaupten und tüchtige Kinder mit ihr zu zeugen. Der Priester ist
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schwach ; er weiß nur schöne Reden zu führen und sanfte Augen zu machen ;
wenn er Künstler ist, weiß er süße Weisen zu singen ; wenn er Prophet und
Dichter ist: von Himmel und Hölle, Werden und Vergehen, Glück und Un
glück zu erzählen. Wie kann er damit die Frauen in seine Netze ziehen?
Wenn er nur die abnormen Frauen, die geborenen alten Jungfern, die ihm
ähnlich geartet sind, für sich gewänne, so wäre die Sache nicht \Minderbar;
aber mitunter sitzen die gesundesten und weiblichsten Frauen zu den Füßen
der Priester, der Künstler, der Weisen und Gelehrten. Wie erklärt sich diese
scheinbar instinktwidrige Vorhebe des Weibes für den männUchen Idea-
listen ?
Das Weib sucht und findet bei den Idealisten subUmierte Sexualität.
Nicht die Abwesenheit des erotischen Triebes, nicht wdrldiche Geschlechts-
losigkeit könnte und würde die Frau anziehen, das wäre unsinnig und wird
auch durch die Erfahrung \\iderlegt ; nein, ihre Liebe gilt der verhaltenen,
der vergeistigten und dadmrch in ge\vissem Sinne verstärkten Geschlecht-
hchkeit. Der priesterliche Mensch verbreitet eine von subHmierter Sexualität
geschwängerte Atmosphäre um sich; was er sagt, was er tut und berührt,
wird vergeistigte Erotik. Durch seine bloße Gegenwart, durch jede Lebens-
äußerung vermag er befruchtende Wirkung auszuüben. Er trägt beständig
göttliche Samenkörner bei sich und schickt jene dämonischen Keime und
Fluida aus, die nach Meinung der primitiven Völker in den Schoß der Frauen
eindringen und sie befruchten. Der Priester, der Künstler, der Philosoph
versteht die Kirnst, durch den Geist zu befruchten. Und weil die Frau durch
ihr ganzes Dasein eng an die vegetative Dumpfheit des Trieblebens gekettet
ist, erscheint ihr die Befruchtung, Befriedigung und Erlösung durch den
Geist so begehrenswert, unter Umständen begehrenswerter als das normale
Liebesleben, das sie ja doppelt fest an das vegetative Gattungsleben knüpft.
Hier sehen wir recht klar, wie gefähjrhch, aber auch wie wertvoll der prie-
sterliche Mensch, der Ritter vom Geiste für das menschliche Kulturleben
ist. Auch der Mann erhegt dem vergeistigenden Einfluß des Priesters; auch
er sehnt sich nach Befruchtung durch den Geist. Nähert die Liebe nicht
jeden Menschen dem Priestertx^Dus an? Die Liebe macht uns alle geistiger
imd rchgiöser; je stärker sie ist, um so mehr. Der wahrhaft Liebende wird
von antisinnhchen Stimmungen heimgesucht ; er wird phantasiereicher, poe-
tischer. Auch der gröbste Bauernknecht erfährt die vergeistigende Wirkimg
der Liebe; er verpriestert sich durch sie. Und diese Umwandlung verheim-
licht er nicht etwa vor seiner Gehebten, sondern er weiß, daß er durch Ver-
geistigung seines Wesens am sichersten ihr Herz erobert. Das hebende Weib
und überhaupt jedes Hebende Wesen verlangt nach Seele, verlangt nach
Farben, Tönen, Rhythmen, Symbolen, Ideen, kurz: verlangt nach Religion.
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Jeder muß, wenn er sein eigenes Herz genügend kennt, dies zugeben, Mensch
sein heißt: durch den Geist erlöst sein wollen.
Daher ist der Priester unentbehrlich; daher wendet sich die Frauenwelt
den Rittern vom heiligen Geiste zu; daher drängen sich alle Ungeistigen
um die religiösen Schätze und Schatzmeister. Aber daher auch die Gefähr-
lichkeit dieser schätzehütenden Geistesritter. Wenn wir noch einen Augen-
bhck bei den Frauen und ihrer Zuneigung zu den Priestern verweilen dürfen
— wir kommen im letzten Abschnitt bei Besprechung des Beichtproblems
noch einmal auf diese Verhältnisse zurück — : der Priester hat durch seine
geistige und geistliche Beeinflussung viele der besten Frauen verdorben und
ihr Leben zerstört. Was trieb sie zu ihm? Der Überdruß an ihrer, oft auch an
ihres Ehemannes und ihres ganzen Lebenskreises Ungeistigkeit, und die
Sehnsucht, sich und ihr Leben mit Geist zu erfüllen. Was tat der Priester?
In allzuvielen Fällen verführte er sie zum Leben der reinen Geistigkeit ; er
vermehrte ihre Unzufriedenheit, entfremdete sie dem Leben der Norm, zog
sie in die Zauberkreise der priesterlichen Gefühlswelt hinein und predigte
ihr: verlasse alles, was du hast, und flüchte dich zu Gott ! Er stellte also seine
abnorme Existenz als die ideale hin, forderte die Menschen auf, ihm nach-
zufolgen und wurde dadurch zum Zerstörer, statt zum heilsamen Befruchter.
Die Ritter vom Geiste, und am meisten die gepriesenen und vergötterten
Ritter vom heiligen Geiste faßten ihre Aufgabe falsch auf: sie trieben Ratten-
fängerei statt Erziehung und Seelsorge. Dadurch haben sie sich so häufig
den berechtigten Haß der gesunden und männlichen Laienwelt zugezogen.
Auf den Grabstein vieler Beichtväter und frauengeliebter Priesterschaften
könnte man den Satz schreiben: ,,sie verdarben die Weiber und die Jugend;
darum wurden sie von den Männern gehaßt und verfolgt."
Der Fehler, den die priesterlichen Führer der Menschheit begangen haben,
besteht darin, daß sie ihre pathologisch bedingte Abneigung gegen das kräf-
tige Tatleben und die normale Geschlechtlichkeit zum Gesetz für alle erheben
wollten oder wenigstens zum Gesetz für die Auserwählten und Vorbildhchen.
Sie haben sich ihre Abnormität zum Verdienst angerechnet und die nach
Geist Dürstenden glauben gemacht, daß Gott reiner Geist sei und der Mensch
sich daher entsinnlichen müsse, um Gott gleich zu werden. Ihre Pfücht wäre
umgekehrt die gewesen, alle aus dem normalen Leben Hinausdrängenden
zu warnen und sie zur Tat und zur Sinnlichkeit zurückzuführen. Sie hätten
lehren müssen: Gott ist Geist und Leib; wir Priester sind nur Karikaturen
Gottes ; wir sind zu schwach, um Geist und Leib in unserer Person zur gött-
lichen Einheit verbinden zu können.
Wegweiser zum Leben sollten die religiös-sittlichen Führer sein. Wenn
geisthungrige Büßerinnen, wenn disharmonische Verächter des Leibes rat-
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suchend an ihre Tür pochen, sollten sie ihnen helfen, die Disharmonien zu
überwinden und sich zur Norm durchzuringen.
Es ist begreiflich und entschuldbar, daß die Ritter vom Geiste für ihre
eigene Person eine Abneigung gegen die Norm haben, daß sie die derbe Sinn-
lichkeit, das dumpfe Triebleben, das Werktagswesen des Volkes von sich
fernhalten möchten. Aber sie müssen, wenn anders ihnen das königUche
Amt, das sie bisher geführt, auch in Zukunft verbleiben soll, diese Abneigung
überwinden und sich zu der Erkenntnis erheben, daß alles Geistige mit festen
Ketten an das Leibliche und Triebhafte gefesselt bleiben muß. Gott ist die
Norm! nicht: Gott ist priesterliche Geistigkeit und Disharmonie! — soll
ihr Evangelium lauten. Wenn der Priester nicht den Willen zur Norm pre-
digen will, sondern bei der bisherigen Predigt des Willens zur Krankheit
beharrt, ist er ein schädlicher Egoist, ein Herold des Endes. Das Evangelium
der heiligen Prediger lief leider nur zu oft auf diesen Egoismus hinaus ; ihre
Weisheit bestand darin, das Volk von der Arbeit und der tapferen Welt-
eroberung hinwegzulocken und ihm von einem mystischen Reiche Gottes
zu erzählen, in welchem ewiger Friede und ewige Tatlosigkeit herrschen
werde. Damit erklärten sie ihr eigenes Priesterdasein für das Maß aller
Dinge. Weil für sie das Weltleben Verführung und Verwirrung brachte,
sollten alle der Welt den Rücken kehren. Weil ihre Tätigkeit und ihr Glück
nur mit Hilfe von Entsagung, Einsamkeit und anderen pathologischen Lebens-
bedingungen sich entfalten konnte, sollten alle pathologisch empfinden und
leben. Weil ihnen das Weib eine teuflische Circe und ein himmlisches Ideal war,
sollten alle das Weibliche als etwas Teuflisches und Göttliches betrachten. Der
Priester war bisher das größte Hemmnis für die Menschwerdung des Weibes.
Der priesterliche Mensch soll einsehen, daß seine Natur ein Exzeß ist, der
des Gegengewichtes bedarf. Nicht nur um des Ganzen willen, sondern auch
für sich selber soll er die Norm lieben und suchen. Die menschliche Kultur
erzeugt, wie wir gesehen haben, mit Notwendigkeiten Abnormitäten mannig-
facher Art. In jedem Menschen steckt ein Priester, weil jeder zum Exzeß
hindrängt und in zu starken oder zu schwachen Reizen Glück und Erhöhung
sucht. Es ist die höchste Zeit, daß den gefährlichen Folgen dieses Strebens
dadurch ein Damm entgegengesetzt wird, daß die geistigen Führer sich zur
Religion der Norm bekennen. Unwillkürlich zielt die europäische Kultur
schon seit einigen Jahrhunderten dahin. Ein großer Teil der christlichen
Priester hat das Evangelium Jesu und Pauli Schritt für Schritt verfälscht
und verkehrt und predigt heute im Namen Christi ein volles Antichristen-
tum (vgl. meinen Aufsatz: Der heidnische Lebensweg, Die Tat III, i). Möch-
ten diese Priester doch die irreführende Hülle wegnehmen I Möchten sie doch
offen erklären, daß sie Jesus und Paulus nicht für typisch vorbildliche Men-
15 Horneffer, Der Priester II 225
sehen halten, und daß deren Leliren ihrer Predigt der Norm in den meisten
Punkten zuwiderlaufen ! — Jesus und Paulus haben den Ausgleich zwischen
den beiden religiösen Extremen: Rausch und Askese, Ausschweifung und
Ansichhalten, weder gesucht noch gefunden ; sie haben klar und deuthch die
Zerstörung der Einheit des Lebens, nicht deren Herstellung gelehrt.
Nicht daraus machen wir den religiösen Heroen der Vergangenheit einen
^'orwurf, daß in ihnen ein Rausch- und Entsagungswille lebte, sondern
daraus, daß sie dieses Willens nicht Herr blieben. Der Wille an und für sich
ist von höchstem Werte; denn mit dem Rausch- und Entsagungswillen ist
jene große Unbefriedigung verbunden, die rehgiös so fruchtbar geworden ist;
auf ihm beruht das Vorwärts- und Aufwärtsdrängen, das den Stolz aller
höheren Kulturen ausmacht. Die Menschen aber, in denen der Rausch- und
Entsagungswille zum Siege gelangt, wirken väe ein anreizender Stoff, wie
ein Gewürz und ein Sauerteig auf die Menschheit. Sie sind, um das Wort
Jesu noch einmal zu wiederholen: das Salz der Erde; ein ehrendes Wort,
das zugleich zur Bescheidenheit und klugen Selbsterkenntnis mahnt. Denn
Salz, Sauerteig und Rauschgift sind zwar gute und unentbehrliche Dinge;
aber sie wollen mit Vorsicht verwendet sein. Wer sie für Nahrungsmittel
nimmt und als hauptsächliche oder gar einzige Stoffe genießt, der zerstört
sich gar bald. Das Salz soll würzen; die Rausch- und Entsagungshelden
soUen die stumpfen und ungeistigen Menschen anstacheln, ihnen das Blut
lebhafter durch die Adern treiben, ihren Geist zum Reden und Khngen
bringen und ihre ganze Existenz erhöhen und verschönern.
Aber Gift bleibt Gift. Die exzentrischen Priester sind Gifte. Der große
Prophet und Selbstkenner Sokrates hat sich selber mit einer Bremse ver-
glichen, die dem edlen, aber trägen Pferde, Athen genannt, aufgesetzt sei.
Wie wohltätig sticht diese Selbstbeurteilung gegen die Anmaßung so vieler
anderer religiöser Geister ab, die sich für vollkommene Musterbilder des
Menschentums hielten! Sokrates wußte auch, daß er die Norm predigen
müsse, obwohl er selber nicht die Norm war. Er wußte, daß die Regel mehr
ist als die Ausnahme, das Pferd mehr als die Bremse. Er hatte die heroische
Selbstverleugnung, von der jene sich selbst vergötternden Priester immer
nur gesprochen haben, ohne sie zu üben. Sokrates stand so hoch über sich
selber, daß er sich niemals als Muster, niemals als Wissenden und Erleuch-
teten hingestellt hat. Er wollte dem Volke nicht die unfehlbaren Wahr-
heiten einer anderen Welt verkünden, wollte es nicht aus dem Leben der Tat
und der Norm herauslocken ; sondern umgekehrt : er wollte von der Weisheit
des Volkes lernen und die Menschen in ihrem Leben befestigen und klären.
Der Athener Sokrates ist das edelste Beispiel eines Predigers der Norm,
das wir überhaupt kennen.
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Der Grieche warnte gern sich und andere vor einer bösen Eigenschaft, die
er Hybris nannte. Die Hybris ist stets ein Ausfluß der Disharmonie. Wer
sich mit sich selber und mit dem engeren und weiteren Lebenskreise, inner-
halb dessen er wirkt, in Harmonie fühlt, kann nie zur Hybris verführt werden.
Der Kranke dagegen, dem es in seiner Haut zu eng wird, sucht sein Heil in
den Größengefühlen und den Extravaganzen der Phantasie und des Han-
delns. Im Grunde drückt ihn das Bewußtsein der Niedrigkeit und Schwäche ;
er kommt sich klein und sündhaft vor; aber er verdrängt diese Gefühle,
indem er durch natürliche oder künstliche Mittel einen Allmachtsrausch in
sich erzeugt. Er fühlt sich in diesem Zustande als Gott und Herr aller Dinge ;
nur behindert ihn der Leib, den er infolgedessen als Kerker haßt, und die
Welt der Wirklichkeit, die er infolgedessen als scheinbar oder verworfen
bezeichnet. Er lebt das Leben der Hybris: er rasselt mit den Ketten, die er
trägt; er stemmt sich gegen die Mauer, von der er sich umschlossen fühlt;
er schreit nach Befreiung und findet sie im Rausch und in der Askese.
Die Führer der Menschheit sollen sich von der Hybris losmachen. Sie sollen
die Disharmonien des Lebens, die auf ihnen so viel schwerer lasten als auf
den übrigen Menschen, dadurch überwinden, daß sie den Riß zwischen Ideal
und Wirklichkeit, den Gegensatz zwischen Seele und Leib durch das Streben
zur Norm aufheben und verschwinden machen. Sie müssen sich wie So krates
so fest wie möghch an die sinnhche Welt knüpfen und dem schlichten werk-
täglichem Leben ihre Liebe zuwenden. Sie, die ins Grenzenlose schweifen
möchten, müssen das kleine begrenzte Dasein schätzen lernen, sie, die in
allen Himmeln und Höllen zu Hause sind, müssen sich in die Wunder des
Nächsten und Selbstverständlichen vertiefen. Die Priester der höheren Reli-
gionen haben so eindringlich die Nächstenliebe gepredigt, haben als erste
aller Tugenden gefordert, daß jeder an des anderen Schicksal und Seelen-
stimmung mitleidenden Anteil nehmen solle. Aber haben die Priester die
natürhchste und wichtigste Folgerung aus ihrem Gebot der Nächstenhebe
gezogen? Haben sie sich selber ohne Vorbehalt in den Kreis ihrer Brüder
hineingestellt, haben sie mit ihnen gearbeitet und Feste gefeiert, haben sie
ihnen durch ihr Vorbild gezeigt, wie sie sich immer fester aneinander ketten
sollen, damit jeder in dem andern seine Heimat fände und in sich selber ge-
festigt werde? Umgekehrt! Die Priester haben durch Wort und Vorbild
gemahnt, daß man sich nicht zu fest an die Erde und an die menschlichen
Brüder knüpfen soUe; denn die wahre Heimat des Menschen sei das Jenseits.
Sie haben Loslösung und innere Entfremdung gepredigt. Damit aber haben
sie ihre eigene Disharmonie zum Gesetz und Vorbild erhoben ; denn die Los-
lösung von der Welt erzeugt notwendig eine Entzweiung des Menschen mit
sich selber und zerstört sein inneres Gleichgewicht. Statt Mitleid mit den
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Armen und Kranken sollte der Priester Mittat mit den Gesunden und Star-
ken üben und predigen.
Wie oft wollten die Ritter vom heiligen Geiste Früchte ernten, die sie nicht
gepflanzt, die sie nur mit heißer Sonne bestrahlt und vorzeitig zur Reife
gebracht hatten! Sie haben es den Menschen immer mehr abgewöhnt, Freude
und Erhebung aus dem täglichen Wirken zu schöpfen und religiöse Erlösung
in der schöpferischen Tat zu finden. Suchet euer Heil nicht in der Nähe, son-
dern in der Ferne ! haben sie gerufen ; erwartet euer Glück als Geschenk und
Gnadengabe, nicht als Frucht eures männlichen Schaffens und Liebens ! Sie
haben alles darangesetzt, die Menschen zu entwurzeln und zur Beute extremer
Stimmungsschwankungen werden zu lassen. Die Menschen sollten, wie die
Priester selber, sich bald als Gott, bald als Nichts fühlen, sollten bald zittern,
bald ausschweifend prahlen. Wäre es nicht an der Zeit, daß die Priester be-
gännen, ihrer Predigt den entgegengesetzten Inhalt zu geben? Daß sie sich
ein für allemal entschlössen, die priesterlichen Lebenswerte nicht mehr als
die normativen Lebenswerte anzusehen, sondern das Normative, wie es in
der Ordnung ist, dem Normalen zu entnehmen? Die trübe und entgötterte
Welt der Gegenwart würde ein ganz anderes Gesicht ge^vinnen, wenn ihre
rehgiösen Führer die große Bescheidenheit lernten, die Sokrates von Athen
besaß, jene Bescheidenheit, die sich mit echtem Stolz vermählt und auch
um sich her stolze Bescheidenheit verbreitet. Die Predigt des Priesters soll
sein : der Mensch vergöttlicht sich durch die erobernde Tat ; er wird in dem
Maße frei, als er das Glück nicht mehr von außen und oben erwartet, sondern
es selber erschafft, und wird in dem Maße Gott, als er wirkt und sich mit den
Brüdern gemeinsam auferbaut.
Zum Schlüsse wollen wir noch einmal das Verhältnis, das unserer Meinung
nach zwischen den geistigen Führern und dem Volke obwalten sollte,
mit wenigen Worten umschreiben. In diesen Führern lebt ein starker Wille zur
Krankheit und Normwidrigkeit. Um so mehr müssen sie die Norm suchen
und verehren, und wenn sie für ihre eigene Person nicht zur Norm gelangen
können, als Prediger und Vorkämpfer der Religion der Norm auftreten. Wir
haben nicht das Recht, sie wegen ihrer Abirrungen von der Norm anzu-
klagen, solange sie dieselben als solche erkennen und sich ihrer nicht rühmen.
Wir wissen, daß sie an ihren Abnormitäten schwer zu tragen haben und
ihnen für ihre eigenen Leistungen viel verdanken. Aber wir dürfen verlangen,
daß sie sich der Verantwortung bewußt sind, die sie als Führer und Erwecker
des leicht bestimmbaren Volkes übernehmen. Ihnen allen ist das Wort ge-
sagt: ,,Arzt, hilf dir selber!" Sie alle sind Ärzte, die sich selber nicht zu helfen
vermögen imd deshalb Gnmd ziu: Bescheidenheit haben, auch Grund dazu,
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vom Volke, indem sie ihm helfen, ihrerseits zu lernen und dankbar zu empfan-
gen. Sie sollen sich an den Tisch des vollen derben Lebens setzen, und wenn
die Speisen, die dort aufgetragen werden, ihrer empfindlichen Konstitution
nicht behagen, so sollen sie trotzdem nicht anfangen zu schelten oder mit
saurem Gesicht von dannen gehen, sondern sollen mit Offenheit sich selber
anklagen und das Volk ermahnen, dem Leben treu zu bleiben und die er-
obernde Tatkraft aufs höchste zu steigern. Die Ritter vom Geiste sollen
dem Arbeits- und Freudenleben des Volkes Würze geben; Würze imd Er-
höhungsmittel zu sein, ist ihre Bestimmung.
|i| 4. GLAUBE UND LEHRE IHl
Bisher haben wir den heutigen und künftigen Priester von der psychologi-
schen und ethischen Seite aus betrachtet. Wir suchten Aufklärung über den
Wert und die Berechtigung des heute und in alle Zukunft lebendig bleibenden
Rausch- und Entsagungswillens der priesterlichen Naturen und stellten als
Lehr- und Lebensgrundsatz der religiösen Führer der Zukunft den Willen
zur Norm auf. Nunmehr wenden wir uns zur Schilderung der priesterHchen
Aufgaben im einzelnen und treten damit erst an die umstrittensten Fragen
des heutigen religiösen Lebens heran.
Wir beginnen mit dem Problem des Glaubens und fragen, ob es auch
fernerhin eine Dogmatik geben wird und welche Formen dieselbe etwa an-
nehmen wird. Darauf fragen wir nach der Zukunft des religiösen Bundes-
wesens und des Kults und handeln zum Schlüsse von dem rehgiösen Führer-
und Seelsorgeramte im einzelnen.
Was heißt Glaube? Wie kommt es zur Bildung von religiösen Überzeu-
gimgen und woher der Drang, diese Überzeugungen auch in anderen Men-
schen zu wecken und für unseren Glauben durch sanfte oder harte Mittel zu
werben ? — über die Herkunft des Glaubens gibt es zwei entgegengesetzte
Theorien. Die erste Theorie — es ist die der Offenbarungsgläubigen — be-
hauptet folgendes. Der Glaube werde dem Menschen von der Gottheit ins
Herz gelegt und zwar ein bestimmter, inhaltlich ein für allemal feststehender
Glaube. Jeder gesundsinnige und brave Mensch bekenne sich zu den christ-
lichen Dogmen; er könne gar nicht anders, falls ihm dieselben nur in der
richtigen Weise vorgetragen und unter götthcher Mitwirkung einleuchtend
gemacht würden. Von Unfreiheit und Zwang sei dabei keine Rede; denn die
christlichen Dogmen seien nichts anderes, als der natürliche Ausdruck des
menschlichen Denkens über Welt und Ich. Daher würden auch die Jugend
und die noch unchristlichen Völker freier, reicher und gesunder, wenn man
229
sie in der christlichen Dogmatik unterweise und ihnen die christlichen Glau-
benslehren durch pädagogische Veranstaltungen zum unverlierbaren Eigen-
tum mache.
Das ist die eine Theorie über den Glauben. Alle Of fenbarungsrehgionen be-
kennen sich zu ihr. Das Schlimme ist nur, daß diese Religionen in ihren Glau-
benslehren nicht übereinstimmen. Die eine verwirft, was die andere für eine
heilige und unentbehrliche Glaubenswahrheit erklärt. Die Priester der einen
müssen, wenn anders sie ihrem Glaubensgrundsatz treu bleiben wollen, die
Bekenner der anderen für verstockt und böswillig oder für geisteskrank
halten. Wenn sie mit ihnen als Freunden verkehren und nicht alles ver-
suchen, mn sie zum , »wahren Glauben" hinzuführen, vernachlässigen sie ihre
wichtigste Priesterpflicht und beschwören den Zorn Gottes — der sich durch
das bloße Dasein der ,, Ungläubigen" beleidigt fühlen muß — auf sich herab.
Priester einer OffenbarungsreUgion, die nicht unentwegt Proselyten werben
und die Teufelskünste Andersgläubiger, zumal wenn dieselben vom rechten
Glauben ,, abgefallen" sind, kraft ihres heiligen Lehrauftrages verfolgen und
entlarven, sind Verräter an ihrem Gott und glauben in ihrem Herzen nicht
das, was sie mit ihrem Munde bekennen, nämlich daß die Glaubenssätze
ihrer Kirche auf unmittelbaren Verkündigungen Gottes beruhen und daher
notwendige Heilswahrheiten sind.
Europa hat sich von dieser Glaubenstheorie mehr und mehr abgewandt,
hat den heiligen Eifer der Priester, die ihr treu anhingen, als lästigen Dünkel
und aafdringHche Beschränktheit verurteilt und ihre tapferen Angriffe und
Verteidigungen gegen Andersgläubige als ,, Theologengezänk" verspottet.
Die Priester selber sind an ihrer Theorie irre geworden oder vertreten sie
wenigstens mit so großer Zaghaftigkeit und praktischer Inkonsequenz, daß
man die Langmut des dogmatischen Offenbarungsgottes be wundem muß,
der sich so nachlässige Diener gefallen läßt.
Die zweite Theorie ist die der reinen Wissenschaft. Dieselbe lehrt, daß
der Glaube nur durch die sinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken
zustande komme, daher auch nie über die Grenze hinausgehen dürfe, die
dem sinnlichen und logischen Erkennen des Menschen gesteckt sei. An Dog-
men zu glauben, könne nur geistigen Kindern in den Sinn kommen; denn
Dogmen seien unbeweisbare und nicht nachprüfbare Behauptungen; ein
reifer Mensch aber weise solche Behauptungen grundsätzlich ab und ver-
lange, daß jede angebhche Wahrheit empirisch oder logisch erwiesen werden
könne.
Diese Anschauung hat für alle, die den Offenbarungsglauben aufgegeben
haben, etwas Bestechendes. Durch sie scheint das Problem des Glaubens auf
die einfachste Weise endgültig gelöst zu sein. Aber auch sie hat einen Übel-
230
stand, nämlich daß kein Mensch sich wirklich an sie hält. Jeder, und sei er
der vorsichtigste und kritischste Gelehrte, glaubt an viele Dinge, die er
weder nachprüfen noch beweisen kann, glaubt also an Dogmen. Er bildet
sich allgemeine und allgemeinste Ansichten, deren Voraussetzungen jen-
seits der wissenschaftlichen Forschung liegen. Daher haben die Philosophen
sich genötigt gesehen, eine dritte Theorie aufzustellen, die zwischen der
ersten und der zweiten zu vermitteln sucht. Diese Philosophen erklären,
daß der Glaube und das Wissen zwei getrennte Welten bilden, die einander
niemalsberühren, zweiReiche, die miteinander nie in Streit geraten können. Die
empirisch-logische Wissenschaft habe genau abgrenzbare Rechte und Kräfte.
Unabhängig von ihr baue sich der Glaube auf. Auf die Frage, was wir denn
nun glauben müßten und warum, antwortete Kant: der Glaube gründe sich
auf die sitthchen Lebensbedingungen des Menschen; wir hätten den Glau-
ben, der praktisch notwendig sei. Da erhob sich denn die weitere Frage,
welche Glaubenssätze notwendig und dem handelnden Menschen unent-
behrlich seien. Man antwortete: die, welche allen Religionen gemeinsam
sind. Die Philosophen gingen also daran, auf Grund der angebhchen Über-
einstimmung aller Menschen eine Art Mindestprogramm des Glaubens auf-
zustellen. Dieses Mindestprogramm erhielt den Namen : natürliche Religion.
In der Regel gab man der natürlichen Rehgion drei Dogmen: den Glauben
an Gott, an die UnsterbUchkeit der Seele und an die menschhche Freiheit.
Im i8. Jahrhundert, zum Teil noch im 19. und 20. Jahrhundert finden wir
bei vielen Rittern und Freunden des Geistes die Überzeugung, daß diese
drei Dogmen unverlierbare und unentbehrHche Wahrheiten seien. Ohne sie
sei kein Kulturleben und überhaupt kein menschenwürdiges Dasein möglich.
Die Wissenschaft werde niemals imstande sein, in das Gehege dieser natür-
Hchen Religion einzudringen.
Aber die Wissenschaft heß sich durch die glaubensfreudige Bewegung, die
wir als Romantik zu bezeichnen pflegen, und die mit und ohne Kant das
neuere Europa zu erobern begann, nicht einschüchtern. Sie wies vor allem
nach, daß man sich unter den drei Worten : Gott, Freiheit, Unsterbhchkeit
sehr verschiedene Dinge denken könne; welche Auffassung die richtige
und notwendige sei, stehe dahin. Femer wies sie nach, daß die Völker und
Zeiten in der Tat so erhebhche Unterschiede in der Formulierung der soge-
nannten natürHchen Glaubenssätze zeigen, daß von einer Einheithchkeit
des Glaubens nicht die Rede sein könne. Z. B. hat ein so hochstehendes Volk
wie die Griechen nicht an den Gott geglaubt, den das philosophische und
theologische Europa der neueren Zeit für unentbehrhch hält. Die Griechen
der starken älteren Zeiten glaubten zwar an Götter, d. h. an Kräfte und
Willensenergien im Weltall, aber nicht an Gott, d. h. nicht an eine allgütige
231
und allweise Weltregierung. Der allmächtige Schöpfer und Erhalter fand
erst in den Zeiten des sinkenden Altertums Gläubige, Auch der Glaube an
die Unsterbhchkeit war im Altertum nur teilweise und in ganz anderem
Sinne lebendig als heute. Wenn die Völker sich über das Schicksal der Toten
Gedanken machen und nicht an deren sofortige Vernichtung glauben wollen,
so sind sie doch oft weit entfernt, das Fortleben für ein ewiges zu halten.
Und sie geben dem zweiten Leben einen Inhalt, der ganz und gar nicht dazu
angetan ist, es in einem idealen Lichte erscheinen zu lassen und seinen sitt-
lichen Wert außer Zweifel zu stellen. Trotzdem lebten diese Völker, waren
stark und schön und fanden sich mit den menschlichen Aufgaben vielleicht
besser ab, als die christlichen Philosophiepriester mit den ihrigen.
Der Glaube ist nicht unabhängig von der Wissenschaft; er ist aach durch
viele andere Umstände beeinflußbar und wandelt sich mit den Kräften und
Schicksalen seiner Bekenner. Die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte hat,
im Bunde mit dem neuen Lebensgefühl unserer Zeit, Glaubensburgen er-
stürmt oder wenigstens erschüttert, die man vor hundert Jahren noch für
uneinnehmbar hielt. Der erkennende und der handelnd erobernde Mensch
ist in das verbotene Land des rehgiösen Glaubens hineingeschritten, ohne
auf die Warnungen der ängstlichen Begriffskünstler zu hören und ohne sich
durch das Geschrei der despotischen Glaubenswächter irremachen zu lassen.
Die Kräftigen wissen (oder fühlen, ohne es sich einzugestehen), daß das
künftige Europa ohne jene drei Dogmen der natürhchen Religion nicht bloß
leben kann, sondern leben wird, wenn anders es der reichen Güter teilhaftig
werden will, die die vergangenen Geschlechter in treuer Arbeit aufgehäuft
haben. Die Kunde von diesem neuen Leben ist zwar noch nicht zu allen
gedrungen, aber wenn auch nur ein kleiner Kreis von Menschen imstande
wäre, ohne diese Dogmen nicht nur ein menschenwürdiges, sondern ein
schönes und fruchtbares Dasein zu führen, wäre die Theorie von der natür-
lichen Rehgion und ilirer Unabhängigkeit von den wissenschaftlichen For-
schungen bereits widerlegt.
Wir werden wohl zu der einfachen unphilosophischen Anschauung zurück-
kehren müssen, daß Glaube und Wissen durcheinander bedingt sind und in
Wechselwirkung miteinander stehen. Die Wissenschaft allein schafft den
Glauben nicht, aber sie gibt den Stoff her, mit dem der Mensch und seine Zeit
sich einen Glauben bilden. Die von der persönlichen und der allgemeinen
Erfahrung geheferten Materialien werden auf Grund des Lebensgefühls der
Epoche und des Einzelnen verarbeitet. Der Grad und die Richtung dieser
Verarbeitung sind sehr mannigfaltig. Bald wirkt die äußere Suggestion stär-
ker, bald schwächer, bald wird mehr der theoretische, bald mehr der prak-
tische Gehalt des empirisch-logischen Glaubensstoffes aufgefaßt und einver-
232
leibt. Der Mutige und Männliche greift lebhaft in die gegebenen Tatsachen
ein und gestaltet sie auf Geheiß seines Eroberungswillens zu einem macht-
vollen Ganzen ; der Ängstliche und Schwache wagt nicht, aus den Tatsachen
weitreichende Schlüsse zu ziehen, wählt auch nur gewisse, seinem Seelen-
zustande genehme Tatsachen aus und läßt die ergänzenden unbeachtet, weil
er ihnen nicht gewachsen ist.
Also das Gestaltende ist das Lebensgefühl, die Willensorganisation. Der
Wille bemächtigt sich der Erfahrung- und Wissensschätze und schafft aus
ihnen ein Gefüge von Grundsätzen, also eine Dogmatik. Jeder Glaube ver-
dankt seine Entstehung dem Drange, eine Verbindung zwischen Gemüts-
bedürfnissen und empirisch-theoretischen Daten herzustellen. Es wirkt stets
beides zusammen: das Persönliche und das Objektive, der durch das Wort
,, Offenbarung" umschriebene psychologische Tatbestand und die Wissen-
schaft. Von dem Stärkeverhältnis der beiden glaubenzeugenden Faktoren
hängt es ab, welcher von beiden das Ergebnis in höherem Grade beeinflußt.
Der Wahnkranke weist, wie wir früher sahen, die äußeren Tatsachen, seien
sie auch noch so zwingend, ab und räumt ihnen keinen Einfluß auf seine
Glaubensbildung ein; mindestens verändert und verschiebt er sie bis zur
Unkenntlichkeit. Auch bei Kindern und geistig zurückgebliebenen Menschen-
gruppen, aber auch bei erregten, innerlich und äußerlich bedrängten Men-
schen finden wir eine sehr geringe Fähigkeit und Bereitwilligkeit, die ge-
gebene Welt richtig zu sehen und das Gesehene zum Aufbau ihrer Glaubens-
welt zu verwerten. Das hegt entweder an der zu groben Organisation oder
der krankhaften Veränderung ihrer seelischen Funktionen. Die Bewußt-
seinsorgane arbeiten bei ihnen mangelhaft und können sich der Tätigkeit
der unbewußten Regungen gegenüber nicht genügend Geltung verschaffen.
Wir erkannten, daß die Arbeit des bewußten Seelenlebens auch bei den
höchstorganisierten und klardenkendsten Geistern von der des unbewußten
Seelenlebens abhängig ist. Die Triebregungen beeinflussen die Richtung des
Denkens und greifen in die Tätigkeit der Sinnenapparate ein. Aber das ge-
schieht in viel geringerer und geregelterer Weise. Das Wichtigste ist, daß die
Bewußtseinstatsachen überhaupt zur Verarbeitung gelangen und auf das
Leben der Tiefe entscheidenden Einfluß ausüben können. Wir schreiben
einem Menschen und Volke einen um so höheren Kulturgrad zu, je mehr das
der FaU ist. Insofern ist die Stellung zur Wissenschaft — das Wort Wissenschaft
im weitesten Sinne genommen — ein vorzüglicher Gradmesser der Kultur.
Nehmen wir den Dämonenglauben als Beispiel, weil er im Mittelpunkte der
bisherigen Glaubensbildung gestanden hat. Der Glaube an Geister ist die
natürlichste und nächstliegende Synthese zwischen sehr starken mensch-
lichen Gemütsbedürfnissen und zahllosen, wenn auch oberflächlichen intel-
233
lektuellen Erfahrungen. Es schien unmöglich, daß die Menschheit je von
diesem Glauben loskommen würde, und bisher halt auch die erdrückende
Mehrzahl der Menschen noch an ihm fest. Trotzdem hat sich ein Teil der
geistig Führenden von ihm freigemacht, augenscheinlich deshalb, weil der
Intellekt den Verzicht auf ihn erzwang. Denn unserem Lebensgefühl wider-
streitet der Dämonenglaube doch nicht in so hohem Grade, daß er deshalb
aufgegeben werden müßte. Zumal in Gestalt der christlichen Dogmatik
kommt der Dämonenglaube den Gefühlsbedürfnissen auch des modernen
Menschen aufs beste entgegen; er beruhigt und gibt sitthche Stärke. Seine
allmähhche Verdrängung kann daher nur durch seine Unvereinbarkeit mit
den Ergebnissen der erstarkten Erkenntnis- und Beobachtungstätigkeit ver-
anlaßt sein. Die Wissenschaft verbietet uns den Dämonenglauben und keiner,
dessen Wahrheitsliebe und intellektuelle Kraft hinreichend entwickelt ist,
kann sich diesem Verbote entziehen.
Viele kommt es sehr hart an, die christlichen Heilsdogmen fahren zu lassen ;
warum tun sie es trotzdem? Warum kämpfen die Besten und Redlichsten
aus jeder Priestergeneration von neuem den schweren, zermürbenden Kampf
des Zweifels, bis sie zum Unglauben an die schöne tröstliche Wunderwelt des
Dämonenglaubens gelangen? Dieser Kampf ist wahrhaftig nicht angenehm;
er macht an und für sich auch nicht stärker und sittlicher, sondern zerstört
vielmehr die freudige Lebenskraft und bringt den Kämpfenden oft auch in
äußere Nöte und Gefahren, Sorge und Schande, Mutlosigkeit und Freud-
losigkeit sind für gar manchen die Früchte, die ihm der Abfall von der reli-
giösen Wunder- und Gotteslehre einbringt.
Der Christgläubige lebt mutig und getrost. Wenn der Priester mit seiner
Kirche in Eintracht bleibt, wenn er als Bundesgenosse Gottes und als Be-
auftragter der gläubigen Gemeinde wider alles Ungöttliche kämpfen darf,
liegt ein Leben voller Arbeit und Freude vor ihm. Ich wüßte nichts Befrie-
digenderes als ein solches, neuerdings wieder von dem Bischof Keppler an-
ziehend geschildertes Christen- und Priesterleben (in dem Buche ,,Mehr
Freude"), wenn nur die objektiven Grundlagen dieses Lebens nicht so mangel-
haft wären. Hätte Jesus recht, daß er die Wahrheit und das Leben sei, hätte
die Kirche recht, daß ihr Dogmengebäude die naturnotwendige Deutung der
Tatsachen weit sei, so wären wir ja Toren, wenn wir uns gegen das dogma-
tische Christentum sperrten. Man muß sich wundern, daß für die gläubigen
Christen Keppler s Mahnruf überhaupt nötig ist und daß es so wenig Priester
gibt, die ihrem Glauben Ehre machen und als frohe Gotteskinder und unbe-
siegliche Gottesboten ihren Beruf durchführen. Offenbar steht der Glaube
der meisten christlichen Priester und Laien eben doch nicht so fest, wie sie
sich und uns glauben machen wollen.
234
Und wie leicht ist es, den Gläubigen die schrecklichen Folgen des Zweifels
und Unglaubens auszumalen ! Die Ruhe des Menschen ist hin, wenn der Zweifel
ihn packt ; die Sterne erlöschen, die Stützen entweichen, der Boden schwankt.
Der Zweifelnde hört auf, ein Führer und starker Freund seiner Mitbrüder zu
sein; er vermag niemanden mehr aufzurichten, niemandem Freude in die
geängstigte Seele zu hauchen, er vermag nichts zu schenken, weil er selber
arm geworden ist, weil er sich als ein gebrochenes heimatloses, aus der Bahn
gerissenes Geschöpf fühlt (vgl. Hoensbroech: 14 Jahre Jesuit). Warum,
frage ich, bheb dieser Mensch nicht in seinem Heimatlande? Was trieb ihn
in die freudlose Fremde?
Nichts anderes als eine neue Erkenntnis, als ein neues Wissen und Er-
fahren hat ihn in die Bahn des Zweifels geworfen. Seine Sinne und sein Ver-
stand haben seinen alten Glauben getötet, haben ihn gezwungen, auf die
Wanderschaft zu gehen und in die Schauer des Nichts hinabzutauchen.
Hätte er seine Sinne und Gedanken im Zaum halten können, so wäre sein
Leben auch fernerhin glücklich und freudig im Sinne Kepplers verlaufen;
er wäre ein wackerer und reicher Kämpfer für die alten Ideale gebheben.
Aber seine intellektuelle EhrHchkeit duldete das nicht ; sie gewann den Sieg
über das Lust- und Beharrungsstreben, das in ihm wie in jedem Menschen
lebt. Er gab alles preis und ging ins Dunkel. Erst hinterher, wenn es ihm
gelang, die neue Erkenntnis mit den Gefühlsbedürfnissen in Einklang zu
bringen und sich einen neuen Glauben zu erobern, wurde er dem Leben
und das Leben ihm wiedergeschenkt.
Darum : Glaube und Wissen sind nicht unabhängig voneinander ; der Glaube
ist nicht niur ein Erzeugnis des fühlenden und sittlich bedürftigen Men-
schen, sondern zugleich auch des erkennenden Menschen. Nietzsche ist zu
weit gegangen, wenn er behauptet, der Mensch glaube nur an das, was ihn
glücklich und stark mache und lehne alles ab, was sein Gedeihen in Frage
stelle. Der , .Beweis der Kraft" hat seine Grenzen ! Der Erkenntniswille des
Menschen kann nicht, wie Nietzsche will (vgl. namenthch über den ,, Willen
ziu Macht als Erkenntnis" im XV. Bande der Werke), dem Machtwillen ein-
fach gleichgesetzt werden. Es gibt eine bis zu einem hohen Grade objektive
Erkenntniskraft im Menschen und dieselbe wirkt bei der Glaubensbildung
nicht weniger mit als der unmittelbare Macht- und Aneignungswille. Nietz-
sche hat aber mit vollem Recht die Anschauung der Gelehrten und unreh-
giösen Modernen zurückgewiesen, wonach der Glaube sich einzig und allein
auf den mit Wahrheitshebe erkämpften wissenschafthchen Ergebnissen auf-
baut. Diese Anschauung ist oberflächlich und weit unpsychologischer als die
der Offenbarungsgläubigen (vgl. Schnabel: Rehgion und Wissenschaft; Die
235
Tat III, 6). Es ist hohe Zeit, daß die Gelehrten, wenn sie schon ihre oberfläch-
liche Anschauung festhalten wollen, wenigstens etwas bescheidener auftreten
und sich nicht als \\'issende und Führende im Reiche des Glaubens gebärden.
Unter den Gelehrten ist die Meinung verbreitet, daß der Zweifel das Gute,
der Glaube das Böse sei. Den Glauben nennen sie , .Illusion", ,, Lebenslüge"
usw. und verlangen, daß man sich von diesen Dingen nach Möglichkeit frei-
halten und freimachen müsse. Dagegen haben mit Recht sowohl die Alt-
gläubigen als die tieferblickenden Geister wie Nietzsche, Guyau, James
Einspruch erhoben. W. James hat in dem Büchlein „Der Wille zum Glau-
ben" (deutsch von Lorenz) offen erklärt, daß der Glaube des Menschen
bestes Teil sei. Nicht was einer weiß, sondern was er glaubt, bestimme seinen
Wert als geistige Persönlichkeit. Ähnlich haben sich auch Nietzsche und
Guyau geäußert, und das Urteil dieser Männer wiegt um so schwerer, weil
sie die Quellen des Glaubens nicht in einer übernatürlichen Welt suchen und
das Recht der Tatsachen ungeschmälert gelten lassen. Sie lehren, daß der
Mensch glauben, aber Herr seines Glaubens sein müsse. Dadurch haben sie
dem Priestertum der Zukunft den Weg gewiesen.
Die Freiheit des glaubenden Menschen wird am schwersten durch die reli-
giösen Rausch- und Entsagungsregeln beeinträchtigt. Erregung und Er-
schöpfung berauben uns der Selbstbeherrschung und geistigen Klarheit. In-
dem der Priester die Erzeugung dieser Zustände als Weg zu Gott und zur
Wahrheit pries, wurde er zum Feinde des wahren, d. h. aus der Synthese
von "U'ille und Erkenntnis geborenen Glaubens. Der Priester brachte es da-
hin, daß die Erkenntnis als etwas Teuflisches, als ,, Versuchung der Schlange"
aufgefaßt wurde; er schrieb der Gottheit ein erkenntnisfeindliches Rausch-
und Traumdasein zu. Er erklärte jeden freien Geist für einen kalten, höhni-
schen Mephistopheles und stellte ihm den schlichten gutgläubigen Gottes-
knecht als religiöses Ideal gegenüber. Vor allem klammerte er sich an die
Ausschweifung und Askese als die besten teufelbannenden und glauben-
fördernden Mittel an. Er überzeugte sich immer von neuem, daß er als gottes-
trunkener Beter, als ekstatischer Tänzer und hungernder Asket am besten
gegen den Zweifel gefeit sei, und ergab sich ganz dem seligen Macht- und
Sicherheitsgefühl, das er der Wirkung der glaubenschaffenden Gottheit zu-
schrieb. Er hatte recht: je weiter sich der Mensch von dem normalen Seelen-
zustande entfernt, um so weniger ist er zur Aufnahme und Würdigung von
Erkenntnistatsachen, zur Bildung von Urteilen und zum prüfenden Nach-
denken fähig. Je stärker der religiöse Rausch, um so loser wird die Verbin-
dung mit der Außenwelt und um so dünner der Gedankenfaden. Eine einzige
Idee wird zur unumschränkten Herrin des Geistes und endlich erlischt das
Bewußtsein gänzlich: der religiöse Anfall erreicht seine Höhe und seinen
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Abschluß. Das heutige Europa ist ziemlich einig darüber, daß die Priester
in ihren berühmten inspiratorischen Zuständen und prophetischen Anfällen
zwar Wahrheiten von hohem persönlichen Wert und sittlicher Kraft gefun-
den und gelehrt haben, aber nicht Wahrheiten, die zugleich als wissenschaft-
liche Ergebnisse und als Früchte eines nüchternen Erkenntniswillens gelten
können. Wissenschaftliche Forschung und religiöse Ekstase sind Gegensätze;
der bisherigen Götter Weisheit steht der irdischen, durch treue menschliche
Arbeit gewonnenen Weisheit feindlich gegenüber.
Daher haben die Priester bis zum heutigen Tage gegen die Krankheit des
Zweifels eine Rausch- und Entsagungskur verordnet. Der eigentliche Zweck
derBußübungen,Wallfahrten, Exerzitien, Gebets- und Versenkungspraktiken
ist : Betäubung und Schwächung des Erkenntniswillens, damit der Glaubens-
wille die Oberhand erhalte und der mißhandelte Organismus sich in die Arme
rettender Wahnbildungen werfe. Der Organismus wird aufgereizt, sich der
schwer einverleibbaren Erkenntnisstoffe zu entledigen und sich durch Phan-
tasie- und Gefühlsentfesselung Erleichterung zu verschaffen. Die Richtung
der Phantasien ergibt sich aus dem ererbten, dem kindlichen Geiste angepaßten
Dogmenschatze, den die Priester in Verwahrung halten und den Hilfe-
suchenden zusammen mit den Diätvorschriften als Medikamente verabfolgen.
Wir verwerfen diese Kur; aber es kann Umstände geben, wo der Arzt
derartige Kuren anwenden muß, gesetzt, daß er das Leben seines Patienten
erhalten will. Es gibt Menschen, auf die die Erkenntnis wie ein giftiger
Bazillus wirkt, und auch stärkere Menschen erleben Schwächezustände, in
denen sie die Konflikte, die zwischen dem Lebensgefühl und dem objektiv
Gegebenen sich erheben, nur mit Hilfe von ablenkenden Rausch- und Ver-
zichtpraktiken zu beseitigen vermögen. Die christlichen Priester führen
stets zugunsten ihrer Kuren an, daß die Menschen durch den Zweifel un-
fehlbar zugrunde gerichtet würden, daher man sie in den Genesungsschlum-
mer der alten Glaubensillusionen einlullen und mit den Rauschgefühlen der
Gotteskindschaft und Auserwähltheit füllen und dadurch wieder zu Kräften
bringen müsse. Wir geben den Priestern zu, daß es solche Menschen gibt, und
überlassen dieselben mit Freuden ihrer Rausch- und Traumkur, zumal wenn
diese Kur den Glaubenspatienten wirklich lebensfähig und tüchtig macht.
Wenn das nicht der Fall ist, wenn die Patienten als büßende Bekehrte ebenso
untätig sind, wie sie als Zweifelnde und Ungläubige waren, tut der Priester-
arzt wohl am besten, keine Arbeit an sie zu verschwenden und sie an der
Krankheit, die sie ergriffen hat, sterben zu lassen.
Der Zweifel ist eine Krankheit, aber wer stark genug ist, diese Krankheit
ohne künstliche Medikamente zu überstehen, dem schlägt sie zum Heile aus :
er erhebt sich vom Krankenlager zu einem neuen Leben. Der Zweifel bildet
237
den Durchgang und Übergang zum wahren gemäßen Glauben und eröffnet
neue Kraftquellen. Die alten Priester haben richtig beobachtet, wenn sie als
Genesungszeichen die Einkehr eines neuen Glaubens angeben ; eine Art Be-
kehrung muß stets den Abschluß einer Zweifelsperiode bilden. Aber der neue
Glaube muß die konträren Tatsachen, die den Zweifel hervorgerufen haben,
in ihrer vollen Kraft bestehen lassen und sie als Glaubensmaterial verwerten.
Wenn der Zweifel durch einen Rückfall in den alten Glauben beendet wird
und der Zweifelnde hinfort vor den konträren Tatsachen ängsthch und
zornig die Augen schließt, kann von Genesung nicht die Rede sein.
Die Priester haben auch darin recht, daß nur der glaubende Mensch wahr-
haft Mensch sei, daß nur er Religion hat. Der Glaube macht selig und ver-
setzt Berge, wie Jesus es ausdrückt. Wenn ein Glaube das nicht leistet, wenn
er die Gläubigen nicht beglückt, ihr Kräftemaß nicht bis zum höchsten
Grade steigert, so ist es ein falscher Glaube. Nur der glaubende Priester ist
auch imstande, eine wirksame priesterliche Tätigkeit auszuüben. Heute sind
Wort und Begriff des Glaubens in Verruf gekommen; das rührt einesteils
davon her, daß die dogmatischen Offenbarungsgläubigen nur ihre Auffas-
sung des Begriffes gelten lassen wollen, andererseits daher, daß in unserem
Zeitalter die Gelehrten einen unnatürlich großen Einfluß im Kulturleben
haben. Die Gelehrsamkeit in allen Ehren — wir haben den Wert der Wissen-
schaft für die Glaubensbildung soeben deutlich hervorgehoben — , aber der
typische Gelehrte weiß von dem Geheimnis der Glaubenssynthese so wenig
wie der Blinde von der Farbe. Wie gern spotten unsere Vertreter der Wissen-
schaft darüber, daß die Menschheit von jeher starken Worten mehr geglaubt
hat als gründlichen Beweisen ! Die Behauptungen königlicher Geister haben
zu allen Zeiten mehr gewirkt als die Beweise kluger Dialektiker.
Aber ist das nicht wirklich beklagenswert ? Ist es nicht eine beschämende
Schwäche unseres Geschlechts, die wir überwinden müssen ? — Nein ; es gibt
Fälle, wo eine Behauptung mehr ist als ein Beweis, wo die einfache Ver-
sicherung mehr Glauben und treueren Gehorsam verdient als die ausführ-
liche Begründung und Erklärung. Hinter den Versicherungen, die uns zum
Glauben und Gehorsam nötigen, steht nämlich ein ganzer Mensch, ja eine
ganze Welt; hinter vielen Beweisen dagegen steht bloß ein tüchtiger Intel-
lekt, der gut zu rechnen und zu zerlegen weiß. Wenn die Menschheit un-
bewiesene Behauptungen geglaubt hat, so hat sie ihr Vertrauen den Männern
geschenkt, die für sie eintraten; deren Persönlichkeit, deren Leben und Tod
war der Wahrheitsbeweis, gewiß ein durchschlagenderer Beweis als die ge-
schickte logische Darlegung eines Stubengelehrten ! Die Menschen fühlen die
Kraft in den Worten ihrer berufenen Führer; diese Worte hallen in ihnen
wider, sie werden verstanden wie nie ein Gelehrtenwort verstanden wird.
238
Und weil man die Worte versteht und sich mit dem Sprecher, indem man
sie hört, eins fühlt, glaubt und folgt man ihnen. Der wahre Priester strahlt
Kraft aus und beweist seinen Glauben durch sein Leben — das sind die
beiden Gründe für den Erfolg der großen religiösen Lehrer.
Die Wissenschaftler, die gern Lehrer und Priester der Gegenwart und
Zukunft sein möchten, sollten vor allen Dingen lernen, ihre ganze Persön-
lichkeit in jedes ihrer Werke hineinzulegen; dann würden sie auch die Kraft
gewinnen, für ihre Lehren mit Gut and Blut einzustehen. Wie wenige tun
das heute! Wie viele reden und schreiben unaufhörlich, ohne im mindesten
daran zu denken, die Folgerungen aus ihren eigenen Lehren zu ziehen. Wir
müssen hier noch einmal auf die modernen Theologen hinweisen. Deren
Gelehrsamkeit, deren Scharfsinn und intellektuelle Ehrlichkeit verdient alle
Anerkennung, aber geben sie sich nur die geringste Mühe, das Evangelium
Jesu, zu dem sie sich bekennen, zur Tat zu machen und so auf die wirksamste
Weise für dasselbe zu werben? Sie erklären Jesus für das höchste Vorbild
und die ewige Richtschnur der nachgeborenen Menschheit; aber sie leben
in keinem Punkte so, wie Jesus gelebt und gelehrt hat, sondern führen ein
heidnisches Leben ebenso wie wir, die wir uns vom Christentum losgesagt
haben. Sie sorgen und arbeiten, sie widerstehen dem Bösen, sie wirken für
den Staat und für die Familie, sie sammeln irdische Schätze und setzen also
ganz offenbar ihren Stolz darein, alles das zu tun, was Jesus als Ablenkungen
und Abhaltungen von dem wahren Leben in Gott verurteilt hat; sie ver-
leugnen ihr Vorbild täghch und stündhch. Das Merkwürdigste dabei ist, daß
diese selben Männer uns den wahren Jesus klar und deuthch beschrieben
haben ; sie \\dssen, was Jesus gelehrt und wie er gelebt hat, und halten die
schönsten Predigten über christliche und unchristliche Gesinnung. Aber es
bleibt bei ihnen bei der Theorie; ihre Kenntnis und ihre klugen Nachweise
entbehren der praktischen Kraft und führen höchstens zu einem schwäch-
lichen Kompromiß. Daher finden diese Priestergelehrten so wenig Glauben
im Volke. Man holt sich wissenschaftliche Belehrung von ihnen, läßt sich
auch wohl durch sie in eine flüchtige Andachtsstimmung versetzen; aber
niemand richtet sich an ihrem Glauben auf und wird durch sie zum prak-
tischen Christentum geführt. Sie sind keine Jünger Jesu, was sie uns und
sich selber auch glauben machen mögen. Ihr Meister lehrte auf Grund eines
felsenfesten Glaubens und machte Ernst mit diesem Glauben ; er verlieB wirk-
hch die Welt, um des Reiches Gottes wiUen, diese Welt, in der die heutigen
Christen sich's wohl sein lassen ; er bewies seine unbewiesenen Behauptungen
durch jeden Atemzug, den er tat. Kurz: er hatte Glauben, darum glaubte
ihm die Menschheit; viele moderne Theologen haben keinen Glauben, darum
finden sie auch keinen Glauben.
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Diese glaubensschwachen Theologen sind im Gefühle ihrer Schwäche auf
einen rettenden Gedanken verfallen. Sie erklären, daß es in der Religion
überhaupt nicht auf den Glauben ankomme. Die Religion sei etwas rein
Praktisches, eine Sache des Gefühls und des Handelns ; was man glaube, sei
gleichgültig; auch den großen religiösen Geistern der Vergangenheit sei der
Glaube und die dogmatische Lehre Nebensache gewesen. Diese Anschauung
vermischt Richtiges mit Falschem. Daß die Praxis Anfang und Ende der
Rehgion ist, wissen wir alle; aber die religiöse Praxis ist ohne Glaube, d. h.
ohne feste Welt- und Lebensanschauung, gar nichts. Die modernen Christen
sind nur deshalb so schwache Praktiker, weil sie die dogmatischen Funda-
mente des Christentimis verlassen haben, ohne eine neue Grundlegung des
Glaubens zu versuchen. Man kann die Ethik nicht von der Metaphysik
trennen; eine nur ethische Kultur ist ein Widerspruch in sich selber.
Diese Sätze klingen, wie ich wohl weiß, vielen freigesinnten Zeitgenossen
befremdend ; die Gelehrten auf der einen Seite, der religiöse Zusammenbruch
auf der anderen Seite haben das Verständnis für den sittlich-religiösen Wert
der Metaphysik getrübt; aber wer sich selber kennt und in der Menschen-
geschichte zu lesen versteht, muß einsehen, daß kräftige Zeitalter die Meta-
physik nie haben entbehren können noch wollen.
Folgt daraus, daß der Priester der Zukunft Glaubenssätze aufstellen und
predigen soll? — Ja. Er kann nicht anders. Jede wirksame Predigt enthält
dogmatische Elemente; sie muß ihre Paränesen und sittUchen Belehrungen
auf eine Weltanschauung gründen. Natürlich braucht diese Weltanschauung
nicht zu einem begrifflichen System, auch nicht zu einer geschlossenen My-
thologie zusammengefaßt zu werden ; sie braucht überhaupt nicht formuliert,
nicht zum Gegenstand der ,, Lehre" gemacht zu werden. Aber vorhanden und
unausgesprochen wirksam muß sie sein. Bei den religiösen Neuerern bleibt
die Dogmatik im Hintergrunde. Bei Jesus hat man das Vorhandensein einer
Dogmatik ganz leugnen wollen, sehr mit Unrecht ; Jesus ist nicht so undog-
matisch, wie die Theologen, die über das Wesen des Christentums schreiben,
annehmen. Da der Hauptzweck jedes prophetischen Predigers auf das han-
delnde Leben seines Volkes gerichtet ist, stellt er im Anfange seines Auf-
tretens naturgemäß alles nicht unmittelbar Praktische zurück. Er begründet
nicht; er läßt die mythologisch-metaphysische Grundlage seines Evange-
liums im Dunkeln. Je bedrängter er und sein Volk sind, um so mehr wird das
der Fall sein. Aber sehr bald wird er gewahr werden, daß es ohne Begründung
nicht abgeht. Die Begründung der Ethik kann aber nie rein empirisch und
logisch sein; die Metaphysik muß zu Hilfe gerufen werden. Jeder tiefe
Mensch will sein Leben imd Handeln mit dem All in Zusammenhang bringen,
will sich in das Universum einordnen und sein Dasein aus dem Gesamtdasein
240
verstehen lernen. Dabei soll ihm der Priester behilflich sein, indem er seine
Predigt in einem festen und machtvollen Glauben verankert.
Welches aber sind die Grundsätze der zukünftigen Dogmatik ? Woher
nimmt der Priester der Freiheit die Glaubensüberzeugungen, die er
seiner Gemeinde predigen soll ? — Er kann sie nur aus sich selber schöpfen ;
denn einen Kanon wird es nicht mehr geben. Der Priester wird auf eigene
Verantwortung und Gefahr lehren.
Aber wird das religiöse Leben dadurch nicht zu einem chaotischen Durch-
einander und Gegeneinander von Lehren und sittlichen Idealen? — Nein;
vorausgesetzt, daß der Priester zu seinem hohen Amte richtig erzogen und
von einer richtig erzogenen Gemeinde unterstützt und getragen wird. Der
künftige Priester muß zur Freiheit und Selbstverantwortung, nicht wie bis-
her zur dogmatischen Gebundenheit und zum religiösen Leichtsinn erzogen
werden. Das Verantwortungsgefühl und die Verantwortungsfähigkeit, die
bei unseren heutigen Priesterkandidaten systematisch unterdrückt werden,
müssen systematisch entvidckelt und aufs höchste gesteigert werden. Statt
dem werdenden religiösen Lehrer fertige Dogmen einzuflößen oder ihn mit
rein wissenschaftlichem, bibelkritischem Können auszustatten, muß man ihn
fähig machen, sich eine eigene Glaubenswelt zu erbauen und dieselbe mit
Mut und BeharrHchkeit zu predigen, wie der Dichter seine Gesichte ver-
kündigt und der Kriegsmann seinen Degen gebraucht. Die Erziehungsmittel,
die dabei in Anwendung zu bringen sind, werden von den Pädagogen unserer
Zeit allgemach deutlich erkannt : die Erzieher beginnen einzusehen, daß die
Entwicklung des Verantwortungsgefühls der Kern der neuen Erziehung ist
und daß Arbeit und Spiel, Selbstbetätigung und Gemeinsamkeit die Mächte
sind, durch die diese Entwicklung in die Wege geleitet werden muß (vgl. die
Arbeiten Kerschensteiners und anderer). Die heutigen Erziehungsbehör-
den, die weltlichen wie die geistlichen, sind allerdings vom Verständnis dieser
pädagogischen Grundfragen noch weit entfernt. Sie leben noch immer in dem
Banne der alten Anschauung, daß Erziehung nichts weiter als Abrichtung
und theoretisch-technische Unterweisung sei. Sie setzen sich mit unbegreif-
lichem Leichtsinn darüber hinweg, daß die europäische Kultur seit einigen
Jahrhunderten eine Wandlung vom Ideal der Heteronomie zu dem der Auto-
nomie durchmacht und daß durch diese Wandlung das ganze Erziehungs-
wesen in seinen Grundfesten erschüttert wird und auf eine andere Basis ge-
stellt werden muß.
Wir haben es hier nur mit der Erziehung zum religiösen Erzieheramt zu
tun (über die Frage im ganzen vgl, meine „Erziehung der modernen Seele"
und die auf diesem Buch weiterbauenden pädagogischen Aufsätze in der
16 Home ff er, Der Priester II 241
,,Tat"). Bei den Priestern macht sich die Gefährlichkeit des neuen Erzie-
hungsideals am stärksten geltend; die Widersprüche zwischen den Mitteln,
Erfolgen und Absichten der priesterlichen Erziehung haben eine ungeheuer-
liche Größe erreicht. Man sieht nicht und will nicht sehen, wie schwer und
wie verantwortungsvoll das Priesteramt in dem neuen Sinne ist. Den Ortho-
doxen beider Konfessionen kann man keinen Vorwurf daraus machen ; denn
sie fassen ja den Priester immer noch als Lehrer alter feststehender Glaubens-
wahrheiten auf, nicht als Führer zur autonomen Glaubensbildung. Wer
tin orthodoxer Priester werden will, maß sich nur den alten Glaubenskanon
einprägen und die Fähigkeit zu gewinnen suchen, ihn lehrend der Gemeinde
und dem jüngeren Geschlecht zu übermitteln. Ganz anders bei den Liberalen
aller Schattierungen, die so laut den Grundsatz der persönlichen Religiosität
proklamieren. Verlangen und schaffen sie für die von ihnen ersehnten Prie-
ster der Freiheit die pädagogischen Lebensbedingungen ? — Was lernen denn
die angehenden Theologen auf unseren Universitäten? Werden sie dort zu
selbständigen Köpfen und Charakteren erzogen ? Lernen sie die unbegrenzte
Welt der Tatsachen auf Grund einer tatkräftigen Sittlichkeit erobern und
verarbeiten ? Lernen sie die Unerschrockenheit des Bekennens und den Mut
des Zu-Ende-Denkens? Wird ihnen die Verantwortung, die sie als religiöse
Führer zu tragen haben, in ihrer ganzen Schwere zum Bewußtsein gebracht?
— Ach nein; sehr viele unserer Universitätslehrer sind gar nicht imstande,
das alles zu lehren, weil sie es selber nicht besitzen. Die Studenten werden
mit theologischen Kenntnissen ausgerüstet, mit kritischer Methode bewaff-
net, zur Vorsicht und religiösen Leisetreterei ermahnt; das ist alles. Man
muß sich wundern, daß es trotzdem unter den Pfarrern immer wieder ein-
zelne Männer gibt, die das Ideal des freien Priestertums mit Kraft zu ver-
wirkhchen suchen. Aber sie bleiben naturgemäß in der Minderzahl und ge-
raten unfehlbar mit ihren kirchlichen Verpflichtungen in Widersprach.
Das Problem der Kirche soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. Hier
ist nur auf die Unvereinbarkeit des christlichen Kirchenbegriffs mit dem
Glaubens- und Lehrbegriff der Zukunft hinzuweisen. Die Kirche verlangt
von den Priestern die Ablegung eines Gelübdes. Jeder beamtete religiöse
Lehrer unseres Volkes hat sich beim Antritt seines Amtes auf bestimmte
Dogmen und Lehrsätze verpflichtet ; es werden ihm also von vornherein die
Hände gebunden und die Erziehungsaufgaben, die ein freier Priester zu er-
füllen hat, unmöglich gemacht. Über die traurige Schmach dieses Gelübde-
wesens findet man in verschiedenen Aufsätzen der Monatsschrift ,,Die Tat"
Näheres. Bevor nicht alle dogmatischen Gelübde und Eide abgeschafft sind,
kann von der Freiheit des Glaubens und der Lehre, mit der die hberalen und
modernistischen Geisthchen sich brüsten, keine Rede sein; und wenn diese
242
Geistlichen nicht einmütig für die Abschaffung eintreten und jedes Mittel
anwenden, um sie durchzusetzen, kann ihr Kampf für die Bekenntnisfrei-
heit nicht ernstgenommen werden.
Erst die freien, nur sich selber verantwortlichen Priester werden sich einen
eigenen wertvollen Glauben schaffen und wirksame Erzieher zur persönlichen
Glaubensbildung sein. Erst sie werden wieder lernen, was die Propheten alter
und neuer Zeiten konnten : aus vollem reinen Herzen zu lehren und zu pre-
digen. Dann wird auch das Volk aufhorchen, wird die Priester suchen und
verehren ; und das Wort Glaube wird neuen edlen Glanz gewinnen.
Dann wird sich auch zeigen, daß die Folge der religiösen Lehrfreiheit nicht
geistiger Anarchismus ist, daß der unabhängige Priester nicht ein Führer
zum sittlichen und religiösen Ruin ist. Vielmehr wird die Proklamierung der
schrankenlosen dogmatischen Freiheit eine sittliche Erneuerung und kräf-
tige religiöse Formbildung zur Folge haben. Wenn die Prediger sich von dem
Bewußtsein durchdringen lassen, daß sie mit ihrer Predigt die Verantwor-
tung für das Ganze, für das Heil der Gemeinde und für die gesamte Zukunft
übernehmen, werden sie Form, Gesetz, Fürsorge für alle predigen. Sie wer-
den ganz neu die alte Wahrheit erfassen, daß des Menschen Natur nicht
Bosheit und Vemichtungslust ist, sondern umgekehrt : Wille zur Form, zur
Schönheit, zur Vergöttlichung. Sie werden diejenigen Kräfte als des Men-
schen schönstes Besitztum entdecken, die die Offenbarungsgläubigen den
Wunsch wesen einer anderen Welt zugeschrieben haben.
Die Freigabe der Dogmatik wird nicht eine noch größere Zerspaltung der
Geister in Glaubensfragen nach sich ziehen, sondern wird eine vereinheit-
lichende und gemeinschaftsbildende Wirkung haben! Schon jetzt verbirgt
sich hinter den tausend widersprechenden Meinungen unserer Zeitgenossen
eine keimhafte Einheitlichkeit des Glaubens. Die Aufgabe des Priesters der
Freiheit ist die, diesen im Keim vorhandenen Glauben zum Wachsen zu
bringen und zum Siege zu führen. Er soll ihn aussprechen, aber so aus-
sprechen, daß alle ihn als den ihrigen erkennen und von dem unwidersteh-
lichen Drange erfüllt werden, ihn wahrzumachen, d. h. ihn in Leben und
Handeln umzusetzen. Auf, ihr Lehrer unseres Volkes, ihr Priester der Frei-
heit! Gebt uns den Glauben, nach dem jede lebendige zukunftsfrohe Seele
des Zeitalters lechzt ! Werdet so frei, so wahr, so ganz, daß euer Glaube auch
uns frei und wahr und ganz macht ! Eure Lehre sei so gewaltig, daß ihr die
religiöse Spannung, die auf unserem Volke lastet, zur vollen beglückenden
Entladung bringt ! Seid Geburtshelfer; holet das Geheimste aus eurem Herzen
hervor, denn damit habt ihr auch aus unserem Herzen das Verborgenste
hervorgezogen und unserem eigenen Glauben zum Leben und zur kraft-
vollen Entfaltung verholfen! —
x6' 243
Auch an einer ausreichenden \vissenschaftlichen Ausrüstung im weiteren
Sinne fehlt es den heutigen rehgiösen Führern. Die Wissenschaft hat große
Reichtümer aufgehäuft; aber sie werden viel zu wenig für die Glaubens-
bildung ausgenutzt. Wer erlöst die Philosophie, Soziologie und Naturwissen-
schaft aus der Gefangenschaft, in der sie die Fachgelehrten halten ? Fast nur
die neuere Biologie ist reügiös versvertet worden; aber so viel dieselbe zu
leisten vermag, sind doch die Ergebnisse einer einseitig biologischen Glau-
bensbildung notwendig unzureichend, daher denn die zuerst mit großer Be-
geisterung aufgenommenen naturwissenschaftlichen Propheten eine tiefe
Enttäuschung hinterlassen haben. Die Naturphilosophie droht heute in
Mystik umzuschlagen, weil die Naturphilosophie cds solche nicht religiös be-
friedigen kann und auch niemals befriedigt hat. Die Geister in der Tiefe
der Menschenbrust verlangen ihr Recht ; der Mensch mit seinen geheimsten
Wünschen und Kräften muß den Mittelpunkt des religiösen Glaubens bilden.
Daher muß die Wissenschaft vom geistigen Menschen, von seiner Entwick-
lung und seinen Schicksalen, seinen Schöpfungen und Irrungen ergänzend
und berichtigend an die Seite der Naturwissenschaften treten. Die Weisheit
der Ahnen muß in viel umfassenderer Weise zu Rate gezogen werden, als
es heute trotz unserer Philologie und Geschichtswissenschaft geschieht. Es
ist lächerhch und traurig anzusehen, wie achtlos unsere Zeit z. B. an den
rehgiösen Werten, die im Griechentum enthalten sind, vorübergeht. Weder
die Philologen noch die Theologen ahnen, wie befruchtend Hellas auf unser
Glaubensleben wirken kann. Die Universität und die Mittelschule sind sich
leider ihrer rehgiös-pädagogischen Pflichten fast gar nicht bewußt ; sie ver-
stehen es nicht, wenn man ihnen zuruft : ihr habt für die Glaubensbüdimg der
jüngeren Generationen zu sorgen; ihr seid für das ,, Seelenheil" eurer Anver-
trauten in vollem Umfang verantworthch ; der Weg zu der Religion, nach der
imser Zeitalter verlangt, führt durch die Schulel
Wir wollen hier nur eines von dem erwähnen, was die werdenden Menschen
in der Schule für den Aufbau ihres Glaubens gewännen können und sollen.
Sie lernen die Gesetzmäßigkeit und Berechenbarkeit des Weltlaufes kennen
und werden mit dem Entwicklungsgedanken vertraut gemacht. Geschieht
das in richtiger und eindringlicher Weise, so werden die jugendlichen Geister
tief erschüttert und umgestaltet. Denn was ist der Mensch, solange ihm Welt
und Leben eine imdurchdringhche Masse von Gesetzlosigkeit sind? Er ist
ein ohnmächtiges, angstvoll und unvernünftig lebendes Wesen ; er ist wesent-
lich passiv und läßt die Ereignisse in dumpfem Fatalismus über sich ergehen,
falls er nicht durch religiöse Zaubermittel das Weltgeschehen zu beeinflussen
sucht. Daher ist der Glaube der vorwissenschaftlichen Menschheit Abhängig-
keits- und Zauberglaube. Mit wachsender Einsicht in die Gesetze des Lebens
244
schwindet das Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit" mehr und mehr; es
weicht dem Gefühl der Schöpferkraft und Herrschergewalt des Menschen.
Der erkennende Mensch, dem die Vorgänge in der Natur und die Eigen-
schaften und Erlebnisse seines Geschlechts nicht mehr unverständliche und
zusammenhanglose Einzelheiten sind, sondern eine Kette durchschaubarer
und berechenbarer Entwicklungserscheinungen, sieht dem Weltlauf mit
ganz anderen Empfindungen zu und fügt sich ihm mit ganz anderem Willen
ein als der blinde und unwissende Mensch. Er arbeitet mit, er sucht immer
tiefer in die Geheimnisse einzudringen, macht sich dadurch zum Herrn und
Meister und beginnt vor allem seine und seines Volkes Zukunft mit Vernunft
zu lenken und zu regeln. Den Widerschein der wachsenden Erkenntnis sehen
wir auch in den religiösen Phantasieschöpfungen des Menschen. Die Götter
sind größer und vernünftiger geworden ; sie erscheinen schheßhch als perso-
nifizierte Gesetze, als Schöpfer der Urzelle, als mythologischer Ausdruck
sitthcher und gedanklicher Bedürfnisse des Menschen. Der Mensch, der die
Natur und sich selber verstehen lernte und aus einem bewußtlosen Tier zu
einem selbstbewußten und vorsorgenden Wesen wurde, verlegte seinen
Schöpferwillen nach außen und nannte ihn Gott. Wenn unser Zeitalter die
Gottheit überhaupt noch klar denkt und schaut, so kann es sie nur als ein
vergrößertes Nachbild der menschhchen Eigenschaften und Willensregungen
schauen. Gott ist der mitkämpfende Schatten des kämpfenden Menschen.
Faßt man Gott anders, nämlich als Inbegriff des Seins, als Weltseele oder
dergleichen, so fehlt dem Begriff alle rehgiöse Kraft. Der Gott der Panthe-
isten — auch die christliche Dogmatik ist, wenn sie mit den Begriffen All-
macht, Allgegenwart, Allwissenheit Ernst macht, pantheistisch — ist nur
ein Wort für das gesetzmäßige Weltgeschehen oder eine Umschreibung
euphorischer Rauschgefühle. Menschen von starkem Lebensgefühl haben
niemals an die Allmacht und Allgegenwart Gottes geglaubt, aus dem ein-
fachen Grunde, weil dieser Glaube das Handeln überflüssig macht und die
Entwicklung aufhebt. Aber wie dem Lebensgefühl, so widerspricht der voll-
kommene Gott auch den gegebenen Tatsachen und ihrer wissenschaftlichen
Deutung. Nur Mystiker und Ekstatiker können von ganzem Herzen an die-
sen Gott glauben, also daran, daß das Ziel alles Lebens bereits erreicht und die
höchste, endgültige Form des Seins bereits vorhanden sei. Die kräftigen
Menschen haben, ohne es zu wissen, diesem Dogma mit jedem Werk und
jedem Atemzuge den Krieg erklärt; denn jedes kräftigen jMenschen Wirken
zielt darauf, der Idee der Vollkommenheit, die er in sich trägt, erst zur Ver-
wirkhchung zu verhelfen. Gott ist eine Forderung, nicht eine Tatsache!
Dies Glaubensbekenntnis ist am schönsten von unserem zeitgenössischen
Propheten Friedrich Nietzsche formuliert worden und wir vertrauen dar-
245
auf, daß sich alle zukunftsfrohen Geister um dasselbe scharen werden. Schon
hat mehr als ein christlicher Priester Nietzsches Lehre von der Vergottung
der Welt angenommen; möchten diese Priester doch den Mut finden, sich
offen zu dieser Lehre zu bekennen und mit uns das neue Evangelium zu
predigen: es gibt keinen vollkommenen Gott, keinen Weltenbaumeister,
keinen allwissenden und allgütigen Vater und Schirmer, der im Himmel
thront und in Gestalt Christi auf die Erde herabgestiegen ist! Das
alles sind nur Umschreibungen des übermächtigen Sehnsuchtsdranges
des Menschen, die Welt zu vergotten und ihr den menschhchen Form-
willen aufzuprägen. Gott ist das Endziel der W^elt, nicht ihr Anfang, und
der Mensch ist das höchste der unbekannten Organe zur Erreichung
dieses Endziels.
Und der Priester? Er soll das Auge und der überredende Mund sein. Er
schaut mit visionärer Klarheit den Gott, den wir zu schaffen haben, und ruft
die Säumigen zur Arbeit, zum heiligen Tagewerk. Er ist Aufseher des größten
Tempelbaus, ist Antreiber zur Verwirklichung der sittlichen Weltordnung,
ist Führer zur Vergottung der Natur und des jMenschen.
Jedoch müssen wir hier innehalten; denn es ist nicht die Absicht dieses
Buches, den Inhalt des neuen Glaubens zu erforschen und die metaphysisch-
ethischen Fragen um ihrer selbst willen zu erörtern. Die Grundzüge des
künftigen Gottesglaubens aber mußten deshalb angedeutet werden, weil da-
von die Lehraufgabe des künftigen Priestertums abhängt. Wie in alten Zei-
ten, wird auch in Zukunft der Gottesglaube und die Gotteslehre der Aus-
gangspunkt des priesterlichen Wirkens und Predigens sein. Dem All soll der
Priester vertraut sein ; die Einheit mit dem All, zu der ihn Wissenschaft und
Leben geführt hat, soll er predigen. Dann wird seine Predigt ganz von selber
das werden, was die Predigt der heutigen Priester oft in so unzureichender
und unpassender Weise ist, nämlich Moralpredigt. Moralpredigten sind nur
dann wertvoll und überzeugend, wenn sie sich auf einen religiösen Glauben
gründen. Wenn die modernen Geistlichen das Moralpredigen meiden oder
es so treiben, daß die Gemeinde sich gelangweilt oder beleidigt fühlt, so ist
das ein deutlicher Beweis dafür, daß diese Geistlichen keine wahren Gottes-
gläubigen und Gottesweisen sind.
Freilich haben es die heutigen Pfarrer dadurch sehr schwer, daß ihre Ge-
meinde keine geistige Einheit bildet. Die Gemeinde hat nicht den Glauben
des Priesters und auch die Gemeindeglieder untereinander weichen in ihrer
Lebens- und Weltanschauung weit voneinander ab. Um so ernstlicher tritt
die Forderung an den Priester heran, sein Predigtamt so zu führen wie die
echten Propheten alter und neuer Zeit. Er muß das Volk zur rehgiösen Ein-
heit führen, und er vermag das, wenn er nicht müde wird, Gott zu suchen und
246
zu ergreifen. Einem Gottsucher, der alle Lebens- und Erkenntnisschätze
in treuer Arbeit für den Aufbau seiner Glaubenswelt verwertet, wird die Ge-
meinde vertrauen und folgen. Die Unterschiede in den Glaubensinhalten der
Einzelnen werden zurücktreten und der Prediger wird zu einer wirklichen
Gemeinde, der Sitten- und Lebenslehrer zu verstehenden und mitstrebenden
Brüdern sprechen. Sein Glaube wird Berge versetzen; seine Lehre wird die
Zaubermacht der Propheten werte haben.
Isi 5. KIRCHE UND KULTUS 1^1
Das religiöse Leben hat sich stets in religiösen Formen entfaltet. Der Glaube
wollte Wort und Handlung, d. h. Ritus und Kultus werden, und die Be-
kenner eines und desselben Glaubens schlössen sich zu Bünden, zu soge-
nannten Kirchen zusammen, um sich ihres Glaubens desto fester zu ver-
sichern und ihn wirkungsvoller zu betätigen. Kirche und Kultus gehören
zusammen ; eines ohne das andere kann nicht bestehen oder führt doch nur
ein schwaches und kümmerliches Dasein. Heute befinden sich beide in Be-
drängnis. Die meisten ,, Ungläubigen" verwerfen das Kirchen- und Kult-
wesen gänzlich, ohne freilich die praktische Folgerung aus dieser Verwerfung
zu ziehen, d. h. auf die kirchlichen Zeremonien (namentlich auf die Taufe,
die Konfirmation, die Trauung und rituelle Beerdigung) zu verzichten und
den Religionsbund, dem sie angehören, zu verlassen. Wenn das alle Gegner
des kirchhchen und kultischen Religionswesens täten, würden die Kirchen
einen großen Teil ihrer Mitglieder verheren. Aber auch viele von den halb
oder ganz christlich Gesinnten schätzen Kirche und Kultus gering, halten
sich von den Gottesdiensten fem oder besuchen sie nur aus unreligiösen
Gründen, Bei den Protestanten steht es in diesem Punkte noch schlimmer
als bei den Katholiken. Der Besuch der protestantischen Kirchenakte ist
sehr gering und von den Besuchern haben manche nur äußere Motive, andere
kommen um eines Vortrags, nicht um der kirchlichen Handlung willen. Der
protestantische Kultus übt viel weniger Anziehung aus als der katholische.
Wenn die katholische Kirche dem Vortragsgottesdienst auch mehr und mehr
Bedeutung eingeräumt hat und über vorzügliche Kanzelredner verfügt,
bildet doch immer noch die Messe, also eine rituelle Begehung, den Mittel-
punkt des katholischen Kirchenlebens. Die Messe gilt dem frommen Katho-
liken unvergleichlich mehr als dem Protestanten die Liturgie. Aach die
übrigen kultischen Pflichten und Übungen nimmt der Katholik ernster als
der Protestant. Woran liegt das? Der katholische Kultus muß doch wohl
lebensvoller und die katholische Bundesbildung kräftiger sein. Die Prote-
247
stanten irren sich, wenn sie glauben, die zahlreiche und eifrige Teilnahme
der Kathohken an den kultischen Veranstaltungen rühre von den mora-
lischen Zwangsmitteln her, die die Kirche anwende. Gewiß übt die katho-
hsche Kirche direkten und indirekten Zwang aus, um ihre Angehörigen zur
pünktUchen Erfüllung ihrer kirchlichen Pflichten anzuhalten ; aber es fällt
doch heute fast niemandem mehr schwer, sich diesem Zwang zu entziehen,
sobald er einmal das Kindesaltcr überschritten hat. Die Zeit der Kirchen-
strafen ist vorüber ; das Drängen und Mahnen der kirchlichen und mitimter
auch der weltlichen Behörden kann zwar lästig werden, wird aber die Wider-
willigen nicht zu fleißigen Kirchen- und Beichtgängern machen. Nein, die
meisten kathohschen Kirchenbesucher kommen aus freien Stücken ; sie fin-
den in den Kultübungen und in der Beteiligung an dem kirchHchen Gemein-
schaftsleben Befriedigung ilirer religiösen Bedürfnisse. Das kann wie gesagt
nur darin seinen Grund haben, daß der Kathohzismus seinen Anhängern
etwas rehgiös Wertvolles bietet. Wertvolleres als der Protestantismus der
nichtkatholischen Christenheit.
Der Protestantismus ist in bezug auf Kultus und Bundesleben seines
Namens allzu eingedenk gebheben: er ist der Protest gegen eine ReHgion,
aber nur in geringem Maße selber eine Religion. Er hat allenthalben Ab-
striche von den katholischen Formen und Forderungen gemacht, aber wenig
Neues in die entstandenen Lücken eingefügt. Alles in allem hat er den Kultus
nüchtern und langweiUg gemacht und dadurch die kirchHchen Bande ge-
lockert. Die protestantischen Gemeinden sind gegen Kirche und Kultus
immer gleichgültiger geworden und haben das Gefühl für die rehgiöse Zu-
sammengehörigkeit immer mehr verloren. Sie bilden kaum noch einen Bund,
kaum noch eine geschlossene ReUgionsgemeinschaft, w^ährend bei den Ka-
thohken das GemeinsamkeitsbewTißtsein bekanntlich sehr stark entwickelt
ist. Kathohken fühlen sich untereinander wie unter Brüdern; der Bundes-
geist weilt stets in ihrer Mitte. Die Priester und die ,, ehrwürdigen Schwe-
stern" sind die lebendigen SjTnbole dieses Bundesgeistes; und die gemein-
samen Kultformen, namentlich die Messe in ihrer internationcden Allge-
meingültigkeit, überbrücken alle Gegensätze imd bannen alle Fremdheiten.
Wir haben die Frage zu beantworten, ob die Lockerung der religiösen Ge-
meinschaftsbande ein Segen oder ein Unsegen für die Rehgion ist. Und die
Beantwortung dieser Frage ist nur im Zusammenhang mit der Erwägung
möglich, ob der Kultus ein entbehrliches oder ein imentbehrliches Stück
wahrer Religiosität ist; denn der Kultus ist die Seele des kirchlichen Ge-
meinschaftslebens. Ohne Kultus ist die Kirche ein bloßer Verein, ein Vor-
trags- und Gesangverein wie es heute so viele gibt. Nur die gemeinsam ge-
übten oder von dem Vertreter der Gemeinde vorgenommenen heiligen Hand-
248
lungen erzeugen jenes starke Bundesgefühl, das die Religionsgemeinschatten
von jeher ausgezeichnet hat. Nur für einen Kultbund setzen die Mitglieder
ihr Leben ein, opfern sie ihre Güter und Kräfte, bauen gewaltige Bundes-
häuser und verteidigen ihre Heiligtümer gegen die ganze Welt. Daher hängt
die Zukunft des religiösen Bundeswesens ausschließlich von der Zukunft
des religiösen Ritenwesens ab. Hat der Ritus keine Zukunft und ist er nur
ein Überbleibsel einer überwundenen Stufe des menschlichen Rehgions-
lebens, so hat auch die Kirche keine Zukunft und wird höchstens als rehgiös-
künstlerischer Verein fortleben. Die Religion wird forthin „Privatsache"
sein und kein Gemeinschaftsdasein mehr führen.
Fast alle freidenkenden Zeitgenossen halten diese Entwicklung für un-
abwendbar und für wünschenswert. Auch mein Bruder und ich sind früher
dieser Meinung gewesen; wir haben nicht nur an dem Kampfe gegen die
bestehenden Religionsbünde teilgenommen, sondern auch als Endziel der
heutigen religiösen Krise die Gewinnung eines rein persönlichen, organisa-
tionslosen Religionswesens angesehen. Allgemach haben wir unsere Meinung
geändert; einerseits die praktische religiöse Lehrtätigkeit, andererseits das
Studium der religiösen Vergangenheit und des religiösen Menschentypus hat
uns zu der Überzeugung gebracht, daß Kirche und Kultus nicht ein Hemm-
nis, sondern die Vorbedingung kräftigen religiösen Lebens sind. Wir glauben
heute, daß auch die künftige Rehgion die Gemeinschaftsbildung und das reli-
giöse Ritual nicht %vird entbehren können. Der am häufigsten erhobene Ein-
wand dagegen : daß nämlich Kirche und Kultus mit völliger religiöser Frei-
heit unvereinbar seien, ist nicht stichhaltig. Die religiöse Bundesbildung als
solche hat mit dem Despotismus der dogmatischen Kirchen gar nichts zu
tun. Ebenso wie ein Staat kein Despotenstaat zu sein braucht und trotzdem
große Festigkeit nach innen und außen, auch Gesetze und Verfassung haben
kann, so kann auch ein Rehgionsbund Kraft und Dauer haben, wenn er
auf dem Grundsatze der Freiheit aufgebaut ist. Der Freistaat ist sogar ein
viel stolzeres und mächtigeres Gebilde als der Tyrannenstaat. So wird auch
die Freikirche dem menschlichen Organisierungsdrang weit lohnendere Be-
tätigungsfelder eröffnen als die Papstkirche und die dogmatischen Buch-
kirchen.
Wer ist denn frei ? Im Grunde kann nur der Bund, nicht der Einzelmensch
frei sein. Durch den Zusammenschluß verwandtschaftlich oder sonstwie Ver-
bundener ist die Freiheit in die Welt gerufen worden; in Gestalt von Bünden
hat die Menschheit sich über die Tierheit erhoben und mit Hilfe der Gemein-
schaftsbildung hat sie die Kraft gewonnen, autonom, d. h. nach eigenen
Gesetzen zu handeln und zu leben. Der Gottesglaube der Zukunft, wie ich
ihn oben zu schildern versuchte, läßt sich nur von geschlossenen Religions-
249
bünden, nicht von versprengten Einzelnen bekennen and bewähren. —
Nietzsche ist leider zu früh dahingegangen, um zu dieser Einsicht durch-
zudringen. Hie und da ist er ihr sehr nahe gekommen; aber immer gewann
wieder sein Haß gegen die bestehenden Kirchen die Oberhand und trübte
ihm den Blick für das Gemeinschaftsproblem im ganzen. Meiner Meinung
nach hätte auch Guyau, wenn er länger gelebt hätte, sein Werk ,,Die Irr-
religion der Zukunft" durch ein anderes ergänzt, worin er eine neue religiöse
Gemeinschaftsbildung befürwortet hätte. Ihn machte der verfehlte Versuch
A. CoMTES irre.
Vielleicht dringen wir am leichtesten in den Kern unserer Frage ein, wenn
wir uns für einen Augenblick in unser östliches Nachbarreich begeben und
von den religiösen Verhältnissen in Rußland aus diejenigen des übrigen
Europa zu verstehen suchen. In Rußland ist der religiöse Anarchismus am
stärksten ausgebildet, weil dort der konsequenteste religiöse Despotismus
herrscht (vgl. Dmitri Mereschkowski: Der Zar und die Revolution). Die
russische Kirche hat an dem alten Grundsatze des Gottkönigtums festge-
halten: der Zar ist zugleich Kaiser und Papst, zugleich oberster weltlicher
und oberster geistlicher Herr. Er regiert als Inkarnation der Gottheit und
übt infolgedessen einen schrankenlosen Despotismus aus, der durch keine
,, Verfassung" und keine politische Reformbewegung aufgehoben oder auch
nur wesentlich eingeschränkt werden kann. Die Dinge liegen also ganz
anders als im übrigen Europa, wo die weltlichen Herrscher zwar ,,von Gottes
Gnaden" regieren, aber keine religiöse Machtvollkommenheit besitzen. Viel-
mehr ist für die Katholiken aller Länder der Papst die höchste religiöse In-
stanz, und die Protestanten und sonstigen Rehgionsgemeinschaften haben
eigene Behörden, die nur in einem beschränkten Abhängigkeitsverhältnis
zu den pohtischen Obrigkeiten stehen. So gibt es z. B. in Deutschland keine
eigentliche Staatsreligion, sondern mehrere religiöse Privatgesellschaften,
die vom Staate geschützt und unterstützt werden.
In dem Kapitel ,,Der Priester als Herrscher und Richter" hatten wir er-
kannt, daß es Stärke und Glück anzeigt, wenn in einem Volke Kirche und
Staat, Kriegshäupthngschaft und priesterliche Friedenshäuptlingschaft zu-
sammenfallen. Der religiöse Verband ist dann die Seele des politischen Ver-
bandes und der Gottkönig ist das Symbol des gemeinsamen Strebens und
Schaffens. So wie der menschliche Organismus eine Einheit ist, wie alle
unsere seelischen und leiblichen Funktionen durcheinander bedingt und fest
miteinander verwachsen sind, so ist auch der vollkommene Staat eine Ver-
einheitlichung seiner Bürger in allen Dingen des Lebens, des geistigen so gut
wie des wirtschaftHchen. Der vollkommene Staat ist ein Organismus, nicht
eine äußere Schutzanstalt für das in ihm sich entfaltende, aber von ihm un-
250
abhängige Kulturleben. Das geistig-religiöse Leben ist vielmehr untrennbar
mit dem politisch-wirtschaftlichen Leben verbunden.
Wann ist nun die Einheit von Leib und Seele, von PoUtik und Kultur,
von Wirtschaft und Religion am vollkommensten? Wenn die Leitung in
einer Hand hegt oder wenigstens die leitenden Personen und Körperschaften
in enger Verbindung miteinander stehen. Das Gottkönigtum war der groß-
artigste Versuch der Menschheit, dem Gemeinschaftsleben Fruchtbarkeit
und Tiefe zu geben. In dem Staate des Gottkönigs wird alles, was über das
Einzelleben hinausweist, von der Religion vergeistigt und umgekehrt alles
ReUgiöse im Zusammenhang mit der Wirtschaft, der Pohtik, der Erziehung,
der Kunst geschaut. Bewußt und unbewußt war das Sehnen der Jahrtau-
sende auf diesen Staat des Gottkönigs gerichtet. Der religiös-politische Ein-
heitsbund bildete den Gegenstand der kühnsten Träume und das Ziel des
edelsten Strebens und Arbeitens. An vielen Stellen der Erde entstanden
Reiche, die das Ziel erreicht zu haben glaubten: „Königtümer Gottes"
dünkten sie sich zu sein. Das Wunder, daß die Gottheit auf dem welthchen
Throne saß, schien Wahrheit geworden zu sein.
Aber es war nur Schein und Selbstbetrug. Kein Einzelmensch war so groß
und umfassend, daß er die Rolle Gottes auf Erden zu spielen vermochte;
daher war die Gottkönigsrolle stets mangelhaft besetzt. Lange hat es freilich
gedauert, bis die Menschheit zu dem Schlüsse kam, daß die Verwirklichung
des Gottkönigtums ein für allemal eine UnmögUchkeit sei und aus inneren
Gründen niemals geschehen könne. Die Geschichte aller Kultur- und Halb-
kulturvölker zeigt uns das immer erneute Ringen um den Gottesstaat. Weil
die wirkliche Aufrichtung dieses Staates scheiterte, flüchtete sich das unaus-
rottbare Verlangen der Menschen in die Phantasie weit. „In grauer Ver-
gangenheit", so raunten die Priester, „war das, was die Gegenwart vergeb-
lich sucht, erfüllt : Gott war König und Richter und unter seinem Szepter
war das Volk glücklich, frei und reich; aber böse Mächte stießen den Herr-
scher vom Thron und er wandte sich hinweg in den fernen Himmel. Zwie-
tracht und Elend hielten ihren Einzug und der Satan legte die Gottesmaske
an und setzte sich auf den verlassenen Thron." Und weiter raunten die Prie-
ster: „der König, der jetzt das Regiment führt, das Volk plagt und uns Prie-
ster mißachtet, ist der Antichrist ! Weil ihr das Böse in eure Herzen aufge-
nommen habt, ist das Paradies verscherzt, der Garten Gottes in ein Tal
des Schreckens verwandelt und ihr Knechte des widergötthchen Tyrannen
geworden. Aber noch ist nicht alles verloren: beten wir, daß Gott uns von
dem Übel erlöse, daß er in Herrlichkeit zurückkehre, der Schlange den Kopf
zertrete und sein Reich neu aufrichte!" —
Ist das nicht der Hauptinhalt der Rehgionsphilosophie aller jener Völker,
die den Glauben an das alte religiöse Staatsideal verloren haben ? Trauer um
ein sagenhaftes vergangenes Gottesreich und Hoffnung auf ein zukünftiges,
noch viel herrlicheres Gottesreich ! — Diese religionspolitischen Phantasien
wurden namentlich zum Trostmittel derjenigen Völker, die unter einem Gott-
könig lebten und erkennen mußten, daß er ein Tyrann und sie seine Sklaven
seien. Sie begriffen, welche Torheit es sei, von einem Menschen die Heilung
aller Gebrechen, die Versöhnung aller Gegensätze, die vollkommene Leitung
des gesamten inneren und äußeren Gemeinschaftslebens zu erwarten. Die
Schwächen und Unvollkommenheiten des zum Gott Erhobenen wuchsen ins
Gigantische; das Mißverhältnis zwischen Forderung und Erfüllung trat so
grell hervor, daß die Bedrückten in dem Erkorenen den leibhaftigen Wider-
gott zu sehen vermeinen mußten.
Wir dürfen gegen die guten Seiten des despotischen Gemeinschaftsideales
nicht bhnd sein. Das Gottkönigtum hat sowohl politisch als religiös Gewal-
tiges geleistet. Wir brauchen nur an die babylonische und äg^'ptische Kultur,
an das assyrische und das persische Weltreich und deren Erben: die
Diadochenreiche und das kaiserliche Rom zu denken. Aber gleichviel: der
politische und der religiöse Despotismus gehören einer überwundenen Kul-
turepoche an; der russische Zarismus und die katholische Kirche sind un-
rettbar dem Untergänge verfallen, so stark diese letzten Säulen des alten
Ideals heute noch dastehen mögen. Der einfachste und direkteste Weg,
Staat und Religion, Zivilisation und Kultur zur Einheit zu verbinden, hat
sich als ungangbar erwiesen : er führt von dem erstrebten Ziele nur immer
weiter ab.
Die Folge dieser Erkenntnis ist nun leider die, daß der europäische Mensch
ein tiefes Mißtrauen gegen jede reHgiöse Gemeinschaftsbildung bekommen
hat. Ja, sehr viele moderne Europäer verwerfen jede geistige Organisation
und empfinden auch gegen die politische Organisation eine kaum verhehlte
Abneigung. Sie wollen jede Regelung des Gemeinschaftslebens aufheben und
predigen den Anarchismus als die ideale Lebensform der Zukunft. Der
Anarchismus ist der natürliche Gegenschlag gegen den Despotismus der
vorangegangenen Kulturepochen; er ist die konsequente Lehre jedes frei-
gewordenen Sklaven, der einmal gründhch aufatmen und jeder Bindung
ledig sein will. Leider kann das Problem des Anarchismus hier nicht näher
erörtert werden, so wichtig es für die Psychologie des Propheten und für das
Verständnis der heutigen religiösen Stimmungen ist. Alle Propheten haben
sich den anarchistischen Lebensgrundsätzen genähert; es ist kein Zufall,
daß unser Zeitalter Theoretiker und Praktiker des Anarchismus in großer
Zahl und in jeder Schattierung hervorbringt. Am stärksten macht sich natur-
gemäß der Anarchismus in Rußland bemerkbar; denn in Rußland ist das
252
Gottkönigtum noch am lebendigsten und knechtet die Seelen und Leiber am
härtesten. Tolstoi hat am erfolgreichsten, wenn auch nicht am konsequen-
testen der anarchistischen Stimmung seines Volkes Ausdruck gegeben; der
Widerhall, den seine christlich-buddhistische Predigt in allen Ländern ge-
funden hat, beweist, daß auch in der übrigen Kulturwelt der Druck despo-
tischer Gewalten noch stark gefühlt wird. Allenthalben erheben antiorga-
nisatorische Prediger ihre Stimme. Ihre Freiheits- und Persönlichkeitspre-
digt richtet sich, wenn sie nicht in Rußland leben, natürlich in erster Linie
gegen die katholische Kirche ; denn diese Kirche ist außer dem Zarismus die
großartigste despotische Gemeinschaftsbildung der Kulturwelt. Sie hat, ob-
wohl sie sich als Religionsbund bezeichnet, noch keineswegs den Anspruch
aufgegeben, die gesamte Kultur und Zivilisation, zumal also das politische
Leben zu leiten und zu beeinflussen. Der Papst ist wie der Zar ein Gottkönig.
Ob die weltlichen Könige und republikanischen Regierungen sich dem Einfluß
des Papstes entzogen haben oder zu entziehen suchen, ist eine Sache für sich.
Die Idee des Gottkönigtums hat sogar dadurch, daß der Papst sein Land
verloren und seine welthche Herrschaft notgedrungen aufgegeben hat, neuen
Glanz gewonnen. Der Papst wird nun nicht mehr als Antichrist empfunden
wie zu Luthers Zeit, sondern eher als der Heiland, der das Volk von der Be-
drückung durch die weltlichen Mächte erlöst. Der Staat und die wirtschaft-
lich Mächtigen erscheinen dem kirchentreuen Kathohken jetzt als die
Feinde des Gottesreichs, wie sie denn in der Tat die Feinde des alten despoti-
schen Rehgionsprinzips sein müssen. Der Katholik sieht sich genötigt, die
Bundesgenossenschaft der politisch und geistig auflösenden Elemente zu
suchen. Zwar vermeidet man es, sich offen für die revolutionären Parteien
zu erklären (hauptsächüch deshalb, weil die Katholiken bei den heutigen
Soziahsten und Anarchisten zu wenig Gegenliebe finden und weil die Kirche
den Büttel Staat nicht mehr entbehren kann), aber die Erfahrung hat ge-
lehrt, daß man sich nicht scheut, ihnen im Notfall kräftige Unterstützung
zu gewähren. Der Katholizismus läuft wenig Gefahr dabei, denn er ist orga-
nisatorisch stark genug, um einige sozialistisch-anarchistische Ideen ver-
dauen zu können. Auch haben die christüchen Lehren nicht geringe Ver-
wandtschaft mit diesen Ideen; die Kirche muß sich nur entschheßen, das
Neue Testament so zu lesen, wie die urchristliche Zeit es erlebt und verfaßt
hat, d. h. als ein Sehnsuchtslied, das die Verneinung und Verleugnung des
heidnischen Weltreichs predigt und diesem Weltreich das Königtum Gottes
gegenüberstellt. In diesem Sinne nehmen z. B. die russischen Anarchisten das
Neue Testament nüt Recht für sich in Anspruch; auch die deutschen und
amerikanischen Prediger des ,,persönhchen Lebens", z.B. Johannes Müller
tmd R. W. Trine, verknüpfen christliche Gedanken mit staat- und kirchen-
253
losen Anarchistenträumen. Der katholischen Kirche, die eine jahrhunderte-
lange Anpassungs- und Einverleibungsarbeit siegreich geleistet hat, fällt es
nicht schwer, auch diese neueste christliche Strömung in ihr Bett hinüber-
zulenken und so erleben wir das denkwürdige Schauspiel, daß dasselbe Buch
(das Neue Testament) und dieselbe Persönhchkeit (der Nazarener Jesus) zu-
gleich dem despotischen Organisationsprinzip (Papsttum und Zarismus) und
dem anarchistischen Freiheitsverlangen zur Stütze dient. Es gibt heute nicht
wenige Christen, in deren Herzen diese beiden Gegensätze friedlich neben-
einander wohnen: je nach Umständen kommt der Despot oder der Anarchist
zu Worte. Namenthch unter den Katholiken kann man solche merkwürdigen
Freunde des Reiches Gottes, das nicht von dieser Welt ist und dann plötz-
lich doch wieder in der Kirche verwirklicht sein soll, finden.
Ich möchte hier wiederum betonen, wie unumgänglich nötig es für unsere
freigesinnten Zeitgenossen ist, die kathohsche Kirche mit Aufmerksamkeit
zu studieren und die Psyche des heutigen KathoHken richtig verstehen zu
lernen. Nur auf Grund dieses Studiums gelangen wir zur Würdigung und
Neugestaltung des Kirchen- und Kult wesens. Wenn wir noch einen AugenbHck
das Verhältnis von Religion und Gesellschaft ins Auge fassen dürfen, so lehrt
uns der Katholizismus, daß es unmöghch ist, die rehgiösen Dinge grundsätz-
lich von den sozialen und wirtschaftlichen zu trennen. Die Katholiken wis-
sen, was die anderen Parteien und kulturellen Gruppen vergessen haben:
daß Reügion, Pohtik undW^irtschaft zusammengehören. Wenn dieZentrums-
partei auch diplomatisch genug ist, sich dem trennungsliebenden Zeitgeiste
äußerlich anzubequemen, beruht ihre Stärke doch darauf, daß sie zugleich
eine politische und eine religiöse Partei ist (vgl. E. Horneffer : Die Kirche
und die politischen Parteien). Wer eine reinliche Scheidung von Religion
und öffentlichem Leben verlangt, verkennt die gemeinschaftsbildende Auf-
gabe der Rehgion. Die Theologen und Politiker der liberalen Richtung haben
einen zu engen, mitunter geradezu armseligen Religionsbegriff ; sie haben im
Kampfe mit dem religiösen Despotismus viel zu viel preisgegeben. Jeder
Gesundsinnige muß doch begreifen, daß die Religion mit der Moral, die
Moral mit dem sozialen Leben, das soziale mit dem politischen Leben zu-
sammengehört. Und von der anderen Seite geht die Linie von der Religion
zur Kunst, zur Wissenschaft, zmn technischen und Erwerbsleben hinüber.
Trennen kann man hier nur theoretisch; wer es praktisch tut, ist entweder
eine einseitige Gelehrtennatur oder ein disharmonischer Kranker, der auf
Geheiß der Krankheitsdämonen anarchistische Zersetzung erstrebt. Un-
glücklicherweise beherrschen die Gelehrten und die Kranken einen großen
Teil unseres öffentlichen Lebens; man hat nicht unrichtig die ganze soge-
nannte Modernität als einen Zersetzungsvorgang definiert.
254
Dem Zersetzungs willen auf religiösem, politischem und allgemein geistigem
Gebiete müssen wir entgegenarbeiten. Der synthetische Wille muß neu zu
Ehren kommen und dem modernen Chaos ein Ende bereiten. Die Anzeichen
mehren sich, daß große Kräfte in dieser Richtung am Werke sind. Die Be-
deutung der Organisation wird neu begriffen, der Ruf nach Gemeinschafts-
bildung findet Gehör. Die große Frage ist : nach welchen Grundsätzen kann
und soU der Mensch der Freiheit organisieren? Wie gelangen wir zu einer
antidespotischen religiösen Bundesbildung? Viele verzweifeln daran, dies
Problem befriedigend zu lösen. Des modernen Anarchismus müde, wissen sie
keinen anderen Ausweg, als zu dem despotischen Organisationsprinzip zu-
rückzukehren. Sie flüchten sich in den Schoß der alten Kirche und verherr-
hchen wieder jenen Autoritätsbegriff, der in dem Gottkönigtum seine kräf-
tigste Ausprägung erhalten hat. Es sind Erschöpfte und Resignierte: wir
müssen ihren Verrat an der rehgiösen Zukunft milde beurteilen, weil die
Aufgabe wirklich über alle Maßen schwierig und jeder Schritt, den wir zur
rehgiösen Neuorganisierung tun, über alle Maßen verantwortungsvoll ist.
Der hervorragendste unter den neuen Freunden des kathohschen Kirchen-
prinzips ist der oben erwähnte Pädagoge F. W. Förster. Es läßt sich be-
greifen, daß sich gerade Pädagogen heutzutage durch die katholische Kirche
angezogen fühlen ; denn wenn der Jugenderzieher seines Berufes \^äirdig ist,
hat er den dnngenden Wunsch, seinen Anvertrauten feste Stützen für ihre
sittliche Persönhchkeit zu geben. Wo findet er aber in unserer chaotischen
Kultur einen haltbaren Ankergrund? Woher nimmt er den Rückhalt für
seine sittlichen Lehren? Er muß in seinen eigenen Busen greifen; er muß
selber ein ruhender Punkt, ein lichtgebendes Zentralfeuer, eine gemein-
schaftsbildende Kraft sein. Nur dann kann er seine Schüler zu schönen und
formgewaltigen Organismen, zu selbständigen Kraftspendern oder zu krei-
senden Planeten erziehen. Traut er sich das nicht zu, so bleibt ihm allerdings
nur zweierlei übrig: entweder erteilt er unrehgiösen Unterricht und ver-
zichtet auf Erzieherschaft im höchsten Sinne, oder er wird katholischer
Christ, versenkt sich in den großen Erziehergeist der alten Kirche und schheßt
die Augen vor der Tatsache, daß die Zeit des rehgiösen Despotismus end-
gültig vorüber ist. Förster hat — mit belanglosen Einschränkungen — den
letzteren Weg gewählt, und ich zweifle nicht, daß er Nachfolger finden wird,
sobald die Pädagogen und pädagogischen Theologen den Ernst der heutigen
Lage ganz erfaßt haben werden. Auf eine genauere Kritik des Förster sehen
Buches ,, Autorität imd Freiheit" müssen wir verzichten, sie ergibt sich aus
den Darlegungen des vorliegenden Werkes von selber. Daß ich Förster
hochschätze und verehre, habe ich an anderer Stelle (Die Tat I, 8) zum Aus-
druck gebracht; trotzdem klage ich ihn des Verrates an. Förster hat
255
resigniert die Schlachtreihe verlassen und sich in Sicherheit gebracht. Sein
Verrat ist um so tragischer, als er gerade jetzt erfolgt ist, wo in den Horizont
der Freidenkenden endlich der Kirchen- und Kultgedanke eingetreten ist,
die religiöse Zukunftsbewegung also eine entscheidende Wendung zum
Guten genommen hat.
Wir \\iederholen unsere Frage: wie soll die Kirche der Zukunft beschaffen
sein ? Auf welcher Grundlage soll sie ruhen ? — Hören wir die Antwort,
die die moderne Erweckungsbewegung darauf erteilt. Dieselbe erklärt: die
Kirche soll Sekte sein, d. h. eine rein ideale, alles Irdische (Politisch-Wirt-
schaftliche) beiseite lassende Gemeinschaft sehnsüchtiger Lichtfreunde. Dies
Sektenideal hat A. Bonus in seiner Schrift: ,,Die Kirche" treffend geschil-
dert. Er hat auch erkannt, daß die ältesten Christengemeinden die schönsten
Muster solcher Sektenkirchen sind. Die christhchen Gemeinden der ersten
Jahrhunderte bildeten bekanntlich sehr enge und feste Verbände. Was war
es, was sie zusammenhielt ? Sie fühlten sich eins durch ein lebendiges Gottes-
bewußtsein, durch den Rauschglauben, Gott für sich zu haben und eine hei-
lige Genossenschaft von Auserwählten und Geretteten zu sein. Sie bildeten
also einen antipolitischen Geheimbund, der zugleich auch die sozialen, wissen-
schaftlichen, künstlerischen Ziele jener Epoche verneinte, also gegen die ge-
samte damalige Kultur und ZiviHsation gerichtet war. Er glaubte sich im
Besitze höherer Güter, im Besitze der götthchen Weisheit und wartete in
stolzer Siegeshoffnung auf den Augenblick, wo sich alle Werte umkehren und
die Letzten die Ersten sein würden. Der Christenbund stellte an seine Mit-
glieder sehr strenge Forderungen : volle Entsagung war nötig, um das Heil
zu ge%vinnen und in die Gemeinde der Heiligen aufgenommen zu werden.
Als die Gemeinde der Heiligen ihr Ziel scheinbar erreicht hatte, nämlich
ZOT beherrschenden Religionsgemeinschaft in der Welt geworden war, hörte
sie eben damit auf, eine Kirche im ursprünglichen Sinne zu sein. Die ,, Sekte"
starb, die Kirche machte ihren Frieden mit der Welt und der Kultur. End-
hch kam der Protestantismus und brachte diese Entwicklung zum. Abschluß.
Nach Bonus ist die protestantische Kirche eine Entartungsform rehgiöser
Gemeinschaftsbildung, ein Ende des sektenhaften christlichen Bundeswesens.
Das ist richtig; jedoch liegt im Protestantismus, wie \sdr gleich sehen werden,
der Keim zu einer anderen, dem Sektenideal entgegengesetzten Bundesbil-
dung. In imd neben der sich umformenden und sich ver\veltlichenden Kirche
trieb das ,, reine Kirchenideal", d. h. das Ideal der Sekte immer neue Schöß-
linge. Es tauchten religiöse Gemeinschaften allerart auf, die der Kirche
Veräiißerhchung und Erstarrung vorwarfen imd ihrerseits die wahre Ge-
meinde der Heiligen, das wahre Salz der Erde zu sein behaupteten. Teils blie-
256
ben sie innerhalb des großen Kirchenbundes, teils traten sie in offenen Gegen-
satz zu ihm. Diese Sektenbildung ist, je näher wir der Gegenwart kommen,
immer stärker und tiefgreifender geworden. Zumal Amerika, Rußland und
England bringen lebenskräftige und ausbreitungsfähige Organisationen die-
ser Art hervor. Wie weit die Sektenbewegung auch nach Deutschland über-
greifen wird, steht noch dahin. Ich bin geneigt, ihr auch in Deutschland eine
gute Zukunft zu prophezeien. Alle christhch Empfindenden werden sich mit
der Zeit in den Sekten sammeln. Namenthch werden die Anhänger eines per-
sönlichen Christentums und alle freigesinnten Jünger Jesu in den Sekten
untergehen. Und vielleicht wird eines Tages, wie zur Zeit des beginnenden
Christentimis, eine einzige Sekte alle anderen aufsaugen. Es wird das wesent-
lich davon abhängen, ob die Umstände, die zur sektiererischen Kirchenbil-
dung veranlassen, sich ebenso beherrschend geltend machen wie damals.
Was sind das für Umstände? Wann und warum entsteht eine „Kirche"
im Sinne des Sektenideals? — Wenn es keinen Kulturstaat gibt; wenn die
pohtisch-wirtschaftUche Organisation geistige Kräfte unterdrückt und un-
genutzt läßt. Die Sektenkirche ist ein Staat der Sehnsucht, eine Zufluchtsstätte
für solche, die sich unbefriedigt fühlen, weil ihnen die volle Betätigung ihrer
Kräfte durch äußere und innere Verhältnisse versagt ist. Die Enterbten, die
Darbenden, die Unglückhchen flüchten sich zu Gott, suchen Gleichgesinnte
und feiern mit ihnen durch Rauschzusammenkünfte und harte Kasteiung
die Versöhnung mit dem All. Da es nun zu allen Zeiten und bei allen "Völkern
Enterbte und Verunglückte gibt, ist stets eine Neigung zur Sektenbildung
vorhanden; aber diese Neigung kommt nur dann zum Siege, sie schafft nur
dann eine machtvolle ,, Kirche", wenn die Enterbten groß an Zahl und gei-
stig von ausschlaggebender Bedeutung sind. Das wiederum ist nur dann der
Fall, wenn das poUtisch-wirtschaf tliche Leben sich von dem religiös-geistigen
abgetrennt hat, also die Einheit der Kultur verloren gegangen ist ; Platon
sagt: wenn der Staat die ,, Gerechtigkeit" verbannt hat und ,, ungerecht"
geworden ist. Dann tritt die Kirche als ein Siurogat in die Lücke und die
Menschen, die untereinander und mit sich selber in Feindschaft geraten
waren, suchen sich durch das Mysterium der göttlichen Kommunion neu zu
organisieren.
Demnach ist es begreifhch, daß auch unsere Zeit einen Zug zur Sekte und
Sektenverbrüderung verspürt. Wir haben uns zu entscheiden, ob wir diese
Entwicklung begünstigen und mitmachen sollen, ob wir die Sektenstifter er-
muntern und uns selber als Sekte konstituieren sollen ? — Ich verneine dies.
Das Sektenideal muß unbedingt abgelehnt und bekämpft werden. Alle ge-
sunden, zur klassischen Lebensform strebenden Kräfte imseres Volkes müs-
sen sich vereinigen, um den Strom der Sektenfrömmigkeit zurückzudämmen
17 Horneffer, Der Priester II 257
und dem entgegengesetzten Prinzip religiösen Organisierens zum Siege zu
verhelfen. Der Haupteinwand gegen die Sektenkirche, wie sie in der ur-
christlichen Gemeinde und in der modernen Erweckungsbewegung am deut-
lichsten in die Erscheinung tritt, ist ihr krankhafter Charakter. Sie ist ein
Krankheitssymptom und führt notwendig zum religiösen Despotismus, also
zur Priesterherrschaft zurück. Scheinbar allerdings herrscht in der Sekten-
kirche volle Freiheit; jedes Mitghed ist Priester und Gefäß des götthchen
Geistes. Aber das ändert sich schnell, weil als Quelle des religiösen Wissens
und als Befäliigungsnachweis für das Lehramt ausschließlich die krankhafte
Eingebung gilt. Es kann auf die Dauer nicht jeder Offenbarungen haben;
die meisten Gemeindemitglieder müssen sich daher begnügen, die Weisheit
der Erleuchteten, die aus übernatürhchen, unkontrollierbaren und jeder Kri-
tik entzogenen Quellen schöpfen, einfach hinzunehmen. Die Hauptpfhcht
der Gemeinde wird infolgedessen; den Priestern zu glauben und zu gehor-
chen. Die Kirche wird zur Hüterin und Verwalterin der Offenbarungs-
schätze, die von begnadeten Stiftern und Propheten herrühren, und der
Priester wird zum Papst, d. h. zum unfelübaren Ausleger und Verkörperer
der Heilswahrheiten. Das alles können wir an der Entwicklung des Christen-
tums von einer ,,in Christo freien" Urgemeinde zu der konstituierten Welt-
kirche genau verfolgen. Ganz ebenso wird sich das Schicksal der modernen
Sektengründungen gestalten. So frei sich diese Sekten dünken und so scharfe
Kritik sie an den dogmatischen Kirchen üben, werden sie doch in Kürze
eben dahin gelangen, wohin das organisierte Christentum gelangt ist: zum
dogmatischen Despotismus.
Worin hegt der Fehler? Wie können wir eine religiöse Gemeinschaft bilden,
die den dogmatischen Despotismus dauernd ausschließt ? Wer zeigt uns den
Weg zur europäischen Freikirche, in der freie Priester des freien Lehr- und
Erzieheramtes walten ? — Die Grundvoraussetzung ist meiner Meinung nach
die, daß die religiöse Organisation möglichst engen Zusammenhang mit dem
Staate und dem gesamten Kulturwillen sucht. Nicht hinaus aus den natür-
lichen Verbänden soll uns die religiöse Gemeinschaft führen, wie Jesus ver-
langte, wie auch der Jesuitenorden und die Heilsarmee verlangt ; nicht ver-
lassen soll, wer sich dem religiösen Bunde anschließt, seine Brüder und
Eltern, seine wirtschaf thchen und pohtischen Pflichten ; sondern umgekehrt :
durch die rehgiöse Bundesschheßung soll das Band mit der ,,Welt" um so
fester geknüpft werden. Die Freikirche soll nicht die übrigen gesellschaft-
lichen Gruppen (Familie, Berufsverband, Interessenverein, Staat und Volk)
verneinen und zerstören, sondern deren Verklärung und Bestätigung sein.
Sie soll die Gegensätze überbrücken, die sich zwischen den Menschen, ihren
Absichten und Ansichten, ihrer Herkunft und ihrer Lebensart auftun; da-
258
durch verwandelt sie die kalten Zweckverbände und die beschränkten Natur-
und Zufallsverbände in einen gewaltigen Kulturorganismus. Die Kirche Jesu
hat das weder wollen noch können; die Kirche Jesu war und ist ein Bund
derer, die sich loslösen wollen und die „wahre Heimat" suchen. Für die
christliche Urgemeinde und ebenso für die moderne Sekte ist nicht der Staat,
nicht Sippe und Volk die wahre Heimat ; die Sektenkirche will nicht in und
mit dem poHtisch-wirtschaftlichen Ganzen, in dem sie ihre Stätte hat, arbei-
ten, will nicht das irdische Los des Menschen verbessern, will ihre Mitglieder
nicht in dem Boden der heimischen Volkskultur verankern. Was gilt der
Sekte die irdische Weisheit, die tapfere Arbeit, die hohe Lebensfreude? Sie
bekämpft geradezu das heidnische Tatleben und das kräftige Selbstver-
trauen ; sie zeigt einen anderen Weg zmr Überwindung der Übel, von denen
ihre Anhänger bedrängt werden : durch Beten und Träumen, durch Rausch
und Askese sollen die Übel in Vergessenheit gebracht, die Schmerzen über-
tönt, die Sehnsucht gestillt werden. Die wahrhaft christHche Kirche ist eine
Feindin des wirkenden Lebens, wenn auch die Kirche, wie wir sie heute vor
uns sehen, mit dem heidnischen Leben in allen Formen Hebäugelt. Sie ist
eine Feindin der poHtischen Organisation und der geistigen Welteroberung.
Auch die soziale Fürsorge widerspricht dem reinen, von Jesus und Paulus
erstrebten Kirchenideal; die vorbildlichen Christenheiligen haben nie an
soziale Reformen und an die Hebung der arbeitenden Schichten gedacht.
Sie würden auf die Forderungen der heutigen christlichen Arbeiterschaft mit
der Zurechtweisung geantwortet haben: betet, ihr Arbeiter, und freut euch
auf den Lohn, der euer in der anderen Welt wartet ; aber verlangt nicht nach
dem unchristlichen Tat- und Genußleben der Begüterten ! — Daß die christ-
lich-sozialen und klerikalen Führer heutzutage ihren Arbeiterscharen ganz
andere Lehren geben imd als tatkräftige Reformfreunde auftreten, ist wie-
derum ein Beweis für die Entchristlichung der Kirche und für die Ver-
quickung des Sektenideals mit der heidnischen Organisationsform. Die sozial-
demokratischen Arbeiter sind ehrlicher; sie haben ein gerechtfertigtes Miß-
trauen gegen die christlichen Arbeiterfreunde und empfinden die Unverein-
barkeit von Christentum und werktätiger Welteroberung. Hinter den heid-
nischen Worten der christHchen Reformer verbirgt sich die Sektenliebe, die
sich erbarmend zu schwachen Sündern herabneigt, und die Sektensentimen-
taütät, die jeden Ärmsten als den verkappten Heiland liebkosend um-
schmeichelt.
Kurz: Sekten und christHche Kirchen sind Anstalten, um bedürftige und
sehnsüchtige Menschen zu trösten und zu retten, aber nicht Anstalten, in
denen zielbewußte und arbeitsfreudige Menschen miteinander am Tempel
der Weisheit, Stärke und Schönheit bauen. Die Kirche im christlichen Sinne
i/*
259
ist ein Verschwörerbund gegen die menschliche Kultur; sie will das Glück
herbeiträumen, will die Wiederkunft Gottes erharren. Die Freikirche der
Zukimft wird umgekehrt ein Kulturbund sein, der das Glück erobern und
Gott in unermüdlicher wacher Arbeit erschaffen will. Auch die Freikirche ist
auf die Bruderliebe gegründet; aber diese Liebe hat einen anderen Sinn als
die christliche Liebe in ihrer ursprünglichen, nicht verwässerten und ver-
fälschten Bedeutung. Die unchristliche Bruderliebe ist jenes Gefühl, das die
gemeinsam Schaffenden durchdringt, das Gefühl, das im Arbeitsrhythmus,
im heiligen Tanze und Liede ihren Ausdruck findet. Viele, die sich heute noch
Christen nennen, meinen im Grunde diese heidnische Liebe; sie möchten
die Kirche unvermerkt in einen heidnischen Kulturbund umwandeln. Aber
das ist unmöglich; eine ,, christliche Kulturkirche" ist ein Widersinn. Wer
dafür wirkt, verstrickt sich in unheilbare Widersprüche und Zweideutigkeiten
und wird auf Schritt und Tritt zu Fälschungen und Verdrehungen gezwun-
gen. Es ist ein Glück, daß die Sektenpropheten aufgetreten sind und das
christhche Kirchenideal in seiner Urgestalt erneuert haben. Wie mächtig und
wahr wirken diese Sektenpropheten bei aller Beschränktheit im Vergleich
zu den schwächlichen Vermittlem und Vermischern, die das Christentum
mit der europäischen Kultur aussöhnen zu können glauben ! Die liberalen
Theologen richten mit ihrer Predigt religiös gar nichts aus und wirken nicht
im mindesten organisierend. Man genießt ihre Reden und Schriften als gut
gemeinte, geist- und kenntnisreiche Verlautbarungen hebenswürdiger Per-
sonen ; aber man spürt keine gemeinschaftsbildende Kraft, die die modernen
unkirchlichen Propheten und Sektenführer unstreitig haben, auch dann,
wenn sie gar nicht den Willen haben, religiöse Organisationen zu schaffen.
Das Verhältnis der Freikirche zum Staat läßt sich vor der Hand noch nicht
deutUch bestimmen ; es muß abgewartet werden, wie sich der Staat mit der
neuen rehgiösen Organisation abfindet, ob er seinen eigenen Vorteil wahr-
zunehmen weiß und seiner Kulturaufgabe gerecht wird. Klammert er sich
noch länger an die christlichen Konfessionen an, verfolgt und erschwert er
noch länger mit brutaler Blindheit das Entstehen und Wirken unchristhcher
Rehgionsgemeinschaf ten, so drängt er die unaufhaltsame religiöse Bewegung
in einen Gegensatz zum ganzen politischen Wesen, der für beide Teile ver-
hängnisvoll sein muß. Das Richtige kann uns das griechische und römische
Altertum zeigen. Wie war das Verhältnis der antiken Religion zum antiken
Gemeinwesen? Es gab Staatskulte; aber trotzdem war das rehgiöse Leben
in hohem Grade unabhängig von den politischen Gewalten; es konnte sich
frei entfalten und stand mit der staatlichen Fortentwicklung in lebendiger
Wechselwirkung. So war die Rehgion poütisch und national bedingt, ragte
aber trotzdem hoch über die staath« hen Schranken hinaus. Der Gedanke
260
einer übernationalen Religion war dem Altertum nicht durchaus fremd und
ausländische Kulte fanden ohne Schwierigkeit Eingang. Auch innerhalb des
Gemeinwesens stieß die religiöse Bundesbildung nicht auf Hindernisse, Daß
jeder zuallererst Staatsbürger und Arbeiter am Wohle des Ganzen sein
müsse, verstand sich für den antiken Menschen so von selber, daß die reli-
giösen Verbrüderungen kaum je in einen Konfükt mit den patriotischen,
sozialen und allgemeinen Kulturzielen geraten konnten. Die Reügion war
ein Ausdruck des Kulturwdllens, war die Seele des politisch- wirtschaftlichen
Verbandes. Ich weiß wohl, daß auch Gegenströmungen auftraten und zahl-
reiche priesterlich-sektiererische Bewegimgen in das Verhältnis von Reügion
und Staat störend eingriffen — das Schlimmste war, daß sich die „Predigt"
und die Wissenschaft nicht mit dem religiösen Bundes- und Kultwesen orga-
nisch verband, daher die Rehgion ihre Einheit verlor und mit der gesamten
Kultur der Auflösung entgegenging — ; aber das hindert nicht, daß wir Heu-
tigen mit Hilfe der griechisch-römischen Religionsbildung unseren eigenen
Weg finden und beschreiten können. Den Betrachtern hat sich ja auch der
Unterschied zwischen der christhchen Kirche und den heidnischen Religions-
bünden stets aufgedrängt. Im Protestantismus ist allenthalben die Hinneigung
zum Ideal dieses vorchristlichen Bundeswesens zu spüren. Namentlich aber
hat der Freimaurerbimd dem antiken Ideal auf wundervolle Weise zu neuem
Leben verholfen; der Freimaurerbund wird für die Neugestaltung imseres
rehgiösen Gemeinschaftslebens vielleicht eine große Bedeutung gewinnen.
Wie ist es in einem freien Rehgionsbunde mit der Dogmatik bestellt ? Da
Lehre und Predigt ein unentbehrHches Stück seines Gemeinschafts-
lebens ist, werden Moralsätze und Glaubensüberzeugungen fortwährend in ihm
verkündigt, eingeschärft und bekämpft werden, Lehre ohne Glaube ist ein
Unding. Folgt daraus nicht, daß auch in einem solchen Rehgionsbunde der
Dogmatismus sehr schnell zum Siege kommen muß ? — Die Freikirche ist sogar
scheinbar weit dogmatischer als die Sekte ; denn in der Sekte im strengen Sinne
des Wortes (vgl. Bonus : Die Kirche) gibt es keine klaren Lehren, keine for-
mulierten Gedanken, keine Sittengesetze. Die Sekte ist frei in Gott und
lebt nur fühlend imd ahnend, lebt das unbewußte geniale Leben, das Jon.
Müller mit so warmer Beredsamkeit verherrHcht hat. Sie hütet sich davor,
eine Welt- und Lebensanschauung auszuarbeiten und will alles nur aus der
Tiefe, aus Eingebungen und Offenbarungen, kurz: aus dem schöpferischen
AugenbHck schöpfen. Darrnn ist die Sekte so frei und gesetzlos. Daß imd
warum sie unvermerkt in das Gegenteil umschlägt, haben wir oben darge-
legt. Die Freikirche erstrebt von vornherein eine feste Struktur; sie setzt
sich von Anfang an das Ziel, das unklare rehgiöse Sehnen zur Klarheit zu
261
erheben, dem fühlenden Wollen und ahnenden Denken Form und Stetigkeit
zu geben und Glaubenssätze zu finden, in denen das Ergebnis des gemein-
samen Schaffens Ausdruck erhält. Aber die Dogmen der Freikirche treten
immer nur als H\^othesen auf; sie unterliegen der beständigen Kritik der
Wissenschaft und erfahren eine Fortbildung und Umbildung durch die
Lebensenergie und die Schicksale des Volkes. Sie sind keine übernatürlichen
Offenbarungen, sondern sind der Extrakt der Willens- und Erkenntnis-
schätze der Epoche. Unterwerfung unter sie zu fordern wäre lächerlich; die
Jugend und die Priester auf sie zu verpflichten wäre unsinnig. Die Frei-
kirche kann ihren Führern und Mitgliedern überhaupt keine dogmatischen
Verpflichtungen auferlegen, sondern nur sittliche. Eine unter diesen Ver-
pflichtungen wird lauten: jeder soll an der Vertiefung, Verbesserung und
Erweiterung der Glaubenswelt mitarbeiten, damit der Besitz des Bundes
sich mehrt. Man sieht, wie völlig dies ,, Gelübde" dem Sinn und Gebrauch der
dogmatischen Kirchen, aber auch der Sekten widerspricht. Zur Mitarbeit an
der Glaubensbildung aufzufordern, ist nach kirchlicher Anschauung eine
Blasphemie; denn für den Christen ist die endgültige Wahrheit längst ge-
funden und der Gottmensch hat längst die Vollendung alles menschlichen
Strebens erreicht. Ebenso entziehen sich auch die Offenbarungen der Sekten
der Kritik und der Weiterbildung. Für Offenbarungen wird stets Glauben
gefordert; sie wollen „absolute" Wahrheiten sein und treten aus dem Kreise
der sonstigen, relativen Erkenntnisse heraus. Die Glaubenssätze der Zu-
kunft dagegen wollen nichts anderes sein als Erklärungsversuche, als Er-
oberungsmittel des Menschen. Auch die sittlichen Forderungen, die ein freier
ReUgionsbund stellt, können niemals als autoritative Gebote auftreten; sie
sind Lebenshilfen, die ihre Nützlichkeit und Gültigkeit immer neu beweisen
müssen.
Wird dabei aber ein festes und dauerhaftes Gemeinschaftsleben möglich
sein? Wird ein solcher Bund nicht häufig Krisen erleben und die Menschen,
statt sie zusammenzuführen, eher einander entfremden ? — Ich habe schon
vorher darauf hingewiesen, daß in jeder Epoche, auch in der heutigen chao-
tischen, eine latente Gemeinschaft des Glaubens vorhanden ist, die nur aus-
gesprochen und in Form gebracht sein will. Ferner aber: Gegensätze im
Glauben und Leben brauchen nicht zersetzend zu wirken, sondern können
befruchtend und befestigend wirken. Solange der Bund auf einer gesunden
politisch-wirtschafthchen Grundlage ruht, solange das Volk große gemein-
same Aufgaben zu erfüllen gewillt und genötigt ist, wird seine religiöse Orga-
nisation durch Lehr- und Lebensgegensätze nicht in ihrem Bestand gefährdet
werden, sondern jedes Mitghed wird sich gedrungen fühlen, sich um so inni-
ger an die Mitbrüder anzuschließen. Die Gegensätze werden die Anziehimgs-
262
kraft verstärken, sowie die Geschlechtsliebe ihre Kraft und Süße aus der
GegensätzUchkeit saugt, die durch Trieb und Bedürfnis überwunden wird.
Wenn verschieden geartete Menschen von tüchtigem Wollen sich nicht lie-
ben, sondern voreinander fliehen, sind sie und ihre Zeit schwach; die dog-
matischen Kirchen können ihren Ursprung aus der Schwäche und Armut
nicht deutlicher beweisen als durch ihre Unfähigkeit, Gegensätze in der
Denk- und Handlungsweise gelten zu lassen, und nicht nur gelten zu lassen,
sondern als Gewähr kräftigen religiösen Lebens herbeizuführen und heraus-
zufordern. Wo Lebensfülle ist, erzeugen sich Kämpfe; diese Kämpfe in einen
Segen verwandeln zu können, ist das große Geheimnis des aufstrebenden
organischen Lebens. Der Mensch hätte sich ohne diese Kämpfe nicht zum
Menschen entwickelt.
Überhaupt : was heißt denn organisieren ? Gegensätze binden und zu einer
höheren Einheit zusammenfassen. Eine Organisation, die keine Gegensätze
in sich birgt, ist ohne Zeugungs- und Eroberungskraft. Wenn unser deutsches
Volk nicht stark genug ist, die in ihm vorhandenen Gegensätze in einer freien
Religionsgemeinschaft zu binden und dadurch zu überwinden, so bleibt ihm
allerdings nur zweierlei übrig: entweder die bestehenden konfessionellen
Bünde neu zu beleben, noch besser sie wieder in der allein seligmachenden
Kirche zusammenzuführen, oder aber sich der Sektenbildung in die Arme zu
werfen. Es ist das einfach eine Kraftfrage. Wer an die Kraft und Gesundheit
unseres Volkes glaubt, muß diese beiden Wege ablehnen und für die heid-
nische Bundesbildung arbeiten. Die übrigen mögen mit Förster für das
alte Kirchenideal oder mit den Sektenpropheten für den Ausbau des Sekten-
wesens oder auch mit Jon. Müller für die Aufhebung jeder religiösen Orga-
nisation, also für den idealen Anarchismus arbeiten.
Kein religiöser Bund ohne Kult. Die Zukunft des Kults ist die Kernfrage,
von der die Zukunft des ganzen religiösen Formwesens abhängt. In den
neueren Werken über das Kirchenproblem wird diese Sachlage fast durch-
weg verkannt. Nicht niu: den Kirchenfeinden, sondern auch vielen Kirchen-
freunden ist das Verständnis für die Bedeutung des religiösen Ritus verloren
gegangen. Darum habe ich in den früheren Kapiteln auf die Schilderung des
Kultwesens besonderen Nachdruck gelegt und den Versuch gemacht, die
rehgiösen Begehungen aller art, die Spiele und Aufführungen, die symboli-
schen und zauberischen Gebräuche historisch und psychologisch zu erklären
und zu rechtfertigen. Der Priester aller Zeiten und Religionen war Kult-
pfleger; die Ausführung der heiligen Handlungen gehörte zu seinen wich-
tigsten Obliegenheiten. Sollte das in Zukunft anders sein ? Sollte das Riten-
und Formwesen wirklich etwas Überwundenes und Veraltetes sein?
263
Wo sind denn die Kräfte und Triebe geblieben, die sich früher im religiösen
Ritus betätigten und befriedigten ? Guyau sagt : sie sind in die Kunst hinein-
geströmt ; die Kunst ist die Erbin und Nachfolgerin des Kults ; der Mensch
der Zukunft kann und darf sein Bedürfnis nach Kultus und Ritus nur noch
im Schaffen, Nachschaffen und Vorführen von Kunstwerken befriedigen. —
An dieser Anschauung ist das eine richtig, daß die Kunst wirklich aus dem
rehgiösen Ritenwesen hervorgewachsen ist, wenigstens ihre beste Kraft und
ihre größte Schönheit daraus gesogen hat. Die Zaubermanipulationen wur-
den zu kunstvollen Tänzen, zu bildlichen Darstellungen, zu musikalisch-
poetischen Vorführungen. Das griechische Drama, das wohl als Muster hoher
und reiner Kunst gelten kann, hat seine Wurzel im Zauberritus. Die Griechen
lernten ihre rehgiösen Bedürfnisse immer mehr durch den Genuß dieser
Kunstwerke befriedigen, statt durch groteskes und barbarisches Zauber-
wesen. Hieraus scheint sich deuthch zu ergeben, daß durchweg die Kunst in
die Stelle des Kultus zu treten hat. Und eine ähnliche Lehre scheint uns
die Entwicklimg und Wertung der bildenden Kunst in Griechenland zu er-
teilen. Bei anderen Völkern kann man ebenfalls bemerken, daß die rehgiösen
Verpflichtungen allmähhch durch künstlerische Leistungen eine Art Ab-
lösung erfahren. Ich erinnere hier wieder an die christliche Messe. Diese kul-
tische Begehung nahm immer mehr künstlerische Gestalt an; sie wurde zu
einem Konzertstück. Die von Bach, Mozart, Beethoven komponierten Mes-
sen hängen mit dem Kult nur noch lose zusammen; sie werden von den
Hörern als Musikwerke, nicht als heilige Rituale aufgenommen und ge-
schätzt. Spricht das nicht für Guyaus Anschauung, daß der Kult forthin
ganz durch die Kunst ersetzt werden wird?
Noch durchschlagender scheint der zweite Einwand, den jeder freiden-
kende Mensch gegen die Beibehaltung kultischer Handlungen erheben muß.
Was heißt ,,Kult"? Pflege und Verehrung der Götter. Wenn es aber keine
Götter gibt, die der Pflege bedürfen, keine höheren Wesen, die an unseren
Geschenken und Verehrungskundgebungen Freude haben — wie können
wir dann noch Kult treiben ? Kult ist veredelte Zauberei ; die Zauberei aber
ist endgültig abgetan. — Niui hatten wir aber gefunden, daß der Kult von
jeher nicht bloß den Zweck hatte, irgendwelche Geister oder Götter zu
pflegen, sondern daß er vor allem eine Kommunionshandlung zwischen Gott
und Mensch war. Der tiefste Sinn religiöser Riten ist, ein magisches Band um
die Gemeindemitgheder und den Schutzgeist der Gemeinde zu schlingen.
Hat der Kult auch in dieser Auffassung seine Daseinsberechtigung verloren ?
Wie es scheint, ja. Denn wir glauben nicht mehr an die magischen Wirkungen
des Gottessens und der unio mystica. Wir glauben nicht, daß eine körper-
liche Vereinigung mit überirdischen Wesenheiten möghch und heilbringend
264
sei, schon deshalb nicht, weil wir an die Existenz überirdischer Wesenheiten,
die irgendwie zu uns in Beziehung treten könnten, zu glauben aufgehört
haben. Die magisch-mystischen Übertragungen von Geist oder Kraft er-
klären wir als einfache Suggestionswirkungen. Zwar finden sich immer wie-
der Leute, die von Femwirkungen, Eingebungen und anderen geheimnis-
vollen Erscheinungen zu reden wissen ; aber wenn sich dergleichen auch als
beweisbare Tatsache herausstellen sollte, dürften diese Dinge doch für die
Kultfrage, die uns hier beschäftigt, heute und in alle Zukunft belanglos
bleiben.
Wenn wir, diesen Einwänden zum Trotz, an dem Kultus festhalten und
ihm in der künftigen Rehgion eine bedeutende Stelle anweisen, müssen wir
zimächst offen zugeben, daß der Ausdruck Kultus mißverständlich und nicht
zutreffend ist. Wir behalten das Wort nur deshalb bei, weil es kein besseres
für die Sache gibt, um die es sich handelt, und weil in dem Kultus der bis-
herigen Religionen neben den heute überwundenen Zwecken und Vorstel-
lungen auch das enthalten war, was den ,,heihgen Handlungen" der künf-
tigen Rehgion ihren Wert geben wird. Die Zukunft wird nicht mehr mit
höheren Wesen Kultus treiben, ebenso wie sie nicht mehr eine „Kirche" im
Wortsinne, d. h. ein Haus und einen Bund des „Herrn" (Kyriake) gründen
wird. Neuerdings hat man einige Versuche gemacht, einen Kultus für ver-
ehrte Gegenstände natürÜcher Art einzuführen. Z. B. schufen die Revolu-
tionäre einen Kultus der Vernunft oder auch der Freiheit; A, Comte rief
einen Kultus der Menschheit ins Leben; andere haben vorgeschlagen, daß
man der Natur im ganzen oder der Sonne einen Kult widmen sollte. Ich
halte alle diese Versuche für verfehlt ; es sind Spielereien ohne rehgiösen Wert.
Wie können wir zu einer Göttin Vernunft beten, da doch kein Mensch an das
Dasein dieser Göttin glaubt! Wie können wir die „Menschheit", also eine
bloße Abstraktion, kultisch verehren ! Auch die Natur- und Sonnenanbetung
ist für uns immöghch ; denn wir wissen doch, daß die Sonne ein wüster Feuer-
ball ist imd daß die Natur zwar unsere Mutter und Ernährerin, aber zugleich
unsere grausame Feindin und Mörderin ist. Wir mögen der Sonne, der Ver-
nunft und anderen gewaltigen, für unser Wohl und Wehe entscheidenden
Dingen Gefühle mannigfacher Art entgegenbringen, mögen diese Gefühle
auch in Hymnen, Tänzen und anderen heiligen Handlungen ausdrücken;
aber zu einem gemeinschaftsbildenden Ritus können die Begehungen, die
diurch solche Gegenstände angeregt werden, in Zukunft wohl kaum noch
werden.
Der Kultus kann hinfort überhaupt nicht in erster Linie in Anbetungsakten
bestehen ; er muß auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden. Um dieselbe
zu finden, wollen wir von dem natürlichsten Gegenstand der Verehrung aus-
265
gehen, den es gibt. Was verehrt der Mensch, solange es Menschen gegeben
hat und geben wird? Seinen Mitmenschen. Nicht eine Menschheitsidee, son-
dern bestimmte Einzelmenschen nötigen ihn zm* Liebe und verehrenden Hul-
digung. Diese Menschen mag man Übermenschen oder Gottmenschen oder
wie sonst nennen; in ihnen ist das, was ein Kreis von Menschen erstrebt, in
erhöhtem Maße und in verdichteter Form enthalten. Sie zu verehren und
dadurch an ihrem Sein Anteil zu gewinnen, ist ein unausrottbares Bedürfnis
unseres Geschlechts. Wir haben gesehen, wie der Priester dies Bedürfnis
zu befriedigen nicht müde geworden ist ; entweder hat er sich selber als ver-
ehrungswürdigen Gottmenschen der Gemeinde vorgestellt oder er hat andere,
meist vergangene Persönhchkeiten als Gottmenschen auf den Schild erhoben.
Ein Teil des Kults war von jeher Heroenkult, war Verehrung von Reprä-
sentanten des Menschengeschlechts. In der Regel verband sich dieser Kult
mit dem Zauberglauben: man wollte die Heroen veranlassen, sich gnädig
imd hilfsbereit zu er%veisen, man suchte sie mit Güte und Gewalt dahin zu
bringen, ihre übernatürliche Kraft zugunsten der Gemeinde in Tätigkeit zu
setzen. Dies Zaubermotiv fällt für uns weg. Was bleibt übrig? Der Wille,
das Dankgefühl auszudrücken und — was religiös unvergleichlich wichtiger
ist — das lustvolle und nicht selten zwangsartige Streben, sich durch Hul-
digungsakte mit dem Sein des verehrten Menschen in Einheit zu setzen. In-
dem die Gemeinde sich das Aussehen, den Lebenslauf, die Lehren und Werke
ihrer Heroen immer von neuem vergegenwärtigt, versichert sie sich ihrer
Zusammengehörigkeit mit diesen großen Vorbildern und Vorkämpfern. Wie
geschieht die Vergegenwärtigung? Durch den regelmäßigen Vortrag der
Lehren, die Einprägung der verehrten Züge, die epische Beschreibung und
dramatische Vorführung der vorbildlichen Handlimgen und ergreifenden
Schicksale. Diese Heldenverehrung erhält ganz von selber rehgiös-rituellen
Charakter ; sie braucht nur zur feststehenden Sitte zu werden. So oft die Ge-
meinde, also der rehgiöse Bund, sich versammelt, gedenkt er in Wort und
Handlung der verehrten Männer, zumal des angeblichen oder wirklichen
Stifters des Bundes, und erneuert den verwandtschaftlichen Zusammenhang
mit ihnen durch künstlerische und symbohsche Akte. Da es nun ferner eine
Grundeigenschaft des Menschen ist, die Inhalte seines Phantasie- und Ge-
fühlslebens soweit möglich zu vereinfachen und zu verpersönHchen, so über-
trägt er seine Verehrungsgefühle auf ganz wenige Personen und stattet die-
selben mit allem aus, was er erlebt hat und sich wünscht. Er fühlt sich er-
hoben, befreit und auferbaut, wenn er diese Idealmenschen in rituellen Be-
gehungen feiert und ihr Leben und Wirken sich lebendig vor Augen führt.
Ich glaube, daß eine derartige Heldenverehnmg in keinem Rehgions-
bunde der Zukunft fehlen wird. Es wird ewig dabei bleiben, daß eng ver-
266
1
bundene Menschen, wenn sie eine Zusammenkunft halten, sich ,,im Namen",
„im Geiste" eines oder einiger Heroen vereinigt fühlen und diesem Gefühle
sichtbaren und hörbaren Ausdruck zu geben wünschen. Damit unsere frei
denkenden Freunde sich unter solchen „heiligen Versammlungen" nicht
magische und abergläubische Anbetungsfeiern vorstellen, wollen wir ein ein-
faches Beispiel anführen.
Jeder heutige Mensch übt gelegentlich eine rituelle Handlung aus, die dem
Heroenkultus angehört. Diese allgemeinste rituelle Handlung ist der Toast.
Wenn man in einer Versammlung ein Hoch auf einen Anwesenden oder Ab-
wesenden ausbringt und alle in den Hochruf einstimmen, beim Gelage auch
noch die Gläser erheben und trinken, so tritt der Gefeierte für den Augen-
blick in den Mittelpunkt des Bewußtseins der Versammelten; in ihm ver-
einigen sie sich für den Augenblick zu einem Bunde, dessen Symbol der Ge-
feierte ist. Der Toast ist eine primitive Kommunionshandlung. Sehr klar
tritt das z. B. bei dem ,, Kaiserhoch" hervor. Wenn dem Kaiserhoch gar
noch eine patriotische Rede vorausgeht und ihm der gemeinsame Gesang
der Nationalhymne folgt, haben wir eine vollständige rituelle Feier, eine
religiöse Liturgie vor uns. Der Kommunionscharakter dieses Aktes Hegt auf
der Hand ; er bildet eine Art Treuegelöbnis. Die Versammelten geben durch
Ruf und Gesang ihrem Zugehörigkeitsgefühl zu einem idealen Verbände Aus-
druck, bekennen sich zu den Bundesgrundsätzen und tun dies alles in sym-
bolisch-künstlerischer Form. Der Kaiser vertritt bei dieser Zeremonie die
Bundesidee; er nimmt die Stelle ein, die in den alten religiösen Gemein-
schaften der Bundesdämon, der Stammgründer, der im Priester verkörperte
religiöse Heros eingenommen hat. Denn es versteht sich von selber, daß das
Kaiserhoch nicht dem zufälligen Träger der Krone als einer vielleicht tüch-
tigen und achtbaren EinzelpersönHchkeit gilt; der gegenwärtige Träger ist
nur Vertreter und Symbol. Man huldigt ihm im Namen des vaterländischen
Ideals, nicht um seiner persönhchen Tugenden oder Untugenden willen. Wir
sehen hier also beides : daß der Mensch Ideen zu verpersönlichen sucht, mit
der so gewonnenen Persönlichkeit aber durch symboUsche Riten und objek-
ti vierendeKunst einen geistigen Bund schHeßen möchte. Dieser Bund wird zum
zusammenhaltenden Band für den ganzen gleichgesinnten Kreis vonMenschen.
Wir erhalten somit zwei Hauptbestandteile des Kults : Verpersönlichung der
Bundesidee und künstlerische Objektivierung des Subjektiven. Einen dritten
Bestandteil bildet die unten zu besprechende Formuhemng und symbohsche
Ausübung der Bundespflichten. Zunächst ist über die beiden ersten Bestand-
teile noch ein Wort zu sagen. Unter den Begriff der Verpersönhchung der
Bundesidee fällt ein großer Teil der religiösen und außerreligiösen Mythen.
In jedem lebenskräftigen Mythus ist Phantasie und WirkHchkeit zusammen-
267
geflossen; er vereinigt Erlebnisse des Menschengeschlechts mit geträumten
Wünschen, so z. B. der Mythus von Jesus dem Christus. Bei diesem wie bei
allen anderen Mythen hält es schwer, das Gewünschte von dem Erfahrenen
wieder zu sondern ; ein Mythus ist gerade dadurch machtvoll und gemein-
schaftsbildend, daß er die historische Wahrheit mit den religiösen Bedürf-
nissen unlöslich verknüpft. Im Falle Jesu steht nur fest, daß der hypothe-
tische Rabbi aus Nazareth, der um seiner prophetischen Wirksamkeit willen
den Kreuzestod in Jerusalem erlitten haben soll, erst dadurch zum Kult-
gegenstand und zum idealen Mittelpunkt des christlichen Religionsbundes
geworden ist, daß man ihn mythisch bearbeitet und zum Erfüller aller reli-
giösen Wünsche erhoben hat. Er wurde bekleidet mit dem leuchtenden Weiß
der göttlichen Phantasiegestalten und zum Symbol der religiösen Gemein-
schaft gemacht. Wenn die Gemeinde ihm huldigt und in seinem Namen kul-
tische Handlungen vornimmt, so gelten diese Akte im letzten Grunde nicht
einem Einzelmenschen, der möglicherw^eise vor 2000 Jahren in Palästina
gelebt und gewirkt hat, sondern sie gelten der Gemeinde selber. Die wirk-
liche Gottheit, vor der die Gemeinde sich nieder^^drft, ist die Idee ihres Bun-
des. Diese Idee tritt nicht als klarer Gedanke, sondern als drängendes Gefühl,
als mythische Gestalt vor die Seele des Christen. Die Idee gewinnt Leben,
sie wird Mensch und vermag so erst dem Verlangen zu dienen, das den reh-
giösen Menschen beseelt: sich durch Wort und Handlung, d. h. also durch
den Kult, die Idee ganz einzuverleiben und dem Bimde dadurch die Festig-
keit eines natürlichen Organismus zu geben. Die persönlich gewordene Idee
ist nun die Seele des Bundes, die Gemeinde der Leib dieser Seele. Jedesmal
wenn die Gemeinde sich versammelt, wird sie sich ihrer Einheit bewußt und
naturgemäß erwacht dann auch die Seele der Gemeinde, mit anderen Wor-
ten : die Versammelten werden zum Kultbund und bringen redend und han-
delnd den Geist, der sie erfüllt, zur Erscheinung.
Man kann aber nur darstellen, indem man künstlerisch gestaltet. Wenn das
Bundesgefühl Wort und Handlung werden will, muß es Kunst werden. Das
Personifizieren und Mythologisieren ist an sich schon ein künstlerischer Akt
im weiteren Sinne. Die Formen, unter denen sich die rituelle Darstellung
religiöser Gemeindegefühle vollzieht, sind früher von uns ausführhch be-
schrieben worden: die einfachste und stärkste Form ist, daß sich die ganze
Gemeinde oder ihr priesterlicher Vertreter geradezu in die Gottheit ,, ver-
wandelt". Dvuch Maske, Ausrüstung, mimischen Tanz wird der Bundesgeist
unmittelbar in Aktion gesetzt. Wir haben darauf hingewiesen, daß die szeni-
schen und epischen Aufführungen bei den Kultfesten der höheren Religionen
zu einem guten Teil auf diese Lebendigmachung und mimische Verwirk-
lichung der Gottheit zurückgehen. Es bleibt dem Rehgionsforscher über-
268
lassen, ob er diese künstlerischen Aufführungen sämtlich noch in das Gebiet
des religiösen Kultus ziehen will. Wenn er den Begriff des Kultus enger faßt,
als wir, wird er es nicht tun ; er wird mit Guyau darauf aufmerksam machen,
daß sich die Beziehungen zwischen Poesie und Musik einerseits und den reli-
giösen Riten anderseits immer mehr gelockert haben, und wird für die Zu-
kunft eine völlige Trennung wünschen und voraussagen. Ohne Zweifel läßt
der geschichthche Verlauf diesen Schluß zu.
Aber wir sind anderer Meinung. Wir glauben aus vielen Anzeichen schheßen
zu müssen : erstens daß die Kunst ganz neuerdings engeren Anschluß an dcis
religiöse Leben sucht, zweitens daß das Verlangen unseres Volkes nach reli-
giöser Bundesbildung und ritueller Betätigung so stark im Wachsen ist, daß
man die Kunst als Helferin nicht mehr entbehren kann. Wer fühlte heute
nicht, daß unser Theater- imd Konzertwesen zu profan geworden ist und
nur sehr unvollkommen das Bedürfnis der Besseren unseres Volkes nach Er-
bauung und Erhebung befriedigt ! Die christlichen Kultformen aber sind un-
genügend und widersprechen dem Geiste, der heute zur religiösen Bundes-
bildung hindrängt. In der Kunst macht sich ein Streben nach Monumenta-
lität und Einfachheit geltend; die Pflege der Volksfestspiele, die Erneuerung
der Tanzkunst und manches andere läßt den religiösen Zug deutlich er-
kennen. Richard Wagner hat diese Entwicklung mit prophetischem
Ahnungs vermögen vorweggenommen. Sein Gedanke eines Gesamtkunst-
werks zielt offen auf die Wiedervereinigung von Kunst und Kultus; auch
hat Wagner seinen Werken einen reUgiösen Ideengehalt zu geben gesucht.
Daß ihm die Verwirklichung seiner Absichten nicht ganz gelungen und sein
ganzes Lebenswerk ein Torso geblieben ist, fällt nicht nur seiner Persönlich-
keit, sondern mehr noch der Zeit zur Last, die für die rehgiöse Erneuerung
noch nicht reif war. Bayreuth konnte unmöglich zum Ausgangspunkt einer
neuen ReHgion werden.
Das neue Jahrhundert wird glücklicher sein. Es kann dem Ziele, das
Wagner verfehlen mußte, mit mehr Besonnenheit und in besserer Aus-
rüstung zusteuern. Sobald wir den ReHgionsbund haben, der in Kürze ans
Licht treten muß und wird, werden dessen Zusammenkünfte den Charakter
von künstlerischen Kultfesten annehmen. Die dramatischen, musikahschen,
epischen und sonstigen Vorführungen, die heute im Konzert, Theater- und
Vortragssaal als Selbstzweck erscheinen, treten dann in den Rahmen der
rehgiösen Feier und verbinden sich mit den philosophisch-paränetischen Be-
standteilen, die wir sogleich erwähnen werden, zu einem einheithchen reh-
giösen Akt, zu einer „Tempelarbeit", wie die Freimaurer es nennen, die
solche künstlerisch-symboHsche Riten bereits besitzen, wie denn überhaupt
der Freimaurerbund in bezug auf das Kultwesen geradezu vorbildHch ist.
269
Kultfeste dieser Art sind natürlich erst dann möglich, wenn das religiöse
\'erlangen unserer Zeit Gedanke und Wort geworden ist. Propheten und
Philosophen müssen erst Ziel und Weg mit Worten aussprechen, ehe die
Künstler an das Mythologisieren, Gestalten und Singen gehen können.
Lehrer und Erzieher müssen dem \^olke erst die sittlichen Forderungen des
neuen Lebens in die Seele brennen, ehe es die neue Sittlichkeit verwirklichen,
sie in Rhythmen umsetzen und am heiligen Feste nach diesen Rhythmen
schreiten und spielen kann. Wir können keine Religion imd Kunst brauchen,
die nur den Bedürfnissen einzelner geistig hochstehender Persönlichkeiten
dient. Eine geschlossene ]\lasse muß Träger der Religion und Kunst sein ;
in ihrem Namen müssen die rehgiös-schöpferischen Geister sprechen; die
Instinkte des Volkes müssen den Resonanzboden für die Gesänge und I*re-
digten der führenden Propheten und Künstler abgeben.
Wenn nicht alles trügt, regen sich in der Tiefe unseres Volkes dieselben
religiösen Gefühle, die die Fortgeschrittensten soeben in Gedanken imd Bil-
dern auszusprechen beginnen, \^>lch eine Fülle des lautersten rehgiösen
Idealismus verbirgt sich unter der Maske der sozialdemokratisch-materia-
listischen Volksbewegimg ! Die Arbeitermassen, die so ungestüm ihre Macht-
und Lohnforderungen geltend machen, verlangen im Grunde ihres Herzens
nach Religion und Kunst; aber nach einer anderen Rehgion, als die christ-
lichen Priester ihnen anbieten. Und von der anderen Seite her rücken die
religiös erregten Einzelnen heran. So individualistisch und aristokratisch sich
diese Einzelnen hie und da gebärden — ich verweise auf Nietzsche — , so
drängt es sie doch unwiderstehlich zur Verallgemeinerung und Verbreite-
rung ihrer Prophetie und Kunst hin : sie streben nach Schlichtheit und Größe,
sie wollen alles Subjektive, Modische und Launenhafte abstreifen, mit an-
deren Worten: sie wollen sich im Volke verankern. So zeigt sich, wenn man
durch die verhüllenden Schleier hindurchzubhcken versteht, allenthalben
eine Bewegung nach dem Mittelpunkt der Kultmr hin. Der Marsch ins Herz
der Dinge ist angetreten, d. h. der Eroberungskampf um eine neue Volks-
rehgion hat begonnen.
Wir kommen endlich noch zu dem moralisch-pädagogischen Bestandteil
des Kults. Wie können durch den Ritus sittliche Fordenmgen zur Geltimg
gebracht und religiöse Pflichten der Gemeinde eingeprägt werden? Kann
überhaupt ein rehgiöser Kult erzieherisch wirken ? — Unbedingt ; wir sehen
es ja an den Kulten der bisherigen Religionen. Die künstlerischen Darbie-
tungen haben schon an und für sich eine versittlichende Wirkung, zumal
wenn sie im Rahmen einer religiösen Feier erscheinen, wenn sie also „Gottes-
dienst" sind. Die Mitwirkung beim gemeinsamen Gesang, die Teilnahme an
heiligen Umzügen und Aufzügen, das Anhören und Anschauen musikalischer
270
und dichterischer Vorführungen wirkt ungemein belebend auf das religiöse
Bundesgefühl ein, verstärkt den Gleichklang der Seelen, erhöht und erweitert
jede Einzelseele. Je reiner der Mensch ein Kunstwerk aufzufassen und je
vollständiger er sich in dessen Schönheiten hineinzuleben vermag, um so
kräftiger ist auch dessen religiös-sittliche Wirkung auf ihn. Unsere Schulen
und Kirchen wissen von der Erziehung durch die Kunst als solche leider
sehr wenig; sie begnügen sich damit, aus den Kunstwerken das stoffhch
Belehrende herauszuziehen und sie als Wissensobjekte und als moralisierende
Fabeln zu behandeln. Auch so geben die Kunstwerke, namentlich die Dich-
tungen, eine Fülle pädagogisch verwendbarer Ideen her. Am stärksten wirkt
natürlich der gestaltete Mythus. Das Christentum verdankt seine päda-
gogischen Erfolge nicht zum wenigsten der mythischen Geschichte des Hei-
lands, die in tausend Kunstwerken, in Bildern und Ornamenten, in epischen
und dramatischen Werken, in Solo- und Chorgesängen versinnlicht worden
ist. Aber auch die Aufführung von Parabeln, die Darstellung irgendeines
menschlich bedeutenden Vorgangs kann im Rahmen einer religiösen Feier
zu einer ,, Moralpredigt" von gewaltiger Wirkung werden.
Wenn doch die Künstler sehen möchten, was für unabsehbare Felder sich
hier für sie eröffnen ! Die Mutlosigkeit und Kleinlichkeit, die so schwer auf
der deutschen Dichtkunst und der mit ihr verschwisterten Bewegungskunst
lastet, würde mit einem i\Iale verschwinden und einer begeisterten Emsig-
keit Platz machen. Die üblichen Kunstformen würden durch ältere und viel-
leicht auch durch neugeschaffene bereichert werden. Die Wechselrede, der
Pantomimus, der Reigen würde zu neuem Leben erwachen. Die rhyth-
mische Gymnastik des genialen Jaques-Dalcroze würde ihren, bisher nur
von wenigen geahnten religiösen Wert für jedermann enthüllen.
Schließhch kann auch der einfache Weisheitsspruch, die nackte sitthche
Mahnung und Aufforderung kultische Verwendung finden. Auch hier kann
uns das Christentum Vorbild und Warnung zugleich sein. Im christhchen
Gottesdienst werden Bibelstellen verlesen; wichtige Sprüche werden teils
vom Geistlichen, teils von der Gemeinde gesprochen oder gesungen. Diese
Sprüche sind dem kanonischen Buch der Bücher entnommen. Auch in den
Religionsbünden der Zukunft werden die Kernworte, die das Glaubens- und
Lebensbekenntnis kurz und bündig zum Ausdruck bringen, von der Ge-
meinde und zu ihr oft und feierlich gesprochen werden müssen. Wer wird
uns diese Kemworte geben ? Wir haben keine autoritative Glaubensurkunde
und werden sie niemals haben. Unsere ,, Bibel" ist die gesamte menschhche
Weisheit der Vergangenheit; jedes kommende Zeitalter hat die Pflicht, diese
Bibel zu erweitem und zu berichtigen. Zu freiem Wettbewerb sollen die reli-
giösen Geister aller Zeiten zugelassen werden und in freier Entscheidung soU
271
der werdende Bund seine Merksprüche und Bekenntnisformeln wählen. Die
Verfasser mögen aus alter oder neuer Zeit stammen, mögen berühmt oder
unberühmt sein ; das tut zur Sache nichts. Wer kennt denn die Verfasser der
schönen Freimaurersprüche, die im maurerischen Ritual eine so bedeutende
Stelle einnehmen? Sie sind da und wirken immer wieder, als höre man sie
zum erstenmal, ebenso wie die mächtigsten Bibelworte durch die gottes-
dienstliche Verwendung nichts von ihrer Kraft einbüßen; nur drücken die
letzteren imsere heutigen rehgiösen Empfindungen leider nicht mehr über-
zeugend aus, während die drei maurerischen Sprüche (,, Weisheit leite den
Bau" — , .Stärke führe ihn aus" — ,, Schönheit ziere ihn") wie ein Evange-
lium der Zukunft klingen.
Der Freimaurerbund lehrt uns auch, daß eine rehgiöse Gemeinschaft feste
vererbbare Ritualien haben kann, ohne der dogmatischen Erstarrung zu ver-
fallen. Es muß nur immer das Bewußtsein lebendig bleiben, daß das Ritual
nur Form ist, nur Gefäß und Raum für die religiösen Gestaltimgskräfte, die
sich frei und ungehindert in ihm ausbreiten sollen. Dann können die rituellen
Formen ebensowenig zur Fessel werden wie etwa die Formen der Kunst oder
des sozialen Lebens. Das ganze menschliche Leben entfaltet sich ja innerhalb
gewisser Formen, die einen reichen und immer neuen Inhalt aufzunehmen
imstande sind. Kultur und Kunst sind geformtes Leben ; liegt es nicht auf der
Hand, daß auch die Religion Formen braucht, um gedeihen zu können ? Frei-
lich sind die Formen nicht ewig, wie die bisherigen Rehgionen uns glauben
machen wollen ; auch sie vergehen und müssen durch andere ersetzt werden.
Aber im Vergleich zu den Inhalten sind sie das Dauernde. Wo das Leben
nicht in Form gebracht ist, herrscht Unsicherheit und Schwäche. Die gren-
zenlose Zerfahrenheit des heutigen religiösen Lebens rührt davon her, daß
die alten Formen untauglich geworden und neue Formen noch nicht ge-
funden, auch kaum gesucht worden sind. Die Lage wird dadurch noch ver-
wirrter, daß sogar die theologischen Fachmänner zum Teil das Verständnis
für die Unentbehrlichkeit religiöser Formen verloren haben. Sie leisten dem
anarchistischen \\'esen V^orschub, beteiligen sich direkt oder indirekt am Zer-
schlagen der bisherigen Formen, bemühen sich aber nicht, neue an ihre Stelle
zu setzen.
Im Volke findet man weit richtigere rehgiöse Instinkte, wenn auch natür-
lich dort die Fähigkeit zu Neubildungen fehlt. Das Volk hält z. B. an den
rituellen Handlungen, die die christliche Kirche für die religiösen Feste des
Einzellebens ausgebildet hat, auch dann fest, wenn es ihnen innerhch keine
Bedeutung mehr beilegt. Geburt, Pubertät, Eheschließung, Tod müssen
feierhch begangen und als Angelegenheiten des gesamten religiösen Bundes
behandelt werden — so empfindet das Volk mit Recht. Darum wiU man auf
272
die Beteiligung des christlichen Priesters nicht verzichten, auch wenn man
im übrigen dem kirchlichen Leben entfremdet ist und dem von der Kirche
für diese Feste dargebotenen Kultzeremoniell mit geringer Teilnahme zu-
schaut. Es ist eine Verarmung, wenn der Mensch an den Wendepunkten
seines Lebens nicht der Zugehörigkeit zu einem idealen Verbände inne wird,
wenn er die wichtigsten Ereignisse nicht zum Feste gestaltet und sie in die
rehgiöse Sphäre emporhebt.
Die Pfarrer sind dadurch, daß man sie zur Vollziehung der Taufe, der
Konfirmation, der Trauung, der christlichen Beerdigung ruft, ohne sich sonst
im geringsten um sie zu bekümmern, in eine wenig beneidenswerte Lage
gekommen. Sie wissen, daß man sich nur in Ermangelung neuer religiöser
Riten und Bundesbevollmächtigter an sie wendet, müssen aber trotzdem
ihres Amtes walten. Sie haben nicht die Fähigkeit, dem unwürdigen Ver-
hältnis zwischen der Kirche und dem modern empfindenden Menschen ein
Ende zu machen. So kommen gerade sie dahin, ihre Kultpflichten als eine
gleichgültige Äußerlichkeit, als einen ,,Zopf" anzusehen und sie demgemäß
abzumachen. Sie verstehen ihr priesterliches Amt nicht mehr und verkennen
den Sinn der Bundesbildung. Das alles könnte sich ändern, wenn sämthche
liberalen und modernistischen GeistUchen sich aufraffen und ihren veränder-
ten Glauben vor aller Welt bekennen wollten! Dann ^^ürden sie unaufhalt-
sam — mögen sie sich auch noch eine Zeitlang gegen diese Konsequenzen
wehren — in eine feindliche Stellung zur Kirche gedrängt und zur religiösen
Neubildung gezwungen werden. Sobald sich diese Pfarrer der starken Be-
wegung anschließen, die auf die Gründung eines unchristhchen, aber national
gesinnten und die gesamte Kultur zur Einheit führenden rehgiösen Bundes
hinzielt, wird das Vertrauen des Volkes, das sie verloren haben, zurück-
kehren. Ihre schlumm-ernden religiösen Kräfte werden neu erwachen; ihre
Augen werden den Glanz zurückgewinnen, den das Auge jedes echten reh-
giösen Schöpfers und Führers hat.
M 6. FÜHRUNG UND SEELSORGE ^
Über die Zukunft des religiösen Lehr- und Seelsorgeramtes müssen wir noch
kürzer und summarischer handeln, als über das Kirchen- und Kultproblem.
Wenn man über das Wesen der Seelsorge und der religiösen Erziehung nach-
denkt, \\'ird man so tief in die allgemeinsten psychologischen und soziologi-
schen Fragen hineingeführt, daß wir uns am Schlüsse unseres Werkes un-
möglich noch auf eine ausführhche Darlegung des ganzen Problems ein-
lassen können. Das hieße dem Leser zuviel zumuten. Wir können nur über-
i8 Horneffer, Der Priester 11 273
blicken, nur Grundlinien ziehen. Das Weitere muß späteren Arbeiten vor-
behalten bleiben.
Es hat sich ergeben, daß der Priester in alten Zeiten der Führer seiner Ge-
meinde auf fast allen Gebieten des Lebens war. Als Lehrer und Herrscher,
als Arzt und Künstler lebte er in seinem Volke. Allgemach hat sich der
Kreis seiner Betätigung verengert. Die geistigen und leitenden Berufe haben
sich nacheinander von dem priesterlichen Mutterberuf abgetrennt und sich
selbständig gemacht. Was wird dem Priester der Zukunft übrigbleiben?
In unserer Zeit sehen wir, wie auch der Beruf des Lehrers, der dem priester-
lichen im engeren Sinne am nächsten steht, die Verbindungsfäden mit dem
rehgiösen Lehramt durchschneidet. Die Lehrer haben sich im Laufe der letz-
ten Jahrhunderte zu einem eignen Stande entwickelt. An unseren Mittel-
schulen lehren nicht mehr Theologen, sondern fachmännisch gebildete Päda-
gogen ; auf den Hochschulen hat die theologische Fakultät ihre beherrschende
Stellung eingebüßt ; die Volksschule kämpft gegen die Beaufsichtigung durch
die Geistlichkeit. Überall tritt das ,, Weltliche" mit dem Anspruch auf,
Mittelpunkt und Krone der Jugenderziehung zu sein; dem Religionsunter-
richt ist nur eine bescheidene Stundenzahl verblieben; die Jugend der
höheren Schulen und allgemach auch der Volksschulen lernt diesen Unter-
richt und den Religionslehrer, der ihn erteilt, als eine Art Anhängsel zu dem
eigentlichen Schulbetrieb ansehen.
Was bedeutet diese immer weitergehende Ausschaltung des priesterlichen
Einflusses? Welche Folgen hat es für das Volksleben, wenn die Fachleute
den rehgiösen Erzieher aus allen seinen Stellungen verdrängen ? — Wir wol-
len zunächst bei dem Schulwesen stehenbleiben und das heutige Verhältnis
zwischen Lehrer und Priester etwas näher ins Auge fassen. Daß die Volks-
schullehrer mit den Pfarrern, die Universitäten mit der kirchlichen Theo-
logie im Kampfe liegen, ist ohne Zweifel eine beklagenswerte Erscheinung.
Wer ist schuld daran ? Wir haben es schon oben gesagt : die öffentliche Prie-
sterschaft ist nicht mehr imstande, die Führung unserer Kultur und also
auch unserer Jugend in Händen zu halten; sie ist zurückgeblieben. Die
Kämpfer für die weltliche Schule und für die Abschaffung der theologischen
Fakultäten sind daher im Recht, sie haben mitunter mehr religiösen Sinn
und mehr wahres Priestertum als die geistlichen Herren, die sehr bewegUch
über den materialistischen Zeitgeist klagen, aber nicht merken, daß sie mit
ihren verstaubten religiösen Erziehungsmitteln das Übel eher verschhmmem
als verringern. Andererseits haben die Priester und ihre Freunde vollständig
recht, wenn sie dagegen Einspruch erheben, daß aus unseren Schulen tech-
nische Lehrinstitute ohne rehgiös-sitthche Erziehung gemacht werden sollen.
Die — richtig verstandene und richtig gelehrte — Religion muß im Mittel-
274
punkte der Jugendbildung stehen. Schulen, die nur Kenntnisse und Fertig-
keiten vermitteln wollen, sind unziureichend, ebenso wie diejenigen Lehrer
unzureichend sind, die nur fachmännische Schulbeamte oder gar nur ge-
lehrte Forscher und Züchter von Forschern sein wollen. Die Schule soll er-
ziehen, und erziehen können nur Menschen, die Religion haben und auch
ihre Anvertrauten zu religiösen Menschen machen wollen. Das werden die
Klerikalen gern hören ; sie begehen nur leider den Irrtum, ihre Rehgion für
die einzig mögliche und einzig heilsame zu halten.
Die Schwierigkeit, unseren Schulen die rechte Gestalt und die rechten
Lehrer zu geben, rührt daher, daß wir in einem rehgiösen Interregnum leben.
Der Staat, d. h. die große beauftragende Lebensgemeinschaft, befindet sich
als Schulpatron in großer Verlegenheit; er kann nicht eine einzige Rehgion
durch berufene religiöse Führer lehren lassen, weil es weder diese eine Reli-
gion noch diese berufenen religiösen Führer gibt. Er muß mit dem Neben-
einander mehrerer widersprechender Religionen rechnen. Was wird dabei
aus der Schule ? Entweder muß die Schule neutralisiert werden oder es müs-
sen, wie z. B. der Pädagoge Rein vorschlägt, für die verschiedenen religiös-
geistigen Richtungen und Gemeinschaften getrennte Schulen geschaffen wer-
den, die der neutrale Staat sämthch unter seinen Schutz nimmt. Im ersten
Falle, wenn also eine neutrale Schule für alle Parteien vorhanden ist, in der
nur das gelehrt wird, was allen Staatsbürgern gemeinsam ist, sind neben
dieser Schule noch andere, ergänzende Schulen unentbehrlich, die sich die
religiösen Gesellschaften selber schaffen, damit in ihnen die Jugend mit den
besonderen Zielen und Gedanken der einzelnen Bünde durch besondere Lehr-
priester vertraut gemacht wird. Diese Einrichtung besteht schon heute : der
konfessionelle Religionsunterricht, der Konfirmandenunterricht, der Moral-
unterricht der freireligiösen Gemeinden stellt solche Parteischulen neben der
neutralen Allgemeinschule dar, wobei freihch zu erwähnen ist, daß die Neu-
trahtät der Staatsschule manches zu wünschen übrigläßt. Das kann nie-
mand wundernehmen; denn eine neutrale Jugendbildung ist im strengen
Sinne eine UnmögHchkeit. Die Klerikalen haben auch hier wieder recht: ein
guter Lehrer kann in keinem Unterrichtsfach seine religiöse Richtung ganz
verleugnen ; wenn er seine ganze Persönhchkeit einsetzt, wird er seine Schü-
ler nicht nur kenntnisreicher machen, sondern sie auch rehgiös beeinflussen.
Daher wird in rehgiös empfindenden Kreisen stets der Wunsch entstehen,
den Nachwuchs in eigenen Schulen nach geschlossenem Plane zu erziehen
und auf die neutrale Jugendbildung zu verzichten; d. h. also: jede rehgiöse
Gemeinschaft oder Partei sorgt für Schulen und Lehrer, die die Jugend in
dem gewünschten Geist heranbilden. Das läßt sich natürHch nur dann durch-
führen, wenn der Staat keine der bestehenden und entstehenden Religions-
i8. 275
verbände bevorzugt oder behindert. Er muß über den Parteien stehen und
diu"ch die Wucht seiner nationalen Ziele und sozialpolitischen Leistimgen die
religiösen Gegensätze in Schranken halten.
Die Neutralität des Staates in Sachen der religiösen Erziehung zu erreichen,
ist das Ziel der kulturpolitischen Kämpfe, die seit geraumer Zeit geführt
werden und in den nächsten Jahren wahrscheinlich eine große Heftigkeit
annehmen werden. Heute behandelt der Staat diejenigen, die nicht zu den
christlichen Religionsverbänden, auch nicht zum jüdischen, gehören, als Ver-
brecher oder wenigstens als verdächtige Persönlichkeiten. Er erschwert oder
verbietet ihnen, ihre Kinder in ihrem Geiste heranzubilden. Der Staat kann
zu seiner Entschuldigung anführen, daß die freiheitliche reUgiöse Bewegung
bisher allzu uneinheitlich war und dem auf seinGedeihen bedachten Staat wenig
\'ertrauen einzuflößen vermochte. Aber die despotische Unterdrückungs-
politik, die er, unterstützt und beraten von den christUchen Priesterschaften,
bisher befolgte, war trotzdem falsch und verwerfHch und wird es immer
mehr, je mehr sich die freiheitlichen Organisationen befestigen und in ihren
positiven Zielen zusammenwachsen. Der Staat \vird einst gewahr werden,
daß er bei den ,, Freidenkern" echtere Freunde hat als bei den geschäftigen
Klerikalen, deren heiligste Christenpflicht es ist, den Staat der allumfassen-
den Weltkirche Untertan zu machen.
Überhaupt wird der Staat bald inne werden, daß er am besten fährt, wenn
er sich vorderhand nicht in die reHgiösen Kämpfe einmischt, sondern allen
religiösen Gruppen Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit gewährt. Er möge
nicht fürchten, daß die Gruppenbildung zersetzend auf das Staatsganze
wirke ; der heutige Zustand, daß also der Staat sich zum Büttel bestimmter
religiöser Verbände hergibt, die von den geistig Führenden abgelehnt werden,
ist für den politisch-nationalen Bund weit gefährlicher; denn durch dies Ver-
halten drängt der Staat die religiös neuemden Volkskreise in das pohtisch
revolutionäre Lager hinüber (vgl. E. Horneffers Aufsatz: Der Kaiser und
die Rehgion; Die Tat II, 9).
Die Grundsätze, auf denen sich die Jugendbildung des freien Religions-
bundes aufbauen wird, für den mein Bruder und ich kämpfen, sind an anderer
Stelle dargelegt worden. Das Ziel, das diese Jugendbildung sich setzt, ist:
die Heranwachsenden zu befähigen, ihre eigenen religiösen Wahrheiten und
sittlichen Ideale zu finden und sich als tätige Mitarbeiter in den kleineren
und größeren Lebenskreis einzuordnen, dem sie angehören. Die Unterrichts-
mittel, um dies Ziel zu erreichen, sind: lebendige Vorführung des pädago-
gisch Wertvollen aus der menschlichen Vergangenheit und der mythologisch-
dichterischen Welt, damit die Jugend erfährt, wie große Zeiten und Männer
um Wahrheit und Leben gerungen haben ; zweitens Pflanzung von Kultur-
276
Instinkten und Entfaltung des Charakters durch Übung, d. h. durch künst-
lerische und Arbeitserziehung. Die Gestaltung des Unterrichts im einzelnen
kann hier nicht erörtert werden.
Welcherart werden die Lehrer dieser Schule sein ? Wie soll überhaupt der
Jugenderzieher der Zukunft beschaffen sein? — Er muß ein gutes Stück
echten Priestergeistes haben und muß sich von der einseitigen Schätzung
des technischen und wissenschaftlichen Fachwesens, wie es heute herrscht,
freimachen. Der Lehrer muß dafür sorgen, daß der Geist im Leben des ge-
samten Volkes mehr zur Geltung kommt als heute. Die Vertreter des Geistes
haben sich aus dem Volksleben allzusehr zurückgezogen; sie, die zur Füh-
rung im Großen und Größten berufen wären, haben sich in wissenschafthche
und pädagogische Klöster eingesponnen und ihre Weisheit nur wenigen Aus-
erwählten zugängHch gemacht. Die Hochschule hat sich ihren Pfhchten
gegen., das ganze, freie, gleichberechtigte und gleichverpflichtete Volk in
schnöder Weise entzogen und begnügt sich mit Kopfschütteln festzustellen,
daß die religiös-sittliche Bildung des Volkes nachlasse. Daß sie, die Ver-
treterin und Übermittlerin aller geistigen Werte für die Bildung des Volkes
verantwortlich ist, hat sie über ihrem wissenschafthchen Fachwesen ver-
gessen. Ähnlich ist es mit der Künstlerschaft. Die Künstler haben vergessen,
daß sie in erster Linie Erzieher sind, haben die uralte Wahrheit, daß es zwei
untrennbar verbundene Aufgaben sind: Kunstwerke zu formen und jugend-
hche Menschenseelen zu formen, — unter dem Schutt eitler Spielereien und
romantischer Sehnsuchtsträume begraben. Die Kunst gehört in die Schule!
Die Philosophie und Wissenschaft gehört auf den Markt, will sagen auf den
gemeinsamen Versammlungsplatz von jung und alt!
Die lehrenden Männer des Geistes schelten auf die Priester und scheuchen
sie von der Erziehung der Kinder und der Erwachsenen hinweg. Aber sie
denken nicht daran, das, was die Priester bisher getan haben, nun ihrerseits zu
übernehmen, also die priesterHchen Pädagogen zu ersetzen. Die Universitäts-
lehrer weisen es als ein törichtes Ansinnen von sich, wenn man ihnen zuruft:
zeigt uns den Weg zum großen, heihgen Leben, seid Priester des neuen
Gottes und Propheten der Freiheit ! — Die Lehrer der Mittelschulen zucken
die Achseln, wenn man von ihnen verlangt, die religiös-sitthche Bildung
der reifen Jugend in ihre Hand zu nehmen und der Verwahrlosung unseres
Nachwuchses in den wichtigsten Lebensfragen zu steuern. Noch am besten
kommen die Volksschullehrer ihren priesterhchen Pflichten gegen die Kinder
und auch gegen das Volk im ganzen nach. Denn der Jugendbildner hat ja
auch Erziehungspflichten gegenüber der Allgemeinheit; jeder Lehrer muß
zugleich Volkserzieher sein ; er kann gar nicht anders als seine pädagogische
Tätigkeit über die Schulmauern und Schulkinder hinaus auf die Erwach-
277
senen und ihr geistiges Leben auszudehnen, — wenn anders er seinem Beruf
als ein Berufener und nicht als ein Unberechtigter angehört.
Man überlege sich einmal, was die akademisch und nicht akademisch ge-
bildeten Lehrer für die Volkskultur leisten könnten, wenn sie sich ihrer gei-
stigen Überlegenheit in der rechten Weise bedienen wollten! In kleineren
Orten namentlich sind sie die berufenen Kulturträger; auf sie schaut man
als auf die ^^^issenden und Leitenden, denn den Pfarrer läßt man häufig
nicht mehr als den geistig Führenden gelten. Aber wie oft ziehen es die
Lehrer vor, ihren Privatliebhabereien nachzugehen oder sich der vergnüg-
lichen ,, Geselligkeit" hinzugeben. Sie sollten sich die Aufgabe stellen, die
ganze Gemeinde wissenschafthch und künstlerisch zu heben, sie zu den ern-
steren und tieferen Dingen hinzuführen, die ihnen der Pfarrer in einseitiger
und unzureichender Weise nahebringt. Wenn die Lehrer versichern, daß für
derartige Veredlungs- und Vertiefungsbestrebungen kein , »Interesse" vor-
handen sei, so irren sie sich gründlich. Unser Volk ist nie so bildungsbedürftig
und für geistige Nahrung so dankbar gewesen wie heute. Man versteht diese
Stimmung nur nicht richtig zu benutzen und zu leiten. Die einen sind hoch-
fahrend und verlangen zuviel; die anderen kommen mit kirchUchen
Dingen und schrecken dadurch die Eifrigsten ab, zumal wenn sie merken
lassen, daß die ,, gefährlichen" Ergebnisse der Wissenschaft dem Volke vor-
enthalten werden müßten. Im Grunde haben unsere Gebildeten und Unter-
richteten einfach nicht die Fähigkeit und nicht die Lust, sich der Volks-
bildung mit ganzem Herzen hinzugeben; das ist die traurige Wahrheit.
Es fehlt ihnen an Liebe, an Religion, an aufopfernder Priestergesinnung. Ihr
eigenes Wesen und Leben ist Stückwerk; darum können sie auch anderen
nichts Ganzes, nichts wahrhaft Befreiendes und Bildendes geben. Neuer-
dings hat zwar eine kräftige Volksbildungsbewegung eingesetzt, die viel
Gutes leistet; aber noch immer stehen viel zu viele der Berufenen in miß-
mutigem Egoismus abseits. Auch die Tätigen greifen die Aufgabe nicht
immer richtig an, weil sie unter ,, Volksbildung" nur Popularisierung der
Wissenschaft und Versorgung mit guter Kunst verstehen, sich daher vom
Wichtigsten, von der religiös-sittlichen Belehrung und Beeinflussung des
Volkes ängstlich fernhalten.
Die Hauptschuld daran trifft die Hochschule, denn deren Pflicht ist es,
die Volkskultur von hoher Warte aus zu leiten (vgl. meine Schrift : Der Ver-
fall der Hochschule, 1907). Die Hochschulprofessoren sollten ihre Aufgabe
darin sehen, in ihren Schülern den Willen und die Fähigkeit zu erzeugen, als
Volksführer und Kulturpriester zu wirken. Das tun sie nicht. Sie wollen ihre
Schüler nur recht gelehrt und in ihrem Fach geschickt machen. Was ist die
notwendige Folge? Daß unsere Kultur auseinanderfällt und das Volk sich
278
selber zu helfen sucht. Auf welche Weise, haben wir früher gesehen : es hört
auf die Stimme unklarer Sektierer, wunderlicher Lebens- und Diätpropheten,
ungebildeter Popularisten und Schundschriftsteller. Oder es hält sich an die
alten legitimen Volksführer, nämlich an die Priester.
Warum steht die religiöse und politische Partei der Katholiken so ge-
schlossen und kraftvoll da? Warum finden wir bei den altmodischen und
kirchentreuen Menschen oft eine Sicherheit und Klarheit des Handelns und
Fühlens, gegen die das unsichere Geflacker der Modernen so betrübend ab-
sticht ? — Zwischen den Kirchentreuen und ihren geistigen Führern besteht
noch das innige und schöne Verhältnis, das zwischen Gemeinde und Ge-
meindeleiter obwalten muß. Viele katholische (und auch manche evange-
lische) Pfarrer sind ihrer Gemeinde noch alles; die evangelischen aus dem
Grunde seltener, weil die evangelische Bevölkerung zuviel von dem neuen
Geiste aufgenommen hat, der dem christlichen Kirchen- und Priestertum
feindhch ist. Die katholischen Gegenden sind mit diesem Geiste noch nicht
in so enge Berührung gekommen ; die Gemeinden folgen noch ihrem Seelen-
hirten in vollem Vertrauen, selbstverständlich auch auf dem Gebiete der
PoHtik und Gemeindeverwaltung. Die kathohsche Geistlichkeit gibt sich
auch redlich Mühe, das Vertrauen zu rechtfertigen; sie sammelt die Ge-
meinde in den katholischen Volks vereinen, in Arbeiter-, Frauenvereinen
usw. ; sie weiß die künstlerisch und wissenschaftlich Gebildeten, die Reichen
und PfHchtenlosen heranzuziehen und im Namen der Religion zur Mitwir-
kung bei der Leitung des Volkes zu gewinnen. Die Katholiken haben noch
Aufopferungsfähigkeit! Höchstens bei den Sozialdemokraten findet man
diese religiöse Grundtugend reicher entwickelt. In den übrigen Volkskreisen
blüht der OpferwiUe nur im Verborgenen; die zur geistigen Führung Be-
rufenen sind meist ganz frei von ihm.
Es soll nicht geleugnet werden, daß es unvergleichhch schwerer und ver-
antwortungsvoller ist, freie Menschen zu führen und Werdende zur Freiheit
zu erziehen, als eine dogmatisch gebundene, geistig uniforme Herde zu wei-
den. Es war wohl unausbleibhch, daß die Erzieher zur Freiheit zunächst
scheitern mußten und das neue Erziehungsproblem trotz immer erneuter
Experimente ungelöst bheb. Das nach Freiheit verlangende Europa mußte
dem anarchistischen Ideale verfallen und mit Rousseau jede pädagogische
Beeinflussung verwerfen. Weil man den despotischen Priester hassen gelernt
hatte, mißtraute man nun jedem priesterhch gearteten Menschen und wollte
von geistiger Führerschaft überhaupt nichts mehr hören. Die geborenen Prie-
ster begannen sich ihrer Anlage zu schämen, verleugneten und erstickten
ihre Erzieherneigung, wurden Wissenschaftler oder suchten in anderen Be-
riifen Unterschlupf. Wenn sie Lehrer von Fach wurden, betonten sie ge-
279
flissentlich, daß sie nicht Erziehung im alten Sinne trieben, iind vermieden
ängsthch jede energische Beeinflussmig mid Formmig der Jugend, wenigstens
der erwachsenen Jugend ; noch ängstlicher vermieden sie die religiöse Beein-
flussimg und Erziehung des ganzen Volkes.
Wir besitzen politische und wirtschaftHche Agitatoren, d. h. Antreiber und
Volksführer, in genügender Zahl; auch zu aufklärenden und belehrenden
Vorträgen über allerhand Gegenstände finden sich immer mehr Menschen
bereit. Aber religiös zu erziehen, sitthche Predigten zu halten, daran wagt
sich fast niemand. Ich sagte oben schon, was für Folgen das haben muß:
dem Volke, soweit es nicht mehr im pädagogischen Bannkreis der Kirchen
lebt, geht das Verantwortungsgefühl, der sittliche Ernst und Adel verloren ;
schrankenloser Egoismus, wider Konkurrenzkampf, Klassen- und Partei-
hader herrschen. Es ist hohe Zeit, diesem Zustande mit allen Mitteln ein
Ende zu machen. Wir brauchen Erzieher, brauchen unerschrockene, von
reinem Idealismus getragene Männer, die die Aufgabe der alten Priester-
schaften in veredelter und freierer Weise wieder auf sich nehmen. Fürchtet
man, daß diese neuen Priester der Freiheit zu nahetreten werden ? Wenn ein
Volk sich von seinen Priestern knechten läßt, richtet es sich selber und ver-
dient es nicht besser. Die neuen Erzieher sollen niemand bevormunden, nie-
mand in Dogmen einschnüren; sie sollen nur helfen und erleichtern. Das
Volk und die Werdenden verlangen nach Hilfe und Rat ; sie sind anlehnungs-
bedürftig und haben ein Recht darauf, pädagogisch unterstützt und auf die
wichtigsten Dinge hingelenkt zu werden. Jede Schule, wenn sie eine allge-
meine Bildungsschule sein will, muß die sittHch-religiöse Erziehimg in den
Vordergrund rücken; jeder geistige Beruf, jeder Stand, der in irgendeinem
Sinne führen und regieren wiU, muß sich zum religiösen Lehrstand rechnen
und in der Veredelung, Vertiefung und Verschönerung der Menschen seine
schönste Aufgabe erkennen. Heilen wir endlich die geheime Wunde, an der
unsere Kultur zu verbluten droht! Diese geheime Wunde ist, daß es keine
Priester mehr gibt, weil der „Lehrstand" nicht mehr ein Führerstand
sein will.
Wir wollen einige der wichtigsten Berufe auf diesen Gesichtspunkt hin
durchgehen und nachfragen, was sie für die Erziehung, die Versitthchung
und Vergottung unseres Volkes tun könnten und tun sollten. Den Berufs-
pädagogen sind am nächsten verwandt die militärischen Vorgesetzten, also
die Offiziere und Unteroffiziere. Dieselben sind in ihrem Hauptberuf Lehrer
und Führer; jeder gesunde Staatsbürger ist ein bis drei Jahre seines reifen
Jugendalters ihrem täghchen und stündlichen Einflüsse imterworfen. Was
könnte und müßte während dieser Zeit alles gepflanzt, entfaltet, befestigt
werden ! Die soldatische Schulung im engeren Sinne ist freilich schon durch
280
sich selber von hohem sittHchen Wert; jede formale Bildung wirkt auf den
Charakter und mittelbar auf das Glaubensleben ein. Aber die formale Bil-
dung, die unsere Soldaten erhalten, müßte ergänzt werden diuch rein
menschhche Einwirkung der Vorgesetzten auf die Leute. Ich meine wahr-
haftig nicht, daß man sentimentale Reden an die Mannschaft halten soll;
das tun die Militärpfarrer genug und erzielen wohl keine allzu großen Er-
folge damit. Es stehen den miütärischen Oberen andere Wege offen, sich
das Vertrauen der Leute zu erwerben und den Samen eines schöneren und
freieren Menschentums in die empfänglichen Gemüter zu senken. Gelegen-
heit dazu würden die Mannschaftsstuben, aber auch die Instruktionsstunden
und die sehr wünschenswerten geselligen Zusammenkünfte der Truppe
außerhalb des Dienstes bieten können. Wie die militärischen Oberen heute
vorgebildet werden, sind sie natürhch kaum befähigt, ihren Beruf in einem
so hohen Sinne auszuüben. Sie sind selber in religiös-sittlichen Dingen roh
und vernachlässigt; man lehrt sie, sich stets nur an das rein Sachhche und
Fachmännische zu halten, und vermeidet es, ihnen ihren Beruf in seiner
ganzen Größe und Macht vor Augen zu stellen. So kann man nicht verlangen,
daß sie ihren Soldaten später wirkliche Erzieher und führende Freunde wer-
den. Auch hier fällt die Schuld letzten Endes den verantwortlichen Leitern
unseres ganzen Kulturlebens, d. h. den Hochschullehrern zu. Sie lassen alles
gehen wie es gehen will, und stecken ihren Kopf immer tiefer in den Sand
der Gelehrsamkeit. Höchstens verwundern sie sich, wie es doch zugeht, daß
die jungen Leute, kaum daß sie den Soldatenrock ausgezogen haben. Feinde
des Heeres und des nationalen Ideals werden und in Scharen zu den Sozial-
demokraten und Anarchisten übergehen.
Weiter wollen wir an die Juristen denken. Ist nicht der Hüter, Ausleger
und Handhaber des Rechts ein berufener Volkserzieher? Recht und Moral
lassen sich trotz aller Definitionen engherziger Theoretiker nicht voneinander
trennen. Den Richter, den Staats- und Rechtsanwalt bringt sein Beruf fort-
während mit Schwachen, Verirrten, Verunglückten zusammen. Wenn diesen
überhaupt noch zu helfen ist, ist ihnen doch nur durch Erziehung und Seel-
sorge zu helfen. Der Jurist hat stets mit Konflikten und MißheUigkeiten
irgendwelcher Art zu tun; er soll auflösen, beilegen, zurechtbringen. Das
ist die Aufgabe jedes Erziehers. Ich kann mir nicht denken, daß ein Richter
allen seinen Pfhchten nachkommt, wenn er nur eine Paragraphenmaschine
oder ein durchdringender Psychologe ist, imd daß ein Anwalt den Anfor-
derungen seines Berufes genügt, wenn er nur ein findiger Kopf oder ein
unbedenkhcher Dialektiker ist. Unsere Altvorderen dachten von Recht und
Gericht viel höher und schöner als die neuere Zeit. Ihnen waren es heihge
Dinge und die Gottheit selber war ihnen Richter und Anwalt. Ehrfürchtigen
281
Sinnes ging man zur Gerichtsstätte. Wir haben keine Ursache, uns mit
unserem kalten und gottlosen Rechtsvvesen zu brüsten, mögen unsere Ge-
setze auch \del humaner und logisch besser durchdacht sein. Zwar ist es ohne
Zweifel ein Glück, daß der Zauberpriester vom Richterstuhl und der Gesetz-
gebung vertrieben worden ist; aber der an seine Stelle tretende Richter
müßte nun doch das, was der richtende Priester Gutes gewirkt hat, auf seine
eigenen Schultern nehmen ; er müßte zu einer rehgiös-pädagogischen Persön-
lichkeit werden. Daß die Schwierigkeiten groß sind, mit denen eine sittlich
vertiefte Rechtspflege zu kämpfen hätte, wissen wir alle ; aber diese Schwie-
rigkeiten müssen lösbar sein. Die Amoralität des Rechtswesens darf nicht
fortdauern ; das Strafrecht muß endlich über den Standpunkt, auf dem vor
Zeiten die Irrenpflege stand, hinausgeführt werden. Heute behandelt das
Recht die Verbrecher noch genau so, wie einst die irrenärzthchen Fachleute
und Laien die Geisteskranken : man schlägt, fesselt, schädigt sie. Inzwischen
ist die Psychiatrie längst zu anderen Heilverfahren gelangt ; sollte die Rechts-
pflege ihrem Beispiel nicht folgen können? — Auch hier gilt das oben Ge-
sagte : die Vorbildung muß anders werden. Den angehenden Jturisten müssen
die Mittel zur würdigen Ausübung ihres hohen Amtes gegeben und die
Pfhchten, die sie gegen die Allgemeinheit zu erfüllen haben, mit religiösem
Ernste eingeschärft werden.
Weiter kommen wir zu den JournaMsten. Der Journalist ist eine der be-
deutendsten Erziehungsmächte der Gegenwart. Wir erwähnten schon, daß
die Zeitung im modernen Europa die Stelle der alten Volkssänger, der Rhap-
soden imd Wanderprediger ausfüllt. Früher schöpfte das Volk aus den Lie-
dern und Erzählungen dieser priesterlichen Personen, was es jetzt aus Zei-
tungen, Flugblättern und periodischen Schriften schöpft. Ein breiter Strom
von Nachrichten, Anschauungen und Werturteilen ergießt sich Tag für Tag
durch die Zeitungen in das Volk. Müßte nicht alles getan werden, um diesem
Strom einen heilsamen und veredelnden Gehalt zu geben? Die Zeitungs-
schreiber übernehmen eine gewaltige Verantwortung; sind sie sich dessen
immer bewußt ? Machen ihre Lehrer auf der Mittel- und Hochschule ihnen
klar, daß der Journalist ein Prediger ist ? Stellen sie ihnen vor, was Eitelkeit,
Leichtsinn, Gewinnsucht imd Gewissenlosigkeit für Verheerungen im Volke
anrichten, wenn sie dem Zeitungsschreiber die Feder führen? Dem einzelnen
JournaHsten kann man kaum einen Vorwurf daraus machen, daß er die
Tragweite seines Tuns nicht übersieht und überhaupt ohne echte Bildung
in seinen Beruf eintritt. Der Vorwurf gebührt anderen.
Auch von dem kaufmännischen und industriellen Unternehmer, von dem
ländhchen Besitzer, von dem höheren Beamten, überhaupt von allen denen,
die mit Untergebenen und Angestellten zu tun haben, müssen wir reden.
282
i
Sie alle sind führende Menschen und haben infolgedessen Erziehungs- und
Seelsorgepflichten. Einst standen, wie wir gesehen haben, alle diese leitenden
Persönlichkeiten dem Priesterberuf sehr nahe. Der Patriarch, der ,, Vater"
im verwandtschaftlichen, wirtschaftHchen und gesellschaftlichen Sinne übte
priesterhche Funktionen aus. Er fühlte sich für den Kreis, den er beherrschte,
religiös-sittlich verantwortlich, begnügte sich also nicht damit, für das leib-
liche Gedeihen und äußere Glück seiner Anvertrauten zu sorgen. Zwischen
den herrschenden und den dienenden Mitgliedern der Gruppen und Ver-
bände waltete gegenseitiges Vertrauen und Verständnis ob. Wie sehr hat sich
das unter dem Einfluß der sozialen Umwälzungen geändert! Man sollte
meinen, daß die Führenden und Geführten durch diese Umwälzungen ein-
ander nähergekommen wären ; denn die letzteren sind zu gleichberechtigten
Staatsbürgern geworden; es gibt keine Herren und Knechte mehr, sondern
nur reichere und ärmere, gescheitere und weniger gescheite Mitglieder des
allgemeinen Verbandes, die freie Arbeitsverträge miteinander schließen.
Müßten die heutigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einander nicht viel
besser verstehen, als die Herrschenden und Dienenden früherer Zeiten? Wir
sehen aber das Gegenteil; die beiden Gruppen stehen einander als Feinde
gegenüber. Welch ein unnatürlicher und unsittlicher Zustand ist das! Wie
krank muß die Gesellschaft sein, in der er herrscht! Während die überge-
ordneten Schichten die ,, Emanzipation" der Untergeordneten halb freiwilüg,
halb gezviTingen vollzogen, versäumten sie, an die Stelle des alten patriarcha-
lischen Verhältnisses ein anderes Herzensverhältnis zu setzen, das der neuen
beiderseitigen Stellung entsprach. Entweder kehrten sie auch weiterhin den
Herrn heraus, behandelten also ihre Untergebenen und Angestellten als Leib-
eigene, als ,, Kinder", wie die Griechen ihre Sklaven nannten; oder sie be-
schränkten sich auf den rein geschäftlichen Verkehr, behandelten ihre An-
gestellten als ,, Arbeitskräfte", deren Wohl und Wehe, Denken und Fühlen
ihnen vollkommen gleichgültig war. An dieser Entfremdung der Stände sind
natürlich die arbeitnehmenden Schichten mitschuldig; sie wußten sich der
eingeräumten Rechte und Vergünstigungen nicht mit richtiger Selbstbeur-
teilung zu bedienen und kehrten sich brüsk gegen ihre Arbeitgeber, ohne auf
das Wohl der Gesamtheit Rücksicht zu nehmen, der sie doch nun als voll-
gültige Mitglieder angehören. Ich frage aber: wer hat die Arbeiter gelehrt,
ihre neuen Pflichten gegen die Gesellschaft zu begreifen und zu erfüllen?
Wer ist ihnen mit herzlicher Kameradschaftlichkeit entgegengekommen und
hat ihnen die Bruderhand geboten? Kann man von den kaum befreiten
Schichten verlangen, daß sie sich ohne Unterstützung der Führenden, die
sich doch bisher allein im Besitze der Kulturschätze befunden haben, in all
das Neue und Ungewohnte finden? Können sie ohne rehgiös-sittHche Bil-
283
düng zu selbstverantwortlichen Menschen, ohne Hilfe der geistig und wirt-
schaftlich Führenden zu freudigen und verständigen Staatsbürgern heran-
reifen? Niemand wird verkennen, daß durch das Volksschulwesen, durch den
gemeinsamen Militärdienst, dm^ch die soziale Gesetzgebung und die Für-
sorgebestrebungen viel zur Annäherung und Versöhnung der verschiedenen
Volksschichten getan ist ; aber an dem Besten und Wichtigsten läßt man es
noch immer fehlen. Die Unternehmer, Leiter und höheren Angestellten ver-
säumen ihre Erziehimgspflichten ; entweder sind sie selber ohne rehgiös-sitt-
liche Bildung und verdienen die Stellung nicht, die sie einnehmen; oder sie
verschließen sich aus Selbstsucht oder aus kurzsichtigem Unverstand gegen
das, was nottut. Sie wollen nicht sehen, daß ihre und aller Zukunft davon
abhängt, daß das kräftige egoistische Wirken der verschiedenen Volksteile
sich zu einem \^'irken für und mit der Gesamtheit erweitert.
Endlich ist noch der ärztliche Beruf zu erwähnen. Noch näher vielleicht
als der Beruf des Lehrers steht der des Arztes dem priesterHch-seelsorge-
rischen Beruf. Jedem Denkenden leuchtet ohne weiteres ein, daß der Arzt
für die sittliche Bildung seines Volkes sehr viel leisten kann und leisten muß.
Wir haben in dem Kapitel ,,Der Priester als Arzt" den modernen Ärzten
bereits den \'orwm-f gemacht, daß sie es mit dieser Pfhcht zu leicht nehmen.
Sie sind zu wissenschafthchen Fachmännern geworden, die mit kühler Sach-
hchkeit die einzelnen Kranklieiten und Krankheitszustände behandeln, aber
sich um die Psyche des Kranken nicht im geringsten kümmern. Am ehesten
findet man noch unter den einfachen Landärzten solche, die auf geräusch-
lose Weise auch ihre priesterlichen Pflichten zu erfüllen suchen und mitunter
den Namen Seelsorger in weit höherem Maße verdienen als der geistliche
Berufsseelsorger. In welchem Verhältnis steht ein Kranker zu seinem Arzt ?
Normalerweise hat er Vertrauen zu ihm, er fühlt das Bedürfnis, ihm auch
die seehschen Nöte und Beschwerden, unter denen er leidet, mitzuteilen und
seine Ratschläge zu erbitten. Der Arzt tritt an das Bett des Kranken und
hilfsbedürftigen Menschen als der Starke, Klare, Überlegene; er gibt, wenn
nicht durch Zureden, so durch seine therapeutischen Eingriffe auch dem
Kranken Klarheit und Festigkeit, lehrt ihn andererseits Geduld, Stand-
haftigkeit, Nachgiebigkeit. Er merkt, wo die Leute der Schuh drückt ; er läßt
sich nichts vormachen wie der Pfarrer nur zu oft tut. Hat er doch durch sein
medizinisches Studium gelernt, stets den Dingen auf den Grund zu gehen
und sich nicht mit schönen Reden und unklaren Halbheiten zufriedenzu-
geben. Die Seelsorgetätigkeit des Pfarrers besteht leider sehr häufig darin,
die Bedrängten und Hilfsbedürftigen mit ohnmächtigen Trostworten abzu-
speisen und die wirkhche Lage der Dinge durch Nebelerzeugung zu ver-
schleiern.
284
Es täte aber not, daß die Ärzte auf diese Seite ihrer Tätigkeit vorbereitet
würden und auf der Universität neben der Leibesheilkunde auch die Seelen-
heükunde und Seelengeburtshilfe erlernten. Man hört oft über die Roheit
und den Zynismus der medizinischen Studenten und der Ärzte klagen ; nicht
ohne Grund; aber diese, dem Krankenfreund und Heiland so übel anstehen-
den Eigenschaften sind in den meisten Fällen Erzeugnisse einer falschen und
unzureichenden Erziehung, nicht angeborene Fehler. Roheit ist, wenn nicht
eine Entartungserscheinung, so der Ausdruck ungebildeter Kraft ; und Zynis-
mus ist der Ausdruck rücksichtsloser Wahrheitsliebe, die zum Unglauben
an die „Tugend" und zur Angriffsstimmung gegen alle scheinbare oder wirk-
liche Heuchelei geführt hat. Kraft und WahrheitsUebe braucht der Arzt un-
bedingt ; fänden diese beiden großen Dinge die rechte Pflege, so würden sich
edle Männhchkeit und rehgiöser Heroismus aus ihnen entwickeln. Viele rohe
und zynische Mediziner verbergen ein weiches Gemüt und eine schönheits-
durstige Seele ; sie wagen sich damit nicht hervor, weil man sie nicht gelehrt
hat, ihre Gemütstiefe und Liebe zur Tugend mit dem rücksichtslosen Tat-
wesen, das ihr Beruf fordert, zur Einheit zu verbinden. Sie schämen sich
einfach, priesterliche Eigenschaften bei sich zu entdecken. Durch die un-
zureichenden und sentimentalen Berufsseelsorger einerseits, durch die zu
Fachgelehrten herabgesunkenen Universitätslehrer und geistigen Führer
andererseits sind Begriff und Name des Priesters und Seelsorgers in Verruf
gekommen, sodaß jedermann sich mögUchst fern davon hält. Rehgion und
Sittlichkeit haben einen schwächlichen und weinerHchen Beigeschmack er-
halten. Wie verhängnisvoll das ist, ein wie beschämendes Zeichen für die
Krankhaftigkeit unserer Kultur und die Verwahrlosung der erziehungsbe-
dürftigen Menschheit, scheint den selbstgerechten Leitern und Lehrern
unseres Volkes noch nicht klar geworden zu sein.
Zur Ehre der Ärzte sei es gesagt, daß sie selbständig den Weg zur priester-
lichen Heilkunde im edelsten Sinne wiederzufinden beginnen. Ich erwähnte
schon den Aufschwung der Psychotherapie und nannte die Namen Dubois
und Freud. Sie und ihre an Zahl zunehmenden Gesinnungsverwandten und
Schüler bekennen sich offen als Seelenärzte und treiben, wenn sie zu ihren
Kranken gehen, regelrechte Seelsorge. Wir müssen auf ihr Verfahren etwas
näher eingehen, weil es die Grundlage für die seelsorgerische Praxis des künf-
tigen Priesters abgibt. Das Verhältnis des künftigen Priesters zum Arzt wer-
den wir unten darlegen, wenn wir die Tätigkeit dieses künftigen Fachprie-
sters schildern und sie gegen die priesterliche Tätigkeit der übrigen lehrenden
und führenden Berufe abgrenzen, die wir soeben der Reihe nach besprochen
haben.
Bei Ereud steht die Beichte, bei Dubois die Paränese und Überredung
285
im Vordergrunde. Das sind die beiden Hauptbestandteile jeder Seelsorge.
Solange sich die Priester mit der Seelenfürsorge für ihre Gemeinde abgeben,
haben sie entweder auf das eine oder auf das andere ihr Hauptaugenmerk
gerichtet : sie haben ihre geistlichen Anvertrauten zu einem Bekenntnis ver-
anlaßt und haben ihnen zweitens Ratschläge erteilt, haben Mahnungen und
Aufforderungen an sie gerichtet.
Wir reden zunächst von der Beichte. Worin liegt der Sinn und Wert eines
Selbstbekenntnisses, wenn dasselbe zugleich ein Sündenbekenntnis ist? Ist
die Beichte nm: eine Erfindung der Priester, um das Volk in ihre Gewalt und
alle öffentHchen und geheimen Angelegenheiten unter ihre Aufsicht zu brin-
gen? — Nein, die Beichte ist älter als die Priesterherrschaft und beruht auf
ursprünglichen menschlichen Bedürfnissen, die der Priester wohl benutzt,
aber nicht geschaffen hat. Jedem Menschen gewährt es Erleichterung, sich
aussprechen zu können. Je bedrückter und beladener einer ist, um so größer
ist sein Verlangen, sich in Worten und Handlungen (d. h. in Gebärden, mimi-
schen Ausdrucksbewegungen, durch Lachen, Weinen, Schlagen, Liebkosen
usw.) zu entladen. Wir haben es hier mit den Fällen zu tun, wo der seelische
Druck diu^ch solche Vorstellungen, Handlungen, Erlebnisse hervorgerufen
worden ist, die im Widerspruch zu dem idealen Streben des Einzelnen und
der ganzen Gemeinschaft stehen ; mit anderen Worten : wenn der Betreffende
Sünden begangen oder hat begehen sehen. Unter einer ,, Sünde" ist psycho-
logisch nichts anderes zu verstehen als eine Lebensäußerung, die sich mit
dem höheren Wollen und Denken des Täters nicht verträgt. Wer eine Sünde
begeht, setzt sich mit sich selber in Widerspruch; er gibt Regungen nach,
die durch andere Regungen mißbilligt werden ; dadurch wird die innere Ein-
heit zerstört und eine Seiunktion, also ein Krankheitszustand hervorgerufen.
Es ist durchaus keine Sünde, wenn ich etwas tue oder unterlasse, was nur
den Idealen anderer Menschen, nicht meinen eigenen widerspricht; ich fühle
mich dann auch nicht bedrückt und beichtbedürftig, höchstens bin ich um
mein Wohlergehen besorgt, wenn diese anderen mächtig und mir feindlich
gesinnt sind. Jedoch kommt es äußerst selten vor, daß das sittliche Gefühl
imd Urteil eines Menschen völlig unabhängig von den Idealen seines engeren
und weiteren Lebenskreises ist. Was die anderen billigen und mißbiUigen,
erzwingt sich auch meine Billigung und Mißbilligung, mag ich mich noch
so heftig dagegen wehren. Daher erwacht, wenn ich im Gegensatz zu der sitt-
lichen Wertung der Gemeinschaft handle, der ich angehöre, das ,,böse Ge-
wissen" in mir. Dies böse Gewissen ist immer zugleich die Stimme der Gre-
samtheit und meiner eigenen Brust.
In der Beichte hat die organisierte Priesterschaft eine Entladungseinrich-
tung für den Druck des bösen Gewissens geschaffen. Der Beichtvater nimmt
286
im Auftrage und in der Vertretung Gottes das Geständnis des Sünders in
Empfang und erteilt darauf die Absolution. Theologisch ist die Absolution
eine Neuaufnahme des abgefallenen Bundesmitgliedes; psychologisch be-
deutet sie: daß eine Versöhnung der miteinander zerfallenen Kräfte und
Triebe hervorgebracht, der entstandene Riß geheilt, die Seiunktion aufge-
hoben worden ist. Ein so erstaunliches Ergebnis kann also durch ein bloßes
Bekenntnis des Beichtenden und eine bloße Rechtfertigungserklärung und
Segnung von Seiten des Beichtvaters erzielt werden ; es ist das eine Tatsache,
an der sich nicht rütteln läßt. Zur Erklärung des psychologisch-sitthchen
Beichterfolges haben die Neurologen Breuer und Freud in ihrem Werke:
,, Studien über Hysterie" den Weg gezeigt. Wir können hier nur die folgenden
Angaben darüber machen.
Die Beichte hat sich als ein Heilmittel gegen die Hysterie und verwandte
Krankheiten erwiesen. Das ist nur möglich, wenn diese Krankheiten ,, Folgen
der Sünde" sind, d. h. wenn sie durch Konflikte des Menschen mit sich
selber und mit der Gemeinde hervorgerufen oder wenigstens unterstützt und
großgezogen worden sind. Das menschliche Leben bringt uns fortwährend
in solche Konfhkte; das, was wir Kultur nennen, baut sich auf der Über-
vvindung der Konflikte, auf dem Siege höherer Triebe über niedere auf. Was
wird aus den besiegten Trieben, aus den unterlegenen Neigungen und Ge-
fühlsrichtungen? Im günstigsten Falle gelingt es, sie in den Dienst der
höheren zu stellen und ein harmonisches Zusammenwirken aller Kräfte zu
erzielen. Damit ist die von den Priestern gepriesene ,, Einheit mit Gott",
die ,, Vollkommenheit" erreicht; die Freimaurer würden sagen: die ,, Meister-
schaft in der königlichen Kunst". Gelingt das nicht — und es gehngt auch
den Stärksten und Glückhchsten nur zeitweilig — , so sind die Bedingungen
für das Entstehen der Sünde und der nervös-psychischen Krankheiten ge-
geben. Die Sünde erscheint, wenn die zu bändigenden Triebe sich freimachen
und den ganzen Menschen zeitweilig in Dienst nehmen; die Krankheit tritt
ein, wenn die Triebe eine abnorme Befreiung in körperlichen und seeHschen
Krankheitssymptomen suchen. Die zu Krankheitssymptomen gewordenen
Triebentladungen sind: Schmerzen allerart, unangenehme oder lustvolle
Empfindungen ohne erkennbare Ursache, Lähmungen, Anfälle, Zwangser-
scheinungen, Phantasien, Halluzinationen usw. Das alles sind Blitzableiter,
sind unnatürhche Mittel, innere Spannungen zu lösen, die sich infolge gei-
stiger und sittlicher Hemmungen nicht normal entladen können.
Je nach der sittlichen Kraft, über die ein Mensch verfügt und je nach den
Verhältnissen, die ihn in Konfhkte hineintreiben, verfällt also der Mensch
entweder der Schuld oder der Krankheit ; oft wird er beides : schiddig und
krank, denn die Grenze ist, wie man sieht, fließend. — Wie sucht der
287
Mensch Erlösung von der Schuld und der Krankheit ? Von der Schuld befreit
ihn das Erkennen und Bekennen derselben ( — daß damit noch keine aus-
reichende Befreiung erzielt wird, werden wir unten erfahren — ); wie aber
kommt er von der Krankheit los? Der Kranke weiß doch nicht, daß seine
Krankheit durch unbefriedigte und abgelenkte Triebe hervorgerufen ist, und
wenn man ihm das glaublich macht, weiß er nicht, wde gerade in seinem Falle
die Umformung und abnorme Entladung zustande gekommen ist. Hier
setzen Breuer und Freud ein und erklären: der Arzt muß den Kranken
zum Be^^'ußtsein dieses Sachverhaltes bringen; er muß gemeinsam mit dem
Kranken die seelischen Konflikte, die durch die Krankheitss\TTiptome zu
einer Scheinlösung gelangt sind, zu ihrem Ursprung zurückverfolgen, muß
also den Kranken zu einer Beichte über Regungen und Erlebnisse bringen,
die von diesem selber vergessen sind, d. h. die sein höheres Ich aus dem Be-
wußtsein verdrängt und dadurch zum Abfließen in abnorme Bahnen ge-
nötigt hat. Kurz, Freuds psychoanalytisches Verfahren läuft auf eine
Beichte nicht begangener und nicht bewußter Sünden hinaus, die trotzdem
den Menschen belasten und zum freien starken Leben untüchtig machen.
Wenn man über dies zunächst befremdende und selbst ungereimt erschei-
nende Heilverfahren nachdenkt, bemerkt man, daß auch in der religiös-
sitthchen Beichte, %vie sie die bisherigen Priester handhaben, nicht bloß be-
stimmte und bewußte Verfehlungen gebeichtet werden, sondern daß zugleich
immer eine Entladung vom Drucke unbewußter und nicht begangener Sün-
den stattfindet. Niemand kann ein einzelnes Vergehen bekennen — , .be-
kennen" mit dem Zugeständnis, unrecht getan zu haben, und dem Vorsatze,
hinfort nicht mehr zu sündigen — , ohne daß sich die latenten Spannungen
mit entladen und die ungekannten Quälgeister mit ausfahren. Jedes Be-
kenntnis, wenn es ganz aufrichtig ist, entsühnt ge\\'issermaßen den ganzen
Menschen. Er erlebt eine allgemeine Befreiung, wird stärker, einheitUcher,
\ollkommener. Wir hatten schon früher gesehen, daß das rehgiöse Erlösungs-
bedürfnis nicht so sehr aus dem Bewnißtsein entspringt, bestimmte Verfeh-
limgen begangen zu haben, als aus einem unbestimmten Schuldgefühl über-
haupt. Im Zustande des reHgiösen Heilsverlangens fühlt sich der ganze
Mensch unbefriedigt und bedrückt; er hat Angst vor allem, vor dem Leben,
vor der Zukunft, vor sich selber. Die Angst ist eine Haupttriebfeder zum
Beichten; die Angst ist andererseits eines der dankbarsten Gebiete für die
psychoanalytische Krankenbehandlung (vgl. Stekel: Nervöse Angstzu-
stände).
Nachdem wir soviel zur Rechtfertigung der Beichte und zur Erklänmg der
angeblichen und wirklichen Beichterfolge in der Rehgion imd der Medizin
gesagt haben, müssen wir nun auch auf die Einwände hören, die mit Recht
288
gegen das Beichtwesen gemacht worden sind und die seit RehabiHtiening
des Beichtwesens durch die Neurologen doppelt aufmerksame Prüfung ver-
dienen. Das Ergebnis des Für und Wider wird meiner Überzeugung nach
sein, daß die Beichte in dem künftigen Religionsbetriebe — und ähnlich auch
in dem künftigen Heilverfahren — eine nicht unwichtige, aber keineswegs
eine beherrschende Stelle einnehmen wird. Das Beichten zur Pflicht zu er-
heben, ist verwerflich. Schon die Regelung und gleichsam amtliche Ent-
gegennahme durch beauftragte Beichtväter ist äußerst bedenkhch.
Wer hat das stärkste Bedürfnis, zu beichten? Die Schwachen und Unter-
liegenden, die Zweifelnden und Verzweifelnden, die mit ihrem Leben nicht
fertig zu werden vermögen. Diese Menschen aber, so hat Nietzsche gemeint,
solle man ihrem Schicksal überlassen und nicht durch religiöse Vorrich-
tungen künstlich am Leben erhalten: wer nicht aus eigener Kraft stehen
könne, möge fallen, und was fällt, solle man noch stoßen. — In der Tat
drängen sich zur Beichte mit Vorliebe die Unheilbären, die dauernd Schwa-
chen, die sich schmarotzerhaft an die Stärkeren anlehnen wollen. An die
Seelsorger imd Heilande wenden sich stets die verlorenen Existenzen; durch
häufiges und immer häufigeres Beichten wollen sie ihre Lebensunfähigkeit vor
sich und anderen verschleiern; ohne Scham decken sie immer von neuem
ihre Jämmerhchkeit auf und schreien nach Erlösung, die ihnen doch niemals
zuteil werden kann. Die meisten religiösen Führer, die mütterlich hebe vollen
Naturen beiderlei Geschlechts haben von jeher einen viel zu großen Teil
ihrer Kraft und Zeit an diese heillosen Schwächlinge verloren, haben sich
durch die Aufrichtigkeit ihrer Reue täuschen, durch die Schrankenlosigkeit
ihrer Hingabe rühren lassen. So ist die Mahnung an die Beichtväter und
Erzieher wohl berechtigt: seid hart und verschwendet euch nicht an die
Unheilbaren! Spart euch für die Heilbaren auf und lehrt sie ihre eigenen
Kräfte zu gebrauchen ! Seht zu, daß ihr euch möglichst entbelirlich und über-
flüssig macht !
Hieraus hat man den weiteren Schluß gezogen, daß das Beichtbedürfnis
nicht geweckt, sondern im Gegenteil zurückgedrängt werden müsse. Ge-
ständnisse haben keinen Wert — so denkt der größere Teil der Protestanten
und der Freidenker — ; die Sünden werden nicht durch Beichte und Abso-
lution, sondern durch Änderung der Sinnesweise vergeben. Das ist natürhch
ganz richtig; die Art wie manche sehr fromme Katholiken beichten und
manche sehr fromme Beichtväter die Beichten in Empfang nehmen, ist ein
Hohn auf jede wahre Seelsorge. Es wird dadurch die rehgiöse Unselbständig-
keit und die sittHche Unzurechmmgsfähigkeit aus dem Kindesalter künst-
lich forterhalten und die Entwicklung eines charaktervollen Verantwortimgs-
gefühls unmöglich gemacht. Indessen irrt man, wenn man dem Bekenntnis
19 Horneffer, Der Priester II 2oQ
als solchen den sittlichen Wert abspricht und das Verlangen danach für ein
übles Anzeichen von Charakterschwäche hält. Nicht nur wertlose Menschen,
sondern gerade die wertvollsten und reichsten Naturen kommen in Lagen,
wo sie dem Leben ratlos gegenüberstehen und sich nicht ohne seelsorgerische
Hilfe herausfinden. Sie wollen und müssen beichten; die Konflikte quälen
sie derart, daß sie unbedingt Entladung in einem Geständnis brauchen.
Finden sie keinen würdigen Freund und Beichtvater, so eröffnen sie sich
einem Beliebigen, der ihnen in den Weg kommt und Interesse genug hat,
ihre unaufhaltsam hervorquellenden Bekenn Inisströme entgegenzunehmen.
Obwohl diese Beichtbedürftigen mehr zu sich selber als zu ihrem Zuhörer
sprechen, gewährt ihnen die Beichte ohne Zuhörer doch keine Erleichterung.
Nach protestantischer Lehre soll Gott der ständige und einzige Zuhörer des
beichtenden ^Menschen sein und mancher Gottgläubige besitzt ohne Zweifel
genügend halluzinatorische Phantasie, um sich durch ein Bekenntnis vor
dem unsichtbaren Gott erleichtert zu fühlen. Aber das gilt nicht für alle;
die Zahl dieser Gottgläubigen ninunt überdies immer mehr ab; der prote-
stantische Gott weicht in immer größere Fernen zurück und läßt die bela-
denen Menschen immer mehr allein. Das Bedürfnis nach würdigen Seel-
sorgern, die den Bedrängten einen Teil ihrer Last abnehmen und ihnen die
^^'ohltat, sich auszusprechen, verschaffen, wächst daher.
Zumal die Jugend in den Entwicklungsjahren, vom fünfzehnten bis etwa
zum fünfundzwanzigsten Jahre wird in Konflikte geführt, mit denen sie nicht
allein fertig werden kann. Man weiß, wie groß das Anlehnungsbedürfnis, ge-
mischt mit Selbständigkeitsbedürfnis, in diesem Alter ist und wie leicht die
jugendliche Vertrauensseligkeit in die Irre geht. Das erwachende Triebleben
und die äußeren Erfahrungen und Anforderungen zu bewältigen, fällt gerade
den ungewöhnlich Begabten sehr schwer. Niederlagen sind unvermeidhch,
daher macht sich das zwingende Bedürfnis nach Bekenntnis und seelsorge-
rischer Hilfe geltend. SoU doch der Nachwuchs in diesen Jahren in den Bund
der Erwachsenen eingeführt, mit den Zielen der Gemeinschaft vertraut ge-
macht werden. Wenn wir sehen, wie leichtsinnig und oberflächhch heutzu-
tage die Seelsorge an unserer Jugend gehandhabt wird, so müssen wir aller-
dings annehmen, daß die Erzieher und Seelsorger kaum eine Ahnung davon
haben, was hier auf dem Spiele steht und wie der immer mehr um sich grei-
fenden Verwahrlosung unserer Jugend — ich denke z. B. an die geschlecht-
lichen Verimingen, an den zunehmenden Mangel an Ehrfurcht vor Lehrern,
Eltern, Traditionen, ferner an die Schülerselbstmorde — gesteuert werden
muß. Das erste, was die Jugend von ihren seelsorgerischen Führern verlangt,
ist Klarheit über sich selber. Der jugendliche Mensch will sein Ich verstehen
lernen, will wissen, was die unklaren Wünsche und widersprechenden
290
Regungen, die er fühlt, bedeuten und wie er ihnen begegnen kann. Daher
verlangt er, daß der Lehrer seine Zweifel und Bekenntnisse anhört, ihn zum
Bekennen anregt und ihm mit aller psychoanalytischen Kunst auch über
die Sünden, die er nicht oder unbewußt begangen hat, Klarheit verschafft.
Wenn die Lehrer, wie es heute sehr oft der Fall ist, das versäumen und sich
über ihre seelsorgerischen Pflichten auch fernerhin hinwegsetzen, so wird die
Zahl der Mißratenen, \'erirrten. Unglücklichen, deren unsere Kultur schon
zu viele hat, immer mehr anwachsen. Ich behaupte sogar, daß fast alle Men-
schen der Gegenwart in ihrem sitthchen Leben Spuren erkennen lassen, daß
es ihnen in der Ent^\^cklungszeit an Seelsorge gefehlt hat. Haus und Schule
haben beide gleichviel Schuld. Für die Schule hat natürlich die Ausübung
der persönhchen Seelsorge viele Schwierigkeiten, weil die Zahl der Lehrer
viel zu klein ist. Die Lehrer können kaum den Unterricht bewältigen und
müssen sich oft mit der unpersönhchen Seelsorge begnügen. Ich verstehe
darunter die offene, ernste, rehgiös-pädagogische Erörterung der tiefsten
Lebensfragen vor der Klasse. Je älter die Schüler werden, um so nötiger und
segenbringender ist es, sich mit ihnen über die sexuellen, die sozialen und
poHtischen, die sittlichen und rehgiösen Probleme auszusprechen. Auf den
Hochschulen imd Volkshochschulen müßte das in ausgiebiger Weise ge-
schehen. Unzähligen Jünglingen würden dadurch aufreibende Kämpfe er-
spart und Wege zur schönen und nutzbringenden Betätigung ihrer über-
schäumenden Kräfte gewiesen werden.
Ich glaube aber, daß bei gutem WiUen auch Gelegenheit zu persönlicher
Seelsorge geschaffen werden könnte. Es muß einfach gehen, daß die erwach-
sene Jugend mit ihren Lehrern persönhchen, Vertrauen heischenden und
weckenden Verkehr pflegt. Soweit die Fach- und Berufslehrer nicht Zeit und
Kraft dazu haben, müssen die vielen ]\Iänner und Frauen, die pädagogisch
nicht in Anspruch genommen und durch den Lebenskampf nicht bedrängt
werden, in die Lücke treten. Ist es nicht eine Schmach, daß es in unserer Zeit
eine Unmenge pfhchtenloser und ihr Leben verschwendender Männer und
Frauen gibt, während auf der anderen Seite unsere Jugend darben muß und
vergebens nach Umgang mit reifen ]\IitgHedem der Kultur und nach mensch-
hcher Führung und Beeinflussung ruft? Die Junggesellen und Jungfrauen
der bemittelteren Stände, die in früheren Zeiten als Priester und Priesterinnen,
als Väter und Mütter der gesamten Jugend und aller HiLfs- und Fürsorge-
bedürftigen unter den Erwachsenen tätig waren, sind heute zu entarteten
Geuüßlingen, zu nichtstuerischen Egoisten, bestenfalls zu gleichmütigen Be-
ruf smenschen geworden; das halte ich für eine Hauptursache des heutigen
sitthch-sozialen Elends und für ein Hauptsymptom der lebensgefährlichen
Kulturkrise, die Europa gegenwärtig durchmacht.
19' 291
Wer das vorliegende Buch aufmerksam gelesen hat, muß mir recht geben.
Die Geschichte des Priestertums lehrt uns, daß die Erzieher und Seelsorger
fast immer aus der Zahl der Ehelosen, Kinderlosen, Pflichtenlosen, also der
Freien und Allzufreien entnommen worden sind. Während die Verheirateten
für ihre Kinder, die in bestimmte Pflichten Eingespannten für ihren kleinen
Lebenskreis sorgen und schaffen, widmen sich die Junggesellen und Jung-
frauen der Jugend, der Allgemeinheit, — widmen sich Gott. Welche natürliche
Logik und weise Ökonomie liegt in dieser Verteilung der Aufgaben ! — Wie
beschämend, wenn wir damit die unökonomischen und unsittlichen Zustände
in der heutigen Kulturwelt vergleichen! Kennt man sie nicht, die reisenden,
malenden, sich unaufhörlich bildenden, die Sanatorien bevölkernden Damen ?
Sie leben ein egoistisches Drohnenleben und fühlen sich dabei so unbefrie-
digt, daß irgendeine interessante Krankheit schließlich ihre Rettung und
lebenausfüllende Beschäftigung wird. Kennt man sie nicht, die stickenden
und musizierenden, Briefe schreibenden und sich langweilenden ,, Haus-
töchter", die auf den rettenden Mann warten und durch ihr angeblich Kräfte
sparendes und sammelndes Leben nur immer ärmer werden ? Kennt man sie
nicht, die Junggesellen, die neben ihrem Amt nur egoistische Beschäftigun-
gen imd Vergnügungen kennen: Sport, Varietekunst, Wirtshausleben, Rei-
sen, wechselnde Liebesverhältnisse? Sie heiraten nicht, weil sie sich nicht
binden und auf den persönlichen Verbrauch ihres Einkommens nicht ver-
zichten wollen. Nur keine Sorgen und Pfhchten menschhcher und sittlich-
pädagogischer Art ! Das ist das tägliche Gebet dieser entarteten Typen, die
sich heute ihrer ,, Lebensphilosophie" gar noch rühmen dürfen, ohne von der
allgemeinen Verachtung getroffen zu werden.
Es ist ein Unglück, daß die grundsätzliche Verschiedenheit der Lebens-
pflichten Verheirateter und Unverheirateter heute absichtlich verwischt
wird. Man muß zu den Landleuten und zu den Naturvölkern gehen, um dcis
rechte und vernünftige Verhältnis kennen zu lernen. Vielfach bildeten und
bilden die Ehelosen eine besondere Klasse und wohnen zusammen in einem
Junggesellenhaus. Wenn sie dann nicht in den Stand der Verehelichten hin-
übertreten, rücken sie in priesterliche Stellungen ein; sie werden Lehrer,
Ordensleute, Nonnen, Krankenpfleger usw. Diejenigen, die zu schwach und
zu abnorm sind, um tatkräftig für die Allgemeinheit zu arbeiten, werden
wenigstens Einsiedler, ekstatische Beter, \'orbilder in religiöser Askese und
Rauscherhöhung. Heute tut alle Welt so, als ob es keinen Unterschied mache,
daß der eine neben einem öffentlichen Beruf noch den eines Famihenvaters
hat, der andere alle Familienpfhchten von sich fernhält, die eine als Gattin
und Mutter wertvolle, die ganze weibhche Kraft anspannende Dienste tut,
die andere ihre Zeit mit Tand und Gefühlskultus verbringt. Die ehelosen
292
Frauen haben neuerdings begonnen, sich aus ihrer unwürdigen Lage zu be-
freien und ein neues Frauenideal aufzustellen. Leider haben gerade diese
Bestrebungen die Verwirrung teilweise noch vergrößert, weil sie zu viel
Widersprechendes in sich bergen. Doch muß mit Freude anerkannt werden,
daß in der sogenannten Frauenbewegung kräftige religiöse Instinkte wirk-
sam sind, und daß das Verlangen der tüchtigsten unter den revoltierenden
oder reformierenden Frauen sich genau auf das richtet, was ich zum Zwecke
der rehgiös-sitthchen Gesundung unserer Kultur fordere : Verwendung aller
nicht genügend Ausgefüllten, zumal also der Ehelosen, für die Erziehung,
die Seelsorge, die Heil- und Pflegetätigkeit.
Die Ausdehnung des Fortbildungsschulwesens, die Verbesserung der Für-
sorge- und Heilanstalten, das allmähhche Festwurzeln des Volkshochschul-
gedankens, die Gründung des deutschen Jugendverbandes und anderer
Bünde zur Sammlung und Förderung der erwachsenen Jugend beider Ge-
schlechter und aller Stände und Bildungsgrade, — das alles läßt erkennen,
daß das Verständnis für die seelsorgerischen Aufgaben, die so furchtbar ver-
nachlässigt worden sind, im Wachsen begriffen ist. Und es wird si h ganz von
selber ergeben, daß Ehelose, Verwitwete, Kinderlose, überhaupt alle, die
nicht mit festen Banden in einem geschlossenen PfHchtenkreise gehalten
werden, den großen Bedarf an Lehrern und führenden Freunden werden
decken müssen. Der widerwärtige Junggesellenegoismus wird einer Erneue-
rung der priesterlichen Junggesellentugenden Platz machen und man wird
aufhören, mit der ,, alten Jungfer" und ihrem männhchen Genossen als mit
lächerlich-unnützen Menschentypen Spott zu treiben. Die Ehelosen werden
wieder zum Segen werden, wie in früheren Zeiten ; man wird ihnen begegnen,
wie der fromme Kathohk den lehrenden. Kranke pflegenden, Seelsorge trei-
benden priesterlichen Personen beiderlei Geschlechts.
Die Seelsorge darf sich nicht auf die Jugend beschränken ; auch in späteren
Lebensjahren kommt mancher tüchtige und wertvolle Mensch in die Lage,
Rat und Hilfe zu brauchen. Wo findet er heutzutage, was er verlangt ? Zum
Berufspriester will er nicht gehen und wenn er es tut, muß er in den meisten
Fällen erfahren, daß ihm dort nicht geholfen werden kann. Wie viele Pasto-
ren gibt es, die den ratsuchenden Unglücklichen nur das eine zu sagen
wissen: ,, Beten Sie und nehmen Sie an Frömmigkeit zu! Dann wird Gott
Ihnen gewiß helfen!" Hinter einer solchen Auskunft verbirgt sich völlige
seelsorgerische Unfähigkeit; ein Pfarrer, der die Leute mit solchen Reden
abspeist, ist zwar ein treuer Diener seiner Kirche und des christlichen Gottes ;
aber er ist der Aufgabe, die das Priesteramt über mündige Menschen stellt,
in keiner Weise gewachsen. Er treibt die Wackeren und Lebensvollen zum
Abfall von der bisherigen rehgiösen Gemeinschaft und fördert einesteils den
293
Anarchismus, anderenteils die neue Gemeinschaftsbildung. Denn das ist
doch wohl klar, daß fruchtbare Seelsorge an Erwachsenen nur von und in
einer religiös-sitthchen Organisation, von und in einem Bunde getrieben wer-
den kann. Als die christliche Kirche noch stark und gesund war und die
Einzelgemeinde alle ihre Mitglieder zu einer eng verbundenen Familie zu-
sammenschloß, konnte die Seelsorge überhaupt nicht zum Problem werden :
es verstand sich von selber, daß man dem Bedrängten beistand und dieser
sich auch in den ärgsten Stürmen sicher und geborgen fühlte. Man hatte Ver-
trauen zueinander und zu den Führern. Das ist heute anders geworden; der
kirchliche Bund schheßt nur noch einen verhältnismäßig kleinen Teil des
Volkes zu einer festen Schutzgenossenschaft aneinander; das gegenseitige
Vertrauen fehlt. Auch sind die Gemeinden viel zu zahlreich geworden; die
iMitgheder kennen einander kaum ; \^de sollten sie einander mit dem brüder-
lichen oder väterlichen Sinne zu Hilfe kommen, vAe es das ursprüngliche
Christentum verlangte und wie es jeder religiöse Bund von seinen Mitgliedern
verlangen muß!
Man sieht, daß ich die seelsorgerische Tätigkeit nicht dem priesterhchen
Führer allein vorbehalten sehen möchte. Jeder seelisch Gesunde und religiös
Gefestigte ist berechtigt und verpflichtet, den schwächeren und beladeneren
Brüdern und Schwestern zur Seite zu stehen, ihrem Bekenntnisverlangen
entgegenzukommen und ihre Schuld auf sich zu nehmen, d. h. das Schuld-
und Mangelgefühl kraft seines ausgleichenden Freiheits- und Glücksgefühls
aufzuheben. Das \\iderspricht allerdings dem christlichen Seelsorgebegriff.
Der Christ erkennt im Grunde nur Gott als Seelsorger und Beichtvater an.
Der Priester ist nur Ohr, nur Vermittler. Daher kann nur der Geweihte,
von Gott zum priesterlichen Mittleramt Berufene Beichten in Empfang
nehmen, Absolution erteilen und auf andere Weise seelsorgerisch tätig sein.
Diese Auffassung ist teilweise schon durch Luther beseitigt worden ; Luther
sagte: es gäbe gar keine ,, Geweihten", keine ,, Mittler" in dem bisherigen
christHchen Sinne. Daraus schloß er, daß das Institut der Ohrenbeichte un-
haltbar sei und der Priester nur als Laie unter Laien Seelsorge treiben könne.
Darin folgen wir Luther ; nur kann uns die Beichte vor Gott nicht mehr ge-
nügen, daher verlangen wir weit mehr als die orthodoxen Protestanten, daß
die Priester Vertrauens- und verehrungsuürdige Persönlichkeiten sind, denen
die seelsorgerischen Fähigkeiten in möglichst hohem Maße zu eigen sind. Es
fehlt an Menschen, denen ein modemer Seelsorgebedürf tiger das sagen möchte,
was der Katholik dem geweihten Priester, der Protestant seinem Herrgott sagt.
Es fehlt an keuschen und edlen Charakteren, denen Kraft und Liebe so be-
zwingend aus den Augen leuchten, daß sich dem Bedrängten unwiderstehlich
das Herz öffnet, daß er eine unbezwingüche Sehnsucht empfindet, vor einer
294
solchen Persönlichkeit nackt und bloß dazustehen, alle Leiden und Verfeh-
lungen auf den Starken abzuwälzen und seinen befreienden Segen zu empfan-
gen. Es ist das Schwerste auf Erden, Absolution erteilen zu können, durch
das Anhören und Hinnehmen von Bekenntnissen erlösen und stärken zu
können. Der milde Heiland der Christen konnte es, aber freilich nur dadurch,
daß er sich und seine Beichtkinder von der Welt loslöste und in die Traum-
und Jenseitswelt des ,, Reiches Gottes" hinüberlockte. Wohl nahm er die
Sünden der Welt auf sich ; aber er starb an diesen Sünden ; er vermochte an-
gesichts der Schuld und des Leidens nicht dem Leben treu zu bleiben, nicht
das heilige versöhnende Ja zu sprechen. Nur als Hinwegschauender war er
stark, nur im Namen eines anderen, eines ,, Vaters" vergab er Sünden; mit
anderen Worten : er holte sich die Kraft zur Seelsorge aus dem ,, Unendlichen",
will sagen aus dem Traumrausch und einer begehningslosen Gefühlsseligkeit.
Mit dem Hinweis auf das Unendliche wollte er denn auch die Erlösungs-
sehnsucht der Menschheit befriedigen.
Wenn doch unsere Seelsorger die Reinheit und Schönheit Jesu wieder-
gewinnen und sie mit dem robusten Lebensmut der Griechen verbinden
könnten! Oder hätten wir zviäschen beiden zu wählen und wäre Jesu seel-
sorgerisches Genie an die christliche Weltverneinung gebunden, während
die Weltbejahung notwendig zur Feindschaft gegen die Seelsorge und zur
Verwahrlosung des Priesterberufes führte? — Ich kann es nicht glauben
und bin im Gegenteil der Meinung, daß der Sieg des neuen rehgiösen Geistes
priesterliche Persönlichkeiten, die der Welt Sünde zu tragen vermögen, ohne
dem Leben feind zu werden, in reicher Fülle hervortreiben wird. Wir müssen
nur das Unsere tun, um ihre Entstehungs- und Wachstumsbedingungen
möghchst günstig zu gestalten ; wir müssen für eine bessere rehgiös-sittHche
Erziehung unseres Volkes, zumal seiner künftigen Führer und Berater sorgen.
Diese Forderung muß immer von neuem wiederholt werden, weil von ihrer
Erfüllung alles andere abhängt. Wenn unsere jungen Leute zur geistigen
Führerschaft erzogen werden, wenn sie unbedingte Wahrhaftigkeit, Selbst-
verantwortung, Beschränkung in der Freiheit lernen, werden sie später auch
anderen Schirm und Stütze sein können, ohne mit dem Reiche Gottes locken
und mit dem Teufel drohen zu müssen. Sie werden wie Sokrates und die
anderen großen Lehrer des Altertums Seelengeburtshelfer sein, werden
jeden seine Kräfte gebrauchen, die bestehenden Hemmungen beseitigen,
die inneren Zwiespalte lösen lehren.
Die Christen bestreiten, daß diese Art der Seelsorge ausreichend sei. Vielen
Unglücklichen, so versichern sie, helfe weiter nichts, als was Jesus und seine
priesterhchen Jünger getan hätten : der Seelsorger müsse trösten durch den
Hinweis auf das Gericht und die ewige Verdammnis. Hierauf erwidern wir :
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wohl gibt es solche, denen mit unserem Seelsorgeverfahren nicht gedient ist ;
aber auf diese e^^^g Unerwachsenen und Unheilbaren verzichten wir gern.
Wer Gott, Papst und Absolutionsmaschinerie braucht, der wende sich auch
weiterhin an die kirchlich beamteten Seelsorger! Er N\ird das ohne imsere
Aufforderung tun, sodaß die Seelsorger, denen wir zum Leben verhelfen
möchten, niemals in die Lage kommen werden, ihre Kunst an ilim zu ver-
suchen. Die Geister mögen sich scheiden ! Der Schoß der Kirche und der
Beichtstuhl Gottes möge alle diejenigen aufnehmen, die das Leben der Frei-
heit nicht zu ertragen, auch nicht zu verstehen vermögen. Es ist besser,
ein wackerer Katholik zu sein als ein schwankender Modernist, der mit dem
\'erzicht auf die Gnaden- und Erlösimgsmittel der Kirche auch die Kraft
einbüßt, ein fruchtbares und nutzbringendes Leben zu führen.
Wir sind mit diesen Ausfühnmgen über das Gebiet der Beichte schon weit
hinausgeschritten und haben die Erörterung des zweiten Hauptbestandteils
der Seelsorge begonnen: die Aufforderung und rehgiös-sittliche Führung.
Von diesem paränetischen Teil der Seelsorge haben wir nun noch etwas näher
zu sprechen. Ich sagte : Freud stellt die Beichte in den Vordergrund, Dubois
die Aufforderung und Belehrung. Nach Freud hat die bloße Selbsterkennt-
nis bereits heilende Kraft. Wenn der Kranke durch das Bekenntnis und
dessen Deutung durch den Arzt sich selber hat verstehen lernen und sein
Triebleben hinfort richtig zu beiirteilen vermag, so ist er gesimd und lebens-
tüchtig geworden; diese Anschammg hegt dem psychoanah^tischen Ver-
fahren Freuds zugrunde. Dubois geht weiter imd sagt: der Kranke muß auch
lernen, die Welt zu verstehen: der Arzt muß ihm eine Weltanschauung geben
und ihm helfen, sich besser als bisher in seinen engeren und weiteren Pflich-
tenkreis einzuordnen; also: der Arzt muß direkt belehrend und charakter-
bildend wirken. Eine älinhche Stellung nimmt auch z. B. Marcinowski ein
(vgl. dessen ,,Ner\-osität und Weltanschaumig"). Dubois mid viele andere
Ärzte haben sich sogar gegen das psychoanal\-tische Verfahren Freuds er-
klärt. Sie halten den Nutzen des ausgiebigen Beichtens für fraglich, zumal
wenn die Beichte das sexuelle Gebiet betrifft. Freud hat nämlich die Theorie
aufgestellt, daß die nervösen imd geistigen Erkrankungen ihre Wurzel fast
immer in sexuellen Konflikten imd Schädigungen hätten. Daher läuft seine
Psychoanalyse auf ein erotisches Examen hinaus. Ob Freuds sexuelle
Theorie richtig ist oder einseitig, können \rir nicht entscheiden; doch wird
jeder Tieferbückende anerkennen, daß die erotischen Dinge in der Tat häu-
fig ziu Quelle seehscher Kämpfe, Leiden, Entbehrungen werden. Nach Seel-
sorge haben die sexuell L'nbefriedigten mid Unglücklichen ungleich mehr
Verlangen, als die Glücklichen und Befriedigten; jene halten den Aufgaben
und Widerwärtigkeiten des Lebens weit schwerer stand als diese, die in sich
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gefestigter und ruhiger sind. Wir verstehen das Wort „sexuell" wieder im
weitesten Sinne, schließen also das gesamte Liebes- und Eheleben und dessen
Folgen mit ein.
Von jeher sind es die sexuellen Nöte gewesen, die die Menschen zu Freun-
den und Vertrauten, zu Seelsorgern und Beichtigern getrieben haben. In den
äußeren Nöten des Lebens kann ja der Seelsorger nicht gar soviel helfen;
da müssen andere Mächte eingreifen. Und die inneren Schwierigkeiten, die
sittlich-sozialen und geistig-religiösen, hängen stets irgendwie mit Konflikten
auf sexuellem Gebiet (in dem angegebenen Sinne) zusammen. Es ist unbe-
streitbar, daß die Verdüsterung und Schwächung des Kulturmenschen, die
Verwirrung in seinem Triebleben zum großen Teile von den Einschränkungen
und Erschwerungen der sexuellen Betätigung herrührt. Die Ehe und alles
was an sittlich-sozialen Einrichtungen und Geboten aus ihr gefolgert worden
ist, hat die Menschheit unsägliche Opfer an Freude und Sicherheit des Lebens
gekostet ; gerade in Zeiten wie die heutige, wo das Leben auf fast allen Ge-
bieten Anlaß zu Krisen gibt, fordert die durch Gesetz und Gewohnheit ge-
schaffene Regelung des sexuellen Lebens sehr schwere Opfer.
Will man trotzdem an der Ehe festhalten, so wird man sich wohl ent-
schließen müssen, auch die bisherige sexuelle Erziehung, die Förster tref-
fend als Erziehung der Ablenkung bezeichnet hat, beizubehalten. Das bis-
herige und heute viel angegriffene Verfahren der Lehrer und Eltern gegen-
über den Heranwachsenden war : die sexuellen Dinge zu übergehen und als
nicht vorhanden zu betrachten. Auch im Verkehr der Erwachsenen unter-
einander, ja im Verkehr mit sich selber schaltete man das Sexuelle nach Mög-
hchkeit aus, sprach wenig davon und daher dachten wenigstens die feiner
Empfindenden auch wenig daran. Die Kulturmenschheit, nicht bloß die
christliche, bemüht sich ohne Zweifel, die Aufmerksamkeit von den körper-
lichen Sexual Vorgängen möglichst abzulenken. Warum das geschieht? Weil
die Ablenkung ein unentbehrliches Mittel zur Vergeistigung des Sexual-
triebes ist und nur mit Hilfe der Vergeistigung eine Regelung und Ein-
schränkung möglich und sittlich wertvoll ist. Wenn die körperliche Sexuali-
tät ins Bewußtsein gehoben und ihre unentrinnbare Gewalt klar durchschaut
wird, ist es weit schwerer, das Liebesgefühl zu vergeistigen und zu verper-
sönlichen, als wenn man der Methode der bisherigen priesterhchen Päda-
gogen folgt. Über diese Seite der Sache gehen die Verfechter der sexuellen
Aufklärung zu leicht hinweg; auch Freud und die übrigen Anhänger des
therapeutischen Beichtwesens beachten die menschlich-sittlichen Folgen
sexueller Psychoanalyse nicht genügend. Die Frage in ihrer Allgemeinheit
kann hier natürlich nicht zur Entscheidung gebracht werden ; es liegt uns
nur ob, auf Grund unserer psychologischen und historischen Ergebnisse
297
darauf hinzuweisen, daß das gesamte höhere menschUche Leben auf der Ver-
drängung und Vergeistigung tierischer Triebe, zumal des Sexualtriebes be-
ruht. Wir haben gesehen, daß das Christentum die Verdrängung übertrieben
hat und sich wie der Buddhismus zu einem krankhaften Ideal der reinen
Geistigkeit verirrt hat. Älöge unser Zeitalter sich vor dem entgegengesetzten
Extrem hüten ! Möge der Seelsorger der Zukunft sich gewissenhaft die Frage
vorlegen, wie weit er in jedem einzelnen Falle die Erziehung der Ablenkung
verlassen und sie durch die Erziehung der Selbsterforschung und Triebent-
blößung ersetzen darf! Durch die sexuelle Aufklärung und die FREUDsche
Psychoanalyse wird vielfach nichts weiter erreicht, als daß ein begonnenes
Gebäude der Verdrängung und Ablenkung wieder abgetragen wird. Ideale
Empfindungen werden auf körperliche Trivialitäten zurückgeführt, Krank-
heitserscheinmigen werden gegeneinander ausgetauscht. Der Kranke wird
von dieser Kur doch nur dann Nutzen haben, wenn er stark genug ist, die
pathologische Umformung und Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse nun-
mehr zu ersetzen durch eine gesunde Vergeistigung. Man kann es so aus-
drücken: jede Beichte, jede Bewußtmachung des Trieblebens bringt den
^Menschen der Norm näher; sie schafft Erleichterung und Erfrischung.
Welche Art von Norm aber ist hier gemeint ? Auch der Zustand des trieb-
haft-vegetativen ]\Ienschen kann normal heißen. Wird der psychoanaly-
tische Seelsorger den Kranken zu dieser Norm führen oder zu der Norm
des sittlichen Helden, der seine Triebe harmonisch mit den geistigen Idealen
verknüpft hat? Wird der katholisch- jesuitische Beichtvater, der seine
Beichtkinder nach sexuellen Lastern und Perversitäten ausfragt, der alle
schmutzigen Gedanken und Gefühle, die das Beichtkind etwa gehabt hat,
genau zu erfahren begehrt, dasselbe dadurch menschlich heben und es zu
der edlen, vergeistigten Sexualität hinleiten, die in dem Sakrament der Ehe
ihre Verherrlichung gefunden hat?
Ich zweifle. Ich glaube, daß die schonungslose Zudringlichkeit des Arztes
und Seelsorgers nicht vielen zum Segen gereicht. Viele werden durch das
Bloßlegen der sexuellen und sonstigen Menschlichkeiten in um so größere
Konfhkte gestürzt, falls sie nicht gar zur resignierten Anerkennung des
Tieres im Menschen und zur skrupellosen Befriedigung aller Triebregungen
gelangen. Wem wird das Bewußtmachen und Durchsprechen der sexuellen
Tiefen und Untiefen zum Heile ausschlagen ? Dem, der in die Lage versetzt
wird, für das bewußt gewordene Sexualempfinden einen würdigen Gegen-
stand und für die durch die Beichte aufgeregten Liebesbedürfnisse gesunde
Befriedigung bei einer Person des anderen Geschlechts zu finden. Die psycho-
analytische Beichte wie überhaupt jede vertrauliche Aussprache mit einem
Seelsorger bringt das Liebesverlangen des Beichtenden an die Oberfläche,
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der nun von dem Seelsorger selbstverständlich die Stillung dieses Verlangens
erwartet. Der Seelsorger soll die in dem Beichtenden entstandene Erregung
und Erschütterung auch wiederum zur Ruhe bringen, soll ihm neues Leben
einhauchen und die zum Bewußtsein gebrachte Bedürftigkeit und Sehn-
sucht durch normale Befriedigung aufheben. Es ist eine alte Erfahrung, daß
Frauen lieber beichten als Männer und eine ebenso alte Erfahrung, daß
beichtende Frauen eine leidenschaftliche Liebe zu ihrem Seelsorger fassen.
Aber auch die nach Seelsorge verlangenden Jünglinge geraten leicht in eine
ideale erotische Abhängigkeit von ihren lehrenden Freunden, wie wir es am
deutlichsten im griechischen Altertum sehen.
Diesen gefährlichen Seelsorgeerfolg hat ein so feiner Psychologe wie Freud
natürlich ebenfalls bemerkt. Er gibt in seinem Schriftchen: ,,Der Wahn und
die Träume in W. Jensens Gradiva" zu, daß die bewußt gemachte und da-
durch neu geweckte Leidenschaft des hysterisch Gehemmten jedesmal die
Person des ärztlichen Seelsorgers zu ihrem Objekte wählt. Die Liebesfähig-
keit wird frei und wendet sich mit Notwendigkeit dem Befreier zu ; der Seel-
sorger und helfende Vertraute wird zum ,, Erlöser", zum Prinz des Märchens,
der die Dornhecke überwindet und das schlafende Dornröschen weckt ! Wie
jede Liebeseroberung durch eine Befreiung gehemmter und abgelenkter
Triebströme zustande kommt, so verwandelt sich jede Beichte, bei der ein
bedürftiges und beladenes Menschenkind sein ganzes Herz ausschüttet, in
ein Liebesgeständnis.
Man glaube nicht, daß diese Betrachtung für das Priesterproblem und die
Zukunft des religiösen Seelsorgewesens von nebensäclilicher Bedeutung sei.
Nein; %vir rühren hier an die wundeste Stelle der priesterlichen Tätigkeit
überhaupt. Wenn der Priester gehaßt und sein Wirken mit Mißtrauen ver-
folgt wird, so gilt dieser Haß in erster Linie dem Zerstörer des auf der Ehe
und Familie beruhenden tätigen Genossenschaftsgeistes. Wenn gegen die
Ohrenbeichte und gegen jede persönliche Seelsorgetätigkeit angekämpft
wird, so kämpfen die Ehemänner um ihre Gattinnen, die Eltern um ihre
Kinder, kämpft die Familie gegen den unterminierenden Einfluß des frem-
den Eindringlings, der die Sehnsucht der unbefriedigten Familienglieder auf
sich und sein familienloses Ideal konzentriert. — Wie kann und soll der
Priester das vermeiden? Wie kann der unentbehrlichen Einrichtung der
religiös-medizinischen Seelsorge ihr gefährlicher Charakter genommen wer-
den? Freud sagt: ,,Der Arzt muß trachten, nach der Heilung wieder ein
Fremder zu werden; er weiß den Geheilten oft nicht zu raten, wie sie ihre
wiedergewonnene oder überhaupt erst gewonnene Liebesfähigkeit im Leben
verwenden können." Aber: ,,mit welchen Auskunftsmitteln und Surrogaten
sich dann der Arzt behilft" . . . versäumt Freud, uns näher anzugeben, ob-
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wohl darauf viel, ja fast alles ankommt. Ich v\'ürde raten, daß der ärztliche
Seelsorger in allen Fällen, wo er nicht von vornherein darauf rechnen kann,
daß der Kranke oder Ratsuchende seine freigewordene Liebesfähigkeit auf
schöne und normale Weise betätigen und binden kann, äußerst vorsichtig
mit dem psychoanalytischen Beichtverfahren sein möge. Er möge tun, was
er kann, imi das gewünschte Ziel ohne Freilegung und Bewußtmachung der
unbefriedigten Triebe zu erreichen. Das ist möglich, wie tausend Beispiele
aus dem Leben und aus der Priestergeschichte beweisen. Von den körper-
hchen Heilmiteln gegen nervöse Erkrankungen und den äußeren Linde-
rungsmitteln gegen seelische Nöte haben wir hier nicht zu reden ; sie gehören
in das rein medizinische und das sozialpolitische Gebiet. Aber es gibt auch
rehgiöse Heilmittel und geistig-sittliche Linderungsmittel; mit ihrer Hilfe
ist es möghch, vielen Menschen Stärkung und Gesundung zu bringen, ohne
zur Sezienmg des Hilfesuchenden zu schreiten und ohne die Aufhebung der
Ablenkimg, die Vernichtung der Konversion direkt durchzusetzen.
Auf den Hauptpunkt haben wir schon hingewiesen: der Seelsorger soll
dem Kranken und Hilfsbedürftigen eine heilende Lebensphilosophie in die
Hand geben ; er soll ihm zeigen, wieviel Willens- und Geisteskräfte ungenutzt
in ihm schlummern, und ihn zur Hebung und Verwertung dieser Schätze
anleiten. Geschieht das, so werden die Hemmungen von selber verschwinden ;
den seelischen und leiblichen Krankheitserscheinungen wird die Nahrung
imd der Boden entzogen. Für die Möglichkeit und Trefflichkeit dieser Kur
stehen außer Dubois zahllose Arzte, Priester und Seelsorger aller Zeiten
ein. Es ist eine vielleicht wunderbare, aber durch die Erfahrung bewiesene
Tatsache, daß Überredung und Überzeugung, daß Wissen und Glaube
Kranke heilen. Mutlose ermutigen, Unglückliche beglücken. Schwache stär-
ken kann. Der Gedrückte wird frei, der Unbefriedigte ruhig, wenn eine Ver-
trauens- und verehnmgswürdige Persönhchkeit ihm Weg und Ziel weist und
ihn an die Stelle führt, wo er für sich und andere segenbringend arbeiten
kann. Obwohl durch diese paränetische Seelsorge die vorhandenen Konfhkte
keine direkte Auflösung finden, die sexuellen Bedürfnisse nicht unmittelbar
befriedigt werden, vielmehr dem Triebe die abnorme Bahn, in die er bisher
abfloß, verstopft wird, findet trotzdem eine allseitige Befreiung und Gesun-
dung, also auch eine sexuelle Erleichterung statt. Der Mensch wird aus dem
Bann des Egoismus (zuweilen auch des egoistischen Autoerotismus) erlöst;
er sieht sich nun in einem Kreise von Brüdern, sieht sich vor lohnende Auf-
gaben gestellt und empfindet das bis dahin vergebhch gesuchte Glück der
Pfhchterfüllung. Die Liebe im aktiven Sinne zieht bei ihm ein, und wenn es
auch nicht die normale Geschlechtsliebe ist, so ist es eine ihr verwandte, die
fast vollkommenen Ersatz für jene zu bieten vermag. Der Geheilte nähert
300
sich dann der Gefühlsrichtung der besten Priesternaturen; er rückt in die
Reihe der heiUgen Junggesellen und Jungfrauen ein, deren vergeistigte
Sexualität der Menschheit soviel Gutes geschenkt hat und auch in Zukunft
schenken wird.
Wenn unser Zeitalter diese Art der Seelsorge neu erlernen und im Großen
erfolgreich betätigen will, muß es sich freilich erst eine starke Lebensphilo-
sophie erobern, muß es erst zu einem Glauben, wie wir ihn oben charakteri-
sierten, gelangen. Es gilt, die unrettbar der Zeit verfallene christliche Philo-
sophie zu ersetzen. Dubois, Marcinowski und andere empfinden das sehr
deutlich; jedoch sind sie im Irrtum, wenn sie meinen, diesen Ersatz bereits
gefunden zu haben. Die stoische Vernunftphilosophie, die Dubois in seinem
Buche ,, Selbsterziehung" vorträgt, ist gewiß nicht zu verachten; er will seine
Patienten ,, richtig denken" lehren und sie zur Erkenntnis ihres ,, wahren
Vorteils" führen. Aber damit ist bei weitem nicht alles getan. Der Seelsorger
muß viel wirksamere Glaubens- und Lebensmedizinen verabreichen; die
Philosophen haben die Aufgabe sie zu bereiten ; den Männern, die sich rüh-
men, geistige Führer unseres Volkes zu sein, fällt die unaufschiebbare Pflicht
zu, den religiösen und medizinischen Seelsorgern eine Philosophie in die
Hand zu geben, die ebensoviel und noch mehr leistet, als die christHche Philo-
sophie in ihrer lebendigen und kräftigen Zeit geleistet hat. Es ist schlimm,
daß die beamteten Staats- und Universitätsphilosophen sich dieser Pfhcht
unter den nichtigsten Vorwänden entziehen. Sie sollten mutiger und rehgiöser
werden, sollten lernen, ihr ganzes sinnliches und gemütliches ]\Ienschentum
in den Schmelztiegel ihrer Abstraktionen hineinzuwerfen ; dann werden ihre
Ergebnisse nicht mehr so blaß und spinngewebsartig aussehen; ihre Ge-
danken werden stärkendes Leben und heilende Kraft ausströmen. Von den
Ärzten und praktischen Seelsorgern kann man nicht verlangen, daß sie
schöpferische ReUgionsphilosophen sind; man muß sich vielmehr freuen, daß
Dubois und andere so tapfer in die Lücke treten, die von der unzulänghchen
und verstaubten Fachphilosophie gelassen wird.
Welches wird der Kernpunkt dieser Lebensphilosophie sein, die der künf-
tige Seelsorger seinen Anvertrauten einhauchen soll? Wodurch wird es
dieser Lebensphilosophie gelingen, die christHche Philosophie zu ersetzen,
nachdem die letztere ihre Wirksamkeit eingebüßt und ihre Macht über die
Gemüter verloren hat? — Es wird eine Philosophie des Schaffens sein. Sie
wird dem christhchen Harren und Dulden ein heidnisches Bauen und Arbei-
ten, den christhchen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung die maurerischen
Tugenden Weisheit, Stärke, Schönheit gegenüberstellen. Sie wird lehren, daß
jeder Mensch, der Kleinste wie der Größte, der Schwächste wie der Stärkste
zur Mitarbeit an der Aufrichtung des Tempels berufen ist, zu dem der Grund in
301
aller Stille bereits gelegt worden ist. Wer sähe nicht, daß der Seelsorger
diesem Gedanken therapeutische Ratschläge von höchstem Wert entnehmen
kann ? Alle, die nach Beichte und Aufrichtung verlangen und nicht unheilbar
krank und entartet sind, haben im Grunde Verlangen nach Arbeit. Auch
wer müde und von Anstrengungen erschöpft ist, kann nur durch Arbeit er-
frischt und geheilt werden, aber durch Arbeit, die ihm gemäß ist. Arbeit
macht nur denjenigen krank imd hilfsbedürftig, der nicht die rechte Arbeit
tut und nicht an der rechten Stelle des Bauplatzes steht. Der Arzt und Seel-
sorger soll ihm die rechte Stelle anweisen, soll ihn lehren, was und wie er
arbeiten soll.
Auch die so geübte Seelsorge kann nicht ohne Beichte auskommen; denn
der Seelsorger muß den Arbeitsuchenden kennen lernen, was nicht ohne
dessen Unterstützung möglich ist. Bekenntnis und Selbsterforschung sind
auch hier die notwendigen Hilfsmittel. Aber die Beichte erhält einen anderen
Sinn. Seelsorger und Beichtender bemühen sich, die Kräfte und Tugenden
des letzteren ans Tageslicht zu bringen, nicht, wie bei der Freud sehen
Psychoanalyse und der christlichen Beichte, die Schwächen und Verfeh-
lungen. Nicht was einer gesündigt und verabsäumt hat, wird hervorgezogen
und eingehend besprochen, sondern der Wille zum Guten, den einer bewiesen
hat, der Drang zum Licht, der sich auch in den Verfehlungen und Verirrun-
gen kundtut, wird zum Gegenstand der Beichtbefragung und paränetischen
Lossprechung. Der christliche Priester und auch der psychoanalytische
Neurologe legen den Nachdruck darauf, den Menschen an die Fesseln zu
erinnern, die ihn umschnüren, und ihm die Gewichte zum Bewußtsein zu
bringen, unter denen er seufzt. Der Seelsorger sollte umgekehrt den Nach-
druck darauf legen, den Menschen die Flügel benutzen zu lehren, die er
besitzt, und ihm die Schwungkraft zum Bewußtsein zu bringen, die ihn hin-
auf in die Freiheit zu ziehen vermag.
Damit könnten wir unser Werk abschließen ; denn die nähere Ausführung
des im letzten Kapitel Berührten muß späteren Arbeiten und der religiösen
Praxis vorbehalten bleiben. Jedoch wird mancher noch die klare und ein-
deutige Antwort auf die zu Anfang gestellte Frage vermissen : nämlich nach
der Zukunft des berufsmäßigen Priesters und Seelsorgers. Wir haben die
Aufgaben, die der Priester bisher als sein ausschheßliches Eigentum ansah,
allen führenden und leitenden Berufen zugewiesen. Der Lehrer und der mili-
tärische Obere, der Richter und der Journahst, der Unternehmer und der
Arbeitgeber, vor allem aber der Arzt — sie sollen ihren Beruf als einen
priesterüch-seelsorgerischen ausüben, sollen sich beständig vor Augen halten,
daß sie religiös-sittliche Führer und Berater ihres Volkes sein müssen. Bleibt
302
dabei noch Raum für den Berufspriester? Wird der Religionsbeamte, der
„Geistliche" nicht überflüssig? — Ich glaube nicht. Mir scheint, daß es auch
fernerhin ein Berufspriestertum geben muß. Zunächst müssen wir uns sagen,
daß die genannten Berufe durch ihre Berufspflichten so in Anspruch ge-
nommen sind, daß sie die seelsorgerische Tätigkeit nicht in den Mittelpunkt
stellen können. Das Kulturleben gründet sich nun einmal auf die Arbeits-
teilung, und so nötig es ist, daß immer wieder die Forderung erhoben wird,
daß jeder sich möglichst zum ganzen Menschen runden und die Einseitigkeit
des Fachstrebens überwinden soll, zumal wer zu den Führenden und Wissen-
den gehören will, so läßt sich doch an dem Grundsatz der Arbeitsteilung
nicht rütteln. Die genannten Berufe können die tiefsten Lebensfragen nicht
selbständig lösen, haben auch nicht Geduld und Kraft genug, um dem Volke
im ganzen aus den schwersten und allgemeinsten Nöten heraushelfen zu
können. Ihre Berufspflichten lenken sie fortwährend auf das Einzelne und
das Profane ; sie haben Mühe, die großen Ziele des Gesamtschaffens im Auge
zu behalten, haben Mühe, ihren gebückten Leib und Geist emporzurichten
und das aufzunehmen, was Freiere und Weiterschauende lebend und redend
verkünden. Wir brauchen Fahnenträger des Ideals, die, den äußeren Sorgen
und Berufsgeschäften enthoben, klar und rein zu zeigen vermögen, wohin
der Weg geht und wo die Sonne steht. Ihr Lebensberuf ist es, gegen die
Stumpfheit und Flachheit anzukämpfen.
Man wird sagen, daß die Künstler und die von Berufspflichten freien Ge-
lehrten diese Aufgabe erfüllen. Ja; nur kann sich der einzelne nicht an sie
wenden ; sie wollen nicht Führer und Berater im eigentlichen Sinne sein . Ferner
felüt es ihnen an prophetischem Willen und Vermögen; d. h. sie verstecken
sich hinter ihren Werken und vermeiden jene persönhche Wirksamkeit, auf
die in der Religion alles ankommt. Es hängt das mit dem Wesen der Kunst
und der Wissenschaft zusammen und soll kein Vorwurf gegen deren Jünger
und Meister sein.
Aber die Gefahren des Priester- und Prophetentums ! Haben wir nicht
wieder und wieder gesehen, daß der Priester das Unglück der Menschheit, der
Prophet der Verwirrer und Verführer der Jahrtausende war ? Sollte es nicht
endlich an der Zeit sein, den Priester abzuschaffen und lieber auf das Gute,
das er \äelleicht tun könnte, zu verzichten, als dem Bösen, das sein Wirken
notwendig mit sich bringt, Tür und Tor zu öffnen? — Wir haben darauf
schon erwidert, daß es unmöglich ist, den Priester abzuschaffen, weil die
priesterlichen Natiuren aUen unseren Wünschen zum Trotze weiterleben
werden. Und wenn wir sie unterdrücken, sie ohne Pflege lassen, ihnen die
freie Betätigung ihrer Kräfte verwehren, bricht ihre Natur nur um so gewalt-
samer hervor und es zeigen sich alle die bedrohlichen Erscheinungen, die wir
im religiösen Leben der Gegenwart beobachten können. Wir haben zu wäh-
len zwischen der ungehemmten, ungeregelten Priestertätigkeit und der ge-
zügelten, in das Kulturleben harmonisch eingeordneten. Die Entscheidung
kann uns, wenn wir den Dingen nüchtern ins Auge sehen, nicht schwer fallen.
Es ist die Entscheidung zwischen Anarchismus und Organisierung, eine Ent-
scheidung, vor die die heutige Menschheit auf allen Gebieten des Lebens
gestellt ist.
Jedoch nehmen wir die Anklagen gegen den Priester wahrhaftig nicht
leicht und wollen zum Beweise dessen noch einmal die Hauptgefahren kurz
zusammenfassen, die der Weiterentwicklimg unserer Kultur von dem Be-
ruf spriestertum drohen. Jeder menschhche Typus wird dann schädlich, wenn
er entartet ; seine Entartung hängt aber stets mit einer Erkrankung des ge-
samten Kultiukörpers zusammen. Die Entartung des Priesters ist ein Symp-
tom für die Entartung des Kulturkreises, in dem er wirkt. Gelingt es, die
ganze Kultur ziu- Gesundheit zurückzuführen, so gesundet auch der Priester ;
gelingt es nicht, so hat es weder Zweck noch Berechtigung, den Priester zur
Verantwortung zu ziehen und ihn als Sündenbock zu schlachten. Ein Volk,
das entartete Priester hat, verdient keine besseren.
Wie entartet der Priester? Erstens: er wird zum Despoten, zum ,, Pfaffen".
Gegen diese Entartungsform gibt es kein anderes Heilmittel, als die geistige
Befreiimg und Verselbständigung des ganzen Volkes. Sobald unsere Grund-
sätze der Glaubens- und Lehrfreiheit allgemeine Anerkennung gefunden
haben, ist der despotische Priester verschwunden, weil er keine Lebens- und
Wirkungsmöglichkeit mehr findet. Der freie Religionsbund duldet keine
Priester, die auf Grund von Offenbarungen und Überlieferungen autorita-
tive Glaubenswahrheiten lehren und die Gemeinde zum Gehorsam gegen die-
selben zwingen wollen. Wer das versucht, richtet sich selber; er ist ein
,, Gotteslästerer". Sollte der Rehgionsbund diese Grundsätze einst wieder
verlassen, sollte unser Volk einst in die dogmatisch-despotische Sphäre zu-
rücksinken, so wird es auch wieder ,, Pfaffen" haben; keine Macht der Welt
kann das verhindern. Es verdient dann nichts Besseres. Kann aber dieser
AusbHck in eine etwaige Entartungsepoche der Zukunft uns verhindern,
heute an der Gesundung unseres Volkes und der Schaffung eines freien Prie-
stertums zu arbeiten?
Zweitens: er wird ein Phantast und Rattenfänger; er verführt das Volk
zum widernatürüchen Leben. Wir haben oben ausführlich dargelegt, daß
der Priester von der Norm abweicht, daß er eine Karikatur Gottes ist und
in Gefahr schwebt, zum Don Quixote und hilflosen Narren zu werden, haben
aber auch gezeigt, wie er trotzdem seine Führer- und Erzieheraufgaben ge-
treu erfüllen kann und soll. Er soll die Norm predigen, auch wenn er für
304
seine Person nicht die Norm verwirklichen kann. Tut er das nicht und findet
er mit seinem Todesevangehum von der ,, wahren" und geschlechtslosen
Jenseitswelt Beifall in seinem Volke, so ist nicht nur er, sondern die ganze
Kultur krank und entartet. Das Heilmittel heißt daher auch hier: allge-
meine Gesundung und Befreiung. Dem freien Religionsbunde werden die
Lockrufe der Todesherolde nichts anhaben ; er wird den Jenseitspriester als
verunglückten und bedauernswerten Kranken behandeln.
Drittens: er wird zum Heuchler imd Charlatan. Kein Beruf verführt so zur
Lüge wie der des Priesters, weil der Priester ein vorbildlicher Mensch sein
soU. Wenn er nicht ein ganz gesunder und starker Charakter ist, verfällt er
unweigerlich der schauspielerischen Entartung : er steUt dar, was er nicht ist,
ohne sich Mühe zu geben, den Abstand zwischen Schein imd Wirklichkeit
Schritt für Schritt zu verringern. Auch hier fäUt es der Gemeinde im ganzen
ziu: Last, wenn sie solche Priester duldet und gar züchtet. Heuchlerische
Priester gibt es nur in heuchlerischen Völkern. Wenn in der Gegenwart die
Heuchelei unter den reUgiösen Führern und Beamten überhandnimmt, wenn
Jesu Wort von den ,, übertünchten Gräbern" schauerliche Wahrheit gewor-
den ist, so ist diese Erscheinung aufs engste mit der allgemeinen rehgiösen
Verlogenheit und Feigheit unserer Zeitgenossen verknüpft. Alle Welt ent-
windet sich hstig und ängstlich der Verpflichtung, die religiösen Folgerungen
aus dem veränderten Weltbild und Lebenswillen zu ziehen. Alle Welt hält
dem Worte imd Scheine nach an der überwundenen Gottesauffassung fest,
nach der Gott ein vollkommenes, entwicklungsloses Wesen ist, das in starrer
Majestät über den ewig ringenden, ewig sündigenden Menschen thront.
Dieser Glaube aber macht den Priester zum Heucliler, denn der Priester soU
doch ein Ebenbild Gottes sein ; auch er soll vollkommen sein, soU sich nicht
entwickeln, sich nicht wandeln, nicht umlernen, nicht ^viderrufen, nicht
zweifeln und irren. Kurz : er soll nur scheinen, mir Pharisäer und Tugendbold
sein, der in göttUcher Erhabenheit auf die Strauchelnden und Suchenden
herabschaut. Das einzig menschen- und priesterwürdige Streben : in Wahr-
haftigkeit und Treue den ewigen Kampf um die Vergottung der Welt zu
kämpfen, ist damit in Acht und Bann getan. Der freie Rehgionsbund wird
der Priesterheuchelei den Boden entziehen, weil er nur Suchende und Irrende
kennt und anerkennt. Wer am redhchsten strebt und am tiefsten von seinem
Nichtwissen und von der Unvohkommenheit Gottes durchdrungen ist, er-
wirbt sich am meisten Anrecht auf das Priesteramt.
Viertens: er \vird zum gleichgültigen Berufsmenschen, der seine heiligen
Pfhchten abmacht als spinne er Flachs. Jeder kennt die Pfarrer, denen man
die innere Kälte auf dem gelangweilten Gesicht abUest. Wohl wissen sie bei
einer Beerdigung eine düstere, bei der gleich darauffolgenden Hochzeit eine
20 Horneffer, Der Priester II 305
feierlich-frohe Miene aufzusetzen; wohl halten sie für jeden, der ihre Seel-
sorge sucht, ein paar tröstliche Phrasen bereit; aber ihr Herz weilt anderswo.
Man entdeckt erst, daß sie Menschen sind, wenn man sie außerhalb ihrer
Amtstätigkeit kennen lernt. Vielleicht ist dieser Vorwurf der schwerste, der
dem Priester gemacht werden kann, und dieser Einwand der durchschla-
gendste, der gegen die berufliche Ausübung religiöser Pflichten und Hand-
lungen erhoben werden kann : aus der Frömmigkeit darf kein Geschäft, aus
der Religion kein Beruf gemacht werden! — Indessen läßt sich auch dieser
Gefahr begegnen. Die berufsmäßige Ausübung der Kunst hat man ebenfalls
angegriffen und sicherlich ergeben sich aus ihr dieselben Unzuträglichkeiten
wie aus der berufsmäßigen Religionsausübung : es ist eine ebenso schwierige
und gefährliche Sache, das Dichten oder Komponieren als Lebensberuf zu
treiben, wie Priester und Seelsorger, oder auch wie Denker und Erfinder,
Herrscher und Kriegsmann von Berufs und Amts wegen zu sein. Aber die
dilettantische, nur von der ,, Eingebung" geleitete Ausübung dieser größten
und wichtigsten Verrichtungen bringt noch größere Gefahren mit sich ; ein
stetiges Kulturleben könnte sich dabei unmöghch entwickeln. Wir müssen
unbedingt dabei bleiben, daß gewisse Personen ihr ganzes Leben der künst-
lerischen oder religiösen oder wissenschaftlichen oder regierenden Tätigkeit
widmen und dieselbe als ihren wirklichen, von aller Welt anerkannten Beruf
betreiben. Verderblich wird das nur dann, wenn das Volk im ganzen nicht
stark und frei genug ist, diese Personen in Schranken zu halten, die richtigen
auszuwählen, die entartenden auszuscheiden, den erlahmenden und erstar-
renden frisches Leben einzuhauchen.
Der Priester ist wie ein Spiegel, der alle Stimmungen der Gemeinde zurück-
strahlt. Er soll und muß alles miterleben, was seinen Anvertrauten begegnet.
Daher kann er nicht alle Stimmungen mit derselben Stärke durchmachen
wie die Betroffenen. Er kann sich nur auf Augenblicke mit dem Einzelnen,
der ihn als Seelsorger in Anspruch nimmt, und mit den Versammelten bei
religiösen Akten gleichsetzen. Sein Gemüt muß beweglich und aufnahmefähig
sein wie das des Künstlers. Aber zugleich muß er eine gleichmäßige Ruhe
wahren; denn er steht als Vertreter des Bundesgeistes da, er soll so stark
sein, daß er einen Ausgleich schaffen und die in die Höhe geschnellte oder in
die Tiefe gesunkene Schale zum Gleichgewichtspunkte zurückführen kann.
Wenn er das vermag — und daß er es vermag, dafür müssen seine Natur und
seine Erziehung sorgen — , so wird er sich nicht nur von der geschäftsmäßigen
Kälte, sondern auch von der Erheuchelung des Mitgefühls freihalten.
Und so komme ich zu dem Schlüsse : trotz aller Einwände, die gegen den
Priesterberuf mit Recht erhoben worden sind und die in unserer Zeit zu
einer großen vielstimmigen Anklage gegen ihn angeschwollen sind, müssen
306
wir für die Zukunft dieses Berufes eintreten. Halten wir den Priester in Ehren !
Nutzen wir ihn I Aber gestalten wir den Beruf so, daß er wirldichen Nutzen
zu stiften vermag, und weisen wir ihm die Stelle an, die ihm innerhalb eines
freien religiösen Bundes und als Glied des allgemeinen Kulturorganismus
zukommt.
iii REGISTER BSE
Ena Ena
1^
Aaron II 40.
Abendmahl I 192, 279, 307, 311, II 28,
christliches I 221, als Scheinhand-
lung I 241 ; Abendmahlshandlung
II 133, -kelch I 301, II 123.
Aberglaube I 251 f., II 83.
Ablenkung, Erziehung der II 297.
Abnormität des Priesters 1 29, II 224 f.,
sexuelle II 218 f.
Abraxas I 256.
Abseitsstellung des Pr. I 29.
Absinth I 216.
Absolution II 287, 289, 2941.
Absurdität der Dogmen I 137.
Abtötung I 31.
Abtreibung der Frucht II 10 f.
Abulie II 86 f.. 89.
Abwehrmaßregeln, die nervösen Er-
scheinungen sind I 125.
Abwesenheit des Geistes I 185.
Achilleus II 136.
Ackerbaukult I 201.
Agamemnon I 289.
Agitation, motorische I 184.
Agitator II 188, 280.
Agrippa, Gelehrter II 95.
Ahnenbild I 261 ; Ahnenkunde, als
Keim der Geschichte II 170.
Ahnungen II 83.
Aigner, Ed., über Lourdes II ^y.
Ainustämme I 148.
Alchimie II 94.
Alkohol I 21 3 ff., II 135, 194 ff., 202 f.,
208, 2iof., als Zauberarznei I 266,
beim christl. Abendmahl I 221.
Allegorist II 108.
Allerheiligste I 301.
Allmachtsrausch II 227.
Almosen I 309.
Alp II 16.
Altar II 109, I46f.
Altersschwachsinn I 132.
Amnesie I 182.
308
Amokläufer I 210.
Amos II 75.
Amulett I 174, 193, 201, 256ff., 287,
298. II 8, 30.
Anachoret II 206.
Anarchismus II 75, 250, 252 f., 263.
Anarchisten II 209.
Anatora, Priester als II 172.
Andree, R., über Weihegaben I 308,
über den Schmied II 8.
Anfall I 149, II 73, 236f., 287, epilep-
tischer I 122, und hysterischer I 125,
128, hysterieartiger I 122, I 175 ff.,
religiöser II 179.
Angst, des Pr. I 2 17 f., als Triebfeder
des Beichtens II 288.
Animismus I 237.
Antichrist II 251, 253.
Aphrodite II 98, 154, — Astarte I 25.
Apokalypse I 185.
Apollon I 177, 181, 223, II 24, 85, 149.
Apostel II 12; Apostelgeschichte I 38,
186; Apostolikum II 40.
Arbeit, wird verachtet I 15.
Ares II 154.
Aristoteles II 6, 62, 107.
Arzneimittel II 172.
Arzt II 2 ff., 284 f.
Aschaffenburg, Psychiater I 195.
Askese II 135, 199 ff., 236, 292, als
Opfer I 266 ff., ihr kulturschaffen-
der Wert II 203; Asket I 30, 32, 122,
197, 203, 210; asketische Übungen
I 30.
Asklepios II 23 f ., 37 ; Asklepiaden II 38.
Astrologie II 80, 91 f., i69f. ; Astrologe
I 76, II 86.
Astyages II 80.
Asvins II 24.
Äther I 216.
Athos, Mönche am I 180.
Attribut, göttliches I 191, 222 f.»
II I49f.
Aufklärung, sexuelle II 297.
Aufzug, Prozession II 270.
Augenamulett I 140.
Augustinus I 41.
Ausdrucksbewegungen, als Wurzel der
Zauberhandlungen I 233 ff., 242,
II 122.
Ausschweifung, ihre religiöse Bedeu-
tung I i3of., 206, II 113, 132, 177,
236.
Autoerotismus I 199, 202, II 300.
Automatismen I 128.
Autonomie I 108, II 241.
Autosuggestion I 166 f.
Baalspriester I 267, II 73 f.
Bacchanten I 176, 202, 224, 296.
Bach, Seb. II 264.
Bach, heiüger I 150.
Bader II 5.
Bäder, deren rel. Zweck I 196, 240.
Badewesen I 263 f., II 31.
Bahnsen, Jul. I 14.
Bajadere I 25.
Bakis II 88.
Barden II 155.
Bartels, üb. primitive Medizin II 13.
Bartolomeo, Fra II 126.
Basihka II 146.
Baukunst II 168.
Baum, d. heihge I 150; Baum- vmd
Pflanzensäfte I 213.
Ba3n:euth II 196.
Beerdigung II 247, 273, 305.
Beethoven II 264.
Befreiung, Drang nach II 203 ff.
Begeisterung, religiöse I 153 f., 295.
Begnadigung, durch höhere Mächte
I 122, 128.
Beichte I 31, II 285 ff.; Beicht-
groschen I 249; Beichtproblem
II 224; Beichtstuhl der Griechen
II 164; Beichtväter II 224.
Beischlaf, zauberhafter II 11.
Bekehrungen I 34, 135, 160.
Bekenntnis, Beicht- II 286.
Bemalung, des Körpers I 259.
Berauschtheit I 122; s. auch Rausch.
Bemheim, über Suggestion I 166.
Berserker II 73; Berserkerzom I 173.
Berufung, zum Pr. I 135, 149, II 176!.
Berufscharakter I 13; Berufspriester-
tum II 305 ff.
Berufsgeheimnisse, des Pr. I 275,
II III.
Beschneidung I 265 f., II 113 f.; Be-
schneidungsfest I 274.
Beschwichtigungshandlungen II 129.
Beschwörung I 6, 114, II 151, der
Krankheit II 26.
Besessene, Besessenheit I 153, 162,
176, II 14.
Bestechung Gottes durch den Pr.
I 108.
Betäubung I 128.
Betel, Kaugift I 213.
Bethe, E., über dorische Päderastie
I 28.
Bettelorden II 109; Bettler, priester-
licher I 16, 75.
Betrüger I 117, 136.
Bewußtseinszustand, veränderter I
130; bewußte Seelentätigkeit II
76ff.
Bibel, als Urkunde II loöff. ; als
Orakel II 88.
Bier I 220, 293.
Bilderstürmer II 125,
Binet, Psychiater I 159.
Bins wanger, über Hysterie I 170.
Biologie II 244.
Bischof I 248.
Bismarck II 206.
Blavatsky, Frau, Theosophin II 43,
95-
Bück, der böse I 140, 234.
Blut, als Farbstoff I 211 f.; Blut-
trinken I 288.
Bonus, Arthur, über d. Kirche II
256f., 261.
Bossuet II 107.
Bousset, Wilh. I 92, II 181.
Botanisches Wissen des Pr. II 172.
Brahmane I 15, 46, 66, 93, 249, 303,
II 62, 165, 170.
Brautlager, d. heihge I 201, 279, 283.
309
Breuer, Neurologe I 170, II 287 f.
Briefe, paulinische I 38.
Brüder, tanzende I 172.
Brunstzeit I 199.
Buchenstäbchen, Orakel I 114.
Bücher, Karl, über Arbeitsvereinig^ng
I 72, über Rhythmus I 208 f., über
Gesang II 150!
Buddha I 45, 61, 64, 188, 194, 308,
II 59, 71, 206; Buddhismus I 221,
301; Buddhistenheihge I 133; Bud-
dhistenmönche I 66.
Bünde, religiöse I 73 f., loi, 267,
II 248ff., 290, 294; Bundesfest
I 288 ff.; Bundeslade I 86, 97;
Bundesopfer I 287 ff.
Buschan, Ethnologe I 112.
Bußübungen II 128, 237.
Cäsar I 177.
Caghostro II 53, 196.
Camorra I 102.
Chaldäer II 92.
Charakter, d. hysterische I 171.
Charcot, Psychiater I 176, II 36, 38.
Charlatan II 35, 187, 305.
Chirurgie II 5.
Chlüsten, russische Sekte I 210.
Chor, Raum in der Kirche I 301.
Choral II 152.
Chorea I 153.
Chorführer I 299.
Christus, Kultgott I 274, 286; christ-
üche Wissenschaft II 34.
Cicero II 107.
Comte, A. II 250, 265.
Cornaro, über das Fasten II 212.
Cosmas und Damian II 24.
Dämmerzustände I 183.
Dämonenaustreibung II 27, -glaube
II 2331
Daimonion des Sokrates II 89.
Dalai Lama I 46.
Dante I 149.
David I 85, 285.
Davis. Spiritist I 175, 182, II 95.
Debora I 28.
D6g6n6r6 superieur I 184, 203.
Dekane I 248.
Dementia praecox I 132, II 83.
Demeter und Köre I 202.
Demodokos II 154.
Demosthenes II 107.
Derwisch I 14, 309, II 57, 155, 178.
Despotismus II 52 ff., 249 f., 252, 258.
Dewey, Arzt I 193.
Diagnose II 22.
Dialektik II 168.
Diät I 203, ungesunde II 177, gegen
den Zweifel II 237; Diätpropheten
II 210; Diätverordnungen II 176;
reügiöse I 192 ff.
Dichter II 171, 198.
Dieterich, A. I 26, 92, 161, 286.
Differenzierung des Priesterberufs
I 76.
Dionysos I 176, 202. 223, II 71.
Dionysosdienst I 122, -kult I 22of.
Diplomat, Pr. als I 12.
Dirne, heihge I 25.
Disharmonie I 33!., II 225.
Dithyrambus II 152.
Dogma I 9. Dogmatik II 117, 229ff.,
261 ; Dogmensysteme I 156, 158.
Domherren I 248.
Dominikaner I 75, II 107.
Don Quixote I 159, II 304.
Doppel-Ich I 158 ff.
Drama I 2iof., 285f., II 137, 148, 264.
Dryade I 145.
Dualistische Lehre I 34.
Dubois, Paul II 36, 285, 296ff.
Düfte, himmlische und höllische I 222.
Eddy, Mrs. II 97.
Egoismus der Einsiedler I i8.
Ehe II 221, 297, geisthche I 210;
Ehelose I 30, II 292!.; Ehe-
schließung II 272.
Eid I 112 f.; Eideshelfer Im; Eides-
handlungen I 112 f.
Eigentum I 102 f.
Einbalsamierung II 172.
Einbrüche I 167, II 75.
Einfühlung II 123.
310
Eingebung I 138, I46ff., II 265.
Einheit, mit Gott II 287.
Einsamkeit II 225, als Rauschmittel
I i94f.
Einsiedler II 62, 166, 292.
Ekstase I 114, 129, 178 f., 186, II 76,
81. 93. 236, erotische I 202; Eksta-
tiker I 32, 148, 155 f., 184, 211,
II 176.
Eüas I 61. II 73 f.
EUis, Havelock I 199.
Emmerich, Katharina I 175.
Empedokles II 73. 166, 191 f.
Empfängnis, Verhinderung der II 10 f.
Engelhardt, A. II 213.
Engelmachen II 10.
Entartung I 130 ff., 200; Entartungs-
irresein I 132.
Entbehrung I 218.
Enthaltsamkeit I 203, 269, II 2 15 ff. ;
Enthaltung II 113, 135.
Entheos I 176; Enthusiasmus I 176,
II 126, ijjii-, 182, 186, 195, 202.
Entsagung I 266 ff., II 199 ff., 225,
256; Entsagungsbräuche I 268.
Entwicklungskrankheit I 133, 135.
Entziehungserscheinungen I 217.
Entzückungen I 149.
Epheben I 265, II 114.
Ephod I 113.
Epidemien, reügiöse I 172.
Epilepsie I 176 f.; Epileptiker I 215.
Epiphanie I 221.
Episcopus, summus I 82.
Epos I 211, II 1581
Erdspalte, in Delphi I 224.
Eremit I 145, 210, II 62.
Erleuchtungen I 138, 155, II 83.
Erlösung II 133, 164, 289.
Ermüdung I 218, Gefühl der I 188.
Ernährung 1 189 ff., -Störungen II 194 f.
Erotik I 189, I98f., II 196.
Erregung I 125, 128, erotische, II 194,
und Betäubung II 113, 175 ff.
Ersatzbefriedigung II 132.
Erscheinungen, Visionen I 147.
Erschöpfung I 131, II 203; Erschöp-
fungszustände I 122.
Erweckungsbewegung II 256, -sekten
I 165, 175, II i77f., 185, 20g,
-Christen II 83.
Erziehung des Priesters II 241 ff.,
durch den Pr. II iioff., 224, 295.
Eschatologen I 185.
Esra I 86.
Evangelisten II 171.
Exerzitien, kathoüsche II 176, 237.
Exorzismus, Exorzisten II 27, 40.
Exzeß II 225,
Fahrende, im Mittelalter II 57, 155.
Fakir I 133, 173, II 57, 155.
Fanatiker I 138; Fanatismus I 41 ff.,
II 209.
Farbe, ihre Rauschwirkung I 211 f.
Fasching II 138.
Fasten I 130, 191 ff., 218, II 26, als
Opfer I 266 ff. ; Fastengebote I 193;
Fastenideal II 2i2f. ; Fastenregeln
II 117; Fastenzeit II 138.
Fehme I 102.
Feldscherer II 5.
Fere, Psychiater I 159.
Fem Wirkungen I 235, II 265.
Fest, reügiöses I 271 ff., 294, II 127;
Festordner I 299 ; Festorgien 1 190 f. ;
Festtänze I 6.
Fetisch 16, iii, 113 f., 202, 238,
256f., II 145.
Feuerproben I 113.
Feuertod I 116.
Fibuherung II 114.
Firmung I 274, 286, II 113.
Fleischgenuß I 190.
Flughalluzinationen I 149.
Förster, F. W. II 205!., 255 f., 263,
297.
Forel, A. I 181 f.
Formen, rehgiöse II 272.
Forscher, Forscherberuf I 6, 253.
Franz v. Assisi I 41, II 17; Franzis-
kanerorden I 75.
Frau I 21, 23, 24, II 83; als Priester
I 2iff. ; als Arzt II 7, 9!, Verhältnis
zum Priester I 169, II 222 f.;
Frauenbewegung II 293.
311
Freiheitsgefühl II 1750.
Freikirche II 249, 258, 26of.
Freimaurer II 287, -bund I 74 f., II
261, 269; -Sprüche II 272.
Freud, S. I 32, 151, 170, 197, 199,
II 71, 79f., I28f., 218, 285 ff., 296 ff.
Friede will der Pr. I 19; Friedens-
häuptüng I 80 f., 117; Friedens-
pfeife I 218.
Friedmann, Psychiater I 136.
Frobenius, Ethnologe I 27.
Frömmigkeit I 128.
Fruchtbarkeit der Frau II 11 ; Frucht-
barkeitszauber I 25, 282, 299.
Furcht I 188; s. auch Angst.
Ganga I iii,
Gaukler II 12, 57, i54f.
Gebärmutter I 170.
Gebet I 114, 207, 240, 285, 311,
II 121, als Heilmittel II 7; Gebets-
mühlen II loi, 133.
Geburt II 272; Geburtsdämonen I 23;
Geburtshilfe I 274, II 10.
Geheünbünde I 74, 92, 102, 247,
II 38, 41; s. auch Bund.
Geheimkulte I 92.
Geißeln, Geißelung I 130, i96f., 240.
Geist II 223 f.; Geisterbeschwören I
230, Geistererscheinung I 193,
-Sprüche I 179, -Zitierung II 25;
Geistesgaben II 179, -krankheit
I 2131, -Störung I 122; Geistigkeit,
reine I 32.
Gelübde II 38, 55 f., 242 f.
Gemeindefeste I 300 f., -gesang II 125,
-kult I 247.
Gemeinschafts bewegung II 179, -bil-
dung I 59, 246 f., II 252 ff., -leben
I 276ff.
Gerechtigkeit I 108; Gericht, jüngstes
II 295 ; Gerichtsverhandlung I 1 1 1 f .
Geruchshalluzination I 149, -sinn I
222f.
Gesang, gemeinsamer II 270.
Geschichte, als Wissenschaft II 1 1 7, 1 70.
Geschlechtsakt I 25, 200 ff., 268, -losig-
keit I 31.
Gesellschaftsschichten II 66 f.
Gesetz I iio, als Predigttext II 105.
Gesichtsmaske I 54; s. auch Maske.
Gestammel I 185 f.
Gestirnkult I 276ff.
Gesundbeten II 186.
Gewänder, heihge I 259.
Gewissen II 45, 89, 286.
Gewohnheit I 263, II 132 f.
Gewürz I 190, 222 ff., -opfer II 195.
Gift I 211 ff., II 113, 177, 226; Gift-
trinken I 113.
Glaube I 139, 236, II 96, i2of., 168,
229ff., 261, 301.
Gleichnisse Jesu I 40.
Glocke II 149.
Glücksspiel II 135.
Goethe I 95, II 195, 206.
Goldscheider, Physiolog I 131.
Gott, als Arzt II 2; Götterglaube
l238f., -kämpf II 19, -wahn II 187;
GotterfüUtheit I 215; Gottesbilder
I 88, -dienst II 104, -gnadentum
I 78, -Staat I 93 ff., -urteil I iiif. ;
Gottkönig I 78, 184, 246f., II 25off.,
-mensch II 266, -sehgkeit I 128.
Graß, über russische Sekten I 210.
Grimm, Jakob I iii, 252.
Grimme, Hubert II 157.
Größenideen I 141, -wahn I 139, 141 f.,
215.
Groos, Karl I 212, II 122, I26f.
Grosse, H. I 212, 260, II 141.
Grußformeln II 97.
Gunkel, Theologe I 92.
Guslaren II 154.
Guyau, J. M. I 237, II 236f., 250, 264.
Haare I 26of. ; Haarscheren I 261,
-tracht 260 ff., II 142.
Hahn, Ed. I 22.
Halluzination I 134, 145 ff., 154, 185,
II 75 ff., 130 f., 287.
Handauflegen II 7, 113.
Handlungen, heilige II 117, 248 f.,
263 ff. ; s. auch Kult.
Hanf I 196, 216.
Hanswurst II 156.
312
Haoma I 293.
Harlekin II 156.
Hamack, Ad. II 27.
Hartmann, E. v. I 152.
Haruspices II 90.
Haschisch I 216.
Hausgötter I 115, -vater I 77, 302.
Havenstein, M. I 37.
Hebamme I 274, II 9.
Hedschra II 70.
Heidnisch, als Begriff II 184.
Heiland I 226, 230, II 12, 253, 289;
Heilbringer II 20 f. ; Heilgötter II 24.
Heilige, religiöse I 31, 197, 270, II 205;
heiüge Krieg I 65, — Schrift I 113;
Heihgung I 159.
Heilmagnetiseur II 29; Heilmittel I
191; Heilsgut I 193, 229, II 182;
Heilverfahren II 2, -weise I 115.
Heilsarmee I 186, II 178, 198, 206,
209, 258.
Heiratsbräuche 1 200 ; s. auch Hochzeit.
Hektor II 88.
HeUwig, A. I 104.
Henker, II ji.
Herakht I 285.
Herodot I 25 ff., 114, 116, 196, 262,
II 22, 48, 79, 91, 152, 171, 262.
Heroengrab II 98, -kult II 266 f.
Heroismus II 65 f., 126, 203, 209, 285.
Hesiod II 106, 118, 171.
Heuchelei, Heuchler II 43 f., 305.
Hexe I 19, 22, 24, 173, II 9f., 40;
Hexenmale I 174.
Hierarchie I 66.
Hierodule I 25.
Himmelfahrten I 149.
Hieb I 119, II 17.
Hippokrates II 21, 38.
Hochzeit II 305; Hochzeitsbräuche
I 26, 205 f., 283, II II, -fest I 274,
-gesänge I 205 f.
Hoensbroech, Graf Paul II 235.
Höfler, Ethnologe II 13.
Hofprediger I 249, II 58 f.; -zeremo-
niell I 56, 78.
Hof Schläger, über Anfänge d. Medizin
II 31.
Hohe Lied Salomonis I 205 f.
Höllenfahrt I 149.
Homer I 293, II 85. 88, 106, 118. 162,
171.
Homöopathie II 7, 22.
Homosexuell I 28f., II 2i8f.
Honigtrank I 213.
Hopf, L. II 24.
Horneffer, E. I 243, II 254, 276.
Hostie I 279.
Hufeisen II 8.
Hungerkur, Hungerkünste I 32, 133,
162, 192 ff., 240.
Hybris II 227.
Hymnenl 23of., II i02f., 152, 168, 265.
Hypnose I i63ff. ; Hypnotisierung
II 99 ff.
Hysterie, Hysteriker, hysterische Er-
scheinungen I 24, 31, 131, 135, 159,
168, 195, 215, II 43f., 83, 135, 178.
Idealismus I 62, 67 ff.
Ideenflucht I 191.
Ignatius v. Loyola I 41, II 207.
Illusionen I 145 f.
Imhotep II 24.
Imperativische Halluz, I 147.
Incubus I 148.
Individualist I 253; Individuation
I 154-
Indra I 220.
Inkarnation I 221.
Inspiration I 153, 185, II I92ff.
Instrumente, Musik- II 149 f-
Iphigenie I 290.
Isis II 24, 37.
Islam I 221.
Jagdtänze I 208; -tiere I 16.
Jahreszeitenfeste I 2 76 ff., -kult I 201,
298 f., -tanze I 208.
James, W. I 8, 34, 154, 155, 157, 165,
II 236.
Janet, Pierre I 17!., 159.
Jaques-Dalcroze II 271.
Jeanne d'Arc I 28.
Jenseits I 106 f.
Jephta I 289.
313
Jesaias I 6i.
Jesuiten, -orden II 50f., 107, iio, 168,
20'ji., 258.
Jesus I 37 ff., 61, 63 f., 109, 148, 156,
192, 221, 230, 255, 308, 309, 310,
II 12, 27ff., 40, 59, 71, 113, 135,
182, 205 f., 209, 221, 225f., 234,
238f., 254, 257, 2581. 268, 295.
Johann v. Kronstadt II 187.
Johannisevangelium I 38, II 96.
Johnson, rel. Hochstapler II 43.
Jokulator II 155.
Josef II 80.
JoumaUst II 282.
Jugend, hat Beichtbedürfnis II 290,
-bildung II 276 f., -fest (s. auch
Pubertätsfest) I 274, -irresein I 135,
-weihe II 113 ff.
Jung, Psychiater I 159, II 83.
Jungfrau, rel. I 25 f.; Jungfrauen-
kinder I 27.
Junggesellen II 291 f., -haus II 292.
Jurist II 281 f.
Jus, primae noctis II 11.
Kabbaiist II 108.
Kaffee I 213, II 195.
Kaiserschnitt II 172.
Kalender II 170.
Kampf, im Menschen I 125, II 25,
-spiele II 132, 137, -Instinkt I 17.
KannibaHsmus I 288 ff., II 172.
Kant, I. II 231.
Kanzel II 109, 146.
Kapseln, Gebets- II 10 1.
Karagöz II 156.
Kardec, Allan I 175.
Karl d. Große I 93.
Kartenlegerin II 86, -Orakel II 80.
Kaste II 112.
Katalepsie I 153.
Katechismus II 117 f.
Kautzsch, Theologe I 85.
Kawawurzel I 180, 219.
Keppler, Bischof II 234 f.
Kerschensteiner, Georg II 241.
Ketzer I 89, -richter I 70, -verfol-
gfungen I 250.
Keuschheit I 203, 268, II 177, 216 ff.
Kindeskeim I 26.
Kirche I 82 f., 90, 96, II 146, 247 ff.,
265; Kirchenfürst I 15, 46, -väter
II 1671
Kleid, Kleidung I 258 f., 275, II 196.
Kleinheitsideen I 141.
Klimakterium I 160.
Klingsohr II 196.
Kloster II 207, -schulen II 117.
Koka, Kokain I 213, 216.
Kola I 213.
Kommunion I 275, 29of., II 114, 176,
184, 257, 264, 267.
Komponist II 148.
Konfirmation I 274, 286, II 113, 176,
247, 273 ff.
Konflikte II 287, 290.
König, und Priester I 95ff. ; Königs-
gräber I 78, -palast II 144.
Konservativer Sinn I 56 ff.
Koran I 146, II 72, 117.
Kosimpu I 148 f.
Kot und Urin II 2gi.
Kraepelin, Psychiater I 136, 215 f.
Krafft-Ebing, Psychiater I 197.
Krämpfe I 153, 181.
Krankheit II 2, i2ff. ; Krankheits-
dämon II 14, -merkmale I 124,
-Übertragung II 21 ; Krankenheilung
II 3, -pfleger II 292.
Krauss, F. S. II 154.
Krieg I 276, 300, II 70; Kriegshäupt-
üng II 250, -tanze I 147, 206, 208.
Krise, reügiöse I 4.
Kruzifix I 6, 113 f., 257.
Kult I 238f., II I5ff., 247ff., 263ff.,
-feste II 26gi., -gebrauche I 201,
-handlungen I 6, 232, 277 ff., -pfleger
I 226, -statte II 144, -Übung II 168.
Kunst I 36, II I39f., I97f., 264, 269,
306, -werk II 271; Künstler I 253,
II 83, 193 ff., 221.
Kur I 115, II 22, -orte II 37, -pfuscher
II 7. 33. 187.
Kuß II 28.
Kybele I 282.
Kyros II 71.
314
.Lähmungen I 153, 191, II 81, 287.
Laienkelch II 125.
Lanze, heilige II 8.
Lasch, Ethnologe I 112.
Lebensreformer II 209, -regeln II 105,
-weise II 194, -wille I 228.
Lehmann, A. I 173, 251, II 95.
Lehre II 182, 261; Lehrer II 274 ff. ;
Lehrlingsschlag II 114, Lehrver-
pflichtung I 9, -zeit II 113.
Leviten I iio.
Liebe I i8f. ; Liebeszauber I 267.
Lied I 206 ff., 211, II i5off.
Linoslied I 143.
Lippert, Julius I 8, 63, 65, 223, 246,
249, 309.
Liturgie II 247.
Löwenfeld, Neurologe II 35.
Lombroso, Psychiater II 188.
Lorbeer I 223, -kauen II 195.
Lorenz, Übersetzer von James II 236.
Los I 113, -Orakel I ii4f., II 88.
Lourdes II 36 ff., -wasser II 7.
Lublinski, Sam. I 37, 92.
Lucian I 50.
Lüge II 50 f.
Luperci I 283.
Lustempfindungen I 132.
Lustration I 263 f.
Luther I 41, 61, 64, 66, II 67, 94,
126, 157, 168, 179, 207, 253, 294.
Lyrik II 158.
Männerbund I 21, 29, 81, 162, 202,
II 9.
Märchen II 159.
Märtyrer I 173.
Magier II 92.
Magnus, über rel. Medizin II 34.
Mahl, gemeinsames I 205; s. auch
Abendmahl.
Mannbarkeit I 265, 267.
Mannhardt, Wilh. I 281, 293, 299,
II 138.
Mantis II 91.
Manus Gesetzbuch I iii.
Marcinowski, Neurologe II 296, 301.
Marduk II 24.
Maria v. Magdala II 135.
Mariner über die Tongainseln I i8off.
Maske I 12, 49, 98, 177, 283f., II 41 f.,
138, 144, 196, 268; Maskentänze
II 156, -verfertiger I 299; Mas-
kierung I 102, II 26.
Masochist I I97f., 210.
Massage II 30.
Massensuggestion I 172 f., -Zeremonie
II 121, 124.
Masturbation I 31.
Matabulen I 180.
Maurenbrecher, Max I 92.
Medium 1 i35f., 172, i78f., 181, 184,
II 47 f., 49, 82,
Medizinmann I 163, 172, II 72; -weib
II 7, gi.
Meineid I 112.
Menschenfett I 190; -opfer II 172,
-typus I 4.
Menstrualblut II 9; Menstruation I 23.
Mereschkowski, Dmitri II 250.
Merker, Ethnologe I 80.
Mesembryanthemum I 213.
Messe I 306, II 109, 121, 123, 134, 152,
247, 264.
Met I 220, 293.
Metaphysik I 229, II 240.
Meyer, Ed. I 84, II 75.
Mikado I 117.
Mißhandlung I 122.
Missionar I 6.
Mitleid I 19!
Mittler I 135.
Modemisteneid II 51.
Möbius, P. I 123.
Mönchsorden I 195.
Mönkemöller, Psychiater I 175.
Mohammed I 61, 64, 66, 122, 146,
149, 177, 185, 308, II 72f.
Moiren I 28.
Moll, Psychiater I 31.
Monomanie I 158.
Moralpredigt II 246, 271, -theologie
I 31, II 50, -Unterricht II 275.
Mormonenapostel II 179.
Morphium I 213, 2 15 f.
Moses II 71.
Motette II 152.
Mozart II 264.
Müller, Joh. II 253, 261, 263.
Mumien II 8.
Munsa I 285.
Musik I 2iof., II 26, I49ff., 168, 186,
197 f-
Muskelzuckungen I 181.
Mutterrecht I 21.
Mylitta I 25.
Myrrhen I 222.
Myste I 143; Mysterienkulte I 285 f.,
-Sekten I 74, 161 ; Mystik I 149,
II 167; Mystiker I 127, I54f., 184.
Mythologie I 146, 227 ff., II 117, 154;
Mythus I 232 f., 239, 241, 262,
II 144, 158, 164, 2671
Nabelschnur II 9.
Nachahmungsspiel II 137.
Nachgeburt I 23, II 9.
Nächstenliebe II 202, 227.
Nacktkultur II 208.
Namensfest I 274; Namengebung
II 116.
Napoleon I 55, 177.
Naturapostel I 127, II 210, -arzt
II 209, -empfindung I 227 ff.,
-gemäße Lebensweise II 208 f., -heil-
kunde II 7, -Wissenschaften II 168,
172.
Ndembobund I 161.
Nebiim I 85, II 73, 82.
Nehemia I 86.
Nektar I 220.
Nervenzufall I 129.
Niesen II 29.
Nietzsche, Fr. I 19, 44, 55, 124, 136,
295, II 631, 75, 163, i9off., 195,
2I2f., 221, 235f., 245, 250, 270, 289.
Nikotin II 194.
Nonne II 292.
Norm II 228, 298.
Obeüsk II 147.
Odyssee II 154; Odysseus I 149.
Ödipus II 71, 165.
Ölung II 28, 121.
316
Offenbarung I 128, 146!, 150, 152,
I55ff., 167, i8of., I93f.. II 72f.,
75, 107. 166, 179, 258, 304; Offen-
barungsglaube II 84, 229 f.
Offizier II 280.
Ohnmacht I 184.
Ohrenbeichte II 294, 299.
Okkultismus I 173, II 95.
Oldenberg, H. I 248, 264.
Omina II 86, 88 f.
Onanie 1 200, 202, II 194.
Opfer I 65, 114, 193, 220, 269 f., 287 f.,
292ff., 302, 304f.. II 23, 132, 135,
200, -gedanke I 265 f., 304 f., -gerate
I 201, -handlung I 241, 304f.,
II 133, -mahl I 222, 279, II 113,
-Orakel II 90 f., -schauer II 90 f.,
-tod Gottes I 306.
Opium I 216.
Orakel I 113, 129, 150, 179, II 78,
84ff., 88, -anfaU II 47f., 83, -betrug
II 45, -männer II 87 f., -priester
I 114, 179, 182, 209, 219, -statten
II 87.
Orchestra II 147.
Ordal I Ulf., 114.
Orden II 112; Ordensleute II 292.
Ordination II 113.
Orenda I 234, II 96.
Orgel II 149.
Orgiastische Kultbräuche II 132;
Orgien, sexuelle I 200, 206.
Ornament I 275, Ornamentik I 259 f.,
II i4iff., 151.
Orpheus I 149.
Osterfest I 301.
Pagel, über rel. Medizin II 34.
Palast, als Tempel I 78.
Fan II 149.
Pantomimus II 271.
Papst I 46, 96, 118, II 67, 250, 253ff.,
258, -tum II 54.
Paracelsus II 95.
Paränese II 285, 296.
Paranoiker I 138.
Parkinson, Ethnologe I 74, 247 f.
Partei, klerikale I 89.
Pastor I 72.
Pathographie I 123.
Pathologie I 122; Pathologisches beim
Pr. I 30.
Patriarch I 77, II 283.
Patroklos II 136.
Patronat I 248.
Pauke II 149.
Paulus I 38ff., 65, 122, 156, 161 f.,
177, 265, II 206, 221, 225 f., 259.
Persönhchkeit, Spaltung der I 158 ff.
Pervers I 130, 197; Perversion I 28,
200, II 194, 218; Perversität II 113.
Pessimist I 33.
Petras I 94, II 156.
Pfaffe II 304.
Pfingstfest I 301.
Pflanze, als Heilmittel II 14 ; Pflanzen-
gifte II 172, -opfer I 293 f.
Pfleiderer, Otto II 81 f.
PhaUos I 283, "Prozessionen I 202.
Pharao II 40, 80.
Philosoph, Philosophie I 230, II 106 f.,
166, 231.
Physiolog, Priester als II 172.
Pilsudski, Ethnolog I 148.
Pitcheriwurzel I 213.
Piaton I 42, 168, 220, II 21, 5off.,
II io6f., 131, 166, 218, 257.
Plönies, Psychiater I 192.
Ploß-Bartels II 10.
Podaleirios II 38.
Pontifex maximus I 63, 93, 248.
Pope I 299.
Posaune II 149.
Post, Ethnologe I iii.
Prediger II 166 f.; Predigt II I04ff.,
240, 261.
Presbyter I 72.
Prel, du II 95.
Preuß, K. Th. I 232, 277, 279!, 281,
II 29, 42, 141, 156, 171.
Priesterarzt I 117, II 5, -famihen I 14,
-häuptling I 75, -könig I 77 f.,
-Staat I 90, -tyrann I 49, 184.
Privatpriester 1 246 ff., II 3 ff., 74, 1 86 ff.
Prophet I 61 f., 66, 86, 99, 127, 253f.,
II 73; prophet. Gabe I 173.
Prozession I 282, II 152.
Psalmen I 231, II 103.
Psychoanalyse I 170, II 288, 296 f.
Psychologie I 68.
Psychotherapie II 6, 32, 35, 285.
Pubertät II 272; Pubertätsfest I 161,
274, 286f., -zeit I 135, i6off.
Pyramiden II 147.
Pythagoras I 194, II 71, 106, 166.
Pythia I 27, 177, 179, 184, 186, 192,
223f., II 47ff., 81 f., 195.
Quellen, heiUge I 224, therapeutische
n 37-
Rache I 16.
Radenija I 210.
Rangklassen I 76.
Rank, Otto II 71.
Rassenhygiene II 217.
Räucherung I 264; Räuchergebräuche
II 195-
Rausch I 126, 129, 130, 136, 189,
204ff., 215, II I75ff., 195, 211,
236f., -erhöhung II 292, -gifte I 127,
189, 294, -mittel I 128, 212 ff.,
-pflanzen I 293, -tanz II 177,
-technik II 113, -trank I 220, -trieb
I 128, 193, -zustand I 114, 122.
Reaktionsfähigkeit II 202, 211.
Reformator I 253.
Reich, H. II 156.
Reigen II 271.
Rein, Pädagoge II 275.
Reinheit II 203 f.
Reitzenstein, Ethnologe I 26.
Reiz I 131, II 211.
ReHgion I 123, 249ff., 254f. ; Reü-
gionsforschung I 8, -mischung I 91,
-typus I 295, -Unterricht II ii4ff.,
274 f.
Rehquie I 78, 202, 302, II 8f.
Responsorium II 103.
Reue II 289.
Rhapsode II 154!, 282.
Rhea I 282.
Rhjrthmus I 204ff., 2o8ff., II 149.
Ribot, Psychologe I 159.
Richer, über Hysterie I 176.
Richter I 104 ff.. II 281 f.
Ritterorden I 74 f., -schlag I 267.
Ritus II 247 ff., 263 ff.
Rock, heihger I 98 f.
Rohde, Erwin I 202, II 162.
Rolandsäule II 147.
Rosenkranz II loi, 128.
Rosse, heiüge I 150.
Rousseau II 279.
Rute, Lebens- I 265 f.
Sagenkunde II 117.
Sakrament, s. Abendmahl, Taufe usw. ;
Sakramentsschrein II 146.
Salbe II 7; Salbung I 85, 222, II 113.
Salier, Priesterkollegium I 248.
Salomo I 86.
Salz II 226.
Samuel I 85 f., 93, II 73.
Sappho II 98, 152.
Satyr II 156.
Saugen, als Heilmittel II 30.
Saul I 851, 93. II 73.
Savonarola II 126.
Schamane I 15, 127, 145, I48f., 173,
177, 258, II 25, 72, 113.
Schauspieler I 52.
Scheinhandlungen I 278f., II 132.
Schiller I 208, II 127, 195.
Schlaf I 125, 188, i94f. ; Schlaflosig-
keit I 218, II 194, 196, -wandeln
I 128, 195, II 83.
Schmied, als Pr. II 7f.
Schmuck I 258f., 260, 275, II 141 f.
Schnabel, H. II 235.
Schnyder, Psychiater I 134.
Schoen, über Berauschungsmittel
I 213.
Schopenhauer, A. II 217.
Schreiber, heihge II 171.
Schröder, L. von I 282.
Schuldbewußtsein I 240, -gefühl I 268.
Schule II 275 ff., 291; Schulmeister
II 128.
Schurtz, Heinr. I 22, 74, 161 f.
Schwally, Theologe I 300, II 73.
Schweigegebot I 194 f.
318
Schweinfurth, Ethnologe I 190.
Schwert I 113, II 151, -tanze I 282.
Schwestern, ehrwürdige II 248.
Sch\viegermutter, als Hexe I 22,
Schwirrholz I 21, II 149.
Schwitzen, als rel. Leistung I 195 :
Schwitzhütten I 195 f.
Seele I 237!., 272, II i4f. ; Seelsorge
II 224, 273 ff.
Segvers II 157.
Seher II 85, 154, -innen I 27.
Seiunktion II 286 f.
Sekte I 133, 210, II 256ff. ; Sekten-
stifter II 186.
Selbstmißhandlung I I96f., II 132,
-Zerstörung I 36, 132, II 215.
Serapis II 37.
Sexualität I 129, I98ff., 204, II 223;
Sexualleben I 170, 218; sexuelle
Abhängigkeit I 22 f., -Nöte II 297 f.
Sibylle I 178, -inische Bücher II 88.
Simson I 260, II 73.
Simulation I 178, 181 f.
Sin II 24.
Sinnestäuschung I 128, 136, 145 ff.
Skythen I 114 ff.
Smerdis I 87.
Smith, Robertson I 288, 290.
Sokrates II 106, 166, 226 ff., 295.
Soma I 220 ff., 293.
Somnambule I 164.
Soziahsten II 210.
Spaltung des Bewußtseins II 135.
Spannungen II 287 f.
Speichel als Heilmittel II 28 f.
Spekulation II 168.
Spencer, H. II 127.
Spiel I 2o8f., 302, II I22ff., 263f.
Spiritismus I 173, 180, -ten I 175, 178,
II 83, 186, 209.
Sport II 135.
Spruch II 271; s. auch Zauberspruch.
Staatskult I 82, 115, II 260.
Starbuck über Bekehrung I 160,
II 177.
Steinen, K. v. d. I 16, II 143.
Steinmetz, Ethnologe I 13 f., 81.
Stekel, Neurologe II 288.
Stigma I 24, -tisierung I 175.
Stimmen (Halluzinationen) I 145 f.,
150, II 76, 175.
Stimmung II 194.
Stoiker I 195, II 17.
Stolgebühr I 249.
Stoll, Otto 1 172, 175, ij6i., 200,
II 141.
Strafe, der Gottheit I 118.
Substanzen, Zauber- II 12 f.
Sühnopfer I 305 f.
Sünde II 286, Sündenbock I 116,
-gefühl I 143.
Suggestion I 162, i64ff., II 96ff. ;
SuggestibiUtät I i66ff. ; Suggestiv-
kur II 34 f.
Swedenborg I 149, 160.
Symbol I 50, 191, 222, 259, II 137,
145, 165, 267.
Sympathiemittel I 236.
Tabak I 213, 2i8f., 266, II 30, 195,
208.
Tabu I 103, 269, -Vorschriften I 6.
Tacitus I 27, 88, 114, 207, 219, II 92 f.,
200.
Tätowierung I 259 f., 275, II 114,
142 f.
Tahsman I 256 ff., 287.
Talma I 55.
Tanz I 130, 201 f., 204ff., 223, 240,
273, 276 ff., II 26, 113, 117, 120 ff.,
1471, 265, 268.
Taschenspielereil 133, 180, II 155, 186.
Tasthalluzination I 148.
Tatrausch I 210.
Taube, im N. T. I 289.
Taufe I 161, 26^i., 274, 311, II 113!,
116, 247, 273; Taufbecken II 146,
-handlung II 133.
Telepathie I 180.
Tempel I iio, 201, II 98, 144, i46f.,
"Prostitution I 25, -schlaf I 150,
II 23, 49.
Testament, Altes I 84, iio, 181, 205,
Neues I 165, 173, 255, II 107, 167,
177, 179.
Theater II 164, -bauten II 147.
Theokratie I 78 f., 99.
Theologe I 15, II 239; Theologie II181.
Theosoph I 179, II 83, I78f.. 186.
Theosophie I 180.
Thyrsusstab I 224.
Tiberius II 92.
Tier I 283, -kult I 276ff., 298 f.,
-tanz II 137.
Tischrücken I 178.
Toast II 267.
Tod I 129, II 272; Tote, der I 103;
Totenbräuche II 132, -feier II 122,
i36f., -fest I 271 f., -gericht I io6f.,
-klage I 272, 290, -kult I 196, 273 f.,
-priester I 273 f.
Toleranz I 42.
Tolstoi, Graf Leo I 160, II 190, 206,
2o8f., 217, 253.
Tonsur I 262, 267.
Totemismus I 287; Totemtier I 288 ff.,
II 144.
Tracht I 262.
Tragödie II 131, 148.
Trance I 114, i78f., 181, 184, 192,
-anfaU I 186.
Trankopfer I 220.
TrasuUus II 92.
Trauerbräuche I 2 72 f.
Traum I 128 f., 149 ff., 154, 157, 195,
241 f., II 77, 79ff., 130 f., -deuter
I 76, II 8of., -grammatik II 81,
-kult I 192.
Trauung II 247, 273.
Trine, R. W. II 97, 253.
Trommel II 149.
Tylor, Ethnologe I 122.
Umzug, Prozession I 301, II 270.
Unbewußtes Seelenleben I 151 ff.,
II 77f-, 85-
Unempfindlichkeit I 173 f.
Unerforschlichkeit I 118.
Unfruchtbarkeit II 11.
Unglücks Vorzeichen I 270.
Unheilswahn II 75.
Unio mystica I 286, 295, II 264 f.
Unrein, als Begriff I 270.
Urchristentum I 254 f.
319
Ursprung, der Religion I 232.
Usener, H. I 201, 246.
Vampyr II 16.
Veden II 102 f., 117.
Vegetarier II 209; Vegetarismus
II 194, 2ioff.
Vegetationskult I 276ff., 298!
Veitstanz I 128, 191.
Velaeda I 27.
Verdrängung II 298.
Verfolgungen, der alten Christen I 63.
Verfolgungswahn I 139, 141 f.
Vergeistigung II 297 f.
Vergiftung I 122.
Verkündigungsschema II 75.
Vermischung, unio I 289.
Verrücktheit I 122.
Versenkung I 180, II 179.
Versittlichung der Religion I 57 f.
Versteinerung der Kultur I i3off.
Verstümmelung II 135.
Versuchung II 132, 135.
Versündigungswahn I 142 f.
Vervollkommnung I 128.
Verwandlung I 126, 162, II 42.
Verworn, Physiolog I 131.
Verwünschung I 240 ; Verwünschungs-
formel II 97.
Verzicht II 200.
Vestalinnen I 27.
Vierkandt, Alfred I 232, 235, 243.
Virtuose II 167.
Vision I 147, 185, II 77, 175; Visionär
I 148.
Volksgewissen, Priester dessen Organ
I 116.
Vorbedeutungen II 82.
Vorbereitungszeit I 162.
Vortänzer I 299, II 148.
"Wachen (Schlaflosigkeit) I 130, 195;
Wachhalluzination II 81.
Waffen, ihre rel. Bedeutung I 258.
Wagner, Richard II i96ff., 210, 212,
269.
Wallaschek, über Musikinstrumente
II 149.
Wahnbildung I 128, i36ff., -idee 1 134,
154, -kranker II 233, -sinn I 165,
-Vorstellungen II 130 f.
Wahrheit I 68.
Wahrsagung I 114, II 9, 86 ff., 186.
Wallfahrt I 240, II 135, 237; Wall-
fahrtsort II 37 f.
Wanderprediger II 282.
Wappentiere II 144.
Waschung, religiöse I 263 f., II 127.
Wasser des Lebens I 224; auf dem W.
wandeln I 148; Wasserproben I 113.
Wechselrede II 271.
Weibmänner I 28.
Weidenruten beim Orakel I 114.
Weihe, des Pr. I 267, II 113.
Weihnachtsfest I 301.
Weihrauch I 222 f.
Wein I 221, 293, -rausch I 122.
Weinhold, über altnordisches Leben
I 117.
Weise Frau II 9.
Wellhausen, Jul. I 84 f.
Weltanschauung II 240, -flucht II 202,
-gericht I 109.
Werke, gute I 309.
Werkzeug, als Kultgegenstand I 258,
— Gottes I 118.
Wernicke, Psychiater I 157 f., 188.
Werwolfsagen I 162 f.
Westermarck, Ethnologe I 28.
Wettermachen I 117.
Wettläufe, als Kult I 201.
Widersprüche in der rel. Ideenwelt
I 137-
Wiedergeburt I 135, 149, I59ff., 162,
265, 286, II 116, 176.
Wiederholung II 99 ff.
Wille, der freie I 166 f.
Wissenschaft und Glaube II 230 ff.
Wißmann über Ostafrika II 112.
Witterung und Kult I 276 ff.
Wohlgerüche I 222 f.
Wünsche, Richard I 224.
Würde, des Pr. I 52 f.
Wüste I 18, 194.
Wundenmale I 174 f.
Wunder II 41.
320
Wundt, Wilh. I 3, 7 232, 237, 242 ff.,
262f., 287, II 72f., 122, 159.
Xenophon II 91.
Xerxes II 79.
Yogi I 295.
Zahl I 205.
Zarismus II 250 f., 254.
Zauberer I 15, 226ff., 245 ff., 250 f.,
Zauberformel II 117, 153 f., -gerate
I 6, -gesang I 236, 260, -handlungen
I 137. 239ff., 277ff., II i59f.,
-kraft II 200, -künste I 139, -kult
II 264, -lied II 151, -ruf I 234,
-sprach I 235, II 26, -trank I 174,
193, -wort II 96.
Zeichnen II 143 f.
Zeremonien, religiöse I 207 f.; s. auch
Kult.
Zeuge, vor Gericht I iii.
Zeugung, menschliche I 282 f.
Ziegenbock, heiüger I 26.
Ziehen, Psychiater I 145.
Zimmer, über indische Lieder II 153.
Zöhbat I 31, II 221.
Zola, E. II 37.
Zukunftsdeutung II 85f.
Zungenreden I 129, 186 f.
Zvvangserscheinungen II 287, -hand-
lungen II 128 ff.
Zweifel II 235 ff.
Zweikampf I 113.
Z^vitterstellung des Pr. I 12.
m^xf^aatä
SSSS^^SJSS^^g^gJ^^
21 Horneffer, Der Priester II
321
INHALTSVERZEICHNIS DES IL BANDES i^
DER PRIESTER ALS ARZT
1. Der religiöse Heilberuf 2
2. Der religiöse Krankheitsbegriff 12
3. Des Heilands Kampf mit der Krankheit 21
4. Der fromme Betrug 39
DER PRIESTER ALS PROPHET UND LEHRER
1. Der Prophet und das Volk 62
2. Die Eingebung 72
3. Das Orakelwesen 84
4. Gebet und Predigt 95
5. Der priesterliche Unterricht iio
DER PRIESTER ALS KÜNSTLER UND DENKER
1. Religion und Spiel 120
2. Der schmückende und bildende Priester 141
3. Der singende und dichtende Priester 147
4. Der Mythus und die Kirnst 158
5. Die priesterliche Wissenschaft 165
DER PRIESTER DER ZUKUNFT
1. Die Erhöhung 175
2. Die Entsagung 199
3. Wille zur Norm 214
4. Glaube und Lehre 229
5. Kirche und Kultus 247
6. Führung und Seelsorge 273
REGISTER 308
DRUCK VON DER SPAMERSCHEN BUCHDRUCKEREI IN LEIPZIG
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
AUGUST HORNEFFER, Nietzsche als Moralist und Schrift-
steller. Brosch. M 2.50; geb. M 3.30
Literarisches Zentralblatt: Eine inhaltreiche Studie, eine von den wenigen
in dem ganzenWust der NietzscheUteratur , die unser Verständnis wirklich fördern.
PAUL DREWS, Der evangelische Geistliche in der deutschen
Vergangenheit. Mit iio Nachbildungen alter Kupferstiche und Holz-
schnitte. 5. Tausend. Brosch. M 4. — ; geb. M 5.50
Die einzige vorhandene Standesgeschichte des evangelischen Pfarrers \on
Luther bis zum 19. Jahrhundert. Die ..Christliche Welt" schrieb darüber:
Die bloße Vorstellung vom Pfarrerstand in wirkliche Anschauung zu verwandeln,
dazu ist das Werk von Drews vorzüghch geeignet. Der Verfasser hat mehr
bezweckt als die Mitteilung einer großen Reihe merkwürdiger oder auch cha-
rakteristischer Einzelheiten. Auf Zusammenhang, Entwicklung, Hervorhebung
großer Gesichtspunkte kam es ihm an. Schulmeisterhch verfährt der Verfasser
nie; wer aber mit dem Gegenstand etwas näher bekannt ist, der weiß, welche
Arbeit in seiner Darstellung steckt.
Zur Frage der Trennung von Staat und Kirche
GOTTFRIED TRAUE, Staatschristentum oder Volkskirche.
18. Tausend. Brosch. M — .80
Evangelische Freiheit: Traub hat seinen Gegnern ein volles persönhches
Bekenntnis ohne Hörner und Zähne geboten, das ein Analogon zu Jathos Antwort
auf die Frage des Oberkirchenrats darstellt. Dasselbe zeichnet sich durch starke
Innerüchkeit und ideale Humanität, durch ein Christentum dienstbarer Gesin-
nung und durch vreitgehendes Unvermögen aus, die lehrhaften und geschichtüchen
Elemente des traditionellen Christentums in ihrem Wert zu erfassen.
EMIL FELDEN, Die Trennung von Staat und Kirche. Brosch.
M —.80
Badischer Generalanzeiger: Felden stellt eine energische Forderung der
Ge-nässensfreiheit auf Grund der aus der Jathobewegung gezogenen Konsequenzen
dar. Pflege des IndividuaUsmus in der Einzelgemeinde ! Befreiung der Religion
von allen Fesseln äußerer Autorität; Fortschreiten auf der Bahn des jungen
Luthertums; Nachholen dessen, was die Reformation versäumte.
KARL KÖNIG, Staat und Kirche. Der deutsche Weg zur Zukunft.
Brosch. M i. —
Hier beleuchtet einer der Führer des Protestantenvereins die immer aktueller
werdende Frage der Trennung von Staat und Kirche und stellt die Demokrati-
sierung nach Basler Vorbild uns als Ideal dar.
WILHELM MÜLLER, Das rehgiöse Leben in Amerika. Brosch.
M4.50; kart. M5.30
Vogtl. Anzeiger und Tageblatt: Der Verfasser gibt uns in dem anregend
geschriebenen Buche seine verschiedenen Eindrücke wieder, die er unbefangen
hat auf sich wirken lassen. Ein jugendHch tatenfrohes, lebenskräftiges und vor
allem praktisches Volk in seiner Stellung zur rehgiösen Frage zu belauschen,
die wir mit Vorliebe zur ,,rein" wissenschaftlichen, vom praktischen Leben los-
gelösten Betrachtungsweise der Dinge neigen, recht wertvoU. Kehren doch fast
alle Probleme, die uns hier in Deutschland auf rehgiösem Gebiete heute so
staxk in Anspruch nehmen — ich nenne nur die Stellung von Staat und Kirche,
von Schule und Kirche zueinander — auch drüben wieder.
EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA
ARTHUR BONUS, Zur religiösen Krisis
I. Zur Germanisierung des Christentums. Kart. M 3. — ;geb. M4, —
II. Religion und Fremdkultur (erscheint 1913)
III. Religiöse Spannungen. Kart. M 4. — ; geb. M 5. —
IV. Vom neuen Mythos. Kart. M 3.— ; geb. M 4, —
Anhaltische Blätter für religiöse Weiterbildung: Es ist nicht ganz
leicht und nicht für jeden ein bequemes Vergnügen, Arthur Bonus' Schriften
zu lesen. Er schreibt in eigenartigem, kraftvollem Ausdruck, aber seine Ge-
danken sind doch bisweilen recht abstrakt und allgemein gefaßt; jeder will
nach- und durchgedacht sein, und das erfordert keine geringe Anstrengung.
Der schulmäßig Gebildete wird sich manchmal ärgern, daß eine logische Ent-
wicklung nicht immer angestrebt ist, sondern die Gedanken mehr oder weniger
abgerissen nebeneinandergestellt werden und oft wiederkehren. Aber das
geschieht in immer neuem Zusammenhang und neuer Beleuchtung, und so
prägen sie sich um so fester ein. Anderseits stellt er sie nicht selten mit einer
erschreckenden Schroffheit und Einseitigkeit hin, daß man sich daran stoßen
muß. Aber man kann nicht um sie herumgehen. Er kennt keine Abschwächung,
keinen Kompromiß und schwingt seine kritische Geißel in gleicher Weise über
Orthodoxie und kirchhchen Liberalismus, über Dogmaglauben wie Vernunft-
glauben, über Gewohnheitschristentum wie religionsfeindliche Angriffe der
Naturwissenschaft; er scheidet aufs schärfste Wissenschaft von Religion,
zwischen denen er im Grunde jede Gemeinschaft leugnet.
JOHN M. ROBERTSON, Die Evangelien-Mythen. Brosch.
M 3.—; geb. M 4.—
Aus dem Inhalt: Die Jungfrauengeburt /Die mythischen Marien /Der Joseph-
Mythus / Der Kindermord von Bethlehem / Das Wasser- und Wein- Wunder / Der
Mythus von den 12 Aposteln / Das Abendmahl / Das mythische Kreuz / Der un-
genähte Rock / Die Himmelfahrt / Die Bergpredigt / Das Vaterunser / Gnostische
und kryptische Parabeln.
Theologischer Jahresbericht: Das Werk enthält ein wahres Arsenal von
reügionsgeschichtiichem Stoff, der aber freihch in den Stoff der Evangelien oft
wie in ein Prokrustesbett gespannt erscheint. Trotzdem vermag es wohl auch
dem Blödesten die Augen darüber zu öffnen, wieviel beiderseitig verwandtes
Material vorüegt, und wie dringend die Aufgabe ist, die wirklichen Beziehungen
zwischen beiderlei Stoff klarzustellen und abzugrenzen.
G. A. VAN DEN BERGH VAN EYSINGA, Die holländische
radikale Kritik des Neuen Testaments. Ihre Geschichte und Be-
deutung für die Erkenntnis der Entstehung des Christentums. Brosch.
M 4. — ; geb. M 5.20
Der Verfasser dieses Buches ist einer der jüngsten Vertreter des sog. hollän-
dischen Radikalismus auf dem Gebiete der neutestamentlichen Kritik. Was er
über diese Richtung mitzuteilen hat, wird gerade jetzt mit größtem Interesse
empfangen werden, nun die seit Bruno Bauer unter uns ruhende Frage der Histo-
rizität Jesu und der Echtheit der Paulinischen Hauptbriefe wieder erwacht ist.
Es scheint angemessen, jetzt die holländische wissenschaftliche Fortsetzung und
Umbildung der Bauerschen Hypothesen eine Periode von 40 Jahren hindurch
unter Führung eines Fachmannes zu verfolgen, vor allen Dingen, weil wir
Deutschen die Ergebnisse der radikalen Schule im stammverwandten Nachbar-
lande nur sehr mangelhaft kennen.
"A
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
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BBSBBBB