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Full text of "Der Skeptizismus in der Philosophie"

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DER 



SKEPTIZISMUS IN DER PHILOSOPHIE 



RAOUL gICHTER 

PRIVATDOZENT AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 



ERSTER BAND 



LEIPZIG 
VERLAG DER DÜRR'SCHEN BUCHHANDLUNG 



Druck der Buchdruckern des Waisenhauses in Halle a. S. 



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I 




Motto: 
„Im allgemeinen sei ein fOr allemal Folgendet bemerkt. Et handelt 



nch hier wie auch im gaxuen Verlauf dieter Untenuchungen um typiiche 
'^ Gedanken; und et wftre ein ttarker Irrtum, zu glauben, die Dinge, Ton 

denen wir reden, leien überwundene, yeraltete, etwa nur aut kulturhistoritchem 
Getichttpunkt alt Denkmäler der Vergangenheit interewant bleibende Meinungen 
und Aniichten einet weit hinter uns li^;enden Zeitalten. Typisch e Gedanken 
sind et , Yon denen wir sprechen , von jeder ZeitstrSmung und vorübergehenden 
Geisteanode unabhängige Probleme, typisdie DenkmOg^düceiten und typische 
Denkwege, die der konsequent denkende, von keiner Autorität und Schul- 
Oberliefenmg voreingenommene Verstand jederzeit und allerorten einschlagen 
kann ; heute so gut wie vor fünfundxwanxig Jahrhunderten , im christlichen 
Europa so gut wie an den Küsten des ionischen Kleinasien oder im Delta 
des Nils oder an den Ufern des Ganges.*' 

(Liebmann, Gedanken und Thatsachen 11, S. ii8.) 



Vorwort 

Ob eine skeptische Philosophie möglich sei, ist ein Problem; 
^ daß es einen philosophischen Skeptizismus gibt, ist Tatsache. Der 
\ Skeptizismus spielt in der Philosophie eine doppelte Rolle: er ist 
(^ die Anschauung, in die gewisse Grundrichtungen des philosophischen 
C^ Denkens, wenn sie auch noch so zuversichtlich beginnen, rettungslos 
* einmünden als in die letzte Konsequenz der eigenen Voraus- 
setzungen; so ist er ein Ende und eine Auflösung. Er ist aber 
auch die Anschauung, deren Bekämpfung und Oberwindung anderen 
philosophischen Denkrichtungen erst die Aufgabe, das Ziel, ja das 
Leben gibt; so ist er ein Anfang und eine Auslösung. 

Mit der Darstellung und der Kritik des philosophischen 
Skeptizismus beschäftigt sich die vorliegende Arbeit, deren erster 
Band hier erscheint. Ihr Ziel ist ein durchaus philosophisches. 
Von den Gedanken der geschichtlich aufgetretenen Skeptiker sollen 
nur die philosophisch wertvollen berücksichtigt, in der Beurteilung 
derselben nur philosophisch haltbare Gesichtspunkte angewandt 
werden. Aus dem Netzwerk der antiken Skepsis gibt es noch 
mehrere breite Auswege in das freie Land der Erkenntnis; wenn aber 
im Lauf der Geschichte der grundsätzliche Zweifel immer weitere 
Opfer fordert und auch diese Auswege versperrt, verengt sich die 
Möglichkeit, ihm zu entgehen, in steigendem Maße. Schließlich 



rv Vorwort. 

wird die Kritik, die sich ihm nicht ergibt, auf einen schmalen und 
schwierigen Weg gedrängt, den nun noch allein übrig bleibenden 
Pfad, der zur Wahrheit heranfuhrt. Mit diesem Ergebnis findet 
die Kritik einen systematischen Abschluß. 

Durch den Zweck sind die Mittel vorgezeichnet. Da das 
Historische sich dem Philosophischen hier unterzuordnen hat und 
nur als dessen klassische Repräsentation benutzt werden soll, durfte 
dies Buch nicht zu einer fortlaufenden Liste werden, in welche die 
Ansichten aller, die irgendwie eine skeptische Geisteshaltung ein- 
genommen haben, erst dargestellt, dann beurteilt, einzutragen 
waren. Vielmehr ist nach den philosophischen Grundmöglichkeiten, 
den Skeptizismus zu vertreten, die Einteilung getroffen worden. 
So wird das erste Buch von dem totalen Skeptizismus handeln, 
der seine Zweifel über alle Gebiete erstreckt; es soll die extrem - 
realistische Skepsis der Antike (Pyrrhoniker und Akademiker), die 
naturalistische Skepsis der Renaissance (Montaigne u. a.), die em- 
piristische Skepsis der neueren (Hume) und die biologische der 
neuesten Zeit (Mach, Nietzsche etc.) in besonderen Abschnitten 
besprechen. Das zweite Buch hat den partiellen Skeptizismus 
zum Gegenstand, der nur die Erkenntnismöglichkeit für große 
Teilgebiete bezweifelt, und der den immanenten Skeptizismus bei 
transzendentem Dogmatismus (Pascal und die Mystiker), sowie den 
transzendenten Skeptizismus bei immanentem Dogmatismus (Kant) 
unter sich befaßt 

Da die antike Skepsis infolge ihrer jahrhundertelangen Ge- 
schichte und ihrer Vertretung durch hervorragende philosophische 
Köpfe einen immer weiteren Gesichtskreis und immer tiefere Be- 
gründung gewann, deshalb auch bereits die Entwicklung fast aller 
grundsätzlichen Richtungen in der Erkenntnistheorie zu ihrer Beur- 
teilung erfordert — denn mit dialektischer Zersetzung einiger 
dialektischer Behauptungen ist hier nichts getan — , so macht die 
Besprechung der griechischen Skepsis den alleinigen Inhalt dieses 
ersten Bandes aus. Dazu kommt, daß eine Fülle von Fragen, 
Leben imd Lehre der einzelnen Skeptiker betreffend, historisch 



Vorwort. V 

und philologisch noch der endgültigen Klärung harren und die 
Ausfuhrung anschwellen ließen. Der Text gibt die Darstellung im 
Sinne der Annahmen, die nach des Verfassers Ansicht die größte 
Wahrscheinlichkeit beanspruchen; über die Gründe dafür und den 
augenblicklichen Stand der Forschung geben die Anmerkungen 
hinter dem Text Rechenschaft. Während die Anmerkungen zum 
ersten und zweiten Kapitel nur den Fachmann interessieren können, 
wird gerade der philosophisch nicht geschulte Leser darauf hin- 
gewiesen, daß die Einsicht in die Anmerkungen zum dritten Kapitel, 
zur Kritik der skeptischen Lehren, besonders in die kleinen ter- 
minologischen Exkurse, ihm das Verständnis dieser Partien im Text 
erleichtem dürfte. — Endlich bemerke ich noch, daß die Ergebnisse 
meiner Studie über „die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen 
des griechischen Skeptizismus" {Phil. Studien Bd. XX) stellenweise 
in den vorliegenden Band eingearbeitet worden sind. 

Der zweite und letzte Band, der in nicht langer Zeit 
folgen soll, wird die übrigen Formen des totalen und die Haupt- 
gruppen des partiellen Skeptizismus zu behandeln haben. Da er 
die Vorarbeiten schon zum großen Teil durch diesen Band geleistet 
findet, vermag er die größere Masse auf entsprechend kleinerem 
Raum zu bewältigen. 

Raoul Richter. 



INHALTSVERZEICHNIS. 



Seit« 

Einleitung IX 

Erstes Buch: Der totale Skeptizismus. 

Erster Abschnitt: Die griechische Skepsis. 

(Der extrem -realistische und der eudaimonistische Skeptizismus.) 

Erstes Kapitel: Vorgeschichte und Verlauf der griechischen 

Skepsis 3 

I. Die Vorgeschichte der griechischen Skepsis 3 

II. Der geschichtliche Verlauf der griechischen Skepsis ... 21 

1. Der Pyrrhonismus 21 

2. Die akademische Skepsis 34 

Zweites Kapitel: Die Darstellung des griechischen Skeptizismus 42 

I. Das allgemeine Prinzip der Isosthenie 42 

n. Die sensuale Skepsis 47 

III. Die rationale Skepsis 58 

IV. Die Skepsis gegen einzelne Wissensinhalte (Naturzusammen- 

hang — Gott — Werte) 79 

V. Negative und positive Konsequenzen des Skeptizismus ... 95 

Drittes Kapitel: Die Kritik der griechischen Skepsis .... 121 

I. Das allgemeine Prinzip der Isosthenie 121 

IL Die sensuale Skepsis 127 

ni. Die rationale Skepsis 222 

IV. Die Skepsis gegen einzelne Wissensinhalte (Naturzusammen- 
hang — Gott — Werte) ^ . 268 

V. Negative und positive Konsequenzen des Skeptizismus . . . 287 



Einleitung. 



Der abschließende Begriff, den man sich von dem philo- 
sophischen Skeptizismus zu bilden hat nach seinem eigentümlichen 
Inhalt und in allen seinen Einzelheiten, wird sich erst dann genau 
bestimmen lassen, wenn wir die verschiedenen skeptischen An- 
schauungen selbst kennen gelernt und kritisch betrachtet haben 
werden — also am Schluß, nicht zu Beginn dieser Untersuchung. 
Aber ein vorläufiger und allgemeiner Begriff muß jeder Arbeit, 
die von dieser Denkart handelt, vorangehen, ein Begriff, der über 
den Gegenstand orientiert, dessen Ergründung zur Aufgabe gestellt 
ist. Philosophischer Skeptizismus läßt sich durch philosophische 
Zweifellehre wiedergeben; ihm steht der philosophische Dogmatis- 
mus als philosophische Meinungslehre gegenüber. Das griechische 
Wort öHiTtteöS^ai bedeutet ursprünglich: um sich schauen, spähen; 
auf geistige Objekte angewandt: erwägen, prüfen, unentschieden 
sein. An dieser skeptischen Geisteshaltung, die immer späht, prüft, 
erwägt, hat die deutsche Sprache als die bezeichnendste Eigen- 
tümlichkeit das zwischen zwei Seiten Schwanken festgehalten und 
die Ünentschiedenheit der Meinung: zweifeln genannt Der gleiche 
Vorgang wiederholt sich in der lateinischen Terminologie, wo das 
dubitare (douter, doubt) den Stamm duo deutlich erkennen läßt. 
Auf der andern Seite aber ist 66y/jia (von doxetv) durch Ansicht, 
Meinung, Soyfiatl^Biv durch: eine Meinung, Ansicht aufstellen zu 
übersetzen; wobei das Meinen nicht etwa einen schwächeren Grad 
des Wissens, vielmehr den geraden Gegensatz zum Nichtwissen und 
Keiner -Meinung -sein bedeuten soll. Demnach ist der Skeptiker 
ein Zweifelnder und Unentschiedener, der Dogmatiker ein Über- 
zeugter und Entschiedener; der philosophische Dogmatiker ein 
Mensch, der phUosophische Überzeugungen hat oder eine philo- 
sophische Lehransicht vertritt; der philosophische Skeptiker sein 

Richter, Skeptidsmi«. A 



X Einleitung. 

Widerpart In diesem Sinne finden sich die Ausdrücke als stehende 
Bezeichnung für die genannten Richtungen bei Galen, Gellius, Sextus, 
Diogenes Laertius; wann sie aber zum festen Bestandteil des philo- 
sophischen Sprachschatzes geworden sind, ist nicht genau ermittelt 

Der allgemeine Begriff des philosophischen Skeptizismus ge- 
winnt sich aus der Beantwortung zweier Fragen: Was bezweifelt 
der philosophische Skeptiker? Warum zweifelt der philosophische 
Skeptiker? Um von den allgemeinen Objekten und von den all- 
gemeinen Gründen seines Zweifels eine Vorstellung zu erhalten, 
gehen wir nicht von den in der Geschichte der Philosophie als 
Skeptiker aufgeführten Typen aus und imtersuchen, was bezweifelten, 
warum zweifelten diese Männer? Wir beginnen vielmehr bei dem 
Kreis der uns allen zugänglichen und nachprüfbaren Lebenserfah- 
rungen, um, eingedenk der Aufgabe wahrer Philosophie, die Be- 
griffe des gewöhnlichen Lebens zu vertiefen und zu klären, den 
populären Begriff des Skeptizismus zum philosophischen Begriff 
zu steigern. Auf diese Weise kommt gleich hier zum Ausdruck, 
daß nicht ein rein geschichtliches, sondern ein systematisches 
Interesse das Thema gestellt hat Nicht diejenige Anschauung 
gilt es zu prüfen, welche von sich selbst oder von andern i) das 
Beiwort „skeptisch" erhielt, sondern die Anschauung, welche aus 
systematischen Motiven dies Beiwort verdient. Ihre geschichtlichen 
Formen sind nur die konkreten Beispiele, an welchen sich der In- 
halt des philosophischen Skeptizismus am klarsten entwickeln läßt 

Was verstehen wir nun aber im gewöhnlichen Leben unter 
einem Skeptiker oder einem Zweifler? Einen, der an irgend etwas 
zweifelt? Etwa, ob die Zahl der Sterne gerade oder ungerade ist, 
ob er den um 5 Uhr abgehenden Eisenbahnzug noch erreichen, 
ob das aufziehende Gewitter sich noch vor Abend entladen wird? 
Ersichtlich ist eine solche Erklärung viel zu weit gegriffen. An 
diesem Begriff des Skeptizismus gemessen wären überhaupt alle 
Menschen Skeptiker. Solche Zweifel und solche Bedenken sind 
nur das Geständnis allgemein menschlicher UnvoUkommenheit, 
das Geständnis, daß menschliche Voraussicht und menschliche 
Berechnung nicht jedes beliebige Ereignis zu erkennen, nicht 
jede beliebige einzelne Frage zu beantworten vermögen. Hier 



i) Daher folgt die Besprechung der einzelnen Definitionen des Skepti- 
zismus, mit denen Stäudlin» Geschichte und Geist des Skeptizismus, Leipzig 
1794, beginnt, am £nde dieses Buches, 



Einkitniig. XI 

Steht der Erzskeptiker noch auf demselben Boden mit dem ent- 
schlossensten Dogmatiker. Die Sphäre des Begriffs muß also ver- 
engert werden. Der Zweifel eines Menschen darf nicht am Ein- 
zelnen haften bleiben, er muß sich zum Allgemeinen steigern, muß 
sich über ganze Gebiete ausdehnen, um ihm den Titel eines Skep- 
tikers einzutragen. 

Das hervorragendste Gebiet zur Betätigung des Skeptizismus 
im täglichen Leben ist ohne Zweifel die Religion. Aber hier 
gleich zeigt sich so recht das Fließende und Schwankende der 
gewöhnlichen Begriffe und ihre Bedürftigkeit, zum wissenschaft- 
lichen Gebrauch kritisch geläutert zu werden. Denn wo fängt die 
religiöse Skepsis an, wo hört sie auf? In streng orthodoxen Kreisen 
wird schon als Skeptiker gebrandmarkt, wer die Sätze der Landes- 
kirche oder gar die Grunddogmen einer Religion in ihrer Wahr- 
heit bezweifelt Den mecklenburgischen Bauern gilt der harmlose 
Spott des Onkel Bräsig bereits als Skepsis. Freiere Geister werden 
den religiösen Skeptizismus erst mit dem Zweifel am Dasein eines 
persönlichen, ja vielleicht eines unpersönlichen Gottes beginnen 
lassen. Der religiöse Skeptiker wird oft schlechthin als Skeptiker 
bezeichnet, wie der religiöse Dogmatiker schlechthin als Dogma- 
tiker. Denn dem Durchschnittsmenschen galten lange 2^it die 
religiösen Objekte für die einzigen, über deren Existenz und Be- 
schaffenheit ein Gesamtzweifel möglich sei. Aber noch andere 
Gebiete gibt es, über die sich der Zweifel erstrecken kann und 
erstreckt Auch von einem ethischen, auch von einem ästheti- 
schen Skeptizismus reden wir im täglichen Leben. Es gibt heut- 
zutage viele Menschen, ja ganze Kreise, die nicht mehr recht zu 
wissen meinen, was gut und böse, schön und häßlich zu nennen 
sei und ob moralische und ästhetische Werte von verbindlicher 
Kraft bestehen oder nicht; und zu diesen Ungläubigen, wie zu den 
religiösen Zweiflern, gehört nicht nur die Schar jener Ehrlichen 
und Offenen, die so handeln und reden, wie sie denken ^ sondern 
auch alle die, welche versteckt und im Herzen dem Skeptizismus, 
mit Reden und Taten der öffentlichen Meinung, den Vorgesetzten, 
der Lebensbehaglichkeit ihren Tribut zollen. Aber auch hier sagt 
uns die gewöhnliche Ausdrucksweise nicht, ob von ethischem oder 
ästhetischem Skeptizismus schon bei seinen milderen Formen, den 
Zweifeln an der Richtigkeit einer bestimmten moralischen oder 
Kunstanschauung, oder erst bei radikaleren Gestaltungen die Rede 
sein dürfe. Neben dem religiösen, moralischen und ästhetischen 



Xn Einleitung. 

läuft der Skeptizismus gegen die Wissenschaft als besondere 
Richtung einher. Wem wären nicht Leute bekannt, die sich den 
Ergebnissen der Wissenschaft gegenüber äußerst skeptisch ver- 
halten? Gerade der glänzende Aufschwung der Medizin und der 
Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert hat nicht nur überschweng- 
liche Bewunderung und kühne Hoffnungen, sondern auch schwere 
Zweifel an der Art der Naturgesetzlichkeit und ihrer praktischen 
Verwendbarkeit für das Leben und manche Enttäuschung sogar 
in Kreisen der Fachmänner erregt. Das Ignoramus, ignorabimus 
ist zuerst von einem Naturforscher gesprochen und von unzähligen 
Laien später nachgesprochen worden. Aber auch der wissenschaft- 
liche Skeptizismus, wo er sich im Alltagsleben verkörpert, kennt 
keine fest umrissenen Grenzen. Endlich können alle diese ver- 
schiedenen Formen der Skepsis zu einem allgemeinen Skeptizis- 
mus zusammenschmelzen. Dafür fehlt es heute weniger an Bei- 
spielen denn je: Menschen, die auf allen Gebieten des Daseins, 
in den religiösen, sittlichen und künstlerischen Fragen, in ihrer 
Stellung zur Wissenschaft, in der Beurteilung des Allgemeinen wie 
des Einzelnen, eine skeptische Haltung einnehmen, sind keine 
Seltenheit mehr. Noch darf nicht unerwähnt bleiben, daß diese 
Spielarten des Skeptizismus einander ebensogut zu befördern, wie 
durch Kontrast auszuschließen vermögen. „Wer den Zunder des 
Zweifels anzündet", sagt Feuerbach einmal, „der gibt, die Ursache 
zu einem allgemeinen Brande, wenn er auch gleich zunächst das 
Feuer nur an bestimmte Gegenstände bringt und bringen will".^) 
Gewiß kann die Skepsis so wirken; aber sie wirkt nicht notwendig 
so. Oft scheinen gewisse Formen des Skeptizismus einander form- 
lich abzustoßen: um so ernster und heftiger auf einem Punkte ge- 
zweifelt wird, um so fester und unentwegter wird auf anderen 
Punkten geglaubt und gewußt. So ist es eine allgemein zugäng- 
liche Beobachtung, daß sich der Skeptizismus in religiösen Dingen 
mit einem Wissenschaftsdogmatismus zu verbinden liebt, daß um- 
gekehrt der religiöse Dogmatismus sich mit einem Skeptizismus 
gegen alle wissenschaftliche und theoretische Erkenntnis gut ver- 
trägt, ja aus diesem geradezu Saft und Nahrung saugt. 

Läßt sich nun der Gesichtspunkt, der sich der Frage: was 
wird bezweifelt? entnimmt, auch zur näheren Bestimmung des 
philosophischen Skeptizismus verwenden? Ich dächte, gewiß. Auch 



i) Feuerbacb, Werke VI, Leipzig 1848, S. 291, 



Einleitniig. xm 

in der Philosophie kann im großen gezweifelt werden, ist gezweifelt 
worden und wird gezweifelt. Auch in der Philosophie kann sich 
der Zweifel über verschiedene Gebiete erstrecken, hat es getan 
und tut es noch. Aber die Gebiete des philosophischen Zweifels 
müssen logisch wohl gegeneinander abgegrenzte Bezirke sein, ihr 
Machtbereich muß durch die innere Natur, das Wesen der zu 
erkennenden Objekte bestimmt sein. Nicht aber darf ihr Da- 
sein aus den trüben Quellen der zufälligen Einteilung der Wissens- 
gebiete fließen, wie sie sich im gewöhnlichen Leben eingebürgert 
hat Man wird also gut tun, in die vorhergenannten Zweifelsformen 
etwas Einheit, Ordnung und logischen Zusammenhang hineinzubringen. 

Da erhält man denn gleich zwei grundsätzlich voneinander 
getrennte Gruppen. Der Zweifel, der sich auf alles erstreckt, d^r 
totale Skeptizismus, wird scharf gegen denjenigen, welcher nur 
bestimmte Teilgebiete betrifft, gegen den partiellen Skeptizismus 
abzugrenzen sein. 

Der totale Skeptizismus kann seine Totalität dadurch be- 
währen, daß er die Gesamtheit materialer Aussagen in Zweifel 
zieht, oder daß er auch die formalen Aussagen in ihrer ganzen 
Ausdehnung mitbegreift. Nicht zufrieden, keine gegenständliche 
Wahrheit gelten zu lassen, sucht er manchmal in tollkühner Steige- 
rung selbst das Wissen zu verdächtigen, welches völlig inhaltleer 
gar keine objektive Wirklichkeit erkennen und nur die Form unsrer 
Denkoperationen selbst zum Ausdruck bringen will, sucht er Sätze 
zu bezweifeln von der Art „wenn A gleich B, B gleich C, so ist 
A gleich C". Dieser subjektiv -formale Skeptizismus zieht not- 
gedrungen den objektiv -materialen Skeptizismus nach sich. Denn 
all unser Wissen um irgend welche Objekte hängt von der Gültig- 
keit der subjektiven Denkgesetze ab. Da sich der formale Skepti- 
zismus aber als contradictio in adjecto entpuppt — denn nur ver- 
mittelst der bezweifelten Denkformen zweifelt er — , da er auch 
keinem Philosophen bisher genügt hat, auf ihn hin über die ge- 
samte Wirklichkeit seine Zweifel auszudehnen — ob er schon den- 
jenigen, dem es ernst mit ihm ist, logisch zwingend dahin führen 
müßte, — so empfiehlt es sich, den nur materialen Skeptizismus 
zum totalen zu schlagen, wenn er seine Zweifel auf die Totalität 
der Objekte erstreckt, auch ohne die Formen unsres Denkens in 
Mitieidenschaft zu ziehen. 

Der partielle Skeptizismus greift mit seinen Zweifeln nur in 
begrenzte Objektgebiete ein. Innerhalb dieser Gattung aber stehen 



"ESakitang, 

die Formen: religiöse, wissenschaftliche, moralische, ästhetische 
Skepsis nicht logischen Forderungen, sondern praktischen Bedürf- 
nissen gemäß nebeneinander. Der Grad der Gewißheit, der diesen 
Gebieten «ukommt, ist dem Leben von der höchsten Wichtigkeit; 
hier zweifelt, glaubt oder weiß es. Der philosophische Skeptizis- 
mus wird eine solche, aus den Lebensbedürfnissen entnommene 
Einteilung nicht übernehmen. Dennoch läßt sich von ihr aus auch 
für die Gliederung des partiellen philosophischen Skeptizismus ein 
fruchtbarer Gesichtspunkt gewinnen. Der Gegenüberstellung von 
Religion und Wissenschaft liegt dunkel gefühlt der Unterschied 
zwischen einer übersinnlichen und einer sinnlichen, einer unerfahr- 
baren und einer erfahrbaren Welt zugrunde. Mit der Deutung der 
sinnlichen Welt, so meint man, hat es die Wissenschaft zu tun, 
das Übersinnliche sei Gegenstand des religiösen Bewußtseins. Die 
ethischen und ästhetischen Begriffe pflegen in der populären Auf- 
fassungsweise eine vermittelnde Rolle zu spielen; halb himmlisch 
und halb irdisch, werden sie aus göttlichen Geboten oder über- 
natürlichen Gesetzen abgeleitet, gewinnen aber doch wieder in den 
Bestimmungen von Recht und Sitte, Stil und Geschmack, bis zu 
den Polizeiverordnungen und Modejoumalen herab, eine sehr greif- 
bare Gestalt. In der Tat ist es für den philosophischen Skepti- 
zismus von grundlegender Bedeutung, ob von seinen Zweifeln nur 
die Objekte einer übersinnlichen Welt oder nur diejenigen der sinn- 
lichen Welt oder beide zugleich getroffen werden. Hier ist, was 
die Gebiete des Zweifeins und Überzeugtseins anlangt, eine wohl- 
begründete Einteilung geschaffen. Denn alle Objekte, deren Existenz 
man zugibt, sind entweder erfahrbar oder unerfahrbar, fallen in das 
Bereich unsrer möglichen Erlebnisse oder grundsätzlich aus diesem 
heraus. Ob ein Komet zum vorausberechneten Termin erscheint, 
ein neues medizinisches HeUmittel sich als wirkungsvoll erweist, 
können wir erleben und erfahren. Der Anfang und das Ende der 
Welt, Gott als der Inbegriff der Welt, der Zustand der Seelen 
nach dem Tode, der Körper unabhängig von unserem Bewußt- 
sein, können niemals Gegenstand der Erfahrung und des Erlebens 
werden. Wie verschieden man auch die Art und den Kreis 
des Erfahrbaren und Unerfahrbaren (oder des Sinnlichen und 
Übersinnlichen, wie manche vorziehen) bestimmt hat und be- 
stimmen kann^), — die Tatsache, daß, wenn es erfahrbare und 

i) Mit den verschiedenen Bestimmungen werden wir uns im zweiten 
Hauptabschnitt dieser Untersuchung vorzüglich zu beschäftigen haben. 



Einleitiiiig. XY 

unerfahrbare Objekte gibt, diese Einteilung zugleich die allgemeinste 
ist, weil jedes Objekt ihr verfallt, und daß also der partielle Zweifel 
seinen allgemeinsten Formen nach sich auf diese oder jene Objekt- 
gruppe beziehen muß, wird keinen Widerspruch zu überwinden 
haben. Das populäre Bewußtsein würde vermutlich auch nicht viel 
dagegen einwenden, daß wir den Skeptizismus gegen die Religion 
und gegen die Wissenschaft durch ein Nichtwissen um die Beschaffen- 
heit übersinnlicher und sinnlicher, transzendenter und immanenter 
Objekte erläutert haben. Das bedeutet nichl , daß populäres und 
philosophisches Bewußtsein hier völlig zur Deckung gebracht wären. 
Die Religion ist zwar die weitverbreitetste, aber keineswegs die 
einzige Form, in welcher uns eine Auffassung vom Übersinnlichen 
und Unerfahrbaren vermittelt wird. Sie ist nicht die einzige Form 
— weder ihrem Gegenstand noch ihrer Erkenntnisart nach. Ihr 
Gegenstand ist wesentlich Gott, ihre Erkenntnisart wesentlich der 
Glaube. Nun hat es aber zu allen Zeiten Männer gegeben, die 
sich auch über das Übersinnliche und prinzipiell Unerfahrbare Gre- 
danken gemacht haben, und deren Überzeugungen doch niemals 
in religiöse Vorstellungen eingemündet sind. Und ihre Erkenntnis- 
art verglichen sie mit Vorliebe der mathematischen, die mit ihrer 
exakten Beweismethode vom religiösen Glauben am weitesten ab- 
gerückt ist. Diese Männer waren die großen philosophischen Meta- 
physiken Denn welcher unter den zahllosen Erklärungen von Ziel, 
Methode, Ergebnis der Metaphysik man auch zustimmen mag, 
die eigentümlichen Objekte der Metaphysik sind unsinnlich und 
unerfahrbar. Es wird sich also der transzendente Skeptizismus, 
welcher auf dem Gebiete zweifelt, das unsre Erfahrung übersteigt, 
wo er als philosophischer Skeptizismus auftritt, in gleicher Weise 
auf Metaphysik und Religion zu erstrecken, seine Gründe also auch 
gegen beide zu richten haben. Der immanente, im Erfahrungs- 
bereich verharrende Skeptizismus fallt dementsprechend mit dem 
populären Zweifel an der wissenschaftlichen Erkenntnis auch nur 
zum Teil seinem Gegenstande nach zusammen. Denn einmal ist 
die Wissenschaft der Metaphysik schon von dem immanenten Skep- 
tidsmus abgetrennt und dem transzendenten zugewiesen worden; 
dann aber verfällt die Summe der Erfahrungsobjekte nicht allein 
den übrigen Wissenschaften, sondern ein Teil wird bereits in den 
gewöhnlichen Anschauungen des täglichen Lebens verarbeitet. 
Der ethische und ästhetische Skeptizismus wird, je nach der Auf- 
fassung, die man vom Wesen der sittlichen und künstlerischen 



xn EbldtiiDg. 

Objekte hat, seinen Platz entweder innerhalb des immanenten oder 
des religiös -metaphysischen Skeptizismus zu finden haben. Die 
eigentümliche Feindschaft zwischen gewissen Zweifelsformen, auf 
welche schon gelegentlich der gewöhnlichen Skeptikertypen hin- 
gewiesen wurde, kommt hier in der Weise zum Ausdruck, daß 
sich ein transzendenter Skeptizismus besonders gern mit einem 
intensiven Dogmatismus für die Immanenz, und ein immanenter 
Skeptizismus mit einem intensiven Dogmatismus für die Transzen- 
denz zu vermählen liebt. 

Noch ist zu betonen, daß eine Philosophie, die das Dasein 
gewisser Objekte, etwa der Körper außer uns oder der moralischen 
Werte leugnet, über die Beschaffenheit dieser Objekte nicht im 
Zweifel, und also auf diesem Gebiete auch keine skeptische Philo- 
sophie sein kann. Sie geht in ihrer Aufstellung negierender Be- 
hauptungen genau so zuversichtlich und dogmatisch vor, wie der 
positive Dogmatismus und kann, da der Inhalt ihrer Dogmen ver- 
neinende Urteile sind, in dieser Hinsicht negativer Dogmatis- 
mus heißen. 

Aber mehr noch als in der Frage nach dem Was des Zweifels 
trennt sich der philosophische vom gewöhnlichen Skeptiker in der 
Art, wie und warum er zweifelt. Wie zweifeln denn jene Skep- 
tiker, denen wir so oft am Biertisch, im Salon oder auch in der 
Literatur begegnen? Warum zweifeln sie? Geht man dem näher 
nach und sammelt auch nur einige Erfahrungen darüber, so zeigt 
sich, daß die Zweifel solcher Leute nicht in einer straffen und 
methodischen Gedankenarbeit, sondern in jenem sonderbaren Ge- 
misch aus logischen Gründen und individuellen Lebenserfahrungen 
ihren Ursprung nehmen, auf dem sich die Weltanschauung des 
unwissenschaftlichen Menschen aufzubauen pflegt. Ein junger Mensch 
wächst in einer streng kirchlich denkenden Familie auf. Die religiösen 
Dogmen werden ihm als sichere Wahrheiten vorgetragen. Güte 
und sittlicher Wert werden als die Begleiter der Frömmigkeit, Ver- 
worfenheit und lasterhaftes Leben als Folgeerscheinungen der Gott- 
losigkeit gelehrt. Nun gelangt er in das Alter, in dem die Kritik 
sich zu regen beginnt. Ihm werden edle und reine Menschen be- 
kannt, die an keinen Gott glauben; und er sieht Niedrigkeit und 
Heuchelei bei manchem kirchlich gesinnten Manne. Die religiöse 
Skepsis beginnt zu keimen. Unter dem Einfluß Gleichdenkender, 
dem verführerischen Zauber einer glänzenden freigeistigen Literatur, 
vielleicht auch durch einige ganz persönliche Erlebnisse, in denen 



Emlehnng. XVII 

der Glaube an eine Vorsehung Fiasko machte, gestalten sie sich 
kräftiger aus. Ein paar ganz allgemeine Beweisgründe meist sehr 
billiger Art werden ersonnen oder erborgt, einige Fetzen aus der 
sogenannten wissenschaftlichen Weltanschauung zusammengerafft, 
um den logischen Bedürfnissen Genüge zu tun. Die religiöse 
Skepsis ist vollendet. Mit den Zweifeln der Moral, der Kunst, der 
Wissenschaft gegenüber steht es für gewöhnlich nicht anders. Der 
ethische, der ästhetische Skeptiker, wie er uns im gewöhnlichen 
Leben entgegentritt, hat die sittlichen und künstlerischen Probleme 
nach ihrem Umfang und ihrer Tiefe nicht durchdacht. Sein Skepti- 
zismus hat ganz andere Ursachen. Bloß das Einatmen der geistigen 
Atmosphäre zu einer Zeit, in der die sittlichen und künstlerischen 
Werte in starker Wandlung begriffen sind, genügt, um ihn hervor- 
zutreiben. Ratlos gegenüber dem Chaos einander widerstreitender 
Meinungen, erschöpft vielleicht vom heftigen Durchleben und ent- 
täuschten Aufgeben der bedeutendsten unter ihnen, zuckt man nur 
noch matt die Achseln, wenn die eigene Seele fragend an die Tore 
dieser Reiche pocht Bei andern mögen schmerzliche Erfahrungen, 
der Trug eines Freundes, das Versagen der Kunst als Trösterin, 
als Erlöserin, den Ausbruch skeptischer Stimmungen veranlassen. 
Noch andere bekennen sich zu ihnen , weil es zum guten Ton einer 
schlechten Koterie gehört. Der Skeptizismus gegen die Wissen- 
schaft hat nun ganz besonders reich verzweigte Quellen. Auch 
hier können trübe persönliche Erlebnisse, in denen etwa die Medizin 
ihren Dienst versagte ^ auch hier kann der Meinungstreit in Grenz- 
fragen, der zu gewissen Zeiten mehr als die Einigkeit innerhalb 
der Grenzen nach außen dringt, die Hauptrolle spielen. Dazu 
kommt die Abneigung gegen alles Harte, Herbe, Nüchterne, Be- 
sonnene, Bedächtige. Man erwäge, daß es hauptsächlich die Frauen 
sind, welche sich zur Wissenschaft skeptisch verhalten. 

Dieser gesamte Stimmungskeptizismus hat nun aber mit 
dem philosophischen Skeptizismus, den Hegel einmal „ein gebil- 
detes Bewußtsein" genannt hat, in der Art, wie und warum er 
zweifelt, kaum einen Verwandtschaftspunkt. Dieser verhält sich zu 
jenem wie Schopenhauers tiefsinnig begründeter Pessimismus zu 
dem Pessimismus eines Menschen, der in der Fülle des Reichtums 
das Genießen verlernte, oder zu der trüben Lebensauffassung eines 
Mannes, der überall Schiffbruch gelitten hat. Zwei Punkte sind 
es vornehmlich, die hier den Gegensatz bezeichnen. Erstens hat 
es die Philosophie, insofern sie Wissenschaft ist, nicht mit dem 



xnn Einkitimg. 

Individuell- und Einzelgültigen, sondern mit dem Gattungsmäßig - 
und Allgemeingültigen zu tun. Ihre Ergebnisse wollen sich die 
allgemeine Zustimmung, nicht die Anerkennung einzelner erzwingien. 
Und selbst da, wo die Möglichkeit allgemeingültiger Ergebnisse 
bezweifelt wird, bedient sie sich einzig, wie gerade das Vorgehen 
der Skeptiker beweist, solcher Sätze, die für allgemeingültig gelten, 
zur Begründung. Es interessiert den philosophischen Skeptiker so 
wenig, ob ein bestimmter Mensch dem Zweifel verfallen muß, 
wie es den Mathematiker interessiert, ob ein bestimmter Mensch 
den Inhalt eines sphärischen Dreiecks ausrechnen kann oder nicht 1 
Der philosophische Skeptiker kann seine Zweifellehre demnach nicht 
über den individuellen Lebenserfahrungen eines einzelnen 
Subjekts, die immer nur einem individuellen Zweifel zur Basis 
dienen können, er muß sie über allgemein -menschlichen oder für 
allgemein -menschlich geltenden Eigenschaften aufbauen. Nun ist 
Zweifeln, Unentschiedensein, Nichtwissen eine Betätigung unseres 
Erkenntnisvermögens. Um also die Frage nach der Berechtigung, 
dem Gebiet, dem Umfange des Zweifeins zu entscheiden, muß der 
Philosoph die allen gemeinsamen Erkenntnisfunktionen auf ihre 
Leistungsfähigkeit hin untersuchen. Diese aber sind nichts anderes 
als die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, der Er- 
kenntnis durch die Sinne, durch die logischen Axiome, durch das 
Selbstbewußtsein usw. Sie allein sind unabhängig von individuellen 
Lebenserfahrungen, von Ort und Zeit, von Temperamentsanlage, 
von Begabung. Bezweifelt somit der philosophische Skeptizismus 
im Gegensatz zum Stimmungskeptizismus grundsätzlich die 
Möglichkeit aller oder bestimmter Erkenntnisse, so trennt er sich 
auf dem zweiten Punkt von jenem in dem Anspruch, notwendig 
oder doch wiederum durch Mittel, die für notwendig gelten, zu 
seinen Ergebnissen gelangt zu sein. Notwendig aber ist seine 
Zweifellehre nur dann erwachsen, wenn sie sich als die logische 
Folge aus triftigen Gründen erweist. Das heißt: der philosophische 
Skeptiker zweifelt im Gegensatz zum populären, der rhapsodisch 
und aphoristisch verfahrt, systematisch und methodisch. So 
verschieden ist der philosophische Zweifler vom Stimmungskeptiker, 
daß die beiden Typen trotz ihrer Übereinstimmung in den End- 
resultaten sich kaum verstehen würden; ich glaube nicht, daß ein 
Mann wie David Hume und ein Vertreter der modernen Stimmungs- 
skepsis einander viel zu sagen hätten. 



Einleitiing. XIX 

Demnach wäre der allgemeine Begriff des philosophischen 
Skeptizismus dahin zu bestimmen: der philosophische Skepti- 
zismus ist die Verkündigung eines grundsätzlichen und 
methodischen Zweifels an der Möglichkeit menschlicher 
Erkenntnis; sei es nun, daß er als totalerSkeptizismus diese 
Möglichkeit für alle Gebiete bezweifelt, oder als partieller 
(immanenter, transzendenter) Skeptizismus nur auf große 
Hauptgruppen seine Zweifel einschränkt. 

Doch ist der philosophische Skeptizismus auch in einer Form 
aufgetreten, die sich den strengen Grenzen dieses Begriffs nicht 
durchaus fügt. Skeptische Denker nämlich haben, statt die Mög- 
lichkeit der Erkenntnis zu bezweifeln, gelegentlich die Unmöglich- 
keit der Erkenntnis behauptet. Dieser Agnostizismus oder dog- 
matische Negativismus, der den Verzicht auf Erkenntnis oder 
die absolute Negation zu seinem einzigen Dogma macht, dessen 
Dogmen nicht negierende Urteile über bestimmte objektive Ver- 
hältnisse, sondern dessen einziges Urteil die Negation aller Dogmen 
ist, steht dem Skeptizismus unendlich viel näher als dem Dogma- 
tismus und verfällt damit gleichfalls einer dem Skeptizismus gewid- 
meten Untersuchung. Während der reine Skeptizismus die Wahrheit 
(Falschheit) aller oder gewisser Behauptungen bezweifelt , der reine 
Dogmatismus die Wahrheit (Falschheit) aller oder gewisser Behaup- 
tungen anerkennt, bezweifelt der dogmatische Negativismus die Wahr- 
heit (Falschheit) aller oder gewisser Behauptungen bis auf eine; er steht 
also dem Skeptizismus noch weit näher als die Eins der Null näher 
steht als der Tausend. Denn wenn die dogmatisch geäußerte Nega- 
tion nur die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt betrifft, so ist die 
Wahrheit (Falschheit) jeder bestimmten Aussage (formaler, mate- 
rialer Art) in Zweifel zu ziehen. Kant, der die Möglichkeit meta- 
physischer Erkenntnis gleichfalls dogmatisch verneinte, hat in seiner 
dritten und vierten Antinomie von solchen Zweifeln, die eine Be- 
schaffenheit metaphysischer Objekte betreffen, das klassische Bei- 
spiel gegeben. Und so wird der dogmatische Negativismus dem 
philosophischen Skeptizismus ebenso entschieden einzugliedern sein, 
wie der negative Dogmatismus, aus dem irgend welche Zweifel über- 
haupt nicht folgen, die entgegengesetzte Behandlung erheischte. i) 

i) Der eigentliche Pyrrhonismus war andrer Meinung. Er stellte skep- 
tische, dogmatische, agnostische (die er nach ihren damaligen Vertretern 
akademische nannte) als drei gleichwertige Hauptgattungen der Philosophie 
auf. Das ist eine durchaus berechtigte Einteilung, wenn man allein die 



3^ Einleitung. 

Der dogmatische Negativismus verneint die Erkenntnismöglich- 
keit, der negative Dogmatismus, soweit er überhaupt für uns in 
Betracht kommt, d. h. mit der Skepsis verwechselt worden ist, die 
Existenzmöglichkeit einer bestimmten Sphäre. Das Entspringen 
grundsätzlicher Zweifel an jeder bestimmten Aussage über diese 
Sphäre ist das eine Mal eine Notwendigkeit, das andre Mal eine 
Unmöglichkeit 

Übrigens ist der dogmatische Negativismus in seiner dogma« 
tischen Negation des Dogmatismus zwar erkenntnismutiger, für alle 
anderen Urteile aber weit hoffnungsloser als der reine Skeptizismus. 
Dieser traut allerdings unseren Erkenntnisfunktionen gegenwärtig 
nicht einmal die Kraft zu, ein einziges wahres negatives Urteil zu 
fällen: der Mensch kann nichts erkennen; läßt abej* wenigstens da- 
durch die Möglichkeit offen, in Zukunft jede beliebige Anzahl posi- 
tiver wie negativer Dogmen zu erarbeiten. Der Agnostizismus also, 
auf einem Punkte dogmatisch, ist damit auf allen übrigen prinzipiell 
skeptisch; der reine Skeptizismus, auch in der Frage nach der 
Erkenntnismöglichkeit oder -Unmöglichkeit skeptisch, versperrt 
gerade dadurch einem zukünftigen Dogmatismus nicht grundsätz- 
lich den Weg. 

Endlich ist noch von Wichtigkeit, daß Intensitätsunter- 
schiede des philosophischen Zweifels dadurch entstehen können, 
daß nur die Möglichkeit völlig gewisser Erkenntnis oder auch die 
Möglichkeit wahrscheinlicher Erkenntnis bezweifelt wird. Der radi- 
kale wie der gemäßigte Zweifel geht nun nicht etwa mit dem 
totalen oder partiellen Hand in Hand, so daß die Extensitäts- 
und Intensitätstufen einander entsprächen; sondern jede Art von 

Stellungnahme zu einem einzigen, formalen, allgemeinen Satze (die Wahrheit 
ist erkennbar) im Auge hat. Dann stehen die drei Thesen: sie ist erkenn- 
bar, sie ist unerkennbar, es ist zweifelhaft, ob sie erkennbar oder unerkenn- 
bar, als die Devisen dreier möglicher Parteien einander gegenüber. Gruppiert 
man aber nach der Entscheidung aller übrigen» einzelnen, materialen Fragen, 
in der die Meinung über jeden beliebigen Erkenntnisstoflf niedergelegt ist 
(gibt es kausales Wirken in der Natur, ist Gott mit der Welt identisch? usw.), 
so bilden sich nur zwei Lager, von denen das eine (positive oder negative) 
Behauptungen über die Existenz, die Beschaffenheit der Dinge aufstellt, das 
andre (aus agnostischen oder rein skeptischen Motiven) im Zweifel verharrt. 
Dazu kommt, daß reine Skeptiker und Agnostiker in der Begründung ihrer 
Standpunkte ganz zusammengehen, bis schließlich der eine noch hinter das 
ganze System seiner Argumente ein Fragezeichen setzt, was der andre zu 
tun verabsäumt. Demnach übersehen sie in bekannter Philosophenweise über 
dieser kleinen Verschiedenheit die großen Gemeinsamkeiten. 



Einleitung. XXI 

Mischung ist hier denkbar und geschichtlich auch wirklich auf- 
getreten. Man kann also nur einen Unterschied seiner Einteilung 
zugrunde legen, den objektiven nach Zweifelsgebieten oder den 
subjektiven nach Zweifelsgraden, und hat dann die Pflicht, das 
andere Merkmal innerhalb des gewählten Rahmens zu berück- 
sichtigen. Wenn wir der objektiven Gliederung den Vorzug geben, 
so geschieht es erstens, weil sie systematisch als die wichtigere 
erscheint — das Was der Erkenntnis, nicht deren Grad, ist für 
ein philosophisches Weltbild entscheidend — ; und dann, weil sie 
der historischen Entwicklung besser entspricht Der totale und 
der partielle Skeptizismus sind durch lange Zeitintervalle von- 
einander getrennt; der radikale und der gemäßigte entwickeln 
sich schon früh (in der pyrrhonischen und der akademischen 
Skepsis) durcheinander imd miteinander. 

Das wissenschaftlich -philosophische Interesse gebot, den 
philosophischen Skeptizismus gegen die Zweifelsarten des gewöhn- 
lichen Lebens scharf abzugrenzen. Damit ist nicht gesagt, daß 
man auf den gewöhnlichen Stimmungskeptizismus verächtlich herab- 
zusehen, noch daß eine andere, der Philosophie ebenbürtige Er- 
kenntnissphäre ihn gleichfalls von ihren Kreisen fernzuhalten habe. 
Gewiß gibt es Skeptikertypen, denen man noch zu viel Ehre an- 
tut, wenn man sie verachtet. Die Skepsis der frivolen, erfahrungs- 
reichen Lebewelt, welche als unfaßbare Atmosphäre die Salons, 
die Theater und Schaustellungen, ja, man möchte sagen, selbst die 
Straßen der großen Städte durchzittert und in so manches Haus 
der besitzenden Klassen verführerisch hineinspielt — ist eine 
der widerwärtigsten und zugleich gefahrlichsten Errungenschaften 
steigenden Wohlstands und sich verbreitender Aufklärung. Aber 
es gibt auch eine ernste und emstzunehmende Stimmungskepsis; 
und sie ist in unserer Zeit nicht selten. Es sind nicht die geistig 
Minderwertigen, die vor dem Streit der Meinungen, der heute auf 
allen Gebieten und gerade in allen grundsätzlichen Fragen herrscht, 
hilflos ihre eigenen Erkenntniskräfte zusammenbrechen fühlen. Wer 
von allen, denen ein scharfer Verstand die Probleme weist, ein 
feines theoretisches Gewissen die Lösungen prüft — wer von ihnen 
möchte in den großen Fragen der Ethik, der Kunst, der Meta- 
physik eine entscheidende Ansicht wagen außer dem gottbegnadeten 
Genie? Nur wenige haben Muße und Fähigkeit, methodische Er- 
kenntniskritik zu treiben und zu untersuchen, ob die Gebiete, die 
dem einzelnen beute verschlos$en sind, der Gattung ewig ver^ 



XXn Einleitung. 

schlössen bleiben werden. In Wenigen auch ist der Sinn für die 
Menschheit und die Zukunft so stark entwickelt, daß bei Ver- 
neinung dieser Frage ihnen der Glaube ein Trost wäre: die Zweifel, 
die das Wissen meiner Zeit nicht zu lösen vermag, werden heller- 
sehende Menschen in fortgeschritteneren Zeiten zu klären verstehen. 
Und wie die Stimmungskepsis aus dem Willen- und Gefühlsleben 
zum guten Teil entsprang, so wirkt sie auch wieder auf dasselbe 
bedeutsam zurück. Der frivole Zweifel führt zu Leichtsinn und 
zur regellosen Entfesselung aller Triebe; der ernste meist zu Schwer- 
mut und Willenslähmung. Indem auch das letzte Ziel, gegen das 
alle einzelnen Zwecke sich abstufen könnten, fehlt, weil es nicht 
erkennbar scheint, bewegt den Willen nichts Höheres mehr, das 
die Vernunft guthieße. Sie kann dem Willen keine Motive bieten, 
noch ein Lustgefühl, durch das ein Erstrebenswertes reizte, oder 
das auf Erreichtes folgte, sanktionieren. Von dem strebenden 
Willen, der nach Zielen reiner Lust oder der Pflicht verlangt, 
wendet sich der skeptische Intellekt trauernd ab, machtlos, den 
Wunsch zu erfüllen. So entsteht jene tiefe skeptische Nieder- 
geschlagenheit und Zerrissenheit, welche man unter der Jugend 
der europäischen Kulturländer in erschreckendem Maße beobachten 
kann. Von den Wissenschaften ist es die Kulturgeschichte, die 
einen solchen Vorgang in der sozialen Psyche zu behandeln hat, 
und es ist nicht wahrscheinlich, daß ein feinsinniger Kulturhisto- 
riker die skeptische Stimmungsbewegung am Ende des 19. Jhdts. 
wird umgehen können.*) Weiter ist es vor allem die Kunst, welche 
sich dieser Erscheinungen liebevoll annimmt. Mit ihren Mitteln 
der Gefühls- und Stimmungschilderung ist sie der geeignete Spiegel 
auch für die skeptische Seelendisposition des Individuums: die 
russischen und französischen Romanciers vor allen, seit einigen 
Jahren auch die Schriftsteller Italiens und Deutschlands, haben 
hier bereits in reichlichem Maße ihres Amtes gewaltet; es genügt. 



i) Es ist merkwürdig, wie in dieser Beziehung der Ausgang des 18. 
und i9.Jahrhdts. einander gleichen. Wenn man die Schilderung der damaligen 
Stimmungskepsis bei Stäudlin (a.a.O. I, S. 64ff; 82/83) liest und von dem 
zeitlichen Kolorit der Ausdrucksweise absieht, so hat man eine anschau- 
liche Illustration von dieser Verwandtschaft. Die Vorrede Stäudlins beginnt 
mit dem Satze: „Der Skeptizismus fängt an, eine Krankheit des Zeitalters 
zu werden, und — was eine seltene Erscheinung in der Geschichte ist — 
sich unter mehrere Stände zu verbreiten und seine Wirkungen im großen 
;cu äußern.'' Klingt das nicht, als wenn es heute geschrieben wäre? 



Einleitung. XXIU 

an die Namen Dostojewski, Tolstoi, Bourget, Maupassant, d'Annunzio 
sowie an die jungdeutschen und österreichischen literarischen Schulen 
zu erinnern. Was für eine zeitliche Bewegung eine zeitliche Kunst, 
das hat für die allgemeinmenschlichen Äußerungen des Stimmung- 
zweifels die große klassische Kunst geleistet. Goethes Faust und 
Shakespeares Hamlet steigen vor uns auf. Beidemal ist die Stim- 
mungskepsis zum tragisch-pathetischen Charakter gesteigert. 
Fausts Skepsis, wie sie uns aus dem großen Anfangsmonolog ent- 
gegentönt, ist eine totale und er verbrennt an ihr: 

Da steh' ich nun, ich armer Tor, 

Und bin so klug als wie zuvor — 

Und sehe, daß wir nichts wissen können, 

Das will mir schier das Herz verbrennen. 

Dieser Skeptizismus ist die Frucht reicher Erfahrungen eines langen 
Lebens; daß Faust „auch Philosophie" studiert hat, macht seinen 
Skeptizismus nicht zu einem philosophischen. Die faustischen Zweifel 
haben den heißen Lebensdrang und Tatendurst wohl zu verdrängen, 
aber nicht zu vernichten vermocht So findet er noch die Kraft 
zur Verzweiflung. Wohl niemals hat sich skeptische Verzweiflung 
in solch grauenvoll erschütternder Art, in solch dröhnenden Ak- 
korden entladen, wie in dem gewaltigen Fluch, mit welchem Faust 
die Werte der Welt zerschmettert: 

„Fluch sei der Hoffnung, Fluch dem Glauben, 
Und Fluch vor allen der Geduld." 

Das sind nur die Ausklänge davon. So beschaffen ist der Stim- 
mungskeptizismus, in dem man sich dem Teufel verschreibt Als 
aber Faust „die kleine, dann die große Welt" in ihrer ganzen 
Fülle ausgekostet, hat er ein gut Teü seines Skeptizismus ver- 
loren. Er beginnt als totaler Skeptiker und endet als partieller, 
nämlich (wenn es erlaubt ist, trockene BegriiTsschemata an ein 
lebendiges Kunstwerk heranzutragen) als immanenter Dogmatiker 
und transzendenter Skeptiker: 

„Der Erdenkreis ist mir genug bekannt, 
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt, 
Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, 
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet 
Er stehe fest und sehe hier sich um. 
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. 
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifend 
Was er erkannt, läßt sich ergreifen" usw. 



XXnr EiiüeituDg. 

Ganz anders Hamlet In Hamlet wirkt die Stimmungskepsis 
wie ein schleichendes Gift, das langsam aber stetig auf alle auf- 
keimenden Willensentschlüsse herabträufelt. Man hat diesen rätsel- 
haften Charakter durch geistvolle Hypothesen uns näher zu bringen 
versucht — man hat ihn als Pessimisten, als Neurastheniker, als 
Genie dargestellt — wir wollen keinen dieser Gesichtspunkte ganz 
verwerfen; aber vor allem ist Hamlet ein Skeptiker, dessen Zweifel 
nicht bloße Überzeugungen bleiben, sondern ihre lähmende Wir- 
kung bis in die Gefühle und Wollungen, ja bis ins elementare 
Triebleben hinab erstrecken: „ich habe keine Lust am Weibe". — 
Hamlet fühlt und will sowenig eindeutig wie er weiß und erkennt. 
Ein solcher Charakter hat an sich noch keine tragische Größe. 
Aber nun tritt die Aufgabe an ihn heran: Hamlet soll wollen, 
Hamlet soll handeln. Er soll morden, soll den Vatermord rächen. 

„Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram 
Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam." 

Schmach und Gram! Wir verstehen es jetzt. Seine Skepsis ist 
Hamlets tragische Schuld. Der französische Schriftsteller Paul 
Bourget hat tief gesehen, wenn er in einer Novelle die skep- 
tische Strömung der heutigen Zeit als „Haml^tisme sentimental" 
bezeichnet. 1) 

Wenn wir nun auch dem Stimmungskeptizismus in den fol- 
genden Seiten keine weitere Berücksichtigung mehr schenken dürfen, 
so wären diese doch niemals ohne jene Bewegung geschrieben 
worden. Denn wie die Philosophie ihre Probleme immer wieder 
am Leben zu revidieren und zum Teil aus diesem zu entnehmen 
hat, so fordert auch der jetzige Stimmungskeptizismus als eine 
Kulturgewalt der eigenen Zeit die Philosophie dazu auf, die theo- 
retische Skepsis erneut durchzudenken und durchzuprüfen. Das 
Ergebnis ihrer stillen Untersuchungen, die durch die Bedürfhisse 
des Lebens zwar angeregt, aber unabhängig von ihnen ausgeübt 
wurden, mag dann wieder vom Leben selbst irgendwie aufgenommen 
und zu veränderter Gemüts- und Handlungsweise verarbeitet werden. 
Das Problem ist einem großen Lebenskreise entnommen; möge 
seine Bearbeitung wenigstens dur«h einen kleinen Kreis auf das 
Leben zurückwirken! 



i) Bourget, Un Scrupule, Vorrede: la maladie morale . . . cet Ham- 
l^tisme sentimental, qui rend incapable d'une passion compl^te, d'une 
volonte suivie, d'un talent definitif. 



Erstes Bueh. 
Der totale Skeptizismus. 



Erster Abschnitt 

Die griecliisclie Skepsis. 

(Der extrem -realistische und eudämonistische Skeptizismus.) 



Erstes Kapitel. 
Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 

L Die Vorgeschichte der griechischen Skepsis* 

Fragen wir uns, wo ist der totale Skeptizismus als geschlos- 
sene Weltanschauung zum ersten Male in der Geschichte der Mensch- 
heit aufgetreten? so unterliegt die Antwort: in Griechenland 
keinem Zweifel. In Griechenland ist die Geburtstätte der gesamten 
Philosophie im Sinn einer selbständigen, von der Volksreligion 
losgelösten Welt- und Lebensdeutung zu suchen; in Griechenland 
sind fast sämtliche philosophischen Grundrichtungen zum ersten 
Male ausgesprochen imd in kühner Großzügigkeit ausgeführt worden; 
in Griechenland auch erhebt der totale Skeptizismus zum ersten 
Male sein Haupt und zieht gleich seine eigenen Konsequenzen mit 
einer Folgerichtigkeit, wie es spätere Zeiten nie wieder gewagt 
haben. ^) Nicht nur die Worte Skeptiker und Dogmatiker, auch 
deren Typen sind in Griechenland geprägt worden.*) Über all dies 
herrscht Einverständnis. Nicht mehr ganz so selbstverständlich ist 
die Antwort, wenn wir dem wo? noch das wann? hinzufügen. 
Zwar sind die neueren Gelehrten wohl alle der Meinung, daß der 
philosophische Skeptizismus, der mit Recht diesen Namen führe, 
erst mit Pyrrho aus Elis gegen Ende des IV. Jhd. nach Chr. auf- 
getreten sei; aber die Alten selbst, besonders die skeptischen 
Denker unter ihnen, schoben mit Vorliebe den Anfang des Skepti- 
zismus noch höher hinauf Diogenes von Laerte (der im III. Jhd. 
nach Chr. lebte, imd dessen Bücher eine wichtige Quelle für unsere 
Kenntnis derjenigen griechischen Philosophen bilden, von denen 
keine Schriften erhalten sind), berichtet, daß viele Skeptiker den 



4 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Homer als Begründer ihrer Richtung ansehen, und daß sie die 
sieben Weisen, sowie einen großen Teil der vorplatonischen Philo- 
sophen zu ihrer Partei gerechnet haben.*) Auch Cicero, der 
selbst zum Skeptizismus neigte, zählt Demokrit und Empedo- 
kles, auch Sokrates, ja selbst den Plato zu den skeptischen 
Denkern.*) Ahnlich, zum Teil sogar viel übertriebener, sprechen 
sich Montaigne, Huet und Bayle aus^ — alles Männer, die 
uns noch im weiteren Verlauf dieser Untersuchungen beschäftigen 
werden. Aber wenn man auf die Begründung sieht, die hier 
für einen so frühen Ursprung der skeptischen Theorie gegeben 
wird, so kann man den Wert dieser Aussagen nicht allzuhoch 
veranschlagen. Den Homer z. B. beschuldigt man des Skeptizis- 
mus wegen einzelner Verse wie: 

Denn so ändert der Sinn sich der sterblichen Erdebewohner 
So wie die Tag* herfuhrt der waltende Vater vom Himmel.®) 

Die Aussprüche der Weisen: fitfihv ayav (nichts zuviel) und 
iyyva napa 8^ ara (neben der Bürgschaft lauert das Verderben) 
sollen skeptische Äußerungen sein.^ Sokrates wird auf sein be- 
rühmtes Bekenntnis hin: Ich weiß nur, daß ich nichts weiß, für 
einen Skeptiker erklärt.®) Die Atomenlehre Epikurs, die Ideen- 
metaphysik Piatos, die Zahlenphilosophie des Pythagoras sind nicht 
ernst gemeint und nur dogmatische Masken skeptischer Autoren.') 
Auf diese Weise, mit Hilfe aus dem Zusammenhang gerissener, 
nicht einmal auf die Grundprinzipien der Erkenntnis gerichteter 
Sentenzen oder gelegentlicher poetischer Äußerungen eines Stim- 
mungskeptizismus, oder gar durch willkürliche Konstruktion ge- 
heimer Motive war es leicht, den Anfang des philosophischen 
Skeptizismus beliebig weit in der Menschheitsgeschichte hinauf- 
zurücken. Daß dies aber ein natürliches Bedürfnis der Skeptiker 
war, ist leicht erklärlich. Gerade der ernste Mensch liebt es, sich 
in seinen Ansichten auf große Vorgänger zu berufen; und leicht 
geschieht es ihm, dafs er seine eigenen Meinungen nicht aus den 
Werken anderer heraus-, sondern in diese hineinliest. Vorzüglich 
aber war der Homer für das ganze Altertum eine Art von Bibel, 
und in ihm seine Sanktion zu finden, mußte von hohem Wert 
sein. Wir werden gleich sehen, wie noch die ersten wirklichen 
Skeptiker mit Vorliebe homerische Verse oder Varianten derselben 
im Munde fuhren. Tritt uns nun aber der Skeptizismus nicht als 
eine fertige Erscheinung in uralten Zeiten entgegen, fällt er nicht 
einmal mit dem Beginn der Philosophie zusammen , sondern macht 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 5 

sich erst verhältnismäßig spät in derselben geltend, so wird er 
geschichtliche Vorbedingungen haben, aus denen heraus er ver- 
standen sein will. Welches sind nun diese historischen Voraus- 
setzungen der griechischen Skepsis? 

Überblickt man die Geschichte der griechischen Philosophie 
bis zu dem Punkte, an dem der entschiedene Skeptizismus ein- 
setzt, so kann man eine steigende Schwängerung der geistigen 
Atmosphäre mit Zweifelselementen wahrnehmen, die aus den 
verschiedensten Quellen zusammenströmen. In der Wahl der 
Probleme freilich, mit denen sich die ersten griechischen Philo- 
sophen beschäftigen, zeigt sich zunächst noch nicht der geringste 
Grad von Zweifel an der Leistungsfähigkeit der menschlichen Er- 
kenntnis. An dem umfassendsten aller Probleme, dem kosmo- 
logischen oder dem Weltproblem, an den Fragen: was ist die Welt, 
woraus besteht sie, woraus ist sie entstanden, wohin vergeht sie, 
erprobt sich zuversichtlich das kräftige junge, neuerwachte grie- 
chische Denken. Die alten religiös -mythologischen Kosmogonien 
und Theogonien eines Hesiod und Pherekydes genügen nicht 
mehr. Man will das Wesen der Welt und der Götter nicht in 
der Form von Mythen und Mysterien, nicht phantastisch und sym- 
bolisch, sondern klar und verstandesmäßig begreifen. Nicht ein 
Schatten von Zweifel bei diesen Naturphilosophen, ob so etwas 
nicht die Grenzen menschlicher Erkenntnis übersteige! Zunächst 
gingen diese ersten griechischen Gelehrten (ihr Wirken fallt in 
das VI. Jhd. vor Chr.) von dem einseitig qualitativen. Standpunkt 
aus und strengten alles Denken an, um den Stoff, aus dem 
die Welt bestünde, zu ergründen. Die berühmte Antwort des 
Thaies, mit dessen Lehren man die griechische Philosophie 
beginnen läßt, dieser Stoff sei das Wasser, ist bekannt; andere 
Ansichten lauteten dahin, daß der Urstoff das Unbegrenzte, das 
äTteiQOv sei; aus ihm entstehe alles, in es kehre alles zurück; 
noch andere gaben die Luft als diesen Urstoff an. Da all diese 
Denker der ionischen Kolonie Milet entstammten, pflegt man sie 
gemeinsam als die ionischen Naturphilosophen (Physiker, 
Physiologen) zu bezeichnen. — Aber die Welt ist nicht chaotischer 
Stoff, ungeordnete Materie, sie ist geformter und geordneter Stoff. 
Die ionischen Physiker hatten das Weltprinzip stoftlich gefaßt; 
einer unter ihnen, Anaximander, hatte sogar den Urstoff aus- 
drücklich bereits Prinzip, apxi], genannt. Man konnte nun aber auch 
— eine geordnete Welt und einen geformten Stoff vor Augen — 



6 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

in der Form das Prinzip der Wel erblickten. Dies ist der Stand- 
punkt des Pythagoras (um 540 vor Chr.) und seiner Schule. Pytha- 
goras ist noch mehr religiöser Reformator als philosophischer 
Denker. Er stellt sich, dem dorischen Stamme angehörig, den 
ionischen Physikern entgegen auf den einseitig quantitativen 
Standpunkt 1®): das Wesen der Dinge ist die Zahl. Hier dämmert 
zum ersten Male die Ahnung von einer rein mathematischen Be- 
handlung der ganzen Welt auf, die ihr Ideal in einer Welt- 
formel fände. Die Zahl ist das Wesen der Dinge: die Zahl ist 
das Wesen der musikalischen Harmonie, der Quinte, der Terz, 
der Oktave usw. Pythagoras ist der Entdecker dieser Wahrheit. 
Aber die Zahl ist auch das Wesen der astronomischen Harmonie, 
der Harmonie der Sphären; und die pythagoreische Schule hat 
sich um die Förderung der Astronomie im Altertum verdient ge- 
macht. Ja die Zahl ist das Wesen des Stoffes, der Körper selbst; 
es sind die Körper nichts anderes als Zusammensetzungen kleinster 
Teilchen, die aus strengen Zahlen Verhältnissen bestehen, wie 
der Kubus, das Tetraeder, das Oktaeder usw. Diese sind die 
Grundformen aller Elemente. Aber in Pythagoras überbietet der 
Seher den Denker. Die exakte mathematische Tendenz der Welt- 
betrachtung wird von einer tollen Zahlenmystik verdrängt; die 
Seele, die einzelnen Tugenden, werden zu 2^1en gemacht Bei 
der Vierzahl wird geschworen, die Zehnzahl als der Inbegriff der 
Vollendung gepriesen. 

Halten wir einen Augenblick inne. Bei diesen ionischen und 
dorischen Denkern ist noch nicht ein Schimmer von skeptischer 
Geisteshaltung zu spüren. Mit naivem Vertrauen, ohne natur- 
wissenschaftliche, ohne mathematische Kenntnisse, gehen sie daran, 
das Weltbild naturwissenschaftlich und mathematisch zu erklären. 
Und doch, die Keime für eine spätere Skepsis entdeckt der feiner 
Blickende sofort! Zunächst die Entfernung von der Volks- 
religion und Volksmythologie; nicht mehr „aus Zeus ist alles 
entstanden" {^dibg 5' ?x ndvxa rhvxrai), wie es in einem uralten 
Verse heißt ^^), sondern aus Wasser oder Lufl oder dem aTtstpov. 
Darum dürfen wir uns diese frühen griechischen Naturphilosophen 
flicht als irreligiös vorstellen; im Gegenteil. Aber sie lassen in 
ihren philosophischen Spekulationen entweder die religiösen Ele- 
mente geflissentlich beiseite, oder sie treten als religiöse Refor- 
matoren, als „Protestanten" auf Hierin liegt ein skeptischer Keim 
verschlossen, welcher nicht verfehlen wird, weiter zutreiben. Der 



Erstes Kapitel Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. ^ 

Katholizismus» sagt Raynal, strebt unaufhörlich zum Protestantismus; 
der Protestantismus zum Sozinianismus ; der Sozinianismus zum 
Dei^nus, der Deismus zum Skeptizismus.^') Auf diesem Punkte 
ist der Weg der heidnischen und der christlichen Religionsphilo- 
sophie der gleiche. Und weiter: mit dem qualitativ stofflichen 
Standpunkt, den die ionischen Physiker, und dem quantitativ- 
formalen, den der Dorier Pythagoras und seine Schule ein- 
nahmen, war ein gegensätzliches Begriffspaar, waren zwei 
sich gegenüberstehende Weltauffassungsweisen geschaffen. Und 
beide waren, dem griechischen Denken in dieser Periode gemäß, 
mit einer großartigen Rücksichtslosigkeit ausgesprochen worden, 
die ihre Unvereinbarkeit noch besonders hervorkehren mußte. 
Hatte Pythagoras doch nicht die Zahl als das Wesen der Ver- 
hältnisse zwischen den Dingen, oder als das Symbol für die sitt- 
lichen Begriffe, sondern geradezu die Dinge und die Tugenden 
selbst als Zahlen bezeichnet! In der Tat war der Gegensatz beider 
Richtungen so groß, daß es erst viel später der Kraft des aristo- 
telischen Geistes gelang, beides, stoffliche und formale Welt- 
betrachtung, zu einem einheitiichen Ganzen zusammenzuzwingen. 
Lag es da nicht nahe, daß ein kritischer Zuschauer, der dies Spiel 
der ersten Denkarbeit über das Weltproblem sinnend betrachtete, 
gegen das Denken selbst Verdacht schöpfte? 

Aber noch war der griechische Geist ungebrochen in seiner 
Kraft; statt zu zweifeln, sucht er nach neuen Lösungen. Die 
Welt zeigt sich heute nicht mehr als die gleiche wie gestern, 
morgen als eine andere wie heute. Die Dinge scheinen in steter 
Veränderung begriffen, der Mensch sich mit ihnen zu verändern. 
Alle Veränderung aber ist ein Werden , ein Werden eines seienden 
aus einem nichtseienden Zustand, das Hervorgehen des Etwas aus 
dem Nichts. Ein solcher Prozeß ist eine Denkunmöglichkeit; es ist 
ganz undenkbar, daß Etwas aus Nichts entsteht. Also ist alles 
Werden, Entstehen, Vergehen, sich Verändern, alle Vielheit, die 
ohne Entstehen nicht zu begreifen ist, nur Täuschung. Das einzig 
klar zu Denkende, und darum allein Wirkliche, ist das Sein, das 
starre, unbewegliche, unbegrenzte, unwandelbare, beharrliche. Eine 
Sein. Dies Eine ist das All, und dieses Alleine ist — Gott. Die 
Repräsentanten dieser Weltanschauung sind die Philosophen aus 
der süditalienischen Kolonie Elea, die Eleaten Xenophanes 
(540 vor Chr.) und Parmenides (um 470 vor Chr.). Ihre Schüler 
Zeno und Melissus zeigten insbesondere mit einer seltenen Schärfe 



8 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

der Dialektik, daß Vielheit und Veränderung, vor allem die Be- 
wegung, unmöglich sei: Achilles kann eine Schildkröte niemals 
einholen; denn er muß dazu eine Unendlichkeit unendlich kleiner 
Teilstrecken durchlaufen, so daß die Schildkröte immer schon 
den Ort verlassen hat, wenn Achilles an demselben eintrifft; eine 
Bewegung kann unmöglich beginnen; denn ein Körper kann gar 
nicht an einen anderen Ort gelangen, ohne eine Unendlichkeit 
von Zwischenorten vorher passiert zu haben. Daß in diesen schein- 
bar naiven Argumentationen schwierige metaphysische, erkenntnis- 
theoretische und mathematische Probleme (den Begriff des Unendlich- 
kleinen betreffend) enthalten sind, ist ersichtlich. — In allem der 
Philosophie der Eleaten entgegengesetzt ist diejenige des Heraklit, 
des Dunklen von Ephesus (um 500 vor Chr.). Er löste die Frage 
nach dem Werden, Entstehen und Vergehen so, daß alles im 
ewigen Wechsel begriffen, daß die ganze Welt nur ein ununter- 
brochener Weltprozeß sei, eine Reihe von Veränderungen von 
Ewigkeit zu Ewigkeit Alles ist im Fluß; ndvta /Jet; Ruhe und 
Stillstand gibt es nicht; es gibt kein Sein, nur ein Werden. Also 
die gerade Ümkehrung der eleatischen Gedankenreihen. Hatten 
Parmenides und Xenophanes ihr Weltprinzip, das starre, unbeweg- 
liche Sein, in plastischer Weise als in sich abgeschlossene, ruhende 
Kugel erklärt, so ist bei Heraklit umgekehrt das rastlos sich ver- 
zehrende Feuer, die wabernde Lohe, das Urwesen der Welt. Das 
Feuer ist zugleich der göttliche Geist, die Weltvernunft, der Xoyots^ 
Aus Feuer ist alles geworden, in Feuer kehrt alles zurück: „der 
Weg auf und ab ist ein und derselbe ";i*) in dem Urwesen der 
Welt fallen alle Gegensätze zusammen. Heraklit lehrt die Identität 
der Gegensätze. 

Sind Heraklit und die Eleaten nun Skeptiker? Gewiß nicht; 
sondern als echte Dogmatiker spekulieren sie über den Urgrund 
der Welt und glauben zuversichtlich, ihn durch ihr reines Denken 
erfaßt zu haben. Aber durch diesen Dogmatismus ist dem kom- 
menden Skeptizismus wieder gewaltig vorgearbeitet worden. Der 
Bruch mit der Volksreligion, auf dessen skeptische Konsequenzen 
schon vorher hingewiesen wurde, ist hier noch weit entschiedener 
als bei den ersten ionischen Naturphilosophen und bei Pythagoras. 
Xenophanes bekämpft mit aller Wucht die anthropomorphistischen 
Götter eines Hesiod und Homer, die Hände haben und sprechen, 
die stehlen, ehebrechen und sich betrügen. 1*) Und Heraklit 
setzt mit den Eleaten gemeinsam dem Polytheismus den Mono- 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsb. 9 

theismus entgegen, i^) Auf der anderen Seite stehen sich in den 
Lehren dieser Männer wiederum zwei entgegengesetzte Anschau- 
ungen schroff gegenüber; zu dem gegensätzlichen Begriifspaar: 
Stoff — Form tritt nun jenes zweite: Sein — Werden hinzu; und 
wiederum sind beide Weltbilder in einer Weise geradlinig und 
unbeirrt zu Ende gedacht, weisen alle Vermittelungsversuche, 
die ein reicheres Erfahrungswissen späteren Zeiten aufnötigte, 
so weit von sich, daß ihre Gegensätzlichkeit bis zum Äußersten 
angespannt wird. Muß da unser kritischer Zuschauer nicht zum 
zweiten Male und in verstärktem Maße Verdacht schöpfen gegen 
die Macht der menschlichen Erkenntnis? Es war Plato vorbehalten, 
das Sein im Werden zu schauen und den ruhenden Pol in der 
Erscheimmgen Flucht nachzuweisen. — Aber auch in den ein- 
zelnen Lehren des Heraklit und der Eleaten finden wir reiche 
Ansätze zum Skeptizismus. Die Eleaten leugneten Vielheit, Ver- 
änderung und Bewegung. Aber wo unser Auge hinblickt, wo 
unsere Hand tastet, stoßen unsere Sinne auf Vielheit, Veränderung 
und Bewegung. So wird die sinnliche Erkenntnis für trügerisch 
erklärt, und zwar nicht in jener relativ harmlosen Art, in der wir 
auch heute noch von Sinnestäuschungen reden, sondern in ihrer 
ganzen Ausdehnung und in jedem ihrer Teile. Die Welt der Sinne 
ist die Welt des Scheines und des Irrtums, und sie steht in 
geradem Gegensatz zu den Ergebnissen der Vernunft. Nur das 
ruhende Sein ist logisch denkbar. Diese Zweifel in die sinnliche 
Erkenntnis und die Betonung ihres Gegensatzes zur Vemunftein- 
sicht kehren auch in fast allen skeptischen Theorien wieder. — 
Mit ihren zahlreichen, auf den subtilsten und verzwicktesten 
Schlüssen aufgebauten Beweisen von der Unmöglichkeit eines 
scheinbar Selbstverständlichen , wie der Bewegung und der Vielheit, 
legte die eleatische Schule ferner den Grund zu der sogenannten 
Dialektik; diese Kunst hat für die Skeptiker stets eine will- 
kommene Waffe abgegeben, das vor aller Augen Liegende hinweg 
zu disputieren oder auch für die nämliche Behauptung das Ja und 
das Nein im antithetischen Verfahren mit gleich starken Gründen 
zu erweisen. 1*) Daß in der Tat diese skeptischen Züge in die 
eleatische Philosophie nicht hineingedeutet wurden, sondern wirklich 
in ihr liegen, beweist der Umstand, daß einer der Größten der 
Sophisten, Gorgias, seine skeptischen Behauptungen aus elea- 
tischen Grundgedanken ableitet, und daß in den Spottgedichten 
des Timon, eines Hauptes der skeptischen Schule, in denen 



lO Enter Abschnitt Die griediiiche Skepsis. 

alle Philosophen lächerlich gemacht werden, nur Pyrrho, der 
eigentliche Begründer der Skepsis, und die Eleaten ernst genommen 
und bewundert werden. ^^ — Nicht minder drängt die herakliteische 
Weltansicht zu skeptischen Folgenmgen. Nur nebenbei sei ein 
die Sinneserkenntnis bezweifelnder Ausspruch Heraklits erwähnt: 
„Schlimme Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, wenn 
sie Barbarenseelen haben "i®) (d. h. wenn sie Seelen haben, die die 
Sprache von Auge und Ohr nicht zu deuten vermögen). Wenn 
aber alles im ewigen Wechsel kreist, wie es Heraklit verkündete, 
wie ist dann überhaupt eine Erkenntnis der Dinge noch möglich? 
Wenn man nicht zweimal, ja nicht einmal (Kratylus) in den gleichen 
Fluß hinabsteigen kann, weil es dann nicht mehr der gleiche ist,i^) 
wie kann man da von einem bestimmten Fluß überhaupt sprechen? 
In noch naiver Weise kehrt der nämliche Kratylus, ein Schüler 
des Heraklit, die Unmöglichkeit der Erkenntnis und der MitteUung 
unter solchen Bedingungen dadurch hervor, daß er kein Ding 
mehr mit Namen benannte, sondern nur rasch mit dem Finger 
danach wies, weil es sonst inzwischen schon ein anderes geworden 
sein könne;*®) aber vollbewußt sehen wir wiederum ein Haupt 
der Sophisten, und gerade den bahnbrechendsten Vorläufer der 
Skepsis, Protagoras, dem herakliteischen Prinzip vom Fluß aller 
Dinge anhängen; und unter den erklärten Skeptikern scheint einer 
der radikalsten, Aenesidem, (eine Frage, die uns später noch 
beschäftigen wird) die herakliteische Philosophie unter allen Welt- 
deutungen für die relativ wahrscheinlichste gehalten zu haben. 

Aber noch ist die Zeit für den Skeptizismus nicht reif. Immer 
schießen neue Systeme auf dem griechischen Geistesboden auf; 
immer noch steht das kosmologische Problem, die Welterklärung, 
im Vordergrund des Interesses. Man geht jetzt nicht mehr so 
allgemein und radikal vor, dringt tiefer ins Einzelne und sucht 
die großen Entweder — Oder in ein Sowohl — Als auch zu ver- 
wandeln. Einige, wie Empedokles (um 450 vor Chr.), erklären 
die Weltvorgänge als eine Verbindung und Trennung von vier 
Elementen und sehen die bindenden und trennenden Kräfte in 
der Liebe und im Haß; andere, wie Anaxagoras, nehmen ein Chaos 
unzähliger solcher Elemente an und lassen erst durch das Hinzu- 
treten einer Weltvemunft, des vovg, Ordnung und Harmonie er- 
wachsen. Durch solche Versuche werden neue Widersprüche dem 
griechischen Geist als Rätsel hingeworfen, der naive Glaube an 
die Volksreligion immer tiefer in den Hintergrund gedrängt. 



Erstes KapiteL Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 1 1 

Anaxagoras wurde bereits wegen Gottlosigkeit aus Athen ver- 
bannt; den Empedokles scheint in Italien ein gleiches Schicksal 
getroffen zu haben. In direkter Beziehung zum Skeptizismus aber 
steht das reifste Erzeugnis und die eigentliche Frucht dieser ersten 
naturphilosophischen Periode der griechischen Philosophie: das 
große materialistische System des Demokrit (um 420 vor Chr.). 
Leider ist es nur in elenden Bruchstücken auf uns gekommen. 
Die Welt besteht aus zahllosen Elementen im Räume, deren einzige 
Eigenschaften Größe und Figur sind; sie sind ungeteilt und unteilbar, 
axo}ia. Alles, was ist, besteht aus solchen Atomen; alles Ent- 
stehen ist nur Verbindung, alles Vergehen nur Trennung der 
Atome; alles Wirken geschieht mechanisch, durch Druck und 
Stoß der Atome. Zufall gibt es nicht. Die Seele besteht aus 
<ien glattesten Atomen; Denken ist Bewegung der Gehimatome. 
Wie steht es nun aber mit der menschlichen Erkenntnis? Wenn 
die Atome und der Raum allein wirklich, an sich, bestehen, so 
ist die Erkenntnis allein wahr, welche diese erfaßt. Die Atome 
aber sind nichts Sichtbares, sondern nur Denkbares, rotftd. Allein 
die Vemunfterkenntnis also besitzt die Wahrheit ;2i) die sinnliche 
Erkenntnis, die uns die Qualitäten der Dinge, wie Farbe, Ge- 
ruch, Geschmack anzeigt, ist subjektiv, je nach der Beschaffen- 
heit unserer Sinnesorgane verschieden, und ihr entspricht keine 
objektive Wirklichkeit.**) Der Honig ist weder süß noch bitter, 
sondern ein Komplex qualitätsloser Atome; er ist — schon Demokrit 
gebraucht diese skeptische Formel, wenn auch in etwas anderem 
Sinn wie die späteren Skeptiker — „um nichts mehr" {ovdhv /jtäXXov) 
dies als jenes. *5) Auch aus den ethischen Äußerungen, die wir von 
Demokrit besitzen, scheint hervorzugehen, daß er das nämliche 
Lebensideal wie die Skeptiker, die Unerschütterlichkeit des Gemütes, 
die atapa^ia empfohlen habe. *^) Demokrits Schüler (Metrodorus 
von Chios*^ und Anaxarch*^) bildeten die skeptischen Elemente 
des Meisters in schärferer Zuspitzung aus. Eine tatsächliche, allen 
Vermutungen entrückte Verbindung des Demokritismus mit dem 
Skeptizismus besteht darin, daß der Demokriteer Anaxarch der 
Lehrer und Begleiter Pyrrhos, des Gründers der skeptischen 
Schule, gewesen ist. Der Zusammenfluß all dieser und noch 
anderer Umstände hat es veranlaßt, daß Forscher unserer Tage 
den alleinigen Ursprung der pyrrhoneischen Skepsis in Demokrits 
Lehre erblicken wollen. Das aber ist einseitig.*^) Denn wie wir 
schon vor Demokrit mannigfache zur Skepsis hindrängende 



12 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Gedankenströme aufzeigen konnten, so wird nun in erhöhtem 
Maße der gewaltige Problemumschwung, der sich zu Demokrits 
Zeit in der griechischen Philosophie vollzieht, für die Entstehung 
des Skeptizismus bedeutungsvoll. 

Dieser Umschwung in den Problemen eröfl&iet die zweite 
große Epoche der griechischen Philosophie. Worin besteht er? 
Von der Betrachtung der Welt und der Natur, müde geworden 
durch die zahlreichen vergeblichen Lösungsversuche, wendet sich 
das Interesse dem Menschen zu. Es ist das anthropologische 
Problem, welches das kosmologische ablöst. Man fragt sich: 
stammt denn der ganze Streit der philosophischen Meinungen 
nicht vielleicht daher, daß dem menschlichen Erkennen gewisse 
Grenzen gesetzt sind? liegt die ganze Schwierigkeit vielleicht nicht 
im Objekt sondern im Subjekt ? So kam man auf das Erkenntnis- 
problem. Aber der Mensch besteht nicht nur aus einem erkennenden, 
sondern auch aus einem wollenden Teil; aus diesem entspringen seine 
Handlungen. Nun richtet sich der Blick der Denker in dieser anthro- 
pologischen Strömung vorwiegend auf das Erkennen und das Handeln. 
Erkenntnistheorie und Ethik stehen jetzt im Mittelpunkt des Interesses. 
Die Zurückschraubung des philosophischen Standpunkts von der Be- 
trachtung des allumfassenden Objekts, der Welt, auf die Analyse 
des philosophierenden Subjekts, des Menschen, geschah durch die 
Sophisten. Und zwar gleich in der radikalsten Weise. Die So- 
phisten waren Wanderlehrer, die für Geld philosophischen Unter- 
richt erteilten — im damaligen Griechenland etwas Unerhörtes. Die 
vornehm strenge Art eines Heraklit und Parmenides, sich sinnend 
in das All zu versenken, und was sie dort erschaut, nach Pro- 
phetenweise zu verkünden, der lebenabgewandte große Denker- 
stil dieser Männer war den Sophisten fremd. Sie schauen nicht 
und verkünden nicht; sie klügeln und lehren für Geld; sie suchen 
die Theorie unmittelbar für die Praxis zu verwerten. Rhetorik 
und Politik sind ihre vornehmsten Künste. Diese Züge scheinen 
allen Sophisten gemeinsam gewesen zu sein. Gegen eine ein- 
gehendere Gesamtcharakteristik dieser Richtung hat man mit Recht 
die gewaltigen Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern 
geltend gemacht, die, nur durch den gemeinsamen Beruf zusammen- 
hängend, keine besondere Schule oder Klasse innerhalb der grie- 
chischen Denker bilden*®). Aber mit Sicherheit dürfen wir unter 
den Sophisten zwei Typen feststellen, denen man in jedem Beruf 
und in jedem Stande zu begegnen pflegt: die seichten und die 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. Iß 

tiefen, die Ernst- und die „Spaßphilosophen", um mit Schopen- 
hauer zu reden. Und auch das läßt sich noch getrost behaupten, 
daß man bei beiden Gattungen gelegentlich auf skeptische Ge- 
dankengänge stößt Wenn auch der Durchschnittsophist keines- 
wegs immer ein Aufklärer und noch viel weniger jeder Aufklärer 
damals immer ein Sophist gewesen zu sein braucht,**) so segelte 
doch zweifellos die Menge der Sophisten in einem Fahrwasser, 
das überkommene Werte und Überzeugungen unterspülte und an 
deren alten Pfeilern und Pfosten hinaufleckte. Im Kritisieren und 
Widerlegen sind sie Meister, die Dialektik üben sie als Sport. Kunst- 
stückchen, wie sie uns Plato von dem sophistischen Brüderpaar 
Eutydemus und Dionysidorus vor Augen fuhrt, mögen an der 
Tagesordnung gewesen sein. Wenn solche Männer dann eine 
skeptische Geisteshaltimg annahmen, so stand dieselbe theoretisch 
wohl meist auf schwachen Stützen. Sie übersprangen die Theorie, 
um sich ganz der Praxis zuzuwenden und technisch gut geschulte 
Redner, Politiker, Advokaten zu erziehen. Aber dieser Verzicht 
auf Theorie und systematische Begründung war kein Akt der 
Entsagung, sondern sie nahmen umgekehrt den theoretischen 
Standort völliger Negation zum willkommenen philosophischen 
Ausgangspunkt, ihre eigentliche Liebhaberei, die dialektische, 
im Leben verwendbare Ausbildung ihrer Schüler zu betreiben. 
Denn von der Basis des Zweifels aus, ob es allgemeingültige 
Wahrheiten, ob es allgemeinverbindliche sittliche Gesetze gäbe, 
war es leicht, von dem gleichen Satze das Ja und das Nein, von 
der gleichen Handlung das Gut und das Schlecht zu erweisen (ein 
bekanntes Kunststück der Sophisten), und dies wiederum war ja ein 
brauchbares Mittel, die schwächere These zur stärkeren zu machen, 
den Gegner im Prozeß ad absurdum zu führen, dem Streitenden 
in der Diskussion den Mund zu schließen; vielleicht auch war es 
für manche der geeignete Standpunkt, unter kluger Benutzung der 
beginnenden D^cadence viel Geld zu verdienen. 

So frivol und läppisch aber auch die minderwertigen Exem- 
plare dieser Gruppe zumal in späteren Zeiten gewesen sein mögen, 
so liegt doch selbst bei ihnen dieser hohen Virtuosität, das Feste 
schwankend und das Schwankende fest zu machen, etwas sehr 
Ernstes und ernst zu Nehmendes zugrunde. Es ist die Einsicht, 
die die Ernsten unter den skeptisch gearteten Sophisten sich 
zu eigen machen, die Einsicht: daß die Wahrheit eines Urteils, 
die erkennbare Natur eines Dinges von der Beschaffenheit des 



14 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

urteilenden und wahrnehmenden Subjekts abhängen, daß es somit 
keine Wahrheit „an sich" gibt, und daß die „absolute" Natur 
eines Dinges nicht erkannt werden kann. So etwa wird man in 
modemer Ausdrucksweise die Summe der Lehren zusammenfassen 
diirfen, die die großen Häupter der Sophisten, Protagoras 
und Gorgias (beide um 440 vor Chr.) verkündeten. Der klassische 
Satz des Protagoras „der Mensch ist das Maß aller Dinge, der 
seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind", ist 
der monimientale Ausdruck dieser Auffassungsweise. Seine 
Deutung ist nicht unumstritten; aber wir neigen der Ansicht zu, 
daß Protagoras hier unter dem Menschen den Einzelnen, nicht die 
Gattung verstanden, der Satz individuelle, nicht generelle Be- 
deutung habe^) und also besagen wolle, daß (nicht die allen 
Menschen gemeinsamen, sondern) die Erkenntnisbedingungen des 
Einzelnen der Maßstab zur Feststellung der Wirklichkeit alles 
Dinglichen sei.*^) Durch die Anwendung der herakliteischen Lehre 
vom Fluß und der Bewegung aller Dinge, deren Anhänger Prota- 
goras war,**) auf die speziellen Vorgänge der sinnlichen Wahr- 
nehmung scheint der Sophist zu seinen skeptischen Grundansichten 
gelangt zu sein. Auch die sinnliche Wahrnehmung kommt nur 
durch den Zusammenfluß zweier Bewegungen, einer vom Objekt 
imd einer vom Subjekt ausgehenden, zustande; ihr Produkt ist 
die jeweilige Empfindung.**) Da diese aber naturgemäß von dem 
augenblicklichen Zustand des wahrnehmenden Organs abhängig ist, 
so ist der Erkenntniswert jeder Empfindung nur ein augenblick- 
licher und individueller. Für mich ist die Empfindung wahr — 
aber auch an sich?**) Indem Protagoras nun jede andere Erkennt- 
nisquelle außer der sensualistischen leugnet,*^ muß er bei diesem 
relativen Wahrheitsbegriff stehen bleiben. Tat er das wiederum, 
so ist nur die natürliche Folge: wenn man die absolute Wahrheit 
einer Behauptung im Auge hat (d. h. deren Gültigkeit für das 
Objekt und Verbindlichkeit für andere Subjekte), so herrscht der 
vollständige Zweifel, und es läßt sich von jedem Satz das Ja und 
das Nein mit gleich guten Gründen beweisen. 

Das Prinzip der Isosthenie, das später in der griechischen 
Skepsis eine so große Rolle spielt, hat Protagoras zuerst ver- 
kündet.**) Ganz damit in Übereinstimmung steht seine erklärte 
Unwissenheit über die Götter,*^ die freilich eine Verehrung der- 
selben — aus welch psychologischen Gründen auch immer — 
ebensowenig wie bei den späteren Skeptikern, ausgeschlossen 



Erstes KapiteL Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsb. I 5 

haben mag. „In betreif der Götter vermag ich nicht zu wissen, 
nicht, daß sie sind, und nicht, daß sie nicht sind; denn vieles 
hindert, dies zu wissen, zumal die Dunkelheit der Sache und das 
menschUche Leben, daß es so kurz ist."*^ 

Gorgias aber huldigte einem völligen Nihilismus, den er 
zum Teil mit eleatischen Gedankenreihen stützte, in seinen drei 
Thesen: es ist nichts; gäbe es etwas, so wäre es unerkennbar; 
wäre es erkennbar, so wäre es nicht mitteilbar. Aber die Beweise, 
die wir dafür zu hören bekommen, sind teils von so rein formal- 
dialektischer Art, teils treffen sie überhaupt einzig die Möglichkeit 
eines Irrtums und nicht die Unmöglichkeit der Erkenntnis, daß 
nur ein uns fremdes, rein geschichtliches Interesse mit seiner 
Versenkung in alles tatsächlich Dagewesene, nicht aber die Ab- 
sicht, nur wichtige systematische Elemente des Skeptizismus zu 
berücksichtigen, ihre Besprechung an diesem Ort rechtfertigen 
würde. 

Dagegen darf man die uns überlieferten moralphilosophischen 
Aussprüche der Sophisten in keinem Fall als ethische Skepsis 
gelten lassen. Wenn man, wie wir es tun und es im Interesse 
reinlicher Sonderung der Standpunkte geboten erscheint, unter 
philosophischem Skeptizismus den Zweifel aus grundsätzlichen Er- 
wägungen an der Erkennbarkeit der Wahrheit auf dem Gebiet der 
Werte oder der Wirklichkeit versteht, so kann von einer sophisti- 
schen Moralskepsis nicht die Rede sein; denn entweder bewegten 
sich diese Männer ganz in den Gleisen der landläufigen Moral- 
anschauung, wie Prodikus, Protagoras und andere, oder aber sie 
vertreten, wie Thrasymachus und Kallikles (in der platonischen 
Darstelltmg) rein anarchistische Grundsätze. Diese gipfeln in 
den Gedanken, daß die herrschenden Begriffe über Recht imd 
Unrecht, Gut und Schlecht, wie die Verschiedenheit der sittiichen 
Gebräuche und Anschauungen bei den einzelnen Völkern beweise, ^•) 
nicht unveränderlich in der Natur der Dinge liegen, sondern auf 
wülkiirlicher Satzung der Menschen beruhen, nicht (pvöBi sondern 
nur Sfiözi bestehen.*^) Diesem positiven Recht steht das natür- 
liche Recht gegenüber; es lehrt, daß, wer die Kraft in sich fühle, 
die Gesetze zu überspringen, dies auch ruhig tun dürfe. Penn 
der Natur nach sei Kraft: Recht und die rücksichtslose Verfolgung 
des eigenen Vorteils: Sittiichkeit Man erkennt sofort an diesen 
Gedankengängen die Vorläufer der Moralphilosophie eines Hobbes» 
Helvetius, Stiinert Aber von irgend einem Zweifel an der Er- 



l6 Erster Abschaitt. Die griechiiche Skepsis. 

kennbarkeit sittlicher Werte ist so wenig wie bei ihren Nach- 
folgern die Rede ; denn sowohl das jeweilig positive Recht wie das 
Recht der Natur liegt offen vor aller Augen.*^) — 

Aus diesen sophistischen Bruchstücken kann man soviel ent- 
nehmen, daß wir es hier mit dem ersten ernstlichen skeptischen 
Gegenstoß gegen den alten Dogmatismus der Naturphilosophen zu 
tun haben. Aber der eigentliche und ausgebildete philosophische 
Skeptizismus liegt noch nicht vor. Protagoras sagte gewisser- 
maßen: alles ist wahr;**) Gorgias: nichts ist wahr;**) der Skeptiker 
sagt: ich weiß nicht, ob etwas oder nichts wahr ist.**) Protagoras 
glaubte an die Wahrheit der herakliteischen Metaphysik,**) was 
mit dem skeptischen Standpunkt unverträglich ist Vor allem aber, 
bei der gesamten Sophistik finden wir das skeptische Weltbild 
weder durch methodische Denkarbeit noch durch in die Tiefe 
gehende Gründe gestützt. Bei den Durchschnittsophisten wird 
das an der praktischen Hauptabsicht ihres Philosophierens ge- 
legen haben; bei Männern wie Protagoras und Gorgias vielleicht 
an der Überzeugung, mit der Entdeckung, daß alle Erkenntnisse 
von der Natur des erkennenden Subjekts abhängen, sei auch die 
extreme Konsequenz gegeben, daß die subjektive Willkür über 
Wahr und Falsch zu entscheiden habe und es also eine eigentlich 
theoretische Wissenschaft von der Erkenntnis nicht geben könne. 
Vielleicht ist auch nur die elende Beschaffenheit der auf uns ge- 
kommenen Fragmente daran schuld, daß wir in der Skepsis der 
Sophisten nicht mehr als Rudimente einer philosophischen Zweifels- 
lehre zu erblicken vermögen. Aber da uns andere Quellen nicht 
fließen, so müssen wir sagen, die Sophisten bleiben mit die ge- 
waltigsten Vorläufer, aber sie bleiben Vorläufer des philo- 
sophischen Skeptizismus.*^) 

Und noch vermögen diese sophistischen Bahnbrecher dem 
Skeptizismus den Weg nicht freizulegen. Ihr skeptischer Vor- 
stoß wird pariert, — pariert von keinem Geringeren als Sokrates 
(469 — 399 vor Chr.). Aber die Abwehr geschieht unter Opfern, 
unter Hinnahme des subjektiven Standpunkts. Auch für Sokrates 
ist der Mensch das Maß der Wahrheit, doch nicht jeder Mensch, 
sondern der Mensch. Wahr ist, was allen Menschen wahr er- 
scheint, und dies nicht nur im Sinne einer subjektiv-, sondern 
einer objektiv- allgemeingültigen Wahrheit. Wahr sind darum allein 
die Begriffe.*^ Die Begriffe in den einzelnen Menschen zur Klar- 
heit zu entwickeln, in ihnen frei zu machen, zu „entbinden", ist 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 17 

dem Sokrates innerster Beruf. Aber diese Erarbeitung der wahren 
BegrifTe ist auch unerläßlich; nur der oberflächliche und seichte 
Geist ist davon überzeugt, in seinen Alltagsvorstellungen die Wahr- 
heit zu besitzen. Dieser bescheidene Ausgangspunkt aller Forschung 
und der Trieb, immer mehr, immer gründlicher wissen zu wollen, 
konmien in des Sokrates Ausspruch: ich weiß nur, daß ich nichts 
weiß^, zum Ausdruck. Dieser Satz ist nichts weniger als eine 
skeptische Formel; er ist nur der Ausdruck der sokratischen 
Methode. Denn diese bewegt sich in dem stets wiederkehren- 
den Zirkel: Selbstprüfung, die Sokrates gar nicht warm genug 
empfehlen kann; aus dieser ergibt sich der Einblick in die eigene 
Unwissenheit, daraus die Verpflichtung, mit andern gemeinsam nach 
der Wahrheit zu forschen; die gemeinsame Arbeit erzeugt ein ver- 
tieftes Selbstverständnis, das wiederum die eigene Unwissenheit an 
andern Punkten enthüllen wird usf. Im übrigen glaubt Sokrates 
fest, daß es für alle Gebiete allgemeingültige Wahrheiten gäbe und 
daß der Mensch diese — auf einigen wenigstens — zu erkennen 
vermöge ^^) (nämlich auf dem der Moral, nicht aber auf dem der 
Naturphilosophie), daß diese Erkenntnis aber nur ernstester Arbeit 
vorbehalten sei. Einzig dem, der von seinem Nichtwissen durch- 
drungen ist, kann das Wissen zu teil werden ^^). 

Aber die 2^it der unschuldvollen, zweifelfreien Forschung 
konnte auch ein Sokrates nicht zurückbringen. Mehr als ein Ele- 
ment hat er mit den Sophisten gemein: Sophistische Problem- 
stelltmg, sophistische Kritik und die sophistische Kunst der sub- 
tilen BegrifTsdistinktionen. Und wenn er mit solchen Mitteln für 
den Bestand des Alten eintritt, so ist das nur der Ausdruck dafür, 
daß sich in ihm der Ernst und die Strenge der alten Zeit mit dem 
kritischen und beweglichen Geist der neuen 2^it kreuzen. In der 
Moral, der eigensten Heimat der sokratischen PhUosophie, zeigte sich 
dieser neue Geist darin, daß er die ethischen Fragen als Probleme 
foßte, sich nicht mit der Sanktion durch Autorität begnügte, sondern 
Gründe verlangte, sich nicht mit der Ausübung sittlicher Hand- 
lungen aus Instinkt und Gewohnheit zufrieden gab, sondern ein 
vollbewußtes, auf heller Erkenntnis beruhendes Handeln forderte. 
Der altgriechische Geist aber lebte in Sokrates, insofern dieser, 
entgegen der kritischen Zersetzung und Negation der Sophisten, 
an der Verbindlichkeit der staatlichen Gesetze, an der Verehrung 
der Staatsgötter bis zu Orakelbefragung und Opfer herab, im 
wesentlichen festhielt. So blieb der Inhalt der sokratischen 

Richter, Sc^tnitnraf. 2 



l8 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Lebensanschauung im allgemeinen derjenige der Vergangenheit. 
Aber daß er gerechtfertigt wurde durch logische Gründe, daß er 
zum wissenschaftlichen Problem gemacht wurde, das war das Neue 
und, das darf man sich nicht verhehlen, das Wirksamere und 
„Gefährliche". Kritik alter Gebräuche, eingewurzelter Werturteile, 
religiöser Grundbegriffe, wenn sie auch zur Rechtfertigimg der- 
selben unternommen wird, setzt von vornherein diese Norm- 
vorstellungen auf einen exponierten Platz, dem Ansturm freier 
Geister preisgegeben; und man kann nie wissen, ob das Ende 
nicht die Zerstörung der Überkommenen sein wird. Wer hierin 
ein Unglück, besonders für die Masse, sähe, der müßte auch die- 
jenigen bekämpfen, welche die traditionellen Werte kritisch stützen 
wollen, weil sie die aufklärende Macht der Vernunft an Gebiete 
herantragen, die besser mit dem Schleier ewiger Nacht bedeckt 
blieben. So meinten auch die Ankläger des Sokrates; mit seiner 
Verurteilung glaubten sie den Geist der neuen Zeit, den Geist 
der Kritik zu treffen und zu ertöten; und sie hätten so unrecht 
nicht gehabt, wenn die Kritik und Reflexion, ist die Zeit für 
sie reif, durch die Vernichtung eines Individuums sich mit ver- 
nichten ließe. 

Die skeptischen Keime in des Sokrates Lehre wurden von 
einem Teil seiner Schüler, den Vertretern der megarischen und 
elischen Schule (nach ihren Begründern Euklid von Megara und 
Phaedon aus Elis so genannt), durch die Pflege dialektisch -so- 
phistischer Fangschlüsse weitergebildet.*^) Der berühmte öiapht^, 
der Komhaufe, ein scheinbar harmloses Spiel, aber voll versteckten 
Tiefsinns, stammt von diesen Männern: ein Korn gibt keinen 
Haufen; zwei, drei, vier usw. auch nicht; wo fängt der Haufen 
an?*2) Mit den Ansichten der eristischen Schule in Elis ist Pyrrho, 
selbst in Elis gebürtig, früh bekannt geworden. 

Aber mag der Einfluß des Sokrates auf diesem indirekten 
Wege auch die Skepsis mit haben befördern helfen, die wesent- 
lichere Leistung war: daß er den skeptischen Strom, der sich von 
den Sophisten herleitete, noch auf hundert Jahre zurückdämmte. 
Die Gefahr, die in dem subjektiven Standpunkt lag, das indi- 
viduelle Subjekt zum Richter über wahr und nichtwahr zu machen, 
wie es die Sophisten auch taten, lenkte er durch seine Lehre ab: 
nur das ist wahr, was allen Menschen, was dem Menschen wahr 
erscheint; so schuf er für einen erneuerten Dogmatismus freie 
Bahn. Der subjektiv -anthropologische und der objektiv -kosmo- 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 19 

logische Standpunkt wurden zu einem großen System der Philo- 
sophie verschmolzen, in dem Erkenntnistheorie und Ethik, Natur- 
philosophie und Metaphysik gleichmäßig ihre Rechnung finden. 
Die Schöpfer solcher Systeme waren Plato (427 — 347 vor Chr.) 
und Aristoteles (384 — 322 vor Chr.). Bei diesen Männern findet 
sich keine Spur von Skeptizismus; mit dogmatischer Zuversicht 
glauben sie nicht nur die Welt der Erscheinungen und ihre Ge- 
setze, sondern auch das innerste Was dieser Erscheinungen er- 
fassen zu können. Dem Plato sind die Urbilder oder die Ideen 
der Dinge das wahrhaft Seiende; sie allein sind wandellos, ewig, 
unvergänglich. Indem sie sich mit der trübenden Materie verbinden, 
werden sie dem Wechsel unterworfen, in den Fluß des Geschehens 
gerissen. Piatos System ist ein System des Spiritualismus; denn 
etwas Geistiges, Spirituelles, wird hier zum Wesen der Welt 
und des Menschen gemacht. Aristoteles dagegen versetzt diese 
,Jdeen" Piatos von dem Himmel auf die Erde; die „Formen" 
(wie er sie nennt) existieren nicht ohne den Stoff; nur der ge- 
formte Stoff, die geistig -körperlichen Dinge, wie sie uns umgeben, 
sind das Wirkliche. Aristoteles ist Materio- Spiritualist *^). Auch 
die größten Denker Griechenlands sind also nicht miteinander 
einig. Ein neues gegensätzliches Begriffspaar, das des Spiritualis- 
mus und Materio- Spiritualismus, tritt zu den bereits ausgebildeten 
hinzu, und die Wirkung dieses Kontrastes wird eine gewaltige 
sein, gemäß der ungeheuren Denkarbeit, die hier nach Tiefe und 
Umfang die Standpunkte bis ins Einzelste ausgestaltete. Der un- 
parteiische Zuschauer wird noch einmal in verstärktem Zweifel 
die Achseln zucken über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. 
Aber diesmal bleibt es nicht beim Zuschauen; diesmal ist 
die Zeit gekommen, wo der Skeptizismus wirklich auf die Bühne 
tritt Die Saat ist reif: die zunehmende Entfernung von der Volks- 
religion bis auf Plato, dem Gott das Gute, und Aristoteles, dem 
er der erste Beweger war, herab; die klaffenden Gegensätze zwischen 
den dogmatische*n Weltdeutungen des Materialismus, Spiritualismus, 
Materio -Spiritualismus; die Zweifel in die Sinnenerkenntnis bei 
den Eleaten und Demokrit; die immer steigende Ausbildung der 
dialektischen Kunst; die subjektivistische Wendung durch die 
Sophisten mit ihrer Formel: der Mensch ist das Maß aller Dinge; 
dazu die getrennten Lebensideale der sich an Sokrates anschließen- 
den Schulen, die Bedürfnislosigkeit der Cyniker, die Lustlehre der 

Cyrenaiker — all das zusammen treibt den philosophischen Skepti- 

2* 



20 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

zismus endlich hervor. Und doch, vielleicht wäre er noch nicht 
und in Griechenland niemals erschienen, wenn nicht von einer 
ganz anderen Seite her ihm der Boden bereitet wäre. Mit dem 
Tode Alexanders und Aristoteles' schreitet der Verfall des grie- 
chischen Reiches äußerlich und innerlich unaufhaltsam vorwärts. 
Politisch ist das Land zwischen den Statthaltern des Königs zer- 
rissen. Staunend hat man es mit angesehen, wie sich Alexander 
als Sohn des Jupiter erklärte; man hat es erfahren, wie Götter 
„gemacht" werden. Sittenlosigkeit und Genußsucht sind der 
herrschende Lebenstil. Griechenland tritt mit der morgenländischen 
Kultur, ihren Religionen, Sitten und Lebensanschauungen in Be- 
rührung. Ein gewisser Internationalismus entsteht , das geeignete 
Milieu, eine skeptische Geisteshaltung zu erzeugen. Der frivole 
wie der tieftraurige Stimmungskeptizismus kehrt sich naturgemäß 
gegen Religion, Sitte und Wissenschaft. Und wenn dieser Stimmung- 
skeptizismus, wie wir früher sahen, auch mit einer philosophisch 
begründeten Zweifelslehre nicht verwechselt werden darf, so ist 
er doch ein giinstiger Nährboden für dieselbe. Endlich, und das 
ist bedeutsam, tritt bei den nacharistotelischen Philosophen das 
ethische Problem in den Mittelpunkt der Forschung. Eine Sehn- 
sucht nach Glück und Frieden, nach Erlösung von der Unruhe 
des Lebens, durchzieht die müde, alte, verfallene Welt. Und wie 
bei einer großen verheerenden Seuche die Mediziner nur auf Heil- 
und Linderungsmittel sinnen, ihre theoretischen Untersuchungen 
über den Bau der Knochen und Gewebe aber zurücktreten lassen, 
so wollten auch die Denker der griechischen Niedergangsbewegung 
ihrer Zeit vor Allem den Weg weisen , wie man zu der ersehnten 
Glückseligkeit, der evSaißorla^ gelangen könne. Die Stoiker 
prägten mit ihrem tiefen, herben Ernst das Lebensideal des 
Weisen und Tugendhaften, der allein wahrhaft glückselig, un- 
bewegt von Freud und Leid auch zur rechten Zeit freiwillig aus 
dem Leben zu scheiden wisse. Die Epikuräer setzten die Tugend 
in die Lust, die Glückseligkeit aber nur in diejenige Lust, welche 
keine Leiden im Gefolge hat, in die Lust der Leidlosigkeit. Lag 
nicht noch eine tiefe Quelle der Glückseligkeit in jenem stillen, 
vollendeten Verzicht verborgen, die aus dem gänzlichen Nicht- 
wissen und Zweifeln, aus dem Nicht -Stellungnehmen zu den Dingen 
entspringt? Es ist das Ideal, mit dem sich die Skeptiker in 
die große ethische Bewegung der nacharistotelischen Philosophie 
einreihen; es ist zugleich, das werden wir später sehen, die 
treibende Kraft in ihrer Lehre. 



Erstes KapiteL Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 2 1 

n. Der geschichtliche Verlauf der griechiachen SkepuB. 

I. Der Pyrrhonismus. 

Wir haben uns soeben mit den geschichtlichen Vorbedingungen 
des griechischen Skeptizismus beschäftigt und verfolgt, wie zu- 
nehmend Zweifelskeime sich in den Anschauungen der griechischen 
Denker geltend machen; wie solche femer durch den Widerspruch 
zwischen den Grundansichten der dogmatischen Systeme, durch 
die stetige Zersetzung der religiösen Vorstellimgen, endlich durch 
die veränderten politischen und sozialen Bedingungen in Fülle 
geliefert werden. Es wäre nun aber ganz verkehrt, deshalb die 
Leistimgen der skeptischen Philosophen, mit denen wir es jetzt 
zu tun bekommen, für gering anzusehen; als ob diese Skeptiker 
nur die Gedanken ihrer Vorgänger geschickt aufzulesen und me- 
thodisch zusammenzustellen gehabt hätten; als ob sie hätten, im 
hegelianischen Sinne nach der vernünftigen Weltentwickelung, 
wann und wie sie gekommen sind, auch kommen müssen. Viel- 
mehr hofft unsere Darstellung der skeptischen Philosophie, deren 
völlige Originalität dartun zu können; eine Originalität, über die 
man staunen muß. Geschichtliche Vorbedingungen sind noch nicht 
geistige Ursachen. Geistiger Urheber der philosophischen Skepsis 
ist das Genie Pjrrrhos und nicht die vorpyrrhonische Philosophie, 
noch eine Weltveraunft, von der wir nichts wissen. 

Die skeptische Philosophie wird in Griechenland nicht durch 
das System eines Mannes vertreten; ihre Ausbildung erstreckt 
sich über sechs Jahrhunderte; sie wird in einer Schule gepflegt, 
welche gegründet wird, bald wieder erlischt, durch eine ver- 
wandte Richtung abgelöst wird, noch einmal wieder erblüht» 
Diesen Schulen gehören sechs bis sieben Männer von zum Teil 
ganz gewaltiger Bedeutung an. Zwei Möglichkeiten in der Be- 
handlung der griechischen Skepsis sind damit gegeben: man kann 
sich mit den einzelnen Skeptikern und deren Ansichten der Reihe 
nach beschäftigen, wie es auf den ersten Blick am rätlichsten 
scheint;^) oder aber man kann die Anschauungen des griechischen 
Skeptizismus in einem einheitlichen Gesamtbild entwerfen und 
demselben das Wichtigste über die einzelnen Schöpfer und deren 
jeweiligen Anteil an der Ausbildung des Skeptizismus voranschicken. 
Wir wählen, vielleicht manchem Wunsche entgegen, aus folgenden 
Gründen den zweiten Weg: erstens würden wir keinen einheit- 
lichen Eindruck von der griechischen Skepsis erhalten, wenn wir 



22 Erster Abschnitt Die grieckisdie Skepsis. 

dieselbe mosaikartig zusammensetzen müßten; an diesem einheit- 
lichen Eindruck aber liegt sehr viel, wenn man sich über den 
Skeptizismus in der Philosophie und nicht nur über die Geschichte 
des philosophischen Skeptizismus klar werden will. Zweitens, und 
das ist das Entscheidende, ist der Anteil der einzelnen Skeptiker 
an den Lehren der Schule noch nicht sicher festgestellt und wird 
es vermutiich niemals werden können.^^ Sich hier in das 
Gestrüpp philologischer Einzeluntersuchungen verlieren, ^^) hieße 
den Zielen dieser Arbeit untreu werden. Von den meisten Skep- 
tikern ist außer wenigen elenden Bruchstücken so gut wie gar 
nichts auf uns gekommen. Dagegen besitzen wir eine vollständige 
und wohlerhaltene Gesamtdarstellung der Lehre von dem letzten 
bedeutenden Mitglied der Schule. 

In zwei großen Strömungen tritt der Skeptizismus in Griechen- 
land auf; die eine leitet sich von Pyrrho ab und wir wollen sie 
im folgenden auch als Pyrrhonismus bezeichnen: sie verschwindet 
etwa nach drei Generationen, belebt sich aber nach einer Pause 
von imgefahr hundert Jahren wieder um den Anfang der christ- 
lichen Zeitrechnung und reicht bis ins dritte Jahrhundert nach 
Christo herab. Die andere skeptische Strömung entspringt inner- 
halb der von Plato gegründeten Akademie, und ihre Blüte schiebt 
ach in die große Pause nach dem älteren Pyrrhonismus ein; dann 
erlischt sie und gibt die Herrschaft an den jüngeren Pyrrhonismus 
ab. Wir richten unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die Vertreter 
des älteren und jüngeren Pyrrhonismus. 

Pyrrho ist der Stifter des griechischen Skeptizismus. Er ist 
nicht nur der Begründer desselben, er ist auch derjenige, welcher 
(fiese Lehre am folgerichtigsten, aber auch am reinsten und edelsten 
gelebt hat; zugleich ist er eine der erhabensten Gestalten unter 
den griechischen Denkern; übermenschlich, insofern alles mensch- 
liche Hasten und Trachten von ihm abgestreift erscheint. All 
diese Umstände, mehr als eine ausgebildete skeptische Theorie, 
die Pyrrho noch nicht besessen hat, haben es bewirkt, daß 
äch die Skeptiker aller Zeiten ihn zu einer Art von Heiligem 
erkoren, daß Pyrrho der Patron der Skeptiker geworden ist. Über 
Pyrrhos Leben sind wir nicht ganz schlecht unterrichtet. Wir 
wissen, daß er als der Sohn des Pleistarch in Elis im Peloponnes 
geboren wurde, *^ und daß er ein Alter von neunzig Jahren er- 
reichte.^®) Den Alexanderzug nach Asien hat er mitgemacht. 
Nimmt man nun an, daß er sich etwa mit dreißig Jahren der 



Erstes Ki4)itel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 23 

Expedition Alexanders anschloß, so gewinnt man für seine Lebens- 
dauer annähernd die Zahlen 365 — 275 vor Chr.*®) Ursprünglich 
war Pyrrho ein armer und unberühmter Maler ^<^) und hat sich 
erst später der Philosophie zugewandt. Über seine philosophischen 
Lehrer haben die Alten verschiedene , aber wahrscheinlich tendenziös 
gefärbte Behauptungen aufgestellt: Menedemus, Nachfolger des 
Phaedon, des Begründers der elischen Schule,*^) und Bryso oder 
Stilpo aus der megarischen Schule sollen Pyrrho unterrichtet 
haben.'^) Die Angaben bieten aber chronologische Schwierigkeiten; 
richtig an ihnen ist vermutlich, daß Pyrrho früh mit den Lehren 
der elisch- megarischen Dialektik (beide Schulen wurden anläßlich 
der skeptischen Elemente im Sokratismus erwähnt) vertraut ge- 
worden ist*^ Von größerem Einfluß auf ihn aber scheinen des 
Demokrit Anschauungen gewesen zu sein; denn er studierte mit 
Vorliebe Demokrits Werke,®*) schloß sich eng an den Demo- 
kriteer Anaxarch an®*) und begleitete diesen auf den Feldzügen 
Alexanders nach Asien. Anaxarch nun hatte die skeptischen 
Elemente in des Demokrit Lehre weitergebildet; vor allem aber 
unter den Martern eines Tyrannen, denen er erlag, mit Seelen- 
ruhe und Standhaftigkeit die Ataraxie, die sein Meister lehrte, 
bewährt®®) In Asien auch traf Pyrrho mit den indischen Gymno- 
sophisten, jenen weitabgewandten Weisen, die nackt in den 
Wäldern lebten, mit indischen Magiern, Asketen und Heiligen zu- 
sammen;®^) und die tatenlose Gleichgültigkeit, die lebenvemeinende 
Haltung dieser Männer, vor allem ihr gleichmütiges Erdulden von 
Schmerzen mag dem Griechen, dem Sohn einer erlösungsbedürftigen 
Zeit, sehnsuchtsvolle Rätsel eingegeben haben. Wir suchen und 
jagen nach der Glückseligkeit, wir Griechen jenseits des Meeren 
— und hier wird sie geübt; in Weltabgestorbenheit allein, in der 
Willensverneinung genießt man seligen Frieden. Aber durch 
welches Land führt der Weg dahin in imserer eigenen Brust? In 
solcher Lage und unter solchen Fragen mögen vor dem sinnenden 
Pyrrho die Grundzüge seiner Zweifelslehre als des Welt- und des 
Menschenrätsels Lösung aufgestiegen sein.®®) Nach dem Feldzug 
in Asien kehrte Pyrrho nach Elis zurück; er lebte hier in be- 
scheidenen Verhältnissen, aber hochgeehrt. Ihm zuliebe wurde 
den Philosophen Steuerfreiheit gewährt. ®*) Die Athener schenkten 
ihm das Bürgerrecht.^®) Auf dem Marktplatz seiner Vaterstadt 
wurde sein Bildnis errichtet;^*) man ernannte ihn zum Oberpriester.''*) 
Unter den Strahlen der aufgehenden Sonne Zenos, des Stoikers, 



24 Erster Abschnitt. Die griediische Skepsb. 

und Epikurs eröffnete Pyrrho die skeptische Schule in Elis. 
Schriften hat er nicht verfaßt.^') 

Pyrrhos eigene Lehre aus Zutaten der späteren Bericht- 
erstatter ganz rein herauszuschälen, ist nicht mehr möglich.^^) 
Sicher aber ist, daß er die monumentalen Grundzüge der grie- 
chischen Skepsis selbst entworfen hat. Diese heften sich an die 
drei großen Fragen :^^) wie sind die Dinge beschaffen (und unter 
Dingen ist alles, was existiert oder existieren könnte, zu ver- 
stehen)? wie müssen wir uns zu ihnen verhalten? was erwächst 
für uns aus diesem Verhalten? Über die Beschaffenheit der Dinge, 
so beantwortet Pyrrho die erste Frage, können wir schlechterdings 
nichts wissen; sie sind nicht mehr dies als jenes ;^^) denn die 
sinnliche und die Vemunfterkenntnis sind gleichermaßen trüge- 
risch.''^ Jeder Behauptung läßt sich eine gleichstarke Gegen- 
behauptung gegenübersteUen. ^®) Daraus folgt (für die Lösung der 
zweiten Frage), daß wir uns den Dingen gegenüber durchaus 
skeptisch verhalten müssen, über nichts ein bestimmtes Urteil 
abgeben dürfen, uns vielmehr des Urteils überall enthalten werden. 
Die Epoch6 ist die Konsequenz imseres Nichtwissens um die Be- 
schaffenheit der Dinge. ^^) Zwar leugnet auch Pyrrho nicht, daß 
wir subjektive Bewußtseinszustände haben, aber auf diese subjek- 
tiven Erscheinungen beschränkt sich auch unser ganzes Wissen. 
Nur über sie dürfen wir aussagen,®^) im übrigen (d. h. über die Natur 
der Dinge selbst) müssen wir das große Schweigen üben. Aus dieser 
weisen Beschränkung heraus erwächst — und das ist die Antwort 
auf die dritte Frage — allein die Unerschütterlichkeit, die dxa- 
paSia,^^) die unbewegte Leidlosigkeit, die and^sia;^^) denn nur 
wer auf jede Stellungnahme zu den Rätseln des Lebens Verzicht 
getan, nur der dSid<popo(Sy der Gleichgültige, ist — wir denken 
an die indischen Heüigen — auch der Glückselige.®*) Da aber 
das Leben völlige Untätigkeit nicht gestattet, so wird der Weise 
den jeweiligen Sitten seines Landes gemäß leben, ohne an deren 
absolute Gültigkeit zu glauben. ^•) So verkündet Pyrrho die Grund- 
thesen des griechischen und eines jeden Skeptizismus. Das neue 
sittliche Lebensideal der völligen Resignation war das 
treibende Motiv in seiner Lehre. Pyrrho ist vor allem Moralist 
und keiner der kleinsten. Sein Skeptizismus wurde aus seiner 
Adiaphorie, nicht diese aus jenem geboren. Darum blickt ein 
gewisser praktischer Dogmatismus, eine feste Überzeugung davon, 
das Gute gefunden zu haben, die mit den skeptischen Voraus- 



Erstes KapiteL Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 25 

Setzungen auf den ersten Blick nicht verträglich scheint, in einigen 
Äußerungen, die ihm Timon in den Mund legt, hindurch.^) Als 
man Pyrrho einst in Gedanken verloren fand und fragte, worüber 
er grüble, antwortete er: ich sinne darüber nach, ein guter 
Mensch zu werden.^*) 

Alles, was wir über seine Lebensführung und seinen Cha- 
rakter wissen, zeigt ihn uns ganz durchdrungen von jener tief- 
innerlich begründeten Gleichgültigkeit gegen Leben und Welt. 
Nichts von Fanatismus in diesem Manne; er verzweifelt nicht, 
und doch zweifelt er an allem, „er wird durch nichts gehalten, 
und doch steht er aufrecht" (Brochard, a. a. O. S. 73); er ist reli- 
giöser Skeptiker und Oberpriester zugleich. Sein Skeptizismus ist 
nicht der des eifrigen Aufklärers, der noch hofft, sondern eines 
Konservativen, der zu hoffen aufgehört. Er lebte einsam und still 
mit seiner Schwester, der Hebamme Philistia; allen Ehrungen ging 
er aus dem Wege;®*) ihm blieb stets der Ausspruch jenes Inders 
gegenwärtig, Anaxarch könne nicht die Wahrheit lehren, weil er 
sich in den Palästen der Könige aufhalte.®^ Während eines ge- 
fahrlichen Sturms auf dem Meere zeigte er in der allgemeinen 
Angst nur auf ein Schwein, das ruhig an seiner Nahrung weiter 
fraß, als auf das Muster naiver Sicherheit.^®) Wenn jemand wäh- 
rend einer Unterredung ihn plötzlich verließ, so sprach er, ohne 
böse zu sein, unbekümmert um den Fortgehenden, gleichmütig 
zu Ende, was er zu sagen hatte.®*) Schmerzhafte Operationen 
soll er, ohne mit den Augenbrauen zu zucken, erduldet haben.*^) 
Manche dieser kleinen Züge mögen der Sage entlehnt sein; denn 
bald umspann die Legende Pyrrhos Gestalt. Aber auch die Le- 
gende ist hier lehrreich.*^) Über das Bild des Menschen, des 
Denkers, des Weisen Pyrrho können wir als ein Motto, das dessen 
praktische und theoretische Haltung umfaßt, die homerischen 
Worte, zugleich die Lieblingsverse Pyrrhos,**) von der Vergäng- 
lichkeit aller Dinge setzen: 

Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen, 
Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann 
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling. 
So der Menschen Geschlecht; dies wächst, und jenes verschwindet. 

Man stelle sich den sinnenden Pyrrho vor, still in die 
Melodie dieser Verse versunken, und man wird die Gesamtfärbimg 
seines Skeptizismus ergriffen haben. Die Adiaphorie, nicht subtile 



26 Erster Abschnitt Die griechkche Skepsis, 

erkenntnistheoretische Erwägungen über die Grenzen des Er- 
kennens, ist die Tat dieses Mannes. ••) 

Ist unser Bild des Menschen Pyrrho nur einigermaßen 
treffend rekonstruiert, und muß man annehmen, daß er, der nichts 
geschrieben imd alle dialektischen Diskussionen haßte, ^^) nodi 
keine ausgebildete Theorie des Skeptizismus besessen hat, so 
werden wir uns unter den Schülern Pyrrhos in erster Linie 
Männer vorzustellen haben, denen die gleichmütige Geisteshaltung 
und Lebensführung des Meisters vorbildlich und zum Nachleben 
begehrenswert erschien. In der Tat sind uns von der kleinen 
Gemeinde, die sich um Pyrrho scharte, imd von deren Mit- 
gliedern wir allerdings kaum mehr als die Namen wissen, fast 
nur praktische Lebenszüge überliefert: Beispiele, in denen sie den 
ersehnten Seelengleichmut des Skeptikers bewährten oder ver- 
loren, von befreundeter oder gegnerischer Seite gesammelt**) Aus 
diesem ganzen Kreise (zu dem noch Eurylochus, Philo aus 
Athen, Hekateus aus Abdera, Nausiphanes der Demokriteer**) 
und Lehrer Epikurs gehörten) ragt ein einziger Mann heraus und 
ist auch allein wert, wahrhaft ein Schüler Pyrrhos genannt zu 
werden, Timon der Sillograph.*^ 

Timon war aus Phlius,*^) einer Stadt im nordöstiichen Pelo- 
ponnes, gebürtig und der Sohn des Timarch. Seine Lebenszeit 
läßt sich mit Hilfe der Angaben, daß Stilpo, ein Haupt der mega- 
rischen Schule, sein Lehrer gewesen,*^) und daß auch er neunzig 
Jahr alt geworden, i^®) mit annähernder Sicherheit in die Jahre 325 
bis 235 verlegen. Er ist also etwa eine Generation jünger als 
Pyrrho. In der Jugend war er Chortänzer, 1®^) was vermutlich so 
zu verstehen ist, daß er zu gewissen von ihm verfaßten Liedern 
mit Zitherbegleitung getanzt hat.^**) Seine philosophische Aus- 
bildimg erhielt er in Megara. In Elis hört er Pyrrho das Orakel 
des pythischen Apoll befragen, und ist von Pyrrhos skeptischer 
Rede über die Unwissenheit der Menschen so bewegt, daß er mit 
seiner Frau nach Elis zieht und zeitlebens der treueste Bewunderer, 
Anhänger imd Schüler Pyrrhos bleibt. 1®^) Da er arm war, er- 
warb er sich durch Unterricht in Rhetorik und Philosophie ein 
stattiiches Vermögen 1®*) und lebte dann bis zu seinem Tode 
als angesehener Mann in Athen. ^®^) Seinen Sohn Xanthus unter- 
wies oder ließ Timon in der Medizin unterweisen. Man hat dar- 
aus den Schluß gezogen, daß Timon selbst Arzt gewesen sei. 
Das wäre, falls es richtig ist, nicht ganz bedeutungslos; denn wir 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verkitif der griechischen Skepsis. 27 

werden die jüngeren Skeptiker van der Schule Pyrrhos fast aus- 
schließlich aus dem Arztestande hervorgehen sehen, i^®) 

Von Timons Charakter ist es schwer, ein einheitliches Bild 
zu gewinnen. Es liegen, so weit ich sehe, seinem Skeptizismus 
zwei verschiedene Quellen zugrunde; einmal die gleiche Sehnsucht 
wie bei Pyrrho, durch den radikalen Zweifel, die Epoch6 und 
Adiaphorie der resignierten Seelenruhe, dem Glückseligkeitsideale 
einer niedergehenden Zeit, zugeführt zu werden; andererseits eine 
sarkastisch -boshafte Ader, kraft deren er überall nur das Schlechte, 
Falsche, Schiefe erblicken und geißeln mußte; und vielleicht ent- 
sprang jene Sehnsucht gerade diesem Drange. Nur unter dem 
doppelten Gesichtspunkte dieser beiden Triebfedern ist die Lebens- 
führung und Geisteshaltung Timons zu verstehen. Timon ist ein 
mit sich Ringender, Pyrrho ein in sich Fertiger. Auf vielen 
Punkten hat auch Timon die Seelengröße imd Seelenruhe seines 
Meisters bewährt. Auch er liebte Muße und Einsamkeit, Feld 
und Gärten. ^®^) Die Adiaphorie soll er soweit getrieben haben, 
daß er seine Werke unbekümmert umherliegen ließ und sie dann, 
von Ratten und Mäusen bis zur Unkenntlichkeit zerfressen und 
benagt, wiederfand.^®®) Er war einäugig und liebte es daher, 
scherzhaft sich den Cyklopen zu nennen. 1®*) Aus Gleichmut oder 
Bissigkeit? Wir wissen es nicht; aber beides ist bei Timon mög- 
lich. Zu Timon, dem gleichmütigen Weisen, gesellt sich Timon, 
der leichtlebige Spötter. 1^®) Dieser liebt es, gut zu essen und 
viel zu trinken, ^^^) Reichtümer zu erwerben, seine Feinde mit 
beißendem Hohn zu überschütten. An seinen Lehrer Pyrrho reicht 
er an Ernst und Würde nicht hinan. 

Während Pyrrho, mit seiner Lehre im vollen Einklang, nichts 
Geschriebenes verfaßt hatte, ist Timon geradezu ein Vielschreiber 
gewesen. Er war der Autor von sechzig Tragödien, dreißig 
Komödien, von Epen und Jamben; ^^2) er hat eine Schrift in Versen 
IrSaXßjioi (worunter wahrscheinlich die Lehre von den Wahngebilden 
zu verstehen ist) verfaßt, ^^^) und „das Leichenmahl des Arkesilaus"; 
es enthielt eine Lobrede auf diesen ersten Vertreter der akade- 
mischen Skepsis, mit dem Timon erst bitter verfeindet war, sich 
aber später wieder versöhnt hat.^^^) Als Prosaschriften werden 
ihm Bücher über die Sinneswahmehmungen {Tcepi aiöSrr/öeoitv)^^^) 
und gegen die Physiker («pog rov^ (pvöixovq) ^^•) sowie ein Dialog 
IlvSfoov^^'^) zugeschrieben. Von alledem ist bis auf einige Verse 
nichts mehr erhalten. Dagegen sind von dem Hauptwerk, den 



28 Enter Abtchnitt Die griechische Skepsis. 

Sillen, nicht unbedeutende Fragmente auf uns gekommen. 
Wachsmuth hat sie gesammelt und den Zusammenhang des Ganzen 
geistvoll wieder aufgebaut. ^^^ Die (HXXxyi sind Spottgedichte 
{öiXXovv bedeutet eigentlich die Augen verdrehen, um jemanden 
auszulachen) und füllen drei Bücher in Hexametern. Verse des 
Homer werden mit Vorliebe parodiert Die Form des Ganzen 
ist vermutlich eine yexvia^ ein Totenfest. Timon erzählt im ersten 
Buche, wen er alles im Hades erblickt. Demokrit, Pythagoras, 
Parmenides, Zeno, Plato usw. treten, mit stechenden Epitheta 
ausgeschmückt, vor dem Ünterweltbesucher auf. Und nun beginnt 
die große Logomachia, der Redekampf. Arkesilaus geht gegen 
Zeno den Stoiker los. Inuner mehr Philosophen werden in die 
Schlacht hineingezogen. Heftig wogt der Kampf hin und wieder. 
Da bringt Pyrrho durch eine ernste Rede alle zum Schweigen 
und stellt die zur Glückseligkeit nötige Ruhe wieder her; denn 
gegen Pyrrho kommt keiner der Sterblichen auf. Die Windstille, 
die yaXip^Tf, ist eingetreten. Mit einer Lobrede Timons auf Pyrrho 
scheint das erste Buch geschlossen zu haben. Im zweiten und 
dritten Buch wird der Eleate Xenophanes über die verschiedenen 
dogmatischen Philosophen interpelliert und ergießt über alle seinen 
beißenden Spott. Nur die Eleaten (besonders Xenophanes), Demo- 
krit und Protagoras werden in diesem Werke außer Pyrrho mit 
Ehren erwähnt. Es sind, wie wir gesehen haben, die drei größten 
Vorläufer der Skepsis. 

Aus diesen Fragmenten läßt sich schlechterdings nicht schließen, 
ob Timon den Skeptizismus Pyrrhos aus- oder weiter gebildet habe, 
da sie nur eine zersetzende Kritik des alten Dogmatismus enthalten. 
Im ganzen genommen war seine Rolle die des Verbreiters der 
pyrrhonischen Lehre. ^^*) Der einem unbekannten Werk zugehörige 
Vers öuvfjXäev attaydg re xal vov^rjyio^^ (zwei diebische Vögel 
kamen zusammen), mit dem Timon diejenigen zu verspotten 
liebte, welche die sinnliche Erkenntnis durch die Vemunflaussagen 
berichtigen wollten, i'^) zeigt an, daß auch er, wie sein Meister, 
als vollendeter Skeptiker Sinnen und Vernunft gleichmäßig alle 
Wahrheitserkenntnis abgesprochen habe. Auch er bediente sich 
der Formel „um nichts mehr",**^) um unsere völlige Unkenntnis 
von den Beschaffenheiten der Dinge anzuzeigen; auch er trennt 
zwischen Erscheinung und Ding an sich***) und macht die Er- 
scheinung zum Kriterium des Urteilens und des Handelns;"*) auch 
er verkündet die Epoche und das ethische Lebensideal der Ata- 



Erstes Kapitel. Geschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 29 

raxie, der Ruhe und der Windstille des Herzens. 1**) Schließlich 
ist aus den Titeln seiner Werke und einigen Andeutungen bei 
Sextus zu entnehmen, daß Timon zuerst vereinzelte Ansätze ge- 
macht habe, den pyrrhonischen Skeptizismus logisch zu begründen. ^^s^ 
Immerhin stand auch ihm noch die praktische Folge, **•) die Gleich- 
gültigkeit obenan. Aber wie Timon schon im Leben dieselbe nicht 
mehr rein zu befolgen vermochte, so werden wir nun die jüngeren 
Pyrrhoniker das Schwergewicht auf den logischen Teil und die 
theoretische Begründung des Skeptizismus verlegen sehen. 

Ob Timon noch eine eigentliche skeptische Schule hinter- 
lassen hat, ist ungewiß. Die Berichte gehen auf diesem Punkte 
auseinander.**^) Nach einigen wäre dieselbe, die öxBTcrtHff ayooyij 
wie sie sich nannte, gleich nach Timons Tode erloschen, nach 
anderen hätte sie noch durch zwei Generationen hindurch weiter 
bestanden. *'^) Jedenfalls hat sie in dieser Zeit keinen bedeutenden 
Vertreter mehr gehabt. Darin aber stimmen die meisten neueren 
Forschungen überein, daß die pyrrhonischen Lehren viel später 
erst wieder von Ptolemäus und dessen Schülern Sarpedon und 
Heraklides***) (Männer, von denen wir gar nichts Näheres wissen), 
vor allem aber von des Heraklides Schüler Aenesidem erneuert 
worden seien. ^^^) Es tritt also hier in der Geschichte des Pyrrho- 
nismus eine Pause ein; ihre Länge läßt sich nicht genau bestimmen,*^*) 
denn die Lebenszeit des Aenesidem hat sich trotz aller Bemühungen 
der Philologen noch nicht sicher berechnen lassen. Soviel aber 
ist gewiß: die Unterbrechung dieser skeptischen Schule (läßt man 
selbst die Schüler Timons soweit hinab und das Leben Aenesidems 
soweit hinauf als möglich reichen) hat mindestens hundert Jahre 
gedauert. In diese Pause schiebt sich nun die zweite skeptische 
Strömung, die akademische Skepsis, zum größeren Teile ein. 
Dieselbe mündet ihrerseits in einen Synkretismus und Eklektizismus 
aus, der die (jegensätze und Widersprüche zwischen den philo- 
sophischen Meinungen dadurch abzuschwächen suchte, daß er, von 
allen etwas aufnehmend, ein bißchen Wahrheit hier, ein bißchen 
dort auflas. Dieses eklektische Hin- und Herschwanken zwischen 
den einzelnen Systemen hat Zeller einmal treffend „als nichts 
anderes wie die Unruhe des skeptischen Denkens, nur gedämpft 
durch den Glauben an das urspriingliche Wahrheitsbewußtsein** 
bezeichnet. So wird es uns nicht wunder nehmen, wenn wir den 
radikalen Pyrrhonismus mit erneuter Macht aus diesem schwäch- 
lichen Eklektizismus werden hervorbrechen sehen. 



30 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Der bedeutendste Erneuerer der pyrrhoneischen Zweifelslehre 
und vielleicht der gewaltigste theoretische Vertreter des griechischen 
Skeptizismus überhaupt ist Aenesidem."*) Mit ihm geht es uns 
umgekehrt wie mit Pyrrho und Timon: von seinem Leben und 
von seiner Persönlichkeit wissen wir so gut wie gar nichts, über 
seine Lehre sind wir leidlich unterrichtet. Vielleicht ist das kein 
Zufall; bei Pyrrho und Timon lag das Schwergewicht und das, 
wodurch sie ihren Namen in das Gedächtnis eingruben, in der 
praktischen Skepsis, der skeptischen Lebensweise; bei Aenesidem 
in der theoretischen Begründung der skeptischen Lehren. Zur 
Festsetzung der Lebenszeit des Aenesidem steht ein Spielraum 
von 250 Jahren zur Verfügung — ob er im ersten Jhd. vor Chr. 
oder nach Chr. gelebt hat, oder gar im zweiten Jhd. nach Chr., 
scheint nach dem vorliegenden Material mit voller Sicherheit nicht 
zu entscheiden. ^35*) Am meisten hat es noch für sich, ihn zum 
Zeitgenossen Ciceros zu machen. Man stützt sich dabei auf eine 
Angabe, nach der Aenesidem eins seiner Werke dem Akademiker 
Tubero gewidmet hat Dieser Tubero ist wahrscheinlich mit dem 
gleichnamigen Staatsmann und Freunde Ciceros identisch. Sonst 
wissen wir von Aenesidems Lebensverhältnissen nur, daß er aus 
Knossus auf Kreta gebürtig war^^) und in Alexandria gelehrt 
hat.^*^) Seine Hauptschrift waren die acht Bücher „Pyrrhonische 
Reden" (IIvppGovelcoy Xoycov oHtdo ßlßXia)^ deren Inhaltsangabe 
uns durch Photius, emen Patriarchen aus dem neunten Jhd. 
nach Chr. aufbewahrt ist. Außerdem hat Aenesidem noch Werke 
über die Weisheit {nepi 6o<p{ag),^^^ über die Forschung {yrepl 
STfrr/öeoog) y^^"^ sowie „Pyrrhonische Skizzen" (vTrorvTtooötg sig ta 
TLvppoovBiay^^) verfaßt, von denen aber nichts erhalten ist. 

Über den Inhalt der einzelnen Bücher der ersten Schrift 
meldet Photius: i^*) Im ersten Buche habe Aenesidem den Unter- 
schied zwischen der akademischen und pyrrhoneischen Skepsis aus- 
geführt und eine übersichtliche Darstellung der letzteren gegeben; 
im zweiten Buche kehrte er die Widersprüche in den Begriffen 
der Prinzipien 1^^) der Bewegung, der Veränderung, des Entstehens 
imd Vergehens heraus (wir denken an die Eleaten); im dritten 
Buche wurde über Denken und sinnliche Wahrnehmung, im vierten 
über die Unmöglichkeit einer Erkenntnis Gottes, der Welt, der 
Natur und dessen, was die Skeptiker „Zeichen" nannten, ge- 
handelt; im fünften über die Widersprüche im Begriff der Ur- 
sache, im sechsten bis achten über die ethische Skepsis. Aus 



erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 31 

alledem ist uns die Glanzleistung Aenesidems, die subtile Ana- 
lyse des Kausalitätsprinzipes, durch die er der Vorläufer 
Hiunes und Kants geworden ist, durch Sextus fast in allen Ein- 
zelheiten überliefert. Auch eine scharfsinnige, natürlich vernich- 
tende Kritik des Wahrheitsbegriffs und des noch später zu er- 
örternden Begriffs des „Zeichens" gehen mit Sicherheit auf Aene- 
sidem zurück. Endlich ist er aller Wahrscheinlichkeit nach der 
Autor der zehn Tropen, welche die Quintessenz der griechischen 
Skepsis, nämlich die Zweifel in die sinnliche Erkenntnis, gedrängt 
zum Ausdruck bringen, ^^^j wenn auch Aenesidem hierbei nicht so 
sehr die Arbeit der Erfindung wie der Formulierung geleistet 
haben wird. ^*^) Im übrigen nahm dieser Denker auf allen wesent- 
lichen Punkten die Grundposition ein, die schon Pyrrho und Timon 
vorgezeichnet hatten. 1**) 

Aber noch ein großes, vielleicht unlösbares Rätsel bleibt in 
dem Gesamtbilde des Aenesidem zurück: 1*^) er soll nach zu- 
verlässigen Berichten den Skeptizismus nur als Mittel, um zur 
herakliteischen Philosophie zu gelangen, hingestellt haben; und 
ganz dogmatische, mit dem Skeptizismus unverträgliche Speku- 
lationen im Sinne Heraklits über den Urstoff der Welt, die Teil- 
barkeit der Zeit, die Natur der Seele sind von Aenesidem über- 
liefert. Die Gelehrten haben sich nun die Zähne an dieser Nuß 
ausgebissen, ohne zu einer einstimmigen Erklärung zu gelangen. 
Einige meinen, daß Aenesidem in den dogmatischen Partien nur 
über Heraklits Lehre berichte, ohne ihr deshalb anzuhangen; 
andere, daß er in seinem philosophischen Entwicklungsgang vom 
Herakliteismus zum Skeptizismus, noch andere, daß er von diesem 
zu jenem gelangt sei. Am meisten leuchtet noch die Deutung 
ein, die wenigstens mit der Überlieferung zusammenstimmt, 
Aenesidem habe, zwar prinzipiell seinem Skeptizismus treu, auf 
jede dogmatische Welterklärung verzichtet, unter allen solchen 
aber die des Heraklit, auf einigen Pimkten wenigstens, für die 
relativ -wahrscheinlichste metaphysische Hypothese gehalten. 
Man erinnert sich ja noch der Verwandtschaft Heraklits mit 
der Skepsis, seiner These von der Identität der Gegensätze, 
und daß auch Protagoras, der Vorläufer des philosophischen 
Skeptizismus, ein Anhänger der Lehre vom Fluß aller Dinge ge- 
wesen war.i*^ 

Von den Schülern Aenesidems, die die skeptische Theorie 
im Sinne ihres Meisters weiterbildeten, sind uns mit einigen 



32 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Ausnahmen auch nicht viel mehr als die Namen bekannt: 
Zeuxippus, Zeuxis, Antiochus, Menodotus, Theodas, Herodotus, 
Sextus, Saturninus werden als Schulvorstände genannt. ^*^ Femer 
ragt Agrippa hervor, von dem wir wissen, daß er zu den zehn 
Tropen Aenesidems noch fünf weitere Tropen hinzufügte.^**) 
Diese bringen — wir werden das später sehen — in noch knapperer 
und schlagenderer Form die Summe der skeptischen Argumente 
zum Ausdruck. Aber ein neues Moment kommt bei dieser jüngeren 
Generation zum Vorschein, das dem griechischen Skeptizismus 
von nun an die Färbung gibt; sie sind fast durchweg Arzte, An- 
hänger der empirischen Medizinerschulen jener Zeit.^**) Prinzip 
dieser empirischen Arzte ist, nicht die unauffindbaren Ursachen, 
sondern die erscheinenden Symptome der Krankheiten zu be- 
handeln. Die Verwandtschaft mit dem Skeptizismus springt in 
die Augen: schon Pyrrho ließ nur die tpaivoiitva gelten und hielt 
den Grund dieser Erscheinungen, das Ansich der Dinge, für un- 
erkennbar. So findet in den ersten Jahrhunderten der christlichen 
Zeitrechnung eine bewußte Verschmelzung von Empirismus und 
Skeptizismus statt; die Medizin wurde dadurch skeptischer, der 
Skeptizismus empirischer gestaltet. An Beobachtung und Erfah- 
rung hielten sich diese Ärzte unter den Skeptikern und Skeptiker 
unter den Ärzten. Dieser skeptische Empirismus ist ein Vorspiel 
zu dem, was wir heute Positivismus nennen, und seine Prin- 
zipien sind von hoher philosophischer Bedeutung. Aber eine 
Wissenschaft glaubten diese Skeptiker nicht zu betreiben; die 
Wissenschaft hat es nach ihnen mit der Natur der Dinge, ihren 
notwendigen, gesetzmäßigen Verbindimgen zu tun. Diese aber 
gelten ihnen als unerkennbar. Der heutige Positivismus ist für 
die Wissenschaft bescheidener und für sich anspruchsvoller ge- 
worden; er erklärt einzig die methodische Beobachtung der in der 
Erfahrung gegebenen Erscheinungen und des Zusammenhangs der- 
selben für Wissenschaft; von dem Ansich der Dinge und absoluter 
Notwendigkeit ihrer Verbindungen vermeint er ebensowenig zu 
wissen wie der antike Skeptiker, i*^) 

Unter den Vertretern dieser Richtung gewinnt einzig Sextus 
Empiricus, dank dem überlieferten Material, für uns etwas 
lebendigere Gestalt. Daß er um 200 nach Chr. gelebt hat, kann 
man mit annähernder Bestinuntheit aussagen; ^5^) wo er geboren, 
ist unbekannt; doch wissen wir aus seinen eigenen Angaben, daß 
er Grieche war;^^*) Athen hat er sicher, Alexandria und Rom ver- 



Erstes KapiteL Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 33 

mutlich gesehen.^ *^^ Er war Arzt^^) und Vorstand der skeptischen 
Schule. ^*^ Ob er aber „empirischer" oder „methodischer" Arzt 
gewesen (die Methodiker hatten sehr ähnliche Prinzipien wie die 
Empiriker), läßt sich nicht mehr feststellen.^*^^ Den Beinamen 
Empiricus kann man dreifach erklären: entweder Sextus hat der 
empirischen Arzteschule angehört, oder er ist nach seiner verloren 
gegangenen Schrift i/iTtetpixa vnojxvrjfjLata (empirische Streifzüge) 
so genannt, oder die Namengebung beruht auf einer Verwechslung 
seines philosophischen mit dem medizinischen Standpunkt (indem 
man von seinem philosophischen Empirismus auf seine Zugehörig- 
keit zum medizinischen schloß). 

Von seinen Schriften sind ims erhalten: i. Uvppoivstot 
tmarvTtGoöstg („Pyrrhonische Grundzüge", welche in drei Büchern 
imd knapper Form die Summe des griechischen Skeptizismus ent- 
halten). 2. Ilpog 7ov<s SoyjxartHov<s („Gegen die dogmatischen 
Philosophen", fünf Bücher, welche die skeptische Polemik gegen 
die Vertreter der philosophischen Disziplinen nach antiker Ein- 
teilung bringen, zwei gegen die Logiker, zwei gegen die Physiker 
und eins gegen die Ethiker). 3. Ilpbg tov<s fxa^ri)iatiKov(S („Gegen 
die Mathematiker", sechs Bücher, die sich die Zersetzung der 
übrigen Wissenschaften, welche man unter dem Namen iyKvxXta/ia' 
Srrfjxata begriff, nämlich der Grammatik, Rhetorik, Geometrie, 
Arithmetik, Astronomie und Musik, zur Aufgabe machten). 2. und 
3. werden heutzutage gewöhnlich unter dem gemeinsamen Titel 
der „Elf Bücher gegen die Mathematiker** befaßt 1^^) Des Sextus 
Schriften*^ sind eine planmäßige und wohlgeordnete Zusammen- 
stellung alles dessen, was der Skeptizismus von Pyrrho ab ge- 
leistet Sie sind deshalb von unschätzbarem Wert für unsre Kenntnis 
dieser Bewegung. Zwar ist Sextus weitschweifig und gibt, wie er 
selbst eingesteht, das Beste und Meiste aus andern und wenig 
aus sich selbst ^'^•) Aber augenscheinlich hat er die Originalquellen 
ernst studiert und klar verstanden. Vermutlich haben ihm Timons 
Schriften, vor allem aber Aenesidems und Menodots Werke für 
seine Darstellung vorgelegen.^*^) Zu bedauern aber bleibt, daß 
Sextus bis auf wenige Ausnahmen nicht angibt, welchen Anteil 
die einzelnen Denker, welchen er selbst, welchen endlich die Schul- 
tradition an den verschiedenen skeptischen Thesen und Argumenten 
gehabt haben. Sextus ist der letzte bedeutende Vertreter des 
radikalen Skeptizismus in Griechenland. Nach ihm wird nur noch 
ein Saturninus als Schul vorstand erwähnt. ^^^) 

Richter, Skeptizismus. 7 



34 Ento: Abfchnitt Die griechische Skepsis. 

Damit ist der summarische Überblick, der dem Gesamt- 
verlauf der pyrrhonischen Skepsis galt, an sein Ende gelangt. Er 
hat gezeigt, wie der rigorose, weltflüchtige, moralische Skeptizismus 
des Pyrrho schließlich in einen positivistischen Empirismus ein- 
gemündet war. Wir werden später sehen, wie nach anderthalb 
Jahrtausenden in England umgekehrt der Skeptizismus David 
Humes am Ende und als Frucht einer langen empiristischen Epoche 
zur Reife kommt. 



2. Die akademische Skepsis. 

Ehe wir uns den Lehren des philosophischen Skeptizismus, 
wie derselbe in Griechenland ausgebildet wurde, zuwenden, müssen 
wir noch einen Blick werfen auf den Verlauf der sog. aka- 
demischen Skepsis, d. h. auf die Vertreter jener Form der 
Zweifelslehre, welche innerhalb der von Plato begründeten ge- 
lehrten Genossenschaft, der berühmten „Akademie", verkündet 
wurde. Plato hatte diese Akademie natürlich zur Verbreitung 
seines eigenen großen dogmatischen Systems des Spiritualismus 
bestimmt; aber die Forderungen der Zeit wirkten stärker als die 
Traditionen des genialen Stifters. Schon unter den auf Plato un- 
mittelbar folgenden Schulhäuptem beginnt eine zunehmende Ent- 
fernung von den platonischen Lehren. Das Schwergewicht wird, 
dem Drange der Niedergangsbewegung entsprechend, nicht auf 
die Metaphysik oder die Erkenntnislehre, sondern auf die Ethik 
gelegt. Aus ethischen Motiven aber hatten wir auch den Skepti- 
zismus Pyrrhos erwachsen sehen. Ein weiteres Ferment, geeignet 
den Skeptizismus zu begünstigen, war der in der akademischen 
Denkweise stets heimisch gebliebene Geist der sokratischen Dia- 
lektik, i**) Dieser Geist der scharfen Begriflfsanalyse treibt von 
sich aus, wenn ihm nicht andere Motive im Denken die Wage 
halten, zum Zerstören, Zerfressen, Bezweifeln. Solche Motive, die 
bei einem Sokrates und Plato die Dialektik nur als Instrument 
zu virtuoser Handhabung in ihren Dienst zwangen, waren er- 
loschen. Man spielte das Instrument wieder um seiner selbst 
willen, und wenn andre Motive vorhanden waren, so hemmten 
sie nicht, sondern forderten die skeptischen Neigungen. Und so 
tritt denn der Skeptizismus nun auch innerhalb der platonischen 
Akademie auf, etwa hundert Jahre nach dem Tode ihres Begründers. 
Weil diese Richtung dem urdogmatischen Piatonismus aber geradezu 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 35 

entgegengesetzt ist, pflegt man mit Recht von dem Augenblicke 
an, wo der Skeptizismus die herrschende Lehre der Akademie 
wird, von einer zweiten oder mittleren Akademie zu sprechen. 
Der Begründer dieser skeptischen Richtung in der Akademie und 
damit der erste Vertreter der zweiten Akademie ^*^ ist der Skep- 
tiker Arkesilaus. 

Arkesilaus wurde zu Pitane in Aeolien geboren.^**) Aus der 
Angabe bei Diogenes, daß er 75 Jahr alt geworden, ^•^) imd daß 
Lakydes ihm 240 vor Chr. als Scholarch folgte, ^*^ läßt sich ent- 
nehmen, daß er 315 — 240 vor Chr. gelebt haben muß. Er war also 
ein jiingerer Zeitgenosse des Timon. Nachdem er schon in seiner 
Heimat besonders in der Mathematik gelehrte Bildung genossen, ^^^ 
kam er nach Athen imd wurde ein Schiller, erst des Musikers 
Xanthus,^*®) dann des Peripatetikers Theophrast^®*) Die Peripa- 
tetiker waren die Verbreiter der Aristotelischen Philosophie und 
neben den Akademikern die angesehenste Philosophenschule. 
Durch Krantor, den damaligen Scholarchen der Akademie, wird 
er für diese gewonnen ^^®) — zur großen Betrübnis Theophrasts, 
der ungern ein solches Talent aus seiner Schule scheiden sah.^^^) 
Krantor ist mit Arkesilaus aufs engste befreundet gewesen 1^*) — 
er hat dem Arkesilaus sein ganzes Vermögen vermacht. Nach 
Krantors Tode hörte Arkesilaus noch dessen Nachfolger Polemon und 
Krates. Daß er auch Pyrrho gekannt und von ihm gelernt hat, ist 
uns leider nicht als sichere Tatsache, sondern nur als Gerücht 
überliefert. ^^^) Als Krates gestorben war, wurde von dem zum 
Scholarchen gewählten Sokratides die Leitung der Schule dem Genie 
des Arkesilaus freiwillig abgetreten. ^^*) Dieser führte die platonische 
Lehrmethode der gemeinsamen Diskussion wieder ein.^^^ Er 
war als Lehrer ungeheuer beliebt und hatte trotz seiner scharfen 
Art einen großen Zulauf von Schülern .^^*) 

Der Skeptikert3rpus, den Arkesilaus verkörpert, ist nicht der 
des verzichtend ergebenen, mit sich und der Welt fertigen Pyrrho; 
nicht der des beißenden Satirikers Timon — es ist der des liebens- 
würdigen, geselligen und scharfsinnigen Mannes. ^^^ Von den 
öffentlichen Angelegenheiten hielt er sich fem.^^®) Er lebte als 
reicher Mann in Athen, vielleicht etwas luxuriös, vielleicht etwas 
zu sehr der Venus und dem Bacchus ergeben (es ist schwer, aus 
den widersprechenden Berichten, die alle nicht aus erster Quelle 
schöpfen, herauszulesen, was auf Verleumdung, was auf Wahrheit 
beruht). ^^•) Sehr imtenichtet und gebildet, ist er der Kunst innig 

3* 



3 6 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

zugetan; seine Lieblingsdichter sind Homer und Pindar.^**^) Er 
selbst versucht sich gelegentlich in der Poesie. ^®^) Sein glänzender 
Witz versagte nie; spielend kamen seinem Geiste die Einfälle i®*), 
und eine hinreißende Redegabe, der selbst ein Cicero seine Be- 
wunderung zollte,"*) stand ihm zu Gebote. Dazu die äußeren 
Vorzüge: der gütige Blick, die schöne Gestalt, der Zauber der 
Stimme.^®*) So ist er das, was der Franzose einen charmeur zu 
nennen pflegt. War Pyrrho halb Melancholiker, halb Phlegmatiker, 
Timon Choleriker — Arkesilaus ist Sanguiniker; und wie es diesem 
Temperament eigentümlich, so war auch Arkesilaus trotz Leichtsinn 
und Eitelkeit ein durchaus gütiger und nobler Charakter. Die Art 
seiner Wohltätigkeit, von der wir wissen, sein ritterliches Verhalten 
zu den philosophischen Gegnern bezeugen uns das. Bedürftigen 
Kranken, die er besucht, steckt er heimlich Geldbeutel unter die 
Kissen; ^®^) von dem Stoiker Kleanthes, einem der bedeutendsten Ver- 
treter dieser Schule, wurde Arkesilaus, obwohl er mit der Stoa in 
heftigster Fehde lag, bewundert und geachtet. Als dem Kleanthes 
einmal jemand sagte, Arkesilaus tue nicht seine Pflicht, antwortete 
der Stoiker: wenn er sie auch mit Worten aufhebt, bewährt er 
sie doch durch die Taten. Worauf Arkesilaus: Schmeicheleien 
dulde ich nicht; Kleanthes: Schmeichle ich dir etwa, wenn ich 
sage, daß du anders handelst, als du redest? ^^^ — Ein Verhalten, 
ebenbürtig dieser stoischen Replik, zeigte Arkesilaus einem Schüler 
gegenüber, der den Kleanthes schmähte und den er aus seiner 
Schule verbannte, bis er jenem Genugtuung geleistet hatte.^®^ 
Schriften hat dieser Skeptiker nicht verfaßt^®®) 

Fragen wir nach dem Anteil, der dem Arkesilaus an der 
Ausbildimg der Zweifelstheorie zukommt, so ist nicht zu verkennen, 
daß seine Leistung hier hauptsächlich eine negative, zersetzende, 
eine polemische und zerstörende gewesen ist.^^*) Es ist vor allem 
die Widerlegung des inzwischen erblühten stoischen Dogmatismus, 
welche im Mittelpunkt seiner Lehre gestanden hat.^*®) Zeno, der 
Begründer der Stoa, dann seine Nachfolger Kleanthes und Chry- 
sippus, hatten eine ganz dogmatische Erkenntnislehre, Physik, 
Religionsphilosophie und Ethik ausgebildet. Das Kriterium der 
Wahrheit war ihnen die (pavtaöia xaraXTfTtrtHi^, die Vorstellung, 
welche sich den Beifall des Subjekts erzwingt Einziges Gut ist 
die Tugend, und tugendhaft leben heißt: im Einklang mit der 
Weltvernunft, das heißt weise leben. Arkesilaus scheint nun vor 
allem die Richtigkeit des stoischen Wahrheitskriteriums an- 



Erstes KapiteL Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 37 

gegriffen, ^•^) damit aber jede Möglichkeit der Erkenntnis seiner 
Meinung nach vernichtet zu haben, i^^) Wir können nichts wissen, 
nicht einmal, daß wir nichts wissen;^®*) denn von keiner Vor- 
stellung können wir, entgegen der Behauptung der Stoiker, mit 
Sicherheit erkennen, ob sie wahr oder falsch ist.^**) Da bleibt nur 
übrig, uns jeder Zustimmung und jedes Urteils zu enthalten. i*^ 
Soweit stimmt also Arkesilaus, bis auf die Polemik gegen die 
Stoa, mit Pyrrho und Timon überein. Aber die eigentümliche 
Note der akademischen Skepsis gegenüber der pyrrhonischen zeigt 
sich bei Arkesilaus schon auf ethischem Gebiete. Dem Einwurfe 
der Stoiker nämlich, der Skeptiker könne, wenn er von nichts 
überzeugt sei, auch nicht handeln, sondern sei zu völliger Taten- 
losigkeit verdammt, hielt Arkesilaus bereits entgegen: zum Handeln 
bedürfe es gar nicht der Überzeugung von der Wahrheit einer Vor- 
stellung, sondern die vernünftige Wahrscheinlichkeit genüge 
hier schon. Diese Wahrscheinlichkeit (das svXoyor) sei daher die 
höchste Norm für das praktische Leben, und sie genüge zur Glück- 
seligkeit.***) Wir werden sehen, wie diese beiden, die arkesilaische 
von der pyrrhonischen Skepsis unterscheidenden Züge, die 
Polemik gegen die Stoa und der Begriff der Wahrscheinlichkeit, 
der gesamten akademischen Skepsis im weiteren Verlauf den 
Stempel aufdrücken. 

Noch darf nicht unerwähnt gelassen werden, daß über des 
Arkesilaus Lehre auf einem ähnlichen Punkt ein Dunkel schwebt, 
wie bei Aenesidem. Wie dieser nämlich den Skeptizismus nur als 
Vorbereitung zum Heraklitismus, so soll Arkesilaus die Skepsis nur 
als Vorhalle oder Vorstufe zu einem esoterischen Piatonismus 
angesehen und gepflegt haben. ^•^ In diesem Sinne wurde von 
einigen der auf Arkesilaus gemünzte, allerdings vieldeutige Vers 
des Aristo aufgefaßt: „Plato von vom, doch Pyrrho am End*, 
Diodor in der Mitte" (Diodor war ein berühmter Dialektiker.^®*)) 
Wenn auch diese Anschauung an sich wenig Wahrscheinlichkeit 
hat, so ist sie doch psychologisch durchaus leicht erklärlich: 
ArkesUaus hielt Plato hoch in Ehren; in seiner Lehrmethode, der 
freien Diskussion, gemahnte er in mehr als einem Zuge an den 
Stifter der Akademie, und überdies schien seine Ethik geheime 
positive Bestimmungen zu enthalten, welche auf den ersten Blick 
mit dem theoretischen Skeptizismus nicht verträglich waren. 

Von den Schülern und Nachfolgern des Arkesilaus wissen 
wir nur, daß sie in seinem Geiste weiter forschten. Die Leitung der 



38 Enter Abschnitt Die griechische Skepsb. 

Akademie übernahm nach seinem Tode Lakydes. Dieser legte 
in leider verloren gegangenen Schriften (<pik66o(pa und ntp\ (pvtfeoag) 
die Ansichten der akademischen Skepsis nieder. !••) Als Schul- 
vorstände lösten den Lakydes Tel ekles und Euander ab. Auf 
diese folgte Hegesinus. Erst in dessen Nachfolger Karneades 
aber gelangte die akademische Skepsis auf ihren Höhepunkt 

Karneades wurde als Sohn des Epikomus oder Philokomus 
in Cyrene geboren*®®) — am gleichen Monatstage wie Plato, was 
seine Verehrer hevorhoben.*®^) Seine Lebenszeit läßt sich auf die 
Jahre 214 — 129 vor Chr. mit amnähemder Bestimmtheit festsetzen.*®*) 
Er ist also etwa hundert Jahre jünger als Arkesilaus; Unterricht hat 
er bei dem Scholarchen der Akademie, Hegesinus, und dem Stoiker 
Diogenes von Babylon genossen ;*®8) seine eigentlichen Lehrer aber 
waren, wie er selbst gestand, die Werke des Stoikers Chrysippus. 
„Wäre nicht Chrysippus, so wäre auch ich nicht", pflegte er zu 
sagen.*®*) Später wurde er Schulvorstand der Akademie, und 
unter ihm erhob sich die Schule zu solcher Blüte, daß einige von 
Karneades an eine besondere, eine dritte Akademie gerechnet 
haben.*®*) Aus seinem Leben wissen wir nur noch, daß er an 
der Philosophengesellschaft teilnahm, welche von Athen nach 
Rom geschickt wurde, um den Erlaß einer auferlegten Geld- 
strafe zu bewirken. Karneades sprach dabei von seinem skep- 
tischen Standpunkt aus den einen Tag für, den andern gegen die 
Gerechtigkeit, und riß durch den Schwung seiner Rede alle Zu- 
hörer mit sich fort.*®®) Auch sonst wurde er in hohem Maße 
von seinen Zeitgenossen verehrt. Die Mondfinsternis, welche 
bei seinem Tode eintrat, galt als Trauer des Gestirns über das 
Hinscheiden eines so großen Mannes.*®^) — Schriften hat auch 
Karneades nicht verfaßt;*®®) er ist der dritte unter den großen 
Skeptikern, welcher, der Konsequenz des theoretischen Stand- 
punktes treu, nichts geschrieben hat. Vor ihm taten Pyrrho und 
Arkesilaus das gleiche. Aber wie Pyrrho seinen Timon, Ar- 
kesilaus seinen Lakydes, so hat auch Karneades einen begeisterten 
Schüler gefunden, der die schriftliche Verbreitung der Lehren 
seines Meisters übernahm. 

Von der Persönlichkeit des Karneades wissen wir nur, daß 
sie weniger gesellig, äußerlich, liebenswürdig als Arkesilaus, mehr 
der strengen und herben Art eines Pyrrho zuzuzählen ist. Er 
lebte ganz versunken in seine Studien; alle Einladungen lehnte er 
ab. Haare und Nägel soll er sich aus Mangel an Muße nicht 



Erstes Kapitel. Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 39 

beschnitten haben.*®*) Seine Reden, weniger graziös und elegant 
als die des Arkesilaus, erzielten durch die Gewalt der Stimme, 
von der alle zu berichten wissen, und durch die Wucht seiner 
Dialektik eine mächtige, fast dämonische Wirkung. *i®) Dem Tode 
stand er nicht trotzig, wie die Stoa, sondern echt skeptisch re- 
signiert imd ergeben gegenüber. Als dem Erblindeten von stoischer 
Seite der Vorwurf gemacht wurde, daß er nicht den Mut zum 
Selbstmord finden könne, erwiderte er aus seiner ruhigen und 
gelassenen Stimmung heraus: Was die Natur zusammengefügt, 
das wird sie auch wieder auflösen (ff 6v6tr/6aöa ^vöns xal 

Des Kameades Anteil an der Ausbildung des Skeptizismus 
läßt sich nach drei Seiten hin abgrenzen. Durch Cicero und 
Sextus sind wir leidlich über denselben unterrichtet.*^*) Einmal 
-führte Kameades den von Arkesilaus gegen die Stoa (Zeno) be- 
gonnenen Kampf (gegen Chrysippus) siegreich zu Ende (auf allen 
Gebieten durch die Überlegenheit seiner Gründe den Feind zurück- 
schlagend). Indem er die Unmöglichkeit eines Kriteriums der 
Wahrheit, immer voll Spitzen gegen die Stoa, mit neuen und 
originellen Gründen dartat, bereicherte er die Grundthese des 
griechischen Skeptizismus von der Unsicherheit alles Wissens um 
einen wertvollen Beitrag. Insonderheit wies er auf die Unmöglich- 
keit hin, innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung ein genaues 
Erkennungszeichen für wahre Vorstellungen zu geben; denn die 
Vorstellungen der Träume, der Visionen, der Verrückten, aber 
auch die Wahmehmungen der Gesunden, welche den eckigen 
Turm aus der Feme mnd, das Ruder im Wasser gebrochen er- 
blicken, beweisen, daß wahre und falsche Vorstellungen an innerer 
Überzeugungskraft einander gleich kommen. 2^') Die Vernunft- 
und Verstandesoperationen aber sind unfähig, hier korrigierend 
einzugreifen; denn sie bewegen sich auf so unsicherer Gmndlage, 
daß sie sich bei den bekannten Fangschlüssen in unauflösbare 
Widersprüche verwickeln. Besonders waren es der berühmte 
„Komhaufe" und der „Lügner", auf welche sich Karaeades in 
seiner Polemik gegen das vemünflige Erkennen zu stützen pflegte.*^*) 
Kameades aber war es auch, der zweitens eingehend und scharf- 
sinnig, wiedemm in polemischer Absicht gegen die Stoa, den 
Götterglauben, die Religion in jeder Form kritisch zersetzte und 
ihre Voraussetzungen von Gmnd aus aufrieb.^i*) Der gesamte reli- 
giöse Skeptizismus in der griechischen Philosophie hat seine 



40 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Rüstkammer in der akademischen Skepsis, und zwar genauer in des 
Kameades Kritik des Götterglaubens. Was nachher darüber zu 
berichten sein wird, hat also hier seine Quelle. Und so gelangte 
auch Kameades zu einer vollständigen Unentschiedenheit in allen 
wissenschaftlichen Gmndfragen. Kameades, so schreibt sein 
Schüler Klitomachus, hat eine wahrhaft herkulische Arbeit ver- 
richtet, indem er die Zustimmung, das heißt das bloße Meinen 
und dreiste Behaupten, gleich einem wilden und unbändigen Tier 
aus unserer Seele herauszog. *i*) — Neben den destruktiven 
Leistungen dieses Philosophen aber bleibt sein Ruhm — und das 
ist der dritte Punkt — vor allem die Ausbildung der Wahr- 
scheinlichkeitslehre. Wir können nichts Sicheres wissen — 
das ist der negative Teil seiner Lehre; — wir können aber Wahr- 
scheinliches vermuten, — so lautet die positive Seite. Angeregt 
wurde er zu der Entwicklung dieses Gedankens genau wie Arke- 
silaus durch die Erwägung, daß auch der Skeptiker zum Handeln 
jeines Kriteriums bedürfe, an dem er sich im Leben orientieren 
könne. 21^. Ob er aber nicht nur auf unsere Vorstellungen, son- 
dern auch auf die ethischen Werte den Wahrscheinlichkeitstand- 
punkt angewandt imd ähnlich wie die Stoiker, nur imter dem 
probabilistischen Vorbehalt, das naturgemäße Leben für der Güter 
höchstes erklärt habe, muß dahingestellt bleiben. 2*®) 

Der bedeutendste Schüler des Kameades war Klitomachus, 
welcher auch in der Leitung der Akademie auf den Meister folgte 
und etwa von 175 — iio vor Chr. gelebt haben muß. In seinen 
zahlreichen Schriften (400 Bücher soll er verfaßt haben) trug er 
die Lehre des Kameades, aber unter genauer Berücksichtigung 
der gegnerischen Standpunkte, vor.*^*) Von Charmides, dem Mit- 
schüler des Klitomachus, der nach dessen Tode die Leitung der 
Akademie übernimmt, sowie von den übrigen Schülern des Kar- 
neades wissen wir nichts Näheres. Doch scheint bei all diesen 
Männem schon eine stärkere Ausbildung der positiven Seite und 
damit eine größere Entfemung vom Skeptizismus, ja eine stille 
Neigung zum Eklektizismus stattgefunden zu haben. **^) Sicher 
ist dies von Philo von Larissa bezeugt, der manchen daher 
wegen des veränderten Standpunkts als der Stifter einer vierten 
Akademie gegolten hat."i) Dagegen mündet mm in Antiochus 
von Askalon, dem auf Philo folgenden Scholarchen, die aka- 
demische Richtung in einen emeuerten, aus Piatonismus und 
Stoizismus zusammengeschweißten dogmatischen Eklektizismus ein. 



Erstes KapiteL Vorgeschichte und Verlauf der griechischen Skepsis. 4^ 

Antiochus bricht offen mit den skeptischen Traditionen der 
jüngeren oder mittleren Akademie und wird der Stifter einer 
fünften.***) So kehrt die Akademie Piatos, welche vom Dogma- 
tismus ausgegangen war, nachdem sie die Skepsis durchlaufen, 
wieder in den Dogmatismus zurück. 

Das Verhältnis der akademischen Skepsis zum Pyrrho- 
nismus ist kein ganz eindeutiges. Schon im Altertum hat man 
sich, und sogar von skeptischer Seite, über dasselbe gestritten.**^ 
Nicht nünder geschieht das heutzutage. Dies ist erklärlich; denn 
wirklich handelt es sich dabei weniger um grundsätzliche Unter- 
schiede, als um andere Färbung und Schattierung. Von der einen 
Seite hat man behauptet,**^) die akademische Skepsis sei nur die 
Fortsetzung der pyrrhonischen und beide hätten in der Zeit von 
Arkesilaus bis Philo in Wahrheit eine Schule ausgemacht. Auf 
der andern Seite hat man die Kluft zwischen Pyrrhonismus und 
mittlerer Akademie gar nicht tief genug schildern können. Aller 
Ernst und alle Kraft wurde den Pyrrhonikem zugeteilt, und die 
akademischen Skeptiker nur als ruhmsüchtige, sophistische Rhe- 
toren hingestellt***) Man wird das Verhältnis weniger einseitig, 
aber richtiger erfassen, wenn man behauptet: die Originalität der 
skeptischen Weltanschauung ist zunächst auf Seiten des Pyrrho- 
nismus. P)m"ho hat zuerst in der Menschheitsgeschichte die Grund- 
thesen des radikalen Skeptizismus gelehrt und vorbildlich nach 
ihnen gelebt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Arkesilaus von 
Pyrrho und Timon beeinflußt worden ist.***) Der systematische 
Hauptunterschied aber ist der, daß die Schule Pyrrhos die ex- 
tremere imd konsequentere, die Akademie durch Einführung des 
Wahrscheinlichkeitsbegriffs die gemäßigtere und verwertbarere Form 
des Skeptizismus vertritt. Endlich hat der Pyrrhonismus, wenn 
er sich wirklich, wie einige wollen, von Demokrit hauptsächlich 
herleitet, den naturwissenschaftlichen Ursprung auch in seinem 
Verlauf nicht verleugnet; er hat sich immer mehr der Empirie, 
der Beobachtung und den Tatsachen (man denke an die skep- 
tischen Ärzte) zugewandt. Die Quelle der akademischen Skepsis, 
die sokratisch- platonische Dialektik wiederum, gibt den Zweifeln 
eines Arkesilaus und Karneades die Richtung auf eine mehr ge- 
dankliche, auch in der Form schöne, oft das literarische streifende 
Ausarbeitung ihrer Argumente ein.**^ 



42 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Zweites Kapitel. 
Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 

L Das allgemeine Prinsip der Isosthenie. 

Nach diesem orientierenden Überblick über den Verlauf des 
Pyrrhonismus und der akademischen Skepsis läßt sich ein Gesamt- 
bild des griechischen Skeptizismus als einer einheitlichen Welt- 
anschauung entwerfen. Den Grundriß hierzu soll die monumen- 
tale Problemstellung des Pyrrho, sollen seine drei großen Fragen 
in Timons Formulierung abgeben: Wie sind die Dinge be- 
schaffen? Wie müssen wir uns zu ihnen verhalten? Was 
erwächst für uns aus diesem Verhalten?^) Ein antiker 
Rahmen zu einem antiken Bild ist auch im Haushalt der Wissen- 
schaft am Platz. Es ist bemerkenswert, daß 2000 Jahre später 
Kant die Grundzüge seines Systems durch drei ganz ähnliche 
Fragen zu umspannen vermeinte: was kann ich wissen? was soll 
ich tun? was darf ich hoffen?*) Und gehen auch die Antworten 
Pyrrhos und Kants besonders bei den letzten Fragen weit aus- 
einander, so zeigt sich doch eine eigentümliche Verwandtschaft 
darin, daß beiden die dritte Frage: was erwächst für uns aus 
unsrer Lehre oder: was dürfen wir hoffen, persönlich am meisten 
am Herzen lag. Bei Pyrrho ist es die Ataraxie, auf welche der 
Skeptiker hoffen darf, bei Kant sind es die Objekte des religiösen 
Glaubens, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Daß das ethische Ideal 
der Unbewegtheit und Unbeirrtheit in des Pyrrho Skepsis das 
treibende Motiv gewesen, auf das ihm alles ankam und dessen 
wegen er seine Lehre ausbildete, ist schon hervorgehoben worden. 
Kant aber hat den Satz geschrieben: ich mußte das Wissen auf- 
heben, um zum Glauben Platz zu bekommen. Und weiter: während 
bei Kant und Pyrrho die dritte und dann die zweite Frage als ihre 
persönlichen Lieblinge erscheinen, liegt für die Wissenschaft und 
für uns heute das Schwergewicht und die bleibende Leistung dieser 
Männer in der Beantwortung ihrer ersten Frage: wie sind die 
Dinge beschaffen, was können wir über sie wissen? Und die Er- 
kenntnislehre der Skeptiker, nicht ihre Ethik, und Kants Kritik der 
reinen Vernunft, nicht seine Moral- und Religionsphilosophie, stehen 
uns heute obenan. 

Demnach wird die erste Frage: wie sind die Dinge be- 
schaffen? das Hauptinteresse in Anspruch nehmen. Dabei können 



Zweites Kapitel. Die Darstellang des griechischen Skeptizismus. 43 

zwei große Seiten der griechischen Skepsis ohne Verlust in den 
Hintei^nind treten. Einmal die reiche Polemik gegen zeit- 
genössische Philosopheme, besonders gegen die Erkenntnislehre 
der Stoiker. Da letztere für uns heute ein lediglich historisches 
Interesse hat, ist durch ihre Widerlegung für den „Skeptizismus 
in der Philosophie" nicht viel gewonnen. Und zweitens dürfen wir 
von den ermüdenden dialektisch-sophistischen Beweisgängen, 
aus denen die Skeptiker den Dogmatikem Stricke zu drehen 
Uebten, im ganzen wohl absehen. „Der Skeptiker wül" — schreibt 
Sextus im Schlußkapitel seiner Hypotyposen — „weil er menschen- 
freundlich ist, der Dogmatiker Wahn und Vorschnellheit nach 
Möglichkeit durch Vemimftgründe heilen; und der wuchtigen nun 
und derjenigen, welche das Wahnleiden der Dogmatiker kräftig 
zu zerstören vermögen, bedient er sich gegen diejenigen, welche 
durch die Vorschnellheit schwer zuschaden gekommen sind; der 
leichteren aber bei denen, welche nur ein oberflächliches und 
leichtheilbares Wahnleiden haben, und durch Gründe schwächeren 
Kalibers widerlegt werden können. Deshalb scheut sich der von 
der Skepsis Ausgehende nicht, bald an Glaubwürdigkeit gewich- 
tige , bald aber auch schwächer erscheinende Reden zu erheben, 
absichtlich, insofern sie ihm oft genügen, sein Vorhaben zu er- 
reichen." Wir ehren diese Menschenfreundlichkeit der Skeptiker 
— fahlen uns aber als Schwerleidende, denen mit leichten und 
seichten Gründen nicht geholfen ist. Von den dialektischen 
Sophismata zur Begründung des Skeptizismus also absehend, 
wenden wir uns dessen ernst zu nehmenden und ernstgemeinten 
Argumenten zu. 

Und zwar zunächst der Frage: wie sind die Dinge be- 
schaffen? Unter Dingen ist alles Wirkliche und alles Mögliche, alle 
Werte und alle Wertmöglichkeiten zu verstehen. Also die Rose, die 
ich jetzt sehe, so gut wie die Rose, die morgen erst erblühen wird, 
aber auch ebenso Gott, das Gute und Böse, Schöne und Häß- 
liche usw. EKe Dinge, in dieser weitesten Bedeutung genommen, 
wie sind sie beschaffen? Darauf antwortet der Skeptiker: ich 
kann schlechterdings nicht wissen, ob sie so oder so beschaffen 
sind.^ Wie kommt er zu dieser ungeheuerlichen Behauptung? 
Er kann nicht wissen, ob eine Farbe rot oder gelb, ein Turm 
rund oder viereckig, ob Gott schwach oder mächtig, der Dieb- 
stahl gut oder schlecht, ein Mädchen, eine Landschaft schön oder 
häßlich ist!*) Es ist klar, wer so etwas meint, muß eine be- 



44 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

sondere Fähigkeit, ein besonderes Vermögen besitzen, das anderen 
Menschen abgeht. Und in der Tat sprechen diese Männer von 
einer besonderen skeptischen Fähigkeit, einer Svvafii^ öHeTtttxi^, 
Wer dies skeptische Vermögen besitzt, ist ein Skeptiker. Worin 
besteht diese Begabung?^) Sie besteht, so erfahren wir, im 
Konfrontieren von allem, was da ist, in einer Gegenüberstellung 
von gleichstarken Behauptungen, die sich die Wage halten. Eins 
widerlegt das andere und wird seinerseits durch das andere 
widerlegt. Es ist, als ob die ganze Welt nur eine große Prozeß- 
verhandlung wäre, die aus lauter widersprechenden Zeugenaussagen 
bestünde. Der Skeptiker aber ist der Weltrichter und spricht 
über alles sein non liquet. Jedes Ding hat seine zwei Seiten. 
Der Skeptiker macht Ernst mit diesem Sprichwort. Während wir 
im gewöhnlichen Leben nur so obenhin verallgemeinem und bloß 
ausdrücken wollen, die meisten Dinge lassen sich von ver- 
schiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, so will nun der Skep- 
tiker zunächst buchstäblich, daß jedes Ding seine zwei Seiten 
habe. Nun muß aber alles, was ist oder sein kann, entweder 
durch die Sinne oder das Denken aufgefaßt werden können. 
Ein Ding, ein Etwas, muß sich entweder sehen, hören, riechen, 
tasten, schmecken oder — denken lassen. Eine Rose kann ich 
tasten, sehen, riechen; den Ton c kann ich hören, die Süße des 
Zuckers kann ich schmecken — von Gott oder einem Zentauren, 
der Tugend oder dem Laster, von denen ich keine immittelbare 
sinnliche Wahrnehmung habe, kann ich mir doch in Gedanken 
einen Begriff machen. Könnte ich auch das nicht, so wären sie, 
wenigstens für mich, nicht etwas, sondern nichts. So ist alles: 
sinnlich Wahrnehmbares oder Denkbares, aiöS^ffta oder yotftd; 
das sinnlich Wahrnehmbare wird auch gelegentlich Erscheinendes, 
(paivoßBva^ das denkbare Gedachtes, voovjJLBva, genannt. Beide 
Ausdrücke, Phänomene und Noumene, sind als stehende Aus- 
drücke in den Sprachschatz der neueren und neuesten Philosophie 
mit hinübergewandert. Da aber die Skepsis das Wort Erschei- 
nung mehrdeutig gebraucht und dasselbe besonders durch Kant 
eine ganz neue Färbung erhalten hat, wollen wir uns vorläufig 
der eindeutigen Ausdrücke: Sinnliches und Begriftliches bedienen.*) 
Der Skeptiker ist nun gewillt. Sinnliches gegen Sinnliches, Be- 
griffliches gegen Begriffliches, Sinnliches gegen Begriffliches und 
Begriffliches gegen Sinnliches auszuspielen.^ Man sieht, an 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 45 

Folgerichtigkeit und Kühnheit fehlt es hier nicht Aber es genügt 
nicht, daß alles in jeder erdenklichen Weise einander entgegen- 
gesetzt wird, es muß diese Entgegensetzung auch eine vollständige 
sein und darf nicht halb bleiben. Das ist nicht so zu ver- 
stehen, als müsse die eine Seite das gerade, direkte oder, wie 
es in der Schulsprache heißt, das kontradiktorische Gegenteil der 
anderen sein;®) aber die Behauptungen über die Beschaffenheiten 
der Dinge müssen sich wie These und Antithese insofern ver- 
halten, als sich beide an Oberzeugungskraft, an Glaubwürdigkeit 
oder Unglaubwürdigkeit {Ttiörtg-aTttötia) nichts nachgeben dürfen. 
Jedes Ding muß wirklich mehrere Seiten haben, die sich die 
Wage halten. Das nennt der Skeptiker die Gleichkräftigkeit, die 
Isosthenie. Und er erklärt dieselbe als „die Gleichheit in Glaub- 
würdigkeit und Unglaubwürdigkeit, so daß keine der streitenden 
Thesen als glaubwürdiger vor der andern etwas voraus hat." 
Wiederum ist hier auf Kant zu verweisen, der diese skeptische 
Methode in einer der bedeutendsten Partieen seines Hauptwerks, 
in den sogenannten Antinomien der reinen Vernunft (freilich als 
partieller Skeptiker nur auf ein Teilgebiet der Erkenntnis, nämlich 
die Metaphysik) angewandt hat.^) Fragt man nun nach Beispielen 
von solch vollständigen Gegenüberstellungen, so ist auch mit diesen 
die Skepsis gleich zur Hand. — Sinnliches steht Sinnlichem 
gegenüber: derselbe Turm erscheint einmal rund (nämlich aus der 
Feme), einmal eckig (nämlich aus der Nähe). Begriffliches steht 
Begrifflichem gegenüber: es gibt eine Vorsehung (Beweis: die 
Ordnung und Harmonie in der Natur), es gibt keine Vorsehung 
(Beweis: dem Guten geht es oft schlecht, dem Schlechten oft gut). 
Sinnliches steht Gedachtem gegenüber: der Schnee ist weiß (wie 
uns die sinnliche Wahrnehmung lehrt), der Schnee ist schwarz 
(wie Anaxagoras beweist, der ihn als festgefromes Wasser erkannte; 
Wasser aber ist schwarz). Oder, damit bei dem letzten Beispiel 
man nicht von den naiven naturwissenschaftlichen Vorstellungen 
der Alten aus zu früh über deren prinzipiellen Standpunkt sich 
erhaben dünke: daß Bewegung statthat, lehrt der Augenschein; 
andrerseits folgt die Unmöglichkeit der Bewegung aus der logischen 
Erwägung: daß, wie die Bewegung in einem gegebenen Ort an- 
fangen solle, ebenso undenkbar ist, wie daß eine endliche Strecke 
in einem in unendliche Teile zerfallenden Räume von einem be- 
wegten Körper durchlaufen werde. ^®) Ist aber der Skeptiker 
einmal darum verlegen, einer bestimmten Behauptung über die 



46 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Beschaffenheit der Dinge (etwa der Atomtheorie Demokrits) eine 
andere gleichkräftige entgegenzustellen, so sagt er: Gleichwie des 
Demokrit Anschauung, daß jedes Ding ein Konglomerat von 
Atomen sei, vor dessen Geburt noch nicht bestand und doch der 
Sache nach schon da war, so besteht auch schon die antiatomistische 
These der Sache nach, wenn sie auch noch nicht ihren Verkünder 
gefunden hat. In dieser Verlegenheitsauskunft bewegt sich der 
griechische Skeptizismus ersichtlich schon hart an der Grenze des 
Sophismas.^^) 

Dies antithetische Verfahren wäre nun aber bloß Spielerei 
und eine Art frecher Disputierkunst, ähnlich der der Sophisten, die ja 
auch eine bestimmte Behauptung heute imd morgen deren Gegen- 
teil zu beweisen liebten,^*) wenn nicht die Lehre von der Iso- 
sthenie bei den Skeptikern auf grundsätzlichen und wohlbegründeten 
Einsichten geruht hätte. Jeder Behauptung — das ist der Sinn 
ihrer Lehre, der diese weit von der Durchschnittsophistik ab- 
rückt — kann nicht nur durch dialektische Geschicklichkeit oder 
infolge einer Art geistiger Sportübung eine gegenteilige Be- 
hauptung zugeordnet werden; sondern jeder These über die Be- 
schaffenheit der Dinge steht notwendig und aus inneren Gründen 
(soweit solche Ausdrücke innerhalb der skeptischen Anschauungs- 
weise erlaubt sind) die Antithese gegenüber. Denn keines 
unserer Erkenntnismittel kann die Wahrheit je erreichen. 

Der Satz, daß keines unserer Erkenntnismittel die Wahrheit über 
die Dinge je erreichen könne, ist von den Skeptikern eingehend be- 
gründet worden. So ist das Prinzip der Isosthenie — ujid als 
solches, als apxrj bezeichnet es Sextus^') — hier sowohl Methode, 
Verfahrensweise wie Ergebnis gewonnener Einsicht. Methode, inso- 
fern die Skeptiker ihre wissenschaftliche Betätigung auf die Wider- 
legung der Dogmatiker beschränkten und sich hier des antithetischen 
Verfahrens bedienen wollten ; ^*) Ergebnis, insofern die Möglichkeit 
einer allgemeinen Ausdehnung der Isosthenie auf anderweitig fest- 
gelegtem Grunde ruht. Das isosthenische Prinzip als Methode erhält 
erst von dem gleichen Prinzip als Ergebnis seine innere Berechtigung. 
Dieses fußt auf dem Nachweis, daß der menschliche Geist auf 
keinem Gebiete fähig sei, die Wahrheit zu erfassen. 

Nun stehen uns aber als einzige Mittel, die Beschaffenheit 
der Dinge zu erkennen, anschauliches Wahrnehmen und ver- 
nünftiges Denken zur Verfugung. Es wird also das Bemühen 
der Skeptiker darauf gerichtet sein, Sinnen wie Vernunft gleich- 



Zweites Elapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 47 

mäßig die Berechtigung jedes Anspruchs auf Erkenntnis zu ver- 
sagen. In der Tat ist dies der Weg, den die antike Skepsis 
beschreitet. Dabei verteilen sich die einzelnen Gruppen der Denker 
in der Weise, daß sie zwar alle die sensuale wie rationale Erkenntnis 
leugnen, aber doch vorzugsweise die früheren Skeptiker auf die 
Unmöglichkeit der sinnlichen, die späteren auf die Unmöglichkeit 
der vernünftigen Erkenntnis den Strom ihrer Gründe und Be- 
mühungen gerichtet haben. Mit dem skeptischen Nachweis von 
der Unmöglichkeit, durch die Sinne die Beschaffenheit der Dinge 
zu erkennen, wollen wir als dem der Sache wie der 2^it nach 
früheren beginnen. In den zehn Tropen des Aenesidem hat 
dieser Nachweis seinen klassischen Ausdruck gewonnen. i^) 

IL Die sensnale Skepsis. 

Diese zehn Tropen, die als tponot, tonot^ Xoyot (Weisen^ 
Gesichtspunkte, Reden) bezeichnet wurden,^^) und die sich in 
ausfuhrlicher Darstellung bei Sextus und Diogenes Laertius finden^ 
sind nun folgende: 

Der erste Tropus betrifft den Unterschied der Sinnes- 
wahrnehmungen über das gleiche Objekt bei verschiedenea 
Lebewesen. Er entspringt der Erwägung, daß die Erscheinungen 
der Dinge (sagen wir z. B. die Größe, Gestalt, der Duft imd 
die Farbe einer Rose)i^ sich nicht allen lebenden Wesen in 
gleicher Weise darstellen können. Wenn sie aber dem einen 
so, dem andern anders erscheinen, wer besitzt dann das wahre 
Erkenntnisbild des Dinges? Der Skeptiker weiß darauf nur zu 
antworten: es ist unentscheidbar, non liquet. Beide Behauptungen: 

1. daß die Sinneswahmehmungen der einzelnen Organismen von 
einem bestinmiten Objekt nicht die gleichen sein können und 

2. daß infolgedessen kein Wesen bei einer sinnlichen Vorstellung 
oder Anschauung ((pavraöia ist der technische Ausdruck) den An- 
spruch auf die Wahrheit derselben erheben dürfe, stützten die Skep- 
tiker mit reichlichen Gründen. Es ist doch — so meinten sie zum 
ersten Pimkt^^) — nicht denkbar, daß die gleichen Dinge (bleiben 
wir bei unsrer Rose) in den stark gewölbten Augen mancher 
Tiere, in den Augen der Insekten, in dem Sehorgan des Menschen 
sich in derselben Weise spiegeln sollten I Hier erleiden (mn in 
der Sprache unsrer Zeit zu reden) die von den Dingen ausgehen- 
den imd in das Sehorgan einfallenden Strahlen ganz verschiedene 
Brechungen. „Es ist deshalb wahrscheinlich, daß Hunde, Fische,. 



48 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Löwen, Menschen, Heuschrecken dieselben Dinge weder in den 
Größen gleich noch in den Gestalten ähnlich sehen." 1^) Und was 
vom Gesichtsuin gilt, gilt auch von den übrigen Sinnen. Wie kann 
man sich vorstellen, daß die Tastempfindungen, die die Or- 
ganismen durch Berührung mit den Dingen erhalten, fOr Schal- 
tiere, nackthäutige, befiederte, beschuppte, bestachelte die gleichen 
sein werden ? Wird ein Ding (z. B. eine schwingende Saite) femer 
wirklich denselben Ton in einem engen wie in einem weiten, in 
einem behaarten wie in einem glatten Gehörgang hervorrufen ? Und 
gilt nicht ähnliches auch von dem Geruch? Weiter: werden die 
Tiere mit trockener Zunge dasselbe schmecken wie die mit feuchter; 
gewiß nicht, so wenig wie der Fieberkranke auf seiner Zunge 
denselben Geschmack erleidet wie der Gesunde. Wie also der- 
selbe Hauch des Musikers in die Flöte geblasen bald einen hellen, 
bald einen tiefen Ton erzeugt, so werden auch dieselben äußeren 
Dinge verschieden angeschaut je nach dem Bau des betreffenden 
Lebewesens. Noch mehr wird man in dieser Annahme bestärkt, 
wenn man auf die Gefühlstöne sieht, die die Dinge bei den 
einzelnen Wesen erregen. Was dem einen angenehm, ist dem 
andern entsetzlich, und was diesen entzückt, verabscheut jener. 
So ist dem Menschen das Seewasser als Getränk unangenehm 
und ungenießbar, der Fisch plätschert wohlgemut darin umher 
und verschluckt es behaglich. Es muß also das Seewasser dem 
Menschen ganz anders „erscheinen" wie dem Fisch. Aus alledem 
und noch einer Flut ähnlicher Beispiele erhellt, daß der gesamte 
Sinnesapparat des Menschen widersprechende Zeugen in den 
Sinneswerkzeugen der verschiedenen Tiere sich gegenüber hat. 
Wir haben indes nicht den geringsten Grund — und das ist der 
zweite Punkt, auf den es ankommt^®) — den Erscheinungen, wie 
wir Menschen sie erkennen, als den wahren den Vorzug zu geben 
vor denjenigen, die die sogenannten unvernünftigen Tiere von den 
Dingen erhalten. Denn wir sind ja selbst in dieser Frage Partei; 
also zum Richter so ungeeignet wie möglich. Es ist nun eine 
Lieblingsvorstellung der Skepsis, die Kluft zwischen Menschen 
und Tieren zu überbrücken, nicht um die Tiere den Menschen, 
sondern die Menschen den Tieren anzunähern. Die stolze Ver- 
nunft, die nach der Lehre der meisten Dogmatiker das Privilegium 
des Menschen ausmacht, soll hier etwas gedemütigt werden. In 
launiger Weise zeigt uns Sextus, wie z. B. der Hund nicht nur 
schärfere Sinne als der Mensch, Geruch, Gehör und Gesicht 



Zweites Kapitel. Die Darstellmig des griechischen Skeptizismus. 49 

besäße, sondern daß er auch an der Göttergabe der Vernunft teil- 
habe, wenn er z. B. vor der erhobenen Peitsche bedächtig sich 
zurückziehe. Der Hund Argus zeigte sich sogar allen Menschen 
an Einsicht überlegen, als er aUein Odysseus in der veränderten 
Gestalt wiedererkannte! Ja, auch Zeichen von Moralität geben 
diese Tiere, so der Hund, der seinen Wohltäter dankbar an- 
wedelt, seinen Herrn treu verteidigt; und selbst die Kunst der 
Dialektik üben sie: der Hund, an einem Dreiweg angekommen, 
nach Durchspürung der zwei Wege, durch die das Wild nicht 
gegangen ist, macht den Schluß nach der 5. Figur: entweder 
ging das Wild hier oder hier oder hier durch; weder aber hier 
noch hier; folglich hier. Und was nun den Unterschied anlangt, 
daß der Mensch Sprache besitzt, das Tier nicht, wer sagt uns 
denn, daß die Tiere keine Sprache besitzen? Daß wir die 
Weisen der Vögel nicht verstehen, ist doch kein Grund, ihnen 
dies Ausdrucksmittel gegenseitiger Verständigung hochmütig abzu- 
sprechen. Und so werden wir zu dem bescheidenen Geständnis 
gedrängt, daß wir nicht wissen können, ob unsre Wahrnehmungen 
über das Ansich der Dinge vor denen der Tiere an Wahrheits- 
gehalt etwas voraus haben. 

Der zweite Tropus zieht den Gesichtskreis enger. Selbst 
zugegeben, daß die sinnlichen Erscheinungen, die wir Menschen 
haben, glaubwürdiger seien als die der Tiere (also Chance vor- 
handen sei, daß mein Gesichtsbild von der Rose wahrer sei als 
das des Elefanten), so stehen die Bilder, die sich die Menschen 
von den Dingen machen, auch untereinander in völligem Wider- 
spruch.'^) Das ist ja schon a priori zu vermuten. Hat man 
allen Grund zu glauben, daß die seelischen Funktionen den körper- 
lichen parallel gehen, so muß man auch annehmen, daß ver- 
schiedenen körperlichen Gestaltungen verschiedene seelische Äuße- 
rungen entsprechen, daß der Skythe und der so anders gebaute 
Inder nicht die gleichen Sinnesempfindungen haben werden. Und 
in der Tat bestätigt die Erfahrung diese Vermutung. Alle mög- 
lichen und unmöglichen Fälle führten die Skeptiker als Beispiele 
hierfür an. Da soll eine alte Frau in Attika ein paar Pfund 
Schierling ohne Nachteile verschluckt haben; von Alexanders 
Tafelordner Demophon wird berichtet, er habe in der Sonne 
gefroren und im Schatten geschwitzt; der Kaiser Tiberius sah im 
Finstem usw. Und auch hier gilt der Beweis, der sich den ver- 
schiedenen Gefuhlstönen, die die Dinge in uns erregen, entnimmt; 

Richter, SkepCiilsnnit. ^ 



50 Enter Abschnitt Die griechisdie Skepsis. 

nicht nur Mensch und Tier, sondern auch Mensch und Mensch 
lieben und hassen, begehren und fliehen Verschiedenes. Singt 
doch schon Homer: 

„Denn den einen ergetzt ja dies, den anderen jenes." 

Da nun die Wahl und die Vermeidung auf Lust und Onlust 
beruht, Lust und Unlust aber auf den sinnlichen Wahrnehmungen, 
so muß man annehmen, daß, wenn der eine dies, der andere 
jenes begehrt, auch die betreffenden Dinge dem einen so, dem 
anderen anders anschaulich erschienen sind. Wiederum erhebt 
sich die Frage: wer hat recht? Wer erkennt das Ding, wie es 
wirklich, wie es seinem eigenen Wesen, seiner eigenen Natur 
nach, wie es an sich beschaffen ist? Wem sollen wir glauben? 
Denn allen Menschen können wir nicht Recht geben, sonst würden 
wir ja die widerstreitendsten Eigenschaften dem gleichen Dinge 
zusprechen miissen; einigen bestimmten aber auch nicht, denn wer 
sollten diese sein? Zwar wird jeder den Parteiführer seiner eigenen 
Gruppe angeben; aber mit welchem Recht? Das eben ist die Frage. 
Und auch der Ausweg, die Majorität hier zur Richterin über wahr 
und falsch zu setzen, ist uns verschlossen. Denn wer getraute sich 
die Meinung der Majorität hierüber in der weiten Welt festzustellen? 

Der dritte Tropus verhält sich zum zweiten, wie der zweite 
zum ersten. Er liegt als konzentrischer Kreis in ihm. Erst wurde 
der Mensch den Tieren, dann der Mensch dem Menschen, jetzt 
wird der Mensch sich selbst gegenübergestellt. In einem und 
demselben Menschen widersprechen sich nämlich die Zeugenaus- 
sagen der einzelnen Sinne über den gleichen Gegenstand.**) So 
erscheinen die Gemälde dem Gesichtsinn plastisch (man denke 
nur an ein heutiges Panorama) mit Erhöhungen und Vertiefungen, 
dem Tastsinn aber flach, unkörperlich und der dritten Dimension 
entbehrend. Die Myrrhe empfindet unser Geruchsorgan als wohl- 
riechend, unsere Zunge als übelschmeckend. Wer hat mm recht: 
Auge oder Tastsinn? Zunge oder Nase? Wie ist das Gemälde, 
wie ist die Myrrhe wahrhaft beschaffen? Und noch ein bedeut- 
samer Einwand tritt hier auf. Die bisher befolgte Methode, aus 
dem Widerspruch in den Aussagen der Wahrnehmungen (bei 
den verschiedenen Lebewesen, den verschiedenen Menschen, den 
verschiedenen Sinnesgebieten desselben Menschen) über die gleiche 
Eigenschaft auf die Unerkennbarkeit der Dinge zu schließen, wird 
nämlich verlassen, und auf das Verhältnis der Mannigfaltigkeit 
der subjektiv- sinnlichen Empfindungen zur Mannigfaltigkeit der 



Zweites Kapitel. Die DarsteUtmg des griechischen Skeptizismus. 5^ 

objektiv -realen Qualitäten reflektiert. Der qualitative Gesichts- 
punkt wird durch den quantitativen abgelöst. Ist es auch kein 
Widerspruch, daß — wie die Empfindungen der verschiedenen 
Sinnesorgane uns lehren — dem Dinge viele Qualitäten zukommen, 
so läßt sich doch die Frage aufwerfen: muß auch notwendig der 
Mehrzahl der Sinneswerkzeuge eine Mehrzahl der realen Eigen- 
schaften entsprechen? Könnte nicht z. B. der Apfel, der dem 
Auge rund und gelb, der tastenden Hand glatt, dem Gaumen 
süß, dem Geruch wohlduftend erscheint, nur eine einzige Qualität 
haben, die sich nur gemäß den verschiedenen physiologischen 
Bedingungen (Netzhaut, Geschmacksknospen, Geruchskolben usw.) 
dem Menschen verschieden darstellt? Fehlt es dafür etwa an 
Analogien in der Natur? Wird nicht der nämliche Saft im Baume 
zur Rinde, zum Blatt, und zum Stamm? Und umgekehrt: wie es 
möglich ist, daß wir zu viel Eigenschaften an den Dingen wahr^ 
nehmen, so ist es auch ganz gut möglich, daß wir zu wenig an 
ihnen entdecken. Wir haben fünf Sinne. Wie, wenn wir sechs 
oder mehr Sinne hätten? Möglich, daß wir dann noch weitere 
Eigenschaften an dem Apfel wahrnehmen würden, von denen wir 
uns jetzt nicht einmal eine Vorstellung zu machen vermögen. Und 
so bleiben wir über die Anzahl der Eigenschaften eines Dinges 
wie über die Beschaffenheit derselben gleichmäßig im Unklaren. 

Im vierten Tropus verengert sich das Vergleichungsfeld 
noch einmal: nicht Mensch und Tier, nicht Mensch und Mensch, 
nicht die verschiedenen Sinnesorgane eines Menschen, sondern 
das gleiche Sinneswerkzeug wird in seinen widerspruchvollen Aus- 
sagen sich selbst gegenübergestellt.*^) Je nach den Verhältnissen 
nämlich, unter denen ein Sinnesorgan arbeitet, wechseln seine 
Erzeugnisse beträchtlich. Daher führt diese vierte Weise den 
Namen: von den Umständen. So schmeckt den Gesunden der 
Honig süß, dem Gelbsüchtigen bitter. Wo der normale Mensch 
nichts vernimmt, glaubt das Ohr des Geisteskranken Götterstimmen 
zu hören. Den gesunden und krankhaften Bedingungen in ihrer 
Wirkung verwandt sind die Zustände des Schlafens und des 
Wachens. Im Traume sehen wir Dinge, an die wir im Wachen 
niemals glauben würden, und was wir wachend geschaut haben, 
verändert sich im Traum. Auch die Altersverhältnisse des Menschen 
sind für seine Anschauungen von Bedeutung. Hier kehrt die Be- 
trachtung von den andersartigen GefQhlstönen wieder, die den 
einzelnen Erscheinungen anhaften: „denn für Kinder sind Bälle und 

4* 



$2 Erster Abschnitt Die griechische Skeptii. 

Spielräder eine ernste Sache; die Vollkräfdgen aber wählen sich 
anderes und anderes die Greise". Auf zahllose Umstände, die 
unsere Gefühle und Empfindungen von den Gegenständen ver- 
färben und verschieben, sei an der Hand der griechischen Skepsis 
nur vorübergehend hingewiesen. In verliebtem Zustand hält man 
ein Mädchen für blühend und schön, das einem in ruhiger Ge- 
mütsverfassung häßlich erscheinen würde. Die lauwarme Mittel- 
haUe des Bades erwärmt den von außen, von der frischen Luft 
kommenden, kühlt denjenigen, der aus den heißeren Räumen in 
sie hineintritt, dagegen ab. Wir brauchen die Beispiele nicht zu 
vermehren. Wer hat nun recht, der Kranke, dem der Honig 
bitter oder der Gesunde, dem er süß schmeckt; der Träumende 
oder der Wachende; der Greis oder das Kind; der Verliebte oder 
der Nüchterne; der Besucher, der von innen, oder der von auf^n 
in den Mittelraum tritt? Wie sind denn die Dinge wirklich ber 
schaffen? Ist der Honig süß oder bitter? ist das Mädchen hübsch 
oder häßlich? ist die Luft im Badehaus kühl oder warm? Und 
wieder ertönt die gleiche Antwort der Skepsis: wir wissen es nicht 
— Man möchte vielleicht bei diesem Tropus das Gefühl haben, 
als würde man von den Skeptikern einfach zum Besten gehabt; 
könne es doch keine Frage sein, daß sich hier nicht gleichwertige 
Zeugenaussagen gegenüberstünden; es sei doch selbstverständlich« 
daß das, was der Gesimde schmeckt, mehr Glauben verdiene als 
die Empfindungen des Kranken. Der Honig sei also süß, und es 
gäbe darüber nichts zu streiten. Und ebenso behalte der Wachende 
recht gegenüber dem Schlafenden, der Nüchterne gegenüber dem 
Erregten; es sei also wiederum gar nicht daran zu zweifeln, 
daß ein erträiuntes Gespenst nicht wirklich im Zimmer gewesen« 
und daß das betreffende Mädchen in Wirklichkeit häfUich seL 
Aber abgesehen davon, daß die Entscheidung der übrigen Fragen, 
ob z. B. der aus einer kühleren oder wärmeren Umgebung Ein- 
tretende der zuständige Beurteiler für die absolute Temperatur 
der strittigen Luft sei, dabei noch ausstünde, findet man auch 
gegen die vorige Kritik den Skeptiker fest gewappnet Denn 
wenn ihm mit noch soviel Sicherheit entgegengehalten wird, der 
Gesunde und nicht der Kranke, der Wachende und nicht der 
Schlafende erfasse die Dinge, wie sie in Wahrheit beschaffen seien, 
so wird ihn hier vielleicht schon ein einfaches und kiihles Warum? 
des Angreifers zum Stutzen bringen. Und diesen Augenblick macht 
sich der Skeptiker gleich zu Nutze; er gibt zu, daß wir im Schlafe 



Zweites KapiteL Die DaisteUnng des griechischen Skeptizismus. 53 

vermutlich das sehen, was im Wachen nicht wirklich ist, im Wachen 
aber das, was im Schlafe nicht wirklich ist. Über das Sein oder 
Nichtsein der Dinge schlechthin aber wäre damit nicht das Geringste 
ausgemacht; sondern immer nur in Bezug auf etwas {Tcpog tt), 
nämlich auf das Wachen oder Schlafen. Um über die absolute 
Existenz der Dinge zu urteilen, müßte schon vor allem der 
Urteilende nicht selbst Parteimann, oder wie die Skeptiker es 
nannten, nicht selbst auf einer Seite des Widerspruches (ßipog ttfg 
dta<pcov{a^) sein; also nicht selbst ein Wachender oder Schlafender. 
Das aber ist unmöglich. Hätte man sich nun aber inzwischen 
aufgerafft und hielte dem Skeptiker entgegen zu seinen Beispielen 
aus der Pathologie: Aussagen über die Dinge hätten doch nur 
im natürlichen und nicht im naturwidrigen Zustand des Menschen 
einen Wert, also nur bei den Gesunden, aber nicht bei den Kranken, 
so muß man sich auf folgende Antwort von selten des Gregners 
gefaßt machen: von welcher Natur sprichst du eigentlich? Es gibt 
eine Natur des Kranken und eine Natur des Gesunden. Der Gre- 
sunde verhält sich naturgemäß; gewiß, aber nur an der Natur des 
Gestmden gemessen, naturwidrig aber, gemessen an der Natur des 
Kranken; der Kranke verhält sich naturwidrig, gewiß; aber nur 
gemessen an der Natur des Gesunden, naturgemäß aber, gemessen 
an der Natur des Kranken. Kennst du etwa eine Normalnatur, 
eine natikliche Natur und eine unnatürliche Natur? Dann mußt 
du mich erst darüber aufklären; denn ich weiß nichts davon. 
Der Einwand des Skeptikers bleibt keineswegs auf der Oberfläche, 
und wir werden ihn später — bei der Kritik der Skepsis — 
ernsthaft zu berücksichtigen haben. 

Die ersten vier Tropen bilden eine in sich geschlossene Kette. 
Sie bringen den Gedanken zum Ausdruck: die sinnliche Erkenntnis 
ist völlig relativ; sie hängt nämlich ab von der Natur des wahr- 
nehmenden Subjekts und seiner Sinneswerkzeuge; da nun diese 
Bedingungen sehr variable sind, so köimen wir die Beschaffenheit 
der Gegenstände, die doch ersichtlich nicht mit der Beschaffenheit 
des auffassenden Subjekts wechselt, unmöglich erkennen. 

Die nächsten vier Tropen, der fünfte bis achte, bilden eine 
zweite, weim auch nicht so eng wie die vorige, zusammengehörige 
Gruppe. Betonten die ersten vier Tropen die Veränderlichkeit 
des Subjekts und die dadurch bedingte Veränderlichkeit seiner 
Wahrnehmungen, so suchen diese neuen Weisen auch aus den 
Verhältnissen der Objekte die Unmöglichkeit wahrer Erkenntnis 



54 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

darzutun. Daß der Zusammenschluß dieser Tropen kein so inniger 
ist, wie in der ersten Gruppe, beweist schon allein der Umstand, 
daß für die Reihenfolge der ersten vier Tropen in der Überlieferung 
Einstimmigkeit herrscht, die übrigen sechs aber von den alten Be- 
richterstattern in verschiedener Ordnung angegeben werden. 

Gleich der fünfte Tropus ist wichtig. Er handelt von der 
Verschiedenheit der Wahmehmungsbilder je nach dem Ort, an 
dem sich die Objekte befmden, je nach der Stellung, in der sie 
zu, dem Abstand, in dem sie von dem wahrnehmenden Subjekt 
stehen. '*) Die gleiche Säulenhalle erscheint von Anfang und Ende 
aus gesehen spitz zulaufend, von der Mitte aus aber gleichmäßig 
breit; dasselbe Schiff erscheint in der Feme klein und bew^ungs- 
los, in der Nähe groß und bewegt; derselbe Turm erscheint in der 
Ferne rund, in der Nähe viereckig; dasselbe Ruder erscheint in 
der Luft gerade, im Wasser gebrochen; der Hals der Taube erscheint 
je nach den Biegungen bald dunkel, bald spielt er in allen Farben, 
Da sich nun nicht vermeiden läßt, die Dinge an irgend einem 
Ort, in irgendwelchem Medium, in irgendeinem Abstand zu sehen, 
so müßte man denjenigen Ort, das Medium, den Abstand angeben, 
bei dem man die wirkliche Beschaffenheit der Dinge erkennen 
könnte. Da aber ein Ort vor dem anderen hier nichts voraus hat, 
so spricht der Skeptiker zum fünften Male über die Beschaffenheit 
der Dinge sein : non liquet. Ersichtlich befaßt sich dieser Tropus 
init demjenigen Phänomen, das wir heute als „Sinnestäuschungen" 
zu bezeichnen pflegen. Aber da in den Erklärungen derselben 
die modernen Erkenntnistheoretiker weit auseinandergehen, so 
können wir auch diesen Tropus, der vor etwa 2000 Jahren aus- 
gesprochen wurde, nicht für veraltet ansehen. 

Der sechste Tropus beschäftigt sich mit den „Beimischungen" 
(intßjityai),^^ Er beruht auf der einfachen Erwägung, daß wir des- 
halb die wirkliche Beschaffenheit der Dinge nicht zu erkennen 
vermöchten, weil sich das „Wahrnehmbare** sowohl mit den Be- 
standteilen seiner Umgebung wie mit den Säften unserer Sinnesorgane 
vermische und so niemals rein, sondern immer schon vermengt 
mit Fremdartigem in unseren Geist gelange. So sehen wir unsere 
eigene Körperfarbe anders je nach der Luft, die uns umgibt, und 
wir hören vermutlich den gleichen Ton anders je nach den Ver- 
bindungen, die er mit den Stoffen in unserem Gehörorgan eingeht 

Nach dem siebenten Tropus machen die quantitativen 
Verhältnisse der Objekte die Erkenntnis ihrer Beschaffenheiten 



Zweites K^>Ue]. Die Darstellung des griechisdieii Skeptizismus. 55 

unmöglich. Denn das gleiche Ding zeigt in verschiedener Größe 
und Zusanunensetzung ein ganz anderes Aussehen.'^ Die kleinen 
Abschabsei vom Hom der Ziege erscheinen weiß, in der Zusammen- 
setzung, am ganzen Hom erscheinen sie schwarz. Sind sie an 
sich schwarz oder weiß? Die einzelnen Sandkörner fassen sich 
rauh an, der ganze Sandhaufe aber weich. Ist Sand nun rauh 
oder weich? Die Medizin in mäßiger Menge heilt, im Übermaß 
genossen, bringt sie Verderben. Ist sie an sich heilsam oder tödlich ? 
Auch hier hält der Skeptiker eine Entscheidung für unmöglich. 

Die achte Weise (die aber bei Sextus erst als neunte auf- 
tritt) kehrt den Gesichtspunkt von den verschiedenen Gefühlstönen, 
die das gleiche Objekt erregen kann, und der uns schon in den 
Beweisen für frühere Tropen begegnet war, noch einmal als selb- 
ständigen Tropus hervor, macht aber jetzt die Verschiedenheit der 
Gefühle nicht von den früher gemachten subjektiven Bedingungen, 
sondern von dem häufigen oder geringen Vorkommen der Objekte 
abhängig.*') Was wir öfters sehen, wie die Sonne oder den 
menschlichen Körper, bewegt uns nicht mit staimender Ver- 
wunderung, während seltene oder zum ersten Male erlebte Vor- 
komomisse, ein Erdbeben, Kometen, der erste Anblick des 
Meeres usw. eine große Überraschung in uns hervorrufen. Auch 
der Wert der Dinge schätzt sich nach ihrer größeren oder ge- 
ringeren Verbreitung. Wäre Wasser spärlich wie Gold oder Gold 
häufig wie Wasser, so würde Gold für wertlos und Wasser für 
wertvoll gelten. Ersichtlich haben sich aber die Beschaffenheiten 
des Wassers und Goldes als solche dabei nicht geändert. Ist nun 
das Meer selbst staunenswert oder gleichgültig, Gold an sich 
wertlos oder wertvoll? 

Der entscheidendste Tropus von allen ist aber der nun fol- 
gende, in unserer Aufzählung also der neunte. Trotzdem können 
wir uns über ihn am kürzesten fassen. Denn wie die Gruppe 
der ersten vier Weisen die Relativität aller Wahrnehmungen aus der 
subjektiven, die Gruppe der letzten vier aus der subjektiv -objek- 
tiven Bedingtheit gefolgert hatte, so verkündet nun der neunte 
Tropus die Quintessenz aller bisherigen, die Relativität aller Wahr- 
nehmungen schlechthin. Darum hat dieser Tropus das „in bezug 
auf etwas" {Ttpogtt) zxun Gegenstand. 2®) Eines besonderen Be- 
weises bedarf es also für denselben nicht. Vielmehr dienen ihm alle 
übrigen acht Tropen zum Beweise. Das hat schon Sextus gesehen 
und danun mit Recht behauptet, daß dieser Tropus den übrigen 



56 Erster Abschnitt. Die griediisdie Skepsis. 

nicht gleichgeordnet, sondern übergeordnet sei, daß diese sich 
zu ihm wie die Arten zur Gattung verhielten. Und wir werden 
gleich erfahren, wie die Nachfolger des Aenesidem, als sie die 
Zahl der skeptischen Tropen verringerten, die bisher genannten 
neun in den einzigen Tropus von der Relativität der Wahrneh- 
mungen zusammenschmolzen.**) 

Ganz isoliert und aus dem Zusammenhang der übrigen heraus- 
fallend steht nur der zehnte Tropus, der aus der Verschiedenheit 
und dem Gegensatz der Meinungen auf aUen Gebieten die Un- 
möglichkeit einer Erkenntnis für den Menschen erschließt.*^) Mit 
der Widerlegung der Wahrheit der Sinneswahmehmungen hat er 
nichts zu tun. Die gänzliche Verschiedenheit dieses Tropus von 
den übrigen suchte die Skepsis einigermaßen dadurch zu ver- 
schleiern, daß sie die Wahrheit auf allen Gebieten wie ein festes, 
reales Objekt an sich, die Auffassung der Wahrheit als die Spi^e- 
lung und Erscheinung dieses Objekts hinstellt und dadurdi den 
Parallelismus mit den sinnlichen Wahrnehmungen, die ihr ja auch 
als Erscheinungen von Dingen gelten, zu retten trachtete. Den 
Widerstreit der Meinungen beleuchteten die Skeptiker sehr wirksam, 
indem sie auf die Verschiedenheit der Völker und Individuen in 
deren grundlegenden Ansichten, in den Mythen, den Gesetzen, 
den Sitten, den wissenschaftlichen Prinzipien hinwiesen. Von jeder 
nur ein Beispiel (die Skepsis gibt deren eine Fülle). Widerspruch 
in den religiösen Mythen: bald wird Zeus, bald Okeanus als Vater 
der Menschen und Götter erklärt. Widerspruch in den Gesetzen: 
bei den Römern bezahlt, wer auf das väterliche Vermögen ver- 
zichtet, nicht die Schulden des Vaters, bei den Rhodiem bezahlt 
er sie; Widerspruch der Moralanschauungen: die Inder pflegen 
mit den Frauen auf offener Straße Geschlechtsverkehr, andere 
Völker halten dies für schimpflich. Widerspruch in den Sitten: 
die Äthiopier tätowieren ihre Kinder, die Griechen nicht. Wider- 
spruch in den philosophischen Grundauffassungen: einige Denker 
lehren die Sterblichkeit, andere die Unsterblichkeit der Seele; 
einige halten an einer Vorsehung fest, die andere verwerfen. 
Ihrem rastlosen Spüren nach Antithesen gemäß begnügten sich 
aber die Skeptiker nicht mit diesen Widersprüchen. Sondern wie 
sie M3rthus dem Mythus, Gesetz dem Gesetz gegenüberstellten, so 
auch Mj^hen den Gesetzen, Sitten den Mythen usw. Man kann 
leicht ausrechnen, wie viel Kombinationen und Variationen das 
ergibt. 



Zweites KapiteL Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 57 

Und so schließt die Reihe der Tropen zwar mit einem 
Gliede, das organisch mit den übrigen nicht verwächst, aber durch 
seinen umfassenden Machtbereich um so wirksamer den Vemich- 
tungsschlag gegen alle Wahrheit fuhrt. Die neun ersten Tropen 
bohrten die sinnliche Erkenntnis systematisch von allen Seiten an; 
deren natürlichen Zusammensturz nicht abwartend, scheint der 
zehnte Tropus als letzter Trumpf mit aller Wahrheit auch die 
anschauliche unter der Last eines einzigen Arguments zu begraben. 

Damit ist der hauptsächliche Stoff erschöpft, den die grie- 
chische Skepsis gegen die Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmungen 
ins Feld zu fuhren pflegte. Oberblickt man nun diese Polemik 
als Ganzes, so sieht man gleich, daß sie nicht nur reine Nega- 
tion ist. Die Skepsis leugnete nicht, daß wir mit unseren Sinnen 
Bäume, Feld und Wiesen, Sonne und Meer wahrnehmen, sie 
leugnet nur, daß wir die Dinge so erkennen, wie sie an sich selbst 
beschaffen sind. Oder, wie es der Skeptiker der damaligen Zeit 
auszudrücken pflegt: er erkenne selbstverständlich und vollständig 
die Erscheinungen als Tatsachen an; Bewußtseinszustände, die sich 
uns unmittelbar aufdrängen, zu leugnen, fiele ihm gar nicht ein; ^^) 
nur die Möglichkeit, die nichtoffenbaren, den Erscheinungen, die 
wir haben, zu Grunde liegenden Dinge (der adtfXa und vTroHsii^eva) 
zu erkennen bestreite er.**) Er leugnet also nicht, daß ihm jetzt 
z.B. warm ist,*^ wohl aber, daß er daraus erkennen könne, daß 
die Luft, unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt betrachtet, hier 
warm oder kalt sei; ebensowenig leugnet er, daß ihm der Honig 
süß erscheine, wohl aber, daß er darüber Aufklärung erhalten 
könne, ob der Honig an sich süß oder bitter sei.'*) So hebt der 
Skeptiker das Erscheinende nicht auf, sondern er bezweifelt nur, 
ob der Grund der Erscheinungen an sich (xa^ iavro)^ der Natur 
nach (Ttpb? tf/r <pv6iy)^ unverfälscht (aRtxpzvcdg), rein (ipiKdits) so 
beschaffen ist, wie wir ihn auffassen und wie er uns erscheint 
Er bezweifelt also nicht die Erscheinung, sondern eine bestimmte 
Aussage über die Erscheinung,'*) nämlich — um in modemer 
Sprache zu reden — daß die Erscheinungen die Dinge an sich 
getreu widerspiegeln. Damit aber erkennt die Skepsis das Dasein 
unabhängig von den Bewußtseinserscheinungen bestehender Objekte 
ausdrücklich an. Schälen wir also den positiven und den negativen 
Teil in dieser skeptischen Theorie der sinnlichen Wahrnehmung 
noch einmal heraus, so ist zu sagen: Die positiven Behauptungen 
der Skepsis lauten: es gibt Dinge, die mit bestimmten Eigen- 



5^ Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Schäften unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt bestehen; also 
es gibt Dinge nicht nur für uns, sondern Dinge an sich; und es 
gibt zweitens Erscheinungsbilder dieser Dinge in uns als unmittelbar 
erlebte Bewußtseinszustände, die wir anerkennen und denen wir 
uns fugen müssen. Aber — und das ist der negative Teil — 
diese Erscheinungsbilder lassen uns nicht erkennen, wie die Dinge 
an sich beschaffen sind; denn wir erfassen die Dinge ja immer 
nur in ihren Erscheinungen, nie unmittelbar, und die Erscheinungen 
sind (das ist der Wesenskem der neun ersten Tropen) je nach 
der Natur des wahrnehmenden Subjekts, der einzelnen Sinnes- 
werkzeuge, der einzelnen Umstände und Lageverhältnisse der 
Objekte verschieden. Normale Subjekts-, normale Objektsverhält- 
nisse, unter denen das Subjekt die wahre Erkenntnis der Dinge 
gewinnen könnte, lassen sich nicht angeben; denn die Norm für 
das Normale — wo sie hernehmen? Hier liegt das eigentliche 
Problem, um das die Skepsis die Philosophie bereichert hat, und 
um das man ohne gründliche Untersuchung mit einer einfachen 
Entscheidung nicht herumkommt. Das Nähere gehört in die Kritik 
dieser skeptischen Philosophie. In der Darstellung derselben, mit 
der wir vorläufig beschäftigt sind, hat auf die skeptische Theorie 
der sinnlichen Wahrnehmung der Angriff dieser Denker auf das 
verstandesmäßige und vernünftige, das begriffliche und beweisende 
Erkennen zu folgen. 

DX Die rationale SkepsiB. 
Geben die Sinne aus den uns bekannten Gründen keine wahre 
Erkenntnis, so doch vielleicht die Vernunft Unter Vernunft 
wollen wir hier die Funktion des Subjekts verstehen, nicht an- 
schauliche sondern begrifflich-logische Erkenntnis zu bilden. 
Alle Erkenntnis ist aber entweder anschaulicher oder begrifflicher 
Natur. Man nehme, welche Erkenntnis man wolle, aus dem System 
des populären Wissens oder der Wissenschaft; sie drückt entweder 
ein anschauliches oder ein begriffliches Verhältnis aus. Sage ich 
z. B. dieser Baum ist grün, so bringe ich ein anschauliches Ver- 
hältnis zum Ausdruck, nämlich meine unmittelbare Anschauung 
eines grünen Baumes. UrteUe ich aber: jeder Baum ist eine Pflanze, 
so spreche ich damit ein begriffliches Verhältnis aus, nämlich ein 
Verhältnis der Unterordnung zwischen dem Begriff des Baumes 
und dem der Pflanze. Mit den Begriffen nun lassen sich eine 
Reihe logischer Operationen ausführen, wie das Urteilen und 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 59 

Schließen; und auf diesen beruht der größte Teil unserer einzelnen 
Vemunftaussprüche. Die methodische Ausnützung aber dieser Ope- 
rationen, wie das planmäßige Urteilen und Schließen, bilden das 
hauptsächlichste Vehikel der wissenschaftlichen Erkenntnis. Solch 
wissenschaftlich- methodisch -begrifiliches Erkennen ist z. B. das Be- 
weisen, das Definieren, das Induzieren u. a. Richtet sich also der 
Angriff" der Skepsis gleichmäßig gegen Sinne wie Vernunft, so 
wird sie das Trügerische in den Begriffen, den logisch -begrifflichen 
Operationen, und den hauptsächlichen wissenschaftlichen Methoden 
nachzuweisen haben. In der Tat ist dies ihr Plan und ihr Vorgehen. 
Aber in der Ausfuhrung wechselt sie die Taktik. Hatte sie bis jetzt 
vorzüglich aus der subjektiv-individuellen Variabilität die 
Unfähigkeit der sinnlichen Wahrnehmungen dargetan, so gibt sie im 
Bereich des logischen Erkennens die subjektive Allgemeingültigkeit 
stillschweigend zu und bestreitet den Wahrheitsgehalt der generell- 
konstanten logischen Produkte auf Grund von derer Organisation. 
Mit der skeptischen Kritik der Begriffsbildung beginnen 
wir.**) Schon Sokrates, Plato und Aristoteles hatten die Ansicht 
vertreten, daß die sinnliche Erkenntnis nur eine Vorhalle der be- 
grifflichen sei, und daß wir erst in den Begriffen das wahre Wesen 
der Dinge erfassen. So erkenne ich das wahre Wesen eines Baumes 
nicht durch das anschauliche Bild, das ich von einem bestimmten 
Baume habe, sondern durch den Gattungsbegriff vom Baume über- 
haupt. Denn dieser allein ist allen Menschen in gleicher Weise 
gemeinsam, frei von den Widersprüchen der sinnlichen Wahrneh- 
mung, unveränderlich und sich gleich bleibend. Plato ließ diesen 
Gattungsbegriffen als objektive Realität die „Ideen" der Dinge im 
Reiche der Transzendenz entsprechen, dem Aristoteles ist dieses 
objektive Wesen im Einzeldinge selbst enthalten. Durch diesen 
Begriff vom Baume*') aber — so argumentieren die Skeptiker — 
erkenne ich überhaupt gar keine Wirklichkeit. Denn ihm kann 
keine Realität entsprechen. Die Gattung (yivo?) Baum, die ich 
mit dem Gattungsbegriff Baum erkennen soll, ist nicht existenz- 
fähig; denn sie enthält in sich einen Widerspruch. Zwei Möglich- 
keiten sind gegeben: entweder die Gattung, die in ihre Unterarten 
zerfallt, enthält all diese Arten in sich oder nur wenige. Letzteres 
ist ausgeschlossen; denn wenn die Gattung Baum nur Pflaumen - 
und Ahombäiune in sich enthielte, würde die Kastanie nicht unter sie 
fallen; sie also auch nicht die gemeinsame Baumgattung sein können. 
Umfaßt die Gattung aber alle Arten, so müßte in unserem Fall 



6o Erster Abschnitt. Die griechisdie Skepns« 

die Gattung Baum oder der abstrakte Baum alle einseinen Baum- 
sorten, Obstbäume, Ahome, Kastanien usw. in sich befassen. Das 
aber ist ein Widerspruch. Denn daim müßte er gezackte Blätter 
haben und ungezackte, groß und klein, nadeltragend und laubtragend 
sein. Weiter: ist nun jeder einzelne Baum eben Baum, d.h. zur Gattung 
Baum gehörig, so muß auch jeder einzelne Baum diese wider- 
sprechenden Eigenschaften des Großen und Kleinen, Nadeltragenden 
und Laubtragenden usw. an sich haben , und das wäre der Gipfel des 
Widersinns. Hilft man sich aber damit, die Gattung sei nur der 
Möglichkeit nach (övrajusi) Pflaumbaum, Ahorn und Kastanie, so 
sagt der Skeptiker: alles was der Möglichkeit nach etwas ist, muß 
auch außerdem ein wirkliches Etwas sein, in dem diese Möglich- 
keiten bestehen. So kann nicht jemand der MöglicMc^t nach 
Grammatiker sein, der nicht der Wirklichkeit nach jemand ist*^) 
Was sind aber die Gattungen in Wirklichkeit (ivBfyyeifc)} Wenn 
die Gattung Baum weder Pflaumbaum noch Ahorn noch auch alle 
Baumsorten zugleich sein kann? Und Möglichkeiten sind doch nur 
dadurch möglich, daß sie einmal zu Wirklichkeiten werden können. 

Was von den Gattungen, gilt von allen mehreren Dingen 
gemeinsamen Eigenschaften, die, wenn überhaupt, doch nur be- 
grifflich erkannt werden könnten. Alles „gemeinsam Zukommende" 
(ta Hotvdots övßißeßr/Hota) geht an inneren Widersprüchen zugrunde. 
Wenn das Sehen als „eines und dasselbe" Dion wie Theon zu- 
kommt, so könnte nach Theons Tod sein Sehen nicht vernichtet 
sein, solange Dion lebt. Zu solchen Folgerungen führt die An- 
nahme von Realitäten, denen nicht nur individuelle sondern gene- 
relle Existenz zugeschrieben wird — die eigentliche Objektswelt 
der Gattungsbegriffe. 

So ist das Ergebnis der Kritik der Begriffe kurz dieses: 
Sowenig wie durch die Sinne kann ich durch Begriffe die Be- 
schaffenheiten wirklicher Dinge erkennen; denn die Begriffe gehen 
überhaupt auf nichts wirkliches. Ein solches könnten höchstens 
die Gattungen und Arten sein. Warum diese aber der Lebens- 
fähigkeit entbehren, wurde dargetan. Daß auch in dieser Beweis- 
führung, so dialektisch sie klingen mag, die große Wahrheit vor- 
geahnt ist, daß wir in den Gattungsbegriffen nicht reale Objekte 
erkennen, sondern daß sie nichts weiter sind als rein gedankliche 
Zusammenfassungen vieler Einzeldinge, bei denen man auf das 
Gemeinsame reflektiert, das Unterscheidende aber fallen läßt,»^) 
wird sich später herausstellen. 



Zweites K^piteL Die Darstellmig des gilechischen Skeptizismus. 6l 

Innerhalb des Vemnnftbereicbs iät nun aber Von ^en lö*- 
gi3Gben Beziehungen , die unser Denken vollführt, für da$ Erkennt^ 
nisproUem wohl keiae so wicjitig, wie das Schließen. Sdbst 
das UrteUen, insofern es sich nicht um Fesitstelludg unmittelbarer 
Erlebnisse handelt, wie: ich sehe jet^ tot, schmecke süß, habe 
Schmerz usw., selbst das Urteilen hat für un$ nur Erkenntniswert, 
wenn es sich in letzter Linie als Produkt eines logischen Schlusses 
darstellen läßt. Ob wir im gewöhnlichen Leben Urteile fallen, wie 
etwa: die elektrischeri Sträßenbähneri sind eine wonltStige Ein- 
richtung, oder in der Wissenschaft: die Siunme der Winkel im 
Dreieck ist 2 IL gleich, immeir hat das Urteil erst dadurch Er- 
kemntniHlvert . fer unü, daß wir es un^ logisch ^ begründet, dh. als 
Konklusion eines Schlusses denken, oder doch denken können. 
Ein Urteil» das ;das Waruiii? nicht verträgt., überzetigt uns nicht; 
ein Urteil, das wäthv iseki will; muß sich begründen lassen. 
Nunjbegiründen wir nur dann streng, w^nn wir den strittigen Satz 
auf 'Unstrittige 3ätte zurückführen oder aus diesen ableiteUi Das 
gerade ist: aber der iKem des logischen Schlußverfahrens. So kann 
man das^ Urteil über die jwohltätige Einrichtung der Straßenbahnen 
etwa auf die unstrittigen Sätze i^rückzuf^i^en suchen , daß die 
Straßenbahnen den Verkehr erleichtem u^d daß jede Verkehrs* 
etleijchtening : für dieiMenschen eine W<ädtat ist iDas heißt nun 
nichts anderes wie: das in Frage stehende UrteQ älß Konklusion 
zweier PräJinissen klarstellen und den Schluß ziehen: 

Jede Verkelhrserieicht^rung ist tine wohltä.tige Einrichtung. 
Nun bilden ' die Elektrischen Straßenbahnen eine Verkehrs- 
^ erleiciterung; 

Also sind <jiie ejlektrischep Straß^nba^inen* eine 1 wol^tätigje Ein- 
richtung. 

:.. Wir: sagten: die beiden Prämisseti müssen unbestrittene Sätze 
sein» wEnki das zu begrijoidende Urteil auf ihnen, als seinem lo- 
gischen Gtiiüde ruben^ wenn das; UrteU wahr äeih soU. Da nun in 
obigetn Beispiel die beiden Vordersätzd keiäe > unstrittigen Sätze 
sind — denil e& könnte ja ein Mann vom Schlage der Rousseaus^ 
der GJück tind Sittlichkeit. durch die Fortschritte dei^ technischen 
Kultur / nicht gefordert . sondern gefährdet sähe ; bezweifeln , daß 
die Straßenbahnen einä wohltätige Eiririchtuilg sind — ^ so ist das 
Enduirteil, auch nicht' notwendig wahr. Aber füi^ denjenigen, der es 
als falsch erjcehiit^ härtgt auch die falsdhbeüt des Urteils an den 



62 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Prämissen; denn nur falsche Prämissen treiben falsche Urteile her- 
vor. Und das gegnerische Urteil: die elektrischen Straßenbahnen 
sind keine wohltätige Einrichtung, ruht seinerseits wieder nach 
Wahrheit und Irrtümlichkeit auf anderen Vordersätzen, die etwa in 
dem Schlüsse zum Ausdruck gelangen: 

Die Verkehrserleichterungen sind keine wohltätige Einrichtung. 
Die elektrischen Straßenbahnen sind Verkehrserleichterungen. 

Also sind die elektrischen Straßenbahnen keine wohltätige Ein- 
richtung. 

So hängt Falschheit wie Wahrheit einer Vemunfterkenntnis 
in letzter Linie von einem logischen Schlußakt oder Syllogismus 
ab. Es mußte nun für die Skepsis von hohem Werte sein, dem 
logischen Schlußverfahren scharf auf den Leib zu rücken und zu 
zeigen, daß ein Beweisen und Begründen überhaupt unmöglich 
sei. Damit aber fiele jedes Kriterium für wahr und falsch im Be- 
reich des vernünftigen Erkennens von selbst dahin, und die Skep- 
tiker hätten erreicht, was sie wollten, nämlich die Einsicht er- 
wiesen, daß wir auch durch das Denken sowenig wie durch die 
Sinne, über die Beschaffenheit der Dinge irgend etwas mit Sicher- 
heit auszusagen vermögen. In der Tat haben sie denn einige ihrer 
scharfsinnigsten Bemühungen gegen das Schlußverfahren und die 
logische Begründung gerichtet.*®) 

Sieht man sich eine beliebige Begründung, etwa in ihrer ein- 
fachsten Form, dem dreigliedrigen Schlüsse näher an, so stellt sich das 
Trügerische eines solchen Verfahrens nach drei Seiten hin heraus: *i) 

I. Eine bestimmte Erkenntnis läßt sich niemals durch einen 
einzigen Schluß begründen, sondern nur durch eine unendliche 
Anzahl von Schlußfolgerungen, deren letztes Glied sie ist. Als 
letzter Ring hängt sie an einer unendlichen Kette. Bleiben wir, 
um der historischen Darstellung etwas die Trockenheit zu nehmen, 
bei unserem Beispiel aus der Gegenwart. Der Begriff der elektrischen 
Straßenbahnen wird unter den allgemeineren der Verkehrserleich- 
terung als ein Teil desselben subsumiert. Was also von Verkehrs- 
erleichterungen im allgemeinen gilt (nämlich, daß sie eine wohl- 
tätige Einrichtung sind), gilt auch von den elektrischen Straßen- 
bahnen im besondem. Die Skepsis behauptet nun, daß in Wahrheit 
die Einsicht von der wohltätigen Einrichtung der elektrischen 
Straßenbahnen nicht so einfach und unmittelbar aus der Einsicht 
in die wohltätige Einrichtung aller Verkehrserleichterungen, viel- 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griedilscheD Skeptizismtu. 63 

mehr nur aus unendlich vielen und also unvollziehbaren Einsichten 
zu gewinnen sei. Denn wahr und überzeugend kann der Satz 
von der wohltätigen Einrichtung der Straßenbahnen, wie wir eben 
sahen, nur dann sein, wenn auch das allgemeine Prinzip, das den 
Begriff der Verkehrserleichterungen unter den Begriff der wohl- 
tätigen Einrichtungen subsumiert, wahr ist. Dieses aber ist als 
•eine Vemunfteinsicht nur dann wahr, wenn auch es seinerseits 
begründet, und also in der Form strenger Schlußfolge aus einem 
noch allgemeineren Prinzip abgeleitet ist. Etwa in der Art: 

Alles, was den Wohlstand einer Stadt hebt, ist eine wohltätige 

Einrichtung. 
Nun heben alle Verkehrserleichterungen den Wohlstand einer Stadt. 

Also sind alle Verkehrserleichterungen wohltätige Einrichtungen. 

Damit aber auch dieser Satz wahr sei, muß sein Obersatz: 
alles, was den Wohlstand einer Stadt hebt, ist eine wohltätige 
Einrichtung, wieder durch einen noch allgemeineren, dieser durch 
einen noch allgemeineren Obersatz und so ins Unendliche fort, 
begründet sein. Und die Wahrheit unserer Erkenntnis, daß die 
elektrischen Straßenbahnen eine wohltätige Einrichtung sind, hängt 
somit wirklich an einer unendlichen Schlußkette. Denn ist auch 
nur ein Ring in derselben mangelhaft, so stürzt das Schlußglied 
seinem logischen Werte nach in sich zusammen. Nun kann aber — 
so nützte die Skepsis diesen logischen Tatbestand in ihrem Sinne 
aus — niemand sich von der Wahrheit einer unendlichen Reihe 
von Gründen und Folgen überzeugen, also auch nicht von der 
Wahrheit des Schlußsatzes. Es bleibt somit dahingestellt, ob 
der Satz, daß die elektrischen Straßenbahnen eine wohltätige Ein- 
richtung sind, wahr oder falsch ist. Diese eigentümliche Art des 
Schluß Verfahrens nannte der Skeptiker treffend : die ins Unendliche 
hinaustreibende, tov slg aneipov ixßaXkovta rponov. 

Auch hier haben wir es nicht mit einer dialektischen Spielerei, 
sondern mit einem sehr ernst zu nehmenden Einwand gegen die 
Krafl der logischen Erkenntnis zu tun — einem Einwand, den selbst 
noch ein Kant in seinem metaphysischen Skeptizismus in vertiefter 
Weise verarbeitet hat. 

2. Als eine Art Korrolarium dieser ersten antilogischen These, 
aber von den Skeptikern doch als selbständiger Einwand gegen 
das Schlußverfahren geltend gemacht, ist folgende Erwägung: Sieht 
man auf die Begründungen, die für eine bestimmte Erkenntnis 



64 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

gang und gäbe sind, so wird man beobachten, dass die Leute 
sich nicht schon gewissermaßen in erster Instanz beruhigen. Man 
pflegt der Frage nach dem Warum nicht sogleich aus dem Weg^ 
zu gehen. Man ist gewillt, in der Wissenschaft und im Leben 
seine Prämissen selbst noch durch allgemeinere Einsichten zu be- 
gründen. Aber an einem bestimmten Punkte (da man sich nicht 
ins Unendliche hinaustreiben lassen will) pflegt man still zu stehen. 
Von einer bestimmten Erkenntnis als von einer selbstverständlichen 
Voraussetzung wird ausgegangen. So wird man sich in imserem 
Beispiel etwa noch nicht damit begnügen, die wohltätige Ein- 
richtung der Straßenbahnen aus der Wohltätigkeit aller Verkehrs- 
erleichterungen abzuleiten, sondern man wird für diesen Satz selbst 
noch die höhere Sanktion in dem allgemeineren Prinzip suchen, 
daß alles, was den Wohlstand einer Stadt hebt, wohltätig ist. 
Aber hierbei beruhigt man sich auch vollständig. Von dieser Vor- 
aussetzung geht man aus. 

Nun sagt die Skepsis: Eine Voraussetzung ist keine Begrün- 
dung; wenn sie das wäre, warum nicht gleich den strittigen und 
zu begründenden Satz unbegründet als wahr voraussetzen? Ob 
die Zuflucht zu einem unbegründeten als selbstverständlich ange- 
nommenen Satze gleich hier geschieht, oder erst zwei, ja zehn 
Glieder höher in der logischen Kette, ist gleichgültig; ist dieses 
zehnte Glied unbewiesen, so ist auch der Erkenntniswert des 
letzten Gliedes in Frage gestellt. „Und wenn das Voraussetzen 
etwas zur Beglaubigung hilft, so soll er das Gesuchte selbst vor- 
aussetzen und nicht etwas anderes, wodurch er eben das Ding 
begründen will, von dem die Rede ist; wenn es aber widersinnig 
ist, das Gesuchte vorauszusetzen, so wird es auch widersinnig sein, 
das Allgemeinere vorauszusetzen."**) 

Diese Form, an einem bestimmten Punkte in der Begründung 
einzuhalten und etwas unbegründet vorauszusetzen — eine Methode, 
ohne die unsere Erkenntnisfortschritte im gewöhnlichen Leben und 
in der Wissenschaft unmöglich wären, — nannte die Skepsis: die 
hypothetische Form, den \6yo^ VTto^sttxog, 

3. Wenn in den beiden vorhergenannten Punkten die Skepsis 
das logische Schlußverfahren dadurch zu zerstören suchte, daß sie 
den Schließenden vor die Alternative stellte: Entweder du mußt 
für die einfachste Einsicht, wenn sie b^ründet werden soll, eine 
unendliche Anzahl von Schlüssen vollziehen, was unmöglich ist, 
oder aber, wenn du das nicht willst und an einer bestimmten 
Stelle bei einem hypothetisch zugestandenen Satze Halt machst, so 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skepüzismus. 65 

beweist du nichts, da eben alles von der Begründung dieser Hypo- 
these abhängt; — so bemüht sie sich, an einem dritten bedeutenden 
Einwände darzulegen, daß das Schlußverfahren sich notwendig in 
einem ganz kleinen zwischen Obersatz und Schlußsatz laufenden 
Kreise bewege. Es läßt sich nämlich der Obersatz nur dadurch 
als wahr erweisen, daß er durch den Schlußsatz, der aus ihm be- 
wiesen werden soll, seinerseits bewiesen wird. Wir drehen uns 
also vollständig im Zirkel. Denn das, was eine Annahme be- 
weisen soll, kann seinerseits nur durch diese Annahme bewiesen 
werden. Nochmals nehmen wir unser Beispiel in Anspruch. In 
dem Schluß: „Alle Verkehrserleichterungen sind eine wohltätige 
Einrichtung; die elektrischen Straßenbahnen erleichtem den Verkehr, 
also sind die elektrischen Straßenbahnen eine wohltätige Ein- 
richtung!" ist der letzte Satz aus dem Obersatz, daß alle Verkehrs- 
erleichterungen wohltätige Einrichtungen sind, erwiesen. Wie aber 
kann man den Satz, daß alle Verkehrserleichterungen wohltätige 
Einrichtungen sind, seinerseits nur streng begründen? Doch nur 
so, daß man nachweist, daß jede Verkehrserleichterung, etwa die 
Post, der Telegraph, die Droschken usw. wohltätige Einrichtungen 
sind. Zu allen Verkehrserleichterungen gehören ersichtlich auch 
die Straßenbahnen; auch deren Wohltätigkeit muß also erst erwiesen 
werden, ehe der Satz: „Alle Verkehrserleichterungen sind wohltätige 
Einrichtungen" feststeht. So beweist die Wohltätigkeit der Straßen- 
bahnen ihrerseits erst die Wohltätigkeit aller Verkehrserleichterungen 
und wird auf der andern Seite aus dieser Wohltätigkeit aller Erleich- 
terungen selbst bewiesen. Der Zirkel ist offenbar. Das Beispiel, das 
die Skepsis zur Erläuterung zu geben pflegte, lautet: Jeder Mensch 
ist ein Tier; Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates ein Tier. 
Der Obersatz, daß jeder Mensch ein Tier sei, scheint nur daraus 
erweisbar, daß jeder einzelne Mensch, also der Plato, der Dio 
und auch der Sokrates ein Tier sei. Und nachdem so die Tier- 
heit des Sokrates Beweisstück gewesen, wird sie am Schluß Be- 
weisergebnis. *5) Diese Eigentümlichkeit am Schließen nannten die 
Skeptiker die des Durcheinander, die Diallele, tpoTCog 6ta\ki]Xog. 
Es wurden die Argumentationen der Skeptiker gegen das 
beweisende und begründende Erkennen an der einfachsten Form 
desselben, am dürren Schema des schulmäßigen Syllogismus exem- 
plifiziert. Selbstverständlich dehnte sie die Skepsis auf alles Be- 
weisen und Begründen überhaupt aus. Denn auch die Beweise der 
^^^ssenschaft sind, soweit sie logische Begründungen sein wollen, 

Richter, Skeptizismns. ^ 



66 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

nichts anderes wie ein Komplex zahlreicher ineinandergreifender 
Schlüsse, ein System von Schlüssen.**) Hatten die Skeptiker also mit 
den Einwänden, die wir eben kennen gelernt, recht, so waren sie 
auch im Recht, dieselben gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse 
geltend zu machen. 

Die dogmatischen Philosophen, so sagten sie zum Beispiel, 
müssen ihre Ansichten über die Beschaffenheit der Dinge, etwa 
daß diese aus Atomen bestehen, begründen; die Begründung aber 
durch eine höhere Begründung, diese durch eine noch höhere usw. 
So werden sie nicht in die Enge, sondern in die unendliche Weite 
getrieben. Oder aber sie machen irgendwo Halt und berufen sich 
auf eine ungewisse Voraussetzung, wie etwa die Zweckmäßigkeit 
der Natur, so läßt der Skeptiker diese Voraussetzung nicht gelten, 
stellt ihr die entgegengesetzte gegenüber und jagt so den Dog- 
matiker von seinem Ruhepolster. Oder endlich, ein dogmatischer 
Philosoph, wie Aristoteles, verteidigt die Ansicht, daß die Tapfer- 
keit eine Tugend sei, mit der Begründung, die Tugend bestehe 
in der rechten Mitte zwischen den Extremen, die Tapferkeit aber 
halte die Mitte zwischen der Tollkühnheit und der Feigheit — so 
hält ihm der Skeptiker entgegen: Du drehst dich im Kreise; denn 
daß die allgemeine Tugend das maßvolle und mittlere Verhalten 
sei, kannst du wiederum nur damit begründen, daß jede einzelne 
Tugend, und zu den einzelnen Tugenden soll ja auch die Tapfer- 
keit gehören, die Mitte zwischen den Extremen hält. 

Was wir soeben kennen gelernt, ist der gehaltvollste Teil 
von der Polemik, die die Skeptiker gegen die logischen Operationen 
der Vernunft unternommen haben. Dagegen treten ihre übrigen 
Bemühungen auf diesem Punkte in den Hintergrund. Nur einige 
Beispiele davon, welche die Skepsis der späteren Zeit gut charak- 
terisieren.*^) So suchte man die Kraft aller Beweisführung auf 
folgende Weise abzuschwächen: Ein Schluß ist noch kein Beweis. 
Schließe ich: wenn Tag ist, ist Licht, nun aber wird Weizen auf 
dem Markte verkauft, folglich geht Dion spazieren, so wird das 
niemand für einen Beweis halten. Damit ein Schluß beweisend 
sei, muß die Konklusion auch wirklich aus den Prämissen folgen. 
Das nannten die Alten einen schlüssigen, bündigen, gesunden 
Syllogismus, einen \6yog öwaKtixog, vytr/g. Das ist die erste 
Bedingung, aber nicht die einzige. Wenn ich z. B. in diesem 
Augenblick bei Tage schließe: wenn Nacht ist, ist Finsternis; nun 
ist jetzt Nacht, also ist jetzt Finsternis, so ist damit wieder nicht 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 67 

bewiesen, daß es jetzt finster ist; und doch ist die Verknüpfung 
der Glieder logisch völlig korrekt. Es ist zum Beweis erforderlich, 
daß, wie wir ims heute ausdrücken würden, die Schlußglieder nicht 
nur formal richtig verknüpfl, sondern auch inhaltlich wahr sind. Daß 
jetzt Nacht ist, ist eine inhaltlich falsche Prämisse, die natürlich den 
ganzen Schluß in sich zusammenstürzen läßt Aber auch ein formal 
und inhaltlich richtiger Schluß ist noch kein Beweis, sondern nur 
solche Schlüsse, die etwas Nichtoffenbares, ein äStfXor aus Ganzoffen- 
barem herleiten. Denn das Offenbare und Bekannte bedarf keines Be- 
weises. Sowäre es lächerlich, durch den material und formal korrekten 
Schluß: wenn Tag ist, ist es heil, nun ist jetzt Tag, also ist es hell, 
die Helligkeit, die ja vor aller Augen liegt, beweisen zu wollen. 

Wohl aber ist ein Beweis die Folgerung, die zugleich als 
charakteristisches Anzeichen für die Verquickimg von Medizin und 
Skepsis in der damaligen Zeit gelten kann: Wenn Schweißabson- 
derungen durch die Hautoberfläche fließen, so gibt es durch das 
Denken erfaßbare Poren, yorjrol nopoi. Nun aber fließen Schweiß- 
absonderungen durch die Oberfläche; also gibt es für das Denken 
erfaßbare Poren. Denn der Schlußsatz, daß es Hautporen gibt, 
ist eine Erkenntnis, die nicht vor aller Augen liegt, ein äStfXov. 
Nachdem die Skepsis auf solche Weise in ermüdender Schwer- 
fälligkeit umständlich nach stoischen Vorbildern auseinandergesetzt 
hat, was eigentlich ein Beweis ist, geht sie daran, dessen Fun- 
damente zu untergraben. Gleich die ersten beiden Bedingungen 
des Beweises natiirlich sind unerfüllbar. Die Schlüsse in einem 
Beweis müssen gesund, bündig, d. h. formal richtig und material 
wahr sein. Beides ist niemals mit Sicherheit herzustellen. Denn 
sieht man bereits ab von den Meinungsverschiedenheiten der Phi- 
losophen über die Regeln des Schließens und davon, daß, wo die 
Norm, das piitpor, nicht feststeht, auch das zu Normierende, to 
pietpovjuevov, nicht feststehen kann ,**) so muß , um zu entscheiden, 
ob ein Schluß wirklich formal folgernd ist, der Entscheidende 
selbst einen Beweis antreten, daß seine Rede aus den und den 
Gründen schlüssig oder unschlüssig, richtig oder fehlerhaft in der 
Form ist Das könnte er aber nur, wenn sein eigener Beweis 
auf formal richtigen Schlüssen beruht. Er bedient sich also des 
zu Beweisenden in Form eines bestimmten Schlußschemas, das 
er für korrekt hält, in seinen Beweisen, beweist also das Ergebnis 
mit Hilfe des Ergebnisses und dreht sich im Kreise. Ebensowenig 
läßt sich die zweite Voraussetzung eines Beweises, die materiale 



68 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Wahrheit von Schlüssen, erfüllen. Denn entweder ist der Ober- 
satz material richtig und wird von allen zugestanden (wenn Tag 
ist, ist Licht) so daß mit dem Begriff „Tag" sofort auch die Eigen- 
schaft „Licht" gegeben ist; dann leidet der ganze Syllogismus an 
Überfluß, an der napoXKrj, Die eine Prämisse: wenn Tag ist, 
ist Licht, scheidet als überflüssig aus und der Schluß verläuft 
zweigliedrig. Es ist Tag, folglich ist Licht. Damit aber wäre 
das Wesen des logischen Schlusses nach Ansicht der meisten 
Logiker*^ erschüttert. Oder die materiale Wahrheit des Ober- 
satzes ist problematisch. Dann ist sie selbst begründungsbedürftig 
und alles gegen Beweis und Begründung Gesagte trifft auch sie. 
Endlich kann unmöglich etwas Nichtoffenbares durch Beweis ent- 
hüllt werden, wie doch von den Logikern verlangt wird. Denn 
die Konklusion besteht nur in Relation zu den Prämissen, steckt 
implicite in diesen. Sind also die Voraussetzungen einleuchtend, 
so kann der Schlußsatz, der in ihnen steckt, kein aSrfXov, also 
auch nichts Beweisbedürftiges sein. Sind aber die Voraussetzungen 
selbst dunkel, „so wird ein solcher Beweis dessen, was ihn be- 
weisen soll, mehr bedürfen, als daß er anderes zu beweisen fähig 
sein wird.**) Er wird selbst dessen bedürfen, was ihn enthüllen 
soll und wird nicht anderes enthüllen."**) 

Bis jetzt haben wir es mit der Untergrabung des wissenschaft- 
lichen Verfahrens zu tun gehabt, insoweit es auf den logischen 
Operationen des Schließens und Beweisens in letzter Linie beruhte. 
Aber noch auf anderm Wege glaubte man im Altertum die wirkliche 
Beschaffenheit der Dinge wissenschaftlich erkennen zu können. 
Man brauchte ein Ding ja nur in allen seinen Einzelheiten genau 
zu definieren, um sich über seine wahre Beschaffenheit zu unter- 
richten. Insonderheit waren es wieder die Erzfeinde der Skeptiker, 
die Stoiker in der damaligen Zeit, die in ihrer schwerfalligen und 
übergründlichen Weise sich durch eine wahre Definierwut aus- 
zeichneten. Die relative Nutzlosigkeit aller Definitionen darzutun, 
hatte der Skeptizismus hier leichtes Spiel.^®) Wenn man nämlich 
vermeint, durch Definitionen ein Ding wirklich besser zu erkennen, 
so ist man gewaltig im Irrtum befangen. Wer etwas erklären 
will (z. B. den Menschen, oder das Pferd, oder den Hund) kann 
es doch nur dann erklären, wenn er es kennt. Nur wenn er 
schon weiß, daß der Mensch sterblich und vernünftig ist, kann 
er ihn als sterbliches vernünftiges Wesen definieren. So wird das, 
was erklärt wird, nicht durch die Erklärung erfaßt, sondern diese 



Zweites Kapitel. Die Darstellaog des griechischen Skeptizismus. 69 

setzt sich vielmehr auf Grund vorher erkannter Eigenschaften zu- 
sammen. Ich erfahre in einer Definition also nichts Neues über 
die Beschaffenheiten der Dinge, sondern krame in ihr sozusagen 
nur mein vorhandenes Wissen von den Dingen aus. Und wie 
lächerlich, das mit dem Eifer der Stoa zu betreiben! In köstlicher 
Parodie stellt Sextus den furor definiendi der feindlichen Schule 
und dessen lächerliche Hohlheit bloß, indem er einen Menschen 
an einen andern die aus lauter Definitionen der damaligen dog- 
matischen Philosophenschulen zusammengesetzte Frage richten läßt, 
ob er einen gemeinsamen Bekannten zu Pferde in Begleitung seines 
Hundes getroffen habe: „o du vernünftiges, sterbliches Tier, zum 
Denken und zur Wissenschaft befähigt, ist dir ein lachfahiges, 
breithufiges, für Staatskunde empfangliches Tier begegnet, das 
auf ein sterbliches, des Wieherns fähiges Tier die Hinterbacken 
aufgesetzt hatte und ein vierfüßiges , des Bellens fähiges Tier hinter 
sich her zog?" 

Mehr Scharfsinn aufwenden und tiefere Blicke in das Wesen 
der Erkenntnis tun mußte die Skepsis, wenn sie nicht nur über 
die in logischem Formelkram zum Teil erstarrten dogmatischen 
Schulen der Zeitgenossen einen verhältnismäßig billigen Triumph 
davontragen, sondern auch die klassischen erkenntnistheoretischen 
Leistimgen etwa eines Aristoteles zersetzen wollte. Hier hatte sie 
mit einem ganz andern Gegner zu tun; aber auch ihm zeigte 
sie sich gewachsen. Die Ansicht, die sie hier zu bekämpfen hatte, 
läßt sich in Kürze etwa so zusammenfassen: durch die Definitionen 
lerne ich natürlich nicht die einzelnen Dinge erst kennen; Defini- 
tionen sind nur der höchste und schärfste Ausdruck für meine 
Kenntnisse von den Dingen; die Generalformeln, in die ich mein 
ErkenntAismaterial zusammenfassen kann. Die Beschaffenheiten 
der Dinge aber erkenne ich wissenschaftlich auf zweierlei Weise. 
Einmal indem ich sie aus allgemeinen Erkenntnissen ableite, de- 
duziere; z. B. die Sterblichkeit der Menschen aus der Sterblich- 
keit der Lebewesen; oder (um unser früheres Beispiel zu gebrauchen) 
die Wohltätigkeit der Straßenbahnen aus der Wohltätigkeit aller 
Verkehrserleichterungen. Das ist jdie Methode der Deduktion, 
und ihr hauptsächliches Vehikel ist der logische Schluß. Mit diesem 
Prinzip haben wir sich die Skepsis ja bereits auseinandersetzen 
sehen. Oder aber — und das ist das Wichtige und Neue — ein 
solch allgemeiner Satz, aus dem eine Erkenntnis deduziert werden 
kann, läßt sich nicht auftinden. Dann müssen Einzelfalle gesammelt 



7o Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

und auf die in Frage stehende Eigenschaft hin untersucht werden. 
Aus ihnen wird dann die Erkenntnis aufgeführt, induziert Das 
ist die Methode der Induktion. Um z. B. zu erkennen, ob dem 
Pferde die Eigenschaft der Warmblütigkeit zukomme, nützen mir 
allgemeine Sätze gar nichts, wenn ich noch nicht weiß, daß alle 
Säugetiere Warmblüter sind. Dann muß ich also möglichst viele 
Pferde auf ihre Blutwärme beobachten, und wenn ich in allen Fällen 
warmes Blut angetroffen, reift auf induktivem Wege die Erkenntnis: 
das Pferd ist ein Warmblüter. Gegen diese induktive Art der 
Erkenntnis {inayoiyyri) richtete die Skepsis den triftigen, in späteren 
Zeiten bis auf unsere Tage hinab immer wiederholten Einwand :^^) 
die Induktion ist entweder unvollständig oder vollständig. Ist sie 
unvollständig, so kann sie niemals Erkenntnis begründen. Denn 
wenn ich nicht alle Einzelfälle untersucht habe, z. B. alle Pferde, 
kann ich nicht sicher sein, daß diese Eigenschaft wirklich der 
Gattung (dem Pferde) zukomme, da mir ja morgen ein Einzelfall 
begegnen kann, der die auf unvollständiger Induktion erbaute Er- 
kenntnis umstößt. So kann nur vollständige Induktion Erkenntnis 
und Wahrheit verschaffen. Aber vollständige Induktion ist wegen 
der Unzahl der Einzeldinge unmöglich (ich kann nicht wirklich 
bei allen Pferden die Blutwärme messen). So stürzt auch die 
induktive Methode so gut wie die deduktive in sich zusammen 
unter der Last der skeptischen Gründe. 

Diese Kritik der Induktion in ihrer fast verblüffenden Knapp- 
heit von wenigen ZeUen und die gehaltvolleren Argumente gegen 
die Deduktion, gegen Schluß und Beweis, sind neben der Zer- 
setzung der Wahmehmungsaussagen durch die Tropen des Aene- 
sidem in der Tat die bedeutendste Leistung der Skepsis dort, wo 
sie den Angriff gegen die wesentlichen Formen unsrer Er- 
kenntnis richtet. Die Skeptiker selbst haben das auch ein- 
gesehen, und die jüngere Schule hat den wesentlichen Extrakt der 
Aenesidemschen Tropen und die haupsächlichen Gründe gegen 
Schluß und Beweis in nur fünf Tropen zusammengefaßt, die als 
Quintessenz des griechischen Skeptizismus von Generation zu Gene- 
ration weitergegeben werden konnten. Der Verfasser dieser neuen 
Tropen ist Agrippa, von dem wir schon anläßlich des äußeren 
Verlaufs der skeptischen Schule erfahren haben, daß man nicht 
mehr von ihm weiß, als daß er zwischen Aenesidem und Sextus 
gelebt haben muß. Agrippa sah richtig, daß in den zehn Tropen 
des Aenesidem der letzte (von dem Widerstreit der Meinungen) 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischeil Skeptizismus. Jl 

ganz isoliert stand, daß sich aber alle andern auf den Tropus 
von der Relativität der sinnlichen Wahrnehmung zuHickfuhren 
ließen. Und ebenso richtig hat er gesehen, daß die wesentlichen 
Angriffe auf die Vemunfterkenntnis in den drei Sätzen enthalten 
seien: daß wir bei Schluß und Beweis uns entweder im Zirkel 
drehen, oder auf den regressus in infinitum geraten, oder bei 
einer unbewiesenen Voraussetzung stehen bleiben. Und so handeln 
denn seine fünf Tropen i. vom Widerspruch in den Ansichten, 
2. von der Relativität der Wahrnehmungen, 3. von dem Zirkel- 
schluß, 4. von dem regressus in inßnitum, 5. von den hypothetischen 
Annahmen. Oder in der Reihenfolge, wie sie die skeptische 
Tradition uns bewahrt hat, und im Urtext: i. tpoTtog anh ttf^ 
6ta<poovia^, 2. tpono^ ei<s anetpor ixßaX\a>y^ 3. tpono^ ano rov 
npo^ tt^ 4. tponog vTtoästtxog^ 5. tpoTCog StiiXX.rfXo^.^^) 

Der wichtige Beweis gegen die Induktion konnte in diesen 
Tropen keine Stelle finden, da derselbe vermutlich erst von Sextus 
herrührt Andere Skeptiker versuchten, die fünf Tropen durch 
zwei zu ersetzen, die aussagten: daß alles entweder durch sich 
selbst oder durch etwas andres aufgefaßt werde. Beides aber sei 
unmöglich. Denn aus sich selbst könne nichts aufgefaßt werden 
— wegen des Widerstreits der Meinungen über Denkbares und 
Wahrnehmbares; ein Kriterium aber, diesen Widerstreit zu schlichten, 
besitzen wir nicht Durch ein andres aber kann nichts aufgefaßt 
werden; denn dies würde entweder durch sich selbst aufgefaßt 
(was nach dem eben Gesagten unmöglich) oder durch ein anderes, 
dies durch noch ein anderes usf. Dabei würden wir wieder ins 
Unendliche hinausgetrieben.**) Diese Reduktion der fünf Tropen 
auf zwei bedeutet zwar eine Vereinfachung, aber keine Verbesserung. 
Denn sie sind so allgemein gehalten, daß die Eigentümlichkeiten 
der griechischen Skepsis nicht mehr recht darin zur Geltung 
kommen. 

Wie die Skepsis ihrer Kritik der sinnlichen Funktionen in 
der Weise des Widerspruchs noch einen allgemeinen Trumpf gegen 
jede Wahrheitserkenntnis angehängt hatte, so bergen auch ihre 
Versuche, die logischen Prozesse zu verdächtigen, in ihrem all- 
meinsten TeUe Elemente, die ihre Spitzen gegen jedwede Er- 
kenntnismöglichkeit gerichtet haben. Es sind die Partien, in denen 
man die Existenz eines Erkennungszeichens der Wahrheit, 
welcher Art auch immer, leugnet und schließlich die Berechtigung 
des Wahrheitsbegriffs in dessen ganzem Umfange in Frage stellt 



72 Erster Abschnitt Die griediische Skepsis. 

Es gibt kein Kriterium der Wahrheit") Denn wie sollte 
es sich zunächst ganz allgemein feststellen lassen? Die verschiedenen 
Philosophen sind hier verschiedener Ansicht. Diese sehen das 
Wahrheitskriterium in ganz etwas anderem wie jene und einige, 
wie wir Skeptiker, lassen seine Existenz dahingestellt Soll hier 
eine Entscheidung getroffen werden, so sind die einzelnen An- 
sichten über das Kriterium auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen. 
Prüfen, xpivetv, können wir aber nur, indem wir irgend ein Prüfungs- 
mittel , ein xpttijptov besitzen. Doch dann beweisen wir die Gültigkeit 
des Kriteriums durch die Gültigkeit des Kriteriums und geraten in die 
Weise des Durcheinander. So muß dieses Kriterium seinerseits 
wieder bewiesen werden mit Hilfe eines andern Kriteriums, dieses 
wieder durch ein anderes und so ins Unendliche fort. Der rpoTtog 
efe anetpov iHßaXXoav, der regressus in infinitum, ist eingetreten. 

Aber wenn man sich auch durch diese allgemeinen Erwägungen 
nicht abhalten lassen wollte, nach dem Kriterium der Wahrheit 
zu forschen, so läßt sich ein solches aus ganz anderen Gründen 
m'emals mit Sicherheit gewinnen. Die drei Fragen, auf welche 
die Untersuchung hier gerichtet sein würde, sind schlechterdings 
unentscheidbar. Es ist nicht auszumachen: 

1. wer, welches urteilende Subjekt Kritiker, Richter über die 
Wahrheit sein, von wem, vq/oVj geurteilt werden soll; 

2. die Tätigkeit, durch welche, di ov 

3. die Norm, mittels welcher, xaSr' 0, das Subjekt durch seine 
Funktion entscheiden soll. 

Um in skeptischen Bildern Unbekanntes durch Bekanntes zu 
erläutern: Es handelt sich um die Auffindung der drei ausschlag- 
gebenden Faktoren bei der Feststellung von wahr und falsch, die 
in der Gewichtsmessung dem Wägenden, der Wage und der 
Stellung des Balkens entsprechen. Denn wer soll, um den ersten 
Punkt kurz zu berühren, hier der Urteilende sein? Der Mensch? 
Aber das ist schon eine unbewiesene Annahme. Denn einmal haben 
wir gesehen, daß Menschen und Tiere nach den Lehren der 
Skepsis nicht so prinzipiell Verschiedenes sind, wie die Dogmatiker 
behaupten; dann aber auch sind die Philosophen sich nicht im 
mindesten einig, was unter dem Menschen zu verstehen ist. Nach 
Demokrit ist er in Wahrheit nur „ein Komplex qualitätsloser Atome", 
nach Plato „ein ungeflügeltes, breithufiges, zweifüßiges, für staat- 
liche Wissenschaften empfängliches Tier." ^5) Aber auch wenn 
man den Menschen als klar umrissene Gattung sich denken könnte,. 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 75 

wer von den Menschen soll über das Kriterium der Wahrheit 
urteilen? Der Weise? Welcher Weise, da sie alle untereinander im 
Widerspruch stehen? Und wird nicht immer ein noch Weiserer 
in Zukunft sich denken lassen, der wieder anders entscheidet? 
Aber warum überhaupt der Einzelne und nicht die Masse? Wenn 
wir nun der Masse das Urteil über „wahr" und „falsch" in die 
Hand geben, gleich erhebt sich der Einwand: wie, wenn die 
Wahrheit der Majorität der Durchschnittsmenschen sich nicht ent- 
hüllte und nur dem feiner und tiefer Blickenden verständlich wäre? 
Aber auch durch die Summe ihrer Angehörigen, durch die An- 
zahl kann die Masse nicht überzeugender wirken als der einzelne. 
Ihr quantitatives Moment wiegt so leicht wie das qualitative. Denn 
wenn man sich an die Übereinstimmung der Mehrzahl in der 
Aussage über das Wahrheitskriterium hielte, so trüge man ja 
gar nicht vielen, sondern nur einer einzigen bestimmten gleichen 
Seelendisposition Rechnung. Da man angenommenermaßen auf 
der Übereinstimmung des Verhaltens auf dem strittigen Punkt fußt, 
so träten sich nicht mehr einzelne und viele, sondern die eine gleiche 
Seelendisposition der Menge und die andere Seelendisposition 
des Einzelnen gegenüber und die Chancen stünden wieder gleich. 
Denn warum dem einen vor dem andern den Vorzug geben? 

Mit dem ersten Punkt ist aber eigentlich die ganze Frage 
schon entschieden.*^) Denn wenn wir kein urteilendes Subjekt 
haben, so auch keine Funktion, mit der, keine Norm, nach der es 
urteilen kann. 

Aber zum Überfluß strömen die Gegengründe gegen eine 
mögliche Angabe des Kriteriums noch besonders reichlich. Gibt 
man den Gegnern auch ruhig zu, irgend ein Mensch, den sie be- 
stimmen mögen, solle das urteilende Subjekt in unserem Falle sein, 
so treibt man sie durch die Frage: mit welcher Erkenntnis- 
tätigkeit soll es entscheiden? vollends in die Enge. Durch 
die Sinne? durch die Vernunft? durch beides? Alle drei Fälle sind 
ausgeschlossen. Daß die Sinne nicht in der Lage sind, die wirk- 
liche Beschaffenheit der Dinge zu erkennen, ist in den neun ersten 
Tropen ausfuhrlich dargetan worden. ^^ Aber auch das Denken nicht. 
Denn es steht, genau wie die Sinne, durchweg im Widerspruch 
mit sich selbst. Das Denken im Gorgias sagt aus: nichts sei wahr, 
das des Heraklit: alles sei wahr, das anderer: manches sei wahr. 
Überdies war die Leistungsunfahigkeit der logischen Operationen 
vorher entwickelt worden.^^) Ebensowenig kann die Vereinigung 



74 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

von Sinnen und Verstand über wahr und falsch zu Gericht sitzen. 
Denn zwei trügerische Zeugen geben zusammen nicht einen wahren. 
Und das um so weniger, als sich die Sinne oft als im Widerspruch 
mit der Vernunft befindlich erweisen. 

Und was endlich den Nachweis von der Unmöglichkeit einer 
Norm, nach der die Wahrheit erkannt werde, anlangt, so hat sich 
hier die Skepsis mit allem Scharfsinn gegen die auf diesen Punkt 
gerichteten Ansichen der Stoiker gewendet. Diese nämlich hatten als 
die Norm der objektiven Wahrheit die unmittelbare Evidenz einer 
Wahrnehmung hingestellt, die (pavxaöia KataXiptttHTi , nämlich die 
„greifbare Vorstellung", die sich den Beifall des Subjekts erzwingt^*) 

Die Bestreitung dieses Wahrheitskriteriums von selten der 
Skepsis birgt Gesichtspunkte allgemein philosophischen Interesses. 
Abgesehen davon, daß die grobmaterialistische Anschauung der 
Stoa, die sinnliche Wahrnehmung sei ein Abdruck in der Seele, 
ein unvollziehbarer Gedanke ist, können wir überhaupt niemals 
in den sinnlichen Wahrnehmungen irgend etwas von einer an sich 
bestehenden Realität erfahren. Denn in ihr sind mir immer nur 
eigene Bewußtseinszustände {nd^rj) gegeben, die von dem realen 
Substrat (dem VTtoxei/jieyov) naturgemäß verschieden sind. „Denn 
es ist der Honig nicht dasselbe wie mein Süßempfinden, und der 
Wermut wie mein Bitterempfinden, sondern unterscheidet sich da- 
von. Wenn aber dieser Zustand sich unterscheidet von dem 
äußeren Substrat, so wird die Wahrnehmung durchaus nicht die 
des äußeren Substrats, sondern eines andern, davon Unterschiedenen 
sein." — Sowenig wie eine einzelne Wahrnehmung Wahrheitskri- 
terium für Aussagen über objektive Realitäten sein kann, sowenig 
die logische Bearbeitung dieser Wahrnehmung, wie spätere Stoiker 
wollten. Denn an die objektive Realität kann ich allein durch das 
Denken nie herankommen. Ich kann also auch nicht etwa 
schließen, die Sinneswahmehmungen seien den Dingen ähnlich, 
deren Natur sowohl den Sinnen wie dem Denken verschlossen 
bleibt. Etwas von den realen Dingen durch die gedankliche Deutung 
der Sinnesempfindung erkennen, ist genau sowenig angängig, wie 
von einem Bildnis des Sokrates durch gedankliche Deutung dieses 
Bildes die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit mit dem unbekannten 
Manne zu behaupten. — Dazu fügten die akademischen Skep- 
tiker noch im einzelnen folgendes:^®) Es unterscheiden sich die 
evidenten Sinneswahmehmungen, die wahr sein sollen, in nichts 
von den evidenten Sinneswahrnehmungen, die falsch sind. Es gibt 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 75 

also kein inneres Merkmal (Ktoopux), durch das die eine Wahrneh- 
mung sich als falsch, die andre as wahr kund gäbe. Die Vor- 
stellungen des Traums unterscheiden sich oft in nichts von den- 
jenigen des Wachens: der Charakter der zwingenden Greifbarkeit 
kommt meiner Vorstellung von dem erfrischenden Trunk, von dem 
ich trämne, genau so zu, wie derjenigen von dem Trunk, den 
ich wirklich einnehme. Und doch ist die erstere falsch. Im Affekt 
unterliegen wir nicht selten dem Zwang falscher Wahrnehmungen, 
der Gefahr dessen, was wir heute als Illusionen und Halluzinationen 
bezeichnen. Herkules hielt seine eigenen Kinder so sicher für 
diejenigen des Eurystheus, daß er den Bogen auf sie spannte 1*^) 
Wenn wir zwei sehr ähnliche Gegenstände miteinander verwechseln, 
zwei Zwillinge, zwei Eier, zwei Schlangen, so führt die (falsche) 
Vorstellung des Eies Nr. i, das ich für das Ei Nr. 2 halte, genau 
die gleiche Überzeugungskraft mit sich, wie die (richtige) Vorstel- 
lung des Eies No. i, das ich für das Ei Nr. i halte. 

Das wichtigste Wahrheitskriterium {naS^* o) war nach allgemeiner 
Ansicht für Aussagen über die objektive Realität die sinnliche 
Wahrnehmung oder die gedanklich gedeutete Sinneswahmehmung 
gewesen. Vergessen wir einmal — meint dazu Sextus — was wir 
soeben eingewandt haben, und gehen wir, die Gültigkeit der wider- 
legten Ansichten dabei voraussetzend, zu jenem Wahrheitskriterium 
2. Grades, wie man es nennen könnte, über, um ja nichts von 
dem ununtersucht zu lassen, worauf die Dogmatiker Gewicht 
legen.**) Die tpccvtaöiat sind em Erkennungszeichen der Wirk- 
lichkeit und berechtigen uns zu wahren Aussagen über dieselbe, 
wie etwa: jetzt unterhalte ich mich; jetzt ist Tag. Aber es gibt 
in der objektiven Realität eine Menge Verhältnisse, Eigenschaften 
und Dinge, die uns grundsätzlich niemals durch eine Sinneswahr- 
nehmung und überhaupt niemals unmittelbar kund gegeben werden 
können. Das sind die ädrjXa q}vö€tt das für unsre Natur nicht 
Offenbare :••) so etwa die Poren im menschlichen Körper, der 
Raum jenseits der Welt. Besitzen wir nun eine Möglichkeit, auch 
über diese aSrjXa (pvön Aussagen zu machen, und gibt es auch 
für diese Aussagen ein sicheres Kriterium der Wahrheit? Darauf 
hatte man in der Stoa geantwortet: Gewiß; ein solches Kriterium 
besitzen wir. Es beruht auf einer Ausdeutung de^t q}avta6iat^ die 
allerdings stets das letzte Kriterium bilden, und in deren Aussagen 
wir alle Wahrheit über objektive Realität verankern müssen. Aber 
für diese Verankerung selbst gibt es ein ganz eigenes gedankliches 



76 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Mittel, ein eigenes Kriterium, wie sie fehlerlos vorzunehmen sei. 
Dies Kriterium heißt das anzeigende Zeichen, tb ötj^ov 
ivdetxttxov. Es besteht im wesentlichen in dem korrekten Schluß- 
verfahren, durch das man aus einem npoSrjXov — d. h. also dort, 
wo es sich um objektive Realität handelt, aus einem den Sinnen- 
aussagen entnommenen Urteil — über die Natur der <pv6Bt aSijXa 
wahre Folgerungen zieht Das Zeichen ist dabei der Vordersatz 
eines hypothetischen Urteils, das Bezeichnete {ötfjÄetcoroy) die End- 
aussage über einen nie erfahrbaren Teil der objektiven Wirklich- 
keit, das Bezeichnen der Akt des logischen Prozesses. — Beispiel 
wenn ein Körper sich willkürlich bewegt, besitzt er eine Seele. 
Hiergegen machte die Skepsis vor allem geltend, nachdem sie die 
epikuraisch-sensualistische wie stoisch -rationalistische Auffassung 
von der Natur des Zeichens zurückgewiesen , daß das ötfßistGütoy nur 
dann durch das ötfpielov bekannt werden könne, wenn es bereits 
in diesem enthalten sei, also keines Zeichens bedürfe. Aber da- 
mit wiederholt sie nur einen ihrer Einwände gegen die Bedeutung 
und Gültigkeit des Schließens und Beweisens, wie sie denn auch 
alle ihre übrigen Bedenken gegen die logischen Prozesse hier noch 
einmal geltend macht. Sind doch Schluß und Beweis selbst die 
vornehmsten örf^Bta^ wenn sie unter den Gesichtspunkt gestellt 
werden: etwas unmittelbar nie Wahrzunehmendes in seinen Eigen- 
schaften erkennen zu wollen.®^) 

Steigt man zum Schluß noch auf den höchsten Gipfel dieser 
gegen das vernünftige Erkennen vorgeschobenen Bollwerke, auf 
denen der Wahrheitsbegriff als solcher einer vernichtenden 
Kritik unterzogen und aus ihr das Wesenlose aller Wahrheit ge- 
folgert wird,^^) so gelangt man in Höhen der Allgemeinheit, auf 
denen die dünne Luft der Abstraktion dem Geist kaum mehr zu 
atmen erlaubt. Ein wirklicher Stoff wird dem Denken hier nicht 
mehr geboten. Die Skeptiker selbst waren freilich anderer Meinung. 
Sie glaubten nicht eine Seifenblase zerstört, sondern den „Mauer- 
grund" umgerissen zu haben, mit dem auch das Darüberliegende 
(die einzelnen Wahrheiten) mit umgerissen wird. Während wir 
uns mit der ermüdenden und rein formalen Anwendung der 
drei logischen Tropen auf das Urteil: es gäbe Wahrheit, ebenso- 
wenig aufhalten wollen wie mit dem Widerspruch der Meinungen 
über und den dialektischen Sophismen gegen dasselbe, stellen 
wir die allein ernst zu nehmende Argumentation Aenesidems 
in Kürze dar,*^^') die von einigen Historikern zu den glänzendsten 



Zweites Kapitel. Die DarsteUung des griechischen Skeptizismus. 77 

Einfallen der Skepsis gerechnet wird: das Wahre ist entweder 
etwas Sinnliches oder etwas Begriffliches, oder beides zugleich. 
Es ist aber nichts von alledem; also gibt es keine Wahrheit. 
Nichts Sinnliches; denn wer wollte den Sinn namhaft machen, 
durch den man die Wahrheit erfaßt? Nichts Begriffliches; denn 
■es wird nicht von allen das Gleiche mit der Vernunft für wahr 
erklärt. Von einigen kann es aber auch nicht erkannt werden, 
wie der Widerspruch der anderen beweist. Nicht sinnlich und 
begrifflich zugleich; denn alles Sinnliche und Begriffliche kann 
nicht wahr sein, weil Sinnliches mit Sinnlichem, Begriffliches mit 
Begrifflichem, und Sinnliches mit Begrifflichem oft streitet; einiges 
Sinnliche und einiges Begriffliche aber auch nicht, da eben darüber, 
welches von beiden wahr ist, der Widerspruch herrscht.^') 

Man sieht, hier befinden wir uns schon in Regionen, wo der 
Boden des Tatsächlich -Nachprüfbaren verlassen und jede Fühlung 
mit dem Konkreten und Einzelnen verloren gegangen ist. Gegen 
die Wahrheit als solche richtet sich der Angriff, ohne Rücksicht 
auf ihre Erscheinung, und man ist sich nicht bewußt, daß die 
Wahrheit, losgelöst von wahren oder falschen Aussagen, ein ab- 
strakter Begriff, eine Hülle ohne Inhalt ist, die man in ihrem 
Kern und Wesen nie treffen und verwunden kann, weil sie kem- 
und wesenlos aller gegen sie geführten Schläge spottet. 

Soviel über die Ausfalle gegen das vernünftige Denken (und 
ihre Vereinigung mit den früheren gegen die Sinneserkenntnis), 
sowie gegen Wahrheitskriterium und Wahrheitsbegriff, soweit sie 
für den Skeptizismus in der Philosophie allein in Betracht zu ziehen 
sind. Denn, wer historische Vollständigkeit hier anstreben wollte, 
konnte noch Hunderte von Seiten mit ähnlichen Gedankengängen 
füllen. Man muß sich, zumal bei Sextus, oft durch einen Wust 
rein formaler Spitzfindigkeiten hindurcharbeiten, ehe man zu dem 
philosophisch Brauchbaren gelangt. Aber mit der Fülle von dia- 
lektisch-sophistischem Beiwerk, durch das die Skepsis auch über 
ihre wertvollen Gedanken ein ungerechtes Urteil so leicht hervor- 
ruft, halten wir uns nicht auf. Nur um auch diese Seite von ferne 
sehen zu lassen, greife ich ein sehr plumpes und ein sehr feines 
solcher Sophismuta heraus. In beiden ist die Skepsis groß ge- 
wesen, und man kennt sie nicht, wenn man sie nicht ihre stumpfen 
Schläge wie ihre eleganten Hiebe gegen die Gegner hat austeilen 
sehen. So ist ein beliebtes der derberen Sophismen der skep- 
tischen Schule das gegen ein Wahrheitskriterium gerichtete^®): wenn 



7 8 Erster Abschnitt. Die griechisdie Skepsis. 

etwas wahr sein soll, d. h. wenn es sich um die Feststellung der 
Wahrheit von etwas handelt, so ist dieses Etwas entweder wahr 
oder falsch oder weder wahr noch falsch, oder sowohl wahr als 
falsch. Nun ist aber alles, was existiert, ein Etwas, und es muß 
also, was von dem Etwas gilt, auch von allen Dingen gelten. Alle 
Dinge sind entweder wahr oder falsch, oder weder wahr noch 
falsch, oder sowohl falsch als wahr. Daß aber jeder dieser Fälle 
zum Widersinn führt, leuchtet ein. Denn wenn alles falsch ist, 
ist auch dieses Etwas: alles ist falsch — falsch. Und wenn alles 
wahr ist, ist auch dieses Etwas: nichts ist wahr — wahr. Daß 
aber die Sätze, alles ist sowohl falsch als wahr und alles ist weder 
wahr noch falsch die Erkenntnis der Wahrheit ausschließen, braucht 
nicht erst hervorgehoben zu werden. Das feinere Kampfspiel, 
das wie eine hübsch geschlagene Mensur anmutet, betrifft die 
Unmöglichkeit des Beweisverfahrens.**) Die Skeptiker leugneten die 
Möglichkeit, durch Beweis die Wahrheit zu erkennen; es gibt 
keinen Beweis, der wirklich etwas bewiese. Das aber hatten sie 
selbst auf alle erdenkliche Weise — zu beweisen gesucht Diese 
Inkonsequenz machten sich die Dogmatiker der Zeit zu nutze und 
schlössen: Wenn es einen Beweis gibt (wie wir behaupten), so 
gibt es einen Beweis. Wenn es keinen Beweis gibt (wie die Skep- 
tiker behaupten), so gibt es einen Beweis. (Denn sie beweisen 
ja selbst, daß es keinen Beweis gäbe.) Nun gibt es aber ent- 
weder einen Beweis oder keinen Beweis. In beiden Fällen aber 
gibt es einen Beweis. Also — gibt es einen Beweis. Haiti ruft 
der Skeptiker; dein Schluß ist falsch. Denn nimmst du an: wenn 
es einen Beweis gibt, so gibt es einen Beweis, so darfst du nicht 
des weiteren annehmen: wenn es keinen Beweis gibt, gibt es 
einen Beweis. Denn sonst würden aus den kontradiktorischen 
Obersätzen gleiche Schlußsätze folgen, was den Regeln der Logik 
widerspricht. Rücken aber die Dogmatiker dem Skeptiker noch 
schärfer auf den Leib, indem sie diese Entgegnung unter die 
kritische Lupe nehmen, so führt der Skeptiker nach einigen 
leichteren Schlägen (der Beweis: daß es keinen Beweis gibt, ist 
die einzige Ausnahme von der Regel : daß es keinen Beweis gibt) 
mit einem wundervollen Durchzieher den Gegner ab: Was wollt 
ihr eigentlich? Ihr habt nur gezeigt, daß sich für den Beweis 
auch gute Gründe geltend machen lassen, und wir, daß sich mit 
Grund dagegen reden lasse. So dogmatisch sind wir nicht, daß 
wir behaupten, unsre Gründe seien die wahren. Es gibt ja keine 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 79 

Wahrheit! Wenn sich somit Grund und Gegengrund im Thema 
der Beweisbarkeit gegenüberstehen, so haben wir erreicht, was . 
wir wollen: die Gleichkräftigkeit der Thesen, die Isosthenie, und 
die daraus notwendig folgende Epochal 

17. Die Skepsis gegen einzelne Wissensinhalte: 
Hatnrzosammenhang — Werte — Gott 

Bis jetzt haben wir es mit der Polemik der Skepsis gegen 
die allgemeinen Prinzipien der menschlichen Erkenntnis zu tun 
gehabt, gegen die Formen des sinnlichen imd vernünftigen Er- 
kennens. Es folgt nun der Sturm auf die einzelnen Inhalte des 
Wissens. Ein solches Vorgehen von Seiten der griechische^ Skepsis 
erscheint eigentlich überflüssig; denn wenn unsere Erkenntnisprin- 
zipien nicht geeignet sind, überhaupt fichtig und widerspruchlos 
zu funktionieren, so können sie auch keinen einzigen Wissens- 
inhalt erfassen oder erarbeiten. Aber es ist eine beliebte Methode 
des griechischen Skeptizismus (zumal der späteren Zeit), sich an 
den allgemeinen Widerlegungen nicht genügen zu lassen, sondern 
mit der Kritik bis ins Einzelne und Einzelste, also auch in das- 
jenige, was von den allgemeinen Sätzen der Skepsis selbstver- 
ständlich mitbetroffen wird, hinabzusteigen. Ihm schwebt immer 
das Ziel vor Augen, den Gegner, der durch die allgemeinen An- 
sichten, durch den ersten und zweiten Grund nicht überfuhrt ist> 
durch speziellere Thesen, durch den dritten und vierten, ja durch 
eine Fülle und Unzahl von Gründen zu widerlegen. Es ist das 
wohl nur ein Ausdruck davon, daß sich die Skepsis der Unge- 
heuerlichkeit ihres Standpunktes bewußt war. Und so suchte sie, 
nachdem sie durch ihre Kritik der Sinnes- und Vemunfterkenntnis 
alles Wissen grundsätzlich vernichtet, die einzelnen und einzelsten 
Wissensinhalte der Reihe nach als Wahngebilde einer dogmatischen 
Denkart darzutun. Die einzelnen Wissensgebiete, die Summe der 
angeblichen Tatsachen der Erkenntnis aber, finden ihren voll- 
kommensten Ausdruck in der Wissenschaft. Demnach ist der 
Angriff der griechischen Skepsis auf das System des Wissens 
gleichbedeutend mit der Zerstörung der einzelnen damals herr- 
schenden wissenschaftlichen Disziplinen (iyHVxXta iia^tjfxata). 
Dieses kritische Zerstörungswerk hat uns Sextus in seinen elf 
Büchern gegen die Mathematiker übermittelt. Aber während die 
skeptische Polemik gegen die Formen des Wissens sozusagen ein 
ewiges Interesse beanspruchen darf (da diese Formen sich mit 



So Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

den Zeiten nicht gewandelt haben), ist die skeptische Kritik der 
damaligen Disziplinen in erster Linie nur historisch interessant. 
Ob die Skepsis mit ihrer Zersetzung der Rhetorik, der Grammatik 
(Geschichte und Philologie), der Arithmetik, Geometrie, Astro- 
nomie und Musik der damaligen 2^it recht hat oder nicht — die 
Leistungsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis wird davon nicht 
betroffen. Die entsprechenden Wissenschaften von heute — soweit 
einzelne Disziplinen, wie Musik und Rhetorik, nicht überhaupt 
aus dem modernen System der Wissenschaften ausgeschieden 
sind — werden durch die skeptischen Argumente gegen die 
Wissenschaften des Altertums kaum gestreift;^®) und die allge- 
meinen Gesichtspunkte in diesen Argumenten, wenn sie die mensch- 
liche Erkenntnis als solche treffen, sind schon befücksichtigt worden. 
Nicht ganz so rein historisch, wie die skeptische Bekämpfung der 
damaligen Spezialgelehrten, kann die Polemik des Sextus gegen 
die dogmatischen Philosophen eingeschätzt werden. Die einzelnen 
Gebiete der Philosophie waren nach antiker Einteilung Logik, 
Physik und Ethik. Auf diesen Gebieten haben sich gewisse fun- 
damentale Prinzipien durch die Zeiten erhalten. Für die Logik 
leuchtet das von selbst ein. Aber die skeptischen Einwände gegen 
die logischen Schulen fallen, soweit sie für uns von Bedeutung 
sind , mit den Einwänden gegen die Formen der Vemunflerkenntnis, 
gegen das Schließen, Beweisen usw. zusammen, die wir schon 
kennen. Die einzelnen logischen Spitzfindigkeiten der stoischen 
und aristotelischen Schullogik aber lassen eben so kühl wie ihre 
skeptischen Widerlegungen. Auch scheint für eine Beachtung der 
Angriffe gegen die einzelnen Ergebnisse der alten Physik hier nicht 
der Ort. Nur das zentrale Prinzip, dessen Erforschung den Inhalt 
der gesamten Naturwissenschaft bildet, und seine Kritik kommt 
in Betracht. Gerade auf diesem Punkte aber entfaltet die Skepsis 
auch eine ihrer Glanzleistungen. Der Inhalt, um den es sich 
handelt, ist das Gesetz der Kausalität, und seine Kritik hatte, 
wie wir sahen, einer der größten Vertreter der Skepsis, Aenesidem, 
übernommen. In der Ethik haben sich die Anschauungen zwar 
mit den Zeiten auch gewandelt, aber von einem geschlossenen 
Fortschritt hier sprechen zu wollen, wäre mindestens sehr gewagt. 
Die wichtigsten Einwände der Skepsis gegen die angeblichen 
Wissensinhalte des sittlichen Bewußtseins sind auch heute noch 
ernster Berücksichtigung wert; nicht minder, was gegen die Dogmen 
der religiösen Erkenntnis von skeptischer Seite ist aufgebracht 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 8l 

worden. Hier, in der Begründung der ethischen und religiösen 
Skepsis, fallt der Löwenanteil dem akademischen Skeptizismus, 
näher dessen Führer Kameades, zu. Demnach wollen wir, was 
die Polemik gegen das inhaltliche Wissen und den Inhalt der Wissen- 
schaften anlangt, uns auf den Angriff der Skepsis gegen den 
Haupterkenntnisstoff im Physischen, Metaphysischen und Ethischen 
beschränken: auf die Behandlung der Thesen, daß an der Erkenn- 
barkeit eines gesetzmäßigen Naturzusammenhangs, der 
Gottheit, der Werte grundsätzlich zu zweifeln sei. 

Die Erkenntnis der kausalen Zusammenhänge, der Be- 
ziehungen zwischen Ursache und Wirkung, galt bis auf die jüngste 
Zeit als der Nerv des naturwissenschaftlichen Verfahrens. Die Natur- 
wissenschaft soll die gegebenen Erscheinungen (etwa den Vorgang 
des Blitzes) als Wirkungen auf notwendige Ursachen (Entladung 
elektrischer Energie) zurückführen, und andererseits aus einem 
gegebenen Phänomen (z. B. der elektrischen Energie) womöglich 
seine sämtlichen Wirkungen (die Analyse des Wassers in H, 
und O usw.) ableiten. Sollte sich nun zeigen, daß das Kausa- 
litätsprinzip ein reines Wahngebilde ohne objektive Geltung ist, 
daß es in Wahrheit gar kein ursächliches Wirken gibt und geben 
kann, so würden nach dieser Anschauung nicht nur alle Ergebnisse, 
sondern auch die gesamten Aufgaben der Naturwissenschaft dahin- 
fallen, und jeder Inhalt dieser Disziplin verlöre allen Sinn. Daher 
ist die Anstrengung der Skepsis vornehmlich darauf gerichtet, 
diesen grundlegenden Begriff der Kausalität zu untergraben. Auf 
alle erdenkliche Weise, tiefsinnig und sophistisch, mit schwerem 
und leichtem Geschütz ist sie hier vorgegangen. Wir heben nur die 
bedeutendsten Beweisgruppen, in erster Linie die klassischen des 
Aenesidem, heraus, die uns sowohl von Sextus wie von Diogenes 
in klarer Wiedergabe erhalten sind.^^) 

Sollte es Ursache und Wirkung in der Natur geben — schließt 
Aenesidem — so muß entweder Körperliches Ursache von Körper- 
lichem, oder Unkörperliches Ursache von Unkörperlichem, oder 
Körperliches Ursache von Unkörperlichem, oder Unkörperliches 
Ursache von Körperlichem sein. Alle vier Fälle sind unmöglich, 
also gibt es keine Ursache. Körperliches kann nicht Ursache von 
Körperlichem, Unkörperliches von Unkörperlichem werden. Ein 
Körper kann weder durch sich selbst noch durch Verbindung mit 
einem andern Ursache eines andern Körpers werden. Nicht aus 
sich: denn er kann nicht mehr und nichts anderes bewirken, als 

Richter, Skeptixismos. 6 



82 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

er selbst ist, als in seiner Natur, seinem Wesen liegt; nicht durch 
Verbindung mit einem anderen: denn diese beiden zusammen 
können auch, sozusagen, nicht aus ihrer Haut heraus, können nur 
bewirken, was sie beide zusammen sind und nicht mehr. Dieses 
Mehr aber wird gerade beim Kausalprinzip gefordert Weiter: ein 
Körper, der Ursache eines anderen wird, wird aus einem zwei, 
und wenn er durch Verbindung mit einem anderen wirkt, werden 
aus zwei Körpern drei; so auch würden aus diesen zwei oder drei 
Körpern, wenn anders sie wieder zu Ursachen von anderen werden, 
vier oder sechs; aus den vier — acht u. s. f. ad infinitum; so daß 
aus einem einzigen Körper schließlich eine unendliche Anzahl 
(z. B. aus einem Samenkorn ein ganzer Wald) entstünde. Das 
aber ist widersinnig. Dieselbe Unbegreiflichkeit entsteht, wenn 
Unkörperliches Ursache von Unkörperlichem (also etwa eine Vor- 
stellung Ursache einer anderen Vorstellung) sein soll. Niemals 
ist die Schwierigkeit zu umgehen, daß aus einer Einheit eine 
Vielheit, aus der Eins die Unendlichkeit entsteht. Noch undenk- 
barer aber sind die beiden übrigen Fälle, in denen angeblich Kör- 
perliches Ünkörperliches (etwa die Lichtstrahlen eine Lichtempfin- 
dung), oder Unkörperliches Körperliches (etwa der Wille eine 
Armbewegung) bewirkt. Das ist nach Aenesidem alles aus dem 
Grunde unmöglich, weil Ursache und Wirkung niemals als völlig 
ungleichartig zu denken sind. Wie kann ich mir eine Wirkung 
denken, die mit der Ursache auch nicht das geringste gemein 
hat? Finden wir es doch schon unsinnig, daß aus einer Platane 
ein Pferd oder aus einem Pferd ein Mensch entstehen sollte. Um 
wieviel unsinniger ist der Gedanke, Körperliches könne aus Gei- 
stigem, Geistiges aus Körperlichem hervorgehen! Soweit reicht 
mit Sicherheit die Beweisführung des Aenesidem. Möglich ist, daß 
auch von den zahlreichen anderen Argumentengruppen sich noch 
einige auf Aenesidems Urheberschaft zurückfuhren. So das Dilemma: 
Entweder ist etwas als Ruhendes Ursache von Ruhendem , oder als 
Bewegtes von Bewegtem, oder als Ruhendes von Bewegtem, odei als 
Bewegtes von Ruhendem. Alle vierFälle sind gleicherweise unmöglich. 
Die ersten beiden deshalb, weil Wer Ursache wie Wirkung sich im 
gleichen Zustande befinden und man deshalb beide auch mit gleichem 
Rechte sowohl als Ursache wie als Wirkung ansprechen kann. Ist die 
ruhende Säule Ursache des ruhenden Epistyliums, oder das ruhende 
Epistylium Ursache der ruhenden Säule? Ist das bewegte Rad Ur- 
sache von der Bewegung des drehenden Mannes, oder der drehende 



Zweites Ki^ntel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 83 

Mann Ursache der Radbewegung? Aber Ruhendes kann eben- 
sowenig Ursache von Bewegtem, noch Bewegtes Ursache von 
Ruhendem sein, wegen der Heterogenität beider Glieder. Weiter: 
die Ursache ist entweder zugleich, oder vor, oder nach der Wir- 
kimg. Nach der Wirkung ist absurd, denn dann wäre der Sohn 
vor dem Vater, die Ernte vor der Saat. Vor der Wirkung nicht; 
denn solange die Wirkung nicht da ist, der Sohn, ist auch das 
betreffende Objekt nicht Ursache, der betreffende Mensch nicht 
Vater. Ursache und Wirkung sind als solche nur durch einander 
verstandlich, weil sie notwendig aufeinander bezogen sind. Sie 
müssen also zugleich sein. Das geht aber wieder nicht an, weil 
dann kein Kriterium mehr bestände, was Ursache und was Wirkung 
ist. Noch ein Widersinn im Begriff der Kausalität ist dieser: die 
Ursache kann nicht aus eigener Kraft wirken , z. B. das Feuer nicht 
aus sich allein brennen; sonst würde es immer brennen. Aber 
auch nicht in Mitwirksamkeit einer passiven Materie; also nicht 
mit dem Holz zusammen. Denn warum soll das Feuer hier mehr 
Ursache des Brennens genannt werden als das Holz? Beide sind 
zum Brennen gleich unentbehrlich. So wenig als in der Silbe di 
d mehr Ursache der Silbe ist als i, sowenig ist die Flamme 
mehr Ursache des Brennens zu nennen als das Holz. Passive 
Ursachen gibt es also nicht. Aber aktive auch nicht, wie ge- 
zeigt worden, also überhaupt keine. Mit noch anderen, weniger 
ernst zu nehmenden Gruppen skeptischer Einwände gegen den Ur- 
sachbegriff halten wir uns nicht auf. Sie sind alle in derselben 
antithetisch -disjunktiven Form abgefaßt: entweder dies oder jenes 
oder das, aber weder dies noch jenes noch das — also nichts. 

Während nun diese Einwände, wollten wir denselben volle 
Beweiskraft zugestehen, vollauf genügen würden, das Kausalprinzip 
als ein Widerspruch volles und irreführendes hinzustellen, hat Aene- 
sidem, abgesehen von seiner Polemik gegen die Möglichkeit kau- 
salen Wirkens überhaupt, noch acht Tropen verfaßt, welche 
die hauptsächlichen imd kaum vermeidlichen Gefahren in der Er- 
kenntnis der Kausalität, falls solche doch in der Natur bestehen 
sollte, aufzählen.'*) Es sind folgende: i. die angenommene Ur- 
sache entzieht sich dem Augenschein und wird durch die Erschei- 
nungen nicht zweifellos bezeugt, bleibt also Hypothese; 2. man 
leitet aus einer Ursache ab, was ebensogut aus anderen Ursachen 
folgen könnte. 3. Geordnete Erscheinungen werden auf Ursachen 
zurückgeführt, denen die gleiche Ordnung fehlt 4. Von sichtbaren 



34 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Vorgängen wird in gewagter Analogie mit zu großer Sicherheit 
auf unsichtbare geschlossen. 5. Die (Natur) -Forscher gehen von 
strittigen Ursachen, den Grundstoffen oder Elementen, nicht von 
aUgemein zugestandenen Sätzen aus. 6. Manche beachten nur die 
Naturerscheinungen, die zu ihren Voraussetzimgen stimmen, aber 
nicht auch diejenigen, welche ihnen widersprechen. 7. Oft setzt 
sich die kausale Erklärung mit ihren eigenen Voraussetzungen in 
Widerspruch. 8. Sie erklären eine zweifelhafte Erscheinimg aus 
einer ebenso zweifelhaften. — Beispiele zu diesen methodologischen 
Fehlem, die immer in der Wissenschaft gemacht worden sind 
und auch heute noch gemacht werden, anzuführen, erscheint 
ü^berflüssig. 

Mit alledem, und das ist bedeutsam, wollen die Skeptiker 
nicht etwa positiv behaupten, daß es keine Ursachen und keine 
Wirkungen in der Natur gäbe. Im Gegenteil. Sie verschließen 
sich der naheliegenden Annahme, es gäbe ursächliches Wirken 
in der Natur, keineswegs: gäbe es keine notwendig wirkenden 
Ursachen, so würde ja „Alles aus Allem**, Pferde aus Mäusen 
und Elefanten aus Ameisen entstehen können. Deswegen ist es 
durchaus glaublich, daß Ursächliches besteht; zugleich aber auch 
glaublich, daß es nicht besteht — aus Gründen, die uns jetzt 
bekannt sind. Was bleibt da anderes übrig, als die skeptische 
Erklärung, sich weder für das eine noch das andere zu entscheiden,, 
wegen der Isosthenie der Gründe? 

Damit verlassen wir den Kampf der Skepsis gegen den 
Inhalt des naturwissenschaftlichen Erkennens. Die skeptische Kritik 
an dem Begriff des Atoms und des Elements (den „stofflichen 
Anfangen**),^*) des physikalischen Körpers^*) und der Mischung^*) 
(was wir heute Verbindung nennen)^ an den Begriffen des Ent- 
stehens und Vergehens, ^^ an den Bewegungstheorien, ^^) an der 
Raum- und Zeitvorstellung'®) lassen wir beiseite. Sie berührea 
den Inhalt unserer heutigen Physik und Chemie kaum mehr. Wohl 
aber tut dies die skeptische Analyse des Kausalprinzips, die wir 
in den philosophischen Theorien neuerer Zeit wieder werden auf- 
leben sehen. 

Jetzt folgt das Vorgehen der griechischen Skepsis gegen die 
religiösen Wissensinhalte. '^) Es ist interessant und be- 
merkenswert, daß gleich am Eingang ihrer Untersuchungen über 
Gottesglaube und Religion die Skepsis nicht die Fragen: ob Götter 



Zweites Kapitel. Die DarsteUung des griechischen Skeptizismus. 85 

sind und welche Eigenschaften ihnen zukommen, aufwirft, sondern 
daß sie zuerst erörtert, wie die Menschen wohl zu den Vor- 
stellungen der Götter gekommen sein mögen. Damit 
schenkte sie aber von vornherein dem, was wir heute Religion s- 
psychologie nennen würden, eine Beachtung, die allen dog- 
matisch-religiösen Denkern naturgemäß fremd ist. Selbstverständ- 
lich klingen auch diese religionspsychologischen Präludien ganz 
skeptisch aus: ob die Begriffe von Gröttem nur aus der Verehrung 
nützlicher Dinge wie Brot, Wein, Feuer, Wasser, oder der Furcht 
vor gewaltigen Naturphänomenen wie Donner und Blitz, Sonnen - 
und Mondfinsternissen, oder aus den Traumgesichten, oder der 
Beobachtung der regelmäßigen Bewegungen der Gestirne, oder 
aber aus den Machtsprüchen gewaltiger Heroen, die, um mehr 
Bewunderung und Ehrfurcht zu erzwingen, sich eine göttliche 
Macht angedichtet haben — ob die Begriffe von Gott aus solchen 
oder noch anderen Ursachen entstanden sind , ist nicht mit Sicher- 
heit auszumachen. Von weitertragender Bedeutung aber ist die 
Antwort und ihre Begründung, welche die Skeptiker zu der zen- 
tralen Frage aller Religionsphilosophie gegeben haben, ob es 
Götter gibt? Während die dogmatischen Philosophen auf diesem 
Punkte sich in zwei Lager spalten, von denen das eine behauptet, 
es gäbe Götter (nämlich dieTheisten), das andere, es gäbe keine 
(nämlich die Atheisten) — kommt die Skepsis zu dem Ergeb- 
nis: „man könne nicht mit mehr Grund behaupten, daß Götter 
seien, als daß keine seien", weil die Gründe auf beiden Seiten 
gleichwögen. 

Um das zu zeigen, entfaltet die griechische Skepsis nun alle 
Beweise , welche von den dogmatischen Philosophen für das Dasein 
Gottes aufgebracht wurden und nur von einigem Werte sind, in 
ihrer ganzen Kraft. ®^) Ein Leser, dem diese Partien vor Augen 
kämen und der nicht wüßte, welcher Sekte ihr Verfasser zu- 
gehört, würde auf einen überzeugten Gottverehrer schließen; ®i) 
so unparteiisch ist hier die Wiedergabe der gegnerischen Ansichten. 
Aber dann folgt auch deren Widerlegung auf dem Fuße. Die 
Beweise, welche das Altertum, (besonders die Stoa) für das Dasein 
Gottes aufgebracht hat, sind nach skeptischer Ansicht im wesent- 
lichen drei. Einmal der Beweis aus dem consensus gentium, 
der övßnpoovia Ttapa Ttäöiv drS^poiTtotg. Er besagt, daß alle 
Völker, Griechen und Barbaren, seit ewigen 2^iten an Götter 
glauben , wenn auch ihre Begriffe im einzelnen über die Art dieser 



86 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Götter noch so weit auseinander gehen. Falsche Meinungen aber 
und wandelbare Dinge dauern nicht lange; sie sterben mit denen 
aus, um deren willen sie erhalten wurden. Der Götterglaube nun 
hat sich unwandelbar erhalten — also sind Götter. Em zweiter 
Beweisgang lautet: Die Ordnung, Schönheit imd Harmonie der 
Welt, die regelmäßigen Bewegungen der Gestirne, die mit Vernunft 
und Einsicht begabten Geschöpfe — all das setzt notwendig einen 
allweisen ersten Urheber voraus, d. h. einen Gott. „Wenn auf 
einem Olivenbaum," so schloß Zeno, „melodisch klingende Flöten 
wüchsen, würde man wohl zweifeln, daß sich in dem Olivenbaum 
eine Wissenschaft des Flötenspieles befände? Wie? Wenn Pla- 
tanen rhythmisch tönende Saiteninstrumente trügen? so würde man 
sicherlich urteilen, in den Platanen wohne Tonkunst. Warum sollte 
man also die Welt nicht für beseelt und weise halten, da sie aus 
sich beseelte und weise Wesen hervorbringt?"^*) Dieser Beweis, den 
die Griechen den Beweis aus der kosmischen Ordnung (rpoTtog 
tfjg KoößiiKflq! öiatdSBOjg) nannten, und den wir heute den 
physiko- theologischen Gottesbeweis zu nennen pflegen, und ebenso 
das erste Argument aus dem Consensus gentiiun sind durch das 
ganze Mittelalter hindurch bis auf unsere Tage herab bei Theo- 
logen und Metaphysiken! immer wiederkehrende Erwägungen ge- 
blieben. Nicht minder das dritte Argument, das sich aus den 
widersinnigen Folgerungen (hc tcov axoXoäovvtoov atonoov) 
der Gottlosigkeit herleitet: Wenn es keine Götter gibt — so 
lautet die dürre Struktur dieses Beweisganges — so gibt es auch 
keinen Glauben an Götter, keine Götterverehrung, kein gottseliges 
Leben, keine Religion und keine Heiligkeit. Nun gibt es aber 
alles dies — also — . 

Allen drei Beweisgängen aber lassen sich gewichtige Gegen- 
gründe entgegenstellen. Der Consensus gentium, wenn er wirk- 
lich bestünde, kann niemals etwas für die Wahrheit einer An- 
sicht verbürgen. Die Vorstellimgen der plumpen Majorität, der un- 
gebildeten Masse sind ein bedenklicher Stützpunkt für die Religion. 
Aber ganz abgesehen davon besteht dieser Consensus gar nicht 
Sind denn wirklich alle Völker über das Dasein von Göttern einig? 
gibt es nicht erklärte Atheisten? Kann es nicht auch barbarische, 
wilde Volkstämme geben, die von einem Gott nicht die geringste 
Vorstellung haben ?®^) — Ebensowenig hält der Beweis aus der 
Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welt, aus der Erschaffung 
vernünftiger Kreaturen Stich. Ist denn die Welt überhaupt durch- 



' 



Zweites Kapitel. Die Dantellung des grieclüschen Skeptizismus. 87 

gängig zweckmäßig eingerichtet? Wie erklären sich dann Übel, 
Not und Leiden aUer Art, die dem Menschen Gefahr und Ver- 
derben bringen?^) Und ist die Vernunft nicht etwa eine zwei- 
schneidige Gabe, oft genug Werkzeug der Bosheit und der Nieder- 
tracht?®*) Aber selbst zugegeben, daß Zweckmäßigkeit in der 
Welt sei, daß diese Welt die schönste und die beste sei (wie die 
Stoa behauptete), warum muß sie deshalb das Werk eines Gottes 
sein? Warum kann nicht die Natur, nach ihr immanenten phy- 
sikalischen Gesetzen, die Welt hervoi^ebracht haben? Kennen 
wir denn die Kräfte der Natur wirklich so gut, lun die Unmög- 
lichkeit dieser Annahme darzutun? Wer wollte sich diese Einsicht 
wohl anmaßen?®*) — Daß die Skeptiker auch mit dem dritten 
Einwand aus der Unsinnigkeit der Folgerungen spielend fertig 
wurden, wenn sie sich über die beiden ersten Herr gezeigt hatten, 
wird man sich denken können. 

Den gleichen Widersprüchen wie der Gottesbeweis aber ist 
der Gottesbegriff nun ausgesetzt.®') Und zwar vor allem der 
Begriff eines persönlichen Gottes. Hier legt die Skepsis rück- 
sichtslos alle Folgerungen bloß, zu denen die Vermenschlichung 
der Götter, der gröbere wie der feinere Anthropomorphismus, 
notwendig hindrängt Ist Gott ein Lebewesen, ein Zoon, wie die 
Stoa annahm, so hat er wie jedes Lebewesen auch Sinne, und 
zwar die größtmögliche Anzahl, vermutlich noch mehr als fünf, 
als die entwickeltsten Lebewesen, die wir kennen. Dann schmeckt, 
riecht und hört er; aber dann schmeckt er auch Saures und Bitteres, 
hört Dissonanzen so gut als Konsonanzen; kurz er erleidet all die 
Unlust und Beschränkungen, die an die Funktion des sinnlichen 
Wahmehmens nun einmal notwendig gebunden sind. Auch ist 
er vergänglich wie alles Sinnliche. Das aber ist mit der Voll- 
konunenheit und Allgenügsamkeit Gottes unvereinbar. Aber auch 
wenn wir auf Gott nur die höchsten Eigenschaften eines Lebewesens, 
die moralischen, übertragen wollen, geraten wir in Widersprüche. 
Denn alle Tugenden können wir Gott nicht zusprechen, wie sie 
doch andererseits für ein vollkommenes Wesen erfordert werden. 
Gott kann z. B. nicht Mäßigkeit, Enthaltsamkeit, Geduld besitzen; 
denn jede dieser Tugenden setzt eine UnvoUkommenheit voraus, 
in deren Oberwindung sie besteht. Geduldig, so bemerkt Sextus 
feinsinnig, ist der, welcher unter Brennen und Schneiden stark 
bleibt, nicht der, welcher Honigtrank schlürft; und Un Vollkommen- 
heiten erdulden, kann doch von Gott nicht ausgesagt werden. 



38 Erster Abschnitt. Die griechisdie Skepsis. 

Auch Tapferkeit kann Gott nicht zugesprochen werden, da sie 
nur für den auszuüben ist, dem etwas furchtbar erscheint; Gott 
aber erscheint nichts furchtbar. Auch Seelengröße geht ihm ab, 
da er sich über nichts Unangenehmes, Kleinliches, Schmerzliches 
erheben kann. Selbst die Weisheit kann keine Eigenschaft Gottes 
sein, denn sie besteht ja in der Einsicht von dem, was gut, böse, 
was gleichgültig ist Wie aber soll Gott dies kennen, wenn er 
es nicht selbst erlebt hat? Gott kann so wenig Schmerz und 
Leiden verstehen, wie der Blinde sich von rot oder grün eine 
Vorstellung machen kann. Darum besitzt auch Gott keine Kunst, 
keine rixyrjy die immer in der mühsamen Erarbeitung des Er- 
reichten besteht. Kommen aber Gott von Natur alle Vollkommen- 
heiten zu, so kann man von einer Kunst bei ihm ebensowenig 
reden, wie bei Fröschen oder Delphinen von der Kunst des 
Schwimmens. Aber auch ganz allgemein — alle offenen und 
versteckten Anthropomorphismen beiseite gelassen, ist Gott nicht 
denkbar. Denn er ist weder endlich noch unendlich. Endlich 
nicht, weU jede Endlichkeit eine Beschränkung ist, d. h. eine Ün- 
voUkommenheit, und das Unendliche dann vollkommener wäre als 
Gott Unendlich nicht, weil Grott dann an keinem Orte wäre, 
also unbeweglich, und also leblos. Vor allem kann man Gott 
nicht die Haupteigenschaft, um deren willen man an ihn glaubt, 
die Vorsehung zusprechen.®®) Gerade das Walten einer Vor- 
sehung aber war von den Stoikern in allen Tonarten besungen 
worden. Hier stellt uns die Skepsis nun folgende heikle Alter- 
native: entweder Gott übt für alles Vorsehung oder nur für einiges. 
Für alles nicht, denn die Unzahl der Übel imd Schlechtigkeiten 
in der Welt, das Glück der Bösen und das Unglück der 
Guten®*), können doch unmöglich als Werke der Vorsehung 
angesehen werden. Also nur für einiges. Warum aber nicht für 
alles? Vier Möglichkeiten stehen offen — alle gleichermaßen 
absurd. Entweder Gott kann für alles und will für alles Vor- 
sorge tragen — woher dann die Übel in der Welt? Oder Gott 
will zwar, kann aber nicht — wie verträgt sich das mit Gottes 
Allmacht? Oder er kann zwar, will aber nicht — wie verträgt 
sich das mit Gottes Güte? Oder er kann nicht und will nicht — 
dann ist Gott sowohl schwach als schlecht. Man sieht, die Dis- 
junktion ist vollständig, und jedes ihrer Glieder erhebt eine neue, 
schier unüberwindliche Schwierigkeit gegen den Glauben an eine 
Vorsehung. 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 89 

Hatte die Skepsis Argumente von solchem Kaliber zur 2^r- 
setzung jeglicher Gottesvorstellung zur Verfügung, so kann man 
sich denken, daß es ihr leicht wurde, spielend die schon an sich 
imd in sich wankende Spezialreligion des Hellenismus zu zer- 
stören. Den ganzen Aberglauben der Divination, auf welche die 
Stoiker so großen Wert legten, der Wahrsagekunst und der Vogel- 
schau deckten die Skeptiker in seiner Rückständigkeit auf; ^^) dem 
gesamten Polytheismus des Volksglaubens hielten sie unter an- 
derem •i) die nach Art der Soriten geformten Erwägungen ent- 
gegen, daß wegen der wesentlichen Gleichartigkeit des vermeint- 
lich Göttlichen mit dem anerkannt Ungöttlichen die Grenzen fließend 
seien und so alles entweder vergöttlicht oder entgöttlicht werden 
müsse: Ist Zeus ein Gott, so muß es auch sein Bruder Poseidon 
sein; wenn dieser, dann auch der Stromgott Achelous und der 
Nilus; aber auch die Quellen des Nilus, alle anderen Bäche usf. 
Sind Sonne und Mond Gottheiten, so auch die übrigen Planeten, 
so auch die Fixsterne; und wenn diese, so auch der Regen- 
bogen und die übrigen Himmelserscheinungen, Wolken, Regen 
und Sturm.»«) 

In dieser und ähnlicher Weise zogen die Skeptiker gegen 
den Dogmatismus der Volksreligion zu Felde. Wohlverstanden 
immer nur gegen den Dogmatismus der Religion, nicht gegen 
diese selbst. Denn in Bezug auf die religiösen Erkenntnisse stehen 
sich, wie bei jedem materialen Erkenntnisinhalt, gleich starke, 
sich die Wage haltende Erwägungen gegenüber. Für den Skeptiker 
folgt daraus der totale Zweifel über den betreffenden Gegenstand, 
nicht aber eine Negation der positiven Ansicht Er bekämpft also 
nicht so sehr das Dasein der Götter, als die zuversichtlichen Aus- 
sagen des Dogmatikers über dasselbe. Dies ist wichtig im Auge 
zu behalten, um den Kern der skeptischen Bemühungen nicht 
mißzuverstehen. 

Wie der Inhalt der Naturwissenschaft dadurch hinfallig wurde, 
daß ihm durch die Zersetzung seiner Basis gewissermaßen der 
Boden unter den Füßen entzogen wurde, wie die Religionsphilo- 
sophie unter den Schlägen gegen grobe wie verfeinerte Gottes- 
vorsteUungen in sich zusammenstürzte, so verlöre nun auch die 
gesamte Moralwissenschaft — eine in damaliger 2^it blühende 
Disziplin — allen Sinn, wenn ihre obersten Begriffe sich als wider- 
spruchvoll und unhaltbar erweisen sollten.^*) Auf dies Ergebnis 
werden die Anstrengungen der skeptischen Ethik gerichtet sein 



90 Erster Abschnitt Die griechiiche Skepsis. 

müssen. Der moralphilosophische Standpunkt dieser griechischen 
Skeptiker läßt sich in den einen Satz zusammenfassen: die Er- 
keimtnismöglichkeit der sittlichen Werte wird bezweifelt Und die 
Begründung, ebenso knapp formuliert: wir erkennen die sittlichen 
Werte nur wie sie uns erscheinen, nicht wie sie an sich sind. 
Aber warum? Hauptsächlich sind es zwei Gedankenreihen, welche 
diese skeptischen Thesen stützen sollen, i . Wir erkennen die sitt- 
lichen Werte nur, wie sie uns erscheinen; denn das, was an sich, 
(pv6ziy gut oder schlecht ist, müßte für alle in gleicher Weise gut 
oder schlecht sein; so wie der Schnee, weil er seiner Natur nach 
kalt ist, alle frieren macht, und das Feuer, weil es seiner Natur 
nach warm ist, alle wärmt, so müßte etwas, das seiner Natur 
nach gut oder schlecht ist, auch allen gut oder schlecht erscheinen.**) 
Aber auf nichts, was für gut oder schlecht gilt, trifft diese Be- 
dingung zu. Von den bisher für sittlich oder unsittlich aus- 
gegebenen Werten erfreut sich kein einziger allgemeiner An- 
erkennung. Und das gilt sowohl für die Begriffe, welche die 
Laien (iSzcSraz), als für diejenigen, welche die Philosophen auf- 
gestellt haben.*^) Nehmen wir die einzelnen Menschen vor, so 
sehen wir, daß die einen dies, die andern jenes als ein Gut erachten; 
die einen Ruhm, andere Gesundheit, noch andere Reichtümer. Jeder 
hält das für ein Gut, was seine Individualität am meisten reizt*®) 
Noch deutlicher wird der Widerspruch über die sittlichen Werte, 
wenn wir die ganz getrennten Moralanschauungen der verschiedenen 
Völker und Nationalitäten ins Auge fassen. Mit einer Fülle von 
Beispielen*^) ist hier die griechische Skepsis bei der Hand — Bei- 
spiele, die sie den Sitten und Gesetzen, dem äußeren Brauche, 
ja dem, was bei den verschiedenen Völkern für schön oder häß- 
lich galt, sowie den spezifisch moralischen Wertungen gleichmäßig 
entnimmt. So gelte bei den Griechen die Päderastie für wider- 
gesetzlich, bei den alten Thebanem aber sei dies nicht der Fall 
gewesen. Es gibt Völker, bei denen es Sitte ist, daß die Mädchen 
die Mitgift aus der Buhlerei zusammenbringen. Räuberei zu 
treiben scheint Griechen und Römern eine Ungerechtigkeit, den 
Ciliciem sogar rühmlich. Daneben aber wird auch der Unter- 
schiede darin gedacht, daß die einen Völker Ohrringe tragen, 
andre nicht, einige die Neugeborenen tätowieren, andre nicht 
Weiter wies man auf Abweichungen in den Kultusgebräuchen hin: 
bei den Tauriem in Skythien war es Brauch, die Fremden der 
Artemis zu opfern; in Rom und in Griechenland ist es verboten. 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 9^ 

einen Menschen an heiliger Stätte zu töten usw. Aus alledem 
schloß die Skepsis, daß die sogenannten sittlichen Werte, die 
ayaäd und xaxd nicht an sich (<pvöBt) oder absolut genommen 
so oder so beschaffen seien, sondern nur in bezug auf*^) die 
einzelnen Individuen oder Völker, auf Römer, Ägypter, Inder. Die 
nämliche Relativität der ethischen Werte erhellt auch, wenn man 
sich von den moralischen Anschauungen der Laien ab- und den- 
jenigen der Philosophen zuwendet^®) Auch hier nirgends ein 
fester Punkt, kein einziges von allen Philosophen anerkanntes Gut. 
Man zeigte triumphierend auf die Meinungsverschiedenheiten in 
den moralphilosophischen Elementarfragen zwischen Cynikem und 
Cyrenaikem, Stoikern, Epikuräem, Akademikern und Peripatetikem. 
Man stellte die Anschauung des Aristipp, der die sinnliche Lust 
zum höchsten Gut erhob, dem Ausspruch des Cynikers gegenüber: 
„Rasen möchte ich lieber, als mich freuen"; man nahm irgend 
einen Begriff wie den der Gesundheit vor^®®), um nachzuweisen, 
wie er in den verschiedenen Philosophenschulen bald als höchstes 
Gut (Simonides), bald als Gut zweiter Ordnung (Krantor), bald 
als überhaupt kein Gut (Stoiker) ist hingestellt worden. Also 
sowenig wie unter Völkern und Laien, sowenig herrscht unter 
den Philosophen über die moralphilosophischen Objekte Einig- 
keit Ein allgemeingültiger absoluter Wert, dessen Kriterium wäre, 
daß er auf alle eindeutig wirkte, hat sich noch nicht gezeigt. 

Aber noch auf einem ganz anderen, in seiner Ausfuhrung 
nicht minder geistreichen Wege sucht man die Unerkennbarkeit 
der ethischen Grundwerte darzutun. Diese zweite Gedanken- 
reihe besteht vor allem in der zersetzenden Kritik der bisher auf- 
getretenen moralphilosophischen Anschauungen. Ein Einblick in 
diese einschneidende Kritik mag wenigstens die weittragendsten 
Einwände der ethischen Skepsis berücksichtigen, ihre Polemik 
gegen Einzelheiten dagegen (wie gegen die Gütereinteilungen u. a.) 
als nur von ephemerem Wert beiseite lassen« Zweifellos eines der 
bedeutsamsten Bedenken, ^^*) das eigentlich die Grundlage der ge- 
samten antiken Ethik im Innersten berührt, ist gerichtet gegen 
die Bestinunung des Guten als das zur Glückseligkeit Führende, 
oder das Nützliche, oder das um seiner selbst willen Erstrebenswerte 
— Bestimmungen, in denen, wie Sextus mit Recht meinte, die 
meisten antiken Philosophen einig sind. Aber — so verläuft nun der 
skeptische Gedankengang weiter — durch all das erfahre ich über 
das Gute selbst gar nichts; was das Gute ist, wird mir nicht gesagt. 



92 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Nur von einer spezifischen Eigenschaft des Guten erhalte ich besten- 
falls Kenntnis, nämlich, daß es zur Glückseligkeit fuhrt, oder nützt, 
oder erstrebenswert ist. Aber entweder kommen diese Eigen- 
schaften auch anderen Dingen zu und sind also kein Kriterium 
für das Gute; das eigentümliche Wesen des Guten wird uns durch 
sie nicht vermittelt; oder sie kommen nur dem Guten zu; dann 
müßte ich mir von einer spezifischen Eigenschaft eines Dinges aus 
das Wesen des Dinges vorstellen können, was nicht angeht. So 
wenig wie ein Ochs durch das Brüllen, noch ein Pferd durch das 
Wiehern erklärt werden kann, weil ich, um Wiehern und Brüllen 
zu verstehen, schon Pferd und Ochsen kennen muß, so wenig 
kann ich das Gute durch die ihm eigentümlichen Eigenschaften 
erläutern, weil ich dazu das Gute schon kennen müßte. Also der 
umgekehrte Weg wäre der richtige. Erst müßte das Wesen, der 
Inhalt des Guten angegeben werden und dann daraus abgeleitet, 
daß das Gute nützt, zur Glückseligkeit fuhrt, erstrebenswert ist. 
Den besten Beweis für diese ihre Anschauung, daß man auf dem 
üblichen Wege nicht weiterkommt, sehen die Skeptiker in der 
Tatsache, daß aus den allgemeinen Bestimmungen über die Glück- 
befbrderung, den Nutzen, das Erstrebenswerte des Guten der tat- 
sächliche Inhalt des Guten, das, was nun gut ist, nicht abgeleitet 
werden kann. Denn fragt man die Philosophen, welche in den 
angeführten Bestimmungen alle einig sind, was denn zum Glücke 
führe, was nütze, was erstrebenswert sei — so gehen die bis 
dahin Einigen weit auseinander, indem die einen die Lust angeben, 
andere die Tugend, andere die Schmerzlosigkeit, noch andere noch 
anderes. Woher diese Widersprüche, wenn in den gegebenen 
Bestimmungen nicht nur Eigenschaften, sondern das Wesen des 
Guten erfaßt wäre? 

Nicht minder tötlich wird von der skeptischen Kritik eine im 
Altertum sehr beliebte Sanktion des Sittlichen getroffen, nämlich 
die Zurückfuhrung des Sittlichen auf das Natürliche. Das ver- 
nunftgemäße Leben ist sittlich, denn es ist das naturgemäße — 
in der Vernunft besteht die wahre Natur des Menschen, hatten 
die Stoiker gelehrt. Die Summierung der Lust, das Streben nach 
Schmerzlosigkeit ist sittlich, denn es ist natürlich — Tier und 
Mensch fliehen von Natur den Schmerz und suchen die Lust. So 
die Cyrenaiker und Epikuräer. Hier machen nun die Skeptiker 
darauf aufmerksam, einmal, wie leer und abstrakt dieses Prinzip 
des Natürlichen wieder ist und wie es als solches den verschiedensten, 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 93 

ja entgegengesetzten Inhalten offen steht. Unter der Sanktion des 
Natürlichen, so meinte die Skepsis, i®*) kann ich jeden beliebigen 
Inhält in das Prinzip der Sittlichkeit hineintragen; ich kann sagen: 
von Natur erstrebenswert sei der Mut, weil Löwen von Natur zum 
Mutigsein neigen und Stiere und Hähne und einige Menschen — 
ich kann aber auch sagen : von Natur erstrebenswert sei die Feig- 
heit, da Hirsche und Hasen und andere Menschen von Natur zur 
Feigheit neigen. Oder, um gleich auf die Grundgegensätze im In- 
halt der nacharistotelischen Moralphilosophie zu kommen, ich darf 
mich nicht mit Epikur darauf berufen, daß alle Lebewesen nach Lust 
streben und die Lust als das natürliche Objekt des Willens auch 
das sittliche sei; denn der stoische Weise z.B. sucht Anstrengung, 
Arbeit und Mühen auf und flieht die Lust. Darin betätigt er ja 
eben nach stoischer Lehre die wahre Natur des Menschen! Aber 
diese Lehre ist ebenso einseitig, solange der epikureische Weise 
die Lust erstrebt und aller Arbeit und Mühe, welche nicht einen 
höheren Lust- als Unlustertrag abzuwerfen verspricht, aus dem 
Wege geht. Außerdem sind die auf der Brücke des Natur- 
prinzips sich aufbauenden moralischen Analogien zwischen den 
verschiedenen Naturwesen, also zwischen Mensch und Tier, ge- 
fahrlich, weil sie zu einer vorgefaßten Deutung tierischer Instinkte 
durch menschliche Vemunftgründe, und menschlicher Entschließungen 
durch animalische Triebfedern verleiten; und unter dem schützen- 
den Mantel eines Begriffs Natureigenschaflen der Tiere einfach 
auf den Menschen und vice versa übertragen. Wenn von stoischer 
Seite ^^) gegen die Lustlehre Epikurs geltend gemacht wiu-de, daß 
bereits unter den Tieren großmütige und nur um des Ehrenhaften 
(ytvvaioy) willen unternommene Handlungen vorkämen, wie die 
Zweikämpfe zwischen Hähnen und Stieren, welche bis zum Tode 
ohne Aussicht auf Lust miteinander streiten, so ist in Erwägung 
zu ziehen, daß blinde Instinkte nicht moralische Handlungen sein 
können, daß aber auch das instinktive Motiv des Kampfes hier 
keineswegs die Ehre, sondern lediglich [die Führung der Herde ist. 
Vor allem aber beweisen diese Analogien niemals, daß, was für 
ein Lebewesen natürlich ist, es auch für die Exemplare einer 
andern Gattimg sein muß. Erstrebten wirklich von Natur alle 
Tiere Lust, so wäre damit die Natürlichkeit des Luststrebens für 
die Menschen nicht im mindesten dargetan — und gibt es auch 
wirklich von Natur selbstlose Handlungen unter den Tieren, so 
wäre dadurch die Selbstlosigkeit als für den Menschen natürlich 



94 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

keineswegs erwiesen. So ist der Begriff des Natürlichen ähnlich 
wie der der Glückseligkeit oder des Nutzens ein leerer abstrakter 
Begriff, der aus sich heraus keinen Inhalt hergibt, vielmehr solchen 
erst von anderswoher zu empfangen hat Damit genug der Proben 
von der skeptischen Kritik moralphilosophischer Theorien. Diese 
Kritik hatte keinen andern Zweck als auch die vorhingenannten, 
mehr systematischen Argumente, nämlich die Unerkennbarkeit der 
sittlichen Werte darzutun. Damit reiht sich die Ethik nur in den 
einheitlichen Plan des skeptischen Lehrgebäudes ein. Was aus 
anderen Gründen von den sinnlichen Dingen, von Baum und Haus 
erwiesen wird, gilt nun auch von den sittlichen Dingen: ihr An- 
sich bleibt unerkennbar. Das skeptische Vermögen, die öKeTtrtxff 
dvvaßjitg, über die Beschaffenheit der Dinge an sich einander ent- 
gegengesetzte, gleich gut begründete Thesen aufstellen zu können, 
erstreckt sich nun auch auf die Moralphilosophie. Daß der Mord, 
der Diebstahl usw. an sich gut sei, kann ebenso leicht bewiesen 
werden, wie daß diese Handlungen böse sind. Beide Beweise 
haben gleich recht und gleich unrecht Denn sie streiten um ein 
unerkennbares Etwas. Und so war es kein sophistisches Kunst- 
stück, sondern ganz im Einklang mit den tiefsten ethischen Ober- 
zeugungen der Skepsis, wenn einer ihrer größten Vertreter in ver- 
antwortungsvoller Mission nach Rom gesandt den einen Tag für, 
den andern gegen die Gerechtigkeit sprach. ^^^) 

Wir würden uns aber ein einseitiges und unvollständiges Bild 
dieser ethischen Skepsis der Griechen bilden, wenn wir auf die 
negativen Resultate allein unsem Blick richten wollten. Vielmehr 
gilt es noch, den zwar mageren, aber für die Beurteilung dieses 
Skeptizismus um so wichtigeren positiven Kern herauszuschälen. 
Wir haben schon wiederholt betont, daß die Pyrrhoniker zwar das 
Ansich der Dinge für unerkennbar hielten, die Auffassung sinnlicher 
Wahmehmungsbilder aber, der g}aiy6ßieva, der Phänomene als 
Bewußtseinstatsachen durchaus anerkannten. Und die Parallel- 
erscheinung findet sich nun auf ethischem Gebiete: auch hier be- 
zweifeln sie die Erkenntnis der absoluten Werte, des Guten und 
Bösen an sich, verschließen sich aber nicht der Einsicht, daß uns 
Verschiedenes als gut, anderes als übel erscheine. Fragen wir 
nun aber, was auf sittlichem Gebiete den Erscheinungen der sinn- 
lichen Dinge, also dem Gesichtsbilde eines Baumes im Gegensatz 
zum Baum an sich entspreche, so erhalten wir die unerwartete 
Antwort: Die Überlieferung der Sitten und Gesetze.^^®) Was 



Zweites Kapitel. Die DarstelluDg des griechischen Skeptizismus. 95 

die Sitten unsres Landes, was Brauch und Gesetz vorschreiben, 
das „erscheint" uns als gut, das Gegenteil als schlecht. Fromm- 
sein z. B. als ein Gut, Unfrommsein als ein Übel. Nur daß Fromm- 
sein an sich ein Gut, Unfrommsein an sich ein Übel sei, wird 
bezweifelt 

y. KegaÜTe und positive Eonsequenzen des Skeptizismus. 

Wir haben uns in der Darstellung des griechischen Skepti- 
zismus an dessen ursprüngliche Problemstellung gehalten: Wie 
sind die Dinge beschaffen? wie müssen wir uns zu ihnen verhalten? 
was folgt für uns aus diesem unserm Verhalten? Die skeptische 
Lösung des i . Problems ist mit einiger Ausführlichkeit bereits be- 
handelt worden. Fassen wir dieselbe in wenige Sätze noch ein- 
mal zusammen und sehen zu, was aus denselben für die Entschei- 
dung der noch ausstehenden (2. und 3.) Fragen für Folgerungen 
erwachsen. 

Was die Beschaffenheit der Dinge anlangt, so steht jeder 
Aussage über dieselbe mit gleich gutem Recht eine andre gegen- 
über. Und diese Gleichkräfligkeit, diese Isosthenie von These und 
Antithese ist kein Zufall, sondern notwendig und wohlbegründet. 
Denn alle Erkenntnismittel, durch welche die Beschaffenheit der 
Dinge aufgefaßt werden könnten, sind trügerisch: Sinne und Ver- 
nunfl führen, sowohl jedes für sich als auch beide zusammen, zu 
widerspruchvollen Resultaten. Der Schatz der Argumente für die 
UnZuverlässigkeit der sinnlichen Erkenntnis war in den Tropen 
desAenesidem niedergelegt worden. So wenig wie die sinnliche 
Wahrnehmung aber, enthüllt uns nun das vernünftige, logische, 
begriffliche Erkennen die Beschaffenheit der Dinge. Die skep- 
tische Polemik gegen die Begriffe, gegen Schließen und Beweisen, 
gegen die Möglichkeit eines Wahrheitskriteriums; ihre Kritik der 
Induktion, die Zusammenfassung aller wesentlichen Punkte in der 
Zersetzung beider Erkenntnisarten durch die fünf Tropen Agrippas 
— all das ist uns noch frisch in der Erinnerung. Ebenso die 
Zweifel nicht nur an den Formen, sondern auch an dem Inhalt 
unsrer vermeintlichen Erkenntnisse : der Sturz der einzelnen Wissen- 
schaften, der Natur-, der Religions-, der Moral Wissenschaft. Die 
Folge von alledem ist die Lösung des ersten Problems: die Be- 
schaffenheiten der Dinge sind unerkennbar, oder, vorsichtiger 
ausgedrückt, sind unerkannt. Und zwar der Dinge in der 
weitesten Bedeutimg des Wortes; es ist ebensowenig zu erkennen 



9^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

möglich, wie das Ding „Tisch" oder das Ding „Atom*' oder 
das Ding „Tugend" oder das Ding „Gott" beschaffen ist. Man 
sieht, an Extensität läßt der griechische Skeptizismus nichts zu 
wünschen übrig. Denn er erstreckt sich auf alle nur erdenk- 
baren Erkenntnisgebiete. Aber von der anderen Seite darf uns 
diese Totalität nicht verleiten, die Einschränkungen in dem 
Satze: „Die Beschaffenheiten der Dinge sind unerkennbar" neben 
seiner gewaltigen Ausdehnung außer acht zu lassen. Diese Ein- 
schränkungen treten auch mit jener allgemeinen Ausdehnung gar 
nicht in Widerstreit. Sie betreffen nämlich gar nicht die Gebiete, 
auf denen der Satz gilt, sondern den Sinn, in dem er gilt. Diesen 
erfaßt nur, wer sich gegenwärtig hält einmal, was der Begriff der 
Dinge für die Skepsis bedeutet, und dann, daß der Satz jede 
dogmatische Auslegung von sich weist. „Dinge" sind in dem 
skeptischen Satze nur als Dinge an sich, als Grund der Erschei- 
nungen zu verstehen, wie aus allem bisher Gesagten erhellen muß; 
also der Skeptiker sagt nicht, daß er die Beschafienheiten der ihm 
erscheinenden Dinge nicht erkenne; daß ihm der Honig nicht 
süß, der Mord nicht schlecht, Gott nicht vorsorglich „erscheine"; 
sondern nur, daß er nicht wisse, ob diese Eigenschaften dem Honig 
an sich, dem Morde und Gott an sich zukämen. — Unter dem 
„sind unerkennbar" darf nicht dogmatisch die ewige, prinzipielle 
Unerkennbarkeit verstanden werden; sondern nur, daß diese Dinge 
bis zum gegenwärtigen Augenblick unerkennbar zu sein scheinen. 
Wenigstens dem Pyrrhoniker, der den dogmatischen Negativismus 
einiger Akademiker verwirft. Denn sonst würde er mit sich selbst in 
Widerspruch geraten; erkennt er doch keine generellen Wahrheiten 
an, sondern nur individuelle, d. h. seine subjektiven Bewußtseins- 
zustände. Nach diesen Vorerinnerungen wird es leicht sein, die Ant- 
worten auf die zwei noch ausstehenden Fragen zu geben. Die erste der- 
selben lautete: Wie müssen wir uns zu den Dingen verhalten? Hier 
läßt sich die Antwort der Skepsis am klarsten unter zwei Gesichts- 
punkten betrachten; jeder Teil der Antwort entspricht dabei einem 
bestimmten TeUe der Frage. Denn auch diese spaltet sich ganz natur- 
gemäß in die beiden Probleme: was dürfen wir den Dingen gegenüber 
nicht tun, und was dürfen wir tun? Die Antwort wird also nur 
dann vollständig sein, wenn sie unser negatives und positives Ver- 
halten den Dingen gegenüber zum Ausdruck bringt. Mit dem 
negativen Verhalten beginnen wir. Es ist für die Skepsis, ihrer 
vorwiegend destruktiven Tendenz entsprechend, das wichtigere. 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizbmus. 97 

Aus der Ünerkennbarkeit der Dinge folgerten die griechischen 
Zweifelschulen zunächst ganz allgemein, daß sich der Mensch den 
Dingen gegenüber nur spähend (das ist die ursprüngliche Bedeutung 
von skeptisch), nur zurückhaltend (ephektisch), immer forschend 
(zetetisch), niemals überzeugt (dogmatisch), stets verlegen (aporetisch) 
verhalten müsse. Daher nannten sich die Anhänger dieser Lehre: 
Skeptiker, Zetetiker, Aporetiker, Ephektiker — auch wohl 
nach dem Stifter der Schule Pyrrhoniker.^^^ Doch hatten manche 
gegen die letztere Bezeichnung etwas einzuwenden: da nämlich 
der Mensch nach den Lehren der Skepsis nichts als seine eigenen 
Bewußtseinszustände erkennt, so kann er nie sicher sein, diejenigen 
eines anderen (also etwa die Seelendisposition eines Pyrrho) zu 
besitzen.^®®) Es ist ebenso nur eine Konsequenz der Prinzipien, 
wenn die griechische Skepsis es ablehnte, in gleicher Weise wie 
die anderen, dogmatischen Genossenschaften, eine Schule, Sekte, 
Partei (cßpaötg) genannt zu werden, — welches immer die Zustim- 
mung zu einem geschlossenen System von Lehransichten bedeutet 
— sondern es vorzog, sich selbst als eine Richtung (ayoayij) zu 
bezeichnen. ^*^*) Im einzelnen aber ergibt sich aus dieser Philo- 
sophie der totalen Unwissenheit noch folgendes: können wir die 
wirkliche Natur der Dinge an sich nicht erkennen, so dürfen wir 
auch nichts über dieselbe aussagen, sondern müssen uns des 
Urteils über sie völlig enthalten. Und zwar gleichermaßen nach 
der verneinenden wie nach der bejahenden Seite. Ich darf also 
nicht (wie die skeptische Ansicht oft mißverstanden wird) aus der 
Ünerkennbarkeit der Götter z. B. schließen, daß es keine Götter 
gibt. Das Urteil des Skeptikers ist weder positiv, noch negativ, 
sondern neutral. Die Epoche definierte die griechische Skepsis 
daher als „ein Stillstehen der Einsicht, infolgedessen wir weder 
etwas aufheben noch setzen ".^^^) Von diesem Verhalten aus er- 
ledigt sich die Frage: treibt der Skeptiker eine Wissenschaft? 
von selbst. Die Antwort kann nur verneinend lauten. Denn wir 
hatten schon früher einmal bemerkt, daß das ganze Altertum (im 
Gegensatz zu gewissen neueren Richtungen) unter der Wissenschaft 
die Erforschung eben der verborgenen Natur der Dinge an sich 
und ihrer notwendigen Zusammenhänge, nicht aber die methodische 
Beobachtung und Gruppierung der Erscheinungen versteht Darum 
betonten die griechischen Skeptiker durchaus, daß sie keine Wissen- 
schaft betrieben. Mit Physik, Logik und Ethik befaßten sie sich 
nur, um jeder These eine gleichstarke Antithese gegenüberstellen 

Richter, Skq;itizi8nras. 7 



■ • 



9^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

und dadurch den Zusammenbruch dieser Disziplinen bewirken zu 
können.^^^) Ganz im Einklang mit diesen Grundsätzen hat die 
Skepsis eine Reihe von Redensarten ausgebildet, von denen die 
wichtigsten und ihre Kommentierung durch die Skepsis hier auf- 
geführt werden mögen. Zunächst begegnen wir überall in den 
Schriften des Sextus bei der Entwicklung seiner Ansichten den 
Konjunktiven: es dürfte, es möchte, es könnte scheinen, ebenso 
einem zur stehenden Phrase gewordenen „vielleicht"; daß diese 
Redewendungen die Unentschlossenheit und vorsichtige Zurück- 
haltung des Skeptikers auch bei den scheinbar einfachsten und 
selbstverständlichsten Sätzen zur Schau tragen wollen, leuchtet ein. 
Eine Reihe sehr typischer Ausdrücke, die auch von der Schule 
selbst als skeptische Redensarten, öKBnrtHai (pcovai^ bezeichnet 
wurden*^*), sind die folgenden: 

Um nichts mehr, ovShv fxäXXov — was bedeuten sollte: 
um nichts mehr dies als jenes; z. B. der Honig um nichts mehr 
süß als bitter. Schon Demokrit hatte den gleichen Ausdruck ge- 
braucht. Aber, wie die Skepsis meinte, in dogmatischer Ver- 
wendung. Dem Demokrit war der Honig nicht mehr süß als bitter, 
weU er weder süß noch bitter war, sondern in Wahrheit nur ein 
Komplex qualitätloser Atome. Dieser dogmatischen Lehransicht 
pflichtete der Skeptiker natürlich nicht bei. Ihm bedeutet das 
ovSev fi&Wov nicht: weder — noch, sondern: vielleicht ist er süß, 
vielleicht ist er bitter, vielleicht keines von beiden. Manche aber 
drückten den skeptischen Standpunkt schon durch die gramma- 
tikalische Konstruktion aus, indem sie den Inhalt in eine Frage 
kleideten und statt ovShv ^äXKov zu behaupten, tl fxäXkov, um 
was mehr? fragten. Wir werden in ähnlicher Weise später die 
Weltanschauung eines andern großen Skeptikers, — Michel de 
Montaignes — in dem Erzittern einer beständigen Frage: Qua 
sais-je? ausklingen sehen. 

Auch die Ausdrücke vielleicht, tdx^t es ist möglich, 
iSs&ti, es kann sein, ivSixetat zählt der Skeptiker zum festen 
Bestände seines Lexikons; sie bedeuten ihm und stehen ihm für: 
vielleicht ist es, vielleicht ist es nicht, es ist möglich, daß es ist, 
und daß es nicht ist, es kann zwar sein, daß es ist, es kann aber 
auch sein, daß es nicht ist 

Die skeptische Redensart alles ist unbestimmt, ndnrta 
a6pi6ta^ bemüht sich Sextus möglichst vor dogmatischen Miß- 
verständnissen zu schützen. Alles bedeutet hier nur: alles, was der 



Zweites Elapitel. Die Darstellnng des griechischeD Skeptizismus. 99 

Skeptiker von den bei den Dogmatikem vorkommenden Aussagen 
über reale Dinge verfolgt hat; „ist unbestimmt" steht auch nicht 
als dogmatische Aussage über das Sein dieser Dinge, von denen 
der Skeptiker ja nichts weiß, sondern für: erscheint mir un- 
bestimmt Das gleiche gilt von dem 

ich bestimme nichts, ovSev hfAZoo\ womit der Skeptiker 
nur sagen will: ich befinde mich für jetzt in einem solchen Zu- 
stande, daß ich nichts von den Dingen, welche unter diese augen- 
blickliche Untersuchung fallen, in dogmatischer Art setze oder auf- 
hebe. Die gleichen Ei^änzungen sind bei deil Worten: 

alles ist un auf faßbar, navta axatak'qnta, ich fasse nichts 
auf, hinzuzudenken. Immer nur handelt es sich hier um Aus- 
sagen, die der persönliche, gegenwärtige Zustand des Pyrrhonikers 
über die Objekte, wie sie unabhängig vom Subjekt oder an sich 
bestehen, fallt. Niemals beansprucht diese Aussage allgemeine 
Gültigkeit für andere Zeiten und andere Wesen; niemals betrifft 
der Gegenstand, über den sie berichtet, die subjektiven Phäno- 
mene. So verstehen wir nun auch besser, was die Skepsis eigent- 
lich mit der Urteilsenthaltung und der Aussagelosigkeit ausdrücken 
wollte. 

ich halte an mich, inix^Oy bedeutet nur: ich vermag nicht 
zu sagen, welchen der in Rede stehenden Ansichten man glauben 
muß und welchen nicht. Damit wird nur gemeint, daß die Ansichten 
uns alle gleich glaubwürdig erscheinen, nicht, daß sie gleich glaub- 
würdig sind In gleicher Weise ist die skeptische Aphasie, die 
Aussagelosigkeit, nur so zu verstehen, daß sie ein Abstandnehmen 
von der Aussage bedeutet, die (nicht etwas über die Erscheinungen 
sondern) etwas über die verboi^ene Natur der Dinge an sich be- 
jaht oder verneint; und selbst das soll nicht heißen, daß die Dinge 
von Natur so beschaffen sind, daß sie zur Aussagelosigkeit nöt^en, 
sondern der Skeptiker meldet mit der Aphasie nur einen subjek- 
tiven Bewußtseinszustand. Nun auch vertieft sich unser Verständ- 
nis der skeptischen Isosthenie, der Gleichkräftigkeit des entgegen- 
gesetzten Behauptens. Jeder These steht eine gleichkräftige Anti- 
these gegenüber, ist das Prinzip dieses Verfahrens. Aber die 
einzelnen Worte in diesem Satze bedürfen der Einschränkung; 
unter ,,Jede" ist jetzt nur noch „jede von mir dem Skeptiker 
durchgeprüfte These", nicht etwa jede im absoluten Sinne zu ver- 
stehen; „These" bedeutet nur die Aussage über die verborgene 
Natur der Dinge , nicht über deren Erscheinungen ; und endlich bei 

7* 



t * * j ' j 



lOO Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

dem „steht eine gleichstarke Antithese gegenüber" ist ein „wie 
mir scheint'* stillschweigend hinzuzufügen. 

Aus dieser Kommentierung, die der griechischen Skepsis selbst 
entstammt, ist ersichtlich, daß die skeptischen Redensarten nicht 
an sich und für alle 2^iten, sondern nur relativ, nämlich für den 
Skeptiker, und auch für ihn nur in dem Augenblick, in dem er 
diese Ansichten ausspricht, Geltung haben sollen. Damit erledigt 
sich der Einwand, die Pyrrhoniker seien nur dogmatische Nega- 
tivisten: während die positiven Dogmatiker behaupten, man könne 
die BeschafTenheiten der Dinge erkennen und die Wahrheit finden, 
behaupten die Skeptiker nicht etwa ebenso entschlossen, be- 
stimmt und in dem gleichen Sinne, sondern durchaus in indivi- 
dueller, temporärer und objektiv-realer Einschränkung das 
Gegenteil. 

Nicht minder geschickt verstanden sie es, den bedenklicheren 
Hieb der Dogmatiker zu parieren, wenn diese darzutun suchten, 
daß die skeptischen Redensarten, wie: alles ist unbestimmbar, un- 
auffaßbar usw. sich selber aufhöben. Denn, wenn alles unbe- 
stimmbar ist, so auch dies, daß alles unbestimmbar ist. Da dieser 
Konsequenz nicht auszuweichen war, so gaben die Skeptiker als 
die Klügeren hier durchaus nach, indem sie zugestanden: aller- 
dings höben sich diese Redensarten, als dogmatische Thesen gefaßt, 
selber auf. Das käme aber der Sache der Skepsis durchaus nur 
zugute. Denn erstens gäbe es dem Skeptiker Anlaß nochmals zu 
betonen, er behaupte ja gar nicht, daß alles unauffaßbar, daß etwa 
die Natur der Dinge eine grundsätzlich unerfaßbare sei, sondern 
nur, daß ihm alles unauffaßbar erscheine; dieser sein eigener 
Gemütszustand (TtaS^og) aber, den er erleide, sei der einzig voll- 
kommen gewisse, unerschütterliche Rest aller Behauptungen eines 
Menschen, könne durch nichts aufgehoben werden, und nur ihn 
verkünde er.^") Als Redensarten von überindividueller und über- 
momentaner Geltung kehrten die öxETTttHal (poovai — läßt man sie 
selbst, was logisch durchaus zulässig wäre, nicht die einzige Aus- 
nahme der durch sie verkündeten Regeln sein^^*) — allerdings die 
tödliche Spitze gegen sich selbst; zugleich aber gegen die Dinge, 
über die sie Aussage machten. Sie wirken hier also wie ein 
Purgativ, das nicht nur die Flüssigkeiten aus dem Körper fort- 
räumt, sondern auch sich selbst mit den Flüssigkeiten zugleich 
entfernt ^1*); sie gleichen dem Feuer, das mit dem Stoff, den es 
verbrennt, zugleich sich selbst verzehrt i*^; und wer sie vertritt, 



Zweites KapiteL Die DarstelluDg des griechischen Skeptizismus. lOI 

tut nichts andres wie ein Mann, der die Leiter, auf deren Stufen 
er die Höhe erklommen, danach mit dem Fuße umstößt*^') Ge- 
schickter als durch diese ebenso übermütigen wie geistreichen Ver- 
gleiche war der Vorwurf von der Selbstaufhebung der skep- 
tischen Grundsätze — wenn er überhaupt zu parieren ist — 
kaum abzuwehren.^1®) 

Man wird den Eindruck gewonnen haben, daß die griechische 
Skepsis an Folgerichtigkeit und Kühnheit auch in der Lösung des 
zweiten Problems: wie müssen wir uns zu den Dingen verhalten? 
nichts zu wünschen übrig läßt. Wenigstens was das negative 
Ergebnis anlangt. Sehen wir zu, ob das Gleiche auch für den 
positiven Teil zutrifft. Diese positive Seite ist nicht ohne Interesse. 
Durch sie gewinnt die Skepsis überhaupt erst wieder Fühlung mit 
dem Leben. Bestünden die praktischen Folgerungen des theoreti- 
schen Skeptizismus einzig in der eben gezeichneten Negation, so 
bliebe dem Skeptiker nichts übrig als sprachlos einzurosten oder 
allenfalls in stumpfsinniger Untätigkeit durch das Leben hinzu- 
dämmern. Das taten aber zumal die jüngeren Skeptiker keines- 
wegs. Sie waren streitlustige, zum Teil hoch gebildete, in einem 
festen Beruf stehende Männer. Sextus war ein angesehener Arzt, 
der neben seiner medizinischen Praxis umfangreiche philosophische, 
von zielbewußter Denkart zeugende Bücher verfaßte I Erkauften 
die Skeptiker dies positive Verhalten den Dingen gegenüber nur 
durch eine grobe Inkonsequenz, durch einen offenen Abfall von 
ihrer Theorie der Epoche und Aphasie, so kann es uns nicht 
weiter interessieren. Dem ist aber nicht so. Auch die positive 
Seite im skeptischen Verhalten den Dingen, der Welt, dem Leben, 
selbst der Wissenschaft gegenüber haben diese Männer entwickelt 
und begründet. Dies positive Verhalten wird sich naturgemäß aus 
dem positiven Teil der skeptischen Theorie, aus der Anerkenntnis 
der Erscheinungen, der ^atvo/isra, herleiten. Deren Wirklichkeit 
zu bezweifeln, kam dem Skeptiker niemals in den Sinn. Unter 
Erscheinungen im weiteren Sinne versteht die Skepsis immer unsre 
passiven, von selber evidenten, sich uns ohne unser Zutun auf- 
drängenden Bewußtseinsinhalte.^^*) Diese bestehen zunächst in den 
elementaren Trieben und Gefühlen, wie in dem unwillkürlichen Ab- 
lauf unsrer intellektuellen Funktionen, der Empfindungen und der Ge- 
danken. So erkennt der Skeptiker an, daß ihn hungert und dürstet, 
daß ihm der Honig süß, die Luft warm oder kalt erscheint, und hier 
hält er mit seinem Urteil nicht zurück. ^*^) Da er die Realität dieser 



I02 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

psychischen Zustände als unmittelbarer Erlebnisse nicht im geringsten 
bezweifelt, so gibt er sie nicht nur mit Worten zu, sondern fügt 
sich ihnen auch durch die Tat; d. h. er ißt, wenn er Hunger, imd 
trinkt, wenn er Durst hat; er sträubt sich auch nicht gegen die 
Empfindungen und Gedanken, die auf ihn einstürmen. Denn 
die Befriedigung der animalischen Funktionen setzt ja nicht die 
geringste dogmatische Überzeugung von der wirklichen Beschaffen- 
heit der Dinge an sich voraus, so wenig wie dies der Ablauf der 
Wahrnehmungen und logischen Operationen für sich betrachtet 
tut Diesen Teil ihres positiven Verhaltens nannte die Skepsis: 
nach Anleitung der Natur leben (nämlich die natürlichen 
Funktionen des Wahmehmens und Denkens vollziehen), v^pijyi^öei 
^vöiHfff Ka^* tjy ipvötxdog aiö^rfttHol xai votixtKoi iöfiev, und sich 
der Nötigung durch die Zustände (des Hungers, Durstes usw.) 
fügen, TTaS^cav avdyH^^ xa^ tfv Xt/ibg fjikv inl tQOiptfv ffßiäg oSt]- 
yeiy Sitpog Sk in\ no^a.^^^) 

Aber sowohl auf emotionalem wie intellektuellem Gebiet ging 
die Skepsis über diese positiven Rudimente hinaus. Wollte man 
sich in seinem Willen nur von den elementaren Begierden lenken 
lassen, so hätte das Leben je nach der Individualität seines Trägers 
sich in wüstem Taumel oder fauler Gleichgültigkeit, stets aber in 
einem richtungslosen, von den zwingenden Bedürfnissen des Augen- 
blicks eingegebenen Verhalten erschöpft. Ein irgendwie einheit- 
lich geordnetes oder gar für alle in ähnlicher Weise ablaufendes 
Handeln nach der Richtschnur allgemeingültiger Normen wäre aus- 
geschlossen. Dennoch versuchte die Skepsis die Berechtigung zu 
einem solchen aus ihrer Theorie heraus sich zu erobern. Das ge- 
schah, als sie die Frage beantwortete: wie der Skeptiker in sitt- 
licher, religiöser, politischer Beziehung zu leben habe. Hier näm- 
lich konstruierte die Skepsis im Gebiete der Werte, die den WUlen 
leiten sollten, die nämlichen Unterschiede wie im Gebiet der Wirk- 
lichkeit. Als Erscheinungen und Zustände gelten ihr hier die Sitten, 
die religiösen Gebräuche, die politische Verfassung des Landes, 
dem man angehört.^**) Ihnen unterwirft sich der Skeptiker an- 
sichtslos (d8oSaöt<x>g)^ d. h. ohne davon überzeugt zu sein, daß 
sie das an sich Gute, Göttliche, politisch Richtige verkünden. i**) 
Pyrrho selbst war Oberpriester und verwaltete dies Amt durchaus 
im Einklang mit seiner skeptischen Lehre! Die Überlieferung 
durch die Sitten und Gesetze ist also neben der Anleitung 
durch die Natur und der Abnötigung durch die Zustände das dritte 



» B 



Zweites KapiteL Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 103 

Kriterium^**), das der Skeptiker fiir sein positives Verhalten den 
Dingen gegenüber besitzt Er wird ebensowenig morden und 
stehlen, wie diirsten und himgem, oder die süße Empfindung, die 
der Honig ihm erregt, bestreiten; sondern er lebt den Gesetzen, 
Sitten und religiösen Vorschriften gemäß als durchaus brauchbarer 
Staatsbürger. 

Dem erhöht -positiven Verhalten seines Willens aber geht nun 
auch eine mehr anteilnehmende Stellung seines erkennenden Ver- 
standes zur Seite. Nur im Vorübergehen nehmen wir davon Notiz, 
daß ganz vereinzelt in den Schriften der Skeptiker sogar der Ver- 
such gemacht wird, die eigenen Parteigenossen als die eigentlich 
Erkenntnisfreudigen hinzustellen: „denn nicht für die, welche nicht 
zu wissen eingestehen, wie die Dinge an sich beschaffen sind, ist 
es widersprechend sie noch zu erforschen, wohl aber für diejenigen, 
welche diese genau zu kennen wähnen; denn für die einen ist die 
Forschung schon ans Ziel gelangt nach ihrer Annahme, für die 
andern aber ist das, worauf jede Forschung beruht, noch vor- 
handen, die Meinung nämlich, noch nicht gefunden zu haben**.^*^ 
Aber diese Auffassung ist nach den grundsätzlichen Bedenken 
gegen jede Erkenntnis einer objektiven Realität und mehr noch 
gegen alle logischen Operationen ganz dem Geist der Schule zu- 
wider, und wer das Wesen des Skeptizismus hierin erblickt, darf 
sich jedenfalls nicht auf die Pyrrhoniker — trotz der Selbstbezeich- 
nung: die Suchenden — berufen.^*«) Ganz im Geiste der voll- 
ausgebüdeten Lehre aber ist es: die Übernahme eines Berufs, 
einer Kunst (tixYV) niit den theoretischen Voraussetzungen für 
vereinbar zu halten. Soweit die Berufswahl Ausfluß jenes un- 
widerstehlichen Dranges ist, dem wir in der Befolgung von Sitte, 
Religion und Verfassimg folgen sollen, würde sie kein neues Mo- 
ment zutage fordern. Aber die Skepsis führte sie als ein beson- 
deres Kriterium für unser Verhalten im Leben an und nicht ohne 
Grund. In der Ausübung eines Berufs sah sie nicht nur die Unter- 
werfung unsres Willens unter eine zwingende Erscheinungsnorm, 
sondern vor allem die Betätigung einer Erkenntnis, die gerecht- 
fertigt werden mußte. Das ist der vierte und letzte Punkt Frei- 
lich scheint es, als ob das über ihn zu Sagende nur für die jüngeren 
Skeptiker, etwa nach Aenesidem, Geltung hatte, während die vorigen 
drei Fälle, in denen sich der Skeptiker im Leben betätigt und zu 
den Dingen Stellung nimmt, schon nachweislich von Pyrrho gelehrt 
und — gelebt worden sind. 



I04 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Wie aber kann der Skeptiker einen Beruf übernehmen — 
etwa den der Medizin — wenn er die wirkliche Beschaffenheit der 
Dinge für schlechthin unerkennbar hält, die Gültigkeit des Kausal- 
prinzips und der logischen Normen anzweifelt und die Induktion 
als ungenügendes Erkenntnismittel verwirft? Auch auf diesem 
heiklen Punkte verweigert uns der griechische Skeptiker die Ant- 
wort nicht. 1*^) Wieder geht er von den Erscheinungen und Zu- 
ständen, als unsem inneren Erlebnissen, aus. Er wird sich also in 
seinem medizinischen Beruf nur an diese halten; er beobachtet 
z. B. die Erscheinung der Schweißabsonderung, des Wundseins, 
der Fieberhitze. Das steht mit seinen skeptischen Grundthesen 
nicht im Widerspruch. Aber mit der Beobachtung der Erschei- 
nungen ist es nicht getan. Dm Krankheiten zu behandeln, muß 
sich der Arzt auch über den Zusammenhang der Erschei- 
nungen orientieren; er muß wissen, was Schweißabsonderung, was 
Wunden, was Fieber hervorruft, und welche Arzneimittel diese Er- 
scheinungen zum Schwinden bringen. Glaubt man nun mit den 
Dogmatikem, daß diese Vorgänge in einer ewig gleichen, not- 
wendigen und in den Dingen selbst begründeten Kausalverknüpfung 
bestehen (daß etwa Fieber notwendig Pulsbeschleunigung hervor- 
ruft und Quecksilber notwendig die Fiebertemperatur sinken macht), 
so kann der Skeptiker dem natürlich nicht beistimmen. Denn von 
absoluten und notwendigen, durch die Dinge selbst bedingten Ge- 
setzen weiß der skeptische Relativist nichts, und dem Kausalprinzip 
kann er nach Aenesidems vernichtender Kritik desselben keine 
Gültigkeit zuerkennen. Dennoch — und das ist das Wesentliche 
— macht sich auch der Skeptiker nicht nur Vorstellungen von 
den Erscheinungen, sondern auch vom Zusammenhang der Erschei- 
nungen. Dieser Zusammenhang kann von ihm weder an der Hand 
des Kausalprinzips erschlossen noch durch irgendwelche Beschaffen- 
heit der Dinge an sich erkannt werden. Seine Auffassung beruht 
vielmehr einfach auf der öfters gemachten Beobachtung von der 
zeitlichen Folge oder dem zeitlichen Zugleichsein zweier Erschei- 
nungen. Tritt nun die eine Erscheinung ein, so erwartet auch 
der Skeptiker, daß jetzt die andre Erscheinung, die er oft mit der 
ersten verbunden gesehen hat, eintreten werde. So zweifelt er 
nicht daran, daß, wenn Rauch aufsteigt, Feuer da sein wird, und 
ebensowenig, daß, wo eine Narbe sichtbar ist, eine Wunde da- 
gewesen sein muß. Alles das aber erwartet er nicht, weil er die 
Erkenntnis gewinnt, im Wesen vieler brennenden Körper liege es, 



Zweites Katntel. Die DarsteUung des griechischen Skeptizismus. 105 

ein Gemisch von Gasen und festen Teilchen in die Luft aufsteigen 
zu lassen, im Wesen der fleischigen Gewebe, sich zur Narbennaht 
zusammenzuschließen, sondern nur weil er in vielen Fällen die be- 
obachteten Erscheinungen (Rauch — Feuer, Wunde — Narbe usw.) 
zusammen verbunden oder aufeinander folgend gesehen hat. 

Und da ist es nun für das zähe Festhalten an dem eigenen 
Grundstandpunkt bezeichnend, daß die Skepsis diese Erwartung 
nicht als einen aktiven logischen Prozeß etwa in der Form eines 
Induktionsschlusses von vielen Fällen auf alle ansah — hatte 
sie doch durchaus die Induktion als Erkenntnisvehikel verworfen 

— sondern diese Erwartung gleichfalls rein als „Erscheinung", 
und als „Zustand" faßte, unter Wahrung der gänzlichen Passi- 
vität dieser Vorgänge. Ausdrücklich wird die Erkenntnis des Er- 
scheinungszusammenhangs den „abgenötigten Zuständen"^*®) unter- 
geordnet; wie überall, so fugt sich* auch hier der Skeptiker nur 
einem erlebten Erscheinungsbild (<paytaöia na^rittKrj),^^^) Die leider 
nur spärlichen Andeutungen über den Unterschied des anzeigenden 
und des erinnernden Zeichens weisen die Richtung, in der 
dieser Vorgang zu suchen ist. Während die Skepsis nämlich jedes 
anzeigende Zeichen {prjfiEioy ivSeiKtiKor) — wie wir bereits sahen ^'^ 

— verwarf, bekennt sie sich ebenso ausdrücklich zu der Anerkennt- 
nis des erinnernden Zeichens {örj/ietov VTroßrijöttHoy). Wollen wir 
in uns verständlicher Sprache den Unterschied beider Zeichen- 
gruppen formulieren, so wäre zu sagen: das anzeigende 2^ichen 
dient dazu, die unbekannte Natur der Dinge an sich vermöge der 
aktiven logischen Operationen zu ermitteln; das erinnernde Zeichen 
dient dazu, die zurzeit unbekannten Erscheinungen durch den 
passiven Zwang der Assoziation zu erkennen.^") Das er- 
innernde Zeichen ist vom Leben beglaubigt {vTtd tov ßiov nem- 
ötevfisroy) ^^*) , von der Erfahrung {ißXTtsipcog) bestätigt. So erkennt 
der Skeptiker nicht nur Erscheinungen, sondern auch den Zu- 
sammenhang der Erscheinungen, und diesen zwar: nicht durch 
logische Analyse, sondern assoziative Synthese. Dabei handelt es 
sich um den Zusammenhang solcher Erscheinungen, von denen nur 
ein Glied in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist, das andre 
aber als Vergangenes, Zukünftiges oder gegenwärtig Verschleiertes 
nicht unmittelbar wahrgenonmien werden kann. „Das erinnernde 
Zeichen, das zugleich mit dem Bezeichneten sinnfällig beobachtet 
worden ist, führt uns, sobald es sich darstellt, während das Be- 
zeichnete unsichtbar geworden ist, zur Erinnerung des mit dem 



Io6 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Bezeichneten zugleich Beobachteten, während dieses augenblicklich 
sinnfällig sich nicht darstellt, wie beim Rauche und dem Feuer. 
Diese beiden nämlich sahen wir oftmals im Zusammenhang mit- 
einander bestehen, und nun erinnern wir uns sogleich, wie wir 
das eine sehen, nämlich den Rauch, an das andre, nämlich das 
unsichtbare Feuer. Derselbe Fall trifft auch zu bei der Narbe, 
die der Wunde folgt, und bei der Herzverletzung, die dem Tode 
vorangeht; denn, wenn wir eine Narbe sehen, erinnern wir uns 
der vorangegangenen Wunde und beim Anblick der Herzverletzimg 
sehen wir den kommenden Tod voraus. Das ist die Art des er- 
innernden Zeichens." ^^) So vermag auch der Skeptiker über den 
Umkreis des unmittelbar Gegebenen hinausschreitend eine gewisse 
Regelmäßigkeit im Erscheinungslauf zu erkennen, dadurch die Zu- 
kunft vorauszusehen, die Vergangenheit zu durchdringen, das in 
der Gegenwart Verborgene doch vorhanden zu wissen. Er besitzt 
eine gewisse Beobachtungsmethode {trfprfrtHij axoXovSria) im Ge- 
biet der Erscheinungen, „nach der er sich erinnert, welche Erschei- 
nungen er mit welchen, welche vor welchen, welche nach welchen 
gesehen hat, und aus der Erinnerung der ersteren die übrigen 
ins Gedächtnis zurückruft".*'^) Mehr aber bedurfte es seiner 
Meinung nach nicht, um die Erkenntnisaufgaben eines Berufs zu 
erfüllen. 

Hier nun liegt die Brücke, durch die sich die Skepsis dem 
Methodus unter den Arzteschulen verbunden fühlte. Auch diese 
Sekte glaubte ihr HeUverfahren nur auf ein Sichleitenlassen durch 
die Erscheinungen zurückzufuhren. Krankheitszustände und Heil- 
mittel sind nach ihr unlöslich in unsem Vorstellungen als assoziative 
Faktoren verbunden; jene weisen auf diese als ihre Anzeige (Iv- 
SaiStg): Zusammenziehung auf Lockerung, Erschöpfung auf deren 
Aufhebung usw. „All diese Behauptungen der Methodiker können 
meiner Ansicht nach untergeordnet werden dem aus Erlebnissen 
fließenden Zwange".*'®) Ja für so stark hielt Skepsis und Methodus 
diesen intellektuellen Zwang, daß sie ihn uneingeschränkt dem 
emotionalen gleich setzte : vor Schmerz und Unbehagen zu flüchten. 
Wie der Hund sich den Dom aus der Pfote zu entfernen sucht, 
wie der Erhitzte in die kühle Luft drängt , der Durstige zum Trank 
— genau so zieht für den Skeptiker und den gleichgesinnten Medi- 
ziner eine sinnliche Wahrnehmung die Vorstellung der mit ihr stets 
zusammen beobachteten nach sich ! ^'^ Dagegen lehnte Sextus die 
Verwandtschaft mit den medizinischen Empirikern deshalb ab, 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 107 

weil diese sich nicht nur persönlich auf die Aussage über die Er- 
scheinungen beschränkten, sondern — ähnlich der Behauptung einiger 
Akademiker*^®) — die Dinge an sich grundsätzlich für unauffaßbar 
hielten. Der Skeptiker fühlt sich verpflichtet, dieser dogmatisch - 
n^ativistischen Note gegenüber seinen eigenen von den Methodikern 
geteUten Standpunkt abzugrenzen: daß die Unerkennbarkeit der 
Dinge nur Gegenstand einer individuell -gültigen Aussage sein könne. 
Bis auf diesen Punkt, der doch nur eine Ansicht über die von 
Skeptizismus wie Empirismus in ihrer Forschung unberücksichtigt 
gelassenen Dinge an sich betrifft, scheinen die positiven Methoden, 
nach denen beide Schulen die Erscheinungswelt durchmusterten, 
vor allem die entscheidende Lehre vom erinnernden Zeichen, sehr 
ähnliche gewesen zu sein. Wenn es wahr ist, daß Galen in seiner 
Darstellung der empirischen Methode hauptsächlich dem Skeptiker 
Menodotus als Gewährsmanü folgt, so hätten die Skeptiker 
sogar noch viel weitere Gebiete der Erkenntnismöglichkeit er- 
schlossen — so weite, daß man kaum mehr versteht, wie so scharf- 
sinnigen Männern die Unvereinbarkeit dieser Folgerungen mit den 
eigenen Grundvoraussetzungen entgehen konnte. Dann nämlich 
hätten die Skeptiker mit den Empirikern verschiedene Arten der 
Beobachtung unterschieden und die „natürlichen" und „zufalligen" 
gegen die beabsichtigten und wohldurchdachten, die tr/pfjötg /xt/itf- 
tiHTf abgegrenzt Letztere bestand darin, die Wirkung eines Mittels 
in ähnlichen Fällen wiederholt zu beobachten, und dabei das Ein- 
treten des Erfolges — ob immer, ob oft, ob ebenso oft wie der 
Mißerfolg, ob seltener — zahlenmäßig festzustellen. Die Krank- 
heiten sind rein nach ihren Symptomen, den konstanten und in- 
konstanten, nicht zu definieren, sondern zu beschreiben. Dabei 
ist die eigene Arbeit durch die geschichtlichen Zeugnisse der Vor- 
gänger in vorsichtiger Berücksichtigung von deren Glaubwürdigkeit 
zu ergänzen. Wo aber direkte Beobachtung und Beobachtung 
andrer uns im Stich lassen, da muß der Analogieschluß von Ähn- 
lichem auf Ahnliches (ff tov o/xoiov ßistaßaöig) uns weiterfuhren. 
Solange nun das Experiment nicht den Erfolg dieser Analogie 
entschieden hat, ist ein solcher nur möglich, höchstens wahr- 
scheinlich. Hat aber nur ein einziges Experiment ihn bestätigt, so 
ist er auch absolut gewiß! Und ausdrücklich unterscheidet Menodot 
den rohen und unmethodischen Empirismus (irrationalem eruditionem) 
von der denkenden Erfahnmg, wie es später von Bacon so ener- 
gisch geschah. 



Io8 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Wenn auch die Skeptiker in der Darlegung der positiven 
Teile ihrer Philosophie äußerst reserviert und fast verlegen sich 
ausdrücken, so ist doch kein Zweifel, daß wir es hier mit der 
Ausbildung einer rudimentären empiristischen Theorie im 
Sinne des neueren Positivismus zu tun haben. Es sind hier 
Gedanken Humes und Mills vorgeahnt, ja in einer Knappheit und 
Schlichtheit ausgesprochen, daß der Kenner in bewunderndem 
Staunen sich gestehen muß: das Wesentlichste auch der aller- 
modemsten philosophischen Betrachtungsweise ist von der Antike 
in grandioser Einfachheit verkündet worden! Zumal die Verwandt- 
schaft mit Hume und der ganzen Richtung, die gerade heute 
wieder besonders eifrig in dessen Spuren wandelt, ist geradezu 
verblüffend. Wenn man mit Verständnis und im Bewußtsein, daß 
bei den spärlichen Fragmenten, die uns gerade von diesem Teil 
ihrer Lehre überkommen sind, jeder Satz gründlich aufgenommen 
sein will, die betreffenden Partien in des Sextus Schriften sich 
vornimmt, so erscheinen dieselben geradezu wie ein komprimierter 
Extrakt von Humes breiter Kausalitätsanalyse. Auch der Pyrrho- 
niker glaubt — mit Hume — daß an inhaltlichen Erkenntnissen^*^) 
wir allein etwas von den unmittelbar gegebenen Erscheinungen 
und dem Zusammenhang dieser Erscheinungen wissen können. In- 
wieweit diesen Erscheinungen imd diesem Zusammenhang eine 
objektive Realität entspricht, bleibt zweifelhaft. Auch der Pyrrho- 
niker glaubt — mit Hume — daß dieser Zusammenhang einzig 
aus der Erfahrung — by experience nennt es der eine, durch 
ßuxntxal i/iTtetpiat der andre — uns bekannt wird. Auch der 
Skeptiker glaubt — mit Hume — diese Erfahrung dadurch be- 
dingt, daß eine Erscheinung, die mit einer andern oft zusammen 
oder kurz nacheinander im Bewußtsein war, bei erneutem Auf- 
treten sofort die andre Vorstellung passiv nach sich zieht — als 
erinnerndes Zeichen wirkt, nennt es der eine, sich mit ihr asso- 
ziiert, der andre — ; auch der Skeptiker glaubt — mit Hume — , 
daß die auf solche Weise gewonnene Erkenntnis des Erscheinungs- 
zusanunenhangs zur praktischen Orientierung in der Welt genügt, 
zur Übemahnie einer rixvtj sagt der eine, to the regulation of 
our conducts der andre. Man sieht: während die pomphafte 
Kausalitätskritik Aenesidems kaum mit einem Gedanken Humes 
empiristische Theorien streift, haben wir hier in den wenigen zum 
Teil verstümmelten 2^ilen von unbekannter Hand fast alle wesent- 
lichen Punkte dieser Theorie in nuce vor uns. Die Lehre vom 



Zweites Kapitd. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. I09 

erinnernden Zeichen und das Bekenntnis zu ihm als der einzigen 
Quelle, aus der über nicht unmittelbar Gegebenes sich eine richtige 
Vorstellung machen läßt, bei der skeptischen Haltung einem ab- 
solut-realen und absolut giiltigen Kausalprinzip gegenüber — dies 
ist zweifellos der modernste Teil am Pyrrhonismus. 

Freilich ein großer Unterschied in der Bewertung dieser 
Gedanken besteht zwischen den heutigen Positivisten und den 
antiken Skeptikern. Diese hielten an dem Bestehen einer realen, 
unabhängig vom Bewußtsein befindlichen und gesetzmäßig geord- 
neten Wirklichkeit streng fest, und nur die Erkenntnis dieser Wirk- 
lichkeit und ihrer Gesetze war ihnen Wissenschaft. Deshalb glaubte 
der Skeptiker mit bloßer Beobachtung der Erscheinungen und der 
Vorstellung ihres Zusammenhangs an der Hand des erinnernden 
Zeichens keine Wissenschaft zu betreiben, sondern nur eine prak- 
tische Kunst, eine tixvtfi eine Routine. Nur vorübergehend macht 
der Begriff der tixvff ^^^ Ansatz, sich zu einer systematischen, 
theoretischen Erscheinungslehre auszuwachsen.^**) Der Positivist 
von heute bezweifelt entweder das Dasein einer unabhängig vom 
Bewußtsein befindlichen und gesetzmäßig geordneten Wirklichkeit, 
oder leugnet sie ganz, oder — mit einigen Akademikern und 
medizinischen Empirikern — hält sie für grundsätzlich unerkennbar. 
Daher scheidet ihm diese als Objekt wissenschaftlicher Forschung 
von vornherein aus, und wenn er die Erscheinungen methodisch 
beobachtet und aufs einfachste beschreibt, und, gleichfalls die Not- 
wendigkeit und Allgemeingültigkeit eines realen Kausalprinzips als 
Erkenntnisobjekt verwerfend, die Erkenntnis der Naturgesetzlich- 
keit auf die Registrierung bisher stets beobachteter Erscheinungs- 
zusammenhänge herabstimmt, so hält er dies sein Verfahren für 
das allein wissenschaftliche. Allerdings steht ihm als gewaltiges 
Hilfsmittel die Anwendung der logischen Operationen, deren sub- 
jektiver Verbindlichkeit er sich nicht entzieht, zu Gebote, während 
die Skeptiker durch ihre 2^rsetzung auch dieser für alle Erkennt- 
nis absolut unentbehrlichen Prinzipien sich den Ausbau ihrer posi- 
tivistischen Theorie rettungslos verdarben, ja von vornherein un- 
möglich machten. Es bildeten sich aber die antiken Zerstörer der 
Wissenschaft von dieser eine noch höhere und erhabenere Vor- 
stellung als heute deren eifrigste Verteidiger und Bearbeiter. So 
sind die alten Skeptiker vom modernen Standpunkt betrachtet: 
Positivisten, und die modernen Positivisten, am antiken Maßstab 
gemessen: Skeptiker. 1**) Aber wie die ganz großen Geister in 



1 1 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

ihren Werken stets Ansätze zeigen, die über die Schranken ihres 
Landes, ihrer Zeit, ja ihrer Individualität hinausweisen, so scheint 
ein schwer deutbarer Text Aenesidems anzuzeigen, daß dieser 
Mann bereits den Wahrheits- und Erkenntnisbegriff des Altertums 
durchbrochen und zwar nicht einen neuen an dessen SteUe gesetzt, 
aber doch neben dem alten eingeführt habe. Fast gewinnt es Wahr- 
scheinlichkeit, daß von Aenesidem neben der antiken Auflassung 
von Wahrheit und Erkenntnis als von einem Wissen um die Dinge an 
sich auch ein Wahrheits- und Erkenntnisbegriff 2. Ordnung, 
ein empirisch -positivistischer Wahrheitsbegriff aufgestellt worden 
sei. Danach sei diese Wahrheit 2. Ordnung: das allen gleich Er- 
scheinende {xoivojg <paiv6^Bvoy)y nicht im Sinne einer Korrespon- 
denz der VorsteUungen mit den Dingen an sich, sondern rein einer 
subjektiven Allgemeingültigkeit. ^**) Von hier aus wäre die Brücke 
zu schlagen gewesen zu einer wirklich ausgebildeten empiristischen 
Theorie, in der man die Auffassung von Erscheinungen und Er- 
scheinungszusammenhängen nicht als etwas Minderwertiges, nur 
vom Leben Aufgedrungenes und von wahrer Wissenschaft weit 
Abgerücktes angesehen und den Mut zu begrenzter, aber um so 
sichrerer, weil auf erkenntniskritischer Besinnung fußender, geistiger 
Arbeit gefunden hätte. Aber es blieb bei dem Ansatz und sollte 
noch einundeinhalb Jahrtausende währen, bis der geistige Samen, 
der hier ausgestreut war, Früchte trug. 

Die jüngeren Pyrrhoniker hatten dem Erkennen neben den 
unmittelbaren Erlebnissen ein neues Gebiet erschlossen: den Zu- 
sammenhang der Erscheinungen. Dadurch , daß wir imstande sind, 
gewisse Regeln im Verlauf der Erscheinungen durch den Zwang 
der Assoziation zu erkennen, können wir auch von Zukünftigem, 
Vergangenem, gegenwärtig nicht Wahrnehmbarem, kurz von nicht 
unmittelbar Erlebtem uns theoretisch richtige VorsteUungen machen, 
praktisch unsem Willen leiten lassen. Beides ist auch für den 
empirischen Arzt unentbehrlich , der ja nicht nur Krankheiten und 
Heilmittel zu erkennen, sondern letztere auch zu verordnen, viel- 
leicht in Anwendung zu bringen hat Aber was der Pyrrfionismus 
nicht geleistet hatte, und worin sich am deutlichsten das durch- 
aus Embryonale dieser positivistischen Theorie bewährt, das war 
die Untersuchung über den Gewißheitsgrad, der all diesen Vor- 
stellxmgen eignet. Auf der einen Seite scheint durch die Betonung 
ihrer gänzlichen Passivität, ihres reinen Erscheinungscharakters 
dieser Gewißheitsgrad der höchstmögliche zu sein, gleich dem 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. III 

unsrer unmittelbaren Erlebnisse — andrerseits konnte so scharf- 
sinnigen Männern unmöglich das oftmalige Versagen der Kongruenz 
zwischen Vorstellungs- und Ereignisverkettung entgehen; einmal 
huldigen sie dem ziemlich ausgebildeten methodologischen System 
der „Empiriker", ja waren vielleicht dessen geistige Urheber — 
dann wieder hüten sie sich ängstlich, die Begriffe des Forschens, 
der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, des Wissens und der Wissen- 
schaft auf dem fraglichen Gebiete anzuwenden. 

Hatten so die Pyrrhoniker zwar den Kreis der zu erkennenden 
Objekte fast zu demjenigen der modernen Wissenschaft erweitert, 
aber die Gültigkeit solcher Erkenntnisse nicht kritisch untersucht, 
so daß die eigentlich erkenntnis theoretische Begründung ihres 
Positivismus zur Hälfte ungelöst bleibt, so haben umgekehrt die 
Akademiker in dem Beitrag, den sie zu den positiven Teilen 
des Skeptizismus beisteuerten, den Kreis der Gewißheitsgrade 
erweitert, aber die Objekte, von deren Erkenntnis diese verschie- 
denen Gewißheitsgrade gelten sollen, unbestimmt gelassen. So 
wird der materiale Charakter des Pyrrhonismus, der formale 
der akademischen Skepsis bis in die verwickeltsten Probleme hinein 
gewahrt! 

Die Lehre von den Stufen der Gewißheit haben die Akade- 
miker in ihrer Theorie der Wahrscheinlichkeit, ihrem Prob abil Is- 
mus niedergelegt. 1**) Zwei Gebiete waren es, auf denen sie solche 
Gradunterschiede geltend machten: das Gebiet der Wirklichkeits- 
erkenntnis und das Gebiet der Werterkenntnis, das der <payta6iat 
und das der upiötg rdov ayaS^cov xal Haxdav, 

Mittel der Wirklichkeitserkenntnis sind die sinnlichen Wahr- 
nehmungen. Diese sind von verschiedener Glaubwürdigkeit und 
Oberzeugungskraft: manche Wahrnehmung scheint uns wahr, ist 
wahrscheinlich (sfKpaötg, 7Ciäavri)y eine andre scheint uns nicht 
wahr, ist unwahrscheinlich (aTti/x^aöt^, aTTStS^ff^^ anlSravog). 
Die wahrscheinlichen können eine Wahrscheinlichkeit erst er > 
zweiter oder dritter Ordnung besitzen, je nachdem sie nur 
einfach wahrscheinlich (aTcXdag TttSfocyat)^ oder wahrscheinlich und 
durchgeprüft {niSfavai xal SteSooSevfiivat) oder wahrscheinlich» 
ringsumgeprüft und unentziehbar {TttS^avai xal TtsptooSev/iivat xal 
oTCtplöTtaötoi) sind.^*^ Einfache Wahrscheinlichkeit ist z. B. meine 
Wahrnehmung, wenn ich in ^inem dunklen Hause ein gewundenes 
Seil beim plötzlichen Eintritt für eine Schlange halte; wahrschein- 
lich und durchgeprüft, wenn ich an der Bewegungslosigkeit, der 



112 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Farbe, der Fühllosigkeit und den übrigen Umständen das Seil als 
Seil erkenne; wahrscheinlich, durchgeprüft und unentziehbar — 
hier führen wir das Beispiel im Sinne der Skepsis selbständig 
weiter^**) — wenn auch die Möglichkeit, es handle sich um eine 
tote, seilfarbene Schlange, zurückgewiesen und nichts gegen die 
Annahme eines Seiles spricht. Demnach würde das Wahrschein- 
liche erster Ordnung erzielt bei einer Wahrnehmung, die an 
sich selbst und auf den ersten Blick hin den Eindruck der Wahr- 
heit, nicht der Täuschung macht Das Wahrscheinliche zweiter 
Ordnung dort, wo alle näheren Umstände die Wahrheit bestätigen: 
der kritisch geprüfte Zustand des Urteilenden (ob sein Gesicht scharf 
genug), des beurteilten Objekts (ob es nicht zu klein zur Beobach- 
tung), des zwischenliegenden Mediums (ob die Luft nicht dunkel), 
des Ab'stands und der Entfernung (ob zu nah oder zu weit), des 
Orts, der Zeit usw.; die Wahrscheinlichkeit dritter Ordnung, 
wenn gegen eine Wahrnehmung vom zweiten Wahrscheinlichkeits- 
grad aus der Fülle der mit ihr verketteten Glieder keine Gregen- 
instanz ersteht, die uns vom Glauben an die Wahrheit unsrer Vor- 
stellung „abzieht". 

Also wenn bei meiner Wahrnehmung des Sokrates weder 
Farbe, noch Größe, noch Gestalt, noch Haltung, noch Kleidung 
mir dabei unrecht gibt, daß ich den Sokrates vor mir zu haben 
glaube; wenn vielmehr alle positiven Anzeichen meinen ursprüng- 
lichen Glauben bestärken und keines ihn erschüttert. 

Diese probabilistische Theorie würde nun um ein Gewaltiges 
an Bedeutung gewonnen haben, wenn diese Schule sich ganz klar 
über die Art der Objekte geworden wäre, von denen eine solche 
wahrscheinliche Erkenntnis möglich ist Wahr oder falsch — so 
lehrte Karneades^*^) — ist eine Vorstellung in Hinblick auf das, 
was durch diese Vorstellung erfaßt wird; wahr, wenn sie mit dem 
Vorgestellten übereinstimmt {övfiqxiovots r(p <pavta6t<p ist), falsch, 
wenn sie nicht übereinstimmend, Std<poovo^^ mit dem Vorgestellten 
befunden wird. Wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist aber eine 
Vorstellung in Hinblick auf den VorsteUenden (xata rffv npots rov 
(pavtaötovßjievov 6xi(ftv)\ hier scheint die eine VorsteUung wahr, 
die andre Vorstellung falsch zu sein (wir wissen, unter welchen 
Umständen). Danach bestünde die Differenz zwischen wahrer und 
wahrscheinlicher Vorstellung darin, daß diese nur fiir das Subjekt, 
jene an sich Gültigkeit hat. Was für uns heute den Hauptimter- 
schied beider Erkenntnisstufen ausmacht: der Unterschied in den 



Zweites Kapitel. Die Darstellimg des griechischen Skeptizismus. 1 1 3 

Gewißheitsgraden wurde von der Akademie durch jene ganz 
andre Trennung in absolut-reale und nur relativ-subjektive 
Erkenntnisse ersetzt. Die Grade der Gewißheit kommen bloß 
innerhalb der wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Erkennt- 
nisse in Betracht Weicht somit die Akademie in ihrer Definition 
der Wahrscheinlichkeit in Obereinstimmung mit der ursprünglichen 
Bedeutung auch des deutschen Wortes (wahr scheinen im Gegen- 
satz zu wahr sein) von dem modernen Begriffsgebrauche ab, so 
läßt sie femer unentschieden, welchen Inhalt, welchen Objekts- 
kreis die uns wahr scheinenden Vorstellungen haben sollen. Setzt 
man für wahr die obige Erklärung des Wortes ein, so folgt, daß 
die ims in Übereinstimmung mit dem vorgestellten Gegenstand be- 
findlich scheinenden Vorstellungen wahrscheinliche, daß also die 
Objekte wahrscheinlicher Vorstellungen die Dinge an sich, das Vor- 
gestellte, rar ixrog vTroHsi/Msva sind; und eine Vorstellung, welche 
die subjektive Gewißheit mit sich führt, die Dinge an sich treu 
wiederzuspiegeln, wäre eine wahrscheinliche Vorstellung. Dagegen 
nun spricht die dogmatisch -negativistische These dieser Schule, nach 
der die Dinge an sich grundsätzlich unerfaßbar sind, spricht nicht 
minder die Begründimg dieses Satzes, in der Karneades auf die 
Gleichwertigkeit der einzelnen Umstände, die uns verschiedene 
Bilder der Dinge liefern, für die Beurteilung der Dinge an sich 
aufmerksam machte, sprechen besonders auch die angezogenen 
Beispiele, in denen niemals das Verhältnis zwischen Erscheinung 
und Ding an sich, sondern immer nur zwischen Phantasma und 
Erscheinungswirklichkeit Gegenstand unsrer wahrscheinlichen 
VorsteUungen ist, spricht endlich, daß überdies gerade dieUngleich- 
wertigkeit der nämlichen Umstände für die Erkenntnis der Erschei- 
nungszusammenhänge behauptet wird, deren Gleichwertigkeit für die 
Erfassimg der an sich bestehenden Natur früher dargetan wurde. Wenn 
ich den Strick für eine Schlange halte , so kann das nur bedeuten , daß 
ich die Erscheinung des Stricks für die Erscheinung einer Schlange 
halte; nicht daß die Erscheinung des Stricks von einer Schlange 
an sich mir herzurühren scheint Und wenn ich dann die Be- 
w^ungslosigkeit, die graue Farbe des Objekts beobachtet, wenn 
ich die normale Disposition meiner Sinne, die .Länge der Be- 
obachtungszeit festgestellt und keine Gegeninstanz gegen meine 
Überzeugung gefunden habe, so hilft mir das alles nur zu der 
Gewißheit: keine Schlange, sondern einen Strick als wirkliche Er- 
scheinung vor mir zu haben. Alle Merkmale, die mir die Wirk- 

Richter, Skeptidsmus. o 



114 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

lichkeit einer Stiickerscbeinung garantieren, sagen nichts darüber 
aus, ob das Ding an sich Strick dieser Strickerscheinung entspricht; 
ob ich kurz oder lang beobachtet, ob bei dunkler oder heller Luft, 
ist für die Richtigkeit meiner Vorstellung, wird sie an der Kon- 
gruenz mit dem Ding an sich gemessen, völlig gleichgültig — 
wie Akademiker^*®) und Pyrrhoniker gemeinsam hervorhoben; aber 
für die Entscheidung, ob ich eine Wirklichkeitserscheinung oder 
eine Illusionsvorstellung vor mir habe, sind sie von größter Wich- 
tigkeit. 

Es wäre nun ungeschichtiich , wenn wir das volle Bewußtsein 
davon, mit der Wahrscheinlichkeitslehre sich auf das Gebiet der 
Erscheinungszusammenhänge beschränkt zu haben, den Akade- 
mikern zuerkennen wollten. Vielmehr ist deren eigene DarsteUung 
auf diesem Punkte schillernd und schwankend. Daß in ihr aber 
wichtige neue Einsichten verschlossen liegen, leuchtet ein: auch 
innerhalb der Erscheinimgserkenntnis — das ist der Sinn dieser 
Lehre — muß zwischen Wirklichkeits- und Un Wirklichkeitserkennt- 
nis geschieden werden. Der Prüfstein dafür, ob einer Wahrnehmung 
objektiver Wirklichkeitswert oder nur subjektiver (Unwirklichkeits-) 
Wert zukommt, ist damit gegeben, ob die betreffenden Wahrneh- 
mungen mit andern Wahrnehmungen nach den empirischen Regeln, 
welche die Erscheinungswelt beherrschen, verbunden sind; der Zu- 
sammenhang der Erscheinungen entscheidet über den objektiven 
Erkenntniswert einer Wahrnehmung. Unwillkürlich wird man an 
Kants Definition der empirischen Wirklichkeit erinnert: als „wirk- 
licher Wahrnehmung nach den Analogien der Erfahrung, welche die 
reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen ".!*•) 

Damit erhält die positivistische Theorie der Pyrrhoniker erst 
ihre philosophische Vervollständigung. Dem Pyrrhoniker war die 
Orientierung in der Erscheinungswelt dadurch möglich gemacht, 
daß er sich den gegenwärtigen Erscheinungen als unmittelbaren 
Erlebnissen fügte, und über die nicht gegenwärtigen durch die 
passive Assoziation seiner Vorstellungen sich für unterrichtet hielt 
Der Akademiker ahnt, daß auch zum Sichzurechtfinden in der Er- 
scheinungswelt höhere Ansprüche erfüllt werden müssen; daß wir 
dazu bei den unmittelbar gegebenen Wahrnehmungen bereits uns 
fragen müssen: ist diese Wahrnehmung eine wirklich vorhandene 
Erscheinung oder eine nur im Hirn des Subjekts vorhandene Ein- 
bildung? und daß wir diese Frage nur danach entscheiden können, 
ob die betreffende Wahrnehmung nach den empirischen Regeln 



Zweites Kapitel. Die Darstellung des griechischen Skeptizismus. 1 1 5 

des objektiven (aber darum noch nicht absolut -realen) Erscheinungs- 
zusammenhangs verläuft. 

Der eigentlich philosophische Kern dieser Hinweise aber ist 
in der Betonung der aktiven Operationen zu suchen, ohne die 
auch eine Durchforschung der Erscheinungswelt aussichtslos ist. 
Wollen wir nichts weiter als leben, also die elementarsten Be- 
dürfhisse befriedigen, etwa essen, wenn wir hungrig sind (geschweige 
denn einen Beruf übernehmen und eine ti^yri ausüben), so dürfen 
wir uns nicht an den gegebenen Wahrnehmungen genügen lassen; 
vielmehr müssen wir diese bereits auf ihren Erkenntniswert der 
Erscheinungswirklichkeit gegenüber untersuchen. Dieser Wert 
wird durch die mögliche oder unmögliche Eingliederung in den 
Zusammenhang der wirklichen Erscheinungen nach den Regeln 
dieses Zusammenhangs ermittelt; diese Regeln sind ihrerseits nicht 
durch willenlose Hingabe an die Assoziation, sondern niu* durch 
tätiges Heranziehen der positiven und negativen Instanzen festzu- 
stellen, durch das „Ringsherumprüfen und Durchspähen", wie es 
der Akademiker drastisch ausdrückte. Und je nach dem Umfang 
dieser aktiven Operationen und je nach ihrem Ergebnis erwachsen 
für die Erkenntnis der Erscheinungswelt verschiedene Gewißheits- 
grade. 

Jetzt verstehen wir auch die innersten Motive für den von 
Sextus so ausdrücklich hervorgehobenen Unterschied, der die pyr- 
rhonische und die akademische Art des „Überzeugtseins" {nBiät6^ai) 
voneinander scheidet. Die Oberzeugung nämlich kann auf passiver 
Hingabe oder auf aktiver Zustimmung beruhen. „Deshalb, da ja 
die Partei des Kameades und Klitomachus behauptet, mit starker 
Zuneigung {fiBta TCpogxXlöeoog <f<poSpäg) würden sie überzeugt und 
gebe es etwas Wahrscheinliches, wir aber (die Pyrrhoniker) gemäß 
dem Nachgeben schlechtweg ohne Anteilnahme {nata to aTtXoo^ 
ktKBiv avBv Ttpo^TCaSrsiag^ so dürften wir uns auch hierin von 
ihnen unterscheiden."^*^) 

Somit verteilt sich das Verdienst um die Entwicklung der 
positiven Partien, um die Erkenntnis einer Erscheinungswelt, zwischen 
den beiden Richtungen folgendermaßen: Die Pyrrhoniker haben 
als die Objekte einer möglichen Erkenntnis die Erscheinungen und 
den Erscheinungszusammenhang hingestellt, in der Art dieser Er- 
kenntnis aber völlige Passivität walten lassen und sich — trotz 
der Billigung der empiristisch- medizinischen Methoden — über 

die Gewißheitstufen der einzelnen Erscheinungserkenntnisse philo- 

8* 



1 1 6 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

sophisch nicht ausgelassen; die Akademiker haben die Objekte 
möglicher Erkenntnis nicht so fest bestimmt, dafür aber in der 
Art der phänomenalen Erkenntnis die Aktivität des Erkenntnis- 
prozesses betont und, je nach der Handhabung desselben, Gewiß- 
heitsgrade seiner Ergebnisse aufgestellt. 

Was nun das zweite Gebiet anlangt, auf dem wahrschein- 
liche Erkenntnis zu erarbeiten möglich ist, die sittlichen Werte, 
so sind wir hier leider zu wenig über die Anschauungen der skep- 
tischen Akademiker unterrichtet, als daß eine philosophisch irgend- 
wie fruchtbare Behandlung derselben möglich wäre. Zwar scheint 
aus einem Satze des Sextus hervorzugehen, daß diese Schule auch 
eine probabilistische Ethik für möglich hielt i*^), und eine wahr- 
scheinliche Erkenntnis dessen, was gut, was schlecht, was sittlich 
gleichgültig sei, zu gewinnen gestrebt habe; aber die Kriterien, nach 
denen hier die wahrscheinliche Vorstellung sich herausbildete, sind 
uns nicht überliefert. 

Ähnlich der Pyrrhonischen hat nun auch die Kameadische 
Schule nicht nur die positiven Elemente in der Erkenntnis, son- 
dern auch in der Willensmotivation näher untersucht Daher 
zeigt sich in der Lösung des Problems ein lehrreicher Parallelismus. 
Wie der Pyrrhoniker sich von den sinnlichen Eindrücken und den 
sich aufdrängenden Gedanken zum Wahrnehmen und Denken be- 
stimmen ließ, wie er, von den konventionellen ethischen, politischen, 
religiösen Werterscheinungen überwältigt, sich der Autorität von 
Sitte, Verfassung, Religion fügte, wie er durch die assoziative Er- 
kenntnis von Erscheinungszusammenhängen den ärztlichen Beruf 
ausüben zu dürfen glaubte, so ließen die Akademiker ihren Willen 
in geringfügigen Sachen von der Wahrscheinlichkeit erster Ordnung, 
bei solchen von größerer Wichtigkeit von der Wahrscheinlichkeit 
zweiter Ordnung, und bei solchen, in denen unsre Glückseligkeit 
auf dem Spiele stand, von der Wahrscheinlichkeit dritter Ordnung 
leiten. Aber sich zum Betrieb einer Wissenschaft durch diese 
Wahrscheinlichkeitstufen bestimmen zu lassen, kam ihnen gleich- 
falls nicht in den Sinn. Neben der praktischen Wichtigkeit der 
Vorfälle wurde noch die jeweilig verfugbare Zeit in Anschlag ge- 
bracht, deren Dauer immer nur die Anwendung gewisser Wahr- 
scheinlichkeitskriterien erlaubte. Im Kriege ist es z. B. für einen 
Verfolgten unmöglich, die Besetzung eines Grabens durch den 
Feind nach dem Maßstab der Wahrscheinlichkeit zweiter oder 
dritter Ordnung festzustellen. So wird in der Lebensführung die 



Zweites Kapitel. Die DarsteUung des griechischen Skeptizismus. 1 1 7 

Berücksichtigung der Wichtigkeit einer Handlung und der zeitiichen 
Umstände entscheidend für die Wahl der Vorstellungen , nach denen 
sich unser Wille richtet. ^5*) 



Das Gesamtbild der griechischen Skepsis ist nun aber erst 
ein vollständiges, wenn wir auch die Antwort auf die dritte und 
letzte Grundfrage in dasselbe eingetragen haben werden: was 
erwächst aus dem skeptischen Verhalten zu den Dingen? 

Wir wissen es schon aus dem Munde Pyrrhos^^*): die Un- 
erschütterlichkeit {atapaSia)y die Leidlosigkeit {otTraS^sta), die 
GleichgiUtigkeit {dSia<popia) sind die unausbleiblichen Folgen des 
skeptischen Verhaltens.^^*) In ihnen aber besteht nach dem spät- 
griechischen Ideal: die Glückseligkeit {avSaifiovia). Erstaimt fragt 
man sich: warum folgt die Ataraxie aus dem skeptischen Ver- 
halten? Darauf antwortet die Skepsis ^5*): Die Unerschütterlichkeit 
ist „Ungestörtheit und Windstille der Seele" {tvxv'S ctox^rjöia xal 
yaXffvotffg).^^^) Wer nun von den Dingen glaubt, daß sie schön 
oder häßlich, gut oder schlecht ihrer Natur nach sind, der lebt 
in dauernder Bedrängnis und Beirrung. Denn mit Macht wird er 
das Gute erstreben und das Böse fliehen, von einer beständigen 
ethischen Unruhe geplagt. Hat er aber etwas Gutes erreicht, dann 
ist er in Angst und Sorge, daß er das Gute nicht verliere. So 
wird der Dogmatiker hin- und hergeworfen zwischen Skrupeln und 
Nöten. Der Skeptiker aber, der zu der Güte und Schönheit, der 
Schlechtigkeit und Häßlichkeit der Dinge keine Stellung nimmt, 
kann auch durch diese Werte nicht beirrt werden. Sie sind ihm 
gleichgültig, dSta<popay gänzlich neutral. Er denkt: was ich nicht 
weiß, macht mich nicht heiß. Wer z. B. den Reichtum, den Ruhm, 
die Liebe nicht für an sich wertvoll oder wertios hält, der wird 
diesen Gaben weder nachjagen noch ängstiich aus dem Wege gehen, 
und so wird die Quelle aller Unruhe vermieden. Er wird sich aber 
auch über den Erwerb dieser sogenannten Güter nicht freuen, über 
deren Verlust nicht betrüben, kurz an ihrer Gegenwart oder Ab- 
wesenheit nicht leiden. Er lebt wirklich in diesen Fällen unbeirrt 
und leidlos; ohne innere Aufregung, völlig friedlich {elprp^aiog ßiog\ 
das heißt im Sinne jener Zeit, völlig glücklich. So leidet der Skep- 
tiker weniger als der Dogmatiker. Die Stifter der Schule glaubten 
sogar die gänzliche Leidlosigkeit aus den skeptischen Grundsätzen 
entwickeln zu können. Ihr Blick war so nach innen gekehrt, daß 



1 1 8 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

nur die aus der Seele selbst geborenen Leiden in das Sehfeld ihres 
Bewußtseins fielen; sie hatten so tief an rein geistigen Schmerzen 
gelitten und andre leiden sehen, daß sie die grundsätzliche Ver- 
schüttung jeder Leidensquelle ethischen, ästhetischen, religiösen 
Ursprungs als Befreiung von allem Leid überhaupt empfanden. 
Gab es noch andre Schmerzen — für das Glück des innerlich Ge- 
lassenen kommen sie nicht in Betracht. Aber als der große skep- 
tische Stil eines Pyrrho in der Tradition erlosch, als sich das 
Bedürfnis geltend machte, dialektisch seine Lehren scharf zu for- 
mulieren und sich den Dogmatikem gegenüber keine Blöße zu 
geben, als der skeptische Heroismus verschwand und man keinen 
Grund hatte, was man mit dem Gefühl nicht beiseite ließ, in Ge- 
danken zu übersehen: da wurde auch das skeptische Lebensideal 
dahin abgeschwächt, daß man sich von der Leidlosigkeit auf das 
maßvolle Leiden, von der ana^Bia auf die /istpoTvaS^Bia zurückzog. 
Man trennte scharf zwischen den Leiden, die aus unsem ver- 
nünftigen Ansichten (xata Xoyvctjv SoSav) über den Wert der 
Dinge entspringen und denjenigen, welche in unsrer sinnlichen 
Natur {xata aXoyov alöS^tföeoov Ttaäog) ihren Ursprung nehmen; 
die einen gehen auf eine freiwillige, die andern auf eine not- 
wendige Stellungnahme zurück. Zur ersteren Gruppe gehören 
die Nöte , welche ein bestimmtes ethisches oder ästhetisches Dogma 
über die Wertverhältnisse mit sich bringt und von denen die 
vorigen Beispiele ein paar Proben gaben; zur zweiten Gruppe 
rechnet alles Leid, das mit der physischen Natur des Menschen 
untrennbar verknüpft ist, über das die Seele mit ihren philosophi- 
schen Anschauungen keine Gewalt hat. Leidet der Skeptiker auch 
nicht daran, daß er das absolut Schöne nie voll genießen, das 
absolut Gute nie voll verwirklichen kann, weil er über das Abso- 
lute sich überhaupt keine Gedanken macht, so kann er doch das 
Unbehagen des Durstes und Hungers, die qualvollen Schmerzen 
bei manchen Krankheiten nicht dadurch aufheben, daß er zweifelt, 
ob Durst, Hunger und Schmerzen an sich ein Übel, die Befreiung 
von ihnen an sich ein Gut ist ' So leidet auch er in den ihm 
„abgenötigten Zuständen" (iv rotg xatrfyayKaöjjLiyotg). Aber 
er leidet maßvoll, maßvoller als ein dogmatisch denkender Mensch. 
Quantitativ kommt eine Fülle von Leid für ihn in Wegfall, und 
qualitativ sind die Leiden, denen er nicht entgehen kann, milder 
als die des Dogmatikers. Denn er verstärkt sein Leiden nicht 
noch durch ein theoretisches Dogma. Aus feinsinniger Psychologie 



Zweites Kapitel. Die DarstelluDg des griechischen Skeptizismus. II9 

und tiefdurchdachtem ethischen Erleben heraus fand die Skepsis 
das Apergu: daß derjenige doppelt leidet, der das Leid, das ihn 
trifft, an sich für ein Übel hält. So geschieht es wohl, daß die- 
jenigen, welche operiert werden, unter dem Messer des Chirurgen 
oft weniger leiden als die Umstehenden, die den Schmerz an sich 
für ein Übel halten und durch diese rein gedankliche Ansicht 
größere Qualen erdulden als die physischen Schmerzen des Patienten 
es sind. „Oder sehen wir nicht, daß auch bei denen, die geschnitten 
werden, oft der Patient und Geschnittene selbst tapfer die Qual 
der Operation erträgt, ohne bleich zu werden noch von der Wange 
sich Tränen zu wischen, denn ihn erreicht nur die Bewegung des 
Schneidens; der neben ihm stehende aber erbleicht, zittert, schwitzt, 
wird schlapp, sowie er auch nur einen kleinen Blutstrom gewahrt 
und bricht schließlich lautlos zusanunen; nicht des Schmerzes wegen 
— denn dieser trifft ihn gar nicht — sondern wegen seiner Ansicht, 
der Schmerz sei ein Übel. So ist manchmal die Erschütterung 
größer, welche die Meinung, ein Übel sei wirklich ein Übel, her- 
vorruft, als diejenige, welche das sogenannte Übel selbst nwt sich 
bringt."^**) Demnach trifft den Skeptiker nur insofern Unruhe und 
Qual, als er als endliches Geschöpf unfreiwilligen und unvermeid- 
lichen Zuständen ausgesetzt ist. Und auch diesen Leiden, für die 
nicht ihm, sondern der Natur die Schuld zukommt, weiß er durch 
seinen Standpunkt die schärfste Spitze abzubrechen. Er allein er- 
reicht so den größtmöglichen Grad von Glück und Frieden. 

Was uns hier in der Antwort auf die letzte Frage enthüllt 
wird, ist zugleich Anfang und Ende, Ursache und Wirkung, Samen 
und Frucht der skeptischen Philosophie. Als Anfang, Ursache und 
Samen eine Hofl&iimg, als Ende, Wirkung und Frucht eine Er- 
füllung! Denn das stille Glück des unbewegten Seelenfriedens war 
das Ideal, dem der antike Skeptizismus sein Dasein verdankt. 
Auf der Suche nach diesem Ideal, das Pyrrho, der erste Skeptiker, 
in Asien bei den weltflüchtigen, indischen Asketen aufgelesen haben 
mag, entdeckte man auch den Weg zu ihm, den Weg des totalen 
und radikalen Zweifels. Nicht also sind Adiaphorie, Ataraxie und 
Apathie rein gedanklich herausgearbeitete Folgen unsres Nicht- 
wissens um die Beschaffenheit der Dinge und unsrer Urteilsenthaltung, 
sondern die Sehnsucht nach ihnen ist das innere Feuer, das die 
gedankliche Arbeit des Skeptikers läutert und durchglüht Darum 
war Pyrrho in erster Linie Moralist und nicht Erkenntnistheoretiker. 
Darum auch ordnet sich die skeptische Anschauungsweise in die 



I20 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

große nacharistotelische moralphilosophische Bewegung ein, als Er- 
gänzung zu den im Grunde vom gleichen Geiste beseelten dogma- 
tischen Lehren der Stoa und Epikurs. Es sind alles Äste am 
Stamme des Eudämonismus; aber während die dogmatischen 
eudämonistischen Schulen die Glückseligkeit als das höchste Gut 
nicht nur erstrebten, sondern auch erkannten, teilt der eudämo- 
nistische Skeptizismus nur diesen Willen mit ihnen, nicht ihre 
Überzeugung. Daß in der Tat auch der Skeptizismus aus eudämo- 
nistischer Sehnsucht heraus erwachsen ist, dafür besitzen wir schla- 
gende Zeugnisse. Schon Timon hatte seine drei Grundfragen und 
ihre Entscheidung für alle, die nach der Glückseligkeit streben, 
bestimmt 1^^; Sextus nennt geradezu bewegendes Prinzip der 
Skepsis {apxffv altiooSrj): die Hoffnung, unbeirrt zu bleiben"®), 
und bezeichnet die Ataraxie selbst als letztes und höchstes Ziel, 
als den einzigen Selbstzweck des Skeptikers. ^^*) Dort beschreibt 
er uns auch, wie gar wimderbar der Weg entdeckt wurde, der 
dahin führt Man glaubte, echten antik -philosophischen Geistes 
voll, das Glück stehe und falle mit dem sicheren Wissen um die 
Wahrheit Und siehe da, dieser Glaube ging in Erfüllung — aber 
aus Gründen, welche die gerade Umkehrung der eigenen Motive 
bedeuteten! „Hochbegabte Menschen nämlich kamen, beirrt durch 
die Ungleichmäßigkeit in den Dingen und unentschieden, welchen 
von ihnen sie mehr zustimmen soUten, dahin, zu untersuchen, was 
wahr sei bei den Dingen und was falsch, um infolge der Ent- 
scheidung hierüber nicht mehr beirrt zu sein".^^®) Aber, sobald 
man in dem Sinne zu philosophieren begann, stieß man auch schon 
auf die Gleichkräfligkeit der Thesen, die Isosthenie; unfähig, die 
Widersprüche zu entscheiden, enthielt man sich des Urteils; sowie 
aber der Skeptiker an sich hielt, „gesellte sich ihm gleichsam von 
ungefähr die Unerschütterlichkeit, wie dem Körper der Schatten **.i^^) 
Die ersehnte Ataraxie war auf nicht geahntem Wege gefunden. So 
erging es dem Skeptiker wie dem berühmten Maler ApeUes. Als 
dieser ein Pferd malte — so geht die Sage — und den Schaum 
am Maule trotz aller Mühe nicht herausbrachte, gab er es auf und 
schleuderte den Schwamm, in dem er die Farben von den Pinseln 
abzuputzen pflegte, gegen sein Werk. Der aber habe bei seiner 
Berührung eine getreue Nachbildung des Schaumes hergesteUt. — 
Damit schließt sich der Kreis dieser Philosophie; ihr Ende weist 
wieder auf den Anfang zurück. Sie suchte in der Lösung der 
letzten ihrer drei Hauptfragen logisch nachzuweisen: wie allein 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 121 

aus dem Zweifeln das Glück erwachse; sie macht uns dabei das 
psychologische Geständnis , daß allein aus dem Willen zum Glück 
ihr Zweifeln erwachsen sei. Das Gleichnis aber von wenigen Zeilen, 
in das sie dies Geständnis hüllt und mit dem wir die Darstellung 
des antiken Skeptizismus beschließen, gemahnt durch seinen tief- 
sinnigen Obermut noch einmal mit aller Eindringlichkeit an die 
Wucht der seelischen Erlebnisse, die auch dem abstrakten Formalis- 
mus, der Emsigkeit im Zerstören, der Skrupellosigkeit in den Mitteln, 
den dialektischen Spielereien dieser Schule als wahrhaft philosophi- 
sches Motiv zugrunde liegt. 



Drittes Kapitel. 
Die Kritik der griechischen Skepsis. 

L Das allgemeine Prinzip der Isosthenie. 

Haben wir die Pause zwischen diesem Kapitel und dem 
vorigen dazu benutzt, um einen gewissen Abstand von den Theo- 
rien des griechischen Skeptizismus zu gewinnen, so daß vor unserm 
innem Auge sich die großen und leitenden Züge dieser Philosophie 
als ein Ganzes herausheben, so ist der rechte Augenblick ge- 
konunen, um an die Beurteilung einer solchen Anschauungsweise 
heranzutreten. Daher mag die Kritik wiederum den drei Grund- 
fragen folgen: wie sind die Dinge beschaffen? oder, subjektiv aus- 
gedrückt, was können wir von den Dingen erkennen? wie müssen 
wir uns zu ihnen stellen? und was erwächst uns aus dieser Stellung- 
nahme? 

Das skeptische Generalprinzip in der Lösung des ersten 
Problems war die Isosthenie gewesen, die Behauptung: jeder 
These über die Beschaffenheit der Dinge lasse sich eine gleich- 
kräftige, d. h. gleich gut begründete Antithese gegenüberstellen. 
Man wird zunächst nach aUem Vorausgegangenen nicht bestreiten 
können, daß die griechische Skepsis das Prinzip der Isosthenie in 
kühner Durchführung und in einfacher Größe angewandt hat. Es 
ist in der Tat, wie es von den Skeptikern im Gegensatz zu den 
Sophisten gehandhabt wurde, ein monumentales Prinzip. Und 
alles Große ist lehrreich. Durch ihr gerades und imbeirrtes Denken, 
durch ihren Radikalismus in den Theorien erwiesen sich diese 
Skeptiker als echte Griechen. Sie setzten wirklich alles zueinander 



122 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

in Widerspruch: Sinnliches zu Sinnlichem , Begriffliches zu Begriff"- 
lichem und Begriffliches zu Sinnlichem.^) Jede Halbheit ist der 
antiken Skepsis fremd. Sätze wie: der Honig ist süß — der Honig 
ist bitter, das Ruder ist krumm — das Ruder ist gerade, ursäch- 
liches Wirken besteht — ursächliches Wirken besteht nicht, es 
gibt Götter — es gibt keine Götter, der Schnee ist schwarz — der 
Schnee ist weiß, waren Beispiele der Isosthenie. Aber nicht nur 
die künstlerischen Eigenschaften, die reine Form, die echt griechische 
Kühnheit der gedanklichen Konsequenz haben wir hier zu be- 
wundem; auch inhaltlich ist dies Prinzip einer ernsten Berück- 
sichtigung wert. 

Zunächst ist die Isosthenie, wenn wir mit ihrer schwächsten 
Bedeutung beginnen, für gar viele angebliche Erkenntnisse des ge- 
wöhnlichen Lebens wie der Wissenschaft eine unumstößliche 
Tatsache. Geben wir nicht im täglichen Leben hundertmal Ur- 
teile ab, denen sich mit gleich guten Gründen ganz andere Ur- 
teile entgegenhalten lassen? Wer sich in ruhigen Stimden gewissen- 
haft daraufhin prüft, wird dem nicht zu widersprechen wagen. Man 
denke nur an das ganze Parteiwesen in jeglicher Gestalt, im Leben 
des Einzelnen und des Staats, in Kunst und in Wissenschaft. Hier 
wird ein ganzer Kreis von Lösungen über letzte, theoretisch noch 
lange nicht spruchreife Fragen bedingungslos angenommen und 
sein Inhalt mit Eifer verteidigt. Hier stehen sich wirklich oft rechte 
und linke Seite wie These und Antithese, wie Ja und Nein gegen- 
über; aber wer objektiv entscheiden soll, wird sich oft genug 
sagen müssen, daß der Liberale nicht schlechter begründet als 
der Konservative, der moderne Ästhetiker nicht schlechter als sein 
klassischer Gegner, der Atomistiker nicht schlechter als der Energe- 
tiker, daß — um in der skeptischen Terminologie zu reden — 
die völlige Isosthenie hergestellt ist. Wenn wir uns dennoch der 
einen oder der andern Seite zuneigen, so tun wir es meist aus 
ganz andern Motiven, aus bestimmten Sympathien oder Anti- 
pathien, die unabhängig von Überzeugungen durch Gründe, diese 
Gründe letzten Endes nur als Mittel gebrauchen, ihre eigenen 
Zwecke zu erreichen. Eine Begründung, die eine uns sympathische 
Sache vertritt, „überzeugt** uns mehr als eine anders gerichtete, 
nicht minder schlüssige. Der Lebensinstinkt zwingt den Erkenntnis- 
trieb in seinen Dienst und verdunkelt ihm den Blick dermaßen, 
daß er die logische Isosthenie von Gründen und G^engründen 
nicht zu erkennen vermag. Wie wäre es sonst möglich, daß z.B. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 123 

in der politischen Stellungnahme, die theoretisch eine Abfindung 
mit den heikelsten Fragen der Soziologie, der Nationalökonomie, 
der Ethik und Geschichtsauffassung voraussetzt, im großen und 
ganzen die Parteien sich mit den Ständen decken? Fallen etwa 
zufallig Menschen auf die gleiche Lösung der angeregten Fragen, 
welche zufallig dem gleichen Kreise angehören? Ihre Gründe sind 
hier gewiß nicht — ihre Gründe. Man zähle nur die Sozialdemo- 
kraten in der Aristokratie, und die überzeugten Konservativen 
unter den Fabrikarbeitern, die Anhänger der allgemeinen Ver- 
mögensverteilung unter den Kapitalisten und der Zentralisation der 
Vermögen unter den Armen! Sie alle vertreten nicht das Inter- 
esse der Wahrheit, sondern das ihrer eigenen Person, Das wäre 
nun an dieser Stelle ganz gleichgültig, wenn nicht dadurch, daß 
man die persönlichen Willensziele im Mantel theoretischer Systeme 
auftreten läßt — die skeptische Isosthenie diese Systeme beherrschte! 
Wer das einmal begriffen hat, dem scheinen alle „Parteigründe", 
in denen der Verstand nach Diktat des Willens arbeitet und so 
dessen Blöße zu decken sucht, von vornherein brüchig, fadenscheinig 
und langweilig. Die skeptische Isosthenie wäre der Inhalt einer 
sehr trivialen und veralteten Wahrheit, wenn die Menschen wirk- 
lich davon durchdrungen wären, daß — nach dem augenblicklichen 
Stand unsres Wissens imd durch die Verwicklung mancher Umstände 
— sich viele Ansichten vorläufig gerade so gut halten ließen wie 
ihr Gegenteil. Das aber wollen die wenigsten einsehen. Die Majo- 
rität aller Menschen — der großen Staatsmänner, Künstler, Ge- 
lehrten nicht ausgenommen — ist von der alleinigen Richtigkeit 
ihrer Ansichten, besonders wo dieselben irgendwie persönliche 
Interessen berühren, auf das allerfesteste überzeugt Man ist ent- 
schlossener Dogmatiker, dogmatischer Raucher*) oder Temperenzler, 
dogmatischer Wagnerianer oder Antiwagnerianer, dogmatischer 
Konservativer oder Liberaler, dogmatischer Mechanist oder Vitalist 
Gegen diese dogmatische Denkart kann nun die skeptische Isosthenie, 
wie alle skeptischen Prinzipien, als heilsames Zuchtmittel im Dienste 
der Wahrheit*) ihre Wirkung tim. Aber ein heilsames Zuchtmittel 
braucht noch kein durchaus wahrer Satz, der psychologische 
Kern nicht zugleich ein logischer zu sein. 

Ein weiterer Vorzug des isosthenischen Prinzips besteht darin, 
daß diese Denkart uns ein höchst fruchtbares methodologisches 
Hilfsmittel an die Hand gibt. Einer unter den ersten großen philo- 
sophischen Methodikern der neueren Zeit, Lord Francis Bacon 



124 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

hat (übrigens ganz unabhängig von der antiken Skepsis) dar- 
auf hingewiesen, daß man es als eine der vornehmsten Regeki 
bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung zu beachten habe: eine 
Eigenschaft*, nach der geforscht wird, nicht nur da zu beobachten, 
wo sie auftritt, sondern auch diejenigen Fälle zu sammeln, in 
welchen sie nicht auftritt, aber zu erwarten stände. In Baconischer 
Sprache : die positiven Instanzen sind durch die negativen Instanzen 
zu kontrollieren und zu ergänzen.*) Hätte man diesen Rat öfter 
befolgt, so würde manch irrige Ansicht aus dem Leben und aus 
der Wissenschaft längst entschwunden sein. Hätte man — meint 
Bacon — etwa alle die (negativen) Fälle ebenso gewissenhaft ge- 
sammelt, in denen Ahnungen und Träume nicht eingetroffen sind, 
wie die positiven, so würde vermutlich kein Mensch mehr an ein 
unerklärliches Eintreffen von Ahnungen und Träumen glauben. 
Man hat sehr gut diese Betonung der Gegeninstanzen als den kri- 
tischen Widerspruchsgeist in der Baconischen Methodenlehre be- 
zeichnet.*) Ohne ihn wird heute keine wissenschaftliche Unter- 
suchung von einigem Wert mehr angestellt. Es ist der Geist der 
skeptischen Isosthenie — zum Forschungsmittel umgedeutet 

Endlich hat Hegel das isosthenische Prinzip, welches Bacon 
von jedem einzelnen Forscher als eine Regel unter vielen gehand- 
habt sehen wollte, geradezu zur alleinigen metaphysischen Me- 
thode erhoben, deren sich die Weltvernunft bedient, um den Fort- 
schritt in der geistigen und jeder Entwicklung herbeizuführen. Denn 
wer erkennte nicht das wohlbekannte Antlitz der Isosthenie darin 
wieder, nur jetzt ins Überlebensgroße gesteigert, wenn dieser Meta- 
physiker der Evolution behauptet: ein bestimmtes philosophisches 
System (A) ruft durch den inneren Widerspruch, den es erregt, 
ein sich entgegengesetztes (B) hervor; beide zusammen aber ein 
drittes (C), welches, die Einseitigkeiten von A und B fallen lassend, 
die wahren Kerne erhaltend, die Gegensätzlichkeit überwindet und 
so die vorhergehenden Systeme zu höherer Einheit versöhnt; C 
erzeugt seinen eigenen Antipoden D, die Antithese C — D die Syn- 
these E usf So sollte die Wahrheit stufenweise erklommen werden 
auf der fortlaufenden Leiter der philosophischen Systeme. Diese 
selbst aber sind nichts andres als Grade der Selbsterkenntnis der 
alleinen göttlichen Vemimft, oder höhere Stufen des Weltprozesses. 
Aber auch die niederen Stufen zeigen eine Art von physischer 
Isosthenie. „Das Forttreibende ist die innere Dialektik der Ge- 
staltungen diese Widerlegung kommt in allen Ent- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griediischen Skepsis. I25 

Wicklungen vor; die Entwicklung des Baumes ist Widerlegung 
des Keims, die Blüte die Widerlegung der Blätter, daß sie nicht 
die höchste wahrhafte Existenz des Baumes sind. Die Blüte wird 
endlich widerlegt durch die Frucht; aber sie kann nicht zur Wirk- 
lichkeit kommen ohne das Vorhergehen aller früheren Stufen."^) 
Wird auch der besonnenere Denker sich dem verführerischen Bilde 
nicht gefangen geben dürfen, die gesamte Entwicklung des Geistes 
nur als die stetige Überwindung relativ gleich wahrer Gegen -Sätze 
anzuschauen, so wird er doch der ihres metaphysischen Gewandes 
entkleideten Bedeutung der Isosthenie als Triebkraft und Anreiz 
zu geistigem Fortschritt die Berechtigung und der genialen Aus- 
gestaltung derselben zu übermächtigem Wuchs wenigstens die Be- 
wunderung nicht versagen. Und so untergräbt die Isosthenie hier 
nicht die Erkenntnismöglichkeit der Wahrheit; sie bildet vielmehr 
die Stufen, auf denen man zum Thron der Wahrheit höher und 
höher hinaufsteigt, und zugleich das kräftigste Motiv, diese Höhe 
zu erklimmen. 

Aber all das berührt den eigentlichen Kern der skeptischen 
Isosthenie noch nicht. Es betrifft dieselbe nur in ihrer abge- 
schwächten oder gesteigerten, und stets in umgedeuteter Form. 
Wir dürfen uns aber in der Kritik der wichtigsten Frage nicht ent- 
ziehen und müssen sie klar und eindeutig stellen. Hat die antike 
Skepsis mit der Behauptung: jeder These (über die Beschaffenheit 
der Dinge) steht eine gleichkräftige Antithese gegenüber — den 
Satz genau so aufgefaßt, wie er in der Schule gemeint 
war — recht oder unrecht? Hier nun ist große Vorsicht ge- 
boten. Es scheint ja zunächst widersinnig, den Satz in dieser 
urwüchsigen Form und in seiner ganzen Ausdehnung vom Stand- 
punkt des modernen Menschen noch zugeben zu wollen. Aber wir 
wissen ja schon, wie er verstanden sein will. Wenn auch in der 
ersten Timonischen Grundfrage , soll ihre Beantwortung wirklich die 
Ansicht des ausgebildeten Pyrrhonismus begreifen, der Ausdruck 
„Dinge" dahin interpretiert werden muß, daß er sogar die rein 
formalen logischen und die mathematischen Aussagen mitumspannt, 
so haben doch die Skeptiker diese rein formalen Bewußtseinsfunk- 
tionen, deren Wahrheit zu bezweifeln uns heute schwer in den Sinn 
käme, eigentlich nur angegriffen, um sie als untaugliches Vehikel 
zu objektiver und inhaltlicher Erkenntnis zu erweisen. Speziell 
wo sie das isosthenische Prinzip an einzelnen Beispielen näher ent- 
wickeln, sprechen sie immer nur von den Widersprüchen zwischen 



126 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

gegenständlichen Erkenntnissen, von der artiS^Bötg rcov Ttpay/id- 
roav.'^ Mit objektiver Erkenntnis wiederum ist niemals die Er- 
kenntnis von Erscheinungsobjekten, sondern sind stets nur gemeint: 
Urteile über die aSriXa und tmoHelßieva, über die Dinge, wie sie 
an sich selbst beschaffen sind. Nur unter der Voraussetzung von 
der Unerkennbarkeit der Dinge an sich gilt also die Isosthenie. 
Sie ist demnach ungültig für alle Behauptungen über Objekte, die 
bloße Erscheinungsobjekte sind; sie ist ungültig für alle Subjekte, 
die obige Voraussetzung nicht anerkennen. Die moderne Partei 
aber, die mit der antiken Skepsis auf gleicher Basis steht, kann 
sich auf keinen geringeren berufen als auf Kant. Kant und die 
große Schule der Kantianer lehren ausdrücklich die skeptische 
Isosthenie für alle Urteile über die Dinge an sich. Wenn ich z. B. 
von der Welt als einem Dinge an sich rede, so kann ich — nach 
Kant — mit gleich überzeugenden Gründen dartun, daß die Welt 
im Räume Grenzen, in der Zeit einen Anfang hat und ihre Materie 
aus unteilbaren Atomen besteht, wie die Antithesen, daß die Welt 
dem Räume nach unendlich, der Zeit nach ewig, der Materie nach 
ins Unendliche teilbar ist. Kant hat diese Beweise auch wirklich 
angetreten in dem berühmten Abschnitt seines Hauptwerks: Von 
den Antinomien (Gesetzwidrigkeiten) der reinen Vernunft Diese 
Antinomien oder Isosthenien dienen ihm dazu, aus den kontra- 
diktorischen Thesen über die Dinge an sich die Unerkennbarkeit 
dieser Dinge zu beweisen und andrerseits zum glänzendsten Beleg 
für die anderwärts bereits bewiesene Unerkennbarkeit. Und so ist 
auch ihm — wie der antiken Skepsis®) — die Isosthenie Methode 
und Ergebnis zugleich. — Es ist richtig, daß sich die skeptische 
Isosthenie auch in das bedeutendste philosophische System der 
neueren Zeit hinübergerettet hat. Aber bei aller Verwandtschaft, 
die zwischen Kant und diesen antiken Vorläufern hier besteht, 
dürfen doch die prinzipiellen^) Trennungslinien nicht übersehen, 
noch verwischt werden. Sie liegen erstens in dem ganz ver- 
schiedenen Zweck, welchen die Isosthenie bei Kant und den 
Pyrrhonikem verfolgt. Diese benutzten sie dazu , um die Unsicher- 
heit von aller Erkenntnis, allem Wissen und aller Wissenschaft 
darzutun, (indem sie stillschweigend nur eine Erkenntnis von den 
Dingen an sich für wahres Wissen und Wissenschaft ansehen und 
den Begriff von Erscheinungswissen noch nicht ausgebildet haben) ; 
Kant dagegen folgerte aus den Antinomien und Isosthenien geradezu, 
daß Erkennen, Wissen und Wissenschaft nur in der Erscheinungs- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. I27 

weit Sinn, Bedeutung und sicheres Fortkommen besäßen, darüber 
hinaus aber zu leeren Namen ohne Inhalt, zu wesenlosen Phantasie- 
gebilden herabsänken. Ein zweiter Unterschied betrifft die Objekte, 
von denen die gleichkräftigen Behauptungen gelten soUen. Beide- 
mal sind es die Dinge an sich selbst. Aber bei Kant bedeuten 
diese Dinge an sich, von denen wir nichts wissen können, außer- 
zeitlich-außerräumliche, übersinnliche, metaphysische Wesen, und 
sie haben mit den räumlich -zeitlichen Gegenständen, die wir sehr 
wohl zu erkennen vermögen, nichts gemein; für die antiken Skep- 
tiker dagegen befinden sich die Dinge an sich im Raum und in 
der Zeit, und sind die sinnlichen, physischen Ursachen unsrer 
Gegenstandvorstellungen. 

Wir sagten: die Isosthenie gelte für die antike Skepsis nur 
unter der Voraussetzung der Ünerkennbarkeit der Dinge an sich. 
Diese Voraussetzung ist aber weder eine naive, stillschweigende 
noch unbewußte, sondern sie tritt bei den Skeptikern als wohl be- 
gründete Behauptung auf. Wir können die Beschaffenheit der Dinge 
aus dem einfachen Grunde nicht erkennen, weil unsre Erkenntnis- 
mittel, Sinne und Vernunft, anschauliches und begriffliches Er- 
kennen — die einzigen Funktionen, die uns zur Verfügung stehen 
— dazu nicht ausreichen. Demnach hängt auch die Beurteilung 
des skeptischen Urprinzips letzten Endes von der Stichhaltigkeit 
jdieser Begründung ab. 

n. Die sensnale Skepsis. 

Unsre Aufgabe fuhrt also zunächst darauf: an die skeptische 
Theorie von der sinnlichen Wahrnehmung, wie sie in den Tropen 
Aenesidems zum Ausdruck gelangte ^*^) , den kritischen Maßstab 
anzulegen. 

Suchen wir aus ihr das Bleibende herauszuschälen und das 
Vergängliche auszuscheiden, so lehrt uns gleich der erste Tropus 
eine wichtige Einsicht — Er schloß aus dem verschiedenen Bau 
der einzelnen Lebewesen, der Heuschrecke, des Löwen, des Men- 
schen usw., daß sich die Erscheinungen der gleichen Objekte in 
den einzelnen Organismen verschieden darstellen und es also nie- 
-mals auszumachen sei, wer das wahre Bild eines Dinges besitze. 
Dieser Tropus belehrt uns darüber, daß all unsre Aussagen über 
die Beschaffenheit der Dinge nur für die menschliche Erkenntnis 
•und nur unter ihrer Voraussetzung unbedingt gültig sind. Die 
Skepsis beschränkt hier ihren Einwand zwar auf die sinnliche 



128 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Erkenntnis; man kann ihn aber getrost auf die gesamte Erkenntnis 
ausdehnen.^^) Hätten die Tiere andersartige Erkenntnisbedingungen, 
so wäre die skeptische Folgerung unwiderlegbar. 

Nun glauben wir zwar, daß die Tiere nicht einen ganz anders- 
artigen Raum sehen, nicht völlig andersartige Farben empfinden, 
nicht ganz andre Verkettungen der Erscheinungen wahrnehmen als 
wir, sondern nur einen entwickelteren oder unentwickelteren Sinnes-: 
apparat und ein unentwickelteres Denkvermögen besitzen. Aber wir 
schließen doch hier zunächst nur aus ähnlichen Wirkungen auf ähn- 
liche Ursachen, nämlich aus den unsem ähnlichen tierischen Reak- 
tionen (dem Kratzen des Einlaß begehrenden Hundes an der Tür, dem 
Scheuen des jungen Pferdes vor knatterndem Gewehrfeuer) auf die 
Ähnlichkeit der Empfindungen und Vorstellungen als Ursachen dieser 
Reaktionen. Aber der Schluß von der Wirkung auf die Ursache 
ist ein gewagter und vieldeutiger. Man kann die Vermutung, daß 
die tierische Erkenntnis sich zwar dem Grade, aber nicht der Art 
nach von der menschlichen Erkenntnis unterscheide, auch durch den 
sicheren Schluß von der Ursache auf die Wirkung zu begründen 
suchen. Die tierischen Sinneswerkzeuge und die Organe der höheren 
geistigen Fähigkeiten von der Amöbe bis zum Gorilla herauf bieten 
in Struktur und Funktion, physikalisch und chemisch, anatomisch und 
physiologisch bei allen der Skepsis zuzugestehenden Abweichungen 
doch homogene Verhältnisse mit denjenigen im Menschen dar. 
Jetzt schließt man von der physischen Ursache auf die psychische 
Wirkung oder Begleiterscheinung. 

Aber beidemal ist das Verhältnis zwischen Ursachen und Wir- 
kungen unmittelbar immer nur für den Menschen festgestellt, nicht 
für die Tiere , um die es sich handelt. Bei ihnen kennen wir stets nur 
das eine Glied; im ersten Fall die physische Wirkung, im zweiten Fall 
die physische Ursache der psychischen Prozesse; das andre Glied, 
die seelischen Äußerungen, erschließen wir nur durch die Analogie 
mit den Vorgängen in unsrer eigenen Person — ex analogia ho- 
minis. Weil bei uns mit den Reizungen der Netzhaut räumlich 
geordnete Lichtempfindungen regelmäßig verbunden sind, weil wir 
bei heftigen plötzlichen Geräuschen stets zusammenfahren, über- 
tragen wir diese Kausalzusammenhänge oder gesetzmäßigen Parallel- 
erscheinungen (ein Unterschied, dessen Vernachlässigung man an 
dieser Stelle gestatten wird) auch auf andre Lebewesen, bei denen 
uns direkt immet nur das eine Glied dieses Zusammenhangs ge- 
geben ist. Wir schließen also aus ähnlichen Ursachen (Wirkungen) 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsb. 129 

auf ähnliche Wirkungen (Ursachen). Nun ist die Analogie gewiß 
ein berechtigtes Hilfsmittel, dessen sich Natur- wie Geisteswissen- 
schaft gleichmäßig zu ihrem Fortschritt bedienen. Wenn gar, wie 
in dem vorliegenden FaU, bei 'dem Schluß von ähnlichen Ursachen 
auf ähnliche Wirkungen und umgekehrt, die grundsätzliche Ähn- 
lichkeit in der biologischen Struktur aufs genaueste festgestellt 
worden ist und immer mehr festgestellt wird, so steigt da- 
mit in direktem Verhältnis ein solcher durch Analogie ermittelter 
Satz an Gewißheit. Aber allem Zweifel entrückt, soweit das bei 
einem allgemeinen Satz über faktische Verhältnisse überhaupt 
möglich ist, wird er erst dann, wenn seine Richtigkeit durch aprio- 
rische BeweisfÜhnmg deduktiv, oder induktiv durch Erfahrung 
zwingend erhärtet ist. Da es sich bei der Frage: was und wie 
erkennen die Tiere? um kein Problem der formalen Logik noch 
der Mathematik, sondern um eine inhaltliche Aussage über Tat- 
sachen handelt, die nie rein aus der menschlichen Vernunft ent- 
springen kann, so wird der Analogieschluß über objektive Verhält- 
nisse nur durch die Probe an der Erfahrung den höchstmöglichen 
Gewißheitsgrad erreichen. Selbst jedes Urteil über ursprüngliche 
Kausal Verhältnisse, das von gleichen Ursachen auf gleiche Wir- 
kungen schließt, muß sich die beständige Nachprüfung an der Er- 
fahrung gefallen lassen. Denn auch der strenge Kausalitätsgläubige, 
für den mit dem Vorhandensein einer Erscheinung absolut not- 
wendig als unmittelbare Folge ihre Wirkung gesetzt ist, muß zu- 
geben, daß die bestimmten Kausalbeziehungen nur durch die 
Erfahnmg erkannt und die bisher erkannten auch durch neue Er- 
fahrungen berichtigt, vielleicht auch umgeworfen werden und als 
verkannte sich erweisen könnten. Stoßen wir also auf ein Gebiet, 
wo ein empirisch ermitteltes Kausalverhältnis in seiner Geltung an- 
gezweifelt wird, so ist der erste Schritt zu deren Rettung die empi- 
rische Nachprüfung. Wo diese ausgeschlossen ist, können wir dem 
Zweifel nicht völlig das Tor verschließen. Vollends, wo es sich 
nur um Analogieschlüsse über gesetzmäßige Beziehungen zwischen 
Tatsachen handelt, da werden die Zweifel erst recht nur verstummen, 
wenn beide Glieder der erschlossenen Beziehung in ihrer gesetz- 
mäßigen Verbindung erfahrungsmäßig beobachtet worden sind. 
Eine solche Beobachtung aber ist in unserm Falle grund- 
sätzlich ausgeschlossen. Denn um das Seelenleben der Tiere 
•(das durch unsern Analogieschluß ermittelte Glied einer gesetz- 
lichen Beiziehung) empirisch, d. h. unmittelbar zu beobachten, wäre 

Richter, Skeptuismas. 9 



130 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

eine direkte Hineinversetzung in die tierische Psyche 
ebenso unerläßliche, wie unerfüllbare Bedingung. Es erlangt also 
unser Urteil über tierische Vorstellungen, Erkenntnisprinzipien, und 
damit über eine tierische „Wahrheit" nicht den Gewißheitsgrad 
empirischer Aussagen über unmittelbare Erlebnisse (ich sehe rot) 
oder formaler Anschauungs- und Denknotwendigkeiten (zwischen 
zwei Punkten ist nur eine Gerade möglich, A = A); auch nicht 
die Gewißheit von Aussagen über induktiv ermittelte Kausalver- 
hältnisse (Wärme bewirkt Ausdehnung der Körper); auch nicht 
einmal die Gewißheit durch Analogie erschlossener, aber an der 
Erfahrung nachprüfbarer, wenn auch nicht nachgeprüfter Urteile 
(da Ei und Samen des Menschen den tierischen sehr ähnlich sind, 
so werden auch die kausalen Prozesse im menschlichen Embryo, 
die während der ersten Tage ablaufen, den tierischen sehr ähnlich 
sein). Sondern die Gewißheit, daß unsre Erkenntnisbedingungen 
mit nur graduellen Abweichungen auch für die Tiere gelten, gleicht 
der Gewißheit von empirischen Analogieschlüssen, bei denen die 
Ähnlichkeit der Glieder eine sehr große, aber die Bestätigung 
durch Erfahrung ausgeschlossen ist. Alle übrigen Analogieschlüsse 
erarbeiten in ihren Folgerungen einen höheren Gewißheitsgrad mit 
Ausnahme solcher, die auf geringe Ähnlichkeit gegründet und gleich- 
falls empirisch niemals zu verifizieren sind. (Da gewisse Pflanzen 
wie die mimosa pudica in ihren Reaktionen eine Analogie mit den 
niederen Tieren zeigen, wird ein bewußtes, dem tierischen ana- 
loges Seelenleben als Ursache dieser Reaktionen anzunehmen sein). 
— Bei alledem ist noch der günstigste Fall gewählt, nämlich daß 
meine Erkenntnisbedingungen auch über eine Realität, die unab- 
hängig von mir besteht, wahre Aussagen zu machen vermögen. 
Leugnet man das und vertritt aus allgemeinen erkenntnistheoreti- 
schen Erwägungen den Standpunkt, dessen Berechtigung erst später 
erörtert werden kann, daß alle menschlichen Einsichten nur für 
den Menschen Geltung haben, so ist jeder Spekulation über die Er- 
kenntnisart der Tiere von diesem solhumanen Standpunkt aus die 
Spitze abgebrochen. Denn wenn ich mit nur für mich geltenden 
Erkenntnisbedingungen über tierische Erkenntnisbedingungen ein 
Urteil falle, so drehe ich mich vollständig im Kreise. Zwar ge- 
stattet auch der extreme Solhumanist Analogieschlüsse von ähn- 
lichen Ursachen auf ähnliche Wirkungen, aber das zu erschließende 
Glied darf nicht grundsätzlich aus der Welt der menschlichen Phä- 
nomene herausfallen. 



r 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsb. 131 

Nur nebenbei sei hier eines weiteren Verdienstes der alten 
Skeptiker gedacht. Während diese Männer die Verschiedenheit 
von Mensch und Tier in erkenntnistheoretischer Beziehung zu ihren 
Zwecken auszubeuten suchten, haben sie umgekehrt die enge Ver- 
wandtschaft beider im zweiten Glied ihres Beweisganges betont 
Indem sie die Keime und Anlagen zu allen menschlichen Bewußt- 
seinsäußerungen bis zu den moralischen hinauf im tierischen Geistes- 
leben aufzeigten, schlössen sie, daß bei bestehenden Differenzen 
in den Sinneswahmehmungen die Tiere nicht etwa als Wesen von 
ganz anderer und niederer Art „unglaubwürdiger" seien als ihre 
hochstehenden Brüder. Was die Skeptiker hier teils übertreibend, 
teils erst in rohen Ansätzen aussprachen, ist in der neueren Zeit, 
hauptsächlich seit dem modernen Materialismus^*), dann durch den 
Darwinismus eingehend und wissenschaftlich erforscht worden. Sind 
auch die Untersuchungen — gerade nach ihrer prinzipiellen Seite 
— darüber noch lange nicht abgeschlossen und stehen wir noch 
heute alle in dieser Bewegung darin, so darf doch wohl die An- 
sicht als die herrschende gelten, daß auch zwischen Tier und Mensch 
die Natur keinen Sprung gemacht habe, sondern in stetigen Über- 
gängen von dem einen zum andern gelangt sei. 

Die Skepsis hatte in ihrem ersten Tropus eine Armee von 
Gegeninstanzen in den andersgearteten Wahrnehmungen der Tiere 
aufmarschieren lassen, um die Wahrheit aller menschlichen Aus- 
sagen zu verdächtigen. Wir bemühten uns zu zeigen, daß ver- 
mutlich die tierischen Vorstellungen nur graduell, nicht prinzipiell 
von den menschlichen verschieden seien, daß diese Vermutung aller- 
dings (so gut wie jede andre Vermutung darüber) für einen be- 
stimmten erkenntnistheoretischen Standpunkt ausgeschlossen sei; 
daß sie dagegen für alle, die nicht extreme Solhumanisten sind, 
einen Wahrscheinlichkeitsgrad mittlerer Höhe besäße. Ist sie richtig, 
so würde das Tier, dem die vernünftigen Funktionen des Menschen, 
das heißt die volle Blüte der in ihm selbst schlummernden Er- 
kenntniskräfte verliehen würde , auf Grund seiner tierischen Sinnes- 
data keine dem menschlichen Wissen widersprechende Aussage 
zu machen brauchen, nur, je nach seiner Organisation, dieses 
Wissen auf manchen Punkten nicht erreichen, auf andern über- 
flügeln. 

Wie wir in der tierischen Erkenntnis (vor allem wegen der 
embryonalen Begriffsbildimg) eine niedere Stufe vor uns zu haben 
glauben, so ist auch der Gedanke erlaubt, daß es Wesen gibt 

9* 



1^2 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

mit höheren und gesteigerteren Erkenntnisfunktionen, als die mensch- 
lichen es sind. Aber die Annahme von der Existenz solcher 
Wesen, zu der sich etwa ein Leibnitz durch das Kontinuitätsgesetz 
veranlaßt sah, ist ein freies Produkt des Denkens, das allen Er- 
fahrungsboden unter seinen Füßen verloren hat Keine Tatsache 
ist uns gegeben, aus der als Wirkung wir diese Ursache oder aus 
der als Ursache wir diese Wirkung erschließen könnten. Immer- 
hin würde die menschliche Wahrheit mit einer übermenschlichen 
und untermenschlichen durchaus die Fühlung behalten und ihre 
absolute, d. h. für alle Subjekte verbindliche Geltung wäre nicht 
grundsätzlichen Zweifeln preisgegeben. 

Das geschieht erst, wo der Gedanke einer an ganz hetero- 
gene Erkenntnisbedingungen gebundenen Wahrheit vor uns auf- 
steigt. Denn andersgeartete Wesen, — etwa auf dem Jupiter — 
deren Möglichkeit zu leugnen, unsinnig wäre, sind uns in ihren 
Erkenntnisprinzipien völlig unbegreiflich. Schon wie ein Wesen 
einen vierdimensionalen Raum anschauen sollte, verstehen wir nicht; 
logisch aber ist es nicht undenkbar, ja selbst mathematisch ist es 
vorsteUbar, daß es geschähe. Wir sind eben ganz an unsre Er- 
kenntnismittel gebunden, können unsre Haut nicht sprengen. So 
scheidet das Problem, eine außermenschliche Wahrheit zu er- 
kennen, als ein unlösbares aus; vollends aber zwischen dieser außer- 
menschlichen Wahrheit und der menschlichen zu entscheiden, welche 
die „wahrere Wahrheit" sei, das ist eine Zumutung, die selbst an 
einen Philosophen zu stellen, absurd wäre. Denn das würde ja 
den Besitz von drei Wahrheitsarten voraussetzen, der eigenen, der 
andersgearteten, und einer dritten, an der beide zu messen seien. 
Diese Aufgabe ist aber nicht nur unerfüllbar, weil sie Unmögliches 
verlangt, sondern auch weil sie bedenkliche Voraussetzungen hat, 
vieUeicht ganz schief gestellt ist, vielleicht gar nicht bestehen kann. 
Denn schon die Frage: wer besitzt die wahre Erkenntnis? ist doch 
wohl nur von unserm, dem menschlichen Standpunkt aus aufge- 
worfen. Für ein außermenschliches Wesen, das den Gegensatz 
von Wahrheit und Irrtum nicht kennte, verlöre sie allen Sinn. Ja, 
der bloße Gedanke, daß es andersgeartete Wesen mit anders- 
gearteten Erkenntnisfunktionen geben könne, für die also auch 
eine andre Wahrheit bestünde, ist doch schließlich auch nur gemäß 
den logischen Denkgesetzen des Menschen gefaßt imd nur durch 
den Satz des Widerspruchs und der Identität ermöglicht Und der 
Mensch ist selbst da, wo er sich am weitesten von dem Schwer- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 133 

piinkt seiner Erkenntniskräfte wenigstens mit dem freien Flug der 
Gedanken zu entfernen scheint, wenn er auch nur die Denkbar- 
keit (geschweige denn die Vorstellbarkeit) von Geistern behauptet, 
für deren Erkenntnis andre Regeln und Gesetze gelten — auch 
dann noch ist er mit unzerreißbaren Fäden an seine eigene Sphäre 
und an die sie beherrschenden Regeln und Gesetze gebunden. 
Selbst die bescheidenste imd leerste Auffassung einer außermensch- 
lichen Wahrheit, die Konzeption der reinen Möglichkeit einer 
solchen, ist für den Menschen an die Gültigkeit seiner Wahr- 
heiten (hier der logischen Axiome) notwendig gebunden, deren 
Ungültigkeit und Ünverbindlichkeit gerade in der fraglichen Auf- 
fassung als möglich behauptet wird. Wenn irgendwo, so ist hier 
der Vergleich mit dem Freiherrn von Münchhausen am Platze , der 
sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe zieht! So ist die 
Wahrheit ein Begriff, der Quelle des menschlichen Geistes ent- 
strömt, sie zu finden eine Aufgabe, nur von ihm gestellt und 
darum nur von ihm zu lösen, ein Knoten, nur von ihm geschürzt 
und darum nur von ihm zu entwirren. 

Konnten wir uns schon von dem Wahrheitsbegriff ganz an- 
ders gearteter Subjekte nicht die geringste Vorstellung machen, 
ja war die bloße Denkbarkeit desselben von unsern eigenen „Wahr- 
heiten" abhängig, so ist nun eine Wahrheit, die weder für uns, 
noch für andre Wesen da ist, eine Wahrheit an sich erst recht 
ein unvollziehbarer Gedanke. Bei Dingen an sich, Wirklichkeit 
an sich läßt sich etwas denken — bei Wahrheit an sich kaum. 
Und doch hat die Wahrheit an sich von Plato bis auf die neuere 
Zeit oft eine Hauptrolle auf der Bühne der philosophischen Systeme 
gespielt. Wahrheit ist, ganz allgemein, die Eigenschaft von Aus- 
sagen, Urteilen und Sätzen: ein spezifisches Gefühl, das Gefühl der 
Evidenz, notwendig im Menschen auszulösen. Der Begriff: Wahrheit 
ist also eine Abstraktion, die das gewissen konkreten Aussagen Ge- 
meinsame (die bestimmte Gefühlsbetonung) zum Ausdruck bringen 
soll. Sie ist nichts neben oder über den einzelnen wahren Ur- 
teilen, sowenig wie die Pferdheit oder Menschheit etwas neben oder 
über den einzelnen Pferde- oder Menscheneigenschaften ist. So 
bezeichnet, wenn man sich an die einzig verständliche Bedeutung 
des Wortes hält, Wahrheit bestimmte Beziehungen von Aussagen 
zu einem Subjekte. Das Subjekt ist demnach unerläßlicher Träger 
aller Wahrheit; es gibt nur Wahrheit für jemand, nicht Wahrheit 
an sich. Indem man nun diejenigen Aussagen, welche für alle 



134 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Menschen zu aUen Zeiten absolut sicher gelten, als ewige Wahr- 
heiten faßte (veritates aetemae des Spinoza, verit^s 6temelles des 
Leibnitz), nahmen die Wahrheiten den Charakter außerzeitlicher, 
von den erkennenden Subjekten unabhängiger Prinzipien, und da- 
mit bald — dem Trieb zu metaphysischer Hypostasierung ent- 
sprechend — starrer, selbständiger Realitäten an. Die Unabhängig- 
keit der Wahrheit vom individueUen Subjekt wurde zu einer Un- 
abhängigkeit vom Subjekt überhaupt. Damit ist aber zugleich aUe 
Fühlung mit dem ursprünglichen Wahrheitsbegriff, zu dessen Wesen 
die Beziehung auf das Subjekt gehört, verloren gegangen und eine 
logische wie psychologische Monstrosität (Wahrheit an sich) die 
Folge geworden. 

Wir müssen uns also schon wohl oder übel von der Skepsis 
belehren lassen, daß die für uns sicher erreichbare Wahrheit nur 
auf den Menschen bezogene, und die für uns überhaupt vorstell- 
bare Wahrheit nur auf gleichartige Wesen bezogene Wahrheit ist. 
Dagegen brauchen wir uns nicht dadurch zu der vorschnellen 
Folgerung hinreißen zu lassen, an der Auffindung der Wahrheit des- 
halb zu verzweifeln. Wir werden allerdings die sicher erkennbare 
Wahrheit nur auf die menschliche Wahrheit kritisch einzuschränken 
und eine gewisse Resignation damit zu bekennen haben. Diese 
wird aber doch wesentlich dadurch erleichtert, daß alles, was wir 
schlechterdings nicht vorzustellen vermögen, uns auch nichts an- 
geht, uns nicht berührt, uns eigentlich kalt lassen kann. Nur wer 
in den Apfel gebissen hat, verspürt den Reiz, es wieder zu tun 
und ist betrübt, wenn ihm der Genuß versagt wird. Wer sich 
aber gar kein Bild von dieser Geschmacksempfindung zu machen 
imstande ist, wird den Apfel nicht vermissen. Nur die Blind- 
gewordenen sind unglücklich; die Blindgeborenen nicht. Für eine 
außermenschliche Erkenntnis — sollte es eine solche geben — 
sind wir alle blindgeboren. 

Und noch eine weitere Einschränkung ist unerläßlich. Wenn 
wir von menschlicher Wahrheit und Erkenntnis sprechen, so 
scheidet dabei jene Gruppe unglücklicher Wesen aus dem Begriff 
der Menschheit aus, die an unheilbaren Geisteskrankheiten 
leiden. Auch diesen der pathologischen Psychologie entnommenen 
Gesichtspunkt hatten die Skeptiker berücksichtigt und erkenntnis- 
theoretisch ausgebeutet. Zwar findet derselbe in den Tropen, die 
nur die sinnliche Erkenntnis mit ihren Zweifeln benagen, seine 
Stelle !•), trifft aber so gut wie die obigen Angriffe das gesamte 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 135 

Rüstzeug unsres Wissens. Der Durchschnittsmensch, der das gött- 
liche ^av/iaZetv, nach Plato die Quelle aller Philosophie, nicht 
kennt, findet es selbstverständlich, daß er mit seinen Wahrneh- 
mungen und Begriffen „im Rechte" ist, sein geisteskranker Bruder 
„im Unrecht*'. Und das nicht nur, wenn es sich um Halluzina- 
tionen und Visionen, vun fixe Ideen und Manien handelt, sondern 
auch dort, wo der Unterschied der Vorstellungen die Elemente 
und Formen des Erkennens gar nicht berührt, wo nur die mit den 
gemeinsamen Erkenntnismitteln erarbeiteten Ergebnisse die Fassungs- 
kraft und den Horizont der „gebildeten Majorität" übersteigen. Da 
wird der Durchschnitt flugs mit der „Norm", das so als normal 
Bestimmte mit dem Gesunden, das Anormale mit dem Krankhaften, 
das Pathologische mit dem — Unwahren gleichgesetzt: das Ver- 
dammungsurteil über die betreffende Einsicht ist die Folge. Will 
es nun das Schicksal, daß bei solchen, den Massendurchschnitt 
überfliegenden Geistern auch die Prinzipien des Erkennens ge- 
stört werden und wirkliche Geisteskrankheit sie beschattet, so findet 
die Masse triumphierend darin die Bestätigung ihres ersten Urteils. 
An Männern, welche dieses unritterliche Vorgehen haben erfahren 
müssen, bietet die Weltgeschichte keinen Mangel — mögen sie 
nun Schumann , Hölderlin oder Nietzsche heißen. Der griechische 
Skeptiker sieht tiefer als der moderne Philister. Den Ge- 
nius, weil er in höhere Gegenden stieg als die Herde, darvun für 
krankhaft, seine Werke für minderwertig zu erklären, hätte die 
griechische Kultur schwerlich erlaubt; ob wohl ein gebildeter Athener 
es gewagt hätte, des dunklen Heraklit tiefsinnige Weltdeutung oder 
Piatos mystische Ideenlehre als pathologisch zu bewerten und dar- 
aus einen Grund gegen ihren Wahrheitsgehalt zu entnehmen? Der 
griechische Philosoph aber stellt auch noch bei dem in den Grund- x' 

kräften des Erkennens Gestörten die Frage: was hat Krankheit 
mit Unwahrheit, was Gesundheit mit Wahrheit zu schaffen? Oder 
in der unübertrefflichen Originalfassung: „Denn so wie die Gesunden 
einerseits gemäß der Natur sich verhalten, nämlich der der Ge* 
sunden, andrerseits gegen die Natur, nämlich die der Kranken, 
ebenso verhalten sich auch die Kranken einerseits wider die Natur 
der Gesunden, andrerseits gemäß der Natur der Kranken; so daß 
man auch ihnen, da sie in gewisser Beziehung naturgemäß sich 
verhalten, Glauben schenken muß."^*) 

Man sieht: hier wird ein wichtiges erkenntnistheoretisches 
Problem angeschnitten. Geht man von der Annahme einer Wahr- 



13^ Erster Abidimtt. Die griechische Skepsis. 

heit an sich aus, deren Bedenklichkeit schon berührt wurde, so 
ist allerdings nicht einzusehen, ob der Geisteskranke, der eine Schar 
weißer Mäuse durch das Zimmer huschen sieht, ob der Gesunde, der 
kein einziges solches Tier erblickt, im Besitz dieser Wahrheit an 
sich sein sollte. Denn warum sollte die „Wahrheit an sich " in der 
Wahrheit für den Gesunden reiner erscheinen als in der Wahrheit 
für den Kranken? Die Wahrheit an sich hat a priori mit Gesund- 
heit und Krankheit nichts zu schaffen, steht beiden Begriffen gleich 
nah, weil gleich fern. Etwaige Vorzüge könnten doch nur gemäß 
den Wahrheitsregeln für eine der Parteien ausgemacht werden, über 
deren absolute Verbindlichkeit aber gerade die Wahrheit an sich 
zu Gericht sitzen soll. Der Zirkel ist vollständig und ihm nicht zu 
entrinnen. 

Günstiger liegen die Verhältnisse, wenn wir die Wahrheit in 
ihrer einzig sinnvollen Bedeutung, als Beziehung, und in ihrer 
einzig verwertbaren Bedeutung, als Beziehung auf den Menschen 
fassen. Sieht man von den Voraussetzungen des Solipsismus, 
d. h. von der Meinung ab, daß nur ich existiere, und gesteht 
man auch andern Menschengeistem Dasein zu, so dürfen wir die 
pathologischen Aussagen des heilbaren Geisteskranken mit gutem 
Grunde als fälsche bewerten. Denn sie erfüllen die Bedingungen 
nicht, welche unsre und seine Erkenntnisprinzipien an die Wahr- 
heit einer Aussage stellen« Der geheilte Delirant, so gut wie wir, 
glaubt weder vor noch nach seiner Krankheit an die (zukünftige 
oder vergangene) ErfiiUung seines Zimmers mit weißen Mäusen. ^5) 
So scheidet die Jagd der Mäuse, nicht als Tatsache seines Bewußt- 
seins, aber als objektives Geschehnis, aus seinen Annahmen aus, 
und der einheitliche Zusammenhang seiner Erfahrung (der durch 
dasselbe unterbrochen worden wäre), die WidersprucMosigkeit seiner 
Vorstellungen (die mit demselben nicht vorhanden wäre) sind wieder- 
hergestellt; darum gilt ihm diejenige Aussage, welche in sein ein- 
heitliches und widerspruchloses, d. h. wahres WeltbUd nicht hinein- 
paßt, als falsch. Denn das Falschheitsgefuhl kettet sich — wir 
werden das später auszuführen haben — notwendig an alle Urteile, 
die nur einer Erfahrung oder einem unsrer Denkgesetze wider- 
streiten. Aber wie die Mäusejagd als objektives Geschehnis aus 
seinem Weltbild ausscheidet, so gliedert sich andrerseits das nach- 
weisbar Wirkliche an ihr, nämlich die Vorstellung derselben als 
einer objektiven, einheitlich und widerspruchlos in dieses Weltbild 
ein. So genau der Geheilte es begreift, daß das einst als wirklich 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 137 

vorgestellte Ereignis nicht wirklich hat eintreten können, weil es 
dem strengen Kausalzusammenhang der Erfahrung, den gesunde 
Erkenntnisprinzipien für die sinnliche Welt zum mindesten fordern,, 
zuwiderläuft, imd er deshalb die Irrtümlichkeit der einstigen Aus- 
sage einsieht, genau so gut begreift er nach den nämlichen Er- 
kenntnisprinzipien die Notwendigkeit dieser Halluzination im ge- 
gebenen Zeitpunkt; er weiß, daß eine übermäßige Zufuhr von 
Alkohol den Stoiiumsatz in unserm Körper verändert und als 
seelische Begleiterscheinung täuschende Vorstellungen über die ob- 
jektive Wirklichkeit hervorruft. ^^ So urteilt der Gesunde wie der 
Geheilte nach den gleichen Erkenntnisprinzipien, denen sich nun 
auch die Aussagen aus der Krankheit unbedingt fügen müssen. 
Der Stempel der Falschheit, der ihnen vom gleichen Subjekt,^ 
das einst ihr Träger war, aufgedrückt wird, ist das Zeichen ihrer 
Unterwerfung. Es sind demnach die Phantasieurteile des geheilten 
Deliranten für diesen selbst, wie für den Gesunden, falsch; für 
niemanden aber wahr, also überhaupt im menschlichen Sinne — 
falsch. 

Anders, wo es sich um unheilbare Geisteskranke handelt. 
Auch deren Aussagen, soweit sie den „gestörten" Bewußtseins- 
teilen entspringen, hält der Gesunde natürlich für falsch. Aber 
auch der Kranke? „Es gibt eine Natur des Gesunden und eine 
Natur des Kranken". Empfindet auch dieser es als Widerspruch,. 
Napoleon I. zu sein? und wenn er es tut, hindert ihn dieses Wider- 
spruchsgefühl an dem Glauben, er sei der französische Kaiser ^ 
Hat er vielleicht, wie wir, auch eine einheitliche Erfahrung, oder 
bedarf er, um etwas wahr zu finden, nicht wie wir dieser Einheit- 
lichkeit? Der Geheilte gab uns darüber Aufschluß, der Unheilbare 
vermag es nicht. Die einzige Probe darauf — Hineinversetzung 
in die Seele des Kranken — ist uns versagt. Und so müssen wir 
auch hier die Möglichkeit zugeben, daß für den unheilbar Geistes- 
kranken eine andre, uns unbegreifliche Wahrheit besteht. Zwar 
wird die Wahrscheinlichkeit davon durch ganz besonders nahe- 
gelegte Analogieschlüsse auf eine verschwindend kleine Größe 
herabgedrückt Die enge Verwandtschaft zwischen den Krankheits- 
bildem Geheilter und Ungeheilter, Geisteskranker mit und ohne 
Krankheitsbewußtsein, die Ähnlichkeit gewisser Zustände in den 
völlig Normalen (Assimilation beim Lesen) mit den pathologischen 
Illusionen ^^ usw. — all das läßt vermuten, daß auch der Unge- 
heilte kein anders gerichtetes Wahrheitsgefühl als der Gesunde 



13^ Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

besitze; daß auch bei ihm die nämlichen Beziehungen (empirische, 
logische Widerspruchlosigkeit) das Evidenzgefuhl erregen, daß aber 
diese Beziehungen ihm in ihrer Eigentümlichkeit auf gewissen Gebieten 
nicht mehr klar zum Bewußtsein kommen. Immerhin ist die hier 
erreichbare Sicherheit nur so groß, wie die Gewißheit, die eben aus 
derartigen indirekten Analogieschlüssen sich ergibt. Das betone 
man im Interesse unsrer Wahrheit, der der Philosoph lieber ganz 
gewisse Kriterien in einem kleinen Wirkungskreise verschafTen sollte, 
statt ihre unendliche Gültigkeit, und sei es auch nur in der mensch- 
lichen Sphäre, dogmatisch zu behaupten und dadurch ihre sichere 
Herrschaft im Endlichen zu gefährden. Daß die alten Skeptiker hier 
den Finger auf die Wunde legten, zeugt gewiß von dem erkenntnis- 
theoretischen Ernst und Tiefblick, der dieser Schule zu eigen ist. 
Die Möglichkeit dieser „Kranken -Wahrheit" zugegeben — so gilt 
natürlich auch von ihr alles, was über die Wahrheit andersartiger 
Wesen bereits gesagt wurde; sie ist den Gesunden verschlossen, 
und noch viel weniger vermögen diese zu sagen, ob sie oder jene 
Kranken die „wahrere Wahrheit" besitzen. 

So werden wir uns abermals bescheiden müssen und schon 
ganz zufrieden sein, wenn wir die für den gesunden Menschen 
bestehenden Wahrheiten zu finden imstande sind. 

Und man halte es nicht für lächerliche Pedanterie, sondern 
für erkenntnistheoretische Pflicht, hier den Kreis der erkennenden 
Subjekte noch einmal zu verengen. Streng genommen wissen wir 
nur von den Wahrheitsbedingungen für das eigene Selbst, weiß jeder 
nur völlig gewiß, was seine eigene Person für wahr halten muß. 
Wenn man seine axiomatischen Überzeugungen auch von allen übrigen 
normalen Menschen notwendig geteilt glaubt, so sollte man sich 
bewußt sein, daß auch dieser Glaube zwar aufeinem der gesichertsten 
Analogieschlüsse, aber immerhin doch auch nur auf einem Analogie- 
schluß beruht. Aus den Äußerungen des Wahrheitsbewußtseins 
andrer und ihrer Gleichheit mit dem meinigen, aus den gleichen 
Bau- und Funktionsverhältnissen der Bewußtseinsorgane schließe 
ich auf ein gleiches Wahrheitsbewußtsein als Ursache dieser ÄufSe- 
rungen, als Begleiterscheinung dieser Funktionen. Alle Bedingungen 
der Analogie, qualitativer, quantitativer Art, sind hier in muster- 
gültiger Weise erfüllt. Aber die empirische Probe auf die Rich- 
tigkeit, die Prüfung an der Erfahrung ist uns grundsätzlich ver- 
sagt. Und so erreicht auch dieser Glaube nur den größtmöglichen 
Grad von Gewißheit, den die Konklusion eines solchen Schlusses 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 139 

Über tatsächliche Verhältnisse eben erreichen kann. Nur unter 
diesem Vorbehalt darf streng genommen von menschlicher Wahrheit 
gesprochen werden. Es ist die Wahrheit für den Einzelnen, die 
dieser aus Gründen der Analogie zur Wahrheit für alle Menschen erhebt 

Engen wir hier die Problemstellung wieder auf diejenigen Er- 
kenntnisse ein, deren Beurteilung den eigentlichen Kern der zehn 
skeptischen Tropen ausgemacht hatte, so erwarten wir: daß die 
Prinzipien der sinnlichen Erkenntnis beim gesunden Menschen 
uns zur Auffindung der gesuchten Wahrheiten irgendwie behilflich 
sein werden. Aber auch diese Möglichkeit bestreitet die antike 
Skepsis durchaus. Ihre zahllosen Angriffe auf die sinnliche Erkennt- 
nis sind nur so viele Variationen des gleichen Themas: die sinn- 
lichen Wahrnehmungen sind alle nicht als wahr (glaubwürdig) zu 
erweisen; denn sie führen zu unauflöslichen Widersprüchen, Soll 
man einen Satz von so gewichtiger Bedeutung beurteilen, so darf 
eine gründliche Kritik bereits die Voraussetzungen nicht un- 
untersucht durchschlüpfen lassen, auf denen er ruht. Denn der 
Sinn einer erkenntnistheoretischen These und somit ihre Tragweite 
läßt sich nur in solcher Weise zur vollen Klarheit erheben. Wir 
werden sehen, daß es sich hier um ein ganzes Nest solcher 
Voraussetzungen handelt, mit deren Annahme die skeptische 
Theorie vom Trug aller Wahrnehmungen steht und fällt. Diese 
Voraussetzungen beziehen sich naturgemäß alle auf den Sinn, in 
dem man die Sätze: eine sinnliche Wahrnehmung ist glaubwürdig, 
ist unglaubwürdig, ist trügerisch (d. h. läßt nicht erkennen, ob sie 
glaubwürdig oder unglaubwürdig ist) zu verstehen hat; sie beziehen 
sich alle auf die Aufgabe, die man der sinnlichen Wahrnehmung 
stellt und nach deren Lösung man die Fähigkeit dieser Funktion 
unsres Bewußtseins beurteilt. Hier lassen sich nun die verschie- 
densten Annahmen machen und sind im Verlauf der Geschichte 
der Philosophie in der Tat gemacht worden. Aber sie alle ordnen 
sich in die drei erkenntnistheoretischen Grundpositionen 
ein, die überhaupt die einzig möglichen sind. Wir wollen dieselben 
als extremen Realismus, extremen Idealismus, gemäßigten 
Realismus, der zugleich gemäßigter Idealismus, also Idealrealis- 
mus ist, bezeichnen. 

Von diesen Positionen wird durch die Skepsis zu Tode ge- 
troffen eigentlich nur der Standpunkt des extremen Realismus. 
Man wird nun unschwer zeigen können: a) daß dieser Standpunkt 
es zugleich ist, den die antike Skepsis in ihrer Kritik der sinn- 



140 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

liehen Wahrnehmung einzig und allein zur Voraussetzung hat; b) daß 
man von diesen Voraussetzungen aus — was die Erkenntnis der 
Dinge durch die isolierten Sinneswahmehmungen betrifft — aller- 
dings unweigerlich zu skeptischen Konsequenzen gedrängt wird; 
c) daß es aber gar nicht die einzigen Voraussetzungen sind , die man 
machen kann, und daß die andern erkenntnistheoretischen Gnmd- 
positionen diesen skeptischen Folgerungen — so, wie sie von den 
Pyrrhonikem gezogen wurden — entgehen. Daneben wird sich 
herausstellen, daß diese Voraussetzungen der antiken Skepsis nicht 
selbst wieder erarbeitete und begründete sind, wie diejenigen der 
modernen Erkenntnistheoretiker, sondern logisch willkürliche und 
psychologisch oft unbewußte; daß sie aber auch keineswegs durch 
die sinnlichen Wahrnehmungen selbst gegeben und dadurch etwa 
eines Beweises überhoben, sondern erst in einer logischen Aus- 
deutimg des gegebenen Tatbestandes gegründet sind. 

I. Die Anschauungsweise des extremen Realismus in seiner 
positiven Form läßt sich kurz dahin bestimmen: es existieren un- 
abhängig vom menschlichen Bewußtsein Dinge, Gegenstände, Ob- 
jekte ^^, begabt mit Eigenschaften, welche den von uns "" wahr- 
genommenen wesensgleich sind; indem diese Dinge auf uns irgendwie 
wirken, drücken sie unserm Bewußtsein gewissermaßen ihren Stempel 
auf, so daß der menschliche Geist sie durch diesen Stempel erfaßt; 
die Objekte und die subjektiven Wahrnehmungen der Objekte ver- 
halten sich wie das Original zur Kopie, wie die Gestalt zu ihrem 
Spiegelkonterfei. Alle Bestandteile der Wahrnehmung sind, ins 
Objektive umgesetzt, soviele Bestandteile der Dinge selbst, haben 
also alle Wirklichkeitswert, gelten insgesamt von den realen Dingen 
an sich. Man sieht: hier ist der Realitätswert der Wahmehmungs- 
bestandteile ein extremer. Eine sinnliche Anschauung hat nun also 
die Aufgabe: die Dinge an sich selbst getreulich wiederzugeben, 
und der Sinn der Frage nach der Glaubwürdigkeit und Wahrheit 
kann hier nur der sein: erfüllt eine sinnliche Vorstellung diese 
Aufgabe; d.h. ist sie eine treue Kopistin, ein glatter Spiegel, eine 
fugsame Stempelempfangerin?, oder aber: entstellt ihr Abbild das 
Urbild, bricht ihre Spiegelung die Strahlung des Objekts zur un- 
kenntlichen Karikatur desselben, hindert ihre Eigenart die Züge 
des Stempels, sich unverändert aufzuprägen? Der extreme Realist 
positiver Färbung bekennt sich zum Glauben an die erste Möglich- 
keit: die sinnlich wahrnehmbaren Dinge (ein Baum, ein Tisch) 
können vom menschlichen Geist in allen ihren Eigenschaften, so wie 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischeii Skepsis. 141 

sie an sich selbst sind, erkannt werden, und wie der Geist sie auf- 
faßt (von einigen leicht zu korrigierenden „Sinnestäuschungen" ab- 
gesehen) , so sind die Dinge an sich selbst beschaffen. Der Baum, 
dessen Blätter ich griin, dessen Stamm ich braun sehe, dessen 
harte Rinde ich taste, dessen süße Früchte ich schmecke, dessen 
Rauschen der Wipfel ich höre, besitzt auch an sich grüne Blätter, 
eine braune Rinde, ist an sich hart, trägt an sich süße Früchte 
und seine Wipfel rauschen an sich. Für die moderne Wissenschaft 
ist diese Auffassung längst gestorben; sie lebt heute nur noch im 
populären, unkritischen, naiven Bewußtsein (naiver Realismus)^*); 
sie ist der erkenntnistheoretische Standpunkt des Durchschnitts- 
menschen, der sich über philosophische Probleme keine Gedanken 
macht. *^) Die scharfsinnigen Zweifler des Altertums sahen wiederum 
weiter als der heutige Laie. Sie erkannten, daß bei einem solchen 
Verhältnis zwischen Ding und Wahrnehmung man an einer positiven 
Lösung nicht festhalten könne, diese positive Lösung wenn nicht 
in eine negative, so doch in eine skeptische umzuwandeln habe. 
Sie blieben zwar extreme Realisten; aber in Bezug auf die Mög- 
lichkeit, durch die sinnlichen Wahrnehmungen die realen Eigen- 
schaften der Dinge zu erkennen, kehrten sie den gläubigen Opti- 
misten den Rücken und wurden ungläubige Pessimisten. In ihrem 
Nachweis von der Notwendigkeit dieses Schrittes liegt 
ihre erkenntnistheoretische Großtat; in dem Ausgangs- 
punkt, von welchem sie diesen Schritt unternahmen, ihre 
Beschränkung und ihre Überwindbarkeit. 

Der extreme Realismus der Skepsis erhellt aus nichts so deut- 
lich, wie aus der Art von Widersprüchen, die diese Schule 
zwischen den sinnlichen Wahrnehmungen aufgedeckt haben wollte. 
Denn alle Widersprüche, von denen aus man alsbald die Erkenn- 
barkeit der Dinge bezweifelte, sind überhaupt nur für die ex- 
trem realistische Perspektive — Widersprüche! 

Dabei hebt sich eine Gruppe realistischer und objektivistischer 
Voraussetzimgen von den andern dadurch ab, daß sie von den 
zwei übrigen erkenntnistheoretischen Grundpositionen aus gemein- 
sam verworfen wird; daß die skeptische Entwicklung von Wider- 
sprüchen hier als willkürliche (wenn auch unbewußte) Konstruktion 
entlarvt und dieser Angriff auf die objektive Erkenntnis von beiden 
in gleicher Weise abgeschlagen wird. 

Denn wenn wir die Beweise dafür durchgehen, daß die sinn- 
lichen Wahmehmimgen uns niemals die realen Beschaffenheiten der 



142 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Dinge erkennen lassen, so scheidet eine Gruppe derselben als für 
unsere Zeit überwunden von vornherein aus. Es ist die des öfteren 
nebenbei 2^), aber erst im 9. Tropus (bei Sextus) in dem ganzen 
Pomp eines vollgültigen und selbständigen Beweises auftretende 
Erwägung:**) daß das nämliche Objekt (z.B. das Meer) in den ver- 
schiedenen Subjekten, ja im gleichen Subjekt zu verschiedenen 
Zeiten ganz entgegengesetzte Gefühlstöne erregen kann; in Er- 
mangelung eines genügenden Kriteriums lasse sich nun nicht aus- 
machen, wer das glaubwürdigere Bild vom Gegenstand besitzt; so 
erscheint mir das Meer beim ersten Anblick erstaunlich, später, 
wenn sich der Eindruck abgeschwächt hat, vielleicht gleichgültig, 
ja langweilig. Wie ist es an sich, erstaunlich oder langweilig? 
Sicherlich hätten die Skeptiker recht und die Dinge ließen sich 
in ihren Gefühlsqualitäten nicht erkennen, wenn es sich hier über- 
haupt — um Eigenschaften der Dinge handelte. Wir sind aber 
längst nicht mehr gewohnt, die Gefühle der Lust und Unlust, des 
Staunens und der Langeweile als Qualitäten der Objekte zu fassen, 
sondern lediglich als Reaktionen des Subjekts auf die Objekte, als 
rein subjektive, nur dem Individuum angehörende Zu- 
stände. Das Meer als Objekt ist also weder staunenswert noch lang- 
weilig; es löst nur (je nach der seelischen Disposition des Subjekts) 
ein bestimmtes intrasubjektives Gefühl des Staunens oder der Lange- 
weile aus. Wenn wir dennoch sagen: das Meer ist erstaunlich, so 
ist das nur eine laxe und ungenaue Ausdrucksweise für den ge- 
schilderten Tatbestand. Kein Besonnener denkt mehr daran, die 
Gefühlstöne, die sich an alle unsre Wahrnehmungen heften, zu 
objektivieren. Ein Knäuel von Widersprüchen wäre die Folge 
davon. Wenn ich mich andre, so ändern sich auch meine Gefühle 
über das gleiche, im übrigen starr und unveränderlich gebliebene 
Objekt. (Man denke, mit welch andern Gefühlen das Kind, der 
Jüngling, der Greis etwa die „ewigen" Felszacken eines schweize- 
rischen Bergriesen betrachten.) Andrerseits können alle objektiven 
Veränderungen in mir die gleiche, subjektive Gefuhlstimmung 
hervorrufen, wenn nur ich selber (was freilich selten genug vor- 
kommt) ganz einheitlich und gleich mich verhalte. (Man denke 
an den gleichmäßig veranlagten Sanguiniker, dem die „tragischsten" 
Ereignisse heiter und rosig erscheinen.) Wenn so alles dazu drängt, 
die Gefühle ins Subjekt zurückzunehmen, so zwingt uns nichts, 
sie den Objekten anzuhängen. Logische Vemunfterwägungen ge- 
wiß nicht, wie man eben sah; aber auch nicht etwa anschauliche, 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechiscben Skepsis. I43 

rein sensuelle Beweggründe. Während mich meme Sinneswahr- 
nehmungen einen Apfel als Gegenstand im Raum unmittelbar als 
ein glattes, rundes und farbiges Objekt empfinden lassen, auch 
der Ton des zur Erde fallenden Apfels, ja der Geruch und Ge- 
schmack der Frucht auf dieses räumliche Objekt unmittelbar be- 
zogen und in das objektive Raumgebilde einigermaßen eingeordnet 
werden, und es erst der hinzutretenden Reflexion bedarf, um ge- 
wisse dieser Eigenschaften dem Gegenstand wieder abzusprechen *•), 
so ist von einem solchen unmittelbaren Übertragungszwang 
bei den Gefühlen nicht die Rede. Wenn ich beim Anblick des 
frischen Apfels Lust verspüre, und beim Anblick des runzligen und 
wurmstichigen Unlust, so sagt mir meine Selbstwahmehmung ganz 
unmittelbar, daß ich lustvoll gestimmt bin und nicht der frische 
Apfel, ich unlustvoll, und nicht die faule Frucht. Man hat dem- 
nach weder unmittelbare noch mittelbare Gründe, die Gefühle als 
den Dingen gehörig zu betrachten, und die Widersprüche, zu denen 
eine solche Übertragung führt, werden zum apagogischen Beweis 
für die Unrichtigkeit derselben. Einzig den Umstand könnte man 
für die Objektivität der Gefühle geltend machen, daß sie zur 
gleichen Zeit im Bewußtsein sind wie die sinnlichen Empfindungen 
über einen Gegenstand und daß sie mit diesen zu einem einheit-, 
liehen Bewußtseinszustand verschmelzen.**) Aber wenn man allen 
Komponenten des Bewußtseins, das in jedem einzelnen Augenblick 
immer einheitlich ist, gleichmäßig objektiven Wert beimessen 
wollte, so müßte man auch die Willensregung, den Apfel vom Baume 
zu holen, auf den Gegenstand übertragen, woran doch niemand 
im Ernst wird denken wollen. Trotz dieser zuzugebenden Einheit- 
lichkeit des Bewußtseins in jedem bestimmten Augenblick brauchen 
die Elemente desselben nicht gleiche „Richtungslinien" zu zeigen, 
sondern die einen können nach innen, die andern nach außen 
weisen; und das nicht nur als Ergebnis gedanklicher Korrekturen 
verstanden, sondern unmittelbar und als reine Erfahrung. Denn 
unsre Bewußtseinszustände sind zwar in jedem Augenblick einheit- 
lich, aber nicht einzig, wie die moderne Psychologie in ihren 
Untersuchungen über den Umfang des Bewußtseins immer zwin- 
gender nachweist. — Endlich könnte man noch sagen: wenn auch 
niemand daran dächte, den Objekten selbst die GefTihlsqualitäten 
zuzuschreiben, so käme den Dingen doch die Eigenschaft zu, ge- 
wisse Gefühle im Subjekt zu erregen, und die Unerkennbarkeit 
dieser Eigenschaften behaupte eigentlich die antike Skepsis; sie 



144 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

frage nur danach, die Erregung welcher Gefühle im Subjekt — 
abstrahiert man von dessen, durch andre Umstände bedingten, 
augenblicklicher Seelenverfassung — zur Eigenschaft des Meeres, 
<les Kometen, des Erdbebens usw. gehöre und finde nur diese 
Frage unentscheidbar. Aber abgesehen davon, daß diese Recht- 
fertigung die korrekte Ansicht der Pyrrhoniker durchaus nicht 
wiedergibt*^), hat man nicht den geringsten Anlaß, die Eigenschaft 
der Gefuhlserregung als eine besondere Eigenschaft der Dinge neben 
andern Eigenschaften anzusprechen. Vielmehr besteht sie nur in 
-diesen andern und in der Summe dieser andern. Dem Objekt 
wächst durch die Möglichkeit, Gefühle zu erregen, auch nicht der 
Bruchteil einer neuen Qualität zu, sondern sie ist nur der Ausdruck 
von der Fähigkeit des Subjekts, auf die Wahrnehmung der Tota- 
lität der Objektseigenschaften mit Gefühlen zu reagieren. Dem 
Meere kommt also neben der Kühle, der Bewegtheit, der Bläue 
nicht noch die Eigenschaft zu: Bewunderung zu erregen, sondern 
mit dem Gefühl der Bewunderung beantwortet mein Bewußtsein 
die Vorstellung des blauen, bewegten und kühlen Meeres. Nimmt 
man einmal an — die Berechtigung dieser Annahme soll später 
geprüft werden — das Meer als Objekt „bewirke" im Subjekt die 
Wahrnehmungen der Bläue, der Bewegtheit, der Kühle, so wäre 
für eine jede derselben die Ursache im Objekt besonders auf- 
zusuchen; wobei noch gänzlich unausgemacht bleiben kann, ob die 
Wirkung der Ursache hier adäquat ist oder nicht; für das Gefühl 
der Bewunderung brauchte man aber nicht nach einer besonderen 
Ursache im Objekt sich umzusehn; einer solchen würde man auch 
vergeblich nachspüren. Denn dieses Gefühl erklärt sich restlos als 
die Welle, welche das Meer unseres Bewußtseins schlägt, erregt 
durch die Wahrnehmungen der Bläue, Kühle, Bewegtheit. 

So begeht die antike Skepsis also eine vollständige petitio 
principii, wenn sie, auf der unbewiesenen Voraussetzung fußend, 
die Gefühle (oder die Fähigkeit Gefühle zu erregen) seien be- 
sondere Eigenschaften der Dinge, die Unerkennbarkeit dieser Eigen- 
schaften beweist Die Widersprüche in den Gefühlen sind nun, 
da es sich um Aussagen nicht mehr über das gleiche Objekt, 
sondern über verschiedene Dispositionen des Individuums handelt, 
— keine Widersprüche mehr. Und aus dem, was an den skep- 
tischen Einwänden zu Rechte besteht: daß das gleiche Objekt im 
Subjekt verschiedene Gefühle auslösen kann, ist keine Instanz 
gegen die Möglichkeit herzuleiten, mit Hilfe der sinnlichen Wahr- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 145 

nehmung die Objekte zu erkennen. Das Gebiet, das der Erkenntnis 
durch die Skepsis verschlossen werden sollte, existiert nicht; das- 
jenige aber, welches existiert, die gesetzmäßige Veränderlichkeit 
subjektiver Gefiihlsreaktionen auf objektiv gleiche Reize, ist — wie 
die Arbeiten der modernen Psychologie immer mehr zeigen — 
durchaus der Erkenntnis zugänglich. 

Ähnlich ist es mit dem skeptischen Einwand (im gleichen 
Tropus) bewandt: unsre Auffassung vom Wert der Dinge hänge 
von variablen Momenten ab.**) Wäre Gold häufig wie Wasser 
und Wasser spärlich wie Gold, so würden wir Wasser für wert- 
voll und Gold für wertlos ansehn. Sind Gold und Wasser nun 
wertlos oder wertvoll? 2«) Diese Behauptungen sind wieder voll- 
kommen richtig; nur die Konstruktion von Widersprüchen zwischen 
ihnen ist unberechtigt und die daraus fiießende Frage schief ge- 
stellt. Denn auch die Werte sind nach unserm heutigen Dafür- 
halten nicht Eigenschaften der Dinge, sondern durchaus nur Be- 
ziehungen von den Dingen zu uns, näher zu unserm Wollen. Ist 
ein Ding Ziel eines Willens, so ist es für diesen Willen wertvoll. 
Daß die Werte völlig relativ und variabel sind, weil es gradezu 
ihrem Wesen eignet, im Verhältnis zu etwas Veränderlichem zu 
stehen und erst durch diese Relation Dasein zu erhalten, ist heute 
anerkannte Tatsache. Die Begründung derselben ist die gleiche, 
wie bei der Subjektivität der Gefühle; wir können sie uns also 
ersparen. Sind nun die Werte — mathematisch gesprochen — 
Funktionen einer andern Größe und ändern sie sich auch not- 
wendig mit dieser, so ist diese Änderung der menschlichen Willens- 
ziele im Einzelnen wieder keine beliebige, sondern läßt sich nach 
strengen Gesetzen berechnen. Die Nationalökonomie ist im wesent- 
lichen eine wissenschaftliche Theorie von den gesetzlichen Ab- 
hängigkeitsbeziehungen dieser relativen Werte. Eine gewisse Aus- 
nahme scheinen allerdings die moralischen Werte auch heute 
noch für einige zu machen, die vom absoluten Wert der sittlichen 
Gesinnung, der Persönlichkeit usw. reden. Ihnen ist der moralische 
Wert ein absoluter, entweder als ein kraft irgendwelcher höheren 
Sanktion gesoUter oder als ein notwendig von allen Individuen 
gewollter. Aber diese Werte wird doch niemand deshalb für un- 
veränderliche Eigenschaften sinnlich wahrnehmbarer Objekte halten; 
sie berühren also unser augenblickliches Problem nicht, sondern 
ihre Beurteilung gehört der Kritik der skeptischen Ethik an. Ver- 
schiedene Behauptungen über den Wert im übrigen gleicher Dinge 

Richter, Sk^rtidsmui. lO 



14^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

sind also nicht verschiedene Meinungen über objektive Eigenschaften; 
sie sind nur Aussagen über die Stellung verschiedener Willens- 
dispositionen zu den nämlichen Objekten, und die Verschiedenheit 
dieser Stellungnahme (der eigentiiche Kern der skeptischen These) 
kann weder für noch gegen die Erkennbarkeit der Objekte zeugen. 

Endlich können wir, um das Feld für den Kampf erkenntnis- 
theoretisch berechtigter Positionen zu säubern, unbedenklich alle 
die Äußerungen in den Tropen für überwunden erklären, in denen 
der Wechsel in den biologisch-physiologischen Wirkungen 
des gleichen Gegenstands für die Ünerkennbarkeit derselben in 
Anspruch genommen wird. Dieser Gesichtspunkt ist für den mo- 
dernen Menschen ein so veralteter, daß jeder, der die Erkenntnis- 
vorgänge nur irgendwann zum Gegenstand leisesten Nachdenkens 
gemacht und sich hier nicht mit den in den Sprachgebrauch nieder- 
gelegten rohesten Anschauungen begnügt hat, kaum mehr die an- 
tike Naivität der Skepsis zu begreifen vermag. Daß eine bestimmte 
Menge Schierlings den einen Organismus tötet, den andern nicht *^), 
kann doch nichts gegen die Erkennbarkeit der Eigenschaften des 
Schierlings beweisen I Denn das Leben -fordernde oder -hemmende 
gehört nicht zu den unveränderlichen Eigenschaften des Objekts 
als solchen, sondern zu den Wirkungen dieser Eigenschaften auf 
andre Objekte, und ist durch die Summe dieser Eigenschaften und 
die Natur des andern Objekts ganz eindeutig bestimmt und er- 
kennbar. Es handelt sich hier also um die Erkenntnis nicht von 
Objekten, sondern von Beziehungen zwischen Objekten, die natur- 
gemäß bei Verändenmgen des einen Objekts sich gleichfalls ändern 
müssen. Nebenbei mag erwähnt werden, daß auch die Objekti- 
vierung dieser Beziehungen ebenso wie die der Werte und Gefühle, 
ohne daß sie durch die sinnliche Wahrnehmung etwa von selbst 
gegeben wäre, als naive Voraussetzung, ohne den Schatten eines 
Beweises uns in dieser skeptischen Philosophie entgegentritt. An 
diese Beladung der sinnlich wahrnehmbaren Dinge mit Gefühlen, 
Werten und einer sich überall identisch äußernden kausalen Fähig- 
keit glaubt heute niemand mehr, und wir müssen uns die plastische 
Geistesart der Griechen in ihrer vollen Stärke in die Erinnerung 
rufen, um die Verdinglichung dieser Elemente in den Schriften 
so scharfsinniger Denker auch nur zu verstehen. 

In der Ablehnung dieser Verdinglichung sind die verschiedenen, 
ja einander entgegengesetzten erkenntnistheoretischen Parteien der 
neueren Zeit wohl alle einig, welche Bedeutung sie auch dem 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischeii Skepsis. 147 

Begriff des Dinges beilegen, ob sie denselben im Sinne des extremen 
Idealismus Berkeleys, des Realidealismus Lockes oder des transzen- 
dentalen Idealismus Kants umgrenzt wissen wollen. ^^) Die Zurück- 
weisung der skeptischen Angriffe läßt sich in die Formel zusammen- 
lassen: was hier erkannt werden soll, existiert nicht; also auch 
nicht der Widerspruch in den Wahrnehmungen darüber, die nur 
imter der Voraussetzung dieser Existenz in Widerspruch stünden; 
imd was hier existiert, kann erkannt werden, ohne daß Wider- 
sprüche grundsätzlicher Art dabei zu überwinden wären. 

Doch die Skepsis geht weiter: nicht nur Gefühle und Werte, 
auch diejenigen Eigenschaften , die wir im gewöhnlichen Leben den 
Dingen zuzusprechen pflegen, wie Größe, Gestalt, Figur, Farbe, 
Geruch, Geschmack usw., mit einem Wort die empfundenen 
Qualitäten, sie sind nicht erkennbar; denn auch ihre Auffassung 
•durch die Empfindung ist gänzlich relativ und wechselt mit den 
subjektiven Bedingungen, von denen sie abhängt. 

In der Lösung dieses Problems trennen sich nun die Parteien. 
Es ist daher wichtig, die Voraussetzungen der Skepsis hier mit 
■aller Schärfe aufzudecken, schärfer als bisher, wo nur das an ihnen 
formuliert werden konnte, dessen Überwindung sich als heute all- 
gemein geteilte Ansicht entwickeln ließ, wo daher der skeptische 
Objekt- und Dingbegriff in seiner engeren Bedeutung noch nicht 
berührt werden durfte. 

Zunächst sind die skeptischen Angriffe nur unter der extrem - 
realistischen Voraussetzung verständlich: daß alle durch die Sinne 
aufgefaßten Eigenschaften nur Abbilder von den Dingen selbst 
.zukonunenden, den vorgestellten wesensgleichen Eigenschaften sind. 
Daß diese Abbilder dann notwendig unbrauchbare, unkenntliche, 
entstellende sein müssen, in dieser Behauptung liegt der eigent- 
liche Schwerpunkt der skeptischen Tropen. Man rufe sich die 
Gedankengäi^e derselben in die Erinnerung zurück: überall ist das 
Beweisziel die Unerkennbarkeit der Dinge an sich selbst, überall 
■der Beweisgrund: der Widerspruch in den sinnlichen Wahrneh- 
mungen über dieselben. Aber durch diesen Grund wird jenes Ziel 
nur erreicht, wenn man alle Voraussetzungen, welche die Skepsis 
über die Dinge an sich, deren Dasein, deren Eigenschaften, die 
Art ihrer Erkenntnis machte, zu teilen entschlossen ist. Denn 
überall nehmen ihre Argumentationen hier den gleichen Gang: 
das nämliche Ding X wird nach Farbe, Geruch, Geschmack, Tem- 
peratur, GröfSe, Gestalt, Bewegung usw. verschieden wahrgenommen 

10* 



14^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

von Tier und Mensch, den einzelnen Menschen *•), den verschie- 
denen Sinnen der gleichen Menschen, dem gleichen Sinn des 
gleichen Menschen unter verschiedenen Umständen, in verschie- 
denen Entfernungen und Zusammenhängen. Da es nun unent- 
scheidbar ist, welcher Sinn, unter welchen Umständen ein bestimmter 
Sinn die „wahre" Wahrnehmung der Dinge hat (in skeptischer 
Redeweise: den Vorzug verdient), d. h. die den Dingen unabhängig 
von unsrer Auffassung wirklich zukommende Farbe, Temperatur, 
Größe, Gestalt usw. erkennt, so bleibt stets zweifelhaft, wie das 
Ding an sich selbst beschaffen ist. Die Timonische Frage: wie 
sind die Dinge beschaffen? ist von der sinnlichen Wahrnehmung 
nicht zu beantworten. Die extrem -realistischen Bedingungen für 
diese Folgerung leuchten ein. Die ganze Problemstellung nämlich 
ist nur unter den Annahmen möglich: 

1. daß es Dinge an sich unabhängig vom Bewußtsein 
des Menschen gibt. Diese Annahme tritt als etwas Selbstver- 
ständliches, keines Beweises Bedürftiges bei den alten Skeptikern 
auf. Nirgends sind wir in ihrer Lehre auf einen Rechtfertigungs- 
grund für diese Voraussetzung gestoßen. Aber dieselbe läßt sich 
nicht nur aus den erkenntnistheoretischen Fragestellungen der 
Pyrrhoniker, nicht nur aus den terminologischen Gebräuchen ent- 
nehmen, nach denen uns immer wieder die Dinge an sich, ta 
VTtoHBipiBya , ta q)v6zi ovxa^ ta ortcog ovta usw. als das alleinige 
Erkenntnisobjekt begegnen; sogar entschlüpft dieser übervorsichtigen 
Sekte gelegentlich die dogmatische Behauptung von dem Dasein 
an sich existierender Dinge: „wenn wir bezweifeln, ob das Unter- 
liegende so ist wie es erscheint, so geben wir zu, daß es erscheint".*^) 

2. Daß diesen unabhängig von unserm Bewußtsein bestehenden 
Dingen außer den schon vorher erwähnten Gefühlen , ökonomischen 
und biologischen Werten die empfundenen Qualitäten, wie 
Farbe, Geruch, Figur, Größe usw. zukommen. Diese Voraus- 
setzung betrifft also nicht mehr die bloße Existenz unabhängig vom 
Subjekt bestehender Gegenstände, sie erstreckt sich auch auf die 
Auffassung von der näheren Beschaffenheit imd der Natur dieser 
Dinge an sich. Aus den Tropen Aenesidems nämlich geht ganz 
deutlich hervor, daß sich die Skepsis diese Dinge an sich als mit 
sinnlichen Qualitäten begabt vorgestellt und also eine grundsätz- 
liche Gleichartigkeit der Dinge mit unsem Wahrnehmungen an- 
genommen habe. Wenn sie immer und immer wieder die Frage auf- 
wirft, welcher Vorstellung nun, der des Erregten oder des Ruhigen» 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 149 

des Erhitzten oder Abgekühlten, des Auges oder des Getasts der 
Vorzug gebühre, und sie in Ermangelung eines Kriteriums die Frage 
für unentscheidbar hält, so liegt sowohl der Problemstellung wie 
der Lösung die Ansicht zugrunde: einer sei ja wohl im Recht mit 
seiner Wahrnehmung, und erfasse die reale Natur der Dinge an 
sich; nur könne man nicht wissen, wer das sei. Darin aber liegt, 
daß den Dingen Qualitäten gleicher Art zugesprochen werden, wie 
sie das Subjekt erfaßt Ja selbst da, wo sich die Skepsis am wei- 
testen von den extrem -realistischen Voraussetzungen zu entfernen 
scheint, wo sie die Frage aufwirft, ob nicht den Dingen an sich 
mehr oder weniger Eigenschaften zukommen könnten als unsre 
Sinne wahrnehmen, bleibt der Gesichtspunkt ein rein quantitativer 
und an eine prinzipielle Artunterscheidung zwischen den Dingen 
und unsern Vorstellungen ihrer Eigenschaften wird nicht gedacht. 
So bildet selbst hier ein extrem -realistischer Dogmatismus die Vor- 
aussetzung der skeptischen Ergebnisse. 3^) 

3. Die dritte Voraussetzung betrifft das Verhältnis, 
in dem die so beschriebenen Dinge an sich zu den Wahr- 
nehmungen stehen, oder die Aufgabe der sinnlichen Er- 
kenntnis. Sie läßt sich unmittelbar den entwickelten Bedingungen 
entnehmen. Die Vorstellung der Dinge an sich als riechender, 
tönender, großer und kleiner beruht ja nur auf einer naiven Über- 
tragung sinnlich wahrgenommener Bestandteile auf die Dinge. Kein 
Wunder, daß, wenn man den Spieß umdreht und von den Dingen 
ausgeht, wie es die Skeptiker tun, die Aufgabe der Wahrnehmung 
in der getreuen Wiedergabe dieser Dingeigenschaften bestehen muß. 
Weil man in seinen Voraussetzungen unbewußt die Dinge als ob- 
jektiven Spiegel der Wahrnehmungen faßte, darum mußten jetzt 
die Wahrnehmungen das subjektive Spiegelbild der Dinge liefern. 
Und die Aufgabe der sinnlichen Erkenntnis wurde: abbildliche Vor- 
stellung der urbildlichen Dinge zu sein. Ein solches Verhältnis 
konnte natürlich nur dann zustande kommen, wenn die sinnlichen 
Erscheinungen als der passive Abdruck der Dinge in unserm Be- 
wußtsein gefaßt wurden, und in der Tat betonten die Skeptiker 
immer und immer wieder, aber ohne ihre Behauptung zu be- 
weisen, die Passivität des Subjekts bei der Auffassung der Erschei- 
nungen.**) 

Nun haben wir alle Voraussetzungen beisammen, die von der 
Skepsis unkritisch hingenommen, ihrer Theorie der sinnlichen Wahr- 
nehmung zugrunde liegen: auf der einen Seite stehen die Dinge an 



15^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

sich, existierend, farbig, tönend, dreieckig, rechtwinklig usw. (denn 
von den GrefÜhls- und Wertqualitäten können wir hier füglich als 
von einem erledigten Einwand absehen), auf der andern Seite steht 
das Subjekt, das diese Eigenschaften erkennen soll. Der Vorgang 
ist dabei der, daß die Dinge irgendwie dem Bewußtsein des Sub- 
jekts sich aufdrängen, ihre Bilder dem Bewußtsein irgendwie ein- 
drücken — wie, darüber läßt sich die Skepsis nicht näher aus. 
Denn sie ist an der Grenze ihrer Voraussetzungen angelangt und 
nur ihre Voraussetzungen sind dogmatisch.*') 

Daß man von diesen extrem -realistischen Voraussetzungen 
aus zu unauflöslichen Widersprüchen gelangt, welche eine sinn- 
liche Erkenntnis der Beschaffenheiten der Dinge unmöglich machen,, 
haben die Tropen des Aenesidem untrüglich dargetan. Die moderne 
Wissenschaft kann deren Beispiele hier ergänzen, vermehren, im 
einzelnen berichtigen. Grundsätzlich Neues hinzufügen kann sie 
nicht. Denkt man sich nämlich die entwickelten Voraussetzungen 
feststehend und läßt nun die Entdeckung von der Relativität 
und Variabilität der sinnlichen Wahrnehmungen auf sich 
wirken, so folgt die skeptische Geisteshaltung notwendig von selbst 
Dieser Kern der Aenesidemschen Ausfuhrungen behält auch heute 
noch seine volle Kraft. Der Satz von der Relativität der sinn- 
lichen Wahrnehmungen, d. h. der Bedingtheit derselben durch die 
jeweilige Natur des auffassenden Subjekts und das daraus fließende 
Verbot, ohne weiteres von den wahrgenommenen auf entsprechende 
reale Eigenschaften zu schließen, kann als ein Fundamentalsatz auch 
der modernen Erkenntnislehre gelten. Gerade der immer tiefere Ein- 
blick, den uns die Ergebnisse der neueren Sinnesphysiologie und 
-Psychologie in den Bau und die Funktionen der Sinnesapparate 
gewähren, lehrt uns in steigendem Maße den Anteil des Sub- 
jekts beim Zustandekommen der sinnlichen Wahrnehmungen, imd 
läßt es als ganz unannehmbar erscheinen, falls man überhaupt 
reale Gegenstände unabhängig vom Bewußtsein anerkennt, daß die 
realen Reize (etwa Lichtwellen oder Tonschwingungen) als solche 
untransponiert (physiologisch gesprochen) ins Gehirn, (psychologisch 
gesprochen) ins Bewußtsein gelangen. Man denke nur etwa an 
den unendlich komplizierten Bau der Netzhaut, an die getrennten 
Wärme- und Kältepunkte auf der Haut, auf deren gleichmäßige 
Reizung durch den Druck eines Metallstäbchens das Subjekt an 
zwei vielleicht nur durch wenige Millimeter getrennten Stellen mit 
entgegengesetzten Empfindungen reagiert; man denke an die Tat- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 151 

Sache, daß, wenn die Netzhaut mechanisch gereizt wird, auch ohne 
real einfallendes Licht eine Lichtempfindung entsteht; an die Er- 
scheinung der negativen Nachbilder, wo ohne alle äußeren Reize 
das Subjekt aus sich heraus das Bild des vorher gesehenen Gegen- 
standes in den Kontrastfarben erzeugt; man denke an die Phäno- 
mene der Farbenblindheit, bei denen die Farbe des Mohns und 
des Rasens dem Rotgrünblinden gleich erscheint, usw. Wären nun 
Farbe und Helligkeit, Wärme und Kälte Eigenschaften der realen 
Dinge an sich, so hätte die Skepsis ganz recht, wenn sie dieselben 
unerkennbar sein läßt. Denn da der jeweilige Zustand des Sub- 
jekts, durch den die Auffassungsart dieser Eigenschaften bedingt 
ist, im nämlichen Menschen ein wechselnder ist, ohne daß wir für 
einen entsprechenden Wechsel im realen Objekt einen Grund an- 
zugeben wüßten, so läßt sich niemals ausmachen, welcher Zustand 
der „richtige" zur Erfassung dieser Qualitäten sei. 

So kommt die Skepsis vom Standpunkt des extremen Realis- 
mus zu negativen Ergebnissen, während das naive Bewußtsein von 
ihm aus zu positiven Resultaten gelangt. Aber die Grundlagen sind 
die gleichen. Man nimmt an: jenseits des Subjekts stünden die 
Dinge mit sinnlichen Eigenschaften begabt; im subjektiven Bewußt- 
sein spiegelten sich die Dinge — adaequat, wie die positiven 
Realisten, inadaequat oder doch zweifelhaft adaequat, wie die 
negierenden Realisten meinen. Der skeptische Einwand von der 
Unerkennbarkeit der sinnlich empfundenen (nicht gefühlten) Eigen- 
schaften der Objekte ist ernster als alle bisherigen Einwände. Er 
beruht zwar auf einer unbewiesenen Annahme; aber diese Annahme 
ist eine weitverbreitete und in ihrer Verbreitung leicht erklärliche. 
Der Ernst des Problems zeigt sich weiter darin, daß mm nicht 
mehr alle erkenntnistheoretischen Positionen dasselbe in der gleichen 
Art bewältigen, sondern jede in ihrer besonderen Weise. Indem 
die Unhaltbarkeit des extremen Realismus durch die Skepsis zu- 
tage trat und sie damit recht eigentlich diese neuen Positionen 
auslöste, dürfen wir auch sie zu jenen „wohltätigsten Verirrungen" 
rechnen, als welche Kant andre wissenschaftliche Irrtümer einmal 
bezeichnet Diesen neuen Positionen aber wendet sich unser Inter- 
esse nunmehr zu. Denn wenn wir auch die Relativität der sinn- 
lichen Wahrnehmungen der Skepsis zugeben und ihre scharfsinnigen 
Bemühungen auf diesem Punkt rückhaltlos anerkennen, so ziehen 
wir doch ganz andre Folgerungen daraus, als es die Pyrrhoniker 
getan haben. Auf der extrem -realistischen Basis stehend, folgerten 



15^ Erster Abschnitt Die griechische Skepas. 

sie aus der Relativität der Wahrnehmungen rundweg die Ünerkenn- 
barkeit der Beschaffenheiten. Heute können wir unmöglich mehr 
so radikal und so — einfach vorgehen. 

Wir suchen also andre Positionen auf, bei welchen man viel- 
leicht den Widersprüchen entgeht, zu denen der extreme Realis- 
mus fuhrt. Nicht, um dem Skeptizismus um jeden Preis den 
Rücken zu wenden; als ob die Skepsis ein wissenschaftliches Ver- 
brechen wäre, dem man aus Furcht aus dem Wege gehtl Wenn 
die skeptischen Resultate auf überzeugendem Grunde zu ruhen 
schienen, so müßten wir uns ihnen rückhaltlos fügen. Aber wir 
brauchen uns nicht gefangen zu geben, solange diese Bedingungen 
nicht erfüllt sind, solange naive, wiUkürliche, durch nichts gerecht- 
fertigte dogmatische Voraussetzimgen es sind, welche den Skeptizis- 
mus gegen die sinnliche Erkenntnis hervortreiben. Da sehen wir uns 
nach andern erkenntnistheoretischen Grundanschauungen um, die be- 
reits ihre Ausgangspunkte vollbewußt wählen imd begründen, und 
fragen uns: ob auch aus ihnen der totale Skeptizismus entspringt 

Doch empfiehlt es sich jetzt, wo man auf schwierigem Ge- 
lände Gegner wie die Pyrrhoniker zu kritisieren hat, gleich den 
ersten Schritt vorsichtig zu tun, ja die Berechtigung zu irgend 
einem Schritte überhaupt von vornherein sicher zu stellen. Da 
nun jeder Schritt hier in einem Urteil besteht und nur dann zur 
Klarheit und zum Siege führen kann, wenn jedes dieser Urteile 
wahr ist, so erwächst die Pflicht, die Anzeichen, an denen man 
die Wahrheit erkennen kann, durchsichtig zu entwickeln, ehe 
man sich ihrer auf seinem Wege bedient. 

Die Anzeichen der Wahrheit sind zu allen Zeiten, für Laien 
und Philosophen, die gleichen gewesen, ob sie schon den verschie- 
densten begrifflichen Ausdruck erfahren haben mögen. Auch alle 
Theoretiker der Erkenntnis — mögen sie bereits im Ausgangs- 
punkt, in der ersten Anwendung dieser Kriterien, und noch mehr 
im Verlauf und dem Endziel ihrer Untersuchungen zu abweichenden, 
ja gegensätzlichen Ergebnissen gelangt sein — haben sich ihrer 
gleichmäßig bedienen müssen, und selbst die Skeptiker, die jedes 
Wahrheitskriterium grundsätzlich in Frage stellten, machen keine 
Ausnahme von der Regel. 

Die Anzeichen der Wahrheit sind nichts andres als die Eigen- 
schaften, mit derdn Vorhandensein das Wesen der Wahrheit zu- 
gleich erschöpft ist. Eine einzelne Wahrheit ist ein Urteil, dem 
diese Eigenschaften zukommen und die Wahrheit ist (konkret) 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 153 

die Summe solcher Urteile oder (abstrakt) die Eigenschaft solcher 
Urteile. 

Die Anzeichen der Wahrheit bestehen im letzten 
Grunde darin, in einem jeden geistig gesunden Menschen 
ein völlig eigenartiges unausrottbares Gefühl zu erregen. 
Dieses Gefühl von der Wahrheit oder das Überzeugungs- 
gefühl (das objektiv auch als Zustimmungs-, subjektiv 
als Gewißheitsgefühl sich bezeichnen läßt) tritt überall 
notwendig und unausrottbar da auf, wo wir uns bewußt 
sind, daß eine bestimmte Aussage im Einklang mit unsern 
eignen Denkgesetzen und allen uns gegebenen Erfahrungs- 
tatsachen sich befindet. Das Gefühl von der Unwahrheit 
oder das Falschheitsgefühl (auch objektiv als Ableh- 
nungs-, subjektiv als intellektuelles Widerstandsgefühl zu 
bezeichnen) tritt überall notwendig und unausrottbar da 
auf, wo wir uns bewußt sind, daß eine bestimmte Aussage 
im Widerspruch mit nur einem unserer Denkgesetze oder 
nur mit einer uns gegebenen Erfahrungstatsache sich be- 
findet. Dem ist hinzuzufügen, daß wir unter Erfahrungen ganz 
eindeutig nur die unmittelbar uns gegebenen Bewußtseinszustände 
verstehen wollen, daß die Denknotwendigkeiten von den einzelnen 
Philosophen aber sehr verschieden nach Anzahl und Art bestimmt 
werden. Einstimmig rechnet man ihnen die logischen, subjektiven 
Axiome (Satz der Identität, des Widerspruchs, des Grundes) zu. 
Streit herrscht nur über die objektiven Denknotwendigkeiten, die 
Bedingungen aller Erfahrung sind. Wer solche transzenden- 
talen Voraussetzungen anerkennt (etwa Raum, Zeit, Kausalität u. a.), 
für den ist also jede Aussage über eine Erfahrung, soweit sie sich 
auf die Übereinstimmung dieser Erfahrung mit der Erfahrungs- 
bedingung bezieht, auch für alle späteren ErTahnmgen unbedingt 
wahr, denn sie befindet sich in Übereinstimmung mit den Denk- 
gesetzen und allen Erfahrungen, auf deren gemeinsamer Be- 
dingui^ sie fußt. Man ersieht schon aus diesen allgemeinen An- 
gaben: 

I. Daß im strengen Sinn nur ein Urteil, d. h. ein Denkakt 
wahr oder falsch sein kann. Denn nur er enthält die geforderte 
Beziehung des Einklangs oder des Widerspruchs, an welche sich 
das entscheidende Gefühl anschließt; erst ein Urteil oder eine Aus- 
sage behaupten von einem Subjekt Eigenschaften, die ihm begriff« 
lieh oder tatsächlich zukommen sollen, können also mit Logik und 



154 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Tatsachen sich in Konflikt oder Harmonie befinden. Eine isolierte 
Vorstellung dagegen, welcher Art auch immer, kann weder wahr 
noch falsch sein, weil sie als solche keinerlei derartige Beziehungen 
in sich birgt Die Vorstellung „blauer Himmel" ist ebensowenig 
wahr wie falsch; sondern sie ist nur oder sie ist nicht; sie wird in 
keine Relation zu Denken und Erfahrung gesetzt; sie besitzt noch 
die vollkommene intellektuelle Unschuld. Denn als Erfahrung^ 
etwa als physisches Phänomen beim Anblick des blauen Himmels,, 
ist sie weder wahr noch falsch, sowenig wie die formalen Denk- 
gesetze (mit dem Grund ist die Folge gegeben) im strengen Sinn 
wahr oder falsch sind; denn erst die Übereinstimmung mit Erfah- 
rungstatsachen und Denkgesetzen macht die Wahrheit eines Satzes 
aus.'*) Dagegen das Urteil: der Himmel ist blau, wahr oder falsch 
sein muß, weil es mit allen Erfahrungstatsachen und den eigenen 
Denkgesetzen sich entweder in Widerspruch oder in Obereinstim- 
mung befindet; denn es ist ein Gesetz unsres Denkens, daß von 
zwei kontradiktorischen Prädikaten jedem Subjekt das eine oder 
das andre zukommen muß (Satz vom ausgeschlossenen Dritten). 
Daraus erhellt, daß, wenn man von der Wahrheit oder Unwahr- 
heit der sinnlichen Wahrnehmungen spricht, man immer nur die 
Wahrheit öder Unwahrheit gewisser über die sinnliche Wahrneh- 
mung gefällter Urteile im Auge haben darf*^); etwa der Urteile: die 
sinnlichen Wahrnehmungen geben eine zugrunde liegende Wirk- 
lichkeit in allen, einigen oder gar keinen Teilen wieder. In der 
Sinneswahmehmung als solcher sind diese Urteile aber nicht ent- 
halten. Diese nicht unwichtige Erinnerung läßt sich am deutlichsten 
an den sogenannten „Sinnestäuschungen" verständlich machen. Die- 
jenigen Menschen, welche an das Vorhandensein solcher Täuschungen 
glauben — daß es nicht alle Erkenntnistheoretiker tun, werden 
wir bald sehen — liaben keineswegs jenes Widerstrebungsgefuhl 
bei der „täuschenden" Wahrnehmung selbst, etwa dem Anblick 
des im Wasser gebrochen erscheinenden Stabes, sondern nur bei 
dem Denkakt, daß der Stab auch „wirklich" in der Mitte geknickt 
sei. Es könnte scheinen, als ob damit das ganze Problem von der 
Wahrheit oder Unwahrheit der Sinneswahmehmungen bereits hin- 
fällig würde. Aber eine terminologische Korrektur bedeutet noch 
lange nicht die Überwindung jenes Problems. Es bleibt auch jetzt 
noch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt, den die Sinne zur 
Erkenntnis der Dinge beisteuern. Zwar ist die sinnliche Wahr- 
nehmung selbst weder wahr noch falsch, wohl aber kann die Über- 



Drittes Kapitel. Die Kritik d&r griediischen Skepsis. 155 

nähme ihres Inhalts als Prädikat eines über die Dinge gefällten 
Urteils eine wahre oder falsche Aussage über die Dinge zur Folge 
haben. Ein Beispiel: Sage ich von der Sinneswahmehmung (x) 
eines Tisches aus, sie gibt die Eigenschaften (a, b, c, d) des 
Tisches selbst (y) ganz oder teilweise wieder,, so müssen diese 
Aussagen wahr oder falsch sein. Sind sie wahr, so auch die Ur- 
teile: y kommen die Eigenschaften a, b, c, d oder nur a, b zu, 
d. h. die Sinneswahmehmung x hat einem wahren Urteil über y 
Stoff und Gehalt geliefert. Sind sie falsch , so auch die abgeleiteten 
Urteile: y kommen weder a noch b noch c zu, und die Sinnes- 
wahmehmung X hat den Stoff zu einer unwahren Aussage über y 
geliefert Die Frage nach der Wahrheit (Unwahrheit) der Sinnes- 
wahmehmungen ist also nur ein irreführender brachylogischer Aus- 
dmck für den Satz: inwieweit liefem die Sinneswahmehmungen 
Stoff zu wahren (unwahren) Urteilen über die Dinge? Dabei 
waltet der beachtenswerte Unterschied ob, daß, falls es richtig 
ist, daß durch die Sinne auf dem Wege des Urteils die Beschaffen- 
heiten der Dinge erkannt werden, die Sinne einen positiven Bei- 
trag zur Ermittlung der Wahrheit über die Dinge bieten, den sie 
allein und keine andre logische Funktion beizusteuern vermögen; 
erkennen sie aber die Beschaffenheiten nicht, so wird der positive 
Beitrag zur unwahren Aussage über die Dinge allein vom Urteil 
bestritten, das die sinnlichen Qualitäten den Dingen zuspricht, wäh- 
rend die Sinne selbst gar keine Beziehung — weder der Identität, 
noch der Ähnlichkeit, noch der Verschiedenheit — ihrer einzelnen 
Wahmehmungsbestandteile zu irgendwelchen Dingen enthalten. — 
Da die Sinneswahmehmung als solche zur Wahrheit und Unwahr- 
heit gar nicht die nötigen Vorbedingungen besitzt, so können auch 
die Sinne als solche nicht „täuschen". Sie vermögen nur die 
indirekte Ursache davon zu werden, daß ich mich in meinerEr- 
wartung getäuscht sehe. Erwarte ich z. B. aus gedanklichen 
Gründen, daß die Sinne mir im allgemeinen die räumlichen Eigen- 
schaften der Dinge adaequat wiedergeben, und diese Erwartung 
trifft einmal nicht ein, so spreche ich von Sinnestäuschung. Dies 
bedeutet aber wieder nur eine ebenfalls nicht glückliche Brachy- 
logie für: Anlaß zu irrtümlichem Urteil. Wenn ich in vielen Fällen 
auf die Sinne wahre Urteile über die Dinge aufbauen konnte durch 
Umsetzung gewisser sinnlicher Qualitäten in dingliche, und in 
einem Fall erweist sich diese Übertragung als ein falsches Urteil, 
so sind die Sinne in diesem Fall indirekt eine Quelle des Tmgs 



15^ Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

und der Täuschung geworden. Dagegen liegt keine Täuschung 
vor, wenn die Sinne gewisse Empfindungen zeigen (etwa Farbe, 
Geschmack), von denen ich wieder aus logischen Motiven annehme, 
daß sie den Dingen nie zukommen. Denn hier liegt keine Veran- 
lassung zu einer Erwartungstäuschung, noch zu falschen Urteilen 
vor. „Sinnestäuschungen** sind daher immer nur Ausnahmefälle, 
in denen die Sinne gedankliche Regeln, die man sich über das 
Verhältnis von Wahmehmungsbestandteilen und objektiven Quali- 
täten gemacht und in unzähligen Fällen bestätigt gefunden hat, 
kreuzen, und in denen die Meinung über die Allgemeingültigkeit 
dieser Regeln sich als Irrtum herausstellt. Die Sinneswahmeh- 
mungen sind wahr, sind falsch, halbwahr, halbfalsch, kann also 
nur bedeuten: ihr Inhalt als Eigenschaften von den Dingen aus- 
gesagt, ergibt ein wahres, halbwahres, falsches Urteil; die Sinnes- 
wahrnehmungen täuschen: ihr Inhalt von den Dingen als Eigen- 
schaften ausgesagt, ergibt in einem bestimmten Fall und wider 
Erwarten ein falsches Urteil, während die gleiche Übertragung in 
andern FäUen wahre Urteile ergibt. 

2. Da das letzte Kriterium der Wahrheit, das unmittelbare, 
nicht weiter zu beschreibende, sondern nur aufweisbare Über- 
zeugungsgefühl, notwendig und imausrottbar allein bei der voll- 
endeten Erfüllung der genannten Bedingungen und bei vollem Be- 
wußtsein von dieser Erfüllung auftritt, so ist damit schon gesagt, 
daß es möglicherweise und überwindbar auch des öfteren sich dort 
einstellen wird, wo nur ein kleiner, vielleicht nur ein sehr kleiner 
Teil dieser Bedingungen erfüllt und man sich des Grades dieser 
Erfüllung nicht klar bewußt ist. Hier ist das psychologische 
Kriterium ebenso unvollständig wie das logische. Zwar 
braucht die Intensität des Überzeugungsgefühls keine geringere zu 
sein; aber die Überwindbarkeit desselben bei klarer Selbstbesin- 
nung und die Möglichkeit, sich eines besseren belehren zu lassen, 
ist ein unverkennbarer und jederzeit nachprüfbarer Trennungspunkt 
von jenem unüberwindlichen Gefühl, an dem wir letzten Endes 
eine wahre Einsicht allein erkennen können. 

3. Weiter erhellt, daß man sich aus rein quantitativen Gründen 
viel leichter über die Unwahrheit als über die Wahrheit eines Ur- 
teils klar zu werden vermag. Denn wenn die ideale Forderung 
an die Wahrheit lautet: Übereinstimmung mit allen Denkgesetzen 
und allen Erfahrungstatsachen, so wird mit Ausnahme inhaltleerer 
Aussagen (wenn alle Menschen sterblich sind und Cajus ein Mensch 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 157 

ist, SO ist Cajus sterblich), der einfachsten Wahmehmungsurteile 
(ich sehe blau usw.), und allenfalls Kants synthetischer Urteile a 
priori (in reiner Mathematik und Naturwissenschaft) die Wahrheit 
einer Erkenntnis sich nur sehr langsam und auch dann immer nur 
mit annähernder Sicherheit ausmachen lassen, so daß ihre Fest- 
stellung bis auf die erwähnten Fälle immer Aufgabe bleibt und nie 
zur vollendeten Tatsache wird. Das Erkennungszeichen der Unwahr- 
heit dagegen ist an dem Widerspruch gegen eine einzige Erfahrung, 
gegen ein einziges logisches Axiom und an dem begleitenden Ge- 
fühl sofort zu entdecken; es ist also unvergleichlich einfacher, den 
Irrtum als die Wahrheit festzustellen. Dem Erkenntnistheoretiker 
ist das ein wichtiger Fingerzeig für seine Methode: denn er 
wird nun zunächst den aussichtsvolleren Weg einschlagen, bei den 
wenigen Möglichkeiten, zwischen denen er zu wählen hat, durch 
Elimination aller irrtümlichen Ansichten, die wahre zu erarbeiten 
oder zu behalten, anstatt die letztere von sich aus aufzubauen. 

4. Selbstverständlich haben die Skeptiker trotz ihrer Frage- 
zeichen, die sie hinter jedes Kriterium der Wahrheit stellten, sich 
zur Begründung ihrer Zweifel niemals eines andern Erkennungs- 
zeichens wie des genannten, wenn auch unbewußt und unaus- 
gesprochen bedient. Wenn sie z.B. behaupteten: es sei unerkenn- 
bar, ob die Luft in der mittleren Halle des Bades kalt oder warm 
sei, weil sie dem von außen Kommenden warm, dem von innen 
Kommenden kalt erscheine, so kann das doch nur bedeuten: das 
Urteil „die Luft ist kalt" ist falsch, weil es in Widerspruch mit 
Erfahrung A, das UrteU „die Luft ist warm" ist falsch, weil es 
in Widerspruch mit Erfahrung B steht; die Luft kann aber auch 
nicht warm und kalt zugleich sein, weil nach dem Axiom des 
Widerspruchs dem gleichen Ding nicht zwei widersprechende Eigen- 
schaften zu gleicher Zeit zukommen können. Man sieht: die for- 
malen Erkenntniskriterien sind auch für den Skeptiker die gleichen 
wie für uns; nicht sie bezweifelt er im Grunde, sondern die Mög- 
lichkeit, daß man (nämlich verschiedene Subjekte, die Sinne des 
gleichen Subjekts usw.) durch ihre Anwendung zu den gleichen, 
inhaltlichen Wahrheiten gelangen müsse. Man denke sich nur die 
Forderung, daß der Widerspruch mit Erfahrungen eine Gegen- 
instanz gegen die Wahrheit einer Einsicht sei, als wirksames Kri- 
terium in den skeptischen Argumentationen aufgehoben und sehe 
zu, was von ihnen noch übrig bleibt. Dann nämlich ist ja gar kein 
Hindernis mehr, die fragliche Lufttemperatur als warm (kalt) zu 



15^ Erster Absdmitt. Die griechische Skepsis. 

erkennen und sich über die Erfahrung A oder B als Gegeninstanz 
hinwegzusetzen; oder man denke sich die logischen Axiome als 
unmaßgeblich verworfen, was könnte dann die berühmte Isosthenie 
für die Unerkennbarkeit der Dinge beweisen? Dann trügen die 
Dinge eben einander widersprechende Eigenschaften an sich, wären 
rot und grün am gleichen Punkt des Raumes und der Zeit, wären 
seiend und nichtseiend, gut und schlecht zugleich. Ja, selbst die 
immer wiederkehrende Überlegung, welche die skeptische Theorie 
von der sinnlichen Wahrnehmung als roter Faden durchzieht: man 
könne doch bei einander widerstreitenden Erfahrungen der Aus- 
sage, die sich auf die eine Gruppe derselben stützt, nicht den 
Vorzug vor der auf die andre Gruppe sich stützenden geben, hat 
doch nur dann einen Sinn, wenn wir dieses Verbot und den dar- 
aus entspringenden Zweifel uns eingegeben denken durch die Er- 
wägung: man kann [es nicht, weil uns weder unmittelbare Erfah- 
rung noch Denknotwendigkeit zu dieser Bevorzugung berechtigt! 
Denn warum sollte man es — etwa durch einen Akt der Willkür 
— sonst nicht können? 

Das Wahrheitskriterium ist entwickelt und damit der Boden 
geebnet, der allen erkenntnistheoretischen, sich ihres eigenen Vor- 
gehens bewußten Grundanschauungen gemeinsam sein muß. Zu 
welchen Folgerungen gelangt man auf diesem Boden über die 
Leistungsfähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung? Befähigen mich 
die Sinne dazu, wahre Urteile über die Dinge zu fallen? (Denn 
daß die Sinne nicht selbst Aussagen machen, sondern nur Vor- 
stellungen liefern, die als solche weder wahr noch falsch sein 
können, wissen wir schon.) Die Skeptiker hatten mit einem „un- 
entscheidbar" darauf geantwortet; aber sie hatten ihrer Antwort 
ganz willkürliche Voraussetzungen (im übrigen die gleichen un- 
bewußt gehandhabten Erkennungszeichen der Wahrheit) zugrunde 
gelegt. Wie steht es mit dieser Antwort, wenn man das Erken- 
nungszeichen vollbewußt handhabt und überdies von willkürlichen 
Voraussetzungen sich frei hält? Hier trennen sich die Wege und 
es bieten zunächst der gemäßigte Realismus, dann der extreme 
Idealismus ihre Lösungen an. 

II. Unter dem gemäßigten Realismus oder dem Real- 
idealismus, insofern er eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung 
darstellt, verstehen wir die Anschauung, die an der Existenz 
unabhängig vom Subjekt bestehender Dinge, der exrbg 
vnoxBijXBva festhält, aber aus kritischen Erwägungen 



Drittes Kapitel Die Kritik der griechischen Skepsis. 159 

diesen realen Dingen nicht alle Wahrnehmungsbestand- 
teile als objektive Eigenschaften gleichmäßig zuspricht, 
sondern nur gewisse derselben, andere nicht. Zum ersten- 
mal findet sich dieser Standpunkt im Keime bei Demokrit; in 
neuerer Zeit wurde er durch Galilei, Hobbes, Descartes und 
Locke von verschiedenen Seiten näher beleuchtet. Seitdem ist 
er die klassische Erkenntnistheorie der modernen Naturwissen- 
schaft geblieben, und erst in jüngster Zeit erheben sich gerade 
aus der Mitte der Naturwissenschaftler Männer, die gegen ihn zu 
Felde ziehen. Unter den heutigen Denkern zählen WilhelmWundt 
und Eduard von Hartmann zu seinen bedeutendsten Anhängern. 

I. Worin besteht der Standpunkt des gemäßigten Rea- 
lismus des näheren und wie wird er begründet^^? 2. Was 
folgt aus ihm für die Erkennbarkeit der Dinge durch die 
Sinne, für die erste Timonische Grundfrage; führt auch 
er zu skeptischen Folgerungen oder nicht? 

I. Wie bei allen erkenntnistheoretischen Positionen gilt es 
hier in erster Linie den Ausgangspunkt festzulegen, von dem 
aus man an der Hand der geschilderten Wahrheitskriterien durch 
weitere Arbeit zum Ziele zu gelangen sucht. ^^ Diesen Ausgangs- 
punkt wird ein besonnener Realist, welcher den Wunsch hat, die 
Kontrolle seiner Ansichten möglichst allen Menschen zu ermög- 
lichen, in den Aussagen des natürlichen, unbefangenen und vor- 
aussetzungslosen Bewußtseins finden, das noch ohne alle philo- 
sophische Reflexion gerade und hell in die Welt blickt; hier wird 
zunächst die Aussicht sein, größtmögliche Einigkeit in der Fest- 
stellung dieser Bewußtseinslage zu erhalten, während jeder andre 
Ausgangspunkt, etwa eine bestimmte wissenschaftliche Anschau- 
ungsweise, den Standpunkt einer Minoritätspartei vertritt, die sich 
überdies anderen und entgegengesetzten Parteien gegenüber weiß. 
Was sagt aber nun — nach Ansicht dieser gemäßigten Realisten 
— das unbefangene, durch keine Reflexion getrübte Bewußtsein 
über die sinnlichen Wahrnehmungen aus? Es macht zunächst 
zwischen sinnlich wahrnehmbaren Dingen und den Wahrnehmungen 
dieser Dinge noch keinen Unterschied. Es glaubt in den Vor- 
stellungen die Dinge selbst zu haben; Ding und Vorstellung fließen 
ihm in eine Gesamtgröße zusammen. Diesen Vorstellungsdingen 
und Dingvorstellungen aber stellt sich auch im unbefangensten 
Bewußtsein das fühlende und wollende Ich unmittelbar gegenüber. 
Es scheint dem gebildeten, erwachsenen Menschen unbegreiflich» 



l6o Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

daß auf einer unentwickelteren Stufe die Vorstellung des Fensters 
und das Fenster selbst nicht geschieden werden sollten; aber man 
versenke sich, um sich davon zu überzeugen, nur in die Seele der 
Kinder oder blicke selbst träumend und alle bewußte Reflexion 
zurückdrängend zum Fenster hinaus, und man wird inne werden, 
wie man im Bild des Fensterkreuzes das Fensterkreuz selbst zu 
haben glaubt; jede dabei etwa aufsteigende melancholische Regung 
oder den keimenden Entschluß, sich der Träimierei zu entreißen, 
empfindet man dagegen unmittelbar als dem eigenen Ich und nicht 
als den Dingen zugehörig. Das ist gewissermaßen der psycho- 
logische Urzustand des noch nicht seine Erlebnisse logisch be- 
arbeitenden Bewußtseins. Aber eben deswegen ist es erkenntnis- 
theoretisch ein Dämmerzustand, zu schwebend und nebelhaft, um 
den Faden philosophischer Bearbeitimg an ihn zu knüpfen. Dazu 
eignet sich weit besser die nächste Stufe, zu welcher die roheste 
Überlegung den Menschen notwendig hinzudrängen scheint. Bald 
entdeckt er, daß er das nämliche Fenster auch an jedem andern 
Ort willkürlich sich vorstellen kann, selbst mit geschlossenen 
Augen, daß er es dann aber nicht zu fassen vermag, daß es ver- 
schwindet, wenn er seine Gedanken auf etwas andres lenkt usw., 
daß umgekehrt das Fenster in seinem Arbeitszimmer auch für 
andre Menschen jederzeit sichtbar ist, wie diese behaupten, für 
ihn notwendig wiederkehrt, so oft er in das Zimmer tritt usw.; 
kurz er lernt durch „denkende Erfahrung" seine Vorstellungen von 
den realen, beharrlichen Dingen sondern. Aber die Verbindung 
zwischen beiden ist von der Einheitszeit her noch eine so innige, 
daß die Vorstellung nur als das Abbild, der Spiegel, die geistige 
Wiederholung der Dinge erscheint. Jetzt wird der erkenntnis- 
theoretische Standpunkt eines solchen Menschen bald ein streng 
umrissener, den er zwar theoretisch vielleicht nicht selbst zu ent- 
wickeln fähig ist, aber den man ihm durch Ausfragen sehr bald 
in aller Präzision entlocken könnte. Es ist der Standpunkt des 
soeben geschilderten extremen Realismus. Bis hierher konnte 
das populäre Bewußtsein die Kritik seines Urzustandes in dem 
fraglichen Problem selbst übernehmen, und eben deshalb ist der 
extreme Realismus der Standpunkt des erwachsenen Durchschnitts- 
menschen. Nun aber bedarf es schon wissenschaftlicher, ja philo- 
sophischer Reflexion, um die Haltbarkeit dieser Stufe ihrerseits zu 
prüfen. Daher bildet dieser extreme Realismus den eigentlichen 
Ausgangsort des philosophisch gemäßigten. 



Drittes Kapitel. iDie Kritik der griechischen Skepsis. l6l 

Nachdem so der besonnene Realist den Ausgangspunkt seiner 
Untersuchungen eindeutig bestimmt und den Maßstab für die Be- 
urteilung der Wahrheit aufgestellt hat, bleibt er sich bewußt, den 
ersteren willkürlich und nur zum Behuf des allgemeinen Verständ- 
nisses, mit dem zweiten dagegen eine notwendige Regel seines 
Erkennens ausgesprochen zu haben. Er weiß, daß er mit den 
nämlichen Kriterien auch von jeder andern erkenntnistheoretischen 
Position aus zu seinem Standpunkt gelangen müßte. Wenn er 
sich aber einmal für den gewählten point de d6part entschieden, 
stellt und beantwortet er der Reihe nach die Fragen: welche Be- 
hauptungen des extremen Realismus halten dem Wahrheitskriterium 
Stich und sind also beizubehalten; welche Behauptungen verstoßen 
gegen sie und sind also fallen zu lassen oder durch andre zu er- 
setzen? 

Da bieten sich zunächst die allgemeinsten Grundthesen 
des extremen Realismus solch erkenntnistheoretischer Prüfung dar. 
Der extreme Realist glaubt, daß die Dinge, die er sieht, hört, 
riecht, tastet, eine von seinem Bewußtsein unabhängige Existenz 
fOhren, daß es deren viele gibt, daß sie weiter bestehen auch in 
seiner Abwesenheit, kurz er glaubt zunächst an ein kontinuier- 
liches Dasein realer'®) Objekte. Führt dieser Glaube nun zu 
Widersprüchen oder ist er in sich selbst Widerspruch voll? Darauf 
antwortet der Idealrealist mit einem entschiedenen: Nein, Dieser 
Glaube befindet sich mit allen Denkgesetzen und Erfahrungstat- 
sachen im Einklang und nirgends mit ihnen in Widerspruch; dieser 
Glaube ist daher wahr. Und unser Realist stützt sich dabei etwa 
auf folgende Überlegungen'^): die Behauptung von dem kontinuier- 
lichen Dasein realer Objekte schließt die getrennten Behauptungen 
von der Existenz, der Vielheit, der Beharrlichkeit dieser Objekte 
in sich. Zunächst die Existenz: Jede sinnliche Wahrnehmung 
(eines Blattes, Steines, des Himmels usw.) enthält als ihren Grund- 
stock und elementaren Kern eine Gruppe von Empfindungen 
(das Grün der Blätter, das Grau des Steins, das Blau des Himmels). 
Diese Empfindungen sind mir gegeben, drängen sich mir auf, 
ich kann ihnen nicht widerstehen, andrerseits kann ich sie nicht 
erzeugen. Auf dem offenen Meere befindlich ist es mir ebenso 
unmöglich, ein Blatt, einen Stein im Räume leibhaftig vor mir zu 
sehen, wie ich auf Waldwegen wandelnd gar nicht umhin kann, 
solche zu erblicken. Sind mir aber die Empfindungen als der 
GrundbestandteU der sinnlichen Wahrnehmungen gegeben, stammen 

Richter, Skq;>tizi8mtis. II 



102 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

sie nicht von mir dem Subjekte, so erhebt sich die Frage nach 
dem positiven Ursprung von selbst. Woher kommen sie? Es bleibt 
nur übrig anzunehmen, daß sie unabhängig von meinem Bewußtsein 
ihre Quelle haben, daß sie von einem nicht nur für mich, son- 
dern an sich existierenden Etwas ausgehen und — da außer den 
Subjekten und den Objekten kein drittes bekannt ist — daß 
dieses reale Etwas im Objekt zu suchen ist. *®) Diesen logischen Er- 
wägungen, welche die Realisten als eine denknotwendige Ergänzung 
zu der unmittelbar gegebenen Elmpfindung ansehen, kommt nun 
aber als ein Mittel von nicht weniger zwingender Überzeugungs- 
kraft für die Annahme eines realen, bewußtseintranszendenten 
Objekts das Gefühl von einer an sich bestehenden Realität der 
Gegenstände hinzu, welches ganz unmittelbar und unüberwindbar 
alle sinnlichen Wahrnehmungen begleitet; es ist jenes Wirklich- 
keitsgefuhl, das für den gemäßigten Realisten diesen gedanklichen 
Beweisgängen gewissermaßen die letzte Sanktion erteilt, und auf 
das er, nachdem Hume hier die Wege geebnet, immer wieder alle 
entgegenstehenden Gedankengänge als auf eine letzte Instanz ver- 
weisen wird; dieses Gefühl mit seiner zwingenden Überzeugungskraft 
gilt ihm als eine Erfahrungstatsache, und der Widerspruch gegen 
auch nur eine Erfahrungstatsache, als unmittelbar gegebenen Be- 
wußtseinszustand, reicht hin, um die Irrtümlichkeit einer Ansicht 
zu erweisen. — An der Mannigfaltigkeit dieser bewußtseintrans- 
zendenten Realität als einer Vielheit an sich bestehender Objekte 
wird gleichfalls festzuhalten sein; denn wenn ich z.B. eine schwarze 
Tafel und weiße Kreidestückchen zugleich betrachte, so habe ich 
zugleich getrennte, gegebene Eindrücke, nämlich einmal Schwarz - 
ohne Weißempfindungen, und dann Weiß- ohne Schwarzempfin- 
dungen. Da ich mich nun hierbei nicht geändert, sogar mit dem 
gleichen Organ diese Wahrnehmungen gemacht habe, so muß ich 
annehmen, daß die Quelle, aus der jene Eindrücke stammen (das 
reale Objekt) eine andre war, und also eine Vielheit solcher Ob- 
jekte existiert.*^) Weiter fragt sich : dauert die Existenz dieser realen 
Objekte an, auch während ich dieselben nicht wahrnehme, oder 
verschwinden der Himmel, der Stein, das Blatt, die Tafel an sich 
mit meinen Wahrnehmungen von denselben, und tauchen sie erst 
wieder mit diesen im Dasein auf? Hier sieht man sich nun zu der 
Annahme einer beharrlichen Existenz dieser Realitäten gedrängt, 
wenn man mit der Erfahrungstatsache der Übereinstimmung zwischen 
den Aussagen verschiedener Menschen **) ungezwungen im Einklang 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 163 

bleiben will. Denn nur dann wird es verständlich, daß alle Rei- 
senden die Eisberge im Polarmeer gleich beschreiben, mein Nach- 
bar in der Oper die gleichen Töne hört wie ich, wenn man an- 
nimmt: daß das identische Objekt an sich die gleichen Empfindungen 
in den gleich veranlagten Bewußtseinen nach ganz bestimmten Ge- 
setzen erzeugt. Gäbe es keine beharrlichen Dinge an sich, so 
könnte man sich die Korrespondenz in den Aussagen verschiedener 
Individuen nur durch einen mystischen Zusammenhang erklären, 
der entweder von Bewußtsein zu Bewußtsein oder von Grott zwischen 
den Bewußtseinszuständen verschiedener Individuen bewirkt wird; 
aber es ist eine Regel der Wissenschaft, nur dann zu einer über- 
natürlichen Erklärung zu greifen, wenn die natürlichen versagen. 
Endlich muß, um die Existenz beharrlicher Dinge an sich für die 
Welterklärung verwertbar zu machen, auch der gemäßigte Realist 
dem extremen Realisten zugestehen, daß das Verhältnis zwischen 
<len Dingen und unsem Wahrnehmungen derselben ein kausales 
ist. Das wird ihm nicht schwer, da er die Empfindungen als durch 
Jie Dinge notwendig gegeben anerkannt hat und sich andrerseits 
bewußt ist, daß wir keinen notwendigen realen Zusammenhang 
anders denn als einen ursächlichen zu deuten vermögen. Ob man 
•dabei annimmt, die Dinge bewirkten in unserm Leib Veränderungen, 
imd diese so bewirkten Leibeszustände wären direkte Ursachen 
unsrer Empfindungen; oder ob man unter Leugnung der Möglich- 
keit, daß Körperliches je Geistiges bewirken könne, die Empfin- 
<lungen nur als psychische, aber unausbleibliche Parallelerscheinungen 
Jer betreffenden körperlichen Erregungen faßt, das wird weniger 
von dem erkenntnistheoretischen als von dem metaphysischen Be- 
kenntnis des betreffenden Philosophen abhängen. 

Bis hierher geht der gemäßigte Realist mit dem extremen in 
den Ergebnissen Hand in Hand. Er war nur bemüht gewesen für 
diese Ergebnisse auch wirklich stichhaltige Gründe anzuführen. 
Nun aber — in der Frage nach der Beschaffenheit der Dinge 
an sich — trennen sich ihre Wege. Der extreme Realist nahm 
die prinzipielle Gleichartigkeit zwischen Wahrnehmung und Ding 
an sich an. Der gemäßigte Realist stellt hier zunächst wieder 
seine auf die Erkennungszeichen der Wahrheit bezüglichen Fragen: 
Führt diese Annahme zu Widersprüchen? Oder ist sie im Ein- 
klang mit Erfahrung und Denkgesetzen? Und er verneint diese 
Frage ebenso entschieden, wie er jene bejaht. Aus welchen 

<jründen? 

II* 



164 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Zunächst sieht er sich gezwungen, alle von Locke als sekun- 
däre bezeichneten Qualitäten, alle Eigenschaften zweiter Ordnung 
den Dingen an sich abzusprechen und in rein subjektive Bestand- 
teile der Wahrnehmungen aufzulösen; unter diesen sekundären Quali- 
täten verstand Locke die Sinnesempfindungen im engeren Sinne, wie 
Farbe und Helligkeit, Geruch, Geschmack, Temperatur, Ton, Druck, 
Tastempfindungen. Dazu fuhrt die denknotwendige Deutimg zahl- 
loser Erfahrungen. Eine beliebige Veränderung an den Sinnes- 
organen des Subjekts bewirkt eine scheinbare Veränderung an den 
Dingen: durch eine blaue Brille sehe ich alle Dinge blau; meine 
rechte Hand empfindet das gleiche Wasser als warm, das meine 
linke erhitzte Hand als kühl empfindet. Hier tritt nun die ganze 
Fülle der Aenesidemschen Argumentationen in ihr Recht; aber 
diese Tatsachen sind jedem Schüler bereits so bekannt, daß eine 
weitere Aufzählung hier überflüssig scheint. Soll man nun an- 
nehmen, mit den Veränderungen am Subjekt änderten sich auch 
die wahrzunehmenden Dinge? Mit dem Aufsetzen der Brille die 
Farbe, mit der Erhitzung der Hand die Temperatur derselben? 
Das ist wiederum schwer glaublich ohne einen mystischen Zu- 
sammenhang; denn jede natürliche, ursächliche Verbindung zwischen 
Subjekt und Objekt erscheint hier ausgeschlossen: dadurch daß ich 
vor mein Auge blaue Gläser bringe, bewirke ich doch nichts an 
dem 50 m von mir befindlichen Ding Baum, dadurch daß meine 
Hand entzündet ist, bewirkt sie doch nichts an dem von mir 
ganz unabhängigen Ding: Wasser. Beobachtet man nun trotzdem 
eine beständige Korrespondenz zwischen der Änderung subjek- 
tiver Zustände und der Änderung wahrgenommener Objektseigen- 
schaften, so wird man versuchen die Veränderung des zweiten 
Gliedes eben nur auf die wahrgenommenen, aber nicht auf die 
realen Eigenschaften der Dinge zu beziehen. Und so kommt man 
darauf, die Sinnesempfindungen, erst in diesen Fällen, dann all- 
gemein als subjektive Reaktionen auf ganz andersartige reale Reize 
zu fassen. Denn da die Änderungen in der Empfindung sich hier 
nicht bloß auf kleine gradweise Abweichungen beschränken, sondern 
sich in Unterschieden wie warm und kalt, rot und blau bewegen 
können, so muß man in der Tat eine gänzliche Andersartigkeit der 
realen Reize vermuten. Diese Vermutung findet nun aber in dem 
reichen Schatz von Beobachtungen der Sinnesphysiologie ihre 
vollständige Bestätigung. Diese lehren uns i. völlig disparate 
Sinnesreize werden von uns als gleichartig empfunden,. 



Drittes Kapitel Die Kritik der griechischen Skepsis. 165 

wenn nur der Sinn derselbe ist. Ob sich der Sehnerv (rcsp. die Retina) 
durch inneren Reiz entzündet, oder von außen mechanisch ein Druck 
auf ihn ausgeübt wird, ob ich ihn elektrisch reize, ob ihn Äther- 
wellen treffen — stets reagiert er mit derselben Empfindung (Farbe 
und Helligkeit) als der geistigen Parallelerscheinung zu den physio- 
logischen Vorgängen; wenn er überhaupt reagiert, reagiert er nur 
so. Und ob ein entzündlicher Zustand den Acusticus reizt, ob 
der elektrische Strom, oder endlich der normale Reiz der Luft- 
wellen ihn erregen — empfinde ich überhaupt dabei, so habe ich 
eine Tonempfindung. Und ob ich den galvanischen Strom, ob ich 
den Druck eines Metallstäbchens auf die Wärme- (Kälte-) punkte 
der Haut, die Organe der Temperaturempfindung, ansetze, stets 
empfinde ich dann Wärme oder Kälte. 2. Ein und derselbe 
Reiz auf verschiedene Sinnesorgane wirkend gibt anders- 
artige Empfindungen. Der nämliche elektrische Strom schmeckt 
der Zunge sauer, erscheint dem Sehorgan, wenn er es reizt, rot oder 
blau, erregt auf der Haut Kitzel, im Gehörorgan einen Ton.**) Der 
gemäßigte Realist hatte die Anschauung vertreten, daß die Empfin- 
dungen Wirkungen der Dinge, unmittelbare oder mittelbare, auf 
unser Bewußtsein sind; er hatte femer die Ungleichartigkeit zwischen 
den Empfindungen als wahrgenommenen Eigenschaften und den 
realen Reizen als Dingeigenschaflen festgestellt. Beide Einsichten 
miteinander verschwistert ergeben die Erkenntnis: daß die Empfin- 
dungen als Wirkimgen ihren Ursachen als Dingeigenschaften weder 
adaequat noch ähnlich sind. Diese Erkenntnis findet nun ihre Be- 
stätigung durch eine andre Methode der Naturwissenschaft, die Frage 
zu entscheiden, nämlich durch die physikalische Akustik und Optik, 
welche die Empfindung als Wirkung zurückverfolgt auf ihre Ursachen 
und nun zusieht, wie sich beide zueinander verhalten. Man nehme 
das Intervall a — e, mit welchem die IX. Symphonie Beethovens be- 
ginnt. Der Konzertbesucher hört zwar diesen Akkord der Instru- 
mente, aber im ganzen Konzertsaal findet der Physiker keinen Ton, 
den er als Ursache dieser Empfindung einfangen könnte, wohl aber 
Schwingungen der Luft, von bestimmtem periodischem Rhythmus, 
Wellenlänge und Geschwindigkeit. Treffen diese das Cortische Organ 
im Ohrlabyrinth und werden ins Gehirn weitergeleitet, so höre ich 
die unheimliche Quinte. Diese Schwingungen gehen aus von ge- 
zupften oder gestrichenen Saiten der Violinen und Celli, von der 
durch das Blasen bewegten Luft in den Hörnern usw. Daß in 
der Tat Schwingungen Ursachen des Tons A waren, läßt sich auch 



l66 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

umgekehrt erhärten, wenn ich eine Stimmgabel, die die Schwingungen 
der gleichen Schwingungszahl erzeugt, im Orchester aber gar nicht 
vorhanden war, anschlage und nun wieder den Ton A vernehme. 
Beim Anblick der Sonne habe ich eine starke Lichtempfindung. 
Die physikalische Optik sieht zu, was eigentlich da auf mich wirkt. 
Sie untersucht, welcher Rapport zwischen der Sonne und meinem 
Sehorgan stattfindet; an der Sonne nun kann sie kein „Hell" ent- 
decken, das sich irgendwie von der Sonne loslöste, den Raum 
durchwanderte und nun in mich hineindränge. Freilich gelingt es 
ihr auch nicht ein andres Etwas sinnlich wahrzunehmen, das 
Ursache meiner Lichtempfindung sei. Aber wenn sie in Ermange- 
lung einer irgendwie sichtbaren Ursache hypothetisch annimmt, von 
der Sonne gingen unsichtbare Wellen eines bisher unwägbaren 
Stoffes, des Äthers aus, von verschiedener Länge, gleicher Ge- 
schwindigkeit und transversaler Richtung, die, wo sie mein Seh- 
organ treffen, eine Lichtempfindung auslösen, so lassen sich die 
zahlreichen Eigentümlichkeiten der Lichtempfindung unter bestimmten 
Verhältnissen kausal -real auf diese Weise und vorläufig nur auf 
diese Weise erklären. Eine Erklärung jeder Sinneswahmehmung 
durch Kausalität der realen Dinge war aber eine allgemeine Forde- 
rung auch des gemäßigten Realismus. So mehren sich von allen 
Seiten, besonders von der Physiologie und der Physik her die 
Gründe, die sekundären Qualitäten ins Subjekt zurückzunehmen 
und sie den objektiven Eigenschaften der Dinge abzusprechen. 

Aber es bleiben noch Eigenschaften zurück, die wir am Ob- 
jekt wahrzunehmen glauben: das sind die primären Qualitäten 
Lockes, die Eigenschaften erster Ordnung, oder die mathe- 
matisch-physikalischen Qualitäten, so genannt weil sie mit Hilfe 
der mathematisch -physikalischen Methoden zu berechnen sind. Da- 
hin gehören Raum und Zeit mit all ihren Besonderheiten und Kom- 
binationen, wie Dichte, Figur, Ausdehnung, Bewegung usw. Es 
erhebt sich die Frage: sind sie reale Eigenschaften der Dinge, 
oder, wie die Empfindungen , bloß subjektive Reaktionen auf anders- 
geartete reale Eigenschaften? Der extreme Realist wies sie, wie 
alle Bestandteile seiner Wahrnehmung, den realen Dingen zu. Der 
gemäßigte Realist folgt ihm hierin. Warum? Zunächst, weil er 
seinem Ausgangspunkt, jenem psychologischen Urzustand, gemäß 
sich zur Regel machte, solange an den Aussagen des naiven Be- 
wußtseins festzuhalten, also an eine Kongruenz zwischen Objekts- 
und Wahrnehmungseigenschaften zu glauben, als eine Korrektur 



Drittes Kapitel Die Kritik der griechischen Skepsis. 167 

wegen entstehender Widersprüche mit den Erfahrungen oder mit 
logisch zwingenden Erwägungen nicht geboten ist Und zu einer 
solchen Berichtigung sieht er jetzt keine Veranlassung, Denn 
keiner der für die reine Subjektivität der sekundären Qualitäten 
beigebrachten Gründe hält hier Stich. Die von der Sinnesphysio- 
logie gelieferten Tatsachen sind diesmal hinfallig. Wo räumlich - 
zeitliche Eigenschaften vorgestellt werden, da wirkt auch allemal 
ein räumlich -zeitlicher Reiz ein; denn alle Reize, die Sinneswahr- 
nehmungen erzeugen, sind räumlich -zeitlich. Also können jetzt 
nicht völlig disparate Reize als gleichartig empfunden werden. 
Und ebensowenig gibt ein und derselbe Reiz heterogene Wahr- 
nehmungen in verschiedenen Sinnen, sondern das Gesicht und Ge- 
tast sind die einzigen Sinne, welche Vorstellungen des Raums ver- 
mitteln, und diese reagieren auf die Erregungen des gleichen Dinges 
nicht verschieden, sondern gleichartig, nicht auseinander, sondern 
ineinander.**) Alle Sinne dagegen beantworten jeglichen Reiz neben 
der spezifischen Empfindung noch mit einer zeitlichen Bestimmung, 
so daß auch hier der Gegensatz zwischen Reiz und Wahrnehmung 
, gehoben ist. Ebensowenig vermögen die Beobachtungen des Phy- 
sikers eine Gegeninstanz gegen die Realität der primären Quali- 
täten zu bilden; denn wenn er von der Wirkung zur Ursache dies- 
mal rückwärts den Weg verfolgt, so stößt er bei den Vorstellungen 
räumlich -zeitlicher Elemente als Wirkungen ebenso sicher auf räum- 
lich-zeitliche Ursachen, wie er bei Farbe, Geruch, Temperatur 
vergeblich nach adaequaten Ursachen gesucht hatte. Von posi- 
tiven Gründen für die Realität der primären Qualitäten fuhrt der 
gemäßigte Realist in erster Linie die Tatsache an, daß Raum und 
Zeit Dane reigenschaften jeder Dingwahmehmung darstellen, wäh- 
rend Farbe, Geruch, Geschmack usw. wechseln und vergehen; mag 
das Ding Rose in meiner Wahrnehmung auch den Duft verändern 
und schließlich verlieren, immer wird es an einem Ort im Raum, 
an einer Stelle in der Zeit wahrgenommen werden müssen. Ja 
selbst durch eigene Willkür vermag ich an einem Ding für meine 
Wahrnehmung alle sekundären Qualitäten zu zerstören, die pri- 
mären sind unzerstörbar. Mag ich ein Stück Kreide mit einem 
Messer zerschneiden , ja mit einem Mikrotom in die feinsten Stück- 
chen zerspalten, so wird doch jeder Teil noch eine ganz bestimmte 
Figur zeigen, in einem bestimmten Zeitpunkt existieren müssen.*^ 
Wenn man nun die ursprüngliche Ähnlichkeit von Ding und Wahr- 
nehmung zum Ausgangspunkt nimmt, und nur durch Berichtigung 



l68 Erster Abschnitt. Die griechisdie Skepsis. 

von entstehenden Widersprüchen das Ding gewisser Wahmehmungs- 
eigenschaften allmählich entkleidet, so werden natiirlich vor allem 
diejenigen Eigenschaften dieser Korrektur niemals verfallen, welche 
sich absolut konstant in allen Wahrnehmungen vorfinden; denn 
von dem Ding und seinen Eigenschaften weiß ich ja nur durch 
die Wahrnehmung. 

Indem wir von den schwächeren Beweismitteln dieser An- 
schauungsweise absehen, etwa daß die primären Qualitäten in 
ihrer objektiven Realität durch das Zeugnis mehrerer Sinne (Ge- 
sicht und Getast) gestützt würden, die sekundären dagegen nicht, 
müssen wir noch des Einwands gedenken, daß die Annahme von 
der objektiven Realität gewisser Eigenschaften in einigen Fällen 
doch auch scheinbar zum Widerspruch fuhrt. Gerät hier diese 
Theorie nicht doch noch zu guterletzt in G^ensatz zu Erfahrungs- 
tatsachen und Denkgesetzen und ist also unwahr? Wenn ich in 
den räumlichen Bestandteilen der Wahrnehmung die wirklichen 
Raumverhältnisse der Dinge erkenne, muß ich dann nicht an- 
nehmen, daß sich die realen Proportionen des Ruders ändern, 
wenn ich dasselbe ins Wasser stecke; die realen Proportionen des 
Turms, wenn ich mich von ihm entferne? Aber ist das nicht der 
nämliche Widersinn, dem der kritische Realist schon bei den sekun- 
dären Qualitäten (dem der rechten Hand warm, der linken kalt 
erscheinenden Wasser) begegnet, und durch die Subjektivierung 
(dieser Qualitäten zu heben bemüht gewesen war? In der Tat wird 
der besonnene Realist nicht umhin können, die Analogie dieser 
Erscheinungen anzuerkennen.**) Aber sowenig er sich durch die 
Beobachtung von dem Wechsel der Empfindungsqualitäten bei Ab- 
änderung des Zustands im auffassenden Subjekt schon allein be- 
wogen gesehen hatte, die bloße Subjektivität dieser Qualitäten zu 
behaupten, sondern es noch einer Reihe entscheidender Gründe dazu 
bedurft hatte, sowenig wird er jetzt allein durch die entsprechende 
Beobachtung bei den primären Eigenschaften deren Realität fallen 
lassen, die ihm auf anderweitig gut gelegtem Grund zu ruhen 
scheint. Alle seine Erfahrungen lehren ihn, daß das Ruder gerade 
ist, der Turm viereckig: der Anblick dieser Gegenstände in der 
Luft und in der Nähe, die Kontrolle durch die Tastempfindungen, 
die mathematische Messung; sollen nun alle diese Erfahrungen um- 
gestoßen werden durch die eine Wahrnehmung des Ruders im 
Wasser, des Turms in der Feme? Ehe das zugegeben wird, muß 
doch wohl noch der Versuch gemacht werden, die Wahrnehmung 



Drittes Kapitel Die Kritik der griechischen Skepsis. 169 

des gebrochenen Ruders, des runden Turms in Einklang zu bringen 
mit dem Ergebnis der früheren Wahrnehmungen: daß der Turm 
an sich eckig , das Ruder an sich gerade ist. Und dieser Versuch 
gelingt vollkommen. Denn der Realist ist imstande, die Ursachen 
nachzuweisen, aus denen ich jetzt das Ruder gebrochen, den Turm 
rund sehen muß. Wenn er die Notwendigkeit dieser Abweichungen 
zu erklären versucht, bemerkt er sogleich, daß die im Wasser am 
Ruder entlang gleitende Hand das Ruder ungekrümmt und gerade 
wahrnimmt wie in der Luft. So vermutet er die Ursachen in 
optischen Verhältnissen, und in der Tat belehrt ihn die physi- 
kalische Optik alsbald, daß die Strahlen vom unteren Teil des 
Ruders nicht mehr geradlinig in mein Auge fallen, sondern durch 
die Wasseroberfläche gebrochen werden, ich also das Ruder 
krumm sehen muß. Mit der Einsicht in diese Notwendigkeit 
ist aber die Einheit mit der Erfahrung und den Denkgesetzen auf 
Grund des gemäßigten Realismus wieder hergestellt und die Wahr- 
heit desselben also nicht erschüttert. Denn alles was das Wahr- 
heitsbedürfhis von diesem Standpunkt angesichts der verblüffenden 
Erscheinungen verlangen konnte, war: einmal eine Ursache dafür 
angegeben zu bekommen, daß jedesmal, wenn ich das Ruder ins 
Wasser stecke, ich es gebrochen sehe, und dann: diese Ursache 
nicht in das Objekt, das ja nicht verändert wurde, verlegt zu er- 
halten, sondern in die Verhältnisse des Mediums. Beide Forde- 
rungen wurden erfüllt, und zwar mit Hilfe jener realistischen 
Grundannahme, daß das Ruder als ein materielles, räumliches 
Ding an sich existiert, so gut wie die Luft, das Wasser, mein Auge, 
imd das Licht. Nur dadurch wurde die Erklärung möglich, daß 
die vom Ruder an sich ausgehenden Strahlen an sich in .das Auge 
an sich unter dem und dem Winkel an sich einfallen; das so von 
der Figur des Ruders entstehende Netzhautbild und das diesem 
entsprechende Bewußtseinsbild ist nun aber der Figur des Ruders 
an sich nicht gleich. Also ist — wenn wir es als ein Abbild des 
Ruders selbst erwarten und ansprechen — diese Erwartung täu- 
schend imd diese Aussage falsch. Daher nennt der gemäßigte 
Realist solche imd ähnliche Wahrnehmungen, in denen reale Eigen- 
schaften des Objekts durch besondere Umstände inadäquat wahr- 
genommen werden müssen, Sinnestäuschungen. Die Täuschung 
besteht eben darin, daß die Wahrnehmung, welche für gewöhnlich 
gewisse Eigenschaften der Dinge adäquat wiedergibt, in einigen 
Fällen auch hier versagt. Die Empfindungsbestandteile der Farbe, 



17^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

des Geruchs usw. dagegen täuschen uns nicht über die Eigen- 
schaften der Dinge, weil sie gar keine Eigenschaften der Dinge 
wiedergeben. Übrigens brauchen es durchaus nicht immer bloß 
physikalische, es können auch physiologische, ja rein psychologische 
Ursachen die Sinnestäuschungen bewirken; durch die Rolle der 
Augenbewegungen z. B. werden viele optische Täuschungen be- 
dingt, während etwa bei der Erscheinung, daß uns eine unter- 
brochene Linie länger erscheint als eine ununterbrochene, rein 
psychische Faktoren Ursache der Täuschung sind. Daß man in 
solchen das Objekt unberührt lassenden Momenten wirklich die Ur- 
sachen für die veränderten Wahrnehmungen zu suchen hat, erhellt 
auch daraus, daß, wenn man diese Ursachen willkürlich ausschaltet,, 
die alten Objektwahmehmungen wieder eintreten, und, wenn man 
sie willkürlich einfuhrt, die Veränderungen sofort mit eintreten. 
Dadurch werden sie in ihrer ursächlichen Natur bestätigt. 

Hatten wir so die hauptsächlichen Stützen für den gemäßigten 
Realismus ins Feld gefuhrt und ihn auch scheinbarer Widersprüche 
gegen seine Anschauungen Herr werden sehen, so ergibt sich doch 
aus seiner Methode, die Kriterien der Wahrheit bewußt anzuwenden, 
daß die gewaltigste Hilfstruppe zu seinen Gunsten hier nur be- 
zeichnet, aber nicht in ihrer ganzen Ausdehnung ins Feld geführt 
werden kann. Denn wenn seine Theorie von der Realgültigkeit 
gewisser Wahrnehmungsbestandteile, der Irrealilät oder Idealität 
andrer, auf ihren Wahrheitsgehalt an dem Einklang mit allen Er- 
fahrungstatsachen und dem mangelnden Widerspruch zu nur einer 
einzigen geprüft werden soll, so ist natürlich das Zeugnis jener 
Wissenschaft von dem höchsten Gewicht, deren Beruf gerade in 
der Sammlung und widerspruchlosen Zusammenfassung einer immer 
neu zuströmenden Fülle von Erfahrungen über die sinnlich wahr- 
genommenen Objekte besteht. Das Zeugnis der Naturwissen- 
schaften, hier an letzter Stelle auftretend, ist dem Werte nach 
unter allen Rechtfertigungsgründen des gemäßigten Realismus eines 
der entscheidendsten. Seit Hunderten von Jahren arbeitet die Natur- 
wissenschaft bewußt, seit Tausenden unbewußt, mit dem Standpunkt 
des gemäßigten Realismus an dem Verständnis, der Deutung, der 
Erklärung der den Sinneswahmehmungen korrespondierenden Gegen- 
stände. Die vorhandenen Tatsachen bringt sie durch ihn in wider- 
spruchlosen Zusammenhang, neu auftretende gliedern sich un- 
gezwungen durch ihn in denselben ein, und die uns die alltägliche 
Erfahrung vielleicht niemals entgegenbrachte, werden durch ihn 



Drittes Kapitel Die Kritik der griechischen Skepsis. 171 

vorausgesagt und durch das Experiment bestätigt. Der Natur- 
wissenschaftler als solcher ist zwar kein Erkenntnistheoretiker — 
aber insoweit er eine bestimmte erkenntnistheoretische Anschauung 
seinen Forschungen zugrunde legt, bedient er sich derselben als 
einer Hypothese, die sich ihm auf seinem Gebiete immer wieder 
bewährt. Die ganze Armee dieser bestätigenden Erfahrungen 
können wir hier nicht aufmarschieren lassen, sonst müßten wir 
ein beliebiges Lehrbuch der Physik oder der Chemie auszuschreiben 
beginnen, so daß die gewaltigste Hilfstruppe des gemäßigten Rea- 
lismus, wie gesagt, hier nur bezeichnet, nicht entwickelt werden 
kann. Die Beobachtungen der Physik haben ihm mehr genützt 
als die Reflexionen der einzelnen Philosophen , und man darf wohl 
behaupten: daß der Idealrealismus von allen nach dem extremen 
Realismus zu erörternden Positionen rein philosophisch am schwersten 
zu halten wäre, hätte er nicht jene übermächtige Bundesgenossin, 
die an seiner Hand die Erfahrung tiefer und tiefer durchdringt 
und ihre einzelnen Fälle immer inniger miteinander versöhnt. 

2. Nachdem so die erste Frage nach den tatsächlichen Thesen 
des gemäßigten Realismus und nach deren Begründung beantwortet 
ist, erledigt sich das noch ausstehende Problem: kann die sinn- 
liche Wahrnehmung Erkenntnis der Dinge liefern oder 
führt auch dieser Standpunkt zu skeptischen Folgerungen? 
fast von selbst. Zunächst ist die sinnliche Wahrnehmung als solche 
weder wahr noch falsch; denn sie ist kein Urteil und nur Urteile 
verfallen dem Wahrheitsbegriff*. Wahr oder unwahr ist also nur 
das Urteil über die sinnliche Wahrnehmung: daß diese die Eigen- 
schaften der Dinge, wie sie wirklich beschaffen sind, erkenne oder 
nicht erkenne. Und dieses Urteil ist halb wahr und halb falsch. 
„Die Sinne erkennen die Eigenschaften der Dinge** kann jetzt nur 
noch bedeuten: die von ihnen vorgestellten Eigenschaften sind den 
realen Eigenschaften gleichartig. Das galt zunächst nicht von den 
sekundären Qualitäten; hier sind die vorgestellten Eigenschaften 
den realen weder gleichartig noch ähnlich; für die mathematisch - 
physikalischen Qualitäten aber galt das Umgekehrte; sie sind den 
realen Eigenschaften gleichartig oder doch ähnlich. Aber auch 
hier gab es mannigfaltige Ausnahmen (in den sogenannten Sinnes- 
täuschungen), die der gedanklichen Korrektur bedurften, so daß 
auch die Wahrnehmung bestimmter räumlicher Eigenschaften keines- 
wegs jemals die letzte Instanz für die Wirklichkeit derselben ist, 
sondern erst an die Sanktion durch die Vernunft, welche die 



172 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

genannten Wahrheitskriterien bewußt anzuwenden hat, verwiesen 
wird>^ Nimmt man hinzu, daß ich niemals imstande bin, die pri- 
mären von den sekundären Qualitäten anschaulich abzuspalten, 
so daß ich etwa die Figur eines Dinges ohne seine Farbe wahr- 
zunehmen imstande wäre, und daß ich andrerseits bei den sekun- 
dären Eigenschaften die entsprechenden realen in der gewöhnlichen 
Anschauung überhaupt nicht wahrnehme, ja sie auch durch experi- 
mentelle Isolation oft überhaupt nicht wahrnehmen, sondern nur 
mit der Phantasie und dem Denken erfassen kann, so erhellt, daß 
die gegebene Wahrnehmung in toto ein ganz ungetreues Bild der 
realen Dinge liefert, und daß das getreue Bild irgend eines realen 
Dinges niemals durch dessen Wahrnehmung gegeben werden kann. 
Man versuche nur, sich das der Wahrnehmung Rose entsprechende 
reale Ding sinnlich vorzustellen: ein nicht duftendes, nicht farbiges, 
nicht weiches, den angeschauten Raumausschnitt einnehmendes 
Atomkonglomerat, von dem Ätherwellen verschiedener Länge aus- 
gehen, farblose Gase aufsteigen usw.l So ergibt sich die völlige 
Andersartigkeit zwischen Wahrnehmung und Gegenstand, und dieser 
erscheint als eine begriffliche, aus den Daten der Anschauung 
gewonnene Größe, jene als ein bloßes Zeichen, als ein Hinweis 
auf die Existenz dieser Größe. Von dieser Seite betrachtet ist der 
Anteil des Denkens weit größer als der Anteil der Sinne an der 
Erkenntnis der Gegenstände. Aber so sehr der logische Charakter 
der Gegenstanderkenntnis hervorzuheben ist, so darf man doch 
nie vergessen, daß diese logische Bearbeitung allen Stoff erst von 
der sinnlichen Wahrnehmung empfangt; daß diese Bearbeitung 
immer nur an der Hand sinnlicher Daten fortschreiten kann. Das 
Ding Rose kann ich nur erkennen, wenn die sinnliche Wahrneh- 
mung mir zunächst das Bild einer Rose vor Augen, Nase, Getast 
führt, und zu all den Berichtigungen, die ich an diesem Bilde vor- 
nehme, bis die realen Eigenschaften der Rose herausgearbeitet 
sind, werde ich nur durch neue Wahrnehmungen geleitet. Will 
ich etwa die realen Eigenschaften, die in mir die Duftempfindungen 
erzeugen, untersuchen, so muß ich die Gase, die von der Rose 
ausströmen, d. h. das durch Destillation gewonnene ätherische Ol 
auf Brennbarkeit, Löslichkeit usw. prüfen; ich muß also neue Wahr- 
nehmungen machen, die in sich zwar wieder nicht, weil mit sekun- 
dären Qualitäten beladen, der Realität entsprechen, aber einzig 
zur Erforschung jeglicher Realität tauglich sind. Und die durch 
derartige Bearbeitung der Realität zugewiesenen Eigenschaften sind 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 173 

ins Reale übersetzte Wahraehmungsbestandteile, oder aus solchen 
erschlossene Elemente möglicher Wahrnehmung! So überragt unter 
einem andern Gesichtspunkt die Rolle der Wahrnehmung diejenige 
des Denkens in der Erkenntnis der sinnlich angeschauten realen 
Dinge. Aber erst aus der Vereinigung beider entspringt die wahre 
Erkenntnis; man kann sagen: ohne sinnliche Wahrnehmung über- 
haupt keine Erkenntnis realer Dinge; aber ohne Denken keine 
wahre Erkenntnis der Dinge. Und so fordert der gemäßigte Rea- 
lismus beide Faktoren, um die Wahrheit auf dem fraglichen Ge- 
biete erarbeiten zu können. 

Wie steht es nun mit den skeptischen Beweisstücken 
Aenesidems? Diese hingen unter anderm an zwei Voraussetzungen: 
einmal daß das Wahmehmungsbild in allen seinen Teilen ein dem 
realen Ding homogenes Bild ist und daß die Abweichungen sich 
innerhalb der Grenzen dieser Homogenität bewegen; und dann, 
daß die Wahrnehmungen als solche und in ihrer Isolierung die Dinge 
erkennen sollten. Die erste Prämisse führte in betreff der sekun- 
dären Qualitäten zu scheinbar unlösbaren Widersprüchen ; die zweite 
hinderte das Denken, der Wahrnehmung zu Hilfe zu kommen und 
an seiner Hand die erste Prämisse aufzuheben. Mit beiden Voraus- 
setzungen hat der gemäßigte Realismus gründlich aufgeräumt und 
andre, eigene und wohlbegründete Anschauungen an die Stelle 
gesetzt Für diese aber sind die nur unter obiger Annahme gültigen 
Tropen Aenesidems hinfällig geworden. Der Kern derselben war 
der Tropus von der Relativität der sinnlichen Wahrnehmung ge- 
wesen; aus dieser Relativität wurde auf die Variabilität und 
aus beiden zusammen auf die Unerkennbarkeit der Dinge 
geschlossen.*^) Diese Relativität und Variabilität gibt der gemäßigte 
Realist dem Skeptiker zunächst für die Empfindungsbestandteile 
willig zu; er gesteht gerne ein, daß die Farbe nur in bezug auf die 
Beleuchtung existiert, mit dieser sich verändert und wechselt, daß die 
Temperaturempfindung von der Temperatur unsres eignen Blutes 
abhängt, und daß, wenn Farbe und Temperatur Eigenschaften der 
realen Dinge wären, wir diese Eigenschaften nie an sich, sondern 
immer nur durch subjektive Dispositionen oder objektive Verhält- 
nisse der Medien modifiziert erkennen würden. Aber da es sich hier- 
bei für ihn um gar keine Eigenschaften realer Objekte, sondern nur 
um rein subjektive Reaktionen auf ganz andersartige reale Eigen- 
schaften handelt, so kann auf eine Unerkennbarkeit von Objekts- 
eigenschaften aus dieser Veränderlichkeit niemals geschlossen werden. 



174 Erster Abschnitt. Die griechiscbe Skepsis. 

Auch wird man dem Skeptiker nicht zugeben: die Wahr- 
nehmungen selbst behaupteten, den Dingen kämen Röte, 
Wärme und Süße zu; und da sie nun von dem gleichen un- 
verändert gebliebenen Dinge hier oft die konträrsten Behaup- 
tungen aussagten, so gerieten sie miteinander in einen Wider- 
spruch, der nicht zu heben sei; es stünden also — selbst wenn 
man die, vernünftiger Erwägung entsprossene, These teilte: 
die Empfindungen sind keine realen Qualitäten — doch dieser 
These immer noch miteinander streitende unmittelbare Wahr- 
nehmungen gegenüber, die ihre Behauptungen in wirrem Tumult 
durcheinander riefen: der Honig ist süß, der Honig ist bitter usf. 
Die Wahrnehmungen selbst behaupten gar nichts und können also 
auch niemals miteinander in Widerspruch geraten, da Widerspruch 
nur zwischen Behauptungen möglich ist. Die Wahrnehmung sagt 
niemals aus, daß der Honig süß ist; sondern sie besteht in Süß- 
empfindungen, Gelbempfindungen, vielleicht auch Zähigkeitsempfin- 
dungen (die man wegen ihrer häufigen Wiederkehr in gleicher 
Kombination als einheitlichen Komplex mit dem Namen „Honig" 
belegt hat) und allenfalls noch in einem begleitenden Wirklich- 
keitsgefühl. Die Wahrnehmung als solche ist reines Erlebnis, 
das als solches nie wahr oder falsch, sondern nur da oder nicht 
da sein kann. Auch das Urteil, das den logischen Denkgesetzen 
gemäß über diesen Bewußtseinsinhalt berichtet, muß stets wahr 
sein, weil es logisch korrekt eine Erfahrung wiedergibt, die — wir 
gebrauchen das Wort Erfahrung im strengen Sinne — niemals mit 
einer andern Erfahrung in Streit geraten kann. Konnten also die 
Wahrnehmungen als solche nie in Widerspruch kommen, weil sie 
jenseits von Übereinstimmung und Widerspruch stehen, so sind 
die Urteile, welche nur den Inhalt der Wahrnehmung zum Aus- 
druck bringen, d. h. ihn vom Subjekt als dessen Bewußtseinszustand 
prädizieren, und die den Wahrheitskriterien unterstellt sind, alle 
miteinander im Einklang. Auch die Urteile: ich habe im Augen- 
blick A im Bewußtsein räumlich -zeitlich geordnete Gelb-, Zähig- 
keits- und Süßempfindungen und ein Gefühl, als ob diesen Empfin- 
dungen ein reales Objekt entspräche, und: ich habe im Augenblick 
B im Bewußtsein räumlich -zeitlich geordnete Gelb-, Zähigkeits- 
und Bitterempfindungen und ein Gefühl, als ob auch diesen Empfin- 
dungen ein reales Objekt entspräche, widersprechen sich nicht, 
selbst wenn es sich dabei um die Wahrnehmung des gleichen , un- 
verändert beharrenden realen Objekts handeln sollte. Erst durch 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 175 

die in der Wahrnehmung gar nicht enthaltene, von den Skeptikern 
willkürlich vorausgesetzte philosophische Annahme: das Wirklich- 
keitsgefiihl beweise die Existenz einer transsubjektiven Realität, 
und die gleichfalls nicht in der Wahrnehmung enthaltene Annahme: 
die Wahrnehmungsbestandteile seien Eigenschaften dieser realen 
Dinge, glaubte man auf Grund der Wahrnehmung schließen zu 
müssen: das gleiche Ding, das selbst keinerlei Veränderung er- 
litten habe, sei jetzt süß, jetzt bitter — Urteile, die allerdings 
miteinander nicht verträglich erscheinen und die Erkennbarkeit der 
Dingeigenschaften in Frage stellen. Dagegen legt der gemäßigte 
Realist die gleichfalls in der Wahrnehmung nicht enthaltene aber 
logisch begründete philosophische Annahme zugrunde: solange an 
der naiv geglaubten, aber deshalb nicht primär erfahrenen 
Korrespondenz von Ding- und Wahrnehmungseigisnschaften fest- 
zuhalten, bis Widersprüche mit Denken oder Erfahrung eine andre 
Auffassung notwendig machten — eine Notwendigkeit, die für das 
Dasein realer Dinge nicht, wohl aber für die Korrespondenz zwischen 
Ding- und sekundären Wahrnehmungseigenschaften eingetreten war. 
Nun glaubt auch er aus den Wahrnehmungen etwas schließen zu 
dürfen: nämlich das gleiche Ding bewirke in mir jetzt eine Süß-, 
jetzt eine Bitterempfindung; Urteile, die durchaus miteinander ver- 
träglich sind und die Erkennbarkeit der Objektseigenschaften nicht 
im geringsten in Frage stellen. Der Skeptiker steht also de facto 
nicht einem Widerspruch zwischen sinnlichen Aussagen über das 
gleiche Objekt ratlos gegenüber (denn solche Aussagen und daher 
auch solchen Widerspruch kann es überhaupt nicht geben), son- 
dern einem Widerspruch zwischen Aussagen über das gleiche Ob- 
jekt, die aus einer willkürlichen und noch dazu unhaltbaren logi- 
schen Ausdeutung des sinnlichen Wahrnehmungsvorgangs erst 
gewonnen sind. Und der gemäßigte Realist gewinnt nicht etwa 
durch eine logische Korrektur an sinnlichen Aussagen (denn solche 
Aussagen gibt es streng genommen nicht, und selbst die in Urteile 
exakt transponierten Wahrnehmungen bedürfen nie einer logischen 
Korrektur!) widerspruchlose Behauptungen über die realen Dinge, 
sondern durch eine begründete logische Ausdeutung des sinnlichen 
Wahmehmungsvorgangs. 

Kann endlich der gemäßigte Realist auf Grund der sinnlichen 
Wahrnehmungen zu keinen unausgleichbaren Urteilen über die 
sekundären Qualitäten der Dinge gelangen, weil er in den Empfin- 
dungen überhaupt keine Eigenschaften der Dinge zu erkennen 



1 7^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

glaubt, SO vermag er andrerseits die realen Qualitäten 
sehr wohl zu erkennen, die den nur subjektiven Empfindungen 
entsprechen, d. h. als Reize diese Empfindungen auslösen. Denn 
diese Reize sind stets räumlicher, materieller, also grundsätzlich 
erkennbarer Natur. Freilich beruht ihre Eigenart auf Bewegungen 
der kleinsten materiellen Teilchen (der Luft, des Äthers usf.), deren 
Ursachen zum Teil durch die Wahrnehmung erkennbar sind (wie die 
Schwingungen tieftönender Körper) , zum Teil unsem Sinnen entgehen 
(wie die Schwingungen hochtönender Körper), aber in ihrer Existenz 
und Beschaffenheit sicher erschlossen werden können , zum Teil (wie 
die Ätherwellen) bisher nur auf hypothetischen Annahmen beruhen. 
Also auch hier das gleiche Ergebnis, wie bei den Werten und Gefühlen 
der Skepsis gegenüber: Soweit die Wahrnehmungselemente 
auf Dingeigenschaften zurückgehen, sind diese Ding- 
eigenschaften grundsätzlich erkennbar; soweit die Wahr- 
nehmungsbestandteile als Dingeigenschaften nicht er- 
kennbar wären, sind sie überhaupt keine Dingeigen- 
schaften! 

Die Relativität und Variabilität in den Wahrnehmungen der 
mathematisch-physikalischen Eigenschaften besteht dagegen 
im großen und ganzen nicht, und wo sie besteht, ist die Unerkenn- 
barkeit der realen Eigenschaften nicht aus ihr zu folgern. Die 
Wahrnehmung eines Dreiecks hängt nicht, wie die Temperatur- 
empfindung von den augenblicklichen Blutverhältnissen, wie der 
Geruch von dem, was ich vorher gerochen, wie der Geschmack 
von dem, was ich vorher gekostet, so von dem, was ich vorher 
gesehen und getastet habe, ab, und ändert sich nicht mit diesen 
Erfahrungen. Sondern hier werden im ganzen über die gleichen 
Objekte die gleichen Raum- und Maßverhältnisse von mir dem 
Wahrnehmenden (und den übrigen wahrnehmenden Gesunden) aus- 
gesagt, und es möchte schwerlich jemand, weU er vorher Recht- 
ecke gesehen hat, nun auch das Dreieck an der Tafel für ein 
Rechteck halten; während für seine erhitzte Hand die das Dreieck 
tragende und vorher lau erscheinende Tafel sich sofort kühl an- 
fassen wird. Dennoch hatten wir in den Sinnestäuschungen Ver- 
hältnisse kennen gelernt, in denen diese Übereinstimmung versagt 
und die Relativität und Variabilität der Wahrnehmung räumlicher 
Maße an die Stelle tritt. Da es sich bei der Raumwahmehmung 
auch nach gemäßigt- realistischer Auffassung um die Wahrnehmung 
realer Objekteigenschaften handelt, scheint durch diese Fälle die 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 177 

Erkennbarkeit der Objektseigenschaften zu guterletzt doch noch 
in Frage gestellt und Aenesidems Bedenken, die unsre Trennung 
von Wahmehmungsbestandteilen nicht kennen und gleichmäßig auf 
die Unerkennbarkeit der sekundären wie der primären Qualitäten 
(letzteres besonders im 5. Tropus) zielen, scheinen gerechtfertigt. 
Aber wer das glaubt, hat bereits vergessen, was vorhin von den 
Wahrnehmungen als solchen und ihrem Verhältnis zur Erkenntnis 
gesagt wurde und was natürlich von allen Wahmehmungsbestand- 
teilen gleichmäßig gilt. Die Wahrnehmung selbst sagt nicht aus, 
daß der Turm aus der Feme gesehen rund, das Ruder im Wasser 
gebrochen ist, sondern erst die logisch unter philosophischen An- 
nahmen ausgedeutete Wahrnehmung. Diese logische Ausdeutung 
ergab: gewisse Bestandteile der Wahmehmung dürfen als realgültige 
angesehen werden, weil diese Annahme zu keinen Widersprüchen 
fuhrt; sie ergab nicht etwa: diese Bestandteile sind notwendig in 
allen Fällen als realgültige anzusehen. Wenn also doch einmal 
Widersprüche zu entstehen scheinen, so muß entweder die gemäßigt - 
realistische Annahme fallen gelassen oder der Widersprach unter 
deren eigenen Auspizien gelöst werden. Und letzteres gelang voll- 
kommen: Da sich bestimmte Umstände, die nicht in dem zu er- 
kennenden Objekt ihre Quelle hatten, als die notwendigen Ur- 
sachen solcher Wahrnehmungen nachweisen ließen und zwar auf 
Grund der realistischen Meinung über die transsubjektive Gültig- 
keit von Raum und Zeit, so konnte es nun gar nicht mehr zweifel- 
haft sein, daß diese veränderten Wahmehmungen die realen Eigen- 
schaften des Objekts nicht wiedergaben und als „Sinnestäuschungen" 
aus den objektiven Erkenntnisquellen auszuscheiden hatten. Frei- 
lich war das nicht ohne Anwendung denknotwendiger Sätze ge- 
gangen, in diesem Falle der Vemunfterwägung: wenn Änderungen 
in der Wahmehmung eines Objekts sich restlos auf Ursachen zu- 
rückfuhren lassen, die das wahrgenommene Objekt an sich gar 
nicht betreffen, so vermag die betreffende Wahmehmung die auf 
Gmnd friiherer Wahmehmungen gemachte Erkenntnis von den 
realen Objektseigenschaften nicht zweifelhaft zu machen. So ent- 
geht also der gemäßigte Realismus vollständig den skeptischen 
Schlingen Aenesidems — allerdings unter einer Voraussetzung: daß 
man auch die Polemik des Pyrrhonismus gegen die Vemunft- 
erkenntnis für gescheitert ansieht. Denn nur durch die gemein- 
same Arbeit von Vernunft und Sinnlichkeit glaubt der gemäßigte 
Realist die Objekte an sich, ta vTtoHsißjtsva, erkennen zu können. 

Richter, Skeptisitmn. 12 



IjB Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Es steht und fallt also seine Position mit der Kritik der skeptische» 
Angriffe gegen das logische Erkennen. Das Resultat dieser ab- 
wehrenden Kritik ist hier vorläufig Postulat. 

III. Der erste Waffengang liegt hinter uns. Der gemäßigte Rea- 
lismus, der zugleich gemäßigter Idealismus ist, hatte den I^rrhonis- 
mus in der Theorie von der sinnlichen Wahrnehmung aus dem 
Felde geschlagen; aber es harrt noch ein andrer Kämpfer, der 
sich mit dem skeptischen Gegner zu messen willens ist. Und das 
dürfen wir ihm nicht verbieten. Handelt es sich doch um eines 
der kapitalsten Probleme, die es für den denkenden Menschen 
gibt: um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit objektiver Erkennt- 
nis. An der Lösung dieses Problems sind nicht nur die philo- 
sophischen Spezialdisziplinen, die Erkenntnistheorie und die Logik, 
interessiert, sondern auch alle andern Wissenschaften, besonders 
die Naturwissenschaften, die mit dem Anspruch auftreten, objektive 
Erkenntnis zu liefern. Ja, unsre ganze Lebensanschauung, unsre 
Auffassung von Außenwelt und Innenwelt und deren Beziehungen 
zueinander, damit auch von dem Verhältnis zwischen Leib und 
Seele und dadurch wieder unser sittliches Handeln, unser religiöses 
Hoffen und Verzichten — es ist unter dem theoretischen Gesichts- 
punkt aufs allerengste gebunden an die Beantwortung der Frage 
nach der Möglichkeit objektiver Erkenntnis. Wegen des Ernstes 
dieses Problems wurden auch nicht die einzelnen Argumente der 
Skeptiker dialektisch kritisiert, sondern in ihrer Totalität und in 
ihrem Kern zu erfassen und zu beurteilen gesucht. Hier hatte 
sich der gemäßigte Realismus angeboten und nachgewiesen, daß 
und warum objektive Erkenntnis von seinen eigenen Annahmen 
aus möglich sei. Aber diese Annahmen sind selbst nicht über 
jeden Zweifel erhaben. Wir überlassen die Kritik und den Ersatz 
derselben gleich der nächsten erkenntnistheoretischen Grundposition, 
die den Realismus in jeder Form zwar verwirft, darum aber nicht 
etwa auf den Standpunkt des Skeptizismus zurückkehrt, vielmehr 
ein noch festeres Bollwerk gegen alle Zweifelslehren errichten will, 
als der Idealrealismus. Es ist der extreme Idealismus (Phäno- 
menalismus), auf dessen Vertreter wir jetzt hören müssen. 

Im Altertum wurde diese Anschauung bereits von den An- 
hängern der kyrenaischen Philosophie wie durch Nebel er- 
blickt; ihr eigentlicher Begründer und klassischer Repräsentant aber 
ist der irische Bischof George Berkeley. Unter den Deutschen 
zählen Fichte und Schopenhauer zu ihren Bekennern; in neuester 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 179 

Zeit ist sie unter dem Namen des Positivismus und der Imma- 
nenzphilosophie vor allem bemüht gewesen, jegliche meta- 
physische Voraussetzung und Folgerung von sich abstreifend, sich 
als Standpunkt der reinen Erfahrung auszuweisen.*^) 

Um ja keine Verwirrung aufkommen zu lassen, müssen wir 
auch an den extremen Idealismus das nur dem philosophischen 
Laien pedantisch erscheinende Ansinnen stellen, über den Ausgangs- 
punkt und die anzuwendenden Wahrheitskriterien vor der Ent- 
wicklung seiner Ansichten genau Rechenschaft zu geben. Die Er- 
kennungszeichen der Wahrheit nun sind für ihn ganz die 
gleichen wie für den extremen und den gemäßigten Realisten, ja 
wie trotz aller Verwahrung desselben auch für den Skeptiker; aus 
dem einfachen Grunde, weU es — andre gar nicht gibt. Wahrheit 
wird durch ein Gefühl erkannt, das mit unsrer geistigen Orga- 
nisation unabtrennbar verknüpft ist, das wir weder erzeugen noch 
vernichten können, und das sich nur dort einstellt, wo ein Urteil 
sich im Einklang mit Denkgesetzen und Erfahrungstatsachen be- 
findet. Nur das Irrlicht einer Wahrheit an sich, nach deren Er- 
kennungszeichen man suchte, konnte allein über diese Einsicht 
täuschen. Seinen Ausgangspunkt aber wählt der extreme Idealist 
zimächst in einer logischen Stellung, während ihn der gemäßigte 
Realist in einen psychologischen Urzustand verlegte.^®) Hatte 
ferner der Realist den Kern des psychologischen Befundes logisch 
zu rechtfertigen gesucht, so ist der Idealist beflissen, das Resultat 
seiner logischen Erwägungen auch als ursprünglich gegebenen Be- 
wußtseinszustand zu erweisen; und wenn endlich der Realist sich ge- 
zwungen sah, zahlreiche Berichtigungen an dem psychologischen 
Grundstandpunkt durch logische Schlüsse vorzunehmen , so weicht 
der Idealist keinen Finger breit in seinen Ergebnissen von dem 
logischen und psychologischen Ausgangspunkt ab. 

Was ist nun dieser Ausgangspunkt des extremen Idealisten? 
Es ist die Einsicht: daß uns unmittelbar gegeben sein können 
immer nur Vorstellungen, pefühle, Willensregungen, kurz etwas 
Ideelles, d.h. Bewußtseinsdata; niemals aber Dinge, Objekte, Gegen- 
stände an sich, kurz etwas Reales, d. h. unabhängig vom Bewußtsein 
Vorhandenes. Denn unmittelbar erfahren, als Gegebenes vorfinden 
heißt immer: sich bewußt sein. Ein unbewußtes Erfahren ist eine 
contradictio in adjecto. Wie aber sollte unser Bewußtsein die 
Möglichkeit gewinnen, in sich etwas von sich ganz Unabhängiges zu 
bergen? In dem Augenblick, wo etwas in mein Bewußtsein gelangt, 

12* 



l8o Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

ist es doch in mir, also auch abhängig von mir. Es ist demnach 
unmöglich, nach Ansicht dieser Richtung, in der unmittelbaren 
Erfahrung über den Schatten meines Bewußtseins springend zum 
„An Sich" eines Dinges zu gelangen. Nehme ich z. B. einen Apfel 
wahr, so bedeutet das als Tatsache der unmittelbaren Erfahrung: 
ich habe jetzt in meinem Bewußtsein die Wahrnehmung „Apfel", 
d. h. ein Zusammen von Rot-, Grün-, Gelbempiindungen und einer 
bestimmten kugelähnlichen Form Vorstellung, eventuell noch einer 
sauer -süßen Geschmack- und einer als glatt bezeichneten Druck- 
empfindung. Dagegen enthält diese unmittelbare Erfahrung nicht 
ein Ding, das unabhängig von diesen Empfindungen und Figur- 
vorstellungen bestünde als deren Ursache, als ihr ähnliches (oder 
unähnliches) Urbild, oder auch nur als unbekanntes irgendwie in 
ihr verborgenes X. 

Und mit diesem logischen Ergebnis befindet sich der psy- 
chologische Befund im Einklang. Berkeley war es, der mit 
aller Energie darauf hinwies, daß diese unmittelbaren Erfahrungen 
— nur die sinnlichen Wahrnehmungen kommen von ihnen hier in 
Betracht — auch für das naive Bewußtsein nicht den geringsten 
Hinweis auf etwas an sich Objektives oder Reales enthielten. Wenn 
das populäre Bewußtsein andre Aussagen darübermacht, so liegt 
das daran, daß wir im populären Bewußtsein schon ein verbildetes 
und jedenfalls nicht das naive Bewußtsein vor uns haben; das 
Bewußtsein der meisten Menschen ist schon durch allerlei halb- 
wissenschaftliche Vorurteile so verdunkelt, daß die völlige Un- 
befangenheit einem gegebenen Tatbestand gegenüber kaum zu er- 
zielen ist; und wird sie erzielt, daß es dann gewissermaßen geblendet 
von dem hellen Schein der naiven Anschauungsweise diese als 
verschroben und paradox empfindet. 

Die unmittelbare Erfahrung also ist der Ausgangspunkt des 
extremen Idealisten. Aber die Aussage der unmittelbaren Erfahrung 
lautet nicht etwa: den sinnlichen Wahrnehmungen entspricht nichts 
Reales, sondern nur: die sinnlichen Wahrnehmungen enthalten in 
sich kein Reales und weisen auch unmittelbar auf die Existenz 
eines solchen nicht hin. Es würde also mit der Annahme eines 
Realen etwa als Objekt der Wahrnehmungen nicht schon der Er- 
fahrung widersprochen werden und also bereits durch den Ausgangs- 
punkt der Sieg des extremen Idealismus entschieden sein! Viel- 
mehr fragt es sich nun: führt der extrem -idealistische Standpunkt 
der immittelbaren Erfahrung in seiner Verallgemeinerung zu Wider- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griecbiscben Skepsis. l8l 

Sprüchen logischer oder tatsächlicher Natur, ist er beizubehalten 
oder durch die vernünftige Deutung des unmittelbar Gegebenen zu er- 
gänzen ?^^) Der extreme Idealist entscheidet sich für das Beibehalten; 
denn er glaubt, daß nur diese Anschauung sich im Einklang mit Denk- 
gesetzen und Erfahrung befindet. Und so lautet sein erkenntnis- 
theoretisches Bekenntnis auf diesem Punkt: es existieren nicht 
irgendwelche Dinge, Objekte, Realitäten, Körper, unab- 
hängig von den Vorstellungen derselben in einem Bewußt- 
sein, und die Dinge, welche die Sinneswahrnehmungen 
auffassen, gehen vollständig in den subjektiven und 
idealen Bestandteilen auf, aus denen sie sich zusammen- 
setzen.**) An diesem Satz festzuhalten bestimmen ihn vor 
allem folgende Erwägungen: es erscheint unmöglich, ein Sein 
anders als wie ein Vorgestelltwerden zu denken. Denn versucht 
man es, so stellt man es ja eben als ein nicht Vorgestelltes vor, 
stellt es also vor, und erkennt daran die notwendigen Schranken, 
die durch das Bewußtsein jedem Sein gezogen werden. Als ein 
ähnliches Abhängigkeitsverhältnis entpuppt sich das vom Objekt 
zum Subjekt Kein Objekt ohne Subjekt gilt dem extremen 
Idealisten als eine ebenso denknotwendige These wie: kein Sein 
ohne Bewußtsein. Will man aber diese Denknotwendigkeiten als 
solche nicht gelten lassen, so ist jedenfalls die Annahme: daß 
reale Dingeigenschaften „erkannt" würden in der Weise, daß das 
Bewußtseinunabhängige irgendwie den Bewußtseinsinhalt erzeuge, 
wegen der gänzlichen Heterogenität beider Glieder ein widerspruch- 
voller, ja absurder Gedanke. Kann aber grundsätzlich nichts aus 
dem Reich der Realität in das der Idealität gelangen, so bliebe 
für den an die Grenzen seines Bewußtseins gebundenen Menschen- 
geist das Reich des Realen, falls es bestünde, eine terra incognita, 
imd gar zur Erklärung von Bewußtseinsvorgängen dieses Reich 
heranzuziehen, wäre ein vergebliches Bemühen. 

Nun erfordert aber die Gewissenhaftigkeit, daß dieses Be- 
kenntnis vor allem den Hauptgründen gegenüber, die den ge- 
mäßigten Realisten zu den entgegengesetzten Anschauungen bewogen, 
sich rechtfertigt Da ist zunächst das unleugbare Passivitäts- 
gefühl zu erwähnen, das die sinnlichen Wahrnehmungen als etwas 
Aufgenötigtes und nicht als etwas Selbsterzeugtes kennzeichnet, und 
das auch der Idealist bereitwillig anerkennt Aber während der 
Realist daraus schloß, die gegebenen Empfindungen müssen, da 
sie nicht aus dem Subjekt stammen , von imabhängig vom Subjekt 



l82 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

bestehenden Objekten stammen, leugnet der Idealist die Kon- 
klusivität dieses Schlusses und stellt ihm den andern entgegen: 
zugestanden, daß die Empfindungen „gegeben** sind, so müssen 
sie auch von irgendwo und irgendetwas gegeben sein; da sie aber 
in der reinen Erfahrung nur als ideelle und subjektive Größen 
erscheinen, so liegt die Vermutung näher, daß sie auch von etwas 
Ideellem und Subjektivem verursacht werden. Denn eine völlige 
Ungleichartigkeit zwischen Ursache und Wirkung anzunehmen, ist 
logisch nicht angängig. Auch den realistischen Beweis aus der 
Korrespondenz in den Aussagen verschiedener Subjekte 
über den gleichen Gegenstand wird sein Gegner nicht gelten lassen. 
Entweder er erkennt andre Subjekte neben dem eigenen Ich über- 
haupt nicht an und erklärt als konsequenter Solipsist alles nur 
für seinen eigenen Bewußtseinsinhalt; dann gibt es keine Korre- 
spondenz verschiedener Subjekte über den gleichen Gegenstand 
(weil es überhaupt nicht verschiedene Subjekte gibt); oder aber 
er nimmt durch einen Analogieschluß vom Dasein andrer Leibes- 
erscheinungen auf die Existenz dazugehöriger Subjekte das Dasein 
verschiedener Bewußtseinsträger an (was ihm seinen Voraussetzungen 
nach nicht verwehrt werden kann) und dann versucht er folgende 
Erklärung des Vorgangs: Die Tatsache, daß mehrere Personen in 
ihren Wahrnehmungen über den gleichen Gegenstand (denken wir 
an die früheren Beispiele: Eisberge im Polarmeer, Töne einer Oper) 
übereinstimmen, besteht. Der Realist hatte sie durch das Dasein 
unabhängig von den wahrnehmenden Subjekten existierender be- 
harrlicher materieller Dinge (Atomkomplexe und deren Er- 
regungen) erklärt, die nach bestimmten Gesetzen in dem gleich 
veranlagten Bewußtsein der verschiedensten Subjekte die gleichen 
Wahrnehmungen erzeugen. Solange also die nämlichen Atom- 
schwingungen an sich im Eismeer und im Opernhause sich befinden, 
wird jeder, der sich dorthin begibt, notwendig die gleichen Berge 
sehen, die gleichen Töne hören. Diese Erklärung ersetzt der 
Idealist durch eine andre. Unmittelbar gegeben ist nur: die durch 
die Aussagen verschiedener Subjekte versicherte Gleichheit (oder 
Ähnlichkeit) der Wahrnehmungen unter ganz bestimmten Umständen, 
d. h. im Anschluß an ganz bestimmte andre Wahrnehmimgen. Es 
folgen also in den verschiedenen Menschen die sinnlichen Wahr- 
nehmungen nach den gleichen Gesetzen aufeinander. Für den 
extremen Idealisten also sieht jeder Mensch die gleichen Eisberge 
im Polarmeer, hört die gleichen Töne in einer Oper, weil dieVer- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 183 

kettung der sinnlichen Wahrnehmungen für jedes Bewußtsein unter 
genau gleichen Umständen die gleiche ist; also etwa weil der 
Gesichtswahmehmung einer gestrichenen G-Saite auf der Violine 
auch stets — ceteris paribus — die Gehörwahmehmung des Tones 
G (in einer ganz bestimmten Klangfarbe), mit der Wahrnehmung 
des Polarmeers auch diejenige der Eisberge unter bestimmten Be- 
dingungen verbunden ist. Wollte man entgegnen, oft sähe man 
(z. B. bei verdecktem Orchester) die Tätigkeit des Violinisten gar 
nicht und die Gleichheit in den Wahrnehmungen bestehe doch, 
bleibe also unerklärt, so macht man eine Einwendung, die zwar 
naheliegt und verblüfft, auch die wundeste Stelle dieser Auffassungs- 
weise trifft, aber nicht unbedingt Stich hält. Denn die gesetz- 
mäßige Verbindung zwischen zwei Wahrnehmungen ist nur dann 
auch eine notwendige Folge derselben, wenn nicht andre, gesetz- 
mäßig verbundene Wahrnehmungen die erste Verbindung kreuzen, 
d. h. wenn die erste Verbindung allein und gewissermaßen kon- 
kurrenzlos ins Bewußtsein fallt. Richte ich es so ein, was ja leicht 
möglich ist, daß nur die gestrichene G-Saite in meinem Bewußt- 
sein sich befindet, tmd daß alle andern Sinne bis auf das Gehör 
teils durch Anstrengung der Apperzeption auf den einen optischen 
Reiz, teils durch Abhaltung andrer Reize ausgeschaltet sind — so 
hat jedes gesunde Bewußtsein die Tonvorstellung: G. Sowie aber 
eine Pappwand zwischen mir und der Violine aufgeführt wird, 
d. h. in idealistischer Terminologie die Gesichtswahrnehmung einer 
grauen Fläche mein optisches Bewußtsein erfüllt, so höre ich den 
Ton G immer noch, aber sehe die Saite nicht mehr. Eine neue 
Wahmehmungsverbindung ist in Konkurrenz mit der ersten ge- 
treten, die ebenso notwendig und gesetzmäßig wie diese für alle 
Menschen gilt; nämlich die Unsichtbarkeit des hinter der Schall- 
wand befindlichen Raumes, also auch das Verschwinden des Violin- 
bildes ist notwendig mit dem Auftauchen der undurchsichtigen 
Wand verbunden. Beide Wahrnehmungszusammenhänge: Vor- 
stellung der gestrichenen Saite — Ton Vorstellung G, Vorstellung 
der grauen Fläche — Verschwinden der Vorstellung der Saite, be- 
stehen für alle Menschen unter den angegebenen Bedingungen. 
Ja, auch die dritteWahrnehmungskombination: Vorstellung 
der grauen Fläche — Tonvorstellung G ist die notwendige 
Resultante der beiden sich kreuzenden erstgenannten Wahmehmungs- 
zusammenhänge. Denn die Erfahrung hat mich gelehrt: daß Violin- 
ton G nicht nur dann stets wahrgenommen wird, wenn zugleich 



184 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

die schwingende Violinsaite, resp. die durch sie erzeugte Luft- 
welle wahrgenommen wird, sondern auch dann, wenn diese 
Schwingung wahrgenommen werden kann, oder — wie Stuart 
Mi 11 sagte — als permanent possibility of Sensation existiert 
Diese permanente Wahmehmungsmöglichkeit ist gesetzmäßig mit 
der Wahrnehmung des Tones so verbunden: daß, wo diese Mög- 
lichkeit besteht, unter bestimmten Bedingungen (bei bestimmter 
Entfernung und Stellung der Sinnesorgane) der Ton G wahrge- 
nommen wird, imd wo der Ton G wahrgenommen wird, daß dort 
diese Möglichkeit imter bestimmten Bedingungen besteht. Da nun 
diese Wahmehmungsmöglichkeit in obigem Beispiel besteht und 
die Bedingungen zutreflFen, so muß ich den Ton G hören; und 
da andrerseits die Pappwand die Wahmehmungswirklichkeit ver- 
hindert, selbst aber wieder in strenger Gesetzmäßigkeit im Bewußt- 
sein aufgetaucht ist (nämlich in Verbindung mit andern Wahr- 
nehmungen oder Wahmehmungsmöglichkeiten), so muß ich und 
jeder, von dem ich die gleichen Verkettungsgesetze für seine Vor- 
stellungen annehme, notwendig die Wahrnehmungen: Pappwand 
und Ton G jetzt im Bewußtsein haben. Auf diese Weise sucht 
der extreme Idealismus auch . die scheinbar bunteste, kompli- 
zierteste und regelloseste Sukzession oder Simultaneität der Be- 
wußtseinsinhalte, die jede Stunde des Lebens uns bietet, in ge- 
setzmäßige Beziehungen^^) aufzulösen, die nur zwischen den 
Wahrnehmungen selbst (nicht zwischen bewußtseintranszendenten 
Dingen oder zwischen diesen und dem Bewußtsein) bestehen, und 
die für alle Menschen gültig angenommen werden. Und nicht nur 
die gemeinsamen Wahrnehmungen, wenn etwa zwei Menschen, 
zugleich aus dem Fenster sehend, das Bild eines vorüberfahrenden 
Automobils und eines herunterfallenden Ziegels im Bewußtsein 
haben, sollen sich durch diese Gesetzmäßigkeit erklären, sondern 
auch die Divergenzen in den Wahrnehmungen. Wie die Subjekte 
A und B in ihrer Stellung notwendig die Wahrnehmungen des 
Automobils und des Ziegels machen mußten, weil die gleichen 
Wahmehmungsmöglichkeiten für beide bestanden (Möglichkeit der 
Wahmehmungskomplexe: Geschwindigkeit des Automobils im Augen- 
blicke vorher auf der angrenzenden Strecke — Herunterrollen des 
Ziegels auf dem glatten und schrägen Dache); so konnte Subjekt 
C, das im gleichen Augenblicke dem Fenster den Rücken kehrte, 
Automobil und Ziegel unmöglich sehen, mußte dagegen notwendig 
den Eintritt von Freund X in das Zimmer wahrnehmen. Obwohl 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 185 

nämlich auch für C die gleichen Wahrnehmungsmöglichkeiten wie 
für B und A bestanden, so lehrt doch die Erfahrung, daß nur 
unter bestimmten hier nicht erfüllten Bedingungen, nämlich bei 
einer bestimmten Stellung unsrer Sinnesorgane, auf die genannten 
möglichen Wahrnehmungen auch die wirklichen des vorüberfahrenden 
Automobils und herunterfallenden Ziegels folgen; andrerseits mußte 
C den Eintritt des Freundes wahrnehmen (wie jeder an seiner 
Stelle), da die Wahmehmungsmöglichkeit der Schrittrichtung von 
X und der aus den Körperbewegungen ablesbaren Willensent- 
schlüsse bestand, mit welcher Möglichkeit notwendig, wieder unter 
bestimmten jetzt aber erfüllten Bedingungen (Stellung mit der Front 
zur Tür) die Wahrnehmung des Freundes verbunden ist. So ist 
in jedem Augenblick zwar nur eine bestimmte Gruppe von Wahr- 
nehmungen in jedem Bewußtsein möglieb, ja notwendig; aber diese 
Notwendigkeit beruht nicht immer auf der notwendigen Verbindung 
der augenblicklich gegenwärtigen oder auch aufeinander folgenden 
Bewußtseinsdata selbst (graue Fläche — Ton G); vielmehr ist diese 
Verbindung oft das Resultat oder (besser und vorsichtiger) der Aus- 
druck für eine gesetzmäßige Verbindung der wahrgenommenen Glieder 
mit nicht wahrgenommenen, aber wahrnehmbaren Gliedern (Auf- 
richten der Pappwand — Violinsaitenschwingungen). Die größere 
und ganz andersartige Enge der einen Verbindung ersieht man 
daraus, daß überall, wo der Ton G wahrgenommen wird, auch 
der Schwingungserreger unter Wegräumung aller kreuzenden Wahr- 
nehmungsreihen wahrgenommen werden kann, also als eine Wahr- 
nehmungsmöglichkeit immer existiert, während durchaus nicht bei 
der Wahrnehmung der Schallwand trotz eifrigen Suchens nach 
geeigneten Bedingungen immer auf das Tonbild: G gestoßen zu 
werden braucht 

So erklärt sich für den Idealisten die Gleichheit in unsem 
Wahrnehmungen nicht wie für den Realisten durch Beziehung auf 
ein beharrliches, identisches Objekt, sondern durch die regelmäßige 
Verbindung, in der bestimmte Wahrnehmungen immer auftreten; 
und aus der Kreuzung dieser Wahrnehmungsketten, die sich aus 
aktuellen und potentiellen Gliedern zusammensetzen, folgt, daß in 
jedem Augenblick gleichfalls nur eine einzige bestimmte Wahr- 
nehmungsgruppe möglich ist. Von einem fortwährenden Eingreifen 
einer mystischen Kraft in den Vorstellungsmechanismus des Ein- 
zelnen, um deren Wahrnehmungen untereinander konform zu machen, 
braucht also hier nicht die Rede zu sein. Die Wahrnehmungen 



l86 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

werden in empirisch erkennbarer gesetzmäßiger Abfolge allen Sub- 
jekten „gegeben". Diese Gesetzmäßigkeit ist zwar nicht aus der 
Folge und dem Zugleichsein in dem an sich diskontinuierlichen, ab- 
gerissenen, zerfetzten, durchlöcherten und regellosen Wahmeh- 
mungschaos direkt abzulesen, wohl aber ist sie durch die empirische 
Beobachtung der beständigen Zusammenhänge erkennbar; und 
sie hat nichts Rätselhafteres an sich, als wenn beharrliche Objekte 
mit der gleichen Gesetzmäßigkeit auf die verschiedenen Bewußt- 
seinsträger wirken. 

Mit jeder Hypothese über das Warum dieser Gesetzmäßigkeit 
begibt man sich in das Reich der Metaphysik; d. h. des grund- 
sätzlich Unerfahrbaren. Denn die Sinneswahrnehmungen, wenigstens 
deren Empfindungsbestandteile, sind letzte Elemente unsres Be- 
wußtseins und auf andre Bewußtseinselemente nicht mehr zurück- 
führbar. Was aber nicht ins Bewußtsein dringt, ist nicht erfahrbar. 
Woher also die letzten Elemente der Erfahrung, die Empfindungen 
stammen, könnte erfahrungsmäßig immer nur durch andre 
Sinneswahrnehmungen , d. h. also überhaupt nicht ausgemacht werden. 
Will man sich aber hypothetisch ins Jenseits der Erfahrung wagen, 
so müßte man annehmen: dasjenige X, was die Sinneswahmeh- 
mungcn bewirkt, und was wir als psychische Kraft in irgend einer 
Form, nicht aber als bewußtseinunabhängiges, wenn auch viel- 
leicht von unserm Bewußtsein unabhängiges Reales, oder gar 
Materielles zu verstehen haben, wirkt in gleicher Weise auf alle 
(Berkeley) oder in allen (Immanenzphilosophie) wahrnehmenden 
Subjekten. Die beharrlichen Atomkomplexe des Realisten sind 
genau solche, stets unerfahrbaren Gedankendinge, wie die geistigen 
Ursachen des Idealisten, also — metaphysische Wesenheiten; sie 
sind das realistische Y zu jenem idealistischen X. Sie machen auch 
das Wunder in der Gleichheit der Wahrnehmungen verschiedener 
Subjekte um nichts einleuchtender; denn ihre Dinge an sich sind 
den wahrgenommenen Dingen kaum ähnlicher als das psychische 
X des Idealisten es den wahrgenommenen Dingen ist.^*) Und wenn 
einige der an sich realen Bestandteile (räumlich -zeitliche Quali- 
täten) im Bewußtsein sich adaequat wiederholen, so ist dafür die 
Kluft, welche durch die geforderte gesetzliche Beziehung von räumlich - 
körperlichem Ding zu körperlos -raumloser Wahrnehmung zwischen 
Ding und Wahrnehmung erzeugt wird, nur eine um so klaffendere. 

Ebensowenig sieht sich der extreme Idealist bei der An- 
wendung seiner Wahrheitskriterien, die er mit dem Realisten teilt, 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischeo Skepsis. 187 

durch das verschiedene Verhalten einzelner Dingeigenschaften zur 
Korrektur an seinem bisherigen Grundstandpunkt gezwungen. Den 
Unterschied zwischen den primären und sekundären Quali- 
täten mag er anerkennen oder nicht, immer fiele dieser Unter- 
schied ihm nur in die Welt des Bewußtseins hinein, führte zur 
Aufstellung zweier Klassen rein ideeller Wahmehmungsbestandteile, 
nicht zur Spaltung wahrgenommener Eigenschaften in an sich- 
real gültige und für mich -ideal gültige Elemente. Zunächst be- 
grüßt er alle Beweise, die der gemäßigte Realismus für die bloße 
Subjektivität und Idealität der sekundären Eigenschaften bei- 
gebracht hatte, freudig als seine eigenen, und die Transponierung 
dieser Beweise in die eigene Terminologie tut dabei nichts zur 
Sache. Aber die Realität der primären Qualitäten, der mathe- 
matisch-physikalischen Eigenschaften erkennt er nicht an. Die 
Gründe, welche der Realist dafür geltend gemacht hatte, kommen 
zum größten Teil für ihn gar nicht in Betracht; denn sie ruhten 
auf der Erwägung: laut Voraussetzung alle Wahmehmungsbestand- 
teile dem realen Ding solange zu belassen, als die Annahme dieser 
Realität nicht zu Widersprüchen mit den logischen Denkgesetzen oder 
der Erfahrung führt. Da nun solche Widersprüche bei den pri- 
mären Qualitäten sich nicht einstellten, galt deren Realität für ge- 
sichert (vgl. S. 166 f.). Der Idealist aber hatte am entgegengesetzten 
Ende seinen Ausgangspunkt genommen, nämlich von der Vor- 
aussetzung: alle Wahmehmungsbestandteile solange rein subjektiv 
sein zu lassen, bis der WidersfMiich mit Logik oder Erfahmng 
zum Aufgeben dieser Annahme zwang. Kein Wunder also, daß 
ihn die Beweise des Gegners nicht überzeugen, und daß Realisten 
wie Idealisten — wenn sie den Ausgangspunkt des andern nicht 
im Auge behalten — so oft aneinander vorbeireden und einander 
mißverstehen! Im übrigen verschlagen die positiven Unterschiede 
zwischen unsern einzelnen Wahmehmungselementen, die zugunsten 
der Realitätstheorie angeführt wurden, für den Idealisten nichts. 
Sind nämlich Raum und Zeit wirklich generell-konstante, alle 
Wahrnehmungen begleitende Bestandteile, während Ton, Tem- 
peratur, und andre Empfindungen das nicht sind — was wäre da- 
mit für ihre Realität bewiesen? Gar nichts. Ein in gewissen Be- 
wußtseinsvorgängen konstantes Element wird doch dadurch nicht 
zum An Sich -Bewußtlos -Realen verdoppelt, daß es — konstant 
isti Ideell- konstant = An Sich -Real ist eine Gleichung, die ohne 
den realistischen Ausgangspunkt vollständig in der Luft schwebt 



l88 Erster Abschnitt. Die griechiiche Skepsis. 

Und triumphierend pflegen die Idealisten dabei auf die Farbe zu 
verweisen, die so konstant alle räumlichen Vorstellungen begleite, 
wie diese ihrerseits alle Dingwahmehmungen; und doch werde sie 
von den Ideal -Realisten als bloß subjektiv angesprochen. Auch 
wenn zu dieser generell -existentialen Konstanz die spezifisch -quali- 
tative Gleichartigkeit in der Auffassungsweise der einzelnen Sub- 
jekte kommt, d. h. wenn die räumlich -zeitlichen Eigenschaften an 
allen Wahrnehmungen von allen gesunden Individuen gleich auf- 
gefaßt werden, so wächst auch dadurch für den Idealisten der 
Realität dieser Bestandteile kein Bruchteil von WahrscheinUchkeit 
zu. Denn wie sich vorhin die Wahmehmungsbestandteile in kon- 
stante und variable trennten, so spezifiziert sich diese Trennung 
nunmehr dahin, daß die konstanten Elemente in der Regel gleich- 
artig empfundene, die variablen oft ungleichartig empfundene sind. 

Aber selbst vor dem gewaltigsten Bundesgenossen des Rea- 
lismus, vor der Armee der naturwissenschaftlichen Einzel- 
disziplinen ist der extreme Idealist zu kapitulieren nicht gewillt 
Wir hatten gesehen, daß tatsächlich die Naturwissenschaften seit 
der Renaissance bis auf den heutigen Tag, von Galilei bis Helm- 
holtz, mit der Hypothese des gemäßigten Realismus gearbeitet 
und an seiner Hand ihr großes, immer höher wachsendes Gebäude 
errichtet haben. Die widerspruchlose Vereinigung unzähliger sinn- 
licher Wahrnehmungen der Vergangenheit, Gegenwart imd Zukunft 
(man denke an die astronomischen Berechnungen) ist ihr Werkt 
und die erkenntnistheoretische Grundposition, von der aus das 
Werk unternommen wurde, scheint durch das Gelingen desselben 
fast unverletzbar erhärtet. Denn die Ergebnisse der naturwissen- 
schaftlichen Arbeit von Jahrhunderten stehen ja nicht etwa als 
glänzende Prunkstücke abseits von ihren erk^nntnistheoretischen 
Voraussetzungen, sondern sie bedeuten die dauernde Anwendung, 
d. h. die dauernde Bestätigung derselben. Dennoch glaubt der 
extreme Idealist, sich ihnen nicht fiigen zu brauchen. Und zwar 
aus triftigen Gründen. Drei wesentiiche Beweisketten darf er hier 
namhaft machen: 

I. Es ist ein bloßes Mißverständnis, daß die natur- 
wissenschaftlichen Ergebnisse, deren gewaltigeBedeutung 
für den Wahrheitsgehalt ihrer Voraussetzungen kein be- 
sonnener Idealist bestreiten wird, auf der Basis des 
gemäßigten Realismus gewonnen worden sind. — Mögen 
die Gelehrten dieser Disziplin, soweit sie überhaupt über die 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 189 

methodologischen Prinzipien ihrer Untersuchungen Reflexionen an- 
stellten, sich auch größten Teils zum Realismus bekannt haben, 
die Annahmen, zu denen sie sich naturwissenschaftlich gezwungen 
sahen imd mit denen sie dann weiter arbeiteten, haben sie in 
falschlicher Auslegung von deren erkenntnistheoretischem Wert 
terminologisch ganz unrichtig bezeichnet. Denn was sie ihrer Fach- 
arbeit über die Deutung der Sinneswahmehmungen zugrunde legten, 
sind etwa folgende Annahmen: a) Unter unsem Vorstellimgen gibt 
es zwei Gruppen: unmittelbare und mittelbare, wirkliche ^^ Dinge 
bezeichnende und bloße Phantasievorstellungen. Nur mit den er- 
steren beschäftigt sich die Naturwissenschaft, b) An diesen eigent- 
lichen oder unmittelbaren Sinneswahmehmungen sind konstante 
und variable Elemente zu unterscheiden; allgemeingültige und 
individuell schwankende. Die ersteren mathematisch zu berechnen, 
die zweiten exakt zu beobachten und ihre Beziehungen zu den 
ersteren darzutun, ist Aufgabe der Naturwissenschaft, c) Alle 
Sinneswahmehmungen i. Ordnung treten in gesetzmäßigen Ver- 
bindungen auf. Die Erforschung dieser Verbindungen ist Sache 
der Naturwissenschaft. — Indem nun der NaturwissenschafUer mehr 
einem populären Vorurteil als streng logischen Erwägungen nach- 
gebend, aus dem Unterschied zwischen Phantasie- und Wirklich- 
keitsvorstellungen: den Unterschied zwischen der Vorstellung ab- 
hängig von einem Bewußtsein bestehender und unabhängig von 
einem Bewußtsein bestehender Dinge macht; aus dem Unterschied 
allgemeingültiger und individuellgültiger Elemente an den Wirklich- 
keitsvorstellungen: den Unterschied realer -bewußtseinunabhängiger 
und idealer - bewußtseinabhängiger Elemente; aus den gesetz- 
mäßigen Verbindungen zwischen den Wahrnehmungen: gesetzmäßige 
Verbindungen zwischen den bewußtseinunabhängigen Elementen, so 
glaubt er durch diese für seine Wissenschaft ganz überflüssige Trans- 
position in eine bestimmte erkenntnistheoretische Tonart, auf dem 
Boden des gemäßigten Realismus bei seinen Untersuchungen zu stehen. 

2. Diewirklich derNaturwissenschaft unentbehrlichen 
Voraussetzungen aber sind auf dem Boden des Idealismus 
genau so gut möglich wie auf dem Boden des Realismus. 
Eine extrem -idealistische Naturwissenschaft ist also genau so gut 
denkbar, wie eine gemäßigt-realistische denkbar, und eine extrem- 
realistische undenkbar ist. 

Auch der extreme Idealist erkennt nämlich a) den Unter- 
schied zwischen Wahrnehmungen der Phantasie imd der Wirk- 



190 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

lichkeit vollkommen an. Nur fallen ihre Unterschiede in den 
Rahmen der einzig für ihn existierenden , nämlich der Bewußtseins- 
welt hinein. Es heben sich ganz deutlich und für jeden unmittel- 
bar erkennbar unter unsem Vorstellungen zwei Gruppen gegen- 
einander ab. Die eine macht sich meist durch größere Intensität 
ihrer Bestandteile und durch jenes sofort erkennbare Passivitäts- 
gefühl bemerkbar, das ihre Elemente als vom Willen unabhängige, 
als „gegebene" charakterisiert; die andre ist matter," weniger lebendig 
und nicht von jenem Passivitätsgefühl des Gegebenseins, oft viel- 
mehr von dem Aktivitätsgefiihl des Selbsterzeugens begleitet Man 
braucht nur an das klassische Beispiel des bei Tage gesehenen 
und des bei Nacht in der Erinnerung, der Phantasie oder dem 
Traume reproduzierten Sonnenbildes zu gemahnen, um hier so- 
fort verstanden zu werden. Auch dem Idealisten nun ist diese 
Trennung von Wirklichkeits- und Phantasievorstellungen geläufig; 
er glaubt auch durchaus das bei Tage gesehene Sonnenbild als 
wirkliches bezeichnen zu dürfen; denn es enthält in dem Gegeben- 
sein einen unleugbaren Hinweis auf eine wirkende, von seinem Be- 
wußtsein unabhängige (darum aber nicht etwa von jedem Bewußt- 
sein unabhängige) Quelle, mit deren Ergründung sich die Meta- 
physik befaßt. Darum wehrt sich der Idealist durchaus gegen den 
Vorwurf: er mache die Welt der Wirklichkeit zum bloßen Phan- 
tasma, zur Illusion, zur Seifenblase. Und ebenfalls ist ihm das bei 
Nacht gesehene Sonnenbild unwirklich, weil es keinen solchen Hin- 
weis enthält. Allerdings kann es unter Umständen schwierig sein, 
durch rein interne Merkmale auf diese Weise Wirklichkeit und Un- 
wirklichkeit zu scheiden, z. B. da, wo bei lebhafter Phantasie oder 
gar krankhaften Halluzinationen und Illusionen die Intensitätsunter- 
schiede wegfallen, oder wo, wie beim jähen Erwachen aus dem 
Traum, auch die Passivitätsgefühle als Erkennungszeichen versagen 
und die letzten Traumvorstellungen uns mehr aufgedrückt er- 
scheinen als die Bilder der in unserm Zimmer befindlichen Dinge. 
Aber auch der Realist besitzt zunächst keine andern Kriterien der 
Wirklichkeit, wie er dieselbe versteht, als solche subjektiven Mo- 
mente; nur wo diesen nicht zu trauen ist, greifl er zu dem Hilfs- 
mittel der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den Wahrnehmungen. 
Ist es ihm z. B. zweifelhaft, ob das beim Erwachen durchs Fenster 
erblickte Eis am gegenüberliegenden Dache wirkliches oder ge- 
träumtes war, so sieht er nach, ob das Thermometer außen am 
Fenster über oder unter o^ R. zeigt. Aber diese Prüfung an der 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 191 

Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmungen ist genau so gut dem Idea- 
listen zugänglich (cf. y), und es tut gar nichts zur Sache, ob an 
diesen Wahrnehmungen gewisse Bestandteile überdies noch als 
bewußtseinunabhängige angesehen werden oder nicht. — Ein 
wirkliches Ding (Körper) ist nun für den Idealisten der Komplex 
erfahrungsmäßig zusammen vorkommender, als Wirklichkeitswahr- 
nehmung charakterisierter Empfindungen, also eine wirklich existie- 
rende Kirsche: das gleichzeitige Zusammen unmittelbar empfun- 
dener Glätte, Röte, Säure, Rundheit. Nun könnte man sagen: 
dann ist ein Ding aber etwas sehr Vages, Wechselndes, Un- 
bestimmtes und eigentlich nur in falscher Aneignung des Wortes 
,Ding* so zu benennen. Denn wie fließend sind hier die Grenzen 
in unsem Wahrnehmungen, wie selten und eigentlich niemals 
kommen die ganz gleichen Empfindungen nach Art und Zahl zu- 
sammen im Bewußtsein vor! Soll dem Ding Kirsche das helle 
oder dunkle Rot, ein schwacher oder starker Säuregrad, der An- 
satz des Stils usw. zugesprochen werden? Aber dieser Einwand 
trifft wieder Idealismus und Realismus ganz gleichartig und besagt 
nur, daß eine wissenschaftliche Bearbeitung des Ding- 
begriffs in jedem Einzelfall erforderlich ist, um die wirklichen 
Dinge als festumgrenzte Existenzarten gegen Schwankungen und 
Zerfließen sicher zu stellen. Denn für den Realisten ist das wirk- 
liche Ding Kirsche, das einer bestimmten gesehenen Kirsche ent- 
spricht, auch etwas gänzlich Fließendes, rasch Vergängliches, näm- 
lich der materielle Atomkomplex, der alle die gerade in diesem 
Fall zur Wahrnehmung der Kirsche gerechneten Empfindungen er- 
zeugte; wissenschaftlich dagegen würde er unter dem Ding Kirsche 
eine viel allgemeinere Atomverbindung verstehen, frei von all den 
zufalligen quantitativen und Lagerungsverhältnissen, welche die in 
einem bestimmten Augenblick gesehene Kirsche bedingten; näm- 
lich nur diejenige , welche die botanischen Merkzeichen der Kirsche 
ausmachen. Eine solche Trennung zwischen den populären und 
den wissenschaftlichen Dingbegriflfen, von denen die einen va- 
riable, die andern konstante Größen (wenn auch nicht Reali- 
täten) bezeichnen, ist wiederum innerhalb des Idealismus durch- 
aus möglich. Man setze nur an Stelle der Atomkomplexe wieder 
Empfindungskomplexe, verstehe unter den populären Dingen die 
jeweilig oder oft zusammenbestehenden, unter wissenschaftlich be- 
arbeiteten Dingen nur die unter den angegebenen Umständen zu- 
sammenbestehenden Empfindungen oder Empfindungsmöglichkeiten,. 



1^2 Erster Abschnitt. Die griechische Skepus. 

und man hat allen Anforderungen beider Arten des Dingbegriffs 
vollkommen Genüge getan. ^*) 

ß) Noch viel leichter wird es diesem erkenntnistheoretischen 
Standpunkt, mit dem Unterschied, den die Naturwissenschaft zwischen 
sekundären und primären Qualitäten der Wahrnehmung macht und 
den sie ihrer Arbeit zugrunde legt, sich abzufinden. Denn warum 
sollte er nicht gattungsmäßige und individuelle Bestandteile an 
unsem Wahrnehmungen anerkennen? Warum nicht willig zugeben, 
nur die ersteren seien mathematischer und allgemeingültiger Be- 
handlung fähig, die Sinnesempfindungen im engeren Sinne dagegen 
weder meßbar, noch bei allen Menschen streng gleichartig? Warum 
nicht auch dem zustimmen, daß ganz bestimmte Beziehungen zwischen 
diesen qualitativ verschiedenen und den konstanten Wahmehmungs- 
elementen, zwischen Reiz und Empfindung (in realistischer Rede- 
weise) bestünden? Und die Aufgaben, die sich aus alledem für die 
Naturwissenschaft ergeben, wären dann auch die ganz gleichen wie 
die unter b) aufgeführten. Ja, sowenig besteht für den Idealisten 
ein Grund, die Arbeit der Naturwissenschaft hier zu beschränken 
oder abzuändern, daß er vielmehr — wenn er dem Lager des 
Kantischen Idealismus sich zuschlägt — derselben durch ein rein 
idealistisches Moment die gewichtigste Stütze verleiht. Stammen 
nämlich die primären Bestandteile (wir wollen diesen Terminus bei- 
behalten, um die Streitfrage, wieviel solcher primären Elemente es 
gibt, nicht anzuschneiden) aus dem Gattungsbewußtsein, d. h. sind 
sie die Formen, die Gläser, besser die Funktionen, die alle Menschen 
in ganz gleicher Weise beim sinnlichen Wahrnehmen anwenden, 
mit denen sie den Empfindimgsstoff einfangen, so sind sie selbst- 
verständlich überall und für alle gültig; und die strenge Gesetz- 
mäßigkeit in diesen Bestandteilen, und damit die exakten Ergeb- 
nisse der mathematischen Naturwissenschaft sind erklärt, ja mehr 
noch — für alle Zukunft sicher gestellt 

y) Aber niemals könnte die Naturwissenschaft allein aus der 
mathematischen Behandlung des Raumes und der Zeit, der Beob- 
achtung der einzelnen Empfindungen, der Feststellung der Relationen 
zwischen beiden Wahmehmungsbestandteilen irgend welche Gesetze 
entdecken, welche die Dinge in der Natur betreffen. Dazu bedarf 
es noch der Ermittelung von Beziehungen zwischen den Wahr- 
nehmungen. Habe ich noch so genau an einem wahrgenommenen 
Gegenstand — z. B. einer aufgehängten Kugel — die räumlich - 
zeitlichen Verhältnisse festgestellt, ja die ganze Geometrie, Stereo- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 193 

metrie und Arithmetik in ihren Grundzügen daraus hergeleitet (was 
nach den Annahmen des a prioristischen Idealisten möglich wäre), 
auch die Änderungen der Farben- und Helligkeitsempfindungen 
mit den Raum Verhältnissen (z. B. Schatten- und Lichtpartien an 
der Kugel) erforscht, so wüßte ich immer noch nicht, daß die 
Kugel, wenn ich den Faden durchschneide, mit der Beschleunigung 
g zur Elrde fallen würde. Wohl aber weiß ich dies, wenn ich mit 
Ausschaltung kreuzender Wahrnehmungsreihen, d. h. unter den will- 
kürlichen Bedingungen des Experiments die Wahrnehmungen: Fallen- 
der Körper — bestimmte Stellung des Zeigers auf der Uhr — be- 
stimmte Länge der Fallstrecke stets miteinander verbunden im Be- 
wußtsein gehabt habe. Die Fallgesetze sind also auf idealistischem 
Boden genau so gut erklärbar wie auf realistischem; sie bedeuten 
einfach: daß bestimmte Wahrnehmungen beim Fall der Körper 
unter bestimmten Bedingungen zugleich oder hintereinander auf- 
treten. Auch die Voraussage in die Zukunft — vielleicht die wesent- 
lichste Aufgabe der Naturwissenschaft — wird dabei keineswegs zur 
Unmöglichkeit; nur lautet sie nicht: daß ein an sich realer Körper 
(X) durch einen an sich realen Raum (Y) in einer an sich realen 
Zeit (Z) fallen wird (z. B. daß ein Zehnpfennigstück von der Spitze 
des Eiffelturms in so und soviel Sekunden bis auf die Erde gelangen 
wird), sondern daß auf die Wahrnehmung eines in der Luft los- 
gelassenen Körpers nach so und soviel (jederzeit durch die Wahr- 
nehmung zu verifizierenden) Sekunden die Wahrnehmung des auf 
der Ej-de liegenden Körpers unter bestimmten Umständen erfolgen 
wird. Auf diese Weise haben die kompliziertesten astronomischen 
Voraussagen nichts Rätselhafteres für den idealistischen als für den 
realistischen Naturforscher. Denn daß nach fünfzig Jahren ein Stern 
an sich das Fadenkreuz im Fernrohr an sich passiert, ist genau 
so verständlich oder unverständlich, wie daß nach fünfzig Jahren 
ein am Femrohr stehender Beobachter die Wahrnehmungen Faden- 
kreuz imd Sternbild zugleich machen wird. Das Rätselhafte liegt 
allein in der Gesetzmäßigkeit, nach der die realen Dinge oder 
die subjektiven Wahrnehmungen verkettet sind. Diese Gesetz- 
mäßigkeit vermag aber der Realist so wenig zu erklären wie der 
Idealist; beide können sie nur als vorgefunden und immer wieder 
bestätigt konstatieren. Auch über den Grad dieser Gesetzmäßig- 
keit ist nicht das Geringste durch den erkenntnistheoretischen 
Grundstandpunkt ausgemacht. Beide, Idealisten wie Realisten, 
können an eine absolute oder nur relative Gesetzmäßigkeit dabei 

Richter, Skeptianmis. 13 



194 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

glauben. Der Realist absolutistischen Bekenntnisses macht geltend: 
die Naturgesetze müssen in dem innersten Wesen der Dinge be- 
gründet sein; also in der inneren Struktur der Elemente liegt die 
Ursache, daß sie sich nur zu bestimmten Teilen mit anderen Ele- 
menten verbinden (etwa zwei Atome Wasserstoff mit einem oder zwei 
Atomen Sauerstoff) und daher wird das Gesetz dieser Verbindung ewig 
Geltung haben, solange diese Elemente existieren. Der Idealist, 
der absolutistisch veranlagt ist, sagt aus: die Naturgesetze müssen 
in dem innersten Wesen unsres Geistes begründet sein; unser Be- 
wußtsein hat nicht nur gattungsmäßige Funktionen, um gewisse 
Eigenschaften von Erscheinungen (die räumlich -zeitlichen), sondern 
auch um die Verbindung von Erscheinungen wahrzunehmen (Kau- 
salität); es wird z. B. räumlich einander berührende und zeitlich 
unmittelbar aufeinanderfolgende Erscheinungen stets a priori nur 
kausal verknüpft denken können; daher wird das Gesetz der Ver- 
bindung zweier TeUe H mit einem Teü O zu Wasser solange Geltung 
haben, als menschliches Bewußtsein existiert. Dagegen gibt es Rea- 
listen, die die Verbindung von Hg mit O nur als erfahrungsmäßig bis 
jetzt immer stattgehabte Verbindung zwischen den realen Dingen 
an sich ansehen und zu einer Verabsolutierung dieses Verhältnisses 
als eines streng -notwendigen keine Veranlassung erblicken. Und 
genau so gut gibt es Idealisten, welche die Wahmehmungsver- 
bindung H, und O nur für eine erfahrungsmäßig, a posteriori ge- 
gebene und induktiv bestätigte erklären, ihr aber eine notwendige 
Gültigkeit für alle Zukunft absprechen. 

So etwa würde der extreme Idealist den Beweis zu führen 
haben, daß den tatsächlichen Voraussetzungen für die naturwissen- 
schaftliche Forschung (a — c) auch bei ihm Rechnung getragen 
wird, und die tatsächlich erarbeiteten naturwissenschaftlichen Er- 
gebnisse auch von seinen Theorien aus gewonnen werden können. 
Für die bei den Naturwissenschaftlern oft angetroffene, falsche er- 
kenntnistheoretische Interpretation ihrer eigenen Prämissen und 
Resultate glaubt nicht er die Verantwortung tragen zu müssen. 

3. Ihren letzten Trumpf aber spielt diese Anschauungsweise 
den Realdisziplinen gegenüber mit dem Hinweis aus: daß bereits 
Naturwissenschaftler aller Länder beginnen, nicht nur 
theoretisch sich zum Idealismus zu bekennen, sondern 
die Arbeit ihrer Disziplinen unter Ausscheidung aller 
realistischen Elemente teils zu deuten, teils neu zu leisten, 
teils bloß terminologisch umzutaufen. Auf der einen Seite 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 195 

des empirischen Idealismus stehen dabei Männer wie Mach^'und 
Ostwald, des aprioristischen Idealismus die bereits zahlreichen 
Vertreter des Neukantianismus unter den Naturwissenschaftlern. 
So ist idealistische Naturwissenschaft nicht bloß logisch möglich, 
sondern bereits wirklich vorhanden. 

Es schien notwendig, das Bollwerk des extremen Idealismus 
etwas genauer zu beschreiben, um nicht den Eindruck zu erwecken: 
als Rettung vor dem Aenesidemschen Skeptizismus möge er ein 
nicht übel gewählter sophistischer Schlupfwinkel sein, im übrigen 
aber ein den naiven wie wissenschaftlichen Ansprüchen gleich wenig 
genügender Standpunkt. Zeigt er sich aber nun ganz wohl in sich 
zusammenstimmend, auch gar nicht als so eng und gezwimgen, 
wie man gewöhnlich annimmt, noch weniger als so revolutionär 
und halsstarrig, und nur auf seine Unwiderlegbarkeit trotzend, auf 
einsamem kahlen Gipfel thronend, ohne Fühlung mit der Natur, 
d. h. den Tatsachen und deren reichen Beziehungen, ist er genug 
gefestigt, um nicht nur als ein Zufluchtsort sondern als frei ge- 
wählte Stellung zu erscheinen, so darf man die Frage stellen, die 
uns hier besonders angeht: in welchem Verhältnis steht der 
extreme Idealismus zum pyrrhonischen Skeptizismus? 

Da zeigt sich nun, daß der extreme Idealismus den skeptischen 
Folgerungen auf dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung voll- 
kommen entgeht Auf den ersten Blick möchte man vielleicht 
Idealismus und Skeptizismus für verwandte Anschauungen halten, 
und merkwürdigerweise beherrscht dieser Oberflächenblick die An- 
sichten der gebildeten Laien wie der Fachgelehrten in erschrecken- 
dem Maße. Vermag doch der Idealist immer nur Vorstellungen, 
nie irgend welche Eigenschaften realer Dinge zu erkennen, weil er 
nur an das Dasein jener, nicht an das dieser glaubt, treibt er doch 
immer nur ein subjektives Spiel mit Seifenblasen! Und ist das 
nicht der vollendete Skeptizismus? Dieser allgemeine Einwand er- 
ledigt sich durch die Bemerkungen der Einleitung. Kann man 
doch sinnvoll von Skeptizismus nur da reden, wo — gezweifelt 
wird. Aber wenn etwas, sonst auch noch so allgemein Anerkanntes, 
wie die Existenz einer bewußtseinunabhängigen Körperwelt (und 
nur um diese kann es sich als eventuelles Objekt der Sinneswahr- 
nehmungen ja handeln) geleugnet wird, heißt das: diese Existenz 
bezweifeln? Im Gegenteil; man behauptet hier ebenso bestimmt 
zu wissen, daß etwas nicht ist, wie die Gegner, daß dieses Etwas 
doch ist Nenne man also diese Leugnung, wenn man schon 

13* 



l<)6 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

eines besonderen Terminus für sie bedarf, der Form nach nega- 
tiven Dogmatismus (im Sinne derS.XVI festgesetzten Ausdrucks- 
weise), dem Inhalt nach Immaterialismus, oder Irrealismus, oder 
sonstwie, aber nicht Skeptizismus! Es kann wahrlich nur begriff- 
liche Verwirrung stiften, wenn man eine Anschauungsweise mit- 
samt der ihr entgegengesetzten durch ein einziges Wort bezeichnen 
will. Ist es also ganz verfehlt, den Idealisten mit dem Skeptiker 
zu verwechseln, weil ersterer das Verhältnis von Gegenstand 
und erkennender Vorstellung anders bestimmt als der Realist, 
so bricht nicht minder der gleichfalls oft gehörte Grund in sich 
zusammen: der Idealist bewege sich nur in einem Chaos wogender 
Bewußtseinszustände, deren Gleichartigkeit als rein subjektive 
Elemente jede objektive und gesetzmäßige Erkenntnis unmöglich 
mache. Auch diese Erwägung verkennt vollkommen die idealisti- 
schen Gedankenreihen. Hatten wir doch gesehen, daß dieselben 
sehr wohl einen Unterschied zwischen konstanten und variablen, 
gesetzmäßig und nur im Einzelfall verbundenen Bewußtseinsele- 
menten machen, und daß sie vom kritisch berichtigten Objekts- und 
GesetzesbegriflFe aus sehr wohl objektive und gesetzmäßige Er- 
kenntnis von bloß subjektiver und zufalliger Vorstellungsweise 
unterscheiden. Damit sind die allgemeinen Verwechslungen von 
Skeptizismus und Idealismus, sowohl die auf der Art wie dem 
Grad des idealistischen Erkenntnisbegriffs fußenden, zurückgewiesen. 
Noch deutlichei- springt die Andersartigkeit beider Anschau- 
ungen in die Augen, wenn wir nun unsre eigentliche Zielfrage 
beantworten: wie steht es vom extrem -idealistischen Standpunkt 
mit den Aenesidemschen Folgerungen? Für die griechische Skepsis 
hatte das Problem gelautet: gibt die Erscheinung, Vorstellung, 
Wahrnehmung (der Honig als ein Zusammen empfimdener Gelbe, 
Süße, Zähigkeit, Flächenhafligkeit) das Ding an sich (den Honig 
unabhängig von meinen Honigempfindungen) wieder? Und die Ant- 
wort: wir haben keine Garantie dafür, müssen also die Erkenntnis 
eines Dinges durch die Sinneswahmehmungen bezweifeln. Diese 
Frage und damit auch ihre Beantwortung verliert für den extremen 
Idealisten jeden Sinn. Für ihn gibt es nur Erscheinungen, Wahr- 
nehmungen, Vorstellungen, nur den Honig als Empfindungskomplex^ 
und gar kein, wenigstens kein der sinnlichen Wahrnehmung als 
Aufgabe gestelltes Ding an sich, keinen andern Honig als den 
wahrgenommenen. Dann können aber die Wahrnehmungen die 
Dinge gar nicht richtig oder falsch, d. h. adaequat oder inadaequat 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 197 

widerspiegeln. Denn wie sollten sie etwas spiegeln, das 
nicht besteht? Daher bezeichnet der extreme Idealismus seine 
Anschaumigsweise als den geraden Gegensatz zum Skeptizis- 
mus, als Rettung aus dem Skeptizismus, und Berkeley gab seinen 
drei Dialogen zwischen Hylas und Philonous auf dem Titel den 
Zusatz: zur Bekämpfung von Skeptikern und Atheisten. Gerade 
der Realismus, so meint Berkeley, führe zum Skeptizismus, und 
zwar durch eine fälschliche Realisierung der Dinge und des Ver- 
hältnisses zwischen Ding imd Wahrnehmung. Nehme ich nämlich 
erst Dinge mit irgend welchen Eigenschaften an, mit vielen, wie 
der extreme, mit wenigen, wie der gemäßigte Realist, die unab- 
hängig von wahrnehmenden Subjekten bestehen und die nun über- 
gehen sollen in dessen Wahrnehmungen, so sehe ich mich mit stei- 
gender Kritik gezwimgen, eine Eigenschaft nach der andern aus den 
angegebenen Gründen als objektiv -reale fallen zu lassen; alle Quali- 
täten bröckeln ab von den Objekten und werden ins Subjekt zu- 
rückgenommen, erst die sekundären, dann die primären Qualitäten, 
bis das unabhängige Ding als ein völlig unerkennbares Etwas zu- 
rückbleibt und der Skeptizismus die notwendige Folge wird. 

Für den Idealisten dagegen kann das Verhältnis von sinn- 
licher Wahrnehmung zu dem wirklichen Ding und seinen Beschaffen- 
heiten als Erkenntnisobjekt niemals Gegenstand skeptischer Be- 
denken werden. Man braucht sich bloß seine kritische Berichtigung 
der Begriffe Ding, Beschaffenheit, Wirklichkeit in die Erinnerung 
zurufen, um einzusehen, wie sich auch der Begriff des Erkennens 
dinglicher Beschaffenheiten kritisch verschieben muß. Ding be- 
deutet nun: einen jeweilig gegebenen (Ding Kirsche im populären 
Sinn) oder einen unter besonderen Umständen zusammenbestehenden 
(Ding Kirsche im botanischen Sinn) Komplex von Empfindungen, 
kein bewußtseinunabhängiges äußeres Reale. Beschaffenheiten 
an dem Dinge sind die einzelnen Empfindungen, die den Komplex 
bilden, nicht Accidenzien an einem für sich bestehenden Substrat; 
wirkliche Dinge sind die unmittelbar uns eingeprägten Wahrneh- 
mungen, nicht etwas von diesen Wahmehmimgen Unabhängiges; 
nichtwirkliche Dinge die von uns erzeugbaren Erinnerungs- oder 
Phantasievorstellungen, nicht etwas Irreales im Gegensatz zu etwas 
Realem. Mit den Sinnen ein wirkliches Ding erkennen, kann 
also nunmehr einzig darin bestehen: die unmittelbare sinnliche 
Wahrnehmung eines Dinges im Bewußtsein haben; in vertieftem 
Sinn: es in seinen Bestandteilen, d. h. die Bestandteile der Wahr- 



19^ Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

nehmung sich gut einprägen, genau kennen lernen; allenfalls noch: 
es in seinem Zusammenhang mit andern Dingen, d. h. mit andern 
Wahrnehmungen erfahrungsmäßig beobachten, und dadurch die 
Möglichkeit gewinnen: seinen Eintritt in die Wirklichkeit (ins Be- 
wußtsein) oder sein Fembleiben von ihr (ihm) voraussehen zu 
können. Infolgedessen beantwortet sich die Frage: was können 
wir von den Dingen erkennen? einfach dahin: die Sinne erkennen 
stets die Beschaffenheiten der Dinge, wie diese Dinge 
selbst, vollständig und restlos. Denn die Empfindungen sind 
selbst die Beschaffenheiten und die Empfindungskomplexe sind 
selbst die Dinge. Eine andre Süße, einen anderen Raum als den 
wahrgenommenen, gibt es nicht, ein andres Ding Kirsche als das 
Zusammen gesehener, getasteter, geschmeckter Eigenschaften gibt 
es nicht. Nun möchte man meinen: das wäre richtig für die Dinge 
im populären Sinn, begriffe aber nicht die Dinge in wissenschaft- 
licher Bedeutung. Denn die wissenschaftliche Bearbeitung der 
Dingbegriffe (der Kirsche 'im botanischen Verstände) sei ja mit die 
letzte Aufgabe der einzelnen Disziplinen und ihre Lösung befände 
sich in fortwährendem Flusse. Brauchte man aber bloß die Augen 
und die übrigen Sinne zu öffnen, um die Dinge restlos zu erkennen, 
so wäre eine solche Arbeit der Wissenschaft ebenso nutzlos wie 
überflüssig. Dieser Einwand, dem eine gewisse Verfuhnmgskunst 
innewohnt, verkennt folgendes: die Arbeit der Wissenschaften in 
der Bestimmung der Dinge ist weder nutzlos noch überflüssig; sie 
dreht sich aber einzig um die Frage: welche Empfindungsver- 
bindungen als Dinge im wissenschaftlichen Interesse zu 
bezeichnen sind. Ist man sich darüber einig, so bietet die „Er- 
kenntnis'* dieser Empflndimgsverbindung keine Schwierigkeit mehr; 
denn sowie diese Empflndungsverbindung ins Bewußtsein fällt, ist 
das „Ding" durch die Sinne restlos „erkannt". Nicht dort liegt 
das Problem: die Dinge zuerkennen, sondern festzustellen, welche 
Erkenntnisse Dinge sind, d. h. Erkenntnisse zu verdinglichen! Der 
Unterschied zwischen den gewöhnlich und den wissenschaftlich so- 
genannten „Dingen" ist nur der, daß es dem Alltagsbedürfnis 
vollständig genügt, die im täglichen Leben jeweilig oder oft anein- 
ander gebimdenen Empfindungen mit dem Namen eines Dinges 
zu belegen, während die Wissenschaft nur die unter bestimmten 
Umständen konstant aneinander gebundenen Empflndungen 
Dinge nennt So genügt es dem populären Bewußtsein vollständig, 
ein Zusammen gesehener Rundheit, Gelbheit, bestimmter Figur, 



Drittes K^>ite]. Die Kritik der griechischen Skepsis. 199 

getasteter Glätte und Härte, geschmeckter Süße als Apfel zu be- 
zeichnen; während alle diese Empfindungen auch künstlich her- 
zustellen wären» ohne daß die übrigen Bedingungen, die man beim 
Ding Apfel noch stillschweigend voraussetzt (z. B. daß er eine 
organisch gewachsene Frucht ist), einzutreffen brauchten. Die 
Wissenschaft, die solchen Täuschungen vorbeugen und ein in sich 
zusammenstimmendes, widerspruchloses System von Erkenntnissen 
erarbeiten will, daher ganz andre Empfindungsgruppen mit Namen 
zum bequemeren Denkgebrauche belegt als das tägliche Leben, 
wird den Komplex konstant aneinander gebundener Strukturverhält- 
nisse, chemischer Reaktionen, bestimmter Wachstumsbedingungen 
Apfel benennen (botanisches Ding); und da die Konstanz der Ver- 
bindung im Gebiete der als primäre Qualitäten bezeichneten Wahr- 
nehmungselemente steigt, teilt auch der Idealist die Bemühungen 
der Wissenschaft, die Dinge möglichst auf mathematisch -physi- 
kalische Vorstellungskomplexe zu reduzieren (physikalisches Ding). 
Dazu aber bedarf es natürlich umfangreicher Beobachtungen und 
tiefer Erwägungen. An Wirklichkeitswert aber ist das wissen- 
schaftliche Ding Apfel dem populären auch nicht um einen Bruch- 
teil überlegen, solange dieser Standpunkt sich selbst treu bleibt; 
denn die Verbindung der Empfindungen im Bewußtsein bedeutet 
genau so gut Wirklichkeit hier wie dort und ist nur durch den 
Grad der Beständigkeit in der Verkettung der Elemente beidemal 
unterschieden; und auch die sinnliche Erkenntnis des Apfels, ob 
man nun diese oder jene Empfindungsgruppe darunter versteht, 
ist beidemal gleich zweifellos vollkommen, wenn diese oder jene 
Empfindungsgruppe im Bewußtsein ist. In den 2^iten, wo dies 
nicht der Fall ist, bezeichnet das Wort Apfel aber keine Wirklich- 
keit, sondern ist nur ein Symbol für eine bestanden habende und 
wieder bestehen werdende oder könnende Wirklichkeit. Und da 
solche Zeiten meist vorherrschen, muß der Idealist sagen: daß der 
Apfel im populären Sinn in der Wirklichkeit häufiger vorkomme 
als der Apfel im wissenschaftlich umschriebenen Sinn; daß aber 
seine Eigenschaften dafür nicht so gesetzmäfMg und fest aneinander 
gekettet sind, und daß die einzelnen Apfel voneinander auf manchen 
Punkten abzuweichen pflegen. Der Apfel im botanischen Verstände 
bleibt oft nur Wahmehmungsmöglichkeit, die selten zur Wahr- 
nehmungswirklichkeit wird; ihre Elemente aber sind, nach dem 
jetzigen Stand unsrer Erfahrung, unter bestimmten Umständen 
regelmäßig aneinander gebunden und die Abweichung der einzelnen 



200 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Exemplare ist gering. Der Apfel im physikalischen Sinn, als ein 
Zusammen kleinster Tei|chenwahmehmungen (der realistischen Atome) 
bleibt bis jetzt reine Wahmehmungsmöglichkeit, seine Beschaffen- 
heiten müßten nicht nur regelmäßig, sondern gesetzmäßig (nach 
den physikalisch ermittelten Gesetzen) aneinander gebunden sein 
und Abweichungen zwischen den einzelnen Exemplaren würden 
nicht bestehen. Mit der Wirklichkeit (= Wahrnehmung) dieses botani- 
schen imd physikalischen Apfels, der das wissenschaftliche Bewußt- 
sein interessiert, würde gesetzlich, d. h. unter bestimmten Umständen 
notwendig die Wirklichkeit (= Wahrnehmung) eines Apfels im ge- 
wöhnlichen Sinne, dessen (deren) Anwesenheit allein das populäre 
Bewußtsein interessiert, verbunden sein. Während also für den 
Realisten das physikalische Ding „Apfel" stets gleichzeitig 
mit der sinnlichen Wahmehmimg (dem populären Ding „Apfel" 
des Idealisten) als deren (direkte oder indirekte) Ursache un- 
abhängig vom Bewußtsein besteht, ist für den Idealisten 
die sinnliche Wahrnehmung des riechenden, schmeckenden, far- 
bigen Dinges Apfel, oder das Ding Apfel selbst, im populären 
Verstände, aber in vollster Wirklichkeit, gesetzmäßig verbunden 
nwt der Wahrnehmung gewisser kleinster Raumteilchen von be- 
stimmter (noch nicht ermittelter) Form, die in bestimmter 
(noch nicht ermittelter) Lage zueinander sich befinden und be- 
stimmte (noch nicht ermittelte) tastbare Qualitäten zeigen; und 
zwar derart, daß — wenn die letzbeschriebene Wahrnehmimg kon- 
kurrenzlos im Bewußtsein wäre — unmittelbar darauf das Ding 
„Apfel" im populären Verstände in die Wirklichkeit, d. h. in das 
Bewußtsein eintreten würde. Bei alledem ist zu beachten, daß 
es sich um die Feststellung derjenigen Empfindungskomplexe 
handelt, die im Interesse der Gelehrten oder der Laien unter der 
extrem idealistischen Perspektive als wirkliche Dinge zu bezeichnen 
sind (an sich ist jeder Empfindungskomplex ein wirkliches Ding); 
nicht aber etwa um die Gewinnung von Dingbegriffen, denen 
keine Wirklichkeit entsprechen soll, und die nur als Abbreviaturen 
der Wirklichkeit Zusammenstellungen von Daten sind, die zwar 
der Wirklichkeit, d.h. den sinnlichen Wahrnehmungen entnommen, 
willkürlich einiges von ihnen festhalten, nämlich das vielen ähn- 
lichen Sinneswahrnehmungen Gemeinsame, andres fallen lassen, 
nämlich das viele ähnliche Sinneswahrnehmungen Unterscheidende. 
Soll also das physikalische Ding Apfel wirklich existieren können, 
so muß es wahrnehmbar sein; da nun auch die kleinsten Massen- 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 20I 

teilchen nach unsrer bisherigen Erfahrung nur irgendwie farbig 
wahrgenommen werden können, so muß dem physikalischen Ding 
Apfel I das sonst den Apfelatomen des Realisten in allem übrigen 
(mit Ausnahme der bewußtseinunabhängigen Realität) entsprechen 
könnte, auch irgendwelche Farbe neben Raum- und Tastempfin- 
dungen zukommen. Handelte es sich dagegen um den abstrakten 
Gattungsbegriff Apfel im physikalischen Sinn, so könnte die Farbe 
als eventuell variables und darum für den Gattungsbegriff unwesent- 
liches Element beiseite gelassen werden. 

Wie steht es nun aber mit dem Hauptargument des 
Pyrrhonismus, daß das gleiche Objekt unter verschiedenen 
es selbst nicht berührenden Umständen dem Subjekt ver- 
schiedene Eigenschaften zeigt? Der extreme Realismus hatte 
sich hier nicht zu helfen gewußt. Da er z. B. die Farbe Eigen- 
schaft der bewußtseinunabhängigen Objekte sein läßt, so kann 
er, in seiner Naivität erschüttert und auf Variabilität und Re- 
lativität in den Farbenaussagen der Menschen aufmerksam ge- 
macht, zwischen diesen Aussagen nicht entscheiden und verfallt 
dem Skeptizismus. Und da er den Raum ganz auf gleicher Linie 
behandelt mit Farbe und Geruch, so verzweifelt er, auf die 
räumlichen Sinnestäuschungen aufmerksam gemacht, an der Er- 
kenntnis. Der kritisch -gemäßigte Realismus hatte die Variabilität 
und Relativität der sinnlichen Wahrnehmungen über das gleiche 
Ding anerkannt, aber nicht die Unerkennbarkeit der Dinge daraus 
gefolgert. Denn da vernünftige Erwägungen ergaben, daß Farbe, 
Geruch, Temperatur usw. überhaupt keine Eigenschaften der Dinge 
waren, so konnten dieselben an den Dingen weder erkannt, noch 
verkannt werden. Die Variabilität in der Auffassung der mathe- 
matisch-physikalischen, an sich realen Eigenschaften beschränkte 
sich auf die „Sinnestäuschungen". Diese vermochte der Realist zu 
heben, indem er ihre Ursachen nicht in die Objekte, sondern in 
das Medium oder in die Subjekte verlegte, und zwar in bestimmt 
nachweisbare und festzustellende Bedingungen. Gaben somit die 
Sinnestäuschungen gar keine Objektseigenschaften wieder, so ge- 
rieten die auf sie zu Recht gegründeten Urteile nicht mit denjenigen 
Aussagen in Widerspruch, welche auf Grund der unter normalen 
Verhältnissen stattgehabten Wahrnehmungen über die Eigenschaften 
der Objekte gefallt worden waren. Für den extremen Idealisten 
bestehen alle diese Variabilitäten und Relativitäten in der 
Auffassung der nämlichen Dinge nicht; weder in den sekun- 



202 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

dären, noch den primären Qualitäten. Da ihm die Empfindungen 
für die Wirklichkeit von dinglichen Beschaffenheiten, und die 
Empfindungskomplexe für die Wirklichkeit der Dinge das letzte 
Kriterium sind, so handelt es sich überall, wo wechselnde Empfin- 
dungen gegeben sind, nicht um eine variable Auffassung identischer 
Dinge, sondern stets um einen Wechsel der Dinge selbst und ihrer 
Beschaffenheiten. Die vollständige, also umkehrbare Gleichung: 
Empfindungswechsel « Dingwechsel ist der Zauberstab, vor dem 
jeder Skeptizismus, der auf die Variabilität der Sinneswamehmungen 
bei Konstanz der Dinge sich beruft, in Nichts zerfällt. Alle Bei- 
spiele Aenesidems, in denen das gleiche Ding verschiedenen Sub- 
jekten oder demselben Subjekt unter besondem, das Ding unberührt 
lassenden Umständen verschieden erscheint, sind schlechterdings 
unmögliche Fälle. Es ist nicht wahr, daß jemals der gleiche Honig 
mir süß und einem andern bitter, mir heute süß und morgen 
bitter schmeckt, daß die gleiche Mittelhalle des Badehauses dem 
von außen Eintretenden warm, dem von innen Konunenden aber 
kühl erscheint. Sondern der Honig, der mir süß und einem andern 
bitter, der Honig, der mir heute süß und morgen bitter schmeckt, 
ist nicht ein und dasselbe Ding, sondern jedesmal ein andres; das- 
selbe gilt von der Mittelhalle des Bades und allen übrigen Beispielen 
derselben Art Dann aber ist auch jeder Widerspruch zwischen 
den Wahrnehmungen gehoben; dann erscheint nicht ein und das- 
selbe Ding (Honig) bald süß, bald bitter, nicht ein und dasselbe 
Ding bald kalt und bald warm, sondern von verschiedenen Dingen 
ist das eine bitter, das andre süß, das eine kalt, das andre warm. 
Darin liegt natürlich kein Widerspruch. Hat X. den Empfindungs- 
komplex gelb, klebrig — bitter, so nimmt er ein wirkliches Ding 
mit den Beschaffenheiten gelb, klebrig — bitter wahr; und das 
gleiche gilt von mir, wenn ich in einem bestimmten Zeitpunkt die 
nämlichen Empfindungen habe; habe ich aber den Empfindungs- 
komplex gelb, klebrig — süß, so nehme ich gleichfalls ein wirk- 
liches Ding wahr mit den Beschaffenheiten gelb, klebrig — süß. 
Ob ich der Ökonomie des Denkens, meiner Orientierung in der 
Erfahnmg, und der Mitteilung an andre zuliebe beide Dinge, wegen 
ihrer überwiegenden Ähnlichkeit, unter willkürlicher Ignorierung 
ihrer Unterschiede in dem gleichen abstrakten Gattungsbegrifif zu- 
sammenfasse und mit dem gleichen Wortsymbol: Honig belege, 
ändert nichts daran, daß es sich um drei getrennte, wirkliche 
Dinge handelt, um drei Honige, H^, H, und H3. Zwei davon 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 203 

gehören meinem, eines dem Bewußtsein von X an. Man glaube 
aber ja nicht, daß sich bei solchen Anschauungen zwar der Skepti- 
zismus für die Erkenntnis der Dingeigenschaften vermeiden lasse» 
daß aber dieser Sieg insofern ein wahrer Pjo-rhussieg sei, als jede 
allgemeingültige und gesetzmäßige Erkenntnis der Dinge damit 
verloren gehe. Es werden die Dinge dabei nicht rettungslos den 
individuellen, regellosen Wahrnehmungen der Einzelnen preisgegeben» 
$0 daß jeder seine eigene chaotische Welt von Dingen besitzt, 
von deren Verständnis der Nachbar, der sich in einem andern 
Chaos bewegt, bereits ausgeschlossen ist; der eine (oder ich selbst 
zur Zeit A) die Welt der bittem, der andre (oder ich selbst zur 
Zeit B) die Welt der süßen Honige sein eigen nennt (nenne), der 
^ine (oder ich selbst zur Zeit A) die Welt der lauen, der andere 
(oder ich selbst zur 2^it B) die der kalten Badehallen usw.; so daß 
ein wissenschaftliches Erkennenwollen und vollends ein gemein- 
sames Erkennenwollen der objektiven Welt eine Ironie wäre. 
Vielmehr sind die Verbindungen zwischen den Wahrnehmungen 
gattungsmäßig gesetzliche, vollkommen zwischen den primären» 
unvollkommen zwischen den sekundären Bestandteilen. Da — um 
mit den letzteren zu beginnen — die Empfindung der eigenen 
Körperhitze (- kälte) gefolgt zu sein pflegt von der Empfindung der 
Kälte (Hitze) , wenn ich mich in einen Raum von 1 2 ^ R. begebe» 
so wird natürlich der von außen Eintretende (Individuum X oder 
ich selbst in Zeitpunkt A) den Empfindungskomplex: marmorner 
Fußboden, seitliche Bänke — Hitze, der von innen Kommende 
(Individuum Y oder ich selbst in Zeitpunkt B) den Empfindungs- 
komplex: marmorner Fußboden, seitliche Bänke — Kälte haben, d.h. 
es wird im Bewußtsein des einen (oder des Ich zu einer Zeit) ein 
wirkliches Ding auftreten, das mit dem Ding des andern (oder des Ich 
zu einer andern Zeit) alle Eigenschaften gemein hat bis auf die eine 
der Temperatur. Da Abänderungen wie Ähnlichkeiten aber durch 
Beobachtung der Erfahrung vorherzusagen, auch willkürlich her- 
zustellen sind, so ist die Kluft zwischen den wirklichen Welten 
des gleichen Individuums zu verschiedenen Zeiten und verschiedener 
Individuen zu überbrücken. — Noch weit vollständiger ist dies der 
Fall» wenn es sich um Bestandteile der Dinge handelt, die quali- 
tativ ganz gleichartig und in der Verbindung ihrer Glieder viel 
konstanter empfunden werden als die vorigen, nämlich die mathe- 
matisch-physikalischen Qualitäten. Das Ding Honig im wissen- 
schaftlichen Sinn z. B. als eine bestimmte chemische Verbindung 



204 Erster Abschnitt Die griecfaisdie Skepsis. 

von Ameisensäure und verschiedenen Zuckerarten mit den und 
den Atombeschaifenheiten wäre für mich zu allen Zeiten und für 
alle Menschen (in der Beschränkung, die diesen Ausdrücken bei 
allen empirisch ermittelten Gesetzen zukommt) das gleiche (wenn 
auch nicht ein gleiches), sobald es überhaupt ins Bewußtsein Ein- 
gs^g gefunden hat — freilich auch dann kein gleiches im Sinn 
einer Beziehung meiner Vorstellung auf ein und dasselbe an sich 
reale Objekt, sondern nur im Sinn qualitativ und quantitativ gleich- 
artiger Bewußtseinsbestandteile, an die sich unter den gleichen, 
bestimmten Umständen bei mir zu jeder 2^it und bei allen andern 
wiederum eine Menge qualitativ und quantitativ für mich und andre 
stets gleichartiger Bewußtseinsbestandteile gesetzmäßig anschlief^n 
würden; z. B. bei den Experimenten, die der Chemiker mit dem 
Honig veranstaltet, sofern sie sich in mathematischen Formeln dar- 
stellen lassen. Daher kann es für den Idealisten auch keine 
Sinnestäuschungen über Raumverhältnisse geben. Das 
Ruder erscheint nicht im Wasser gebrochen und in der Lufl gerade, 
während es selbst beidemal gerade ist; sondern es ist tatsächlich 
hier gerade und dort gebrochen und erscheint auch so. Denn ein 
andres Kriterium für tatsächliche Raumwirklichkeit als meine Wahr- 
nehmungen besitze ich nicht. Fasch ist nur meine Meinung, nach 
der ich das Ruder im Wasser für das gleiche Ruder halte, das 
ich vorher in der Luft gesehen habe und nachher wieder in der 
Luft sehen werde. In Wahrheit handelt es sich um drei ver- 
schiedene Wahrnehmungen oder Dinge, die einander ablösen, und 
die ich, wenn ich von ihren Unterschieden absehe, auf ihre gleichen 
Bestandteile reflektiere, alle „Ruder" benennen mag. Nicht darin 
also liegt die Täuschung, daß ich das Ruder gebrochen sehe (denn 
was ich sehe, ist auch wirklich), sondern daß ich, infolge falscher 
erkenntnistheoretischer Voraussetzungen über die Identität des 
Ruders als eines unabhängig existierenden realen Objekts, annehme 
und erwarte: daß das Ruder im Wasser auch gerade oder aus dem 
Wasser gezogen auch krumm sein werde. Die Veranlassung zur 
Täuschung liegt hier also ganz in den Gedanken und nicht in den 
Sinnen — in gerader Umkehrung der Auffassung des gemäßigt - 
kritischen Realismus, der die Täuschungsursache ganz in die Aus- 
nahmsreaktion der Sinne und die Aufhebung ganz in die Korrektur 
durch gedankliche Erwägungen verlegt hatte. Aber wiederum wäre 
nichts verkehrter als die Meinung, nun schwebten doch all die 
mühsamen Untersuchungen der Physiker, Physiologen und Psycho- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 2 05 

logen über die Brechungsgesetze verschiedener Medien (der Luft, 
des Wassers, der Augenlinse usw.), die Rolle der Augenbewegungen 
und allerlei psychischer Faktoren, aus denen die „Erklärung" dieser 
und andrer Sinnestäuschungen hervorgehe, ohne Halt und Sinn in 
der Luft. Nichts weniger! Diese Untersuchungen sind als Ermittlung 
der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen unsem Wahrnehmungen 
von der höchsten Wichtigkeit. Denn der Idealist leugnet ja nur, 
daß das identische Ding Ruder einmal gerade, dann krumm er- 
scheine; aber nicht: daß die Vorstellungen eines geraden, dann 
wieder eines gekrümmten, dann wieder eines geraden Ruders in 
gesetzmäßiger Folge einander ablösen; d.h. daß caeteris paribus die 
Wahrnehmung X, die an die Luftwahmehmung gebunden sei, stets 
so: |v, die Wahrnehmung Y, die an die Wasserwahmehmung ge- 
bunden sei, stets so: ^v^ beschaffen sei, wobei X und Y eine 
Menge Wahmehmungsbestandteile gemeinsam und nur den Winkel 
V und Vi verschieden aufweisen. Die mathematische Optik be- 
rechnet nun ganz genau v^ für Wasser, Vj, Vg usw. für Flintglas, 
Crownglas, Hohlspiegel usw., so daß ich die Wahrnehmung Y (Ruder 
im Wasser) aus Wahrnehmung X (Ruder an der Luft) genau vor- 
hersagen kann, ebenso Wahrnehmung Z, wenn ich darunter etwa 
— bei sonst gleichen Umständen — die Wahrnehmung des Ruders, 
nach Anbringung eines Hohlspiegels vor meinem Auge, verstehe. 
Auch die übrigen Einwände der griechischen Skeptiker gegen 
die sinnlichen Wahrnehmungen als Erkenntnismittel sind von hier 
aus leicht zurückzuweisen. Der bedeutendste der noch ausstehenden 
ist wohl der: daß das nämliche Ding (Apfel) noch viel mehr oder 
weniger Eigenschaften besitzen könne, als unsre Sinne an ihm wahr- 
nehmen (vgl. S. 51). Daß es Wesen mit höheren oder niedereren 
Wahrnehmungsfähigkeiten als denen des Menschen gebe oder geben 
könne, braucht der Idealist nicht zu leugnen. Aber alle diese 
Wahrnehmungen wären nicht neue Wahrnehmungen des gleichen 
Dinges, sondern neue, wirkliche Dinge, die unserm Wahmehmungs- 
ding Apfel gegenüber eine Anzahl gleicher, ein Plus oder Minus 
andrer Eigenschaften aufwiesen. Skeptische Folgerungen von irgend 
welcher Tragweite sind aber nicht daraus zu ziehen, daß möglicher- 
weise eine Menge Dinge nicht im menschlichen Bewußtsein auf- 
tauchen. Solche Folgerungen ergeben sich immer nur aus der 
gänzlichen oder teilweisen Unerkennbarkeit als beharrlich existierend 
angenommener realer Dinge. Und so prallen die Pfeile Aenesidems 
am Panzer des extremen Idealismus vollständig ab. 



2o6 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Die Ursache dieser Unverletzbarkeit läßt sich in folgenden 
Sätzen zusammenfassen: Die sinnlichen Wahrnehmungen als solche 
— das muß jeder kritische Erkenntnistheoretiker, realistischen wie 
idealistischen Glaubens, zugeben — stehen niemals miteinander in 
Widerspruch, weil sie noch jenseits von allen logischen Beziehungen 
sich befinden. Erst wenn ich verschiedene sinnliche Wahrnehmungen 
durch logische Ausdeutung als Vorstellungen eines identischen, 
von ihnen unabhängigen Dinges fasse, können Urteile, in denen 
ich den Inhalt der Wahrnehmungen diesem Dinge als Eigenschaften 
beilege, miteinander in Widerspruch geraten. Der extreme Realist 
sprach zunächst in seinen Urteilen alle Wahrnehmungsbestandteile 
den realen Dingen zu; und da das gleiche, vor jeder Verändenmg 
bewahrte Ding dem einen Subjekt grün, dem andern bläulich, dem 
einen Sinn des gleichen Subjekts flächenhaft, dem andern körperlich, 
dem gleichen Sinn des gleichen Subjekts heute grün , morgen bläulich, 
dem gleichen Subjekt in einem bestimmten Medium gerade, in einem 
andern gebrochen erschien, und doch in Wirklichkeit nicht am 
selben Orte, zur selben Zeit zugleich grün und blau, zwei- und 
dreidimensional, gerade und gebrochen sein konnte, und andrer- 
seits keine Quelle als die Sinne zur Entdeckung der realen Ding- 
eigenschaften zur Verfugung stand, sich also lauter gleichwertige, 
einander widersprechende Aussagen über die Natur des Dinges 
vorfanden — so war die Unerkennbarkeit dieser Natur die not- 
wendige skeptische Folgerung aus diesen Voraussetzungen. Der 
gemäßigte Realist sprach in seinen Urteilen nur einige Wahr- 
nehmungsbestandteile (die räumlich -zeitlichen) und auch diese nur 
unter bestimmten Umständen den realen Dingen zu, und da 
diese Urteile niemals von dem gleichen Ding zur gleichen Zeit am 
gleichen Ort widersprechende Aussagen machten, so war auch der 
skeptischen Folgerung der Unerkennbarkeit der Rechtsgrund ent- 
zogen. Der extreme Idealist setzte in seinen Urteilen alle ein- 
heitlichen Wahrnehmungen oder Empfindungsmannigfaltigkeiten den 
realen Dingen gleich und alle Wahmehmungsbestandteile den 
Eigenschaften der Dinge; dadurch wandeln sich mit den Wahr- 
nehmungen die Dinge und es ist unmöglich, daß jemals die Wahr- 
nehmungen mehr oder andre Eigenschaften aufweisen sollten, als 
den Dingen zukämen. Meint man, daß dadurch der Idealist zwar 
der pyrrhonischen Skepsis entginge, aber nur um sich einer andern 
Skepsis in die Arme zu werfen, so ist man im Irrtum. Denn da 
die Dinge für den Idealisten nicht beliebig aufeinanderfolgen, sondern 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 20J 

gesetzmäßig, und nicht in allen Teilen verschieden, als eine Flucht 
unbekannter und unvertrauter Erscheinungen vorüberziehen, sondern 
eine Fiille von Ähnlichkeiten miteinander aufweisen, so kann er 
den Inhalt seines Bewußtseins genau so gut logisch ordnen wie 
der Realist. Objektive Erkenntnis oder Erkenntnis von Objekten 
bedeutet ihm, über die augenblickliche Sinneswahmehmung hinaus: 
die Erkenntnis gesetzmäßiger Beziehungen, in denen Wahrnehmungen 
(oder Objekte), die einander gleich oder ähnlich sind, zu andern 
Wahrnehmungen (oder Objekten) stehen; also die objektive Er- 
kenntnis des Quecksilberoxyds einmal die gegenwärtige Wahrnehmung 
des ziegelroten Pulvers in meinem Bewußtsein, und darüber hinaus 
das Wissen, daß so oft diese Wahrnehmung in meinem Bewußt- 
sein ist, und mit der Wahrnehmung einer starken Erhitzung des 
Probiergläschens, in dem der Stoflf sich befindet, verbunden ist, 
die Wahrnehmung eines schwarzen Pulvers folgt und unter be- 
stimmten Umständen (wenn ich ein Entwicklungsrohr angefügt und 
über dessen Ausgangsöffhung ein andres Probierröhrchen gestülpt 
hatte) die Wahrnehmung eines färb- und geruchlosen Gases, in 
dem ein glimmender Holzspan hell aufflammt usw. 

Die Isosthenien in den skeptischen Tropen sind für den ex- 
tremen Idealisten also nicht vorhanden; denn verschiedene sinn- 
liche Wahrnehmungen über den gleichen Gegenstand: bedeutet ihm 
eine vollständige contradictio in adjecto. Er vermag aber über- 
dies — was mehr sagen will — den Schein von Berechtigung, der 
den Isosthenien innewohnt, psychologisch zu erklären. Allen 
neun Tropen nämlich liegt die Nichtbeachtung der Tatsache zu- 
grunde, daß es neben gewöhnlichen und alltäglichen Wahrnehmungs- 
verbindungen auch ungewöhnliche, neben gut bekannten auch 
minder bekannte gibt. Daß die Empfindungen gelb, klebrig, süß 
verbunden auftreten können, ist gewöhnlich und bekannt; daß die 
Empfindungen gelb, klebrig, bitter gleichfalls verbunden auftreten 
können, ist ungewöhnlich und unbekannt. Daß mit gewissen op- 
tischen Wahrnehmungen (Schatten- und Lichtverteilung) Tast- 
empfindungen verbunden sind, die uns Dicke oder Körperlichkeit 
anzeigen, ist gewöhnlich und bekannt; daß auf die gleichen op- 
tischen Wahrnehmungen Tastempfindungen folgen können, die nur 
Flächenhaftigkeit und Unkörperlichkeit anzeigen (Beispiel der Ge- 
mäldewahmehmungen im 3. Tropus), ist ungewöhnlich und un- 
bekannt Elrwarten wir nun beim Anblick der gelben zähflüssigen 
Masse auch den süßen Geschmack , oder nach den optischen Wahr- 



2o8 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

nehmungen beim Anblick eines Gemäldes die als körperlich charak- 
terisierten Tastempfindungen, und täuscht uns. diese Erwartung, 
d. h. treten Süß- und Körperlichkeitsempfindungen nicht ein, so 
glauben wir: hier ist etwas nicht in Ordnung, unsre Sinne haben 
nicht richtig funktioniert; entweder hat mein Gesicht oder mein 
Getast, mein früherer oder mein jetziger Geschmack etwas nicht 
recht aufgefaßt. Wir sahen eine uns wohl vertraute Gesetzlichkeit 
durch sinnliche Wahrnehmungen gekreuzt, und stutzig gemacht, 
fragten wir uns skeptisch: ob wir an der Gesetzmäßigkeit oder an 
unsem Sinnen irre werden sollten. In Wahrheit aber hatten wir 
nur aus (die Objektivität stets erkennenden) Sinnesdaten falsche 
Folgerungen auf den Eintritt gewöhnlich mit ihnen verbundener 
Sinnesdaten gezogen, an deren Stelle nun andre, ungewöhnlich mit 
ihnen verbundene, aber wiederum die Objektivität völlig erkennende 
Sinnesdaten sich einfanden. Der falsche Schluß lag also nicht an 
einer unvorhergesehenen Sprengung der bestehenden Gesefce, 
sondern an einer fälschlichen Aufstellung gar nicht bestehender 
Gesetze. Denn es gibt, wenn wir die Erfahrung methodisch durch- 
forschen, kein Gesetz, das lautete: mit den optischen Wahrneh- 
mungen a,b,c ist immer, sondern nur: ist unter den Bedingungen 
or, j8, y (zu denen auch eine bestimmte Beschaffenheit der Sinnes- 
organe für den ersten, eine bestimmte Wahmehmungsmöglichkeit 
bei Betrachtung von der rückwärtigen Seite gehört für den zweiten 
Fall) die Geschmacksempfindung süß, die Tastempfindung dick 
verbunden, und diese Gesetze sind nicht im mindesten verletzt. 
Wohl aber können falschlich angenommene, aus der rohen Er- 
fahrungsdeutung aufgeraffte Urteile über gar nicht bestehende Ge- 
setze hier durchkreuzt erscheinen. Und so schieben wir, statt in 
unsrer mangelnden Kenntnis ungewohnter Verbindungen den Fehler 
zu suchen, diesen Mangel dem einen Glied der ungewohnten Ver- 
bindung selbst unter, und da wir nicht wissen, welchem Gliede, 
so ist unser ganzes Vertrauen in die Sinne erschüttert oder wir 
suchen den Mangel in der Durchbrechung aller Gesetzmäßigkeit. 
Wir gleichen dabei einem Menschen, der einen Eisenbahnzug mit 
Verspätung in die Bahnhofshalle einlaufen sieht und dieses Phänomen 
sich nur so zu erklären vermag, daß entweder die Lokomotive in 
ihrer Bewegimg die mechanischen Gesetze über Geschwindigkeits- 
größen durchbrochen, oder daß sein Auge ihn beim Anblick der 
Uhr und des hereinfahrenden Zuges getäuscht habe; daran aber 
gar nicht dächte, daß zwischen fahrplanmäßiger Einfahrtszeit und 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 209 

« 

wirklicher Einfahrt nur dann die gesetzmäßige Gleichzeitigkeit be- 
stünde, wenn alle dazu erforderlichen Bedingungen (Abfahrt von 
der vorigen Station um eine bestimmte Zeit, Dampfstärke usw.) 
erfüllt wären. — Ebenso wird der Analogieschluß auf die gleichen 
oder ähnliche Erkenntnisbedingungen bei andern Individuen für den 
Idealisten nicht dadurch angetastet, daß deneinzelnenMenschen 
und Lebewesen manche auf vielen Punkten ähnliche Dinge auf 
andern Punkten anders erscheinen (vgl. den i. und 2. Tropus), 
und skeptische Folgerungen aus der Verschiedenheit dieser Aus- 
sagen leitet er nicht her. Denn die Tatsachen berechtigen ja immer 
nur zu der Aufstellung: daß verschiedene Individuen auf manchen 
Punkten ähnliche, auf andren verschiedene Wahrnehmungen haben; 
nicht daß das gleiche Ding verschiedenen Subjekten verschieden 
erscheint; die Abweichungen in den Wahrnehmungen folgen aber 
wiederum bei allen Menschen der nämlichen Gesetzmäßigkeit, und 
wenn wirklich Demophon in der Sonne fror und im Schatten 
schwitzte (vgl. S. 49), so bedeutet das nicht, daß Demophon das 
reale Ding Sonne als kalt empfand, das alle andern als warm em- 
pfinden; auch nicht, daß seine Wahrnehmungen nach andern Ge- 
setzen sich verketteten, als die unsrigen (wenn sie auch de facto 
anders verkettet sind, was nach S. i8b nicht dasselbe ist), sondern 
nur: daß eine notwendige Verkettung zwischen Sonnenstrahlen- 
wahmehmung und Wärmeempfindung für die Menschen nicht be- 
steht; daß wir vielmehr das Glied der Wahmehmungsmöglichkeit 
bestimmter Organisationsverhältnisse als Bedingung dieser Beziehung 
ausgelassen und voreilig Gesetze aufgestellt haben. Erst wenn die 
Pyrrhoniker nachweisen könnten, daß wirklich nach verschiedenen 
Gesetzen in den einzelnen Lebewesen die Wahrnehmungen ver- 
kettet wären, würde daraus — wenn auch nicht die Erkennbar- 
keit der Dinge — aber die allgemeingültige Erkenntnis gleicher 
Dingwelten dahinfallen. Diesen Nachweis aber sind sie schuldig 
geblieben. 

Soviel über die beiden kritischen Standpunkte, die, so ver- 
schieden sie auch untereinander sind, doch in dem einen zusammen- 
stimmen, daß man von ihnen aus dem sensuellen Skeptizismus ent- 
geht Noch möchte man glauben, die Stellung der Kantischen Er- 
kenntnistheorie sei als eine vierte Grundposition diesem Skep- 
tizismus gegenüber auszuspielen. Aber davon ist hier abzusehen. 
Nicht nur, weil Kants Lehre an einem andern Ort dieser Unter- 
suchung ausführlich gewürdigt werden soll, sondern weil ihre 

Richter, Skeptizismat. I4 



210 Erster Abschnitt. Die grifchisrhe Skepsis. 

Zurückweisung der skeptischen Folgerungen aus der Wahmehmungs- 
erkenntnis im Grunde zusammenfallt mit derjenigen des extremen 
Idealismus. Kants Eigenart in der Wahmehmungstheorie besteht 
hauptsächUch in der Feststellung verschiedener Erkenntnisgrade 
innerhalb der rein subjektiven Bewußtseinswelt — ein Problem, 
das die Angriffe der Skepsis nur indirekt beriihrt und insoweit 
auch schon seine Berücksichtigung gefunden hat 

Die sensuale Skepsis der Pyrrhoniker ist abgewiesen. Aber 
es scheint wahrscheinlich, daß mit diesem Abweis gerade für den 
denkenden Leser eine neue Form des Zweifels geschaffen worden 
ist; wie durch die Messer der Chirurgen giftige Geschwüre wohl 
entfernt werden, aber auch neue Keime dabei eindringen können, 
die neue Geschwüre hervortreiben. Staunend hat man hier ver- 
folgt: wie gemäßigte Realisten und extreme Idealisten zwar beide 
die skeptische Stellung Aenesidems erschüttert und wohl auf ewig 
vernichtet haben; wie dabei aber so diametrale Anschauungsweisen 
über Sinn und Bedeutung unsrer Wahmehmungserkenntnis zwischen 
den zwei hier zur gemeinsamen Aktion vereinigten Armeen zu- 
tage treten (und dies bereits in den elementarsten erkenntnistheo- 
retischen Fragen und trotz bewußter Anwendung der nämlichen 
Wahrheitskriterien), daß man von neuer skeptischer Unruhe ergriffen, 
nun vor allem wissen möchte, wer von diesen beiden im Rechte, 
wer von den beiden im Besitz der Wahrheit ist; und voll Ver- 
wundenmg über die ungenügende Funktion der Wahrheitskriterien, 
die gleich im ersten Fall ihrer Anwendung zu entgegengesetzten 
Ergebnissen fuhren, schöpft man gegen diese Kriterien selbst 
Verdacht. 

Der endgültige Entscheid über den Wahrheitsgehalt in den 
realistischen oder idealistischen Gedankenreihen ist der Untersuchung 
des 2. Bandes dieser Arbeit vorbehalten; hier handelte es sich zu- 
nächst darum, in beiden Anschauungen Auswege nachzuweisen» 
die durch die antike Skepsis nicht verbaut sind, imd erlauben: 
die Beschaffenheiten der 'Dinge doch zu erkennen. Erst wo in 
der Geschichte der Philosophie aus dem Aufeinanderprallen dieser 
Theorien ein neues skeptisches Argument erwächst (was in 
der Lehre David Humes der Fall sein wird), hat die Kritik auf 
dieses einzugehen und zu der angeregten Frage Stellung zu nehmen. 
Jetzt mögen nur die Zweifel in die entwickelten Wahrheitskriterien 
eingedämmt imd dabei ein paar Bemerkungen darüber hinaus als 
Ausblicke in spätere Teile erlaubt werden. 



Drittes «Ki^itel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 211 

Andre letzte Erkennungszeichen der Wahrheit als das auf- 
geführte unmittelbare und unausrottbare Oberzeugungsgefuhl besitzen 
wir leider nicht; und es ist ganz vergeblich, aus Ungenügen an 
dem engen Wissenskreis, den es uns erschließt, nach andern 
Schlüsseln uns umzusehen. Wir müssen also ganz offen eingestehen, 
daß bei den uns hier beschäftigenden Problemen und deren Lö* 
sungen (ob gemäßigter Realismus, ob extremer Idealismus) das 
unüberwindbare Gefühl des Durchdrungenseins von der Wahrheit 
einer der beiden Anschauungen in seiper vollen Stärke und Ein- 
deutigkeit für den besonnen die verschiedenen Stellungen gegen- 
einander Abwägenden wohl überhaupt nicht auftritt. Denn sonst 
würde es sich um entschiedene und nicht um schwebende Fragen 
handeln, wie es doch tatsächlich der Fall ist Solange wie sich 
hier noch die philosophischen Parteien befehden, solange darf von 
der Wahrheit eines Parteiprogramms für den Erkenntnis- 
theoretiker nicht die Rede sein. Denn es wird ja nicht die Ober- 
zeugung eines oder mehrerer Menschen, sondern die unüberwind- 
bare und notwendige Zustimmung aller, d. h. jedes beliebigen 
Menschen dazu gefordert; dies ist kein Entscheid durch die Majorität, 
sondern durch die allgemein menschliche geistige Organisation« 
Wo nicht die Zustimmung jedes beliebigen gesunden Menschen zu 
einer Ansicht erzwimgen werden kann, wenn ihm der Inhalt der- 
selben nur verständlich gemacht wird (was freilich oft schwierig 
genug ist imd manchmal jahrelanges Studium des Betreffenden er- 
fordert), da muß man auch die grundsätzliche Unüberwind- 
barkeit der Oberzeugung jedes andern, ja des Urhebers dieser 
Ansicht bezweifeln. Die Forderung, nur dort von Wahrheit zu 
sprechen, wo diese Bedingungen erfüllbar sind, ist hart, sehr hart, 
und man wird sich, wie in allen menschlichen Verhältnissen, für 
die Praxis und selbst oft für die Theorie mit der annähernden 
Erfüllung derselben begnügen müssen. Im täglichen Leben kann 
man nicht warten, bis die Wahrheit eines Urteils nach so strengen 
Kriterien sichergestellt ist, um eine Handlung darauf zu gründen; 
denn sonst würde es überhaupt zu keiner Handlung kommen; aber 
auch die Wissenschaft baut oft genug auf Sätzen weiter, die im 
absoluten Sinne nicht wahr genannt werden können; sie würde 
sonst nicht von der Stelle rücken. Das Recht und die Pflicht, an 
den Bedingungen für die Wahrheit eines Satzes in deren ganzer 
Herbheit und Unerbittlichkeit festzuhalten, hat allein die Erkennt- 
nistheorie; denn sie ist eine Kritik gerade der Grundlagen alles 



212 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Erkennens; sie legt die Fundamente zu allen Wissenschaften oder, 
wie einige wollen, sie legt durch logische Bearbeitung der tatsäch- 
lich bestehenden Wissenschaften deren Fundamente bloß. In den 
Gang der Wissenschaften soll sie nicht eingreifen; aber diese 
sollen von ihr über sich selbst aufgeklärt werden, über ihre Grenzen 
und ihr Gebiet, sollen durch sie nie vergessen lernen, Spezialisten 
der Wahrheitsforschung zu sein. Die Erkenntnistheorie selbst 
aber kennt keine vorläufigen Abfindungen mit der Wahrheit, keine 
Konzessionen an die Wirklichkeit, keinen Erlaß von den Bedin- 
gungen des Erkennens, keine Provisorien; denn sie ist ja dazu 
berufen, nicht eine Masse Wahrheiten zu finden, Wirklichkeiten 
zu durchforschen oder gar zu beeinflussen, Erkenntnisse zu 
sammeln — sondern festzustellen, was Wahrheit, Wirklichkeit, Er- 
kenntnis überhaupt ist. Alle Sätze über Einzel -Wahrheiten, -Er- 
kenntnisse, -Wirklichkeiten empfangen so erst ihren Sinn und ihre 
innere Bedeutung von der erkenntnistheoretischen Durchleuchtung, 
die ihnen wird. Die Erkenntnistheorie ist die eigentliche Hohe- 
priesterin der Wahrheit, die zwar nicht die Wahrheit schafft (so- 
wenig wie der Priester die Religion), nicht einmal am meisten von 
ihr besitzt (sowenig wie der Priester von der Religion), aber sie 
am strengsten verwaltet und keine Verletzung ihrer Reinheit duldet. 
Sich des hohen Ernstes ihrer Aufgabe bewußt, macht sie daher 
vor einem Entscheid über die Wahrheit von Realismus und Idea- 
lismus zögernd Halt und gesteht ein, solchen Entscheid nur pro- 
blematisch und nach „bestem (aber nicht einzig möglichem) Wissen 
und Gewissen" geben zu dürfen. Denn sie glaubt zwar, die for- 
malen Kriterien der Wahrheit sicher bestimmen zu können; aber 
in der näheren Feststellung der Maßstäbe, nämlich der Elemente, 
an welche sich jenes unausrottbare Überzeugungs- oder Wider- 
strebungsgefuhl kettet, sieht sie bereits eines der tiefsten und 
schwierigsten Probleme der Erkenntnistheorie: was ist unmittelbar 
gegeben oder Tatsache der Erfahrung? was ist denknot- 
wendig? Und die Lösung einer nicht minder inhaltschweren Frage 
bedeutet ihr der zweite Schritt: welche Aussagen stehen nun im 
Einklang mit diesenbeidenBedingungen, undwelchenicht? 
Zwar besitzen wir als völlig sichere Ausgangspunkte hier überall Ant- 
worten, über die kein Streit herrscht, welche die gestellten Bedingungen 
ganz erfüllen, und ohne die wir — da sich an sie eben das nicht 
beschreibbare sondern nur aufzeigbare Überzeugungsgefiihl unaus- 
rottbar kettet — auch von den Kriterien der Wahrheit gar nichts 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 213 

wissen würden; aber diese Antworten sind mager, und es gibt 
ihrer nur wenige. Immerhin sind sie es, die uns als Musterbilder 
für jede weitere, in ihnen selbst noch nicht enthaltene Wahrheit 
vorschweben und als die anschaulichen und stets sichtbaren Sterne 
die Lichtart und Lichtstärke darstellen, an der wir alle übrigen 
angeblichen Erkenntnisse auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen haben. 
Daß eine bestimmte Wahrnehmung bei Betrachtung des heiteren 
Himmels mir unmittelbar gegeben ist, die wir „blau" zu nennen 
pflegen, daß der Satz der Identität eine Denknotwendigkeit, und 
daß die Urteile: jetzt empfinde ich blau und dies blau ist sich 
selbst gleich (beide beim Anblick des heiteren Himmels gefällt) in 
Einklang mit allen Erfahrungen und Denknotwendigkeiten stehen 
— das wird wohl von keinem Sterblichen, weder Laien noch 
Philosophen je bestritten werden. Hier haben wir zugleich die 
klassischen Beispiele, an denen jeder das Erlebnis jenes unaus- 
rottbaren Überzeugungsgefuhls selbst erproben kann, und an deren 
Umkehrung (Verneinung beider Urteile) ihm das Widerstrebungs- 
gefühl nicht minder deutlich zum Bewußtsein kommen wird. Es 
ist gut, sich einmal von diesen Gefühlen bei solch' anscheinend 
kindlichen Selbstverständlichkeiten durchdringen zu lassen; denn 
nur an „kindlichen Selbstverständlichkeiten" kann man ganz rein 
vom Quell der Wahrheit kosten. Später bleibt der Vergleich mit 
diesem Geschmack allein der Maßstab dafür, wie weit man sich 
von dem Quell entfernt hat. Schon die Frage, ob die Bläue des 
Himmels auf eine Ursache zurückzuführen ist, ist nicht einfach mit 
Ja oder Nein zu beantworten, und es streiten sich Hume und 
Kant darüber, ob solche Verursachung absolut denknotwendig ist 
oder nicht. Wenn ich vollends die Ursachen der Bläue auf be- 
stimmte reale Atherwellen und die Existenz derselben an dieser 
Stelle des Raums auf gewisse materielle Vorgänge in der Atmo- 
sphäre zurückführe, die unabhängig von einem Bewußtsein vor 
sich gehen, so ist es nicht unbezweifelt, also vorläufig nicht un- 
zweifelhaft, ob diese Behauptung im Einklang mit Erfahrung und 
Denken sich befindet. Man^sieht: daß schon sehr frühe und an 
noch sehr elementaren Stellen die Frage nach der inhaltlichen Be- 
schaffenheit der Elemente im Wahrheitskriterium und nach den 
mit diesen Elementen im Einklang befindlichen Inhalten philo- 
sophisches Problem zu werden beginnt. Dies einzugestehen, er- 
fordert die intellektuelle Redlichkeit. Denn nicht das Auffinden 
derWahrheitskriterien, sondern das Anwenden derselben 



214 Erster Abschnitt Die griechische Skq>8is. 

macht die Schwierigkeit. Das unmittelbar Gegebene läßt 
sich nicht ohne weiteres herausfinden, weil wir ja den Erscheinungen 
gegenüber kein ganz reines Gemüt mitbringen. Eingewurzelte 
Gewohnheiten, Assoziationen, überkommene Ansichten, individuelle 
Zutaten, mit denen wir vielleicht auf das „Gegebene** reagieren 
und die mit diesem zur Einheit verschmelzen, trüben uns den 
Blick für die „reine Erfahrung". Denknotwendigkeiten be- 
stehen ihre Probe oft erst nach jahrtausendelangem Selbstbesinnen 
auf die dem eigenen Geiste immanenten Gresetze (man denke an 
den Sturz angeblicher Denknotwendigkeiten durch die metageome- 
trischen Axiome) oder werden durch die Kenntnisnahme eines 
reichen Tatsachenmaterials überhaupt erst ins Bewußtsein gehoben 
(z. B. Herbert Spencers „apriorisches" Axiom von der Erhaltung 
der Energie, das er wohl schwerlich vor der Existenz der modernen 
Chemie und Physik trotz der behaupteten Apriorität hätte ent- 
decken können). Und endlich, was mit allen Erfahrungen im 
strengen Sinne des Wortes und mit allen Denkgesetzen im ebenso 
strengen Sinn im Einklang ist, was nicht — das festzustellen, ist 
uns wieder ein neues Hemmnis in den Weg gelegt: die Zeit So 
möchte, wer die Ansprüche der Wahrheit kennt, fast verzweifeln, 
nach ihr zu suchen; wenn er nicht von einem unwiderstehlichen 
Bedürfnis getrieben würde, das selbst den ganz unspekulativen 
Kopf beim Fällen all* seiner Urteile unbewußt leitet; und wenn er 
nicht jene köstliche Beruhigung genossen hätte , welche die Wahr- 
heit etwa eines mathematischen Satzes oder auch nur eines ge- 
wöhnlichen richtigen Schlusses im täglichen Leben gewährt und 
die zugleich in sich den Anreiz enthält, auch in verwickeiteren 
Verhältnissen immer und immer wieder durch möglichst getreue 
Anwendung der bekannten Forderungen von neuem erzeugt zu 
werden. 

Wir werden nun später sehen: daß auch die Grundanschau- 
ungen des gemäßigten Realismus und des extremen Idealismus 
nicht etwa selbst schon unmittelbar Gegebenes oder a priori Denk- 
notwendiges zum Ausdruck bringeri? und sich demnach heraus- 
stellen: nicht als Ergebnisse einer ruhigen Selbstbesinnung oder 
einfachen Überlegung, sondern als Produkte eines komplizierten 
kritischen Mechanismus. Der Satz: die sinnlich wahrgenommenen 
Dinge sind nur Vorstellungen, beschreibt weder ein unmittelbares 
Erlebnis (wie es etwa der Satz ohne das „nur" tun würde), noch 
eine reine Denknotwendigkeit. Und das gleiche gilt von der rea- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischeii Skepsis. 215 

listischen These: die Dinge sind noch etwas unabhängig von ihrem 
Vorgestelltwerden. Wo Idealisten oder Realisten das Gegenteil 
behauptet und ihre Anschauung als Ausdruck der „reinen Er- 
fahrung" oder eines ursprünglichen logischen Zwanges hingestellt 
haben, sind sie, wie später erhellen wird, im Irrtum. Daher haben 
die Widerlegungen, die sie auf diesem Punkte sich gegenseitig 
zuteil werden lassen, etwas durchaus Überzeugendes. Aber auch 
nicht einmal das kann zur Gewißheit erhoben werden, daß einer 
der zwei Sätze sich im Einklang mit allen Erfahrungen und 
Denkgesetzen befinde und deshalb notwendig wahr sei. Denn 
beide Urteile „die sinnlich wahrgenommenen Dinge sind nur Vor- 
stellungen", „diese Dinge sind noch etwas außer ihrem Vorgestellt- 
werden" machen Aussagen über eine grundsätzlich unerfahr- 
bare Wirklichkeit und sind daher metaphysische Aussagen. 
Denn wir erfahren von den Dingen immer nur durch unsre Be- 
wußtseinszustände, können also durch Erfahrung über eine Existenz, 
Nichtexistenz, Beschaffenheit bewußtseinunabhängiger Wirklich- 
keiten niemals belehrt werden. Andrerseits kann unser reines 
Denken immer nur über Beziehungen zwischen Begriffen gültige 
Urteile fällen, niemals über das Dasein oder Nichtdasein einer 
Wirklichkeit. Vielmehr sichert uns solches unbezweifelbar allein 
die unmittelbare Erfahrung oder ein nach Gesetzen, welche die 
Erfahrung beherrschen, denknotwendig vollzogener Schluß auf 
eine mögliche Erfahrung (was allerdings hier nur Behauptung 
bleibt). Es kann daher niemals denknotwendig sein, eine Wirk- 
lichkeit anzunehmen, oder zu leugnen, die grundsätzlich unerfahrbar 
ist. Demnach steht keine Aussage* über eine bewußtseintrans- 
zendente Welt jemals in positivem Einklang mit den Denkgesetzen 
und allen Erfahrungen. Denn dazu wird ja nicht nur gefordert: 
daß die Aussage den isolierten logischen Axiomen und den 
isolierten Erlebnissen konform ist, sondern daß sie auch mit 
den, aus der Bearbeitung der Erlebnisse durch die lo- 
gischen Axiome notwendig gewonnenen Sätzen überein- 
stimmt. Da nun einer dieser Sätze lautet: über eine nicht erfahr- 
bare Wirklichkeit lassen sich keine, das unausrottbare Evidenz- 
gefühl erzeugende Aussagen machen (denn kein Erlebnis für sich, 
noch irgend ein Denkgesetz für sich, noch die Anwendimg der 
Denkgesetze auf die Erlebnisse setzen mich dazu in Stand) — so 
entspricht keine Aussage, die doch diesen Anspruch erhebt, den 
strengen Bedingungen des Wahrheitskriteriums. Daher werden 



2l6 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

wir auch alle eigentlichen Beweise, die für die Wahrheit der einen 
oder der andern Anschauung geltend gemacht werden, notwendig 
scheitern sehen. Und wiederum haben die Widerlegungen, die 
beide auch auf diesem Punkte sich gegenseitig zuteil werden ließen, 
etwas durchaus Überzeugendes. Nun wäre aber ein Entscheid 
wenigstens über die Falschheit von Realismus oder Idealismus 
noch auf die Art möglich: ist auch keiner von beiden als in posi- 
tivem Einklang mit der denknotwendig gedeuteten Erfahrung und 
auf diesem Wege jemals als wahr zu erweisen, so könnte doch 
einer oder der andre sich in Widerspruch mit Denkgesetzen oder 
Erfahrungen befinden und deshalb falsch sein. Wir würden dann 
diese Theorien als metaphysische Hypothesen anzusehen und 
zu fragen haben: geraten die Folgerungen aus ihnen mit Erleb- 
nissen und Denkgesetzen in Widerstreit, wie es mit der extrem - 
realistischen Hypothese tatsächlich der Fall gewesen war? Nun 
wird sich herausstellen, daß bis jetzt weder die eine noch die 
andre dieser Hypothesen in ihrer Anwendung auf die Erfahrungs- 
welt, d. h. wenn wir ihre Konsequenzen für die Erfahrung bedenken, 
sich irgend eines Verstoßes gegen Denkgesetze oder Er- 
fahrung schuldig gemacht hat, und deshalb über Bord zu 
werfen wäre. Die Tatsachen der Erfahrung und ihre gedankliche 
Ausdeutung fügen sich sowohl der einen wie der andern Annahme 
über die Existenzart der wahrgenommenen Dinge. Und das zwar 
im weitesten Umfang. Nicht nur die Einzelerlebnisse, nicht nur 
die Harmonie in den Aussagen aller Gesunden über diese Erleb- 
nisse, nicht nur der Unterschied zwischen subjektiven Phantasmen 
und objektiver Wirklichkeit, auch die Gresetzmäßigkeit dieser ob- 
jektiven Wirklichkeit, auch die Beziehungen zwischen Leib und 
Seele, auch das Voraussagen der Ereignisse und deren Beherr- 
schung — all das ordnet sich sowohl in das idealistische wie rea- 
listische WeltbUd widerspruchlos ein. Und auf beide Weisen ist 
eine einheitlich zusammenhängende und logisch durchsichtige Auf- 
fassung der Erfahrung möglich. Daher haben hier die Wider- 
legungen, die sich die Gegner gegenseitig angedeihen lassen, nie- 
mals etwas Überzeugendes; denn die Widerspruchlosigkeit seiner 
Auffassimg in sich und mit den Tatsachen kann jeder mit gutem 
Recht für sich in Anspruch nehmen. Jede dieser -metaphysischen 
Annahmen ist also nicht nur nicht falsch, weil sie zu keinen Wider- 
sprüchen zu führen braucht, sondern auch durchaus eine brauch- 
bare Arbeitshypothese, um sich den Zusammenhang der Erfahrung 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 217 

mit Hilfe metaphysischer Ergänzungen verständlich zu machen. 
Einzig danach hat man nunmehr zu fragen: welche von beiden die 
brauchbarere Hypothese ist. Da aber in den Entscheid dieser 
Frage eine Menge von Momenten hineinspielt: der Grad des hypo- 
thetischen Charakters (der beim extremen Idealismus geringer zu 
gestalten ist, sowie dieser das „nur" aus seiner Grundthese streicht, 
als beim gemäßigten Realismus), der Maßstab für die Arbeits- 
leistung der Hypothesen (der Phänomenalismus leistet im Sinne 
der reinen Ökonomie des Denkens mehr als der Realismus, 
während dieser für das augenblickliche Stadium unsres Denkens 
dem Prinzip des „kleinsten Kraflmaßes'* mehr entspricht wegen der 
realistischen Tradition, durch die fast alle wissenschaftlichen Be- 
grifTsbildungen auf antiidealistischen Geleisen laufen) — so dürfen 
wir, ohne Mißverständnisse zu erregen, den Lösungsversuch dieses 
Problems noch nicht vorwegnehmen. 

Wer aber vermeint, die Ergebnisse der Einzelwissen- 
schaften, denen doch gewisse erkenntnistheoretische Ansichten 
zugrunde liegen, würden nun so lange hinfallig, als nicht die Wahr- 
heit einer dieser erkenntnistheoretischen Grundpositionen absolut 
feststünde, der vergißt: daß die Einzeiwissenschaflen Einsichten 
erarbeiten, die zwar immer im Gewand einer erkenntnistheoretischen 
Grundanschauung auftreten — der Physiker spricht von der Materie 
an sich, der Historiker von der Seele der Könige, der Mediziner 
vom Gehirn als Träger des Geistes — daß sie aber, auch dieses 
Gewandes entkleidet und in eine andre terminologische Haut ge- 
steckt, den wirklichen Wahrheitsgehalt nicht zu verlieren pflegen. 
Denn gerade die tieferdringende Forschung ergründet immer mehr die 
gesetzmäßigen Beziehungen zwischen und an den Dingen und 
weniger die Dinge selbst, ja löst die letzteren geradezu in einen 
Komplex solcher Beziehungen auf; dadurch aber können ihre Ergeb- 
nisse in jede philosophische Sprache meist unschwer übernommen 
werden, die nur diese Beziehungen nicht angreift, über den Begriff 
des Dinges aber denken mag, wie sie will. Wenn der Historiker von 
der großen oder niedrigen Seele eines Herrschers redet, so meint 
er damit eigentlich nur, daß dieser auf die und die Motive mit 
moralisch hoch- oder tiefwertigen Gedanken, Gefühlen, Willens- 
regungen zu reagieren pflegte, und ob es Seelen gibt oder nicht, 
ist für den Sinn seiner Behauptungen irrelevant Auch für den 
Physiker verschafft mehr die Konstanz in allen äußeren Erschei- 
nungen als ihre grundsätzliche Unabhängigkeit vom Greiste der 



2l8 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Materie das Epitheton „an sich"; und der Mediziner legt, solange 
er in den Grenzen seiner Wissenschaft verharrt, kein Gewicht 
darauf, daß unser Gehirn wirklich das „Organ" oder der „Träger" 
der geistigen Funktionen sei, sondern nur, daß zwischen Gehirn 
und Geist regelmäßige und wechselseitige Beziehungen obwalten. 
Alles übrige ist ihm, wie den andern, überflüssige erkenntnistheo- 
retische Zutat, bloße fagon de parier, die den Kern seiner Ansichten 
unberührt läßt. Gerade die doppelte Kommentierung der natur- 
wissenschaftlichen Ergebnisse, die wir vorher kennen gelernt hatten, 
ist in dieser Hinsicht lehrreich, weil typisch. Und so erregt das 
Zugeständnis von der Möglichkeit verschiedener erkenntnistheo- 
retischer Positionen gegen den Wert der Arbeit der Einzelwissen- 
schaften keine Bedenken mehr. 

Überschaut man die skeptischen Gedankenreihen als Ganzes, 
so staunt man, daß diese scharfsinnigen Männer in ihrer Er- 
kenntnistheorie sich oft so nahe an der Grenze fruchtbarer 
Entdeckungen bewegen, ohne doch je den entscheidenden Schritt 
zur Eröffnung neuer Bahnen getan zu haben. In der Theorie der 
sinnlichen Wahrnehmung weisen sie mit einer Ausführlichkeit auf 
den Anteil des Subjekts an der Bildung der Vorstellungen hin, 
wie es im Altertum nie zuvor geschehen war; und doch streifen 
sie an keiner Stelle den Gedanken, daß die subjektiven Zutaten 
den Inhalt der Vorstellungen erschöpfen könnten, und daß, wenn 
man die Existenz unabhängig vom Subjekt bestehender Dinge 
fallen ließe, auch alle Gründe des Zweifels an dieser Erkenntnis- 
art mit hinwegfielen (extremer Idealismus). Sie werfen die Frage 
aut, ob nicht weniger Eigenschaften, als wir an den Dingen wahr- 
nehmen, und nur gewisse von den wahrgenommenen den Dingen 
selbst zukommen könnten; aber sie finden die Kraft nicht, die 
Eigenschaften daraufhin zu untersuchen und durch eine nach lo- 
gischen Gesichtspunkten vollzogene Trennung derselben in objek- 
tive und subjektive einen zweiten Ausweg aus den skeptischen 
Folgerungen zu eröffnen (gemäßigter Realismus). Die Möglichkeiten, 
den Skeptizismus gegen die sinnliche Erkenntnis zu überwinden, 
deren jede eine bestimmte Art der Aufhebung der naiv -realistischen 
Voraussetzungen bedeutete, waren bereits zur Zeit Pyrrhos an- 
geschlagen worden. Die Cyrenaiker hatten hier den extremen 
Idealismus vertreten und alle Empfindungen als rein subjektive 
Zustände (TtaSrTjD ohne Hinweis auf an sich bestehende Objekte 
aufgefaßt. Demokrit hatte den grundsätzlichen Standpunkt des 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 219 

gemäßigten Realismus mit der Ansicht vericündet, daß alle sihn- 
lichen Qualitäten rein subjektiven, die mathematisch -physikalischen 
Eigenschaften aber realen Bestand besäßen. Ja selbst die 
Passivität des Subjekts beim Zustandekommen der sinnlichen 
Wahrnehmung, dieses ständige Element jedes extremen Realismus, 
war schon in dem erkenntnistheoretischen Apergu eines Prota- 
goras und Empedokles von der „Gegenbewegung im Subjekt" 
durchbrochen worden. In welchem Grade diese Richtungen einem 
Manne wie Sextus vertraut waren, welchen Einfluß Demokrit 
und die Sophisten auf die Begründer des Skeptizismus geübt haben, 
ist bekannt. Auch ist es merkwürdig, wie Sextus, wo er auf die 
Erkenntnislehre Demokrits oder der Cyrenaiker zu sprechen 
kommt, gelegentlich eine extrem -idealistische oder gemäßigt -rea- 
listische Bemerkung unterfließen läßt, gewissermaßen gegen seine 
Absicht, mit fortgerissen von der Anschauungsart dieser Mannen 
Und trotzdem hält er hartnäckig an seinem Standpunkt fest. Wie 
ist dies bei dem hohen Grad von Kritik, welcher diesem Skep- 
tiker wie seinen Vorgängern im einzelnen eignet, zu verstehen? 
Nur so, daß diese Männer die dunkle Ahnung gehabt haben mögen, 
daß ihr totaler Skeptizismus einzig auf dem Boden eines totalen 
Realismus erblühen könne. Nun wäre es ja ßir einen Philosophen 
ein übler Grund, an gewissen Voraussetzungen nur darum fest- 
zuhalten, um zu bestimmten Ergebnissen gelangen zu können. 
Einen Irrtum aufzugeben, wenn man ihn eingesehen, hat seit je 
als die Tugend des theoretischen Erkennens gegolten. Und in 
der Tat wäre das (man möchte sagen) krampfhafte Festhalten an 
den naiv -realistischen Voraussetzungen bei einer so kritischen 
Richtung unverständlich, wären überhaupt theoretische und nicht 
in erster Linie praktische Motive die treibenden in dieser Philo- 
sophie gewesen. Die cipxf\ der Skepsis aber war das Bestreben, die 
Ataraxie, die Apathie, und dadurch die Eudaimonie zu erlangen; 
und Mittel dazu war das philosophische Ergebnis einer vorläufigen 
Unmöglichkeit des Erkennens. Wo aber ethische Beweggründe, zu- 
mal in ethisch intensiv empfindenden Epochen oder Individuen die 
Führung des Philosophierens übernehmen, da erscheint eine Trübung 
auch des scharfsinnigsten Verstandes auf bestimmten Punkten nicht 
mehr wunderbar, mag derselbe nun einem antik en Skeptiker oder 
einem Kant, Schopenhauer, Nietzsche zu eigen sein. 

So sehen wir die scheinbar freieste, unabhängigste und kritischste 
Philosophie des Altertums auf naiv -dogmatischen Voraussetzungen 



220 Erster Absdmitt Die griedüsche Skepsis. 

fußen, welche in gewissem Sinne unter dem erkenntnistheoretischen 
Niveau andrer Denker ihrer Zeit geblieben sind. Aber nur auf 
dieser Basis ließen sich die skeptischen Ergebnisse mit solcher 
Wucht entwickeln, wie es ein Teil der Menschheit in der müden, 
verfallenden Welt damals bedurfte. Wissenschafitlich wertvoll bleibt 
der pyrrhonische Skeptizismus trotz dieser Rückständigkeit Denn 
durch ihn wurde eigentlich der extrem -realistische Standpunkt in 
der Erkenntnistheorie , den er sich selbst zur Voraussetzung wählte, 
zu Tode getroffen; mögen andre Denker des Altertums schon teil- 
weise diesen Standpunkt verlassen haben, seine Selbstaufhebung 
erfuhr er erst dadurch, daß die Pyrrhoniker mit unerbittlicher 
Kritik seine letzten Konsequenzen zogen — die skeptischen. In- 
dem diese Männer aus einer Form des naiven erkenntnistheore- 
tischen Dogmatismus kritisch den Skeptizismus entwickelten, machten 
sie die Bahn frei für andre positive Formen, die nun nicht als 
Voraussetzungen angenommen, sondern als Ergebnisse erarbeitet 
wurden, und welche den skeptischen Folgerungen entgingen. In 
der Tat hat die in der neueren Zeit frisch erblühende Erkenntnis- 
theorie in ihren klassischen Vertretern wohl nie wieder auf den 
extremen Realismus zurückgegriffen. Sie suchte neue Positionen, 
welche den gefährlichen Folgerungen der Skepsis nicht verfallen 
konnten, zum Teil ausdrücklich in Hinblick auf diesen Vorteil 
Noch heute ringen diese Richtungen um die Herrschaft; der extreme 
Realismus dagegen, die Voraussetzung des Pyrrhonismus, darf für 
die Wissenschaft als überwunden gelten. 



Es erübrigt noch zum letzten Tropus: von dem Wider- 
streit der Meinungen auf allen Gebieten, ein paar kritische 
Bemerkungen zu machen. Dieser Tropus greift, obwohl seine 
Zugehörigkeit zu den Aenesidemschen Weisen von vornherein 
das Gegenteil vermuten ließ, weit über die Polemik gegen das 
sinnliche Erkennen hinaus. Er richtet sich gegen die Möglichkeit 
jedweder Erkenntnis, und nur sein Platz in der Darstellung 
im vorigen Kapitel — durch Aenesidem, nicht von der Sache 
vorgeschrieben — fordert auch die Beurteilung an dieser Stelle. 

Der zehnte Tropus beruht auf einer Erwägung, deren prak- 
tische und theoretische Bedeutung in gar seltsamem Gegensatz zu- 
einander stehen. Praktisch ist er vielleicht der wirksamste 
aller skeptischen Gedanken gewesen, theoretisch ist er 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 221 

— deren schwächster. Die Gründe dafür sind nicht weit her- 
zuholen. Die praktische Wirkung einer Einsicht mißt sich an dem 
Grade, in dem diese auf unser Gemüt, auf unser Wollen und Fühlen, 
auf den Kern unserer Persönlichkeit Einfluß gewinnt. Und da muß 
man allerdings sagen: es braucht jemand noch kein zaghafler Geist 
zu sein, um hoffnungslos zusammenzusinken vor den überwältigen- 
den Massen von Meinungswidersprüchen, die sich überall vor ihm 
auftürmen; besonders hoch, wo um die Lösung der für unser 
Weltbild entscheidendsten Fragen gekämpft wird (nämlich der 
spezifisch philosophischen und der Grenzfragen der Einzelwissen- 
schaften); besonders hoch auch, wo gerade die berufensten, näm- 
lich die bedeutendsten Köpfe sich an diesem Kampf beteiligen. 
Denn unentrinnbar kommt die Überzeugung über ihn: der Ein- 
zelne — sei er auch noch so groß — ist nicht imstande, eine 
phUosophische Gewißheit, eine theoretisch sichere Erkenntnis vom 
Wesen der Welt, des Menschen, des Lebens zu gewinnen. Das 
gilt heute noch so gut wie vor zweitausend Jahren. Aber mag 
der tpoTCog ix Staipoaviag aus psychologisch noch so verständlichen 
Ursachen im Einzelnen tiefste Niedergeschlagenheit erzeugen, ihm 
die quälendsten Zweifel an der Möglichkeit einer Erkenntnis auf 
allen sein Inneres bewegenden Fragen eingeben und so den ernst- 
zunehmenden Stimmungskeptizismus hervorrufen — nimmer- 
mehr kann er die grundsätzliche Unmöglichkeit der Erkenntnis 
für den von Zeit und Ort unabhängigen Menschengeist beweisen. 
Denn wo einst Widerspruch herrschte, besteht heute Einigkeit; 
(etwa in der Frage nach der Konstanz der Arten); und wo heute 
noch Widerspruch besteht, dessen Umfang wir weder leugnen noch 
herabstimmen wollen, wird oder kann doch einst Einigkeit herrschen. 
Nur eine Erschütterung der Erkenntnisprinzipien selbst, nicht ein 
Aufzeigen von zurzeit bestehenden Mängeln in ihrer Anwendung, 
ist ein emstzunehmendes Argument für den philosophischen Skep- 
tizismus, wenigstens für denjenigen Begriff desselben, welcher 
diesen Untersuchungen zugrunde liegen sollte (vgl. S. XVIII). Übrigens 
mag hier, wie auch sonst, eine Erscheinung, die dem Einzelnen 
zum Leidensbome wird, für die Entwicklung und Ökonomie des 
Ganzen von unabsehbarem Nutzen sein. Mit Recht bemerkt 
daher Hegel imter diesem Gesichtspunkte, daß die Kategorie 
der Verschiedenheit eine sehr kahle und Verschiedenheit der 
Ansichten in grundsätzlichen Fragen nicht „ein trockenes Ist" sei, 
sondern wesentlich Prozeß. Damit meinte er, daß diese Ver- 



222 Erster AbscbnitU Die griechische Skepds. 

schiedenheiten nicht beziehungslos gegeneinander stehen, sondern 
daß die heterogenen Philosophien die gleichen Dinge unter andern 
Gesichtswinkeln beleuchten, den Reichtum ihrer Eigenschaften da- 
durch erst entdecken, am Ende aber eine Versöhnung der Wider- 
sprüche und dadurch eine Erkenntnishöhe möglich machen, die 
ohne die Stufen dieser Antithesen niemals hätte erklommen werden 
können. Inwieweit aber diese oder auch eine nüchternere Ansicht 
von der Möglichkeit zukünftiger Erkenntnis den Stimmungskepti- 
zismus im Individuum aufzuheben vermag, das hängt in erster 
Linie davon ab, inwieweit das Individuum sich und sein Glück, 
inwieweit es die Wahrheit und deren Beförderung liebt, ob es im- 
stande ist, auch seine Stimmungen nicht über dem eigenen Er- 
kenntnisglück, sondern über der Ansicht auf zukünftigen Erkennt- 
nisfortschritt aufzubauen, aus unpersönlichen Gründen persönliche 
Leiden zu überwinden und so neue Hoffnungen zu schöpfen. 

m. IHe raüoiiale Skepsis. 

Wir fahren in der Beurteilung der skeptischen Theorien fort 
und gelangen zur Kritik der Angriffe auf das vernünftige Er« 
kennen (im Gegensatz zur sinnlichen Wahmehmimg). Gelingt es 
nicht, diese Angriffe abzuschlagen, so schweben auch alle unsre 
Versuche, die Leistungsfähigkeit der sinnlichen Erkenntnis der 
Skepsis gegenüber zu retten, haltios in der Luft. Denn nur unter 
der Annahme von der Gültigkeit der logischen Operationen ließ 
sich durch das Medium der Sinne von den Dingen irgend etwas 
erkennen. 

Aber eben diese Gültigkeit bestreitet die Skepsis; und sie 
bestreitet sie für alle Teile des vernünftigen Erkennens. Folgt 
hier die Beurteilung, wie billig, den Pfaden der Darstellung, so 
hat sie sich zunächst mit der skeptischen Mißachtung der Begriffe 
auseinanderzusetzen. 

Hier ist nun mehr die Unvollständigkeit in den Aussagen als 
die Fehlerhaftigkeit derselben hervorzuheben. Denn das eigent- 
Kche Ziel der Skepsis: die reale und objektive Ungültigkeit der 
Gattungsbegriffe darzutun, kann als erreicht angesehen werden. 
Wir erkennen durch dieselben keinerlei unabhängig von unsem 
willkürlichen Gedankenbildungen vorhandene Dinge ^ die diesen 
Begriffen entsprächen, weil es solche Dinge — überhaupt nicht gibt. 

In allen Abschnitten der Geschichte hat sich der Kampf um 
diese These wiederholt; immer wieder sind die drei monumentalen 



Drittes KapiteL Die Kritik des griechischen Skeptirismus. 223 

Standpunkte, wie sie die Antike grundsätzlich ausgebildet hatte» 
in diesem Kampf offen oder verhüllt zutage getreten. Im Alter- 
tum hatte Plato in großartiger Einseitigkeit die Gegenstände der 
Allgemeinbegriffe ein selbständiges Dasein fuhren lassen, als „Ideen" 
in einer transzendenten Welt — alle Versuche , an dieser grotesken 
Tatsache etwas ändern zu wollen, sind gescheitert Der Mensch 
erkennt diese real -transzendenten Objekte, die Idee des Holzes, 
des Dreiecks, der Schönheit vermöge der Begriffe, die er a priori 
aus seiner früheren Heimat, dem jenseitigen Reich, mit auf die 
Welt bringt; beim denkenden Betrachten der Einzeldinge dämmert 
die Erinnerung an das einst Geschaute wieder auf, und die „Idee" 
wird im Begriff erfaßt. Aristoteles hatte den Begriffen jede 
transzendent -reale Geltung geraubt, um ihnen — eine immanent - 
reale zu erteilen. Gegenstand des Begriffs ist das Wesen der 
Einzeldinge, die „Form", der „Zweck" derselben; es existiert real 
nur in den Dingen, aber als der wichtigere Teil derselben, als ihr 
a priori dem Werte nach. Erkannt wird dieses Wesen durch die 
Beobachtung imd Erforschung des Einzelnen (auf induktivem oder 
deduktivem Wege), aus der sich der Begriff nicht als ein in uns 
liegender, sondern als ein erworbener aufbaut. Die Stoiker 
endlich ließen den Allgemeinbegriffen gar keinen Realitätswert 
außerhalb des menschlichen Geistes, und sahen in ihnen nur späte 
Abstraktionsprodukte des Denkens, nichts Real- Objektives, nur 
Ideal -subjektives, avvnapHta, — Im Mittelalter wird das 
gleiche Problem im sogenannten Universalienstreit eingehend be- 
handelt und von den nämlichen drei Seiten aus beleuchtet. 
Männer wie Anselm von Canterbury und Scotus Eriugena halten 
an der platonischen Auffassung von der realen Präexistenz der 
„Ideen" fest: universalia sunt ante rem; während die Klassiker der 
Scholastik, Thomas von Aquino, Alexander von Haies, Albertus 
Magnus, natürlich des Aristoteles Spuren folgend, aber geschickt 
die gegnerischen Ansichten zu sich hinüberziehend, behaupten: die 
Universalia existieren real nur in den Einzeldingen, vor denselben 
als Schöpfungsgedanken Gottes, nach denselben im abstrahierenden 
Bewußtsein des Menschen. Die Herabsetzung der Allgemeinbegriffe 
zu bloßen Namen endlich geschieht durch die Vertreter des 
Nominalismus, Roscellin, Occam u. a. Und auch in der Art der 
Aneignung der Begriffe, in dem HQn- imd Herschwanken zwischen 
a priori und a posteriori, wiederholt sich der gleiche Gegensatz 
wie in der Gültigkeitsfrage. — Die Neuzeit aber sieht die großen 



224 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

rationalistischen Systematiker (mag man die Werke eines Des- 
cartes, Malebranche, der Cambridger Intellektualisten, Spinozas oder 
Leibniz' daraufhin durchgehen), trotz bedeutender Abweichungen 
in der Bestimmung der Begriffe und der Art ihres Zustande- 
kommens, im ganzen auf Seiten des scholastischen Realismus, 
während die empirischen Denker von Bacon bis Hume dem No- 
minalismus das Wort geredet haben. Die entscheidendsten Schläge 
gegen die objektive Gültigkeit der allgemeinen Begriffe wurden 
von Locke und Berkeley gefuhrt; von Locke durch den Nach- 
weis im einzelnen, daß keines dieser Gebilde vor der Erfahrung 
in uns liege, daß sie vielmehr alle nur Ergebnisse des (die ein- 
zelnen Erfahrungselemente) verbindenden, beziehenden, vergleichen- 
den Denkens seien, daß aber das Denken allen Stoff für seine 
Urteile über objektive Realität nicht aus sich, sondern nur aus der 
Wahrnehmung zu schöpfen habe. Berkeley, noch radikaler vor- 
gehend, bestritt nicht nur den a priorischen Ursprung, nicht 
nur die reale und objektive Gültigkeit der allgemeinen Begriffe, 
sondern deren Existenz in jedwedem Sinne. Da niemand imstande 
Ist, irgend einen allgemeinen Begriff sich vorzustellen, etwa den Be- 
griff eines Dreiecks, das weder recht- noch stumpf- noch spitzwinklig 
sei, so fuhren die allgemeinen Begriffe nur eine Ebdstenz in Worten, 
nicht einmal in Vorstellungen. Sie sind nicht nur objektiv, sie 
sind auch subjektiv unwirklich. Mit diesem Vernichtungsschlag 
war eigentlich die Frage nach der Existenz der allgemeinen Be- 
griffe erledigt, und nur in verschämter und verhüllter Gestalt wagen 
sie es, in Kants Lehre vom „Schematismus" als „Monogramme 
-der Einbildungskraft" fast als Gespenster wieder zu erscheinen. 
Da versuchte sie endlich noch einmal Schopenhauer zu neuem 
Leben zu erwecken: die platonischen Ideen treten als eine meta- 
physische Realität 2. Grades bei ihm auf, als Objektivationsstufen 
des Willens, schwebend zwischen dem zeit- und raumlosen ur- 
einen Ding an sich und der Fülle der räumlich -zeitlichen Er- 
scheinungsweisen, — als räum- und zeitlose Vielheit. Schopen- 
hauers Auffassung nimmt somit eine sonderbare Mittelstellung 
zwischen der Platonischen und der Aristotelischen Lehre ein. Er- 
kannt aber werden die Gattungsrealitäten nicht durch den abstrakten 
Begriff, sondern durch die künstlerische Intuition. Seitdem hat sich 
wohl die überwältigende Mehrheit der wissenschaftlichen Philo- 
sophen auf die Seite der Antirealisten (in scholastischer Termi- 
nologie geredet) geschlagen. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 225 

In diesem Jahrtausende währenden Streite sind die Nomi> 
nalisten die Sieger geblieben. Wir haben hier eines der wenigen 
philosophischen Probleme vor uns, das man ohne Übertreibung 
als erledigt bezeichnen darf. Da sich natürlich im Lauf der Ge- 
schichte eine Menge andersartiger Fragen mit ihm verwoben und 
seinen Kern verhiillt haben, gilt es, dasselbe noch einmal inner- 
halb seiner eigentlichen Grenzen genau zu fixieren. Es handelt 
sich um die Frage, ob den allgemeinen Begriffen, unabhängig 
davon, daß sie einen willkürlich^^ gebildeten Bewußtseinsinhalt 
des Subjekts ausmachen, eine eigene Wirklichkeit zuzuschreiben 
ist. Dabei sind unter den allgemeinen Begriffen nur die Gattungs- 
begriffe zu verstehen, d. h. also inhaltlich erfüllte Begriffe, 
die vielen erfahrbaren Einzeldingen gemeinsame Eigenschaften in 
sich enthalten; also etwa die Gattungsbegriffe Baum, Mensch, Pferd, 
die allen Bäumen, Menschen, Pferden gemeinsame Qualitäten in sich 
bergen. Ganz unberührt von dieser Frage aber bleibt der Wirk- 
lichkeitswert formaler Verstandeskategorien, die Kant bekannter- 
weise gleichfalls mit dem Ausdruck „Begriff" belegt hat, und 
welche Funktionen des Subjekts sind, die durch eine schöpferische 
Synthese des Bewußtseins den Stoff der sinnlichen Empfindungen 
zur Einheit des Gegenstandes binden. Ob in mir solche Funk- 
tionen vorhanden sind, durch welche mein Geist das Nebenein- 
wder von Weißempfindungen zur einheitlichen Vorstellung „weiße 
Linie" zusammenfaßt, und welcher Wirklichkeitswert diesen Pro- 
dukten des verbindenden Denkens dann zukommt, das hat mit 
dem Problem, welcher Wirklichkeitswert der Weiße oder der 
linie als Gattung aller einzelnen Weiße und Linien unabhängig 
von ihrem willkürlich gebildeten Begriff zukommt, kaum einen Be- 
rührungspunkt. Die erste Frage muß hier um so mehr unberück- 
sichtigt bleiben, als weder die Verteidiger des Objektivitätswerts 
allgemeiner Begriffe noch ihre skeptischen Gegner, deren Lehren 
rnisre Untersuchung gilt, wohl jemals dabei an die Wirklichkeits- 
oder Unwirklichkeitsgeltung rein formaler Synthesen gedacht haben, 
die apriorische Voraussetzungen jeder einzelnen Dingvorstellung 
sein sollen; sondern stets nur an den Wirklichkeits- oderUnwirk- 
Uchkeitswert inhaltlich erfüllter Gattimgsvorstellungen, welche Teile 
der Einzeldingvorstellungen irgendwie in sich bergen. Innerhalb 
dieser Auffassung machen sich vorzugsweise zwei Richtungen 
geltend, deren Gegensatz in dem Widerstreit zwischen der Pla- 
tonischen und der AristotelischenErkenntnistheorie bereits vorgebildet 

Richter, Skeptinsmitt. 1$ 



22b EMor Abschnitt Die criedusche Skepds. 

ist. Man kann sie als die periphere und als die zentrale Auf- 
fassung bezeichnen. Nach der einen — Sokrates-Plato sind ihre 
Schopfer — erscheinen die Gattungen vorzugsweise als die Sphären 
der unter sie b^riffenen Einzeldinge ; die Gattungen enthalten das 
Generelle. (Der Baum also setzt sich aus den gemeinsamen 
Eigenschaften der Einzelbäume zusammen; er hat Wurzeln, Stamm, 
Blätter; wächst, vergeht usw.). Nach des Aristoteles und seiner 
Nachfolger un^eich tieferer Deutung aber ist die Gattung der 
Quellpunkt, welcher das Wesen (to tt ijr elrat) der einzelnen 
Arten darstellt; die Gattung ist das Essentielle. (Der Baum 
also enthielte die physiologischen Merkmale, die zum Wachsen, 
Wurzeln schlagen. Blühen, Welken usw. erforderlich sind.) Beide 
Sorten von Gattungsbegriffen nun sind durch unser ab- 
strahierendes Denken gebildete Vorstellungen und weiter 
nichts. Die Schwierigkeiten, ihnen ein andres Dasein zuzuschreiben, 
hatte die Skepsis scharfsinnig bei beiden der Reihe nach hervor- 
gehoben. 

Aber zu diesen Schwierigkeiten treten als zwingende Gegen- 
instanzen gegen ein solches Dasein vor allem: die Genese dieser 
Begriffe und die Oberflüssigkeit wirklicher Gattungen. Der 
periphere, zugleich der populäre Gattungsbegriff, kommt dadurch 
zustande, daß ich die besondem Eigenschaften einzelner Dinge, 
z. B. der Rosen, fallen lasse, die Art ihrer Farbe, ihres Duftes, 
ihrer GröfSe, und auf die gemeinsamen (Blühen im Sommer, all- 
gemeine Form, gewisse Grenzen der Größe usw.) reflektiere. Der 
zentrale, zugleich der wissenschaftliche Gattungsbegriff, wird ge- 
bildet, indem ich, weniger auf der Oberfläche haften bleibend, 
mehr in die Tiefe dringe, im übrigen aber die nämliche Operation 
des Absehens von einigen, des Reflektierens auf andre Eigen- 
schaften vollziehe; — unter dem Gesichtspunkt, nicht so sehr die 
generellen und individuellen, sondern die essentiellen und acd- 
dentellen Qualitäten voneinander abzusondern; also diejenigen 
E^enschaften ausfindig zu machen, mit deren Vorhandensein die 
Existenz einer Rose, welcher Art auch immer, gesetzt ist Vor- 
läufig, in unserm Beispiel, ein noch unerreichtes Desiderat, ist doch 
die physiologische Botanik grundsätzlich darauf aus, die Gattung 
„Rose" auf diese Weise in einer chemischen Formel zu be- 
greifen. Die ganze Rolle, die unser Denken dabei spielt, läßt e& 
von vornherein als ausgeschlossen erscheinen, den Gattungen noch 
eine andre Existenz neben ihren Begriffen zu belassen« Bringt es 



Drittes Kapitd. Die Kritik der griechischeii Skepsis. 227 

doch nicht einmal das Bewußtsein fertig, ihnen als einheitlicher 
GegenstandsTorstellung innerhalb seiner selbst ein Dasein zu 
verschaffen. Daß die peripheren Gattungsbegriffe als gegen- 
ständliche Vorstellungen von unserm Geist nicht erfaßt werden» 
sondern zunächst nur ein Wort enthalten, zu dessen Interpretation 
beliebige einzelne Vorstellungen als Dlustrationen und Reprä- 
sentationen, aber niemals als adaequate und erschöpfende „Mono- 
gramme der Einbildungskraft*' herangezogen werden können, hat 
Berkeley wohl f&r inmier dargetan. Die zentral gebildeten Gattungs- 
begriffe aber teilen diese Art von Unvorstellbarkeit, weil der wissen- 
schaftliche Begriff einer Gattung von Einzeldingen« der das not- 
wendig aneinander Gebundene, wenn möglich in einer mathematisch - 
ph3rsikalischen Formel, festzuhalten sucht, grundsätzlich von den 
sinnlichen Empfindungsbestandteilen absieht; dadurch aber wird 
der Begriff wiederum von jedem gegenständlichen Vorstellen aus- 
geschlossen und ganz in das Reich des Gedankens, besser noch 
des Denkens verwiesen. Denn etwas Unsinnliches ist wohl denk- 
bar, aber nicht im obigen Sinne vorstellbar. So sind die All- 
gemeinbegriffe bloße Formeln, Denkakte, nicht Bewußtseins- 
inhalte. Mit dieser Unvorstellbarkeit wäre die Wirklichkeitsfrage 
ftkr den extremen Idealisten, dem einzig die sinnliche, gegebene 
Empfindung das Kriterium für alle Wirklichkeit ist (vgl. S. 190), 
erledigt Aber — so könnte man entgegnen — der gemäßigte 
Realist gestand ja auch den gegenständlich unvorstellbaren und 
nur begrifflich denkbaren, mathematisch -physikalischen Konstella- 
tionen gegenständliche Realität zu (vgl. S. 172). Warum sollte das 
nämliche nicht auch mit den nur denkbaren Gattungsbegriffen der 
Fall sein? Dieser Einwand übersieht, daß zur Annahme objektiver 
Wirklichkeit nicht jeder beliebige, begriffliche Gedanke genügt, 
sondern zwingende Veranlassungen vorliegen müssen. Dieser Zwang 
war in dem Passivitätsgefühl oder dem Wirklichkeitsbewußtsein 
gegeben, das die unmittelbaren sinnlichen Wahmehmimgen be- 
gleitete. Hier lag das Motiv, das den Realisten trieb, den einzelnen 
Wahrnehmungen solange realen Gültigkeitswert zuzuschreiben, als 
keine Widersprüche daraus entstehen würden. Um solchen zu 
entgehen, sah er sich später gezwungen, die sinnlichen Qualitäten 
ins Subjekt zurückzunehmen, und die allerdings nur begrifflich 
faßbaren Eigenschaften reiner Raum-, Zeit- und Massen Verhält- 
nisse nicht wegen, sondern trotz ihrer (in ihrer Isolation) unsinnlichen 
und rein gedanklichen Merkmale dem Objekt als reale Eigenschaften 

IS* 



228 Enter Abschnitt Die griedüsche Skepais. 

und als Rest seiner kritischen Analyse zu belassen. In unserm 
Falle aber liegt nicht der geringste Zwang vor, den Gattungs- 
begriffen Wirklichkeitswert zuzugestehen. Denn sie stammen ja 
in keinem ihrer Teile unmittelbar aus der sinnlichen Wahr- 
nehmung, und führen weder ein Passivitätsgefühl noch ein ursprüng- 
liches Wirklichkeitsbewußtsein mit sich. Insoweit sie aber mittelbar 
auf unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen fußen, da sie aus 
solchen zu unsinnlichen Gebilden abstrahiert sind, ist dem Wiric- 
lichkeitsbedürfiois mit der Objektivität eben dieser einzelnen Dinge, 
als den Gegenständen der Wahrnehmungen, Genüge getan. Der 
Ursprung der Allgemeinbegrüfe gibt also in keiner Weise Anlaß, 
sie aus der Sphäre des Bewußtseins hinaus zu projizieren. 

Dazu könnte man sich nun trotzdem bewogen fühlen, wenn 
etwa die Wirklichkeit von Gattungen, hypothetisch angenommen, 
wenigstens den Zusammenhang der Einzeldinge irgendwie verständ- 
licher machte oder zu deren Erklärung etwas beitrüge. Aber ein 
Hinweis auf die Naturwissenschaften, denen ja die Durchleuchtung 
der physischen Wirklichkeit, ein Hinweis auf die Psychologie, der 
die Durchleuchtung der psychischen Wirklichkeit zugefallen ist, 
belehren uns, daß dem ganz und gar nicht so ist. Der Physiker 
bedarf ebensowenig der Annahme, daß die Anziehungskraft un- 
abhängig von den einzelnen Massenteilchen besteht, zu deren 
Eigenschaften sie gehört, wie der Psychologe der Annahme be- 
darf, daß das Wollen unabhängig von den einzelnen Willensakten 
existiert. Und in der organischen Natur, im Pflanzen- und Tier- 
reich, wo die Gattungen und Arten auf den ersten Blick ein be- 
sonders selbständiges Dasein zu führen schienen, ist selbst ihr 
begrifflicher und klassifikatorischer Wert durch die Einsicht be- 
deutend herabgemindert worden, daß die absolute Konstanz der 
Arten sich nicht aufrechterhalten läßt und an der Stelle unüber- 
steigbarer Barrieren zwischen Pflanze, Tier und Mensch und noch 
mehr zwischen deren einzelnen Genera in Wahrheit nur flieltende 
Grenzen bestehen. Damit wäre die Objektivität von Gattungen, 
schon durch den Ursprung der Gattungsbegriffe höchst unwahr- 
scheinlich gemacht, auch in ihrer Anwendung als etwas völlig 
Überflüssiges dargetan. Aber der Satz: entia praeter ne- 
cissitatem non sunt multiplicanda hat auch heute noch seine 
Gültigkeit. 

Da nun die Begriffe die emzigen Elemente sind, durch die 
wir im Bereich der Vemunfterkenntnis wirkliche Gegenstände und 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griediiachen Skepsis. 229 

deren Beschaffenheiten unabhängig von der sinnlichen Wahr* 
nehmung allenfalls hätten erkennen können, so folgt daraus: 

1. daß die Vernunft allein niemals Gegenstände zu erkennen 
imstande ist; 

2. daß, fialls der Skepsis ihr Angriff auf die sinnliche Wahr- 
nehmung gelungen, und auch dies Mittel, Dinge zu erkennen, 
ausscheidet, eine Erkenntnis der Wirklichkeit überhaupt un- 
möglich ist 

Da wir aber nur die erste These der Skepsis unbedingt zu- 
geben, die Prämissen der zweiten aber ebenso unbedingt bestreiten, 
so erhebt sich noch die Frage : tragen die allgemehien Begriffe zur 
Erkenntnis der Dinge nicht doch irgend etwas bei? Obwohl die 
Gattungsbegriffe keine wirklichen Dinge unmittelbar erkennen, da 
es kein Wirkliches gibt, das ihnen entspricht, sind sie doch darin von 
schwer zu überschätzendem Nutzen: das ihnen nicht entsprechende 
Reich der Realität und der Wirklichkeit, das Reich der einzelnen 
Dinge kennen zu lernen und zu überschauen. Zwar erkennen wir das 
einzelne Ding (Lafrance-Rose, Eichbaum) in seinen realen imd ob- 
jektiven Eigenschaften durch die sinnliche Wahrnehmung und deren 
vernünftige Deutung (wobei die Gültigkeit der logischen Operationen, 
die immer noch Voraussetzung bleibt, bald gesichertes Ergebnis 
sein wird). Aber die nähere Kenntnis der Dinge, das Sichzurecht- 
ünden in ihnen und ihrem Zusammenhang wird durch die Gattungs- 
begriffe indirekt ungemein gefordert und erleichtert. Schon die 
gewöhnlichen Begriffsbildungen des alltäglichen Lebens können 
uns davon überzeugen. Die rohen und oberflächlichen Vergleichungen, 
auf denen des Kindes Gattungsbegriffe fußen, sind bereits mäch- 
tige Erkenntnisvehikel in der geistigen Entwicklung. Solange das 
Wort Pferd dem Kinde nur ein Lautzeichen für eine einzelne Vor- 
stellimg ist, etwa für das Holzpferd, das es besitzt, „erkennt" es 
durch dieses Wortsymbol gar wenig. Hat es aber einmal erst 
den Kreis seiner Pferdvorstellungen zu einer Art Gattungsbegriff, 
natürlich noch ohne bewußt -logische Reflexion, erweitert, d. h. hat 
es in das Wort Pferd , durch die Ähnlichkeit mit den Formen seines 
Holzpferdes aufmerksam gemacht, auch die Bezeichnung für viele 
andre Pferdeexemplare aufgenommen, so hat es zur Beantwortung 
der skeptischen Frage: wie sind die Dinge beschaffen? in zwei- 
facher Richtung einen großen Schritt vorwärts getan. Denn einmal 
hat es Ordnung in einen kleinen Teil seiner Vorstellungswelt ge- 
bracht, durch die Unterordnung einer Menge von Einzelvor- 



230 Enter Abidmitt Die {riediiidie Skepdt. 

Stellungen unter eine Formel, die zwar im kindlichen Bewußtsein noch 
ohne Definition, doch einer Klammer gleich, die einzelnen Pferde- 
vorstellungen zusammenhält; und da diese Formel, zwar selbst ein 
Denkakt, kein Denkinhalt, dennoch sprachlich durch ein Symbol, 
das Wort Pferd, fixiert ist und überdies jederzeit durch einen be- 
stimmten Denkinhalt repräsentiert und illustriert werden kann (durch 
die reproduzierte Vorstellung eines einzelnen Pferdes), so wird 
sie bald zu einem festen Bestandteil des kindlichen Bewußtseins 
werden. Welchen Vorzug aber jede neue Ordnung und Gliederung 
im Chaos unsrer Bewußtseinswelt für die Erkenntnis der Dinge 
besitzt, das bedarf keiner Ausführung. Leuchtet es doch ein, 
daß jemand, der Gold-, Silber- und Papiergeld in verschiedenen 
Abteilen seines Portemonnaies zu tragen pflegt, beim 2^ahlen einer 
Rechnung weit schneller imd sicherer operiert als derjenige, der 
erst mühsam seine Baarschaft für jeden einzelnen Fall nach den 
nämlichen Prinzipien zu ordnen hat. — Der zweite Schritt betrifft 
nicht den allgemeinen formalen Vorteil, den eine ökonomische 
Gruppierung unsrer Vorstellungswelt für alles Erkennen abwirft, 
sondern die spezielle Erleichterung, welche die B^[riirsbQdung 
für die Neugewinnung von inhaltlichen Erkenntnissen leistet 
Es wird unser Kind z. B. jetzt mit ganz bestimmten Erwartungen 
an die einzelnen Dinge herantreten, die ihm pferdeähnlich zu 
sein scheinen, wird von vornherein glauben: daß auch das Pferd, 
das er nur im Stehen und laudos wahrgenommen hat, laufen und 
wiehern kann, und es wird sich eine Menge sonst nur durch zu- 
fällige Einzelerfahrungen zu erwerbende Erkenntnisse auf diese 
Weise, durch Anticipationen von den Begriffen aus, verschaffen. 
Sicherlich wird es mit diesen Anticipationen oft irren, wird z. B. 
glauben, daß alle Pferde, wie das Pferd im Stall seinen Vaters, 
sanft und fromm sind. Dann wird die Erfahrung, die es nun be- 
fragt, es eines besseren belehren und die Korrektur am Pferde- 
begriff wird die Folge sein. Aber der Begriff Pferd dient schon 
dem Kinde als „heuristisches Prinzip". Die Vorgänge in der kind- 
lichen Erkenntnis und die Rolle, welche der Begriff in ihnen spielt, 
wiederholen sich nun in zweiter imd dritter Potenz in dem ge- 
wöhnlichen Erkennen des erwachsenen Menschen und in den Er- 
kenntnisprozessen der Wissenschaft. 

Zwar erkennen wir auch hier durch den Begriff selbst keine 
neue Tatsächlichkeit, auch nicht einmal irgend etwas an den Einzel- 
dingen, aus denen wir den Begriff bilden und gewinnen; sondern 



Drittes Kapitel Die Kritik der griedÜKhen Skepfds. 23 1 

dieser Prozeß des Gewinnens und Bildens wird in seinen Ergeb- 
nisse! im Begriff deponiert: nämlich in den erkannten logischen 
Beziehungen der Einzeldinge zueinander. Die Begriffsbildung 
und -Gewinnung ist der eigentliche Erkenntnisakt, durch 
den ich Neues an den Dingen erkenne, nämlich ihre lo- 
gischen Beziehungen. Ob diesen Relationen irgend welche 
Realität unabhängig von unserm Bewußtsein zugestanden wird, ist 
eine weitere Frage, der die antike Skepsis nicht näher trat, die 
also nicht hierher gehört, und welche die verschiedenen Logiker 
und Erkenntnistheoretiker in verschiedenem Sinne entschieden haben. 
Die Allgemeinbegriffe selbst sind also keine Brillen, durch die 
man die Dinge besser erkennen könnte, sondern — Futterale, 
in denen man die durch das vergleichende und trennende Denken 
erarbeiteten genaueren Kenntnisse ihrer logischen Beziehungen auf- 
bewahrt. Aber der Besitz eines Systems solcher, untereinander 
nach Größe und Umfang geordneter Futterale ist für das wissen- 
schaftliche Denken eine unerläßliche Forderung. „Wir hätten ein 
verwirrendes Chaos von Einzelheiten, von Formen der Dinge und 
Vorgänge , welches festzuhalten keiner erinnernden Einbildungskraft 
gelänge, wenn sich das vergleichende und unterscheidende Denken 
nicht der Vielheit des Inhalts bemächtigte, hier Gleichheit und 
Ähnlichkeit zu erkennen, dort den Abstand der Unterschiede zu 
messen vermöchte. Erst wenn wir das Eine und Gemeinsame in 
dem Vielen herausfinden, scheiden, was in den räumlich und zeitlich 
getrennten Erscheinungen gleich, was in ihnen verschieden ist, 
wenn wir die Unterschiede abstufen und so den Inhalt derselben 
ordnen, wird die Wahrnehmung zur wirklichen Kenntnis, kann 
jedes einzelne in ein schon vorhandenes System von Vorstellungen 
eingereiht werden, die als Prädikate unserer Wahmehmungsurteile 
jede einzelne Erscheinung in eine feste und bleibende Vorstellung 
zu verwandeln gestatten. In ihrer idealen Vollendung gedacht, 
f&hrt diese Richtung zu einem allumfassenden System von 
Begriffen, in welchem der ganze Inhalt des Wahrgenommenen 
nach Gleichartigkeit und Verschiedenheit geordnet vorläge, zu einer 
das ganze Gebiet unsrer Wahrnehmungen umspannenden Klassi- 
fikation, der die feste sprachliche Bezeichnung, die wissenschaft- 
liche Terminologie Ausdruck gibt" (Sigwart.) — Aber damit ist die 
methodologisch wichtige Rolle der Gattungsbegriffe für unser 
Erkennen noch nicht erschöpft. Erschienen die Begriffe soeben als 
Standorte, um die Fülle des gegebenen Stoffs klarer zu über- 



232 Enter Abschnitt. Die griechiBche Skepsis. 

schauen und dadurch befähigt zu werden, denselben willkürlich 
zu Urteilen, Schlüssen und Beweisen zu verwenden, so ermöglichen 
sie es andrerseits, von diesen Standorten in ganz bestimmten 
Richtungen zum Einzelnen herabzusteigen und über dasselbe be- 
stimmte Voraussagen zu machen. War der Gattungsb^riif vorher 
von der induktiven Seite der Gewinnung her als ökonomische 
Zusammenfassung zahlreicher Beobachtungen vom höchsten Nutzen, 
so leistet er, von der deduktiven Seite seiner Anwendung be- 
trachtet, nicht minder gute Dienste. Wieviel neue Aufschlüsse 
über die Eigenschaften der Dinge verdankt nicht die Wissenschaft 
der hypothetischen Anwendung eines vorläufigen Gattungsbegriffs 
auf die einzelne Erscheinung. Wie oft verläuft nicht ihre Schluß- 
art also : die Gattung x zeigte bislang immer die Qualität y — sollte 
das Phänomen z, das in allen sonstigen Merkmalen der Gattung 
X zugehört, nicht auch die Qualität y aufweisen? Und die Be- 
obachtung, daraufhin angestellt, entdeckte eine bis dahin unbekannte 
Eigenschaft von z. Ein Beispiel mag beide Fälle erläutern: mein 
Bewußtsein richtet sich auf eine Gruppe bestimmter Phänomene 
(ein gesehenes Rot, Blau, Grün), die es als einander ähnliche er- 
faßt und deren gemeinsame Eigenschaften es in eine Formel 
zusanunenschließt, mit einem Wort (Farbe) belegt Das Wort 
und auch den B^rifT in rohen Umrissen erhalten wir in diesem 
Falle vom populären Bewußtsein und dessen Sprache geliefert 
Aber das analysierende wissenschaftliche Verfahren entdeckt bald Be- 
ziehungen der Ähnlichkeit zwischen Farben, Tönen, Geschmäcken u.a., 
und Beziehungen der Verschiedenheit zwischen diesen Elementen 
und etwa Gefühlen der Lust und Unlust; es trennt unter dem 
Begrifi der Empfindungen die einen gegen die andern ab. 
Die Empfindungen imd Gefühle zusammen werden wegen gemein- 
samer Merkmale als psychische Gebilde den psychischen Zu- 
sammenhängen gegenübergestellt, psychische Gebilde und Zu- 
sammenhänge gemeinsam machen den Begriff der Seele aus usw. 
Soll ich jetzt über irgend eine beliebige Frage ein Wissen erlangen, 
die nur irgendwie in Beziehung zu den psychologischen Problemen 
steht, z. B. über das Verhältnis von Leib und Seele zueinander — wie 
unentbehrlich ist mir dazu die Ordnung der psychischen Bestand- 
teile; wie unentbehrlich eine ebensolche Gliederung für den Körper 
(etwa die Bildung der Begriffe: Centralnervensystem, Blutumlauf, 
Sinnesorgane usw.) Wie schnell werden jetzt wenigstens die ein- 
schlägigen Untersuchungsgebiete festgestellt sein zur Klärung der 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 233 

Frage ; Untersuchung der Pulsveränderüngen bei Gefühlserregungen, 
der Sinnesorgane bei den Empfindungen. — Für den zweiten Fall, 
die heuristische Rolle des Begriffs betreffend, denke man sich etwa 
Newton folgende Erwägung in genialer Phantasie schauend, die 
wir nur in dürren, abstrakten Operationen hier wiedergeben: der 
Apfel fällt zur Erde; alle irdischen Körper werden vom Erdmittel- 
punkt angezogen; sollten nicht die gleichen physikalischen Eigen- 
schaften der Attraktion imd Repulsion, die gattimgsmäßig allen 
Körpern, also dem Begriff Körper, zuzukommen scheinen, auch 
den Himmelskörpern zu eigen sein? Unmittelbar beobachten können 
wir die Gravitation der Gestirne ja nicht; aber mittelbar können 
wir uns von der Wahrheit oder Unwahrheit dieser Erkenntnis über- 
zeugen, wenn wir das Wirken der Gravitation auch in den Ge- 
stirnen voraussetzen, und unter dieser Annahme ihre Bahnen be- 
rechnen. Das Ergebnis ist bekannt 

Somit lehrt uns eine kritische Prüfung der skeptischen Be- 
griffstheorie: Gattungsbegriffe erkennen keine ihnen adäquaten Ob- 
jekte, keine realen Gattungen — darin hat der Skeptiker recht. 
Aber Gattungsbegriffe sind hochwichtige methodologische Werk- 
zeuge, die Erkenntnis der wirklichen Einzeldinge zu erweitem imd 
zu vertiefea In formaler Hinsicht, indem sie, wie geistige Gelenke 
wirkend, die Bew^lichkeit des Denkens ungemein erleichtem; 
material, indem sie zur Auffindung neuer Eigenschaften an dem 
Einzelnen, das der Sphäre eines Begriffs irgendwie nahe liegt, an- 
leiten. Der Skeptiker, der diese Vorzüge leugnet, hat unrecht 



Die B^riffe sind das einzige Element im Bereich des ver- 
nünftigen Erkennens, durch das man wähnen kann, Dinge, d. h. 
hier: unabhängig vom willkürlichen Denken befindliche Objekte 
unmittelbar zu erkennen. Daß auch, die Begriffe tatsächlich nur 
logische Operationen, nicht feste Bewußtseinsinhalte sind, ließ sich 
übersehen. Bei den Vorgängen des Urteilens, Schließens, Be- 
weisens ist das unmöglich. Hier konnte eine skeptische Polemik 
ihren Angriff gegen die Ungültigkeit dieser Funktionen nur so 
fuhren, daß sie deren „Wahrheit" nicht in dem Sinne bestritt: im 
Urteil, Schluß und Beweis würden keine Objekte erkannt, sondern: 
Urteil, Schluß und Beweis seien in sich brüchige Werkzeuge, die 
auch zu keiner mittelbaren Kenntnis der Dinge etwas taugten. 

Das Problem der Erkenntnis von Dingen oder der objektiven 
Erkenntnis verliert der Pyrrhoniker niemals aus dem Auge. Daher 



234 Enter Abschnitt Die griediisdie Skepsis. 

kommt es ihm auch nicht bei, etwa die Verbindlichkeit der logischen 
Axiome als solcher ernsthaft zu bezweifeln. Daß A» A, A nicht 
— NonA, daß wenn A — B, B»C, A — C sein muß — das hätte 
auch Aenesidem inneiüch gewiß zugestanden; so gut wie er aus 
seiner Anerkenntnis der ipatyd/ura als unmittelbarer Erlebnisse 
kein Hehl machte. Wenn wir dennoch in den Schriften dieser 
Männer auf keine ausdrückliche Zustimmung zu der Verbindlichkdt 
der logisch -formalen Axiome trefTen, so ist wohl der Grund dafür 
ein dreifacher: Einmal waren diese Axiome noch nicht eindeutig 
herausgearbeitet worden. Dann tobte der Kampf zwischen den 
logischen Schulen der Zeit; peripatetische, epikureische, stoische 
Logiker bestritten einander die Richtigkeit in ihren Aufstellungen 
rein formaler Denknotwendigkeiten; es schien also doch, daß selbst 
die formellen Denknotwendigkeiten nicht ganz unbezweifelbar fest- 
standen! (In Wirklichkeit wurden die logischen Sätze entweder in 
komplizierte Verästelungen verfolgt und dadurch Irrtumsmöglich- 
keiten geschafTen, ähnlich den Irrtumsmöglichkeiten bei Berechnung 
mathematischer Gleichungen ; oder die formalen Axiome waren mit 
Inhalt erfüllt und dadurch bestreitbar geworden.) Endlich bestimmte 
der tief in der skeptischen Schule eingewurzelte Geist der Re- 
signation, ein trotz aller Beweglichkeit der jüngeren Skepsis nie 
ganz verlorenes Erbstück P3m-hos, das unmittelbare Evidenz- 
gefühl nur in der Passivität zu entdecken, und daher die 
Gleichwertigkeit in der Evidenz unsrer passiven inneren 
Erlebnisse und der aktiven logischen Operationen zu 
übersehen. Aber die Polemik, die sie im Vorübergehen ge- 
legentlich auch gegen die formalen Denknotwendigkeiten selbst 
führten, ist stets nur ein oberflächliches Geplänkel (von der Art 
des S. 67/68 angeführten), und nach dem auf S. 43 Gesagten für 
uns kaum in Betracht zu ziehen. Der positive Beweis für die 
Verbindlichkeit der logischen Normen, d. h. für die unbedingte 
Wahrheit aller nur in diesen Grenzen sich bewegenden, also in- 
haltlich nur hypothetisch erfüllten Sätze liegt in dem unmittelbar 
empfundenen, unausrottbaren Evidenzgefühl, das das letzte Kri- 
terium für die Wahrheit einer Aussage ausmacht und hier in leichtester 
Weise durch das Experiment von jedermann jederzeit bestätigt 
werden kann. Nur wer sein Überzeugungsgefühl auszurotten ver- 
mag, das sich an Aussagen von der Art haftet, wie: Sein (wenn es 
solches gibt) ist nicht Nichtsein (wenn es solches gibt) — nur der 
hat das Recht, die Verbindlichkeit der logischen Axiome zu bezweifeln. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 235 

Worauf es aber dem Pyniionismus ankam, und womit es 
ihm blutiger Ernst war, das ist genau das gleiche Problem, das 
für die moderne Erkenntnistheorie, der die formalen Axiome durch- 
aus a priori gesichert sind, in unverminderter Schwierigkeit auch 
heute noch besteht: inwieweit ist mit Hilfe der logischen Axiome 
auf Grund der sinnlichen Wahrnehmungen objektive Erkenntnis 
zu erzielen? Die Skepsis antwortete: überhaupt nicht Und ob- 
wohl sie imter objektiver Erkenntnis stets die Erkenntnis realer, 
l>ewußtseinunaUiängiger Dinge an sich versteht, sind diesmal ihre 
Angriffe um so gefährlicher, als ihre Waffen nicht mehr in der 
Schmiede des extremen Realismus, vielmehr jenseits von Realismus 
und Idealismus gehämmert sind. Jeder, der inhaltlicher Vernunft- 
aussagen bedarf, um objektive Erkenntnis zu gewinnen, muß den 
skeptischen Einwänden Rede und Antwort stehen. Diese Voraus- 
setzung aber trifft für alle irgendwie haltbaren erkenntnistheoretischen 
Positionen zu. Denn seitdem die Anschauung des extremen Rea- 
lismus wohl endgültig gestürzt ist, nach der die sinnlichen Wahr- 
nehmungen in ihrer Isolation die Beschaffenheiten bewußtseinunab- 
hängiger Dinge zu erkennen vermögen, bedienen sich gemäßigter 
Realismtis wie extremer Phänomenalismus gleichmäßig inhaltlicher 
Vemunftaussprüche zur Erforschung der objektiven Wirklichkeit. 
Für den gemäßigten Realismus leuchtet das (nach dem S. 172 
darüber Gesagten) von selber ein. Vom Berkeleyaner allerdings 
könnte man glauben, ihm genüge die sinnliche Wahrnehmung zur 
Erkenntnis der Dinge, da Ding und Wahrnehmung ja fär ihn aus- 
tauschbare Begriffe seien. Aber so sicher nach dessen Bekenntnis 
die sinnliche Wahrnehmung stets das Ding selber ist, so sicher 
bedarf auch er zur tieferen Erforschung dieser Wahrnehmungen 
oder Dinge — schon tun die konstanten Dinge als Objekte der 
Wissenschaft gegenüber den variablen Dingen des populären Be- 
wußtseins herauszufinden — gleichfalls der inhaltlichen Vemunfl- 
aussagen (vgl. S. 199/200). Vollends, wo es sich für den Realisten 
wie Idealisten nicht tun die objektive Erkenntnis eines Dinges, 
sondern von allgemeinen Wirklichkeitszusammenhängen handelt 
(bewußtseinunabhängiger oder - abhängiger Art) , da ist der eine wie 
der andre ohne die Hilfe der Vemunftoperationen gänzlich lahmgelegt 

Von der Bedeutung des eigentlichen Ziels in der skeptischen 
Bekämpfung aller Vemunflerwägungen also durchdrungen, müssen 
wir auch hier die Abwehr von Grund aus versuchen. Der 
Kern der rationalen Skepsis aber war folgender: Alles Urteilen 



236 Erster Abtchmtt Die griediische Skepas. 

muß, um als wahr zu überzeugen,. sich begründen lassen. Alles 
Begründen und Beweisen bedient sich des Schlußverfahrens. Dieses 
aber ist kein Organon, das dem objektiven Erkennen dient Denn 
sein Ziel: den Beweis von der Wahrheit eines Satzes zu liefern 
durch Reduktion ^^ dieses, in seiner Wahrheit zweifelhaften Satzes, 
auf andre, unbezweifelbar wahre Sätze ist grundsätzlich un- 
erreichbar. Der konzentrierte Extrakt dieser Polemik ist in den 
drei logischen Tropen (wie man sie nennen kann) enthalten: 
daß jeder Schluß, jeder Beweis, wie überhaupt jede Begründung 
in die Unendlichkeit hinausführe, oder bei einer Hypothese stehen 
bleibe oder sich im Zrkel drehe. Von diesen Einwänden gehören 
die beiden ersten ersichtlich eng zusammen. Sie sind die beiden 
Glieder einer Alternative: entweder ich muß von Begründung zu 
Begründung steigen, immer weiter ins Unendliche, oder ich 
mache bei einer unbegründeten Behauptung, also auch einer an- 
zuzweifelnden Behauptung Halt Wir werden gleich sehen, daß 
die Alternative von der griechischen Skepsis nicht so falsch, als 
schief gestellt ist. 

Zunächst behält die Skepsis den gewöhnlichen Begrün- 
dungen des alltäglichen Lebens gegenüber wieder recht. 
Wenn ich — um unser früheres Beispiel heranzuziehen — im All- 
tagleben das Urteil fäUe: die elektrischen Straßenbahnen sind eine 
wohltätige Einrichtung, und man fragt mich: Warum? d.h. nach 
der Begründung, so würde ich etwa antworten: weil sie den Ver- 
kehr erleichtem. Daß alle Verkehrserleichterungen wohltätige Ein- 
richtungen sind, nehme ich als ausgemacht dabei an. Ich bin mir 
für gewöhnlich nicht bewußt, weder, daß ich mit diesem Satz 
eine gewagte und wiederlegbare Hypothese ausspreche; noch daß 
ich wieder nach Begründung dieses Satzes, nach der Begründung 
dieser Begründung usw. gefragt werden könnte. Und doch ver- 
möchte ich diesen skeptischen Folgerungen, wenn sie mir ent- 
wickelt würden, nicht gut auszuweichen. Das liegt daran, daß im 
gewöhnlichen Leben die meisten Begründungen, die wir geben, 
nur provisorische sind, und auf strenge Beweiskraft keinen 
Anspruch erheben können. Doch nur wenig Menschen sind 
sich dessen bewußt, und die meisten halten ihre Alltagsbehaup- 
tungen als naive Dogmatiker für streng erwiesene Wahrheiten. 
Hier tut die Skepsis also ein gutes Werk, wenn sie uns alle 
aus der satten logischen Sicherheit und Selbstgefälligkeit energisch 
aufrüttelt 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Sicepsis. 237 

Ganz anders stellt sich der Fall, wenn man die Frage erhebt: 
behält die antike Skepsis prinzipiell. mit ihren Einwänden recht, 
abgesehen davon, daß im täglichen Leben oft Schlüsse und Be- 
gründungen als solche ausgegeben werden, die es nicht sind; ist 
das Schließen und Beweisen an sich und unter allen Um- 
ständen eine Unmöglichkeit? Die Skeptiker glaubten, diese 
Frage bejahen zu dürfen auf Grund des regressus in iniinitum oder 
der Hypothese, deren einem von beiden jeder Schluß notwendig 
verfalle. Demgegenüber ist zu sagen: ins Unendliche braucht man 
sich nicht hinaustreiben zu lassen, wenn man weiß, daß es aller- 
dings Sätze gibt, die zwar die Stütze aller Beweise, aber selbst 
keines Beweises fähig sind; und von dem skeptischen Argument; 
wenn du nicht ins Unendliche hinausgetrieben sein willst, so mußt 
du bei einem hypothetisch angenommenen, unbewiesenen Satz 
Halt machen, braucht man sich nicht einschüchtern zu lassen, 
wenn man weiß: daß gewisse unbeweisbare Sätze darum noch 
keineswegs „hypothetisch" sind, sondern genau so evident, wie 
.der strengst bewiesene Satz, ja die Träger von der Gewißheit 
aller Beweise. Deutlicher gesprochen: richtig ist an den logischen 
Tropen der Skeptiker, daß nicht jedes wahre Urteil sich beweisen 
lasse, falsch, daß diese unbeweisbaren Reste weniger überzeugend 
vdrken als das Bewiesene. Also zunächst ist es nicht richtig, daß 
jedes Urteil, um als wahr zu überzeugen, sich begründen lassen 
muß. Es gibt von selbst evidente, beweisunbedürftige Urteile. 
Das sind all die Urteile, die notwendig von dem imausrottbaren 
Wahrheitsgefühl im Bewußtsein aller normalen Menschen unmittd- 
bar begleitet werden. Solcher Sätze gibt es sogar eine ganze 
Menge; aber die Sphäre ihres Inhs^ts ist ebenso eng, wie die un^ 
mittelbare Gewißheit ihrer Wahrheit sicher ist. Die überwiegende 
Mehrzahl aUer Urteile aber, die im Leben wie in der Wissenschaft 
gefällt werden, ist nicht selbstevident, und kein erkenntnistheo- 
retischer Standpunkt vermag ihnen diese fehlende Selbstevidenz zu 
verschaffen. Bereits Urteile von der Art: daß Feuer Wasser loscht^ 
die ich etwa während eines Gardinenbrandes im Geiste fälle imd 
nach ihnen mein Handeln einrichte, sind nicht unmittelbar evident; 
ebensowenig das physikalische UrteU, daß alle Körper von der 
Wärme ausgedehnt werden. Die ganze Fülle solcher Urteile, ohne 
die ich in der Erkenntnis weder zu praktischem noch theoretischem 
Behuf einen Schritt vorwärts käme, muß, um in der Wahrheit 
gesichert zu sein, bewiesen werden. Nun ist das Ideal, daß jeder 



238 Enter Abadmitt. Die grieddsdie Skepsis. 

Schluß und Beweis erstrebt: den strittigen Satz zurOckzufÜhren 
auf absolut unstrittige, d. h« beweisunbedürftige Sätze. Denn Be- 
weisen und Schließen bedeutet im streng erkenntnistheoretischen 
Sinn: von der Wahrheit eines Satzes uns dadurch mittel- 
bar überzeugen, daß man ihn nach den logischen Axiomen 
aus Sätzen gewinnt, deren Wahrheit uns unmittelbar ge- 
wiß ist Unmittelbar gewisse Sätze sind Sätze, bei denen wir uns 
unmittelbar bewußt sind, daß sie sich mit allen Erfahrungstatsachen 
und Denkgesetzen im Einklang l>efinden; mittelbar gewisse Sätze 
sind Sätze, bei denen wir uns erst durch die Ableitung aus un- 
mittelbar gewissen Sätzen bewußt werden , daß sie mit allen Denk- 
gesetzen und Erfahrungen im Einklang sind. Denn es ist ein Ge- 
setz unsres Denkens, daß mit dem Grund die Folge gegeben ist, 
daß aus wahren Sätzen nur wahre Sätze folgen können, oder daß 
alle Sätze, die aus solchen folgen, die mit Denken und Erfahrung 
im Einklang sind, gleichfalls mit Denken und Erfahrung im Ein- 
klang stehen müssen. So endet kein logisch streng gültiger Schluß, 
wenn man ihn zur Quelle zurückverfolgt, in der Unendlichkeit, 
sondern in der Endlichkeit. Und zwar ist er daselbst in unmittel- 
bar einleuchtenden Gewißheiten verankert Denn alle inhaltlich 
erfüllten Sätze von etwas weiterem Umfang leuchten nicht von 
selber ein, müssen also auf jene obersten Grundwahrheiten zurück- 
geführt werden. 

Diesen Grundwahrheiten nun — so verschiedenartig ihre Be* 
Stimmung auch vorgenommen wird — sind sicher alle Ausss^en 
I. über unmittelbare innere Erlebnisse und 2. über die den 
Denkgesetzen konformen, rein formalen Beziehungen 
zwischen den Vorstellungen zuzurechnen. Die inneren Erlebnis- 
aussagen sind unmittelbar gewiß ; denn sie machen in logisch korrekter 
Form nur Aussage über uns unerschütterlich verbürgte Erfahrungen, 
müssen sich also mit allen Tatsachen imd Denkgesetzen im Einklang 
befinden; die formalen, rein logischen Beziehungssätze sind unmittel- 
bar gewiß, denn sie verlaufen konform den Denkgesetzen, ohne 
über Erfahrungen oder Tatsachen etwas zu behaupten, sind also 
wiederum notwendig mit beiden Bedingungen im Einklang. Erst 
eine logisch korrekte Aussage über nicht unmittelbar erlebte Er- 
fahrungstatsachen könnte mit der Erfahrung in Widerspruch geraten 
und also falsch sein (daher war die doppelte Beziehung auf Denken 
und Erfahrung in das Wahrheitskriterium notwendig aufzunehmen); 
während ein mit allen Erfahrungen im Einklang befindlicher Satz 



Drittes Kapitd. Die Elridk der griedusdien Skepsis. 239 

niemals den Denkgesetzen widersprechen kann, weil es antilogische 
Erfahrungen nicht gibt Die psychologische Probe auf die beweisun^ 
bedürftige Wahrheit solcher Sätze, d. h. auf das unmittelbare Evidenz* 
gefühl, ist jederzeit anzustellen. Die Erlebnisse selbst aber (ein 
Lustgefühl, eine Sinnesempfindung) als nackte Tatsachen und die 
Ic^ischen Axiome selbst (Satz der Identität usw.) als nackte Funk« 
tionen befinden sich zu Erfahrung und Denken in keiner „Be- 
ziehung*', sind vielmehr selbst Urerfahren und Urdenken und 
stehen daher jenseits von wahr und falsch. Erst die Aussage: 
„ich sehe blau, fühle hart 'S und Aussagen wie: „wenn alle Men- 
sehen sterblich sind und wenn Cajus ein Mensch ist, so ist Cajus 
sterblich" sind solch letzte unerschütterliche GewifUieiten, auf 
welche es die erschütterlichen zurückzuführen gilt, um auch diese 
— unerschütterlich zu machen. 3. Aussagen über allgemeine 
inhaltliche Denk- resp. Anschauungsnotwendigkeiten» 
wenn es solche geben sollte. Denn diese transzendenten denk« 
notwend^en Bedingungen jeder Erfahrung würden a priori mit 
allen Erfahrungen und Denl^esetzen im Einklang stehen. 4. Aus« 
sagen über allgemeinste Wertnotwendigkeiten (ethischer,, 
ästhetischer Art), wenn es solche gibt. Denn diese a prio« 
rischen Bedingungen aller Werte müßten notwend^ und von vorn- 
herein mit allen Werten, die in der Erfahrung auftauchen oder 
von mir beurteilt werden können, im Einklang stehen. Nach dem 
Warum? bei Aussagen dieser vier Kategorien zu fragen, eine 
Begründung ihrer Wahrheit zu verlangen, wäre ohne Sinn. 
Denn wahr sein und das beschriebene Wahrheitsgefühl erregea 
ist ein und dasselbe. Es gibt keine andre Wahrheit als die- 
jenige, die diesem Gefühl ihr Dasein verdankt Eine Wahrheit im 
Gegensatz zu oder unabhängig von diesem Gefühl ist ein hohles. 
Wort, eine Vorstellung, unter der clare et distincte sich nichts, 
denken läßt 

Auf die unter 2. aufgeführten rein formalen Beziehungssätze 
lassen sich ersichtlich niemals Urteile über die Wirklichkeit oder 
die Dinge zurückführen, obwohl der Akt des ZurückfÜhrens stets, 
an der Hand solcher Sätze geschieht Denn aus Prämissen, die 
nur über die Relationen von Gedanken etwas aussagen, sind ob- 
jektive Erkenntnisse nicht herzuleiten. So bleiben nur die unter 
I., 3. und 4. angeführten Stützpunkte allein übrig. 

Ließen sich nun die unmittelbaren Erlebnisse (ich sehe jetzt 
am Himmel einen BHtz; empfinde den Regen auf meiner Hand^ 



240 Enter Absdmitt Die griedüiche Skepsis. 

allein als Rückhalt für irgend welche Schlüsse verwenden, oder 
allenfalls gedeutet, verarbeitet und umgeformt durch die formalen 
logischen Axiome, so hätte die Skepsis diese Art des Schließens 
als wohlbegründet anerkennen müssen. Denn da sie die Wahrheit 
der Aussage über das einzelne individuelle Erlebnis {tb (patvofx^yw) 
nicht bestritt und auch die Gültigkeit der formalen logischen Axiome 
nirgends ernsthaft bekämpft hat, so hätte sie auch alles Schließen 
und Beweisen, ließe es sich auf ein solches logisch verarbeitetes 
Einzelerlebnis restlos zurückführen, unbeanstandet lassen müssen. 
Leider ist nun das Beweisen irgend eines Satzes durch un- 
mittelbare Einzelerlebnisse auch imter Anwendung der formalen 
Denknormen nicht möglich, oder, wo es das ist, für die Er- 
kenntnis vollständig — überflüssig. Zunächst im Bereich der sinn- 
lichen Wahrnehmung. Hier läßt sich ein Satz, der selbst kein 
unmittelbares Einzelerlebnis aussagt, durch immittelbare Erlebnisse 
nicht beweisen; und ein Satz, der diese Aussage tut, läßt sich 
zwar beweisen, bedarf aber, da er von sich selbst einleuchtet, 
kdnes Beweises. Aus den Sätzen: ich sehe Jetzt am Hinunel einen 
ßlitz und ich fühle jetzt auf meiner Hand den nassen Regen, läßt 
sich gewiß schließen: also empfinde ich jetzt zugleich Nässe und 
Helligkeit Aber dieser Satz ist ja nur der Ausdruck eines un- 
mittelbaren Erlebnisses, und ihn beweisen zu wollen, wäre Torheit 
Vorausgesetzt wird dabei überdies, daß die Schlußoperation im 
gleichen Zeitaugenblick, in welchem die beiden Empfindungen 
gegenwärtig sind, auch vollzogen würde. Denn im nächsten Augen- 
blick wäre ich ja schon auf das Gedächtnis angewiesen, das wiederum 
nur als unmittelbare Augenblicksaussage (ich erinnere mich jetzt, 
daß . ..), keineswegs aber als (oft täuschende) Aussage über einen früher 
wirklich gehabten Zustand des Bewußtseins Evidenz bei sich führt 
Auch kann ich aus den zwei unmittelbaren Erlebnisaussagen nicht 
etwa unter Zuhilfenahme des Gedächtnisses schließen: also waren 
in meinem Bewußtsein einst zwei Vorstellungen zugleich gegen- 
wärtig, oder gar: also begreift der Umfang des menschlichen Be- 
wußtseins jedenfalls mehr als eine Vorstellung. Denn die Begriffe 
^mein Bewußtsein" als eine Dauergröße, „menschliches Bewußtsein**» 
das „begreifen" als Dauerzustand, gehen weit über den Kreis un- 
mittelbarer, reiner Erfahrung hinaus, bedürfen daher selbst, wie die 
Existenz ihrer Objekte, der Begründung. Da es sich also beim Be- 
weisen niemals um die Begriindung einer Aussage über ein unmittel- 
bares Erlebnis handelt, andrerseits aus Urteilen über unmittelbare 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 24 1 

Erlebnisse der Wahrnehmung nur die Wahrheit von Aussagen über 
unmittelbare Erlebnisse der Wahrnehmung folgen kann, so ist 
dieser oberste Stützpunkt, als nicht beweisbedürftiger Urgrund 
aller Beweise, uns entzogen. Die uneinnehmbarste Festung als 
Hort für die Wahrheit von Urteilen , als letzter Rückhalt von Schluß 
und Beweis ist unbrauchbar. 

Noch könnte man den Posten zu halten und eine große 
Gruppe von Schlüssen und Beweisen auf reine Erfahrungen zurück- 
zufuhren suchen; nämlich alle diejenigen, in denen eine Definition 
aus zwei gegebenen Definitionen, oder die Zugehörigkeit einer Art 
zu dner Gattung erschlossen wird. Hier nämlich kann man die 
ursprünglichen Definitionen und die Gattungsvorstellung als un- 
mittelbare Erlebnisse, nämlich als Willensetzungen ansehen, 
aus denen ein neues Urteil absolut schlüssig gefolgert werden kann. 

Wenn ich z. B. durch Willensetzung alle nicht mehr chemisch 
zerlegbaren Körper Elemente nenne und alle Schwere und Dichte 
besitzenden Stoffe Körper, so kann ich schließen: 

Ein Ding, das Schwere und Dichte besitzt, heiße ein Körper. 
Ein chemisch nicht zerlegbares schweres und dichtes Ding heiße 
ein Element. 

Ein Element ist ein chemisch unzerlegbarer Körper. 
Oder: 

Alle Tiere, die lebendige Junge zur Welt bringen, nenne ich 

Säugetiere. 
Der Walfisch bringt lebendige Junge zur Welt. 

Der Walfisch ist ein Säugetier. 
Aber die ganze Hohlheit dieser Schlußarten verbietet es, bei ihnen 
gegen die skeptischen Tropen Hilfe und Schutz zu suchen. Ins 
Unendliche wird man hier allerdings nicht hinausgetrieben imd bei 
einer beweisbedürftigen Hypothese endet man auch nicht; vielmehr 
bei einer keines Beweises bedürftigen S^iötg im eigentlichen Sinne 
des Wortes. Aber das Endurteil, das hier bewiesen wird, liefert 
weder eine subjektiv- noch objektiv -allgemeingültige Wahrheit, 
keine Erkenntnis über die Dinge, und zur Beantwortung der ersten 
skeptischen Grrundfrage: wie sind die Dinge beschaffen? trägt es 
nichts bei. Es ist nicht der Ausdruck für irgend welche Verhält- 
nisse zwischen den Dingen, sondern nur für die formale Willens- 
logik: Wer den Zweck will, muß die Mittel wollen. Denn im Fall 
unsres ersten Beispiels, in dem willkürlich gebildete Definitionen 

Richter, Skeptisigmi». 16 



242 Enter Abschnitt. Die griediische Skepsis. 

zueinander in Beziehung gesetzt werden, drehe ich mich vollständig 
im Kreise meiner eigenen BegrüTe herum, und die Gewißheit des 
Endurteils besitzt zwar den höchsten Grad von Gewißheit, bleibt 
aber ganz in die Sphäre subjektiver WilUdlr gebannt imd gilt nur 
solange, wie die Willensentschlüsse, über welche die Prämissen 
Aussage machen, andauern. Über die Existenz von Körpern, 
Dichte, Schwere, Elemente erfahren wir nichts, und das Endurteil 
ist genau so gewiß für den so Wollenden, wie das Endurteil: ein 
Element ist kein Körper, für denjenigen gewiß ist, der durch 
seinen Willen die erste Prämisse folgendermaßen imiformt: ein 
Ding, das keine Schwere und Dichte besitzt, heiße ein Körper, 
der zweiten Prämisse aber zustimmt Denn sowie vernünftige 
Motive für diese Definitionen vorausgesetzt werden, ist die Defi- 
nition bereits nicht unmittelbares Willenserlebnis, bedarf selbst 
der Begründung und kann nie den gesuchten letzten Anhalt für 
Schließen und Beweisen bieten. So kann man hier füglich von keiner 
objektiven, noch von einer subjektiv -allgemeingültigen Wahrheit 
des Urteils reden, die durch den Beweis gesichert seL Von keiner 
objektiven: denn das Urteil, das bewiesen wird, macht Aussage 
nur über ein augenblickliches Ziel meines WoUens, nicht einen 
Gegenstand des Seins; in seiner ganz korrekten Formulierung 
wiedergegeben, wurde nur das Urteil bewiesen: das, was ich ein 
Element nennen will, muß ich einen Körper nennen. Aber auch 
keine subjektiv -generelle Gewißheit kommt diesem Urteil zu. Denn 
die beiden Prämissen, die meinen Willen verkünden, sagen nur 
subjektiv -individuelle, unmittelbare Erlebnisse aus. Für ein Indi- 
viduum A ist bereits der Willensakt von X nicht mehr immittel- 
bares Erlebnis. Für A ist auch der Schluß nicht etwa ohne weiteres 
umformbar in die Erwägung: 

X nennt Dinge mit Merkmal a und c Körper. 
X nennt gewisse Dinge Elemente. 

also sind das, was X Elemente nennt, für X Körper. 

Ifier sind die Prämissen nichts unmittelbar Einleuchtendes mehr; 
denn sie setzen die Existenz eines andern Willens voraus, die der 
Begründung bedarf. Nur in der hypothetischen Form: wenn X 
so und so bestimmte Dinge Körper, gewifJe Dinge Elemente 
nennt, sind für X Elemente Körper, ist das Endurteil allgemeingültig 
wahr. Aber diese Wahrheit ist entweder eine rein formale, be- 
deutet nur eine Betätigung der logischen Axiome in beliebiger 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 243 

Richtung und besagt: wenn die Prämissen wahr sind, ist auch 
der Schlußsatz wahr, oder, wenn sie mehr sein will, so ist sie 
nicht erwiesen und verfällt dem tporcog VTtoSrBttxog. 

In unserm zweiten Beispiel wird allerdings auf die objektive 
Wrklichkeit in der zweiten Prämisse reflektiert. Aber da die 
Gültigkeit des Schlußsatzes von der Subsumtion des Subjekts 
der zweiten Prämisse unter das Subjekt der ersten abhängt, 
die erste Prämisse aber eine individual- subjektive Willensmaxime 
ist, so gilt die Konklusion ebenfalls nur für den so Wollenden, 
und die Conclusio lautet in exakter Fassung: also muß ich 
den Walfisch ein Säugetier nennen. Nicht aber wird hier etwa 
die erste Prämisse im Sinn einer allgemeingültigen Aussage über 
die Dinge genommen: alle Tiere, die lebendige Junge zur Welt 
bringen, sind Säugetiere. Denn das würde heißen: ihnen kommen 
Merkmale zu, die auch den anderwärts definierten Säugetieren zu- 
kommen; ein Satz, für den die Skepsis mit Recht nach der Be- 
gründung fragen und ihn nicht als eine letzte Wahrheit, die keines 
Beweises bedarf, anerkennen würde. 

So ist der Versuch , die objektive Wahrheit von Urteilen aus 
unmittelbaren Erlebnissen zu beweisen, als gescheitert anzusehen. 
Ob wir die Erlebnisse der Passivitäts- oder der Aktivitätsphäre, 
dem Wahrnehmen, dem Fühlen oder dem Wollen (und auf diese 
Quellen geht jedes unmittelbare Erlebnis zurück), entnahmen, nie- 
mals ließ sich ein Urteil, dessen Geltung über den Umkreis des 
aussagenden Subjekts hinausgriffe, und von den „Dingen" (in 
idealistischem oder realistischem Sinne) handelte, gewinnen. 

Daraus ergibt sich: um strittige Sätze über objektive Ver- 
hältnisse auf unstrittige zurückzufuhren, also restlos zu beweisen, 
ist erforderlich: 

I. Die unstrittigen Prämissen müssen Existentialurteile 
sein, das wirkliche Sein von etwas behaupten, in welchem Sinne 
man auch immer die Begriffe Sein und Wirklichkeit gebrauchen 
mag (auch diese Anforderungen stehen jenseits von Realismus und 
Idealismus); 2. mindestens eine der Prämissen muß über die Augen- 
blickswahmehmimg eines Objekts hinausgehen und allgemeiner 
Natur sein, d. h. über konstante Objektseigenschaften oder 
Objektzusammenhänge berichten. Gibt es solche Sätze? 

Die räumlich-zeitlichen (mathematischen) Eigen- 
schaften der Dinge und die (physikalischen) Gesetze des 
kausalen Zusammenhangs zwischen ihnen werden gewöhn- 

lÖ* 



244 Enter Abadmitt Die griediisclie Skepsis. 

lieh als solche konstante Größen hingenommen. Warum 
gelten denn die Sätze über die mathematischen Eigenschaften wid 
die kausalen Verhältnisse allgemein, für alle 2^iten, an allen Orten, 
für alle Menschen, für alle Dinge? Die Konstanz dieser Eigen- 
schaften ist doch selbst kein unmittelbares Erlebnis; also auch die 
Aussage über sie kein wahres Urteil, das des Beweises nicht be- 
dürfte. Damit aber scheint das ,Warum' auch hier sich wieder 
einzunisten und der Jagd ins Unbegrenzte doch nicht zu entrinnen 
zu sein. Nun — die allgemeine Gültigkeit der Aussagen über 
mathematische und kausale Verhältnisse läßt sich auf zweifache 
Weise dartun, deren jede als ein Versuch anzusehen ist, weitere 
Fragen nach dem Warum abzuschneiden und die Stützen aller 
Beweise durch letzte Evidenzen sicher zu stellen. Rationalisten 
wie Empiristen haben sich imi die Lösung dieser Aufgabe be- 
mtiht. Der Rationalist, soweit er auf der Höhe der Zeit sich 
bewegt und nicht etwa von angeborenen Vemunftgrundsätzen über 
das Dasein Gottes, die apriorische Kenntnis bestimmter Kausal- 
verbindungen, eine angeborene fertige Raumvorstellung usw. fabelt, 
würde dem Skeptiker entgegnen: der Inhalt eines geometrischen 
Axioms, in einen Satz über einen individuellen Fall aufgelöst, ist 
ein unmittelbar evidentes Erlebnis und als solches der Diskussion 
entrückt (zwischen Punkt A und B läßt sich nur die eine Gerade 
A — B ziehen). Da ich aber keinen einzigen Fall finden oder mir 
nur anschaulich vorstellen kann, in dem es mehrere gerade Linien 
A — B gibt, oder in dem Gleiches zu Gleichem nicht Gleiches er- 
gibt, so nehme ich an, daß die räumlichen Verhältnisse entweder 
objektiv streng gesetzmäßige und real unveränderliche sind und die 
Erkenntnis eines Verhältnisses für alle gleichen gilt (rationalisti- 
scher Realist) oder: daß die räumlichen Beziehungen und ihre An- 
wendung auf die Wirklichkeit Anschauungsnotwendigkeiten a priori 
sind (rationalistischer Idealist). Die parallele Erwägung für kau- 
sale Verhältnisse leuchtet ein: Da ich mir nicht denken kann, daß 
ein Ding ohne Ursache existiert, sonderti die Annahme eine Denk- 
notwendigkeit ist: daß jedes Ding notwendig da ist, wo es ist, 
dann ist, wann es ist, so ist, wie es ist, so schließe ich wieder» 
daß auch die realen Zusammenhänge der Dinge konstante sind 
(rationalistischer Realist), oder daß ich den Begriff der Kausalität 
a priori auf alle Erscheinungen notwendig anwende (rationalistischer 
Idealist). Daher gelten auch die Sätze über die einzelnen Kausal- 
verhältnisse absolut sicher und gewiß, und es ist sehr wohl mög- 



Drittes Kapitd. Die Kritik der griechischen Skepsis. 245 

lieh, Urteile über bestimmte Beziehungen zwischen den Objekten 
(eine abgeschossene Flintenkugel von der Anfangsgeschwindigkeit v 
muß im Zeitpunkt z zur Erde fallen) auf absolut gewisse Sätze 
(hier die Gesetze der Ballistik) zurückzufuhren, ohne ins Unend- 
liche getrieben zu werden oder bei einer Hypothese zu landen. 

Die Art solcher Beweise für einzelne Werturteile moralischer 
oder ästhetischer Natur (Lügen ist schlecht — Beethovens Eroica 
ist schön) ist die gleiche imd eine besondere Exposition derselben 
daher überflüssig. 

Der Empirist entrinnt auf andre Weise den logischen Tropen 
der Skeptiker. Ließe sich die Anschauungsnotwendigkeit bei den 
räumlich - zeitlichen Verhältnissen, das gar nicht anders Wahr- 
nehmen -können der sinnlichen Phänomene wie unter der mathe- 
matischen Gesetzmäßigkeit, zur Sanktion der mathematischen Axiome 
allenfalls verwenden, wodurch diese jedes Beweises überhoben 
würden — so vermag die gleiche Erwägung in Bezug auf kausale 
Beziehungen der Kritik keineswegs standzuhalten. Denn die 
Regelmäßigkeit des Weltiaufs, die absolute Naturgesetzlichkeit, oder 
wie sonst man den allgemeinen Kausalzusammenhang aller Erschei- 
nungen bezeichnen will, ist keine Denknotwendigkeit. Die 
Unregelmäßigkeit und Ungesetzmäßigkeit des Naturlaufs ist weder 
ein logischer noch ein anschaulicher Widersinn. Daher tun wir 
gut, mit der Annahme von Denk- und Anschauungsnotwendig- 
keiten vorsichtiger zu sein und nicht dem Skeptiker, dem die Er- 
schütterung derselben nicht schwer würde, den Sieg zu leicht zu 
machen. Denn hat man ihm seine Denk- und Anschauungs- 
notwendigkeiten einmal zerstört, so steht der Rationalist dem 
Skeptiker gegenüber ziemlich ratios da; der Empiriker aber, 
von vornherein die Gewißheitsgrade seiner Erkenntnisse nicht über- 
schraubend, vertritt dem Skeptiker etwa mit folgenden Worten 
den Weg: 

Weil ich unzähligemal gewisse geometrische Sätze oder 
kausale Zusammenhänge wahrgenommen habe, gibt es mathematisch - 
naturwissenschaftiiche Axiome: als Ausdruck unveränderlicher realer 
Raum -2^it- Naturgesetze (realistischer Empirismus), als Ausdruck 
eines konstanten Raum -Zeit -Bewußtseins, konstanter Verstandes- 
kategorien (idealistischer Empirismus). Und diese Meinung, welche 
durch die unendliche Anzahl gleicher oder ähnlicher Erlebnisse nahe 
gelegt wird, verstärkt sich um ein bedeutendes durch die Tatsache, 
daß diese mir durch die Erfahrung zugetragenen Kenntnisse sich 



246 Erster Abidinitt Die griediiacbe Skepsis. 

in weitestem Umfang bestätigen bei wiUkiirlicher und experimental 
geleiteter Nachprüfung. Ich kann ohne Rücksicht auf die beson- 
deren Umstände stets und überall zwei beliebige Punkte im Raimie 
auswählen, und immer finde ich, daß nur eine Gerade zwischen 
ihnen möglich ist. Wo auch immer in der Natur zwei Erschei- 
nungen aufeinander folgen und in räumlich -zeitlich stetiger Ver- 
bindung und in bestimmtem quantitativem Verhältnis stehen, da 
kann ich, wenn ich unter beliebigen Bedingungen die erste der- 
selben irgendwo wieder beobachte oder auch künstlich hervorrufe, 
stets gewahr werden , daß sich auch die zweite sofort einstellt. So 
steigt die Wahrscheinlichkeit mathematischer und physikalischer 
Gesetzmäßigkeit auf eine ziemlich hohe Stufe imd erreicht ihren 
Gipfel durch die Möglichkeit: jederzeit von dieser Gesetzmäßig- 
keit die Anwendung auf die Erfahrung machen und dadurch die 
denkbar größte empirische Kontrolle bewirken zu können. Das 
gleiche gilt natürlich caeteris paribus von den Wertnotwendigkeiten 
der Rationalisten, 

Man sieht: die Gewißheit von der Wahrheit eines allgemein- 
gültigen Satzes, durch den alle Begründung und Beweiskraft erst 
möglich wird, setzt sich hier aus vier Elementen zusammen: letztes 
Element der Gewißheit sind die einzelnen unmittelbaren Erlebnisse 
über Raum-, Zeit- und Tatsachenzusammenhänge. Aber durch 
die logische Erwägung: Beziehungen, welche ungezähltemal in 
gleicherweise erlebt wurden, und Beziehungen, die bei beliebiger 
Variation aller Bedingungen konstant bleiben, sind vermutlich an 
sich konstant oder für mich konstant — durch diese doppelte Er- 
wägung wird ein Erlebnis nicht in seiner individuellen Einzelheit, 
sondern in seiner Eigenschaft: beliebig wiederholbar zu sein, als 
allgemeines gefaßt und sein Inhalt in einen Satz von allgemeiner 
Geltung umgeprägt. Schließlich verdankt sich die Gewißheit solch 
allgemeiner Sätze noch der Probe: der erneuten unmittelbaren Er- 
fahrung am beliebigen Einzelfall. Freilich, wo der Empirismus 
konsequent ist, darf er nur eine wahrscheinliche Geltung seiner 
allgemeinen Sätze beanspruchen; denn der Schluß von vielen Fällen 
auf alle, der seinen Erwägungen zugrunde liegt, ist niu* ein Schluß 
von wahrscheinlicher Geltung. Der Empiriker würde also dem 
Pyrrhoniker erwidern: ins Unendliche werden wir beim Schließen 
und Beweisen nicht hinausgetrieben. Sondern wir fuhren strittige 
Sätze durch Schluß und Beweis auf höchst wahrscheinlich imstrittige 
zurück. Es gibt keine allgemeingültigen Sätze von höherem Wahr- 



Drittes K^itel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 247 

heitsgehalt; willst du diese Sätze ihres Wahrscheinlichkeitsgehalts 
wegen „Hypothesen" nennen, so haben wir nichts dagegen. Aber 
zwischen Hypothese und Hypothese ist scharf zu scheiden. Deine 
Behauptung von der Gleichwertigkeit aller Hypothesen geben 
wir nicht zu; es ist falsch zu sagen: im logischen Regressus sei 
es ganz gleichgültig, bei welch unbewiesener These ich Halt mache; 
wenn es überhaupt bei einer unbeweisbaren Behauptung geschehe, 
könnte man sich ja schon bei der Konklusion als unbewiesener 
Voraussetzung beruhigen. 

Unsre allgemeinen Sätze sind letzte Hypothesen, Ergeb- 
nisse der imifassendsten Induktion, deren Wahrheitsgrad sich der 
Obereinstimmung mit allen Denkgesetzen und allen bisherigen 
Erfahrungen verdankt Die beweisbedürftige Konklusion aber, die 
aus ihnen gezogen wird, bevor sie aus dem allgemeinen Satz ab- 
geleitet ist, ist noch mit gar keiner Erfahrung und gar keinem 
Denkgesetz als in irgend welcher Übereinstimmung befindlich 
aufgedeckt, ist also weder als wahr, noch als wahrscheinlich 
erkannt. Vermag ich aber einem völlig ungewissen Satz durch 
Reduktion auf jene obersten Urhypothesen höchste Wahr- 
scheinlichkeit zu sichern, so ist diese Begründung doch wohl der 
Mühe wert. 

Aus alledem erheUt: Die Skeptiker haben mit ihren zwei 
ersten logischen Tropen wieder einen ernsten Stoß gegen das be- 
weisende Erkennen gefuhrt. Die Abwehr hier ist keine leichte 
Sache. Es stellte sich heraus: i. daß das letzte Glied in einer 
strengen Beweiskette, die Aussagen über Objekte begründen soll, 
um nicht wieder durch ein Warum? in seiner Geltung erschüttert 
oder als bloße „Hypothese" verketzert zu werden, ein objektiv- 
allgemeingültiger Satz von imerschütterlicher Gewißheit zu sein 
habe; 2. daß die sofort einleuchtenden unerschütterlichen Gewiß- 
heiten, die Aussagen über individuelle Einzelerlebnisse, nicht direkt 
verwendbar sind , und auch die allgemeinen logischen Axiome nur 
als Funktionen dem Prozeß des Reduzierens Geltung verschaffen, 
aber nicht etwa selbst als rein formale Sätze einem inhaltlich 
strittigen Satz den letzten Rückhalt zu bieten vermögen; 3. daß 
erst eine vernünftige Deutung gewisser Einzelerlebnisse über mathe- 
matische und kausale Beziehungen (im rationalistischen oder empi- 
ristischen Sinne) die Gewißheit oder doch die höchste Wahrschein- 
lichkeit letzten Sätzen zu sichern und damit den Dispens von der 
Beweisbedürftigkeit zu erteilen vermögen. 



24B Erster Absdmitt. Die griediische Skepsis. 

Diese Bemerkungen gelten nur zur Abwehr der skeptischen 
Untergrabung der stringenten und bis ins letzte Glied hinein 
absolut zwingenden Beweisführung. Die griechische Skepsis bohrt 
überall auf den Grund, und, läßt sich die Festigkeit dieses Grundes 
nicht dartun, mit oberflächlich aufgeworfenen Bollwerken und pro- 
visorischen Fortifikationen widersteht man ihr nicht Denn diese 
wirft sie gar bald über den Haufen, wenn sie nicht weiß, daß der 
Gegner sich in uneinnehmbare Festungen ziuiickziehen kann. Hat 
er das aber erwiesen, so wird das skeptische Denken sich auch 
von den kleinen vorgeschobenen Verteidigungsposten fem halten 
müssen. Daher darf es jetzt ausgesprochen werden, nachdem die 
grundsätzliche Möglichkeit gezeigt worden , wie SchliefSen und Be- 
weisen, ohne in der Unendlichkeit oder bei einer dem zu be- 
weisenden Satz gleichwertigen Hypothese zu enden, zu bewerk- 
stelligen ist: daß die meisten Schlüsse im Leben und auch in den 
Wissenschaften allerdings nicht bei letzten evidenten Gewißheiten, 
nicht einmal bei letzten H3q[)othesen, sondern bei provisorischen 
Hypothesen enden und doch — ihren hohen Elricenntniswert be- 
halten. Die gewöhnlichen Schlüsse imd Beweise sind provisorische 
Reduktionen spezieller Sätze auf allgemeine, wenn letztere gegen- 
über den ersteren (nicht den absoluten, sondern nur) den höheren 
Gewißheitsgrad besitzen. Am Vorderreifen meines Fahrrades ent- 
strömt die Lufl. Es fragt sich, aus welchem Grunde? Ich weiß 
von früher: nur wenn der innere Schlauch durchlöchert ist, ent- 
strömt die Luft. Nun schließe ich, da Luft an meinem Reifen 
herausströmt: der innere Schlauch hat ein Loch bekommen. Vor 
dieser Erwägung wußte ich nicht das geringste davon, daß der 
innere Schlauch ein Loch bekommen haben konnte. Erst mit der 
Reduktion auf den allgemeinen Obersatz (die psychologisch natür- 
lich nicht in pedantischer Anwendung des logischen Schemas, 
sondern in der Abbreviatur vor sich geht) steigt die GewifUieit von 
der Wahrheit dieser Behauptung direkt proportional der Gewißheit 
des Obersatzes. Nun gilt der Obersatz zwar nur provisorisch - 
hypothetisch, denn er stützt sich auf eine Anzahl von unmetho- 
dischen Erfahrungen und vorschnellen Verallgemeinerungen und 
übersieht, daß auch ein Fehler am Ventil das Entströmen der 
Luft zur Folge haben konnte. Trotzdem fordert solch fraglicher 
Schluß den Fortschritt objektiver Erkenntnis gewaltig. Denn i. deckt 
er die mögliche Ursache eines Ereignisses auf und hebt damit den 
Erkenntniswert einer Behauptimg über diese Ursache im einzelnen 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 249 

Fall (mein Schlauch hat vermutlich jetzt ein Loch). 2. Der Ober- 
satz (immer wenn Luft entströmt, zeigt der Schlauch ein Loch) 
steigt durch das Mißlingen oder Gelingen der Subsumtion, das 
durch eine Beobachtung an der Erfahrung (Nachsehen, ob der 
Schlauch ein Loch bekommen) sich entscheidet, gleichfalls an Er- 
kenntniswert. Denn entweder befestigt sich seine Wahrheit, durch 
den Zuwachs der Wahrheit für den vorliegenden Fall oder — 
gleichfalls ein Fortschritt in der Erkenntnis — er stellt sich als 
falsch heraus und ich werde zur Aufhebung resp. Modifikation des 
Obersatzes gezwungen. Was hier an einem Beispiel des Alltag- 
lebens gezeigt wurde, vollzieht sich in der Wissenschaft überall 
dort, wo die Zurückführung einer Aussage auf eine mathematische 
Gleichung oder auf ein Urteil über ein allgemeingültiges oder doch 
letztes Kausalverhältnis nicht sofort möglich ist. Dann tritt die 
Arbeitshypothese in ihr Recht. Auch ihre Rolle besteht für 
die Erkenntnis des einzelnen Falls zunächst darin, daß diese Er- 
kenntnis deduziert wird aus allgemeinen Sätzen oder reduziert auf 
allgemeine Sätze höheren Wahrheitsgehalts, d. h. auf solche, bei 
denen die Anforderungen des Wahrheitskriteriums (Obereinstim- 
mung mit allen Denkgesetzen und allen Erfahrungen) für mein Be- 
wußtsein strenger erfüllt sind als bei dem zu beweisenden Satz. 
Gibt es aber aufSerdem noch ein andres Mittel wie das der Deduktion 
oder der Reduktion, um die Wahrheit eines speziellen Satzes zu 
festigen — etwa die unmittelbare Evidenz durch gewöhnliche Er- 
fahrung oder Experiment — so steigt zugleich damit unsre Einsicht 
in die Wahrheit oder Unwahrheit einer Arbeitshypothese, und ein 
doppelter Zuwachs an Erkenntnis ist die Folge. So stützen 
sich Schlußsatz und Obersatz immer gegenseitig in der Förderung 
der Erkenntnis bei allen Schlüssen, die auf Hypothesen beruhen. 
Durch die Zahl der Einzelsätze, die sich auf einen allgemeinen 
Satz zurückführen lassen, wächst der Wahrscheinlichkeitsgrad einer 
Hypothese und mit diesem wächst die Sicherheit der Erkenntnis 
eines aus ihr abgeleiteten Satzes. 

So erhellt auch von hier, aus den unteren Regionen des 
Wissens, die Fehlerhaftigkeit der skeptischen Behauptung von der 
Gleichwertigkeit aller Hypothesen. Denn abgesehen davon, daß 
man für die strengsten und vollendeten Schlüsse auf evidente 
Thesen (nach Ansicht der Rationalisten) oder doch auf letzte, 
durch methodische Beobachtung des Gesamtgebiets der bisherigen 
Erfahrung gestützte Hypothesen zurückgeht, ist es auch für die 



2^0 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

alltäglichen Beweisarten im Leben und in der Wissenschaft von 
höchster Bedeutung, ob ein strittiger Satz nur auf sich selbst oder 
auf in viel geringerem Grade strittige Sätze zurückgeführt wird. 
Auch hier hat der Radikalismus mit seinem „Alles oder I^chts" 
die Skepsis das Wesen des wissenschaftlichen Fortschritts durch 
approximative Annäherung an die Wahrheit übersehen lassen; 
übersehen lassen, daß dieser Fortschritt nicht so sehr in der Reduk- 
tion einzelner Sätze auf absolut wahre, sondern in gegenseitiger 
Stützung wahrscheinlicher Sätze besteht; daß dieser Fortschritt 
weit mehr ein quantitativer als ein qualitativer ist; daß er in der 
Auffindung mannigfaltiger, einander gegenseitig im Wahrheitsgehalt 
hebender UrteUe, nicht so sehr in der Stärkung des Wahrheits- 
gehalts weniger Urteile besteht; daß er mehr in der Eroberung 
von 90% Wahrheitsgehalt für 1000 Fälle, als von 100% för drei 
Fälle zutage tritt 

Immerhin dürfen wir niemals vergessen, daß alle provisorischen 
Hypothesen, mit denen das gewöhnliche und das wissenschaftliche 
Erkennen im größten Umfange arbeiten, haltlos in der Luft schweben 
würden, wenn sie nicht an jenen letzten H)rpothesen axiomatischen 
Charakters ihr Musterbild stets vor Augen hätten. Es zu erreichen 
bleibt freilich in all den Wissenschaften, deren Ergebnisse sich 
nicht auf mathematische Gleichungen oder mathematisch ausdrück- 
bare Kausalverhältnisse beziehen, ein unerfülltes Ideal. Aber die 
Annäherung an dasselbe kann angestrebt werden; imd dieses Streben 
wird nicht vernichtet, weil die Skepsis — aber zu Unrecht — ge- 
zeigt zu haben glaubte: dies Ideal sei ein in sich immögliches. 

Der dritte und letzte Einwand von elementarer Wucht, der 
gegen die erkenntnisfordernde Kraft aller logischen Begründungen 
sich richtet, ist der Vorwurf der Zirkelbewegung. Unter einem 
Zirkelschluß versteht man allgemein jene fehlerhafte Beweisform, 
nach der zwar der Schlußsatz durch die Voraussetzungen, zugleich 
aber die Voraussetzungen durch den Schlußsatz gestützt werden 
sollen. So ist das Skelett des Cartesischen Gottesbeweises — was 
immer man auch zu dessen Rechtfertigung sagen mag — ein Muster 
sich im Kreise drehender Begründung. Denn auf ein dürres Schema 
gebracht, zeigt er folgende Struktur: 

Was clare et distincte erkannt wird, ist wahr. 
Gottes Dasein wird clare et distincte erkannt. 

Gott existiert. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechiacbeii Skepsis. 25 1 

Nur wenn Gott (als ein wahrhaftiges, gütiges Wesen) existiert, 

ist alles, was clare et distincte erkannt wird, wahr. 
Gott existiert 

Was clare et distincte erkannt wird, ist wahr. 

Hier wird aus dem Satze „subjektives Evidenzgefuhl verbürgt 
objektive Wahrheit" das Dasein Gottes, und aus dem Dasein 
Gottes die Gleichung: absolut evidente Urteile — wahre Urteile 
gefolgert Niemand wird sich vor dem Ergebnis solchen Be- 
weisverfahrens beugen. Und nun behauptet die Skepsis: es gibt 
gar kein andres Beweisverfahren I Jeder Schluß, jeder Beweis, 
jede Begründung stürzt notwendig in die Falle der Diallele. Ist 
das wahr? 

Läßt man die heute noch existenzfähigen Richtungen dabei 
zu Worte kommen, d. h. allein diejenigen Aussagen, welche wissen- 
schaftlich heute noch möglich oder auch wirklich sind, so wird 
zunächst der moderne Rationalismus Kantischer Färbung das 
skeptische Argument einfach nicht gelten lassen. Man kann, würde 
er entgegnen, allerdings Sätze von objektivem Wahrheitsgehalt 
begründen, ohne sich dabei im Kreise zu drehen (von den 
rein formalen Subsumtionen einzelner Exemplare unter eine durch 
Willensetzung bezeichnete Gattung oder von Prädikaten unter 
einen willkürlich definierten Begriff dürfen wir bei dem Ernst der 
Lage wohl absehen; denn die Geltung solcher Beweise verharrt 
in der Sphäre des individuellen Subjekts). Alle Prämissen, die 
mathematische oder kausale Gesetzmäßigkeit an der objektiven 
Welt zum Ausdruck bringen, sind a priori allgemeingültiger Natur. 
Daher bedürfen wir nicht des Einzelfalls aus der Erfahrung zu 
ihrer Stütze, und dieser kann, ohne daß eine petitio principii da- 
bei statt hat, durch solche Prämissen zwingend bewiesen werden. 
Daß eine Brücke bestimmter Konstruktion unter der Last ß ein- 
stürzen oder nicht einstürzen wird, ist absolut gewiß (Rechenfehler 
imd etwa mitsprechende, aber noch nicht ermittelte Kausal Verhält- 
nisse in Abzug gebracht). Es kann also der Satz, daß ein Artillerie- 
geschütz A von der Last ß beim Passieren der Brücke abstürzen 
oder nicht abstürzen wird , mit Hilfe der obigen Prämisse stringent 
begründet werden. Aber die Begründung des Obersatzes bedarf 
ihrerseits nicht etwa der Unterstützung durch das Urteil: Artillerie- 
geschütz A vermag die Brücke nicht zu passieren; sondern er kann 
Hunderte von Jahren vor der Existenz dieses Geschützes gefunden 



2^2 Enter Abscbnitt IKe giiediudie 

und ausgesprochen sein, als Konsequenz der mechanischen Gesetze, 
der Bewegungsgesetze materieller Größen. Das gleiche gilt von 
den mathematischen Relationen; nicht nur in ihrer formalen 
Bedeutung für die subjektive Raumanschauung, sondern auch 
dort, wo sie übergreifen in das Reich objektiver Begebenheiten. 
Die mathematischen Berechnungen zur Ermitdung der Tragfähig- 
keit der Brücke und der Last des Geschützes, die nicht nur auf 
eine fiktive Brücke, ein fiktives Geschütz, sondern auch auf die 
wirkliche Brücke, das wirkliche Geschütz anwendbar sind, drehen 
sich keineswegs im Zirkel. Ihre Ergebnisse beruhen, verfolgt man 
sie bis zu den letzten Stützpunkten, auf den geometrischen und 
arithmetischen Axiomen; diese aber keineswegs auf jenen Ergeb- 
nissen. Daß keine kürzere Verbindung als die Gerade zwischen 
zwei Punkten (auch in der objektiven Wirklichkeit) möglich ist; 
daß Gleiches zu Gleichem addiert (nicht nur bei reinen Zahlen, 
auch bei beliebigen Objekten) Gleiches ergibt, das steht dem ratio- 
nalistisch gesonnenen Mathematiker a priori fest. Es bedarf also 
nicht etwa der induktiven Begründung durch alle Erfahrungsfälle, 
von denen die Momente im Brücken- und Geschützbau einige wären. 
Freilich muß der Rationalist sich bewußt sein, daß er dabei 
nicht nur die Allgemeingültigkeit der formalen Raumanschauung, 
sondern deren notwendige Geltung auch für alle mög- 
lichen Verhältnisse räumlicher Wirklichkeiten fordert. 
Ähnlich hat er sich bei der Aufstellung allgemeingültiger Natur- 
gesetze bewußt zu sein, daß das Wissen um die reine, inhaltieere 
Regelmäßigkeit des Naturlaufs noch nicht genügt, um ohne Zirkel- 
bewegung Sätze über Einzelfalle dieser Regelmäßigkeit streng zu 
beweisen; sondern daß es dazu der Kenntnis von der Gesetz- 
mäßigkeit einzelner und bestimmter Kausalverhältnisse bedarf. Da 
aber solche, etwa die mechanischen Gesetze, kein Mensch mehr 
heute aus reiner Vernunft abzuleiten versucht, sondern über ihre 
Beschaffenheit von der Erfahrung sich belehren läßt, so bleibt dem 
Rationalisten (schwenkt er hier nicht ab in das empirische Lager) 
nichts weiter übrig: als irgend eine inhaltliche Bestimmung 
in seine apriorischen Elemente aufzunehmen, in denen zwar 
nicht die besonderen Kausal Verhältnisse enthalten, aber an deren 
Hand diese wenigstens zu ermitteln sind; vielleicht die Denknot- 
wendigkeit: alles, was unmittelbar aufeinander folgt und sich 
räumlich berührt, ist in der Außenwelt immer kausal miteinander 
verbunden. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepris. 253 

Neben mathematischen und kausalen Gesetzmäßigkeiten, auf 
welche sich, wenn wir auch tatsächlich noch so weit davon ent- 
fernt sind, doch grundsätzlich aUe Beweise nicht unmittelbar 
evidenter Sätze, die Dasein imd Wirklichkeit betreffen, zurück- 
führen lassen , könnte der Rationalist noch eine gleichfalls vorhin schon 
erwähnte Aussagen -Gruppe namhaft machen, auf welche Urteile 
zurückführbar wären, ohne daß sie selbst, vom Standpunkt strengster 
logischer Ansprüche (nur um diesen handelt es sich ja) durch diese 
Urteile ihrerseits bewiesen zu werden brauchte. Das ist die Gruppe 
der moralischen und ästhetischen Gesetzmäßigkeiten. Nimmt 
man in allen Menschen lagernde Wertungsnotwendigkeiten an, etwa 
des Inhalts: ich und alle sollen so handeln, daß ihre Motive zum 
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnten, 
oder daß der Sinn des Daseins, der Wille Gottes, das Glück der 
Menschheit u. a. dabei gefordert würde, so ist damit wieder eine 
Quelle gegeben, aus der der Wert von Handlungen, Persönlich- 
keiten, Gesinnungen, Lebenslagen usw. abfliefSen kann, ohne daß 
der Quell selbst (der allgemeine Obersatz), aus dem diese Werte 
abgeflossen wären, durch den Wert dieser abgeleiteten Einzel- 
gröfJen seinerseits gespeist würde. Das Beispiel von der Wohltätig- 
keit der Straßenbahnen (S. 68) ist hier einschlägig. Wäre z. B. 
die Verwirklichung des Sinns des Daseins apriorisches Sittengesetz, 
bestünde dieser Sinn im Aufstieg zu immer höherer Vergeistigimg 
auf den Stufen biologischer imd historischer Evolution, gehörte 
dazu die Förderung der Kultur und zur Förderung der Kultur die 
zunehmende Ausbildung der Technik und der Verkehrsmöglich- 
keiten (alles doch gewiß keine aus der Luft gegriffenen Behaup- 
tungen) — so wäre die Wohltätigkeit oder der Wert der elektri- 
schen Straßenbahnen erwiesen, ohne daß durch ihn der Wert aller 
Verkehrserleichterungen erwiesen wurde. Erweitert man nun das 
Bereich apriorischer Urteile auch auf die ästhetischen Werte, so 
gewinnt man einen Riesenkreis von Aussagen über Einzelwerte, 
die ohne Zirkel begründet werden können und deren strenge Be- 
weisbarkeit wohl den Menschen am innerlichsten interessiert. Frei- 
lich muß auch die Begründung solcher Werturteile mannigfach in 
die Wirklichkeitsbezirke übergreifen, so in der Frage: was denn 
die Kultur fordert? so daß eine logisch absolut durchsichtige und 
zugleich völlig schlüssige Beweiskette für ethische und ästhetische 
Werturteile der Naturgesetzmäßigkeit in apriorisch gegebener Form 
als Stütze nicht entbehren kann und ein Beweis für den Wert 



254 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

eines Geschehnisses stets einen Einschlag von Kausalschlüssen in 
sich aufnehmen wird. 

Anders der Empirist Ihm stehen ja die allgemeinen Sätze 
über mathematische, naturgesetzliche und Wertnotwendigkeiten 
nicht a priori fest, sondern sind auf induktivem Wege ermittelte 
Einsichten. Nun wären diese Einsichten nur dann völlig gewiß, wenn 
sie auf vollständiger Induktion beruhten. Wäre also der Satz: 
eine Brücke dieser Konstruktion stürzt unter der Last ß zusammen, 
ein induktiv gefundener Satz und doch von der höchsten Gewiß- 
heit (also nicht etwa aus anderen induktiv gefundenen Sätzen 
•deduziert; in der Wirklichkeit würde dies wohl der Fall sein, wo- 
durch aber das Problem nur zurückgeschoben und allenfalls das 
Beispiel, nicht aber die Lösung abzuändern wäre) — so müßte 
von allen Lasten /8, also auch vom Artilleriegeschütz A, beobachtet 
worden sein, daß unter ihnen die Brücke stets einstürzt Dann 
würde allerdings der Empirist, der erst die Tragfähigkeit der Brücke 
aus dem Einsturz unter der Last des Geschützes und darauf das 
Einstürzen unter der Geschützlast aus der Tragfähigkeit folgerte, 
sich vollständig im Kreise drehen. Ebenso würde jedes geo- 
metrische, jedes arithmetische Axiom, dessen sich der philo- 
-sophisch- empiristische Ingenieur zur Berechnung der Stärke der 
-einzelnen Brückenpfeiler usw. bedient, seinerseits bei vollständiger 
Induktion nur durch die einzelnen Fälle, die jetzt aus ihm ab- 
geleitet werden, mitbewiesen worden sein. Und auch der Wert 
aller Verkehrserleichterungen, aus dem der Wert der elektrischen 
Straßenbahnen sich herleitete, könnte auf solche Art nur durch 
den Wert aller Verkehrserleichterungen und also auch der Straßen- 
bahnen (als einer dieser Erleichterungen) eingesehen werden. 

Trotzdem verfallt die empiristische Beweismethode, wo sie sich 
ihrer eigenen Grenzen und Tragweite bewußt ist, niemals der Diallele. 
Denn sie wird den allgemeinen Obersatz ja immer nur auf Fälle 
anwenden, durch die der Obersatz nicht selbst mit bewiesen wurde, 
von denen man aber wissen will , ob der Obersatz auf sie anwend- 
bar ist. FreUich ist die allgemeine Regel über die objektive Wirk- 
lichkeit dann immer nur unvollständig induziert. Aber dafür 
wurde ein vorher ganz ungewisser Satz über die objektive Wiriclich- 
Iceit (oder Wertverhältnisse) , wie daß Artilleriegeschütze eine Brücke 
passieren können oder gewisse kulturelle Einrichtungen wertvoll 
und zu fordern sind, zur höchsten Wahrscheinlichkeit empor- 
geschnellt und aus der Nacht der Unsicherheit in das klare Tages- 



Drittes Kapitel. Die ICritik der griechischen Skepsis. 255 

licht, wenn auch nicht in den vollen Sonnenglanz erhoben. Leben 
wie Wissenschaft bieten eine überwältigende Fülle von Beispielen, 
aus denen die Wichtigkeit eines derartigen Erkenntnisprozesses 
erhellt. In allen Voraussagen über die Zukunft haben wir ja mit 
Fällen zu tun, die weder in die Induktion für eine allgemeine 
Regel aufgenommen, noch selbst direkt beobachtet sein können. 
Hier ist also für den Empiristen eine Ableitung aus allgemeinen« 
aber unvollständigen Induktionsergebnissen das einzige Mittel, um 
überhaupt eine logisch haltbare Aussage über zukünftige Ereig- 
nisse zu machen. Welch ungeheure Rolle aber gerade solche Aus- 
sagen in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen der Physik, 
Chemie, Medizin usw. spielen, ist bekannt. Ob der Naturforscher 
eine neue Substanz gewinnt, indem er die Stoffe, mit denen diese 
bisher nur in der Synthese vorkam, Verbindungen mit andern 
Stoffen eingehen läßt und so auf analytischem Wege die gesuchte 
Substanz rein erhält, im Vertrauen: daß die Stoffe nach den in- 
duktiv ermittelten Gesetzen sich auch diesmal wieder verbinden 
werden; ob der Mediziner ein Antitoxin erfindet, vertrauend, 
daß die Abscheidungsprodukte der Bakterien auch diesmal eine 
bakterientötende Wirkung haben werden — stets handelt es sich 
um die Deduktion neuer Einsichten aus unvollständig induzierten 
Sätzen ohne Diallele; und den hohen Erkenntniswert dieser Ope- 
ration kann kein Besonnener verkennen. Auch strömen aus den 
Ereignissen des gewöhnlichen Lebens die drastischsten Beispiele 
besonders reichlich zu, an denen die Wichtigkeit empiristischer 
Beweise, sowie deren Vermeidung der Zirkelbewegung, auf den 
ersten Blick deutlich zu ersehen ist: daß Feuer den mensch- 
lichen Leib zerstört, ist vom rein empirischen Gesichtspunkt 
ein unvollständig induzierter, also nicht völlig gewisser Satz. 
Wollte man nun im gegebenen Fall sich dadurch abhalten lassen, 
die Flammen an den brennenden Kleidern seines Kindes zu 
löschen, um erst die Bestätigung des Satzes auch durch diese 
Erfahrung abzuwarten, so würde die Reue über solch unsinniges 
Vorgehen einem den Wert aus unvollständiger Induktion gewon- 
nener Erkenntnisse gründlich fühlbar machen. Also die Skepsis 
hat insofern recht: wenn der Empirist aus vollständig indu- 
derten und empirisch ganz gewissen Sätzen Einsichten zu be- 
weisen sucht, so dreht er sich dabei im Kreise. Da ihm das 
aber gar nicht einfällt, noch (wegen der prinzipiellen Unmöglichkeit 
vollständiger Induktion) einfallen kann, so verstrickt er sich nicht 



« • 



• . - •• 



256 Enter Abtdmitt Die griediische Skepns. 

in die ihm gelegten Schlingen und gewinnt trotzdem wertvolle 
neue Erkenntnisse. 

Eng verwandt, aber nicht zusammenfallend mit der These: 
jeder Schluß ist ein Zirkelschluß, jeder Beweis ein Zirkelbeweis, 
ist das skeptische Apergu von der Überflüssigkeit aller Syllo- 
gismen. Da nämlich der Schlußsatz oder das Beweisergebnis stets 
in den Prämissen bereits enthalten sei, so diene die ganze, schwer- 
fallige Operation nur dazu : was die Prämissen schon in sich bergen, 
noch einmal zutage zu fördern. Oder in skeptischer Redeweise: 
sind die Prämissen TrpoStfXa^ so kann der durch sie bewiesene 
Satz kein aStjXov sein. Diese Auffassung, daß jede Konklusion 
implicite in den Prämissen stecke und daher, wer diese kenne, jene 
gar nicht erst zu entwickeln brauche, hat etwas ungemein Über- 
zeugendes und Verführerisches. Manch bedeutender Denker hat 
sich ihr ergeben und Männer wie Bacon und Mill haben unter 
diese skeptische Kriegserklärung ihren Namen gesetzt. Doch ist 
der Einwand, alle Begründungen nicht selbstevidenter Behauptungen 
über die Wirklichkeit seien rein analytischer, nicht synthetischer 
Natur, seien bloß logische Erläuterungs-, aber niemals Erweiterungs- 
prozesse, mehr glänzend als wahr. Wieder sind es die mathe- 
matischen und kausalen Urteile über die seiende Welt, die Wert- 
urteile über die seinsollende Welt, auf die letzten Endes alles 
strenge Begründen zurückzuführen ist, an denen man auch hier 
die Haltbarkeit des skeptischen Einfalls zu prüfen hat Um aber 
ermüdende Schwerfälligkeit zu vermeiden, seien an einem einzigen 
Beispiel, der moralischen Wertungsphäre entnommen, die möglichen 
Lösungen des Problems entwickelt. Die stillschweigende Über- 
tragung des Ergebnisses auf alle übrigen Beweisaufgaben macht keine 
Schwierigkeit. Das corpus delicti sei durch den Schluß vertreten: 

Handlungen, deren Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung 

eignet, sind gut 
Wahrheitsagen unter den eben eintretenden unvorhersehbaren 

Umständen ist eine solche Handlungsweise. 

Wahrheitsagen im gegenwärtigen Falle ist gut 

Noch einmal vertreten Rationalisten und Empiristen dem Gregner 
den Weg. Dem Rationalisten steht der Obersatz, das Kantische 
Sittengesetz, a priori fest Daß aber jetzt die Wahrheit zu sagen 
eine allgemeingültige Handlungsweise ist, war in dem Obersatz 
noch gar nicht enthalten, ehe ich die Erwägung anstellte, daß sie 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 257 

es sei. Denn die Umstände waren ja vorher noch gar nicht ein- 
getreten, die dieses Enthaltensein erst ermöglichten. Was also 
die Skepsis eigentlich meint: daß der Obersatz laute, allgemein- 
gültige Handlungen, d.h. Handlung a, b, c, d usw., unter denen 
Wahrheitsagen im gegenwärtigen Fall eine ist, sind gut; und daß 
dadurch der ganze Beweis für den Wert des Wahrheitsagens im 
vorliegenden Fall überflüssig werde, das träfe nur für einen all- 
umfassenden Verstand zu, der nicht nur Kants allgemeines 
Sittengesetz in sich bergen, sondern auch alle die Erfahrungsfalle, 
die noch gar nicht eingetreten sind, im voraus wissen würde. Für 
den Menschen aber ist der Schlußsatz weder objektiv (als wirk- 
lich), noch logisch (als wahr) in dem Obersatz früher begriffen, als 
er aus diesem gewonnen wurde. Nicht objektiv: denn Wahrheit- 
sagen im gegenwärtigen Fall konnte nicht vor der Wirklichkeit 
des Falles objektiv gut sein; nicht logisch: denn die Wahrheit 
des Satzes: in einem unvorhersehbaren Fall (und die Existenz un- 
vorhersehbarer Fälle wird auch der Rationalist nicht ableugnen) 
aufrichtig zu sein, sei gut, konnte für den Menschen gleichfalls 
nicht eher bestehen, als der betreffende Fall eingetreten war. Aber 
ein Satz, der für den Menschen früher nicht wahr sein konnte, 
war es auch in der Tat nicht. Denn ein andres Erkennungszeichen 
der Wahrheit, als das beschriebene Evidenzgefühl erregen zu können, 
besitzen wir nicht. Nun schließen wir auch oft, wo der Lauf 
der Natur es ermöglicht, über die Wahrheit eines Satzes klar zu 
werden, und also die Wahrheit oder Unwahrheit eines Satzes schon 
tatsächlich besteht, auch da schließen wir aus allgemeinen, als 
wahr erkannten Obersätzen auf die Wahrheit des Schlußsatzes; 
etwa daß eine längst geschehene Handlung gut oder schlecht sei. 
Hier ist der Schlußsatz objektiv und logisch in unsrer ersten Prä- 
misse enthalten. Trotzdem behält der Syllogismus seinen großen 
Erkenntniswert. Denn wir waren noch gar nicht darauf aufmerk- 
sam geworden, daß die Handlungsweise im vergangenen Falle 
nicht allgemeingültig, also schlecht sei. Hier ist zwar mit dem 
Grunde die Folge gegeben, und von dieser objektiv-logischen 
Seite hätte die Skepsis recht, die Oberflüssigkeit des Syllogismus 
zu behaupten; aber zugleich ist, zur Erweiterung meiner Erkenntnis- 
sphäre, mit dem Grunde die Folge mir aufgegeben; und unter 
diesem subjektiv-psychologischen Gesichtspunkt hat sie un- 
recht, den SyUogismus zu verwerfen, solange diese Aufgabe nicht 
gelöst ist. Denn das Suchen und Finden der Folge vollzieht sich 

Richter, Skeptidsmus. 17 



2 53 Erster Abichnitt. Die griechische Skepsis. 

an der Hand des Syllogismus. Also: die Konklusion eines Schlusses 
über objektives Geschehen steckt niemals und in keiner Weise 
in den Prämissen, wenn dieselbe über Tatsachen, die nicht vor- 
ausgesehen oder gewußt werden konnten, vermöge der Prämissen 
berichtet. Die Konklusion steckt in den Prämissen objektiv und 
logisch, aber nicht für das erkennende (auch nicht das rationalistisch 
gesonnene) Individuum, wenn sie tatsächlich nicht gewußt wurde, 
so daß die Kenntnis ihres Inhalts erst aus den Prämissen gewonnen 
werden konnte. Im ersten Fall konnte die Wahrheit eines Satzes 
erst durch den Schluß und nicht schon aus der obersten Prämisse 
erkannt werden; im andern Fall wurde sie erst durch den Schluß 
erkannt. Beidemal , wenigstens grundsätzlich , ist sie absolut zwingend 
zu erweisen. 

Und nun zum Empiriker. Für ihn ist der allgemeine Satz 
„Handlungen, deren Maxime usw., sind gut", a posteriori und in- 
duktiv bestätigt Ist die Induktion vollständig, so ist auch der 
Wert der Handlungsweise im vorhergesehenen, gegenwärtigen Fall 
darin enthalten; die Skepsis wäre im Recht, die Oberflüssigkeit 
solcher Beweise zu betonen. Diese Sachlage wird niemals ein- 
treten. Eine die Fülle der allgemeingeltbaren Handlungen er- 
schöpfende Induktion ist wegen der notwendigen Vernachlässigung 
aller zukünftig möglicherweise eintretenden Handlungen unmöglich. 
Hätte aber eine bestimmte Handlung bei der Induktion berück- 
sichtigt werden können, so würde der induzierende Empiriker 
ihren Wert nur dann aus dem Obersatz erschließen, wenn dieser 
Wert beim Aufbau der Induktion noch keine Berücksichtigung ge- 
funden hätte. Sonst müßte er allerdings beim Syllogismus „ver- 
lieren, statt zu gewinnen", weü er statt der allgemeinen Regel 
einen einzelnen Fall setzte, der schon in dieser Regel enthalten 
war. „Die einzig fruchtbringende Anwendung des subsumierenden 
Syllogismus besteht aber darin, daß wir ihn gerade auf solche 
Fälle anwenden, die zur Aufstellung der allgemeinen Prämisse 
nicht gedient haben. Selbst an manchen der herkömmlichen 
syllogistischen Beispiele läßt sich das leicht erkennen. Den Satz 
„alle Menschen sind sterblich" auf die bereits gestorbenen Menschen 
anzuwenden, würde freilich ein ziemlich unnützes Beginnen sein. 
Aber wenden wir nicht diesen Satz fortwährend an auf uns und unsre 
noch lebenden Mitmenschen? Und wie anders würde es in der Welt 
aussehen, wenn nicht unsre ganze Lebensführung unter der Herr- 
schaft dieses Syllogismus stünde I" (Wundt.) Was folgt aus alledem 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 259 

für Beweise rein empirischen Charakters? Daß, wo die Konklusion 
in der allgemeinen Prämisse steckte (objektiv, logisch und psycho- 
logisch), nämlich bei vollständiger Induktion, der Beweis zwar 
völlig zwingend, aber wegen der Unerfullbarkeit seiner Voraus- 
setzung unmöglich und selbst bei Annahme der Erfüllbarkeit jeden- 
falls — überflüssig wäre; daß, wo die Konklusion nicht in der 
allgemeinen Prämisse steckt, (wenn sie auch objektiv und logisch in 
ihr enthalten sein könnte, für mein erkennendes Bewußtsein aber 
nicht enthalten ist), nämlich bei unvollständiger Induktion, der 
Beweis möglich ist, auch nicht überflüssig, aber sein Ergebnis nie 
völlig gewiß ausfallt. Gilt doch der allgemeine Obersatz nur innerhalb 
der empirisch -induktiven Genauigkeitsgrenzen, und das gleiche muß 
von dem auf ihn zurückgeführten und so durch ihn erwiesenen 
Urteil gelten. 

Unter den spezifisch wissenschaftlichen Methoden, als 
der Anwendung der Vemunfloperationen zu gelehrten Zwecken, 
waren von der Skepsis vor allem die Induktion und die De- 
finitionen einer scharfen Kritik unterzogen worden. 

Die skeptische Erwägung, durch die alle Induktion ins 
Wanken geraten sollte (öaXsvBöSai), ist in ihrem innersten Kern 
eine unbestreitbare und längst anerkannte, auch auf den vorigen 
Seiten dauernd angewandte Wahrheit. Unvollständige Induktion 
ist unsicher {aßißatog) „da stets die Möglichkeit besteht, daß von 
den in der Induktion beiseite gelassenen Einzelfällen, irgendeiner 
sich der allgemeinen Regel nicht fugt {t(p xaä^oXov ivavtiov6^ai)'^\ 
vollständige ist unmöglich, „da die Einzeldinge unendlich sind und 
unbegrenzt". Wir werden es später, beim Skeptizismus der mo- 
dernen Positivisten, ausführlicher zu begründen haben, was den 
knappen Sätzen der Pyrrhoniker entsprechend hier auch nur knapp 
gesagt werden soll: Alle Versuche, induktiven Ergebnissen, so- 
lange sie rein als solche sich darbieten, die vollständige 
ßsßatottfg zu verschaffen, sind als gescheitert anzusehn. Ein noch 
so gut induzierter Satz erlangt niemals absolute Gewißheit, denn 
ich kann mir von ihm niemals bewußt werden, daß er mit allen 
Erfahrungen sich im Einklang befindet, daß er im strengen Sinne 
des Wortes also wahr ist. Greifen wir auf unser altes Beispiel 
zurück, in dem der Satz „alle Pferde haben eine Blutwärme, die 
sich innerhalb bestimmter Temperaturgrenzen bewegt" als ein in- 
duktiv gewonnener gelten sollte. In dieser Eigenschaft wäre der 
Satz zunächst absolut gewiß und wahr, wenn „alle Pferde haben 

17* 



26o Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

warmes Blut" als brachylogischer Ausdruck stände für „alle bisher 
beobachteten Pferdeexemplare hatten warmes Blut". Allerdings 
wäre in dieser Elinschränkung das Urteil als Erkenntnis allgemeiner 
Natur gänzlich wertlos; es überschritte nicht den Kreis unmittel- 
barer Erlebnisse oder Erinnerungen an solche; sein Inhalt ist eine 
bloße Wiederholung der Einzelbeobachtungen in abstrakterer Form. 
Weder ist es in dieser Fassung geeignet, ii^end einen nicht selbst 
evidenten Satz über objektive Verhältnisse zu beweisen, d.h. 
evidenter zu machen, noch einer Voraussage in die Zukunft als 
Basis zu dienen; noch einzugehen als Bestandteil in das System 
wissenschaftlicher Erkenntnisse. Nun würde die Induktion als 
wissenschaftliche Methode von den ihr vorausgehenden Beobach- 
tungen gar nicht verschieden und also von keinem selbständigen 
Nutzen sein, wenn sie weiter keine Einsicht abwürfe als die (Ge- 
dächtnisschwankungen abgerechnet) allerdings gewisse Aussage: ich 
habe die und die Erlebnisse gehabt, die und die Beobachtungen 
gemacht. Aber der vorsichtigste Empiriker glaubt sich zu weiter- 
gehenden Folgenmgen berechtigt. Er beansprucht nämlich für den 
Satz „alle Pferde haben warmes Blut" je nach der Technik seiner 
Induktion im betreffenden Falle mehr oder minder gewisse Geltung; 
und zwar nicht für den Satz in der brachylogischen Ausdeutung, 
sondern für den Satz in wörtlichem Sinne, nach dem „alle Pferde" 
alle wirklichen, möglichen, zukünftigen, vergangenen begreift; gleich- 
gültig, ob die Blutwärme bei ihnen gemessen wurde oder nicht 
Wie kommt der Empirist zu diesem Anspruch, der dem Laien 
so selbstverständlich erscheint, dem Philosophen aber seit Hume 
eines der schwierigsten Probleme seiner Wissenschaft bedeutet? 
Die Annahme: wenn in vielen Fällen die gleichen Merkmale a, 
b, c usw. (— die Pferdemerkmale) mit dem Merkmal bestimmter 
Blutwärme verbunden waren, so werden auch in allen übrigen 
Fällen diese beiden Merkmalgruppen aneinander gebunden sein, 
ergibt sich nicht einfach aus der Beobachtung der „vielen Fälle". 
Sondern dieser Annahme liegt eine gewichtige Voraussetzung zu- 
grunde: die Gleichmäßigkeit des Naturlaufs oder die Ge- 
setzmäßigkeit alles Geschehens. Nach dieser Voraussetzung 
ist dasjenige, was oft miteinander verbunden war, immer mit- 
einander verbunden. In der Tat geht, wie der Heros der modernen 
Induktionsmethodologie eindringlich hervorhob, in jede strenge 
Induktion, welche die Eigenschaft beobachteter Fälle zur Eigen- 
schaft aller gleichen oder ähnlichen, aber nicht beobachteten Fälle 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 26 1 

erhebt, diese Voraussetzung gewissermaßen als oberste Prämisse 
ein, so daß unser Beispiel in logischer Durchsichtigkeit lauten würde: 

Was oft miteinander verbunden war, ist immer miteinander ver- 
bunden. 

Blutwärme von Temperatur x ist oft mit den Pferdemerkmalen 
verbunden. 

Alle Pferde haben warmes Blut. 

Aber, wird man einwenden, das ist ja die versteckte Flucht ins 
rationalistische Lager. Denn die Voraussetzung, durch welche die 
Induktion erst ermöglicht und den Einzelbeobachtungen eine über 
ihre eigene Sphäre hinausgreifende Erkenntnisbedeutung verliehen 
wurde, ist ja eine Denknotwendigkeit, ein apriorischer Satz, das 
allgemeine Gesetz der Kausalität in etwas ungewöhnlicher Formu- 
lierung! Und die ganze Induktion hat sich in eine Deduktion aus 
einem völlig gewissen denknotwendigen Satz verwandelt Das Urteil 
über die Warmblütigkeit der Pferde ist jetzt nicht mehr aus ein- 
zelnen Beobachtungen als allgemeines Ergebnis induziert, sondern 
aus einem viel allgemeineren Satz als dessen spezielle Folge de- 
duziert. Die Beobachtungen spielen zwar noch die gleiche Rolle 
wie vordem, da man sich über das, was oft miteinander verbunden 
ist, nur durch Beobachtung der Erfahrung unterrichten kann; aber 
der eigentliche Nerv des Induzierens ist durchschnitten und der 
skeptische Knoten, wie unvollständige Induktion sichere Erkenntnis 
allgemeiner Sätze verschaffen könne, nicht gelöst, sondern zer- 
hauen. Darauf würde der Empirist entgegnen: keineswegs. Denn 
die Annahme von der Gleichförmigkeit des Naturlaufs ist selbst 
das Ergebnis einer Induktion, aber sie ist unter allen Induktionen 
die allgemeinste und gewisseste. Sie ist die Sanktion, unter der 
sich alle einzelnen Induktionen vollziehen. Daß unter gleichen 
Umständen gleiche Erscheinungen, unter gleichen Bedingungen 
gleiche Wirkungen eintreten, hat die Erfahrung millionenfach be- 
stätigt, die Erfahrung des Lebens in allen ihren Teilen, die Er- 
fahrung der Wissenschaft in allen ihren Zweigen. Und wenn ich 
andrerseits diese Voraussetzung, zu der mich objektiv die über- 
wältigende Masse von Erfahrungen, subjektiv der „Trieb nach Ver- 
allgemeinerung" (Mill) oder der Zwang der Assoziation (Hume) 
fast gewaltsam drängt, mm wieder der Gewinnung neuer Ein- 
sichten zugrunde lege, so sehe ich diese Einsichten von der Er- 
fahrung stets bestätigt und damit jene Urhypothese durch das 



262 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Gelingen ihrer Anwendung inuner stärker bekräftigt. Aber absolut 
gewiß ist auch diese Urhypothese nicht; denn sie steht nicht mit 
allen, sondern nur mit unendlich vielen Erfahrungstatsachen im 
Einklang; das unausrottbare Evidenzgefuhl heftet sich nicht an sie, 
und das Wahrheitsgefühl wird zum Wahrscheinlichkeitsgefühl 
herabgestimmt. 

Die Technik der Induktion, auf die näher einzugehn, hier 
noch nicht der Ort ist, besteht im wesentlichen darin, heraus- 
zufinden: was eigentlich oft miteinander verbunden ist. Diese 
Forderung birgt ein qualitatives und ein quantitatives Moment 
in sich. Mit der immer reineren Herausarbeitung des qualitativen, 
der immer umfassenderen Berücksichtigung des quantitativen 
Moments steigt direkt proportional der Erkenntniswert einer In- 
duktion. So handelt es sich im obigen Beispiel darum, zu unter- 
suchen: a) ob wirklich die Pferdeeigenschaften mit der Warm- 
blütigkeit verbunden sind, und nicht etwa die Warmblütigkeit der 
Pferde durch ganz andre Umstände, die nur zufallig auch in den 
untersuchten Pferdeleibem sich abspielten (etwa pathologische Pro- 
zesse) bedingt ist; dazu bedarf es der, womöglich experimental 
geleiteten, „isolierenden Abstraktion" von allen Nebenumständen; 
b) ob an möglichst vielen, oder (um b mit a zu verbinden) an 
beliebigen Exemplaren die Blutwärme die bestimmten Temperatur- 
grenzen einhält. Dabei zeigt sich: wo die erstgenannten Bedin- 
gungen sehr vollkonunen erfüllt sind, die zweitgenannten indirekt 
bereits miterfullt, und deshalb direkt mehr oder minder entbehrlich 
sind. Dieses merkwürdige Verhältnis von qualitativen und quan- 
titativen Induktionskriterien hat seinen Grund darin, daß der Elm- 
pirist beflissen ist, möglichst viel indirekt zu induzieren, d. h. Sätze» 
die durch direkte Induktion ziemlich schwach gestützt wären, aus 
induktiv ermittelten Sätzen von höherer Gewißheit zu deduzieren. 
Dabei spielt die Zahl der in die Induktion eingehenden Einzelfälle 
bei der Ermittelung des obersten Gesetzes, des allgemeinen Kausal- 
prinzips die höchste Rolle; sowie aber einmal, wiederum auf quan- 
titativem Wege, die allgemeinsten qualitativen Kriterien dieser 
Gesetzmäßigkeit ermittelt sind, handelt es sich nicht mehr in erster 
Linie um die Anzahl, in der bei bestimmten Erscheinungen diese 
Kriterien erfüllt sind, sondern um den Grad, in dem ihnen, viel- 
leicht nur in einem Falle genügt wird, um die Verallgemeinerung 
daraufhin zu wagen. So verdankt sich die allgemeine Geltung des 
Gesetzes „räumlich -zeitlich stetig miteinander verbundene Er- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 263 

scheinungen, zwischen denen das Verhältnis der Äquivalenz be- 
steht, sind immer (d. h. kausal) miteinander verbunden" rein quan- 
titativen Momenten , nämlich der dauernden Bestätigung durch die 
Erfahrung. Dies Gesetz wäre also nach Ansicht des reinen Em- 
pirismus per enumerationem gefunden. Alle übrigen Sätze all- 
gemeiner Natur über objektive, äußere Erfahnmg ist der moderne 
Empirist bemüht, auf dieses oberste Gesetz zurückzufuhren, um 
sie an dessen hohem Wahrscheinlichkeitsgehalt teilnehmen zu lassen. 
Am besten gelingt ihm das bei den mechanischen, physikalischen 
und chemischen Gesetzen, auf die man wieder die physiologischen, 
botanischen u. a. Gesetze zurückzuführen sucht. Hier können oft 
die quantitativen Momente, die Anzahl der Fälle, ersetzt werden 
durch das qualitative Merkmal der Äquivalenz unter den an- 
gegebenen Bedingungen. Ist dies Merkmal auch nur in einem 
einzigen Fall sichergestellt, so findet der betreffende auf diesen 
Einzelfall hin behauptete allgemeine Satz seine Stütze am all- 
gemeinen Kausalprinzip für die äußere Erfahrung und ist weiterer 
Beobachtungen unbedürftig geworden. In den weniger „exakten" 
Disziplinen muß dann oft wieder die Fülle der Beobachtungen an 
die Stelle der qualitativen Merkmale treten. Aber auch dort, wo 
der Empirist durch eine einzige Beobachtung einen allgemeinen 
Satz aus einem noch allgemeineren ableiten konnte, gelang dies nur, 
weil der Einzelfall ein Merkmal zeigte, daß bei einer Unzahl von 
Fällen als mit einem bestimmten Verhalten verbunden beobachtet 
worden war. Daher gibt — man mag gegen die enumeratio sagen, 
was man will, und noch so oft darauf hinweisen, daß auch der 
Empirist sich ihrer keineswegs überall bediene — doch schliefSlich 
die Quantität sich gleich verhaltender Fälle für die Gewißheit 
eines induktorischen Ergebnisses für den reinen Empiristen den 
letzten Ausschlag. Es erscheint z.B. die Verbindung von Pferde- 
merkmalen und Blutwärme nicht sogleich als ein Spezialfall des 
quantitativ am vollkommensten induzierten Kausalgesetzes über 
Äquivalenz. Man wird also zunächst den Satz von der Warm- 
blüti^eit des Pferdes durch die Anzahl der Fälle zu stützen 
suchen. Gelingt es aber, die Warmblütigkeit als mit bestimmten 
Oxydationsprozessen verbunden nachzuweisen, die wieder durch 
die Pferdekonstitution, Atmung, Ernährung usw. bedingt sind, so 
tritt an Stelle weiterer Enumeration die Deduktion aus dem all- 
gemeinen chemischen Gesetz: Verbrennungsprozesse von bestimmter 
Art sind mit der Entwicklung einer bestimmten Anzahl Kalorien 



264 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

kausal verbunden. Dieser Satz brauchte nicht mehr aus der Zahl 
der Fälle, sondern kann vermöge der isolierenden experimentellen 
Methoden der Chemie als spezielle Äußerung des Gesetzes auf- 
gezeigt werden: was räumlich und zeitlich sich unmittelbar anein- 
ander anschließt und dem Äquivalenzprinzip genügt, ist kausal 
aneinander gebunden. Aber dieses Gesetz ist selbst wieder nur 
der Ausdruck quantitativ reicher Induktion, wie es seinerseits 
unter dem quantitativ noch reicher induzierten allerallgemeinsten 
Kausalgesetz steht: der Naturlauf ist ein gesetzmäßiger, und 
an diesem seinen letzten Riickhalt findet. Es darf also der in- 
duzierende Empirist von der Anzahl der Einzelfalle zur Gewinnung 
eines allgemeinen Satzes nur dann absehen, wenn er die allgemeine 
Regel als Äußerung eines Gesetzes nachweisen kann, das quan- 
titativ weit vollkommener induziert ist, als seine allgemeine Regel 
es je werden könnte. 

So halten wir daran fest und müssen der Skepsis darin recht 
geben: für den Empiristen, dem alle aUgemeinen Sätze über ob- 
jektive Verhältnisse auf direkter Induktion oder Ableitung aus 
direkt induzierten Sätzen letzten Endes beruhen, gibt es absolute 
Evidenz, also auch „Wahrheit" der betreffenden Sätze: nur bei 
Urteilen über unmittelbare Erlebnisse und formal logische Ope- 
rationen. Dem Rationalisten dagegen sind überdies noch alle apri- 
orischen Denk- und Anschauungsnotwendigkeiten als Bedingungen 
aller Erfahrung gewiß und wahr (Kants synthetische Urteile a priori 
in verschiedener Fassung); und, falls er in eine dieser Denknot- 
wendigkeiten (etwa in das Kausalgesetz) irgend ein inhaltliches 
Merkmal aufnimmt, auch alle allgemeinen Sätze, die aus einem 
einzigen Erfahrungsfall, der das allgemeine Merkmal zeigte, ge- 
folgert sind. (Z. B. alle speziellen Kausalgesetze der Physik, 
Chemie usw.) 

Daß die induktive Methode, obgleich sie für sich allein allge- 
meinen Sätzen von objektiver Geltung nicht vollkommene Gewißheit 
zu sichern vermag, dennoch mächtig zur Förderung der Erkenntnis 
beiträgt, ist ebenso selbstverständlich, wie daß die antike Skepsis 
diese Leistung nicht weiter beachtete. Was ging es sie an, ob bei 
methodisch geleiteten Induktionen die induktiv gewonnenen Sätze 
an der Ableitbarkeit aus andern von höherer Gewißheit deduktiv 
geprüft werden können; ob man aus ihnen, als h)rpothetisch an- 
genommenen, vorläufige Folgerungen zieht, um durch die Probe 
an der Erfahrung die Richtigkeit dieser Folgerung und damit den 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 265 

Gehalt der induzierten Hypothese selbst zu prüfen I Dieses in Fluß 
Geraten der Erkenntnisprozesse gerade durch Operationen, die 
nicht absolut gewisse Ergebnisse liefern, verkennt die Skepsis stets, 
und sie mußte es verkennen durch ihre starre Forderung „alles 
oder nichts", der in ihrem ersten Teil nur ein Rationalismus ganz 
genügen kann, welcher an a priori gewisse Sätze mit allgemeinen 
Merkmalen für inhaltliche Erfüllung glaubt 

Weniger tiefgreifend sind die Bemerkungen, die der Pyrrho- 
nismus gegen das wissenschaftliche Verfahren des Definierens 
geltend machte. Daß durch die Definitionen keine neuen Erkennt- 
nisse über die Dinge gewonnen werden, die nicht durch die un- 
mittelbaren Erlebnisse oder mittelbar durch die Anwendung der 
logischen Axiome, resp. der allgemeinen (apriori- apodiktischen oder 
empirisch -wahrscheinlichen) Grundsätze auf die unmittelbaren Er- 
lebnisse schon vorher bestanden ^ ist uns heute eine Binsenwahr- 
heit. Wenn sie mit ihrer Persiflage der stoischen Definierwut diese 
Einsicht bezweckte, war die Skepsis im Recht Denn wenn man 
übertreibend gesagt hat, daß die formale Logik „überhaupt kein 
besseres Schicksal verdient, als daß sie verhöhnt und mit Füßen ge- 
treten wird" (Prantl.), so trifft dies für eine formale Logik, die sich 
als materiale und objektive gebärdet, jedenfalls zu. Daß andrerseits 
die Definitionen in ähnlicher Weise wie die Bildung der Begriffe 
ein unentbehrliches Hilfsmittel sind, uns selbst und andern den 
jeweiligen Stand unsrer Erkenntnisse in knappen, erschöpfenden 
Formeln zu übermitteln und die Begriffe von den Dingen bei 
weiterer Forschung eindeutig zu gebrauchen, bleibt unwiderlegt 
und unwiderlegbar. 

Mit der kritischen Besprechung jener allgemeinsten, alle 
Erkenntnis zu Falle bringenden Argumente, welche Sextus in der 
Entwicklung seiner rationalen Skepsis vorangestellt hatte, während 
unsre Darstellung sie an das Ende verwies, mit der Bekämpfung des 
Wahrheitskriteriums und des Wahrheitsbegriffs halten wir 
uns nicht lange auf. 

Daß ein Erkennungszeichen der Wahrheit nie zu ermitteln 
ist, weil wir bei dieser Ermittelung entweder ins Unendliche ge- 
trieben würden oder uns im Kreise drehen müßten, wäre nur dann 
richtig, wenn die Beschaffenheit des Wahrheitskriteriums, das allen 
Begründungen imd Beweisen erst die Sanktion erteilt, selbst wieder 
einer Begründung und eines Beweises bedürfte. Aber das psy- 
chologische Kriterium, das unmittelbare und unausrottbare Evidenz- 



266 Enter Absdmitt Die griechische Skepds. 

gefühl ist letztes, unmittelbares Erlebnis; und das logische 
Kriterium „was mit allen Erfahrungen und Denkgesetzen in Ein- 
klang sich befindet, ist wahr", ist für den Rationalisten a priori, 
daher unbeweisbedürftig und unerschütterlich; für den Empiristen 
eine induktive Verallgemeinerung auf Gnmd der Erfahrung, daß 
bisher das psychologische Kriterium bei solchem logischem Befunde 
sich stets einstellte. Die skeptische Frage: wer soll Richter über 
die Wahrheit sein? ist durch das S. 127 ff. Gesagte dahin entschieden, 
daß der einzelne Mensch hier das urteUende Subjekt sein muß; 
nur auf dem Wege des Analogieschlusses sein Richteramt auf an- 
dere (menschliche, untermenschliche oder übermenschliche Wesen) 
übertragen kann, sich aber immer bewußt zu sein hat, daß es 
sich dabei nur um menschliche Wahrheit handelt. Die von der 
Skepsis behaupteten Unterschiede zwischen dem Wahrheitsbewußt- 
sein der Toren und Weisen, der Menge und der Einzelnen be- 
stehen nicht, sondern scheinen nur deswegen zu bestehen, weil 
das ausrottbare Evidenzgefuhl sich bei verschiedenen Subjekten 
an verschiedene Sätze heften kann und man sich oft nicht bewußt 
ist, ob eine Aussage mit allen Denkgesetzen und Erfahrungen 
harmoniert. Die Funktion, durch die über wahr und falsch ge- 
urteilt werden soll, ist psychologisch das Gefühl und logisch die 
Vernunft; denn was mit allen Erfahrungen und Denkgesetzen im 
Einklang ist, vermag niemals die Sinnlichkeit, sondern nur unsre 
Denktätigkeit zu erkennen. Die Norm, nach welcher entschieden 
wird, aber ist wiederum psychologisch das unüberwindbare Gewiß- 
heitsgefühl, und logisch die geforderte Obereinstimmung mit Denken 
und Erfahrung. Bei der Bestreitung der stoischen Wahrheitsnorm, 
der (pavtaöia xaraXtiTcrtKri^ hatte die Skepsis in der Sache recht, 
aber in der Begründung ging sie fehl. Nicht deswegen kann die 
(pavtaöia KataXrfntiHTf nicht Norm für die Wahrheit sein, weU 
falsche und richtige Wahrnehmungen gleichermaßen evident, xata" 
XrjTtUHai sein können , sondern weil es weder evidente noch nicht- 
evidente, weder richtige noch falsche Wahrnehmungen geben kann. 
Richtig am stoischen Kriterium war das schöne Beiwort, falsch 
das Substantiv; nicht die <pavra6ia xataXrfTtrtXTf ^ sondern das 
ndärog HaraXrfTcrtHOv , das sich aber niemals an (pavtaöiat^ sondern 
stets nur an aStd^ata kettet, ist Norm für die Wahrheit Es ist 
nicht möglich, daß die sinnlichen Wahrnehmungen eines Menschen 
mit elementarer Gewalt jemals das Ei No. i für das Ei No. 2 , die 
Söhne des Euristheus für die eigenen Kinder „halten" sollen; viel- 



Drittes KapiteL Die Kn& der gdeckkcbeii Skepsis. 267 

mehr tut dies erst die vernünftige Deutung der sinnlichen Wahr- 
nehmung. In dieser entpuppt sich aber allemal die elementare 
Gewalt der Überzeugung bei falschen Sätzen, als — ausrottbares 
Evidenzgefuhl! 

In der Analyse des Wahrheitsbegriffs bricht noch einmal 
der derbe Realismus der Skepsis mit aller Macht hindurch. Die 
Wahrheit blieb dieser Sekte ein Reale, ein Dämon oder eine Göttin, 
die sich nur nicht packen lassen wollte; weder die Sinne, noch 
die Vernunft, noch beide zusammen, so verlief die Disjunktion 
Aenesidems, bekamen sie zu fassen. Man vergaß: daß die Wahr- 
heit abstrakt ein Beziehungsbegriff ist, der die Beziehung von 
Sätzen auf das Gefühl des Subjekts zum Ausdruck bringt; diese 
Abstraktion, selbst das Produkt eines Erkenntnisprozesses, kann 
so wenig noch einmal zmn besonderen Erkenntnisobjekt erhoben 
werden, wie etwa der Beziehungsbegriff rechts abgesehen von 'den 
einzelnen unter bestimmten Bedingungen als rechts zu bezeichnenden 
Raumteilen noch besonders und für sich als ein starres Reale dem 
Subjekt gegenüber steht imd von diesem „erkannt" werden kann. 
Konkret bedeutet die Wahrheit die Summe aller wahren Sätze. 
Diese Summe ist aber wiederum keine neue Realität neben oder 
über den einzelnen Wahrheiten. Woran diese zu erkennen sind, 
darüber besteht hoffentlich jetzt kein Zweifel mehr. 

Die beiden dialektischen Sophismata endlich, mit denen die 
Darlegung der rationalen Skepsis schloß, noch ausdrücklich zu 
„widerlegen**, wäre eine pedantische Stillosigkeit, die kein archi- 
tektonischer Vollständigkeitstrieb rechtfertigen würde. 

Überblickt man den Kampf der Skepsis gegen die Formen 
des Erkennens, gegen Sinne und Vernunft im ganzen, so stellt 
sich als kritisches Gesamtergebnis heraus: daß die Skeptiker mit 
den gegen die Möglichkeit des Erkennens angeführten Tatsachen 
meistens im Rechte sind, daß sie aber mit der Verwertung 
dieser Tatsachen zur Gewinnung eines „bodenlosen** Skeptizismus 
sich im Unrecht befinden. Das Geheimnis, das dieser Verwertung 
zugrunde liegt, besteht darin, daß diese Richtung falsche oder 
zu hohe Anforderungen an die Erkenntnis der Wahrheit stellte — 
und darin verfuhr sie noch sehr unkritisch, naiv und dogmatisch — ; 
um dann, vermöge der von ihr zum Teil entdeckten, zum Teil 
von den Sophisten, ja selbst von dogmatischen Vorgängern über- 
nommenen Tatsachen, auf die Unerfüllbarkeit dieser Anforderungen 
zu schließen. Die Skeptiker nehmen an, die Beschaffenheiten der 



208 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Dinge durch die Sinne erkennen, heiße: in jedem Element der 
isolierten Wahrnehmung reale Dingbeschaffenheiten widerspiegeln; 
und da dies wegen der Relativität und Variabilität der Empfin- 
dungen jedenfalls nicht geschieht, verwerfen sie die sinnliche 
Wahrnehmung als unbrauchbares Erkenntnisinstrument Sie nehmen 
an, allgemeine, inhaldiche Sätze über die objektive Wirklichkeit 
mit Hilfe der logischen Operationen gewinnen und so gesetzmäßige 
Zusammenhänge der Dinge erkennen, heiße: völlig gewisse Sätze 
über diesen Zusammenhang gewinnen, und da dies infolge der 
drei logischen Tropen (außer auf Kantisch -rationalistischer Grund- 
lage) nicht möglich ist, verwerfen sie die Vernunft als unbrauch- 
bares Erkenntnisinstrument Sie nehmen an: Wahrheit erkennen 
heiße eine feste, selbständige Realität zu packen kriegen, nicht 
nur die Beziehung gewisser Sätze zu Evidenzgefuhlen des mensch- 
lichen Bewußtseins feststellen; und da wir die Wahrheit nur durch 
das Medium unsrer erkennenden Funktionen zu erblicken ver- 
mögen, sind wir nie sicher, die Wahrheit, welche vielleicht ein 
Gott, ein Teufel, ein Engel, ein Tier anders und reiner erfaßt, 
zu besitzen. 

Heute sind wir in unsem Ansprüchen an Erkennen und 
Wissen aus kritischen Gründen bescheidener und eben darum in 
den Folgerungen weniger skeptisch geworden. Die Dosis Skepti- 
zismus, die von vornherein im Blute des modernen Menschen 
kreist, macht ihn gewissermaßen immun gegen die radikalen 
Konsequenzen eines trotz aller Reflexion naiven Skeptizismus. 

lY. Bie Skepsis gegen einzelne Wissensinhalte — Naturzusammenhang — 

Gott — Werte. 

Die Kritik hat sich hier auf die in der Darstellung heraus- 
gehobenen Punkte zu beschränken. Diese hatten die skeptische 
Zersetzung des Kausalprinzips, der sittlichen Wertbegriffe, der 
Gottesvorstellung zum Inhalt In den Sturz des Kausalprinzips 
wurden alle Wissenschaften, die an dessen Hand ihre Ergebnisse 
erarbeiteten, verflochten; nach antiker Auffassung war das vor 
allem die Physik, die Grunddisziplin der Naturwissenschaften, ge- 
wesen. Aber die skeptischen Angriffe treffen ebensogut das Kausal- 
prinzip, wie es die Psychologie, als Basis der Geisteswissenschaften, 
in der neueren Zeit zur Anwendung gebracht hat. Durch die 
beiden andern Zielpunkte sollten Moralphilosophie und Theologie 
zu Tode getroffen werden. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 269 

Aus der Polemik Aenesidems gegen das Kausalgesetz sind 
vor allem zwei Einwände von weittragender Bedeutung. Der eine 
ist gegen das Kausalprinzip im allgemeinen gerichtet und findet 
es unbegreiflich, daß aus einem Ding als Ursache ein ganz andres 
Ding als Wirkimg hervorgehen solle, da ersteres doch aus seiner 
Natur nicht herauszukommen, die Grenzen seiner Individualität 
nicht zu durchbrechen vermöge. Der zweite Einwand richtet sich 
gegen die Annahme, daß Ungleichartiges, etwa Physisches und 
Psychisches, im Kausalverhältnis zueinander stehen könne. Was 
den ersten Fall anlangt, so ist nicht zu verkennen, daß wiederum 
die extrem -realistische Anschauungsweise dem ganzen Einwand als 
willkürliche Voraussetzung zugrunde liegt. Man meinte, die Ur- 
sache sei, wie ihr Name besage, wirklich eine Sache, ein Ding, 
und von der \^^rkung gelte das gleiche. Dann ist es allerdings 
unbegreiflich, wie eine Sache, ein Ding (etwa ein geheizter Ofen) 
Ursache eines ganz andern Dinges (der Stubenwärme) sein sollte; 
dann müßte allerdings die Stubenwärme schon irgendwie im ge- 
heizten Ofen stecken — wie käme sie sonst wohl aus ihm her- 
aus — , der Ofen (als Wirkung) in der Klempnerarbeit (als Ursache), 
die Klempnerarbeit (als Wirkung) in der Ernährung des Mannes 
(als Ursache) usw. Quantitativ betrachtet würde dann diese end- 
lose Kausalreihe zurückfuhren auf eine erste Ursache, die anzu- 
sehen wäre als der mit der unendlichen Zahl aller Glieder der 
ganzen Kausalkette latent geladene Kern; es würde in der Tat 
der skeptischen Entgegnung, sogar ihrer drastischen Ausdrucks- 
weise kaum auszuweichen sein: Aus der Eins ginge die Unendlich- 
keit hervor I Es waltete hier also, um ein anschauliches Bild zu 
gebrauchen, das umgekehrte Verhältnis ob, wie zwischen den 
ineinandergeschachtelten chinesischen Lackkästchen, bei denen das 
größte das zweitgrößte, dieses das nächstgroße usf. in sich auf- 
nimmt und, geöffnet, aus sich enüädt. Man denke sich zur Illu- 
stration der von der Skepsis in der extrem -realistischen Kausali- 
tätsauflassung aufgedeckten Absurdität: das kleinste Kästchen 
beherberge alle übrigen in sich und sei imstande, sie der Reihe 
nach aus sich zu entladen! Nun lösen sich alle diese Bedenken 
spielend, sowie man die Verdinglichung von Ursache und Wir- 
kung aufgibt, und das Kausalprinzip als das anspricht, als was es 
sich immer mehr bewährt und erkannt wird: als einen Vorgang 
(nichts Dingliches), der die regelmäßige Beziehung (nichts Ding- 
liches) zwischen zwei zeitlich aufeinander folgenden Begebenheiten 



270 Erster Abschnitt. Die g rie cl ü achc Skepsis. 

(nichts Dinglichem) zum Ausdruck bringt. Weil auf die der Ofen- 
wärme zugrunde liegenden Bewegungsvorgänge die der Stuben- 
wärme zugrunde liegenden Bewegungsvorgänge unter bestimmten 
Bedingungen regelmäßig folgen, so spricht man diese Beziehung 
zwischen beiden Gliedern in der Form aus, daß man jedem der- 
selben ein Epitheton beilegt, das auf die Beziehung zum andern 
hinweist, und die Ofenwärme Ursache, die Stubenwärme Wirkung 
nennt. Durch das Ursache- und Wirkungsein kommt also in diese 
Wirklichkeitsbestandteile nicht etwa noch ein neues Wirklichkeits- 
element hinein, sondern sie verharren durchaus in den Grenzen 
ihrer Individualität; wirklich an der Kausalität ist allein dabei die 
zeitliche, gesetzmäßige Beziehung zwischen den als Ursache und 
Wirkung charakterisierten Elementen. Ereignis A als Ursache von 
Ereignis B wird nicht zu A)3, B zu Bar, sondern A bleibt A, 
und B bleibt B; nur die Linie AB ist das einzige durch dieses 
Kausalverhältnis neu hinzutretende objektive Moment. Das Ver- 
hältnis von Ursache und Wirkung ist also, in Kantischer Termino- 
logie geredet, kein anal)rtisches, sondern ein synthetisches. In den 
Dingen sind die Wirkungen nicht objektiv implicite, in den Ding- 
begriffen nicht logisch implicite enthalten; sondern durch das, was 
objektiv zu einem Ereignis in der Zeit hinzukommt, durch das, was 
der Mensch logisch als zu dem Begriff dieses Ereignisses hinzu- 
kommend erkennt, wird ein Ereignis zur Ursache gemacht, als 
Ursache erkannt. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob diese kau- 
salen Beziehungen zwischen den Ereignissen gedeutet werden: 
als Relationen zwischen den Wahrnehmungen (idealistisch), oder 
zwischen bewußtseintranszendenten Dingen (realistisch) ; als absolut 
konstante (rationalistisch), oder als bislang konstante (empiristisch). 
Die Annahme, daß den Dingen als solchen auch noch Ursächlich- 
keit neben ihren sonstigen Eigenschaften zukäme, findet ihre letzte 
Stütze, nachdem sie allmählich aus allen übrigen Stellungen sich 
verdrängt sah, an einem irreführenden, von den Naturwissen- 
schaften entlehnten Begriffe: es ist der Begriff der Kraft, wel- 
cher unter Mißachtung der erkenntnistheoretischen Vieldeutigkeit 
aller in den Einzeldisziplinen verwandten Vorstellungen, unkritisch 
zu philosophischem Behufe verwandt wurde. Aber allmählich 
beginnt auch der Kraftbegriff alle mythologischen Reste von 
sich abzustoßen und damit auch den Kausalbegriff von solchen 
völlig frei zu machen. Und wo das noch nicht geschieht, da mag 
Aenesidems Einwand zum Verlassen dieses verlorenen Postens den 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 271 

letzten Stoß geben. Die wahrhaft problematische Seite am Kausal- 
prinzip aber, an deren Deutung die neueste Philosophie noch mit 
wechselnden Lösungsversuchen arbeitet, bekam die antike Skepsis 
gar nicht zu Gesicht. Worüber sie sich aufhielt, das ist für Hu me 
wie für Kant im gleichen Sinne abgetan; und worüber diese beiden 
Männer zu Antipoden wurden, davon ahnte Aenesidem noch nichts. 
Kant und Hume sind in dem einig, was, zugespitzt aber kurz, so 
ausgedrückt werden kann: daß bewirkt werden nicht aus andrem, 
sondern auf andres folgen bedeute; damit waren die Widersprüche, 
die zwischen dem „aus*' und dem „andrem" bestanden, überwunden. 
Das neue Problem, das diese Denker im entgegengesetzten Sinne 
lösten, stellt die Frage nach der Erkennbarkeit und dem Grade 
von Notwendigkeit dieses zeitlichen Zusammenhangs. Erkenne ich 
ihn aus der Erfahrung, so ist die Synthese a posteriori, und kann 
den Wahrscheinlichkeitsgrad der bisher zwar vollständigsten, aber 
nicht absolut vollständigen Induktion logisch nie überschreiten. 
Kettet sich an die Vorstellung kausaler Zusammenhänge dennoch 
ein unüberwindliches Gefühl von absolut notwendiger Verknüpfung 
zwischen den Ereignissen, so ist das Gefühl psychologisch, vielleicht 
aus assoziativem Gewohnheitszwang, in seinem Dasein zu erklären, 
in seinen logischen Ansprüchen zurückzuweisen (Humes empiristi- 
scher Standpunkt). Erkenne ich die kausale Gesetzmäßigkeit aber 
aus reiner Vernunft, so ist die Synthese a priori, und erreicht 
logisch den höchsten Grad von Gewißheit. Das Gefühl von der 
absolut notwendigen Verknüpfung zwischen den Ereignissen ist der 
psychologische Reflex aller logischen , unerschütterlichen Wahrheiten 
(Kants rationalistischer Standpunkt). Für Aenesidem fragt es sich: 
wie können zwei verschiedene Dinge notwendig verknüpft sein; 
für die neuere Philosophie: wie können zwei Ereignisse als not- 
wendig verknüpft erkannt werden? — Weit mehr ist der zweite 
skeptische Einwand; daß es imbegreiflich, ja eine Denkunmöglich- 
keit sei, daß Körperliches auf Geistiges und Geistiges auf Körper- 
liches wirken könne, noch heute Gegenstand lebhafter wissenschaft- 
licher Kontroverse. Aber man begnügt sich nicht mehr mit der 
Feststellimg des blanken Widerspruchs, sondern sucht denselben 
entweder abzuleugnen oder zu umgehen. Seit dem Beginn der 
neueren Philosophie befinden sich diese Versuche im Flusse. Bereits 
bei Descartes, dessen System man an die Spitze der neueren 
Philosophie zu stellen pflegt, zeigen sich die beiden, noch heute 
miteinander kämpfenden Richtungen, vorgebildet. Die Macht- 



2'J2 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Sphären der körperlichen und der geistigen Substanz sind streng 
gegeneinander geschieden. Von der anorganischen Materie bis zu 
den höchstentwickelten Tieren hinauf greift niemals eine geistige 
Ursache in dieses Reich rein physischen Geschehens über, dessen 
Glieder stets durch Körperliches bewirkt werden, stets Körperliches 
bewirken. Von den rein geistigen Prozessen der menschlichen 
Psyche bis zur Gottheit hinauf greift niemals eine körperliche 
Ursache in dieses Reich rein psychischen Geschehens über, dessen 
Glieder stets durch Geistiges bewirkt werden, stets Geistiges be- 
wirken. Aber dieses Umgehen des skeptischen Dilemmas ist auf 
einer kurzen Strecke der Wirklichkeit nicht durchzuführen: die 
psychophysischen Prozesse im Menschen, das sinnliche Wahr- 
nehmen, die Affekte und die willkürlichen Bewegungen zeigen 
fortwährend und unmittelbar einen notwendigen Zusammenhang 
zwischen leiblichen und seelischen Vorgängen (zwischen den Licht- 
wellen imd der Lichtempfindung, dem Schamgefühl und dem Er- 
röten, dem Willensentschluß und der Armbewegung), und zwingen 
dazu, als Ausnahme von der Regel hier eine psychophysische 
We chselwirkung anzimehmen. Mit welch künstiichen Hypothesen 
Descartes diese Schwierigkeit zu heben suchte, ist bekannt Und 
so haben seine Nachfolger bald im Sinne der „Regel", bald im 
Sinne der „Ausnahme" die skeptischen Bedenken gelöst. Die 
eine Seite leugnet, daß es ein widerspruchvoller Gedanke sei, 
Vorstellungen, Gefühle usw. als Wirkungen oder als Ursachen 
materieller Vorgänge zu fassen. Physisches und Psychiches seien 
gar nicht so heterogen, das eine starr und tot, das andre lebendig 
und luftig; sondern beides seien im Grunde Energieformen, und 
es sei durchaus denkbar, daß physische Energie die Wirkung oder 
Ursache von psychischer Energie werden könne. Und je mehr die 
Verdinglichung von Ursache und Wirkung aufgegeben wird, je 
leichter wird diese Möglichkeit begriffen werden (Stumpf). Die 
andre Lösung (wohl heute die wissenschaftiich verbreitetere) gibt 
den Skeptikern den Widerspruch im Begriff einer psychophysi- 
schen Wechselwirkung durchaus zu, läßt aber diesen B^riff 
nicht als skeptisches Schaustück stehen, sondern sucht ihn durch 
eine widerspruchlose Vorstellung zu ersetzen. Dabei kann die 
Unmöglichkeit psychophysischer Wechselwirkung aus einem Wider- 
spruch entweder gegen unsre Denkgesesetze oder gegen Erfahrungs- 
tatsachen erschlossen werden. Von denjenigen, denen dieser Be- 
griff als keine Denkunmöglichkeit erscheint, wird als sein größter 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 273 

Nachteil der Widerspruch gegen das erfahrungsmäßig am besten 
bestätigte Gesetz geltend gemacht , gegen die Erhaltung der physi- 
schen Energie. Wo nämlich Geistiges Körperliches oder Körper- 
liches Geistiges bewirkt, miißte ein Zuwachs oder ein Verlust an 
physischer Energie angenommen werden. So ersetzte man aus 
diesen oder jenen Motiven die Vorstellung einer psychophysischen 
Wechselwirkung durch die eines psychophysischen Parallelis- 
mus. Körperliches wirkt immer nur auf Körperliches, Geistiges 
nur auf Geistiges, aber auf gewissen Strecken gehen körperliche 
Erscheinungen geistigen und vice versa parallel. Die Lichtempfin- 
dung ist nur das psychische Korrelat für die durch das einfallende 
Licht auf rein körperlichem Wege bewirkte Veränderung im Gehirn, 
nicht die Wirkung dieser Veränderung. Und die Armbewegung 
ist die Wirkung rein körperlicher Vorgänge im Nervensystem, der 
physischen Parallelerscheinung zu dem geistigen Willensentschluß. 
Der psychophysische Parallelismus erlaubt also, den gegebenen 
Erscheinungen gerecht zu werden, ohne sich in die von der Skepsis 
geltend gemachten Widersprüche zu verwickeln. Der Pfadfinder 
fiir diesen Ausweg waren die Okkasionalisten, nach deren An- 
schauung Gott „bei Gelegenheit" eines materiellen Vorgangs den 
entsprechenden geistigen hervorrufen sollte; der erste aber, der, 
ohne theologische Hypothesen, ihn als wahrer Philosoph beschritt, 
war Spinoza. Seinen Nachfolgern blieb noch übrig, die meta- 
physischen und empirischen Bestandteile aus der Verwirrung, in 
der sie sich bei diesem Denker befanden, zu lösen und den Satz: 
„jedem geistigen Element entspricht ein körperliches Element" 
als metaphysisches Dogma abzugrenzen gegen die empirisch ge- 
wonnene Hypothese: gewissen körperlichen Vorgängen gehen see- 
lische, und allen seelischen gehen körperliche Vorgänge zur Seite, 
— In den übrigen Fragen, welche die Skepsis zum nämlichen 
Problem noch aufwarf, ist im ganzen wohl eine einhelligere Be- 
antwortung erzielt worden. Die Rätselhaftigkeit psychophysischer 
Beziehungen auch auf die Beziehungen zwischen Ruhendem und 
Bewegtem zu übertragen, ist nicht mehr angängig, seitdem die 
Heterogenität dieser Begriffe immer mehr geschwunden ist, und 
überdies die Kausalität in der physischen Welt, als Vorgang zwischen 
Ereignissen, stets nur Bewegungsbeziehungen zum Gegenstande 
hat, die psychische Kausalität aber jenseits von Ruhe und Bewegung 
sich vollzieht — Das zeitliche Verhältnis zwischen Ursache und 
Wirkung, daß die Ursache vorangeht und die Wirkung folgt, wird 

Richter, Skepdzinras. iS 



2 74 Erster Abtcfanitt Die griechische Skepsis. 

ebenfalls durch das skeptische Apergu nicht erschüttert: Ursache 
und Wirkung bestünden nur durch einander, also nur mit einander. 
Die Richtigkeit auch dieser Behauptung steht und fallt mit der 
extrem -realistischen KausalitätsaufTassung. Die Beziehung, durch 
welche Ursache und Wirkung^ aneinander gebunden sind, ist aber 
keine dingliche, sondern gerade ihrem Wesen nach: die zeitliche 
Folge. Wo übrigens Ursache und Wirkung zugleich dazusein 
scheinen, da handelt es sich, wie Kants dritte „Analogie der Er- 
fahrung'* wohl für immer klar gemacht hat, um ein Verhältnis der 
Wechselwirkung. — Der letzten Erwägung von einigem Werte 
endlich aus der skeptischen Kausalitätsanalyse: daß niemals ein 
Objekt allein Ursache eines andern sei, sondern stets eine Mehr- 
zahl von Objekten, und daß sich daher die eigentliche Ursache 
nicht ermitteln lasse, liegt eine richtige, aber unrichtig verwertete 
Einsicht zugrunde. In der Tat nämlich ist eine Fülle von Be- 
dingungen zum Zustandekommen einer Wirkung erforderlich, die 
bei der Angabe der Ursache im stillen mitzudenken ist, unter 
deren Voraussetzung allein ein Ereignis zur Ursache werden kann. 
Das Reiben eines Zündhölzchens an der rauhen Fläche der Schachtel 
wird nur zur Ursache von dem Brennen des entzündeten Hölzchens, 
wenn die Phosphormasse nicht feucht, der umgebende Raum von 
bestimmten Gasen erfüllt ist usw. Diese Fülle von Bedingungen 
(„den passiven Ursachen" der Skepsis) schafft aber nicht mehrere 
Ursachen zu einer Wirkung, sondern enthält nur die näheren Be- 
stimmungen zu der einen Ursache oder zu der einen Wirkung. 
Mag die Aufnahme aller Bedingungen in die Beschreibung der 
Ursache technisch stets eine Unmöglichkeit bleiben, so konmit doch 
kein neues Wirklichkeitselement in der Form dieser Bedingungen 
:?u der Ursache hinzu, sondern die wirkliche Ursache und die wirk- 
liche Wirkung umfassen auch die Totalität all dieser Bedingungen 
in sich. 

Nach alledem müssen wir den griechischen Skeptikern in der 
Analyse des Kausalitätsprinzips das Verdienst lassen, hier zum 
erstenmal die Fragezeichen an die rechten Stellen gerückt und 
damit der Zukunft erkeniitnistheoretische Aufgaben hinterlassen zu 
haben, die zwar nicht grundsätzlich unlösbar und nur skeptisch 
abzulehnen, die aber doch so schwierig sind, daß sie noch die 
heutige Wissenschaft in Atem halten. 



Drittes KapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 275 

Von der skeptischen Kritik der Religionsphilosophie läßt 
sich ähnliches behaupten. Gar nicht zu überschätzen ist zunächst 
das Verdienst dieser Männer, vor aller Religionsphilosophie eine 
allgemeine, vergleichende Religionsgeschichte und Religionspsycho- 
logie abzuhandeln; und wenn wir auch heute, dank der immer 
stärkeren Durchleuchtung dieser dunklen Gebiete durch entsagungs- 
vollste Spezialforschung, uns hier durchaus nicht zu grundsätzlich 
skeptischen Lösungen gedrängt fühlen, so liegt doch der Entscheid 
auch nur der Hauptpunkte dieser jungen, eigentlich erst durch 
Hume geschaffenen Disziplinen in weiter Feme. Die Gottes- 
beweise aber, aus dem consensus gentium und der Zweckmäßig- 
keit der Natur, hat die Skepsis aus den gleichen Gründen für 
ungenügend erklärt, aus denen wir es auch heute noch tun müssen. 
Allgemeingültigkeit menschlicher Meinungen, selbst wenn sie vor- 
handen wäre, kann für deren Wahrheit nichts beweisen, wenn 
nicht noch die Notwendigkeit, d. h. das unausrottbare Evidenz- 
gefühl zu dieser allgemeinen Anschauungsweise hinzutritt. Es wäre 
nicht schwer, eine Flut allgemeinverbreiteter Irrtümer oder min- 
destens in ihrer Wahrheit zweifelhafter Ansichten zum Belege 
heranzuziehen, etwa daß die realen Dinge tönen und farbig sind, 
der menschliche Wille frei ist, usw. Weist man hier aber auf 
Ausnahmen von der Regel hin, indem man Philosophen und Ge- 
lehrte namhaft macht, die das Gegenteil behaupten, so ist die 
parallele Erscheinung für den Gottesglauben unschwer zu erkennen 
und von der Skepsis selbst bereits herangezogen worden. Auch 
der physiko- theologische Beweis scheitert genau an den beiden 
Klippen, welche die Kameadische Kritik klar bezeichnet hatte. 
Von der 2^rsetzung des anthropomorphen Gottes begriff s endlich, 
der Aufdeckung der in ihm enthaltenen Widersprüche mit Logik 
und Tatsachen, vor allem von der geradezu genialen Durchleuch- 
tung des Dogmas einer göttlichen Vorsehung, wüßte ich nichts 
hinwegzunehmen; wie noch anderthalb Jahrtausende später David 
Hume diese Kleinode der wahrhaft philosophischen Partien im 
antiken Skeptizismus unverändert und nicht als die kleinsten Edel- 
steine dem Gewirke seiner eigenen Religionsphilosophie eingefügt 
hat Dagegen liegen drei religiöse Gnmdanschauungen ganz 
außerhalb des Gesichtsfelds dieser Zweifelschule und werden 
auch von deren Kritik nicht mitberührt i. Der Pantheismus, 
welcher Gott der Welt immanent sein läßt, ihm aber weder Wille, 
noch Verstand, noch Vorsehung, noch Tugenden zuspricht. Aller- 

i8* 



276 Erster Absdmitt Pie griediiscfae Skepsis. 

dings müßte diese Metaphysik so geformt werden, daß auch die 
ihr gefährlichsten Waffen, die skeptischen „Soriten" wirkungslos von 
ihr abprallen. Das geschieht, wenn entweder nur die Totalität der 
Welt, aber nicht ihre Teile, als Gottheit gefaßt werden (jtäv— S'cos;); 
oder wenn Gott die im Weltall gleichmäßig wirkende und in allem 
Einzelnen ungeteilt erscheinende Kraft bezeichnet (S'eog = xäv). 
Im ersten Fall würde nur „Zeus", nämlich die Welteinheit (als 
Weltgrund oder als Weltzweck oder als beides) ein Gott sein, und 
keine Kontinuitätsforderung, das logische Geheimnis der Soriten, 
auch die Göttlichkeit einzelner Weltteile durchzusetzen vermögen. 
Im zweiten Fall würde der Kontinuitätsfordenmg nachzugeben sein; 
Sonne, Mond, Planeten, Wolken, Regen, Sturm, Nil und Nilquellen 
wären gleichermaßen göttlich; aber diese Göttlichkeit des Einzelnen 
wäre kein Einwand mehr, vielmehr der adäquate Ausdruck des 
vorausgesetzten Gottesbegriffs. 2. Der Offenbarungsglaube, 
nach dem das über die Gottheit Wissenswerte in geoffenbarten 
Urkunden niedergelegt sein soll. Hier richtet die Aufdeckung von 
Widersprüchen gegen Denkgesetze und bisherige Erfahrungen nichts 
aus. Denn die Tatsache der Offenbarung gilt selbst als eine neue 
äuiSere Erfahrung, die entweder widerl^ oder als Wahrheit an- 
erkannt sein will. 3. Der Mystizismus, der auf rein gefühls- 
mäßigem Wege der inneren Versenkung Gott, dessen Walten und 
Eigenschaften unmittelbar erfaßt, und für den logische Einwände 
ebenfalls keine Gegeninstanz bilden. Credo quia absurdum est 
Hier handelt es sich wiedenmi um angebliche innere „ Erfahrungen*', 
die ihr Recht gegenüber Denkgesetzen und andern Erfahrungen 
geltend machen. Das sind roh skizziert und roh begründet die 
Auswege, die sich aus der religiösen Skepsis der Antike finden 
lassen. Ob diese Auswege gleichfalls Sackgassen oder welche von 
ihnen es nicht sind, bleibt späterer Untersuchung vorbehalten. 
Aber jedenfalls entgehen sie alle, sowohl in ihrer Begründung wie 
in ihrer Ausgestaltimg, den Netzen, deren Gewebe in den dar- 
stellenden Teilen beschrieben wurde. 



Gegen die Moralphilosophie hatte die Skepsis auf dop- 
peltem Wege die Unerkennbarkeit der sittlichen Werte gel- 
tend gemacht Einmal direkt, durch die Analyse der Voi^änge 
bei der Werterkenntnis; dann indirekt, durch die Kritik der bisher 
mit dogmatischen Ansprüchen aufgetretenen moralphilosophischen 
Grundanschauungen. 



Drittes Kapitel Die Kritik der griechischen Skepsis. 277 

I. Ihr systematischer Beweis vermag heute auf die Ge- 
schichte einer zweitausendjährigen Verfuhrungsmacht, der große 
wie kleine Geister erlagen, zurückzublicken. Von den Denkern 
haben sich unter andern Montaigne, Pascal, Nietzsche in seiner 
zweiten Periode, von den philosophierenden Laien ungezählte zu 
der Ansicht bekannt: die sittlichen Werte sind unerkennbar, denn 
die moralischen Anschauungen der einzelnen Individuen, Völker, 
Länder usw. sind ganz verschiedene. Und doch sind aus richtigen 
Tatsachen hier wieder voreilige Konsequenzen gezogen, die noch 
dazu auf dem Boden willkürlicher, irriger und eigentlich über- 
wundener Annahmen gewachsen sind. Wiederum sind es die 
extrem-realistischen Voraussetzungen^^), unter denen der skep- 
tische Beweis allein schlüssig ist. Jener robuste erkenntnistheo- 
retische Realismus des Altertums (und des Durchschnittsmenschen), 
als eine naiv gehegte, im Hintergrund des philosophischen Bewußt- 
seins hausende Anschauungsweise, sieht auch die sittlichen Werte 
als starre, feste Objekte an, deren passive Spiegelbilder die Wert- 
vorstellungen seien. Ja, soweit treibt er gelegentlich die Verding- 
lichung und Materialisierung der Werte, daß diese im 10. Tropus 
Aenesidems als räumliches Substrat, als intog vnoKBißieva an- 
geführt werden, deren Beschaffenheiten in den Sitten und Füh- 
rungsweisen der einzelnen Subjekte „erscheinen"*®). Das Verhältnis 
von Wertgegenstand und Werterkenntnis wird vollständig unter 
der Optik des Begriffsgegensatzes: Ding an sich — Erscheinung ge- 
sehen; und noch dazu in der Form, wie die skeptische Wahr- 
nehmungstheorie diesen Gegensatz entwickelt hatte. Wenn es 
sittliche Werte gibt, so sind dieselben zu denken nach Art von 
realen Objekten, die mit bestimmten Eigenschaften begabt, dem 
menschlichen Subjekt gegenüberstehen und ihre Eigenschaften dem 
subjektiven Bewußtsein gewissermaßen aufprägen. Das sittliche 
Ding imd das sinnliche Ding werden in dieser Beziehung völlig 
gleichwertig behandelt. Das <pv6Bt ayaS^dv und xaKOv wird als ein 
dingliches Reale uns gegenüberstehend gedacht, als etwas von uns 
Abgesondertes (Kexooptö/xivov), von dem wir so oder so „bewegt"**) 
werden, und von dem wir nur durch ein rezeptives Afiiziertwerden 
{xaKovöä^at) Kenntnis erhalten. Die daraus sich ergebende „Wert- 
erscheinung** ist ein g}atv6ji6vov ^ und, wie eine jede Erscheinung, 
durch ein willenloses Übersichergehenlassenmüssen charakterisiert**) 
Unter solchen Voraussetzungen wird den einzelnen Wertvorstellungen 
die Aufgabe zuteil, die einzelnen realen Werte wiederzugeben, 



27S Enter Absdmitt Die griechisdie Skepsis. 

wie es Aufgabe der einzelnen Sinneswahmehmungen gewesen war, 
die einzelnen realen Dinge wiederzugeben. Da aber nun zwischen 
den Wertvorstellungen verschiedener Subjekte über den gleichen 
realen Wert die stärksten Widersprüche obwalten, genau wie zwischen 
den einzelnen Sinneswahmehmungen über das gleiche reale Ding, 
und die nämliche Relativität und Variabilität herrscht, hier wie 
dort, so ist es genau so unentscheidbar, wessen Wertvorstellung 
den „Vorzug verdient", wie es unentscheidbar gewesen war, wessen 
Ding Vorstellung den Vorzug verdiente. Ob Ohrringe tragen, sich 
zu tätowieren, dem Serapis ein Ferkel zu opfern an sich sittlich, 
gestattet, heilig ist ^•), das läßt sich, bei einer Divergenz der Wert- 
erscheinungen davon, ebensowenig ausmachen, wie ob der Honig 
an sich süß oder bitter ist. 

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß diese extremrealistischen 
Voraussetzungen aus der modernen Ethik wohl ebenso einmütig 
ausgeschieden sind, wie aus der Erkenntnistheorie. Dann aber 
schwinden mit einem Schlag alle skeptischen Bedenken dahin. 

Man halte zunächst mit der Skepsis an der Existenz^) selb- 
ständiger Werte von überindividueller Geltung fest (was 
man aber nicht in Form einer unbewußten Annahme, sondern 
einer wohlbegründeten These zu tun hätte). Dann sind diese sitt- 
lichen Werte jedenfalls nicht an äußeren Handlungsweisen starr 
klebende Eigenschaften, sondern geistige Potenzen, Kräfte, Normen, 
denen ein einzelnes Verhalten konform ist oder nicht. Mag man 
nun diese Normen in Befehlen Gottes, oder in der Förderung des 
Weltzwecks, dem Nutzen der Gesellschaft, in einem in uns lagern- 
den formalen Sittengesetz, in allgemein menschlichen Willenszielen 
oder soast worin erblicken, das bleibt für den Entscheid der 
skeptischen Prinzipienfrage relativ gleichgültig. Die einzelnen Wert- 
urteile sind nicht passive „Werterscheinungen", sondern Ansichten 
der Menschen über Art und Beschaffenheit dieser moralischen Werte, 
nicht subjektive Abbilder objektiver Urbilder. Selbst wenn man 
den latenten Voraussetzungen der Skepsis soweit als möglich ent- 
gegenkommen und die Existenz eines besonderen , ursprünglichen 
und in allen Menschen vorhandenen moral sense annehmen wollte, 
so würde doch wohl niemand mehr der abenteuerlichen Vorstellung 
huldigen: dieser „Sinn" reagiere auf alle beliebigen Inhalte sofort 
und eindeutig mit einer bestimmten Wertfarbe. Vielmehr würde er 
allein eine bestimmte Eigenschaft an allen Inhalten (Handlungen, 
Persönlichkeiten, Gesinnungen usw.) bewerten, etwa die Uneigen- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 279 

Dützigkeit (Hutcheson) oder die Harmonie der Triebe (Shaftesbury), 
oder die Form der Gesetzlichkeit (Kant). Die ausgebildeten sitt- 
lichen Ansdiauungen aber, die einzelnen Sitten imd „FührungS' 
weisen", soweit diesen überhaupt sittliche Wertungen zugrunde 
liegen (ob Rache, Keuschheit usw. gut oder schlecht ist), sie sind 
jedenfalls keine lu-sprünglichen Reaktionen dieses moral sense mehr; 
sondern bereits ein Gemenge, in das die Bewertung aus logischen 
Motiven, durch die man die Gemäßheit der einzelnen Verhältnisse 
zu den ursprünglichen sittlichen Forderungen prüfte; in das reli- 
giöse und mythologische, in das noch eine Fülle andrer Gesichts- 
punkte eingegangen sind. Dieser so entstandene und sich immer 
mehr befestigende Sitten- und Sittlichkeitskodex wirkt aber auf 
das ursprüngliche, moralische (von uns augenblicklich postulierte) 
Fühlen oder Wollen modifizierend zurück, vermag es abzuwandeln, 
zu vertiefen, zu verkehren. Denn es handelt sich bei diesem Ge- 
bilde ja um keinen toten, materiellen Wertspiegel, sondern um 
ein lebendiges, geistiges Prinzip im emotionalen Bewußtsein. So 
haben wir in den entwickelten sittlichen Anschauungen, mögen 
sie nun in Sitten, Gesetzen oder in Gewissensaussagen ihren 
Niederschlag finden, ein kompliziertes Spätprodukt, imd jedenfalls 
kein letztes Element des moralisch wertenden Bewußtseins zu sehen. 
Sollte es ein solches überhaupt geben, so wird es auf den niederen 
Stufen der Entwicklung wegen des Mangels philosophischer Re- 
flexion noch nicht in abstrakte Formulierung gebracht; und später, 
wenn die Reife der Reflexion erzielt ist, bedarf es tiefster Selbst- 
besinnung und der schärfsten psychologischen, soziologischen, ja 
metaphysischen Analysen, um aus allen konkreten Wertäußerungen 
die zugrunde liegenden Werte selbst zu bestimmen. Das wirklich 
Wertvolle zu erkennen ist also auch hier die Aufgabe der Ver- 
nunft; nicht etwa des Gewissens, als einer „Empfänglichkeit des 
Gemütes für sittliche Pflichten" (Kant); sogut wie es Aufgabe der 
Vernunft war, die wirklichen Dinge zu erkennen, und nicht der 
Sinnlichkeit, als einer „Empfänglichkeit des Gemüts für Sinnesein- 
drücke". Wären allerdings isolierte sittliche „Organe** die einzige 
Quelle, aus der Aussagen über die Werte abflössen, so wäre in- 
folge der nicht abzuleugnenden Variabilität dieser Aussagen die 
Bestimmung allgemeingültiger, moralischer Werte eine Unmöglich- 
keit Da aber die in allen Menschen gleiche Vernunft auf Grund 
zahlreicher, unmittelbar gegebener Erfahrungstatsachen, unter denen 
auch die Gewissensreaktionen einige sind, die Richtigkeit oder Irr- 



28o Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

tümlichkeit von Wertaussagen zu prüfen hat, so kann auch die 
bunteste Mannigfaltigkeit in den sittlichen Anschauungen keine 
grundsätzliche Gegeninstanz gegen die Erkennbarkeit der Werte 
mehr abgeben. Denn nun stehen sich nicht mehr widerstreitende 
Werturteile über das nämliche Verhalten gleichberechtigt gegenüber, 
sondern die Vernunft entscheidet, je nach dem Verhältnis zu den 
von ihr ermittelten allgemeingültigen Werten, welches als das 
wahre Werturteil zu gelten hat Daß diese Entscheidung im all- 
gemeinen wie im besonderen eine sehr schwierige ist; daß die 
Meinungsverschiedenheiten der 2^iten, Länder, Nationen, Denker, 
Gelehrten, Künstler die unendliche Kompliziertheit der Probleme, 
vielleicht auch die vorläufige Unmöglichkeit einer völlig befrie- 
digenden Lösung durch den einzelnen in beredter Sprache ent- 
hüllen — wer wollte das in Abrede stellen? Die Welt der Werte 
ist nicht minder tiefgründig als die Welt der Wirklichkeiten. Aber 
sowenig die Möglichkeit, das Wirkliche zu erkennen, philoso- 
phisch, d. h. prinzipiell bezweifelt werden durfte, wegen der 
Statpcovia napa näöiv av^paonot^ über die Beschaffenheit dieser 
Wirklichkeit; auch dann nicht, wenn aus sachlichen Gründen sich 
die Ursache dieses Widerspruches herausstellen sollte als unge- 
heure Verwicklung der Verhältnisse; auch dann nicht, wenn die 
Aussichtslosigkeit für den einzelnen daraus folgen sollte, das 
Wirklichkeitsrätsel zu lösen — sowenig darf die philosophische 
Skepsis dem Werträtsel gegenüber Platz greifen, wenn einmal erst 
der Widerstreit der Wertvorstellungen von der fälschlichen Aus- 
deutung heterogener Wertspiegelungen gleicher realer Werte auf 
einen Widerstreit bloßer Meinungen, oder auch komplizierter, an 
Urteilen haftender und daher mit diesen Urteilen veränderlicher 
Gefühle über diese Werte zurückgeführt ist Die vernünftige Deu- 
tung vermag vielleicht gerade an der imübersehbaren Fülle solcher 
Urteile und Gefühle die gemeinsame, ihnen allen zugrunde liegende 
Wurzel aufzudecken, und das durch diese bewertete X als den ab- 
soluten Wert zu erkennen. Überdies könnte sie sogar imstande 
sein, die verschiedenen Äußerungsformen des einen, ihnen allen 
zugrunde liegenden wahren Werturteils als bedingt nachzuweisen: 
durch Ort, Zeit und Umstände (ist z. B. der Nutzen der Gesell- 
schaft als absoluter Wert erkannt, so kann im einzelnen Rache, 
Lüge, Kinderaussetzung usw. je nachdem ganz folgerichtig bald 
als gut bald als übel bewertet werden); durch Einfließen von Irr- 
tumsquellen (der Oberwert des Nutzens wird vergessen imd ge- 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 28 1 

wisse Handlungen auch dann noch als gut bewertet, wenn der 
wahre Wertungsgrund verschwunden ist) usw. Jedenfalls ist nun 
dem Moralphilosophen, zu welchen Ergebnissen er im einzelnen 
auch gelangen mag, durch den Erkenntnistheoretiker keine Barriere 
mehr gezogen, die ihm den Eintritt in dieses Forschungsgebiet 
a limine immöglich machte. Der Eingang ist hier im Grunde der 
gleiche, den sich der gemäßigte Realist im Kampfe mit den 
skeptischen Folgerungen der extrem -realistischen Wahmehmungs- 
theorie erzwimgen hatte. Wie er dort vor allem der unberech- 
tigten Verdinglichung und der passiven Erkenntnisart entgegen- 
getreten war, so auch hier; und wie er gewisse Bestandteile der 
sinnlichen Wahrnehmung aus aktiven Vemunfterwägungen den 
Dingen zusprach, andre nicht, so läßt er auch bei den Wert- 
urteilen gewisse Bestandteile die Natur der absoluten Werte exakt 
wiedergeben, während andre Elemente nur als Kennzeichen rela- 
tiver Werte oder gar als gänzlich irrtümliche Meinungen über die 
Werte bestimmt werden. 

Wie das Eis unter den Strahlen der Sonne dahinschmilzt, 
so vergeht aber nun alle moralphilosophische Skepsis in nichts, 
wenn man die erste Voraussetzung der Pyrrhoniker, das Dasein 
selbständiger Werte von überindividueller Geltung, nicht zu teilen 
entschlossen ist (wofür wiederum die Belege beizubringen wären). 
Hält man auch die sittlichen Werte für nichts anderes als für 
wülkürliche Wertsetzungen des subjektiven, individuellen Beliebens, 
die sich gelegentlich bei einer Gemeinschaft von Subjekten auf 
das gleiche Objekt richten können, so wird zwar das Wesen der 
Sittlichkeit als etwas Eigenartiges, Selbständiges aufgegeben, aber 
die Erkennbarkeit dieser Werte nicht im geringsten in Frage ge- 
stellt. Da alles, was ich für wertvoll halte, nach dieser Anschauung 
auch wertvoll ist, nämlich für mich; und da es einen andern Wert 
als das individuelle Willensziel nicht gibt, so kann auch die Ver- 
schiedenheit in den Werturteilen der Völker, Länder und Zeiten 
niemals die Wahrheit auch nur eines einzigen derselben verdächtig 
machen. Vielmehr sind sie alle, wenn sie die eigene Wertempfin- 
dung des Urteilenden zum Ausdruck bringen, gleich wahr; und 
wenn sie das nicht tim, gleich falsch. Die Verwandtschaft mit dem 
extremen Phänomenalisten erhellt von selbst. Wie dieser in der 
Beurteilung der realen Dinge negativer Dogmatiker, aber nicht 
Skeptiker gewesen war, so ist auch der individuell -voluntaristische 
Ethiker, weil er die Existenz an sich bestehender Werte leugnet. 



282 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

negativer Dogmatiker, aber nicht Skeptiker. Und wie für den 
Berkeleyaner die Gleichung: Wahmehmungswechsel = Dingwechsel 
der Zauberstab gewesen war, vor dem jeder Skeptizismus, der sich 
auf die Variabilität der Wahrnehmungen über das gleiche Objekt 
gründete, in nichts versank; so gilt das nämliche für die Gleichung: 
Willenswechsel = Wertwechsel, die jeden ethischen Skepti- 
zismus, der sich auf die Divergenz der Werturteile (als Ausdruck 
der erstrebten Ziele) über den gleichen Wert beruft, im Keime 
erstickt Auch Moralphilosophie auf dieser Basis zu treiben ist 
nicht nur Möglichkeit, sondern Wirklichkeit. (Entsprechend der 
Möglichkeit und Wirklichkeit einer phänomenalistischen Natur- 
wissenschaft.) Denn in dem Bereich der individuellen Werte hebt 
sich als ein ziemlich fester Bezirk der Kreis der sittlichen Wert- 
urteile ab. Sein Inhalt wandelt sich mit dem Willen der Wertenden. 
Aber seine Form bleibt die gleiche: die Bestimmung der Werte 
in bezug auf das letzte, oberste Willensziel. Da dieses 
oberste Willensziel (Oberwert) und die zu ihm führenden Mittel 
(Unterwerte) innerhalb der einzelnen Länder, Völker, 2^iten eine 
gewisse Konstanz zeigen (wodurch ihnen an selbständigem Wert- 
gehalt übrigens nicht das geringste zuwächst), so ist es schon der 
Mühe wert, den hier waltenden Gesetzen nachzuspüren, und das 
Kapitel von der individuellen und sozialen Willenspsychologie unter 
diesem Gesichtspunkt als eine besondere Disziplin zu betreiben. 
Möglich, daß, wie an den sinnlichen Wahrnehmungen, so auch an 
den Willenszielen sich gattungsmäßige Bestandteile auffinden 
lassen (entsprechend den „absoluten" Werten des Wertrealisten); 
möglich, daß die Gesetzmäßigkeit des wertenden Bewußt- 
seins: unter gleichen Umständen gleiche Wertungen, eine indivi- 
duell und generell vollständige ist , und damit der Ethik interessante 
Aufgaben erwachsen. Aber sowenig die Gattungsbestandteile an 
den Wahrnehmungen (Raum und Zeit), sowenig die gattungs- 
mäßige Gesetzlichkeit im wahrnehmenden Bewußtsein, sowenig die 
durch beides bedingten ähnlichen Wahrnehmungen (in den glei- 
chen oder in verschiedenen Subjekten) dadurch zu selbständigen, 
vom erkennenden Bewußtsein unabhängigen Realitäten wurden; so 
vollkommen andrerseits jede Wahrnehmung in ihrer konkreten 
Bestimmtheit ein wirkliches Ding zu nennen war, ohne Rücksicht 
auf ihr Verhältnis zu andern Wahrnehmungen (desselben Subjekts 
zu verschiedenen Zeiten oder andrer Subjekte) — sowenig würden 
die Gattungsbestandteile an den Willenszielen, sowenig würde die 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 283 

gattungsmässige Gesetzlichkeit im wollenden Bewußtsein, sowenig 
die durch beide bedingte Ähnlichkeit der Willensziele (in den 
gleichen oder verschiedenen Subjekten) dadurch zu selbständigen, 
vom wertenden Bewußtsein unabhängigen Realitäten werden; so 
vollkommen würde andrerseits jedes Willensziel in seiner konkreten 
Bestimmtheit ein wirklicher Wert zu nennen sein, ohne Rücksicht 
auf sein Verhältnis zu andern Willenszielen (desselben Subjekts zu 
verschiedenen Zeiten oder andrer Subjekte). 

Es ist gewiß, daß die Skepsis mit ihrem Hauptargument 
„Relativität und Variabilität der Werturteile beweist die vorläufige 
Unmöglichkeit der Werterkenntnis" auf dem extrem -realistischen 
Boden steht: die einzelnen Wertaussagen in allen ihren Bestand- 
teilen — durch die Tjä^ixa, ayoi^aly iS^tj, yojiot repräsentiert — 
seien Abdrücke realer Werte (etwa die Sitte oder Unsitte der 
Knabenliebe ein Abdruck des realen Wertes oder Unwertes dieser 
Handlungsweise); es ist gewiß, daß diese Voraussetzung eine will- 
kürliche, noch dazu unbewußte, weder durch empirische noch 
logische Motive zu rechtfertigende, daher auch von der modernen 
Ethik wohl durchweg verlassene ist; daß die Relativität und 
Variabilität der Werturteile, der modernen Anschauung von der 
aktuell -geistigen Natur und der mangelnden Substantialität der 
Werte gemäß, grundsätzliche Zweifel gegen die Erkennbarkeit der 
Werte nicht mehr abzuwerfen vermag. Aber es ist nicht minder 
gewiß, daß diese Art ethischer Skepsis eben auch die über- 
zeugendste Selbstaufhebung der gehegten Voraussetzungen be- 
deutet und damit ein hohes moralphilosophisches Verdienst sich 
erwirbt Dadurch, daß man mit rücksichtsloser Konsequenz die 
Folgerungen eines Standpunkts zieht, rückt man diesen selbst in 
hellere Beleuchtung und zwingt, über seine Berechtigung nachzu- 
denken. Im Verlauf dieses Nachweises, daß der extreme Wert- 
realismus in positiver Form unhaltbar sei, hat die antike Skepsis 
femer für immer gezeigt: daß der Mensch kein einziges, inhaltlich 
bestimmtes Moralaxiom von allgemeiner Geltung mit auf die Welt 
bringt; noch daß er ein solches aus Sitte, Gesetz, oder aus den 
Sittiichkeitsbegriffen seines Volkes abzulesen vermöge, auf das 
er sich dann nur zu besinnen habe, um zu wissen, was gut und 
was böse ist; daß vielmehr diese Werte nicht „selbstverständlich" 
so oder so beschaffen sind, sondern sie zu erkennen, eine unend- 
liche Aufgabe bedeutet. Sei es nun, daß man diese Aufgabe 
darein setzt (mit dem gemäßigten Wertrealisten), aus den subjek- 



284 Erster AbscfaniU. Die griechische Skepsis. 

tiven- Wertäußerungen die realen Werte herauszudeuten, oder (mit 
dem extremen Wertidealisten) sich über sein eigenes, aber höchstes 
Willensziel klar zu werden und die einzelnen Ünterwerte nach 
diesem Oberwert logisch zu bestimmen. Zu beiden Zwecken aber 
bedarf es des eingehenden Studiums der Wertäußerungen des 
gesamten menschlichen Bewußtseins, soweit solche Äußerungen 
der Erforschung zugänglich sind. Schon um den grundsätzlichen 
Standpunkt über das Wesen der Werte zu finden, geschweige 
denn um ihn im einzelnen zu begründen und auszubauen, genügt 
nicht die inspectio sui, die einfache Selbstbeobachtung. Vielmehr 
ist es ein immer deutlicher werdendes Erfordernis, zu diesem 
Zwecke eine vergleichende Moralphilosophie im weitesten 
Sinne zu betreiben, unter Berücksichtigung reichlichen ethno- 
logischen Materials. Die Antike, wie sie überall das Prinzipielle 
weitschauenden Blickes vorausgesehen, hat auch hier ihres Amtes 
gewaltet Denn der Betrieb einer vergleichenden Moralphilosophie 
auf ethnologischer Grundlage, durch Locke s Bestreitung ange- 
borener moralischer Grundsätze angeregt, von Nietzsche wieder 
neuerdings mit eindringlichen Worten als ein noch inmier uner- 
fülltes Desiderat gefordert, sie ist von den zersetzenden Unter- 
suchungen der Skepsis nahegelegt, ja soweit das von diesem Schul- 
programm aus erlaubt war, geradezu empfohlen worden.*^) 

2. Wurde somit die antike Skepsis auch hier zu der großen 
Fragestellerin, indem sie das Problem, welcher Art und welchen 
Grades die Realität sittlicher Werte sei, seit der Sophisten Zeiten 
zum erstenmal wieder anschnitt; stellte sie den Widerspruch 
zwischen den einzelnen Moralanschauungen bei den verschiedenen 
Völkern in seiner ganzen Nacktheit ohne Verschleierung fest, und 
zerstreute sie damit für alle Zeiten den Wahn , als ob es einzelne, 
der allgemein menschlichen Natur angeborene sittliche Inhalte gäbe ; 
führte sie die Ethnologie geradezu als Hilfsdisziplin ein und legte 
damit den Grund zu einer vergleichenden Moralwissenschaft — so 
vollstreckte sie andrerseits in ihrer Kritik der bedeutendsten 
moralphilosophischen Systeme das Todesurteil an der antiken 
Ethik. Sie zog mit erstaunlichem Scharfsinn das Fadt dieser 
ganzen Wissenschaft und wies es als ein gründliches Deficit nach. 
Indem sie sich nicht damit begnügte, die Divergenzen zwischen 
den zahllosen ethischen Philosophemen in behaglicher Breite auf- 
zudecken, vielmehr diese Divergenzen aus ihren Ursachen verstehen 
lehrte, drang sie in der Tat bis zu der tiefsten Wurzel vor, an 



Drittes Kapitel. Die ICritik der griechischeD Skepsis. 285 

deren Beschaffenheit der ganze Baum der antiken Moralphilosophie 
zugrunde gegangen war. Denn es ist wohl nicht zu viel behauptet, 
daß die Skepsis hier, in ihrer Sprache und noch befangen in der 
Begriffsphäre ihrer Zeit, aber doch unverkennbar zwei Einsichten 
von weittragender Bedeutung zum Ausdruck gebracht hat Einmal, 
daß Eudaimonismus, Utilitarismus und Naturalismus, die ethischen 
Grundrichtungen der alten Welt, sämtlich rein abstrakte Prinzipien 
sind, die jeden beliebigen Inhalt als sittlichen in sich aufzunehmen 
vermögen, aus denen als solchen auf logischem Wege auch kein 
einziger bestimmter Inhalt zu gewinnen ist. Nun hatten sich aber 
die griechischen Moralphilosophen alle bemüht, aus den Zielen der 
Glückseligkeit, des Nutzens oder der Natürlichkeit analytisch ein 
bestimmtes Verhalten als Mittel zu diesen Zwecken abzuleiten und 
sie hatten die entgegengesetzten Mittel zu den angeblich gleichen 
Zwecken hier angegeben. In Wahrheit blieb aber nur das Wort 
für den obersten Wert das gleiche, während der abstrakte Begriff 
dieses Werts von verschiedenen Seiten mit verschiedenem Inhalte 
erfüllt wurde und von ganz anders wo „ihnen vorher die Natur 
des Guten bekannt war"^*). Wenn etwa die Stoiker aus ihrer Meta- 
physik heraus unter dem Natürlichen das Vernünftige verstanden, 
die Epikuräer das Luststreben, so wundem wir uns nicht, daß in 
der Gleichung: Sittlichkeit = Naturgemäßheit in die eine Seite^ 
den Begriff der Natur, durch den von sich aus nicht das mindeste 
über die Sittlichkeit ausgemacht wäre — durch den vielmehr nur 
als durch eine Unbekannte eine andre Unbekannte bestimmt werden 
sollte — , daß in diesen Begriff beidemal ganz andre Eigenschaften 
hineingepackt, also auch für die Sittlichkeit ganz andre Eigen- 
schaften gefolgert wurden. Das zweite von der Skepsis entdeckte 
oder doch wenigstens wie durch Nebel erblickte Motiv für das 
Scheitern aller bislang aufgetretenen Moraltheorien ist dieses: Be- 
stimmt man die obersten Werte des individuellen Glücks oder 
Nutzens inhaltlich, so kann, da der analytische Weg der Be- 
griffszergliederung nicht zimi Ziele führt, diese Absicht nur durch 
psychologische Beobachtimg erreicht werden. Nun lehrt uns 
aber die Psychologie und zwar in weitestem Maße, daß, was dem 
einen nützt, dem andern schadet, was den einen beglückt, den 
andern schmerzt usw. Kurz, es schiebt sich in jede Glücks- und 
Nützlichkeitsberechnung als variabler psychologischer Faktor das 
Temperament des einzelnen ein. Der Temperamente aber gibt es 
nicht nur vier (das ist nur eine Abstraktion ihrer hauptsächlichen 



286 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

Grundformen), sondern ungezählte, genau soviel, als es Menschen 
gibt Wir können also allenfalls sagen, daß jeder Mensch sein 
Glück suche, allenfalls sogar, daß er es suchen müsse, aber wir 
können dem Menschen als Gattung nicht vorschreiben, worin er 
es zu finden habe. Daraus erhellt, daß sich vom individuell - 
eudaimonistischen Standpunkt schlechterdings keine allgemeingül- 
tigen Verhaltungsweisen ableiten lassen. Cynismus wie Hedonis- 
mus sind eben deshalb für den Moralphilosophen so lehrreich, weil 
ihm hier die entgegengesetzten sittlichen Inhalte in klassischer 
Nacktheit mit dem Anspruch entgegentreten, das formale Gefäß 
der Glückseligkeit zu erfüllen. Recht haben aber weder der eine 
noch der andre, oder — beide. Ein Charakter wie Aristipp, 
Alkibiades oder Don Juan widerlegt das Cynikerdogma, daß nur 
Enthaltsamkeit zum Glücke führe; imd ein Charakter wie Anti- 
sthenes, Cato oder der heilige Franz leistet das gleiche dem 
Hedonismus gegenüber. So haben die antiken Moralprinzipien die 
völlige Relativität für die Materie des sittlichen Handelns zur 
Folge, und Sinnengenuß wie Askese, Tapferkeit und Feigheit, 
Treue und Verrat können, je nach den Glücksresonatoren der ver- 
schiedenen Persönlichkeiten, gut oder schlecht sein. Dieser Ein- 
sicht aber hatten sich alle griechischen und römischen Philosophen 
verschlossen, mit der einzigen Ausnahme des Sokrates, der unter 
Beibehaltung des allgemeinen Prinzips der individuellen Eudaimonie 
ausdrücklich die Relativität der sittlichen Werte im einzelnen ver- 
kündet hatte. Sie alle versuchten bestimmte Handlungsweisen 
aus diesem Prinzip herauszuquetschen, die für alle Menschen die 
gleichen und daher als Unterwerte zur Erreichung des Oberwerts 
verbindlich sein sollten. Erst die Skepsis offenbarte die völlige 
Unhaltbarkeit dieses Standpunkts und nahm damit in unbeholfener 
Weise vorweg, was Kant später sonnenhell erleuchtete. Sie deckte 
die notwendige Relativität der Unterwerte in jedem System des 
individuellen Eudaimonismus und Utilitarismus auf. Hierin und in 
dem Nachweis des reinen Formalismus dieser Prinzipien li^ die 
kritische Glanzleistung dieser Männer auf dem Gebiet der Ethik. 
Niu* darin irren sie, daß sie die Bedeutung eines formalen Ober- 
werts in ihrer Tragweite nicht anerkannten, und mit der Relativität 
der Unterwerte jede Moralphilosophie für erschüttert hielten; und 
femer darin, daß sie die individuell -eudaimonistische Ethik mit 
ihren relativen Unterwerten für die einzig mögliche Form überhaupt 
Welten, während sie nur die im Altertum übliche Form gewesen war. 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 287 

Y. Negatiye und positiYe Eonseqnenzen des Skeptuismns. 

Die skeptische Antwort auf die beiden letzten Timonischen 
Grundfragen: wie haben wir uns zu den Dingen zu stellen? und 
was erwächst uns aus dieser Stellungnahme? zieht nur die Fol- 
gerungen aus dem Entscheid des ersten und wichtigsten Problems 
von der Beschaffenheit der Dinge. Die Kritik, nachdem sie diesen 
Entscheid „die Dinge sind unerkennbar" der Prüfung unterzogen 
und als unberechtigt zurückgewiesen, hat nicht mehr die negativen 
und positiven Konsequenzen des skeptischen Grundstandpunkts, 
die nur unter dessen Voraussetzimg gelten wollen, in ihrer Iso- 
lation zu untersuchen. Sie hat nur zu fragen: sind diese Fol- 
gerungen derSkeptikerwirklich mitihren Voraussetzungen 
gegeben, sind sie schlüssig oder nicht? 

Den negierenden Partien in unserm Verhalten denDingen 
gegenüber wird wohl niemand Folgerichtigkeit absprechen können. 
Daß man dieses Verhalten durch die Beiworte ephektisch , zetetisch, 
aporetisch, skeptisch charakterisierte, sich als keine Schule sondern 
nur als Richtung bezeichnete , über das Ansich der Dinge sich des 
Urteils enthielt, auch im antiken Sinne keine Wissenschaft trieb, 
daß man Redensarten wie ndvta äopt&ta prägte und mit vor- 
sichtiger Kommentierung und Begrenzung der darin enthaltenen 
Begriffe versah, daß man das Generalprinzip der Isosthenie durch 
die sensuale wie rationale Skepsis für genügend gestützt hielt, um 
es bei der Zerstörung der Einzeldisziplinen anzuwenden, ohne in 
den Verdacht sophistisch -dialektischer Spielerei zu geraten — all 
das geschieht in strenger Konsequenz der Auffassung vom Wesen 
der sinnlichen und vernünftigen Erkenntnis und schließlich von 
Wahrheit, Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt. Nicht minder 
glückte die Abwehr des billigen, aber stets verblüffenden Einwands 
von der Selbstaufhebung des skeptischen Standpunkts. Der 
Gegner wurde hier gebeten, gefalligst die einschränkenden Be- 
stimmungen, unter denen die Formeln der Skepsis allein Geltung 
beanspruchten, d. h. die kritischen Berichtigungen der in ihnen ver- 
wandten Begriffe nicht zu übersehen und nicht offene Türen ein- 
zurennen. Die Pyrrhoniker nahmen sogar die von ihnen nicht 
geteilte Ansicht einiger Akademiker, nämlich die dogmatisch- 
negativistische allgemeine These hier mit ins Schlepptau, 
und verteidigten sie geschickt gegen die feindlichen Geschosse. 
21ieht man die Summe in der dogmatisch -negativistischen und All- 
gemeingültigkeit beanspruchenden Form „alles ist unaufTaßbar", so 



288 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

zerstört sich diese These allerdings selbst, wird aber nicht etwa 
von den andern unverletzten positiv- dogmatischen Anschauungen 
zerstört, so daß diese unversehrt übrig bleiben; vielmehr geht 
deren Mord diesem Selbstmord voran. In dieser Allgemeinheit 
vermochte der Pyrrhonismus sich nicht zum ndvta axaraXrfnta 
zu bekennen. Denn das setzt die Annahmen einer gleichen 
Dauerorganisation des Erkenntnisvermögens in allen Menschen, 
einer gleichen Dauerbeschaffenheit der Dinge an sich voraus, 
wovon allem der Pyrrhoniker nichts zu wissen erklärt. (Nur um 
die Erkennbarkeit der Dinge an sich handelt es sich bei den 
dogmatischen Negativisten dieser Richtung; würden auch die Er- 
scheinungen bezweifelt , so wäre der Satz mkvxa otKctxaKrfnxa wirk- 
lich eine grobe Inkonsequenz und die antike Skepsis litte an einer 
unheilbaren logischen Wunde.) Einzig die Behauptung also: ich halte 
augenblicklich alles auf die Dinge an sich Bezügliche für uner- 
kennbar, ist die korrekt wiedergegebene Devise des Pyrrhonismus. 
Dieser Satz aber ist unbezweifelbar. So endet doch diese 
Sekte schließlich beim individuell-dogmatischen Negativis- 
mus; allerdings, da diese Negation unmittelbares Erlebnis sein 
will, über unmittelbare Erlebnisse man aber Soyfiotta haben darf, 
ohne jede Inkonsequenz. Erst wenn die dogmatische Negation die 
momentane Erlebnissphäre des individuellen Subjekts überschreitet, 
und die Unerkennbarkeit der Dinge an sich für alle Menschen zu 
allen Zeiten behauptet, bezweifelt der Pyrrhoniker auch die Wahr- 
heit dieses Satzes, welche generell -dogmatische Negativisten, 
wie manche Akademiker anerkennen. Hier genau liegt der Punkt, 
von wo den Dingen an sich gegenüber der reine Zweifel beginnt; 
er reicht von dem Zweifel an der generell verstandenen Unerkenn- 
barkeit bis zum Zweifel an jeder über die Beschaffenheiten der 
Dinge an sich gefällten Aussage. Aber er findet seine letzte Wurzel 
in einem unbezweifelbaren Satz, in der angegebenen, individuell- 
dogmatisch -negativistischen These; und diese ist ihrerseits, obwohl 
sie die Summe aller skeptischen Negation darstellt, in dem posi- 
tiven Teile dieser Lehre verfestigt: in der Anerkenntnis der Er- 
scheinungen. 

Wie steht es mit den Folgerungen für ein positives Ver- 
halten zu den Dingen? In ihrem 2^ntrum steht der Begriff der 
Erscheinung, des na^oq und des (paivofitvov ^ wie der Begriff des 
Dinges an sich, das xmoHBlp^yov und <pv6Bt ov im Zentrum der 
negativen Teile gestanden hatte. Diese Folgerungen sind aber nur 



Drittes ElapiteL Die Kritik der griechischen Skepsis. 289 

zum Teil schlüssig entwickelt. Was sagten sie aus? Der Skeptiker 
erkennt die unmittelbaren Erlebnisse an; sie darf er also haben, 
darf hungern und dürsten, denken und wahrnehmen. Gut. Ober 
sie darf er auch Aussage machen. Läßt sich noch hören; obwohl 
zu jeder Aussage über ein unmittelbares Erlebnis schon die Gültig- 
keit der logischen Axiome erfordert wird. Da diese aber von der 
Skepsis nur Streifschüsse erhielt, und vor allem die Fähigkeit der 
Vernunft, allgemeine, wahre Sätze über die objektive Wirklichkeit 
zu erarbeiten, bestritten wurde, mag dieser Schritt noch so hin- 
gehn. Die Erlebnisse dürfen Motive des handelnden Willens 
werden; der Skeptiker ißt und trinkt, wenn er Hunger und Durst 
hat Schon anfechtbarer; denn das geht nur an, wenn er instmktiv 
zur Küche oder an den Brunnen getrieben wird. Zur bewußt ge- 
leiteten Befriedigung der gemeinsten animalischen Bedürfnisse be- 
darf es bereits der Anerkennung allgemeiner Sätze über die 
Erscheinungszusammenhänge. Man kann den verlegten Trink- 
becher nicht finden, die Zubereitung der Speisen nicht betreiben, 
ohne die Überzeugung von der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit 
gewisser allgemeiner Sätze, gewisser Sätze, die nicht über unmittel- 
bar gegenwärtige Erlebnisse, sondern über vergangene oder zu- 
künftige etwas aussagen; und zwar nicht nur über passiv in der 
Erinnerung aufsteigende Erlebnisse der Vergangenheit, nicht nur 
über passiv durch Assoziation aufsteigende Erlebnisse der Zu- 
kunft. Man denke sich einen Pyrrhoniker in einer wasserarmen, 
einsamen Wüstenlandschaft dem Verdursten nahe; beschränkte sich 
ein solcher nur auf die „erlaubten" Gruppen von Erwägungen, er 
würde elendiglich verschmachten, und begreifen, wie wenig weit 
er mit dem „sich der Nötigung durch die Zustände fugen" ge- 
langt Erinnert er sich etwa, daß in der Nähe seines Standorts 
ein See gelegen ist, und sucht er denselben zu erreichen, so 
nimmt er bereits an, daß der See sich auch jetzt noch da be- 
finde, d. h. im Naturlauf allgemeine Regelmäßigkeit walte, obwohl 
ihn kein passives Erlebnis, sondern nur spontane Denktätigkeit 
zu dieser Annahme berechtigt; sieht er die Spuren wilder Tiere, 
so wird er sich von ihnen zur Oase leiten lassen; und doch 
verrät keine icaäoby avayKi^y auch nicht die durch das öi^ßxetov 
vTroßivrföttKov , nämlich durch den Zwang der Assoziation sich 
kundgebende, sondern wiederum nur eine aktive logische Ope- 
ration die Existenz der dort befindlichen Oase. (Wenn nämlich 
der betreffende niemals in seinem Leben die Vorstellungsverbindung: 

Richter, Skeptixismitt. 19 



290 Erster Abschnitt Die griechische Sepsis. 

zur Tränke eilende Tiere — Oase im Bewußtsein gehabt hat) 
So ist schon die Erfüllung der gewöhnlichsten Lebensbedingungen, 
sobald die geringsten Hindemisse auftreten, von dieser reinen 
Passivitätstheorie aus nicht zu leisten; von der Motivation durch 
die unmittelbar gegenwärtigen Erlebnisse aus allein schon gewiß 
nicht, aber auch nicht einmal unter Zuhilfenahme der ziu* Er- 
reichung viel höherer Ziele (nämlich der Berufsübemahme) aus- 
gebildeten assoziativen Kausalitätstheorie. *^ 

Aber der Skeptiker lebt nicht nur vegetativ und animalisch. 
Er lebt den Sitten und Gebräuchen seines Landes gemäß, 
in seinem Verhalten von den übrigen Mitbüi^em nicht untersdiieden. 
Denn diese Sitten und Gebräuche gelten ihm gleichfalls (zwar nicht 
als Werte an sich, aber) als Werterscheinungen, von denen sich 
leiten zu lassen, durchaus empfohlen wurde. Hierin nun laufen 
zwei Gedankenreihen durcheinander: die eine oberflächlich und 
durchaus irrtümlich, die andre tief und zum Teil wahr. Indem 
der Begriff der Erscheinung nämlich in engerer Bedeutung als 
Abspiegelung eines realen Werts gefaßt wird, sollen die jeweiligen 
Sitten und Gebräuche die unentrinnbaren Vorstellungen von diesem 
realen Werte sein. „Deshalb ist darüber, ob das Unterliegende 
(ro vxoKeifieyor) so oder so erscheint, vielleicht niemand im Zweifel; 
darüber aber, ob es so ist, wie es erscheint, zweifelt man. Indem 
wir nun also an das Erscheinende uns halten, leben wir gemäß 
der Beobachtung des gewöhnlichen Lebens ansichtslos." ^®) Aber 
ersichtlich ist diese Parallele zwischen der Welt der Wirklichkeit 
und der Werte eine sehr gezwungene, der Zusammenhang dieses 
praktischen Teils der skeptischen Lehre mit dem theoretischen 
ein sehr lockerer. Denn während es ganz sinnvoll (obwohl nicht 
richtig) ist, im Gebiete der sinnlichen Wahrnehmung zu sagen: 
ich kann zwar, aus den bekannten Gründen, das Ansich dieser 
Rose nicht erkennen, aber diese Rose erscheint mir rot, duftig, 
klein und feucht, und ich kann mich dieser Erschemung als einem 
vom Objekt stammenden, sich mir aufdrängenden Bewußtseins- 
zustand nicht entziehen, so ist das gleiche bei den Sitten, Ge- 
wohnheiten, politischen und religiösen Gebräuchen durchaus nicht 
der Fall. Hier erscheint keineswegs das Frommsein, Demokrat- 
sein, Gastfreundschafiüben als gut, in dem Augenblick und überall, 
wo diese Handlungen und Gesinnungen Sitte sind, obgleich der 
absolute Wert dieser Zustände sich auch vielleicht inadäquat in 
dieser Erscheinung spiegelt. Ich kann mich vielmehr dieser 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 29 1 

Art von Erscheinungen sehr wohl entziehen. Und gar 
Männern von der scharfen, kritischen Begabung eines Timon, 
Aenesidem, Sextus vermögen wir erst recht nicht zu glauben: daß 
ihnen, nicht etwa in allgemeinen moralischen Gefühlen und Willens- 
regungen, die sich als Reflexe absoluter Moralgesetze allenfalls 
hätten ansprechen lassen, sondern in den einzelnen Opferzeremonien, 
den politischen Bestimmungen des eigenen Landstrichs das Heilige, 
das Rechte selbst in unauslöschlichen Lettern niedergelegt „erschien"; 
so daß ihnen nur übrig geblieben wäre zu bekennen : der Artemis 
zu opfern, ist vielleicht an sich nicht gut; aber ich muß es für 
gut halten; entsprechend dem Bekenntnis: die Rose ist vielleicht 
an sich nicht rot, aber ich muß sie rot sehen. — Ganz anders 
die zweite Gedankenreihe, die sich in der Ausführung dieser 
Männer mit der oben entwickelten zu verwirrendem Knoten ver- 
bindet, aber nur losgelöst aus dem störenden Durcheinander der 
Gesichtspunkte ihren ganzen Wert behaupten kann. Sie knüpft 
an den Begriff der Erscheinung in der weiteren Bedeutung an, 
nach der jeder sich unwiderstehlich aufdrängende Bewußtseins- 
zustand ohne Rücksicht auf ein zugrunde liegendes Ansich, das 
sich adäquat oder inadäquat in ihm spiegelt, ^atvopisvoy genannt 
wird. In dieser Hinsicht wird der Skeptiker in den Bannkreis der 
Sitte gezogen, nicht weil ihm in den Sitten das Gute erscheint, 
sondern weil es ihm gut, d. h. lustvoll erscheint, sich den Sitten 
seines Landes und Volkes zu fügen. Täte er es nicht, so wäre 
ihm das Leben eine unerträgliche Last. Damit ist ausgesprochen, 
daß von dieser Seite nicht der Inhalt der einzelnen Sitten, los- 
gelöst von der Wirkung ihrer Befolgung für das Individuum, all- 
gemein als gut, sondern nur eben die Wirkung ihrer Befolgung 
als lustvoll und daher empfehlenswert „erscheint". Dieser Lust 
nachzugehn, heißt ihnen, ein unwiderstehliches moralisches Bedürfnis 
befriedigen, wie den Hunger zu stillen ein unwiderstehliches physi- 
sches Bedürfnis war und daher ohne Durchbrechung des theore- 
tischen Programms für erlaubt galt. Einem solchen Konservativis- 
mus aus Radikalismus ist eine gewisse Großartigkeit, und seiner 
Motivierung die psychologische Tiefe nicht abzusprechen. Auch 
heute, und gerade heute wieder, befolgt eine grofSe Zahl der Ge- 
bildeten die Landessitten, bleibt Mitglied der Kirche, läßt sich 
trauen, die Kinder taufen usw., ohne von dem absoluten Wert der 
Religion und ihrer Gebräuche durchdrungen zu sein; ohne auch 
nur diese Lehren und Gebräuche als Erscheinungswerte gut finden 

19* 



292 Erster Abschnitt Die griechische Skepsis. 

ZU müssen; sondern einzig, weil die Skepsis über die Erkennbar- 
keit der Werte ein eigenes Wertsystem nicht aufkommen läßt, 
oder die Mattigkeit nach den ersten Versuchen, ein solches in die 
einzelnen Lebensrealitäten entgegen Sitten und Gesetzen hinein- 
zubilden, sie der provisorischen Lebensführung unter dem Patronat 
der gerade herrschenden Normen alsbald in die Arme treibt. Schlecht 
„erscheint" auch hier nur die Unlust, die ein Gegen- den -Strom- 
schwinmien für das betreffende Subjekt mit sich führt, gut das 
Enthobensein aller eigenen Wertsetzungen durch die bestehenden. 

Es ist aber eine unberechtigte Gewaltsamkeit, aus rein skep- 
tischen Voraussetzungen über die Unerkennbarkeit der Werte, mit 
Hilfe des Exscheinungsbegriffs in jeder seiner Fassungen, wendet 
man dieselben auf die Landessitten an, eine allgemeine Norm 
für unser praktisches Verhalten gewinnen zu wollen. Denn da 
die herrschenden Wertansichten für die Landes- und Zeitgenossen 
sicher keine notwendigen Erscheinungen des Guten an sich zu be- 
deuten brauchen, so liegt von dieser Seite kern Zwang vor, ein 
bestimmtes Verhalten einzunehmen. Versteht man aber unter der 
Sitte als Erscheinungswert nur den Umstand, daß die praktische 
Befolgung derselben Lust, ihre Verwerfung Unlust erregt, so tritt 
hier der schon früher namhaft gemachte, variable psychologische 
Faktor wieder in die Berechnung ein; und es bleibt ebenso mög- 
lich, daß ein theoretischer Skeptiker praktisch bei der Befolgung 
der Landessitten sein Lustmaximum findet (das wird für alle passiven, 
müden, verbrauchten, gebrochenen Willen gelten, wie sie der Mehr- 
zahl der antiken Pyrrhoniker wohl zu eigen waren), wie es mög- 
lich bleibt, daß ein so Gesonnener seine höchste Lust findet gerade 
im Bruch der Sitte, im Ausleben der eigenen Individualität, deren 
drängende Begierden ihm weit zwingendere Erscheinimgen und 
unmittelbarere Erlebnisse sind als die sich an die Vorschriften der 
Sitten kettenden Wertgcfühle (und auch für solche Typen fehlt es 
in der Geschichte nicht an Beispielen). 

So sicher sich aber über der Gleichung: herrschende Wert- 
ansichten = Werterscheinungen keine ethische Phänomenologie mit 
allgemeinen Verhaltungsmaßregeln für den moralischen, religiösen, 
politischen Skeptiker logisch aufbauen läßt, so bewundernswert 
ist doch die Einhelligkeit, mit der sämtliche antike Skeptiker tat- 
sächlich dem Sittenkodex ihrer Zeit genügt zu haben scheinen. 
Einzig aus dem gebrochenen Willensleben, dem Mangel an eigener 
Leidenschaft läßt sich das gewiß nicht erklären; vielmehr müssen 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 293 

wir noch die antike Philosophentugend zum Verständnis heranziehen: 
nach den als wahr erkannten Thesen auch wirklich sein Leben 
einzurichten; eine Tugend, in der die Bezweifler aller Wahrheit 
hinter den Dogmatikem nicht zurückstanden. Bewundernswert ist 
auch die Grandezza und der Hochsinn, mit denen die Skepsis nach 
außen und nach innen diesen Pflichterscheinungen nachgab. Der 
Stifter der Schule war Oberpriester, und zwar bezweifelte er die 
Wahrheit in allen Religionen ebenso offen und vor aller Welt, wie 
er eine bestimmte Erscheinungsform der Religion hütete und ver- 
waltete! Wen dabei nicht von selbst ein ehrfürchtigerÜßchauer 
überfallt vor dem großen Lebensstil, dessen Menschen einst 
fähig waren, der vergleiche damit die Art, wie sich die Skepsis 
im Talar und vor dem Altar heute auszunehmen und herum- 
zudrücken pflegt! Und wie man in antiker Vornehmheit durch 
Taten und Reden das äußerlich bekannte, zu dem man sich inner- 
lich bekannte, so erfüllte man die herrschenden Wertforderungen auch 
in deren tiefsten Schichten, auch dort, wo man auf keinen äußeren 
Beifall rechnen konnte. Was von dem Charakter der einzelnen 
Skeptiker seinerzeit berichtet wurde, der genialen Bescheidenheit 
Pyrrhos, der zarten Wohltätigkeit des Arkesilaus, usw., das zeigt 
unwiderleglich die Vereinbarkeit totalskeptischer Moralanschauungen 
mit der Erfüllung, ja der königlichen Überbietung der dogmatischsten 
Sittenforderungen aller Zeiten. Solange die „Werke" bewertet 
werden und nicht der „Glaube", gibt es kein Werk, das nicht 
auch der extremste Skeptiker im Einklang mit seiner Lehre, ja als 
Folge derselben geleistet hätte, wenn es die bestehende Sittlich- 
keitsauffassung empfahl. Das ist nötig zu betonen, solange das 
enge Netz sittlicher Vorurteile noch so manchen umfangt, und es 
auch noch „Gebildete" gibt, die sich unter einem ethischen Skep- 
tiker nur einen frivolen Spötter oder einen leichtsinnigen Welt- 
mann vorzustellen vermögen. Der Einwand aber, daß die Eigen- 
schaften und Werke der Skeptiker ganz unabhängig von den 
theoretischen Überzeugungen sich gebildet hätten, ist vielleicht 
stichhaltig für manche moderne Seelen, die, im Grunde harmlose 
Gemüter, nur in der Theorie die Maske Epikurs oder Pyrrhos an- 
nehmen; für den antiken Moralphilosophen, der sich an der Person 
eines Sokrates orientiert hat, ist er es nicht Vielmehr steht auch 
bei der Skepsis Leben und Lehre in allerengstem Zusammenhang; 
und wenn auch der logische Faden hier leicht zu durchreißen war, 
der psychologische, durch den man sich in seiner Lebensführung 



294 Erster Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

an die theoretischen Ansichten gebunden fühlte, ist unzerreißbar. 
Dayon nehmen wir um so entschiedener Notiz, als damit dem 
Standpunkt der Halbbildung wirksam entgegengetreten wird, der 
ja mit Vorliebe Leuten, die theoretische Atheisten, Materialisten, 
Skeptiker sind , am sittlichen Charakter etwas am 2^uge flickt oder 
allenfalls das Verhältnis von Leben und Lehre als den Sieg des 
guten Herzens über den bösen Kopf zu fassen pflegt^') 

Im übrigen ist auch hier nicht zu vergessen, daß, ganz ab- 
gesehen davon, ob die Sitten eines Landes als rein passive Wert- 
erlebnüle zur Motivation des Willens eines Skeptikers genügen 
oder nicht, jedenfalls zur Ausführung der von den Sitten vor- 
geschriebenen Handlungen wiederum ein starker Einschlag von 
aktiven Erwägungen notwendig ist, der auf rein skeptischer Basis 
nicht möglich sein dürfte. Jede Kulthandlung, die Pyrrho etwa 
vornahm, setzte die Oberzeugung von kausalen Zusammenhängen 
voraus, die auch durch die rein empiristische, rudimentäre Kausali- 
tätstheorie der skeptischen Arzte gewiß oftmals nicht hätte zustande 
kommen können. 

Aber der Skeptiker hält es nicht nur für erlaubt, ja von 
seinem Standpunkt aus für geboten, die physischen Bedürftiisse 
durch Stillimg von Hunger, Durst, Entfernung von Schmerz 
zu erfüllen, die moralischen, religiösen, politischen Instinkte durch 
eine konventionelle Lebensführung zu befriedigen, sondern er hält 
es auch für durchaus vereinbar mit seiner Lehre, einen Beruf, 
wie den der Medizin, zu übernehmen; und zwar nicht nur die 
praktische Übernahme ist ihm im Einklang mit dem praktischen, 
positiven Kriterium (dem Begriff der Werterscheinung, die dazu 
drängt, das auch zu tun, was uns wertvoll erscheint), sondern auch 
die theoretischen Voraussetzungen des Berufs befinden sich im 
Einklang mit dem theoretischen, positiven Kriterium (dem Begriff 
der Wirklichkeitserscheinung). Damit aber wären die positiven 
Konsequenzen so weit getrieben, daß eine neue Art von Erkenntnis 
durch sie möglich gemacht wird, und der Skeptizismus in den 
extrem - idealistischen Empirismus (Positivismus) umschlägt. Ist diese 
Entwicklung des Positivismus aus dem Skeptizismus, einer syste- 
matischen Erscheinungserkenntnis, die sich über der systematischen 
Unkenntnis der Dinge an sich erhebt, den Pyrrhonikern geglückt oder 
nicht? Ich glaube, die Antwort wird verneinend zu lauten haben. 

Der Skeptiker geht auch hier aus von den Erscheinungen. 
Über deren Umfang braucht allerdings auch die Wissenschaft nicht 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 295 

hinauszugehen, wie die Analyse des extremen Idealismus ergab. 
Aber neben der Wahrnehmung von Krankheitserscheinungen be- 
darf der Mediziner noch der Kenntnis ihres Zusammenhangs. 
Das gab die Skepsis zu, aber die Kenntnis dieses Zusammenhangs 
war selbst wieder Erscheinung, rein passives Erlebnis. 
Die Verbindung der Erscheinungen nämlich machte sich in uns 
bemerkbar durch den passiven Zwang der Assoziation, kraft dessen 
eine Erscheinung (— sinnliche Wahrnehmung), wie Rauch, Narbe, 
Herzverletzung, Salbe, die reproduzierte Vorstellung der oft mit 
ihr verbunden beobachteten, Feuer, Wunde, Tod, Heilung im 
Bewußtsein nach sich zieht Und diese Assoziation wirkt nicht 
nur, während die Erscheinungen beide gegenwärtig sind, sondern 
auch wenn die eine nicht mehr oder noch nicht da ist Die un- 
mittelbare, sinnliche Wahrnehmung einer Erscheinung genügt, 
um durch Assoziation die andre vorauszusehn oder auf deren ver- 
gangene Wirklichkeit, deren gegenwärtige, wenn auch nicht wahr- 
genommene Existenz zu schließen. Die eine Wahrnehmung hieß 
das „erinnernde 2^ichen". Mit dieser embryonalen Kausaltheorie, 
deren Verwandtschaft mit Hume und Mill in der Darstellung ge- 
nügend betont wurde, scheint es in der Tat möglich, von den 
skeptischen Prämissen aus Wissenschaft zu treiben. Denn mehr 
als die Erkenntnis der Erscheinungen und Erscheinungszusammen- 
hänge braucht man dazu nicht. Und doch ist diese Möglich- 
keit vollkommen ausgeschlossen. Denn in Wahrheit vermag 
der Pyrrhoniker den Zusammenhang der Erscheinungen' nicht zu 
erkennen. Wenn er sich nur auf diejenige Kenntnis von Erschei- 
nungszusammenhängen beschränkt, die durch passive Assozia- 
tion zustande kommt, so würde er i. eine Menge für seine tixvri 
nötigen Zusammenhänge nicht erkennen und 2. eine Menge tat- 
sächlich und objektiv nicht bestehender zu erkennen glauben, und 
also immerfort irren und dem Kranken schaden. Daß mäßiger 
Alkoholgenuß die Geistesfahigkeiten hebt und stärkt, ist eine Er- 
fahrung, die man oft über sich ergehen lassen muß und deren 
Glieder sich also sehr wohl assoziativ verketten können. Daß 
diese Stärkung aber nur eine momentane Oberreizung ist, die 
dem Gesamtorganismus schadet, zeigt nur die aktiv -methodische 
Durchforschung der Erfahrung. Das äußerste an reinem Em- 
pirismus, der wirklich die Erkenntnis der Erfahrungszusammen- 
hänge und damit ihre Verwendung zur Voraussicht der zukünftigen 
Erscheinungen erlaubt, ist die Anschauung: die überwältigende 



2()6 Enter Abschnitt. Die griechische Skepsis. 

Masse von Fällen regelmäßigen Naturgeschehens dränge uns asso- 
ziativ die Oberzeugung auf, untereinander ähnliche Erscheinungen 
seien stets mit imtereinander ähnlichen Erscheinungen verkettet 
Welchen Erscheinungen aber solche andre eindeutig zugeordnet 
sind, das zeigt uns niemals die „reine" Erfahrung, das beant- 
wortet nur die Erfahrung, die darüber in bestimmter Weise be- 
fragt wird. 

Die logische Aktivität, die planmäßige und methodische Be- 
obachtung dessen, was wirklich immer miteinander in der Er- 
scheinimg verbunden ist, die systematische Berücksichtigung nicht 
nur der Wahmehmungswirklichkeiten , sondern auch -Möglich- 
keiten, sie sind unerläßliches Erfordernis, auch um einen rein 
phänomenologisch aufgefaßten Beruf zu erfüllen, eine rein phäno- 
menologische Wissenschaft zu treiben, ja auch um die vorher be- 
sprochenen animalischen und moralischen Instinkte zu befriedigen. 
Wenn die pyrrhonische Skepsis diese Instinkte befriedigte, ihren 
Beruf erfüllte, ja eine ausgeführte medizinisch -empirische Methode 
besaß, so geschah das ohne philosophische Rechtfertigung und in 
grober Inkonsequenz der eigenen Prinzipien. 

Es finden sich zwei merkwürdige Stellen bei Sextus, von 
denen die eine den eigentlichen Zweck dieses skeptischen Posi- 
tivismus, die andre das Scheitern dieses Zweckes bekennt. Die 
erste verrät, daß die skeptisch -positivistische Theorie alle Er- 
kenntnisprozesse anerkennen will, die zum Leben notwendig sind, 
aber nur soweit sie zum Leben notwendig sind. Daraus erhellt, 
daß nicht nur die Grundtendenz eines Humeschen und MUlschen 
Positivismus, sondern auch die innersten Motive der allermodernsten 
Form dieser Richtimg, der biologischen, hier im Keime bereits 
enthalten sind. Was „außerhalb der Lebensbedürfnisse" (lga> r^g 
ßtantKTfg xP^iag) behauptet wird '^), das geht den Skeptiker nichts 
an. Was aber „innerhalb** dieser behauptet wird und behauptet 
werden muß, interessiert ihn durchaus: „Daher wir mit dem Leben 
nicht nur nicht streiten, sondern sogar auf seiner Seite kämpfen 
{öi/vayoDviSioßjieS^a), indem wir dem von ihm Beglaubigten uns an- 
sichtslos (d. h. ohne uns darüber, ob das biologisch Beglaubigte 
auch noch „an sich", in andrer Beziehung beglaubigt ist) fügen, 
andrerseits dem, was von den Dogmatikern besonders erfunden 
wurde, uns widersetzen. " ^i) Hätten die Pyrrhoniker aus diesen Aus- 
klängen ihrer Philosophie ein selbständiges Ganzes geschaffen, so 
konnte das diesem zugrunde liegende Problem nur lauten: welche 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 297 

erkenntnistheoretiscben Annahmen liegen den zum Leben erforder- 
lichen intellektuellen Operationen zugrunde? Was müssen wir, 
nicht an sich, sondern im Interesse des Lebens für wahr halten? 
In diesem Sinne spricht Mach gelegentlich „die tiefe Oberzeugung" 
aus, daß die Gesamtwissenschaft die nächsten großen Aufklärungen 
über ihre Grundlagen yon der Biologie zu erwarten hat; daß die 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen das Ziel aller wissen- 
schaftlichen Arbeit sei, daß aber die Wissenschaft hier nur ab- 
sichtlich und bewußt fortsetze, was sich im täglichen Leben un- 
vermerkt von selbst vollzieht. '^*) Aber wie die Skepsis bereits die 
ersten kräftigen Ansätze zu einer biologischen Erkenntnistheorie 
besitzt, wie sie ihre Kausalitätslehre vom „erinnernden Zeichen" mit 
Recht als den vornehmsten Beitrag zu einer solchen ansieht und 
sich auch die oben angezogene Stelle unmittelbar im Anschluß an 
die Entwickelung der phänomenalistischen KausalaufTassung findet, 
so überkommt sie doch, infolge einiger besonders gut gezielter An- 
griffe der Gegner, bisweilen das unsichere Gefühl, dieser biologi- 
schen Aufgabe nicht völlig genügt zu haben. Dann reißt sie 
den angesponnenen Faden zwischen Theorie und Praxis gewaltsam 
entzwei, trennt ihre „Philosophie" vom „Leben" ab, behauptet: 
„seinem philosophischen Bekenntnis gemäß lebt der Skeptiker 
nicht; denn nach diesem vermöchte er nicht zu handeln". Mit 
einer gewissen Schadenfreude hat man sich auf solche Zugeständ- 
nisse gestützt: ingenua confessio et probe notanda! triumphiert 
Fabricius, der Herausgeber, und Stäudlin bemerkt dazu: „So 
gleichsam geteilt kann die menschliche Seele nicht werden, daß 
sie in der Praxis auf einmal ganz vergessen könnte, wozu sie sich 
theoretisch bestimmt hat, oder daß sie Grundsätze ungehindert 
praktisch anwenden könnte, die sie theoretisch ganz und gar in 
Zweifel gezogen hat. "'5) Sieht man aber näher hin, so zeigt die 
Stelle ein merkwürdiges Doppelantlitz; denn ein Leben und Han- 
deln des Skeptikers wird unmittelbar darauf durch die Motivations- 
kraft der „Erscheinungen" (Landessitten usw.)/*) für möglich er- 
klärt, deren Anerkennung durchaus ein Stück der skeptischen 
Philosophie ausmacht, und doch fährt Sextus fort: „Gemäß der 
unphilosophischen Beobachtung {xata rrjv aq)ikjo6o(pov ti^pijöty) 
kann er dieses erwählen und jenes vermeiden." Warum wiederum 
unphilosophische Beobachtung? Einmal, weil nur Erforschung 
der Dinge imd Werte an sich der Antike Philosophie bedeutet, 
und keine Ansicht über die Dinge an sich den Skeptiker zum 



2gS Enter Abflcfanitt Die griechiicfae Skepsis. 

handelnden Leben bestimmt; dann aber vielleicht auch, weil 
logische Operationen zu dieser Beobachtung nötig waren, deren 
Wert die skeptische Theorie nicht anerkannte. Offiziell ist aus 
dieser Stelle kein belastendes Moment, keine Inkonsequenz 
zwischen Leben und Lehre herzuleiten. Sextus würde ver- 
mutlich, zur Rede gestellt, die Ausdrücke <piKo6o<poq Xoyoq und 
a<pik66o<po^ ri^ptfötg nur durch die obige, antike Definition der 
Philosophie rechtfertigen und sich keiner bewußten Lüge dabei 
schuldig machen. Daß noch ein zweites Motiv im skeptischen 
Unterbewußtsein existiert, ist unsre Vermutung; diese stützt sich 
aber weniger auf die Kenntnis der Geistesart des betreffenden Autors 
als auf die Einsicht, daß jede logische Bearbeitung und Er- 
forschung, selbst im Gebiet der Erscheinungswelt, von der Skepsis 
ausgeschlossen wurde und doch ohne eine solche jedes Handeln 
unmöglich, und nur ein „pflanzenähnliches" Leben (dies der Vor- 
wurf der Gegner, auf den Sextus hier antwortet!) möglich ist 

Aber einzig die ausdrückliche Anerkenntnis der aktiven logi- 
gischen Operationen als ein Erfordernis zur Erkenntnis der Er- 
scheinungszusammenhänge fehlte diesen Leuten (in theoria), tun 
einen völlig durchgebildeten Abriß des phänomenalistischen 
Empirismus (Positivismus) zu besitzen. Hier, in den interessan- 
testen Partien der Skepsis, brechen noch einmal die beiden Grund- 
motive dieser Schule mit elementarer Wucht hindurch und hin- 
dern die offene Schwenkung ins empiristische Lager. Das ethische 
Motiv: nur in der Passivität liegt das Glück, vertreibt auch aus 
der Theorie jede logische Aktivität; der extrem -realistische Stand- 
punkt: nur in der Passivität liegt Evidenz, wirkt im gleichen Sinne. 

Doch was den Pyrrhonikcm fehlte, besaßen die Akademiker. 
Ihr Skeptizismus hatte andre Motive, weder eudaimonistische, 
noch extrem -realistische. Und so betonten sie für die Durch- 
forschung der Erscheinungszusammenhänge in der Tat die Wich- 
tigkeit der aktiven logischen Operationen. Man müsse die 
Erscheinungen „ringsumher prüfen und durchspähen" auf ihren 
Zusammenhang mit andern Erscheinungen hin. Daraus erst ent- 
spränge die Kenntnis davon, ob eine Erscheinung als Wirklich- 
keitserscheinung charakterisiert sei oder als bloßes Phantasma, und 
welcher Art die empirischen Gesetze wären, nach denen sich die 
Wirklichkeitswahrnehmungen verketteten. Ein weiteres Verdienst 
der Schule bestand darin, Stufen der Gewißheit oder Wahrschein- 
lichkeitsgrade in unsrer Erkenntnis aufgestellt zu haben. Damit 



Drittes Ki^itel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 299 

nahm sie die erkenntnistheoretische Einsicht ahnend vorweg: daß 
sich zwar nur an Sätze (Kameades glaubte , an Vorstellungen) , die 
mit allen Erfahrungstatsachen und Denkgesetzen im Einklang 
stehen, das Wahrheitsgefuhl unausrottbar kettet; daß aber auch 
Sätze, die mit allen Denkgesetzen und nur einem Teil der Er- 
fahrungen im Einklang und mit keiner im Widerstreit stehen, ein 
ähnliches GefQhl , das man als Wahrscheinlichkeitsgefuhl bezeichnen 
kann, unausrottbar begleitet. Aber die Akademiker beschränkten 
diese ihre Lehre nicht ausdrücklich auf die Erkenntnis von Er- 
scheinungen, so daß auch diese Schule zu keinem vollendeten 
Positivismus gelangte. 

Vereinigt man dagegen den pyrrhonischen mit dem 
akademischen Skeptizismus, so erhält man in der Tat eine 
Theorie des Positivismus oder phänomenalistischen Em- 
pirismus, wie sie knapper und zugleich erschöpfender 
wohl nicht gedacht werden kann. Einziges Objekt der Er- 
kenntnis sind dann: die unmittelbaren Erlebnisse (naStri), d.h. die 
Erfahrungen (ijjiTtBipiat)^ d. h. die Bewußtseinsdata {(partaöiat), 
d. h. die Erscheinungen {(paivofAtva) und der Zusammenhang dieser 
Erscheinungen oder deren Gesetzmäßigkeit Die nd^r} werden 
unmittelbar und passiv erkannt und die über sie berichtenden Aus- 
sagen sind absolut gewiß — so die Pyrrhoniker. Die gesetz- 
mäßigen Beziehungen der na^ri werden mittelbar und aktiv durch 
methodische Beobachtung dieser Beziehungen erkannt; können aber 
nur mit annähernder Sicherheit, die mit der Exaktheit der Beob- 
achtung und der Zahl der beobachteten Fälle steigt, in Sätzen 
von wahrscheinlicher Geltung niedergelegt werden — so die Aka- 
demiker. 

Mit solchen Anschauungen läßt sich nicht nur praktisch leben, 
sondern auch theoretische Wissenschaft treiben. Demgegenüber 
besagen die skeptischen Erklärungen: es gibt keine Wahrheit, es 
gibt keine Wissenschaft, es gibt keine Erkenntnis nicht mehr viel. 
Sie beziehen sich ja alle auf Wahrheit, Wissenschaft, Erkenntnis 
von den Dingen an sich. Bedeutungsvoll und antipositivistisch 
sind sie nur, solange die Möglichkeit eines Erscheinungswissens, 
einer Erscheinungserkenntnis, einer Erscheinungswissenschaft nicht 
entdeckt ist. Aber die jüngere Skepsis entdeckte sie nicht nur, 
sondern begann sie auszubauen; und sie baute nur aus, was Pyrrho 
schon im Grunde gelehrt hatte: xöi<s <paivo^ivoiq ockoXov^bw, Ob 
man dabei die Worte: Wahrheit, Erkenntnis, Wissenschaft in 



3^>0 Enter Abschnitt Die griechische Skepsis. 

positivistischer Bedeutung wieder einführte, ist relativ gleichgültig. 
Fast scheint es so, als habe Aenesidem auch dazu mit der Formu- 
lierung eines zweiten Wahrheitsbegriffs den Ansatz gemacht Aber 
nicht gleichgültig ist, daß die Skepsis den Realismus insofern nie 
überwunden hat, als sie an der Existenz von Dingen an sich 
in allen ihren Vertretern festhielt; daß sie daher das Ideal der 
Wissenschaft, der Erkenntnis, der Wahrheit, dessen Inhalt Aus- 
sagen über die Dinge an sich wären, als ein unerreichbares und 
nie zu verwirklichendes betrachtete. 

So kommt diese Richtung mit ihren letzten Ausläufern in eine 
sonderbare Schwebe zwischen Kantianismus und modernem 
Positivismus. Mit Kant glaubt sie fest an die Existenz realer Dinge 
an sich und hält die Erkenntnis dieser Dinge für ausgeschlossen 
(während der Positivismus diese Existenz dahin gestellt sein läßt, 
oder leugnet). Mit den Positivisten glaubt sie an die empirische 
Erkenntnis von Erscheinungen und Erscheinungszusammenhängen, 
die in ihrem ersten Teil absolute Gewißheit, in ihrem zweiten nur 
Wahrscheinlichkeitsgrade zu erreichen vermag. (Während für den 
rationalistischen Kant es gerade auf die absolute Gewißheit der 
Erscheinungszusammenhänge ankam.) ^^) Des näheren stellt sich dies 
Verhältnis zu Kant, aus dem auch manches für das Verständnis 
der Skepsis selbst zu lernen ist, folgendermaßen dar: Wenn Kant 
die Erkenntnis der Dinge an sich für die menschliche Vernunft 
„überhaupt" eine absolute Unmöglichkeit sein läßt, bewährt er 
sich als generell -dogmatischer Negativist für das Gebiet der Trans- 
zendenz, berührt sich also mit einigen Akademikern, nicht mit 
den Pyrrhonikem. Während bei Kant femer dieses absolute Nicht- 
wissen um die Transzendenz Folge des absoluten Wissens um 
bestimmte Bestandteile der Immanenz ist, als Folge seines Aprio- 
rismus von Raum, Zeit, Kategorien (weil a priori und immanent 
absolut gültig, darum nicht transzendent gültig), so stehen bei der 
Skepsis beide Partien im umgekehrten ursächlichen Zusammenhang: 
nicht weU wir die Erscheinungen vollkommen sicher erkennen, 
können wir ihr „an sich" nicht erkennen; sondern weU wir die 
Dinge an sich nicht erkennen, bleibt uns nur übrig, uns auf die 
Erscheinungen zu beschränken. Der tiefste Grund für diesen 
Unterschied liegt darin: daß die Skepsis die prinzipielle Trans- 
zendenz der Dinge an sich nicht konzipiert hatte. Sowie die 
Dinge an sich als außerzeitliche, außerräumliche, außerkausale, 
metaphysische Wesenheiten einmal gefaßt und so schon durch 



Drittes Kapitel Die Kritik der griechischen Skepsis. 3^' 

diesen BegriiT alle Brücken mit dem erkennenden Bewußtsein und 
dessen Formen abgebrochen sind, begreift sich, daß man sich ganz 
auf die Verfestigung des Erscheinungswissens werfen konnte; so- 
lange dieser Schritt aber noch nicht geschehen war, die Dinge an 
sich in Raum, Zeit, Kausalität einbezogen gedacht wurden und 
nur aus empirischen Motiven nicht erkannt werden konnten, 
hatte man auch theoretisch mehr Grund: die Unmöglichkeit ihrer 
Erkenntnis aus diesen empirischen Ursachen zu beweisen, als die 
Möglichkeit der Phänomenerkenntnis im einzelnen auszubauen. 
Denn die Dinge an sich waren ja nicht durch jenen Kantischen 
Gewaltstreich als Erkenntnisobjekte von vornherein ausgeschieden. So 
war der Acker der Dinge an sich dem Skeptiker als Erkenntnisterrain 
nicht „das Unbetretene, nicht zu betretende" wie für Faust'*), 
sondern nur ein Gebiet, auf dem man bei jedem Schritte stolperte. 
Während mm Kant nachweisen will, daß noch keines Menschen 
theoretisches Bewußtsein je den Schritt auf dieses Land gesetzt 
hätte, noch setzen könne, und daß es daher gälte, die Straßen 
und Wege auf dem zugänglichen Lande der Erscheinungswelt 
genau zu studieren und deren Karte zu entwerfen, zeigt die Skepsis 
mit eindringlicher Schärfe und ausfuhrlicher Breite: daß man bei 
jedem Schritt auf dem Acker der Dinge an sich stolpern müsse, 
und gibt nur rhapsodisch und eigentlich nur halb interessiert ein 
paar Orientierungspunkte an, nach denen man sich im Erscheinungs> 
lande zurechtzufinden vermöge, gerade so viel, als ein „anstän- 
diger" Mensch zum täglichen Leben bedarf. Wenn die Medaille 
der Kantischen Erkenntnistheorie auf der Vorderseite die Devise 
trüge: Erkennbarkeit der Erscheinungswelt und auf dem Revers: 
Unerkennbarkeit der Dinge an sich, so müßte bei einer auf die 
antik -skeptische Philosophie geprägten Münze zu lesen stehen 
auf der Vorderseite: Unerkennbarkeit der Dinge an sich, und auf 
der Rückseite in verschwonmienen Zügen: Erkennbarkeit der Er- 
scheinungen! 

Aber der geheimste Grund dafür, daß Pyrrhoniker wie Aka- 
demiker die Skepsis und nicht den Phänomenalismus, die negative 
und nicht die positive Seite ihrer Theorien accentuierten, lag 
nicht in ihrer Auffassung vom Ding an sich, lag überhaupt nicht 
in intellektuellen Motiven, sondern er ist zu suchen in der Grund- 
richtung des Wollens und Fühlens, das den Stiftern dieser 
Schule eigen war. Ihren theoretischen Ausdruck erfuhr diese Grund- 



302 Erster Abschnitt. Die griediisdie Skepsis. 

richtung in der Beantwortung der letzten Frage: daß vom Baume 
der Skepsis allein uns die Frucht der Glückseligkeit reif in den Schoß 
falle. Was nun die Beurteilung dieser krönenden Schlußeinsicht be- 
trifft: aus dem skeptischen Verhalten, der völligen Epoch6 den Dingen 
und Werten an sich gegenüber , folge die Ataraxie und Apathie , oder 
doch wenigstens die Metriopathie, kurz der größtmögliche Grad 
vonEudaimonie, so darf man dabei nicht vergessen, daß das Ideal 
der Glückseligkeit hier nicht etwa als ein erwiesener allgemein- 
gültiger sittlicher Wert auftritt, den man durch die theoretische 
Skepsis zu verwirklichen habe, sondern a parte ante als das indi- 
viduelle Willensziel der einzelnen Skeptiker und a parte post als 
die tatsächliche Folge des skeptischen Standpunktes. Wer das 
nämliche Ziel erstrebt, kann es auf dem Wege der Skepsis allein 
erreichen und wer diesen Weg geht, gelangt zu jenem Ziele. Eine 
Sanktion für dieses Ziel und damit eine letzte Sanktion für ihre 
ganze Philosophie zu geben, fiel den Skeptikern nicht ein. Daher 
der vorsichtige „hypothetische" Imperativ Timons: Setv ror fiiX- 
Xovra ivöatßiovi^öetv elgtpüx totvra ßXiftetv.'''') Die Richtigkeit der 
skeptischen Lehre aber von den Mitteln, die zum Glücke führen, 
läßt sich nicht logisch, sondern nur psychologisch prüfen. Hat 
wirklich der totale Zweifel das Glück, die dogmatische Oberzeugt- 
heit das Unglück im Gefolge? Nun glauben wir gern, daß Pyrrho 
und noch manch andrer griechischer Skeptiker die gleiche Tiefe 
inneren Friedens genossen haben mögen, wie die großen Weisen der 
Stoiker und Epikuräer oder wie ein christlicher Heiliger. 's) Aber zu 
behaupten und zu beweisen versuchen, aus der Skepsis folge not- 
wendig und ganz allgemein Gemütsruhe und Friede, Leidlosigkeit 
und Gelassenheit, ist ein unhaltbares Vorgehen. Hier sprechen die 
psychologischen Tatsachen eine beredtere Sprache als alle logischen 
Gründe. Wir brauchen bloß dem griechischen Pyrrho einen deutschen 
Gegentypus vorzuhalten: den Faust Auf Faust wirkt die Skepsis 
nicht beruhigend , nicht beglückend und erlösend ; sie ist ihm viel- 
mehr die Ursache tiefster Unruhe, heftigster Erschütterung, quä- 
lendsten Unglücks; sie versengt ihn: 

„Und sehe, daß wir nichts wissen können 
Das will mir schier das Herz verbrennen." 

Wem aber Dichtwerke zum Entscheid philosophischer Fragen 
nicht maßgebend sind, der lese das Kapitel über das „metaphysische 
Bedürfnis** bei Schopenhauer, und er wird sich überzeugen» 
welchen Grad von Kakodaimonie die Zweifel an der Erkenntnis 



Drittes Kapitel. Die Kritik der griechischen Skepsis. 3^3 

der Dinge an sich zu erzeugen vermögen. Damit fällt natürlich 
auch die Ergänzungsthese: feste Überzeugungen ziehen notwendig 
Unruhe und Unseligkeit nach sich, dahin. Ein Blick in die Schluß- 
partien des Hauptwerks eines der dogmatischsten aller Denker» 
der Ethik Spinozas, aus denen dem Leser die tranquilla beati- 
tudo des Autors entgegenleuchtet, ist die leicht anzustellende 
Probe. So lernen wir noch einmal von der Skepsis, aber diesmal 
ohne ihren Willen, daß sich aus der Eudaimonie als oberstem Ziel 
kein allgemeingültiges Verhalten ableiten lasse.'*) Aber wir lernen 
zugleich einen neuen, für einzelne Menschen gangbaren Weg zur 
Gemütsruhe imd zum Glücke kennen: den Weg der reinen in- 
tellektuellen Resignation, des völligen Verzichts auf die Erkenntnis. 
Damit tritt am Schluß der antiken Moralphilosophie noch ein neuer> 
aber nicht minder berechtigter eudaimonistischer Antipode zu dem 
Begründer der griechischen Ethik auf. Sokrates hatte das Wissen 
als den geraden Weg zur Glückseligkeit gepriesen; erschöpft und 
müde, am Ausgang einer hohen Kulturepoche stehend, weisen die 
Skeptiker auf das Nichtwissen, als den Pfad zum gleichen Ziele. 
Viele Wege — das enthüllen diese Kontraste — führen zur Glück- 
seligkeit Aber nicht alle sind für jedermann beschreitbar. Eia 
jeder gelangt nur auf einem einzigen Wege zum Ziele. Aber darum 
ist dieser Weg nicht der einzige für alle. Die Gründe für diese 
Erscheinung hatte die Skepsis in ihrer Kritik der dogmatischea 
Moralphilosopheme bereits gestreift Aber selbst noch allzusehr 
in den Anschauungskreisen der alten Welt befangen, verfallt sie 
ihrerseits, der eigenen Kritik zum Trotz, in den gleichen Fehlen 
ein eudaimonistisches Allheilmittel zu empfehlen. 

Der Hinweis auf das vorher darüber Gesagte genügt, um. 
auch hier an keine allheilende Wirkung zu glauben. Es brauchen 
die Beispiele nicht vermehrt zu werden, die als schlagende Gegen-^ 
Instanzen die These zum Sturze bringen: Zweifel und Glück seien 
unzertrennliche Geschwister. Es gibt ihrer genug, und gerade ia 
unsem Tagen mehr als genug.^®) 



Anmerkungen zum ersten Kapitel. 

i) vgl. Wundt, Einleitung in die Philosophie, Leipzig 1901: 
,, schon in der antiken Philosophie ist sie (die skeptische Richtung) zu 
einem Standpunkte fortgeschritten, der, weil er der des absoluten Zweifels 
an allen Erkenntnisquellen und an jeder Betätigung des Erkenntnis- 
vermögens ist, seitdem nicht mehr überschritten werden konnte" (S. 335); 
und ein andermal: „Die pyrrhonische Skepsis bezeichnet einen Höhepunkt 
in der Entwicklung dieser Denkweise, der späterhin selten mehr erreicht 
worden ist" (S. 338). 

2) Zur Geschichte dieser Terminologie vgl. S. IX/X. 

3) Diog. IX, 71 — 73 werden als Vorläufer des Skeptizismus in 
folgender Ordnung genannt: Homer, die sieben Weisen, Archilochus, 
Euripides, Xenophanes, der Eleate Zeno, Demokrit, Plato, Empedokles, 
Heraklit, Hippokrates. 

4) Cicero, Acad. pr. 72flF., wo Cicero selbst diese Meinung aus- 
drücklich gegen die des Lucullus vertritt, der auf dem fraglichen Punkt 
anderer und richtigerer Meinung war (ebda. 14 ff.). Außer den im Text 
erwähnten zählt Cicero noch zu den skeptischen Denkern: Anaxagoras, 
Metrodor von Chios, Xenophanes, Parmenides, die Stoiker und Cyrenaiker. 

5) Vgl. die Zitate bei Stäudlin, Geschichte und Geist des Skepti- 
zismus. Vorzüglich in Rücksicht auf Moral und Religion, Leipzig 1794, L 
(S. 163 — 168). Dagegen hielten Männer wie Aenesidem und Menodotus 
Plato durchaus für keinen Skeptiker, Sextus, P. I, 222/22^. Sextus 
Empiricus aber ist besonders bemüht, die skeptische Philosophie auch gegen 
wirklich verwandte oder doch wenigstens den Umkreis der skeptischen 
Denkweise irgendwo schneidende philosophische Richtungen abzugrenzen 
(P. I, 210 — 241). 

6) Bayle, Dictionaire historique et critique. Art Pyrrhon, Not F. 
Der ganz ähnliche Vers von Archilochus bei Diog. IX, 71 zu gleichem 
Zwecke verwendet; ebenso vage „skeptische" Homerverse ebda. 73. 

7) Diog. IX, 71. 

8) Cicero, Acad. pr. 72. 

9) Montaigne, Essays (Didot, Paris) Voll, Essai XII, S. 545. 



AninerkuDgen zum ersten ElapiteL 3^5 

10) Selbstverständlich nicht mit Bewußtsein. Der Gegensatz von 
qualitativer und quantitativer Weltbetrachtung ist nur eine zur Erleichterung 
der Übersicht nachträglich vom Historiker herangebrachte Kategorie. 
Gewiß hat Zeller mit der Bemerkung recht: »,eben das gehört zu den 
wesentlichen Eigentümlichkeiten des pythagoreischen Standpunkts, dafi 
die Unterscheidung von Stoff imd Form noch nicht vorgenommen, daß 
in den Zahlen, worin wir freilich nur einen Ausdruck fOr das Ver- 
hältnis der Dinge zu sehen wissen, unmittelbar das Wesen und die 
Substanz des Wirklichen gesucht wird". (Geschichte der Philosophie der 
Griechen la. 5. Aufl. Leipzig 1892, S. 349.) Vgl. auch Wundt, Ein- 
leitung a. a. O. S. 92. 

11) Plato, Leg. IV, 715c; vgl. Oberweg-Heinze, Grundriß der 
Geschichte der Philosophie, I, neunte Auflage, Berlin 1903, S. 39. 

12) Zitat nach Stäudlin a.a.O. I, 64. 

13) Di eis. Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1903, 
S. 75, Fr. 60. 

14) Eusebius, praep. evang. XIII, 13, 36. Sextus Empiricus, adv. 
Math. IX, 193. 

15) Eusebius, ebda imd Diels a.a.O. S. 72, Fr. 32. 

16) Daher nennt Brochard, Les sceptiques grecs, Paris 1887, 
S. 6 die Eleaten „les vrais ancetres du sceptidsme." 

17) Während bei Parmenides, Zeno \md Melissus zwar skeptische 
Elemente anerkaimt werden müssen, der dogmatische Gesamtcharakter 
ihrer Lehre aber unbestreitbar ist, hat man Xenophanes in weit höhe-* 
rem Grade dem Skeptizismus huldigen lassen. Die Äußerungen, auf 
die man sich dafür vor allem beruft, sind die Verse (bei Sextus, adv. 
Math. Vn, 49 imd iio, VIII, 326): 

Kai xd fikv ohv aaq>kg oßrtg dvijQ ykvfx^ oid£ xig Sarai 
ElddiQ äfMpl ^e&v re xal äaoa Xiyca tuqI Jiävxcov' 
Ei yäg xal xä ßidXtoxa vixoi xexeXeafiivov ebtc&y, 
Aixdg SfJtxog ohx aide, döxog d^ inl näai xixvxxai, 
Ebda (49) läßt Sextus den Xenophanes „nach einigen'* behaupten, es 
sei alles äxaxdXfjTtta. Den Sinn obiger Verse 1^ er an verschie- 
denen Stellen verschieden aus (wie schon Stäudlin a. a. O. I, S. 182 
Anmerk. 79 bemerkt); adv. Math. VII, 51,52 so, als habe Xenophanes 
nicht das Dasein der Wahrheit, sondern nur des Wahrheitskriteriums 
leugnen wollen (in gleichem Sinne auch P.II, 18); VIU, iio aber, als 
sei durch die Verse nur der Begrifl* einer apodiktischen Wahrheit, aber 
nicht der Wahrscheinlichkeit aufgehoben; VIII, 327 endlich: als handle 
es sich in den Versen nur um die Unerkennbarkeit der äirjXa. Von 
diesen drei Auffassimgen wären die erste imd letzte mit der pyrrhoni- 
schen, die mittlere mit der akademischen Skepsis verträglich Deimoch 
rechnet Sextus den Xenophanes keineswegs zu den Skeptikern (P. I, 225). 

Richter, Skeptizismoi. 20 



306 AnmeikaBscB znm «tteo Kapitd. 

Auch TimoD, trotz aller Voiüebe fOi diesen £leaten, nennt ihn noch 
„halbumdonstet" djrdtv^Toc (Sextus, P. 1,224), legt ihm allerdings (ä>da.) 
Verse in den Mund, die auf ein früheres skeptisches Stadium schließen 
lassen könnten: 

*Qg xal fydir Ikpelov twxivov v6ov AvnßoXtjaai 
*AfMpoixeQ6ßXt7tiog' doUrn S* öd<ß i(a7icmj'&tjv 
IlQBoßvyevtiQ &' Icbv xal Afiev^gtaxog äjidoi^g 
ZxejnoaivriQ' STmji yäq kjadv v6qv etQvocuiu, 
Etg Sv raind re Ttav iveXiexo' näv S* idv akl 
Ildvxfi dvehcöfxerov jatav etg <pvaiv &mxii^' öfiobiv. 

In diesem Sinne sind die Verse von einigen (Kern, Heinze) verstanden 
worden. Anders Zeller a. a. O. I*, S. 550^, der ganz mit Stäudlin über- 
einstimmt Wachsmuth (De Timone Phliasio, Leipzig 1859, S. 59ff.) 
schreibt dem Xenophanes ähnliche Sillen wie die Timonischen zu; da- 
gegen Brochard (a.a.O. S. 4. Anmerk. 3). 

18) Diels a.a.O. S. 81. Fr. 107. 

19) ebda S. 79, Fr. 91. 

20) Aristoteles, Metaph. IV, 5. 

21) Sextus, adv. Math. VII, 139: yv(&/ju]g dk ivo elolv tdiai, fj 
fxkv yvrialri, fi dh axotttj' xal oxozli^g jukv rdde avjujtavxa, Stpig, äxoij, 
ddjun^j Y^votg, tpavot^ ^ dh yvtiolri, &jioxexQifiivfi dh xavtrjg. 

22) ebda. VII, 135, (vgl. VIII, 184): vdfup ylvxv xal vdficp tuxqöv, 
vößup ^sQ/ndv, vöfjup xpvxQÖv, v6fACp XQOvfj' hefj dh Sxofia xal xerör. 
Auch andere skeptisch klingende Aussprüche beziehen sich immer nur 
auf die sinnliche Erkenntnis. (Vgl. Zeller a. o. O. I^ 921 — 924.) 

23) Sextus, P. I, 213/14. An dem verschiedenen Gebrauch dieser 
Redensart bei Demokrit imd den Pyrrhonikem erläutert Sextus schlagend 
den Unterschied beider Lehren: öuKpdQcog fjiivtoi xQajvxai tfj „ov /ümXXov'* 
(fcovfi 61 Tfi oxeTtxocol xal ot änd rov ArjfwxQlxov' ixeivot fihv yaQ 
Inl xov /nrjdheQOV elvai xärtovoi ri)v (payvijv, fjfmg ih inl rov äyvosTv 
n&t€Qov ifjup&teqa fj o^dhegöv u San xcov (paivofxh(ov. Bleibt man 
nicht bei diesem vielleicht subtil erscheinenden Unterschied stehen, 
sondern forscht nach dem Grunde desselben, so zeigt sich die Gegen- 
sätzlichkeit beider Standpunkte aufs deutlichste; Demokrit glaubte mit 
dogmatischer Zuversicht die atomistische Beschaffenheit der Dinge an 
sich zu erkennen und mußte dabei den sinnlichen Qualitäten notwendig 
alle objektive Realität absprechen; die Skeptiker sahen gerade die Be- 
schaffenheit der Dinge an sich als das unlösbare Urproblem an und mußten 
daher die Frage nach der Kongruenz oder Inkongruenz der subjektiv -sinn- 
lichen mit den objektiv -realen Qualitäten offen lassen. Pappenheim 
(Die Tropen des Aenesidem, Programm des Köln. Gymn. S. 8) hält die 
Berichte, die schon Demokrit den Gebrauch des oiöhy ßjiäXXov beilegen, 



Anmerkimgen zum ersten Kapitel. 3^7 

für willkürliche KonstruktioD, durch die frühen Denkern spätere eigene 
Formeln untergeschoben werden sollten. Seine Gründe sind aber nicht 
überzeugend. 

24) Stobäus. Ecl. II, 76. 

25) Den Skeptizismus Metrodors veranschaulicht dessen Ausspruch 
(Cicero, Acad. pr. 23, 73; Eusebius, praep. evang. XIV, 19, 9; Diog. IX, 58; 
Sextus adv. Math. VII, 88): oidelg i}/id>v oidhv oldev, oid* aM xovxo, 
si&tBQOv oldaßiev ij oix oXdafiev. Daß er trotzdem den Skeptizismus 
im strengen Sinne nicht vertreten haben kann, zeigen seine ausführlichen 
naturphilosophischen Spekulationen. 

26) Anaxarch, ein Schüler Metrodors, bewies seine Standhaftigkeit in 
Schmerzen damit, daß er, dem Cypem-Fürsten Nikokreon ausgeliefert, imd 
auf dessen Befehl in einem Mörser zerstampft, in den Todesqualen dem 
Tyrannen zurief: mlaoe t6v 'Ava$dQxov 'MXaxov, *Avd(aQxov di oS 
nxtüOBiQ. (Zahlreiche Quellen der Erzählimg bei Zeller a. a. O. I^ S. 963 ^) 
Dadurch bewahrte er die skeptische Ataraxie, und von dieser Seite her 
wird er wohl auch auf Pyrrho eingewirkt habeiL Nicht aber durch eine 
skeptische Erkeimtnistheorie, die er nicht besaß. Im übrigen ist gewiß 
Zellers Bemerkung a.a.O. (S. 966) beizupflichten: „die Atomistik scheint 
demnach überhaupt bei Demokrits Nachfolgern die skeptische Wendung 
genommen zu haben, welche sich aus ihren physikalischen Voraus- 
setzungen ergeben konnte, ohne daß doch diese Voraussetzungen 
selbst verlassen wurden." 

27) Hirzel (Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, III, 
Leipzig, 1883, S. iff.) ist der Hauptvertreter dieser Anschauung. Seine 
Beweise stützen sich hauptsächlich auf folgende Punkte: i. auf das 
Fehlen aller dialektischen Argumente in den Tropen Aenesidems, 2. auf 
die Beschränkung dieser Tropen auf die Bestreitung der sinnlichen Wahr* 
nehmimgserkenntnis, 3. auf die ethische Skepsis bei Demokrit, 4. auf die 
Aufstellung der Ataga^ta als Lebensideal bei Demokrit und Pyrrho, 5. auf 
die Verwandtschaft zwischen dem Titel der Timonischen Schrift IvdaXfwt 
und dem mutmaßlichen Gebrauch dieses seltenen Wortes bei Demokrit, 
6. auf die naturwissenschaftliche Richtung auch der späteren pyrrhonischen 
Skepsis. — Aber die Tropen Aenesidems enthalten nicht die ganze 
Lehre der P3m:honiker (zu i. imd 2.), die ethische Skepsis Demokrits 
ist eine höchst problematische Konstruktion (zu 3.), 4., 5. und 6., sprechen 
nur für die Mitwirkung, aber fOr nichts mehr, demokriteischer Ge- 
danken. Natorp, Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum, 
Berlin 1884, S. 286 — 290 schränkt Hirzels Thesen auf all den genarmten 
Punkten mit Recht ein; ebenso Brochard a. a. O. S. 47 — 49. Schon 
Sextus (P. I, 213/214) hatte den wesentlichen Unterschied zwischen dem 
Demokritismus und Pyrrhonismus richtig bezeichnet. Im ganzen offenbart 
die Hirzelsche Hypothese eine auch sonst verbreitete Eigentümlichkeit 

20* 



308 Anmerkuogen zum ersten Kapitel. 

der Philologen in der Art, ihre Untersuchungen der Geschichte der 
Philosophie nutzbar zu machen: die Mühe, welche eine philologische 
Entdeckung gemacht hat, wird ihrem historischen oder philosophischen 
Wert durch einen begreiflichen psychologischen Prozeß an Größe gleich- 
gesetzt. Gewiß ist die philologische Mitarbeit für das Verständnis der 
Gedankenzusammenhänge, besonders in der antiken Philosophie unent- 
behrlich, und wer sich für diese Gebiete interessiert, muß diese Hilfe aufs 
dankbarste willkommen heißen. Aber an sich haben die Ergebnisse ent- 
sagungsvoller Detail- und Quellenforschung vor den offen zutage liegenden 
Verhältnissen nichts voraus. Daß skeptische Keime in der vorpyrrhonischen 
Philosophie überall reichlich ausgestreut sind, sieht jedermann; daß das 
Wort IvdalfAol außer im Titel einer Schrift Timons nur noch in einem 
Briefe bei Demokrit vorkommt, erkennt allein der Philologe. Diese seine 
Geheimkunst läßt ihn auch dort leicht Geheinmisse wittern, die nur 
durch seine Kirnst zu lösen sind, wo gar keine vorliegen. Daß in einer 
originalen Denkerpersönlichkeit wie Pyrrho überhaupt die Gedanken nicht 
so buchstabenmäßig ihren Ursprung nehmen, und daß andererseits die 
geistige Atmosphäre seiner Zeit skeptische Elemente aus den verschiedensten 
Quellen barg, die für einen produktiven Geist zu neuer Synthese bereit 
lagen, wird als zu einfache und unwissenschaftliche Einsicht leicht 
übersehen. 

22i) Gomperz, Griechische Denker, Leipzigi893— 1902, 1,334.343. 

29) ebda. S. 334. 

30) Die gegenteilige Ansicht, wie sie Grote, Laas, Gomperz, 
Halbfaß u. a. vertreten, wird durch die klassischen Zeugnisse Piatos, 
Aristoteles, Demokrits, Sextus widerlegt imd ist neuerdings durch 
Zeller (a.a.O.: I^ 10956*.) tmd Natorp (a.a.O.: S. i ff.), ebenso durch 
Meyer (Geschichte des Altertums, IV, 262 ff.), wie mir scheint, völlig 
überzeugend abgewiesen worden. 

31) Protagoras wird wohl i. mit dem fxhqov nicht den Maßstab 
für die Wirklichkeit selbst, sondern den Maßstab fdr die Erkenntnis der 
Wirklichkeit verstanden imd also nicht etwa an eine wirklichkeitsetzende 
Kategorie der Existenz im Sinne Fichtes gedacht haben; 2. befaßt der 
Ausdruck: das Dasein der seienden Dinge nicht nur die Existenz der 
Dinge schlechthin, auch nicht nur die Art der Beschaffenheiten 
(wie Farbe, Geruch usw. mit gewaltsamer Deuttmg des d>g als ,wie*) 
sondern vor allem die Existenz der Beschaffenheiten, aus denen 
sich doch schließlich für den Sensualisten die Dinge zusammensetzen. 
Daß Protagoras in einem einzigen Satze (!) diese verschiedenen Gesichts- 
pimkte nicht sauberer trennte, nimmt deshalb nicht mehr wunder, weil 
dieser Satz zufällig zu den wenigen erhaltenen Äußerungen des Mannes 
gehört, aus denen dann die Nachwelt dessen ganze Lehre herauspressen 
mußte. Dies gegen Gomperz, I, 362 ff. 



AnmerkuugeD zam ersten Kapitel 3^9 

32) Plato, Theaetet 152 D, 157 Äff. Sextus, P. 1,217— 219. 

33) Plato, Theaetet 156C. 

34) Plato a. a. O. i57Eff. zeigt im Sinne des Protagoras an den 
Kranken, Schlafenden, Wahnsinnigen, daß diese wegen der besonderen 
Disposition ihrer Organe auch andere Wahrnehmungen haben wie die 
Gesunden, Wachenden, Geistignormalen, und daß sie in Ermangelung 
eines Kriteriums mit diesen Wahrnehmungen im Rechte sind. Genau 
den nämlichen Beispielen werden wir in den Tropen des Aenesidem (P. 
I, IOC ff.) begegnen. (Vgl. adv. Math. VII, 61 — 64). 

35) Diog. IX, 51: fifjdkv dvai yfvxfjv naqä rdc ala^osig. 
Natorp (a. a. O. S. 16 — 19) glaubt, Protagoras habe nur noch keinen 
Unterschied zwischen aia^aig und dö^a gemacht. 

36) ebda.: ngoxrog Sq^ ivo löyovg elvai negl Tiarrdg ngdyjMXTOC 
ävxoceifAivovQ äkkriXotg, Pappenheim, die Tropen des Aenesidem S. 415 
hält diese noch durch andere wie Clemens Str. VI, 65 und Seneca 
ep. 88, 43 bezeugte Überlieferung für unrichtig, wie mir scheint, ohne 
zwingende Gründe. 

37) Daß Protagoras dieselbe noch mit besonderen Argumenten 
zu stützen suchte, beweist nichts — trotz Gomperz a. o. O. — gegen 
seine skeptische Grundansicht Man denke nur an den entsprechenden 
Vorgang in den Werken des Sextus! 

38) Diog. IX, 51. Übersetzurig nach Gomperz. 

39) Xenophon, Memor. IV, 4. 

40) Zum ersten Mal wird die Unterscheidung qroaBi — ^iou auf 
moralischem Gebiet wohl von dem Sophisten Hippias angewandt (Xeno- 
phon, Plato, Protag. 33 7 C). Vgl. über die Entwicklung des qrCfati und 
Moei in der griechischen Philosophie: Gomperz a. o. O. I, 323 — 351. 
Die späteren Skeptiker eigneten sich diese Unterscheidung gleichfalls an, 
aber folgerten — eben als Skeptiker imd nicht als n^ative Dogmatiker — 
die Unerkennbarkeit der (piiaei äya^d. Auch die von den Sophisten 
angeführten Verschiedenheiten ethischer Bewertungsweise nach Völkern 
und Ländern spielt in der Skepsis eine große Rolle — wird aber nicht 
zur Festlegung des Gegensatzes zwischen natürlichem und positivem 
Recht , sondern wiederum für die Unerkennbarkeit der Werte verwendet 
(Vgl. S. 90). 

41) Kreibig, Geschichte imd Kritik des ethischen Skeptizismus, 
Wien 1896, zählt alles, was einen „moralfeindlichen Zug" enthält', zur 
ethischen Skepsis (S. 32). Aber selbst die Negation aller moralischen 
Werte, gewiß der Gipfel der Moralfeindlichkeit, ist so wenig wie der 
erkenntnistheoretische Idealismus, der alle materielle Wirklichkeit leugnet, 
— Skeptizismus, sondern n^;ativer Dogmatismus, vgl. S. VIII. 

42) Sextus, adv. Math. VII, 60 (vgl 389): Inel q^rjai ndoag 
tag ipavxaatag xal xäg dö^ag äXrj^eig indQxtiv. Und zwar meinte 



3IO Amnerlnmgen cum ersten Kapitel. 

dies Protagoras, wenn wir Sextos, P. I, 218/219, glauben dürfen, nicht 
nur wegen seiner erkenntnistheoretischen Skepsis, sondern auch wegen 
seines metaphysischen Dogmalismus, mit dem er an der Herakliteischen 
These von der Identität aller Gegensätze in der Urwirklichkeit festhielt 

43) Es würde sich also des Gorgias Meinung mit derjenigen decken* 
die Sextus P. I, 3; 226 der akademischen Skepsis imterschiebt 

44) Sextus, P. I, 3. 

45) In welchem Umüange, ob so dogmatisch, wie es der termino- 
logisch verdächtige Bericht des Sextus (P. I, 218/19) glaubhaft machen 
will, läßt sich allerdings nicht sicher entscheiden. Vgl. Natorp 
a* o. O: S. 22/23, 57/58» 86. Dieser macht mit Recht auf die Dif- 
ferenzen zwisdien den Berichten P. I, 218/19 ^^^ adv. Math. VII, 60 ff. 
aufmerksam; er schenkt letzterem als reinem Referat der protagoreischen 
Ansicht imbedingten Glauben, während er die Partien der H3rpotyposen, 
die von der Absicht getragen sind, die Differenzen zwischen Protagoias 
und den Skeptikern zu beleuchten, für die Wiedergabe einer peripa- 
tetischen Konstruktion der protagoreischen Lehre anspricht Mir scheint 
aber vom protagoreischen Standpunkt M. VII, 60 ff. zu skeptisch und 
P. I, 218/19 zu dogmatisch gehalten. ließe sich nachweisen, daß M. VII, 
60 ff. ein wirklich unparteiischer Bericht protagoreischer Sätze sei, so 
wäre allerdings Protagoras in noch weit höherem Grad ein Vorläufer 
der Skepsis als man gewöhnlich annimmt Denn die Beweise von der 
Unmöglichkeit eines Kriteriums kehren fast mit den gleichen Worten in 
den zehn skeptischen Tropen wieder. Dies ist eben auch die Meinung 
Natorps. 

46) Das Verhältnis der Sophistik zur Skepsis ist sehr verschieden 
beurteilt worden und bedürfte noch genauerer Untersuchimg. Dabei 
müßte streng auf die Gesichtspunkte, unter denen man das Problem 
behandelt, und die in den vorhandenen Darstellungen teils unklar durch- 
einanderfließen, teils zu einseitig gehandhabt worden sind, aufinerksam ge- 
macht werden. Man hätte in dieser Beziehung zu unterscheiden zwischen: 

1. der skeptischen Richtung der Sophistik als Gesamtbewegung. Hier 
wird man Gomperz zugeben müssen, daß von einem einheitlichen 
philosophischen Credo der gesamten Bewegung nicht die Rede sein kann. 
Daß die Sophisten aber als Popularphilosophen der Majorität nach 
den Stimmungskeptizismus beförderten, sollte man nicht in Ab- 
rede stellen. 

2. der skeptischen Richtung der einzelnen Sophisten. 

Bei diesen sind wiederum getrennt zu behandeln: 
a) die theoretischen Ergebnisse. Hier herrscht in der Erkenntnis- 
theorie zumal eine gewaltige Ähnlichkeit zwischen den Lehren 
Aenesidems und denen des Protagoras und zwar sowohl was das Zu- 
standekommen als auch was die Giltigkeit der Erkenntnis anlangt (vgl. 



Ajunerkungen cum ersten KapiCtl. 3^1 

Natorp a. a. O. und Winddband, Geschichte der alten Philosophie, 
2. Aufl. München 1894, S. 306/7). — In der Ethik ist der 
moralische Anardiismus eines KalUkles u. a. nicht mit der ethi- 
schen Skepsis eines Pyrrho zu verwechseln. — Dagegen kann 
ich zwischen dem dogmatischen Negativismus, der die Möglichkeit 
jeder Erkenntnis leugnet und die Wahrheit aller übrigen Behaup- 
tungen bezweifelt, und der skeptischen Unentsohiedenheit, welche 
auch die Möglichkeit jeder Erkenntnis nur bezweifelt, keinen 
fundamentalen Unterschied erblicken. Dies tut z. B. Saisset (Le 
sceptidsme, Paris 1865, S. 58 ff.), der daher auch die akademische 
Skepsis der Sophistik näher rückt und sie gar nicht als eigentliche 
Skepsis gelten lassen will. 

b) die methodische Begründung dieser Ergebnisse. Sie fällt bei 
den Sophisten sehr mager, bei den Skeptikern sehr ergiebig aus. 

c) die geistigen Motive dieser Eigebnisse. Sie sind bei der Sophistik 
und dem Pyrrhonismus ganz verschieden; hier ethische, dort 
dialektische. (Feinsinnig weist Brochard [a. a. O. S. 46] auf die 
Aktivität und das Jugendliche in der Sophistik, das Müde und 
Greisenhafte im Pyrrhonismus hin, imd Maccoll, The Greek 
Sceptics, London 1869, S. 17 bemerkt in ähnlichem Sinne, daß 
die Sophisten Skeptiker waren nicht wie die Pyrrhoniker „from 
love of hapiness but from love of truth"). Dagegen steht die 
akademische Skepsis in den Motiven der Sophistik ziemlich 
nahe. Wunderbar ist, daß Zeller, obwohl er die Skepsis der 
Sophisten verschiedentlich behandelt (a.a.O. I*, 1087/88, 1104, 
1 126 ff.), unter den Enstehimgsgründen und Anknüpfungspunkten 
der Skepsis die Sophistik nicht einmal dem Namen nach erwähnt 
(a. a. O. ni» 3. Aufl. 1880, S. 478 ff.). 

47) Aristoteles, Met XIII, 4. 

48) Cicero, Acad. pr. 23, 74. post 4, 16. 

49) Xenophon, Memor. I, i, 11; Aristoteles, Metaph. I, 6. 

50) Plato, Apologie 2iBff. 

51) Auen die vorwiegend ethischen Schulen der Cyniker und Cyre- 
naiker vereinigen einen moralischen Dogmatismus mit skeptischen Ele- 
menten in der Erkeimtnistheorie (diese sind zusammengestellt bei Brochard, 
a. a. O. S. 26 ff.). Den Unterschied von Pyrrhonismus und cyrenaischem 
Phänomenalismus gibt treffend an Sextus, P. I, 215. 

52) Diog. II, 108. 

53) Einige Bemerkungen terminologischer Natur mögen hier ihre 
Stelle finden: der Ausdruck Spiritualismus wird in dieser Schrift die 
metaphysische Ansicht: das Wesen der Welt sei geistiger Natur, be- 
zeichnen; der Terminus Idealismus die erkenntnistheoretische An- 



^12 Anmerkimsen zum enten Kapitel 

schauung: die fälschlich sogenannten ,, äußeren*' Objekte gingen in Ideen, 
in Vorstellungen eines Bewußtseins restlos auf. Man tut gut, beide 
AufTassimgen, die in der Geschichte der Philosophie getrennt wie ver- 
eint auftreten, zur Vermeidiuig von Mißverständnissen auch terminologisch 
einzeln kenntlich zu machen. Das metaphysische Gegenstück zum 
Spiritualismus ist der Materialismus, für den der Stoff das Wesen alles 
Seienden ausmacht Der erkenntnistheoretische Gegenpol zum Idealis- 
mus ist der Realismus, für den die vorgestellten Dinge auch imabhängig 
vom Bewußtsein Wirklichkeit besitzen. Materialismus und Spiritualismus 
gleich entgegengesetzt und verwandt ist der Spiritual- Materialismus, 
nach dem geistige imd stoffliche Prinzipien gemeinsam das Weltwesen 
konstituieren. (Letztere Anschauung wird gewöhnlich als Realismus be- 
zeichnet. Da dieser Terminus aber schon in erkenntnistheoretischer Be- 
ziehung vergeben ist und überdies eine terminologische petitio principii 
bedeutet — denn er setzt voraus, daß allein wahrhaft wirklich nur das 
Geistig- KöiperUche sei und es daher xar' l^oxrjv ,rear heißen dürfe — 
sehen wir in dieser Arbeit von ihr ab.) Dem erkenntnistheoretischen 
Idealismus wie Realismus gleich entgegengesetzt und verwandt ist der 
Ideal -Realismus, der gewisse Eigenschaften der vorgestellten Gegenstände 
für rein ideal, andere für ideal und real erklärt Feinere Unterschiede 
in der Art der Verteilung der Elemente mögen durch ihre Stellung in der 
Zusammensetzung (Spiritual -Materialismus, Material -Spiritualismus, Ideal - 
Realismus, Real -Idealismus) kenntlich gemacht werden. 



54) Und für rein historische oder philologische Zwecke auch ge- 
boten ist. In dieser Weise behandelt nicht nur selbstverständlich jede 
Geschichte der Philosophie, sondern auch Brochard in dem angeführten 
Werke den griechischen Skeptizismus. Stäudlin versucht einen Mittelweg, 
indem er bei der Besprechung der Anschauungen des Sextus unter- 
nimmt, eine Gesamtdarstellung des „Geists des Pyrrhonismus " zu geben 
(a.a.O. I, S. 3 87 ff.); diese Darstellung aber besteht nur jp einer für die 
damalige Zeit übrigens durchaus verdienstvollen Obersetzung ausgewählter 
Abschnitte aus den Hypotyposen und den Büchern gegen die Mathe- 
matiker. 

55) Nicht einmal für die Hauptlehren der skeptischen Philosophie, 
wie die zehn und die fünf Tropen, kann mit absoluter Gewißheit ein 
bestimmter Autor angeführt werden, geschweige denn für die Fülle ein- 
zelner Lehren, die nicht so bekannte Schau- und Paradestücke waren. 
Alles, was davon sich in des Sextus Schriften findet und nicht mit irgend 
einer Wahrscheinlichkeit auf einzelne Denker zurückzufCÜiren ist — und 
dieser Rest ist groß — , sehen sich die chronologischen Darstellungen 



AnmerknDgeD zum ersten Kapitel. 3^3 

genötigt^ dem Sextus zuzuschieben oder doch bei der Besprechung von 
dessen Arbeiten anzubringen. 

56) Abgesehen davon, daß Berufenere dies übernommen haben 
und übernehmen mögen, birgt diese philologische Detailbearbeitung eine 
wirkliche Gefahr für den philosophischen Ertrag. Man vergräbt sich in 
das Wurzelwerk eines Waldes \md verliert den Blick für die Art und 
den Wuchs der Bäume selbst, die nur in einer gewissen Distanz sich 
uns klar und deutlich zeigen können. 

57) Diog. IX, 61. Nach Pausanias (VI, 24, 5) war er der Sohn 
des Pistokrates. Unsre Hauptquellen für Pyrrhons Leben bleiben die 
Angaben des Antigonos von Kaiystos, der, ein Zeitgenosse Pyrrhos 
(Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 26), eine Biographie P)nThos verfaßt 
hatte (Diog. IX, 62), bei Diogenes. Von Wilamowitz-Möllendorf (Philol. 
Untersuchungen, Berlin 1881, IV, 34) hält gegen Hirzel (a.a.O. S. 18 f.) 
und mit Brochard an dem hohen geschichtlichen Wert dieser Zeug- 
nisse fest 

58) Seine Blüte kann nicht vor 321, dem Todesjahr des Aristoteles 
fallen; denn Aristoteles, der sich bis kurz vor seinem Tode über alle 
philosophischen Erscheinungen auf dem Laufenden hielt, weiß von Pyrrho 
und dem Skeptizismus noch nichts. Diesen Umstand hebt auch Wad- 
dington (Pyrrhon et le P)n:rhonisme, Paris 1877) hervor und verlegt 
die Blüte Pyrrhos daher auf 315(310) — 300(290) v. Chr. Im übrigen 
variieren die Angaben der Historiker tmd Philologen auf diesem Punkte 
nicht nennenswert. 

59) Diog. IX, 62. 

60) Diog. IX, 62. 

61) Suidas (HoDXQdxrjg) nach Waddington a. a. O. vgl. dagegen 
Brochard a. a. O. S. 52 *. 

62) Diog. IX, 61. 

63) Zeller a. a. O. III*, S. 481 1 und II*, 3. Aufl. 1875, S. 213» 
weist auf die chronologischen Schwierigkeiten in den obigen Angaben hin, 
löst sie aber anders wie Brochard a. a. O. S. ^2^^^^, Da Bryso nach 
Diog. der Sohn Stilpos, Stilpo aber sicher jünger als Pyrrho war, ist ent- 
weder Pyrrho nicht Schüler Brysos (wie Zeller meint), oder Bryso nicht 
der Sohn StOpos gewesen (was Brochard annimmt). 

64) Diog. IX, 67; Euseb. praep. evang. XIV, 18, 27. 

65) Euseb. praep. evang. XIV, 17, 10; Diog. IX, 61, 63, 67. 

66) oben Anmkg. 26. Daß das Beispiel Anaxarchs auf Pyrrho 
stark gewirkt haben müsse, betont besonders Waddington a.a.O. S. 425« 

67) Diog. IX, 61. 

68) Waddington mißt außer dem Tode Anaxarchs und des Calamus 
dem Anblick der indischen Asketen großen Einfluß auf die Bildung 
des pyrrhonischen Ideals der äxaga^la zu (a. a. O. S. 423 ff,). Ihm tritt 



314 AnmerknngtQ zum erstea ElapiteL 

Rrochard (a. a. O. S. 45, 74, 75) bei; ZcUer (a. a. O. III*, S. 481) be- 
streitet diesen Einfluß; ebenso Stäudlin (a.a.O. I, S. 175). Solche Fragen 
sind natürlich nur ganz vermutungsweise entscheidbar, da man weder 
über den Grad, in welchem Pyrrho seine Lehre (oder seine Stimmung) 
schon ausgebildet hatte, noch über die Resonanzeigentümlichkeiten seiner 
Individualität unterrichtet ist — Auch die Reisen Pyrrhos hat man 
(Brochard a. a. O. S. 42 : les voyages sont ime ecole de scepticisme) in 
Anspruch genommen und infolgedessen Pyrrho mit Descartes in Parallele 
gesetzt (Saisset a. a. O. S. 50, Brochard a. a. O. S. 42), auch die Gültig- 
keit dieser Parallele bestritten (Maccoll a. a. O. S. 20). Beides mit Recht, 
insofern neben den Berührungspunkten in den Situationen und einzelnen 
erkenntnistheoretischen Ansichten die größte Verschiedenheit zwischen 
den Persönlichkeiten und in der Verwendung dieser Ansichten besteht 

69) Diog. IX, 64. 

70) Diog. IX, 65. 

71) Pausanias VI, 24, 4. 

72) Diog. IX, 64. 

73) Euseb. praep. evang. XIV, 18, 2; Diog. IX, 102; Sextus, adv. 
Math. I, 282 erwähnt ein Lobgedicht auf Alexander, das Pyrrho zum 
Verfasser gehabt habe. 

74) Im folgenden leitet mich die Absicht, wie die Quellennach- 
weise zeigen, wirklich nur Pyrrho selbst zugeschriebene Sätze als seine 
Lehre vorzutragen. Das gleiche Prinzip ist für die Lehre der anderen 
Skeptiker befolgt worden. 

75) Euseb. praep. evang. XIV, 18,2: 6 dh /MX'&tjxijs airov TifMov 
(fYiol deiv tdv /bUUovra eödai/iiovi^aetv ek "^Qtot tama ßXineiv' nganov 
fjiiv, önoTa niqwxe rd TiQdyfjLaxa' dsmegov dh, riva XQV "^Q^^ov fffiag 
TiQÖg aitä dtaxel(y&ai' xeXevtaiov dh r( TzeQiiorai roTg ovxcog Sx^voiv. 
Wenn auch die Formulierung dieser Fragen eventuell auf Timon zurück- 
geht, so doch der Inhalt ihrer Beantwortung sicher auf Pyrrho. 

76) Diog. IX, 61: ovdhv yoLQ Sipaoxev oixe xakdv oSx* aiaxQoy 
ovxe dlxaiov oSt' ädixov xal ö/wlcog inl ndrxcov fitjdev elvcu äXrj&euf 
vöjbup ök xal S&ei ndvxa xovg d.y^Qd>novg TiQdxxeiv oi yäg juällov 
xöde fj xööe elvai ixaaxov, 

77) Aristokles bei Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 3 heißt es, 
allerdings im Sinne Timons: fi'rjxe xäg ala^oag fifx&v firjxe xäg d6(ag 
äXfj^eiieiv fj xpevöea&ai. Derselbe Gedanke als üvQQciveiog koyog Diog. 
IX, 78. 

78) So fasse ich (mit Zeller) die Stelle Diog, IX, 106: xal Alve- 
olififiog .... oidiv q?r]otv öglCeiv xdv IIvQQOva doyfurtix&g dtä xijv 
drxdoylav. Vgl. IX, 78: laxiv oiv 6 nvQQcbvsiog löyog /ixi^walg rig x&v 
q>aKvoiJiiva>v 1j xwy öticdoovv voovjüUvcov, xad^ fjv ndvxa näoi ov/jt- 



Anmerkongen zum ersten KapiteU 3^5 

ßdXXerat xal avyxgtvdjAeva tioXX^v ävcojLUxXlav xal xaQaj(7iv Exovxa ei- 
Qtaxetcu, xa&d q?r]aiv Alvealdtjfwg, 

79) Diog. IX, 61 heißt es von Pyrrho: rd t^c äxaraXrjyfiag xal 
inox^g eldog eloayayc&r, 

80) Diog. XI, 106: xal AlveoUhjjuog • . . . oidiv q>f]aiv ögi^eiv 
Tov IliQQiova doyfAatixoys dtd tijv ävrdoylav xoTg dk (paivojuivoig 
äxoXov&elv. 

81) Diog. IX, 68 soll Pyrrho (nach Posidonius) während eines 
Sturmes auf dem Meere in der allgemeinen Angst auf ein ruhig seine 
Nahrung fressendes Schwein gezeigt haben mit dem Zusatz: (bg XQV ^^^ 
ooq)dv h Tota&ifi xa&eoxdvai draga^lq, Diog. IX, 66 (nach Eratosthenes): 
liyetai di xal diX(paxa Xovsiv airdg M ädiatpoglag, xal xoX'qoag 
XI vTikg xijg &deXq?tjg, ^iXUrta S* hcaXeho, ngdg x&v kiilaßöfievov ebieiv 
&g oix h ywcäq> ^ hildei^ig t^g ädiaq}OQlag, Cicero, Acad. pr. 
130: huic (Aristoni) simimum bonum est in his rebus neutram in partem 
moveri, quae ädia(poQla ab ipso dicitur; Pyrrho autem ea ne sentire 
quidem sapientem, quae äjid'&eia nominatur. Hirzel (a.a.O. S. 15^) 
legt Wert darauf, daß die äxagaSla das ursprüngliche Ideal des Skep- 
tikers gewesen sei, die änd'&eia und &dui(poQla aber erst von Bericht- 
erstattern gewählte Ausdrücke für dieses Ideal seien. Dagegen Brochard 
a.a.O. S. 58/59 undPohlenz: das Lebensziel der Skeptiker, Hermes XXXIX. 

82) Vgl. die Verse Timons auf Pyrrho am Ende des ersten Buchs 
der Sillen. 

83) Auch daß sich das Handeln, nicht nur das Urteilen, nach 
den Erscheinungen zu richten habe, ist von Pyrrho selbst bereits gelehrt 
worden; beides li^ in dem äxo^ov^eXv xoTg (paivofiivoig. Das 
beweist auch der von Diogenes IX, 105 angezogene Vers Timons: dXkd 
xb (paivdfxepov navxl c&ivet, oineg äv iX^. Ihn führt Diogenes zur 
Illustration dafür an, daß Pyrrho (den ich mit Zeller als Subjekt des 
Satzes ergänze) fiij ixßeßtjxivai xr]v ovvi^^eiav, wobei nach dem Zu- 
sammenhang unter cfwrj^eui nur: das Gegenteil von paradoxem Urteilen 
verstanden werden kann. Seztus, adv. Math. VII, 30 erklärt den gleichen 
Vers aber ausdrücklich dahin, daß die Erscheintmg das Kriterium für das 
Handeln sei. Beide treffen gewiß das Richtige; vgl. auch Diog. IX, 62. 
AlvBolirifjLog di q>f]oi q)iXoaoq)€iv jutkv aixdv (nämlich Pyrrho) xaxä x6v 
t^g inox^Q Xoyov, /lij fiivxoi y' änQOOQdxcog Sxaaxa Tzgdxxeiv. 

84) Nach Nimienius soll Pyrrho dogmatische Ansichten geäußert 
haben. Vgl. dazu: Hirzel a. a. O. S. 40 — 45. Sehr geistvoll erörtert 
Brochard (a. a. O. S. 59 ff.) die dogmatischen Züge in I^hos Weltbild, 
die aus Ciceros Berichten und den Timonischen Versen (bei Sextus, 
adv. Math. XI, 20) sich ergeben. So überzeugend er daraus die An- 
sicht entwickelt, daß wesentlich positiv- praktische Motive Pyrrhos 



3^^ AniDCfkiiD^cii xmn cnten Kipitd« 

Lehre hervorgetrieben haben, so glaube idi doch mit Hirzd (a. a. O. 
S. 46 ff.) gegen Natorp (a. a. O. S. 292), dem Brochard beitritt, daß sich 
die scheinbar theoretischen Widersprüche in dieser Lehre durch die Unter- 
scheidung von Phänomenen und Dingen (Werten) an sich lOsen lassen. 
Denn über das ganze Gebiet der ersteren gab auch P3nTho positive Ur- 
teile ab, die er als ,wahre' bezeichnen konnte. Die betreffenden Verse 
(aus Timons Irdakfioi) lauten: 

f} yoLQ iyäyv Igio), &g fjtoi xaxaqxihexai ehai, 
fxv^ov älri^elrig ÖQ^dv !x^^ xavöva, 
(bg ij Tov ^elov re <pvoig xal räya^ov alel, 
IS &v tadtatog ylrexai ivd^ ßiog. 
Den schwierigen dritten Vers macht Natorp durch ein zu ergänzendes 
ix^ verständlich (a. a. O. S. 292), das Borchard (der Natorp wiederzu- 
geben glaubt, ihm aber dabei für eine Ergänzung eine Konjekttu: unter- 
schiebt) direkt ftlr ald einsetzt Die Verse lauten also in der Ober- 
setzimg: ich werde dir sagen, wie es sich mir zu verhalten scheint, indem 
ich als gewisse Richtschnur eine Rede der Wahrheit besitze, wie die Natur 
des Göttlichen und Guten ewig beschaffen ist, woraus dem Menschen 
das höchste Gleichmaß des Lebens erwächst. 

85) Diog. IX, 64. 

86) Diog. IX, 66. 

87) Diog. IX, 63. 

88) Diog. IX, 68. 

89) Diog. IX, 63. 

90) Diog. IX, 67. 

91) Weitere Züge Diog. IX, 62. 63. 66. Die Fälle, in denen 
Pyrrho den Gleichmut nicht bewahrte, sind bei Eusebius, praep. evang. 
XrV, 18, 26 gesammelt — als Widerlegung der skeptischen Theorie! 

92) Diog. IX, 67. Ebenda noch andre Lieblingsverse. 

93) Mit großer Eindringlichkeit und Überzeugungskraft vertritt diese 
Auffassung Brochard, der sie in die Worte zusammenfaßt: c'est plus tard, 
que la formule du sceptidsme fut: que sais-je? le demier mot du pyrrho- 
nisme primitif c'etait: Tout m'est %al (a. a. O. S. 68). Vgl. daselbst die 
glänzende Schilderung der Persönlichkeit Pyrrhos S. 72/73; auch die präch- 
tige Charakteristik Pyrrhos bei Nietzsche, Werke, Bd. XIV, S. 242. 

94) Diog. IX, 69 wird Pyrrho noXefudnaxog rofe ooipiaxwlg genannt; 
IX, 65 besingt Timon P3rrrho in den Versen: 

(5 yiQOv, (5 IIvQQCov, ncbg fj TiMev Indvaiv evgeg 
XaxQelrjg do^aw [tc] xeveotpQoaivfjg re oo(pi(nayif; 

95) Diog. IX, 68, 69. 

96) Diog. IX, 64, sein Ausspruch: man müsse die Geisteshaltung 
P3rrrhos, aber seine eigenen Lehren befolgen. 



AnmerkuDgen zum ersten Kapitel. 3^7 

97) Auch über sein Leben verdanken wir die näheren Arijgaben 
seinem Biographen Antigonus Carystius. Dieser hatte sowohl eine Bio- 
graphie Pyrrhos wie Timons verfaßt (Diog. IX, iii). 

98) Diog. IX, 109. 

99) Diog. IX, 109. Dies bestreitet Wachsmuth (a. a. O. S. 5) und 
Ritter- Preller (Hist phil. Graec. et Rom., 6. Aufl., S.357); Zeller (a.a.O. 
III* S. 482) imd Brochard (a.a.O. S. 79/80) halten es wohl fQr möglich. 

100) Diog. IX, 112. Andre Anhaltspunkte zur Berechnung seiner 
Lebenszeit: Brochard a. a. O. S. 79. 

loi) Diog. IX, 109. Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 15. 

102) Wachsmuth a. a. O. S. 4. 

103) Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 15. 

104) Diog. IX, 110. 

105) Diog. IX, HO. 

106) Diog. IX, 109: latQtxijv idlda(e. Wachsmuth (a. a. O. S. 5) 
spricht diese Vermutung aus; Zeller (a.a.O. III*, S. 484^) bezweifelt 
ihre Richtigkeit. Auch Brochard (a. a. O. S. 80^) glaubt, daß idldaSs 
in diesem Falle nicht: er lehrte ihm die Medizin, sondern: er ließ ihn 
Medizin lernen bedeute. Dagegen tritt Hirzei, dessen eigene Ansicht 
vom naturwissenschaftlichen Ursprung des Pyrrhonismus durch Wachs- 
muths AufTassimg bestätigt wird, derselben bei (a. a. O. S. 22^). 

107) Diog. IX, 112. 

108) Diog. IX, 114; vgl 113. 

109) Diog. IX, 112. 
iio) Diog. IX, 112. 

iii) Diog. IX, iio; dagegen Wachsmuth a. a. O. S. 8. 

112) Diog. IX, HO. 

113) Diog. IX, 65; Sextus, adv. Math. XI, 20. Nach Wachsmuth 
(a. a. O. S. 11), dem Brochard (a. a. O. S. 85/86) folgt, bedeutet IvdaXfwl 
(Vorstellungen): in dem Titel der Timonischen Schrift: die Wahngebilde. 
Hirzei glaubt, daß Timon das Wort dem Sprachschatz Demokrits ent- 
lehnt habe, da es uns sonst nur noch bei Demokrit erhalten sei (a. a. O. 
S. 22), und er deutet mm umgekehrt (a. a. O. S. 51/52 \ 59) die Ivdcdjixol 
als diejenigen Vorstellungen, die imser Handeln leiten sollen (also nicht 
als Wahn-, sondern gerade als Wahrgebilde). Daraus schließt er (S. 62 
bis 64) weiter, daß Timon Wahrscheinlichkeitsgrade in der ethischen 
Erkenntnis anerkannt imd sich daher der mittleren Akademie genähert 
habe — ein auf der schärfsten Schneide der Gedanken erarbeitetes und 
in Anbetracht der dürftigen Dokumente daher äußerst ungewisses Er- 
gebnis. Natorp (a. a. O. S. 289) hält das Wort IvdaX/wt bei Demokrit 
für gleichbedeutend mit etdooXa, bei Timon einfach mit <pavtaoku. 

114) Diog. IX, 115; ebenda und 114: Anekdoten über die Begeg- 
nimgen zwischen Timon und Arkesilaus. 



3 l^ Anmerkmigen zum ersten Kapitel. 

115) Diog. IX, 105. 

116) Sextus, adv. Math« III, 2. 

117) Diog. IX, 76; 105. 

118) a. a. O. 

119) Seztus, adv. Math. I, 53 wird l^inoii: 6 ngoipi^Q rdVr 
IIvQQwyog l&yoDv genannt Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 6 heifit es 
von Timon: HAggcora d' ifivei fiörar. Vgl audi die Lobrede Timons 
auf Pyrrho, Diog. IX, 65; Sextus, adv. Math. I, 305. 

120) Von yiUaxnomXz (a. a. O.) glaubt, daß die Pointe der Verse 
auf eine Ansicht des Numenius gehe. Dagegen Hirzel a. a. O. S. 41. 

121) Diog. IX, 76. 

122) Diog. IX, 105: xd fiiXi (so wird mit Zeller a.a.O. I^^ 
S. 485 zu lesen sein) Sri fori yilvxv oi xldtjfu, xd 6' Sxi (palyexcu 
6ßwXoY&> 

123) Diog. IX, 105; Sextus adv. Math. VII, 30: äXXä xd q^uro- 
fAcrop Tidmji a&hu, ovTteg äy Si^. 

124) Diog. IX, 107: xiXog di ol oxenxixol qnxoi xi^r inoxh^' Ü 
oxtag XQÖnor btaxolov^u fj dctaga^bx, c5c q>aoiv ol tuqI xöp TXfuova 
xal AiveaUh/iiwv. Sextus, adv. Math. XI, 164 ist das ethische Ideal 
nach Timon äqwyijg nal äralQetog zu sein; XI, 141 heißt es: evdalfMov 
loxlv 6 äxoQäxcog dtsiiiy(oy xal, dbg Sieysr 6 TlfAoyv, h ^cvxlg^ 9cal 
yaXtjvöxtjxi xa'&eaxd}g. 

125) Auf dialektische Spuren bei Timon nach Sextus, adv. Math. 
III, 2; VI, 66/67; X, 197 macht Natorp (a. a. O. S. 287) aufmerksam; 
Timon bekämpft an den betreffenden Stellen die Gültigkeit der Hypo- 
these und die Teilbarkdt der Zeit Mit Recht hebt Brochard (a. a. O. 
S. 88) hervor, daß, wenn Timon wirklich jede Hjrpothese abgelehnt hat, 
er der Urheber des xgÖTiog ijio&etücög gewesen ist. 

126) Daß das Motiv der Lehre Timons wesentlich ein praktisches 
Ideal war, zeigt sich auch in der Bemerkung bei Diog. IX, 109, er habe 
seinen Sohn Xanthus als diddoxor xov ßlov zurückgelassen. 

127) Menodotus läßt sie mit Timon erlöschen imd erst mit Ptole- 
mäus wieder erblühen; Hippobotus und Sotion führen sie fortlaufend 
weiter (Diog. IX, 115). 

12Ö) Genannt werden als Timons Schüler: Dioskurides, Nikolochus, 
Euphranor, Praylus (der sich angeblich, ohne ein Wort zu verlieren, im- 
schuldig kreuzigen ließ), Timons Sohn Xanthus; in der nächsten Gene- 
ration Euphranors Schüler Eubulus (Diog. IX, 11 5/ 116). 

129) Ob dieser Heraklides identisch ist mit dem von Galen er- 
wähnten empirischen Arzt, wie Haas will, wäre für die Färbung des 
philosophischen Skeptizismus der damaligen Zeit nicht bedeutungslos. 
Aber nach Zeller (a. a. O. III ^ S. 3I) imd Brochard (a. a. O. S. 232 ff.) 
scheint diese Identifikation unannehmbar. 



AnmerkuDgen zum ersten Kapitel. 3^9 

130) Bis auf Haas: De philosophorui^ scepticorum successionibus, 
Würzburg 1875. Diogenes Liste der skeptischen Schulhäupter (nadi 
Hippobotus und Sotion bis Eubulus, danach, ohne Gewährsmänner zu 
nennen, weitergeführt) läuft zwar von Timon bis Sextus ununterbrochen 
fort, enthält aber nicht genug Namen, um die ganze Spanne Zeit zu füllen. 
Es fragt sich nun: wo ist die Lücke anzusetzen? Zeller, Brochard u. a. 
meinen: vor Aenesidem resp. Rolemaeus. Haas (a. a. O.) behauptet: 
nach Aenesidem. Ein näheres Eingehen auf diese rein philologisch - 
historische Frage würde die Grenzen unserer Untersuchung überschreiten. 
Gründe .imd Gegengründe findet man bei Brochard a. a. O. S. 228 ff.; 
Zeller a. a. O. III ^ (4. Auflage. 1903) S. i ff.; Haas a. a. O. Elap. VI— XVIL 

131) Hirzel (a. a. O. S. i^) legt Wert darauf, daß Eubulus ein 
Alexandriner war, Ptolemäus aus dem benachbarten Cyrene stammte, 
und schließt daraus, daß sich nach Timons Tode die Lehre in Alexandria 
im stillen weiter gebildet habe bis auf den gleichfalls daselbst wirkenden 
Aenesidem herab, der es verstand, wieder die allgemeine Aufmerksam- 
keit auf sie zu lenken. Haas, der auch kein Erlöschen des Pyrrhonis- 
mus annimmt, erklärt sich das Fehlen namhafter Vertreter desselben 
zwischen Timon imd Aenesidem durch die Verschmelzimg der pyrrho- 
nischen mit der akademischen Skepsis (a. a. O. Kap. VI). Schon Stäudlin 
(a. a. O. I, S. 289) nahm kein Erlöschen, sondern nur ein Sinken der Sekte 
zwischen Timon und Aenesidem an. 

132) Der entgegengesetzten Ansicht ist Haas a. a. O. Kap. XVIL 

133) Die hauptsächlichsten Zeugnisse, die fOr seine Lebenszeit in 
Betracht kommen, sind miteinander in Widerspruch. Wer auf ein be- 
stimmtes derselben die Datierung aufbaut, ist gezwungen, sich mit den 
andern mehr oder minder glücklich abzufinden. Das ist denn auch der 
Anblick, den ims die moderne Forschimg in diesem Problem gewährt 
Es mag hier die Anzahl der wichtigsten miteinander streitenden Quellen 
folgen und bei jeder derselben derjenige unter den neueren Forschem 
genannt werden, der von ihr aus seinen Standpunkt wählt. 

a) Aristokles bei Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 29: /irjdevdg d^ 
i7ii(jTQaq>ivzog ait&v, cbs et /itjöi iyhovxo x6 naqinav, Ix^^^ 
xal 71 Q(6rjv h ^AXe^avögelq, xfj xax* ÄXyvTttov Alvrjoldtifjuig rig 
äva^convQdv ijgicno t6v iMov xovtov. 

Auf das ix&hg xal nqdyqv und die Lebenszeit des Aristokles 
(2. Jahrhdt n. Chr.) stützt Maccoll (a. a. O. S. 69) seine Vermutung, 
Aenesidem habe erst um 130 n. Chr. gelebt Es ist dies die spä- 
teste Datierung seiner Lebenszeit in der Literatur. 

b) Photius, der uns die Inhaltsangabe des Aenesidemschen Haupt- 
werks aufbewahrt hat, berichtet, daß Aenesidem dies Werk dem 
Akademiker L. Tubero gewidmet habe: yhog juihv Pco/u^aiq), 66^ 
dh XajumQcß ix jiQoyövcov xal noXnixdg ägxäg ov xäg xvxovoag 



i20 Anmerkungen zum ersten KapiieL 

fiezuivxi (Photius, Bibl. 212). Eine weitere Angabe des Pbotius 
(ebenda) lautet, daß zu Aenesidems Zeiten in der Akademie der 
Stoizismus verbreitet gewesen sei: xal d XQ^] täXi]i^kg ebtur ZtoxhoI 
qxxlvoytai fM^ifJ^Bvoi ZxfaXxolQ, Dies Stadiimi der Akademie be- 
schreibt aber Sextus (P. I, 235) in ähnlichen Wendungen als zur 
Zeit des Antiochus und Philo bestehend. 

Indem man nun unter dem Tubero den gleichn;;migen Freund 
Ciceros verstehen zu dOrfen meint und die Datierun;^ durch die 
übereinstimmenden Angaben bei Sextus und Photius über die stoische 
Strömung in der Akademie gestützt sieht, macht man Aenesidem 
zum Zeitgenossen des Antiochus, Philo und Cicero, imd setzt seine 
Blüte in die erste Hälfte des i. Jahrhdts. v. Chr. So Haas (a. a. O. 
Kap. VI), Natorp (a. a. O. S. 66 ff.), Hemze (a. a. O. S. 326), 
Brochard (bei dem ein klares £xpos6 der verschiedenen Meinungen, 
a.a.O. S. 242 ff.), V.Arnim (Quellenstudien zu Philo, 1888). Dies 
wäre die firühstmögliche Lebenszeit Aenesidems. 

c) Im Gegensatz zu den unter b) angeführten Zeugnissen steht die 
Tatsache, daß Cicero den Aenesidem nicht nur nicht erwähnt, 
sondern an zahlreichen Stellen (zusammengestellt bei Zeller a. a. O. 
III^ S. 16*) den Pyrrhonismus für eine erloschene Sekte erklärt 
(Pyrrho, Aristo, Erillus iam diu abiecti, de fin. II, 11, 35). 

Auf den positiven Angaben des Diadochenverzeichnisses bei 
Diogenes (das aber mehrdeutig ist, vgl. oben Anmkg. 130) und den 
negativen unter c) fußend, hält Zeller auch in der jüngst erschienenen 
Auflage des III. Bds., 2. Heft unter Berücksichtigung aller inzwischen 
aufgetretenen Einwände daran fest (a.a.O. III ^ S. 10 ff.), die Lebens- 
zeit Aenesidems in den Anfang der christlichen Zeitrechnung zu 
setzen. Ebenso Saisset (a. a. O. S. 26 ff.). 

d) Vage und vieldeutig ist der Ausspruch des Sextus (P. I, 36), den 
man gleichfalls zur Bestimmung der Aenesidemschen Lebenszeit in 
Anspruch genommen hat (Haas), daß die zehn Tropen von den 
iQXaidxtQOi oxeTtxixol überliefert worden sind. Vgl. P. I, 164: ol 
de vecoxeQoi oxejtrtxol JiaQadidöaoi XQÖnovg xrjg Inox^g nhxe 
TO'6ode. 

134) Diog. IX, 116. 

135) Aristokles bei Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 29. 

136) Diog. IX, 106. 

137) Diog. IX, 106. 

138) Diog. IX, 78; Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 11. Über 
die Identität oder Nichtidentität dieses Werks mit einem der vorigen 
sind die Ansichten strittig (vgl. Brochard a. a. O. S. 247). 

139) a. a. O. 



AnmerkuDgen zum ersten KapiteL 3^^ 

140) Wenn wir Pappenheims Konjektur (Die Tropen der griechi- 
schen Skeptiker, S. 24) ägx&y statt äXi]^6^ zu lesen, folgen dürfen. 

141) Mit Pappenheim, der (ebenda) voi/joecog statt xin^oecog liest 

142) Brochard hat (a. a. O. S. 249 fif.) diejenigen skeptischen Lehren 
zusammengestellt, die Aenesidem mit völliger Sicherheit zugeschrieben 
werden dürfen: 

über die Kausalität: adv. Math. IX, 218 — 227, 
über den Wahrheitsbegriff: adv. Math. VII, 40 — 48, 
über das Zeichen: adv. Math. VIII, 215—235, 
der Kern der zehn Tropen: P. I, 36 ff. 

Außerdem finden sich daselbst die Ansichten Zellers, Saissets, Natorps, 
Haas' zusammengestellt, die zimi Teil Aenesidems Autorschaft noch be- 
trächtlich mehr Lehren aus den Werken des Sextus zuschreiben wollen. 
Besonders weit ist darin Natorp gegangen (a. a. O. Kap. II u. VI). 

143) Außer Waddington (a. a. O. S. 656) und Saisset (a. a. O. S. 78) 
sind wohl alle neueren Forscher, wie Zeller (a. a. O. III ^ S. 29/30), 
Maccoll (a. a. O. S. 70), Brochard (a. a. O. S. 254) darin einig, den Zeug- 
nissen des Diogenes (IX, 78, 87), Sextus (adv. Math. VII, 345), Aristokles 
(Eusebius, praep. evang. XIV, 18, 11) folgend, die zehn resp. neun Tropen 
unter der im Text gegebenen Einschränkimg Aenesidem zuzuschreiben. 
Die Tropen haben vermutlich in der inorvTicooig gestanden. 

144) Auch er erkannte nur das <pcuv6juevov als Kriterium an (Diog. 
IX, 106), auch er lehrte die &ro;^ imd das Ideal der äxaQa^ta (Diog. 
IX, 107), welches er nach Aristokles (Eusebius, praep. evang. XIV, 18,4) 
^dovfj genannt haben soll. (Ober den Cyrenaischen Ursprung des Aus- 
drucks vgl Hirzel a. a. O. S. 107 f., dag^en Natorp (a. a. O. S. 300.) 
Natorp (a. a. O. S. 127 ff.) weist Aenesidem schon im ganzen die empi- 
ristisch -positivistische Theorie der späteren Skeptiker zu. Brochard (a. a. O. 
S. 269) zeigt, daß, wenn Aenesidem eine solche schon besessen haben 
sollte, was an sich nidit unmöglich ist, die Quellen uns nicht berechtigen, 
sie ihm zuzuschreiben. Auch über den Rationalismus und Sensualismus 
Aenesidems entwickelt Natorp (a. a. O. S. 256 ff.) höchst geistvolle An- 
sichten, die sich aber auf einen Text stützen, als dessen Urheber wenig- 
stens in seinem ganzen UmfiEmge Aenesidem nicht mit Sicherheit zu 
erweisen ist 

145) Ich gebe zunächst a) die antiken Zeugnisse für den Herakli- 
teismus und Dogmatismus des Aenesidem, b) die Stellung der modernen 
Forscher zu dieser Frage. Ein Entscheid ist wohl nach dem vorhandenen 
Material unmöglich, und wer nidit Fachphilologe ist, soll von Lösungs- 
versuchen abstehen, zu denen selbst den Philologen oft mehr die Lockung, 
seinen Scharfsinn imd den Machtbereich seiner Methoden zu erproben, 
als der Trieb nach objektiver Wahrheit verführt hat Denn dem letzteren 

Richter, Skeptistnnis. 31 



^22 Aiiiii€rinuig6ii zuin ersten KApiteL 

ist mit einem ofifen eingestandenen non liquet mehr gedient als mit über- 
subtilen Konstruktionen. Welche von den letzteren am erträglichsten er- 
scheint, ist oben im Text angegeben. Zur Stütze derselben könnte man 
auf eine Farallelerscheinung unsrer Zeit verweisen: Nietzsche, der in 
seiner letzten Periode einem radikalen, erkenntnistheoretischen Skeptizis- 
mus auf biologischer Basis huldigte, und dessen Eigebnisse hierin den 
Lehren Aenesidems nicht fem stehen, vertrat zu gleicher Zeit eine Meta- 
physik, die durchaus der herakliteischen Weltbetrachtung ihren Inhalt 
entnimmt 

a) a. Sextus, P. I, 210: ind dk 61 negl xdv AlreoUijßxor Sieyov 6ddi^ 

elvai T^v axeTuixijr iy(oyriv inl ti^v 'HQaxleheiov q>i,lo^ 
ooq>lav, di&ti TiQOfjyeaai xov Täyavxla ticqI td avxd indgx^y x6 
x&yavxta negl xd aM (palvecf^i, xal oi /ikv ^xejtxocol qnxlreo^ai 
Xiyovot xä hanUx negl xd aM, ol dk 'HQOxXeixeioi inb xovxov 
xal inl xd indQxuv airtä fiexigxoyxaL 
ß. Ganz dogmatische Spekulationen, die Aenesidem xaxä xdr 'Hgd^ 
xX&TOV angestellt habe, berichtet Sextus: 

adv. Math. X, 216/17: über das körperliche Wesen und die Teil- 
barkeit der Zeit, 
adv. Math. X, 233: über die Luft als Urwesen, 
„ „ VII, 349/50: über die Natur der Seele, 
„ „ IX, 337: über die Identität und Verschiedenheit des 
Teils im Verhältnis zum Ganzen. 
y. Andre dogmatisch klingende Äufierungen, die ihm aber nicht direkt 
als Herakliteer zugeschrieben werden: 

adv. Math. X, 38 — 41: über die verschiedenen Bewegimgsarten» 

„ „ Vin, 8: über die Wahrheit als xd xotvoK Tzaot 

<paiv6/ii€ya (hält Natorp a. a. O. S. 79 noch für herakliteisch)» 

TertuUian de anima: 25 (vgl. 9, 14. 15): über die Entstehung 

der vis animalis im Kinde (nach stoischer Lehre; vgl. Soranus^ 

bei Diels, Doxographi graec. 206 f.). 

b) a. Diels (Doxographi graec. 2ioflf.) und Zeller (der a.a.O. III^ S.36ff. 

auch in der jüngst erschienenen und auf diesem Punkt überarbeiteten 
Auflage bei seiner Ansicht verharrt) meinen: die Anschauungen, in 
denen Aenesidem herakliteisch- stoische Physik vortrage, seien nur 
historische Berichte Aenesidems über Heraklit (daher das xaxä 
x&v 'HQdxXenov), nicht Ausdruck der eigenen Meinung Aenesidems» 
und Sextus habe den Aenesidem P. I, 210 in der Bemerkung, daß 
der Skeptizismus zum Herakliteismus fahre, mißverstanden. G^en 
diese Ansicht spricht hauptsächlich, daß i. Soran wie TertuUian 
dann dem nämlichen Irrtum in der Exegese verfallen sein mußten» 
und daß 2. Sextus ohne innere Gründe grober Irrtümer und Miß- 
verständnisse beschuldigt wird. 



ADmerkuDgen zum ersten Kapitel. ^2^ 

ß, Natorp, der die gründlichste Untersuchung über den Herakliteismus 
Aenesidems angestellt, bietet, nachdem er die Zeller- Dielssche 
Hypothese zurückgewiesen, folgende Erklärung an: 

1. Die dem Aenesidem von Sextus zugeschriebenen herakliteischen 
Lehren stehen in engster logischer Verkettung miteinander (S. 103 
bis iii) und mit dem richtig gedeuteten empirischen Wahrheits- 
begriff Aenesidems (S. 96 — 103), der wieder als positive Kehr- 
seite immittelbar aus seiner skeptischen Grundüberzeugung er- 
wächst (S. 94). Also wird es sich in der Tat um eine von 
Aenesidem behauptete innere Verwandtschaft zwischen Herakli- 
teismus imd Skeptizismus handeln und nicht etwa um eine dog- 
matische und eine skeptische Phase im philosophischen Ent- 
wicklungsgange Aenesidems (S. 112). 

2. Da andrerseits zuzugeben ist, daß die herakliteisch- dogmatischen 
Äußerungen Aenesidems imverträglich mit seinem totalen Skep- 
tizismus sind (S. 112), so bleibt nur der Ausweg, Aenesidem 
habe die ersteren nicht als feste Überzeugungen, sondern als 
diejenige „ Phantasie '' (Hypothese?) vorgetragen, die mit sich 
und den Erscheinimgen am meisten im Einklang stehe (S. 87/88, 
1 13); die Befugnis zu solchen Hypothesen lasse sich ungezwungen 
mit den skeptischen Grundsätzen vereinigen (S. 117 — 119). 

Diese Deutung des Verhältnisses, die übrigens ihr Autor 
selbst nur bescheiden als eine „Phantasie" (S. 122) bezeichnet, 
hat ihre wunden Stellen in der Entwicklimg des Aenesidemschen 
Wahrheitsb^;rif[s, dem Angelpunkt von i., imd dessen Ver- 
kennung diut:h Sextus (vgl. Brochard a. a. O. S. 28ifif., der 
aber die Pointe der Natorpschen Ansicht: der Herakliteismus 
Aenesidems sei metaphysische Hypothese, vollkommen über- 
sieht), sowie in der 2. zugrunde liegenden Annahme, die zwar 
als eine reizvolle und verführerische Ausflucht aus dem Labyrinth 
der Schwierigkeiten, aber fast zu kühn imd willkürlich erscheint, 
lun ganz glaubhaft zu wirken. Doch will man bei dem vor- 
li^enden Problem überhaupt zu einer Lösung gelangen, so muß 
man entweder die Zeugnisse oder die Gedanken pressen. 

Im ganzen mit Natorp einverstanden ist auch Hirzel; 
besonders in der Widerl^;ung von Zeller- Diels (a. a. O. S. ösflf.), 
in der Auffassung, daß Aenesidem seine Sätze nur als (pm- 
vdfxevov gefaßt habe, und der eng damit zusammenhängenden 
von dem empirischen Wahrheitsbegriff Aenesidems (S. 93 — 107); 
die Meinungsverschiedenheiten zwischen Hirzel imd Natorp be- 
treffen rein textkritisdie Einzelfragen (Natorp a. a. O. S. 293 — 299). 
Ähnlich auch v. Arnim (a. a. O. S. 45). 



3^4 Anmerkungen zum ersten Kapitel. 

Während nun DieU und Zeller die Schwierigkeiten durch 
die Verwerfung der Zeugnisse des Sextus; Natorp und Hirzei 
durch eine komplizierte Ausdeutung und Versöhnung derselben 
zu heben suchen» glauben andre zum nämlichen Ziel zu ge- 
langen, indem sie aus den herakliteischen und skeptischen Thesen 
Aenesidems nicht verschiedene Seiten des gleichen Weltbilds, 
sondern Bekenntnisse aus verschiedenen Entwicklungsphasen des 
griechischen Denkers herauslesen. 
y, Saisset (a. a. O. S. 204 fil) glaubt, Aenesidem sei vom Heraklitis- 
mus zum Skeptizismus gelangt, mit der B^;rQndimg: en g^^ral, 
c*est une loi de Thistoire de la philosophie, que le scepticisme s'y 
enchaine au sensualisme, comme ä un principe sa consequence 
inevitable. La conversion du sectateur d'H^raclite au pjrrrhonisme 
universel est im cas particulier de cette loi (S. 206). Die Stelle 
P. I, 210 sieht sich dann Saisset gezwungen, als die Bemühimg 
Aenesidems zu deuten, seinen eigenen Meinungs Wechsel durch die 
Konstruktion eines logischen Bandes zwischen Herakliteismus und 
Skeptizismus schäm voll zu verschleiern (S. 208). Die Phasentheorie 
Saissets trifft mit der Vermutung Stäudlins (a, a. O. I, S. 306) 
zusammen. Diese Anschauung hat mit P. I, 210, wo ausdrücklich 
der Skeptizismus als Weg zimi Heraklitismus genannt wird, als der 
schärfsten Gegeninstanz zu rechnen, und ihre hegelianische Begrün- 
dung „par une loi des mieux etablies de Thistoire'* (a. a. O. S. 206) 
befriedigt ebensowenig wie die gezwimgene Deutung von P. I, 210. 
Will man also in philosophischen Entwicklungsphasen Aenesidems die 
Lösung des Rätsels erblicken, so geht man sicherer, mit 
i. Haas (a.a.O. S. 44!.) und Brochard (a.a.O. S. 284 ff.) die 
herakliteische Periode auf die skeptische folgen zu lassen und so 
mit P. I, 210 in Einklang zu bleiben. Brochard versucht diese 
Entwicklung als eine stetige hinzustellen, bedingt durch die innere 
Verwandtschaft des negativen Dogmatismus Heraklits im Erkenntnis- 
problem und des Skeptizismus. Aber es gelingt ihm doch nur, 
die Verwandtschaft in der Anschauimg von der Identität der Gegen- 
sätze nachzuweisen. Haas hängt dag^^en Saissets Ansicht an: die 
Konstruktion der inneren Verwandtschaft beider Lehren durch Aene- 
sidem (nach P. I, 210) ist bloß eine Verschleierung des eigenen Ab- 
fialls vom Pyrrhonismus durch Dialektik. — Das schwerste Bedenken 
gegen die Phasentheorie ist zweifellos, dafi wir kein einziges posi- 
tives Dokument besitzen, das dieselbe irgend zu stützen geeignet 
wäre. Aber freilich leiden die übrigen Lösungen dieses Problems 
„du plus dif fidle de touts les probl^mes, que souleve l'histoire 
du scepticisme ancien" (Brochard a. a. O. S. 277) an dem gleichen 
Mangel. OvSkv öqICco. 



Anmerkungen zum ersten Elapitel. 3^5 

146) Oben S. 16. 

147) Diog. IX, 116. Von Zeuxis wird ein Werk: ticqI dirt&r 
löycDv (Diog. IX, 106) erwähnt. Ober die Identität dieser Persönlich- 
keit mit anderweitig bekannten Männern gleichen Namens, sowie über 
das Wenige und philosophisch völlig Belanglose, das wir von den übrigen 
Skeptikern dieser Zeit außer Agrippa und Sextus wissen, vgl. Zeller a.a.O. 
III^ S. 5ff., Brochard a. a. O. S. 2360: 309«: 

148) Sonst ist von diesem bedeutenden Geist leider nichts aut 
uns gekommen. Diog. IX, 116 nennt ihn nicht in der Liste der Schul- 
häupter, sondern erwähnt ihn nur als Verfasser der fünf Tropen (IX, 88), 
sowie als Adressat einer Schrift des Skeptikers Apelles (IX, 106). Seine 
Lebenszeit ist imbekannt Vgl. Zeller a. a. O. III^ S. 8; Brochard a.a.O. 
S. 300/301; Hirzel a. a. O. S. 131 ff.; Haas a. a. O. S. 84/85. Hirzel 
sieht in der Agrippaschen Richtung einen auf die Vereinigung mit der 
Akademie zusteuernden „Nebensprößling des echten Pjmrhonismus" (a. a. O. 
S. 136). Aber mit Unrecht erblickt er in der Wiederaufnahme der Dia- 
lektik tmd nicht in der positivistischen Färbung das Wesentliche an der 
Lehre der letzten Pyrrhoniker (S. 130 ff.). 

149) So mit Sicherheit: Menodotus, Theodas, Sextus, Satuminus 
(Diog. IX, 116; Galen, Ther. meth. II, 7, nach Brochard a.a. O. S.311). 

1 50) Auch das Verhältnis der Arzteschulen zur skeptischen Doktrin 
ist als problematisch Gegenstand wissenschaftlicher Kontroverse geworden. 
Soweit die Fragen rein historischer Natur sind — die systematische Ver- 
wandtschaft wird später zu erörtern sein — mögen hier die hauptsäch- 
lichen Streitpunkte Erwähnung finden: 

1. Wann beginnt und wer vollzog die Verschmelzung von 
medizinischem Empirismus und Skepsis in den methodo- 
logischen Grundfragen? 

Natorp (a. a. O. S. 154) meint: die Skeptiker hätten weniger 
von den Empirikern, als diese von jenen zu lernen gehabt Denn 
den Begriff der Erfahrung konnte die Skepsis schon bei den Sophisten 
vorfinden, vor allem bei dem Urheber des Erfahrungsbegriffs, bei 
Protagoras (S. 149 ff.). — Brochard (a.^. O. S. 313) verharrt mehr 
auf dem Boden der Tatsachen, wenn er Menodotus als denjenigen 
bezeichnet, der zuerst den medizinisdien Empirismus mit dem Skep- 
tizismus verbunden hat; Menodotus ist vermutlich die Quelle, die 
Galen bei seiner Darstellung der empirischen Methode benutzt hat 
(in der Schrift: de subfiguratione empirica). Menodotus ist auch 
der erste, der mit völliger Sicherheit als Haupt sowohl der empi- 
rischen wie der skeptischen Schule bezeichnet werden kann. 

2. Wie weit berühren sich skeptische und empiristische Er- 
kenntnistheorie? 



3^^^ AnmcikuD^en xmn cnteo Kspitd« 

Da Menodotus, Theodas und wahrscheinlich auch Sextus Häupter 
beider Schulen waren, so ist schon alldn daraus zu entnehm^i, daß 
deren Lehren sich im wesentlichen gededct haben werden. Eine 
nflhere Veigleichung (si^e: die klare Entwicklung der methodologi- 
schen Grundsätze der empirischen Ärzte nach Galen, de subfiguratione 
und de sectis bei Brochard a. a. O. S. 3640!) bestätigt diese Vermutung 
auch vollkommen. — Daher vertreten Natorp (a. a. O. S. 157) und 
Brochard (a. a. O. S. 374) die Ansicht von der wesentlichen Id^i- 
tität der skeptischen mit der empiristischen Methodologie gegen 
Philippson (DePhilodemi libro etc., Berlin 1881), der (a.a.O. S. 52) 
die Skeptiker mit den Empirikern bloß in der Negation zusammen- 
gehen läßt, die podtive Seite des Skeptizismus aber verkennt Aller- 
dings hat diese Auffassung einen Text des Sextus halb auf ihrer 
Seite, dessen Erwähnung aber schon hinüberieitet zu: 
3. Welche Unterschiede bestanden zwischen den zweifellos 
sehr verwandten methodischen und empirischen Ärzte- 
schulen, und welche Schule steht in ihren Prinzipien der 
Skepsis näher? 

P. I, 236 ff. nimmt Sextus selber zu der Frage Stellung: d ^ 
xcnä tijr lajQiKtjv IßXJieiQla ij aivj lozi xfj ^xitpei; er gibt zu- 
nächst als Unterschied an: djuQ ij i/Mieigta ixsivri tuqI rrjg dxaza- 
Itpplag T&v äif^lcov diaßeßaiovrai, oike ^ ain^ hm xfj ^xhpei, 
und meint, daß die methodische Ärzteschule, die diese dogmatische 
Versicherung über die Unerfaßbarkeit nicht abgäbe, der skeptischen 
Denkweise näher stünde. Von dieser Frage abgesehen, die keine 
methodologischen Lehren betrifil, welche uns allein bei den natur- 
wissenschaftlichen Richtungen der Zeit interessieren können, sind 
die methodologischen Prinzipien der Methodiker, die Sextus a. a. O. 
erwähnt, imd als der Skepsis verwandt bezeichnet, die gleidien wie 
die der Empiriker (Natorp a.a.O. S. 155/56). Übrigens will Sextus, 
der über die Originalität der Skepsis eifersüchtig wacht, auch diese 
Methode nur als die der skeptischen nächststehende, aber nicht 
durchaus mit dieser identische gelten lassen (P. I, 241). Welche 
Finessen der Methodologie nun außer dem erwähnten Gesichtspunkt 
die Schule der Methodiker von der der Empiiiker zugunsten der 
Skeptiker trennten, ist ims bei der völligen Unkenntnis über die näheren 
Besonderheiten des Methodus leider unbekannt 
151) So schon Stäudlin (a.a. O. I, S. 384), neuerdings Pappenheim 
(Lebensverhältnisse des Sextus Empiricus, Programm des Kölner Gym- 
nasiums, Berlin 1875), auch Zeller (a. a. O. III**, S. 10), Übttweg- 
Heinze (a. a. O. S. 327), Brochard (a. a. O. S. 315). Die Hauptanhalts- 
punkte für diese Datierung sind: die Erwähnung des Sextus durch Diogenes 
(IX, 87, 116) und die Bemerkung des Sextus (P. I, 65), die Stoiker (die 



Anmerkungen zum ersten Kapitel. 3^7 

im 3. Jahrhdt n. Chr. nicht mehr voll mitzählten) seien zu seiner Zeit 
die Hauptgegner der Skeptiker gewesen. Daß Galen, dessen Zeitgenosse 
Sextus nach obiger Annahme ist, denselben als Vorstand der empirischen 
Schule nicht erwähnt, erklärt sich vermutlich daraus, daß Sextus erst 
gegen Ende der Galenschen Wirksamkeit und nach Abfassung von dessen 
Hauptschriften au%etreten ist. Eine andre Erklärung dafür gibt Pappen- 
heim (a. a. O. S. 13). Die jüngste Arbeit über des Sextus Lebenszeit: 
Vollgraf f, la vie de Sextus Empiricus, Revue de Philologie 1902, S. iQSffl 
setzt Sextus in Hadrians Regierung. Vollgrafi& Gründe aber haben mich 
nicht überzeugt 

152) Adv. Math. I, 246 (vgl. P. I, 152, III, 211, 214). Die irrigen 
Angaben des Suidas, der ihn zum Lybier macht und mit Sextus aus 
Chäronea identifiziert, haben schon Menagius, Fabridus, Brucker, Stäudlin 
u. a. zurückgewiesen. 

153) Athen, Sextus, adv. Math. VIII, 145; P. II, 98; Alexandria, 
adv. Math. X, 15, 95; P. III, 221; Rom, P. I, 149, 152, 156. 

154) Sextus, adv. Math. I, 260. 

^55) I^iog. IX, 116; Sextus P. III, 120. 

156) Für seine Zugehörigkeit zur empirischen Schule spricht: 

a) Sein Beiname, der aber — siehe Text — auch anders deutbar ist 

b) Das Zeugnis Pseudo- Galen, Jsagog. 4. VoL XIV, p. 683, der ihn 
den empirischen Ärzten zuzählt 

. c) Die Übereinstimmimg seiner Lehre mit den ims bekannten Grund- 
thesen der Empiriker. 
Gegen seine Zugehörigkeit zur empirischen Schule spricht: 

die oben (Anm. 150) angezogene Stelle P. I, 236 ff., wo Sextus eine 
größere Verwandtschaft zwischen methodischer Denkweise und Skepsis 
als zwischen dieser und dem Empirismus bdiauptet 
Infolge dieser einander widersprechenden Angaben sind denn auch die 
Meinungen der Historiker geteilt: Stäudlin (a. a. O. I, S. 386) glaubt trotz 
der größeren Übereinstimmung zwischen Methodus und Skepsis, Sextus 
sei empirischer Arzt gewesen; auch Saisset (a. a. O. S. 234/35 1), 2^er 
(a. a. O. III^ S. 50^), Brochard (a. a. O. S. 316), Natorp (a. a. O. S. 157) 
halten an seiner Zugehörigkeit zum Empirismus fest Pappenheim und 
MaccoU (a. a. O. S. 81) neigen mehr der Ansicht zu, Sextus sei metho- 
discher Arzt gewesen. Philippson (a. a. O.) macht darauf aufinerksam, 
daß Sextus in den Schriften gegen die Logiker dem medizinischen Empi- 
rismus näher st^e als in den Hypotyposen, in denen er sich von diesem 
Einfluß freier zeige und sidi mehr der Schule der Methodiker anschließe. 
Aber die von Philippson (und Zeller) behauptete Differenz in den An- 
gaben des Sextus (adv. Math. VIII, 191 tmd P. 11, 236) über die Un- 
erÜEißbarkeit der Dinge bei Skeptikern und Empirikern ist nicht ' aufrecht- 
zuerhalten. Der Widerspruch löst sich, wie Natorp mit Recht bemerkt, 



' 



3^8 Anmerirangen zam ersten Kapttd. 

durch die Möglichkeit: die These, xä äitiia fi^ xarala/ißdrea^ai sowohl 
phänomenal wie dogmatisch zu verstehen; dieses hat P. I, 236, jenes 
adv. Math. VIII , 191 zu geschehen. 

157) Wie fast alles in der Geschichte des griechischen Skeptizis- 
mus, so ist auch die Reihenfolge unter den Werken des Sextus Gegen- 
stand gelehrter Diskussion geworden. Aller Wahracheinlichkeit nach sind 
die Hypotyposen, auf die sich adv. Math, des öfteren berufen), das früheste 
der Werke; so auch Zeller (a, a. O. III^ S. 51 Anm.) imd Brochard (a. a. O. 
S. 318/19) gegen Pappenheim (De Sexti empirid libronmi nimiero et 
ordine, Berlin 1874) und Philippson (a. a. O.). 

158) Ober noch andre Titel von Sextus Schriften und deren Iden- 
tität mit den genannten, sowie über die verlorenen Werke: latgocä ino^ 
fivfjlAaTa (adv. Math. VII, 202), l/uuieiQtxä inofinfnAara (adv. Math. 1, 61), 
7u^ ywxvs (adv. Math. VI, 55, X, 284) vgl. Zeller a.a.O. III^ S. 5offl, 
Brochard a. a. O. S. 319/20. 

159) Sehr treffend Brochard (a. a. O. S. 322): rien de moins per- 
sonnei que ce livre: c'est l'oeuvre collective d'une feole, c'est la somme 
de tout le sceptidsme (vgl. die schöne Charakteristik des Sextus als Histo- 
rikers, Polemikers, Denkers S. 32 1 — 327). Sehr imgerecht beurteilt Saisset 
(a. a. O. S. 226 ff.) die Bedeutung des Sextus. 

160) Zeller (a. a. O. lU^ S. 52 Anm.) legt vor allem auf Aenesidems, 
Brochard (a. a. O. S. 325/26) auf Menodots Werke als Quellen Gewidit 

161) Diog. IX, 116. Ober den im Anfang des 2. Jahrhdts. n. Chr. 
lebenden Literaten Favorinus, der sich zum Skeptizismus, man weiß 
nicht recht, ob zum pyrrhonischen oder akademischen, bekannte, ohne daß 
irgend ein eigener Anteil des Mannes an der Ausbildung dieser Lehren 
sich feststellen ließe, berichtet ausführlich: Zeller a. a. O. III^ S. 76 ff. 

162) Hierauf macht besonders Hirzel (a.a.O. S. 22 ff.) aufinerksam. 

163) Diog. IV, 28; Sextus, P. I, 220 u. a. 

164) Diog. IV, 28. 

165) Diog. IV, 44. 

166) Diog. IV, 61. Die Angabe, daß seine Blüte (Diog. IV, 45) 
um die 120. Olympiade gefallen sei, ist wohl mit Zeller (a. a. O. III \ 
S. 492 Anm.) für ein Versehen zu halten. 

167) Diog. IV, 29, 32. Seine Lehrer waren Autolykus und Hip- 
ponikus. 

168) Diog. IV, 29. 

169) Diog. IV, 29. 

170) Diog. IV, 29. 

171) Diog. IV, 30. 

172) Diog. IV, 29. 

173) Dadurch entsteht wiederunti ein dunkler Punkt in der Ge- 
schichte des griechischen Skeptizismus. Diog. IV, 33 sagt nur: iXlä xai 



Anmericungen znm ersten KapiteL 3^9 

xav IIvQQcava xatd xivag iCtjUdixei; auch aus Eusebius, praep. evang. 
XIV, 5,12 geht über das tatsächliche Verhältnis, in dem (nicht die Lehre 
des Arkesilaus, sondern) Arkesilaus selbst zu Pyrrho gestanden hat, nichts 
Bestimmtes hervor. Damit wird der Weg, auf dem Arkesilaus zu seinem 
Skeptizismus gelangt ist, d. h. der Ursprung der akademischen Skepsb 
zum wissenschaftlichen Problem, das durch rein historische Dokimiente 
nicht zu lösen ist Natürlidi sind, wie immer in ähnlichen Fällen, die 
entgegengesetztesten Hypothesen aufgetaucht imd in gelehrten Kontro- 
versen hin und her erwogen worden. Sextus, P. I, 232 läßt Arkesilaus 
als Pyrrhoniker erscheinen imd auch die fast wörtliche Übereinstimmung 
in der Formulierung der gleichen Lehren macht eine Abhängigkeit von 
Pyrrho wahrscheinlich; dagegen ist die Feindschaft des Timon gegen 
Arkesilaus sowie das Schweigen Ciceros über jede Verbindimg von 
akademischer und pjmrhonischer Skepsis eine starke Gegeninstanz gegen 
die Annahme, Arkesilaus habe in erster Linie sich an Pyrrho ange- 
schlossen. Haas (a. a. O. Kap. XXI) läßt geschichtlich die akademische 
Skepsis lediglich aus dem Pyrrhonismus hervorgehen; dagegen betonen 
Brochard (a. a. O. S. 93 ff.) und Hirzel (a. a. O. S. 2 2 ff.) eindringlich die 
dialektische Riditung der Akademie und der Megariker (gestützt auf 
Diog. IV, 33, sowie die Verse des Aristo auf Timon) als eigentliche 
Quelle der arkesilaischen Skepsis: „si Pyrrho n'eut pas existe, la nouvelle 
acad&nie aurait ^te k peu pr^ ce qu'elle a ct^** (Brochard a. a. O. S. 97). 
Zeller schlägt einen Mittelweg ein und glaubt nicht, daß Arkesilaus „ganz 
unabhängig von Pyrrho auf seine Ansichten gekommen sein könne" (a.a. O. 
III ^ S. 490 *). Über das systematische Verhältnis beider Richtungen 
weiter unten noch ein paar Worte. 

174) Diog. IV, 32. 

175) Diog. IV, 28. 

176) Diog. IV, 37. 

177) Wenn wir uns bei der Charakteristik der einzelnen Skeptiker 
länger aufhalten, als es der Zweck dieses Buches zu erfordern scheint, 
so ist zu erinnern: daß gerade in Griechenland die skeptische Philosophie 
ihre tiefste Quelle im Innern der Persönlichkeiten hat, die sie verkünden; 
bei Pyrrho in einem gebrochenen Willens- und Gefühlsleben; bei Arkesilaus 
in einer überbeweglichen Geistesart Daher fördert ein Einblick in das 
Innere der skeptischen Charaktere das Verständnis fOr deren Anteil 
an der Ausbildung und feineren Verfärbung der Lehre oft mehr als die 
Kenntnis der einen oder der andern These, die ihnen — meist nicht 
einmal einwandfrei — zugeschrieben wird. 

178) Diog. IV, 40. Auch von der Bekanntschaft mit dem Fürsten 
Antigonus (Diog. IV, 39). 

179) Nach Diog. IV, 40, 41 soll er Aristippischen Grundsätzen 
offen gehuldigt, mit zwei Hetären zugleich verkehrt, auch die Knaben* 



33^ Anmerkungen xom ersten Kapitel. 

liebe gepflegt haben usw. Verheiratet war er nicht (Diog. IV, 43). Daß 
er im Rausch gestorben sei, berichtet Diog. IV, 45. 

180) Diog. IV, 31. 

181) Proben derselben Diog. IV, 30. 

182) Eine Fülle davon Diog. IV, 34 — 36. 

183) Cicero, Acad. pr. 6, 16. De Orat. III, 18, 67. Daß er 
mit seiner rhetorisch«! Begabung Effekte nicht nur erreichte, sondern 
auch suchte, zeigt Diog. IV, 41, der ihn als qnXddo^ und (püüox^ 
bezeichnet, und in gleicher Weise schildern ihn die Timonischen Verse 
der Sillen. 

184) Numenius bei Eusebius, praep. evang. XIV, 6, 3. 

185) Diog. IV, 37. Vgl. 38; 32. 

186) Diog. VII, 171. Zur Feindschaft zwischen dem Stoiker Aristo 
und Arkesilaus vgl. Diog. VII, 162/63. 

187) Plutarch, de adulat et amic. XI, 55. In gleichem Sinne 
berichtet auch Diog. IV, 42. 

188) Diog. IV, 32. 

189) Diog. IV, 33. Dabei hielt Arkesilaus viel auf die gefällige 
Form seiner Lehren, ebenda 37. 

190) Cicero, Acad. post 12, 44; Numenius bei Eusebius, praep. 
evang. XIV, 6, 14 schildert anschaulich, wie Arkesilaus infolge seiner 
oben beschriebenen Gaben in dem Kampf mit der schwerfälligen Stoa, 
an deren Wiege die Grazien leider ausgeblieben waren (fj /wvoa ydg 
aixoTg oidh x&te Ijv q>doX6yog oiS* Igydng ;|ra^o)y) stets das Über- 
gewicht hatte. 

191) Sextus, adv. Math. VII, 150: ol dh negl rdv 'ÄQxeoiXaov Ttgotj- 
yovfxh(og ßih oidkr digioav xqitt^qiov. Die Hauptgründe des Arkesilaus 
gegen die stoische Lehre vom Wahrheitskriterium sind: i. Die q>awaoia 
xonaXtjTtTtxi^ würde beim Weisen eine wissenschaftliche Erkenntnis (&n- 
ox^ifirj), beim Toren aber immer nur ungewisse Meinung (^fa) sein (adv. 
Math. VII, 153). 2. Die (pavraola xaxaXrjTttixrj kann unmöglich existieren, 
weil a) die Zustimmung niemab zu einer VorsteUung (q)avxaola), sondern 
nur zu einem Urteil (ä^UofMx) statt hat; weil b) falsche Vorstellungen 
ebenso überzeugend sein können wie richtige (ebenda). 

192) Cicero, de orat. III, 18, 67. 

193) Mit Metrodor (vgl. oben S. 11) gegen Sokrates. Cicero, acad. 
post 12, 45: itaque Arcesilas n^^bat, esse quidquam, quod sciri posset; 
ne illud quidem ipsum, quod Socrates sibi reliquisset. 

194) Sextus, adv. Math. VII, 155. 

195) Cicero, acad. pr. 24, 77. 

196) Sextus, adv. Math. VII, 158: dJU' ind jusiä xovxo Sdei xal 
7UqI xrjg Tov ßlov dit^ayoyyfjg ^tjxdy, fjxig oi x^Q^ xQnfjQlav niqwxey 



Anmerkungen zum ersten Kapitel. 33' 

änodldoa&ai, i(p* oi xai ff eßdai/wvla, rovriori xd xov ßiov rilog, 
fJQXfjfliyfjv ixu tijv Titariv, q)f]alv 6 ^AgxeatXaog, Sxi 6 negl ndvxcov 
inixcov xavovisT xäg algioeig xal q>vyäg xal xoiv&g xdg 
Jigdisig x<p eil6y<p, xaxä xovxö xe ngoeQxdßJisvog xd xQixifjQiov 
xaxoQf&ibow T^v fikv y&Q eßdcu/iovlav negiytrea^i diä xrjg <pQoviq' 
oecog, x^v dk q)Q6rfjoiv xivelo^i h xoXg xaxoQ&ihfiaoi, x6 dk xax- 
ÖQ^ay/Lia elvai Sneq Jtgax&ky eüloyov Sx^ ^^ änoloytav. 6 ngoa- 
ixcov oiv x(ß €iX6y(p xaxoQ^(&aei xal eidaifiovrjoei. Alles 
dreht sich hier um die Frage: was hat Arkesüaus unter dem eßXoyov 
verstanden? Zeller (a. a. O. III*, S. 496) meint: die Wahrscheinlichkeit. 
Aber Hirzels scharfsinnige Analyse hat uns die Feinheiten dieses Begriffs 
(a. a. O. S. i5ofif.) besser verstehen gelehrt Indem Hirzel, gestützt auf 
die stoischen Definitionen (Diog. VII, 75. 76) dem Unterschied zwischen 
dem eüXoyor und dem 7u&av6v nachspürte, zeigt er, daß beide ganz 
verschiedene Seiten an der „Wahrscheinlichkeit" hervorkehren, deren 
Färbung in den Motiven, aus denen wir ziu: Annahme eines Wahr- 
scheinlichen gelangen, ihre Ursache hat. Das 7u&av6v des Kameades 
nämlich geht in letzter Linie auf eine aus der £videnz der sinnlichen 
Wahrnehmung geschöpfte Wahrscheinlichkeit (wie der belief Humes?), 
das ^loyo¥ des Arkesilaus auf eine aus Vemunftgründen sich ergebende 
Wahrscheinlichkeit zurück. Nun ist auch jene rätselhafte Stelle des 
Numenius (bei Eusebius, praep. evang. XIV, 6, 5), wonach Arkesilaus 
das 7K£i9av((v verworfen habe, und mit welcher Zeller nur fertig wird, in- 
dem er sie als „Mißverständnis'^ hinwegerklärt, aufgehellt Arkesilaus 
konnte sehr wohl das nv&avdv verwerfen und das ^Xoyov anerkennen. 
Mit Recht schließt Hirzel aus diesem Merkmal des iSXoyov und der an 
der oben angezogenen Stelle immer wiederkehrenden <pQ6vrioig auf die 
große Rolle der vernünftigen Erwägtmgen in der Skepsis des Arkesilaus 
(a. a. O. S. 38^). Damit stimmt besonders gut, daß Arkesilaus nirgends 
die äxaga^ta als Lebensziel aufistellt, was ausdrücklich von Sextus, P. 1, 232 
bestätigt wird. Die sokratisch- platonische Tradition dieser Skepsis, sowie 
die Eigentümlichkeiten in der Geistesart ihres Stifters kommen in diesem 
negativen Zuge besonders treffend zimi Ausdruck. Auch Brochard 
(a.a.O. S. HO ff.) teilt die Auffassung Hirzels vom eßloyoVf schießt aber 
ganz über das Ziel hinaus, wenn er dasselbe als das raisonable (aller- 
dings Unklarheiten bei Hirzel folgend) vom probable völlig abrückt 
Der Gültigkeitsgrad des eüXoyov ist: Wahrscheinlichkeit, der Inhalt der- 
selben: Vemunfterwägungen. Aber das Wesentliche ist doch bei diesem 
Zweifler, der seine Skepsis auf Sinne und Vernunft gleichmäßig ausdehnte, 
daß gewisse Vemunfterwägungen Wahrscheinlichkeit genug erreichen, um 
imser praktisches Handeln auslösen zu können. 

197) Über eine versteckte dogmatische Geheimlehre des Arkesilaus 
liegen uns folgende Zeugnisse vor: 



33^ AnmerkuDgen zun ersten Kapitel. 

1. Cicero spricht Acad. pr. i8, 60 von einer Wahrheit, die von den 
Akademikern als ein Mysterium verborgen gehalten würde: restat 
illud, quod diomt, veri inveniundi causa contra omnia did oppor- 
tere et pro onmibus. Volo igitur videre, quid invenerint Non sole- 
mus, inquit, ostendere. Quae sunt tandem ista mysteria? aut cur 
celatis, quasi turpe aliquid, sententiam vestram? ut, qui andient, 
inquit, ratione potius quam auctoritate ducantur. 

2. Diokles aus Knidus bei Numenius (Eusebius, praep. evang. XIV, 6, 6) 
meint, daß Arkesilaus nur aus Furcht und um Ruhe zu haben vor 
den Angriffen der Anhänger des Theodor und Bion die totale 
Skepsis vertreten habe. Numenius fügt gleich das Bekenntnis seines 
Unglaubens an diese Legende hinzu. 

3. Augustin, contra acad. III, 17, 38 deutet die Skepsis des Arkesilaus 
nur als polemische Taktik gegenüber dem stoischen Dogmatismus; 
im geheimen habe Arkesilaus den unenthüilten Schatz der alten 
platonischen Weisheit für sich behalten. 

4. Sextus, P. I, 234: d dk dei xal roig tuqI aiiov JLeyofiiroig 
7iioT€V€iv, <paolv, Sri xaiä fih td nqdxBiQOv IIvQQdfveiog IfpcUveio 
elvai, xarä di Tfjv äXi^eiav doyfjuxxtxdg Ijv, xal btd x&r hatgcor 
ändntiQav iXdfißavt dia tilg äjtoQtjrix^g d edqwojg f;|^ot;ai ngdg 
T^v dvdXtjyfiv tcbv IHax(ovix(bv doyfjukcov, dö^ai ait&v änoQtfitxör 
elvai, Tok fihxoi ye eiqwioi r&v halQOtv tä IIX6xo>vog TioQeyx^' 
Qtlv hf^ev xal idv *AQlüz<ova dndv negl ainov 

7iq6o^€ nXdxoyv, ÖTw&ev IIvQQayr, fUooog AiddwQog (derselbe 
Vers: Diog. IV, 33; Eusebius, praep. evang. XTV, 5, 13). 
Von diesen Zeugnissen sind als geschichtliche Dokumente für den Dog- 
matismus des Arkesilaus relativ wertlos Nr. 3 wegen des Eingeständnisses 
Augustins, seine Darstellung beruhe bloß auf eigener Vermutung (vgl 
Hirzel a. a. O. S. 2 17 ff.); Nr. 2 w^en der inneren Unwahrscheinlichkeit 
und dem Dementi des Numenius. Nr. i und 4 aber vermögen die gut 
beglaubigten Überlieferungen, daß Arkesilaus ein Skeptiker von reinem 
Wasser war, nicht zu erschüttern. Des Sextus Beridit von dem angeb- 
lichen platonischen Dogmatismus stützt sich nur auf die willkürliche und 
gezwungene Deutung des Aristoschen Verses, bei dem das Ttgöa^e IlJiöxo^ 
wohl nur bedeuten wird, daß er sich mit dem Munde zu Plato bekannte^ 
den er bewunderte, und nach dessen Schule er sich nannte (Diog. IV, 32 ff.; 
Hirzel a.a.O. S. 221/22). Ciceros Zeugnis spricht wiederum nur von 
einer Geheimlehre, sagt aber nicht, daß diese der Piatonismus gewesen 
sei. So werden die beiden Züge der Überlieferung, daß die Akademie 
eine Geheimlehre besessen, imd daß Arkesilaus Platoniker gewesen, ur- 
sprünglich voneinander getrennt gedacht werden müssen. Jeder Zug für 
sich ist wohl verständlich: die Geheimlehre bestand in den positiven 
Elementen des Probabilismus, zu denen man die Schüler vielleicht nur 



Anmerkungen zum ersten Kapitel 333 

allmählich vordringen ließ. Als Platoniker aber konnten sie erscheinen, 
a) wegen der methodologischen Verwandtschaft, b) (nicht wegen des 
Piatonismus ihrer Skepsis, sondern) wegen der Skepsis des Plato nach da- 
maliger Au£Eassung (Cicero, Acad. post 12, 46). Wie dann aus beiden für 
sich wohl verständlichen ZOgen als Verschmelzungsprodukt die Legende 
vom platonischen Dogmatismus als esoterische Geheimlehre erwachsen 
konnte, ist b^eiflich. Man wird also mit Zeller (a. a. O. 111% S. 495), 
Hirzd (a. a. O. S. 160'), Brochard (a. a. O. S. 1 14 ff.) Front machen mOssen 
gegen die Außrischung derselben durch Geffers (De nova academia etc. 
Gymnasial -Programm, Göttingen 1842, S. 18 ff.). 

198) Sextus, P. I, 234. 

1 99) Über ihn und die Obrigen Akademiker dieser Zeit vgl Brochard 
a. a. O. S. 120 — 122; Zeller a. a. O. III*, S. 497/98). Bei Diog. IV, 59 
bis 61 erscheint Lakydes voll einander widersprechender Züge; einmal als 
Trunkenbold (61), dann wieder als strenger, rechtschaffener Mann (59). 

200) Diog. IV, 62; Cicero, Tuscul. IV, 3,5 u. a. 

201) Plutarch, quaest conv. VIII, i, 2. 

202) Nach den Angaben ApoUodors bei Diog. IV, 65, die von 
denen Ciceros, acad. pr. 6, 16 um fClnf Jahre abweichen. 

203) Cicero, Acad. pr. 30, 98. 

204) Diog. IV, 62. 

205) Sextus, P. I, 220. 

206) Cicero, Acad. pr. 45, 137 u. a. 

207) Diog. rv, 64. 

208) Diog. IV, 65. 

209) Diog. IV, 62. 

210) Diog. IV, 62. 63; Numenius bei Eusebius, praep. evang. 
XIV, 8, 9 ff 

211) Diog. IV, 64. 

212) Für die Erkenntnistheorie des Kameades kommen haupt- 
sächlich von Ciceros Werken in Betracht: die Acad. pr., fittr die Reli* 
gionsphilosophie: de natura deorum; de fato; de divinatione, ftlr die 
Ethik: de finibus bonorum et malorum. Außerdem geben die religions- 
philosophischen Partien bei Sextus, P. III, 2 ff.; adv. Math. IX, 14 ff. ver- 
mutlich Kameadische Ansichten wieder. Ober die Aufhebung des Wahr- 
heitskriteriums durch Kameades berichtet Sextus, adv. Math. VII, 159 ff.; 
4QI ff Über das Wahrscheinliche als Kriterium adv. Math. VII, i66ff ; 
P. I, 227 ff. 

213) Cicero, Acad. pr. 13, 40 ff.; Sextus, adv. Math. VII, 400 ff. 

214) Cicero, Acad. pr. 30, 95 ff.; Sextus, adv. Math. VII, 416 ff; 
Cicero, Acad. pr. 29, 92 ff. Die Vemunfterkenntnis war außerdem schon 
durch die sensuale Skepsis für Kameades gerichtet, da nach ihm (Sextus, 



334 Anmerkingai zuiii etsten Kapitd. 

adv. Math. VII, 165) alles Denken seinen Stoff nur aus der Wahrnehmung 
empfängt 

215) Wie die Darsteflung der skeptischen Rel^onsphilos(^>hie 
zeigen wird. 

216) Cicero, Acad. pr. 34, 108. 

217) Sextus, adv. Math. VII, 166; Cicero, Acad. pr. 31, 99. 

218) Die Frage ist, ob Kameades, der (Cicero, de fin. V, 6, 16) 
alle moralphilosophischen Grundpositionen au£s scharfsinnigste entwid^te, 
sich einer derselben zugeneigt habe. Sein Schüler Klitomachus behauptet 
zwar (Cicero, Acad. pr. 45, 139), die wahre Meinung seines Meisters 
hier nicht zu kennen; aber nach andern Angaben soll er (Cicero, AcadL 
pr. 45, 139) den ethischen Prinzipien des Kalliphon, welche (de fin. 
V, 8. 21) die voluptas cum honestate als höchstes Gut ansprachen, zu- 
gestimmt, oder auch (de fin. II, 1 1, 35) die principia naturalia als höchstes 
Gut angesehen haben. Eine ausführliche Besprechung der Ethik des 
Kameades geben: Zeller a. a. O. III*, S. 517 — 521; Brochard a. a. O. 
S. 153 ff.; Hirzel a.a.O. S. i8iff — Ein noch komplizierteres Problem 
rollt Hirzel auf, indem er aus den Quellen einen Widersprach zwischen 
der Auffassung Metrodors und Philons auf der einen, des Klitomachus 
auf der andern Seite über die Kameadische Wahrscheinlichkeitslehre her- 
leitet Danach hätten jene diese so aufgeÜEißt, als ob durch den Proba- 
bilismus auch im theoretischen Erkennen ein Bevorzugen gewisser 
Vorstellungen, also ein Meinen erlaubt sei, während die strengere Deutung 
des Klitomachus das nt&ar6y nur ftlr das praktische Handeln gelten ge- 
lassen und also jede „Meinung'' verworfen habe. Hirzel selbst folgt der 
Ausl^;ung Philos (a. a. O. S. 163 ff.). 

219) Diog. IV, 67: xal diedi(axo xbv Ejogveddfjr xal xä aöxav 
fjuiXuna dtä xwv ovyyQajUL/jiÖTCOv iqxiniaev, dvijQ h xaig xqujW aigiaeai 
dtangitpag, Sy xe xtji *Axaifjfuaixfj xal IleQtJiaxtixixfj xal cx(ßXKfj. 

220) Das Nähere gehört nicht hierher. Philosophisch sind die 
Nachfolger des Kameades von keinem Interesse. Ausführliche Nach- 
richten über sie findet man bei Brochard a.a.O. S. 186 ff.; Zeller a.a.O. 
m«, S. 523 ff 

221) Sextus P. I, 220. Wieweit der dogmatische Eklektizismus 
Philos gegangen sei, ist eine schwierige, aber rein historisch -philologische 
Streitfrage. Von welcher Art man sich auch Philos Standpunkt des 
Näheren zu denken habe, eine Bereicherung philosophischer Einsicht 
liefert er nicht Grund genug, an dieser Stelle das Problem nicht an- 
zuschneiden, sondem nur zu bezeichnen. Die Frage ist, ob Philo schon, 
wie Augustin will, dem Zeller (a. a. O. III*, S. 594) folgt, den echten 
Piatonismus wieder in die Akademie aufgenonmien, oder nur in der 
Ethik einen partiellen Dogmatismus stoisierender Art (nach Hirzel a. a. O. 
S. 230 ff.), in der Erkenntnistheorie dagegen bloß geringe Abweichungen 



Anmerkusgen zum ersten Kapitel. 335 

vom Skeptizismus des Karneades gezeigt habe (ebenda S. 222; Brochard 
a. a. O. S. 192 fr.). 

222) Sextus, P. I, 220. In diesen Angaben über die philosophische 
Wirksamkeit des Antiochns stimmen die antiken Zeugnisse und die modernen 
Historiker überein. Sextus, P. I, 235 heißt es: äXXä xal 6 lAvrloxog t^^ 
OTodv fien/jyayev dg rijv *Axadi]/4lav, d>g xal dQfjo&ai Itz* aixfp, Sn 
h 'AxadfjßjUq q>iXooo(peT tä ctcolkd. biedelxrve yäg, 8ti nagd Ilkdtcovi 
xdrai rd Tct>v axwltxoiv döyjMna, Ganz im Einklang damit Cicero, Acad. 
pi^* 43 > 132; die scharfen und scharfeinnigen Angriffe des Antiochus auf 
die Skepsis findet man in den Reden des Lucullus. 

223) Aenesidem im i. Buch der IIvQQ(i)veioi köyoi (Photius, Bibl.) 
wirft den Akademikern n^;ativen und positiven Dogmatismus vor, der sie 
mit dem skeptischen Standpunkt in Widerspruch setze. Sextus, P. I, 22ofil 
teilt im wesentlichen die Aenesidemsche Auffassung, die er im einzelnen 
ausftihrt imd bereichert; er berichtet, manche hätten die akademische 
und die pyrrhonische Philosophie für die gleiche erklärt und hält dieser 
Ansicht seine eigene von dem Unterschied beider Schulen entgegen« 
Diesen Unterschied setzt er: 

a) in den dogmatischen Negativismus der Akademie, die im G^ensatz 
zimi P3nThonismus die Unerkennbarkeit der Dinge dogmatisch be- 
haupte, 

b) in den doppelten Probabilismus, der Anerkenntnis von wahrschein- 
lichen Einsichten über das Reich des Seienden und der Werte, 

c) in den aktiven Glauben der Akademiker an das Wahrscheinliche, 
der passiven Hingabe der Pyrrhoniker an die Erscheinungen, 

d) in die an dem Wahrscheinlichen orientierte Lebensfühnmg der Aka- 
demiker, in dem Befolgen der Lebenssitten bei den Pyrrhonikem. 

Aber das alles, meint Sextus (P. I, 232), passe nicht auf den Stifter der 
mittleren Akademie, auf Arkesilaus, der daher den Pyrrhonikem sehr 
verwandt sei: 6 ßiivroi *ÄQxealXaog, 8r t^g ßiiatjg ^Axadtj/nlag 
IXiyofAtv elrai TtQoaxdxtjv xal ägxVY^^' ndvv ßioi doxei xoTg 
IIvQQfovelotg xotva>veXv Xöyoig, d>g jixlav elvai ax^i^v xifr 
xar' aixdv äycoy^v xal xijv fifiexiqav. Daß die Unterschiede 
zwischen akademischer und pyrrhonischer Skepsis eine „vetus quaestio et 
a multis scriptoribus graeds tractata*' gewesen seien, berichtet Gellius, 
Noct att XI, 5. 

224) Haas, de phil. scept success. S. 20; ähnlich schon Huet 
und Meiners (bei Stäudlin a. a. O. I, S. 308); ebenso Hegel (Vorlesungen 
zur Geschichte der Philosophie, Werke XIV, Berlin 1842, S. 483, 455). 

225) Saisset a. a. O. S. 58 ff., der auch auf den Anm. 223) unter 
a) erwähnten Unterschied das größte Gewicht 1^ (dagegen oben S.XIX/XX). 
Ähnlich wie Saisset urteilt Stäudlin a. a. O. I, S. 306 ff. 

226) vgl. oben Anm. 173. 



33^ Anmerktuigen zum zweiteii Kafntel. 

227) Aus diesen Nachwirkungen des getrennten Ursprungs ent- 
wickelt besonders Hirzel die Unterschiede der Schulen; mit ihm stimmt 
im ganzen Brochard (a. a. O. S. 381 fif.) überein; wenn letzterer aber an 
dem Parallelismus zwischen dem modernen PhänomenaUsmus Humes und 
der Lehre der Pyrrhoniker, zwischen dem Kritizismus Kants und der Skepsis 
der Akademie die Differenzen der Schulen erläutert (a.a.O. S. 391/92), so 
kann ich dabei die erste Vergleichung ebenso rücksichtslos unterschreiben, 
wie ich dem Vergleich zwischen Kritizismus und Probabilismus wider- 
sprechen muß. Die nähere Begründung wird die systematische Dar- 
stellung erbringen. 



Anmerkungen zum zweiten Kapitel. 

i) Sextus Empiricus befolgt in seinen beiden Werken eine andre 
Ordnung: in den Hypotyposen (P. I, 5/6) geht er von der „allgemeinen 
Besprechung'' (xa'&öXov kSyog) aus, die Charakter, Begriff, Prinzipien, 
Ziel usw. der Skepsis befaßt (Buch I), und schreitet im zweiten Teil der 
„besonderen Besprechung" {ddocdg Xöyos) (Buch II und III) zu der Zer- 
setzung der einzelnen philosophischen Disziplinen (nach damaliger Ein- 
teilung: der Logik, Physik, Ethik) fort In den Büchern gegen die 
Mathematiker kritisiert er dagegen der Reihe nach die sämtlichen Wissen- 
schaften seiner Zeit. Für uns wären beide Dispositionen unangebracht; 
denn sie sind, wie leicht ersichtlich, vom skeptischen Parteiinteresse, seiner 
programmatischen Seite in den Hypotyposen, seiner polemischen in den 
gegen die Mathematiker gerichteten Büchern verfaßt Dagegen gliedern 
die drei Grundfragen Timons die skeptische Philosophie durchaus in 
systematischer Absicht Die Antwort auf die erste Frage begreift die 
skeptische Erkenntnistheorie, diejenige auf die zweite und dritte Frage 
die praktische Philosophie der Skepsis. Erkenntnistheorie imd Ethik 
aber sind die beiden einzigen philosophischen Disziplinen, von denen bei 
den antiken Skeptikern geredet werden kann. 

2) Kr. d. r. V., 2. Aufl. S. 833. 

3) Bei diesem Satze ist darauf zu achten, daß er nur in der vor- 
liegenden Formulierung der Ansicht des griechischen Skeptikers entspricht 
Besonders das „ich" und das „kaim" ist von Bedeutung. Statt des „ich" 
darf nicht ein „man", und statt des Präsens kein andres Tempus gesetzt 
werden. Aus Gründen, die durch die späteren Ausführungen sich ver- 
stehen (vgl. S. 95 ff.)' 

4) Alles Originalbeispiele, z. T. oft wiederkehrende, der antiken 
Skeptiker, vgl. Sextus, P. I, 44; III, 12. 215; I, 108. 142. 



Anmerkungen zum xweiteo Kapitel. 337 

5) Zur &6vafjug axeTnixi^ als dem geschilderten antithetischen Ver- 
fahren, und zur tooo^iveux als Ergebnis desselben vgl. Sextus, P. I, 8 — lo. 
31—34; Diog. IX, 78. 

6) Die Terminologie des Se3ctu8 auf diesem Punkt ist keine ein- 
deutige: a) einmal steht die Erscheinung xd tpaiyö/xerov als der sub- 
jektive Bewußtseinszustand dem diesen Zustand veranlassenden Ding (an 
sich) gegenüber (so P. I, 19. 20. 23 u. a.); b) sodann aber gebraucht 
Sextus auch q)aiv6/Aera identisch mit sinnlich Wahlgenommenem {(dadrp^iS) 
und stellt in dieser Bedeutung die Phänomene den Vernunft- und Ver- 
standesbegriffen als den Noumenen (voo^juteva, vofjxd) g^;enüber (P. 1, 8—9. 
31* 33)* 9aw6fMva dk lajuißdyofAey. vvv xä cJa^tjxd, didneg ävxtduz^ 
oxiXXo/uLer a&tok xä votjxd (P. I, 9. Nach Math. VIII , 216 stammt 
diese Terminologie von Aenesidem). Beide Bedeutungen gelangen hier 
keineswegs zur Deckung. Die Erscheinungen der Dinge nämlich fallen 
für Sextus nicht etwa wie für die moderne Philosophie mit den sinn- 
lichen Anschauungen zusammen, sondern der Kreis der Erscheinungen 
ist ein viel weiterer; er umfaßt vor allem auch das Gebiet der morali- 
schen, religiösen und ästhetischen Werte; auch was mir gut, schön, 
fromm „erscheint", ist ein qxuvö/Aevov, das auf zugrunde liq;ende 
„Dinge'' hinweist (P. I, 23). c) öfters steht endlich an dem fpeurö" 
fjierov weniger die Beziehung auf ein erscheinendes Objekt, als das 
ganz innerliche Merkmal der Klarheit und Deutlichkeit, das passsive 
Evidenzgefühl (vgl P. I, 19!) im Vordergrund. Dann ist das qnu- 
vd/aeroy gleichbedeutend mit ngöihjXoy und wird in diesem Sinne so- 
wohl von dem, was den Sinnen wie der Vernunft unmittelbar einleuchtet, 
gebraucht: x&v nQayfjuh(ov daxilj ric Scxi xard xd dvondxa) diaq)OQd, 
xdi9' fjy xd fUy laxi JiQÖifjXa, xd dk ädriia* xal TiQÖdtjla fih xd 
aixd^er in(mbnoyxa xaXg xe ata^iljaeai xal xfj diavolq, idriia 
dk xd jjij iS ainwv Xtjmd (Math. VIII, 141; P. II, 124). Darum ist 
zwar jede Erscheinung ein TiQÖdfjXoif, aber nicht jedes TiQÖdfjXor ein 
qxMfdfAtvov im Sinn einer auf Dinge an sich hinweisenden Erscheinung. 
So kommt es, daß Sextus, wo er Tigdivilov imd tpaivd/xeroy gleich- 
bedeutend gebraucht, das ip€uv6fMvov auch von Bewußtseinszuständen 
aussagt, die auf keine Objekte, deren Erscheinungen sie sind, zurück- 
weisen. Dieser Sinn des (paivdftetfov tritt dann hauptsächlich in der 
Kritik der Vemunfterkenntnisse auf, bei denen von der Frage nach einem 
Gegenstand, dessen Abbild sie wären, nicht die Rede sein kann, dag^;en 
das Merkmal des unmittelbar oder mittelbar Einleuchtenden eine große 
Rolle spielt; so wird z.B. (P. II, 177) ein Beweis entweder „erscheinend" 
X)der „nicht offenbar" sein müssen, d. h. immittelbar oder mittelbar be- 
griffen werden (vgl. P. II, 88 — 94. 124 — 129, III, 266). Die drei Be- 
deutungen des qmivd/ieroVf welche bei Sextus oft störend durcheinander- 
laufen und besondei^ dadurch Verwirrung anrichten, daß sie sich weder 

Richter, Skeptinmw. 22 



33^ Anmerkungen zum zweiten Kapitel. 

ganz ziir Deckung bringen, noch ganz voneinander trennen lassen, weil 
ihre Sphären sich an einigen Punkten schneiden, werden am besten durch 
ihre logischen Gegensätze eiläutert: dem q>aiv6fAevov als erscheinendem 
Bewußtseinsbild eines Objekts (auch eines ethischen, religiösen) steht das 
Ding an sich x6 inoxelßierov und seine Synonyma, dem (paivößxeror 
als aIo&rf(6v das voifierQy oder votftSv, und dem q)atv6iÄevov als nQÖ^ 
dtjXay das äii]Xoy oder iqnxvig gegenüber. Die von uns an erster Stelle 
besprochene Anwendung übersieht Pappenheim (Erläuterungen zu Sextus 
Empiricus, Skeptische Grundzüge, S. 4). Manchmal führt die zweideutige 
Terminologie, welche, wie wir später sehen werden, sehr tiefe sachliche 
Gründe hat, zu einer direkten Quatemio terminorum — so z. B. P. I, 6o> 
wo die Unmöglichkeit des Beweises dadurch daigetan wird, daß der Be- 
weis als qHxivdfievoy (— no6df]Xoy) von der Unwahrheit aller (paivö/uieva 
(=■ aloOfjrd) mitbetroflfen wird. — Noch eine Bemerkung zum Spradi- 
gebrauch in dieser Arbeit: wir nehmen den Ausdruck „Ding an sich'' 
im Sinne von Ding, Objekt als eine unabhängig vom Subjekt existierende 
Realität. Der moderne kritische Realist umgeht die Worte „Ding an 
sich" und sagt lieber schlechthin „Ding", um die Kantsche Färbung 
eines außer Raum und Zeit gelagerten mystischen Etwas zu vermeiden. 
Wir müssen aber, um uns im Rahmen der skeptischen Ausdrucksweise 
zu halten, den Terminus „Ding an sich" für den hier vunschriebenen 
Begriff verwenden. 

7) Von diesem Radikalismus ein Beispiel: der Skeptiker will gegen- 
einander ausspielen ala^xd imd votjtd auf jedwede Weise (xai^' olot 
drinoxe xQÖnov) und zwar in der Schroffheit, daß „auf jedwede Weise" 
sowohl auf al<T9rjxd wie vorjxd (d. h. auf alle Kategorien derselben), als 
auch auf die Art des Gegenüberstellens (d. h. die sämtlichen Kombi- 
nationsmöglichkeiten darin) bezogen werden darf. Eine weitere Beziehung 
des xa^* olav di/jnoxe xqdnov auf die dvvajuig oxsjtxtxij betrifil nur eine 
terminologische und keine sachliche Erweiterung (vgl. Sextus, P. I, 8/9). 

8) Sextus, P. I, 10 wird diese Auffassung vielmehr ausdrücklich 
abgelehnt Die äyxtxd/Lieyoi Xöyoi brauchen sich nicht wie Ja und Nein 
(än6q>aaig — xaxdtpaoig) zueinander zu verhalten, es genügt, wenn sie 
miteinander streiten {jidxBa'&ai). 

9) Neben den sachlichen Unterschieden zwischen der Kantischen 
und Pyrrhonischen Skepsis in den Objekten, auf die sich die Isosthenie 
bezieht, mag hier bereits erwähnt werden, daß Kants Handhabung 
dieses Prinzips insofern eine strengere ist, als bei ihm These imd Anti- 
these in kontradiktorischem Verhältnis stehen: die Welt hat einen An- 
fang, die Welt hat keinen Anfang usw. Soweit ist die Gegenüberstellung 
qualitativ eine schärfere als beim Pyrrhonismus; dafür büßt die Anti- 
thetik, weil immer nur zwei kontradiktorische Sätze im einzelnen Falle 
denkbar sind, an Quantität, an Umfang und Ausdehnung ein. Kant 



Anmerkungen sum zweiten KapiteL 339 

zeigt, daß jedes „Ding an sich'' für unsre Erkenntnis wirklich seine zwei 
Seiten hat, während für die alten Skeptiker die Anzahl dieser Seiten ins 
beliebige zu steigern ist 

10) Sextus, P. III, 66. 77. 

11) Der Skeptiker allerdings machte aus dieser Not noch eine be- 
sondere Tugend, indem er darauf eine neue Kategorie der Antithetik, in 
der Vergangenes, Gegenwärtiges imd Zukünftiges einander gegenübergestellt 
wird, aufbaute (Sextus, P. I, 33). 

12) Ob von dem der praktischen Handhabung dienenden Prinzip 
der Isosthenie bei den jüngeren Sophisten das gleiche Prinzip bei 
Protagoras (vgl. oben S. 14) durch Ernst imd Gewicht abzurücken sei, 
hängt davon ab, welche Erkenntnistheorie man dem Protagoras zu- 
weist Daß auch die jüngeren Eleaten hier Vorläufer der Skepsis sind, 
siehe oben S. 9. 

13) Sextus, P. I, 12: ovmdaecog dk xrJQ axejtztx^g laxlr &QX^ 
fiäXiaxa xd navtl X6yq^ X6yov taov dvxtxeia^L 

14) Sextus, P. I, 18 (vgl. auch I, 204), wo unter den skeptischen 
Redensarten das Ttanl X6yq> Xoov Xöyov dvTixet(r9ai nach Ansicht einiger 
als Aufforderung erklärt wird, bei der nur statt des Imperativs der 
Infinitiv gesetzt sei „damit der Skeptiker nicht irgendwie von den Dog- 
matikem betrogen, der Untersuchung entsage''. Das Verhältnis des Prin- 
zips der Isosthenie als Methode und Ergebnis erhellt auch daraus, daß 
das Prinzip als Methode erst von den jüngeren Skeptikern auf den Schild 
erhoben, als Ergebnis aber schon von Pyrrho, der dem antithetischen 
Verfahren nichts weniger als hold war (Diog. IX, 69, oben S. 26), aus- 
gesprochen wurde. Auch Zeller (a. a. O. III^ S. 70) nennt das Prinzip 
der Isosthenie „das allgemeine Ergebnis des Skeptizismus". Gegen diese 
Auffassung scheint allerdings der Umstand zu sprechen, daß die Methode 
der Aenesidemschen Tropen bereits die antithetische ist, und diese 
Tropen auch von Sextus (P. I, 31. 35) als Verdeutlichung des antitheti- 
schen Verfahrens gefaßt werden. Danach könnte es aussehen, als würde 
die Isosthenie doch nicht durch die im Text ang^ebenen Gründe (durch 
die in den Aenesidemschen Tropen nachgewiesene Unzuverlässigkeit der 
sinnlichen Wahrnehmung imd durch die zahlreichen Beweise gegen das 
vernünftige Erkennen) gestützt, als würde sie vielmehr von diesen vor- 
ausgesetzt Dies ist nun aber tatsächlich doch nicht der Fall. Denn 
die Tropen Aenesidems arbeiten zwar mit Gegenüberstellungen der Sinnes- 
wahmehmungen über das gleiche Objekt; daß diese Wahrnehmungen aber 
in Ansehung ihrer Gültigkeit gleichkräftig sind, ist nicht Beweisstück, 
sondern Beweiseigebnis, ist erst eine Folgerung, die aus den Tropen 
gezogen wird und welche als der eigentliche philosophische Kernpunkt 
dieser Tropen bezeichnet werden muß. Und so ist die Isosthenie dem- 

22* 



340 AnmerktmgeB zum zweiten Kapitd. 

nach wirklich Resultat, nicht Voraussetzung imd Methode der Tropen. 
Nicht in dem X6yq> Xöyov dtmxeta^i besteht ihr Wert, sondern in der 
Erwägung, daß diese XSyoi taoi Xöyoi seien; eben in der Behauptung 
von der Gleichkräftigkeit widerstreitender Thesen und nicht vom bloßen 
Widerstreit der Thesen besteht aber auch das Wesen der Isosthenie. 

15) Sextus (P. I, 3iffl) und Diog. (IX, 79) stellen die zehn 
Tropen als Aufdeckung der Widersprüche sowohl zwischen den sinn- 
lichen Wahmehmimgen wie den Vernunfteinsichten hin (änoglai xarä 
rdc av/jupayrtag rcbv <p<urofi(v(ov fj voovjuihoov). Aber mit Unrecht 
Nur der zehnte Tropus (in des Sextus Ordnimg) trifil durch seine all- 
gemeine Fassung alle Erkenntnisarten. Die übrigen Weisen haben es 
nur mit den Widersprüchen in der Sinneswahmehmung zu tun. Die 
Durchsetzimg dieser Tropen mit der Anwendung der logischen Tropen 
des Agrippa ist späteres Einschiebsel und schädigt das Verständnis des 
großzügigen und eindeutigen erkenntnistheoretischen Problems, das den 
Inhalt der ursprünglichen Tropen erschöpft Daher läßt auch die Dar- 
stellung im Text diese Partien außer Betracht Überliefert sind uns die 
Tropen: am ausfOhrlichsten von Sextus, P. I, 36 — 168, weniger ausführ- 
lich bei Diog. IX, 79 — 88, ganz mangelhaft von Aristokles bei Eusebius, 
praep. evang. XIV, 18, 11; verloren gegangen sind die Darstellungen 
des Favorinus (Diog. IX, 87) und Plutarch. Was die ursprüngliche 
Zahl dieser Tropen anlangt, so hält wohl nur noch Pappenheim (Er- 
läuterungen zu des Sextus Pyrrh. Grdzg. Leizig 1881, S. 23/24) an 
den Angaben des Aristokles gegen Sextus (adv. Math. VIII, 345 und 
Diog. IX, 87) fest, daß Aenesidem bloß neun Tropen gelehrt habe (vgl 
dagegen Hirzel a.a.O. S. 112^). — Die Ordnung der Tropen wird 
von Sextus, Diogenes, Favorinus verschieden angegeben (Sextus, P. I, 36ff.; 
Diog. IX, 87). Den Gesichtspunkt für eine sinngemäße Reihenfolge, den 
Sextus (P. I, 38/39) aufwirft, hat er selbst nicht befolgt, nämlich: die 
Tropen in subjektive, objektive, subjektiv -objektive zu scheiden (je nach- 
dem für die Ursache der Verschiedenheit in den Wahrnehmungen über 
das gleiche Objekt in Verhältnissen des Subjekts, Objekts oder beider zu 
suchen ist). Auch irrt Sextus, wenn er den zehnten Tropus den objek- 
tiven zuzählt; mit der Bezeichnung der übrigen Tropen ist er dagegen 
im Recht (daß Goebel, Programm des Bielefelder Gymn. 1880, S. 12 
den siebenten Tropus bei Sextus für einen subjektiv -objektiven statt für 
einen rein objektiven hält, beruht auf einem Mißverständnis der Sexti- 
schen Terminologie). Der zehnte Tropus aber ist entschieden, so wie 
ihn Sextus darstellt, subjektiver Natur. Die Differenzen in den Meinungen 
über Gutes und Schlechtes, Schickliches und Unschickliches usw. hängen 
nur ab von der Zugehörigkeit des Subjekts zu einem bestimmten Lande, 
Volke, Philosophenschule usw. Daher schließt sich bei Diogenes dieser 
Tropus als fünfter den ersten vier rein subjektiven Tropen an (warum 



Anmerkungen zum zweiten Kapitel. 34' 

gerade als fünfter hat Hirzel a. a. O. S. 1 1 8 Anm. zu erklären gesucht). Aber 
des Sextus Angabe» er sei den objektiven Tropen zuzuzählen, wird daraus 
verständlich, daß der Parallelismus mit den übrigen vier subjektiven Tropen 
allerdings insofern durchbrochen scheint, als nicht, wie bei diesen, die 
Objekte sich einfach in den subjektiv bedingten Wahrnehmungen der 
Individuen verschieden spiegeln, sondern durch die objektiven Media. der 
Gesetze, ^tten, Gewohnheiten den Subjekten verschiedener Länder sich 
verschieden darstellen. Von dieser Seite gesehen würde der zehnte Tropus 
zwischen den subjektiven und objektiven gewissermaßen in der Mitte 
schweben. Das Dazwischentreten dieses objektiven Faktors zwischen die 
Wertobjekte an sich und die Ansichten des Subjekts über dieselben und 
die damit gegebene Unsicherheit in der Klassifikation dieses Tropus, die 
überdies durch die Aufnahme der Verschiedenheit in den dogmatischen 
Philosophemen, die sich doch auf alle Erkenntnisse, subjektiv und ob- 
jektiv bedingte erstrecken, noch erhöht wird — all diese Verhältnisse 
haben ihren Grund in der völligen Heterogenität des zehnten Tropus 
von den übrigen und der forcierten £inspannung desselben in die Be- 
grifl&paare: subjektiv — objektiv, Erscheinung — Ding an sich, <p(uv6^ 
fA€VOv — iTioxeifJLevov, Ob allerdings dieser Standpunkt der ursprüng- 
liche gewesen ist, ob nicht vielmehr der zehnte Tropus ursprünglich 
weiter nichts besagen wollte, als: der Widerspruch in den Ansichten 
über ethische, religiöse und alle Probleme überhaupt läßt die Erkenntnis 
der Wahrheit als eine Unmöglichkeit erscheinen, und ob üicht erst Sextus 
oder sonst ein jüngerer Skeptiker den Parallelismus mit den übrigen 
Tropen durch die Einspannung auch des zehnten Tropus in den Begriffs- 
g^;ensatz &scheinung — Ding an sich vollzogen hat, möchte ich dahin- 
gestellt lassen. Im Einklang damit trennte Agrippa den fraglichen 
Tropus von den übrigen neun ab (die er in den einzigen Tropus n^dg 
Ti zusammenschmolz) und nahm, wenn wir uns an die Darstellung des 
Sextus halten, das Verhältnis von objektivem Ding an sich und sub- 
jektivem Erscheinungsbild nicht in ihn auf. Sondern der xqdnog ix xfjg 
diaqxoviag wird wieder, was er wohl ursprünglich gewesen sein mag, zu 
der eingehen, von den Kategorien des Subjektiven und Objektiven un- 
berührten Behauptung: „daß wir über ein vorliegendes Problem stets 
einen unentscheidbaren Zwist sowohl im Leben als auch bei den Philo- 
sophen vorfinden, auf Grund dessen wir .... bei der Zurückhaltung an- 
langen müssen'' (P. 1, 165). Dies eigenartige Moment im Geiste des zehnten 
Tropus rechtfertigt die Anweisung an das Ende der Reihe, die ihm Sextus 
erteilt — Die vier ersten Tropen, die den subjektiven Gesichtspunkt in 
streng fortschreitender Entwicklung vom Allgemeinen zum Besonderen 
durchführen, gehören zweifellos eng zusammen. Dagegen läßt sich für 
die Reihenfolge in den übrigen sechs Tropen kein zwingender Grund 
angeben. Nur daß Diogenes den Tropus ngdg xi ans Ende dieser sechs 



34^ Anmeikciiigen zun zweiten Ka{nteL 

TFO]^n stellt, scheint aus inneren Gründen einzuleuchten; er zidit ja mit 
der These von der Relativität aller sinnlichen Wahrnehmung die Summe 
der neun übrigen Weisen; um so merkwürdiger bleibt es, daß dieser 
Tropus bei Diogenes gar nicht in diesem Licht eines Gattungsbegrifi^ 
für die übrigen Tropen, sondern nur als ein Spezialfall unter diesen auf- 
tritt, während er bei Sextus, der sich (P. I, 136. 139) dieses Gattungs- 
charakters wohl bewußt ist, der Stellung nach als spezieller Tropus* ein- 
geklemmt zwischen den übrigen seinen Platz findet Die Willküriichkeit 
in der Reihenfolge der noch fehlenden Tropen nimmt nicht wunder, 
wenn man bedenkt, daß diese Tropen nicht a priori gefunden, sondern 
empirisch gesammelt worden sind. Alles in allem scheint die Anordnung 
des Favorinus (wenn wir Diog. IX, 87 glauben dürfen), der von Sextus 
durch die Stellung des allgemeinen Relativitätstropus am Ende der reinen 
Wahmehmungstropen vorteilhaft abweicht, am sinngemäßesten. Pappen- 
heims Versuch (Erltrg. S. ßofif.), die Aristotelischen Kationen als heu- 
ristisches Prinzip bei der Auffindung der Tropen nachzuweisen, ist sehr 
gezwungen und wenig überzeugend. Im übrigen vgl. zu Zahl und Ord- 
nxmg der Tropen: Hirzcl a. a. O. S. 115^; Brochard a. a. O. S. 259/60; 
Pappenheim, die Tropen der griech. Skeptiker und Erltrg. zu den pyrrho- 
nischen Grundzügen; Natorp, Rhein. Mus. XXXVIII, S. 88 ff.; a. a. O. 
S. 300 ff.; Göbel, Programm des Bielefelder Gynmasiiuns. 1880. 

16) Sextus, P. I, 36. 

17) Beispiele, die den antiken Skeptikern nicht entlehnt sind, 
werden in der Regel durch einschließende Klammem kenntlich gemacht 

18) Sextus, P. I, 41—58. 

19) Sextus, P. I, 49. 

20) Sextus, P. I, 59 — 78. 

21) Der exakte Titel dieses Tropus wäre also: Widerstreit der 
Sinneswahmehmungen Ober das gleiche Objekt zwischen den verschie- 
denen Menschen (P. I, 79 — 89; Diog. IX, 80/81). Die Titel, die Sextus 
selbst von den einzelnen Tropen (P. I, 36/37), sowie im Verfauf der 
Darstellung gibt, sind unscharf und ungenau. 

22) Widerstreit in den Wahrnehmungen der einzelnen Sinne über 
das gleiche Objekt im gleichen Subjekt (P. I, 90 — 99; Diog. IX, 81/82). 

23) Widerstreit in den Wahrnehmungen des gleichen Sinns über 
das gleiche Objekt (P. I, 100— 117; Diog. IX, 82). Wäre der Fort- 
schritt in der stetigen Verengung des Gesichtsfelds ein ganz strenger, so 
müßte dieser Tropus den Widerstreit der Wahrnehmungen des gleichen 
Siims im gleichen Subjekt zum Gegenstand haben. Denn den Wider- 
streit der Wahrnehmungen des nämlichen Sinns in verschiedenen Sub- 
jekten hatte schon Tropus II berührt; doch wurde allerdings auf die 
Verschiedenheit der Subjekte als Ursache der Verschiedenheit in den 
Wahrnehmungen ausdrücklich reflektiert, wie in unserm Tropus von der 



Anmerkungen zun zweiten K^>iteL 343 

subjektiven Verschiedenheit als Ursache ausdrücklich abgesehen und nur 
auf den kausalen Einfluß der Umstände für die Differenz in den Aus- 
sagen Gewicht gelegt wird. Daher decken sich Tropus II und IV keines- 
w^ dem Sinne nach. Aber auch die äußerliche partielle Deckung konnte 
vermieden werden. Die einfache Gegenüberstellimg lautet, vom Gesichts- 
punkt der Ursachen ftlr die Verschiedenheit der Wahrnehmungen aus 
entworfen y in progressiver Verengerung und Zuspitzung: 

I. Mensch — Tier. 

II. Mensch A — Mensch B. 

III. Sinn A — Sinn B. 

IV. Sinn A — Sinn A. 

Sieht man aber nicht nur auf die Ursache für die Verschiedenheit der 
Aussagen, sondern auch auf diese Verschiedenheit als Tatsache und 
Ergebnis, so fällt, da die Menschen doch nur mit dem Sinn A, B usw. 
wahrnehmen können, Tropus III imd IV ziun Teil mit II zusammen. 
Will man daher beide Gesichtspimkte in die beobachtete Architektonik 
aufnehmen und, unter Wahrung der Selbständigkeit der einzelnen Tropen 
die Gegenüberstellung zu einer vollständigen machen, so müßte das 
Schema lauten: 

L Mensch — Tier. 
II. Mensch X — Mensch Y. 

III. Sinn A in Mensch X — Sinn B ins Mensch X. 

IV. Sinn A in Mensch X — Sinn A in Mepsch X. 

Für I — III hat Sextus diesen Standpunkt auch gewählt, für IV aber 
nur das erste Schema befolgt; dennoch lassen sich alle seine Beispiele 
für Tropiis IV ungezwungen auf Schema II anwenden. Man braucht 
nur die verschiedenen Umstände auf das gleiche Sinnesorgan desselben 
Subjekts zu verschiedenen leiten (statt auf verschiedene Subjekte zy 
gleicher Zeit) wirksam zu denken (wie der Fall mit den Lebensaltem 
P. I, 105 es ja gleichfalls tut). 

24) Widerstreit der Wahmehmimgen über das gleiche Objekt je nach 
Stellung imd Abstand des Objekts vom Subjekt und des Subjekts vom 
Objekt (subjektiv- objektiver Tropus) P. I, 118 — 123; Diog. IX, 85/86. 

25) Widerstreit der Wahrnehmungen über das gleiche Objekt je 
nach den Mischungsverhältnissen desselben mit Elementen der Umgebung 
und des Subjekts (subjektiv -objektiver Tropus). P. I, 124 — 128; Diog. 

IX, 84/85. 

26) Widerstreit der Wahrnehmungen über das gleiche Objekt je 
nach den quantitativen Verhältnissen desselben (rein objektiver Tropus). 
P. I, 129—134; Diog. IX, 86/87. 

27) Widerstreit der Wahrnehmungen über das gleiche Objekt je 
nach der seltenen oder häufigen Begegnung zwischen Objekt und Sub- 
jekt, Subjekt imd Objekt (subjektiv -objektiver Tropus). Diesen Tropus 



344 Anmerlraiigen zum zweiten Kapitel. 

Stellt auch Favorinos an achte SteQe (Diog. IX, 87). P. I, 141 — 144; 
Diog. IX, 87. 

28) Widerstreit der Wahrnehmungen über das gleiche Objekt wegen 
ganzlicher Abhängigkeit derselben von subjektiven wie objektiven Verhält- 
nissen aus den in Trop. I — VIII entwickelten Gründen. P. I, 135 — 140; 
Diog. IX, 87/88. 

29) Neben der allgemeinen Relativität als Summe der vorigen 
Tropen treten als neu hinzukommende Spezialfälle der Relativität auf: 
die Anschauungskorrelata: rechts — links, groß — klein, oben — unten, 
die Begrifi&korrelata: Vater — Mutter (Diogenes). Da aber dieselben 
ebensowenig wie die logischen Spielereien über die Notwendigkeit der 
Relativität P. I, 137 ff. in eine Kritik der sinnlichen Erkenntnis gehören, 
und die erstgenannten Beispiele auch nicht die unmittelbare Anschau- 
ung treffen, sind sie der Durchsichtigkeit halber im Text nicht mit auf- 
genommen worden. 

30) Sextus, P. I, 145 — 163; Diog. IX, 82 — 84. 

31) Sextus, P. I, 13: liyoßiey dk juij doyfWxiCeiv xbv oxeTnucöy 
oi xor' bcewo xd atjjMuvö/Aeroif xov döyjMXxog, xa&* 8 nal döy/Aa dral 
qxwl xweg HOivdregoy x6 sidoxeXv xiri nqdyfiaxi, (roic yoLQ xaxa 
qxxyxaotav xaxtivayHaofJiivoic nddeoi ovyxaxaxl&excu 6 ax&ttaidg) .... 
P. I, 19: ol dk kiyovxes, Sxi ävaigovai xA (paiv6fAev\a ol oxen- 
xixol Avi^xool ßjLoi doxovaiv elvai x&v nag* fifilv keya/uiivcDy' 
xd yäg xaxä tpavxaalav na&tjxixä AßovX^xcog fjfiag äyovxa 
etg avyxaxd^eaiv oix AvaxQinofxev . . . . xavxa di loxi xd q>ai- 
ydßieva. 

32) Sextus, P. I, 13: dXXd ju^ doy/naxlCeiv Uyo/uiey, xad^ 8 ödyfia 
eJyal qnxal xiveg xi/jv xivi nqdyfiaxi xd)v xaxd xAg iniaxi^iuLag 
CijxovßjLivcDv Adijkcov ovyxaxd^eoiv. oidevl ydg xöv AdijXcDy 
ovyxaxax trexat. 6 ÜVQQi&veioe. 

33) Sextus, P. I, 13. 

34) Sextus, P. I, 19/20. 

35) P. I, 19: Ctjxov/uv d' oÄ 7t€Ql xov (poiyofAiyov , AXld Ttcgl. 
bceiyov, 8 Xiyexai Tiegl xov tpaivofiivov* xovxo di dtatpigti xov 
Cfixe£y Ttegl aixov xov <p<uvofxivov. 

36) Sextus, P. II, 219 — 228. 

37) Dies Beispiel ist ein frei gewähltes. Die von Sextus erbrachten 
Beispiele, die in der allgemeinsten (stoischen) „ Gattung *S dem „Was'' 
gipfeln, sind nur geeignet, das Verständnis dieser Gedanken zu er- 
schweren. 

38) Hier folge ich der Konjektur Pappenheims (Erltrg. S. 149). 

39) Das lehrten bereits die Stoiker. P. II, 219 tut Sextus aber 
diese Ansicht ab, unter Berufung auf allgemeine Angriffe gegen die 
Existenz einer Seele und der Gedanken. 



ABmerkimcen zum zweiten Kapitel. 345 

40) Gegen die Funktion des Urteilens dagegen hat die antike 
Skepsis, soweit ich sehe, nur leichtes Geschütz aufgebracht (P. II, 107 
bis 109; adv. Math. VIII, 75 — 84). 

41) Sextus, P. 1, 164—177; adv. Math. VIII, 3670:; Diog. IX, 88. 

42) Sextus, P. I, 174. Übersetzung nach Pappenheim. 

43) Sextus, P. II, 196. 

44) Sextus, adv. Math. VIII, 300: ^ xotrw änddei^ic »caxä /ukr 
TÖ yivog ictl Xöyog. 

45) Sextus, P. II, 134 ff.; adv. Math. VIII, 300 ff. Von den zahl- 
reichen logisch -formalen Spielereien zu dieser Materie, der ermüdenden, 
ünmer wieder von andern Seiten ausgehenden Anwendung der drei logi- 
schen Tropen ist im Text abgesehen worden. 

46) Sextus, adv. Math. VIII, 427. 

47) Bis auf Antipater, Sextus, adv. Math. VIII, 443. 

48) Sextus, P. II, 174. 

49) ebenda 178. 

50) Sextus, P. II, 205 — 212. 

51) Sextus, P. II, 204. Das Beispiel ist in Ermangelung eines 
original -skeptischen gewählt 

52) Sextus, P. I, 164 — 177; Diog. IX, 89/90. Zum Verhältnis 
der zehn Tropen Aenesidems zu den fünf des Agrippa vgl. Hirzel a. a. O. 
S. 116 ff. 

53) Sextus, P. I, 178/79; Diog. IX, 90. 

54) Sextus, P. II, 13 — 79; adv. Math. VII, 29 — 446. Die Skepsis 
kennt zwei Sorten Kriterien: das theoretische und das praktische (P. II, 14). 
Nur von ersterem ist jetzt die Rede. 

55) Sextus, P. II, 22 — 28 wird dieser Gedanke in der Art des 
Sextus breit ausgesponnen und 29 — 32 die „Unerfaßbarkeit** des Menschen 
aus der Unerfaßbarkeit der Seele und des KOrpers dargetan; Anwendung 
der drei logischen Tropen auf den Fall: 34 — 37. 

56) Sextus, P. II, 21. 47. 

57) Und wird von Sextus (P. II, 48 — 56) wörtlich mit den gleichen 
Beispielen hier noch einmal dargetan. 

58) Dies Argument, das eigentliche Seitenstück zu den Aenesidem- 
schen Tropen, konnte Sextus selbst an dieser Stelle nicht geltend machen, 
da die Untersuchung über das Kriterium dem Angriff auf die speziellen 
logischen Funktionen bei ihm vorhergeht 

59) Die uns ergreift oder von uns ergriffen wird. Zwischen dieser 
aktiven und passiven Bedeutung des xaxaXri7vtix6g scheint die Stoa hin- 
und hergeschwankt zu haben (vgl. P. Barth, Die Stoa, Frommans Klassiker, 
1903, S. 66/67). 

60) Sextus, P. I, 227 — 230; adv. Math. VII, 159 — 189. 401 ff. 

61) Sextus, adv. Math. VII, 405. 



34^ Anmeikciiigen ram zweiten Kapitel. 

62) Sextus, P. 11,97 — 133; adv. Math. VIII, 141 — 299; Diog. 
IX, 90. 97. 

63) Die Stoa unterschied ngöiijla (das durch Sinne oder Verstand 
unmittelbar Einleuchtende) und drei Gruppen äihjXa: Hoddna^ äii]la 
(das stets und grundsätzlich Unerkennbare, Zahl der Sterne); Tigdg xaigir 
ädtjla (das augenblicklich Unerkennbare, wie eine entfernte Stadt); qwaet 
6df]ka (das nie unmittelbar Erkennbare für unsre Natur: adv. Math. 
VIII, 145 ff. 318). Natürlich ist die mhaltHche Erfüllung dieser B^^iffe 
bei Skeptikern und Dogmatikem sehr verschieden: ngödtiia sind der 
Skepsis nur die passiven Erscheinungen, nie Dinge; Ttgdg xcuQdv ädfjia 
augenblicklich unvorhandene Erscheinungen, nicht Dinge; qwaei ädtjla 
« äjux^ ädfjla: die wirkliche Natur der Dinge. Da sie die TiQÖg xcuQdv 
äirjla nicht als (pvaei und S7ia( ädriia, vielmehr als erkennbar ansehen, 
wird dementsprechend auch das diese enthüllende Zeichen (das „erinnernde'') 
nicht abgelehnt Doch gehört seine Besprechung in den positiven Teil 
ihrer Lehre (vgl. S. 105). 

64) Wir haben im Text der Klarheit zuliebe sowohl das atj/iielor 
wie die <pavtaala xataXriTmxfi nur in ihren Eigenschaften, indirektes oder 
direktes Elriterium einer objektiven Realität zu sein, behandelt Von 
Stoa und Skepsis wird es gelegentlich auch zur Feststellung von bloß 
gedanklichen Beziehungen und Verhältnissen benutzt oder bekämpft; 
z. B. ob eine bestimmte Zahl viel oder wenig ist (Sextus, adv. Math. 

VII, 418 ff.). 

65) Sextus, P. II, 80 — 95. 

66) Sextus, adv. Math. VIII, 40 ff. 

67) Über den positiven Wahrheitsbegriff Aenesidems werden wir 
anläßlich der zweiten pyrrhonischen Grundfrage zu berichten haben. 

68) Sextus, P. II, 86/87; adv. Math. VIII, 32—36. 

69) Sextus, P. II, 185—192; adv. Math. VIII, 463— 481. Das 
gleiche auf das arifmov angewandt: P. II, 130^133; adv. Math. 

VIII, 278 ff 

70) Bei einer rein monographischen Behandlung des antiken Skep- 
tizismus müßten die Argumente gegen die Grundlagen der Geometrie 
und Arithmetik besonders besprochen werden. Der Inhalt derselben 
sei hier wenigstens in Kürze aufgeführt: In dem Buche adversus Geo- 
metras (adv. Math. III) geht Sextus nach einer allgemeinen Bekämpfung 
des hypothetischen Verfahrens, dessen sich die Mathematik bediene 
(i — 17) dazu über, die Widersprüche in den Grundbegriffen der Geo- 
metrie darzutun und zwar a) 22 — 28: die Widersprüche, zu denen die 
Ausdehnungslosigkeit des Punktes führt (der Punkt soll ausdeh- 
nungslos sein imd dennoch eine ausgedehnte Linie erzeugen — wenn 
eine gerade Linie um ihren Anfangspunkt gedreht wird, beschreibt ihr 
ausdehnimgsloser Endpimkt einen Kreis), b) 29 — 36: die Widersprüche, 



Anmerkungen zum zweiten Kapitel. 347 

au denen der Begriff der Linie als eines Compositum von Punkten 
führt (ein einziger Pimkt kann ersichtlich keine Linie ausmachen; 
mehrere Punkte aber auch nicht: denn entweder beiühren sie sich 
nicht; dann wäre die Kontinuität der Linie unterbrochen , oder sie 
berühren sich mit ihren Teilen, was gegen die Ausdehnungslosigkeit der 
Punkte verstößt, oder endlich sie berühren sich alle in ihrer ungeteilten 
Totalität, und dann wäre die Linie ein Punkt), vgl adv. Math. IX, 377 
bis 388. c) 37 — 64: die Widersprüche, zu denen der Begriff der Linie 
als einer Größe, die Länge aber keine Breite besitzt, führt (Sinn- 
lich ist solche Größe unvorstellbar, gedanklich aber ebenfalls. Denn alles 
Gedankliche muß irgendwie durch Bearbeitung des sinnlichen Stofis her- 
vorgehen, durch Vergleichung öjuiOKOTix&g , Zusammensetzung hnow^exi" 
x(os, Vermehrung und Verminderung ävcuLoytarixoK; auf keine dieser 
Weisen aber kann eine sinnlich gegebene Wesenseigenschaft, die sich 
überall findet, wo Längenvorstellung auftritt, eliminiert gedacht werden. 
— Linien als Größen ohne Breite können nicht, wie die Geometer wollen, 
die Begrenzung der Fläche sein; denn sonst würden zwei Flächen 
aneinandergefügt nur eine ausmachen, imd also auch zwei Körper, da 
die Körper aus Flächen bestehen, aneinandergefügt, nur einen — . Das 
Beschreiben des Kreises mit einer Linie wäre unmöglich, wenn die Linie 
der Breite entbehrte — . Alle Figuren, die selbst Breite besitzen, können 
sich dann nicht als Composita gerader Linien ansehen lassen, wie es die 
Geometrie verlangt) Vgl. adv. Math. IX, 390 — 430. d) 77 — 82: die 
Widersprüche, zu denen der Begriff der Fläche ohne Tiefe führt 
e) 83 — 91: die Widersprüche, zu denen der Begriff des Körpers führt 
(wie können die drei Dimensionen, deren jede ftir sich unkörperlich ist, 
in ihrer Vereinigung einen Körper ergeben?) vgl. P. III, 39 — 49; adv. 
Math. IX, 367 — 376. f) Nachdem durch diese allgemeinen Erwägungen 
auch die speziellen Sätze der Geometrie als aufgehoben erklärt sind (92 — 94), 
folgen noch ein paar unbedeutende Einwände gegen die Spezialdefinitionen 
der geraden Linie (95 — 99), des Winkels (96 — 106), des Kreises (107), 
gegen die Möglichkeit, einen Kreis, eine Linie bei Zugnmdel^;\mg der 
streng geometrischen Definitionen dieser Gebilde zu halbieren (108 bis 
Schluß). Sämtliche Bedenken der Skepsis beruhen auf einer Verwechslung 
der reinen und angewandten Mathematik oder der Rolle, welche die 
wiUkürliche Abstraktion im mathematischen Verfahren spielt, und sind 
von hier aus leicht zu heben. Weit schwächer sind die gegen die 
Arithmetiker (Buch IV) aufgebrachten Einwürfe. Nach einem ein- 
leitenden Oberblick über pythagoreische und platonische Zahlenspeku-^ 
lationen (i — 13) wird dialektisch der Widerspruch im B^ri^ der Ein- 
heit und der Zahl aufgedeckt; er soll darin bestehen, daß die Einheit 
weder abgesondert für sich noch auch an den Vielheiten,, die an ihr 
teilhaben, vorgestellt werden kann (14 — 20); femer daß die andern 



348 

Zahlen daidi Opecatknen mit der Einheit nicfat gi^Nldet wenkn können 
(21 Int Sdihifi); r^ P. IH, 151 — 167; adv. Math. X, 248—309. 

71) Diog. IX, 97— 99; Sextiis, adr. Math. IX, i95flE:, P. lU, 138: 
Von diesen drei QoeOen sind bei weitem am ansffthrtirhsten und voll- 
ständigsten die Partien in adv. Phys. 

72) Seartns, P. I, 180. Vgl dazu die Erhrg. von Pappenheim. 

73) Seartns, P. UI, 30—37. 

74) Seztos, P. III, 38 — 55; adv. Math. IX, 359 — 440 raid die 
betreffenden Partien aas adv. Geom. 

75) Seztos, P. in, 56 — 62. 

76) Diog. IX, 100; P. in, 109 — 114. 

77) Sextus, P. m, 63—81; adv. Math. X, 37 — 168. 

78) Sextus, P. III, 119 — 150; adv. Math. X, i — 36. 169 — 247. 

79) Sextus, adv. Math. IX, 14 ff; P. IH, 2 — 12. Cicero, de natura 
deonuQ, HL Buch; de £ato; de divinatione. 

80) Sextus, adv. Math. IX, 60 — 136. 

81) Ganz im Einklang damit steht die Bemerkung bei Diogenes 
(IX, 78): ngdc a rde h JcSg axhpuHv irzt&iaetg nQoanodeixrvrTeg 
xad''* oOg rgönovc ml^ti rd ngäyfiaxa, xaxA xovq aitovg ä^jj- 
Qcvr xipf Tiegl aXnm idcnw. 

82) Cicero, de natura deorum, II, 22 (übers, nadi Kühner). 

83) ebenda I, 62 — 63. 

84) Cicero, acad. pr. 38, 120. 

85) Gcero, de natura deorum III, 69 — 78. 

86) ebenda m, 26—28. 

87) Sextus, adv. Math. IX, 137 — 181; Cicero, de natura deonmi 
III, 29—38. 

88) Sextus, P. III, 9 — 12. 

89) Cicero, de natura deorum III, 81 — 84. 

90) vgl Cicero, de divinatione, von deren IL Buch die meisten 
neueren Forscher annehmen, daß es wesendich Kameadische Gedanken- 
gänge wiedergibt 

91) Was man ausführlich bei Cicero (de natura deorum III) findet, 
was aber füglich hier ebenso übergangen werden mufi wie die Auflösung 
der Mantik. 

92) Sextus, adv. Math. IX, 182 — 190; Cicero, de natura deorum 
III, 43. Daß Kameades eine ganze Fülle soldier Soriten aufgestellt hat, 
beweist Vick (Hermes XXXVII, S. 245/46). Vick präpariert die Kar- 
neadischen Elemente der religionsphilosophischen Partien bei Cicero und 
Sextus scharf heraus und weist die Abänderungen nach, die Cicero mit 
Kameadischen Gedanken vorgenommen hat 

93) Sextus, P. III, 168 ff.; adv. Math. XI; Diog. IX, loi. 



Anmerkii]i{en tum zweiten Kapitel. 349 

94) Sextus, P. III, 179. Dafi in diesem Gedanken» der einen 
naiven ethischen Realismus zur Voraussetzung hat, nämlich den Glauben, 
als drückten sich die „Werte an sich'* dem menschlichen Bewußtsein 
passiv ein, die Quintessenz der skeptischen Ethik zu suchen ist, beweist 
adv. Math. XI, 69 — 71. 

95) Sextus, adv. Math. XI, 44. 

96) Nach Aenesidem, bei Sextus, adv. Math. XI, 42» 

97) Sextus, P. III, 198 ff; vgl. I, 145 ff 

98) Sextus, P. III, 232. 

99) Sextus, P. III, 181 ff. 

100) Sextus, adv. Math. XI, 48 ff. 

101) Sextus, P. III, 173 — 176; adv. Math. 35 — 41. 

102) Sextus, P. III, 193 — 197; adv. Math. XI, 96 — 98. 

103) Sextus, adv. Math. XI, 99 — 109. 

104) vgl. audi Cicero, de finibus II, 109. 

105) vgl oben S. 38. 

106) Sextus, P. I, 24. 

107) Sextus, P. I, 7; Diog. IX, 70. 

108) Diog. IX, 70. 

109) Sextus, P. I, 16/17. 
I ig) Sextus, P. I, 10. 
iii) Sextus, P. I, 18. 

112) Sextus, P. I, 187 — 209; Diog. IX, 74 — 76; Eusebius, praep. 
evang. XIV, 18. 

113) Diog. IX, 74; Sextus, P.I, 14, 15, 187, 191, 193, 196, 197. 

114) Sextus, adv. ^th. VIII, 479: oCxco xal Stav iAyco/iAey ßjitj- 
dejuUav dvai än6dei$iy, xad^ iTie^algeoiv liyo/iAey xov depcrirtog löyov, 
Sri oibx &mv inddu^iQ' fi6vog yäg aiiög laxtr änddei^iQ, 

115) Sextus, P. I, 206; adv Math. VIII, 480; Diog. IX, 76. 

116) Sextus, adv. Math.Vni, 480. 

117) Sextus, adv. Math. VIII, 480. 

118) Vom nämlichen Standpunkt verteidigte die Skepsis (Sextus, 
adv. Math. VII, 61 ff) den Ptotagoreischen Satz vom Menschen als dem 
Maß aller Dinge gegen platonisch -demokriteische Einwände. 

119) Sextus, P. I, 22', xQkvfiQiov xotrur (pafjiiv dvai r^c axeTni- 
xfjg äycoy^c rd qxuv6fxevov . . . Iv netoet yäg xal äßovXiJTq> Tuidei Met- 
ßiipi] äCijTfjTÖg iany. 

120) Sextus, P. I, 13. 

121) Sextus, P. I, 23. 

122) Daß die Skeptiker diese Autoritäten tatsächlich als (paiv6fieva 
faßten, von denen sie sich willenlos überzeugt und fortgerissen fohlten, 
beweisen deutlich die Worte des Sextus, P. I, 17: äxoXov^ovfiev ydQ 
ZIVI X6yq> xard rd ipaivößjierov inodetxvivti fifuv rd C^»' nQÖQ rd 



35^ Anmerkungen zum zweiten KApitd. 

^närgia l&r] xal rovg röjuovg xal rag äycoyctg xai rd obcua nddrj. 
Ebenfalls P. I, 23: roTg (pairo/iiroig (Ajv 7iq<}oijj0fvxtg xaxä tr^v ßua- 
xix^ n^Qfjaiy Ado^doKog ßtov/uLev, biei jurj iwdfie&a äreriQjnjToi nav- 
rdjiaair dvcu. Vgl die unmittelbar anschließenden Sätze, sowie P. I, 237; 
II, 246; femer adv. Math. VII, 29. 

123) Sextus, P. I, 23. 

124) Der Skeptiker kennt zweierlei Kriterien, ein theoretisches, nach 
dem Über wahr und Calsch, wiiidich. und nichtwirklich entschieden wird 
und von dem oben S. 7 2 ff. die Rede war, und ein praktisches, welches 
die Norm für das Handeln angibt Vgl P. I, 21; adv. Math. VII, 29. 

125) Sextus, P. II, II. 

126) Das tut vor allem Gottlob Ernst Schnitze in seinem „Aene- 
sidemus*': „die Skeptiker sagten viebnehr stets (!), daß sie den Skeptizis- 
mus eigentlich bloß dazu anwendeten, um ihrem Geist die Empfänglich- 
keit fOr die Erkenntnis der Wahrheit zu sichern und die Schwächung 
der Augen ihrer Vernunft durch einen unbegründeten Dogmatismus zu 
verhindern" (vgl. S. 24ff.). Das trifft für die griechischen Skeptiker jeden- 
falls nicht zu; gesagt haben sie so etwas höchst selten, und dann stets 
als Abwehr gegen den als Inkonsequenz empfundenen Vorwurf, dogma- 
tischen Negativismus zu betrdben , zugleich als dialektischen Trumpf gegen 
die positiven Dogmatiker. Inwieweit aber wissenschaftliche Forschung 
mit dem Standpimkt des antiken Skeptizismus vereinbar sei, ist nur 
unter sorgfältiger Trennung der dabei obwaltenden Gesichtspunkte zu 
entscheiden, i. Fragt man, ob wissenschaftliche Forschung von den 
.Skeptikern mit ihrer Theorie f[lr vereinbar gehalten wurde, indem man 
sich an ihre ernsthaften Auseinandersetzungen darüber und nicht an die 
übermütigen Hiebe gegen die Dogmatiker hält, so kann man nur mit 
einem Nein darauf antworten. Denn mit Physik, Logik, Ethik — den 
philosophischen Grunddisziplinen nach damaliger Auffassung — beschäf- 
tigten sie sich nur zu destruktiven Zwecken (P. I, 18), nämlich zur 
Widerlegung der bisherigen Theorien, und selbst diese Beschäftigung 
glauben sie noch umständlich gegen den Vorwurf der Inkonsequenz recht- 
fertigen zu müssen (P. II, i ff.). 2. Will man wissen, ob wissenschaft- 
liche Forschung nach unsrer Auffassung mit der pyrrhonischen Theorie 
vereinbar sei, so muß man sagen: bei starrem Festhalten an allen pyrrho- 
nischen Grundsätzen: nein; bei leiser Lockerung einiger und in kräftiger 
Anlehnung an die letzten positivistischen Ausläufer der Lehre: ja. Die 
Anerkenntnis der Erscheinungen und des Wissens um — auch nicht 
gegenwärtig gegebene — Erscheinungszusammenhänge würde, gesetzt 
daß man die Zweifel in die Wahrheit der logischen Normen fallen ließe 
und die Lehre vom erinnernden Zeichen noch etwas mehr ausbaute, 
genügen, um wissenschaftliche Forschung darauf zu gründen. Aber aus- 
drücklich hielt die Skepsis selbst daran fest, das Wesen der Wissenschaft- 



Anmerkangen zum zweiten Kapitel. 35^ 

liehen Forschung bestehe in einer Erkenntnis objektiver Realität und 
objektiver Gesetzmäßigkeit, und wo sie von der Erkenntnis phänomenaler 
Zusammenhänge redet, also gerade von dem Teil, auf dem sich eine 
ihren Anschauungen konforme Wissenschaft hätte gründen können, sprechen 
sie nie von C^irjaig, sondern nur von einer rixvfj- 3- Handelt es sich 
endlich darum, ob einige Skeptiker Wissenschaft getrieben haben, so 
ist dies zweifellos zu begaben. Wenn auch die großen Stifter der Schule 
den forschenden Intellekt nur zur Erarbeitung der skeptischen Ergebnisse 
verwendeten, so haben doch von den jüngeren Skeptikern eine Menge 
eine systematischere Durchforschung der Wirklichkeit getrieben, als mit 
den philosophischen Ansichten dieser Männer logisch vereinbar war (vgl. 
die Kritik der skeptischen Lehre im Text). — Natorp (a.a.O. S. 90/91), 
der mit Recht betont, daß die ^i^oig fOr den Skeptiker meist die Unter- 
suchung über das Jenseits der Erscheinungen betreffe, hebt hervor, daß 
die Skepsis diese C^nyaic gerade gelehrt habe und folgert auf die Weise 
geschickt sogar die Möglichkeit einer skeptischen Metaphysik, was seiner 
Hypothese über den Herakliteismus Aenesidems sehr zugute kommt (117). 
Aber die vom Skeptiker geübte C^rtjaig — wie auch gerade aus den von 
N. angezogenen Stellen erhellt — betrifft doch nur die eine Frage: nach 
dem Verhältnis von Erscheinung und Ding an sich. Mit der 
skeptischen Antwort: das Verhältnis ist imerkennbar, ist für den Skep- 
tiker jede weitere Durchforschung der objektiven Realität logisch abge- 
schnitten, und auch der vorsichtige Zusatz, daß die These über die Un- 
erkennbarkeit nicht dogmatisch gemeint sei, kann daran nichts ändern. 
Denn „nicht dogmatisch" bedeutet hier doch nur: nicht an sich noch für 
andre Individuen noch fOr andre Zeiten gültig. Nicht aber, daß die An- 
sicht auch für den Skeptiker keine Geltung hat; ihm, dessen geistigen 
Zustand sie kündet, gilt sie durchaus als überzeugend für seine Person, 
und damit ist die Erforschung fClr ihn unerkennbarer Dinge ihm natur- 
gemäß verschlossen. 

127) Hauptquellen des empiristischen Positivismus der Skepsis: 
Sextus, P. I, 236 — 241; II, 99 — 102; adv. Math. VIII, 143 — 158. 288 
bis 291. 

128) Sextus, P. I, 238. 

129) Sextus, P. II, IG. 

130) oben S. 76. 

131) Definition des endeiktischen Zeichens bei Sextus: rd lydeoc- 
uxdv xov äitjlovfjUvov nqdyfxaxog (adv. Math. VIII, 143); iydeiKUxdv 
di iou atjfjteTov, die (paoiv, 8 /lij avjLuiaQonjQrj&kv t<p orifiBionfß dC 
hagyelag, dJJC Ix t^c Idlag qwaeoog xal xataoxevijg ofjfxalvei rd o5 lau 
<yrifmov (P. II, loi). Das hypomnestische Zeichen wird definiert: xaL 
inoju^vtjaxix&v fjAp orj/imov xaXovoiv 8 ovjumaQanjQrj&kv t0 otjfiaivo- 
ßiivq} T(j? de' IvaQyelag ä/na x(p inoTuaetv, Ixelvov äitjlov/LUvov , äyei 



35^ Anmerkungen zum zweiten Kapitel. 

fifMQ ek inöjuvfjoir xov cv/umaQattiQfi^ivTog ait(ß, xai vvv hoQyovs 
jAYI inonunovxoq, d>g Ixu hd rov xojivov xal rov TWQÖg (P. II» loo); 
Uyetai xoivw t6 orifABiov öi^OK, xoivwg re xal Idkog' xoivcbg /^h rd 
doxovv Ti ifjXovr, xaM xal xd tiqöc ävavioDOtv xov avfAnoQaxrjQti^iv^ 
Toc aix(ß ngdyßiajog xQtioifXivov d(b&afAe¥ xakäv ütifieiay (adv. Math. 
VIII, 143). Dementsprechend wird das endeiktische Zeichen als IdtoK 
Xsydfievov bezeidinet Der weitere Unterschied beider Zeichengruppen 
ist, daß das anzeigende Zeidien xä q>voei äii]Xa, das erinnernde rd 
ngdg xatQdr äirjla enthüllen soll (P. II» 99; adv. Math. VIII, 151). Die 
logische Aktivität endlidi in der Anwendung des anzeigenden Zeidiens 
im Gegensatz zu der Passivität bei der Funktion des erinnernden Zeichens 
ist zwar nicht aus der Definition des ersteren direkt zu ersehen, um so 
deutlidier aber aus allen Ausführungen über dasselbe. So erscheinen als 
die Haiqptdififerenzpunkte beider Zeichenarten, philosophisch betraditet: 
I. was man erkennt; durch das anzeigende Zeichen objektiv-reale, 
aus der inneren Natur der Dinge an sich fließende und daher not- 
wendige Zusammenhänge; durch das erinnernde Zeichen: subjektiv- 
phänomenale, aus tatsächlicher Verkettung der Vorstellungen fließende 
und daher „zufällige^', d. h. nur bis jetzt r^;elmäßig stattgehabte Zu- 
sammenhänge. 2. wie man erkennt; durch das anzeigende Zeichen a priori 
und aktiv, durch das erinnernde a posteriori und passiv. Daß dieser 
philosophische Kern durch historische Bezugnahmen auf die stoische und 
besonders auch die epikuräische Zeichenlehre verdunkelt wurde, erheUt 
besonders aus: Philippson, de Philodemi libro, qui est: tuqI ütifAwav 
xal ctjßAeu&aeayy, L-D. Berlin, 1882 und Natorp a. a. O. IIL 

132) Sextus, P. II, 102. 

133) Sextus, P. II, 246. 

134) Sextus, adv. Math. VIII, 152. 

135) Sextus, adv. Math. VIII, 288. 

136) Sextus, P. I, 239. 

137) Sextus, P. I, 238. 240. 

138) oben Anm. 223 zu Kapitel I. 

139) Vgl. Galen: De sectis und de subfiguratione empirica; auch 
die meisterhafte Darstellung bei Brochard a. a. O. S. 364 ffl 

140) Hiunes Stellung zu den formalen Wissenschaften, der Mathe- 
matik und Logik ist, wie sich später zeigen wird, vom Standpunkt der 
Skepsis ganz verschieden. 

141) Am deutlichsten Sextus, adv. Math. YIII, 291, wo behauptet 
wird, es gäbe ein Tdi6v xi ^ec&Qtj/ia (Regel) xfjg h xdig qxuvofJtivoig 
axQefpo/jtivfjs xixvi]g mit der Bezeichnimg: dtd yäQ xcIjv TtoXXdxiQ xexfjgf]^ 
ßiivayy ij UnoQfj/LthcDv noieixai xAg xghv ^ecDQtj/ndxoov ovaxdoeig. 
Sogleich aber wird der völlig passive, erlebte und damit individuell be- 
schränkte Charakter dieser systematischen Phänomenologie hervor- 



Anmerkungen zum zweiten KapiteL 353 

gehoben und betont: rd di noXXäxig rrjgtj^ivxa xal lazoQfj^iyia Tdia 
xa'9eiOTijx€t roiv nXeiaxdxig ttjQfiadvTOHv, äXX^ oi xoivä ndvtcov. 

142) Brochard «u a. O. S. 379. 

143) Sextus, adv. Math. VIII, 8. Dazu Natorp a. a. O. S. 96 ff. 

144) Sextus, P. I, 226 — 231; adv. Math. VII, 166 — 189, sowie 
die betreffenden Partien in Ciceros Academica. 

145) In der adv. Math. VII, 166 ff. angegebenen Rangordnung haben 
die Wahrscheinlichkeiten zweiter und dritter Ordnung ihre Stellen ver- 
tauscht 

146) Das ausführliche Beispiel, das die Skepsis für die dritte Wahr- 
scheinlichkeitsstufe gab, der Sage von Admetus und Alkestis entnommen, 
ist imklar und mehi geeignet, das Verständnis dieses Probabilismus zu 
verwirren als zu klären; ebenso dasjenige von Menelaus und Helena. Zu 
beiden vgl. Pappenheim, Erltrg. a. a.0. S. 87 — 90. 

147) Sextus, adv. Math. VII, 167 — 175. 

148) Sextus, adv. Math. VII, 412 ff.; besonders 413, wo es von 
der Farbe und ihrem Wechsel unter bestimmten Umständen heißt: diaze 
td fikv oSxcog aiid nouclXleo^ai yivcooxeiv ^/näg, xd dk xl iazi rd xax* 
AXri^euxv äyvoeiv. 

149) Kritik der reinen Vernunft (Erdmannsche Ausgabe) S. 222. 

150) Sextus, P. I, 230. 

151) Sextus, P. I, 226: äya'9dv ydq xl <paoiv dvai ol '.^adij/Ciat- 
xol xal xax6v, o^x ^^ ^ß^^» äXXd /nexd xov neneuj^ai, Sxi 7u&av6v 
icxi fiälXov S liyovoiv dvai äya&dv indgxeiv ij xd Ivavxlov. Daß 
diese Anschauung von andern, antiken und modernen Darstellern als 
nicht authentisch bestritten wurde, ist Anm. 218 zum i. Kap. bereits 
hervorgehoben. 

152) Sextus, adv. Math. VII, 184 — 189. 

153) vgl. S. 24. 

154) Sextus, P. I, 25 — 30; III, 225—239; adv. Math. XI, iio 
bis 166; Diog. IX, 108. 

155) Sextus, P. I, 10. 

156) Sextus, adv. Math. XI, 159/60. 

157) vgl Anm. 75 zum i. Kap. 

158) Sextus, P. I, 12. 

159) Sextus, P. I, 25. 

160) Sextus, P. I, 12. 

161) Sextus, P. I, 29. 



Richter, Skeptizismtis. 23 



354 Anmerinmgen zum dritten Kapitel. 



Anmerkungen zum dritten Kapitel. 

i) Von diesen Kombinationen spielt die dritte: der Widerstreit 
zwischen Sinnlichem und Begriflflichem, so gut wie keine Rolle bei den 
Skeptikern. Übrigens kann streng genommen immer nur ein Widerstreit 
der zweiten Art, zwischen Begrifflichem und Begrifflichem statthaben; 
denn allein an Aussagen haftet, wie wir später sehen werden, das 
Wahrheits- oder Falschheitsgefühl, und nur zwischen Aussagen ist ein 
logischer Widerstreit möglich. Sinneswahmehmungen als solche führen 
ihn nie herbei; wohl aber können Aussagen über ala^rjxd mit gleich* 
artigen oder mit solchen über voi/rd, imd diese untereinander dis* 
harmonieren. 

2) Ein Beispiel für viele: selbst der kritische Kaut, dem aber eine 
Pfeife Tabak des Morgens Bedürfnis war, beweist (Werke, Hartenstein 
2. Aufl. Bd. VII, S. 473) den Nutzen des Rauchens. Wie wäre die Stelle 
wohl ausgefallen, wenn Kant das Rauchen persönlich ebenso unsym*^ 
pathisch wie das Biertrinken gewesen wäre? 

3) Ob auch im Dienste des Glücks, des Nutzens für den Einzelnen 
und die Gesamtheit, des Staatswohls und der Gesundheit einer Rasse 
der unkritische Dogmatismus von Nachteil und das unbedingte Streben 
nach Wahrheit von Vorteil sei, kann füglich bezweifelt werden. 

4) Bacon, novimi organmn II, 12. 

5) Kimo Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. X. 

6) Hegel, Werke, Bd. XIII (Berlin 1833), S. 50/51. 

7) Sextus, P. I, 32 ff. 

8) oben S. 46. 

9) Feinere Unterschiede, wie: daß bei Kant in den ersten beiden 
Antinomien Thesen und Antithesen falsch sind, weil den Dingen an 
sich räumlich -zeitliche Eigenschaften dogmatisch abgesprochen werden, 
können erst bei Darlegung des Kantischen Skeptizismus abgehandelt werden. 

10) Siehe oben S. 47 — 57. 

11) Was von der Skepsis auch getan wurde; denn in ihrer Polemik 
gegen das vernünftige Denken wird gleichfalls die Frage als unentscheid- 
bar angeworfen: welches Subjekt Richter über die Wahrheit sein solle. 
Vgl. oben S. 72. 

12) Schon de Lamettrie betonte in seinem Buche: Thomme machine 
die enge Verwandtschaft zwischen Mensch imd Tier mit aller Energie. 

13) oben S. 51/52. 

14) Sextus, P. I, 103 (übers, nach Pappenheim). 

15) Diejenigen Kranken, welche Einsicht in ihre Krankheit haben und 
schon während des halluzinatorischen Zustandes nicht mehr an den ab- 
soluten Wirklichkeitswert ihrer Wahrnehmungen glauben, weil sie durch das 



Anmerkungen zum dritten Kapitel. 355 

Denken den Schein nicht zum Irrtum werden lassen, bieten kein erkenntnis- 
theoretisches Problem aus der Pathologie dar; ihre Halluzinationen haben 
erkenntnistheoretisch so viel oder so wenig zu bedeuten wie die söge« 
Bannten Sinnestäuschungen, deren sich auch der Gesunde nicht erwehren, 
die er aber wohl durch das Urteil korrigieren, imd als „Täuschungen" 
aufdecken kann. 

i6) Störring, Vorlesungen über Psychopathologie, Leipzig 1900, S. 93. 

17) Nicht aber macht etwa der Delirant die Erfahrung eines 
objektiven Geschehnisses, die unwiderlegbar wäre. Dieses verbürgen die 
Sinne als solche niemals, sondern erst die logisch gedeuteten Sinneswahr- 
nehmungen. Die Kriterien für diese Ausdeutung sind: Lebhaftigkeit imd 
kausaler Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungen. In den meisten 
Fällen genügt das eine oder das andere. In gewissen Krankheitszeiten 
aber versagt manchmal das erste Kriterium, und wer sich auf die 
Lebhaftigkeit allein verläßt, gelangt zu falschen Urteilen über den Inhalt 
der Sinneswahmehmung. Daß Wirklichkeit und Objektivität sowohl im 
realistischen wie idealistischen Sinn hier noch beliebig gefaßt werden 
kann, versteht sich von selbst 

18) Die Ausdrücke Ding, Gegenstand, Objekt werden zimächst 
in der weitestmöglichen Bedeutung, immer aber auf die sinnlidie 
Wahmehmungsphäre beschränkt, gebraucht; sie bezeichnen also nicht 
nur bewußtseinunabhängige Daseinsarten, sondern umfassen gleichmäßig 
die Dingb^riffe der Realisten und Idealisten. Das gleiche gilt von den 
Worten wirklich-nichtwirklich, objektiv-subjektiv. Um Bewußt- 
seinunabhängigkeit oder -abhängigkdt auszudrücken, stehen im folgenden 
immer Realität, Idealität und deren Derivate. Der Ausdruck Dinge 
an sich wird gleichbedeutend mit realen Dingen gebraucht, nicht etwa 
mit jenseits von Raum und Zeit lagernden Wesenheiten, die Kant als 
^nzige Realitäten (nach unserer Terminologie) anerkannte. 

19) Doch sollte man auf diesem schwankenden Boden lieber keine 
philosophische Terminologie gründen. Von naivem, kritischem, reflek- 
tierendem Realismus zu sprechen ist bedenklich, weil nicht eindeutig. 
I. £s müssen erkenntnistheoretische Positionen auch ihren Titel von dem 
logischen Standpunkt hernehmen, den sie vertreten. Dieser besteht im 
vorliegenden Fall darin, ob man sich für den extremen oder gemäßigten 
Realitäts-, den extremen oder gemäßigten Idealitätswert der Sinnes- 
wahmehmungen entscheidet Hier gibt es nur ein Entweder-Oder, 
und wenn die Begriffe Realität, Idealität festlegt sind, ist ein Mißver- 
ständnis ausgeschlossen. 2. Die Ausdrücke naiver, kritischer Realismus usw. 
fußen dagegen auf einem psychologischen Befund imd weisen dem 
naiven, reflektierenden, kritischen Bewußtsein gewisse Standpunkte zu. 
Aber abgesehen davon, daß naiv, reflektierend, kritisch selbst psycho- 
logisch doch ganz fließende Vorstellungen sind, ist durch diese Bestim- 



35^ Anmerkongeii zum dritten Kapitel 

mungen noch gar nicht angemacht, welchen Stand in der Gültigkdts&age 
nun die jeweilige Bewußtseinslage eigentlich einnehme. 3. Dazu kommt, 
daß diese schon an sich schwer festzulegenden psychologisdien Be- 
griffe noch durch Wertfärbungen getrübt und beeinträchtigt zu werden 
pflegen, die von den verschiedenen Denkergruppen wieder ganz ver- 
schieden verteilt werden. Ein Teil möchte gern „naiv", ein anderer 
„kritisch" sein, und jeder sieht bereits in der Naivität oder der Kritik 
eines Standpunktes eine Büigschaft für dessen Wahrheit Wo solche 
Motive mitwirken, ist stets die sachliche Verwirrung der Erfolg. 4. So 
sehen wir in der Tat die entgegengesetzten Positionen als naive und 
kritische getadelt und gelobt werden. Der extreme Idealismus z. B. 
rühmt in seinen Schöpfern und deren Nachfolgern die ihm eigene Naivität 
(Berkeley, Immanenzphilosophen), wird aber von andern (Wundt) als ganz 
hyperreflektiert gekennzeichnet Der Idealrealismus der Naturwissen- 
schaft nennt sich kritischer Realismus, und glaubt durch Kritik zu ganz 
anderen Ergebnissen gelangen zu müssen als der kritische Idealismus 
Kants. — Man sieht, eine solche Terminologie schafft nicht Klärung 
und Einigkeit, sondern nur heftigste Fehde, und von vornherein hier 
Partei zu ergreifen, würde eine terminologische petitio principii 
bedeuten, die für die Philosophie, wie man weiß, schon mehr als einmal 
verhängnisvoll geworden ist Welche Anschauung über Realitäts- imd 
Idealitätswert der Wahrnehmungen dem naiven, welche dem kritischen 
Bewußtsein entspricht, ist kein Ausgangspunkt, sondern ein Problem, an 
dessen Lösung Erkenntnistheoretiker und Psychologen mit vereinten Kräften 
zu arbeiten haben. Ehe dasselbe nicht gelöst ist, darf auch die philo- 
sophische Sprache sich dieser Ausdrücke nicht als eindeutig gegebener bedienen. 

20) Nicht der Standpunkt des völlig Unbefangenen, dem Vor- 
stellung und Gegenstand in Eins zusammenfallen, wie Wundt (Ober kri- 
tischen und naiven Realismus, philos. Studien, Bd. XI) mit Recht be- 
merkt Aber der Durchschnittsmensdi unserer Kultur ist nicht mehr 
unbefangen — eine wahre Berkeleysche These. 

21) Der Gedanke: die Variabilität der Gefühle für die Unerkenn- 
barkeit der Objektseigenschaften auszunutzen, tritt in den Tropen oftmals 
auf; besonders deutlich in Tropus I (P. I, 55 0".), in Tropus II (Soffl), 
Tropus III (92 ff.), Tropus IV (100, 108, iii), Tropus VII (133). 

22) Vgl. oben S. 55. 

23) Daß dies cum grano salis zu verstehen ist, d. h. mit Anwen- 
dung des Begriffs Gegenstand nur auf räumliche Objekte, nicht auf unab- 
hängig vom Bewußtsein existierende, zeigt S. 199. 

24) Dies ist in der Tat ein Einwand Berkeleys, der damit zwar 
nicht bezweckte, Gefühle zu realisieren, sondern die wahrgenommenen 
Objekte zu idealisieren; aber seine Beweisart könnte ebensogut dem 
einen wie dem andern dienen. Wenn bei Berührung eines heißen Gegen- 



AnmerkuDgen zxun dritten KapiteL 357 

Standes — so schloß er — Schmerzgefühl und Hitzeempfindung entsteht, 
finden wir dann zwei verschiedene Vorstellungen oder einen einheitlichen 
Bewu£tseinszustand vor? Wenn wir, wie es der Fall ist, einen ein- 
heitlichen Zustand dabei haben, wie dürfen wir dann das eine Element 
(Hitze) als real vom andern (dem Schmerzgefühl) als ideal abtrennen? 
Berkeley meint, beiden müsse also ein gleicher Gültigkeitswert zukommen. 
(Berkeley, Drei Dialoge, übers, von R. Richter, Leipzig 1900, S. i8flf.) 

25) In Wahrheit laufen beide Auffassungen von der Objektivität 
der Gefühle bei der antiken Skepsis durcheinander. Daß die Gefühle, als 
solche, Eigenschaften der Dinge seien, tritt in Äußerungen zutage, wie 
P. I, 92/93, wo es vom Honig heißt, es sei unmöglich zu sagen, 7t6t€QOV 
^dv iaziv elXiHQivcbg ij ätjdig. Die Eigenschaft der bloßen Gefühls- 
erregung wird den Dingen zugesprochen, wenn P. I, 144 schließt, daß 
man nicht wissen könne, ob das Meer, der Komet, das Erdbeben usw. 
tpdojg IxnXrjxrixal seien. — Übrigens finden sich auch bei Sextus 
Ansätze, die Gefühle auf die Empfindungen zu reduzieren; am 
bemerkenswertesten P. I, 58: ei rä a^ä xoig [xh iaxi ärjdfj, xok ii 
fjdia, t6 dh fidh xal ätjdkg iv (pavxaalq xeirai, didq>OQOi yfyvovrai 
T0& C(&oig äjid t6}v inoxei/uLivcov q>avTaol<u (vgL P. I, 80). ^Hier 
scheinen Lust und Unlust als bloße Wirkungen der Empfindungen 
aufs Subjekt gefaßt und nur auf qualitative Unterschiede in den Em- 
pfindungen zurückgeführt zu sein; aber der vage Ausdruck x6 ^dv xal 
ätjdig h (pavxaoiq. xeixcu läßt es noch ganz offen, ob die Gefühle bloß 
subjektive Reaktionen auf die Eigentümlichkeit der Empfindungsqualitäten, 
oder ob sie direkte Bestandteile der von den Dingen an sich bewirkten 
Sinneswahmehmungen selber sind, zu den Dingen an sich also in indirekter 
oder direkter Beziehung stehen. Übrigens fällt beim 9. Tropus jeder 
Versuch, die Gefühlsdifierenzen auf Empfindungsunterschiede zurück- 
zuführen, hinweg. 

26) vgl. oben S. 55. 

27) Siehe oben S. 49. Es beherrscht auch dieser uns heute so 
fem liegende Standpunkt, zu dessen Berücksichtigung im Text nur dies 
eine Beispiel gewählt wurde, die ganze Reihe der Tropen. P. I, 55flfl 
heißt es: das öl nützt den Menschen, Wespen und Bienen tötet es; 
Holzmaden bewirken bei den Menschen Übelkeiten und Leibschneiden; der 
Bär aber stärkt sich, indem er diese hinunterleckt (übers, nach Pappenheim). 
Besonders ergiebig werden die physiologisch -biologischen Wirkungen in 
ihrer Variabilität und für die daraus gefolgerte Unerkennbarkeit heran- 
gezogen: P. I, 131 — 133 (auch P. I, 93). Dabei herrscht ein völliges 
Durcheinander der gefühlsmäßigen, willensmäßigen, physiologisch wert- 
mäßigen Eigenschaften der Dinge: xal xoiv(bg SiXoig fjdia , äXXoig iarlv 
äfjdrj xal ipevxxä xal &avdoi/ia (56); ähnlich Diog. IX, 79: hier 
wird die diatpogä %a>v l^dxov ngdg ijdovijv xal äXyi^deiav xui 



35^ Anmerkungen zum dritten Kapitel. 

ßldßfjv xal &q)iXifAov an die Spitze des ersten Tropus gesetzt und 
dann folgt erst die Differenz der Sinnesempfindungen. Für diese Ver- 
mengung der Gesichtspunkte sind die Beispiele bei Diog. a. a. O. sehr 
lehrreich; so wenn er in der Antithese eßbar -nichteßbar sowohl den 
angenehmen und unangenehmen Geschmack (Gefühl), wie das Süße und 
Bittere (Empfindung), das Bekömmliche und Nichtbekömmliche (physiolog. 
Folge) begreift 

28) Daß ein gemäßigter Realist wie Locke, dem das Objekt nur 
aus mathematisch -physikalischen Eigenschaften besteht, den erwähnten 
Elementen nicht objektive Gültigkeit zugesteht, ist selbstverständlich. 
Dagegen könnte es auf den ersten Blick fraglich erscheinen, ob die 
erkenntnistheoretischen Idealisten, wie Berkeley und Kant, die ihre 
Objekte doch ganz aus subjektiven Elementen aufbauen, nicht auch 
Gefühle auf sie übertragen hätten. Aber dem ist nicht so. Für Kant 
ist das Objekt der räumlich -zeitlich imd kategorial bearbeitete Empfin- 
dungskomplex, die Gefühle aber sind die rein subjektive Innenseite an 
den Empfindungen. Berkeley beschreibt die sinnlichen wirklichen Dinge 
immer nur als Komplexe von Empfindungen, imd stellt ihnen das wollende 
Ich als Träger dieses Bewußtseinsinhalts gegenüber. Die Gefühle sind dann 
nur die Wirkung des sinnlichen Inhalts auf diesen Träger. Vgl Kritik 
der r. V. Originalpag. S. 44/45, wo sehr deutlich alle zum Objekt ge- 
hörigen Bestandteile aufgezählt werden; und Berkeley, Principles of himoan 
knowledge Sektion I — III. Daß all diese Männer endlich die Beziehimgen 
der Objekte zueinander und zum Willen des Subjekts (Werte) nicht 
objektivierten, versteht sich von selbst 

29) Diese beiden Punkte können durch das auf S. I2 7ff. über sie 
gesagte als erledigt gelten. 

30) Sextus, P. I, 19. Das Dasein der Dinge an sich wird hier 
einmal ausdrücklich zugegeben; andre ebenso deutliche Stellen wird man 
in der antikskeptischen Literatur schwerlich finden. Hätten die Skeptiker 
sich öfters dazu geäußert, so wären sie sich dieser These als einer Vor- 
aussetzung bewußt geworden und hätten sie kritisch gestützt oder überwunden. 

31) Oben S. 51.. Immerhin hat sich die Skepsis in dieser Annahme 
einer quantitativen Differenz von Objekts- und Empfindungseigenschaften 
am weitesten von ihren eigentlichen extrem -realistischen Voraussetzimgen 
entfernt; die Brücke zu andern Anschauimgen hätte sich von hier aus 
am leichtesten schlagen lassen. Solche vorgeschritteneren Ansätze, welche 
die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des extremen Realismus durch- 
brechen oder wenigstens bezweifeln möchten, finden sich noch: Sextus, 
P. I, 182, wo die Bemerkung Aenesidems zitiert wird, der Schluß von 
der Erscheinung auf das Ding an sich sei als ein voreiliger zu vermeiden, 
mit der Begründung: rdxo. fxkv öjuolcog roTg (paivofxivoiQ twv ätpavwv 
imrelov/Lthcoy, rdxo, d' oi>x öjuolcog äU' idiaCdvtcog; besonders auch 



Anmerkmigen zum dritten Kapitel. 359 

die Partien P. II, 72 — 76, wo die Ähnlichkeit zwischen den Em- 
pfindungen und den Dingen als fraglich hingestellt wird; femer P. I, 13; 
P. II, 49. Vgl. R. Richter, Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen 
des griechischen Skeptizismus, Wundts philosophische Studien, Bd. XX, 
S. 269!)™^ 2), S. 297 1). 

32) Vgl Sextus, P. I, 19. 

33) Doch neigt sie im ganzen der stoisch •materialistischen Auf- 
fassung hier zu, und die Vorstellung der xvtkooiq liegt eigentlich latent 
allen Aenesidemschen Tropen zugrunde; ausdrücklich ausgesprochen 
P. I, 44 (zurückgenommen P. II, 70). Ebenso zeigen die zahlreichen 
materialistischen Vergleiche über die Einwirkung der Dinge auf das 
Bewußtsein (P. I, 53 — 54) die Seite an, auf die die Skepsis sich neigte. 
Man vergleiche auch den 6. Tropus bei Sextus. 

34) Daß wir die übliche Definition der Wahrheit als „Oberein- 
stimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand" aus doppelten Motiven 
ablehnen, versteht sich von selbst. Denn einmal haftet das Evidenzgefühl 
nur an Aussagen, nicht an Vorstellungen; femer ist die Annahme von 
dem Verhältnis zwischen Vorstellungen imd Gegenständen, das dieser 
Definition zugrunde liegt, entweder eine petitio principii, oder ein ent- 
ferntes Resultat der Anwendung von Wahrheitskriterien und noch dazu 
ein von allen Idealisten angefochtenes — Eigentümlichkeiten, die gerade 
für eine Definition der Wahrheit vernichtend sind. 

35) Dies erkannte nach dem Vorgang des Aristoteles schon die 
antike Skepsis an, vgl. Sextus, P. I, 19/20 und die (Anmkg. 191 zum 
I. Kapitel) angezogene These des Arkesilaus. 

36) Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb nicht ohne Schwierig- 
keit, weil auch zwischen den einzelnen Erkenntnistheoretikem gleicher 
Partei stets Unterschiede walten. Man dürfte schwerlich zwei Männer 
finden, die hier in den Ergebnissen und den Beweisen völlig überein- 
stimmten. Unsre smnmarische Darlegung bemüht sich, indem sie das 
systematisch Wichtige betont, vor allem dem gemäßigten Realismus, 
wenn auch nicht dessen einzelnen Vertretern, Gerechtigkeit widerfahren 
zu lassen. Das Gleiche gilt von der S. 178 ff. gebotenen Darlegimg des 
Idealismus. 

37) Dieser Ausgangspunkt wird von den älteren Erkenntnistheore- 
tikem überhaupt nicht genau bestimmt; sie beginnen mit der Analyse 
eines komplizierten Tatbestandes, ohne denselben als bewußten Ausgangs- 
punkt hinzustellen und näher zu beschreiben. Der modeme Positivismus 
mit seiner Fordemng: vom erfahrungsmäßig rein Gegebenen auszugehen, 
hat hier klärend gewirkt Im übrigen wird nun dieser Ausgangspunkt 
von den modernen Vertretem des gemäßigten Realismus wieder gan? 
verschieden gewählt, v. Hartmann und Volkelt nehmen als Ausgangs- 
punkt den Standort des extremen Idealismus imd gewinnen durch Be- 



360 Anmerkiingen zum dritten Kapitel. 

richtigung desselben denjenigen des gemäßigten Realismus. Wundt geht 
vom extrem -realistischen Standpunkt des naiven Bewußtseins aus, und 
gelangt durch Kritik desselben zum gemäßigten Realismus. Sein Vorbild 
hat im ganzen auch den Gang obiger Untersuchung bestimmt; es scheint 
angemessener, die Gruppen der realistischen imd idealistischen Systeme, 
jede in sich geschlossen und sich aus sich selbst entwickelnd, vor- 
zutragen, als beide durcheinander zu behandeln und auseinander ab- 
zuleiten (vgl. £. V. Hartmann, Kritische Grundl^^ng des transzendentalen 
Realismus, Leipzig, 3. Aufl., S. 5; Volkelt, Immanuel Kants Erkenntnis- 
theorie, Leipzig 1872, S. i ff.; Wundt, Über naiven und kritischen 
RealL<%mus, a. a. O.: Bd. XI, S. 326. 

38) Noch einmal sei daran erinnert: daß real immer unabhängig 
von einem Bewußtsein bestehend bedeutet 

39) Aus der Fülle solcher Erwägungen sind nur die sachlich be- 
deutendsten herausgenommen und solche, die die Wahrheit der rea- 
listischen Thesen beweisen wollen. Denn noch handelt es sich erst 
um logisch mögliche Auswege aus dem extrem -realistischen Skeptizismus. 
Tritt ein skeptischer Standpunkt auf, der nicht, wie der antike, noch 
jenseits von gemäßigtem Realismus und extremem Idealismus steht, sondern 
der die Unmöglichkeit auch dieser beiden Standpunkte kritisiert (was in 
Humes Skepsis der Fall sein wird), so werden Idealismus wie Realismus 
vertiefter, aber vorsichtiger vorzugehen haben, nämlich als Positionen, 
deren jede die logische Möglichkeit der andern zugibt, keine sich 
als die allein wahre aufspielt, sich auch nicht für beweisbar erklärt, 
imd die eben dadurch gemeinsam den Skeptizismus überwinden, daß sie 
an der Möglichkeit von Erkenntnis auf beiden Seiten festhalten , allein die 
absolute Gewißheit von der Wahrheit der einen oder der andern Ge- 
samtanschauungsweise für grundsätzlich unerreichbar halten. Vgl. Dürr, 
Über die Grenzen der Gewißheit, Leipzig. 1903. 

40) Ein Schluß Lockes: Essai, IV, Kap. 4» §4. 

41) vgl. V. Hartmann, a. a,0.: S. 58/59. 

42) Das Zugeständnis von der Existenz andrer Geister ist dabei 
allerdings Voraussetzung; aber natürlich eine von dem gemäßigten Rea- 
listen angenommene: auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung andrer Leiber 
tmd der durch Analogieschluß erreichten Annahme zugehöriger Geister. 

43) Das eigentliche Problem in der Lehre von den spezifischen 
Sinnesenergien wird hierdurch gar nicht berührt Denn das im Text 
Angeführte ist nicht problematisch, sondern Tatsache. Die augenblicklich 
die Wissenschaft bewegende Frage in dieser Lehre dreht sich um den 
Grad von Bedeutung, den die Art der Reize in normalen Fällen für die 
Auslösung der Nerventätigkeit beanspruchen kann. 

44) Die Skepsis behauptete in dem Beispiel von dem für das Auge 
dreidimensional, fOr das Getast flächenhaft erscheinenden Gemälde 



Anmerkttageo zum dritten Kapitd. 3^1 

(oben S. 50) das G^enteil, nämlich: daß dasselbe Ding von den ver- 
schiedenen raumvermittelnden Sinnen auch verschieden wahrgenommen 
würde. Aber hier handelt es sich nur um eine partielle Sinnestäuschimg 
des optischen Wahmehmungsteiles bei der Raumauffassimg, deren Ur- 
sache als rein subjektiven Urspnmgs nachzuweisen ist und nun keine 
Gegeninstanz mehr gegen die Erkenntnis der Fl&chenhaftigkeit des 
Gemäldes bilden kann. Tast- und Gesichtsinn ergänzen einander, und 
wo sie verschiedene Wahrnehmungen erzeugen, führen diese niemals zu 
logischen Widersprüchen über die Beschaffenheit des gleichen realen 
Objekts. Daß aber Widersprüche zwischen den Wahrnehmungen als 
solchen überhaupt nicht möglich sind, sondern nur allenfalls auf Grund 
von Wahrnehmungen in der Form von Urteilen gefolgert werden können, 
ist im Text wiederholt betont worden. 

45) Locke, a. a. O.: 11, Kap. VIII, § 20. 

46) Um die Analogie vollständig zu machen, müßte das Phänomen 
hinzugefügt werden: daß Wasser die Temperatur zu wechseln scheint, je 
nach der Temperatur des Mediums, das meine Hand, welche die 
Wasserteroperatur empfinden soll, dabei zu passieren hat 

47) Auch bei den gewöhnlichen Wahrnehmungen sind solche 
„Täuschungen*' fiast stets vorhanden und werden nur als zu unbedeutend 
meist übersehen. Die exakten Methoden des Messens und Wagens 
schaffen die geeigneten Bedingungen zur Ausschaltung von real ungültigen 
Momenten in der Raumwahmehmung. 

48) Hier können die durch andre Lebewesen und andre mensch- 
liche Subjekte gesetzten Bedingtmgen für die Wahrnehmung nach dem 
S. 128 ff. Gesagten wohl als erledigt angesehen werden. Denn die aus 
diesen Bedingungen gefolgerte Verschiedenheit der Wahrnehmungen über 
das gleiche Ding, am gleichen Ort, zur gleichen Zeit besteht für die 
Empfindungsqualitäten zwar in relativ großem Umfang, karm aber für 
die Unerkennbarkeit objektiv -realer Eigenschaften nicht mehr ins Feld 
geführt werden; für die primären Qualitäten läßt sie sich in den seltenen 
Fällen, wo sie besteht, restlos auf subjektive, im besonderen Fall waltende 
Ursachen (Blindheit, Astigmatismus, Kurzsichtigkeit, Femsichtigkeit) zu- 
rückführen, welche, als solche aufgedeckt, die Erkenntnis des realen Ob- 
jekts nicht mehr kreuzen; oft genug kann sie nicht nur logisch, sondern 
auch sensuell — durch die gattungsmäßige Raumanschauung selbst, d. h. 
durch Beobachtung des Objekts unter andern Umständen — aus der 
Beurteilung der Realität eliminiert werden. Erst durch die Aufzeigung 
der Gesetze unsres Wahrheitsbewußtseins im Gebiete der 
Sinneswahrnehmungen, nach denen die aus logischen Er- 
wägungen auf Grund der Sinnesdata gefällten Urteile über die 
wahrgenommenen Dinge, und nicht die Wahrnehmungen selbst 
Wahrheit beanspruchen, wird die S. I28ff, behauptete Analogie 



362 Anmerkungen zum dritten Kapitel. 

in den Äußerungen der sinnlichen Erkenntnis der einzelnen Lebe- 
wesen verständlich. Inwieweit aber diese Äußerungen zu Schlüssen 
über die Existenz gleicher Erkenntnisse und eines gleichen Wahrheits- 
bewußtseins bei den andern Wesen befähigen, wurde an obiger Stelle 
ausführlich dargetan. 

49) Doch sind diese Namen zur Bezeichnung einer erkenntnis- 
theoretischen Grundrichtung höchst unglücklich gewählt. Was nennt sich 
z.B. nicht alles Positivismus, und kann sich mit Recht im Einklang 
mit der vagen Bedeutung dieses Terminus so nennen! Etwas eindeutiger 
scheint der Ausdruck Immanenzphilosophie; aber auch hier wird (ähnlich 
wie beim Positivismus) schon in den Titel die dogmatische Anmaßung 
gelegt, daß die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz so laufe, 
wie es diese Richtung gerade annimmt. Warum die Kantische Lehre 
hier noch keine Erwähnung findet, siehe S. 209/210. 

50) Es sei noch einmal daran erinnert, daß hier nicht die An- 
schauung eines einzelnen Idealisten geschildert wird, sondern die syste- 
matische Ansicht des Idealismus; sonst hätte so wenig wie beim Rea- 
lismus ein bestimmter Ausgangspunkt angenommen werden dürfen. 
Berkeley z. B. geht von logischen Erwägungen aus (cf. Principles, die 
ersten Sektionen, Dialoge, die ersten Seiten von Dialog I); die modernen 
Immanenzler des 19. Jhd. nehmen vorzugsweise das „naive Bewußtsein" 
zimi Ausgangspunkt. (Vgl. Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung.) 

51) Diese Operation setzt natürlich die Gültigkeit der Vemunft- 
axiome voraus, die von dem Skeptiker bestritten, im übrigen seiner 
eigenen Bekämpfung der sensualen Erkenntnis zugrunde gelegt, von uns 
aber erst bei der Kritik der rationalen Skepsis gesichert wird. (Vgl. 
S. 178 oben und S. 333 ff.) Übrigens pflegt dieser Punkt, daß der kon- 
sequente Idealist sich durchaus nicht nur auf die reine Erfahrung zu 
berufen brauche, sondern auch auf die logisch gedeutete Erfahrung 
stützen dürfe, oft übersehen zu werden. Und doch hat schon Berkeley 
in vollem Umfang „die Folgerungen aus Vemunftschlüssen von dem un- 
mittelbar Erkannten" als durchaus gleichberechtigte Instanz hingestellt 
mit dem unmittelbar G^ebenen ftlr die Beurteilung der Wirklichkeit in 
unsem erkenntnistheorelischen Ansichten. (Dialoge, a. a. O.: S. 79). Es 
benutzt also der Idealist — um mit Volkelt zu reden — sowohl das 
positivistische wie das rationalistische Erkenntnisprinzip, nur leugnet er, 
daß die Anwendung des letzteren, die auch ihn zu Annahmen über 
die unmittelbare Erfahrung hinaus führt, die Annahme realer, bewußt- 
seinunabhängiger Objekte nötig mache. (Dies gegen Volkelt, Kants 
Erkenntnistheorie, Leipzig 1879, S. 160 ff., der zwar: Erfahrung und 
Denken, Leipzig, 1886, S. 116 die Berechtigung, von der logischen Me- 
thode Gebrauch zu machen auch dem Idealisten zuspricht, aber ohne 
die Konsequenzen daraus zu ziehen. 



Anmerkungen zum dritten Kapitel. 3^3 

52) Die These mußte so allgemein formuliert werden, um die 
verschiedenen metaphysischen Anschauungen (Existenz der Dinge im 
göttlichen oder Gesamtbewußtsein) aus dem Spiel zu lassen, denen die 
meisten idealistischen Erkenntnistheoretiker verfallen. 

53) Die Ausdrücke gesetzmäßig, notwendig, allgemeingültig usw. 
stehen hier jenseits der Alternative: absolut, relativ notwendig usw. 
Es handelt sich ja nur darum, die Gleichheit in den Wahrnehmungen, 
soweit sie besteht, zu erklaren. 

54) Einige Idealisten nehmen sogar Urbilder im allgemeinen Geist 
an, die den sinnlichen Dingwahrnehmungen der Menschen sehr ähnlich 
sind. (Berkeley, Dialoge, a.a.O.: S. 112.) 

55) Noch einmal sei an unsre Terminologie erinnert, nach der die 
Worte wirklich, nichtwirklich auch für diejenigen Unterschiede gelten, 
die zwischen beiden Begriffen innerhalb des Bewußtseins bestehen; rein 
bewußtseintranszendente, rein bewußtseinimmanente Größen sind stets 
durch die Worte real, ideal bezeichnet. 

56) Trotzdem die atomistische Hypothese von den Idealisten meist 
bekämpft worden ist, halte ich hier an ihr fest, um den verschiedenen 
erkenntnistheoretischen Positionen die nämlichen naturwissenschaftlichen 
Anschauungen zur Erklärung vorzulegen. 

57) Das ist im Interesse des erkenntnistheoretischen extremen 
Idealisten hinzuzufügen, da unwillkürliche Bewußtseinszustände für 
diesen ja die objektive Wirklichkeit erschöpfen. 

58) Der Ausdruck „Reduktion" steht hier wie im folgenden nicht 
in der von manchen Logikern (Sigwart, Logik II, S. 250 fr.) angenommenen 
Bedeutung der Zurückführung eines anderweitig als wahr erkannten Satzes 
auf mögliche Prämissen; vielmehr bedeutet er hier: Zurückführung pro- 
blematischer auf unproblematische, nicht aber unproblematischer auf 
problematische Sätze. Er wurde nur gewählt, weil für die skeptische 
Logik das Beweisen der Wahrheit eines strittigen Satzes auf Grund 
andrer wahrer Sätze der Punkt ist, an dem sie einsetzt; nicht 
aber die Ableitung oder Deduktion eines problematischen Satzes aus 
unproblematischen. 

59) vgl. dazu meine Studie über die „erkenntnistheoretischen Vor- 
aussetzungen des griechischen Skeptizismus". 

60) Sextus, P. I, 163. 

61) Sextus, P. III, 179, 182, 190 u.a. 

62) Sextus, P. III, 266. 

63) Sextus, P. III, 198 ff. 

64) In den „erkenntnistheoretischen Voraussetzungen" habe ich 
nachzuweisen gesucht, daß die Skepsis hier nicht eindeutig gewesen ist. 
Was die Existenz sittlicher Werte anlangt, so wird dieselbe a) an 
manchen Stellen ausdrücklich angenommen (Sextus, P. I, 145 ff.), b) an