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Full text of "Der Ursprung der Familie des Privateigenthums und des Staats"

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BRITISH  COLUMBIA 


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University  of  Britisii  Columbia  Library 


http://www.archive.org/details/derursprungderfOOenge 


Der  Ursprung  der  Familie 


Privateigenthums 

I 

und 

des  Staats 

Im  Anschluss  an  Lewis  H.  Morgan's  Forschungen 

von 

Friedricli  Engels 


Z^weite    A-uflagre 


Stuttgart 

Verlag  von  .1.  11.  W,  Dictz 
1H8G 


Druck:  Seliweizerisehc  «enossenseliaf(sbuc'li(liiukerei,  Zürich. 


Die  nachfolgenden  Kapitel  bilden  gewissermassen 
die  Vollführung  eines  Vermächtnisses.  Es  war  kein 
Geringerer  als  Karl  Marx,  der  sich  vorbehalten  hatte, 
die  Resultate  der  Morgan'schen  Forschungen  im  Zu- 
sammenhang mit  den  Ergebnissen  seiner  —  ich  darf 
innerhalb  gewisser  Grrenzen  sagen  unserer  —  materia- 
listischen Greschichtsuntersuchung  darzustellen  und  da- 
durch erst  ihre  ganze  Bedeutung  klar  zu  machen.  Hatte 
doch  Morgan  die  von  Marx  vor  vierzig  Jahren  ent- 
deckte, materialistische  Greschichtsauffassung  in  Amerika 
in  seiner  Art  neu  entdeckt,  und  war  von  ihr,  bei  Ver- 
gleichung  der  Barbarei  und  der  Civilisation,  in  den 
Hauptpunkten  zu  denselben  Resultaten  geführt  worden, 
wie  Marx.  Und  wie  „das  Kapital"  von  den  zünftigen 
Oekonomen  in  Deutschland  Jahre  lang  ebenso  eifrig 
ausgeschrieben  wie  hartnäckig  todtgeschwiegen  wurde, 
ganz  so  wurde  Morgan's  „ Ancient  Society"  *)  behandelt 
von    den    Wortführern    der    „prähistorischen"    Wissen- 


*)  Ancient  Society,  or  Researches  in  the  Lines  of  Human  Pro- 
gress  from  Savagery,  through  Barbarism,  to  Civilization.  By  Lewis 
H.  Morgan.  Loadon,  Macmillan  &  Co.,  1877.  Das  Buch  ist  in 
Amerika  gedruckt  und  in  London  merkwürdig  schwer  zu  haben. 
Der  Verfasser  ist  vor  einigen  Jahren  gestorben. 


—    IV    — 

Schaft  in  England.  Meine  Arbeit  kann  nur  einen  ge- 
ringen Ersatz  bieten  für  das,  was  meinem  verstorbenen 
Freunde  zu  tbun  nicht  mehr  vergönnt  war.  Doch  liegen 
mir  in  seinen  ausführlichen  Auszügen  aus  Morgan  kri- 
tische Anmerkungen  vor,  die  ich  hier  wiedergebe,  so 
weit  es  irgend  angeht. 


Nach  der  materialistischen  Greschichtsauffassung  ist 
das  bestimmende  Moment  in  der  Greschichte:  die  Pro- 
duktion und  Reproduktion  des  unmittelbaren  Lebens. 
Diese  ist  aber  selbst  wieder  doppelter  Art.  Einerseits 
die  Erzeugung  von  Lebensmitteln,  von  G-egenständen 
der  Nahrung,  Kleidung,  Wohnung  und  den  dazu  erfor- 
derlichen Werkzeugen ;  andrerseits  die  Erzeugung  von 
Menschen  selbst,  die  Fortpflanzung  der  G-attung.  Die 
gesellschaftlichen  Einrichtungen,  unter  denen  die  Men- 
schen einer  bestimmten  GTeschichtsepoche  und  eines 
bestimmten  Landes  leben,  werden  bedingt  durch  beide 
Arten  der  Produktion :  durch  die  Entwicklungsstufe 
einerseits  der  Arbeit,  andrerseits  der  Familie.  Je 
weniger  die  Arbeit  noch  entwickelt  ist,  je  beschränkter 
die  Menge  ihrer  Erzeugnisse,  also  auch  der  Reichthum 
der  Gresellschaft,  desto  überwiegender  erscheint  die  G-e- 
sellschaftsordnung  beherrscht  durch  Geschiechtsbande. 
Unter  dieser,  auf  G-eschlechtsbande  begründeten  Q-lie- 
derung  der  Gesellschaft  entwickelt  sich  indess  die 
Produktivität  der  Arbeit  mehr  und  mehr ;  mit  ihr  Privat- 


—    V    — 

eigenthum  und  Austausch,  Unterschiede  des  ßeichthums, 
Verwerthbaxkeit  fremder  Arbeitskraft  und  damit  die 
G-rundlage  von  Klassengegensätzen :  neue  soziale  Ele- 
mente, die  im  Lauf  von  Grenerationen  sich  abmühen, 
die  alte  Gresellschaftsverfassung  den  neuen  Zuständen 
anzupassen,  bis  endKch  die  Unvereinbarkeit  Beider  eine 
vollständige  Umwälzung  herbeiführt.  Die  alte,  auf 
G-eschlechtsverbänden  beruhende  G-esellschaft  wird  ge- 
sprengt im  Zusammenstoss  der  neu  entwickelten  ge- 
sellschaftlichen Klassen ;  an  ihre  Stelle  tritt  eine  neue 
G-esellschaft,  zusammengefasst  im  Staat,  dessen  Unter- 
einheiten nicht  mehr  Greschlechtsverbände ,  sondern 
Ortsverbände  sind,  eine  G-esellschaft,  in  der  die  Familien- 
ordnung ganz  von  der  Eigenthumsordnung  beherrscht 
wird  und  in  der  sich  nun  jene  Klassengegensätze 
und  Klassenkämpfe  frei  entfalten,  aus  denen  der  In- 
halt aller  bisherigen  geschriebenen  Geschichte 
besteht. 

Es  ist  das  grosse  Verdienst  Morgan's,  diese  vor- 
geschichtliche Grundlage  unserer  geschriebenen  Ge- 
schichte in  ihren  Hauptzügen  entdeckt  und  wieder- 
hergestellt, und  in  den  Geschlechtsverbänden  der  nord- 
amerikanischen Indianer  den  Schlüssel  gefunden  zu 
haben,  der  uns  die  wichtigsten,  bisher  unlösbaren  Eäth- 
sel  der  ältesten  griechischen,  römischen  und  deutschen 
Geschichte  erscbliesst.  Es  ist  aber  seine  Schrift  kein 
Eintagswerk.  An  die  vierzig  Jahre  hat  er  mit  seinem 
Stoif   gerungen ,    bis    er    ihn    vollständig    beherrschte. 


i 


—    VI    — 

Darum    aber    ist    auch    sein    Buch    eins    der    wenigen 
epochemachenden  Werke  unserer  Zeit. 

In  der  nachfolgenden  Darstellung  wird  der  Leser 
im  Granzen  und  Grossen  leicht  unterscheiden,  was  von 
Morgan  herrührt  imd  was  ich  hinzugesetzt.  In  den 
geschichtlichen  Abschnitten  über  G-riechenland  und  Hom 
habe  ich  mich  nicht  auf  Morgan's  Belege  beschränkt, 
sondern  hinzugefügt,  was  mir  zu  G-ebote  stand.  Die 
Abschnitte  über  Gelten  und  Deutsche  gehören  wesent- 
lich mir  an  ;  Morgan  verfügte  hier  fast  nur  über  Quellen 
zweiter  Hand  und  für  die  deutschen  Zustände  —  ausser 
Taoitus  —  nur  über  die  schlechten  liberalen  Verfäl- 
schungen des  Herrn  Preeman.  Die  ökonomischen  Aus- 
führungen, die  bei  Morgan  für  seinen  Zweck  hinreichend, 
für  den  meinigen  aber  durchaus  ungenügend,  sind  alle 
von  mir  neu  bearbeitet.  Und  endlich  bin  ich  selbst- 
redend verantwortlich  für  alle  Schlussfolgerungen,  so- 
weit nicht  Morgan  ausdrücklich  citirt  wird. 


I.  VorgescMclitüclie  Kultarstufeii. 

xr  -^t    ^^r    ^r>te     der  mit  Sachkenntniss  eine 

Civi  at.orbesclämgo^  i'n  selbstredend  nu.^e  «st  n 
Stcrdr  m  ,e       drsSben'errtgeneB  Fon.cb.i«.a 

geht  daneben/bxetet  aber  kerne  so  schlagenden  Merk- 
male zur  Trennung  der  Perioden. 

1.  WilcÜieit. 

1    Unterstufe:  Kindheit  des  Menschengeschlechts, 
1.   ^.'^^f"^^';.,  auf  Bäumen  lebend,  wodurch 

das  wenigstens  tneiiweise  '^'^  ^  p^„hrhieren 

allem  sein  Fortbestehn  gegenüber  g^'-^^^;;^.^^^^;^ 


Nüsse,  Wurzeln  dienten  zur  Nahrung- •  die  A„<,l.,-i^„ 
artikulirter  Sprache  ist  Hauptergebnis' dfeefzÄf 
aUen  Völkern,  d,e  innerhalb  der  geschichtlichen  Periode 
bekannt    geworden  sind,    gehörte   kein   einziges  meto 
diesem  Urzustand  an.     So  lange  Jahrtausendf  er  auch 
gedauert    haben    mag     so    wenig  können  wir  iin  "m 
direkten  Zeugnissen  beweisen-    aber   d.V   iK.+ 
des  Menschen'  aus    dem  Th.erktwtaf/ugT,^^^^ 
"1  t-"-^/--«  üebergangs  ununagäS"' 
^.Mittelstufe  —  beginnt  mit  der  Yerwerthun^ 
von   Fischen    (wozu   wir   auch   Krebse,    Muscheln    SSd 
andere  Wasserthiere  zählen)  zur  Nahrung  und  iSt  dTin 
aebrauch   des   Feuers.      Beides   gehört   zusammen    X 
Fischnahrung    erst   vermittelst    des  Feuers  T^h^n^t 
vernutzbar  wird.  Mit  dieser  neuen  Nahrung  aber  ^S 
die  Menschen   unabhängig   von   Klima   ufd  LoM^ 
den  Strömen  und  Küsten  folgend,  konnten  sie  selbst  im' 
wilden  Zustand  sich  über  den  grössten  Theil  der  Erd^ 
ausbreiten.    Die  roh  gearbeiteten,  ungeschliffenen  sS 
Werkzeuge    des   früheren   Steinaltersf  die    sogenanntem 
palaohthischen,    die   ganz    oder   grösstentheTfu  d'ese 
Periode  fallen,  sind  in  ihrer  Verbreitung  über  alle  Kon 
tmente   Beweisstücke    dieser  Wanderungen,     üfe    neT 
besetzten  Zonen    wie    der  ununterbrochen  thäW  fZ 
dungstrieb,    verbunden  mit  dem  Besitz  des  Re  bfeueS 

Wuizeln  und  Knollen,  m  heisser  Asche  oder  in  Back 

fefeTstfn'Ä't'^r'  ^^  ^^^'  ^as  mit  Erfint^" 
aer  ersten   Waffen,  Keule  und  Speer,  gelegentliche  Zu 

gäbe  zur  Kost  wurde.    AusschliesSich;  JägSer  wie" 
sie  in  den  Büchern  figuriren,  d.  h.  solche' d^rnnr'  ^n 

tra/de'r  T  ''r'-  ."'  "  ""''  ^^^^^^^^'   ^-^  i^tTr  Er' 
trag  der  Jagd  viel  zu  ungewiss.    In  Fole-e  andanpm?! 

Unsicherheit    der    Nahrungsquellen    scheint    atfTet 

Stufe  die  Menschenfresserei  aufzukommen,  die  sich  von 

jetzt  an  lange  erhält      Die  Australier  und  viele  PoTv 

Wildhef ''"    noch    heute    auf  dieser   Mittelstufe  t; 

3.    Oberstufe:    beginnt    mit    der   Erfindung   von 
Bogen   und    Pfeil,    wodurch  Wild   regelmässiges' nT 


—     9     — 

rungsmittel ,  Jagd  einer  der  normalen  Arbeitszweige 
wurde.  Bogen,  Sehne  und  Pfeil  bilden  schon  ein  sehr 
zusammengesetztes  Instrument,  dessen  Erfindung  lange, 
gehäufte  Erfahrung  und  geschärfte  Gleisteskräfte  vor- 
aussetzt, also  auch  die  gleichzeitige  Bekanntschaft  mit 
einer  Menge  anderer  Erfindungen.  Vergleichen  wir  die 
Völker,  die  zwar  Bogen  und  Pfeil  kennen,  aber  noch 
nicht  die  Töpferkunst  (von  der  Morgan  den  Uebergang 
in  die  Barbarei  datirt),  so  finden  wir  in  der  That  be- 
reits einige  Anfänge  der  Niederlassung  in  Dörfern,  eine 
gewisse  Beherrschung  der  Produktion  des  Lebensunter- 
halts, hölzerne  Grefässe  und  G-eräthe,  Fingerweberei 
(ohne  Webstuhl)  mit  Easern  von  Bast,  geflochtene  Körbe 
von  Bast  oder  Schilf,  geschliffene  (neolithische)  Stein- 
werkzeuge. Meist  auch  hat  Feuer  und  Steinaxt  bereits 
das  Einbaum-Boot  und  stellenweise  Balken  und  Bretter 
zum  Hausbau  geliefert.  Alle  diese  Fortschritte  finden 
wir  z.  B.  bei  den  nordwestlichen  Indianern  Amerikas, 
die  zwar  Bogen  und  Pfeil,  aber  nicht  die  Töpferei 
kennen.  Für  die  Wildheit  war  Bogen  und  Pfeil,  was 
das  eiserne  Schwert  für  die  Barbarei  und  das  Feuerrohr 
für  die  Civilisation :  die  entscheidende  Waffe. 

II.    Barbarei. 

1.  Unterstufe.  Datirt  von  der  Einführung  der 
Töpferei.  Diese  ist  nachweislich  in  vielen  Fällen  und 
wahrscheinlich  überall  entstanden  aus  der  Ueberdeckung 
geflochtener  oder  hölzerner  Grefässe  mit  Lehm,  um  sie 
feuerfest  zu  machen;  wobei  man  bald  fand,  dass  der 
geformte  Lehm  auch  ohne  das  innere  Grefäss  den  Dienst 
leistete. 

Bisher  konnten  wir  den  Glang  der  Entwicklung  ganz 
allgemein,  als  gültig  für  eine  bestimmte  Periode  aller 
Völker,  ohne  Rücksicht  auf  die  Lokalität,  betrachten. 
Mit  dem  Eintritt  der  Barbarei  aber  haben  wir  eine 
Stufe  erreicht,  worauf  sich  die  verschiedene  Natur- 
begabung der  beiden  grossen  Erdkontinente  geltend 
macht.  Das  charakteristische  Moment  der  Periode  der 
Barbarei   ist    die  Zähmung   und  Züchtung  von  Thieren 


—     10    — 

und  die  Kultur  von  Pflanzen.  Nun  besass  der  östliche 
Kontinent,  die  s.  g.  alte  Welt,  fast  alle  zur  Zähmung 
tauglichen  Thiere  und  alle  kulturfähigen  Gretreidearten 
ausser  einer;  der  westliche,  Amerika,  von  zähmbaren 
Säugethieren  nur  das  Llama,  und  auch  dies  nur  in  eüiem 
Theil  des  Südens,  und  von  allen  Kulturgetreiden  nur 
eins,  aber  das  beste :  den  Mais.  Diese  verschiedenen 
Naturbedingungen  bewirken,  dass  von  nun  an  die  Be- 
völkerung jeder  Halbkugel  ihren  besondern  Gang  geht 
und  die  Marksteine  an  den  Grrenzen  der  verschiedenen 
Stufen  in  jedem  der  beiden  Fälle  verschieden  sind. 

2.  Mittelstufe.  Beginnt  im  Osten  mit  der  Zähnrnng 
von  Hausthieren,  im  Westen  mit  der  Kultur  von  Nähr- 
pflanzen mittelst  Berieselung  und  dem  Grebrauch  von 
Adoben  (an  der  Sonne  getrockneten  Ziegeln)  und  Stein 
zu  Grebäuden. 

Wir  beginnen  mit  dem  Westen,  da  hier  diese  Stufe 
bis  zur  europäischen  Eroberung  nirgends  überschritten 
wurde. 

Bei  den  Indianern  der  Unterstufe  der  Barbarei 
(wozu  alle  östlich  des  Mississippi  gefundenen  gehörten), 
bestand  zur  Zeit  ihrer  Entdeckung  schon  eine  gewisse 
Grartenkultur  von  Mais  und  vielleicht  auch  Kürbissen, 
Melonen  und  andern  Grartengewächsen,  die  einen  sehr 
wesentlichen  Bestandtheil  ihrer  Nahrung  lieferte ;  sie 
wohnten  in  hölzernen  Häusern,  in  verpalisadirten  Dör- 
fern. Die  nordwestlichen  Stämme,  besonders  die  im 
Grebiet  des  Columbiaflusses,  standen  noch  auf  der  Ober- 
stufe der  Wildheit  uud  kannten  weder  Töpferei  noch 
Pflanzenkultur  irgend  einer  Art.  Die  Indianer  der 
s.  g.  Pueblos  in  Neu-Mexico  dagegen,  die  Mexikaner, 
Central-Amerikaner  und  Peruaner  zur  Zeit  der  Erobe- 
rung standen  auf  der  Mittelstufe  der  Barbarei;  sie 
wohnten  in  festungsartigen  Häusern  von  Adoben  oder 
Stein,  bauten  Mais  und  andre  nach  Lage  und  Klima 
verschiedene  Nährpflanzen  in  künstlich  berieselten  Grär- 
ten,  die  die  Hauptnahrungsquelle  lieferten,  und  hatten 
sogar  einige  Thiere  gezähmt  —  die  Mexikaner  den 
Truthahn  und  andre  Vögel,  die  Peruaner  das  Llama. 
Dazu  kannten  sie  die  Verarbeitung  der  Metalle  —  mit 


—  11  — 

Ausnahme  des  Eisens,  wesshalb  sie  noch  immer  der 
Steinwaffen  und  Steinwerkzeuge  nicht  entbehren  konn- 
ten. Die  spanische  Erobervmg  schnitt  dann  alle  weitere 
selbständige  Entwicklung  ab. 

Im  Osten  begann  die  Mittelstufe  der  Barbarei  mit 
der  Zähmung  milch-  und  fleischgebender  Thiere,  wäh- 
rend Pflanzenkultur  hier  noch  bis  tief  in  diese  Periode 
unbekannt  geblieben  zu  sein  scheint.  Die  Zähmung  und 
Züchtung  von  Yieh,  und  die  Bildung  grösserer  Heerden 
scheint  den  Anlass  gegeben  zu  haben  zur  Aussonderung 
der  Arier  und  Semiten  aus  der  übrigen  Masse  der  Bar- 
baren. Den  europäischen  und  asiatischen  Ariern  sind 
die  Yiehnamen  noch  gemeinsam,  die  der  Kulturpflanzen 
aber  fast  gar  nicht. 

Die  Heerdenbildung  führte  an  geeigneten  Stellen 
zum  Hirtenleben;  bei  den  Semiten  in  den  Grrasebenen 
des  Euphrat  und  Tigris,  bei  den  Ariern  in  denen  In- 
diens, des  Oxus  und  Jaxartes,  des  Don  und  Dniepr.  An 
den  Grrenzen  solcher  Weideländer  muss  die  Zähmung 
des  Viehs  zuerst  vollführt  worden  sein.  Den  späteren 
Greschlechtern  erscheinen  sie  so  als  aus  Gregenden  kom- 
mend, die,  weit  entfernt  die  Wiege  des  Menschen- 
geschlechts zu  sein ,  im  G-egentheil  für  ihre  wilden 
Vorfahren  und  selbst  für  Leute  der  Unterstufe  der 
Barbarei  fast  unbewohnbar  waren.  Umgekehrt,  sobald 
diese  Barbaren  der  Mittelstufe  einmal  an  Hirtenleben 
gewöhnt,  hätte  es  ihnen  nie  einfallen  können,  freiwillig 
aus  den  grastragenden  Stromebenen  in  die  Waldgebiete 
zurückzukehren,  in  denen  ihre  Vorfahren  heimisch  ge- 
wesen. Ja  selbst  als  sie  weiter  nach  Norden  und  Westen 
gedrängt  wurden,  war  es  den  Semiten  und  Ariern  un- 
möglich, in  die  westasiatischen  und  europäischen  Wald- 
gegenden zu  ziehen,  ehe  sie  durch  G-etreidebau  in  den 
Stand  gesetzt  wurden,  ihr  Vieh  auf  diesem  weniger 
günstigen  Boden  zu  ernähren  und  besonders  zu  über- 
wintern. Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  dass  der  G-e- 
treidebau hier  zuerst  aus  dem  Futterbedürfniss  für's 
Vieh  entsprang  und  erst  später  für  menschliche  Nah- 
rung wichtig  wurde. 

Der  reichlichen  Fleisch-  und  Milchnahrung  bei  Ariern 


—     12    — 

und  Semiten,  und  besonders  ihrer  günstigen  Wirkung 
auf  die  Entwicklung  der  Kinder,  ist  vielleicht  die  über- 
legne Entwicklung  beider  Racen  zuzuschreiben.  Da- 
gegen haben  die  Pueblos-Indianer  von  Neu-Mexiko,  die 
auf  fast  reine  Pflanzenkost  reduzirt  sind,  ein  kleineres 
Grehirn  als  die  mehr  fleisch-  und  fischessenden  Indianer 
der  niedern  Stufe  der  Barbarei.  Jedenfalls  verschwindet 
auf  dieser  Stufe  allmälig  die  Menschenfresserei  und 
erhält  sich  nur  als  religiöser  Akt  oder,  was  hier  fast 
identisch,  als  Zaubermittel. 

3.  Oberstufe.  Beginnt  mit  dem  Schmelzen  des 
Eisenerzes  und  geht  über  in  die  Civilisation  vermittelst 
der  Erfindung  der  Buchstabenschrift  und  ihrer  Verwen- 
dung zu  literarischer  Aufzeichnung.  Diese  Stufe,  die, 
wie  gesagt,  nur  auf  der  östlichen  Halbkugel  selbständig 
durchgemacht  wird,  ist  an  Fortschritten  der  Produktion 
reicher  als  alle  vorhergehenden  zusammen  genommen. 
Ihr  gehören  an  die  Grriechen  zur  Heroenzeit,  die  ita- 
lischen Stämme  kurz  vor  der  Gründung  Roms,  und  die 
Deutschen  des  Cäsar  (oder,  wie  wir  lieber  sagen  möch- 
ten, des  Tacitus). 

Vor  Allem  tritt  uns  hier  zuerst  entgegen  die  eiserne, 
von  Vieh  gezogene  Pflugschar,  die  den  Ackerbau  auf 
grosser  Stufe,  den  Feldbau,  möglich  machte,  und 
damit  eine  für  damalige  Verhältnisse  praktisch  unbe- 
schränkte Vermehrung  der  Lebensmittel;  damit  auch 
die  Ausrodung  des  Waldes  und  seine  Verwandlung  in 
Ackerland  und  Wiese  —  die  wieder  ohne  die  eiserne 
Axt  und  den  eisernen  Spaten  auf  grossem  Massstab 
unmöglich  blieb.  Damit  kam  aber  auch  rasche  Ver- 
mehrung der  Bevölkerung,  und  dichte  Bevölkerung  auf 
kleinem  Grebiet.  Vor  dem  Feldbau  müssen  sehr  aus- 
nahmsweise Verhältnisse  vorgekommen  sein,  wenn  eine 
halbe  Million  Menschen  sich  unter  einer  einzigen  Cen- 
tralleitung  sollte  vereinigen  lassen ;  wahrscheinlich  war 
das  nie  goschehn. 

Die  höchste  Blüte  der  Oberstufe  der  Barbarei  tritt 
uns  entgegen  in  den  homerischen  Gredichten,  nament- 
lich der  Ilias.  Entwickelte  Eisenwerkzeuge ;  der  Blas- 
balg ;  die  Handmühle ;  die  Töpferscheibe ;  die  Oel-  und 


—     13    — 

Weinbereitung ;  eine  entwickelte,  in's  Kunsthandwerk 
übergehende  Metallbearbeitung ;  der  Wagen  und  Streit- 
wagen ;  der  Schiffbau  mit  Planken  und  Balken ;  die 
Anfänge  der  Architektur  als  Kunst ;  ummauerte  Städte 
mit  Thürmen  und  Zinnen ;  das  homerische  Epos  und  die 
gesammte  Mythologie  —  das  sind  die  Haupterbschaften, 
die  die  Griechen  aus  der  Barbarei  hinübernahmen  in 
die  Civilisation.  Wenn  wir  damit  die  Beschreibung  der 
Germanen  bei  Cäsar  und  selbst  Tacitus  vergleichen,  die 
am  Anfang  derselben  Kulturstufe  standen,  aus  der  die 
homerischen  Griechen  in  eine  höhere  überzugehen  sich 
anschickten,  so  sehen  wir,  welchen  Reichthum  der  Ent- 
wicklung der  Produktion  die  Oberstufe  der  Barbarei 
in  sich  fasst. 

Das  Bild,  das  ich  hier  von  der  Entwicklung  der 
Menschheit  durch  Wildheit  und  Barbarei  zu  den  An- 
fängen der  Civüisation  nach  Morgan  skizzirt  habe,  ist 
schon  reich  genug  an  neuen  und,  was  mehr  ist,  unbe- 
streitbaren, weil  unmittelbar  der  Produktion  entnom- 
menen Zügen.  Dennoch  wird  es  matt  imd  dürftig  er- 
scheinen, verglichen  mit  dem  Bild,  das  sich  am  Ende 
unserer  Wanderschaft  entrollen  wird;  erst  dann  wird 
es  möglich  sein,  den  Uebergang  aus  der  Barbarei  in  die 
Civilisation  und  den  schlagenden  Gegensatz  Beider  in's 
volle  Licht  zu  stellen.  Vorderhand  können  wir  Mor- 
gan's  Abtheilung  dahin  verallgemeinern:  Wildheit  — 
Zeitraum  der  vorwiegenden  Aneignung  fertiger  Natur- 
produkte; die  Kunstprodukte  des  Menschen  sind  vor- 
wiegend Hülfswerkzeuge  dieser  Aneignung.  Barbarei  — 
Zeitraum  der  Erwerbung  von  Viehzucht  und  Ackerbau, 
der  Erlernung  von  Methoden  zur  Produktion  von  Natur- 
erzeugnissen durch  menschliche  Thätigkeit.  Civilisation 
—  Zeitraum  der  Erlernung  der  weiteren  Verarbeitung 
von  Naturerzeugnissen,  der  eigentlichen  Industrie  und 
der   Kunst. 


n.  Die  Familie. 


Morgan,  der  sein  Leben  grossentheils  unter  den  noch 
jetzt  im  Staat  New-York  ansässigen  Irokesen  zugebracht 
und  in  einen  ihrer  Stämme  (den  der  Senekas)  adoptirt 
worden,  fand  unter  ihnen  ein  Verwandtschaftssystem 
in  Geltung,  das  mit  ihren  wirklichen  Familienbezie- 
hungen im  Widerspruch  stand.  Bei  ihnen  herrschte 
jene,  beiderseits  leicht  lösliche  Einzelehe,  die  Morgan 
als  „Paarungsfamilie"  bezeicbnet.  Die  Nachkommen- 
schaft eines  solchen  Ehepaars  war  also  vor  aller  Welt 
offenkundig  und  anerkannt ;  es  konnte  kein  Zweifel  sein, 
auf  wen  die  Bezeichungen  Vater,  Mutter,  Sohn,  Tochter, 
Bruder,  Schwester  anzuwenden  seien.  Aber  der  Gebrauch 
dieser  Ausdrücke  widerspricht  dem.  Der  Irokese  nennt 
nicht  nur  seine  eigenen  Kinder,  sondern  auch  die  seiner 
Brüder,  seine  Söhne  und  Töchter;  und  sie  nennen  ihn 
Vater.  Die  Kinder  seiner  Schwestern  dagegen  nennt  er 
seine  Neffen  und  Nichten,  und  sie  ihn  Onkel.  Umge- 
kehrt nennt  die  Irokesin,  neben  ihren  eigenen  Kindern, 
diejenigen  ihrer  Schwestern  ihre  Söhne  und  Töchter, 
und  diese  nennen  sie  Mutter.  Die  Kinder  ihrer  Brüder 
dagegen  nennt  sie  ihre  Neffen  und  Nichten,  und  sie 
heisst  ihre  Tante.  Ebenso  nennen  die  Kinder  von  Brü- 
dern sich  unter  einander  Brüder  und  Schwestern,  dess- 
gleichen  die  Kinder  von  Schwestern.  Die  Kinder  einer 
Frau  und  die  ihres  Bruders  dagegen  nennen  sich  gegen- 
seitig Vettern  und  Cousinen.  Und  dies  sind  nicht  blosse 
Namen,  sondern  Ausdrücke  thatsächlich  geltender  An- 
schauungen von  Nähe  und  Entferntheit,  Gleichheit  und 
Ungleichheit  der  Blutsverwandtschaft,   und   dienen  zur 


—     15     — 

G-rundlage  eines  vollständig  ausgearbeiteten  Verwandt- 
scliaftssystenis,  das  mehrere  hundert  verschiedene  Ver- 
wandtschaftsbeziehungen eines  einzelnen  Individuums 
auszudrücken  im  Stande  ist.  Noch  mehr.  Dies  System 
ist  nicht  nur  in  voller  Greltung  bei  allen  amerikanischen 
Indianern  (bis  jetzt  ist  keine  Ausnahme  gefunden),  son- 
dern es  gilt  auch  fast  unverändert  bei  den  Ureinwohnern 
Indiens,  bei  den  dravidischen  Stämmen  in  Dekan  und 
den  Gaurastämmen  in  Hindustan.  Die  Yerwandtschafts- 
ausdrücke  der  südindischen  Tamiler  und  der  Seneka- 
Irokesen  im  Staat  New- York  stimmen  noch  heute  überein 
für  mehr  als  zweihundert  verschiedene  Verwandtschafts- 
beziehungen. Und  auch  bei  diesen  indischen  Stämmen, 
wie  bei  allen  amerikanischen  Indianern,  stehen  die  aus 
der  geltenden  Familienform  entspringenden  Verwandt- 
schaftsbeziehungen  im  Widerspruch  mit  dem  Verwandt- 
schaftssystem. 

Wie  nun  dies  erklären  ?  Bei  der  entscheidenden 
Rolle,  die  die  Verwandtschaft  bei  allen  wilden  und 
barbarischen  Völkern  in  der  G-esellschaftsordnung  spielt, 
kann  man  die  Bedeutung  dieses  so  weitverbreiteten 
Systems  nicht  mit  Redensarten  beseitigen.  Ein  System, 
das  in  Amerika  allgemein  gilt,  in  Asien  bei  Völkern 
einer  ganz  verschiedenen  Race  ebenfalls  besteht,  von 
dem  mehr  oder  weniger  abgeänderte  Formen  überall  in 
Afrika  und  Australien  sich  in  Menge  vorfinden,  will 
geschichtlich  erklärt  sein,  nicht  weggeredet,  wie  dies 
z.  B.  MacLennan  versuchte.  Die  Bezeichnungen  Vater, 
Eand,  Bruder,  Schwester  sind  keine  blossen  Ehrentitel, 
sondern  führen  ganz  bestimmte,  sehr  ernstliche  gegen- 
seitige Verpflichtungen  mit  sich,  deren  Gesammtheit 
einen  wesentlichen  Theil  der  Gesellschaftsverfassung 
jener  Völker  ausmacht.  Und  die  Erklärung  fand  sich. 
Auf  den  Sandwichinseln  (Hawaii)  bestand  noch  in  der 
ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  eine  Form  der  Familie, 
die  genau  solche  Väter  und  Mütter,  Brüder  und  Schwe- 
stern, Söhne  und  Töchter,  Onkel  und  Tanten,  Neffen 
und  Nichten  lieferte  wie  das  amerikanisch-altindische 
Verwandtschaftssystem  sie  fordert.  Aber  merkwürdig ! 
Das  Verwandtschaftssystem,  das  in  Hawaii  in  Geltung 


—     16     — 

war,  stimmte  wieder  nicht  mit  der  dort  thatsächlich 
bestehenden  ramilienform.  Dort  nämlich  sind  alle  Gre- 
schwisterkinder,  ohne  Ausnahme,  Brüder  und  Schwestern, 
und  gelten  für  die  gemeinsamen  Kinder,  nicht  nur  ihrer 
Mutter  und  deren  Schwestern,  oder  ihres  Vaters  und 
dessen  Brüder,  sondern  aller  Geschwister  ihrer  Eltern 
ohne  Unterschied.  Wenn  also  das  amerikanische  Yer- 
wandtschaftssjstem  eine  in  Amerika  nicht  mehr  be- 
stehende, primitivere  Form  der  Familie  voraussetzt,  die 
wir  in  Hawaii  wirklich  noch  vorfinden,  so  verweist  uns 
anderseits  das  Hawaii'sche  Verwandtschaftssystem  auf 
eine  noch  ursprünglichere  Familienform,  die  wir  awar 
nirgends  mehr  als  bestehend  nachweisen  können,  die 
aber  bestanden  haben  muss,  weil  sonst  das  entsprechende 
Verwandtschaftssystem  nicht  hätte  entstehen  können. 
„Die  Familie,  sagt  Morgan,  ist  das  aktive  Element; 
sie  ist  nie  stationär,  sondern  schreitet  vor  von  einer 
niedrigeren  zu  einer  höheren  Form,  im  Mass  wie  die 
Gresellschaft  von  niederer  zu  höherer  Stufe  sich  ent- 
wickelt. Die  Verwandtschaftssysteme  dagegen  sind 
passiv;  nur  in  langen  Zwischenräumen  registriren  sie 
die  Fortschritte,  die  die  Familie  im  Lauf  der  Zeit  ge- 
macht hat,  und  erfahren  nur  dann  radikale  Aenderung, 
wenn  die  Familie  sich  radikal  verändert  hat."  —  77 Und, 
setzt  Marx  hinzu,  ebenso  verhält  es  sich  mit  politischen, 
juristischen,  religiösen,  philosophischen  Systemen  über- 
haupt." Während  die  Familie  fortlebt,  verknöchert  das 
Verwandtschaftssystem,  und  während  dies  gewohnheits- 
mässig  fortbesteht,  entwächst  ihm  die  Familie.  Mit 
derselben  Sicherheit  aber,  mit  der  Cuvier  aus  den  bei 
Paris  gefundenen  Marsupialknochen  eines  Thierskeletts 
schliessen  konnte,  dass  dies  einem  Beutelthier  gehörte 
und  dass  dort  einst  ausgestorbene  Beutelthiere  gelebt, 
mit  derselben  Sicherheit  können  wir  aus  einem  histo- 
risch überkommenen  Verwandtschaftssystem  schliessen, 
dass  die  ihm  entsprechende,  ausgestorbene  Familienform 
bestanden  hat. 

Die  eben  erwähnten  Verwandtschaftssysteme  und 
Familienformen  unterscheiden  sich  von  den  jetzt  herr- 
schenden dadurch,  dass  jedes  Kind  mehrere  Väter  und 


—     J7     — 

Mütter  hat.  Bei  dem  amerikanischen  Vervvandtschafts- 
system,  dem  die  hawaii'ache  Familie  entspricht,  können 
Bruder  und  Schwester  nicht  Yater  und  Mutter  desselben 
Kindes  sein ;  das  hawaii'sche  Vervvandtschaftssystem 
aber  setzt  eine  Familie  voraus,  in  der  dies  im  Gegen- 
theil  die  Regel  war.  Wir  werden  hier  in  eine  Reihe 
von  Familienformen  versetzt,  die  den  bisher  gewöhnlich 
als  allein  geltend  angenommenen  direkt  widersprechen. 
Die  hergebrachte  Yorstellung  kennt  nur  die  Einzelehe, 
daneben  Vielweiberei  Eines  Mannes,  allenfalls  noch 
Vielmännerei  Einer  Frau,  und  verschweigt  dabei,  wie 
es  dem  moralisirenden  Philister  ziemt,  dass  die  Praxis 
sich  über  diese  von  der  offiziellen  Gresellschaft  gebotenen 
Schranken  stillschweigend  aber  ungeuirt  hinwegsetzt. 
Das  Studium  der  Urgeschichte  dagegen  führt  uns  Zu- 
stände vor,  wo  Männer  in  Vielweiberei,  und  ihre  Weiber 
gleichzeitig  in  Vielmännerei  leben,  und  die  gemein- 
samen Kinder  daher  ihnen  Allen  auch  als  gemeinsam 
gelten  5  Zustände,  die  selbst  wieder  bis  zu  ihrer  schliess- 
lichen  Auflösung  in  die  Einzelehe  eine  ganze  lleihe 
von  Veränderungen  durchmachen.  Diese  Veränderungen 
sind  der  Art,  dass  der  Kreis,  den  das  gemeinsame  Ehe- 
band umfasst,  und  der  ursprünglich  sehr  weit  war,  sich 
mehr  und  mehr  verengert,  bis  er  schliesslich  nur  das 
Einzelpaar  übrig  lässt,  das  heute  vorherrscht. 

Indem  Morgan  auf  diese  Weise  die  Greschichte  der 
Familie  rückwärts  konstruirt,  kommt  er  in  Ueberein- 
stimmung  mit  der  Mehrzahl  seiner  Kollegen  auf  einen 
Urzustand,  wo  unbeschränkter  Greschlechtsverkehr  inner- 
halb eines  Stammes  herrschte,  so  dass  jede  Frau  jedem 
Mann,  und  jeder  Mann  jeder  Frau  gleichmässig  gehörte. 
Die  Entdeckung  dieses  Urzustandes  ist  das  erste  grosse 
Verdienst  Bachofens.*)  Aus  diesem  Urzustand  ent- 
wickelte sich,  wahrscheinlich  sehr  frühzeitig : 


*)  "Wie  wenig  Bachofen  verstand,  was  er  entdeckt  oder  viel- 
mehr errathen  hatte,  beweist  er  durch  die  Bezeichnung  dieses  Ur- 
zustandes als  Hetärismus.  Hi.-tärismus  bezeichnete  den  Griechen, 
als  sie  das  Wort  einführten,  Verkehr  von  Miinnern,  unvorhoiratheten 
oder   in  Einzelehc   lebenden,    mit   unverhoiratheten  Weibern,    setzt 

2 


—     18     — 

1.  Die  Blutsverwandtschaftsfamilie,  die 
erste  organisirte  Form  der  G-esellschaft  und  die  erste 
Stufe  der  Familie.  Hier  sind  die  Ehegruppen  nach 
Generationen  gesondert :  alle  Grossväter  und  Gross- 
mütter innerhalb  der  Grenzen  der  Familie  sind  sämmt- 
lich  unter  einander  Mann  und  Frau,  ebenso  deren 
Kinder,  also  die  Väter  und  Mütter,  wie  deren  Kinder 
wieder  einen  dritten  Kreis  gemeinsamer  Ehegatten  bil- 
den werden,  und  deren  Kinder,  die  Urenkel  der  ersten, 
einen  vierten.  In  dieser  Familienform  sind  also  nur 
Vorfahren  und  Nachkommen,  Eltern  und  Kinder  von 
den  Eechten  wie  Pflichten  (wie  wir  sagen  würden)  der 
Ehe  unter  einander  ausgeschlossen.  Brüder  und  Schwe- 
stern, Vettern  und  Cousinen  ersten,  zweiten  und  ent- 
fernteren Grades,  sind  alle  Brüder  und  Schwestern 
unter  einander  und  eben  des  s  wegen  alle  Mann  und 
Frau  Eins  des  andern.  Das  Verhältniss  von  Bruder  und 
Schwester  schliesst  auf  dieser  Stufe  die  Ausübung  des 
gegenseitigen  Geschlechtsverkehrs  von  selbst  in  sich 
ein.''*)  Die  typische  Gestalt  einer  solchen  Familie  würde 
bestehn  aus  der  Nachkommenschaft  Eines  Paars,  in 
welcher  wieder  die  Nachkommen  jedes  einzelnen  Grades 
unter  sich  Brüder  und  Schwestern  und  eben  desshalb 
Männer  und  Frauen  unter  einander  sind. 


etets  eine  bestimmte  Form  der  Ehe  voraus,  ausserhalb  der  dieser 
Verkehr  stattfindet,  und  schliosst  die  Prostitution  wenigstens  schon 
als  Möglichkeit  ein.  In  einem  andern  Sinn  ist  das  Wort  auch  nie 
gebraucht  worden,  und  in  diesem  Sinn  gebrauche  ich  es  mit  Morgan. 
Bachofcn's  höchst  bedeutende  Entdeckungen  werden  überall  bis  in 's 
Unglaubliche  vormystifizirt  durch  seine  Einbildung,  die  geschichtlich 
entstandenen  Beziehungen  von  Mann  und  "Weib  hätten  ihre  Quelle 
in  den  j'idesmaligen  religiösen  Vorstellungen  der  Menschen,  nicht 
in  ihren  wirklichen  Lebensverhältnissen. 

*)  In  einem  Brief  vom  Frühjahr  1882  spricht  Marx  sich  ia  den 
stärksten  Ausdrücken  aus  über  die  im  Wagnerischen  Nibelnn^en- 
text  herrscl'.ende  totale  Verfiilschung  der  Urzeit.  Sigmund  renom- 
mirt:  „War  es  je  erhört,  dass  d  r  Bruder  die  Schwester  bräutlich 
umfing?"  Diesen  ihre  Liebeshändcl  ganz  in  moderner  Weise  durch 
ein  Bischen  Blutschande  pikanter  machenden  „Geilhoitsgöttern" 
Wagnor's  antwortet  Marx:  „In  der  Urzeit  war  die  Schwester  die 
Frau,    und    das    war   sittlich." 


—     19     — 

Die  Bluts verwandtsohaftsfamilie  ist  ausgestorben. 
Selbst  die  rohsten  Völker,  von  denen  die  Greschicbte 
erzählt,  liefern  kein  nachweisbares  Beispiel  davon.  Dass 
sie  aber  bestanden  haben  m  u  s  s ,  dazu  zwingt  uns  das 
hawaii'sche,  in  ganz  Polynesien  noch  jetzt  gültige  Ver- 
wandtschaftssystem, das  Grrade  der  Blutsverwandtschaft 
ausdrückt,  wie  sie  nur  unter  dieser  Familienforra  ent- 
stehn  können ;  dazu  zwingt  uns  die  ganze  weitere  Ent- 
wicklung der  Familie,  die  jene  Form  als  nothwendige 
Vorstufe  bedingt. 

2.  Die  Punaluafamilie.  Wenn  der  erste  Fort- 
schritt der  Organisation  darin  bestand,  Eltern  und  Kinder 
vom  gegenseitigen  Greschlechtsverkehr  auszuschliessen, 
so  der  zweite  in  der  Ausschliessung  von  Schwester  und 
Bruder.  Dieser  Fortschritt  war,  wegen  der  grösseren 
Altersgleichheit  der  Betheiligten,  unendlich  viel  wich- 
tiger, aber  auch  schwieriger  als  der  erste ;  er  vollzog 
sich  allmälig,  anfangend  mit  der  Ausschliessung  der 
leiblichen  Greschwister  (d.  h.  von  mütterlicher  Seite) 
aus  dem  Greschlechtsverkehr,  erst  in  einzelnen  Fällen, 
nach  und  nach  Regel  werdend  (in  Hawaii  kamen  noch 
in  diesem  Jahrhundert  Ausnahmen  vor)  und  endend  mit 
dem  Verbot  der  Ehe  sogar  zwischen  Kollateralgeschwi- 
stern ,  d.  h.  nach  unserer  Bezeichnung  Greschwister- 
Kindern,  -Enkeln  und  -Urenkeln;  er  bildet,  nach  Mor- 
gan, „eine  vortreffliche  Illustration  davon,  wie  das 
Prinzip  der  natürlichen  Zuchtwahl  wirkt."  Keine  Frage, 
dass  Stämme,  bei  denen  die  Inzucht  durch  diesen  Fort- 
schritt beschränkt  wurde,  sich  rascher  und  voller  ent- 
wickeln mussten  als  die,  bei  denen  die  Greschwisterehe 
Regel  und  Gebot  blieb.  Und  wie  gewaltig  die  Wirkung 
dieses  Fortschritts  empfunden  wurde,  beweist  die  aus 
ihm  unmittelbar  entsprungene,  weit  über  das  Ziel  hin- 
ausschiessende  Einrichtung  der  Grens,  die  die  Grrundlage 
der  gesellschaftlichen  Ordnung  der  meisten,  wo  nicht 
aller  Barbaren  Völker  der  Erde  bildete  und  aus  der  wir 
in  Grriechenland  und  Rom  unmittelbar  in  die  Civilisa- 
tion  hinübertreten. 

Jede  Urfamilie  musste  spätestens  nach  ein  paar 
Grenerationcn  sich  spalten.    Die  ursprüngliche  kommu- 


—     20     — 

nistische  G-esammtliaushaltung,  die  bis  tief  in  die  mitt- 
lere Barbarei  hinein  ausnahmslos  herrscht,  bedingte 
eine,  je  nach  den  Verhältnissen  wechselnde,  aber  an 
jedem  Ort  ziemlich  bestimmte  Maximalgrösse  der 
Familiengemeinschaft.  Sobald  die  Vorstellung  von  der 
Ungebühr  des  G-eschlechtsverkehrs  zwischen  Kindern 
Einer  Mutter  aufkam,  musste  sie  sich  bei  solchen  Spal- 
tungen alter  und  Grründung  neuer  Hausgemeinden  (die 
indess  nicht  nothwendig  mit  der  ramiliengruppe  zu- 
sammenfielen) wirksam  zeigen.  Eine  oder  mehrere 
Reihen  von  Schwestern  wurden  der  Kern  der  einen, 
ihre  leiblichen  Brüder  der  Kern  der  andern.  So  oder 
ähnlich  ging  aus  der  Blutsverwandtschaftsfamilie  die 
von  Morgan  Punaluafamilie  genannte  Form  hervor. 
Nach  der  hawaii'schen  Sitte  waren  eine  Anzahl  Schwe- 
stern, leibliche  oder  entferntere  (d.  h.  Cousinen  ersten, 
zweiten  oder  entfernteren  Grrades)  die  gemeinsamen 
Frauen  ihrer  gemeinsamen  Männer,  wovon  aber  ihre 
Brüder  ausgeschlossen ;  diese  Männer  nannten  sich  unter 
einander  nun  nicht  mehr  Brüder,  was  sie  auch  nicht 
mehr  zu  sein  brauchten,  sondern  Punalua,  d.  h.  intimer 
Grenosse,  gleichsam  Associe.  Ebenso  hatte  eine  Eeihe 
von  leiblichen  oder  entfernteren  Brüdern  eine  Anzahl 
Frauen,  nicht  ihre  Schwestern,  in  gemeinsamer  Ehe, 
und  diese  Frauen  nannten  sich  unter  einander  Punalua. 
Dies  die  klassische  Grestalt  einer  Familienformation,  die 
später  eine  Reihe  von  Variationen  zuliess,  und  deren 
wesentlicher  Charakterzug  war:  gegenseitige  GTemein- 
schaft  der  Männer  und  Weiber  innerhalb  eines  bestimm- 
ten Familienkreises,  von  dem  aber  die  Brüder  der 
Frauen,  zuerst  die  leiblichen,  später  auch  die  entfern- 
teren, und  umgekehrt  also  auch  die  Schwestern  der 
Männer  ausgeschlossen  waren. 

Diese  Familienform  liefert  uns  nun  mit  der  voll- 
ständigsten Genauigkeit  die  Verwandtschaftsgrade,  wie 
sie  das  amerikanische  System  ausdrückt.  Die  Kinder 
der  Schwestern  meiner  Mutter  sind  noch  immer  ihre 
Kinder,  ebenso  die  Kinder  der  Brüder  meines  Vaters 
auch  seine  Kinder,  und  sie  alle  sind  meine  Greschwister; 
aber   die  Kinder    der  Brüder  meiner  Mutter  sind  jetzt 


—     21     — 

ihre  NeflFen  und  Nichten,  die  Kinder  der  Schwestern 
meines  Vaters  seine  Neffen  und  Nichten,  und  sie  alle 
meine  Vettern  und  Cousinen,  Denn  während  die  Männer 
der  Schwestern  meiner  Mutter  noch  immer  ihre  Männer 
sind,  und  ebenso  die  Frauen  der  Brüder  meines  Vaters 
auch  noch  seine  Frauen  —  rechtlich,  wo  nicht  immer 
thatsächlich  —  so  hat  die  gesellschaftliche  Aechtung 
des  Geschlechtsverkehrs  zwischen  Greschwistern  die 
bisher  unterschiedslos  als  G-eschwister  behandelten  Ge- 
schwisterkinder in  zwei  Klassen  getheilt:  die  Einen 
bleiben  nach  wie  vor  (entferntere)  Brüder  und  Schwe- 
stern unter  einander,  die  Andern,  die  Kinder  hier  des 
Bruders,  dort  der  Schwester,  können  nicht  länger  Ge- 
schwister sein,  sie  können  keine  gemeinschaftlichen 
Eltern  mehr  haben,  weder  Vater  noch  Mutter  noch 
Beide,  und  desshalb  wird  hier  zum  ersten  Mal  die 
Klasse  der  Neffen  und  Nichten,  Vettern  und  Cousinen 
nothwendig,  die  unter  der  früheren  Familienordnung 
unsinnig  gewesen  wäre.  Das  amerikanische  Verwandt- 
schaftssjstem,  das  bei  jeder  auf  irgend  einer  Art  Einzel- 
ehe beruhenden  Familienform  rein  widersinnig  erscheint, 
wird  durch  die  Punaluafamilie  bis  in  seine  kleinsten 
Einzelnheiten  rationell  erklärt  und  natürlich  begründet. 
Soweit  dies  Verwandtschaftssystem  verbreitet  gewesen, 
genau  soweit,  mindestens,  muss  auch  die  Punaluafamilie 
bestanden  haben. 

Diese  in  Hawaii  wirklich  als  bestehend  nachgewiesene 
Familienform  würde  uns  wahrscheinlich  aus  ganz  Poly- 
nesien überliefert  sein,  hätten  die  frommen  Missionare, 
wie  weiland  die  spanischen  Mönche  in  Amerika,  in 
solchen  widerchristlichen  Verhältnissen  etwas  mehr  zu 
sehen   vermocht,    als   den  simplen   „Greuel".*)     Wenn 


*)  Die  Spuren  unterschiedslosen  Geschlechtsverkehrs,  seiner 
B.  g.  „Surapfzeugung",  die  Bachofen  gefunden  zu  haben  meint, 
führen  sich,  wie  jetzt  nicht  mehr  bezweifelt  werden  kann,  auf  die 
Punaluafamilie  zurück.  „Wenn  Bachofeu  diese  Punalua-Ehen  „ge- 
setzlos" findet,  80  fände  ein  Mann  aus  jener  Periode  die  meisten 
jetzigen  Ehen  zwischen  nahen  und  entfernten  Vettern  väterlicher 
oder  mütterlicher  Seite  blutschänderisch,  nämlich  als  Ehen  zwischen 
blutsverwandten  Geschwistern.".  (Marx.) 


—     22     — 

uns  Cäsar  von  den  Briten,  die  sich  damals  auf  der 
Mittelstufe  der  Barbarei  befanden,  erzählt:  „sie  haben 
ihre  Frauen  je  zehn  oder  zwölf  gemeinsam  unter  sich, 
und  zwar  meist  Brüder  mit  Brüdern  und  Eltern  mit 
Kindern"  —  so  erklärt  sich  dies  am  besten  als  Punalua- 
Familie.  Barbarische  Mütter  haben  nicht  10 — 12  Söhne, 
alt  genug,  um  sich  gemeinschaftliche  Frauen  halten  zu 
können,  aber  das  amerikanische  Verwandschaftssystem, 
das  der  Punalua-Familie  entspricht,  liefert  viele  Brüder, 
weil  alle  nahen  und  entfernten  Vettern  eines  Mannes 
seine  Brüder  sind.  Das  „Eltern  mit  Kindern"  mag 
falsche  Auffassung  des  Cäsar  sein ;  dass  Vater  und  Sohn, 
oder  Mutter  und  Tochter  sich  in  derselben  Ehegruppe 
befinden  sollten,  ist  indess  bei  diesem  System  nicht 
absolut  ausgeschlossen,  wohl  aber  Vater  und  Tochter, 
oder  Mutter  und  Sohn.  Ebenso  liefert  diese  Familien- 
form die  leichteste  Erklärung  der  Berichte  Herodot's 
und  anderer  alter  Schriftsteller  über  Weibergemein- 
schaft bei  wilden  und  barbarischen  Völkern.  Punalua- 
familie  muss  auch  sein,  was  Watson  und  Kaye  (The 
People  of  India)  von  den  Tikurs  in  Audh  (nördlich 
vom  G-anges)  erzählen:  „Sie  leben  zusammen  (d.h.  ge- 
schlechtlich) fast  unterschiedslos  in  grossen  Gemein- 
schaften, und  wenn  zwei  Leute  als  mit  einander  ver- 
heirathet  gelten,    so  ist  das  Band  doch  nur  nominell." 

Direkt  aus  der  Punaluafamilie  hervorgegangen  ist 
in  weitaus  den  meisten  Fällen  die  Institution  der  Gr  e  n  s. 
Zwar  bietet  auch  das  australische  Klassensystem  einen 
Ausgangspunkt  dafür ;  die  Australier  haben  Grentes,  aber 
noch  keine  Punaluafamilie.  Ihre  Organisation  steht 
jedoch  zu  vereinzelt,  als  dass  wir  darauf  Rücksicht  zu 
nehmen  hätten. 

Bei  allen  Formen  der  Grruppenfamilie  ist  es  unge- 
wiss, wer  der  Vater  eines  Kindes  ist,  gewiss  aber  ist, 
wer  seine  Mutter.  Wenn  sie  auch  alle  Kinder  der 
G-esammtfamilie  ihre  Kinder  nennt  und  Mutterpiiichten 
gegen  sie  hat,  so  kennt  sie  doch  ihre  leiblichen  Kinder 
unter  den  Andern.  Es  ist  also  klar,  dass,  soweit 
Grruppenehe  besteht,  die  Abstammung  nur  von  mütter- 
licher Seite  nachweisbar  ist,  also  nur  die  weibliche 


—     23     — 

Linie  anerkannt  wird.  Dies  ist  in  dei  That  bei  allen 
wilden  und  der  niederen  Barbarenstufe  angebörigen 
Völkern  der  Fall ;  und  dies  zuerst  entdeckt  zu  baben, 
ist  das  zweite  grosse  Verdienst  Bachofen's.  Er  bezeich- 
net diese  ausschliessliche  Anerkennung  der  Abstam- 
mungsfolge  nach  der  Mutter  und  die  daraus  sich  mit 
der  Zeit  ergebenden  Erbschaftsbeziehungen  mit  dem 
Namen  Mutterrecht;  ich  behalte  diesen  Namen,  der 
Kürze  wegen,  bei.  -Er  ist  aber  schief,  denn  auf  dieser 
G-esellschaftsstufe  ist  von  Recht  im  juristischen  Sinne 
noch  nicht  die  Bede. 

Nehmen  wir  nun  aus  der  Punalua-Familie  die  eine 
der  beiden  Mustergruppen,  nämlich  die  einer  Beihe  von 
leiblichen  und  entfernteren  (d.  h.  im  ersten,  zweiten 
oder  entfernteren  GTrad  von  leiblichen  Schwestern  ab- 
stammenden) Schwestern,  zusammt  ihren  Kindern  und 
ihren  leiblichen  oder  entfernteren  Brüdern  von  mütter- 
licher Seite  (die  nach  unserer  Voraussetzung  nicht 
ihre  Männer  sind),  so  haben  wir  genau  den  Umkreis 
der  Personen,  die  später  als  Mitglieder  einer  Gens,  in 
der  Urform  dieser  Institution  erscheinen.  Sie  haben 
alle  eine  gemeinsame  Stammmutter,  kraft  der  Abstam- 
mung von  welcher  die  weiblichen  Nachkommen  gene- 
rationsweise Schwestern  sind.  Die  Männer  dieser  Schwe- 
stern können  aber  nicht  mehr  ihre  Brüder  sein,  also 
nicht  von  dieser  Stammmutter  abstammen,  gehören  also 
nicht  in  die  Blutsverwandtschaftsgruppe,  die  spätere 
Gens ;  ihre  Kinder  aber  gehören  in  diese  Gruppe,  da 
Abstammung  von  mütterlicher  Seite  allein  entscheidend, 
weil  allein  gewiss  ist.  Sobald  die  Aechtung  des  Ge- 
schlechtsverkehrs zwischen  allen  Geschwistern,  auch 
den  entferntesten  Kollateralverwandten  mütterlicher 
Seite,  einmal  feststeht,  hat  sich  auch  obige  Gruppe  in 
eine  Gens  verwandelt,  d.  h.  sich  konstituirt  als  ein 
fester  Kreis  von  Blutsverwandten  weiblicher  Linie,  die 
unter  einander  nicht  heirathen  dürfen,  und  der  von  nun 
an  sich  mehr  und  mehr  durch  andre  gemeinsame  Ein- 
richtungen gesellschaftlicher  und  religiöser  Art  befestigt 
und  von  den  andern  Gentes  desselben  Stammes  unter- 
scheidet.    Darüber  ausführlich  später.     Wenn  wir  aber 


—     24     — 

finden,  wie  nicht  nur  nothwendig,  sondern  sogar  selbst- 
verständlich die  Grens  aus  der  Punaluafamilie  sich  ent- 
wickelt, so  sind  wir  gezwungen,  das  ehemalige  Bestehen 
dieser  Familienform  als  fast  sicher  anzunehmen  für  alle 
Völker,  bei  denen  Grentilinstitutionen  nachweisbar  sind, 
d.  h.  so  ziemlich  für    alle  Barbaren  und  Kulturvölker. 

3.  Die  Paarungsfamilie.  Eine  gewisse  Paa- 
rung, für  kürzere  oder  längere  Zeit,  fand  bereits  unter 
der  Punaluafamilie  oder  noch  früher  statt;  der  Mann 
hatte  eine  Hauptfrau  (man  kann  noch  kaum  sagen  Lieb- 
lingsfrau) unter  den  vielen  Prauen,  und  er  war  für  sie 
der  hauptsächlichste  Ehemann  unter  den  andern.  Dieser 
Umstand  hat  nicht  wenig  beigetragen  zu  der  Konfusion 
bei  den  Missionaren,  die  in  der  Punaluafamilie  bald 
regellose  Weibergemeinschaft,  bald  willkürlichen  Ehe- 
bruch sehen.  Eine  solche  gewohnheitsmässige  Paarung 
musste  aber  mehr  und  mehr  sich  befestigen,  je  mehr 
die  G-ens  sich  ausbildete  und  je  zahlreicher  die  Klassen 
von  „Brüdern"  und  „Schwestern"  wurden,  zwischen 
denen  Heirath  nun  unmöglich  war.  Der  durch  die  Gens 
gegebene  Anstoss  der  Verhinderung  der  Heirath  zwi- 
schen Blutsverwandten  trieb  noch  weiter.  So  finden  wir, 
dass  bei  den  Irokesen  und  den  meisten  andern  auf  der 
Unterstufe  der  Barbarei  stehenden  Indianern  die  Ehe 
verboten  ist  zwischen  allen  Verwandten,  die  ihr  System 
aufzählt,  und  das  sind  mehrere  hundert  Arten.  Bei 
dieser  wachsenden  Verwicklung  der  Eheverbote  wurden 
Grruppenehen  mehr  und  mehr  unmöglich ;  sie  wurden 
verdrängt  durch  die  Paarung sfamilie.  Auf  dieser 
Stufe  lebt  ein  Mann  mit  einer  Frau  zusammen,  jedoch 
so,  dass  Vielweiberei  und  gelegentliche  Untreue  Recht 
der  Männer  bleibt,  wenn  erstere  auch  aus  ökonomischen 
Gründen  selten  vorkommt ;  während  von  den  Weibern 
für  die  Dauer  des  Zusammenlebens  meist  strengste 
Treue  verlangt  und  ihr  Ehebruch  grausam  bestraft  wird. 
Das  Eheband  ist  aber  von  jedem  Tlieil  leicht  löslich 
und  die  Kinder  gehören  nach  wie  vor  der  Mutter  allein. 

Auch  in  dieser  immer  weiter  getriebenen  Ausschlies- 
sung der  Blutsverwandten  vom  Eheband  wirkt  die  natür- 
liche Zuclitwahl  fort.    In  Morgan's  Worten :  „Die  Ehen 


—    25    — 

zwischen  nicht-blutsverwandten  Gentes  erzeugen  eine 
kräftigere  Race,  physisch  wie  geistig;  zwei  fortschrei- 
tende Stämme  vermischten  sich,  und  die  neuen  Schädel 
und  Hirne  erweiterten  sich  naturgemäss,  bis  sie  die 
Tähigkeiten  Beider  umfassten."  Stämme  mit  Grentil- 
verfassung  mussten  so  über  die  Zurückgebliebenen  die 
Oberhand  gewinnen  oder  sie  durch  ihr  Beispiel  mit 
sich  ziehn. 

Die  Entwicklung  der  Familie  in  der  Urgeschichte 
besteht  somit,  in  der  fortwährenden  Verengerung  des, 
ursprünglich  den  ganzen  Stamm  umfassenden  Kreises, 
innerhalb  dessen  eheliche  Gremeinschaft  zwischen  den 
beiden  Greschlechtern  herrscht.  Durch  fortgesetzte  Aus- 
schliessung erst  näherer,  dann  immer  entfernterer  Ver- 
wandten, zuletzt  selbst  blos  angeheiratheter,  wird  endlich 
jede  Art  von  Grruppenehe praktisch  unmöglich,  und  esbleibt 
schliesslich  das  Eine,  einstweilen  noch  lose  verbundene 
Paar  übrig,  das  Molekül,  mit  dessen  Auflösung  die  Ehe 
überhaupt  aufhört.  Schon  hieraus  zeigt  sich,  wie  wenig 
die  individuelle  Greschlechtsliebe  im  heutigen  Sinn  des 
Worts  mit  der  Entstehung  der  Einzelehe  zu  thun  hatte. 
Noch  mehr  beweist  dies  die  Praxis  aller  Völker,  die  auf 
dieser  Stufe  stehn.  Während  in  früheren  Familien- 
formen die  Männer  nie  um  Frauen  verlegen  zu  sein 
brauchten,  im  Gregentheil  ihrer  eher  mehr  als  genug 
hatten,  wurden  Frauen  jetzt  selten  und  gesucht.  Da- 
her beginnt  mit  der  Paarungsehe  der  Raub  und  der 
Kauf  von  Frauen  —  weitverbreitete  Symptome,  aber 
weiter  auch  nichts,  einer  eingetretenen  viel  tiefer  lie- 
genden Veränderung,  welche  Symptome,  blosse  Methoden 
sich  Frauen  zu  verschaffen,  der  pedantische  Schotte  Mac 
Lennan  indess  als  „Raubehe"  und  „Kaufehe"  in  beson- 
dere Familienklassen  umgedichtet  hat.  Auch  sonst,  bei 
den  amerikanischen  Indianern  und  anderswo  (auf  gleicher 
Stufe)  ist  die  Eheschliessung  Sache  nicht  der  Betheilig- 
ten, die  oft  gar  nicht  gefragt  werden,  sondern  ihrer 
Mütter.  Oft  werden  so  zwei  einander  ganz  Unbekannte 
verlobt  und  erst  von  dem  abgeschlossenen  Handel  in 
Kenntniss  gesetzt,  wenn  die  Zeit  zum  Ileirathen  heran- 
rückt.    Vor   der   Hochzeit    macht    der   Bräutigam    den 


—     26     — 

G-entilverwandten  der  Braut  (also  ihren  mütterliclieii^ 
nicht  dem  Vater  und  seiner  Verwandtschaft)  Geschenke, 
die  als  Kaufgaben  für  das  abgetretene  Mädchen  gelten. 
Die  Ehe  bleibt  löslich  nach  dem  Belieben  eines  jeden 
der  beiden  Verheiratheten  :  doch  hat  sich  nach  und  nach 
bei  vielen  Stämmen,  z.  B.  den  Irokesen,  eine  solchen 
Trennungen  abgeneigte  öffentliche  Meinung  gebildet; 
bei  Streitigkeiten  treten  die  G-entilverwandten  beider 
Theile  vermittelnd  ein,  und  erst,  wenn  dies  nicht 
fruchtet,  findet  Trennung  statt,  wobei  die  Kinder  der 
Frau  verbleiben,  und  wonach  es  jedem  Theil  freisteht, 
sich  neu  zu  verheirathen. 

Die  Paarungsfamilie,  selbst  zu  schwach  und  zu  un- 
beständig, um  einen  eigenen  Haushalt  zum  Bedürfniss 
oder  nur  wünschenswerth  zu  machen,  löst  die  aus  frü- 
herer Zeit  überlieferte  kommunistische  Haushaltung 
keineswegs  auf.  Kommunistischer  Haushalt  bedeutet 
aber  Herrschaft  der  Weiber  im  Hause,  wie  ausschliess- 
liche Anerkennung  einer  leiblichen  Mutter  bei  Unmög- 
lichkeit, einen  leiblichen  Vater  mit  Grewissheit  zu 
kennen,  hohe  Achtung  der  Weiber,  d.  h.  der  Mütter, 
bedeutet.  Es  ist  eine  der  absurdesten,  aus  der  Auf- 
klärung des  18.  Jahrhunderts  überkommenen  Vor- 
stellungen, das  Weib  sei  im  Anfang  der  Gesellschaft 
Sklavin  des  Mannes  gewesen.  Das  Weib  hat  bei  allen 
Wilden  und  allen  Barbaren  der  Unter-  und  Mittelstufe, 
theilweise  noch  der  Oberstufe,  eine  nicht  nur  freie, 
sondern  hochgeachtete  Stellung.  Was  es  noch  in  der 
Paarungsehe  ist ,  möge  Arthur  Wright,  langjähriger 
Missionar  unter  den  Seneka-Irokesen,  bezeugen :  „Was 
ihre  Familien  betrifft,  zur  Zeit,  wo  sie  noch  die  alten 
langen  Häuser  (kommunistische  Haushaltungen  mehrerer 
Familien)  bewohnten,  ...  so  herrschte  dort  immer  ein 
Clan  (eine  Grens)  vor,  so  dass  die  Weiber  ihre  Männer 
aus  den  andern  Clans  (Gentes)  nahmen.  .  .  .  Gewöhn- 
lich beherrschte  der  weibliche  Theil  das  Haus ;  die 
Vorräthe  waren  gemeinsam;  wehe  aber  dem  unglück- 
lichen Ehemann  oder  Liebhaber,  der  zu  träge  oder  zu 
ungeschickt  war,  seinen  Theil  zum  gemeinsamen  Vor- 
rath    beizutragen.     Einerlei  wie  viel  Kinder    oder   wie 


—     27     — 

viel  Eigenbesitz  er  im  Hause  hatte,  jeden  Augenblick 
konnte  er  des  Befehls  gewärtig  sein,  sein  Bündel  zu 
schnüren  und  sich  zu  trollen.  Und  er  durfte  nicht  ver- 
suchen, dem  zu  widerstehn ;  das  Haus  wurde  ihm  zu 
heiss  gemacht,  es  blieb  ihm  nichts  als  zu  seinem  eignen 
Clan  (Grens)  zurückzukehren  oder  aber,  was  meist  der 
Fall,  eine  neue  Ehe  in  einem  andern  Clan  aufzusuchen. 
Die  Weiber  waren  die  grosse  Macht  in  den  Clans 
(G-entes)  und  auch  sonst  überall.  G-elegentlich  kam  es 
ihnen  nicht  darauf  an,  einen  Häuptling  abzusetzen  und 
zum  gemeinen  Krieger  zu  degradiren."  —  Die  kommu- 
nistische Haushaltung,  in  der  die  Weiber  meist  oder 
alle  einer  und  derselben  Cens  angehören,  die  Männer 
aber  auf  verschiedene  G-entes  sich  vertheilen,  ist  die 
sachliche  G-rundlage  jener  in  der  Urzeit  allgemein  ver- 
breiteten Vorherrschaft  der  Weiber,  die  ebenfalls  ent- 
deckt zu  haben  ein  drittes  Verdienst  Bachofen's  ist.  — 
Nachträglich  bemerke  ich  noch,  dass  die  Berichte  der 
Reisenden  und  Missionare  über  Belastung  der  Weiber 
mit  übermässiger  Arbeit  bei  Wilden  und  Barbaren  dem 
Gesagten  keineswegs  widersprechen.  Die  Theilung  der 
Arbeit  zwischen  beiden  Greschlechtern  wird  bedingt 
durch  ganz  andre  Ursachen  als  die  Stellung  der  Frau 
in  der  G-esellschaft.  Völker,  bei  denen  die  Weiber 
weit  mehr  arbeiten  müssen ,  als  ihnen  nach  unsrer 
Vorstellung  gebührt,  haben  vor  den  Weibern  oft  weit 
mehr  wirkliche  Achtung,  als  unsere  Europäer.  Die 
Dame  der  Civilisation,  von  Scheinhuldigungen  umgeben 
und  aller  wirklichen  Arbeit  entfremdet,  hat  eine  un- 
endlich niedrigere  gesellschaftliche  Stellung  als  das  hart 
arbeitende  Weib  der  Barbarei,  das  in  seinem  Volk  für 
eine  wirkliche  Dame  (lady,  frowa,  Frau  =  Herrin) 
galt  und  auch  eine  solche  ihrem  Charakter  nach  war. 
Ob  die  Paarungsehe  in  Amerika  heute  die  Punalua- 
familie  gänzlich  verdrängt  hat,  müssen  nähere  Unter- 
suchungen über  die  noch  auf  der  Oberstufe  der  Wild- 
heit stehenden  nordwestlichen  und  südamerikanischen 
Völker  entscheiden.  Jedenfalls  sind  noch  nicht  alle 
Spuren  davon  verschwunden.  Bei  wenigstens  vierzig 
nordamerikanischen  Stämmen  hat  der  Mann,    der    eine 


—     28     — 

älteste  Schwester  lieirathet,  das  Recht,  alle  ihre  Schwe- 
stern ebenfalls  zu  Frauen  zu  nehmen,  sobald  sie  das 
erforderliche  Alter  erreichen:  Rest  der  Gremeinsamkeit 
der  Männer  für  die  ganze  Reihe  von  Schwestern.  Und 
von  den  Halbinsel-Kaliforniern  (Oberstufe  der  Wildheit) 
erzählt  Bancroft,  dass  sie  gewisse  Festlichkeiten  haben, 
wo  mehrere  Stämme  zusammenkommen  zum  Zweck  des 
unterschiedslosen  geschlechtlichen  Verkehrs.  Es  sind 
offenbar  Grentes,  die  in  diesen  Festen  die  dunkle  Er- 
innerung bewahren  an  die  Zeit,  wo  die  Frauen  Einer 
Grens  alle  Männer  der  andern  zu  ihren  gemeinsamen 
Ehemännern  hatten  und  umgekehrt.  Aehnliche  Reste 
aus  der  alten  Welt  sind  bekannt  genug,  so  die  Preis- 
gebung der  phönizischen  Mädchen  im  Tempel  an  den 
Festen  der  Astaroth;  selbst  das  mittelalterliche  Recht 
der  ersten  Nacht,  das  trotz  neuromantischer  deutscher 
Weisswaschungen  eine  sehr  handfeste  Existenz  gehabt 
hat,  ist  ein  vermuthlich  durch  die  keltische  Grens  (den 
Clan)  überliefertes  Stück  PunaluafamiKe. 

Die  Paarungsfamilie  entsprang  an  der  Grenze  zwi- 
schen Wildheit  und  Barbarei,  meist  schon  auf  der  Ober- 
stufe der  Wildheit,  hier  und  da  erst  auf  der  Unterstufe 
der  Barbarei.  Sie  ist  die  charakteristische  Familienform 
für  die  Barbarei,  wie  die  Grruppenehe  für  die  Wildheit 
und  die  Monogamie  für  die  Civilisation.  Um  sie  zur 
festen  Monogamie  weiter  zu  entwickeln,  bedurfte  es 
andrer  Ursachen,  als  derjenigen,  die  wir  bisher  wirkend 
fanden.  Die  Grruppe  war  in  der  Paarung  bereits  auf 
ihre  letzte  Einheit,  ihr  Molekül,  herabgebracht:  auf 
einen  Mann  und  eine  Frau.  Die  Naturzüchtung  hatte 
in  der  iminer  weiter  geführten  Ausschliessung  von  der 
Ehegemeinschaft  ihr  Werk  vollbracht;  in  dieser  Rich- 
tung blieb  nichts  mehr  für  sie  zu  thun.  Kamen  also 
nicht  neue,  gesellschaftliche  Triebkräfte  in  Wirk- 
samkeit, so  war  kein  Grund  vorhanden,  warum  aus  der 
Paarung  eine  neue  Familienform  hervorgehn  sollte. 
Aber  diese  Triebkräfte  traten  in  Wirksamkeit. 

Wir  verlassen  jetzt  Amerika,  den  klassischen  Boden 
der  Paarungsfamilie.  Kein  Anzeichen  lässt  schliessen, 
dass    dort    eine    höhere  Familienform    sich    entwickelt, 


—     29    — 

dass  dort  vor  der  Entdeckung  und  Eroberung'  jemals 
irgendwo  feste  Monogamie  bestanden  habe.  Anders  in 
der  alten  Welt. 

Hier  hatte  die  Zähmung  der  Hausthiere  und  die 
Züchtung  von  Heerden  eine  bisher  ungeahnte  Quelle 
des  ßeichthums  entwickelt  und  ganz  neue  gesellschaft- 
liche Verhältnisse  geschaffen.  Bis  auf  die  Unterstufe 
der  Barbarei  hatte  der  ständige  Reichthum  bestanden 
fast  nur  in  dem  Haus,  der  Kleidung,  rohem  Schmuck 
und  den  Werkzeugen  zur  Erringung  und  Bereitung  der 
Nahrung :  Boot,  Waffen,  Hausrath  einfachster  Art.  Die 
Nahi'ung  musste  Tag  um  Tag  neu  errungen  werden. 
Jetzt,  mit  den  Heerden  der  Pferde ,  Kamele ,  Esel, 
Rinder,  Schafe,  Ziegen  und  Schweine  hatten  die  vordrin- 
genden Hirtenvölker  —  die  Arier  im  indischen  Eünf- 
stromland  und  Grangesgebiet  wie  in  den  damals  noch 
weit  wasserreicheren  Steppen  am  Oxus  und  Jaxartes ; 
die  Semiten  am  Euphrat  und  Tigris  —  einen  Besitz 
erworben,  der  nur  der  Aufsicht  und  rohesten  Pflege 
bedurfte,  um  sich  in  stets  vermehrter  Zahl  fortzupflanzen 
und  die  reichlichste  Nahrung  an  Milch  und  Fleisch  zu 
liefern.  Alle  früheren  Mittel  der  Nahrungsbeschaffung 
traten  nun  in  den  Hintergrund ;  die  Jagd,  früher  eine 
Noth wendigkeit,  wurde  nun  ein  Luxus. 

Wem  gehörte  aber  dieser  neue  Reichthum  ?  Un- 
zweifelhaft ursprünglich  der  Grens.  Aber  schon  früh 
muss  sich  Privateigenthum  an  den  Heerden  entwickelt 
haben.  Es  ist  schwer  zu  sagen,  ob  dem  Verfasser  des 
s.  g.  ersten  Buchs  Mosis  der  Vater  Abraham  erschien 
als  Besitzer  seiner  Heerden  kraft  eignen  Rechts  oder 
kraft  seiner  Eigenschaft  als  thatsächlich  erblicher  Vor- 
steher einer  Glens.  Sicher  ist  nur,  dass  wir  ihn  uns 
nicht  als  Eigenthümer  im  modernen  Sinn  vorstellen 
dürfen.  Und  sicher  ist  ferner,  dass  wir  an  der  Schwelle 
der  beglaubigten  Greschichte  die  Heerden  schon  überall 
in  Privateigenthum  einzelner  Familienvorstände  finden, 
ganz  wie  die  Kunsterzeugnisse  der  Barbarei,  Metall- 
geräth,  Luxusartikel  und  endlich  das  Men sehen vieh  — 
die  Sklaven. 

Denn  jetzt  war  auch  die  Sklaverei  erfunden.    Dem 


—     30     — 

Barbaren  der  Unterstufe  war  der  Sklave  wertMos.  Da- 
her aucli  die  amerikanischen  Indianer  mit  den  besiegten 
Feinden  ganz  anders  verfuhren  als  auf  höherer  Stufe 
geschah.  Die  Männer  wurden  getödtet  oder  aber  in  den 
Stamm  der  Sieger  als  Brüder  aufgenommen ;  die  Weiber 
wurden  geheirathet  oder  sonst  mit  ihren  überlebenden 
Kindern  ebenfalls  adoptirt.  Die  menschliche  Arbeits- 
kraft liefert  auf  dieser  Stufe  noch  keinen  beachtens- 
werthen  Ueberschuss  über  ihre  Unterhaltskosten.  Mit 
der  Einführung  der  Viehzucht,  der  Metallbearbeitung, 
der  Weberei  und  endlich  des  Feldbaus  wurde  das  anders. 
Wie  die  früher  so  zahlreichen  Grattinnen  jetzt  einen 
Werth  bekommen  hatten  und  gekauft  wurden,  so  ge- 
schah es  mit  den  Arbeitskräften,  besonders  seitdem  die 
Heerden  endgültig  in  Privatbesitz  übergegangen  waren. 
Die  Familie  vermehrte  sich  nicht  ebenso  rasch  wie  das 
Vieh.  Mehr  Leute  Avurden  erfordert,  es  zu  beaufsich- 
tigen; dazu  Hess  sich  der  kriegsgefangne  Feind  be- 
nutzen, der  sich  ausserdem  ebensogut  fortzüchten  liess 
wie  das  Vieh  selbst. 

Solche  Reichthümer,  sobald  sie  einmal  in  Privat- 
besitz übergegangen  und  dort  rasch  vermehrt,  gaben 
der  auf  Paarungsehe  und  Gens  gegründeten  Gresellschaft 
einen  mächtigen  Stoss.  Die  Paarungsehe  hatte  ein  neues 
Element  in  die  Familie  eingeführt.  Neben  die  leibliche 
Mutter  hatte  sie  den  beglaubigten  leiblichen  Vater 
gestellt,  der  noch  dazu  wahrscheinlich  besser  beglaubigt 
war  als  gar  manche  „Väter"  heutzutage.  Nach  der 
damaligen  Arbeitstheilung  in  der  Familie  fiel  dem  Mann 
die  Beschaffung  der  Nahrung  und  der  hiezu  nöthigen 
Arbeitsmittel,  also  auch  das  Eigenthum  an  diesen  letz- 
teren zu ;  er  nahm  sie  mit,  im  Fall  der  Scheidung,  wie 
die  Frau  ihren  Hausrath  behielt.  Nach  dem  Brauch  der 
damaligen  Gresellschaft  also  war  der  Mann  auch  Eigen- 
thümer  der  neuen  Nahrungsquelle,  des  Viehs  und  später 
des  neuen  Arbeitsmittels,  der  Sklaven.  Nach  dem  Brauch 
derselben  Gresellschaft  aber  konnten  seine  Kinder  nicht 
von  ihm  erben,    denn  damit   stand  es  folgendermassen. 

Nach  Mutterrecht,  also  so  lange  Abstammung  nur 
in   weiblicher    Linie    gerechnet    wurde   und   nach   dem 


—     31     — 

ursprünglichen  Erbgebrauch  in  der  Grens  erbten  anfäng- 
lich die  Grentilverwandten  von  ihrem  verstorbenen Greutil- 
genossen.  Das  Vermögen  musste  in  der  Gens  bleiben. 
Bei  der  Unbedeutendheit  der  G-egenstände  mag  es  von 
jeher  in  der  Praxis  an  die  nächsten  Grentilverwandten, 
also  an  die  Agnaten  mütterlicher  Seite,  übergegangen 
sein.  Die  Kinder  des  verstorbenen  Mannes  aber  gehör- 
ten nicht  seiner  Gens  an,  sondern  der  ihrer  Mutter; 
sie  erbten  zuerst  mit  den  übrigen  Agnaten  der  Mutter, 
später  vielleicht  in  erster  Linie  von  dieser,  aber  von 
ihrem  Yater  konnten  sie  nicht  erben,  weil  sie  nicht  zu 
seiner  Gens  gehörten,  sein  Vermögen  aber  in  dieser 
bleiben  musste.  Bei  dem  Tode  des  Heerdenbesitzers 
wären  also  seine  Heerden  übergegangen  zunächst  an 
seine  Brüder  und  Schwestern  und  an  die  Kinder  seiner 
Schwestern,  oder  an  die  Nachkommen  der  Schwestern 
seiner  Mutter.  Seine  eigenen  Kinder  aber  waren  enterbt. 
In  dem  Verhältniss  also  wie  die  Reichthümer  sich 
mehrten,  gaben  sie  einerseits  dem  Mann  eine  wichtigere 
Stellung  in  der  Familie  als  der  Frau,  und  erzeugten 
andrerseits  den  Antrieb,  diese  verstärkte  Stellung  zu 
benutzen,  um  die  hergebrachte  Erbfolge  zu  Gunsten 
der  Kinder  umzustossen.  Dies  ging  aber  nicht,  so  lange 
die  Abstammung  nach  Mutterrecht  galt.  Diese  also 
musste  umgestossen  werden  und  sie  wurde  umgestossen. 
Es  war  dies  gar  nicht  so  schwer,  wie  es  uns  heute 
erscheint.  Denn  diese  Revolution  —  eine  der  ein- 
schneidendsten, die  die  Menschen  erlebt  haben  — 
brauchte  nicht  ein  einziges  der  lebenden  Mitglieder 
einer  Gens  zu  berühren.  Alle  ihre  Angehörigen  konnten 
nach  wie  vor  bleiben,  was  sie  gewesen.  Der  einfache 
Beschluss  genügte,  dass  in  Zukvmft  die  Nachkommen 
der  männlichen  Genossen  in  der  Gens  bleiben,  die  der 
weiblichen  aber  ausgeschlossen  sein  sollten,  indem  sie 
in  die  Gens  ihres  Vaters  übergingen.  Damit  Avar  die 
Abstammungsrechnung  in  weiblicher  Linie  und  das 
mütterliche  Erbrecht  umgestossen,  männliche  Abstam- 
mungslinie und  väterliches  Erbrecht  eingesetzt.  Wie 
sich  diese  Revolution  bei  den  Kulturvölkern  gemacht 
hat,    und  wann,    darüber  wissen  wir   nichts.     Sie    fällt 


—     32     — 

ganz  in  die  vorgeschichtliche  Zeit.  D  a  s  s  sie  sich  aber 
gemacht,  ist  mehr  als  nöthig  erwiesen  durch  die  na- 
mentlich von  Bachofen  gesammelten  reichlichen  Spuren 
von  Mutterrecht,  und  wie  leicht  sie  sich  vollzieht, 
sehen  wir  an  einer  ganzen  Reihe  von  Indianerstämmen, 
wo  sie  erst  neuerdings  gemacht  worden  ist  und  noch 
gemacht  wird,  unter  dem  Einfluss  theils  wachsenden 
Reich thums  und  veränderter  Lebensweise  (Versetzung 
aus  den  Wäldern  in  die  Prairie),  theils  moralischer 
Einwirkungen  der  Civilisation  und  der  Missionare.  Von 
acht  Missouristämmen  haben  sechs  männliche,  aber  zwei 
noch  weibliche  Abstammungslinie  und  Erbfolge.  Bei 
den  Shawnees,  Miamies  und  Delawares  ist  die  Sitte 
eingerissen,  die  Kinder  durch  einen  der  G-ens  des  Vaters 
gehörigen  Grentilnamen  in  diese  zu  versetzen,  damit  sie 
vom  Vater  erben  können.  „Eingeborne  Kasuisterei  des 
Menschen,  die  Dinge  zu  ändern,  indem  man  ihre  Namen 
ändert!  Und  Schlupfwinkel  zu  finden,  um  innerhalb 
der  Tradition  die  Tradition  zu  durchbrechen,  wo  ein 
direktes  Interesse  den  hinreichenden  Antrieb  gab!" 
(Marx.)  Dadurch  entstand  heillose  Verwirrung,  der 
nur  abzuhelfen  war,  und  theil weise  auch  abgeholfen 
wurde,  durch  Uebergang  zum  Vaterrecht.  „Dies  scheint 
überhaupt  der  natürlichste  Uebergang."    (Marx.) 

Der  Umsturz  des  Mutterrechts  war  die  welt- 
geschichtliche Niederlage  des  weiblichen 
Greschlechts.  Der  Mann  ergriff  das  Steuer  auch  im 
Hause,  die  Frau  wurde  entwürdigt,  geknechtet,  Sklavin 
seiner  Lust  und  blosses  Werkzeug  der  Kinderzeugung. 
Diese  erniedrigte  Stellung  der  Frau,  wie  sie  nament- 
lich bei  den  Griechen  der  heroischen  und  klassischen 
Zeit  offen  hervortritt,  ist  allmälig  beschönigt  und  ver- 
heuchelt, auch  stellenweise  in  mildere  Formen  gekleidet 
worden ;  beseitigt  ist  sie  keineswegs. 

Die  erste  Wirkung  der  nun  begründeten  Allein- 
herrschaft der  Männer  zeigt  sich  in  der  jetzt  auftau- 
chenden Zwischenform  der  patriarchalischen  Familie. 
Was  sie  hauptsächlich  bezeichnet,  ist  nicht  die  Viel- 
weiberei, wovon  später,  sondern  die  Organisation  einer 
Anzahl    von    freien    und    unfreien   Personen    zu    einer 


Familie  unter  der  väterlichen  Gewalt  des  Familien- 
haupts.  In  der  semitischen  Form  lebt  dies  Familien- 
haupt  in  Vielweiberei,  die  Unfreien  haben  Weib  und 
Kinder,  und  der  Zweck  der  ganzen  Organisation  ist  die 
Wartung  von  Heerden  auf  einem  abgegränzten  Grebiet". 
Da>!  Wesentliche  ist  die  Einverleibung  von  Unfreien 
und  die  väterliche  Gewalt;  daher  ist  der  vollendete 
Typus  dieser  Familienform  die  römische  Familie.  Das 
Wort  familia  bedeutet  ursprünglich  nicht  das  aus  Senti- 
mentalität und  häuslichem  Zwist  zusammengesetzte  Ideal 
des  heutigen  Philisters ;  es  bezieht  sich  bei  den  Römern 
anfänglich  gar  nicht  einmal  auf  das  Ehepaar  und  dessen 
Bänder,  sondern  auf  die  Sklaven  allein.  Famulus  heisst 
ein  Haussklave,  und  familia  ist  die  Gesammtheit  der 
einem  Mann  gehörenden  Sklaven.  Noch  zu  Gajus  Zeit 
wurde  die  familia,  id  est  Patrimonium  (d.  h.  das  Erb- 
theil)  testamentarisch  vermacht.  Der  Ausdruck  wurde 
von  den  Eömern  erfunden,  um  einen  neuen  gesellschaft- 
lichen Organismus  zu  bezeichnen,  dessen  Haupt  Weib 
und  Kinder  und  eine  Anzahl  Sklaven  unter  römischer 
väterlicher  Gewalt,  mit  dem  Recht  über  Tod  und  Leben 
Aller,  unter  sich  hatte.  „Das  Wort  ist  also  nicht  älter 
als  das  eisengepanzerte  Familiensystem  der  latinischen 
Stämme,  welches  aufkam  nach  Einführung  des  Feld- 
baus und  der  gesetzlichen  Sklaverei,  und  nach  der 
Trennung  der  arischen  Italer  von  den  Griechen."  Marx 
setzt  hinzu :  „Die  moderne  Familie  enthält  im  Keim 
nicht  nur  Sklaverei  (servitus),  sondern  auch  Leibeigen- 
schaft, da  sie  von  vornherein  Beziehung  hat  auf  Dienste 
für  Ackerbau.  Sie  enthält  in  Miniatur  alle  die  Gegen- 
sätze in  sich,  die  sich  später  breit  entwickeln  in  der 
Gesellschaft  und  in  ihrem  Staat." 

Eine  solche  Familienform  zeigt  den  Uebergang  der 
Paarungsehe  in  die  Monogamie.  Um  die  Treue  der  Frau, 
also  die  Vaterschaft  der  Kinder,  sicher  zu  stellen,  wird 
die  Frau  der  Gewalt  des  Mannes  unbedingt  überliefert: 
wenn  er  sie  tödtet,  so  übt  er  nur  sein  Recht  aus. 

Ehe  wir  zu  der  mit  dem  Sturz  des  Mutterrechtes 
sich  rasch  entwickelnden  Monogamie  übergehn,  noch 
ein    paar  Worte   über  Vielweiberei    und  Vielmännerei. 

3 


—     34     — 

Beide  Eheformen  können  nur  Ausnahmen  sein,  sozu- 
sagen geschichtliche  Luxusprodukte,  es  sei  denn,  sie 
kämen  in  einem  Lande  neben  einander  vor,  was  be- 
kanntlich nicht  der  Fall  ist.  Da  also  die  von  der  Viel- 
weiberei ausgeschlossenen  Männer  sich  nicht  bei  dea 
von  der  Vielmännerei  übriggebliebenen  Weibern  trösten 
können,  die  Anzahl  von  Männern  und  Weibern  aber 
ohne  Rücksicht  auf  soziale  Institutionen  bisher  ziemlich 
gleich  war,  ist  die  Erhebung  der  einen  wie  der  andern 
dieser  Eheformen  zur  allgemein  geltenden  von  selbst 
ausgeschlossen.  In  der  That  war  die  exklusive  Viel- 
weiberei Eines  Mannes  offenbar  Produkt  der  Sklaverei 
und  beschränkt  auf  einzelne  Ausnahmsstellungen.  In 
der  semitisch -patriarchalischen  Familie  lebt  nur  der 
Patriarch  selbst,  und  höchstens  noch  ein  paar  seiner 
Söhne,  in  Vielweiberei,  die  übrigen  müssen  sich  mit 
Einer  Frau  begnügen.  So  ist  es  noch  heute  im  ganzen 
Orient ;  die  Vielweiberei  ist  ein  Privilegium  der  Reichen 
und  Vornehmen  und  rekrutirt  sich  hauptsächlich  durch 
Kauf  von  Sklavinnen ;  die  Masse  des  Volks  lebt  in  Mo- 
nogamie. Eine  ebensolche  Ausnahme  ist  die  Vielmännerei 
in  Indien  und  Tibet,  deren  sicher  nicht  uninteressanter 
Ursprung  aus  der  Punaluafamilie  noch  näher  zu  unter- 
suchen ist.  In  ihrer  Praxis  scheint  sie  übrigens  viel 
coulanter  als  die  eifersüchtige  Haremswirthschaft  der 
Muhamedaner.  Wenigstens  haben  bei  den  Nairs  in 
Indien  je  drei,  vier  oder  mehr  Männer  zwar  eine  ge- 
meinsame Frau;  aber  jeder  von  ihnen  kann  daneben 
mit  drei  oder  mehr  andern  Männern  eine  zweite  Frau 
in  Gremein  Schaft  haben,  und  so  eine  dritte,  vierten,  s.w. 
Es  ist  ein  Wunder,  dass  MacLennan  in  diesen  Eheclubs, 
in  deren  Mehreren  man  Mitglied  sein  kann  und  die  er 
selbst  beschreibt,  nicht  die  neue  Klasse  der  Club  ehe 
entdeckt  hat. 

4.  Die  monogamische  Familie.  Sie  entsteht 
aus  der  Paarungsfamilie,  wie  gezeigt,  im  Glrenzzeitalter 
zwischen  der  mittleren  und  oberen  Stufe  der  Barbarei; 
ihr  endgültiger  Sieg  ist  eins  der  Kennzeichen  der  be- 
ginnenden Civilisation.  Sie  ist  gegründet  auf  die  Herr- 
schaft des  Mannes  mit  dem  ausdrücklichen  Zweck  der 


—    35     — 

Erzeugung  von  Kindern  mit  unbestrittener  Täterschaft, 
und  diese  Yaterschaft  wird  erfordert,  weil  diese  Kinder 
als  Leibeserben  in  das  väterliche  Vermögen  dereinst 
eintreten  sollen.  Sie  unterscheidet  sich  von  der  Paarungs- 
ehe durch  weit  grössere  Festigkeit  des  Ehebandes,  das 
nun  nicht  mehr  nach  beiderseitigem  Grefallen  lösbar  ist. 
Es  ist  jetzt  in  der  Regel  nur  noch  der  Mann,  der  es 
lösen  und  seine  Frau  Verstössen  kann.  Das  Recht  der 
ehelichen  Untreue  bleibt  ihm  auch  jetzt  wenigstens 
noch  durch  die  Sitte  gewährleistet  (der  Code  Napoleon 
schreibt  es  dem  Mann  ausdrücklich  zu,  so  lange  er  nicht 
die  Beischläferin  in's  eheliche  Haus  bringt)  und  wird 
mit  steigender  gesellschaftlicher  Entwicklung  immer 
mehr  ausgeübt ;  erinnert  sich  die  Frau  der  alten  ge- 
schlechtlichen Praxis  und  will  sie  erneuern,  so  wird 
sie  strenger  bestraft  als  je  vorher. 

In  ihrer  ganzen  Härte  tritt  uns  die  neue  Familien- 
form entgegen  bei  den  Grriechen.  Während,  wie  Marx 
bemerkt,  die  Stellung  der  Göttinnen  in  der  Mythologie 
uns  eine  frühere  Periode  vorführt,  wo  die  Frauen  noch 
eine  freiere,  geachtetere  Stellung  hatten,  finden  wir 
zur  Heroenzeit  die  Frau  in  einer  halbgefänglichen  Ab- 
geschlossenheit, um  die  richtige  Vaterschaft  der  Kinder 
sicher  zu  stellen.  Der  Mann  dagegen  vergnügt  sich 
mit  kriegsgefangnen  Sklavinnen,  seinen  Zeltgenossinnen 
im  Kriege.  Kaum  besser  in  der  klassischen  Periode. 
Man  kann  in  Becker's  Charikles  des  Breiteren  nach- 
lesen, wie  die  Grriechen  ihre  Frauen  behandelten.  Wenn 
nicht  gerade  eingeschlossen,  so  doch  abgeschlossen  von 
der  Welt,  waren  sie  die  obersten  Hausmägde  ihrer 
Männer  geworden,  beschränkt  auf  den  Verkehr  vor- 
nehmlich der  übrigen  Hausmägde.  Die  Mädchen  wur- 
den direkt  eingeschlossen,  die  Frauen  gingen  nur  aus 
in  Begleitung  von  Sklavinnen.  Kam  Männerbesuch,  so 
zog  sich  die  Frau  in  ihr  Gemach  zurück.  Trotzdem 
fanden  die  Griechinnen  oft  genug  Gelegenheit,  ihre 
Männer  zu  täuschen.  Diese,  die  sich  geschämt  hätten, 
irgend  welche  Liebe  für  ihre  Frauen  zu  verrathen, 
amüsirten  sich  in  allerlei  Liebeshändeln  mit  Hetären; 
aber  die  Entwürdigung  der  Frauen  rächte  sich  an  den 


—     36     — 

Männern  und  entwürdigte  auch  sie,  bis  sie  versanken 
in  die  Widerwärtigkeit  der  Knabenliebe  und  ilire  Götter 
entwürdigten  wie  sich  selbst  durch  den  Mythus  von 
Granymed. 

Das  war  der  Ursprung  der  Monogamie,  soweit  wir 
ihn  beim  civilisirtesten  und  am  höchsten  entwickelten 
Volk  des  Alterthums  verfolgen  können.  Sie  war  keines- 
wegs eine  Frucht  der  individuellen  Geschlechtsliebe, 
mit  der  sie  absolut  nichts  zu  schaffen  hatte,  da  die 
Ehen  nach  wie  vor  Convenienzehen  blieben.  Sie  war 
die  erste  Familienform,  die  nicht  auf  natürliche,  son- 
dern auf  gesellschaftliche  Bedingungen  gegründet  war. 
Herrschaft  des  Mannes  in  der  Familie  und  Erzeugung 
von  Kindern,  die  nur  die  seinigen  sein  konnten  und 
die  zu  Erben  seines  E,eichthums  bestimmt  waren  — 
das  allein  waren  die  von  den  Griechen  unumwunden 
ausgesprochenen  ausschliesslichen  Zwecke  der  Einzelehe. 
Im  Uebrigen  war  sie  ihnen  eine  Last,  eine  Pflicht 
gegen  die  Götter,  den  Staat  und  die  eignen  Vorfahren, 
die  eben  erfüllt  werden  musste. 

So  tritt  die  Einzelehe  keineswegs  ein  in  die  Geschichte 
als  die  Versöhnung  von  Mann  und  Weib,  noch  viel  we- 
niger als  ihre  höchste  Form.  Im  Gegentheil.  Sie  tritt 
auf  als  Unterjochung  des  einen  Geschlechts  durch  das 
andere,  als  Proklamation  eines  bisher  in  der  ganzen 
Vorgeschichte  unbekannten  Widerstreits  der  Geschlech- 
ter. In  einem  alten,  1846  von  Marx  und  mir  ausgear- 
beiteten, ungedruckten  Manuskript  finde  ich :  „Die  erste 
Theilung  der  Arbeit  ist  die  von  Mann  und  Weib  zur 
Kinderzeugung."  Und  heute  kann  ich  hinzusetzen :  Der 
erste  Klassengegensatz,  der  in  der  Geschichte  auftritt, 
fällt  zusammen  mit  der  Entwicklung  des  Antagonismus 
von  Mann  und  Weib  in  der  Einzelehe,  und  die  erste 
Klassenunterdrückung  mit  der  des  weiblichen  Geschlechts 
durcli  das  männliche.  Die  Einzelehe  war  ein  grosser 
geschichtlicher  Fortschritt,  aber  zugleich  eröffnet  sie 
neben  der  Sklaverei  und  dem  Privatreichthum  jene  bis 
heute  dauernde  Epoche,  in  der  jeder  Fortschritt  zugleich 
ein  relativer  Rückschritt,  in  dem  das  Wohl  und  die 
Entwicklung  der  Einen  sich  durchsetzt  durch  das  Wehe 


'      _     37     — 

und  die  Zurückdräiigung  der  Andern.  Sie  ist  die  Zellen- 
form der  civilisirten  Gresellschaft,  an  der  wir  schon  die 
Natur  der  in  dieser  sich  voll  entfaltenden  Gregensätze 
nnd  Widersprüche  studiren  können. 

Die  alte  verhältnissmässige  Freiheit  des  G-eschlechts- 
verkehrs  verschwand  keineswegs  mit  dem  Sieg  der 
Paarungs-  oder  selbst  der  Einzelehe.  „Das  alte  Ehe- 
system, auf  engere  GTrenzen  zurückgeführt  durch  das 
allmälige  Aussterben  der  Punaluagruppen,  umgab  immer 
noch  die  sich  fortentwickelnde  Familie  und  hing  an 
ihren  Schössen  bis  an  die  aufdämmernde  Civilisation 
hinan  ...  es  verschwand  schliesslich  in  der  neuen  Form 
des  Hetärismus,  die  die  Menschen  bis  in  die  Civilisation 
hinein  verfolgt,  wie  ein  dunkler  Schlagschatten,  der 
auf  der  Familie  ruht."  Unter  Hetärismus  versteht 
Morgan  den  neben  der  Einzelehe  bestehenden 
ausserehelichen  geschlechtlichen  Verkehr  der  Männer 
mit  unverheiratheten  Weibern,  der  bekanntlich  während 
der  ganzen  Periode  der  Civilisation  in  den  verschie- 
densten Formen  blüht  und  mehr  und  mehr  zur  offenen 
Prostitution  wird.  Dieser  Hetärismus,  der  eine  gesell- 
schaftliche Einrichtung  ist  wie  jede  andere,  setzt  also 
die  alte  Greschlechtsfreiheit  fort  —  zu  Grünsten  der 
Männer.  In  der  Wirklichkeit  nicht  nur  geduldet,  son- 
dern namentlich  von  den  herrschenden  Klassen  flott 
mitgemacht,  wird  er  in  der  Phrase  verdammt.  Aber 
in  der  Wirklichkeit  trifft  diese  Verdammung  keines- 
wegs die  dabei  betheiligten  Männer,  sondern  nur  die 
Weiber:  sie  werden  geächtet  und  ausgestossen,  um  so 
nochmals  die  unbedingte  Herrschaft  der  Männer  über 
das  weibliche  Greschlecht  als  gesellschaftliches  Grund- 
gesetz zu  proklamiren. 

Aber  man  kann  nicht  die  eine  Seite  des  Gregen- 
satzes  haben  ohne  die  andere,  ebensowenig  wie  man 
noch  einen  ganzen  Apfel  in  der  Hand  hat,  nachdem 
die  eine  Hälfte  gegessen.  Trotzdem  scheint  dies  die 
Meinung  der  Männer  gewesen  zu  sein,  bis  ihre  Frauen 
sie  eines  Bessern  belehrten.  Mit  der  Einzelehe  treten 
zwei  ständige  gesellschaftliche  Charakterfiguren  auf, 
die    früher   unbekannt  waren:    der   ständige  Liebhaber 


—     38     —      • 

der  Frau  und  der  Halinrei.  Die  Männer  hatten  den 
Sieg  über  die  Weiber  errung-en,  aber  die  Krönung 
übernabmen  grossmütbig  die  Besiegten.  Neben  der 
Einzelebe  und  dem  Hetärismus  wurde  der  Ebebruch 
eine  unvermeidlicbe  gesellschaftliche  Einrichtung  — 
verpönt,  hart  bestraft,  aber  ununterdrückbar.  Die  sichere 
Täterschaft  der  Kinder  beruhte  nach  wie  vor  höchstens 
auf  moralischer  Ueberzeugung,  und  um  den  unlöslichen 
Widerspruch  zu  lösen,  dekretirte  der  Code  Napoleon 
Art.  312:  L'enfant  congu  pendant  le  mariage  a  pour 
pfere  le  mari;  das  während  der  Ehe  empfangene  Kind 
hat  zum  Vater  —  den  Ehemann.  Das  ist  das  letzte 
Resultat  von  dreitausend  Jahren  Eiuzelehe. 

So  haben  wir  in  der  Einzelfamilie,  in  den  Fällen, 
die  ihrer  geschichtlichen  Entstehung  treu  bleiben  und 
den  durch  die  ausschliessliche  Herrschaft  des  Mannes 
ausgesprochnen  Widerstreit  von  Mann  und  Weib  klar 
zur  Erscheinung  bringen,  ein  Bild  im  Kleinen  derselben 
G-egensätze  und  Widersprüche,  in  denen  sich  die  seit 
Eintritt  der  Civilisation  in  Klassen  gespaltene  Gesell- 
schaft bewegt,  ohne  sie  auflösen  und  überwinden  zu 
können.  Ich  spreche  hier  natürlich  nur  von  jenen  Fällen 
der  Einzelehe,  wo  das  eheliche  Leben  in  Wirklichkeit 
nach  Vorschrift  des  ursprünglichen  Charakters  der  gan- 
zen Einrichtung  verläuft,  wo  die  Frau  aber  gegen  die 
Herrschaft  des  Mannes  rebellirt.  Dass  nicht  alle  Ehen 
so  verlaufen,  weiss  niemand  besser  als  der  deutsche 
Philister,  der  seine  Herrschaft  im  Hause  nicht  besser 
zu  wahren  weiss  als  im  Staat,  und  dessen  Frau  daher 
mit  vollem  Recht  die  Hosen  trägt,  deren  er  nicht  werth 
ist.  Dafür  dünkt  er  sich  aber  auch  weit  erhaben  über 
seinen  französischen  Leidensgenossen,  dem,  öfter  als  ihm 
selbst,  weit  Schlimmeres  passirt. 

Die  Einzelfamilie  trat  übrigens  keineswegs  überall 
und  jederzeit  in  der  klassisch-schroffen  Form  auf,  die 
sie  bei  den  Griechen  hatte.  Bei  den  Römern,  die  als 
künftige  Welteroberer  einen  weiteren,  wenn  auch  we- 
niger feinen  Blick  hatten  als  die  Griechen,  war  die 
Frau  freier  und  geachteter.  Der  Römer  glaubte  die 
eheliche  Treue  durch  die  Gewalt  über  Leben  und  Tod 


—    39     — 

seiner  Frau  hinlänglich  verbürgt.  Auch  konnte  die  Frau 
hier  ebensogut  wie  der  Mann  die  Ehe  freiwillig  lösen. 
Aber  der  grösste  Fortschritt  in  der  Entwicklung  der 
Einzelehe  geschah  entschieden  mit  dem  Eintritt  der 
Deutschen  in  die  Geschichte,  und  zwar  weil  bei  ihnen 
damals  die  Monogamie  sich  noch  nicht  vollständig  aus 
der  Paarungsehe  entwickelt  zu  haben  scheint.  Wir 
schliessen  dies  aus  drei  Umständen,  die  Tacitus  er- 
wähnt :  Erstens  galt  bei  grosser  Heilighaltung  der  Ehe 

—  „sie  begnügen  sich  mit  Einer  Frau,  die  Weiber 
leben  eingehegt  durch  Keuschheit"  —  dennoch  Viel- 
weiberei für  die  Yornehmen  und  Stammesführer,  also 
ein  Zustand  ähnlich  dem  der  Amerikaner,  bei  denen 
Paarungsehe  galt.  Und  zweitens  konnte  der  Uebergang 
von  Mutterrecht  zu  Vaterrecht  erst  kurz  vorher  ge- 
macht worden  sein,    denn   noch    galt  der  Mutterbruder 

—  der  nächste  männliche  Gentilverwandte  nach  Mutter- 
recht  —  als  fast  ein  näherer  Verwandter  denn  der 
eigne  Vater,  ebenfalls  entsprechend  dem  Standpunkt 
der  amerikanischen  Indianer,  bei  denen  Marx,  wie  er 
oft  sagte,  den  Schlüssel  zum  Verständniss  unserer  eignen 
Urzeit  gefunden.  Und  drittens  waren  die  Frauen  bei 
den  Deutschen  hoch  geachtet  und  einflussreich  auch 
auf  öffentliche  Geschäfte,  was  im  direkten  Gegensatz 
zur  monogamischen  Männerherrschaft  steht.  Mit  den 
Deutschen  kam  also  auch  in  dieser  Beziehung  ein  ganz 
neues  Element  zur  Weltherrschaft.  Die  neue  Monogamie, 
die  sich  nun  auf  den  Trümmern  der  Römerwelt  aus  der 
Völkermischung  entwickelte,  kleidete  die  Männerherr- 
schaft in  mildere  Formen  und  liess  den  Frauen  eine 
wenigstens  äusserlich  weit  geachtetere  und  freiere 
Stellung  als  das  klassische  Alterthum  sie  je  gekannt. 
Damit  erst  war  die  Möglichkeit  gegeben,  auf  der  sich 
aus  der  Monogamie  —  in  ihr,  neben  ihr  und  gegen  sie, 
je  nachdem  —  der  grösste  sittliche  Fortschritt  ent- 
wickeln konnte,  den  wir  ihr  verdanken :  die  moderne 
individuelle  Geschlechtsliebe,  die  der  ganzen  früheren 
Welt  unbekannt  war. 

Dieser  Fortschritt    entsprang    aber  entschieden  aus 
dem  Umstand,  dass  die  Deutschen  noch  in  der  Paarungs- 


—     40     — 

familie  lebten,  und  die  ihr  entsprechende  Stellung  der 
Frau,  soweit  es  anging,  der  Monogamie  aufpfropften, 
keineswegs  aber  aus  der  sagenhaften,  wunderbar  sitten- 
reinen Naturanlage  der  Deutschen,  die  sich  darauf  be- 
schränkt, dass  die  Paarungsehe  sich  in  der  That  nicht 
in  den  grellen  sittlichen  Gregensätzen  bewegt  wie  die 
Monogamie.  Im  Gregentheil  waren  die  Deutschen  auf 
ihren  Wanderzügen,  besonders  nach  Südost  zu  den 
Steppennomaden  am  Schwarzen  Meer,  sittlich  stark 
verkommen  und  hatten  bei  diesen  ausser  ihren  Reiter- 
künsten auch  arge  widernatürliche  Laster  angenommen, 
was  Ammianus  von  den  Thaifalern  und  Prokop  von 
den  Herulern  ausdrücklich  bezeugt. 

Wenn  aber  die  Monogamie  von  allen  bekannten 
Familienformen  diejenige  war,  unter  der  allein  sich  die 
moderne  Greschlechtsliebe  entwickeln  konnte,  so  heisst 
das  nicht,  dass  sie  sich  ausschliesslich  oder  nur  vor- 
wiegend in  ihr,  als  Liebe  der  Ehegatten  zu  einander, 
entwickelte.  Die  ganze  Natur  der  festen  Einzelehe  unter 
Mannesherrschaft  schloss  das  aus.  Bei  allen  geschicht- 
lich aktiven,  d.  h.  bei  allen  herrschenden  Klassen  blieb 
die  Eheschliessung,  was  sie  seit  der  Paarungsehe  ge- 
wesen, Sache  der  Konvenienz,  die  von  den  Eltern 
arrangirt  wurde.  Und  die  erste  geschichtlich  auftretende 
Form  der  Greschlechtsliebe  als  Leidenschaft,  und  als 
jedem  Menschen  (wenigstens  der  herrschenden  Klassen) 
zukommende  Leidenschaft,  als  höchste  Form  des  Gre- 
schlechtstriebs  —  was  gerade  ihren  spezifischen  Cha- 
rakter ausmacht  —  diese  ihre  erste  Form,  die  ritterliche 
Liebe  des  Mittelalters,  war  keineswegs  eine  eheliche 
Liebe.  Im  GTegentheil.  In  ihrer  klassischen  Grestalt, 
bei  den  Provenzalen,  steuert  sie  mit  vollen  Segeln  auf 
den  Ehebruch  los  und  ihre  Dichter  feiern  ihn.  Die 
Blüte  der  provenzalischen  Liebespoesie  sind  die  Albas, 
deutsch  Tagelieder.  Sie  schildern  in  glühenden  Farben, 
wie  der  Ritter  bei  seiner  Schönen  —  der  Frau  eines 
Andern  —  im  Bett  liegt,  während  draussen  der  Wächter 
steht,  der  ihm  zuruft,  sobald  das  erste  Morgengrauen 
(alba)  aufsteigt,  damit  er  noch  unbemerkt  entweichen 
kann ;  die  Trennungsscene  bildet  dann  den  Gripfelpunkt. 


—    41     — 

Die  Nordfranzosen  und  auch  die  braven  Deutschen  nah- 
men diese  Dichtungsart  mit  der  ihr  entsprechenden 
Manier  der  Ritterliebe  ebenfalls  an,  und  unser  alter 
Wolfram  von  Eschenbach  hat  über  denselben  anzüg- 
lichen Stoff  drei  wunderschöne  Tagelieder  hinterlassen, 
die  mir  lieber  sind  als  seine  drei  langen  Heldengedichte. 
Die  bürgerliche  Eheschliessung  unserer  Tage  ist  dop- 
pelter Art.  In  katholischen  Ländern  besorgen  nach 
wie  vor  die  Eltern  dem  jungen  Bürgerssohn  eine  an- 
gemessene Frau,  und  die  Folge  davon  ist  natürlich  die 
vollste  Entfaltung  des  in  der  Monogamie  enthaltenen 
Widerspruchs  :  üppiger  Hetärismus  auf  Seiten  des 
Mannes,  üppiger  Ehebruch  auf  Seiten  der  Frau.  Die 
katholische  Kirche  hat  wohl  auch  nur  desswegen  die 
Ehescheidung  abgeschafft,  weil  sie  sich  überzeugt  hatte, 
dass  gegen  den  Ehebruch  wie  gegen  den  Tod  kein 
Kräutlein  gewachsen  ist.  In  protestantischen  Ländern 
dagegen  ist  es  Regel,  dass  dem  Bürgerssohn  erlaubt 
wird,  sich  aus  seiner  Klasse  eine  Frau  mit  grösserer 
oder  geringerer  Freiheit  auszusuchen,  wonach  ein  ge- 
wisser G-rad  von  Liebe  der  Eheschliessung  zu  G-runde 
liegen  kann  und  auch  anstandshalber  stets  vorausgesetzt 
wird,  was  der  protestantischen  Heuchelei  entspricht. 
Hier  wird  der  Hetärismus  des  Mannes  schläfriger  be- 
trieben und  der  Ehebruch  der  Frau  ist  weniger  Regel. 
Da  aber  in  jeder  Art  Ehe  die  Menschen  bleiben,  was 
sie  vor  der  Ehe  waren,  und  die  Bürger  protestantischer 
Länder  meist  Philister  sind,  so  bringt  es  diese  pro- 
testantische Monogamie  im  Durchschnitt  der  besten 
Fälle  nur  zur  ehelichen  Gremeinschaft  einer  bleiernen 
Langeweile,  die  man  mit  dem  Namen  Familienglück 
bezeichnet.  Der  beste  Spiegel  dieser  beiden  Heiraths- 
methoden  ist  der  Roman,  für  die  katholische  Manier 
der  französische,  für  die  protestantische  der  deutsche 
und  schwedische.  In  jedem  von  beiden  „kriegt  er  sie"  : 
im  deutschen  der  junge  Mann  das  Mädchen,  im  fran- 
zösischen der  Ehemann  die  Hörner.  Welcher  von  beiden 
sich  dabei  schlechter  steht,  ist  nicht  immer  ausgemacht. 
Wesshalb  auch  dem  französischen  Bourgeois  die  Lange- 
weile des  deutschen  Romans  eben  denselben  Schauder 


—    42     — 

erregt  wie  die  „Unsittliclikeit"  des  französischen  Ro- 
mans dem  deutschen  Philister.  Obwohl  neuerdings,  seit 
„Berlin  Weltstadt  wird",  der  deutsche  Eoman  anfängt, 
etwas  weniger  schüchtern  in  dem  dort  seit  lange  wohl- 
bekannten Hetärismus  und  Ehebruch  zu  machen. 

In  beiden  Fällen  aber  wird  die  Heirath  bedingt 
durch  die  Klassenlage  der  Betheiligten  und  ist  insofern 
stets  Konvenienzehe.  Wirkliche  Regel  im  Verhältniss 
zur  Frau  wird  die  G-eschlechtsliebe  und  kann  es  nur 
werden  unter  den  unterdrückten  Klassen,  also  heut- 
zutage im  Proletariat  —  ob  dies  Yerhältniss  nun  ein 
offiziell  konzessionirtes  oder  nicht.  Hier  sind  aber  auch 
alle  Grundlagen  der  klassischen  Monogamie  beseitigt. 
Hier  fehlt  alles  Eigenthum,  zu  dessen  Bewahrung  und 
Yererbung  ja  gerade  die  Monogamie  und  die  Männer- 
herrschaft geschaffen  wurden,  und  hier  fehlt  damit  auch 
jeder  Antrieb,  die  Männerherrschaft  geltend  zu  machen. 
Noch  mehr,  auch  die  Mittel  fehlen ;  das  bürgerliche 
Recht,  das  diese  Herrschaft  schützt,  besteht  nur  für 
die  Besitzenden  und  deren  Verkehr  mit  den  Prole- 
tariern ;  es  kostet  Geld  und  hat  desshalb  armuthshalber 
keine  Greltung  für  die  Stellung  des  Arbeiters  zu  seiner 
Frau.  Da  entscheiden  ganz  andere  persönliche  und  ge- 
sellschaftliche Verhältnisse.  Und  vollends  seitdem  die 
grosse  Industrie  die  Frau  aus  dem  Hause  auf  den  Ar- 
beitsmarkt und  in  die  Fabrik  versetzt  hat  und  sie  oft 
genug  zur  Ernährerin  der  Familie  macht,  ist  dem  letz- 
ten Rest  der  Männerherrschaft  in  der  Proletarierwoh- 
nung aller  Boden  entzogen  —  es  sei  denn  etwa  noch 
ein  Stück  der  seit  Einführung  der  Monogamie  einge- 
rissenen Brutalität  gegen  Frauen.  So  ist  die  Familie 
des  Proletariers  keine  monogamische  im  strengen  Sinn 
mehr,  selbst  bei  der  leidenschaftlichsten  Liebe  und 
festesten  Treue  Beider  und  trotz  aller  etwaigen  geist- 
lichen und  weltlichen  Einsegnung.  Daher  spielen  auch 
die  ewigen  Begleiter  der  Monogamie,  Hetärismus  und 
Ehebruch,  hier  nur  eine  fast  verschwindende  Rolle ;  die 
Frau  hat  das  Recht  der  Ehetrennung  thatsächlich 
wieder  erhalten,  imd  wenn  man  sich  nicht  vertragen 
kann,  geht  man  lieber  auseinander.      Kurz,    die  Prole- 


—     43     — 

tarierehe  ist  monogamisch  im  etymologischen  Sinn  des 
Worts,  aber  durchaus  nicht  in  seinem  historischen 
Sinn. 

Kehren  wir  indess  zurück  zu  Morgan,  von  dem  wir 
ims  ein  Beträchtliches  entfernt  haben.  Die  geschicht- 
liche Untersuchung  der  während  der  Civilisationsperiode 
entwickelten  gesellschaftlichen  Institutionen  geht  über 
den  Rahmen  seines  Buchs  hinaus.  Die  Schicksale  der 
Monogamie  während  dieses  Zeitraums  beschäftigen  ihn 
daher  nur  ganz  kurz.  Auch  er  sieht  in  der  Weiterbildimg 
der  monogamischen  Familie  einen  Fortschritt,  eine 
Annäherung  an  die  volle  Gleichberechtigung  der  Gre- 
schlechter,  ohne  dass  er  dies  Ziel  jedoch  für  erreicht 
hält.  Aber,  sagt  er,  „wenn  die  Thatsache  anerkannt 
wird,  dass  die  Familie  vier  Formen  nach  einander 
durchgemacht  hat  und  sich  jetzt  in  einer  fünften  be- 
findet, so  entsteht  die  Frage,  ob  diese  Form  für  die 
Zukunft  von  Dauer  sein  kann.  Die  einzig  mögliche 
Antwort  ist  die,  dass  sie  fortschreiten  muss  wie  die 
Gesellschaft  fortschreitet,  sich  verändern  im  Mass  wie 
die  Gesellschaft  sich  verändert,  ganz  wie  bisher.  Sie 
ist  das  Geschöpf  des  Gesellschaftssystems  und  wird 
seinen  Bildungsstand  widerspiegeln.  Da  die  monoga- 
mische Familie  sich  verbessert  hat  seit  dem  Beginn 
der  Civilisation,  und  sehr  merklich  in  der  modernen 
Zeit,  so  kann  man  mindestens  vermuthen,  dass  sie  wei- 
terer Yervollkommnung  fähig,  bis  die  Gleichheit  beider 
Geschlechter  erreicht  ist.  Sollte  in  entfernter  Zukunft 
die  monogamische  Familie  nicht  im  Stande  sein,  die 
Ansprüche  der  Gesellschaft  zu  erfüllen,  so  ist  unmög- 
lich vorherzusagen,  von  welcher  Beschaffenheit  ihre 
Nachfolo-erin  sein  wird". 


III.  Die  irokesische  Gens. 


Wir  kommen  jetzt  zu  einer  andern  Entdeckung 
Morgan's,  die  mindestens  von  derselben  Wichtigkeit 
ist,  wie  die  Rekonstruktion  der  Urfamilienformen  aus 
den  Yerwandtschaftssystemen.  Der  Nachweis,  dass  die 
durch  Thiernamen  bezeichneten  G-eschlechtsverbände 
innerhalb  eines  Stammes  amerikanischer  Indianer  we- 
sentlich identisch  sind  mit  den  genea  der  Griechen, 
den  gentes  der  Römer ;  dass  die  amerikanische  Form 
die  ursprüngliche,  die  griechisch-römische  die  spätere, 
abgeleitete  ist;  dass  die  ganze  Gresellschaftsorganisation 
der  Grriechen  und  Römer  der  Urzeit  in  GTens,  Phratrie 
und  Stamm  ihre  getreue  Parallele  findet  in  der  ame- 
rikanisch-indianischen ;  dass  die  G-ens  eine  allen  Bar- 
baren bis  zu  ihrem  Eintritt  in  die  Oivilisation,  und 
selbst  noch  nachher,  gemeinsame  Einrichtung  ist  (so- 
weit unsere  Quellen  bis  jetzt  reichen)  —  dieser  Nach- 
weis hat  mit  einem  Schlag  die  schwierigsten  Par- 
tien der  ältesten  griechischen  und  römischen  Geschichte 
aufgeklärt,  und  uns  gleichzeitig  über  die  Grundzüge 
der  Gesellschaftsverfassung  der  Urzeit  —  vor  Einfüh- 
rung des  Staats  —  ungeahnte  Aufschlüsse  gegeben. 
So  einfach  die  Sache  auch  aussieht,  sobald  man  sie 
einmal  kennt,  so  hat  Morgan  sie  doch  erst  in  der  letz- 
ten Zeit  entdeckt;  in  seiner  vorhergehenden,  1871 
erschienenen  Schrift  war  er  noch  nicht  hinter  dies 
Geheimniss  gekommen ,  dessen  Enthüllung  seitdem 
die  sonst  so  zuversichtlichen  englischen  Urhistoriker 
mäuschenstill  gemacht  hat. 

Das  lateinische  Wort  gens,    welches  Morgan  allge- 


—    45     — 

mein  für  diesen  GrescKleclitsverband  anwendet,  kommt 
wie  das  griechisclie  gleichbedeutende  genos  von  der 
allgemein-arischen  Wurzel  gan  (deutsch,  wo  nach  der 
Regel  k  für  arisches  g  stehn  muss,  kan),  welche  er- 
zeugen bedeutet.  Grens,  genos,  sanskrit  dschanas,  gothisch 
(nach  der  obigen  Regel)  kuni,  altnordisch  und  angel- 
sächsisch kyn,  englisch  kin,  mittelhochdeutsch  künne 
bedeuten  gleichmässig  G-eschlecht,  Abstammung.  Grens 
im  Lateinischen,  genos  im  Griechischen,  wird  aber  spe- 
ziell für  jenen  (xeschlechtsverband  gebraucht,  der  sich 
gemeinsamer  Abstammung  (hier  von  einem  gemein- 
samen Stammvater)  rühmt  und  durch  gewisse  gesell- 
schaftliche und  religiöse  Einrichtungen  zu  einer  beson- 
dern Gremeinschaft  verknüpft  ist,  dessen  Entstehung 
und  Natur  trotzdem  allen  unsern  Geschichtschreibern 
bis  jetzt  dunkel  blieb. 

Wir  haben  schon  oben,  bei  der  Punaluafamilie,  ge- 
sehn ,  was  die  Zusammensetzung  einer  Gens  in  der 
ursprünglichen  Form  ist.  Sie  besteht  aus  allen  Per- 
sonen, die  vermittelst  der  Punaluaehe  und  nach  den  in 
ihr  mit  Nothwendigkeit  herrschenden  Vorstellungen  die 
anerkannte  Nachkommenschaft  einer  bestimmten  ein- 
zelnen Stammmutter,  der  Gründerin  der  Gens,  bilden. 
Da  in  dieser  Familienform  die  Vaterschaft  ungewiss, 
gilt  nur  weibliche  Linie.  Da  die  Brüder  ihre  Schwe- 
stern nicht  heirathen  dürfen,  sondern  nur  Frauen  andrer 
Abstammung,  so  fallen  die  mit  diesen  fremden  Frauen 
erzeugten  Kinder  nach  Mutterrecht  ausserhalb  der  Gens. 
Es  bleiben  also  nur  die  Nachkommen  der  Töchter 
jeder  Generation  innerhalb  des  Geschlechtsverbandes; 
die  der  Söhne  gehn  über  in  die  Gentes  ihrer  Mütter. 
Was  wird  nun  aus  dieser  Blutsverwandtschaftsgruppe, 
sobald  sie  sich  als  besondre  Gruppe,  gegenüber  ähn- 
lichen Gruppen  innerhalb   eines  Stammes,   konstituirt? 

Als  klassische  Form  dieser  ursprünglichen  Gens 
nimmt  Morgan  die  der  Irokesen,  speziell  des  Seneka- 
stammes.  Bei  diesem  gibt  es  acht  Gentes,  nach  Thieren 
benannt:  1)  Wolf,  2)  Bär,  3)  Schildkröte,  4)  Biber, 
5)  Hirsch,  6)  Schnepfe,  7)  Reiher,  8)  Falke.  In  jeder 
Gens  herrscht  folgender  Brauch : 


—     46     — 

1.  Sie  erwählt  den  Sachem  (Friedens Vorsteher)  und 
Häuptling  (Kriegsanführer).  Der  Sachem  muss  aus  der 
G-ens  selbst  gewählt  werden  und  sein  Amt  war  erblich 
in  ihr,  insofern  es  bei  Erledigung  sofort  neu  besetzt 
werden  musste ;  der  Kriegsanführer  konnte  auch  ausser- 
halb der  G-ens  gewählt  werden  und  zeitweise  ganz 
fehlen.  Zum  Sachem  wurde  nie  der  Sohn  des  vorigen 
gewählt,  da  bei  den  Irokesen  Mutterrecht  herrschte, 
der  Sohn  also  einer  andern  Qens  angehörte  5  wohl  aber 
und  oft,  der  Bruder  oder  Schwestersohn.  Bei  der  Wahl 
stimmten  Alle  mit,  Männer  und  Weiber.  Die  Wahl 
musste  aber  von  den  übrigen  sieben  Gentes  bestätigt 
werden,  und  dann  erst  wurde  der  Gewählte  feierlich 
eingesetzt,  und  zwar  durch  den  gemeinsamen  Rath  des 
ganzen  Irokesenbundes.  Die  Bedeutung  hiervon  wird 
sich  später  zeigen.  Die  Gewalt  des  Sachem  innerhalb 
der  Gens  war  väterlich,  rein  moralischer  Natur ;  Zwangs- 
mittel hatte  er  nicht.  Daneben  war  er  von  Amts  wegen 
Mitglied  des  Stammesraths  der  Senecas  wie  des  Bundes- 
raths  der  Gesammtheit  der  Irokesen.  Der  Kriegshäupt- 
ling hatte  nur  auf  Kriegszügen  etwas  zu  befehlen. 

2.  Sie  setzt  den  Sachem  und  Kriegshäuptling  nach 
Belieben  ab.  Dies  geschieht  wieder  von  Männern  und 
Weibern  zusammen.  Die  Abgesetzten  sind  nachher 
einfache  Krieger  wie  die  andern,  Privatpersonen.  Der 
Stammesrath  kann  übrigens  auch  Sachems  absetzen, 
selbst  gegen  den  Willen  der  G-ens. 

3.  Kein  Mitglied  darf  innerhalb  der  Gens  heirathen. 
Dies  ist  die  Grundregel  der  Gens,  das  Band,  das  sie 
zusammenhält;  es  ist  der  negative  Ausdruck  der  sehr 
positiven  Blutsverwandtschaft,  kraft  deren  die  in  ihr 
einbegriffenen  Individuen  erst  eine  Gens  werden.  Durch 
die  Entdeckung  dieser  einfachen  Thatsache  hat  Morgan 
die  Natur  der  Gens  zum  ersten  Mal  enthüllt.  Wie 
wenig  die  Gens  bisher  verstanden  wurde,  beweisen  die 
früheren  Berichte  über  Wilde  und  Barbaren,  wo  die 
verschiedenen  Körperschaften,  aus  denen  die  Gentil- 
ordnung sich  zusammensetzt,  unbegriffen  und  ununter- 
schieden  als  Stamm,  Clan,  Thum  u.  s.  w.  durcheinander 
geworfen  wurden,  und  von  diesen  zuweilen  gesagt  wird. 


—     47     — 

dass  die  Heirath  innerhalb  einer  solchen  Körperschaft 
verboten  sei.  Damit  war  denn  die  rettungslose  Kon- 
fusion gegeben,  in  der  Herr  MacLennan  als  Napoleon 
auftreten  und  Ordnung  schaffen  konnte ,  durch  den 
Machtspruch:  Alle  Stämme  theilen  sich  in  solche, 
innerhalb  deren  die  Ehe  verboten  ist  (exogame)  und 
solche,  in  denen  sie  erlaubt  (endogame).  Und  nachdem 
er  so  die  Sache  erst  recht  gründlich  verfahren,  konnte 
er  sich  in  den  tiefsinnigsten  Untersuchungen  ergehen, 
welche  von  seinen  beiden  abgeschmackten  Klassen  die 
ältere  sei :  die  Exogamie  oder  die  Endogamie.  Mit  der 
Entdeckung  der  auf  Blutsverwandtschaft,  und  daraus 
hervorgehender  Unmöglichkeit  der  Ehe  unter  ihren  Mit- 
gliedern, begründeten  Grens  hörte  dieser  Unsinn  von 
selbst  auf.  —  Es  ist  selbstverständlich,  dass  auf  der 
Stufe,  auf  der  wir  die  Irokesen  vorfinden,  das  Ehe- 
verbot innerhalb  der  Grens  unverbrüchlich  eingehalten 
wird. 

4.  Das  Vermögen  Verstorbener  fiel  an  die  übrigen 
Grentilgenossen,  es  musste  in  der  Grens  bleiben.  Bei 
der  Unbedeutendheit  der  Glegenstände,  die  ein  Irokese 
hinterlassen  konnte,  theilten  sich  die  nächsten  Grentil- 
verwandten  in  die  Erbschaft;  starb  ein  Mann,  dann 
seine  leiblichen  Brüder  und  Schwestern  und  der  Mutter- 
bruder ;  starb  eine  Frau,  dann  ihre  Kinder  und  leib- 
lichen Schwestern,  nicht  aber  ihre  Brüder.  Ebendeshalb 
konnten  Mann  und  Frau  nicht  von  einander  erben,  oder 
die  Kinder  vom  Vater. 

5.  Die  Grentilgenossen  schuldeten  einander  HüKe, 
Schutz  und  namentlich  Beistand  zur  Eache  für  Ver- 
letzung durch  Fremde.  Der  Einzelne  verliess  sich  für 
seine  Sicherheit  auf  den  Schutz  der  Grens  und  konnte 
es ;  wer  ihn  verletzte,  verletzte  die  ganze  Grens.  Hier- 
aus, aus  den  Blutbanden  der  Gl^ens,  entsprang  die  Ver- 
pflichtung zur  Blutrache,  die  von  den  Irokesen  unbe- 
dingt anerkannt  wurde.  Erschlug  ein  Grentilfremder 
einen  Grentilgenossen,  so  war  die  ganze  Gens  des  Ge- 
tödteten  zur  Blutrache  verpflichtet.  Zuerst  versuchte 
man  Vermittlung;  die  Gens  des  Tödters  hielt  ßath 
und   machte    dem  Rath   der  Gens   des  Getödteten  Bei- 


—    48     — 

legungsanträge,  meist  Ausdrücke  des  Bedauerns  und 
bedeutende  G-eschenke  anbietend.  Wurden  diese  ange- 
nommen, war  die  Sache  erledigt.  Im  andern  Fall  er- 
nannte die  verletzte  Grens  einen  oder  mehrere  Rächer, 
die  den  Tödter  zu  verfolgen  und  zu  erschlagen  ver- 
pflichtet waren.  Gleschah  dies,  so  hatte  die  Gens  des 
Erschlagenen  kein  Recht,  sich  zu  beklagen,  der  Fall 
war  ausgeglichen. 

6.  Die  Grens  hat  bestimmte  Namen  oder  Reihen  von 
Namen,  die  im  ganzen  Stamm  nur  sie  gebrauchen  darf, 
so  dass  der  Name  des  Einzelnen  zugleich  sagt,  welcher 
Grens  er  angehört.  Ein  Grentilname  führt  Grentilrechte 
von  vornherein  mit  sich, 

7.  Die  Grens  kann  Fremde  in  sich  adoptiren  und 
sie  dadurch  in  den  ganzen  Stamm  aufnehmen.  Die 
Kriegsgefangnen,  die  man  nicht  tödtete,  wurden  so  ver- 
mittelst Adoption  in  einer  Grens  Stammesmitglieder  der 
Senecas  und  erhielten  damit  die  vollen  Grentil-  und 
Stammesrechte.  Die  Adoption  geschah  auf  Antrag  ein- 
zelner Grentilgenossen,  Männer,  die  den  Fremden  als 
Bruder  resp.  Schwester,  Frauen,  die  ihn  als  Kind  an- 
nahmen; die  feierliche  Aufnahme  in  die  Grens  war  zur 
Bestätigung  nöthig.  Oft  wurden  so  einzelne,  ausnahms- 
weise zusammengeschrumpfte  Grentes  durch  Massen- 
adoption aus  einer  andern  Grens,  mit  Einwilligung  die- 
ser, neu  gestärkt.  Bei  den  Irokesen  fand  die  feierliche 
Aufnahme  in  die  Grens  in  öffentlicher  Sitzung  des 
Stammesraths  statt,  wodurch  sie  thatsächlich  eine 
religiöse  Ceremonie  wurde. 

8.  Spezielle  religiöse  Feierlichkeiten  kann  man  bei 
indianischen  Grentes  schwerlich  nachweisen;  aber  die 
religiösen  Ceremonien  der  Indianer  hängen  mehr  oder 
minder  mit  den  Grentes  zusammen.  Bei  den  sechs  jähr- 
lichen religiösen  Festen  der  Irokesen  waren  die  Sachems 
und  Kriegshäuptlinge  der  einzelnen  Grentes  von  Amts- 
wegen den  „Grlaubenshütern"  zugezählt  und  hatten 
priesterliche  Funktionen. 

9.  Die  Gens  hat  einen  gemeinsamen  Begräbniss- 
platz. Dieser  ist  bei  den  mitten  unter  Weissen  ein- 
geengten   Irokesen    des    Staats    New- York    jetzt    ver- 


—     49     — 

scliwunden,  hat  aber  früher  bestanden.  Bei  andern  In- 
dianern besteht  er  noch;  so  bei  den  den  Irokesen  nah 
verwandten  Tuscaroros,  die,  obgleich  Christen,  für  jede 
Gens  eine  bestimmte  Eeihe  im  Kirchhof  haben,  so  dass 
zwar  die  Mutter  in  derselben  Reihe  begraben  wird  wie 
die  Kinder,  aber  nicht  der  Vater.  Und  auch  bei  den 
Irokesen  geht  die  ganze  Gens  eines  Verstorbenen  zum 
Begräbniss,  besorgt  das  Grab,  die  Grabreden  etc. 

10.  Die  Gens  hat  einen  Rath,  die  demokratische 
Versammlung  aller  männlichen  und  weiblichen  erwach- 
senen Gentilen,  alle  mit  gleichem  Stimmrecht.  Dieser 
Rath  erwählte  Saohems  und  Kriegshäuptlinge  und  setzte 
sie  ab;  e.benso  die  übrigen  „Glaubenshüter";  er  be- 
schloss  über  Bussgaben  (Wergeid)  oder  Blutrache  für 
gemordete  Gentilen ;  er  adoptirte  Fremde  in  die  Gens. 
Kurz  er  war  die  souveraine  Gewalt  in  der  Gens. 

Dies  sind  die  Befugnisse  einer  typischen  indianischen 
Gens.  „Alle  ihre  Mitglieder  sind  freie  Leute,  verpflich- 
tet Einer  des  Andern  Freiheit  zu  schützen;  gleich  in 
persönlichen  Rechten  —  weder  Sachems  noch  Kriegs- 
führer  beanspruchen  irgend  welchen  Vorrang;  sie  bilden 
eine  Brüderschaft,  verknüpft  durch  Blutbande.  Frei- 
heit, Gleichheit,  Brüderlichkeit,  obwohl  nie  formulirt, 
waren  die  Grundprincipien  der  Gens,  und  diese  war 
wiederum  die  Einheit  eines  ganzen  gesellschaftlichen 
Systems,  die  Grundlage  der  organisirten  indianischen 
Gesellschaft.  Das  erklärt  den  unbeugsamen  Unabhängig- 
keitssinn und  die  persönliche  Würde  des  Auftretens, 
die  Jedermann  bei  den  Indianern  anerkennt." 

Zur  Zeit  der  Entdeckung  waren  die  Indianer  von 
ganz  Nordamerika  in  Gentes  organisirt,  nach  Mutter- 
recht. Nur  in  einigen  Stämmen,  wie  den  der  Dacotas, 
waren  die  Gentes  verfallen,  und  in  einigen  andern, 
Ojibwas,  Omahas,  waren  sie  nach  Vaterrecht  organisirt. 

Bei  sehr  vielen  indianischen  Stämmen  mit  mehr  als 
fünf  oder  sechs  Gentes  finden  wir  je  drei,  vier  oder 
mehr  Gentes  zu  einer  besondern  Gruppe  vereinigt,  die 
Morgan  in  getreuer  Uebertragung  des  indianischen 
Namens  nach  ihrem  griechischen  Gegenbild  Phratrie 
(Brüderschaft)  nennt.    So  haben  die  Senekas  zwei  Phra- 

4 


—    50    ~ 

trien ;  die  erste  umfasst  die  Gentes  1 — 4,  die  zweite 
die  Grentes  5 — 8.  Die  nähere  Untersuchung  zeigt,  dass 
diese  Phratrien  meist  die  ursprünglichen  Grentes  dar- 
stellen, in  die  sich  der  Stamm  anfänglich  spaltete; 
denn  bei  dem  Heirathsverbot  innerhalb  der  Gi-ens  musste 
jeder  Stamm  nothwendig  mindestens  zwei  Grentes  um- 
fassen, um  selbständig  bestehn  zu  können.  Im  Mass 
wie  sich  der  Stamm  vermehrte,  spaltete  sich  jede  Grens 
wieder  in  zwei  oder  mehrere,  die  nun  jede  als  beson- 
dere Grens  erscheinen,  während  die  ursprüngliche  Grens, 
die  alle  Tochtergentes  umfasst,  fortlebt  als  Phratrie. 
Bei  den  Senekas  und  den  meisten  andern  Indianern 
sind  die  Grentes  der  einen  Phratrie  Brudergentes,  wäh- 
rend die  der  andern  ihre  Yettergentes  sind  —  Bezeich- 
nungen, die  im  amerikanischen  Verwandtschaftssystem, 
wie  wir  sehen,  einen  sehr  reellen  und  ausdrucksvollen 
Sinn  haben.  Ursprünglich  durfte  auch  kein  Seneca 
innerhalb  seiner  Phratrie  heirathen,  doch  ist  dies  längst 
ausser  Grebrauch  gekommen  und  auf  die  Grens  beschränkt. 
Tradition  der  Senekas  war,  dass  Bär  und  Hirsch  die 
beiden  ursprünglichen  Grentes  seien,  von  denen  die 
andern  abgezweigt.  Nachdem  diese  neue  Einrichtung 
einmal  eingewurzelt,  wurde  sie  nach  dem  Bedürfniss 
modificirt ;  starben  Grentes  einer  Phratrie  aus,  so  wurden 
zuweilen  zur  Ausgleichung  ganze  Grentes  aus  andern 
Phratrien  in  jene  versetzt.  Daher  finden  wir  bei  ver- 
schiedenen Stämmen  die  gleichnamigen  Grentes  ver- 
schieden gruppirt  in  den  Phratrien. 

Die  Punktionen  der  Phratrie  bei  den  Irokesen  sind 
theils  gesellschaftliche,  theils  religiöse.  1.  Das  Ball- 
spiel spielen  die  Phratrien  gegen  einander;  jede  schickt 
ihre  besten  Spieler  vor,  die  Uebrigen  sehen  zu,  jede 
Phratrie  besonders  aufgestellt,  und  wetten  gegen  ein- 
ander auf  das  Grewinnen  der  Ihrigen.  —  2.  Im  Stammes- 
rath  sitzen  die  Sachems  und  Kriegsführer  jeder  Phratrie 
zusammen,  die  beiden  Gruppen  einander  gegenüber, 
jeder  Redner  spricht  zu  den  Repräsentanten  jeder  Phra- 
trie als  zu  einer  besondern  Körperschaft.  —  3.  War 
ein  Todtschlag  im  Stamm  vorgekommen,  wo  Tödter 
und  Getödtete   nicht    zu    derselben   Phratrie   gehörten, 


—    51    — 

so  appellirte  die  verletzte  Glens  oft  an  ihre  Bruder- 
gentes ;  diese  hielten  einen  Phratrienrath  und  wandten 
sicli  an  die  andre  Phratrie  als  G-esammtlieit,  damit 
diese  ebenfalls  einen  Rath  versammle  zur  Beilegung 
der  Sache.  Hier  tritt  also  die  Phratrie  wieder  als  ur- 
sprüngliche Grens  auf,  und  mit  grösserer  Aussicht  auf 
Erfolg  als  die  schwächere  einzelne  Grens,  ihre  Tochter. 
—  4.  Bei  Todesfällen  hervorragender  Leute  übernahm 
die  entgegengesetzte  Phratrie  die  Besorgung  der  Be- 
stattung und  der  Begräbnissfeierlichkeiten,  während  die 
Phratrie  des  Terstorbenen  als  leidtragend  mitging. 
Starb  ein  Sachem,  so  meldete  die  entgegengesetzte 
Phratrie  die  Erledigung  des  Amts  dem  Bundesrath  der 
Irokesen  an.  —  5.  Bei  der  Wahl  eines  Sachems  kam 
ebenfalls  der  Phratrienrath  in"s  Spiel.  Bestätigung  durch 
die  Brudergentes  wurde  als  ziemlich  selbstverständlich 
angesehn,  aber  die  Grentes  der  andern  Phratrie  mochten 
opponiren.  In  solchem  Fall  kam  der  Rath  dieser  Phra- 
trie zusammen ;  hielt  er  die  Opposition  aufrecht,  so 
war  die  Wahl  wirkungslos.  —  6.  Früher  hatten  die 
Irokesen  besondere  religiöse  Mysterien,  von  den  Weissen 
medicine-lodges  genannt.  Diese  wurden  bei  den  Senekas 
gefeiert  durch  zwei  religiöse  Grenossenschaften,  mit 
regelrechter  Einweihung  für  neue  Mitglieder;  auf  jede 
der  beiden  Phratrien  entfiel  eine  dieser  Grenossenschaf- 
ten. —  7.  Wenn,  wie  fast  sicher,  die  vier  linages  (Gre- 
schlechter),  die  die  vier  Viertel  von  Tlascalä  zur  Zeit 
der  Eroberung  bewohnten,  vier  Phratrien  waren,  so  ist 
damit  bewiesen,  dass  die  Phratrien  wie  bei  den  Grriechen 
und  ähnliche  Greschlechtsverbände  bei  den  Deutschen, 
auch  als  militärische  Einheiten  galten  ;  diese  vier  linages 
zogen  in  den  Kampf,  jede  einzelne  als  besondre  Schaar, 
mit  eigner  Uniform  und  Fahne  und  unter  eignem 
Führer. 

Wie  mehrere  Grentes  eine  Phratrie,  so  bilden,  in 
der  klassischen  Form,  mehrere  Phratrien  einen  Stamm ; 
in  manchen  Fällen  fehlt  das  Mittelglied,  die  Phratrie, 
bei  stark  geschwächten  Stämmen.  Was  bezeichnet  einen 
Indianerstamm  in  Amerika? 

1.  Ein  eignes  Gebiet  und  ein  eigner  Name.     Jeder 


—    52    — 

Stamm  besass  ausser  dem  Ort  seiner  wirklichen  Nieder- 
lassung nocli  ein  beträchtliches  Gebiet  zu  Jagd  und 
Fischfang.  Darüber  hinaus  lag  ein  weiter,  neutraler 
Landstrich,  der  bis  an's  (lebiet  des  nächsten  Stammes 
reichte,  bei  sprachverwandten  Stämmen  geringer,  bei 
nicht  sprachverwandten  grösser  war.  Es  ist  dies  der 
Grrenzwald  der  Deutschen,  die  Wüste,  die  Cäsars  Sueven 
um  ihr  Grebiet  schaffen,  das  isarnholt  (dänisch  jarnved, 
limes  Danicus)  zwischen  Dänen  und  Deutschen,  der 
Sachsenwald  und  der  branibor  (slavisch  =  Schutzwald), 
von  dem  Brandenburg  seinen  Namen  trägt,  zwischen 
Deutschen  und  Slaven.  Das  solchergestalt  durch  un- 
sichere Grrenzen  ausgeschiedne  Grebiet  war  das  G-emein- 
land  des  Stamms,  von  Nachbarstämmen  als  solches  an- 
erkannt, von  ihm  selbst  gegen  Uebergriffe  vertheidigt. 
Die  Unsicherheit  der  Grenzen  wiu'de  meist  erst  prak- 
tisch nachtheilig,  wenn  die  Bevölkerung  sich  stark  ver- 
mehrt hatte.  —  Die  Stammesnamen  erscheinen  meist 
mehr  zufällig  entstanden  als  absichtlich  gewählt;  mit 
der  Zeit  kam  es  häufig  vor,  dass  ein  Stamm  von 
den  Nachbarstämmen  mit  einem  andern  als  dem  von 
ihm  selbst  gebrauchten  bezeichnet  wurde;  ähnlich  wie 
die  Deutschen  ihren  ersten  geschichtlichen  Gesaramt" 
namen,  Germanen,    von  den  Gelten  auferlegt  bekamen. 

2.  Ein  besondrer,  nur  diesem  Stamm  eigenthüm- 
licher  Dialekt.  In  der  That  fallen  Stamm  und 
Dialekt  der  Sache  nach  zusammen ;  Neubildung  von 
Stämmen  und  Dialekten  durch  Spaltung  ging  noch  bis 
vor  Kurzem  in  Amerika  vor  sich  und  wird  auch  jetzt 
kaum  ganz  aufgehört  haben.  Wo  zwei  geschwächte 
Stämme  sich  zu  einem  verschmolzen  haben,  kommt  es 
ausnahmsweise  vor,  dass  im  selben  Stamm  zwei  nah- 
verwandte Dialekte  gesprochen  werden.  Die  Durch- 
schnittsstärke amerikanischer  Stämme  ist  unter  2000 
Köpfe ;  die  Tscherokesen  indess  sind  an  26,000  stark, 
die  grösste  Zahl  Indianer  in  den  Vereinigten  Staaten, 
die  denselben  Dialekt  sprechen. 

3.  Das  Recht,  die  von  den  Gentes  erwählten  Sachems 
und  Kriftgsführer  feierlich  einzusetzen  und 


—    53     — 

4.  Das  Recht,  sie  wieder  abzusetzen,  auch  gegen 
den  Willen  ihrer  Gens.  Da  diese  Sachems  und  Kriegs- 
fiihrer  Mitglieder  des  Staminesraths  sind,  erklären 
sich  diese  E-echte  des  Stamms  ihnen  gegenüber  von 
selbst.  Wo  sich  ein  Bund  von  Stämmen  gebildet 
hatte  und  die  G-esammtzahl  der  Stämme  in  einem 
Bundesrath  vertreten  war,  gingen  obige  Eechte  auf 
diesen  über. 

5.  Der  Besitz  gemeinsamer  religiöser  Vorstellungen 
(Mythologie)  und  Cultusverrichtungen.  „Die  Indianer 
waren  in  ihrer ■  barbarischen  Art  ein  religiöses  Volk." 
Ihre  Mythologie  ist  noch  keineswegs  kritisch  unter'- 
sucht;  sie  stellten  sich  die  Verkörperungen  ihrer  reli- 
giösen Vorstellungen  —  Geister  aller  Art  —  bereits 
unter  menschlicher  Gestalt  vor,  aber  die  Unterstufe 
der  Barbarei,  auf  der  sie  sich  befanden,  kennt  noch 
keine  bildlichen  Darstellungen,  sogenannte  Götzen.  Es 
ist  ein  in  der  Entwicklung  zur  Vielgötterei  sich  be- 
findender Natur-  und  Elementarkultus.  Die  verschie- 
denen Stämme  hatten  ihre  regelmässigen  Feste,  mit 
bestimmten  Kultusformen,  namentlich  Tanz  und  Spielen; 
der  Tanz  besonders  war  ein  wesentlicher  Bestandtheil 
aller  religiösen  Eeierlichkeiten ;  jeder  Stamm  hielt  die 
seinigen  besonders  ab. 

6.  Ein  Stammesrath  für  gemeinsame  Angelegen- 
heiten. Er  war  zusammengesetzt  aus  sämmtlichen 
Sachems  und  Kriegsführern  der  einzelnen  Gentes,  ihren 
wirklichen  weil  stets  absetzbaren  Vertretern;  er  berieth 
öffentlich,  umgeben  von  den  übrigen  Stammesgliedern, 
die  das  Hecht  hatten  dreinzureden  und  mit  ihrer  An- 
sicht gehört  zu  werden ;  der  Rath  entschied.  In  der 
Regel  wurde  jeder  Anwesende  auf  Verlangen  gehört, 
auch  die  Weiber  konnten  durch  einen  Redner  ihrer 
Wahl  ihre  Ansicht  vortragen  lassen.  Bei  den  Irokesen 
musste  der  endliche  ßcschluss  einstimmig  gefasst  werden, 
wie  dies  auch  in  manchen  Beschlüssen  deutscher  Mark- 
gemeinden der  Fall  war.  Dem  Stammesrath  lag  ob 
namentlich  die  Regelung  des  Verhältnisses  zu  fremden 
Stämmen  ;  er  empfing  Gesandtschaften  und  sandte  solche 
ab,    er    erklärte  Krieg   und    schloss  Frieden.     Kam   es 


—    54    — 

zum  Krieg,  so  wurde  dieser  meist  von  Freiwilligen 
geführt.  Im  Prinzip  galt  jeder  Stamm  als  im  Kriegs- 
zustand befindlich  mit  jedem  andern  Stamm,  mit  dem 
er  keinen  ausdrücklichen  Friedensvertrag  geschlossen. 
Kriegerische  Auszüge  gegen  solche  Feinde  wurden 
meist  organisirt  durch  einzelne  hervorragende  Krieger; 
sie  gaben  einen  Kriegstanz,  wer  mittanzte,  erklärte 
damit  seine  Betheiligung  am  Zug.  Die  Kolonne  wurde 
sofort  gebildet  und  in  Bewegung  gesetzt.  Ebenso  wurde 
die  Yertheidigung  des  angegriffenen  Stammesgebiets 
meist  durch  freiwillige  Aufgebote  geführt.  Der  Auszug 
und  die  Rückkehr  solcher  Kolonnen  gaben  stets  Anlass 
zu  öfi'entlichen  Festlichkeiten.  Grenehmigung  des  Stam- 
mesraths  zu  solchen  Auszügen  war  nicht  erforderlich 
und  wurde  weder  verlangt  noch  gegeben.  Es  sind  ganz 
die  Privatkriegszüge  deutscher  Gefolgschaften ,  wie 
Tacitus  sie  uns  schildert,  nur  dass  bei  den  Deutschen 
die  G-efolgschaften  bereits  einen  ständigeren  Charakter 
angenommen  haben,  einen  festen  Kern  bilden,  der  schon 
in  Friedenszeiten  organisirt  wird  und  um  den  sich  im 
Kriegsfall  die  übrigen  Freiwilligen  gruppiren.  Solche 
Kriegskolonnen  waren  selten  zahlreich ;  die  bedeutend- 
sten Expeditionen  der  Indianer,  auch  auf  grosse  Ent- 
fernungen, wurden  von  unbedeutenden  Streitkräften 
vollführt.  Traten  mehrere  solche  GTefolgschaften  zu  einer 
grossen  Unternehmung  zusammen,  so  gehorchte  jede 
nur  ihrem  eignen  Führer;  die  Einheit  des  Feldzugs- 
plans wurde  durch  einen  Rath  dieser  Führer  gut  oder 
schlecht  gesichert.  Es  ist  die  Kriegführung  der  Ala- 
mannen  im  vierten  Jahrhundert  am  Oberrhein,  wie  wir 
sie  bei  Ammianus  Marcelliniis  geschildert  finden. 

7.  In  einigen  Stämmen  finden  wir  einen  Oberhäupt- 
ling, dessen  Befugnisse  indess  sehr  gering  sind.  Es 
ist  einer  der  Sachems,  der  in  Fällen,  die  rasches  Han- 
deln erfordern,  provisorische  Massregeln  zu  treffen  hat 
bis  zu  der  Zeit,  wo  der  Rath  sich  versammeln  und  end- 
gültig beschliessen  kann.  Es  ist  ein  schwacher,  aber 
in  der  weiteren  Entwicklung  meist  unfruchtbar  geblie- 
bener Ansatz  zu  einem  Beamten  mit  vollstreckender 
Gewalt ;  dieser  hat  sich  vielmehr,  wie  sich  zeigen  wird, 


—    55     — 

in    den    meisten    Fällen,    wo    nicht    überall,    aus    dem 
obersten  Heerführer  entwickelt. 

Ueber  die  Vereinigung  im  Stamm  kam  die  grosse 
Mehrzahl  der  amerikanischen  Indianer  nicht  hinaus. 
In  wenig  zahlreichen  Stämmen,  durch  weite  Grenz- 
striche von  einander  geschieden,  durch  ewige  Kriege 
geschwächt,  besetzten  sie  mit  wenig  Menschen  ein 
ungeheures  Gebiet.  Bündnisse  zwischen  verwandten 
Stämmen  bildeten  sich  hie  und  da  aus  augenblicklicher 
Nothlage  und  zerfielen  mit  ihr.  Aber  in  einzelnen 
Gegenden  hatten  sich  ursprünglich  verwandte  Stämme 
aus  der  Zersplitterung  wieder  zusammen  geschlossen 
zu  dauernden  Bünden,  und  so  den  ersten  Schritt  gethan 
zur  Bildung  von  Nationen.  In  den  Vereinigten  Staaten 
finden  wir  die  entwickeltste  Form  eines  solchen  Bundes 
bei  den  Irokesen.  Von  ihren  Sitzen  westlich  vom  Mis- 
sissippi ausziehend,  wo  sie  wahrscheinlich  einen  Zweig 
der  grossen  Dacota-Familie  gebildet,  Hessen  sie  sich 
nach  langer  Wanderung  im  heutigen  Staat  New- York 
nieder,  in  fünf  Stämme  getheilt:  Senekas,  Cayugas, 
Onondagas,  Oneidas  und  Mohawks.  Sie  lebten  von  Fisch, 
Wild  und  rohem  Gartenbau,  wohnten  in  Dörfern,  die 
meist  durch  ein  Pfahl  werk  geschützt.  Nie  über  20,000 
Köpfe  stark,  hatten  sie  in  allen  fünf  Stämmen  ein  e 
Anzahl  von  Gentes  gemeinsam,  sprachen  nahverwandte 
Dialekte  derselben  Sprache  und  besetzten  nun  ein 
zusammenhängendes  Gebiet,  das  unter  die  fünf  Stämme 
vertheilt  war.  Da  dies  Gebiet  neu  erobert,  war  gewohn- 
heitsmässiges  Zusammenhalten  dieser  Stämme  gegen 
die  Verdrängten  natürlich,  und  entwickelte  sich,  spä- 
testens Anfangs  des  15.  Jahrhunderts,  zu  einem  förm- 
lichen „ewigen  Bund",  einer  Eidgenossenschaft,  die 
auch  sofort  im  Gefühl  ihrer  neuen  Stärke  einen  an- 
greifenden Charakter  annahm,  und  auf  der  Höhe  ihrer 
Macht,  gegen  1675,  grosse  Landstriche  ringsumher  er- 
obert und  die  Bewohner  theils  vertrieben,  theils  tribut- 
pflichtig gemacht  hatte.  Der  Irokesenbund  liefert  die 
fortgeschrittenste  gesellschaftliche  Organisation,  zu  der 
es  die  Indianer  gebracht,  soweit  sie  die  Unterstufe  der 
Barbarei    nicht   überschritten    (also   mit  Ausnahme  der 


—    56     — 

Mexikaner,  Nemnexikaner  und  Peruaner).    Die  Grund- 
bestimmungen des  Bundes  waren  folgende : 

1.  Ewiger  Bund,  auf  Grundlage  vollkommener 
Gleichheit  und  Selbständigkeit  in  allen  Innern  Stammes- 
angelegenheiten,  der  fünf  blutsverwandten  Stämme. 
Diese  Blutsverwandtschaft  bildete  die  wahre  Grundlage 
des  Bundes.  Von  den  fünf  Stämmen  hiessen  drei  die 
Yäterstämme,  und  waren  Brüder  unter  einander;  die 
beiden  andern  hiessen  Sohnstämme  und  waren  ebenfalls 
Bruderstämme  unter  einander.  Drei  Gentes  —  die 
ältesten  —  waren  in  allen  fünf,  andre  drei  in  drei 
Stämmen  noch  lebendig  vertreten,  die  Mitglieder  jeder 
dieser  Gentes  allesammt  Brüder  durch  alle  fünf  Stämme. 
Die  gemeinsame,  nur  dialektisch  verschiedene  Sprache 
war  Ausdruck  und  Beweis  der  gemeinsamen  Ab- 
stammung. 

2.  Das  Organ  des  Bundes  war  ein  Bundesrath  von 
50  Sachems,  alle  gleich  in  Rang  und  Ansehn ;  dieser 
Eath  entschied  endgültig  über  alle  Angelegenheiten 
des  Bundes. 

3.  Diese  50  Sachems  waren  bei  Stiftung  des  Bundes 
auf  die  Stämme  und  Gentes  vertheilt  worden,  als  Trä- 
ger neuer  Aemter,  ausdrücklich  für  Bundeszwecke  er- 
richtet. Sie  wurden  von  den  betreffenden  Gentes  bei 
jeder  Erledigung  neu  gewählt  und  konnten  von  ihnen 
jederzeit  abgesetzt  werden ;  das  Recht  der  Einsetzung 
in  ihr  Amt  aber  gehörte  dem  Bundesrath. 

4.  Diese  Bundessachems  waren  auch  Sachems  in 
ihren  jedesmaligen  Stämmen  und  hatten  Sitz  und  Stimme 
im  Stammesrath. 

5.  Alle  Beschlüsse  des  Bundesraths  mussten  ein- 
stimmig gefasst  werden. 

6.  Die  Abstimmung  geschah  nach  Stämmen,  so  dass 
jeder  Stamm  und  in  jedem  Stamm  alle  Rathsmitglieder 
zustimmen  mussten,  um  einen  gültigen  Beschluss  zu 
fassen. 

7.  Jeder  der  fünf  Stammesräthe  konnte  den  Bundes- 
ratli  berufen,  dieser  aber  nicht  sich  selbst. 


—       0/        

8.  Die  Situngen  fanden  vor  versammeltem  Volk 
statt ;  jeder  Irokese  konnte  das  Wort  ergreifen  ;  der 
Rath  allein  entschied. 

9.  Der  Bmid  hatte  keine  persönliche  Spitze,  keinen 
Chef  der  vollziehenden  Grewalt. 

10.  Dagegen  hatte  er  zwei  oberste  Kriegsführer, 
mit  gleichen  Befugnissen  und  gleicher  Grewalt  (die 
beiden  „Könige"  der  Spartaner,  die  beiden  Konsuln 
in  Rom). 

Das  war  die  ganze  öffentliche  Verfassung,  unter  der 
die  Irokesen  über  vierhundert  Jahre  gelebt  haben  und 
noch  leben.  Ich  habe  sie  ausführlicher  nach  Morgan 
geschildert,  weil  wir  hier  Grelegenheit  haben,  die  Or- 
ganisation einer  Gresellschaft  zu  studiren,  die  noch 
keinen  Staat  kennt.  Der  Staat  setzt  eine  von  der 
G-esammtheit  der  jedesmal  Betheiligten  getrennte,  be- 
sondre öffentliche  Grewalt  voraus,  und  Maurer,  der  mit 
richtigem.  Instinkt  die  deutsche  Markverfassung  als  eine 
vom  Staat  wesentlich  verschiedne,  wenn  auch  ihm 
grossentheils  später  zu  Grunde  liegende,  an  sich  rein 
gesellschaftliche  Institution  erken?it  —  Maurer  unter- 
sucht daher  in  allen  seinen  Schriften  das  allmälige 
Entstehn  der  öffentlichen  Gewalt  aus  und  neben  den 
ursprünglichen  Verfassungen  der  Marken,  Dörfer,  Höfe 
und  Städte.  Wir  sehn  bei  den  nordamerikanischen 
Indianern,  wie  ein  ursprünglich  einheitlicher  Volks- 
stamm sich  über  einen  ungeheuren  Kontinent  allmälig 
ausbreitet,  wie  Stämme  durch  Spaltung  zu  Völkern, 
ganzen  Gruppen  von  Stämmen  werden,  die  Sprachen 
sich  verändern,  bis  sie  nicht  nur  einander  unverständ- 
lich werden,  sondern  auch  fast  jede  Spur  der  ursprüng- 
lichen Einheit  verschwindet ;  wie  daneben  in  den 
Stämmen  die  einzelnen  Gentes  sich  in  mehrere  spalten, 
die  alten  Muttergentes  als  Phratrien  sich  erhalten  und 
doch  die  Namen  dieser  ältesten  Gentes  bei  weit  ent- 
fernten und  lange  getrennten  Stämmen  sich  gleich 
bleiben  —  der  Wolf  und  der  Bär  sind  Gentilnamen 
noch  bei  einer  Majorität  aller  indianischen  Stämme. 
Und  auf  sie  alle  passt  im  Ganzen  und  Grossen  die  oben 


—    58    — 

geschilderte  Verfassung  —  nur  dass  Viele  es  nicht  bis 
zum  Bund  verwandter  Stämme  gebracht  haben. 

Wir  sehen  aber  auch,  wie  sehr  —  die  Gens  als 
gesellschaftliche  Einheit  einmal  gegeben  —  die  ganze 
Verfassung  von  Gentes,  Phratrien  und  Stamm  sich  mit 
fast  zwingender  Nothwendigkeit  —  weil  Natürlichkeit  — 
aus  dieser  Einheit  entwickelt.  Alle  drei  sind  Gruppen 
verschiedner  Abstufungen  von  Blutsverwandtschaft,  jede 
abgeschlossen  in  sich  und  ihre  eignen  Angelegenheiten 
ordnend,  jede  aber  auch  die  andre  ergänzend.  Und  der 
Kreis  der  ihnen  anheimfallenden  Angelegenheiten  um- 
fasst  die  Gesammtheit  der  öffentlichen  Angelegenheiten 
des  Barbaren  der  Unterstufe.  Wo  wir  also  bei  einem 
Volk  die  Gens  als  gesellschaftliche  Einheit  vorfinden, 
werden  wir  auch  nach  einer  ähnlichen  Organisation  des 
Stammes  suchen  dürfen  wie  die  hier  geschilderte ;  und 
wo  hinreichende  Quellen  vorliegen,  wie  bei  Griechen 
und  Römern,  werden  wir  sie  nicht  nur  finden,  sondern 
uns  auch  überzeugen,  dass  wo  die  Quellen  uns  im  Stich 
lassen,  die  Vergleichung  der  amerikanischen  Gesell- 
schaftsverfassung uns  über  die  wichtigsten  Zweifel  und 
ßäthsel  hinweghilft. 

Und  es  ist  eine  wunderbare  Verfassung  in  all  ihrer 
Kindlichkeit  und  Einfachheit,  diese  Gentilverfassung ! 
Ohne  Soldaten,  Gendarmen  und  Polizisten,  ohne  Adel, 
Könige,  Statthalter,  Präfekten  oder  Richter,  ohne  Ge- 
fängnisse, ohne  Prozesse,  geht  Alles  seinen  geregelten 
Gang.  Allen  Zank  und  Streit  entscheidet  die  Gesammt- 
heit derer,  die  es  angeht,  die  Gens  oder  der  Stamm, 
oder  die  einzelnen  Gentes  unter  sich  —  nur  als  äusser- 
stes,  selten  angewandtes  Mittel  droht  die  Blutrache, 
von  der  unsre  Todesstrafe  auch  nur  die  civilisirte 
Form  ist,  behaftet  mit  allen  Vortheilen  und  Nachtheilen 
der  Civilisation.  Obwohl  viel  mehr  gemeinsame  Ange- 
legenheiten vorhanden*  sind  als  jetzt  —  die  Haushaltung 
ist  einer  Reihe  von  Familien  gemein  und  kommunistisch, 
der  Boden  ist  Stammesbesitz,  nur  die  Gärtchen  sind 
den  Haushaltungen  vorläufig  zugewiesen  —  so  braucht 
man  doch  nicht  eine  Spur  unsers  weitläuftigen  und 
verwickelten    Verwaltungsapparats.       Die    Betheiligten 


—    59    — 

entscheiden,  und  in  den  meisten  Fällen  hat  jahrhun- 
dertelanger Grebrauch  bereits  Alles  geregelt.  Arme  und 
Bedürftige  kann  es  nicht  geben  —  die!  kommunistische 
Haushaltung  und  die  Grens  kennen  ihre  "Verpflichtungen 
gegen  Alte,  Kranke  und  im  Krieg  Grelähmte.  Alle 
sind  gleich  und  frei  —  auch  die  Weiber.  Für  Sklaven 
ist  noch  kein  Eaum,  für  Unterjochung  fremder  Stämme 
in  der  Regel  auch  noch  nicht.  Als  die  Irokesen  um 
1651  die  Eries  und  die  „Neutrale  Nation"  besiegt  hatten, 
boten  sie  ihnen  an,  als  Grleichberechtigte  in  den  Bund 
zu 'treten;  erst  als  die  Besiegten  dies  weigerten,  wur- 
den sie  aus  ihrem  Grebiet  vertrieben.  Und  welche  Männer 
mid  Weiber  eine  solche  Gresellschaft  erzeugt,  beweist 
die  Bewundrung  aller  Weissen,  die  mit  unverdorbnen 
Indianern  zusammenkamen,  vor  der  persönlichen  Würde, 
Geradheit,  Charakterstärke  und  Tapferkeit  dieser  Bar- 
baren. 

Yon  der  Tapferkeit  haben  wir  ganz  neuerdings  in 
Afrika  Beispiele  erlebt.  Die  ZulukafFern  vor  einigen 
Jahren  wie  die  Nubier  vor  ein  paar  Monaten  —  beides 
Stämme,  bei  denen  Grentileinrichtungen  noch  nicht  aus- 
gestorben —  haben  gethan,  was  kein  europäisches  Heer 
thun  kann.  Nur  mit  Lanzen  und  Wurfspeeren  bewaff- 
net, ohne  Feuergewehr,  sind  sie  im  Kugelregen  der 
Hinterlader  der  englischen  Infanterie  —  der  anerkannt 
ersten  der  Welt  für  das  geschlossene  Gefecht  —  bis  • 
an  die  Bajonette  vorgerückt  und  haben  sie  mehr  als 
einmal  in  Unordnung  gebracht  und  selbst  geworfen, 
trotz  der  kolossalen  Ungleichheit  der  Waffen  und  trotz- 
dem dass  sie  gar  keine  Dienstzeit  haben  und  nicht 
wissen  was  Exerciren  ist.  Was  sie  aushalten  und  leisten 
können,  beweist  die  Klage  der  Engländer,  dass  ein 
Kaffer  in  24  Stunden  einen  längeren  Weg  rascher  zu- 
rücklegt als  ein  Pferd  —  der  kleinste  Muskel  springt 
vor,  hart  und  gestählt,  wie  Peitschenschnur,  sagte  ein 
englischer  Maler. 

So  sahen  die  Menschen  und  die  menschliche  Gesell- 
schaft aus,  ehe  die  Scheidung  in  verschiedne  Klassen 
vor  sich  gegangen  war.  Und  wenn  wir  ihre  Lage  ver- 
gleichen mit  der  der  ungeheuren  Mehrzahl   der    heuti- 


—     Bo- 
gen civilisirten  Menschen,    so    ist   der  Abstand    enorm 
zwischen  dem  heutigen  Proletarier  und  Kleinbauer  und 
dem  alten  freien  Gentilgenossen. 

Das  ist  die  eine  Seite.  Vergessen  wir  aber  nicht, 
dass  diese  Organisation  dem  Untergang  geweiht  war. 
lieber  den  Stamm  ging  sie  nicht  hinaus ;  der  Bund  der  \ 
Stämme  bezeichnet  schon  den  Anfang  ihrer  Untergrabung, 
wie  sich  zeigen  wird,  und  wie  sich  schon  zeigt©  iia 
den  Unterjochungsversuchen  der  Irokesen.  Was  ausser- 
halb des  Stammes,  war  ausserhalb  des  Rechts.  Wo 
nicht  ausdrücklicher  Friedensvertrag  vorlag,  herrschte 
Krieg  von  Stamm  zu  Stamm,  und  der  Krieg  wurde 
geführt  mit  der  Grrausamkeit,  die  den  Menschen  vor 
den  übrigen  Thieren  auszeichnet  und  die  erst  später 
gemildert  wurde  durch  das  Interesse.  Die  Gentil- 
verfassung  in  ihrer  Blüte,  wie  wir  sie  in  Amerika 
sahen,  setzte  voraus  eine  äusserst  unentwickelte  Pro- 
duktion, also  eine  äusserst  dünne  Bevölkerung  auf 
weitem  Gebiet;  also  ein  fast  vollständiges  Beherrscht- 
sein des  Menschen  von  der  ihm  fremd  gegenüber- 
stehenden, unverstandnen  äussern  Natur,  das  sich 
widerspiegelt  in  den  kindischen  religiösen  Vorstel- 
lungen. Der  Stamm  blieb  die  Grenze  für  den  Men- 
schen, sowohl  dem  Stammesfremden,  als  auch  sich  selbst, 
gegenüber:  der  Stamm,  die  Gens  und  ihre  Einrich- 
tungen waren  heilig  und  unantastbar,  waren  eine  von 
Natur  gegebene  höhere  Macht,  der  der  Einzelne  in 
Fühlen,  Denken  und  Thun  unbedingt  unterthan  blieb. 
So  imposant  die  Leute  dieser  Epoche  uns  erscheinen, 
so  sehr  sind  sie  ununterschieden  Einer  vom  Andern, 
sie  hängen  noch,  wie  Marx  sagt,  an  der  Nabelschnur 
des  naturwüchsigen  Gemeinwesens.  Die  Macht  dieser 
naturn^üchsigen  Gemeinwesen  musste  gebrochen  werden 
—  sie  wurde  gebrochen.  Aber  sie  wurde  gebrochen 
durch  Einflüsse,  die  uns  von  vornherein  als  eine  De- 
gradation erscheinen,  als  ein  Sündenfall  von  der  ein- 
fachen sittlichen  Höhe  der  alten  Gentilgesellschaft. 
Es  sind  die  niedrigsten  Interessen  —  gemeine  Hab- 
gier, brutale  Genusssucht,  schmutziger  Geiz,  eigen- 
süchtiger Raub  an  Gemeinbesitz  —  die  die  neue,  civi- 


—     61     — 

lisirte ,  die  Klassengesellschaft  einweihen ;  es  sind  die 
schmählichsten  Mittel  —  Diebstahl,  Vergewaltigung, 
Hinterlist,  Verrath,  die  die  alte  klassenlose  Gentil- 
gesellschaft unterhöhlen  und  zu  Fall  bringen.  Und 
die  neue  G-esellschaft  selbst,  während  der  ganzen 
dritthalbtausend  Jahre  ihres  Bestehens ,  ist  sie  nie 
etwas  andres  gewesen,  als  die  Entwicklung  der  kleinen 
Minderzahl  auf  Kosten  der  ausgebeuteten  und  unter- 
drückten grossen  Mehrzahl,  und  sie  ist  dies  jetzt  mehr 
als  je  zuvor. 


IV.   Die  griecliische  Gens. 


r  Grrieohen  wie  Pelasger  und  andre  stammverwandte 
Völker  waren  schon  seit  vorgeschichtlicher  Zeit  geord- 
net nach  derselben  organischen  Reihe  wie  die  Ameri- 
kaner :  Grens,  Phratrie,  Stamm,  Bund  von  Stämmen. 
Die  Phratrie  konnte  fehlen  wie  bei  den  Doriern,  der 
Bund  von  Stämmen  brauchte  noch  nicht  überall  aus- 
gebildet zu  sein,  aber  in  allen  Fällen  war  die  Grens  die 
Einheit.  Zur  Zeit,  wo  die  Grriechen  in  die  G-eschichte 
eintreten,  stehn  sie  an  der  Schwelle  der  Civilisation ; 
zwischen  ihnen  und  den  amerikanischen  Stämmen,  von 
denen  oben  die  Rede  war,  liegen  fast  zwei  ganze  grosse 
Entwicklungsperioden,  um  welche  die  Grriechen  der 
Heroenzeit  den  Irokesen  voraus  sind.  Die  Grens  der 
Grriechen  ist  daher  auch  keineswegs  mehr  die  archaische 
der  Irokesen,  der  Stempel  der  Punaluafamilie  fängt  an 
sich  bedeutend  zu  verwischen.  Das  Mutterrecht  ist  dem 
Vaterrecht  gewichen ;  und  damit  hat  der  aufkommende 
Privatreichthum  seine  erste  Bresche  in  die  Grentil- 
verfassung  gelegt.  Eine  zweite  Bresche  war  natürliche 
Folge  der  ersten :  da  nach  Einführung  des  Vaterrechts 
das  Vermögen  einer  reichen  Erbin  durch  ihre  Heirath 
an  ihren  Mann,  also  in  eine  andre  Grens  gekommen 
wäre,  durchbrach  man  die  Grrundlage  alles  Grentilrechts, 
und  erlaubte  nicht  nur,  sondern  gebot  in  diesem  Fall, 
dass  das  Mädchen  innerhalb  der  GTens  heirathete,  um 
dieser  das  Vermögen  zu  erhalten. 

Nach  Grrote's  griechischer  Gleschichte  wurde  speciell 
■die  athenische  Grens  zusammengehalten  durch 

1.    Gemeinsame   religiöse   Feierlichkeiten,   und  aus- 


—     63     — 

schliessliches  Recht  des  Priestertliums  zu  Ehren  eines 
bestimmten  G-ottes,  des  angeblichen  Stammvaters  der 
Gi-ens,  der  in  dieser  Eigenschaft  durch  einen  besondem 
Beinamen  bezeichnet  wurde; 

2.  Gremeinsamen  Begräbnissplatz  (vgl.  Demosthenes' 
Eubulides)  ; 

3.  Gregenseitiges  Beerbungsrecht ; 

4.  Gregenseitige  Verpflichtung  zu  Hülfe,  Schutz  und 
Unterstützung  bei  Vergewaltigung; 

5.  Gregenseitiges  Recht  und  Verpflichtung  zur  Hei- 
rath  in  der  Grens  in  gewissen  Fällen,  besonders  wo  es 
Waisentöchter  oder  Erbinnen  betraf; 

6.  Besitz,  wenigstens  in  einigen  Fällen,  von  gemein- 
samem Eigenthum  mit  einem  eignen  Archen  (Vorsteher) 
und  Schatzmeister. 

Sodann  band  die  Vereinigung  in  der  Phratrie  meh- 
rere Grentes  zusammen,  doch  weniger  eng;  doch  auch 
hier  finden  wir  gegenseitige  Rechte  und  Pflichten  ähn- 
licher Art,  besonders  Gremeinsamkeit  bestimmter  Reli- 
gionsübungen und  das  Recht  der  Verfolgung,  wenn  ein 
Phrator  getödtet  worden.  Die  Gresammtheit  der  Phra- 
trien  eines  Stammes  hatte  wiederum  gemeinsame,  regel- 
mässig wiederkehrende  heilige  Feierlichkeiten  unter 
Vortritt  eines  aus  den  Adligen  (Eupatriden)  gewählten 
Phylobasileus  (Stammvorstehers). 

Soweit  Grrote.  Und  Marx  fügt  hinzu:  „Durch  die 
griechische  Grens  guckt  der  Wilde  (Irokese  z.  B.)  aber 
auch  unverkennbar  durch."  Er  wird  noch  unverkenn- 
barer, sobald  wir  etwas  weiter  untersuchen.  Der  grie- 
chischen Grens  kommt  nämlich  ferner  zu : 

7.  Abstammung  nach  Vaterrecht; 

8.  Verbot  der  Heirath  in  der  Grens  ausser  im  Fall 
von  Erbinnen.  Diese  Ausnahme,  und  ihre  Fassung  als 
Grebot,  beweisen  die  Greltung  der  alten  Regel.  Diese 
folgt  ebenfalls  aus  dem  allgemein  gültigen  Satz,  dass 
die  Frau  durch  die  Heirath  auf  die  religiösen  Riten 
ihrer  Grens  verzichtete  und  in  die  ihres  Mannes  über- 
trat, in  dessen  Phratrie  sie  auch  eingeschrieben  wurde. 
Heirath  ausserhalb  der  Grens  war  hiernach  und  nach 
«iner    berühmten    Stelle    des    Dikäarchus    Regel,    und 


—     64     — 

Becker  im  Oharikles  nimmt  geradezu  an,  dass  Niemand 
innerhalb  seiner  eigenen  Grens  heirathen  durfte. 

9.  Das  Recht  der  Adoption  in  die  Gens ;  es  erfolgte 
durch  Adoption  in  die  Familie,  aber  mit  öjffentlichen 
Formalitäten  und  nur  ausnahmsweise. 

10.  Das  Recht,  die  Vorsteher  zu  erwählen  und  ab- 
zusetzen. Dass  jede  GTens  ihren  Archon  hatte,  wissen 
wir ;  dass  das  Amt  erblich  in  bestimmten  Familien  sei, 
wird  nirgends  gesagt.  Bis  an's  Ende  der  Barbarei  ist 
die  Yermuthung  stets  gegen  die  Erblichkeit,  die  ganz 
unverträglich  ist  mit  Zuständen,  wo  Reiche  und  Arme 
innerhalb  der  Gens  vollkommen  gleiche  Rechte  hatten. 

Nicht  nur  Grote,  sondern  auch  Niebuhr,  Mommsen 
und  alle  andern  bisherigen  Geschichtschreiber  des  klas- 
sischen Alterthums  sind  gescheitert  an  der  Gens.  So 
richtig  sie  auch  viele  ihrer  Merkmale  aufgezeichnet 
haben,  so  sahen  sie  in  ihr  stets  eine  Gruppe  von 
Familien,  und  machten  es  sich  damit  unmöglich,  die 
Natur  und  den  Ursprung  der  Gens  zu  verstehn.  Die 
Familie  ist  unter  der  Gentilverfassung  nie  eine  Orga- 
nisationseinheit gewesen  und  konnte  es  nicht  sein,  weil 
Mann  und  Frau  nothwendig  zu  zwei  verschiedenen 
Gentes  gehörten.  Die  Gens  ging  ganz  ein  in  die  Phra- 
trie,  die  Phratrie  in  den  Stamm;  die  Familie  ging  auf 
halb  in  die  Gens  des  Mannes  und  halb  in  die  der 
Frau.  Auch  der  Staat  erkennt  im  öffentlichen  Recht 
keine  Familie  an;  sie  existirt  bis  heute  nur  für  das 
Privatrecht.  Und  dennoch  geht  unsre  ganze  bisherige 
Geschichtschreibung  von  der,  namentlich  im  achtzehnten 
Jahrhundert  unantastbar  gewordenen,  absurden  Voraus- 
setzung aus,  die  monogamische  Einzelfamilie,  die  kaum 
älter  ist  als  die  Civilisation,  sei  der  Krystallkern,  um 
den  sich  Gesellschaft  und  Staat  allmälig  angesetzt 
habe 

„Herrn  Grote  ferner  zu  bemerken,  fügt  Marx  ein, 
dass  obgleich  die  Griechen  ihre  Gentes  aus  der  Mytho- 
logie herleiten,  jene  Gentes  älter  sind  als  die  von 
ihnen  selbst  geschaffene  Mythologie  mit  ihren 
Göttern  und  Halbgöttern." 

Grote    wird    von    Morgan    mit  Vorliebe    angeführt, 


—     65     — 

weil  er  ein  angesehener  und  doch  ganz  unverdächtiger 
Zeuge.  Er  erzählt  weiterhin,  dass  jede  athenische  Glens 
einen  von  ihrem  vermeintlichen  Stammvater  abgeleiteten 
Namen  hatte,  dass  vor  Solon  allgemein,  und  noch  nach 
Solon  bei  Abwesenheit  eines  Testaments,  die  Grentil- 
genossen  (gennetes)  des  Verstorbenen  sein  Vermögen 
erbten,  und  dass  im  IT  all  von  Todtschlag  zunächst  die 
Verwandten,  dann  die  ixentilgenossen  und  endlich  die 
Phratoren  des  Erschlagenen  das  Recht  und  die  Pflicht 
hatten,  den  Verbrecher  vor  den  GTerichten  zu  verfolgen  : 
„alles  was  wir"  von  den  ältesten  athenischen  G-esetzen 
hören,  ist  begründet  auf  die  Eintheilung  in  Gentes 
und  Phratrien." 

Die  Abstammung  der  Glentes  von  gemeinsamen  Ur- 
ahnen hat  den  „schulgelehrten  Philistern"  (Marx) 
schweres  Kopfbrechen  gemacht.  Da  sie  diese  natürlich 
für  rein  mythisch  ausgeben,  so  können  sie  sich  die 
Entstehung  einer  GTens  aus  nebeneinanderstehenden, 
ursprünglich  gar  nicht  verwandten  Familien  platter- 
dings nicht  erklären,  und  doch  müssen  sie  dies  fertig 
bringen,  um  nur  das  Dasein  der  GTentes  zu  erklären. 
Da  wird  denn  ein  sich  im  Kreise  drehender  Wort- 
schwall aufgeboten,  der  nicht  über  den  Satz  hinaus- 
kommt :  der  Stammbaum  ist  zwar  eine  Fabel,  aber  die 
Grens  ist  eine  Wirklichkeit,  und  schliesslich  heisst  es 
denn  bei  Glrote  —  mit  Einschiebungen  von  Marx  — 
wie  folgt:  „Wir  hören  von  diesem  Stammbaum  nur 
selten,  weil  er  vor  die  Oeflfentlichkeit  nur  in  gewissen, 
besonders  feierlichen  Fällen  gebracht  wird.  Aber  die 
geringeren  Grentes  hatten  ihre  gemeinsamen  Religions- 
übungen  (sonderbar  dies,  Mr.  Grote !)  und  gemeinsamen 
übermenschlichen  Stammvater  und  Stammbaum  ganz 
wie  die  berühmteren  (wie  gar  sonderbar  dies,  Herr 
G-rote,  bei  geringeren  Gentes !) ;  der  Grundplan  und 
die  ideale  Grundlage  (werther  Herr,  nicht  ideal,  son- 
dern carnal,  germanice  fleischlich!)  war  bei  allen 
dieselbe." 

Marx  fasst  Morgan's  Antwort  hierauf  wie  folgt  zu- 
sammen: „Das  der  Gens  in  ihrer  Urform  —  und  die 
Griechen  hatten  diese  einst  besessen  wie  andre  Sterb- 


—     6Q     ^ 

Hohe  —  entsprechende  Bluts verwandtschaftssystem  be- 
wahrte die  Kenntniss  der  Verwandtschaften  aller  Mit- 
glieder der  Grentes  unter  einander.  (Sie  lernten  dies 
für  sie  entscheidend  Wichtige  durch  Praxis  von  Kindes- 
beinen.) Mit  der  monogamischen  Familie  fiel  dies  in 
Vergessenheit.  Der  Grentilname  schuf  einen  Stamm- 
baum, neben  dem  der  der  Einzelfamilie  unbedeutend 
erschien  Es  war  nunmehr  dieser  Name,  der  die  That- 
sache  der  gemeinsamen  Abstammung  seiner  Träger  zu 
bewahren  hatte;  aber  der  Stammbaum  der  Gens  ging 
so  weit  zurück,  dass  die  Mitglieder  ihre  gegenseitige 
wirkliche  Verwandtschaft  nicht  mehr  nachweisen  konn- 
ten, ausser  in  beschränkter  Zahl  von  Fällen  bei  neueren, 
gemeinschaftlichen  Vorfahren.  Der  Name  selbst  war 
Beweis  gemeinsamer  Abstammung,  und  endgültiger 
Beweis  abgesehn  von  Adoptionsfällen.  Dahingegen  ist 
die  thatsächliche  Läugnung  aller  Verwandtschaft  zwi- 
schen Grentilgenossen  k  la  Grrote  und  Niebuhr,  welche 
die  Grens  in  eine  rein  ersonnene  und  erdichtete  Schöpfung 
verwandelt,  würdig  „idealer"  d.  h.  stubenhockerischer 
Schrif cgelehrter.  Weil  die  Verkettung  der  G-eschlechter, 
namentlich  mit  Anbruch  der  Monogamie,  in  die  Ferne 
gerückt,  und  die  vergangne  Wirklichkeit  im  mytholo- 
gischen Phantasiebild  wiedergespiegelt  erscheint,  schlös- 
sen und  schliessen  Philister-Biedermänner,  dass  der 
Phantasiestammbaum  wirkliche  Gentes  schuf!" 

Die  Phratrie  war,  wie  bei  den  Amerikanern,  eine 
in  mehrere  Tochtergentes  gespaltene  und  sie  einigende 
Muttergens,  und  leitete  sie  alle  oft  noch  vom  gemein- 
samen Stammvater  ab.  So  hatten  nach  Grote  „alle 
gleichzeitigen  Glieder  der  Phratrie  des  Hekatäus  einen 
und  denselben  Gott  zum  Stammvater  im  sechszehnten 
Glied" ;  alle  Gentes  dieser  Phratrie  waren  also  buch- 
stäblich Brudergentes.  Die  Phratrie  kommt  noch  bei 
Homer  als  militärische  Einheit  vor,  in  der  berühmten 
Stelle,  wo  Nestor  dem  Agamemnon  räth:  Ordne  die 
Männer  nach  Stämmen  und  nach  Phratrien,  dass  die 
Phratrie  der  Phratrie  beistehe,  und  der  Stamm  dem 
Stamm.  —  Sonst  hat  sie  das  Recht  und  die  Pflicht  der 
Verfolgung  der  an  einem  Phrator  begangnen  Blutschuld, 


—     67     — 

also  in  früherer  Zeit  auch  die  Verpflichtung  zur  Blut- 
rache. Sie  hat  ferner  gemeinsame  Heiligthümer  und 
Feste,  wie  denn  die  Ausbildung  der  gesammten  grie- 
chischen Mythologie  aus  dem  mitgebrachten  alt-arischen 
Naturkultus  wesentlich  bedingt  war  durch  die  Grentes 
und  Phratrien  und  innerhalb  ihrer  vor  sich  ging.  Fer- 
ner hatte  sie  einen  Vorsteher  (Phratriarchos)  und  nach 
De  Coulanges  auch  Versammlungen  und  bindende  Be- 
schlüsse, eine  Gerichtsbarkeit  und  Verwaltung.  Selbst 
der  spätere  Staat,  der  die  Gens  ignorirte,  liess  der 
Phratrie  gewisse  öffentliche  Amts  Verrichtungen. 

Die  Vereinigung  mehrerer  verwandten  Phratrien 
bildet  den  Stamm.  In  Attika  gab  es  vier  Stämme,  zu 
je  drei  Phratrien,  von  denen  jede  dreissig  Gentes  zählte. 
Solche  Abzirkelung  der  Gruppen  setzt  bewusstes,  plan- 
mässiges  Eingreifen  in  die  naturwüchsig  entstandene 
Ordnung  voraus.  Wie,  wann  und  warum  dies  geschehn, 
darüber  schweigt  die  griechische  Geschichte,  von  der 
die  Griechen  selbst  nur  bis  in's  Heldenzeitalter  hinein 
sich  Erinnerung  bewahrt  haben. 

Dialektische  Abweichung  war  bei  den  auf  verhält- 
nissmässig  kleinem  Gebiet  zusammengedrängten  Griechen 
weniger  entwickelt  als  in  den  weiten  amerikanischen 
Wäldern;  doch  auch  hier  finden  wir  nur  Stämme  der- 
selben Hauptmundart  zu  einem  grössern  Ganzen  ver- 
einigt, und  selbt  in  dem  kleinen  Attika  einen  beson- 
dern Dialekt,  der  später  als  allgemeine  Prosasprache 
der  herrschende  wurde. 

In  den  homerischen  Gedichten  finden  wir  die  grie- 
chischen Stämme  meist  schon  zu  kleinen  Völkerschaften 
Tereinigt,  innerhalb  deren  Gentes,  Phratrien  und  Stämme 
indess  ihre  Selbständigkeit  noch  vollkommen  bewahrten. 
Sie  wohnten  bereits  in  mit  Mauern  befestigten  Städten  ; 
die  Bevölkeiungszahl  stieg  mit  der  Ausdehnung  der 
Heerden,  des  Feldbaus  und  den  Anfängen  des  Hand- 
werks ;  damit  wuchsen  die  Reichthumsverschiedenheiten 
und  mit  ihnen  das  aristokratische  Element  innerhalb 
der  alten,  naturwüchsigen  Demokratie.  Die  einzelnen 
Völkchen  führten  unaufhörliche  Kriege  um  den  Besitz 
der  besten  Landstriche  und  auch  wohl  der  Beute  wegen; 


—     68     — 

Sklaverei  der  Kriegsgefangnen  war  bereits  anerkannte 
Einriclitung. 

Die  Verfassung  dieser  Stämme  und  Völkolien  war 
nun  wie  folgt. 

1.  Stehende  Behörde  war  der  Rath,  bule,  ur- 
sprünglich wohl  aus  den  Vorstehern  der  Gentes  zu- 
sammengesetzt, später,  als  deren  Zahl  zu  gross  wurde, 
aus  einer  Auswahl,  die  Grelegenheit  bot  zur  Ausbildung 
und  Stärkung  des  aristokratischen  Elements ;  wie  denn 
auch  Dionysios  gradezu  den  E,ath  der  Heroenzeit  aus 
den  Vornehmen  (kratistoi)  zusammengesetzt  sein  lässt. 
Der  Eath  entschied  endgültig  in  wichtigen  Angelegen- 
heiten ;  so  fasst  der  von  Theben,  bei  Aeschylos,  den 
für  die  gegebne  Sachlage  entscheidenden  Beschluss,  den 
Eteokles  ehrenvoll  zu  begraben,  die  Leiche  des  Poly- 
nikes  aber  hinauszuwerfen,  den  Hunden  zur  Beute. 
Mit  Errichtung  des  Staats  ging  dieser  Rath  über  in 
den  späteren  Senat. 

2.  Die  Volksversammlung  (agora).  Bei  den 
Irokesen  fanden  wir  das  Volk.  Männer  und  Weiber, 
die  E,athsversammlung  umstehend ,  dreinredend  in 
geordneter  Weise  und  so  ihre  Beschlüsse  beeinflussend. 
Bei  den  homerischen  G-riechen  hat  sich  dieser  „Umstand", 
um  einen  altdeutschen  Gerichtsausdruck  zu  gebrauchen, 
bereits  entwickelt  zur  vollständigen  Volksversammlung, 
wie  dies  ebenfalls  bei  den  Deutschen  der  Urzeit  der 
Fall  war.  Sie  wurde  vom  Rath  berufen  zur  Entscheidung 
wichtiger  Angelegenheiten ;  jeder  Mann  konnte  das 
Wort  ergreifen.  Die  Entscheidung  erfolgte  durch  Hand- 
erheben (Aeschylos  in  den  Schutzflehenden)  oder  durch 
Zuruf.  Sie  war  souverain  in  letzter  Instanz,  denn,  sagt 
Schömann  (griech.  Alterthümer),  „handelt  es  sich  um 
eine  Sache,  zu  deren  Ausführung  die  Mitwirkung  des 
Volks  erforderlich  ist,  so  verräth  uns  Homer  kein 
Mittel,  wie  dasselbe  gegen  seinen  Willen  dazu  ge- 
zwungen werden  könne".  Es  gab  eben  zu  dieser  Zeit, 
wo  jedes  erwachsene  männliche  Stammesmitglied  Krie- 
ger war,  noch  keine  vom  Volk  getrennte  öflentliche 
Gewalt,  die  ihm  hätte  entgesetzt  werden  können.  Die 
naturwüchsige  Demokratie   stand  noch  in  voller  Blüte, 


—     69     — 

und  dies  rnuss  der  Ausgangspunkt  bleiben  zur  Beur- 
theilung  der  Macht  und  der  Stellung  sowohl  des  Raths 
wie  des  Basileus. 

3.  Der  Heerführer  (basileus).  Hierzu  bemerkt  Marx : 
„Die  europäischen  Glelehrten,  meist  geborne  Fürsten- 
bediente, machen  aus  dem  Basileus  einen  Monarchen 
im  modernen  Sinn.  Dagegen  verwahrt  sich  der  Yankee- 
ßepublikaner  Morgan.  Er  sagt  sehr  ironisch,  aber 
wahr,  vom  öligen  Grladstone  und  dessen  „Juventus 
Mundi"  :  Herr  Grladstone  präsentirt  uns  die  griechischen 
Häuptlinge  der  Heldenzeit  als  Könige  und  Fürsten, 
mit  der  Zugabe,  dass  sie  auch  Grentlemen  seien;  er 
selbst  muss  aber  zugeben  :  im  Granzen  scheinen  wir  die 
Sitte  oder  das  Gesetz  der  Erstgeburtsfolge  hinreichend, 
aber  nicht  allzuscharf  bestimmt  vorzufinden."  Es  wird 
auch  wohl  dem  Herrn  Gladstone  selbst  scheinen,  dass 
eine  so  verklausulirte  Erstgeburtsfolge  hinreichend, 
wenn  auch  nicht  allzuscharf,  Igerade  so  viel  werth  ist 
wie  gar  keine. 

Wie  es  mit  der  Erblichkeit  der  Yorsteherschaften 
bei  den  Irokesen  und  andern  Indianern  stand,  sahen 
wir.  Alle  Aemter  waren  Wahlämter  meist  innerhalb 
einer  Grens,  und  insofern  in  dieser  erblich.  Bei  Er- 
ledigungen wurde  der  nächste  Glentilverwandte  —  Bru- 
der oder  Schwestersohn  —  allmälig  vorgezogen,  falls 
nicht  Grründe  vorlagen,  ihn  zu  übergehn.  Gring  also 
bei  den  Grriechen  unter  der  Herrschaft  des  Vaterrechts 
das  Amt  des  Basileus  in  der  Eegel  auf  den  Sohn  oder 
einen  der  Söhne  über,  so  ist  das  nur  Beweis,  dass  die 
Söhne  hier  die  Wahrscheinlichkeit  der  Nachfolge  durch 
Volkswahl  für  sich  hatten,  keineswegs  aber  Beweis 
rechtskräftiger  Erbfolge  ohne  Volkswahl.  Was  hier 
vorliegt,  ist  bei  Irokesen  und  Griechen  die  erste  An- 
lage zu  besondern  Adelsfamilien  innerhalb  den  Gentes, 
und  bei  den  Griechen  noch  dazu  die  erste  Anlage  einer 
künftigen  erblichen  Führerschaft  oder  Monarchie.  Die 
Vermuthung  spricht  also  dafür,  dass  bei  den  Griechen 
der  Basileus  entweder  vom  Volk  gewählt  oder  doch 
durch  seine  anerkannten  Organe  —  Rath  oder  Agora  — 


_._     70     — 

bestätigt  werden  musste,    wie    dies   für    den  römischen 
„König"  (Rex)  galt. 

In  der  Ilias  erscheint  der  Männerbeherrscher  Aga- 
memnon nicht  als  oberster  König  der  Griechen,  son- 
dern als  oberster  Befehlshaber  eines  Bundesheers  vor 
einer  belagerten  Stadt.  Und  auf  diese  seine  Eigenschaft 
weist  Odysseus  hin,  als  Zwist  unter  den  Griechen  aus- 
gebrochen war,  in  der  berühmten  Stelle :  nicht  gut  ist 
die  Vielkommandirerei,  Einer  sei  Befehlshaber  u.  s.  w. 
(wobei  noch  der  beliebte  Vers  mit  dem  Scepter  spä- 
terer Zusatz).  „Odysseus  hält  hier  keine  Vorlesung 
über  eine  Regierungsform,  sondern  verlangt  Gehorsam 
gegen  den  obersten  Feldherrn  im  Kriege.  Für  die 
Griechen,  die  vor  Troja  nur  als  Heer  erscheinen,  geht 
es  in  der  Agora  demokratisch  genug  zu.  Achilles, 
wenn  er  von  Geschenken,  d.  h.  Vertheilung  der  Beute, 
spricht,  macht  stets  zum  Vertheiler,  weder  den  Aga- 
memnon noch  einen  andern  Basileus,  sondern  „die 
Söhne  der  Achäer",  d.  h.  das  Volk.  Die  Prädikate: 
von  Zeus  erzeugt,  von  Zeus  ernährt,  beweisen  nichts, 
da  jede  Gens  von  einem  Gott  abstammt,  die  des 
Stammeshaupts  schon  von  einem  „vornehmeren"  Gott 
—  hier  Zeus.  Selbst  die  persönlich  Unfreien,  wie  der 
Sauhirt  Eumäus  u.  A.  sind  „göttlich"  (dioi  und  theioi) 
und  dies  in  der  Odyssee,  also  in  viel  späterer  Zeit  als 
die  Ilias ;  in  derselben  Odyssee  wird  der  Name  Heros  -.  ■ 
noch  dem  Herold  Mulios  beigelegt  wie  dem  blinden  ^ 
Sänger  Demodokos.  Kurz,  das  Wort  basiieia,  das  die 
griechischen  Schriftsteller  für  das  homerische  sogenannte 
Königthum  anwenden  (weil  die  Heerführerschaft  ihr 
Hauptkennzeichen),  mit  Rath  und  Volksversammlung 
daneben,  bedeutet  nur  —  militärische  Demokratie." 
(Marx.) 

Der  Basileus  hatte  ausser  den  militärischen  noch 
priesterliche  und  richterliche  Amtsbefugnisse ;  letztere 
nicht  näher  bestimmt,  erstere  in  seiner  Eigenscliaft  als 
oberster  Vertreter  des  Stamms  oder  Bundes  von  Stämmen. 
Von  bürgerlichen,  verwaltenden  Befugnissen  ist  nie  die 
Rede ;  er  scheint  aber  von  Aratswegen  Rathsmitglied 
gewesen    zu    sein.     Basileus   mit  König  zu  übersetzen, 


—     71     — 

ist  also  etymologisch  ganz  richtig,  da  König  (Kuning) 
von  Kuui,  Künne,  abstammt  und  Vorsteher  einer  Gens 
bedeutet.  Aber  der  heutigen  Bedeutung  des  Wortes 
König  entspricht  der  altgriechische  Basileus  in  keiner 
Weise.  Thucydides  nennt  die  alte  Basileia  ausdrück- 
lich eine  patrike,  d.  h.  von  Gentes  abgeleitete,  und 
sagt,  sie  habe  festbestimmte,  also  begrenzte  Befugnisse 
gehabt.  Und  Aristoteles  sagt,  die  Basileia  der  Heroen- 
zeit sei  eine  Führerschaft  über  Freie  gewesen,  und  der 
Basileus  Heerführer,  Eichter  und  Oberpriester;  Eegie- 
rungsgewalt  im  spätem  Sinne  hatte  er  also  nicht.*) 

Wir  sehn  also  in  der  griechischen  Verfassung  der 
Heldenzeit  die  alte  Gentilorganisation  noch  in  leben- 
diger Kraft,  aber  auch  schon  den  Anfang  ihrer  Unter- 
grabung: Vaterrecht  mit  Vererbung  des  Vermögens  an 
die  Kinder,  wodurch  die  Reichthumsanhäufung  in  der 
Familie  begünstigt  und  die  Familie  eine  Macht  wurde 
gegenüber  der  Gens;  Rückwirkung  der  Reichthums- 
verschiedenheit  auf  die  Verfassung,  vermittelst  Bildung 
der  ersten  Ansätze  zu  einem  erblichen  Adel  und  König- 
thum ;  Sklaverei,  zunächst  noch  blos  von  Kriegsgefang- 
nen, aber  schon  die  Aussicht  erölfnend  auf  Versklavung 
der  eignen  Stammes-  und  selbst  Gentilgenossen ;  der 
alte  Krieg  von  Stamm  gegen  Stamm  bereits  ausartend 
in  systematische  Räuberei  zu  Land  und  zur  See,  um 
Vieh,  Sklaven,  Schätze  zu  erobern,  in  regelrechte  Er- 
werbsquelle ;  kurz,  Reichthum  gepriesen  und  geachtet 
als  höchstes  Gut,  und  die  alten  Gentilordnungen  ge- 
missbrauchtj    um    den    gewaltsamen    Raub    von   Reich- 


*)  "Wie  dem  griechischen  Basileus,  so  ist  auch  dem  aztekischea 
Heerführer  ein  moderner  Fürst  untergesclioben  worden.  Morgan 
unterwirft  die  erst  missverständlichen  und  übertriebenen,  später 
direkt  lügenhaften  Berichte  der  Spanier  zum  ersten  -Mal  der  histo- 
rischen Kritik  und  weist  nach,  dass  die  Mexikaner  auf  der  Mittel- 
stufe der  Barbarei,  höher  jedoch  als  die  neumexikanischen  PufbloB- 
Indianer,  standen,  und  dass  ihre  Verfassung,  soweit  di^  entstellten 
Berichte  sie  erkennen  lassen,  dem  entsprach :  ein  Hund  dreier 
Stämme,  der  eine  Anzahl  andrer  zur  Tributpflichtigkeit  unterworfen 
hatte,  und  der  regiert  wurde  von  einem  Bundosrath  und  Bundes- 
feldherm,  aus  welchem  letzteren  die  Spanier  einen  „Kaiser"  machten. 


—     72     — 

thtimern  zu  rechtfertigen.  Es  fehlte  nur  noch  Eins: 
eine  Einrichtung,  die  die  neuerworbenen  Eeichthiimer 
der  Einzelnen  nicht  nur  gegen  die  kommunistischen 
Traditionen  der  Gentilordnung  sicherstellte,  die  nicht 
nur  das  früher  so  gering  geschätzte  Privateigenthmn 
heiligte,  und  diese  Heiligung  für  den  höchsten  Zweck 
aller  menschlichen  GTemeinschaft  erklärte,  sondern  die 
auch  die  nacheinander  sich  entwickelnden  neuen  Formen 
der  Eigenthumser Werbung,  also  der  stets  beschleunigten 
Vermehrung  des  Reichthums  mit  dem  Stempel  allge- 
mein gesellschaftlicher  Anerkennung  versah ;  eine  Ein- 
richtung, die  nicht  nur  die  aufkommende  Spaltung  der 
Gesellschaft  in  Klassen  verewigte,  sondern  auch  das 
Recht  der  besitzenden  Klasse  auf  Ausbeutung  der  nicht 
besitzenden,  und  die  Herrschaft  jener  über  diese. 

Und    diese    Einrichtung   kam.      Der   Staat   wurde 
erfunden. 


V.  Entstehung  des  athenischen  Staats 


Wie  der  Staat  sich  entwickelt  hat,  indem  die  Or- 
gane der  G-entilverfassung  theils  umgestaltet,  theils 
durch  Einschiebung  neuer  Organe  verdrängt,  und  end- 
lich vollständig  durch  wirkliche  Staatsbehörden  ersetzt 
wurden,  während  an  die  Stelle  des  in  seinen  Gentes, 
Phratrien  und  Stämmen  sich  selbst  schützenden  wirk- 
lichen „Volks  in  Waffen"  eine  diesen  Staatsbehörden 
dienstbare,  also  auch  gegen  das  Volk  verwendbare, 
bewaffnete  „öffentliche  Gewalt"  trat  —  davon  können 
wir  wenigstens  das  erste  Stück  nirgends  besser  ver- 
folgen als  im  alten  Athen.  Die  Formverwandlungen 
sind  im  Wesentlichen  von  Morgan  dargestellt,  den  sie 
erzeugenden  ökonomischen  Inhalt  muss  ich  grossentheils 
hinzufügen. 

Zur  Heroenzeit  sassen  die  vier  Stämme  der  Athener 
in  Attika  noch  auf  getrennten  Gebieten ;  selbst  die  sie 
zusammensetzenden  zwölf  Phratrien  scheinen  in  den 
zwölf  Städten  des  Kekrops  noch  gesonderte  Sitze  gehabt 
zu  haben.  Die  Verfassung  war  die  der  Heroenzeit : 
Volksversammlung,  Volksrath,  Basileus.  Soweit  die 
geschriebene  Geschichte  zurückreicht,  war  der  Grund 
und  Boden  schon  vertheilt  und  in  Privateigenthum  über- 
gegangen, wie  dies  der  gegen  Ende  der  Oberstufe  der 
Barbarei  bereits  verhältnissmässig  entwickelten  Waaren- 
produktion  und  dem  ihr  entsprechenden  Waarenhandel 
gemäss  ist.  Neben  Korn  wurde  Wein  und  Oel  gewonnen; 
der  Seehandel  auf  dem  Aegäischen  Meer  wurde  mehr 
und  mehr  den  Phöniziern  entzogen  und  fiel  grossen- 
theils in  attische  Hände.    Durch  den  Kauf  und  Verkauf 


—     74     — 

von  Grundbesitz,  durch  die  fortschreitende  Theilung 
der  Arbeit  zwischen  Ackerbau  und  Handwerk,  Handel 
und  Schiffahrt,  mussten  die  Angehörigen  der  Gentes^ 
Phratrien  und  Stämme  sehr  bald  durcheinander  kommen,, 
der  Distrikt  der  Phratrie  und  des  Stammes  Bewohner 
erhalten,  die,  obwohl  Volksgenossen,  doch  diesen  Körper- 
schaften nicht  angehörten,  also  in  ihrem  eignen  Wohn- 
ort fremd  waren.  Denn  jede  Phratrie  und  jeder  Stamm 
verwalteten  in  ruhigen  Zeiten  ihre  Angelegenheiten 
selbst,  ohne  nach  Athen  zum  Volksrath  oder  Basileus 
zu  schicken.  Wer  aber  im  Gebiet  der  Phratrie  oder 
des  Stamms  wohnte,  ohne  ihm  anzugehören,  konnte  an 
dieser  Verwaltung  natürlich  keinen  Antheil  nehmen. 

Das  geregelte  Spiel  der  Organe  der  Gentilverfassung 
kam  damit  so  in  Unordnung,  dass  schon  zur  Heroenzeit 
Abhülfe  nöthig  wurde.  Die  dem  Theseus  zugeschriebne 
Verfassung  wurde  eingeführt.  Die  Aenderung  bestand 
vor  Allem  darin,  dass  eine  Centralverwaltung  in  Athen 
eingerichtet,  d.  h.  ein  Theil  der  bisher  von  den  Stämmen 
selbständig  verwalteten  Angelegenheiten  für  gemein- 
same erklärt  und  dem  in  Athen  sitzenden  gemeinsamen 
ßath  übertragen  wurden.  Hiermit  gingen  die  Athener 
einen  Schritt  weiter  als  irgend  ein  eingebornes  Volk 
in  Amerika  je  gegangen :  an  die  Stelle  des  blossen 
Bundes  nebeneinander  wohnender  Stämme  trat  ihre 
Verschmelzung  zu  einem  einzigen  Volk.  Damit  ent- 
sprang ein  athenisches  allgemeines  Volksrecht,  das  über 
den  Rechtsbräuchen  der  Stämme  und  Gentes  stand; 
der  athenische  Bürger  erhielt,  als  solcher,  bestimmte 
Rechte  und  neuen  Rechtsschutz  auch  auf  Gebiet,  wo 
er  stammesfremd  war.  Damit  war  aber  der  erste  Schritt 
geschehn  zur  Untergrabung  der  Gentilverfassung  ;  denn 
es  war  der  erste  Schritt  zur  späteren  Zulassung  von 
Bürgern,  die  in  ganz  Attika  staramesfremd  waren,  die 
ganz  ausserhalb  der  athenischen  Gentilverfassung  stan- 
den und  blieben.  Eine  zweite  dem  Theseus  zugeschriebne 
Einrichtung  war  die  Eintheilung  des  ganzen  Volks,  ohne 
Rücksicht  auf  Gens,  Phratrie  oder  Stamm,  in  drei 
Klassen :  Eupatriden  oder  Adlige,  Geomoren  oder  Acker- 
bauer, und  Demiurgen  oder  Handwerker,  und  die  Ueber- 


Weisung  des  ausschliesslichen  Eechts  der  Aemterbesetzung 
an  die  Adligen.  Diese  Eintheilung  blieb  zwar,  mit  Aus- 
nahme der  Aemterbesetzung  durch  den  Adel,  wirkungs- 
los, da  die  beiden  andern  Klassen  keine  besondern 
Rechte  erhielten.  Aber  sie  ist  wichtig,  weil  sie  uns 
die  neuen  gesellschaftlichen  Elemente  vorführt,  die  sich 
im  Stillen  entwickelt  hatten.  Sie  zeigt,  dass  die  ge- 
wohnheitsmässige  Besetzung  der  G-entilämter  aus  ge- 
wissen Familien  sich  bereits  zu  einem  wenig  bestrittenen 
Anrecht  dieser  Familien  auf  die  Aemter  ausgebildet 
hatte,  dass  diese  Familien,  ausserdem  mächtig  durch 
Reichthum,  anfingen,  ausserhalb  ihrer  Grentes  sich  zu 
einer  eignen  bevorrechteten  Klasse  zusammenzuthun, 
und  dass  der  eben  erst  aufkeimende  Staat  diese  An- 
massung  heiligte.  Sie  zeigt  ferner,  dass  die  Theilung 
der  Arbeit  zwischen  Landbauern  und  Handwerkern  be- 
reits genug  erstarkt  war,  um  der  alten  Grliederung  nach 
G-entes  und  Stämmen  den  Vorrang  in  gesellschaftlicher 
Bedeutung  streitig  zu  machen.  Sie  proklamirt  endlich 
den  unverträglichen  Gegensatz  zwischen  G-entilgesell- 
schaft  und  Staat;  der  erste  Versuch  der  Staatsbildung 
besteht  darin,  die  Gentes  zu  zerreissen,  indem  er  die 
Mitglieder  einer  jeden  in  Bevorrechtete  und  Zurück- 
gesetzte, und  diese  wieder  in  zwei  Gewerbsklassen 
scheidet  und  so  einander  entgegensetzt. 

Die  politische  Geschichte  Athens  von  Einführung 
dieser  Verfassung  bis  auf  Solon  ist  nur  unvollkommen 
bekannt.  Das  Amt  des  Basileus  kam  in  Abgang;  an 
die  Spitze  des  Staats  traten  aus  dem  Adel  gewählte 
Archonten.  Die  Herrschaft  des  Adels  stieg  mehr  und 
mehr,  bis  sie  gegen  das  Jahr  600  vor  unsrer  Zeitrech- 
nung unerträglich  wurde.  Und  zwar  war  das  Haupt- 
mittel zur  Unterdrückung  der  gemeinen  Freiheit  —  das 
Geld  und  der  Wucher.  Der  Hauptsitz  des  Adels  war 
in  und  um  Athen,  wo  der  Seehandel,  benebst  noch 
immer  gelegentlich  mit  in  den  Kauf  genommenem  See- 
raub, ihn  bereicherte  und  den  Geldreichthum  in  seinen 
Händen  konzentrirte.  Von  hier  aus  drang  die  sich  ent- 
wickelnde Geldwirthschaft  wie  zersetzendes  Scheide- 
wasser in  die  auf  Natural  wirthschaft  gegründete,  alther- 


—     76     — 

gebrachte  Daseinsweise  der  Landgemeinden.  Die  Gentil- 
verfassung  ist  mit  Geldwirtlischaft  absolut  unverträglich; 
der  Ruin  der  attischen  Parzellenbauern  fiel  zusammen  mit 
der  Lockerung  der  sie  schützend  umschlingenden  alten 
Grentilbande.  Der  Schuldschein  und  die  Grutsverpfän- 
dung  (denn  auch  die  Hypothek  hatten  die  Athener 
schon  erfunden)  kaunten  weder  Gens  noch  Phratrie. 
Und  die  alte  G-entilverfassung  kannte  kein  Geld,  keinen 
Yorschuss,  keine  Geldschuld.  Daher  bildete  die  sich 
immer  üppiger  ausbreitende  Geldherrschaft  des  Adels 
auch  ein  neues  Gewohnheitsrecht  aus  zur  Sicherung 
des  Gläubigers  gegen  den  Schuldner,  zur  Weihe  der 
Ausbeutung  des  Kleinbauern  durch  den  Geldbesitzer. 
Sämmtliche  Feldfluren  Attikas  starrten  von  Pfandsäulen, 
an  denen  verzeichnet  stand,  das  sie  tragende  Grund- 
stück sei  dem  und  dem  verpfändet  um  so  und  so  viel 
Geld.  Die  Aecker ,  die  nicht  so  bezeichnet,  waren 
grossentheils  bereits  wegen  verfallner  Hypotheken  oder 
Zinsen  verkauft,  in  das  Eigenthum  des  adligen  Wucherers 
übergegangen ;  der  Bauer  konnte  froh  sein,  wenn  ihm 
erlaubt  wurde,  als  Pächter  darauf  sitzen  zu  bleiben 
und  von  einem  Sechstel  des  Ertrags  seiner  Arbeit 
zu  leben,  während  er  fünf  Sechstel  dem  neuen 
Herrn  als  Pacht  zahlen  musste.  Noch  mehr.  Reichte 
der  Erlös  des  verkauften  Grundstücks  nicht  hin  zur 
Deckung  der  Schuld,  oder  war  diese  Schuld  ohne  Siche- 
rung durch  Pfand  aufgenommen,  so  musste  der  Schuld- 
ner seine  Kinder  ins  Ausland  in  die  Sklaverei  verkau- 
fen, um  den  Gläubiger  zu  decken.  Verkauf  der  Kinder 
durch  den  Vater  —  das  war  die  erste  Frucht  des  Vater- 
rechts und  der  Monogamie !  Und  war  der  Blutsauger 
dann  noch  nicht  befriedigt,  so  konnte  er  den  Schuldner 
selbst  als  Sklaven  verkaufen.  Das  war  die  angenehme 
Morgenröthe  der  Civilisation  beim  athenischen  Volk. 

Früher,  als  die  Lebenslage  des  Volks  noch  der 
Gentilverfassung  entsprach,  war  eine  solche  Umwälzung 
unmöglich;  imd  hier  war  sie  gekommen,  man  wusste 
nicht  wie.  Gehn  wir  einen  Augenblick  zurück  zu  un- 
sern  Irokesen.  Dort  war  ein  Zustand  undenkbar,  wie 
er  sich  jetzt  den  Athenern  sozusagen  ohne  ihr  Zuthun 


—     77     — 

und  sicher  gegen  ihren  Willen  aufgedrängt  hatte.  Dort 
konnte  die  sich  Jahraus  Jahrein  gleich  bleibende  Weise, 
den  Lebensunterhalt  zu  produziren,  nie  solche,  wie  von 
Aussen  aufgezwungne  Konflikte  erzeugen,  keinen  GTegen- 
satz  von  K.eich  und  Arm,  von  Ausbeutern  und  Aus- 
gebeuteten. Die  Irokesen  waren  noch  weit  entfernt 
davon,  die  Natur  zu  beherrschen,  aber  innerhalb  der 
für  sie  geltenden  Naturgrenzen  beherrschten  sie  ihre 
eigne  Produktion.  Abgesehn  von  schlechten  Ernten  in 
ihren  Grärtchen,  von  Erschöpfung  des  Fischvorraths 
ihrer  Seen  und  Flüsse,  des  Wildstandes  ihrer  Wälder, 
wussten  sie,  was  bei  ihrer  Art,  sich  ihren  Unterhalt 
zu  erarbeiten,  herauskam.  Was  herauskommen  musste, 
war  der  Lebensunterhalt,  ob  er  kärglicher  oder  reich- 
licher ausfiel;  was  aber  nie  herauskommen  konnte,  das 
waren  unbeabsichtigte  gesellschaftliche  Umwälzungen, 
Zerreissung  der  Grentilbande,  Spaltung  der  Gentil-  und 
Stammgenossen  in  entgegengesetzte,  einander  bekäm- 
pfende Klassen.  Die  Produktion  bewegte  sich  in  den 
engsten  Schranken ;  aber  —  die  Produzenten  beherrsch- 
ten ihr  eignes  Produkt.  Das  war  der  ungeheure  Vor- 
zug der  barbarischen  Produktion,  der  mit  dem  Eintritt 
der  Civilisation  verloren  ging  und  den  wiederzuerobern, 
aber  auf  Grrundlage  der  jetzt  errungenen  gewaltigen 
Naturbeherrschung  durch  den  Menschen  und  der  jetzt 
möglichen  freien  Association,  die  Aufgabe  der  nächsten 
Generationen  sein  wird. 

Anders  bei  den  Griechen.  Der  aufgekommene  Privat- 
besitz an  Heerden  und  Luxusgeräth  führte  zum  Aus- 
tausch z  «tischen  Einzelnen,  zur  Verwandlung  der  Pro- 
dukte in  Waaren.  Und  hier  liegt  der  Keim  der  ganzen 
folgenden  Umwälzung.  Sobald  die  Produzenten  ihr 
Produkt  nicht  mehr  direkt  selbst  verzehrten,  sondern 
es  im  Austausch  aus  der  Hand  gaben,  verloren  sie  die 
Herrschaft  darüber.  Sie  wussten  nicht  mehr,  was  aus 
ihm  wurde,  und  die  Möglichkeit  war  gegeben,  dass  das 
Produkt  dereinst  verwandt  werde  gegen  den  Produ- 
zenten, zu  seiner  Ausbeutung  und  Unterdrückung. 
Darum  kann  keine  Gesellschaft  auf  die  Dauer  die 
Herrschaft    über  ihre  eigne  Produktion,    und   die  Kon- 


—    78    — 

trole  über  die  gesellschaftlichen  Wirkungen  ihres  Pro- 
duktionsprocesses  behalten,  die  nicht  den  Austausch 
zwischen  Einzelnen  abschafft. 

Wie  rasch  aber,  nach  dem  Entstehn  des  Austausches 
zwischen  Einzelnen,  und  mit  der  Verwandlung  der  Pro- 
dukte in  Waaren,  das  Produkt  seine  Herrschaft  über 
den  Produzenten  geltend  macht,  das  sollten  die  Athener 
erfahren.  Mit  der  Waarenproduktion  kam  die  Bebauung 
des  Bodens  durch  Einzelne  für  eigne  Rechnung,  damit 
bald  das  Grrundeigenthum  Einzelner.  Es  kam  ferner 
das  Geld,  die  allgemeine  Waare,  gegen  die  alle  andern 
austauschbar  waren  ;  aber  indem  die  Menschen  das  Geld 
erfanden,  dachten  sie  nicht  daran,  dass  sie  damit  wieder 
eine  neue  gesellschaftliche  Macht  schufen,  die  Eine 
allgemeine  Macht,  vor  der  die  ganze  Gesellschaft  sich 
beugen  musste.  Und  diese  neue ,  ohne  Wissen  und 
Willen  ihrer  eignen  Erzeuger  plötzlich  emporgesprungne 
Macht  war  es,  die  ihre  Herrschaft,  in  der  ganzen  Bru- 
talität ihrer  Jugendlichkeit,  den  Athenern  zu  fühlen  gab. 

Was  war  zu  machen  ?  Die  alte  Gentilverfassung 
hatte  sich  nicht  nur  ohnmächtig  erwiesen  gegen  den 
Siegeszug  des  Geldes  ;  sie  war  auch  absolut  unfähig, 
innerhalb  ihres  Rahmens  selbst  nur  Raum  zu  finden 
für  so  etwas  wie  Geld,  Gläubiger  und  Schuldner, 
Zwangseintreibung  von  Schulden.  Aber  die  neue  ge- 
sellschaftliche Macht  war  einmal  da,  und  fromme 
Wünsche,  Sehnsucht  nach  Rückkehr  der  guten  alten 
Zeit,  trieben  Geld  und  Zinswucher  nicht  wieder  aus 
der  Welt.  Und  obendrein  waren  eine  Reihe  andrer, 
untergeordneter  Breschen  in  die  Gentilverfassung  gelegt. 
Die  Durcheinanderwürfelung  der  Gentilgenossen  und 
Phratoren  auf  dem  ganzen  attischen  Gebiet,  namentlich 
in  der  Stadt  Athen  selbst,  war  von  Geschlecht  zu  Ge- 
schlecht grösser  geworden,  trotzdem  dass  auch  jetzt 
noch  ein  Athener  zwar  Grundstücke  ausserhalb  seiner 
Gens  verkaufen  durfte,  nicht  aber  sein  Wohnhaus.  Die 
Theilung  der  Arbeit  zwischen  den  verschiednen  Pro- 
duktionszweigen :  Ackerbau,  Handwerk,  im  Handwerk 
wieder  zahllose  Unterarten,  Handel,  Schiffahrt  u.  s.  w. 
hatte  sich  mit  den  Fortschritten  der  Industrie  und  des 


—     79     — 

Verkehrs  immer  vollständiger  entwickelt ;  die  Bevölke- 
rung theilte  sich  nun  nach  ihrer  Beschäftigung  in 
ziemlich  feste  Gruppen,  deren  Jede  eine  Reihe  neuer, 
gemeinsamer  Interessen  hatte,  für  die  in  der  Gens  oder 
Phratrie  kein  Platz  war,  die  also  zu  ihrer  Besorgung 
neue  Aemter  nöthig  machten.  Die  Zahl  der  Sklaven 
hatte  sich  bedeutend  vermehrt  und  muss  schon  damals 
■die  der  freien  Athener  weit  überstiegen  haben ;  die 
Gentilverfassung  kannte  ursprünglich  keine  Sklaverei, 
also  auch  kein  Mittel,  diese  Masse  Unfreier  im  Zaum 
zu  halten.  Und  endlich  hatte  der  Handel  eine  Menge 
Fremder  nach  Athen  gebracht,  die  dort  des  leichtern 
Gelderwerbs  wegen  sich  niederliessen  und  ebenfalls 
nach  der  alten  Verfassung  recht-  und  schutzlos,  und 
trotz  herkömmlicher  Duldung  ein  störend  fremdes  Ele- 
ment im  Volk  blieben. 

Kurz,  mit  der  Gentilverfassung  ging  es  zu  Ende. 
Die  Gesellschaft  wuchs  täglich  mehr  aus  ihr  heraus; 
selbst  die  schlimmsten  Uebel,  die  unter  ihren  Augen 
-entstanden  waren,  konnte  sie  nicht  hemmen  noch  heben. 
Aber  der  Staat  hatte  sich  inzwischen  im  Stillen  ent- 
wickelt. Die  neuen,  durch  die  Theilung  der  Arbeit 
:zuerst  zwischen  Stadt  und  Land,  dann  zwischen  den 
verschiednen  städtischen  Arbeitszweigen  geschaflFnen 
Gruppen  hatten  neue  Organe  geschaffen  zur  Wahrneh- 
mung ihrer  Interessen ;  Aemter  aller  Art  waren  ein- 
gerichtet worden.  Und  dann  brauchte  der  junge  Staat 
vor  Allem  eine  eigne  Macht,  die  bei  den  seefahrenden 
Athenern  zunächst  nur  eine  Seemacht  sein  konnte,  zu 
■einzelnen  kleinen  Kriegen  und  zum  Schutz  der  Handels- 
schiffe. Es  wurden,  zu  unbekannter  Zeit  vor  Selon,  die 
Naukrarien  errichtet,  kleine  Gebietsbezirke,  zwölf  in 
jedem  Stamm ;  jede  Naukrarie  musste  ein  Kriegsschiff 
stellen,  ausrüsten  und  bemannen  und  stellte  ausserdem 
noch  zwei  Reiter.  Diese  Einrichtung  griff  die  Gentil- 
verfassung zwiefach  an.  Erstens  indem  sie  eine  öffent- 
liche Gewalt  schuf,  die  schon  nicht  mehr  ohne  Weiteres 
mit  der  Gesammtheit  des  bewaffneten  Volks  zusammen- 
fiel; und  zweitens,  indem  sie  zum  ersten  Mal  das  Volk 
zu  öffentlichen  Zwecken  eintheilte,  nicht  nach  Verwandt- 


—     80     — 

Schaftsgruppen,  sondern  nach  örtlichem  Zusammen- 
wohnen.    Was  das  zu  bedeuten  hatte,  wird  sich  zeigen. 

Konnte  die  Gentilverfassung  dem  ausgebeuteten 
Yolk  keine  Hülfe  bringen,  so  blieb  nur  der  entstehende 
Staat.  Und  dieser  brachte  sie  in  der  solonischen  Ver- 
fassung, indem  er  sich  zugleich  neuerdings  auf  Kosten 
der  alten  Verfassung  stärkte.  Solon  —  die  Art,  wie 
seine  in  das  Jahr  594  vor  unsre  Zeitrechnung  fallende 
Reform  durchgesetzt  wurde,  geht  uns  hier  nichts  an  — 
Solon  eröffnete  die  Keihe  der  sogenannten  politischen 
Revolutionen  und  zwar  mit  einem  Eingriff  in  das  Eigen- 
thum.  Alle  bisherigen  Revolutionen  sind  Revolutionen 
gewesen  zum  Schutz  einer  Art  des  Eigenthums  gegen 
eine  andere  Art  des  Eigenthums.  Sie  können  das  eine 
nicht  schützen,  ohne  das  andere  zu  verletzen.  In  der 
grossen  französischen  Revolution  wurde  das  feudale 
Eigenthum  geopfert,  um  das  bürgerliche  zu  retten ;  in 
der  solonischen  musste  das  Eigenthum  der  Grläubiger 
herhalten  zum  Besten  des  Eigenthums  der  Schuldner. 
Die  Schulden  wurden  einfach  für  ungültig  erklärt.  Die 
Einzelheiten  sind  uns  nicht  genau  bekannt,  aber  Solon 
rühmt  sich  in  seinen  Gedichten,  die  Pfandsäulen  von 
den  verschuldeten  Grundstücken  entfernt  und  die  wegen 
Schulden  in 's  Ausland  Verkauften  und  Geflüchteten 
zurückgeführt  zu  haben.  Dies  war  nur  möglich  durch 
offne  Eigenthumsverletzung.  Und  in  der  That,  von  der 
ersten  bis  zur  letzten  sogenannten  politischen  Revolu- 
tion sind  sie  alle  gemacht  worden  zum  Schutz  des 
Eigenthums  —  einer  Art  und  durchgeführt  durch 
Konfiskation,  auch  genannt  Diebstahl  des  Eigenthums 
—  einer  andern  Art.  So  wahr  ist  es,  dass  seit  dritte- 
halb tausend  Jahren  das  Privateigenthum  hat  erhalten 
werden  können  nur   durch  Eigenthumsverletzung. 

Nun  aber  kam  es  darauf  an,  die  Wiederkehr  solcher 
Versklavung  der  freien  Athener  zu  verhindern.  Dies 
geschah  zunächst  durch  allgemeine  Massregeln,  z.  B. 
durch  das  Verbot  von  Schuldverträgen,  worin  die  Per- 
son des  Schuldners  verpfändet  wurde.  Ferner  wurde 
ein  grösstes  Mass  des  von  einem  Einzelnen  zu  be- 
sitzenden Grundeigenthums  festgesetzt,  um  dem  Heiss- 


—     81     — 

hunger  des  Adels  nach  dem  Bauernland  wenigstens 
einige  Schranken  zu  ziehn.  Dann  aber  kamen  Ver- 
fassungsänderungen ;  für  uns  sind  die  wichtigsten  diese : 

Der  Rath  wurde  auf  vierhundert  Mitglieder  gebracht, 
hundert  aus  jedem  Stamm ;  hier  blieb  also  noch  der 
Stamm  die  Grrundlage.  Das  war  aber  auch  die  einzige 
Seite,  nach  welcher  hin  die  alte  Verfassung  in  den 
neuen  Staatskörper  hineingezogen  wurde.  Denn  im 
TJebrigen  theilte  Solon  die  Bürger  in  vier  Klassen  je 
nach  ihrem  Grrundbesitz  und  seinem  Ertrag;  500,  300 
und  150  Medimnen  Korn  (1  Medimnus  ^  15  frühere 
Berliner  Motzen  =  ca.  41  Liter)  waren  die  Minimal- 
erträge für  die  ersten  drei  Klassen ;  wer  weniger  oder 
keinen  Grrundbesitz  hatte,  fiel  in  die  vierte  Klasse. 
Alle  Aemter  konnten  nur  aus  den  obersten  drei,  die 
höchsten  nur  aus  der  ersten  Klasse  besetzt  werden; 
die  vierte  Klasse  hatte  nur  das  Recht,  in  der  Volks- 
versammlung zu  reden  und  zu  stimmen,  aber  hier  wur- 
den alle  Beamten  gewählt,  hier  hatten  sie  Rechenschaft 
abzulegen,  hier  wurden  alle  Gesetze  gemacht,  und  hier 
bildete  die  vierte  Klasse  die  Majorität.  Die  aristokra- 
tischen Vorrechte  wurden  in  der  Form  von  Vorrechten 
des  Reichthums  theilweise  erneuert,  aber  das  Volk  be- 
hielt die  entscheidende  Macht.  Ferner  bildeten  die  vier 
Klassen  die  Grundlage  einer  neuen  Heeresorganisation. 
Die  beiden  ersten  Klassen  stellten  die  Reiterei;  die 
dritte  hatte  als  schwere  Infanterie  zu  dienen;  die  vierte 
als  leichtes,  ungepanzertes  Fussvolk  oder  auf  der  Flotte 
und  wurde  dann  wahrscheinlich  auch  besoldet. 

Hier  wird  also  ein  ganz  neues  Element  in  die  Ver- 
fassung eingeführt :  der  Privatbesitz.  Je  nach  der  Grösse 
ihres  Grundeigenthums  werden  die  Rechte  und  Pflichten 
der  Staatsbürger  abgemessen,  und  soweit  die  Vermögens- 
klassen Einfluss  gewinnen,  soweit  werden  die  alten 
Blutsverwandtschaftskörper  verdrängt;  die  Gentil- 
verfassung  hatte  eine  neue  Niederlage  erlitten. 

Die  Abmessung  der  politischen  Rechte  nach  dem 
Vermögen  war  indess  keine  der  Einrichtungen,  ohne 
die  der  Staat  nicht  bestehn  kann.  Eine  so  grosse  Rolle 
sie  auch  in  der  Verfassungsgeschichte   der  Staaten  ge- 

6 


—     82     — 

spielt  hat,  so  haben  doch  sehr  viele  Staaten  und  grade 
die  am  vollständigsten  entwickelten,  ihrer  nicht  bedurft. 
Auch  in  Athen  spielte  sie  nur  eine  vorübergehende  Rolle; 
seit  Aristides  standen  alle  Aemter  jedem  Bürger  offen. 

Während  der  nächstfolgenden  achtzig  Jahre  kam 
die  athenische  G-esellschaft  allmälig  in  die  Richtung, 
in  der  sie  sich  in  den  folgenden  Jahrhunderten  weiter 
entwickelt  hat.  Dem  üppigen  Landwucher  der  vor- 
solonischen  Zeit  war  ein  Riegel  vorgeschoben,  ebenso 
der  masslosen  Konzentration  des  G-rundbesitzes.  Der 
Handel  und  das  mit  Sklavenarbeit  immer  mehr  im 
Grossen  betriebne  Handwerk  und  Kunsthandwerk  wur- 
den herrschende  Erwerbszweige.  Man  wurde  aufgeklär- 
ter. Statt  in  der  anfänglichen  brutalen  Weise  die  eignen 
Mitbürger  auszubeuten,  beutete  man  vorwiegend  die 
Sklaven  und  die  ausserathenische  Kundschaft  aus.  Der 
bewegliche  Besitz,  der  Greldreichthura  und  der  Reich- 
thum  an  Sklaven  und  Schiffen  wuchs  immer  mehr,  aber 
er  war  jetzt  nicht  mehr  blosses  Mittel  zum  Erwerb 
von  Grundbesitz,  wie  in  der  ersten,  bornirten  Zeit,  er 
war  Selbstzweck  geworden.  Damit  war  einerseits  der 
alten  Adelsmacht  eine  siegreiche  Konkurrenz  erwachsen 
in  der  neuen  Klasse  von  industriellen  und  kaufmänni- 
schen Reichen,  andrerseits  aber  auch  den  Resten  der 
alten  G-entilverfassung  der  letzte  Boden  entzogen.  Die 
Mitglieder  der  Grentes,  Phratrien  und  Stämme  waren 
über  ganz  Attika  zerstreut  und  so  vollständig  durch- 
einander geworfen,  dass  sie  zu  politischen  Körper- 
schaften ganz  untauglich  geworden;  eine  Menge  athe- 
nischer Bürger  gehörten  gar  keiner  Grens  an,  sie  waren 
Eingewanderte,  die  zwar  in's  Bürgerrecht,  aber  nicht 
in  einen  der  alten  Greschlechtsverbände  aufgenommen 
worden ;  daneben  stand  noch  die  stets  wachsende  Zahl 
der  bloss  schutzverwandten  fremden  Einwandcxer. 

Während  dessen  gingen  die  Parteikämpfe  voran ; 
der  Adel  suchte  seine  früheren  Vorrechte  wieder  zu 
erobern  und  erlangte  wieder  für  einen  Augenblick  die 
Oberhand,  bis  die  Revolution  des  Kleisthenes  (509  vor 
unsrer  Zeitrechnung)  ihn  endgültig  stürzte ;  mit  ihm 
aber  auch  den  letzten  Rest  der  Grentilverfassunff. 


—     83     — 

Kleisthenes,  in  seiner  neuen  Verfassung,  ignorirte 
die  vier  alten  auf  Grentes  und  Phratrien  begründeten 
Stämme.  An  ihre  Stelle  trat  eine  ganz  neue  Organi- 
sation auf  Grund  der  schon  in  den  Naukrarien  ver- 
suchten Eintheilung  der  Bürger  nach  dem  blossen  Ort 
der  Ansässigkeit.  Nicht  mehr  die  Zugehörigkeit  zu  den 
Geschlechtsverbänden,  sondern  nur  der  Wohnsitz  ent- 
schied; nicht  das  Volk,  sondern  das  Gebiet  wurde  ein- 
getheilt,  die  Bewohner  wurden  politisch  blosses  Zube- 
hör des  Gebiets. 

Ganz  Attika  wurde  in  hundert  Gemeindebezirke, 
Demen,  getheilt,  deren  Jeder  sich  selbst  verwaltete. 
Die  in  jedem  Demos  ansäsigen  Bürger  (Demoten)  er- 
wählten ihren  Vorsteher  (Demarch)  und  Schatzmeister, 
sowie  dreissig  Richter  mit  Gerichtsbarkeit  über  kleinere 
Streitsachen.  Sie  erhielten  ebenfalls  einen  eignen  Tem- 
pel und  Schutzgott  oder  JBeroen,  dessen  Priester  sie 
wählten.  Die  höchste  Macht  im  Demos  war  bei  der 
Versammlung  der  Demoten.  Es  ist,  wie  Morgan  richtig 
bemerkt,  das  Urbild  der  selbstregierenden  amerikani- 
schen Stadtgemeinde.  Mit  derselben  Einheit,  mit  der 
der  moderne  Staat  in  seiner  höchsten  Ausbildung  endigt, 
mit  derselben  fing  der  entstehende  Staat  in  Athen  an. 

Zehn  dieser  Einheiten,  Demen,  bildeten  einen  Stamm, 
der  aber  zum  Unterschied  vom  alten  Geschlechtsstamm 
jetzt  Ortsstamm  genannt  wird.  Der  Ortsstaram  war 
nicht  allein  eine  selbstverwaltende  politische,  er  war 
auch  eine  militärische  Körperschaft;  er  erwählte  den 
Phylarchen  oder  Stammvorsteher,  der  die  Reiterei,  den 
Taxiarchen,  der  das  Fussvolk,  und  den  Strategen,  der 
die  gesammte  im  Stammesgebiet  ausgehobene  Mann- 
schaft befehligte.  Er  stellte  ferner  fünf  Kriegsschiffe 
nebst  Mannschaft  und  Befehlshaber,  und  erhielt  einen 
attischen  Heros,  nach  welchem  er  sich  benannte,  zum 
Schutzheiligen.  Endlich  wählte  er  fünfzig  Rathsmänner 
in  den  athenischen  Rath. 

Den  Abschluss  bildete  der  athenische  Staat,  regiert 
von  dem  aus  den  fünfhundert  Erwählten  der  zehn  Stämme 
zusammengesetzten  Rath  und  in  letzter  Instanz  von  der 
Volksversammlung,  wo  jeder  athenische  Bürger  Zutritt 


—     84     — 

und  Stimmreclit  hatte ;  daneben  besorgten  Archonten 
und  andre  Beamte  die  verschiednen  Verwaltungszweige 
und  Grerichtsbarkeiten.  Ein  oberster  Beamter  der  voll- 
ziehenden Grewalt  bestand  in  Athen  nicht. 

Mit  dieser  neuen  Verfassung  und  mit  der  Zulassung 
einer  sehr  grossen  Zahl  Schutzverwandter,  theils  Ein- 
gewanderter, theils  freigelassner  Sklaven,  waren  die 
Organe  der  Greschlechterverfassung  aus  den  öffentlichen 
Angelegenheiten  hinausgedrängt;  sie  sanken  herab  zu 
Privatvereinen  und  religiösen  Genossenschaften.  Aber 
der  moralische  Einfluss,  die  überkommene  Anschauungs- 
und Denkweise  der  alten  Grentilzeit  erbten  sich  noch 
lange  fort  und  starben  erst  allmälig  aus.  Das  zeigte 
sich  bei  einer  ferneren  staatlichen  Einrichtung. 

Wir  sehen,  dass  ein  wesentliches  Kennzeichen  des 
Staats  in  einer  von  der  Masse  des  Volks  unterschiednen 
öffentlichen  Grewalt  besteht.  Athen  hatte  damals  nur 
erst  ein  Volksheer  und  eine  unmittelbar  vom  Volk  ge- 
stellte Flotte ;  diese  schützten  nach  Aussen  und  hielten 
die  Sklaven  im  Zaum,  die  schon  damals  die  grosse 
Mehrzahl  der  Bevölkerung  bildeten.  Gregenüber  den 
Bürgern  bestand  die  öffentliche  Grewalt  zunächst  nur 
als  die  Polizei,  die  so  alt  ist  wie  der  Staat,  wesshalb 
die  naiven  Franzosen  des  18.  Jahrhunderts  auch  nicht 
von  civilisirten  Völkern  sprachen,  sondern  von  polizirten 
(nations  policees).  Die  Athener  richteten  also  gleich- 
zeitig mit  ihrem  Staat  auch  eine  Polizei  ein,  eine 
wahre  Gendarmerie  von  Bogenschützen  zu  Fuss  und 
zu  Pferd  —  Landjäger,  wie  man  in  Süddeutschland 
und  der  Schweiz  sagt.  Diese  Gendarmerie  aber  wurde 
gebildet  —  aus  Sklaven.  So  entwürdigend  kam  dieser 
Schergendienst  dem  freien  Athener  vor,  dass  er  sich 
lieber  vom  bewaffneten  Sklaven  verhaften  Hess,  als 
dass  er  selbst  sich  zu  solcher  Schmach  hergab.  Das 
war  noch  die  alte  Gentilgesinnung.  Der  Staat  konnte 
ohne  die  Polizei  nicht  bestehn,  aber  er  war  noch  jung, 
und  hatte  noch  nicht  moralischen  Respekt  genug,  um  ein 
Handwerk  achtungswerth  zu  machen,  das  den  alten 
Gentilgenossen  nothwendig  infam  erschien. 

Wie   sehr   der  jetzt   in   seinen  Hauptzügen    fertige 


—    85     — 

Staat  der  neuen  gesellschaftlichen  Lage  der  Athener 
angemessen  war,  zeigt  sich  in  dem  raschen  Aufblühen 
des  Reichthuras,  des  Handels  und  der  Industrie.  Der 
Klassengegensatz,  auf  dem  die  gesellschaftlichen  und 
politischen  Einrichtungen  beruhten,  war  nicht  mehr  der 
von  Adel  und  gemeinem  Volk,  sondern  der  von  Sklaven 
und  Freien,  Schutzverwandten  und  Bürgern.  Zur  Zeit 
der  höchsten  Blüte  bestand  die  ganze  athenische  freie 
Bürgerschaft,  Weiber  und  Kinder  eingeschlossen,  aus 
etwa  90,000  Köpfen,  daneben  365,000  Sklaven  beiderlei 
Greschlechts  und  45,000  Schutzverwandte  —  Fremde 
und  Freigelassene.  Auf  jeden  erwachsenen  männlichen 
Bürger  kamen  also  mindestens  18  Sklaven  und  über 
zwei  Schutz  verwandte.  Die  grosse  Sklavenzahl  kam 
daher,  dass  Viele  von  ihnen  in  Manufakturen,  grossen 
Räumen  unter  Aufsehern  zusammen  arbeiteten.  Mit  der 
Entwicklung  des  Handels  und  der  Industrie  aber  kam 
Akkumulation  und  Konzentration  der  Reichthümer  in 
wenigen  Händen ,  Verarmung  der  Masse  der  freien 
Bürger,  denen  nur  die  Wahl  blieb,  entweder  der 
Sklavenarbeit  durch  eigne  Handwerksarbeit  Konkurrenz 
zu  machen,  was  für  schimpflich,  banausisch,  galt  und 
auch  wenig  Erfolg  versprach  —  oder  aber  zu  verlum- 
pen. Sie  thaten,  unter  den  Umständen  mit  Nothwendig- 
keit,  das  letztere,  und  da  sie  die  Masse  bildeten,  rich- 
teten sie  damit  den  ganzen  athenischen  Staat  zu  Grunde. 
Nicht  die  Demokratie  hat  Athen  zu  G-runde  gerichtet, 
wie  die  europäischen,  fürstenschweifwedelnden  Schul- 
meister behaupten,  sondern  die  Sklaverei,  die  die  Arbeit 
des  freien  Bürgers  ächtete. 

Die  Entstehung  des  Staats  bei  den  Athenern  ist  ein 
besonders  typisches  Muster  der  Staatsbildung  überhaupt, 
weil  sie  einerseits  ganz  rein,  ohne  Einmischung  äusserer 
oder  innerer  Vergewaltigung  vor  sich  geht  —  die  Usur- 
pation des  Pisistratus  hinterliess  keine  Spur  ihrer  kurzen 
Dauer  —  weil  sie  andrerseits  einen  Staat  von  sehr  hoher 
Formentwicklung,  die  demokratische  Republik,  unmittel- 
bar aus  der  Grentilgesellschaft  hervorgehen  lässt,  und 
endlich  weil  wir  mit  allen  wesentlichen  Einzelnheiten 
hinreichend  bekannt  sind. 


VI.  Gens  und  Staat  in  Rom. 


Aus  der  Sage  von  der  GTründung  Roms  geht  hervor, 
dass  die  erste  Ansiedlung  durch  eine  Anzahl  zu  einem 
Stamm  vereinigter  latinischer  G-entes  (der  Sage  nach 
hundert)  erfolgte ,  denen  sich  bald  ein  sabellischer 
Stamm,  der  ebenfalls  hundert  Grentes  gezählt  haben  soll, 
und  endlich  ein  dritter,  aus  verschiedenen  Elementen 
bestehender  Stamm ,  wieder  von  angeblich  hundert 
G-entes,  anschloss.  Die  ganze  Erzählung  zeigt  auf  den 
ersten  Blick,  dass  hier  wenig  mehr  naturwüchsig  war 
ausser  der  Grens,  und  diese  selbst  in  manchen  Fällen 
nur  ein  Ableger  einer  in  der  alten  Heimath  fortbestehen- 
den Muttergens.  Die  Stämme  tragen  an  der  Stirn  den 
Stempel  künstlicher  Zusammensetzung,  jedoch  meist  aus 
verwandten  Elementen  und  nach  dem  Vorbild  des  alten 
gewachsenen ,  nicht  gemachten  Stamms ;  wobei  nicht 
ausgeschlossen  bleibt ,  dass  der  Kern  jedes  der  drei 
Stämme  ein  wirklicher,  alter  Stamm  gewesen  sein  kann. 
Das  Mittelglied,  die  Phratrie,  bestand  aus  zehn  G-entes 
und  hiess  Curie ;  ihrer  waren  also  dreissig. 

Dass  die  römische  Gens  dieselbe  Institution  war  wie 
die  griechische,  ist  anerkannt ;  ist  die  griechische  eine 
Fortbildung  derjenigen  gesellschaftlichen  Einheit,  deren 
Urform  uns  die  amerikanischen  Rothhäute  vorführen, 
so  gilt  dasselbe  ohne  Weiteres  auch  für  die  römische. 
Wir  können  uns  hier  also  kürzer  fassen. 

Die  römische  G-ens  hatte  wenigstens  in  der  ältesten 
Zeit  der  Stadt  folgende  Verfassung: 

1)  Clegenseitiges  Erbrecht  der  G-entilgenossen ;  das 
Vermögen  blieb    in    der  Grens.     Da    in    der   römischen 


—     87     — 

Grens  wie  in  der  griechischen  schon  Vaterrecht  herrschte, 
waren  die  Nachkommen  der  weihlichen  Linie  ausge- 
schlossen. Nach  dem  Gresetz  der  zwölf  Tafeln ,  dem 
ältesten  uns  bekannten  geschriebnen  römischen  Recht, 
erbten  zunächst  die  Kinder  als  Leibeserbtm;  in  deren 
Ermanglung  die  Agnaten  (Verwandte  in  männlicher 
Linie) ;  und  in  deren  Abwesenheit  die  Gentilgenossen. 
In  allen  Fällen  blieb  das  Vermögen  in  der  Grens.  Wir 
sehen  hier  das  allmälige  Eindringen  neuer,  durch  ver- 
mehrten Reichthum  und  Monogamie  verursachter  Rechts- 
bestimmungen  in  den  Gentilbrauch :  das  ursprüngliche 
gleiche  Erbrecht  der  Grentilgenossen  wird  zuerst  —  wohl 
schon  früh,  wie  oben  erwähnt  —  durch  Praxis  auf  die 
Agnaten  beschränkt,  endlich  auf  die  Kinder  und  deren 
Nachkommen  im  Mannsstamm ;  in  den  zwölf  Tafeln  er- 
scheint dies  selbstverständlich  in  umgekehrter  Ordnung. 
2)  Besitz  eines  gemeinsamen  Begräbnissplatzes.  Die 
patricische  Grens  Claudia  erhielt  bei  ihrer  Einwanderung 
aus  Regilli  nach  Rom  ein  Stück  Land  für  sich  ange- 
wiesen, dazu  in  der  Stadt  einen  gemeinsamen  Begräb- 
nissplatz. Noch  unter  Augustus  wurde  der  nach  Rom 
gekommene.  Kopf  des  im  Teutobui'ger  Wald  gefallenen 
Varus  in  der  Grabstätte  der  Grens  Quinctilia  (gentilitius 
tumulus)  beigesetzt. 

3)  Gremeinsame  religiöse  Feiern.  Diese,  die  sacra 
gentilitia,  sind  bekannt. 

4)  Verpflichtung,  nicht  in  der  Grens  zu  heirathen. 
Dies  scheint  in  Rom  nie  in  ein  geschriebnes  Gesetz 
verwandelt  worden  zu  sein,  aber  die  Sitte  blieb.  Von 
der  Unmasse  römischer  Ehepaare,  deren  Namen  uns 
aufbewahrt,  hat  kein  einziges  gleichen  Gentilnamen  für 
Mann  und  Frau.  Das  Erbrecht  beweist  diese  Regel 
ebenftills.  Die  Frau  verliert  durch  die  Heirath  ihre 
agnatischen  Rechte,  tritt  aus  ihrer  Gens,  weder  sie  noch 
ihre  Kinder  können  von  ihrem  Vater  oder  dessen 
Brüdern  erben,  weil  sonst  das  Erbtheil  der  väterlichen 
Gens  verloren  ginge.  Dies  hat  Sinn  nur  unter  der  Vor- 
aussetzung, dass  die  Frau  keinen  Gentilgenossen  hei- 
rathen kann. 

5)  Ein  gemeinsamer  Grundbesitz.    Dieser  war  in  der 


Urzeit  stets  vorhanden ,  sobald  das  Stammland  anfing 
getheilt  zu  werden.  Unter  den  latinischen  Stämmen 
finden  wir  den  Boden  theils  im  Besitz  des  Stammes, 
theils  der  Glens,  theils  der  Haushaltungen,  welche  nicht 
noth wendig  Einzelfarailien  waren.  Romulus  soll  die 
ersten  Landtheilungen  an  Einzelne  gemacht  haben, 
ungefähr  eine  Hektare  (zwei  Jugera)  auf  jeden.  Doch 
finden  wir  noch  später  (Irundbesitz  in  den  Händen  der 
Grentes,  vom  Staatsland  gar  nicht  zu  sprechen,  um  das 
sich  die   ganze    innere  Gi-eschichte  der  Republik  dreht. 

6)  Pflicht  der  G-entilgenossen  zu  gegenseitigem 
Schutz  und  Beistand.  Davon  zeigt  uns  die  geschriebne 
Greschichte  nur  noch  Trümmer ;  der  römische  Staat  trat 
gleich  von  vornherein  mit  solcher  Uebermacht  auf,  dass 
das  Recht  des  Schutzes  gegen  Unbill  auf  ihn  überging. 
Als  Appius  Claudius  verhaftet  wurde,  legte  seine  ganze 
Gens  Trauer  an,  selbst  die  seine  persönlichen  Feinde 
waren.  Zur  Zeit  des  zweiten  punischen  Kriegs  ver- 
banden sich  die  Gentes  zur  Auslösung  ihrer  kriegs- 
gefangnen Gentilgenossen ;  der  Senat  verbot  es  ihnen. 

7)  Recht  den  Gentilnamen  zu  tragen.  Blieb  bis  in 
die  Kaiserzeit;  den  Freigelassenen  erlaubte  man,  den 
Gentilnamen  ihrer  ehemaligen  Herren  anzunehmen,  doch 
ohne  Gentilrechte. 

8)  Recht  der  Adoption  Fremder  in  die  Gens.  Dies 
geschah  durch  Adoption  in  eine  Familie  (wie  bei  den 
Indianern),  die  die  Aufnahme  in  die  Gens  mit  sich 
führte. 

9)  Das  Recht,  den  Vorsteher  zu  wählen  und  abzu- 
setzen, wird  nirgends  erwähnt.  Da  aber  in  der  ersten 
Zeit  Roms  alle  Aemter  durch  Wahl  oder  Ernennung 
besetzt  wurden,  vom  Wahlkönig  abwärts,  und  auch  die 
Priester  der  Curien  von  diesen  gewählt,  so  dürfen  wir 
für  die  Vorsteher  (principes)  der  Gentes  dasselbe  an- 
nehmen —  so  sehr  auch  die  Wahl  aus  einer  und  der- 
selben Familie  in  der  Gens  schon  Regel  geworden  sein 
mochte. 

Das  waren  die  Befugnisse  einer  römischen  Gens. 
Mit  Ausnahme  des  bereits  vollendeten  Uebergangs  zum 
Vaterrecht,    sind  sie  das    treue  Spiegelbild  der  Rechte 


—    89     — 

und  Pflichten  einer  irokesischen  Grens  ;  auch  hier  „guckt 
der  Irokese  unverkennbar  durch." 

Noch  fast  dreihundert  Jahre  nach  GTründung  Roms 
waren  die  GTentilbande  so  stark,  dass  eine  patricische 
Gens,  die  der  Fabier,  mit  Einwilligung  des  Senats 
einen  Kriegszug  gegen  die  Nachbarstadt  Veji  auf  eigne 
Paust  unternehmen  konnte.  306  Fabier  sollen  aus- 
gezogen und  in  einem  Hinterhalt  sämmtlich  erschlagen 
worden  sein ;  ein  einziger  zurückgebliebner  Knabe  habe 
die  Grens  fortgepflanzt. 

Zehn  Grentes  bildeten,  wie  gesagt,  eine  Phratrie, 
die  hier  Curie  hiess,  und  wichtigere  öffentliche  Befug- 
nisse erhielt  als  die  griechische  Phratrie.  Jede  Curie 
hatte  ihre  eignen  Religionsübungen,  Heiligthümer  und 
Priester ;  diese  letzteren,  in  ihrer  Gresammtheit,  bildeten 
eins  der  römischen  Priesterkollegien.  Zehn  Curien 
bildeten  einen  Stamm ,  der  wahrscheinlich ,  wie  die 
übrigen  latinischen  Stämme ,  ursprünglich  einen  ge- 
wählten Vorsteher  —  Heerführer  und  Oberpriester  — 
hatte.  Die  Gresammtheit  der  drei  Stämme  bildete  das 
römische  Volk,  den  Populus  Romanus. 

Dem  römischen  Volk  konnte  also  nur  angehören, 
wer  Mitglied  einer  Grens,  und  durch  sie  einer  Curie 
und  eines  Stammes  war.  Die  erste  Verfassung  dieses 
Volkes  war  folgende.  Die  öffentlichen  Angelegenheiten 
wurden  besorgt  zunächst  durch  den  Senat,  der,  wie 
Niebuhr  zuerst  richtig  gesehn,  aus  den  Vorstehern  der 
dreihundert  Gentes  zusammengesetzt  war ;  eben  dess- 
wegen,  als  Gentilälteste,  hiessen  sie  Väter,  patres,  und 
ihre  Gesammtheit  Senat  (Rath  der  Aeltesten,  von  senex, 
alt).  Die  gewohnheitsmässige  Wahl  aus  immer  derselben 
Familie  jeder  Gens  rief  auch  hier  den  ersten  Stammes- 
adel in's  Leben;  diese  Familien  nannten  sich  Patricier 
und  nahmen  ausschliessliches  Recht  des  Eintritts  in  den 
Senat  und  alle  andern  Aemter  in  Anspruch.  Dass  das 
Volk  sich  diesen  Anspruch  mit  der  Zeit  gefallen  Hess 
und  er  sich  in  ein  wirkliches  Recht  verwandelte,  drückt 
die  Sage  dahin  aus,  dass  Romulus  den  ersten  Senatoren 
und  ihren  Nachkommen  das  Patriciat  mit  dessen  Vor- 
rechten ertheilt  habe.     Der  Senat,  wie    die  athenische 


—     90    — 

Bule,  hatte  die  Entscheidung  in  vielen  Angelegenheiten, 
die  Vorberathung  in  wichtigeren  und  namentlich  bei 
neuen  Gesetzen.  Diese  wurden  entschieden  durch  die 
Volksversammlung,  genannt  Comitia  curiata  (Versamm- 
lung der  Curien).  Das  Volk  kam  zusammen,  in  Curien 
gruppirt,  in  jeder  Curie  wahrscheinlich  nach  Gentes , 
bei  der  Entscheidung  hatte  jede  der  dreissig  Curien 
eine  Stimme.  Die  Versammlung  der  Curien  nahm  an 
oder  verwarf  alle  Gesetze,  wählte  alle  höhern  Beamten, 
mit  Einschluss  des  Rex  (sogenannten  Königs),  erklärte 
Krieg  (aber  der  Senat  sckloss  Frieden)  und  entschied 
als  höchstes  Gericht,  auf  Berufung  der  Betheiligten,  in 
allen  Eällen,  wo  es  sich  um  Todesstrafe  gegen  einen 
römischen  Bürger  handelte.  —  Endlich  stand  neben 
Senat  und  Volksversammlung  der  Eex,  der  genau  dem 
griechischen  Basileus  entsprach,  und  keineswegs  der 
fast  absolute  König  war  ,  als  den  Mommsen  ihn  dar- 
stellt. *)  Auch  er  war  Heerführer,  Oberpriester  und 
Vorsitzer  in  gewissen  Gerichten.  Civilbefugnisse  oder 
Macht  über  Leben,  Freiheit  und  Eigenthum  der  Bürger 
hatte  er  durchaus  nicht,  soweit  sie  nicht  aus  der  Dis- 
ciplinargewalt  des  Heerführers  oder  der  urtheilsvoll- 
streckenden  Gewalt  des  Gerichtsvorsitzers  entsprangen. 
Das  Amt  des  Rex  war  nicht  erblich;  er  wurde  im 
Gegentheil,  wahrscheinlich  auf  Vorschlag  des  Amtsvor- 
gängers, von  der  Versammlung  der  Curien  zuerst  ge- 
gewählt und  dann  in  einer  zweiten  Versammlimg  feier- 
lich eingesetzt.  Dass  er  auch  absetzbar  war,  beweist 
das  Schicksal  des  Tarquinius  Superbus. 


*)  Das  lateinische  Rex  ist  das  celtiscli-irische  righ  (Stammesvor- 
Bteher)  und  das  gothische  reiks ;  dass  dies  ebenfalls,  wie  ursprüng- 
lich auch  unser  Fürst  (d.  h.  wie  englisch  first,  dänisch  forste,  der 
erste)  Gentil-  oder  Stammesvorsteher  bedeutete,  geht  hervor  daraus, 
dass  die  Gothen  schon  im  vierten  Jahrhundert  ein  besonderes  Wort 
für  den  späteren  König,  den  Heerführer  eines  gesammten  Volkes, 
besasscn :  thiudans.  Artaxerxes  und  Herodes  heissen  in  Ulfilas 
Bibelübersetzung  nie  reiks,  sondern  thiudans,  und  das  Reich  des 
Kaisers  Tiberius  nicht  reiki,  sondern  thiudinassus.  Im  Namen  des 
gothischen  Thi-idans,  oder  wie  wir  ungenau  übersetzen ,  Königs 
Thiudareiks,  Theodorich,  d.  h.  Dietrich,  fliessen  beide  Benennungen 
zusammen. 


—     91     — 

Wie  die  Grriechen  zur  Heroenzeit,  lebten  also  die 
Römer  zur  Zeit  der  sogenannten  Könige  in  einer  auf 
Grentes,  Phratrien  und  Stämmen  begründeten  und  aus 
ihnen  entwickelten  militäriscben  Demokratie.  Mochten 
auch  die  Curien  und  Stämme  zum  Theil  künstliche 
Bildungen  sein,  sie  waren  geformt  nach  den  ächten, 
naturwüchsigen  Vorbildern  der  Gresellschaft,  aus  der  sie 
hervorgegangen  und  die  sie  noch  auf  allen  Seiten  um- 
gab. Mochte  auch  der  naturwüchsige  patricische  Adel 
bereits  Boden  gewonnen  haben,  mochten  die  Keges  ihre 
Befugnisse  allmälig  zu  erweitern  suchen  —  das  ändert 
den  ursprünglichen  Grrundcharakter  der  Verfassung  nicht, 
und  auf  diesen  allein  kommt  es  an. 

Inzwischen  vermehrte  sich  die  Bevölkerung  der  Stadt 
ßom  und  des  römischen,  durch  Eroberung  erweiterten 
G-ebiets  theils  durch  Einwanderung,  theils  durch  die 
Bewohner  der  unterworfnen,  meist  latinischen  Bezirke. 
Alle  diese  neuen  Staatsangehörigen  (die  Frage  wegen 
der  Klienten  lassen  wir  hier  bei  Seite)  standen  ausser- 
halb der  alten  Grentes ,  Curien  und  Stämme ,  bildeten 
also  keinen  Theil  des  populus  romanus,  des  eigentlichen 
römischen  Volks.  Sie  waren  persönlich  freie  Leute, 
konnten  Grrundeigenthum  besitzen,  mussten  steuern  und 
Kriegsdienste  leisten.  Aber  sie  konnten  keine  Aemter 
bekleiden  und  weder  an  der  Versammlung  der  Curien 
theilnehmen,  noch  an  der  Vertheilung  der  eroberten 
Staatsländereien.  Sie  bildeten  die  von  allen  öffentlichen 
Rechten  ausgeschlossene  Plebs.  Durch  ihre  stets  wach- 
sende Zahl,  ihre  militärische  Ausbildung  und  Bewaff- 
nung wurden  sie  eine  drohende  Macht  gegenüber  dem 
alten,  gegen  allen  Zuwachs  von  Aussen  jetzt  fest  ab- 
geschlossenen Populus.  Dazu  kam,  dass  der  Grrundbesitz 
zwischen  Populus  und  Plebs  ziemlich  gleichmässig  ver- 
theilt  gewesen  zu  sein  scheint,  während  der  allerdings 
noch  nicht  sehr  entwickelte  kaufmännische  und  indu- 
strielle Reichthum  wohl  vorwiegend  bei  der  Plebs  war. 
Bei  der  grossen  Dunkelheit,  worin  die  ganz  sagen- 
hafte Urgeschichte  Roms  gehüllt  ist  —  eine  Dunkelheit, 
noch  bedeutend  verstärkt  durch  die  rationalistisch-prag- 
matischen Deutungsversuche  und  Berichte  der  späteren 


—     92     — 

juristisch  gebildeten  Quellenschriftsteller  —  ist  es  un- 
möglich, weder  über  Zeit,  noch  Verlauf,  noch  Anlass 
der  Revolution  etwas  Bestimmtes  zu  sagen,  die  der 
alten  Grentilverfassung  ein  Ende  machte.  Glewiss  ist 
nur,  dass  ihre  Ursache  in  den  Kämpfen  zwischen  Plebs 
und  Populus  lag. 

Die  neue,  dem  Rex  Servius  Tullius  zugeschriebne, 
sich  an  griechische  Muster,  namentlich  Solon,  anlehnende 
Verfassung  schuf  eine  neue  Volksversammlung,  die  ohne 
Unterschied  Populus  und  Plebejer  ein-  oder  ausschloas, 
je  nachdem  sie  Kriegsdienste  leisteten  oder  nicht.  Die 
ganze  wafFenpflichtige  Mannschaft  wurde  nach  dem 
Vermögen  in  sechs  Klassen  eingetheilt.  Der  ge- 
ringste Besitz  in  jeder  der  fünf  Klassen  war: 
I,  100,000  Ass;  II,  75,000;  III,  50,000;  IV,  25,000; 
V,  11,000  Ass;  nach  Dureau  de  la  Malle  gleich  unge- 
fähr 14,000,  10,000,  7000,  5000  und  1600  Mark.  Die 
sechste  Klasse,  die  Proletarier,  bestand  aus  den  weniger 
Begüterten ,  Dienst-  und  Steuerfreien.  In  der  neuen 
Volksversammlung  der  Centurien  (Comitia  Centuriata) 
traten  die  Bürger  militärisch  an,  kompagnieweise  in 
ihren  Centurien  zu  hundert  Mann ,  und  jede  X'enturie 
hatte  eine  Stimme.  Nun  aber  stellte  die  erste  Klasse 
80  Centurien;  die  zweite  22,  die  dritte  20,  die  vierte 
22,  die  fünfte  30,  die  sechste  des  Anstands  halber  auch 
eine.  Dazu  kamen  die  aus  den  Reichsten  gebildeten 
Reiter  mit  18  Centurien;  zusammen  193;  Majorität  der 
Stimmen:  97.  Nun  hatten  die  Reiter  und  die  erste 
Klasse  zusammen  allein  98  Stimmen,  also  die  Majorität ; 
waren  sie  einig,  wurden  die  übrigen  gar  nicht  gefragt, 
der  gültige  Beschluss  war  gefasst. 

Auf  diese  neue  Versammlung  der  Centurien  gingen 
nun  alle  politischen  Rechte  der  früheren  Versammlung 
der  Curien  (bis  auf  einige  nominelle)  über;  die  Curien 
und  die  sie  zusammensetzenden  G-entes  wurden  dadurch, 
wie  in  Athen,  zu  blossen  Privat-  und  religiösen  Gre- 
nossenschaften  degradirt,  und  vegetirten  als  solche  noch 
lange  fort,  während  die  Versammlung  der  Curien  bald 
ganz  einschlief.  Um  auch  die  alten  drei  Greschlechter- 
stämme    aus    dem  Staat    zu   verdrängen,    wurden    vier 


—     93     — 

Ortsstämme ,  deren  jeder  ein  Viertlieil  der  Stadt  be- 
wohnte, mit  einer  Reihe  von  politischen  Rechten  ein- 
geführt. 

Somit  war  auch  in  Rom,  schon  vor  der  Abschaffung 
des  sogenannten  Königthums,  die  alte  auf  persönlichen 
Blutbanden  beruhende  Gesellschaftsordnung  gesprengt 
und  eine  neue,  auf  Grebietseintheilung  und  Vermögens- 
unterschied begründete,  wirkliche  Staatsverfassung  an 
ihre  Stelle  gesetzt.  Die  öffentliche  G-ewalt  bestand  hier 
in  der  kriegsdienstpflichtigen  Bürgerschaft ,  gegenüber 
nicht  nur  den  Sklaven,  sondern  auch  den  vom  Heeres- 
dienst und  der  Bewaffnung  ausgeschlossenen  sogenannten 
Proletariern. 

Innerhalb  dieser  neuen  Verfassung,  die  bei  der  Ver- 
treibung des  letzten,  wirkliche  Königsgewalt  usurpiren- 
'den  Rex  Tarquinius  Superbus  und  Ersetzung  des  Rex 
durch  zwei  Heerführer  (Consuln)  mit  gleicher  Amts- 
gewalt (wie  bei  den  Irokesen)  nur  weiter  ausgebildet 
wurde  —  innerhalb  dieser  Verfassung  bewegt  sich  die 
ganze  G-eschichte  der  römischen  Republik  mit  allen 
ihren  Kämpfen  der  Patricier  und  Plebejer  um  den  Zu- 
gang zu  den  Aemtern  und  die  Betheiligung  an  den 
Staatsländereien ,  mit  dem  endlichen  Aufgehen  des 
Patricieradels  in  der  neuen  Klasse  der  grossen  Grund- 
nmd  Geldbesitzer,  die  allmälig  allen  Grundbesitz  der 
durch  den  Kriegsdienst  ruinirten  Bauern  aufsogen,  die 
80  entstandenen  enormen  Landgüter  mit  Sklaven  bebau- 
ten, Italien  entvölkerten  und  damit  nicht  nur  dem  Kaiser- 
thum  die  Thür  öffneten,  sondern  [auch  seinen  Nachfol- 
gern,  den  deutschen  Barbaren. 


Vn.  Die  Gens  bei  Gelten  und  Deutschen. 


Der  Raum  verbietet  uns,  auf  die  nocli  jetzt  bei  den 
verschiedensten  wilden  und  barbarischen  Yölkern,  in 
reinerer  oder  getrübterer  Form  bestehenden  Grentilinsti- 
tutionen  einzugehn,  oder  auf  die  Spuren  davon  in  der 
älteren  G-eschichte  der  asiatischen  Kulturvölker.  Hier 
nur  einige  kurze  Notizen  über  die  Grens  bei  den  Gelten 
und  Grermanen. 

Die  ältesten  erhaltenen  celtischen  Grösetze  zeigen 
uns  die  Grens  noch  in  vollem  Leben;  in  Irland  lebt  sie 
wenigstens  instinctiv  im  Yolksbewusstsein  noch  heute, 
nachdem  die  Engländer  sie  gewaltsam  gesprengt;  in 
Schottland  stand  sie  noch  Mitte  des  vorigen  Jahrhun- 
derts in  voller  Blüthe  und  erlag  auch  hier  nur  den 
Waffen,  der  Gresetzgebung  und  den  Glerichtshöfen  der 
Engländer. 

Die  altwalisischen  Gresetze,  die  mehrere  Jahrhunderte 
vor  der  englischen  Eroberung,  spätestens  im  elften  Jahr- 
hundert, niedergeschrieben  wurden,  zeigen  noch  gemein- 
schaftlichen Ackerbau  ganzer  Dörfer,  wenn  auch  nur 
als  ausuahmsweisen  Rest  früherer  allgemeiner  Sitte; 
jede  Familie  hatte  5  Acker  zur  eignen  Bebauung ;  ein 
Stück  wurde  daneben  gemeinsam  bebaut  und  der  Ertrag 
vertheilt.  Dass  diese  Dorfgemeinden  Grentes  repräsen- 
tiren,  oder  Unterabtheilungen  von  Grentes,  ist  bei  der 
Analogie  von  Irland  und  Schottland  nicht  zu  bezweifeln, 
selbst  wenn  eine  erneuerte  Prüfung  der  walisischen 
Gresetze,  zu  der  mir  die  Zeit  fehlt  (meine  Auszüge  sind 
vom  Jahr  1869),  dies  nicht  direkt  beweisen  sollte.  Was 
aber  die  walisischen  Quellen,  und  mit  ihnen  die  irischen, 


-^     95     — 

direkt  beweisen,  ist,  dass  bei  den  Gelten  die  Paarungs- 
ehe im  elften  Jcihrhundert  noch  keineswegs  durch  die 
Monogamie  verdrängt  war.  In  Wales  wurde  eine  Ehe 
erst  unlöslich  oder  besser  unkündbar  nach  sieben  Jahren. 
Fehlten  nur  drei  Nächte  an  den  sieben  Jahren,  so 
konnten  die  Gratten  sich  trennen.  Dann  wurde  getheilt: 
die  Frau  theilte,  der  Mann  wählte  sein  Theil.  Die 
Möbel  wurden  nach  gewissen ,  sehr  humoristischen 
Regeln  getheilt.  Löste  der  Mann  die  Ehe,  so  musste 
er  der  Frau  ihre  Mitgift  und  einiges  Andre  zurück- 
geben ;  war  es  die  Frau ,  so  erhielt  sie  weniger.  Yon 
den  Kindern  bekam  der  Mann  zwei,  die  Frau  eines, 
und  zwar  das  mittelste.  Wenn  die  Frau  nach  der 
Scheidung  einen  andern  Mann  nahm,  und  der  erste 
Mann  holte  sie  sich  wieder,  so  musste  sie  ihm  folgen, 
auch  wenn  sie  schon  einen  Fuss  im  neuen  Ehebett 
hatte.  Waren  die  Beiden  aber  sieben  Jahre  zusammen- 
gewesen, so  waren  sie  Mann  und  Frau,  auch  ohne  vor- 
herige förmliche  Heirath.  Keuschheit  der  Mädchen  vor 
der  Heirath  wurde  durchaus  nicht  streng  eingehalten 
oder  gefordert;  die  hierauf  bezüglichen  Bestimmungen 
sind  äusserst  frivoler  Natur  und  keineswegs  der  bürger- 
lichen Moral  gemäss.  Beging  eine  Frau  einen  Ehebruch, 
so  durfte  der  Mann  sie  prügeln  (einer  der  drei  Fälle, 
wo  ihm  dies  erlaubt,  sonst  verfiel  er  in  Strafe),  dann 
aber  weiter  keine  G-enugthuung  fordern,  denn  „für  das- 
selbe Vergehen  soll  entweder  Sühnung  sein  oder  Rache, 
aber  nicht  beides  zugleich."  Die  G-ründe,  auf  die  hin 
die  Frau  die  Scheidung  verlangen  durfte,  ohne  in  ihren 
Ansprüchen  bei  der  Auseinandersetzung  zu  verlieren, 
waren  sehr  umfassender  Art :  übler  Athem  des  Mannes 
genügte.  Das  au  den  Stammeshäuptling  oder  König  zu 
zahlende  Loskaufgeld  für  das  Recht  der  ersten  Nacht 
(gobr  merch,  daher  der  mittelalterliche  Name  marcheta, 
französisch  marquette)  spielt  eine  grosse  Rolle  im  Ge- 
setzbuch. Die  Weiber  hatten  Stimmrecht  in  den  Volks- 
versammlungen. Fügen  wir  hinzu,  dass  in  Irland  ähn- 
liche Verhältnisse  bezeugt  sind;  dass  dort  ebenfalls 
Ehen  auf  Zeit  ganz  gebräuchlich  und  der  Frau  bei  der 
Trennung  genau  geregelte,  grosse  Begünstigungen,  sogar 


—     96     — 

Entschädigung  für  ihre  häuslichen  Dienste  zugesichert 
waren;  dass  dort  eine  „erste  Frau"  neben  andern  Frauen 
vorkommt  und  bei  Erbtheilungen  zwischen  ehelichen 
und  unehelichen  Kindern  kein  Unterschied  gemacht 
wird  —  so  haben  wir  ein  Bild  der  Paarungsehe,  wo- 
gegen die  in  Nordamerika  gültige  Eheform  streng  er- 
scheint, wie  es  aber  im  elften  Jahrhundert  bei  einem 
Volk  nicht  verwundern  kann,  das  noch  zu  Cäsar's  Zeit 
in  der  Grruppenehe  lebte. 

Die  irische  Gens  (Sept,  der  Stamm  heisst  Clainne, 
Clan)  wird  nicht  nui"  durch  die  alten  Rechtsbücher, 
sondern  auch  durch  die,  zur  Verwandlung  des  Clan- 
landes in  Domäne  des  englischen  Königs  hinüber- 
gesandten englischen  Juristen  des  siebzehnten  Jahrhun- 
derts bestätigt  und  beschrieben.  Der  Boden  war  bis  zu 
dieser  letzten  Zeit  Gremeineigenthum  des  Clans  oder  der 
Grens,  soweit  er  nicht  bereits  von  den  Häuptlingen  in 
ihre  Privatdomäne  verwandelt  worden  war.  Wenn  ein 
Grentilgenosse  starb,  also  eine  Haushaltung  einging,  so 
nahm  der  Vorsteher  (caput  cognationis  nannten  ihn  die 
englischen  Juristen)  eine  neue  Landtheilung  des  ganzen 
Gebiets  unter  den  übrigen  Haushaltungen  vor.  Diese 
muss  im  Ganzen  nach  den  in  Deutschland  gültigen 
Regeln  erfolgt  sein.  Noch  jetzt  finden  sich  einige  — 
vor  vierzig  oder  fünfzig  Jahren  sehr  zahlreiche  —  Dorf- 
fluren in  8.  g.  Rundale.  Die  Bauern,  Einzelpächter 
des  früher  der  Gens  gemeinsam  gehörigen,  vom  eng- 
lischen Eroberer  geraubten  Bodens,  zahlen  jeder  die 
Pacht  für  sein  Stück,  werfen  aber  das  Acker-  und 
Wiesenland  aller  Stücke  zusammen,  theilen  es  nach 
Lage  und  Qualität  in  „Gewanne",  wie  es  an  der  Mosel 
heisst,  und  geben  jedem  seinen  Antheil  in  jedem  Gewann; 
Moor-  und  Weideland  wird  gemeinsam  genutzt.  Noch 
vor  fünfzig  Jahren  wurde  von  Zeit  zu  Zeit,  manchmal 
jährlich,  neu  umgetheilt.  Die  Flurkarte  eines  solchen 
Rundale-Dorfes  sieht  ganz  genau  so  aus  wie  die  einer 
deutschen  Gehöferschaft  an  der  Mosel  oder  im  Hoch- 
wald. Auch  in  den  Factions  lebt  die  Gens  fort.  Die 
irischen  Bauern  theilen  sich  oft  in  Parteien,  die  auf 
scheinbar  ganz  widersinnigen  oder  sinnlosen  Unterschie- 


—     97     — 

den  "berulieii,  den  Engländern  ganz  unverständlicli  sind, 
und  keinen  andern  Zweck  zu  haben  scheinen  als  die 
beliebten  solennen  Prügeleien  der  einen  Faktion  gegen 
die  andre.  Es  sind  künstliche  Wiederbelebungen,  nach- 
geborner  Ersatz  für  die  zersprengten  Glentes,  die  die 
Fortdauer  des  ererbten  Grentilinstinkts  in  ihrer  Weise 
darthun.  In  manchen  Gregenden  sind  übrigens  die  Gentil- 
genossen  noch  ziemlich  auf  dem  alten  Gebiet  zusammen; 
so  hatte  noch  in  den  dreissiger  Jahren  die  grosse  Mehr- 
zahl der  Bewohner  der  Grafschaft  Monaghan  nur  vier 
Familiennamen,  d.  h.  stammte  aus  vier  Gentes  oder 
Clans. 

In  Schottland  datirt  der  Untergang  der  Gentilord- 
nung von  der  Niederwerfung  des  Aufstandes  von  1745. 
Welches  Glied  dieser  Ordnung  der  schottische  Clan 
speziell  darstellt,  bleibt  noch  zu  untersuchen ;  dass  er 
aber  ein  solches,  ist  unzweifelhaft.  In  Walter  Scott's 
Romanen  sehn  wir  diesen  hochschottischen  Clan  lebendig 
vor  uns.  Er  ist,  sagt  Morgan,  „ein  vortreffliches  Muster- 
bild der  Gens  in  seiner  Organisation  und  in  seinem 
Geist,  ein  schlagendes  Beispiel  der  Herrschaft  des  Gentil- 
lebens über  die  Gentilen.  ...  In  ihren  Fehden  und  in 
ihrer  Blutrache,  in  der  Gebietsvertheilung  nach  Clans, 
in  ihrer  gemeinsamen  Bodennutzung,  in  der  Treue  der 
Clanglieder  gegen  den  Häuptling  und  gegen  einander 
finden  wir  die  überall  wiederkehrenden  Züge  der 
Gentilgesellschaft  ....  Die  Abstammung  zählte  nach 
Vaterrecht,  so  dass  die  Kinder  der  Männer  in  den  Clans 
blieben  ,  während  die  der  Weiber  in  den  Clans  ihrer 
Väter  übertraten."  Dass  aber  in  Schottland  früher 
Mutterrecht  herrschte,  beweist  die  Thatsache,  dass  in 
der  königlichen  Familie  der  Pikten,  nach  Beda,  weib- 
liche Erbfolge  galt.  Ja  selbst  ein  Stück  Punalua-Familie 
hatte  sich ,  wie  bei  den  Walisern,  so  bei  den  Skoten, 
bis  in's  Mittelalter  bewahrt  in  dem  Recht  der  ersten 
Nacht,  das  der  Clanhäuptling  oder  der  König  als  letzter 
Vertreter  der  früheren  gemeinsamen  Ehemänner  bei  jeder 
Braut  auszuüben  berechtigt  war,  sofern  es  nicht  abge- 
kauft wurde.  Dasselbe  Recht  —  in  Nordamerika  kommt 
es  im  äussersten  Nordwesten  vielfach  vor  —  galt  auch 

7 


—     98     — 

"bei  den  Russen,  wo  die  Grossfürstin  Olga  es  im  zehnten 
Jahrhundert  abschaffte. 

Die  in  Frankreich,  besonders  in  Nivernais  und  der 
Franche-Comte  bis  zur  Revolution  bestehenden  kom- 
munistischen Haushaltungen  leibeigner  Familien,  ähn- 
lich den  slavischen  Familiengemeinden  in  den  serbisch- 
kroatischen Gregenden,  sind  ebenfalls  Reste  früherer 
gentiler  Organisation.  Sie  sind  noch  nicht  ganz  aus- 
gestorben, man  sieht  z.  B.  bei  Louhans  (Saone  et  Loire) 
noch  eine  Menge  grosser,  eigenthümlich  gebauter  Bauern- 
häuser mit  gemeinsamem  Centralsaal  und  Schlafkammern 
rings  herum,  von  mehreren  Oenerationen  derselben  Fa- 
milie bewohnt. 


Dass  die  Deutschen  bis  zur  Völkerwanderung  in 
Gentes  organisirt  waren,  ist  unzweifelhaft.  Sie  können 
das  Gebiet  zwischen  Donau,  Rhein,  Weichsel  und  den 
nördlichen  Meeren  erst  wenige  Jahrhunderte  vor  unsrer 
Zeitrechnung  besetzt  haben ;  die  Cimbern  und  Teutonen 
waren  noch  in  voller  Wanderung,  und  die  Sueven  fanden 
erst  zu  Cäsars  Zeit  feste  Wohnsitze.  Yon  ihnen  sagt 
Cäsar  ausdrücklich,  sie  hätten  sich  nach  Gentes  und 
"Verwandtschaften  (gentibus  cognationibusque)  nieder- 
gelassen, und  im  Munde  eines  Römers  der  gens  Julia 
hat  dies  Wort  gentibus  eine  nicht  wegzudemonstrirende 
bestimmte  Bedeutung.  Dies  galt  von  allen  Deutschen  5 
selbst  die  Ansiedlung  in  den  eroberten  Römerprovinzen 
geschah  noch  nach  Gentes.  Im  alamannischen  Volks- 
recht des  achten  Jahrhunderts  wird  genealogia  gradezu 
mit  Markgenossenschaft  gleichbedeutend  gesetzt;  so  dass 
wir  hier  ein  deutsches  Volk,  und  zwar  wiederum  Sueven, 
nach  Geschlechtern,  gentes,  angesiedelt,  und  jeder  Gens 
einen  bestimmten  Bezirk  zugewiesen  sehn.  Bei  den  Bur- 
gundern und  Langobarden  hiess  die  Gens  fara,  und  die 
Bezeichnung  für  Gentilgenossen  (faramanni)  wird  im 
burgundischen  Volksrecht  gradezu  gleichbedeutend  mit 
Burgunder  gebraucht,  im  Gegensatz  zu  den  romanischen 
Einwohnern,  die  natürlich  nicht  in  den  burgundischen 
Gentes  einbegriffen  waren.    Die  Landtheilung  ging  also 


—    99    — 

auch  in  Burgiind  nacli  Grentes  vor  sicli.  So  löst  sicli 
die  Frage  wegen  der  faramanni,  an  der  sich  die  ger- 
manischen Juristen  seit  hundert  Jahren  vergebens  die 
Köpfe  zerbrochen.  Dieser  Name  fara  für  Grens  hat 
schwerlich  allgemein  bei  den  Deutschen  gegolten,  ob- 
wohl wir  ihn  hier  sowohl  bei  einem  Volk  gothischer, 
wie  bei  einem  andern  herminonischer  (hochdeutscher) 
Abstammung  finden.  Die  im  Deutschen  für  Verwandt- 
schaft angewandten  Sprachwurzeln  sind  sehr  zahlreich, 
und  werden  gleichmässig  für  Ausdrücke  angewandt,  bei 
denen  wir  Beziehung  zur  G-ens  voraussetzen  dürfen. — 
Wie  bei  Mexikanern  und  Grriechen,  war  auch  bei  den 
Deutschen  die  Schlachtordnung,  sowohl  die  Reiter- 
schwadron wie  die  Keilkolonne  des  Fussvolks,  nach 
Grentilkörperschaften  gegliedert ;  wenn  Tacitus  sagt : 
nach  Familien  und  Verwandtschaften,  so  erklärt  sich 
dieser  unbestimmte  Ausdruck  daher,  dass  zu  seiner  Zeit 
die  Gens  in  Rom  längst  aufgehört  hatte,  eine  lebendige 
Vereinigung  zu  sein. 

Der  entscheidendste  Beweis  aber  ist  eine  Stelle  bei 
Tacitus,  wo  es  heisst :  der  Mutterbruder  sieht  seinen 
Neffen  an  wie  seinen  Sohn,  ja  Einige  halten  das  Blut- 
band zwischen  mütterlichem  Onkel  und  Neffen  noch 
heiliger  und  enger  als  das  zwischen  Vater  und  Sohn, 
so  dass,  wenn  Greisein  gefordert  werden,  der  Schwester- 
sohn für  eine  grössere  Garantie  gilt  als  der  eigne  Sohn 
dessen,  den  man  binden  will.  Hier  haben  wir  ein 
lebendiges  Stück  aus  der  nach  Mutterrecht  organisirten, 
also  ursprünglichen  Gens,  und  zwar  als  etwas  die 
Deutschen    besonders   Auszeichnendes.*)      Wurde    von 


*)  Die  aus  der  Zeit  des  Mutterrechts  stammende  besonders 
engte  Natur  des  Bandes  zwischen  mütterlichem  Onkel  und  Neffen 
kennen  die  Griechen  nur  noch  in  der  Mythologie  der  Heroenzeit. 
Nach  Diodor  IV,  34  erschlägt  Meleager  die  Söhne  des  Thestius, 
die  Brüder  seiner  Mutter  Althäa.  Diese  sieht  in  dieser  That  einen 
80  unsühnbaren  Frevel,  dass  sie  dem  Mörder,  ihrem  eignen  Sohn, 
flucht  und  ihm  den  Tod  anwünscht.  „Die  Götter  erhörten,  wie 
man  erzählt,  ihre  "Wünsche  und  machten  dem  Leben  des  Meleager 
ein  Ende."  Nach  demselben  Diodor  (IV,  44)  landen  die  Argonauten 
unter  Herakles  in  Thracien  und  finden  dort,  dass  Phineus  seine  mit 


—     100    — 

Grenossen  einer  solchen  Gens  der  eigne  Sohn  zum  Pfand 
eines  G-elöbnisses  gegeben  und  fiel  als  Opfer  bei  Ver- 
tragsbruch des  Vaters ,  so  hatte  dieser  das  mit  sich 
selbst  auszumachen.  War  es  aber  der  Schwestersohn, 
der  geopfert  wurde,  so  war  das  heiligste  GTentilrecht 
verletzt ;  der  nächste,  zum  Schutz  des  Knaben  oder 
Jünglings  vor  allen  Andern  verpflichtete  Gentilver- 
wandte  hatte  seinen  Tod  verschuldet;  entweder  durfte 
er  ihn  nicht  verpfänden  oder  er  musste  den  Vertrag 
halten.  Hätten  wir  sonst  nicht  eine  Spur  von  Gentil- 
verfassung  bei  den  Deutschen,  diese  eine  Stelle  würde 
hinreichen. 

Im  Uebrigen  war  das  Mutterrecht  zu  Tacitus  Zeit 
bei  den  Deutschen  schon  dem  Vaterrecht  gewichen  : 
die  Kinder  erbten  vom  Vater ;  wo  keine  Kinder  waren, 
die  Brüder  und  die  Onkel  von  Vaters-  und  Mutters- 
seite. Die  Zulassung  des  Mutterbruders  zur  Erbschaft 
hängt  mit  der  Erhaltung  der  eben  erwähnten  Sitte 
zusammen  und  beweist  ebenfalls,  wie  jung  das  Vater- 
recht damals  noch  bei  den  Deutschen  war.  Auch  bis 
tief  in's  Mittelalter  finden  sich  Spuren  von  Mutterrecht. 
Damals  noch  scheint  man  der  Vaterschaft,  namentlich 
bei  Leibeignen,  nicht  recht  getraut  zu  haben;  wenn 
also  ein  Feudalherr  von  einer  Stadt  einen  entlaufnen 
Leibeignen  zurückforderte,  musste  z.  B.  in  Augsburg, 
Basel  und  Kaiserslautern  die  Leibeigenschaft  des  Ver- 
klagten beschworen  werden  von  sechs  seiner  nächsten 
Blutsverwandten  und  zwar  ausschliesslich  von  Mutter- 
seite.    (Maurer,  Städtevf.  I,  S.  381.) 

Einen  ferneren  Rest  des  eben  erst  absterbenden 
Mutterrechts  bietet  die  dem  Römer  fast  unbegreifliche 
Achtung  der  Deutschen  vor  dem  weiblichen  Greschlecht. 
Jungfrauen  aus  edler  Familie  galten  für  die  bindendsten 


Beiner  verstossenen  Gemahlin,  der  Boreade  Kleopatra,  erzeugten 
beiden  Söhne  auf  Antreiben  seiner  neuen  Gemahlin  schmählich 
misshandelt.  Aber  unter  den  Argonauten  sind  auch  Boreaden, 
Brüder  der  Kleopatra,  also  Mutterbrüder  der  Misshandelten.  Sie 
nehmen  sich  sofort  ihrer  Neffen  an,  befreien  sie  und  erschlagen  die 
"Wächter. 


—    ioi    — 

Geiseln  bei  Verträgen  mit  den  Deutschen ;  der  Gedanke 
daran,  dass  ihre  Frauen  in  Gefangenschaft  und  Skla- 
verei fallen  können,  ist  ihnen  fürchterlich  und  stachelt 
mehr  als  alles  Andere  ihren  Muth  in  der  Schlacht; 
etwas  Heiliges  und  Prophetisches  sehn  sie  in  der  Frau, 
sie  hören  auf  ihren  Rath  auch  in  den  wichtigsten  An- 
gelegenheiten, wie  denn  Veleda,  die  brukterische  Prie- 
sterin an  der  Lippe,  die  treibende  Seele  des  ganzen 
Bataveraufstandes  war,  in  dem  Civilis  an  der  Spitze 
von  Deutschen  und  Belgiern  die  ganze  Römerherrschaft 
in  Gallien  erschütterte.  Im  Hause  scheint  die  Herr- 
schaft der  Frau  unbestritten ;  sie,  die  Alten  und  Kinder 
haben  freilich  auch  alle  Arbeit  zu  besorgen,  der  Mann 
jagt,  trinkt  oder  faulenzt.  So  sagt  Tacitus;  da  er  aber 
nicht  sagt,  wer  den  Acker  bestellt,  und  bestimmt  er- 
klärt, die  Sklaven  leisteten  nur  Abgaben,  aber  keine 
Frohnarbeit,  so  wird  die  Masse  der  erwachsenen  Männer 
doch  wohl  die  wenige  Arbeit  haben  thun  müssen,  die 
der  Landbau  erforderte. 

Die  Form  der  Ehe  war,  wie  schon  oben  gesagt, 
eine  allmälig  der  Monogamie  sich  nähernde  Paarungs- 
ehe. Strikte  Monogamie  war  es  noch  nicht,  da  Viel- 
weiberei der  Vornehmen  gestattet  war.  Im  Ganzen 
wurde  streng  auf  Keuschheit  der  Mädchen  gehalten 
(im  Gegensatz  zn  den  Gelten)  und  ebenso  spricht 
Tacitus  mit  einer  besondern  Wärme  von  der  Unver- 
brüchlichkeit des  Ehebandes  bei  den  Deutschen.  Nur 
Ehebruch  der  Frau  gibt  er  als  Scheidungsgrund  an. 
Aber  sein  Bericht  lässt  hier  Manches  lückenhaft  und 
trägt  ohnehin  den,  den  liederlichen  Römern  vorgehalt- 
nen  Tugendspiegel  gar  zu  sehr  zur  Schau.  So  viel  ist 
sicher:  waren  die  Deutschen  in  ihren  Wäldern  diese 
ausnahmsweisen  Tugendritter,  so  hat  es  nur  geringer 
Berührung  mit  der  Aussenwelt  bedurft,  um  sie  auf  das 
Niveau  der  übrigen  europäischen  Durchschnittsmensch- 
heit herunterzulDringen ;  die  letzte  Spur  der  Sitten- 
strenge verschwand  unter  den  Römern  noch  weit  rascher 
als  die  deutsche  Sprache.  Man  lese  nur  Gregor  von 
Tours.  Dass  in  den  deutschen  Urwäldern  nicht  die 
raffinirte  Ueppigkeit   der  Sinnenlust   herrschen   konnte 


__     102    — 

wie  in  Eom,  verstellt  sich  von  selbst,  und  so  bleibt 
den  Deutschen  auch  in  dieser  Beziehung  noch  Vorzug 
genug  vor  der  Eömerwelt,  ohne  dass  wir  ihnen  eine 
Enthaltsamkeit  in  fleischlichen  Dingen  andichten,  die 
nie  und  nirgends  bei  einem  ganzen  Volk  geherrscht  hat. 

Der  Gentilverfassung  entsprungen  ist  die  Verpflich- 
tung, die  Feindschaften  des  Vaters  oder  der  Verwandten 
ebenso  zu  erben  wie  die  Freundschaften ;  ebenso  das 
Wergeid,  die  Busse,  anstatt  der  Blutrache,  für  Todt- 
schlag  oder  Verletzungen.  Dies  Wergeid,  das  noch 
vor  einem  Menschenalter  als  eine  specifisch  deutsche 
Institution  angesehn  wurde,  ist  jetzt  bei  Hunderten 
von  Völkern  als  allgemeine  Milderungsform  der  aus 
der  Grentilordnung  entspringenden  Blutrache  nachge- 
wiesen. Wir  finden  es,  ebenso  wie  die  Verpflichtung 
zur  Grastfreundschaft,  unter  andern  bei  den  amerika- 
nischen Indianern ;  die  Beschreibung,  wie  die  Grast- 
freundschaft nach  Tacitus  (Grermania  c.  21)  ausgeübt 
wurde,  ist  fast  bis  in  die  Einzelnheiten  dieselbe,  die 
Morgan  von  seinen  Indianern  gibt. 

Der  heisse  und  endlose  Streit  darüber,  ob  die 
Deutschen  des  Tacitus  das  Ackerland  schon  endgültig 
aufgetheilt  oder  nicht,  und  wie  die  betreffenden  Stellen 
zu  deuten,  gehört  jetzt  der  Vergangenheit  an.  Seitdem 
die  gemeinsame  Bebauung  des  Ackerlands  durch  die 
Grens  und  später  durch  kommunistische  Familiengemein- 
den, die  Cäsar  noch  bei  den  Sueven  bezeugt,  und  die 
ihr  folgende  Landzuweisung  an  einzelne  Familien  mit 
periodischer  Neu-Auftheilung  fast  bei  allen  Völkern 
nachgewiesen,  seitdem  festgestellt  ist,  dass  diese  perio- 
dische Wiedervertheilung  des  Ackerlands  in  Deutsch- 
land selbst  stellenweise  bis  auf  unsre  Tage  sich  erhalten 
hat,  ist  darüber  kein  Wort  weiter  zu  verlieren.  Wenn 
die  Deutschen  von  dem  gemeinsamen  Landbau,  den 
Cäsar  den  Sueven  ausdrücklich  zuschreibt  (getheilten 
oder  Privatacker  gibt  es  bei  ihnen  durchaus  nicht,  sagt 
er)  in  den  150  Jahren  bis  zu  Tacitus  übergegangen 
waren  zur  Einzelbebauung  mit  jährlicher  Neuvertheilung 
des  Bodens,  so  ist  das  wahrlich  Fortschritt  genug ;  der 
Uebergang  von  jener  Stufe  zum  vollen  Privateigenthum 


—     103     — 

am  Boden  während  jener  kurzen  Zwischenzeit  und  ohne 
jede  fremde  Einmischung  schliesst  eine  einfache  Un- 
möglichkeit ein.  Ich  lese  also  im  Tacitus  nur,  was  er 
mit  dürren  Worten  sagt:  sie  wechseln  (oder  theilen 
neu  um)  das  bebaute  Land  jedes  Jahr  und  es  bleibt 
Gremeinland  genug  dabei  übrig.  Es  ist  die  Stufe  des 
Ackerbaus  und  der  Boden- Aneignung,  die  der  damaligen 
Grentilverfassung  der  Deutschen  genau  entspricht. 

Während  bei  Cäsar  die  Deutschen  theils  eben  erst 
zu  festen  Wohnsitzen  gekommen  sind,  theils  noch  solche 
suchen,  haben  sie  zu  Tacitus  Zeit  schon  ein  volles 
Jahrhundert  der  Ansässigkeit  hinter  sich;  dem  ent- 
sprechend ist  der  Fortschritt  in  der  Produktion  des 
Lebensunterhalts  unverkennbar.  Sie  wohnen  in  Block- 
häusern;  ihre  Kleidung  ist  noch  sehr  waldursprünglich; 
grober  Wollenmantel,  Thierfelle,  für  Frauen  und  Vor- 
nehme leinene  Unterkleider.  Ihre  Nahrung  ist  Milch, 
Fleisch,  wilde  Früchte,  und,  wie  Plinius  hinzufügt, 
Haferbrei  (noch  jetzt  celtische  Nationalkost  in  Irland 
und  Schottland).  Ihr  Reichthum  besteht  in  Vieh;  dies 
aber  ist  von  schlechter  Race,  die  Rinder  klein,  unan- 
sehnlich, ohne  Hörner ;  die  Pferde  kleine  Ponies  und 
keine  Renner.  Greld  wurde  selten  und  wenig  gebraucht, 
nur  römisches.  Gold  und  Silber  verarbeiteten  sie  nicht 
und  achteten  seiner  nicht.  Eisen  war  selten  und  scheint 
wenigstens  bei  den  Stämmen  an  Rhein  und  Donau  fast 
nur  eingeführt,  nicht  selbstgewonnen  zu  sein.  Die 
Runenschrift  (griechischen  oder  lateinischen  Buchstaben 
nachgeahmt)  war  nur  als  Geheimschrift  bekannt  und 
wurde  nur  zu  religiöser  Zauberei  gebraucht.  Menschen- 
opfer waren  noch  im  Gebrauch.  Kurz,  wir  haben  hier 
ein  Yolk  vor  uns,  das  sich  soeben  aus  der  Mittelstufe 
der  Barbarei  auf  die  Oberstufe  erhoben  hatte.  Während 
aber  die  an  die  Römer  unmittelbar  angrenzenden  Stämme 
durch  die  erleichterte  Einfuhr  römischer  Industriepro- 
dukte an  der  Entwicklung  einer  selbständigen  Metall- 
und  Textilindustrie  verhindert  wurden,  bildete  sich  eine 
solche  im  Nordosten,  an  der  Ostsee,  ganz  unzweifelhaft 
aus.  Die  in  den  schleswigschen  Mooren  gefundenen 
Rüstungsstücke  —  langes  Eisenschwert,  Kettenpanzer, 


—     104     — 

Silberhelm  etc.,  mit  römischen  Münzen  vom  Ende  des 
zweiten  Jahrhunderts  —  und  die  durch  die  Völker- 
wanderung verbreiteten  deutschen  Metallsachen  zeigen 
einen  ganz  eignen  Typus  von  nicht  geringer  Ausbil- 
dung, selbst  wo  sie  sich  an  ursprünglich  römische 
Muster  anlehnen.  Die  Auswanderung  in  das  civilisirte 
Römerreich  machte  dieser  einheimischen  Industrie  überall 
ein  Ende,  ausser  in  England.  Wie  einheitlich  diese 
Industrie  entstanden  und  fortgebildet  war,  zeigen  z.  B. 
die  bronzenen  Spangen ;  die  in  Burgund,  in  Rumänien, 
am  Asow'schen  Meer  gefundenen  könnten  mit  eng- 
lischen und  schwedischen  aus  derselben  Werkstatt  her- 
vorgegangen sein,  und  sind  ebenso  unbezweifelt  ger- 
manischen Ursprungs. 

Der  Oberstufe  der  Barbarei  entspricht  auch  die 
Verfassung.  Allgemein  bestand  nach  Tacitus  der  Rath 
der  Vorsteher  (principes),  der  geringere  Sachen  ent- 
schied, wichtigere  aber  für  die  Entscheidung  der  Volks- 
versammlung vorbereitete  ;  diese  selbst  besteht  auf  der 
Unterstufe  der  Barbarei  wenigstens  da  wo  wir  sie  kennen, 
bei  den  Amerikanern,  nur  erst  für  die  GTens,  noch  nicht 
für  den  Stamm  oder  den  Stämmebund.  Die  Vorsteher  (prin- 
cipes) scheiden  sich  noch  scharf  von  den  Kriegsführem 
(duces),  ganz  wie  bei  den  Irokesen.  Erstere  leben  schon 
zum  Theil  von  Ehrengeschenken  an  Vieh,  Korn  etc. 
von  den  Stammesgenossen  ;  sie  werden,  wie  in  Amerika, 
meist  aus  derselben  Familie  gewählt;  der  Uebergang 
zum  Vaterrecht  begünstigt,  wie  in  G-riechenland  und 
Rom,  die  allmälige  Verwandlung  der  Wahl  in  Erblich- 
keit und  damit  die  Bildung  einer  Adelsfamilie  in  jeder 
Grens.  Dieser  alte,  sogenannte  Stammesadel  ging  meist 
unter  in  der  Völkerwanderung  oder  doch  bald  nachher. 
Die  Heerführer  wurden  ohne  Rücksicht  auf  Abstammung, 
bloss  nach  der  Tüchtigkeit  gewählt.  Sie  hatten  wenig 
Grewalt  und  mussten  durch's  Beispiel  wirken  5  die  eigent- 
liche Disciplinargewalt  beim  Heer  legt  Tacitus  ausdrück- 
lich den  Priestern  bei.  Die  wirkliche  Macht  lag  bei  der 
Volksversammlung.  Der  König  oder  Stamraesvorsteher 
präsidirt;  das  Volk  entscheidet  —  nein:  durch  Murren; 
ja:  durch  Akklamation  und  WafFenlärm.   Sie  ist  zugleich 


—     105     — 

(lerichtsversammlung ;  hier  werden  Klagen  vorgebracht 
und  abgenrtheilt,  hier  Todesurtheile  gefällt,  und  zwar 
steht  der  Tod  nur  auf  Feigheit,  Volks verrath  und  un- 
natürlicher Wollust.  Auch  in  den  Grentes  und  andern 
Unterabtheilungen  richtet  die  Gresammtheit  unter  Vor- 
sitz des  Vorstehers,  der,  wie  in  allem  deutschen  ur- 
sprünglichen Grericht,  nur  Leiter  der  Verhandlung  und 
Fragesteller  gewesen  sein  kann ;  Urtheilsfinder  war  von 
jeher  und  überall  bei  Deutschen  die  Gresammtheit. 

Bünde  von  Stämmen  hatten  sich  seit  Cäsars  Zeit 
ausgebildet  5  bei  einigen  von  ihnen  gab  es  schon  Könige; 
der  oberste  Heerführer,  wie  bei  Grriechen  und  Römern, 
strebte  bereits  der  Tyrannis  zu  und  erlangte  sie  zu- 
weilen. Solche  glückliche  Usurpatoren  waren  nun  keines- 
wegs unbeschränkte  Herrscher ;  aber  sie  fingen  doch 
schon  an,  die  Fesseln  der  Grentilverfassung  zu  brechen. 
Während  sonst  freigelassne  Sklaven  eine  untergeordnete 
Stellung  einnahmen,  weil  sie  keiner  Gens  angehören 
konnten,  kamen  solche  Grünstlinge  bei  den  neuen  Köni- 
gen oft  zu  Rang,  Reichthum  und  Ehren.  Grleiches  ge- 
schah nach  der  Eroberung  des  Römerreichs  von  den 
nun  zu  Königen  grosser  Länder  gewordnen  Heerführern. 
Bei  den  Franken  spielten  Sklaven  und  Freigelassne  des 
Königs  erst  am  Hof,  dann  im  Staat  eine  grosse  Rolle ; 
zum  grossen  Theil  stammt  der  neue  Adel  von  ihnen  ab. 

Eine  Einrichtung  begünstigte  das  Aufkommen  des 
Königthums :  die  Gefolgschaften.  Schon  bei  den  ame- 
rikanischen Rothhäuten  sahen  wir,  wie  sich  neben  der 
Gentilverfassung  Privatgesellschaften  zur  Kriegführung 
auf  eigne  Faust  bilden.  Diese  Privatgesellschaften  waren 
bei  den  Deutschen  bereits  ständige  Vereine  geworden. 
Kriegsführer,  die  sich  einen  Ruf  erworben,  versammelten 
eine  Schaar  beutelustiger  junger  Leute  um  sich,  ihm 
zu  persönlicher  Treue,  wie  er  ihnen,  verpflichtet.  Der 
Führer  verpflegte  und  beschenkte  sie,  ordnete  sie 
hierarchisch;  eine  Leibgarde  und  schlagfertige  Truppe 
zu  kleineren,  ein  fertiges  Oftizierkorps  für  grössere 
Auszüge.  Schwach  wie  diese  Gefolgschaften  gewesen 
sein  müssen  und  auch  z.  B.  bei  Odovaker  in  Italien 
später  erscheinen,  so  bildeten  sie  doch  schon  den  Keim 


—     106     — 

des  Verfalls  der  alten  Yolksfreiheit  und  bewährten  sich 
als  solche  in  und  nach  der  Völkerwanderung.  Denn 
erstens  begünstigten  sie  das  Aufkommen  der  könig- 
lichen Grewalt.  Zweitens  aber  konnten  sie,  wie  schon 
Tacitus  bemerkt,  zusammengehalten  werden  nur  durch 
fortwährende  Kriege  und  Raubzüge.  Der  Raub  wurde 
Zweck.  Hatte  der  Gefolgsherr  in  der  Nähe  nichts  zu 
thun,  so  zog  er  mit  seiner  Mannschaft  zu  andern  Völ- 
kern, bei  denen  es  Krieg  und  Aussicht  auf  Beute  gab ; 
die  deutschen  Hülfsvölker,  die  unter  römischer  Fahne 
selbst  gegen  Deutsche  in  grosser  Menge  fochten,  waren 
zum  Theil  durch  solche  Gefolgschaften  zusammen- 
gebracht. Das  Landsknechtswesen,  die  Schmach  und 
der  Fluch  der  Deutschen,  war  hier  schon  in  der  ersten 
Anlage  vorhanden.  Nach  Eroberung  des  Römerreichs 
bildeten  diese  Gefolgsleute  der  Könige  neben  den  un- 
freien und  römischen  Hofbedienten  den  zweiten  Haupt- 
bestandtheil  des  späteren  Adels. 

Im  Ganzen  gilt  also  für  die  zu  Völkern  verbündeten 
deutschen  Stämme  dieselbe  Verfassung,  wie  sie  sich  bei 
den  Griechen  der  Heroenzeit  und  den  Römern  der  so- 
genannten Königszeit  entwickelt  hatte :  Volksversamm- 
lung, Rath  der  Gentilvorsteher,  Heerführer,  der  schon 
einer  wirklichen  königlichen  Gewalt  zustrebt.  Es  war 
die  ausgebildetste  Verfassung,  die  die  Gentilordnung 
überhaupt  entwickeln  konnte ;  sie  war  die  Muster- 
verfassung der  Oberstufe  der  Barbarei.  Schritt  die  Ge- 
sellschaft hinaus  über  die  Grenzen,  innerhalb  deren 
diese  Verfassung  genügte,  so  war  es  aus  mit  der  Gentil- 
ordnung; sie  wurde  gesprengt,  der  Staat  trat  an  ihre 
Stelle. 


Vin.  Die  Staatsbildung  der  Deutsclien. 


Die  Deutsclien  waren  nach  Tacitus  ein  sehr  zahl- 
reiches Volk.  Eine  ungefähre  Yorstellung  von  der  Stärke 
deutscher  Einzelvölker  erhalten  wir  bei  Cäsar ;  er  gibt 
die  Zahl  der  auf  dem  linken  Rheinufer  erschienenen 
TJsipeter  und  Tenkterer  auf  180,000  Köpfe  an,  Weiber 
und  Kinder  eingeschlossen.  Also  etwa  100,000  auf  ein 
Einzelvolk,*)  schon  bedeutend  mehr  als  z.  B.  die  Gre- 
sammtheit  der  Irokesen  in  ihrer  Blütezeit,  wo  sie,  nicht 
20,000  Köpfe  stark,  der  Schrecken  des  ganzen  Landes 
wurden,  von  den  grossen  Seen  bis  an  den  Ohio  und 
Potomac.  Ein  solches  Einzelvolk  nimmt  auf  der  Karte, 
wenn  wir  versuchen,  die  in  der  Nähe  des  Rheins  an- 
gesessenen, genauer  bekannten  nach  den  Berichten  zu 
gruppiren,  im  Durchschnitt  ungefähr  den  Raum  eines 
preussischen  Regierungsbezirks  ein,  als  etwa  10,000 
Quadratkilometer  oder  182  geographische  Quadratmeilen. 
Germania  Magna  der  Römer  aber,  bis  an  die  Weichsel, 
umfasst  in  runder  Zahl  500,000  Quadratkilometer.  Bei 
einer  durchschnittlichen  Kopfzahl  der  Einzelvölker  von 
100,000,  würde  die  Gesammtzahl  für  Germania  Magna 
sich  auf  fünf  Millionen  berechnen  5  für  eine  barbarische 


*)  Die  hier  angenommene  Zahl  wird  bestätigt  durch  eine  Stelle 
Diodors  über  die  gallischen  Gelten  :  „In  Gallien  wohnen  viele  Völker- 
schaften Ton  ungleicher  Stärke.  Bei  den  grössten  beträgt  die 
Menschenzahl  ungefähr  200,000,  bei  den  kleinsten  50,000."  (Dio- 
dorus  Siculu^,  V,  25.)  Also  durchschnittlich  125,000;  die  gallischen 
Einzelvölker  sind,  bei  ihrem  hölieren  Entwicklungsstand,  unbedingt 
etwas  zahlreicher  anzunehmen  als  die  deutschen. 


-     108    -  ^ 

Yölkergruppe  eine  ansehnliche  Zahl,  für  unsre  Verhält- 
nisse —  10  Köpfe  auf  den  Quadratkilometer  oder  550 
auf  die  geographische  Quadratmeile  —  äusserst  gering. 
Damit  aber  ist  die  Zahl  der  damals  lebenden  Deutschen 
keineswegs  erschöpft.  Wir  wissen,  dass  die  Karpathen 
entlang  bis  zur  Donaumündung  hinab  deutsche  Völker  j 
gothischen  Stamms  wohnten,  Bastarner,  Peukiner  und  ' 
andre,  so  zahlreich,  dass  Plinius  aus  ihnen  den  fünften 
Hauptstamm  der  Deutschen  zusammensetzt  und  dass 
sie,  die  schon  180  vor  unsrer  Zeitrechnung  im  Sold- 
dienst des  makedonischen  Königs  Perseus  auftreten, 
noch  in  den  ersten  Jahren  des  Augustus  bis  in  die 
Gregend  von  Adrianopel  vordrangen.  Rechnen  wir  sie 
nur  für  eine  Million,  so  haben  wir  als  wahrscheinliche 
Anzahl  der  Deutschen  zu  Anfang  unsrer  Zeitrechmmg 
mindestens  sechs  Millionen. 

Nach  der  Niederlassung  in  Germanien  muss  sich  die 
Bevölkerung  mit  steigender  Geschwindigkeit  vermehrt 
haben;  die  oben  erwähnten  industriellen  Fortschritte 
allein  würden  dies  beweisen.  Die  schleswig'schen  Moor- 
funde sind,  nach  den  zugehörigen  römischen  Münzen, 
aus  dem  dritten  Jahrhundert.  Um  diese  Zeit  herrschte 
also  schon  an  der  Ostsee  ausgebildete  Metall-  und 
Textilindustrie ,  reger  Verkehr  mit  dem  Eömerreich 
und  ein  gewisser  Luxus  bei  Reicheren  —  Alles  Spuren 
dichterer  Bevölkerung,  um  diese  Zeit  aber  beginnt 
auch  der  allgemeine  Angriffskrieg  der  Deutschen  auf 
der  ganzen  Linie  des  Rheins,  des  römischen  Grenzwalls 
und  der  Donau,  von  der  Nordsee  bis  zum  Schwarzen 
Meer  —  direkter  Beweis  der  immer  stärker  werdenden, 
nach  Aussen  drängenden  Volkszahl.  Dreihundert  Jahre 
dauerte  der  Kampf,  während  dessen  der  ganze  Haupt- 
stamm gothischer  Völker  (mit  Ausnahme  der  skandi- 
navischen Gothen  und  der  Burgunder)  nach  Südosten 
zog  und  den  linken  Flügel  der  grossen  Angriffslinie 
bildeten,  in  deren  Centrum  die  Hochdeutschen  (Her- 
minonen) an  der  Ober-Donau  und  auf  dessen  rechtem 
.Flügel  die  Iskävonen,  jetzt  Franken  genannt,  am  Ehein 
vordrangen ;  den  Ingävonen  fiel  die  Eroberung  Britan- 
niens zu.     Am  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  lag  das 


—     109     — 

ßömerreicli    entkräftet,    blutlos    und    hülfios    den    ein- 
dringenden Deutschen  offen. 

Wir  standen  oben  an  der  Wiege  der  antiken  grie- 
chischen und  römischen  Civilisation.  Hier  stehn  wir 
an  ihrem  Sarg.  üeber  alle  Länder  des  Mittelmeer- 
Beckens  war  der  nivellirende  Hobel  der  römischen 
Weltherrschaft  gefahren,  und  das  Jahrhunderte  lang. 
Wo  nicht  das  Grriechische  Widerstand  leistete,  hatten 
alle  Nation alsprachen  einem  verdorbenen  Lateinisch 
weichen  müssen ;  es  gab  keine  Nationalunterschiede, 
keine  Grallier,  Iberer,  Ligurer,  Noriker  mehr,  sie  alle 
waren  Eömer  geworden.  Die  römische  Verwaltung  und 
das  römische  Recht  hatten  überall  die  alten  Greschlechter- 
verbände  aufgelöst,  und  damit  den  letzten  Rest  lokaler 
und  nationaler  Selbstthätigkeit.  Das  neugebackne 
Römerthum  bot  keinen  Ersatz ;  es  drückte  keine  Natio- 
nalität aus,  sondern  nur  den  Mangel  einer  Nationalität. 
Die  Elemente  neuer  Nationen  waren  überall  vorhanden ; 
die  lateinischen  Dialekte  der  verschiednen  Provinzen 
schieden  sich  mehr  und  mehr ;  die  natürlichen  Grenzen, 
die  Italien,  G-allien,  Spanien,  Afrika  früher  zu  selbst- 
ständigen Grebieten  gemacht  hatten,  waren  noch  vor- 
handen und  machten  sich  auch  noch  fühlbar.  Aber  nir- 
gends war  die  Kraft  vorhanden,  diese  Elemente  zu 
neuen  Nationen  zusammenzufassen ;  nirgends  war  noch 
eine  Spur  von  Entwicklungsfähigkeit,  von  Widerstands- 
kraft, geschweige  von  Schaffungs vermögen.  Die  unge- 
heure Menschenmasse  des  ungeheuren  Grebiets  hatte  nur 
ein  Band,  das  sie  zusammenhielt :  den  römischen  Staat, 
und  dieser  war  mit  der  Zeit  ihr  schlimmster  Feind  und 
Unterdrücker  geworden.  Die  Provinzen  hatten  Rom 
vernichtet;  Rom  selbst  war  eine  Provinzialstadt  ge- 
worden wie  die  andern  —  bevorrechtet,  aber  nicht 
länger  herrschend,  nicht  länger  Mittelpunkt  des  Welt- 
reichs, nicht  einmal  mehr  Sitz  der  Kaiser  und  Unter- 
kaiser, die  in  Konstantinopel,  Trier,  Mailand  wohnten. 
Der  römische  Staat  war  eine  riesige,  komplicirte  Ma- 
schine geworden,  ausschliesslich  zur  Aussaugung  der 
Unterthanen.  Steuern  und  Lieferungen  aller  Art  drück- 
ten die  Masse    der  Bevölkerung   in   immer  tiefere  Ar- 


—     110     — 

muth;  bis  zur  Unerträgliclikeit  wurde  der  Druck  ge- 
steigert durch  die  Erpressungen  der  Statthalter,  Steuer- 
eintreiber, Soldaten.  Dahin  hatte  es  der  römische  Staat 
mit  seiner  Weltherrschaft  gebracht :  er  gründete  sein 
Existenzrecht  auf  die  Erhaltung  der  Ordnung  nach 
Innen  und  den  Schutz  gegen  die  Barbaren  nach  Aussen. 
Aber  seine  Ordnung  war  schlimmer  als  die  ärgste  Un- 
ordnung, und  die  Barbaren,  gegen  die  er  die  Bürger 
zu  schützen  vorgab ,  wurden  von  diesen  als  Retter 
ersehnt. 

Der  Gresellschaftszustand  war  nicht  weniger  ver- 
zweifelt. Schon  seit  den  letzten  Zeiten  der  Republik 
war  die  Römerherrschaft  auf  rücksichtslose  Ausbeutung 
der  eroberten  Provinzen  ausgegangen ;  das  Kaiserthum 
hatte  diese  Ausbeutung  nicht  abgeschafft,  sondern  im 
Gregentheil  geregelt.  Je  mehr  das  Reich  verfiel,  desto 
höher  stiegen  Steuern  und  Leistungen,  desto  schamloser 
raubten  und  erpressten  die  Beamten.  Handel  und  In- 
dustrie waren  nie  Sache  der  völkerbeherrschenden 
Römer  gewesen ;  nur  im  Zinswucher  hatten  sie  Alles 
übertroffen,  was  vor  und  nach  ihnen  war.  Was  sich 
von  Handel  vorgefunden  und  erhalten  hatte,  ging  zu 
G-runde  unter  der  Beamten-Erpressung;  was  sich  noch 
durchschlug,  fällt  auf  den  östlichen,  griechischen  Theil 
des  Reichs,  der  ausser  unsrer  Betrachtung  liegt.  All- 
gemeine Verarmung,  Rückgang  des  Verkehrs,  des  Hand- 
werks, der  Kunst,  Abnahme  der  Bevölkerung,  Verfall 
der  Städte,  Rückkehr  des  Ackerbaus  auf  eine  niedrigere 
Stufe  —  das  war  das  Endresultat  der  römischen  Welt- 
herrschaft. 

Der  Ackerbau,  in  der  ganzen  alten  Welt  der  ent- 
scheidende Produktionszweig,  war  es  wieder  mehr  als 
je.  In  Italien  waren  die,  seit  Ende  der  Republik  fast 
das  ganze  (iebiet  einnehmenden  ungeheuren  Grüterkom- 
plexe  (Latifundien)  auf  zweierlei  Weise  verwerthet 
worden.  Entweder  als  Viehweide,  wo  die  Bevölkerung 
durch  Schafe  und  Ochsen  ersetzt  war,  deren  Wartung 
nur  wenige  Sklaven  erforderte.  Oder  als  Villen,  die 
mit  Massen  von  Sklaven  Grartenbau  in  grossem  Styl 
trieben,  theils  für  den  Luxus  des  Besitzers,  theils  für 


—    111    — 

den  Absatz  auf  den  städtischen  Märkten.  Die  grossen 
Viehweiden  hatten  sich  erhalten  und  wohl  noch  aus- 
gedehnt ;  die  Villen  guter  und  ihr  Gartenbau  waren  ver- 
kommen mit  der  Verarmung  ihrer  Besitzer  und  dem 
Verfall  der  Städte.  Die  auf  Sklavenarbeit  gegründete 
Latifundienwirthschaft  rentirte  sich  nicht  mehr ;  sie  war 
aber  damals  die  einzig  mögliche  Form  der  grossen  Agri- 
kultur. Die  Kleinkultur  war  wieder  die  allein  lohnende 
Form  geworden.  Eine  Villa  nach  der  andern  wurde  in 
kleine  Parzellen  zerschlagen  und  ausgegeben  an  Erb- 
pächter, die  eine  bestimmte  Summe  zahlten,  oder  partiarii, 
mehr  Verwalter  als  Pächter,  die  den  sechsten  oder  gar 
nur  neunten  Theil  des  Jahresprodukts  für  ihre  Arbeit  er- 
hielten. Vorherrschend  aber  wurden  diese  kleinen  Acker- 
parzellen an  Kolonen  ausgethan,  die  dafür  einen  be- 
stimmten jährlichen  Betrag  zahlten,  an  die  Scholle 
gefesselt  waren  und  mit  ihrer  Parzelle  verkauft  werden 
konnten ;  sie  waren  zwar  keine  Sklaven,  aber  auch 
nicht  frei,  konnten  sich  nicht  mit  Freien  verheirathen 
und  ihre  Ehen  unter  einander  werden  nicht  als  voll- 
gültige Ehen,  sondern  wie  die  der  Sklaven  als  blosse 
Beischläferei  (contubernium)  angesehn.  Sie  waren  die 
Vorläufer  der  mittelalterlichen  Leibeignen. 

Die  antike  Sklaverei  hatte  sich  überlebt.  Weder 
auf  dem  Lande  in  der  grossen  Agrikultur,  noch  in  den 
städtischen  Manufakturen  gab  sie  einen  Ertrag  mehr, 
der  der  Mühe  werth  war  —  der  Markt  für  ihre  Pro- 
dukte war  ausgegangen.  Der  kleine  Ackerbau  aber 
und  das  kleine  Handwerk,  worauf  die  riesige  Produk- 
tion der  Blütezeit  des  Reichs  zusammengeschrumpft 
war,  hatte  keinen  E.aum  für  zahlreiche  Sklaven.  Nur 
für  Haus-  und  Luxussklaven  der  Reichen  war  noch 
Platz  in  der  Gesellschaft.  Aber  die  absterbende  Skla- 
verei war  immer  noch  hinreichend,  alle  produktive  Ar- 
beit als  Sklaventhätigkeit,  als  freier  Römer  —  und  das 
war  ja  jetzt  Jedermann  —  unwürdig  erscheinen  zu 
lassen.  Daher  einerseits  wachsende  Zahl  der  Frei- 
lassungen überflüssiger,  zur  Last  gewordener  Sklaven, 
andrerseits  Zunahme  der  Kolonen  hier,  der  verlumpten 
Freien  (ähnlich  den  poor  whites  der  Ex-Sklavenstaaten 


—     112    — 

Amerikas)  dort.  Das  Cliristenthiim  ist  am  allmäligen 
Aussterben  der  antiken  Sklaverei  vollständig  unschul- 
dig. Es  hat  die  Sklaverei  Jahrhunderte  lang  im  Römer- 
reich  mitgemacht,  und  später  nie  den  Sklavenhandel 
der  Christen  verhindert,  weder  den  der  Deutschen  im 
Norden,  noch  den  der  Venetianer  im  Mittelmeer,  noch 
den  späteren  Negerhandel.*)  Die  Sklaverei  bezahlte 
sich  nicht  mehr,  darum  starb  sie  aus.  Aber  die  ster- 
bende Sklaverei  Hess  ihren  giftigen  Stachel  zurück  in 
der  Aechtung  der  produktiven  Arbeit  der  Freien.  Hier 
war  die  ausweglose  Sackgasse,  in  der  die  römische 
Welt  stak :  die  Sklaverei  war  ökonomisch  unmöglich, 
die  Arbeit  der  Freien  war  moralisch  geächtet.  Die 
eine  konnte  nicht  mehr,  die  andre  noch  nicht,  Grund- 
form der  gesellschaftlichen  Produktion  sein.  Was  hier 
allein  helfen  konnte,  war  nur  eine  vollständige  Re- 
volution. 

In  den  Provinzen  sah  es  nicht  besser  aus.  Wir 
haben  die  meisten  Nachrichten  aus  Gallien.  Neben 
den  Kolonen  gab  es  hier  noch  freie  Kleinbauern.  Um 
gegen  Vergewaltigung  durch  Beamte,  Richter  und 
Wucherer  gesichert  zu  sein,  begaben  sich  diese  häufig 
in  den  Schutz,  das  Patronat  eines  Mächtigen ;  und  zwar 
nicht  nur  Einzelne  thaten  dies,  sondern  ganze  Ge- 
meinden, so  dass  die  Kaiser  im  vierten  Jahrhundert 
mehrfach  Verbote  dagegen  erliessen.  Aber  was  half 
es  den  Schutzsuchenden?  Der  Patron  stellte  ihnen  die 
Bedingung,  dass  sie  das  Eigenthum  ihrer  Grundstücke 
an  ihn  übertrügen,  wogegen  er  ihnen  die  Nutzniessung 
auf  Lebenszeit  zusicherte  —  ein  Kniff,  den  die  heilige 
Kirche  sich  merkte  und  im  9.  und  10.  Jahrhundert  zur 
Mehrung  des  Reiches  Gottes  und  ihres  eignen  Grund- 
besitzes weidlich  nachahmte.  Damals  freilich,  gegen 
das  Jahr  475,  eifert  der  Bischof  Salvianus  von  Marseille 


*)  Nach  dem  Bischof  Liutprand  von  Cremona  war  im  10.  Jahr- 
hundert in  Verdun,  also  im  heiligen  deutschen  Reich,  der  Haupt- 
industriezweig die  Fabrikation  von  Eunuchen,  die  mit  grossem  Profit 
nach  Spanien  für  die  maurischen  Harems  exportirt  wurden. 


—     113     — 

noch  entrüstet  gegen  solchen  Diebstahl  und  erzählt, 
der  Druck  der  römischen  Beamten  und  grossen  Grrund- 
herren  sei  so  arg  geworden,  dass  viele  „Römer"  in  die 
schon  von  Barbaren  besetzten  Gregenden  flöhen  und  die 
dort  ansässigen  römischen  Bürger  vor  nichts  mehr  Angst 
hätten,  als  wieder  unter  römische  Herrschaft  zu  kommen. 
Dass  damals  Eltern  häufig  aus  Armuth  ihre  Kinder  in 
die  Sklaverei  verkauften,  beweist  ein  dagegen  erlassenes 
Gresetz. 

Dafür,  dass  die  deutschen  Barbaren  die  Eömer  von 
ihrem  eignen  Staat  befreiten,  nahmen  sie  ihnen  zwei 
Drittel  des  gesammten  Bodens  und  theilten  ihn  unter 
sich.  Die  Theilung  geschah  nach  der  Gentilverfassung; 
bei  der  verhältnissmässig  geringen  Zahl  der  Eroberer 
blieben  sehr  grosse  Striche  ungetheilt,  Besitz  theils  des 
ganzen  Volks,  theils  der  einzelne  Stämme  und  Grentes. 
In  jeder  Grens  wurde  das  Acker-  und  Wiesenland  unter 
die  einzelnen  Haushaltungen  zu  gleichen  Theilen  ver- 
loost ;  ob  in  der  ersten  Zeit  wiederholte  Auftheilungen 
stattfanden,  wissen  wir  nicht,  jedenfalls  verloren  sie 
sich  in  den  Römerprovinzen  bald  und  die  Einzelantheile 
wurden  veräusserliches  Privateigenthum,  Alod.  Wald 
und  Weide  blieb  ungetheilt  zu  gemeinsamer  Xutzung ; 
diese  Nutzung  sowie  die  Art  der  Bebauung  der  auf- 
getheilten  Flur  wurde  geregelt  nach  altem  Brauch 
und  nach  Beschluss  der  Gesammtheit.  Je  länger  die 
Grens  in  ihrem  Dorfe  sass,  und  je  mehr  Deutsche  und 
Römer  allmälig  verschmolzen,  desto  mehr  trat  der  ver- 
wandtschaftliche Charakter  des  Bandes  zurück  vor  dem 
territorialen ;  die  Grens  verschwand  in  der  Markgenossen- 
schaft, in  der  allerdings  noch  oft  genug  Spuren  des 
Ursprungs  aus  Verwandtschaft  der  Genossen  sichtbar 
sind.  So  ging  hier  die  Gentilverfassung,  wenigstens  in 
den  Ländern,  wo  die  Markgemeinschaft  sich  erhielt 
—  Nordfrankreich,  England,  Deutschland  und  Skandi- 
navien —  unmerklich  in  eine  Ortsverfassung  über  und 
erhielt  damit  die  Fähigkeit  der  Einpassung  in  den  Staat. 
Aber  sie  behielt  dennoch  den  naturwüchsig  demokra- 
tischen Charakter  bei,  der  die  ganze  Gentilverfassung 
auszeichnet,    und    erhielt    so    selbst    in    der  ihr  später 


—     114     — 

aufgezwiingnen  Ausartung  ein  Stück  Gentilverfassung 
und  damit  eine  Waffe  in  den  Händen  der  Unterdrückten 
lebendig  bis  in  die  neuste  Zeit. 

Wenn  so  das  Blutband  in  der  Grens  bald  verloren 
ging,  so  war  dies  die  Folge  davon,  dass  auch  im  Stamm 
und  Gresammtvolk  seine  Organe  ausarteten  in  Folge  der 
Eroberung.  Wir  wissen,  dass  Herrschaft  über  Unter- 
worfene mit  der  Grentilverfassung  unverträglich  ist. 
Hier  sehen  wir  dies  auf  grossem  Massstab.  Die  deutschen 
Völker,  Herren  der  Römerprovinzen,  hatten  diese  ihre 
Eroberung  zu  organisiren.  Weder  aber  konnte  man  die 
Römermassen  in  die  Grentilkörper  aufnehmen,  noch  sie  ver- 
mittelst dieser  beherrschen.  An  die  Spitze  der,  zunächst 
grossentheils  fortbestehenden,  römischen  lokalen  Ver- 
waltungskörper musste  man  einen  Ersatz  für  den  römi- 
schen Staat  stellen,  und  dieser  konnte  nur  ein  andrer 
Staat  sein.  Die  Organe  der  Grentilverfassung  mussten 
sich  so  in  Staatsorgane  verwandeln  ,  und  dies ,  dem 
Drang  der  Umstände  gemäss,  sehr  rasch.  Der  nächste 
Repräsentant  des  erobernden  Volks  war  aber  der  Heer- 
führer. Die  Sicherung  des  eroberten  Glebiets  nach  Innen 
und  Aussen  forderte  Stärkung  seiner  Macht.  Der  Augen- 
blick war  gekommen  zur  Verwandlung  der  Feldherrn- 
schaft in  Königthum :  sie  vollzog  sich. 

Nehmen  wir  das  Frankenreich.  Hier  waren  dem  sieg- 
reichen Volk  der  Salier  nicht  nur  die  weiten  römischen 
Staatsdomänen,  sondern  auch  noch  alle  die  sehr  grossen 
Landstrecken  als  Volksbesitz  zugefallen,  die  nicht  an 
die  grösseren  und  kleineren  Grau-  und  Markgenossen- 
schaften vertheilt  waren,  namentlich  alle  grösseren  Wald- 
komplexe. Das  erste,  was  der  aus  einem  einfachen 
obersten  Heerfahrer  in  einen  wirklichen  Landesfürsten 
verwandelte  Frankenkönig  that,  war,  dies  Volkseigen- 
thum  in  königliches  Grut  zu  verwandeln,  es  dem  Volk 
zu  stehlen  und  an  sein  Grefolge  zu  verschenken  oder 
zu  verleihen.  Dies  Grefolge,  ursprünglich  seine  persön- 
liche Kriegsgefolgschaft  und  die  übrigen  Unterführer 
des  Heers,  verstärkte  sich  bald  nicht  nur  durch  Römer, 
d.  h.  ronianisirte  Grallier,  die  ihm  durch  ihre  Schreiber- 


—     115    — 

kunst,  ihre  Bildung,  ihre  Kenntniss  der  romanisclien 
Landessprache  und  lateinischen  Schriftsprache,  sowie 
des  Landesrechts  bald  unentbehrlich  wurden,  sondern 
auch  durch  Sklaven,  Leibeigne  und  Treigelasseue,  die 
seinen  Hofstaat  ausmachten  und  aus  denen  er  seine 
Grünstlinge  wählte.  An  alle  diese  wurden  Stücke  des 
Yolkslandes  zuerst  meist  verschenkt,  später  in  der  Form 
von  Beneficion  zuerst  meist  auf  Lebenszeit  des  Königs 
verliehen  und  so  die  Grundlage  eines  neuen  Adels  auf 
Kosten  des  Volks  geschaffen. 

Damit  nicht  genug.  Die  weite  Ausdehnung  des  Eeichs 
war  mit  den  Mitteln  der  alten  G-entilverfassung  nicht 
zu  regieren ;  der  Rath  der  Vorsteher,  war  er  nicht 
längst  abgekommen,  hätte  sich  nicht  versammeln  können 
und  wurde  bald  durch  die  ständige  Umgebung  des  Königs 
ersetzt ;  die  alte  Volksversammlung  blieb  zum  Schein 
bestehn,  wurde  aber  ebenfalls  mehr  und  mehr  blosse 
Versammlung  der  Unterführer  des  Heers  und  der  neu- 
aufkommenden Grrossen.  Die  freien  grundbesitzenden 
Bauern,  die  Masse  des  fränkischen  Volks,  wurden  durch 
die  ewigen  Bürger-  und  Eroberungskriege ,  letztere 
namentlich  unter  Karl  dem  Grossen,  ganz  so  erschöpft 
und  heruntergebracht,  wie  früher  die  römischen  Bauern 
in  den  letzten  Zeiten  der  Republik.  Sie,  die  ursprüng- 
lich das  ganze  Heer,  und  nach  der  Eroberung  Frank- 
reichs dessen  Kern  gebildet  hatten,  waren  am  Anfang 
des  neunten  Jahrhunderts  so  verarmt,  dass  kaum  noch 
der  fünfte  Mann  ausziehen  konnte.  An  die  Stelle  des 
direkt  vom  König  aufgebotenen  Heerbannes  freier 
Bauern  trat  ein  Heer,  zusammengesetzt  aus  den  Dienst- 
leuten der  neuaufgekommenen  Grossen,  darunter  auch 
hörige  Bauern,  die  Nachkammen  derer,  die  früher  keinen 
Herrn  als  den  König,  und  noch  früher  gar  keinen,  nicht 
einmal  einen  König  gekannt  hatten.  Unter  den  Nach- 
folgern Karl's  wurde  der  Ruin  des  fränkischen  Bauern- 
standes durch  innere  Kriege,  Schwäche  der  königlichen 
Gewalt  und  entsprechende  Uebergriffe  der  Grossen, 
zu  denen  nun  noch  die  von  Karl  eingesetzten  und  nach 
Erblichkeit  des  Amts  strebenden  Gaugrafen  kamen, 
endlich    durch   die  Einfälle    der  Normannen    vollendet. 


—     116     — 

Fünfzig-  Jahre  nach  dem  Tode  Karl's  des  Grossen  lag 
das  Frankeureich  ebenso  widerstandslos  zu  den  Füssen 
der  Normannen,  wie  vierhmidert  Jahre  früher  das  Römer- 
reich zu  den  Füssen  der  Franken. 

Und  nicht  nur  die  äussere  Ohnmacht,  sondern  auch 
die  innere  Gesellschaftsordnung  oder  vielmehr  -Unord- 
nung war  fast  dieselbe.  Die  freien  fränkischen  Bauern 
waren  in  eine  ähnliche  Lage  versetzt  wie  ihre  Vor- 
gänger, die  römischen  Kolonen.  Durch  die  Kriege  und 
Plünderungen  ruinirt,  hatten  sie  sich  in  den  Schutz 
der  neuaufgekommenen  Grossen  oder  der  Kirche  be- 
geben müssen,  da  die  königliche  Gewalt  zu  schwach 
war,  sie  zu  schützen ;  aber  diesen  Schutz  mussten  sie 
theuer  erkaufen.  Wie  früher  die  gallischen  Bauern, 
mussten  sie  das  Eigenthum  an  ihrem  Grundstück  au 
den  Schutzherrn  übertragen  und  erhielten  dies  von  ihm 
zurück  als  Zinsgut  unter  verschiedenen  und  wechseln- 
den Formen,  stets  aber  nur  gegen  Leistung  von  Dienfiten 
und  Abgaben  ;  einmal  in  diese  Form  von  Abhängigkeit 
versetzt,  verloren  sie  nach  und  nach  auch  die  persön- 
liche I'reiheit;  nach  wenig  Generationen  waren  sie 
zumeist  schon  Leibeigne.  Wie  rasch  der  Untergang 
des  freien  Bauernstands  sich  vollzog,  zeigt  Irminon's 
Grundbuch  der  Abtei  Saint  Germain  des  Pr^s,  damals 
bei,  jetzt  in  Paris.  Auf  dem  weiten,  in  der  Umgegend 
zerstreuten  Grundbesitz  dieser  Abtei  sassen  damals, 
noch  zu  Lebzeiten  Karl's  des  Grossen,  2788  Haushal- 
tungen, fast  ausnahmslos  Franken  mit  deutschen  Namen. 
Darunter  2080  Kolonen,  35  Liten,  220  Sklaven  und 
nur  8  freie  Hintersassen !  Die  von  Salvianus  für  gottlos 
erklärte  Uebung,  dass  der  Schutzherr  das  Grundstück 
des  Bauern  sich  zu  Eigenthimi  übertragen  Hess  und  es 
ihm  nur  auf  Lebenszeit  zur  Nutzung  zurückgab,  wurde 
jetzt  von  der  Kirche  gegen  die  Bauern  allgemein  prak- 
tizirt.  Die  Frohndienste,  die  jetzt  mehr  und  mehr  in 
Gebrauch  kamen,  hatten  in  den  römischen  Angarien, 
Zwangsdiensten  für  den  Staat,  ihr  Vorbild  ebensosehr 
gehabt  wie  in  den  Diensten  der  deutschen  Markgenossen 
für  Brücken-  und  Wegebauten  und  andre  gemeinsame 
Zwecke.     Dem    Schein    nach  war    also    die  Masse    der 


—     117     — 

Bevölkerung  nach  vierhundert  Jahren  ganz  wieder  beim 
Anfang  angekommen. 

Das  aber  "bewies  mir  zweierlei:  Erstens,  dass  die 
gesellschaftliche  Grliederiing  und  die  Eigenthumsver- 
theilung  im  sinkenden  E-ömerreich  der  damaligen  Stufe 
der  Produktion  in  Ackerbau  und  Industrie  vollständig 
entsprochen  hatte,  also  unvermeidlich  gewesen  war ;  und 
zweitens,  dass  diese  Produktionsstufe  während  der  fol- 
genden vierhundert  Jahre  weder  wesentlich  gesunken 
war,  noch  sich  wesentlich  gehoben  hatte,  also  mit  der- 
selben Nothwendigkeit  dieselbe  Eigenthumsvertheilung 
und  dieselben  Bevölkerungsklassen  wieder  erzeugt  hatte. 
Die  Stadt  hatte  in  den  letzten  Jahrhunderten  des 
Bömerreichs  ihre  frühere  Herrschaft  über  das  Land  ver- 
loren und  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  deutschen 
Herrschaft  sie  nicht  wieder  erhalten.  Es  setzt  dies  eine 
niedrige  Entwicklungsstufe  sowohl  des  Ackerbaus  wie 
der  Industrie  voraus.  Diese  GTesammtlage  produzirt  mit 
Nothwendigkeit  grosse  herrschende  G-rundbesitzer  und 
abhängige  Kleinbauern.  Wie  wenig  es  möglich  war, 
einerseits  die  römische  Latifundien  wirthschaft  mit 
Sklaven,  andrerseits  die  neuere  Grosskultur  mit  Frohn- 
arbeit  einer  solchen  Gresellschaft  aufzupropfen,  beweisen 
Karl's  des  Q-rossen  ungeheure,  aber  fast  spurlos  vor- 
übergegangene Experimente  mit  den  berühmten  kaiser- 
lichen Villen.  Sie  wurden  fortgesetzt  nur  von  Klöstern 
und  waren  nur  für  diese  fruchtbar ;  die  Klöster  aber 
waren  abnorme  G-esellschaftskörper,  gegründet  auf  Ehe- 
losigkeit ;  sie  konnten  Ausnahmsweises  leisten,  mussten 
aber  ebendesshalb  auch  Ausnahmen  bleiben. 

Und  doch  war  man  während  dieser  vierhundert  Jahre 
weiter  gekommen.  Finden  wir  auch  am  Ende  fast  die- 
selben Hauptklassen  wieder  vor  wie  am  Anfang,  so 
waren  doch  die  Menschen  andre  geworden,  die  diese 
Klassen  bildeten.  Verschwunden  war  die  antike  Skla- 
verei, verschwunden  die  verlumpten  armen  Freien,  die 
die  Arbeit  als  sklavisch  verachteten.  Zwischen  dem  römi- 
schen Kolonen  und  dem  neuen  Hörigen  hatte  der  freie 
fränkische   Bauer    gestanden.     Das    „unnütze   Erinnern 


—     118    — 

und  der  vergebliclie  Streit"  des  verfallenden  Römerthuma 
war  todt  und  begraben.  Die  Gresellschaftsklassen  des 
neunten  Jahrhunderts  hatten  sich  gebildet,  nicht  in  der 
Yersumpfung  einer  untergehenden  Civilisation,  sondern 
in  den  G-eburtswehen  einer  neuen.  Das  neue  Greschlecht, 
Herren  wie  Diener,  war  ein  Geschlecht  von  Männern, 
verglichen  mit  seinen  römischen  Vorgängern.  Das  Ver- 
hältniss  von  mächtigen  Grundherren  und  dienenden 
Bauern,  das  für  diese  die  auswegslose  Untergangsform 
der  antiken  Welt  gewesen,  es  war  jetzt  für  jene  der 
Ausgangspunkt  einer  neuen  Entwicklung.  Und  dann, 
so  unproduktiv  diese  vierhundert  Jahre  auch  scheinen, 
ein  grosses  Produkt  hinterliessen  sie :  die  modernen 
Nationalitäten ,  die  Neugestaltung  und  G-liederung  der 
westeuropäischen  Menschheit  für  die  kommende  G-e- 
schichte.  Die  Deutschen  hatten  in  der  That  Europa  neu 
belebt,  und  darum  endete  die  Staatenauflösung  der  ger- 
manischen Periode  nicht  mit  normannisch-sarazenischer 
Unterjochung,  sondern  mit  der  Fortbildung  der  Bene- 
ficien  und  der  Schutzergebung  (Kommendation)  zum 
Feudalismus. 

Was  aber  war  das  geheimnissvolle  Zaubermittel,  wo- 
durch die  Deutschen  dem  absterbenden  Europa  neue 
Lebenskraft  einhauchten?  War  es  eine,  dem  deutschen 
Volksstamm  eingeborne  Wundermacht,  wie  unsre  chau- 
vinistische Geschichtsschreibung  uns  vordichtet  ?  Keines- 
wegs. Die  Deutschen  waren,  besonders  damals ,  ein 
hochbegabter  arischer  Stamm,  und  in  voller  lebendiger 
Entwicklung  begriffen.  Aber  nicht  ihre  specifischen 
nationalen  Eigenschaften  waren  es,  die  Europa  verjüngt 
haben,  sondern  einfach  —  ihre  Barbarei,  ihre  Gentil- 
verfassung. 

Ihre  persönliche  Tüchtigkeit  und  Tapferkeit,  ihr 
Freiheitssinn  und  demokratischer  Instinkt,  der  in  allen 
öffentlichen  Angelegenheiten  seine  eigenen  Angelegen- 
heiten sah,  kurz,  alle  die  Eigenschaften,  die  dem  llömer 
abhanden  gekommen  und  die  allein  im  Stande,  aus  dem 
Schlamm  der  Römerwelt  neue  Staaten  zu  bilden  und 
neue  Nationalitäten  wachsen  zu  lassen  —  was  waren  sie 


—     119     — 

anders    als  die  Charakterzüge    des  Barbaren   der  Ober- 
stufe —  Früchte  seiner  Grentilverfassung  ? 

Wenn  sie  die  antike  Form  der  Monogamie  umge- 
stalteten, die  Männerherrschaft  in  der  Familie  milderten, 
der  Frau  eine  höhere  Stellung  gaben,  als  die  klassische 
Welt  sie  je  gekannt ,  was  befähigte  sie  dazu  ,  wenn 
nicht  ihre  Barbarei ,  ihre  Grentilgewohnheiten ,  ihre 
noch  lebendigen  Erbschaften  aus  der  Zeit  des  Mutter- 
rechtes  ? 

Wenn  sie  wenigstens  in  dreien  der  wichtigsten 
Länder,  Deutschland,  Nordfrankreich  und  England,  ein 
Stück  ächter  Grentilverfassung  in  der  Form  der  Mark- 
genossenschaften in  den  Feudalstaat  hinüberretteten, 
und  damit  der  unterdrückten  Klasse,  den  Bauern,  selbst 
unter  der  härtesten  mittelalterlichen  Leibeigenschaft, 
einen  lokalen  Zusammenhalt  und  ein  Mittel  des  Wider- 
stands gaben,  wie  es  weder  die  antiken  Sklaven  fertig 
vorfanden  noch  die  modernen  Proletarier  —  wem  war 
das  geschuldet,  wenn  nicht  ihrer  Barbarei,  ihrer  aus- 
schliesslich barbarischen  Ansiedlungsweise  nach  Gre- 
schlechtern  ? 

Und  endlich,  wenn  sie  die  bereits  in  der  Heimath 
geübte  mildere  Form  der  Knechtschaft,  in  die  auch 
im  Römerreich  die  Sklaverei  mehr  und  mehr  überging, 
ausbilden  und  zur  ausschliesslichen  erheben  konnten; 
eine  Form ,  die,  wie  Fourier  zuerst  hervorgehoben, 
den  Greknechteten  die  Mittel  zur  allmäligen  Befreiung 
als  Klasse  gibt  (fournit  aux  cultivateurs  des  moyens 
d'affranchissement  collectif  et  progressif);  eine 
Form,  die  sich  hierdurch  hoch  über  die  Sklaverei  stellt, 
bei  der  nur  die  sofortige  Einzelfreilassung  ohne  Ueber- 
gangszustand  möglich  (Abschaffung  der  Sklaverei  durch 
siegreiche  Rebellion  kennt  das  Alterthum  nicht)  — 
während  in  der  That  die  Leibeignen  des  Mittelalters 
nach  und  nach  ihre  Befreiung  als  Klasse  durchsetzten 
—  wem  verdanken  wir  das,  wenn  nicht  ihrer  Barbarei,, 
kraft  deren  sie  es  noch  nicht  zur  ausgebildeten  Skla- 
verei gebracht  hatten,  weder  zur  antiken  Arbeitsskla- 
verei noch  zur  orientalischen  Haussklaverei  ? 


—     120    — 

Alles,  was  die  Deutschen  der  Eöm erweit  Lebens- 
kräftiges und  Lebenbringendes  einpflanzten,  war  Bar- 
barenthum.  In  der  That  sind  nur  Barbaren  fähig,  eine 
an  verendender  Civilisation  laborirende  Welt  zu  ver- 
jüngen. Und  die  oberste  Stufe  der  Barbarei,  zu  der 
und  in  der  die  Deutschen  sich  vor  der  Völkerwanderung 
emporgearbeitet,  war  gerade  die  günstigste  für  diesen 
Prozess.     Das  erklärt  Alles. 


IX.  Barbarei  und  Civilisation. 


Wir  haben  jetzt  die  Auflösung  der  Grentilverfassimg 
an  den  drei  grossen  Einzelbeispielen  der  Grriecben, 
E,ömer  und  Deutschen  verfolgt.  Untersuchen  wir  zum 
Schluss  die  allgemeinen  ökonomischen  Bedingungen,  die 
die  gentile  Organisation  der  Gresellschaft  auf  der  Ober- 
stufe der  Barbarei  bereits  untergruben,  und  mit  dem 
Eintritt  der  Civilisation  vollständig  beseitigten.  Hier 
wird  uns  Marx'  „Kapital"  ebenso  nothwendig  sein  wie 
Morgan 's  Buch. 

Hervorgewachsen  auf  der  Mittelstufe,  weitergebildet 
auf  der  Oberstufe  der  Wildheit,  erreicht  die  Glens,  so- 
weit unsre  Quellen  dies  beurtheilen  lassen,  ihre  Blüte- 
zeit auf  der  Unterstufe  der  Barbarei.  Mit  dieser  Ent- 
wicklungssfajfe  also  beginnen  wir. 

V*  WiridiÄnden  hier,  wo  uns  die  amerikanischen  Roth- 
häute  scls  Beispiel  dienen  müssen,  die  Grentilverfassung 
vollkommen  ausgebildet.  Ein  Stamm  hat  sich  in  mehrere 
Grentes  gegliedert ;  diese  ursprünglichen  Gentes  zerfallen 
mit  steigender  Volkszahl  jede  in  mehrere  Tochtergentes, 
gegenüber  denen  die  Muttergens  als  Phratrie  erscheint; 
der  Stamm  selbst  spaltet  sich  in  mehrere  Stämme,  in 
deren  jedem  wir  die  alten  Grentes  grossentheils  wieder- 
finden ;    ein  Bund   umschliesst  wenigstens  in  einzelnen 

^-Fällen  die  verwandten  Stämme.  Diese  einfache  Organi- 
sation genügt  vollkommen  den  gesellschaftlichen  Zu- 
ständen, denen  sie  entsprungen  ist.  Sie  ist  weiter  nichts 
als  deren  eigne,  naturwüchsige  Gruppirung,  sie  ist  im 
Stande,  alle  Konflikte  auszugleichen,  die  innerhalb  der 
so  organisirten  Gesellschaft  entspringen  können.    Nach 


—     122     — 

Aussen  gleicht  der  Krieg  aus ;  er  kann  mit  Vernich- 
tung des  Stamms  endigen,  nie  aber  mit  seiner  Unter- 
jochung. Es  ist  das  Grrossartige,  aber  auch  das  Be- 
schränkte der  Grentilverfassung,  dass  sie  für  Herrschaft 
und  Knechtung  keinen  Raum  hat.  Naeh  Innen  gibt  es 
noch  keinen  Unterschied  zwischen  Rechten  und  Pflichten; 
die  Frage,  ob  Theilnahme  an  den  öffentlichen  Ange- 
legenheiten, Blutrache  oder  deren  Sühnung,  ein  Recht 
oder  eine  Pflicht  sei,  besteht  für  den  Indianer  nicht; 
sie  würde  ihm  ebenso  absurd  vorkommen  wie  die :  ob 
Essen,  Schlafen,  Jagen  ein  Recht  oder  eine  Pflicht  sei. 
Ebensowenig  kann  eine  Spaltung  des  Stammes  und  der 
Gens  in  verschiedene  Klassen  stattfinden.  Und  dies 
führt  uns  auf  Untersuchung  der  ökonomischen  Basis 
des  Zustandes. 

Die  Bevölkerung  ist  äusserst  dünn ;  verdichtet  nur 
am  Wohnort  des  Stamms,  um  den  in  weitem  Kreise 
zunächst  das  Jagdgebiet  liegt,  dann  der  neutrale  Schutz- 
wald, der  ihn  von  andern  Stämmen  trennt.  Die  Thei- 
lung  der  Arbeit  ist  rein  naturwüchsig;  sie  besteht  nur 
zwischen  den  beiden  Geschlechtern.  Der  Mann  führt 
den  Krieg,  geht  jagen  und  fischen,  beschafi't  den  Roh- 
stoff" der  Nahrung  und  die  dazu  nöthigen  Werkzeuge. 
Die  Erau  besorgt  das  Haus  und  die  Zubereitung  der 
Nahrung  und  Kleidung,  kocht,  webt,  näht.  Jedes  von 
Beiden  ist  Herr  auf  seinem  Gebiet:  der  Mann  im 
Walde,  die  Frau  im  Hause.  Jedes  ist  Eigenthümer  der 
von  ihm  verfertigten  und  gebrauchten  Werkzeuge:  der 
Mann  der  Waffen,  des  Jagd-  und  Fischzeugs,  die  Frau 
des  Hausraths.  Die  Haushaltung  ist  kommunistisch  für 
mehrere,  oft  viele  Familien.*)  Was  gemeinsam  gemacht 
und  genutzt  wird,  ist  gemeinsames  Eigenthum :  das 
Haus,  der  Garten,  das  Langboot.  Hier  also,  und  nur 
hier  noch,  gilt  das  von  Juristen  und  Oekonomen  der 
civilisirten  Gesellschaft  angedichtete  „selbsterarbeitete 
Eigenthum",    der    letzte    verlogne  Rechtsvorwand,  auf 

*)  Besonders  an  der  Nordwestküste  Amerikas,  siehe  Bancroft. 
Bei  den  Haidahs  auf  Königin  Charlotte's  Insel  kommen  Haushal- 
tungen bis  zu  700  Personen  unter  einem  Dache  vor.  Bei  den  Noot- 
kas  lebten  ganze  Stämme  unter  einem  Dache. 


—     123     — 

den    das    heutige    kapitalistische  Eigenthum   sich   noch 
stützt. 

Aber  die  Menschen  blieben  nicht  überall  auf  dieser 
Stufe  stehn.  In  Asien  fanden  sie  Thiere  vor^  die  sich 
zähmen  und  gezähmt  weiter  züchten  Hessen.  Die  wilde 
Büffelkuh  musste  erjagt  werden,  die  zahme  lieferte 
jährlich  ein  Kalb,  und  Milch  obendrein.  Eine  Anzahl 
der  vorgeschrittensten  Stämme  —  Arier ,  Semiten, 
vielleicht  auch  schon  Turanier  —  machten  erst  die 
Zähmung,  später  nur  noch  die  Wartung  von  Vieh  zu 
ihrem  Hauptarbeitszweig.  Hirtenstämme  sonderten  sich 
aus  von  der  übrigen  Masse  der  Barbaren:  erste 
grosse  gesellschaftliche  Theilung  der  Ar- 
beit. Die  Hirtenstämme  producirten  nicht  nur  mehr, 
sondern  auch  andre  Lebensmittel  als  die  übrigen 
Barbaren.  Sie  hatten  nicht  nur  Milch,  Milchprodukte 
und  Fleisch  in  grösseren  Massen  vor  diesen  voraus, 
sondern  auch  Häute,  Wolle,  Ziegenhaare  und  die  mit 
der  Masse  des  Rohstoffs  sich  vermehrenden  Grespinnste 
und  Grewebe.  Damit  wurde  ein  regelmässiger  Aus- 
tausch zum  ersten  Male  möglich.  Auf  früheren  Stufen 
können  nur  gelegentliche  Austäusche  stattfinden ;  be- 
sondre Greschicklichkeit  in  der  Verfertigung  von  Waffen 
und  Werkzeugen  kann  zu  vorübergehender  Arbeits- 
theilung  führen.  So  sind  unzweifelhafte  Reste  von  Werk- 
stätten für  Steinwerkzeuge  aus  dem  späteren  Steinzeit- 
alter an  vielen  Orten  gefunden  worden ;  die  Künstler, 
die  hier  ihre  Geschicklichkeit  ausbildeten,  arbeiteten 
wahrscheinlich,  wie  noch  die  ständigen  Handwerker 
indischer  Gentilgemeinwesen,  für  Rechnung  der  Ge- 
sammtheit.  Keinenfalls  konnte  auf  dieser  Stufe  ein 
andrer  Austausch  als  der  innerhalb  des  Stammes  ent- 
stehn,  und  dieser  blieb  ausnahmsweises  Ereigniss.  Hier 
dagegen ,  nach  der  Ausscheidung  der  Hiitenstämnie, 
finden  wir  alle  Bedingungen  fertigzum  Austausch  zwischen 
den  Gliedern  verschiedner  Stämme,  zu  seiner  Ausbildung 
und  Befestigung  als  regelmässige  Institution.  Ursprünglich 
tauschte  Stamm  mit  Stamm,  durch  die  gegenseitigen 
Gentilvorsteher ;  als  aber  die  Heerden  anfingen  in  Pri- 
vateigenthum  überzugehen,  überwog  der  Einzelaustausch 


—     124     — 

mehr  und  mehr,  und  wurde  endlich  einzige  Form.  Der 
Hauptartikel  aber,  den  die  Hirtenstämme  an  ihre  Nach- 
barn im  Tausch  abgaben,  war  Yieh ;  Vieh  wurde  die 
Waare,  in  der  alle  andren  Waaren  geschätzt  und  die 
überall  gern  im  Austausch  gegen  jene  genommen  wurde 

—  kurz,  Yieh  erhielt  Geldfunktion  und  that  G-eld- 
dienste  schon  auf  dieser  Stufe.  Mit  solcher  Xothwen- 
digkeit  und  Haschheit  entwickelte  sich  schon  im  Anbe- 
ginn des  Waarenaustausches  das  Bedürfniss  einer  G-eld- 
waare. 

Der  Grartenbau,  den  asiatischen  Barbaren  der  Unter- 
stufe wahrscheinlich  fremd ,  kam  spätestens  in  der 
Mittelstufe  bei  ihnen  auf,  als  Vorläufer  des  Feldbaus. 
Das  Elima  der  turanischen  Hochebene  lässt  kein  Hlrten- 
leben  zu  ohne  Futter vorräthe  für  den  langen  und  stren- 
gen Winter  ;  Wiesenbau  und  Kultur  von  Kornfrucht  war 
also  hier  Bedingung.  Dasselbe  gilt  für  die  Steppen 
nördlich  vom  schwarzen  Meer.  Wurde  aber  erst  die 
Kornfrucht  für  das  Yieh  gewonnen,  so  wurde  sie  bald 
auch  menschliche  Xahrung.  Das  bebaute  Land  blieb 
noch  Stammeseigenthum ,  anfänglich  der  Grens ,  später 
von  dieser  den  Einzelnen  zur  Benutzung  überwiesen ; 
sie  mochten  gewisse  Besitzrechte  daran  haben,  mehr 
aber  auch  nicht. 

Yon  den  industriellen  Errungenschaften  dieser  Stufe 
sind  zwei  besonders  wichtig.  Die  erste  ist  der  Web- 
stuhl, die  zrreite  die  Schmelzung  von  Metallerzen  und 
die  Yerarbeitimg  der  Metalle.  Kupfer  und  Zinn  und 
die  aus  beiden  zusammengesetzte  Bronze  waren  weit- 
aus die  wichtigsten ;  die  Bronze  lieferte  brauchbare 
Werkzeuge  und  Waffen,  konnte  aber  die  Steinwerk- 
zeuge nicht  verdrängen;  dies  war  nur  dem  Eisen  mög- 
lich, und  Eisen  zu  gewinnen,  verstand  man  noch  nicht. 
Grold  und  Silber  fingen  an  zu  Schmuck  und  Zierrath 
verwandt  zu  werden,  und  müssen  schon  hoch  im  Werth 
gestanden  haben  gegenüber  Kupfer  und  Bronze. 

Die    Steigerung    der   Produktion   in    allen  Zweigen 

—  Viehzucht,  Ackerbau,  häusliches  Handwerk  —  gab 
der  menschlichen  Arbeitskraft  die  Fähigkeit,  ein  grös- 
seres Produkt  zu  erzeugen,  als  zu  ihrem  Unterhalt  er- 


—     125     — 

forderlicli  war.  Sie  steigerte  gleichzeitig-  die  tägliche 
Arbeitsmenge,  die  jedem  Mitglied  der  Gens,  der  Haus- 
gemeinde oder  der  Einzelfamilie  zufiel.  Die  Einschal- 
tung neuer  Arbeitskräfte  wurde  wünschenswerth.  Der 
Krieg  lieferte  sie :  die  Kriegsgefangnen  wurden  in  Skla- 
ven verwandelt.  Die  erste  grosse  gesellschaftliche  Thei- 
lung  der  Arbeit  zog  mit  ihrer  Steigerung  der  Produk- 
tivität der  Arbeit,  also  des  Eeichthums,  und  mit  ihrer 
Erweiterung  des  Produktionsfeldes,  unter  den  gegebnen 
geschichtlichen  Gresammtbedingungen,  die  Sklaverei  mit 
Nothwendigkeit  nach  sich.  Aus  der  ersten  grossen 
gesellschaftlichen  Arbeitstheilung  entsprang  die  erste 
grosse  Spaltung  der  Gresellschaft  in  zwei  Klassen: 
Herren  und  Sklaven,  Ausbeuter  und  Ausgebeutete. 

Wie  und  wann  die  Heerden  aus  dem  Gemeinbesitz 
des  Stammes  oder  der  Gens  in  das  Eigenthum  der  ein- 
zelnen Familienhäupter  übergegangen,  darüber  wissen 
wir  bis  jetzt  nichts.  Es  muss  aber  im  Wesentlichen 
auf  dieser  Stufe  geschehn  sein.  Mit  den  Heerden  nun, 
und  den  übrigen  neuen  Heichthümern  kam  eine  Revo- 
lution über  die  Familie.  Der  Erwerb  war  immer  Sache 
des  Mannes  gewesen,  die  Mittel  zum  Erwerb  von  ihm 
produzirt  und  sein  Eigenthum.  Die  Heerden  waren  die 
neuen  Erwerbsmittel ,  ihre  anfängliche  Zähmung  und 
spätere  Wartung  sein  Werk.  Ihm  gehörte  daher  das 
Vieh,  ihm  die  gegen  Vieh  eingetauschten  Waaren  und 
Sklaven.  All'  der  Ueberschuss,  den  der  Erwerb  jetzt 
lieferte,  fiel  dem  Manne  zu;  die  Frau  genoss  mit  da- 
von, aber  sie  hatte  kein  Theil  am  Eigenthum.  Der 
„wilde"  Kiieger  und  Jäger  war  im  Hause  zufrieden 
gewesen  mit  der  zweiten  Stelle,  nach  der  Frau;  der 
„sanftere"  Hirt,  auf  seinen  Eeichthum  pochend,  drängte 
sich  vor  an  die  erste  Stelle  und  die  Frau  zurück  an 
die  zweite.  Und  sie  konnte  sich  nicht  beklagen.  Die 
Arbeitstheilung  in  der  Familie  hatte  die  Eigenthums- 
vertheilung  zwischen  Mann  und  Frau  geregelt ;  sie  war 
dieselbe  geblieben;  und  doch  stellte  sie  jetzt  das  bisherige 
häusliche  Verhältniss  auf  den  Kopf,  lediglich  weil  die 
Arbeitstheilung  ausserhalb  der  Familie  eine  andre  ge- 
worden war.  Dieselbe  Ursache,  die  der  Frau  ihre  frühere 


—     126    — 

Herrschaft  im  Hause  gesichert:  ihre  Beschränkung  auf 
die  Hausarbeit,  dieselbe  Ursache  sicherte  jetzt  die  Herr- 
schaft des  Mannes  im  Hause :  die  Hausarbeit  der  Frau 
verschwand  jetzt  neben  der  Erwerbsarbeit  des  Mannes; 
diese  war  Alles,  jene  eine  unbedeutende  Beigabe.  Hier 
zeigt  sich  schon,  dass  die  Befreiung  der  Frau,  ihre 
Grleichstellung  mit  dem  Manne,  eine  Unmöglichkeit  ist 
und  bleibt,  so  lange  die  Frau  von  der  gesellschaftlichen 
produktiven  Arbeit  ausgeschlossen  und  auf  die  häus- 
liche Privatarbeit  beschränkt  bleibt.  Die  Befreiung  der 
Frau  wird  erst  möglich,  sobald  diese  auf  grossem,  ge- 
sellschaftlichem Massstab  an  der  Produktion  sich  be- 
theiligen kann,  und  die  häusliche  Arbeit  sie  nur  noch 
in  unbedeutendem  Mass  in  Anspruch  nimmt.  Und  dies 
ist  erst  möglich  geworden  durch  die  moderne  grosse 
Industrie,  die  nicht  nur  Frauenarbeit  auf  grosser  Stufen- 
leiter zulässt,  sondern  förmlich  nach  ihr  verlangt,  und 
die  auch  die  private  Hausarbeit  mehr  und  mehr  in  eine 
öffentliche  Industrie  aufzulösen  strebt. 

Mit  der  faktischen  Herrschaft  des  Mannes  im  Hause 
war  die  letzte  Schranke  seiner  Alleinherrschaft  gefallen. 
Diese  Alleinherrschaft  wurde  bestätigt  und  verewigt 
durch  Sturz  des  Mutterrechts,  Einführung  des  Vater- 
rechts, allmäligen  Uebergang  der  Paarungsehe  in  die 
Monogamie.  Damit  aber  kam  ein  Hiss  in  die  alte 
Grentilordnung  :  die  Einzelfamilie  wurde  eine  Macht 
und  erhob  sich  drohend  gegenüber  der  Gi-ens. 

Der  nächste  Schritt  führt  uns  auf  die  Oberstufe  der 
Barbarei,  die  Periode,  in  der  alle  Kulturvölker  ihre 
Heroenzeit  durchmachen :  die  Zeit  des  eisernen  Schwerts, 
aber  auch  der  eisernen  Pflugschar  und  Axt.  Das  Eisen 
war  dem  Menschen  dienstbar  geworden,  der  letzte  und 
wichtigste  aller  Rohstoffe,  die  eine  geschichtlich  um- 
wälzende Rolle  spielten,  der  letzte  —  bis  auf  die  Kar- 
toffel. Das  Eisen  schuf  den  Feldbau  auf  grösseren  Flä- 
chen, die  Urbarmachung  ausgedehnterer  Waldstreoken ; 
es  gab  dem  Handwerker  Werkzeug  von  einer  Härte 
und  Schneide,  der  kein  Stein,  kein  andres  bekanntes 
Metall  widerstand.  Alles  das  allmälig ;  das  erste  Eisen 
war  oft  noch  weicher  als  Bronze.     So  verschwand  die 


—     127     — 

Stein waffe  nur  langsam ;  nicht  nur  im  Hildetrandslied, 
auch  noch  bei  Hastings  im  Jahr  1066  kamen  noch  Stein- 
äxte in's  Grefecht.  Aber  der  Fortschritt  ging  nun  un- 
aufhaltsam, weniger  unterbrochen  und  rascher  vor  sich. 
Die  mit  steinernen  Mauern,  Thürmen  und  Zinnen  stei- 
nerne oder  Ziegel-Häuser  umschliessende  Stadt  wurde 
Centralsitz  des  Stamms  oder  Stämmebundes ;  ein  ge- 
waltiger Fortschritt  in  der  Baukunst,  aber  auch  ein 
Zeichen  vermehrter  Gefahr  und  Schutzbedürftigkeit. 
Der  Reichthum  wuchs  rasch,  aber  als  Reichthum  Ein- 
zelner ;  die  Weberei ,  die  Metallbearbeitung  und  die 
andern,  mehr  und  mehr  sich  sondernden  Handwerke 
entfalteten  steigende  Mannigfaltigkeit  und  Kunstfertig- 
keit der  Produktion;  der  Landbau  lieferte  neben  Korn, 
Hülsenfrüchten  und  Obst  jetzt  auch  Oel  und  Wein, 
deren  Bereitung  man  gelernt  hatte.  So  mannigfache 
Thätigkeit  konnte  nicht  mehr  von  demselben  Einzelnen 
ausgeübt  werden;  die  zweite  grosse  Theilung 
der  Arbeit  trat  ein:  das  Handwerk  sonderte  sich 
vom  Ackerbau.  Die  fortwährende  Steigerung  der  Pro- 
duktion und  mit  ihr  der  Produktivität  der  Arbeit  er- 
höhte den  Werth  der  menschlichen  Arbeitskraft;  die 
Sklaverei,  auf  der  vorigen  Stufe  noch  entstehend  und 
sporadisch,  wird  jetzt  wesentlicher  Bestandtheil  des 
Gresellschaftssystems ;  die  Sklaven  hören  auf  einfache 
Grehülfen  zu  sein,  sie  werden  dutzendweise  zur  Arbeit 
getrieben  auf  dem  Feld  und  in  der  Werkstatt.  Mit 
der  Spaltung  der  Produktion  in  die  zwei  grossen  Haupt- 
zweige, Ackerbau  und  Handwerk,  entsteht  die  Produk- 
tion direkt  für  den  Austausch,  die  Waarenproduktion; 
mit  ihr  der  Handel,  nicht  nur  im  Innern  und  an  den 
Stammesgrenzen,  sondern  auch  schon  über  See.  Alles 
dies  aber  noch  sehr  unentwickelt;  die  edlen  Metalle 
fangen  an  vorwiegende  und  allgemeine  G-eldwaare  zu 
werden,  aber  noch  ungeprägt,  nur  nach  dem  noch  un- 
verkleideten  G-e wicht  sich  austauschend. 

Der  Unterschied  von  Reichen  und  Aermeren  tritt 
neben  den  von  Freien  und  Sklaven  —  mit  der  neuen 
Arbeitstheilung  eine  neue  Spaltung  der  Gesellschaft  in 
Klassen.   Die  Besitzunterschiede  der  einzelnen  Familien- 


—     128    — 

häupter  sprengen  die  alte  kommunistisclie  Hansgemeinde 
überall,  wo  sie  sich  bis  dahin  erhalten  5  mit  ihr  die 
gemeinsame  Bebauung  des  Bodens  für  Rechnung  dieser 
Gremeinde.  Das  Ackerland  wird  den  einzelnen  Familien 
zunächst  auf  Zeit,  später  ein  für  alle  Mal  zur  Nutzung 
überwiesen,  der  tJebergang  in  volles  Privateigenthum 
vollzieht  sich  allmälig  und  parallel  mit  dem  TJebergang 
der  Paarungsehe  in  Monogamie.  Die  Einzelfamilie 
fängt  an,  die  wirthschaftliche  Einheit  an  der  Gresell- 
schaft  zu  werden. 

Die  dichtere  Bevölkerung  nöthigt  zu  engerem  Zu- 
sammenschliessen  nach  Innen  wie  nach  Aussen.  Der 
Bund  verwandter  Stämme  wird  überall  eine  Nothwen- 
digkeit;  bald  auch  schon  ihre  Verschmelzung,  damit 
die  Yerschmelzung  der  getrennten  Stammesgebiete  zu 
einem  Gesammtgebiet  des  Volks.  Der  Heerführer  des 
Volks  —  rex,  basileus,  thiudans  —  wird  unentbehr- 
licher, ständiger  Beamter.  Die  Volksversammlung  kommt 
auf,  wo  sie  nicht  schon  bestand.  Heerführer,  Rath, 
Volksversammlung  bilden  die  Organe  der  zu  einer 
militärischen  Demokratie  fortentwickelten  Grentilge Seil- 
schaft. Militärisch  —  denn  der  Krieg  und  die  Orga- 
nisation zum  Krieg  sind  jetzt  regelmässige  Punktionen 
des  Volkslebens  geworden.  Die  Eeichthümer  der  Nach- 
barn reizen  die  Habgier  von  Völkern,  bei  denen  Reich- 
thumserwerb  schon  als  einer  der  ersten  Lebenszwecke 
erscheint.  Sie  sind  Barbaren:  Rauben  gilt  ihnen  für 
leichter  und  selbst  für  ehrenvoller  als  Erarbeiten.  Der 
Krieg,  früher  nur  geführt  zar  Rache  für  Uebergriffe 
oder  zur  Ausdehnung  des  unzureichend  gewordenen 
Grebiets,  wird  jetzt  des  blossen  Raubs  wegen  geführt, 
wird  stehender  Erwerbszweig.  Nicht  umsonst  starren 
die  dräuenden  Mauern  um  die  neuen  befestigten  Städte : 
in  ihren  Grräben  gähnt  das  Grrab  der  Grentilverfassung, 
und  ihre  Thürme  ragen  bereits  hinein  in  die  Civilisa- 
tion.  Und  ebenso  geht  es  im  Innern,  Die  Raubkriege 
erhöhen  die  Macht  des  obersten  Heerführers  wie  die 
der  Unterführer;  die  gewohnheitsmässige  Wahl  der 
Nachfolger  in  denselben  Familien  geht,  namentlich  seit 
Einführung  des  Vaterrechts,    allmälig  über  in  erst  ge- 


—     129    — 

duldete,  dann  beanspruchte,  endlich  usurpirte  Erhlich- 
keit ;  die  Grrundlage  des  Erbkönigthums  und  des  Erb- 
adels ist  gelegt.  So  reissen  sich  die  Organe  der  Grentil- 
verfassung  allmälig  los  von  ihrer  Wurzel  im  Volk,  in 
Grens,  Phratrie,  Stamm,  und  die  ganze  Grentilverfassung 
verkehrt  sich  in  ihr  Gegentheil :  aus  einer  Organisation 
von  Stämmen  zur  freien  Ordnung  ihrer  eignen  Ange- 
legenheiten wird  sie  eine  Organisation  zur  Plünderung 
und  Bedrückung  der  Nachbarn,  und  dem  entsprechend 
werden  ihre  Organe  aus  Werkzeugen  des  Volkswillens 
zu  selbständigen  Organen  der  Herrschaft  und  Bedrückung 
gegenüber  dem  eignen  Volk.  Das  aber  wäre  nie  mög- 
lich gewesen,  hätte  nicht  die  Gier  nach  Reichthura  die 
Grentilgenossen  gespalten  in  Keiche  und  Arme,  hätte 
nicht  „die  Eigenthumsdifferenz  innerhalb  derselben 
Grens  die  Einheit  der  Interessen  verwandelt  in  Anta- 
gonismus der  G-entilgenossen"  (Marx),  und  hätte  nicht 
die  Ausdehnung  der  Sklaverei  bereits  angefangen,  die 
Erarbeitung  des  Lebensunterhalts  für  nur  skia ven wür- 
dige Thätigkeit,  für  schimpflicher  gelten  zu  lassen  als 
den  ßaub. 


Damit  sind  wir  angekommen  an  der  Schwelle  der 
Civilisation.  Sie  wird  eröffnet  durch  einen  neuen  Fort- 
schritt der  Theilung  der  Arbeit.  Auf  der  untersten 
Stufe  produzirten  die  Menschen  nur  direkt  für  eignen 
Bedarf;  die  etwa  vorkommenden  Austauschakte  waren 
vereinzelt,  betrafen  nur  den  zufällig  sich  einstellenden 
IJeberfluss.  Auf  der  Mittelstufe  der  Barbarei  finden  wir 
bei  Hirtenvölkern  in  dem  Vieh  schon  einen  Besitz,  der 
bei  einer  gewissen  Grrösse  der  Heerde  regelmässig  einen 
Ueberschuss  über  den  eignen  Bedarf  liefert,  zugleich 
eine  Theilung  der  Arbeit  zwischen  Hirtenvölkern  und 
zurückgebliebnen  Stämmen  ohne  Heerden,  damit  zwei 
neben  einander  bestehende  verschiedne  Produktions- 
stufen, und  damit  die  Bedingungen  eines  regelmässigen 
Austausches.  Die  Oberstufe  der  Barbarei  liefert  uns 
die  weitere  Arbeitstheilung  zwischen  Ackerbau  und 
Handwerk,    damit   Produktion    eines   stets    wachsenden 


—     130    — 

Theils  der  Arbeitserzeugnisse  direkt  für  den  Austausch, 
damit  Erhebung  des  Austausches  zwischen  Einzelpro- 
duzenten zu  einer  Lebensnothwendigkeit  der  Gresell- 
schaft.  Die  Civilisation  befestigt  und  steigert  alle  diese 
vorgefundenen  Arbeitstheilungen ,  namentlich  durch 
Schärfung  des  Gregensatzes  von  Stadt  und  Land  (wobei 
die  Stadt  das  Land  ökonomisch  beherrschen  kann,  wie 
im  Alterthum,  oder  auch  das  Land  die  Stadt,  wie  im 
Mittelalter),  und  fügt  dazu  eine  dritte,  ihr  eigenthüm- 
liche,  entscheidend  wichtige  Arbeitstheilung :  sie  erzeugt 
eine  Klasse,  die  sich  nicht  mehr  mit  der  Produktion 
beschäftigt,  sondern  nur  mit  dem  Austausch  der  Pro- 
dukte —  die  Kaufleute.  Alle  bisherigen  Ansätze 
zur  Klassenbildung  hatten  es  noch  ausschliesslich  mit 
der  Produktion  zu  thun;  sie  schieden  die  bei  der  Pro- 
duktion betheiligten  Leute  in  Leitende  und  Ausführende, 
oder  aber  in  Produzenten  auf  grösserer  und  auf  kleinerer 
Stufenleiter.  Hier  tritt  zum  ersten  Mal  eine  Klasse  auf, 
die,  ohne  an  der  Produktion  irgendwie  Antheil  zu  neh- 
men, die  Leitung  der  Produktion  im  Ganzen  und  Grossen 
sich  zu  erobern,  die  Produzenten  sich  ökonomisch  zu 
unterwerfen  weiss,  die  sich  zum  unumgänglichen  Ver- 
mittler zwischen  je  zwei  Produzenten  macht  und  sie 
beide  ausbeutet.  Unter  dem  Vorwand,  den  Produzenten 
die  Mühe  und  das  Risico  des  Austausches  abzunehmen, 
den  Absatz  ihrer  Produkte  nach  entfernten  Märkten 
auszudehnen,  damit  die  nützlichste  Klasse  der  Bevöl- 
kerung zu  werden,  bildet  sich  eine  Klasse  von  Para- 
siten aus,  echten  gesellschaftlichen  Schmarotzerthieren, 
die  als  Lohn  für  sehr  geringe  wirkliche  Leistungen, 
sowohl  von  der  heimischen  wie  von  der  fremden  Pro- 
duktion den  Rahm  abschöpft,  rasch  enorme  Reichthümer 
und  entsprechenden  gesellschaftlichen  Einiiuss  erwirbt, 
und  eben  desshalb  während  der  Periode  der  Civilisation 
zu  immer  neuen  Ehren  und  immer  grösserer  Beherrschung 
der  Produktion  berufen  ist,  bis  sie  endlich  auch  selbst 
ein  eignes  Produkt  zu  Tage  fördert  —  die  periodischen 
Handelskrisen. 

Auf  unsrer  vorliegenden  Entwicklungsstufe  hat  die 
junge  Kaufmannschaft   allerdings    noch   keine   Ahnung 


—     131     — 

von  den  grossen  Dingen,  die  ihr  bevorstehn.  Aber  sie 
bildet  sich  und  macht  sich  unentbehrlich,  und  das  ge- 
nügt. Mit  ihr  aber  bildet  sich  aus  das  Metallgeld, 
die  geprägte  Münze,  und  mit  dem  Metallgeld  ein  neues 
Mittel  zur  Herrschaft  des  Nichtproduzenten  über  den 
Produzenten  und  seine  Produktion.  Die  Waare  der 
Waaren,  die  alle  andern  Waaren  im  Verborgnen  in  sich 
enthält,  war  entdeckt,  das  Zaubermittel,  das  sich  nach 
Belieben  in  jedes  wünschenswerthe  und  gewünschte 
Ding  verwandeln  kann.  Wer  es  hatte,  beherrschte  die 
Welt  der  Produktion,  und  wer  hatte  es  vor  Allen? 
Der  Kaufmann.  In  seiner  Hand  war  der  Kultus  des 
Geldes  sicher.  Er  sorgte  dafür,  dass  es  offenbar  wurde, 
wie  sehr  alle  Waaren,  damit  alle  Waarenproduzenten, 
sich  anbetend  in  den  Staub  werfen  mussten  vor  dem 
Geld.  Er  bewies  es  praktisch,  wie  sehr  alle  andern 
Formen  des  Eeichthums  nur  selber  blosser  Schein  wer- 
den gegenüber  dieser  Verkörperung  des  Reichthums  als 
solchem.  Nie  wieder  ist  die  Macht  des  Geldes  aufge- 
treten in  solcher  ursprünglichen  Roheit  und  Gewalt- 
samkeit wie  in  dieser  ihrer  Jugendperiode.  Nach  dem 
Waarenkauf  für  Geld  kam  der  Geldvorschuss,  mit  die- 
sem der  Zins  und  der  Wucher.  Und  keine  Gesetz- 
gebung späterer  Zeit  wirft  den  Schuldner  so  schonungs- 
und  rettungslos  zu  den  Füssen  des  wucherischen  Gläu- 
bigers wie  die  altathenische  und  altrömische  —  und 
beide  entstanden  spontan,  als  Gewohnheitsrechte,  ohne 
andern  als  den  ökonomischen  Zwang. 

Neben  den  Reichthum  an  Waaren  und  Sklaven, 
neben  den  Geldreichthum  trat  nun  auch  der  Reichthum 
an  Grundbesitz.  Das  Besitzrecht  der  Einzelnen  an  den 
ihnen  ursprünglich  von  Gens  oder  Stamm  überlassenen 
Bodenparzellen  hatte  sich  jetzt  soweit  befestigt,  dass 
diese  Parzellen  ihnen  erbeigenthümlich  gehörten.  Wonach 
sie  in  der  letzten  Zeit  vor  Allem  gestrebt,  das  war  die 
Befreiung  von  dem  Anrecht  der  Gentilgenossenschaft  an 
die  Parzelle,  das  ihnen  eine  Fessel  wurde.  Die  Fessel 
wurden  sie  los  —  aber  bald  nachher  auch  das  neue 
Grundeigenthura.  Volles,  freies  Eigenthum  am  Boden, 
das  hiess  nicht  nur  Möglichkeit,  den  Boden  unverkürzt 


—     132    — 

und  unbeschränkt  zu  besitzen,  das  hiess  aucb  Möglich- 
keit, ihn  zu  veräussern.  So  lange  der  Boden  Gentil- 
eigenthum,  existirte  diese  Möglichkeit  nicht.  Als  aber 
der  neue  (Irundbesitzer  die  Fessel  des  Obereigenthums 
der  Grens  und  des  Stamms  endgültig  abstreifte,  zerriss 
er  auch  das  Band,  das  ihn  bisher  unlöslich  mit  dem 
Boden  verknüpft  hatte.  Was  das  hiess,  wurde  ihm  klar 
gemacht  durch  das  mit  dem  Privatgrundeigenthum  gleich- 
zeitig erfundene  Geld.  Der  Boden  konnte  nun  Waare 
werden,  die  man  verkauft  und  verpfändet.  Kaum  war 
das  Grundeigenthum  eingeführt,  so  war  auch  die  Hy- 
pothek schon  erfunden  (sieh  Athen).  Wie  der  Hetäris- 
mus und  die  Prostitution  an  die  Fersen  der  Monogamie, 
so  klammert  sich  von  nun  an  die  Hypothek  an  die 
Fersen  des  Grundeigenthums.  Ihr  habt  das  volle,  freie, 
veräusserliche  Grundeigenthum  haben  wollen,  nun  wohl, 
ihr  habt's  —  tu  l'as  voulu,  Georges  Dandin ! 

So  ging  mit  Handelsausdehnung,  Geld  und  Geld- 
wucher, Grundeigenthum  und  Hypothek  die  Konzen- 
tration und  Centralisation  des  Reichthums  in  den  Händen 
einer  wenig  zahlreichen  Klasse  rasch  voran,  daneben 
die  steigende  Verarmung  der  Massen  und  die  steigende 
Masse  der  Armen.  Die  neue  Reichthums-Aristokratie, 
soweit  sie  nicht  schon  von  vornherein  mit  dem  alten 
Stammesadel  zusammengefallen  war,  drängte  ihn  end- 
gültig in  den  Hintergrund  (in  Athen,  in  Rom,  bei  den 
Deutschen).  Und  neben  dieser  Scheidung  der  Freien  in 
Klassen  nach  dem  Reichthum  ging  besonders  in  Grie- 
chenland eine  ungeheure  Yermehrung  der  Zahl  der 
Sklaven,*)  deren  erzwungne  Arbeit  die  Grundlage  bil- 
dete, auf  der  sich  der  Ueberbau  der  ganzen  Gesell- 
schaft erhob. 

Sehen  wir  uns  nun  danach  um,  was  unter  dieser 
gesellschaftlichen  Umwälzung  aus  der  Gentilverfassung 
geworden  war.  Gegenüber  den  neuen  Elementen,  die 
ohne  ihr  Zuthun  emporgewachsen,  stand  sie  ohnmächtig 


*)  Die  Anzahl  für  Athen  s.  oben  S.  85.  In  Korinth  behug 
sie  zur  lUütezcit  der  Stadt  460,000,  in  Aogina  470,000,  in  beiden 
Fällen  die  zehufache  Anzahl  der  freien  Bürgerbevölkerung. 


—     133    ~ 

da.  Ihre  Yoraussetzung  war,  dass  die  Grlieder  einer 
Gens,  oder  doch  eines  Stammes,  auf  demselben  Grehiet 
vereinigt  sassen ,  es  ausschliesslich  bewohnten.  Das 
hatte  längst  aufgehört.  Ueberall  waren  GTentes  und 
Stämme  durch  einander  geworfen ,  überall  wohnten 
Sklaven,  Schutzverwandte,  Fremde,  mitten  unter  den 
Bürgern.  Die  erst  gegen  Ende  der  Mittelstufe  der 
Barbarei  erworbene  Sesshaftigkeit  wurde  immer  wieder 
durchbrochen  durch  die  von  Handel,  Erwerbsverände- 
rung, Grrundbesitzwechsel  bedingte  Beweglichkeit  und 
Yeränderlichkeit  des  Wohnsitzes.  Die  GTenossen  der 
Grentilkörper  konnten  nicht  mehr  zusammentreten  zur 
Wahrnehmung  ihrer  eignen  gemeinsamen  Angelegen- 
heiten ;  nur  unwichtige  Dinge,  wie  die  religiösen  Feiern, 
wurden  noch  nothdürftig  besorgt.  Neben  den  Bedürf- 
nissen und  Interessen,  zu  deren  Wahrung  die  Grentil- 
körper berufen  und  befähigt,  waren  aus  der  Umwälzung 
der  Erwerbsverhältnisse  und  der  daraus  folgenden  Aen- 
derung  der  gesellschaftlichen  Grliederung  neue  Bedürf- 
nisse und  Interessen  entstanden,  die  der  alten  Grentil- 
ordnung  nicht  nur  fremd  waren,  sondern  sie  in  jeder 
Weise  durchkreuzten.  Die  Interessen  der  durch  Thei- 
lung  der  Arbeit  entstandenen  Handwerkergruppen,  die 
besondern  Bedürfnisse  der  Stadt  im  Gregensatz  zum 
Land,  erforderten  neue  Organe;  jede  dieser  Grruppen 
aber  war  aus  Leuten  der  verschiedensten  Grentes,  Phra- 
trien  und  Stämme  zusammengesetzt,  sie  schloss  sogar 
Fremde  ein ;  diese  Organe  mussten  sich  also  bilden 
ausserhalb  der  Grentilverfassung,  neben  ihr,  und  damit 
gegen  sie.  —  Und  wiederum  in  jeder  Grentilkörper- 
schaft  machte  sich  dieser  Konflikt  der  Interessen  gel- 
tend, der  seine  Spitze  erreichte  in  der  Vereinigung  von 
Reichen  und  Armen,  Wucherern  und  Schuldnern  in 
derselben  Grens  und  demselben  Stamm.  —  Dazu  kam 
die  Masse  der  neuen,  den  Gentilgenossenschaften  frem- 
den Bevölkerung,  die  wie  in  Rom  eine  Macht  im  Lande 
werden  konnte,  und  dabei  zu  zahlreich  war,  um  all- 
mälig  in  die  blutsverwandten  Greschlechter  und  Stämme 
aufgenommen  zu  werden.  Dieser  Masse  gegenüber 
standen  die  Grentilgenossenschaften  da  als  geschlossene, 


—     134    — 

bevorrechtete  Körperschaften ;  die  ursprüngliche,  natur- 
wüchsige Demokratie  war  umgeschlagen  in  eine  gehäs- 
sige Aristokratie.  —  Schliesslich  war  die  Grentilver- 
fassung  herausgewachsen  aus  einer  Gesellschaft,  die 
keine  inneren  Gregensätze  kannte,  und  war  auch  nur 
einer  solchen  angepasst.  Sie  hatte  kein  Zwangsmittel 
ausser  der  öffentlichen  Meinung.  Hier  aber  war  eine 
Lesellschaft  entstanden,  deren  sämmtliche  ökonomische 
Gebenshedingungen  die  Gesellschaft  in  Freie  und  Skla- 
ven, in  ausbeutende  Eeiche  und  ausgebeutete  Arme 
hatten  spalten  müssen,  die  diese  Gegensätze  nicht  nur 
nicht  wieder  versöhnen  konnten ,  sondern  sie  immer 
mehr  auf  die  Spitze  treiben  mussten.  Eine  solche  Ge- 
sellschaft konnte  nur  bestehn  entweder  im  fortwähren- 
den offnen  Kampf  dieser  Klassen  gegen  einander,  oder 
aber  unter  der  Herrschaft  einer  dritten  Macht,  die, 
scheinbar  über  den  widerstreitenden  Klassen  stehend, 
ihren  offnen  Konflikt  niederdrückte,  und  den  Klassen- 
kampf höchstens  auf  ökonomischem  Gebiet,  in  soge- 
nannter gesetzlicher  Form,  sich  ausfechten  liess.  Die 
Gentil Verfassung  hatte  ausgelebt.  Sie  war  gesprengt 
durch  die  Theilung  der  Arbeit,  die  die  Gesellschaft  in 
Klassen  spaltete.    Sie  wurde  ersetzt  durch  den  Staat. 


Die  drei  Hauptformen,  in  denen  der  Staat  sich  auf 
den  Ruinen  der  Gentilverfassung  erhebt ,  haben  wir 
oben  im  Einzelnen  betrachtet.  Athen  bietet  die  reinste, 
klassischste  Form :  hier  entspringt  der  Staat  direkt  und 
vorherrschend  aus  den  Klassengegensätzen ,  die  sich 
innerhalb  der  Gentilgesellschaft  selbst  entwickeln.  In 
Rom  wird  die  Gentilgesellschaft  eine  geschlossene  Ari- 
stokratie inmitten  einer  zahlreichen,  ausser  ihr  stehen- 
den, rechtlosen  aber  pflichtenschuldigen  Plebs ;  der  Sieg 
der  Plebs  sprengt  die  alte  Geschlechtsverfassung  und 
errichtet  auf  ihren  Trümmern  den  Staat,  worin  Gentil- 
aristokratie  und  Plebs  bald  beide  gänzlich  aufgehn. 
Bei  den  deutschen  Eroberern  des  Römerreichs  endlich 
entspringt  der  Staat  direkt  aus  der  Eroberung  grosser, 


—     135     — 

fremder  Grebiete,  die  zu  beherrschen  die  Grentilverfas- 
sung  keine  Mittel  bietet.  Weil  aber  mit  dieser  Erobe- 
rung weder  ernstlicher  Kampf  mit  der  alten  Bevölke- 
rung verbunden  ist,  noch  eine  fortgeschrittnere  Arbeits- 
theilung;  weil  die  ökonomische  Entwicklungsstufe  der 
Eroberten  und  die  der  Eroberer  fast  dieselbe  ist,  die 
ökonomische  Basis  der  Gesellschaft  also  die  alte  bleibt, 
deshalb  kann  sich  die  Grentilverfassung  lange  Jahrhun- 
derte hindurch  in  veränderter,  territorialer  Gestalt  als 
Markverfassung  forterhalten  und  selbst  in  den  späteren 
Adels-  und  Patriciergeschlechtern,  ja  selbst  in  Bauern- 
geschlechtern wie  in  Dithmarschen ,  eine  Zeitlang  in 
abgeschwächter  Form  verjüngen.*) 

Der  Staat  ist  also  keineswegs  eine  der  Gesellschaft 
von  Aussen  aufgezwungne  Macht;  ebensowenig  ist  er 
„die  Wirklichkeit  der  sittlichen  Idee",  „das  Bild  und 
die  Wirklichkeit  der  Vernunft",  wie  Hegel  behauptet. 
Er  ist  vielmehr  ein  Produkt  der  Gesellschaft  auf  be- 
stimmter Entwicklungsstufe;  er  ist  das  Eingeständniss, 
dass  diese  Gesellschaft  sich  in  einen  unlösbaren  Wider- 
spruch mit  sich  selbst  verwickelt,  sich  in  unversöhn- 
liche Gegensätze  gespalten  hat,  die  zu  bannen  sie  ohn- 
mächtig ist.  Damit  aber  diese  Gegensätze,  Klassen  mit 
widerstreitenden  ökonomischen  Interessen,  nicht  sich 
und  die  Gesellschaft  in  fruchtlosem  Kampf  verzehren, 
ist  eine  scheinbar  über  der  Gesellschaft  stehende  Macht 
nöthig  geworden,  die  den  Konflikt  dämpfen,  innerhalb 
der  Schranken  der  „Ordnung"  halten  soll;  und  diese, 
aus  der  Gesellschaft  hervorgegangene,  aber  sich  über 
sie  stellende,  sich  ihr  mehr  und  mehr  entfremdende 
Macht  ist  der  Staat. 

Gegenüber  der  alten  Gentilorganisation  kennzeichnet 
sich  der  Staat  erstens  durch  die  Eintheilung  der  Staats- 
angehörigen nach  dem  Gebiet.  Die  alten,  durch 
Blutsbande   gebildeten    und  zusammengehaltenen    Gen- 


*)  Der  erste  Geschichtsschreiber,  der  wenigstens  eine  annähernde 
Vorstellung  vom  "Wesen  der  Gens  hatte,  war  Niobuhr,  und  das  — 
aber  auch  seine  ohne  Weiteres  mit  übertragnen  Irrthüraer  —  ver- 
dankt er  seiner  Bekanntschaft  mit  den  dithmarsischen  Geschlechtern. 


—     136    — 

tilgenossenschaften ,  wie  wir  gesehen ,  waren  unzu- 
reichend geworden,  grossentheils  weil  sie  eine  Bindung 
der  Grenossen  an  ein  bestimmtes  Grebiet  voraussetzten 
nnd  diese  längst  aufgehört  hatte.  Das  Grebiet  war  ge- 
blieben ,  aber  die  Menschen  waren  mobil  geworden. 
Mannahm  also  die  Gebietseintheilung  als  Ausgangspunkt 
und  liess  die  Bürger  ihre  öffentlichen  Rechte  und 
Pflichten  da  erfüllen,  wo  sie  sich  niederliessen,  ohne 
Rücksicht  auf  Gens  und  Stamm.  Diese  Organisation 
der  Staatsangehörigen  nach  der  Ortsangehörigkeit  ist 
allen  Staaten  gemeinsam.  Uns  kommt  sie  daher  natür- 
lich vor;  wir  haben  oben  gesehn,  wie  harte  und  lang- 
wierige Kämpfe  erfordert  waren,  bis  sie  in  Athen  und 
Rom  sich  an  die  Stelle  der  alten  Organisation  nach 
Greschlechtern  setzen  konnte. 

Das  Zweite  ist  die  Einrichtung  einer  öffent- 
lichen Gewalt,  welche  nicht  mehr  unmittelbar  zu- 
sammenfällt mit  der,  sich  selbst  als  bewaffnete  Macht 
organisirenden  Bevöljierung.  Diese  besondre,  öffentliche 
Gewalt  ist  nöthig,  weil  eine  selbstthätige  bewaffnete 
Organisation  der  Bevölkerung  unmöglich  geworden  seit 
der  Spaltung  in  Klassen.  Die  Sklaven  gehören  auch 
zur  Bevölkerung ;  die  90,000  athenischen  Bürger  bilden 
gegenüber  den  365,000  Sklaven  nur  eine  bevorrechtete 
Klasse.  Das  Volksheer  der  athenischen  Demokratie 
war  eine  aristokratische  öffentliche  Gewalt  gegenüber 
den  Sklaven  und  hielt  sie  im  Zaum ;  aber  auch  um  die 
Bürger  im  Zaum  zu  halten,  wurde  eine  Gendarmerie 
nöthig,  wie  oben  erzählt.  Diese  öffentliche  Gewalt 
existirt  in  jedem  Staat;  sie  besteht  nicht  bloss  aus 
bewaffneten  Menschen,  sondern  "  auch  aus  sachlichen 
Anhängseln,  Gefängnissen  und  Zwangsanstalten  aller 
Art,  von  denen  die  Gentilgesellschaft  nichts  wusste. 
Sie  kann  sehr  unbedeutend,  fast  verschwindend  sein  in 
Gesellschaften  mit  noch  unentwickelten  Klassengegen- 
sätzen und  auf  abgelegnen  Gebieten,  wie  zeit-  und 
ortweise  in  den  Vereinigten  Staaten  Amerikas.  Sie 
verstärkt  sich  aber  in  dem  Mass,  wie  die  Klassengegen- 
sätze innerhalb  des  Staats  sich  verschärfen,  und  wie 
die    einander    begrenzenden  Staaten  grösser   und  volk- 


—     137     — 

reicher  werden  —  man  sehe  nur  unser  heutiges  Europa 
an,  wo  Klassenkampf  und  Eroberungskonkurrenz  die 
öffentliche  Macht  auf  eine  Höhe  emporgeschraubt  haben, 
auf  der  sie  die  ganze  Gresellschaft  und  selbst  den  Staat 
zu  verschlingen  droht. 

Um  diese  öffentliche  Macht  aufrecht  zu  erhalten, 
sind  Beiträge  der  Staatsbürger  nöthig  —  die  Steuern. 
Diese  waren  der  Grentilgesellschaft  vollständig  unbekannt. 
Wir  aber  wissen  heute  genug  davon  zu  erzählen.  Mit 
der  fortschreitenden  Civilisation  reichen  auch  sie  nicht 
mehr ;  der  Staat  zieht  Wechsel  auf  die  Zukunft,  macht 
Anleihen  ,  Staatsschulden.  Auch  davon  weiss  das 
alte  Europa  ein  Liedchen  zu  singen. 

Im  Besitz  der  öffentlichen  Grewalt  und  des  Rechts 
der  Steuer eintreibung,  stehn  die  Beamten  nun  da  als 
Organe  der  Gesellschaft  über  der  Gresellschaft.  Die 
freie,  willige  Achtung,  die  den  Organen  der  GTentilver- 
fassung  gezollt  wurde,  genügt  ihnen  nicht,  selbst  wenn 
sie  sie  haben  könnten;  Träger  einer  der  Gresellschaft 
entfremdeten  Macht,  müssen  sie  in  Respekt  gesetzt 
werden  durch  Ausnahmsgesetze,  kraft  deren  sie  einer 
besondren  Heiligkeit  und  Unverletzlichkeit  geniessen. 
Der  lumpigste  Polizeidiener  des  civilisirten  Staats  hat 
mehr  „Autorität"  als  alle  Organe  der  Grentilgesellschaft 
zusammengenommen;  aber  der  mächtigste  Fürst  und 
der  grösste  Staatsmann  oder  Feldherr  der  Civilisation 
kann  den  geringsten  Grentilvorsteher  beneiden  um  die 
unerzwungne  und  unbestrittene  Achtung,  die  ihm  gezollt 
wird.  Der  Eine  steht  eben  mitten  in  der  Gresellschaft; 
der  Andre  ist  genöthigt,  etwas  vorstellen  zu  wollen 
ausser  und  über  ihr. 

Da  der  Staat  entstanden  ist  aus  dem  Bedürfniss, 
Klassengegensätze  im  Zaum  zu  halten ;  da  er  aber 
gleichzeitig  mitten  im  Konflikt  dieser  Klassen  ent- 
standen ist,  so  ist  er  in  der  Regel  Staat  der  mächtig- 
sten, ökonomisch  herrschenden  Klasäe ,  die  vermittelst 
seiner  auch  politisch  herrschende  Klasse  wird,  und  so 
neue  Mittel  erwirbt  zur  Niederhaltung  und  Ausbeutung 
der  unterdrückten  Klasse.  So  war  der  antike  Staat 
vor  Allem  Staat  der  Sklavenbesitzer  zur  Niederhaltung 


—     138    — 

der  Sklaven,  wie  der  Feudalstaat  Organ  des  Adels  zur 
Niederhaltung  der  leibeignen  und  hörigen  Bauern,  und 
der  moderne  Repräsentativstaat  Werkzeug  der  Ausbeu- 
tung der  Lohnarbeit  durch  das  Kapital.  Ausnahmsweise 
indess  kommen  Perioden  vor,  wo  die  kämpfenden  Klassen 
einander  so  nahe  das  Grieichgewicht  halten ,  dass  die 
Staatsgewalt  als  scheinbare  Yermitttlerin  momentan 
eine  gewisse  Selbsständigkeit  gegenüber  Beiden  erhält. 
So  die  absolute  Monarchie  des  siebzehnten  und  acht- 
zehnten Jahrhunderts,  die  Adel  und  Bürgerthum  gegen 
einander  balancirt;  so  der  Bonapartismus  des  ersten 
und  namentlich  des  zweiten  französischen  Kaiserreichs, 
der  das  Proletariat  gegen  die  Bourgeoisie  und  die  Bour- 
geoisie gegen  das  Proletariat  ausspielte.  Die  neueste 
Leistung  in  dieser  Art,  bei  der  Herrscher  und  Be- 
herrschte gleich  komisch  erscheinen,  ist  das  neue  deutsche 
Reich  bismarck'scher  Nation :  hier  werden  Kapitalisten 
und  Arbeiter  gegen  einander  balancirt  und  gleichmässig 
geprellt  zum  Besten  der  verkommnen  preussischen  Kraut- 
junker. 

In  den  meisten  geschichtlichen  Staaten  werden  aus- 
serdem die  den  Staatsbürgern  zugestandenen  Rechte 
nach  dem  Vermögen  abgestuft  und  damit  direkt  aus- 
gesprochen ,  dass  der  Staat  eine  Organisation  der  be- 
sitzenden Klasse  zum  Schutz  gegen  die  nichtbesitzende 
ist.  So  schon  in  den  athenischen  und  römischen  Ver- 
mögensklassen. So  im  mittelalterlichen  Feudalstaat,  wo 
die  politische  Machtstellung  sich  nach  dem  Orundbesitz 
gliederte.  So  im  Wahlcensus  der  modernen  Repräsen- 
tativstaaten. Diese  politische  Anerkennung  des  Besitz- 
unterschieds ist  indess  keineswegs  wesentlich.  Im 
Gegentheil,  sie  bezeichnet  eine  niedrige  Stufe  der  staat- 
lichen Entwicklung.  Die  höchste  Staatsform,  die  demo- 
kratische Republik,  die  in  unsern  modernen  Gresell- 
schaftsverhältnissen  mehr  und  mehr  unvermeidliche 
Nothwendigkeit  wird  und  die  Staatsform  ist,  in  der  der 
letzte  Entscheidungskampf  zwischen  Proletariat  und 
Bourgeoisie  allein  ausgekämpft  werden  kann  —  die 
demokratische  Republik  weiss  officiell  nichts  mehr  von 
Besitzunterschieden.     In  ihr    übt  der  Reichthum  seine 


—     139    — 

Macht  indirekt,  aber  um  so  sichrer  aus.  Einerseits  in 
der  Eorm  der  direkten  Beamtenkorruption ,  wofür 
Amerika  klassisches  Muster,  andrerseits  in  der  Form 
der  Allianz  von  Regierung  und  Börse,  die  sich  um  so 
leichter  vollzieht,  je  mehr  die  Staatsschulden  steigen 
und  je  mehr  Aktiengesellschaften  nicht  nur  den  Trans- 
port, sondern  auch  die  Produktion  selbst  in  ihren  Hän- 
den konzentiren  und  wiederum  in  der  Börse  ihren  Mittel- 
punkt finden.  Dafür  ist  ausser  Amerika  die  neueste 
französische  Republik  ein  schlagendes  Beispiel,  und  auch 
die  biedre  Schweiz  hat  auf  diesem  Felde  das  Ihrige 
geleistet.  Dass  aber  zu  diesem  Bruderbund  von  Regie- 
rung und  Börse  keine  demokratische  Republik  erforder- 
lich, beweisst  ausser  England  das  neue  deutsche  Reich, 
wo  man  nicht  sagen  kann,  wen  das  allgemeine  Stimm- 
recht höher  gehoben  hat,  Bismarck  oder  Bleichröder. 
Und  endlich  herrscht  die  besitzende  Klasse  direkt  mittelst 
des  allgemeinen  Stimmrechts.  Solange  die  unterdrückte 
Klasse,  also  in  unserm  Fall  das  Proletariat,  noch  nicht 
reif  ist  zu  seiner  Selbstbefreiung,  solange  wird  sie,  der 
Mehrzahl  nach,  die  bestehende  Gresellschaftsordnung  als 
die  einzig  mögliche  erkennen  und  politisch  der  Schwanz 
der  Kapitalistenklasse,  ihr  äusserster  linker  Flügel  sein.  In 
dem  Mass  aber,  worin  sie  ihrer  Selbstemancipation  ent- 
gegenreift, in  dem  Mass  konstituirt  sie  sich  als  eigne 
Partei,  wählt  ihre  eignen  Vertreter,  nicht  die  der  Ka- 
pitalisten. Das  allgemeine  Stimmrecht  ist  so  der  G-rad- 
messer  der  Reife  der  Arbeiterklasse.  Mehr  kann  und 
wird  es  nie  sein  im  heutigen  Staat  5  aber  das  genügt 
auch.  An  dem  Tage,  wo  das  Thermometer  des  allge- 
meinen Stimmrechts  den  Siedepunkt  bei  den  Arbeitern 
anzeigt,  wissen  sie  sowohl  wie  die  Kapitalisten,  woran 
sie  sind. 

Der  Staat  ist  also  nicht  von  Ewigkeit  her.  Es  hat 
Gesellschaften  gegeben,  die  ohne  ihn  fertig  wurden, 
die  von  Staat  und  Staatsgewalt  keine  Ahnung  hatten. 
Auf  einer  bestimmten  Stufe  der  ökonomischen  Entwick- 
lung, die  mit  Spaltung  der  Gesellschaft  in  Klassen 
nothwendig  verbunden  war,  wurde  durch  diese  Spaltung 
der  Staat  eine  Nothwendigkeit.    Wir  nähern  uns  jetzt 


—     140     — 

mit  rasclien  Schritten  einer  Entwicklungsstufe  der  Pro- 
duktion, auf  der  das  Dasein  dieser  Klassen  nicht  nur 
aufgehört  hat,  eine  Nothwendigkeit  zu  sein,  sondern 
ein  positives  Hinderniss  der  Produktion  wird.  Sie  wer- 
den fallen,  ebenso  unvermeidlich,  wie  sie  früher  ent- 
standen sind.  Mit  ihnen  fällt  unvermeidlich  der  Staat. 
Die  Gresellschaft,  die  die  Produktion  auf  Grundlage 
freier  und  gleicher  Association  der  Produzenten  neu 
organisirt,  versetzt  die  ganze  Staatsmaschine  dahin, 
wohin  sie  dann  gehören  wird:  in's  Museum  der  Alter- 
thümer,  neben  das  Spinnrad  und  die  bronzene  Axt. 


Die  Civilisation  ist  also  nach  dem  Yorausgeschickten 
die  Entwicklungsstufe  der  Gresellschaft,  auf  der  die 
Theilung  der  Arbeit,  der  aus  ihr  entspringende  Aus- 
tausch zwischen  Einzelnen,  und  die  Beides  zusammen- 
fassende Waarenproduktion  zur  vollen  Entfaltung  kom- 
men und  die  ganze  frühere  Gresellschaft  umwälzen. 

Die  Produktion  aller  früheren  Gresellschaftsstufen 
war  wesentlich  eine  gemeinsame,  wie  auch  die  Kon- 
sumtion unter  direkter  Vertheilung  der  Produkte  inner- 
halb grösserer  oder  kleinerer  kommunistischer  Gemein- 
wesen vor  sich  ging.  Diese  Gemeinsamkeit  der  Pro- 
duktion fand  statt  innerhalb  der  engsten  Schranken; 
aber  sie  führte  mit  sich  die  Herrschaft  des  Produzenten 
über  ihren  Produktionsprozess  und  ihr  Produkt.  Sie 
wissen,  was  aus  dem  Produkt  wird:  sie  verzehren  es, 
es  verlässt  ihre  Hände  nicht ;  und  so  lange  die  Pro- 
duktion auf  dieser  Grundlage  betrieben  wird,  kann  sie 
den  Produzenten  nicht  über  den  Kopf  wachsen,  keine 
gespenstischen  fremden  Mächte  ihnen  gegenüber  erzeu- 
gen, wie  dies  in  der  Civilisation  regelmässig  und  un- 
vermeidlich der  Fall  ist. 

Aber  in  diesen  Produktionsprozess  schiebt  sich  die 
Theilung  der  Arbeit  langsam  ein.  Sie  untergräbt  die 
Gemeinsamkeit  der  Produktion  und  Aneignung,  sie  er- 
hebt die  Aneignung  durch  Einzelne  zur  überwiegenden 
Regel,  und  erzeugt  damit  den  Austausch  zwischen  Ein- 


—     141     - 

zelnen  —  wie,  das  haben  wir  oben  untersucht.  All- 
mälig   wird   die  Waarenproduktion   lierrscbende  Form. 

Mit  der  Waarenproduktion ,  der  Produktion  nicht 
mehr  für  eignen  Verbrauch,  sondern  für  den  Austausch, 
wechseln  die  Produkte  nothwendig  die  Hände.  Der 
Produzent  gibt  sein  Produkt  im  Tausch  weg,  er  weiss 
nicht  mehr,  was  daraus  wird.  Sowie  das  G-eld,  und  mit 
dem  Greld  der  Kaufmann  als  Vermittler  zwischen  die 
Produzenten  tritt,  wird  der  Austauschprozess  noch  ver- 
wickelter, das  schliessliche  Schicksal  der  Produkte  noch 
ungewisser.  Der  Kaufleute  sind  viele,  und  keiner  von 
ihnen  weiss,  was  der  andere  thut.  Die  Waaren  gehen 
nun  schon  nicht  bloss  von  Hand  zu  Hand,  sie  gehu 
auch  von  Markt  zu  Markt ;  die  Produzenten  haben  die 
Herrschaft  über  die  Gresammtproduktion  ihres  Lebens- 
kreises verloren,  und  die  Kauüeute  haben  sie  nicht 
überkommen.  Produkte  und  Produktion  verfallen  dem 
Zufall. 

Aber  Zufall,  das  ist  nur  der  eine  Pol  eines  Zu- 
sammenhangs, dessen  anderer  Pol  Nothwendigkeit  heisst. 
In  der  Natur,  wo  auch  der  Zufall  zu  herrschen  scheint, 
haben  wir  längst  auf  jedem  einzelnen  Grebiet  die  innere 
Nothwendigkeit  und  Gresetzmässigkeit  nachgewiesen, 
die  in  diesem  Zufall  sich  durchsetzt.  Ebenso  ist  es  in 
der  Gesellschaft.  Je  mehr  eine  gesellschaftliche  Thätig- 
keit,  eine  Reihe  gesellschaftlicher  Vorgänge  der  be- 
wussten  Kontrole  der  Menschen  zu  mächtig  wird,  ihnen 
über  den  Kopf  wächst,  je  mehr  sie  dem  puren  Zufall 
überlassen  scheint,  desto  mehr  setzen  sich  in  diesem 
Zufall  die  ihr  eigenthümlichen,  innewohnenden  Gesetze 
wie  mit  Naturnothwendigkeit  durch.  Solche  Gesetze 
beherrschen  auch  die  Zufälligkeiten  der  Waarenproduk- 
tion und  des  Waarenaustausches ;  dem  einzelnen  Pro- 
duzenten und  Austauschenden  stehn  sie  gegenüber  als 
fremde,  Anfangs  sogar  unerkannte  Mächte,  deren  Natur 
erst  mühsam  erforscht  und  ergründet  werden  muss. 
Diese  ökonomischen  Gesetze  der  Waarenproduktion 
modificiren  sich  mit  den  verschiednen  Entwicklungs- 
stufen dieser  Produktionsform;  im  Ganzen  und  Grossen 
aber  steht  die  gesammte  Periode  der  Civilisation  unter 


I 


—     142     — 

ihrer  Herrschaft.  Und  noch  heute  beherrscht  das  Pro- 
dukt die  Produzenten ;  noch  heute  wird  die  Gresammt- 
produktion  der  G-esellschaft  geregelt,  nicht  durch  ge- 
meinsam überlegten  Plan,  sondern  durch  blinde  Gresetze, 
die  sich  geltend  machen  mit  elementarer  Gfewalt,  in 
letzter  Instanz  in  den  Gre wittern  der  periodischen  Han- 
delskrisen. 

Wir  sahen  oben,  wie  auf  einer  ziemlich  frühen  Ent- 
wicklungsstufe der  Produktion  die  menschliche  Arbeits- 
kraft befähigt  wird,  ein  beträchtlich  grösseres  Prodiikt 
zu  liefern  als  zum  Unterhalt  der  Produzenten  erforder- 
lich ist,  und  wie  diese  Entwicklungsstufe  in  der  Haupt- 
sache dieselbe  ist,  auf  der  Theilung  der  Arbeit  und 
Austausch  zwischen  Einzelnen  aufkommen.  Es  dauerte 
nun  nicht  lange  mehr,  bis  die  grosse  „Wahrheit"  ent- 
deckt wurde,  dass  auch  der  Mensch  eine  Waare  sein 
kann;  dass  die  menschliche  Arbeitskraft  austauschbar 
und  vernutzbar  ist,  indem  man  den  Menschen  in  einen 
Sklaven  verwandelt.  Kaum  hatten  die  Menschen  au- 
gefangen auszutauschen,  so  wurden  sie  auch  schon  selbst 
ausgetauscht.  Das  Aktivum  wurde  zum  Passivum,  die 
Menschen  mochten  wollen  oder  nicht. 

Mit  der  Sklaverei,  die  unter  der  Civilisation  ihre 
vollste  Entfaltung  erhielt,  trat  die  erste  grosse  Spal- 
tung der  Gresellschaft  ein  in  eine  ausbeutende  und  eine 
ausgebeutete  Klasse.  Diese  Spaltung  dauerte  fort  wäh- 
rend der  ganzen  civilisirten  Periode.  Die  Sklaverei  ist 
die  erste,  der  antiken  Welt  eigenthümliche  Eorm  der 
Ausbeutung;  ihr  folgt  die  Leibeigenschaft  im  Mittel- 
alter, die  Lohnarbeit  in  der  neueren  Zeit.  Es  sind  dies 
die  drei  grossen  Formen  der  Knechtschaft,  wie  sie  für 
die  drei  grossen  Epochen  der  Civilisation  charakteristisch 
sind;  offne,  und  neuerdings  verkleidete,  Sklaverei  geht 
stets  daneben  her. 

Die  Stufe  der  Waarenproduktion,  womit  die  Civili- 
sation beginnt,  wird  ökonomisch  bezeichnet  durch  die 
Einführung  1)  des  Metallgelds,  damit  des  Greldkapitals, 
des  Zinses  und  Wuchers ;  2)  der  Kaufleute  als  ver- 
mittelnder Klasse  zwischen  den  Produzenten;  3)  des 
Privatgrundeigenthums  und  der  Hypothek,    und  4)  der 


—     143     — 

Sklavenarbeit  als  herrschender  Produktionsform.  Die 
der  Civilisation  entsprechende  und  mit  ihr  definitiv  zur 
Herrschaft  kommende  Familienform  ist  die  Monogamie, 
die  Herrschaft  des  Mannes  über  die  Frau,  und  die 
Einzelfamilie  als  wirthschaftliche  Einheit  der  Gfesell- 
schaft.  Die  Zusammenfassung  der  civilisirten  Gresell- 
Schaft  ist  der  Staat,  der  in  allen  mustergültigen  Perioden 
ausnahmslos  der  Staat  der  herrschenden  Klasse  ist,  und 
in  allen  Fällen  wesentlich  Maschine  zur  Niederhaltung 
der  unterdrückten,  ausgebeuteten  Klasse  bleibt.  Be- 
zeichnend für  die  Civilisation  ist  noch  :  einerseits  die 
Fixirung  des  Gregensatzes  von  Stadt  und  Land,  als  der 
Grundlage  der  gesammten  gesellschaftlichen  Arbeits- 
theilung;  andrerseits  die  Einführung  der  Testamente, 
wodurch  der  Eigenthümer  auch  noch  über  seinen  Tod 
hinaus  über  sein  Eigenthum  verfügen  kann.  Diese  der 
alten  G-entilverfassung  direkt  in's  G-esicht  schlagende 
Einrichtung  war  in  Athen  bis  auf  Selon  unbekannt; 
in  Eom  ist  sie  schon  früh  eingeführt,  wann,  wissen  wir 
nicht ;  *)  bei  den  Deutschen  führten  die  Pfafi'en  sie  ein, 
damit  der  biedre  Deutsche  sein  Erbtheil  der  Kirche 
ungehindert  vermachen  könne. 

Mit  dieser  Grundverfassung  hat  die  Civilisation 
Dinge  vollbracht,  denen  die  alte  Gentilgesellschaft 
nicht  im  Entferntesten  gewachsen  war.  Aber  sie  hat 
sie  vollbracht,  indem  sie  die  schmutzigsten  Triebe  und 
Leidenschaften  der  Menschen  in  Bewegung  setzte  und 


*)  Lassalle'a  „System  der  erworbenen  Kechte"  dreht  sich  haupt- 
sächlich um  den  Satz,  das  römische  Testament  sei  so  alt  wie  Rom 
selbst,  es  habe  für  die  römische  Geschichte  nie  „eine  Zeit  ohne 
Testament  gegeben"  ;  das  Testament  sei  vielmehr  in  vorrömischer 
Zeit  aus  dem  Kultus  der  Verstorbenen  entstanden.  Lassalle,  als 
gläubiger  Althegelianer,  leitet  die  römischen  Rechtsbesiimmungen 
ab,  nicht  aus  den  gesellschaftlichen  Verhältnissen  der  Römer,  son- 
dern aus  dem  „spekulativen  Begriff*  des  Willens,  und  kommt  da- 
bei zu  jener  total  ungeschichtlichen  Behauptung.  Man  kann  sich 
darüber  nicht  wundern  in  einem  Buch,  das  auf  Grund  desselben 
spekulativen  Begriffs  zu  dem  Ergebniss  kommt,  bei  der  römischen 
Erbschaft  sei  die  Uebertragung  des  Vermögens  reine  Nebensache 
gewesen.  Lassallo  glaubt  nicht  nur  an  die  Illusionen  der  römischen 
Juristen,  besonders  der  früheren  Zeit;  er  übergipfelt  sie  noch. 


—     144    — 

aiif  Kosten  seiner  ganzen  übrigen  Anlagen  entwickelte. 
Die  glatte  Habgier  war  die  treibende  Seele  der  Civili- 
sation  von  ihrem  ersten  Tag  bis  heute,  Reichthum  und 
abermals  Reichthum,  und  zum  drittenmal  E-eichthum, 
Reichthum  nicht  der  Gresellschaft,  sondern  dieses  ein- 
zelnen lumpigen  Individuums,  ihr  einzig  entscheidendes 
Ziel.  Wenn  ihr  dabei  die  steigende  Entwicklung  der 
Wissenschaft,  und  zu  wiederholten  Perioden  die  höchste 
Blüte  der  Kunst  in  den  Schoss  gefallen  ist,  so  doch 
nur,  weil  ohne  diese  die  volle  Reichthumserrungen- 
schaft  unsrer  Zeit  nicht  möglich  gewesen  wäre. 

Da  die  Grrundlage  der  Civilisation  die  Ausbeutung 
einer  Klasse  durch  eine  andre  Klasse  ist,  so  bewegt 
sich  ihre  ganze  Entwicklung  in  einem  fortdauernden 
Widerspruch.  Jeder  Fortschritt  der  Produktion  ist 
gleichzeitig  ein  Rückschritt  in  der  Lage  der  unter- 
drückten Klasse,  d,  h.  der  grossen  Mehrzahl.  Jede 
Wohlthat  für  die  Einen  ist  nothwendig  ein  Uebel  für 
die  Andern,  jede  neue  Befreiung  der  einen  Klasse  eine 
neue  Unterdrückung  für  eine  andre  Klasse.  Den  schla- 
gendsten Beweis  dafür  liefert  die  Einführung  der  Ma- 
schinerie, deren  Wirkungen  heute  weltbekannt  sind. 
Und  wenn  bei  den  Barbaren  der  Unterschied  von  Rech- 
ten und  Pflichten,  wie  wir  sahen,  noch  kaum  gemacht 
werden  konnte,  so  macht  die  Civilisation  den  Unter- 
schied und  Gregensatz  Beider  auch  dem  Blödsinnigsten 
klar,  indem  sie  einer  Klasse  so  ziemlich  alle  Rechte 
zuweist,  der  andern  dagegen  so  ziemlich  alle  Pflichten. 

Das  soll  aber  nicht  sein.  Was  für  die  herrschende 
Klasse  gut  ist,  soll  gut  sein  für  die  ganze  Gesellschaft, 
mit  der  die  herrschende  Klasse  sich  identificirt.  Je 
weiter  also  die  Civilisation  fortschreitet,  je  mehr  ist 
sie  genöthigt,  die  von  ihr  mit  Nothwendigkeit  geschaff- 
nen Uebelstände  mit  dem  Mantel  der  Liebe  zu  be- 
decken, sie  zu  beschönigen  oder  wegzuleugnen,  kurz 
eine  konventionelle  Heuchelei  einzuführen,  die  weder 
früheren  Gresellschaftsformen  noch  selbst  den  ersten 
Stufen  der  Civilisation  bekannt  war,  und  die  zuletzt 
in  der  Behauptung  gipfelt:  die  Ausbeutung  der  unter- 
drückten Klasse  werde  betrieben  von  der  ausbeutenden 


__     145    — 

Klasse  einzig  und  allein  im  Interesse  der  ausgebeuteten 
Klasse  selbst;  und  wenn  diese  das  nicht  einsehe,  son- 
dern sogar  rebellisch  werde,  so  sei  das  der  schnödeste 
Undank  gegen  ihre  Wohlthäter,  die  Ausbeuter.*) 

Und  nun  zum  Schluss  Morgan's  Urtheil  über  die 
Civilisation  : 

„Seit  dem  Eintritt  der  Civilisation  ist  das  Wachs- 
thum  des  Reichthums  so  ungeheuer  geworden,  seine 
Formen  so  verschiedenartig,  seine  Anwendung  so  um- 
fassend, und  seine  Verwaltung  so  geschickt  im  Inter- 
esse der  Eigenthümer,  dass  dieser  Reichthum,  dem  Volk 
gegenüber,  eine  nicht  zu  bewältigende  Macht 
geworden  ist.  Der  Menschengeist  steht 
rathlos  und  gebannt  da  vor  seiner  eignen 
Schöpfung.  Aber  dennoch  wird  die  Zeit  kommen, 
wo  die  menschliche  Vernunft  erstarken  wird  zur  Herr- 
schaft über  den  R,eichthum,  wo  sie  feststellen  wird 
sowohl  das  Verhältniss  des  Staats  zu  dem  Eigenthum, 
das  er  schützt,  wie  die  Grrenzen  der  Eechte  der  Eigen- 
thümer. Die  Interessen  der  Gesellschaft  gehen  den 
Einzelinteressen  absolut  vor,  und  Beide  müssen  in  ein 
gerechtes  und  harmonisches  Verhältniss  gebracht  wer- 
den. Die  blosse  Jagd  nach  Keichthum  ist  nicht  die 
Endbestimmung  der  Menschheit,  wenn  anders  der  Fort- 
schritt das  Gresetz  der  Zukunft  bleibt,  wie  er  es  war 
für  die  Vergangenheit.  Die  seit  Anbruch  der  Civili- 
sation verflossene  Zeit  ist  nur  ein  kleiner  Bruchtheil 
der  verflossenen  Lebenszeit  der  Menschheit;  nur  ein 
kleiner  Bruchtheil  der  ihr  noch  bevorstehenden.  Die 
Auflösung  der  Gresellschaft    steht   drohend  vor  uns  als 


*)  Ich  beabsichtigte  anfangs,  die  brillante  Kritik  der  Civilisation, 
die  sich  in  den  Werken  Charles  Fouriurs  zerstreut  vorfindet,  neben 
ditgenige  Morgan's  und  meine  eigne  zu  stellen.  Leider  fehlte  mir 
die  Zeit  dazu.  Ich  bemerke  nur,  dass  schon  bei  Fourier  Mono- 
gamie und  Grundeigenthum  als  Hauptkennzeichen  der  Civilisation 
gelten  und  dass  er  sie  einen  Krieg  des  Keichcn  gegen  den  Armen 
nennt.  Ebenfalls  findet  sich  bei  ihm  schon  die  tiefe  Einsicht,  dass 
in  allen  mangelhaften,  in  Gegensätze  gespal  enen  Gesellschaften 
Einzelfarailien  (Ics  familles  incoherentes)  die  wirthschaftlichon  Ein- 
heiten sind. 

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University  of  British  Columbia  Library 

DUE  DATE 


OCT  1 7  t975  m\) 


FEB  2  3  1977 


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\m  2  91982    "^^^ 
JÜL271Dfe^ 


FORM    3IO 


UNIVERSITY  OF  B.C.  LIBRARY 


3  9424  028 


2  8228 


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