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University of Britisii Columbia Library
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Der Ursprung der Familie
Privateigenthums
I
und
des Staats
Im Anschluss an Lewis H. Morgan's Forschungen
von
Friedricli Engels
Z^weite A-uflagre
Stuttgart
Verlag von .1. 11. W, Dictz
1H8G
Druck: Seliweizerisehc «enossenseliaf(sbuc'li(liiukerei, Zürich.
Die nachfolgenden Kapitel bilden gewissermassen
die Vollführung eines Vermächtnisses. Es war kein
Geringerer als Karl Marx, der sich vorbehalten hatte,
die Resultate der Morgan'schen Forschungen im Zu-
sammenhang mit den Ergebnissen seiner — ich darf
innerhalb gewisser Grrenzen sagen unserer — materia-
listischen Greschichtsuntersuchung darzustellen und da-
durch erst ihre ganze Bedeutung klar zu machen. Hatte
doch Morgan die von Marx vor vierzig Jahren ent-
deckte, materialistische Greschichtsauffassung in Amerika
in seiner Art neu entdeckt, und war von ihr, bei Ver-
gleichung der Barbarei und der Civilisation, in den
Hauptpunkten zu denselben Resultaten geführt worden,
wie Marx. Und wie „das Kapital" von den zünftigen
Oekonomen in Deutschland Jahre lang ebenso eifrig
ausgeschrieben wie hartnäckig todtgeschwiegen wurde,
ganz so wurde Morgan's „ Ancient Society" *) behandelt
von den Wortführern der „prähistorischen" Wissen-
*) Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Pro-
gress from Savagery, through Barbarism, to Civilization. By Lewis
H. Morgan. Loadon, Macmillan & Co., 1877. Das Buch ist in
Amerika gedruckt und in London merkwürdig schwer zu haben.
Der Verfasser ist vor einigen Jahren gestorben.
— IV —
Schaft in England. Meine Arbeit kann nur einen ge-
ringen Ersatz bieten für das, was meinem verstorbenen
Freunde zu tbun nicht mehr vergönnt war. Doch liegen
mir in seinen ausführlichen Auszügen aus Morgan kri-
tische Anmerkungen vor, die ich hier wiedergebe, so
weit es irgend angeht.
Nach der materialistischen Greschichtsauffassung ist
das bestimmende Moment in der Greschichte: die Pro-
duktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens.
Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits
die Erzeugung von Lebensmitteln, von G-egenständen
der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erfor-
derlichen Werkzeugen ; andrerseits die Erzeugung von
Menschen selbst, die Fortpflanzung der G-attung. Die
gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Men-
schen einer bestimmten GTeschichtsepoche und eines
bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide
Arten der Produktion : durch die Entwicklungsstufe
einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie. Je
weniger die Arbeit noch entwickelt ist, je beschränkter
die Menge ihrer Erzeugnisse, also auch der Reichthum
der Gresellschaft, desto überwiegender erscheint die G-e-
sellschaftsordnung beherrscht durch Geschiechtsbande.
Unter dieser, auf G-eschlechtsbande begründeten Q-lie-
derung der Gesellschaft entwickelt sich indess die
Produktivität der Arbeit mehr und mehr ; mit ihr Privat-
— V —
eigenthum und Austausch, Unterschiede des ßeichthums,
Verwerthbaxkeit fremder Arbeitskraft und damit die
G-rundlage von Klassengegensätzen : neue soziale Ele-
mente, die im Lauf von Grenerationen sich abmühen,
die alte Gresellschaftsverfassung den neuen Zuständen
anzupassen, bis endKch die Unvereinbarkeit Beider eine
vollständige Umwälzung herbeiführt. Die alte, auf
G-eschlechtsverbänden beruhende G-esellschaft wird ge-
sprengt im Zusammenstoss der neu entwickelten ge-
sellschaftlichen Klassen ; an ihre Stelle tritt eine neue
G-esellschaft, zusammengefasst im Staat, dessen Unter-
einheiten nicht mehr Greschlechtsverbände , sondern
Ortsverbände sind, eine G-esellschaft, in der die Familien-
ordnung ganz von der Eigenthumsordnung beherrscht
wird und in der sich nun jene Klassengegensätze
und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der In-
halt aller bisherigen geschriebenen Geschichte
besteht.
Es ist das grosse Verdienst Morgan's, diese vor-
geschichtliche Grundlage unserer geschriebenen Ge-
schichte in ihren Hauptzügen entdeckt und wieder-
hergestellt, und in den Geschlechtsverbänden der nord-
amerikanischen Indianer den Schlüssel gefunden zu
haben, der uns die wichtigsten, bisher unlösbaren Eäth-
sel der ältesten griechischen, römischen und deutschen
Geschichte erscbliesst. Es ist aber seine Schrift kein
Eintagswerk. An die vierzig Jahre hat er mit seinem
Stoif gerungen , bis er ihn vollständig beherrschte.
i
— VI —
Darum aber ist auch sein Buch eins der wenigen
epochemachenden Werke unserer Zeit.
In der nachfolgenden Darstellung wird der Leser
im Granzen und Grossen leicht unterscheiden, was von
Morgan herrührt imd was ich hinzugesetzt. In den
geschichtlichen Abschnitten über G-riechenland und Hom
habe ich mich nicht auf Morgan's Belege beschränkt,
sondern hinzugefügt, was mir zu G-ebote stand. Die
Abschnitte über Gelten und Deutsche gehören wesent-
lich mir an ; Morgan verfügte hier fast nur über Quellen
zweiter Hand und für die deutschen Zustände — ausser
Taoitus — nur über die schlechten liberalen Verfäl-
schungen des Herrn Preeman. Die ökonomischen Aus-
führungen, die bei Morgan für seinen Zweck hinreichend,
für den meinigen aber durchaus ungenügend, sind alle
von mir neu bearbeitet. Und endlich bin ich selbst-
redend verantwortlich für alle Schlussfolgerungen, so-
weit nicht Morgan ausdrücklich citirt wird.
I. VorgescMclitüclie Kultarstufeii.
xr -^t ^^r ^r>te der mit Sachkenntniss eine
Civi at.orbesclämgo^ i'n selbstredend nu.^e «st n
Stcrdr m ,e drsSben'errtgeneB Fon.cb.i«.a
geht daneben/bxetet aber kerne so schlagenden Merk-
male zur Trennung der Perioden.
1. WilcÜieit.
1 Unterstufe: Kindheit des Menschengeschlechts,
1. ^.'^^f"^^';., auf Bäumen lebend, wodurch
das wenigstens tneiiweise '^'^ ^ p^„hrhieren
allem sein Fortbestehn gegenüber g^'-^^^;;^.^^^^;^
Nüsse, Wurzeln dienten zur Nahrung- • die A„<,l.,-i^„
artikulirter Sprache ist Hauptergebnis' dfeefzÄf
aUen Völkern, d,e innerhalb der geschichtlichen Periode
bekannt geworden sind, gehörte kein einziges meto
diesem Urzustand an. So lange Jahrtausendf er auch
gedauert haben mag so wenig können wir iin "m
direkten Zeugnissen beweisen- aber d.V iK.+
des Menschen' aus dem Th.erktwtaf/ugT,^^^^
"1 t-"-^/--« üebergangs ununagäS"'
^.Mittelstufe — beginnt mit der Yerwerthun^
von Fischen (wozu wir auch Krebse, Muscheln SSd
andere Wasserthiere zählen) zur Nahrung und iSt dTin
aebrauch des Feuers. Beides gehört zusammen X
Fischnahrung erst vermittelst des Feuers T^h^n^t
vernutzbar wird. Mit dieser neuen Nahrung aber ^S
die Menschen unabhängig von Klima ufd LoM^
den Strömen und Küsten folgend, konnten sie selbst im'
wilden Zustand sich über den grössten Theil der Erd^
ausbreiten. Die roh gearbeiteten, ungeschliffenen sS
Werkzeuge des früheren Steinaltersf die sogenanntem
palaohthischen, die ganz oder grösstentheTfu d'ese
Periode fallen, sind in ihrer Verbreitung über alle Kon
tmente Beweisstücke dieser Wanderungen, üfe neT
besetzten Zonen wie der ununterbrochen thäW fZ
dungstrieb, verbunden mit dem Besitz des Re bfeueS
Wuizeln und Knollen, m heisser Asche oder in Back
fefeTstfn'Ä't'^r' ^^ ^^^' ^as mit Erfint^"
aer ersten Waffen, Keule und Speer, gelegentliche Zu
gäbe zur Kost wurde. AusschliesSich; JägSer wie"
sie in den Büchern figuriren, d. h. solche' d^rnnr' ^n
tra/de'r T ''r'- ."' " ""'' ^^^^^^^^' ^-^ i^tTr Er'
trag der Jagd viel zu ungewiss. In Fole-e andanpm?!
Unsicherheit der Nahrungsquellen scheint atfTet
Stufe die Menschenfresserei aufzukommen, die sich von
jetzt an lange erhält Die Australier und viele PoTv
Wildhef ''" noch heute auf dieser Mittelstufe t;
3. Oberstufe: beginnt mit der Erfindung von
Bogen und Pfeil, wodurch Wild regelmässiges' nT
— 9 —
rungsmittel , Jagd einer der normalen Arbeitszweige
wurde. Bogen, Sehne und Pfeil bilden schon ein sehr
zusammengesetztes Instrument, dessen Erfindung lange,
gehäufte Erfahrung und geschärfte Gleisteskräfte vor-
aussetzt, also auch die gleichzeitige Bekanntschaft mit
einer Menge anderer Erfindungen. Vergleichen wir die
Völker, die zwar Bogen und Pfeil kennen, aber noch
nicht die Töpferkunst (von der Morgan den Uebergang
in die Barbarei datirt), so finden wir in der That be-
reits einige Anfänge der Niederlassung in Dörfern, eine
gewisse Beherrschung der Produktion des Lebensunter-
halts, hölzerne Grefässe und G-eräthe, Fingerweberei
(ohne Webstuhl) mit Easern von Bast, geflochtene Körbe
von Bast oder Schilf, geschliffene (neolithische) Stein-
werkzeuge. Meist auch hat Feuer und Steinaxt bereits
das Einbaum-Boot und stellenweise Balken und Bretter
zum Hausbau geliefert. Alle diese Fortschritte finden
wir z. B. bei den nordwestlichen Indianern Amerikas,
die zwar Bogen und Pfeil, aber nicht die Töpferei
kennen. Für die Wildheit war Bogen und Pfeil, was
das eiserne Schwert für die Barbarei und das Feuerrohr
für die Civilisation : die entscheidende Waffe.
II. Barbarei.
1. Unterstufe. Datirt von der Einführung der
Töpferei. Diese ist nachweislich in vielen Fällen und
wahrscheinlich überall entstanden aus der Ueberdeckung
geflochtener oder hölzerner Grefässe mit Lehm, um sie
feuerfest zu machen; wobei man bald fand, dass der
geformte Lehm auch ohne das innere Grefäss den Dienst
leistete.
Bisher konnten wir den Glang der Entwicklung ganz
allgemein, als gültig für eine bestimmte Periode aller
Völker, ohne Rücksicht auf die Lokalität, betrachten.
Mit dem Eintritt der Barbarei aber haben wir eine
Stufe erreicht, worauf sich die verschiedene Natur-
begabung der beiden grossen Erdkontinente geltend
macht. Das charakteristische Moment der Periode der
Barbarei ist die Zähmung und Züchtung von Thieren
— 10 —
und die Kultur von Pflanzen. Nun besass der östliche
Kontinent, die s. g. alte Welt, fast alle zur Zähmung
tauglichen Thiere und alle kulturfähigen Gretreidearten
ausser einer; der westliche, Amerika, von zähmbaren
Säugethieren nur das Llama, und auch dies nur in eüiem
Theil des Südens, und von allen Kulturgetreiden nur
eins, aber das beste : den Mais. Diese verschiedenen
Naturbedingungen bewirken, dass von nun an die Be-
völkerung jeder Halbkugel ihren besondern Gang geht
und die Marksteine an den Grrenzen der verschiedenen
Stufen in jedem der beiden Fälle verschieden sind.
2. Mittelstufe. Beginnt im Osten mit der Zähnrnng
von Hausthieren, im Westen mit der Kultur von Nähr-
pflanzen mittelst Berieselung und dem Grebrauch von
Adoben (an der Sonne getrockneten Ziegeln) und Stein
zu Grebäuden.
Wir beginnen mit dem Westen, da hier diese Stufe
bis zur europäischen Eroberung nirgends überschritten
wurde.
Bei den Indianern der Unterstufe der Barbarei
(wozu alle östlich des Mississippi gefundenen gehörten),
bestand zur Zeit ihrer Entdeckung schon eine gewisse
Grartenkultur von Mais und vielleicht auch Kürbissen,
Melonen und andern Grartengewächsen, die einen sehr
wesentlichen Bestandtheil ihrer Nahrung lieferte ; sie
wohnten in hölzernen Häusern, in verpalisadirten Dör-
fern. Die nordwestlichen Stämme, besonders die im
Grebiet des Columbiaflusses, standen noch auf der Ober-
stufe der Wildheit uud kannten weder Töpferei noch
Pflanzenkultur irgend einer Art. Die Indianer der
s. g. Pueblos in Neu-Mexico dagegen, die Mexikaner,
Central-Amerikaner und Peruaner zur Zeit der Erobe-
rung standen auf der Mittelstufe der Barbarei; sie
wohnten in festungsartigen Häusern von Adoben oder
Stein, bauten Mais und andre nach Lage und Klima
verschiedene Nährpflanzen in künstlich berieselten Grär-
ten, die die Hauptnahrungsquelle lieferten, und hatten
sogar einige Thiere gezähmt — die Mexikaner den
Truthahn und andre Vögel, die Peruaner das Llama.
Dazu kannten sie die Verarbeitung der Metalle — mit
— 11 —
Ausnahme des Eisens, wesshalb sie noch immer der
Steinwaffen und Steinwerkzeuge nicht entbehren konn-
ten. Die spanische Erobervmg schnitt dann alle weitere
selbständige Entwicklung ab.
Im Osten begann die Mittelstufe der Barbarei mit
der Zähmung milch- und fleischgebender Thiere, wäh-
rend Pflanzenkultur hier noch bis tief in diese Periode
unbekannt geblieben zu sein scheint. Die Zähmung und
Züchtung von Yieh, und die Bildung grösserer Heerden
scheint den Anlass gegeben zu haben zur Aussonderung
der Arier und Semiten aus der übrigen Masse der Bar-
baren. Den europäischen und asiatischen Ariern sind
die Yiehnamen noch gemeinsam, die der Kulturpflanzen
aber fast gar nicht.
Die Heerdenbildung führte an geeigneten Stellen
zum Hirtenleben; bei den Semiten in den Grrasebenen
des Euphrat und Tigris, bei den Ariern in denen In-
diens, des Oxus und Jaxartes, des Don und Dniepr. An
den Grrenzen solcher Weideländer muss die Zähmung
des Viehs zuerst vollführt worden sein. Den späteren
Greschlechtern erscheinen sie so als aus Gregenden kom-
mend, die, weit entfernt die Wiege des Menschen-
geschlechts zu sein , im G-egentheil für ihre wilden
Vorfahren und selbst für Leute der Unterstufe der
Barbarei fast unbewohnbar waren. Umgekehrt, sobald
diese Barbaren der Mittelstufe einmal an Hirtenleben
gewöhnt, hätte es ihnen nie einfallen können, freiwillig
aus den grastragenden Stromebenen in die Waldgebiete
zurückzukehren, in denen ihre Vorfahren heimisch ge-
wesen. Ja selbst als sie weiter nach Norden und Westen
gedrängt wurden, war es den Semiten und Ariern un-
möglich, in die westasiatischen und europäischen Wald-
gegenden zu ziehen, ehe sie durch G-etreidebau in den
Stand gesetzt wurden, ihr Vieh auf diesem weniger
günstigen Boden zu ernähren und besonders zu über-
wintern. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass der G-e-
treidebau hier zuerst aus dem Futterbedürfniss für's
Vieh entsprang und erst später für menschliche Nah-
rung wichtig wurde.
Der reichlichen Fleisch- und Milchnahrung bei Ariern
— 12 —
und Semiten, und besonders ihrer günstigen Wirkung
auf die Entwicklung der Kinder, ist vielleicht die über-
legne Entwicklung beider Racen zuzuschreiben. Da-
gegen haben die Pueblos-Indianer von Neu-Mexiko, die
auf fast reine Pflanzenkost reduzirt sind, ein kleineres
Grehirn als die mehr fleisch- und fischessenden Indianer
der niedern Stufe der Barbarei. Jedenfalls verschwindet
auf dieser Stufe allmälig die Menschenfresserei und
erhält sich nur als religiöser Akt oder, was hier fast
identisch, als Zaubermittel.
3. Oberstufe. Beginnt mit dem Schmelzen des
Eisenerzes und geht über in die Civilisation vermittelst
der Erfindung der Buchstabenschrift und ihrer Verwen-
dung zu literarischer Aufzeichnung. Diese Stufe, die,
wie gesagt, nur auf der östlichen Halbkugel selbständig
durchgemacht wird, ist an Fortschritten der Produktion
reicher als alle vorhergehenden zusammen genommen.
Ihr gehören an die Grriechen zur Heroenzeit, die ita-
lischen Stämme kurz vor der Gründung Roms, und die
Deutschen des Cäsar (oder, wie wir lieber sagen möch-
ten, des Tacitus).
Vor Allem tritt uns hier zuerst entgegen die eiserne,
von Vieh gezogene Pflugschar, die den Ackerbau auf
grosser Stufe, den Feldbau, möglich machte, und
damit eine für damalige Verhältnisse praktisch unbe-
schränkte Vermehrung der Lebensmittel; damit auch
die Ausrodung des Waldes und seine Verwandlung in
Ackerland und Wiese — die wieder ohne die eiserne
Axt und den eisernen Spaten auf grossem Massstab
unmöglich blieb. Damit kam aber auch rasche Ver-
mehrung der Bevölkerung, und dichte Bevölkerung auf
kleinem Grebiet. Vor dem Feldbau müssen sehr aus-
nahmsweise Verhältnisse vorgekommen sein, wenn eine
halbe Million Menschen sich unter einer einzigen Cen-
tralleitung sollte vereinigen lassen ; wahrscheinlich war
das nie goschehn.
Die höchste Blüte der Oberstufe der Barbarei tritt
uns entgegen in den homerischen Gredichten, nament-
lich der Ilias. Entwickelte Eisenwerkzeuge ; der Blas-
balg ; die Handmühle ; die Töpferscheibe ; die Oel- und
— 13 —
Weinbereitung ; eine entwickelte, in's Kunsthandwerk
übergehende Metallbearbeitung ; der Wagen und Streit-
wagen ; der Schiffbau mit Planken und Balken ; die
Anfänge der Architektur als Kunst ; ummauerte Städte
mit Thürmen und Zinnen ; das homerische Epos und die
gesammte Mythologie — das sind die Haupterbschaften,
die die Griechen aus der Barbarei hinübernahmen in
die Civilisation. Wenn wir damit die Beschreibung der
Germanen bei Cäsar und selbst Tacitus vergleichen, die
am Anfang derselben Kulturstufe standen, aus der die
homerischen Griechen in eine höhere überzugehen sich
anschickten, so sehen wir, welchen Reichthum der Ent-
wicklung der Produktion die Oberstufe der Barbarei
in sich fasst.
Das Bild, das ich hier von der Entwicklung der
Menschheit durch Wildheit und Barbarei zu den An-
fängen der Civüisation nach Morgan skizzirt habe, ist
schon reich genug an neuen und, was mehr ist, unbe-
streitbaren, weil unmittelbar der Produktion entnom-
menen Zügen. Dennoch wird es matt imd dürftig er-
scheinen, verglichen mit dem Bild, das sich am Ende
unserer Wanderschaft entrollen wird; erst dann wird
es möglich sein, den Uebergang aus der Barbarei in die
Civilisation und den schlagenden Gegensatz Beider in's
volle Licht zu stellen. Vorderhand können wir Mor-
gan's Abtheilung dahin verallgemeinern: Wildheit —
Zeitraum der vorwiegenden Aneignung fertiger Natur-
produkte; die Kunstprodukte des Menschen sind vor-
wiegend Hülfswerkzeuge dieser Aneignung. Barbarei —
Zeitraum der Erwerbung von Viehzucht und Ackerbau,
der Erlernung von Methoden zur Produktion von Natur-
erzeugnissen durch menschliche Thätigkeit. Civilisation
— Zeitraum der Erlernung der weiteren Verarbeitung
von Naturerzeugnissen, der eigentlichen Industrie und
der Kunst.
n. Die Familie.
Morgan, der sein Leben grossentheils unter den noch
jetzt im Staat New-York ansässigen Irokesen zugebracht
und in einen ihrer Stämme (den der Senekas) adoptirt
worden, fand unter ihnen ein Verwandtschaftssystem
in Geltung, das mit ihren wirklichen Familienbezie-
hungen im Widerspruch stand. Bei ihnen herrschte
jene, beiderseits leicht lösliche Einzelehe, die Morgan
als „Paarungsfamilie" bezeicbnet. Die Nachkommen-
schaft eines solchen Ehepaars war also vor aller Welt
offenkundig und anerkannt ; es konnte kein Zweifel sein,
auf wen die Bezeichungen Vater, Mutter, Sohn, Tochter,
Bruder, Schwester anzuwenden seien. Aber der Gebrauch
dieser Ausdrücke widerspricht dem. Der Irokese nennt
nicht nur seine eigenen Kinder, sondern auch die seiner
Brüder, seine Söhne und Töchter; und sie nennen ihn
Vater. Die Kinder seiner Schwestern dagegen nennt er
seine Neffen und Nichten, und sie ihn Onkel. Umge-
kehrt nennt die Irokesin, neben ihren eigenen Kindern,
diejenigen ihrer Schwestern ihre Söhne und Töchter,
und diese nennen sie Mutter. Die Kinder ihrer Brüder
dagegen nennt sie ihre Neffen und Nichten, und sie
heisst ihre Tante. Ebenso nennen die Kinder von Brü-
dern sich unter einander Brüder und Schwestern, dess-
gleichen die Kinder von Schwestern. Die Kinder einer
Frau und die ihres Bruders dagegen nennen sich gegen-
seitig Vettern und Cousinen. Und dies sind nicht blosse
Namen, sondern Ausdrücke thatsächlich geltender An-
schauungen von Nähe und Entferntheit, Gleichheit und
Ungleichheit der Blutsverwandtschaft, und dienen zur
— 15 —
G-rundlage eines vollständig ausgearbeiteten Verwandt-
scliaftssystenis, das mehrere hundert verschiedene Ver-
wandtschaftsbeziehungen eines einzelnen Individuums
auszudrücken im Stande ist. Noch mehr. Dies System
ist nicht nur in voller Greltung bei allen amerikanischen
Indianern (bis jetzt ist keine Ausnahme gefunden), son-
dern es gilt auch fast unverändert bei den Ureinwohnern
Indiens, bei den dravidischen Stämmen in Dekan und
den Gaurastämmen in Hindustan. Die Yerwandtschafts-
ausdrücke der südindischen Tamiler und der Seneka-
Irokesen im Staat New- York stimmen noch heute überein
für mehr als zweihundert verschiedene Verwandtschafts-
beziehungen. Und auch bei diesen indischen Stämmen,
wie bei allen amerikanischen Indianern, stehen die aus
der geltenden Familienform entspringenden Verwandt-
schaftsbeziehungen im Widerspruch mit dem Verwandt-
schaftssystem.
Wie nun dies erklären ? Bei der entscheidenden
Rolle, die die Verwandtschaft bei allen wilden und
barbarischen Völkern in der G-esellschaftsordnung spielt,
kann man die Bedeutung dieses so weitverbreiteten
Systems nicht mit Redensarten beseitigen. Ein System,
das in Amerika allgemein gilt, in Asien bei Völkern
einer ganz verschiedenen Race ebenfalls besteht, von
dem mehr oder weniger abgeänderte Formen überall in
Afrika und Australien sich in Menge vorfinden, will
geschichtlich erklärt sein, nicht weggeredet, wie dies
z. B. MacLennan versuchte. Die Bezeichnungen Vater,
Eand, Bruder, Schwester sind keine blossen Ehrentitel,
sondern führen ganz bestimmte, sehr ernstliche gegen-
seitige Verpflichtungen mit sich, deren Gesammtheit
einen wesentlichen Theil der Gesellschaftsverfassung
jener Völker ausmacht. Und die Erklärung fand sich.
Auf den Sandwichinseln (Hawaii) bestand noch in der
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine Form der Familie,
die genau solche Väter und Mütter, Brüder und Schwe-
stern, Söhne und Töchter, Onkel und Tanten, Neffen
und Nichten lieferte wie das amerikanisch-altindische
Verwandtschaftssystem sie fordert. Aber merkwürdig !
Das Verwandtschaftssystem, das in Hawaii in Geltung
— 16 —
war, stimmte wieder nicht mit der dort thatsächlich
bestehenden ramilienform. Dort nämlich sind alle Gre-
schwisterkinder, ohne Ausnahme, Brüder und Schwestern,
und gelten für die gemeinsamen Kinder, nicht nur ihrer
Mutter und deren Schwestern, oder ihres Vaters und
dessen Brüder, sondern aller Geschwister ihrer Eltern
ohne Unterschied. Wenn also das amerikanische Yer-
wandtschaftssjstem eine in Amerika nicht mehr be-
stehende, primitivere Form der Familie voraussetzt, die
wir in Hawaii wirklich noch vorfinden, so verweist uns
anderseits das Hawaii'sche Verwandtschaftssystem auf
eine noch ursprünglichere Familienform, die wir awar
nirgends mehr als bestehend nachweisen können, die
aber bestanden haben muss, weil sonst das entsprechende
Verwandtschaftssystem nicht hätte entstehen können.
„Die Familie, sagt Morgan, ist das aktive Element;
sie ist nie stationär, sondern schreitet vor von einer
niedrigeren zu einer höheren Form, im Mass wie die
Gresellschaft von niederer zu höherer Stufe sich ent-
wickelt. Die Verwandtschaftssysteme dagegen sind
passiv; nur in langen Zwischenräumen registriren sie
die Fortschritte, die die Familie im Lauf der Zeit ge-
macht hat, und erfahren nur dann radikale Aenderung,
wenn die Familie sich radikal verändert hat." — 77 Und,
setzt Marx hinzu, ebenso verhält es sich mit politischen,
juristischen, religiösen, philosophischen Systemen über-
haupt." Während die Familie fortlebt, verknöchert das
Verwandtschaftssystem, und während dies gewohnheits-
mässig fortbesteht, entwächst ihm die Familie. Mit
derselben Sicherheit aber, mit der Cuvier aus den bei
Paris gefundenen Marsupialknochen eines Thierskeletts
schliessen konnte, dass dies einem Beutelthier gehörte
und dass dort einst ausgestorbene Beutelthiere gelebt,
mit derselben Sicherheit können wir aus einem histo-
risch überkommenen Verwandtschaftssystem schliessen,
dass die ihm entsprechende, ausgestorbene Familienform
bestanden hat.
Die eben erwähnten Verwandtschaftssysteme und
Familienformen unterscheiden sich von den jetzt herr-
schenden dadurch, dass jedes Kind mehrere Väter und
— J7 —
Mütter hat. Bei dem amerikanischen Vervvandtschafts-
system, dem die hawaii'ache Familie entspricht, können
Bruder und Schwester nicht Yater und Mutter desselben
Kindes sein ; das hawaii'sche Vervvandtschaftssystem
aber setzt eine Familie voraus, in der dies im Gegen-
theil die Regel war. Wir werden hier in eine Reihe
von Familienformen versetzt, die den bisher gewöhnlich
als allein geltend angenommenen direkt widersprechen.
Die hergebrachte Yorstellung kennt nur die Einzelehe,
daneben Vielweiberei Eines Mannes, allenfalls noch
Vielmännerei Einer Frau, und verschweigt dabei, wie
es dem moralisirenden Philister ziemt, dass die Praxis
sich über diese von der offiziellen Gresellschaft gebotenen
Schranken stillschweigend aber ungeuirt hinwegsetzt.
Das Studium der Urgeschichte dagegen führt uns Zu-
stände vor, wo Männer in Vielweiberei, und ihre Weiber
gleichzeitig in Vielmännerei leben, und die gemein-
samen Kinder daher ihnen Allen auch als gemeinsam
gelten 5 Zustände, die selbst wieder bis zu ihrer schliess-
lichen Auflösung in die Einzelehe eine ganze lleihe
von Veränderungen durchmachen. Diese Veränderungen
sind der Art, dass der Kreis, den das gemeinsame Ehe-
band umfasst, und der ursprünglich sehr weit war, sich
mehr und mehr verengert, bis er schliesslich nur das
Einzelpaar übrig lässt, das heute vorherrscht.
Indem Morgan auf diese Weise die Greschichte der
Familie rückwärts konstruirt, kommt er in Ueberein-
stimmung mit der Mehrzahl seiner Kollegen auf einen
Urzustand, wo unbeschränkter Greschlechtsverkehr inner-
halb eines Stammes herrschte, so dass jede Frau jedem
Mann, und jeder Mann jeder Frau gleichmässig gehörte.
Die Entdeckung dieses Urzustandes ist das erste grosse
Verdienst Bachofens.*) Aus diesem Urzustand ent-
wickelte sich, wahrscheinlich sehr frühzeitig :
*) "Wie wenig Bachofen verstand, was er entdeckt oder viel-
mehr errathen hatte, beweist er durch die Bezeichnung dieses Ur-
zustandes als Hetärismus. Hi.-tärismus bezeichnete den Griechen,
als sie das Wort einführten, Verkehr von Miinnern, unvorhoiratheten
oder in Einzelehc lebenden, mit unverhoiratheten Weibern, setzt
2
— 18 —
1. Die Blutsverwandtschaftsfamilie, die
erste organisirte Form der G-esellschaft und die erste
Stufe der Familie. Hier sind die Ehegruppen nach
Generationen gesondert : alle Grossväter und Gross-
mütter innerhalb der Grenzen der Familie sind sämmt-
lich unter einander Mann und Frau, ebenso deren
Kinder, also die Väter und Mütter, wie deren Kinder
wieder einen dritten Kreis gemeinsamer Ehegatten bil-
den werden, und deren Kinder, die Urenkel der ersten,
einen vierten. In dieser Familienform sind also nur
Vorfahren und Nachkommen, Eltern und Kinder von
den Eechten wie Pflichten (wie wir sagen würden) der
Ehe unter einander ausgeschlossen. Brüder und Schwe-
stern, Vettern und Cousinen ersten, zweiten und ent-
fernteren Grades, sind alle Brüder und Schwestern
unter einander und eben des s wegen alle Mann und
Frau Eins des andern. Das Verhältniss von Bruder und
Schwester schliesst auf dieser Stufe die Ausübung des
gegenseitigen Geschlechtsverkehrs von selbst in sich
ein.''*) Die typische Gestalt einer solchen Familie würde
bestehn aus der Nachkommenschaft Eines Paars, in
welcher wieder die Nachkommen jedes einzelnen Grades
unter sich Brüder und Schwestern und eben desshalb
Männer und Frauen unter einander sind.
etets eine bestimmte Form der Ehe voraus, ausserhalb der dieser
Verkehr stattfindet, und schliosst die Prostitution wenigstens schon
als Möglichkeit ein. In einem andern Sinn ist das Wort auch nie
gebraucht worden, und in diesem Sinn gebrauche ich es mit Morgan.
Bachofcn's höchst bedeutende Entdeckungen werden überall bis in 's
Unglaubliche vormystifizirt durch seine Einbildung, die geschichtlich
entstandenen Beziehungen von Mann und "Weib hätten ihre Quelle
in den j'idesmaligen religiösen Vorstellungen der Menschen, nicht
in ihren wirklichen Lebensverhältnissen.
*) In einem Brief vom Frühjahr 1882 spricht Marx sich ia den
stärksten Ausdrücken aus über die im Wagnerischen Nibelnn^en-
text herrscl'.ende totale Verfiilschung der Urzeit. Sigmund renom-
mirt: „War es je erhört, dass d r Bruder die Schwester bräutlich
umfing?" Diesen ihre Liebeshändcl ganz in moderner Weise durch
ein Bischen Blutschande pikanter machenden „Geilhoitsgöttern"
Wagnor's antwortet Marx: „In der Urzeit war die Schwester die
Frau, und das war sittlich."
— 19 —
Die Bluts verwandtsohaftsfamilie ist ausgestorben.
Selbst die rohsten Völker, von denen die Greschicbte
erzählt, liefern kein nachweisbares Beispiel davon. Dass
sie aber bestanden haben m u s s , dazu zwingt uns das
hawaii'sche, in ganz Polynesien noch jetzt gültige Ver-
wandtschaftssystem, das Grrade der Blutsverwandtschaft
ausdrückt, wie sie nur unter dieser Familienforra ent-
stehn können ; dazu zwingt uns die ganze weitere Ent-
wicklung der Familie, die jene Form als nothwendige
Vorstufe bedingt.
2. Die Punaluafamilie. Wenn der erste Fort-
schritt der Organisation darin bestand, Eltern und Kinder
vom gegenseitigen Greschlechtsverkehr auszuschliessen,
so der zweite in der Ausschliessung von Schwester und
Bruder. Dieser Fortschritt war, wegen der grösseren
Altersgleichheit der Betheiligten, unendlich viel wich-
tiger, aber auch schwieriger als der erste ; er vollzog
sich allmälig, anfangend mit der Ausschliessung der
leiblichen Greschwister (d. h. von mütterlicher Seite)
aus dem Greschlechtsverkehr, erst in einzelnen Fällen,
nach und nach Regel werdend (in Hawaii kamen noch
in diesem Jahrhundert Ausnahmen vor) und endend mit
dem Verbot der Ehe sogar zwischen Kollateralgeschwi-
stern , d. h. nach unserer Bezeichnung Greschwister-
Kindern, -Enkeln und -Urenkeln; er bildet, nach Mor-
gan, „eine vortreffliche Illustration davon, wie das
Prinzip der natürlichen Zuchtwahl wirkt." Keine Frage,
dass Stämme, bei denen die Inzucht durch diesen Fort-
schritt beschränkt wurde, sich rascher und voller ent-
wickeln mussten als die, bei denen die Greschwisterehe
Regel und Gebot blieb. Und wie gewaltig die Wirkung
dieses Fortschritts empfunden wurde, beweist die aus
ihm unmittelbar entsprungene, weit über das Ziel hin-
ausschiessende Einrichtung der Grens, die die Grrundlage
der gesellschaftlichen Ordnung der meisten, wo nicht
aller Barbaren Völker der Erde bildete und aus der wir
in Grriechenland und Rom unmittelbar in die Civilisa-
tion hinübertreten.
Jede Urfamilie musste spätestens nach ein paar
Grenerationcn sich spalten. Die ursprüngliche kommu-
— 20 —
nistische G-esammtliaushaltung, die bis tief in die mitt-
lere Barbarei hinein ausnahmslos herrscht, bedingte
eine, je nach den Verhältnissen wechselnde, aber an
jedem Ort ziemlich bestimmte Maximalgrösse der
Familiengemeinschaft. Sobald die Vorstellung von der
Ungebühr des G-eschlechtsverkehrs zwischen Kindern
Einer Mutter aufkam, musste sie sich bei solchen Spal-
tungen alter und Grründung neuer Hausgemeinden (die
indess nicht nothwendig mit der ramiliengruppe zu-
sammenfielen) wirksam zeigen. Eine oder mehrere
Reihen von Schwestern wurden der Kern der einen,
ihre leiblichen Brüder der Kern der andern. So oder
ähnlich ging aus der Blutsverwandtschaftsfamilie die
von Morgan Punaluafamilie genannte Form hervor.
Nach der hawaii'schen Sitte waren eine Anzahl Schwe-
stern, leibliche oder entferntere (d. h. Cousinen ersten,
zweiten oder entfernteren Grrades) die gemeinsamen
Frauen ihrer gemeinsamen Männer, wovon aber ihre
Brüder ausgeschlossen ; diese Männer nannten sich unter
einander nun nicht mehr Brüder, was sie auch nicht
mehr zu sein brauchten, sondern Punalua, d. h. intimer
Grenosse, gleichsam Associe. Ebenso hatte eine Eeihe
von leiblichen oder entfernteren Brüdern eine Anzahl
Frauen, nicht ihre Schwestern, in gemeinsamer Ehe,
und diese Frauen nannten sich unter einander Punalua.
Dies die klassische Grestalt einer Familienformation, die
später eine Reihe von Variationen zuliess, und deren
wesentlicher Charakterzug war: gegenseitige GTemein-
schaft der Männer und Weiber innerhalb eines bestimm-
ten Familienkreises, von dem aber die Brüder der
Frauen, zuerst die leiblichen, später auch die entfern-
teren, und umgekehrt also auch die Schwestern der
Männer ausgeschlossen waren.
Diese Familienform liefert uns nun mit der voll-
ständigsten Genauigkeit die Verwandtschaftsgrade, wie
sie das amerikanische System ausdrückt. Die Kinder
der Schwestern meiner Mutter sind noch immer ihre
Kinder, ebenso die Kinder der Brüder meines Vaters
auch seine Kinder, und sie alle sind meine Greschwister;
aber die Kinder der Brüder meiner Mutter sind jetzt
— 21 —
ihre NeflFen und Nichten, die Kinder der Schwestern
meines Vaters seine Neffen und Nichten, und sie alle
meine Vettern und Cousinen, Denn während die Männer
der Schwestern meiner Mutter noch immer ihre Männer
sind, und ebenso die Frauen der Brüder meines Vaters
auch noch seine Frauen — rechtlich, wo nicht immer
thatsächlich — so hat die gesellschaftliche Aechtung
des Geschlechtsverkehrs zwischen Greschwistern die
bisher unterschiedslos als G-eschwister behandelten Ge-
schwisterkinder in zwei Klassen getheilt: die Einen
bleiben nach wie vor (entferntere) Brüder und Schwe-
stern unter einander, die Andern, die Kinder hier des
Bruders, dort der Schwester, können nicht länger Ge-
schwister sein, sie können keine gemeinschaftlichen
Eltern mehr haben, weder Vater noch Mutter noch
Beide, und desshalb wird hier zum ersten Mal die
Klasse der Neffen und Nichten, Vettern und Cousinen
nothwendig, die unter der früheren Familienordnung
unsinnig gewesen wäre. Das amerikanische Verwandt-
schaftssjstem, das bei jeder auf irgend einer Art Einzel-
ehe beruhenden Familienform rein widersinnig erscheint,
wird durch die Punaluafamilie bis in seine kleinsten
Einzelnheiten rationell erklärt und natürlich begründet.
Soweit dies Verwandtschaftssystem verbreitet gewesen,
genau soweit, mindestens, muss auch die Punaluafamilie
bestanden haben.
Diese in Hawaii wirklich als bestehend nachgewiesene
Familienform würde uns wahrscheinlich aus ganz Poly-
nesien überliefert sein, hätten die frommen Missionare,
wie weiland die spanischen Mönche in Amerika, in
solchen widerchristlichen Verhältnissen etwas mehr zu
sehen vermocht, als den simplen „Greuel".*) Wenn
*) Die Spuren unterschiedslosen Geschlechtsverkehrs, seiner
B. g. „Surapfzeugung", die Bachofen gefunden zu haben meint,
führen sich, wie jetzt nicht mehr bezweifelt werden kann, auf die
Punaluafamilie zurück. „Wenn Bachofeu diese Punalua-Ehen „ge-
setzlos" findet, 80 fände ein Mann aus jener Periode die meisten
jetzigen Ehen zwischen nahen und entfernten Vettern väterlicher
oder mütterlicher Seite blutschänderisch, nämlich als Ehen zwischen
blutsverwandten Geschwistern.". (Marx.)
— 22 —
uns Cäsar von den Briten, die sich damals auf der
Mittelstufe der Barbarei befanden, erzählt: „sie haben
ihre Frauen je zehn oder zwölf gemeinsam unter sich,
und zwar meist Brüder mit Brüdern und Eltern mit
Kindern" — so erklärt sich dies am besten als Punalua-
Familie. Barbarische Mütter haben nicht 10 — 12 Söhne,
alt genug, um sich gemeinschaftliche Frauen halten zu
können, aber das amerikanische Verwandschaftssystem,
das der Punalua-Familie entspricht, liefert viele Brüder,
weil alle nahen und entfernten Vettern eines Mannes
seine Brüder sind. Das „Eltern mit Kindern" mag
falsche Auffassung des Cäsar sein ; dass Vater und Sohn,
oder Mutter und Tochter sich in derselben Ehegruppe
befinden sollten, ist indess bei diesem System nicht
absolut ausgeschlossen, wohl aber Vater und Tochter,
oder Mutter und Sohn. Ebenso liefert diese Familien-
form die leichteste Erklärung der Berichte Herodot's
und anderer alter Schriftsteller über Weibergemein-
schaft bei wilden und barbarischen Völkern. Punalua-
familie muss auch sein, was Watson und Kaye (The
People of India) von den Tikurs in Audh (nördlich
vom G-anges) erzählen: „Sie leben zusammen (d.h. ge-
schlechtlich) fast unterschiedslos in grossen Gemein-
schaften, und wenn zwei Leute als mit einander ver-
heirathet gelten, so ist das Band doch nur nominell."
Direkt aus der Punaluafamilie hervorgegangen ist
in weitaus den meisten Fällen die Institution der Gr e n s.
Zwar bietet auch das australische Klassensystem einen
Ausgangspunkt dafür ; die Australier haben Grentes, aber
noch keine Punaluafamilie. Ihre Organisation steht
jedoch zu vereinzelt, als dass wir darauf Rücksicht zu
nehmen hätten.
Bei allen Formen der Grruppenfamilie ist es unge-
wiss, wer der Vater eines Kindes ist, gewiss aber ist,
wer seine Mutter. Wenn sie auch alle Kinder der
G-esammtfamilie ihre Kinder nennt und Mutterpiiichten
gegen sie hat, so kennt sie doch ihre leiblichen Kinder
unter den Andern. Es ist also klar, dass, soweit
Grruppenehe besteht, die Abstammung nur von mütter-
licher Seite nachweisbar ist, also nur die weibliche
— 23 —
Linie anerkannt wird. Dies ist in dei That bei allen
wilden und der niederen Barbarenstufe angebörigen
Völkern der Fall ; und dies zuerst entdeckt zu baben,
ist das zweite grosse Verdienst Bachofen's. Er bezeich-
net diese ausschliessliche Anerkennung der Abstam-
mungsfolge nach der Mutter und die daraus sich mit
der Zeit ergebenden Erbschaftsbeziehungen mit dem
Namen Mutterrecht; ich behalte diesen Namen, der
Kürze wegen, bei. -Er ist aber schief, denn auf dieser
G-esellschaftsstufe ist von Recht im juristischen Sinne
noch nicht die Bede.
Nehmen wir nun aus der Punalua-Familie die eine
der beiden Mustergruppen, nämlich die einer Beihe von
leiblichen und entfernteren (d. h. im ersten, zweiten
oder entfernteren GTrad von leiblichen Schwestern ab-
stammenden) Schwestern, zusammt ihren Kindern und
ihren leiblichen oder entfernteren Brüdern von mütter-
licher Seite (die nach unserer Voraussetzung nicht
ihre Männer sind), so haben wir genau den Umkreis
der Personen, die später als Mitglieder einer Gens, in
der Urform dieser Institution erscheinen. Sie haben
alle eine gemeinsame Stammmutter, kraft der Abstam-
mung von welcher die weiblichen Nachkommen gene-
rationsweise Schwestern sind. Die Männer dieser Schwe-
stern können aber nicht mehr ihre Brüder sein, also
nicht von dieser Stammmutter abstammen, gehören also
nicht in die Blutsverwandtschaftsgruppe, die spätere
Gens ; ihre Kinder aber gehören in diese Gruppe, da
Abstammung von mütterlicher Seite allein entscheidend,
weil allein gewiss ist. Sobald die Aechtung des Ge-
schlechtsverkehrs zwischen allen Geschwistern, auch
den entferntesten Kollateralverwandten mütterlicher
Seite, einmal feststeht, hat sich auch obige Gruppe in
eine Gens verwandelt, d. h. sich konstituirt als ein
fester Kreis von Blutsverwandten weiblicher Linie, die
unter einander nicht heirathen dürfen, und der von nun
an sich mehr und mehr durch andre gemeinsame Ein-
richtungen gesellschaftlicher und religiöser Art befestigt
und von den andern Gentes desselben Stammes unter-
scheidet. Darüber ausführlich später. Wenn wir aber
— 24 —
finden, wie nicht nur nothwendig, sondern sogar selbst-
verständlich die Grens aus der Punaluafamilie sich ent-
wickelt, so sind wir gezwungen, das ehemalige Bestehen
dieser Familienform als fast sicher anzunehmen für alle
Völker, bei denen Grentilinstitutionen nachweisbar sind,
d. h. so ziemlich für alle Barbaren und Kulturvölker.
3. Die Paarungsfamilie. Eine gewisse Paa-
rung, für kürzere oder längere Zeit, fand bereits unter
der Punaluafamilie oder noch früher statt; der Mann
hatte eine Hauptfrau (man kann noch kaum sagen Lieb-
lingsfrau) unter den vielen Prauen, und er war für sie
der hauptsächlichste Ehemann unter den andern. Dieser
Umstand hat nicht wenig beigetragen zu der Konfusion
bei den Missionaren, die in der Punaluafamilie bald
regellose Weibergemeinschaft, bald willkürlichen Ehe-
bruch sehen. Eine solche gewohnheitsmässige Paarung
musste aber mehr und mehr sich befestigen, je mehr
die G-ens sich ausbildete und je zahlreicher die Klassen
von „Brüdern" und „Schwestern" wurden, zwischen
denen Heirath nun unmöglich war. Der durch die Gens
gegebene Anstoss der Verhinderung der Heirath zwi-
schen Blutsverwandten trieb noch weiter. So finden wir,
dass bei den Irokesen und den meisten andern auf der
Unterstufe der Barbarei stehenden Indianern die Ehe
verboten ist zwischen allen Verwandten, die ihr System
aufzählt, und das sind mehrere hundert Arten. Bei
dieser wachsenden Verwicklung der Eheverbote wurden
Grruppenehen mehr und mehr unmöglich ; sie wurden
verdrängt durch die Paarung sfamilie. Auf dieser
Stufe lebt ein Mann mit einer Frau zusammen, jedoch
so, dass Vielweiberei und gelegentliche Untreue Recht
der Männer bleibt, wenn erstere auch aus ökonomischen
Gründen selten vorkommt ; während von den Weibern
für die Dauer des Zusammenlebens meist strengste
Treue verlangt und ihr Ehebruch grausam bestraft wird.
Das Eheband ist aber von jedem Tlieil leicht löslich
und die Kinder gehören nach wie vor der Mutter allein.
Auch in dieser immer weiter getriebenen Ausschlies-
sung der Blutsverwandten vom Eheband wirkt die natür-
liche Zuclitwahl fort. In Morgan's Worten : „Die Ehen
— 25 —
zwischen nicht-blutsverwandten Gentes erzeugen eine
kräftigere Race, physisch wie geistig; zwei fortschrei-
tende Stämme vermischten sich, und die neuen Schädel
und Hirne erweiterten sich naturgemäss, bis sie die
Tähigkeiten Beider umfassten." Stämme mit Grentil-
verfassung mussten so über die Zurückgebliebenen die
Oberhand gewinnen oder sie durch ihr Beispiel mit
sich ziehn.
Die Entwicklung der Familie in der Urgeschichte
besteht somit, in der fortwährenden Verengerung des,
ursprünglich den ganzen Stamm umfassenden Kreises,
innerhalb dessen eheliche Gremeinschaft zwischen den
beiden Greschlechtern herrscht. Durch fortgesetzte Aus-
schliessung erst näherer, dann immer entfernterer Ver-
wandten, zuletzt selbst blos angeheiratheter, wird endlich
jede Art von Grruppenehe praktisch unmöglich, und esbleibt
schliesslich das Eine, einstweilen noch lose verbundene
Paar übrig, das Molekül, mit dessen Auflösung die Ehe
überhaupt aufhört. Schon hieraus zeigt sich, wie wenig
die individuelle Greschlechtsliebe im heutigen Sinn des
Worts mit der Entstehung der Einzelehe zu thun hatte.
Noch mehr beweist dies die Praxis aller Völker, die auf
dieser Stufe stehn. Während in früheren Familien-
formen die Männer nie um Frauen verlegen zu sein
brauchten, im Gregentheil ihrer eher mehr als genug
hatten, wurden Frauen jetzt selten und gesucht. Da-
her beginnt mit der Paarungsehe der Raub und der
Kauf von Frauen — weitverbreitete Symptome, aber
weiter auch nichts, einer eingetretenen viel tiefer lie-
genden Veränderung, welche Symptome, blosse Methoden
sich Frauen zu verschaffen, der pedantische Schotte Mac
Lennan indess als „Raubehe" und „Kaufehe" in beson-
dere Familienklassen umgedichtet hat. Auch sonst, bei
den amerikanischen Indianern und anderswo (auf gleicher
Stufe) ist die Eheschliessung Sache nicht der Betheilig-
ten, die oft gar nicht gefragt werden, sondern ihrer
Mütter. Oft werden so zwei einander ganz Unbekannte
verlobt und erst von dem abgeschlossenen Handel in
Kenntniss gesetzt, wenn die Zeit zum Ileirathen heran-
rückt. Vor der Hochzeit macht der Bräutigam den
— 26 —
G-entilverwandten der Braut (also ihren mütterliclieii^
nicht dem Vater und seiner Verwandtschaft) Geschenke,
die als Kaufgaben für das abgetretene Mädchen gelten.
Die Ehe bleibt löslich nach dem Belieben eines jeden
der beiden Verheiratheten : doch hat sich nach und nach
bei vielen Stämmen, z. B. den Irokesen, eine solchen
Trennungen abgeneigte öffentliche Meinung gebildet;
bei Streitigkeiten treten die G-entilverwandten beider
Theile vermittelnd ein, und erst, wenn dies nicht
fruchtet, findet Trennung statt, wobei die Kinder der
Frau verbleiben, und wonach es jedem Theil freisteht,
sich neu zu verheirathen.
Die Paarungsfamilie, selbst zu schwach und zu un-
beständig, um einen eigenen Haushalt zum Bedürfniss
oder nur wünschenswerth zu machen, löst die aus frü-
herer Zeit überlieferte kommunistische Haushaltung
keineswegs auf. Kommunistischer Haushalt bedeutet
aber Herrschaft der Weiber im Hause, wie ausschliess-
liche Anerkennung einer leiblichen Mutter bei Unmög-
lichkeit, einen leiblichen Vater mit Grewissheit zu
kennen, hohe Achtung der Weiber, d. h. der Mütter,
bedeutet. Es ist eine der absurdesten, aus der Auf-
klärung des 18. Jahrhunderts überkommenen Vor-
stellungen, das Weib sei im Anfang der Gesellschaft
Sklavin des Mannes gewesen. Das Weib hat bei allen
Wilden und allen Barbaren der Unter- und Mittelstufe,
theilweise noch der Oberstufe, eine nicht nur freie,
sondern hochgeachtete Stellung. Was es noch in der
Paarungsehe ist , möge Arthur Wright, langjähriger
Missionar unter den Seneka-Irokesen, bezeugen : „Was
ihre Familien betrifft, zur Zeit, wo sie noch die alten
langen Häuser (kommunistische Haushaltungen mehrerer
Familien) bewohnten, ... so herrschte dort immer ein
Clan (eine Grens) vor, so dass die Weiber ihre Männer
aus den andern Clans (Gentes) nahmen. . . . Gewöhn-
lich beherrschte der weibliche Theil das Haus ; die
Vorräthe waren gemeinsam; wehe aber dem unglück-
lichen Ehemann oder Liebhaber, der zu träge oder zu
ungeschickt war, seinen Theil zum gemeinsamen Vor-
rath beizutragen. Einerlei wie viel Kinder oder wie
— 27 —
viel Eigenbesitz er im Hause hatte, jeden Augenblick
konnte er des Befehls gewärtig sein, sein Bündel zu
schnüren und sich zu trollen. Und er durfte nicht ver-
suchen, dem zu widerstehn ; das Haus wurde ihm zu
heiss gemacht, es blieb ihm nichts als zu seinem eignen
Clan (Grens) zurückzukehren oder aber, was meist der
Fall, eine neue Ehe in einem andern Clan aufzusuchen.
Die Weiber waren die grosse Macht in den Clans
(G-entes) und auch sonst überall. G-elegentlich kam es
ihnen nicht darauf an, einen Häuptling abzusetzen und
zum gemeinen Krieger zu degradiren." — Die kommu-
nistische Haushaltung, in der die Weiber meist oder
alle einer und derselben Cens angehören, die Männer
aber auf verschiedene G-entes sich vertheilen, ist die
sachliche G-rundlage jener in der Urzeit allgemein ver-
breiteten Vorherrschaft der Weiber, die ebenfalls ent-
deckt zu haben ein drittes Verdienst Bachofen's ist. —
Nachträglich bemerke ich noch, dass die Berichte der
Reisenden und Missionare über Belastung der Weiber
mit übermässiger Arbeit bei Wilden und Barbaren dem
Gesagten keineswegs widersprechen. Die Theilung der
Arbeit zwischen beiden Greschlechtern wird bedingt
durch ganz andre Ursachen als die Stellung der Frau
in der G-esellschaft. Völker, bei denen die Weiber
weit mehr arbeiten müssen , als ihnen nach unsrer
Vorstellung gebührt, haben vor den Weibern oft weit
mehr wirkliche Achtung, als unsere Europäer. Die
Dame der Civilisation, von Scheinhuldigungen umgeben
und aller wirklichen Arbeit entfremdet, hat eine un-
endlich niedrigere gesellschaftliche Stellung als das hart
arbeitende Weib der Barbarei, das in seinem Volk für
eine wirkliche Dame (lady, frowa, Frau = Herrin)
galt und auch eine solche ihrem Charakter nach war.
Ob die Paarungsehe in Amerika heute die Punalua-
familie gänzlich verdrängt hat, müssen nähere Unter-
suchungen über die noch auf der Oberstufe der Wild-
heit stehenden nordwestlichen und südamerikanischen
Völker entscheiden. Jedenfalls sind noch nicht alle
Spuren davon verschwunden. Bei wenigstens vierzig
nordamerikanischen Stämmen hat der Mann, der eine
— 28 —
älteste Schwester lieirathet, das Recht, alle ihre Schwe-
stern ebenfalls zu Frauen zu nehmen, sobald sie das
erforderliche Alter erreichen: Rest der Gremeinsamkeit
der Männer für die ganze Reihe von Schwestern. Und
von den Halbinsel-Kaliforniern (Oberstufe der Wildheit)
erzählt Bancroft, dass sie gewisse Festlichkeiten haben,
wo mehrere Stämme zusammenkommen zum Zweck des
unterschiedslosen geschlechtlichen Verkehrs. Es sind
offenbar Grentes, die in diesen Festen die dunkle Er-
innerung bewahren an die Zeit, wo die Frauen Einer
Grens alle Männer der andern zu ihren gemeinsamen
Ehemännern hatten und umgekehrt. Aehnliche Reste
aus der alten Welt sind bekannt genug, so die Preis-
gebung der phönizischen Mädchen im Tempel an den
Festen der Astaroth; selbst das mittelalterliche Recht
der ersten Nacht, das trotz neuromantischer deutscher
Weisswaschungen eine sehr handfeste Existenz gehabt
hat, ist ein vermuthlich durch die keltische Grens (den
Clan) überliefertes Stück PunaluafamiKe.
Die Paarungsfamilie entsprang an der Grenze zwi-
schen Wildheit und Barbarei, meist schon auf der Ober-
stufe der Wildheit, hier und da erst auf der Unterstufe
der Barbarei. Sie ist die charakteristische Familienform
für die Barbarei, wie die Grruppenehe für die Wildheit
und die Monogamie für die Civilisation. Um sie zur
festen Monogamie weiter zu entwickeln, bedurfte es
andrer Ursachen, als derjenigen, die wir bisher wirkend
fanden. Die Grruppe war in der Paarung bereits auf
ihre letzte Einheit, ihr Molekül, herabgebracht: auf
einen Mann und eine Frau. Die Naturzüchtung hatte
in der iminer weiter geführten Ausschliessung von der
Ehegemeinschaft ihr Werk vollbracht; in dieser Rich-
tung blieb nichts mehr für sie zu thun. Kamen also
nicht neue, gesellschaftliche Triebkräfte in Wirk-
samkeit, so war kein Grund vorhanden, warum aus der
Paarung eine neue Familienform hervorgehn sollte.
Aber diese Triebkräfte traten in Wirksamkeit.
Wir verlassen jetzt Amerika, den klassischen Boden
der Paarungsfamilie. Kein Anzeichen lässt schliessen,
dass dort eine höhere Familienform sich entwickelt,
— 29 —
dass dort vor der Entdeckung und Eroberung' jemals
irgendwo feste Monogamie bestanden habe. Anders in
der alten Welt.
Hier hatte die Zähmung der Hausthiere und die
Züchtung von Heerden eine bisher ungeahnte Quelle
des ßeichthums entwickelt und ganz neue gesellschaft-
liche Verhältnisse geschaffen. Bis auf die Unterstufe
der Barbarei hatte der ständige Reichthum bestanden
fast nur in dem Haus, der Kleidung, rohem Schmuck
und den Werkzeugen zur Erringung und Bereitung der
Nahrung : Boot, Waffen, Hausrath einfachster Art. Die
Nahi'ung musste Tag um Tag neu errungen werden.
Jetzt, mit den Heerden der Pferde , Kamele , Esel,
Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine hatten die vordrin-
genden Hirtenvölker — die Arier im indischen Eünf-
stromland und Grangesgebiet wie in den damals noch
weit wasserreicheren Steppen am Oxus und Jaxartes ;
die Semiten am Euphrat und Tigris — einen Besitz
erworben, der nur der Aufsicht und rohesten Pflege
bedurfte, um sich in stets vermehrter Zahl fortzupflanzen
und die reichlichste Nahrung an Milch und Fleisch zu
liefern. Alle früheren Mittel der Nahrungsbeschaffung
traten nun in den Hintergrund ; die Jagd, früher eine
Noth wendigkeit, wurde nun ein Luxus.
Wem gehörte aber dieser neue Reichthum ? Un-
zweifelhaft ursprünglich der Grens. Aber schon früh
muss sich Privateigenthum an den Heerden entwickelt
haben. Es ist schwer zu sagen, ob dem Verfasser des
s. g. ersten Buchs Mosis der Vater Abraham erschien
als Besitzer seiner Heerden kraft eignen Rechts oder
kraft seiner Eigenschaft als thatsächlich erblicher Vor-
steher einer Glens. Sicher ist nur, dass wir ihn uns
nicht als Eigenthümer im modernen Sinn vorstellen
dürfen. Und sicher ist ferner, dass wir an der Schwelle
der beglaubigten Greschichte die Heerden schon überall
in Privateigenthum einzelner Familienvorstände finden,
ganz wie die Kunsterzeugnisse der Barbarei, Metall-
geräth, Luxusartikel und endlich das Men sehen vieh —
die Sklaven.
Denn jetzt war auch die Sklaverei erfunden. Dem
— 30 —
Barbaren der Unterstufe war der Sklave wertMos. Da-
her aucli die amerikanischen Indianer mit den besiegten
Feinden ganz anders verfuhren als auf höherer Stufe
geschah. Die Männer wurden getödtet oder aber in den
Stamm der Sieger als Brüder aufgenommen ; die Weiber
wurden geheirathet oder sonst mit ihren überlebenden
Kindern ebenfalls adoptirt. Die menschliche Arbeits-
kraft liefert auf dieser Stufe noch keinen beachtens-
werthen Ueberschuss über ihre Unterhaltskosten. Mit
der Einführung der Viehzucht, der Metallbearbeitung,
der Weberei und endlich des Feldbaus wurde das anders.
Wie die früher so zahlreichen Grattinnen jetzt einen
Werth bekommen hatten und gekauft wurden, so ge-
schah es mit den Arbeitskräften, besonders seitdem die
Heerden endgültig in Privatbesitz übergegangen waren.
Die Familie vermehrte sich nicht ebenso rasch wie das
Vieh. Mehr Leute Avurden erfordert, es zu beaufsich-
tigen; dazu Hess sich der kriegsgefangne Feind be-
nutzen, der sich ausserdem ebensogut fortzüchten liess
wie das Vieh selbst.
Solche Reichthümer, sobald sie einmal in Privat-
besitz übergegangen und dort rasch vermehrt, gaben
der auf Paarungsehe und Gens gegründeten Gresellschaft
einen mächtigen Stoss. Die Paarungsehe hatte ein neues
Element in die Familie eingeführt. Neben die leibliche
Mutter hatte sie den beglaubigten leiblichen Vater
gestellt, der noch dazu wahrscheinlich besser beglaubigt
war als gar manche „Väter" heutzutage. Nach der
damaligen Arbeitstheilung in der Familie fiel dem Mann
die Beschaffung der Nahrung und der hiezu nöthigen
Arbeitsmittel, also auch das Eigenthum an diesen letz-
teren zu ; er nahm sie mit, im Fall der Scheidung, wie
die Frau ihren Hausrath behielt. Nach dem Brauch der
damaligen Gresellschaft also war der Mann auch Eigen-
thümer der neuen Nahrungsquelle, des Viehs und später
des neuen Arbeitsmittels, der Sklaven. Nach dem Brauch
derselben Gresellschaft aber konnten seine Kinder nicht
von ihm erben, denn damit stand es folgendermassen.
Nach Mutterrecht, also so lange Abstammung nur
in weiblicher Linie gerechnet wurde und nach dem
— 31 —
ursprünglichen Erbgebrauch in der Grens erbten anfäng-
lich die Grentilverwandten von ihrem verstorbenen Greutil-
genossen. Das Vermögen musste in der Gens bleiben.
Bei der Unbedeutendheit der G-egenstände mag es von
jeher in der Praxis an die nächsten Grentilverwandten,
also an die Agnaten mütterlicher Seite, übergegangen
sein. Die Kinder des verstorbenen Mannes aber gehör-
ten nicht seiner Gens an, sondern der ihrer Mutter;
sie erbten zuerst mit den übrigen Agnaten der Mutter,
später vielleicht in erster Linie von dieser, aber von
ihrem Yater konnten sie nicht erben, weil sie nicht zu
seiner Gens gehörten, sein Vermögen aber in dieser
bleiben musste. Bei dem Tode des Heerdenbesitzers
wären also seine Heerden übergegangen zunächst an
seine Brüder und Schwestern und an die Kinder seiner
Schwestern, oder an die Nachkommen der Schwestern
seiner Mutter. Seine eigenen Kinder aber waren enterbt.
In dem Verhältniss also wie die Reichthümer sich
mehrten, gaben sie einerseits dem Mann eine wichtigere
Stellung in der Familie als der Frau, und erzeugten
andrerseits den Antrieb, diese verstärkte Stellung zu
benutzen, um die hergebrachte Erbfolge zu Gunsten
der Kinder umzustossen. Dies ging aber nicht, so lange
die Abstammung nach Mutterrecht galt. Diese also
musste umgestossen werden und sie wurde umgestossen.
Es war dies gar nicht so schwer, wie es uns heute
erscheint. Denn diese Revolution — eine der ein-
schneidendsten, die die Menschen erlebt haben —
brauchte nicht ein einziges der lebenden Mitglieder
einer Gens zu berühren. Alle ihre Angehörigen konnten
nach wie vor bleiben, was sie gewesen. Der einfache
Beschluss genügte, dass in Zukvmft die Nachkommen
der männlichen Genossen in der Gens bleiben, die der
weiblichen aber ausgeschlossen sein sollten, indem sie
in die Gens ihres Vaters übergingen. Damit Avar die
Abstammungsrechnung in weiblicher Linie und das
mütterliche Erbrecht umgestossen, männliche Abstam-
mungslinie und väterliches Erbrecht eingesetzt. Wie
sich diese Revolution bei den Kulturvölkern gemacht
hat, und wann, darüber wissen wir nichts. Sie fällt
— 32 —
ganz in die vorgeschichtliche Zeit. D a s s sie sich aber
gemacht, ist mehr als nöthig erwiesen durch die na-
mentlich von Bachofen gesammelten reichlichen Spuren
von Mutterrecht, und wie leicht sie sich vollzieht,
sehen wir an einer ganzen Reihe von Indianerstämmen,
wo sie erst neuerdings gemacht worden ist und noch
gemacht wird, unter dem Einfluss theils wachsenden
Reich thums und veränderter Lebensweise (Versetzung
aus den Wäldern in die Prairie), theils moralischer
Einwirkungen der Civilisation und der Missionare. Von
acht Missouristämmen haben sechs männliche, aber zwei
noch weibliche Abstammungslinie und Erbfolge. Bei
den Shawnees, Miamies und Delawares ist die Sitte
eingerissen, die Kinder durch einen der G-ens des Vaters
gehörigen Grentilnamen in diese zu versetzen, damit sie
vom Vater erben können. „Eingeborne Kasuisterei des
Menschen, die Dinge zu ändern, indem man ihre Namen
ändert! Und Schlupfwinkel zu finden, um innerhalb
der Tradition die Tradition zu durchbrechen, wo ein
direktes Interesse den hinreichenden Antrieb gab!"
(Marx.) Dadurch entstand heillose Verwirrung, der
nur abzuhelfen war, und theil weise auch abgeholfen
wurde, durch Uebergang zum Vaterrecht. „Dies scheint
überhaupt der natürlichste Uebergang." (Marx.)
Der Umsturz des Mutterrechts war die welt-
geschichtliche Niederlage des weiblichen
Greschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im
Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin
seiner Lust und blosses Werkzeug der Kinderzeugung.
Diese erniedrigte Stellung der Frau, wie sie nament-
lich bei den Griechen der heroischen und klassischen
Zeit offen hervortritt, ist allmälig beschönigt und ver-
heuchelt, auch stellenweise in mildere Formen gekleidet
worden ; beseitigt ist sie keineswegs.
Die erste Wirkung der nun begründeten Allein-
herrschaft der Männer zeigt sich in der jetzt auftau-
chenden Zwischenform der patriarchalischen Familie.
Was sie hauptsächlich bezeichnet, ist nicht die Viel-
weiberei, wovon später, sondern die Organisation einer
Anzahl von freien und unfreien Personen zu einer
Familie unter der väterlichen Gewalt des Familien-
haupts. In der semitischen Form lebt dies Familien-
haupt in Vielweiberei, die Unfreien haben Weib und
Kinder, und der Zweck der ganzen Organisation ist die
Wartung von Heerden auf einem abgegränzten Grebiet".
Da>! Wesentliche ist die Einverleibung von Unfreien
und die väterliche Gewalt; daher ist der vollendete
Typus dieser Familienform die römische Familie. Das
Wort familia bedeutet ursprünglich nicht das aus Senti-
mentalität und häuslichem Zwist zusammengesetzte Ideal
des heutigen Philisters ; es bezieht sich bei den Römern
anfänglich gar nicht einmal auf das Ehepaar und dessen
Bänder, sondern auf die Sklaven allein. Famulus heisst
ein Haussklave, und familia ist die Gesammtheit der
einem Mann gehörenden Sklaven. Noch zu Gajus Zeit
wurde die familia, id est Patrimonium (d. h. das Erb-
theil) testamentarisch vermacht. Der Ausdruck wurde
von den Eömern erfunden, um einen neuen gesellschaft-
lichen Organismus zu bezeichnen, dessen Haupt Weib
und Kinder und eine Anzahl Sklaven unter römischer
väterlicher Gewalt, mit dem Recht über Tod und Leben
Aller, unter sich hatte. „Das Wort ist also nicht älter
als das eisengepanzerte Familiensystem der latinischen
Stämme, welches aufkam nach Einführung des Feld-
baus und der gesetzlichen Sklaverei, und nach der
Trennung der arischen Italer von den Griechen." Marx
setzt hinzu : „Die moderne Familie enthält im Keim
nicht nur Sklaverei (servitus), sondern auch Leibeigen-
schaft, da sie von vornherein Beziehung hat auf Dienste
für Ackerbau. Sie enthält in Miniatur alle die Gegen-
sätze in sich, die sich später breit entwickeln in der
Gesellschaft und in ihrem Staat."
Eine solche Familienform zeigt den Uebergang der
Paarungsehe in die Monogamie. Um die Treue der Frau,
also die Vaterschaft der Kinder, sicher zu stellen, wird
die Frau der Gewalt des Mannes unbedingt überliefert:
wenn er sie tödtet, so übt er nur sein Recht aus.
Ehe wir zu der mit dem Sturz des Mutterrechtes
sich rasch entwickelnden Monogamie übergehn, noch
ein paar Worte über Vielweiberei und Vielmännerei.
3
— 34 —
Beide Eheformen können nur Ausnahmen sein, sozu-
sagen geschichtliche Luxusprodukte, es sei denn, sie
kämen in einem Lande neben einander vor, was be-
kanntlich nicht der Fall ist. Da also die von der Viel-
weiberei ausgeschlossenen Männer sich nicht bei dea
von der Vielmännerei übriggebliebenen Weibern trösten
können, die Anzahl von Männern und Weibern aber
ohne Rücksicht auf soziale Institutionen bisher ziemlich
gleich war, ist die Erhebung der einen wie der andern
dieser Eheformen zur allgemein geltenden von selbst
ausgeschlossen. In der That war die exklusive Viel-
weiberei Eines Mannes offenbar Produkt der Sklaverei
und beschränkt auf einzelne Ausnahmsstellungen. In
der semitisch -patriarchalischen Familie lebt nur der
Patriarch selbst, und höchstens noch ein paar seiner
Söhne, in Vielweiberei, die übrigen müssen sich mit
Einer Frau begnügen. So ist es noch heute im ganzen
Orient ; die Vielweiberei ist ein Privilegium der Reichen
und Vornehmen und rekrutirt sich hauptsächlich durch
Kauf von Sklavinnen ; die Masse des Volks lebt in Mo-
nogamie. Eine ebensolche Ausnahme ist die Vielmännerei
in Indien und Tibet, deren sicher nicht uninteressanter
Ursprung aus der Punaluafamilie noch näher zu unter-
suchen ist. In ihrer Praxis scheint sie übrigens viel
coulanter als die eifersüchtige Haremswirthschaft der
Muhamedaner. Wenigstens haben bei den Nairs in
Indien je drei, vier oder mehr Männer zwar eine ge-
meinsame Frau; aber jeder von ihnen kann daneben
mit drei oder mehr andern Männern eine zweite Frau
in Gremein Schaft haben, und so eine dritte, vierten, s.w.
Es ist ein Wunder, dass MacLennan in diesen Eheclubs,
in deren Mehreren man Mitglied sein kann und die er
selbst beschreibt, nicht die neue Klasse der Club ehe
entdeckt hat.
4. Die monogamische Familie. Sie entsteht
aus der Paarungsfamilie, wie gezeigt, im Glrenzzeitalter
zwischen der mittleren und oberen Stufe der Barbarei;
ihr endgültiger Sieg ist eins der Kennzeichen der be-
ginnenden Civilisation. Sie ist gegründet auf die Herr-
schaft des Mannes mit dem ausdrücklichen Zweck der
— 35 —
Erzeugung von Kindern mit unbestrittener Täterschaft,
und diese Yaterschaft wird erfordert, weil diese Kinder
als Leibeserben in das väterliche Vermögen dereinst
eintreten sollen. Sie unterscheidet sich von der Paarungs-
ehe durch weit grössere Festigkeit des Ehebandes, das
nun nicht mehr nach beiderseitigem Grefallen lösbar ist.
Es ist jetzt in der Regel nur noch der Mann, der es
lösen und seine Frau Verstössen kann. Das Recht der
ehelichen Untreue bleibt ihm auch jetzt wenigstens
noch durch die Sitte gewährleistet (der Code Napoleon
schreibt es dem Mann ausdrücklich zu, so lange er nicht
die Beischläferin in's eheliche Haus bringt) und wird
mit steigender gesellschaftlicher Entwicklung immer
mehr ausgeübt ; erinnert sich die Frau der alten ge-
schlechtlichen Praxis und will sie erneuern, so wird
sie strenger bestraft als je vorher.
In ihrer ganzen Härte tritt uns die neue Familien-
form entgegen bei den Grriechen. Während, wie Marx
bemerkt, die Stellung der Göttinnen in der Mythologie
uns eine frühere Periode vorführt, wo die Frauen noch
eine freiere, geachtetere Stellung hatten, finden wir
zur Heroenzeit die Frau in einer halbgefänglichen Ab-
geschlossenheit, um die richtige Vaterschaft der Kinder
sicher zu stellen. Der Mann dagegen vergnügt sich
mit kriegsgefangnen Sklavinnen, seinen Zeltgenossinnen
im Kriege. Kaum besser in der klassischen Periode.
Man kann in Becker's Charikles des Breiteren nach-
lesen, wie die Grriechen ihre Frauen behandelten. Wenn
nicht gerade eingeschlossen, so doch abgeschlossen von
der Welt, waren sie die obersten Hausmägde ihrer
Männer geworden, beschränkt auf den Verkehr vor-
nehmlich der übrigen Hausmägde. Die Mädchen wur-
den direkt eingeschlossen, die Frauen gingen nur aus
in Begleitung von Sklavinnen. Kam Männerbesuch, so
zog sich die Frau in ihr Gemach zurück. Trotzdem
fanden die Griechinnen oft genug Gelegenheit, ihre
Männer zu täuschen. Diese, die sich geschämt hätten,
irgend welche Liebe für ihre Frauen zu verrathen,
amüsirten sich in allerlei Liebeshändeln mit Hetären;
aber die Entwürdigung der Frauen rächte sich an den
— 36 —
Männern und entwürdigte auch sie, bis sie versanken
in die Widerwärtigkeit der Knabenliebe und ilire Götter
entwürdigten wie sich selbst durch den Mythus von
Granymed.
Das war der Ursprung der Monogamie, soweit wir
ihn beim civilisirtesten und am höchsten entwickelten
Volk des Alterthums verfolgen können. Sie war keines-
wegs eine Frucht der individuellen Geschlechtsliebe,
mit der sie absolut nichts zu schaffen hatte, da die
Ehen nach wie vor Convenienzehen blieben. Sie war
die erste Familienform, die nicht auf natürliche, son-
dern auf gesellschaftliche Bedingungen gegründet war.
Herrschaft des Mannes in der Familie und Erzeugung
von Kindern, die nur die seinigen sein konnten und
die zu Erben seines E,eichthums bestimmt waren —
das allein waren die von den Griechen unumwunden
ausgesprochenen ausschliesslichen Zwecke der Einzelehe.
Im Uebrigen war sie ihnen eine Last, eine Pflicht
gegen die Götter, den Staat und die eignen Vorfahren,
die eben erfüllt werden musste.
So tritt die Einzelehe keineswegs ein in die Geschichte
als die Versöhnung von Mann und Weib, noch viel we-
niger als ihre höchste Form. Im Gegentheil. Sie tritt
auf als Unterjochung des einen Geschlechts durch das
andere, als Proklamation eines bisher in der ganzen
Vorgeschichte unbekannten Widerstreits der Geschlech-
ter. In einem alten, 1846 von Marx und mir ausgear-
beiteten, ungedruckten Manuskript finde ich : „Die erste
Theilung der Arbeit ist die von Mann und Weib zur
Kinderzeugung." Und heute kann ich hinzusetzen : Der
erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt,
fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus
von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste
Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts
durcli das männliche. Die Einzelehe war ein grosser
geschichtlicher Fortschritt, aber zugleich eröffnet sie
neben der Sklaverei und dem Privatreichthum jene bis
heute dauernde Epoche, in der jeder Fortschritt zugleich
ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die
Entwicklung der Einen sich durchsetzt durch das Wehe
' _ 37 —
und die Zurückdräiigung der Andern. Sie ist die Zellen-
form der civilisirten Gresellschaft, an der wir schon die
Natur der in dieser sich voll entfaltenden Gregensätze
nnd Widersprüche studiren können.
Die alte verhältnissmässige Freiheit des G-eschlechts-
verkehrs verschwand keineswegs mit dem Sieg der
Paarungs- oder selbst der Einzelehe. „Das alte Ehe-
system, auf engere GTrenzen zurückgeführt durch das
allmälige Aussterben der Punaluagruppen, umgab immer
noch die sich fortentwickelnde Familie und hing an
ihren Schössen bis an die aufdämmernde Civilisation
hinan ... es verschwand schliesslich in der neuen Form
des Hetärismus, die die Menschen bis in die Civilisation
hinein verfolgt, wie ein dunkler Schlagschatten, der
auf der Familie ruht." Unter Hetärismus versteht
Morgan den neben der Einzelehe bestehenden
ausserehelichen geschlechtlichen Verkehr der Männer
mit unverheiratheten Weibern, der bekanntlich während
der ganzen Periode der Civilisation in den verschie-
densten Formen blüht und mehr und mehr zur offenen
Prostitution wird. Dieser Hetärismus, der eine gesell-
schaftliche Einrichtung ist wie jede andere, setzt also
die alte Greschlechtsfreiheit fort — zu Grünsten der
Männer. In der Wirklichkeit nicht nur geduldet, son-
dern namentlich von den herrschenden Klassen flott
mitgemacht, wird er in der Phrase verdammt. Aber
in der Wirklichkeit trifft diese Verdammung keines-
wegs die dabei betheiligten Männer, sondern nur die
Weiber: sie werden geächtet und ausgestossen, um so
nochmals die unbedingte Herrschaft der Männer über
das weibliche Greschlecht als gesellschaftliches Grund-
gesetz zu proklamiren.
Aber man kann nicht die eine Seite des Gregen-
satzes haben ohne die andere, ebensowenig wie man
noch einen ganzen Apfel in der Hand hat, nachdem
die eine Hälfte gegessen. Trotzdem scheint dies die
Meinung der Männer gewesen zu sein, bis ihre Frauen
sie eines Bessern belehrten. Mit der Einzelehe treten
zwei ständige gesellschaftliche Charakterfiguren auf,
die früher unbekannt waren: der ständige Liebhaber
— 38 — •
der Frau und der Halinrei. Die Männer hatten den
Sieg über die Weiber errung-en, aber die Krönung
übernabmen grossmütbig die Besiegten. Neben der
Einzelebe und dem Hetärismus wurde der Ebebruch
eine unvermeidlicbe gesellschaftliche Einrichtung —
verpönt, hart bestraft, aber ununterdrückbar. Die sichere
Täterschaft der Kinder beruhte nach wie vor höchstens
auf moralischer Ueberzeugung, und um den unlöslichen
Widerspruch zu lösen, dekretirte der Code Napoleon
Art. 312: L'enfant congu pendant le mariage a pour
pfere le mari; das während der Ehe empfangene Kind
hat zum Vater — den Ehemann. Das ist das letzte
Resultat von dreitausend Jahren Eiuzelehe.
So haben wir in der Einzelfamilie, in den Fällen,
die ihrer geschichtlichen Entstehung treu bleiben und
den durch die ausschliessliche Herrschaft des Mannes
ausgesprochnen Widerstreit von Mann und Weib klar
zur Erscheinung bringen, ein Bild im Kleinen derselben
G-egensätze und Widersprüche, in denen sich die seit
Eintritt der Civilisation in Klassen gespaltene Gesell-
schaft bewegt, ohne sie auflösen und überwinden zu
können. Ich spreche hier natürlich nur von jenen Fällen
der Einzelehe, wo das eheliche Leben in Wirklichkeit
nach Vorschrift des ursprünglichen Charakters der gan-
zen Einrichtung verläuft, wo die Frau aber gegen die
Herrschaft des Mannes rebellirt. Dass nicht alle Ehen
so verlaufen, weiss niemand besser als der deutsche
Philister, der seine Herrschaft im Hause nicht besser
zu wahren weiss als im Staat, und dessen Frau daher
mit vollem Recht die Hosen trägt, deren er nicht werth
ist. Dafür dünkt er sich aber auch weit erhaben über
seinen französischen Leidensgenossen, dem, öfter als ihm
selbst, weit Schlimmeres passirt.
Die Einzelfamilie trat übrigens keineswegs überall
und jederzeit in der klassisch-schroffen Form auf, die
sie bei den Griechen hatte. Bei den Römern, die als
künftige Welteroberer einen weiteren, wenn auch we-
niger feinen Blick hatten als die Griechen, war die
Frau freier und geachteter. Der Römer glaubte die
eheliche Treue durch die Gewalt über Leben und Tod
— 39 —
seiner Frau hinlänglich verbürgt. Auch konnte die Frau
hier ebensogut wie der Mann die Ehe freiwillig lösen.
Aber der grösste Fortschritt in der Entwicklung der
Einzelehe geschah entschieden mit dem Eintritt der
Deutschen in die Geschichte, und zwar weil bei ihnen
damals die Monogamie sich noch nicht vollständig aus
der Paarungsehe entwickelt zu haben scheint. Wir
schliessen dies aus drei Umständen, die Tacitus er-
wähnt : Erstens galt bei grosser Heilighaltung der Ehe
— „sie begnügen sich mit Einer Frau, die Weiber
leben eingehegt durch Keuschheit" — dennoch Viel-
weiberei für die Yornehmen und Stammesführer, also
ein Zustand ähnlich dem der Amerikaner, bei denen
Paarungsehe galt. Und zweitens konnte der Uebergang
von Mutterrecht zu Vaterrecht erst kurz vorher ge-
macht worden sein, denn noch galt der Mutterbruder
— der nächste männliche Gentilverwandte nach Mutter-
recht — als fast ein näherer Verwandter denn der
eigne Vater, ebenfalls entsprechend dem Standpunkt
der amerikanischen Indianer, bei denen Marx, wie er
oft sagte, den Schlüssel zum Verständniss unserer eignen
Urzeit gefunden. Und drittens waren die Frauen bei
den Deutschen hoch geachtet und einflussreich auch
auf öffentliche Geschäfte, was im direkten Gegensatz
zur monogamischen Männerherrschaft steht. Mit den
Deutschen kam also auch in dieser Beziehung ein ganz
neues Element zur Weltherrschaft. Die neue Monogamie,
die sich nun auf den Trümmern der Römerwelt aus der
Völkermischung entwickelte, kleidete die Männerherr-
schaft in mildere Formen und liess den Frauen eine
wenigstens äusserlich weit geachtetere und freiere
Stellung als das klassische Alterthum sie je gekannt.
Damit erst war die Möglichkeit gegeben, auf der sich
aus der Monogamie — in ihr, neben ihr und gegen sie,
je nachdem — der grösste sittliche Fortschritt ent-
wickeln konnte, den wir ihr verdanken : die moderne
individuelle Geschlechtsliebe, die der ganzen früheren
Welt unbekannt war.
Dieser Fortschritt entsprang aber entschieden aus
dem Umstand, dass die Deutschen noch in der Paarungs-
— 40 —
familie lebten, und die ihr entsprechende Stellung der
Frau, soweit es anging, der Monogamie aufpfropften,
keineswegs aber aus der sagenhaften, wunderbar sitten-
reinen Naturanlage der Deutschen, die sich darauf be-
schränkt, dass die Paarungsehe sich in der That nicht
in den grellen sittlichen Gregensätzen bewegt wie die
Monogamie. Im Gregentheil waren die Deutschen auf
ihren Wanderzügen, besonders nach Südost zu den
Steppennomaden am Schwarzen Meer, sittlich stark
verkommen und hatten bei diesen ausser ihren Reiter-
künsten auch arge widernatürliche Laster angenommen,
was Ammianus von den Thaifalern und Prokop von
den Herulern ausdrücklich bezeugt.
Wenn aber die Monogamie von allen bekannten
Familienformen diejenige war, unter der allein sich die
moderne Greschlechtsliebe entwickeln konnte, so heisst
das nicht, dass sie sich ausschliesslich oder nur vor-
wiegend in ihr, als Liebe der Ehegatten zu einander,
entwickelte. Die ganze Natur der festen Einzelehe unter
Mannesherrschaft schloss das aus. Bei allen geschicht-
lich aktiven, d. h. bei allen herrschenden Klassen blieb
die Eheschliessung, was sie seit der Paarungsehe ge-
wesen, Sache der Konvenienz, die von den Eltern
arrangirt wurde. Und die erste geschichtlich auftretende
Form der Greschlechtsliebe als Leidenschaft, und als
jedem Menschen (wenigstens der herrschenden Klassen)
zukommende Leidenschaft, als höchste Form des Gre-
schlechtstriebs — was gerade ihren spezifischen Cha-
rakter ausmacht — diese ihre erste Form, die ritterliche
Liebe des Mittelalters, war keineswegs eine eheliche
Liebe. Im GTegentheil. In ihrer klassischen Grestalt,
bei den Provenzalen, steuert sie mit vollen Segeln auf
den Ehebruch los und ihre Dichter feiern ihn. Die
Blüte der provenzalischen Liebespoesie sind die Albas,
deutsch Tagelieder. Sie schildern in glühenden Farben,
wie der Ritter bei seiner Schönen — der Frau eines
Andern — im Bett liegt, während draussen der Wächter
steht, der ihm zuruft, sobald das erste Morgengrauen
(alba) aufsteigt, damit er noch unbemerkt entweichen
kann ; die Trennungsscene bildet dann den Gripfelpunkt.
— 41 —
Die Nordfranzosen und auch die braven Deutschen nah-
men diese Dichtungsart mit der ihr entsprechenden
Manier der Ritterliebe ebenfalls an, und unser alter
Wolfram von Eschenbach hat über denselben anzüg-
lichen Stoff drei wunderschöne Tagelieder hinterlassen,
die mir lieber sind als seine drei langen Heldengedichte.
Die bürgerliche Eheschliessung unserer Tage ist dop-
pelter Art. In katholischen Ländern besorgen nach
wie vor die Eltern dem jungen Bürgerssohn eine an-
gemessene Frau, und die Folge davon ist natürlich die
vollste Entfaltung des in der Monogamie enthaltenen
Widerspruchs : üppiger Hetärismus auf Seiten des
Mannes, üppiger Ehebruch auf Seiten der Frau. Die
katholische Kirche hat wohl auch nur desswegen die
Ehescheidung abgeschafft, weil sie sich überzeugt hatte,
dass gegen den Ehebruch wie gegen den Tod kein
Kräutlein gewachsen ist. In protestantischen Ländern
dagegen ist es Regel, dass dem Bürgerssohn erlaubt
wird, sich aus seiner Klasse eine Frau mit grösserer
oder geringerer Freiheit auszusuchen, wonach ein ge-
wisser G-rad von Liebe der Eheschliessung zu G-runde
liegen kann und auch anstandshalber stets vorausgesetzt
wird, was der protestantischen Heuchelei entspricht.
Hier wird der Hetärismus des Mannes schläfriger be-
trieben und der Ehebruch der Frau ist weniger Regel.
Da aber in jeder Art Ehe die Menschen bleiben, was
sie vor der Ehe waren, und die Bürger protestantischer
Länder meist Philister sind, so bringt es diese pro-
testantische Monogamie im Durchschnitt der besten
Fälle nur zur ehelichen Gremeinschaft einer bleiernen
Langeweile, die man mit dem Namen Familienglück
bezeichnet. Der beste Spiegel dieser beiden Heiraths-
methoden ist der Roman, für die katholische Manier
der französische, für die protestantische der deutsche
und schwedische. In jedem von beiden „kriegt er sie" :
im deutschen der junge Mann das Mädchen, im fran-
zösischen der Ehemann die Hörner. Welcher von beiden
sich dabei schlechter steht, ist nicht immer ausgemacht.
Wesshalb auch dem französischen Bourgeois die Lange-
weile des deutschen Romans eben denselben Schauder
— 42 —
erregt wie die „Unsittliclikeit" des französischen Ro-
mans dem deutschen Philister. Obwohl neuerdings, seit
„Berlin Weltstadt wird", der deutsche Eoman anfängt,
etwas weniger schüchtern in dem dort seit lange wohl-
bekannten Hetärismus und Ehebruch zu machen.
In beiden Fällen aber wird die Heirath bedingt
durch die Klassenlage der Betheiligten und ist insofern
stets Konvenienzehe. Wirkliche Regel im Verhältniss
zur Frau wird die G-eschlechtsliebe und kann es nur
werden unter den unterdrückten Klassen, also heut-
zutage im Proletariat — ob dies Yerhältniss nun ein
offiziell konzessionirtes oder nicht. Hier sind aber auch
alle Grundlagen der klassischen Monogamie beseitigt.
Hier fehlt alles Eigenthum, zu dessen Bewahrung und
Yererbung ja gerade die Monogamie und die Männer-
herrschaft geschaffen wurden, und hier fehlt damit auch
jeder Antrieb, die Männerherrschaft geltend zu machen.
Noch mehr, auch die Mittel fehlen ; das bürgerliche
Recht, das diese Herrschaft schützt, besteht nur für
die Besitzenden und deren Verkehr mit den Prole-
tariern ; es kostet Geld und hat desshalb armuthshalber
keine Greltung für die Stellung des Arbeiters zu seiner
Frau. Da entscheiden ganz andere persönliche und ge-
sellschaftliche Verhältnisse. Und vollends seitdem die
grosse Industrie die Frau aus dem Hause auf den Ar-
beitsmarkt und in die Fabrik versetzt hat und sie oft
genug zur Ernährerin der Familie macht, ist dem letz-
ten Rest der Männerherrschaft in der Proletarierwoh-
nung aller Boden entzogen — es sei denn etwa noch
ein Stück der seit Einführung der Monogamie einge-
rissenen Brutalität gegen Frauen. So ist die Familie
des Proletariers keine monogamische im strengen Sinn
mehr, selbst bei der leidenschaftlichsten Liebe und
festesten Treue Beider und trotz aller etwaigen geist-
lichen und weltlichen Einsegnung. Daher spielen auch
die ewigen Begleiter der Monogamie, Hetärismus und
Ehebruch, hier nur eine fast verschwindende Rolle ; die
Frau hat das Recht der Ehetrennung thatsächlich
wieder erhalten, imd wenn man sich nicht vertragen
kann, geht man lieber auseinander. Kurz, die Prole-
— 43 —
tarierehe ist monogamisch im etymologischen Sinn des
Worts, aber durchaus nicht in seinem historischen
Sinn.
Kehren wir indess zurück zu Morgan, von dem wir
ims ein Beträchtliches entfernt haben. Die geschicht-
liche Untersuchung der während der Civilisationsperiode
entwickelten gesellschaftlichen Institutionen geht über
den Rahmen seines Buchs hinaus. Die Schicksale der
Monogamie während dieses Zeitraums beschäftigen ihn
daher nur ganz kurz. Auch er sieht in der Weiterbildimg
der monogamischen Familie einen Fortschritt, eine
Annäherung an die volle Gleichberechtigung der Gre-
schlechter, ohne dass er dies Ziel jedoch für erreicht
hält. Aber, sagt er, „wenn die Thatsache anerkannt
wird, dass die Familie vier Formen nach einander
durchgemacht hat und sich jetzt in einer fünften be-
findet, so entsteht die Frage, ob diese Form für die
Zukunft von Dauer sein kann. Die einzig mögliche
Antwort ist die, dass sie fortschreiten muss wie die
Gesellschaft fortschreitet, sich verändern im Mass wie
die Gesellschaft sich verändert, ganz wie bisher. Sie
ist das Geschöpf des Gesellschaftssystems und wird
seinen Bildungsstand widerspiegeln. Da die monoga-
mische Familie sich verbessert hat seit dem Beginn
der Civilisation, und sehr merklich in der modernen
Zeit, so kann man mindestens vermuthen, dass sie wei-
terer Yervollkommnung fähig, bis die Gleichheit beider
Geschlechter erreicht ist. Sollte in entfernter Zukunft
die monogamische Familie nicht im Stande sein, die
Ansprüche der Gesellschaft zu erfüllen, so ist unmög-
lich vorherzusagen, von welcher Beschaffenheit ihre
Nachfolo-erin sein wird".
III. Die irokesische Gens.
Wir kommen jetzt zu einer andern Entdeckung
Morgan's, die mindestens von derselben Wichtigkeit
ist, wie die Rekonstruktion der Urfamilienformen aus
den Yerwandtschaftssystemen. Der Nachweis, dass die
durch Thiernamen bezeichneten G-eschlechtsverbände
innerhalb eines Stammes amerikanischer Indianer we-
sentlich identisch sind mit den genea der Griechen,
den gentes der Römer ; dass die amerikanische Form
die ursprüngliche, die griechisch-römische die spätere,
abgeleitete ist; dass die ganze Gresellschaftsorganisation
der Grriechen und Römer der Urzeit in GTens, Phratrie
und Stamm ihre getreue Parallele findet in der ame-
rikanisch-indianischen ; dass die G-ens eine allen Bar-
baren bis zu ihrem Eintritt in die Oivilisation, und
selbst noch nachher, gemeinsame Einrichtung ist (so-
weit unsere Quellen bis jetzt reichen) — dieser Nach-
weis hat mit einem Schlag die schwierigsten Par-
tien der ältesten griechischen und römischen Geschichte
aufgeklärt, und uns gleichzeitig über die Grundzüge
der Gesellschaftsverfassung der Urzeit — vor Einfüh-
rung des Staats — ungeahnte Aufschlüsse gegeben.
So einfach die Sache auch aussieht, sobald man sie
einmal kennt, so hat Morgan sie doch erst in der letz-
ten Zeit entdeckt; in seiner vorhergehenden, 1871
erschienenen Schrift war er noch nicht hinter dies
Geheimniss gekommen , dessen Enthüllung seitdem
die sonst so zuversichtlichen englischen Urhistoriker
mäuschenstill gemacht hat.
Das lateinische Wort gens, welches Morgan allge-
— 45 —
mein für diesen GrescKleclitsverband anwendet, kommt
wie das griechisclie gleichbedeutende genos von der
allgemein-arischen Wurzel gan (deutsch, wo nach der
Regel k für arisches g stehn muss, kan), welche er-
zeugen bedeutet. Grens, genos, sanskrit dschanas, gothisch
(nach der obigen Regel) kuni, altnordisch und angel-
sächsisch kyn, englisch kin, mittelhochdeutsch künne
bedeuten gleichmässig G-eschlecht, Abstammung. Grens
im Lateinischen, genos im Griechischen, wird aber spe-
ziell für jenen (xeschlechtsverband gebraucht, der sich
gemeinsamer Abstammung (hier von einem gemein-
samen Stammvater) rühmt und durch gewisse gesell-
schaftliche und religiöse Einrichtungen zu einer beson-
dern Gremeinschaft verknüpft ist, dessen Entstehung
und Natur trotzdem allen unsern Geschichtschreibern
bis jetzt dunkel blieb.
Wir haben schon oben, bei der Punaluafamilie, ge-
sehn , was die Zusammensetzung einer Gens in der
ursprünglichen Form ist. Sie besteht aus allen Per-
sonen, die vermittelst der Punaluaehe und nach den in
ihr mit Nothwendigkeit herrschenden Vorstellungen die
anerkannte Nachkommenschaft einer bestimmten ein-
zelnen Stammmutter, der Gründerin der Gens, bilden.
Da in dieser Familienform die Vaterschaft ungewiss,
gilt nur weibliche Linie. Da die Brüder ihre Schwe-
stern nicht heirathen dürfen, sondern nur Frauen andrer
Abstammung, so fallen die mit diesen fremden Frauen
erzeugten Kinder nach Mutterrecht ausserhalb der Gens.
Es bleiben also nur die Nachkommen der Töchter
jeder Generation innerhalb des Geschlechtsverbandes;
die der Söhne gehn über in die Gentes ihrer Mütter.
Was wird nun aus dieser Blutsverwandtschaftsgruppe,
sobald sie sich als besondre Gruppe, gegenüber ähn-
lichen Gruppen innerhalb eines Stammes, konstituirt?
Als klassische Form dieser ursprünglichen Gens
nimmt Morgan die der Irokesen, speziell des Seneka-
stammes. Bei diesem gibt es acht Gentes, nach Thieren
benannt: 1) Wolf, 2) Bär, 3) Schildkröte, 4) Biber,
5) Hirsch, 6) Schnepfe, 7) Reiher, 8) Falke. In jeder
Gens herrscht folgender Brauch :
— 46 —
1. Sie erwählt den Sachem (Friedens Vorsteher) und
Häuptling (Kriegsanführer). Der Sachem muss aus der
G-ens selbst gewählt werden und sein Amt war erblich
in ihr, insofern es bei Erledigung sofort neu besetzt
werden musste ; der Kriegsanführer konnte auch ausser-
halb der G-ens gewählt werden und zeitweise ganz
fehlen. Zum Sachem wurde nie der Sohn des vorigen
gewählt, da bei den Irokesen Mutterrecht herrschte,
der Sohn also einer andern Qens angehörte 5 wohl aber
und oft, der Bruder oder Schwestersohn. Bei der Wahl
stimmten Alle mit, Männer und Weiber. Die Wahl
musste aber von den übrigen sieben Gentes bestätigt
werden, und dann erst wurde der Gewählte feierlich
eingesetzt, und zwar durch den gemeinsamen Rath des
ganzen Irokesenbundes. Die Bedeutung hiervon wird
sich später zeigen. Die Gewalt des Sachem innerhalb
der Gens war väterlich, rein moralischer Natur ; Zwangs-
mittel hatte er nicht. Daneben war er von Amts wegen
Mitglied des Stammesraths der Senecas wie des Bundes-
raths der Gesammtheit der Irokesen. Der Kriegshäupt-
ling hatte nur auf Kriegszügen etwas zu befehlen.
2. Sie setzt den Sachem und Kriegshäuptling nach
Belieben ab. Dies geschieht wieder von Männern und
Weibern zusammen. Die Abgesetzten sind nachher
einfache Krieger wie die andern, Privatpersonen. Der
Stammesrath kann übrigens auch Sachems absetzen,
selbst gegen den Willen der G-ens.
3. Kein Mitglied darf innerhalb der Gens heirathen.
Dies ist die Grundregel der Gens, das Band, das sie
zusammenhält; es ist der negative Ausdruck der sehr
positiven Blutsverwandtschaft, kraft deren die in ihr
einbegriffenen Individuen erst eine Gens werden. Durch
die Entdeckung dieser einfachen Thatsache hat Morgan
die Natur der Gens zum ersten Mal enthüllt. Wie
wenig die Gens bisher verstanden wurde, beweisen die
früheren Berichte über Wilde und Barbaren, wo die
verschiedenen Körperschaften, aus denen die Gentil-
ordnung sich zusammensetzt, unbegriffen und ununter-
schieden als Stamm, Clan, Thum u. s. w. durcheinander
geworfen wurden, und von diesen zuweilen gesagt wird.
— 47 —
dass die Heirath innerhalb einer solchen Körperschaft
verboten sei. Damit war denn die rettungslose Kon-
fusion gegeben, in der Herr MacLennan als Napoleon
auftreten und Ordnung schaffen konnte , durch den
Machtspruch: Alle Stämme theilen sich in solche,
innerhalb deren die Ehe verboten ist (exogame) und
solche, in denen sie erlaubt (endogame). Und nachdem
er so die Sache erst recht gründlich verfahren, konnte
er sich in den tiefsinnigsten Untersuchungen ergehen,
welche von seinen beiden abgeschmackten Klassen die
ältere sei : die Exogamie oder die Endogamie. Mit der
Entdeckung der auf Blutsverwandtschaft, und daraus
hervorgehender Unmöglichkeit der Ehe unter ihren Mit-
gliedern, begründeten Grens hörte dieser Unsinn von
selbst auf. — Es ist selbstverständlich, dass auf der
Stufe, auf der wir die Irokesen vorfinden, das Ehe-
verbot innerhalb der Grens unverbrüchlich eingehalten
wird.
4. Das Vermögen Verstorbener fiel an die übrigen
Grentilgenossen, es musste in der Grens bleiben. Bei
der Unbedeutendheit der Glegenstände, die ein Irokese
hinterlassen konnte, theilten sich die nächsten Grentil-
verwandten in die Erbschaft; starb ein Mann, dann
seine leiblichen Brüder und Schwestern und der Mutter-
bruder ; starb eine Frau, dann ihre Kinder und leib-
lichen Schwestern, nicht aber ihre Brüder. Ebendeshalb
konnten Mann und Frau nicht von einander erben, oder
die Kinder vom Vater.
5. Die Grentilgenossen schuldeten einander HüKe,
Schutz und namentlich Beistand zur Eache für Ver-
letzung durch Fremde. Der Einzelne verliess sich für
seine Sicherheit auf den Schutz der Grens und konnte
es ; wer ihn verletzte, verletzte die ganze Grens. Hier-
aus, aus den Blutbanden der Gl^ens, entsprang die Ver-
pflichtung zur Blutrache, die von den Irokesen unbe-
dingt anerkannt wurde. Erschlug ein Grentilfremder
einen Grentilgenossen, so war die ganze Gens des Ge-
tödteten zur Blutrache verpflichtet. Zuerst versuchte
man Vermittlung; die Gens des Tödters hielt ßath
und machte dem Rath der Gens des Getödteten Bei-
— 48 —
legungsanträge, meist Ausdrücke des Bedauerns und
bedeutende G-eschenke anbietend. Wurden diese ange-
nommen, war die Sache erledigt. Im andern Fall er-
nannte die verletzte Grens einen oder mehrere Rächer,
die den Tödter zu verfolgen und zu erschlagen ver-
pflichtet waren. Gleschah dies, so hatte die Gens des
Erschlagenen kein Recht, sich zu beklagen, der Fall
war ausgeglichen.
6. Die Grens hat bestimmte Namen oder Reihen von
Namen, die im ganzen Stamm nur sie gebrauchen darf,
so dass der Name des Einzelnen zugleich sagt, welcher
Grens er angehört. Ein Grentilname führt Grentilrechte
von vornherein mit sich,
7. Die Grens kann Fremde in sich adoptiren und
sie dadurch in den ganzen Stamm aufnehmen. Die
Kriegsgefangnen, die man nicht tödtete, wurden so ver-
mittelst Adoption in einer Grens Stammesmitglieder der
Senecas und erhielten damit die vollen Grentil- und
Stammesrechte. Die Adoption geschah auf Antrag ein-
zelner Grentilgenossen, Männer, die den Fremden als
Bruder resp. Schwester, Frauen, die ihn als Kind an-
nahmen; die feierliche Aufnahme in die Grens war zur
Bestätigung nöthig. Oft wurden so einzelne, ausnahms-
weise zusammengeschrumpfte Grentes durch Massen-
adoption aus einer andern Grens, mit Einwilligung die-
ser, neu gestärkt. Bei den Irokesen fand die feierliche
Aufnahme in die Grens in öffentlicher Sitzung des
Stammesraths statt, wodurch sie thatsächlich eine
religiöse Ceremonie wurde.
8. Spezielle religiöse Feierlichkeiten kann man bei
indianischen Grentes schwerlich nachweisen; aber die
religiösen Ceremonien der Indianer hängen mehr oder
minder mit den Grentes zusammen. Bei den sechs jähr-
lichen religiösen Festen der Irokesen waren die Sachems
und Kriegshäuptlinge der einzelnen Grentes von Amts-
wegen den „Grlaubenshütern" zugezählt und hatten
priesterliche Funktionen.
9. Die Gens hat einen gemeinsamen Begräbniss-
platz. Dieser ist bei den mitten unter Weissen ein-
geengten Irokesen des Staats New- York jetzt ver-
— 49 —
scliwunden, hat aber früher bestanden. Bei andern In-
dianern besteht er noch; so bei den den Irokesen nah
verwandten Tuscaroros, die, obgleich Christen, für jede
Gens eine bestimmte Eeihe im Kirchhof haben, so dass
zwar die Mutter in derselben Reihe begraben wird wie
die Kinder, aber nicht der Vater. Und auch bei den
Irokesen geht die ganze Gens eines Verstorbenen zum
Begräbniss, besorgt das Grab, die Grabreden etc.
10. Die Gens hat einen Rath, die demokratische
Versammlung aller männlichen und weiblichen erwach-
senen Gentilen, alle mit gleichem Stimmrecht. Dieser
Rath erwählte Saohems und Kriegshäuptlinge und setzte
sie ab; e.benso die übrigen „Glaubenshüter"; er be-
schloss über Bussgaben (Wergeid) oder Blutrache für
gemordete Gentilen ; er adoptirte Fremde in die Gens.
Kurz er war die souveraine Gewalt in der Gens.
Dies sind die Befugnisse einer typischen indianischen
Gens. „Alle ihre Mitglieder sind freie Leute, verpflich-
tet Einer des Andern Freiheit zu schützen; gleich in
persönlichen Rechten — weder Sachems noch Kriegs-
führer beanspruchen irgend welchen Vorrang; sie bilden
eine Brüderschaft, verknüpft durch Blutbande. Frei-
heit, Gleichheit, Brüderlichkeit, obwohl nie formulirt,
waren die Grundprincipien der Gens, und diese war
wiederum die Einheit eines ganzen gesellschaftlichen
Systems, die Grundlage der organisirten indianischen
Gesellschaft. Das erklärt den unbeugsamen Unabhängig-
keitssinn und die persönliche Würde des Auftretens,
die Jedermann bei den Indianern anerkennt."
Zur Zeit der Entdeckung waren die Indianer von
ganz Nordamerika in Gentes organisirt, nach Mutter-
recht. Nur in einigen Stämmen, wie den der Dacotas,
waren die Gentes verfallen, und in einigen andern,
Ojibwas, Omahas, waren sie nach Vaterrecht organisirt.
Bei sehr vielen indianischen Stämmen mit mehr als
fünf oder sechs Gentes finden wir je drei, vier oder
mehr Gentes zu einer besondern Gruppe vereinigt, die
Morgan in getreuer Uebertragung des indianischen
Namens nach ihrem griechischen Gegenbild Phratrie
(Brüderschaft) nennt. So haben die Senekas zwei Phra-
4
— 50 ~
trien ; die erste umfasst die Gentes 1 — 4, die zweite
die Grentes 5 — 8. Die nähere Untersuchung zeigt, dass
diese Phratrien meist die ursprünglichen Grentes dar-
stellen, in die sich der Stamm anfänglich spaltete;
denn bei dem Heirathsverbot innerhalb der Gi-ens musste
jeder Stamm nothwendig mindestens zwei Grentes um-
fassen, um selbständig bestehn zu können. Im Mass
wie sich der Stamm vermehrte, spaltete sich jede Grens
wieder in zwei oder mehrere, die nun jede als beson-
dere Grens erscheinen, während die ursprüngliche Grens,
die alle Tochtergentes umfasst, fortlebt als Phratrie.
Bei den Senekas und den meisten andern Indianern
sind die Grentes der einen Phratrie Brudergentes, wäh-
rend die der andern ihre Yettergentes sind — Bezeich-
nungen, die im amerikanischen Verwandtschaftssystem,
wie wir sehen, einen sehr reellen und ausdrucksvollen
Sinn haben. Ursprünglich durfte auch kein Seneca
innerhalb seiner Phratrie heirathen, doch ist dies längst
ausser Grebrauch gekommen und auf die Grens beschränkt.
Tradition der Senekas war, dass Bär und Hirsch die
beiden ursprünglichen Grentes seien, von denen die
andern abgezweigt. Nachdem diese neue Einrichtung
einmal eingewurzelt, wurde sie nach dem Bedürfniss
modificirt ; starben Grentes einer Phratrie aus, so wurden
zuweilen zur Ausgleichung ganze Grentes aus andern
Phratrien in jene versetzt. Daher finden wir bei ver-
schiedenen Stämmen die gleichnamigen Grentes ver-
schieden gruppirt in den Phratrien.
Die Punktionen der Phratrie bei den Irokesen sind
theils gesellschaftliche, theils religiöse. 1. Das Ball-
spiel spielen die Phratrien gegen einander; jede schickt
ihre besten Spieler vor, die Uebrigen sehen zu, jede
Phratrie besonders aufgestellt, und wetten gegen ein-
ander auf das Grewinnen der Ihrigen. — 2. Im Stammes-
rath sitzen die Sachems und Kriegsführer jeder Phratrie
zusammen, die beiden Gruppen einander gegenüber,
jeder Redner spricht zu den Repräsentanten jeder Phra-
trie als zu einer besondern Körperschaft. — 3. War
ein Todtschlag im Stamm vorgekommen, wo Tödter
und Getödtete nicht zu derselben Phratrie gehörten,
— 51 —
so appellirte die verletzte Glens oft an ihre Bruder-
gentes ; diese hielten einen Phratrienrath und wandten
sicli an die andre Phratrie als G-esammtlieit, damit
diese ebenfalls einen Rath versammle zur Beilegung
der Sache. Hier tritt also die Phratrie wieder als ur-
sprüngliche Grens auf, und mit grösserer Aussicht auf
Erfolg als die schwächere einzelne Grens, ihre Tochter.
— 4. Bei Todesfällen hervorragender Leute übernahm
die entgegengesetzte Phratrie die Besorgung der Be-
stattung und der Begräbnissfeierlichkeiten, während die
Phratrie des Terstorbenen als leidtragend mitging.
Starb ein Sachem, so meldete die entgegengesetzte
Phratrie die Erledigung des Amts dem Bundesrath der
Irokesen an. — 5. Bei der Wahl eines Sachems kam
ebenfalls der Phratrienrath in"s Spiel. Bestätigung durch
die Brudergentes wurde als ziemlich selbstverständlich
angesehn, aber die Grentes der andern Phratrie mochten
opponiren. In solchem Fall kam der Rath dieser Phra-
trie zusammen ; hielt er die Opposition aufrecht, so
war die Wahl wirkungslos. — 6. Früher hatten die
Irokesen besondere religiöse Mysterien, von den Weissen
medicine-lodges genannt. Diese wurden bei den Senekas
gefeiert durch zwei religiöse Grenossenschaften, mit
regelrechter Einweihung für neue Mitglieder; auf jede
der beiden Phratrien entfiel eine dieser Grenossenschaf-
ten. — 7. Wenn, wie fast sicher, die vier linages (Gre-
schlechter), die die vier Viertel von Tlascalä zur Zeit
der Eroberung bewohnten, vier Phratrien waren, so ist
damit bewiesen, dass die Phratrien wie bei den Grriechen
und ähnliche Greschlechtsverbände bei den Deutschen,
auch als militärische Einheiten galten ; diese vier linages
zogen in den Kampf, jede einzelne als besondre Schaar,
mit eigner Uniform und Fahne und unter eignem
Führer.
Wie mehrere Grentes eine Phratrie, so bilden, in
der klassischen Form, mehrere Phratrien einen Stamm ;
in manchen Fällen fehlt das Mittelglied, die Phratrie,
bei stark geschwächten Stämmen. Was bezeichnet einen
Indianerstamm in Amerika?
1. Ein eignes Gebiet und ein eigner Name. Jeder
— 52 —
Stamm besass ausser dem Ort seiner wirklichen Nieder-
lassung nocli ein beträchtliches Gebiet zu Jagd und
Fischfang. Darüber hinaus lag ein weiter, neutraler
Landstrich, der bis an's (lebiet des nächsten Stammes
reichte, bei sprachverwandten Stämmen geringer, bei
nicht sprachverwandten grösser war. Es ist dies der
Grrenzwald der Deutschen, die Wüste, die Cäsars Sueven
um ihr Grebiet schaffen, das isarnholt (dänisch jarnved,
limes Danicus) zwischen Dänen und Deutschen, der
Sachsenwald und der branibor (slavisch = Schutzwald),
von dem Brandenburg seinen Namen trägt, zwischen
Deutschen und Slaven. Das solchergestalt durch un-
sichere Grrenzen ausgeschiedne Grebiet war das G-emein-
land des Stamms, von Nachbarstämmen als solches an-
erkannt, von ihm selbst gegen Uebergriffe vertheidigt.
Die Unsicherheit der Grenzen wiu'de meist erst prak-
tisch nachtheilig, wenn die Bevölkerung sich stark ver-
mehrt hatte. — Die Stammesnamen erscheinen meist
mehr zufällig entstanden als absichtlich gewählt; mit
der Zeit kam es häufig vor, dass ein Stamm von
den Nachbarstämmen mit einem andern als dem von
ihm selbst gebrauchten bezeichnet wurde; ähnlich wie
die Deutschen ihren ersten geschichtlichen Gesaramt"
namen, Germanen, von den Gelten auferlegt bekamen.
2. Ein besondrer, nur diesem Stamm eigenthüm-
licher Dialekt. In der That fallen Stamm und
Dialekt der Sache nach zusammen ; Neubildung von
Stämmen und Dialekten durch Spaltung ging noch bis
vor Kurzem in Amerika vor sich und wird auch jetzt
kaum ganz aufgehört haben. Wo zwei geschwächte
Stämme sich zu einem verschmolzen haben, kommt es
ausnahmsweise vor, dass im selben Stamm zwei nah-
verwandte Dialekte gesprochen werden. Die Durch-
schnittsstärke amerikanischer Stämme ist unter 2000
Köpfe ; die Tscherokesen indess sind an 26,000 stark,
die grösste Zahl Indianer in den Vereinigten Staaten,
die denselben Dialekt sprechen.
3. Das Recht, die von den Gentes erwählten Sachems
und Kriftgsführer feierlich einzusetzen und
— 53 —
4. Das Recht, sie wieder abzusetzen, auch gegen
den Willen ihrer Gens. Da diese Sachems und Kriegs-
fiihrer Mitglieder des Staminesraths sind, erklären
sich diese E-echte des Stamms ihnen gegenüber von
selbst. Wo sich ein Bund von Stämmen gebildet
hatte und die G-esammtzahl der Stämme in einem
Bundesrath vertreten war, gingen obige Eechte auf
diesen über.
5. Der Besitz gemeinsamer religiöser Vorstellungen
(Mythologie) und Cultusverrichtungen. „Die Indianer
waren in ihrer ■ barbarischen Art ein religiöses Volk."
Ihre Mythologie ist noch keineswegs kritisch unter'-
sucht; sie stellten sich die Verkörperungen ihrer reli-
giösen Vorstellungen — Geister aller Art — bereits
unter menschlicher Gestalt vor, aber die Unterstufe
der Barbarei, auf der sie sich befanden, kennt noch
keine bildlichen Darstellungen, sogenannte Götzen. Es
ist ein in der Entwicklung zur Vielgötterei sich be-
findender Natur- und Elementarkultus. Die verschie-
denen Stämme hatten ihre regelmässigen Feste, mit
bestimmten Kultusformen, namentlich Tanz und Spielen;
der Tanz besonders war ein wesentlicher Bestandtheil
aller religiösen Eeierlichkeiten ; jeder Stamm hielt die
seinigen besonders ab.
6. Ein Stammesrath für gemeinsame Angelegen-
heiten. Er war zusammengesetzt aus sämmtlichen
Sachems und Kriegsführern der einzelnen Gentes, ihren
wirklichen weil stets absetzbaren Vertretern; er berieth
öffentlich, umgeben von den übrigen Stammesgliedern,
die das Hecht hatten dreinzureden und mit ihrer An-
sicht gehört zu werden ; der Rath entschied. In der
Regel wurde jeder Anwesende auf Verlangen gehört,
auch die Weiber konnten durch einen Redner ihrer
Wahl ihre Ansicht vortragen lassen. Bei den Irokesen
musste der endliche ßcschluss einstimmig gefasst werden,
wie dies auch in manchen Beschlüssen deutscher Mark-
gemeinden der Fall war. Dem Stammesrath lag ob
namentlich die Regelung des Verhältnisses zu fremden
Stämmen ; er empfing Gesandtschaften und sandte solche
ab, er erklärte Krieg und schloss Frieden. Kam es
— 54 —
zum Krieg, so wurde dieser meist von Freiwilligen
geführt. Im Prinzip galt jeder Stamm als im Kriegs-
zustand befindlich mit jedem andern Stamm, mit dem
er keinen ausdrücklichen Friedensvertrag geschlossen.
Kriegerische Auszüge gegen solche Feinde wurden
meist organisirt durch einzelne hervorragende Krieger;
sie gaben einen Kriegstanz, wer mittanzte, erklärte
damit seine Betheiligung am Zug. Die Kolonne wurde
sofort gebildet und in Bewegung gesetzt. Ebenso wurde
die Yertheidigung des angegriffenen Stammesgebiets
meist durch freiwillige Aufgebote geführt. Der Auszug
und die Rückkehr solcher Kolonnen gaben stets Anlass
zu öfi'entlichen Festlichkeiten. Grenehmigung des Stam-
mesraths zu solchen Auszügen war nicht erforderlich
und wurde weder verlangt noch gegeben. Es sind ganz
die Privatkriegszüge deutscher Gefolgschaften , wie
Tacitus sie uns schildert, nur dass bei den Deutschen
die G-efolgschaften bereits einen ständigeren Charakter
angenommen haben, einen festen Kern bilden, der schon
in Friedenszeiten organisirt wird und um den sich im
Kriegsfall die übrigen Freiwilligen gruppiren. Solche
Kriegskolonnen waren selten zahlreich ; die bedeutend-
sten Expeditionen der Indianer, auch auf grosse Ent-
fernungen, wurden von unbedeutenden Streitkräften
vollführt. Traten mehrere solche GTefolgschaften zu einer
grossen Unternehmung zusammen, so gehorchte jede
nur ihrem eignen Führer; die Einheit des Feldzugs-
plans wurde durch einen Rath dieser Führer gut oder
schlecht gesichert. Es ist die Kriegführung der Ala-
mannen im vierten Jahrhundert am Oberrhein, wie wir
sie bei Ammianus Marcelliniis geschildert finden.
7. In einigen Stämmen finden wir einen Oberhäupt-
ling, dessen Befugnisse indess sehr gering sind. Es
ist einer der Sachems, der in Fällen, die rasches Han-
deln erfordern, provisorische Massregeln zu treffen hat
bis zu der Zeit, wo der Rath sich versammeln und end-
gültig beschliessen kann. Es ist ein schwacher, aber
in der weiteren Entwicklung meist unfruchtbar geblie-
bener Ansatz zu einem Beamten mit vollstreckender
Gewalt ; dieser hat sich vielmehr, wie sich zeigen wird,
— 55 —
in den meisten Fällen, wo nicht überall, aus dem
obersten Heerführer entwickelt.
Ueber die Vereinigung im Stamm kam die grosse
Mehrzahl der amerikanischen Indianer nicht hinaus.
In wenig zahlreichen Stämmen, durch weite Grenz-
striche von einander geschieden, durch ewige Kriege
geschwächt, besetzten sie mit wenig Menschen ein
ungeheures Gebiet. Bündnisse zwischen verwandten
Stämmen bildeten sich hie und da aus augenblicklicher
Nothlage und zerfielen mit ihr. Aber in einzelnen
Gegenden hatten sich ursprünglich verwandte Stämme
aus der Zersplitterung wieder zusammen geschlossen
zu dauernden Bünden, und so den ersten Schritt gethan
zur Bildung von Nationen. In den Vereinigten Staaten
finden wir die entwickeltste Form eines solchen Bundes
bei den Irokesen. Von ihren Sitzen westlich vom Mis-
sissippi ausziehend, wo sie wahrscheinlich einen Zweig
der grossen Dacota-Familie gebildet, Hessen sie sich
nach langer Wanderung im heutigen Staat New- York
nieder, in fünf Stämme getheilt: Senekas, Cayugas,
Onondagas, Oneidas und Mohawks. Sie lebten von Fisch,
Wild und rohem Gartenbau, wohnten in Dörfern, die
meist durch ein Pfahl werk geschützt. Nie über 20,000
Köpfe stark, hatten sie in allen fünf Stämmen ein e
Anzahl von Gentes gemeinsam, sprachen nahverwandte
Dialekte derselben Sprache und besetzten nun ein
zusammenhängendes Gebiet, das unter die fünf Stämme
vertheilt war. Da dies Gebiet neu erobert, war gewohn-
heitsmässiges Zusammenhalten dieser Stämme gegen
die Verdrängten natürlich, und entwickelte sich, spä-
testens Anfangs des 15. Jahrhunderts, zu einem förm-
lichen „ewigen Bund", einer Eidgenossenschaft, die
auch sofort im Gefühl ihrer neuen Stärke einen an-
greifenden Charakter annahm, und auf der Höhe ihrer
Macht, gegen 1675, grosse Landstriche ringsumher er-
obert und die Bewohner theils vertrieben, theils tribut-
pflichtig gemacht hatte. Der Irokesenbund liefert die
fortgeschrittenste gesellschaftliche Organisation, zu der
es die Indianer gebracht, soweit sie die Unterstufe der
Barbarei nicht überschritten (also mit Ausnahme der
— 56 —
Mexikaner, Nemnexikaner und Peruaner). Die Grund-
bestimmungen des Bundes waren folgende :
1. Ewiger Bund, auf Grundlage vollkommener
Gleichheit und Selbständigkeit in allen Innern Stammes-
angelegenheiten, der fünf blutsverwandten Stämme.
Diese Blutsverwandtschaft bildete die wahre Grundlage
des Bundes. Von den fünf Stämmen hiessen drei die
Yäterstämme, und waren Brüder unter einander; die
beiden andern hiessen Sohnstämme und waren ebenfalls
Bruderstämme unter einander. Drei Gentes — die
ältesten — waren in allen fünf, andre drei in drei
Stämmen noch lebendig vertreten, die Mitglieder jeder
dieser Gentes allesammt Brüder durch alle fünf Stämme.
Die gemeinsame, nur dialektisch verschiedene Sprache
war Ausdruck und Beweis der gemeinsamen Ab-
stammung.
2. Das Organ des Bundes war ein Bundesrath von
50 Sachems, alle gleich in Rang und Ansehn ; dieser
Eath entschied endgültig über alle Angelegenheiten
des Bundes.
3. Diese 50 Sachems waren bei Stiftung des Bundes
auf die Stämme und Gentes vertheilt worden, als Trä-
ger neuer Aemter, ausdrücklich für Bundeszwecke er-
richtet. Sie wurden von den betreffenden Gentes bei
jeder Erledigung neu gewählt und konnten von ihnen
jederzeit abgesetzt werden ; das Recht der Einsetzung
in ihr Amt aber gehörte dem Bundesrath.
4. Diese Bundessachems waren auch Sachems in
ihren jedesmaligen Stämmen und hatten Sitz und Stimme
im Stammesrath.
5. Alle Beschlüsse des Bundesraths mussten ein-
stimmig gefasst werden.
6. Die Abstimmung geschah nach Stämmen, so dass
jeder Stamm und in jedem Stamm alle Rathsmitglieder
zustimmen mussten, um einen gültigen Beschluss zu
fassen.
7. Jeder der fünf Stammesräthe konnte den Bundes-
ratli berufen, dieser aber nicht sich selbst.
— 0/
8. Die Situngen fanden vor versammeltem Volk
statt ; jeder Irokese konnte das Wort ergreifen ; der
Rath allein entschied.
9. Der Bmid hatte keine persönliche Spitze, keinen
Chef der vollziehenden Grewalt.
10. Dagegen hatte er zwei oberste Kriegsführer,
mit gleichen Befugnissen und gleicher Grewalt (die
beiden „Könige" der Spartaner, die beiden Konsuln
in Rom).
Das war die ganze öffentliche Verfassung, unter der
die Irokesen über vierhundert Jahre gelebt haben und
noch leben. Ich habe sie ausführlicher nach Morgan
geschildert, weil wir hier Grelegenheit haben, die Or-
ganisation einer Gresellschaft zu studiren, die noch
keinen Staat kennt. Der Staat setzt eine von der
G-esammtheit der jedesmal Betheiligten getrennte, be-
sondre öffentliche Grewalt voraus, und Maurer, der mit
richtigem. Instinkt die deutsche Markverfassung als eine
vom Staat wesentlich verschiedne, wenn auch ihm
grossentheils später zu Grunde liegende, an sich rein
gesellschaftliche Institution erken?it — Maurer unter-
sucht daher in allen seinen Schriften das allmälige
Entstehn der öffentlichen Gewalt aus und neben den
ursprünglichen Verfassungen der Marken, Dörfer, Höfe
und Städte. Wir sehn bei den nordamerikanischen
Indianern, wie ein ursprünglich einheitlicher Volks-
stamm sich über einen ungeheuren Kontinent allmälig
ausbreitet, wie Stämme durch Spaltung zu Völkern,
ganzen Gruppen von Stämmen werden, die Sprachen
sich verändern, bis sie nicht nur einander unverständ-
lich werden, sondern auch fast jede Spur der ursprüng-
lichen Einheit verschwindet ; wie daneben in den
Stämmen die einzelnen Gentes sich in mehrere spalten,
die alten Muttergentes als Phratrien sich erhalten und
doch die Namen dieser ältesten Gentes bei weit ent-
fernten und lange getrennten Stämmen sich gleich
bleiben — der Wolf und der Bär sind Gentilnamen
noch bei einer Majorität aller indianischen Stämme.
Und auf sie alle passt im Ganzen und Grossen die oben
— 58 —
geschilderte Verfassung — nur dass Viele es nicht bis
zum Bund verwandter Stämme gebracht haben.
Wir sehen aber auch, wie sehr — die Gens als
gesellschaftliche Einheit einmal gegeben — die ganze
Verfassung von Gentes, Phratrien und Stamm sich mit
fast zwingender Nothwendigkeit — weil Natürlichkeit —
aus dieser Einheit entwickelt. Alle drei sind Gruppen
verschiedner Abstufungen von Blutsverwandtschaft, jede
abgeschlossen in sich und ihre eignen Angelegenheiten
ordnend, jede aber auch die andre ergänzend. Und der
Kreis der ihnen anheimfallenden Angelegenheiten um-
fasst die Gesammtheit der öffentlichen Angelegenheiten
des Barbaren der Unterstufe. Wo wir also bei einem
Volk die Gens als gesellschaftliche Einheit vorfinden,
werden wir auch nach einer ähnlichen Organisation des
Stammes suchen dürfen wie die hier geschilderte ; und
wo hinreichende Quellen vorliegen, wie bei Griechen
und Römern, werden wir sie nicht nur finden, sondern
uns auch überzeugen, dass wo die Quellen uns im Stich
lassen, die Vergleichung der amerikanischen Gesell-
schaftsverfassung uns über die wichtigsten Zweifel und
ßäthsel hinweghilft.
Und es ist eine wunderbare Verfassung in all ihrer
Kindlichkeit und Einfachheit, diese Gentilverfassung !
Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel,
Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Ge-
fängnisse, ohne Prozesse, geht Alles seinen geregelten
Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesammt-
heit derer, die es angeht, die Gens oder der Stamm,
oder die einzelnen Gentes unter sich — nur als äusser-
stes, selten angewandtes Mittel droht die Blutrache,
von der unsre Todesstrafe auch nur die civilisirte
Form ist, behaftet mit allen Vortheilen und Nachtheilen
der Civilisation. Obwohl viel mehr gemeinsame Ange-
legenheiten vorhanden* sind als jetzt — die Haushaltung
ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch,
der Boden ist Stammesbesitz, nur die Gärtchen sind
den Haushaltungen vorläufig zugewiesen — so braucht
man doch nicht eine Spur unsers weitläuftigen und
verwickelten Verwaltungsapparats. Die Betheiligten
— 59 —
entscheiden, und in den meisten Fällen hat jahrhun-
dertelanger Grebrauch bereits Alles geregelt. Arme und
Bedürftige kann es nicht geben — die! kommunistische
Haushaltung und die Grens kennen ihre "Verpflichtungen
gegen Alte, Kranke und im Krieg Grelähmte. Alle
sind gleich und frei — auch die Weiber. Für Sklaven
ist noch kein Eaum, für Unterjochung fremder Stämme
in der Regel auch noch nicht. Als die Irokesen um
1651 die Eries und die „Neutrale Nation" besiegt hatten,
boten sie ihnen an, als Grleichberechtigte in den Bund
zu 'treten; erst als die Besiegten dies weigerten, wur-
den sie aus ihrem Grebiet vertrieben. Und welche Männer
mid Weiber eine solche Gresellschaft erzeugt, beweist
die Bewundrung aller Weissen, die mit unverdorbnen
Indianern zusammenkamen, vor der persönlichen Würde,
Geradheit, Charakterstärke und Tapferkeit dieser Bar-
baren.
Yon der Tapferkeit haben wir ganz neuerdings in
Afrika Beispiele erlebt. Die ZulukafFern vor einigen
Jahren wie die Nubier vor ein paar Monaten — beides
Stämme, bei denen Grentileinrichtungen noch nicht aus-
gestorben — haben gethan, was kein europäisches Heer
thun kann. Nur mit Lanzen und Wurfspeeren bewaff-
net, ohne Feuergewehr, sind sie im Kugelregen der
Hinterlader der englischen Infanterie — der anerkannt
ersten der Welt für das geschlossene Gefecht — bis •
an die Bajonette vorgerückt und haben sie mehr als
einmal in Unordnung gebracht und selbst geworfen,
trotz der kolossalen Ungleichheit der Waffen und trotz-
dem dass sie gar keine Dienstzeit haben und nicht
wissen was Exerciren ist. Was sie aushalten und leisten
können, beweist die Klage der Engländer, dass ein
Kaffer in 24 Stunden einen längeren Weg rascher zu-
rücklegt als ein Pferd — der kleinste Muskel springt
vor, hart und gestählt, wie Peitschenschnur, sagte ein
englischer Maler.
So sahen die Menschen und die menschliche Gesell-
schaft aus, ehe die Scheidung in verschiedne Klassen
vor sich gegangen war. Und wenn wir ihre Lage ver-
gleichen mit der der ungeheuren Mehrzahl der heuti-
— Bo-
gen civilisirten Menschen, so ist der Abstand enorm
zwischen dem heutigen Proletarier und Kleinbauer und
dem alten freien Gentilgenossen.
Das ist die eine Seite. Vergessen wir aber nicht,
dass diese Organisation dem Untergang geweiht war.
lieber den Stamm ging sie nicht hinaus ; der Bund der \
Stämme bezeichnet schon den Anfang ihrer Untergrabung,
wie sich zeigen wird, und wie sich schon zeigt© iia
den Unterjochungsversuchen der Irokesen. Was ausser-
halb des Stammes, war ausserhalb des Rechts. Wo
nicht ausdrücklicher Friedensvertrag vorlag, herrschte
Krieg von Stamm zu Stamm, und der Krieg wurde
geführt mit der Grrausamkeit, die den Menschen vor
den übrigen Thieren auszeichnet und die erst später
gemildert wurde durch das Interesse. Die Gentil-
verfassung in ihrer Blüte, wie wir sie in Amerika
sahen, setzte voraus eine äusserst unentwickelte Pro-
duktion, also eine äusserst dünne Bevölkerung auf
weitem Gebiet; also ein fast vollständiges Beherrscht-
sein des Menschen von der ihm fremd gegenüber-
stehenden, unverstandnen äussern Natur, das sich
widerspiegelt in den kindischen religiösen Vorstel-
lungen. Der Stamm blieb die Grenze für den Men-
schen, sowohl dem Stammesfremden, als auch sich selbst,
gegenüber: der Stamm, die Gens und ihre Einrich-
tungen waren heilig und unantastbar, waren eine von
Natur gegebene höhere Macht, der der Einzelne in
Fühlen, Denken und Thun unbedingt unterthan blieb.
So imposant die Leute dieser Epoche uns erscheinen,
so sehr sind sie ununterschieden Einer vom Andern,
sie hängen noch, wie Marx sagt, an der Nabelschnur
des naturwüchsigen Gemeinwesens. Die Macht dieser
naturn^üchsigen Gemeinwesen musste gebrochen werden
— sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen
durch Einflüsse, die uns von vornherein als eine De-
gradation erscheinen, als ein Sündenfall von der ein-
fachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft.
Es sind die niedrigsten Interessen — gemeine Hab-
gier, brutale Genusssucht, schmutziger Geiz, eigen-
süchtiger Raub an Gemeinbesitz — die die neue, civi-
— 61 —
lisirte , die Klassengesellschaft einweihen ; es sind die
schmählichsten Mittel — Diebstahl, Vergewaltigung,
Hinterlist, Verrath, die die alte klassenlose Gentil-
gesellschaft unterhöhlen und zu Fall bringen. Und
die neue G-esellschaft selbst, während der ganzen
dritthalbtausend Jahre ihres Bestehens , ist sie nie
etwas andres gewesen, als die Entwicklung der kleinen
Minderzahl auf Kosten der ausgebeuteten und unter-
drückten grossen Mehrzahl, und sie ist dies jetzt mehr
als je zuvor.
IV. Die griecliische Gens.
r Grrieohen wie Pelasger und andre stammverwandte
Völker waren schon seit vorgeschichtlicher Zeit geord-
net nach derselben organischen Reihe wie die Ameri-
kaner : Grens, Phratrie, Stamm, Bund von Stämmen.
Die Phratrie konnte fehlen wie bei den Doriern, der
Bund von Stämmen brauchte noch nicht überall aus-
gebildet zu sein, aber in allen Fällen war die Grens die
Einheit. Zur Zeit, wo die Grriechen in die G-eschichte
eintreten, stehn sie an der Schwelle der Civilisation ;
zwischen ihnen und den amerikanischen Stämmen, von
denen oben die Rede war, liegen fast zwei ganze grosse
Entwicklungsperioden, um welche die Grriechen der
Heroenzeit den Irokesen voraus sind. Die Grens der
Grriechen ist daher auch keineswegs mehr die archaische
der Irokesen, der Stempel der Punaluafamilie fängt an
sich bedeutend zu verwischen. Das Mutterrecht ist dem
Vaterrecht gewichen ; und damit hat der aufkommende
Privatreichthum seine erste Bresche in die Grentil-
verfassung gelegt. Eine zweite Bresche war natürliche
Folge der ersten : da nach Einführung des Vaterrechts
das Vermögen einer reichen Erbin durch ihre Heirath
an ihren Mann, also in eine andre Grens gekommen
wäre, durchbrach man die Grrundlage alles Grentilrechts,
und erlaubte nicht nur, sondern gebot in diesem Fall,
dass das Mädchen innerhalb der GTens heirathete, um
dieser das Vermögen zu erhalten.
Nach Grrote's griechischer Gleschichte wurde speciell
■die athenische Grens zusammengehalten durch
1. Gemeinsame religiöse Feierlichkeiten, und aus-
— 63 —
schliessliches Recht des Priestertliums zu Ehren eines
bestimmten G-ottes, des angeblichen Stammvaters der
Gi-ens, der in dieser Eigenschaft durch einen besondem
Beinamen bezeichnet wurde;
2. Gremeinsamen Begräbnissplatz (vgl. Demosthenes'
Eubulides) ;
3. Gregenseitiges Beerbungsrecht ;
4. Gregenseitige Verpflichtung zu Hülfe, Schutz und
Unterstützung bei Vergewaltigung;
5. Gregenseitiges Recht und Verpflichtung zur Hei-
rath in der Grens in gewissen Fällen, besonders wo es
Waisentöchter oder Erbinnen betraf;
6. Besitz, wenigstens in einigen Fällen, von gemein-
samem Eigenthum mit einem eignen Archen (Vorsteher)
und Schatzmeister.
Sodann band die Vereinigung in der Phratrie meh-
rere Grentes zusammen, doch weniger eng; doch auch
hier finden wir gegenseitige Rechte und Pflichten ähn-
licher Art, besonders Gremeinsamkeit bestimmter Reli-
gionsübungen und das Recht der Verfolgung, wenn ein
Phrator getödtet worden. Die Gresammtheit der Phra-
trien eines Stammes hatte wiederum gemeinsame, regel-
mässig wiederkehrende heilige Feierlichkeiten unter
Vortritt eines aus den Adligen (Eupatriden) gewählten
Phylobasileus (Stammvorstehers).
Soweit Grrote. Und Marx fügt hinzu: „Durch die
griechische Grens guckt der Wilde (Irokese z. B.) aber
auch unverkennbar durch." Er wird noch unverkenn-
barer, sobald wir etwas weiter untersuchen. Der grie-
chischen Grens kommt nämlich ferner zu :
7. Abstammung nach Vaterrecht;
8. Verbot der Heirath in der Grens ausser im Fall
von Erbinnen. Diese Ausnahme, und ihre Fassung als
Grebot, beweisen die Greltung der alten Regel. Diese
folgt ebenfalls aus dem allgemein gültigen Satz, dass
die Frau durch die Heirath auf die religiösen Riten
ihrer Grens verzichtete und in die ihres Mannes über-
trat, in dessen Phratrie sie auch eingeschrieben wurde.
Heirath ausserhalb der Grens war hiernach und nach
«iner berühmten Stelle des Dikäarchus Regel, und
— 64 —
Becker im Oharikles nimmt geradezu an, dass Niemand
innerhalb seiner eigenen Grens heirathen durfte.
9. Das Recht der Adoption in die Gens ; es erfolgte
durch Adoption in die Familie, aber mit öjffentlichen
Formalitäten und nur ausnahmsweise.
10. Das Recht, die Vorsteher zu erwählen und ab-
zusetzen. Dass jede GTens ihren Archon hatte, wissen
wir ; dass das Amt erblich in bestimmten Familien sei,
wird nirgends gesagt. Bis an's Ende der Barbarei ist
die Yermuthung stets gegen die Erblichkeit, die ganz
unverträglich ist mit Zuständen, wo Reiche und Arme
innerhalb der Gens vollkommen gleiche Rechte hatten.
Nicht nur Grote, sondern auch Niebuhr, Mommsen
und alle andern bisherigen Geschichtschreiber des klas-
sischen Alterthums sind gescheitert an der Gens. So
richtig sie auch viele ihrer Merkmale aufgezeichnet
haben, so sahen sie in ihr stets eine Gruppe von
Familien, und machten es sich damit unmöglich, die
Natur und den Ursprung der Gens zu verstehn. Die
Familie ist unter der Gentilverfassung nie eine Orga-
nisationseinheit gewesen und konnte es nicht sein, weil
Mann und Frau nothwendig zu zwei verschiedenen
Gentes gehörten. Die Gens ging ganz ein in die Phra-
trie, die Phratrie in den Stamm; die Familie ging auf
halb in die Gens des Mannes und halb in die der
Frau. Auch der Staat erkennt im öffentlichen Recht
keine Familie an; sie existirt bis heute nur für das
Privatrecht. Und dennoch geht unsre ganze bisherige
Geschichtschreibung von der, namentlich im achtzehnten
Jahrhundert unantastbar gewordenen, absurden Voraus-
setzung aus, die monogamische Einzelfamilie, die kaum
älter ist als die Civilisation, sei der Krystallkern, um
den sich Gesellschaft und Staat allmälig angesetzt
habe
„Herrn Grote ferner zu bemerken, fügt Marx ein,
dass obgleich die Griechen ihre Gentes aus der Mytho-
logie herleiten, jene Gentes älter sind als die von
ihnen selbst geschaffene Mythologie mit ihren
Göttern und Halbgöttern."
Grote wird von Morgan mit Vorliebe angeführt,
— 65 —
weil er ein angesehener und doch ganz unverdächtiger
Zeuge. Er erzählt weiterhin, dass jede athenische Glens
einen von ihrem vermeintlichen Stammvater abgeleiteten
Namen hatte, dass vor Solon allgemein, und noch nach
Solon bei Abwesenheit eines Testaments, die Grentil-
genossen (gennetes) des Verstorbenen sein Vermögen
erbten, und dass im IT all von Todtschlag zunächst die
Verwandten, dann die ixentilgenossen und endlich die
Phratoren des Erschlagenen das Recht und die Pflicht
hatten, den Verbrecher vor den GTerichten zu verfolgen :
„alles was wir" von den ältesten athenischen G-esetzen
hören, ist begründet auf die Eintheilung in Gentes
und Phratrien."
Die Abstammung der Glentes von gemeinsamen Ur-
ahnen hat den „schulgelehrten Philistern" (Marx)
schweres Kopfbrechen gemacht. Da sie diese natürlich
für rein mythisch ausgeben, so können sie sich die
Entstehung einer GTens aus nebeneinanderstehenden,
ursprünglich gar nicht verwandten Familien platter-
dings nicht erklären, und doch müssen sie dies fertig
bringen, um nur das Dasein der GTentes zu erklären.
Da wird denn ein sich im Kreise drehender Wort-
schwall aufgeboten, der nicht über den Satz hinaus-
kommt : der Stammbaum ist zwar eine Fabel, aber die
Grens ist eine Wirklichkeit, und schliesslich heisst es
denn bei Glrote — mit Einschiebungen von Marx —
wie folgt: „Wir hören von diesem Stammbaum nur
selten, weil er vor die Oeflfentlichkeit nur in gewissen,
besonders feierlichen Fällen gebracht wird. Aber die
geringeren Grentes hatten ihre gemeinsamen Religions-
übungen (sonderbar dies, Mr. Grote !) und gemeinsamen
übermenschlichen Stammvater und Stammbaum ganz
wie die berühmteren (wie gar sonderbar dies, Herr
G-rote, bei geringeren Gentes !) ; der Grundplan und
die ideale Grundlage (werther Herr, nicht ideal, son-
dern carnal, germanice fleischlich!) war bei allen
dieselbe."
Marx fasst Morgan's Antwort hierauf wie folgt zu-
sammen: „Das der Gens in ihrer Urform — und die
Griechen hatten diese einst besessen wie andre Sterb-
— 6Q ^
Hohe — entsprechende Bluts verwandtschaftssystem be-
wahrte die Kenntniss der Verwandtschaften aller Mit-
glieder der Grentes unter einander. (Sie lernten dies
für sie entscheidend Wichtige durch Praxis von Kindes-
beinen.) Mit der monogamischen Familie fiel dies in
Vergessenheit. Der Grentilname schuf einen Stamm-
baum, neben dem der der Einzelfamilie unbedeutend
erschien Es war nunmehr dieser Name, der die That-
sache der gemeinsamen Abstammung seiner Träger zu
bewahren hatte; aber der Stammbaum der Gens ging
so weit zurück, dass die Mitglieder ihre gegenseitige
wirkliche Verwandtschaft nicht mehr nachweisen konn-
ten, ausser in beschränkter Zahl von Fällen bei neueren,
gemeinschaftlichen Vorfahren. Der Name selbst war
Beweis gemeinsamer Abstammung, und endgültiger
Beweis abgesehn von Adoptionsfällen. Dahingegen ist
die thatsächliche Läugnung aller Verwandtschaft zwi-
schen Grentilgenossen k la Grrote und Niebuhr, welche
die Grens in eine rein ersonnene und erdichtete Schöpfung
verwandelt, würdig „idealer" d. h. stubenhockerischer
Schrif cgelehrter. Weil die Verkettung der G-eschlechter,
namentlich mit Anbruch der Monogamie, in die Ferne
gerückt, und die vergangne Wirklichkeit im mytholo-
gischen Phantasiebild wiedergespiegelt erscheint, schlös-
sen und schliessen Philister-Biedermänner, dass der
Phantasiestammbaum wirkliche Gentes schuf!"
Die Phratrie war, wie bei den Amerikanern, eine
in mehrere Tochtergentes gespaltene und sie einigende
Muttergens, und leitete sie alle oft noch vom gemein-
samen Stammvater ab. So hatten nach Grote „alle
gleichzeitigen Glieder der Phratrie des Hekatäus einen
und denselben Gott zum Stammvater im sechszehnten
Glied" ; alle Gentes dieser Phratrie waren also buch-
stäblich Brudergentes. Die Phratrie kommt noch bei
Homer als militärische Einheit vor, in der berühmten
Stelle, wo Nestor dem Agamemnon räth: Ordne die
Männer nach Stämmen und nach Phratrien, dass die
Phratrie der Phratrie beistehe, und der Stamm dem
Stamm. — Sonst hat sie das Recht und die Pflicht der
Verfolgung der an einem Phrator begangnen Blutschuld,
— 67 —
also in früherer Zeit auch die Verpflichtung zur Blut-
rache. Sie hat ferner gemeinsame Heiligthümer und
Feste, wie denn die Ausbildung der gesammten grie-
chischen Mythologie aus dem mitgebrachten alt-arischen
Naturkultus wesentlich bedingt war durch die Grentes
und Phratrien und innerhalb ihrer vor sich ging. Fer-
ner hatte sie einen Vorsteher (Phratriarchos) und nach
De Coulanges auch Versammlungen und bindende Be-
schlüsse, eine Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Selbst
der spätere Staat, der die Gens ignorirte, liess der
Phratrie gewisse öffentliche Amts Verrichtungen.
Die Vereinigung mehrerer verwandten Phratrien
bildet den Stamm. In Attika gab es vier Stämme, zu
je drei Phratrien, von denen jede dreissig Gentes zählte.
Solche Abzirkelung der Gruppen setzt bewusstes, plan-
mässiges Eingreifen in die naturwüchsig entstandene
Ordnung voraus. Wie, wann und warum dies geschehn,
darüber schweigt die griechische Geschichte, von der
die Griechen selbst nur bis in's Heldenzeitalter hinein
sich Erinnerung bewahrt haben.
Dialektische Abweichung war bei den auf verhält-
nissmässig kleinem Gebiet zusammengedrängten Griechen
weniger entwickelt als in den weiten amerikanischen
Wäldern; doch auch hier finden wir nur Stämme der-
selben Hauptmundart zu einem grössern Ganzen ver-
einigt, und selbt in dem kleinen Attika einen beson-
dern Dialekt, der später als allgemeine Prosasprache
der herrschende wurde.
In den homerischen Gedichten finden wir die grie-
chischen Stämme meist schon zu kleinen Völkerschaften
Tereinigt, innerhalb deren Gentes, Phratrien und Stämme
indess ihre Selbständigkeit noch vollkommen bewahrten.
Sie wohnten bereits in mit Mauern befestigten Städten ;
die Bevölkeiungszahl stieg mit der Ausdehnung der
Heerden, des Feldbaus und den Anfängen des Hand-
werks ; damit wuchsen die Reichthumsverschiedenheiten
und mit ihnen das aristokratische Element innerhalb
der alten, naturwüchsigen Demokratie. Die einzelnen
Völkchen führten unaufhörliche Kriege um den Besitz
der besten Landstriche und auch wohl der Beute wegen;
— 68 —
Sklaverei der Kriegsgefangnen war bereits anerkannte
Einriclitung.
Die Verfassung dieser Stämme und Völkolien war
nun wie folgt.
1. Stehende Behörde war der Rath, bule, ur-
sprünglich wohl aus den Vorstehern der Gentes zu-
sammengesetzt, später, als deren Zahl zu gross wurde,
aus einer Auswahl, die Grelegenheit bot zur Ausbildung
und Stärkung des aristokratischen Elements ; wie denn
auch Dionysios gradezu den E,ath der Heroenzeit aus
den Vornehmen (kratistoi) zusammengesetzt sein lässt.
Der Eath entschied endgültig in wichtigen Angelegen-
heiten ; so fasst der von Theben, bei Aeschylos, den
für die gegebne Sachlage entscheidenden Beschluss, den
Eteokles ehrenvoll zu begraben, die Leiche des Poly-
nikes aber hinauszuwerfen, den Hunden zur Beute.
Mit Errichtung des Staats ging dieser Rath über in
den späteren Senat.
2. Die Volksversammlung (agora). Bei den
Irokesen fanden wir das Volk. Männer und Weiber,
die E,athsversammlung umstehend , dreinredend in
geordneter Weise und so ihre Beschlüsse beeinflussend.
Bei den homerischen G-riechen hat sich dieser „Umstand",
um einen altdeutschen Gerichtsausdruck zu gebrauchen,
bereits entwickelt zur vollständigen Volksversammlung,
wie dies ebenfalls bei den Deutschen der Urzeit der
Fall war. Sie wurde vom Rath berufen zur Entscheidung
wichtiger Angelegenheiten ; jeder Mann konnte das
Wort ergreifen. Die Entscheidung erfolgte durch Hand-
erheben (Aeschylos in den Schutzflehenden) oder durch
Zuruf. Sie war souverain in letzter Instanz, denn, sagt
Schömann (griech. Alterthümer), „handelt es sich um
eine Sache, zu deren Ausführung die Mitwirkung des
Volks erforderlich ist, so verräth uns Homer kein
Mittel, wie dasselbe gegen seinen Willen dazu ge-
zwungen werden könne". Es gab eben zu dieser Zeit,
wo jedes erwachsene männliche Stammesmitglied Krie-
ger war, noch keine vom Volk getrennte öflentliche
Gewalt, die ihm hätte entgesetzt werden können. Die
naturwüchsige Demokratie stand noch in voller Blüte,
— 69 —
und dies rnuss der Ausgangspunkt bleiben zur Beur-
theilung der Macht und der Stellung sowohl des Raths
wie des Basileus.
3. Der Heerführer (basileus). Hierzu bemerkt Marx :
„Die europäischen Glelehrten, meist geborne Fürsten-
bediente, machen aus dem Basileus einen Monarchen
im modernen Sinn. Dagegen verwahrt sich der Yankee-
ßepublikaner Morgan. Er sagt sehr ironisch, aber
wahr, vom öligen Grladstone und dessen „Juventus
Mundi" : Herr Grladstone präsentirt uns die griechischen
Häuptlinge der Heldenzeit als Könige und Fürsten,
mit der Zugabe, dass sie auch Grentlemen seien; er
selbst muss aber zugeben : im Granzen scheinen wir die
Sitte oder das Gesetz der Erstgeburtsfolge hinreichend,
aber nicht allzuscharf bestimmt vorzufinden." Es wird
auch wohl dem Herrn Gladstone selbst scheinen, dass
eine so verklausulirte Erstgeburtsfolge hinreichend,
wenn auch nicht allzuscharf, Igerade so viel werth ist
wie gar keine.
Wie es mit der Erblichkeit der Yorsteherschaften
bei den Irokesen und andern Indianern stand, sahen
wir. Alle Aemter waren Wahlämter meist innerhalb
einer Grens, und insofern in dieser erblich. Bei Er-
ledigungen wurde der nächste Glentilverwandte — Bru-
der oder Schwestersohn — allmälig vorgezogen, falls
nicht Grründe vorlagen, ihn zu übergehn. Gring also
bei den Grriechen unter der Herrschaft des Vaterrechts
das Amt des Basileus in der Eegel auf den Sohn oder
einen der Söhne über, so ist das nur Beweis, dass die
Söhne hier die Wahrscheinlichkeit der Nachfolge durch
Volkswahl für sich hatten, keineswegs aber Beweis
rechtskräftiger Erbfolge ohne Volkswahl. Was hier
vorliegt, ist bei Irokesen und Griechen die erste An-
lage zu besondern Adelsfamilien innerhalb den Gentes,
und bei den Griechen noch dazu die erste Anlage einer
künftigen erblichen Führerschaft oder Monarchie. Die
Vermuthung spricht also dafür, dass bei den Griechen
der Basileus entweder vom Volk gewählt oder doch
durch seine anerkannten Organe — Rath oder Agora —
_._ 70 —
bestätigt werden musste, wie dies für den römischen
„König" (Rex) galt.
In der Ilias erscheint der Männerbeherrscher Aga-
memnon nicht als oberster König der Griechen, son-
dern als oberster Befehlshaber eines Bundesheers vor
einer belagerten Stadt. Und auf diese seine Eigenschaft
weist Odysseus hin, als Zwist unter den Griechen aus-
gebrochen war, in der berühmten Stelle : nicht gut ist
die Vielkommandirerei, Einer sei Befehlshaber u. s. w.
(wobei noch der beliebte Vers mit dem Scepter spä-
terer Zusatz). „Odysseus hält hier keine Vorlesung
über eine Regierungsform, sondern verlangt Gehorsam
gegen den obersten Feldherrn im Kriege. Für die
Griechen, die vor Troja nur als Heer erscheinen, geht
es in der Agora demokratisch genug zu. Achilles,
wenn er von Geschenken, d. h. Vertheilung der Beute,
spricht, macht stets zum Vertheiler, weder den Aga-
memnon noch einen andern Basileus, sondern „die
Söhne der Achäer", d. h. das Volk. Die Prädikate:
von Zeus erzeugt, von Zeus ernährt, beweisen nichts,
da jede Gens von einem Gott abstammt, die des
Stammeshaupts schon von einem „vornehmeren" Gott
— hier Zeus. Selbst die persönlich Unfreien, wie der
Sauhirt Eumäus u. A. sind „göttlich" (dioi und theioi)
und dies in der Odyssee, also in viel späterer Zeit als
die Ilias ; in derselben Odyssee wird der Name Heros -. ■
noch dem Herold Mulios beigelegt wie dem blinden ^
Sänger Demodokos. Kurz, das Wort basiieia, das die
griechischen Schriftsteller für das homerische sogenannte
Königthum anwenden (weil die Heerführerschaft ihr
Hauptkennzeichen), mit Rath und Volksversammlung
daneben, bedeutet nur — militärische Demokratie."
(Marx.)
Der Basileus hatte ausser den militärischen noch
priesterliche und richterliche Amtsbefugnisse ; letztere
nicht näher bestimmt, erstere in seiner Eigenscliaft als
oberster Vertreter des Stamms oder Bundes von Stämmen.
Von bürgerlichen, verwaltenden Befugnissen ist nie die
Rede ; er scheint aber von Aratswegen Rathsmitglied
gewesen zu sein. Basileus mit König zu übersetzen,
— 71 —
ist also etymologisch ganz richtig, da König (Kuning)
von Kuui, Künne, abstammt und Vorsteher einer Gens
bedeutet. Aber der heutigen Bedeutung des Wortes
König entspricht der altgriechische Basileus in keiner
Weise. Thucydides nennt die alte Basileia ausdrück-
lich eine patrike, d. h. von Gentes abgeleitete, und
sagt, sie habe festbestimmte, also begrenzte Befugnisse
gehabt. Und Aristoteles sagt, die Basileia der Heroen-
zeit sei eine Führerschaft über Freie gewesen, und der
Basileus Heerführer, Eichter und Oberpriester; Eegie-
rungsgewalt im spätem Sinne hatte er also nicht.*)
Wir sehn also in der griechischen Verfassung der
Heldenzeit die alte Gentilorganisation noch in leben-
diger Kraft, aber auch schon den Anfang ihrer Unter-
grabung: Vaterrecht mit Vererbung des Vermögens an
die Kinder, wodurch die Reichthumsanhäufung in der
Familie begünstigt und die Familie eine Macht wurde
gegenüber der Gens; Rückwirkung der Reichthums-
verschiedenheit auf die Verfassung, vermittelst Bildung
der ersten Ansätze zu einem erblichen Adel und König-
thum ; Sklaverei, zunächst noch blos von Kriegsgefang-
nen, aber schon die Aussicht erölfnend auf Versklavung
der eignen Stammes- und selbst Gentilgenossen ; der
alte Krieg von Stamm gegen Stamm bereits ausartend
in systematische Räuberei zu Land und zur See, um
Vieh, Sklaven, Schätze zu erobern, in regelrechte Er-
werbsquelle ; kurz, Reichthum gepriesen und geachtet
als höchstes Gut, und die alten Gentilordnungen ge-
missbrauchtj um den gewaltsamen Raub von Reich-
*) "Wie dem griechischen Basileus, so ist auch dem aztekischea
Heerführer ein moderner Fürst untergesclioben worden. Morgan
unterwirft die erst missverständlichen und übertriebenen, später
direkt lügenhaften Berichte der Spanier zum ersten -Mal der histo-
rischen Kritik und weist nach, dass die Mexikaner auf der Mittel-
stufe der Barbarei, höher jedoch als die neumexikanischen PufbloB-
Indianer, standen, und dass ihre Verfassung, soweit di^ entstellten
Berichte sie erkennen lassen, dem entsprach : ein Hund dreier
Stämme, der eine Anzahl andrer zur Tributpflichtigkeit unterworfen
hatte, und der regiert wurde von einem Bundosrath und Bundes-
feldherm, aus welchem letzteren die Spanier einen „Kaiser" machten.
— 72 —
thtimern zu rechtfertigen. Es fehlte nur noch Eins:
eine Einrichtung, die die neuerworbenen Eeichthiimer
der Einzelnen nicht nur gegen die kommunistischen
Traditionen der Gentilordnung sicherstellte, die nicht
nur das früher so gering geschätzte Privateigenthmn
heiligte, und diese Heiligung für den höchsten Zweck
aller menschlichen GTemeinschaft erklärte, sondern die
auch die nacheinander sich entwickelnden neuen Formen
der Eigenthumser Werbung, also der stets beschleunigten
Vermehrung des Reichthums mit dem Stempel allge-
mein gesellschaftlicher Anerkennung versah ; eine Ein-
richtung, die nicht nur die aufkommende Spaltung der
Gesellschaft in Klassen verewigte, sondern auch das
Recht der besitzenden Klasse auf Ausbeutung der nicht
besitzenden, und die Herrschaft jener über diese.
Und diese Einrichtung kam. Der Staat wurde
erfunden.
V. Entstehung des athenischen Staats
Wie der Staat sich entwickelt hat, indem die Or-
gane der G-entilverfassung theils umgestaltet, theils
durch Einschiebung neuer Organe verdrängt, und end-
lich vollständig durch wirkliche Staatsbehörden ersetzt
wurden, während an die Stelle des in seinen Gentes,
Phratrien und Stämmen sich selbst schützenden wirk-
lichen „Volks in Waffen" eine diesen Staatsbehörden
dienstbare, also auch gegen das Volk verwendbare,
bewaffnete „öffentliche Gewalt" trat — davon können
wir wenigstens das erste Stück nirgends besser ver-
folgen als im alten Athen. Die Formverwandlungen
sind im Wesentlichen von Morgan dargestellt, den sie
erzeugenden ökonomischen Inhalt muss ich grossentheils
hinzufügen.
Zur Heroenzeit sassen die vier Stämme der Athener
in Attika noch auf getrennten Gebieten ; selbst die sie
zusammensetzenden zwölf Phratrien scheinen in den
zwölf Städten des Kekrops noch gesonderte Sitze gehabt
zu haben. Die Verfassung war die der Heroenzeit :
Volksversammlung, Volksrath, Basileus. Soweit die
geschriebene Geschichte zurückreicht, war der Grund
und Boden schon vertheilt und in Privateigenthum über-
gegangen, wie dies der gegen Ende der Oberstufe der
Barbarei bereits verhältnissmässig entwickelten Waaren-
produktion und dem ihr entsprechenden Waarenhandel
gemäss ist. Neben Korn wurde Wein und Oel gewonnen;
der Seehandel auf dem Aegäischen Meer wurde mehr
und mehr den Phöniziern entzogen und fiel grossen-
theils in attische Hände. Durch den Kauf und Verkauf
— 74 —
von Grundbesitz, durch die fortschreitende Theilung
der Arbeit zwischen Ackerbau und Handwerk, Handel
und Schiffahrt, mussten die Angehörigen der Gentes^
Phratrien und Stämme sehr bald durcheinander kommen,,
der Distrikt der Phratrie und des Stammes Bewohner
erhalten, die, obwohl Volksgenossen, doch diesen Körper-
schaften nicht angehörten, also in ihrem eignen Wohn-
ort fremd waren. Denn jede Phratrie und jeder Stamm
verwalteten in ruhigen Zeiten ihre Angelegenheiten
selbst, ohne nach Athen zum Volksrath oder Basileus
zu schicken. Wer aber im Gebiet der Phratrie oder
des Stamms wohnte, ohne ihm anzugehören, konnte an
dieser Verwaltung natürlich keinen Antheil nehmen.
Das geregelte Spiel der Organe der Gentilverfassung
kam damit so in Unordnung, dass schon zur Heroenzeit
Abhülfe nöthig wurde. Die dem Theseus zugeschriebne
Verfassung wurde eingeführt. Die Aenderung bestand
vor Allem darin, dass eine Centralverwaltung in Athen
eingerichtet, d. h. ein Theil der bisher von den Stämmen
selbständig verwalteten Angelegenheiten für gemein-
same erklärt und dem in Athen sitzenden gemeinsamen
ßath übertragen wurden. Hiermit gingen die Athener
einen Schritt weiter als irgend ein eingebornes Volk
in Amerika je gegangen : an die Stelle des blossen
Bundes nebeneinander wohnender Stämme trat ihre
Verschmelzung zu einem einzigen Volk. Damit ent-
sprang ein athenisches allgemeines Volksrecht, das über
den Rechtsbräuchen der Stämme und Gentes stand;
der athenische Bürger erhielt, als solcher, bestimmte
Rechte und neuen Rechtsschutz auch auf Gebiet, wo
er stammesfremd war. Damit war aber der erste Schritt
geschehn zur Untergrabung der Gentilverfassung ; denn
es war der erste Schritt zur späteren Zulassung von
Bürgern, die in ganz Attika staramesfremd waren, die
ganz ausserhalb der athenischen Gentilverfassung stan-
den und blieben. Eine zweite dem Theseus zugeschriebne
Einrichtung war die Eintheilung des ganzen Volks, ohne
Rücksicht auf Gens, Phratrie oder Stamm, in drei
Klassen : Eupatriden oder Adlige, Geomoren oder Acker-
bauer, und Demiurgen oder Handwerker, und die Ueber-
Weisung des ausschliesslichen Eechts der Aemterbesetzung
an die Adligen. Diese Eintheilung blieb zwar, mit Aus-
nahme der Aemterbesetzung durch den Adel, wirkungs-
los, da die beiden andern Klassen keine besondern
Rechte erhielten. Aber sie ist wichtig, weil sie uns
die neuen gesellschaftlichen Elemente vorführt, die sich
im Stillen entwickelt hatten. Sie zeigt, dass die ge-
wohnheitsmässige Besetzung der G-entilämter aus ge-
wissen Familien sich bereits zu einem wenig bestrittenen
Anrecht dieser Familien auf die Aemter ausgebildet
hatte, dass diese Familien, ausserdem mächtig durch
Reichthum, anfingen, ausserhalb ihrer Grentes sich zu
einer eignen bevorrechteten Klasse zusammenzuthun,
und dass der eben erst aufkeimende Staat diese An-
massung heiligte. Sie zeigt ferner, dass die Theilung
der Arbeit zwischen Landbauern und Handwerkern be-
reits genug erstarkt war, um der alten Grliederung nach
G-entes und Stämmen den Vorrang in gesellschaftlicher
Bedeutung streitig zu machen. Sie proklamirt endlich
den unverträglichen Gegensatz zwischen G-entilgesell-
schaft und Staat; der erste Versuch der Staatsbildung
besteht darin, die Gentes zu zerreissen, indem er die
Mitglieder einer jeden in Bevorrechtete und Zurück-
gesetzte, und diese wieder in zwei Gewerbsklassen
scheidet und so einander entgegensetzt.
Die politische Geschichte Athens von Einführung
dieser Verfassung bis auf Solon ist nur unvollkommen
bekannt. Das Amt des Basileus kam in Abgang; an
die Spitze des Staats traten aus dem Adel gewählte
Archonten. Die Herrschaft des Adels stieg mehr und
mehr, bis sie gegen das Jahr 600 vor unsrer Zeitrech-
nung unerträglich wurde. Und zwar war das Haupt-
mittel zur Unterdrückung der gemeinen Freiheit — das
Geld und der Wucher. Der Hauptsitz des Adels war
in und um Athen, wo der Seehandel, benebst noch
immer gelegentlich mit in den Kauf genommenem See-
raub, ihn bereicherte und den Geldreichthum in seinen
Händen konzentrirte. Von hier aus drang die sich ent-
wickelnde Geldwirthschaft wie zersetzendes Scheide-
wasser in die auf Natural wirthschaft gegründete, alther-
— 76 —
gebrachte Daseinsweise der Landgemeinden. Die Gentil-
verfassung ist mit Geldwirtlischaft absolut unverträglich;
der Ruin der attischen Parzellenbauern fiel zusammen mit
der Lockerung der sie schützend umschlingenden alten
Grentilbande. Der Schuldschein und die Grutsverpfän-
dung (denn auch die Hypothek hatten die Athener
schon erfunden) kaunten weder Gens noch Phratrie.
Und die alte G-entilverfassung kannte kein Geld, keinen
Yorschuss, keine Geldschuld. Daher bildete die sich
immer üppiger ausbreitende Geldherrschaft des Adels
auch ein neues Gewohnheitsrecht aus zur Sicherung
des Gläubigers gegen den Schuldner, zur Weihe der
Ausbeutung des Kleinbauern durch den Geldbesitzer.
Sämmtliche Feldfluren Attikas starrten von Pfandsäulen,
an denen verzeichnet stand, das sie tragende Grund-
stück sei dem und dem verpfändet um so und so viel
Geld. Die Aecker , die nicht so bezeichnet, waren
grossentheils bereits wegen verfallner Hypotheken oder
Zinsen verkauft, in das Eigenthum des adligen Wucherers
übergegangen ; der Bauer konnte froh sein, wenn ihm
erlaubt wurde, als Pächter darauf sitzen zu bleiben
und von einem Sechstel des Ertrags seiner Arbeit
zu leben, während er fünf Sechstel dem neuen
Herrn als Pacht zahlen musste. Noch mehr. Reichte
der Erlös des verkauften Grundstücks nicht hin zur
Deckung der Schuld, oder war diese Schuld ohne Siche-
rung durch Pfand aufgenommen, so musste der Schuld-
ner seine Kinder ins Ausland in die Sklaverei verkau-
fen, um den Gläubiger zu decken. Verkauf der Kinder
durch den Vater — das war die erste Frucht des Vater-
rechts und der Monogamie ! Und war der Blutsauger
dann noch nicht befriedigt, so konnte er den Schuldner
selbst als Sklaven verkaufen. Das war die angenehme
Morgenröthe der Civilisation beim athenischen Volk.
Früher, als die Lebenslage des Volks noch der
Gentilverfassung entsprach, war eine solche Umwälzung
unmöglich; imd hier war sie gekommen, man wusste
nicht wie. Gehn wir einen Augenblick zurück zu un-
sern Irokesen. Dort war ein Zustand undenkbar, wie
er sich jetzt den Athenern sozusagen ohne ihr Zuthun
— 77 —
und sicher gegen ihren Willen aufgedrängt hatte. Dort
konnte die sich Jahraus Jahrein gleich bleibende Weise,
den Lebensunterhalt zu produziren, nie solche, wie von
Aussen aufgezwungne Konflikte erzeugen, keinen GTegen-
satz von K.eich und Arm, von Ausbeutern und Aus-
gebeuteten. Die Irokesen waren noch weit entfernt
davon, die Natur zu beherrschen, aber innerhalb der
für sie geltenden Naturgrenzen beherrschten sie ihre
eigne Produktion. Abgesehn von schlechten Ernten in
ihren Grärtchen, von Erschöpfung des Fischvorraths
ihrer Seen und Flüsse, des Wildstandes ihrer Wälder,
wussten sie, was bei ihrer Art, sich ihren Unterhalt
zu erarbeiten, herauskam. Was herauskommen musste,
war der Lebensunterhalt, ob er kärglicher oder reich-
licher ausfiel; was aber nie herauskommen konnte, das
waren unbeabsichtigte gesellschaftliche Umwälzungen,
Zerreissung der Grentilbande, Spaltung der Gentil- und
Stammgenossen in entgegengesetzte, einander bekäm-
pfende Klassen. Die Produktion bewegte sich in den
engsten Schranken ; aber — die Produzenten beherrsch-
ten ihr eignes Produkt. Das war der ungeheure Vor-
zug der barbarischen Produktion, der mit dem Eintritt
der Civilisation verloren ging und den wiederzuerobern,
aber auf Grrundlage der jetzt errungenen gewaltigen
Naturbeherrschung durch den Menschen und der jetzt
möglichen freien Association, die Aufgabe der nächsten
Generationen sein wird.
Anders bei den Griechen. Der aufgekommene Privat-
besitz an Heerden und Luxusgeräth führte zum Aus-
tausch z «tischen Einzelnen, zur Verwandlung der Pro-
dukte in Waaren. Und hier liegt der Keim der ganzen
folgenden Umwälzung. Sobald die Produzenten ihr
Produkt nicht mehr direkt selbst verzehrten, sondern
es im Austausch aus der Hand gaben, verloren sie die
Herrschaft darüber. Sie wussten nicht mehr, was aus
ihm wurde, und die Möglichkeit war gegeben, dass das
Produkt dereinst verwandt werde gegen den Produ-
zenten, zu seiner Ausbeutung und Unterdrückung.
Darum kann keine Gesellschaft auf die Dauer die
Herrschaft über ihre eigne Produktion, und die Kon-
— 78 —
trole über die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Pro-
duktionsprocesses behalten, die nicht den Austausch
zwischen Einzelnen abschafft.
Wie rasch aber, nach dem Entstehn des Austausches
zwischen Einzelnen, und mit der Verwandlung der Pro-
dukte in Waaren, das Produkt seine Herrschaft über
den Produzenten geltend macht, das sollten die Athener
erfahren. Mit der Waarenproduktion kam die Bebauung
des Bodens durch Einzelne für eigne Rechnung, damit
bald das Grrundeigenthum Einzelner. Es kam ferner
das Geld, die allgemeine Waare, gegen die alle andern
austauschbar waren ; aber indem die Menschen das Geld
erfanden, dachten sie nicht daran, dass sie damit wieder
eine neue gesellschaftliche Macht schufen, die Eine
allgemeine Macht, vor der die ganze Gesellschaft sich
beugen musste. Und diese neue , ohne Wissen und
Willen ihrer eignen Erzeuger plötzlich emporgesprungne
Macht war es, die ihre Herrschaft, in der ganzen Bru-
talität ihrer Jugendlichkeit, den Athenern zu fühlen gab.
Was war zu machen ? Die alte Gentilverfassung
hatte sich nicht nur ohnmächtig erwiesen gegen den
Siegeszug des Geldes ; sie war auch absolut unfähig,
innerhalb ihres Rahmens selbst nur Raum zu finden
für so etwas wie Geld, Gläubiger und Schuldner,
Zwangseintreibung von Schulden. Aber die neue ge-
sellschaftliche Macht war einmal da, und fromme
Wünsche, Sehnsucht nach Rückkehr der guten alten
Zeit, trieben Geld und Zinswucher nicht wieder aus
der Welt. Und obendrein waren eine Reihe andrer,
untergeordneter Breschen in die Gentilverfassung gelegt.
Die Durcheinanderwürfelung der Gentilgenossen und
Phratoren auf dem ganzen attischen Gebiet, namentlich
in der Stadt Athen selbst, war von Geschlecht zu Ge-
schlecht grösser geworden, trotzdem dass auch jetzt
noch ein Athener zwar Grundstücke ausserhalb seiner
Gens verkaufen durfte, nicht aber sein Wohnhaus. Die
Theilung der Arbeit zwischen den verschiednen Pro-
duktionszweigen : Ackerbau, Handwerk, im Handwerk
wieder zahllose Unterarten, Handel, Schiffahrt u. s. w.
hatte sich mit den Fortschritten der Industrie und des
— 79 —
Verkehrs immer vollständiger entwickelt ; die Bevölke-
rung theilte sich nun nach ihrer Beschäftigung in
ziemlich feste Gruppen, deren Jede eine Reihe neuer,
gemeinsamer Interessen hatte, für die in der Gens oder
Phratrie kein Platz war, die also zu ihrer Besorgung
neue Aemter nöthig machten. Die Zahl der Sklaven
hatte sich bedeutend vermehrt und muss schon damals
■die der freien Athener weit überstiegen haben ; die
Gentilverfassung kannte ursprünglich keine Sklaverei,
also auch kein Mittel, diese Masse Unfreier im Zaum
zu halten. Und endlich hatte der Handel eine Menge
Fremder nach Athen gebracht, die dort des leichtern
Gelderwerbs wegen sich niederliessen und ebenfalls
nach der alten Verfassung recht- und schutzlos, und
trotz herkömmlicher Duldung ein störend fremdes Ele-
ment im Volk blieben.
Kurz, mit der Gentilverfassung ging es zu Ende.
Die Gesellschaft wuchs täglich mehr aus ihr heraus;
selbst die schlimmsten Uebel, die unter ihren Augen
-entstanden waren, konnte sie nicht hemmen noch heben.
Aber der Staat hatte sich inzwischen im Stillen ent-
wickelt. Die neuen, durch die Theilung der Arbeit
:zuerst zwischen Stadt und Land, dann zwischen den
verschiednen städtischen Arbeitszweigen geschaflFnen
Gruppen hatten neue Organe geschaffen zur Wahrneh-
mung ihrer Interessen ; Aemter aller Art waren ein-
gerichtet worden. Und dann brauchte der junge Staat
vor Allem eine eigne Macht, die bei den seefahrenden
Athenern zunächst nur eine Seemacht sein konnte, zu
■einzelnen kleinen Kriegen und zum Schutz der Handels-
schiffe. Es wurden, zu unbekannter Zeit vor Selon, die
Naukrarien errichtet, kleine Gebietsbezirke, zwölf in
jedem Stamm ; jede Naukrarie musste ein Kriegsschiff
stellen, ausrüsten und bemannen und stellte ausserdem
noch zwei Reiter. Diese Einrichtung griff die Gentil-
verfassung zwiefach an. Erstens indem sie eine öffent-
liche Gewalt schuf, die schon nicht mehr ohne Weiteres
mit der Gesammtheit des bewaffneten Volks zusammen-
fiel; und zweitens, indem sie zum ersten Mal das Volk
zu öffentlichen Zwecken eintheilte, nicht nach Verwandt-
— 80 —
Schaftsgruppen, sondern nach örtlichem Zusammen-
wohnen. Was das zu bedeuten hatte, wird sich zeigen.
Konnte die Gentilverfassung dem ausgebeuteten
Yolk keine Hülfe bringen, so blieb nur der entstehende
Staat. Und dieser brachte sie in der solonischen Ver-
fassung, indem er sich zugleich neuerdings auf Kosten
der alten Verfassung stärkte. Solon — die Art, wie
seine in das Jahr 594 vor unsre Zeitrechnung fallende
Reform durchgesetzt wurde, geht uns hier nichts an —
Solon eröffnete die Keihe der sogenannten politischen
Revolutionen und zwar mit einem Eingriff in das Eigen-
thum. Alle bisherigen Revolutionen sind Revolutionen
gewesen zum Schutz einer Art des Eigenthums gegen
eine andere Art des Eigenthums. Sie können das eine
nicht schützen, ohne das andere zu verletzen. In der
grossen französischen Revolution wurde das feudale
Eigenthum geopfert, um das bürgerliche zu retten ; in
der solonischen musste das Eigenthum der Grläubiger
herhalten zum Besten des Eigenthums der Schuldner.
Die Schulden wurden einfach für ungültig erklärt. Die
Einzelheiten sind uns nicht genau bekannt, aber Solon
rühmt sich in seinen Gedichten, die Pfandsäulen von
den verschuldeten Grundstücken entfernt und die wegen
Schulden in 's Ausland Verkauften und Geflüchteten
zurückgeführt zu haben. Dies war nur möglich durch
offne Eigenthumsverletzung. Und in der That, von der
ersten bis zur letzten sogenannten politischen Revolu-
tion sind sie alle gemacht worden zum Schutz des
Eigenthums — einer Art und durchgeführt durch
Konfiskation, auch genannt Diebstahl des Eigenthums
— einer andern Art. So wahr ist es, dass seit dritte-
halb tausend Jahren das Privateigenthum hat erhalten
werden können nur durch Eigenthumsverletzung.
Nun aber kam es darauf an, die Wiederkehr solcher
Versklavung der freien Athener zu verhindern. Dies
geschah zunächst durch allgemeine Massregeln, z. B.
durch das Verbot von Schuldverträgen, worin die Per-
son des Schuldners verpfändet wurde. Ferner wurde
ein grösstes Mass des von einem Einzelnen zu be-
sitzenden Grundeigenthums festgesetzt, um dem Heiss-
— 81 —
hunger des Adels nach dem Bauernland wenigstens
einige Schranken zu ziehn. Dann aber kamen Ver-
fassungsänderungen ; für uns sind die wichtigsten diese :
Der Rath wurde auf vierhundert Mitglieder gebracht,
hundert aus jedem Stamm ; hier blieb also noch der
Stamm die Grrundlage. Das war aber auch die einzige
Seite, nach welcher hin die alte Verfassung in den
neuen Staatskörper hineingezogen wurde. Denn im
TJebrigen theilte Solon die Bürger in vier Klassen je
nach ihrem Grrundbesitz und seinem Ertrag; 500, 300
und 150 Medimnen Korn (1 Medimnus ^ 15 frühere
Berliner Motzen = ca. 41 Liter) waren die Minimal-
erträge für die ersten drei Klassen ; wer weniger oder
keinen Grrundbesitz hatte, fiel in die vierte Klasse.
Alle Aemter konnten nur aus den obersten drei, die
höchsten nur aus der ersten Klasse besetzt werden;
die vierte Klasse hatte nur das Recht, in der Volks-
versammlung zu reden und zu stimmen, aber hier wur-
den alle Beamten gewählt, hier hatten sie Rechenschaft
abzulegen, hier wurden alle Gesetze gemacht, und hier
bildete die vierte Klasse die Majorität. Die aristokra-
tischen Vorrechte wurden in der Form von Vorrechten
des Reichthums theilweise erneuert, aber das Volk be-
hielt die entscheidende Macht. Ferner bildeten die vier
Klassen die Grundlage einer neuen Heeresorganisation.
Die beiden ersten Klassen stellten die Reiterei; die
dritte hatte als schwere Infanterie zu dienen; die vierte
als leichtes, ungepanzertes Fussvolk oder auf der Flotte
und wurde dann wahrscheinlich auch besoldet.
Hier wird also ein ganz neues Element in die Ver-
fassung eingeführt : der Privatbesitz. Je nach der Grösse
ihres Grundeigenthums werden die Rechte und Pflichten
der Staatsbürger abgemessen, und soweit die Vermögens-
klassen Einfluss gewinnen, soweit werden die alten
Blutsverwandtschaftskörper verdrängt; die Gentil-
verfassung hatte eine neue Niederlage erlitten.
Die Abmessung der politischen Rechte nach dem
Vermögen war indess keine der Einrichtungen, ohne
die der Staat nicht bestehn kann. Eine so grosse Rolle
sie auch in der Verfassungsgeschichte der Staaten ge-
6
— 82 —
spielt hat, so haben doch sehr viele Staaten und grade
die am vollständigsten entwickelten, ihrer nicht bedurft.
Auch in Athen spielte sie nur eine vorübergehende Rolle;
seit Aristides standen alle Aemter jedem Bürger offen.
Während der nächstfolgenden achtzig Jahre kam
die athenische G-esellschaft allmälig in die Richtung,
in der sie sich in den folgenden Jahrhunderten weiter
entwickelt hat. Dem üppigen Landwucher der vor-
solonischen Zeit war ein Riegel vorgeschoben, ebenso
der masslosen Konzentration des G-rundbesitzes. Der
Handel und das mit Sklavenarbeit immer mehr im
Grossen betriebne Handwerk und Kunsthandwerk wur-
den herrschende Erwerbszweige. Man wurde aufgeklär-
ter. Statt in der anfänglichen brutalen Weise die eignen
Mitbürger auszubeuten, beutete man vorwiegend die
Sklaven und die ausserathenische Kundschaft aus. Der
bewegliche Besitz, der Greldreichthura und der Reich-
thum an Sklaven und Schiffen wuchs immer mehr, aber
er war jetzt nicht mehr blosses Mittel zum Erwerb
von Grundbesitz, wie in der ersten, bornirten Zeit, er
war Selbstzweck geworden. Damit war einerseits der
alten Adelsmacht eine siegreiche Konkurrenz erwachsen
in der neuen Klasse von industriellen und kaufmänni-
schen Reichen, andrerseits aber auch den Resten der
alten G-entilverfassung der letzte Boden entzogen. Die
Mitglieder der Grentes, Phratrien und Stämme waren
über ganz Attika zerstreut und so vollständig durch-
einander geworfen, dass sie zu politischen Körper-
schaften ganz untauglich geworden; eine Menge athe-
nischer Bürger gehörten gar keiner Grens an, sie waren
Eingewanderte, die zwar in's Bürgerrecht, aber nicht
in einen der alten Greschlechtsverbände aufgenommen
worden ; daneben stand noch die stets wachsende Zahl
der bloss schutzverwandten fremden Einwandcxer.
Während dessen gingen die Parteikämpfe voran ;
der Adel suchte seine früheren Vorrechte wieder zu
erobern und erlangte wieder für einen Augenblick die
Oberhand, bis die Revolution des Kleisthenes (509 vor
unsrer Zeitrechnung) ihn endgültig stürzte ; mit ihm
aber auch den letzten Rest der Grentilverfassunff.
— 83 —
Kleisthenes, in seiner neuen Verfassung, ignorirte
die vier alten auf Grentes und Phratrien begründeten
Stämme. An ihre Stelle trat eine ganz neue Organi-
sation auf Grund der schon in den Naukrarien ver-
suchten Eintheilung der Bürger nach dem blossen Ort
der Ansässigkeit. Nicht mehr die Zugehörigkeit zu den
Geschlechtsverbänden, sondern nur der Wohnsitz ent-
schied; nicht das Volk, sondern das Gebiet wurde ein-
getheilt, die Bewohner wurden politisch blosses Zube-
hör des Gebiets.
Ganz Attika wurde in hundert Gemeindebezirke,
Demen, getheilt, deren Jeder sich selbst verwaltete.
Die in jedem Demos ansäsigen Bürger (Demoten) er-
wählten ihren Vorsteher (Demarch) und Schatzmeister,
sowie dreissig Richter mit Gerichtsbarkeit über kleinere
Streitsachen. Sie erhielten ebenfalls einen eignen Tem-
pel und Schutzgott oder JBeroen, dessen Priester sie
wählten. Die höchste Macht im Demos war bei der
Versammlung der Demoten. Es ist, wie Morgan richtig
bemerkt, das Urbild der selbstregierenden amerikani-
schen Stadtgemeinde. Mit derselben Einheit, mit der
der moderne Staat in seiner höchsten Ausbildung endigt,
mit derselben fing der entstehende Staat in Athen an.
Zehn dieser Einheiten, Demen, bildeten einen Stamm,
der aber zum Unterschied vom alten Geschlechtsstamm
jetzt Ortsstamm genannt wird. Der Ortsstaram war
nicht allein eine selbstverwaltende politische, er war
auch eine militärische Körperschaft; er erwählte den
Phylarchen oder Stammvorsteher, der die Reiterei, den
Taxiarchen, der das Fussvolk, und den Strategen, der
die gesammte im Stammesgebiet ausgehobene Mann-
schaft befehligte. Er stellte ferner fünf Kriegsschiffe
nebst Mannschaft und Befehlshaber, und erhielt einen
attischen Heros, nach welchem er sich benannte, zum
Schutzheiligen. Endlich wählte er fünfzig Rathsmänner
in den athenischen Rath.
Den Abschluss bildete der athenische Staat, regiert
von dem aus den fünfhundert Erwählten der zehn Stämme
zusammengesetzten Rath und in letzter Instanz von der
Volksversammlung, wo jeder athenische Bürger Zutritt
— 84 —
und Stimmreclit hatte ; daneben besorgten Archonten
und andre Beamte die verschiednen Verwaltungszweige
und Grerichtsbarkeiten. Ein oberster Beamter der voll-
ziehenden Grewalt bestand in Athen nicht.
Mit dieser neuen Verfassung und mit der Zulassung
einer sehr grossen Zahl Schutzverwandter, theils Ein-
gewanderter, theils freigelassner Sklaven, waren die
Organe der Greschlechterverfassung aus den öffentlichen
Angelegenheiten hinausgedrängt; sie sanken herab zu
Privatvereinen und religiösen Genossenschaften. Aber
der moralische Einfluss, die überkommene Anschauungs-
und Denkweise der alten Grentilzeit erbten sich noch
lange fort und starben erst allmälig aus. Das zeigte
sich bei einer ferneren staatlichen Einrichtung.
Wir sehen, dass ein wesentliches Kennzeichen des
Staats in einer von der Masse des Volks unterschiednen
öffentlichen Grewalt besteht. Athen hatte damals nur
erst ein Volksheer und eine unmittelbar vom Volk ge-
stellte Flotte ; diese schützten nach Aussen und hielten
die Sklaven im Zaum, die schon damals die grosse
Mehrzahl der Bevölkerung bildeten. Gregenüber den
Bürgern bestand die öffentliche Grewalt zunächst nur
als die Polizei, die so alt ist wie der Staat, wesshalb
die naiven Franzosen des 18. Jahrhunderts auch nicht
von civilisirten Völkern sprachen, sondern von polizirten
(nations policees). Die Athener richteten also gleich-
zeitig mit ihrem Staat auch eine Polizei ein, eine
wahre Gendarmerie von Bogenschützen zu Fuss und
zu Pferd — Landjäger, wie man in Süddeutschland
und der Schweiz sagt. Diese Gendarmerie aber wurde
gebildet — aus Sklaven. So entwürdigend kam dieser
Schergendienst dem freien Athener vor, dass er sich
lieber vom bewaffneten Sklaven verhaften Hess, als
dass er selbst sich zu solcher Schmach hergab. Das
war noch die alte Gentilgesinnung. Der Staat konnte
ohne die Polizei nicht bestehn, aber er war noch jung,
und hatte noch nicht moralischen Respekt genug, um ein
Handwerk achtungswerth zu machen, das den alten
Gentilgenossen nothwendig infam erschien.
Wie sehr der jetzt in seinen Hauptzügen fertige
— 85 —
Staat der neuen gesellschaftlichen Lage der Athener
angemessen war, zeigt sich in dem raschen Aufblühen
des Reichthuras, des Handels und der Industrie. Der
Klassengegensatz, auf dem die gesellschaftlichen und
politischen Einrichtungen beruhten, war nicht mehr der
von Adel und gemeinem Volk, sondern der von Sklaven
und Freien, Schutzverwandten und Bürgern. Zur Zeit
der höchsten Blüte bestand die ganze athenische freie
Bürgerschaft, Weiber und Kinder eingeschlossen, aus
etwa 90,000 Köpfen, daneben 365,000 Sklaven beiderlei
Greschlechts und 45,000 Schutzverwandte — Fremde
und Freigelassene. Auf jeden erwachsenen männlichen
Bürger kamen also mindestens 18 Sklaven und über
zwei Schutz verwandte. Die grosse Sklavenzahl kam
daher, dass Viele von ihnen in Manufakturen, grossen
Räumen unter Aufsehern zusammen arbeiteten. Mit der
Entwicklung des Handels und der Industrie aber kam
Akkumulation und Konzentration der Reichthümer in
wenigen Händen , Verarmung der Masse der freien
Bürger, denen nur die Wahl blieb, entweder der
Sklavenarbeit durch eigne Handwerksarbeit Konkurrenz
zu machen, was für schimpflich, banausisch, galt und
auch wenig Erfolg versprach — oder aber zu verlum-
pen. Sie thaten, unter den Umständen mit Nothwendig-
keit, das letztere, und da sie die Masse bildeten, rich-
teten sie damit den ganzen athenischen Staat zu Grunde.
Nicht die Demokratie hat Athen zu G-runde gerichtet,
wie die europäischen, fürstenschweifwedelnden Schul-
meister behaupten, sondern die Sklaverei, die die Arbeit
des freien Bürgers ächtete.
Die Entstehung des Staats bei den Athenern ist ein
besonders typisches Muster der Staatsbildung überhaupt,
weil sie einerseits ganz rein, ohne Einmischung äusserer
oder innerer Vergewaltigung vor sich geht — die Usur-
pation des Pisistratus hinterliess keine Spur ihrer kurzen
Dauer — weil sie andrerseits einen Staat von sehr hoher
Formentwicklung, die demokratische Republik, unmittel-
bar aus der Grentilgesellschaft hervorgehen lässt, und
endlich weil wir mit allen wesentlichen Einzelnheiten
hinreichend bekannt sind.
VI. Gens und Staat in Rom.
Aus der Sage von der GTründung Roms geht hervor,
dass die erste Ansiedlung durch eine Anzahl zu einem
Stamm vereinigter latinischer G-entes (der Sage nach
hundert) erfolgte , denen sich bald ein sabellischer
Stamm, der ebenfalls hundert Grentes gezählt haben soll,
und endlich ein dritter, aus verschiedenen Elementen
bestehender Stamm , wieder von angeblich hundert
G-entes, anschloss. Die ganze Erzählung zeigt auf den
ersten Blick, dass hier wenig mehr naturwüchsig war
ausser der Grens, und diese selbst in manchen Fällen
nur ein Ableger einer in der alten Heimath fortbestehen-
den Muttergens. Die Stämme tragen an der Stirn den
Stempel künstlicher Zusammensetzung, jedoch meist aus
verwandten Elementen und nach dem Vorbild des alten
gewachsenen , nicht gemachten Stamms ; wobei nicht
ausgeschlossen bleibt , dass der Kern jedes der drei
Stämme ein wirklicher, alter Stamm gewesen sein kann.
Das Mittelglied, die Phratrie, bestand aus zehn G-entes
und hiess Curie ; ihrer waren also dreissig.
Dass die römische Gens dieselbe Institution war wie
die griechische, ist anerkannt ; ist die griechische eine
Fortbildung derjenigen gesellschaftlichen Einheit, deren
Urform uns die amerikanischen Rothhäute vorführen,
so gilt dasselbe ohne Weiteres auch für die römische.
Wir können uns hier also kürzer fassen.
Die römische G-ens hatte wenigstens in der ältesten
Zeit der Stadt folgende Verfassung:
1) Clegenseitiges Erbrecht der G-entilgenossen ; das
Vermögen blieb in der Grens. Da in der römischen
— 87 —
Grens wie in der griechischen schon Vaterrecht herrschte,
waren die Nachkommen der weihlichen Linie ausge-
schlossen. Nach dem Gresetz der zwölf Tafeln , dem
ältesten uns bekannten geschriebnen römischen Recht,
erbten zunächst die Kinder als Leibeserbtm; in deren
Ermanglung die Agnaten (Verwandte in männlicher
Linie) ; und in deren Abwesenheit die Gentilgenossen.
In allen Fällen blieb das Vermögen in der Grens. Wir
sehen hier das allmälige Eindringen neuer, durch ver-
mehrten Reichthum und Monogamie verursachter Rechts-
bestimmungen in den Gentilbrauch : das ursprüngliche
gleiche Erbrecht der Grentilgenossen wird zuerst — wohl
schon früh, wie oben erwähnt — durch Praxis auf die
Agnaten beschränkt, endlich auf die Kinder und deren
Nachkommen im Mannsstamm ; in den zwölf Tafeln er-
scheint dies selbstverständlich in umgekehrter Ordnung.
2) Besitz eines gemeinsamen Begräbnissplatzes. Die
patricische Grens Claudia erhielt bei ihrer Einwanderung
aus Regilli nach Rom ein Stück Land für sich ange-
wiesen, dazu in der Stadt einen gemeinsamen Begräb-
nissplatz. Noch unter Augustus wurde der nach Rom
gekommene. Kopf des im Teutobui'ger Wald gefallenen
Varus in der Grabstätte der Grens Quinctilia (gentilitius
tumulus) beigesetzt.
3) Gremeinsame religiöse Feiern. Diese, die sacra
gentilitia, sind bekannt.
4) Verpflichtung, nicht in der Grens zu heirathen.
Dies scheint in Rom nie in ein geschriebnes Gesetz
verwandelt worden zu sein, aber die Sitte blieb. Von
der Unmasse römischer Ehepaare, deren Namen uns
aufbewahrt, hat kein einziges gleichen Gentilnamen für
Mann und Frau. Das Erbrecht beweist diese Regel
ebenftills. Die Frau verliert durch die Heirath ihre
agnatischen Rechte, tritt aus ihrer Gens, weder sie noch
ihre Kinder können von ihrem Vater oder dessen
Brüdern erben, weil sonst das Erbtheil der väterlichen
Gens verloren ginge. Dies hat Sinn nur unter der Vor-
aussetzung, dass die Frau keinen Gentilgenossen hei-
rathen kann.
5) Ein gemeinsamer Grundbesitz. Dieser war in der
Urzeit stets vorhanden , sobald das Stammland anfing
getheilt zu werden. Unter den latinischen Stämmen
finden wir den Boden theils im Besitz des Stammes,
theils der Glens, theils der Haushaltungen, welche nicht
noth wendig Einzelfarailien waren. Romulus soll die
ersten Landtheilungen an Einzelne gemacht haben,
ungefähr eine Hektare (zwei Jugera) auf jeden. Doch
finden wir noch später (Irundbesitz in den Händen der
Grentes, vom Staatsland gar nicht zu sprechen, um das
sich die ganze innere Gi-eschichte der Republik dreht.
6) Pflicht der G-entilgenossen zu gegenseitigem
Schutz und Beistand. Davon zeigt uns die geschriebne
Greschichte nur noch Trümmer ; der römische Staat trat
gleich von vornherein mit solcher Uebermacht auf, dass
das Recht des Schutzes gegen Unbill auf ihn überging.
Als Appius Claudius verhaftet wurde, legte seine ganze
Gens Trauer an, selbst die seine persönlichen Feinde
waren. Zur Zeit des zweiten punischen Kriegs ver-
banden sich die Gentes zur Auslösung ihrer kriegs-
gefangnen Gentilgenossen ; der Senat verbot es ihnen.
7) Recht den Gentilnamen zu tragen. Blieb bis in
die Kaiserzeit; den Freigelassenen erlaubte man, den
Gentilnamen ihrer ehemaligen Herren anzunehmen, doch
ohne Gentilrechte.
8) Recht der Adoption Fremder in die Gens. Dies
geschah durch Adoption in eine Familie (wie bei den
Indianern), die die Aufnahme in die Gens mit sich
führte.
9) Das Recht, den Vorsteher zu wählen und abzu-
setzen, wird nirgends erwähnt. Da aber in der ersten
Zeit Roms alle Aemter durch Wahl oder Ernennung
besetzt wurden, vom Wahlkönig abwärts, und auch die
Priester der Curien von diesen gewählt, so dürfen wir
für die Vorsteher (principes) der Gentes dasselbe an-
nehmen — so sehr auch die Wahl aus einer und der-
selben Familie in der Gens schon Regel geworden sein
mochte.
Das waren die Befugnisse einer römischen Gens.
Mit Ausnahme des bereits vollendeten Uebergangs zum
Vaterrecht, sind sie das treue Spiegelbild der Rechte
— 89 —
und Pflichten einer irokesischen Grens ; auch hier „guckt
der Irokese unverkennbar durch."
Noch fast dreihundert Jahre nach GTründung Roms
waren die GTentilbande so stark, dass eine patricische
Gens, die der Fabier, mit Einwilligung des Senats
einen Kriegszug gegen die Nachbarstadt Veji auf eigne
Paust unternehmen konnte. 306 Fabier sollen aus-
gezogen und in einem Hinterhalt sämmtlich erschlagen
worden sein ; ein einziger zurückgebliebner Knabe habe
die Grens fortgepflanzt.
Zehn Grentes bildeten, wie gesagt, eine Phratrie,
die hier Curie hiess, und wichtigere öffentliche Befug-
nisse erhielt als die griechische Phratrie. Jede Curie
hatte ihre eignen Religionsübungen, Heiligthümer und
Priester ; diese letzteren, in ihrer Gresammtheit, bildeten
eins der römischen Priesterkollegien. Zehn Curien
bildeten einen Stamm , der wahrscheinlich , wie die
übrigen latinischen Stämme , ursprünglich einen ge-
wählten Vorsteher — Heerführer und Oberpriester —
hatte. Die Gresammtheit der drei Stämme bildete das
römische Volk, den Populus Romanus.
Dem römischen Volk konnte also nur angehören,
wer Mitglied einer Grens, und durch sie einer Curie
und eines Stammes war. Die erste Verfassung dieses
Volkes war folgende. Die öffentlichen Angelegenheiten
wurden besorgt zunächst durch den Senat, der, wie
Niebuhr zuerst richtig gesehn, aus den Vorstehern der
dreihundert Gentes zusammengesetzt war ; eben dess-
wegen, als Gentilälteste, hiessen sie Väter, patres, und
ihre Gesammtheit Senat (Rath der Aeltesten, von senex,
alt). Die gewohnheitsmässige Wahl aus immer derselben
Familie jeder Gens rief auch hier den ersten Stammes-
adel in's Leben; diese Familien nannten sich Patricier
und nahmen ausschliessliches Recht des Eintritts in den
Senat und alle andern Aemter in Anspruch. Dass das
Volk sich diesen Anspruch mit der Zeit gefallen Hess
und er sich in ein wirkliches Recht verwandelte, drückt
die Sage dahin aus, dass Romulus den ersten Senatoren
und ihren Nachkommen das Patriciat mit dessen Vor-
rechten ertheilt habe. Der Senat, wie die athenische
— 90 —
Bule, hatte die Entscheidung in vielen Angelegenheiten,
die Vorberathung in wichtigeren und namentlich bei
neuen Gesetzen. Diese wurden entschieden durch die
Volksversammlung, genannt Comitia curiata (Versamm-
lung der Curien). Das Volk kam zusammen, in Curien
gruppirt, in jeder Curie wahrscheinlich nach Gentes ,
bei der Entscheidung hatte jede der dreissig Curien
eine Stimme. Die Versammlung der Curien nahm an
oder verwarf alle Gesetze, wählte alle höhern Beamten,
mit Einschluss des Rex (sogenannten Königs), erklärte
Krieg (aber der Senat sckloss Frieden) und entschied
als höchstes Gericht, auf Berufung der Betheiligten, in
allen Eällen, wo es sich um Todesstrafe gegen einen
römischen Bürger handelte. — Endlich stand neben
Senat und Volksversammlung der Eex, der genau dem
griechischen Basileus entsprach, und keineswegs der
fast absolute König war , als den Mommsen ihn dar-
stellt. *) Auch er war Heerführer, Oberpriester und
Vorsitzer in gewissen Gerichten. Civilbefugnisse oder
Macht über Leben, Freiheit und Eigenthum der Bürger
hatte er durchaus nicht, soweit sie nicht aus der Dis-
ciplinargewalt des Heerführers oder der urtheilsvoll-
streckenden Gewalt des Gerichtsvorsitzers entsprangen.
Das Amt des Rex war nicht erblich; er wurde im
Gegentheil, wahrscheinlich auf Vorschlag des Amtsvor-
gängers, von der Versammlung der Curien zuerst ge-
gewählt und dann in einer zweiten Versammlimg feier-
lich eingesetzt. Dass er auch absetzbar war, beweist
das Schicksal des Tarquinius Superbus.
*) Das lateinische Rex ist das celtiscli-irische righ (Stammesvor-
Bteher) und das gothische reiks ; dass dies ebenfalls, wie ursprüng-
lich auch unser Fürst (d. h. wie englisch first, dänisch forste, der
erste) Gentil- oder Stammesvorsteher bedeutete, geht hervor daraus,
dass die Gothen schon im vierten Jahrhundert ein besonderes Wort
für den späteren König, den Heerführer eines gesammten Volkes,
besasscn : thiudans. Artaxerxes und Herodes heissen in Ulfilas
Bibelübersetzung nie reiks, sondern thiudans, und das Reich des
Kaisers Tiberius nicht reiki, sondern thiudinassus. Im Namen des
gothischen Thi-idans, oder wie wir ungenau übersetzen , Königs
Thiudareiks, Theodorich, d. h. Dietrich, fliessen beide Benennungen
zusammen.
— 91 —
Wie die Grriechen zur Heroenzeit, lebten also die
Römer zur Zeit der sogenannten Könige in einer auf
Grentes, Phratrien und Stämmen begründeten und aus
ihnen entwickelten militäriscben Demokratie. Mochten
auch die Curien und Stämme zum Theil künstliche
Bildungen sein, sie waren geformt nach den ächten,
naturwüchsigen Vorbildern der Gresellschaft, aus der sie
hervorgegangen und die sie noch auf allen Seiten um-
gab. Mochte auch der naturwüchsige patricische Adel
bereits Boden gewonnen haben, mochten die Keges ihre
Befugnisse allmälig zu erweitern suchen — das ändert
den ursprünglichen Grrundcharakter der Verfassung nicht,
und auf diesen allein kommt es an.
Inzwischen vermehrte sich die Bevölkerung der Stadt
ßom und des römischen, durch Eroberung erweiterten
G-ebiets theils durch Einwanderung, theils durch die
Bewohner der unterworfnen, meist latinischen Bezirke.
Alle diese neuen Staatsangehörigen (die Frage wegen
der Klienten lassen wir hier bei Seite) standen ausser-
halb der alten Grentes , Curien und Stämme , bildeten
also keinen Theil des populus romanus, des eigentlichen
römischen Volks. Sie waren persönlich freie Leute,
konnten Grrundeigenthum besitzen, mussten steuern und
Kriegsdienste leisten. Aber sie konnten keine Aemter
bekleiden und weder an der Versammlung der Curien
theilnehmen, noch an der Vertheilung der eroberten
Staatsländereien. Sie bildeten die von allen öffentlichen
Rechten ausgeschlossene Plebs. Durch ihre stets wach-
sende Zahl, ihre militärische Ausbildung und Bewaff-
nung wurden sie eine drohende Macht gegenüber dem
alten, gegen allen Zuwachs von Aussen jetzt fest ab-
geschlossenen Populus. Dazu kam, dass der Grrundbesitz
zwischen Populus und Plebs ziemlich gleichmässig ver-
theilt gewesen zu sein scheint, während der allerdings
noch nicht sehr entwickelte kaufmännische und indu-
strielle Reichthum wohl vorwiegend bei der Plebs war.
Bei der grossen Dunkelheit, worin die ganz sagen-
hafte Urgeschichte Roms gehüllt ist — eine Dunkelheit,
noch bedeutend verstärkt durch die rationalistisch-prag-
matischen Deutungsversuche und Berichte der späteren
— 92 —
juristisch gebildeten Quellenschriftsteller — ist es un-
möglich, weder über Zeit, noch Verlauf, noch Anlass
der Revolution etwas Bestimmtes zu sagen, die der
alten Grentilverfassung ein Ende machte. Glewiss ist
nur, dass ihre Ursache in den Kämpfen zwischen Plebs
und Populus lag.
Die neue, dem Rex Servius Tullius zugeschriebne,
sich an griechische Muster, namentlich Solon, anlehnende
Verfassung schuf eine neue Volksversammlung, die ohne
Unterschied Populus und Plebejer ein- oder ausschloas,
je nachdem sie Kriegsdienste leisteten oder nicht. Die
ganze wafFenpflichtige Mannschaft wurde nach dem
Vermögen in sechs Klassen eingetheilt. Der ge-
ringste Besitz in jeder der fünf Klassen war:
I, 100,000 Ass; II, 75,000; III, 50,000; IV, 25,000;
V, 11,000 Ass; nach Dureau de la Malle gleich unge-
fähr 14,000, 10,000, 7000, 5000 und 1600 Mark. Die
sechste Klasse, die Proletarier, bestand aus den weniger
Begüterten , Dienst- und Steuerfreien. In der neuen
Volksversammlung der Centurien (Comitia Centuriata)
traten die Bürger militärisch an, kompagnieweise in
ihren Centurien zu hundert Mann , und jede X'enturie
hatte eine Stimme. Nun aber stellte die erste Klasse
80 Centurien; die zweite 22, die dritte 20, die vierte
22, die fünfte 30, die sechste des Anstands halber auch
eine. Dazu kamen die aus den Reichsten gebildeten
Reiter mit 18 Centurien; zusammen 193; Majorität der
Stimmen: 97. Nun hatten die Reiter und die erste
Klasse zusammen allein 98 Stimmen, also die Majorität ;
waren sie einig, wurden die übrigen gar nicht gefragt,
der gültige Beschluss war gefasst.
Auf diese neue Versammlung der Centurien gingen
nun alle politischen Rechte der früheren Versammlung
der Curien (bis auf einige nominelle) über; die Curien
und die sie zusammensetzenden G-entes wurden dadurch,
wie in Athen, zu blossen Privat- und religiösen Gre-
nossenschaften degradirt, und vegetirten als solche noch
lange fort, während die Versammlung der Curien bald
ganz einschlief. Um auch die alten drei Greschlechter-
stämme aus dem Staat zu verdrängen, wurden vier
— 93 —
Ortsstämme , deren jeder ein Viertlieil der Stadt be-
wohnte, mit einer Reihe von politischen Rechten ein-
geführt.
Somit war auch in Rom, schon vor der Abschaffung
des sogenannten Königthums, die alte auf persönlichen
Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt
und eine neue, auf Grebietseintheilung und Vermögens-
unterschied begründete, wirkliche Staatsverfassung an
ihre Stelle gesetzt. Die öffentliche G-ewalt bestand hier
in der kriegsdienstpflichtigen Bürgerschaft , gegenüber
nicht nur den Sklaven, sondern auch den vom Heeres-
dienst und der Bewaffnung ausgeschlossenen sogenannten
Proletariern.
Innerhalb dieser neuen Verfassung, die bei der Ver-
treibung des letzten, wirkliche Königsgewalt usurpiren-
'den Rex Tarquinius Superbus und Ersetzung des Rex
durch zwei Heerführer (Consuln) mit gleicher Amts-
gewalt (wie bei den Irokesen) nur weiter ausgebildet
wurde — innerhalb dieser Verfassung bewegt sich die
ganze G-eschichte der römischen Republik mit allen
ihren Kämpfen der Patricier und Plebejer um den Zu-
gang zu den Aemtern und die Betheiligung an den
Staatsländereien , mit dem endlichen Aufgehen des
Patricieradels in der neuen Klasse der grossen Grund-
nmd Geldbesitzer, die allmälig allen Grundbesitz der
durch den Kriegsdienst ruinirten Bauern aufsogen, die
80 entstandenen enormen Landgüter mit Sklaven bebau-
ten, Italien entvölkerten und damit nicht nur dem Kaiser-
thum die Thür öffneten, sondern [auch seinen Nachfol-
gern, den deutschen Barbaren.
Vn. Die Gens bei Gelten und Deutschen.
Der Raum verbietet uns, auf die nocli jetzt bei den
verschiedensten wilden und barbarischen Yölkern, in
reinerer oder getrübterer Form bestehenden Grentilinsti-
tutionen einzugehn, oder auf die Spuren davon in der
älteren G-eschichte der asiatischen Kulturvölker. Hier
nur einige kurze Notizen über die Grens bei den Gelten
und Grermanen.
Die ältesten erhaltenen celtischen Grösetze zeigen
uns die Grens noch in vollem Leben; in Irland lebt sie
wenigstens instinctiv im Yolksbewusstsein noch heute,
nachdem die Engländer sie gewaltsam gesprengt; in
Schottland stand sie noch Mitte des vorigen Jahrhun-
derts in voller Blüthe und erlag auch hier nur den
Waffen, der Gresetzgebung und den Glerichtshöfen der
Engländer.
Die altwalisischen Gresetze, die mehrere Jahrhunderte
vor der englischen Eroberung, spätestens im elften Jahr-
hundert, niedergeschrieben wurden, zeigen noch gemein-
schaftlichen Ackerbau ganzer Dörfer, wenn auch nur
als ausuahmsweisen Rest früherer allgemeiner Sitte;
jede Familie hatte 5 Acker zur eignen Bebauung ; ein
Stück wurde daneben gemeinsam bebaut und der Ertrag
vertheilt. Dass diese Dorfgemeinden Grentes repräsen-
tiren, oder Unterabtheilungen von Grentes, ist bei der
Analogie von Irland und Schottland nicht zu bezweifeln,
selbst wenn eine erneuerte Prüfung der walisischen
Gresetze, zu der mir die Zeit fehlt (meine Auszüge sind
vom Jahr 1869), dies nicht direkt beweisen sollte. Was
aber die walisischen Quellen, und mit ihnen die irischen,
-^ 95 —
direkt beweisen, ist, dass bei den Gelten die Paarungs-
ehe im elften Jcihrhundert noch keineswegs durch die
Monogamie verdrängt war. In Wales wurde eine Ehe
erst unlöslich oder besser unkündbar nach sieben Jahren.
Fehlten nur drei Nächte an den sieben Jahren, so
konnten die Gratten sich trennen. Dann wurde getheilt:
die Frau theilte, der Mann wählte sein Theil. Die
Möbel wurden nach gewissen , sehr humoristischen
Regeln getheilt. Löste der Mann die Ehe, so musste
er der Frau ihre Mitgift und einiges Andre zurück-
geben ; war es die Frau , so erhielt sie weniger. Yon
den Kindern bekam der Mann zwei, die Frau eines,
und zwar das mittelste. Wenn die Frau nach der
Scheidung einen andern Mann nahm, und der erste
Mann holte sie sich wieder, so musste sie ihm folgen,
auch wenn sie schon einen Fuss im neuen Ehebett
hatte. Waren die Beiden aber sieben Jahre zusammen-
gewesen, so waren sie Mann und Frau, auch ohne vor-
herige förmliche Heirath. Keuschheit der Mädchen vor
der Heirath wurde durchaus nicht streng eingehalten
oder gefordert; die hierauf bezüglichen Bestimmungen
sind äusserst frivoler Natur und keineswegs der bürger-
lichen Moral gemäss. Beging eine Frau einen Ehebruch,
so durfte der Mann sie prügeln (einer der drei Fälle,
wo ihm dies erlaubt, sonst verfiel er in Strafe), dann
aber weiter keine G-enugthuung fordern, denn „für das-
selbe Vergehen soll entweder Sühnung sein oder Rache,
aber nicht beides zugleich." Die G-ründe, auf die hin
die Frau die Scheidung verlangen durfte, ohne in ihren
Ansprüchen bei der Auseinandersetzung zu verlieren,
waren sehr umfassender Art : übler Athem des Mannes
genügte. Das au den Stammeshäuptling oder König zu
zahlende Loskaufgeld für das Recht der ersten Nacht
(gobr merch, daher der mittelalterliche Name marcheta,
französisch marquette) spielt eine grosse Rolle im Ge-
setzbuch. Die Weiber hatten Stimmrecht in den Volks-
versammlungen. Fügen wir hinzu, dass in Irland ähn-
liche Verhältnisse bezeugt sind; dass dort ebenfalls
Ehen auf Zeit ganz gebräuchlich und der Frau bei der
Trennung genau geregelte, grosse Begünstigungen, sogar
— 96 —
Entschädigung für ihre häuslichen Dienste zugesichert
waren; dass dort eine „erste Frau" neben andern Frauen
vorkommt und bei Erbtheilungen zwischen ehelichen
und unehelichen Kindern kein Unterschied gemacht
wird — so haben wir ein Bild der Paarungsehe, wo-
gegen die in Nordamerika gültige Eheform streng er-
scheint, wie es aber im elften Jahrhundert bei einem
Volk nicht verwundern kann, das noch zu Cäsar's Zeit
in der Grruppenehe lebte.
Die irische Gens (Sept, der Stamm heisst Clainne,
Clan) wird nicht nui" durch die alten Rechtsbücher,
sondern auch durch die, zur Verwandlung des Clan-
landes in Domäne des englischen Königs hinüber-
gesandten englischen Juristen des siebzehnten Jahrhun-
derts bestätigt und beschrieben. Der Boden war bis zu
dieser letzten Zeit Gremeineigenthum des Clans oder der
Grens, soweit er nicht bereits von den Häuptlingen in
ihre Privatdomäne verwandelt worden war. Wenn ein
Grentilgenosse starb, also eine Haushaltung einging, so
nahm der Vorsteher (caput cognationis nannten ihn die
englischen Juristen) eine neue Landtheilung des ganzen
Gebiets unter den übrigen Haushaltungen vor. Diese
muss im Ganzen nach den in Deutschland gültigen
Regeln erfolgt sein. Noch jetzt finden sich einige —
vor vierzig oder fünfzig Jahren sehr zahlreiche — Dorf-
fluren in 8. g. Rundale. Die Bauern, Einzelpächter
des früher der Gens gemeinsam gehörigen, vom eng-
lischen Eroberer geraubten Bodens, zahlen jeder die
Pacht für sein Stück, werfen aber das Acker- und
Wiesenland aller Stücke zusammen, theilen es nach
Lage und Qualität in „Gewanne", wie es an der Mosel
heisst, und geben jedem seinen Antheil in jedem Gewann;
Moor- und Weideland wird gemeinsam genutzt. Noch
vor fünfzig Jahren wurde von Zeit zu Zeit, manchmal
jährlich, neu umgetheilt. Die Flurkarte eines solchen
Rundale-Dorfes sieht ganz genau so aus wie die einer
deutschen Gehöferschaft an der Mosel oder im Hoch-
wald. Auch in den Factions lebt die Gens fort. Die
irischen Bauern theilen sich oft in Parteien, die auf
scheinbar ganz widersinnigen oder sinnlosen Unterschie-
— 97 —
den "berulieii, den Engländern ganz unverständlicli sind,
und keinen andern Zweck zu haben scheinen als die
beliebten solennen Prügeleien der einen Faktion gegen
die andre. Es sind künstliche Wiederbelebungen, nach-
geborner Ersatz für die zersprengten Glentes, die die
Fortdauer des ererbten Grentilinstinkts in ihrer Weise
darthun. In manchen Gregenden sind übrigens die Gentil-
genossen noch ziemlich auf dem alten Gebiet zusammen;
so hatte noch in den dreissiger Jahren die grosse Mehr-
zahl der Bewohner der Grafschaft Monaghan nur vier
Familiennamen, d. h. stammte aus vier Gentes oder
Clans.
In Schottland datirt der Untergang der Gentilord-
nung von der Niederwerfung des Aufstandes von 1745.
Welches Glied dieser Ordnung der schottische Clan
speziell darstellt, bleibt noch zu untersuchen ; dass er
aber ein solches, ist unzweifelhaft. In Walter Scott's
Romanen sehn wir diesen hochschottischen Clan lebendig
vor uns. Er ist, sagt Morgan, „ein vortreffliches Muster-
bild der Gens in seiner Organisation und in seinem
Geist, ein schlagendes Beispiel der Herrschaft des Gentil-
lebens über die Gentilen. ... In ihren Fehden und in
ihrer Blutrache, in der Gebietsvertheilung nach Clans,
in ihrer gemeinsamen Bodennutzung, in der Treue der
Clanglieder gegen den Häuptling und gegen einander
finden wir die überall wiederkehrenden Züge der
Gentilgesellschaft .... Die Abstammung zählte nach
Vaterrecht, so dass die Kinder der Männer in den Clans
blieben , während die der Weiber in den Clans ihrer
Väter übertraten." Dass aber in Schottland früher
Mutterrecht herrschte, beweist die Thatsache, dass in
der königlichen Familie der Pikten, nach Beda, weib-
liche Erbfolge galt. Ja selbst ein Stück Punalua-Familie
hatte sich , wie bei den Walisern, so bei den Skoten,
bis in's Mittelalter bewahrt in dem Recht der ersten
Nacht, das der Clanhäuptling oder der König als letzter
Vertreter der früheren gemeinsamen Ehemänner bei jeder
Braut auszuüben berechtigt war, sofern es nicht abge-
kauft wurde. Dasselbe Recht — in Nordamerika kommt
es im äussersten Nordwesten vielfach vor — galt auch
7
— 98 —
"bei den Russen, wo die Grossfürstin Olga es im zehnten
Jahrhundert abschaffte.
Die in Frankreich, besonders in Nivernais und der
Franche-Comte bis zur Revolution bestehenden kom-
munistischen Haushaltungen leibeigner Familien, ähn-
lich den slavischen Familiengemeinden in den serbisch-
kroatischen Gregenden, sind ebenfalls Reste früherer
gentiler Organisation. Sie sind noch nicht ganz aus-
gestorben, man sieht z. B. bei Louhans (Saone et Loire)
noch eine Menge grosser, eigenthümlich gebauter Bauern-
häuser mit gemeinsamem Centralsaal und Schlafkammern
rings herum, von mehreren Oenerationen derselben Fa-
milie bewohnt.
Dass die Deutschen bis zur Völkerwanderung in
Gentes organisirt waren, ist unzweifelhaft. Sie können
das Gebiet zwischen Donau, Rhein, Weichsel und den
nördlichen Meeren erst wenige Jahrhunderte vor unsrer
Zeitrechnung besetzt haben ; die Cimbern und Teutonen
waren noch in voller Wanderung, und die Sueven fanden
erst zu Cäsars Zeit feste Wohnsitze. Yon ihnen sagt
Cäsar ausdrücklich, sie hätten sich nach Gentes und
"Verwandtschaften (gentibus cognationibusque) nieder-
gelassen, und im Munde eines Römers der gens Julia
hat dies Wort gentibus eine nicht wegzudemonstrirende
bestimmte Bedeutung. Dies galt von allen Deutschen 5
selbst die Ansiedlung in den eroberten Römerprovinzen
geschah noch nach Gentes. Im alamannischen Volks-
recht des achten Jahrhunderts wird genealogia gradezu
mit Markgenossenschaft gleichbedeutend gesetzt; so dass
wir hier ein deutsches Volk, und zwar wiederum Sueven,
nach Geschlechtern, gentes, angesiedelt, und jeder Gens
einen bestimmten Bezirk zugewiesen sehn. Bei den Bur-
gundern und Langobarden hiess die Gens fara, und die
Bezeichnung für Gentilgenossen (faramanni) wird im
burgundischen Volksrecht gradezu gleichbedeutend mit
Burgunder gebraucht, im Gegensatz zu den romanischen
Einwohnern, die natürlich nicht in den burgundischen
Gentes einbegriffen waren. Die Landtheilung ging also
— 99 —
auch in Burgiind nacli Grentes vor sicli. So löst sicli
die Frage wegen der faramanni, an der sich die ger-
manischen Juristen seit hundert Jahren vergebens die
Köpfe zerbrochen. Dieser Name fara für Grens hat
schwerlich allgemein bei den Deutschen gegolten, ob-
wohl wir ihn hier sowohl bei einem Volk gothischer,
wie bei einem andern herminonischer (hochdeutscher)
Abstammung finden. Die im Deutschen für Verwandt-
schaft angewandten Sprachwurzeln sind sehr zahlreich,
und werden gleichmässig für Ausdrücke angewandt, bei
denen wir Beziehung zur G-ens voraussetzen dürfen. —
Wie bei Mexikanern und Grriechen, war auch bei den
Deutschen die Schlachtordnung, sowohl die Reiter-
schwadron wie die Keilkolonne des Fussvolks, nach
Grentilkörperschaften gegliedert ; wenn Tacitus sagt :
nach Familien und Verwandtschaften, so erklärt sich
dieser unbestimmte Ausdruck daher, dass zu seiner Zeit
die Gens in Rom längst aufgehört hatte, eine lebendige
Vereinigung zu sein.
Der entscheidendste Beweis aber ist eine Stelle bei
Tacitus, wo es heisst : der Mutterbruder sieht seinen
Neffen an wie seinen Sohn, ja Einige halten das Blut-
band zwischen mütterlichem Onkel und Neffen noch
heiliger und enger als das zwischen Vater und Sohn,
so dass, wenn Greisein gefordert werden, der Schwester-
sohn für eine grössere Garantie gilt als der eigne Sohn
dessen, den man binden will. Hier haben wir ein
lebendiges Stück aus der nach Mutterrecht organisirten,
also ursprünglichen Gens, und zwar als etwas die
Deutschen besonders Auszeichnendes.*) Wurde von
*) Die aus der Zeit des Mutterrechts stammende besonders
engte Natur des Bandes zwischen mütterlichem Onkel und Neffen
kennen die Griechen nur noch in der Mythologie der Heroenzeit.
Nach Diodor IV, 34 erschlägt Meleager die Söhne des Thestius,
die Brüder seiner Mutter Althäa. Diese sieht in dieser That einen
80 unsühnbaren Frevel, dass sie dem Mörder, ihrem eignen Sohn,
flucht und ihm den Tod anwünscht. „Die Götter erhörten, wie
man erzählt, ihre "Wünsche und machten dem Leben des Meleager
ein Ende." Nach demselben Diodor (IV, 44) landen die Argonauten
unter Herakles in Thracien und finden dort, dass Phineus seine mit
— 100 —
Grenossen einer solchen Gens der eigne Sohn zum Pfand
eines G-elöbnisses gegeben und fiel als Opfer bei Ver-
tragsbruch des Vaters , so hatte dieser das mit sich
selbst auszumachen. War es aber der Schwestersohn,
der geopfert wurde, so war das heiligste GTentilrecht
verletzt ; der nächste, zum Schutz des Knaben oder
Jünglings vor allen Andern verpflichtete Gentilver-
wandte hatte seinen Tod verschuldet; entweder durfte
er ihn nicht verpfänden oder er musste den Vertrag
halten. Hätten wir sonst nicht eine Spur von Gentil-
verfassung bei den Deutschen, diese eine Stelle würde
hinreichen.
Im Uebrigen war das Mutterrecht zu Tacitus Zeit
bei den Deutschen schon dem Vaterrecht gewichen :
die Kinder erbten vom Vater ; wo keine Kinder waren,
die Brüder und die Onkel von Vaters- und Mutters-
seite. Die Zulassung des Mutterbruders zur Erbschaft
hängt mit der Erhaltung der eben erwähnten Sitte
zusammen und beweist ebenfalls, wie jung das Vater-
recht damals noch bei den Deutschen war. Auch bis
tief in's Mittelalter finden sich Spuren von Mutterrecht.
Damals noch scheint man der Vaterschaft, namentlich
bei Leibeignen, nicht recht getraut zu haben; wenn
also ein Feudalherr von einer Stadt einen entlaufnen
Leibeignen zurückforderte, musste z. B. in Augsburg,
Basel und Kaiserslautern die Leibeigenschaft des Ver-
klagten beschworen werden von sechs seiner nächsten
Blutsverwandten und zwar ausschliesslich von Mutter-
seite. (Maurer, Städtevf. I, S. 381.)
Einen ferneren Rest des eben erst absterbenden
Mutterrechts bietet die dem Römer fast unbegreifliche
Achtung der Deutschen vor dem weiblichen Greschlecht.
Jungfrauen aus edler Familie galten für die bindendsten
Beiner verstossenen Gemahlin, der Boreade Kleopatra, erzeugten
beiden Söhne auf Antreiben seiner neuen Gemahlin schmählich
misshandelt. Aber unter den Argonauten sind auch Boreaden,
Brüder der Kleopatra, also Mutterbrüder der Misshandelten. Sie
nehmen sich sofort ihrer Neffen an, befreien sie und erschlagen die
"Wächter.
— ioi —
Geiseln bei Verträgen mit den Deutschen ; der Gedanke
daran, dass ihre Frauen in Gefangenschaft und Skla-
verei fallen können, ist ihnen fürchterlich und stachelt
mehr als alles Andere ihren Muth in der Schlacht;
etwas Heiliges und Prophetisches sehn sie in der Frau,
sie hören auf ihren Rath auch in den wichtigsten An-
gelegenheiten, wie denn Veleda, die brukterische Prie-
sterin an der Lippe, die treibende Seele des ganzen
Bataveraufstandes war, in dem Civilis an der Spitze
von Deutschen und Belgiern die ganze Römerherrschaft
in Gallien erschütterte. Im Hause scheint die Herr-
schaft der Frau unbestritten ; sie, die Alten und Kinder
haben freilich auch alle Arbeit zu besorgen, der Mann
jagt, trinkt oder faulenzt. So sagt Tacitus; da er aber
nicht sagt, wer den Acker bestellt, und bestimmt er-
klärt, die Sklaven leisteten nur Abgaben, aber keine
Frohnarbeit, so wird die Masse der erwachsenen Männer
doch wohl die wenige Arbeit haben thun müssen, die
der Landbau erforderte.
Die Form der Ehe war, wie schon oben gesagt,
eine allmälig der Monogamie sich nähernde Paarungs-
ehe. Strikte Monogamie war es noch nicht, da Viel-
weiberei der Vornehmen gestattet war. Im Ganzen
wurde streng auf Keuschheit der Mädchen gehalten
(im Gegensatz zn den Gelten) und ebenso spricht
Tacitus mit einer besondern Wärme von der Unver-
brüchlichkeit des Ehebandes bei den Deutschen. Nur
Ehebruch der Frau gibt er als Scheidungsgrund an.
Aber sein Bericht lässt hier Manches lückenhaft und
trägt ohnehin den, den liederlichen Römern vorgehalt-
nen Tugendspiegel gar zu sehr zur Schau. So viel ist
sicher: waren die Deutschen in ihren Wäldern diese
ausnahmsweisen Tugendritter, so hat es nur geringer
Berührung mit der Aussenwelt bedurft, um sie auf das
Niveau der übrigen europäischen Durchschnittsmensch-
heit herunterzulDringen ; die letzte Spur der Sitten-
strenge verschwand unter den Römern noch weit rascher
als die deutsche Sprache. Man lese nur Gregor von
Tours. Dass in den deutschen Urwäldern nicht die
raffinirte Ueppigkeit der Sinnenlust herrschen konnte
__ 102 —
wie in Eom, verstellt sich von selbst, und so bleibt
den Deutschen auch in dieser Beziehung noch Vorzug
genug vor der Eömerwelt, ohne dass wir ihnen eine
Enthaltsamkeit in fleischlichen Dingen andichten, die
nie und nirgends bei einem ganzen Volk geherrscht hat.
Der Gentilverfassung entsprungen ist die Verpflich-
tung, die Feindschaften des Vaters oder der Verwandten
ebenso zu erben wie die Freundschaften ; ebenso das
Wergeid, die Busse, anstatt der Blutrache, für Todt-
schlag oder Verletzungen. Dies Wergeid, das noch
vor einem Menschenalter als eine specifisch deutsche
Institution angesehn wurde, ist jetzt bei Hunderten
von Völkern als allgemeine Milderungsform der aus
der Grentilordnung entspringenden Blutrache nachge-
wiesen. Wir finden es, ebenso wie die Verpflichtung
zur Grastfreundschaft, unter andern bei den amerika-
nischen Indianern ; die Beschreibung, wie die Grast-
freundschaft nach Tacitus (Grermania c. 21) ausgeübt
wurde, ist fast bis in die Einzelnheiten dieselbe, die
Morgan von seinen Indianern gibt.
Der heisse und endlose Streit darüber, ob die
Deutschen des Tacitus das Ackerland schon endgültig
aufgetheilt oder nicht, und wie die betreffenden Stellen
zu deuten, gehört jetzt der Vergangenheit an. Seitdem
die gemeinsame Bebauung des Ackerlands durch die
Grens und später durch kommunistische Familiengemein-
den, die Cäsar noch bei den Sueven bezeugt, und die
ihr folgende Landzuweisung an einzelne Familien mit
periodischer Neu-Auftheilung fast bei allen Völkern
nachgewiesen, seitdem festgestellt ist, dass diese perio-
dische Wiedervertheilung des Ackerlands in Deutsch-
land selbst stellenweise bis auf unsre Tage sich erhalten
hat, ist darüber kein Wort weiter zu verlieren. Wenn
die Deutschen von dem gemeinsamen Landbau, den
Cäsar den Sueven ausdrücklich zuschreibt (getheilten
oder Privatacker gibt es bei ihnen durchaus nicht, sagt
er) in den 150 Jahren bis zu Tacitus übergegangen
waren zur Einzelbebauung mit jährlicher Neuvertheilung
des Bodens, so ist das wahrlich Fortschritt genug ; der
Uebergang von jener Stufe zum vollen Privateigenthum
— 103 —
am Boden während jener kurzen Zwischenzeit und ohne
jede fremde Einmischung schliesst eine einfache Un-
möglichkeit ein. Ich lese also im Tacitus nur, was er
mit dürren Worten sagt: sie wechseln (oder theilen
neu um) das bebaute Land jedes Jahr und es bleibt
Gremeinland genug dabei übrig. Es ist die Stufe des
Ackerbaus und der Boden- Aneignung, die der damaligen
Grentilverfassung der Deutschen genau entspricht.
Während bei Cäsar die Deutschen theils eben erst
zu festen Wohnsitzen gekommen sind, theils noch solche
suchen, haben sie zu Tacitus Zeit schon ein volles
Jahrhundert der Ansässigkeit hinter sich; dem ent-
sprechend ist der Fortschritt in der Produktion des
Lebensunterhalts unverkennbar. Sie wohnen in Block-
häusern; ihre Kleidung ist noch sehr waldursprünglich;
grober Wollenmantel, Thierfelle, für Frauen und Vor-
nehme leinene Unterkleider. Ihre Nahrung ist Milch,
Fleisch, wilde Früchte, und, wie Plinius hinzufügt,
Haferbrei (noch jetzt celtische Nationalkost in Irland
und Schottland). Ihr Reichthum besteht in Vieh; dies
aber ist von schlechter Race, die Rinder klein, unan-
sehnlich, ohne Hörner ; die Pferde kleine Ponies und
keine Renner. Greld wurde selten und wenig gebraucht,
nur römisches. Gold und Silber verarbeiteten sie nicht
und achteten seiner nicht. Eisen war selten und scheint
wenigstens bei den Stämmen an Rhein und Donau fast
nur eingeführt, nicht selbstgewonnen zu sein. Die
Runenschrift (griechischen oder lateinischen Buchstaben
nachgeahmt) war nur als Geheimschrift bekannt und
wurde nur zu religiöser Zauberei gebraucht. Menschen-
opfer waren noch im Gebrauch. Kurz, wir haben hier
ein Yolk vor uns, das sich soeben aus der Mittelstufe
der Barbarei auf die Oberstufe erhoben hatte. Während
aber die an die Römer unmittelbar angrenzenden Stämme
durch die erleichterte Einfuhr römischer Industriepro-
dukte an der Entwicklung einer selbständigen Metall-
und Textilindustrie verhindert wurden, bildete sich eine
solche im Nordosten, an der Ostsee, ganz unzweifelhaft
aus. Die in den schleswigschen Mooren gefundenen
Rüstungsstücke — langes Eisenschwert, Kettenpanzer,
— 104 —
Silberhelm etc., mit römischen Münzen vom Ende des
zweiten Jahrhunderts — und die durch die Völker-
wanderung verbreiteten deutschen Metallsachen zeigen
einen ganz eignen Typus von nicht geringer Ausbil-
dung, selbst wo sie sich an ursprünglich römische
Muster anlehnen. Die Auswanderung in das civilisirte
Römerreich machte dieser einheimischen Industrie überall
ein Ende, ausser in England. Wie einheitlich diese
Industrie entstanden und fortgebildet war, zeigen z. B.
die bronzenen Spangen ; die in Burgund, in Rumänien,
am Asow'schen Meer gefundenen könnten mit eng-
lischen und schwedischen aus derselben Werkstatt her-
vorgegangen sein, und sind ebenso unbezweifelt ger-
manischen Ursprungs.
Der Oberstufe der Barbarei entspricht auch die
Verfassung. Allgemein bestand nach Tacitus der Rath
der Vorsteher (principes), der geringere Sachen ent-
schied, wichtigere aber für die Entscheidung der Volks-
versammlung vorbereitete ; diese selbst besteht auf der
Unterstufe der Barbarei wenigstens da wo wir sie kennen,
bei den Amerikanern, nur erst für die GTens, noch nicht
für den Stamm oder den Stämmebund. Die Vorsteher (prin-
cipes) scheiden sich noch scharf von den Kriegsführem
(duces), ganz wie bei den Irokesen. Erstere leben schon
zum Theil von Ehrengeschenken an Vieh, Korn etc.
von den Stammesgenossen ; sie werden, wie in Amerika,
meist aus derselben Familie gewählt; der Uebergang
zum Vaterrecht begünstigt, wie in G-riechenland und
Rom, die allmälige Verwandlung der Wahl in Erblich-
keit und damit die Bildung einer Adelsfamilie in jeder
Grens. Dieser alte, sogenannte Stammesadel ging meist
unter in der Völkerwanderung oder doch bald nachher.
Die Heerführer wurden ohne Rücksicht auf Abstammung,
bloss nach der Tüchtigkeit gewählt. Sie hatten wenig
Grewalt und mussten durch's Beispiel wirken 5 die eigent-
liche Disciplinargewalt beim Heer legt Tacitus ausdrück-
lich den Priestern bei. Die wirkliche Macht lag bei der
Volksversammlung. Der König oder Stamraesvorsteher
präsidirt; das Volk entscheidet — nein: durch Murren;
ja: durch Akklamation und WafFenlärm. Sie ist zugleich
— 105 —
(lerichtsversammlung ; hier werden Klagen vorgebracht
und abgenrtheilt, hier Todesurtheile gefällt, und zwar
steht der Tod nur auf Feigheit, Volks verrath und un-
natürlicher Wollust. Auch in den Grentes und andern
Unterabtheilungen richtet die Gresammtheit unter Vor-
sitz des Vorstehers, der, wie in allem deutschen ur-
sprünglichen Grericht, nur Leiter der Verhandlung und
Fragesteller gewesen sein kann ; Urtheilsfinder war von
jeher und überall bei Deutschen die Gresammtheit.
Bünde von Stämmen hatten sich seit Cäsars Zeit
ausgebildet 5 bei einigen von ihnen gab es schon Könige;
der oberste Heerführer, wie bei Grriechen und Römern,
strebte bereits der Tyrannis zu und erlangte sie zu-
weilen. Solche glückliche Usurpatoren waren nun keines-
wegs unbeschränkte Herrscher ; aber sie fingen doch
schon an, die Fesseln der Grentilverfassung zu brechen.
Während sonst freigelassne Sklaven eine untergeordnete
Stellung einnahmen, weil sie keiner Gens angehören
konnten, kamen solche Grünstlinge bei den neuen Köni-
gen oft zu Rang, Reichthum und Ehren. Grleiches ge-
schah nach der Eroberung des Römerreichs von den
nun zu Königen grosser Länder gewordnen Heerführern.
Bei den Franken spielten Sklaven und Freigelassne des
Königs erst am Hof, dann im Staat eine grosse Rolle ;
zum grossen Theil stammt der neue Adel von ihnen ab.
Eine Einrichtung begünstigte das Aufkommen des
Königthums : die Gefolgschaften. Schon bei den ame-
rikanischen Rothhäuten sahen wir, wie sich neben der
Gentilverfassung Privatgesellschaften zur Kriegführung
auf eigne Faust bilden. Diese Privatgesellschaften waren
bei den Deutschen bereits ständige Vereine geworden.
Kriegsführer, die sich einen Ruf erworben, versammelten
eine Schaar beutelustiger junger Leute um sich, ihm
zu persönlicher Treue, wie er ihnen, verpflichtet. Der
Führer verpflegte und beschenkte sie, ordnete sie
hierarchisch; eine Leibgarde und schlagfertige Truppe
zu kleineren, ein fertiges Oftizierkorps für grössere
Auszüge. Schwach wie diese Gefolgschaften gewesen
sein müssen und auch z. B. bei Odovaker in Italien
später erscheinen, so bildeten sie doch schon den Keim
— 106 —
des Verfalls der alten Yolksfreiheit und bewährten sich
als solche in und nach der Völkerwanderung. Denn
erstens begünstigten sie das Aufkommen der könig-
lichen Grewalt. Zweitens aber konnten sie, wie schon
Tacitus bemerkt, zusammengehalten werden nur durch
fortwährende Kriege und Raubzüge. Der Raub wurde
Zweck. Hatte der Gefolgsherr in der Nähe nichts zu
thun, so zog er mit seiner Mannschaft zu andern Völ-
kern, bei denen es Krieg und Aussicht auf Beute gab ;
die deutschen Hülfsvölker, die unter römischer Fahne
selbst gegen Deutsche in grosser Menge fochten, waren
zum Theil durch solche Gefolgschaften zusammen-
gebracht. Das Landsknechtswesen, die Schmach und
der Fluch der Deutschen, war hier schon in der ersten
Anlage vorhanden. Nach Eroberung des Römerreichs
bildeten diese Gefolgsleute der Könige neben den un-
freien und römischen Hofbedienten den zweiten Haupt-
bestandtheil des späteren Adels.
Im Ganzen gilt also für die zu Völkern verbündeten
deutschen Stämme dieselbe Verfassung, wie sie sich bei
den Griechen der Heroenzeit und den Römern der so-
genannten Königszeit entwickelt hatte : Volksversamm-
lung, Rath der Gentilvorsteher, Heerführer, der schon
einer wirklichen königlichen Gewalt zustrebt. Es war
die ausgebildetste Verfassung, die die Gentilordnung
überhaupt entwickeln konnte ; sie war die Muster-
verfassung der Oberstufe der Barbarei. Schritt die Ge-
sellschaft hinaus über die Grenzen, innerhalb deren
diese Verfassung genügte, so war es aus mit der Gentil-
ordnung; sie wurde gesprengt, der Staat trat an ihre
Stelle.
Vin. Die Staatsbildung der Deutsclien.
Die Deutsclien waren nach Tacitus ein sehr zahl-
reiches Volk. Eine ungefähre Yorstellung von der Stärke
deutscher Einzelvölker erhalten wir bei Cäsar ; er gibt
die Zahl der auf dem linken Rheinufer erschienenen
TJsipeter und Tenkterer auf 180,000 Köpfe an, Weiber
und Kinder eingeschlossen. Also etwa 100,000 auf ein
Einzelvolk,*) schon bedeutend mehr als z. B. die Gre-
sammtheit der Irokesen in ihrer Blütezeit, wo sie, nicht
20,000 Köpfe stark, der Schrecken des ganzen Landes
wurden, von den grossen Seen bis an den Ohio und
Potomac. Ein solches Einzelvolk nimmt auf der Karte,
wenn wir versuchen, die in der Nähe des Rheins an-
gesessenen, genauer bekannten nach den Berichten zu
gruppiren, im Durchschnitt ungefähr den Raum eines
preussischen Regierungsbezirks ein, als etwa 10,000
Quadratkilometer oder 182 geographische Quadratmeilen.
Germania Magna der Römer aber, bis an die Weichsel,
umfasst in runder Zahl 500,000 Quadratkilometer. Bei
einer durchschnittlichen Kopfzahl der Einzelvölker von
100,000, würde die Gesammtzahl für Germania Magna
sich auf fünf Millionen berechnen 5 für eine barbarische
*) Die hier angenommene Zahl wird bestätigt durch eine Stelle
Diodors über die gallischen Gelten : „In Gallien wohnen viele Völker-
schaften Ton ungleicher Stärke. Bei den grössten beträgt die
Menschenzahl ungefähr 200,000, bei den kleinsten 50,000." (Dio-
dorus Siculu^, V, 25.) Also durchschnittlich 125,000; die gallischen
Einzelvölker sind, bei ihrem hölieren Entwicklungsstand, unbedingt
etwas zahlreicher anzunehmen als die deutschen.
- 108 - ^
Yölkergruppe eine ansehnliche Zahl, für unsre Verhält-
nisse — 10 Köpfe auf den Quadratkilometer oder 550
auf die geographische Quadratmeile — äusserst gering.
Damit aber ist die Zahl der damals lebenden Deutschen
keineswegs erschöpft. Wir wissen, dass die Karpathen
entlang bis zur Donaumündung hinab deutsche Völker j
gothischen Stamms wohnten, Bastarner, Peukiner und '
andre, so zahlreich, dass Plinius aus ihnen den fünften
Hauptstamm der Deutschen zusammensetzt und dass
sie, die schon 180 vor unsrer Zeitrechnung im Sold-
dienst des makedonischen Königs Perseus auftreten,
noch in den ersten Jahren des Augustus bis in die
Gregend von Adrianopel vordrangen. Rechnen wir sie
nur für eine Million, so haben wir als wahrscheinliche
Anzahl der Deutschen zu Anfang unsrer Zeitrechmmg
mindestens sechs Millionen.
Nach der Niederlassung in Germanien muss sich die
Bevölkerung mit steigender Geschwindigkeit vermehrt
haben; die oben erwähnten industriellen Fortschritte
allein würden dies beweisen. Die schleswig'schen Moor-
funde sind, nach den zugehörigen römischen Münzen,
aus dem dritten Jahrhundert. Um diese Zeit herrschte
also schon an der Ostsee ausgebildete Metall- und
Textilindustrie , reger Verkehr mit dem Eömerreich
und ein gewisser Luxus bei Reicheren — Alles Spuren
dichterer Bevölkerung, um diese Zeit aber beginnt
auch der allgemeine Angriffskrieg der Deutschen auf
der ganzen Linie des Rheins, des römischen Grenzwalls
und der Donau, von der Nordsee bis zum Schwarzen
Meer — direkter Beweis der immer stärker werdenden,
nach Aussen drängenden Volkszahl. Dreihundert Jahre
dauerte der Kampf, während dessen der ganze Haupt-
stamm gothischer Völker (mit Ausnahme der skandi-
navischen Gothen und der Burgunder) nach Südosten
zog und den linken Flügel der grossen Angriffslinie
bildeten, in deren Centrum die Hochdeutschen (Her-
minonen) an der Ober-Donau und auf dessen rechtem
.Flügel die Iskävonen, jetzt Franken genannt, am Ehein
vordrangen ; den Ingävonen fiel die Eroberung Britan-
niens zu. Am Ende des fünften Jahrhunderts lag das
— 109 —
ßömerreicli entkräftet, blutlos und hülfios den ein-
dringenden Deutschen offen.
Wir standen oben an der Wiege der antiken grie-
chischen und römischen Civilisation. Hier stehn wir
an ihrem Sarg. üeber alle Länder des Mittelmeer-
Beckens war der nivellirende Hobel der römischen
Weltherrschaft gefahren, und das Jahrhunderte lang.
Wo nicht das Grriechische Widerstand leistete, hatten
alle Nation alsprachen einem verdorbenen Lateinisch
weichen müssen ; es gab keine Nationalunterschiede,
keine Grallier, Iberer, Ligurer, Noriker mehr, sie alle
waren Eömer geworden. Die römische Verwaltung und
das römische Recht hatten überall die alten Greschlechter-
verbände aufgelöst, und damit den letzten Rest lokaler
und nationaler Selbstthätigkeit. Das neugebackne
Römerthum bot keinen Ersatz ; es drückte keine Natio-
nalität aus, sondern nur den Mangel einer Nationalität.
Die Elemente neuer Nationen waren überall vorhanden ;
die lateinischen Dialekte der verschiednen Provinzen
schieden sich mehr und mehr ; die natürlichen Grenzen,
die Italien, G-allien, Spanien, Afrika früher zu selbst-
ständigen Grebieten gemacht hatten, waren noch vor-
handen und machten sich auch noch fühlbar. Aber nir-
gends war die Kraft vorhanden, diese Elemente zu
neuen Nationen zusammenzufassen ; nirgends war noch
eine Spur von Entwicklungsfähigkeit, von Widerstands-
kraft, geschweige von Schaffungs vermögen. Die unge-
heure Menschenmasse des ungeheuren Grebiets hatte nur
ein Band, das sie zusammenhielt : den römischen Staat,
und dieser war mit der Zeit ihr schlimmster Feind und
Unterdrücker geworden. Die Provinzen hatten Rom
vernichtet; Rom selbst war eine Provinzialstadt ge-
worden wie die andern — bevorrechtet, aber nicht
länger herrschend, nicht länger Mittelpunkt des Welt-
reichs, nicht einmal mehr Sitz der Kaiser und Unter-
kaiser, die in Konstantinopel, Trier, Mailand wohnten.
Der römische Staat war eine riesige, komplicirte Ma-
schine geworden, ausschliesslich zur Aussaugung der
Unterthanen. Steuern und Lieferungen aller Art drück-
ten die Masse der Bevölkerung in immer tiefere Ar-
— 110 —
muth; bis zur Unerträgliclikeit wurde der Druck ge-
steigert durch die Erpressungen der Statthalter, Steuer-
eintreiber, Soldaten. Dahin hatte es der römische Staat
mit seiner Weltherrschaft gebracht : er gründete sein
Existenzrecht auf die Erhaltung der Ordnung nach
Innen und den Schutz gegen die Barbaren nach Aussen.
Aber seine Ordnung war schlimmer als die ärgste Un-
ordnung, und die Barbaren, gegen die er die Bürger
zu schützen vorgab , wurden von diesen als Retter
ersehnt.
Der Gresellschaftszustand war nicht weniger ver-
zweifelt. Schon seit den letzten Zeiten der Republik
war die Römerherrschaft auf rücksichtslose Ausbeutung
der eroberten Provinzen ausgegangen ; das Kaiserthum
hatte diese Ausbeutung nicht abgeschafft, sondern im
Gregentheil geregelt. Je mehr das Reich verfiel, desto
höher stiegen Steuern und Leistungen, desto schamloser
raubten und erpressten die Beamten. Handel und In-
dustrie waren nie Sache der völkerbeherrschenden
Römer gewesen ; nur im Zinswucher hatten sie Alles
übertroffen, was vor und nach ihnen war. Was sich
von Handel vorgefunden und erhalten hatte, ging zu
G-runde unter der Beamten-Erpressung; was sich noch
durchschlug, fällt auf den östlichen, griechischen Theil
des Reichs, der ausser unsrer Betrachtung liegt. All-
gemeine Verarmung, Rückgang des Verkehrs, des Hand-
werks, der Kunst, Abnahme der Bevölkerung, Verfall
der Städte, Rückkehr des Ackerbaus auf eine niedrigere
Stufe — das war das Endresultat der römischen Welt-
herrschaft.
Der Ackerbau, in der ganzen alten Welt der ent-
scheidende Produktionszweig, war es wieder mehr als
je. In Italien waren die, seit Ende der Republik fast
das ganze (iebiet einnehmenden ungeheuren Grüterkom-
plexe (Latifundien) auf zweierlei Weise verwerthet
worden. Entweder als Viehweide, wo die Bevölkerung
durch Schafe und Ochsen ersetzt war, deren Wartung
nur wenige Sklaven erforderte. Oder als Villen, die
mit Massen von Sklaven Grartenbau in grossem Styl
trieben, theils für den Luxus des Besitzers, theils für
— 111 —
den Absatz auf den städtischen Märkten. Die grossen
Viehweiden hatten sich erhalten und wohl noch aus-
gedehnt ; die Villen guter und ihr Gartenbau waren ver-
kommen mit der Verarmung ihrer Besitzer und dem
Verfall der Städte. Die auf Sklavenarbeit gegründete
Latifundienwirthschaft rentirte sich nicht mehr ; sie war
aber damals die einzig mögliche Form der grossen Agri-
kultur. Die Kleinkultur war wieder die allein lohnende
Form geworden. Eine Villa nach der andern wurde in
kleine Parzellen zerschlagen und ausgegeben an Erb-
pächter, die eine bestimmte Summe zahlten, oder partiarii,
mehr Verwalter als Pächter, die den sechsten oder gar
nur neunten Theil des Jahresprodukts für ihre Arbeit er-
hielten. Vorherrschend aber wurden diese kleinen Acker-
parzellen an Kolonen ausgethan, die dafür einen be-
stimmten jährlichen Betrag zahlten, an die Scholle
gefesselt waren und mit ihrer Parzelle verkauft werden
konnten ; sie waren zwar keine Sklaven, aber auch
nicht frei, konnten sich nicht mit Freien verheirathen
und ihre Ehen unter einander werden nicht als voll-
gültige Ehen, sondern wie die der Sklaven als blosse
Beischläferei (contubernium) angesehn. Sie waren die
Vorläufer der mittelalterlichen Leibeignen.
Die antike Sklaverei hatte sich überlebt. Weder
auf dem Lande in der grossen Agrikultur, noch in den
städtischen Manufakturen gab sie einen Ertrag mehr,
der der Mühe werth war — der Markt für ihre Pro-
dukte war ausgegangen. Der kleine Ackerbau aber
und das kleine Handwerk, worauf die riesige Produk-
tion der Blütezeit des Reichs zusammengeschrumpft
war, hatte keinen E.aum für zahlreiche Sklaven. Nur
für Haus- und Luxussklaven der Reichen war noch
Platz in der Gesellschaft. Aber die absterbende Skla-
verei war immer noch hinreichend, alle produktive Ar-
beit als Sklaventhätigkeit, als freier Römer — und das
war ja jetzt Jedermann — unwürdig erscheinen zu
lassen. Daher einerseits wachsende Zahl der Frei-
lassungen überflüssiger, zur Last gewordener Sklaven,
andrerseits Zunahme der Kolonen hier, der verlumpten
Freien (ähnlich den poor whites der Ex-Sklavenstaaten
— 112 —
Amerikas) dort. Das Cliristenthiim ist am allmäligen
Aussterben der antiken Sklaverei vollständig unschul-
dig. Es hat die Sklaverei Jahrhunderte lang im Römer-
reich mitgemacht, und später nie den Sklavenhandel
der Christen verhindert, weder den der Deutschen im
Norden, noch den der Venetianer im Mittelmeer, noch
den späteren Negerhandel.*) Die Sklaverei bezahlte
sich nicht mehr, darum starb sie aus. Aber die ster-
bende Sklaverei Hess ihren giftigen Stachel zurück in
der Aechtung der produktiven Arbeit der Freien. Hier
war die ausweglose Sackgasse, in der die römische
Welt stak : die Sklaverei war ökonomisch unmöglich,
die Arbeit der Freien war moralisch geächtet. Die
eine konnte nicht mehr, die andre noch nicht, Grund-
form der gesellschaftlichen Produktion sein. Was hier
allein helfen konnte, war nur eine vollständige Re-
volution.
In den Provinzen sah es nicht besser aus. Wir
haben die meisten Nachrichten aus Gallien. Neben
den Kolonen gab es hier noch freie Kleinbauern. Um
gegen Vergewaltigung durch Beamte, Richter und
Wucherer gesichert zu sein, begaben sich diese häufig
in den Schutz, das Patronat eines Mächtigen ; und zwar
nicht nur Einzelne thaten dies, sondern ganze Ge-
meinden, so dass die Kaiser im vierten Jahrhundert
mehrfach Verbote dagegen erliessen. Aber was half
es den Schutzsuchenden? Der Patron stellte ihnen die
Bedingung, dass sie das Eigenthum ihrer Grundstücke
an ihn übertrügen, wogegen er ihnen die Nutzniessung
auf Lebenszeit zusicherte — ein Kniff, den die heilige
Kirche sich merkte und im 9. und 10. Jahrhundert zur
Mehrung des Reiches Gottes und ihres eignen Grund-
besitzes weidlich nachahmte. Damals freilich, gegen
das Jahr 475, eifert der Bischof Salvianus von Marseille
*) Nach dem Bischof Liutprand von Cremona war im 10. Jahr-
hundert in Verdun, also im heiligen deutschen Reich, der Haupt-
industriezweig die Fabrikation von Eunuchen, die mit grossem Profit
nach Spanien für die maurischen Harems exportirt wurden.
— 113 —
noch entrüstet gegen solchen Diebstahl und erzählt,
der Druck der römischen Beamten und grossen Grrund-
herren sei so arg geworden, dass viele „Römer" in die
schon von Barbaren besetzten Gregenden flöhen und die
dort ansässigen römischen Bürger vor nichts mehr Angst
hätten, als wieder unter römische Herrschaft zu kommen.
Dass damals Eltern häufig aus Armuth ihre Kinder in
die Sklaverei verkauften, beweist ein dagegen erlassenes
Gresetz.
Dafür, dass die deutschen Barbaren die Eömer von
ihrem eignen Staat befreiten, nahmen sie ihnen zwei
Drittel des gesammten Bodens und theilten ihn unter
sich. Die Theilung geschah nach der Gentilverfassung;
bei der verhältnissmässig geringen Zahl der Eroberer
blieben sehr grosse Striche ungetheilt, Besitz theils des
ganzen Volks, theils der einzelne Stämme und Grentes.
In jeder Grens wurde das Acker- und Wiesenland unter
die einzelnen Haushaltungen zu gleichen Theilen ver-
loost ; ob in der ersten Zeit wiederholte Auftheilungen
stattfanden, wissen wir nicht, jedenfalls verloren sie
sich in den Römerprovinzen bald und die Einzelantheile
wurden veräusserliches Privateigenthum, Alod. Wald
und Weide blieb ungetheilt zu gemeinsamer Xutzung ;
diese Nutzung sowie die Art der Bebauung der auf-
getheilten Flur wurde geregelt nach altem Brauch
und nach Beschluss der Gesammtheit. Je länger die
Grens in ihrem Dorfe sass, und je mehr Deutsche und
Römer allmälig verschmolzen, desto mehr trat der ver-
wandtschaftliche Charakter des Bandes zurück vor dem
territorialen ; die Grens verschwand in der Markgenossen-
schaft, in der allerdings noch oft genug Spuren des
Ursprungs aus Verwandtschaft der Genossen sichtbar
sind. So ging hier die Gentilverfassung, wenigstens in
den Ländern, wo die Markgemeinschaft sich erhielt
— Nordfrankreich, England, Deutschland und Skandi-
navien — unmerklich in eine Ortsverfassung über und
erhielt damit die Fähigkeit der Einpassung in den Staat.
Aber sie behielt dennoch den naturwüchsig demokra-
tischen Charakter bei, der die ganze Gentilverfassung
auszeichnet, und erhielt so selbst in der ihr später
— 114 —
aufgezwiingnen Ausartung ein Stück Gentilverfassung
und damit eine Waffe in den Händen der Unterdrückten
lebendig bis in die neuste Zeit.
Wenn so das Blutband in der Grens bald verloren
ging, so war dies die Folge davon, dass auch im Stamm
und Gresammtvolk seine Organe ausarteten in Folge der
Eroberung. Wir wissen, dass Herrschaft über Unter-
worfene mit der Grentilverfassung unverträglich ist.
Hier sehen wir dies auf grossem Massstab. Die deutschen
Völker, Herren der Römerprovinzen, hatten diese ihre
Eroberung zu organisiren. Weder aber konnte man die
Römermassen in die Grentilkörper aufnehmen, noch sie ver-
mittelst dieser beherrschen. An die Spitze der, zunächst
grossentheils fortbestehenden, römischen lokalen Ver-
waltungskörper musste man einen Ersatz für den römi-
schen Staat stellen, und dieser konnte nur ein andrer
Staat sein. Die Organe der Grentilverfassung mussten
sich so in Staatsorgane verwandeln , und dies , dem
Drang der Umstände gemäss, sehr rasch. Der nächste
Repräsentant des erobernden Volks war aber der Heer-
führer. Die Sicherung des eroberten Glebiets nach Innen
und Aussen forderte Stärkung seiner Macht. Der Augen-
blick war gekommen zur Verwandlung der Feldherrn-
schaft in Königthum : sie vollzog sich.
Nehmen wir das Frankenreich. Hier waren dem sieg-
reichen Volk der Salier nicht nur die weiten römischen
Staatsdomänen, sondern auch noch alle die sehr grossen
Landstrecken als Volksbesitz zugefallen, die nicht an
die grösseren und kleineren Grau- und Markgenossen-
schaften vertheilt waren, namentlich alle grösseren Wald-
komplexe. Das erste, was der aus einem einfachen
obersten Heerfahrer in einen wirklichen Landesfürsten
verwandelte Frankenkönig that, war, dies Volkseigen-
thum in königliches Grut zu verwandeln, es dem Volk
zu stehlen und an sein Grefolge zu verschenken oder
zu verleihen. Dies Grefolge, ursprünglich seine persön-
liche Kriegsgefolgschaft und die übrigen Unterführer
des Heers, verstärkte sich bald nicht nur durch Römer,
d. h. ronianisirte Grallier, die ihm durch ihre Schreiber-
— 115 —
kunst, ihre Bildung, ihre Kenntniss der romanisclien
Landessprache und lateinischen Schriftsprache, sowie
des Landesrechts bald unentbehrlich wurden, sondern
auch durch Sklaven, Leibeigne und Treigelasseue, die
seinen Hofstaat ausmachten und aus denen er seine
Grünstlinge wählte. An alle diese wurden Stücke des
Yolkslandes zuerst meist verschenkt, später in der Form
von Beneficion zuerst meist auf Lebenszeit des Königs
verliehen und so die Grundlage eines neuen Adels auf
Kosten des Volks geschaffen.
Damit nicht genug. Die weite Ausdehnung des Eeichs
war mit den Mitteln der alten G-entilverfassung nicht
zu regieren ; der Rath der Vorsteher, war er nicht
längst abgekommen, hätte sich nicht versammeln können
und wurde bald durch die ständige Umgebung des Königs
ersetzt ; die alte Volksversammlung blieb zum Schein
bestehn, wurde aber ebenfalls mehr und mehr blosse
Versammlung der Unterführer des Heers und der neu-
aufkommenden Grrossen. Die freien grundbesitzenden
Bauern, die Masse des fränkischen Volks, wurden durch
die ewigen Bürger- und Eroberungskriege , letztere
namentlich unter Karl dem Grossen, ganz so erschöpft
und heruntergebracht, wie früher die römischen Bauern
in den letzten Zeiten der Republik. Sie, die ursprüng-
lich das ganze Heer, und nach der Eroberung Frank-
reichs dessen Kern gebildet hatten, waren am Anfang
des neunten Jahrhunderts so verarmt, dass kaum noch
der fünfte Mann ausziehen konnte. An die Stelle des
direkt vom König aufgebotenen Heerbannes freier
Bauern trat ein Heer, zusammengesetzt aus den Dienst-
leuten der neuaufgekommenen Grossen, darunter auch
hörige Bauern, die Nachkammen derer, die früher keinen
Herrn als den König, und noch früher gar keinen, nicht
einmal einen König gekannt hatten. Unter den Nach-
folgern Karl's wurde der Ruin des fränkischen Bauern-
standes durch innere Kriege, Schwäche der königlichen
Gewalt und entsprechende Uebergriffe der Grossen,
zu denen nun noch die von Karl eingesetzten und nach
Erblichkeit des Amts strebenden Gaugrafen kamen,
endlich durch die Einfälle der Normannen vollendet.
— 116 —
Fünfzig- Jahre nach dem Tode Karl's des Grossen lag
das Frankeureich ebenso widerstandslos zu den Füssen
der Normannen, wie vierhmidert Jahre früher das Römer-
reich zu den Füssen der Franken.
Und nicht nur die äussere Ohnmacht, sondern auch
die innere Gesellschaftsordnung oder vielmehr -Unord-
nung war fast dieselbe. Die freien fränkischen Bauern
waren in eine ähnliche Lage versetzt wie ihre Vor-
gänger, die römischen Kolonen. Durch die Kriege und
Plünderungen ruinirt, hatten sie sich in den Schutz
der neuaufgekommenen Grossen oder der Kirche be-
geben müssen, da die königliche Gewalt zu schwach
war, sie zu schützen ; aber diesen Schutz mussten sie
theuer erkaufen. Wie früher die gallischen Bauern,
mussten sie das Eigenthum an ihrem Grundstück au
den Schutzherrn übertragen und erhielten dies von ihm
zurück als Zinsgut unter verschiedenen und wechseln-
den Formen, stets aber nur gegen Leistung von Dienfiten
und Abgaben ; einmal in diese Form von Abhängigkeit
versetzt, verloren sie nach und nach auch die persön-
liche I'reiheit; nach wenig Generationen waren sie
zumeist schon Leibeigne. Wie rasch der Untergang
des freien Bauernstands sich vollzog, zeigt Irminon's
Grundbuch der Abtei Saint Germain des Pr^s, damals
bei, jetzt in Paris. Auf dem weiten, in der Umgegend
zerstreuten Grundbesitz dieser Abtei sassen damals,
noch zu Lebzeiten Karl's des Grossen, 2788 Haushal-
tungen, fast ausnahmslos Franken mit deutschen Namen.
Darunter 2080 Kolonen, 35 Liten, 220 Sklaven und
nur 8 freie Hintersassen ! Die von Salvianus für gottlos
erklärte Uebung, dass der Schutzherr das Grundstück
des Bauern sich zu Eigenthimi übertragen Hess und es
ihm nur auf Lebenszeit zur Nutzung zurückgab, wurde
jetzt von der Kirche gegen die Bauern allgemein prak-
tizirt. Die Frohndienste, die jetzt mehr und mehr in
Gebrauch kamen, hatten in den römischen Angarien,
Zwangsdiensten für den Staat, ihr Vorbild ebensosehr
gehabt wie in den Diensten der deutschen Markgenossen
für Brücken- und Wegebauten und andre gemeinsame
Zwecke. Dem Schein nach war also die Masse der
— 117 —
Bevölkerung nach vierhundert Jahren ganz wieder beim
Anfang angekommen.
Das aber "bewies mir zweierlei: Erstens, dass die
gesellschaftliche Grliederiing und die Eigenthumsver-
theilung im sinkenden E-ömerreich der damaligen Stufe
der Produktion in Ackerbau und Industrie vollständig
entsprochen hatte, also unvermeidlich gewesen war ; und
zweitens, dass diese Produktionsstufe während der fol-
genden vierhundert Jahre weder wesentlich gesunken
war, noch sich wesentlich gehoben hatte, also mit der-
selben Nothwendigkeit dieselbe Eigenthumsvertheilung
und dieselben Bevölkerungsklassen wieder erzeugt hatte.
Die Stadt hatte in den letzten Jahrhunderten des
Bömerreichs ihre frühere Herrschaft über das Land ver-
loren und in den ersten Jahrhunderten der deutschen
Herrschaft sie nicht wieder erhalten. Es setzt dies eine
niedrige Entwicklungsstufe sowohl des Ackerbaus wie
der Industrie voraus. Diese GTesammtlage produzirt mit
Nothwendigkeit grosse herrschende G-rundbesitzer und
abhängige Kleinbauern. Wie wenig es möglich war,
einerseits die römische Latifundien wirthschaft mit
Sklaven, andrerseits die neuere Grosskultur mit Frohn-
arbeit einer solchen Gresellschaft aufzupropfen, beweisen
Karl's des Q-rossen ungeheure, aber fast spurlos vor-
übergegangene Experimente mit den berühmten kaiser-
lichen Villen. Sie wurden fortgesetzt nur von Klöstern
und waren nur für diese fruchtbar ; die Klöster aber
waren abnorme G-esellschaftskörper, gegründet auf Ehe-
losigkeit ; sie konnten Ausnahmsweises leisten, mussten
aber ebendesshalb auch Ausnahmen bleiben.
Und doch war man während dieser vierhundert Jahre
weiter gekommen. Finden wir auch am Ende fast die-
selben Hauptklassen wieder vor wie am Anfang, so
waren doch die Menschen andre geworden, die diese
Klassen bildeten. Verschwunden war die antike Skla-
verei, verschwunden die verlumpten armen Freien, die
die Arbeit als sklavisch verachteten. Zwischen dem römi-
schen Kolonen und dem neuen Hörigen hatte der freie
fränkische Bauer gestanden. Das „unnütze Erinnern
— 118 —
und der vergebliclie Streit" des verfallenden Römerthuma
war todt und begraben. Die Gresellschaftsklassen des
neunten Jahrhunderts hatten sich gebildet, nicht in der
Yersumpfung einer untergehenden Civilisation, sondern
in den G-eburtswehen einer neuen. Das neue Greschlecht,
Herren wie Diener, war ein Geschlecht von Männern,
verglichen mit seinen römischen Vorgängern. Das Ver-
hältniss von mächtigen Grundherren und dienenden
Bauern, das für diese die auswegslose Untergangsform
der antiken Welt gewesen, es war jetzt für jene der
Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung. Und dann,
so unproduktiv diese vierhundert Jahre auch scheinen,
ein grosses Produkt hinterliessen sie : die modernen
Nationalitäten , die Neugestaltung und G-liederung der
westeuropäischen Menschheit für die kommende G-e-
schichte. Die Deutschen hatten in der That Europa neu
belebt, und darum endete die Staatenauflösung der ger-
manischen Periode nicht mit normannisch-sarazenischer
Unterjochung, sondern mit der Fortbildung der Bene-
ficien und der Schutzergebung (Kommendation) zum
Feudalismus.
Was aber war das geheimnissvolle Zaubermittel, wo-
durch die Deutschen dem absterbenden Europa neue
Lebenskraft einhauchten? War es eine, dem deutschen
Volksstamm eingeborne Wundermacht, wie unsre chau-
vinistische Geschichtsschreibung uns vordichtet ? Keines-
wegs. Die Deutschen waren, besonders damals , ein
hochbegabter arischer Stamm, und in voller lebendiger
Entwicklung begriffen. Aber nicht ihre specifischen
nationalen Eigenschaften waren es, die Europa verjüngt
haben, sondern einfach — ihre Barbarei, ihre Gentil-
verfassung.
Ihre persönliche Tüchtigkeit und Tapferkeit, ihr
Freiheitssinn und demokratischer Instinkt, der in allen
öffentlichen Angelegenheiten seine eigenen Angelegen-
heiten sah, kurz, alle die Eigenschaften, die dem llömer
abhanden gekommen und die allein im Stande, aus dem
Schlamm der Römerwelt neue Staaten zu bilden und
neue Nationalitäten wachsen zu lassen — was waren sie
— 119 —
anders als die Charakterzüge des Barbaren der Ober-
stufe — Früchte seiner Grentilverfassung ?
Wenn sie die antike Form der Monogamie umge-
stalteten, die Männerherrschaft in der Familie milderten,
der Frau eine höhere Stellung gaben, als die klassische
Welt sie je gekannt , was befähigte sie dazu , wenn
nicht ihre Barbarei , ihre Grentilgewohnheiten , ihre
noch lebendigen Erbschaften aus der Zeit des Mutter-
rechtes ?
Wenn sie wenigstens in dreien der wichtigsten
Länder, Deutschland, Nordfrankreich und England, ein
Stück ächter Grentilverfassung in der Form der Mark-
genossenschaften in den Feudalstaat hinüberretteten,
und damit der unterdrückten Klasse, den Bauern, selbst
unter der härtesten mittelalterlichen Leibeigenschaft,
einen lokalen Zusammenhalt und ein Mittel des Wider-
stands gaben, wie es weder die antiken Sklaven fertig
vorfanden noch die modernen Proletarier — wem war
das geschuldet, wenn nicht ihrer Barbarei, ihrer aus-
schliesslich barbarischen Ansiedlungsweise nach Gre-
schlechtern ?
Und endlich, wenn sie die bereits in der Heimath
geübte mildere Form der Knechtschaft, in die auch
im Römerreich die Sklaverei mehr und mehr überging,
ausbilden und zur ausschliesslichen erheben konnten;
eine Form , die, wie Fourier zuerst hervorgehoben,
den Greknechteten die Mittel zur allmäligen Befreiung
als Klasse gibt (fournit aux cultivateurs des moyens
d'affranchissement collectif et progressif); eine
Form, die sich hierdurch hoch über die Sklaverei stellt,
bei der nur die sofortige Einzelfreilassung ohne Ueber-
gangszustand möglich (Abschaffung der Sklaverei durch
siegreiche Rebellion kennt das Alterthum nicht) —
während in der That die Leibeignen des Mittelalters
nach und nach ihre Befreiung als Klasse durchsetzten
— wem verdanken wir das, wenn nicht ihrer Barbarei,,
kraft deren sie es noch nicht zur ausgebildeten Skla-
verei gebracht hatten, weder zur antiken Arbeitsskla-
verei noch zur orientalischen Haussklaverei ?
— 120 —
Alles, was die Deutschen der Eöm erweit Lebens-
kräftiges und Lebenbringendes einpflanzten, war Bar-
barenthum. In der That sind nur Barbaren fähig, eine
an verendender Civilisation laborirende Welt zu ver-
jüngen. Und die oberste Stufe der Barbarei, zu der
und in der die Deutschen sich vor der Völkerwanderung
emporgearbeitet, war gerade die günstigste für diesen
Prozess. Das erklärt Alles.
IX. Barbarei und Civilisation.
Wir haben jetzt die Auflösung der Grentilverfassimg
an den drei grossen Einzelbeispielen der Grriecben,
E,ömer und Deutschen verfolgt. Untersuchen wir zum
Schluss die allgemeinen ökonomischen Bedingungen, die
die gentile Organisation der Gresellschaft auf der Ober-
stufe der Barbarei bereits untergruben, und mit dem
Eintritt der Civilisation vollständig beseitigten. Hier
wird uns Marx' „Kapital" ebenso nothwendig sein wie
Morgan 's Buch.
Hervorgewachsen auf der Mittelstufe, weitergebildet
auf der Oberstufe der Wildheit, erreicht die Glens, so-
weit unsre Quellen dies beurtheilen lassen, ihre Blüte-
zeit auf der Unterstufe der Barbarei. Mit dieser Ent-
wicklungssfajfe also beginnen wir.
V* WiridiÄnden hier, wo uns die amerikanischen Roth-
häute scls Beispiel dienen müssen, die Grentilverfassung
vollkommen ausgebildet. Ein Stamm hat sich in mehrere
Grentes gegliedert ; diese ursprünglichen Gentes zerfallen
mit steigender Volkszahl jede in mehrere Tochtergentes,
gegenüber denen die Muttergens als Phratrie erscheint;
der Stamm selbst spaltet sich in mehrere Stämme, in
deren jedem wir die alten Grentes grossentheils wieder-
finden ; ein Bund umschliesst wenigstens in einzelnen
^-Fällen die verwandten Stämme. Diese einfache Organi-
sation genügt vollkommen den gesellschaftlichen Zu-
ständen, denen sie entsprungen ist. Sie ist weiter nichts
als deren eigne, naturwüchsige Gruppirung, sie ist im
Stande, alle Konflikte auszugleichen, die innerhalb der
so organisirten Gesellschaft entspringen können. Nach
— 122 —
Aussen gleicht der Krieg aus ; er kann mit Vernich-
tung des Stamms endigen, nie aber mit seiner Unter-
jochung. Es ist das Grrossartige, aber auch das Be-
schränkte der Grentilverfassung, dass sie für Herrschaft
und Knechtung keinen Raum hat. Naeh Innen gibt es
noch keinen Unterschied zwischen Rechten und Pflichten;
die Frage, ob Theilnahme an den öffentlichen Ange-
legenheiten, Blutrache oder deren Sühnung, ein Recht
oder eine Pflicht sei, besteht für den Indianer nicht;
sie würde ihm ebenso absurd vorkommen wie die : ob
Essen, Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei.
Ebensowenig kann eine Spaltung des Stammes und der
Gens in verschiedene Klassen stattfinden. Und dies
führt uns auf Untersuchung der ökonomischen Basis
des Zustandes.
Die Bevölkerung ist äusserst dünn ; verdichtet nur
am Wohnort des Stamms, um den in weitem Kreise
zunächst das Jagdgebiet liegt, dann der neutrale Schutz-
wald, der ihn von andern Stämmen trennt. Die Thei-
lung der Arbeit ist rein naturwüchsig; sie besteht nur
zwischen den beiden Geschlechtern. Der Mann führt
den Krieg, geht jagen und fischen, beschafi't den Roh-
stoff" der Nahrung und die dazu nöthigen Werkzeuge.
Die Erau besorgt das Haus und die Zubereitung der
Nahrung und Kleidung, kocht, webt, näht. Jedes von
Beiden ist Herr auf seinem Gebiet: der Mann im
Walde, die Frau im Hause. Jedes ist Eigenthümer der
von ihm verfertigten und gebrauchten Werkzeuge: der
Mann der Waffen, des Jagd- und Fischzeugs, die Frau
des Hausraths. Die Haushaltung ist kommunistisch für
mehrere, oft viele Familien.*) Was gemeinsam gemacht
und genutzt wird, ist gemeinsames Eigenthum : das
Haus, der Garten, das Langboot. Hier also, und nur
hier noch, gilt das von Juristen und Oekonomen der
civilisirten Gesellschaft angedichtete „selbsterarbeitete
Eigenthum", der letzte verlogne Rechtsvorwand, auf
*) Besonders an der Nordwestküste Amerikas, siehe Bancroft.
Bei den Haidahs auf Königin Charlotte's Insel kommen Haushal-
tungen bis zu 700 Personen unter einem Dache vor. Bei den Noot-
kas lebten ganze Stämme unter einem Dache.
— 123 —
den das heutige kapitalistische Eigenthum sich noch
stützt.
Aber die Menschen blieben nicht überall auf dieser
Stufe stehn. In Asien fanden sie Thiere vor^ die sich
zähmen und gezähmt weiter züchten Hessen. Die wilde
Büffelkuh musste erjagt werden, die zahme lieferte
jährlich ein Kalb, und Milch obendrein. Eine Anzahl
der vorgeschrittensten Stämme — Arier , Semiten,
vielleicht auch schon Turanier — machten erst die
Zähmung, später nur noch die Wartung von Vieh zu
ihrem Hauptarbeitszweig. Hirtenstämme sonderten sich
aus von der übrigen Masse der Barbaren: erste
grosse gesellschaftliche Theilung der Ar-
beit. Die Hirtenstämme producirten nicht nur mehr,
sondern auch andre Lebensmittel als die übrigen
Barbaren. Sie hatten nicht nur Milch, Milchprodukte
und Fleisch in grösseren Massen vor diesen voraus,
sondern auch Häute, Wolle, Ziegenhaare und die mit
der Masse des Rohstoffs sich vermehrenden Grespinnste
und Grewebe. Damit wurde ein regelmässiger Aus-
tausch zum ersten Male möglich. Auf früheren Stufen
können nur gelegentliche Austäusche stattfinden ; be-
sondre Greschicklichkeit in der Verfertigung von Waffen
und Werkzeugen kann zu vorübergehender Arbeits-
theilung führen. So sind unzweifelhafte Reste von Werk-
stätten für Steinwerkzeuge aus dem späteren Steinzeit-
alter an vielen Orten gefunden worden ; die Künstler,
die hier ihre Geschicklichkeit ausbildeten, arbeiteten
wahrscheinlich, wie noch die ständigen Handwerker
indischer Gentilgemeinwesen, für Rechnung der Ge-
sammtheit. Keinenfalls konnte auf dieser Stufe ein
andrer Austausch als der innerhalb des Stammes ent-
stehn, und dieser blieb ausnahmsweises Ereigniss. Hier
dagegen , nach der Ausscheidung der Hiitenstämnie,
finden wir alle Bedingungen fertigzum Austausch zwischen
den Gliedern verschiedner Stämme, zu seiner Ausbildung
und Befestigung als regelmässige Institution. Ursprünglich
tauschte Stamm mit Stamm, durch die gegenseitigen
Gentilvorsteher ; als aber die Heerden anfingen in Pri-
vateigenthum überzugehen, überwog der Einzelaustausch
— 124 —
mehr und mehr, und wurde endlich einzige Form. Der
Hauptartikel aber, den die Hirtenstämme an ihre Nach-
barn im Tausch abgaben, war Yieh ; Vieh wurde die
Waare, in der alle andren Waaren geschätzt und die
überall gern im Austausch gegen jene genommen wurde
— kurz, Yieh erhielt Geldfunktion und that G-eld-
dienste schon auf dieser Stufe. Mit solcher Xothwen-
digkeit und Haschheit entwickelte sich schon im Anbe-
ginn des Waarenaustausches das Bedürfniss einer G-eld-
waare.
Der Grartenbau, den asiatischen Barbaren der Unter-
stufe wahrscheinlich fremd , kam spätestens in der
Mittelstufe bei ihnen auf, als Vorläufer des Feldbaus.
Das Elima der turanischen Hochebene lässt kein Hlrten-
leben zu ohne Futter vorräthe für den langen und stren-
gen Winter ; Wiesenbau und Kultur von Kornfrucht war
also hier Bedingung. Dasselbe gilt für die Steppen
nördlich vom schwarzen Meer. Wurde aber erst die
Kornfrucht für das Yieh gewonnen, so wurde sie bald
auch menschliche Xahrung. Das bebaute Land blieb
noch Stammeseigenthum , anfänglich der Grens , später
von dieser den Einzelnen zur Benutzung überwiesen ;
sie mochten gewisse Besitzrechte daran haben, mehr
aber auch nicht.
Yon den industriellen Errungenschaften dieser Stufe
sind zwei besonders wichtig. Die erste ist der Web-
stuhl, die zrreite die Schmelzung von Metallerzen und
die Yerarbeitimg der Metalle. Kupfer und Zinn und
die aus beiden zusammengesetzte Bronze waren weit-
aus die wichtigsten ; die Bronze lieferte brauchbare
Werkzeuge und Waffen, konnte aber die Steinwerk-
zeuge nicht verdrängen; dies war nur dem Eisen mög-
lich, und Eisen zu gewinnen, verstand man noch nicht.
Grold und Silber fingen an zu Schmuck und Zierrath
verwandt zu werden, und müssen schon hoch im Werth
gestanden haben gegenüber Kupfer und Bronze.
Die Steigerung der Produktion in allen Zweigen
— Viehzucht, Ackerbau, häusliches Handwerk — gab
der menschlichen Arbeitskraft die Fähigkeit, ein grös-
seres Produkt zu erzeugen, als zu ihrem Unterhalt er-
— 125 —
forderlicli war. Sie steigerte gleichzeitig- die tägliche
Arbeitsmenge, die jedem Mitglied der Gens, der Haus-
gemeinde oder der Einzelfamilie zufiel. Die Einschal-
tung neuer Arbeitskräfte wurde wünschenswerth. Der
Krieg lieferte sie : die Kriegsgefangnen wurden in Skla-
ven verwandelt. Die erste grosse gesellschaftliche Thei-
lung der Arbeit zog mit ihrer Steigerung der Produk-
tivität der Arbeit, also des Eeichthums, und mit ihrer
Erweiterung des Produktionsfeldes, unter den gegebnen
geschichtlichen Gresammtbedingungen, die Sklaverei mit
Nothwendigkeit nach sich. Aus der ersten grossen
gesellschaftlichen Arbeitstheilung entsprang die erste
grosse Spaltung der Gresellschaft in zwei Klassen:
Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeutete.
Wie und wann die Heerden aus dem Gemeinbesitz
des Stammes oder der Gens in das Eigenthum der ein-
zelnen Familienhäupter übergegangen, darüber wissen
wir bis jetzt nichts. Es muss aber im Wesentlichen
auf dieser Stufe geschehn sein. Mit den Heerden nun,
und den übrigen neuen Heichthümern kam eine Revo-
lution über die Familie. Der Erwerb war immer Sache
des Mannes gewesen, die Mittel zum Erwerb von ihm
produzirt und sein Eigenthum. Die Heerden waren die
neuen Erwerbsmittel , ihre anfängliche Zähmung und
spätere Wartung sein Werk. Ihm gehörte daher das
Vieh, ihm die gegen Vieh eingetauschten Waaren und
Sklaven. All' der Ueberschuss, den der Erwerb jetzt
lieferte, fiel dem Manne zu; die Frau genoss mit da-
von, aber sie hatte kein Theil am Eigenthum. Der
„wilde" Kiieger und Jäger war im Hause zufrieden
gewesen mit der zweiten Stelle, nach der Frau; der
„sanftere" Hirt, auf seinen Eeichthum pochend, drängte
sich vor an die erste Stelle und die Frau zurück an
die zweite. Und sie konnte sich nicht beklagen. Die
Arbeitstheilung in der Familie hatte die Eigenthums-
vertheilung zwischen Mann und Frau geregelt ; sie war
dieselbe geblieben; und doch stellte sie jetzt das bisherige
häusliche Verhältniss auf den Kopf, lediglich weil die
Arbeitstheilung ausserhalb der Familie eine andre ge-
worden war. Dieselbe Ursache, die der Frau ihre frühere
— 126 —
Herrschaft im Hause gesichert: ihre Beschränkung auf
die Hausarbeit, dieselbe Ursache sicherte jetzt die Herr-
schaft des Mannes im Hause : die Hausarbeit der Frau
verschwand jetzt neben der Erwerbsarbeit des Mannes;
diese war Alles, jene eine unbedeutende Beigabe. Hier
zeigt sich schon, dass die Befreiung der Frau, ihre
Grleichstellung mit dem Manne, eine Unmöglichkeit ist
und bleibt, so lange die Frau von der gesellschaftlichen
produktiven Arbeit ausgeschlossen und auf die häus-
liche Privatarbeit beschränkt bleibt. Die Befreiung der
Frau wird erst möglich, sobald diese auf grossem, ge-
sellschaftlichem Massstab an der Produktion sich be-
theiligen kann, und die häusliche Arbeit sie nur noch
in unbedeutendem Mass in Anspruch nimmt. Und dies
ist erst möglich geworden durch die moderne grosse
Industrie, die nicht nur Frauenarbeit auf grosser Stufen-
leiter zulässt, sondern förmlich nach ihr verlangt, und
die auch die private Hausarbeit mehr und mehr in eine
öffentliche Industrie aufzulösen strebt.
Mit der faktischen Herrschaft des Mannes im Hause
war die letzte Schranke seiner Alleinherrschaft gefallen.
Diese Alleinherrschaft wurde bestätigt und verewigt
durch Sturz des Mutterrechts, Einführung des Vater-
rechts, allmäligen Uebergang der Paarungsehe in die
Monogamie. Damit aber kam ein Hiss in die alte
Grentilordnung : die Einzelfamilie wurde eine Macht
und erhob sich drohend gegenüber der Gi-ens.
Der nächste Schritt führt uns auf die Oberstufe der
Barbarei, die Periode, in der alle Kulturvölker ihre
Heroenzeit durchmachen : die Zeit des eisernen Schwerts,
aber auch der eisernen Pflugschar und Axt. Das Eisen
war dem Menschen dienstbar geworden, der letzte und
wichtigste aller Rohstoffe, die eine geschichtlich um-
wälzende Rolle spielten, der letzte — bis auf die Kar-
toffel. Das Eisen schuf den Feldbau auf grösseren Flä-
chen, die Urbarmachung ausgedehnterer Waldstreoken ;
es gab dem Handwerker Werkzeug von einer Härte
und Schneide, der kein Stein, kein andres bekanntes
Metall widerstand. Alles das allmälig ; das erste Eisen
war oft noch weicher als Bronze. So verschwand die
— 127 —
Stein waffe nur langsam ; nicht nur im Hildetrandslied,
auch noch bei Hastings im Jahr 1066 kamen noch Stein-
äxte in's Grefecht. Aber der Fortschritt ging nun un-
aufhaltsam, weniger unterbrochen und rascher vor sich.
Die mit steinernen Mauern, Thürmen und Zinnen stei-
nerne oder Ziegel-Häuser umschliessende Stadt wurde
Centralsitz des Stamms oder Stämmebundes ; ein ge-
waltiger Fortschritt in der Baukunst, aber auch ein
Zeichen vermehrter Gefahr und Schutzbedürftigkeit.
Der Reichthum wuchs rasch, aber als Reichthum Ein-
zelner ; die Weberei , die Metallbearbeitung und die
andern, mehr und mehr sich sondernden Handwerke
entfalteten steigende Mannigfaltigkeit und Kunstfertig-
keit der Produktion; der Landbau lieferte neben Korn,
Hülsenfrüchten und Obst jetzt auch Oel und Wein,
deren Bereitung man gelernt hatte. So mannigfache
Thätigkeit konnte nicht mehr von demselben Einzelnen
ausgeübt werden; die zweite grosse Theilung
der Arbeit trat ein: das Handwerk sonderte sich
vom Ackerbau. Die fortwährende Steigerung der Pro-
duktion und mit ihr der Produktivität der Arbeit er-
höhte den Werth der menschlichen Arbeitskraft; die
Sklaverei, auf der vorigen Stufe noch entstehend und
sporadisch, wird jetzt wesentlicher Bestandtheil des
Gresellschaftssystems ; die Sklaven hören auf einfache
Grehülfen zu sein, sie werden dutzendweise zur Arbeit
getrieben auf dem Feld und in der Werkstatt. Mit
der Spaltung der Produktion in die zwei grossen Haupt-
zweige, Ackerbau und Handwerk, entsteht die Produk-
tion direkt für den Austausch, die Waarenproduktion;
mit ihr der Handel, nicht nur im Innern und an den
Stammesgrenzen, sondern auch schon über See. Alles
dies aber noch sehr unentwickelt; die edlen Metalle
fangen an vorwiegende und allgemeine G-eldwaare zu
werden, aber noch ungeprägt, nur nach dem noch un-
verkleideten G-e wicht sich austauschend.
Der Unterschied von Reichen und Aermeren tritt
neben den von Freien und Sklaven — mit der neuen
Arbeitstheilung eine neue Spaltung der Gesellschaft in
Klassen. Die Besitzunterschiede der einzelnen Familien-
— 128 —
häupter sprengen die alte kommunistisclie Hansgemeinde
überall, wo sie sich bis dahin erhalten 5 mit ihr die
gemeinsame Bebauung des Bodens für Rechnung dieser
Gremeinde. Das Ackerland wird den einzelnen Familien
zunächst auf Zeit, später ein für alle Mal zur Nutzung
überwiesen, der tJebergang in volles Privateigenthum
vollzieht sich allmälig und parallel mit dem TJebergang
der Paarungsehe in Monogamie. Die Einzelfamilie
fängt an, die wirthschaftliche Einheit an der Gresell-
schaft zu werden.
Die dichtere Bevölkerung nöthigt zu engerem Zu-
sammenschliessen nach Innen wie nach Aussen. Der
Bund verwandter Stämme wird überall eine Nothwen-
digkeit; bald auch schon ihre Verschmelzung, damit
die Yerschmelzung der getrennten Stammesgebiete zu
einem Gesammtgebiet des Volks. Der Heerführer des
Volks — rex, basileus, thiudans — wird unentbehr-
licher, ständiger Beamter. Die Volksversammlung kommt
auf, wo sie nicht schon bestand. Heerführer, Rath,
Volksversammlung bilden die Organe der zu einer
militärischen Demokratie fortentwickelten Grentilge Seil-
schaft. Militärisch — denn der Krieg und die Orga-
nisation zum Krieg sind jetzt regelmässige Punktionen
des Volkslebens geworden. Die Eeichthümer der Nach-
barn reizen die Habgier von Völkern, bei denen Reich-
thumserwerb schon als einer der ersten Lebenszwecke
erscheint. Sie sind Barbaren: Rauben gilt ihnen für
leichter und selbst für ehrenvoller als Erarbeiten. Der
Krieg, früher nur geführt zar Rache für Uebergriffe
oder zur Ausdehnung des unzureichend gewordenen
Grebiets, wird jetzt des blossen Raubs wegen geführt,
wird stehender Erwerbszweig. Nicht umsonst starren
die dräuenden Mauern um die neuen befestigten Städte :
in ihren Grräben gähnt das Grrab der Grentilverfassung,
und ihre Thürme ragen bereits hinein in die Civilisa-
tion. Und ebenso geht es im Innern, Die Raubkriege
erhöhen die Macht des obersten Heerführers wie die
der Unterführer; die gewohnheitsmässige Wahl der
Nachfolger in denselben Familien geht, namentlich seit
Einführung des Vaterrechts, allmälig über in erst ge-
— 129 —
duldete, dann beanspruchte, endlich usurpirte Erhlich-
keit ; die Grrundlage des Erbkönigthums und des Erb-
adels ist gelegt. So reissen sich die Organe der Grentil-
verfassung allmälig los von ihrer Wurzel im Volk, in
Grens, Phratrie, Stamm, und die ganze Grentilverfassung
verkehrt sich in ihr Gegentheil : aus einer Organisation
von Stämmen zur freien Ordnung ihrer eignen Ange-
legenheiten wird sie eine Organisation zur Plünderung
und Bedrückung der Nachbarn, und dem entsprechend
werden ihre Organe aus Werkzeugen des Volkswillens
zu selbständigen Organen der Herrschaft und Bedrückung
gegenüber dem eignen Volk. Das aber wäre nie mög-
lich gewesen, hätte nicht die Gier nach Reichthura die
Grentilgenossen gespalten in Keiche und Arme, hätte
nicht „die Eigenthumsdifferenz innerhalb derselben
Grens die Einheit der Interessen verwandelt in Anta-
gonismus der G-entilgenossen" (Marx), und hätte nicht
die Ausdehnung der Sklaverei bereits angefangen, die
Erarbeitung des Lebensunterhalts für nur skia ven wür-
dige Thätigkeit, für schimpflicher gelten zu lassen als
den ßaub.
Damit sind wir angekommen an der Schwelle der
Civilisation. Sie wird eröffnet durch einen neuen Fort-
schritt der Theilung der Arbeit. Auf der untersten
Stufe produzirten die Menschen nur direkt für eignen
Bedarf; die etwa vorkommenden Austauschakte waren
vereinzelt, betrafen nur den zufällig sich einstellenden
IJeberfluss. Auf der Mittelstufe der Barbarei finden wir
bei Hirtenvölkern in dem Vieh schon einen Besitz, der
bei einer gewissen Grrösse der Heerde regelmässig einen
Ueberschuss über den eignen Bedarf liefert, zugleich
eine Theilung der Arbeit zwischen Hirtenvölkern und
zurückgebliebnen Stämmen ohne Heerden, damit zwei
neben einander bestehende verschiedne Produktions-
stufen, und damit die Bedingungen eines regelmässigen
Austausches. Die Oberstufe der Barbarei liefert uns
die weitere Arbeitstheilung zwischen Ackerbau und
Handwerk, damit Produktion eines stets wachsenden
— 130 —
Theils der Arbeitserzeugnisse direkt für den Austausch,
damit Erhebung des Austausches zwischen Einzelpro-
duzenten zu einer Lebensnothwendigkeit der Gresell-
schaft. Die Civilisation befestigt und steigert alle diese
vorgefundenen Arbeitstheilungen , namentlich durch
Schärfung des Gregensatzes von Stadt und Land (wobei
die Stadt das Land ökonomisch beherrschen kann, wie
im Alterthum, oder auch das Land die Stadt, wie im
Mittelalter), und fügt dazu eine dritte, ihr eigenthüm-
liche, entscheidend wichtige Arbeitstheilung : sie erzeugt
eine Klasse, die sich nicht mehr mit der Produktion
beschäftigt, sondern nur mit dem Austausch der Pro-
dukte — die Kaufleute. Alle bisherigen Ansätze
zur Klassenbildung hatten es noch ausschliesslich mit
der Produktion zu thun; sie schieden die bei der Pro-
duktion betheiligten Leute in Leitende und Ausführende,
oder aber in Produzenten auf grösserer und auf kleinerer
Stufenleiter. Hier tritt zum ersten Mal eine Klasse auf,
die, ohne an der Produktion irgendwie Antheil zu neh-
men, die Leitung der Produktion im Ganzen und Grossen
sich zu erobern, die Produzenten sich ökonomisch zu
unterwerfen weiss, die sich zum unumgänglichen Ver-
mittler zwischen je zwei Produzenten macht und sie
beide ausbeutet. Unter dem Vorwand, den Produzenten
die Mühe und das Risico des Austausches abzunehmen,
den Absatz ihrer Produkte nach entfernten Märkten
auszudehnen, damit die nützlichste Klasse der Bevöl-
kerung zu werden, bildet sich eine Klasse von Para-
siten aus, echten gesellschaftlichen Schmarotzerthieren,
die als Lohn für sehr geringe wirkliche Leistungen,
sowohl von der heimischen wie von der fremden Pro-
duktion den Rahm abschöpft, rasch enorme Reichthümer
und entsprechenden gesellschaftlichen Einiiuss erwirbt,
und eben desshalb während der Periode der Civilisation
zu immer neuen Ehren und immer grösserer Beherrschung
der Produktion berufen ist, bis sie endlich auch selbst
ein eignes Produkt zu Tage fördert — die periodischen
Handelskrisen.
Auf unsrer vorliegenden Entwicklungsstufe hat die
junge Kaufmannschaft allerdings noch keine Ahnung
— 131 —
von den grossen Dingen, die ihr bevorstehn. Aber sie
bildet sich und macht sich unentbehrlich, und das ge-
nügt. Mit ihr aber bildet sich aus das Metallgeld,
die geprägte Münze, und mit dem Metallgeld ein neues
Mittel zur Herrschaft des Nichtproduzenten über den
Produzenten und seine Produktion. Die Waare der
Waaren, die alle andern Waaren im Verborgnen in sich
enthält, war entdeckt, das Zaubermittel, das sich nach
Belieben in jedes wünschenswerthe und gewünschte
Ding verwandeln kann. Wer es hatte, beherrschte die
Welt der Produktion, und wer hatte es vor Allen?
Der Kaufmann. In seiner Hand war der Kultus des
Geldes sicher. Er sorgte dafür, dass es offenbar wurde,
wie sehr alle Waaren, damit alle Waarenproduzenten,
sich anbetend in den Staub werfen mussten vor dem
Geld. Er bewies es praktisch, wie sehr alle andern
Formen des Eeichthums nur selber blosser Schein wer-
den gegenüber dieser Verkörperung des Reichthums als
solchem. Nie wieder ist die Macht des Geldes aufge-
treten in solcher ursprünglichen Roheit und Gewalt-
samkeit wie in dieser ihrer Jugendperiode. Nach dem
Waarenkauf für Geld kam der Geldvorschuss, mit die-
sem der Zins und der Wucher. Und keine Gesetz-
gebung späterer Zeit wirft den Schuldner so schonungs-
und rettungslos zu den Füssen des wucherischen Gläu-
bigers wie die altathenische und altrömische — und
beide entstanden spontan, als Gewohnheitsrechte, ohne
andern als den ökonomischen Zwang.
Neben den Reichthum an Waaren und Sklaven,
neben den Geldreichthum trat nun auch der Reichthum
an Grundbesitz. Das Besitzrecht der Einzelnen an den
ihnen ursprünglich von Gens oder Stamm überlassenen
Bodenparzellen hatte sich jetzt soweit befestigt, dass
diese Parzellen ihnen erbeigenthümlich gehörten. Wonach
sie in der letzten Zeit vor Allem gestrebt, das war die
Befreiung von dem Anrecht der Gentilgenossenschaft an
die Parzelle, das ihnen eine Fessel wurde. Die Fessel
wurden sie los — aber bald nachher auch das neue
Grundeigenthura. Volles, freies Eigenthum am Boden,
das hiess nicht nur Möglichkeit, den Boden unverkürzt
— 132 —
und unbeschränkt zu besitzen, das hiess aucb Möglich-
keit, ihn zu veräussern. So lange der Boden Gentil-
eigenthum, existirte diese Möglichkeit nicht. Als aber
der neue (Irundbesitzer die Fessel des Obereigenthums
der Grens und des Stamms endgültig abstreifte, zerriss
er auch das Band, das ihn bisher unlöslich mit dem
Boden verknüpft hatte. Was das hiess, wurde ihm klar
gemacht durch das mit dem Privatgrundeigenthum gleich-
zeitig erfundene Geld. Der Boden konnte nun Waare
werden, die man verkauft und verpfändet. Kaum war
das Grundeigenthum eingeführt, so war auch die Hy-
pothek schon erfunden (sieh Athen). Wie der Hetäris-
mus und die Prostitution an die Fersen der Monogamie,
so klammert sich von nun an die Hypothek an die
Fersen des Grundeigenthums. Ihr habt das volle, freie,
veräusserliche Grundeigenthum haben wollen, nun wohl,
ihr habt's — tu l'as voulu, Georges Dandin !
So ging mit Handelsausdehnung, Geld und Geld-
wucher, Grundeigenthum und Hypothek die Konzen-
tration und Centralisation des Reichthums in den Händen
einer wenig zahlreichen Klasse rasch voran, daneben
die steigende Verarmung der Massen und die steigende
Masse der Armen. Die neue Reichthums-Aristokratie,
soweit sie nicht schon von vornherein mit dem alten
Stammesadel zusammengefallen war, drängte ihn end-
gültig in den Hintergrund (in Athen, in Rom, bei den
Deutschen). Und neben dieser Scheidung der Freien in
Klassen nach dem Reichthum ging besonders in Grie-
chenland eine ungeheure Yermehrung der Zahl der
Sklaven,*) deren erzwungne Arbeit die Grundlage bil-
dete, auf der sich der Ueberbau der ganzen Gesell-
schaft erhob.
Sehen wir uns nun danach um, was unter dieser
gesellschaftlichen Umwälzung aus der Gentilverfassung
geworden war. Gegenüber den neuen Elementen, die
ohne ihr Zuthun emporgewachsen, stand sie ohnmächtig
*) Die Anzahl für Athen s. oben S. 85. In Korinth behug
sie zur lUütezcit der Stadt 460,000, in Aogina 470,000, in beiden
Fällen die zehufache Anzahl der freien Bürgerbevölkerung.
— 133 ~
da. Ihre Yoraussetzung war, dass die Grlieder einer
Gens, oder doch eines Stammes, auf demselben Grehiet
vereinigt sassen , es ausschliesslich bewohnten. Das
hatte längst aufgehört. Ueberall waren GTentes und
Stämme durch einander geworfen , überall wohnten
Sklaven, Schutzverwandte, Fremde, mitten unter den
Bürgern. Die erst gegen Ende der Mittelstufe der
Barbarei erworbene Sesshaftigkeit wurde immer wieder
durchbrochen durch die von Handel, Erwerbsverände-
rung, Grrundbesitzwechsel bedingte Beweglichkeit und
Yeränderlichkeit des Wohnsitzes. Die GTenossen der
Grentilkörper konnten nicht mehr zusammentreten zur
Wahrnehmung ihrer eignen gemeinsamen Angelegen-
heiten ; nur unwichtige Dinge, wie die religiösen Feiern,
wurden noch nothdürftig besorgt. Neben den Bedürf-
nissen und Interessen, zu deren Wahrung die Grentil-
körper berufen und befähigt, waren aus der Umwälzung
der Erwerbsverhältnisse und der daraus folgenden Aen-
derung der gesellschaftlichen Grliederung neue Bedürf-
nisse und Interessen entstanden, die der alten Grentil-
ordnung nicht nur fremd waren, sondern sie in jeder
Weise durchkreuzten. Die Interessen der durch Thei-
lung der Arbeit entstandenen Handwerkergruppen, die
besondern Bedürfnisse der Stadt im Gregensatz zum
Land, erforderten neue Organe; jede dieser Grruppen
aber war aus Leuten der verschiedensten Grentes, Phra-
trien und Stämme zusammengesetzt, sie schloss sogar
Fremde ein ; diese Organe mussten sich also bilden
ausserhalb der Grentilverfassung, neben ihr, und damit
gegen sie. — Und wiederum in jeder Grentilkörper-
schaft machte sich dieser Konflikt der Interessen gel-
tend, der seine Spitze erreichte in der Vereinigung von
Reichen und Armen, Wucherern und Schuldnern in
derselben Grens und demselben Stamm. — Dazu kam
die Masse der neuen, den Gentilgenossenschaften frem-
den Bevölkerung, die wie in Rom eine Macht im Lande
werden konnte, und dabei zu zahlreich war, um all-
mälig in die blutsverwandten Greschlechter und Stämme
aufgenommen zu werden. Dieser Masse gegenüber
standen die Grentilgenossenschaften da als geschlossene,
— 134 —
bevorrechtete Körperschaften ; die ursprüngliche, natur-
wüchsige Demokratie war umgeschlagen in eine gehäs-
sige Aristokratie. — Schliesslich war die Grentilver-
fassung herausgewachsen aus einer Gesellschaft, die
keine inneren Gregensätze kannte, und war auch nur
einer solchen angepasst. Sie hatte kein Zwangsmittel
ausser der öffentlichen Meinung. Hier aber war eine
Lesellschaft entstanden, deren sämmtliche ökonomische
Gebenshedingungen die Gesellschaft in Freie und Skla-
ven, in ausbeutende Eeiche und ausgebeutete Arme
hatten spalten müssen, die diese Gegensätze nicht nur
nicht wieder versöhnen konnten , sondern sie immer
mehr auf die Spitze treiben mussten. Eine solche Ge-
sellschaft konnte nur bestehn entweder im fortwähren-
den offnen Kampf dieser Klassen gegen einander, oder
aber unter der Herrschaft einer dritten Macht, die,
scheinbar über den widerstreitenden Klassen stehend,
ihren offnen Konflikt niederdrückte, und den Klassen-
kampf höchstens auf ökonomischem Gebiet, in soge-
nannter gesetzlicher Form, sich ausfechten liess. Die
Gentil Verfassung hatte ausgelebt. Sie war gesprengt
durch die Theilung der Arbeit, die die Gesellschaft in
Klassen spaltete. Sie wurde ersetzt durch den Staat.
Die drei Hauptformen, in denen der Staat sich auf
den Ruinen der Gentilverfassung erhebt , haben wir
oben im Einzelnen betrachtet. Athen bietet die reinste,
klassischste Form : hier entspringt der Staat direkt und
vorherrschend aus den Klassengegensätzen , die sich
innerhalb der Gentilgesellschaft selbst entwickeln. In
Rom wird die Gentilgesellschaft eine geschlossene Ari-
stokratie inmitten einer zahlreichen, ausser ihr stehen-
den, rechtlosen aber pflichtenschuldigen Plebs ; der Sieg
der Plebs sprengt die alte Geschlechtsverfassung und
errichtet auf ihren Trümmern den Staat, worin Gentil-
aristokratie und Plebs bald beide gänzlich aufgehn.
Bei den deutschen Eroberern des Römerreichs endlich
entspringt der Staat direkt aus der Eroberung grosser,
— 135 —
fremder Grebiete, die zu beherrschen die Grentilverfas-
sung keine Mittel bietet. Weil aber mit dieser Erobe-
rung weder ernstlicher Kampf mit der alten Bevölke-
rung verbunden ist, noch eine fortgeschrittnere Arbeits-
theilung; weil die ökonomische Entwicklungsstufe der
Eroberten und die der Eroberer fast dieselbe ist, die
ökonomische Basis der Gesellschaft also die alte bleibt,
deshalb kann sich die Grentilverfassung lange Jahrhun-
derte hindurch in veränderter, territorialer Gestalt als
Markverfassung forterhalten und selbst in den späteren
Adels- und Patriciergeschlechtern, ja selbst in Bauern-
geschlechtern wie in Dithmarschen , eine Zeitlang in
abgeschwächter Form verjüngen.*)
Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft
von Aussen aufgezwungne Macht; ebensowenig ist er
„die Wirklichkeit der sittlichen Idee", „das Bild und
die Wirklichkeit der Vernunft", wie Hegel behauptet.
Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf be-
stimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständniss,
dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Wider-
spruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhn-
liche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohn-
mächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit
widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich
und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren,
ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht
nöthig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb
der Schranken der „Ordnung" halten soll; und diese,
aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über
sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende
Macht ist der Staat.
Gegenüber der alten Gentilorganisation kennzeichnet
sich der Staat erstens durch die Eintheilung der Staats-
angehörigen nach dem Gebiet. Die alten, durch
Blutsbande gebildeten und zusammengehaltenen Gen-
*) Der erste Geschichtsschreiber, der wenigstens eine annähernde
Vorstellung vom "Wesen der Gens hatte, war Niobuhr, und das —
aber auch seine ohne Weiteres mit übertragnen Irrthüraer — ver-
dankt er seiner Bekanntschaft mit den dithmarsischen Geschlechtern.
— 136 —
tilgenossenschaften , wie wir gesehen , waren unzu-
reichend geworden, grossentheils weil sie eine Bindung
der Grenossen an ein bestimmtes Grebiet voraussetzten
nnd diese längst aufgehört hatte. Das Grebiet war ge-
blieben , aber die Menschen waren mobil geworden.
Mannahm also die Gebietseintheilung als Ausgangspunkt
und liess die Bürger ihre öffentlichen Rechte und
Pflichten da erfüllen, wo sie sich niederliessen, ohne
Rücksicht auf Gens und Stamm. Diese Organisation
der Staatsangehörigen nach der Ortsangehörigkeit ist
allen Staaten gemeinsam. Uns kommt sie daher natür-
lich vor; wir haben oben gesehn, wie harte und lang-
wierige Kämpfe erfordert waren, bis sie in Athen und
Rom sich an die Stelle der alten Organisation nach
Greschlechtern setzen konnte.
Das Zweite ist die Einrichtung einer öffent-
lichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zu-
sammenfällt mit der, sich selbst als bewaffnete Macht
organisirenden Bevöljierung. Diese besondre, öffentliche
Gewalt ist nöthig, weil eine selbstthätige bewaffnete
Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit
der Spaltung in Klassen. Die Sklaven gehören auch
zur Bevölkerung ; die 90,000 athenischen Bürger bilden
gegenüber den 365,000 Sklaven nur eine bevorrechtete
Klasse. Das Volksheer der athenischen Demokratie
war eine aristokratische öffentliche Gewalt gegenüber
den Sklaven und hielt sie im Zaum ; aber auch um die
Bürger im Zaum zu halten, wurde eine Gendarmerie
nöthig, wie oben erzählt. Diese öffentliche Gewalt
existirt in jedem Staat; sie besteht nicht bloss aus
bewaffneten Menschen, sondern " auch aus sachlichen
Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller
Art, von denen die Gentilgesellschaft nichts wusste.
Sie kann sehr unbedeutend, fast verschwindend sein in
Gesellschaften mit noch unentwickelten Klassengegen-
sätzen und auf abgelegnen Gebieten, wie zeit- und
ortweise in den Vereinigten Staaten Amerikas. Sie
verstärkt sich aber in dem Mass, wie die Klassengegen-
sätze innerhalb des Staats sich verschärfen, und wie
die einander begrenzenden Staaten grösser und volk-
— 137 —
reicher werden — man sehe nur unser heutiges Europa
an, wo Klassenkampf und Eroberungskonkurrenz die
öffentliche Macht auf eine Höhe emporgeschraubt haben,
auf der sie die ganze Gresellschaft und selbst den Staat
zu verschlingen droht.
Um diese öffentliche Macht aufrecht zu erhalten,
sind Beiträge der Staatsbürger nöthig — die Steuern.
Diese waren der Grentilgesellschaft vollständig unbekannt.
Wir aber wissen heute genug davon zu erzählen. Mit
der fortschreitenden Civilisation reichen auch sie nicht
mehr ; der Staat zieht Wechsel auf die Zukunft, macht
Anleihen , Staatsschulden. Auch davon weiss das
alte Europa ein Liedchen zu singen.
Im Besitz der öffentlichen Grewalt und des Rechts
der Steuer eintreibung, stehn die Beamten nun da als
Organe der Gesellschaft über der Gresellschaft. Die
freie, willige Achtung, die den Organen der GTentilver-
fassung gezollt wurde, genügt ihnen nicht, selbst wenn
sie sie haben könnten; Träger einer der Gresellschaft
entfremdeten Macht, müssen sie in Respekt gesetzt
werden durch Ausnahmsgesetze, kraft deren sie einer
besondren Heiligkeit und Unverletzlichkeit geniessen.
Der lumpigste Polizeidiener des civilisirten Staats hat
mehr „Autorität" als alle Organe der Grentilgesellschaft
zusammengenommen; aber der mächtigste Fürst und
der grösste Staatsmann oder Feldherr der Civilisation
kann den geringsten Grentilvorsteher beneiden um die
unerzwungne und unbestrittene Achtung, die ihm gezollt
wird. Der Eine steht eben mitten in der Gresellschaft;
der Andre ist genöthigt, etwas vorstellen zu wollen
ausser und über ihr.
Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfniss,
Klassengegensätze im Zaum zu halten ; da er aber
gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen ent-
standen ist, so ist er in der Regel Staat der mächtig-
sten, ökonomisch herrschenden Klasäe , die vermittelst
seiner auch politisch herrschende Klasse wird, und so
neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung
der unterdrückten Klasse. So war der antike Staat
vor Allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung
— 138 —
der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur
Niederhaltung der leibeignen und hörigen Bauern, und
der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeu-
tung der Lohnarbeit durch das Kapital. Ausnahmsweise
indess kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen
einander so nahe das Grieichgewicht halten , dass die
Staatsgewalt als scheinbare Yermitttlerin momentan
eine gewisse Selbsständigkeit gegenüber Beiden erhält.
So die absolute Monarchie des siebzehnten und acht-
zehnten Jahrhunderts, die Adel und Bürgerthum gegen
einander balancirt; so der Bonapartismus des ersten
und namentlich des zweiten französischen Kaiserreichs,
der das Proletariat gegen die Bourgeoisie und die Bour-
geoisie gegen das Proletariat ausspielte. Die neueste
Leistung in dieser Art, bei der Herrscher und Be-
herrschte gleich komisch erscheinen, ist das neue deutsche
Reich bismarck'scher Nation : hier werden Kapitalisten
und Arbeiter gegen einander balancirt und gleichmässig
geprellt zum Besten der verkommnen preussischen Kraut-
junker.
In den meisten geschichtlichen Staaten werden aus-
serdem die den Staatsbürgern zugestandenen Rechte
nach dem Vermögen abgestuft und damit direkt aus-
gesprochen , dass der Staat eine Organisation der be-
sitzenden Klasse zum Schutz gegen die nichtbesitzende
ist. So schon in den athenischen und römischen Ver-
mögensklassen. So im mittelalterlichen Feudalstaat, wo
die politische Machtstellung sich nach dem Orundbesitz
gliederte. So im Wahlcensus der modernen Repräsen-
tativstaaten. Diese politische Anerkennung des Besitz-
unterschieds ist indess keineswegs wesentlich. Im
Gegentheil, sie bezeichnet eine niedrige Stufe der staat-
lichen Entwicklung. Die höchste Staatsform, die demo-
kratische Republik, die in unsern modernen Gresell-
schaftsverhältnissen mehr und mehr unvermeidliche
Nothwendigkeit wird und die Staatsform ist, in der der
letzte Entscheidungskampf zwischen Proletariat und
Bourgeoisie allein ausgekämpft werden kann — die
demokratische Republik weiss officiell nichts mehr von
Besitzunterschieden. In ihr übt der Reichthum seine
— 139 —
Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in
der Eorm der direkten Beamtenkorruption , wofür
Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form
der Allianz von Regierung und Börse, die sich um so
leichter vollzieht, je mehr die Staatsschulden steigen
und je mehr Aktiengesellschaften nicht nur den Trans-
port, sondern auch die Produktion selbst in ihren Hän-
den konzentiren und wiederum in der Börse ihren Mittel-
punkt finden. Dafür ist ausser Amerika die neueste
französische Republik ein schlagendes Beispiel, und auch
die biedre Schweiz hat auf diesem Felde das Ihrige
geleistet. Dass aber zu diesem Bruderbund von Regie-
rung und Börse keine demokratische Republik erforder-
lich, beweisst ausser England das neue deutsche Reich,
wo man nicht sagen kann, wen das allgemeine Stimm-
recht höher gehoben hat, Bismarck oder Bleichröder.
Und endlich herrscht die besitzende Klasse direkt mittelst
des allgemeinen Stimmrechts. Solange die unterdrückte
Klasse, also in unserm Fall das Proletariat, noch nicht
reif ist zu seiner Selbstbefreiung, solange wird sie, der
Mehrzahl nach, die bestehende Gresellschaftsordnung als
die einzig mögliche erkennen und politisch der Schwanz
der Kapitalistenklasse, ihr äusserster linker Flügel sein. In
dem Mass aber, worin sie ihrer Selbstemancipation ent-
gegenreift, in dem Mass konstituirt sie sich als eigne
Partei, wählt ihre eignen Vertreter, nicht die der Ka-
pitalisten. Das allgemeine Stimmrecht ist so der G-rad-
messer der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann und
wird es nie sein im heutigen Staat 5 aber das genügt
auch. An dem Tage, wo das Thermometer des allge-
meinen Stimmrechts den Siedepunkt bei den Arbeitern
anzeigt, wissen sie sowohl wie die Kapitalisten, woran
sie sind.
Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat
Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden,
die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten.
Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwick-
lung, die mit Spaltung der Gesellschaft in Klassen
nothwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung
der Staat eine Nothwendigkeit. Wir nähern uns jetzt
— 140 —
mit rasclien Schritten einer Entwicklungsstufe der Pro-
duktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur
aufgehört hat, eine Nothwendigkeit zu sein, sondern
ein positives Hinderniss der Produktion wird. Sie wer-
den fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher ent-
standen sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat.
Die Gresellschaft, die die Produktion auf Grundlage
freier und gleicher Association der Produzenten neu
organisirt, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin,
wohin sie dann gehören wird: in's Museum der Alter-
thümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.
Die Civilisation ist also nach dem Yorausgeschickten
die Entwicklungsstufe der Gresellschaft, auf der die
Theilung der Arbeit, der aus ihr entspringende Aus-
tausch zwischen Einzelnen, und die Beides zusammen-
fassende Waarenproduktion zur vollen Entfaltung kom-
men und die ganze frühere Gresellschaft umwälzen.
Die Produktion aller früheren Gresellschaftsstufen
war wesentlich eine gemeinsame, wie auch die Kon-
sumtion unter direkter Vertheilung der Produkte inner-
halb grösserer oder kleinerer kommunistischer Gemein-
wesen vor sich ging. Diese Gemeinsamkeit der Pro-
duktion fand statt innerhalb der engsten Schranken;
aber sie führte mit sich die Herrschaft des Produzenten
über ihren Produktionsprozess und ihr Produkt. Sie
wissen, was aus dem Produkt wird: sie verzehren es,
es verlässt ihre Hände nicht ; und so lange die Pro-
duktion auf dieser Grundlage betrieben wird, kann sie
den Produzenten nicht über den Kopf wachsen, keine
gespenstischen fremden Mächte ihnen gegenüber erzeu-
gen, wie dies in der Civilisation regelmässig und un-
vermeidlich der Fall ist.
Aber in diesen Produktionsprozess schiebt sich die
Theilung der Arbeit langsam ein. Sie untergräbt die
Gemeinsamkeit der Produktion und Aneignung, sie er-
hebt die Aneignung durch Einzelne zur überwiegenden
Regel, und erzeugt damit den Austausch zwischen Ein-
— 141 -
zelnen — wie, das haben wir oben untersucht. All-
mälig wird die Waarenproduktion lierrscbende Form.
Mit der Waarenproduktion , der Produktion nicht
mehr für eignen Verbrauch, sondern für den Austausch,
wechseln die Produkte nothwendig die Hände. Der
Produzent gibt sein Produkt im Tausch weg, er weiss
nicht mehr, was daraus wird. Sowie das G-eld, und mit
dem Greld der Kaufmann als Vermittler zwischen die
Produzenten tritt, wird der Austauschprozess noch ver-
wickelter, das schliessliche Schicksal der Produkte noch
ungewisser. Der Kaufleute sind viele, und keiner von
ihnen weiss, was der andere thut. Die Waaren gehen
nun schon nicht bloss von Hand zu Hand, sie gehu
auch von Markt zu Markt ; die Produzenten haben die
Herrschaft über die Gresammtproduktion ihres Lebens-
kreises verloren, und die Kauüeute haben sie nicht
überkommen. Produkte und Produktion verfallen dem
Zufall.
Aber Zufall, das ist nur der eine Pol eines Zu-
sammenhangs, dessen anderer Pol Nothwendigkeit heisst.
In der Natur, wo auch der Zufall zu herrschen scheint,
haben wir längst auf jedem einzelnen Grebiet die innere
Nothwendigkeit und Gresetzmässigkeit nachgewiesen,
die in diesem Zufall sich durchsetzt. Ebenso ist es in
der Gesellschaft. Je mehr eine gesellschaftliche Thätig-
keit, eine Reihe gesellschaftlicher Vorgänge der be-
wussten Kontrole der Menschen zu mächtig wird, ihnen
über den Kopf wächst, je mehr sie dem puren Zufall
überlassen scheint, desto mehr setzen sich in diesem
Zufall die ihr eigenthümlichen, innewohnenden Gesetze
wie mit Naturnothwendigkeit durch. Solche Gesetze
beherrschen auch die Zufälligkeiten der Waarenproduk-
tion und des Waarenaustausches ; dem einzelnen Pro-
duzenten und Austauschenden stehn sie gegenüber als
fremde, Anfangs sogar unerkannte Mächte, deren Natur
erst mühsam erforscht und ergründet werden muss.
Diese ökonomischen Gesetze der Waarenproduktion
modificiren sich mit den verschiednen Entwicklungs-
stufen dieser Produktionsform; im Ganzen und Grossen
aber steht die gesammte Periode der Civilisation unter
I
— 142 —
ihrer Herrschaft. Und noch heute beherrscht das Pro-
dukt die Produzenten ; noch heute wird die Gresammt-
produktion der G-esellschaft geregelt, nicht durch ge-
meinsam überlegten Plan, sondern durch blinde Gresetze,
die sich geltend machen mit elementarer Gfewalt, in
letzter Instanz in den Gre wittern der periodischen Han-
delskrisen.
Wir sahen oben, wie auf einer ziemlich frühen Ent-
wicklungsstufe der Produktion die menschliche Arbeits-
kraft befähigt wird, ein beträchtlich grösseres Prodiikt
zu liefern als zum Unterhalt der Produzenten erforder-
lich ist, und wie diese Entwicklungsstufe in der Haupt-
sache dieselbe ist, auf der Theilung der Arbeit und
Austausch zwischen Einzelnen aufkommen. Es dauerte
nun nicht lange mehr, bis die grosse „Wahrheit" ent-
deckt wurde, dass auch der Mensch eine Waare sein
kann; dass die menschliche Arbeitskraft austauschbar
und vernutzbar ist, indem man den Menschen in einen
Sklaven verwandelt. Kaum hatten die Menschen au-
gefangen auszutauschen, so wurden sie auch schon selbst
ausgetauscht. Das Aktivum wurde zum Passivum, die
Menschen mochten wollen oder nicht.
Mit der Sklaverei, die unter der Civilisation ihre
vollste Entfaltung erhielt, trat die erste grosse Spal-
tung der Gresellschaft ein in eine ausbeutende und eine
ausgebeutete Klasse. Diese Spaltung dauerte fort wäh-
rend der ganzen civilisirten Periode. Die Sklaverei ist
die erste, der antiken Welt eigenthümliche Eorm der
Ausbeutung; ihr folgt die Leibeigenschaft im Mittel-
alter, die Lohnarbeit in der neueren Zeit. Es sind dies
die drei grossen Formen der Knechtschaft, wie sie für
die drei grossen Epochen der Civilisation charakteristisch
sind; offne, und neuerdings verkleidete, Sklaverei geht
stets daneben her.
Die Stufe der Waarenproduktion, womit die Civili-
sation beginnt, wird ökonomisch bezeichnet durch die
Einführung 1) des Metallgelds, damit des Greldkapitals,
des Zinses und Wuchers ; 2) der Kaufleute als ver-
mittelnder Klasse zwischen den Produzenten; 3) des
Privatgrundeigenthums und der Hypothek, und 4) der
— 143 —
Sklavenarbeit als herrschender Produktionsform. Die
der Civilisation entsprechende und mit ihr definitiv zur
Herrschaft kommende Familienform ist die Monogamie,
die Herrschaft des Mannes über die Frau, und die
Einzelfamilie als wirthschaftliche Einheit der Gfesell-
schaft. Die Zusammenfassung der civilisirten Gresell-
Schaft ist der Staat, der in allen mustergültigen Perioden
ausnahmslos der Staat der herrschenden Klasse ist, und
in allen Fällen wesentlich Maschine zur Niederhaltung
der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse bleibt. Be-
zeichnend für die Civilisation ist noch : einerseits die
Fixirung des Gregensatzes von Stadt und Land, als der
Grundlage der gesammten gesellschaftlichen Arbeits-
theilung; andrerseits die Einführung der Testamente,
wodurch der Eigenthümer auch noch über seinen Tod
hinaus über sein Eigenthum verfügen kann. Diese der
alten G-entilverfassung direkt in's G-esicht schlagende
Einrichtung war in Athen bis auf Selon unbekannt;
in Eom ist sie schon früh eingeführt, wann, wissen wir
nicht ; *) bei den Deutschen führten die Pfafi'en sie ein,
damit der biedre Deutsche sein Erbtheil der Kirche
ungehindert vermachen könne.
Mit dieser Grundverfassung hat die Civilisation
Dinge vollbracht, denen die alte Gentilgesellschaft
nicht im Entferntesten gewachsen war. Aber sie hat
sie vollbracht, indem sie die schmutzigsten Triebe und
Leidenschaften der Menschen in Bewegung setzte und
*) Lassalle'a „System der erworbenen Kechte" dreht sich haupt-
sächlich um den Satz, das römische Testament sei so alt wie Rom
selbst, es habe für die römische Geschichte nie „eine Zeit ohne
Testament gegeben" ; das Testament sei vielmehr in vorrömischer
Zeit aus dem Kultus der Verstorbenen entstanden. Lassalle, als
gläubiger Althegelianer, leitet die römischen Rechtsbesiimmungen
ab, nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen der Römer, son-
dern aus dem „spekulativen Begriff* des Willens, und kommt da-
bei zu jener total ungeschichtlichen Behauptung. Man kann sich
darüber nicht wundern in einem Buch, das auf Grund desselben
spekulativen Begriffs zu dem Ergebniss kommt, bei der römischen
Erbschaft sei die Uebertragung des Vermögens reine Nebensache
gewesen. Lassallo glaubt nicht nur an die Illusionen der römischen
Juristen, besonders der früheren Zeit; er übergipfelt sie noch.
— 144 —
aiif Kosten seiner ganzen übrigen Anlagen entwickelte.
Die glatte Habgier war die treibende Seele der Civili-
sation von ihrem ersten Tag bis heute, Reichthum und
abermals Reichthum, und zum drittenmal E-eichthum,
Reichthum nicht der Gresellschaft, sondern dieses ein-
zelnen lumpigen Individuums, ihr einzig entscheidendes
Ziel. Wenn ihr dabei die steigende Entwicklung der
Wissenschaft, und zu wiederholten Perioden die höchste
Blüte der Kunst in den Schoss gefallen ist, so doch
nur, weil ohne diese die volle Reichthumserrungen-
schaft unsrer Zeit nicht möglich gewesen wäre.
Da die Grrundlage der Civilisation die Ausbeutung
einer Klasse durch eine andre Klasse ist, so bewegt
sich ihre ganze Entwicklung in einem fortdauernden
Widerspruch. Jeder Fortschritt der Produktion ist
gleichzeitig ein Rückschritt in der Lage der unter-
drückten Klasse, d, h. der grossen Mehrzahl. Jede
Wohlthat für die Einen ist nothwendig ein Uebel für
die Andern, jede neue Befreiung der einen Klasse eine
neue Unterdrückung für eine andre Klasse. Den schla-
gendsten Beweis dafür liefert die Einführung der Ma-
schinerie, deren Wirkungen heute weltbekannt sind.
Und wenn bei den Barbaren der Unterschied von Rech-
ten und Pflichten, wie wir sahen, noch kaum gemacht
werden konnte, so macht die Civilisation den Unter-
schied und Gregensatz Beider auch dem Blödsinnigsten
klar, indem sie einer Klasse so ziemlich alle Rechte
zuweist, der andern dagegen so ziemlich alle Pflichten.
Das soll aber nicht sein. Was für die herrschende
Klasse gut ist, soll gut sein für die ganze Gesellschaft,
mit der die herrschende Klasse sich identificirt. Je
weiter also die Civilisation fortschreitet, je mehr ist
sie genöthigt, die von ihr mit Nothwendigkeit geschaff-
nen Uebelstände mit dem Mantel der Liebe zu be-
decken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz
eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder
früheren Gresellschaftsformen noch selbst den ersten
Stufen der Civilisation bekannt war, und die zuletzt
in der Behauptung gipfelt: die Ausbeutung der unter-
drückten Klasse werde betrieben von der ausbeutenden
__ 145 —
Klasse einzig und allein im Interesse der ausgebeuteten
Klasse selbst; und wenn diese das nicht einsehe, son-
dern sogar rebellisch werde, so sei das der schnödeste
Undank gegen ihre Wohlthäter, die Ausbeuter.*)
Und nun zum Schluss Morgan's Urtheil über die
Civilisation :
„Seit dem Eintritt der Civilisation ist das Wachs-
thum des Reichthums so ungeheuer geworden, seine
Formen so verschiedenartig, seine Anwendung so um-
fassend, und seine Verwaltung so geschickt im Inter-
esse der Eigenthümer, dass dieser Reichthum, dem Volk
gegenüber, eine nicht zu bewältigende Macht
geworden ist. Der Menschengeist steht
rathlos und gebannt da vor seiner eignen
Schöpfung. Aber dennoch wird die Zeit kommen,
wo die menschliche Vernunft erstarken wird zur Herr-
schaft über den R,eichthum, wo sie feststellen wird
sowohl das Verhältniss des Staats zu dem Eigenthum,
das er schützt, wie die Grrenzen der Eechte der Eigen-
thümer. Die Interessen der Gesellschaft gehen den
Einzelinteressen absolut vor, und Beide müssen in ein
gerechtes und harmonisches Verhältniss gebracht wer-
den. Die blosse Jagd nach Keichthum ist nicht die
Endbestimmung der Menschheit, wenn anders der Fort-
schritt das Gresetz der Zukunft bleibt, wie er es war
für die Vergangenheit. Die seit Anbruch der Civili-
sation verflossene Zeit ist nur ein kleiner Bruchtheil
der verflossenen Lebenszeit der Menschheit; nur ein
kleiner Bruchtheil der ihr noch bevorstehenden. Die
Auflösung der Gresellschaft steht drohend vor uns als
*) Ich beabsichtigte anfangs, die brillante Kritik der Civilisation,
die sich in den Werken Charles Fouriurs zerstreut vorfindet, neben
ditgenige Morgan's und meine eigne zu stellen. Leider fehlte mir
die Zeit dazu. Ich bemerke nur, dass schon bei Fourier Mono-
gamie und Grundeigenthum als Hauptkennzeichen der Civilisation
gelten und dass er sie einen Krieg des Keichcn gegen den Armen
nennt. Ebenfalls findet sich bei ihm schon die tiefe Einsicht, dass
in allen mangelhaften, in Gegensätze gespal enen Gesellschaften
Einzelfarailien (Ics familles incoherentes) die wirthschaftlichon Ein-
heiten sind.
10
HO
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University of British Columbia Library
DUE DATE
OCT 1 7 t975 m\)
FEB 2 3 1977
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FORM 3IO
UNIVERSITY OF B.C. LIBRARY
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