—
— CD
— O
o^=
— CD
z^=
= 00
LL=-^
^00
ü
^00
11
= 00
'^S^
=o
>^^=
— o
(/)
tr"^
^^Hi
LUa^^
^nw ^^
>
Z^=i
CD
3
— r^
CO
l
■
Sinclairjf A G
Der utilitarismus bei
Sidgwick und Spencer
b
1571
S5
I
I
Der Utilitarismus
bei
idgwick und Spencer
•©♦o«-
Von
Dr. A. G. Sinclair
Heidelberg 1907
^^arl Winter*s Universitätsbuchhandlung
rrrlkgt-lrcU« Hr, 161.
b
cS^-i^ibcfetbctxt^^
Carl minUr^s UnlverTttatsbuchhandliiii0 in I5etdetber0.
3Das iDing an ftä) nnt> öae t^atucgefe^
der @eele,
(Eine neue €rfenntnistI;eotie t>on Dr. phil. BmU fr« ^ynehen.
gr. 80. gcljcftct ITlf. 15.—.
... Die ^2 Ief|rrei(^en Kapitel I^anbcln aber folgenbe Cljemata: X. TOie fommt ber ITlcnfd? anf
bas Ding an fld?? 2. Tiant nnb bas jitig ön ^d?. 3. Das Ding an ftdj unb bie IXaturiDiffenfdjaft.
4. Das Ding an fi«^ als ^Ypotljefe. 5. Das Ding an fid? oon stoei Seiten, üergleidjung oon Dubois»
Hetmonb anb Kant. 6. Das Ding an ftd? unter bem <5efeö, 7, Das Ding an fld? unb ber üorfieUungs«
oerlanf. 8. Das Ding an ftd? unb fein 2Iprtori. 9. Das Ding an jld? unb bie Kategorien bes Der»
jianbcs. ^0. Das Ding an fidj als menfc^Iidje Seele. U. Die menfd?Iidje Seele unb ber grocrf.
^2. Das menfd?Iici?e (Erfennen in Kunji unb DDiffenfdjaft. — Die ^rage narf? bem unbefannten Ding
an fidE? fat)rt IDynefen $\x ber €rfenntnis, ,Pa% Kant bas Ding an pdj als oöUig unbcfanntes nicljt
fe)l3uljalten cermodjte, unb ein fritifd?er Überblicf über ben gegenträrtigen Stanb ber naturttiijyenj
fd?aft, toobei frd? lüynefen befonbers mit Piftor tncyer. Will). (D^walb unb 3. v. ^eImi)oIö auseins
anberfe^t, betoeift itjm, ba% bie oon it)r fiatt bes unbefannten Dings an fidj angenommenen 2Itome
nnb tnolefule untjaltbare 2innaljmen feien. . . . IDir fönnen biefe IDfnefenfdjen (Bebanfen t)icr natürlich
nid?t näl)er enttoicfeln ; jebenfaQs entljält bas Buc^ eine ^ülle Don Icl)rreidjen Unterfudjungen unb
3becn, Sefonbers finb bie Sluseinanberfe^ungen mit Kant als bem Ijerporragenbfien crfenntnistljeorcs
tifci?en pf^ilofoptjen oon einer ©rünblidjfeit, toie fie bisl)er toot)! nod? nidjt gegeben tourben. lüie bie
pbilofoptjie, fo fann aud? bie ITaturtDiffenfd?aft oiel aus biefem Buclje lernen; man toirb es fid?erlidj
nid?t ignorieren fönnen. . . IDir empfeljlen b.ps leljrreidje Bud; 3U einbringlid?cm Stubium; bie
tjier gebotene neue €rfenntnistI)eorie bietet oiel Überrafdjenbes unb Zteues.
(naturtDiffcnrc^öftl. tOo4)cnf<^rift.)
25cr ■DerfufTcr touröe anlä^Iic^ t>ei liÄnt=3ubiläum« für öicfes VOevi jum iB^tcritottov
t>ev Univcrfttät Königsberg ernannt.
Jios> t>om trtateddismus! '
iöcfcnntniffc eine« ölten VTatucwiffertfc^aftletrs i
oon ProfelTor Dr. Hdolf IQayer* |
gr. 80. fart. IHf. 5.—. j
i
„ZJiefes ^xxdi xoivb 2luff«Ijett crregctt. groar Ijat es gar nidjts SenfationeHes an fld?. 2lbcr t
ber fo fd?Iid?t oorgetragene 3"^''I* ocrbient Ijodjjie 23ead?tung. <2in anerfannter Unioerfltätsrcijrer unb j
naturroiffenfdjaftler, ber, toie er felbji oon fidj fagt, tin feinen jungen 3'^^'^^" ^^^ voüen Segeln i
hinausfuljr auf bie See ber materialijiifd?en U?eltanfdjauungi, legt in biefem Bud^e flar, rul]ig unb ]
fad)Iid? bas Unrcd^t bes ITlaterialismus bar. Unb jtoar perfieljt er barunter nidjt bIo§ ben f raffen 1
ttjcorctifdjen inaterlalismus aus ben ^eittn eines UToIefdjott u. a., fonbern audj feine ettoas rorneljmer
ausfiaffierten Bruber: ben €l}i|lorifd?cn» unb ben monifiifdjen ^äd'elfd/er ^^rbung. Der (Sebanfcngang
bes Sudjes — natfirlid? nur in gans großen gügcn — iji etioa \>et: ausgegangen t»irb 00m allgemeinen }
Streben nadj (Släcf. Das ©lud befletjt in ber redjten üerbtnbung pon <Scnu§ unb llrbeit, unb biefe |
tpirb nur erreid?t burd? bie redjte Sittlidjfeit. Darin ba% bie Heligion für fef)r picie ITlenfdjen bie Bc= |
grünbung btefer Sittlidjfeit leijlet, liegt il)re ungetjcure praftifdje Sebeutung. über bas i)! nidjt bie ;
einjige Bcbeutung ber Religion: itjre Dogmen Icijren bie ITelt perjlet)en unb tjaben baljer benfelben l
IDatirtjeitsgeijalt toie tpiffenfdjaftltdje Cl^eorten. Der Kern ber Heligion — «Sejlcben eines alliebenben j
IDeltengeijfes, 5rfit)ett bes menfd?Iid?cn tDillens, hinausragen unferer perfönlidifett über bas gcitlidje» '
— I)at aber audf IDat^rljeit unb JPtrflidjfeit im Ijöd?fien Sinn: iwar tonne fein tTlenfdj ben gieeifcl ganj I
übcrnjinbcn, aber auf ©funb religiöfen €rlebens fönne ein tjoljer (Srab Pon berul^igcnber ©ctptfljeit |
erreid?t njerbcn, n " '3
itllen IDiberfprud? gegen einseincs untcrbrüde idj unb erx»dl)ne nur ganj im Dorbeigei)en, ba% i
bie ruiiige €eibenfdjaftsIofigfeit, mit ber bas ^udf gefdjrieben ifi, sutoellcn toie aIl3ugro§e ITüditernl^eit
tpirft — , um nunmeijr um fo lauter unb beutlidjer 3U betonen, ba% es piel (5utes errcidjen fann, wenn j.
es In bie red?ten £}änbe fommt. Ulan madje feinen naturtoiff enfdjaf tlid? angeljaud^teH'l
Befannten ein ©efdjenf bamit, 3ntercffant ift es Pon Jlnfang bis 3U €nbe unb fdjiägt j
bie red?ten Cöne an für foldje, bie im 23ann einfettig naturnjiffcnfdjaftlidjer iluffaffung jiel)cn. Hufjig i
unb fadjiid? loerben bie (Srensen ber naturroiffcnfdjaft aufge3eigt, loirb bem (Seljeimnis in ber JDelt
fein Rcdjt gctpatjrt, tpirb betont, ba% bie Heligion ein Hed?t auf porurtcilslofe Seadjtung, ja auf
€t)rfardjt i\abe audj für ben, ber bistjer nod? feine innere Stellung ba3U l^abe getoinnen fönnen, unb ^,
ba% es nottpenbig fei, ftdj bie €mpfänglid?feit für rcligiöfc (Einbrücfe 3U tpatjren. — 3<^ '''"" """^ "|
tpünfdjcn, ba% biefes Sud? in ben Kreifen, an bie es fidj tpenbet, bie ISeactitnnq flnbet, bie es perbicnt." |
(2)tc tOartburg I$05, Uv. 52.) |
Der Utilitarismus
bei
Sidgwick und Spencer
-•O^Oe-
Von
Dr. A. G. Sinclair
Heidelberg 1907
Carl Winter's Universitätsbuchhandlung
VerIa?s-ArchiT Nr. 161.
571
Alle Rechte, besonders das Recht der Übersetzung in fremde Sprachen,
werden vorbehalten.
r^r#
r-^I^^y OF TO^^^.V^'
-■«fe-
Sie^''
^39979,
III
Inhaltsverzeichnis.
I. Kapitel. Der Utilitarismns vor 8idg>vick und Spencer.
Seite
1. Bedeutung und Ursprung des Wortes 1
ßentham und «das größte Glück der größten Anzahl». 2
Natur der utilitarischen Bewegung 3
2. Die Lehre Benthams 6
3. Die Lehre Mille 11
IL Kapitel, ütüitarismns und lutaitionismus.
1. Der Gegensatz zwischen diesen zwei Schulen in der eng-
lischen Ethik 15
2. Sidgwicks Versöhnung. Seine drei Axiome 18
3« Spencers Versöhnung 24
4. Kritik 28
in. Kapitel. Das höchste Gut.
1. Der psychologische Hedoniemus 33
2. Sidgwicks «ethischer» Hedonismus 40
3. Spencers evolutionistischer Hedonismus 42
4. Kritik 47
IV. Kapitel. Die Methode des Utilitarisnius.
1. Sidgwicks «empirisch-reflektive» Methode 51
2. Spencers deduktive Methode 56
3. Kritik 61
V. Kapitel. Das Seinsollen.
1. Die genetische Begründung Spencers 63
2. Die rationalistische Begründung Sidgwicks 66
3. Kritik 68
IV luhaltsverzeichnis.
VI. Kapitel. Egoismus und Altrnismus.
Seite
1. Sidgwick und der Egoismus. Sein Dualismus der prak-
tischen Vernunft 75
2. Spencers Versöhnung des Egoismus und des Altruismus . 78
3. Kritik 81
VII. Kapitel. Schlußbetrachtimg.
1. Geschichtliche Bedeutung des Utilitarismus 87
2. Das Wesen des Utilitarismus 88'
3. Seine Verbindung mit dem englischen Empirismus .... 88
4. Die egoistische Basis des früheren Utilitarismus 89
5. Utilitarismus und Individualismus 89
6. Der Utilitarismus und die gewöhnliche Moral 91
7. Der evolutionistische Utilitarismus Spencers 92
8. Der rationalistische Utilitarismus Sidgwicks 97
LitcraturTerzcichnis 102
-«>-4--«>-
I. Kapitel.
Der Utilitarismus vor Sidgwick und Spencer.
I. Ursprung und Bedeutung des Wortes.
John Stuart Mill rühmt sich der erste gewesen zu sein,
der das Wort «Utilitarismus» zur Anwendung brachte.^ Zwar
hat es Bentham schon im Jahre 1781 gebraucht und 1802
schlug er vor, die Partei, die er führte, so zu benennen. ^ Der
Ausdruck wurde jedoch von ihm aufgegeben, weil er zu unbe-
stimmt war. Bentham selbst zog die Bezeichnung «Prinzip des
größtmöglichen Glücks» (greatest happiness principle) vor. Daß
Bentham das Wort «Utilitarismus» überhaupt gebraucht hat,
davon wußte Mill, so sonderbar es uns erscheinen mag, nichts.
Dagegen las er einmal mit sechzehn Jahren, als er schon mit
jugendlicher Begeisterung für die Lehren Benthams erfüllt war,
einen Roman von Galt: «The Annales of the Parish», in dem
er eine Stelle fand, in der ein alter schottischer Geistlicher
seine Pfarrkinder ermahnt, das Evangelium nicht zu verlassen,
um Utilitarier zu werden. Das Wort machte auf Mill solchen
Eindruck, daß er es zum Namen für eine kleine ethische Gesell-
schaft, die er im Jahre 1822—23 gegründet hatte, wählte. So
kam der Name allmählich in Gebrauch und verbreitete sich,
als ihn Mill sogar zum Titel einer eigenen ethischen Abhand-
lung nahm, die er im Jahre 1861 veröffentlichte, in der ganzen
ethischen Literatur.
Wichtiger als eine Erkenntnis des Ursprungs des Namens
ist, daß man seine Bedeutung genau versteht. Das Wort
Utilitarismus ist, wie Bentham richtig geurteilt hat, so unbe-
1 ütilitarianism, S. 9. — 2 Werke X, S. 92, 390.
A, G. Sinclair, Der Utilitarismus bei Sidgwick u. Spencer. 1
2 I. Kapitel.
stimmt und hat zu so vielen Mißverständnissen gefiilu't, daß
seine Entdeckung durch Mill unglücklich genannt werden muß.
«ütilitarianism» ist natürlich mit der Bedeutung des Wortes
«Utility» (Nützlichkeit) verknüpft. Mill braucht es jedoch zur
Bezeichnung der Lehre Benthams vom «größtmöglichen Glücke
der Gesamtheit» als dem letzten Ziele der Moral. Aber «Glück»
und «Nützlichkeit» sind kaum austauschbare Ausdrücke. Utili-
tarismus bezeichnet so jenes ethische System, für das Professor
Sidgwick den besseren Namen: «universalistischen Hedonismus»
vorgeschlagen hat. Utilitarismus darf also niemals mit irgend-
welchem selbstischen System verwechselt werden. Es erregt nur
Verwirrung, wenn wie bisweilen heutzutage ethische Kritiker
von «egoistischem Utilitarismus» reden und wenn man das
Wort überhaupt braucht, ist es besser, an der Bedeutung, die
Mill ihm gegeben hat, festzuhalten.
Aber das Wort Utilitarismus ist noch in anderer Weise
doppelsinnig. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war
der Utilitarismus viel mehr als eine Richtung in der Ethik.
Die Utilitarier waren keine Theoretiker, die nichts als die Aus-
arbeitung einer ethischen Philosophie im Sinne gehabt hätten,
sondern Männer der Tat, die sich für praktische Politik inter-
essierten und einen großen Einfluß auf die englische Gesetz-
gebung ausübten. So wird das Wort Utilitarismus einerseits
gebraucht, eine besondere ethische Theorie, die vor Bentham
liegt, zu bezeichnen, andererseits als Name für eine ethisch-
politische Gedankenrichtung, die er begründete. Darum be-
schränkt sich auch Leslie Stephens in seinen drei Bänden über
«die englischen Utilitarier» auf eine Geschichte des Lebens,
der Zeit, der politischen und sozialen Lehren und Einflüsse von
Jeremy Bentham, James Mill und John Stuart Mill.
In diesem letzteren Sinne ist Jeremy Bentham der Be-
gründer des englischen Utilitarismus. Benthams Formel ist, in
ihrer ersten allbekannten Fassung, daß «das größtmögliche
Glück der größtmöglichen Anzahl» der Maßstab von Recht und
Unrecht ist. Aber dieses Axiom, das heutzutage untiennbar
mit Benthams Namen verknüpft ist, stammt ursprünglich nicht
von ihm. Der Utilitarismus lag schon von Anfang an latent
Der Tltilitarismus vor Sidgwick und Spencer. 3
in der englischen Ethik. Cumberland formuliert erst ausdrück-
lich (Uis Prinzip des Utilitarismus in seiner Abhandlung «De
Legibus Naturalibus» (1672). Er bezeichnet «das allgemeine
Gute aller» (the common good of all) als das höchste etiiische
Ziel. Es ist aber dabei zu bemerken, daß Cumberland mit
seinem «Guten» sowohl Vollkommenheit wie Glück meint. ^
Die Ehre jedoch (wenn es eine solche ist), den Ausdruck vom
«größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl» geprägt zu
haben, gebührt Hutcheson. Er machte einen Unterschied
zwischen «formalem» und «materiellem» Guten. Seine Formel
für materielles Gutes ist folgende: «jene Tat ist die beste, die
das größte Glück der größten Anzahl sichert, und umgekehrt,
die die schlechteste, die das größte Elend hervorbringt».^ Hier
haben wir Benthams Axiom in genau denselben Worten. Doch
ist es interessant zu verfolgen, daß Bentham selbst seinen Aus-
spruch nicht aus Hutcheson nahm. An einer Stelle^ erwähnt
er Priestley als denjenigen, dem er die Formel verdanke. Doch
scheint es, als ob Bentham hier sich geirrt habe. J. I. Rutt,
der Herausgeber von Priestleys gesammelten Werken, konnte
den Ausdruck darin nicht finden.^ An einer andern Stelle^
schreibt Bentham: «Priestley war der erste, wenn es nicht
Beccaria war, der mich lehrte, diese heilige Wahrheit aus-
zusprechen». Nun finden wir in der Einleitung zu Beccarias
«Dei Delitti e delle Pene»^ (1764) das Kriterium als «la mas-
sima felicita divisa nel maggior numero».^ Im Jahre 1767
hat man diese Abhandlung Beccarias ins Englische übertragen
und dabei die oben zitierte Phrase mit «the greatest happiness
of the greatest number»^ übersetzt. Hier hat deswegen
Bentham höchst wahrscheinlich seine Formel gefunden. Man
hat aber vermutet, daß Beccaria seinerseits die Formel direkt
von Hutcheson übernahm.^ Warum hat aber der unbekannte
1 Vgl. Sidgwick, History of Ethics, S. 174.
'■^ Enquiry Concerning Moral Good and Evil III, § 3, S. 164.
3 Werke X, 79. - * Werke Priestleys I, 52 (1831 f.).
^ Werke X, 142.
« u. 7 Dei Delitti e delle Pene, Monaco 1764, S. 4.
« S. X. - 9 W. R. Scott, «Francis Hutchinson», S. 273—274.
4 I. Kapitel.
Übersetzer von Beccaria die Phrase nicht wörtlich übersetzt?
«The greatest happiness divided amongst the greatest number»,
wäre die natürliche Übersetzung, und in dieser Weise hat ein
moderner Übersetzer die Phrase tatsächlich wiedergegeben. Der
Grund scheint uns unzweifelhaft darin zu bestehen, daß der
Übersetzer von 1767 Hutcheson gelesen hat und dessen knappe
Formel zur Wiedergabe des Beccariaschen Ausdrucks verwendet.
Jedoch bemerkt Jodl richtig dazu: «Die Idee war, durch die
gesamte Entwickelung der Ethik und Politik, seit Hobbes ver-
breitet und lag sozusagen in der Luft».^ Im Jahre 1758 de-
finiert Helv^tius die Gerechtigkeit als «la pratique des Actions
utiles au plus grand nombre»^ und in 1767 bezeichnet Le
Mercier de la Riviere das Endziel als «assurer le plus grand
Bonheur possible ä la plus grande population possible».^
Dies ist also der Ursprung des Satzes vom «größtmöglichen
Glück der größtmöglichen Anzahl». Es ist bemerkenswert, daß
Bentham selbst diese Fassung der Formel ihrer großen Unbe-
stimmtheit wegen aufgab. W^eil die Extensität und die Inten-
sität des Glücks dabei in Konflikt kommen könnten, zog er es
vor, aus der Formel die Worte «der größten Anzahl» wegfallen
zu lassen.* Z. B. w^enn bei 12 Personen zwischen zwei Mitteln,
die ihr Glück verursachen, gewählt werden kann, sollen wir da
dasjenige wählen, das 8 Einheiten Glück bei einem jeden von
8 Personen (im ganzen also 64 Einheiten) oder das, das
4 Einheiten bei jedem der 12 Personen (also 48 Einheiten)
hervorbringt?^ Die Formel unterscheidet hier nichts, aber der
Utilitarier würde das erste Mittel wählen, das im ganzen die
größte Menge Glück bürgt. Deswegen redet Bentham nur von
dem «größtmöglichen Glück». Dies ist die Form, der auch
^ Geschichte der Ethik II, 601. — ^ De l'Esprit II, Kap. 24.
^ Leslie Stephen, Engl. Utilitarians I, 178. Vgl. auch Halevy, La
Jeunesse Benthams, S. 29, 30, und Sorley-Mind 1904, S. 270-271.
4 Werke I, 18, 19. Deontology I, 138, 330.
^ Interessant ist es, wie Simmel gerade diesen Einwand allerdings
in feiner logischer Weise entwickelt, um einen Schlag gegen den ütilita-
rismus zu führen. Wie es scheint, ist ihm nicht bekannt, daß Bentham
schon dem Einwand begegnet ist. Vgl. «Einleitung in die m. W.» I,
324-326.
Der Utilitarismus vor Sidgwick und Spencer. 6
Mill den Vorzug gab, und die seit Bentham unter den Utilita-
riern geherrscht hat. Es bleibt noch zu bemerken, daß das
größtmögliche Glück nicht nur auf den Menschen Bezug nimmt,
sondern auch auf alle empfindenden Wesen ^ oder, wie es
Sidgwick ausdrückt, auf die ganze empfindende Schöpfung.
Diese weitausgedehnte Humanität Benthams trug sichtbare
Frucht in England und zwar in den Gesetzen gegen die Miß-
handlung der Tiere. <Es handelt sich nicht darum,» sagt
Bentham über die Tiere, «ob sie Vernunft haben, oder ob sie
sprechen können, sondern darum, ob sie leiden können.»^
Es würde also gut sein, wenn Ethiker, die den Utilitarismus
behandeln, den Ausdruck «das größtmögliche Glück der größt-
möglichen Anzahl» aufgeben würden. Dieses irreführende und in
sich selbst widersprechende Schlagwort, das doch von Bentham
selber schon fallen gelassen wurde, ist kaum noch bei irgend-
einem Utilitarier nach ihm zu finden. Daß es trotzdem bei
andern Schriftstellern bestehen bleibt, ist ein Zeugnis für die
Lebensfähigkeit und das Irreleiten eines bloßen Schlagworts.
Sidgwicks Definition des Utilitarismus würde zweifellos von jedem
Utilitarier angenommen werden. «Unter Utilitarismus versteht
man diejenige ethische Theorie, nach der dasjenige Handeln
unter irgendwelchen gegebenen Umständen objektiv richtig ist,
welches das größte Glück überhaupt erzeugen wird, wenn man
nämlich in Betracht zieht alle, deren Glückseligkeit von dem
Handeln berührt wird.» Bei diesem «alle» denkt Sidgwick nach
seiner eigenen Erklärung an alle empfindenden Wesen einschließ-
lich ihrer Nachkommenschaft.
Einige paradoxe Schlüsse entstehen freilich, wenn man den
Utilitarismus auf sein logisches Resultat hin prüft. Also an-
genommen, daß ein Wachsen der Bevölkerung die Gesamtsumme
des Glücks in der Welt vermehren würde, obschon auf Kosten
der Abnahme des durchschnittlichen Glücks, so müßte der Utili-
tarier doch nach dieser Vermehrung der Bevölkerung streben.
Und anderseits, wenn mehr Glück dadurch erzielt würde, daß
^ Vgl. Mill, Dissertations II; 480.
2 Mill, Dissertations II, 483.
6 I. Kapitel.
lieber B als A gewisse Glücksmöglichkeiten erhält, oder als daß
sie zwischen A, B, C . . . . geteilt werden, so ist der Utili-
tarier doch verpflichtet, sie an B zu geben. Natürlich war es
für Bentham leicht zu beweisen, daß in der Regel die demo-
kratische Verteilung das größte Glück hervorbringen muß.^ Bei
sonst gleichen Umständen fordert der Utilitarier daher absolute
Unparteilichkeit. Und damit haben wir das zweite berühmte
Schlagwort Benthams und der Benthamianer: «Jeder ist für
eins zu zählen und keiner für mehr als eins».
So betrachtet, ist der Utilitarismus eine große ethische
Reformbewegung, die mit Bentham beginnt und bis zur Gegen,
wart reicht. Henry Sidgwick und Herbert Spencer waren die
führenden Vertreter dieser Theorie in England zur Zeit der vorigen
Generation. Bei ihnen hat die Theorie eine Entwickelung gänz-
lich verschiedener Art erfahren. Um dies zu verstehen, müssen
wir die ethischen Lehren ihrer beiden tonangebenden Vorgänger
— Jeremy Bentham und John Stuart Mill — kurz skizzieren.
2. Jeremy Bentham.
Jeremy Bentham (1748—1832) ist der Begründer des mo-
dernen Utilitarismus. Wie die meisten Hedonisten verweilt er
kaum bei dem Versuch zu beweisen, was eigentlich das höchste
Gut sei. Was kann denn jeder anderes suchen als sein eigenes
Vergnügen und was kann das höchste Gut der Gesellschaft sein
als das größte Glück ihrer Glieder? Dies ist für Bentham ganz
einleuchtend. Glück ist einfach Lust und die höchst gesteigerte
Lust das Endziel.
Benthams Utilitarismus ist aber verwickelt durch eine
psychologische Theorie, die den Hedonisten seit den Tagen
Aristipps eigen ist. Diese Theorie, die Sidgwick psychologischen
Hedonismus genannt hat, lehrt, daß Lust und Unlust die ein-
zigen Motive des Handelns sind und sein können; daß jede
Handlung unvermeidlich aus dem Wunsch zur Lust oder aus
der Abneigung zur Unlust entsteht. «Die Natur hat die Men-
schen unter zwei Herrscher gestellt, den Schmerz und die
1 Werke I, 18, 19.
Der Utilitarismus vor Sidgwick und Spencer. 7
Lust. Sie allein bestimmen, was wir tun müssen und tun werden.»
Dies sind die Anfangsworte von Benthams «Introduction to the
Principles of Morals and Legislation». Er schreckt nicht vor
der konsequenten, wenn auch noch so paradoxen Anwendung
dieser Theorie zurück. Die Unlust ist das einzige Böse, Lust
das einzige Gute. Wenn also jedes Motiv eine Lust ist, so ist
jedes Motiv an sich gut. Die Lust der Bösheit, so armselig
und schlecht sie auch ist, ist doch als bloße Lust gut.^ Die
Folgen allein machen die Handlung schlecht. Und jene Tat ist
die beste, die für alle betroffenen Personen die größte Lust be-
deutet.
Alle Motive also sind selbstsüchtige, da sie durch Lust und
Unlust des Handelnden bestimmt werden. Bentham will nicht
die Unabhängigkeit altruistischer Motive zugeben. Und auf die
Frage, warum er gerade so viel Selbstlosigkeit in der Arbeit
für das Wohl anderer betätigt, antwortet er: «Ich bin ein selbst-
süchtiger Mensch; selbstsüchtiger als ich kann man nicht sein.
Aber in mir kommt es irgendwie zustande, daß die Selbstsucht
in Gestalt des Wohlwollens erscheint. Es gibt niemand auf
Erden, dessen Leiden mir Freude machen würde — so groß
ist die Macht der Sympathie in mir.»^ «Bloß Selbstsucht», sagt
er irgendwo, «kann als Nahrung dienen, obgleich Sympathie sehr
gut als Nachtisch ist.»
Ganz konsequent beschränkt Bentham alle Lustverschieden-
heit auf die der Qualität. Ein wesentlicher Unterschied hin-
sichtlich der Quantität kann nach ihm nicht bestehen. Er stellt
sogar einen Lustkalkul auf. Eine Lust mag die andere über-
treffen in der Dauer, der Intensität, der Gewißheit, der Nähe^,
* Principles of Morals and Legislation. S. 48.
2 Werke XI, 95.
' Sidgwick läßt in seiner Darstellung von Benthams Lehre in «Outlines
of the History of Ethics» die Nähe (propinquity) von diesem Kalkül fallen,
und in einer Fußnote schreibt er (S. 241): «Bentham adds „propinquity or
remoteness": I can hardly suppose him to mean that the date of a plea-
sure affects its value rationally estimated, except in so far as increase
of remoteness necessarily involves some increase of uncertainty». In seiner
«Methods of Ethics» schreibt er darüber: «proximity is a property which
it is reasonable to disregard except in so far as it diminishes certainty».
8 I. Kapitel.
der Fruchtbarkeit (d. h. die Fähigkeit andere Lustgefühle zu
schaffen), der Reinheit (d. h. das Freisein von jeglicher Bei-
mischung der Unlust) und der Ausdehnung (d. h. die Zahl der
betroffenen Personen). Aber das ist alles. «Wenn die daraus
erzeugte Lust gleich ist, so ist Pushpin^ ebensogut wie Poesie.»
Aber nun beginnt das große Problem des Utilitarismus
Benthams. Das Summum Bonum ist das Glück aller, das ein-
zige Motiv des Individuums aber ist und kann nur seine eigene
Lust sein. Der Mensch muß nach seiner psychologischen Ver-
anlagung seine eigene Lust suchen, und er sollte doch das all-
gemeine Glück erstreben. Wie kann man diese sich wider-
sprechenden Tatsachen in einem harmonischen ethischen System
vereinigen?
Dies ist aber nicht die Frage, die Bentham sich stellt. Er
sieht das Problem nicht mit dem Auge des ethischen Philosophen,
der eine feststehende ethische Theorie sorgsam auszuarbeiten
sucht; er verhöhnt solche Arbeit. «Während Xenophon Ge-
Benthara ist in diesen Irrtum wahrscheinlich dadurch geraten , daß er
Beccarias Analysis der Resultate der Bestrafung folgt; die Nähe einer
Strafe übt an sich zweifellos einen großen Einfluß auf den Willen aus.
So viel wenigstens scheint die folgende Stelle von einem Manuskript
Benthams, den Halevy zitiert, zu beweisen: «The idea of estimating the
value of each Sensation by analysing it into these four ingredients [inten-
sity, duration, probability, proximity] I took from Beccaria. Considering
that punishment is but pain applied to a certain purpose it
seemed to me that such an analysis was the very thing wanted as the
foundation for a complete System of moral science.» (Halevy, La Formation
du Radicalisme philosophique I, S. 400, vgl. auch Sorley-Mind 1904,
S. 270.) Doch hat hier Sidgwick zweifellos unrecht. Bentham hat wirk-
lich geglaubt, daß die Nähe eines Lustgefühls seinen Wert tatsächlich
beeinflußt. Dies beweisen die zwei folgenden Stellen, die ich in Manu-
skripten Benthams in dem britischen Museum gefunden habe: In Add
Mss. Brit. Museum 29, 807, S. 224 (3. Sept. 1811), schreibt er, indem er
gegen die katholische Fegfeuer-Lehre polemisiert: «For no conceivable
felicity would I willingly endure any such torment for forty weeks or
one week. I had rather be annihilated»; und wieder (S. 235, 27. Febr. 1819):
«Hell without heaven, yes! And such is the catholic future life. For
to obtain any imaginable joy' who would consent to 40,000 years, or
40 years, or one year of previous burning torment?»
^ Ein englisches Kinderspiel, das mit Stecknadeln gespielt wird.
Der Utilitarismiis vor Sidgwick und Spencer. ,9
schichte schrieb und Euclid Geometrie lehrte, redeten Sokrates
und riato Unsinn doch unter dem Vorwand, Weisheit und Moral
zu lehren.»^ Bentham ist kein Moralist. Ethik ist ihm nur
Mittel zum Zweck. Er will die Mißbräuche der englischen Ge-
setze zur Schau stellen und den Weg für soziale Reformen
ebenen.
Kurz, Bentham ist vor allem Jurist, Gesetzgeber. «Sein
ganzes Leben verbrachte er mit dem Versuch, eine Wissenschaft
der Gesetzgebung zu erschaffen. »^ Von diesem Standpunkt aus
betrachtet er das Problem, das also jetzt ein praktisches,
kein philosophisches mehr ist. Der Gesetzgeber muß für das
größte Glück einer Gesellschaft sorgen, in der naturgemäß jeder
einzelne nur sein eigenes Glück sucht. Und wie kann dies
geschehen? Es ist klar, er muß dem Geist des einzelnen
Motive bringen, die ihn antreiben, und ihn veranlassen, das
Glück der Allgemeinheit zu suchen. Er muß ihn überzeugen,
daß es sein eigenes Interesse erfordert, das allgemeine Wohl
mit zu erstreben. Er muß ihm zeigen, wie das allgemeine
Glück auch zu seinem eigenen notwendig ist. Und soweit das
noch nicht der Fall ist, muß er als Gesetzgeber es zum In-
teresse des Individuums machen, das Gut der Gesellschaft zu
erstreben. Kurz, er muß die Gesellschaft wieder aufbauen.
Aber die einzigen Motive, die das Individuum beeinflussen,
sind Lust und Unlust. Welche Lustgefühle und welche Un-
lustgefühle führen denn nun aber das Individuum dazu, das
allgemeine Wohl zu suchen? Dies ist die eigentlich wichtige
Frage des Benthamismus. Solche Lust- und Unlustgefühle
nennt Bentham die Sanktionen der Moral. Diese Sanktionen
spielen eine bestimmte Rolle in der nachfolgenden Geschichte
des Utilitarismus. Bentham findet vier Sanktionen heraus. Die
Lust und Unlust, die einer Handlung im gewöhnlichen Laufe
der Natur folgen, nennt er die physische Sanktion; die, die
durch das Urteil des Magistrats entstehen, die politische
Sanktion; die, die aus der Stellung der Gemeinschaft gegen-
* Deontology I, 40. — "^ Leslie Stephens, History of the English
ütilitarians I, 317.
10 I. Kapitel.
über den Handlungen des Individuums hervorgehen, die mora-
lische oder die populäre Sanktion. Endlich gibt es noch
eine religiöse Sanktion — d. h. Lust und Unlust, die man
durch das unmittelbare Eingreifen eines höheren, unsichtbaren
Wesens erhofft. An der religiösen Sanktion hat Bentham aber
bloß ein rein praktisches Interesse. Er als Gesetzgeber mag
damit rechnen, daß viele Menschen solche Strafen fürchten.
Er stützt sich nicht wie sein Zeitgenosse Paley darauf, daß die
religiöse Sanktion die letzten Schwierigkeiten der Ethik löse.
Leslie Stephen bemerkt ganz treffend: «Bentham ist Paley
minus seinem Glauben an Höllenfeuer».
Bentham illustriert seine Sanktionen durch folgendes Bei-
spiel^: Das Haus eines Mannes brennt gänzlich ab. Geschah
es rein durch Zufall, so ist es nur ein Mißgeschick; war es
durch eine Fahrlässigkeit verschuldet, so ist es eine Strafe der
physischen Sanktion ; wurde es durch den Spruch des Magistrats
veranlaßt, so ist es die Strafe der politischen Sanktion; war er
jedoch durch seinen Charakter bei seinen Nachbarn unbeliebt
und wurde ihm darum nicht geholfen, so ist es die Strafe der
moralischen oder populären Sanktion. Endlich wenn der Brand
durch einen unmittelbaren Akt göttlichen Mißfallens hervorge-
rufen würde, so haben wir die Strafe der religiösen Sanktion.
John Stuart Mill bemüht sich mit jener Klarheit und Un-
parteilichkeit, die ihn immer auszeichnet, in einem seiner besten
Essays^, die Größe sowohl wie die Schwachheit seines Lehrers
zu würdigen. Er gibt zu, daß nichts Neues in Benthams
ethischer Lehre ist; viele vor ihm hatten die Theorie der Nütz-
lichkeit schon dargelegt. Außerdem war seine ganze Theorie
vom Leben einseitig. «Sie übersieht», sagt er, «die moralische
Seite in der Natur des Menschen im wahrsten Sinne des Wortes.»
«Wohl kann sie lehren, du sollst weder schlagen, noch brennen,
noch stehlen; aber sie kann niemals auf die feineren Regungen
im Wiesen des Menschen einwirken.» Auch kann sie nichts mehr
für die Gesellschaft tun. «Sie kann nichts für die geisti-
^ Principles of Morals aud Legislation, Cap. III.
^ Essay on Bentham; Dissertations I; 330.
Der Utilitarismus vor Sidgwick und Spencer. 11
gen Interessen der Gesellschaft tun, sie genügt selbst nicht
für ihre materiellen.» Es ist aber in der Gesetzgebung, daß
Mill das große Verdienst Benthams sieht. «Er fand die Rechts-
philosoi)hie ein Chaos und hinterließ sie als Wissenschaft.»
Mill schildert uns die Ungerechtigkeit, die Verdorbenheit, das
Chaos der englischen Gesetze, wie es Benthani vorfand, und
jene abergläubische Verehrung, welche dieses «verderbliche Ge-
misch» Vorprüfung und Zweifel schützte. «Ruhm sei Bentham,
daß er diesem Aberglauben den Todesstoß gegeben hat, daß er
der Herkules dieser Hydra war, der St. Georg dieses verpesten-
den Drachens.»^
Dieses Urteil Mills ist das Urteil der Geschichte. Benthani
ergriff eine Formel, die in den Händen der andern nur eine
abstrakte Theorie war. Er gab ihr Leben und Blut. Er
machte sie zur gewaltigen Maschine der Reform. So gründete
er einen Sammelort für die Kräfte des Fortschritts und gewann
einen Ehrenplatz unter den Wohltätern der Menschheit. Er
war, wie Jodl sagt, «der vorzüglichste Repräsentant des revo-
lutionären Gedankens in England »2, und nicht mit Unrecht
erklärt Sir Henry Maine, daß er «nicht ein einziges Reform-
gesetz nach Bentham kennt, das nicht auf seinen Einfluß zu-
rückzuführen wäre».^^
3. John Stuart Mill.
Der Utilitarismus John Stuart Mills bedeutet einen großen
Fortschritt gegenüber dem Benthams. Mill ging an das Problem
mit einer viel tieferen Kenntnis der menschlichen Natur als
Bentham und mit einer historischen Einsicht, die dieser niemals
besaß. In mancher Hinsicht ist der Unterschied zwischen
Bentham und Mill der gleiche wie der zwischen dem 18. und
19. Jahrhundert. Von seinem Vater James Mill lernte er die
Wichtigkeit der Assoziationsmethode in der Psychologie und von
August Comte die Bedeutung der sozialen Gefühle. So war er
^ Essay on Bentham. — ^ Geschichte der Ethik II, S. 434.
^ Early History of Institutions, S. 397.
^ Benthams Hauptfehler besteht darin, daß er eine Formel, welche
für die Gesetzgebung richtig ist, auch gleichzeitig als eine ethische auffaßt.
12 I. Kapitel.
befähigt, den einseitigen Egoismus an dem Benthams ganze
Theorie hängen blieb, zu überwinden.
Mill stimmt, was das Kriterium und das Endziel der Moral
anbetrifft, mit Bentham überein. «Handlungen sind gut, wenn
sie dazu dienen Glück hervorzubringen; schlecht, wenn sie das
Gegenteil davon bewirken.»^ Glück ist also der Maßstab der
Moral, und das höchste Gut ist das größte Glück insgesamt,
nicht das größte Glück des Handelnden.^
Mill macht (wie Bentham) einen eigentümlichen Unter-
schied zwischen Motiv und Zweck (intention). «Die Moral
einer Handlung hängt gänzlich von ihrem Zweck ab, d. h. da-
von, was der Handelnde tun will. Aber das Motiv, d. h. das
Gefühl, das ihn veranlaßt etwas so und so zu wünschen, macht,
wenn es keine Änderung der Handlung hervorruft, keinen
Unterschied in der Moral der Handlung, obgleich es einen großen
Unterschied in unserer moralischen Achtung des Handelnden
ausmacht. » ^
Was die Analyse der Lust anbetrifft, versucht Mill, Bentham
in einer Weise zu verbessern, die viel Wortstreit verursacht
hat, ihn in Wirklichkeit aber über allen Hedonismus erhebt.
Die Lust ist sowohl in der Art wie im Grade verschieden, in
der Qualität wie in der Quantität.^ «Kein intelligentes Wesen
wird einwilligen für einen Narren zu gelten, kein Gelehrter
für einen Unwissenden, kein Mensch mit Gefühl und Gewissen
möchte selbstsüchtig und niedrig werden, selbst wenn sie davon
überzeugt wären, daß der Narr, der Dummkopf oder der
Schurke mehr mit seinem Los zufrieden ist, als sie mit dem
ihrigen.» Auf die Frage, wer zu entscheiden habe, ob eine
Lust höherer Art sei als eine andere, antwortete Mül in wahr-
haft platonischer x\rt: derjenige, der Erfahrung in beiden hat.
Es ist ein Gefühl der Würde (feeling of dignity^), das uns dazu
führt, die höhere Lust zu schätzen. «Es ist besser ein unbe-
friedigter Mensch als ein zufriedenes Schwein zu sein, besser
ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn
^ Utilitarianism, S. 9. — ^ Utilitarianism, S. 16.
3 S. 27. — "■ S. 11, 12. - 4 S. 13.
Der Utilitarismus vor Sidgwick und Spencer. 13
der Narr und das Schwein anderer Ansicht sind, so kommt
dies daher, weil sie nur ihre Seite der Frage kennen.»^
Dies ist alles sehr wahr und sehr gut, aber kein Hedonis-
mus. Ebenso edel sind Mills Bemerkungen über die Selbst-
opferung. Er erkennt die Tatsache und die Pflicht der Selbst-
opferung an. Er preist den Helden und Märtyrer, der sein
eigenes Glück opfert, um das Wohl der andern zu fördern,
«aber der, der dies aus irgendeinem andern Grunde tut, ist
nicht mehr der Bewunderung wert als jener Asket, der sich
auf seine Säule stellte. Er mag ein begeisternder Beweis sein
für das, was der Mensch tun kann, aber sicherlich nicht ein
Beispiel für das, was er tun sollte.»^ Sowohl bei dem eigenen
wie bei dem Glücke anderer wird ein Utilitarier so streng
unparteiisch sein wie ein uninteressierter und wohlwollender
Zuschauer. Aus der goldenen Regel des Jesus von Nazareth
lesen wir den vollkommenen Geist der Utilitätsmoral.»^
Mill hat wiederum mehr als Bentham Achtung vor der
bestehenden Moral. Glück ist wohl der letzte, aber nicht not-
wendig der unmittelbare Zweck der Moral. Der Utilitarismus
will keine neue Moral schaffen, keine Umwertung aller Werte.
Die herrschende Moral genügt zur praktischen Führung, ob-
gleich sie hie und da korrigiert werden muß. In seinem Essay
über Bentham tadelt Mill an ihm, daß er als «unbestimmte
Allgemeinheiten» die ganze unanalysierte Erfahrung der Gattung
von sich weist. «Wenn ein Utilitarier,» schreibt er, «ehe er
etwas tut, immer erst den Erfolg abwägen wollte, so wäre dies
ebenso unsinnig, als wenn ein Christ vor jeder Handlung die
ganze Bibel durchlesen wollte.»^ Die Navigationskunst ist auf
Astronomie gegründet und doch gehen die Schiffer in See, ohne
für sich den See-Kalender zu berechnen.
In seinem vierten Kapitel behandelt Mill die Frage vom
höchsten Gut. Die letzten Zwecke, sagt er treffend, lassen
keinen Beweis im gewöhnlichen Sinne des Wortes zu. Wir
können uns nur direkt an das Selbstbewußtsein wenden, a) Glück
ist eins der Ziele unseres Verhaltens. Der einzige Beweis,
1 Util., S. 14. - 2 Util., S. 23.
3 Util, S. 24, 25. - ^ Util., S. 34. - ^ Util., S. 32.
14 I. Kapitel.
daß ein Ton hörbar ist, ist der, daß die Menschen ihn hören.
Der einzige Beweis, daß etwas wünschenswert ist, ist jedermanns
eifriges Verlangen danach. Jeder Mensch wünscht tatsächlich
sein eigenes Glück. Kein anderer Beweis ist möglich. «Das
Glück eines Menschen ist ein Gut für ihn, das allgemeine Glück
also ein Gut für alle.»^ Glück ist also ein Ziel. Aber es ist
auch b) das Ziel. Denn jede Sache, die der Mensch sich
wünscht, ist wertvoll als Mittel zum Glück. Auch die Tugend,
sucht Mill zu zeigen, ist im letzten Grunde wünschenswert nur
als Mittel zum Glück.
Und doch lehrt Mill, daß die Tugend Selbstzweck sein
kann und sein soll. Dies ist durch das Assoziationsprinzip
w^ohl möglich. Jedes Mittel läuft Gefahr, selber Zweck zu
werden, gerade wie der Geizhals dazu kommt, das Gold um
des Goldes willen zu lieben. So liebt der gute Mann die
Tugend ohne jedes weitere Interesse. «Der Geist steht nicht
auf dem rechten Standpunkt, ist nicht der Nützlichkeit gemäß,
nicht dem allgemeinen Glücke förderlich, der nicht die Tugend
in dieser Weise als in sich wünschenswert liebt. » ^ Nichts-
destoweniger wird die Tugend doch immer als ein Teil des
Glückes erstrebt. Diejenigen, die die Tugend um ihrer selbst
willen wünschen, erstreben sie, weil das Bewußtsein davon ihnen
Lust oder das Bewußtsein des Fehlens der Tugend Unlust be-
deutet — oder aus beiden Gründen.^
Wenn das letzte Ziel Glück ist, warum sollte jedes Indi-
viduum das allgemeine Glück suchen? Dies ist natürlich das
große Problem des Utilitarismus. Mills Antwort ist der Ben-
thams ähnlich; die verschiedenen Sanktionen sind die Quelle
der Verpflichtung. Aber Mill fügt noch eine andere Sanktion
hinzu, auf die er großen Nachdruck legt. Dies ist die innere
Sanktion der Pflicht — ein Gefühl in unserm Geist, das das
Wesen des Gewissens bildet und die letzte Sanktion aller Moral
ist. Es ist «das Gefühl der Einheit mit unseren Mitmenschen».
Hier zeigen sich bei Mill starke Spuren von Comtes Einfluß.
Er sucht zu zeigen, wie die Natur der Menschen wirklich sozial
1 ütil., S. 33. - 2 Utü., S. 34. - » Util., S. 57.
Utilitarismus und Intuitionismus. 15
ist, wie mit dem Fortschritt der Zivilisation das soziale Gefühl
sich notwendig verstärkt und wie der Mensch allmählich dazu
kommt, sein Glück mit dem Glücke der andern zu identifizieren.
Und die Zukunft wird, meint er, dies noch vertiefen. Wenn
wir annehmen, daß dieses Gefühl der Einheit wie eine Religion
gelehrt würde und daß die ganze Kraft der Erziehung, der
Institutionen und der herrschenden Meinung — wie es einst
bei der Religion der Fall war — darauf gerichtet würde, jeden
Menschen von Kindheit an aufwachsen zu lassen in einem
Milieu des Bekenntnisses und der praktischen Anwendung
dieses Solidaritätsgefühls, so, denke ich, würde niemand, der
sich dies vorstellen kann, «Bedenken hegen hinsichtlich der Taug-
lichkeit der letzten Sanktionen der Glückseligkeitsmoral ».^
IL Kapitel.
Utiiitarismus und Intuitionismus.
Will man die Stellung Sidgwicks und Spencers in der Ent-
wickelung des Utilitarismus begreifen, so geht man am besten
von einer Betrachtung der Beziehung beider zum Intuitionismus
aus. Man kann in der Tat die ganze Geschichte des Utilitaris-
mus, von der Zeit Benthams an, nur in seinem Gegensatz zu
der ihm gegenüberstehenden Theorie des Intuitionismus voll-
ständig verstehen. Der Grund davon liegt auf der Hand. Am
Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
war es in England die einzige Theorie, die dem Utilitarismus
die Herrschaft streitig machte.
Bei den englischen Moralisten der früheren Zeit findet man
intuitionistische und utilitaristische Elemente friedlich mit-
einander vereint. Hutcheson war es ja — wie wir gesehen
haben — , der zuerst das Prinzip von der größten Glückseligkeit
der größten Anzahl aufgestellt hat.
Dagegen wurde in den Zeiten eines Hume Hartley und
Adam Smith die Ethik einfach ein Zweig der Psychologie.
1 Util, S. 49,
16 11. Kapitel.
Diese Moralisten gehen fast ganz auf in der Frage nach dem
Ursprung der sittlichen Gefühle. Die Frage: «Was ist recht?»
tritt in den Hintergrund. Zur Lösung aller ethischen Fragen
bedient man sich des Prinzips der Ideenassoziation. So groß
ist die Macht der Psychologie über die Ethik, daß da, wo
Hume eigentlich psychologische Fragen behandelt, man die
Sprache der Ethik hört. Er spricht z. B. von der «Wirklich-
keit der moralischen Unterscheidungen» (reality of moral di-
stinctions) und meint damit einfach die psychologische Tatsache,
daß man bestimmte Neigungen und Abneigungen für verschie-
dene ethische Qualitäten hat. ^
Dieser Versuch einer zersetzenden psychologischen Analyse
brachte seinen unvermeidlichen Rückschlag. Er führte zu
einem Rekonstruktionsversuch, in dem die beiden Richtungen
des modernen Utilitarismus und des modernen Intuitionismus
ihren Ursprung haben. Der letztere, vertreten durch Männer
wie Price, suchte die Gültigkeit der Common-Sense-Moral zu
gründen. Die andere Schule nahm Humes Nützlichkeits-Prinzip
an und erhob es zum letzten Kriterium der Sittlichkeit. Nach
den Intuitionisten sind die moralischen Distinktionen letzte nicht
weiter analysierbare Tatsachen, nach den Utilitariern müssen
sie einen vernünftigen Grund haben. Eben dem Umstand, daß
die utilitaristische Schule eine vernünftige Erklärung für die
Moral suchte — so einseitig auch diese Erklärung war — , hat
sie es zu verdanken, daß sie so fruchtbar für die zukünftige
Geschichte der Ethik geworden ist.
Zur Zeit Benthams und Mills besteht der schroffste Gegen-
satz zwischen diesen beiden ethischen Schulen. Bentham bietet
in seinem Werke «Introduction to Morals and Legislation»
seinen ganzen Witz und Verstand auf, um den Intuitionismus
in den verschiedenen Formen, die derselbe angenommen hatte,
lächerlich zu machen. Sie sind «nur ebenso viele Veranstaltungen,
die Nötigung, einem äußern Zeichen zu folgen, zu verhüten und
den Leser zu bestimmen, des Autors Ansichten und Gefühle
anzunehmen».^ Heute können wir sehr wohl verstehen, daß
' Vgl. Sidgwick, History of Ethics, S. 223. — ^ Werke, Bd. I, S. 8.
Utilitarismus und Intuitionismus. 17
zur Zeit Benthams der Utilitarismus ein gewaltiges Reforra-
prinzip war, während andererseits die Common-Sense-Moral eine
mächtige Verteidigungswaffe in den Händen derer war, welche
für die alten tief eingewurzelten Mißbräuche kämpften und den
Mantel der Anständigkeit über die innere Fäulnis hoch gehal-
tener Einrichtungen zu decken suchten. Hier in dem Arsenal
der Moral-Sense-Schule fanden selbst Sklavenhändler und Sklaven-
besitzer ihre Verteidigungswaffen.
Auch Mill hat den Intuitionismus für den absoluten Gegen-
satz des Utilitarismus angesehen. Mill geht so weit, daß er
behauptet, diese beiden Theorien hätten die Philosophen von
den frühsten Zeiten an getrennt. Den Intuitionismus bezeichnet^
er als die Theorie, nach welcher die Unterscheidung von Recht
und Unrecht für eine letzte, nicht weiter zu erklärende Tat-
sache gilt und diese Unterscheidung selbst, wie beim Sehen von
Farben, vermöge einer besonderen Fähigkeit wahrgenommen
wird. Dagegen leugnet der Utilitarismus, daß diese Unter-
scheidung eine letzte Tatsache ist, und meint, daß sie von den
gewöhnlichen Eigenschaften der Handlungen herfließt, zu deren
Erkenntnis wir keine andern Fähigkeiten als unsern Verstand
und unsere Sinne brauchen. Mill betrachtet den Intuitionismus
als das Gegenteil von allem, was wissenschaftlich ist: er sei
nur ein wenig besser als die blinde Autoritätsmoral — eine
Theorie, die «souverän regiere, wo die Vergötterung der Schrift-
worte aufgehört hat und wohin der Einfluß von Benthams
Philosophie noch nicht gekommen ist».^
Eine solche Haltung nimmt Mill wie auch Bentham zu der
intuitioneilen Schule ein. Man braucht nur die Schriften von
Whewell zu lesen, um zu sehen, daß ein Repräsentant des In-
tuitionismus zu dieser Zeit nicht weniger kühn war in der Be-
tonung dieser Gegensätze. Eine Versöhnung zwischen so ver-
schiedenen Theorien würde Mill und seinen Zeitgenossen absurd
erschienen sein. Dagegen ist es eben das Verdienst, sie zustande
gebracht zu haben, das unsere beiden Philosophen — Spencer
^ Dissertations, Bd. I, S. 122, 123.
^ Essay ou Comte and Positioism, S. 71.
Sinclair, Der Utilitarismus bei Sidgwick u. Spencer.
18 II. Kapitel.
und Sidgwick — sich zuschreiben. Ihre Methoden, die wir
zunächst betrachten müssen, fallen durch ihre Verschiedenheit
auf. Spencer vertraut auf die EvoUition und die genetische
Methode, während Sidgwick auf die empirische Methode ganz
und gar verzichtet und den Utilitarismus auf eine intuitionisti-
sche Basis zu bauen unternimmt.
Sidgwick und der Intuitionismus.
Den Intuitionismus bezeichnet Sidgwick^ als die ethische
Theorie, welche behauptet, daß bestimmte Arten von Hand-
lungen ohne Rücksicht auf die Folgen vorgeschrieben werden.
Er unterscheidet drei Arten von Intuitionismus:
1. Perzeptionalen Intuitionismus, nach dem ange-
nommen wird, daß die Richtigkeit einer einzelnen Handlung
unmittelbar erkannt wird, d. h. ohne Beziehung auf allgemeine
Regeln.
2. Dogmatischen Intuitionismus oder die Common-
Sense-Moral, welcher von der Behauptung ausgeht, daß wir
bestimmte Hauptregeln mit wirklich klarer und im letzten Grunde
gültiger Intuition unterscheiden können; und
3. Philosophischen Intuitionismus, welcher die Common-
Sense-Moral als im allgemeinen richtig anerkennt, aber hierfür
eine philosophische Grundlage zu gewinnen sucht, welche sie
nicht von selbst darbietet.
Es ist bemerkenswert, daß, wie Sidgwick ausführt, in der
Geschichte der englischen Ethik, ganz im Gegensatz zu dem,
was wir erwarten könnten, der philosophische Intuitionismus dem
dogmatischen Intuitionismus vorangeht. Das ist aus der Tat-
sache zu erklären, daß es eine Reaktion gegen Hobbes' materia-
listischen Egoismus war. Der spätere Intuitionismus war ander-
seits eine Reaktion gegen Humes Empirismus und gab sich
zufrieden mit einer bloßen Formulierung der Common-Sense-
Moral.
Was den perzeptionellen Intuitionismus angeht, so gibt
Sidgwick zu, daß partikulare sowohl als universale Intuitionen
' Vgl. Methods of Ethics, Book I, Kap. 8.
Utilitarismus und Intuitionismus. 19
in dem gewöhnlichen sittlichen Bewußtsein gefunden weiden.
Und tatsächlich ist der perzeptionelle Intuitionismus der populäre
Begriff von Gewissen. Wäre aber dieser Begriff richtig, so be-
dürften wir überhaupt keiner wissenschaftlichen Ethik. Diese
partikularen oder auf einzelne Handlungen sich beziehenden
Intuitionen sind weit davon entfernt, unfehlbar und unwiderleg-
lich zu sein. Das Gewissen äußert sich in verschiedener Weise
bei verschiedenen Völkern, bei verschiedenen Individuen desselben
Volkes und sogar bei demselben Individuum zu verschiedenen
Zeiten. Tatsachen wie diese machen den perzeptionellen In-
tuitionismus hinfällig.
Doch wo partikulare Intuitionen den richtigen Weg ver-
fehlen, halten wir uns an universale Intuitionen oder generelle
Regeln. Solche allgemeine Regeln bilden die gewöhnliche Moral.
Aber diese allgemeinen Grundsätze reichen oft nicht aus, um
besondere Fälle zu entscheiden, und da wir um des Handelns
willen ethische Studien treiben, so müssen wir über die gemeinen
sittlichen Begriffe nachdenken und sehen, was wir mit Sicher-
heit und Präzision über sie sagen können.
So wird Sidgwick zu einer Prüfung des dogmatischen In-
tuitionismus oder der Moral des Common-Sense geführt. Diese
gründliche Untersuchung, die mehr als ein Drittel seines ganzen
Werkes füllt, ist, wie von den Ethikern aller Schulen anerkannt
wird, Sidgwicks wertvollster Beitrag zur Moralwissenschaft. Selbst
sein strengster Kritiker, Bradley^, sieht sich gedrungen, ihren
Wert zuzugeben, während Gelehrte, welche Sidgwicks ethischen
Standpunkt näher stehen, wie Bain^ in England und v. Gizycki^
in Deutschland mit ihrem Lob nicht sparsam gewesen sind.
Es wird gut sein, Sidgwicks Absicht bei dieser Prüfung in seinen
eigenen Worten wiederzugeben. «Es ist unzweifelhaft,» sagt
er, «daß die moralischen Anschauungen des gemeinen Menschen
in vielen Punkten locker, schwankend und gegenseitig wider-
sprechend sind. Daraus folgt aber nicht, daß wir von dieser
flüssigen Masse der Meinungen ein Depositum von klaren und
allgemein angenommenen Prinzipien nicht erhalten können. Ich
» Mr. Sidgwicks Hedonism, S. 59. — 2 Mind 1876, S. 177. — ' Viertel-
jahrsschr. f. wiss. Phil. 1880, S. 111 ; International Journal of Ethics, Vol. I.
2*
20 IT. Kapilel.
habe versucht, durch bloße Reflexion über unsere gemeinsame
Moral diejenigen allgemeinen Prinzipien oder Maximen festzu-
setzen, denen gemäß man verschiedene Arten des Handelns, in
den verschiedenen Gebieten des Lebens, als richtig oder ver-
nünftig ansieht. Die implizite bestehenden Prämissen unserer
gemeinsamen moralischen Urteile explizite zu machen, ist meine
einzige Absicht gewesen.»^
Sidgwick bezweckt daher weder den Intuitionismus zu be-
weisen, noch ihn zu widerlegen. Die Moral, die er prüft, ist
seine eigene sowohl als die seiner Leser. Er prüft sie nicht
von einem äußern Standpunkt aus, sondern versucht zu ermitteln,
inwieweit die ihr zugrunde liegenden Regeln deutlich und klar
gemacht und miteinander in Zusammenhang gebracht werden
können. Es ist bemerkenswert, daß Sidgwick diesen Teil seines
Buches zuerst geschrieben hat, und daß er die Idee dazu seinem
Studium der aristotelischen Ethik verdankt. «Das, was er
(Aristoteles) uns gegeben hat, war die durch sorgfältige Ver-
gleichung in ihre Konsequenz verfolgte griechische Common-
Sense-Moral, und zwar nicht als etwas ihm äußerlich Gegebenes,
sondern das durch Überlegung Gefundene, welches wir — er
und andere — denken. Und war dieses nicht die durch Fragen
hervorgelockte sokratische Induktion ? Kann ich ihn hierin nicht
nachahmen und in derselben Weise unparteiischer Reflexion über
die geläufige Meinung dasselbe für unsere Moral hier und jetzt
tun?»2
In einer Reihe von Kapiteln, die durch strenge Unpartei-
lichkeit, außerordentliche Kraft der Analyse und tiefe ethische
Einsicht ausgezeichnet sind, setzt Sidgwick diese Absicht durch.
Die allgemeinen Begriff'e der Common-Sense-Moral (z. B. Weis-
heit, Wahrheit, Klugheit, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit,
Gesetze und Versprechen, Tapferkeit und Demut) werden alle
nacheinander einer sorgfältigen Prüfung unterworfen. Überall
zeigt sich dasselbe Resultat. Der gesunde Menschenverstand
billigt die Prinzipien nur, wenn man sie in einem Zustand un-
bestimmter Allgemeinheit läßt. Die Grenzen eines jeden Prinzips
' Methods of Ethics, S. 338.
2 Biographical Fragment.
ütilitarismus und IntuitionismusK 21
lassen sich niemals genau angeben. Unmöglich ist es, die Grund-
sätze des Commou-Sense zu wissenschaftlichen Axiomen zu er-
heben. Der Versuch dieses zu tun führt den gesunden Menschen-
verstand in Konflikt mit sich selbst. Immer und immer wieder
treten Alternative hervor, zwischen denen zu entscheiden der
gesunde Menschenverstand sich weigert. Viele Schwierigkeiten
werden nur dadurch gelöst, daß man die utilitaristische Norm
anwendet. Nirgends stoßen wir auf selbstevidente oder intuitive
Prinzipien.
Obgleich danach die Moral des gesunden Menschenverstandes
eine Basis für die Ethik nicht zu geben vermag, so zeigt doch
die Prüfung Sidgwicks, daß sie für das Handeln im allgemeinen
als ausreichend zu gelten hat. «Die Hauptregel jedes Begriffes
ist genügend klar, und die allgemeine Regel, die sie vorschreibt,
verliert ihre Kraft nicht notwendig dadurch, daß es in jedem
Fall ein in Dunkel oder Ungewißheit gehülltes Grenzgebiet gibt,
oder daß die Regel, wenn man sie prüft, nicht absolut und un-
fehlbar erscheint. Kurz gesagt: Die Moral des Common-Sense
kann zwar der praktischen Leitung der gewöhnlichen Menschen
unter gewöhnlichen Umständen vollkommen adäquat sein, aber
bei dem Versuch, sie zu einem System intuitionaler Ethik zu
erheben, kommen ihre unvermeidlichen Unvollkommenheiten zum
Vorschein, ohne uns in den Stand zu setzen, dieselben zu be-
seitigen. » ^
Der philosophische Intuitionismus.
Indem die Common-Sense-Moral sich nicht fähig gezeigt
hat, eine befriedigende Basis für die Ethik zu liefern, geht
Sidgwick zunächst zu einer Erörterung des philosophischen In-
tuitionismus über. Die Aufgabe des Philosophen, meint er, sollte
nicht bloß sein, die gewöhnliche Moral zu formulieren, sondern
vielmehr zu einigen tieferen ihr zugrunde liegenden Prinzipien
vorzudringen. Vielleicht kann man auf diese Weise intuitive
Grundsätze von wirklicher Klarheit und Sicherheit finden. Philo-
sophen haben allerdings manchmal versucht dieses zu tun; ihre
1 Methods, fs. 361.
22 n. Kapitel.
Resultate sind aber meistens Tautologien und Zirkelschlüsse
gewesen, wie z. B.: «Es ist vernünftig, der Natur gemäß zu leben,
und es ist natürlich, der Vernunft gemäß zu leben». Trotzdem
führt eine sorgfältige Prüfung Sidgwick zu der Annahme, daß
es gewisse abstrakte intuitive Prinzipien gibt, obgleich sie nicht
allein durch sich selbst zu einer vollkommenen praktischen
Leitung ausreichen. Solche Prinzipien liegen der Gerechtigkeit,
der Klugheit und dem Wohlwollen zugrunde. Als letztes Re-
sultat von Sidgwicks Untersuchung ergeben sich folgende drei
Axiome:
Erstens betrachten wir die Ähnlichkeit der Individuen, die
ein logisches Ganze ausmachen, so kommen wir zu dem Prinzip
der Gerechtigkeit, das sich in folgende Formel fassen läßt: «Es
kann nicht recht sein für A, B zu behandeln in einer Weise,
in welcher es unrecht für B wäre, A zu behandeln, wenn kein
anderer Grund vorliegt als der, daß sie zwei verschiedene In-
dividuen sind, und wenn kein Unterschied zwischen den Naturen
oder Umständen der beiden besteht, den man als vernünftigen
Grund für den Unterschied des Handelns angeben könnte».
Betrachten wir die ähnlichen Teile eines mathematischen
oder quantitativen Ganzen (und ein solches Ganze macht der
gewöhnliche Begriff des Gutes aus), so finden wir noch zwei
Prinzipien. Durch Erwägung des Verhältnisses der integrierenden
Teile zum Ganzen und zueinander ergibt sich das selbstevi-
dente Prinzip, daß das Gut eines Individuums als Teil des uni-
versellen Guts von keiner größeren Bedeutung ist als das Gut
irgendeines andern, außer wenn ein besonderer Grund vor-
handen ist anzunehmen, daß in einem Fall ein größeres Gut
verwirklicht werden wird als im andern. Daraus folgt zugleich
das Prinzip des Wohlwollens : «Jedes Individuum ist verpflichtet,
auf das Gut eines andern Individuums ebensoviel Rücksicht zu
nehmen als auf sein eigenes, außer wenn es bei unparteiischer
Betrachtung findet, daß es nicht in dem Maße oder mit solcher
Sicherheit erkennbar und erreichbar wie das eigene ist».
Betrachten wir das Gut eines Individuums als ein Ganzes,
so gelangen wir zu dem Prinzip der Klugheit, das eine un-
parteiische Berücksichtigung aller Seiten unseres bewußten Lebens
ütilitarisnius uud Intuitionismus. 23
fordert: «Das Hernach als solches ist nicht mehr und nicht
weniger zu beachten als das Jetzt».
Diese drei Axiome sind also das letzte Resultat von Sidgwicks
gründlicher Prüfung des Intuitionismus. Er selbst hat sie als
sehr wichtig angesehen. Sie gehören nicht, wie er richtig be-
merkt, ausschließlich dem Intuitionismus an, so wie man diesen
gewöhnlich definiert. Die Maxime der Klugheit ist ein selbst-
evidentes Prinzip, das in dem rationalen Egoismus enthalten ist.
Die Maxime der Gerechtigkeit gehört dem Utilitarismus eben-
sowohl als dem Intuitionismus an. «Die Maxime des Wohl-
wollens wird als rationale Basis für das utilitaristische
System verlangt.»
In seinem Leben ist Sidgwick früh zu der Überzeugung ge-
langt, daß der Utilitarismus einer solchen Basis bedürfe. Er-
zogen, wie er uns erzählt S unter dem äußeren willkürlichen
Druck moralischer Regeln fand er noch als junger Mann Er-
leichterung davon in dem Utilitarismus John Stuart Mills. Zu
jener Zeit übte Mill einen großen Einfluß in England aus, und
die Wärme, Beredsamkeit und Erhabenheit, die seine Darstellung
des Utilitarismus durchweht, hat für seine Ethik viele Anhänger
erworben. Mit Begeisterung hat Sidgwick Mills Utilitarismus
als ein ethisches Glaubensbekenntnis angenommen. Aber bald
fing er an, mit der ganzen Basis des älteren Utilitarismus und
mit der empirischen Philosophie überhaupt unzufrieden zu werden.
Interessante Spuren dieser inneren Bewegung finden wir in Briefen,
die in seinen kürzlich erschienenen Memoiren abgedruckt sind.
In seinem 24. Lebensjahre ist er schon überzeugt, daß man ohne
eine intuitive Basis in der Ethik nicht auskommen kann.^ Mills
Beweis schien ihm trügerisch und die Basis seiner Ethik unzu-
länglich. Bald danach fing er an die kantische Lehre ein-
gehend zu studieren, die ihn so wesentUch beeinflußt hat bei der
Frage nach einer rationalen Begründung der Ethik. Das Re-
sultat dieser Untersuchung haben wir soeben betrachtet.
Von zwei Seiten aus hat Sidgwick also eine Versöhnung
des Intuitionismus mit dem Utihtarismus unternommen. Erstens
* Biographical Fragment, — '^ Memoir, S. 90.
24 II- Kapitel.
ergibt sich aus einer sorgfältigen Prüfung des Intuitionismus,
daß der Utilitarismus die endgültige Form ist, in welche der
Intuitionismus überzugehen geneigt ist, wenn man die Frage nach
selbstevidenten Grundsätzen streng durchführt. Zweitens kann
man zeigen, daß der Utilitarismus die intuitive Maxime des
Wohlwollens als seine Basis verlangt.
Eins ist aber notwendig, um diesen Beweis durchzuführen.
Die Axiome Sidgwicks sind ganz abstrakt und formal. Sie sind
bloß regulativ oder distributiv und lassen es unbestimmt, was
das höchste Gut ist. An sich sind sie nicht hedonistisch. Sie
behalten ihre Gültigkeit, einerlei ob das Gut die Lust oder die
Tugend oder etwas anderes sei. Aus diesen abstrakten Formeln
kann der Inhalt der Pflicht nicht abgeleitet werden. Es muß
erst bewiesen werden, ob das höchste Gut die GlückseUgkeit
sei. Diesen Beweis versucht Sidgwick später durchzuführen.
Ob es ihm gelingt oder nicht, werden wir in einem späteren
Kapitel sehen.
Spencers Versöhnung der beiden Theorien.
Gehen wir nun über zu einer Betrachtung von Spencers
Versuch, den Utilitarismus mit dem Intuitiouismus zu versöhnen.
Seine Methode zeigt einen auffallenden Unterschied von der-
jenigen Sidgwicks. Dieser hat die Grundsätze der Common-
Sense- Moral auf ihre logische Konsequenz hin geprüft; jener
untersucht sie nach ihrem geschichtlichen Ursprung. Sidgwicks
Methode ist rationalistisch, Spencers dagegen genetisch. Bei
ihm kommen die alten sich gegenüberstehenden Theorien auf
dem gemeinsamen Boden der Entwicklung zusammen. Sidgwick
hat die empirische Philosophie überhaupt aufgegeben, Spencer
behält sie bei und glaubt eine sichere Basis für sie in der
neuen Hypothese der Entwicklung zu gewinnen. Kurz: Spencer
geht genau in der von Bentham und Mill vorgezeichneten
Kichtung weiter. Er nimmt das Problem der Begründung des
Utilitarismus auf, da wo Mill es verlassen hatte.
Mills Kritik des englischen Intuitionismus war nicht ohne
Erfolg. «Niemand leugnet», sagt er, «die Existenz moralischer
Gefühle. Die Gefühle existieren, existieren offenbar und können
Utilitarismus und Iiituitionismus. 25
nicht geleugnet werden. »'^ Und Mill geht noch weiter. Er
bemüht sich, Wert und Geltung der moralischen Gefühle zu
betonen und die Piiicht, sie zu erziehen. Denn sie vertreten die
kristallisierte Erfahrung der Gattung. Doch lassen sich die
Schwächen eines Intuitionismus, der diese Gefühle zu einem
absoluten Maßstab von Recht und Unrecht erhöbe, leicht auf-
weisen. Jenes unsichere Schwanken, das sie überall zeigen,
wäre allein genug, um dieses letzte gottgegebene Unterscheidungs-
vermögen für Recht und Unrecht verdächtig zu machen.
So weit konnte man Mill leicht folgen. Wenn er aber
von der Kritik zur Konstruktion übergeht, ist das Resultat nicht
so einleuchtend. Wie soll man das Vorhandensein dieser mora-
lischen Gefühle erklären? Auf diese Frage verlangten die In-
tuitionisten von den Empiristen eine bestimmte Antwort. Und
eine solche war schwierig genug zu finden. Mill muß zeigen,
wie alle diese moralischen Gefühle im Individuum im Laufe
des Lebens von Sinnesemptindungen erzeugt werden können.
Dieser Aufgabe muß die Assoziationspsychologie sich gewachsen
zeigen.
Diese Aufgabe übernimmt Mill aber ohne Zaudern. «Kinder»,
behauptet er, «haben keine moralischen Gefühle, und Kinder,
deren Wille auf keinen Widerstand stößt, erwerben sie niemals. »
«Daß der Ehrgeiz, das Streben nach Macht, der Neid samt
und sonders ihren Ursprung der Assoziation verdanken, ist der
ganzen Welt offenbar.»^ Und bei den Gefühlen des Gewissens,
meint er, liegt die Sache nicht etwa anders. Diese Gefühle
entstehen in dem Kind kraft des Assoziationsgesetzes einfach
durch die erfahrenen Folgen der Handlungen. In dem dritten
Kapitel seines «Utilitarismus» gibt Mill eine ausführliche Er-
klärung des Gewissens. Sein Wesen ist «ein Gefühl innerhalb
unseres Bewußtseins, ein mehr oder weniger intensiver Schmerz,
der eine Verletzung der Pflicht begleitet. Seine verbindende
Macht besteht in einem Komplex von Gefühlen, den der Mann
durchbrechen muß, um eine Handlung auszuführen, die seine
sittliche Norm verletzt.» Recht und Pflicht sind nach Mill ab-
1 Dissertations 1, 123. — 2 Dissertations I, 138, 140.
26 11. Kapitel.
strakte Ideen, die, genau wie alle abstrakte Ideen, aus unzähligen
konkreten Erfahrungen erzeugt sind.
Dennoch ist es Mills großer Genialität nicht gelungen, diese
ausgearbeitete Theorie wirklich überzeugend zu machen. Zweifel-
los liegt viel Wahres in den Tatsachen, die er beibringt. Aber
selbst die Zauberkunst der Assoziationspsychologie war nicht im-
stande zu erklären, wie alle Tatsachen des moralischen Be-
wußtseins in der Lebenszeit jedes einzelnen Individuums neu
entstehen könnten, wenn der Geist bei der Geburt eine tabula
rasa wäre. Diese Schwierigkeit schien für die empirische Philo-
sophie unlösbar.
Gerade hier tritt Spencer ein. Was in der Lebenszeit des
Individuums unmöglich ist, kann nach ihm in der Lebenszeit
der Gattung wohl möglich sein. Die moralischen Gefühle ent-
stehen in der Tat durch Assoziation, aber nicht in dem Indi-
viduum. Für das Individuum sind sie angeboren, für die Gattung
erworben. Was Mill nicht gelang, weil ihm nur die wenigen
kurzen Jahre eines Menschenlebens zur Verfügung standen, das
hofft Spencer durch Zuhülfenahme einer durch Jahrtausende
hindurchgehenden Entwicklung der Gattung zu erreichen.
Als Spencer sein erstes Werk^ herausgab, war er Intui-
tionist. Soziologische Studien haben ihn später zum Utilitaris-
mus geführt. «Es ist mir klar geworden,» schreibt er, «daß
es unmöglich ist anzunehmen, die Menschen besäßen alle ge-
meinsam eine eingeborene Auffassung von Recht und Unrecht,
wenn bei uns der allgemein geltende Glaube der ist, daß ein
Mensch, welcher einen Raub begeht und es nicht bereut, auf
ewig verdammt sein wird, während ein anerkanntes Sprichwort
bei den Belutschen lautet: Gott wird nicht einem Menschen
seine Gunst schenken, der nicht stiehlt und raubt.»
In einem wichtigen Brief an Mill legt Spencer klar und
deutlich seine Ansicht über die morahschen Gefühle dar. «Um
meine Anschauungsweise vollständig klar zu machen, scheint es
nötig noch beizufügen, daß sich, entsprechend den fundamen-
talen Sätzen einer ausgebildeten Moralwissenschaft, im Menschen-
cSocial Staticß.»
Utilitarismus und Intuitionismus. 27
geschlecht gewisse fundamentale moralische Anschauungen
entwickelt haben und noch fortentwickeln, und daß diese An-
schauungen, obgleich sie das Ergebnis von nach und nach an-
gesammelten Erfahrungen über das Nützliche bilden, die
allmählich organisiert und vererbt wurden, doch nur ganz
unabhängig von jeder bewußten Erfahrung dastehen. Ganz auf
gleiche Weise, wie meiner Ansicht nach die Anschauung vom
Räume, welche doch jedes lebende Individuum besitzt, aus or-
ganisierten und sich fortsetzenden Erfahrungen aller voran-
gegangenen Individuen entstanden ist, die auf ihre Nachkommen
ihre langsam entwickelte Nervenorganisation übertrugen — ganz
so, wie ich glaube, daß diese Anschauung, welche ja nur noch
durch die persönlichen Erfahrungen jedes einzelnen bestimmt
ausgestaltet und vervollständigt zu werden braucht, in Wirk-
lichkeit zu einer Form des Denkens geworden ist, die scheinbar
durchaus unabhängig von der Erfahrung besteht — ganz so
haben sich auch, glaube ich, die Erfahrungen vom Nützlichen in
allen vergangenen Generationen des Menschengeschlechts organi-
siert und festgesetzt und entsprechende Abänderungen im Ner-
vensystem hervorgebracht, welche durch fortwährende Über-
tragung und Anhäufung in uns endlich zu einem gewissen Ver-
mögen der moralischen Anschauung geworden sind, zu gewissen
Emotionen, welche mit gutem und bösem Handeln in Wechsel-
beziehung stehen und keine irgendwie aufzeigbare Grundlage
in den individuellen Erfahrungen vom Nützlichen haben. Ich
bin auch überzeugt, daß ebenso, wie die Raumanschauung mit
den exakten Beweisen der Geometrie in Einklang steht und wie
ihre rohe Schlußfolgerung durch diese erläutert und bestätigt
werden, so auch die moralischen Anschauungen mit den Dar-
legungen der Moralwissenschaft zusammenstimmen und ihre
rohen Folgerungen von letzteren erläutern und bestätigen lassen
werden. »
Daher meint Spencer, daß «die Entwicklungshypothese
uns auch in den Stand setzt, einander entgegenstehende Moral-
theorien zu versöhnen». Es ergibt sich völlige Zusammen-
stimmung zwischen der Lehre von den angeborenen Fähigkeiten
zu moralischer Empfindung und der utilitaristischen Lehre, so-
28 11- Kapitel.
bald wir einsehen, daß Zu- und Abneigungen organisch gemacht
werden durch Vererbung der Einwirkungen angenehmer und
schmerzlicher Erfahrungen auf die Voreltern.^ Das moralische
Vermögen ist daher angeboren, aber nicht ursprünglich. Es
sollte unser Handeln leiten, weil seine Intuitionen nicht anders
sind als die im Laufe der Zeit sich ergebenden Resultate von
Erfahrungen.^ Doch muß man diese moralischen Gefühle wissen-
schaftlich erklären und bestimmen. So wird das Handeln in
seiner höchsten Form die angeborenen Anschauungen des Guten,
nachdem dieselben richtig erklärt und durch den analysierenden
Verstand genau dargestellt worden sind, zu seiner Führeria
machen, wobei es sich aber bewußt bleibt, daß diese Führerin
bloß deswegen zunächst als das Höchste gelten dürfe, weil sie
zu jenem in letzter Linie höchsten Endzweck, zum besondern
und allgemeinen Glück emporleiten. » ^
Kritik.
Der Hauptfehler der englischen Intuitionisten war, daß sie
einem unerklärlichen unanalysierbaren Vermögen alle letzten
moralischen Urteile überwiesen. Die Ethik war daher auf ein
blindes Vermögen begründet und auf kein intelligibles Prinzip.
Dieses gilt natürlich nur von der späteren intuitionalen Schule.
Clarke und More haben schon früher eine Theorie des Ge-
wissens aufgestellt, die der praktischen Vernunft Kants nahe
steht.
Spencer versucht eine Erklärung des Gewissens durch die
genetische Methode. Er hat gezeigt, wie im langen Laufe der
Entwicklung der Gattung die moralischen Gefühle entstanden
sindj und daß sie die Nützlichkeitserfahrungen unzähliger
Menschengeschlechter vertreten. Diese Erfahrungen sind orga-
nisch in dem Individuum geworden. Der Intuitionismus hat
daher seinen Ursprung in der Nützlichkeit. Diese Erklärung
hat Spencer eine Versöhnung der beiden entgegengesetzten
Theorien genannt.
^ Data of Ethics, § 45. Übersetzung, § 46.
2 Data of Ethics, § 62. Übersetzung, § 63.
3 Data of Ethics, § 62. Übersetzung, § 63.
Utilitarismus und Intuitionismus. 29
Spencers Methode ist, an und für sich betrachtet, durch-
aus zu rechtfertigen, ja sie ist notwendig. Die Frage nach
dem Ursprung des Gewissens zählt, wenn sie auch keine ethische
Frage im engeren Sinne des Wortes ist, zu den Problemen, die
die Ethik berücksichtigen muß. . Es kann sein, daß das Ge-
wissen in irgendeiner solchen Weise entstanden ist, wie Spen-
cer so geistreich vermutet. Die ethische Frage ist aber eine
völlig andere. Das Gewissen — wie es auch entstanden sein
mag — besteht heute als Tatsache. Zugegeben, daß sein Ur-
sprung in der Nützlichkeit zu finden ist, so gibt es doch jetzt
manchmal eine ganz andere Antwort auf die Frage «was ist
recht?» als das Nützliche. Wie soll man denn in einem solchen
Konfliktsfall entscheiden? Dieses ist die wesentliche ethische
Frage, und man kann nicht einsehen, wie Spencers Methode
eine Antwort darauf geben kann. Vorausgesetzt, daß Spencer
recht hat mit der Annahme, daß in allen Konfliktsfällen die
Nützlichkeit autoritativ ist, so ist doch dieses ebensogut eine
Widerlegung des Intuitionismus wie die Theorie Mills. Spencer
hat die Position des Empirismus gestärkt und eine Schwachheit
in Mills Theorie überwunden; nichtsdestoweniger bleibt der
alte Gegensatz noch unverändert und in gleicher Schroffheit
bestehen.
Gewiß ist, was wir hier eingewendet haben, durchaus nicht
als eine Verteidigung des Intuitionismus anzunehmen. Wir
suchen nur zu zeigen, daß, wenn man den Intuitionismus und
den Utilitarismus als ethische Theorien ansieht — Theorien,
die die Frage, was recht ist, zu beantworten suchen — , daß
dann Spencer absolut nichts getan hat, um diese Theorien zu
versöhnen.
Kann man Sidgwicks ganz andern Versuch anders beur-
teilen? Dieser geht, wie schon erwähnt, von zwei Seiten aus.
Erstens verlangt der Utilitarismus eine intuitive Basis, und
zweitens zeigt der Intuitionismus, wenn man ihn streng und
philosophisch prüft, die Tendenz, in den Utilitarismus überzu-
gehen. Das erstere hat Sidgwick wolil bewiesen. Der Utilita-
rismus ist eine normative Theorie der Ethik, und auf den Em-
pirismus kann man keine normative Ethik gründen und sie
80 n. Kapitel.
konsequent durchführen. «Du sollst» hat eigentlich hier
keinen Sinn.
Zunächst müssen wir die positive Seite des Ausgleichs, den
Sidgwick versucht hat, ins Auge fassen. Diese ist in seinen
drei bekannten Axiomen enthalten. Wie er zu diesen Axiomen
gekommen ist, finden wir in der ersten Auflage seines Werkes.
Hier sagt er ausdrücklich, daß er zu den Grundsätzen des
Wohlwollens und der Gerechtigkeit geführt worden ist durch
«jene zwei Denker, die in der modernen Zeit am ernstesten und
am strengsten an dem wissenschaftlichen Charakter ethischer
Prinzipien festgehalten haben — nämlich Clarke in England und
Kant in Deutschland».^
Clarke lehrte, daß es zwei fundamentale Regeln der Recht-
schaffenheit (righteousness) gibt: Billigkeit (equity) und Wohl-
wollen. Die Regel der Billigkeit heißt: «Wenn ich irgend etwas
als vernünftig oder unvernünftig beurteile, das ein anderer für
mich tun sollte, so habe ich durch dasselbe Urteil das für ver-
nünftig oder unvernünftig erklärt, daß ich dasselbe unter gleichen
Umständen für ihn tun sollte».^ Das zweite Prinzip Clarkes ist
das der Liebe oder des Wohlwollens: «Ein konstantes Bestreben,
das Wohl und die Glückseligkeit aller Menschen mit unserer
ganzen Kraft zu fördern^. Zwei sehr ähnliche Prinzipien fand
Sidgwick auch bei Kant, nämlich den kategorischen Imperativ
und die Forderung, die Glückseligkeit anderer zu fördern. Diese
Prinzipien lauten nach ihm: «1. daß nichts für mich recht sein
kann, das nicht für alle Individuen unter gleichen Umständen
recht ist, und 2. daß ich die Erfüllung meiner eigenen Wünsche
oder meine eigene Seligkeit nicht betrachten kann als an und
für sich begehrenswerter als die gleiche Glückseligkeit irgend-
eines andern». Das erste Prinzip sah Sidgwick als ein allen
ethischen Systemen notwendiges an. Das zweite ist dagegen
«das fundamentale Prinzip desjenigen Systems, das wir Utilitaris-
mus genannt haben ».^
Was das Prinzip des Wohlwollens betrifft, so bemerken wir,
daß Sidgwick es in der sechsten Auflage vorsichtiger formuliert
' Erste Auflage, S. 357. — « Evidences, S. 86-87.
» Methods of Ethics. Erste Auflage, S. 364.
Utilitarismus und Intuitionismus. 31
hat als in der ersten. Hier braucht er das Wort <Gut> statt
« Glückseligkeit > (wie in der ersten Auflage) — ein wesentlicher
Unterschied, weil das Prinzip bloß regulativ oder distributiv ist
und er noch zu beweisen hat, daß die Glückseligkeit der End-
zweck sei.
Diese Grundsätze haben Veranlassung zu einer lebhaften
Kritik gegeben. Von Gizycki hat in einer Rezension Sidgwicks
< Methoden der Ethik > in der < Vierteljahrsschrift für wissen-
schaftliche Philosophie» ^ und ferner im «International Journal
of Ethics»^ einen wohl berechtigten Einwand gegen Sidgwicks
Auffassung seines Grundsatzes der Klugheit gemacht, obgleich
er es als «kein geringes Verdienst des Verfassers» ansieht, «diese
logischen Elemente des moralischen Bewußtseins klar und präzis
festgestellt zu haben». Den Grundsatz der Klugheit — «das
Hernach als solches ist nicht mehr und nicht weniger zu be-
achten als das Jetzt» — hatte Sidgwick als durchaus egoistisch
aufgefaßt, und gemeint, daß er mit dem Prinzip des Wohlwollens
in Konflikt kommen könne. So war Sidgwicks eigentümliche
Lehre des Dualismus der praktischen Vernunft entstanden, den
wir später zu behandeln haben. Von Gizycki macht darauf
aufmerksam, daß dieses Prinzip vielmehr eine Ergänzung des
Prinzips des Wohlwollens sei. Es «geht auf die gesamte Reihe
sukzessiver Bewußtseinszustände eines individuellen Wesens,
welches dieses nun immer sein möge: vom Ego als solchem und
mithin von Egoismus weiß es nichts». Hierin hat von Gizycki
zweifellos recht. Das Prinzip betrifft bloß Priorität oder Poste-
riorität in der Zeit und ist ebenso maßgebend in altruistischen
als in egoistischen Handlungen.
Der schwerwiegendste Einwand, der gegen die Grundsätze
der Gerechtigkeit und des Wohlwollens erhoben wird, richtet
sich gegen ihren abstrakten Charakter. Wenn wir von einem
Individuum seine Individualität wegdenken, was bleibt uns übrig?
Die englischen Neuhegelianer, die immer das Konkrete gern
betonen, haben nicht lange damit gezögert, diesen Einwand
gegen Sidgwick zu erheben. Bradley behauptet in einer «Mr.
1880, S. 114. - 2 1890, Bd. I.
32 IL Kapitel.
Sidgwicks He(lonism> betitelten Abhandlung, daß diese Grund-
sätze nichts anders als Tautologien seien, und daß sie bloß in
dem Sinne selbstevident sind, daß sie dasselbe Subjekt und
Prädikat besitzen. Sie sagen bloß: «Was für X gut ist, ist
für X gut, und was für X recht ist, ist für X recht». Das
Prinzip des Wohlwollens «bedeutet nichts mehr als, X kann
nicht seine eigene Glückseligkeit als begehrenswerter betrachten
als die gleiche Glückseligkeit von X, welches mir entweder als
Tautologie oder als Unsinn erscheint».^
Dieser Einwand des Formalismus ist wesentlich derselbe,
den man immer und immer wieder gegen die kantische Ethik
richtet. Uns scheint er aber keine große Bedeutung zu haben.
Selbst das Prinzip «X = X» (wie man den Satz der Identität
in der Logik ausdrücken kann) ist nicht ganz wertlos, obgleich
es ganz abstrakt ist. Und auch das Prinzip «was recht für X
ist, ist recht für X», tautologisch wie es Bradley erscheinen
mag, braucht nicht ganz wertlos für die Ethik zu sein. Daß
seine Grundsätze bloß formell sind, gibt Sidgwick nicht nur zu,
er betont es. Von ihnen kann man nie ableiten, was in einem
bestimmten Fall recht sei. Sie sind bloß regulativ. Ehe man
sie anwenden kann, muß man das höchste Gut bestimmen. Hier
stimmen wir Sidgwick vollkommen bei. Diese Grundsätze können
niemals den Inhalt der Pflicht bestimmen. Trotzdem brauchen
sie deswegen nicht wertlos zu sein. Solche Grundsätze können
in der Ethik im höchsten Grade wertvoll sein für die Klassi-
fizierung und Beurteilung ethischer Tatsachen. Es ist schwer
einzusehen, wie man überhaupt über moralische Handlungen
urteilen könnte, wenn man sie nicht unter irgendwelche uni-
verselle Prinzipien subsumierte.
Höchst wahrscheinlich war es Sidgwicks tiefe Überzeugung,
von der Unzulänglichkeit des Empirismus eine Basis für die
Ethik zu liefern, die ihn bewußt oder unbewußt dazu führte,
diese drei Grundsätze zu formulieren. Ohne einen solchen
Grundsatz wie den der Klugheit («das Hernach als solches ist
nicht mehr und nicht weniger zu beachten als das Jetzt») gibt
^ Mr. Sidgwk'kß Hedonism, S. 35.
Das höchste Gut. 33
es keinen Übergang über die Lehre Aristipps hinaus. Der
Augenblick regiert souverän. Dies ist zwar das logische Resul-
tat einer auf den Empirismus gegründeten Ethik. Mit welchem
Recht opfert sich ein Moment einem andern, wenn das Subjekt
nicht mehr als eine Reihe von Empfindungen ist? Wenn aber
dieses erste Axiom eine Vorschrift der Vernunft ist, so kommen
wir über die Souveränität des Augenblicks hinaus und betrachten
das ganze Leben als eine Einheit.
Hierbei sind wir aber bloß zu dem Standpunkt eines ratio-
nellen Egoismus gelangt. Wie sollen wir weiter kommen? Mit
welchem Rechte verlangt man, daß das Gut eines Individuums
dem größeren Gute eines anderen aufgeopfert werden soll?
Hier erwies sich, trotz aller seiner Bestrebungen, der Empiris-
mus völlig machtlos. Der Übergang von Egoismus zu Utili-
tarismus ist ihm nie in Wirklichkeit gelungen. Dies ist unver-
meidlich, wenn die Gefühle das organisierende Moment in der
Moral sind. Meine eigene Lust allein kann ich fühlen, das
Glück anderer fühle ich nicht. Sidgwick löst die Schwierigkeit,
indem er die Vernunft zum organisierenden Moment macht.
Das Axiom des Wohlwollens ist ihre Vorschrift. Vor der Ver-
nunft ist das Gut meines Mitmenschen ebenso wichtig und er-
strebenswert als mein eigenes.
Endlich ist der Grundsatz der Gerechtigkeit jedem ethi-
schen System unentbehrlich. Ohne einen solchen Grundsatz
könnte man über ethische Handlungen gar nicht urteilen. Er
liegt jedem ethischen Urteil der Vernunft zugrunde, weil er das
Prinzip der Gesetzmäßigkeit in der Ethik ausdrückt. Ohne
dieses Prinzip würde die Willkür herrschen und wäre keine
Wissenschaft der Moral möglich.
m, Kapitel.
Das höchste Gut.
Psychologischer Hedonismus.
Für den Utilitarier wie für den egoistischen Hedonisten
ist das höchste Gut einfach die Lust oder die Glückseligkeit.
Sinclair, Der Utilitarismus bei Sidgwick u. Spencer. 3
34 III. Kapitel.
Der egoistische Hedonist sucht seine eigene Glückseligkeit; der
Utilitarier diejenige der Gesellschaft. In beiden Fällen ist des
Lebens letzter Zweck das größtmögliche Quantum angenehmen
Gefühls.
Sehr selten haben Hedonisten sich viel darum bemüht,
dieses zu beweisen. Vielmehr ist es ihnen als eine selbstver-
ständliche Wahrheit erschienen. Den Grund für diese Tatsache
findet man, wenigstens teilweise, in einer Theorie, an die sich
die Hedonisten meist gehalten haben — nach welcher alle
Handlungen durch Lust und Unlust unausbleiblich bestimmt
werden. So beruht der Hedonismus im letzten Grunde auf
einer psychologischen Basis, und Sidgwick spricht demgemäß
von einem psychologischen Hedonismus, um ihn von ethischem
Hedonismus zu unterscheiden. Der psychologische Hedonismus
sieht es als eine letzte Bewußtseinstatsache an, daß ich meine
eigene Glückseligkeit suche und suchen muß. Dagegen lehrt
der ethische Hedonismus, daß ich meine eigene Glückseligkeit
(ethischer Egoismus) oder die allgemeine Glückseligkeit (Utili-
tarismus) suchen soll.
Jeremy Bentham, James Mill und John Stuart Mill waren
nicht nur ethische, sondern zugleich psychologische Hedonisten.
«In jedem Fall», sagt Bentham \ «wird jedes menschliche Wesen,
wenn es eine Handlung ausführt, unausbleiblich bestimmt, der-
jenigen Richtung zu folgen, welche seiner Ansicht nach zu der
Zeit im höchsten Grade seiner eigenen Glückseligkeit beförder-
lich ist.» «Lust und Unlust regieren uns in allen unseren
Handlungen, Worten und Gedanken.»^
Hier geht Mill zwar nicht so weit wie Bentham. Er gibt
zu, daß manchmal der Mensch aus Charakterschwäche absicht-
lich die geringere Glückseligkeit wählt. Nichtsdestoweniger
hält er daran fest, daß der Zweck jeder Handlung eine, wenn
auch nicht notwendig die größtmögliche Lust sein muß. «Es
gibt nichts, das der Mensch wirklich begehrt außer Lust.»^
«Etwas zu begehren, außer insofern als die Idee davon lustvoll
^ Constitutional Code, Introduction, § 2. — ^ Morals and Legislation, S. I.
2 Utilitarianism, S. 57.
Das höchste Gut. 35
ist, ist eine physische und psychologische Unmöglichkeit. Dies
scheint mir so selbstverständlich, daß ich erwarte, daß es kaum
geleugnet werden wird.»^
Man könnte wohl denken, daß der psychologische Hedonis-
mus — nach dem ich notwendig meine eigene Glückseligkeit
suche — und Utilitarismus — welcher lehrt, daß ich die all-
gemeine Glückseligkeit suchen soll — im unversöhnlichen Gegen-
satz stehen. Trotzdem ist es Bentham und Mill gelungen, an
diesen beiden Lehren zugleich festzuhalten. Bentham verläßt
sich, wie wir gesehen haben, auf die äußeren Sanktionen der
Moral und eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse und
glaubt so diese Kluft überbrücken zu können. Er vergißt aber,
daß auch der Gesetzgeber, dem psychologischen Hedonismus
gemäß, seine eigene und nicht die allgemeine Glückseligkeit
suchen muß. John Stuart Mill dagegen verläßt sich auf die
Lust des Mitgefühls oder das «Gefühl der Einheit» zwischen
Mensch und Mitmenschen.
Nach Benthams Auffassung des psychologischen Hedonis-
mus ist das höchste Gut, wie man leicht einsieht, psychologisch
ohne weiteres bestimmt. Wenn es eine psychologische Tatsache
ist, daß ich notwendig diejenige Lust suchen muß, welche mir
als die höchste erscheint, dann wäre es sinnlos, einen andern
letzten Zweck als die Lust vorzuschreiben. Mills Theorie aber
macht nur den ethischen Hedonismus plausibel. Wenn ich bei
jeder Handlung notwendig irgendeine Lust (obgleich nicht not-
wendig die höchste) suche, dann muß man vernünftigerweise
annehmen, daß das höchste Gut die Lust sei.
Es war eben die große Schwierigkeit, einen Übergang vom
psychologischen Egoismus zum Utilitarismus zu finden, die sich
für Bentham sowie für Mill als ein unmögliches Kunststück
erwies. Dem Utilitarier jener Zeit erschien aber dieser psycho-
logische Egoismus als eine unanfechtbare wissenschaftlich be-
gründete Tatsache. Es war ein Dogma der empirischen Psycho-
logie, das man seiner Einfachheit wegen für wahr zu halten
gern geneigt war. Wie wir schon gesehen haben, glaubte Mill,
Utilitarianism, S. 58.
36 in. Kapitel.
daß niemand wagen würde es zu leugnen. Es war nicht nur
eine traditionelle Lehre des Hedonismus, sondern hatte auch
die hohe Autorität Humes.
Es war deswegen ein Wendepunkt in der Geschichte des
englischen Utilitarismus, als Henry Sidgwick im Jahre 1874
sein Werk «die Methoden der Ethik» erscheinen ließ, in dem
er nachwies, daß diese Theorie die Tendenz habe, alle Methoden
der Ethik, mit Ausnahme des egoistischen Hedonismus, auszu-
schließen, und indem er dieselbe auf Grund einer eingehenden
psychologischen Untersuchung rundweg verwarf. Zum ersten Male
wurde der Utilitarismus auf eine rationale statt eine empirische
und psychologische Basis gestellt. Sidgwick ist ein «rationaler
Utilitarier». Obgleich er seinen Standpunkt klar und deutlich
dargestellt hat, hat man ihn zuweilen mißverstanden. In der
Geschichte der Philosophie von Überweg-Heinze lesen wir, daß
nach Sidgwick zwei Grundsätze von hervorragender Bedeutung
sind. «Einerseits muß man nach ihm als feststehende psycho-
logische Tatsache anerkennen, daß jeder Mensch seine eigene
Glückseligkeit sucht, und anderseits ist es als ethisches Axiom
ebenso zweifellos, daß jedermann die allgemeine Glückseligkeit
suchen soll.»^ Dieser Satz beschreibt ganz treffend den Stand-
punkt Mills und der früheren Utilitarier; Sidgwicks Lehre ist
aber die entgegengesetzte. Nach ihm sucht der Mensch nicht
psychologisch notwendig seine eigene Glückseligkeit, und des-
wegen allein ist es möglich, daß er verpflichtet sein kann, die
allgemeine GlückseHgkeit zu suchen. Kurz gesagt, psycho-
logischer Hedonismus und Utilitarismus schließen sich gegen-
seitig aus.
In diesem wichtigen Punkt brach Sidgwick also mit der
traditionellen Lehre seiner Schule. Hierin hatten Mill, Bentham
und die früheren Utilitarier einfach die Lehre Humes ange-
nommen. Dieser aber hatte gelehrt: «Die Vernunft ist und
soll der Sklave der Affekte sein. Sie ist nicht befugt, den Vor-
zug gegen irgendeinen Affekt oder eine Emotion zu bean-
spruchen. »^ Deswegen hat sich die Vernunft gar nicht darum
' Überweg-Heinze, Gesch. d. Phil. IV, S. 435. - ^ Hume, Treatise 11; 194.
Das höchste Gut. 37
ZU künimci'u, Endzwecke und erste Grundsätze zu bestimmen.
Sie kann nur über die Mittel urteilen, die notwendig sind, um
diejenigen Zwecke zu erreichen, die die Affekte vorschreiben.
In einem Kapitel, das in der ersten Auflage «Moral Reason»
und in der sechsten «Ethical Judgments» überschrieben ist,
behandelt Sidgwick diese für die Ethik allerentscheidendste
Frage. In der ersten Auflage formuliert er die Frage so : kann
die Vernunft eine Triebfeder des Handelns sein? Das Resultat
seiner Untersuchung ist ein Kompromiß. «Niemand ist fähig»,
sagt er, «oder hat Interesse daran zu behaupten, daß das Pflicht-
bewußtsein ein Zustand ohne irgendein Gefühlselement sei.
Daher brauchen wir nicht zu fragen, ob eine bloße Vorstellung
den Willen beeinflussen und ihn zum Handeln veranlassen kann.
Es genügt, wenn man zugibt, daß in allen moralischen Hand-
lungen als solchen ein bleibender, obgleich von Zeit zu Zeit
und von Person zu Person schwankender Wunsch existiert, das-
jenige zu tun, was recht oder vernünftig ist. Wenn daher unsere
praktische Vernunft irgendeine Handlung als recht erkannt
hat, treibt uns dieser Wunsch, sofort mit einer gewissen Kraft
die Handlung auszuführen. In diesem Sinne kann man die
Vernunft eine Triebfeder des Handelns nennen.»' In der sechs-
ten Auflage behandelt er die Frage ausführlicher und bemüht
sich, genau zu sagen, was er unter «Vernunft» und «vernünftiges
Handeln» versteht. Vernünftiges Handeln ist Handeln, welches
getan werden sollte. Und das Seinsollen (ought) ist, meint er,
ein letztes und unanalysierbares Faktum. Seine abschließenden
Worte sind: «Wenn ich von der Erkenntnis (Cognition) oder
dem Urteile spreche, daß X getan sein soll (im strengen ethischen
Sinne des Begriffs «Seinsollen» als eines Befehls oder einer
Vorschrift der Vernunft des betreffenden Individuums), so meine
ich damit, daß im vernünftigen Wesen als solchem diese Er-
kenntnis eine Triebfeder des Handelns sei».^
Man sieht sofort ein, daß Sidgwick in der Beantwortung dieser
Frage wesentlich mit Kant übereinstimmt. Es ist das nur eine
von den vielen Stellen, wo Kants Einfluß auf ihn leicht zu be-
merken ist. Wir erinnern uns dabei unweigerlich an Kants
^ «Methods.» Erste Auflage, S. 27. — ^ «Metbods», S. 34.
38 ni. Kapitel.
Bestimmung des moralischen Lebens durch das Sittengesetz und
das spezielle nicht empirische dasselbe begleitende Gefühl der
Achtung vor dem Gesetz. Allein Sidgwick geht nicht so weit,
daß er behauptet, jede moralische Handlung müsse aus dem
Sittengesetz als einziges Motiv hervorgehen. Wie aber die
praktische Vernunft ein Gefühl verursachen kann, oder was für
ein Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl besteht, ist eine
Schwierigkeit, die weder Kant noch Sidgwick zu lösen suchen.
Doch bedeutet Sidgwicks Behandlung dieser Frage einen Schritt
weiter über den alten engen Hedonismus Benthams hinaus zu
einer wahren und umfassenden Theorie des moralischen Lebens.
Es ist leicht anzunehmen — und ist es nicht eine unmittelbare
Erfahrungstatsache? — , daß die ethische Norm die Macht be-
sitzen solle, sich selbst zu verwirklichen. Gerade hier hat
Windelband einen Vergleich zwischen der ethischen und den
andern Normen, hauptsächlich der logischen, gezogen. «Die Vor-
stellung einer jeden Norm führt als solche ein Gefühl davon
bei sich, daß nach ihr sich der wirkliche Prozeß, sei es des
Denkens oder des Wollens, gestalten sollte.»^
Obgleich Sidgwicks Auffassung der moralischen Vernunft
als einer Triebfeder des Willens notwendig schon eine Verwer-
fung des psychologischen Hedonismus mit sich bringt, behandelt
er doch auch die Frage direkt in einem der wichtigsten Kapitel
seines Werkes, das «Pleasure and Desire» betitelt ist. Hier hat
Butler ganz offenbar entscheidend eingewirkt. In dem «Bio-
graphical Fragment» erzählt er uns, daß es der Einfluß von
Butlers «mächtigem und vorsichtigem» Geist war, der ihn zuerst
veranlaßte, den psychologischen Hedonismus zu verwerfen und
die Existenz von Antrieben, die nicht auf die Lust des Handeln-
den gerichtet sind, zu erkennen. Sidgwick hielt Butler für
«einen der größten englischen Moralisten^» und dieses ist zweifel-
los die gewöhnliche Meinung unter den heutigen englischen
Ethikern. Leslie Stephens ging so weit, ihn «den tiefsinnigsten
Denker des achtzehnten Jahrhunderts außer Hume^» zu nennen,
' Präludien, S. 276, 277. - ^ Methods. Erste Auflage, S. 33.
' History of English thought in the 18*1» Century II, 46 und vergl.
National Dictionary of Biography.
Das höchste Gut. 39
obgleich jenes Jalirhundcit einen Sliaftcsbury mit einem Hutcheson
aufzuweisen hat. Jedenfalls ist Butlers Einfluß auf die neuere
englische Ethik nicht gering zu schätzen.
Betrachten wir nun Sidgwicks Versuch, den psychologischen
Hedonismus direkt zu widerlegen. Die Frage besteht wesentlich
darin, meint er, ob wir keine Begierden und Abneigungen haben,
die nicht auf Lust und Unlust als ihre Objekte gerichtet sind
— d. h. keine bewußten Antriebe dazu, Folgen hervorzubringen
oder abzuwenden, die außer den Gefühlen des Handelnden liegen.
Sidgwick stellt die Theorie Mills dar, wonach alles Begehren
auf das Erreichen von angenehmen Gefühlen gerichtet ist, und
stellt sie der entgegengesetzten Theorie Butlers gegenüber.
Butler hält daran fest, daß wir Antriebe haben, die nicht die
Lust zu ihrem Gegenstande haben. Wir haben, sagt er, auch
«besondere Bewegungen nach besonderen äußeren Objekten, z. B.
nach der Ehre, der Macht, dem Wohl und Wehe eines andern».
Die aus diesen letzteren Antrieben hervorgehenden Handlungen
sind nach ihm <nur insoweit interessiert, als jede Handlung
eines jeden Wesens der Natur des Handelns gemäß sein muß;
denn niemand kann überhaupt handeln außer auf Grund eines
Antriebs, einer Wahl oder eines Vorzugs seiner selbst». Solche
partikularen Triebe oder «Appetite^ sind notwendig voraus-
gesetzt in der bloßen Idee eines interessierten Strebens, weil die
bloße Idee des Interesses oder der Glückseligkeit darin besteht,
daß ein Appetit oder ein Affekt sein Objekt genieße. Diese
letzte Behauptung Butlers geht zwar, meint Sidgwick, zu weit,
denn oft kommt die Lust unerwartet und ohne irgendeine Be-
ziehung zu einem vorhergehenden Begehren. «In der Tat aber»,
schließt er, «scheint es mir, daß ich die ganze Skala meiner
Impulse hindurch, der sinnlichen wie emotionellen und intellek-
tuellen Triebe und Begehrungen unterscheiden kann, deren be-
wußter erstrebter Gegenstand etwas anderes als meine eigene
Lust ist.»
Sidgwick sucht diesen Standpunkt zu stützen durch eine
Analyse des Hungers. Der Hunger, sagt er, ist ein unmittelbar
auf Essen und nicht notwendig auf Lust gerichteter Antrieb.
Er ist unt(3r normalen Zuständen nicht schmerzlich, außer wenn
40 in. Kapitel.
man sich nicht wohl befindet oder zu lange auf das Mittag-
essen warten muß. Sidgwick beweist dasselbe auch durch eine
Betrachtung der Lustgefühle des Nachstrebens (pleasures of
pursuit). Hier, meint er, können wir zwischen der Begierde nach
der Lust und derjenigen nach dem Objekt genau unterscheiden.
Ein Spieler z. B. fängt gewöhnlich an zu spielen, zuerst bloß um
der Lust des Strebens willen und nicht eigentlich um das Spiel
zu gewinnen. Um diese Lust aber völlig zu entwickeln, ist auch
das Begehren des Gewinnens notwendig. Dieses letzte Begehren
wird durch den Kampf selbst geweckt und daher folgt, daß der
ursprünglich indifferente Sieg schließlich eine hohe Lust mit
sich bringt.
Sidgwick und das höchste Gut.
Obgleich Sidgwick deswegen den psychologischen Hedonis-
mus verwirft, hält er fest an dem ethischen Hedonismus, daß
die Lust das höchste Gut sei. Was ist aber das Gut? Diese
Frage sucht Sidgwick in einem andern Kapitel zu beantworten.
«Wir können», meint er, «das Gut nicht als die Lust definieren,
weil es dann tautologisch wäre zu sagen, daß die Lust das Gut
sei. Das Gut heißt nicht das tatsächlich Begehrte, sondern das
Begehrenswerte. Die Vorstellung des Guts hat immer ein ideales
Element. Es ist nicht etwas, das immer von menschlichen Wesen
tatsächlich begehrt und gesucht wird.» Welches ist aber der
Maßstab, nach dem man das an sich Gute mit andern Gütern ver-
gleicht? Unbeseelte Dinge sind nur so weit gut, als sie in Be-
ziehung zu menschlichen Wesen stehen. Und obgleich man
Schönheit, Weisheit und andere ideale Güter an und für sich
suchen kann, so werden sie doch in letzter Linie vernünftiger-
weise nur insofern gesucht, als sie die menschliche Glückseligkeit
oder die menschliche Vollkommenheit fördern. Nichts kann
daher an und für sich gut sein, außer irgendein Zustand mensch-
lichen Bewußtseins, so die Glückseligkeit, die Tugend oder die
Vollkommenheit.
In dem ersten Buch seiner Ethik kommt Sidgwick nicht
weiter in der Bestimmung des höchsten Gutes. Doch sieht er
Das höchste Gut. 41
sich am Ende des dritten Buches, nachdem er die Common-
Sensc-Moral geprüft hat, genötigt, diese Frage noch einmal auf-
zunehmen. Denn jene bloß formellen und leeren Axiome lenken
uns auf das höchste Gut, ohne es zu bestimmen.
Das Gute, meint Sidgwick, kann man nicht als die Tugend
delinieren, wenn man unter Tugend das mit der Common-Sense-
Moral übereinstimmende Handeln versteht, sonst bewegen wir
uns in einem circulus vitiosus, weil die Common-Sense-Moral
von einer Bestimmung des höchsten Gutes abhängt. Auch kann
man diesen Zirkelschluß nicht dadurch vermeiden, daß man die
Tugend als eine Qualität des Charakters definiert und daher
das moralische Gesetz in der Form «sei dieses» statt «tue dieses»
ausdrückt. Denn man kann den Charakter nur definieren als
eine Tendenz, unter bestimmten Bedingungen in einer bestimmten
Weise zu handeln. Eine solche Tendenz kann aber nicht an
sich wertvoll sein, sondern nur wegen der Handlungen und der
Gefühle, in denen sie sich ausdrückt. Wenn man das Gut als
subjektive Richtigkeit des Wollens definiert, so vermeidet man
diesen Zirkel, wie Sidgwick zugibt, doch stellt man sich in fun-
damentalen Gegensatz zu dem gemeinen Menschenverstand ; weil
die bloße Idee von subjektiver Richtigkeit oder Güte des Willens
einen objektiven Maßstab voraussetzt, den sie uns zu suchen be-
fiehlt, nicht aber zu geben bekennt. Und zwar kann eine Hand-
lung subjektiv recht und zugleich objektiv unrecht sein, wie wir
es z. B. bei dem Fanatiker bemerken können. Ähnliches gilt
von andern Bedingungen der Vollkommenheit wie Talenten,
Anlagen usw. Diese letztere sind nur wegen des begehrens-
werten Bewußtseinszustandes wertvoll, in dem sie realisiert sind
oder sein werden. Das Gut muß irgendein Bewußtseinszustand
sein, denn physische Prozesse sind weder gut noch schlecht.
Und weder Selbsterhaltung noch Rassenerhaltung können an
sich gut sein, außer wenn der dadurch gewonnene Bewußtseins-
zustand im ganzen begehrenswert ist. Und selbst tugendhaftes
Bewußtsein kann nicht an sich gut sein, wenn es mit äußerstem
Schmerz verbunden ist. Der Teil des Lebens, den ein unter
den äußersten Qualen existierender Märtyrer zubringt, kann
zwar für andere oder für seine eigene Zukunft gut sein. An
42 in. Kapitel.
und für sich aber ist er nicht begehrenswert. Wir können das
höchste Gut nur als begehrenswertes Bewußtsein vorstellen.
Sidgwick macht nun einen Schritt weiter. Das Bewußtsein
enthält nicht nur Gefühle, sondern auch Vorstellungs- und
Willenselemente. Was aber das Wünschenswertsein betrifft,
sind die letzteren ohne Gefühl indifferent. Tatsächlich erleben
wir Vorzüge für andere Okjekte als Bewußtseinszustände — wie
Wahrheit, Tugend, Schönheit. «Jedoch können wir,» meint
Sidgwick, «wenn wir, um einen Ausdruck Butlers anzuwenden,
in einer kühlen Stunde uns hinsetzen, die Bedeutung, die wir
irgendeinem dieser Objekte zuschreiben, nur dadurch rechtfer-
tigen, daß es in irgendeiner Weise die Glückseligkeit empfin-
denden Wesen befördert.» Dazu, behauptet er, fällt der gesunde
Menschenverstand zuletzt dasselbe Urteil. Man kann zeigen,
daß die idealen Güter im ganzen im Verhältnis zu ihrer Nütz-
lichkeit geschätzt werden. Der gesunde Menschenverstand zau-
dert z. B., einer absolut nutzlosen Erkenntnis irgendeinen Wert
zuzuschreiben. Das höchste Gut ist deswegen angenehmes Ge-
fühl, Lust oder Glückseligkeit.
Spencer und das höchste Gut.
Die Ethik, wie Spencer sie auffaßt, beschäftigt sich nur
mit einer Abteilung des Handelns. Das Handeln (conduct) ist
aber ein organisches Ganzes und ein völliges Verständnis eines
Teils setzt ein Verständnis des Ganzen voraus. Wie ist nun
das Handeln zu definieren? Das Handeln (conduct) umfaßt,
sagt er, sämtliche Anpassungen von Tätigkeiten an Zwecke
(all adjustment of acts to ends). Ein großer Teil des gewöhn-
lichen Handelns ist aber, wenn man es so definiert, gleichgültiger
Natur. «Soll ich heute zum Wasserfall gehen oder lieber am
Meeresstrande entlang wandern? Hier sind die Zwecke in sitt-
licher Hinsicht indifferent. Wenn der Freund aber, der mich
begleiten will, den Strand bereits kennt und den Wasserfall
noch nicht gesehen hat, so ist die Wahl nicht länger gleich-
gültig.» Solche Beispiele erläutern die Wahrheit, «daß jedes
Handeln, das mit der Moral nichts zu tun hat, durch kleine
Das höchste Gut. 43
Abstufungen und auf die verschiedenartigste Weise in ein
Handeln übergeht, das entschieden moralisch oder unmoralisch
ist». Man kann auch anführen, daß das Handeln menschlicher
Wesen nur ein Teil eines größeren Ganzen ist — nämlich des
universellen Handelns oder des Handelns der lebenden Wesen
im allgemeinen. Das letztere ist aber das Resultat eines langen
Entwicklungsprozesses. Daraus folgt, daß wir, um das ethische
Handeln zu verstehen, die Entwicklung des Handelns studieren
müssen.
Das Handeln schließt also nicht alle, sondern nur zweck-
volle Tätigkeiten ein. Allein erst während der Entwicklung
tritt auch dieser Unterschied allmählich hervor. Die Hand-
lungen eines Infusoriums sind so wenig Zwecken angepaßt, daß
das Leben nur so lange fortdauert, als die Zufälligkeiten der
Umgebung demselben günstig sind. Spencer zeigt an einer Reihe
von Beispielen, daß wir, je höher wir im Tierreiche kommen,
desto höhere Anpassungen an Zwecke finden. Und wenn wir
das Handeln der Menschen betrachten, so finden wir nicht nur,
daß diese Anpassungen zahlreicher und besser sind als die bei
den Tieren, sondern wir finden auch dasselbe Verhältnis bei einer
Vergleichung der Tätigkeiten der höheren mit den niedrigeren
Rassen. Diese Anpassungen von Handlungen an Zwecke fördert
nicht allein die Länge des Lebens, sondern auch seine «Breiten».
Unter «Breite» versteht Spencer die Summe der Tätigkeiten.
Ein Regenwurm z. B. mag eine größere Lebensdauer haben als
manche der Insekten. Das Insekt wird aber während seiner
Existenz eine weit größere Summe jener Veränderungen, die
eben das Leben ausmachen, erfahren. Das Endziel der Ent-
wicklung ist daher ein der Breite und der Länge nach ge-
messenes Leben.
Aber zweitens gibt es Handlungen, deren letztes Ziel das
Leben der Spezies bildet. Selbsterhaltung ist nicht ohne Art-
erhaltung möglich. Die Erhaltung der Nachkommenschaft ist
auch eine Notwendigkeit der Entwicklung. In ähnlicher Weise
wie bei der Selbsterhaltung sucht Spencer zu zeigen, daß durch
die ganze Stufenleiter des Tierreiches auch bei der Arterhaltung
ein gleichmäßiger Fortschritt stattfindet.
44 ni. Kapitel.
Es gibt auch eine dritte und noch höhere Form des Han-
delns. In dem Kampfe ums Dasein wird ziemh'ch allgemein eine
erfolgreiche Anpassung, die dem einen Geschöpf gelungen ist,
irgendeinen Mißerfolg in der Anpassung bei einem andern Ge-
schöpfe derselben oder einer andern Art mit sich bringen. Da-
mit der Fleischfresser z. B. leben kann, müssen Pflanzenfresser
zugrunde gehen. Die höchste Form des Handelns muß selbst-
verständlich diesen Nachteil vermeiden und demgemäß die Ge-
samtsumme des Lebens vergrößern.
Nun meint Spencer, das Handeln der Menschen wird nach
allen diesen drei Seiten der Entwicklung die äußerste Grenze
erreichen, ehe es vollkommen wird. Denn diese drei Arten des
Handelns sind für uns das Ideal der Entwicklung. Spencer
zeigt, daß diese obere Grenze nur in dauernd friedlichen Gesell-
schaften zu erreichen ist. «Der Hauptgegenstand der Ethik
besteht also in jener Form des Handelns, die das universale
Handeln auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung annimmt. ^
Spencer sucht zunächst zu beweisen, daß diese Folgerungen
aus der Entwicklungshypothese durchaus im Einklang mit den
wichtigsten moralischen Vorstellungen der Menschen stehen.
Was heißt «gut» und «böse»? Diese Ausdrücke bezeichnen
keine dem Gegenstande innewohnenden Merkmale. Ein « gutes 5>
Messer ist dasjenige, welches gut schneidet. «Gut» bedeutet
daher, geeignet, gewisse beabsichtigte Zwecke zu erreichen.
Nehmen wir die drei obengenannten Gruppen von Anpassungen,
so finden wir, daß dasjenige Handeln gut ist, das erstens die
Selbsterhaltung («Sie hätten ihre Kleider wechseln sollen»,
sagen wir einem Freund, der naß geworden ist und sich da-
durch erkältet hat), zweitens die Arterhaltung (vgl. eine «gute»
Matter) und besonders drittens das vollkommene Leben anderer
fördert. «Stets und überall also werden Handlungen gut oder
böse genannt, je nachdem sie ihren Zwecken gut oder schlecht
angepaßt sind, und welche Widersprüche auch in unserer An-
wendung dieser Wörter bestehen mögen, sie entspringen immer
nur aus einer Verschiedenheit der Endzwecke.» Dieser stimmt
mit unseren obengemachten Untersuchungen der Entwicklung
des Handelns überein. «Wie wir dort sahen, daß das Handeln
Das höchste Gut. 45
in der Entwicklung die höchste mögliche Stufe erreicht hat,
wenn es gleichzeitig die größte Summe des Lehens für den ein-
zelnen, für seine Nachkommenschaft und für seine Mitmenschen
schafft, so sehen wir hier, daß sich das gute Handeln zu einer
solchen Form emporschwingt, in der wir uns das beste Han-
deln denken, wenn es allen drei Gruppen von Zwecken zu gleicher
Zeit genügt.
Nach der oben dargestellten Lehre Spencers könnte es
scheinen, als ob bei ihm der moralische Endzweck das Leben
und nicht die Lust sei. Dieses wäre aber nicht richtig. Er
glaubt imstande zu sein, noch einen Schritt weiter zu gehen.
Indem wir diejenigen Handlungen gut nannten, die das Leben
im einzelnen oder im allgemeinen fördern, haben wir still-
schweigend eine Annahme von höchster Bedeutung gemacht —
die Annahme des Optimismus. Ist das Leben des Lebens wert?
Ist die Entwicklung ein Fehler gewesen? Müssen wir uns der
pessimistischen oder der optimistischen Ansicht anschließen?
Spencer glaubt imstande zu sein, diese Frage, so weit als es
für die Ethik nötig ist, zu entscheiden und zwar in einer sehr
einfachen Weise.
Es gibt ein Postulat, sagt er, in dem Pessimisten und Opti-
misten übereinstimmen. In der Darstellung ihrer Lehre nehmen
beide Parteien es als selbstverständlich an, daß das Leben gut
oder schlecht sei, je nachdem es einen Überschuß von ange-
nehmen Empfindungen mit sich bringt oder nicht. Der Pessi-
mist verneint das Leben, weil sein Endergebnis mehr Schmerz
als Freude ist. Der Optimist bejaht das Leben in der Über-
zeugung, daß dasselbe mehr Freuden als Schmerzen bringe.
Nur diejenigen Leute, die glauben, daß die Menschen geschaffen
worden sind, damit ihr Schöpfer ihr Elend mit Freude an-
schauen kann — nur diese Leute können diese Erklärung von
gut und böse leugnen. Mit solchen läßt es sich nicht dispu-
tieren, und Spencer beklagt es, daß solche «Teufelanbeter» noch
nicht ausgestorben sind. Lassen wir denn die Unvernünftigen
außer Betracht, so finden wir bei Optimisten und Pessimisten
das gemeinsame Postulat, daß das Gute ganz allgemein das Er-
freuende sei. Wenn wir annehmen, daß die Pflege eines
46 III- Kapitel.
Kranken nur seine Schmerzen vergrößerte, wenn wir uns aus-
malen, daß unser Vertrauen, das wir einem Menschen von
edlem Betragen schenken, seinem Fortkommen in der Gesell-
schaft und den daraus erwachsenden Annehmlichkeiten hinder-
lich wäre, würden wir denn diese Handlungen, die jetzt zu den
lobenswerten gezählt werden, nicht zu den tadelnswerten rech-
nen? Daher liegt allen unsern Vorstellungen, hinsichtlich des
Guten oder des Bösen, die Voraussetzung zugrunde, daß die
Handlungen gut oder böse sind, je nachdem ihre Gesamt-
wirkungen das Glück der Menschen oder aber das Elend ver-
größern.
Spencer prüft zunächst noch andere aufgestellte Endziele:
die Tugend, die Vollkommenheit, die Rechtschaffenheit der
Beweggründe und sucht zu zeigen, daß selbst der Versuch einer
Definition dieser Begriffe uns unvermeidhch auf den fundamen-
talen Begriff Glück, «in irgendeiner Form, zu irgendeiner Zeit,
von irgendeinem Menschen erlebt», hinausführt.
Aus solchen Gründen identifiziert Spencer für praktische
Zwecke, hochentwickeltes Handeln mit gutem Handeln und das
ideale Endziel der Entwicklung (das Leben) mit dem idealen
Maßstab des sittlichen Handelns (der Lust). Er schließt dann
das dritte Kapitel seiner «Tatsachen der Ethik» mit den Worten:
«Keine Schule also kann sich dem entziehen, als höchstes mo-
ralisches Ziel, einen begehrenswerten Gefühlszustand hinzustellen,
mit was für Namen er immer bezeichnet werden mag: Befrie-
digung, Freude, Seligkeit, irgendwo, zu irgendeiner Zeit, von
irgendeinem oder von vielen Wesen erfahren, ist ein nicht zu
verdrängendes Element der Vorstellung. Es ist dies ebensosehr
eine notwendige Form der moralischen Intuition, wie Raum eine
notwendige Form der intellektuellen Intuition ist.»
Das höchste Gut bei Spencer ist deswegen genau wie bei
den andern Utilitariern — die Lust. Man kann zwar das
Leben als das Endziel betrachten, aber nur unter der Annahme,
daß es einen Überschuß der Lust mit sich bringt. Das Leben
ist nur der Lust wegen wertvoll. Spencer behauptet nicht, daß
jetzt schon das Leben und die Lust einander decken in dem
Sinne, daß irgend etwas, was das Leben fördert, auch zugleich
Das höchste Gut. 47
die Lust fordert. Wir stehen, meint er, mitten in einem langen
Entwicklungsprozeß, und diese Entwicklung hat die Tendenz,
diese zwei Endziele mehr und mehr in Übereinstimmung zu
bringen. In der vollkommenen zukünftigen Gesellschaft, die das
Ziel der Entwicklung des Handelns ist, werden sie vollkommen
miteinander harmonisieren. Wie wir später sehen werden, hat
bei Spencer die Ethik eigentlich nur noch mit dieser vollkom-
menen Gesellschaft zu tun.
Spencer ist daher durchaus ein Hedonist. Zwar ist es
wahr, daß seine Schüler meistens den Hedonismus aufgegeben
haben und ein Endziel direkt aus der Entwicklungslehre (wie
z. B. Selbsterhaltung oder Gesundheit des sozialen Organismus)
abzuleiten suchen. Doch ist er selbst immer Hedonist geblieben.
Wir betonen diesen Standpunkt Spencers, obgleich er ihn klar
und deutlich fast in jedem Kapitel seiner Ethik dargestellt hat,
weil sein Name doch so eng mit dem Gedanken der Entwick-
lungslehre verbunden ist, daß man ihn manchmal für einen
ethischen Evolutionisten hält.^
Kritik.
Wir haben die voneinander weit abweichenden Versuche
Sidgwicks und Spencers gesehen, diese alte wichtige Frage nach
dem höchsten Gut zu beantworten. Wir fragen nun, inwieweit
es ihnen gelungen ist, diese Aufgabe zu lösen.
Was Sidgwick anbetrifft, sind unserer Meinung nach die
ersten Schritte seines Beweises zwingend und unwiderleglich.
Das höchste Gut kann nicht in einem bloßen Vermögen, in
einer Beschaffenheit des Charakters oder in objektiven Verhält-
nissen des Bewußtseins bestehen. Das Gut muß Tavil-pcbTctvov
^ Daher ist es nicht für Spencer, sondern höchstens für einige seiner
Nachfolger zutreffend, wenn Hensel sagt : (Hauptprobleme der Ethik, S. 20)
«Die Lust ist nur deshalb wertvoll, weil sie als Zeichen der Lebensförderung,
der Daseinsbehauptung betrachtet werden kann, die Unlust nur deshalb
schädlich, weil sie als ein Zeichen der Herabminderung der Lebensenergie,
als eine Beeinträchtigung im Kampf ums Dasein angesehen werden kann.
Seine Existenz zu behaupten, suum esse conservare, ist für Spencer wie
freilich in ganz anderm Sinne für Spinoza das letzte Streben aller Wesen
und zwar nicht nur der Lebewesen.»
48 III. Kapitel.
ayaoGv so wie ztyjtov avO-f^wTuo) sein. «Der vernünftige Geist,
der ein höchstes Gut sucht, suclit es notwendig als einen Zu-
stand seines eigenen Wesens. > Wir stimmen mit Sidgwick darin
überein, daß das höchste Gut irgendeine Form des begehrens-
werten bewußten Lebens sein muß. Von hier an ist aber sein
l^eweis höchst unbefriedigend. Seine Methode ist die der Ab-
straktion. Er beweist, daß das höchste Gut nicht in Willens-
oder in Vorstellungselcmenten, die von allen wünschenswerten
Gefühlen gesondert sind, bestehen kann und schließt daraus,
daß der Endzweck in diesen letzteren bestehen muß. Durch
eine solche xMethode kann man alles Beliebige beweisen. Wenn
wir ihm hier auch nicht entgegenhalten wollen, daß es keine
Willens-, Gefühls- und Vorstellungselemente an und für sich
gibt, und daß man kein Recht hat, sie für diesen Zweck von
dem Bewußtsein als Ganzem zu abstrahieren, so sehen wir doch
leicht ein, daß Sidgwicks Methode, angenommen sie wäre rich-
tig, höchstens beweisen kann, daß die Glückseligkeit bloß ein
Element im höchsten Gut sei, aber weder das einzige noch das
wichtigste. Tugendhaftes Bewußtsein, meint Sidgwick, ist nicht
an sich gut, wenn es von Elend begleitet ist. Viel weniger,
antworten wir, ist angenehmes Bewußtsein gut, wenn es zugleich
unmoralisch ist. Gewiß kann das höchste Gut nicht ohne
Gefülilselemente sein. Es muß einen Wert für uns haben. «In
welcher Form soll dieser Wert uns zum Bewußtsein kommen
als in der Form eines Gefühls?»' Aber von hier zu der An-
nahme, daß die Lust das einzige Gut sei, ist ein großer
Schritt.
Nun bleibt bloß noch Sidgwicks Berufung auf den gesunden
Menschenverstand oder, wie er es hier ausdrückt, auf die um-
fassenden Urteile der Menschheit^ zu behandeln übrig. Man
kann die Gültigkeit einer solchen Berufung in Frage stellen.
Selbst wenn man dies nicht täte, ist es nicht so sicher, daß das
Urteil zugunsten des Iledonisten ausfällt, wenn man die Frage
* Sigwart, Vorfragen der Ethik, S. 8.
^ Wenn wir ihn recht verstehen, hat er damit nicht den historischen
Consensus (^icntium gemeint, sondern das i)sychologisch-theoretische Motiv
des Comraon-Sense im Auge gehaht.
Das höchste Gut. 41)
ganz iini)art(Mis('h stolli. «AnjjjonoinmcMi, cinersoits KrluiU.ung
od(T KrlKihim;^- dor iMjnktion mit gkMc.luM- oder weniger Lust,
andererseits Krniedriguiig der luinktion in (lualitativer VortrelT-
liclikeit mit gieielier oder mehr liUst — was ist als Kiid/week
zu wählen?» * Dies scheint uns eine gereeht(i St(!llung der ^'rag(^
Sidgwiek zauihMt nicht mit seiner gewöhidiehen Konseciuenz zu
antworten: «leh würde; es nicht fiir li(!cht halten, danach zu
strehen, meine Mitmenschen moralischer zu machen, w(Min icii
voraiussiihe, dats sie damit ungliicklicher würden. Und was meine
eigene zukimttig(; Tugend anhetrilVt, würde ich auch dieselhe
Wahl tretVen, vorausgesetzt, dali dahei die Alternative gestellt
wäre zwischen dic^ser Tugend und Kolg(Mi, welche die allgemeine
(jlückseligkeit im iuihercm (Jiad(^ iordi^rn würden.»^'
Ka scheint uns, daß Sidgwick hierhin mit jeiUMu innfasscunhiu
Urteile der Menschheil, an die er appelliert, in Konllikt giMJit.
Mill hat einmal ganz trelVend gesagt, daü letzte Kndzweckc; sich
nicht beweisen lassen, .hulenl'alls ist der versuchte Beweis Sid-
gwicks wie derjiinige der nuMsten lledonisten — und wir mögen
hinzutug(;n, viehu- andern Moralisten — im (i runde genommen
eine bloLM; Voraussetzung.
Spencers Beweis stellt sich in noch einleuchtenderer Weise
als l'etitio Trincipü heiaus. Kr beweist zmnvsl-, daß das Ii(;ben
der Endzweck des Kntwicklungs[)rozess(;s S(m. Zunächst versucht
er zu zeigen, daü alle Kthiker, ()])timisl(;n sowohl wie; Pessi-
misten, vorausseht z(Mi müssen, daü das LidxMi nur gut sei, inso-
weit es Lust mit sich bringt. Die Lust ist dah(5r der Knd/W(!ck.
Man sieht soloit (mu, daß dic^se iUistimmung des hochstiüi
Gutes im Grunde genommen auch bloß ein Apjx^ll an den g(!-
sunden Menschenverstand ist. Sp(;ncers Beweis ist wirklich nur
der alte der IhMlonistcni, daG man notv/endig die Ijust als End-
zweck anerkennen muLs. \h\v Miitwicklungs[)rozeÜ bestimmt für
ihn nicht ohne weiteres den Endzweck. Daher ist er, wie wir
schon gesagt haben, ein evolutionistischer lledonist und nicht
ein ethischcM- Kvolutionist.
' So Htollt IJnulloy die J^Vago, «Sidf^wicks JIcdoiiJHrn», S. Hl.
* «Somo KrimhiiiKsntal Kthical CoutrovcrKioH», Mind*1881), S. 473.
Hl II iM iil r , Dci lllililiiriMiiiiiH Ix-I Sl(l|.',\vi('k ii. M|icii('(;r. i
50 III. Kapitel.
Der letztere würde meinen, daß der Endzweck ohne weiteres
in dem Entwicklungsprozeß zu finden ist. Er versucht das
höchste Gut durch die genetische Methode zu bestimmen. Ein
solcher Versuch ist vergebens. «Letzte Endzwecke», sagt Sidgwick
sehr treffend, «sind weder Phänomene, noch Gesetze, noch Zu-
stände von Phänomenen. Sie als solche zu untersuchen, scheint
daher ebenso unsinnig, als wenn man fragte, ob sie viereckig
oder rund sind.»^ Selbst wenn es möglich wäre, das Endziel
des Entwicklungsprozesses zu finden, bliebe die Frage übrig,
ob dieses Ziel wünschenswert sei. Der Evolutionist muß ent-
scheiden, ob es der ethische Endzweck sei, das Ziel der Ent-
wicklung zu fördern. Die Unzulänglichkeit der Entwicklungs-
lehre als solche, den ethischen Endzweck zu bestimmen, kommt
in den abweichenden Antworten, die verschiedene Evolutionisten
dieser Frage gegeben haben, klar zum Vorschein. Z. B. Barrat
zieht aus der Entwicklungslehre die ethische Regel: «Sei ein
bewußtes Agens in der Entwicklung des Universums».^ Huxley
meint dagegen, daß «die ethische Natur, obgleich sie von der
kosmischen geboren ist, unausbleiblich mit ihrer Mutter in Feind-
schaft steht». «Laßt uns», sagt er, «ein für allemal verstehen,
daß der ethische Fortschritt der Gesellschaft nicht davon ab-
hängt, daß man den kosmischen Prozeß nachahmt, noch weniger
davon, daß man ihm ausweicht, sondern daß man gegen ihn
kämpft. » ^
Spencer selbst sieht ein, daß die genetische Methode nicht
ausreicht, um das höchste Gut zu bestimmen. Er sucht daher
zu beweisen, daß die Lust der Endzweck sei. Er will zeigen,
daß jedermann nur insoweit das Leben billigt, als es einen
Überschuß von Freude mit sich bringt. Dieser Beweis übersieht
die Tatsache, daß es ebensoviele verschiedene Arten von Pessi-
mismus gibt als verschiedene Vorstellungen des Endzwecks. Ein
moralischer Pessimist wie Kant kann z. B. behaupten, daß das
Leben im ganzen schlecht sei, weil es mehr Böses als Gutes
^ «Philosophy its Scope and Relations», S. 219, 220.
^ Mind, II, S. 172 (1887), «The Suppression of Egoism »
^ Romanes Lecture, «Evolution and Ethics», S. 83.
Die Methode des Utilitarismus. 51
enthält, und doch zugeben, daß es einen Überschuß von Lust
in sich schließt. Selbst der Pessimist im hedonistischen Sinne des
Wortes kann behaupten, daß das Leben doch des Lebens wert
sei, weil es noch andere höhere Möglichkeiten als die der Lust
enthält, wenn er auch trozdem daran festhält, daß es einen
Überschuß von Schmerz unvermeidlich mit sich bringt.
IV Kapitel.
Die Methode des Utilitarismus.
Mit der Bestimmung des höchsten Gutes haben die Haupt-
schwierigkeiten des Utilitariers erst angefangen. Die Lust ist
das Endziel, wie aber soll sie erreicht werden? Dies ist seit
der Zeit Aristypps das Rätsel des Hedonismus geblieben. Des-
halb hat er sich immer bemüht, eine befriedigende Methode zu
finden. Für den Utilitarier ist das Problem noch schwieriger
als für den egoistischen Hedonisten. Wenn das Streben nach
meiner eigenen Lust so schwierig durchzuführen ist, wie kann
ich den Weg nach dem unendlich verwickeiteren Ziel der all-
gemeinen Glückseligkeit erreichen? Ist eine Methode des Utili-
tarismus überhaupt zu finden?
Wir haben schon Benthams juristische Lösung des Problems
betrachtet — eine durchaus mechanische Lösung, in der er die
Glückseligkeit als eine bestimmte Summe Geld behandelt, die
mau nach demokratischen Regeln verteilen kann. Wir sahen
auch, wie Mill einen Qualitätsunterschied der Lustgefühle in den
Utilitarismus eingeführt hat ~ eine Hinzufügung, die die letzte
Entscheidung dem Philosophen ließ und sein System in der Tat
über den Hedonismus führte.
Sidgwick und die Methode des Utilitarismus.
Diesen logisch unhaltbaren Standpunkt Mills gibt Sidgwick
auf und nimmt einen rein quantitativen Hedonismus an. Die
Lust ist nach ihm «wünschenswertes oder vorzuziehendes Ge-
fühl» und es ist «ein logischer Widerspruch zu sagen, daß das
4*
52 IV. Kapitel.
weniger angenehme Gefühl irgendwann einmal als dem ange-
nehmeren vorzuziehend gedacht werden könne». Nach einer
sorgfältigen psychologischen Analyse schließt er: «Wenn man
eine Art der Lust als qualitativ besser als eine andere Art be-
urteilt, obgleich sie weniger angenehm ist, so ist es dann nicht
wirklich das Lustgefühl selbst, das vorgezogen wird, sondern
etwas von den physischen oder psychischen Bedingungen, unter
denen es entsteht und die man als erkennbare Objekte unseres
allgemeinen Denkens betrachtet». Daher darf von Qualität nur
hier gesprochen werden, insoweit als man sie in Quantität
auflösen kann.
Wie kann man nun die größte Quantität der Lust erreichen?
Allgemein, meint Sidgwick, gibt es zwei Methoden. Entweder
muß man nach irgendeiner deduktiven oder nach der «empirisch-
reflektiven» Methode verfahren. Die letztere versucht die Quan-
tität der Lust und der Unlust empirisch zu ermitteln, die jeder
Richtung des Handelns folgen wird. Aber eine deduktive
Methode ist auch wohl möglich. Man kann z. ß. glauben, daß
die Tugend die größtmögliche Glückseligkeit schließlich herbei-
führt und deshalb kann man die Tugend als mittelbaren Zweck
nehmen. Oder die Induktion kann psychologisch oder physio-
logisch sein. So z. B. ist bei Spencer der mittelbare Endzweck
das Leben.
Sidgwick geht zunächst zu einer Betrachtung der empirisch-
reflektiven Methode über. Die Annahme, daß Lust- und Unlust-
gefühle kommensurabel sind, d. h. daß sie quantitatives Verhältnis
zueinander haben, liegt dieser Methode zugrunde. Der Einwand,
daß jede Voraussicht der Zukunft eine ungeheure Zahl der Zu-
fälligkeiten involviert, die doch nicht zu messen sind, ist dem
Hedonismus, seiner Ansicht nach, nicht gefährlicher als Künste
wie die Medizin und die Strategie. Green hatte jedoch in
seinen «Prolegomeua to Ethics» gegen den Hedonismus den
Einwand betont, daß angenehme Gefühle nicht addierbare Quan-
titäten sind, und daß eine Summe von Lustgefühlen ein nicht
zu verwirklichendes Endziel sei. Sidgwick erwidert darauf, daß
die Hedonisten unter dem Begriff «Endzweck» nicht ein Ziel,
sondern ein Objekt des rationellen Strebens meinen. Der ge-
Die Methode des Utilitarismus. 53
fährlichste Einwand ist nach Sidgwick, daß eine quantitative
Vergleichung der Lustgefühle immer unbestimmt, schwankend
und illusorisch bleibt. Wenn wir Lustgefühle vergleichen, muß
ein Glied in der Gleichung vorgestellt werden durch eigene oder
von andern mitgeteilte Erfahrung, und ein solcher Prozeß kann
nie ohne Irrtum sein. Diesen Irrtum muß man durch induktive,
auf schon erlebte Lustgefühle begründete Verallgemeinerung aus-
scheiden. Ist aber eine genaue Schätzung der schon erlebten
Lustgefühle möglich? Sie ist, zeigt Sidgwick, unbestimmt, wo
die Gefühle derselben Art sind, außer wenn die Unterschiede
sehr groß sind, und sie ist noch schwankender, wo die Gefühle
von verschiedenen Arten sind. Solche Urteile sind auch schwan-
kend selbst bei demselben Individuum. Einige Lust- und Unlust-
gefühle sind leichter vorstellbar als andere. Wer kann z. B.
die Übelkeit einer Seekranheit wirklich vorstellen, und wem ist
nicht die Erinnerung an viele vergangene mühsame Arbeiten
und Ängste angenehm erschienen?
Solche Erwägungen führen Sidgwick zu dem Resultat, daß
«eine von dem Nullpunkt vollkommener Indifferenz aus positiv
und negativ gemessene Skala des Wünschenswertseins der Lust-
und Unlüstgefühle höchstens ein Ideal sei, von welchem wir nie
bestimmen können, wie weit wir uns demselben annähern». Dies
ist aber nicht alles. Ändert sich nicht unsere Empfänglichkeit
für bestimmte Lustgefühle und könnte deswegen selbst ein ge-
naues Messen der vorgegangenen Lustgefühle uns helfen, die
zukünftigen vorauszusehen? «Die sorgfältigste Schätzung der
Lustgefühle eines Mädchens könnte einer jungen Dame wohl
wenig nutzen», und obgleich wir auf die Erfahrung von andern
etwas vertrauen können, ist doch die Ähnlichkeit der Naturen
niemals genau.
Trotz dieser unparteiischen und fast vernichtenden Kritik
der empirisch-reflektiven Methode ist Sidgwick weit davon ent-
fernt, sie überhaupt zu verwerfen. «Ich bin mir bewußt,» sagt
er, «daß trotz aller dieser Schwierigkeiten ich nicht aufhöre,
Vergleichungen zwischen Lust- und Unlustgefühlen aufzustellen,
und daß ich auf die Resultate in betreff der praktischen Lei-
tung vertraue.»
54 IV. Kapitel.
Sidgwick prüft zunächst in ausführlicher Weise verschiedene
Formen der deduktiven Methode und erklärt sie für unzuläng-
lich. Bisher aber hat er die Frage behandelt nur insoweit,
als sie den egoistischen Hedonismus betrifft. Es fragt sich nun
noch, ob die Sache anders für den universalistischen Hedonismus
sich verhält. In dem vierten Buch widmet Sidgwick ein Kapitel
einer Erwägung der Methode der allgemeinen Glückseligkeit.
Hier entsteht sofort eine interessante Frage. Was das In-
dividuum betrifft, hat Sidgwick schon im ersten Buch bewiesen,
daß keine vollkommene Harmonie zwischen Tugend und Glück
besteht. Es fragt sich jetzt aber, ob eine solche Harmonie
zwischen Tugend und Glückseligkeit nicht bestehe, wenn die
betreffende Glückseligkeit diejenige der Gesellschaft und nicht
des Individuums sei. Die Common-Sense-Moral kann vielleicht
«die positiven Überzeugungen der Menschheit von den Folgen
der Handlungen für die Glückseligkeit» vertreten. Die funda-
mentalen Grundsätze der Common-Sense-Moral könnten in diesem
Fall als die mittleren Axiome des Utilitavismus dienen. Die
genetische Methode, die die moralischen Gefühle durch einen
komplizierten und allmählichen Entwicklungsprozeß aus einzelnen
Erfahrungen von Lust und Unlust ableitet, scheint vielleicht diese
Annahme zu unterstützen. Die Theorie, welche die moralischen
Gefühle aus der Sympathie ableitet, ist aber nicht imstande,
behauptet Sidgwick, das moralische Urteilsvermögen zu erklären,
gibt jedoch eine teilweise wahre Erklärung von gewissen mora-
lischen Gefühlen. Er meint aber, daß einige besondere Gründe
dazu beigetragen haben, eine Divergenz zwischen der Common-
Sense-Moral und einem vollkommen utilitaristischen Kodex her-
vorzubringen. Die Sympathie z. B. (und hier benutzt er eine
tiefsinnige Bemerkung Adam Smiths) wirkt nicht nur auf die
von dem Handeln erzeugten Gefühle, sondern auch auf die
Handelnsimpulse. Das resultierende moralische Bewußtsein ist
deswegen manchmal ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden
Arten der Sympathie. Auch andere Ursachen wie Beschränkung
der Sympathie und der Intelligenz und der Einfluß falscher
Religionen haben dazu beigetragen, eine noch größere Divergenz
zwischen der Common-Sense-Moral und dem Utilitarismus hervor-
Die Methode des Utilitarismus. 65
zubringen. Es gibt zwar Leute, die glauben, daß der Kampf
ums Dasein die Tendenz hat, diese Divergenz zu verbessern.
Nach Sidgwicks Meinung aber ist dieses nur teilweise möglich.
Denn eine unvollkommene Moral ist höchstens ein Nachteil unter
vielen in diesem Kampf, und überdies ist die Moral, die am
meisten die Erhaltung fördert, nicht notwendig, auch diejenige,
die die Lust am meisten fördert.
Aus diesen Gründen muß die Moral Wissenschaft die Regel
der Common-Sense-Moral eingehend untersuchen, um zu ermitteln,
wie weit die obenerwähnten Ursachen dazu beigetragen haben,
eine Divergenz zwischen der gewöhnlichen und einer vollkommen
utilitaristischen Moral zu erzeugen.
Einige Utilitarier haben auf der andern Seite es für möglich
gehalten, eine utilitaristische Moral zu bilden, ohne die gewöhn-
liche Moral als Grundlage dazu anzuwenden. Ein solcher Ver-
such ist nach Sidgwick wahnsinnig. Denn die menschliche Natur
variiert zu stark, selbst innerhalb derselben Nation, und außer-
dem vorausgesetzt, daß wir einen solchen idealen Kodex bilden
könnten, würde er uns als Muster vollkommen nutzlos sein.
Denn wir könnten wahrscheinlich uns demselben nicht annähern.
«Ich halte es für den Utihtarier für vollkommen unmöglich, in
dem gegenwärtigen Zustand unserer Erkenntnis, eine Moral de
novo zu bilden, sei es nun für den Menschen, wie er ist, abstra-
hiert von seiner Moral, oder für den Menschen, wie er sein sollte
und sein wird. Er muß im allgemeinen mit der bestehenden
sozialen Ordnung und mit der bestehenden Moral als einem Teil
jener Ordnung anfangen.»
Sidgwick kommt schließlich zu dem Resultat, daß der Utili-
tarier die bestehende Moral im allgemeinen unterstützen will,
sie aber in Einzelheiten zu verbessern versuchen muß. Es fragt
sich dann, welche Methode er gebrauchen muß, wo solche Ver-
besserung nötig ist. Es folgt von dem ganzen Standpunkt
Sidgwicks aus, daß, solange als die Soziologie nicht das Recht
hat, sich selbst eine Wissenschaft zu nennen, wie sie nach ihm
das heute noch nicht tun darf, die einzige mögliche Methode
diejenige des empirischen Hedonismus sei.
56 IV. Kapitel.
In der Anwendung dieser Methode sieht Sidgwick die größten
Schwierigkeiten des Utilitariers. In den, seiner Meinung nach,
sehr seltenen Fällen, in denen der Utilitarier von der gewöhn-
lichen Moral abweichen muß, zeigt er mit schonungsloser Logik
die paradoxen Resultate, zu welchen seine Theorie ihn treibt.
«Den utilitaristischen Prinzipien gemäß kann es unter gewissen
Umständen recht sein, zu tun und geheim zu empfehlen, was
nicht recht sein würde, offen zu verteidigen.» «Es könnte viel-
leicht die allgemeine Glückseligkeit am meisten fördern, daß A
in einer bestimmten Weise handelte und daß B, C und D ihn
zu gleicher Zeit tadelten .... und deshalb kann es am vor-
teilhaftesten sein, daß in einer gegebenen Gesellschaft auf einer
bestimmten Stufe ihrer Entwicklung verschiedene miteinander
in Konflikt stehende morahsche Anschauungen existieren.»
«Gewiß, in einer idealen Gesellschaft von aufgeklärten Utilita-
riern würde diese Fülle von Paradoxen verschwinden.»
Herbert Spencer und die Methode des Utilitarismus.
Trotz allem, was er getan hat, unser Vertrauen auf die
empirische Methode zu zerstören, hält Sidgwick an ihr fest als
der einzigen möglichen Methode des Utilitarismus. Spencer
dagegen verwirft sie vollkommen. «Wenn also», sagt er, «gegen
die Methode des egoistischen Hedonismus der Einwand erhoben
werden kann, daß die Freuden und Leiden eines Menschen, so
verschieden nach Art, Intensität und Zeit ihres Eintretens,
unter sich inkommensurabel seien, so läßt sich offenbar der
Methode des universalistischen Hedonismus entgegenhalten, daß
zu der Inkommensurabilität der eigenen Freuden und Leiden
jedes einzelnen Richters (die er doch zum Maßstab nehmen muß)
nun die noch viel unzweifelhaftere Inkommensurabilität der
Freuden und Leiden hinzukommt, welche, wie er voraussetzen
muß, von zahllosen andern Menschen erfahren werden, deren
Konstitutionen sich untereinander von der seinigen unterscheiden.»^
Aus diesen Gründen verwirft Spencer den empirischen
Hedonismus, um an seine Stelle den «rationalen» Utilitarismus
' Tatsachen der Ethik, § 58. (Englische Ausgabe, § 57.)
Die Methode des Utilitarismus. 57
ZU setzen, obgleich er noch daran festhält, daß der in letzter
Linie höchste Endzweck «das besondere und allgemeine Glück»
sei. Statt der induktiven will er die deduktive Methode ein-
führen. «Meiner Ansicht nach», sagt er, «ist es eben die
Hauptaufgabe der Moralwissenschaft, aus den Gesetzen des
Lebens und den Existenzbedingungen abzuleiten, welche Arten
des Handelns notwendigerweise Glück und welche Unglück zu
erzeugen streben. Hat sie dies getan, so müssen ihre Deduk-
tionen als die Gesetze des Handelns anerkannt und ohne
Rücksicht auf eine direkte Beurteilung von Glück oder Elend
befolgt werden.» «Die Ethik», meint er, «muß die Beziehung
[d. h. die einzige oder die wesentliche Beziehung] zwischen
Ursache und Wirkung im Handeln finden.» Der empirische
Utilitarismus ist eine Übergangsform, «welche auf dem Wege
zum rationalen Utilitarismus durchlaufen werden muß». Den
früheren Utilitarismus vergleicht Spencer mit der früheren
Astronomie, welche «auf empirischem Wege mit großer An-
näherung an das Richtige voraussagen konnte, daß die einzel-
nen Himmelskörper zu bestimmten Zeiten diese oder jene Stel-
lungen einnehmen würden». «Die wahre Moral Wissenschaft soll
aber der modernen Astronomie ähnlich sein, welche aus Deduk-
tionen von dem Gesetze der Gravitation uns zeigt, warum die
Himmelskörper notwendig zu bestimmten Zeiten bestimmte
Stellungen einnehmen. »
Spencers Absicht ist daher, die Ethik zu einer exakten
Wissenschaft zu machen. Er wirft allen früheren Systemen,
und zwar auch dem Utilitarismus, vor, daß sie alle die Kau-
salität vernachlässigen. Durch die Anerkennung dieses Prinzips
glaubt er einen wissenschaftlichen Utilitarismus zu bilden.
Diesen Traum, die Ethik als exakte Wissenschaft zu behandeln,
findet man jedoch in dem Utilitarismus nicht zum erstenmal
bei Spencer, wie er selbst glaubt, sondern bei Bentham.
(Spencers Kritik der Lehre Benthams ist schief und einseitig.)
Bentham glaubte die Genauigkeit der Mathematik in die Ethik
einzuführen und Mill erkennt seinen Anspruch. «Er führte»,
sagte MilP, «in die Moral jene Gewohnheiten des Denkens und
1 Dissertations I, S. 339.
58 IV. Kapitel.
jene Methode der Forschung ein, die der Idee einer Wissen-
schaft notwendig sind.» Mill selbst hat später die Hoffnung
gehegt, eine wissenschaftliche Methode für die Ethik festzu-
setzen durch die Begründung einer neuen Wissenschaft, die er
«Ethologie» nannte — «die Wissenschaft der Charakterbildung».
Diese Wissenschaft sollte ganz deduktiv sein und ihre Gesetze
von den allgemeinen Gesetzen des Geistes ableiten.
Spencers Absicht ist jedenfalls nicht so bescheiden. Es ist
das Prinzip der Entwicklung, durch welches er hofft, die Ethik
in eine deduktive Wissenschaft zu verwandeln. Wie alles in
dem Universum muß auch die Moral den Gesetzen der Ent-
wicklung gehorchen. Hier wendet Spencer die Resultate seiner
synthetischen Philosophie an und betrachtet die Ethik unter
vier Standpunkten, dem physikalischen, dem biologischen, dem
psychologischen und dem soziologischen.
1. Der physikalische Standpunkt. Hier betrachten
wir das Handeln bloß als eine Gruppe von einzelnen Bewe-
gungen. Wir suchen zu zeigen, wie das Handeln, indem es sich
zu höheren Formen erhebt, die Eigentümlichkeiten der Ent-
wicklung in gesteigertem Maße erkennen läßt, a) Es wird
zusammenhängender. Die Bewegungen niedrig organisierter Ge-
schöpfe sind locker und ziellos und haben keinerlei Beziehung
zu den einen Augenblick vorher ausgeführten Bewegungen.
Höher entwickelte Tiere aber, wie die Vögel, zeigen uns zahl-
reiche Bewegungen, die voneinander abhängig und über eine
beträchtliche Zeit ausgedehnt sind. In gleicher Weise ist das
Handeln des Wilden zusammenhängender als dasjenige der Tiere
und das der zivilisierten Menschen als das der Wilden. Je
höher wir steigen in der Skala des Lebens, desto weniger locker
finden wir die Bewegungen, die das Handeln ausmachen, und
desto mehr nehmen sie die Vergangenheit, die Gegenwart und
die Zukunft in Betracht. Es ist nun bemerkenswert, daß das
sittliche Handeln einen größeren Zusammenhang als das unsitt-
liche zeigt. Wir wissen im voraus, was der moralische Mensch
tun wird, aber das Handeln des unmoralischen läßt sich nicht
voraussagen. Er mag das entliehene Geld zurückzahlen oder
nicht, er mag die Wahrheit reden oder lügen.
Die Methode des Utilitarismus. 59
b) In ganz ähnlicher Weise will Spencer beweisen, daß das
moralische Handeln eine größere Bestimmtheit zeigt als das
unmoralische. Der gewissenhafte Mensch ist genau in allen
seinen Verrichtungen. Hat er einen Geschäfts vertrag, so hält
er an den Tag und seine Äußerungen stimmen genau mit den
Tatsachen überein. c) Ebenso ist das moralische Handeln
ungleichartiger als das unmoralische. Der moralische Mensch
nimmt teil an einer großen Mannigfaltigkeit der Handlungen.
Je vollkommener er seine Pflicht gegen sich selbst und seine
Mitmenschen erfüllt, desto mannigfaltiger wird seine Tätigkeit.
Von allen diesen Tatsachen lernen wir die Wahrheit, daß
das Handeln, von dem physikalischen Standpunkt aus betrachtet,
nach dem Entwicklungsgesetze sich richtet, in dem es von einer
unbestimmten, unzusammenhängenden Gleichartigkeit in den
Zustand einer bestimmten, zusammenhängenden Gleichartigkeit
übergeht. Es strebt, wie alle andere Entwicklung, einem
Gleichgewicht zu. «Das sittlich zu nennende Leben charak-
terisiert sich dadurch, daß in ihm die Aufrechterhaltung jenes
beweglichen Gleichgewichts die Vollkommenheit erreicht oder
sich derselben außerordentlich nähert.?»
2. Der biologische Standpunkt. Hier strebt die
Entwicklung einem Gleichgewicht der Funktionen zu. Jede
Funktion als ein Ergebnis der Entwicklung hat irgendeine
direkte oder indirekte Beziehung zu den Bedürfnissen des Lebens.
Die Ausübung jeder Funktion ist deshalb in gewissem Sinne
eine sittliche Pflicht. Von diesem Standpunkt aus betrachtet
ist eine Handlung gut, welche das vollkommene Leben in der
Gegenwart geeignet ist aufrechtzuerhalten, und wenn sie auf
Verlängerung des Lebens bis zu seiner äußersten Grenze hin
wirkt.
Hier wendet Spencer seine Theorie der Lust und der Unlust
an, die er in seinen Prinzipien der Psychologie entwickelt hat.
Sie spielt eine so große Eolle in seinem System und ist für
unseren Zweck so wichtig, daß wir seine eigenen Worte zitieren.
«Wenn wir für das Wort Freude den gleichwertigen Ausdruck
einführen: ein Gefühl, das wir ins Bewußtsein zu bringen und
darin festzuhalten suchen, und für das Wort Schmerz den
60 IV. Kapitel.
gleichwertigen Ausdruck, ein Gefühl, das wir aus dem Bewußt-
sein fortzuschaffen und davon fernzuhalten suchen, so leuchtet
sofort ein, daß, wenn die Bewußtseinszusfände, welche ein Ge-
schöpf festzuhalten strebt, die Korrelative von schädlichen Ein-
wirkungen, diejenigen Bewußtseinszustände dagegen, welche es
wegzuschaffen strebt, die Korrelative von wohltätigen Ein-
wirkungen wären, dieses Geschöpf infolge seines Festhaltens am
Schädlichen und seines Vermeidens des Nützlichen bald zugrunde
gehen muß. Es können mit andern Worten nur jene Arten
von Wesen am Leben geblieben sein, in denen durchschnittlich
angenehme oder erwünschte Gefühle verbunden waren mit zur
Erhaltung des Lebens dienlichen Einwirkungen, während unan-
genehme und gewohnheitsgemäß vermiedene Gefühle mit solchen
Einv^irkungen verbunden waren, welche direkt oder indirekt das
Leben zu vernichten trachteten, und stets müssen unter sonst
gleichen Umständen diejenigen Arten am häufigsten und am
längsten überlebt haben, bei welchen diese Anpassungen von
Gefühlen an Einwirkungen am besten waren, indem sie fort-
während eine möglichst vollkommene Anpassung zu erzielen
streben. » ^
Eine Betrachtung der verschiedenen Lebensformen führt
Spencer zu der Annahme, daß jedes Individuum und jede
Spezies Tag für Tag nur dadurch sich am Leben erhalten, daß
sie dem Angenehmen nachstreben und das Unangenehme ver-
meiden. «Empfindende Wesen können sich nur unter der Be-
dingung entwickeln, daß lustbringende Handlungen zugleich lebens-
erhaltende Handlungen sind.»
Man muß darauf aufmerksam machen, daß Spencer keines-
wegs behauptet, daß diese Harmonie zwischen lustbringenden
und lebenserhaltenden Handlungen vollkommen ist. Es ist aber
die Tendenz des Entwicklungsprozesses, sie mehr und mehr in
Harmonie zu bringen, bis in der vollkommenen Gesellschaft die
Ausübung jeder Funktion von Lust begleitet werden wird.
3. Der psychologische Standpunkt. In diesem inter-
essanten Kapitel gibt uns Spencer seine Theorie des Gewissens
^ Prinzipien der Psychologie, § 124. Data of Ethics, S. 79.
Die Methode des Utilitarismus. 61
und der Entstehung der moralischen Gefühle, die wir später
eingehend behandeln werden. Die Schlußfolgerung dieses Ka-
pitels ist: «Die Freuden und Leiden, die aus den moralischen
Gefühlen entspringen, müssen, gleich körperlichen Freuden und
Leiden, zu Reiz- und Abschreckungsmitteln werden, deren Stärke
den jeweiligen Bedürfnissen dergestalt angepaßt ist, daß das
moralische Handeln und das natürliche Handeln eins und das-
selbe werden».
4. Der soziologische Standpunkt. «Vom soziologischen
Standpunkt aus betrachtet, erscheint die Ethik nicht anders als
eine bestimmte Darstellung der Formen des Handelns, welche
für den gesellschaftlichen Zustand geeignet sind, und zwar in
der Weise, daß das Leben jedes einzelnen und aller übrigen
seiner Länge und seiner Tiefe nach so vollkommen als möglich
sich gestalten kann.» Auf der kriegerischen Stufe der Gesell-
schaft behauptet die Wohlfahrt der sozialen Gruppe den Vor-
rang vor der individuellen Wohlfahrt. Wenn aber allmählich
die Kriege abnehmen und die höhere industrielle Stufe mehr
und mehr erreicht wird, kommt das vollkommene Leben durch
freiwilliges Zusammenwirken zustande. Der Industrialismus ver-
langt von jedem einzelnen Bürger, daß er weder direkte noch
indirekte Übergriffe auf seine Mitbürger verursache. Das
höchste Leben ist aber dabei noch nicht erreicht. Das Endziel
der Entwicklung ist erst dann erreicht, wenn in der mensch-
lichen Gesellschaft ein spontanes Bestreben wirksam geworden
ist, das jeden dazu antreibt, das Wohl der andern zu fördern.
Die Menschen müssen so weit kommen, daß sie nicht nur
einander gegenseitig nicht schaden, sondern auch auf jede
Weise unterstützen, ihr Leben möglichst vollkommen zu gestalten.
Kritik.
Wir haben hier nur einige Worte über die utilitarische
Methode zu sagen. Sidgwick hält an der empirischen Methode
fest; doch stellt er die Schwierigkeiten dieser Methode so un-
parteiisch dar, daß sich nichts weiter darüber sagen läßt. Spencer
ist nicht so bescheiden. Er hält es für sein größtes Verdienst
62 IV. Kapitel.
in der Ethik, daß er eine neue wissenschaftliche Methode ein-
geführt hat.
Man muß nun zugeben, daß es wohl möglich ist, eine mo-
ralische Handlung von den vier Seiten aus (der physikalischen,
der biologischen, der soziologischen und der psychologischen),
wie Spencer tut, zu betrachten. Ist aber damit die Betrachtung
einer moralischen Handlung erschöpft? Wir glauben nicht.
Wenn die Antwort ja ist, so ist die Möglichkeit einer norma-
tiven Ethik ausgeschlossen. Bei diesen vier Standpunkten hat
man aber das eigentlich Moralische bei einer Handlung nicht
getroffen.
Betrachten wir z. B. den «physikalischen Standpunkt»
Spencers. Gewiß ist jede moralische Handlung eine Bewegung.
Eine Tat der äußersten Selbstopferung und ein grausamer Mord
sind beide, von diesem Standpunkt aus betrachtet, reine Über-
tragungen von Bewegungen. In dieser Weise kann man nie
das eigentliche Wiesen einer moralischen Handlung bestimmen.
Spencer glaubt zwar seine allumfassende Formel hier anzu-
wenden, und in ihrer Bestimmtheit, ihrer Zusammenhängigkeit
und ihrer Ungleichai tigkeit den Kern einer moralischen Hand-
lung zu sehen. Diese sind aber ebensowohl Merkmale einer
entwickelten Bösheit. Die Handlung eines klugen Diebes von
Fach ist manchmal auch durch Bestimmtheit, Zusammenhängig-
keit und Ungleichartigkeit ausgezeichnet.
Kurz, in diesen Kapiteln hat Spencer nur mehr oder weniger
Allgemeinheiten ausgesprochen, die zweifellos viel Wahres ent-
halten, doch zu unbestimmt und generell sind, um ein Kriterium
des moralischen Handelns zu liefern. Mit einer Offenheit, die
ihm Ehre macht, beklagt Spencer in dem Vorwort des zweiten
Teiles seiner Prinzipien der Ethik das relative Mißlingen seiner
früheren Hoffnung, «aus den Gesetzen des Lebens und der
Existenzbedingungen» ein absolutes Kriterium abzuleiten. «Die
Entwicklungslehre», sagt er, «hat nicht in dem Maße eine
Führung gegeben, als ich hoffte. Die Mehrheit der Folgerungen,
die ich empirisch gezogen habe, sind solche, wie sie rechte, durch
eine kultivierte Vernunft aufgeklärte Gefühle schon zu begründen
vermochten. •»
Das Seinsollen. 63
Die entscheidende Frage ist aber, ob Spencers eigentüm-
liche Verbindung des Hedonismus mit der Entwicklungslehre
haltbar ist. Auf dieser Verbindung ruht seine Hoffnung, eine
wissenschaftliche Methode des Utihtarismus zu finden. Diese
Verbindung liegt seiner ganzen Ethik zugrunde. Wir wollen
versuchen, sie in dem Schlußkapitel einer Kritik zu unterwerfen.
V. Kapitel.
Das Seinsollen.
Mit den Begriffen der Pflicht, der Verantwortlichkeit und
des Seinsollens haben die ersten Utilitarier außerordentlich große
Schwierigkeiten gehabt, die notwendig aus ihrer sensualistischen
Psychologie hervorgehen mußten. Die Verbindlichkeit konnten
sie nur erklären als die Wirkung auf den Willen von erwarteter
Lust und Unlust, die entweder als Strafen oder Belohnungen
mit den moralischen Gesetzen verbunden sind. Natürlich fanden
die Utilitarier die Erklärung der Pflicht auf einer solchen Basis
schwieriger als die egoistischen Hedonisten. Der einzige Aus-
weg schien die Auflösung des Sollens in das Sein. «Wenn das
Wort (Soll, Ought) überhaupt zu gebrauchen ist,» sagt Bentham,
«so soll es aus dem Wörterbuch der Moral verbannt werden. ^^
Die Begründung der Autorität der Moral könnte daher bei
Bentham nicht anders sein als das bloße Aufsuchen von ad-
äquaten Sanktionen, die, wie schon erwähnt, bei ihm alle äußer-
lich sind. Nach Bentham machte Mill nun den großen Fort-
schritt, daß er eine innere Sanktion der Sympathie hinzufügte
und sie als die ausschlaggebende betonte. Doch ist seine Methode
wesentlich dieselbe und die letzte Sanktion aller Moral bleibt
ein subjektives Gefühl in dem Bewußtsein des Individuums.
In dem Vorwort seiner «Tatsachen der Ethik» verspricht
Spencer die Ethik als eine normative Wissenschaft zu begründen.
Ja er hat sogar bei der Abfassung seiner Ethik einen morali-
^ «If the Word (ought) be admissible at all it ought to be banished
from the vocabulary of morals.» Deontology I, 82.
64 V. Kapitel.
sehen Zweck im Auge. Sie soll den Schlußstein der ganzen
«Synthetischen Philosophie» bilden. «Jetzt, da die sittlichen
Gebote die Autorität verlieren, die ihnen bisher, kraft ihres
vermeintlich heiligen Ursprungs, zukam, erscheint die Säkulari-
sierung der Sittlichkeit durchaus geboten. Kaum mag etwas ver-
derblichere Folgen haben, als wenn ein nicht mehr zulängliches
Gesetzsystem verfällt und abstirbt, bevor ein anderes und passen-
deres an dessen Stelle zur Ausbildung gelangt.»^ Dann stellt
er die Ethik «wie sie sein sollte» der Ethik «wie sie ist» gegen-
über. In seinen «Prinzipien der Ethik» will er versuchen, die
erforderliche Begründung der Moral zu geben. Wir wollen jetzt
sehen, wie er diese Absicht durchführt.
In Kapitel VII der «Tatsachen der Ethik» stellt Spencer
seine vieldiskutierte Theorie des Ursprungs der moralischen
Gefühle dar. «Es bildet unzweifelhaft den wesentlichsten Zug
des moralischen Bewußtseins,» behauptet er, «daß ein Gefühl
oder die einen Gefühle unter der Kontrolle eines andern oder
anderer Gefühle stehen.» Es entspricht der allgemeinen Wahrheit,
welche die Entwicklung des Handelns zum Vorschein bringt, daß
behufs besserer Erhaltung des Lebens die primitiven, einfachen,
präsentativen Gefühle unter der Kontrolle der später entwickel-
ten, zusam.mengesetzten, repräsentativen Gefühle stehen müssen.
«Dieses bewußte Aufgeben unmittelbarer und spezieller Güter,
um entfernte und allgemeine Güter zu gewinnen, ist ein wesent-
licher Zug nicht nur der Beschränkung, die wir moralisch zu
nennen pflegen, sondern auch anderer Selbstbeschränkungen, die
nicht hierfür gelten.» Es gibt, nach Spencer, drei solche non-
moralische Beschränkungen oder Kontrollen — die politische,
die religiöse und die soziale.
Zunächst gibt es unter primitiven Völkern nur eine Kon-
trolle, die aus gegenseitiger Furcht vor Rache entspringt. Wenn
aber außerordentliche Kraft, Klugheit oder Tapferkeit einen Mann
zum Herrscher erhebt, erzeugt die Furcht vor ihm die politische
Kontrolle. Wenn der Herrscher stirbt, erzeugt die Furcht vor
seinem Geist die religiöse Kontrolle, während die soziale
Data of Ethics, Vorwort.
Das Seinsollen. 65
Kontrolle einfach aus der Achtung des Individuums für Lob
und Tadel seiner Mitmenschen entsteht. Diese drei Kontrollen
«stellen doch noch nicht die moralische Kontrolle dar, sondern
nur Vorstufen derselben — es sind die Formen, innerhalb deren
sich erst die moralische Kontrolle entwickelt». Diese drei Kon-
trollen betreffen nur die äußerlichen Folgen der Handlungen,
während es das Wesen der moralischen Kontrolle ausmacht, daß
sie sich auf die innerlichen Folgen bezieht. Unter innerlichen
Folgen versteht Spencer die Folgen, die eine Handlung natur-
gemäß nach sich zieht. «Was einen wahrhaft moralischen Men-
schen vom Morden abhält, ist nicht die Vorstellung vom Hängen
als der Folge desselben, noch die Vorstellung von in der Hölle
zu erleidenden Qualen, noch die Vorstellung des Schreckens und
des Hasses, den er in seinen Nebenmenschen hervorruft, sondern
einfach die Vorstellung der notwendigen, natürlichen Resul-
tate — der sein Opfer marternden Todesangst, der Vernichtung
aller Aussichten desselben auf ferneres Glück, der seinen An-
gehörigen zugefügten Leiden.»
Allmähhch entwickelt sich die moralische Kontrolle, bis sie
vollkommen unabhängig von den drei andern wird. Der Begriff
der Verpflichtung, die mit ihr verbunden ist, entsteht jedoch
aus dem Gedanken an äußeren Zwang, die die drei ersten Kon-
trollen mit sich bringen. Das Gefühl von der moralischen Ver-
pflichtung ist, nach Spencer, ein abstraktes Gefühl, welches
gerade wie alle abstrakten Begriffe entstanden ist. Es enthält
auch zwei Elemente — ein Element des Zwangs und ein Ele-
ment der autoritativen Geltung. Das letztere entsteht dadurch,
daß die mehr zusammengesetzten und mehr repräsentativen
Gefühle, da sie es möglich machen, das Handeln einem Kreise
von ferner liegenden und allgemeineren Bedürfnissen anzupassen,
von jeher eine höhere Autorität als Leiter gewonnen haben
als die früher entstandenen und einfacheren Gefühle. Das er-
stere — das Element des Zwangs — entspringt aus den Strafen,
welche die politischen, sozialen und religiösen Sanktionen mit
sich bringen. Durch das Assoziationsprinzip wird es zunächst
auch mit der moralischen Sanktion gebunden, die nur allmählich
von den andern unabhängig wird. Je mehr aber das moralische
Sinclair, Der ütilitarismus bei Sidgwick u. Spencer. 5
66 V. Kapitel.
Gefühl sich herausarbeitet und zur Oberherrschaft gelangt, desto
mehr verliert es das Gefühl der Verpflichtung.
Diese Erwägung führt Spencer zu einer Folgerung, welche,
meint er, sehr überraschend^ für die Mehrzahl seiner Leser sein
wird, daß nämlich das Gefühl der Pflicht «etwas Vorübergehendes
ist und in demselben Maße abnehmen muß, als die Sittlichkeit
zunimmt». Die Pflicht wird schließlich zur Lust. Der wahrhaft
rechtschaffene Mensch, dem man selbst heute hie und da be-
gegnet, ist rechtschaffen, ohne an irgendeinen von ihm selbst aus-
gehenden Zwang zu denken. «Nach vollendeter Entwicklung
wird also das Gefühl der Verpflichtung für gewöhnlich nicht
mehr im Bewußtsein gegenwärtig sein und nur bei jenen außer-
gewöhnlichen Gelegenheiten wachgerufen werden, wo eine Über-
schreitung der Gesetze droht, denen sonst spontan Gehorsam
geleistet wird.
Sidgw^ick und das Seinsollen.
Bei Sidgwick findet man zum erstenmal in der Geschichte
des Utilitarismus einen Versuch, das Wesen der Pflicht auf die
Vernunft und nicht auf die Gefühle zu gründen. Seine ent-
schiedene Abweichung in dieser Hinsicht von dem traditionellen
Utilitarismus hängt mit seiner Verwerfung des Empirismus eng
zusammen.
In einem Aufsatze über die «Inkohärenz der empirischen
Philosophie» behauptet er, daß es unmöglich sei, eine zusammen-
hängende Theorie der Maßstäbe der Erkenntnis auf einer empi-
rischen Basis hinauszuarbeiten. Er wirft den Empiristen vor,
daß sie Antezedenzien und Elemente miteinander vermengen, und
behauptet, daß «es durch eine nicht zu rechtfertigende Über-
tragung von chemischen Schlüssen auf psychische Tatsachen
geschehe, daß gewisse Assoziationspsychologen Anspruch darauf
machen, Urteile, die etwas anders als Gefühle zu sein scheinen,
in elementare Gefühle zerlegt zu haben, obgleich sie tatsächlich
^ «Man sieht, wie wenig Ahnung Spencer von der Literatur hatte,
vielleicht nie besser als an dieser Meinung.» (Windelband.) Vgl. Schillers
Kontroverse gegen Kant über diesen Punkt und seinen Begriff der
«schönen Seelen».
Das Seinsollen. 67
nur gezeigt haben, daß diese Gefühle nur die unveränderlichen
Autezedenzien oder Kovikomitanten der betreffenden Urteile sind».
Sidgwick glaubt, daß die Lösung der Frage nach dem Ursprung
unserer Vorstellungen nichts von fundamentaler Wichtigkeit be-
stimmen kann, weder in betreff der Bestandteile unserer tat-
sächlichen Erkenntnis, noch in betreff der Methode, nach welcher
die Erkenntnis aus ihnen gebildet ist.
Daher verwirft Sidgwick mit der empirischen Philosophie
auch die genetische Methode. Er ist zwar überzeugt, «daß der
menschliche Geist als ein Ganzes durch einen Prozeß psychischer
Veränderung aus irgendeiner niedrigeren Form des Lebens sich
entwickelt hat, in welcher das Erkennen als solches nicht zu
finden ist». Doch kann der Ursprung nicht die Gültigkeit be-
stimmen. In der ersten Auflage der «Methoden der Ethik» ging
er so weit, zu behaupten, daß eine Untersuchung des Ursprungs
des moralischen Bewußtseins «eigentlich nicht mehr zur Ethik
gehöre als die entsprechende Frage nach der Raumanschauung
zur Geometrie»; und daß die drei Fragen von Ursprung, Exi-
stenz und Gültigkeit ganz unabhängig voneinander diskutiert,
und die Antworten durch verschiedene Methoden gesucht werden
müssen. Zwar hat er später die Wichtigkeit der Entwicklungs-
lehre für die Ethik etwas höher geschätzt, aber er hat immer
daran festgehalten, daß die Frage des Ursprungs die Gültigkeit
ethischer Überzeugungen in keiner Weise betrifft, außer wenn
man zeigen kann, daß die Ursachen solcher ethischer Über-
zeugungen von der Art sind, daß sie eine Tendenz besitzen,
ungültige Überzeugungen hervorzubringen. In der Tat wachse
die Wahrheit allmählich aus dem Irrtum heraus und eine spätere
Überzeugung kann wohl wahr sein, obgleich ihre vorhergehende
Ursachen falsch waren, wie z. B. es wohl möglich sei, daß die
Überzeugung, daß Verbrecher bestraft werden sollten, aus einem
früheren Glauben an Rache entsprungen ist.
In dem Kapitel über ethische Urteile behandelt Sidgwick
die Grundlage des Seinsollens. Er will nicht mit den früheren
Utilitariern zugeben, daß das Sollen, wie man es in ethischen
Urteilen braucht, einfach ein spezifisches Gefühl bedeutet. «Wenn
ich sage, man soll die Wahrheit sprechen, meine ich damit mehr,
5*
68 V. Kapitel.
als daß die Vorstellung des Wahrsprechens ein Gefühl der Bil-
ligung oder Befriedigung in mir hervorbringe oder daß die
anderen menschlichen Wesen ein derartiges Gefühl, zusammen-
gesetzt mit sympathischen Vorstellungen ähnlicher Billigungen
und Mißbilligungen, empfinden, r. Das Sollen kann auch nicht
das unter Strafen Verbunden sein bedeuten. Schließlich kommt
Sidgwick nach einer ausführlichen Erörterung zu der Entschei-
dung, daß Seinsollen und Recht (ought and right) etwas letztes
und Unanalysierbares sind und zu elementar, als daß man sie
formell definieren könne. In einem Aufsatz in «Mind» über
«einige fundamentale ethische Streitfragen» legt Sidgwick dar,
was er damit meint, wenn er das Sollen als unanalysierbar be-
zeichnet. «Ich meine nicht zu behaupten, daß es zu der ur-
sprünglichen Beschaffenheit des menschlichen Bewußtseins gehöre
und daß es nicht das Ergebnis eines Prozesses der Entwicklung
sei — das ist eine Frage für die Psychologie oder vielmehr für
die Psychogonie, die mich nichts angeht. Ich meine nur, daß,
wenn ich es jetzt in meinem Bewußtsein finde, so kann ich es
nicht in elementarere Begriffe analysieren oder durch derartige
Begriffe erklären.»
Kritik.
Obgleich Spencer keineswegs die Absicht hat, die Ethik
bloß als eine deskriptive Wissenschaft zu behandeln, so besteht
doch seine Antwort der Frage nach der Natur des Seinsollens
und des Pflichtbewußtseins lediglich in einer ausführlichen Dar-
stellung des Ursprungs der moralischen Gefühle. Er versucht
zu beschreiben, auf welche Weise das Pflichtbewußtsein ent-
standen ist. Ein solcher Versuch ist an sich zwar ganz berechtigt.
Der Zweck der Ethik ist, nicht eine neue Moral zu schaffen,
sondern die bestehende Moral zu behandeln. Wie die Ästhetik
und die Religionswissenschaft hat sie es mit einem Ergebnisse
der menschlichen Natur zu tun. Wie die Religion hat die Moral
in einem langen Entwicklungsprozesse sich entwickelt, der noch
nicht zu Ende ist. Diesen ganzen Prozeß muß die Ethik so-
weit als möglich in Betracht ziehen, weil er allein uns alle
Tatsachen der Ethik gibt. Kein Querschnitt dieses Prozesses
Das Seinsollen. 69
kann das Ganze erklären und für eine vollkommene Ethik ge-
nügen. Die historischen Anfänge sind ein wichtiger Teil dieses
Prozesses. Daher ist Spencers Versuch, die Moral als einen
Prozeß zu behandeln und ihre Anfänge, Entwicklung und End-
ziel zu verfolgen, vollkommen zu rechtfertigen. Die Tatsachen
der Ethik sind nur in der ganzen Entwicklung der Moral zu
linden. Darin besteht die große Wichtigkeit der Entwicklungs-
lehre für die Ethik.
Es liegt nicht in unserer Absicht, Spencers Theorie des
Ursprungs der Moral zu prüfen. Die Moral hat irgendeinen
Ursprung haben müssen und Spencers Theorie scheint uns plau-
sibel und geistreich. Wir betonen aber eine wichtige Tatsache.
Spencer will die Ethik als normative Wissenschaft behandeln.
Er ist daher verpflichtet, nicht nur eine natürliche Geschichte
der Moral zu geben, sondern auch ein Prinzip, nach welchem
diese Geschichte und die Tatsachen der Moral beurteilt werden
können. Er muß nicht nur feststellen, was gewesen ist, was ist
und was sein wird. Wir verlangen etwas mehr, nämlich ein Be-
urteilungsprinzip, und ein solches Prinzip kann nicht aus dem
Prozeß selbst abgeleitet werden. Alles, was mit der Moral ver-
bunden ist, wie alles andere in dieser Welt hat einen Anfang
und eine Geschichte haben müssen. Alles, was gut ist und was
böse ist, und selbst das Bewußtsein eines Unterschiedes zwischen
dem Guten und dem Bösen hat einen Ursprung, das heißt, irgend
einige vorhergehende Ursachen in dem Kausalzusammenhang
haben müssen. Und das Seinsollen selbst als psychologische
Tatsache kann hier keine Ausnahme machen. Wie jede andere
Norm muß es durch empirische Vermittlung zum Bewußtsein
kommen. Die Frage nach der Gültigkeit ist aber eine ganz
andere Frage. ^
Nun ist es wahr, daß Spencer diese Schwierigkeiten nicht
ganz übersieht. Den ethischen Endzweck findet er nicht ohne
weiteres durch die Entwicklungslehre gegeben. Viel weniger
begeht er den groben Fehler von vielen heutigen Forschern,
welche unter dem bezaubernden Einfluß der sogenannten histo-
Vgl. Windelband, Präludien, S. 304 ff.
70 V. Kapitel.
Tischen Methode alles im Himmel und auf Erden nach dem Ur-
sprung beurteilen. Spencer sieht dagegen, daß man den Prozeß
als Ganzes betrachten muß. Wenn er überhaupt einseitig ist,
besteht seine Einseitigkeit darin, daß er die Wichtigkeit nicht
sowohl der Anfänge, als vielmehr des natürlichen Endziels über-
treibt. An und für sich ist das historische Endziel eines histo-
rischen Prozesses nicht wichtiger als der Anfang oder irgendein
Querschnitt und ist nicht mehr imstande, ein Beurteilungsprinzip
zu liefern.
Betrachten wir für einen Augenblick Spencers Analyse des
Pflichtgefühls. Wie wir gesehen haben, findet er in ihm zwei
Elemente — eins der autoritativen Geltung und eins des Zwangs.
Was das letztere betrifft, so hat Spencer es für vergänglich er-
klärt. Dieser Gedanke braucht uns nicht so auffallend zu sein,
wie er meint. Zweifellos wird der vollkommene Mensch in der
vollkommenen Gesellschaft kein Gefühl des Zwangs brauchen,
um seine Pflicht zu tun. Wie Kant schon lange vorher be-
merkt hat, gibt es «für den göttlichen und überhaupt für einen
heiligen Willen keine Imperative; das Sollen ist hier am un-
rechten Orte, weil das Wollen schon mit dem Gesetze einstimmig
ist». Das Element des Zwangs ist vorübergehend, doch hat
Spencer kein Recht, daraus zu schließen — wie er wirklich
tut — , daß das Pflichtgefühl überhaupt etwas Vorübergehendes
ist. Er hat höchstens bewiesen, daß das eine der beiden Ele-
mente vergänglich ist. Warum hat er hier jenes andere Element
der autoritativen Geltung ganz und gar vergessen?
Was meint aber Spencer, wenn er von der Autorität des
Pflichtgefühls spricht? Das Wesen des Gewissens ist ihm nur
die Kontrolle einer Gefühlsklasse durch eine andere, nämlich
«die Kontrolle der einfachen und weniger idealen Gefühle durch
die mehr komplizierten und idealen». Im Grunde genommen
stimmt er mit Mill überein; «die letzte Sanktion aller Moral»,
sagte Mill, «besteht in einem subjektiven Gefühl in unserem
eigenen Bewußtsein» und «diese Sanktion hat keineswegs eine
bindende Macht über diejenigen, die das Gefühl nicht besitzen,
an welches sie appelliert».^ Man sieht leicht ein, was Mill und
1 Utilitarianism, S. 41.
Das Seinsollen. 71
Spencer unter der Autorität des Pflichtgefühls verstehen. Die
Autorität des Gewissens ist nur sein Stachel; ich bin ihm un-
gehorsam auf die Gefahr hin, Unlust zu haben. Das ist alles.
Lust und Unlust bleiben bei Spencer wie bei Bentham die
einzige und letzte Basis aller Moral. Recht und Unrecht sind
lediglich relativ und betreffen nur diejenigen Wesen, die Lust
und Unlust empfinden können.^ Ich sollte dieses tun, heißt nur,
ich werde Schmerz empfinden, wenn ich es nicht tue. Diese
Theorie hat dem Menschen nichts zu sagen, der für diesen
Schmerz nicht empfindlich ist. Sie kann auch nicht einem
Menschen befehlen oder empfehlen, die moralische Seite seiner
Natur zu erziehen und dadurch seine Empfindungsfähigkeit für
sympathische Schmerzen und Lustgefühle zu vermehren, wenn sie
nicht ihm zugleich beweisen kann, daß auch sein Überschuß
der Lust vermehrt werden wird. Auf einer solchen Basis kann
man nicht die Gültigkeit und Notwendigkeit der moralischen
Unterschiede gründen.
Spencer versucht zwar dieser Schwierigkeit zu entgehen
nicht dadurch, daß er auf eine normative Ethik überhaupt ver-
zichtet — dieses wäre der einzige konsequente Ausweg für den
Empiristen — , sondern durch die Theorie einer vollkommenen
Gesellschaft und einer relativen und einer absoluten Ethik. Er
löst das Problem, indem er auf eine Zeit hinweist, in der es
kein Problem mehr zu lösen gibt. Warum ich aber — der
ich auf dieser unvollkommenen Stufe der Entwicklung lebe und
zu einer Zeit, in der eine vollkommene Harmonie zwischen meiner
eigenen Lust und der Lust meiner Mitmenschen noch nicht be-
steht — , warum ich unter solchen Umständen eine bestimmte
Handlung tun soll, obgleich sie für mich einen Überschuß der
Unlust auf die Dauer bedeutet, ist eine Frage, auf welche
Spencers Theorie überhaupt nicht imstande ist, eine Antwort zu
geben. Er kann nur zeigen, daß ich, dank dem Assoziations-
gesetz und vererbten Tendenzen, ein Pflichtgefühl tatsächlich
besitze, das mich zu einer solchen Handlung der Aufopferung
treibt. Dieses Gefühl des Seinsollens ist aber nicht etwas All-
^ Principles of Ethics I, 159.
72 V. Kapitel,
gemeingültiges, sondern lediglich die Stimme der Gesellschaft,
die in mir spricht. Wenn nun Spencer festgestellt und mir
gezeigt hat, daß mein Gewissen eine der Gesellschaft zwar nütz-
liche, mir selbst aber manchmal unnützliche Illusion sei, warum
soll ich ihm länger gehorsam sein, wenn es mit meinem eigenen
Interesse in Konflikt kommt?
Diese Folgerung ist unvermeidlich. Die Schwäche liegt in
der empiristischen Philosophie selbst. Wenn das Wesen des
Gewissens in der Kontrolle einer Gefühlsklasse durch eine
andere Gefühlsklasse besteht, so gibt es überhaupt keine Mög-
lichkeit einer normativen Ethik. Diese Schwäche liegt in dem
System Mills offen zutage. Spencers geistreicher Versuche, den
Empirismus durch die Anwendung der Entwicklungslehre zu
retten, hat das Problem nur weiter zurückgeschoben, aber keines-
wegs gelöst. Bentham, Mill und Spencer, alle haben vergebens
versucht, eine befriedigende Sanktion für die Moral zu finden.
Der Grund des Mißlingens liegt auf der Hand. Eine philoso-
phische Theorie, die wie der Empirismus den ganzen Inhalt des
menschlichen Bewußtseins in Sinnesempfindungen und ihre be-
gleitende Gefühle auflöst, kann niemals dem Pflichtbewußtsein
gerecht werden oder die letzte Gültigkeit der Moral begründen.
Die Schwäche lag daher nicht eigentlich in dem Utilitaris-
mus, sondern in dem Empirismus. Für den Utilitarismus be-
deutete es sogar einen großen Fortschritt, wenn Sidgwick den
Empirismus verwarf, in der Überzeugung, daß er weder die Er-
kenntnis noch die Moral erklären könnte. Er ist der erste
englische Utilitarier, der sich geweigert hat, das Seinsollen in
einen Komplex von Assoziationen aufzulösen. Auch polemisiert
er mit unwiderleglicher Logik gegen den Versuch, den Unter-
schied zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, durch die
psychologische oder die soziologische Methode aufzuheben.^
Seine nachdrückliche Unterscheidung zwischen den Fragen des
Ursprungs, der Existenz und der Gültigkeit und zwischen
Antezedenzien und Elementen und seine Auffassung von der
Vernunft als praktischer trennt sein System vollständig von
demjenigen Spencers und der früheren Utilitarier.
^ Philosophy itä Scope and Relation, Kap. XII.
Das Seinsollen. 73
Man muß jedoch die Stellung Sidgwicks zur Entwicklungs-
lehre nicht mißverstehen. Er gibt gern zu, daß das Seinsollen
selbst ein Ergebnis des Entwicklungsprozesses sei; nur leugnet
er, daß es sich, so wie es jetzt im Bewußtsein ist, in elemen-
tarere Begriffe analysieren lasse. Mit andern Worten kann ein
Bewußtseins- Element X aus vorhergehenden Antezedenzien a, b,
c . . . . in der Entwicklung des Bewußtseins entstehen, und
doch kann man dieses X nicht wieder in a, b, c . . . . auflösen.
Es kann sehr wohl ein Neues sein, das in dieser Weise zum
Bewußtsein gekommen ist. Diese strenge Unterscheidung, die
Sidgwick zwischen Antezedenzien und Elementen macht, ist klar
und einleuchtend und von ungeheurer Wichtigkeit für die
Psychologie der Ethik. ^ Sidgwick ist sich aber kaum hinreichend
der ungeheueren Wichtigkeit der Entwicklungslehre fllr die
Moralwissenschaft bewußt. Vieles, was er darüber sagt, ist zwar
vollkommen berechtigt. Der Ursprung kann nicht die Gültigkeit
bestimmen und der Entwicklungsprozeß an sich kann kein
Kriterium der Moral geben. «Die kosmische Evolution», sagt
ein großer englischer Evolutionist und Naturforscher^, «kann
uns lehren, wie die guten und die bösen Tendenzen zustande
gekommen sind, sie kann aber nicht an sich selbst einen besseren
Grund geben, als wir vorher besaßen, warum, was wir ,gut'
nennen, dem, was wir ,böse' nennen, vorzuziehen ist.» Obgleich
dieses vollkommen wahr ist, ist auch nicht zu vergessen, daß
^ In seinem interessanten Buch, «La Morale Anglaise Contemporaine»,
hat M. Guy au Sidgwicks Standpunkt in dieser Frage vollkommen verkannt.
«Selon nous», sagt er, «la question qui parait ici secondaire ä M. Sidgwick
ist au contraire la principale. Si l'ecole de l'association on celle de
l'evolution me montre dans mes sentiments moraux des simples trans-
formations de Pinstinct, si eile disseque ma pretendue conscience morale
et la resout en des Clements purement physique, sie eile reduit en merae
temps Tautorite des lois morales ä la force de Thabitude, de l'heredite,
de l'intinct, comment soutenir celte Autorite subsiste neanmoins plein et
entiere et que l'opinion que ramene l'origine des sentiments moraux ä une
transformation de l'egoisme et compatible avec la doctrine intuitive, comme
avec la doctrine utilitaire comme avec la doctrine ego'iste?» Es ist die
Möglichkeit einer solchen Analyse, die Sidgwick ausdrücklich leugnet.
2 J. H. Huxley (Romaues Lecture)
74 VI. Kapitel.
der gauze Inhalt der Moral aus der Erfahrung besteht. Die
Entwicklung lehrt uns, diese Erfahrung als einen ganzen Prozeß
mit einem Anfang, einer Entwicklung und einem Endziel zu
betrachten. Sidgwick ist immer geneigt, einen Querschnitt dieses
Prozesses für das Ganze zu nehmen und das «hier und jetzt»
zu ausschließlich zu betonen. Die Entwicklungslehre hat die
Ethik nicht weniger als viele andere Wissenschaften bereichert.
Sie hat ein neues Licht auf die Stellung des Menschen in dem
Kosmos geworfen. Der große Gedanke des moralischen Fort-
schritts hat durch sie eine neue Betonung und eine neue Be-
deutung gewonnen.
VI. Kapitel.
Egoismus und Altruismus.
Bentham war der Theorie nach durchgängig Egoist. Nach
ihm ist es eine psychologische Notwendigkeit, daß der Mensch
seine eigene Lust sucht. Zwar muß man nicht vergessen, daß
ein solcher Egoismus, wie der Benthams, nicht wirklich prak-
tischer Egoismus war. Zum größten Teil war es bloß die
Leugnung der Möglichkeit eines selbstlosen Wollens. Der Mann,
der sagen könnte: «Ich möchte meinen teuersten Freund
wissen lassen, daß seine Interessen, wenn sie in Konkurrenz
mit denjenigen der Gesellschaft kommen, mir nichts sind; in
dieser Weise will ich meinen Freunden dienen, in dieser Weise
will ich, daß sie mir dienen»^ — , der war kein Egoist im ge-
wöhnlichen Sinne des Wortes. Es war seine Psychologie, die
ihn dazu führte, die Existenz von an andere Ziele als an das
eigene Interesse gerichteten Handlungen zu leugnen.
Teilweise unter dem Einfluß Comtes brach Mill mit diesem
einseitigen theoretischen Egoismus, der dem Utilitarismus Ben-
thams zugrunde lag und behauptete die Möglichkeit und, wenn
das gemeine Wohl es verlangt, die unbedingte Pflicht einer
absoluten Selbstaufopferung. Er verließ sich auf die Entwicklung
1 Werke X, S. 73.
Egoismus und Altruismus. 75
der Sympathie und der sozialen Gefühle, diese Unterdrückung
des Egoismus zu ermögUchen. Die Assoziationspsychologie be-
nutzte er, zu zeigen, wie die aller-altruistischsten Gefühle aus
egoistischen Wurzeln herauswachsen können. Hierin machte er
zweifellos einen großen Fortschritt über Bentham. Die ent-
scheidende ethische Frage ist aber: Warum soll ich das
Wohl eines andern meinem eigenen vorziehen? Warum soll
ich meinen altruistischen Impulsen gehorchen und sie erziehen?
Diese Frage war Mill nicht imstande zu beantworten. Wir be-
trachten zunächst die Versuche Sidgwicks und Spencers, dieses
alte Problem zu lösen.
Sidgwick und der Egoismus.
Sidgwicks Werk ist, wie der Titel schon zeigt, eine Unter-
suchung, nicht der ethischen Prinzipien, sondern der ethischen
Methoden. Unter einer Methode der Ethik versteht er «irgend-
ein vernünftiges Verfahren, durch welches wir bestimmen, was
menschliche Individuen tun sollen (oder was für sie zu tun
recht ist), oder was durch freiwilliges Handeln versucht werden
soll.^ Diese Methoden sind entweder implizite oder explizite
in dem allgemeinen moralischen Bewußtsein der Menschheit zu
finden S und Philosophen haben sie in Systemen, die jetzt histo-
risch sind, entwickelt. Sidgwicks Werk ist daher der Absicht
nach kritisch.
Nach einer eingehenden Prüfung glaubt Sidgwick, alle mög-
lichen Methoden auf drei reduzieren zu können — Egoismus,
Utilitarismus und Intuitionismus.
Der Theorie des psychologischen Egoismus zufolge haben
die früheren Utilitarier sich nicht darum bemüht, eine bestimmte
Unterscheidung zwischen dem Egoismus und dem Utilitarismus
oder, wie Sidgwick lieber sagt, zwischen dem egoistischen und
dem universalistischen Hedonismus zu machen. Man hatte viel-
mehr angenommen, der Intuitionismus bilde den eigentlichen
Gegensatz zu diesen beiden Methoden. Das Resultat der Unter-
suchung Sidgwicks ist aber, wie schon erwähnt, eine Versöhnung
^ Methods of Ethics, S. 1.
76 VI. Kapitel.
des ütilitarismus mit dem Intuitionismus und zugleich eine Ver-
schärfung des Gegensatzes zwischen ihnen und dem Egoismus.
Einer Prüfung des Egoismus widmet Sidgwick das ganze
zweite Buch seines Werkes. Diese Prüfung ist höchst unpar-
teiisch. Mit unerbittlicher Logik führt er diese Methode zu
ihren notwendigen Folgen. Er zeigt, daß, obgleich der Egoist
die gewöhnlichen Prinzipien der Moral im allgemeinen beachten
wird, er sie doch unter besonderen Umständen entschieden ver-
achten und brechen muß. «Ein zweifelhafter Führer nach einem
verächtlichen Ziel scheint alles zu sein, was der Kalkül des
egoistischen Hedonismus anzubieten hat.»^ Trotzdem be-
trachtet Sidgwick den Egoismus als eine mögliche ethische
Methode und behauptet, daß er es für unmögUch hält, die
Autorität der Selbstliebe oder die Vernünftigkeit, das eigene
Glück zu suchen, nicht anzuerkennen.
Um Sidgwick hier zu verstehen, müssen wir wieder das
Resultat seiner Prüfung des Intuitionismus und die drei daraus
abgeleiteten Axiome ins Auge fassen. Das erste Axiom schreibt
«die unparteiische Sorge für alle Teile des bewußten Lebens»
vor; «das Hernach als solche ist nicht mehr und nicht weniger
zu beachten als das Jetzt». Wie schon erwähnt, hat Sidgwick
dieses Axiom das der Selbstliebe oder des vernünftigen Egoismus
genannt und es als durchaus egoistisch aufgefaßt. Deswegen,
meint er, könne es mit dem Axiom des Ütilitarismus in Konflikt
kommen. Das erste Axiom erklärt es für unvernünftig, mein
höchstes Gut oder einen Teil davon gänzlich und auf ewig auf-
zuopfern. Nach dem zweiten Axiom dagegen bin ich verpflichtet,
das größere Gut eines andern meinem eigenen geringeren vor-
zuziehen.
Dieser letzte Widerspruch, der nach Sidgwick in der
moralischen Vernunft selbst wurzelt, ist eine höchst eigentüm-
liche Seite seiner Ethik. Er hat ihn den «Dualismus der
praktischen Vernunft» genannt. «Ich bin mit dem Namen
nicht sehr zufrieden,» sagt er, «er schien mir aber am ge-
eignetsten, um die Folgerung auszudrücken, die ich annehmen
^ Methods, S. 199.
Egoismus und Altruismus. 77
mußte, nachdem ich lange danach gestrebt hatte, eine vollendete
Systematisicrung unseres gemeinsamen ethischen Denkens zu
vollziehen. Neben (a) einer fundamentalen, moralischen Über-
zeugung, daß ich meine Glückseligkeit aufopfern sollte, wenn
ich dadurch die Glückseligkeit anderer im höheren Grade
vermehren kann, als ich meine eigene vermindere, finde ich
auch (b) eine Überzeugung, die moralisch zu nennen paradox
wäre, die aber nichtsdestoweniger fundamental ist, nämlich, daß
es unvernünftig wäre, irgendeinen Teil meiner eigenen Glück-
seligkeit aufzuopfern, wenn diese Aufopferung nicht in irgend-
einer Weise, zu irgendeiner Zeit, durch eine equivalente Ver-
mehrung meiner eigenen Glücksehgkeit ersetzt werden wird.
Diese beiden fundamentalen Überzeugungen finde ich in meinem
eigenen Denken so klar und bestimmt, wie der Prozeß des
introspektiven Nachdenkens nur immer ergeben kann.»^ Obgleich
Sidgwick hier das Wort Glückseligkeit braucht, zeigt doch das
ganze Werk, daß nach ihm dieser letzte Widerspruch nicht nur
für die eudämonistische, sondern auch für alle andern Be-
stimmungen des höchsten Gutes bestehe.
In dem letzten Kapitel — « das Verhältnis der verschiedenen
Methoden» — kommt Sidgwick wieder zu dieser, für ihn alier-
wichtigsten Frage der Ethik. Den Utilitarismus und den
Intuitionismus kann man, so meint er, versöhnen; gibt es aber
irgendeine Möglichkeit den rationellen Egoismus mit dem
rationellen Utilitarismus in Einklang zu bringen?
In der ersten Auflage hatte Sidgwick behauptet, daß es
«für die praktische Vernunft eine Frage um Leben und um Tod
sei», eine solche Versöhnung irgendwie zustande zu bringen.
Er hat auch die verschiedenen Versuche, die man danach ge-
macht hat, geprüft. Die Erfahrung zeigt, meint er, daß zwischen
Glückseligkeit und Tugend keine Koinzidenz bestehe. Einige
Denker haben geglaubt, die Sympathie könne die Versöhnung
herbeiführen, und man muß zugeben, daß die Lust der Sympathie
erheblich dazu beiträgt, die Kluft zu überbrücken. Doch zeigt
eine sorgfältige Betrachtung des Verhältnisses zwischen Tugend
und Sympathie, daß in zahllosen Weisen die Imperative jenes
^ Some fundamental etbical controversies, Mind 1889.
78 VI. Kapitel.
rationalen Wohlwollens, denen der Utilitarier verpflichtet ist,
unbedingt zu gehorchen, mit der Befriedigung jener gutherzigen
Affekte (kind affections), die Shaftesbury und seine Anhänger
als ihre eigene Belohnung in so glaubhafter Weise schildern,
in Konflikt kommen kann. Es bleibt aber die religiöse Sanktion
übrig. Die Existenz Gottes wäre nach Sidgwick imstande, die
Tugend und die Glückseligkeit zu versöhnen. In diesem Fall
wäre dann das letzte Problem der Ethik gelöst und die prak-
tische Vernunft in Konsequenz mit sich selbst gebracht. Man
kann aber, meint er, diese Existenz nicht aus bloßen ethischen
Gründen beweisen. Haben wir demnach das Recht diese Existenz
Gottes zu postulieren, um einen fundamentalen Widerspruch in
einem Hauptgebiete unseres Denkens zu vermeiden? Diese Frage
beantwortet Sidgwick mit einem Entweder — Oder. «Diejenigen,
die behaupten, daß das Gebäude der Naturwissenschaft auf
Schlüssen aufgebaut ist, die sich aus selbstevidenten Prämissen
logisch ergeben, können mit Recht verlangen, daß alle prak-
tischen auf philosophische Gewißheit Anspruch machenden
Urteile auf gleich sicheren Boden gegründet werden sollten.
Wenn wir anderseits finden, daß man in unserer angenommenen
Erkenntnis der Natur gewöhnlich Sätze als allgemeingültig an-
nimmt, welche auf keinem andern Boden zu ruhen scheinen,
als daß wir sehr geneigt sind sie anzunehmen, und daß sie für
den systematischen Zusammenhang unserer Erkenntnis unerläß-
lich sind, — so wird es noch schwieriger sein, eine in ähnlicher
Weise begründete Annahme in der Ethik zurückzuweisen, ohne
dem allgemeinen Skeptizismus Tor und Tür zu öffnen.»
Herbert Spencer.
Kein Teil von Spencers «Prinzipien der Ethik» hat mehr
Interesse und Diskussion hervorgerufen als sein Versöhnungs-
versuch des Altruismus und des Egoismus. Spencer erkennt
zugleich einen ursprünglichen Altruismus und einen ursprüng-
lichen Egoismus. Beide sind der Erhaltung der Rasse un-
entbehrlich gewesen. Im Laufe des Entwicklungsprozesses ist
die menschliche Natur ein Schlachtfeld für diese beiden Kräfte
gewesen und in der gegenwärtigen unvollkommenen Stufe der
Egoismus und Altruismus. 79
Entwicklung ist nur ein Kompromiß möglich. Die beiden ent-
gegengesetzten Kräfte sollen aber in dem goldenen Zeitalter, das
er als das Endziel des Entwicklungsprozesses schildert, voll-
kommen miteinander zusammenfallen. Wir werden zunächst
seine Theorie kurz darstellen.
Der Egoismus kommt vor dem Altruismus. Ein Geschöpf
muß leben, bevor es tätig sein kann und bevor es andern Wesen
nützen kann. Das Gesetz des Fortschritts lautet: Jedes Indi-
viduum soll die Vorteile genießen, welche ihm durch seine
eigenen erlebten und erworbenen Fähigkeiten zufallen. Ego-
istische Ansprüche haben daher den Vorrang vor altruistischen.
Die Zunahme der Glückseligkeit und die Fortdauer des Lebens
hängt von diesem Gesetze ab. Der Mensch, der genügend
egoistisch ist, um seine körperliche und geistige Kraft zu be-
wahren, vermehrt dadurch die Glückseligkeit seiner Mitmenschen
und seiner Nachkommenschaft. Durch ein Übermaß von Selbst-
verleugnung werden andern Menschen Lasten auferlegt. Auch
macht der Mensch, der übermäßig uneigennützig ist, diejenigen
selbstsüchtig, die ihn umgeben. Der rationale Egoismus ist
daher Pflicht.
Von der ersten Regung des Lebens an ist aber der Altruis-
mus nicht weniger wesentlich gewesen als der Egoismus. Ob-
schon er ursprünglich vom Egoismus abhängig ist, so hängt
doch sekundär der Egoismus von ihm ab. Spencer sucht zu-
nächst das Verhältnis zwischen den beiden von den ersten An-
fängen an zu bestimmen. Unter den einfachsten Wesen sehen
wir den Erzeuger vollständig aufgeopfert, indem er die Nach-
kommenschaft hervorbringt. Selbstopferung ist somit nicht
minder ursprünglich als Selbsterhaltung. Nun hat ein grad-
weises Fortschreiten von diesem unbewußten, elterlichen Altruis-
mus bis zu dem bewußten der höchsten Art stattgefunden. In
derselben Weise zeigt sich auch ein gradweises Fortschreiten
vom Altruismus der Familie zum sozialen Altruismus. Der
Familiensinn bereitete, indem er sich zunächst auf das Geschlecht
und den Stamm und im weiteren auf die aus verwandten
Stämmen gebildete Gesellschaft ausdehnte, dem Mitgefühl für
Angehörige eines fremden Volkes einen Weg.
80 VI. Kapitel.
Im gesellschafUiclien Zustand hängen im allgemeinen
egoistische Genüsse von altruistischen Tätigkeiten ab. Die
Glückseligkeit des Individuums ist mit der Glückseligkeit seiner
Mitmenschen eng gebunden. Auch hat der ungehörige Egoismus
die Tendenz sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Die Selbst-
sucht schließt viele soziale Genüsse aus und bringt zugleich
einen Mangel an Empfindungsfähigkeit für höhere Freuden.
Aus solchen Erwägungen geht hervor, daß der reine Egois-
mus ebenso wie der reine Altruismus gesetzlich unzulässig ist.
«Lebe für dich selbst» und «Lebe für andere» sind beide
falsche Grundsätze. Doch ist Egoismus wie Altruismus un-
entbehrlich. In der vollkommenen Gesellschaft werden sie in
Harmonie miteinander existieren. Heute aber kommen sie
manchmal in Konflikt miteinander. Ein Kompromiß bleibt
also als einzige Möglichkeit übrig. Welche Form soll dieser
Kompromiß haben? «Offenbar kann unser Schluß nur so lauten,
daß allgemeines Glück hauptsächlich durch ein entsprechendes
Streben aller Individuen nach ihrem eigenen Glück, das Glück
der Individuen dagegen zum Teil durch ihr Streben nach dem
allgemeinen Glück erreicht werden kann.»
Dieser Kompromiß ist jedoch nur notwendig, weil der Ent-
wicklungsprozeß noch nicht zu Ende ist. Der Egoismus und
der Altruismus stehen in keinem notwendigen Gegensatz zu-
einander. Schon sehen wir, daß mit dem Fortschritt der Kultur
die Versöhnung der beiden innerhalb der Familie zum großen
Teil erreicht ist. Es bleibt der Nachweis übrig, daß eine ähn-
liche Versöhnung auch zwischen den Interessen der einzelnen
Bürger und den Interessen der Bürgerschaft im ganzen statt-
gefunden hat und noch stattfindet, und daß dieselbe beständig
einem Zustand entgegenstrebt, in welchem beide in eins ver-
schmelzen und die den einen und den andern entsprechenden
Gefühle zu vollkommenerer Übereinstimmung gelangen. Dieses
Kesultat wird durch die x4.usbildung des Mitgefühls oder der
Sympathie zustande kommen. Die Versöhnung wird mehr und
mehr vollkommen werden in dem Maße, als sich die verschiedenen
Formen der Unglückseligkeit vermindern.
Egoismus und Altruismus. 81
Kritik.
Man muß zugeben, daß die Entwicklungslehre ein neues
Licht auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ge-
worfen hat. An die Stelle der alten individualistischen Auf-
fassung ist die organische getreten. Sie zeigt, daß der Mensch
durch tausend feine Fäden mit seinen Mitmenschen verbunden
ist. Selbst das Gewebe seines Denkens und Fühlens ist sozial,
und eine schroffe Unterscheidung zwischen den Interessen des
Individuums und denjenigen der Gesellschaft ist nicht mehr
haltbar. Das Wohl des Individuums ist mit dem Wohl der
Gesellschaft organisch verwoben und der zwischen beiden bisher
bestehende Konflikt löst sich allmählich mehr und mehr in der
Richtung nach einer höheren Harmonie auf. Zweifellos hat
Spencer hier einen großen Fortschritt über Mill gemacht — be-
sonders, indem er einen ursprünglichen Altruismus^ neben einem
ursprünglichen Egoismus erkennt. Das Spiel zwischen diesen
beiden Kräften hat nach ihm die ganze Entwicklung bestimmt,
und mit prophetischen Augen blickt er vorwärts nach der zu-
künftigen Utopie, in der eine vollkommene Harmonie zwischen
beiden bestehen wird.
Interessant und wertvoll, wie Spencers Behandlung dieses
Problems zweifellos ist, fragt es sich doch hier wieder wie bei
der Frage des Seinsollens, ob er die eigentlich ethische Frage
gelöst hat. Hier löst er wieder die Schwierigkeit dadurch, daß
er vorwärts auf eine Zeit hinweist, in der es keine Frage mehr
zu lösen gibt. Die ethische Frage ist aber diese: Da auf
der jetzt erreichten Stufe der Entwicklung der Egoismus mit
dem Altruismus in Konflikt kommen kann, was soll das Indivi-
duum im Konfliktsfall hier und jetzt tun? Warum sollte es
sich für die Gesellschaft aufopfern? Es ist sofort einleuchtend,
daß man diese Frage durch keine Entwicklungstheorie ent-
scheiden kann. Die bloße Geschichte eines Konflikts kann an
sich selbst keinen Maßstab geben, nach welchem man den
Konflikt selbst beurteilen kann.
^ Es ist also kaum richtig, wenn Wundt in seiner Ethik (I, 495) sagt,
daß bei Spencer der Altruismus nicht ursprünglich sei, sondern sich aus
dem Egoismus allmählich entwickelt.
Sinclair, Der Utilitarismus bei Sidgvvick u. Speucer. C
82 VI. Kapitel.
Spencer sucht zwar diesem und ähnlichen Problemen durch
seine Auffassung von der Aufgabe der Ethik zu entgehen. In
seinem früheren Werk — «Social Staties» — geht er so weit,
zu behaupten, daß ein Moralsystem, welches die gegenwärtigen
UnvoUkommenheiten der Menschheit anerkennt, nicht erfunden
werden kann und auch nutzlos wäre, falls man es erfinden
könnte. — In den «Tatsachen der Ethik» hat er sich mäßiger
geäußert. Hier lehrt er, daß die einzige mögliche Lösung des
Problems für die gegenwärtige Stufe der Entwicklung lediglich ein
Kompromiß sein muß. Er schreibt: «Auf den Übergangsstufen
werden nacheinander verschiedene Kompromisse notwendig
zwischen dem Sittenkodex, welcher die Rechte der Gesellschaft
dem Individuum gegenüber hochhält, und dem Sittenkodex,
welcher die Rechte des Individuums gegenüber denjenigen der
Gesellschaft besonders betont. Und offenbar läßt keiner dieser
Kompromisse, wenn sie auch für ihre Zeit jedesmal autoritative
Geltung haben, eine konsequente oder bestimmte Darstellung zu.»
Man bemerkt, daß dieser Kompromiß für seine Zeit auto-
ritative Geltung haben muß. Es fragt sich sofort, wie man
diesen autoritativen Kompromiß bestimmen soll. Nach welchem
Maßstab ist er zu finden? Soll er zugunsten des Individuums
oder zugunsten der Gesellschaft sein? Inwieweit muß das
Individuum sein eigenes Interesse für dasjenige der Gesellschaft
aufopfern, und inwieweit ist die Gesellschaft verpflichtet, das
Interesse des Individuums zu beachten? Dies ist die eigentlich
ethische Frage, die Spencers «wissenschaftlicher» Utilitarismus
zu beantworten nicht imstande ist. Die genetische Methode
erweist sich auch hier hülflos, einen ethischen Maßstab zu liefern.
Wir wollen zunächst Sidgwicks Behandlung dieser Frage
ins Auge fassen. Sein großer Fortschritt in dieser Hinsicht dem
früheren Utilitarismus gegenüber lag in seiner Verwerfung des
psychologischen Hedonismus. Dabei stand der Weg offen zu
der Möglichkeit einer adäquaten, der menschlichen Natur ange-
messenen Erörterung der Frage des Egoismus und des Altruis-
mus. Wichtig für sein System ist auch seine Anerkennung des
Egoismus als eine Methode der Ethik und seine Betonung der
Egoismus und Altruismus. 83
Tatsache, daß in dem Egoismus und nicht in dem lutuitionis-
mus der Utilitarismus seinen eigentlichen Gegensatz finde.
Man hat manchmal Sidgwicks Anerkennung des Egoismus
als einer ethischen Theorie angegriffen, und niemand hat dieses
klarer und energischer getan als Gizycki. In einem Aufsatz^
in dem «International Journal of Ethics» gibt er zunächst
Sidgwicks eigene Definition einer Methode der Ethik als «einer
Methode, die für seinen besondern und primären Zweck die Be-
stimmung dessen, was sein sollte, hat», dann fügt er hinzu:
«ich kann nicht in mir das Bewußtsein finden, daß ich nach
meiner eigenen größten Glückseligkeit streben sollte ; deswegen
kann ich den Egoismus nicht als eine ethische Theorie an-
erkennen». Wir haben in einem andern Kapitel gesehen, wie
Gizycki Sidgwicks Axiom des vernünftigen Egoismus kritisiert
hat, indem er zeigt, daß es bloß Priorität und Posteriorität in
der Zeit betrifft und daß es deswegen mit dem Axiom des
Wohlwollens niemals in Konflikt kommen kann. Durch die
Verwerfung des Egoismus als einer Methode der Ethik und
eine solche Auffassung von dem Axiom der Klugheit wollte
Gizycki Sidgwicks Utilitarismus zu einem konsequenten System
erheben und jenen «Dualismus der praktischen Vernunft» oder
Skeptizismus verhüten, zu welchem Sidgwicks Anerkennung des
Egoismus führt.
Nach Gizycki ist jenes Verlangen nach einer letzten Ver-
söhnung zwischen Egoismus und Altruismus nur ein mächtiges
Bedürfnis des Gemüts, ein affektives Bedürfnis nach Vergeltung,
nicht aber nach einer Rationahsierung des Verhaltens. «Der
wissenschaftliche Ethiker kann sich durch solche Erwägungen
nicht bewogen fühlen, die independente Basis der Ethik preis-
zugeben.» Diesem affektiven Bedürfnis gegenüber ist das Streben
nach dem allgemeinen Wohl ein Imperativ der Vernunft, der
nicht weniger stark und zwingend bleibt, mag auch immer die
Aufopferung der individuellen Glückseligkeit für immer unver-
golten sein.^
1 1890, S. 120.
2 Vierteljahrsschr. f. wiss. Philosophie, 1880, S. 125.
6*
84 VI. Kapitel.
Diese Kritik Gizyckis enthält ohne Zweifel viel Wahres in-
soweit, als sie das Axiom der Klugheit betrifft. In diesem
Axiom meinte Sidgwick dem rationalen Egoismus einen logischen
Ausdruck zu geben. Daß es ihm nicht gelungen ist, hat Gizycki
vollkommen bewiesen. Dabei hat aber Gizycki, unserer Meinung
nach, nicht die wirkliche ethische Schwierigkeit getröffen, die
Sidgwicks «Dualismus der praktischen Vernunft» zugrunde liegt.
Sidgwick hörte niemals auf, sich selbst als ütilitarier und nicht
als Egoist zu bezeichnen. Er hat seinen Utilitarismus auf einen
Imperativ der Vernunft gegründet. Der konsequente Egoismus
ist nach ihm nur «ein zweifelhafter Führer nach einem ver-
ächtlichen Ziel». Daß er trotzdem zuletzt wieder zu dem In-
dividuum zurückkehrt und sein Verlangen nach dem eigenen
Gut zur Geltung kommen läßt, ist eine unvermeidliche Folge
seines rationalistischen Verfahrens. Die Schwäche eines solchen
logischen Verfahrens besteht in seiner vollkommenen Unzuläng-
lichkeit, der individuellen Persönlichkeit gerecht zu werden.
Sidgwicks ethische Axiome sind überindividuell und überpersön-
lich. Sie drücken aus, was allen Persönlichkeiten gemeinsam
ist. Was diese leeren Formen betrifft, so gibt es keinen Unter-
schied zwischen allen Individuen, und wären sie das letzte Wort,
das die Ethik zu sagen hätte, so käme das Individuum mit der
ganzen konkreten Fülle seines eigenen Daseins und seinem
brennenden Verlangen, sich selbst zu realisieren, nie zu seinem
Rechte. Diese individuelle Persönlichkeit läßt sich aber nicht
unterdrücken. Sie ist zu glühend, zu lebendig, als daß man sie
unter logische universelle Formen subsumieren könnte. Und
diese große lebendige Macht, die in Sidgwicks abstrakten
Axiomen keinen Ausdruck fand, erhebt sich jetzt mit doppelter
Energie und verlangt zu ihrem Recht zu kommen. Es ist der
alte Konflikt, der immer und immer wieder in dem intellektuellen
und moralischen Kulturfortschritte der Menschheit auftritt —
ein Konflikt, der in dem Protest der Romantiker gegen den
Rationalismus und wieder in unserem Zeitalter in Nietzsches
brennender Verteidigung der eigenen Rechte des Individuums
zum klassischen Ausdruck gelangt ist. Zwei Weltanschauungen
stoßen hier aufeinander. Und das Eigentümliche bei Sidgwick
Kgoismus und Altruismus. 85
ist nur, daß er nicht vermag, das Schwert für die eine oder
für die andere Seite mit Entschiedenheit zu ziehen. Der große
Konflikt spielt sich dagegen in seiner eigenen Seele ab und
findet seinen Ausdruck innerhalb seines eigenen Systems, eben
in jenem «Dualismus der praktischen Vernunft». Nachdem er
durch sein streng logisches Verfahren konstatiert hat, daß «die
Tatsache, daß ich ich bin», keinen Unterschied in meinem
Handeln machen sollte, und daß ich deswegen verpflichtet bin,
mein eigenes Wohl nicht für wertvoller zu halten als das
gleiche Wohl jedes anderen, erhebt sich seine ganze Persönlich-
keit gegen einen solchen Schluß, und er behauptet das Entgegen-
gesetzte: «ich bin als ein Individuum für die Qualität
meiner eigenen Existenz interessiert in einem fundamental
wichtigen Sinne, in welchem ich für die Qualität der Existenz
von andern Individuen nicht interessiert bin».
Hierin besteht Sidgwicks «Dualismus der praktischen Ver-
nunft». Er hat versucht, in der Ethik streng rationalistisch zu
verfahren, ist aber auf etwas Irrationelles gestoßen — auf etwas,
das sich nicht unter logische Formen subsumieren läßt. Er ist
deswegen gezwungen, seinen großen Versuch, ein selbständiges,
von irgendeiner Metaphysik unabhängiges System der Ethik
aufzubauen, für mißlungen zu erklären. Die Metaphysik, die er
aus der vordem Tür herausgewiesen hat, kehrt durch eine
Hintertür wieder zurück. Der Vernunftglaube ist eine ebenso
notwendige Voraussetzung in der praktischen wie in der theo-
retischen Vernunft. Es ist ein Imperativ der Vernunft, daß ich
mein eigenes Gut für das größere Gut eines andern aufopfern
sollte; diese Vernunft selbst ist aber nur vernünftig, wenn es
eine moralische Ordnung gibt.
So weit stimmen wir Sidgwick vollkommen bei. Daß man
jemals von einem Individuum verlange, daß es auf ewig auf
sein höchstes Gut gänzlich oder selbst teilweise verzichte, ent-
hält sicherlich etwas Irrationelles und verletzt das moralische
Bewußtsein. «Man stelle sich eine Welt vor», schreibt Prof.
William James, «in welcher die Utopie Fouriers, Bellamys und
Morris übertroffen würde und Millionen ewige Glückseligkeit
genießen unter der einzigen Bedingung, daß an der weit ent-
86 VI, Kapitel.
fernten Grenze der Dinge eine gewisse verlorene Seele ein ein-
sames, von Qualen gefühltes Dasein führe wie scheußlich
wäre ein solcher Genuß, wenn man ihn als die Frucht eines
solchen Vertrags absichtlich annehmen würde. »^
Nun stellen wir weiter vor, daß eine solche Seele vor einer
solchen freiwilligen Wahl stände, daß sie das Gut von Millionen
andern sichern könnte, wenn sie nur ihr eigenes Gut auf ewig
aufopferte. Wahr ist es, daß einige edle Seelen in Augen-
blicken einer religiösen Ekstase sich selbst für bereit erklärt
haben, sich in ähnlicher Weise aufzuopfern; man denke nur
an den heiligen Paulus, der bereit war, auf immer verdammt
zu werden, um seine Landsleute zu retten. Und wahr ist es,
daß wir die Erhabenheit einer solchen Aufopferung empfinden
und ihren unmeßbaren ethischen Wert anerkennen würden.
Doch meinen wir, daß die Existenz einer solchen Wahl in sich
etwas Irrationelles enthalten würde. Wir stimmen den schönen
Worten des Sokrates, die Sidgwick zitiert, bei: «Ziehen die
Lenker des Weltalls den gerechten Mann dem ungerechten
nicht vor, dann ist es besser zu sterben als zu leben».
Kurz gesagt, eine rationelle Ethik setzt den Glauben an
ein rationelles Universum voraus; der moralische Mensch ver-
langt eine moralische Ordnung. Kant hatte den Mut gehabt,
diese moralische Ordnung zu postuUeren. Sidgwick war skep-
tischer angelegt und ließ die Sache unentschieden. Er drückt
sich am deutlichsten aus in dem nach seinem Tode veröflfent-
lichten Werk «The Ethics of Green, Spencer and Martineau» :
«Meine Antwort ist, daß, wenn wir nicht die moralische Welt-
ordnung annehmen oder beweisen, ein Konflikt zwischen rationellen
Überzeugungen bestehe. Setzte ich sie denn voraus? Ja, so-
weit sie die Praxis betrifft, als Mensch ; provisorisch und mit
angemessener Anerkennung des Mangels eines Beweises auch
als Philosoph. Die Annahme ist der Natur des reflektierenden
Menschen angemessen und ein Postulat des gesunden Menschen-
verstandes.»
1 International Journal of Ethics, Vol. I, S. 331.
Schliißbetrachtuug. 87
VII. Kapitel.
Schlußbetrachtung.
Ehe wir ein letztes Wort über den Utilitarismiis bei Sid-
gwick und Spencer sprechen, möchten wir noch kurz die Frage
behandeln, wie er durch seine geschichtliche Entstehung und
Entwicklung bedingt ist. Nur durch eine Erkenntnis seiner
Geschichte sind die Widersprüche und Inkonsequenzen des
früheren Utilitarismus zu verstehen. Der Utilitarismus war ein
Erzeugnis des revolutionären Geistes in England am Ende des
achtzehnten Jahrhunderts. Das größte Werk Benthams —
«Introduction to Morals and Legislation» — wurde 1789 heraus-
gegeben, und Bentham war durch und durch ein Kind seiner
Zeit. In ihm spiegelt sich die Größe und die Schwäche jenes
Zeitalters. Seit ihm hat die utilitarische Theorie eine lange
Entwicklung erlebt, und wenn man heute diese ethische Theorie
kritisiert, sollte man nicht bloß den Benthamismus ins Auge
fassen.
Historisch betrachtet lag die große Bedeutung des Utili-
tarismus in der Geschichte der englischen Ethik darin, daß er
das ethische Denken wieder nach dem höchsten Gut richtete,
und dadurch den höchsten Maßstab aller Moral zu gewinnen
sucht. Wie alle Reformatoren, suchte Bentham einen Maßstab,
nach dem soziale Ideale und Einrichtungen erprobt werden
könnten. Als eine Abhandlung Priestleys in seine Hände fiel,
in der er den Ausdruck «the greatest happiness of the grea-
test number» zum erstenmal zu finden meinte ^ geriet er fast
außer sich vor Freude. Der Ausdruck kam ihm wie eine Offen-
barung vor. «Ich schrie», sagte er, «als ich ihn fand, wie in
^ Wie in dem ersten Kapitel schon erwähnt, hat Bentham sich hierin
geirrt. Wahrscheinlich meint er Priestleys «Essay on Government», wo
die Formel selbst zwar nicht zu finden ist, obgleich es das utilitarische
Kriterium deutlich ausgedrückt hat. «Das Wohl und die Glückseligkeit
der Mitglieder, d. h. der Mehrheit der Mitglieder eines Staates, ist das
große Kriterium, nach dem alles, was den Staat betrifft, bestimmt werden
muß.» Priestley; Werke XXII, 13.
88 VII. Kapitel.
innerlicher Ekstase, wie Archimedes, als er das wesentliche Prin-
zip der Hydrostatik fand, sopyjxa.»^
Das Utilitätsprinzip war gewiß viel älter als Bentham, und
selbst einige Jahre bevor Benthams Buch erschien, entwickelte
der theologische Utilitarier Paley ein System, das in vieler Be-
ziehung eine auffallende Ähnlichkeit mit demjenigen Benthams
zeigt. Benthams Bedeutung lag darin, daß er dieses Prinzip
zum einzigen Maßstab erhob, und dadurch gewann sein System
eine Geschlossenheit und Konsequenz, die demjenigen Paleys
fehlt. Unter Utilität verstand man den Wert einer Handlung
für die Wohlfahrt des Individuums und der Gesellschaft, und
so wurde die Wohlfahrt aller das letzte Kriterium aller Moral.
Dies, und dies allein, betrachten wir als das Wesen des Utili-
tarismus.
Obgleich jedoch das Wesen des Utilitarismus allein darin
besteht, daß er die soziale Wohlfahrt als letztes Kriterium an-
erkennt, so ist doch seine Bearbeitung zu einer ethischen
Theorie durch den Gedankeninhalt der Zeit und besonders durch
die philosophische Lehre seiner Anhänger bedingt. Die empi-
rische Philosophie und Assoziationspsychologie bedingte die ganze
Form des Utilitarismus Benthams und Stuart Mills. Es war
ä priori nicht notwendig, daß ein Utilitarier auch Empirist und
Assoziationspsychologe sein mußte. Im Gegenteil hat die weitere
Entwicklung gezeigt, daß die empirische Philosophie den Utili-
tarismus vielmehr schwächte. Aber die ersten Utilitarier hatten
einen unüberwindlichen Glauben an das größte Glücksprinzip einer-
seits und an die x^ssoziationspsychologie anderseits, und aus dem
Bestreben, die beiden in einem harmonischen System zu ver-
einigen, entstanden fast alle Schwierigkeiten und Widersprüche,
denen sie nicht zu entgehen vermochten.
In dieser Weise finden der Hedonismus des Utilitarismus
und auch seine egoistische Basis ihre Erklärung. In der Tat
sind Utilität und Lust keineswegs wechselseitige Begriffe. Der
psychologische Hedonismus war aber ein Dogma der empirischen
Philosophie, an welchem niemand zweifelte, und wenn der Mensch
^ Deontology, T, 300. Vgl. F. C. Montagnp, Benthams Fragment
on Government, S. 34.
Schlußbetrachtung. B9
nur Lust sucht und suchen kann, so hat es keinen Zweck, für
den Moralisten einen andern Endzweck aufzustellen. Deswegen
löste man Utilität in Lust auf.
Zudem dachte Bentham nie daran, irgendeinen Beweis des
höchsten Guts zu geben. Im gewissen Sinne wäre der Versuch
auch gegen den Geist der empirischen Philosophie. Die früheren
Utilitarier glaubten mit Hume, daß letzte Endzwecke durch die
Gefühle und nicht durch die Vernunft gegeben sind. Daß man
den Endzweck als die Glückseligkeit der Gesellschaft definieren
müsse, war theoretisch eine Inkonsequenz, praktisch dagegen
schien es selbstverständUch denen, die vor allem die Verbesse-
rung der Gesellschaft im Auge hatten.
Daraus erwuchs aber dem empirischen UtiUtarismus die
größte Schwierigkeit. Der Übergang von einem psychologischen
Hedonismus zum Utilitarismus erwies sich als die Achillesferse
des Systems.
Doch gab es viele Gründe, warum Bentham und seine An-
hänger diesen inneren Widerspruch zwischen dem Utilitarismus
und seiner egoistischen Basis übersahen. Jenen scharfen Mißklang
zwischen dem Interesse des Individuums und dem Interesse der
Gesellschaft, die wir heute so tief empfinden, war jener Zeit
ganz fremd. Ein fast abergläubischer Glaube an eine mysteriöse
Harmonie zwischen den Interessen des Individuums und dem-
jenigen der Gesellschaft war ein Merkmal nicht nur des Utili-
tarismus, sondern des ganzen damaligen Denkens. Adam Smith
drückt nur die herrschende Meinung aus, wenn er behauptet,
daß der aufgeklärte Egoist, der allein seine eigenen Interessen
sucht, «von einer unsichtbaren Hand geführt wird, um einen
Endzweck zu fördern, der gar nicht in seiner Absicht liegt». ^
Bei dieser Gelegenheit möchten wir zugleich auf den Indi-
vidualismus des englischen Utilitarismus hinweisen. Zwar gibt
es keine notwendige Beziehung zwischen Individualismus und
Utilitarismus. Der konsequente Utilitarier muß selbst einen
absoluten Despotismus verlangen, wenn dabei die Gesamtsumme
der Glückseligkeit gesteigert werden könnte. Doch betont der
^ Wealth of Nations, Bk. IV, Ch. II. Vgl. Sorley, Ethics of Naturalism,
S. 138. HaJery, Le Radicalisme Philosophique, I, 19—23.
90 VII. Kapitel.
Utilitarismus, indem er das höchste Gut in Gefühlszuständen
findet, jene Seite des Lebens, wo der Individualismus am stärksten
ist. Meine eigene Lust allein kann ich fühlen, Ihre Lust fühle
ich nicht. Überdies bin ich der beste Richter meiner eigenen
Glückseligkeit. Daher hielten die Utilitarier fest an der Lehre
des Laissez-faire — der Lehre, daß der Endzweck der Gesetz-
gebung die Beseitigung aller jener Beschränkungen des freien
Handelns eines Individuums sein sollte, die nicht notwendig sind,
um die gleiche Freiheit der Mitmenschen zu sichern. Dicey
zeigt ausführlich in seinem Werke — «Law and Public Opinion
in England in the nineteenth Century»^ — wie diese Laissez-
faire-Lehre, die in England wenigstens bis zu den letzten Jahr-
zehnten des letzten Jahrhunderts herrschend war, ein wesent-
liches, obgleich nicht logisch notwendiges Merkmal der utilita-
rischen Bewegung war. «Das Ringen nach der persönlichen
Freiheit gab dem früheren Benthamismus sein Leben und
seinen Geist als einem kämpfenden Bekenntnis.»^
Diesen tief eingewurzelten Individualismus findet man auch
bei den späteren Utilitariern. Selbst John Stuart Mill war,
trotz seiner tiefen Sympathie mit dem Sozialismus und trotz
des Einflusses, den Auguste Comte auf ihn hatte, im Geist und
im Prinzip durchaus Individualist. Für diese Tatsache ist seine
Abhandlung über die Freiheit ein glänzender Beweis. Und es
ist nicht anders bei Spencer. Die Entwicklungslehre hat in
England viel dazu beigetragen, den Glauben an die organische
Natur der Gesellschaft zu verbreiten, und der Kollektivismus,
welcher in den letzten Jahren in England zugenommen hat und
nach Dicey seit ungefähr 1870 herrschend ist, dieser Lehre
außerordentlich viel verdankt. Spencer blieb trotz seines uner-
schütterlichen Glaubens an die Entwicklungslehre und obgleich
er eine Terminologie braucht, die auf die organische Theorie
hindeutet, immer durchaus Individualist, Er betont immer und
immer wieder, daß die Gesellschaft, obgleich sie im gewissen
Sinne ein Organismus ist, kein «gemeinsames Sensorium» besitzt.
Bei ihm existiert das Individuum nicht für die Gesellschaft,
London 1905. - ^ Dicey, S. 148.
Schlußbetrachtimg. 91
sondern die Gesellschaft für die Individuen. Seine ganze ethische
Theorie ruht auf einer individualistischen Basis. Spencer war
einer der unermüdlichsten Kämpfer für die Laissez-faire-Lehre
in England.^
Es ist auch nicht anders bei Sidgwick. Dieser vermochte
einen organischen Begriff der Gesellschaft, wie Green und seine
Schule vertraten, nicht zu begreifen. In der ersten Auflage der
«Methods of Ethics» schlägt er vor, «die Frage dadurch zu
vereinfachen, daß man ein einziges bewußtes Wesen in dem
Universum vorstellt».^ Er hat aber diese Stelle, wahrscheinlich
wegen Bradleys^ scharfer Kritik, in den späteren Auflagen
fallen lassen.
Endlich noch ein Wort über das Verhältnis des Utilitarismus
zu der gewöhnlichen Moral. Manchmal wird der Utilitarismus
dargestellt als ein bev/ußter Angriff auf die gewöhnliche Moral,
schwerlich mit Recht. Weit davon entfernt, nach einer «Um-
wertung aller Werte» zu streben, sucht der Utilitarismus im
Gegenteil nach einer philosophischen Basis und einem Maßstab
für die gewöhnliche Moral. Die Utili tarier standen in keinem
bewußten Gegensatz zu dieser Moral. «Zu handeln, wie man
behandelt werden will,» behauptet John Stuart Mill, «und seinen
Mitmenschen wie sich selbst zu lieben, bilden die ideale Voll-
kommenheit der utilitarischen Moral.» Der Utilitarismus ver-
langt nicht, daß die Motive einer Handlung Lust sein sollen.
Es ist keine Inkonsequenz, wenn Mill die Pflicht betont, die
Tugend um ihrer selbst willen zu lieben.
Ein Einwand, den man in dieser Hinsicht sehr oft gegen
den Utilitarismus richtet, ist die Behauptung, er greife die gene-
relle Regel der Moral an; daß der Utilitarier verpflichtet sei,
eine Regel wie Wahrheit, Keuschheit oder Gerechtigkeit u. s. w.
zu brechen, wenn er dadurch die Gesamtsumme der Glückselig-
keit vermehren könne. Man kann sich nun leicht einen Dieb-
stahl z. B. vorstellen, wo alle unmittelbaren Folgen gut sind,
und sagen, daß in diesem Fall der Utilitarier stehlen muß. Die
* Vgl. besonders «The Man versus the State».
2 S. 374. — 3 «Mr. Sidgwicks Hedonisra», S. 28, 29. — * ütilita-
rianism, S. 25.
92 VII. Kapitel.
Utilitarier antworten aber ganz konsequent, daß dieser Einwand
den Ungeheuern Wert übersieht, den die generelle Regel selbst
für die Gesellschaft besitzt. Eine Lüge z. B. hat die Tendenz,
die Regel der Wahrheit in dem Individuum, das lügt, und in
seinen Mitmenschen zu lockern. Daher sind die Fälle sehr selten,
in denen ein Utilitarier eine generelle Regel brechen wird. Alle
Utilitarier haben die Heiligkeit und den Wert der generellen
Regel betont.
Doch ist es wahr, daß, wenn der Utilitarier alle Folgen,
die unmittelbaren und mittelbaren (einschließlich dieser Wirkung
auf die generelle Regel der Moral selbst) ins Auge faßt und
trotzdem überzeugt ist, daß z. B. eine Lüge die Gesamtsumme
der Glückseligkeit vermehren wird — daß er in diesem Fall
verpflichtet ist, zu lügen. Daher sagt man manchmal, daß der
Utilitarier die jesuitische Lehre hält, daß der Zweck die Mittel
heiligt. Richtig aufgefaßt, ist dieser Einwand wahr. Nur ist
es ganz ungerechtfertigt, zu sprechen, wie Lipps^ z. B, tut, als
ob diese Lehre eine Eigentümlichkeit des Utilitarismus sei. Sie
ist notwendig in jeder teleologischen Theorie der Ethik ent-
halten, d. h. in jeder Theorie, die das Kriterium der Moral
in einem Gut sieht, das verwirklicht werden soll, gleichgültig,
ob dieses Gut Lust sei oder eine ideale Form (wie Selbstreali-
sierung z. B.) annimmt. Der Fehler der Jesuiten lag nicht in
ihrer Formel, sondern in ihrem Zweck. Der höchste Zweck
fordert und heiligt die Mittel, die unerläßlich sind, um ihn zu
verwirklichen.^
Der evolutionistische Utilitarismus.
Herbert Spencer hat sich selbst als Utilitarier bezeichnet
und mit Recht. Er stimmt mit allen Utilitariern darin überein,
daß die allgemeine Glückseligkeit der Endzweck des Lebens ist,
und in dieser Lehre allein besteht das Wesen des Utilitarismus.
Dieser Endzweck ist für ihn wie für Bentham psychologisch
1 Ethische Grundfragen, S. 73. 74.
2 Vgl. Jacobi, Brief an Fichte, Werke III, S. 37. Windelband,
Präludien, S. 329. «Das Wollen des Zwecks und das Wollen des Mittels
sind miteinander wechselseitig gesetzt.»
Schlußbetrachtung. 9'^
gegeben. Man muß, meint er, die Lust zum Endzweck machen.
Deswegen ist er, wie schon erwähnt, kein ethischer Evolutionist,
sondern evolutionistischer Utilitarier. Trotzdem spielt die Ent-
wicklungslehre eine so große Rolle in seiner Ethik, daß man
manchmal seinen Standpunkt mißverstanden hat.
Was den Endzweck betrifft, stimmt Spencer somit mit andern
Utilitariern vollkommen überein. Es ist nur die Methode des
Utilitarismus, die er verbessern will. Alle früheren Utilitaristen,
und darunter auch Bentham, tadelt er, weil sie das Prinzip der
Kausalität vernachlässigen, und diesen Mangel will er durch die
Entwicklungslehre ersetzen. Aus den Gesetzen des Lebens und
den Bedingungen der Existenz sucht er abzuleiten, welche Hand-
lungen Lust und welche Unlust notwendig mit sich bringen.
Für ihn ist die Lust der letzte ethische Endzweck; das Leben
dagegen der Endzweck des Entwicklungsprozesses. Indem man
aber beweisen kann, daß, was das Leben fördert, zugleich auch
die Lust fördert, wenigstens wenn man den Entwicklungsprozeß
als Ganzes betrachtet, kann man das Leben als mittelbaren
Endzweck annehmen, statt der Lust, die man direkt nicht ver-
folgen kann.
Die Eigentümlichkeit der Spencerschen Ethik besteht daher
in einer eigenartigen Verbindung zwischen dem Hedonismus und
der Evolution. Ist eine solche Verbindung haltbar? Mit der
Antwort dieser Frage steht oder fällt die ganze Ethik Spencers
als ethisches System. Niemand kann die großen Verdienste
Spencers für die Ethik in Abrede stellen. Viele psychologische
Vorfragen der Ethik hat er in origineller und manchmal in
geistreicher Weise behandelt, und durch die Entwicklungslehre
ist es ihm zweifellos gelungen, ein neues Licht auf die Tatsachen
der Ethik zu werfen. Diese Seite seiner Ethik haben wir schon
behandelt. Hier fassen wir die Zentralfrage allein ins Auge und
fragen, ob es ihm gelungen ist, den Utilitarismus mit der Ent-
wicklungslehre in Einklang zu bringen und dadurch eine neue
und wissenschaftliche Methode für den Utihtarismus zu finden.
Kurz, ist dieser evolutionistische Utilitarismus haltbar?
Es hebt sich zuerst die Frage des Pessimismus. Es ist
zwar deutlich, daß kein notwendiger Gegensatz zwischen dem
94 VII. Kapitel.
Utilitarismus an sich und dem Pessimismus besteht. Bei einer
pessimistischen Weltanschauung zielt der Utilitarismus auf eine
Verminderung des Überschusses der Unlust in der Welt zu einem
Minimum. Deswegen wird sich der Utilitarier als solcher nicht
notwendig darum bemühen, den Pessimismus zu widerlegen. Der
evolutionistische Utilitarier ist aber dazu verpflichtet. Ehe er
das Leben zum mittelbaren Zweck machen kann, muß er be-
weisen, daß das Leben einen Überschuß der Lust mit sich bringt.
In einer Rezension von Spencers «Data of Ethics» in der
Zeitschrift «Mind» (1880, S. 216) hebt Sidgwick diesen Punkt
hervor und verlangt von Spencer eine Widerlegung des Pessi-
mismus. Spencer antwortete in Mind (1881, S. 82): «Es ist
vollkommen wahr, daß ich nirgends eine Widerlegung des Pessi-
mismus übernommen habe und es ist ebenso wahr, daß ich nicht
dazu verpflichtet bin. Ich zeige nur, daß der Optimist und der
Pessimist darin übereinstimmen, daß das Leben gut oder böse
sei, je nach dem es einen Überschuß des angenehmen Gefühls
mit sich bringt. Indem ich beweise, daß die beiden Lehren
diese gemeinsame Annahme machen, bin ich nicht genötigt, die
eine oder die andere als wahr zu beurteilen.»
Hier sieht man leicht ein, daß Spencer den Einwand Sid-
gwicks mißverstanden hat. Sidgwick stimmt mit ihm vollkommen
überein, daß man, um die allgemeine Glückseligkeit als End-
zweck annehmen zu können, nicht erst den Pessimismus zu
widerlegen braucht. Was er aber mit Recht einwendet, ist,
daß Spencer kein Recht hat, das Leben und die Glücksehgkeit
als zusammentreffend anzunehmen, ehe er eine solche Wider-
legung gibt.
Es ist klar, daß der evolutionistische Hedonist dreierlei
beweisen muß; erstens, daß das Leben an sich einen Überschuß
der Lust bedeutet; zweitens, daß die Entwicklung des Lebens
eine immer zunehmende Glückseligkeit mit sich bringt; und
drittens, daß nicht nur die Glückseligkeit, sondern die größt-
mögliche Glückseligkeit in dieser Weise gefördert wird.
Was das erstere betrifft, so gibt Spencer zu, daß unter ge-
wissen Umständen der Pessimismus örtlich wahr sein kann (Mind
1881, S. 8G). Man fragt sofort, wie er entscheiden kann, ob in
Schlußbetrachtung. 95
einem bestimmten sozialen Zusttind der Pessimismus oder der
Optimismus wahr sei. Wie kann er jetzt das Leben als mittel-
baren Endzweck hier und jetzt annehmen? Offenbar ist er
sofort auf jene empirische Methode gewiesen, die er vermeiden will.
Zunächst entsteht die wichtige Frage, ob die fortschreitende
Entwicklung der Gesellschaft eine zunehmende Glückseligkeit
mit sich bringt. «Es können», sagt Spencer, «nur jene Arten
von Wesen am Leben geblieben sein, in denen durchschnittlich an-
genehme oder erwünschte Gefühle mit zur Erhaltung des Lebens
dienlichen Einwirkungen vorhanden waren.» Dies kann jedoch
nur im allgemeinen wahr sein und betrifft nur die früheren Stufen
des Entwicklungsprozesses, wo die natürliche Zuchtwähl der be-
stimmende Faktor ist. Je höher die Menschen sich entwickeln,
desto mehr schützen sie die Schwachen und die Unglücklichen.
Unter ihnen wird der Kampf ums Dasein mehr und mehr zu
einem Kampf zwischen Gruppen, und manchmal wird das Indi-
viduum gegen die natürlichen Folgen seiner Handlungen und
Begehrungen dadurch geschützt. Wir glauben, daß im allge-
meinen der Fortschritt eine Zunahme der Glückseligkeit bedeutet,
trotzdem ist es aber klar, daß man in vielen einzelnen Fällen
zwischen dem Fortschritt und der größten Glückseligkeit wählen
muß. Der moderne industrielle Fortschritt mit seiner äußersten
Arbeitsteilung hat mehr und melir die Tendenz, die Arbeitslust
von Tausenden von Individuen zu vernichten und sie zu Ma-
schinen zu machen. Der moderne Fabrikarbeiter, der sein
ganzes Leben hindurch einförmig und mechanisch einen einzigen
Uhrbestandteil macht, kann nicht dieselbe Lust an der Arbeit
haben wie ein Uhrmacher eines vergangenen Zeitalters, der selbst
ganze Uhren machte, deren jede ein individuelles Geschöpf und
den andern unähnlich war. Auch bat Spencer kaum recht,
wenn er immer und immer wieder behauptet, daß durch die
Gewohnheit allerlei Handlungen schließlich Lust mit sich bringen
können. Vielmehr hat, wenigstens in vielen Fällen, die Gewohn-
heit die Tendenz, eine Handlung in betreff der Lust und Unlust
ganz indifferent zu machen. Manchmal erfahren wir, daß Hand-
lungen, die zuerst mit großer Lust oder Unlust verbunden waren,
schließlich ganz mechanisch und instinktiv werden und dadurch
96 VII. Kapitel.
vollkommen indifferent hinsichtlich der Lust und Unlust. Wenn
die Pessimisten zweifellos unrecht haben, wenn sie lehren, daß
die fortschreitende Kultur die Tendenz habe, die Unlust zu ver-
mehren, hat Spencer doch ebenso unrecht, wenn er seinerseits
behauptet, daß die Kulturentwicklung eine konstante entspre-
chend zunehmende soziale Glückseligkeit mit sich bringe.
Selbst wenn wir aber dieses zugeben, daß eine Entwicklung
des Lebens und eine Zunahme der Glücksehgkeit Hand in Hand
gehen, so ist damit die Frage noch nicht erledigt. Der evolu-
tionistische Utilitarier hat noch einen Schritt weiter zu machen.
Er ist verpflichtet, zu beweisen, daß diese Zunahme der Glück-
seligkeit die größtmögliche sei, daß man mehr Glückseligkeit
nicht erreichen kann, wenn man ein anderes Ziel als das Leben
setzt. Offenbar kann er dieses nicht tun.
Kurz, dieser ganze geniale Versuch Spencers, den Utilita-
rismus und die Entwicklungslehre in dieser Weise in Zusammen-
hang zu bringen, ist vollkommen gescheitert. Man kann nicht
das Leben als vollkommen mit der Lust übereinstimmend be-
trachten. Der ethische Evolutionist, d. h. der Ethiker, der den
ethischen Endzweck durch die Entwicklungslehre bestimmt,
muß ein für allemal auf den Hedonismus verzichten. Und dies
ist tatsächlich die Tendenz unter den Schülern Spencers. Ent-
weder nehmen sie einen direkt evolutionistisch bestimmten End-
zweck an, wie z. B. Selbsterhaltung, Gesundheit oder Wirksamkeit
des sozialen Organismus, Equilibrium des Handelns, oder in noch
konsequenterer Weise, wie uns scheint, leugnen sie die Möglichkeit
einer normativen Ethik überhaupt und fassen die Ethik bloß
als die Wissenschaft des Ursprungs und der Entwicklung der
Moral auf.
Dies ist also das letzte Resultat des langen Versuchs, eine
utilitarische Ethik auf einer empirischen Basis aufzubauen.
Spencer hat versucht, durch eine evolutionistisch e Umbildung
des Empirismus eine sichere Basis und eine bessere Methode für
den Utilitarismus zu gewinnen. Dieser Versuch ist ihm nicht
gelungen. Von seinen eigenen Schülern ist der Bruch zwischen
dem Hedonismus und der Entwicklungslehre vollzogen worden.
Auf einer empirischen Basis läßt sich der Utilitarismus nicht
begründen.
Schlnßbetrachtung. 97
Der rationale Utilitarismus.
Wir haben gesehen, wie seine ganze Geschichte hindurch
der ütiHtarismus mit dem enghschen Empirismus verbunden ist,
obgleich diese Beziehung selbst nicht in der Natur des Utilita-
rismus als solchen, sondern lediglich in der philosophischen An-
schauung seiner ersten Begründer und Anhänger ihre Erklärung
findet. Durch eine Analyse der Erfahrung glaubte man den
ethischen Endzweck zu entdecken. «Der einzige Beweis,» sagte
Mill, «daß etwas begehrenswert ist, ist, daß man es tatsächlich
begehrt. Wenn der Endzweck, den die utilitarische Lehre
annimmt, in der Theorie und in der Praxis nicht als ein End-
zweck anerkannt wird, so kann niemand jemals davon überzeugt
werden, daß derselbe ein Endzweck sei. Man kann keinen Grund
dafür angeben, daß die allgemeine Glücksehgkeit begehrenswert
sei, außer daß jede Person ihre eigene Glückseligkeit begehrt,
soweit sie sie für erreichbar hält.»^ Der Endzweck ist daher
ein unmittelbares Ergebnis der Erfahrung. Wir haben eben
gesehen, daß diese Beziehung zwischen dem Empirismus und dem
Hedonismus durch die Entwicklungslehre und die dadurch ver-
ursachte Umbildung des Empirismus notwendig unhaltbar ge-
macht worden ist. Wenn die Entwicklungslehre überhaupt
imstande ist, einen ethischen Endzweck zu bestimmen, so kann
dieser Endzweck nicht die Lust sein. Gewiß ist es möglich, die
Entwicklungslehre als Tatsache anzunehmen, und dadurch selbst
den Ursprung der moralischen Gefühle und Urteile zu erklären,
und doch ganz konsequent, die Lust für den letzten Endzweck
zu halten. Allein dieser Endzweck muß jetzt auf eine andere
Basis gestellt werden als auf den Empirismus.
So verfährt Henry Sidgwick. Er hat nach einer neuen
Basis für den Utilitarismus gesucht, und es fragt sich jetzt, wie
man sein System als ein Ganzes beurteilen muß. Hier heben
wir nur die Hauptzüge hervor.
Was ihn von vornherein von den traditionellen Utilitariern
scheidet, ist seine bestimmte und bewußte Verwerfung der empi-
rischen Philosophie. Er weigert sich, das sittliche Bewußtsein
^ Utilitarianism, S. 53.
Sinclair, Der Utilitarismus bei Sidgwick u. Spencer. 7
98 VII. Kapitel.
mit den Empiristen in Gefühlszustände aufzulösen. Den Versuch
zu analysieren, wenn auch eine Analysis nicht mehr möglich ist,
betrachtet er mit Recht als den Hauptfehler der Assoziations-
psychologie. Zum erstenmal in der Geschichte des englischen
Utilitarismus ist die Lehre Humes, daß letzte Endzwecke durch
das Gefühl und nicht durch die Vernunft bestimmt sind, zurück-
gewiesen. Bei Sidgwick wird die Vernunft zum organisierenden
Moment in dem moralischen Bewußtsein, und das Richtige iden-
tifiziert er mit dem Vernünftigen. Mill und Bentham hatten
versucht, das Seinsollen in das Sein aufzulösen, während bei
Sidgwick das Seinsollen ein Letztes und Unanalysierbares ist.
Bahnbrechend in der Geschichte des Utilitarismus ist zu-
nächst Sidgwicks Verwerfung des psychologischen Hedonismus.
Diese Theorie hatte die naturalistische Basis des früheren Utili-
tarismus gebildet. Sie hatte auch die Ausbildung der Theorie
bestimmt und es zu einer Einsicht des wirklichen Gegensatzes
zwischen Egoismus und Utilitarismus nicht kommen lassen.
Sidgwicks eingehende Diskussion dieser ganzen Frage hat einen
so tiefen Eindruck auf die englische Ethik gemacht, daß die
Lehre des psychologischen Hedonismus jetzt davon fast ver-
schwunden ist.
Die nächste wichtige Frage, welche Sidgwick in ganz anderer
Weise beantwortet als die traditionellen Utilitarier, ist die Frage,
ob die Vernunft eine Triebfeder des Willens sein kann. Dies
hatten alle englischen Empiristen seit Hume geleugnet. Die
Frage ist zweifellos eine der entscheidendsten der Ethik überhaupt.
Sehr wichtig für ein Verständnis von Sidgwicks System und
sein Abweichen von dem traditionellen Utilitarismus ist seine
Verwerfung der genetischen Methode. Obgleich er zu einer Zeit
schrieb, als die Entwicklungslehre anfing, einen großen Einfluß
nach allen Richtungen auszuüben, war Sidgwick immer skeptisch
gegen ihren Wert für die Ethik. Wir halten seine strenge
Unterscheidung zwischen Ursprung, Existenz und Gültigkeit für
einen großen Fortschritt in seinem Utilitarismus. Sehr fein hat
er diesen Gedanken in verschiedenen Schriften entwickelt. Er
ist gern bereit, irgendeine Theorie des Ursprungs des Pflicht-
bewußtseins anzunehmen, die die Psychologie oder die Ent-
Schlußbetrachtuug. 99
Wicklungslehre begründen mag, nur hält er daran fest, daß der
Ursprung der ethischen Urteile ihre Gültigkeit nicht bestimmen
kann. Ein moralisches Urteil braucht nicht wahr zu sein, weil
es ursprünglich ist, und gleichfalls braucht es nicht falsch zu
sein, weil es abgeleitet ist. «Kein allgemeiner Beweis, daß unser
Pflichtbewußtsein abgeleitet oder entwickelt ist, ist ein ausrei-
chender Grund, um ihm nicht zu trauen.»^
Statt auf einer empirischen Basis ruht Sidgwicks Utilita-
rismus vielmehr auf einer intuitiven — auf dem Axiom des
Wohlwollens. Dieses Axiom ist bei ihm, wie schon erwähnt,
ganz formal und an sich inhaltlos. Es bezieht sich auf das
höchste Gut. So ist Sidgwicks Ethik zugleich intuitiv und teleo-
logisch.
Wir haben schon die drei Axiome '. — der Klugheit, der
Gerechtigkeit und des Wohlwollens — diskutiert. Es scheint
uns, daß diese Axiome ein logisches und ein kategorisches Ele-
ment enthalten, und daß Sidgwicks System an Konsequenz und
an Klarheit gewonnen hätte, wenn er diese zwei Elemente aus-
einandergehalten hätte. Sidgwick zeigte, daß das Prinzip der
Gerechtigkeit allen ethischen Systemen notwendig ist. Jedes
ethische Urteil setzt dieses Prinzip voraus. Nicht anders steht
es mit dem Prinzip der Klugheit: «Das Hernach als solches ist
nicht mehr und nicht weniger zu beachten als das Jetzt». Dieses
Prinzip liegt auch jedem ethischen Urteil zugrunde. Sidgwick
hatte unrecht, wie wir sahen, wenn er dieses Axiom als das
Prinzip des rationalen Egoismus auffaßte. Steht es aber anders
mit dem dritten Axiom, mit dem Prinzip des Wohlwollens?
Dieses enthält, meinen wir, ein logisches und ein kategorisches
Element. Das logische kann man so ausdrücken: «Mein Gut
ist nicht wertvoller als das gleiche Gut eines andern». Dies
ist auch ein rein logisches Prinzip. Das kategorische Element
ist nur ein «du sollst». Es ist an sich ganz formal und inhalt-
los, bezieht sich aber durch die drei logischen Axiome auf das
höchste Gut.
Wir betrachten Sidgwicks System als das tiefste und ge-
schlossenste aller utilitarischen Systeme. Er war zweifellos der
1 Methods, S. 213.
100 VII. Kapitel.
größte Ethiker der ganzen Schule. Spencer hat zwar die Psy-
chologie der Ethik bereichert und unsern Blick für die Tatsachen
der Ethik erweitert, doch hat er nie die eigentlich ethischen
Fragen in ihrem Kern erfaßt. Dagegen hat, in dem ganzen
19. Jahrhundert, niemand in England soviel zu einem systema-
tischen Studium der Ethik beigetragen wie Henry Sidgwick.
Weit entfernt ist sein System von dem empirischen Utilitarismus
seiner Vorgänger. Kant und Butler haben ihn tief beeinflußt,
und zwar viel mehr als Bentham und Stuart Mill. Im eigent-
lichen Sinne des Wortes ist sein System nicht als eudämonistisch
zu bezeichnen. Weder das Triebmotiv noch der Endzweck ist
die Lust des Handelnden. Die Vernunft und nicht das Gefühl
ist das organisierende Moment. «Gut ist meiner Ansicht nach,»
sagte er, «was zu behalten oder zu erreichen vernünftig ist, und
böse ist, wovon frei zu vvrerden vernünftig ist.»^ Das Recht-
tun ist also der Endzweck des Handelnden.
Der wunde Punkt in Sidgwicks System ist seine Bestimmung
des höchsten Gutes. Diese haben wir schon ausführlich disku-
tiert. Gegen seinen «universalistischen Hedonismus» scheint uns
der Einwand entscheidend, daß die Lust ein durch und durch
statischer Begriff ist, und kein Element des Fortschritts be-
deutet, und deswegen vollkommen ungeeignet ist, als das Ideal
einer fortschreitenden Gesellschaft zu dienen. Zwar wie die
gesetzliche Münze ist die Glückseligkeit im gewissen Sinne ein
Wertzeichen, wie jene Münze ist sie auch etwas Wandelbares.
Das Ideal der Glückseligkeit schwankt von Individuum zu In-
dividuum und von Zeitalter zu Zeitalter. Die Lust kann ein
mehr oder weniger zuverlässiges Maß des sozialen Fortschritts,
aber nicht das ausschlaggebende Moment in jenem Fortschritt
sein. Den Fortschritt einer Nation von einem Zustande des
Barbarismus zu einem Zustande der höchsten Kultur kann man
nicht in einem quantitativen Lust unterschied ausdrücken. Die
Glückseligkeit als das Ideal des Fortschritts tut dem wollenden
und denkenden Menschen unrecht.
Der Utilitarismus bedarf einer Vertiefung und einer Idea-
lisierung von der Bedeutung der Utilität. Der Hedonismus ist,
^ Ethics of Green usw., S. 331.
Sclilußbetrachtung. 101
selbst in der Form der allgemeinen Glückseligkeit, nicht ein
logisch notwendiges Element des Utilitarismus. Sein Wesen be-
steht darin, daß er seinen Maßstab in dem höchsten Gut der
Gesellschaft findet. Das sieht man klar in der Geschichte der
Schule und ihren Kämpfen mit den Intuitionisten. Wir haben
gesehen, wie Mills Utilitarismus nur formal hedonistisch ist, und
daß bei der Art seiner Unterscheidung von Lustqualitäten in
der Tat ein Kulturideal der Endzweck ist. Wäre Mill nicht
durch seinen Empirismus gezwungen, die Lehre des psycholo-
gischen Hedonismus zu halten, so hätte er sicherlich das höchste
Gut nicht als die Lust definiert. Das sieht man in seinem
wiederholten Bestreben, den Begriff der Lust zu idealisieren. In
seiner Schrift über die Freiheit sagte er: «Ich betrachte die
Nützlichkeit als den letzten Maßstab aller ethischen Fragen,
aber es muß die Nützlichkeit in ihrer umfassendsten Bedeutung
sein, gegründet auf die bleibenden Interessen des Menschen als
fortschreitende Wesen».
Der zukünftige Utilitarismus muß mit Sidgwick der nor-
mativen und rationalen Seite des ethischen Bewußtseins gerecht
werden, und er muß dazu einen Schritt über ihn hinaus machen.
Er muß sich vom Hedonismus, mit dem er schon beinahe ge-
brochen hat, vollends lossagen. Er muß den Versuch aufgeben,
das soziale Ideal, das der Inbegriff aller Kultur und alles Fort-
schritts sein muß, lediglich in der Lust zu finden. Kurz, er
muß ein höheres und tieferes Ideal als höchstes Gut aufstellen,
das dem Menschen als denkendes, wollendes, fortschreitendes und
nicht nur als fühlendes Wesen gerecht werden kann.
102
Literaturverzeichnis.
Wir führen nur die ethischen Werke Sidgwicks und Spencers und die
betrefifende Literatur an.
Henry Sidgwick.
The Methods of Ethics. 1874. 6. Aufl. 1901.
Outlines of the History of Ethics. 5. Aufl, 1902.
Practica! Ethics. 1898.
Philosophy, its Scope and Relations. 1902.
Lectures on the Ethics of Green, Spencer and Martineau. 1902.
Lectures on Kant and other Essays. 1905.
Verification of Beliefs. Contem. Rev. July 1871.
The Theory of Evolution in its relation to practice. Mind 1876, S. 52.
Bradley's Ethical Studies. Mind 1876, S. 52.
Hedonism and ultimate Good. Mind 1877, S. 27.
Mr. Barrat on the Suppression of Egoism. Mind 1877, S. 627.
The Establishment of Ethical First Principles. Mind 1879, S. 106.
Guyaus «La Morale d'Epicure». Mind 1879, S. 582.
Mr. Spencers Ethical-System. Mind 1880, S. 216.
Incoherence of the Empirical Philosophy. Mind 1882, S. 533.
Stephen's «Science of Ethics». Mind 1882, S. 572.
Green's Ethics. Mind 1884, S. 169.
Fowler's Progressive Morality. Mind 1885, S. 266.
Martineau's Types of Ethical Theory. Mind 1885, S. 426.
Martineau's Defence of «Types of Ethical Theory». Mind 1886, S. 142.
The Historical Method. Mind 1886, S. 203.
Idiopsychological Ethics. Mind 1887, S. 31.
Plato's Utilitarianism. Classical Rev. Mar. 1889.
Some Fundamental Ethical Controversies. Mind 1889, S. 473.
The Morality of Strife. International Journal of Ethics 1890, S. 1.
The Feeling Tone of Desire and Aversion. Mind 1892, S. 94.
H. Spencer's Justice, Mind 1892, S. 107.
Unreasonable Action. Mind 1893, S. 174.
Literaturverzeichnis. 103
My Station and its Duties. Int. Journ. Eth. 1893, S. 1.
Luxury. Int. Journ. Eth. 1894, S. 1.
D. G. Ritchie's «Natural Rights». Mind 1895, S. 384.
The Ethics of Religious Conformity. Int. Journ. Eth. 1895, S. 273.
The Relation of Ethics to Sociology. Int. Journ. Eth. 1899, S. 1.
Political Economy and Ethics. Dictionary of Political Economy. Vol. III.
Über Sidg^vick handeln:
Albee, Phil. Rev. Bd. XV., S. 5.
Bain, «Mr. Sidgwicks Methods of Ethics.» Mind 1876, S. 177.
«On Some Points in Ethics.» Mind 1883, S. 48.
Barker, Phil. Review Bd. XV., S. 5.
Bradiey, «Mr. Sidgwick on Ethical Studies.» Mind 1877, S. 122.
«Mr. Sidgwicks Hedonisra» 1877 (London),
ßarratt, «The Supression of Egoism.» Mind 1877, S. 167.
«Ethics and Politics.» Mind 1877, S. 452.
«Ethics and Psychogony.» Mind 1878, S. 277.
Bosanquet, Sidgwicks Practical Ethics. Int. Journ. Eth. 1897, S. 390.
Caird, Sidgwicks «Methods of Ethics.» Acaderay 1875, 12*^ June.
Clifford, «Right and Wrong.» Fortnightly Rev. Dec. 1875, S. 770.
Calderwood, «Mr. Sidgwick on Intuitionism.» Mind 1876, S. 197.
Edgworth, New and Old Methods of Ethics. London 1877.
Fowler, Reply to Sidgwick. Mind 1885, S. 481. Discussion of
Sidgwick on «Some fundamental Ethical Controversies.»
Mind 1889, S. 89.
Green, Hedonism and ültimate Good. Minds. 1877, S. 266.
Gurney, The Utilitarian Ought. Mind 1882, S. 349.
Gizycki G. v., Recension. Sidgwicks Methods of Ethics. Vierteljatrs-
schr. f. wiss. Phil. 1880 (S. 114).
Gizycki, Sidgwicks Methods of Ethics. Int. Journ. Eth. 1890,
S. 120.
Hayward,«Constructive Elements in the Ethical Philosophy of Sidgwick».
Ethical World, 15. Dec. 1900.
«The Real Significance of Sidgwicks Ethics.» Int. Journ.
Eth. 1901, S. 175.
The Ethical Philosophy of Sidgwick. London 1901.
Bryce, Studies of Contemporary Biography. 1903.
Martineau, Mind 1885, S. 628.
Marshall, The Definition of Desire. Mind 1892, S. 400.
Marshall, Unreasonable Action. Mind 1894, S. 105.
Mackenzie, Sidgwicks Methods of P^thics. Int. Journ. Eth. 1893, S. 512.
Masterman, Henry Sidgwick. Commonwealth, Okt. 1900.
Macmillan, Sidgwick and Schopenhauer. Int. Journ. Eth. 1897, S. 490.
Keynes, Economic Journal, Dez. 1900.
104 Literaturverzeiclinis.
Pollock, Evolution and Ethics. Mind 1876, S. 334.
Happiness or Weifare. Mind 1877, S. 269.
Peile, Cambridge Review, 25. Okt. 1900.
ßitchie, Sidgwick's Practical Ethics. Mind 1898, S. 535.
Spencer, Fortnightly Review, Dec. 1873.
Spencer, «Replies to Criticisms on the Data of Ethics». Mind
1881, S. 82.
Stephen, Sidgwicks Methods of Ethics. Frager's Mag. Mar. 1875.
Seth, The Evolution of Morality. Mind 1889, S. 27.
Is Pleasure the Summum Bonum? Int. Journ. of Eth.
1895, S. 459.
«The Ethical System of Sidgwick.» Mind 1901, S. 172.
Stephen, Henry Sidgwick. Mind 1901, S. 1.
Sorley, Henry Sidgwick. Int. Journ. Eth. 1901, S. 168.
Jones, E. E. C, Mr. Haywards Evaluation of Sidgwick's Ethics (und
Haywards Antwort). Int. Journ. Eth., Bd. XI, S. 3.
Wallace, «Sidgwick's History of Ethics». Mind 1886, S. 570.
Magill, R., Der rationale Utilitarismus Sidgwicks. Diss. Jena 1899.
Cabot, J. E. North., Am. Rev., CXXII, S. 446.
Dicey, A. V., Nation XXII, S. 162-180.
Stephen L., Dictionary of Nat. Biography (Supplement, Bd. 111).
Herbert Spencer.
Social Statics 1850 (umgearbeitete Ausgabe 1892).
Essays, scientific, political and speculative, 3 Bde. 1891. (Vgl. Morals
and moral sentiments 1871, Bd. I; Mr. Martineau on
Evolution 1872, Bd. I; The Ethics of Kant 1888, Bd. III;
Absolute Political Ethics 1890, Bd. III.)
The Man versus the State 1884.
Replies to criticisms on the Data of Ethics. Mind 1881, S. 82.
The Principles of Ethics, 2 Bde. London 1892, 93. (The Data of
Ethics 1879. Justice 1891. The Inductions of Ethics.
The Ethics of Individual Life 1892. Negative Beneficence.
Positive Beneficence 1893.)
Die Prinzipien der Ethik, aus dem Englischen von B. Vetter und
Victor Carus, 2 Bde. Stuttgart 1894—95.
Literatur über Spencer.
Alexander S., «H. Spencer's Principles of Morality.» Mind 1893,
S. 102 und 1894, S. 125.
Bain A., Herbert Spencer's Data of Ethics. Mind 1879, S. 561.
Beaussire M. E., La morale laique. Examen de la morale evol.
de m. H. Spencer. Paris 1881.
Bixby J. T. H. Spencer's Data of Ethics. Mod. Rev. 1882, S. 40.
Literaturverzeichnis. 105
Blaue E., Les nouvelles bases de la Morale d'apr^s H. Spencer 1887.
Bridel P. S., Les Bases de la Morale evol. d'apres H. Spencer.
Lausanne 1886.
Boesch J. M., Die entwicklungstheoret. Idee sozialer Gerechtigkeit.
Kritik der Sozialtheorie Spencers. Zürich 189G.
Cathreiu V., Die Sittenlehre des Darwinismus. Eine Kritik der
Ethik Spencers. Freiburg 1885.
Carneri B., Sittlichkeit und Darwinismus 1871.
Calderwood H., Herbert Spencer's Data of Ethics. Contem. Rev.
1880, S. 64.
Denslow, van Buren, The Ethical System of Herbert Spencer. Social
Economist VIH, S. 96.
Dubüis, Jules, Spencer et la principe de la morale. Paris 1890.
Drey, Sylvan, Spencers Theorie of Religion and morality. London 1887.
Drey, Sylvan, A. Theory of Life deduced from the evolution philo-
sophy 1897.
Davis V. D., H. Spencer's Theory of Morals. Unit. Review 1883, S. 41.
Fontana G., Le basi della morale di H. Spencer. La Filos. delle
Scuole Ital., Bd. XXIV, No. 3.
Gordon, Kate, Spencers Theorie of Ethics. Phil. Rev., Nov. 1902.
Guthrie M., Spencers Data of Ethics. London 1884.
Gaupp Otto, Herbert Spencer (Fromraanns Klassiker der Philosophie),
3. Aufl. 1906.
Guyan M., La Morale anglaise contemporaine. Paris 1879.
Ground W. D., The Structural Principles of Spencer's Philosophy. 1884.
Halleux J., L'Hypothese evolutioniste en Morale. Rev. Neo-Scolas-
tique, Nos. 27, 28, 29, 30.
Halleux J., L'isvolutionisme en Morale, Etüde sur la philosophie de
Herbert Spencer. Paris 1901.
Hudson W. H., Introductiou to the Philosophy of Herbert Spencer.
New-York 1895.
Höffding IL, Einleitung in die englische Philosophie. Leipzig 1889.
Hutton R. H., Mr. Spencer on moral intuitions and moral sentiments.
Contem. Rev. 1871, S. 463.
Iverach J., Spencer on Justice. Grit. Rev., II, 75.
The Principles of Ethics. CrU. Rev., II, 361.
Laurie S. L.^ Spencer on moral education. Educ. Rev. 1892, S. 485.
Lilly W. L., H. Spencer as a moralist. Fort. Rev. 1888, S. 427.
Magoun G. T., Herbert Spencer on Kant's Ethics. Cur Day, II, S. 200.
Marchesini G., La teoria dell' utile. Palermo 1900.
Mackenzie J. S., (Recension) Inter. Journ. Eth. 1893, S. 243 und
1894, S. HL
Miller E. D., Spencers Versöhnung des Egoismus und Altruismus.
Diss. Berlin 1899.
Means D. G., The ethical method of evolution. Mind 1880, S. 396.
106 Literaturverzeichnis.
M'Cosh, H.Spencer's Philosophy as culminated iu hisEthics. Edinb. 1884.
Norstrom V.; Grundtragen af H. Spencers sedelära. Upsala Univ.
Arsskr. Upsala 1899.
Pagnoni A., Le intuizioni morali e l'eredita nello Spencer. 1897.
Pillon F., Le sens moral selon M. Herbert Spencer. La crit. philos.
1873, (I), S. 97.
Sergi G. Fr., Le basi della morale di H. Spencer. Milano 1881.
Stork T. B., The Ethics of H. Spencer. Luth. Quart., 30, S. 1.
Sidgwick H., Lectures on the ethics of Green, Spencer and Marti-
neau 1902.
Sidgwick H. Mr., Spencer's Ethical System. Mind 1880, S. 216.
Saint, Andre, Simples Notes sur la morale de H. Spencer. Paris 1892.
Salvadori G., L^etica evolutionistica. Turin 1903.
Torkenau G. ß.. Die Grundlagen der Spencer'schen Ethik. Erlangen,
Diss. 1900.
Thouvenez E., Herbert Spencer. Paris 1905.
Traina S., La morale de Herbert Spencer. 1887.
Watson J., Hedonistic Theories from Aristyppus to Spencer. Glas-
gow 1895.
Williams C. M., Evolutional Ethics. London 1898.
Wace H., Herbert Spencers Data ef Ethics. Contem. Rev. 1880, S. 254.
Zuccante G., La Dottrina della Conscienza morale nello Spencer.
Lonigo 1896.
Zuccante G., Condotta buona e Condotta cattiva secondo lo Spencer.
Rev. Ital. di Filos. 1897, S. 63 und S. 175.
Über den Utilitarismus S.
Albee, «History of the English Utilitarians». Lon. 1902.
Alexander S., «Moral Order and Process». 1889.
Bergman P., «Ethik als Kulturphilosophie». (S. 400 ff.)
Bain Alex., «The Emotions and the Will». (S. 264-293), 4. Aufl. 1899.
Belot G., «L'ütilitarisme et ses nouveaux critiques». Rev. de Met.
et de Mor. 1894, S. 404.
Bentham J., Works. 1 1 Bde. Edinburgh 1843. Deontology. (Herausge-
geben von Bo wring) 1834. Introduction to the principles
of morals and Legislation». Cambridge 1879.
Bergman J., «Über den Utilitarismus». Marburg 1884.
Busse L., «Zur Beurteilung des Utilitarismus». Zeits. f. Phil, und phil.
Kr. 1895, S. 161.
Calderwood H., Handbook of Moral Philosophy. (14. Aufl. 1888.)
Dewey J., «The Study of Ethics». Ann. Arbor 1894.
Dicey A. V., «Law and public opinion in England in the 19th Cen-
tury». 1905.
Green T. H., «Prolegomena to Ethics».
Literaturverzeichnis. 107
Graham W., English Political Philosophy. 1899.
Gizycki G. v., Grundzüge der iMoral. Leipzig 1883. «Über den ütili-
tarismus». Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. 1884, S. 265.
Guyau, La Morale Anglaise Contemporaine. 5. Aufl. Paris 1904.
Hebler C, Philos. Aufsätze. (S. 35-66) 1869.
Grote John., «Examination of the utilitarian Philosophy». Camb. 1870.
HöiFding H., «Ethik». Leipzig 1901. (S. 55 ff.) «Einleitung in die
englische Philosophie». Leipzig 1889.
Huxley, Evolution and Ethics. 1893.
Halevy, Elie, «La Formation du Radicalisme philosophique». 3 Bde.
(Bd. I, La Jeunesse Benthams, Paris 1901. Bd. II;L'evo-
lutiou de la doctrine utilitaire 1901. Bd. III, La radicalisme
philosophique 1904.)
Hensel R., Hauptprobleme der Ethik. Leipzig 1903.
Jodl, Geschichte der Ethik. Bd. IL
James G. L, «Green und der Utilitarismus». Halle, Diss. 1894.
Lecky W. E. H., History of European Morals. 2 Bde. 2. Aufl. Lon-
don 1869.
Lipps T., Die Ethischen Grundfragen. (Eudäraonismus und Utilitaris-
mus, S. 55 ff.) 1899.
MartineauJ,, Types of Ethical Theory. 3. Aufl. 1889. «Utilitarianism.»
Old and New 1873, S. 26, 137.
Mill John Stuart, Utilitarianism. London 1863. (12. Aufl. 1895.)
Dissertatious, 4 Bde. London 1867—75.
Moore G. E., Principia Ethica. 1903.
Mackenzie J. S., Manual of Ethics. (4. Aufl. 1900.)
Muirhead, Elements of Ethics. 1891.
Paulsen J., System der Ethik. 2 Bde. 6. Aufl. 1903.
Sigwart C, Vorfragen der Ethik. Freiburg 1886.
Simmel G., Einleitung in die Moral Wissenschaft, 1892/3 (s. Kap. IV,
Die Glückseligkeit).
Stephen L., History of English Thougbt in the 18 th Century. Lon-
don 1876.
Science of Ethics. London 1882.
The English Utilitarians. 3 Bde. 1900.
Wentscher Max, Ethik. 1902. (s. Bd. I, S. 90 ff., 167 ff.)
Windelband VV., Präludien. 2. Aufl. 1902. (S. Normen und Natur-
gesetze. Kritische oder genetische Methode? Vom Prinzip
der Moral.)
Wundt, Ethik. 3. Aufl. 1903.
Sorley, The Ethics of Naturalism. 2. Aufl. London 1904.
Recent Tendencies in Ethics. 1905.
Kraus Oskar, Zur Theorie des Wertes. Eine Benthamstudie. 1902.
rvrv
'COCxD
Carl <ainter's Unlvertitätsbucbbandlund in I)eidelber().
^ec XOiUc $uc l)öl)ctcn £inl>cit
^^^^ Jof. HnT. froeblub.
^^^^^ gr. 80. Qel). mi. 4.40.
^^^^ ^roel^Iid? ifl juer)! im (Scbiete ber natunotfyenfd?aft unb im befonbcren ber ITlebisln fdjriftfiellerifcl?
tittg geiüffen. Sein holdes ftttlidjes unb religlöfcs 3ntcreffc bat ii\n innerlii? qeiwün<ien, ber piiilofofbie
fld? jujunjenben. Sein Cntroidlangsgang i]t bcmnadj bem Coges äljnlid? gcipefcn; and) feine ©ebanfen
f^nb bcnen CoQes Dcrioanbt. . . .
. . . iln biefe €rörterungen fd?Iie§en fldj bte über „tDiffen unb (Slauben", über „Das IPcfcn ber
Religion" unb über „(Semeinfcijaftsbilbung" an, ^^^ mödjtc fafi raten, bie £eftitre unferer 5d?rift mit
ber bicfcs (bes adjten) ilbfd?nitts 3U beginnen, ^ier 5eigt ftd? 5roetjIid?s probuftioe Kraft in it?rcr (tiefe
nnb il^rem Heidjtum. Der perfönlid?e (Sott übt feine ITlac^t in allem, cor allem in jcber felbftbeiuufiten
perfönlid?fcit. 3"^^"^ '^ unfer Cebcn geflaltet, roirb er oon uns efnpfunben. Der (Slaube oertraut
fidj itjm an. €r iji bas (San^e, bas HPiffen nur ein tCeil oon if)m. 3"» Ififfen erfd7eint übetl^aupt
nur bie £eud?tfraft bes IDillens. Der ^fortfdjritt ber (Sefd?id?te i)l ber fortgebcnbe Sieg bcs IDillens 5U
tjöljerer Ctnl^eit. 3"^?"^ ®ott 3U immer engerer unb uielfeitigcrer (Scmcinfd?aft bie inenfd7en Der=
fnüpft, entfaltet er in il^nen immer größeren Heicl?tum bes Cebcns, H)cr biefcm lOillen fiel? iüiberfet5t,
ber bereitet ftd? ben Untergang. Sütibc i|l Selbfimorb, llber bie eroige £iebc ijl eroige (Silöfung. 3"=
bcm ber Derfaffer im Derlauf biefer öetradjtung feine pbilofopl^ic ber ©efdjid^tp barlegt, fommt er
auc^ auf bie „Cieijtgeflalt" ber perfon 3cfu 3" fpredjen, bie er mit fo tiefem Dcrjlänbnis unb fo tiety-
geioinncnb befdjreibt, toie es feiten gefdjel^en ifi.
gum Sd}lu% legt ^roel^Iidj fein Perfiänbrns bec Kunjl unb bie unerfdjütterltdjen (5rünbe feinr;^
Unflcrbltdjfeitsglaubctis bar.
3d? Fann nur mit bem Ijerjlidjflen unb bem innigflen Danfe von ber Sdjrift fdjeiben. Sdjritt
für Sdjritt tjaben i»ir uns bie ibeale unb fromme Cebensanfdjauung unferer großen Denfer unb Didjter
Don neuem su erringen. ^Jroel^Iid? ifl einer ber begeifiertften unb geöanfenretdjften Mitarbeiter an ber
Cöfung biefer Jlufgabe. möge feine Sdjrift redjt »iele (Eeilnal]me finben unb ii^n 3ur Darlegung feines
ganjen tl)ei|lifd?en SYfictns ocranlafTen! (Protctlantcnblrttt.)
Pl)ilofopl)if(f> '^ religiöfe Betrachtungen
unb 5ernblicPe
Don
Keopold von Stecbow.
gr. 80. geij. tTlf. 7.—.
pbiIofopl7ifdj=rcIigiöfc Setrad^tungen, ^exnblide, (£rir)ägungen unb Oorfdjiäge eines fdjon por
30 3''l?rcn geftorbenen IHannes toerben Ijter oon feiner Cod^ter peröffentlidjt. £. Den 5ted?oiü l^at, toie
feine ttod?ter angibt, Dteles gefdjrieben, aber burdj mandjerlei mißlid?e Umfiänbe ift ntd?ts gebruci't
tnorben. 2Ius bem großen fd?riftlidjen ^adjlaffe ijat nun feine Codjter biefe 1867 poUenbcte Sdjrift ent=
nommen unb übergibt fte tjiermit ber ®ffcntlid)fett, ita fte nid/t toill, "öa^ fo Diel Talent cerlorcn fei.
Dem fefer roirb ettoas illtes geboten ; aber toas alt ifi, braudjt ntdjt Deraltet 3U fein unb ifi es I^ier in
ber Cat audj nidjt ; ber Derfaffer bcroegt ftdj gan3 in mobernen (Scbanfcngängen unb bietet reidjen
Stoff 3um rJadjbenfcn unb Diele neue Anregungen; mag er nun reben oon ber 3^^^ ^^s tncffias, Don
ber (Sottcsfotjnfdjaft <£l)ri)ii, Don ber Stelloertrctung €t)rifii ober Don bcm §ufammenl]ang bes djriftlidjen
prin3ips mit ber religiöfen JPelt in ibrcn fonfittutipen ©runblagcn, immer fallen bem aufmerffamen
Cefer neue (Sebanfengänge, neue problemfiellungen auf unb geben iljm fo ien ITtut unb 2lnlaß, aud?
felbß einmal über bas gerabe ertoülinte Problem nad?3ubenfen ; barin feigen trir aud? bcn ^aupt3iDCd'
ber Dorliegettben Sdjrift, ttidjt beletjren, fonbern anregen 3U tDOÜcn. (£it. iX*egxDCifcr.)
Bas Problem bct XOiUcmfmhtit,
€tn neuer Derfudj fetner Cöfung
Don
Karl f abrion»
gr. 80. gelj. IHF. 1.60.
^al^rion fagt auf engem Haumc red?t oiel; er beljanbelt bas Problem ber lüillcnsfretlieit in
feiner gcfdjtdjtlidjcn (Enttoicflung. Das IDefen bcs Problems erörtert er flar unb fdjarf, namcntlid? ront
Stanbpunftc ber Kaufaltljeorie, bie er glün3enb abfül^rt. riegatiu bctüiefen toirb bie ^Jrcibcit Don iljm
bnrd) bie 2lbleljnung ber bctermlniiltfdjen Folgerungen, pofitiD burd^ eine Dor3ÜgIid7e neue DarftcIIuna
iies ^teiljeitsberoußtfclns. (ZiUgem. üteraturbltttt.)
^ Carl Wlinter's anlverlitätsbachbandlung in Reidelbcrg. =
ffiax Dre^ler
Bie XDelt ah XDiUe $utn @dbft.
(Eine pl|tIofopIitfd?c Stubie.
gr. 80. gclj. trif. 3.—.
Das ^ndi Dreficrs mutet tjödjjl eigcntfimlid? an. Selten genug fJ6§t man in Ijeutiger gctt
fo reine entfcbloffene trietapby'iif, btc tocbcr im ©etoanbe cigentlid?er poefie auftritt, nod? ftd? mit rot
fcbaftlicbem Hüßseug umgibt. Der Stil bes Pcrfaffers erinnert barin an ^egel, ba§ uncrmöblid? bicfe
©runbgcbanPcn nad? aüen Seiten getrenbet unb in immer neuen Oariationen »iebertjolt »erben,
bas Chema eines mufifpöcfes Hingt jener eine <Seianfe „bie ITelt ijl bie Selbfioermittlung bes S
burd? bas rDiffen jum Selbfi" immer toieber an. Der üerfaffer fd?aut eine grofe «inljctt, in ber
Selbß logifdjer Urfprung mi> ctoiges ^iel afler €ntn)icflung ifi, in ber toeber bie matcrie eine €i
erißenj beanfprud?en fann nod? bas abjlrafte Subjeft, in ber beibe berartig aufeinanber angcnji
finb, ba% jene burd? bicfes iljr giel bes rDiffenwerbens, biefes burd? jene fein giel bes €tiDast»ii
erreid?t tPäbrenb bie ptjilofoptjic bie toatfre €intjeit iji unb fomit bas ctuige ibealc «nbstel bebe:
Dermittcin Kunß unb myrnf lebiglid? eine unooafommenc (BefüI^Iscinf^eit. Das principium individuati
iji bas Iüer!3cug bes Selbfi, bas es benu^t, um bauernb aus ftd? felbji burd? bie boppelte ITlonabem
ber ©bjefte unb Subjeftc su fid? felbfi 3u fommcn. (^^colog. £itcraturbcric^t.)
Pocicfungen über Pfy^ologte
getjaltcn im ^foyer bes (Sro§t|er3ogIid?en ^oftljeaters in Karlsrutje
von
f^ofrat Dr. ma^ X^tef^Ux,
gr. 8«. gel). IHlf. 3.60, in fein Ceintoanbbanb tTlf. 4.50.
. Das ganje Budj in feiner 3ntjalt» unb 5ormenfd?öne iji bain berufen, als eines ber bi
Silbungs'mittel aüen benen 3U bienen, bie ben l)ot)en Ztufgaben unferer Seele unb iljrcn tieften Zi
nad?3uforfd?en 3ntercffe entgegenbringen. . . . Sein Scmatjen, bas Bcfie in angenefjm^r iform 3U bie
iü bem r>erfaffer trefflid? gelungen, fo iia% toir bem empfetjlenstoertcn Sud?e rcd?t oiel Dcrjiänbnisc
Cef er oon fersen toünfdjen. IDenn biefer unfer lOunfd? in «rfaUung ginge, fo toarbc bas einen geifJ
^ortfdjritt unferer gan3en geit beieut^n. ((Dbb 5cllOTO.)
Pcin^ipien bct V(lct<ip\)yfit
Don profeTTor Branlslav petrotilevlc5.
I. :&ant>. I. Zlbtcilung:
2lüacmcine ©rttologle unb bU formalett Kategorien, mit einem 2lnl}awg; (Elemente -e<
ncvi^ (Beometrie unb 3 Slafeln mit 56 geometrifiijen Figuren.
Cef.--8". gelj. tüf. 15.—.
„€ine frifdje tjoffnungsreidje Stimmung fprid?t fid? fd?on in ber er!cnntnis = ti)eoretifd?en (Src
lehre biefer tnetap^tf .aus, in ber ^eljauptung oon ber abfoluten Realität ^« ^^•^tajrung. y« J
faffer fd?eut oor fetner pojitio^roiffenfdjaftlidjen Jtutorifät auf. €r rotü fogor in ^^.JJ^t?,^^«*«, «
mierenb eingreifen. Den Jtngelpunft feiner Spefulation bilbet eine eigentuniltd?e realijltfd?e 2tuffaffung
Hegationsaftes. 3n öiefem erften ^anbe bes grofe angelegten p^f^tf^ ^^?^f^,,„^ *i
Herne bev Seit, bes Haumes, 6er §aljl unb 5er Bewegung »telf citlge ^eleu^tung. 3
2lntinomien Ttn* nidjt ängftlidj umgangen, petroniet)ic5 unternimmt pielme^r ttj«*^«»«"
»ofitiDen tiifinen «öfungsperfu«^. . . ." („titevavi^d^ei Centralblatt" tlr. 30, J|C5,
Still, the discussion contained in this volume is Btimulating, and considera
dialectVc power is displayed. One will watch with interest in the later volumes whether the aot
succeeds in dealing with his various problems without always recurring to the mathematical pomt
View. Unfortunately, one word must be said regarding the . typography. — This is the more toi
repretted because — granted the author's point of view - the i's of the phüosophy f
quite carefuly dotted." („Naiure" No. 1856, iQOSi
. . Mais ce que nous venons de dire suffit pour qu'on puisse juger cette nouvelle göoraetne
point de vue philosophique. II dtait interessant de tirer du finitiame toutes ses consequem
öCientifiques; d cet egard, le travail de M, Petronievics ne sera pas inutile, car il constitue une sortö
reduction ä l'absurde du fimtisme, qui en est peut-etre la meilleure refutation . . /' J
(L. Conturat in „Bulletin des sciences matMtnaitques" Mars loa^
und „Revue de Metaphysique et de Marale" No. 2, 1905O ;
^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^
£. 5. IDinterfd?e 3ud?bru(ferei. ,
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
B Sinclair, A G
1571 Der utilitarismus bei
S5 sidgwick und Spencer