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Full text of "Der utilitarismus bei Sidgwick und Spencer"

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Der  utilitarismus  bei 
Sidgwick  und  Spencer 


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1571 
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I 


Der  Utilitarismus 

bei 

idgwick  und  Spencer 


•©♦o«- 


Von 

Dr.  A.  G.  Sinclair 


Heidelberg  1907 
^^arl  Winter*s   Universitätsbuchhandlung 


rrrlkgt-lrcU«  Hr,  161. 


b 


cS^-i^ibcfetbctxt^^ 


Carl  minUr^s  UnlverTttatsbuchhandliiii0  in  I5etdetber0. 


3Das  iDing  an  ftä)  nnt>  öae  t^atucgefe^ 

der  @eele, 

(Eine  neue  €rfenntnistI;eotie  t>on  Dr.  phil.  BmU  fr«  ^ynehen. 
gr.  80.  gcljcftct  ITlf.  15.—. 

...  Die  ^2  Ief|rrei(^en  Kapitel  I^anbcln  aber  folgenbe  Cljemata:  X.  TOie  fommt  ber  ITlcnfd?  anf 
bas  Ding  an  fld??  2.  Tiant  nnb  bas  jitig  ön  ^d?.  3.  Das  Ding  an  ftdj  unb  bie  IXaturiDiffenfdjaft. 
4.  Das  Ding  an  fi«^  als  ^Ypotljefe.  5.  Das  Ding  an  fid?  oon  stoei  Seiten,  üergleidjung  oon  Dubois» 
Hetmonb  anb  Kant.  6.  Das  Ding  an  ftd?  unter  bem  <5efeö,  7,  Das  Ding  an  fld?  unb  ber  üorfieUungs« 
oerlanf.  8.  Das  Ding  an  ftd?  unb  fein  2Iprtori.  9.  Das  Ding  an  jld?  unb  bie  Kategorien  bes  Der» 
jianbcs.  ^0.  Das  Ding  an  fidj  als  menfc^Iidje  Seele.  U.  Die  menfd?Iidje  Seele  unb  ber  grocrf. 
^2.  Das  menfd?Iici?e  (Erfennen  in  Kunji  unb  DDiffenfdjaft.  —  Die  ^rage  narf?  bem  unbefannten  Ding 
an  fidE?  fat)rt  IDynefen  $\x  ber  €rfenntnis,  ,Pa%  Kant  bas  Ding  an  pdj  als  oöUig  unbcfanntes  nicljt 
fe)l3uljalten  cermodjte,  unb  ein  fritifd?er  Überblicf  über  ben  gegenträrtigen  Stanb  ber  naturttiijyenj 
fd?aft,  toobei  frd?  lüynefen  befonbers  mit  Piftor  tncyer.  Will).  (D^walb  unb  3.  v.  ^eImi)oIö  auseins 
anberfe^t,  betoeift  itjm,  ba%  bie  oon  it)r  fiatt  bes  unbefannten  Dings  an  fidj  angenommenen  2Itome 
nnb  tnolefule  untjaltbare  2innaljmen  feien.  .  .  .  IDir  fönnen  biefe  IDfnefenfdjen  (Bebanfen  t)icr  natürlich 
nid?t  näl)er  enttoicfeln ;  jebenfaQs  entljält  bas  Buc^  eine  ^ülle  Don  Icl)rreidjen  Unterfudjungen  unb 
3becn,  Sefonbers  finb  bie  Sluseinanberfe^ungen  mit  Kant  als  bem  Ijerporragenbfien  crfenntnistljeorcs 
tifci?en  pf^ilofoptjen  oon  einer  ©rünblidjfeit,  toie  fie  bisl)er  toot)!  nod?  nidjt  gegeben  tourben.  lüie  bie 
pbilofoptjie,  fo  fann  aud?  bie  ITaturtDiffenfd?aft  oiel  aus  biefem  Buclje  lernen;  man  toirb  es  fid?erlidj 
nid?t  ignorieren  fönnen.  .  .  IDir  empfeljlen  b.ps  leljrreidje  Bud;  3U  einbringlid?cm  Stubium;  bie 
tjier  gebotene  neue  €rfenntnistI)eorie  bietet  oiel  Überrafdjenbes  unb  Zteues. 

(naturtDiffcnrc^öftl.  tOo4)cnf<^rift.) 

25cr  ■DerfufTcr  touröe  anlä^Iic^  t>ei  liÄnt=3ubiläum«  für  öicfes  VOevi  jum  iB^tcritottov 
t>ev  Univcrfttät  Königsberg  ernannt. 


Jios>  t>om  trtateddismus!  ' 

iöcfcnntniffc  eine«  ölten  VTatucwiffertfc^aftletrs  i 

oon  ProfelTor  Dr.  Hdolf  IQayer*  | 

gr.  80.  fart.  IHf.  5.—.  j 

i 

„ZJiefes  ^xxdi  xoivb  2luff«Ijett  crregctt.  groar  Ijat  es  gar  nidjts  SenfationeHes  an  fld?.  2lbcr  t 
ber  fo  fd?Iid?t  oorgetragene  3"^''I*  ocrbient  Ijodjjie  23ead?tung.  <2in  anerfannter  Unioerfltätsrcijrer  unb  j 
naturroiffenfdjaftler,  ber,  toie  er  felbji  oon  fidj  fagt,  tin  feinen  jungen  3'^^'^^"  ^^^  voüen  Segeln  i 
hinausfuljr  auf  bie  See  ber  materialijiifd?en  U?eltanfdjauungi,  legt  in  biefem  Bud^e  flar,  rul]ig  unb  ] 
fad)Iid?  bas  Unrcd^t  bes  ITlaterialismus  bar.  Unb  jtoar  perfieljt  er  barunter  nidjt  bIo§  ben  f raffen  1 
ttjcorctifdjen  inaterlalismus  aus  ben  ^eittn  eines  UToIefdjott  u.  a.,  fonbern  audj  feine  ettoas  rorneljmer 
ausfiaffierten  Bruber:  ben  €l}i|lorifd?cn»  unb  ben  monifiifdjen  ^äd'elfd/er  ^^rbung.  Der  (Sebanfcngang 
bes  Sudjes  —  natfirlid?  nur  in  gans  großen  gügcn  —  iji  etioa  \>et:  ausgegangen  t»irb  00m  allgemeinen  } 
Streben  nadj  (Släcf.  Das  ©lud  befletjt  in  ber  redjten  üerbtnbung  pon  <Scnu§  unb  llrbeit,  unb  biefe  | 
tpirb  nur  erreid?t  burd?  bie  redjte  Sittlidjfeit.  Darin  ba%  bie  Heligion  für  fef)r  picie  ITlenfdjen  bie  Bc=  | 
grünbung  btefer  Sittlidjfeit  leijlet,  liegt  il)re  ungetjcure  praftifdje  Sebeutung.  über  bas  i)!  nidjt  bie  ; 
einjige  Bcbeutung  ber  Religion:  itjre  Dogmen  Icijren  bie  ITelt  perjlet)en  unb  tjaben  baljer  benfelben  l 
IDatirtjeitsgeijalt  toie  tpiffenfdjaftltdje  Cl^eorten.  Der  Kern  ber  Heligion  —  «Sejlcben  eines  alliebenben  j 
IDeltengeijfes,  5rfit)ett  bes  menfd?Iid?cn  tDillens,  hinausragen  unferer  perfönlidifett  über  bas  gcitlidje»  ' 
—  I)at  aber  audf  IDat^rljeit  unb  JPtrflidjfeit  im  Ijöd?fien  Sinn:  iwar  tonne  fein  tTlenfdj  ben  gieeifcl  ganj  I 
übcrnjinbcn,  aber  auf  ©funb  religiöfen  €rlebens  fönne  ein  tjoljer  (Srab  Pon  berul^igcnber  ©ctptfljeit  | 
erreid?t  njerbcn,  n       "  '3 

itllen  IDiberfprud?  gegen  einseincs  untcrbrüde  idj  unb  erx»dl)ne  nur    ganj  im  Dorbeigei)en,   ba%  i 
bie  ruiiige  €eibenfdjaftsIofigfeit,   mit  ber  bas  ^udf  gefdjrieben  ifi,    sutoellcn  toie  aIl3ugro§e  ITüditernl^eit 
tpirft  — ,  um  nunmeijr  um  fo  lauter  unb  beutlidjer  3U  betonen,  ba%  es  piel  (5utes  errcidjen  fann,  wenn  j. 
es  In   bie  red?ten  £}änbe  fommt.     Ulan  madje  feinen    naturtoiff enfdjaf tlid?    angeljaud^teH'l 
Befannten    ein   ©efdjenf    bamit,      3ntercffant    ift    es    Pon    Jlnfang    bis    3U  €nbe   unb    fdjiägt  j 
bie  red?ten  Cöne  an  für  foldje,    bie  im  23ann  einfettig  naturnjiffcnfdjaftlidjer  iluffaffung  jiel)cn.    Hufjig  i 
unb  fadjiid?  loerben  bie  (Srensen  ber  naturroiffcnfdjaft  aufge3eigt,   loirb   bem  (Seljeimnis  in    ber  JDelt 
fein  Rcdjt  gctpatjrt,   tpirb   betont,    ba%    bie  Heligion   ein  Hed?t  auf  porurtcilslofe   Seadjtung,    ja    auf 
€t)rfardjt  i\abe  audj   für  ben,  ber   bistjer  nod?  feine  innere  Stellung  ba3U  l^abe  getoinnen  fönnen,   unb  ^, 
ba%   es    nottpenbig  fei,    ftdj  bie  €mpfänglid?feit   für  rcligiöfc  (Einbrücfe   3U  tpatjren.  —  3<^    '''""    """^  "| 
tpünfdjcn,  ba%  biefes  Sud?  in  ben  Kreifen,  an  bie  es  fidj  tpenbet,  bie  ISeactitnnq  flnbet,  bie  es  perbicnt."  | 

(2)tc  tOartburg  I$05,  Uv.  52.)        | 


Der  Utilitarismus 


bei 


Sidgwick   und  Spencer 


-•O^Oe- 


Von 


Dr.  A.  G.  Sinclair 


Heidelberg  1907 
Carl   Winter's   Universitätsbuchhandlung 


VerIa?s-ArchiT  Nr.  161. 


571 


Alle  Rechte,  besonders  das  Recht  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen, 
werden  vorbehalten. 


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III 


Inhaltsverzeichnis. 


I.  Kapitel.    Der  Utilitarismns  vor  8idg>vick  und  Spencer. 

Seite 

1.  Bedeutung  und  Ursprung  des  Wortes 1 

ßentham    und    «das    größte    Glück    der   größten   Anzahl».  2 

Natur  der  utilitarischen  Bewegung 3 

2.  Die  Lehre  Benthams 6 

3.  Die  Lehre  Mille 11 

IL  Kapitel,    ütüitarismns  und  lutaitionismus. 

1.  Der  Gegensatz   zwischen   diesen    zwei  Schulen    in  der  eng- 
lischen Ethik 15 

2.  Sidgwicks  Versöhnung.    Seine  drei  Axiome 18 

3«  Spencers  Versöhnung 24 

4.  Kritik 28 

in.  Kapitel.    Das  höchste  Gut. 

1.  Der  psychologische  Hedoniemus 33 

2.  Sidgwicks  «ethischer»  Hedonismus 40 

3.  Spencers  evolutionistischer  Hedonismus 42 

4.  Kritik 47 

IV.  Kapitel.    Die  Methode  des  Utilitarisnius. 

1.  Sidgwicks  «empirisch-reflektive»  Methode 51 

2.  Spencers  deduktive  Methode 56 

3.  Kritik 61 

V.  Kapitel.    Das  Seinsollen. 

1.  Die  genetische  Begründung  Spencers 63 

2.  Die  rationalistische  Begründung  Sidgwicks 66 

3.  Kritik 68 


IV  luhaltsverzeichnis. 

VI.  Kapitel.    Egoismus  und  Altrnismus. 

Seite 

1.  Sidgwick    und    der    Egoismus.     Sein   Dualismus   der    prak- 
tischen Vernunft 75 

2.  Spencers  Versöhnung  des  Egoismus  und  des  Altruismus     .  78 

3.  Kritik 81 

VII.  Kapitel.    Schlußbetrachtimg. 

1.  Geschichtliche  Bedeutung  des  Utilitarismus 87 

2.  Das  Wesen  des  Utilitarismus 88' 

3.  Seine  Verbindung  mit  dem  englischen  Empirismus   ....  88 

4.  Die  egoistische  Basis  des  früheren  Utilitarismus 89 

5.  Utilitarismus  und  Individualismus 89 

6.  Der  Utilitarismus  und  die  gewöhnliche  Moral 91 

7.  Der  evolutionistische  Utilitarismus  Spencers 92 

8.  Der  rationalistische  Utilitarismus  Sidgwicks 97 

LitcraturTerzcichnis 102 


-«>-4--«>- 


I.  Kapitel. 

Der  Utilitarismus  vor  Sidgwick  und  Spencer. 


I.  Ursprung  und  Bedeutung  des  Wortes. 

John  Stuart  Mill  rühmt  sich  der  erste  gewesen  zu  sein, 
der  das  Wort  «Utilitarismus»  zur  Anwendung  brachte.^  Zwar 
hat  es  Bentham  schon  im  Jahre  1781  gebraucht  und  1802 
schlug  er  vor,  die  Partei,  die  er  führte,  so  zu  benennen.  ^  Der 
Ausdruck  wurde  jedoch  von  ihm  aufgegeben,  weil  er  zu  unbe- 
stimmt war.  Bentham  selbst  zog  die  Bezeichnung  «Prinzip  des 
größtmöglichen  Glücks»  (greatest  happiness  principle)  vor.  Daß 
Bentham  das  Wort  «Utilitarismus»  überhaupt  gebraucht  hat, 
davon  wußte  Mill,  so  sonderbar  es  uns  erscheinen  mag,  nichts. 
Dagegen  las  er  einmal  mit  sechzehn  Jahren,  als  er  schon  mit 
jugendlicher  Begeisterung  für  die  Lehren  Benthams  erfüllt  war, 
einen  Roman  von  Galt:  «The  Annales  of  the  Parish»,  in  dem 
er  eine  Stelle  fand,  in  der  ein  alter  schottischer  Geistlicher 
seine  Pfarrkinder  ermahnt,  das  Evangelium  nicht  zu  verlassen, 
um  Utilitarier  zu  werden.  Das  Wort  machte  auf  Mill  solchen 
Eindruck,  daß  er  es  zum  Namen  für  eine  kleine  ethische  Gesell- 
schaft, die  er  im  Jahre  1822—23  gegründet  hatte,  wählte.  So 
kam  der  Name  allmählich  in  Gebrauch  und  verbreitete  sich, 
als  ihn  Mill  sogar  zum  Titel  einer  eigenen  ethischen  Abhand- 
lung nahm,  die  er  im  Jahre  1861  veröffentlichte,  in  der  ganzen 
ethischen  Literatur. 

Wichtiger  als  eine  Erkenntnis  des  Ursprungs  des  Namens 
ist,  daß  man  seine  Bedeutung  genau  versteht.  Das  Wort 
Utilitarismus  ist,    wie  Bentham  richtig  geurteilt  hat,  so  unbe- 

1  ütilitarianism,  S.  9.  —  2  Werke  X,  S.  92,  390. 
A,  G.  Sinclair,  Der  Utilitarismus  bei  Sidgwick  u.  Spencer.  1 


2  I.  Kapitel. 

stimmt  und  hat  zu  so  vielen  Mißverständnissen  gefiilu't,  daß 
seine  Entdeckung  durch  Mill  unglücklich  genannt  werden  muß. 
«ütilitarianism»  ist  natürlich  mit  der  Bedeutung  des  Wortes 
«Utility»  (Nützlichkeit)  verknüpft.  Mill  braucht  es  jedoch  zur 
Bezeichnung  der  Lehre  Benthams  vom  «größtmöglichen  Glücke 
der  Gesamtheit»  als  dem  letzten  Ziele  der  Moral.  Aber  «Glück» 
und  «Nützlichkeit»  sind  kaum  austauschbare  Ausdrücke.  Utili- 
tarismus  bezeichnet  so  jenes  ethische  System,  für  das  Professor 
Sidgwick  den  besseren  Namen:  «universalistischen  Hedonismus» 
vorgeschlagen  hat.  Utilitarismus  darf  also  niemals  mit  irgend- 
welchem selbstischen  System  verwechselt  werden.  Es  erregt  nur 
Verwirrung,  wenn  wie  bisweilen  heutzutage  ethische  Kritiker 
von  «egoistischem  Utilitarismus»  reden  und  wenn  man  das 
Wort  überhaupt  braucht,  ist  es  besser,  an  der  Bedeutung,  die 
Mill  ihm  gegeben  hat,  festzuhalten. 

Aber  das  Wort  Utilitarismus  ist  noch  in  anderer  Weise 
doppelsinnig.  In  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  war 
der  Utilitarismus  viel  mehr  als  eine  Richtung  in  der  Ethik. 
Die  Utilitarier  waren  keine  Theoretiker,  die  nichts  als  die  Aus- 
arbeitung einer  ethischen  Philosophie  im  Sinne  gehabt  hätten, 
sondern  Männer  der  Tat,  die  sich  für  praktische  Politik  inter- 
essierten und  einen  großen  Einfluß  auf  die  englische  Gesetz- 
gebung ausübten.  So  wird  das  Wort  Utilitarismus  einerseits 
gebraucht,  eine  besondere  ethische  Theorie,  die  vor  Bentham 
liegt,  zu  bezeichnen,  andererseits  als  Name  für  eine  ethisch- 
politische Gedankenrichtung,  die  er  begründete.  Darum  be- 
schränkt sich  auch  Leslie  Stephens  in  seinen  drei  Bänden  über 
«die  englischen  Utilitarier»  auf  eine  Geschichte  des  Lebens, 
der  Zeit,  der  politischen  und  sozialen  Lehren  und  Einflüsse  von 
Jeremy  Bentham,  James  Mill  und  John  Stuart  Mill. 

In  diesem  letzteren  Sinne  ist  Jeremy  Bentham  der  Be- 
gründer des  englischen  Utilitarismus.  Benthams  Formel  ist,  in 
ihrer  ersten  allbekannten  Fassung,  daß  «das  größtmögliche 
Glück  der  größtmöglichen  Anzahl»  der  Maßstab  von  Recht  und 
Unrecht  ist.  Aber  dieses  Axiom,  das  heutzutage  untiennbar 
mit  Benthams  Namen  verknüpft  ist,  stammt  ursprünglich  nicht 
von  ihm.     Der  Utilitarismus  lag  schon  von  Anfang  an    latent 


Der  Tltilitarismus  vor  Sidgwick  und  Spencer.  3 

in  der  englischen  Ethik.  Cumberland  formuliert  erst  ausdrück- 
lich (Uis  Prinzip  des  Utilitarismus  in  seiner  Abhandlung  «De 
Legibus  Naturalibus»  (1672).  Er  bezeichnet  «das  allgemeine 
Gute  aller»  (the  common  good  of  all)  als  das  höchste  etiiische 
Ziel.  Es  ist  aber  dabei  zu  bemerken,  daß  Cumberland  mit 
seinem  «Guten»  sowohl  Vollkommenheit  wie  Glück  meint.  ^ 
Die  Ehre  jedoch  (wenn  es  eine  solche  ist),  den  Ausdruck  vom 
«größtmöglichen  Glück  der  größtmöglichen  Anzahl»  geprägt  zu 
haben,  gebührt  Hutcheson.  Er  machte  einen  Unterschied 
zwischen  «formalem»  und  «materiellem»  Guten.  Seine  Formel 
für  materielles  Gutes  ist  folgende:  «jene  Tat  ist  die  beste,  die 
das  größte  Glück  der  größten  Anzahl  sichert,  und  umgekehrt, 
die  die  schlechteste,  die  das  größte  Elend  hervorbringt».^  Hier 
haben  wir  Benthams  Axiom  in  genau  denselben  Worten.  Doch 
ist  es  interessant  zu  verfolgen,  daß  Bentham  selbst  seinen  Aus- 
spruch nicht  aus  Hutcheson  nahm.  An  einer  Stelle^  erwähnt 
er  Priestley  als  denjenigen,  dem  er  die  Formel  verdanke.  Doch 
scheint  es,  als  ob  Bentham  hier  sich  geirrt  habe.  J.  I.  Rutt, 
der  Herausgeber  von  Priestleys  gesammelten  Werken,  konnte 
den  Ausdruck  darin  nicht  finden.^  An  einer  andern  Stelle^ 
schreibt  Bentham:  «Priestley  war  der  erste,  wenn  es  nicht 
Beccaria  war,  der  mich  lehrte,  diese  heilige  Wahrheit  aus- 
zusprechen». Nun  finden  wir  in  der  Einleitung  zu  Beccarias 
«Dei  Delitti  e  delle  Pene»^  (1764)  das  Kriterium  als  «la  mas- 
sima  felicita  divisa  nel  maggior  numero».^  Im  Jahre  1767 
hat  man  diese  Abhandlung  Beccarias  ins  Englische  übertragen 
und  dabei  die  oben  zitierte  Phrase  mit  «the  greatest  happiness 
of  the  greatest  number»^  übersetzt.  Hier  hat  deswegen 
Bentham  höchst  wahrscheinlich  seine  Formel  gefunden.  Man 
hat  aber  vermutet,  daß  Beccaria  seinerseits  die  Formel  direkt 
von  Hutcheson  übernahm.^     Warum  hat  aber   der   unbekannte 


1  Vgl.  Sidgwick,   History  of  Ethics,  S.  174. 

'■^  Enquiry  Concerning  Moral  Good  and  Evil  III,  §  3,  S.  164. 

3  Werke  X,  79.   -  *  Werke  Priestleys  I,  52  (1831  f.). 

^  Werke  X,  142. 

«  u.  7  Dei  Delitti  e  delle  Pene,  Monaco  1764,  S.  4. 

«  S.  X.  -  9  W.  R.  Scott,  «Francis  Hutchinson»,  S.  273—274. 


4  I.  Kapitel. 

Übersetzer  von  Beccaria  die  Phrase  nicht  wörtlich  übersetzt? 
«The  greatest  happiness  divided  amongst  the  greatest  number», 
wäre  die  natürliche  Übersetzung,  und  in  dieser  Weise  hat  ein 
moderner  Übersetzer  die  Phrase  tatsächlich  wiedergegeben.  Der 
Grund  scheint  uns  unzweifelhaft  darin  zu  bestehen,  daß  der 
Übersetzer  von  1767  Hutcheson  gelesen  hat  und  dessen  knappe 
Formel  zur  Wiedergabe  des  Beccariaschen  Ausdrucks  verwendet. 
Jedoch  bemerkt  Jodl  richtig  dazu:  «Die  Idee  war,  durch  die 
gesamte  Entwickelung  der  Ethik  und  Politik,  seit  Hobbes  ver- 
breitet und  lag  sozusagen  in  der  Luft».^  Im  Jahre  1758  de- 
finiert Helv^tius  die  Gerechtigkeit  als  «la  pratique  des  Actions 
utiles  au  plus  grand  nombre»^  und  in  1767  bezeichnet  Le 
Mercier  de  la  Riviere  das  Endziel  als  «assurer  le  plus  grand 
Bonheur  possible  ä  la  plus  grande  population  possible».^ 

Dies  ist  also  der  Ursprung  des  Satzes  vom  «größtmöglichen 
Glück  der  größtmöglichen  Anzahl».  Es  ist  bemerkenswert,  daß 
Bentham  selbst  diese  Fassung  der  Formel  ihrer  großen  Unbe- 
stimmtheit wegen  aufgab.  W^eil  die  Extensität  und  die  Inten- 
sität des  Glücks  dabei  in  Konflikt  kommen  könnten,  zog  er  es 
vor,  aus  der  Formel  die  Worte  «der  größten  Anzahl»  wegfallen 
zu  lassen.*  Z.  B.  w^enn  bei  12  Personen  zwischen  zwei  Mitteln, 
die  ihr  Glück  verursachen,  gewählt  werden  kann,  sollen  wir  da 
dasjenige  wählen,  das  8  Einheiten  Glück  bei  einem  jeden  von 
8  Personen  (im  ganzen  also  64  Einheiten)  oder  das,  das 
4  Einheiten  bei  jedem  der  12  Personen  (also  48  Einheiten) 
hervorbringt?^  Die  Formel  unterscheidet  hier  nichts,  aber  der 
Utilitarier  würde  das  erste  Mittel  wählen,  das  im  ganzen  die 
größte  Menge  Glück  bürgt.  Deswegen  redet  Bentham  nur  von 
dem   «größtmöglichen  Glück».     Dies    ist   die   Form,    der   auch 

^  Geschichte  der  Ethik  II,  601.  —  ^  De  l'Esprit  II,  Kap.  24. 

^  Leslie  Stephen,  Engl.  Utilitarians  I,  178.  Vgl.  auch  Halevy,  La 
Jeunesse  Benthams,  S.  29,  30,  und  Sorley-Mind  1904,  S.  270-271. 

4  Werke  I,  18,  19.     Deontology  I,  138,  330. 

^  Interessant  ist  es,  wie  Simmel  gerade  diesen  Einwand  allerdings 
in  feiner  logischer  Weise  entwickelt,  um  einen  Schlag  gegen  den  ütilita- 
rismus  zu  führen.  Wie  es  scheint,  ist  ihm  nicht  bekannt,  daß  Bentham 
schon  dem  Einwand  begegnet  ist.  Vgl.  «Einleitung  in  die  m.  W.»  I, 
324-326. 


Der  Utilitarismus  vor  Sidgwick  und  Spencer.  6 

Mill  den  Vorzug  gab,  und  die  seit  Bentham  unter  den  Utilita- 
riern  geherrscht  hat.  Es  bleibt  noch  zu  bemerken,  daß  das 
größtmögliche  Glück  nicht  nur  auf  den  Menschen  Bezug  nimmt, 
sondern  auch  auf  alle  empfindenden  Wesen  ^  oder,  wie  es 
Sidgwick  ausdrückt,  auf  die  ganze  empfindende  Schöpfung. 
Diese  weitausgedehnte  Humanität  Benthams  trug  sichtbare 
Frucht  in  England  und  zwar  in  den  Gesetzen  gegen  die  Miß- 
handlung der  Tiere.  <Es  handelt  sich  nicht  darum,»  sagt 
Bentham  über  die  Tiere,  «ob  sie  Vernunft  haben,  oder  ob  sie 
sprechen  können,  sondern  darum,  ob  sie  leiden  können.»^ 

Es  würde  also  gut  sein,  wenn  Ethiker,  die  den  Utilitarismus 
behandeln,  den  Ausdruck  «das  größtmögliche  Glück  der  größt- 
möglichen Anzahl»  aufgeben  würden.  Dieses  irreführende  und  in 
sich  selbst  widersprechende  Schlagwort,  das  doch  von  Bentham 
selber  schon  fallen  gelassen  wurde,  ist  kaum  noch  bei  irgend- 
einem Utilitarier  nach  ihm  zu  finden.  Daß  es  trotzdem  bei 
andern  Schriftstellern  bestehen  bleibt,  ist  ein  Zeugnis  für  die 
Lebensfähigkeit  und  das  Irreleiten  eines  bloßen  Schlagworts. 
Sidgwicks  Definition  des  Utilitarismus  würde  zweifellos  von  jedem 
Utilitarier  angenommen  werden.  «Unter  Utilitarismus  versteht 
man  diejenige  ethische  Theorie,  nach  der  dasjenige  Handeln 
unter  irgendwelchen  gegebenen  Umständen  objektiv  richtig  ist, 
welches  das  größte  Glück  überhaupt  erzeugen  wird,  wenn  man 
nämlich  in  Betracht  zieht  alle,  deren  Glückseligkeit  von  dem 
Handeln  berührt  wird.»  Bei  diesem  «alle»  denkt  Sidgwick  nach 
seiner  eigenen  Erklärung  an  alle  empfindenden  Wesen  einschließ- 
lich ihrer  Nachkommenschaft. 

Einige  paradoxe  Schlüsse  entstehen  freilich,  wenn  man  den 
Utilitarismus  auf  sein  logisches  Resultat  hin  prüft.  Also  an- 
genommen, daß  ein  Wachsen  der  Bevölkerung  die  Gesamtsumme 
des  Glücks  in  der  Welt  vermehren  würde,  obschon  auf  Kosten 
der  Abnahme  des  durchschnittlichen  Glücks,  so  müßte  der  Utili- 
tarier doch  nach  dieser  Vermehrung  der  Bevölkerung  streben. 
Und  anderseits,    wenn  mehr  Glück  dadurch  erzielt  würde,   daß 


^  Vgl.  Mill,  Dissertations  II;  480. 
2  Mill,  Dissertations  II,  483. 


6  I.  Kapitel. 

lieber  B  als  A  gewisse  Glücksmöglichkeiten  erhält,  oder  als  daß 
sie  zwischen  A,  B,  C  .  .  .  .  geteilt  werden,  so  ist  der  Utili- 
tarier  doch  verpflichtet,  sie  an  B  zu  geben.  Natürlich  war  es 
für  Bentham  leicht  zu  beweisen,  daß  in  der  Regel  die  demo- 
kratische Verteilung  das  größte  Glück  hervorbringen  muß.^  Bei 
sonst  gleichen  Umständen  fordert  der  Utilitarier  daher  absolute 
Unparteilichkeit.  Und  damit  haben  wir  das  zweite  berühmte 
Schlagwort  Benthams  und  der  Benthamianer:  «Jeder  ist  für 
eins  zu  zählen  und  keiner  für  mehr  als  eins». 

So  betrachtet,  ist  der  Utilitarismus  eine  große  ethische 
Reformbewegung,  die  mit  Bentham  beginnt  und  bis  zur  Gegen, 
wart  reicht.  Henry  Sidgwick  und  Herbert  Spencer  waren  die 
führenden  Vertreter  dieser  Theorie  in  England  zur  Zeit  der  vorigen 
Generation.  Bei  ihnen  hat  die  Theorie  eine  Entwickelung  gänz- 
lich verschiedener  Art  erfahren.  Um  dies  zu  verstehen,  müssen 
wir  die  ethischen  Lehren  ihrer  beiden  tonangebenden  Vorgänger 
—  Jeremy  Bentham   und  John  Stuart  Mill  —  kurz  skizzieren. 

2.  Jeremy  Bentham. 

Jeremy  Bentham  (1748—1832)  ist  der  Begründer  des  mo- 
dernen Utilitarismus.  Wie  die  meisten  Hedonisten  verweilt  er 
kaum  bei  dem  Versuch  zu  beweisen,  was  eigentlich  das  höchste 
Gut  sei.  Was  kann  denn  jeder  anderes  suchen  als  sein  eigenes 
Vergnügen  und  was  kann  das  höchste  Gut  der  Gesellschaft  sein 
als  das  größte  Glück  ihrer  Glieder?  Dies  ist  für  Bentham  ganz 
einleuchtend.  Glück  ist  einfach  Lust  und  die  höchst  gesteigerte 
Lust  das  Endziel. 

Benthams  Utilitarismus  ist  aber  verwickelt  durch  eine 
psychologische  Theorie,  die  den  Hedonisten  seit  den  Tagen 
Aristipps  eigen  ist.  Diese  Theorie,  die  Sidgwick  psychologischen 
Hedonismus  genannt  hat,  lehrt,  daß  Lust  und  Unlust  die  ein- 
zigen Motive  des  Handelns  sind  und  sein  können;  daß  jede 
Handlung  unvermeidlich  aus  dem  Wunsch  zur  Lust  oder  aus 
der  Abneigung  zur  Unlust  entsteht.  «Die  Natur  hat  die  Men- 
schen  unter  zwei  Herrscher   gestellt,   den   Schmerz  und  die 

1  Werke  I,  18,  19. 


Der  Utilitarismus  vor  Sidgwick  und  Spencer.  7 

Lust.  Sie  allein  bestimmen,  was  wir  tun  müssen  und  tun  werden.» 
Dies  sind  die  Anfangsworte  von  Benthams  «Introduction  to  the 
Principles  of  Morals  and  Legislation».  Er  schreckt  nicht  vor 
der  konsequenten,  wenn  auch  noch  so  paradoxen  Anwendung 
dieser  Theorie  zurück.  Die  Unlust  ist  das  einzige  Böse,  Lust 
das  einzige  Gute.  Wenn  also  jedes  Motiv  eine  Lust  ist,  so  ist 
jedes  Motiv  an  sich  gut.  Die  Lust  der  Bösheit,  so  armselig 
und  schlecht  sie  auch  ist,  ist  doch  als  bloße  Lust  gut.^  Die 
Folgen  allein  machen  die  Handlung  schlecht.  Und  jene  Tat  ist 
die  beste,  die  für  alle  betroffenen  Personen  die  größte  Lust  be- 
deutet. 

Alle  Motive  also  sind  selbstsüchtige,  da  sie  durch  Lust  und 
Unlust  des  Handelnden  bestimmt  werden.  Bentham  will  nicht 
die  Unabhängigkeit  altruistischer  Motive  zugeben.  Und  auf  die 
Frage,  warum  er  gerade  so  viel  Selbstlosigkeit  in  der  Arbeit 
für  das  Wohl  anderer  betätigt,  antwortet  er:  «Ich  bin  ein  selbst- 
süchtiger Mensch;  selbstsüchtiger  als  ich  kann  man  nicht  sein. 
Aber  in  mir  kommt  es  irgendwie  zustande,  daß  die  Selbstsucht 
in  Gestalt  des  Wohlwollens  erscheint.  Es  gibt  niemand  auf 
Erden,  dessen  Leiden  mir  Freude  machen  würde  —  so  groß 
ist  die  Macht  der  Sympathie  in  mir.»^  «Bloß  Selbstsucht»,  sagt 
er  irgendwo,  «kann  als  Nahrung  dienen,  obgleich  Sympathie  sehr 
gut  als  Nachtisch  ist.» 

Ganz  konsequent  beschränkt  Bentham  alle  Lustverschieden- 
heit auf  die  der  Qualität.  Ein  wesentlicher  Unterschied  hin- 
sichtlich der  Quantität  kann  nach  ihm  nicht  bestehen.  Er  stellt 
sogar  einen  Lustkalkul  auf.  Eine  Lust  mag  die  andere  über- 
treffen in  der  Dauer,  der  Intensität,  der  Gewißheit,  der  Nähe^, 


*  Principles  of  Morals  and  Legislation.  S.  48. 

2  Werke  XI,  95. 

'  Sidgwick  läßt  in  seiner  Darstellung  von  Benthams  Lehre  in  «Outlines 
of  the  History  of  Ethics»  die  Nähe  (propinquity)  von  diesem  Kalkül  fallen, 
und  in  einer  Fußnote  schreibt  er  (S.  241):  «Bentham  adds  „propinquity  or 
remoteness":  I  can  hardly  suppose  him  to  mean  that  the  date  of  a  plea- 
sure  affects  its  value  rationally  estimated,  except  in  so  far  as  increase 
of  remoteness  necessarily  involves  some  increase  of  uncertainty».  In  seiner 
«Methods  of  Ethics»  schreibt  er  darüber:  «proximity  is  a  property  which 
it  is  reasonable  to  disregard  except  in  so  far  as  it  diminishes  certainty». 


8  I.  Kapitel. 

der  Fruchtbarkeit  (d.  h.  die  Fähigkeit  andere  Lustgefühle  zu 
schaffen),  der  Reinheit  (d.  h.  das  Freisein  von  jeglicher  Bei- 
mischung der  Unlust)  und  der  Ausdehnung  (d.  h.  die  Zahl  der 
betroffenen  Personen).  Aber  das  ist  alles.  «Wenn  die  daraus 
erzeugte  Lust  gleich  ist,  so  ist  Pushpin^  ebensogut  wie  Poesie.» 

Aber  nun  beginnt  das  große  Problem  des  Utilitarismus 
Benthams.  Das  Summum  Bonum  ist  das  Glück  aller,  das  ein- 
zige Motiv  des  Individuums  aber  ist  und  kann  nur  seine  eigene 
Lust  sein.  Der  Mensch  muß  nach  seiner  psychologischen  Ver- 
anlagung seine  eigene  Lust  suchen,  und  er  sollte  doch  das  all- 
gemeine Glück  erstreben.  Wie  kann  man  diese  sich  wider- 
sprechenden Tatsachen  in  einem  harmonischen  ethischen  System 
vereinigen? 

Dies  ist  aber  nicht  die  Frage,  die  Bentham  sich  stellt.  Er 
sieht  das  Problem  nicht  mit  dem  Auge  des  ethischen  Philosophen, 
der  eine  feststehende  ethische  Theorie  sorgsam  auszuarbeiten 
sucht;  er  verhöhnt  solche  Arbeit.     «Während  Xenophon  Ge- 


Benthara  ist  in  diesen  Irrtum  wahrscheinlich  dadurch  geraten ,  daß  er 
Beccarias  Analysis  der  Resultate  der  Bestrafung  folgt;  die  Nähe  einer 
Strafe  übt  an  sich  zweifellos  einen  großen  Einfluß  auf  den  Willen  aus. 
So  viel  wenigstens  scheint  die  folgende  Stelle  von  einem  Manuskript 
Benthams,  den  Halevy  zitiert,  zu  beweisen:  «The  idea  of  estimating  the 
value  of  each  Sensation  by  analysing  it  into  these  four  ingredients  [inten- 
sity,  duration,  probability,   proximity]  I  took  from  Beccaria.    Considering 

that  punishment  is   but  pain   applied  to  a  certain  purpose it 

seemed  to  me  that  such  an  analysis  was  the  very  thing  wanted  as  the 
foundation  for  a  complete  System  of  moral  science.»  (Halevy,  La  Formation 
du  Radicalisme  philosophique  I,  S.  400,  vgl.  auch  Sorley-Mind  1904, 
S.  270.)  Doch  hat  hier  Sidgwick  zweifellos  unrecht.  Bentham  hat  wirk- 
lich geglaubt,  daß  die  Nähe  eines  Lustgefühls  seinen  Wert  tatsächlich 
beeinflußt.  Dies  beweisen  die  zwei  folgenden  Stellen,  die  ich  in  Manu- 
skripten Benthams  in  dem  britischen  Museum  gefunden  habe:  In  Add 
Mss.  Brit.  Museum  29,  807,  S.  224  (3.  Sept.  1811),  schreibt  er,  indem  er 
gegen  die  katholische  Fegfeuer-Lehre  polemisiert:  «For  no  conceivable 
felicity  would  I  willingly  endure  any  such  torment  for  forty  weeks  or 
one  week.  I  had  rather  be  annihilated»;  und  wieder  (S.  235,  27.  Febr.  1819): 
«Hell  without  heaven,  yes!  And  such  is  the  catholic  future  life.  For 
to  obtain  any  imaginable  joy'  who  would  consent  to  40,000  years,  or 
40  years,  or  one  year  of  previous  burning  torment?» 

^  Ein  englisches  Kinderspiel,  das  mit  Stecknadeln  gespielt  wird. 


Der  Utilitarismiis  vor  Sidgwick  und  Spencer.  ,9 

schichte  schrieb  und  Euclid  Geometrie  lehrte,  redeten  Sokrates 
und  riato  Unsinn  doch  unter  dem  Vorwand,  Weisheit  und  Moral 
zu  lehren.»^  Bentham  ist  kein  Moralist.  Ethik  ist  ihm  nur 
Mittel  zum  Zweck.  Er  will  die  Mißbräuche  der  englischen  Ge- 
setze zur  Schau  stellen  und  den  Weg  für  soziale  Reformen 
ebenen. 

Kurz,  Bentham  ist  vor  allem  Jurist,  Gesetzgeber.  «Sein 
ganzes  Leben  verbrachte  er  mit  dem  Versuch,  eine  Wissenschaft 
der  Gesetzgebung  zu  erschaffen. »^  Von  diesem  Standpunkt  aus 
betrachtet  er  das  Problem,  das  also  jetzt  ein  praktisches, 
kein  philosophisches  mehr  ist.  Der  Gesetzgeber  muß  für  das 
größte  Glück  einer  Gesellschaft  sorgen,  in  der  naturgemäß  jeder 
einzelne  nur  sein  eigenes  Glück  sucht.  Und  wie  kann  dies 
geschehen?  Es  ist  klar,  er  muß  dem  Geist  des  einzelnen 
Motive  bringen,  die  ihn  antreiben,  und  ihn  veranlassen,  das 
Glück  der  Allgemeinheit  zu  suchen.  Er  muß  ihn  überzeugen, 
daß  es  sein  eigenes  Interesse  erfordert,  das  allgemeine  Wohl 
mit  zu  erstreben.  Er  muß  ihm  zeigen,  wie  das  allgemeine 
Glück  auch  zu  seinem  eigenen  notwendig  ist.  Und  soweit  das 
noch  nicht  der  Fall  ist,  muß  er  als  Gesetzgeber  es  zum  In- 
teresse des  Individuums  machen,  das  Gut  der  Gesellschaft  zu 
erstreben.     Kurz,  er  muß  die  Gesellschaft  wieder  aufbauen. 

Aber  die  einzigen  Motive,  die  das  Individuum  beeinflussen, 
sind  Lust  und  Unlust.  Welche  Lustgefühle  und  welche  Un- 
lustgefühle  führen  denn  nun  aber  das  Individuum  dazu,  das 
allgemeine  Wohl  zu  suchen?  Dies  ist  die  eigentlich  wichtige 
Frage  des  Benthamismus.  Solche  Lust-  und  Unlustgefühle 
nennt  Bentham  die  Sanktionen  der  Moral.  Diese  Sanktionen 
spielen  eine  bestimmte  Rolle  in  der  nachfolgenden  Geschichte 
des  Utilitarismus.  Bentham  findet  vier  Sanktionen  heraus.  Die 
Lust  und  Unlust,  die  einer  Handlung  im  gewöhnlichen  Laufe 
der  Natur  folgen,  nennt  er  die  physische  Sanktion;  die,  die 
durch  das  Urteil  des  Magistrats  entstehen,  die  politische 
Sanktion;  die,  die  aus  der  Stellung  der  Gemeinschaft  gegen- 


*  Deontology  I,  40.  —  "^  Leslie  Stephens,   History   of  the    English 
ütilitarians  I,  317. 


10  I.  Kapitel. 

über  den  Handlungen  des  Individuums  hervorgehen,  die  mora- 
lische oder  die  populäre  Sanktion.  Endlich  gibt  es  noch 
eine  religiöse  Sanktion  —  d.  h.  Lust  und  Unlust,  die  man 
durch  das  unmittelbare  Eingreifen  eines  höheren,  unsichtbaren 
Wesens  erhofft.  An  der  religiösen  Sanktion  hat  Bentham  aber 
bloß  ein  rein  praktisches  Interesse.  Er  als  Gesetzgeber  mag 
damit  rechnen,  daß  viele  Menschen  solche  Strafen  fürchten. 
Er  stützt  sich  nicht  wie  sein  Zeitgenosse  Paley  darauf,  daß  die 
religiöse  Sanktion  die  letzten  Schwierigkeiten  der  Ethik  löse. 
Leslie  Stephen  bemerkt  ganz  treffend:  «Bentham  ist  Paley 
minus  seinem  Glauben  an  Höllenfeuer». 

Bentham  illustriert  seine  Sanktionen  durch  folgendes  Bei- 
spiel^: Das  Haus  eines  Mannes  brennt  gänzlich  ab.  Geschah 
es  rein  durch  Zufall,  so  ist  es  nur  ein  Mißgeschick;  war  es 
durch  eine  Fahrlässigkeit  verschuldet,  so  ist  es  eine  Strafe  der 
physischen  Sanktion ;  wurde  es  durch  den  Spruch  des  Magistrats 
veranlaßt,  so  ist  es  die  Strafe  der  politischen  Sanktion;  war  er 
jedoch  durch  seinen  Charakter  bei  seinen  Nachbarn  unbeliebt 
und  wurde  ihm  darum  nicht  geholfen,  so  ist  es  die  Strafe  der 
moralischen  oder  populären  Sanktion.  Endlich  wenn  der  Brand 
durch  einen  unmittelbaren  Akt  göttlichen  Mißfallens  hervorge- 
rufen würde,  so  haben  wir  die  Strafe  der  religiösen  Sanktion. 

John  Stuart  Mill  bemüht  sich  mit  jener  Klarheit  und  Un- 
parteilichkeit, die  ihn  immer  auszeichnet,  in  einem  seiner  besten 
Essays^,  die  Größe  sowohl  wie  die  Schwachheit  seines  Lehrers 
zu  würdigen.  Er  gibt  zu,  daß  nichts  Neues  in  Benthams 
ethischer  Lehre  ist;  viele  vor  ihm  hatten  die  Theorie  der  Nütz- 
lichkeit schon  dargelegt.  Außerdem  war  seine  ganze  Theorie 
vom  Leben  einseitig.  «Sie  übersieht»,  sagt  er,  «die  moralische 
Seite  in  der  Natur  des  Menschen  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes.» 
«Wohl  kann  sie  lehren,  du  sollst  weder  schlagen,  noch  brennen, 
noch  stehlen;  aber  sie  kann  niemals  auf  die  feineren  Regungen 
im  Wiesen  des  Menschen  einwirken.»  Auch  kann  sie  nichts  mehr 
für  die   Gesellschaft   tun.      «Sie   kann   nichts   für   die   geisti- 


^  Principles  of  Morals  aud  Legislation,  Cap.  III. 
^  Essay  on  Bentham;  Dissertations  I;  330. 


Der  Utilitarismus  vor  Sidgwick  und  Spencer.  11 

gen  Interessen  der  Gesellschaft  tun,  sie  genügt  selbst  nicht 
für  ihre  materiellen.»  Es  ist  aber  in  der  Gesetzgebung,  daß 
Mill  das  große  Verdienst  Benthams  sieht.  «Er  fand  die  Rechts- 
philosoi)hie  ein  Chaos  und  hinterließ  sie  als  Wissenschaft.» 
Mill  schildert  uns  die  Ungerechtigkeit,  die  Verdorbenheit,  das 
Chaos  der  englischen  Gesetze,  wie  es  Benthani  vorfand,  und 
jene  abergläubische  Verehrung,  welche  dieses  «verderbliche  Ge- 
misch» Vorprüfung  und  Zweifel  schützte.  «Ruhm  sei  Bentham, 
daß  er  diesem  Aberglauben  den  Todesstoß  gegeben  hat,  daß  er 
der  Herkules  dieser  Hydra  war,  der  St.  Georg  dieses  verpesten- 
den Drachens.»^ 

Dieses  Urteil  Mills  ist  das  Urteil  der  Geschichte.  Benthani 
ergriff  eine  Formel,  die  in  den  Händen  der  andern  nur  eine 
abstrakte  Theorie  war.  Er  gab  ihr  Leben  und  Blut.  Er 
machte  sie  zur  gewaltigen  Maschine  der  Reform.  So  gründete 
er  einen  Sammelort  für  die  Kräfte  des  Fortschritts  und  gewann 
einen  Ehrenplatz  unter  den  Wohltätern  der  Menschheit.  Er 
war,  wie  Jodl  sagt,  «der  vorzüglichste  Repräsentant  des  revo- 
lutionären Gedankens  in  England  »2,  und  nicht  mit  Unrecht 
erklärt  Sir  Henry  Maine,  daß  er  «nicht  ein  einziges  Reform- 
gesetz nach  Bentham  kennt,  das  nicht  auf  seinen  Einfluß  zu- 
rückzuführen wäre».^^ 

3.  John  Stuart  Mill. 

Der  Utilitarismus  John  Stuart  Mills  bedeutet  einen  großen 
Fortschritt  gegenüber  dem  Benthams.  Mill  ging  an  das  Problem 
mit  einer  viel  tieferen  Kenntnis  der  menschlichen  Natur  als 
Bentham  und  mit  einer  historischen  Einsicht,  die  dieser  niemals 
besaß.  In  mancher  Hinsicht  ist  der  Unterschied  zwischen 
Bentham  und  Mill  der  gleiche  wie  der  zwischen  dem  18.  und 
19.  Jahrhundert.  Von  seinem  Vater  James  Mill  lernte  er  die 
Wichtigkeit  der  Assoziationsmethode  in  der  Psychologie  und  von 
August  Comte  die  Bedeutung  der  sozialen  Gefühle.    So  war  er 


^  Essay  on  Bentham.  —  ^  Geschichte  der  Ethik  II,  S.  434. 
^  Early  History  of  Institutions,  S.  397. 

^  Benthams  Hauptfehler  besteht  darin,   daß  er  eine  Formel,  welche 
für  die  Gesetzgebung  richtig  ist,  auch  gleichzeitig  als  eine  ethische  auffaßt. 


12  I.  Kapitel. 

befähigt,  den  einseitigen  Egoismus  an  dem  Benthams  ganze 
Theorie  hängen  blieb,  zu  überwinden. 

Mill  stimmt,  was  das  Kriterium  und  das  Endziel  der  Moral 
anbetrifft,  mit  Bentham  überein.  «Handlungen  sind  gut,  wenn 
sie  dazu  dienen  Glück  hervorzubringen;  schlecht,  wenn  sie  das 
Gegenteil  davon  bewirken.»^  Glück  ist  also  der  Maßstab  der 
Moral,  und  das  höchste  Gut  ist  das  größte  Glück  insgesamt, 
nicht  das  größte  Glück  des  Handelnden.^ 

Mill  macht  (wie  Bentham)  einen  eigentümlichen  Unter- 
schied zwischen  Motiv  und  Zweck  (intention).  «Die  Moral 
einer  Handlung  hängt  gänzlich  von  ihrem  Zweck  ab,  d.  h.  da- 
von, was  der  Handelnde  tun  will.  Aber  das  Motiv,  d.  h.  das 
Gefühl,  das  ihn  veranlaßt  etwas  so  und  so  zu  wünschen,  macht, 
wenn  es  keine  Änderung  der  Handlung  hervorruft,  keinen 
Unterschied  in  der  Moral  der  Handlung,  obgleich  es  einen  großen 
Unterschied  in  unserer  moralischen  Achtung  des  Handelnden 
ausmacht. » ^ 

Was  die  Analyse  der  Lust  anbetrifft,  versucht  Mill,  Bentham 
in  einer  Weise  zu  verbessern,  die  viel  Wortstreit  verursacht 
hat,  ihn  in  Wirklichkeit  aber  über  allen  Hedonismus  erhebt. 
Die  Lust  ist  sowohl  in  der  Art  wie  im  Grade  verschieden,  in 
der  Qualität  wie  in  der  Quantität.^  «Kein  intelligentes  Wesen 
wird  einwilligen  für  einen  Narren  zu  gelten,  kein  Gelehrter 
für  einen  Unwissenden,  kein  Mensch  mit  Gefühl  und  Gewissen 
möchte  selbstsüchtig  und  niedrig  werden,  selbst  wenn  sie  davon 
überzeugt  wären,  daß  der  Narr,  der  Dummkopf  oder  der 
Schurke  mehr  mit  seinem  Los  zufrieden  ist,  als  sie  mit  dem 
ihrigen.»  Auf  die  Frage,  wer  zu  entscheiden  habe,  ob  eine 
Lust  höherer  Art  sei  als  eine  andere,  antwortete  Mül  in  wahr- 
haft platonischer  x\rt:  derjenige,  der  Erfahrung  in  beiden  hat. 
Es  ist  ein  Gefühl  der  Würde  (feeling  of  dignity^),  das  uns  dazu 
führt,  die  höhere  Lust  zu  schätzen.  «Es  ist  besser  ein  unbe- 
friedigter Mensch  als  ein  zufriedenes  Schwein  zu  sein,  besser 
ein  unzufriedener  Sokrates  als  ein  zufriedener  Narr.    Und  wenn 


^  Utilitarianism,  S.  9.  —  ^  Utilitarianism,  S.  16. 
3  S.  27.  —  "■  S.  11,  12.  -  4  S.  13. 


Der  Utilitarismus  vor  Sidgwick  und  Spencer.  13 

der  Narr  und  das  Schwein  anderer  Ansicht  sind,  so  kommt 
dies  daher,  weil  sie  nur  ihre  Seite  der  Frage  kennen.»^ 

Dies  ist  alles  sehr  wahr  und  sehr  gut,  aber  kein  Hedonis- 
mus.  Ebenso  edel  sind  Mills  Bemerkungen  über  die  Selbst- 
opferung. Er  erkennt  die  Tatsache  und  die  Pflicht  der  Selbst- 
opferung an.  Er  preist  den  Helden  und  Märtyrer,  der  sein 
eigenes  Glück  opfert,  um  das  Wohl  der  andern  zu  fördern, 
«aber  der,  der  dies  aus  irgendeinem  andern  Grunde  tut,  ist 
nicht  mehr  der  Bewunderung  wert  als  jener  Asket,  der  sich 
auf  seine  Säule  stellte.  Er  mag  ein  begeisternder  Beweis  sein 
für  das,  was  der  Mensch  tun  kann,  aber  sicherlich  nicht  ein 
Beispiel  für  das,  was  er  tun  sollte.»^  Sowohl  bei  dem  eigenen 
wie  bei  dem  Glücke  anderer  wird  ein  Utilitarier  so  streng 
unparteiisch  sein  wie  ein  uninteressierter  und  wohlwollender 
Zuschauer.  Aus  der  goldenen  Regel  des  Jesus  von  Nazareth 
lesen  wir  den  vollkommenen  Geist  der  Utilitätsmoral.»^ 

Mill  hat  wiederum  mehr  als  Bentham  Achtung  vor  der 
bestehenden  Moral.  Glück  ist  wohl  der  letzte,  aber  nicht  not- 
wendig der  unmittelbare  Zweck  der  Moral.  Der  Utilitarismus 
will  keine  neue  Moral  schaffen,  keine  Umwertung  aller  Werte. 
Die  herrschende  Moral  genügt  zur  praktischen  Führung,  ob- 
gleich sie  hie  und  da  korrigiert  werden  muß.  In  seinem  Essay 
über  Bentham  tadelt  Mill  an  ihm,  daß  er  als  «unbestimmte 
Allgemeinheiten»  die  ganze  unanalysierte  Erfahrung  der  Gattung 
von  sich  weist.  «Wenn  ein  Utilitarier,»  schreibt  er,  «ehe  er 
etwas  tut,  immer  erst  den  Erfolg  abwägen  wollte,  so  wäre  dies 
ebenso  unsinnig,  als  wenn  ein  Christ  vor  jeder  Handlung  die 
ganze  Bibel  durchlesen  wollte.»^  Die  Navigationskunst  ist  auf 
Astronomie  gegründet  und  doch  gehen  die  Schiffer  in  See,  ohne 
für  sich  den  See-Kalender  zu  berechnen. 

In  seinem  vierten  Kapitel  behandelt  Mill  die  Frage  vom 
höchsten  Gut.  Die  letzten  Zwecke,  sagt  er  treffend,  lassen 
keinen  Beweis  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  zu.  Wir 
können  uns  nur  direkt  an  das  Selbstbewußtsein  wenden,  a)  Glück 
ist   eins   der   Ziele    unseres  Verhaltens.     Der    einzige    Beweis, 

1  Util.,  S.  14.  -   2  Util.,  S.  23. 

3  Util,  S.  24,  25.  -  ^  Util.,  S.  34.  -  ^  Util.,  S.  32. 


14  I.  Kapitel. 

daß  ein  Ton  hörbar  ist,  ist  der,  daß  die  Menschen  ihn  hören. 
Der  einzige  Beweis,  daß  etwas  wünschenswert  ist,  ist  jedermanns 
eifriges  Verlangen  danach.  Jeder  Mensch  wünscht  tatsächlich 
sein  eigenes  Glück.  Kein  anderer  Beweis  ist  möglich.  «Das 
Glück  eines  Menschen  ist  ein  Gut  für  ihn,  das  allgemeine  Glück 
also  ein  Gut  für  alle.»^  Glück  ist  also  ein  Ziel.  Aber  es  ist 
auch  b)  das  Ziel.  Denn  jede  Sache,  die  der  Mensch  sich 
wünscht,  ist  wertvoll  als  Mittel  zum  Glück.  Auch  die  Tugend, 
sucht  Mill  zu  zeigen,  ist  im  letzten  Grunde  wünschenswert  nur 
als  Mittel  zum  Glück. 

Und  doch  lehrt  Mill,  daß  die  Tugend  Selbstzweck  sein 
kann  und  sein  soll.  Dies  ist  durch  das  Assoziationsprinzip 
w^ohl  möglich.  Jedes  Mittel  läuft  Gefahr,  selber  Zweck  zu 
werden,  gerade  wie  der  Geizhals  dazu  kommt,  das  Gold  um 
des  Goldes  willen  zu  lieben.  So  liebt  der  gute  Mann  die 
Tugend  ohne  jedes  weitere  Interesse.  «Der  Geist  steht  nicht 
auf  dem  rechten  Standpunkt,  ist  nicht  der  Nützlichkeit  gemäß, 
nicht  dem  allgemeinen  Glücke  förderlich,  der  nicht  die  Tugend 
in  dieser  Weise  als  in  sich  wünschenswert  liebt. » ^  Nichts- 
destoweniger wird  die  Tugend  doch  immer  als  ein  Teil  des 
Glückes  erstrebt.  Diejenigen,  die  die  Tugend  um  ihrer  selbst 
willen  wünschen,  erstreben  sie,  weil  das  Bewußtsein  davon  ihnen 
Lust  oder  das  Bewußtsein  des  Fehlens  der  Tugend  Unlust  be- 
deutet —  oder  aus  beiden  Gründen.^ 

Wenn  das  letzte  Ziel  Glück  ist,  warum  sollte  jedes  Indi- 
viduum das  allgemeine  Glück  suchen?  Dies  ist  natürlich  das 
große  Problem  des  Utilitarismus.  Mills  Antwort  ist  der  Ben- 
thams  ähnlich;  die  verschiedenen  Sanktionen  sind  die  Quelle 
der  Verpflichtung.  Aber  Mill  fügt  noch  eine  andere  Sanktion 
hinzu,  auf  die  er  großen  Nachdruck  legt.  Dies  ist  die  innere 
Sanktion  der  Pflicht  —  ein  Gefühl  in  unserm  Geist,  das  das 
Wesen  des  Gewissens  bildet  und  die  letzte  Sanktion  aller  Moral 
ist.  Es  ist  «das  Gefühl  der  Einheit  mit  unseren  Mitmenschen». 
Hier  zeigen  sich  bei  Mill  starke  Spuren  von  Comtes  Einfluß. 
Er  sucht  zu  zeigen,  wie  die  Natur  der  Menschen  wirklich  sozial 


1  ütil.,  S.  33.  -  2  Utü.,  S.  34.  -  »  Util.,  S.  57. 


Utilitarismus  und  Intuitionismus.  15 

ist,  wie  mit  dem  Fortschritt  der  Zivilisation  das  soziale  Gefühl 
sich  notwendig  verstärkt  und  wie  der  Mensch  allmählich  dazu 
kommt,  sein  Glück  mit  dem  Glücke  der  andern  zu  identifizieren. 
Und  die  Zukunft  wird,  meint  er,  dies  noch  vertiefen.  Wenn 
wir  annehmen,  daß  dieses  Gefühl  der  Einheit  wie  eine  Religion 
gelehrt  würde  und  daß  die  ganze  Kraft  der  Erziehung,  der 
Institutionen  und  der  herrschenden  Meinung  —  wie  es  einst 
bei  der  Religion  der  Fall  war  —  darauf  gerichtet  würde,  jeden 
Menschen  von  Kindheit  an  aufwachsen  zu  lassen  in  einem 
Milieu  des  Bekenntnisses  und  der  praktischen  Anwendung 
dieses  Solidaritätsgefühls,  so,  denke  ich,  würde  niemand,  der 
sich  dies  vorstellen  kann,  «Bedenken  hegen  hinsichtlich  der  Taug- 
lichkeit der  letzten  Sanktionen  der  Glückseligkeitsmoral ».^ 


IL  Kapitel. 

Utiiitarismus  und  Intuitionismus. 

Will  man  die  Stellung  Sidgwicks  und  Spencers  in  der  Ent- 
wickelung  des  Utilitarismus  begreifen,  so  geht  man  am  besten 
von  einer  Betrachtung  der  Beziehung  beider  zum  Intuitionismus 
aus.  Man  kann  in  der  Tat  die  ganze  Geschichte  des  Utilitaris- 
mus, von  der  Zeit  Benthams  an,  nur  in  seinem  Gegensatz  zu 
der  ihm  gegenüberstehenden  Theorie  des  Intuitionismus  voll- 
ständig verstehen.  Der  Grund  davon  liegt  auf  der  Hand.  Am 
Ende  des  18.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
war  es  in  England  die  einzige  Theorie,  die  dem  Utilitarismus 
die  Herrschaft  streitig  machte. 

Bei  den  englischen  Moralisten  der  früheren  Zeit  findet  man 
intuitionistische  und  utilitaristische  Elemente  friedlich  mit- 
einander vereint.  Hutcheson  war  es  ja  —  wie  wir  gesehen 
haben  — ,  der  zuerst  das  Prinzip  von  der  größten  Glückseligkeit 
der  größten  Anzahl  aufgestellt  hat. 

Dagegen  wurde  in  den  Zeiten  eines  Hume  Hartley  und 
Adam   Smith   die  Ethik   einfach    ein   Zweig    der  Psychologie. 

1  Util,  S.  49, 


16  11.  Kapitel. 

Diese  Moralisten  gehen  fast  ganz  auf  in  der  Frage  nach  dem 
Ursprung  der  sittlichen  Gefühle.  Die  Frage:  «Was  ist  recht?» 
tritt  in  den  Hintergrund.  Zur  Lösung  aller  ethischen  Fragen 
bedient  man  sich  des  Prinzips  der  Ideenassoziation.  So  groß 
ist  die  Macht  der  Psychologie  über  die  Ethik,  daß  da,  wo 
Hume  eigentlich  psychologische  Fragen  behandelt,  man  die 
Sprache  der  Ethik  hört.  Er  spricht  z.  B.  von  der  «Wirklich- 
keit der  moralischen  Unterscheidungen»  (reality  of  moral  di- 
stinctions)  und  meint  damit  einfach  die  psychologische  Tatsache, 
daß  man  bestimmte  Neigungen  und  Abneigungen  für  verschie- 
dene ethische  Qualitäten  hat.  ^ 

Dieser  Versuch  einer  zersetzenden  psychologischen  Analyse 
brachte  seinen  unvermeidlichen  Rückschlag.  Er  führte  zu 
einem  Rekonstruktionsversuch,  in  dem  die  beiden  Richtungen 
des  modernen  Utilitarismus  und  des  modernen  Intuitionismus 
ihren  Ursprung  haben.  Der  letztere,  vertreten  durch  Männer 
wie  Price,  suchte  die  Gültigkeit  der  Common-Sense-Moral  zu 
gründen.  Die  andere  Schule  nahm  Humes  Nützlichkeits-Prinzip 
an  und  erhob  es  zum  letzten  Kriterium  der  Sittlichkeit.  Nach 
den  Intuitionisten  sind  die  moralischen  Distinktionen  letzte  nicht 
weiter  analysierbare  Tatsachen,  nach  den  Utilitariern  müssen 
sie  einen  vernünftigen  Grund  haben.  Eben  dem  Umstand,  daß 
die  utilitaristische  Schule  eine  vernünftige  Erklärung  für  die 
Moral  suchte  —  so  einseitig  auch  diese  Erklärung  war  — ,  hat 
sie  es  zu  verdanken,  daß  sie  so  fruchtbar  für  die  zukünftige 
Geschichte  der  Ethik  geworden  ist. 

Zur  Zeit  Benthams  und  Mills  besteht  der  schroffste  Gegen- 
satz zwischen  diesen  beiden  ethischen  Schulen.  Bentham  bietet 
in  seinem  Werke  «Introduction  to  Morals  and  Legislation» 
seinen  ganzen  Witz  und  Verstand  auf,  um  den  Intuitionismus 
in  den  verschiedenen  Formen,  die  derselbe  angenommen  hatte, 
lächerlich  zu  machen.  Sie  sind  «nur  ebenso  viele  Veranstaltungen, 
die  Nötigung,  einem  äußern  Zeichen  zu  folgen,  zu  verhüten  und 
den  Leser  zu  bestimmen,  des  Autors  Ansichten  und  Gefühle 
anzunehmen».^    Heute  können  wir  sehr  wohl    verstehen,    daß 


'  Vgl.  Sidgwick,  History  of  Ethics,  S.  223.  —  ^  Werke,  Bd.  I,  S.  8. 


Utilitarismus  und  Intuitionismus.  17 

zur  Zeit  Benthams  der  Utilitarismus  ein  gewaltiges  Reforra- 
prinzip  war,  während  andererseits  die  Common-Sense-Moral  eine 
mächtige  Verteidigungswaffe  in  den  Händen  derer  war,  welche 
für  die  alten  tief  eingewurzelten  Mißbräuche  kämpften  und  den 
Mantel  der  Anständigkeit  über  die  innere  Fäulnis  hoch  gehal- 
tener Einrichtungen  zu  decken  suchten.  Hier  in  dem  Arsenal 
der  Moral-Sense-Schule  fanden  selbst  Sklavenhändler  und  Sklaven- 
besitzer ihre  Verteidigungswaffen. 

Auch  Mill  hat  den  Intuitionismus  für  den  absoluten  Gegen- 
satz des  Utilitarismus  angesehen.  Mill  geht  so  weit,  daß  er 
behauptet,  diese  beiden  Theorien  hätten  die  Philosophen  von 
den  frühsten  Zeiten  an  getrennt.  Den  Intuitionismus  bezeichnet^ 
er  als  die  Theorie,  nach  welcher  die  Unterscheidung  von  Recht 
und  Unrecht  für  eine  letzte,  nicht  weiter  zu  erklärende  Tat- 
sache gilt  und  diese  Unterscheidung  selbst,  wie  beim  Sehen  von 
Farben,  vermöge  einer  besonderen  Fähigkeit  wahrgenommen 
wird.  Dagegen  leugnet  der  Utilitarismus,  daß  diese  Unter- 
scheidung eine  letzte  Tatsache  ist,  und  meint,  daß  sie  von  den 
gewöhnlichen  Eigenschaften  der  Handlungen  herfließt,  zu  deren 
Erkenntnis  wir  keine  andern  Fähigkeiten  als  unsern  Verstand 
und  unsere  Sinne  brauchen.  Mill  betrachtet  den  Intuitionismus 
als  das  Gegenteil  von  allem,  was  wissenschaftlich  ist:  er  sei 
nur  ein  wenig  besser  als  die  blinde  Autoritätsmoral  —  eine 
Theorie,  die  «souverän  regiere,  wo  die  Vergötterung  der  Schrift- 
worte aufgehört  hat  und  wohin  der  Einfluß  von  Benthams 
Philosophie  noch  nicht  gekommen  ist».^ 

Eine  solche  Haltung  nimmt  Mill  wie  auch  Bentham  zu  der 
intuitioneilen  Schule  ein.  Man  braucht  nur  die  Schriften  von 
Whewell  zu  lesen,  um  zu  sehen,  daß  ein  Repräsentant  des  In- 
tuitionismus zu  dieser  Zeit  nicht  weniger  kühn  war  in  der  Be- 
tonung dieser  Gegensätze.  Eine  Versöhnung  zwischen  so  ver- 
schiedenen Theorien  würde  Mill  und  seinen  Zeitgenossen  absurd 
erschienen  sein.  Dagegen  ist  es  eben  das  Verdienst,  sie  zustande 
gebracht  zu  haben,  das  unsere  beiden  Philosophen  —  Spencer 


^  Dissertations,  Bd.  I,  S.  122,  123. 
^  Essay  ou  Comte  and  Positioism,  S.  71. 
Sinclair,  Der  Utilitarismus  bei  Sidgwick  u.  Spencer. 


18  II.  Kapitel. 

und  Sidgwick  —  sich  zuschreiben.  Ihre  Methoden,  die  wir 
zunächst  betrachten  müssen,  fallen  durch  ihre  Verschiedenheit 
auf.  Spencer  vertraut  auf  die  EvoUition  und  die  genetische 
Methode,  während  Sidgwick  auf  die  empirische  Methode  ganz 
und  gar  verzichtet  und  den  Utilitarismus  auf  eine  intuitionisti- 
sche  Basis  zu  bauen  unternimmt. 

Sidgwick  und  der  Intuitionismus. 

Den  Intuitionismus  bezeichnet  Sidgwick^  als  die  ethische 
Theorie,  welche  behauptet,  daß  bestimmte  Arten  von  Hand- 
lungen ohne  Rücksicht  auf  die  Folgen  vorgeschrieben  werden. 
Er  unterscheidet  drei  Arten  von  Intuitionismus: 

1.  Perzeptionalen  Intuitionismus,  nach  dem  ange- 
nommen wird,  daß  die  Richtigkeit  einer  einzelnen  Handlung 
unmittelbar  erkannt  wird,  d.  h.  ohne  Beziehung  auf  allgemeine 
Regeln. 

2.  Dogmatischen  Intuitionismus  oder  die  Common- 
Sense-Moral,  welcher  von  der  Behauptung  ausgeht,  daß  wir 
bestimmte  Hauptregeln  mit  wirklich  klarer  und  im  letzten  Grunde 
gültiger  Intuition  unterscheiden  können;  und 

3.  Philosophischen  Intuitionismus,  welcher  die Common- 
Sense-Moral  als  im  allgemeinen  richtig  anerkennt,  aber  hierfür 
eine  philosophische  Grundlage  zu  gewinnen  sucht,  welche  sie 
nicht  von  selbst  darbietet. 

Es  ist  bemerkenswert,  daß,  wie  Sidgwick  ausführt,  in  der 
Geschichte  der  englischen  Ethik,  ganz  im  Gegensatz  zu  dem, 
was  wir  erwarten  könnten,  der  philosophische  Intuitionismus  dem 
dogmatischen  Intuitionismus  vorangeht.  Das  ist  aus  der  Tat- 
sache zu  erklären,  daß  es  eine  Reaktion  gegen  Hobbes'  materia- 
listischen Egoismus  war.  Der  spätere  Intuitionismus  war  ander- 
seits eine  Reaktion  gegen  Humes  Empirismus  und  gab  sich 
zufrieden  mit  einer  bloßen  Formulierung  der  Common-Sense- 
Moral. 

Was  den  perzeptionellen  Intuitionismus  angeht,  so  gibt 
Sidgwick  zu,  daß  partikulare  sowohl  als  universale  Intuitionen 


'  Vgl.  Methods  of  Ethics,  Book  I,  Kap.  8. 


Utilitarismus  und  Intuitionismus.  19 

in  dem  gewöhnlichen  sittlichen  Bewußtsein  gefunden  weiden. 
Und  tatsächlich  ist  der  perzeptionelle  Intuitionismus  der  populäre 
Begriff  von  Gewissen.  Wäre  aber  dieser  Begriff  richtig,  so  be- 
dürften wir  überhaupt  keiner  wissenschaftlichen  Ethik.  Diese 
partikularen  oder  auf  einzelne  Handlungen  sich  beziehenden 
Intuitionen  sind  weit  davon  entfernt,  unfehlbar  und  unwiderleg- 
lich zu  sein.  Das  Gewissen  äußert  sich  in  verschiedener  Weise 
bei  verschiedenen  Völkern,  bei  verschiedenen  Individuen  desselben 
Volkes  und  sogar  bei  demselben  Individuum  zu  verschiedenen 
Zeiten.  Tatsachen  wie  diese  machen  den  perzeptionellen  In- 
tuitionismus hinfällig. 

Doch  wo  partikulare  Intuitionen  den  richtigen  Weg  ver- 
fehlen, halten  wir  uns  an  universale  Intuitionen  oder  generelle 
Regeln.  Solche  allgemeine  Regeln  bilden  die  gewöhnliche  Moral. 
Aber  diese  allgemeinen  Grundsätze  reichen  oft  nicht  aus,  um 
besondere  Fälle  zu  entscheiden,  und  da  wir  um  des  Handelns 
willen  ethische  Studien  treiben,  so  müssen  wir  über  die  gemeinen 
sittlichen  Begriffe  nachdenken  und  sehen,  was  wir  mit  Sicher- 
heit und  Präzision  über  sie  sagen  können. 

So  wird  Sidgwick  zu  einer  Prüfung  des  dogmatischen  In- 
tuitionismus oder  der  Moral  des  Common-Sense  geführt.  Diese 
gründliche  Untersuchung,  die  mehr  als  ein  Drittel  seines  ganzen 
Werkes  füllt,  ist,  wie  von  den  Ethikern  aller  Schulen  anerkannt 
wird,  Sidgwicks  wertvollster  Beitrag  zur  Moralwissenschaft.  Selbst 
sein  strengster  Kritiker,  Bradley^,  sieht  sich  gedrungen,  ihren 
Wert  zuzugeben,  während  Gelehrte,  welche  Sidgwicks  ethischen 
Standpunkt  näher  stehen,  wie  Bain^  in  England  und  v.  Gizycki^ 
in  Deutschland  mit  ihrem  Lob  nicht  sparsam  gewesen  sind. 
Es  wird  gut  sein,  Sidgwicks  Absicht  bei  dieser  Prüfung  in  seinen 
eigenen  Worten  wiederzugeben.  «Es  ist  unzweifelhaft,»  sagt 
er,  «daß  die  moralischen  Anschauungen  des  gemeinen  Menschen 
in  vielen  Punkten  locker,  schwankend  und  gegenseitig  wider- 
sprechend sind.  Daraus  folgt  aber  nicht,  daß  wir  von  dieser 
flüssigen  Masse  der  Meinungen  ein  Depositum  von  klaren  und 
allgemein  angenommenen  Prinzipien  nicht  erhalten  können.    Ich 

»  Mr.  Sidgwicks  Hedonism,  S.  59.  —  2  Mind  1876,  S.  177.  —  '  Viertel- 
jahrsschr.  f.  wiss.  Phil.  1880,  S.  111 ;  International  Journal  of  Ethics,  Vol.  I. 

2* 


20  IT.  Kapilel. 

habe  versucht,  durch  bloße  Reflexion  über  unsere  gemeinsame 
Moral  diejenigen  allgemeinen  Prinzipien  oder  Maximen  festzu- 
setzen, denen  gemäß  man  verschiedene  Arten  des  Handelns,  in 
den  verschiedenen  Gebieten  des  Lebens,  als  richtig  oder  ver- 
nünftig ansieht.  Die  implizite  bestehenden  Prämissen  unserer 
gemeinsamen  moralischen  Urteile  explizite  zu  machen,  ist  meine 
einzige  Absicht  gewesen.»^ 

Sidgwick  bezweckt  daher  weder  den  Intuitionismus  zu  be- 
weisen, noch  ihn  zu  widerlegen.  Die  Moral,  die  er  prüft,  ist 
seine  eigene  sowohl  als  die  seiner  Leser.  Er  prüft  sie  nicht 
von  einem  äußern  Standpunkt  aus,  sondern  versucht  zu  ermitteln, 
inwieweit  die  ihr  zugrunde  liegenden  Regeln  deutlich  und  klar 
gemacht  und  miteinander  in  Zusammenhang  gebracht  werden 
können.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  Sidgwick  diesen  Teil  seines 
Buches  zuerst  geschrieben  hat,  und  daß  er  die  Idee  dazu  seinem 
Studium  der  aristotelischen  Ethik  verdankt.  «Das,  was  er 
(Aristoteles)  uns  gegeben  hat,  war  die  durch  sorgfältige  Ver- 
gleichung  in  ihre  Konsequenz  verfolgte  griechische  Common- 
Sense-Moral,  und  zwar  nicht  als  etwas  ihm  äußerlich  Gegebenes, 
sondern  das  durch  Überlegung  Gefundene,  welches  wir  —  er 
und  andere  —  denken.  Und  war  dieses  nicht  die  durch  Fragen 
hervorgelockte  sokratische  Induktion  ?  Kann  ich  ihn  hierin  nicht 
nachahmen  und  in  derselben  Weise  unparteiischer  Reflexion  über 
die  geläufige  Meinung  dasselbe  für  unsere  Moral  hier  und  jetzt 
tun?»2 

In  einer  Reihe  von  Kapiteln,  die  durch  strenge  Unpartei- 
lichkeit, außerordentliche  Kraft  der  Analyse  und  tiefe  ethische 
Einsicht  ausgezeichnet  sind,  setzt  Sidgwick  diese  Absicht  durch. 
Die  allgemeinen  Begriff'e  der  Common-Sense-Moral  (z.  B.  Weis- 
heit, Wahrheit,  Klugheit,  Selbstbeherrschung,  Gerechtigkeit, 
Gesetze  und  Versprechen,  Tapferkeit  und  Demut)  werden  alle 
nacheinander  einer  sorgfältigen  Prüfung  unterworfen.  Überall 
zeigt  sich  dasselbe  Resultat.  Der  gesunde  Menschenverstand 
billigt  die  Prinzipien  nur,  wenn  man  sie  in  einem  Zustand  un- 
bestimmter Allgemeinheit  läßt.    Die  Grenzen  eines  jeden  Prinzips 

'  Methods  of  Ethics,  S.  338. 
2  Biographical  Fragment. 


ütilitarismus  und  IntuitionismusK  21 

lassen  sich  niemals  genau  angeben.  Unmöglich  ist  es,  die  Grund- 
sätze des  Commou-Sense  zu  wissenschaftlichen  Axiomen  zu  er- 
heben. Der  Versuch  dieses  zu  tun  führt  den  gesunden  Menschen- 
verstand in  Konflikt  mit  sich  selbst.  Immer  und  immer  wieder 
treten  Alternative  hervor,  zwischen  denen  zu  entscheiden  der 
gesunde  Menschenverstand  sich  weigert.  Viele  Schwierigkeiten 
werden  nur  dadurch  gelöst,  daß  man  die  utilitaristische  Norm 
anwendet.  Nirgends  stoßen  wir  auf  selbstevidente  oder  intuitive 
Prinzipien. 

Obgleich  danach  die  Moral  des  gesunden  Menschenverstandes 
eine  Basis  für  die  Ethik  nicht  zu  geben  vermag,  so  zeigt  doch 
die  Prüfung  Sidgwicks,  daß  sie  für  das  Handeln  im  allgemeinen 
als  ausreichend  zu  gelten  hat.  «Die  Hauptregel  jedes  Begriffes 
ist  genügend  klar,  und  die  allgemeine  Regel,  die  sie  vorschreibt, 
verliert  ihre  Kraft  nicht  notwendig  dadurch,  daß  es  in  jedem 
Fall  ein  in  Dunkel  oder  Ungewißheit  gehülltes  Grenzgebiet  gibt, 
oder  daß  die  Regel,  wenn  man  sie  prüft,  nicht  absolut  und  un- 
fehlbar erscheint.  Kurz  gesagt:  Die  Moral  des  Common-Sense 
kann  zwar  der  praktischen  Leitung  der  gewöhnlichen  Menschen 
unter  gewöhnlichen  Umständen  vollkommen  adäquat  sein,  aber 
bei  dem  Versuch,  sie  zu  einem  System  intuitionaler  Ethik  zu 
erheben,  kommen  ihre  unvermeidlichen  Unvollkommenheiten  zum 
Vorschein,  ohne  uns  in  den  Stand  zu  setzen,  dieselben  zu  be- 
seitigen. » ^ 

Der  philosophische  Intuitionismus. 

Indem  die  Common-Sense-Moral  sich  nicht  fähig  gezeigt 
hat,  eine  befriedigende  Basis  für  die  Ethik  zu  liefern,  geht 
Sidgwick  zunächst  zu  einer  Erörterung  des  philosophischen  In- 
tuitionismus über.  Die  Aufgabe  des  Philosophen,  meint  er,  sollte 
nicht  bloß  sein,  die  gewöhnliche  Moral  zu  formulieren,  sondern 
vielmehr  zu  einigen  tieferen  ihr  zugrunde  liegenden  Prinzipien 
vorzudringen.  Vielleicht  kann  man  auf  diese  Weise  intuitive 
Grundsätze  von  wirklicher  Klarheit  und  Sicherheit  finden.  Philo- 
sophen haben  allerdings  manchmal  versucht  dieses  zu  tun;  ihre 

1  Methods,  fs.  361. 


22  n.  Kapitel. 

Resultate  sind  aber  meistens  Tautologien  und  Zirkelschlüsse 
gewesen,  wie  z.  B.:  «Es  ist  vernünftig,  der  Natur  gemäß  zu  leben, 
und  es  ist  natürlich,  der  Vernunft  gemäß  zu  leben».  Trotzdem 
führt  eine  sorgfältige  Prüfung  Sidgwick  zu  der  Annahme,  daß 
es  gewisse  abstrakte  intuitive  Prinzipien  gibt,  obgleich  sie  nicht 
allein  durch  sich  selbst  zu  einer  vollkommenen  praktischen 
Leitung  ausreichen.  Solche  Prinzipien  liegen  der  Gerechtigkeit, 
der  Klugheit  und  dem  Wohlwollen  zugrunde.  Als  letztes  Re- 
sultat von  Sidgwicks  Untersuchung  ergeben  sich  folgende  drei 
Axiome: 

Erstens  betrachten  wir  die  Ähnlichkeit  der  Individuen,  die 
ein  logisches  Ganze  ausmachen,  so  kommen  wir  zu  dem  Prinzip 
der  Gerechtigkeit,  das  sich  in  folgende  Formel  fassen  läßt:  «Es 
kann  nicht  recht  sein  für  A,  B  zu  behandeln  in  einer  Weise, 
in  welcher  es  unrecht  für  B  wäre,  A  zu  behandeln,  wenn  kein 
anderer  Grund  vorliegt  als  der,  daß  sie  zwei  verschiedene  In- 
dividuen sind,  und  wenn  kein  Unterschied  zwischen  den  Naturen 
oder  Umständen  der  beiden  besteht,  den  man  als  vernünftigen 
Grund  für  den  Unterschied  des  Handelns  angeben  könnte». 

Betrachten  wir  die  ähnlichen  Teile  eines  mathematischen 
oder  quantitativen  Ganzen  (und  ein  solches  Ganze  macht  der 
gewöhnliche  Begriff  des  Gutes  aus),  so  finden  wir  noch  zwei 
Prinzipien.  Durch  Erwägung  des  Verhältnisses  der  integrierenden 
Teile  zum  Ganzen  und  zueinander  ergibt  sich  das  selbstevi- 
dente Prinzip,  daß  das  Gut  eines  Individuums  als  Teil  des  uni- 
versellen Guts  von  keiner  größeren  Bedeutung  ist  als  das  Gut 
irgendeines  andern,  außer  wenn  ein  besonderer  Grund  vor- 
handen ist  anzunehmen,  daß  in  einem  Fall  ein  größeres  Gut 
verwirklicht  werden  wird  als  im  andern.  Daraus  folgt  zugleich 
das  Prinzip  des  Wohlwollens :  «Jedes  Individuum  ist  verpflichtet, 
auf  das  Gut  eines  andern  Individuums  ebensoviel  Rücksicht  zu 
nehmen  als  auf  sein  eigenes,  außer  wenn  es  bei  unparteiischer 
Betrachtung  findet,  daß  es  nicht  in  dem  Maße  oder  mit  solcher 
Sicherheit  erkennbar  und  erreichbar  wie  das  eigene  ist». 

Betrachten  wir  das  Gut  eines  Individuums  als  ein  Ganzes, 
so  gelangen  wir  zu  dem  Prinzip  der  Klugheit,  das  eine  un- 
parteiische Berücksichtigung  aller  Seiten  unseres  bewußten  Lebens 


ütilitarisnius  uud  Intuitionismus.  23 

fordert:    «Das  Hernach   als  solches  ist    nicht   mehr  und   nicht 
weniger  zu  beachten  als  das  Jetzt». 

Diese  drei  Axiome  sind  also  das  letzte  Resultat  von  Sidgwicks 
gründlicher  Prüfung  des  Intuitionismus.  Er  selbst  hat  sie  als 
sehr  wichtig  angesehen.  Sie  gehören  nicht,  wie  er  richtig  be- 
merkt, ausschließlich  dem  Intuitionismus  an,  so  wie  man  diesen 
gewöhnlich  definiert.  Die  Maxime  der  Klugheit  ist  ein  selbst- 
evidentes Prinzip,  das  in  dem  rationalen  Egoismus  enthalten  ist. 
Die  Maxime  der  Gerechtigkeit  gehört  dem  Utilitarismus  eben- 
sowohl als  dem  Intuitionismus  an.  «Die  Maxime  des  Wohl- 
wollens wird  als  rationale  Basis  für  das  utilitaristische 
System  verlangt.» 

In  seinem  Leben  ist  Sidgwick  früh  zu  der  Überzeugung  ge- 
langt, daß  der  Utilitarismus  einer  solchen  Basis  bedürfe.  Er- 
zogen, wie  er  uns  erzählt  S  unter  dem  äußeren  willkürlichen 
Druck  moralischer  Regeln  fand  er  noch  als  junger  Mann  Er- 
leichterung davon  in  dem  Utilitarismus  John  Stuart  Mills.  Zu 
jener  Zeit  übte  Mill  einen  großen  Einfluß  in  England  aus,  und 
die  Wärme,  Beredsamkeit  und  Erhabenheit,  die  seine  Darstellung 
des  Utilitarismus  durchweht,  hat  für  seine  Ethik  viele  Anhänger 
erworben.  Mit  Begeisterung  hat  Sidgwick  Mills  Utilitarismus 
als  ein  ethisches  Glaubensbekenntnis  angenommen.  Aber  bald 
fing  er  an,  mit  der  ganzen  Basis  des  älteren  Utilitarismus  und 
mit  der  empirischen  Philosophie  überhaupt  unzufrieden  zu  werden. 
Interessante  Spuren  dieser  inneren  Bewegung  finden  wir  in  Briefen, 
die  in  seinen  kürzlich  erschienenen  Memoiren  abgedruckt  sind. 
In  seinem  24.  Lebensjahre  ist  er  schon  überzeugt,  daß  man  ohne 
eine  intuitive  Basis  in  der  Ethik  nicht  auskommen  kann.^  Mills 
Beweis  schien  ihm  trügerisch  und  die  Basis  seiner  Ethik  unzu- 
länglich. Bald  danach  fing  er  an  die  kantische  Lehre  ein- 
gehend zu  studieren,  die  ihn  so  wesentUch  beeinflußt  hat  bei  der 
Frage  nach  einer  rationalen  Begründung  der  Ethik.  Das  Re- 
sultat dieser  Untersuchung  haben  wir  soeben  betrachtet. 

Von  zwei  Seiten  aus  hat  Sidgwick  also  eine  Versöhnung 
des  Intuitionismus  mit  dem  Utihtarismus  unternommen.   Erstens 


*  Biographical  Fragment,  —  '^  Memoir,  S.  90. 


24  II-  Kapitel. 

ergibt  sich  aus  einer  sorgfältigen  Prüfung  des  Intuitionismus, 
daß  der  Utilitarismus  die  endgültige  Form  ist,  in  welche  der 
Intuitionismus  überzugehen  geneigt  ist,  wenn  man  die  Frage  nach 
selbstevidenten  Grundsätzen  streng  durchführt.  Zweitens  kann 
man  zeigen,  daß  der  Utilitarismus  die  intuitive  Maxime  des 
Wohlwollens  als  seine  Basis  verlangt. 

Eins  ist  aber  notwendig,  um  diesen  Beweis  durchzuführen. 
Die  Axiome  Sidgwicks  sind  ganz  abstrakt  und  formal.  Sie  sind 
bloß  regulativ  oder  distributiv  und  lassen  es  unbestimmt,  was 
das  höchste  Gut  ist.  An  sich  sind  sie  nicht  hedonistisch.  Sie 
behalten  ihre  Gültigkeit,  einerlei  ob  das  Gut  die  Lust  oder  die 
Tugend  oder  etwas  anderes  sei.  Aus  diesen  abstrakten  Formeln 
kann  der  Inhalt  der  Pflicht  nicht  abgeleitet  werden.  Es  muß 
erst  bewiesen  werden,  ob  das  höchste  Gut  die  GlückseUgkeit 
sei.  Diesen  Beweis  versucht  Sidgwick  später  durchzuführen. 
Ob  es  ihm  gelingt  oder  nicht,  werden  wir  in  einem  späteren 
Kapitel  sehen. 

Spencers  Versöhnung  der  beiden  Theorien. 

Gehen  wir  nun  über  zu  einer  Betrachtung  von  Spencers 
Versuch,  den  Utilitarismus  mit  dem  Intuitiouismus  zu  versöhnen. 
Seine  Methode  zeigt  einen  auffallenden  Unterschied  von  der- 
jenigen Sidgwicks.  Dieser  hat  die  Grundsätze  der  Common- 
Sense- Moral  auf  ihre  logische  Konsequenz  hin  geprüft;  jener 
untersucht  sie  nach  ihrem  geschichtlichen  Ursprung.  Sidgwicks 
Methode  ist  rationalistisch,  Spencers  dagegen  genetisch.  Bei 
ihm  kommen  die  alten  sich  gegenüberstehenden  Theorien  auf 
dem  gemeinsamen  Boden  der  Entwicklung  zusammen.  Sidgwick 
hat  die  empirische  Philosophie  überhaupt  aufgegeben,  Spencer 
behält  sie  bei  und  glaubt  eine  sichere  Basis  für  sie  in  der 
neuen  Hypothese  der  Entwicklung  zu  gewinnen.  Kurz:  Spencer 
geht  genau  in  der  von  Bentham  und  Mill  vorgezeichneten 
Kichtung  weiter.  Er  nimmt  das  Problem  der  Begründung  des 
Utilitarismus  auf,  da  wo  Mill  es  verlassen  hatte. 

Mills  Kritik  des  englischen  Intuitionismus  war  nicht  ohne 
Erfolg.  «Niemand  leugnet»,  sagt  er,  «die  Existenz  moralischer 
Gefühle.  Die  Gefühle  existieren,  existieren  offenbar  und  können 


Utilitarismus  und  Iiituitionismus.  25 

nicht  geleugnet  werden.  »'^  Und  Mill  geht  noch  weiter.  Er 
bemüht  sich,  Wert  und  Geltung  der  moralischen  Gefühle  zu 
betonen  und  die  Piiicht,  sie  zu  erziehen.  Denn  sie  vertreten  die 
kristallisierte  Erfahrung  der  Gattung.  Doch  lassen  sich  die 
Schwächen  eines  Intuitionismus,  der  diese  Gefühle  zu  einem 
absoluten  Maßstab  von  Recht  und  Unrecht  erhöbe,  leicht  auf- 
weisen. Jenes  unsichere  Schwanken,  das  sie  überall  zeigen, 
wäre  allein  genug,  um  dieses  letzte  gottgegebene  Unterscheidungs- 
vermögen für  Recht  und  Unrecht  verdächtig  zu  machen. 

So  weit  konnte  man  Mill  leicht  folgen.  Wenn  er  aber 
von  der  Kritik  zur  Konstruktion  übergeht,  ist  das  Resultat  nicht 
so  einleuchtend.  Wie  soll  man  das  Vorhandensein  dieser  mora- 
lischen Gefühle  erklären?  Auf  diese  Frage  verlangten  die  In- 
tuitionisten  von  den  Empiristen  eine  bestimmte  Antwort.  Und 
eine  solche  war  schwierig  genug  zu  finden.  Mill  muß  zeigen, 
wie  alle  diese  moralischen  Gefühle  im  Individuum  im  Laufe 
des  Lebens  von  Sinnesemptindungen  erzeugt  werden  können. 
Dieser  Aufgabe  muß  die  Assoziationspsychologie  sich  gewachsen 
zeigen. 

Diese  Aufgabe  übernimmt  Mill  aber  ohne  Zaudern.  «Kinder», 
behauptet  er,  «haben  keine  moralischen  Gefühle,  und  Kinder, 
deren  Wille  auf  keinen  Widerstand  stößt,  erwerben  sie  niemals. » 
«Daß  der  Ehrgeiz,  das  Streben  nach  Macht,  der  Neid  samt 
und  sonders  ihren  Ursprung  der  Assoziation  verdanken,  ist  der 
ganzen  Welt  offenbar.»^  Und  bei  den  Gefühlen  des  Gewissens, 
meint  er,  liegt  die  Sache  nicht  etwa  anders.  Diese  Gefühle 
entstehen  in  dem  Kind  kraft  des  Assoziationsgesetzes  einfach 
durch  die  erfahrenen  Folgen  der  Handlungen.  In  dem  dritten 
Kapitel  seines  «Utilitarismus»  gibt  Mill  eine  ausführliche  Er- 
klärung des  Gewissens.  Sein  Wesen  ist  «ein  Gefühl  innerhalb 
unseres  Bewußtseins,  ein  mehr  oder  weniger  intensiver  Schmerz, 
der  eine  Verletzung  der  Pflicht  begleitet.  Seine  verbindende 
Macht  besteht  in  einem  Komplex  von  Gefühlen,  den  der  Mann 
durchbrechen  muß,  um  eine  Handlung  auszuführen,  die  seine 
sittliche  Norm  verletzt.»    Recht  und  Pflicht  sind  nach  Mill  ab- 


1  Dissertations  1, 123.  —  2  Dissertations  I,  138,  140. 


26  11.  Kapitel. 

strakte  Ideen,  die,  genau  wie  alle  abstrakte  Ideen,  aus  unzähligen 
konkreten  Erfahrungen  erzeugt  sind. 

Dennoch  ist  es  Mills  großer  Genialität  nicht  gelungen,  diese 
ausgearbeitete  Theorie  wirklich  überzeugend  zu  machen.  Zweifel- 
los liegt  viel  Wahres  in  den  Tatsachen,  die  er  beibringt.  Aber 
selbst  die  Zauberkunst  der  Assoziationspsychologie  war  nicht  im- 
stande zu  erklären,  wie  alle  Tatsachen  des  moralischen  Be- 
wußtseins in  der  Lebenszeit  jedes  einzelnen  Individuums  neu 
entstehen  könnten,  wenn  der  Geist  bei  der  Geburt  eine  tabula 
rasa  wäre.  Diese  Schwierigkeit  schien  für  die  empirische  Philo- 
sophie unlösbar. 

Gerade  hier  tritt  Spencer  ein.  Was  in  der  Lebenszeit  des 
Individuums  unmöglich  ist,  kann  nach  ihm  in  der  Lebenszeit 
der  Gattung  wohl  möglich  sein.  Die  moralischen  Gefühle  ent- 
stehen in  der  Tat  durch  Assoziation,  aber  nicht  in  dem  Indi- 
viduum. Für  das  Individuum  sind  sie  angeboren,  für  die  Gattung 
erworben.  Was  Mill  nicht  gelang,  weil  ihm  nur  die  wenigen 
kurzen  Jahre  eines  Menschenlebens  zur  Verfügung  standen,  das 
hofft  Spencer  durch  Zuhülfenahme  einer  durch  Jahrtausende 
hindurchgehenden  Entwicklung  der  Gattung  zu  erreichen. 

Als  Spencer  sein  erstes  Werk^  herausgab,  war  er  Intui- 
tionist. Soziologische  Studien  haben  ihn  später  zum  Utilitaris- 
mus  geführt.  «Es  ist  mir  klar  geworden,»  schreibt  er,  «daß 
es  unmöglich  ist  anzunehmen,  die  Menschen  besäßen  alle  ge- 
meinsam eine  eingeborene  Auffassung  von  Recht  und  Unrecht, 
wenn  bei  uns  der  allgemein  geltende  Glaube  der  ist,  daß  ein 
Mensch,  welcher  einen  Raub  begeht  und  es  nicht  bereut,  auf 
ewig  verdammt  sein  wird,  während  ein  anerkanntes  Sprichwort 
bei  den  Belutschen  lautet:  Gott  wird  nicht  einem  Menschen 
seine  Gunst  schenken,  der  nicht  stiehlt  und  raubt.» 

In  einem  wichtigen  Brief  an  Mill  legt  Spencer  klar  und 
deutlich  seine  Ansicht  über  die  morahschen  Gefühle  dar.  «Um 
meine  Anschauungsweise  vollständig  klar  zu  machen,  scheint  es 
nötig  noch  beizufügen,  daß  sich,  entsprechend  den  fundamen- 
talen Sätzen  einer  ausgebildeten  Moralwissenschaft,  im  Menschen- 


cSocial  Staticß.» 


Utilitarismus  und  Intuitionismus.  27 

geschlecht  gewisse  fundamentale  moralische  Anschauungen 
entwickelt  haben  und  noch  fortentwickeln,  und  daß  diese  An- 
schauungen, obgleich  sie  das  Ergebnis  von  nach  und  nach  an- 
gesammelten Erfahrungen  über  das  Nützliche  bilden,  die 
allmählich  organisiert  und  vererbt  wurden,  doch  nur  ganz 
unabhängig  von  jeder  bewußten  Erfahrung  dastehen.  Ganz  auf 
gleiche  Weise,  wie  meiner  Ansicht  nach  die  Anschauung  vom 
Räume,  welche  doch  jedes  lebende  Individuum  besitzt,  aus  or- 
ganisierten und  sich  fortsetzenden  Erfahrungen  aller  voran- 
gegangenen Individuen  entstanden  ist,  die  auf  ihre  Nachkommen 
ihre  langsam  entwickelte  Nervenorganisation  übertrugen  —  ganz 
so,  wie  ich  glaube,  daß  diese  Anschauung,  welche  ja  nur  noch 
durch  die  persönlichen  Erfahrungen  jedes  einzelnen  bestimmt 
ausgestaltet  und  vervollständigt  zu  werden  braucht,  in  Wirk- 
lichkeit zu  einer  Form  des  Denkens  geworden  ist,  die  scheinbar 
durchaus  unabhängig  von  der  Erfahrung  besteht  —  ganz  so 
haben  sich  auch,  glaube  ich,  die  Erfahrungen  vom  Nützlichen  in 
allen  vergangenen  Generationen  des  Menschengeschlechts  organi- 
siert und  festgesetzt  und  entsprechende  Abänderungen  im  Ner- 
vensystem hervorgebracht,  welche  durch  fortwährende  Über- 
tragung und  Anhäufung  in  uns  endlich  zu  einem  gewissen  Ver- 
mögen der  moralischen  Anschauung  geworden  sind,  zu  gewissen 
Emotionen,  welche  mit  gutem  und  bösem  Handeln  in  Wechsel- 
beziehung stehen  und  keine  irgendwie  aufzeigbare  Grundlage 
in  den  individuellen  Erfahrungen  vom  Nützlichen  haben.  Ich 
bin  auch  überzeugt,  daß  ebenso,  wie  die  Raumanschauung  mit 
den  exakten  Beweisen  der  Geometrie  in  Einklang  steht  und  wie 
ihre  rohe  Schlußfolgerung  durch  diese  erläutert  und  bestätigt 
werden,  so  auch  die  moralischen  Anschauungen  mit  den  Dar- 
legungen der  Moralwissenschaft  zusammenstimmen  und  ihre 
rohen  Folgerungen  von  letzteren  erläutern  und  bestätigen  lassen 
werden. » 

Daher  meint  Spencer,  daß  «die  Entwicklungshypothese 
uns  auch  in  den  Stand  setzt,  einander  entgegenstehende  Moral- 
theorien zu  versöhnen».  Es  ergibt  sich  völlige  Zusammen- 
stimmung zwischen  der  Lehre  von  den  angeborenen  Fähigkeiten 
zu  moralischer  Empfindung  und  der  utilitaristischen  Lehre,  so- 


28  11-  Kapitel. 

bald  wir  einsehen,  daß  Zu-  und  Abneigungen  organisch  gemacht 
werden  durch  Vererbung  der  Einwirkungen  angenehmer  und 
schmerzlicher  Erfahrungen  auf  die  Voreltern.^  Das  moralische 
Vermögen  ist  daher  angeboren,  aber  nicht  ursprünglich.  Es 
sollte  unser  Handeln  leiten,  weil  seine  Intuitionen  nicht  anders 
sind  als  die  im  Laufe  der  Zeit  sich  ergebenden  Resultate  von 
Erfahrungen.^  Doch  muß  man  diese  moralischen  Gefühle  wissen- 
schaftlich erklären  und  bestimmen.  So  wird  das  Handeln  in 
seiner  höchsten  Form  die  angeborenen  Anschauungen  des  Guten, 
nachdem  dieselben  richtig  erklärt  und  durch  den  analysierenden 
Verstand  genau  dargestellt  worden  sind,  zu  seiner  Führeria 
machen,  wobei  es  sich  aber  bewußt  bleibt,  daß  diese  Führerin 
bloß  deswegen  zunächst  als  das  Höchste  gelten  dürfe,  weil  sie 
zu  jenem  in  letzter  Linie  höchsten  Endzweck,  zum  besondern 
und  allgemeinen  Glück  emporleiten. » ^ 

Kritik. 

Der  Hauptfehler  der  englischen  Intuitionisten  war,  daß  sie 
einem  unerklärlichen  unanalysierbaren  Vermögen  alle  letzten 
moralischen  Urteile  überwiesen.  Die  Ethik  war  daher  auf  ein 
blindes  Vermögen  begründet  und  auf  kein  intelligibles  Prinzip. 
Dieses  gilt  natürlich  nur  von  der  späteren  intuitionalen  Schule. 
Clarke  und  More  haben  schon  früher  eine  Theorie  des  Ge- 
wissens aufgestellt,  die  der  praktischen  Vernunft  Kants  nahe 
steht. 

Spencer  versucht  eine  Erklärung  des  Gewissens  durch  die 
genetische  Methode.  Er  hat  gezeigt,  wie  im  langen  Laufe  der 
Entwicklung  der  Gattung  die  moralischen  Gefühle  entstanden 
sindj  und  daß  sie  die  Nützlichkeitserfahrungen  unzähliger 
Menschengeschlechter  vertreten.  Diese  Erfahrungen  sind  orga- 
nisch in  dem  Individuum  geworden.  Der  Intuitionismus  hat 
daher  seinen  Ursprung  in  der  Nützlichkeit.  Diese  Erklärung 
hat  Spencer  eine  Versöhnung  der  beiden  entgegengesetzten 
Theorien  genannt. 


^  Data  of  Ethics,  §  45.    Übersetzung,  §  46. 

2  Data  of  Ethics,  §  62.     Übersetzung,  §  63. 

3  Data  of  Ethics,  §  62.    Übersetzung,  §  63. 


Utilitarismus  und  Intuitionismus.  29 

Spencers  Methode  ist,  an  und  für  sich  betrachtet,  durch- 
aus zu  rechtfertigen,  ja  sie  ist  notwendig.  Die  Frage  nach 
dem  Ursprung  des  Gewissens  zählt,  wenn  sie  auch  keine  ethische 
Frage  im  engeren  Sinne  des  Wortes  ist,  zu  den  Problemen,  die 
die  Ethik  berücksichtigen  muß.  .  Es  kann  sein,  daß  das  Ge- 
wissen in  irgendeiner  solchen  Weise  entstanden  ist,  wie  Spen- 
cer so  geistreich  vermutet.  Die  ethische  Frage  ist  aber  eine 
völlig  andere.  Das  Gewissen  —  wie  es  auch  entstanden  sein 
mag  —  besteht  heute  als  Tatsache.  Zugegeben,  daß  sein  Ur- 
sprung in  der  Nützlichkeit  zu  finden  ist,  so  gibt  es  doch  jetzt 
manchmal  eine  ganz  andere  Antwort  auf  die  Frage  «was  ist 
recht?»  als  das  Nützliche.  Wie  soll  man  denn  in  einem  solchen 
Konfliktsfall  entscheiden?  Dieses  ist  die  wesentliche  ethische 
Frage,  und  man  kann  nicht  einsehen,  wie  Spencers  Methode 
eine  Antwort  darauf  geben  kann.  Vorausgesetzt,  daß  Spencer 
recht  hat  mit  der  Annahme,  daß  in  allen  Konfliktsfällen  die 
Nützlichkeit  autoritativ  ist,  so  ist  doch  dieses  ebensogut  eine 
Widerlegung  des  Intuitionismus  wie  die  Theorie  Mills.  Spencer 
hat  die  Position  des  Empirismus  gestärkt  und  eine  Schwachheit 
in  Mills  Theorie  überwunden;  nichtsdestoweniger  bleibt  der 
alte  Gegensatz  noch  unverändert  und  in  gleicher  Schroffheit 
bestehen. 

Gewiß  ist,  was  wir  hier  eingewendet  haben,  durchaus  nicht 
als  eine  Verteidigung  des  Intuitionismus  anzunehmen.  Wir 
suchen  nur  zu  zeigen,  daß,  wenn  man  den  Intuitionismus  und 
den  Utilitarismus  als  ethische  Theorien  ansieht  —  Theorien, 
die  die  Frage,  was  recht  ist,  zu  beantworten  suchen  — ,  daß 
dann  Spencer  absolut  nichts  getan  hat,  um  diese  Theorien  zu 
versöhnen. 

Kann  man  Sidgwicks  ganz  andern  Versuch  anders  beur- 
teilen? Dieser  geht,  wie  schon  erwähnt,  von  zwei  Seiten  aus. 
Erstens  verlangt  der  Utilitarismus  eine  intuitive  Basis,  und 
zweitens  zeigt  der  Intuitionismus,  wenn  man  ihn  streng  und 
philosophisch  prüft,  die  Tendenz,  in  den  Utilitarismus  überzu- 
gehen. Das  erstere  hat  Sidgwick  wolil  bewiesen.  Der  Utilita- 
rismus ist  eine  normative  Theorie  der  Ethik,  und  auf  den  Em- 
pirismus   kann    man   keine  normative  Ethik   gründen   und  sie 


80  n.  Kapitel. 

konsequent  durchführen.  «Du  sollst»  hat  eigentlich  hier 
keinen  Sinn. 

Zunächst  müssen  wir  die  positive  Seite  des  Ausgleichs,  den 
Sidgwick  versucht  hat,  ins  Auge  fassen.  Diese  ist  in  seinen 
drei  bekannten  Axiomen  enthalten.  Wie  er  zu  diesen  Axiomen 
gekommen  ist,  finden  wir  in  der  ersten  Auflage  seines  Werkes. 
Hier  sagt  er  ausdrücklich,  daß  er  zu  den  Grundsätzen  des 
Wohlwollens  und  der  Gerechtigkeit  geführt  worden  ist  durch 
«jene  zwei  Denker,  die  in  der  modernen  Zeit  am  ernstesten  und 
am  strengsten  an  dem  wissenschaftlichen  Charakter  ethischer 
Prinzipien  festgehalten  haben  —  nämlich  Clarke  in  England  und 
Kant  in  Deutschland».^ 

Clarke  lehrte,  daß  es  zwei  fundamentale  Regeln  der  Recht- 
schaffenheit (righteousness)  gibt:  Billigkeit  (equity)  und  Wohl- 
wollen. Die  Regel  der  Billigkeit  heißt:  «Wenn  ich  irgend  etwas 
als  vernünftig  oder  unvernünftig  beurteile,  das  ein  anderer  für 
mich  tun  sollte,  so  habe  ich  durch  dasselbe  Urteil  das  für  ver- 
nünftig oder  unvernünftig  erklärt,  daß  ich  dasselbe  unter  gleichen 
Umständen  für  ihn  tun  sollte».^  Das  zweite  Prinzip  Clarkes  ist 
das  der  Liebe  oder  des  Wohlwollens:  «Ein  konstantes  Bestreben, 
das  Wohl  und  die  Glückseligkeit  aller  Menschen  mit  unserer 
ganzen  Kraft  zu  fördern^.  Zwei  sehr  ähnliche  Prinzipien  fand 
Sidgwick  auch  bei  Kant,  nämlich  den  kategorischen  Imperativ 
und  die  Forderung,  die  Glückseligkeit  anderer  zu  fördern.  Diese 
Prinzipien  lauten  nach  ihm:  «1.  daß  nichts  für  mich  recht  sein 
kann,  das  nicht  für  alle  Individuen  unter  gleichen  Umständen 
recht  ist,  und  2.  daß  ich  die  Erfüllung  meiner  eigenen  Wünsche 
oder  meine  eigene  Seligkeit  nicht  betrachten  kann  als  an  und 
für  sich  begehrenswerter  als  die  gleiche  Glückseligkeit  irgend- 
eines andern».  Das  erste  Prinzip  sah  Sidgwick  als  ein  allen 
ethischen  Systemen  notwendiges  an.  Das  zweite  ist  dagegen 
«das  fundamentale  Prinzip  desjenigen  Systems,  das  wir  Utilitaris- 
mus  genannt  haben ».^ 

Was  das  Prinzip  des  Wohlwollens  betrifft,  so  bemerken  wir, 
daß  Sidgwick  es  in  der  sechsten  Auflage  vorsichtiger  formuliert 

'  Erste  Auflage,  S.  357.  —  «  Evidences,  S.  86-87. 
»  Methods  of  Ethics.    Erste  Auflage,  S.  364. 


Utilitarismus  und  Intuitionismus.  31 

hat  als  in  der  ersten.  Hier  braucht  er  das  Wort  <Gut>  statt 
« Glückseligkeit >  (wie  in  der  ersten  Auflage)  —  ein  wesentlicher 
Unterschied,  weil  das  Prinzip  bloß  regulativ  oder  distributiv  ist 
und  er  noch  zu  beweisen  hat,  daß  die  Glückseligkeit  der  End- 
zweck sei. 

Diese  Grundsätze  haben  Veranlassung  zu  einer  lebhaften 
Kritik  gegeben.  Von  Gizycki  hat  in  einer  Rezension  Sidgwicks 
< Methoden  der  Ethik  >  in  der  < Vierteljahrsschrift  für  wissen- 
schaftliche Philosophie»  ^  und  ferner  im  «International  Journal 
of  Ethics»^  einen  wohl  berechtigten  Einwand  gegen  Sidgwicks 
Auffassung  seines  Grundsatzes  der  Klugheit  gemacht,  obgleich 
er  es  als  «kein  geringes  Verdienst  des  Verfassers»  ansieht,  «diese 
logischen  Elemente  des  moralischen  Bewußtseins  klar  und  präzis 
festgestellt  zu  haben».  Den  Grundsatz  der  Klugheit  —  «das 
Hernach  als  solches  ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger  zu  be- 
achten als  das  Jetzt»  —  hatte  Sidgwick  als  durchaus  egoistisch 
aufgefaßt,  und  gemeint,  daß  er  mit  dem  Prinzip  des  Wohlwollens 
in  Konflikt  kommen  könne.  So  war  Sidgwicks  eigentümliche 
Lehre  des  Dualismus  der  praktischen  Vernunft  entstanden,  den 
wir  später  zu  behandeln  haben.  Von  Gizycki  macht  darauf 
aufmerksam,  daß  dieses  Prinzip  vielmehr  eine  Ergänzung  des 
Prinzips  des  Wohlwollens  sei.  Es  «geht  auf  die  gesamte  Reihe 
sukzessiver  Bewußtseinszustände  eines  individuellen  Wesens, 
welches  dieses  nun  immer  sein  möge:  vom  Ego  als  solchem  und 
mithin  von  Egoismus  weiß  es  nichts».  Hierin  hat  von  Gizycki 
zweifellos  recht.  Das  Prinzip  betrifft  bloß  Priorität  oder  Poste- 
riorität  in  der  Zeit  und  ist  ebenso  maßgebend  in  altruistischen 
als  in  egoistischen  Handlungen. 

Der  schwerwiegendste  Einwand,  der  gegen  die  Grundsätze 
der  Gerechtigkeit  und  des  Wohlwollens  erhoben  wird,  richtet 
sich  gegen  ihren  abstrakten  Charakter.  Wenn  wir  von  einem 
Individuum  seine  Individualität  wegdenken,  was  bleibt  uns  übrig? 
Die  englischen  Neuhegelianer,  die  immer  das  Konkrete  gern 
betonen,  haben  nicht  lange  damit  gezögert,  diesen  Einwand 
gegen  Sidgwick  zu  erheben.     Bradley  behauptet  in   einer  «Mr. 


1880,  S.  114.  -  2  1890,  Bd.  I. 


32  IL  Kapitel. 

Sidgwicks  He(lonism>  betitelten  Abhandlung,  daß  diese  Grund- 
sätze nichts  anders  als  Tautologien  seien,  und  daß  sie  bloß  in 
dem  Sinne  selbstevident  sind,  daß  sie  dasselbe  Subjekt  und 
Prädikat  besitzen.  Sie  sagen  bloß:  «Was  für  X  gut  ist,  ist 
für  X  gut,  und  was  für  X  recht  ist,  ist  für  X  recht».  Das 
Prinzip  des  Wohlwollens  «bedeutet  nichts  mehr  als,  X  kann 
nicht  seine  eigene  Glückseligkeit  als  begehrenswerter  betrachten 
als  die  gleiche  Glückseligkeit  von  X,  welches  mir  entweder  als 
Tautologie  oder  als  Unsinn  erscheint».^ 

Dieser  Einwand  des  Formalismus  ist  wesentlich  derselbe, 
den  man  immer  und  immer  wieder  gegen  die  kantische  Ethik 
richtet.  Uns  scheint  er  aber  keine  große  Bedeutung  zu  haben. 
Selbst  das  Prinzip  «X  =  X»  (wie  man  den  Satz  der  Identität 
in  der  Logik  ausdrücken  kann)  ist  nicht  ganz  wertlos,  obgleich 
es  ganz  abstrakt  ist.  Und  auch  das  Prinzip  «was  recht  für  X 
ist,  ist  recht  für  X»,  tautologisch  wie  es  Bradley  erscheinen 
mag,  braucht  nicht  ganz  wertlos  für  die  Ethik  zu  sein.  Daß 
seine  Grundsätze  bloß  formell  sind,  gibt  Sidgwick  nicht  nur  zu, 
er  betont  es.  Von  ihnen  kann  man  nie  ableiten,  was  in  einem 
bestimmten  Fall  recht  sei.  Sie  sind  bloß  regulativ.  Ehe  man 
sie  anwenden  kann,  muß  man  das  höchste  Gut  bestimmen.  Hier 
stimmen  wir  Sidgwick  vollkommen  bei.  Diese  Grundsätze  können 
niemals  den  Inhalt  der  Pflicht  bestimmen.  Trotzdem  brauchen 
sie  deswegen  nicht  wertlos  zu  sein.  Solche  Grundsätze  können 
in  der  Ethik  im  höchsten  Grade  wertvoll  sein  für  die  Klassi- 
fizierung und  Beurteilung  ethischer  Tatsachen.  Es  ist  schwer 
einzusehen,  wie  man  überhaupt  über  moralische  Handlungen 
urteilen  könnte,  wenn  man  sie  nicht  unter  irgendwelche  uni- 
verselle Prinzipien  subsumierte. 

Höchst  wahrscheinlich  war  es  Sidgwicks  tiefe  Überzeugung, 
von  der  Unzulänglichkeit  des  Empirismus  eine  Basis  für  die 
Ethik  zu  liefern,  die  ihn  bewußt  oder  unbewußt  dazu  führte, 
diese  drei  Grundsätze  zu  formulieren.  Ohne  einen  solchen 
Grundsatz  wie  den  der  Klugheit  («das  Hernach  als  solches  ist 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  zu  beachten  als  das  Jetzt»)  gibt 


^  Mr.  Sidgwk'kß  Hedonism,  S.  35. 


Das  höchste  Gut.  33 

es  keinen  Übergang  über  die  Lehre  Aristipps  hinaus.  Der 
Augenblick  regiert  souverän.  Dies  ist  zwar  das  logische  Resul- 
tat einer  auf  den  Empirismus  gegründeten  Ethik.  Mit  welchem 
Recht  opfert  sich  ein  Moment  einem  andern,  wenn  das  Subjekt 
nicht  mehr  als  eine  Reihe  von  Empfindungen  ist?  Wenn  aber 
dieses  erste  Axiom  eine  Vorschrift  der  Vernunft  ist,  so  kommen 
wir  über  die  Souveränität  des  Augenblicks  hinaus  und  betrachten 
das  ganze  Leben  als  eine  Einheit. 

Hierbei  sind  wir  aber  bloß  zu  dem  Standpunkt  eines  ratio- 
nellen Egoismus  gelangt.  Wie  sollen  wir  weiter  kommen?  Mit 
welchem  Rechte  verlangt  man,  daß  das  Gut  eines  Individuums 
dem  größeren  Gute  eines  anderen  aufgeopfert  werden  soll? 
Hier  erwies  sich,  trotz  aller  seiner  Bestrebungen,  der  Empiris- 
mus völlig  machtlos.  Der  Übergang  von  Egoismus  zu  Utili- 
tarismus  ist  ihm  nie  in  Wirklichkeit  gelungen.  Dies  ist  unver- 
meidlich, wenn  die  Gefühle  das  organisierende  Moment  in  der 
Moral  sind.  Meine  eigene  Lust  allein  kann  ich  fühlen,  das 
Glück  anderer  fühle  ich  nicht.  Sidgwick  löst  die  Schwierigkeit, 
indem  er  die  Vernunft  zum  organisierenden  Moment  macht. 
Das  Axiom  des  Wohlwollens  ist  ihre  Vorschrift.  Vor  der  Ver- 
nunft ist  das  Gut  meines  Mitmenschen  ebenso  wichtig  und  er- 
strebenswert als  mein  eigenes. 

Endlich  ist  der  Grundsatz  der  Gerechtigkeit  jedem  ethi- 
schen System  unentbehrlich.  Ohne  einen  solchen  Grundsatz 
könnte  man  über  ethische  Handlungen  gar  nicht  urteilen.  Er 
liegt  jedem  ethischen  Urteil  der  Vernunft  zugrunde,  weil  er  das 
Prinzip  der  Gesetzmäßigkeit  in  der  Ethik  ausdrückt.  Ohne 
dieses  Prinzip  würde  die  Willkür  herrschen  und  wäre  keine 
Wissenschaft  der  Moral  möglich. 


m,  Kapitel. 

Das  höchste  Gut. 


Psychologischer  Hedonismus. 

Für  den  Utilitarier  wie  für  den  egoistischen   Hedonisten 
ist  das  höchste  Gut  einfach  die  Lust  oder  die  Glückseligkeit. 

Sinclair,  Der  Utilitarismus  bei  Sidgwick  u.  Spencer.  3 


34  III.  Kapitel. 

Der  egoistische  Hedonist  sucht  seine  eigene  Glückseligkeit;  der 
Utilitarier  diejenige  der  Gesellschaft.  In  beiden  Fällen  ist  des 
Lebens  letzter  Zweck  das  größtmögliche  Quantum  angenehmen 
Gefühls. 

Sehr  selten  haben  Hedonisten  sich  viel  darum  bemüht, 
dieses  zu  beweisen.  Vielmehr  ist  es  ihnen  als  eine  selbstver- 
ständliche Wahrheit  erschienen.  Den  Grund  für  diese  Tatsache 
findet  man,  wenigstens  teilweise,  in  einer  Theorie,  an  die  sich 
die  Hedonisten  meist  gehalten  haben  —  nach  welcher  alle 
Handlungen  durch  Lust  und  Unlust  unausbleiblich  bestimmt 
werden.  So  beruht  der  Hedonismus  im  letzten  Grunde  auf 
einer  psychologischen  Basis,  und  Sidgwick  spricht  demgemäß 
von  einem  psychologischen  Hedonismus,  um  ihn  von  ethischem 
Hedonismus  zu  unterscheiden.  Der  psychologische  Hedonismus 
sieht  es  als  eine  letzte  Bewußtseinstatsache  an,  daß  ich  meine 
eigene  Glückseligkeit  suche  und  suchen  muß.  Dagegen  lehrt 
der  ethische  Hedonismus,  daß  ich  meine  eigene  Glückseligkeit 
(ethischer  Egoismus)  oder  die  allgemeine  Glückseligkeit  (Utili- 
tarismus)  suchen  soll. 

Jeremy  Bentham,  James  Mill  und  John  Stuart  Mill  waren 
nicht  nur  ethische,  sondern  zugleich  psychologische  Hedonisten. 
«In  jedem  Fall»,  sagt  Bentham \  «wird  jedes  menschliche  Wesen, 
wenn  es  eine  Handlung  ausführt,  unausbleiblich  bestimmt,  der- 
jenigen Richtung  zu  folgen,  welche  seiner  Ansicht  nach  zu  der 
Zeit  im  höchsten  Grade  seiner  eigenen  Glückseligkeit  beförder- 
lich ist.»  «Lust  und  Unlust  regieren  uns  in  allen  unseren 
Handlungen,  Worten  und  Gedanken.»^ 

Hier  geht  Mill  zwar  nicht  so  weit  wie  Bentham.  Er  gibt 
zu,  daß  manchmal  der  Mensch  aus  Charakterschwäche  absicht- 
lich die  geringere  Glückseligkeit  wählt.  Nichtsdestoweniger 
hält  er  daran  fest,  daß  der  Zweck  jeder  Handlung  eine,  wenn 
auch  nicht  notwendig  die  größtmögliche  Lust  sein  muß.  «Es 
gibt  nichts,  das  der  Mensch  wirklich  begehrt  außer  Lust.»^ 
«Etwas  zu  begehren,  außer  insofern  als  die  Idee  davon  lustvoll 


^  Constitutional  Code,  Introduction,  §  2.  —  ^  Morals  and  Legislation,  S.  I. 
2  Utilitarianism,  S.  57. 


Das  höchste  Gut.  35 

ist,  ist  eine  physische  und  psychologische  Unmöglichkeit.  Dies 
scheint  mir  so  selbstverständlich,  daß  ich  erwarte,  daß  es  kaum 
geleugnet  werden  wird.»^ 

Man  könnte  wohl  denken,  daß  der  psychologische  Hedonis- 
mus  —  nach  dem  ich  notwendig  meine  eigene  Glückseligkeit 
suche  —  und  Utilitarismus  —  welcher  lehrt,  daß  ich  die  all- 
gemeine Glückseligkeit  suchen  soll  —  im  unversöhnlichen  Gegen- 
satz stehen.  Trotzdem  ist  es  Bentham  und  Mill  gelungen,  an 
diesen  beiden  Lehren  zugleich  festzuhalten.  Bentham  verläßt 
sich,  wie  wir  gesehen  haben,  auf  die  äußeren  Sanktionen  der 
Moral  und  eine  Verbesserung  der  sozialen  Verhältnisse  und 
glaubt  so  diese  Kluft  überbrücken  zu  können.  Er  vergißt  aber, 
daß  auch  der  Gesetzgeber,  dem  psychologischen  Hedonismus 
gemäß,  seine  eigene  und  nicht  die  allgemeine  Glückseligkeit 
suchen  muß.  John  Stuart  Mill  dagegen  verläßt  sich  auf  die 
Lust  des  Mitgefühls  oder  das  «Gefühl  der  Einheit»  zwischen 
Mensch  und  Mitmenschen. 

Nach  Benthams  Auffassung  des  psychologischen  Hedonis- 
mus ist  das  höchste  Gut,  wie  man  leicht  einsieht,  psychologisch 
ohne  weiteres  bestimmt.  Wenn  es  eine  psychologische  Tatsache 
ist,  daß  ich  notwendig  diejenige  Lust  suchen  muß,  welche  mir 
als  die  höchste  erscheint,  dann  wäre  es  sinnlos,  einen  andern 
letzten  Zweck  als  die  Lust  vorzuschreiben.  Mills  Theorie  aber 
macht  nur  den  ethischen  Hedonismus  plausibel.  Wenn  ich  bei 
jeder  Handlung  notwendig  irgendeine  Lust  (obgleich  nicht  not- 
wendig die  höchste)  suche,  dann  muß  man  vernünftigerweise 
annehmen,  daß  das  höchste  Gut  die  Lust  sei. 

Es  war  eben  die  große  Schwierigkeit,  einen  Übergang  vom 
psychologischen  Egoismus  zum  Utilitarismus  zu  finden,  die  sich 
für  Bentham  sowie  für  Mill  als  ein  unmögliches  Kunststück 
erwies.  Dem  Utilitarier  jener  Zeit  erschien  aber  dieser  psycho- 
logische Egoismus  als  eine  unanfechtbare  wissenschaftlich  be- 
gründete Tatsache.  Es  war  ein  Dogma  der  empirischen  Psycho- 
logie, das  man  seiner  Einfachheit  wegen  für  wahr  zu  halten 
gern  geneigt  war.    Wie  wir  schon  gesehen  haben,  glaubte  Mill, 


Utilitarianism,  S.  58. 


36  in.  Kapitel. 

daß  niemand  wagen  würde  es  zu  leugnen.  Es  war  nicht  nur 
eine  traditionelle  Lehre  des  Hedonismus,  sondern  hatte  auch 
die  hohe  Autorität  Humes. 

Es  war  deswegen  ein  Wendepunkt  in  der  Geschichte  des 
englischen  Utilitarismus,  als  Henry  Sidgwick  im  Jahre  1874 
sein  Werk  «die  Methoden  der  Ethik»  erscheinen  ließ,  in  dem 
er  nachwies,  daß  diese  Theorie  die  Tendenz  habe,  alle  Methoden 
der  Ethik,  mit  Ausnahme  des  egoistischen  Hedonismus,  auszu- 
schließen, und  indem  er  dieselbe  auf  Grund  einer  eingehenden 
psychologischen  Untersuchung  rundweg  verwarf.  Zum  ersten  Male 
wurde  der  Utilitarismus  auf  eine  rationale  statt  eine  empirische 
und  psychologische  Basis  gestellt.  Sidgwick  ist  ein  «rationaler 
Utilitarier».  Obgleich  er  seinen  Standpunkt  klar  und  deutlich 
dargestellt  hat,  hat  man  ihn  zuweilen  mißverstanden.  In  der 
Geschichte  der  Philosophie  von  Überweg-Heinze  lesen  wir,  daß 
nach  Sidgwick  zwei  Grundsätze  von  hervorragender  Bedeutung 
sind.  «Einerseits  muß  man  nach  ihm  als  feststehende  psycho- 
logische Tatsache  anerkennen,  daß  jeder  Mensch  seine  eigene 
Glückseligkeit  sucht,  und  anderseits  ist  es  als  ethisches  Axiom 
ebenso  zweifellos,  daß  jedermann  die  allgemeine  Glückseligkeit 
suchen  soll.»^  Dieser  Satz  beschreibt  ganz  treffend  den  Stand- 
punkt Mills  und  der  früheren  Utilitarier;  Sidgwicks  Lehre  ist 
aber  die  entgegengesetzte.  Nach  ihm  sucht  der  Mensch  nicht 
psychologisch  notwendig  seine  eigene  Glückseligkeit,  und  des- 
wegen allein  ist  es  möglich,  daß  er  verpflichtet  sein  kann,  die 
allgemeine  GlückseHgkeit  zu  suchen.  Kurz  gesagt,  psycho- 
logischer Hedonismus  und  Utilitarismus  schließen  sich  gegen- 
seitig aus. 

In  diesem  wichtigen  Punkt  brach  Sidgwick  also  mit  der 
traditionellen  Lehre  seiner  Schule.  Hierin  hatten  Mill,  Bentham 
und  die  früheren  Utilitarier  einfach  die  Lehre  Humes  ange- 
nommen. Dieser  aber  hatte  gelehrt:  «Die  Vernunft  ist  und 
soll  der  Sklave  der  Affekte  sein.  Sie  ist  nicht  befugt,  den  Vor- 
zug gegen  irgendeinen  Affekt  oder  eine  Emotion  zu  bean- 
spruchen. »^    Deswegen  hat  sich  die  Vernunft  gar  nicht  darum 


'  Überweg-Heinze,  Gesch.  d.  Phil.  IV,  S.  435.  -  ^  Hume,  Treatise  11;  194. 


Das  höchste  Gut.  37 

ZU  künimci'u,  Endzwecke  und  erste  Grundsätze  zu  bestimmen. 
Sie  kann  nur  über  die  Mittel  urteilen,  die  notwendig  sind,  um 
diejenigen  Zwecke  zu  erreichen,  die  die  Affekte  vorschreiben. 

In  einem  Kapitel,  das  in  der  ersten  Auflage  «Moral  Reason» 
und  in  der  sechsten  «Ethical  Judgments»  überschrieben  ist, 
behandelt  Sidgwick  diese  für  die  Ethik  allerentscheidendste 
Frage.  In  der  ersten  Auflage  formuliert  er  die  Frage  so :  kann 
die  Vernunft  eine  Triebfeder  des  Handelns  sein?  Das  Resultat 
seiner  Untersuchung  ist  ein  Kompromiß.  «Niemand  ist  fähig», 
sagt  er,  «oder  hat  Interesse  daran  zu  behaupten,  daß  das  Pflicht- 
bewußtsein ein  Zustand  ohne  irgendein  Gefühlselement  sei. 
Daher  brauchen  wir  nicht  zu  fragen,  ob  eine  bloße  Vorstellung 
den  Willen  beeinflussen  und  ihn  zum  Handeln  veranlassen  kann. 
Es  genügt,  wenn  man  zugibt,  daß  in  allen  moralischen  Hand- 
lungen als  solchen  ein  bleibender,  obgleich  von  Zeit  zu  Zeit 
und  von  Person  zu  Person  schwankender  Wunsch  existiert,  das- 
jenige zu  tun,  was  recht  oder  vernünftig  ist.  Wenn  daher  unsere 
praktische  Vernunft  irgendeine  Handlung  als  recht  erkannt 
hat,  treibt  uns  dieser  Wunsch,  sofort  mit  einer  gewissen  Kraft 
die  Handlung  auszuführen.  In  diesem  Sinne  kann  man  die 
Vernunft  eine  Triebfeder  des  Handelns  nennen.»'  In  der  sechs- 
ten Auflage  behandelt  er  die  Frage  ausführlicher  und  bemüht 
sich,  genau  zu  sagen,  was  er  unter  «Vernunft»  und  «vernünftiges 
Handeln»  versteht.  Vernünftiges  Handeln  ist  Handeln,  welches 
getan  werden  sollte.  Und  das  Seinsollen  (ought)  ist,  meint  er, 
ein  letztes  und  unanalysierbares  Faktum.  Seine  abschließenden 
Worte  sind:  «Wenn  ich  von  der  Erkenntnis  (Cognition)  oder 
dem  Urteile  spreche,  daß  X  getan  sein  soll  (im  strengen  ethischen 
Sinne  des  Begriffs  «Seinsollen»  als  eines  Befehls  oder  einer 
Vorschrift  der  Vernunft  des  betreffenden  Individuums),  so  meine 
ich  damit,  daß  im  vernünftigen  Wesen  als  solchem  diese  Er- 
kenntnis eine  Triebfeder  des  Handelns  sei».^ 

Man  sieht  sofort  ein,  daß  Sidgwick  in  der  Beantwortung  dieser 
Frage  wesentlich  mit  Kant  übereinstimmt.  Es  ist  das  nur  eine 
von  den  vielen  Stellen,  wo  Kants  Einfluß  auf  ihn  leicht  zu  be- 
merken  ist.     Wir   erinnern   uns   dabei   unweigerlich  an   Kants 

^  «Methods.»    Erste  Auflage,  S.  27.  —  ^  «Metbods»,  S.  34. 


38  ni.  Kapitel. 

Bestimmung  des  moralischen  Lebens  durch  das  Sittengesetz  und 
das  spezielle  nicht  empirische  dasselbe  begleitende  Gefühl  der 
Achtung  vor  dem  Gesetz.  Allein  Sidgwick  geht  nicht  so  weit, 
daß  er  behauptet,  jede  moralische  Handlung  müsse  aus  dem 
Sittengesetz  als  einziges  Motiv  hervorgehen.  Wie  aber  die 
praktische  Vernunft  ein  Gefühl  verursachen  kann,  oder  was  für 
ein  Verhältnis  zwischen  Vernunft  und  Gefühl  besteht,  ist  eine 
Schwierigkeit,  die  weder  Kant  noch  Sidgwick  zu  lösen  suchen. 
Doch  bedeutet  Sidgwicks  Behandlung  dieser  Frage  einen  Schritt 
weiter  über  den  alten  engen  Hedonismus  Benthams  hinaus  zu 
einer  wahren  und  umfassenden  Theorie  des  moralischen  Lebens. 
Es  ist  leicht  anzunehmen  —  und  ist  es  nicht  eine  unmittelbare 
Erfahrungstatsache?  — ,  daß  die  ethische  Norm  die  Macht  be- 
sitzen solle,  sich  selbst  zu  verwirklichen.  Gerade  hier  hat 
Windelband  einen  Vergleich  zwischen  der  ethischen  und  den 
andern  Normen,  hauptsächlich  der  logischen,  gezogen.  «Die  Vor- 
stellung einer  jeden  Norm  führt  als  solche  ein  Gefühl  davon 
bei  sich,  daß  nach  ihr  sich  der  wirkliche  Prozeß,  sei  es  des 
Denkens  oder  des  Wollens,  gestalten  sollte.»^ 

Obgleich  Sidgwicks  Auffassung  der  moralischen  Vernunft 
als  einer  Triebfeder  des  Willens  notwendig  schon  eine  Verwer- 
fung des  psychologischen  Hedonismus  mit  sich  bringt,  behandelt 
er  doch  auch  die  Frage  direkt  in  einem  der  wichtigsten  Kapitel 
seines  Werkes,  das  «Pleasure  and  Desire»  betitelt  ist.  Hier  hat 
Butler  ganz  offenbar  entscheidend  eingewirkt.  In  dem  «Bio- 
graphical  Fragment»  erzählt  er  uns,  daß  es  der  Einfluß  von 
Butlers  «mächtigem  und  vorsichtigem»  Geist  war,  der  ihn  zuerst 
veranlaßte,  den  psychologischen  Hedonismus  zu  verwerfen  und 
die  Existenz  von  Antrieben,  die  nicht  auf  die  Lust  des  Handeln- 
den gerichtet  sind,  zu  erkennen.  Sidgwick  hielt  Butler  für 
«einen  der  größten  englischen  Moralisten^»  und  dieses  ist  zweifel- 
los die  gewöhnliche  Meinung  unter  den  heutigen  englischen 
Ethikern.  Leslie  Stephens  ging  so  weit,  ihn  «den  tiefsinnigsten 
Denker  des  achtzehnten  Jahrhunderts  außer  Hume^»  zu  nennen, 

'  Präludien,  S.  276,  277.  -  ^  Methods.    Erste  Auflage,  S.  33. 
'  History  of  English  thought  in  the  18*1»  Century  II,  46  und  vergl. 
National  Dictionary  of  Biography. 


Das  höchste  Gut.  39 

obgleich  jenes  Jalirhundcit  einen  Sliaftcsbury  mit  einem  Hutcheson 
aufzuweisen  hat.  Jedenfalls  ist  Butlers  Einfluß  auf  die  neuere 
englische  Ethik  nicht  gering  zu  schätzen. 

Betrachten  wir  nun  Sidgwicks  Versuch,  den  psychologischen 
Hedonismus  direkt  zu  widerlegen.  Die  Frage  besteht  wesentlich 
darin,  meint  er,  ob  wir  keine  Begierden  und  Abneigungen  haben, 
die  nicht  auf  Lust  und  Unlust  als  ihre  Objekte  gerichtet  sind 
—  d.  h.  keine  bewußten  Antriebe  dazu,  Folgen  hervorzubringen 
oder  abzuwenden,  die  außer  den  Gefühlen  des  Handelnden  liegen. 
Sidgwick  stellt  die  Theorie  Mills  dar,  wonach  alles  Begehren 
auf  das  Erreichen  von  angenehmen  Gefühlen  gerichtet  ist,  und 
stellt  sie  der  entgegengesetzten  Theorie  Butlers  gegenüber. 
Butler  hält  daran  fest,  daß  wir  Antriebe  haben,  die  nicht  die 
Lust  zu  ihrem  Gegenstande  haben.  Wir  haben,  sagt  er,  auch 
«besondere  Bewegungen  nach  besonderen  äußeren  Objekten,  z.  B. 
nach  der  Ehre,  der  Macht,  dem  Wohl  und  Wehe  eines  andern». 
Die  aus  diesen  letzteren  Antrieben  hervorgehenden  Handlungen 
sind  nach  ihm  <nur  insoweit  interessiert,  als  jede  Handlung 
eines  jeden  Wesens  der  Natur  des  Handelns  gemäß  sein  muß; 
denn  niemand  kann  überhaupt  handeln  außer  auf  Grund  eines 
Antriebs,  einer  Wahl  oder  eines  Vorzugs  seiner  selbst».  Solche 
partikularen  Triebe  oder  «Appetite^  sind  notwendig  voraus- 
gesetzt in  der  bloßen  Idee  eines  interessierten  Strebens,  weil  die 
bloße  Idee  des  Interesses  oder  der  Glückseligkeit  darin  besteht, 
daß  ein  Appetit  oder  ein  Affekt  sein  Objekt  genieße.  Diese 
letzte  Behauptung  Butlers  geht  zwar,  meint  Sidgwick,  zu  weit, 
denn  oft  kommt  die  Lust  unerwartet  und  ohne  irgendeine  Be- 
ziehung zu  einem  vorhergehenden  Begehren.  «In  der  Tat  aber», 
schließt  er,  «scheint  es  mir,  daß  ich  die  ganze  Skala  meiner 
Impulse  hindurch,  der  sinnlichen  wie  emotionellen  und  intellek- 
tuellen Triebe  und  Begehrungen  unterscheiden  kann,  deren  be- 
wußter erstrebter  Gegenstand  etwas  anderes  als  meine  eigene 
Lust  ist.» 

Sidgwick  sucht  diesen  Standpunkt  zu  stützen  durch  eine 
Analyse  des  Hungers.  Der  Hunger,  sagt  er,  ist  ein  unmittelbar 
auf  Essen  und  nicht  notwendig  auf  Lust  gerichteter  Antrieb. 
Er  ist  unt(3r  normalen  Zuständen  nicht  schmerzlich,  außer  wenn 


40  in.  Kapitel. 

man  sich  nicht  wohl  befindet  oder  zu  lange  auf  das  Mittag- 
essen warten  muß.  Sidgwick  beweist  dasselbe  auch  durch  eine 
Betrachtung  der  Lustgefühle  des  Nachstrebens  (pleasures  of 
pursuit).  Hier,  meint  er,  können  wir  zwischen  der  Begierde  nach 
der  Lust  und  derjenigen  nach  dem  Objekt  genau  unterscheiden. 
Ein  Spieler  z.  B.  fängt  gewöhnlich  an  zu  spielen,  zuerst  bloß  um 
der  Lust  des  Strebens  willen  und  nicht  eigentlich  um  das  Spiel 
zu  gewinnen.  Um  diese  Lust  aber  völlig  zu  entwickeln,  ist  auch 
das  Begehren  des  Gewinnens  notwendig.  Dieses  letzte  Begehren 
wird  durch  den  Kampf  selbst  geweckt  und  daher  folgt,  daß  der 
ursprünglich  indifferente  Sieg  schließlich  eine  hohe  Lust  mit 
sich  bringt. 


Sidgwick  und  das  höchste  Gut. 

Obgleich  Sidgwick  deswegen  den  psychologischen  Hedonis- 
mus  verwirft,  hält  er  fest  an  dem  ethischen  Hedonismus,  daß 
die  Lust  das  höchste  Gut  sei.  Was  ist  aber  das  Gut?  Diese 
Frage  sucht  Sidgwick  in  einem  andern  Kapitel  zu  beantworten. 

«Wir  können»,  meint  er,  «das  Gut  nicht  als  die  Lust  definieren, 
weil  es  dann  tautologisch  wäre  zu  sagen,  daß  die  Lust  das  Gut 
sei.  Das  Gut  heißt  nicht  das  tatsächlich  Begehrte,  sondern  das 
Begehrenswerte.  Die  Vorstellung  des  Guts  hat  immer  ein  ideales 
Element.  Es  ist  nicht  etwas,  das  immer  von  menschlichen  Wesen 
tatsächlich  begehrt  und  gesucht  wird.»  Welches  ist  aber  der 
Maßstab,  nach  dem  man  das  an  sich  Gute  mit  andern  Gütern  ver- 
gleicht? Unbeseelte  Dinge  sind  nur  so  weit  gut,  als  sie  in  Be- 
ziehung zu  menschlichen  Wesen  stehen.  Und  obgleich  man 
Schönheit,  Weisheit  und  andere  ideale  Güter  an  und  für  sich 
suchen  kann,  so  werden  sie  doch  in  letzter  Linie  vernünftiger- 
weise nur  insofern  gesucht,  als  sie  die  menschliche  Glückseligkeit 
oder  die  menschliche  Vollkommenheit  fördern.  Nichts  kann 
daher  an  und  für  sich  gut  sein,  außer  irgendein  Zustand  mensch- 
lichen Bewußtseins,  so  die  Glückseligkeit,  die  Tugend  oder  die 
Vollkommenheit. 

In  dem  ersten  Buch  seiner  Ethik  kommt  Sidgwick  nicht 
weiter  in  der  Bestimmung  des  höchsten  Gutes.     Doch  sieht  er 


Das  höchste  Gut.  41 

sich  am  Ende  des  dritten  Buches,  nachdem  er  die  Common- 
Sensc-Moral  geprüft  hat,  genötigt,  diese  Frage  noch  einmal  auf- 
zunehmen. Denn  jene  bloß  formellen  und  leeren  Axiome  lenken 
uns  auf  das  höchste  Gut,  ohne  es  zu  bestimmen. 

Das  Gute,  meint  Sidgwick,  kann  man  nicht  als  die  Tugend 
delinieren,  wenn  man  unter  Tugend  das  mit  der  Common-Sense- 
Moral  übereinstimmende  Handeln  versteht,  sonst  bewegen  wir 
uns  in  einem  circulus  vitiosus,  weil  die  Common-Sense-Moral 
von  einer  Bestimmung  des  höchsten  Gutes  abhängt.  Auch  kann 
man  diesen  Zirkelschluß  nicht  dadurch  vermeiden,  daß  man  die 
Tugend  als  eine  Qualität  des  Charakters  definiert  und  daher 
das  moralische  Gesetz  in  der  Form  «sei  dieses»  statt  «tue  dieses» 
ausdrückt.  Denn  man  kann  den  Charakter  nur  definieren  als 
eine  Tendenz,  unter  bestimmten  Bedingungen  in  einer  bestimmten 
Weise  zu  handeln.  Eine  solche  Tendenz  kann  aber  nicht  an 
sich  wertvoll  sein,  sondern  nur  wegen  der  Handlungen  und  der 
Gefühle,  in  denen  sie  sich  ausdrückt.  Wenn  man  das  Gut  als 
subjektive  Richtigkeit  des  Wollens  definiert,  so  vermeidet  man 
diesen  Zirkel,  wie  Sidgwick  zugibt,  doch  stellt  man  sich  in  fun- 
damentalen Gegensatz  zu  dem  gemeinen  Menschenverstand ;  weil 
die  bloße  Idee  von  subjektiver  Richtigkeit  oder  Güte  des  Willens 
einen  objektiven  Maßstab  voraussetzt,  den  sie  uns  zu  suchen  be- 
fiehlt, nicht  aber  zu  geben  bekennt.  Und  zwar  kann  eine  Hand- 
lung subjektiv  recht  und  zugleich  objektiv  unrecht  sein,  wie  wir 
es  z.  B.  bei  dem  Fanatiker  bemerken  können.  Ähnliches  gilt 
von  andern  Bedingungen  der  Vollkommenheit  wie  Talenten, 
Anlagen  usw.  Diese  letztere  sind  nur  wegen  des  begehrens- 
werten Bewußtseinszustandes  wertvoll,  in  dem  sie  realisiert  sind 
oder  sein  werden.  Das  Gut  muß  irgendein  Bewußtseinszustand 
sein,  denn  physische  Prozesse  sind  weder  gut  noch  schlecht. 
Und  weder  Selbsterhaltung  noch  Rassenerhaltung  können  an 
sich  gut  sein,  außer  wenn  der  dadurch  gewonnene  Bewußtseins- 
zustand im  ganzen  begehrenswert  ist.  Und  selbst  tugendhaftes 
Bewußtsein  kann  nicht  an  sich  gut  sein,  wenn  es  mit  äußerstem 
Schmerz  verbunden  ist.  Der  Teil  des  Lebens,  den  ein  unter 
den  äußersten  Qualen  existierender  Märtyrer  zubringt,  kann 
zwar  für  andere   oder  für  seine  eigene  Zukunft  gut  sein.     An 


42  in.  Kapitel. 

und  für  sich  aber  ist  er  nicht  begehrenswert.    Wir  können  das 
höchste  Gut  nur  als  begehrenswertes  Bewußtsein  vorstellen. 

Sidgwick  macht  nun  einen  Schritt  weiter.  Das  Bewußtsein 
enthält  nicht  nur  Gefühle,  sondern  auch  Vorstellungs-  und 
Willenselemente.  Was  aber  das  Wünschenswertsein  betrifft, 
sind  die  letzteren  ohne  Gefühl  indifferent.  Tatsächlich  erleben 
wir  Vorzüge  für  andere  Okjekte  als  Bewußtseinszustände  —  wie 
Wahrheit,  Tugend,  Schönheit.  «Jedoch  können  wir,»  meint 
Sidgwick,  «wenn  wir,  um  einen  Ausdruck  Butlers  anzuwenden, 
in  einer  kühlen  Stunde  uns  hinsetzen,  die  Bedeutung,  die  wir 
irgendeinem  dieser  Objekte  zuschreiben,  nur  dadurch  rechtfer- 
tigen, daß  es  in  irgendeiner  Weise  die  Glückseligkeit  empfin- 
denden Wesen  befördert.»  Dazu,  behauptet  er,  fällt  der  gesunde 
Menschenverstand  zuletzt  dasselbe  Urteil.  Man  kann  zeigen, 
daß  die  idealen  Güter  im  ganzen  im  Verhältnis  zu  ihrer  Nütz- 
lichkeit geschätzt  werden.  Der  gesunde  Menschenverstand  zau- 
dert z.  B.,  einer  absolut  nutzlosen  Erkenntnis  irgendeinen  Wert 
zuzuschreiben.  Das  höchste  Gut  ist  deswegen  angenehmes  Ge- 
fühl, Lust  oder  Glückseligkeit. 


Spencer  und  das  höchste  Gut. 

Die  Ethik,  wie  Spencer  sie  auffaßt,  beschäftigt  sich  nur 
mit  einer  Abteilung  des  Handelns.  Das  Handeln  (conduct)  ist 
aber  ein  organisches  Ganzes  und  ein  völliges  Verständnis  eines 
Teils  setzt  ein  Verständnis  des  Ganzen  voraus.  Wie  ist  nun 
das  Handeln  zu  definieren?  Das  Handeln  (conduct)  umfaßt, 
sagt  er,  sämtliche  Anpassungen  von  Tätigkeiten  an  Zwecke 
(all  adjustment  of  acts  to  ends).  Ein  großer  Teil  des  gewöhn- 
lichen Handelns  ist  aber,  wenn  man  es  so  definiert,  gleichgültiger 
Natur.  «Soll  ich  heute  zum  Wasserfall  gehen  oder  lieber  am 
Meeresstrande  entlang  wandern?  Hier  sind  die  Zwecke  in  sitt- 
licher Hinsicht  indifferent.  Wenn  der  Freund  aber,  der  mich 
begleiten  will,  den  Strand  bereits  kennt  und  den  Wasserfall 
noch  nicht  gesehen  hat,  so  ist  die  Wahl  nicht  länger  gleich- 
gültig.» Solche  Beispiele  erläutern  die  Wahrheit,  «daß  jedes 
Handeln,    das  mit  der  Moral  nichts  zu  tun  hat,   durch   kleine 


Das  höchste  Gut.  43 

Abstufungen  und  auf  die  verschiedenartigste  Weise  in  ein 
Handeln  übergeht,  das  entschieden  moralisch  oder  unmoralisch 
ist».  Man  kann  auch  anführen,  daß  das  Handeln  menschlicher 
Wesen  nur  ein  Teil  eines  größeren  Ganzen  ist  —  nämlich  des 
universellen  Handelns  oder  des  Handelns  der  lebenden  Wesen 
im  allgemeinen.  Das  letztere  ist  aber  das  Resultat  eines  langen 
Entwicklungsprozesses.  Daraus  folgt,  daß  wir,  um  das  ethische 
Handeln  zu  verstehen,  die  Entwicklung  des  Handelns  studieren 
müssen. 

Das  Handeln  schließt  also  nicht  alle,  sondern  nur  zweck- 
volle Tätigkeiten  ein.  Allein  erst  während  der  Entwicklung 
tritt  auch  dieser  Unterschied  allmählich  hervor.  Die  Hand- 
lungen eines  Infusoriums  sind  so  wenig  Zwecken  angepaßt,  daß 
das  Leben  nur  so  lange  fortdauert,  als  die  Zufälligkeiten  der 
Umgebung  demselben  günstig  sind.  Spencer  zeigt  an  einer  Reihe 
von  Beispielen,  daß  wir,  je  höher  wir  im  Tierreiche  kommen, 
desto  höhere  Anpassungen  an  Zwecke  finden.  Und  wenn  wir 
das  Handeln  der  Menschen  betrachten,  so  finden  wir  nicht  nur, 
daß  diese  Anpassungen  zahlreicher  und  besser  sind  als  die  bei 
den  Tieren,  sondern  wir  finden  auch  dasselbe  Verhältnis  bei  einer 
Vergleichung  der  Tätigkeiten  der  höheren  mit  den  niedrigeren 
Rassen.  Diese  Anpassungen  von  Handlungen  an  Zwecke  fördert 
nicht  allein  die  Länge  des  Lebens,  sondern  auch  seine  «Breiten». 
Unter  «Breite»  versteht  Spencer  die  Summe  der  Tätigkeiten. 
Ein  Regenwurm  z.  B.  mag  eine  größere  Lebensdauer  haben  als 
manche  der  Insekten.  Das  Insekt  wird  aber  während  seiner 
Existenz  eine  weit  größere  Summe  jener  Veränderungen,  die 
eben  das  Leben  ausmachen,  erfahren.  Das  Endziel  der  Ent- 
wicklung ist  daher  ein  der  Breite  und  der  Länge  nach  ge- 
messenes Leben. 

Aber  zweitens  gibt  es  Handlungen,  deren  letztes  Ziel  das 
Leben  der  Spezies  bildet.  Selbsterhaltung  ist  nicht  ohne  Art- 
erhaltung möglich.  Die  Erhaltung  der  Nachkommenschaft  ist 
auch  eine  Notwendigkeit  der  Entwicklung.  In  ähnlicher  Weise 
wie  bei  der  Selbsterhaltung  sucht  Spencer  zu  zeigen,  daß  durch 
die  ganze  Stufenleiter  des  Tierreiches  auch  bei  der  Arterhaltung 
ein  gleichmäßiger  Fortschritt  stattfindet. 


44  ni.  Kapitel. 

Es  gibt  auch  eine  dritte  und  noch  höhere  Form  des  Han- 
delns. In  dem  Kampfe  ums  Dasein  wird  ziemh'ch  allgemein  eine 
erfolgreiche  Anpassung,  die  dem  einen  Geschöpf  gelungen  ist, 
irgendeinen  Mißerfolg  in  der  Anpassung  bei  einem  andern  Ge- 
schöpfe derselben  oder  einer  andern  Art  mit  sich  bringen.  Da- 
mit der  Fleischfresser  z.  B.  leben  kann,  müssen  Pflanzenfresser 
zugrunde  gehen.  Die  höchste  Form  des  Handelns  muß  selbst- 
verständlich diesen  Nachteil  vermeiden  und  demgemäß  die  Ge- 
samtsumme des  Lebens  vergrößern. 

Nun  meint  Spencer,  das  Handeln  der  Menschen  wird  nach 
allen  diesen  drei  Seiten  der  Entwicklung  die  äußerste  Grenze 
erreichen,  ehe  es  vollkommen  wird.  Denn  diese  drei  Arten  des 
Handelns  sind  für  uns  das  Ideal  der  Entwicklung.  Spencer 
zeigt,  daß  diese  obere  Grenze  nur  in  dauernd  friedlichen  Gesell- 
schaften zu  erreichen  ist.  «Der  Hauptgegenstand  der  Ethik 
besteht  also  in  jener  Form  des  Handelns,  die  das  universale 
Handeln  auf  der  höchsten  Stufe  seiner  Entwicklung  annimmt.  ^ 

Spencer  sucht  zunächst  zu  beweisen,  daß  diese  Folgerungen 
aus  der  Entwicklungshypothese  durchaus  im  Einklang  mit  den 
wichtigsten  moralischen  Vorstellungen  der  Menschen  stehen. 
Was  heißt  «gut»  und  «böse»?  Diese  Ausdrücke  bezeichnen 
keine  dem  Gegenstande  innewohnenden  Merkmale.  Ein  « gutes  5> 
Messer  ist  dasjenige,  welches  gut  schneidet.  «Gut»  bedeutet 
daher,  geeignet,  gewisse  beabsichtigte  Zwecke  zu  erreichen. 
Nehmen  wir  die  drei  obengenannten  Gruppen  von  Anpassungen, 
so  finden  wir,  daß  dasjenige  Handeln  gut  ist,  das  erstens  die 
Selbsterhaltung  («Sie  hätten  ihre  Kleider  wechseln  sollen», 
sagen  wir  einem  Freund,  der  naß  geworden  ist  und  sich  da- 
durch erkältet  hat),  zweitens  die  Arterhaltung  (vgl.  eine  «gute» 
Matter)  und  besonders  drittens  das  vollkommene  Leben  anderer 
fördert.  «Stets  und  überall  also  werden  Handlungen  gut  oder 
böse  genannt,  je  nachdem  sie  ihren  Zwecken  gut  oder  schlecht 
angepaßt  sind,  und  welche  Widersprüche  auch  in  unserer  An- 
wendung dieser  Wörter  bestehen  mögen,  sie  entspringen  immer 
nur  aus  einer  Verschiedenheit  der  Endzwecke.»  Dieser  stimmt 
mit  unseren  obengemachten  Untersuchungen  der  Entwicklung 
des  Handelns  überein.    «Wie  wir  dort  sahen,  daß  das  Handeln 


Das  höchste  Gut.  45 

in  der  Entwicklung  die  höchste  mögliche  Stufe  erreicht  hat, 
wenn  es  gleichzeitig  die  größte  Summe  des  Lehens  für  den  ein- 
zelnen, für  seine  Nachkommenschaft  und  für  seine  Mitmenschen 
schafft,  so  sehen  wir  hier,  daß  sich  das  gute  Handeln  zu  einer 
solchen  Form  emporschwingt,  in  der  wir  uns  das  beste  Han- 
deln denken,  wenn  es  allen  drei  Gruppen  von  Zwecken  zu  gleicher 
Zeit  genügt. 

Nach  der  oben  dargestellten  Lehre  Spencers  könnte  es 
scheinen,  als  ob  bei  ihm  der  moralische  Endzweck  das  Leben 
und  nicht  die  Lust  sei.  Dieses  wäre  aber  nicht  richtig.  Er 
glaubt  imstande  zu  sein,  noch  einen  Schritt  weiter  zu  gehen. 
Indem  wir  diejenigen  Handlungen  gut  nannten,  die  das  Leben 
im  einzelnen  oder  im  allgemeinen  fördern,  haben  wir  still- 
schweigend eine  Annahme  von  höchster  Bedeutung  gemacht  — 
die  Annahme  des  Optimismus.  Ist  das  Leben  des  Lebens  wert? 
Ist  die  Entwicklung  ein  Fehler  gewesen?  Müssen  wir  uns  der 
pessimistischen  oder  der  optimistischen  Ansicht  anschließen? 
Spencer  glaubt  imstande  zu  sein,  diese  Frage,  so  weit  als  es 
für  die  Ethik  nötig  ist,  zu  entscheiden  und  zwar  in  einer  sehr 
einfachen  Weise. 

Es  gibt  ein  Postulat,  sagt  er,  in  dem  Pessimisten  und  Opti- 
misten übereinstimmen.  In  der  Darstellung  ihrer  Lehre  nehmen 
beide  Parteien  es  als  selbstverständlich  an,  daß  das  Leben  gut 
oder  schlecht  sei,  je  nachdem  es  einen  Überschuß  von  ange- 
nehmen Empfindungen  mit  sich  bringt  oder  nicht.  Der  Pessi- 
mist verneint  das  Leben,  weil  sein  Endergebnis  mehr  Schmerz 
als  Freude  ist.  Der  Optimist  bejaht  das  Leben  in  der  Über- 
zeugung, daß  dasselbe  mehr  Freuden  als  Schmerzen  bringe. 
Nur  diejenigen  Leute,  die  glauben,  daß  die  Menschen  geschaffen 
worden  sind,  damit  ihr  Schöpfer  ihr  Elend  mit  Freude  an- 
schauen kann  —  nur  diese  Leute  können  diese  Erklärung  von 
gut  und  böse  leugnen.  Mit  solchen  läßt  es  sich  nicht  dispu- 
tieren, und  Spencer  beklagt  es,  daß  solche  «Teufelanbeter»  noch 
nicht  ausgestorben  sind.  Lassen  wir  denn  die  Unvernünftigen 
außer  Betracht,  so  finden  wir  bei  Optimisten  und  Pessimisten 
das  gemeinsame  Postulat,  daß  das  Gute  ganz  allgemein  das  Er- 
freuende  sei.     Wenn    wir    annehmen,    daß    die   Pflege    eines 


46  III-  Kapitel. 

Kranken  nur  seine  Schmerzen  vergrößerte,  wenn  wir  uns  aus- 
malen, daß  unser  Vertrauen,  das  wir  einem  Menschen  von 
edlem  Betragen  schenken,  seinem  Fortkommen  in  der  Gesell- 
schaft und  den  daraus  erwachsenden  Annehmlichkeiten  hinder- 
lich wäre,  würden  wir  denn  diese  Handlungen,  die  jetzt  zu  den 
lobenswerten  gezählt  werden,  nicht  zu  den  tadelnswerten  rech- 
nen? Daher  liegt  allen  unsern  Vorstellungen,  hinsichtlich  des 
Guten  oder  des  Bösen,  die  Voraussetzung  zugrunde,  daß  die 
Handlungen  gut  oder  böse  sind,  je  nachdem  ihre  Gesamt- 
wirkungen das  Glück  der  Menschen  oder  aber  das  Elend  ver- 
größern. 

Spencer  prüft  zunächst  noch  andere  aufgestellte  Endziele: 
die  Tugend,  die  Vollkommenheit,  die  Rechtschaffenheit  der 
Beweggründe  und  sucht  zu  zeigen,  daß  selbst  der  Versuch  einer 
Definition  dieser  Begriffe  uns  unvermeidhch  auf  den  fundamen- 
talen Begriff  Glück,  «in  irgendeiner  Form,  zu  irgendeiner  Zeit, 
von  irgendeinem  Menschen  erlebt»,  hinausführt. 

Aus  solchen  Gründen  identifiziert  Spencer  für  praktische 
Zwecke,  hochentwickeltes  Handeln  mit  gutem  Handeln  und  das 
ideale  Endziel  der  Entwicklung  (das  Leben)  mit  dem  idealen 
Maßstab  des  sittlichen  Handelns  (der  Lust).  Er  schließt  dann 
das  dritte  Kapitel  seiner  «Tatsachen  der  Ethik»  mit  den  Worten: 
«Keine  Schule  also  kann  sich  dem  entziehen,  als  höchstes  mo- 
ralisches Ziel,  einen  begehrenswerten  Gefühlszustand  hinzustellen, 
mit  was  für  Namen  er  immer  bezeichnet  werden  mag:  Befrie- 
digung, Freude,  Seligkeit,  irgendwo,  zu  irgendeiner  Zeit,  von 
irgendeinem  oder  von  vielen  Wesen  erfahren,  ist  ein  nicht  zu 
verdrängendes  Element  der  Vorstellung.  Es  ist  dies  ebensosehr 
eine  notwendige  Form  der  moralischen  Intuition,  wie  Raum  eine 
notwendige  Form  der  intellektuellen  Intuition  ist.» 

Das  höchste  Gut  bei  Spencer  ist  deswegen  genau  wie  bei 
den  andern  Utilitariern  —  die  Lust.  Man  kann  zwar  das 
Leben  als  das  Endziel  betrachten,  aber  nur  unter  der  Annahme, 
daß  es  einen  Überschuß  der  Lust  mit  sich  bringt.  Das  Leben 
ist  nur  der  Lust  wegen  wertvoll.  Spencer  behauptet  nicht,  daß 
jetzt  schon  das  Leben  und  die  Lust  einander  decken  in  dem 
Sinne,  daß  irgend  etwas,  was  das  Leben  fördert,  auch  zugleich 


Das  höchste  Gut.  47 

die  Lust  fordert.  Wir  stehen,  meint  er,  mitten  in  einem  langen 
Entwicklungsprozeß,  und  diese  Entwicklung  hat  die  Tendenz, 
diese  zwei  Endziele  mehr  und  mehr  in  Übereinstimmung  zu 
bringen.  In  der  vollkommenen  zukünftigen  Gesellschaft,  die  das 
Ziel  der  Entwicklung  des  Handelns  ist,  werden  sie  vollkommen 
miteinander  harmonisieren.  Wie  wir  später  sehen  werden,  hat 
bei  Spencer  die  Ethik  eigentlich  nur  noch  mit  dieser  vollkom- 
menen Gesellschaft  zu  tun. 

Spencer  ist  daher  durchaus  ein  Hedonist.  Zwar  ist  es 
wahr,  daß  seine  Schüler  meistens  den  Hedonismus  aufgegeben 
haben  und  ein  Endziel  direkt  aus  der  Entwicklungslehre  (wie 
z.  B.  Selbsterhaltung  oder  Gesundheit  des  sozialen  Organismus) 
abzuleiten  suchen.  Doch  ist  er  selbst  immer  Hedonist  geblieben. 
Wir  betonen  diesen  Standpunkt  Spencers,  obgleich  er  ihn  klar 
und  deutlich  fast  in  jedem  Kapitel  seiner  Ethik  dargestellt  hat, 
weil  sein  Name  doch  so  eng  mit  dem  Gedanken  der  Entwick- 
lungslehre verbunden  ist,  daß  man  ihn  manchmal  für  einen 
ethischen  Evolutionisten  hält.^ 

Kritik. 

Wir  haben  die  voneinander  weit  abweichenden  Versuche 
Sidgwicks  und  Spencers  gesehen,  diese  alte  wichtige  Frage  nach 
dem  höchsten  Gut  zu  beantworten.  Wir  fragen  nun,  inwieweit 
es  ihnen  gelungen  ist,  diese  Aufgabe  zu  lösen. 

Was  Sidgwick  anbetrifft,  sind  unserer  Meinung  nach  die 
ersten  Schritte  seines  Beweises  zwingend  und  unwiderleglich. 
Das  höchste  Gut  kann  nicht  in  einem  bloßen  Vermögen,  in 
einer  Beschaffenheit  des  Charakters  oder  in  objektiven  Verhält- 
nissen  des  Bewußtseins  bestehen.     Das  Gut    muß  Tavil-pcbTctvov 


^  Daher  ist  es  nicht  für  Spencer,  sondern  höchstens  für  einige  seiner 
Nachfolger  zutreffend,  wenn  Hensel  sagt :  (Hauptprobleme  der  Ethik,  S.  20) 
«Die  Lust  ist  nur  deshalb  wertvoll,  weil  sie  als  Zeichen  der  Lebensförderung, 
der  Daseinsbehauptung  betrachtet  werden  kann,  die  Unlust  nur  deshalb 
schädlich,  weil  sie  als  ein  Zeichen  der  Herabminderung  der  Lebensenergie, 
als  eine  Beeinträchtigung  im  Kampf  ums  Dasein  angesehen  werden  kann. 
Seine  Existenz  zu  behaupten,  suum  esse  conservare,  ist  für  Spencer  wie 
freilich  in  ganz  anderm  Sinne  für  Spinoza  das  letzte  Streben  aller  Wesen 
und  zwar  nicht  nur  der  Lebewesen.» 


48  III.  Kapitel. 

ayaoGv  so  wie  ztyjtov  avO-f^wTuo)  sein.  «Der  vernünftige  Geist, 
der  ein  höchstes  Gut  sucht,  suclit  es  notwendig  als  einen  Zu- 
stand seines  eigenen  Wesens.  >  Wir  stimmen  mit  Sidgwick  darin 
überein,  daß  das  höchste  Gut  irgendeine  Form  des  begehrens- 
werten bewußten  Lebens  sein  muß.  Von  hier  an  ist  aber  sein 
l^eweis  höchst  unbefriedigend.  Seine  Methode  ist  die  der  Ab- 
straktion. Er  beweist,  daß  das  höchste  Gut  nicht  in  Willens- 
oder in  Vorstellungselcmenten,  die  von  allen  wünschenswerten 
Gefühlen  gesondert  sind,  bestehen  kann  und  schließt  daraus, 
daß  der  Endzweck  in  diesen  letzteren  bestehen  muß.  Durch 
eine  solche  xMethode  kann  man  alles  Beliebige  beweisen.  Wenn 
wir  ihm  hier  auch  nicht  entgegenhalten  wollen,  daß  es  keine 
Willens-,  Gefühls-  und  Vorstellungselemente  an  und  für  sich 
gibt,  und  daß  man  kein  Recht  hat,  sie  für  diesen  Zweck  von 
dem  Bewußtsein  als  Ganzem  zu  abstrahieren,  so  sehen  wir  doch 
leicht  ein,  daß  Sidgwicks  Methode,  angenommen  sie  wäre  rich- 
tig, höchstens  beweisen  kann,  daß  die  Glückseligkeit  bloß  ein 
Element  im  höchsten  Gut  sei,  aber  weder  das  einzige  noch  das 
wichtigste.  Tugendhaftes  Bewußtsein,  meint  Sidgwick,  ist  nicht 
an  sich  gut,  wenn  es  von  Elend  begleitet  ist.  Viel  weniger, 
antworten  wir,  ist  angenehmes  Bewußtsein  gut,  wenn  es  zugleich 
unmoralisch  ist.  Gewiß  kann  das  höchste  Gut  nicht  ohne 
Gefülilselemente  sein.  Es  muß  einen  Wert  für  uns  haben.  «In 
welcher  Form  soll  dieser  Wert  uns  zum  Bewußtsein  kommen 
als  in  der  Form  eines  Gefühls?»'  Aber  von  hier  zu  der  An- 
nahme, daß  die  Lust  das  einzige  Gut  sei,  ist  ein  großer 
Schritt. 

Nun  bleibt  bloß  noch  Sidgwicks  Berufung  auf  den  gesunden 
Menschenverstand  oder,  wie  er  es  hier  ausdrückt,  auf  die  um- 
fassenden Urteile  der  Menschheit^  zu  behandeln  übrig.  Man 
kann  die  Gültigkeit  einer  solchen  Berufung  in  Frage  stellen. 
Selbst  wenn  man  dies  nicht  täte,  ist  es  nicht  so  sicher,  daß  das 
Urteil  zugunsten  des  Iledonisten  ausfällt,  wenn  man  die  Frage 


*  Sigwart,  Vorfragen  der  Ethik,  S.  8. 

^  Wenn  wir  ihn  recht  verstehen,  hat  er  damit  nicht  den  historischen 
Consensus  (^icntium  gemeint,  sondern  das  i)sychologisch-theoretische  Motiv 
des  Comraon-Sense  im  Auge  gehaht. 


Das  höchste  Gut.  41) 

ganz  iini)art(Mis('h  stolli.  «AnjjjonoinmcMi,  cinersoits  KrluiU.ung 
od(T  KrlKihim;^-  dor  iMjnktion  mit  gkMc.luM-  oder  weniger  Lust, 
andererseits  Krniedriguiig  der  luinktion  in  (lualitativer  VortrelT- 
liclikeit  mit  gieielier  oder  mehr  liUst  —  was  ist  als  Kiid/week 
zu  wählen?»  *  Dies  scheint  uns  eine  gereeht(i  St(!llung  der  ^'rag(^ 
Sidgwiek  zauihMt  nicht  mit  seiner  gewöhidiehen  Konseciuenz  zu 
antworten:  «leh  würde;  es  nicht  fiir  li(!cht  halten,  danach  zu 
strehen,  meine  Mitmenschen  moralischer  zu  machen,  w(Min  icii 
voraiussiihe,  dats  sie  damit  ungliicklicher  würden.  Und  was  meine 
eigene  zukimttig(;  Tugend  anhetrilVt,  würde  ich  auch  dieselhe 
Wahl  tretVen,  vorausgesetzt,  dali  dahei  die  Alternative  gestellt 
wäre  zwischen  dic^ser  Tugend  und  Kolg(Mi,  welche  die  allgemeine 
(jlückseligkeit  im  iuihercm  (Jiad(^  iordi^rn  würden.»^' 

Ka  scheint  uns,  daß  Sidgwick  hierhin  mit  jeiUMu  innfasscunhiu 
Urteile  der  Menschheil,  an  die  er  appelliert,  in  Konllikt  giMJit. 
Mill  hat  einmal  ganz  trelVend  gesagt,  daü  letzte  Kndzweckc;  sich 
nicht  beweisen  lassen,  .hulenl'alls  ist  der  versuchte  Beweis  Sid- 
gwicks  wie  derjiinige  der  nuMsten  lledonisten  —  und  wir  mögen 
hinzutug(;n,  viehu-  andern  Moralisten  —  im  (i runde  genommen 
eine  bloLM;  Voraussetzung. 

Spencers  Beweis  stellt  sich  in  noch  einleuchtenderer  Weise 
als  l'etitio  Trincipü  heiaus.  Kr  beweist  zmnvsl-,  daß  das  Ii(;ben 
der  Endzweck  des  Kntwicklungs[)rozess(;s  S(m.  Zunächst  versucht 
er  zu  zeigen,  daü  alle  Kthiker,  ()])timisl(;n  sowohl  wie;  Pessi- 
misten, vorausseht z(Mi  müssen,  daü  das  LidxMi  nur  gut  sei,  inso- 
weit es  Lust  mit  sich  bringt.     Die  Lust  ist  dah(5r  der  Knd/W(!ck. 

Man  sieht  soloit  (mu,  daß  dic^se  iUistimmung  des  hochstiüi 
Gutes  im  Grunde  genommen  auch  bloß  ein  Apjx^ll  an  den  g(!- 
sunden  Menschenverstand  ist.  Sp(;ncers  Beweis  ist  wirklich  nur 
der  alte  der  IhMlonistcni,  daG  man  notv/endig  die  Ijust  als  End- 
zweck anerkennen  muLs.  \h\v  Miitwicklungs[)rozeÜ  bestimmt  für 
ihn  nicht  ohne  weiteres  den  Endzweck.  Daher  ist  er,  wie  wir 
schon  gesagt  haben,  ein  evolutionistischer  lledonist  und  nicht 
ein  ethischcM-  Kvolutionist. 

'  So  Htollt  IJnulloy  die  J^Vago,  «Sidf^wicks  JIcdoiiJHrn»,  S.  Hl. 

*  «Somo  KrimhiiiKsntal  Kthical  CoutrovcrKioH»,  Mind*1881),  S.  473. 

Hl  II  iM  iil  r ,  Dci    lllililiiriMiiiiiH  Ix-I  Sl(l|.',\vi('k   ii.  M|icii('(;r.  i 


50  III.  Kapitel. 

Der  letztere  würde  meinen,  daß  der  Endzweck  ohne  weiteres 
in  dem  Entwicklungsprozeß  zu  finden  ist.  Er  versucht  das 
höchste  Gut  durch  die  genetische  Methode  zu  bestimmen.  Ein 
solcher  Versuch  ist  vergebens.  «Letzte  Endzwecke»,  sagt  Sidgwick 
sehr  treffend,  «sind  weder  Phänomene,  noch  Gesetze,  noch  Zu- 
stände von  Phänomenen.  Sie  als  solche  zu  untersuchen,  scheint 
daher  ebenso  unsinnig,  als  wenn  man  fragte,  ob  sie  viereckig 
oder  rund  sind.»^  Selbst  wenn  es  möglich  wäre,  das  Endziel 
des  Entwicklungsprozesses  zu  finden,  bliebe  die  Frage  übrig, 
ob  dieses  Ziel  wünschenswert  sei.  Der  Evolutionist  muß  ent- 
scheiden, ob  es  der  ethische  Endzweck  sei,  das  Ziel  der  Ent- 
wicklung zu  fördern.  Die  Unzulänglichkeit  der  Entwicklungs- 
lehre als  solche,  den  ethischen  Endzweck  zu  bestimmen,  kommt 
in  den  abweichenden  Antworten,  die  verschiedene  Evolutionisten 
dieser  Frage  gegeben  haben,  klar  zum  Vorschein.  Z.  B.  Barrat 
zieht  aus  der  Entwicklungslehre  die  ethische  Regel:  «Sei  ein 
bewußtes  Agens  in  der  Entwicklung  des  Universums».^  Huxley 
meint  dagegen,  daß  «die  ethische  Natur,  obgleich  sie  von  der 
kosmischen  geboren  ist,  unausbleiblich  mit  ihrer  Mutter  in  Feind- 
schaft steht».  «Laßt  uns»,  sagt  er,  «ein  für  allemal  verstehen, 
daß  der  ethische  Fortschritt  der  Gesellschaft  nicht  davon  ab- 
hängt, daß  man  den  kosmischen  Prozeß  nachahmt,  noch  weniger 
davon,  daß  man  ihm  ausweicht,  sondern  daß  man  gegen  ihn 
kämpft. » ^ 

Spencer  selbst  sieht  ein,  daß  die  genetische  Methode  nicht 
ausreicht,  um  das  höchste  Gut  zu  bestimmen.  Er  sucht  daher 
zu  beweisen,  daß  die  Lust  der  Endzweck  sei.  Er  will  zeigen, 
daß  jedermann  nur  insoweit  das  Leben  billigt,  als  es  einen 
Überschuß  von  Freude  mit  sich  bringt.  Dieser  Beweis  übersieht 
die  Tatsache,  daß  es  ebensoviele  verschiedene  Arten  von  Pessi- 
mismus gibt  als  verschiedene  Vorstellungen  des  Endzwecks.  Ein 
moralischer  Pessimist  wie  Kant  kann  z.  B.  behaupten,  daß  das 
Leben   im  ganzen  schlecht  sei,   weil  es  mehr  Böses  als  Gutes 


^  «Philosophy  its  Scope  and  Relations»,  S.  219,  220. 
^  Mind,  II,  S.  172  (1887),  «The  Suppression  of  Egoism  » 
^  Romanes  Lecture,  «Evolution  and  Ethics»,  S.  83. 


Die  Methode  des  Utilitarismus.  51 

enthält,  und  doch  zugeben,  daß  es  einen  Überschuß  von  Lust 
in  sich  schließt.  Selbst  der  Pessimist  im  hedonistischen  Sinne  des 
Wortes  kann  behaupten,  daß  das  Leben  doch  des  Lebens  wert 
sei,  weil  es  noch  andere  höhere  Möglichkeiten  als  die  der  Lust 
enthält,  wenn  er  auch  trozdem  daran  festhält,  daß  es  einen 
Überschuß  von  Schmerz  unvermeidlich  mit  sich  bringt. 


IV  Kapitel. 

Die  Methode  des  Utilitarismus. 


Mit  der  Bestimmung  des  höchsten  Gutes  haben  die  Haupt- 
schwierigkeiten des  Utilitariers  erst  angefangen.  Die  Lust  ist 
das  Endziel,  wie  aber  soll  sie  erreicht  werden?  Dies  ist  seit 
der  Zeit  Aristypps  das  Rätsel  des  Hedonismus  geblieben.  Des- 
halb hat  er  sich  immer  bemüht,  eine  befriedigende  Methode  zu 
finden.  Für  den  Utilitarier  ist  das  Problem  noch  schwieriger 
als  für  den  egoistischen  Hedonisten.  Wenn  das  Streben  nach 
meiner  eigenen  Lust  so  schwierig  durchzuführen  ist,  wie  kann 
ich  den  Weg  nach  dem  unendlich  verwickeiteren  Ziel  der  all- 
gemeinen Glückseligkeit  erreichen?  Ist  eine  Methode  des  Utili- 
tarismus überhaupt  zu  finden? 

Wir  haben  schon  Benthams  juristische  Lösung  des  Problems 
betrachtet  —  eine  durchaus  mechanische  Lösung,  in  der  er  die 
Glückseligkeit  als  eine  bestimmte  Summe  Geld  behandelt,  die 
mau  nach  demokratischen  Regeln  verteilen  kann.  Wir  sahen 
auch,  wie  Mill  einen  Qualitätsunterschied  der  Lustgefühle  in  den 
Utilitarismus  eingeführt  hat  ~  eine  Hinzufügung,  die  die  letzte 
Entscheidung  dem  Philosophen  ließ  und  sein  System  in  der  Tat 
über  den  Hedonismus  führte. 

Sidgwick  und  die  Methode  des  Utilitarismus. 
Diesen  logisch  unhaltbaren  Standpunkt  Mills  gibt  Sidgwick 
auf  und   nimmt  einen  rein   quantitativen  Hedonismus  an.     Die 
Lust  ist  nach  ihm   «wünschenswertes  oder  vorzuziehendes  Ge- 
fühl» und  es  ist  «ein  logischer  Widerspruch  zu  sagen,  daß  das 

4* 


52  IV.  Kapitel. 

weniger  angenehme  Gefühl  irgendwann  einmal  als  dem  ange- 
nehmeren vorzuziehend  gedacht  werden  könne».  Nach  einer 
sorgfältigen  psychologischen  Analyse  schließt  er:  «Wenn  man 
eine  Art  der  Lust  als  qualitativ  besser  als  eine  andere  Art  be- 
urteilt, obgleich  sie  weniger  angenehm  ist,  so  ist  es  dann  nicht 
wirklich  das  Lustgefühl  selbst,  das  vorgezogen  wird,  sondern 
etwas  von  den  physischen  oder  psychischen  Bedingungen,  unter 
denen  es  entsteht  und  die  man  als  erkennbare  Objekte  unseres 
allgemeinen  Denkens  betrachtet».  Daher  darf  von  Qualität  nur 
hier  gesprochen  werden,  insoweit  als  man  sie  in  Quantität 
auflösen  kann. 

Wie  kann  man  nun  die  größte  Quantität  der  Lust  erreichen? 
Allgemein,  meint  Sidgwick,  gibt  es  zwei  Methoden.  Entweder 
muß  man  nach  irgendeiner  deduktiven  oder  nach  der  «empirisch- 
reflektiven»  Methode  verfahren.  Die  letztere  versucht  die  Quan- 
tität der  Lust  und  der  Unlust  empirisch  zu  ermitteln,  die  jeder 
Richtung  des  Handelns  folgen  wird.  Aber  eine  deduktive 
Methode  ist  auch  wohl  möglich.  Man  kann  z.  ß.  glauben,  daß 
die  Tugend  die  größtmögliche  Glückseligkeit  schließlich  herbei- 
führt und  deshalb  kann  man  die  Tugend  als  mittelbaren  Zweck 
nehmen.  Oder  die  Induktion  kann  psychologisch  oder  physio- 
logisch sein.  So  z.  B.  ist  bei  Spencer  der  mittelbare  Endzweck 
das  Leben. 

Sidgwick  geht  zunächst  zu  einer  Betrachtung  der  empirisch- 
reflektiven  Methode  über.  Die  Annahme,  daß  Lust-  und  Unlust- 
gefühle  kommensurabel  sind,  d.  h.  daß  sie  quantitatives  Verhältnis 
zueinander  haben,  liegt  dieser  Methode  zugrunde.  Der  Einwand, 
daß  jede  Voraussicht  der  Zukunft  eine  ungeheure  Zahl  der  Zu- 
fälligkeiten involviert,  die  doch  nicht  zu  messen  sind,  ist  dem 
Hedonismus,  seiner  Ansicht  nach,  nicht  gefährlicher  als  Künste 
wie  die  Medizin  und  die  Strategie.  Green  hatte  jedoch  in 
seinen  «Prolegomeua  to  Ethics»  gegen  den  Hedonismus  den 
Einwand  betont,  daß  angenehme  Gefühle  nicht  addierbare  Quan- 
titäten sind,  und  daß  eine  Summe  von  Lustgefühlen  ein  nicht 
zu  verwirklichendes  Endziel  sei.  Sidgwick  erwidert  darauf,  daß 
die  Hedonisten  unter  dem  Begriff  «Endzweck»  nicht  ein  Ziel, 
sondern   ein  Objekt  des  rationellen  Strebens   meinen.     Der  ge- 


Die  Methode  des  Utilitarismus.  53 

fährlichste  Einwand  ist  nach  Sidgwick,  daß  eine  quantitative 
Vergleichung  der  Lustgefühle  immer  unbestimmt,  schwankend 
und  illusorisch  bleibt.  Wenn  wir  Lustgefühle  vergleichen,  muß 
ein  Glied  in  der  Gleichung  vorgestellt  werden  durch  eigene  oder 
von  andern  mitgeteilte  Erfahrung,  und  ein  solcher  Prozeß  kann 
nie  ohne  Irrtum  sein.  Diesen  Irrtum  muß  man  durch  induktive, 
auf  schon  erlebte  Lustgefühle  begründete  Verallgemeinerung  aus- 
scheiden. Ist  aber  eine  genaue  Schätzung  der  schon  erlebten 
Lustgefühle  möglich?  Sie  ist,  zeigt  Sidgwick,  unbestimmt,  wo 
die  Gefühle  derselben  Art  sind,  außer  wenn  die  Unterschiede 
sehr  groß  sind,  und  sie  ist  noch  schwankender,  wo  die  Gefühle 
von  verschiedenen  Arten  sind.  Solche  Urteile  sind  auch  schwan- 
kend selbst  bei  demselben  Individuum.  Einige  Lust-  und  Unlust- 
gefühle  sind  leichter  vorstellbar  als  andere.  Wer  kann  z.  B. 
die  Übelkeit  einer  Seekranheit  wirklich  vorstellen,  und  wem  ist 
nicht  die  Erinnerung  an  viele  vergangene  mühsame  Arbeiten 
und  Ängste  angenehm  erschienen? 

Solche  Erwägungen  führen  Sidgwick  zu  dem  Resultat,  daß 
«eine  von  dem  Nullpunkt  vollkommener  Indifferenz  aus  positiv 
und  negativ  gemessene  Skala  des  Wünschenswertseins  der  Lust- 
und  Unlüstgefühle  höchstens  ein  Ideal  sei,  von  welchem  wir  nie 
bestimmen  können,  wie  weit  wir  uns  demselben  annähern».  Dies 
ist  aber  nicht  alles.  Ändert  sich  nicht  unsere  Empfänglichkeit 
für  bestimmte  Lustgefühle  und  könnte  deswegen  selbst  ein  ge- 
naues Messen  der  vorgegangenen  Lustgefühle  uns  helfen,  die 
zukünftigen  vorauszusehen?  «Die  sorgfältigste  Schätzung  der 
Lustgefühle  eines  Mädchens  könnte  einer  jungen  Dame  wohl 
wenig  nutzen»,  und  obgleich  wir  auf  die  Erfahrung  von  andern 
etwas  vertrauen  können,  ist  doch  die  Ähnlichkeit  der  Naturen 
niemals  genau. 

Trotz  dieser  unparteiischen  und  fast  vernichtenden  Kritik 
der  empirisch-reflektiven  Methode  ist  Sidgwick  weit  davon  ent- 
fernt, sie  überhaupt  zu  verwerfen.  «Ich  bin  mir  bewußt,»  sagt 
er,  «daß  trotz  aller  dieser  Schwierigkeiten  ich  nicht  aufhöre, 
Vergleichungen  zwischen  Lust-  und  Unlustgefühlen  aufzustellen, 
und  daß  ich  auf  die  Resultate  in  betreff  der  praktischen  Lei- 
tung vertraue.» 


54  IV.  Kapitel. 

Sidgwick  prüft  zunächst  in  ausführlicher  Weise  verschiedene 
Formen  der  deduktiven  Methode  und  erklärt  sie  für  unzuläng- 
lich. Bisher  aber  hat  er  die  Frage  behandelt  nur  insoweit, 
als  sie  den  egoistischen  Hedonismus  betrifft.  Es  fragt  sich  nun 
noch,  ob  die  Sache  anders  für  den  universalistischen  Hedonismus 
sich  verhält.  In  dem  vierten  Buch  widmet  Sidgwick  ein  Kapitel 
einer  Erwägung  der  Methode  der  allgemeinen  Glückseligkeit. 

Hier  entsteht  sofort  eine  interessante  Frage.  Was  das  In- 
dividuum betrifft,  hat  Sidgwick  schon  im  ersten  Buch  bewiesen, 
daß  keine  vollkommene  Harmonie  zwischen  Tugend  und  Glück 
besteht.  Es  fragt  sich  jetzt  aber,  ob  eine  solche  Harmonie 
zwischen  Tugend  und  Glückseligkeit  nicht  bestehe,  wenn  die 
betreffende  Glückseligkeit  diejenige  der  Gesellschaft  und  nicht 
des  Individuums  sei.  Die  Common-Sense-Moral  kann  vielleicht 
«die  positiven  Überzeugungen  der  Menschheit  von  den  Folgen 
der  Handlungen  für  die  Glückseligkeit»  vertreten.  Die  funda- 
mentalen Grundsätze  der  Common-Sense-Moral  könnten  in  diesem 
Fall  als  die  mittleren  Axiome  des  Utilitavismus  dienen.  Die 
genetische  Methode,  die  die  moralischen  Gefühle  durch  einen 
komplizierten  und  allmählichen  Entwicklungsprozeß  aus  einzelnen 
Erfahrungen  von  Lust  und  Unlust  ableitet,  scheint  vielleicht  diese 
Annahme  zu  unterstützen.  Die  Theorie,  welche  die  moralischen 
Gefühle  aus  der  Sympathie  ableitet,  ist  aber  nicht  imstande, 
behauptet  Sidgwick,  das  moralische  Urteilsvermögen  zu  erklären, 
gibt  jedoch  eine  teilweise  wahre  Erklärung  von  gewissen  mora- 
lischen Gefühlen.  Er  meint  aber,  daß  einige  besondere  Gründe 
dazu  beigetragen  haben,  eine  Divergenz  zwischen  der  Common- 
Sense-Moral  und  einem  vollkommen  utilitaristischen  Kodex  her- 
vorzubringen. Die  Sympathie  z.  B.  (und  hier  benutzt  er  eine 
tiefsinnige  Bemerkung  Adam  Smiths)  wirkt  nicht  nur  auf  die 
von  dem  Handeln  erzeugten  Gefühle,  sondern  auch  auf  die 
Handelnsimpulse.  Das  resultierende  moralische  Bewußtsein  ist 
deswegen  manchmal  ein  Gleichgewicht  zwischen  diesen  beiden 
Arten  der  Sympathie.  Auch  andere  Ursachen  wie  Beschränkung 
der  Sympathie  und  der  Intelligenz  und  der  Einfluß  falscher 
Religionen  haben  dazu  beigetragen,  eine  noch  größere  Divergenz 
zwischen  der  Common-Sense-Moral  und  dem  Utilitarismus  hervor- 


Die  Methode  des  Utilitarismus.  65 

zubringen.  Es  gibt  zwar  Leute,  die  glauben,  daß  der  Kampf 
ums  Dasein  die  Tendenz  hat,  diese  Divergenz  zu  verbessern. 
Nach  Sidgwicks  Meinung  aber  ist  dieses  nur  teilweise  möglich. 
Denn  eine  unvollkommene  Moral  ist  höchstens  ein  Nachteil  unter 
vielen  in  diesem  Kampf,  und  überdies  ist  die  Moral,  die  am 
meisten  die  Erhaltung  fördert,  nicht  notwendig,  auch  diejenige, 
die  die  Lust  am  meisten  fördert. 

Aus  diesen  Gründen  muß  die  Moral  Wissenschaft  die  Regel 
der  Common-Sense-Moral  eingehend  untersuchen,  um  zu  ermitteln, 
wie  weit  die  obenerwähnten  Ursachen  dazu  beigetragen  haben, 
eine  Divergenz  zwischen  der  gewöhnlichen  und  einer  vollkommen 
utilitaristischen  Moral  zu  erzeugen. 

Einige  Utilitarier  haben  auf  der  andern  Seite  es  für  möglich 
gehalten,  eine  utilitaristische  Moral  zu  bilden,  ohne  die  gewöhn- 
liche Moral  als  Grundlage  dazu  anzuwenden.  Ein  solcher  Ver- 
such ist  nach  Sidgwick  wahnsinnig.  Denn  die  menschliche  Natur 
variiert  zu  stark,  selbst  innerhalb  derselben  Nation,  und  außer- 
dem vorausgesetzt,  daß  wir  einen  solchen  idealen  Kodex  bilden 
könnten,  würde  er  uns  als  Muster  vollkommen  nutzlos  sein. 
Denn  wir  könnten  wahrscheinlich  uns  demselben  nicht  annähern. 
«Ich  halte  es  für  den  Utihtarier  für  vollkommen  unmöglich,  in 
dem  gegenwärtigen  Zustand  unserer  Erkenntnis,  eine  Moral  de 
novo  zu  bilden,  sei  es  nun  für  den  Menschen,  wie  er  ist,  abstra- 
hiert von  seiner  Moral,  oder  für  den  Menschen,  wie  er  sein  sollte 
und  sein  wird.  Er  muß  im  allgemeinen  mit  der  bestehenden 
sozialen  Ordnung  und  mit  der  bestehenden  Moral  als  einem  Teil 
jener  Ordnung  anfangen.» 

Sidgwick  kommt  schließlich  zu  dem  Resultat,  daß  der  Utili- 
tarier die  bestehende  Moral  im  allgemeinen  unterstützen  will, 
sie  aber  in  Einzelheiten  zu  verbessern  versuchen  muß.  Es  fragt 
sich  dann,  welche  Methode  er  gebrauchen  muß,  wo  solche  Ver- 
besserung nötig  ist.  Es  folgt  von  dem  ganzen  Standpunkt 
Sidgwicks  aus,  daß,  solange  als  die  Soziologie  nicht  das  Recht 
hat,  sich  selbst  eine  Wissenschaft  zu  nennen,  wie  sie  nach  ihm 
das  heute  noch  nicht  tun  darf,  die  einzige  mögliche  Methode 
diejenige  des  empirischen  Hedonismus  sei. 


56  IV.  Kapitel. 

In  der  Anwendung  dieser  Methode  sieht  Sidgwick  die  größten 
Schwierigkeiten  des  Utilitariers.  In  den,  seiner  Meinung  nach, 
sehr  seltenen  Fällen,  in  denen  der  Utilitarier  von  der  gewöhn- 
lichen Moral  abweichen  muß,  zeigt  er  mit  schonungsloser  Logik 
die  paradoxen  Resultate,  zu  welchen  seine  Theorie  ihn  treibt. 
«Den  utilitaristischen  Prinzipien  gemäß  kann  es  unter  gewissen 
Umständen  recht  sein,  zu  tun  und  geheim  zu  empfehlen,  was 
nicht  recht  sein  würde,  offen  zu  verteidigen.»  «Es  könnte  viel- 
leicht die  allgemeine  Glückseligkeit  am  meisten  fördern,  daß  A 
in  einer  bestimmten  Weise  handelte  und  daß  B,  C  und  D  ihn 
zu  gleicher  Zeit  tadelten  ....  und  deshalb  kann  es  am  vor- 
teilhaftesten sein,  daß  in  einer  gegebenen  Gesellschaft  auf  einer 
bestimmten  Stufe  ihrer  Entwicklung  verschiedene  miteinander 
in  Konflikt  stehende  morahsche  Anschauungen  existieren.» 
«Gewiß,  in  einer  idealen  Gesellschaft  von  aufgeklärten  Utilita- 
riern  würde  diese  Fülle  von  Paradoxen  verschwinden.» 

Herbert  Spencer  und  die  Methode  des  Utilitarismus. 

Trotz  allem,  was  er  getan  hat,  unser  Vertrauen  auf  die 
empirische  Methode  zu  zerstören,  hält  Sidgwick  an  ihr  fest  als 
der  einzigen  möglichen  Methode  des  Utilitarismus.  Spencer 
dagegen  verwirft  sie  vollkommen.  «Wenn  also»,  sagt  er,  «gegen 
die  Methode  des  egoistischen  Hedonismus  der  Einwand  erhoben 
werden  kann,  daß  die  Freuden  und  Leiden  eines  Menschen,  so 
verschieden  nach  Art,  Intensität  und  Zeit  ihres  Eintretens, 
unter  sich  inkommensurabel  seien,  so  läßt  sich  offenbar  der 
Methode  des  universalistischen  Hedonismus  entgegenhalten,  daß 
zu  der  Inkommensurabilität  der  eigenen  Freuden  und  Leiden 
jedes  einzelnen  Richters  (die  er  doch  zum  Maßstab  nehmen  muß) 
nun  die  noch  viel  unzweifelhaftere  Inkommensurabilität  der 
Freuden  und  Leiden  hinzukommt,  welche,  wie  er  voraussetzen 
muß,  von  zahllosen  andern  Menschen  erfahren  werden,  deren 
Konstitutionen  sich  untereinander  von  der  seinigen  unterscheiden.»^ 

Aus  diesen  Gründen  verwirft  Spencer  den  empirischen 
Hedonismus,  um  an  seine  Stelle  den  «rationalen»  Utilitarismus 


'  Tatsachen  der  Ethik,  §  58.    (Englische  Ausgabe,  §  57.) 


Die  Methode  des  Utilitarismus.  57 

ZU  setzen,  obgleich  er  noch  daran  festhält,  daß  der  in  letzter 
Linie  höchste  Endzweck  «das  besondere  und  allgemeine  Glück» 
sei.  Statt  der  induktiven  will  er  die  deduktive  Methode  ein- 
führen. «Meiner  Ansicht  nach»,  sagt  er,  «ist  es  eben  die 
Hauptaufgabe  der  Moralwissenschaft,  aus  den  Gesetzen  des 
Lebens  und  den  Existenzbedingungen  abzuleiten,  welche  Arten 
des  Handelns  notwendigerweise  Glück  und  welche  Unglück  zu 
erzeugen  streben.  Hat  sie  dies  getan,  so  müssen  ihre  Deduk- 
tionen als  die  Gesetze  des  Handelns  anerkannt  und  ohne 
Rücksicht  auf  eine  direkte  Beurteilung  von  Glück  oder  Elend 
befolgt  werden.»  «Die  Ethik»,  meint  er,  «muß  die  Beziehung 
[d.  h.  die  einzige  oder  die  wesentliche  Beziehung]  zwischen 
Ursache  und  Wirkung  im  Handeln  finden.»  Der  empirische 
Utilitarismus  ist  eine  Übergangsform,  «welche  auf  dem  Wege 
zum  rationalen  Utilitarismus  durchlaufen  werden  muß».  Den 
früheren  Utilitarismus  vergleicht  Spencer  mit  der  früheren 
Astronomie,  welche  «auf  empirischem  Wege  mit  großer  An- 
näherung an  das  Richtige  voraussagen  konnte,  daß  die  einzel- 
nen Himmelskörper  zu  bestimmten  Zeiten  diese  oder  jene  Stel- 
lungen einnehmen  würden».  «Die  wahre  Moral  Wissenschaft  soll 
aber  der  modernen  Astronomie  ähnlich  sein,  welche  aus  Deduk- 
tionen von  dem  Gesetze  der  Gravitation  uns  zeigt,  warum  die 
Himmelskörper  notwendig  zu  bestimmten  Zeiten  bestimmte 
Stellungen  einnehmen. » 

Spencers  Absicht  ist  daher,  die  Ethik  zu  einer  exakten 
Wissenschaft  zu  machen.  Er  wirft  allen  früheren  Systemen, 
und  zwar  auch  dem  Utilitarismus,  vor,  daß  sie  alle  die  Kau- 
salität vernachlässigen.  Durch  die  Anerkennung  dieses  Prinzips 
glaubt  er  einen  wissenschaftlichen  Utilitarismus  zu  bilden. 
Diesen  Traum,  die  Ethik  als  exakte  Wissenschaft  zu  behandeln, 
findet  man  jedoch  in  dem  Utilitarismus  nicht  zum  erstenmal 
bei  Spencer,  wie  er  selbst  glaubt,  sondern  bei  Bentham. 
(Spencers  Kritik  der  Lehre  Benthams  ist  schief  und  einseitig.) 
Bentham  glaubte  die  Genauigkeit  der  Mathematik  in  die  Ethik 
einzuführen  und  Mill  erkennt  seinen  Anspruch.  «Er  führte», 
sagte  MilP,  «in  die  Moral  jene  Gewohnheiten  des  Denkens  und 

1  Dissertations  I,  S.  339. 


58  IV.  Kapitel. 

jene  Methode  der  Forschung  ein,  die  der  Idee  einer  Wissen- 
schaft notwendig  sind.»  Mill  selbst  hat  später  die  Hoffnung 
gehegt,  eine  wissenschaftliche  Methode  für  die  Ethik  festzu- 
setzen durch  die  Begründung  einer  neuen  Wissenschaft,  die  er 
«Ethologie»  nannte  —  «die  Wissenschaft  der  Charakterbildung». 
Diese  Wissenschaft  sollte  ganz  deduktiv  sein  und  ihre  Gesetze 
von  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Geistes  ableiten. 

Spencers  Absicht  ist  jedenfalls  nicht  so  bescheiden.  Es  ist 
das  Prinzip  der  Entwicklung,  durch  welches  er  hofft,  die  Ethik 
in  eine  deduktive  Wissenschaft  zu  verwandeln.  Wie  alles  in 
dem  Universum  muß  auch  die  Moral  den  Gesetzen  der  Ent- 
wicklung gehorchen.  Hier  wendet  Spencer  die  Resultate  seiner 
synthetischen  Philosophie  an  und  betrachtet  die  Ethik  unter 
vier  Standpunkten,  dem  physikalischen,  dem  biologischen,  dem 
psychologischen  und  dem  soziologischen. 

1.  Der  physikalische  Standpunkt.  Hier  betrachten 
wir  das  Handeln  bloß  als  eine  Gruppe  von  einzelnen  Bewe- 
gungen. Wir  suchen  zu  zeigen,  wie  das  Handeln,  indem  es  sich 
zu  höheren  Formen  erhebt,  die  Eigentümlichkeiten  der  Ent- 
wicklung in  gesteigertem  Maße  erkennen  läßt,  a)  Es  wird 
zusammenhängender.  Die  Bewegungen  niedrig  organisierter  Ge- 
schöpfe sind  locker  und  ziellos  und  haben  keinerlei  Beziehung 
zu  den  einen  Augenblick  vorher  ausgeführten  Bewegungen. 
Höher  entwickelte  Tiere  aber,  wie  die  Vögel,  zeigen  uns  zahl- 
reiche Bewegungen,  die  voneinander  abhängig  und  über  eine 
beträchtliche  Zeit  ausgedehnt  sind.  In  gleicher  Weise  ist  das 
Handeln  des  Wilden  zusammenhängender  als  dasjenige  der  Tiere 
und  das  der  zivilisierten  Menschen  als  das  der  Wilden.  Je 
höher  wir  steigen  in  der  Skala  des  Lebens,  desto  weniger  locker 
finden  wir  die  Bewegungen,  die  das  Handeln  ausmachen,  und 
desto  mehr  nehmen  sie  die  Vergangenheit,  die  Gegenwart  und 
die  Zukunft  in  Betracht.  Es  ist  nun  bemerkenswert,  daß  das 
sittliche  Handeln  einen  größeren  Zusammenhang  als  das  unsitt- 
liche zeigt.  Wir  wissen  im  voraus,  was  der  moralische  Mensch 
tun  wird,  aber  das  Handeln  des  unmoralischen  läßt  sich  nicht 
voraussagen.  Er  mag  das  entliehene  Geld  zurückzahlen  oder 
nicht,  er  mag  die  Wahrheit  reden  oder  lügen. 


Die  Methode  des  Utilitarismus.  59 

b)  In  ganz  ähnlicher  Weise  will  Spencer  beweisen,  daß  das 
moralische  Handeln  eine  größere  Bestimmtheit  zeigt  als  das 
unmoralische.  Der  gewissenhafte  Mensch  ist  genau  in  allen 
seinen  Verrichtungen.  Hat  er  einen  Geschäfts  vertrag,  so  hält 
er  an  den  Tag  und  seine  Äußerungen  stimmen  genau  mit  den 
Tatsachen  überein.  c)  Ebenso  ist  das  moralische  Handeln 
ungleichartiger  als  das  unmoralische.  Der  moralische  Mensch 
nimmt  teil  an  einer  großen  Mannigfaltigkeit  der  Handlungen. 
Je  vollkommener  er  seine  Pflicht  gegen  sich  selbst  und  seine 
Mitmenschen  erfüllt,   desto  mannigfaltiger  wird  seine  Tätigkeit. 

Von  allen  diesen  Tatsachen  lernen  wir  die  Wahrheit,  daß 
das  Handeln,  von  dem  physikalischen  Standpunkt  aus  betrachtet, 
nach  dem  Entwicklungsgesetze  sich  richtet,  in  dem  es  von  einer 
unbestimmten,  unzusammenhängenden  Gleichartigkeit  in  den 
Zustand  einer  bestimmten,  zusammenhängenden  Gleichartigkeit 
übergeht.  Es  strebt,  wie  alle  andere  Entwicklung,  einem 
Gleichgewicht  zu.  «Das  sittlich  zu  nennende  Leben  charak- 
terisiert sich  dadurch,  daß  in  ihm  die  Aufrechterhaltung  jenes 
beweglichen  Gleichgewichts  die  Vollkommenheit  erreicht  oder 
sich  derselben  außerordentlich  nähert.?» 

2.  Der  biologische  Standpunkt.  Hier  strebt  die 
Entwicklung  einem  Gleichgewicht  der  Funktionen  zu.  Jede 
Funktion  als  ein  Ergebnis  der  Entwicklung  hat  irgendeine 
direkte  oder  indirekte  Beziehung  zu  den  Bedürfnissen  des  Lebens. 
Die  Ausübung  jeder  Funktion  ist  deshalb  in  gewissem  Sinne 
eine  sittliche  Pflicht.  Von  diesem  Standpunkt  aus  betrachtet 
ist  eine  Handlung  gut,  welche  das  vollkommene  Leben  in  der 
Gegenwart  geeignet  ist  aufrechtzuerhalten,  und  wenn  sie  auf 
Verlängerung  des  Lebens  bis  zu  seiner  äußersten  Grenze  hin 
wirkt. 

Hier  wendet  Spencer  seine  Theorie  der  Lust  und  der  Unlust 
an,  die  er  in  seinen  Prinzipien  der  Psychologie  entwickelt  hat. 
Sie  spielt  eine  so  große  Eolle  in  seinem  System  und  ist  für 
unseren  Zweck  so  wichtig,  daß  wir  seine  eigenen  Worte  zitieren. 
«Wenn  wir  für  das  Wort  Freude  den  gleichwertigen  Ausdruck 
einführen:  ein  Gefühl,  das  wir  ins  Bewußtsein  zu  bringen  und 
darin    festzuhalten   suchen,    und    für   das  Wort  Schmerz   den 


60  IV.  Kapitel. 

gleichwertigen  Ausdruck,  ein  Gefühl,  das  wir  aus  dem  Bewußt- 
sein fortzuschaffen  und  davon  fernzuhalten  suchen,  so  leuchtet 
sofort  ein,  daß,  wenn  die  Bewußtseinszusfände,  welche  ein  Ge- 
schöpf festzuhalten  strebt,  die  Korrelative  von  schädlichen  Ein- 
wirkungen, diejenigen  Bewußtseinszustände  dagegen,  welche  es 
wegzuschaffen  strebt,  die  Korrelative  von  wohltätigen  Ein- 
wirkungen wären,  dieses  Geschöpf  infolge  seines  Festhaltens  am 
Schädlichen  und  seines  Vermeidens  des  Nützlichen  bald  zugrunde 
gehen  muß.  Es  können  mit  andern  Worten  nur  jene  Arten 
von  Wesen  am  Leben  geblieben  sein,  in  denen  durchschnittlich 
angenehme  oder  erwünschte  Gefühle  verbunden  waren  mit  zur 
Erhaltung  des  Lebens  dienlichen  Einwirkungen,  während  unan- 
genehme und  gewohnheitsgemäß  vermiedene  Gefühle  mit  solchen 
Einv^irkungen  verbunden  waren,  welche  direkt  oder  indirekt  das 
Leben  zu  vernichten  trachteten,  und  stets  müssen  unter  sonst 
gleichen  Umständen  diejenigen  Arten  am  häufigsten  und  am 
längsten  überlebt  haben,  bei  welchen  diese  Anpassungen  von 
Gefühlen  an  Einwirkungen  am  besten  waren,  indem  sie  fort- 
während eine  möglichst  vollkommene  Anpassung  zu  erzielen 
streben. » ^ 

Eine  Betrachtung  der  verschiedenen  Lebensformen  führt 
Spencer  zu  der  Annahme,  daß  jedes  Individuum  und  jede 
Spezies  Tag  für  Tag  nur  dadurch  sich  am  Leben  erhalten,  daß 
sie  dem  Angenehmen  nachstreben  und  das  Unangenehme  ver- 
meiden. «Empfindende  Wesen  können  sich  nur  unter  der  Be- 
dingung entwickeln,  daß  lustbringende  Handlungen  zugleich  lebens- 
erhaltende Handlungen  sind.» 

Man  muß  darauf  aufmerksam  machen,  daß  Spencer  keines- 
wegs behauptet,  daß  diese  Harmonie  zwischen  lustbringenden 
und  lebenserhaltenden  Handlungen  vollkommen  ist.  Es  ist  aber 
die  Tendenz  des  Entwicklungsprozesses,  sie  mehr  und  mehr  in 
Harmonie  zu  bringen,  bis  in  der  vollkommenen  Gesellschaft  die 
Ausübung  jeder  Funktion  von  Lust  begleitet  werden  wird. 

3.  Der  psychologische  Standpunkt.  In  diesem  inter- 
essanten Kapitel  gibt  uns  Spencer  seine  Theorie  des  Gewissens 


^  Prinzipien  der  Psychologie,  §  124.    Data  of  Ethics,  S.  79. 


Die  Methode  des  Utilitarismus.  61 

und  der  Entstehung  der  moralischen  Gefühle,  die  wir  später 
eingehend  behandeln  werden.  Die  Schlußfolgerung  dieses  Ka- 
pitels ist:  «Die  Freuden  und  Leiden,  die  aus  den  moralischen 
Gefühlen  entspringen,  müssen,  gleich  körperlichen  Freuden  und 
Leiden,  zu  Reiz-  und  Abschreckungsmitteln  werden,  deren  Stärke 
den  jeweiligen  Bedürfnissen  dergestalt  angepaßt  ist,  daß  das 
moralische  Handeln  und  das  natürliche  Handeln  eins  und  das- 
selbe werden». 

4.  Der  soziologische  Standpunkt.  «Vom  soziologischen 
Standpunkt  aus  betrachtet,  erscheint  die  Ethik  nicht  anders  als 
eine  bestimmte  Darstellung  der  Formen  des  Handelns,  welche 
für  den  gesellschaftlichen  Zustand  geeignet  sind,  und  zwar  in 
der  Weise,  daß  das  Leben  jedes  einzelnen  und  aller  übrigen 
seiner  Länge  und  seiner  Tiefe  nach  so  vollkommen  als  möglich 
sich  gestalten  kann.»  Auf  der  kriegerischen  Stufe  der  Gesell- 
schaft behauptet  die  Wohlfahrt  der  sozialen  Gruppe  den  Vor- 
rang vor  der  individuellen  Wohlfahrt.  Wenn  aber  allmählich 
die  Kriege  abnehmen  und  die  höhere  industrielle  Stufe  mehr 
und  mehr  erreicht  wird,  kommt  das  vollkommene  Leben  durch 
freiwilliges  Zusammenwirken  zustande.  Der  Industrialismus  ver- 
langt von  jedem  einzelnen  Bürger,  daß  er  weder  direkte  noch 
indirekte  Übergriffe  auf  seine  Mitbürger  verursache.  Das 
höchste  Leben  ist  aber  dabei  noch  nicht  erreicht.  Das  Endziel 
der  Entwicklung  ist  erst  dann  erreicht,  wenn  in  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  ein  spontanes  Bestreben  wirksam  geworden 
ist,  das  jeden  dazu  antreibt,  das  Wohl  der  andern  zu  fördern. 
Die  Menschen  müssen  so  weit  kommen,  daß  sie  nicht  nur 
einander  gegenseitig  nicht  schaden,  sondern  auch  auf  jede 
Weise  unterstützen,  ihr  Leben  möglichst  vollkommen  zu  gestalten. 

Kritik. 
Wir  haben  hier  nur  einige  Worte  über  die  utilitarische 
Methode  zu  sagen.  Sidgwick  hält  an  der  empirischen  Methode 
fest;  doch  stellt  er  die  Schwierigkeiten  dieser  Methode  so  un- 
parteiisch dar,  daß  sich  nichts  weiter  darüber  sagen  läßt.  Spencer 
ist  nicht  so  bescheiden.     Er  hält  es  für  sein  größtes  Verdienst 


62  IV.  Kapitel. 

in  der  Ethik,  daß  er  eine  neue  wissenschaftliche  Methode  ein- 
geführt hat. 

Man  muß  nun  zugeben,  daß  es  wohl  möglich  ist,  eine  mo- 
ralische Handlung  von  den  vier  Seiten  aus  (der  physikalischen, 
der  biologischen,  der  soziologischen  und  der  psychologischen), 
wie  Spencer  tut,  zu  betrachten.  Ist  aber  damit  die  Betrachtung 
einer  moralischen  Handlung  erschöpft?  Wir  glauben  nicht. 
Wenn  die  Antwort  ja  ist,  so  ist  die  Möglichkeit  einer  norma- 
tiven Ethik  ausgeschlossen.  Bei  diesen  vier  Standpunkten  hat 
man  aber  das  eigentlich  Moralische  bei  einer  Handlung  nicht 
getroffen. 

Betrachten  wir  z.  B.  den  «physikalischen  Standpunkt» 
Spencers.  Gewiß  ist  jede  moralische  Handlung  eine  Bewegung. 
Eine  Tat  der  äußersten  Selbstopferung  und  ein  grausamer  Mord 
sind  beide,  von  diesem  Standpunkt  aus  betrachtet,  reine  Über- 
tragungen von  Bewegungen.  In  dieser  Weise  kann  man  nie 
das  eigentliche  Wiesen  einer  moralischen  Handlung  bestimmen. 
Spencer  glaubt  zwar  seine  allumfassende  Formel  hier  anzu- 
wenden, und  in  ihrer  Bestimmtheit,  ihrer  Zusammenhängigkeit 
und  ihrer  Ungleichai  tigkeit  den  Kern  einer  moralischen  Hand- 
lung zu  sehen.  Diese  sind  aber  ebensowohl  Merkmale  einer 
entwickelten  Bösheit.  Die  Handlung  eines  klugen  Diebes  von 
Fach  ist  manchmal  auch  durch  Bestimmtheit,  Zusammenhängig- 
keit und  Ungleichartigkeit  ausgezeichnet. 

Kurz,  in  diesen  Kapiteln  hat  Spencer  nur  mehr  oder  weniger 
Allgemeinheiten  ausgesprochen,  die  zweifellos  viel  Wahres  ent- 
halten, doch  zu  unbestimmt  und  generell  sind,  um  ein  Kriterium 
des  moralischen  Handelns  zu  liefern.  Mit  einer  Offenheit,  die 
ihm  Ehre  macht,  beklagt  Spencer  in  dem  Vorwort  des  zweiten 
Teiles  seiner  Prinzipien  der  Ethik  das  relative  Mißlingen  seiner 
früheren  Hoffnung,  «aus  den  Gesetzen  des  Lebens  und  der 
Existenzbedingungen»  ein  absolutes  Kriterium  abzuleiten.  «Die 
Entwicklungslehre»,  sagt  er,  «hat  nicht  in  dem  Maße  eine 
Führung  gegeben,  als  ich  hoffte.  Die  Mehrheit  der  Folgerungen, 
die  ich  empirisch  gezogen  habe,  sind  solche,  wie  sie  rechte,  durch 
eine  kultivierte  Vernunft  aufgeklärte  Gefühle  schon  zu  begründen 
vermochten.  •» 


Das  Seinsollen.  63 

Die  entscheidende  Frage  ist  aber,  ob  Spencers  eigentüm- 
liche Verbindung  des  Hedonismus  mit  der  Entwicklungslehre 
haltbar  ist.  Auf  dieser  Verbindung  ruht  seine  Hoffnung,  eine 
wissenschaftliche  Methode  des  Utihtarismus  zu  finden.  Diese 
Verbindung  liegt  seiner  ganzen  Ethik  zugrunde.  Wir  wollen 
versuchen,  sie  in  dem  Schlußkapitel  einer  Kritik  zu  unterwerfen. 


V.  Kapitel. 

Das  Seinsollen. 


Mit  den  Begriffen  der  Pflicht,  der  Verantwortlichkeit  und 
des  Seinsollens  haben  die  ersten  Utilitarier  außerordentlich  große 
Schwierigkeiten  gehabt,  die  notwendig  aus  ihrer  sensualistischen 
Psychologie  hervorgehen  mußten.  Die  Verbindlichkeit  konnten 
sie  nur  erklären  als  die  Wirkung  auf  den  Willen  von  erwarteter 
Lust  und  Unlust,  die  entweder  als  Strafen  oder  Belohnungen 
mit  den  moralischen  Gesetzen  verbunden  sind.  Natürlich  fanden 
die  Utilitarier  die  Erklärung  der  Pflicht  auf  einer  solchen  Basis 
schwieriger  als  die  egoistischen  Hedonisten.  Der  einzige  Aus- 
weg schien  die  Auflösung  des  Sollens  in  das  Sein.  «Wenn  das 
Wort  (Soll,  Ought)  überhaupt  zu  gebrauchen  ist,»  sagt  Bentham, 
«so  soll  es  aus  dem  Wörterbuch  der  Moral  verbannt  werden. ^^ 

Die  Begründung  der  Autorität  der  Moral  könnte  daher  bei 
Bentham  nicht  anders  sein  als  das  bloße  Aufsuchen  von  ad- 
äquaten Sanktionen,  die,  wie  schon  erwähnt,  bei  ihm  alle  äußer- 
lich sind.  Nach  Bentham  machte  Mill  nun  den  großen  Fort- 
schritt, daß  er  eine  innere  Sanktion  der  Sympathie  hinzufügte 
und  sie  als  die  ausschlaggebende  betonte.  Doch  ist  seine  Methode 
wesentlich  dieselbe  und  die  letzte  Sanktion  aller  Moral  bleibt 
ein  subjektives  Gefühl  in  dem  Bewußtsein  des  Individuums. 

In  dem  Vorwort  seiner  «Tatsachen  der  Ethik»  verspricht 
Spencer  die  Ethik  als  eine  normative  Wissenschaft  zu  begründen. 
Ja  er  hat  sogar  bei  der  Abfassung  seiner  Ethik  einen  morali- 


^  «If  the  Word  (ought)  be  admissible  at  all  it  ought  to  be  banished 
from  the  vocabulary  of  morals.»     Deontology  I,  82. 


64  V.  Kapitel. 

sehen  Zweck  im  Auge.  Sie  soll  den  Schlußstein  der  ganzen 
«Synthetischen  Philosophie»  bilden.  «Jetzt,  da  die  sittlichen 
Gebote  die  Autorität  verlieren,  die  ihnen  bisher,  kraft  ihres 
vermeintlich  heiligen  Ursprungs,  zukam,  erscheint  die  Säkulari- 
sierung der  Sittlichkeit  durchaus  geboten.  Kaum  mag  etwas  ver- 
derblichere Folgen  haben,  als  wenn  ein  nicht  mehr  zulängliches 
Gesetzsystem  verfällt  und  abstirbt,  bevor  ein  anderes  und  passen- 
deres an  dessen  Stelle  zur  Ausbildung  gelangt.»^  Dann  stellt 
er  die  Ethik  «wie  sie  sein  sollte»  der  Ethik  «wie  sie  ist»  gegen- 
über. In  seinen  «Prinzipien  der  Ethik»  will  er  versuchen,  die 
erforderliche  Begründung  der  Moral  zu  geben.  Wir  wollen  jetzt 
sehen,  wie  er  diese  Absicht  durchführt. 

In  Kapitel  VII  der  «Tatsachen  der  Ethik»  stellt  Spencer 
seine  vieldiskutierte  Theorie  des  Ursprungs  der  moralischen 
Gefühle  dar.  «Es  bildet  unzweifelhaft  den  wesentlichsten  Zug 
des  moralischen  Bewußtseins,»  behauptet  er,  «daß  ein  Gefühl 
oder  die  einen  Gefühle  unter  der  Kontrolle  eines  andern  oder 
anderer  Gefühle  stehen.»  Es  entspricht  der  allgemeinen  Wahrheit, 
welche  die  Entwicklung  des  Handelns  zum  Vorschein  bringt,  daß 
behufs  besserer  Erhaltung  des  Lebens  die  primitiven,  einfachen, 
präsentativen  Gefühle  unter  der  Kontrolle  der  später  entwickel- 
ten, zusam.mengesetzten,  repräsentativen  Gefühle  stehen  müssen. 
«Dieses  bewußte  Aufgeben  unmittelbarer  und  spezieller  Güter, 
um  entfernte  und  allgemeine  Güter  zu  gewinnen,  ist  ein  wesent- 
licher Zug  nicht  nur  der  Beschränkung,  die  wir  moralisch  zu 
nennen  pflegen,  sondern  auch  anderer  Selbstbeschränkungen,  die 
nicht  hierfür  gelten.»  Es  gibt,  nach  Spencer,  drei  solche  non- 
moralische Beschränkungen  oder  Kontrollen  —  die  politische, 
die  religiöse  und  die  soziale. 

Zunächst  gibt  es  unter  primitiven  Völkern  nur  eine  Kon- 
trolle, die  aus  gegenseitiger  Furcht  vor  Rache  entspringt.  Wenn 
aber  außerordentliche  Kraft,  Klugheit  oder  Tapferkeit  einen  Mann 
zum  Herrscher  erhebt,  erzeugt  die  Furcht  vor  ihm  die  politische 
Kontrolle.  Wenn  der  Herrscher  stirbt,  erzeugt  die  Furcht  vor 
seinem  Geist   die  religiöse  Kontrolle,   während    die   soziale 


Data  of  Ethics,  Vorwort. 


Das  Seinsollen.  65 

Kontrolle  einfach  aus  der  Achtung  des  Individuums  für  Lob 
und  Tadel  seiner  Mitmenschen  entsteht.  Diese  drei  Kontrollen 
«stellen  doch  noch  nicht  die  moralische  Kontrolle  dar,  sondern 
nur  Vorstufen  derselben  —  es  sind  die  Formen,  innerhalb  deren 
sich  erst  die  moralische  Kontrolle  entwickelt».  Diese  drei  Kon- 
trollen betreffen  nur  die  äußerlichen  Folgen  der  Handlungen, 
während  es  das  Wesen  der  moralischen  Kontrolle  ausmacht,  daß 
sie  sich  auf  die  innerlichen  Folgen  bezieht.  Unter  innerlichen 
Folgen  versteht  Spencer  die  Folgen,  die  eine  Handlung  natur- 
gemäß nach  sich  zieht.  «Was  einen  wahrhaft  moralischen  Men- 
schen vom  Morden  abhält,  ist  nicht  die  Vorstellung  vom  Hängen 
als  der  Folge  desselben,  noch  die  Vorstellung  von  in  der  Hölle 
zu  erleidenden  Qualen,  noch  die  Vorstellung  des  Schreckens  und 
des  Hasses,  den  er  in  seinen  Nebenmenschen  hervorruft,  sondern 
einfach  die  Vorstellung  der  notwendigen,  natürlichen  Resul- 
tate —  der  sein  Opfer  marternden  Todesangst,  der  Vernichtung 
aller  Aussichten  desselben  auf  ferneres  Glück,  der  seinen  An- 
gehörigen zugefügten  Leiden.» 

Allmähhch  entwickelt  sich  die  moralische  Kontrolle,  bis  sie 
vollkommen  unabhängig  von  den  drei  andern  wird.  Der  Begriff 
der  Verpflichtung,  die  mit  ihr  verbunden  ist,  entsteht  jedoch 
aus  dem  Gedanken  an  äußeren  Zwang,  die  die  drei  ersten  Kon- 
trollen mit  sich  bringen.  Das  Gefühl  von  der  moralischen  Ver- 
pflichtung ist,  nach  Spencer,  ein  abstraktes  Gefühl,  welches 
gerade  wie  alle  abstrakten  Begriffe  entstanden  ist.  Es  enthält 
auch  zwei  Elemente  —  ein  Element  des  Zwangs  und  ein  Ele- 
ment der  autoritativen  Geltung.  Das  letztere  entsteht  dadurch, 
daß  die  mehr  zusammengesetzten  und  mehr  repräsentativen 
Gefühle,  da  sie  es  möglich  machen,  das  Handeln  einem  Kreise 
von  ferner  liegenden  und  allgemeineren  Bedürfnissen  anzupassen, 
von  jeher  eine  höhere  Autorität  als  Leiter  gewonnen  haben 
als  die  früher  entstandenen  und  einfacheren  Gefühle.  Das  er- 
stere  —  das  Element  des  Zwangs  —  entspringt  aus  den  Strafen, 
welche  die  politischen,  sozialen  und  religiösen  Sanktionen  mit 
sich  bringen.  Durch  das  Assoziationsprinzip  wird  es  zunächst 
auch  mit  der  moralischen  Sanktion  gebunden,  die  nur  allmählich 
von  den  andern  unabhängig  wird.    Je  mehr  aber  das  moralische 

Sinclair,  Der  ütilitarismus  bei  Sidgwick  u.  Spencer.  5 


66  V.  Kapitel. 

Gefühl  sich  herausarbeitet  und  zur  Oberherrschaft  gelangt,  desto 
mehr  verliert  es  das  Gefühl  der  Verpflichtung. 

Diese  Erwägung  führt  Spencer  zu  einer  Folgerung,  welche, 
meint  er,  sehr  überraschend^  für  die  Mehrzahl  seiner  Leser  sein 
wird,  daß  nämlich  das  Gefühl  der  Pflicht  «etwas  Vorübergehendes 
ist  und  in  demselben  Maße  abnehmen  muß,  als  die  Sittlichkeit 
zunimmt».  Die  Pflicht  wird  schließlich  zur  Lust.  Der  wahrhaft 
rechtschaffene  Mensch,  dem  man  selbst  heute  hie  und  da  be- 
gegnet, ist  rechtschaffen,  ohne  an  irgendeinen  von  ihm  selbst  aus- 
gehenden Zwang  zu  denken.  «Nach  vollendeter  Entwicklung 
wird  also  das  Gefühl  der  Verpflichtung  für  gewöhnlich  nicht 
mehr  im  Bewußtsein  gegenwärtig  sein  und  nur  bei  jenen  außer- 
gewöhnlichen Gelegenheiten  wachgerufen  werden,  wo  eine  Über- 
schreitung der  Gesetze  droht,  denen  sonst  spontan  Gehorsam 
geleistet  wird. 

Sidgw^ick  und  das  Seinsollen. 

Bei  Sidgwick  findet  man  zum  erstenmal  in  der  Geschichte 
des  Utilitarismus  einen  Versuch,  das  Wesen  der  Pflicht  auf  die 
Vernunft  und  nicht  auf  die  Gefühle  zu  gründen.  Seine  ent- 
schiedene Abweichung  in  dieser  Hinsicht  von  dem  traditionellen 
Utilitarismus  hängt  mit  seiner  Verwerfung  des  Empirismus  eng 
zusammen. 

In  einem  Aufsatze  über  die  «Inkohärenz  der  empirischen 
Philosophie»  behauptet  er,  daß  es  unmöglich  sei,  eine  zusammen- 
hängende Theorie  der  Maßstäbe  der  Erkenntnis  auf  einer  empi- 
rischen Basis  hinauszuarbeiten.  Er  wirft  den  Empiristen  vor, 
daß  sie  Antezedenzien  und  Elemente  miteinander  vermengen,  und 
behauptet,  daß  «es  durch  eine  nicht  zu  rechtfertigende  Über- 
tragung von  chemischen  Schlüssen  auf  psychische  Tatsachen 
geschehe,  daß  gewisse  Assoziationspsychologen  Anspruch  darauf 
machen,  Urteile,  die  etwas  anders  als  Gefühle  zu  sein  scheinen, 
in  elementare  Gefühle  zerlegt  zu  haben,  obgleich  sie  tatsächlich 


^  «Man  sieht,  wie  wenig  Ahnung  Spencer  von  der  Literatur  hatte, 
vielleicht  nie  besser  als  an  dieser  Meinung.»  (Windelband.)  Vgl.  Schillers 
Kontroverse  gegen  Kant  über  diesen  Punkt  und  seinen  Begriff  der 
«schönen  Seelen». 


Das  Seinsollen.  67 

nur  gezeigt  haben,  daß  diese  Gefühle  nur  die  unveränderlichen 
Autezedenzien  oder  Kovikomitanten  der  betreffenden  Urteile  sind». 
Sidgwick  glaubt,  daß  die  Lösung  der  Frage  nach  dem  Ursprung 
unserer  Vorstellungen  nichts  von  fundamentaler  Wichtigkeit  be- 
stimmen kann,  weder  in  betreff  der  Bestandteile  unserer  tat- 
sächlichen Erkenntnis,  noch  in  betreff  der  Methode,  nach  welcher 
die  Erkenntnis  aus  ihnen  gebildet  ist. 

Daher  verwirft  Sidgwick  mit  der  empirischen  Philosophie 
auch  die  genetische  Methode.  Er  ist  zwar  überzeugt,  «daß  der 
menschliche  Geist  als  ein  Ganzes  durch  einen  Prozeß  psychischer 
Veränderung  aus  irgendeiner  niedrigeren  Form  des  Lebens  sich 
entwickelt  hat,  in  welcher  das  Erkennen  als  solches  nicht  zu 
finden  ist».  Doch  kann  der  Ursprung  nicht  die  Gültigkeit  be- 
stimmen. In  der  ersten  Auflage  der  «Methoden  der  Ethik»  ging 
er  so  weit,  zu  behaupten,  daß  eine  Untersuchung  des  Ursprungs 
des  moralischen  Bewußtseins  «eigentlich  nicht  mehr  zur  Ethik 
gehöre  als  die  entsprechende  Frage  nach  der  Raumanschauung 
zur  Geometrie»;  und  daß  die  drei  Fragen  von  Ursprung,  Exi- 
stenz und  Gültigkeit  ganz  unabhängig  voneinander  diskutiert, 
und  die  Antworten  durch  verschiedene  Methoden  gesucht  werden 
müssen.  Zwar  hat  er  später  die  Wichtigkeit  der  Entwicklungs- 
lehre für  die  Ethik  etwas  höher  geschätzt,  aber  er  hat  immer 
daran  festgehalten,  daß  die  Frage  des  Ursprungs  die  Gültigkeit 
ethischer  Überzeugungen  in  keiner  Weise  betrifft,  außer  wenn 
man  zeigen  kann,  daß  die  Ursachen  solcher  ethischer  Über- 
zeugungen von  der  Art  sind,  daß  sie  eine  Tendenz  besitzen, 
ungültige  Überzeugungen  hervorzubringen.  In  der  Tat  wachse 
die  Wahrheit  allmählich  aus  dem  Irrtum  heraus  und  eine  spätere 
Überzeugung  kann  wohl  wahr  sein,  obgleich  ihre  vorhergehende 
Ursachen  falsch  waren,  wie  z.  B.  es  wohl  möglich  sei,  daß  die 
Überzeugung,  daß  Verbrecher  bestraft  werden  sollten,  aus  einem 
früheren  Glauben  an  Rache  entsprungen  ist. 

In  dem  Kapitel  über  ethische  Urteile  behandelt  Sidgwick 
die  Grundlage  des  Seinsollens.  Er  will  nicht  mit  den  früheren 
Utilitariern  zugeben,  daß  das  Sollen,  wie  man  es  in  ethischen 
Urteilen  braucht,  einfach  ein  spezifisches  Gefühl  bedeutet.  «Wenn 
ich  sage,  man  soll  die  Wahrheit  sprechen,  meine  ich  damit  mehr, 

5* 


68  V.  Kapitel. 

als  daß  die  Vorstellung  des  Wahrsprechens  ein  Gefühl  der  Bil- 
ligung oder  Befriedigung  in  mir  hervorbringe  oder  daß  die 
anderen  menschlichen  Wesen  ein  derartiges  Gefühl,  zusammen- 
gesetzt mit  sympathischen  Vorstellungen  ähnlicher  Billigungen 
und  Mißbilligungen,  empfinden,  r.  Das  Sollen  kann  auch  nicht 
das  unter  Strafen  Verbunden  sein  bedeuten.  Schließlich  kommt 
Sidgwick  nach  einer  ausführlichen  Erörterung  zu  der  Entschei- 
dung, daß  Seinsollen  und  Recht  (ought  and  right)  etwas  letztes 
und  Unanalysierbares  sind  und  zu  elementar,  als  daß  man  sie 
formell  definieren  könne.  In  einem  Aufsatz  in  «Mind»  über 
«einige  fundamentale  ethische  Streitfragen»  legt  Sidgwick  dar, 
was  er  damit  meint,  wenn  er  das  Sollen  als  unanalysierbar  be- 
zeichnet. «Ich  meine  nicht  zu  behaupten,  daß  es  zu  der  ur- 
sprünglichen Beschaffenheit  des  menschlichen  Bewußtseins  gehöre 
und  daß  es  nicht  das  Ergebnis  eines  Prozesses  der  Entwicklung 
sei  —  das  ist  eine  Frage  für  die  Psychologie  oder  vielmehr  für 
die  Psychogonie,  die  mich  nichts  angeht.  Ich  meine  nur,  daß, 
wenn  ich  es  jetzt  in  meinem  Bewußtsein  finde,  so  kann  ich  es 
nicht  in  elementarere  Begriffe  analysieren  oder  durch  derartige 
Begriffe  erklären.» 

Kritik. 

Obgleich  Spencer  keineswegs  die  Absicht  hat,  die  Ethik 
bloß  als  eine  deskriptive  Wissenschaft  zu  behandeln,  so  besteht 
doch  seine  Antwort  der  Frage  nach  der  Natur  des  Seinsollens 
und  des  Pflichtbewußtseins  lediglich  in  einer  ausführlichen  Dar- 
stellung des  Ursprungs  der  moralischen  Gefühle.  Er  versucht 
zu  beschreiben,  auf  welche  Weise  das  Pflichtbewußtsein  ent- 
standen ist.  Ein  solcher  Versuch  ist  an  sich  zwar  ganz  berechtigt. 
Der  Zweck  der  Ethik  ist,  nicht  eine  neue  Moral  zu  schaffen, 
sondern  die  bestehende  Moral  zu  behandeln.  Wie  die  Ästhetik 
und  die  Religionswissenschaft  hat  sie  es  mit  einem  Ergebnisse 
der  menschlichen  Natur  zu  tun.  Wie  die  Religion  hat  die  Moral 
in  einem  langen  Entwicklungsprozesse  sich  entwickelt,  der  noch 
nicht  zu  Ende  ist.  Diesen  ganzen  Prozeß  muß  die  Ethik  so- 
weit als  möglich  in  Betracht  ziehen,  weil  er  allein  uns  alle 
Tatsachen   der  Ethik  gibt.     Kein   Querschnitt   dieses  Prozesses 


Das  Seinsollen.  69 

kann  das  Ganze  erklären  und  für  eine  vollkommene  Ethik  ge- 
nügen. Die  historischen  Anfänge  sind  ein  wichtiger  Teil  dieses 
Prozesses.  Daher  ist  Spencers  Versuch,  die  Moral  als  einen 
Prozeß  zu  behandeln  und  ihre  Anfänge,  Entwicklung  und  End- 
ziel zu  verfolgen,  vollkommen  zu  rechtfertigen.  Die  Tatsachen 
der  Ethik  sind  nur  in  der  ganzen  Entwicklung  der  Moral  zu 
linden.  Darin  besteht  die  große  Wichtigkeit  der  Entwicklungs- 
lehre für  die  Ethik. 

Es  liegt  nicht  in  unserer  Absicht,  Spencers  Theorie  des 
Ursprungs  der  Moral  zu  prüfen.  Die  Moral  hat  irgendeinen 
Ursprung  haben  müssen  und  Spencers  Theorie  scheint  uns  plau- 
sibel und  geistreich.  Wir  betonen  aber  eine  wichtige  Tatsache. 
Spencer  will  die  Ethik  als  normative  Wissenschaft  behandeln. 
Er  ist  daher  verpflichtet,  nicht  nur  eine  natürliche  Geschichte 
der  Moral  zu  geben,  sondern  auch  ein  Prinzip,  nach  welchem 
diese  Geschichte  und  die  Tatsachen  der  Moral  beurteilt  werden 
können.  Er  muß  nicht  nur  feststellen,  was  gewesen  ist,  was  ist 
und  was  sein  wird.  Wir  verlangen  etwas  mehr,  nämlich  ein  Be- 
urteilungsprinzip, und  ein  solches  Prinzip  kann  nicht  aus  dem 
Prozeß  selbst  abgeleitet  werden.  Alles,  was  mit  der  Moral  ver- 
bunden ist,  wie  alles  andere  in  dieser  Welt  hat  einen  Anfang 
und  eine  Geschichte  haben  müssen.  Alles,  was  gut  ist  und  was 
böse  ist,  und  selbst  das  Bewußtsein  eines  Unterschiedes  zwischen 
dem  Guten  und  dem  Bösen  hat  einen  Ursprung,  das  heißt,  irgend 
einige  vorhergehende  Ursachen  in  dem  Kausalzusammenhang 
haben  müssen.  Und  das  Seinsollen  selbst  als  psychologische 
Tatsache  kann  hier  keine  Ausnahme  machen.  Wie  jede  andere 
Norm  muß  es  durch  empirische  Vermittlung  zum  Bewußtsein 
kommen.  Die  Frage  nach  der  Gültigkeit  ist  aber  eine  ganz 
andere  Frage.  ^ 

Nun  ist  es  wahr,  daß  Spencer  diese  Schwierigkeiten  nicht 
ganz  übersieht.  Den  ethischen  Endzweck  findet  er  nicht  ohne 
weiteres  durch  die  Entwicklungslehre  gegeben.  Viel  weniger 
begeht  er  den  groben  Fehler  von  vielen  heutigen  Forschern, 
welche  unter  dem   bezaubernden  Einfluß  der  sogenannten  histo- 


Vgl.  Windelband,  Präludien,  S.  304  ff. 


70  V.  Kapitel. 

Tischen  Methode  alles  im  Himmel  und  auf  Erden  nach  dem  Ur- 
sprung beurteilen.  Spencer  sieht  dagegen,  daß  man  den  Prozeß 
als  Ganzes  betrachten  muß.  Wenn  er  überhaupt  einseitig  ist, 
besteht  seine  Einseitigkeit  darin,  daß  er  die  Wichtigkeit  nicht 
sowohl  der  Anfänge,  als  vielmehr  des  natürlichen  Endziels  über- 
treibt. An  und  für  sich  ist  das  historische  Endziel  eines  histo- 
rischen Prozesses  nicht  wichtiger  als  der  Anfang  oder  irgendein 
Querschnitt  und  ist  nicht  mehr  imstande,  ein  Beurteilungsprinzip 
zu  liefern. 

Betrachten  wir  für  einen  Augenblick  Spencers  Analyse  des 
Pflichtgefühls.  Wie  wir  gesehen  haben,  findet  er  in  ihm  zwei 
Elemente  —  eins  der  autoritativen  Geltung  und  eins  des  Zwangs. 
Was  das  letztere  betrifft,  so  hat  Spencer  es  für  vergänglich  er- 
klärt. Dieser  Gedanke  braucht  uns  nicht  so  auffallend  zu  sein, 
wie  er  meint.  Zweifellos  wird  der  vollkommene  Mensch  in  der 
vollkommenen  Gesellschaft  kein  Gefühl  des  Zwangs  brauchen, 
um  seine  Pflicht  zu  tun.  Wie  Kant  schon  lange  vorher  be- 
merkt hat,  gibt  es  «für  den  göttlichen  und  überhaupt  für  einen 
heiligen  Willen  keine  Imperative;  das  Sollen  ist  hier  am  un- 
rechten Orte,  weil  das  Wollen  schon  mit  dem  Gesetze  einstimmig 
ist».  Das  Element  des  Zwangs  ist  vorübergehend,  doch  hat 
Spencer  kein  Recht,  daraus  zu  schließen  —  wie  er  wirklich 
tut  — ,  daß  das  Pflichtgefühl  überhaupt  etwas  Vorübergehendes 
ist.  Er  hat  höchstens  bewiesen,  daß  das  eine  der  beiden  Ele- 
mente vergänglich  ist.  Warum  hat  er  hier  jenes  andere  Element 
der  autoritativen  Geltung  ganz  und  gar  vergessen? 

Was  meint  aber  Spencer,  wenn  er  von  der  Autorität  des 
Pflichtgefühls  spricht?  Das  Wesen  des  Gewissens  ist  ihm  nur 
die  Kontrolle  einer  Gefühlsklasse  durch  eine  andere,  nämlich 
«die  Kontrolle  der  einfachen  und  weniger  idealen  Gefühle  durch 
die  mehr  komplizierten  und  idealen».  Im  Grunde  genommen 
stimmt  er  mit  Mill  überein;  «die  letzte  Sanktion  aller  Moral», 
sagte  Mill,  «besteht  in  einem  subjektiven  Gefühl  in  unserem 
eigenen  Bewußtsein»  und  «diese  Sanktion  hat  keineswegs  eine 
bindende  Macht  über  diejenigen,  die  das  Gefühl  nicht  besitzen, 
an  welches  sie  appelliert».^     Man  sieht  leicht  ein,  was  Mill  und 

1  Utilitarianism,  S.  41. 


Das  Seinsollen.  71 

Spencer  unter  der  Autorität  des  Pflichtgefühls  verstehen.  Die 
Autorität  des  Gewissens  ist  nur  sein  Stachel;  ich  bin  ihm  un- 
gehorsam auf  die  Gefahr  hin,  Unlust  zu  haben.  Das  ist  alles. 
Lust  und  Unlust  bleiben  bei  Spencer  wie  bei  Bentham  die 
einzige  und  letzte  Basis  aller  Moral.  Recht  und  Unrecht  sind 
lediglich  relativ  und  betreffen  nur  diejenigen  Wesen,  die  Lust 
und  Unlust  empfinden  können.^  Ich  sollte  dieses  tun,  heißt  nur, 
ich  werde  Schmerz  empfinden,  wenn  ich  es  nicht  tue.  Diese 
Theorie  hat  dem  Menschen  nichts  zu  sagen,  der  für  diesen 
Schmerz  nicht  empfindlich  ist.  Sie  kann  auch  nicht  einem 
Menschen  befehlen  oder  empfehlen,  die  moralische  Seite  seiner 
Natur  zu  erziehen  und  dadurch  seine  Empfindungsfähigkeit  für 
sympathische  Schmerzen  und  Lustgefühle  zu  vermehren,  wenn  sie 
nicht  ihm  zugleich  beweisen  kann,  daß  auch  sein  Überschuß 
der  Lust  vermehrt  werden  wird.  Auf  einer  solchen  Basis  kann 
man  nicht  die  Gültigkeit  und  Notwendigkeit  der  moralischen 
Unterschiede  gründen. 

Spencer  versucht  zwar  dieser  Schwierigkeit  zu  entgehen 
nicht  dadurch,  daß  er  auf  eine  normative  Ethik  überhaupt  ver- 
zichtet —  dieses  wäre  der  einzige  konsequente  Ausweg  für  den 
Empiristen  — ,  sondern  durch  die  Theorie  einer  vollkommenen 
Gesellschaft  und  einer  relativen  und  einer  absoluten  Ethik.  Er 
löst  das  Problem,  indem  er  auf  eine  Zeit  hinweist,  in  der  es 
kein  Problem  mehr  zu  lösen  gibt.  Warum  ich  aber  —  der 
ich  auf  dieser  unvollkommenen  Stufe  der  Entwicklung  lebe  und 
zu  einer  Zeit,  in  der  eine  vollkommene  Harmonie  zwischen  meiner 
eigenen  Lust  und  der  Lust  meiner  Mitmenschen  noch  nicht  be- 
steht — ,  warum  ich  unter  solchen  Umständen  eine  bestimmte 
Handlung  tun  soll,  obgleich  sie  für  mich  einen  Überschuß  der 
Unlust  auf  die  Dauer  bedeutet,  ist  eine  Frage,  auf  welche 
Spencers  Theorie  überhaupt  nicht  imstande  ist,  eine  Antwort  zu 
geben.  Er  kann  nur  zeigen,  daß  ich,  dank  dem  Assoziations- 
gesetz und  vererbten  Tendenzen,  ein  Pflichtgefühl  tatsächlich 
besitze,  das  mich  zu  einer  solchen  Handlung  der  Aufopferung 
treibt.    Dieses  Gefühl  des  Seinsollens  ist  aber  nicht  etwas  All- 


^  Principles  of  Ethics  I,  159. 


72  V.  Kapitel, 

gemeingültiges,  sondern  lediglich  die  Stimme  der  Gesellschaft, 
die  in  mir  spricht.  Wenn  nun  Spencer  festgestellt  und  mir 
gezeigt  hat,  daß  mein  Gewissen  eine  der  Gesellschaft  zwar  nütz- 
liche, mir  selbst  aber  manchmal  unnützliche  Illusion  sei,  warum 
soll  ich  ihm  länger  gehorsam  sein,  wenn  es  mit  meinem  eigenen 
Interesse  in  Konflikt  kommt? 

Diese  Folgerung  ist  unvermeidlich.  Die  Schwäche  liegt  in 
der  empiristischen  Philosophie  selbst.  Wenn  das  Wesen  des 
Gewissens  in  der  Kontrolle  einer  Gefühlsklasse  durch  eine 
andere  Gefühlsklasse  besteht,  so  gibt  es  überhaupt  keine  Mög- 
lichkeit einer  normativen  Ethik.  Diese  Schwäche  liegt  in  dem 
System  Mills  offen  zutage.  Spencers  geistreicher  Versuche,  den 
Empirismus  durch  die  Anwendung  der  Entwicklungslehre  zu 
retten,  hat  das  Problem  nur  weiter  zurückgeschoben,  aber  keines- 
wegs gelöst.  Bentham,  Mill  und  Spencer,  alle  haben  vergebens 
versucht,  eine  befriedigende  Sanktion  für  die  Moral  zu  finden. 
Der  Grund  des  Mißlingens  liegt  auf  der  Hand.  Eine  philoso- 
phische Theorie,  die  wie  der  Empirismus  den  ganzen  Inhalt  des 
menschlichen  Bewußtseins  in  Sinnesempfindungen  und  ihre  be- 
gleitende Gefühle  auflöst,  kann  niemals  dem  Pflichtbewußtsein 
gerecht  werden  oder  die  letzte  Gültigkeit  der  Moral  begründen. 

Die  Schwäche  lag  daher  nicht  eigentlich  in  dem  Utilitaris- 
mus,  sondern  in  dem  Empirismus.  Für  den  Utilitarismus  be- 
deutete es  sogar  einen  großen  Fortschritt,  wenn  Sidgwick  den 
Empirismus  verwarf,  in  der  Überzeugung,  daß  er  weder  die  Er- 
kenntnis noch  die  Moral  erklären  könnte.  Er  ist  der  erste 
englische  Utilitarier,  der  sich  geweigert  hat,  das  Seinsollen  in 
einen  Komplex  von  Assoziationen  aufzulösen.  Auch  polemisiert 
er  mit  unwiderleglicher  Logik  gegen  den  Versuch,  den  Unter- 
schied zwischen  dem,  was  ist,  und  dem,  was  sein  soll,  durch  die 
psychologische  oder  die  soziologische  Methode  aufzuheben.^ 
Seine  nachdrückliche  Unterscheidung  zwischen  den  Fragen  des 
Ursprungs,  der  Existenz  und  der  Gültigkeit  und  zwischen 
Antezedenzien  und  Elementen  und  seine  Auffassung  von  der 
Vernunft  als  praktischer  trennt  sein  System  vollständig  von 
demjenigen  Spencers  und  der  früheren  Utilitarier. 

^  Philosophy  itä  Scope  and  Relation,  Kap.  XII. 


Das  Seinsollen.  73 

Man  muß  jedoch  die  Stellung  Sidgwicks  zur  Entwicklungs- 
lehre nicht  mißverstehen.  Er  gibt  gern  zu,  daß  das  Seinsollen 
selbst  ein  Ergebnis  des  Entwicklungsprozesses  sei;  nur  leugnet 
er,  daß  es  sich,  so  wie  es  jetzt  im  Bewußtsein  ist,  in  elemen- 
tarere Begriffe  analysieren  lasse.  Mit  andern  Worten  kann  ein 
Bewußtseins- Element  X  aus  vorhergehenden  Antezedenzien  a,  b, 
c  .  .  .  .  in  der  Entwicklung  des  Bewußtseins  entstehen,  und 
doch  kann  man  dieses  X  nicht  wieder  in  a,  b,  c  .  .  .  .  auflösen. 
Es  kann  sehr  wohl  ein  Neues  sein,  das  in  dieser  Weise  zum 
Bewußtsein  gekommen  ist.  Diese  strenge  Unterscheidung,  die 
Sidgwick  zwischen  Antezedenzien  und  Elementen  macht,  ist  klar 
und  einleuchtend  und  von  ungeheurer  Wichtigkeit  für  die 
Psychologie  der  Ethik. ^  Sidgwick  ist  sich  aber  kaum  hinreichend 
der  ungeheueren  Wichtigkeit  der  Entwicklungslehre  fllr  die 
Moralwissenschaft  bewußt.  Vieles,  was  er  darüber  sagt,  ist  zwar 
vollkommen  berechtigt.  Der  Ursprung  kann  nicht  die  Gültigkeit 
bestimmen  und  der  Entwicklungsprozeß  an  sich  kann  kein 
Kriterium  der  Moral  geben.  «Die  kosmische  Evolution»,  sagt 
ein  großer  englischer  Evolutionist  und  Naturforscher^,  «kann 
uns  lehren,  wie  die  guten  und  die  bösen  Tendenzen  zustande 
gekommen  sind,  sie  kann  aber  nicht  an  sich  selbst  einen  besseren 
Grund  geben,  als  wir  vorher  besaßen,  warum,  was  wir  ,gut' 
nennen,  dem,  was  wir  ,böse'  nennen,  vorzuziehen  ist.»  Obgleich 
dieses  vollkommen  wahr  ist,  ist  auch  nicht  zu  vergessen,  daß 


^  In  seinem  interessanten  Buch,  «La  Morale  Anglaise  Contemporaine», 
hat  M.  Guy  au  Sidgwicks  Standpunkt  in  dieser  Frage  vollkommen  verkannt. 
«Selon  nous»,  sagt  er,  «la  question  qui  parait  ici  secondaire  ä  M.  Sidgwick 
ist  au  contraire  la  principale.  Si  l'ecole  de  l'association  on  celle  de 
l'evolution  me  montre  dans  mes  sentiments  moraux  des  simples  trans- 
formations  de  Pinstinct,  si  eile  disseque  ma  pretendue  conscience  morale 
et  la  resout  en  des  Clements  purement  physique,  sie  eile  reduit  en  merae 
temps  Tautorite  des  lois  morales  ä  la  force  de  Thabitude,  de  l'heredite, 
de  l'intinct,  comment  soutenir  celte  Autorite  subsiste  neanmoins  plein  et 
entiere  et  que  l'opinion  que  ramene  l'origine  des  sentiments  moraux  ä  une 
transformation  de  l'egoisme  et  compatible  avec  la  doctrine  intuitive,  comme 
avec  la  doctrine  utilitaire  comme  avec  la  doctrine  ego'iste?»  Es  ist  die 
Möglichkeit  einer  solchen  Analyse,  die  Sidgwick  ausdrücklich  leugnet. 

2  J.  H.  Huxley  (Romaues  Lecture) 


74  VI.  Kapitel. 

der  gauze  Inhalt  der  Moral  aus  der  Erfahrung  besteht.  Die 
Entwicklung  lehrt  uns,  diese  Erfahrung  als  einen  ganzen  Prozeß 
mit  einem  Anfang,  einer  Entwicklung  und  einem  Endziel  zu 
betrachten.  Sidgwick  ist  immer  geneigt,  einen  Querschnitt  dieses 
Prozesses  für  das  Ganze  zu  nehmen  und  das  «hier  und  jetzt» 
zu  ausschließlich  zu  betonen.  Die  Entwicklungslehre  hat  die 
Ethik  nicht  weniger  als  viele  andere  Wissenschaften  bereichert. 
Sie  hat  ein  neues  Licht  auf  die  Stellung  des  Menschen  in  dem 
Kosmos  geworfen.  Der  große  Gedanke  des  moralischen  Fort- 
schritts hat  durch  sie  eine  neue  Betonung  und  eine  neue  Be- 
deutung gewonnen. 


VI.  Kapitel. 

Egoismus  und  Altruismus. 


Bentham  war  der  Theorie  nach  durchgängig  Egoist.  Nach 
ihm  ist  es  eine  psychologische  Notwendigkeit,  daß  der  Mensch 
seine  eigene  Lust  sucht.  Zwar  muß  man  nicht  vergessen,  daß 
ein  solcher  Egoismus,  wie  der  Benthams,  nicht  wirklich  prak- 
tischer Egoismus  war.  Zum  größten  Teil  war  es  bloß  die 
Leugnung  der  Möglichkeit  eines  selbstlosen  Wollens.  Der  Mann, 
der  sagen  könnte:  «Ich  möchte  meinen  teuersten  Freund 
wissen  lassen,  daß  seine  Interessen,  wenn  sie  in  Konkurrenz 
mit  denjenigen  der  Gesellschaft  kommen,  mir  nichts  sind;  in 
dieser  Weise  will  ich  meinen  Freunden  dienen,  in  dieser  Weise 
will  ich,  daß  sie  mir  dienen»^  — ,  der  war  kein  Egoist  im  ge- 
wöhnlichen Sinne  des  Wortes.  Es  war  seine  Psychologie,  die 
ihn  dazu  führte,  die  Existenz  von  an  andere  Ziele  als  an  das 
eigene  Interesse  gerichteten  Handlungen  zu  leugnen. 

Teilweise  unter  dem  Einfluß  Comtes  brach  Mill  mit  diesem 
einseitigen  theoretischen  Egoismus,  der  dem  Utilitarismus  Ben- 
thams zugrunde  lag  und  behauptete  die  Möglichkeit  und,  wenn 
das  gemeine  Wohl  es  verlangt,  die  unbedingte  Pflicht  einer 
absoluten  Selbstaufopferung.    Er  verließ  sich  auf  die  Entwicklung 


1  Werke  X,  S.  73. 


Egoismus  und  Altruismus.  75 

der  Sympathie  und  der  sozialen  Gefühle,  diese  Unterdrückung 
des  Egoismus  zu  ermögUchen.  Die  Assoziationspsychologie  be- 
nutzte er,  zu  zeigen,  wie  die  aller-altruistischsten  Gefühle  aus 
egoistischen  Wurzeln  herauswachsen  können.  Hierin  machte  er 
zweifellos  einen  großen  Fortschritt  über  Bentham.  Die  ent- 
scheidende ethische  Frage  ist  aber:  Warum  soll  ich  das 
Wohl  eines  andern  meinem  eigenen  vorziehen?  Warum  soll 
ich  meinen  altruistischen  Impulsen  gehorchen  und  sie  erziehen? 
Diese  Frage  war  Mill  nicht  imstande  zu  beantworten.  Wir  be- 
trachten zunächst  die  Versuche  Sidgwicks  und  Spencers,  dieses 
alte  Problem  zu  lösen. 

Sidgwick  und  der  Egoismus. 

Sidgwicks  Werk  ist,  wie  der  Titel  schon  zeigt,  eine  Unter- 
suchung, nicht  der  ethischen  Prinzipien,  sondern  der  ethischen 
Methoden.  Unter  einer  Methode  der  Ethik  versteht  er  «irgend- 
ein vernünftiges  Verfahren,  durch  welches  wir  bestimmen,  was 
menschliche  Individuen  tun  sollen  (oder  was  für  sie  zu  tun 
recht  ist),  oder  was  durch  freiwilliges  Handeln  versucht  werden 
soll.^  Diese  Methoden  sind  entweder  implizite  oder  explizite 
in  dem  allgemeinen  moralischen  Bewußtsein  der  Menschheit  zu 
finden  S  und  Philosophen  haben  sie  in  Systemen,  die  jetzt  histo- 
risch sind,  entwickelt.  Sidgwicks  Werk  ist  daher  der  Absicht 
nach  kritisch. 

Nach  einer  eingehenden  Prüfung  glaubt  Sidgwick,  alle  mög- 
lichen Methoden  auf  drei  reduzieren  zu  können  —  Egoismus, 
Utilitarismus  und  Intuitionismus. 

Der  Theorie  des  psychologischen  Egoismus  zufolge  haben 
die  früheren  Utilitarier  sich  nicht  darum  bemüht,  eine  bestimmte 
Unterscheidung  zwischen  dem  Egoismus  und  dem  Utilitarismus 
oder,  wie  Sidgwick  lieber  sagt,  zwischen  dem  egoistischen  und 
dem  universalistischen  Hedonismus  zu  machen.  Man  hatte  viel- 
mehr angenommen,  der  Intuitionismus  bilde  den  eigentlichen 
Gegensatz  zu  diesen  beiden  Methoden.  Das  Resultat  der  Unter- 
suchung Sidgwicks  ist  aber,  wie  schon  erwähnt,  eine  Versöhnung 


^  Methods  of  Ethics,  S.  1. 


76  VI.  Kapitel. 

des  ütilitarismus  mit  dem  Intuitionismus  und  zugleich  eine  Ver- 
schärfung des  Gegensatzes  zwischen  ihnen  und  dem  Egoismus. 

Einer  Prüfung  des  Egoismus  widmet  Sidgwick  das  ganze 
zweite  Buch  seines  Werkes.  Diese  Prüfung  ist  höchst  unpar- 
teiisch. Mit  unerbittlicher  Logik  führt  er  diese  Methode  zu 
ihren  notwendigen  Folgen.  Er  zeigt,  daß,  obgleich  der  Egoist 
die  gewöhnlichen  Prinzipien  der  Moral  im  allgemeinen  beachten 
wird,  er  sie  doch  unter  besonderen  Umständen  entschieden  ver- 
achten und  brechen  muß.  «Ein  zweifelhafter  Führer  nach  einem 
verächtlichen  Ziel  scheint  alles  zu  sein,  was  der  Kalkül  des 
egoistischen  Hedonismus  anzubieten  hat.»^  Trotzdem  be- 
trachtet Sidgwick  den  Egoismus  als  eine  mögliche  ethische 
Methode  und  behauptet,  daß  er  es  für  unmögUch  hält,  die 
Autorität  der  Selbstliebe  oder  die  Vernünftigkeit,  das  eigene 
Glück  zu  suchen,  nicht  anzuerkennen. 

Um  Sidgwick  hier  zu  verstehen,  müssen  wir  wieder  das 
Resultat  seiner  Prüfung  des  Intuitionismus  und  die  drei  daraus 
abgeleiteten  Axiome  ins  Auge  fassen.  Das  erste  Axiom  schreibt 
«die  unparteiische  Sorge  für  alle  Teile  des  bewußten  Lebens» 
vor;  «das  Hernach  als  solche  ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
zu  beachten  als  das  Jetzt».  Wie  schon  erwähnt,  hat  Sidgwick 
dieses  Axiom  das  der  Selbstliebe  oder  des  vernünftigen  Egoismus 
genannt  und  es  als  durchaus  egoistisch  aufgefaßt.  Deswegen, 
meint  er,  könne  es  mit  dem  Axiom  des  Ütilitarismus  in  Konflikt 
kommen.  Das  erste  Axiom  erklärt  es  für  unvernünftig,  mein 
höchstes  Gut  oder  einen  Teil  davon  gänzlich  und  auf  ewig  auf- 
zuopfern. Nach  dem  zweiten  Axiom  dagegen  bin  ich  verpflichtet, 
das  größere  Gut  eines  andern  meinem  eigenen  geringeren  vor- 
zuziehen. 

Dieser  letzte  Widerspruch,  der  nach  Sidgwick  in  der 
moralischen  Vernunft  selbst  wurzelt,  ist  eine  höchst  eigentüm- 
liche Seite  seiner  Ethik.  Er  hat  ihn  den  «Dualismus  der 
praktischen  Vernunft»  genannt.  «Ich  bin  mit  dem  Namen 
nicht  sehr  zufrieden,»  sagt  er,  «er  schien  mir  aber  am  ge- 
eignetsten, um  die  Folgerung  auszudrücken,  die  ich  annehmen 


^  Methods,  S.  199. 


Egoismus  und  Altruismus.  77 

mußte,  nachdem  ich  lange  danach  gestrebt  hatte,  eine  vollendete 
Systematisicrung  unseres  gemeinsamen  ethischen  Denkens  zu 
vollziehen.  Neben  (a)  einer  fundamentalen,  moralischen  Über- 
zeugung, daß  ich  meine  Glückseligkeit  aufopfern  sollte,  wenn 
ich  dadurch  die  Glückseligkeit  anderer  im  höheren  Grade 
vermehren  kann,  als  ich  meine  eigene  vermindere,  finde  ich 
auch  (b)  eine  Überzeugung,  die  moralisch  zu  nennen  paradox 
wäre,  die  aber  nichtsdestoweniger  fundamental  ist,  nämlich,  daß 
es  unvernünftig  wäre,  irgendeinen  Teil  meiner  eigenen  Glück- 
seligkeit aufzuopfern,  wenn  diese  Aufopferung  nicht  in  irgend- 
einer Weise,  zu  irgendeiner  Zeit,  durch  eine  equivalente  Ver- 
mehrung meiner  eigenen  Glücksehgkeit  ersetzt  werden  wird. 
Diese  beiden  fundamentalen  Überzeugungen  finde  ich  in  meinem 
eigenen  Denken  so  klar  und  bestimmt,  wie  der  Prozeß  des 
introspektiven  Nachdenkens  nur  immer  ergeben  kann.»^  Obgleich 
Sidgwick  hier  das  Wort  Glückseligkeit  braucht,  zeigt  doch  das 
ganze  Werk,  daß  nach  ihm  dieser  letzte  Widerspruch  nicht  nur 
für  die  eudämonistische,  sondern  auch  für  alle  andern  Be- 
stimmungen des  höchsten  Gutes  bestehe. 

In  dem  letzten  Kapitel  —  « das  Verhältnis  der  verschiedenen 
Methoden»  —  kommt  Sidgwick  wieder  zu  dieser,  für  ihn  alier- 
wichtigsten  Frage  der  Ethik.  Den  Utilitarismus  und  den 
Intuitionismus  kann  man,  so  meint  er,  versöhnen;  gibt  es  aber 
irgendeine  Möglichkeit  den  rationellen  Egoismus  mit  dem 
rationellen  Utilitarismus  in  Einklang  zu  bringen? 

In  der  ersten  Auflage  hatte  Sidgwick  behauptet,  daß  es 
«für  die  praktische  Vernunft  eine  Frage  um  Leben  und  um  Tod 
sei»,  eine  solche  Versöhnung  irgendwie  zustande  zu  bringen. 
Er  hat  auch  die  verschiedenen  Versuche,  die  man  danach  ge- 
macht hat,  geprüft.  Die  Erfahrung  zeigt,  meint  er,  daß  zwischen 
Glückseligkeit  und  Tugend  keine  Koinzidenz  bestehe.  Einige 
Denker  haben  geglaubt,  die  Sympathie  könne  die  Versöhnung 
herbeiführen,  und  man  muß  zugeben,  daß  die  Lust  der  Sympathie 
erheblich  dazu  beiträgt,  die  Kluft  zu  überbrücken.  Doch  zeigt 
eine  sorgfältige  Betrachtung  des  Verhältnisses  zwischen  Tugend 
und  Sympathie,  daß  in  zahllosen  Weisen   die  Imperative  jenes 

^  Some  fundamental  etbical  controversies,  Mind  1889. 


78  VI.  Kapitel. 

rationalen  Wohlwollens,  denen  der  Utilitarier  verpflichtet  ist, 
unbedingt  zu  gehorchen,  mit  der  Befriedigung  jener  gutherzigen 
Affekte  (kind  affections),  die  Shaftesbury  und  seine  Anhänger 
als  ihre  eigene  Belohnung  in  so  glaubhafter  Weise  schildern, 
in  Konflikt  kommen  kann.  Es  bleibt  aber  die  religiöse  Sanktion 
übrig.  Die  Existenz  Gottes  wäre  nach  Sidgwick  imstande,  die 
Tugend  und  die  Glückseligkeit  zu  versöhnen.  In  diesem  Fall 
wäre  dann  das  letzte  Problem  der  Ethik  gelöst  und  die  prak- 
tische Vernunft  in  Konsequenz  mit  sich  selbst  gebracht.  Man 
kann  aber,  meint  er,  diese  Existenz  nicht  aus  bloßen  ethischen 
Gründen  beweisen.  Haben  wir  demnach  das  Recht  diese  Existenz 
Gottes  zu  postulieren,  um  einen  fundamentalen  Widerspruch  in 
einem  Hauptgebiete  unseres  Denkens  zu  vermeiden?  Diese  Frage 
beantwortet  Sidgwick  mit  einem  Entweder  —  Oder.  «Diejenigen, 
die  behaupten,  daß  das  Gebäude  der  Naturwissenschaft  auf 
Schlüssen  aufgebaut  ist,  die  sich  aus  selbstevidenten  Prämissen 
logisch  ergeben,  können  mit  Recht  verlangen,  daß  alle  prak- 
tischen auf  philosophische  Gewißheit  Anspruch  machenden 
Urteile  auf  gleich  sicheren  Boden  gegründet  werden  sollten. 
Wenn  wir  anderseits  finden,  daß  man  in  unserer  angenommenen 
Erkenntnis  der  Natur  gewöhnlich  Sätze  als  allgemeingültig  an- 
nimmt, welche  auf  keinem  andern  Boden  zu  ruhen  scheinen, 
als  daß  wir  sehr  geneigt  sind  sie  anzunehmen,  und  daß  sie  für 
den  systematischen  Zusammenhang  unserer  Erkenntnis  unerläß- 
lich sind,  —  so  wird  es  noch  schwieriger  sein,  eine  in  ähnlicher 
Weise  begründete  Annahme  in  der  Ethik  zurückzuweisen,  ohne 
dem  allgemeinen  Skeptizismus  Tor  und  Tür  zu  öffnen.» 

Herbert  Spencer. 
Kein  Teil  von  Spencers  «Prinzipien  der  Ethik»  hat  mehr 
Interesse  und  Diskussion  hervorgerufen  als  sein  Versöhnungs- 
versuch des  Altruismus  und  des  Egoismus.  Spencer  erkennt 
zugleich  einen  ursprünglichen  Altruismus  und  einen  ursprüng- 
lichen Egoismus.  Beide  sind  der  Erhaltung  der  Rasse  un- 
entbehrlich gewesen.  Im  Laufe  des  Entwicklungsprozesses  ist 
die  menschliche  Natur  ein  Schlachtfeld  für  diese  beiden  Kräfte 
gewesen  und  in  der  gegenwärtigen  unvollkommenen  Stufe   der 


Egoismus  und  Altruismus.  79 

Entwicklung  ist  nur  ein  Kompromiß  möglich.  Die  beiden  ent- 
gegengesetzten Kräfte  sollen  aber  in  dem  goldenen  Zeitalter,  das 
er  als  das  Endziel  des  Entwicklungsprozesses  schildert,  voll- 
kommen miteinander  zusammenfallen.  Wir  werden  zunächst 
seine  Theorie  kurz  darstellen. 

Der  Egoismus  kommt  vor  dem  Altruismus.  Ein  Geschöpf 
muß  leben,  bevor  es  tätig  sein  kann  und  bevor  es  andern  Wesen 
nützen  kann.  Das  Gesetz  des  Fortschritts  lautet:  Jedes  Indi- 
viduum soll  die  Vorteile  genießen,  welche  ihm  durch  seine 
eigenen  erlebten  und  erworbenen  Fähigkeiten  zufallen.  Ego- 
istische Ansprüche  haben  daher  den  Vorrang  vor  altruistischen. 
Die  Zunahme  der  Glückseligkeit  und  die  Fortdauer  des  Lebens 
hängt  von  diesem  Gesetze  ab.  Der  Mensch,  der  genügend 
egoistisch  ist,  um  seine  körperliche  und  geistige  Kraft  zu  be- 
wahren, vermehrt  dadurch  die  Glückseligkeit  seiner  Mitmenschen 
und  seiner  Nachkommenschaft.  Durch  ein  Übermaß  von  Selbst- 
verleugnung werden  andern  Menschen  Lasten  auferlegt.  Auch 
macht  der  Mensch,  der  übermäßig  uneigennützig  ist,  diejenigen 
selbstsüchtig,  die  ihn  umgeben.  Der  rationale  Egoismus  ist 
daher  Pflicht. 

Von  der  ersten  Regung  des  Lebens  an  ist  aber  der  Altruis- 
mus nicht  weniger  wesentlich  gewesen  als  der  Egoismus.  Ob- 
schon  er  ursprünglich  vom  Egoismus  abhängig  ist,  so  hängt 
doch  sekundär  der  Egoismus  von  ihm  ab.  Spencer  sucht  zu- 
nächst das  Verhältnis  zwischen  den  beiden  von  den  ersten  An- 
fängen an  zu  bestimmen.  Unter  den  einfachsten  Wesen  sehen 
wir  den  Erzeuger  vollständig  aufgeopfert,  indem  er  die  Nach- 
kommenschaft hervorbringt.  Selbstopferung  ist  somit  nicht 
minder  ursprünglich  als  Selbsterhaltung.  Nun  hat  ein  grad- 
weises Fortschreiten  von  diesem  unbewußten,  elterlichen  Altruis- 
mus bis  zu  dem  bewußten  der  höchsten  Art  stattgefunden.  In 
derselben  Weise  zeigt  sich  auch  ein  gradweises  Fortschreiten 
vom  Altruismus  der  Familie  zum  sozialen  Altruismus.  Der 
Familiensinn  bereitete,  indem  er  sich  zunächst  auf  das  Geschlecht 
und  den  Stamm  und  im  weiteren  auf  die  aus  verwandten 
Stämmen  gebildete  Gesellschaft  ausdehnte,  dem  Mitgefühl  für 
Angehörige  eines  fremden  Volkes  einen  Weg. 


80  VI.  Kapitel. 

Im  gesellschafUiclien  Zustand  hängen  im  allgemeinen 
egoistische  Genüsse  von  altruistischen  Tätigkeiten  ab.  Die 
Glückseligkeit  des  Individuums  ist  mit  der  Glückseligkeit  seiner 
Mitmenschen  eng  gebunden.  Auch  hat  der  ungehörige  Egoismus 
die  Tendenz  sich  ins  eigene  Fleisch  zu  schneiden.  Die  Selbst- 
sucht schließt  viele  soziale  Genüsse  aus  und  bringt  zugleich 
einen  Mangel  an  Empfindungsfähigkeit  für  höhere  Freuden. 

Aus  solchen  Erwägungen  geht  hervor,  daß  der  reine  Egois- 
mus ebenso  wie  der  reine  Altruismus  gesetzlich  unzulässig  ist. 
«Lebe  für  dich  selbst»  und  «Lebe  für  andere»  sind  beide 
falsche  Grundsätze.  Doch  ist  Egoismus  wie  Altruismus  un- 
entbehrlich. In  der  vollkommenen  Gesellschaft  werden  sie  in 
Harmonie  miteinander  existieren.  Heute  aber  kommen  sie 
manchmal  in  Konflikt  miteinander.  Ein  Kompromiß  bleibt 
also  als  einzige  Möglichkeit  übrig.  Welche  Form  soll  dieser 
Kompromiß  haben?  «Offenbar  kann  unser  Schluß  nur  so  lauten, 
daß  allgemeines  Glück  hauptsächlich  durch  ein  entsprechendes 
Streben  aller  Individuen  nach  ihrem  eigenen  Glück,  das  Glück 
der  Individuen  dagegen  zum  Teil  durch  ihr  Streben  nach  dem 
allgemeinen  Glück  erreicht  werden  kann.» 

Dieser  Kompromiß  ist  jedoch  nur  notwendig,  weil  der  Ent- 
wicklungsprozeß noch  nicht  zu  Ende  ist.  Der  Egoismus  und 
der  Altruismus  stehen  in  keinem  notwendigen  Gegensatz  zu- 
einander. Schon  sehen  wir,  daß  mit  dem  Fortschritt  der  Kultur 
die  Versöhnung  der  beiden  innerhalb  der  Familie  zum  großen 
Teil  erreicht  ist.  Es  bleibt  der  Nachweis  übrig,  daß  eine  ähn- 
liche Versöhnung  auch  zwischen  den  Interessen  der  einzelnen 
Bürger  und  den  Interessen  der  Bürgerschaft  im  ganzen  statt- 
gefunden hat  und  noch  stattfindet,  und  daß  dieselbe  beständig 
einem  Zustand  entgegenstrebt,  in  welchem  beide  in  eins  ver- 
schmelzen und  die  den  einen  und  den  andern  entsprechenden 
Gefühle  zu  vollkommenerer  Übereinstimmung  gelangen.  Dieses 
Kesultat  wird  durch  die  x4.usbildung  des  Mitgefühls  oder  der 
Sympathie  zustande  kommen.  Die  Versöhnung  wird  mehr  und 
mehr  vollkommen  werden  in  dem  Maße,  als  sich  die  verschiedenen 
Formen  der  Unglückseligkeit  vermindern. 


Egoismus  und  Altruismus.  81 

Kritik. 

Man  muß  zugeben,  daß  die  Entwicklungslehre  ein  neues 
Licht  auf  das  Verhältnis  von  Individuum  und  Gesellschaft  ge- 
worfen hat.  An  die  Stelle  der  alten  individualistischen  Auf- 
fassung ist  die  organische  getreten.  Sie  zeigt,  daß  der  Mensch 
durch  tausend  feine  Fäden  mit  seinen  Mitmenschen  verbunden 
ist.  Selbst  das  Gewebe  seines  Denkens  und  Fühlens  ist  sozial, 
und  eine  schroffe  Unterscheidung  zwischen  den  Interessen  des 
Individuums  und  denjenigen  der  Gesellschaft  ist  nicht  mehr 
haltbar.  Das  Wohl  des  Individuums  ist  mit  dem  Wohl  der 
Gesellschaft  organisch  verwoben  und  der  zwischen  beiden  bisher 
bestehende  Konflikt  löst  sich  allmählich  mehr  und  mehr  in  der 
Richtung  nach  einer  höheren  Harmonie  auf.  Zweifellos  hat 
Spencer  hier  einen  großen  Fortschritt  über  Mill  gemacht  —  be- 
sonders, indem  er  einen  ursprünglichen  Altruismus^  neben  einem 
ursprünglichen  Egoismus  erkennt.  Das  Spiel  zwischen  diesen 
beiden  Kräften  hat  nach  ihm  die  ganze  Entwicklung  bestimmt, 
und  mit  prophetischen  Augen  blickt  er  vorwärts  nach  der  zu- 
künftigen Utopie,  in  der  eine  vollkommene  Harmonie  zwischen 
beiden  bestehen  wird. 

Interessant  und  wertvoll,  wie  Spencers  Behandlung  dieses 
Problems  zweifellos  ist,  fragt  es  sich  doch  hier  wieder  wie  bei 
der  Frage  des  Seinsollens,  ob  er  die  eigentlich  ethische  Frage 
gelöst  hat.  Hier  löst  er  wieder  die  Schwierigkeit  dadurch,  daß 
er  vorwärts  auf  eine  Zeit  hinweist,  in  der  es  keine  Frage  mehr 
zu  lösen  gibt.  Die  ethische  Frage  ist  aber  diese:  Da  auf 
der  jetzt  erreichten  Stufe  der  Entwicklung  der  Egoismus  mit 
dem  Altruismus  in  Konflikt  kommen  kann,  was  soll  das  Indivi- 
duum im  Konfliktsfall  hier  und  jetzt  tun?  Warum  sollte  es 
sich  für  die  Gesellschaft  aufopfern?  Es  ist  sofort  einleuchtend, 
daß  man  diese  Frage  durch  keine  Entwicklungstheorie  ent- 
scheiden kann.  Die  bloße  Geschichte  eines  Konflikts  kann  an 
sich  selbst  keinen  Maßstab  geben,  nach  welchem  man  den 
Konflikt  selbst  beurteilen  kann. 


^  Es  ist  also  kaum  richtig,  wenn  Wundt  in  seiner  Ethik  (I,  495)  sagt, 
daß  bei  Spencer  der  Altruismus  nicht  ursprünglich  sei,  sondern  sich  aus 
dem  Egoismus  allmählich  entwickelt. 

Sinclair,  Der  Utilitarismus  bei  Sidgvvick  u.  Speucer.  C 


82  VI.  Kapitel. 

Spencer  sucht  zwar  diesem  und  ähnlichen  Problemen  durch 
seine  Auffassung  von  der  Aufgabe  der  Ethik  zu  entgehen.  In 
seinem  früheren  Werk  —  «Social  Staties»  —  geht  er  so  weit, 
zu  behaupten,  daß  ein  Moralsystem,  welches  die  gegenwärtigen 
UnvoUkommenheiten  der  Menschheit  anerkennt,  nicht  erfunden 
werden  kann  und  auch  nutzlos  wäre,  falls  man  es  erfinden 
könnte.  —  In  den  «Tatsachen  der  Ethik»  hat  er  sich  mäßiger 
geäußert.  Hier  lehrt  er,  daß  die  einzige  mögliche  Lösung  des 
Problems  für  die  gegenwärtige  Stufe  der  Entwicklung  lediglich  ein 
Kompromiß  sein  muß.  Er  schreibt:  «Auf  den  Übergangsstufen 
werden  nacheinander  verschiedene  Kompromisse  notwendig 
zwischen  dem  Sittenkodex,  welcher  die  Rechte  der  Gesellschaft 
dem  Individuum  gegenüber  hochhält,  und  dem  Sittenkodex, 
welcher  die  Rechte  des  Individuums  gegenüber  denjenigen  der 
Gesellschaft  besonders  betont.  Und  offenbar  läßt  keiner  dieser 
Kompromisse,  wenn  sie  auch  für  ihre  Zeit  jedesmal  autoritative 
Geltung  haben,  eine  konsequente  oder  bestimmte  Darstellung  zu.» 

Man  bemerkt,  daß  dieser  Kompromiß  für  seine  Zeit  auto- 
ritative Geltung  haben  muß.  Es  fragt  sich  sofort,  wie  man 
diesen  autoritativen  Kompromiß  bestimmen  soll.  Nach  welchem 
Maßstab  ist  er  zu  finden?  Soll  er  zugunsten  des  Individuums 
oder  zugunsten  der  Gesellschaft  sein?  Inwieweit  muß  das 
Individuum  sein  eigenes  Interesse  für  dasjenige  der  Gesellschaft 
aufopfern,  und  inwieweit  ist  die  Gesellschaft  verpflichtet,  das 
Interesse  des  Individuums  zu  beachten?  Dies  ist  die  eigentlich 
ethische  Frage,  die  Spencers  «wissenschaftlicher»  Utilitarismus 
zu  beantworten  nicht  imstande  ist.  Die  genetische  Methode 
erweist  sich  auch  hier  hülflos,  einen  ethischen  Maßstab  zu  liefern. 

Wir  wollen  zunächst  Sidgwicks  Behandlung  dieser  Frage 
ins  Auge  fassen.  Sein  großer  Fortschritt  in  dieser  Hinsicht  dem 
früheren  Utilitarismus  gegenüber  lag  in  seiner  Verwerfung  des 
psychologischen  Hedonismus.  Dabei  stand  der  Weg  offen  zu 
der  Möglichkeit  einer  adäquaten,  der  menschlichen  Natur  ange- 
messenen Erörterung  der  Frage  des  Egoismus  und  des  Altruis- 
mus. Wichtig  für  sein  System  ist  auch  seine  Anerkennung  des 
Egoismus  als  eine  Methode  der  Ethik  und  seine  Betonung  der 


Egoismus  und  Altruismus.  83 

Tatsache,    daß  in  dem  Egoismus  und  nicht  in  dem  lutuitionis- 
mus  der  Utilitarismus  seinen  eigentlichen  Gegensatz  finde. 

Man  hat  manchmal  Sidgwicks  Anerkennung  des  Egoismus 
als  einer  ethischen  Theorie  angegriffen,  und  niemand  hat  dieses 
klarer  und  energischer  getan  als  Gizycki.  In  einem  Aufsatz^ 
in  dem  «International  Journal  of  Ethics»  gibt  er  zunächst 
Sidgwicks  eigene  Definition  einer  Methode  der  Ethik  als  «einer 
Methode,  die  für  seinen  besondern  und  primären  Zweck  die  Be- 
stimmung dessen,  was  sein  sollte,  hat»,  dann  fügt  er  hinzu: 
«ich  kann  nicht  in  mir  das  Bewußtsein  finden,  daß  ich  nach 
meiner  eigenen  größten  Glückseligkeit  streben  sollte ;  deswegen 
kann  ich  den  Egoismus  nicht  als  eine  ethische  Theorie  an- 
erkennen». Wir  haben  in  einem  andern  Kapitel  gesehen,  wie 
Gizycki  Sidgwicks  Axiom  des  vernünftigen  Egoismus  kritisiert 
hat,  indem  er  zeigt,  daß  es  bloß  Priorität  und  Posteriorität  in 
der  Zeit  betrifft  und  daß  es  deswegen  mit  dem  Axiom  des 
Wohlwollens  niemals  in  Konflikt  kommen  kann.  Durch  die 
Verwerfung  des  Egoismus  als  einer  Methode  der  Ethik  und 
eine  solche  Auffassung  von  dem  Axiom  der  Klugheit  wollte 
Gizycki  Sidgwicks  Utilitarismus  zu  einem  konsequenten  System 
erheben  und  jenen  «Dualismus  der  praktischen  Vernunft»  oder 
Skeptizismus  verhüten,  zu  welchem  Sidgwicks  Anerkennung  des 
Egoismus  führt. 

Nach  Gizycki  ist  jenes  Verlangen  nach  einer  letzten  Ver- 
söhnung zwischen  Egoismus  und  Altruismus  nur  ein  mächtiges 
Bedürfnis  des  Gemüts,  ein  affektives  Bedürfnis  nach  Vergeltung, 
nicht  aber  nach  einer  Rationahsierung  des  Verhaltens.  «Der 
wissenschaftliche  Ethiker  kann  sich  durch  solche  Erwägungen 
nicht  bewogen  fühlen,  die  independente  Basis  der  Ethik  preis- 
zugeben.» Diesem  affektiven  Bedürfnis  gegenüber  ist  das  Streben 
nach  dem  allgemeinen  Wohl  ein  Imperativ  der  Vernunft,  der 
nicht  weniger  stark  und  zwingend  bleibt,  mag  auch  immer  die 
Aufopferung  der  individuellen  Glückseligkeit  für  immer  unver- 
golten  sein.^ 


1  1890,  S.  120. 

2  Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Philosophie,  1880,  S.  125. 

6* 


84  VI.  Kapitel. 

Diese  Kritik  Gizyckis  enthält  ohne  Zweifel  viel  Wahres  in- 
soweit, als  sie  das  Axiom  der  Klugheit  betrifft.  In  diesem 
Axiom  meinte  Sidgwick  dem  rationalen  Egoismus  einen  logischen 
Ausdruck  zu  geben.  Daß  es  ihm  nicht  gelungen  ist,  hat  Gizycki 
vollkommen  bewiesen.  Dabei  hat  aber  Gizycki,  unserer  Meinung 
nach,  nicht  die  wirkliche  ethische  Schwierigkeit  getröffen,  die 
Sidgwicks  «Dualismus  der  praktischen  Vernunft»  zugrunde  liegt. 
Sidgwick  hörte  niemals  auf,  sich  selbst  als  ütilitarier  und  nicht 
als  Egoist  zu  bezeichnen.  Er  hat  seinen  Utilitarismus  auf  einen 
Imperativ  der  Vernunft  gegründet.  Der  konsequente  Egoismus 
ist  nach  ihm  nur  «ein  zweifelhafter  Führer  nach  einem  ver- 
ächtlichen Ziel».  Daß  er  trotzdem  zuletzt  wieder  zu  dem  In- 
dividuum zurückkehrt  und  sein  Verlangen  nach  dem  eigenen 
Gut  zur  Geltung  kommen  läßt,  ist  eine  unvermeidliche  Folge 
seines  rationalistischen  Verfahrens.  Die  Schwäche  eines  solchen 
logischen  Verfahrens  besteht  in  seiner  vollkommenen  Unzuläng- 
lichkeit, der  individuellen  Persönlichkeit  gerecht  zu  werden. 
Sidgwicks  ethische  Axiome  sind  überindividuell  und  überpersön- 
lich. Sie  drücken  aus,  was  allen  Persönlichkeiten  gemeinsam 
ist.  Was  diese  leeren  Formen  betrifft,  so  gibt  es  keinen  Unter- 
schied zwischen  allen  Individuen,  und  wären  sie  das  letzte  Wort, 
das  die  Ethik  zu  sagen  hätte,  so  käme  das  Individuum  mit  der 
ganzen  konkreten  Fülle  seines  eigenen  Daseins  und  seinem 
brennenden  Verlangen,  sich  selbst  zu  realisieren,  nie  zu  seinem 
Rechte.  Diese  individuelle  Persönlichkeit  läßt  sich  aber  nicht 
unterdrücken.  Sie  ist  zu  glühend,  zu  lebendig,  als  daß  man  sie 
unter  logische  universelle  Formen  subsumieren  könnte.  Und 
diese  große  lebendige  Macht,  die  in  Sidgwicks  abstrakten 
Axiomen  keinen  Ausdruck  fand,  erhebt  sich  jetzt  mit  doppelter 
Energie  und  verlangt  zu  ihrem  Recht  zu  kommen.  Es  ist  der 
alte  Konflikt,  der  immer  und  immer  wieder  in  dem  intellektuellen 
und  moralischen  Kulturfortschritte  der  Menschheit  auftritt  — 
ein  Konflikt,  der  in  dem  Protest  der  Romantiker  gegen  den 
Rationalismus  und  wieder  in  unserem  Zeitalter  in  Nietzsches 
brennender  Verteidigung  der  eigenen  Rechte  des  Individuums 
zum  klassischen  Ausdruck  gelangt  ist.  Zwei  Weltanschauungen 
stoßen  hier  aufeinander.     Und  das  Eigentümliche   bei  Sidgwick 


Kgoismus  und  Altruismus.  85 

ist  nur,  daß  er  nicht  vermag,  das  Schwert  für  die  eine  oder 
für  die  andere  Seite  mit  Entschiedenheit  zu  ziehen.  Der  große 
Konflikt  spielt  sich  dagegen  in  seiner  eigenen  Seele  ab  und 
findet  seinen  Ausdruck  innerhalb  seines  eigenen  Systems,  eben 
in  jenem  «Dualismus  der  praktischen  Vernunft».  Nachdem  er 
durch  sein  streng  logisches  Verfahren  konstatiert  hat,  daß  «die 
Tatsache,  daß  ich  ich  bin»,  keinen  Unterschied  in  meinem 
Handeln  machen  sollte,  und  daß  ich  deswegen  verpflichtet  bin, 
mein  eigenes  Wohl  nicht  für  wertvoller  zu  halten  als  das 
gleiche  Wohl  jedes  anderen,  erhebt  sich  seine  ganze  Persönlich- 
keit gegen  einen  solchen  Schluß,  und  er  behauptet  das  Entgegen- 
gesetzte: «ich  bin  als  ein  Individuum  für  die  Qualität 
meiner  eigenen  Existenz  interessiert  in  einem  fundamental 
wichtigen  Sinne,  in  welchem  ich  für  die  Qualität  der  Existenz 
von  andern  Individuen  nicht  interessiert  bin». 

Hierin  besteht  Sidgwicks  «Dualismus  der  praktischen  Ver- 
nunft». Er  hat  versucht,  in  der  Ethik  streng  rationalistisch  zu 
verfahren,  ist  aber  auf  etwas  Irrationelles  gestoßen  —  auf  etwas, 
das  sich  nicht  unter  logische  Formen  subsumieren  läßt.  Er  ist 
deswegen  gezwungen,  seinen  großen  Versuch,  ein  selbständiges, 
von  irgendeiner  Metaphysik  unabhängiges  System  der  Ethik 
aufzubauen,  für  mißlungen  zu  erklären.  Die  Metaphysik,  die  er 
aus  der  vordem  Tür  herausgewiesen  hat,  kehrt  durch  eine 
Hintertür  wieder  zurück.  Der  Vernunftglaube  ist  eine  ebenso 
notwendige  Voraussetzung  in  der  praktischen  wie  in  der  theo- 
retischen Vernunft.  Es  ist  ein  Imperativ  der  Vernunft,  daß  ich 
mein  eigenes  Gut  für  das  größere  Gut  eines  andern  aufopfern 
sollte;  diese  Vernunft  selbst  ist  aber  nur  vernünftig,  wenn  es 
eine  moralische  Ordnung  gibt. 

So  weit  stimmen  wir  Sidgwick  vollkommen  bei.  Daß  man 
jemals  von  einem  Individuum  verlange,  daß  es  auf  ewig  auf 
sein  höchstes  Gut  gänzlich  oder  selbst  teilweise  verzichte,  ent- 
hält sicherlich  etwas  Irrationelles  und  verletzt  das  moralische 
Bewußtsein.  «Man  stelle  sich  eine  Welt  vor»,  schreibt  Prof. 
William  James,  «in  welcher  die  Utopie  Fouriers,  Bellamys  und 
Morris  übertroffen  würde  und  Millionen  ewige  Glückseligkeit 
genießen  unter  der  einzigen  Bedingung,   daß  an  der  weit  ent- 


86  VI,  Kapitel. 

fernten  Grenze  der  Dinge  eine  gewisse  verlorene  Seele  ein  ein- 
sames, von  Qualen  gefühltes  Dasein  führe wie  scheußlich 

wäre  ein  solcher  Genuß,  wenn  man  ihn  als  die  Frucht  eines 
solchen  Vertrags  absichtlich  annehmen  würde.  »^ 

Nun  stellen  wir  weiter  vor,  daß  eine  solche  Seele  vor  einer 
solchen  freiwilligen  Wahl  stände,  daß  sie  das  Gut  von  Millionen 
andern  sichern  könnte,  wenn  sie  nur  ihr  eigenes  Gut  auf  ewig 
aufopferte.  Wahr  ist  es,  daß  einige  edle  Seelen  in  Augen- 
blicken einer  religiösen  Ekstase  sich  selbst  für  bereit  erklärt 
haben,  sich  in  ähnlicher  Weise  aufzuopfern;  man  denke  nur 
an  den  heiligen  Paulus,  der  bereit  war,  auf  immer  verdammt 
zu  werden,  um  seine  Landsleute  zu  retten.  Und  wahr  ist  es, 
daß  wir  die  Erhabenheit  einer  solchen  Aufopferung  empfinden 
und  ihren  unmeßbaren  ethischen  Wert  anerkennen  würden. 
Doch  meinen  wir,  daß  die  Existenz  einer  solchen  Wahl  in  sich 
etwas  Irrationelles  enthalten  würde.  Wir  stimmen  den  schönen 
Worten  des  Sokrates,  die  Sidgwick  zitiert,  bei:  «Ziehen  die 
Lenker  des  Weltalls  den  gerechten  Mann  dem  ungerechten 
nicht  vor,  dann  ist  es  besser  zu  sterben  als  zu  leben». 

Kurz  gesagt,  eine  rationelle  Ethik  setzt  den  Glauben  an 
ein  rationelles  Universum  voraus;  der  moralische  Mensch  ver- 
langt eine  moralische  Ordnung.  Kant  hatte  den  Mut  gehabt, 
diese  moralische  Ordnung  zu  postuUeren.  Sidgwick  war  skep- 
tischer angelegt  und  ließ  die  Sache  unentschieden.  Er  drückt 
sich  am  deutlichsten  aus  in  dem  nach  seinem  Tode  veröflfent- 
lichten  Werk  «The  Ethics  of  Green,  Spencer  and  Martineau» : 
«Meine  Antwort  ist,  daß,  wenn  wir  nicht  die  moralische  Welt- 
ordnung annehmen  oder  beweisen,  ein  Konflikt  zwischen  rationellen 
Überzeugungen  bestehe.  Setzte  ich  sie  denn  voraus?  Ja,  so- 
weit sie  die  Praxis  betrifft,  als  Mensch ;  provisorisch  und  mit 
angemessener  Anerkennung  des  Mangels  eines  Beweises  auch 
als  Philosoph.  Die  Annahme  ist  der  Natur  des  reflektierenden 
Menschen  angemessen  und  ein  Postulat  des  gesunden  Menschen- 
verstandes.» 


1  International  Journal  of  Ethics,  Vol.  I,  S.  331. 


Schliißbetrachtuug.  87 

VII.  Kapitel. 

Schlußbetrachtung. 

Ehe  wir  ein  letztes  Wort  über  den  Utilitarismiis  bei  Sid- 
gwick  und  Spencer  sprechen,  möchten  wir  noch  kurz  die  Frage 
behandeln,  wie  er  durch  seine  geschichtliche  Entstehung  und 
Entwicklung  bedingt  ist.  Nur  durch  eine  Erkenntnis  seiner 
Geschichte  sind  die  Widersprüche  und  Inkonsequenzen  des 
früheren  Utilitarismus  zu  verstehen.  Der  Utilitarismus  war  ein 
Erzeugnis  des  revolutionären  Geistes  in  England  am  Ende  des 
achtzehnten  Jahrhunderts.  Das  größte  Werk  Benthams  — 
«Introduction  to  Morals  and  Legislation»  —  wurde  1789  heraus- 
gegeben, und  Bentham  war  durch  und  durch  ein  Kind  seiner 
Zeit.  In  ihm  spiegelt  sich  die  Größe  und  die  Schwäche  jenes 
Zeitalters.  Seit  ihm  hat  die  utilitarische  Theorie  eine  lange 
Entwicklung  erlebt,  und  wenn  man  heute  diese  ethische  Theorie 
kritisiert,  sollte  man  nicht  bloß  den  Benthamismus  ins  Auge 
fassen. 

Historisch  betrachtet  lag  die  große  Bedeutung  des  Utili- 
tarismus in  der  Geschichte  der  englischen  Ethik  darin,  daß  er 
das  ethische  Denken  wieder  nach  dem  höchsten  Gut  richtete, 
und  dadurch  den  höchsten  Maßstab  aller  Moral  zu  gewinnen 
sucht.  Wie  alle  Reformatoren,  suchte  Bentham  einen  Maßstab, 
nach  dem  soziale  Ideale  und  Einrichtungen  erprobt  werden 
könnten.  Als  eine  Abhandlung  Priestleys  in  seine  Hände  fiel, 
in  der  er  den  Ausdruck  «the  greatest  happiness  of  the  grea- 
test  number»  zum  erstenmal  zu  finden  meinte  ^  geriet  er  fast 
außer  sich  vor  Freude.  Der  Ausdruck  kam  ihm  wie  eine  Offen- 
barung vor.     «Ich  schrie»,  sagte  er,  «als  ich  ihn  fand,   wie  in 

^  Wie  in  dem  ersten  Kapitel  schon  erwähnt,  hat  Bentham  sich  hierin 
geirrt.  Wahrscheinlich  meint  er  Priestleys  «Essay  on  Government»,  wo 
die  Formel  selbst  zwar  nicht  zu  finden  ist,  obgleich  es  das  utilitarische 
Kriterium  deutlich  ausgedrückt  hat.  «Das  Wohl  und  die  Glückseligkeit 
der  Mitglieder,  d.  h.  der  Mehrheit  der  Mitglieder  eines  Staates,  ist  das 
große  Kriterium,  nach  dem  alles,  was  den  Staat  betrifft,  bestimmt  werden 
muß.»    Priestley;  Werke  XXII,  13. 


88  VII.  Kapitel. 

innerlicher  Ekstase,  wie  Archimedes,  als  er  das  wesentliche  Prin- 
zip der  Hydrostatik  fand,  sopyjxa.»^ 

Das  Utilitätsprinzip  war  gewiß  viel  älter  als  Bentham,  und 
selbst  einige  Jahre  bevor  Benthams  Buch  erschien,  entwickelte 
der  theologische  Utilitarier  Paley  ein  System,  das  in  vieler  Be- 
ziehung eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit  demjenigen  Benthams 
zeigt.  Benthams  Bedeutung  lag  darin,  daß  er  dieses  Prinzip 
zum  einzigen  Maßstab  erhob,  und  dadurch  gewann  sein  System 
eine  Geschlossenheit  und  Konsequenz,  die  demjenigen  Paleys 
fehlt.  Unter  Utilität  verstand  man  den  Wert  einer  Handlung 
für  die  Wohlfahrt  des  Individuums  und  der  Gesellschaft,  und 
so  wurde  die  Wohlfahrt  aller  das  letzte  Kriterium  aller  Moral. 
Dies,  und  dies  allein,  betrachten  wir  als  das  Wesen  des  Utili- 
tarismus. 

Obgleich  jedoch  das  Wesen  des  Utilitarismus  allein  darin 
besteht,  daß  er  die  soziale  Wohlfahrt  als  letztes  Kriterium  an- 
erkennt, so  ist  doch  seine  Bearbeitung  zu  einer  ethischen 
Theorie  durch  den  Gedankeninhalt  der  Zeit  und  besonders  durch 
die  philosophische  Lehre  seiner  Anhänger  bedingt.  Die  empi- 
rische Philosophie  und  Assoziationspsychologie  bedingte  die  ganze 
Form  des  Utilitarismus  Benthams  und  Stuart  Mills.  Es  war 
ä  priori  nicht  notwendig,  daß  ein  Utilitarier  auch  Empirist  und 
Assoziationspsychologe  sein  mußte.  Im  Gegenteil  hat  die  weitere 
Entwicklung  gezeigt,  daß  die  empirische  Philosophie  den  Utili- 
tarismus vielmehr  schwächte.  Aber  die  ersten  Utilitarier  hatten 
einen  unüberwindlichen  Glauben  an  das  größte  Glücksprinzip  einer- 
seits und  an  die  x^ssoziationspsychologie  anderseits,  und  aus  dem 
Bestreben,  die  beiden  in  einem  harmonischen  System  zu  ver- 
einigen, entstanden  fast  alle  Schwierigkeiten  und  Widersprüche, 
denen  sie  nicht  zu  entgehen  vermochten. 

In  dieser  Weise  finden  der  Hedonismus  des  Utilitarismus 
und  auch  seine  egoistische  Basis  ihre  Erklärung.  In  der  Tat 
sind  Utilität  und  Lust  keineswegs  wechselseitige  Begriffe.  Der 
psychologische  Hedonismus  war  aber  ein  Dogma  der  empirischen 
Philosophie,  an  welchem  niemand  zweifelte,  und  wenn  der  Mensch 

^  Deontology,  T,  300.  Vgl.  F.  C.  Montagnp,  Benthams  Fragment 
on  Government,  S.  34. 


Schlußbetrachtung.  B9 

nur  Lust  sucht  und  suchen  kann,  so  hat  es  keinen  Zweck,  für 
den  Moralisten  einen  andern  Endzweck  aufzustellen.  Deswegen 
löste  man  Utilität  in  Lust  auf. 

Zudem  dachte  Bentham  nie  daran,  irgendeinen  Beweis  des 
höchsten  Guts  zu  geben.  Im  gewissen  Sinne  wäre  der  Versuch 
auch  gegen  den  Geist  der  empirischen  Philosophie.  Die  früheren 
Utilitarier  glaubten  mit  Hume,  daß  letzte  Endzwecke  durch  die 
Gefühle  und  nicht  durch  die  Vernunft  gegeben  sind.  Daß  man 
den  Endzweck  als  die  Glückseligkeit  der  Gesellschaft  definieren 
müsse,  war  theoretisch  eine  Inkonsequenz,  praktisch  dagegen 
schien  es  selbstverständUch  denen,  die  vor  allem  die  Verbesse- 
rung der  Gesellschaft  im  Auge  hatten. 

Daraus  erwuchs  aber  dem  empirischen  UtiUtarismus  die 
größte  Schwierigkeit.  Der  Übergang  von  einem  psychologischen 
Hedonismus  zum  Utilitarismus  erwies  sich  als  die  Achillesferse 
des  Systems. 

Doch  gab  es  viele  Gründe,  warum  Bentham  und  seine  An- 
hänger diesen  inneren  Widerspruch  zwischen  dem  Utilitarismus 
und  seiner  egoistischen  Basis  übersahen.  Jenen  scharfen  Mißklang 
zwischen  dem  Interesse  des  Individuums  und  dem  Interesse  der 
Gesellschaft,  die  wir  heute  so  tief  empfinden,  war  jener  Zeit 
ganz  fremd.  Ein  fast  abergläubischer  Glaube  an  eine  mysteriöse 
Harmonie  zwischen  den  Interessen  des  Individuums  und  dem- 
jenigen der  Gesellschaft  war  ein  Merkmal  nicht  nur  des  Utili- 
tarismus, sondern  des  ganzen  damaligen  Denkens.  Adam  Smith 
drückt  nur  die  herrschende  Meinung  aus,  wenn  er  behauptet, 
daß  der  aufgeklärte  Egoist,  der  allein  seine  eigenen  Interessen 
sucht,  «von  einer  unsichtbaren  Hand  geführt  wird,  um  einen 
Endzweck  zu  fördern,  der  gar  nicht  in  seiner  Absicht  liegt». ^ 

Bei  dieser  Gelegenheit  möchten  wir  zugleich  auf  den  Indi- 
vidualismus des  englischen  Utilitarismus  hinweisen.  Zwar  gibt 
es  keine  notwendige  Beziehung  zwischen  Individualismus  und 
Utilitarismus.  Der  konsequente  Utilitarier  muß  selbst  einen 
absoluten  Despotismus  verlangen,  wenn  dabei  die  Gesamtsumme 
der  Glückseligkeit  gesteigert  werden  könnte.     Doch  betont  der 

^  Wealth  of  Nations,  Bk.  IV,  Ch.  II.  Vgl.  Sorley, Ethics  of  Naturalism, 
S.  138.    HaJery,  Le  Radicalisme  Philosophique,  I,  19—23. 


90  VII.  Kapitel. 

Utilitarismus,  indem  er  das  höchste  Gut  in  Gefühlszuständen 
findet,  jene  Seite  des  Lebens,  wo  der  Individualismus  am  stärksten 
ist.  Meine  eigene  Lust  allein  kann  ich  fühlen,  Ihre  Lust  fühle 
ich  nicht.  Überdies  bin  ich  der  beste  Richter  meiner  eigenen 
Glückseligkeit.  Daher  hielten  die  Utilitarier  fest  an  der  Lehre 
des  Laissez-faire  —  der  Lehre,  daß  der  Endzweck  der  Gesetz- 
gebung die  Beseitigung  aller  jener  Beschränkungen  des  freien 
Handelns  eines  Individuums  sein  sollte,  die  nicht  notwendig  sind, 
um  die  gleiche  Freiheit  der  Mitmenschen  zu  sichern.  Dicey 
zeigt  ausführlich  in  seinem  Werke  —  «Law  and  Public  Opinion 
in  England  in  the  nineteenth  Century»^  —  wie  diese  Laissez- 
faire-Lehre,  die  in  England  wenigstens  bis  zu  den  letzten  Jahr- 
zehnten des  letzten  Jahrhunderts  herrschend  war,  ein  wesent- 
liches, obgleich  nicht  logisch  notwendiges  Merkmal  der  utilita- 
rischen  Bewegung  war.  «Das  Ringen  nach  der  persönlichen 
Freiheit  gab  dem  früheren  Benthamismus  sein  Leben  und 
seinen  Geist  als  einem  kämpfenden  Bekenntnis.»^ 

Diesen  tief  eingewurzelten  Individualismus  findet  man  auch 
bei  den  späteren  Utilitariern.  Selbst  John  Stuart  Mill  war, 
trotz  seiner  tiefen  Sympathie  mit  dem  Sozialismus  und  trotz 
des  Einflusses,  den  Auguste  Comte  auf  ihn  hatte,  im  Geist  und 
im  Prinzip  durchaus  Individualist.  Für  diese  Tatsache  ist  seine 
Abhandlung  über  die  Freiheit  ein  glänzender  Beweis.  Und  es 
ist  nicht  anders  bei  Spencer.  Die  Entwicklungslehre  hat  in 
England  viel  dazu  beigetragen,  den  Glauben  an  die  organische 
Natur  der  Gesellschaft  zu  verbreiten,  und  der  Kollektivismus, 
welcher  in  den  letzten  Jahren  in  England  zugenommen  hat  und 
nach  Dicey  seit  ungefähr  1870  herrschend  ist,  dieser  Lehre 
außerordentlich  viel  verdankt.  Spencer  blieb  trotz  seines  uner- 
schütterlichen Glaubens  an  die  Entwicklungslehre  und  obgleich 
er  eine  Terminologie  braucht,  die  auf  die  organische  Theorie 
hindeutet,  immer  durchaus  Individualist,  Er  betont  immer  und 
immer  wieder,  daß  die  Gesellschaft,  obgleich  sie  im  gewissen 
Sinne  ein  Organismus  ist,  kein  «gemeinsames  Sensorium»  besitzt. 
Bei  ihm  existiert  das  Individuum    nicht   für   die  Gesellschaft, 


London  1905.  -  ^  Dicey,  S.  148. 


Schlußbetrachtimg.  91 

sondern  die  Gesellschaft  für  die  Individuen.  Seine  ganze  ethische 
Theorie  ruht  auf  einer  individualistischen  Basis.  Spencer  war 
einer  der  unermüdlichsten  Kämpfer  für  die  Laissez-faire-Lehre 
in  England.^ 

Es  ist  auch  nicht  anders  bei  Sidgwick.  Dieser  vermochte 
einen  organischen  Begriff  der  Gesellschaft,  wie  Green  und  seine 
Schule  vertraten,  nicht  zu  begreifen.  In  der  ersten  Auflage  der 
«Methods  of  Ethics»  schlägt  er  vor,  «die  Frage  dadurch  zu 
vereinfachen,  daß  man  ein  einziges  bewußtes  Wesen  in  dem 
Universum  vorstellt».^  Er  hat  aber  diese  Stelle,  wahrscheinlich 
wegen  Bradleys^  scharfer  Kritik,  in  den  späteren  Auflagen 
fallen  lassen. 

Endlich  noch  ein  Wort  über  das  Verhältnis  des  Utilitarismus 
zu  der  gewöhnlichen  Moral.  Manchmal  wird  der  Utilitarismus 
dargestellt  als  ein  bev/ußter  Angriff  auf  die  gewöhnliche  Moral, 
schwerlich  mit  Recht.  Weit  davon  entfernt,  nach  einer  «Um- 
wertung aller  Werte»  zu  streben,  sucht  der  Utilitarismus  im 
Gegenteil  nach  einer  philosophischen  Basis  und  einem  Maßstab 
für  die  gewöhnliche  Moral.  Die  Utili tarier  standen  in  keinem 
bewußten  Gegensatz  zu  dieser  Moral.  «Zu  handeln,  wie  man 
behandelt  werden  will,»  behauptet  John  Stuart  Mill,  «und  seinen 
Mitmenschen  wie  sich  selbst  zu  lieben,  bilden  die  ideale  Voll- 
kommenheit der  utilitarischen  Moral.»  Der  Utilitarismus  ver- 
langt nicht,  daß  die  Motive  einer  Handlung  Lust  sein  sollen. 
Es  ist  keine  Inkonsequenz,  wenn  Mill  die  Pflicht  betont,  die 
Tugend  um  ihrer  selbst  willen  zu  lieben. 

Ein  Einwand,  den  man  in  dieser  Hinsicht  sehr  oft  gegen 
den  Utilitarismus  richtet,  ist  die  Behauptung,  er  greife  die  gene- 
relle Regel  der  Moral  an;  daß  der  Utilitarier  verpflichtet  sei, 
eine  Regel  wie  Wahrheit,  Keuschheit  oder  Gerechtigkeit  u.  s.  w. 
zu  brechen,  wenn  er  dadurch  die  Gesamtsumme  der  Glückselig- 
keit vermehren  könne.  Man  kann  sich  nun  leicht  einen  Dieb- 
stahl z.  B.  vorstellen,  wo  alle  unmittelbaren  Folgen  gut  sind, 
und  sagen,  daß  in  diesem  Fall  der  Utilitarier  stehlen  muß.    Die 


*  Vgl.  besonders  «The  Man  versus  the  State». 
2  S.  374.  —   3  «Mr.  Sidgwicks   Hedonisra»,  S.  28,  29.  —   *  ütilita- 
rianism,  S.  25. 


92  VII.  Kapitel. 

Utilitarier  antworten  aber  ganz  konsequent,  daß  dieser  Einwand 
den  Ungeheuern  Wert  übersieht,  den  die  generelle  Regel  selbst 
für  die  Gesellschaft  besitzt.  Eine  Lüge  z.  B.  hat  die  Tendenz, 
die  Regel  der  Wahrheit  in  dem  Individuum,  das  lügt,  und  in 
seinen  Mitmenschen  zu  lockern.  Daher  sind  die  Fälle  sehr  selten, 
in  denen  ein  Utilitarier  eine  generelle  Regel  brechen  wird.  Alle 
Utilitarier  haben  die  Heiligkeit  und  den  Wert  der  generellen 
Regel  betont. 

Doch  ist  es  wahr,  daß,  wenn  der  Utilitarier  alle  Folgen, 
die  unmittelbaren  und  mittelbaren  (einschließlich  dieser  Wirkung 
auf  die  generelle  Regel  der  Moral  selbst)  ins  Auge  faßt  und 
trotzdem  überzeugt  ist,  daß  z.  B.  eine  Lüge  die  Gesamtsumme 
der  Glückseligkeit  vermehren  wird  —  daß  er  in  diesem  Fall 
verpflichtet  ist,  zu  lügen.  Daher  sagt  man  manchmal,  daß  der 
Utilitarier  die  jesuitische  Lehre  hält,  daß  der  Zweck  die  Mittel 
heiligt.  Richtig  aufgefaßt,  ist  dieser  Einwand  wahr.  Nur  ist 
es  ganz  ungerechtfertigt,  zu  sprechen,  wie  Lipps^  z.  B,  tut,  als 
ob  diese  Lehre  eine  Eigentümlichkeit  des  Utilitarismus  sei.  Sie 
ist  notwendig  in  jeder  teleologischen  Theorie  der  Ethik  ent- 
halten, d.  h.  in  jeder  Theorie,  die  das  Kriterium  der  Moral 
in  einem  Gut  sieht,  das  verwirklicht  werden  soll,  gleichgültig, 
ob  dieses  Gut  Lust  sei  oder  eine  ideale  Form  (wie  Selbstreali- 
sierung z.  B.)  annimmt.  Der  Fehler  der  Jesuiten  lag  nicht  in 
ihrer  Formel,  sondern  in  ihrem  Zweck.  Der  höchste  Zweck 
fordert  und  heiligt  die  Mittel,  die  unerläßlich  sind,  um  ihn  zu 
verwirklichen.^ 

Der  evolutionistische  Utilitarismus. 
Herbert  Spencer  hat  sich  selbst  als  Utilitarier  bezeichnet 
und  mit  Recht.  Er  stimmt  mit  allen  Utilitariern  darin  überein, 
daß  die  allgemeine  Glückseligkeit  der  Endzweck  des  Lebens  ist, 
und  in  dieser  Lehre  allein  besteht  das  Wesen  des  Utilitarismus. 
Dieser  Endzweck  ist   für   ihn   wie   für  Bentham  psychologisch 


1  Ethische  Grundfragen,  S.  73.  74. 

2  Vgl.  Jacobi,  Brief  an  Fichte,  Werke  III,  S.  37.  Windelband, 
Präludien,  S.  329.  «Das  Wollen  des  Zwecks  und  das  Wollen  des  Mittels 
sind  miteinander  wechselseitig  gesetzt.» 


Schlußbetrachtung.  9'^ 

gegeben.  Man  muß,  meint  er,  die  Lust  zum  Endzweck  machen. 
Deswegen  ist  er,  wie  schon  erwähnt,  kein  ethischer  Evolutionist, 
sondern  evolutionistischer  Utilitarier.  Trotzdem  spielt  die  Ent- 
wicklungslehre eine  so  große  Rolle  in  seiner  Ethik,  daß  man 
manchmal  seinen  Standpunkt  mißverstanden  hat. 

Was  den  Endzweck  betrifft,  stimmt  Spencer  somit  mit  andern 
Utilitariern  vollkommen  überein.  Es  ist  nur  die  Methode  des 
Utilitarismus,  die  er  verbessern  will.  Alle  früheren  Utilitaristen, 
und  darunter  auch  Bentham,  tadelt  er,  weil  sie  das  Prinzip  der 
Kausalität  vernachlässigen,  und  diesen  Mangel  will  er  durch  die 
Entwicklungslehre  ersetzen.  Aus  den  Gesetzen  des  Lebens  und 
den  Bedingungen  der  Existenz  sucht  er  abzuleiten,  welche  Hand- 
lungen Lust  und  welche  Unlust  notwendig  mit  sich  bringen. 
Für  ihn  ist  die  Lust  der  letzte  ethische  Endzweck;  das  Leben 
dagegen  der  Endzweck  des  Entwicklungsprozesses.  Indem  man 
aber  beweisen  kann,  daß,  was  das  Leben  fördert,  zugleich  auch 
die  Lust  fördert,  wenigstens  wenn  man  den  Entwicklungsprozeß 
als  Ganzes  betrachtet,  kann  man  das  Leben  als  mittelbaren 
Endzweck  annehmen,  statt  der  Lust,  die  man  direkt  nicht  ver- 
folgen kann. 

Die  Eigentümlichkeit  der  Spencerschen  Ethik  besteht  daher 
in  einer  eigenartigen  Verbindung  zwischen  dem  Hedonismus  und 
der  Evolution.  Ist  eine  solche  Verbindung  haltbar?  Mit  der 
Antwort  dieser  Frage  steht  oder  fällt  die  ganze  Ethik  Spencers 
als  ethisches  System.  Niemand  kann  die  großen  Verdienste 
Spencers  für  die  Ethik  in  Abrede  stellen.  Viele  psychologische 
Vorfragen  der  Ethik  hat  er  in  origineller  und  manchmal  in 
geistreicher  Weise  behandelt,  und  durch  die  Entwicklungslehre 
ist  es  ihm  zweifellos  gelungen,  ein  neues  Licht  auf  die  Tatsachen 
der  Ethik  zu  werfen.  Diese  Seite  seiner  Ethik  haben  wir  schon 
behandelt.  Hier  fassen  wir  die  Zentralfrage  allein  ins  Auge  und 
fragen,  ob  es  ihm  gelungen  ist,  den  Utilitarismus  mit  der  Ent- 
wicklungslehre in  Einklang  zu  bringen  und  dadurch  eine  neue 
und  wissenschaftliche  Methode  für  den  Utihtarismus  zu  finden. 
Kurz,  ist  dieser  evolutionistische  Utilitarismus  haltbar? 

Es  hebt  sich  zuerst  die  Frage  des  Pessimismus.  Es  ist 
zwar  deutlich,   daß   kein  notwendiger  Gegensatz   zwischen  dem 


94  VII.  Kapitel. 

Utilitarismus  an  sich  und  dem  Pessimismus  besteht.  Bei  einer 
pessimistischen  Weltanschauung  zielt  der  Utilitarismus  auf  eine 
Verminderung  des  Überschusses  der  Unlust  in  der  Welt  zu  einem 
Minimum.  Deswegen  wird  sich  der  Utilitarier  als  solcher  nicht 
notwendig  darum  bemühen,  den  Pessimismus  zu  widerlegen.  Der 
evolutionistische  Utilitarier  ist  aber  dazu  verpflichtet.  Ehe  er 
das  Leben  zum  mittelbaren  Zweck  machen  kann,  muß  er  be- 
weisen, daß  das  Leben  einen  Überschuß  der  Lust  mit  sich  bringt. 

In  einer  Rezension  von  Spencers  «Data  of  Ethics»  in  der 
Zeitschrift  «Mind»  (1880,  S.  216)  hebt  Sidgwick  diesen  Punkt 
hervor  und  verlangt  von  Spencer  eine  Widerlegung  des  Pessi- 
mismus. Spencer  antwortete  in  Mind  (1881,  S.  82):  «Es  ist 
vollkommen  wahr,  daß  ich  nirgends  eine  Widerlegung  des  Pessi- 
mismus übernommen  habe  und  es  ist  ebenso  wahr,  daß  ich  nicht 
dazu  verpflichtet  bin.  Ich  zeige  nur,  daß  der  Optimist  und  der 
Pessimist  darin  übereinstimmen,  daß  das  Leben  gut  oder  böse 
sei,  je  nach  dem  es  einen  Überschuß  des  angenehmen  Gefühls 
mit  sich  bringt.  Indem  ich  beweise,  daß  die  beiden  Lehren 
diese  gemeinsame  Annahme  machen,  bin  ich  nicht  genötigt,  die 
eine  oder  die  andere  als  wahr  zu  beurteilen.» 

Hier  sieht  man  leicht  ein,  daß  Spencer  den  Einwand  Sid- 
gwicks  mißverstanden  hat.  Sidgwick  stimmt  mit  ihm  vollkommen 
überein,  daß  man,  um  die  allgemeine  Glückseligkeit  als  End- 
zweck annehmen  zu  können,  nicht  erst  den  Pessimismus  zu 
widerlegen  braucht.  Was  er  aber  mit  Recht  einwendet,  ist, 
daß  Spencer  kein  Recht  hat,  das  Leben  und  die  Glücksehgkeit 
als  zusammentreffend  anzunehmen,  ehe  er  eine  solche  Wider- 
legung gibt. 

Es  ist  klar,  daß  der  evolutionistische  Hedonist  dreierlei 
beweisen  muß;  erstens,  daß  das  Leben  an  sich  einen  Überschuß 
der  Lust  bedeutet;  zweitens,  daß  die  Entwicklung  des  Lebens 
eine  immer  zunehmende  Glückseligkeit  mit  sich  bringt;  und 
drittens,  daß  nicht  nur  die  Glückseligkeit,  sondern  die  größt- 
mögliche Glückseligkeit  in  dieser  Weise  gefördert  wird. 

Was  das  erstere  betrifft,  so  gibt  Spencer  zu,  daß  unter  ge- 
wissen Umständen  der  Pessimismus  örtlich  wahr  sein  kann  (Mind 
1881,  S.  8G).   Man  fragt  sofort,  wie  er  entscheiden  kann,  ob  in 


Schlußbetrachtung.  95 

einem  bestimmten  sozialen  Zusttind  der  Pessimismus  oder  der 
Optimismus  wahr  sei.  Wie  kann  er  jetzt  das  Leben  als  mittel- 
baren Endzweck  hier  und  jetzt  annehmen?  Offenbar  ist  er 
sofort  auf  jene  empirische  Methode  gewiesen,  die  er  vermeiden  will. 
Zunächst  entsteht  die  wichtige  Frage,  ob  die  fortschreitende 
Entwicklung  der  Gesellschaft  eine  zunehmende  Glückseligkeit 
mit  sich  bringt.  «Es  können»,  sagt  Spencer,  «nur  jene  Arten 
von  Wesen  am  Leben  geblieben  sein,  in  denen  durchschnittlich  an- 
genehme oder  erwünschte  Gefühle  mit  zur  Erhaltung  des  Lebens 
dienlichen  Einwirkungen  vorhanden  waren.»  Dies  kann  jedoch 
nur  im  allgemeinen  wahr  sein  und  betrifft  nur  die  früheren  Stufen 
des  Entwicklungsprozesses,  wo  die  natürliche  Zuchtwähl  der  be- 
stimmende Faktor  ist.  Je  höher  die  Menschen  sich  entwickeln, 
desto  mehr  schützen  sie  die  Schwachen  und  die  Unglücklichen. 
Unter  ihnen  wird  der  Kampf  ums  Dasein  mehr  und  mehr  zu 
einem  Kampf  zwischen  Gruppen,  und  manchmal  wird  das  Indi- 
viduum gegen  die  natürlichen  Folgen  seiner  Handlungen  und 
Begehrungen  dadurch  geschützt.  Wir  glauben,  daß  im  allge- 
meinen der  Fortschritt  eine  Zunahme  der  Glückseligkeit  bedeutet, 
trotzdem  ist  es  aber  klar,  daß  man  in  vielen  einzelnen  Fällen 
zwischen  dem  Fortschritt  und  der  größten  Glückseligkeit  wählen 
muß.  Der  moderne  industrielle  Fortschritt  mit  seiner  äußersten 
Arbeitsteilung  hat  mehr  und  melir  die  Tendenz,  die  Arbeitslust 
von  Tausenden  von  Individuen  zu  vernichten  und  sie  zu  Ma- 
schinen zu  machen.  Der  moderne  Fabrikarbeiter,  der  sein 
ganzes  Leben  hindurch  einförmig  und  mechanisch  einen  einzigen 
Uhrbestandteil  macht,  kann  nicht  dieselbe  Lust  an  der  Arbeit 
haben  wie  ein  Uhrmacher  eines  vergangenen  Zeitalters,  der  selbst 
ganze  Uhren  machte,  deren  jede  ein  individuelles  Geschöpf  und 
den  andern  unähnlich  war.  Auch  bat  Spencer  kaum  recht, 
wenn  er  immer  und  immer  wieder  behauptet,  daß  durch  die 
Gewohnheit  allerlei  Handlungen  schließlich  Lust  mit  sich  bringen 
können.  Vielmehr  hat,  wenigstens  in  vielen  Fällen,  die  Gewohn- 
heit die  Tendenz,  eine  Handlung  in  betreff  der  Lust  und  Unlust 
ganz  indifferent  zu  machen.  Manchmal  erfahren  wir,  daß  Hand- 
lungen, die  zuerst  mit  großer  Lust  oder  Unlust  verbunden  waren, 
schließlich  ganz  mechanisch  und  instinktiv  werden  und  dadurch 


96  VII.  Kapitel. 

vollkommen  indifferent  hinsichtlich  der  Lust  und  Unlust.  Wenn 
die  Pessimisten  zweifellos  unrecht  haben,  wenn  sie  lehren,  daß 
die  fortschreitende  Kultur  die  Tendenz  habe,  die  Unlust  zu  ver- 
mehren, hat  Spencer  doch  ebenso  unrecht,  wenn  er  seinerseits 
behauptet,  daß  die  Kulturentwicklung  eine  konstante  entspre- 
chend zunehmende  soziale  Glückseligkeit  mit  sich  bringe. 

Selbst  wenn  wir  aber  dieses  zugeben,  daß  eine  Entwicklung 
des  Lebens  und  eine  Zunahme  der  Glücksehgkeit  Hand  in  Hand 
gehen,  so  ist  damit  die  Frage  noch  nicht  erledigt.  Der  evolu- 
tionistische  Utilitarier  hat  noch  einen  Schritt  weiter  zu  machen. 
Er  ist  verpflichtet,  zu  beweisen,  daß  diese  Zunahme  der  Glück- 
seligkeit die  größtmögliche  sei,  daß  man  mehr  Glückseligkeit 
nicht  erreichen  kann,  wenn  man  ein  anderes  Ziel  als  das  Leben 
setzt.     Offenbar  kann  er  dieses  nicht  tun. 

Kurz,  dieser  ganze  geniale  Versuch  Spencers,  den  Utilita- 
rismus  und  die  Entwicklungslehre  in  dieser  Weise  in  Zusammen- 
hang zu  bringen,  ist  vollkommen  gescheitert.  Man  kann  nicht 
das  Leben  als  vollkommen  mit  der  Lust  übereinstimmend  be- 
trachten. Der  ethische  Evolutionist,  d.  h.  der  Ethiker,  der  den 
ethischen  Endzweck  durch  die  Entwicklungslehre  bestimmt, 
muß  ein  für  allemal  auf  den  Hedonismus  verzichten.  Und  dies 
ist  tatsächlich  die  Tendenz  unter  den  Schülern  Spencers.  Ent- 
weder nehmen  sie  einen  direkt  evolutionistisch  bestimmten  End- 
zweck an,  wie  z.  B.  Selbsterhaltung,  Gesundheit  oder  Wirksamkeit 
des  sozialen  Organismus,  Equilibrium  des  Handelns,  oder  in  noch 
konsequenterer  Weise,  wie  uns  scheint,  leugnen  sie  die  Möglichkeit 
einer  normativen  Ethik  überhaupt  und  fassen  die  Ethik  bloß 
als  die  Wissenschaft  des  Ursprungs  und  der  Entwicklung  der 
Moral  auf. 

Dies  ist  also  das  letzte  Resultat  des  langen  Versuchs,  eine 
utilitarische  Ethik  auf  einer  empirischen  Basis  aufzubauen. 
Spencer  hat  versucht,  durch  eine  evolutionistisch e  Umbildung 
des  Empirismus  eine  sichere  Basis  und  eine  bessere  Methode  für 
den  Utilitarismus  zu  gewinnen.  Dieser  Versuch  ist  ihm  nicht 
gelungen.  Von  seinen  eigenen  Schülern  ist  der  Bruch  zwischen 
dem  Hedonismus  und  der  Entwicklungslehre  vollzogen  worden. 
Auf  einer  empirischen  Basis  läßt  sich  der  Utilitarismus  nicht 
begründen. 


Schlnßbetrachtung.  97 

Der  rationale  Utilitarismus. 

Wir  haben  gesehen,  wie  seine  ganze  Geschichte  hindurch 
der  ütiHtarismus  mit  dem  enghschen  Empirismus  verbunden  ist, 
obgleich  diese  Beziehung  selbst  nicht  in  der  Natur  des  Utilita- 
rismus als  solchen,  sondern  lediglich  in  der  philosophischen  An- 
schauung seiner  ersten  Begründer  und  Anhänger  ihre  Erklärung 
findet.  Durch  eine  Analyse  der  Erfahrung  glaubte  man  den 
ethischen  Endzweck  zu  entdecken.  «Der  einzige  Beweis,»  sagte 
Mill,  «daß  etwas  begehrenswert  ist,  ist,  daß  man  es  tatsächlich 
begehrt.  Wenn  der  Endzweck,  den  die  utilitarische  Lehre 
annimmt,  in  der  Theorie  und  in  der  Praxis  nicht  als  ein  End- 
zweck anerkannt  wird,  so  kann  niemand  jemals  davon  überzeugt 
werden,  daß  derselbe  ein  Endzweck  sei.  Man  kann  keinen  Grund 
dafür  angeben,  daß  die  allgemeine  Glücksehgkeit  begehrenswert 
sei,  außer  daß  jede  Person  ihre  eigene  Glückseligkeit  begehrt, 
soweit  sie  sie  für  erreichbar  hält.»^  Der  Endzweck  ist  daher 
ein  unmittelbares  Ergebnis  der  Erfahrung.  Wir  haben  eben 
gesehen,  daß  diese  Beziehung  zwischen  dem  Empirismus  und  dem 
Hedonismus  durch  die  Entwicklungslehre  und  die  dadurch  ver- 
ursachte Umbildung  des  Empirismus  notwendig  unhaltbar  ge- 
macht worden  ist.  Wenn  die  Entwicklungslehre  überhaupt 
imstande  ist,  einen  ethischen  Endzweck  zu  bestimmen,  so  kann 
dieser  Endzweck  nicht  die  Lust  sein.  Gewiß  ist  es  möglich,  die 
Entwicklungslehre  als  Tatsache  anzunehmen,  und  dadurch  selbst 
den  Ursprung  der  moralischen  Gefühle  und  Urteile  zu  erklären, 
und  doch  ganz  konsequent,  die  Lust  für  den  letzten  Endzweck 
zu  halten.  Allein  dieser  Endzweck  muß  jetzt  auf  eine  andere 
Basis  gestellt  werden  als  auf  den  Empirismus. 

So  verfährt  Henry  Sidgwick.  Er  hat  nach  einer  neuen 
Basis  für  den  Utilitarismus  gesucht,  und  es  fragt  sich  jetzt,  wie 
man  sein  System  als  ein  Ganzes  beurteilen  muß.  Hier  heben 
wir  nur  die  Hauptzüge  hervor. 

Was  ihn  von  vornherein  von  den  traditionellen  Utilitariern 
scheidet,  ist  seine  bestimmte  und  bewußte  Verwerfung  der  empi- 
rischen Philosophie.     Er   weigert  sich,  das  sittliche  Bewußtsein 

^  Utilitarianism,  S.  53. 
Sinclair,  Der  Utilitarismus  bei  Sidgwick  u.  Spencer.  7 


98  VII.  Kapitel. 

mit  den  Empiristen  in  Gefühlszustände  aufzulösen.  Den  Versuch 
zu  analysieren,  wenn  auch  eine  Analysis  nicht  mehr  möglich  ist, 
betrachtet  er  mit  Recht  als  den  Hauptfehler  der  Assoziations- 
psychologie. Zum  erstenmal  in  der  Geschichte  des  englischen 
Utilitarismus  ist  die  Lehre  Humes,  daß  letzte  Endzwecke  durch 
das  Gefühl  und  nicht  durch  die  Vernunft  bestimmt  sind,  zurück- 
gewiesen. Bei  Sidgwick  wird  die  Vernunft  zum  organisierenden 
Moment  in  dem  moralischen  Bewußtsein,  und  das  Richtige  iden- 
tifiziert er  mit  dem  Vernünftigen.  Mill  und  Bentham  hatten 
versucht,  das  Seinsollen  in  das  Sein  aufzulösen,  während  bei 
Sidgwick  das  Seinsollen  ein  Letztes  und  Unanalysierbares  ist. 

Bahnbrechend  in  der  Geschichte  des  Utilitarismus  ist  zu- 
nächst Sidgwicks  Verwerfung  des  psychologischen  Hedonismus. 
Diese  Theorie  hatte  die  naturalistische  Basis  des  früheren  Utili- 
tarismus gebildet.  Sie  hatte  auch  die  Ausbildung  der  Theorie 
bestimmt  und  es  zu  einer  Einsicht  des  wirklichen  Gegensatzes 
zwischen  Egoismus  und  Utilitarismus  nicht  kommen  lassen. 
Sidgwicks  eingehende  Diskussion  dieser  ganzen  Frage  hat  einen 
so  tiefen  Eindruck  auf  die  englische  Ethik  gemacht,  daß  die 
Lehre  des  psychologischen  Hedonismus  jetzt  davon  fast  ver- 
schwunden ist. 

Die  nächste  wichtige  Frage,  welche  Sidgwick  in  ganz  anderer 
Weise  beantwortet  als  die  traditionellen  Utilitarier,  ist  die  Frage, 
ob  die  Vernunft  eine  Triebfeder  des  Willens  sein  kann.  Dies 
hatten  alle  englischen  Empiristen  seit  Hume  geleugnet.  Die 
Frage  ist  zweifellos  eine  der  entscheidendsten  der  Ethik  überhaupt. 

Sehr  wichtig  für  ein  Verständnis  von  Sidgwicks  System  und 
sein  Abweichen  von  dem  traditionellen  Utilitarismus  ist  seine 
Verwerfung  der  genetischen  Methode.  Obgleich  er  zu  einer  Zeit 
schrieb,  als  die  Entwicklungslehre  anfing,  einen  großen  Einfluß 
nach  allen  Richtungen  auszuüben,  war  Sidgwick  immer  skeptisch 
gegen  ihren  Wert  für  die  Ethik.  Wir  halten  seine  strenge 
Unterscheidung  zwischen  Ursprung,  Existenz  und  Gültigkeit  für 
einen  großen  Fortschritt  in  seinem  Utilitarismus.  Sehr  fein  hat 
er  diesen  Gedanken  in  verschiedenen  Schriften  entwickelt.  Er 
ist  gern  bereit,  irgendeine  Theorie  des  Ursprungs  des  Pflicht- 
bewußtseins anzunehmen,   die   die   Psychologie  oder  die   Ent- 


Schlußbetrachtuug.  99 

Wicklungslehre  begründen  mag,  nur  hält  er  daran  fest,  daß  der 
Ursprung  der  ethischen  Urteile  ihre  Gültigkeit  nicht  bestimmen 
kann.  Ein  moralisches  Urteil  braucht  nicht  wahr  zu  sein,  weil 
es  ursprünglich  ist,  und  gleichfalls  braucht  es  nicht  falsch  zu 
sein,  weil  es  abgeleitet  ist.  «Kein  allgemeiner  Beweis,  daß  unser 
Pflichtbewußtsein  abgeleitet  oder  entwickelt  ist,  ist  ein  ausrei- 
chender Grund,  um  ihm  nicht  zu  trauen.»^ 

Statt  auf  einer  empirischen  Basis  ruht  Sidgwicks  Utilita- 
rismus  vielmehr  auf  einer  intuitiven  —  auf  dem  Axiom  des 
Wohlwollens.  Dieses  Axiom  ist  bei  ihm,  wie  schon  erwähnt, 
ganz  formal  und  an  sich  inhaltlos.  Es  bezieht  sich  auf  das 
höchste  Gut.  So  ist  Sidgwicks  Ethik  zugleich  intuitiv  und  teleo- 
logisch. 

Wir  haben  schon  die  drei  Axiome  '. —  der  Klugheit,  der 
Gerechtigkeit  und  des  Wohlwollens  —  diskutiert.  Es  scheint 
uns,  daß  diese  Axiome  ein  logisches  und  ein  kategorisches  Ele- 
ment enthalten,  und  daß  Sidgwicks  System  an  Konsequenz  und 
an  Klarheit  gewonnen  hätte,  wenn  er  diese  zwei  Elemente  aus- 
einandergehalten hätte.  Sidgwick  zeigte,  daß  das  Prinzip  der 
Gerechtigkeit  allen  ethischen  Systemen  notwendig  ist.  Jedes 
ethische  Urteil  setzt  dieses  Prinzip  voraus.  Nicht  anders  steht 
es  mit  dem  Prinzip  der  Klugheit:  «Das  Hernach  als  solches  ist 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  zu  beachten  als  das  Jetzt».  Dieses 
Prinzip  liegt  auch  jedem  ethischen  Urteil  zugrunde.  Sidgwick 
hatte  unrecht,  wie  wir  sahen,  wenn  er  dieses  Axiom  als  das 
Prinzip  des  rationalen  Egoismus  auffaßte.  Steht  es  aber  anders 
mit  dem  dritten  Axiom,  mit  dem  Prinzip  des  Wohlwollens? 
Dieses  enthält,  meinen  wir,  ein  logisches  und  ein  kategorisches 
Element.  Das  logische  kann  man  so  ausdrücken:  «Mein  Gut 
ist  nicht  wertvoller  als  das  gleiche  Gut  eines  andern».  Dies 
ist  auch  ein  rein  logisches  Prinzip.  Das  kategorische  Element 
ist  nur  ein  «du  sollst».  Es  ist  an  sich  ganz  formal  und  inhalt- 
los, bezieht  sich  aber  durch  die  drei  logischen  Axiome  auf  das 
höchste  Gut. 

Wir  betrachten  Sidgwicks  System  als  das  tiefste  und  ge- 
schlossenste aller  utilitarischen  Systeme.    Er  war  zweifellos  der 

1  Methods,  S.  213. 


100  VII.  Kapitel. 

größte  Ethiker  der  ganzen  Schule.  Spencer  hat  zwar  die  Psy- 
chologie der  Ethik  bereichert  und  unsern  Blick  für  die  Tatsachen 
der  Ethik  erweitert,  doch  hat  er  nie  die  eigentlich  ethischen 
Fragen  in  ihrem  Kern  erfaßt.  Dagegen  hat,  in  dem  ganzen 
19.  Jahrhundert,  niemand  in  England  soviel  zu  einem  systema- 
tischen Studium  der  Ethik  beigetragen  wie  Henry  Sidgwick. 
Weit  entfernt  ist  sein  System  von  dem  empirischen  Utilitarismus 
seiner  Vorgänger.  Kant  und  Butler  haben  ihn  tief  beeinflußt, 
und  zwar  viel  mehr  als  Bentham  und  Stuart  Mill.  Im  eigent- 
lichen Sinne  des  Wortes  ist  sein  System  nicht  als  eudämonistisch 
zu  bezeichnen.  Weder  das  Triebmotiv  noch  der  Endzweck  ist 
die  Lust  des  Handelnden.  Die  Vernunft  und  nicht  das  Gefühl 
ist  das  organisierende  Moment.  «Gut  ist  meiner  Ansicht  nach,» 
sagte  er,  «was  zu  behalten  oder  zu  erreichen  vernünftig  ist,  und 
böse  ist,  wovon  frei  zu  vvrerden  vernünftig  ist.»^  Das  Recht- 
tun ist  also  der  Endzweck  des  Handelnden. 

Der  wunde  Punkt  in  Sidgwicks  System  ist  seine  Bestimmung 
des  höchsten  Gutes.    Diese  haben  wir  schon  ausführlich  disku- 
tiert.   Gegen  seinen  «universalistischen  Hedonismus»  scheint  uns 
der  Einwand  entscheidend,  daß  die  Lust  ein  durch  und  durch 
statischer  Begriff  ist,   und  kein  Element  des  Fortschritts  be- 
deutet, und  deswegen  vollkommen  ungeeignet  ist,  als  das  Ideal 
einer  fortschreitenden  Gesellschaft  zu  dienen.     Zwar    wie  die 
gesetzliche  Münze  ist  die  Glückseligkeit  im  gewissen  Sinne  ein 
Wertzeichen,   wie  jene  Münze  ist  sie  auch  etwas  Wandelbares. 
Das  Ideal  der  Glückseligkeit  schwankt  von  Individuum  zu  In- 
dividuum und   von  Zeitalter  zu  Zeitalter.     Die  Lust  kann   ein 
mehr  oder  weniger  zuverlässiges  Maß  des  sozialen  Fortschritts, 
aber  nicht  das  ausschlaggebende  Moment  in  jenem  Fortschritt 
sein.     Den  Fortschritt   einer  Nation  von  einem  Zustande  des 
Barbarismus  zu  einem  Zustande  der  höchsten  Kultur  kann  man 
nicht  in  einem  quantitativen  Lust  unterschied  ausdrücken.     Die 
Glückseligkeit  als  das  Ideal  des  Fortschritts  tut  dem  wollenden 
und  denkenden  Menschen  unrecht. 

Der  Utilitarismus  bedarf  einer  Vertiefung  und  einer  Idea- 
lisierung von  der  Bedeutung  der  Utilität.     Der  Hedonismus  ist, 

^  Ethics  of  Green  usw.,  S.  331. 


Sclilußbetrachtung.  101 

selbst  in  der  Form  der  allgemeinen  Glückseligkeit,  nicht  ein 
logisch  notwendiges  Element  des  Utilitarismus.  Sein  Wesen  be- 
steht darin,  daß  er  seinen  Maßstab  in  dem  höchsten  Gut  der 
Gesellschaft  findet.  Das  sieht  man  klar  in  der  Geschichte  der 
Schule  und  ihren  Kämpfen  mit  den  Intuitionisten.  Wir  haben 
gesehen,  wie  Mills  Utilitarismus  nur  formal  hedonistisch  ist,  und 
daß  bei  der  Art  seiner  Unterscheidung  von  Lustqualitäten  in 
der  Tat  ein  Kulturideal  der  Endzweck  ist.  Wäre  Mill  nicht 
durch  seinen  Empirismus  gezwungen,  die  Lehre  des  psycholo- 
gischen Hedonismus  zu  halten,  so  hätte  er  sicherlich  das  höchste 
Gut  nicht  als  die  Lust  definiert.  Das  sieht  man  in  seinem 
wiederholten  Bestreben,  den  Begriff  der  Lust  zu  idealisieren.  In 
seiner  Schrift  über  die  Freiheit  sagte  er:  «Ich  betrachte  die 
Nützlichkeit  als  den  letzten  Maßstab  aller  ethischen  Fragen, 
aber  es  muß  die  Nützlichkeit  in  ihrer  umfassendsten  Bedeutung 
sein,  gegründet  auf  die  bleibenden  Interessen  des  Menschen  als 
fortschreitende  Wesen». 

Der  zukünftige  Utilitarismus  muß  mit  Sidgwick  der  nor- 
mativen und  rationalen  Seite  des  ethischen  Bewußtseins  gerecht 
werden,  und  er  muß  dazu  einen  Schritt  über  ihn  hinaus  machen. 
Er  muß  sich  vom  Hedonismus,  mit  dem  er  schon  beinahe  ge- 
brochen hat,  vollends  lossagen.  Er  muß  den  Versuch  aufgeben, 
das  soziale  Ideal,  das  der  Inbegriff  aller  Kultur  und  alles  Fort- 
schritts sein  muß,  lediglich  in  der  Lust  zu  finden.  Kurz,  er 
muß  ein  höheres  und  tieferes  Ideal  als  höchstes  Gut  aufstellen, 
das  dem  Menschen  als  denkendes,  wollendes,  fortschreitendes  und 
nicht  nur  als  fühlendes  Wesen  gerecht  werden  kann. 


102 


Literaturverzeichnis. 


Wir  führen  nur  die  ethischen  Werke  Sidgwicks  und  Spencers  und  die 
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rvrv 


'COCxD 


Carl  <ainter's  Unlvertitätsbucbbandlund  in  I)eidelber(). 


^ec  XOiUc  $uc  l)öl)ctcn  £inl>cit 


^^^^  Jof.  HnT.  froeblub. 

^^^^^  gr.  80.  Qel).  mi.  4.40. 

^^^^  ^roel^Iid?  ifl  juer)!  im  (Scbiete  ber  natunotfyenfd?aft  unb  im  befonbcren  ber  ITlebisln  fdjriftfiellerifcl? 
tittg  geiüffen.  Sein  holdes  ftttlidjes  unb  religlöfcs  3ntcreffc  bat  ii\n  innerlii?  qeiwün<ien,  ber  piiilofofbie 
fld?  jujunjenben.  Sein  Cntroidlangsgang  i]t  bcmnadj  bem  Coges  äljnlid?  gcipefcn;  and)  feine  ©ebanfen 
f^nb   bcnen  CoQes   Dcrioanbt.  .  .  . 

.  .  .  iln  biefe  €rörterungen  fd?Iie§en  fldj  bte  über  „tDiffen  unb  (Slauben",  über  „Das  IPcfcn  ber 
Religion"  unb  über  „(Semeinfcijaftsbilbung"  an,  ^^^  mödjtc  fafi  raten,  bie  £eftitre  unferer  5d?rift  mit 
ber  bicfcs  (bes  adjten)  ilbfd?nitts  3U  beginnen,  ^ier  5eigt  ftd?  5roetjIid?s  probuftioe  Kraft  in  it?rcr  (tiefe 
nnb  il^rem  Heidjtum.  Der  perfönlid?e  (Sott  übt  feine  ITlac^t  in  allem,  cor  allem  in  jcber  felbftbeiuufiten 
perfönlid?fcit.  3"^^"^  '^  unfer  Cebcn  geflaltet,  roirb  er  oon  uns  efnpfunben.  Der  (Slaube  oertraut 
fidj  itjm  an.  €r  iji  bas  (San^e,  bas  HPiffen  nur  ein  tCeil  oon  if)m.  3"»  Ififfen  erfd7eint  übetl^aupt 
nur  bie  £eud?tfraft  bes  IDillens.  Der  ^fortfdjritt  ber  (Sefd?id?te  i)l  ber  fortgebcnbe  Sieg  bcs  IDillens  5U 
tjöljerer  Ctnl^eit.  3"^?"^  ®ott  3U  immer  engerer  unb  uielfeitigcrer  (Scmcinfd?aft  bie  inenfd7en  Der= 
fnüpft,  entfaltet  er  in  il^nen  immer  größeren  Heicl?tum  bes  Cebcns,  H)cr  biefcm  lOillen  fiel?  iüiberfet5t, 
ber  bereitet  ftd?  ben  Untergang.  Sütibc  i|l  Selbfimorb,  llber  bie  eroige  £iebc  ijl  eroige  (Silöfung.  3"= 
bcm  ber  Derfaffer  im  Derlauf  biefer  öetradjtung  feine  pbilofopl^ic  ber  ©efdjid^tp  barlegt,  fommt  er 
auc^  auf  bie  „Cieijtgeflalt"  ber  perfon  3cfu  3"  fpredjen,  bie  er  mit  fo  tiefem  Dcrjlänbnis  unb  fo  tiety- 
geioinncnb  befdjreibt,    toie    es   feiten    gefdjel^en  ifi. 

gum  Sd}lu%  legt  ^roel^Iidj  fein  Perfiänbrns  bec  Kunjl  unb  bie  unerfdjütterltdjen  (5rünbe  feinr;^ 
Unflcrbltdjfeitsglaubctis  bar. 

3d?  Fann  nur  mit  bem  Ijerjlidjflen  unb  bem  innigflen  Danfe  von  ber  Sdjrift  fdjeiben.  Sdjritt 
für  Sdjritt  tjaben  i»ir  uns  bie  ibeale  unb  fromme  Cebensanfdjauung  unferer  großen  Denfer  unb  Didjter 
Don  neuem  su  erringen.  ^Jroel^Iid?  ifl  einer  ber  begeifiertften  unb  geöanfenretdjften  Mitarbeiter  an  ber 
Cöfung  biefer  Jlufgabe.  möge  feine  Sdjrift  redjt  »iele  (Eeilnal]me  finben  unb  ii^n  3ur  Darlegung  feines 
ganjen  tl)ei|lifd?en  SYfictns  ocranlafTen!  (Protctlantcnblrttt.) 


Pl)ilofopl)if(f>  '^  religiöfe  Betrachtungen 
unb  5ernblicPe 

Don 

Keopold  von  Stecbow. 

gr.  80.  geij.  tTlf.  7.—. 

pbiIofopl7ifdj=rcIigiöfc  Setrad^tungen,  ^exnblide,  (£rir)ägungen  unb  Oorfdjiäge  eines  fdjon  por 
30  3''l?rcn  geftorbenen  IHannes  toerben  Ijter  oon  feiner  Cod^ter  peröffentlidjt.  £.  Den  5ted?oiü  l^at,  toie 
feine  ttod?ter  angibt,  Dteles  gefdjrieben,  aber  burdj  mandjerlei  mißlid?e  Umfiänbe  ift  ntd?ts  gebruci't 
tnorben.  2Ius  bem  großen  fd?riftlidjen  ^adjlaffe  ijat  nun  feine  Codjter  biefe  1867  poUenbcte  Sdjrift  ent= 
nommen  unb  übergibt  fte  tjiermit  ber  ®ffcntlid)fett,  ita  fte  nid/t  toill,  "öa^  fo  Diel  Talent  cerlorcn  fei. 
Dem  fefer  roirb  ettoas  illtes  geboten ;  aber  toas  alt  ifi,  braudjt  ntdjt  Deraltet  3U  fein  unb  ifi  es  I^ier  in 
ber  Cat  audj  nidjt ;  ber  Derfaffer  bcroegt  ftdj  gan3  in  mobernen  (Scbanfcngängen  unb  bietet  reidjen 
Stoff  3um  rJadjbenfcn  unb  Diele  neue  Anregungen;  mag  er  nun  reben  oon  ber  3^^^  ^^s  tncffias,  Don 
ber  (Sottcsfotjnfdjaft  <£l)ri)ii,  Don  ber  Stelloertrctung  €t)rifii  ober  Don  bcm  §ufammenl]ang  bes  djriftlidjen 
prin3ips  mit  ber  religiöfen  JPelt  in  ibrcn  fonfittutipen  ©runblagcn,  immer  fallen  bem  aufmerffamen 
Cefer  neue  (Sebanfengänge,  neue  problemfiellungen  auf  unb  geben  iljm  fo  ien  ITtut  unb  2lnlaß,  aud? 
felbß  einmal  über  bas  gerabe  ertoülinte  Problem  nad?3ubenfen ;  barin  feigen  trir  aud?  bcn  ^aupt3iDCd' 
ber  Dorliegettben  Sdjrift,   ttidjt  beletjren,  fonbern  anregen  3U  tDOÜcn.  (£it.  iX*egxDCifcr.) 


Bas  Problem  bct  XOiUcmfmhtit, 

€tn  neuer  Derfudj  fetner  Cöfung 

Don 

Karl  f  abrion» 

gr.  80.  gelj.  IHF.  1.60. 

^al^rion  fagt  auf  engem  Haumc  red?t  oiel;  er  beljanbelt  bas  Problem  ber  lüillcnsfretlieit  in 
feiner  gcfdjtdjtlidjcn  (Enttoicflung.  Das  IDefen  bcs  Problems  erörtert  er  flar  unb  fdjarf,  namcntlid?  ront 
Stanbpunftc  ber  Kaufaltljeorie,  bie  er  glün3enb  abfül^rt.  riegatiu  bctüiefen  toirb  bie  ^Jrcibcit  Don  iljm 
bnrd)  bie  2lbleljnung  ber  bctermlniiltfdjen  Folgerungen,  pofitiD  burd^  eine  Dor3ÜgIid7e  neue  DarftcIIuna 
iies  ^teiljeitsberoußtfclns.  (ZiUgem.  üteraturbltttt.) 


^    Carl  Wlinter's  anlverlitätsbachbandlung  in  Reidelbcrg.     = 


ffiax  Dre^ler 

Bie  XDelt  ah  XDiUe  $utn  @dbft. 

(Eine  pl|tIofopIitfd?c  Stubie. 

gr.  80.  gclj.  trif.  3.—. 

Das  ^ndi  Dreficrs  mutet  tjödjjl  eigcntfimlid?  an.  Selten  genug  fJ6§t  man  in  Ijeutiger  gctt 
fo  reine  entfcbloffene  trietapby'iif,  btc  tocbcr  im  ©etoanbe  cigentlid?er  poefie  auftritt,  nod?  ftd?  mit  rot 
fcbaftlicbem  Hüßseug  umgibt.  Der  Stil  bes  Pcrfaffers  erinnert  barin  an  ^egel,  ba§  uncrmöblid?  bicfe 
©runbgcbanPcn  nad?  aüen  Seiten  getrenbet  unb  in  immer  neuen  Oariationen  »iebertjolt  »erben, 
bas  Chema  eines  mufifpöcfes  Hingt  jener  eine  <Seianfe  „bie  ITelt  ijl  bie  Selbfioermittlung  bes  S 
burd?  bas  rDiffen  jum  Selbfi"  immer  toieber  an.  Der  üerfaffer  fd?aut  eine  grofe  «inljctt,  in  ber 
Selbß  logifdjer  Urfprung  mi>  ctoiges  ^iel  afler  €ntn)icflung  ifi,  in  ber  toeber  bie  matcrie  eine  €i 
erißenj  beanfprud?en  fann  nod?  bas  abjlrafte  Subjeft,  in  ber  beibe  berartig  aufeinanber  angcnji 
finb,  ba%  jene  burd?  bicfes  iljr  giel  bes  rDiffenwerbens,  biefes  burd?  jene  fein  giel  bes  €tiDast»ii 
erreid?t  tPäbrenb  bie  ptjilofoptjic  bie  toatfre  €intjeit  iji  unb  fomit  bas  ctuige  ibealc  «nbstel  bebe: 
Dermittcin  Kunß  unb  myrnf  lebiglid?  eine  unooafommenc  (BefüI^Iscinf^eit.  Das  principium  individuati 
iji  bas  Iüer!3cug  bes  Selbfi,  bas  es  benu^t,  um  bauernb  aus  ftd?  felbji  burd?  bie  boppelte  ITlonabem 
ber  ©bjefte  unb  Subjeftc  su  fid?  felbfi  3u  fommcn.  (^^colog.  £itcraturbcric^t.) 

Pocicfungen  über  Pfy^ologte 

getjaltcn  im  ^foyer  bes  (Sro§t|er3ogIid?en  ^oftljeaters  in  Karlsrutje 

von 

f^ofrat  Dr.  ma^  X^tef^Ux, 

gr.  8«.  gel).  IHlf.  3.60,  in  fein  Ceintoanbbanb  tTlf.  4.50. 

.  Das  ganje  Budj  in  feiner  3ntjalt»  unb  5ormenfd?öne  iji  bain  berufen,  als  eines  ber  bi 
Silbungs'mittel  aüen  benen  3U  bienen,  bie  ben  l)ot)en  Ztufgaben  unferer  Seele  unb  iljrcn  tieften  Zi 
nad?3uforfd?en  3ntercffe  entgegenbringen.  .  .  .  Sein  Scmatjen,  bas  Bcfie  in  angenefjm^r  iform  3U  bie 
iü  bem  r>erfaffer  trefflid?  gelungen,  fo  iia%  toir  bem  empfetjlenstoertcn  Sud?e  rcd?t  oiel  Dcrjiänbnisc 
Cef  er  oon  fersen  toünfdjen.  IDenn  biefer  unfer  lOunfd?  in  «rfaUung  ginge,  fo  toarbc  bas  einen  geifJ 
^ortfdjritt  unferer  gan3en  geit  beieut^n.  ((Dbb  5cllOTO.) 

Pcin^ipien  bct  V(lct<ip\)yfit 

Don  profeTTor  Branlslav  petrotilevlc5. 
I.  :&ant>.    I.  Zlbtcilung: 
2lüacmcine  ©rttologle  unb  bU  formalett  Kategorien,    mit  einem  2lnl}awg;  (Elemente -e< 
ncvi^  (Beometrie  unb  3  Slafeln  mit  56  geometrifiijen  Figuren. 
Cef.--8".  gelj.  tüf.  15.—. 
„€ine  frifdje  tjoffnungsreidje  Stimmung  fprid?t  fid?  fd?on  in  ber  er!cnntnis  =  ti)eoretifd?en  (Src 
lehre  biefer  tnetap^tf  .aus,  in  ber  ^eljauptung   oon  ber  abfoluten  Realität  ^«  ^^•^tajrung.    y« J 
faffer  fd?eut  oor  fetner  pojitio^roiffenfdjaftlidjen  Jtutorifät  auf.     €r  rotü  fogor  in  ^^.JJ^t?,^^«*«,  « 
mierenb  eingreifen.    Den  Jtngelpunft  feiner  Spefulation  bilbet  eine  eigentuniltd?e  realijltfd?e  2tuffaffung 
Hegationsaftes.     3n  öiefem  erften  ^anbe  bes  grofe  angelegten  p^f^tf^  ^^?^f^,,„^  *i 
Herne  bev  Seit,   bes  Haumes,   6er  §aljl  unb  5er  Bewegung  »telf citlge  ^eleu^tung.     3 
2lntinomien  Ttn*  nidjt  ängftlidj  umgangen,  petroniet)ic5  unternimmt  pielme^r  ttj«*^«»«" 
»ofitiDen  tiifinen  «öfungsperfu«^.    .  .  ."  („titevavi^d^ei  Centralblatt"  tlr.  30,  J|C5, 

Still,  the  discussion  contained  in  this  volume  is  Btimulating,  and  considera 
dialectVc  power  is  displayed.  One  will  watch  with  interest  in  the  later  volumes  whether  the  aot 
succeeds  in  dealing  with  his  various  problems  without  always  recurring  to  the  mathematical  pomt 
View.  Unfortunately,  one  word  must  be  said  regarding  the .  typography.  —  This  is  the  more  toi 
repretted  because  —  granted  the  author's  point  of  view  -  the  i's  of  the  phüosophy  f 
quite  carefuly  dotted."  („Naiure"  No.  1856,  iQOSi 

.  .  Mais  ce  que  nous  venons  de  dire  suffit  pour  qu'on  puisse  juger  cette  nouvelle  göoraetne 
point  de  vue  philosophique.  II  dtait  interessant  de  tirer  du  finitiame  toutes  ses  consequem 
öCientifiques;  d  cet  egard,  le  travail  de  M,  Petronievics  ne  sera  pas  inutile,  car  il  constitue  une  sortö 
reduction  ä  l'absurde  du  fimtisme,  qui  en  est  peut-etre  la  meilleure  refutation  .   .  /'  J 

(L.  Conturat  in  „Bulletin  des  sciences  matMtnaitques"  Mars  loa^ 
und  „Revue  de  Metaphysique  et  de  Marale"  No.  2,  1905O     ; 

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B      Sinclair,  A      G 
1571      Der  utilitarismus  bei 
S5      sidgwick  und  Spencer