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Full text of "Der vitalismus als geschichte und als lehre"

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GESCHICHTE  DES 

VITALISMUS 


VON 


HANS  DRIESCH 


'WEITE  VERBESSERTE  UND  ERWEITERTE  AUFLAGE 

DES   ERSTEN   HAUPTTEILS   DES   WERKES: 

„DER  VITALISMUS  ALS  GESCHICHTE 

UND  ALS   LEHRE" 


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LEIPZIG  •  VERLAG  VON  JOHANN  AMBROSIUS  BARTH 


NATUR-  UND   KULTURPHILOSOPHISCHE   BIBLIOTHEK 

BAND  III 


GESCHICHTE  DES 
VITALISMUS 

VON 

HANS  DRIESCH 


ZWEITE  VERBESSERTE  UND  ERWEITERTE  AUFLAGE 

DES   ERSTEN   HAUPTTEILS   DES   WERKES: 

„DER  VITALISMUS  ALS  GESCHICHTE 

UND  ALS  LEHRE" 


2  2 


LEIPZIG  •  VERLAG  VON  JOHANN  AMBROSIUS  BARTH 


Copyright  by 
Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig 

1922 


Druck  von  C.  G.Röder  G.m.b.H.,  Leipzig.    816022. 


' 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Als  die  Verlagsbuchhandlung  mich  zur  Übernahme 
eines  Bandes  der  „Natur-  und  kulturphilosophischen 
Bibliothek"  aufforderte,  sah  ich  darin  einen  willkom- 
menen Anlaß,  ein  lange  gehegtes  Vorhaben  zur  Aus- 
führung zu  bringen:  Die  ältere  vitalistische  Literatur 
gründlicher  und  nicht  nur  in  Bruchstücken  kennenzu- 
lernen, war  seit  längerem  meine  Absicht ;  hier  bot  sich  ein 
realer  Antrieb  zu  solchem  Studium  in  der  Gelegenheit, 
die  Früchte  desselben  zugleich  nutzbar  zu  machen  für 
weitere  Kreise.  Auch  war  es  mir  lieb,  einmal  die  Gesamt- 
heit meiner  Ansichten  über  das  Leben  in  systematischer 
Form  darstellen  zu  können  für  einen  Leserkreis,  welcher 
weiter  als  der  eigentlich  naturwissenschaftliche  ist. 

So  ist  denn  diese  „Geschichte"  und  diese  „Lehre" 
des  Vitalismus  entstanden. 

Durchaus  anspruchslos  treten  die  Ergebnisse  meiner 
historischen  Studien  auf  und  wünschen  auch  so  aufge- 
nommen zu  werden.  Ich  bin  kein  Historiker,  und  nichts 
liegt  diesem  Buche  ferner  als  die  Absicht  sachlich-ge- 
schichtlicher Vollständigkeit.  Meine  wissenschaftlichen 
Freunde  wundern  sich  vielleicht  überhaupt,  wie  gerade 
ich,  der  ich  über  historische  Elemente  in  den  eigentlichen 
Naturwissenschaften  stets  sehr  abweisend  geurteilt  habe 
—  und  noch  urteile  — ,  dazu  komme,  Geschichte  zu 
schreiben. 

Ich  denke  aber,  es  ist  denn  doch  wohl  eine  andere 
Sache  um  phantastische  „Stammbäume"  als  um  die  Er- 


XV  Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

kenntnis  dessen,  was  große  Männer  der  Vorzeit  über  die 
Fragen  gedacht  haben,  die  auch  unser  Leben  ausfüllen. 
Hier,  wie  in  vielen  Gebieten  der  Menschheitsgeschichte 
überhaupt,  bekommt  Historie  einen  ganz  unmittelbar  per- 
sönlichen Wert. 

Und  im  Sinne  des  mir  persönlich  Wertvollen  sind 
denn  auch  diese  geschichtlichen  Skizzen  geschrieben.  Um 
durchaus  unbefangen  zu  bleiben,  habe  ich  kein  einziges 
größeres  Kompendium  der  Geschichte  der  Medizin1)  bei 
meinen  Studien  benutzt.  Nur  der  kleine  historische  Ab- 
riß in  W.  Preyers  ,, Allgemeiner  Physiologie",  welcher 
übrigens  mit  Vorsicht  zu  benutzen  ist,  und  die  vortreff- 
lichen Aufsätze  von  W.  His:  „Die  Theorien  der  geschlecht- 
lichen Zeugung"  (Archiv  für  Anthropologie,  Bd.  IV  1870 
S.  197  und  317  und  Bd.  V  1872  S.  69)  dienten  mir  zur  all- 
gemeinen Orientierung.  Von  historischen  Sonderstudien 
ist  nur  die  im  Text  genannte  ausgezeichnete  Bonnet - 
Monographie  Whitmans  von  mir  benutzt  worden. 

Rudolf  Burckhardt  vor  allem  hat  in  jüngster  Zeit 
das  Interesse  an  Biologiegeschichte  neu  belebt;  seine  Ar- 
beiten gehen  aber  das  Klassifikatorische  und  im  engeren 
Sinne  Morphologische  an,  und  die  große  Monographie 
seines  Schülers  Bloch  behandelt  eine  Zeitepoche,  die 
ich  in  meinen  Studien  bewußt  ausschaltete. 

Von  Bedeutung  ist  es  immer,  wenn  namhafte  For- 
scher selbst,  sei  es  auch  nur  skizzenhaft,  sich  über  Ge- 
schichte ihrer  Wissenschaft  äußern:  in  diesem  Sinne 
findet  sich  vieles  Wertvolle  bei  Ha  11  er,  Blumenbach 
und  Burdach.  Die  historischen  Exkurse  in  Claude 
Bernards  „Lecons  sur  les  phenomenes  de  la  vie"  bieten 
eine  gute  Ergänzung  zu  meiner  Arbeit,  zumal  im  Hinblick 
auf  den  französischen  Vitalismus  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts und  sein  Gegenstück. 

x)  Die  Geschichte  der  Zoologie  von  V.  Carus  kam  nicht  in 
Frage,  da  sie  nur  auf  die  klassifikatorischen  und  deskriptiv- 
morphologischen Bestrebungen  Rücksicht  nimmt. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage.  V 

i 

So  sind  denn  also  vornehmlich,  ja  beinahe  lediglich, 
die  Originalia  unserer  Vorarbeiter  meine  Quellen  ge- 
wesen. — 

Soll  ich  zu  dem  besonderen  Inhalt  dieses  Buches 
etwas  Persönliches  bemerken,  so  mag  es  nur  dieses  sein, 
daß  die  Auseinandersetzung  mit  Kants  „Kritik  der  Ur- 
teilskraft" mir  mehr  als  alles  andere  am  Herzen  gelegen 
hat.  Ich  selbst  kann  nicht  beurteilen,  ob  der  Erfolg  der 
Bemühung  entspricht.  — 

Viel  Geschichte  treiben  mag  unproduktiv  machen, 
aber  keine  Geschichte  treiben  bedeutet  vieles  sagen,  was 
bereits,  und  wohl  gar  besser,  gesagt  war.  Zwar  kann 
Biologiegeschichte  nie  in  dem  Grade  die  Wissenschaft 
selbst  sein,  wie  Geschichte  der  Mechanik  das  ist;  aber 
ganz  und  gar  vom  Zufall  hängt  darum  doch  auch  sie  nicht 
ab :  auch  in  ihr  gibt  es  ein  Sich-selbst-vollenden  der  Grund- 
gedanken. Es  scheint  mir  in  diesem  Sinne  von  ganz  be- 
sonderer Bedeutung  zu  sein,  daß  klar  erkannt  werde,  wie  im 
großen  und  ganzen  der  ältere  Vitalismus  dieselbe  begriff- 
liche Entwicklung  nahm,  welche  unser  neuer  Vitalismus 
nehmen  muß.  Nur  sind  unsere  kritischen  Ansprüche  ge- 
wachsen und  ist  das  verarbeitete  Detail  jetzt  ein  anderes 
und  dazu  unermeßlich  reicher:  freilich  gestattet  gerade 
dieses  Detail  die  Beweise  des  neuen  Vitalismus. 

Heidelberg,  am  4.  Januar  1905. 

Hans  Driesch. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

Die  zweite  Auflage  meines  Buches  von  1905  mußte 
sich,  wie  die  Dinge  inzwischen  gegangen  waren,  auf  eine 
verbesserte,  in  manchem  erweiterte  und  bis  auf  die  Gegen- 
wart fortgeführte  Darstellung  der  Geschichte  des 
Vitalismus  beschränken,  konnte  also  nur  die  Neu- 
auflage des  „Ersten  Haupt  teils"  des  ursprünglichen 
Werkes  sein.  Hätte  ich  auch  den  zweiten,  den  systemati- 
schen Hauptteil  neu  auflegen  wollen,  so  hätte  ich  mich 
selbst  abschreiben  müssen;  denn  in  meiner  Schrift  vom 
Jahre  1919  Der  Begriff  der  organischen  Form  gab  ich  ein 
kurzes  System  des  Vitalismus  in  einer  Weise,  wie  sie  meinen 
heutigen  Anschauungen  entspricht.  Für  diejenigen  aber, 
welche  sachlich  tiefer  dringen  wollen,  ist  ja  die,  seit  1921 
in  teilweise  umgearbeiteter  zweiter  Auflage  vorliegende, 
Philosophie  des  Organischen  vorhanden. 

Ich  habe  die  Geschichte  des  Vitalismus  nach  der 
philosophischen  Seite  hin  erweitert.  Abschnitte  über 
Descartes,  Leibniz,  den  deutschen  Idealismus  sind  ein- 
geschoben; kurze  Abschnitte  freilich,  denn  mein  Buch 
will  in  erster  Linie  Wissenschaftsgeschichte  bringen, 
nicht  Philosophiegeschichte.  Das  Kapitel  über  Kant, 
schon  früher  das  längste,  wurde  noch  ausgebaut.  Die 
Hauptaufgabe  war  die  Fortführung  der  Geschichte  bis 
auf  die  Gegenwart.  Da  war  Auswahl  und  Klassifikation 
nicht  immer  ganz  leicht;  ich  hoffe,  daß  mir  beide  ge- 
glückt sind.  Vielleicht  wird  man  sagen,  ich  hätte  die 
ältere  Geschichte  des  Vitalismus  jetzt  breiter  fassen,  hätte 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage.  VII 

früher  nicht  genannte  Vertreter  heranziehen  sollen.  Aus 
zwei  Gründen  habe  ich  das  nicht  getan.  Einmal  wollte 
ich  auch  jetzt  kein  vollständiges  Geschichtswerk,  sondern 
nur  eine  historisch  gegründete  Typenlehre  schreiben;  und 
dann  haben  wir  ja  in  E.  Radis  ausgezeichneter  „Ge- 
schichte der  biologischen  Theorien"  das  Werk, 
welches  allen  Ansprüchen,  die  man  an  ein  eigentliches 
biotheoretisches  Geschichtswerk  stellen  kann,  genügt. 

Die  erste  Auflage  dieses  Buches  ist  ins  Polnische, 
Italienische,  Russische  und  Englische  übersetzt  worden. 
Nur  die  italienische  und  die  englische  Ausgabe  kenne  ich. 
In  beiden  ist  der  (jetzt  für  die  deutsche  Ausgabe,  wie  be- 
gründet wurde,  fortgefallene)  systematische  Teil  anders 
als  im  deutschen  Original  gestaltet  worden,  weil  ja  eben 
inzwischen  die  ,, Philosophie  des  Organischen"  erschienen 
war.  Für  die  italienische  Ausgabe  hat  der  Übersetzer, 
Professor  Stenta,  vieles  aus  diesem  Werke  auszugsweise 
benutzt ;  für  die  englische  Ausgabe  schrieb  ich  den  systema- 
tischen Teil  selbst  in  gänzlich  veränderter,  von  der  Logik, 
nicht  von  der  Empirie  ausgehender  Form  neu  nieder. 
Für  den  deutschen  Leser  konnte  dieser  Teil,  wie  gesagt, 
jetzt  ganz  fortbleiben;  der  Ausgang  von  der  Logik  findet 
sich  nämlich  auch  in  gewissen  Teilen  meiner  eingangs 
erwähnten  systematischen  Werke. 

Mein  Dank  gebührt  dem  Herrn  Verleger  für  die  große 
Bereitwilligkeit,  mit  der  er  sich  zur  Herausgabe  dieser 
zweiten  Auflage  meines  jetzt  also  rein  historischen 
Werkes  bereit  fand. 

Leipzig,  am  15.  Januar    1922. 

Hans  Driesch. 


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Inhalt. 

Seite 

Kritische  Vorbemerkung:  Die  Arten  des  Zweckmäßigen      .  1 

I.  Der  ältere  Vitalismus 8 

A.  Aristoteles 8 

B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philo- 
sophie.   —   Harvey.    —    G.  E.  Stahl 19 

Harvey 23 

Georg  Ernst  Stahl 27 

C.  Vitalistische  Lehren  im  Gefolge  des  Strei- 
tes  um    „Evolution"   und    „Epigenesis"   .    .  33 

Leibniz 35 

Buffon,  Needham,  Maupertuis 39 

Kaspar  Friedrich  Wolff 43 

Bonnet,  Haller 48 

Blumenbach 55 

D.  Kants    Kritilf  der    Urteilskraft 62 

E.  Vitalismus     im     Gefolge     der     Naturphilo- 
sophie      87 

Die  „idealistische"  Philosophie      90 

Oken 92 

Reil 94 

Treviranus 96 

Der  schulmäßige  Vitalismus 103 

Johannes  Müller 110 

Liebig  .    .    .    . '. 114 

Schopenhauer 117 

Des  älteren  Vitalismus  Ende 120 

II.  Die  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion       ...  122 

Lotze 123 

Bernard 128 

Die  materialistisch-darwinistische  Zeitströmung  ...  132 

Ausblick  auf  Psychologisches 142 


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X  Inhalt. 

Seite 

III.  Der  neuere  Vitalismus 144 

A.  Die    Tradition 144 

B.  Die    Stellung    der   Philosophie 153 

Eduard  von  Hartmann 153 

Andere  Philosophen 156 

Psychologen 157 

Edmund  Montgomery 159 

C.  Antidarwinistische  Deszendenztheoretiker  162 

D.  Die    Stellung    der    Physiker 164 

IV.  Der  „Neovitalismus" :    .  167 

A.  Grundlegungen 167 

B.  Vitalistische    Systeme 178 

a)  Henri  Bergson 178 

b)  Mein  eigenes  System 180 

C.  Gegner 183 

a)  Philosophen 183 

b)  Naturforseher     .    .    .    . 187 

cc)  Radikale  Gegner      . 187 

ß)   Gegner  mit  Zugeständnissen,  zum  mindesten 

an  eine  Bedeutung  des  Teleologischen  ...  189 

D.  Verschiedene  Formen  des  Neovitalismus  .  192 

E.  Der  Ausbau  des  vitalistischen  Systems  .    .  198 

a)  Neue  Tatsachen  zur  Grundlegung 198 

b)  Logischer  Ausbau 200 

c)  J.  v.  Uexküll 205 

F.  Die   moderne    Psychologie 206 

G.Ausblicke      208 


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Kritische  Vorbemerkung: 

Die  Arten  des  Zweckmäßigen. 

Nicht  die  Frage,  ob  Lebensvorgänge  das  Beiwort 
„zweckmäßig"  verdienen,  macht  das  Problem  des  ,, Vita- 
lismus" aus,  sondern  diese  Frage:  ob  das  Zweckmäßige 
oder  besser  das  Ganzheitsbezogene  an  ihnen  einer  besonderen 
Konstellation  von  Faktoren  entspringe,  welche  aus 
den  Wissenschaften  vom  Anorganischen  bekannt  sind, 
oder  ob  es  Ausfluß  ihrer  Eigengesetzlichkeit  sei. 

Denn  daß  es  vieles  „Zweckmäßige",  vieles  auf  eine 
Ganzheit  bezogene  an  Lebensgeschehnissen  gibt,  ist  nichts 
anderes  als  eine  Tatsache,  die  sich  ohne  weiteres  aus 
der  Definition  jenes  Begriffs  und  aus  der  Anwendung 
dieser  Definition  auf  das  Lebendige  ergibt. 

Im  Sprachgebrauch  des  täglichen  Lebens  werden  als 
zweckmäßig  solche  Handlungen  bezeichnet,  welche  er- 
fahrungsgemäß ein  bestimmtes  gewolltes  Ziel  mittelbar 
oder  unmittelbar  herbeiführen,  oder  von  denen  man  das 
wenigstens  annimmt.  In  letzterem  Falle  —  dem  Falle 
des  ,,Probierens"  —  kann  in  Strenge  erst  nach  Erreichung 
des  Zieles  davon  geredet  werden,  daß  diese  oder  jene  Hand- 
lung zweckmäßig  gewesen  sei,  woraus  sich  dann  aller- 
dings für  die  Zukunft  unter  gleichen  Umständen  ein  von 
Anfang  an  zweckmäßiges  Handeln  ergibt. 

Ich  beurteile  alle  Zweckmäßigkeit  von  Handlungen 
von  mir  aus;  das  heißt:  ich  weiß  für  mich,  wann  meine 
Handlungen  das  Prädikat  zweckmäßig  verdienen,  da  ich 
meine   Ziele   kenne;   davon   gehe   ich   aus.     Handlungen 

Driesch,  Vitalismus.    2.  Aufl.  1 


2  Kritische  Vorbemerkung:  Die  Arten  des  Zweckmäßigen. 

anderer  Menschen  benenne  ich  mit  jenem  Worte,  wenn  ich 
ihr  Ziel  „verstehe",  das  heißt,  wenn  ich  mir  denken  kann, 
daß  es  mein  eigenes  sein  könne,  und  wenn  ich  sie  mit 
Rücksicht  auf  dieses  Ziel  beurteile. 

Nun  beschränke  ich  aber  die  Anwendung  des  Wortes 
zweckmäßig  nicht  auf  die  Handlungen  anderer  Menschen, 
sondern  dehne  sie,  schon  im  alltäglichen  Leben,  nach 
zwei  Richtungen  hin  aus,  und  aus  dieser  Ausdehnung 
entspringt  einmal  die  Anwendung  des  Wortes  zweck- 
mäßig auf  Biologisches  überhaupt,  zum  anderen  entspringt 
aus  ihr  auch  schon  das  biologische  Grundproblem. 

Ich  nenne  zweckmäßig  sehr  vieles  an  den  Bewegungen 
der  Tiere,  und  zwar  nicht  nur  solche  Bewegungen  gewisser 
höherer  Tiere,  welche  geradezu  „Handlungen"  benannt  wer- 
den, sondern  auch  solche  Bewegungsgruppen,  welche  ihrer 
festeren  Geschlossenheit  wegen  nicht  als  Handlungen,  son- 
dern als  „Instinkte",  „Reflexe"  oder  ähnlich  bezeichnet  zu 
werden  pflegen.  Von  da  bis  zu  den  Bewegungen  der  Pflan- 
zen, etwa  gegen  das  Licht  hin  oder  vom  Licht  ab,  ist  nur  ein 
Schritt,  und  nur  noch  einen  Schritt  weiter  bedeutet  es,  wenn 
„zweckmäßig"  auch  die  Wachstumsbewegungen  genannt 
werden,  welche  in  typischer  Folge  aus  den  Keimen  die  aus- 
gewachsenen Organismen  der  Tiere  und  Pflanzen  schaffen. 

So  sind  denn  also  schließlich  alle  Geschehnisse  an 
lebenden  Wesen,  welche  nachweislich  auf  einen  Punkt 
zulaufen,  der  in  irgendeinem  Sinne  als  „Ziel",  als  zu- 
sammengesetztes Ganzes  gedacht  werden  kann,  dem 
rein  deskriptiven  Begriffe  der  „Zweckmäßigkeit"  unter- 
stellt worden.  Es  ist  nach  allem  Ausgeführten  begreiflich, 
daß  eine  gewisse  Willkür  bei  der  Bezeichnung  eines  Ge- 
schehnisses als  eines  „Zweckmäßigen"  unvermeidbar  ist': 
wird  doch  durchaus  analogienhaft  hier  vorgegangen.  Doch 
schadet  diese  Willkür  nicht  viel,  da  ja,  um  das  noch  ein- 
mal zu  sagen,  nur  eine  Art  von  orientierender  Be- 
schreibung mit  jener  Bezeichnung  beabsichtigt  ist,  noch 
nichts  weiter. 


Kritische  Vorbemerkung:  Die  Arten  des  Zweckmäßigen.  3 

Ein  Ziel  oder,  objektiver  gesprochen,  ein  Endganzes 
müsse  für  den  als  zweckmäßig  bezeichneten  Vorgang  ge- 
dacht werden  können,  so  sagten  wir:  eben  damit  ist  nun 
der  Begriff  des  Zweckmäßigen  zwar  auf  sehr  viele  Vor- 
gänge der  verschiedensten  Art  ausgedehnt,  andererseits 
aber  auch  auf  das  Organische  eingeschränkt  worden, 
wenigstens  soweit  sogenannte  Naturdinge  in  Betracht 
kommen :  jene  mehr  oder  weniger  der  Willkür  preisgegebene 
Denkbarkeit  eines  Zieles  gibt  es  eben  nur  bei  Organismen. 
Es  ist  das  u.  a.  wesentlich  darin  begründet,  daß  zum  Be- 
griffe der  Beziehung  eines  Geschehnisses  auf  ein  reales  Ziel 
neben  seinem  Eingeordnetsein  in  ein  typisch-zusammen- 
gesetztes Ganze  praktisch  auch  sein  Auftreten  in  beliebig 
vielen  Fällen  oder  Exemplaren,  kurz  seine  Mehrmalig- 
keit in  ideell  unbegrenztem  Maße  gehört,  und  zwar  seine 
typische  Mehrmaligkeit,  ein  Postulat,  das  eben  bei  den 
organischen  Natur  dingen   und  nur   bei  ihnen  erfüllt  ist. 

Sehr  viele  biologische  Vorgänge  können  also  analogien- 
haft  als  ,, zweckmäßige"  beschreibend  gekennzeichnet 
werden. 

Es  werden  nun  aber  als  zweckmäßig  beschreibend 
bezeichnet  auch  Vorgänge  an  gewissen  nicht  organischen 
Dingen,  welche  freilich  keine  Natur  dinge  engeren  Sinnes 
sind  —  insofern  nämlich  hier  überhaupt  von  einem  Gegen- 
satz zu  ,, Natur"  in  nicht  gerade  strenger,  aber  verständ- 
licher Form  geredet  werden  kann  —  nämlich  Vorgänge 
an  von  Menschen  gefertigten  Artefakten,  z.  B. 
Maschinen.  Hier  Hegt  die  zweite  Erweiterung  des  Be- 
griffs zweckmäßig,  von  der  wir  redeten,  und  hier  liegt  zu- 
gleich der  Ausgang  der  Aufrollung  des  biologischen  Grund- 
problems. 

Ich  halte  es  nicht  für  geraten,  die  ,, Maschinen"  als 
Dinge  „zweckmäßig"  zu  nennen:  für  Vorgänge  muß 
diese  deskriptive  analogienhafte  Bezeichnung  aufgespart 
bleiben;  aber  jedes  Einzelgeschehnis  an  einer  Maschine 
ist  „zweckmäßig". 

1* 


4  Kritische  Vorbemerkung:  Die  Arten  des  Zweckmäßigen. 

„Praktisch"  mag  die  Maschine  als  Ganzes  heißen;  sie 
ist  das  Ergebnis  zweckmäßiger  Tätigkeit,  nämlich  mensch- 
licher Handlung;  daß  sie  eben  für  Vorgänge  da  ist,  das 
unterscheidet  sie  von  anderen  menschlichen  Artefakten, 
z.  B.  von  Kunstwerken. 

Also  auch  anorganische  Dinge,  nämlich  von  Menschen 
gefertigte,  können  Vorgänge  aufweisen,  welche  das  Prä- 
dikat der  Zweckmäßigkeit  verdienen.  Es  ist  klar,  daß  hier 
die  Zweckmäßigkeit  jedes  einzelnen  Vorganges  auf  der 
spezifischen  Ordnung  der  spezifischen  Teile  der  Maschine 
beruht,  daß  sie  durch  diese  gegeben  ist;  anders  gesagt: 
jeder  einzelne  Vorgang  in  der  Maschine  ist  nur  zweck- 
mäßig, insofern  er  sich  als  Glied  eines  höheren  spezi- 
fischen Ganzen  abspielt,  und  er  tut  das  vermöge  der  ge- 
gebenen Struktur  oder  Tektonik  dieses  Ganzen. 

Unsere  Betrachtungen  haben  uns  jetzt  zu  dem 
Punkte  geführt,  an  dem  dasjenige  Problem,  welches  wir 
das  biologische  Grundproblem  genannt  haben,  in  unseren 
Gesichtskreis  tritt.  Eine  ganz  prinzipielle  Frage  drängt 
sich  uns  auf:  Sind  etwa  die  als  zweckmäßig  be- 
zeichneten Vorgänge  an  Organismen  zweckmäßig 
nur  vermöge  einer  gegebenen  Struktur  oder  Tek- 
tonik, einer  „Maschinerie"  also  im  weitesten 
,  Sinne,  auf  welcher  als  Basis  sie  sich  abspielen, 
ebenso  wie  ja  nur  in  diesem  Sinne  die  Vorgänge 
an  einer  von  Menschen  gefertigten  Maschine 
zweckmäßig  sind;  oder  liegt  eine  andere  beson- 
dere Art  des  Zweckmäßigen  im  Bereiche  des 
organischen  Lebens  vor? 

Man  sieht:  erst  jetzt  soll  etwas  über  endgültige  Ge- 
setzlichkeit des  Geschehens  entschieden  werden,  bis- 
her wurde  nur  in  mehr  äußerlicher  Weise  analogienhaft 
beschrieben. 

Denn  es  kann  gar  nicht  oft  genug  wiederholt  werden, 
daß  bloße  Behauptung  von  Zweckmäßigkeit,  bloße  „Teleo  - 
logie"  also,  um  nunmehr  den  üblichen  Kunstausdruck 


Kritische  Vorbemerkung:  Die  Arten  des  Zweckmäßigen.  5 

einzuführen,  nur  beschreibt.  Ausdrücklich  als  deskrip- 
tiv-teleologisch  mag  daher  in  diesem  ganzen  Buche 
jede  bloß  über  das  Dasein  von  Zweckmäßigkeiten  aus- 
sagende Ansicht  bezeichnet  werden.  Deskriptive  Telo- 
logie  läßt  das  wichtigste  noch  offen,  für  das  Lebendige 
insbesondere  diese  Frage:  sind  nur  vermöge  ihrer  ge- 
gebenen Ordnung  die  Lebensvorgänge  ,, teleologisch"  zu 
beurteilen,  nur  weil  ihnen  eine  gegebene  Maschine  zu- 
grunde liegt,  während  jeder  einzelne  von  ihnen  ein  echter 
physikalischer  oder  chemischer  Vorgang  ist,  oder  sind 
Lebensvorgänge  kraft  einer  unauflösbaren  Eigengesetz- 
lichkeit „zweckmäßig". 

Als  statische  und  als  dynamische  Teleologie 
seien  diese  Gegensätze  in  Zukunft  im  Unterschiede  von 
bloß  deskriptiver  Teleologie  bezeichnet;  wer  will,  mag 
auch  von  vorgebildeter  und  nichtvorgebildeter  Zweck- 
mäßigkeit bzw.  Ganzheitsbezogenheit  reden. 

Die  statische  Teleologie  führt  zu  einer  „Maschinen- 
theorie der  Organismen";  Lebensgeschehen  und  seine 
Ordnung  ist  ihr  nur  ein  besonderer  Fall  der  auch  sonst 
maßgebenden  Geschehensgesetzlichkeiten  und  der  allge- 
meinen Ordnung  der  Welt ;  die  Konstellation  aller  einzelnen 
Weltelemente  ist  einmal  so,  daß  auch  die  als  ,, Leben" 
zusammengefaßten  Vorgänge  dabei  herauskommen.  Das 
Leben  ist  dieser  Auffassung  nur  als  Kombination,  nicht 
seiner  Gesetzlichkeit  nach  etwas  Besonderes.  Die  Frage, 
„woher"  die  gegebene  Ordnung  komme,  mit  welcher 
statische  Teleologie  operiert,  ist  unlösbar;  eben  diese 
Umstandes  wegen  erscheint  die  Lebensmaschine  denn 
doch  als  etwas  anderes  wie  technische  Maschinen,  deren 
Herkunft  man  kennt,  mag  die  Art  der  Zweckmäßigkeit 
des  Geschehens,  an  beiden,  nach  Ansicht  der  teleologischen 
Statiker,  die  gleiche  sein. 

Die  dynamische  Teleologie  führt  zu  dem,  was  meist 
„Vitalismus"  genannt  wird;  sie  führt  zur  Einsicht  in 
die  „Autonomie  der  Lebensvorgänge". 


6  Kritische  Vorbemerkung:  Die  Arten  des  Zweckmäßigen. 

Welche  beider  Auffassungen  vom  Leben  ist  richtig, 
welche  falsch  ? 

Wie  frühere  Zeiten  diese  Frage  entschieden  haben, 
das  darzustellen  ist  der  Zweck  dieses  Buches,  und  auf 
solche  Darstellung  vorzubereiten,  war  der  Zweck  dieser 
Einleitung. 

Wir  haben  nämlich  mit  dem  Ergebnis  dieser  Ein- 
leitung, mit  der  Einsicht  nämlich,  daß  es  eine  statische 
und  eine  dynamische  Teleologie  logisch  geben  könne, 
gleichsam  ein  Reagens  in  Händen,  ein  Mittel,  mit  welchem 
wir  jeden  historisch  dargebotenen  Ansichtenkomplex 
prüfen  können  daraufhin,  was  er  denn  eigentlich  bedeute, 
und  solches  selbst  dann,  wenn  einem  Autor  selbst,  was 
nicht  selten  vorkommt,  die  Begriffe  deskriptiv-,  statisch- 
und  dynamisch-teleologisch  nichts  weniger  als  geklärt 
waren. 

Zur  Erleichterung  der  historischen  Analyse  und  da- 
mit zur  Erleichterung  des  Verständnisses  überhaupt  ist 
also  diese  logische  Eingangsbetrachtung  allem  voran- 
gestellt worden;  sie  soll  durchaus  etwas  Vorläufiges,  nicht 
etwa  unsere  letzte  Ansicht  über  „Zweckmäßigkeit",  be- 
deuten. — 

Wenn  wir  uns  nunmehr  der  Betrachtung  der  Ent- 
wicklung des  älteren  Vitalismus  zuwenden,  so  darf  wohl 
ein  für  allemal  bemerkt  sein,  daß  unserer  Betrachtung 
wemger  am  Persönlichen  als,  wenn  das  Wort  erlaubt  ist, 
am  Ansichtstypischen  gelegen  ist,  daß  sie  daher  auf 
Vollständigkeit  im  Sinne  wahrhafter  „Geschichte"  enge- 
ren Sinnes  kein  Gewicht,  auf  passende  Auswahl  des  Ge- 
botenen dagegen  einen  um  so  größeren  Nachdruck  legt. 

Wenn,  trotz  unserer  Absicht  auf  Typisches,  ein  nicht 
nur  historischer,  sondern  gleichzeitig  logisch  fortent- 
wickelnder Charakter,  wie  er  in  bekannten  Geschichten 
der  Mechanik  oder  der  Wärmelehre  geboten  ward,  unserer 
Darstellung  unerreichbar  bleibt,  so  wird  solchen  Mangel 
wohl  nur  tadeln  können,  wer  die  sachlichen  Sonderheiten 


Kritische  Vorbemerkung :  Die  Arten  des  Zweckmäßigen.  7 

der  in  Frage  kommenden  Gebiete  nicht  kennt.  Die 
Mechanik  ist,  wenigstens  soweit  ihre  „ Prinzipien"  in  Frage 
kommen,  eine  zum  großen  Teil  aprioristische,  „selbst- 
evidente" Wissenschaft,  und  von  wichtigen  Teilen  der 
Physik,  der  „Thermodynamik"  zumal,  gilt  das  gleiche; 
hier  ist  Entdeckung  gewissermaßen  nur  Selbstklärung, 
Zufälligkeiten  spielen  wenig,  bei  den  grundlegenden  Prin- 
zipien fast  gar  nicht,  in  die  geschichtliche  Entwicklung  der 
Einsichten  hinein.  Die  Biologie  andererseits  ist  in  ihrem 
Fortschritt  in  hohem  Grade  von  Zufälligkeiten,  von  „Ent- 
deckungen" engeren  Sinnes  abhängig,  und  wenn  ihre  Ge- 
schichte auch  nicht  nur  aus  solchen  besteht,  so  sind  die- 
selben doch  geeignet,  das  eigentlich  Logische  an  ihrem 
Fortschreiten  zum  mindestens  zu  verschleiern. 


I.  Der  ältere  Vitalismus. 

A.  Aristoteles 

Einer  auf  das  Typische  gehenden  Geschichtsdarstel- 
lung des  Vitalismus  kann  Aristoteles  als  Vertreter  des 
Altertums  überhaupt  gelten.  Zugleich  aber  sind  seine 
Ansichten  über  biologische  Dinge  die  Grundlage  alles 
Theoretisierens  bis  ins  achtzehnte  Jahrhundert  hinein,  so 
daß  er  mit  vollem  Recht  auch  als  Vertreter  der  mittel- 
alterlichen und  der  frühmodernen  Auffassungen  des  Leben- 
digen gelten  kann.  Darum  ist  die  Analyse  der  aristote- 
lischen Lebenstheorie  einer  der  Grundpfeiler  jeder  Ge- 
schichtsschreibung über  Biologie. 

Für  unsere  Zwecke  kommen  neben  einigen  Abschnitten 
der  „Metaphysik"  Teile  der  Schrift  „Über  die  Entstehung 
der  Tiere"  und  die  Schrift  „Über  die  Seele"  in  Betracht1). 
Wir  werden  die  in  dem  von  der  Entstehung  der  Tiere 
handelnden  Werke  niedergelegten  theoretischen  Ansichten 
zuerst  analysieren,  um  uns  dann,  nachdem  wir  gesehen 
haben  werden,  wie  Aristoteles  hier  alles  auf  Leistungen 
der  „Seele"  zurückführt,  den  tiefer  dringenden  Dar- 
legungen des  zuletzt  genannten  Buches  zuzuwenden.  , 

Es  ist  von  hohem  Interesse,  zu  gewahren,  wie  schon 
der  erste  Vertreter  eines  wissenschaftlichen  „Vitalismus" 
seinen  Ausgang  von  den  Problemen  der  Formbildung, 


*)  „Von  der  Zeugung  und  Entwicklung  der  Tiere"  (Ilepi  Zwwv 
TeveaEwO,  Griechisch-deutsche  Ausgabe  von  Aubert  und  Wimmer. 
Leipzig  1860.  —  „Drei  Bücher  über  die  Seele"  (ITspt  <jA>yjiO- 
Deutsch  von  Kirchmann.     Berlin   1871. 


A.  Aristoteles.  9 

der  Embryologie  oder  Ontogenie  in  moderner  Sprechweise, 
nimmt.  Schon  hier  ist  Aristoteles  typisch,  und  zwar 
ist  er  hier  nicht  nur  ein  typischer  Vertreter  des  Altertums 
und  des  Mittelalters,  sondern  auch  ein  typischer  Vor- 
läufer jeder  vitalistischen  Theorie  bis  in  die  aller  jüngste 
Zeit:  neben  den  Phänomenen  der  tierischen  koordinierten 
Bewegungen  sind  stets  die  Erscheinungen  der  Form- 
bildung aus  dem  Keim  der  Urausgang  alles  Vitalismus 
gewesen.  — 

Männchen  und  Weibchen  tragen  beide,  aber  in  ver- 
schiedener Weise,  zur  Zeugung  bei,  indem  beide  Samen 
(a:i£p{j.a)  ausscheiden.  Aber  die  weibliche  Ausscheidung, 
als  welche  Aristoteles  den  Monatsfluß  deutet,  liefert 
nur  den  Stoff  (6Xvj)  zur  Erzeugung,  die  männliche  be- 
dingt die  Form  und  den  Ursprung1)  der  Veränderung; 
man  sieht:  den  beiden  grundlegendsten  Begriffen  des 
Stagiriten  begegnen  wir,  in  besonderer  Ausgestaltung, 
auch  hier. 

Vom  ganzen  Körper  her,  wie  behauptet  worden  war, 
braucht  der  Same  nicht  zu  kommen,  denn  „warum  kann 
nicht  der  Same  von  Haus  aus  so  beschaffen  sein,  daß  aus 
ihm  Blut  und  Fleisch  werden  kann,  ohne  daß  er  selbst  Blut 
und  Fleisch  zu  sein  braucht?"  Die  Mischung  der  männ- 
lichen und  weiblichen  Ausscheidung  ergibt  den  Keim 
(xuT||Jta);  die  Sonderung  der  Keime  in  Eier  (<J>ov)  und 
Würmer  (gxoAyjS),  je  nachdem  das  Junge  aus  einem  Teil 
oder  aus  dem .  Ganzen  des  Keimes  entsteht,  wobei  denn 
im  ersteren  Fall  der  Rest  als  Nahrung  diene,  hat  für  uns 
hier  kein  tieferes  Interesse. 

Welche  Rolle  spielt  nun  im  einzelnen  der  männliche 
Same   bei   der   Entwicklung,   jenes    „Höhere   und    Gött- 


x)  £180?  y.cu  apyr,  vt\$  xiv^asw?.  Das  Wort  xtvr)at?  bedeutet 
bei  A.  nicht  nur  Ortsbewegung,  sondern  ist  viel  allgemeiner; 
Ähnliches  gilt  von  ap^t),  das  nicht  nur  den  zeitlichen  Anfang 
bedeutet. 


10  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

« 

lichere"  (ßsXxtov  xat  d-s'.oxspov),  das  sich  nicht  irgendwie 
stofflich  an  ihr  beteiligt  ? 

Hier  beginnt  des  Aristoteles  Entwicklungs- 
theorie. — 

Eine  klare  Fragestellung  leitet  sie  ein: 

„ Dieser  Punkt  nun  fordert  eine  genauere  Unter- 
suchung, auf  welche  Art  denn  eine  jede  Pflanze  oder  jedes 
Tier  aus  dem  Samen  entsteht.  Denn  notwendig  muß 
jedes  Entstehende  aus  Etwas  entstehen  und  durch  Etwas 
und  als  Etwas  (sx  v.voc,  xai  uno  v.voq  xai  ti)".  Das,  woraus 
es  entsteht,  ist  der  von  der  Mutter  gelieferte  Stoff. 
,,Es  handelt  sich  aber  hier  nicht  sowohl  darum  aus  was, 
sondern  durch  was  die  Teile  entstehen." 

Daß  nun  dieser  maßgebende  Faktor,  durch  den  die 
Teile  entstehen,  etwas  außerhalb  des  Samens  Befindliches 
sei,  wird  als  widersinnig  abgelehnt;  also  liegt  er  in  ihm, 
und  zwar  nicht  als  etwas  von  ihm  Gesondertes,  sondern 
als  ein  wahrer  Teil  von  ihm  selbst,  der  auch  in  das  Junge 
als  Teil  desselben  übergeht. 

Aristoteles  weiß  durch  mannigfache  Beobachtungen, 
daß  die  embryonalen  Teile  nicht  alle  zugleich  da  sind, 
sondern  sichtbarlich  nacheinander  entstehen:  er  ist  also, 
um  modern  zu  reden,  deskriptiver  „Epigenetiker".  Wie 
entstehen  diese  Teile  nun  ? :  ,, bildet  der  eine  den  anderen, 
oder  entstehen  sie  nur  schlechthin  nacheinander  ?"  Unser 
Forscher  entscheidet  diese  etwas  dunkle  Frage  kurzerhand 
dahin,  daß  nicht  etwa  das  Herz,  welches  der  erste  sicht- 
bare Teil  des  Embryos  sei,  die  Leber  mache,  und  diese 
wieder  einen  anderen  Teil,  „sondern  der  eine  Teil  wird 
nach  dem  anderen,  wie  nach  dem  Knaben  der  Mann 
kommt,  aber  nicht  durch  jenen  entsteht".  Denn  im 
anderen  Falle  müsse  ja,  ganz  abgesehen  davon,  daß  es 
an  einem  Grund  für  die  Entstehung  des  Herzens  fehlen 
würde,  Art  und  Gestalt  der  Leber  im  Herzen  sein:  ,,In 
allem  nämlich,  was  durch  die  Natur  oder  durch  die  Kunst 
hervorgebracht  wird,  entsteht  ein  der  Möglichkeit  nach 


A.  Aristoteles.  11 

Seiendes   (b'jva\i.zi  ov)   durch   ein  in  Wirklichkeit   Seiendes 
(svtsXsysta  öv)". 

Hier  wird  uns  das  zweite  grundlegende  Begriffspaar 
der  aristotelischen  Philosophie,  werden  uns  die  Begriffe 
Dynamis  und  Entelechie  in  embryologischem  Rahmen 
vorgeführt.  Wir  sind  also  mit  einem  Male  auf  Grund- 
probleme, aber  auch  auf  Grundschwierigkeiten  der  aristote- 
lischen Philosophie  überhaupt  gekommen  und  müssen  da- 
her unsere  fortschreitende  biologische  Darstellung  kurz 
unterbrechen : 

Es  handelte  sich  früher  um  Stoff  und  Form  und  handelt 
sich  jetzt  um  Möglichkeit  und  Wirklichkeit:  Hyle  und  Eidos, 
Dynamis  und  Entelechie.  Dynamis  bedeutet  nun  bei  Aristo- 
teles nicht  das,  was  in  neuerer  Sprache  in  Begriffen  wie 
Potential  oder  potentielle  Energie  zum  Ausdruck  kommt, 
wenigstens  nicht  nur  und  jedenfalls  hier,  an  der  von  uns 
herangezogenen  Stelle,  nicht.  Der  Begriff  der  Dynamis 
ist  viel  weiter:  er  umfaßt  die  Möglichkeit,  etwas  zu 
erleiden  (öuvajitc;  xoo  xad-siv).  Der  „Dynamis"  nach  ist 
auch  im  Marmorblock  die  Statue  enthalten,  ja  gerade 
dieser  Sinn  des  Wortes  ist  es,  an  den  Aristoteles,  wie 
sich  noch  zeigen  wird,  an  unserer  Stelle  ausschließlich 
denkt.  Entelechie  aber  ist  das  im  höchsten  Sinne  „Seiende" 
einschließlich  des  ihm  innewohnenden  Strebens  nach  realer 
Ausgestaltung:  in  diesem  Sinne  „ist"  die  Statue  vor  ihrer 
Realisation  im  Geiste  des  Bildhauers.  Man  sieht,  daß  eher 
noch  als  der  Begriff  der  Dynamis  derjenige  der  Entelechie 
dem  modernen  Begriff  des  Potentiellen  entspricht,  obschon 
auch  nicht  völlig.  Aristotelisch  gesprochen,  kann  man  die 
Entelechie  am  besten  als  dynamisch,  als  „sich  äußernd" 
oder  doch  „sich  äußern  könnend"  gedachte  „Form" 
(vüoq,)  bezeichnen. 

Doch  liegen  tiefere  logische  Untersuchungen  uns  liier 
ja  fern,  und  so  fahren  wir  denn  in  der  Darstellung  fort: 

Es  liegt  eine  offenbare  Schwierigkeit  darin  begründet, 
daß,  wie  erörtert,  nicht  ein  Teil  des  werdenden  Körpers 


12  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

die  Entstehung  des  anderen  bedingen  soll,  denn  damit  ist 
eigentlich  gesagt,  daß  der  Grund  für  die  Differenzierung 
der  Teile,  um  kurz  zu  sprechen,  nicht  im  Samen  gelegen 
sei;  sollte  ja  doch  der  Samen  als  wahrer  Teil  des  werdenden 
Körpers  angesehen  werden.  Es  war  aber  früher  auch  ge- 
sagt, daß  dieser  Grund  nicht  außerhalb  des  Samens 
liegen  könne. 

Wie  löst  sich  dieser  Knoten  % 

Er  löst  sich  wohl  dadurch,  daß  unter  gewissen 
Umständen  doch  ,, Etwas  durch  ein  außer  ihm  Seiendes" 
entstehen  kann. 

Und  nun  bringt  Aristoteles  in  viel  allgemeinerer 
Form  als  früher  jenes  Geschehenschema  wieder  hervor, 
welches  er  für  den  besonderen  Fall  des  Entstehens  eines 
Organs  aus  dem  anderen,  also  etwa  der  Leber  aus  dem 
Herzen,  nicht  als  anwendbar  erachtete:  „es  gibt  etwas,  was 
die  Teile  bildet,  aber  nicht  in  der  Art,  daß  es  ein  indivi- 
duelles Wesen  wäre,  oder  als  der  erste  vollendete  Teil  in 
ihm  vorhanden  wäre"1),  vielmehr  ist  die  Formbildung  als 
Ganzes  nach  Art  der  Kunstschöpfungen  zu  beurteilen: 

„Wie  aber  jeder  Teil  entsteht,  muß  man  aus  dem 
Grundsatze  herleiten,  daß  alles,  was  von  Natur  oder  durch 
Kunst  wird,  durch  ein  in  Wirklichkeit  Existierendes 
(6tc  ev£p"]f£K|L2)  ovtoc;)  aus  einem  der  Anlage  nach  (^uvajxst) 
ebenso  Beschaffenen  entsteht.  Der  Same  nun  ist  ein 
solches  Wesen,  und  hat  ein  solches  Bewegungsprinzip, 
daß,  wenn  der  Anstoß  der  Bewegung  aufhört,  ein  jeder 
Teil,  und  zwar  als  beseelter  wird3)." 

Das  also  ist  die  Grundlehre  der  aristotelischen 
Entwicklungstheorie.     Die   Ansicht,    daß   und   wie   jeder 


x)  Die  Übersetzung  erscheint  hier  wenig  zutreffend;  das 
Original  lautet:  ,,6xi  |o.ev  ouv  lau  ti  6  Ttoiei.  outw?  8s  &<;  toSs  w,  ou8' 
evurcap/ov  w?  T£T£teatj(.£vov  xo  Tipwxov,  8t)>.ov." 

a)  evepyeta  und  evxeXs/eia  sind  nahezu  identisch. 

3)    To   [i.£v   ouv  arcepfxa  xotouxov  xai   s/ei    xivrjuiv    xat    ap^Yjv  xoiauxYjv, 

MGT£    7T0CUO[Jl£VT}C    XTjC    XtVT)ff£CO?    vivSfffrotl    EXOtOTOV    TCOV    {JtOptCÖV    XOtl    SJJt<]jU£0V. 


A.  Aristoteles.  13 

organische  Teil  beseelt  sei,  daß  also  z.  B.  ein  totes  Auge 
nur  noch  uneigentlich  so  genannt  werde,  tritt  zunächst 
zurück  gegen  die  Hauptsache:  Der  Same  bildet  den 
Körper  durch  eine  Art  von  Beseelung  aus  dem 
von  der  Mutter  gelieferten  Stoffe,  und  er  tut 
das  kraft  eines  besonderen  ,,Form"-Prinzips;  dieses 
Prinzip  nun  hat  er  von  einem  anderen,  dem  wahren  ,,in 
Wirklichkeit  Existierenden"  her;  er  spielt  also  eine  Art 
Mittlerrolle.  Das  ,,in  Wirklichkeit  Seiende",  von  dem 
alles  ausgeht,  aber  ist  der  Erzeugende  oder  vielmehr 
dessen  Seele. 

Eine  Lücke  im  Text  schneidet  hier  die  weitere  Dar- 
legung ab;  das  Wesentliche  lag  wohl  schon  vor. 

Alle  Entwicklung  hat  also  die  größte  Ähnlichkeit  mit 
der  Produktion  von  Kunstwerken;  Aristoteles  kommt 
immer  wieder  auf  dieses  Gleichnis.  Interessant  ist  zu  be- 
merken, wie  er  dem  Anteil  der  unbelebten  Faktoren  so- 
wohl an  Entwicklung  wie  an  Kunstproduktion  durchaus 
zutreffend  gerecht  wird:  Härte,  Weichheit  und  anderes 
könne  wohl  Wärme  oder  Kälte  bewirken,  aber  nicht  die 
„Wesenheit"  (xov  >.ofov)  z.  B.  von  Knochen,  ebenso  wie 
Wärme  und  Kälte  zwar  das  Eisen  hart  und  weich  mache, 
aber  noch  kein  Schwert  schaffe. 

Der  Unterschied  zwischen  Kunst-  und  Naturwerk 
wird  trotz  allem  nicht  übersehen:  ,,die  Kunst  ist  Ur- 
sprung und  Gestalt  des  Werdenden,  aber  in  einem  ande- 
ren, die  Bewegung  der  Natur  aber  hat  in  dem  Ding 
selbst  statt,  ausgehend  von  einem  zweiten  Wesen,  welches 
diese  Gestalt  schon  in  Wirklichkeit  hat."  — 

Es  wird  nicht  verkannt  werden  können,  daß  des 
Aristoteles  Entwicklungstheorie  nicht  von  allen  Dunkel- 
heiten ganz  frei  ist;  ja,  ich  glaube  die  Behauptung  wagen 
zu  dürfen,  daß  Dunkelheiten  in  der  vorstehenden  Er- 
örterung sicherlich  nicht  nur  meiner  Darstellungsart  zu- 
zuschreiben sind,  mag  dieselbe  noch  so  verbesserungs- 
fähig sein.    Was  trotz  allem  in  höchste  Bewunderung  für 


14  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

den  großen  Griechen  versetzt,  das  ist  das  überall  sicht- 
bare Ringen  nach  Klarheit  in  dieser  schwierigsten  aller 
Natnrf ragen,  dieses  fortwährende  Hin-  und  Herwenden 
und  Vertiefen  derselben  Fragen,  diese  feinste  logische 
Subtilität.    Wie  plump  ist  vieles  Neuere  dagegen!  — 


Wie  der  Same  im  einzelnen  die  Entwicklungsbeseelung 
leistet,  das  wird  recht  kurz  von  Aristoteles  abgemacht: 
er  setzt  die  Ausscheidung  der  Gebärmutter  in  dieselbe 
Bewegung,  in  der  er  selbst  sich  befindet.  Solches  geht  an, 
weil  ja  das  Weibchen  gleichsam  ein  verstümmeltes  Männ- 
chen ist  und  sein  Monatsfluß  Samen  ist,  dem  eben  das 
Prinzip  der  Seele  fehlt. 

Bedeutsamer  für  uns  sind  jene  verschiedenen  Stufen 
von  „Seele",  welche  gewissermaßen  die  verschiedenen 
Stufen  des  Organischen  kennzeichnen :  Die  Pflanzen  haben 
zeitlebens  und  die  Tiere  im  Anfang  nur  die  Ernährungs- 
seele (frps-rraxYj  4>üXYi) »  welche  zugleich  Wachstumsseele 
(aüSJYpxY])  und  auch  mit  jener  im  Samen  als  Prinzip 
vorhandenen  Zeugungsseele  (<fevTfaxq)  identisch  ist.  Spä- 
ter bekommen  die  Tiere  dazu  die  Empfindungsseele 
(aiaÖTjTucYj)  verbunden  mit  der  begehrenden;  kraft  dieser 
eben  sind  sie  Tiere.  Der  Mensch  allein  besitzt  als  drittes 
Vernunft  (vous),  sie  allein  ist  ,,von  außen"  (früpafrsv)  ge- 
kommen und  ist  „göttlich"  (frswv). 

Doch  sind  wir  damit  bereits  in  die  eigentliche  Seelen- 
theorie des  Aristoteles  eingetreten,  aus  welcher  wir  an 
der  Hand  der  drei  Bücher  ,,Über  die  Seele",  wenigstens 
einiges  zur  Vertiefung  alles  Gesagten  hier  beibringen 
müssen. 

Der  Besitz  einer  der  genannten  Seelenstufen  genügt 
bereits,  um  einen  Körper  zu  einem  lebendigen  zu  machen, 
denn  Leben  ist  im  allgemeinsten  Sinne  ,,die  Ernährung 
und  das  Wachsen  und  Abnehmen  eines  Dinges  durch  sich 
selbst".  Besitzt  er  mehrere  Seelenstufen,  so  sind  immer 
in   der   höchsten   alle   niederen   mit   enthalten,    ,,wie  im 


A.  Aristoteles.  15 

Viereck  das  Dreieck"  mit  enthalten  ist,  und  zwar  dient 
jede  niedere  Stufe  der  höheren  als  Werkzeug,  wie  denn 
schließlich  die  Körper  nur  Werkzeuge  (op-favov)  des 
Seelischen  sind  und  ,,nur  der  Seele  wegen  da  sind". 

Daß  die  Seele  als  „vollendete  Wirklichkeit",  als 
,,Entelechie"  den  Körper  organisiere,  ward  schon  in  der 
Entwicklungstheorie  erläutert;  auch  jetzt,  in  noch  höhe- 
rem Sinne,  nennt  Aristoteles  wieder  die  Seele  „gleich- 
sam den  Anfang  (ap^y|)  der  lebenden  Wesen",  um  dann  zu 
seiner  berühmten  Definition  zu  gelangen,  daß  in  allge- 
meinstem Sinne  die  Seele  die  ,, erste  vollendete  Wirk- 
lichkeit (^pcoTTj  svisXs/s'.a)  eines  dem  Vermögen 
nach  (<$üvgc|isi)  lebendigen  Naturkörpers,  und  zwar 
eines  solchen,  der  Organe  hat",  sei. 

Damit  ist  in  der  Tat,  wenn  man  die  Worte  richtig 
wendet,  alles  gesagt,  was  der  große  Denker  sagen  will: 
die  Seele  ist  zureichender  Grund  des  Daseins 
und  des  Soseins  und  des  Sichsoverhaltens  des 
organischen  Körpers  in  jeder  Beziehung.  Sie  ist 
im  höchsten  Sinne  „Wirklichkeit",  und  zwar  „wie  die 
Wissenschaft,  nicht  wie  das  gegenwärtige  Wissen". 

Die  Frage,  ob  Seele  und  Körper  Eins  seien,  hat  so 
wenig  Sinn  wie  in  bezug  auf  das  Wachs  und  seine  Gestalt. 
Sie  kann  nicht  ohne  Körper  sein,  sie  ist  aber  nicht  der 
Körper,  sondern  etwas  am  Körper;  „wäre  das  Auge  ein 
lebendiges  Wesen,  so  würde  das  Sehen  seine  Seele  sein, 
da  dieses  das  begriffliche  Sein  des  Auges  ist,  und  das 
Auge  wäre  dann  der  Stoff  des  Sehens". 

Der  Vernunft  des  Menschen  (vouq)  als  höchster  Seelen- 
stufe dienen  alle  niederen  Seelenstufen,  wie  schon  gesagt, 
als  Werkzeuge ;  die  Leidenschaften  gehören  diesen  niederen 
Stufen  an:  nicht  die  höchste  Seele  also  „zürnt  oder  bemit- 
leidet, sondern  der  Mensch  mittels  der  (niederen)  Seele"; 
auch  kommt  das  Alter  nicht  davon,  daß  die  höchste 
Seele  etwas  erlitten  hat,  sondern  der  Körper,  worin 
sie  ist;   „das  Denken  und  Überlegen  wird  im  Alter  nur 


16  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

schwach,   weil  ein  anderes  im  Inneren  verdirbt,  es  selbst 
ist  leidlos". 

Nur  die  Vernunft,  wie  sie  ja  auch  von  außen  gekom- 
men und  göttlich  ist,  ist  unsterblich:  ,,wenn  dieses  Wesen 
untergeht,  so  hört  Erinnern  und  Leiden  auf,  denn  es 
gehört  nicht  zur  Vernunft,  sondern  nur  zu  dem  Gemein- 
samen, was  untergegangen  ist." 

Man  beachte  hier,  was  freilich  des  näheren  in  die  all- 
gemeine Metaphysik  gehört,  daß  Aristoteles  nicht,  wie 
wir  heute,  den  großen  Einschnitt  im  Reiche  des  Lebendigen 
zwischen  Gestaltungskräften  und  Seele  setzt,  sondern 
zwischen  Gestaltungskräften  +  niederen  Seelenvermögen 
und  Vernunft.  Auch  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  Aristoteles 
zwar  insofern  ,, Dualist"  ist,  als  ihm  der  begriffliche 
Gegensatz  zwischen  Form  und  Stoff  ein  Urgegensatz  ist, 
daß  er  aber  realiter  keinen  ,, Stoff"  ohne  ,,Form" 
kennt.  Er  ist  also,  wenn  man  so  will,  auch  ,, Vitalist"  für  das 
Anorganische,  so  daß  ihm  schließlich  der  einzige  große 
Einschnitt  in  der  empirischen  Wirklichkeit  überhaupt 
zwischen  dem  Geist  (vo-jq)  und  allem  anderen  liegt. 
Nach  der  anorganischen  Seite  hin  war  das  ein  Mangel; 
er  kennt  Mechanik  auch  da  nicht,  wo  sie  zu  Recht  besteht. 


Solches  muß  genügen,  um  uns  über  des  Aristoteles 
Ansicht  vom  Leben  im  weitesten  Sinne  aufzuklären;  auf 
feinere  logische  Untersuchungen  über  die  Begriffe  Dyna- 
mis,  Entelechie  und  Energie  einzugehen,  kann  hier  nicht 
der  Ort  sein,  ebensowenig  auf  intimere  Erörterungen  über 
Stoff  {ok-q);  Form  (slÖoq)  und  Wesen  (o'jata);  für  Hegel 
ist  in  dieser  Hinsicht  bekanntlich  das  aristotelische  Denken 
maßgebend  geworden.  — 

Des  Aristoteles  Lebenslehre  ist  ein  reiner  Vitalis- 
mus, und  zwar  möchte  ich  ihn  ursprünglichen  oder  naiven 
Vitalismus  nennen,  da  er  aus  ganz  unbefangenem  Be- 
trachten der  Lebensphänomene  heraus  erwachsen  ist, 
nicht  im  Kampf  gegen  andere  Doktrinen.    Nur  ganz  ge- 


A.  Aristoteles.  17 

legentlich,  wie  z.  B.  bei  jener  Bemerkung,  daß  doch 
Wärme  und  Kälte  nicht  ein  Schwert  mache,  zeigt  sich 
dem  aufmerksamen  Beobachter,  daß  Aristoteles  bei 
seinem  Theoretisieren  überhaupt  Gegner  hatte1):  wir 
wissen,  daß  die  Materialisten  der  Schule  Demokrits 
solche  Gegner  waren,  wie  deren  in  Epikurs  Schule 
später  viele  erstanden.  Vielleicht  hielt  Aristoteles, 
auf  seiner  biologischen  Sachkenntnis  gegenüber  den 
luftigen  Thesen  der  Demokritianer  fußend,  eine  ein- 
gehende Widerlegung  für  überflüssig.  Immerhin  hätte 
er  für  die  unbelebte  Seite  der  Natur  von  ihnen  lernen 
können.  — 

Gegen  Ende  seines  Buches  von  der  Tierentwicklung 
faßt  Aristoteles  einmal  kurz  zusammen,  was  seine 
Natur  auf  fassung  von  derjenigen  gegenerischer  Philo- 
sophen unterscheidet,  eine  Stelle,  welche  hier  folgen 
möge,  da  sie  zugleich  ein  guter  kurzer  Ausdruck  seines 
Vitalismus,  seiner  Lebensautonomielehre  ist: 

„Es  ist  in  den  geordneten  und  gesetzlichen  Werken 
der  Natur  ein  Jegliches  nicht  deswegen  so  beschaffen, 
weil  es  mit  solchen  Eigenschaften  entsteht,  sondern 
vielmehr,  weil  es  ein  so  Beschaffenes  ist,  deshalb  ent- 
steht es  mit  solchen  Eigenschaften:  denn  die  Ent- 
stehung und  Entwicklung  richtet  sich  nach  dem  Wesen 
(ouata)  und  ist  um  des  Wesens  willen,  nicht  aber 
dieses  nach  der  Entstehung.  Die  alten  Naturforscher 
(<puaioXoifoi)  hatten  aber  die  entgegengesetzte  Meinung, 
weil  sie  nicht  erkannt  hatten,  daß  es  mehrere  Ursachen 
gibt,  sondern  weil  sie  nur  die  stoffliche  und  die  be- 
wegende und  auch  diese  nicht  nach  ihren  Unterschieden 


r)  In  der  Schrift  über  die  Seele  bekämpft  er  einmal  des 
Demokrit  Ansicht,  daß  die  Seele  ortsbewegt  sein  müsse,  da  sie 
bewegen  könne.  Es  gäbe  einmal  nicht  nur  Ortsbewegung,  sondern 
vier  Arten  Bewegung  (xtvriai;),  nämlich  außer  ihr  Veränderung, 
Zunahme  und  Abnahme,  und  ferner  sei  nicht  einzusehen,  weshalb 
das  Bewegende  selbst  bewegt  sein  müsse. 

Driesch,  Vitalismus.    2.  Aufl.  2 


18  I.  I>er  ältere  Vitalismus. 

kannten,  die  des  Begriffs  und  des  Zwecks  aber  außer 
acht  ließen1)." 

Wir  Neueren  werden  uns  aus  des  Demokrit  Lehr- 
system immerhin  den  Begriff  der  Naturnotwendigkeit 
zu  eigen  machen,  welchen  Aristoteles  nicht  in  genügen- 
der Strenge  hat,  mögen  uns  schon  die  schematischen 
materialistischen  Behauptungen  nichts  angehen.  — 

Die  Bedeutung  des  biotheoretischen  Systems  des 
Aristoteles  kann  gar  nicht  hoch  genug  eingeschätzt 
werden.  Obschon  von  Plato  ausgehend,  verdrängte  er 
wegen  seiner  schärferen  logischen  Begriffs- 
mittel gerade  in  bezug  auf  im  engeren  Sinne  Natur- 
wissenschaftliches dessen  Einfluß  völlig:  er  hat  in  seinem 
Begriff  der  „Enteleehie"  das  Band  zwischen  „Idee"  und 
Wirklichkeit  geschaffen,  welches  bei  Plato  fehlt;  und 
eben  diese  Schöpfung  brauchte  die  theoretische  Natur- 
forschung. 

Aristoteles  ist  auch  in  biologischen  Dingen  —  wie 
in  so  vielen  anderen  —  die  Autorität  bis  ins  siebzehnte, 
ja  für  viele  bis  in  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts. 
Wir  werden  in  unseren  folgenden  Betrachtungen  immer 
und  immer  wieder  seine  Ansichten  in  wechselndem  Ge- 
wände erblicken. 

Daß  man  von  neueren  Forderungen  aus  sagen  möchte : 
Aristoteles  behaupte  doch  eigentlich  mehr,  als  er  be- 
weise, tut  begreiflicherweise  seinem  Einfluß  auf  eine  Zeit, 
die  es  mit  dem  Beweisen  überhaupt  nicht  so  gar  streng 
nahm,  keinen  Abbruch.  Und  wir,  die  wir  stolz  darauf  sind, 
es  mit  dem  Beweisen  streng  zu  nehmen,  deren  intellek- 
tuelles Gewissen  sehr  fein  geworden  ist:  auch  wir  werden 
im  Verlaufe  unserer  Untersuchungen  zu  der  Einsicht 
kommen,  daß  Aristoteles  jedenfalls  sehr  richtig  „be- 
hauptet" habe.  — 


x)  Hierzu  vergleiche  man  die  berühmte  vierteilige  Definition 
des  Ursächlichen  (^o    outiov)  im  ersten  Buche  der  Metaphysik. 


B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philosophie.        19 

B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue 
Philosophie.    Harvey.    G.  E.  Stahl. 

Was  Altertum  und  neuere  Zeit  in  wissenschaftlicher 
Hinsicht  wirklich  fundamental  scheidet,  das  ist  das  mit 
Galilei  beginnende  quantitative  und  analytische 
Denken  über  Naturvorgänge;  man  könnte  auch  sagen,  es 
sei  die  Gewinnung  des  Begriffes  des  Naturgesetzes  in 
der  neueren  Zeit. 

Gewiß  kannte  das  Altertum  einzelne  quantitative 
Naturbeziehungen,  wie  das  Hebelgesetz  und  den  Begriff 
des  spezifischen  Gewichtes;  aber  es  blieb  hier  eben  beim 
einzelnen:  vollständig  und  allgemein  ist  von  den  Alten 
unter  allen  auf  die  Natur  bezüglichen  Wissenschaften1) 
nur  die  Geometrie  und  einiges  aus  der  Statik  entwickelt 
worden. 

Es  ist  nun  bekannt  und  in  zwei  vorzüglichen  Werken 
eingehend  geschildert2),  wie  jener  großen  Entdeckung  der 
Fallgesetze  in  steter  Folge  weitere  Gewinnung  wahrhaft 
naturgesetzlicher  Einsichten  folgte,  bis  in  Newton  der 
erste  große  Systematiker  und  Zusammenfasser  alles  bis 
dahin  Gewonnenen  erstand.  Alles  Gewonnene  aber  war 
Mechanik  im  engeren  und  weiteren  Sinne,  war  Einsicht 
in  die  möglichen  und  wirklichen  Bewegungen  und  Gleich- 
gewichte der  Massen  gewesen. 

Nicht  wunderbar  ist  es,  daß  ein  so  stolzer  Siegeszug 
eines  Wissensgebietes,  das  seinerzeit  ja  das  Wissensgebiet 
war,  seinen  Einfluß  übte  auf  die  Gesamtheit  alles  Denkens, 
welches  sich  auf  Natur  überhaupt  bezog,  also  auf  einen 
großen  Teil  der  Philosophie.  War  doch  auch  des  Aristo- 
teles Gesamtanschauung  von  dem  Sondergebiet  her  be- 


*)  Ich  sage  nicht  „Naturwissenschaften". 

2)  Dühring:  Kritische  Geschichte  der  allgemeinen  Prinzipien 
der  Mechanik.  3.  Aufl.  Leipzig  1887.  —  Mach:  Die  Mechanik 
in  ihrer  Entwicklung. 

2* 


20  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

einflußt  gewesen,  auf  welchem  er  die  meisten  eigentlichen 
Kenntnisse  besaß:  das  war  hier  die  Biologie,  wenn  schon, 
wie  wir  sahen,  weder  Forschungsart  noch  Kenntnisse 
unseren  heutigen  strengen  Forderungen  entsprechen. 

So  wird  denn  also  die  gesamte  Naturtheorie  der  großen 
Renaissancephilosophen  von  der  Mechanik  her  beeinflußt, 
sie  wird  mechanistisch;  und  mechanistisch  wird  auch 
die  Theorie  des  Lebens. 

Wir  haben  in  diesem  Buche  die  Philosophie  nicht 
ihrer  selbst  willen,  sondern  nur,  soweit  sich  eigentliches 
naturwissenschaftliches  Denken  in  ihrem  Lichte  abspielt, 
zu  berücksichtigen:  es  muß  daher  hier  für  unsere  Zwecke 
—  um  so  mehr,  als  wir  ja  eine  Geschichte  des  Vitalismus 
und  nicht  seines  Gegenteiles  schreiben  - —  genügen,  wenn 
wir  uns  nur  die  Stellung  desjenigen  Philosophen  etwas 
näher  betrachten,  welcher  dieser  ganzen  Periode  des 
,, Frühmechanismus",  wie  man  sie  nennen  könnte,  den 
Stempel  aufdrückt  und  mit  Recht  als  der  Vertreter  der 
,, neuen"  Philosophie  gegolten  hat  und  noch  gilt.  Ich  denke 
an  Descartes  und  an  seine  aus  der  neuen  Mechanik  ge- 
speiste Lehre,  daß  die  Pflanzen  und  Tiere  Maschinen 
seien,  freilich  von  Gott  eingerichtete  Maschinen.  Das  ist 
in  unserer  Sprechweise  statische  Teleologie;  die  Ganz- 
heit des  Organischen  wird  nicht  geleugnet,  nicht  etwa  auf 
Rechnung  eines  Übrigbleibens  des  allein  Erhaltungsfähigen 
gesetzt;  aber  es  werden  doch  keine  ganz  machenden 
Naturagenzien  zugelassen. 

Man  weiß  nun  freilich,  daß  Descartes'  Maschinen- 
theorie eine  Ausnahme  zuläßt:  auch  der  Mensch  ist 
zwar  seiner  Physiologie  im  engeren  Sinne  nach  Tier,  also 
Maschine.  Aber  da,  wo  seine  vernünftige  Seele  als 
res  cogitans  in  Frage  kommt,  da  wird  das  reine  Maschinen- 
geschehen durchbrochen.  In  der  Zirbeldrüse  geschieht 
diese  Wechselwirkung  zwischen  der  ausgedehnten  und  der 
denkenden  Substanz,  und  zwar  wird  der  Seele  keine  Im- 
pulse gebende,  sondern  nur  eine  drehende  Wirkung  auf 


B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philosophie.        21 

die  Materie  zugeschrieben,  weil  nur  auf  diese  Weise  des 
Cartesius'  oberster  mechanischer  Grundsatz,  das  Prinzip 
von  der  Erhaltung  der  Bewegungsgröße(rav),  gewahrt 
bleibe ;  ein  äußerst  feinsinniger  Gedanke  des  großen  Mannes. 

Man  erkennt  in  des  Cartesius'  Seele  ohne  weiteres 
den  aristotelischen  Geist  (voug);  für  diesen  läßt  also 
Descartes  eine  Ausnahme  im  Sinne  des  Vitalismus  zu; 
ein  lückenloses  mechanisches  System  kann  ihm  also  die 
Natur  nicht  sein,  denn  der  handelnde  Mensch  steht  ja 
doch  in  ihr.  Die  eigentliche  Biologie  im  engeren  Sinne 
freilich  wird  dem  Cartesius  angewandte  Mechanik,  ganz 
ebenso  wie  Hobbes,  seinem  großen  britischen  Zeit- 
genossen, und  wie  vielen  anderen  derer,  die  er  auf  dem 
Gebiete  der  reinen  Philosophie  bekämpfte. 

Des  Cartesius  biologische  Maschinentheorie  wurde 
nun  zur  herrschenden  Lehre.  Was  sie  an  Gegnern  vorfand, 
das  war  wahrlich  nicht  geeignet,  ihren  Einfluß  zu  brechen : 
ein  aus  dem  Mittelalter  überkommener  verblaßter,  mystisch 
durchtränkter  Aristotelismus  war  es  lediglich,  der  von  An- 
hängern einer  vitalistischen  Lehre  vorgeführt  werden 
konnte ;  immer  nur  Gedanken  über  Gedanken  und  Bücher, 
nicht  wie  bei  den  großen  Mechanikern  und  bei  Descartes 
unmittelbare  Gedanken  über  Natur:  wahrlich  man  ver- 
steht, wie  in  den  Schulen1)  der  sogenannten  Iatromecha- 
niker  und  Iatrochemiker  die  maschinelle  Lebensauf- 
fassung weitgehenden  Einfluß  erlangen  konnte;  sie  war 
wenigstens  klar ;  man  wußte,  was  man  mit  ihr  hatte ;  und 
was  man  etwa  mit  des  J.  B.  van  Helmont2)  „Archeus" 

1)  Borelli  1608—1679,  Haies  1678-1761  usw.  Näheres  in 
Band  II  des  in  der  Vorrede  genannten  Werkes  von  Cl.  Bernard. 
Hierher  gehört  auchBoerhaave (1668—  1738), dessen Institutiones 
medicae  (1708,  4.  Aufl.,  Leiden  1721)  allerdings  überhaupt  weniger 
ein  theoretisierendes  als  ein  nüchternes,  tatsächliches  und  in  dieser 
Hinsicht  sehr  bedeutsames  Werk  sind. 

2)  1577 _  1644.  Hauptwerk  „Ortus  Medicinae".  Neue  Auf- 
lage vom  Sohne  des  Verfassers.  Amsterdam  1652.  Vgl.  F.  Strunz, 
J.   Baptist  van  Helmont,   1907. 


22  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

besaß,  war  doch  im  günstigsten  Falle  nicht  mehr  als 
eine  verschlechterte  Auflage  der  Seelenlehre  des  Aristo- 
teles, mit  neuplatonischen  Gedanken  durchsetzt. 

Wenige  Worte  immerhin  mögen  dem  eben  genannten 
Helmont  persönlich  gewidmet  sein: 

Daß  er  selbst  sich  gegen  Aristoteles  aufs  äußerste 
wehrt,  daß  er  ihn  lächerlich  und  unwissend  (ridiculus  et 
naturae  ignarus)  nennt,  ändert  an  unserem  Urteil  nichts: 
die  fertige  Form,  das  Ziel  könne  keine  wirkende  Ursache 
sein1),  so  eifert  der  neue  Autor  gegen  den  großen  Alten. 
Als  ob  Aristoteles  je  so  etwas  gesagt  hätte1).  Sein  Be- 
griff des  etöoc,  die  „forma"  des  Helmont,  überstieg 
eben  gewaltig  an  Begriffsfeinheit  die  Auffassungskraft 
dieses  letzteren:  das  etöo«;  ist  das  absolut  und  ewig  Wirk- 
liche, in  Hinsicht  der  jedesmal  einzelnen  Realisation 
aber  die  Möglichkeit  im  Sinne  der  „Potenz" ;  die  Schola- 
stik hatte  das  wohl  verstanden. 

Helmont  aber  glaubt  etwas  Neues  zu  sagen,  wenn 
er  (gegen  Aristoteles!)  seinen  „Archeus"  als  den 
„Schmied"  (faber)  einführt,  der  das  Bild  des  Erzeugten 
und  zu  Erzeugenden  in  sich  trägt,  und  nach  diesem 
Bilde  die  Geschehnisse  ordnet2).  Das  ist  doch  wahrlich 
durchaus  die  Aristotelische  Lehre  —  nur  weniger 
tief. 


x)  „Nam  in  primis,  cum  omnis  causa  .  .  .  causato  sit  prior: 
certe,  forma  compositi  causa  esse  nequit  producti:  sed  potius 
Entelechia  ultima  generationis,  ipsissimaque  generati  essentia, 
atque  perfectio."  Das  Wort  ,, Entelechia"  ist  hier  sehr  wenig 
tief  verstanden.  —  „Forma  enim,  cum  sit  generationis  finis,  non 
est  mere  actus  generationis:   sed  generati." 

2)  „Quidquid  enim  Aristoteles  tribuit  formae,  sive  per- 
fectioni  postremae,  in  scena  rerum,  id  proprie,  directive  et  ex- 
secutive  competit  .  .  .  Archeo  seminali."  „Ille  inquam  faber, 
generati  imaginem  habet,  ad  cujus  initium,  destinationes  rerum 
agendarum  componit.  Constat  Archeus  vero,  ex  connexione 
vitalis  aurae,  velut  materiae,  cum  imagine  seminali,  quae  est 
interior    nucleus    spiritualis,    foecunditatem    seminis    continens." 


B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philosophie.        23 

Daß  Helmont  durchaus  im  Banne  jüdisch-christ- 
licher Dogmatik  und  Tradition  steht,  daß  Paradies  und 
Hölle  z.  B.  fortdauernd  in  seine  Erörterungen  hinein- 
spielen, erhebt  sie  auch  nicht  gerade  über  die  des  un- 
befangenen Griechen. 

Erst  mit  dem  Wiederaufkommen  einer  selbständigen, 
beobachtenden  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch 
experimentierenden  Physiologie  und  Entwicklungsge- 
schichte beginnt  auch  wieder  eine  der  näheren  Erörterung 
werte  Behandlung  der  großen  Probleme  der  Biologie,  die 
von  kirchlicher  und  von  materialistischer  Dogmatik 
gleich  weit  entfernt  ist.  Man  wird  das  Wort  „selbständig" 
hier  vielleicht  beanstanden,  wenn  man  die  folgenden  über 
Harvey  und  Stahl  handelnden  Abschnitte  gelesen  haben 
wird;  so  abhängig  ist  auch  hier  noch  alles  von  der  Autori- 
tät des  Aristoteles:  immerhin  doch  liegen  neue  Tat- 
sachen vor,  über  die  gedacht  wird,  und  immerhin  ist 
die  Art  der  Gedankenarbeit  doch  eine  solche,  die  wirk- 
lich aus  dem  behandelten  sachlichen  oder  begrifflichen 
Gegenstand  heraus  zur  Gewinnung  klarer  Einsichten  zu 
kommen  sucht. 

Harvey. 

Der  Entdecker  des  Blutkreislaufes  und  der  Vertreter 
des  bekannten  ,,Omne  vivum  ex  ovo",  William  Harvey 
(1578 — 1657),  stellt  in  seinem  Buche  „Exercitationes  de 
generatione  animalium"1)  eine  große  Reihe  theoretischer 
Erörterungen  über  die  Natur  der  Entwicklungsprozesse 
an,  die  sich  ihm  im  Verlaufe  seiner  Beobachtungen  auf- 
gedrängt hatten. 

Schon  His2)  hat  davor  gewarnt,  in  jenem  oft  zitierten 
Satze  ,, Alles  Lebendige  stammt  aus  dem  Ei",  der  sich 
übrigens  nur  dem  Sinne  nach,  aber  nicht  wörtlich  bei 
Harvey  findet,  einen  gar  zu  modernen  Gedanken  sehen 

2)  London  1651;  andere  Ausgabe  Haag  1680. 

2)  Man  vergleiche    seine  in  der  Vorrede  genannte   Schrift. 


24  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

zu  wollen:  Harvey  war  nämlich  durchaus  kein  Gegner 
der  Urzeugungslehre,  die  er  vielmehr  für  Würmer,  In- 
sekten usw.  annahm;  sein  berühmter  Satz  wollte  nur  be- 
sagen, daß  überall  da,  wo  ,, Keime"  vorkommen,  deren 
Natur  durch  das  Lebensreich  hindurch  gleichförmig,  näm- 
lich eben  „Ei"  sei,  er  richtete  sich  also  eigentlich  nur  gegen 
des  Aristoteles  Trennung  aller  Keime  in  ,,Eier"  und 
„Würmer". 

Doch  ist  das  uns  hier  nicht  die  Hauptsache. 

Von  wesentlicher  Bedeutung  in  lebenstheoretischer 
Hinsicht  ist  jedoch  bereits  des  Harvey  Theorie  der 
Empfängnis:  diese  geschieht  „per  contagium  aliquod", 
durch  eine  Art  Ansteckung,  wie  etwa  Krankheiten  ent- 
stehen; im  Gegensatz  zur  Ansicht  des  Aristoteles  sollen 
sich  aber  Vater  und  Mutter  dabei  beide  wesentlich  aktiv 
verhalten,  nicht  etwa  letztere  nur  den  Stoff  liefern.  Man 
nenne  bekanntlich  die  Empfängnis  „Conceptio",  ebenso 
wie  man  das  spontane  Auftreten  neuer  Gedankenreihen 
„Konzeption"  nenne;  das  sei  durchaus  berechtigt:  „sunt 
ambae  immateriales",  beide  ,,Conceptiones"  sind  nichts 
Materielles,  der  Uterus  steht  in  der  Tat  mit  dem  Gehirn 
in  gewisser  Parallele. 

Es  scheint,  als  habe  sich  Harvey  hier  durch  den 
bloßen  Wortausdruck,  durch  den  Gebrauch  des  Wortes 
„Conceptio"  in  zwei  Bedeutungen  ohne  weiteres  zu  seinen 
theoretischen  Konsequenzen  verleiten  lassen.  Die  spätere 
„aura  seminalis"  ist  ein  Abkömmling  der  Harvey  sehen 
Zeugungstheorie . 

Nach  erfolgter  Zeugung  ist  nun  das  zur  Entwicklung 
bereite  „Ei"  ein  seltsames  Ding:  in  jeder  Hinsicht  ist 
es  ein  ,, medium  quid",  ein  Mittelding,  sowohl  zwischen 
„prineipium  et  finis",  wie  zwischen  den  Geschlechtern, 
wie  zwischen  Beseeltem  und  Unbeseeltem,  wie  zwischen 
Materie  und  etwas,  das  Bildungsfähigkeit  (facultatem 
opificem)  in  sich  hat  (Exerc.  26).  Es  ist  nicht  eigent- 
lich ein  Teil   der   Mutter,   sondern   lebt   auf  ihr   wie  ein 


B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philosophie.        25 

Pilz  auf  einem  Baum  durch  sein  eigenes  Leben  (propria 
sua  vita);  ein  ,, corpus  naturale"  ist  es,  aber  ein  be- 
seelter natürlicher  Körper,  wennschon  nicht  durch  der 
Mutter  Seele  beseelt;  es  ist  nicht  ,,opus  uteri",  sondern 
,,opus  animae",  nicht  des  Uterus,  sondern  der  Seele 
Werk  (1.  c.  27). 

Man  erkennt  hier  ebensowohl  die  Abhängigkeit  von 
Aristoteles  wie  auch  ein  ernsthaftes  Ringen  um  Klar- 
heit in  der  Sache  selbst;  seines  Lehrers  Fabricius  ab 
Aquapendente  gedenkt  Harvey  zumal  in  Hinsicht  des 
Tatsächlichen  mit  großer  Hochachtung. 

Vor  Schilderung  der  eigentlichen  Entwicklungs- 
phänomene wird  dem  Ei  noch  ausdrücklich  die  aristote- 
lische ,,anima  vegetativa"  actu,  die  ,,anima  sensitiva" 
potentia  zugesprochen. 

Die  Entwicklung  selbst  nun  geschieht  ,,potius  per 
epigenesin  quam  per  metamorphosin"  (1.  c.  45),  mehr 
durch  Neu-  als  durch  Umbildung,  um  die  ja  zu  technischen 
Ausdrücken  gewordenen  gräko-lateinischen  Worte  mög- 
lichst zutreffend  zu  verdeutschen. 

Wie  von  einem  ,,opifex",  einem  Werkmeister,  wird 
die  Entwicklung  geleitet;  ein  gewisses  ,,principium"  ist  in 
den  Keimen,  aus  und  von  welchem  (ex  quo  et  a  quo)  sie 
hervorgehen,  ein  Prinzip,  welches  ,,primordium  vegetale" 
genannt  werden  kann,  ein  gewisses  für  sich  Existierendes, 
geeignet  sich  zur  Form  zu  wandeln1). 

Das  geht  nun  alles  über  Aristoteles  wenig  hinaus 
und  ist  recht  unbestimmt.  Wesentlich  tiefer  aber  dringt 
Harvey,  wo  er  die  Unterschiede  seines  ,,Principium" 
von  der  bewußten  Seele  und  seine  in  gewissem  Sinne 
der  Seele  gegenüber  höhere  Fähigkeiten  darzulegen  ver- 
sucht.    Hier   klingen   gewisse   Äußerungen   geradezu    an 

1)  Liceat  hoc  nobis  primordium  vegetale  nominare;  nempe 
substantiam  quandam  corpoream,  vitam  habentem  potentia;  vel 
quoddam  per  se  existens,  quod  aptum  sit,  in  vegetativam  formam 
ab  interno  principio  operante  mutari  (1.  c.  62) 


26  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

viel  spätere,  bei  Johannes  Müller  anzutreffende  Dar- 
legungen aufs  engste  an: 

Was  der  Mensch  erst  lernen  muß,  das  ist  dem  Natur- 
prinzip angeboren  und  eingepflanzt  (connatum  et  in- 
situm);  wer  daher  die  Naturkörper  mit  Kunstwerken  ohne 
weiteres  vergleicht,  der  ist  kein  zureichender  Beurteiler 
(aequus  aestimator)  der  Natur. 

Mit  den  Worten  ,,deus  sive  natura  naturans  sive 
anima  mundi"  sucht  sich  Harvey  dann  weiterzuhelfen, 
um  in  einen  geradezu  erkenntniskritisch  klingenden  Ge- 
danken auszumünden:  daß  es  nämlich  nur  unserem  Auf- 
fassungsvermögen (conceptui  nostro)  so  scheine,  als  ob 
Klugheit  und  Intellekt  nach  unserer  Art  den  Naturwerken 
innewohne,  da  wir  eben  nach  Maßgabe  unserer  Fähig- 
keiten über  die  göttlichen  Werke  der  Natur  urteilen1). 

Wie  Aristoteles,  so  ist  auch  Harvey  ein  durchaus 
unbefangener  Vitalist:  er  will  in  Worte  fassen,  was  er 
über  das  Lebendige  durch  Erfahrung  ermittelt  zu  haben 
glaubt;  selbstverständlich  ist  das  eine  Eigengesetz- 
lichkeit für  ihn2).    Er  beweist  gerade  so  wenig  wie  sein 


*)  Quoniam  igitur  in  puili  fabrica  ars  et  Providentia  non 
minus  elucescunt,  quam  in  hominis  ac  totius  mundi  creatione, 
necesse  esse  f atemur,  in  generatione  hominis,  causam  efficientem 
ipso  homine  superiorem  et  praestantiorem  daii.  —  Nam,  quod 
in  nobis  operationum  artificialium  principium  est,  intelltctus  aut 
Providentia,  id  in  naturalibus  illis  operibus  est  natura,  quodque 
illis  connatum  et  insitum,  id  nobis  acquisitum.  Ideoque,  ad 
artificialia  qui  respiciunt,  haud  aequi  rerum  naturalium  aesti- 
matores  habendi  sunt.  —  Fatendum  est  in  naturae  operibus  nee 
prudentiam  nee  artificium  neque  intellectum  messe;  sed  ita  solum 
videri  conceptui  nostro,  qui  seeundum  artes  nostras  et  facultates 
de  rebus  naturae  divinis  iudicamus  (1.  c.  50). 

2 )  Nach  H  i  s  wäre  des  Harvey  Teleologie  mehr  eine  unbestimmt 
metaphysisch  als  real  gedachte,  würde  also  etwa  den  Ansichten  der 
späteren  Naturphilosophen  ähnlich  sein.  Ich  kann  diese  Ansicht 
nicht  teilen,  zumal  auf  Grund  der  Begriffe  „primordium  vegetale", 
,, anima  vegetativa",  „opifex"  usw.  glaube  ich  mit  Recht,  inHarvey 
einen  echten  Vitalisten,  also  „dynamischen  Teleologen"  zu  sehen. 


B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philosophie,        27 

großer  Vorläufer,  aber  mit  tiefem  Ernst  ringt  er  nach 
immer  tieferer  und  tieferer  Erfassung  und  Wiedergabe 
der  entschleierten  Geheimnisse. 

Einen  großen  Einfluß  haben  Harveys  theoretische 
Darlegungen  nicht  gehabt;  und  doch  sind  sie  viel  kriti- 
scher und  vorsichtiger  als  die  Lehren  jenes  Nachfolgers, 
der  fast  ein  Jahrhundert  als  grundlegende  Autorität  in 
Sachen  des  Vitalismus  galt  und  den  kennenzulernen  wir 
uns  jetzt  anschicken. 

Georg  Ernst  Stahl  (1660—1734), 

der  Urheber  der  Phlogistontheorie  in  der  Chemie,  war 
lange  Jahre  als  Professor  in  Halle  tätig.  In  seiner  ,, Theoria 
medica  vera"1)  teilt  er  uns  seine  Ansichten  über  das 
Lebendige  mit,  welche,  um  das  gleich  im  voraus  zu  sagen, 
nichts  weniger  als  sonderlich  modern  anmuten  und  nur 
wegen  des  großen  Einflusses,  den  sie  gewannen,  von  uns 
in  Breite  zu  behandeln  sind;  bezieht  sich  auf  Stahl  doch 
fast  jeder  biologische  Schriftsteller  bis  zum  Ausgang  des 
Jahrhunderts  der  Aufklärung. 

Stahl  beginnt  mit  einer  logischen  Untersuchung  der 
Begriffe  Organismus  und  Mechanismus  und  ihrer  Unter- 
schiede; letzterer  ist  dem  ersteren  subordiniert.  Ebenso 
sind  Mischung  und  Leben  (mixtio  et  vita)  verschiedene 
Dinge,  auch  ,,aggregatum  et  individuum";  der  lebende 
Körper  habe  eine  ,, mixtio  specialis"  und  eine  ,,aggregatio 
specialis"  je  von  hoher  Mannigfaltigkeit,  und  eben  wegen 
deren  leichter  Zerstörbarkeit  erfordere  er  besondere 
Kräfte  der  Erhaltung. 

Der  Zufall  (casus)  im  Sinne  des  Demokrit  oder 
Epikur  genügt  also  nicht  zur  Erklärung  des  Lebens- 
körpers; von  den  ewigen  Gesetzen,  den  ,,leges  aeternae" 
der  Alten  hat  man  auszugehen.  Mit  ausdrücklicher  Wen- 
dung gegen  die  Cartesianer,  ,,qui  corpus  humanum  machi- 


M  2.  Auflage.     Halle  1737. 


28  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

nam  absolutam  esse  volunt",  und  nach  denen  die  Seele 
nur  gleichsam  zur  Betrachtung  beigegeben  (superinduci) 
worden  sei,  verwirft  er  jede  Art  Maschinentheorie  (Theoria, 
2.  Aufl.,  S.  30f.). 

Die  wahre  bewußte  Seele  ist  Urgrund  des  Lebens, 
sie,  ein  dreifaches  Wesen  (ens  triplex),  nämlich  ein  aktives, 
bewegendes  und  vernünftiges  (ens  activum,  movens  et 
intelligens),  schafft  sich  den  Körper,  weil  sie  ein  „instru- 
mentum"  braucht.  Nur  also  wegen  der  Seele  und  durch 
sie  und  aus  keinem  anderen  Grunde  existiert  der  Organis- 
mus1); die  Seele  aber  wirkt  auf  den  Körper  durch  ihre 
Leidenschaften  („Pathemata").  Nichts  würde  die  Seele 
ohne  den  Körper  vermögen,  weder  aktiv  noch  passiv. 
Ihre  eigentliche  Leistung  aber  sind  Bewegungen,  und 
zwar  gerichtete  und  geordnete  (motus,  quos  dirigit  et 
instruit). 

Halten  wir  hier  einen  Augenblick  mit  der  Schilderung 
inne,  so  erscheint  also  nach  Stahls  Ansicht  die  ,, Seele" 
als  Grundprinzip  sowohl  der  Entstehung  wie  auch 
alles  Funktionieren  des  Körpers  gleichermaßen; 
von  ihr  handelt,  modern  gesprochen,  Funktionalphysio- 
logie und  Entwicklungsphysiologie2). 

Stahl  weiß  wohl,  wie  er  dadurch,  daß  er  alle  diese 
Leistungen  der  vernünftigen  Seele,  der  ,,anima  ratio- 
nalis" zuschreibt,  in  Widerspruch  zu  den  meisten  anderen 
Physiologen  tritt: 

Aristoteles  habe  neben  der  anima  rationalis  die 
anima  vegetativa  und  die  anima  sensitiva  zugelassen  und 

x)  „Non  solum  corpus  simpliciter  propter  aninam  humanam, 
rationalem  inquam,  existere  necessario  oportet,  sed  etiam  absolute 
propter  nullam  aliam  rem."  „Anima  rationalis  non  solum  corpori 
huic  inest,  sed  etiam  et  per  illud  agit  sentiendo,  et  in  illud  agit, 
motus  locales  producendo"  (Theoria,  2.  Aufl.,   S.  118). 

2)  „Ipsa  anima  et  struit  sibi  corpus,  ita  ut  ipsius  usibus, 
quibus  solis  servit,  aptum  Sit,  et  regit  illud  ipsum,  actuat,  movet, 
directe  atque  immediate,  sine  alterius  moventis  interventu  aut 
concursu"  (1.  c.   S    205). 


B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philosophie.        29 

letzteren  beiden  eine  gewisse  „yvoxjk;"1),  jener  ersten 
allein  ,,intellectus"  zugesprochen;  auch  habe  zum  Bei- 
spiel Helmont  von  einer  Seele  mit  höheren  und  niederen 
Fähigkeiten  geredet,  und  das  sei  ja  auch  ganz  „plau- 
sibilis",  weil,  wer  mehr  könne,  auch  weniger  könne  (,,quod 
qui  potest  plus,  potest  etiam  minus");  aber  im  ganzen 
seien  doch  alle  diese  Untersuchungen  „steriles"  und  dazu 
überflüssig :  man  komme  sehr  gut  mit  der  anima  rationalis 
allein  aus. 

Durchaus  hinfällig  sei  der  Einwand,  daß  die  ver- 
nünftige Seele  nicht  bewegen  könne,  weil  sie  immaterial 
sei;  vermittelnde  Agentien  namentlich  beseitigten  die 
Schwierigkeit  gar  nicht,  wenn  anders  es  hier  eine  gäbe, 
da  dieselben  doch  auch  entweder  material  oder  immaterial 
wären,  so  daß  an  einem  Punkt  der  Kette  jener  Übergang 
doch  statthaben  müsse. 

Man  könne  aber  vielleicht  einwenden,  daß  die  ver- 

i 

nünftige  Seele  von  den  vegetativen  Funktionen  doch 
keine  Kenntnis  und  Erinnerung  habe  (,,conscientia,  recor- 
datio  et  memoria");  auch  diesen  Gegengrund  schneidet 
Stahl  zunächst  durch  eine  recht  gekünstelte  Unter- 
suchung2), alsdann  durch  einen  weit  besseren  und  ganz 
modern  anmutenden  Gedankengang  ab: 

Auch  während  die  Seele  denke  oder  vergleiche,  wisse 
sie  ja  nicht  eigentlich,  daß  sie  eben  dieses  tue,  auch  wenn 
sie  sich  erinnere,  sei  dieser  Akt  als  solcher  eine  eigentlich 
unbewußte  Leistung3),  und  vom  Willen  gelte  ganz  das- 

x)  Stahl  verwendet  das  griechische  Wort;  es  soll  wohl  so 
etwas  wie  ,, instinktive  Kenntnis"  bedeuten. 

2)  Er  unterscheidet  die  Begriffe  Xoyos  und  loyia[xoq:  Xoyoc  =  ,,ui- 
tellectus  simplex,  simpliciorum,  imprimis  autem  subtilissimorum" ; 
Xoyia[j.oc  =  ,,ratiocinatio  atque  comparatio  plurium  et  insuper 
quidem  per  crassissimas  circumstantias  sensibiles,  visibiles  et 
tangibiles  notorum"  (1.  c   S.  208 f.). 

3)  Imo  altius  cogitandum  est,  quod  etiam  in  ipsis  adeo 
ipsius  rationis  absolute  propriis  actibus,  eorumque  speci- 
fica  et  f ormali  suprema  determinatione  constituenda,  anima 


30  I«  Der  ältere  Vitalismus. 

selbe,  nicht  eigentlich  mit  Bewußtheit  entscheide  sich 
dieser.  Ganz  und  gar  nicht  also  beweise  das  Nichtwissen 
der  Seele  von  irgend  etwas,  daß  sie  nicht  doch  zu  eben 
diesem  kausal  in  Beziehung  sei. 

Es  hat  nach  diesen  grundlegenden  Erörterungen,  da 
doch  eben  Einzeltatsachen  und  ihre  Erklärung  bei  Stahl 
so  gut  wie  gar  nicht  in  Betracht  kommen,  kein  eigent- 
liches Interesse,  ihm  ins  Speziellere  zu  folgen,  und  so  mag 
denn  nur  über  das,  was  er  zur  Folge  der  Formentwicklung 
beibringt,  noch  einiges  kurz  bemerkt  sein: 

Dem  Sperma  eine  „vis  plastica"  oder  einen  „spiritus 
genitalis"  zuzuschreiben,  sind  natürlich  überflüssige  Ver- 
mehrungen der  Fiktionen  (,,supervacuae  multiplicationes 
rerum  fictitiarum"),  da  ja  die  vernünftige  Seele  einmal 
alles  besorgt;  übrigens  sei  auch  das  „Versehen"  durchaus 
beweisend  für  ihre  formative  Tätigkeit.  Als  bedenklich 
erscheint  nur  die  Frage,  wie  denn  der  Erzeuger  Seele 
zum  werdenden  Körper  überhaupt  in  Beziehung  treten 
könnte,  der  doch  ein  fremder  sei.  Nun,  es  habe  eben 
die  Seele  Beziehungen  nicht  nur  zum  „corpus  formatum", 
sondern  auch  zum  „corpus  formandum",  nicht  nur  zum 
geformten,  sondern  auch  zum  zu  formenden  Körper,  und 
wem  das  nicht  genüge,  der  möge  Besseres  an  die  Stelle  setzen. 

Die  notwendig  werdende  Teilung  der  Seele  aber  sei 
ganz  wohl  verständlich,  da  ja  auch  ihre  Leistungen,  die 
Bewegungen  nämlich,  teilbare  Dinge  seien1). 

Ich  denke,  der  Leser  wird  hier  Stahl  recht  geben, 
wenn  er  diese  Darlegungen  als  „steriles  et  otiosae  quae- 


neque  ratiocinari  atque  simpliciter  comparare  appareat,  nee 
ullam  huius  rei  conscientiam,  saltem  quod  hoc  agat,  ne 
dum  memoriam  sive  quomodo  hoc  egerit,  quod  tarnen  agit, 
habeat.  Quotus  quisque  enim,  aut  quoties,  cogitat  quod  cogitet  ? 
Quis  hominum  ratione  adsequitur,  quomodo  cogitet?  Ne  dum 
ut  huius  meminerit,  quomodo   factum   sit  ?    (1.  c.  S.  209.) 

x)  „Cum  motus  sit  res  adeo  divisibilis,  etiam  movens  videri 
potest  divisibile"  (1.  c.   S.  374). 


B.  Die  neue  Wissenschaft  und  die  neue  Philosophie.       31 

stiones"  bezeichnet,  jedenfalls  ist  seine  Behandlung  der 
Sachlage  recht  „leer  und  müßig". 

Und  so  wollen  wir  denn  von  Stahl  Abschied  nehmen, 
indem  wir  noch  den  guten  Gedanken  mitteilen,  daß  nicht 
etwa  das  Blut  der  Mutter  aus  eigenem  Wesen  den  Embryo 
bilde,  und  indem  wir  unseren  Autor  zum  Schluß  seine 
Ansichten  noch  einmal  zusammenfassen  lassen: 

,,Propterea  vero  haec  toties  repetenda  sunt,  ut  me- 
mori  utique  mente  haereant,  quod  primae  undique 
partes  perpetuo  sint  actionum,  minime  vero  mate- 
riarum:  at  actionum  quidem  minime  in  materiis,  sed 
in  materias:  adeo  ut  hae  ad  illas  simpliciter  passive, 
et  generaliter  indifferenter  sese  habeant,  et  omnino 
activae  dispositioni  atque  coaptationi  in  quamlibet 
structuram  atque  figuram  pure  obsequantur.  Quod 
notandum"  (1.  c.  383f.). 

Oder  in  freier  Übertragung:  „Es  kann  aber  gar  nicht 
oft  genug  wiederholt  werden,  daß  die  Grundlage  des 
Lebens  Aktivitäten,  nicht  aber  Materien  sind,  und  zwar 
Aktivitäten  nicht  etwa  in  Materien,  sondern  in  bezug  auf 
solche:  derart,  daß  die  Materien  sich  nur  passiv  und  in- 
different zu  jenen  Aktivitäten  verhalten,  und  der  Ver- 
teilung und  Zuordnung  zu  irgendeiner  Form  oder  Struktur 
einfach  gehorchen.    Das  merke  man  sich!" 

Verdienten  diese  Lehren  wirklich  einen  Einfluß  über 
viele  Dezennien  ?  Wird  hier  im  Biologischen  auch  nur 
im  geringsten  über  Aristoteles  hinaus,  wird  nicht  eigent- 
lich hinter  ihn  zurückgegangen?  Ist  der  erkenntnis- 
kritische  Rahmen  des  Ganzen  nicht  wesentlich  ungeklärter, 
als  es  der  zeitgenössischen  Philosophie  entsprach,  die  doch 
gerade  die  Anfänge  einer  Kritik  der  Erkenntnis  erlebte  ? 
Sicherlich  ist  es  zu  einem  guten  Teil  auch  die  äußere 
Autorität  des  durch  Jahre  hindurch  einflußreichen  Pro- 
fessors gewesen,  die  hier  schulbildend  gewirkt  hat.  Daß 
es  ihm  an  Selbstbewußtsein  nicht  fehlte,  zeigt  der  Ton 
des  Ganzen,  der  nichts  weniger  als  ein  suchender,  sondern 


32  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

ein  rechthaberischer  und  alles  irgendwie  Unbequeme 
skrupellos  beseitigender  ist. 

Aber  verständlich  ist  trotzdem  die  Wirkung  des 
Stahlschen  Buches  aus  ihm  selbst,  mag  es  auch  der 
sachlichen  Grundlagen  ermangeln,  welche  den  Theorien 
Harveys  festen  Boden  gaben.  Das  großzügige  Ganze 
ist  es,  was  an  dem  Stahlschen  Buche  wirkt:  dieses  Über- 
blicken aller  logischen  Konsequenzen,  mögen  sie,  wenn 
sie  schwierig  erscheinen,  auch  oft  recht  kurzerhand  er- 
ledigt sein.  Und  das  Ganze  war  zwar  nicht  erkenntnis- 
kritisch so  tief  geklärt,  wie  es  hätte  sein  dürfen  und 
sein  können,  aber  es  war  doch  frei  von  Mystik  und 
Theologie:  es  war  denn  doch  etwas  ganz  anderes  als  die 
Phantasien  van  Helmonts. 

Stahl  ist  der  erste  gewesen,  der  uns  nach  Aristoteles 
ein  großes  System  einer  wissenschaftlichen  theo- 
retischen Biologie  gegeben  hat;  und  als  solches  wirk- 
liches System,  als  großer,  logisch  gegliedeter  Bau 
hat  es  gewirkt  mehr  als  ähnliche,  aber  phantastische 
frühere  Versuche  (van  Helmont),  mehr  als  gleichzeitige 
besser  fundierte  Theoriegebäude  kleineren  Stiles  (Har  vey), 
mehr  endlich  als  gleichzeitige  konkurrierende  Systemge- 
bäude schwächlicher  Art1). 

Ich  möchte  bezweifeln,  daß  alle,  die  Stahl  in  späterer 
Zeit  nennen,  die  ,, Theoria  vera"  gelesen  haben.  Man 
kannte  ihn  eben  als  eine  Art  Typus.  Zitiert  habe  ich 
nirgendwo  eine  Stelle  aus  ihm  gefunden. 

Stahl  ist  „Animist"  im  Gegensatz  zum  ,, Vitalisten", 
wenn  man  hier  einen  Unterschied  schaffen  will ;  jedenfalls  er- 
blaßte derselbe  bald,  und  in  jener  Schule  vonMontpellier2), 
in  der  sich  Stahls  Einfluß  besonders  geltend  machte,  fin- 
den sich  Vitalisten  der  verschiedensten  Abstufungen. 

x)  Der  Urheber  eines  solchen  war  z.  B.  F.  Hoffmann  (1660 
bis  1742):  „Philosophia  corporis  humani  vivi  et  sani"  1718. 
Opusciüa  medico -practica.     Halle   1736. 

2)  Näheres  darüber  bei  Cl.  Bernard  11. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  33 

Und  nun  treten  wir  in  die  Betrachtung  von  Wissens- 
erörterungen ein,  in  denen  das  Tatsächliche  eine  etwas 
größere  Rolle  spielt  als  in  dem  bisher  Dargelegten. 


C.  Vitalistische  Lehren  im  Gefolge  des 
Streites  um  „Evolution"  und  „Epigenesis44. 

Die  Entdeckung  einer  großen  Anzahl  neuer  Tatsachen 
ist  es  vor  allem,  welche  der  Geschichte  der  Biologie  um 
die  Wende  des  siebzehnten  Jahrhunderts  den  Charakter 
gibt ;  und  im  Anschluß  an  eben  diese  Tatsachen  erstanden 
neue  Probleme,  neue  Lehren. 

Leeuwenhoek  (1632 — 1723)  hatte  die  Spermatozoen 
entdeckt1);  Swammerdam  (1637 — 1680)  und  Malpighi 
(1628 — 1694)  und  andere  hatten  eine  Menge  entwick- 
lungsgeschichtlicher Tatsachen  am  Huhn,  am  Frosch  und 
an  Insekten  zutage  gefördert;  durch  Bonnet  (1720  bis 
1793),  Needham  (1713—1781),  Haller  (1708—1777), 
Wolff  (1733—1794)  wurden  diese  wesentlich  erweitert 
und  vertieft;  Reaumur  (1683—1757),  Trembley  (1700 
bis  1784)  und  Spallanzani  (1729 — 1799)  entdeckten  das 
Regenerations vermögen  der  Tiere,  vornehmlich  an  Süß- 
wasserpolypen  und  an  Würmern  experimentierend.  Ein 
näheres  Verfolgen  dieser  Entdeckungen  gehört  in  eine 
Geschichte  der  allgemeinen  Zoologie. 

Uns  interessieren  die  Lehren,  welche  durch  die  Ent- 
deckungen gezeitigt  wurden;  diese  Lehren  aber  knüpfen 
an  die  Formulierung  bestimmter  Probleme  an,  und  dieser 
Probleme  bildeten  sich  vornehmlich  drei:  die  Frage  nach 
der  Gesetzlichkeit  der  eigentlichen  Entwicklung  aus  dem 
Keim,  die  Frage  nach  der  Gesetzlichkeit  der  Regeneration 
und  die  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Keime;  die  letzte 


x)  Wenigstens  sind  sie  unter  seiner  Leitung  entdeckt  worden; 
gesehen  hat  sie  zuerst  der  Student  Hamm. 

Drie seh,  Vitalismus.    2.  Aufl.  3 


34  !■  Der  ältere  Vitalismus. 

Frage  schließt  die  Probleme  der  Zeugung  und  der  so- 
genannten „Vererbung",  aber  auch  das  Problem  der  so- 
genannten „Urzeugung"  ein. 

Die  Lösungs versuche  der  aufgestellten  Probleme,  die 
„Theorien"  also,  gruppieren  sich  um  folgende  Denkmög- 
lichkeiten und  Begriffe: 

Entwicklung  kann  entweder  auf  Grund  einer  miniatur- 
artigen Präexistenz  der  Form  im  Keime  erfolgen,  in 
welchem  Falle  sie  eigentlich  nur  Wachstum  von  etwas 
schon  Vorhandenem  ist,  oder  aber  sie  ist  Neubildung 
von  Verschiedenem  aus  mehr  oder  weniger  Gleichartigem : 
diese  Trennung  ergibt  zunächst  die  umfassenden  Grund- 
begriffe der  Evolution  und  Epigenesis. 

Der  Begriff  der  Evolution  nun  kann  auf  die  eigent- 
liche Entwicklung  aus  dem  Keim  beschränkt  bleiben, 
während  die  Entstehung  des  Keimes  selbst  als  Neubildung, 
als  Epigenesis  betrachtet  wird;  oder  aber  es  wird  über- 
haupt jede  Neubildung  geleugnet:  dann  wird  die  Evolu- 
tionstheorie zur  ,, Einschachte] ungslehre",  es  wird  die  Prä- 
existenz aller  Keime  ineinander  von  der  Schöpfung  her 
behauptet;  und  hier  kann  nun  eine  Scheidung  wieder 
statthaben  auf  Grund  der  Alternative,  daß  der  männliche 
oder  der  weibliche  Beitrag  zum  Keime  Träger  des  In- 
einandergeschachtelten ist;  die  beiden  Lager  der  „Animal- 
culisten"  und  der  „Ovulisten"  ergeben  sich  auf  diese 
Weise. 

Epigenesis  anderseits  kann  einmal  als  Neubildung  des 
Organisierten  aus  dem  absolut  Ungeordneten,  aber  auch 
als  Neubildung  des  Hoch-  aus  dem  Niederorganisierten 
gedacht  werden. 

Der  letzte  Begriff  leitet  zu  modernen  Vorstellungen 
über:  in  gewissem  Grade  versöhnt  er  Evolution  und  Epi- 
genesis. Den  älteren  Forschern,  die  uns  hier  angehen, 
war  aber  gerade  dieser  Begriff  am  längsten  fremd,  wie 
wir  uns  denn  überhaupt  sehr  hüten  müssen,  die  uns  ge- 
läufigen Vorstellungen  ohne  weiteres  jenen  Autoren  unter- 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  35 

zulegen;  schon  allein  der  Umstand,  daß  bei  ihnen  der 
Begriff  Epigenesis,  wenigstens  anfangs,  stets  mit  der  Über- 
zeugung der  Realität  von  „Urzeugung"  verknüpft  ist, 
warnt  hier  zur  Vorsicht. 

Die  namhafteren  Forscher  verteilen  sich  in  folgender 
Weise  auf  die  von  uns  erörterten  Ansichtsmöglichkeiten: 

Evolutionisten  strengsten  und  weitesten  Sinnes, 
und  zwar  „Ovulisten",  sind  Swammerdam,  Malpighi, 
Bonnet,  Haller,  Spallanzani  u.a.;  „Animalculisten" 
sind  Leeuwenhoek,  Hartsoeker  u.  a.,  ihnen  schloß 
sich  Leibniz  an. 

Strenge  Epigenetiker  sind  Needham  und  Mau- 
pertuis. 

Epigenetiker  für  die  Keimesentstehung,  aber  Evolu- 
tionist für  die  Entwicklung  ist  Buffon. 

Als  Hauptvertreter  einer  geklärteren  Epigenese  können 
Wolff  und  Blumenbach  gelten;  hier  stehen  wir  dann  an 
der  Schwelle  einer  neuen  Zeit. 

Alle  Epigenetiker  nun  sind  Vitalisten,  und 
dadurch  eben  wird  der  ganze  Streitfall  für  uns  von  so 
großer  Bedeutung.  Doch  kommen  in  Hinsicht  ihrer 
theoretischen  Stellungnahme  überhaupt  nur  wenige  der 
genannten  Forscher  als  bedeutsam  in  Betracht;  gerade 
einige  der  hervorragendsten  Beobachter  und  Experimen- 
tatoren, seltsamerweise  sämtlich  Evolutionisten,  scheiden 
als  theoretisch  wenig  selbständig  aus,  so  Swammerdam, 
Leeuwenhoek,  Spallanzani,  Reaumur,  Trem- 
bley  u.  a. 

Leibniz. 

Wir  beginnen  die  intimere  Darstellung  dieser  neuen 
Periode  biologischer  Theoriengeschichte  in  derselben  Weise, 
in  der  wir  die  Darstellung  der  vorangegangenen  begonnen 
haben,  nämlich  mit  einer  kurzen  Würdigung  der  Lehren 
des  für  sie  repräsentativen  Philosophen.  Das  war  für  die 
ältere  Periode  Descartes,  für  die  neue  ist  es  Leibniz.   In 

3* 


36  I«  Der  ältere  Vitalismus. 

beiden  Fällen  steht  der  angesehenste  Philosoph  gegen 
die  Vitalisten,  ohne  Materialist  zu  sein. 

Daß  Leibniz  mit  den  Grundbegriffen  der  Monade 
und  der  prästabilierten  Harmonie  arbeitet,  darf  als 
bekannt  vorausgesetzt  werden,  ebenso,  im  Ungefähren, 
der  Inhalt  dieser  Begriffe.  Weniger  bekannt  ist  jedoch, 
daß  der  Begriff  der  prästabilierten  Harmonie  bei  dem 
großen  Denker  eigentlich  drei  verschiedene  Sach- 
verhalte umfaßt,  von  denen  der  eine  gerade  von  ganz 
besonderem  biologischen  Interesse  ist.  Man  kennt  nun 
allgemein  die  Leibnizsche  Lehre  von  der  harmonia  prae- 
stabilita,  insofern  sie  auf  das  Verhältnis  von  Welterleben 
und  Weltgeschehen  geht,  wobei  wir  auf  die  schwierige 
Frage,  ob  Leibniz  das  Geschehen  an  sich  als  mechanisch 
gegolten  habe,  oder  ob  ihm,  schon  ganz  ähnlich  wie  Kant, 
alles  Raumesgeschehen  nur  ein,  freilich  auf  ein  An-sich 
hinweisendes,  Phänomen  gewesen  sei,  nicht  eingehen 
können.  Es  gibt  nun  aber  neben  dieser  bekanntesten 
Harmonieart  für  Leibniz  noch  zwei  andere;  zunächst  die 
nur  kurz  von  uns  zu  erwähnende  zwischen  dem  physischen 
Reiche  der  Natur  und  dem  moralischen  Reiche  der 
,, Gnade"1),  vermöge  welcher  die  Züchtigung  und  Be- 
lohnung der  Geister  durch  Erdkatastrophen  und  Ver- 
wandtes im  allgemeinen  Weltmechanismus  von  Ewigkeit 
her  harmonisch  vorgesehen  ist,  so  daß  trotz  völliger 
kausaler  Isoliertheit  alles  Geschehens,  das  ja  im  letzten 
Grunde  nur  intramonadisch  ist,  doch  im  richtigen  Momente 
Strafe  und  Belohnung  herauskommt  —  eines  der  bizarrsten 
Gedankengebilde  in  Leibniz'  System.  Freilich,  was  uns 
nun  angeht,  ist  kaum  weniger  bizarr: 

Es  besteht  neben  der  psycho-physischen  und  der 
ethiko-physi  sehen  noch  eine  embryologische,  oder 
schärfer:  vitalistisch-mechanistische  prästabilierte  Har- 
monie. 


x)  Monadologie  Nr.  87,  88,  89;  s.  auch  Theodizee  u.  sonst. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  37 

Monaden  gibt  es  unendlich  viele  in  unendlichen,  nach 
der  „Klarheit"  bemessenen  Gradabstufungen.  In  gewissem 
Widerspruch  mit  dieser  Lehre  werden  aber  auch  gelegent- 
lich die  Monaden  in  vier  große  Gruppen  eingeteilt :  Körper- 
monaden, „Form"monaden,  Seelenmonaden  und  Engel. 
Für  das  morphogenetische  Lebensgeschehen  kommen  nur 
die  Formmonaden  und  die  Körpermonaden,  die  wir 
praktisch  wie  die  Atome  der  Physik  behandeln  mögen,  in 
Frage.  Die  „Harmonie"  zwischen  den  Aktionen  beider 
aber  besteht  darin,  daß  die  Formmonade  das  Streben 
(Conatus)  hat,  die  Atome  so  zu  lenken,  daß  der  Leib 
aus  ihnen  im  Wege  der  Embryologie  oder  Regeneration 
entsteht,  daß  aber  jedes  einzelne  Atom  sich  schon  aus 
eigner  Natur  und  eignem  ,, Conatus"  so  bewegt,  daß 
der  Organismus  herauskommen  muß.  Also,  im  Bilde: 
Der  Zugführer  pfeift,  der  Vorsteher  hebt  den  Stab,  der 
Lokomotivführer  öffnet  das  Ventil,  der  Zug  fährt  ab  — 
aber,  er  wäre  aus  eigener  Natur  auch  ohne  alle  jene  Vor- 
gänge in  demselben  Moment  „abgefahren". 

Man  hat  hier,  wie  man  sieht,  einen  Fall  von  dem  vor 
sich,  was  man  heute  „Vereinigung"  von  Mechanismus 
und  Teleologie  zu  nennen  pflegt,  wobei  es  dahingestellt 
bleibe,  ob  man  in  solchem  Falle  überhaupt  noch  von 
„Mechanismus"  im  eigentlichen  Sinne  reden  dürfte1). 

Jedenfalls  gilt  Leibniz  die  Gesamtheit  der  Leibes- 
atome eines  Organismus  als  Maschine,  ja,  weil  er  auch 
die  Einschachtelungslehre,  nicht  nur  die  Evolutionslehre 
annimmt,  auch  die  gesamte  Kette  der  Generationen,  und 
gerade  dem  Begriff  der  organischen  Maschine  wird 
nun  von  ihm  noch  eine  besondere  Betrachtung  gewidmet. 

Es  besteht  ein  Unterschied  „nicht  allein  im  Grade, 
sondern  sogar  in  der  Art",  selbst  „zwischen  den  gering- 
fügigsten Hervorbringungen  und  Mechanismen  der  gött- 
lichen Weisheit  und  den  größten  Meisterwerken  der  Kunst 


l)  Vgl.   meine   Wirklkhkeitshhre,  2.  Aufl.    1922,   S.  79 f. 


38  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

eines  begrenzten  Geistes".  „Die  Maschinen  der  Natur 
haben  nämlich  eine  wirklich  unendliche  Zahl  von  Organen 
und  sind  so  gut  ausgerüstet  and  allen  Unfällen  gegenüber 
stichhaltig,  daß  es  nicht  möglich  ist,  sie  zu  zerstören. 
Eine  natürliche  Maschine  bleibt  noch  in  ihren  kleinsten 
Teilen  Maschine,  und  mehr  noch:  sie  bleibt  immer  die 
nämliche  Maschine,  die  sie  war,  da  sie  durch  die  ver- 
schiedenen Zuschnitte,  die  sie  erhält,  nur  umgestaltet, 
bald  ausgedehnt,  bald  zusammengedrückt  und  nur  gleich- 
sam konzentriert  wird,  wenn  man  sie  für  untergegangen 
hält"1). 

Maschinen,  aber  sehr  seltsame  Maschinen  freilich, 
sind  also  die  Organismen  nach  Leibniz.  In  jedem  unend- 
lich kleinen  Teil  sind  sie  noch  Maschinen,  und  zwar  ,,die 
nämlichen,  die  sie  waren".  Leibniz  führt  hier  im  Grunde 
den  Begriff  des  Maschinendifferentials  ein. 

Das  scheint  uns  nun  freilich  ein  unmöglicher  Begriff 
zu  sein,  denn  der  Begriff  des  „unendlich  kleinen"  Zu- 
wachses hat  nur  Sinn  in  Anwendung  auf  Homogenes, 
und  es  ist  gar  nicht  verständlich,  was  für  extensive 
Mannigfaltigkeiten  ein  unendlich  kleiner  Zuwachs,  der 
selbst  eine,  und  zwar  dieselbe  extensive  Mannigfaltig- 
keit sein  soll,  eigentlich  bedeuten  solle.  Geht  man 
aber  von  extensiven  Mannigfaltigkeiten  zu  intensiven 
über,  so  bricht  man  mit  dem  Maschinenbegriff  und 
würde,  in  weiterer  Verfolgung  der  Sache,  zu  den  Ge- 
dankengängen kommen,  auf  die  ich  selbst,  wie  sich  zeigen 
wird,  meine  Lehre  von  der  Autonomie  des  Lebendigen 
gegründet  habe. 

Doch  wir  müssen  die  Lehren  des  Philosophen  der 
embryologischen  Evolution  verlassen,  um  die  eigent- 
lichen biologischen  Theoretiker  unserer  Epoche  näher 
kennenzulernen . 


*)  Neues  System  über  die  Natur.  Nr.  10  (Übersetzung  von 
Habs).     Ähnlich  Monadologie  Nr.  64. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  39 

Buffon,  Needham,  Maupertuis. 

George  Louis  Leclerc  Buffon  (1702—1788)  hat 
in  seiner  berühmten  „Histoire  naturelle"1)  die  Vorgänge 
der  Zeugung  und  Entwicklung  einer  eingehenden  Analyse 
unterzogen.  Wir  haben  schon  angedeutet,  daß  ihn  diese 
Zergliederung  in  gewissem  Grade  in  beide  feindlichen 
Lager  hineinführt. 

Ein  Baum,  ein  Polyp,  kurz  Organismen,  welche  ihre 
Form  wiederherzustellen  oder  durch  Knospen  zu  ver- 
mehren vermögen,  sind  aus  lauter  kleinen  Teilen  zusam- 
mengesetzt zu  denken,  aus  denen  sie  wieder  hervorgehen 
können.  Diese  Teile  sind  gewissermaßen  sie  selbst 
verkleinert,  wie  die  Einzelkriställchen  eines  Salz würf eis 
er  selbst  verkleinert  sind.  Bei  den  Organismen,  welchen 
das  Vermögen  der  Knospung  und  der  Regeneration  abgeht, 
sind  wenigstens  die  Keime  solche  verkleinerte  Ganze. 

Alles  Wachstum  ist  also  nur  Anlagerung  gleicher, 
dem  Wesen  nach  schon  vorhandener  Teile :  im  Samenkorn 
ist  schon  der  Baum. 

Das  ist  strengster  Evolutionismus.  Aber  nun  ersteht 
für  Buffon  die  Frage:  sind  auch  im  Samenkorn  schon 
alle  künftigen  Samenkörner  ?  Und  diese  Frage  verneint 
er,  um  eine  Theorie  zu  erfinden,  welche  ihn  einerseits 
zum  Vitalisten  macht  und  welche  anderseits  der  be- 
kannten Pangenesislehre  Ch.  Darwins  in  gewissem  Grade 
ähnelt2): 

Eine  „innerliche  Form",  ein  ,,moule  interne"  ist  es, 
der,  selbst  schon  das  Ganze  als  Mannigfaltigkeit  dar- 
stellend, die  Entwicklung,  d.  h.  eigentlich  das  bloße 
Wachstum,  leitet,  der  der  neu  sich  ansetzenden  Materie 


1)  Paris  1749,  Band  II;  Teil  3  der  deutschen  Übersetzung 
Berlin   1771. 

2)  Man  beachte  hier,  daß  auch  schon  jene  von  Aristoteles 
abgelehnte  antike  Ansicht,  daß  der  Same  vom  ganzen  Körper 
stamme,  eine  Vorläuferin  der  Darwinschen  Pangenesislehre  war. 


40  I«  Der  ältere  Vitalismus. 

Ordnung  gibt,  welche  Ordnung  eben  „aus  der  Stellung 
aller  Teile  der  innerlichen  Form  entsteht"  (Hist.  nat.  III, 
S.  192). 

Aber  woher  stammt  jener  ,,moule  interne"  ?  Er 
stammt  nicht  wieder  von  einer  anderen  präexistierenden 
Form,  das  wäre  absurd,  sondern  er  ist  das  Ergebnis  be- 
sonderer, dem  Lebendigen  zukommender  Kräfte. 
Es  ist  interessant,  daß  Buffon  diesen  Kräften  nun  auch 
jene  aus  der  geordneten  Form  entspringende  geordnete 
Anlagerung  zuschreibt,  so  daß  also  auch  seine  evolutio- 
nistische  eigentliche  Entwicklungstheorie  keine  reine 
„Maschinentheorie"  ist. 

Die  Kräfte  aber,  deren  Ergebnis  der  ,,moule  interne" 
'ist,  betätigen  sich  so,  daß  sie  sich  des  Überflusses 
der  zum  Wachstum  dienenden  Materie  aller  Organe  be- 
mächtigen1) und  diesen  Überfluß  in  den  Generations- 
organen anhäufen  und  ordnen;  hier  eben  liegt  die  Ana- 
logie zur  Lehre  von  der  „Pangenesis".  Wie  freilich  alles 
im  einzelnen  zu  denken  ist,  das  bleibt,  wie  auch  schon 
alle  auf  die  bloße  Ernährungsphysiologie  bezüglichen  An- 
sichten unseres  Autors,  ziemlich  dunkel. 

Jedenfalls  wird  hier  die  Entstehung  der  Keime  im 
Sinne  eines  echten  Vitalismus  gefaßt,  und  wir  wiesen 
soeben  schon  kurz  darauf  hin,  daß  Buffon  trotz  seiner 
evolutionistischen  Entwicklungstheorie  auch  die  Ausge- 
staltung des  Keimes  durch  lebenseigene  Kräfte  geschehen 
läßt. 

Zur  Rechtfertigung  seiner  Auffassungsart  wendet 
sich  Buffon  vornehmlich  gegen  Descartes:  es  komme 
ihm  „gar  zu  eitel  und  unsicher  vor,  wenn  man  der  Materie 
gar  keine  anderen  Eigenschaften  beilegen  will,  als  die 
wir    einmal    an    ihr    erkannt    haben".     Die    Kraft    des 


x)  In  den  Spermatozoen  sieht  er  Überschuß teilchen,  die  in 
Bildung  des  „moule"  begriffen  sind;  je  für  sich  sollen  sie  sich 
weder  entwickeln  noch  etwas  erzeugen  können;  auf  alle  Fälle 
seien  sie  nicht,  wie  Leeuwenhoek  will,  präformierte  Tiere. 


C.  ,, Evolution"  und  „Epigenesis".  41 

„moule  interne"  sei  etwas  ebenso  Spezifisches  wie  die 
Schwerkraft. 

Hier  sehen  wir  unseren  Forscher  auf  recht  modernen 
Wegen,  wennschon  wir  den  in  seiner  Lehre  versteckten 
Hylozoismus  nicht  mitmachen  können.  Über  Methodisches 
überhaupt  äußert  er  sich  so  treffend,  daß  ich  nicht  umhin 
kann,  einen  entsprechenden  Gedanken  wörtlich  mitzu- 
teilen: Le  defaut  de  la  philosophie  d'Aristote  etoit  d'em- 
ployer  comme  tous  les  effets  particuliers,  celui  de  celle  de 
Descartes  est  de  ne  vouloir  employer  comme  causes, 
qu'un  petit  nombre  d'effets  generaux,  en  donnant  l'ex- 
clusion  a  tout  le  reste.  II  me  semble  que  la  philosophie 
sans  defaut  seroit  celle  oü  Ton  n'employeroit  pour  causes 
que  les  effets  generaux,  mais  oü  Ton  chercheroit  en  meme 
temps  ä  en  augmenter  le  nombre,  en  tächant  de  generaliser 
les  effets  particuliers"  (Hist.  nat.  II,  S.  50). 

Ausdrücklich  betont  Buffon  auch,  daß  er  mit  seiner 
lebenseigenen  Kraft  nichts  gegen  die  mechanischen 
Grundprinzipien  sagen  wolle,  welche  eben  nur  ,,die  all- 
gemeinen Wirkungen  der  Natur"  darstellen.  Weiter  aus- 
geführt, wie  es  nötig  wäre,  wird  dieser  Gedanke  freilich 
nicht;  nicht  also  wird,  wie  etwa  bei  Descartes  in  seiner 
Leib -Seelen-Theorie,  gesagt,  was  denn  an  den  mechani- 
schen Prinzipien  gewahrt  bleibe,  was  nicht;  eine  Frage, 
die  unbedingt  von  einem  Vitalisten  gestellt  und  beant- 
wortet werden  muß,  weil  ein  Allein -Mechanismus  ihm 
ja  doch  eben  nicht  genügt. 

Ich  denke,  man  wird  uns  nicht  tadeln,  wenn  wir  bei 
einer  Gesamtbeurteilung  von  Buffons  Leistungen  die 
methodologische  Rechtfertigung  seines  Vitalismus 
für  bedeutsamer  halten  als  diesen  Vitalismus  selbst.  Er 
selbst  ist  denn  doch  nichts  weniger  als  auch  nur  versuchs- 
weise bewiesen,  aber  daß  Buffon  seine  wissenschaft- 
liche Legitimität  darzutun  versuchte,  das  erhebt  den 
Vitalismus  aus  einem  naiven  zu  einem  bewußten.  Eben 
dadurch  erhebt  sich  Buffon  über  Stahl,  gegen  dessen 


42  L  Der  ältere  Vitalismus. 

Analytik  er  im  übrigen  weit  zurückbleibt,  daß  er  be- 
wußtermaßen betont:  ich  sage  hier  etwas  der  mechanisti- 
schen Theorie  gegenüber  Neues,  aber  ich  darf  dieses 
Neue  sagen,  womit  freilich  über  die  Richtigkeit  des  Ge- 
sagten nichts  ausgemacht  sein  soll. 

Buffons  Einfluß  war  weitreichend;  vor  allem  stehen 
unter  ihm  zwei  Männer,  welche  selbst  in  eigenen  Ge- 
danken weiterzugehen  suchten,  der  Präsident  der  Berliner 
Akademie,  Maupertuis,  bekannt  vornehmlich  wegen 
seines  mechanischen  Prinzips  vom  kleinsten  Zwange,  und 
der  englische  Jesuit  Needham. 

In  einer  Schrift  ,, Venus  physique"  (1746)  hat  Mau- 
pertuis seine  Ansichten  über  organische  Formbildung 
niedergelegt.  Er  sucht  sie  mit  Kristallisationsphänomenen 
in  Parallele  zu  stellen,  zumal  mit  der  in  der  Literatur 
jener  Zeit  eine  große  Rolle  spielenden  Erscheinung  des 
Dianenbaumes;  auch  in  dem  aus  der  Mischung  der  weib- 
lichen und  männlichen  Teile  entstandenen  Gemenge  sei 
eine  solche  ordnende  Kraft  tätig,  welche  die  richtige  Zu- 
sammensetzung der  Teile  leite  und  später  im  Wachstum 
erhalte.  Wie  man  sieht:  im  großen  und  ganzen  eine 
Variante  der  Lehre  Buffons. 

Tuberville  Needham1)  aber  betont  sogar  aus- 
drücklich bei  jeder  Gelegenheit  seine  Übereinstimmung 
mit  Buffons  Lehren.  Trotzdem  geht  eigentlich  das 
Hauptinteresse  Needhams  auf  etwas  anderes  als  Buffons 
Lehre,  nämlich  auf  die  Urzeugung  aus  in  Zersetzung 
befindlichen  organischen  Stoffen.  Aus  ihrer  angeblich 
nachgewiesenen  Existenz  zieht  er  alle  Beweise  dafür, 
daß  es  eine  ,,force  reelle  productrice"  in  der  Natur  gebe, 
,,une  force  vegetale  dans  chaque  point  microscopique  de 


x)  Nouvelles  observations  microscopiques,  avec  des  decou- 
vertes  interessantes  sur  la  composition  et  la  decomposition  des 
corps  organises.  Paris  1750.  Besonders  der  Seite  145  beginnende 
Abschnitt:  Observ.  nouv.  sur  la  generation,  la  composition  et  la 
decomposition  des  substances  animales  et  vegetales. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  43 

matiere  vegetale  ou  animale"  (Nouv.  Obs.  S.  230).  Wenn 
er  daneben  die  „germes  preexistens"  in  der  eigentlichen 
Fortpflanzung  leugnet,  so  ist  das  dann  freilich  auch  eine 
Folge  seiner  allgemeinen  Ansicht,  aber  im  einzelnen  streift 
er  das  wahrhaft  Morphogene tische  so  gut  wie  gar  nicht. 
Schärfer  noch  beinahe  als  Buffon  betont  er  das  Unauf- 
lösliche, eben  das  Vitalistische  der  Doktrin. 

Mit  den  allgemeinen  mechanischen  Prinzipien  hält 
auch  Needham  seine  Ansicht  für  vereinbar,  wie  er  denn 
überhaupt  lange  Erörterungen  über  Materie  und  Mechanik 
vorbringt.  Auch  hier  mutet  manches  recht  modern  an: 
,,La  matiere  n'est  q'un  pur  phenomene,  un  resultat  com- 
plexe  et  un  concours  de  plusieurs  effets  differens"  (1.  c.  268). 

Die  intelligente  Seele  erklärt  unser  Denker  für  etwas 
der  bildenden  Naturkraft  völlig  Fremdes. 

Einen  eigentlichen  Fortschritt  wird  man  kaum  in 
Needhams  Ausführungen  zu  sehen  geneigt  sein1). 


Caspar  Friedrich  Wolff. 

Caspar  Friedrich  Wolff  (1733—1794)  pflegt  meist 
als  der  Vater  der  epigenetischen  beschreibenden  Entwick- 
lungsgeschichte des  Individuums  angesehen  zu  werden. 
Wenn  das  mit  besonderer  Vorliebe  in  Geschichtsabrissen 
der  materialistisch-darwinistischen  Literatur  geschieht, 
und  wenn  man  hier  Wolff  wohl  gar  als  einen  Vorarbeiter 
Darwins  feiert,  so  hat  man  sich  offenbar  nicht  immer 
klargemacht,  daß  seine  Entwicklungslehre  zwar  epi- 
genetisch, aber,  wie  alle  epigenetischen  Theorien,  auch 
vitalistisch  gewesen  ist;  eben  deshalb  interessiert  uns 
Wolff  hier  an  dieser  Stelle. 


x)  Manche  Zitate  aus  Needham  bringt  H i s  in  seiner  „Körper- 
form". Man  kann  hier  lesen,  wie  Eva  durch  eine  Art  Knospung 
entstand,  und  daß  Needham  mit  seinem  jesuitischen  Kollegen 
Spallanzani  sich  über  die  mehr  oder  weniger  große  Frömmig- 
keit der  evolutionistischen  oder  der  epigenetisehen  Theorie  stritt. 


44  I«  Der  ältere  Vitalismus. 

Seine  „ Theoria  generationis"  ist  1759  erschienen; 
1896  ist  durch  Samassa  eine  deutsche  Übersetzung  des 
lateinischen  Originals  veranstaltet  worden1). 

Das  Prädelineationssystem,  sagt  Wolff ,  erklärt  nicht, 
sondern  leugnet  Entwicklung.  Es  gilt  die  „ Teile  des 
Körpers  und  die  Art  ihrer  Zusammensetzung"  aus  Prin- 
zipien und  Gesetzen  abzuleiten.  Eine  solche  Entwicklungs- 
theorie oder  ,, rationale  Anatomie"  würde  sich  zur  deskrip- 
tiven Anatomie  wie  rationale  Psychologie  zur  empirischen, 
wie  philosophische  Erkenntnis  zur  historischen  verhalten. 

Wahrlich  ein  tiefgehender,  vieles  verheißender  An- 
fang, der  zugleich  zeigt,  daß  Wolff  so  etwas  wie  der 
Begriff  der  „Entwicklungsphysiologie"  unserer  Tage  als 
Ideal  vorschwebte. 

Und  nun  tritt  er  in  die  Erörterung  der  Grundfrage 
ein;  das  aber  ist  diese:  ,,Wie  hängt  Leben  und  Maschine 
in  den  organischen  Körpern  zusammen  ?"  Hängen  beide 
von  einer  gemeinsamen  Ursache  ab  oder  eines  vom  an- 
deren; und  wenn  so,  trägt  dann  das  Lebendige  zur  Ma- 
schine oder  die  Maschine  zum  Lebendigen  bei  % 

Zuerst  wird  Pflanzenphysiologisches  herangezogen: 
Die  Kraft,  welche  Wasser  in  die  Pflanze  treibt,  kann 
,, nicht  bloß  eine  anziehende  sein";  das  „beweist  die  Aus- 
dünstung". Auch  hängt  die  Flüssigkeitsaufnahme  nicht 
,,von  der  feuchten  und  durch  Wärme  ausgedehnten  Luft" 
ab,  dagegen  spricht  das  Strömen  gerade  gegen  die  jüngeren 
Teile  und  die  Knospen  hin:  ,,die  Natur  baut  auf  einer  so 
wechselnden  und  unsicheren  Grundlage  nicht  Dinge  von 
so  großer  Wichtigkeit  auf". 

Wolff  konstruiert  sich  also  eine  besondere  lebenseigene 
Kraft,  die  er  vis  essentialis  nennt;  sie  wird  ausgestattet 
mit  Fähigkeiten,  welche  eben  den  von  ihr  verlangten 
Leistungen  entsprechen;  ,,dies  genügt  für  den  vorliegenden 
Zweck",  „jedenfalls  leistet  sie  die  angeführten  Wirkungen". 


J)  Klassiker  der  exakt.  Wissenseh.  Nr.  84/8/5. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  45 

Ganz  ähnliche  Folgerungen  ergeben  sich  nun  aus 
dem  Studium  der  von  Wolff  so  besonders  geförderten 
tierischen  Entwicklung.  Wie  geht  die  ernährende  Sub- 
stanz des  Eies  in  den  Embryo  über  ?,  so  lautet  hier  die 
Frage.  Das  geschieht  nicht  durch  Kontraktion  des  Her- 
zens oder  der  Gefäße,  auch  nicht  durch  Kompression  des 
Herzens  mittels  von  außen  wirkender  Muskelkontraktion, 
denn  das  Herz  steht  anfangs  mit  den  Arterien  gar  nicht 
in  Verbindung  und  schlägt  auch  nicht;  auch  sind  nicht 
etwa  präformierte  Kanäle  da.  Wiederum  also  ist  eine 
besondere  Kraft,  eine  ,,vis  essentialis"  am  Werk;  sie 
leitet  die  Epigenese,  wie  sie  auch  später  des  Erwachsenen 
Erhaltung  leitet. 

Von  großem  Interesse  ist  nun  Wolffs  Gedanke,  daß 
seine  Vis  essentialis  sich  mit  den  Agentien  des  Anorgani- 
schen zu  einer  Gesamtleistung  vereinigen  könne,  und  die 
Art  und  Weise,  wie  er  sich  solches  denkt:  hier  sehen  wir 
ihn  wieder  auf  Bahnen  durchaus  modernen  Denkens. 

Zunächst  kommt  es  auf  die  mehr  oder  weniger  große 
„Zähigkeit"  und  ,, Erstarrungsfähigkeit"  der  durch  die 
neue  Kraft  geleiteten  Teile  an,  auch  kann  sie  selbst 
schwächer  oder  stärker  sein;  überhaupt  kommen  eine 
ganze  Reihe  „akzessorischer  Prinzipien"  zu  dem  vitalen 
Prinzip  hinzu;  ist  es  „doch  klar,  daß  mit  der  Bildung 
des  Organischen  auch  ein  Körper  im  allgemeinen 
entsteht,  der  sich  durch  besondere  hinzukom- 
mende Einflüsse  eben  zu  einem  organischen 
Körper  gestaltet". 

Und  der  organische  Körper  braucht  „Einflüsse" 
von  außen,  so  z.  B.  den  Nahrungszufluß.  Nur  darf  nie 
vergessen  werden,  daß  „jene  Vorgänge,  nach  deren 
Entfernung  das  Leben  aufhört,  noch  nicht  zum 
Leben  beitragen  und  deshalb  nicht  als  Lebens- 
vorgänge zu  bezeichnen  sind",  ebensowenig  wie  der 
Faden,  an  dem  ein  Schwert  über  einem  hängt,  ein  Lebens- 
vorgang ist. 


46  I-  Dßr  ältere  Vitalismus. 

So  kann  denn  also  das  Fazit  gezogen,  die  eingangs 
aufgestellte  „Grundfrage"  beantwortet  werden:  „Die  in 
Entwicklung  begriffenen  Körper  sind  nicht  Maschinen." 
„Die  sich  entwickelnde  Substanz  ist  von  der  Maschine, 
von  der  sie  eingehüllt  ist,  wohl  zu  unterscheiden.  Die 
Maschine  aber  ist  als  das  Erzeugnis  derselben  anzusehen." 

Die  sich  entwickelnde  Substanz  aber  wirkt,  „inso- 
fern sie  mit  bestimmten  Eigenschaften  versehen",  nicht 
„insofern  sie  auf  eine  bestimmte  Art  zusammengesetzt 
ist".  Jeder  aus  der  Zusammensetzung  bestimmte  Vor- 
gang im  Organismus  ist  „nur  akzessorisch".  Er  beeinflußt 
oder  modifiziert,  „er  gehört  aber  nicht  zur  Zahl  der  die 
Entwicklung  bestimmenden  Ursachen". 

Hier  wird  also  eine  statische  oder  tektonische  Teleo- 
logie  ganz  ausdrücklich  zugunsten  einer  dynami- 
schen, eines  Vitalismus  abgelehnt,  mit  einfacheren 
Worten  kann  solches  gar  nicht  geschehen! 

Und  nun  setzt  sich  Wolff  noch  kurz  mit  Gegnern 
und  mit  ähnlich  Denkenden  auseinander: 

Es  kann  nicht  wundernehmen,  daß  er  die  „mecha- 
nische Medizin"  ein  „imaginäres  System"  nennt,  „das 
heißt  ein  solches,  dem  nichts  in  der  Natur  der  Dinge  ent- 
spricht". Es  werde  ja  sicherlich  manches,  wie  die  Blut- 
bewegung, die  Atmung,  die  Entleerungen,  das  Kauen  usw., 
„von  der  Maschine  vollbracht";  aber  diese  mechanischen 
Vorgänge  sind  eben  „nur  wie  ein  leichtes  Anhängsel  der 
Tiere  zu  betrachten"  und  vom  Tier  zu  unterscheiden. 

Mit  den  Ansichten  des  Botanikers  Ludwig,  Harveys 
und  Needhams,  der  hauptsächlichen  Vertreter  eines  epi- 
genetischen Vitalismus,  empfindet  Wolff  die  seinigen  als 
verwandt,  obschon  er  des  letzteren  Buch  „unerträglich 
konfus"  nennt,  und  obschon  er  zugibt,  daß  alle,  abgesehen 
von  der  seltsamen  „Konzeptions"lehre  des  Harvey,  über 
die  allgemeinsten  Feststellungen  des  Aristoteles,  daß 
eben  eine  erzeugende  Kraft  in  der  Natur  sei,  nicht  hinaus- 
kommen. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  47 

Wolff  beschließt  sein  Werk  mit  einem  Gedanken, 
der  ebenso  modern  klingt,  wie  derjenige,  mit  dem  er  es 
begann:  er  habe  „nichts  erklärt"  bezüglich  der  Vorgänge, 
deren  Maschinennatur  er  leugne;  er  habe  nur  ,,den  Zu- 
sammenhang, der  zwischen  der  Maschine  und  dem  Leben 
besteht,  untersucht",  ,,den  Ursachen  des  letzteren  aber 
dort,  wo  es  zu  der  Maschine  keine  Beziehung  hat,  nicht 
weiter  nachgeforscht". 

Hier  wird  man  geradezu  an  das  Newtonische  „hypu- 
theses  non  fingo"  und  an  Mach  sehe  Wendungen  erinnert1). 

Überblicken  wir  alles  bisher  Ausgeführte,  so  erscheint 
Wolff  als  klarster  und  tiefster  Vertreter  des  Vitalismus 
seit  Aristoteles;  er  versucht  wenigstens  zu  beweisen, 
obschon  man  die  Beweise  freilich  beanstanden  könnte. 
Er  ist  reich  an  Kenntnissen,  reich  an  philosophischer 
Bildung;  er  sagt  nichts  über  Dinge,  von  denen  er  nichts 
weiß;  er  beruhigt  sich  nicht  bei  Scheinlösungen.  Seine 
Lehre  ist  weniger  allumfassend,  sie  ist  viel  beschränkter 
als  die  Stahls:  eben  darum  ist  sie  biologisch  bedeutungs- 
voller. 


x)  Doppelsinnig  ist  eine  Äußerung  Wolffs  über  Stahl.  Im 
Scholion  4  des  §  255  der  Theoria  generationis  heißt  es:  „Et  cer- 
tissime  quidem  et  maxime  paterer,  si  Stahlii  .  .  .  sententiam  mihi 
imputes."  Samassa,  dem  ich  in  der  ersten  Auflage  dieses  Baches 
(S.  45)  und  dem  auch  E.  Rädl  gefolgt  ist,  übersetzt  paterer  im 
Sinne  von:  ich  würde  „zulassen",  also:  „mich  noch  am  meisten 
einverstanden  erklären,  wenn  .  .  .",  ein  Satz,  über  den  man  sich 
in  gewissem  Sinne  freilich  wundern  müßte,  da  ja  Stahl  stets 
ausdrücklich  von  der  vernünftigen  Seele  redet.  M.  Stenta 
hat  nun  in  der  italienischen  Ausgabe  der  ersten  Auflage  dieses 
Werkes  (S.  380)  betont,  daß  vaterer  auch  mit:  „ich  würde  (am 
meisten)  darunter  leiden  (wenn  .  .  .)"  übersetzt  werden  könnte, 
und  meint,  das  entspräche  mehr  dem  Geiste  des  vorsichtigen 
Wolff  sehen  Denkens.  Demjenigen,  der  hier  tiefer  dringen  will, 
seien  die  eingehenden  Erörterungen  des  italienischen  Forschers, 
der  auch  noch  andere  Stellen  bei  Wolff  heranzieht,  zum  Studium 
empfohlen. 


48  !•  Der  ältere  Vitalismus. 

Bonnet.    Haller. 

Wir  haben  schon  erwähnt,  daß  Swammerdam  der 
eigentliche  Urheber  des  Gedankens  der  „Evolution"  in 
dem  von  uns  definierten  Sinne  ist:  in  Bonnet  und  Hall  er 
haben  wir  die  bedeutendsten  biologischen  Durcharbeiter 
dieser,  wie  wir  wissen,  auch  von  Leibniz  angenommenen 
Lehre  vor  uns.  Alle  Evolutionisten  sind,  der  Natur  der 
Sache  nach,  ganz  vorwiegend  Vertreter  einer  statischen 
Teleologie,  eines  tektonischen  Gegebenseins  der  Grund- 
lage des  Zweckmäßigen.  ,, Vitalismus"  spielt  für  sie 
höchstens  nebenbei  eine  Rolle.  Deshalb  sind  sie  für  unsere 
Zwecke  von  geringerer  Bedeutung  und  können  nicht  in 
der  Breite  wie  die  Epigenetiker  von  uns  in  ihren  An- 
sichten studiert  werden. 

Charles  Bonnet  (1720 — 1793)  hat  seine  Ansichten 
über  Entwicklung  vornehmlich  in  seinem  Werke  ,,Con- 
siderations  sur  les  corps  organises"  (Amsterdam  1762) 
niedergelegt1).  Der  eigentliche  Triebgrund  seines  Über- 
gangs in  das  evolutionistische  Lager  ist  wohl  seine  Ent- 
deckung der  parthenogenetischen  Entwicklung  der  Blatt- 
läuse gewesen:  es  stecken  hier  in  der  Tat  mehrere  auf- 
einanderfolgende Generationen  der  Reihe  nach  ineinander, 
da  die  Eier  von  Embryonen  sich  schon  wieder  zu  ent- 
wickeln beginnen:  so  sah  man  denn  die  ,,Einschachtelung", 
welche  man  forderte,  gleichsam  in  Realität  vor  sich. 

,,11  n'est  point  dans  la  Nature  de  veritable  genera- 
tion;  mais  nous  nommons  improprement  Generation  le 
commencement.d'un  developpement  qui  nous  rend  visible 
ce  que  nous  ne  pouvions  auparavant  apercevoir"  (Cons. 
I,   169). 


x)  Über  Bonnets  Lehrsystem  hat  C.  O.  Whitman  eine  vor- 
zügliche Monographie  verfaßt,  auf  welche  hier  verwiesen  sei : 
,, Bonnets  Theory  of  Evolution.  A  System  of  Negations."  „The 
Palingenesia  and  the  Germ  Doctrine  of  Bonnet."  Biolog.  Lectures. 
Woods  Holl  in   1894.     Boston    1895. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  49 

In  diesen  Worten  ist  das  Wesentliche  aller  Evolu- 
tionslehre gut  ausgedrückt;  mit  Recht  hat  C.  F.  Wolf f  sie 
ein  Leugnen,  kein  Erklären  der  Entwicklung  genannt. 

Bbnnet,  als  „Ovulist",  legt  ganz  besonderes  Ge- 
wicht darauf,  daß  eben  vor  der  Befruchtung  der  Keim 
im  Ei  als  vollständig  geformtes  Wesen  existieren  müsse, 
und  er  ist  kritisch  genug,  zuzugeben,  daß,  wenn  man 
wirklich  das  Gegenteil  nachweise,  die  Theorie  fallen 
würde.  Aber  es  sei  dieses  Gegenteil  nicht  nachgewiesen: 
,,il  est  demontre  que  le  Poulet  existe  dans  l'oeuf  avant 
la  Fecondation" . 

Freilich  brauche  eine  ganz  exakte  Präexistenz  aller 
Proportionen  des  Keimes  nicht  angenommen  zu  wer- 
den: „Tandis  que  le  Poulet  est  encore  dans  l'etat  de 
Germe,  toutes  ses  Parties  ont  des  formes,  des  pro- 
portions,  des  situations  qui  different  extremement  de 
Celles  que  1' Evolution  leur  fera  revetir.  Cela  va  au  point, 
que  si  nous  pouvions  voir  ce  Germe  en  grand,  tel  qu'il 
est  en  petit,  il  nous  seroit  impossible  de  le  reconnoitre 
pour  un  Poulet"  (1.  c.  II,  295f.);  und  für  die  Säugetiere 
und  den  Menschen  gilt  das  gleiche1). 

Immerhin  betreffen  Änderungen  der  Form  nur  Äußer- 
liches; das  Wesentliche  derselben  dehnt  sich  nur  aus  im 
Verlauf  der  ,, Entwicklung".  Bonnet  sagt  einmal,  daß 
der  Keim  nur  Spezies-,  aber  keine  Individualcharaktere 
trüge:  er  sei  ein  Pferd,  aber  nicht  dieses  Pferd. 

Nicht  einmal  ein  Finger  dürfe  als  wahre  Neubildung 
zugelassen  werden;  das  habe  er  schon  früher  gesagt  als 
Haller,  der  es  jetzt  wiederhole,  aber  damals  noch  Epi- 
genetiker  gewesen  sei. 

Eine  gewisse,  in  der  Tat  nicht  vorhandene  Neu- 
bildung könne  dadurch  vorgetäuscht  werden,  daß  die  ver- 
schiedenen Teile  sich  verschieden  schnell  vergrößern. 

1)  L'homme  et  les  Quadrupedes,  dans  l'etat  de  Germe,  ont 
sans  doute  aussi  des  formes  et  des  situations  qui  ne  ressemblent 
nullement  ä  Celles  qu'ils  acquierrent  par  le  developpement  (1.  c.). 

Driesch,  Vitalismus.    2.  Aufl.  -A 


50  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

Auf  Auseinandersetzungen  mit  Gegnern  sich  einzu- 
lassen, hält  Bonnet  kaum  für  nötig;  Buffons  Ansichten 
werden  als  „des  Songes  qui  ne  sont  pas  meme  philo- 
sophiques"  (1.  c.  II,  256)  ebenso  kurz  wie  radikal  abge- 
wiesen. 

Die  in  Bonnets  „Palingenesie"  ausgesprochene  uni- 
versale Welttheorie  zu  erörtern,  ist  hier  nicht  der  Ort: 

,,Toutes  les  pieces  de  l'Univers  sont  donc  Contempo- 
raines.  La  Volonte  Efficace  a  realise  par  un  seul  acte 
tout  ce  qui  pouvait  l'etre."  Es  gibt  also  eigentlich  kein 
Neu- Geschehen  —  das  ist  ihr  Grundgedanke. 

Bei  Whitman  mag  man  hierüber  nachlesen;  bei  ihm 
wird  man  auch  das  Wesentliche  über  die  Beziehungen  der 
Evolutionslehre  zur  Auferstehung1)  finden,  sowie  über  die 
verschiedenen  Keimarten,  welche  eine  Seele  für  die  vor- 
adamische  Welt  gebraucht  hat,  für  die  gegenwärtige 
braucht  und  für  die  zukünftige  brauchen  wird:  alles  wird 
nach  Analogie  etwa  der  Insektenmetamorphose  behandelt. 
Auch  Anklänge  an  eine,  natürlich  präformiert  gedachte 
Deszendenz  finden  sich:  Affen  und  Elefanten  möchten 
wohl  einst  die  Newtons  und  Leibnize,  Biber  einst  die 
Vaubans  aus  sich  hervorgehen  lassen. 

Wichtiger  würde  es  uns  sein,  anstatt  solcher  Phan- 
tasien etwas  Näheres  über  die  Art  und  Weise  zu  erfahren, 
wie  Bonnet  sich  nun  den  eigentlichen  Vorgang  der  Aus- 
dehnungsentwicklung denkt ;  aber  da  erfahren  wir  nur,  daß 
der  Keim  zwischen  den  einzelnen  Elementar  teilen  sehr 
enge  Maschen  habe,  und  daß  später  die  durch  Ernährung 
hinzukommenden  fremden  Teile  diese  Maschen  erweitern. 
,,Le  Germe  n'est,  pour  ainsi  dire,  compose  que  d'une  suite 
de  points,  qui  formeront  dans  la  suite  des  lignes." 

Obwohl  manche  Schwierigkeiten  umgehend,  hat  Bon- 
net  doch   nie   versäumt,   wenigstens   der   wesentlichsten 

1)  Der  Auferstehungsglaube  scheint  der  psychologische  Aus- 
gang des  gesamten  biologischen  Theoretisierens  Bonnets  und 
übrigens  wohl  auch  Leibniz'  gewesen  zu  sein. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  51 

Dunkelheiten,  welche  ihm  bewußt  wurden,  Aufhellung 
zu  versuchen.  Bedenken  mußten  ja  namentlich  die  Re- 
sultate von  Zerstücklungsversuchen  machen,  wie  sie  z.  B. 
von  Trembley  an  Hydra  angestellt  waren:  da  wird  denn 
gesagt,  die  Hydra  sei  eben  eine  Wiederholung  sehr  vieler 
sehr  kleiner  Polypenkeime,  welche  nur  ihre  Entwicklungs- 
bedingungen erwarteten;  eigentliche  Schwierigkeiten 
macht  Bonnet  hier  nur  die  Frage  nach  der  Herkunft  der 
Seelen  für  die  vielen  Polypenknospen.  Zur  Erklärung 
echter  Regenerations Vorgänge  läßt  er  nur  Keime  von 
Ganzorganismen,  nicht  etwa,  wie  z.  B.  neuerdings  Weis- 
raann,  von  Organisationsteilen,  zu:  die  präformierten 
Ganzkeime  sind  so  geordnet,  daß  sie  sich  allemal  nur  so 
weit  ausdehnen,  wie  sie  das  Fehlende  zu  ersetzen  haben. 

Bonnet  braucht  also  keine  lebenseigenen  Wirkungs- 
weisen irgendwelcher  Art,  oder  meint  doch  wenigstens 
keine  zu  brauchen:  gegebene  Tektonik  leistet  ihm  im 
Verband  mit  Wirkungsweisen  sehr  einfacher  Art  alles. 
Bonnet  ist  also  kein  Vitalist.  Übrigens  ist  seltsam 
zu  sehen,  wie  er  eigentlich  nur  die  Alternative  seiner 
tektonischen  Teleologie  oder  einer  in  wüster  Weise  mecha- 
nisch-zufällig gedachten  Epigenese  sieht,  und  wie  ihm  die 
Möglichkeit  eines  geklärten  vorsichtigen  Vitalismus,  etwa 
im  Sinne  Wolffs,  gar  nicht  ins  Bewußtsein  kommt. 

Man  wird  vielleicht  einwenden,  daß  ein  Forscher,  der 
soviel  mit  der  ,, Seele"  operiere,  wie  Bonnet,  doch  als 
Vitalist  zu  bezeichnen  sei.  Im  einzelnen  führt  er  eine 
Leib- Seele-Theorie  aber  nicht  durch.  Vielleicht  ist  er  hier 
Cartesianer  gewesen,  hätte  dann  also  den  Allmechanismus 
an  einer  Stelle,  nämlich  für  den  aristotelischen  vovc  durch- 
brochen. 


Wie  Swammerdam  der  erste  Verkündiger,  Bonnet 
der  Begründer,  so  ist  Haller  der  eigentliche  Systemati- 
sierer der  Evolutionslehre. 

4* 


52  !■  Der  ältere  Vitalismus. 

Albert  Haller  (1708—1777),  der  bekannte  viel- 
gebildete Gelehrte  und  Künstler,  kann  so  recht  als  der 
typische  Vertreter  der  Lehre  von  der  Präformation  gelten ; 
fast  der  ganze  achte  Band  seiner  umfangreichen  ,,Elementa 
Physiologiae  corporis  humani"1)  ist  ihr,  ist  überhaupt  all- 
gemeinen Erörterungen  gewidmet.  Eine  so  weitgehende 
Vertiefung  der  Lehre  wie  bei  Bonnet,  ein  solches  Ringen 
um  Klarheit  finden  wir  aber  nicht  bei  ihm.  Alles  ist  mehr 
dogmatisch  behandelt,  ebenso,  obschon  natürlich  in  ent- 
gegengesetztem Sinne,  wie  bei  Stahl.  Vielleicht  hat 
gerade  das,  vielleicht  daneben  seine  Stellung  als  maß- 
gebender Professor  seinen  großen  Einfluß  bewirkt. 

Erscheint  uns  nun  auch  Haller  nicht  gerade  als 
selbständig,  so  wäre  es  doch  durchaus  verkehrt,  in  ihm 
den  kurzsichtigen  Fanatiker  zu  sehen,  als  welcher  er  meist 
in  Geschichtsskizzen  darwinistisch-materialistischen  Ur- 
sprungs erscheint.  Schon  His  hat  das  mit  Recht  hervor- 
gehoben. Man  pflegt  sich  bei  der  Verurteilung  Hallers 
auf  einen  nicht  gerade  eindeutigen  Goethe  sehen  Spruch 
zu  berufen,  angesichts  dessen  es  denn  doch  als  mindestens 
der  Frage  wert  bezeichnet  werden  kann,  ob  sich  so  etwas 
wie  „Kern"  und  ,, Schale"  nicht  an  der  Natur  unterscheiden 
lasse,  und  ob  nicht,  wer  nur  die  letztere  kennt,  als  „glück- 
seliger", in  naiver  Bedeutung  des  Wortes,  bezeichnet  zu 
werden  verdient.  Doch  wie  dem  auch  sei:  jedenfalls  ent- 
stellte man  Haller  ebensosehr,  wie  man  Wolff  entstellte, 
wenn  man  dessen  Hauptangelegenheit,  seinen  Vitalis- 
mus, seine  Ablehnung  der  Maschinentheorie  —  man  ist 
versucht  zu  sagen:  „cänogenetisch"  —  verschwieg. 

Kein  Forscher  jener  Zeit  ist  in  solchem  Grade  auf 
gegnerische  Ansichten  eingegangen,  wie  gerade  Haller; 
in  ganz  bewußtem  Gegensatz  zu  diesen  Ansichten,  die  ihn 
nicht  zu  überzeugen  vermochten,  wurde  er  Evolutionist, 


x)  Bern   1766.    —    Ich  sage  Albert  und  nicht  Albrecht,   da 
Haller  sich  selbst  auf  dem  Titel  ,, Albertus"  nennt. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  53 

wie  wir  ja  denn  schon  oben  erwähnten,  daß  er  anfangs  der 
epigenetischen  Schule  anhing. 

Hall  er  sucht  reine  Darstellung  des  Tatsächlichen, 
mit  fast  newtonischer  Wendung  lehnt  er  Hypothesen  ab: 
,, Hypothesin  nullam  admisi",  ,, Hypotheseos  neque  umbra 
subest' '.  Es  s  o  1 1  wenigstens  nicht  auch  nur  den  , ,  Schatten'/ 
einer  Hypothese  bei  ihm  geben;  ein  Wunsch,  dem  der  Sach- 
verhalt allerdings  nicht  entspricht. 

Gegen  Wolffs  vis  essentialis  wendet  er  ein1),  daß 
hier  keine  Antwort  auf  die  Frage  gegeben  werde,  warum 
denn  jene  Kraft  bei  einer  gegebenen  Spezies  immer  den 
Typus  bewahre,  anderseits  aber  so  viele  verschiedene 
Typen  schaffe,  wo  doch  die  unorganische  Materie  jede 
beliebige  Form  annehmen  könne.  Wir  werden  Haller 
hier  freilich  entgegnen,  daß  es  des  Hinzunehmenden  auf 
allen  Gebieten  der  Naturforschung  vieles  gäbe,  und  daß 
sein  Einwand  doch  erst  recht  auf  ihn  selbst  passe. 

Buffon  ferner  wisse  von  seinem  ,,modulus  interior" 
so  wenig,  daß  man  schon  gesagt  habe,  es  sei  ein  siebenter 
Sinn  nötig,  um  ihn  zu  begreifen2). 

Blinde  Kräfte  aber,  wie  Cartesianer  und  Mechanisten, 
wollen,  können  nichts  Geregeltes  aus  Regellosem  schaffen 
—  was  allerdings  wenigstens  C  a  r  t  e  s i  u  s ,  dem  die  Schöpfung 
ein  einmal  Geordnetes  ist,  auch  wohl  kaum  behauptet  hatte. 

Die  organisierende  Wirkung  von  Stahls  Seele  als 
rein  bewußter  geistiger  Potenz  sei  durch  ,, Versehen"  und 
ähnliche  Dinge  denn  doch  wohl  gar  zu  schlecht  bewiesen. 

x)  „Cur  vis  ea  essentialis,  quae  sit  unica,  tarn  diversas  in 
animale  partes  semper  eodem  loco,  semper  ad  eundem  archetypum 
struit,  si  materies  inorganica  mutabilis  et  ad  omnem  figuram 
recipiendam  apta  est?    Nulla  datur  responsio"  (1.  c.   S.  117). 

2)  Et  primum,  quid  sit  modulus  interior  ?  adeo  non  intelli- 
gunt  clarissimi  viri,  ut  ipsi  fateantur,  septimo  sensu  nos  egere, 
ut  intelligamus  (1.  c.  S.  122).  —  Treffend  wird  gegen  Buffon 
geltend  gemacht,  daß  reife  Tiere  doch  oft  gewisse  Organe  nicht 
mehr  (Larvenorgane  von  Frosch  und  Insekten)  oder  noch  nicht 
(Bart)  besäßen  und  doch  vererbten. 


54  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

Dann  aber  bleibt  nur  das  eine  übrig,  daß  d er  Embryo 
bereits  fertig  da  ist,  wenn  die  Konzeption  stattfindet1). 

Nulla  est  epigenesis:  Neubildung  gibt  es  nicht. 

So  schließt  Haller  sich  denn  also  durchaus  der  An- 
sicht Bonnets  an:  Gott  hat  alle  Strukturen  geschaffen, 
sie  entwickeln  sich  nicht,  sie  wachsen  nur;  kein  Teil  wird 
vor  dem  anderen  gebildet,  alle  sind  zugleich  da:  ,, Nulla 
igitur  in  corpore  animali  pars  ante  aliam  facta 
est  et  omnes  simul  creatae  existunt"  (1.  c.  S.  148). 

Mit  Hydra  und  den  Phänomenen  der  Regeneration 
findet  Haller  sich  ähnlich  wie  Bonnet  ab;  einige 
Schwierigkeit  macht  ihm  die  Rolle  des  doch  eigentlich 
überflüssigen  männlichen  Elementes:  es  fache  wohl  das 
Wachstum  gewisser  Teile  an2).  Auf  die  natürlich  absolut 
hypothetischen  Erörterungen  über  die  Entstehung  der 
Bastarde  können  wir  hier  nicht  eingehen. 

So  ist  denn  also  alles  erledigt :  wenn  der  fertige  Fötus 
im  Ei  bereitliegt  und  nur  der  Nahrung  bedarf,  um  zu 
wachsen,  dann  ist  jene  „höchste  Schwierigkeit  gelöst,  eine 
kunstvollste  Fabrik  aus  der  rohen  Materie  aufzubauen"3). 

Geordnete  unsichtbare  Materie  wird  also  zu  geord- 
neter sichtbarer4);  das  muß  so  sein,  und  wenn  man  es 
nicht  sieht,  so  beweist  das  gar  nichts  dagegen! 

Das  ist  wieder  klarste  Maschinentheorie,  statische 
Teleologie,  kein  Vitalismus.   Wenigstens  braucht  es  keiner 

x)  „Superest  id  unicum  ut  fetus  structus  et  fabricatus  sit, 
quando  conceptio  accessit"  (143). 

2)  „Spero  ostensurum  me,  esse  in  semine  mascnlo  vim,  quae 
certarum  partium  corporis  animalis  incrementum  promoveat  et 
tarnen  fundamentum  futuri  animalis  a  matre  esse"  (175). 

3)  „Si  in  matre  est  primordium  fetus,  si  id  structum  in  ovo 
est  et  hactenus  perfectum  ut  unice  recepto  alimento  egeat,  ex 
quo  convalescat,  soluta  est  illa  summa  difficultas  artificiosissimae 
fabricae  ex  bruta  materia  struendae"  (143). 

4)  „Si  viscera  paulatim  de  statu  invisibili  prodire  visa  sunt, 
non  ex  bruta  materie  in  conspicuam,  sed  ex  male  limitata  in 
melius  terminatam  transiisse  adnotavi"  (149). 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  55 

zu  sein,  wenn  schon  sich  Haller  über  die  natürlich  auch 
von  ihm  benötigten  Wachstumsagenzien  nicht  ausspricht. 
Auch  muß  es  im  unklaren  bleiben,  wie  weit  Haller  mit 
den  von  ihm  zwar  nicht  geschaffenen,  aber  sehr  eingehend 
diskutierten  physiologischen  Grundbegriffen,  vor- 
nehmlich denjenigen  der  Irritabilität1)  und  Kontrak- 
tilität,  etwas  Sondergesetzligfres  hat  bezeichnen  wollen; 
sie  könnten  auch  als  nur  vorläufig  zusammenfassende  Be- 
griffe gelten. 

Auf  Spallanzani,  den  verdienten  Experimentator, 
der,  theoretisch  unselbständig,  sich  B  o  n  n  e  t  und  H  a  1 1  e  r  in 
allen  allgemeinen  Fragen  anschloß,  haben  wir  hier,  ebenso 
wie  auf  viele  andere  verdiente  Männer,  nicht  einzugehen. 


Blumenbach. 


In  J.  F.  Blumenbach  (1752—1840)  erreicht  der 
ältere  Vitalismus  seinen  Höhepunkt  und  erreicht  zugleich 
dessen  zweite  Periode  ihren  Abschluß.  Die  dritte,  auf 
Kant  und  die  Naturphilosophie  folgende  Stufe  des 
älteren  Vitalisnms  hat  ein  Werk  von  der  Klarheit  der 
Blumenb achschen  Ausführungen  nicht  wieder  hervor- 
gebracht. 

Blume nbach  benutzt  alle  Vorteile  seiner  Vorgänger 
und  vermeidet  alle  Fehler  derselben ;  am  Ende  des  heftigen 
Streites  über  Epigenesis  und  Evolution  stehend  und  alles 
für  und  wider  scharf  überblickend,  hat  er  eines  nament- 
lich aus  diesem  Streite  gelernt:  daß  man  sich  unbefangen 
dem  empirisch  gegebenen  Sachverhalten  hingeben  soll. 
Auf  diesem  Wege  kommt  er  endlich  einmal  zu 
etwas,  das  wirklichen  ,, Beweisen"  seiner  Ansicht 
wenigstens  ähnlich  sieht,  und  kommt  dadurch 
endlich  einmal  wesentlich  weiter  als  Aristoteles. 

Zwei  Schriften  geringen  Umfanges  sind  es,  in  denen 
Blumenbach  uns  seine  Ansichten  mitteilt:  Die  ..Insti- 


*)  Dieser  Begriff  stammt  von   Glisson  (1596-1677). 


56  I-  T)er  ältere  Vital  ismus. 

tutiones  physiologicae"  (Göttingen  1787)  und  die  Schrift 
„Über  den  Bildungstrieb"  (Göttingen  1789),  letztere, 
nebenbei  bemerkt,  die  erste  in  deutscher  Sprache  ge- 
schriebene Untersuchung  unseres  Gebietes. 

Die  ,,Insti tutiones"  geben  uns  eine  gute  Gelegenheit, 
die  schon  anläßlich  Hallers  gestreifte  Lehre  der  physio- 
logischen Grundfunktionen^etwas  näher  kennenzulernen. 

Als  ,, vires  vitales",  als  ,, Lebenskräfte"  zählt  Blumen- 
bach in  üblicher  Art  Kontraktilität,  Irritabilität 
und  Sensibilität,  die  Vermögen  der  Zusammenziehbar  - 
keit,  der  Reizbarkeit  und  der  Empfindung,  auf;  sie  seien 
die  physiologischen  Grundphänomene,  welche  zusammen 
mit  der  ,,vita  propria",  mit  dem  ,, Eigenleben"  der  Teile, 
das  Funktionengetriebe  bedingen. 

Über  die  Natur  dieser  Grundkräfte  wird  nun  bei 
Blumenbach  ebenso  wie  bei  Haller  nicht  näher  ge- 
redet, und  es  bleibt  unentschieden,  ob  hier  eine  Eigen- 
gesetzlichkeit des  Lebendigen  gesehen  wurde  oder  nicht. 

Neben  die  genannten  Lebenskräfte  tritt  als  vierte 
der  Bildungs trieb,  „nisus  formativus",  sein  Bereich  ist 
die  Formbildung :  er  leitet  sie,  erhält  sie  durch  Ernährung 
und  stellt  sie  nach  Verstümmlungen  wieder  her;  er  ist 
eine  den  lebenden  Körpern  eigentümliche  Kraft: 
,,peculiaris  vis  corporibus  organicis  vi  vis  connata  et 
quamdiu  vivunt  perpetuo  actua  et  efficax"  (Inst.  S.  462). 
,,Nisus"  wird  er  genannt,  da  er  ja  den  ,, vires",  den  Kräften 
in  allgemeinerem  Sinne,  begrifflich  untergeordnet  ist,  als 
eine  vis  vitalis  neben  anderen. 

Kurz  ist  das  alles  ausgeführt;  ganz  kurz  auch  nur 
wird  in  den  ,,Insti tutiones"  so  etwas  wie  ein  Beweis  für 
das  Gesagte  durch  die  Aussage  geführt,  daß  nach  Mischung 
der  Geschlechtsflüssigkeiten1)  im  Uterus  erst  der  Bildungs- 


rl)  Die  Spermatozoon  sind  nach  Blumenbach  ,, Würmchen 
in  einem  stagnierenden  Saft"  (Bildungstrieb,  S.  1 1).  Gegen  ihre  Be- 
deutung spreche,  daß  sie  bei  ähnlichen  Tieren  oft  sehr  verschieden, 
bei  verschiedenen  oft  fast  identisch  seien. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  57 

trieb  wachgerufen  werde,  daher  denn  erst  in  der  dritten 
Woche  „trotz  so  vorzüglicher  optischer  Instrumente"  der 
Embryo  sichtbar  sei. 

Das  ist  wohl  nicht  viel  wert;  bedeutsam  sind  aber 
auch  schon  in  den  „Institutiones"  zwei  methodologische 
Bemerkungen:  einmal  wird  eine  gewisse  Verwandtschaft 
des  Nisus  zu  anderen  Naturagenzien,  wie  sie  den  Lichten - 
bergschen  Figuren  und  den  Kristallen  zugrunde  liegen, 
behauptet,  und  zweitens  tut  unser  Forscher  den  wichtigen 
Ausspruch :  der  nisus  formativus  sei  weniger  eine  Ursache, 
als  ein  ,,effectus  quidam  perpetuus  sibique  semper  similis" 
(463),  er  bezeichne  einen  ,, immer  wiederkehrenden  und 
sich  ähnlichen  Effekt",  und  in  ebendemselben  Sinne  und 
in  keinem  anderen  wende  man  doch  auch  die  Worte 
„Gravitation"  und  „Attraktion"  an. 

Das  war  in  der  Tat  ebenso  richtig  wie  der  Zeit, 
wenigstens  dem  zeitgenössischen  biologischen  Denken, 
voraneilend  gedacht. 

In  Blumenbachs  Schrift  ,,Über  den  Bildungstrieb" 
finden  wir  nun  eine  vertiefte  Ausführung  alles  in  den 
,,Institutiones"  Angedeuteten:  ein  richtiges  System  des 
Vitalismus. 

Eine  gute  geschichtliche  Skizze  leitet  diese  Schrift 
ein;  dann  folgt  eine  Bemerkung  über  sich  selbst,  daß 
nämlich  der  Autor  früher  ein  Anhänger  des  Evolutionis- 
mus gewesen  sei,  also  den  umgekehrten  Entwicklungs- 
gang wie  H aller  durchgemacht  habe.  Sein  Buch  ent- 
halte also  ,,das  Geständnis  eigener  Irrtümer"  (19);  aber: 
,,Ein  verbesserter  Irrtum  wird  oft  zu  einer  ungleich 
wichtigeren  Wahrheit  als  manche  positive  Wahrheiten,  die 
unmittelbar  als  solche  erkannt  werden"  (nach  De  Luc). 

Blumenbach  wiederholt  nun  die  früher  mitgeteilte 
Definition  des  Bildungstriebes;  er  betont  aufs  neue,  daß 
dieser  Trieb  neben  den  „übrigen  Arten  der  Lebenskraft" 
und  neben  den  „allgemeinen  physischen  Kräften  der 
Natur"  stehe. 


58  I«  Der  ältere  Vitalismus. 

Und  dann  folgt  eine  weitere  Ausführung  jener  vor- 
trefflichen methodologischen  Erörterung  über  die  begriff- 
liche Parallele  zwischen  „Bildungs trieb"  und  „Schwere": 
„Das  Wort  Bildungs  trieb,  so  gut  wie  die  Worte  Attrak- 
tion, Schwere  usw.,  soll  zu  nichts  mehr  und  nichts  weniger 
dienen,  als  eine  Kraft  zu  bezeichnen,  deren  konstante 
Wirkung  aus  der  Erfahrung  anerkannt  worden,  deren 
Ursache  aber  so  gut  wie  die  Ursache  der  genannten, 
noch  so  allgemein  anerkannten  Naturkräfte  für  uns 
qualitas  occulta  ist"  (25f.). 

Es  kann  gar  nicht  nachdrücklich  genug  gerade  auf 
diese  begriffskritische  Wendung  Blume nbachs  hinge- 
wiesen werden.  Wären  sich  alle  „Vitalisten"  der  Not- 
wendigkeit solcher  begrifflicher  Sauberkeit  stets  bewußt 
geblieben:  wahrlich,  der  späteren,  teilweise  sicherlich, 
wie  die  Verhältnisse  lagen,  berechtigten  Kritik  und 
Ablehnung  der  vitalistischen  Lehren  seitens  eines  Lotze, 
eines  Claude  .Bernard  wäre  der  Boden  entzogen 
gewesen. 

Man  höre  aber,  wie  ein  Zeitgenosse  Blumenbachs, 
der  jung  verstorbene,  verdiente  Histologe  und  Pathologe 
X.  Bichat  (1771 — 1802),  der  auch  einen,  freilich  nicht 
bewiesenen  und  sich  in  keiner  Weise  auf  die  Phänomene 
der  Formbildung  gründenden  Vitalismus  vertritt  und 
auch  sogar  seine  „proprietes  vitales"  mit  der  gravite, 
elasticite  usw.  auf  eine  Stufe  zu  stellen  behauptet,  von 
der  Gesetzlichkeit  des  Vitalen  denkt.  Gerade  des 
Gegensatzes  wegen  setze  ich  einen  längeren  Passus  aus 
dem  ersten  Bande  seiner  „Anatomie  generale"1)  hier  un- 
gekürzt hin: 

„Les  lois  physiques  sont  constantes,  invariables; 
elles  ne  sont  sujettes  ni  ä  augmenter  ni  ä  diminuer.  Dans 
aucun  cas  une  pierre  ne  gravite  avec  plus  de  force  vers 
la  terre  qu'ä  l'ordinaire."     „La  formule  etant  une  fois 

1)  Paris.  An  X.  (1801.)  Vgl.  femer  die  „Recherches  physio- 
logiques  sur  la  vie  et  la  mort".     4.  Auflage.    Paris  1822. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  59 

trouvee,  il  ne  s'agit  que  d'en  faire  l'application  ä  tous 
les  cas."  .  .  .  ,,Au  contraire,  a  chaque  instant  la  sen- 
sibilite,  la  contractilite  s'exaltent,  s'abaissent  et  s'alterent; 
elles  ne  sont  presque  jaraais  les  memes."  ,,Toutes  les 
fonctions  vitales  sont  suseeptibles  d'une  foule  de  varietes. 
Elles  sortent  frequemment  de  leur  degre  naturel  (!); 
elles  echappent  ä  toute  espece  de  calcul ;  il  f audroit  presque 
autant  de  formules,  que  de  eas  qui  se  presentent.  On  ne 
peut  rien  prevoir,  rien  predire,  rien  calculer  dans  leurs 
phenomenes.  Que  deviendroit  de  monde,  si  les  lois 
physiques  etoient  sujettes  aux  memes  agitations, 
aux  memes  variations  que  les  lois  vitales?"  (Anat. 
S.  Lllff). 

Eine  seltsame  Vorstellung  vom  Wesen  des  Natur- 
gesetzes ! 

Und  dabei  bringt  Bichat  sonst  manches  Gute  bei, 
wie  ,z.  B.  die  Scheidung  der  „proprietes  vitales"  von  den 
„proprietes  de  tissu",  von  denen  letztere  nur  durch  die 
Struktur  bedingt  sind  und  mit  ersteren  zusammen  die 
,,vita  propria"  ergeben;  wie  die  Bezeichnung  der  Tier- 
chemie als  ,,1'anatomie  cadaverique  des  fluides"  (Rech. 
S.  102)  und  ihre  Eliminierung  aus  der  wahren  Physiologie; 

« 

wie  die  Forderung,  man  müsse  in  der  Forschung  ,,remonter 
des  phenomenes  aux  principes,  et  ne  pas  descendre  des 
principes  aux  phenomenes"  (Rech.  p.  XIII)  usw. 

Aber  es  mangelt  hier  eben  an  einem  ganz  wesent- 
lichen Methodologischen,  an  der  Erkenntnis  des  Natur- 
gesetzlich-Festenim  Vitalen,  und  gerade  deshalb  tritt 
durch  ihren  Gegensatz  zu  den  Lehren  eines  an  und  für 
sich  sehr  verdienstlichen  Biologen  Blumenbachs  Be- 
deutung so  besonders  klar  hervor. 

Gehen  wir  nun  weiter  den  Gedankengängen  des  deut- 
schen Forschers  nach. 

Nach  kurzer,  nicht  ganz  sachgemäßer  Bezugnahme 
auf  Wolff ,  dessen  vis  essentialis  eigentlich  nur  Nährstoff 
treibend  und  insofern  nur  ,,ein  Requisit"  des  Bildung?- 


60  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

triebes  sei1),  nach  Worten  großer  Anerkennung  für  seinen 
Gegner  Hall  er,  schreitet  er  zu  den  Beweisen  seiner 
Lehre : 

Gegen  die  ,, Präformation"  und  für  „Epigenesis" 
sprechen  folgende  Erscheinungen:  erstens  die  Gallen; 
zweitens  die  Entstehung  neuer  Blutgefäße  um  abgekapselte 
Geschwülste  und  Fremdkörper;  ferner  die  Bildung  neuer 
Gelenke  nach  Knochenbrüchen ;  weiter  die  Tatsachen  der 
Bastardierung,  deren  Bedenklichkeiten  für  ihre  Lehre  ja 
die  Evolutionisten  selbst  zugeben;  endlich  die  reine  Beob- 
achtung. Es  werde  eben  doch  Neues  im  Laufe  der  Ent- 
wicklung gebildet,  und  dieses  sei  im  Keim  ebensowenig 
als  Form  enthalten  wie  der  Dianabaum  im  Silberamalgam. 

Auf  die  Entwicklungsgeschichte  von  Algen  und  von 
der  Hydraknospe  weist  Blumenbach  besonders  hin. 

Wollen  wir  ganz  streng  sein,  so  beweisen  alle  diese 
Dinge  nun  allerdings  nur  die  Epigenesis,  nicht,  wie  unser 
Autor  will,  ohne  weiteres  vitale  Eigengesetzüchkeit :  der 
Begriff  des  formativen  Wachstumgetriebes,  der 
Begriff  der  inneren  Struktur  ist  ihm  fremd;  daß  auf 
Grund  gegebener  minutiöser  Struktur,  deren  Teile  auf- 
einander wirken,  die  Entstehung  des  Organismus  prin- 
zipiell nicht  verstanden  werden  könne,  das  müßte  zum 
wirklichen  Beweise  des  Vitalismus  gezeigt  werden.  Immer- 
hin war  das  von  Blumenbach  als  Beweis  Vorgebrachte 
das  beste,  wozu  ihm  seine  Zeit  die  Mittel  gab. 

Bedeutend  vertieft  wird  nun  alles  noch  durch  Be- 
merkungen über  ,, Reproduktion",  d.  h.  über  Restitution 
in  unserer  Sprechweise:  hier  gehe  der  neue  Stoff  aus 
dem  alten  hervor,  wie  denn  bei  Hydra  der  regenerierende 
Stamm  kleiner  werde;  Entsprechendes  gelte  bei  der 
Heilung  großer  Wunden.  Man  habe  hier  nun  zwar  auch 
versucht,  mit  der  Annahme  präexistierender  Keime  aus- 


1)  Sie  komme  doch  auch  bei  Geschwülsten  in  Betracht; 
umgekehrt  bei  schlechter  Ernährung  trotz  vorhandenen  Bildungs- 
triebes  nicht.     Hier  mißversteht  B.  offenbar  Wolf  f. 


C.  „Evolution"  und  „Epigenesis".  61 

zukommen,  aber  das  gehe  gar  nicht  an  bei  den  Phänomenen 
der  Pfropfung  oder  wenn  eine  längsgespaltene  Hydra 
sich  durch  Zusammenrollen  ihrer  Längswundränder  schließt 
oder  in  ihrem  Innern  eine  neue  Bauchhöhle  bildet. 

Überhaupt  müsse  man  scharf  diejenige  Art  der  Wieder- 
herstellung, bei  welcher  neuer  Stoff  erzeugt  werde,  trennen 
von  derjenigen,  bei  welcher  ,,nur  die  gestörte  Bildung 
wiederhergestellt  zu  werden  braucht:  eine  Art  von 
Reproduktion,  die  um  so  sorgfältiger  von  den  übrigen 
unterschieden  und  abgesondert  werden  muß,  je  weniger 
sie  sich  mit  den  prätendierten  Keimen  vergleichen  läßt, 
und  je  größer  hingegen  das  Übergewicht  ist,  das  die  Lehre 
vom  Bildungstrieb  durch  sie  erhält". 

Hier  glaubt  man  wahrlich  einer  entwicklungsphysio- 
logischen  Erörterung  aus  den  neunziger  Jahren  des  ver- 
flossenen Jahrhunderts  beizuwohnen:  sowohl  Roux  als 
dem  Schreiber  dieses  Buches  gegenüber  hat  hier  Blumen- 
bach in  einer  sehr  wichtigen  Sache,  nämlich  in  der  Auf- 
stellung des  Begriffs  nicht-regenerativer  Restitution1),  die 
Priorität ! 

Und  nun  kommt  gar  noch  ein  Gedanke,  durch  den 
unser  Forscher  Gustav  Wolff  gegenüber  „Priorität" 
beanspruchen  kann:  Wie  solle  doch  wohl  bei  Heilungen 
und  ähnlichem,  angesichts  der  Zufälligkeiten  dieser  Dinge, 
alles  präformiert  sein?  „Es  wäre  eine  starke  Zumutung, 
jemand  davon  zu  überreden."  Solches  ist  in  klarster  Form 
der  Begriff  der  „primären  Zweckmäßigkeit",  der  hier,  wie 
bei  G.  Wolff,  gegen  die  Präformation  und  für  vitale  Auf- 
fassungsart  ins  Feld  geführt  wird. 

Dem  Mitgeteilten  gegenüber  treten  die  näheren  Aus- 
führungen Blumenbachs  über  die  Art  und  Weise  der 
Wirkung  seines  Bildungstriebes,  als  der  Natur  der  Sache 

nach  sehr  unbestimmten  und  vorläufigen  Charakters,  an 

, .  \ 

x)  Unter  „Regeneration"  wird  von  uns  nur  die  durch 
Sprossung  von  der  Wundfläche  aus  geschehende  Wiederher- 
stellung entnommener  Teile  verstanden. 


62  I"  D©r  ältere  Vitalismus. 

Bedeutung  zurück,  und  es  bedarf  höchstens  noch  der  Mit- 
teilung, daß  auch  Mißbildungen  noch  bestimmten  Bahnen 
folgen,  noch  ,,an  sehr  bestimmte  Gesetze  gebunden"  seien, 
obwohl  hier  äußere  Ursachen  die  Leistungen  des  Bildungs- 
triebes stören. 

So  stehen  wir  denn  am  Ende  der  zweiten  Periode  des 
älteren  Vitalismus  und,  wie  schon  gesagt,  zugleich  an 
seinem  Höhepunkt.  Vergleichen  wir  Anfang  und  Ende 
dieser  Periode,  also  Harvey  und  Stahl  auf  der  einen 
mit  C.  Fr.  Wolff  und  Blumenbach  auf  der  anderen 
Seite,  so  fällt  vor  allem  eines  auf:  aus  einem  Anhängsel 
der  Philosophie,  aus  einer  Lehre,  welche  ihre  Prinzipien 
fertig  aus  der  vorliegenden  philosophischen  Dogmatik 
—  und  alle  Philosophie  beinahe  war  ja  noch  Dogmatik  — 
bezog,  ist  die  Biologie  zu  einer  klar  und  fest  fundierten 
Naturwissenschaft  geworden.  Erst  jetzt,  erst  am  Ende 
der  zweiten  Periode  des  älteren  Vitalismus  ist  man  über 
die  Leistungen  der  ersten,  ist  man  über  Aristoteles 
hinausgekommen.  Das  war  C.  Fr.  Wolffs  und  vor  allem 
Blumenbachs  Verdienst. 


D.  Kants  „Kritik  der  Urteilskraft44. 

Unsere  Aufgabe  ist  es  nicht,  eine  Philosophiegeschichte 
zu  schreiben  oder  auch  nur  vollständig  zu  vermerken,  was 
dieser  und  jener  Philosoph  aus  seinem  System  heraus  über 
Biologisches  gedacht  habe.  Nur  wenn  eine  philosophische 
Lehre  den  Typus  der  Biologie  auf  einen  langen  Zeitraum 
hin  durchgreifend  beeinflußt,  haben  wir  darauf  kurz  die 
Aufmerksamkeit  gelenkt  und  werden  sie  darauf  lenken: 
ersteres  war  in  bezug  auf  die  Lehren  des  Descartes  und 
Leibniz  der  Fall,  letzteres  wird  mit  Rücksicht  auf  die 
Theoreme  der  sogenannten  ,, deutschen  Idealisten" 
und  Schopenhauers  der  Fall  sein. 


D.   Kants  „Kritik  der  Urteilskraft".  63 

Wenn  wir  mit  Kant  eine  Ausnahme  von  unserem 
Vorgehen  machen,  wenn  wir  vorhaben,  den  Inhalt  seiner 
,, Kritik  der  Urteilskraft"  sogar  besonders  eingehend 
hier  zu  analysieren,  so  hat  das  seinen  Grund  in  der  außer- 
ordentlichen, durchaus  ungewöhnlichen  Bedeutung,  welche 
dieses  Buch  bis  auf  unsere  Zeit  hin  gewonnen  hat.  Nicht 
daß  ich  glaubte,  es  hätten  allzu  viele  der  heutigen  Biologen 
Kants  Werk  gelesen;  ich  weiß  vielmehr,  daß  das  nur 
sehr  wenige  getan  haben.  Aber  man  hat  davon  gehört  von 
einem  anderen,  der  auch  davon  gehört  hat,  und  dann  — 
läßt  man  sich  auch  darüber  hören.  Dieser  Mißstand  muß 
aufhören,  und  dazu  hoffen  wir  wenigstens  ein  Geringes 
beitragen  zu  können. 

An  und  für  sich  betrachtet,  würde  Kants  Werk, 
seiner  grundlegenden  und  einzigartigen  Bedeutung  unbe- 
schadet, nicht  eine  so  eingehende  Analyse  in  einem  der 
Geschichte  naturwissenschaftlicher  Lehren  gewidmeten 
Buche  erfordern;  denn,  um  dieses  eine  Wichtige  allem 
vorauszuschicken : 

Man  würde  sehr  fehlgreifen,  wenn  man  an- 
nehmen wollte,  die  Zergliederung  biologischer 
Fragen  sei  der  eigentliche  Zweck  gewesen,  den 
Kant  bei  Abfassung  seiner  ,, Kritik  der  Urteils- 
kraft" verfolgte;  ja.  nicht  einmal  der  sich  als  Er- 
gänzung der  Vernunftkritik  nebenbei  ergebende  Satz,  daß 
der  Schluß  von  der  Zweckmäßigkeit  der  Natur  auf  einen 
persönlichen  Schöpfer  derselben  unerlaubt  sei,  war  dieses 
Buches  eigentliches  Ziel. 

Am  Anfang  und  am  Schluß  des  Buches  steht  deutlich 
zu  lesen,  was  Kants  eigentliche  Absicht  gewesen  ist: 

Die  Welt  der  Natur  und  die  Welt  der  Freiheit  sind 
zwei  verschiedene  Welten,  die  an  und  für  sich  ohne  Ein- 
fluß aufeinander  sind;  aber  die  Welt  der  Freiheit  soll, 
nämlich  im  menschlichen  sittlichen  Handeln,  Einfluß  auf 
die  andere  Welt  gewinnen.  Daher  muß  die  Natur  so  ge- 
dacht werden  können,  daß  das  möglich  ist;  es  muß  einen 


64  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

Grund  der  Einheit  des  Übersinnlichen,  das  der  Natur 
zugrunde  liegt,  und  des  Inhalts  des  Freiheitsbegriffes 
geben:  dieser  Grund  ist  der  Zweckgedanke. 

Das  Ziel  der  ,, Kritik  der  Urteilskraft''  ist  also 
ethisch,  nicht  naturphilosophisch.  Die  Teleologie  soll 
Natur  und  Moral  versöhnen. 

Was  das  heißen  solle,  ob  es  überhaupt  und  ob  es  in 
der  Kantischen  Form  möglich  ist,  das  geht  uns  nun  in 
diesem  Buche  durchaus  nichts  an :  wir  müssen  aber  wissen, 
was  Kant  wollte,  um  sein  Vorgehen  nicht  grundsätzlich 
falsch  zu  beurteilen. 

Von  Windelband  ist  einmal  Kants  ,, Kritik  der 
Urteilskraft"  als  bestes  seiner  Werke  bezeichnet  worden. 
Wir  wollen  über  dieses  Urteil  nicht  rechten,  soweit  das 
Ganze  des  Werkes  im  Ganzen  von  Kants  Gedankenwelt 
in  Betracht  kommt.  Soweit  uns  der  Inhalt  der  dritten 
Kritik  näher  angeht,  in  Hinsicht  der  Sonderausführung 
einer  Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft  können  wir 
aber  jenem  Lobe  nicht  beipflichten:  die  Durchführung 
dieser  Aufgabe  ist  weit  entfernt  von  der  Klarheit  der 
Vernunftkritik,  ganz  besonders,  wenn  man  an  deren  erste 
Hälfte  denkt;  fortwährende  Wiederholungen,  zum  Teil 
einem  eigensinnigen  Schematismus  zuliebe  durchgeführt, 
machen  die  Lektüre  ermüdend  und  nicht  gerade  immer 
klarer,  und  das  Endergebnis  bleibt  gerade  in  Hinsicht 
des  Biologischen,  wie  wir  sehen  werden,  zweifelhaft, 
oder  doch  wenigstens  nicht  ganz  eindeutig  entschieden; 
daher  denn  auch  Vertreter  der  allerverschieden- 
sten  biologischen  Ansicht,  meist  allerdings,  wie 
gesagt,  nicht  gerade  nach  tiefer  Einsichtnahme 
der  Kantischen  Lehren,  sein  Buch  zu  ihren 
Gunsten  auslegen  konnten. 


Die  Urteilskraft  ist  das  Vermögen,  das  Besondere  als 
im  Allgemeinen  enthalten  zu  erkennen;  sie  ist  bestim- 
mend, wenn  unter  das  gegebene  Allgemeine  subsumiert 


D.   Kants  „Kritik  der  Urteilskraft".  65 

wird,  sie  ist  reflektierend,  wenn  zum  gegebenen  Be- 
sonderen das  Allgemeine  gesucht  wird. 

Soll  die  Gesamtheit  des  der  äußeren  Erfahrung  Ge- 
gebenen in  diesem  Sinne  reflektierend  beurteilt  werden, 
so  braucht  man  ein  Prinzip,  das  nicht  von  der  Erfahrung 
entlehnt  wird,  sondern  welches  die  reflektierende  Urteils- 
kraft sich  selbst  gibt.  Es  gibt  nun  ein  solches  Prinzip,  und 
zwar  sagt  dieses  aus,  daß  Natur  dergestalt  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt einer  Einheit  zu  betrachten  sei,  als  ob  ein 
Verstand  sie  für  unser  Erkenntnisvermögen  passend  ge- 
macht habe.  Aber  es  handelt  sich  hierbei  um  ein  Gesetz 
nur  für  die  reflektierende  Urteilskraft,  nicht  für  Natur. 

Es  ist  nun  „Zweck"  der  Begriff  von  einem  Objekt, 
sofern  er  zugleich  den  Grund  zur  Wirklichkeit  des  Objektes' 
enthält;  Zweckmäßigkeit  der  Form  eines  Dinges 
ist  seine  Übereinstimmung  mit  derjenigen  Beschaffenheit 
der  Dinge,  welche  nur  nach  Zwecken  möglich  ist:  Zweck- 
mäßigkeit der  Natur  ist  also  jenes  Prinzip  der  reflek- 
tierenden Urteilskraft,  und  zwar  ein  „transzendentales 
Prinzip"1). 

Der  Satz  vom  kürzesten  Weg,  das  Fehlen  der  Sprünge 
in  der  Natur,  ihre  Mannigfaltigkeit  trotz  Einheit  der 
Prinzipien  sind  Beispiele2)  für  das  Gesagte.  In  allen  diesen 
Fällen  wird  nicht  gesagt,  wie  geurteilt  wird,  sondern 
wie  geurteilt  werden  soll. 

Es  gilt  scharf  zwischen  den  a  priori  erkannten  „all- 
gemeinen Gesetzen  der  Gleichförmigkeit"  der  Natur  und 
der  „Spezifizierung"  dieser  Gesetze  nach  dem  Prinzip  der 
Zweckmäßigkeit  zu  scheiden.  Nach  dem  Erörterten  ent- 
spricht also  die  Mannigfaltigkeit  der  Natur  in  Hinsicht 


*)  Also  keine   „Kategorie". 

2)  Das  erste  Beispiel  dürfte  denn  doch  anderen  Charakters 
sein  als  die  beiden  letzten:  es  bezieht  sich  auf  Kausalität,  auf 
Veränderungsgesetzlichkeit,  diese  beiden  aber  beziehen  sich  auf 
Tektonik  der  Natur.  Kant  macht,  wie  unser  Text  sogleich  zeigen 
wird,  selbst  diesen  Unterschied. 

Drie seh,  Vitalismus.    2.  Aufl.  5 


66  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

ihrer  Besonderheiten,  ihrer  besonderen  Tektonik 
unserem  „Bedürfnis"  nach  dem  Prinzip  der  Zweck- 
mäßigkeit, während  die  allgemeine  Form  der  Natur- 
gesetzlichkeit überhaupt  schon  durch  die  Kategorienlehre 
erledigt  ist;  daher  denn  auch  nur  die  Auffindung  der 
ersten,  nicht  die  Erkenntnis  der  zweiten  Lust  erzeugt. 
Das,  was  hier  „zweckmäßig"  ist,  und  zwar  mit  Beziehung 
auf  unseren  erkenntnismäßigen  Wunsch,  ist  also,  kurz 
gesagt,  die  „glückliche  Tatsache"  (Lotze)  der  Systemati- 
sier barkeit  der  Natur,  eine  Tatsache,  von  der  übrigens 
Kant  nur  in  der  Einleitung  seines  Werkes  redet. 

Es  beurteilt  nun  nach  Kant  die  ästhetische 
Urteilskraft  die  formale  Zweckmäßigkeit  durch  das 
Gefühl  der  Lust  und  Unlust,  die  teleologische  Urteils- 
kraft aber  beurteilt  die  reale  Zweckmäßigkeit  durch 
Verstand  und  Vernunft.  Erstere  beurteilt  nach  einer 
Regel,  aber  nicht  nach  Begriffen;  letztere  ist  die  reflek- 
tierende Urteilskraft  überhaupt,  sie  beurteilt,  wie  alle  Er- 
kenntnis, nach  Begriffen,  aber  „in  Ansehung  gewisser 
Gegenstände"  nach  „besonderen  Prinzipien"1).  Über  die 
Seltsamkeit  des  Unternehmens,  die  ästhetische  Schau 
dem  Begriff  der  Zweckmäßigkeit  überhaupt,  sei  es  auch 
nur  in  „formalem"  Sinne,  zu  subsumieren,  ist  hier  natür- 
lich zu  reden  nicht  der  Ort. 

Soweit  die  begriffsklärende,  nicht  ganz  leicht  ver- 
ständliche Einleitung  des  Werkes.  Es  folgt  die  Kritik  der 
ästhetischen  Urteilskraft,  die  uns  hier  fernliegt;  ihr  folgt 
die  Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft,  und  zwar  zunächst 
als  „Analytik". 

Ehe  wir  zu  ihrer  Darstellung  schreiten,  merken  wir 
an,  daß  in  der  Einleitung  ganz  offenbar  eine  Verwechslung 
von  Allgemeinheit  mit  etwas  anderem,  das  Kant 
„Zweckmäßigkeit"  nennt,  das  aber  wohl  passender  Ganz- 
heit heißen  sollte,   vorliegt.    Wenn  nämlich   die  reflek- 


1)  Also  abermals :  Teleologie  ist  nach  Kant  keine  „Kategorie". 


D.   Kants  „Kritik  der  Urteilskraft".  67 

tierende  Urteilskraft  vom  Besonderen  aus  das  Allgemeine 
finden  will  —  und  das  ist  nach  Kant  ihr  def ini torisch » 
festgelegtes  Wesen  — ,  so  sollte  man  eigentlich  nur  so 
etwas  wie  etwa  die  Auffindung  des  (allgemeinen)  New- 
tonischen Gesetzes  aus  den  (besonderen)  Gesetzen  Keplers 
ihr  zuschreiben.  Aber  was  hier  plötzlich  der  Zweckbegriff 
zu  tun  haben  soll,  ist  nicht  klar,  womit  natürlich  nicht  der 
Bedeutung  dieses  Begriffs,  sondern  nur  die  Legitimität 
seiner  (sehr  gekünstelten)  Einführung  bestritten  werden  soll. 


Die  Analytik  beginnt  mit  der  abermaligen  Ablehnung 
der  kategorialen  Natur  der  Zweckmäßigkeit:  es  ist  „in 
der  allgemeinen  Idee  der  Natur"  a  priori  kein  Grund 
dafür,  daß  Naturdinge  einander  Mittel  und  Zweck  seien, 
und  daß  nur  nach  teleologischer  Kausalität  ihre  Möglich- 
keit verständlich  sei.  Teleologie  wird  also  nur  proble- 
matisch, nur  analogienhaft  zur  Naturforschung  gezogen, 
ohne  die  Anmaßung  einer  Erklärung,  d.  h.  eben  nur  im 
Sinne  reflektierender  Urteilskraft.  Man  hat  so  wenigstens 
eine  Regel  als  Prinzip,  wo  Kausalität,  wie  noch  näher  zu 
erörtern  ist,  nicht  genügt. 

Teleologie  ist  also  nur  ein  regulatives  Prinzip  der 
Beurteilung;  sie  als  konstitutives  Prinzip  ansehen 
würde  aber  bedeuten,  ,,eine  neue  Kausalität  in  die  Natur- 
wissenschaft einführen,  die  wir  doch  nur  von  uns  selbst 
entlehnen  und  anderen  Wesen  beilegen,  ohne  sie  gleich- 
wohl mit  uns  als  gleichartig  annehmen  zu  wollen". 

Hier  stoßen  wir  auf  die  erste  Stelle  des  Kantischen 
Werkes,  welche  biologisch  bedeutsam,  zugleich  freilich 
etwas  dunkel  erscheint.  Es  ist  ja  allerdings  an  diesem 
Orte  noch  nicht  die  Rede  davon,  auf  was  in  der  Natur 
im  besonderen  denn  eigentlich  der  Zweckmäßigkeitsbegriff 
angewendet  werden  solle,  also  ist  auch  noch  nicht  aus- 
gemacht, inwiefern  denn  etwa  ,,eine  neue  Kausalität 
eingeführt"   werden  würde  durch  Zulassung  der  Zweck- 

5* 


68  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

mäßigkeit  als  konstitutiven  Prinzips,  ob  als  Schöpfung 
oder  als  Kausalitätsart  innerhalb  der  Natur;  eines  aber 
wird  klar  ausgesagt,  daß  wir  diese  ,,neue  Kausalität" 
„von  uns  selbst  entlehnen".  Da  „wir"  nun  zur  Natur 
gehören,  so  gibt  es  also  denn  doch  wohl  diese  ,,neue 
Kausalität"  irgendwo  und  irgendwie  in  der  Natur! 

Doch  sollten  diese  Bemerkungen  nur  die  Aufmerk- 
samkeit anregen,  und  wir  gehen  einstweilen  weiter: 

Nach  kurzen  Bemerkungen  über  objektive,  aber  bloß 
formale  Zweckmäßigkeit,  wie  zum  Beispiel  diejenige 
mancher  geometrischer  Figuren  zur  Lösung  von  Proble- 
men, eine  recht  seltsame,  wenig  in  den  Zusammenhang 
passende  Angelegenheit  übrigens,  behandelt  Kant  nun 
der  Reihe  nach  als  „objektiv-materiale  Zweckmäßigkeit": 
die  relative  Zweckmäßigkeit  in  der  Natur,  die 
Dinge  als  Naturzwecke  und  die  Natur  als  System 
der  Zwecke. 

Von  objektiver  materialer  Zweckmäßigkeit  kann 
nur  die  Rede  sein,  wenn  ein  Verhältnis  von  Ursache  und 
Wirkung  vorliegt,  „welches  wir  als  gesetzlich  einzusehen 
uns  nur  dadurch  vermögend  finden,  daß  wir  die  Idee 
der  Wirkung  der  Kausalität  der  Ursache,  als  die  dieser 
selbst  zum  Grunde  liegende  Bedingung  der  Möglichkeit 
der  ersteren  unterlegen".  Solche  Zweckmäßigkeit  ist  nun 
relativ,  wenn  sie  bloß  Mittel  zu  anderem  Zweck  ist,  wie 
z.  B.  der  Flußschlamm  für  das  Wachstum  der  Pflanzen. 
In  solchem  Fall  kann  sehr  wohl  auch  ohne 
Teleologie  die  Wirkung  aus  der  Ursache  be- 
griffen AVer  den;  es  handelt  sich  um  „zufällige"  Zweck- 
mäßigkeit oder  bloße  „Zuträglichkeit",  die  natürlich  über- 
haupt nur  einen  Sinn  hat,  wenn  sie  in  Hinsicht  auf  einen 
wirklichen  „Naturzweck"  gilt.  Als  tiefer  bedeutsam  er- 
scheint nur  die  relative  Zweckmäßigkeit  der  Geschlechter 
in  bezug  aufeinander. 

Also,  so  möchten  wir  beifügen,  kann  relative  Zweck- 
mäßigkeit eben  doch  bedeutsam  sein.      Uns  scheint,  als 


D.   Kants  „Kritik  der  Urteilskraft".  69 

habe  das  Problem  der  relativen  Zweckmäßigkeit  eine 
größere  Verwandtschaft  zum  Problem  der  „Natur  als 
System  der  Zwecke",  als  Kant  anzunehmen  scheint. 

Ein  Ding  ist  nun  aber  unbegreiflich  durch  den  „Mecha- 
nismus der  Natur",  und  wir  sind  genötigt,  eine  Ursache, 
„deren  Vermögen  zu  wirken  durch  Begriffe  bestimmt 
wird",  einzuführen,  wenn  „seine  Form  nicht  nach  bloßen 
Naturgesetzen  möglich  ist,  d.  h.  nach  solchen,  welche  von 
uns  durch  den  Verstand  allein,  auf  Gegenstände  der  Sinne 
angewandt,  erkannt  werden  können",  sondern  wenn  „Be- 
griffe der  Vernunft"  einzusetzen  haben.  Die  Form  solches 
Dinges  erscheint  hier  kausal  „zufällig". 

Kant  untersucht  nun,  wann  dieser  Fall  vorliege: 
er  liege  z.B.  vor,  wenn  man  in  einer  Wildnis  die  Zeichnung 
einer  geometrischen  Figur  finde.  Die  Zufälligkeit  solcher 
würde  so  groß  sein, , ,  als  ob  es  dazu  gar  kein  Naturgesetz  gäbe' ' , 
und  man  würde  ausrufen:    „vestigium  hominis  video"1). 

Hier  handele  es  sich  nun  um  ein  Produkt  der  Kunst. 

Ein  „Natur zweck"  aber  liegt  vor,  „.wenn  ein  Ding 
von  sich  selbst  (obgleich  in  zweifachem  Sinne)  Ursache 
und  Wirkung  ist".  Kant  erläutert  das  zunächst  durch 
Schilderung  dessen,  was  man  heute  Entwicklungsgeschichte 
oder  Ontogenie  nennt,  um  sodann  zu  begrifflicher  Ver- 
tiefung überzugehen : 

Damit  ein  Ding  als  Naturzweck  gelte,  müssen  seine 
Teile  „nur  durch  ihre  Beziehung  auf  das  Ganze  möglich 
und  wechselseitig  voneinander  Ursache  und  Wirkung  ihrer 
Form  sein".  Die  Idee  des  Ganzen  muß  „Form  und  Ver- 
bindung aller  Teile"  bestimmen,  „nicht  als  Ursache  —  denn 
dann  wäre  es  ein  Kunstprodukt  — ,  sondern  als  Erkenntnis- 


])  Bütschli  (Verh.  Nat,  Med.  Verein  Heidelberg  7,  1904) 
hat,  und  zwar,  wie  uns  scheint,  mit  Recht,  gegen  das  „vestigium 
hominis  video"  eingewendet,  daß  die  Sprungfiguren  erstarrender, 
gelatinöser  Lösungen  auch  mathematisch  regelmäßige  Figuren 
ergeben.  Ja,  er  hätte  wohl  bloß  an  Schneeflocken  zu  erinnern 
brauchen. 


70  !•  Der  ältere  Vitalismus. 

grund  der  systematischen  Einheit  der  Form  und  Ver- 
bindung alles  Mannigfaltigen,  was  in  der  gegebenen  Materie 
enthalten  ist,  für  den,  der  es  beurteilt". 

Es  erseheint  passend,  hier  die  Bemerkung  einzu- 
schalten, daß  im  Sinne  einer  rein  deskriptiven  Teleo- 
logie,  welche  über  die  eigentliche  Naturgesetzlichkeit  der 
,, Naturzwecke"  noch  gar  nichts  ausmacht,  die  letzthin 
vorgeführten  Kantischen  Ausführungen  wohl  am  sach- 
gemäßesten  verstanden  werden:  es  soll  ein  Kennzeichen 
aufgefunden  werden  für  Naturdinge,  bei  denen  teleo- 
logische Beurteilungsart  im  vorläufig  orientierenden 
Sinne  —  und  nur  solche,  nicht  mehr  —  einzusetzen  hat. 

Kant  erörtert  nun  die  Unterschiede  zwischen  Arte- 
fakten und  Naturzwecken  noch  tiefer:  Beim  Artefakt 
liegt  die  Ursache  ,, nicht  in  der  Natur  ihrer  Materie", 
sondern  in  einem  nach  Ideen  wirkenden  Wesen,  beim 
Organismus  nicht.  Das  Artefakt  also,  wenn  es  eine  Ma- 
schine ist,  hat  ,, lediglich  bewegende  Kraft",  der  Organis- 
mus hat  auch  ,, bildende"  Kraft,  „welche  der  Mechanismus 
nicht  erklärt".  Die  organisierte  Natur  ist  also  kein  ,,Ana- 
logon  der  Kunst",  wenigstens  würde  das  zu  wenig  be- 
sagen. Eher  ist  sie  ein  ,,Analogon  des  Lebens",  aber  bei 
solcher  Auffassung  muß  man  entweder  ,,die  Materie  als 
bloße  Materie  mit  einer  Eigenschaft  begaben,  die  ihrem 
Wesen  widerstreitet  (Hylozoismus)"  oder  ihr  ein  „fremd- 
artiges" Prinzip,  eine  Seele  beigesellen,  und  im  letzteren 
Falle  steht  wieder  nur  die  Möglichkeit  offen,  schon  organi- 
sierte Materie  der  Seele  als  Werkzeug  zu  geben,  wodurch 
nichts  erklärt  wird,  oder  aber  ,,die  Seele  zur  Künstlerin 
dieses  Bauwerks  zu  machen  und  so  das  Produkt  der 
(körperlichen)  Natur  zu  entziehen". 

,, Genau  zu  reden,  hat  also  die  Organisation  der  Natur 
nichts  Analogisches  mit  irgendeiner  Kausalität,  die  wir 
kennen"  und  das,  obwohl  der  nach  teleologischer  Kausali- 
tät handelnde  Mensch  mit  zur  ,, Natur  im  weitesten  Ver- 
stände" gehört. 


D.  Kants  „Kritik  der  Urteilskraft".  71 

Natürzwecke  sind  also  nach  keiner  Naturkausalität 
im  weitesten  Sinne  erklärlich;  der  Begriff  des  Natur- 
zwecks ist  durchaus  nur  regulativ  für  die  reflektierende 
Urteilskraft;  man  spricht  immer  nur  so,  „als  ob"  etwas 
wäre,  ,,will  aber  keinen  besonderen  Grund  der  Kausalität" 
einführen,  auch  keinen  „Werkmeister"  über  sie  stellen. 

Hier  endet  die  Erörterung  über  Dinge  als  „Natur- 
zwecke", welche  ganz  vornehmlich  das  eigentliche 
Problem  des  Vitalismus  angeht. 

Ich  denke,  man  wird  zugeben  müssen,  daß  Kants 
Erörterung  in  hohem  Grade  unbefriedigend  ist  für  eigent- 
lich biologische  Aufgaben: 

Es  könnte  zunächst  so  scheinen,  als  wolle  Kant 
nichts  weiter  als  einer  rein  deskriptiv-teleologischen  Be- 
iirteilungsart  logische  Natur  klarstellen,  aber  lediglich 
deskriptiv-teleologisch  redet  Kant  hier  doch  nicht  über 
Biologisches,  da  er  ja  den  Menschen,  wenigstens  als 
„Phänomenon",  zur  Natur  zählt  und  für  ihn,  bzw. 
für  sein  Handeln,  Elementargesetzlichkeit  teleologischer 
Art,  wenn  schon  ohne  eigentlich  analytische  Beweis- 
führung, zuläßt:  der  Mensch  ist  aber  doch  ein 
Lebewesen,  also  ist  Kant  für  gewisse  Phänomene 
gewisser  Lebewesen  „Vitalist"  unserer  Definition,  mag 
er  selbst  diesen  Schluß  ziehen  oder  nicht. 

Nach  dieser  vorläufigen  Ermittlung  fragen  wir  uns 
verwundert,  warum  unser  Philosoph  denn  die  Möglichkeit 
einer  allgemeinen  Erkenntnis  der  Kausalitätsart  des 
Organischen  ablehnt: 

Sehr  dunkel  erscheint  zunächst  die  Wendung,  daß 
die  organische  Natur  ein  „Analogon  des  Lebens"  noch 
eher  als  ein  Analogon  der  Kunst  sei,  wo  doch  gerade  das 
Leben  untersucht  wird.  Da  finden  wir  nun  in  den  „Meta- 
physischen Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft"  die 
Definition :  Im  Gegensatz  zur  Trägheit  der  Materie,  welche 
Leblosigkeit  bedeute,  heiße  „Leben  das  Vermögen  einer 
Substanz,  sich  aus  einem  inneren  Prinzip  zum  Han- 


72  r.  Der  ältere  Vitalismus. 

dein,  einer  endlichen  Substanz,  sich  zur  Veränderung, 
und  einer  materiellen  Substanz,  sich  zur  Bewegung  oder 
Ruhe,  als  Veränderung  ihres  Zustandes,  zu  bestimmen". 
Das  einzige  bekannte  innere  Veränderungsprinzip  einer  Sub- 
stanz nun  sei  Begehren,  die  einzige  bekannte  innere  Tätig- 
keit Denken;  diese  Bestimmungsgründe  aber  seien  nicht 
„Vorstellungen  äußerer  Sinne"  und  also  nicht  „Bestim- 
mungen der  Materie  als  Materie".  ,,Also  ist  alle  Materie  als 
solche  leblos" ;  solches  sage  der  Trägheitssatz,  weiter  nichts. 
Erwägen  wir  den  Sinn  dieser  Worte  in  Beziehung  auf 
die  Ausführung  über  die  Naturzwecke,  so  könnte  man 
letztere  vielleicht  so  fassen,  daß  gesagt  sein  solle:  die 
organisierte  Natur  sei  kein  „Analogon  der  Kunst",  in- 
sofern sie  nicht  durch  etwas  außer  ihr  organisiert,  nicht 
„geschaffen"  sei;  sie  sei  eher  ein  „Analogon  des  Lebens" 
im  Sinne  des  uns  als  elementargesetzlich  allein 
bekannten  menschlichen,  auf  Begehren  und 
Denken  als  internen  Faktoren  beruhenden  Han- 
delns, also  im  Sinne  des  „Er-lebens",  d.  h.  des  Psychi- 
schen. Bei  solcher  Auffassung  ist  klar,  daß  „Materie  als 
bloße  Materie"  in  diesem  Sinne  allerdings  nicht  (in 
hylozoistischem  Sinne)  „leben"  kann,  wodurch  alle  uns 
später  noch  angehenden  „Lebensstofftheorien" 
abgelehnt  werden1).  Es  ist  aber  anderseits  nicht 
klar,  warum  dadurch,  daß  ein  „fremdartiges  Prinzip"  der 
Materie  beigesellt  wird,  welches  die  „Künstlerin  dieses 
Bauwerks",  d.  h.  der  organisierten  Natur,  ist,  „das  Pro- 
dukt der  Natur  entzogen"  werden  soll,  auf  Grund 
welcher  angeblichen  Sachlage  Kant  nun  auch  einen 
Vitalismus  irgendwelcher  Art  ablehnt. 


x)  Man  vergleiche  auch  die  Sätze  aus  der  Dialektik  der 
Urteilskraft:  „Aber  die  Möglichkeit  einer  lebenden  Materie  (deren 
Begriff  einen  Widerspruch  enthält,  weil  Leblosigkeit,  inertia,  den 
wesentlichen  Charakter  derselben  ausmacht),  läßt  sich  nicht  einmal 
denken."  Nur  ein  Zirkel  kann  nach  Kant  die  Zweckmäßigkeit 
aus  dem  Leben  der  Materie  ableiten. 


D.  Kants  „ Kritik  der  Urteilskraft".  73 

Hat  doch  Kant  ausdrücklich  den  handelnden  Men- 
schen als  Phänomenon  der  Natur  beigesellt!  Und 
dieser  besitzt  doch  teleologische  Kausalität! 

Warum  kann  da  nicht,  so  fragen  wir  in  moderner 
Wendung,  die  organisierte  Welt  wenigstens  hypothetischer- 
weise nach  Analogie  dieser  im  phänomenologischen  Sinne 
wirklichen  Sonderkausalität  erklärt,  oder  besser  gesagt, 
formuliert  werden? 

Wir  sehen  jetzt  wohl  ein,  daß,  wie  wir  anfangs  sagten, 
ungefähr  jede  Ansicht  sich  aus  der  Urteilskraftkritik 
ihre  Stützen  holen  könne,  zumal  wenn  sie  ins  Auge  faßt, 
was  Kant  ablehnt.  Kant  lehnt  nämlich  ab:  erstens,  daß 
die  organisierten  Wesen  geschaffene  Maschinen  seien, 
zweitens,  daß  sie  aus  einer  besonderen  Materienart  ent- 
springen, drittens,  daß  sie  vitalistischer  Eigengesetzlich- 
keit verdankt  werden.  Solche  Eigengesetzlichkeit  gibt  er 
aber  für  den  handelnden  Menschen  als  Bestandteil  der 
Erscheinungswelt  zu !  Man  könnte  aus  seinen  drei  Ab- 
lehnungen vielleicht  den  Schluß  ziehen,  daß  er,  was 
sich  ja  mit  seiner  Schlußfolgerung  in  Hinsicht  der  Her- 
kunft des  Ganzen  der  tektonischen  Welt  decken  würde, 
die  organisierten  Wesen  Maschinen  sein  läßt,  nach  deren 
Herkunft  nicht  zu  fragen,  welche  ,, gegeben" 
seien,  dann  wäre  er  ,,statischer  Teleologe",  obschon 
immer  die  Ausnahme  für  den  handelnden  Menschen  be- 
stehen bliebe. 

Aber  „statische  Teleologie"  wäre  doch  auch  eine 
positive  Behauptung,  es  würde  über  die  Art  des  Zweck- 
mäßigen, daß  es  nämlich  nicht  eigengesetzlich,  sondern 
durch  eine  Tektonik  bedingt  sei,  doch  etwas  Bestimmtes 
ausgesagt,  obschon  der  Ursprung  derselben  im  dunklen 
bliebe.  Mit  statischer  Teleologie  würde  die  eine  von  zwei 
Alternativen  bejaht,  der  ,, Vitalismus"  würde  verneint. 
Aber  Kant  will  über  die  Gesetzlichkeit  der  Organisation 
gar  nichts  weder  bejahen  noch  verneinen,  wenigstens  an 
dieser  Stelle  nicht;  ausdrücklich  nennt  er  am  Schluß  der 


74  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

Analytik  den  Begriff  Naturzweck  „durchaus  nur  regulativ", 
und  das,  obwohl  er,  was  immer  wieder  betont  sein  muß, 
den  eigengesetzlich  handelnden  Menschen  zur  Natur 
rechnet. 

Es  scheint  uns,  daß  hier  Kant  zu  berichtigen  ist, 
daß  man  nicht  bei  deskriptiver,  rein  „regulativer" 
Teleologie  in  Hinsicht  der  Organisation  stehenzubleiben 
habe;  denn  nach  unserer  Ansicht  ist  durchaus  nicht 
einzusehen,  warum  sich  zwischen  zwei  deutlich 
erkannten  Alternativen  rein  natursachlicher  Art 
nicht  solle  eine  empirische  Entscheidung  treffen 
lassen. 

Doch  wir  werden  bald  wiederum  Gelegenheit  haben, 
die  Dunkelheiten  der  Kantischen  Ausführungen  in  noch 
anderer  Form,  und  zwar  mit  etwas  deutlicherer  Hin- 
neigung zum  Vitalismus,  kennenzulernen,  und  wenden 
uns  abschließend  erst  in  Kürze  den  Betrachtungen  über 
die  ,, Natur  überhaupt  als  System  der  Zwecke"  zu. 

,,Ein  Ding  seiner  inneren  Form  halber  als  Natur- 
zweck beurteilen  ist  ganz  etwas  anderes,  als  die  Existenz 
dieses  Dinges  für  Zweck  der  Natur  halten."  Um  aber 
letzteres  in  bedeutungsvoller  Weise  zu  können,  dazu  müßte 
man  die  Kenntnis  eines  „Endzwecks"  haben.  Diese  fehlt 
aber.  Also  ist  das  Problem  unbehandelbar  und  ist  nur 
noch  zu  bemerken,  daß  natürlich  zu  einem  „System  der 
Zwecke"  auch  Dinge  gehören  können,  welche  keine  „Natur- 
zwecke" sind. 

Mit  diesen  für  unsere  biologischen  Absichten  weniger 
bedeutungsvollen  Erörterungen  endet  die  „Analytik  der 
teleologischen  Urteilskraft' ' . 


In  der  Dialektik  der  teleologischen  Urteilskraft  tritt 
im  Grunde  alles  in  der  Analytik  Erörterte  fortgesetzt 
wieder  auf,  nur  in  anderer  Form  und  immer  mit  dem 
Schlüsse,    daß   ein    Schöpfer   durch   die   Zweckmäßigkeit 


D.  Kants  „Kritik  der  Urteilskraft".  75 

der  Welt  nicht  bewiesen  werden  könne.  Die  dem  Schema- 
tismus der  Vernunftkritik  zuliebe  ersonnenen  angeblichen 
„Antinomien"  haben  eine  tiefere  Bedeutung  nicht.  Wir 
können  uns  hier  kürzer  fassen  als  bei  Erörterung  der 
Analytik. 

Vor  allem  muß  nun  klar  erkannt  werden,  daß  das 
Realistische  des  Kantischen  Standpunktes  in  der 
Kritik  der  Urteilskraft  und  besonders  in  deren  uns  jetzt 
interessierendem  Abschnitt  weit  deutlicher  in  den  Vorder- 
grund tritt  als  in  der  Vernunftkritik  und  zumal  in  deren 
ersten  Ausgabe:  die  Natur  ist  fortwährend  als  ein  Reales 
gefaßt,  das  anders  ,,sein  könnte,  als  es  uns  erscheint", 
und  das  anderes  „leisten"  könne,  als  wir  „verstehen" 
können.  Nicht  aber  ist  für  Kant  die  Natur  eine  Vor- 
stellung, deren  „Gesetze"  eben  das  wären,  was  er  an 
ihr  formuliert  hätte,  so  daß  ein  „Verstehen"  und  „Nicht- 
verstehen"  gar  nicht  in  Frage  käme. 

Die  Unmöglichkeit  mechanischer  Erzeugung  der  Orga- 
nismen, sagt  nun  Kant  in  seinem  realistischen  Sinne, 
können  wir  „nicht  beweisen",  weil  wir  „die  unendliche 
Mannigfaltigkeit  der  besonderen  Naturgesetze  ihrem  ersten 
inneren  Grunde  nach  nicht  einsehen".  Das  „produktive 
Vermögen  der  Natur"  möge  aber  wohl  auch  für  das  von 
uns  teleologisch  zu  Beurteilende  zulangen,  „ebensogut, 
als  für  das,  wozu  wir  bloß  ein  Maschinenwesen  der  Natur 
zu  bedürfen  glauben".  Daß  der  Mechanismus  „respektive 
auf  unser  Erkenntnisvermögen"  aber  keine  Erklärung 
geben  könne,  sei  ganz  gewiß. 

Was  soll  es  bedeuten,  daß  jenes  „produktive  Ver- 
mögen der  Natur  wohl  ausreichen  möchte"  ?  Will  Kant 
etwa  sagen,  daß  hier  ein  elementares  Naturgesetz  vor- 
liege, aber  ein  solches,  welches  wir  nicht  auf  bloße  Be- 
wegungsvorgänge reduzieren  können?  Man  ersieht 
nämlich  aus  den  „Metaphysischen  Anfangsgründen",  daß 
Kant  im  Sinne  der  Mechanisten  die  Auflösung  aller 
Physik  in  Bewegungsvorgänge  fordert !    Hätten  wir  recht, 


76  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

so  wäre  also  diese  Stelle  vi talis tisch  zu  verstehen,  was 
die  Gegenstellung  des  „Maschinenwesens  der  Natur"  zu 
dem  durch  ihr  „produktives  Vermögen"  Geleisteten  noch 
besonders  gutzuheißen  scheint.  Es  gäbe  dann  also  nach 
Kant  besondere  vitale  Eigengesetze,  die,  obzwar  sie  der 
Kausalität  unterstehen,  nicht  in  Bewegungsschemata  auf- 
lösbar und  in  diesem  Sinne  nicht  „erklärbar"  sind. 

Aber  paßt  diese  Deutung  zu  dem  früher  Ermittelten  ? 
Wenn  es  der  Fall  wäre,  müßte  man  wohl  sagen,  daß  Kant 
seinen  Gedanken  etwas  einfacher  hätte  ausdrücken  können, 
als  geschehen  ist.  Also  meinte  er  doch  noch  etwas  anderes  ? 
Wir  wollen  die  Entscheidung  noch  vertagen. 

Es  folgt  die  oft  zitierte  Stelle,  daß  nie  ein  Newton 
kommen  werde,  der  auch  nur  die  Entstehung  eines  Gras- 
halms erklären  könne  „nach  Naturgesetzen,  die  keine 
Absicht  geordnet  hat". 

Freilich  bleibt  bei  der  Stelle  über  Newton  die  Dunkel- 
heit bestehen,  daß  bei  den  „geordneten  Naturgesetzen" 
sowohl  an  eine  gegebene  Ordnung  von  Einzelgesetzen 
(statisch -teleologisch)  wie  an  Naturgesetze,  in  denen 
Ordnung,  Ordnendes  liegt  (vitalistisch) ,  gedacht  werden 
kann. 

Daß  man,  wie  es  weiter  heißt,  „ganz  tautologisch  ver- 
fahren" würde,  wenn  man  als  Grund  der  Weltzweckmäßig- 
keit einen  Weltschöpfer  postulieren  würde,  ist  zwar 
richtig,  man  würde  aber  hier  auch,  welche  Einsicht  ja 
gerade  die  Vernunftkritik  angebahnt  hat,  logisch  illegitim 
verfahren.  Dagegen  für  das  Geschehen  in  der  Welt  ver- 
fährt man  zwar  „tautologisch",  wenn  man,  weil  man 
Zweckmäßigkeit  antrifft,  a  posteriori,  um  diese  zu  erklären, 
sich  auf  eine  nach  Zwecken  wirkende  Ursache  beruft,  aber 
man  verfährt  hier  legitim. 

Ist  doch  in  letztem  Grunde  alles  „ Erklären" 
Tautologie. 

So  wäre  denn  also  Kant  als  Vitalist  zu  bezeichnen? 


D.  Kants  „Kritik  dei'  Urteilskraft".  77 

Zur  Methoden  lehre  der  teleologischen  Urteilskraft 
leiten  Betrachtungen  über  die  Art,  wie  Mechanismus  und 
Teleologie  zu  vereinigen  seien;  solches  geht  an,  aber 
nicht  tritt  dabei  eines  an  Stelle  des  anderen.  Sie  ver- 
halten sich  wie  Zweck  und  Mittel ;  das  „Wirkungsgesetz" 
des  Mittels  aber  „für  sich"  hat  „nichts  einen  Zweck  Voraus- 
setzendes". 

Das  klingt  nun  wieder  durchaus  statisch- teleo- 
logisch und  erinnert  gar  nicht  an  die  „produktive  Kraft 
der  Natur",  und  so  sind  wir  denn  wieder  mitten  in  der 
Verwirrung.  Zum  Überfluß  findet  sich  auch  noch  die 
Wendung  von  dem  „Zugrundelegen"  einer  „ursprünglichen 
Organisation".    Doch  gehen  wir  einstweilen  weiter! 

Das  Grundergebnis  der  „Methodenlehre",  daß  die 
Teleologie  weder  zur  Theologie  noch  zur  Naturwissen- 
schaft, sondern  nur  zur  „Kritik",  und  zwar  eben  der 
Urteilskraft,  gehöre,  geht  uns  hier  weniger  an  als  einige 
besondere  Folgerungen. 

Nachdem  festgestellt  ist,  daß  die  „Produkte  und 
Ereignisse"  der  Natur,  soweit  es  geht,  mechanistisch 
erklärt  werden  müssen,  wird  die  Art  der  möglichen  Ver- 
bindung von  Mechanismus  und  Teleologie  untersucht.  Der 
„Okkasionalismus",  die  Ansicht  nämlich,  daß  die  „oberste 
Weltursache"  bei  jeder  Begattung  der  sich  mischenden 
Materie  die  organische  Bildung  gäbe,  wird  abgelehnt, 
da  hier  „alle  Natur  gänzlich  verloren"  geht.  Nach  dem 
„Prästabilisruus"  ist  alles  ein  für  allemal  vorgebildet. 

Nun  kann  das  gezeugte  Wesen  ein  „Edukt"  sein,  dann 
gelangt  man  zur  „Evolutionstheorie" ;  Kantlehntsieab! 

Oder  es  ist  ein  „Produkt";  das  gilt  die  Theorie  der 
Epigenesis,  welche  besser  Theorie  der  „generischen  Prä- 
formation" oder  auch  „Involutionstheorie"  genannt  werde. 
Die  spezifische  Form  ist  auch  nach  dieser  Lehre  „prä- 
formiert",  aber  „virtualiter",  nämlich  im  „produktiven 
Vermögen  der  Zeugenden"  und  in  ihren  „inneren  zweck- 
mäßigen Anlagen", 


78  !•  Der  ältere  Vitalismus. 

Kant  nimmt  die  Epigenesis  an,  da  hier  doch, 
wenn  auch  nicht  der  erste  Anfang,  so  doch  die  Fort- 
pflanzung als  ,,selbst  hervorbringend''  gesetzt  und  somit 
viel  ,,der  Natur  überlassen"  werde. 

Und  zwar  erklärt  sich  der  Philosoph  aus- 
drücklich für  Blumenbachs  Auffassung  der  Sach- 
lage: Blumenbach  hebe  alle  Erklärungsart  ,,von  organi- 
sierter Materie"  an,  von  einer  ,, ursprünglichen  Organi- 
sation". Das  Vermögen  der  Materie,  auf  Grund  dieser  sich 
zu  gestalten,  nenne  er  „Bildungstrieb' '. 

Der  Leser,  welcher  unseren  geschichtsanalytischen 
Darlegungen  aufmerksam  gefolgt  ist,  wird  bei  der  Lektüre 
dieser  Worte  des  höchsten  erstaunt  sein: 

Kant  akzeptiert  die  Epigenesis,  redet  vom  „produk- 
tiven Vermögen  des  Zeugenden",  behauptet  seine  Über- 
einstimmung mit  Blumenbach,  dem  Vitalisten,  und  — 
zitiert  Blumenbach  falsch,  nämlich  ausdrücklich 
im  Geiste  einer  statischen  auf  „ursprünglicher  Or- 
ganisation" beruhenden  Teleologie,  mit  Worten, 
welche  dieser  Forscher  selbst  nie  gebraucht  hat! 


Fassen  wir  alles  zusammen,  was  wir  über  Kants 
Stellung  zu  den  Grundfragen  der  Biologie  in  diesen  langen 
Erörterungen  erfahren  haben,  so  kann  seine  Lehre  also 
als  Stütze  verwendet  werden: 

erstens  für  eine  rein  deskriptive,  lediglich  „regulativ 
beurteilende"  Teleologie,  welche  die  Frage  nach  weiterer 
Entscheidung  prinzipiell  ablehnt,  für  welche  Resignation 
allerdings  keine  stichhaltigen  Gründe  beigebracht  werden ; 

zweitens  für  einen  Vitalismus,  der  ihm  nur  deshalb 
bedenklich  erscheint,  weil  er  im  Dogma  der  prinzipiellen 
Zurückführbarkeit  aller  Naturphänomene  auf  Bewegungs- 
vorgänge befangen  ist,  ein  Postulat,  das  sich  dem  Leben- 
digen gegenüber  allerdings  als  durchaus  unerfüllbar  erweist ; 

drittens  für  eine  statische  Teleologie,  für  die  Lehre 
von    einer    gegebenen    Struktur,    auf    deren    Basis    alles 


D.  Kants  „Kritik  der  Urteilskraft« '.  79 

mechanistisch  zugeht.  Freilich  spricht  für  diese  Ansicht 
nur  ab  und  zu  der  Wortlaut,  weniger  wohl  der  Sinn  der 
Sätze  Kants;  auch  wird  für  den  handelnden  Menschen 
als  Phänomenon  ganz  ausdrücklich  eine  Ausnahme  im 
vitalistischen  Sinne  gemacht. 

Läßt  sich  nun  eine  befriedigende  Lösung  dieses  selt- 
samen Sachverhalts,  eine  befriedigende  Vereinigung  der 
zunächst  offenkundigen  Widersprüche  in  Kants  Dar- 
legungen finden  ? 

Wir  möchten  hier  zum  Schluß  als  Versuch  solcher 
Vereinigung  zwei  Gedanken  der  Beachtung  empfehlen: 

Wenn  man  Kants  Ausdrücke  Organisation  und 
Ordnung  nicht  gerade  im  Sinne  einer  extensiven  Tek- 
tonik, einer  Struktur,  einer  Maschine,  eines  Nebenein- 
ander von  Verschiedenem  auffaßt,  sondern  darunter  nur 
ein  als  Spezifisches  Gegebensein,  ein  gegebenes  Ord- 
nendes, verstehen  darf,  würden  sich  die  Aussagen 
über  Blumenbach  und  manches  andere  im  Sinne 
eines  reinen  Vitalismus  auffassen  lassen.  Blumen- 
bach war  doch  nun  einmal  ausgesprochener  Vitalist;  daß 
Kant  ihn  sachlich  mißverstand,  erscheint  fast  unmög- 
lich ;  eine  gewisse  Freiheit  des  Ausdrucks  im  Zitieren  liegt 
aber  wohl  bei  einem  Philosophen,  der  gewohnt  ist,  sich 
seine  Sprache  in  weitem  Maße  selbst  zu  schaffen,  nicht 
außer  der  Wahrscheinlichkeit  Bereich. 

Zum  anderen  geben  wir  ganz  besonders  die  Möglich- 
keit zu  bedenken,  daß  Kant  den  begrifflichen  Unter- 
schied zwischen  statischer  und  dynamischer  Teleologie 
überhaupt  nicht  scharf  gesehen  habe;  daß  ihm  Teleo- 
logie, auch  in  realer,  nicht  nur  in  formaler  Bedeutung, 
gewissermaßen  stets  eines  und  dasselbe  ist,  und  er  nun 
zu  ihrer  Kennzeichnung  bald  Worte,  welche  diese,  bald 
solche,  welche  jene  Art  von  Teleologie  charakterisieren, 
verwendet.  Dann  wäre  Kant  also  zwar  ,, Vitalist", 
aber  nicht  in  voller  Konsequenz.  Wenn  wir  uns 
daran  erinnern,  daß  ein  ethischer  Zweck  der  Kritik  der 


80  I.  Der  ältere  Vitalisrnus. 

Urteilskraft  eigentliches  Teil  war,  daß  es  sich  aber  für 
dieses  eigentliche  Ziel  nur  um  Zweckmäßigkeit  über- 
haupt handelte,  gewinnt  unsere  Annahme  vielleicht  an 
Wahrscheinlichkeit. 

Unsere  letzte  hypothetische  Ansicht  über  den  bio- 
logischen Inhalt  der  „Kritik  der  Urteilskraft"  also  ist 
diese:  Kant  ist  für  den  handelnden  Mensch  als  Teil  der 
Erscheinungswelt  in  ausgesprochener,  für  das  Organi- 
sationsgeschehen in  problematischer  Form  Vitalist;  er 
ist  sich  freilich  des  logischen  Unterschiedes  zwischen 
statischer  und  dynamischer  Teleologie  nicht  immer  klar 
bewußt  und  ist  von  seinem  Vitalismus  selbst  unbefriedigt, 
weil  dieser  seinem  Ideal  der  Naturwissenschaften  allerdings 
durchaus  widerspricht;  dieses  Ideal  nämlich  ist  ein  rigo- 
roser Mechanismus,  in  welchem  seltsamer-,  freilich  histo- 
risch verständlicherweise  wohl  für  das  Eingreifen  von 
,, Seelen",  aber  nicht  für  das  Eingreifen  seelenähnücher 
Naturagenzien  ein  Platz  ist. 

Die  allgemein  kritische  Erörterung,  daß  „Teleologie" 
überhaupt  keine  metaphysische  Bedeutung  haben  könne, 
geht  der  biologischen  Untersuchung  fortwährend  neben- 
her; der  Endzweck  des  Ganzen  aber  ist  weder  biologisch 
noch  metaphysisch,  sondern  ethisch:  die  Weit  ist  so 
geartet,  daß  Zwecke  in  ihr  verwirklicht  werden  können, 
also  kann  (und  soll)  auch  der  Mensch  Zwecke,  und  zwar 
sittliche,  in  ihr  verwirklichen. 

Unser  Ergebnis  mag  wenig  befriedigend  erscheinen; 
auf  alle  Fälle  dürften  wir  aber  wohl  gezeigt  haben,  daß 
ein  Biologe,  welcher  sich  auf  Kant  für  oder  wider  den 
Vitalismus  berufen  will,  gut  tut  —  etwas  vorsichtig  zu 
verfahren. 


Bis  hierher  ging  in  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes 
der  Text  über  Kant.  Er  ist  absichtlich,  von  einigen 
kleinen  Änderungen,  Streichungen  und  Zusätzen  abge- 
sehen, so  stehengeblieben,  wie  er  dastand. 


D.  Kants  „Kritik  der  Urteilskraft".  81 

Ich  gebe  nun  dem  ursprünglichen  Text  noch  einige 
Zusätze  erheblicherer  Art. 

Zuerst  ein  paar  Stellen  aus  den  vorkritischen 
Schriften  Kants. 

Inder  Schrift  über  den  „einzig  möglichen  Beweis- 
grund zu  einerDemonstrationdesDaseins  Gottes" 
heißt  es  einmal:  „Wie  z.  B.  ein  Baum  durch  eine  innere 
mechanische  Verfassung  soll  vermögend  sein,  den  Nahrungs- 
saft so  zu  formen  und  zu  modeln,  daß  in  dem  Auge  der 
Blätter  oder  seinem  Samen  etwas  entstände,  das  einen 
ähnlichen  Baum  im  kleinen,  oder  woraus  doch  ein  solcher 
werden  könnte,  enthielte,  ist  nach  allen  unseren  Kennt- 
nissen auf  keine  Weise  einzusehen."  Und  weiterhin  sagt 
er,  daß  „das  Übergewicht  der  Gründe"  gar  zu  sehr  auf 
Seiten  derer  sei,  welche  die  „Produkte  des  Pflanzen-  und 
Tierreiches  .  .  .  der  mechanischen  Notwendigkeit  nach  all- 
gemeinen Gesetzen  der  materiellen  Natur  entreißen 
wollen". 

Und  weiter  in  den  „Träumen  eines  Geister- 
sehers, erläutert  durch  Träume  der  Metaphysik": 
„Ich  gestehe,  daß  ich  sehr  geneigt  sei,  das  Dasein  im- 
materieller Naturen  in  der  Welt  zu  behaupten  und  meine 
Seele  selbst  in  die  Klasse  dieser  Wesen  zu  versetzen." 
Hierzu  dann  die  Anmerkung:  „Was  in  der  Welt  ein  Prin- 
cipium  des  Lebens  enthält,  scheint  immaterieller  Natur 
zu  sein."  Und  weiter:  Die  Berufung  auf  immaterielle 
Kräfte  sei  zwar  eine  Zuflucht  der  faulen  Philosophie; 
„gleichwohl  bin  ich  überzeugt,  daß  Stahl .  .  .  oftmals 
der  Wahrheit  näher  sei,  als  Hof  mann,  Boerhaave  u.  a.  m., 
welche  die  immateriellen  Kräfte  aus  dem  Zusammenhange 
lassen,  sich  an  die  mechanischen  Gründe  halten  und 
hierin  einer  mehr  philosophischen  Methode  folgen,  die 
wohl  bisweilen  fehlte,  aber  mehrmals  zutrifft,  und  die 
auch  allein  in  der  Wissenschaft  von  nützlicher  Anwendung 
ist,  wenn  andererseits  von  dem  Einflüsse  der  Wesen  von 
unkörperlicher    Natur    höchstens    nur    erkannt    werden 

Drie seh,  Vitalismus.    2.  Aufl.  6 


82  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

kann,  daß  er  da  sei,  niemals  aber,  wie  er  zugehe  und  wie 
weit  sich  seine  Wirksamkeit  erstrecke". 

Es  handelt  sich  hier,  wie  gesagt,  um  sogenannte 
,, vorkritische"  Schriften,  um  Abhandlungen  aus  den 
Jahren  1763  und  1766.  Schwankend  gehalten  sind  die 
mitgeteilten  Sätze  ganz  ebenso  wie  die  Ausführungen  der 
,, Kritik  der  Urteilskraft".  Aber  eine  starke  Neigung  zur 
vitalistischen  Auffassung  des  Lebendigen  ist  unverkenn- 
bar. Und  bedeutet  hier  der  ,, vorkritische"  Charakter  der 
Schriften  so  viel?  Die  ,, Kritik"  läßt  doch  die  empirische 
Wirklichkeit  bestehen  als  das,  was  sie  ist,  sie  untersucht 
nur  die  Frage,  ob  sie  Ausdruck  eines  An-sich  sei.  Die 
vitalistische  Frage  geht  nun  aber  ganz  unzweifelhaft  nur 
das  Empirische  an,  so  daß  ,, Kritik"  ihre  Lösung  eigent- 
lich gar  nicht  beeinflussen  kann,  es  sei  denn  ganz  un- 
bestimmt und  allgemein  in  dem  Sinne,  daß  sie  sagt:  was 
Ihr  da  findet,  ist  kein  Aufstellen  über  das  An-sich,  sondern 
gilt  nur  für  die  Welt  der  Phänomene.  So  meint  es  ja 
doch  Kant  in  der  ,, Kritik  der  reinen  Vernunft"  ein  für 
allemal  (ob  mit  Recht  oder  Unrecht,  bleibe  hier  dahin- 
gestellt) und  ein  gleiches  in  der  „Kritik  der  Urteils- 
kraft" zu  wiederholen,  wird  er  nicht  müde. 


Wir  erörtern  nun  die  Kantische  Lehre  noch  von 
einigen  anderen  Gesichtspunkten  aus: 

Daß  Kant  die  Lehre  von,  der  psycho-physischen 
Wechselwirkung,  welche  bekanntlich  Vitalismus,  wenig- 
stens auf  eine  Seite  des  Menschen  beschränkter  Vitalismus 
ist,  nicht  ablehnt,  geht  aus  den  „Schlußbetrachtungen" 
zu  den  „Paralogismen  der  reinen  Vernunft"  in  der  ersten 
Auflage  der  Vernunftkritik  hervor.  Freilich  nimmt  er 
jene  Lehre  auch  nicht  an,  aber  er  hält  sie  doch  offenbar 
nicht  für  unsinnig,  sondern  für  möglich.  Daß  er  eine 
Entscheidung  für  ausgeschlossen  hält,  indem  er  die  ganze 
Frage,  welche  empirischer  Art  ist,  viel  zu  früh  auf  den 


D.  Kants  ,, Kritik  der  Urteilskraft".  83 

Boden  des  An-sich  hinüberspielt,  tut  hier  nichts  zur 
Sache.  Ist  es  doch  ein  häufiger  Fehler  des  Kantischen 
Philosophierens  überhaupt,  rein  auf  empirischem  Boden 
erwachsenen  Fragen  durch  Hinübergleiten  auf  den  Boden 
der  sogenannten  Kritik  die  Beantwortung,  auch  die  hypo- 
thetische, abzuschneiden.  Auf  keinen  Fall,  scheint  mir, 
darf  man  Kant  als  ,,psycho-physischen  Parallelisten"  be- 
zeichnen. 


Drei  Dinge  sind  es  meines  Er  achtens,  welche  ganz 
wesentlich  die  außerordentlich  schwankende  Haltung 
Kants  in  Sachen  des  Vitalismus  Frage  bestimmen.  Von 
der  einen  Angelegenheit  haben  wir  geredet:  von  der  Un- 
bestimmtheit den  Begriffen  ,,Teleologie  überhaupt",  „stati- 
sche Teleologie",  „dynamische  Teleologie"  gegenüber. 
Dazu  kommen  nun  sein  schillernder  Begriff  des  Mechanis- 
mus und  sein  schillernder  Begriff  des  Noumenon. 

Sehr  oft  ist  „Mechanismus"  bei  ihm  im  engen  Sinne 
des  Wortes,  also  newtonisch  gedacht;  dann  müßte  ein 
besonderes  mechanisches  System  mit  besonderen  Leistun- 
gen offenbar  eine  Maschine  heißen.  Aber  gelegentlich  heißt 
ihm  „Mechanismus  sein"  auch  nur:  dem  Prinzip  der  Ein- 
deutigkeit, der  „Determination"  unterstellt  sein;  dann  ist 
„Maschine"   etwas   viel    Spezielleres   als  „Mechanismus". 

So  heißt  es  in  der  „Kritik  der  praktischen  Ver- 
nunft" z.  B.  einmal,  man  könne  in  dem  ganz  allgemeinen 
Sinne  einer  allgemeinen  Notwendigkeit  aller  Begeben- 
heiten von  einem  „Mechanismus  der  Natur"  reden,  „ob 
man  gleich  darunter  nicht  versteht,  daß  Dinge,  che  ihm 
unterworfen  sind,  wirklich  materielle  Maschinen  sein 
müßten"1).  Es  gibt  nämlich  auch  „psychologische  Kausali- 
tät". Doch  davon  später.  Uns  liegt  hier  nur  daran,  die 
Vermutung  zu  äußern,  daß  Kants  Schwanken  in  Sachen 


x)  In  dem  Abschnitt:    „Kritische  ßeleuchtmig  der  Analytik 
der  reinen  praktischen  Vernunft". 

6* 


84  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

des  Mechanismus- Begriffs  sein  Schwanken  in  Sachen  des 
Vitalismus  erkläre.  Er  scheint  mitunter  zu  glauben,  der 
Vitalismus  müsse  das  Eindeutigkeitsprinzip,  den  „Mecha- 
nismus" im  weiteren  Sinne,  durchbrechen;  in  solchen 
Momenten  ist  er  sein  Gegner.  Sieht  er  nur  einen  Gegensatz 
zum  engeren  Mechanismus,  zur  „Maschine"  in  ihm,  so 
ist  er  sein  Freund. 

Das  „Noumenon",  das  Ding  an  sich,  ist  Kant  bis- 
weilen ein  bloßes  X,  ja  ist  „für  alle  Erscheinungen  das- 
selbe", gänzlich  unbestimmbar,  durch  keine  Aussage 
irgendwie  betreffbar.  Bisweilen  ist  aber  auch  das  Noume- 
non  als  ein  Besonderes  gefaßt,  um  das  wir  als  um  ein 
Besonderes  in  jedem  Falle,  auf  Grund  unserer  Erfahrung 
im  Erscheinungsreiche,  wenigstens  ganz  bestimmte  be- 
sondere Daseins  aussagen  machen  können,  wenn  wir 
auch  nicht  wissen,  wie  es  ,,an  sich"  beschaffen  ist,  d.  h. 
welches  besondere  Sosein  es  „an  sich"  hat.  Die  besonde- 
ren Daseinsaussagen  ohne  Soseinsbestimmung  sind  ihm 
nun  nicht  viel  wert,  und  deshalb,  nur  deshalb,  ist  ihm 
der  Vitalismus  nicht  viel  wert.  Im  Grunde  gehört  aber 
offenbar  diese  Art  des  Noumenalen  doch  noch  zur  Er- 
scheinungswelt, freilich  als  ihr  unanschaulicher  Bestandteil. 


Was  nun  den  Vitalismus  im  besonderen  angeht, 
so  kommt  noch  ein  Umstand  dazu,  der  ihn  Kant,  trotz 
aller  Zuneigung,  doch  immer  wieder  unsympathisch  macht, 
nämlich  dieser,  daß  wir  den  Nisus  formativus,  oder  wie 
immer  man  hier  zu  sagen  behebt,  doch  ad  hoc  setzen, 
und  nicht  irgendwo  anders  her  kennen,  wenigstens  soweit 
das  eigentlich  physiologische  Leben  einschließlich  der 
Formbildung  in  Frage  steht.  Denn  daß  psychische  Kausali- 
tät, so  wie  wir  sie  kennen,  nicht  verwendbar  ist,  sieht 
Kant  in  aller  Klarheit.  Die  „Lebenskraft"  äußert  sich 
ja  doch  nicht  so  wie  unser  Seelisches:  sie  arbeitet  primär 
vollendet,  „irrt"  nicht,  „probiert"  nicht. 


D.  Kants  „ Kritik  der  Urteilskraft".  85 

Aber  „seelische"  Kausalität  und  damit  einen  Vitalis- 
mus für  den  handelnden  Menschen  läßt  er,  wie  mir 
scheint,  ganz  offenbar  zu.  In  §  88  der  Kritik  der  Urteils- 
kraft ist  z.  B.  von  der  „vis  locomotiva"  der  Seele  die  Rede, 
„weil  wirkliche  Bewegungen  des  Körpers  entspringen, 
deren  Ursache  in  ihren  Vorstellungen  liegt". 

Und  nun  die  „Freiheits"lehre!  Frei  ist  der 
Mensch  als  Noumenon,  frei  ist  sein  „intelligibler  Charak- 
ter"; kann  es  wenigstens  sein  und  soll  es  sein.  „Frei" 
heißt  bei  Kant,  wie  ich  an  anderem  Orte  ausgeführt 
habe1),  soviel  wie  wesensgemäß,  nicht  soviel  wie 
„indeterminiert".  Und  das  „Wesensgemäße"  des  in- 
telligiblen  Charakters  ragt  geradezu  soseinsbestimmend  in 
die*Erscheinungswelt  hinein,  daher  von  einer  „Kausalität 
durch  Freiheit"  geredet  wird.  Freiheit  ist  „die  Wirkung s  - 
form  des  Naturgesetzes,  das  der  Mensch  ist".  Ich 
weiß  nicht,  was,  wenigstens  für  den  handelnden  Men- 
schen, „Vitalismus"  ist,  wenn  nicht  dieses.  Das  ist  durch- 
aus Gegensatz  zum  Mechanismus  im  engeren  Sinne,  und 
nur  darum  handelt  es  sich  ja. 

Man  nehme  noch  diese  Stelle  aus  der  dritten  Kritik 
(S.  91)  hinzu:  „Freiheit  ist  der  einzige  Begriff  des  Über- 
sinnlichen, welcher  seine  objektive  Realität  (vermittels 
der  Kausalität,  die  in  ihm  gedacht  wird)  an  der 
Natur,  durch  ihre  in  derselben  mögliche  Wirkung, 
beweiset"2).  Und  im  Eingange  des  Werkes:  „Der  Wille 
ist  nämlich  eine  von  den  mancherlei  Naturursachen  in  der 
Welt,  nämlich  diejenige,  welche  nach  Begriffen  wirkt". 
Und  weiter  in  der  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der 
Sitten":  „Freiheit  muß...  eine  Kausalität  nach  un- 
wandelbaren Gesetzen,  aber  von  besonderer  Art  sein." 


1)  Kantstudien,  Band  22;  ferner  „Das  Problem  der  Freiheit", 
2.  Aufl.,  1920. 

2)  Sperrungen  von  mir. 


86  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

Endlich  noch  einiges  über  das  Verhältnis  der  Teleo- 
logie  zu  den  Kategorien1). 

Kant  faßt  den  Begriff  „Teleologie",  vielleicht  durch 
das  Wort  verführt,  allzu  psychologisch.  Er  sieht  nicht,  daß 
Ganzheit  eine  echte  Kategorie  ist,  daß  „Finalität"  nur  als 
ihre  Unterkategorie,  als  solche  aber  sehr  wohl,  gelten  kann. 

Nur  „regulativ"  sei  der  Teleologiebegriff,  während 
die  echten  Kategorien,  insonderheit  Kausalität,  „kon- 
stitutiv" seien,  indem  durch  sie  Gegenstände  überhaupt 
erst  zu  Gegenständen  (im  empirischen  Sinne)  werden. 
Wie  schwankend  aber  auch  hier  Kant  ist,  zeigt  eine 
Stelle  in  der  allgemeinen  Einführung  der  „Analogien  der 
Erfahrung"  in  der  Vernunftkritik,  wo  auch  die  Sätze  von 
der  Substanz  und  Kausalität  als  „bloß  regulativ" 
bezeichnet  werden,  weil  eine  „Analogie  der  Erfahrung" 
bloß  eine  Regel  sei,  um  die  Einheit  der  Erfahrung  zu 
gewährleisten ! 

Wir  meinen,  und  das  ist  nun  unser  letztes  Wort  in 
der  Sache2),  Kant  selbst  hätte  von  seinem  eigenen  Stand- 
punkt aus  die  Gleichwertigkeit  der  Teleologie  mit  den 
Relationskategorien  zugeben  dürfen.  Denn  die  Aufgabe, 
alles  in  der  empirischen  Welt  auch  ihr,  oder  besser  den 
Begriffen  Ganzheit  und  Ganzheitsbezogenheit  zu  unterstellen, 
besteht.  Zwar  ist  diese  Aufgabe  eigentlich  erfüllbar  nur 
mit  Rücksicht  auf  Werden  und  Gebaren  des  personalen 
Organismus.  Wir  mögen  diese  ihre  Erfüllbarkeit  die  echte 
„konstitutive"  Seite  der  in  Rede  stehenden  „Kategorien" 
nennen.  „Bloß  regulativ"  mag  dann  Teleologie  oder 
Ganzheit  da  heißen,  wo  sie  bloß  hypothetisch  —  (aber 
nicht  in  anderem  Sinne  „.hypothetisch"  als  gelegentlich 


1)  Gutes-  bei  W.  Ernst:  „Der  Zweckbegriff  bei  Kant  und 
sein  Verhältnis  zu  den  Kategorien";  Kantstudien,  Ergänzungs- 
heft Nr.  14  (1909) 

2)  Vgl.  meinen  Aufsatz  in  Kantstudien,  Band  16,  und  Philos. 
d.  Organischen,  2.  Aufl.,  1921,  S.  535ff.,  sowie  meine  anderen 
philosophischen  Werke. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  87 

auch  der  Kausalitätsbegriff!1)  —  anwendbar  ist,  also  im 
Hinblick  auf  alle  Probleme  des  Überpersönlichen,  z.  B.  in 
Phylogenie  und  Geschichte. 

So  würde  auch  für  Kant  der  Vitalismus  als  eine 
Möglichkeit  legitimiert  sein,  und  da  er  ja  nun  die  Un- 
möglichkeit des  Mechanismus  (im  engeren  Sinne)  für  das 
organische  Leben  zugibt,  dürfte  er  auch  das  tatsächliche 
Bestehen  einer  Autonomie  des  Lebendigen,  einer  „dyna- 
mischen Teleologie"  im  allgemeinen  ebenso  zugeben, 
wie  er  sie  für  das  besondere  Gebiet  des  handelnden  Men- 
schen fraglos  zugegeben  hat. 


Während  des  Druckes  erschien  E.  Ungerers  vor- 
treffliche Schrift  Die  Teleologie  Kants  und  ihre 
Bedeutung  für  die  Logik  der  Biologie  (Berlin,  1921), 
von  der  uns  der  Abschnitt  IIb  sehr  wesendlich  angeht. 
Ungerers  letztes  Ergebnis  seiner  Kantanalyse  geht  da- 
hin, daß  Kant  der  Gedanke  einer  statischen  Teleologie 
gar  nicht  in  den  Sinn  komme,  daß  er  aber  vor  einer 
dynamischen  Teleologie,  einem  Vitalismus,  deshalb  immer 
wieder  Scheu  habe,  weil  er  (sachlich  zu  Unrecht)  meine, 
damit  schon  metaphysischen  Boden  zu  betreten,  was  zu 
tun  ihm  sein  eigenes  System  verbietet.  Ich  empfehle 
Ungerers  Schrift  dringend  eingehendem  Studiums;  es 
werden  auch  viele  Dinge  in  ihr  behandelt,  auf  welche  wir 
nicht  Bezug  nehmen  konnten. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie. 

Von  dem  Gedanken  einer  für  unser  „Urteilsver- 
mögen" passenden  Tektonik  der  Besonderheiten  in  der 
Natur  ist  die  Naturphilosophie  Schellings  und  Hegels 
wohl  in  letzter  Hinsicht  ausgegangen.    Die  Naturdinge, 

x)  Man  vergleiche  auch  meinen  Aufsatz  in  Kantstudien, 
Band  22. 


88  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

die  Dinge  der  objektiven  Vernunft,  der  „Idee  in  ihrem 
Anderssein",  zumal  die  organisierten  Körper  verkörperten 
ihr  ,, Vernunftideen". 

Für  die  Biologie,  insonderheit  für  den  Vitalismus  ist 
diese  Lehre  zunächst  belanglos,  da  sie  sich  prinzipiell 
mit  einer  statischen  und  mit  einer  dynamischen  Teleologie 
vertragen  würde,  welche  beide  ja  die  organischen  Formen 
als  Gesetzesprodukte  im  Gegensatz  zu  Zufallsprodukten 
betrachten.  Die  Naturphilosophie  tritt  aber  in  Beziehung 
zum  Problem  des  Vitalismus,  sowie  versucht  wird  die 
Ideenwelt  mit  der  Welt  des  unmittelbar  Gegebenen  zu 
verbinden.  Das  Verhältnis  zwischen  der  reinen  Natur- 
philosophie und  dem  naturphilosophischen  Vitalismus  ist 
ungefähr  dasselbe  wie  zwischen  Plato  und  Aristoteles: 
auch  bei  Plato  fehlte  das  Band  zwischen  Idee  und  Wirk- 
lichkeit, er  kommt  daher  biologisch  nicht  eigentlich  in 
Betracht;  Aristoteles  verknüpfte  das  bei  seinem  Lehrer 
Ungetrennte:  sofort  wird  er  biologisch  bedeutsam,  und 
zwar  im  Sinne  eines  Vitalismus.  Wir  werden  sehen,  daß 
weniger  Schelling  und  Hegel  selbst,  wohl  aber  die 
von  der  Naturphilosophie  der  Schelling -Hegeischen 
Schulen  ausgehenden  Biologen  für'  den  Vitalismus  Bedeu- 
tung haben. 

Es  fällt  zeitlich  mit  der  Naturphilosophie  dasjenige 
auf  rein  naturwissenschaftlichem  Gebiet  ungefähr  zu- 
sammen, was  man  die  Schaffung  des  Begriffs  „Typus" 
nennt  und  was  die  Grundlage  eigentlich  wissenschaftlicher 
Systematik  der  lebenden  Wesen  bildet.  Es  kann  aber 
nicht  unsere  Aufgabe  sein,  der  Geschichte  der  biologischen 
Systematik  näher  nachzugehen,  soweit  sie  eben  nur  in 
realer  Typenanalyse  oder  anders  gesagt :  Systemschöpfung 
ihre  Aufgabe  sieht.  Hier  nehme  man  die  Geschichte  der 
Zoologie  von  Viktor  Carus,  einige  Aufsätze  Rudolph 
Burckhardts  und  das  große  im  Vorwort  genannte 
Werk  Rädls  zur  Hand.  Der  Typenforscher  wird  uns 
nur  wichtig,  wenn  er  das  Problem  behandelt,  wie,  nach 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  89 

welchen  Gesetzen,  sich  der  Typus  jeweils  im  Individuum 
realisiert,  beziehungsweise,  wie  er  sich  als  Spezifität 
ändert,  wenn  anders  solche  Änderung,  also  eine  „Deszen- 
denz", überhaupt  angenommen,  und,  falls  angenommen, 
in  anderer  als  schablonenhaft -materialistischer1)  oder 
sachlich  unzureichender2)  Weise  behandelt  wird. 

Es  ist  eine  Folge  des  Gesagten,  daß  selbst  ein  Mann 
wie  Cu vier  in  unserer  Darstellung  nicht  mehr  als  genannt 
werden  kann,  denn  in  den  eigentlichen  physiologischen 
Prinzipienfragen  denkt  er  zwar  „vitalistisch",  aber,  was 
ja  auch  bei  seinem  wesentlich  differenten  Leistungsgebiet 
nicht  verwunderlich  ist,  ohne  Selbständigkeit:  er  erklärt 
sich  im  allgemeinen  mit  den  Lehren  Bichats  einver- 
standen. 

Auch  Goethes  naturphilosophische  Ansichten,  welche 
sich  bekanntlich  vorwiegend  mit  dem  Begriff  ,, Typus" 
beschäftigen,  in  denen  aber  auch  das  Wort  „Entelechie" 

*)  Wie  z.  B.  zwar  nicht  von  Darwin  selbst,  wohl  aber  von 
den  meisten  „Darwinisten". 

2)  Als  sachlich  unzureichend,  weil  durchaus  nur  konstruiert, 
nicht  bewiesen,  muß  auch  die  Deszendenzlehre  Jean  Lamarcks 
(Philosophie  zoologique,  Paris  1809,  deutsch  von  A.  Lang,  Jena 
1876)  bezeichnet  werden,  obschon  sie  gute  Ansätze  enthält.  Als 
Grundlage  der  Typenformung  gilt  Lamarck  ein  des  näheren  un- 
bekanntes Organisationsgesetz;  ein  Faktum,  das  weder 
seine  darwinistischen  Biographen  noch  seine  heutigen 
Anhänger,  die  „Neolamarckianer",  kennen!  Gebrauch 
und  Nichtgebrauch  machen  nur  die  in  jenem  Gesetze  begründeten 
„regelmäßigen  Abstufungen"  zu  „unregelmäßigen".  Über  die 
Art  und  Weise  der  Wirkung  des  Gebrauchs  und  seines  Gegen- 
teils —  eine  Wirkung,  die  er  sich  ohne  weiteres  als  vererbbar  vor- 
stellt —  hat  Lamarck  nicht  weiter  reflektiert,  sonst  hätte  er 
wohl  zum  mindesten  ihren  teleologischen,  nämlich  adaptiven 
Charakter  erkannt.  —  Was  er  über  das  Allgemeine  des  Lebendigen 
sagt,  ist  unbedeutend;  er  verwechselt  Bedingungen  (Wärme, 
Elektrizität)  mit  dem  Wesen  der  Sache.  Übrigens  gibt  er  sachlich 
eine  Sondergesetzlichkeit  der  Lebensprozesse  eigentlich  zu  und 
eifert  wohl  nur  aus  Furcht  vor  „Übernatürlichem"  gegen  vita- 
listische  Lehren.     Alles  dieses  ist  wenig  klar. 


90  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

sich  ab  und  zu  findet,  können  wir  hier,  da  sie  doch  einen 
wirklich  analysierbaren  Fortschritt  in  Sachen  des  Vita- 
lismus schwerlich  bedeutet  haben,  nur  nennen,  und  nicht 
mehr  denn  erwähnen  dürfen  wir  auch  A.  v.  Humboldts 
liebenswürdige  Allegorie  auf  die  Lebenskraft:  „Der  rhodi- 
sche  Genius"1). 

Die  „idealistische"  Philosophie. 

Zunächst  einige  Worte  über  Schellin g  und  Hegel 
selbst. 

Wir  haben  schon  in  der  Einleitung  zu  diesem  Ab- 
schnitte gesagt,  daß  das  vitalistische  Problem  im  eigent- 
lich strengen  Sinne,  d.  h.  als  Frage  nach  der  Form  der 
im  Reiche  des  Lebendigen  bestehenden  Teleologie,  diesen 
Denkern  fremd  ist.  Erstens  sind  sehr  strenge  und  scharfe 
Begriffsformulierungen  überhaupt  nicht  ihre  Sache,  so  daß 
man  sich  nicht  wundern  darf,  wenn  sie  den  selbst  von 
Kant  nicht  klar  gesehenen  Unterschied  zwischen  statischer 
und  dynamischer  Teleologie  nicht  würdigen,  und  zweitens 
ist  ihnen,  kurz  gesagt,  das  Werden,  das  Geschehen  ganz 
ähnlich  wie  Pia  ton,  im  Grunde  eine  gleichgültige  An- 
gelegenheit. ,, Ideen"  werden  in  den  organischen  Formen 
verwirklicht;  damit  ist  es  gut. 

Aus  Schelling  kann  man  noch  weit  mehr  als  aus 
Kant  in  Sachen  des  eigentlichen  Vitalismus  herauslesen, 
was  einem  beliebt.  Die  Natur  muß  erscheinen  ,,als  ein 
Produkt,  das,  obgleich  Werk  des  blinden  Mechanismus, 
doch  so  aussieht,  als  ob  es  mit  Bewußtsein  hervorgebracht 
wäre".  ,,Das  Eigentümliche  der  Natur  beruht  eben  darauf, 
daß  sie  in  ihrem  Mechanismus,  und  obgleich  selbst  nichts 
als  blinder  Mechanismus,  doch  zweckmäßig  ist"2).    Klingt 


3)  In  „Ansichten  der  Natur".  Übrigens  nimmt  Humboldt 
in  der  „Erläuterung"  seine  Allegorie  inhaltlich  später  so  gut 
wie  ganz  zurück.   „Lebenskraft"  ist  ihm  mindestens  problematisch. 

2)  Syst.   d.  transcend.   Ideal.      5.  Hauptabschnitt. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  91 

das  nicht  deutlich  nach  statischer  Teleologie  ?  Inder 
Welt  ist  alles  maschinell  vorgesehen,  alles  einzelne  Ge- 
schehen ist  mechanisch  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes. 
Aber  dann  heißt  wieder  das  Leben  „Produkt  einer  höheren 
als  der  bloß  chemischen  Potenz,  ohne  aber  deswegen  eine 
übernatürliche,  d.  h.  keinen  Naturgesetzen  oder  Natur- 
kräften unterworfene  Erscheinung  zu  sein".  Hier  klingt's, 
als  sei  das  Wort  „Mechanismus"  im  weitesten  Sinne  ge- 
nommen, als  könne  ein  Vitalismus  zugelassen  werden, 
wenn  er  nur  den  Begriff  der  Determination  festhält.  Ein 
anderes  Mal  wird  dann  noch  unterschieden  zwischen  den 
Kräften,  ,,die  während  des  Lebens  im  Spiel  sind";  das 
seien  ,, keine  besonderen,  der  organischen  Natur  eigenen 
Kräfte".  „Was  aber  jene  Naturkräfte  in  das  Spiel  ver- 
setzt, dessen  Resultat  Leben  ist,  muß  ein  besonderes 
Prinzip  sein,  das  die  organische  Natur  aus  der  Sphäre  der 
allgemeinen  Naturkräfte  gleichsam  hinwegnimmt/'  Als 
„den  toten  Kräften  Richtung  gebend"  wird  dieses  „Prin- 
zip" weiterhin  bezeichnet.  Das  klingt  geradezu  nach 
dynamischer  Teleologie. 

Es  sei  dem  Leser  überlassen,  die  hier  mitgeteilten 
Äußerungen  zu  einem  Gesamtbild  zu  vereinigen;  mir  ist 
es  nicht  gelungen1). 

Hegel,  sonst  der  Naturwissenschaft  gegenüber  noch 
viel  souverän-gleichgültiger  als  Schelling,  ist  in  Sachen 
des  Vitalismus  ein  klein  wenig  schärfer  als  er.  Er  nennt 
es  einmal  einen  Mangel  der  Einschachtelungstheorie,  „daß 
dasjenige,  was  nur  erst  in  ideeller  Weise  vorhanden  ist,  als 
bereits  existierend  betrachtet  wird' ' ;  er  nennt  ein  ander- 
mal das  Leben  einen  beständigen  Kampf  gegen  „elemen- 
tarische Mächte  der  Objektivität"2).  Das  klingt  dyna- 
misch-teleologisch.     Ein   eigentliches   Problem    wird   hier 

1)  Man  vergleiche  W.  Metz  ger ,  Schelling  und  die  biol.  Gründ- 
probleme: Arch.  f.  Gesch.  d.  Naturwiss.  2,  1910,  und  M.  Losacco, 
La  Filosofia  naturale  dello  Schelling:  Riv.  d.  Filos.  3,   1911. 

2)  Sogenannte  , »Kleine  Logik",  Ausgabe  Bolland. 


92  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

aber  gar  nicht  gesehen;  vielleicht  hat  Hegel  den  dynami- 
schen Vitalismus  für  ganz  selbstverständlich  gehalten. 
Wir  wenden  uns  nun  den  Lehren  der  Naturforscher  zu, 


Oken. 

Lorenz  Oken  (1779 — 1851),  der  verdiente  Anatom, 
hat,  wie  viele  seiner  Zeitgenossen  auch,  ein  ,, Lehrbuch 
der  Naturphilosophie' '  verfaßt1). 

Hier  wird  der  Galvanismus  als  „das  Prinzip  des 
Lebens"  bezeichnet.  „Es  gibt  keine  andere  Lebenskraft 
als  die  galvanische  Polarität.  Die  Heterogeneität  der  drei 
irdischen  Elemente  in  einem  geschlossenen  individuellen 
Körper  ist  die  Lebenskraft",  freilich  „kombiniert  sie  sich 
mit  höheren  Aktionen",  und  er  lehnt  eine  elementare 
„Lebenskraft"  höchstens  in  ihrer  Bezeichnung  als  „Kraft" 
ab,  wenn  anders  nämlich  soviel  Klarheit  bei  ihm  vor- 
handen war. 

Wenn  wir  nämlich  Sätze  hören  wie  diese:  „Das  Licht 
bescheint  das  Wasser  und  es  ist  gesalzen.  Das  Licht  be- 
scheint das  gesalzene  W^asser  und  es  lebt"  —  und  es  gibt 
viele  solcher  Sätze  in  dem  Buch  — ,  so  verHeren  wir  einiger- 
maßen das  Zutrauen  zu  der  Art  des  hier  obwaltenden 
Denkens  überhaupt.  Wollten  wir  hier  weiteranalysieren  — 
nun,  dann  hätten  wir,  und  sogar  mit  mehr  Recht,  auch  die 
voraristotelischen  und  die  mittelalterlichen  Biologen  ein- 
gehend berücksichtigen  müssen;  ja,  wir  hätten  bei  diesen 
sehr  viel  Besseres  finden  können. 

Sehen  wir  zu,  ob  uns  Okens  Buch  „Die  Zeugung"2) 
Besseres  darbietet.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  das 
der  Fall. 

Zunächst  freilich  auch  hier  immer  ein  Hinneigen 
zum  Verkehrten:  trotz   Spallanzani  und  seiner  Nach- 

M  2.  Auflage.     Jena   1831. 

'-)  Bamberg  und  Würzburg   180.ri. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  93 

folger  lehnt  Oken  einmal  wieder  die  Entstehung  der  In- 
fusorien aus  Keimen  ab  und  läßt  sie  durch  Urzeugung1) 
entstellen;  emphatisch  verkündet  er  den  Satz:  ,, Nihil 
vivum  ex  ovo"  usw. 

Aber  nun  folgt  eine  epigenetisch-vitaiistische  Zeu- 
gungstheorie : 

Der  Same  ist  in  Fäulnis  übergehende  Substanz,  die 
Spermatozoen  sind  die  entstehenden  Urtiere;  bei  der  Be- 
fruchtung vereint  sich  der  Same  in  diesem  Sinne  mit  dem 
„weiblichen  Bläschen",  und  sofort  nach  der  Ver- 
einigung ist  der  Embryo  fertig!  Die  Samentierchen 
haben  sich  eben  im  weiblichen  Bläschen  „gestaltet". 

,,Die  Zeugung  ...  ist  Synthesis  der  Infusorien  durch 
den  homogenen  aber  entgegengesetzten  Pol  der  organi- 
schen Welt."  ,,Das  weibliche  Bläschen"  aber  liefert 
„weder  einen  Keim  noch  organische  Grundteilchen  oder 
sonst  etwas  Materielles,  sondern  bloß  die  Form,  welche 
die  eintretenden  Zerkarien  durch  die  mit  dem  Bläschen 
erwachsene  organische  Tätigkeit  so  miteinander  verbindet, 
daß  sie,  auch  noch  durchsichtig,  schon  den  Typus  des- 
jenigen Tieres  in  Miniatur  darstellen,  zu  dessen  Gattung 
sie  gehören,  denn  das  Bläschen  könnte  man  schlechthin 
die  Typus  gebende  Kraft  nennen". 

Der  Embryo  entsteht  also  „durch  einen  Schlag,  so- 
bald die  Samentierchen  mit  den  Bläschen  sich  vereinigen". 

Eine  bequeme  Art  von  „Epigenesis"  ist  das  ja  sicher- 
lich. Wir  wollen  es  keinem  verargen,  wenn  er  hier  heiter 
gestimmt  wird,  und  wenn  er  uns  anderseits  vielleicht 
tadelt,  daß  wir  uns  überhaupt  auf  Oken  beziehen  konnten, 
sobald  er  einen  so  wüsten  Unsinn  liest,  wie  diesen:  „Das 
Tier  ist  die  höchste  Vereinigung  des  Polypen  und  der 
Pflanze,  der  Linie  und  des  Kreises  —  die  Verschmelzung 
aber  dieser  beiden  in  eins  gibt  die  Ellipse,  was  jeder  sich 
leicht  demonstrieren  kann." 


*)  Allerdings    ä    la    Needham    aus    zerfallender    organischer 
Materie,  nicht  aus  Anorganischem  strengsten  Sinnes. 


94  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

Aber  bei  aller  Abweisung  vergesse  man  eines  nicht: 
im  Inhalt  deckt  sich  auch  Okens  seltsames  Gerede  mit 
der  Grundwahrheit  alles  Vitalismus:  der  Irreduzibilität 
der  organischen  Form. 

Doch  mag  dieses  eine  Beispiel  eines  Naturphilosophen 
der  nicht  nachahmenswerten  Gestalt  genügen. 


Reil  (1759—1813). 

Wenn  man  sich  eine  deutliche  Rechenschaft  geben 
will  von  dem,  was  J.  Ch.  Reil,  der  Typus  eines  Idaren, 
philosophisch  gebildeten  Biologen  seiner  Zeit,  als  seine 
eigentliche  Aufgabe  ansah,  tut  man  gut,  von  dem  Inhalt 
eines  Briefes  auszugehen,  den  er,  am  22.  Februar  1807, 
an  Autenrieth  schrieb,  und  dessen  Inhalt  dieser  in 
seinem  bald  zu  erwähnenden  Werke  mitteilt. 

Es  ist  dort  die  Rede  von  dem  ,, Problem,  was  noch 
keine  Naturphilosophie  gelöst  hat,  wie  man  von  der  Idee 
zur  Materie  komme".  Ja,  so  möchte  man  weiter  fragen, 
warum  kommt  denn  überhaupt  die  Idee  zur  Materie; 
„warum  muß  immerhin  durch  die  Alimentation  Irische 
Materie  eintreten,  die  alte  durch  die  Exkretion  ausge- 
stoßen werden"  1 

Reil  sucht  nun  in  seinem  Artikel  „Von  der  Lebens- 
kraft", veröffentlicht  im  ersten  Band  seines  Archivs1), 
die  von  ihm  empfundene  Schwierigkeit  auf  seine  Art  zu 
lösen. 

Alles  ist  Materie  oder  Vorstellung;  Veränderung  der 
Materie  ist,  kartesianisch,  nur  als  Bewegung  denkbar; 
Vorstellungen  sind  stets  von  gleichzeitigen,  freilich  nicht 
im  Sinne  eines  strengen  Parallelismus  gedachten,  Be- 
wegungen des  Gehirns  begleitet.  Es  folgt  daraus,  daß 
vor  der  Existenz  von  Gehirnen  alles  Naturgeschehen 
in  der  Materie  allein  gegründet  sein  muß,  und  diese, 
sehr  realistisch  gefaßte,  Argumentation  dient  zur  Wider - 

x)  Reils  Archiv  für  die  Physiologie  I,  1796,  p.  8. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  95 

lcgung  Stahls.  Sie  führt  aber  auch  positiv  dazu,  ,,deu 
Grund  aller  Erscheinungen  tierischer  Körper,  die  nicht 
Vorstellungen  sind  ...  in  der  tierischen  Materie,  in  der 
ursprünglichen  Verschiedenheit  ihrer  Grundstoffe  und  in 
der  Mischung  und  Form  derselben  zu  suchen". 

Das  Vermögen  der,  übrigens  nach  kantischem  Muster 
dynamisch  aufgefaßten,  Materie,  Erscheinungen  hervor- 
zubringen, die  von  ihrer  Form  und  Mischung  abhängen, 
wird  nun  ,, Eigenschaft"  der  Materie  genannt. 

„Der  Grund  der  regelmäßigen  Bildung  tierischer 
Körper  liegt  also  ursprünglich  in  der  Natur  der  tierischen 
Materie." 

Wohl  verstanden  wird  hier  die  Materie  als  Einheit- 
liches gedacht,  und  nicht  etwa  in  einer  maschinellen 
Organisation  der  Lebensgrund  erblickt,  ob  es  schon  Organi- 
sation bis  ins  kleinste  hinein  gäbe1);  vielmehr  ist  ,,das 
allgemeinste  Attribut  dieser  eigentümlichen  Art  von 
Materie  eine  besondere  Art  der  Kristallbildung". 

„Wir  können  nun  das  Verhältnis  dieser  Eigenschaft 
der  tierischen  Materie  zu  ihren  Wirkungen",  nämlich 
„sich  fremde  Materien  von  außen  zuzusetzen  und  die- 
selben zweckmäßig  zu  bilden,  Kraft  nennen.  Man  hat 
ihr  den  Namen  Bildungskraft  und  Bildungstrieb  gegeben' ' . 
Reil  eifert  nur  gegen  die  Namen,  nicht  gegen  die  Sache. 
Die  Naturgesetzlichkeit  seiner  „Kraft"  und  ihre  Kombi- 
nation mit  den  „toten  Kräften"  im  Organismus  betont 
er  besonders  scharf. 

Es  hat  kein  Interesse,  auf  Einzelheiten  der  Reil  sehen 
Darlegung  näher  einzugehen,  da  er  sich  auf  einen  eigent- 
lichen Beweis  der  sachlichen  Richtigkeit  der  von  ihm 
vertretenen  Abart  des  Vitalismus  nicht  einläßt;  es  mag 
daher  nur  noch,  als  Beispiel  der  klaren  Begriffsbildung 
unseres  Forschers,  seine  gute  Definition  der  Reizbarkeit 

1)  Ausdrücklich  wird  von  Reil  abgelehnt,  daß  die  Ordnung 
bei  Erzeugung.  Ernährung  und  Wachstum  ,, durch  Instrumente" 
komme. 


96  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

hier  Platz  finden:  „Die  Eigenschaft  tierischer  Organe,  daß 
sie  sich  durch  eine  äußere  Ursache  bestimmen  lassen, 
ihren  gegenwärtigen  Zustand  durch  sich  selbst  zu  ver- 
ändern, heißt  Reizbarkeit."  Ihr  Grund  liegt  wieder  in 
Mischung  und  Form  der  tierischen  Materie. 

Reil  ist  der  erste  Vertreter  einer  vitalistischen 
,, Lebensstofftheorie".  Was  er  vorbringt,  ist  einfach 
und  klar  gedacht,  für  die  Größe  des  Problems,  wie  man 
,,von  der  Idee  zur  Materie  komme",  vielleicht  zu  einfach: 
er  stattet  eben  die  Materie  mit  der  Idee  aus.  Das  klingt 
ja  anderseits  wieder  ganz  modern,  aber  man  vergesse  hier 
nicht  jenen  von  uns  zitierten  Ausspruch  Kants:  ,,Die 
Möglichkeit  einer  lebenden  Materie  (deren  Begriff  einen 
Widerspruch  enthält,  weil  Leblosigkeit,  inertia,  den 
wesentlichen  Charakter  derselben  ausmacht)  läßt  sich 
nicht  einmal  denken."  Wer  diesem  Ausspruch  beipflichtet, 
für  den  kann  Reils  Leistung  nicht  mehr  als  einen  ganz 
geschickten,  aber  von  Anfang  an  verfehlten  Versuch 
bedeuten. 


Treviranus. 


Mit  G.  R.  Treviranus,  wenn  nicht  schon  mit  Reil, 
beginnt  der  eigentlich  dogmatische  Vitalismus,  d.  h.  der 
Vitalismus,  dessen  Begründung  nicht  mehr  für 
nötig  gehalten  wird,  in  Hinsicht  dessen  es  vielmehr 
nur  noch  darauf  ankommt,  wie  er  gewendet  werde.  Zu- 
gleich beginnt  mit  Treviranus  dasjenige,  was  man 
,, Lehrbuch vitalismus"  nennen  könnte:  jede  Gesamtdar- 
stellung physiologischer  Lehren  beginnt  jetzt  sozusagen 
mit  einem  vitalistischen  System,  das  sich  meist  nicht 
erheblich  von  seinem  Vorgänger  unterscheidet;  so  geht  es 
bis  auf  Johannes  Müller,  den  letzten  dieser  Gruppe  von 
Vitalisten.  Bei  allen  Lehrbuchvitalisten  ist  charakte- 
ristisch ein  starkes  Zurücktreten  der  Probleme  der 
Formbildung,    welche    im    achtzehnten    Jahrhundert 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  97 

immer  den  Mittelpunkt  des  Interesses  behauptet  hatten; 
dafür  tritt  Chemisch-physiologisches  und  tritt  namentlich 
das  Problem  der  Instinkte,  oft  auch  das  Problem  des 
„Seelenlebens'',  als  eines  Naturphänomens,  mehr  hervor. 

Wenn  wir  trotz  alles  Gesagten  Treviranus  doch 
noch  äußerlich  gesondert  hier  behandeln,  so  geschieht  es, 
weil  gerade  er  noch  ein  durch  sein  ganzes  Leben  reichen- 
des Ringen  nach  Klarheit  in  vitalistischen  Dingen  er- 
kennen läßt,  und  weil  sich  ein  recht  eigenartiger  Gedanke 
bei  ihm  findet. 

Von  1802 — 1822  erschienen  die  sechs  Bände  seiner 
„Biologie  oder  Philosophie  der  lebenden  Natur" 
(Göttingen);  vornehmlich  ihr  erster  Band  ist  allgemeinen 
Fragen  gewidmet;  im  Laufe  der  langen  Zeit  der  Aus- 
arbeitung seines  Werkes  änderte  aber  ihr  Autor  in  manchen 
nicht  unwesentlichen  Punkten  seine  Auffassungsart,  und 
so  faßte  er  denn  gegen  Ende  seines  Lebens  seine  geklärteren 
Ansichten  noch  einmal  in  einem  neuen  Werke  zusammen, 
auf  das  wir  später  Rücksicht  nehmen  werden. 

Es  erscheint  der  Beachtung  wert,  daß  bei  Treviranus 
der  Name  Biologie  zum  ersten  Male  zur  Kennzeichnung 
des  Ganzen  der  Lehre  vom  Lebendigen  verwendet  ist: 
„Die  Gegenstände  unserer  Nachforschungen  werden  die 
verschiedenen  Formen  und  Erscheinungen  des  Lebens  sein, 
die  Bedingungen  und  Gesetze,  unter  welchen  dieser  Zustand 
stattfindet,  und  die  Ursachen,  wodurch  derselbe  bewirkt 
wird.  Die  Wissenschaft,  die  sich  mit  diesen  Gegenständen 
beschäftigt,  werden  wir  mit  dem  Namen  der  Biologie 
oder  Lebenslehre  bezeichnen"  (Biol.  I,   S.  4). 

Treviranus  tadelt  die  Älteren  wegen  Vernachlässi- 
gung einer  scharfen  Definition  dessen,  was  sie  untersuchten, 
und  wenn  einmal  eine  Definition  gegeben  wurde,  wie  z.  B. 
Stahl  „lebend"  gleich  „beseelt"  setzte,  so  war  sie  falsch1). 


*)  Allein  schon  wegen  des  Überlebens  abgetrennter  Organe, 
auf  die  doch  keine  Vorstellungen  wirken. 

Driesch,  Vitalismus.    2.  Aufl.  7 


98  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

„Gleichförmigkeit  der  Erscheinungen  bei  zufälligen 
äußeren  Einwirkungen"  ist  nun  nach  Treviranus  das 
Grundkennzeichen  des  Lebens. 

An  diese  Definition  knüpfen  alle  Erörterungen  an, 
die  unserem  Forscher  als  wirkliches  Eigentum  angehören, 
die  für  ihn  persönlich  charakteristisch  sind. 

Er  bezieht  sich  auf  Kants  Theorie  der  Materie. 
Wegen  des  Gegenwirkungsprinzips  werde  nun  im  An- 
organischen, wo  es  sich  nur  um  Materie  handelt,  durch 
eine  Änderung  alles  geändert.  Das  Gegenteil  hiervon 
besage  seine  Definition  des  Lebens.  Wie  ist  dieses  Gegen- 
teil möglich x)  ?  Offenbar  nur  durch  etwas  der  Materie 
Fremdes. 

,,Wir  haben  gezeigt,  daß  alle  Materie  organisiert  und 
unaufhörlichen  Veränderungen  unterworfen  ist,  daß  aber 
in  jener  Organisation  und  in  diesen  Veränderungen  nur 
so  lange  etwas  Bleibendes  ist,  als  die  äußeren  Einwirkungen, 
wodurch  die  letzteren  erregt  werden,  unverändert  bleiben. 
Keine  Materie,  und  also  auch  nicht  die  der  lebenden 
Organismen,  kann  hiervon  eine  Ausnahme  machen";  sie 
muß  z.  B.  auch  undurchdringlich  sein.  „Die  Ausnahme, 
welche  die  Materie  der  lebenden  Körper  von  dem  obigen 
Satze  zu  machen  scheint,  kann  folglich  nur  scheinbar  sein. 
Es  muß  ein  Damm  vorhanden  sein,  woran  sich  die  Wellen 
des  Universums  brechen,  um  die  lebende  Natur  in  den 
allgemeinen  Strudel  nicht  mit  hineinzuziehen."  Dieses 
Mittelglied  ist  natürlich  nicht  ,,die  zur  Möglichkeit  der 
Materie  erforderliche  Grundkraft".  „Wir  nennen  sie  daher 
Lebenskraft  (vis  vitalis),  um  sie  von  jener  Grundkraft  zu 
unterscheiden"  (1.  c.  51). 

Bloße  Form  und  Mischung  von  Materie  enthält  also 
jedenfalls  nicht  den  Grund  des  Lebens,  wenigstens  nicht 
bei  Zulassung  nur  der  beiden  Kantischen  Grundkräfte 
derselben,    Repulsion  und  Attraktion.     Lasse   man   aber 

1)  Bei   Lektüre   des  Treviranus   ist   zu   beachten,   daß   er 
„organisch"  jede  Ordnung,  also  überhaupt  die  Natur  nennt. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  99 

mehr  Grundkräfte  zu,  so  bliebe  doch  die  Frage,  was  sie 
denn  zusammenhält,  übrig. 

Das  ,, Leben  ist  also  etwas  der  Materie  durchaus 
Fremdes" ;  und  als  Neues  tritt  dann  noch  hinzu  die  Kraft 
der  ,, geistigen  Naturen",  der  vooq  des  Aristoteles. 

Es  ist  nun  wohl  zu  beachten,  daß  an  und  für  sich 
genommen  die  mechanischen  und  chemischen  Änderungen 
an  Organismen  dieselben  sind  wie  in  der  leblosen  Natur; 
sie  unterscheiden  sich  von  ihnen  aber  ,, darin,  daß  die 
äußeren  Anlässe,  denen  sie  ihr  Entstehen  verdanken,  nicht 
unmittelbar,  sondern  durch  die  Lebenskraft  modifiziert, 
auf  die  Materie  des  lebenden  Körpers  einwirken". 

Es  handelt  sich  aber  hier  des  näheren  um  drei  Mög- 
lichkeiten : 

Ist  Lebenskraft  nur,  wo  lebensfähige  Materie  ist, 
derart,  daß  letztere  als  Produkt  des  Anorganischen  ent- 
steht, aber,  wenn  einmal  gebildet,  die  Lebenskraft  ,,aus 
ihrem  Schlummer  weckt"  ? 

Oder  ist  lebensfähige  Materie  ein  Produkt  der  Lebens- 
kraft ? 

Oder  sind  beide  ,, wechselseitig  durcheinander,  keine 
je  ohne  die  andere"  ? 

In  längerer  Diskussion,  in  welcher  unter  anderem  die 
Lebenskraft  auch  quantitativ  gefaßt,  und  in  welcher  der 
Begriff  der  ,,vita  minima"  eingeführt  wird,  entscheidet 
sich  Treviranus  nun  hypothetisch  für  die  letzte  Alter- 
native. 

Er  braucht  also  zwei  Grundbegriffe,  die  Lebenskraft 
und  die  „lebensfähige  Materie".  Das  unterscheidet  ihn 
wesentlich  von  Reil.  Es  ist  natürlicher  weise  nicht  gerade 
etwas  sehr  Klares. 

Seine  lebensfähige  Materie  ist  an  sich  gestaltlos,  sie 
erhält  eine  bestimmte  Form  erst  ,, durch  die  Verbindung 
mit  Stoffen  der  leblosen  Natur".  Im  Tode,  der  also  zu 
einem  Analogon  der  Seelenwanderung  wird,  geht  durch 
jene  gestaltlose  Materie,  die  eine  Form  der  ,,vita  minima" 

7* 


100  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

ist.  alles  hindurch.  Im  einzelnen  aber  denkt  sich  unser 
Forscher  die  Beziehung  zwischen  Lebenskraft,  gestalt- 
loser Lebensmaterie  und  äußeren  Faktoren,  im  Sinne 
seiner  Definition  des  Lebendigen  als  Gegensatzes  zum 
Materiellen,  folgendermaßen : 

„Die  Natur  des  Lebens  besteht  in  dem  Vermögen, 
der  absoluten  Ungleichförmigkeit  der  äußeren  Einwir- 
kungen relative  Gleichförmigkeit  zu  geben.  Verschiedene 
Formen  des  Lebens  sind  also  nur  dann  möglich,  wenn  jede 
Art  von  lebendigen  Organismen  nur  für  gewisse  äußere 
Einwirkungen  jenes  Vermögen  besitzt,  oder  mit  anderen 
Worten,  wenn  die  Lebenskraft  desselben  sich  nur  gegen 
gewisse  einwirkende  Potenzen  tätig  zeigt,  und  wenn  alle 
übrigen  Potenzen  die  Materie  des  lebendigen  Organismus 
affizieren,  ohne  durch  die  Lebenskraft  vorher  gebrochen 
zu  sein"  (1.  c.  S.  99). 

Diese  Erörterung  soll  also  zugleich  eine  Erklärung 
des  Daseins  verschiedener  spezifischer  Lebensformen  sein. 

Was  da  nun  freilich  auf  die  zufälligen  äußeren 
Faktoren,  was  auf  Rechnung  der  Lebenskraft  kommt, 
und  was  eigentlich  die  formlose  lebensfähige  Materie 
noch  für  eine  Rolle  spielen  soll,  das  geht  denn  doch 
wohl  kaum  aus  dieser  Zusammenfassung  hervor ,  deren 
scharfer  logischer  Zug  immerhin  hohe  Anerkennung  ver- 
dient. 

Aus  den  spezielleren  Ausführungen  der  späteren 
Bände  der  Biologie  teilen  wir  hier  nur  ganz  weniges  mit : 

Im  zweiten  Bande  entscheidet  sich  Treviranus 
nochmals  ausdrücklich  für  seine  dritte  Alternative, 
und  zwar  erstens  wegen  der  Urzeugung  aus  zerfallenden 
organischen  Stoffen,  einer  „Meinung,  mit  deren  Begrün- 
dung die  ganze  Biologie  begründet  ist",  und  zweitens 
wegen  der  Tatsache,  daß  die  Organismen  durch  äußere 
Faktoren,  wie  Nahrung,  Feuchtigkeit  usw.,  beeinflußbar 
seien.  Für  besonders  glücklich  werden  wir  diese  Be- 
gründung kaum  halten  können. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.         101 

Im  vierten  Bande  findet  sich  der  gute  Satz:  „das 
Organ  ist  Schranke,  nicht  aber  Ursache  der  Tätigkeit 
des  Bildungstriebes ' ' . 

Im  sechsten  Bande  wird  die  Beziehung  der  Vernunft 
zum  Bildungstrieb  durch  Beziehung  auf  Somnambule, 
Hysterische  usw.  erläutert.  Treviranus  kommt  hier  zu 
dem  recht  modernen,  z.  B.  an  E.  v.  Hartmann  anklingen- 
den Schlüsse,  ein  Unbewußtes  sei  der  Urgrund  des  Lebens, 
der  ins  Körperliche  einerseits,  ins  Geistige  anderseits 
hineinwirke.  Die  Instinkte  werden,  in  nicht  gerade 
kritisch  geklärter  Weise,  als  „unbewußte  Bilder"  ge- 
deutet. — 

Wie  wir  schon  angedeutet  haben,  hat  Treviranus 
gegen  Ende  seines  Lebens  seine  Ansichten  über  die  Grund- 
prinzipien der  Biologie  noch  einmal  zusammengefaßt1), 
und  zwar  in  einer  recht  wesentlich  veränderten  Gestalt. 

„Zweckmäßigkeit  für  sich  selber"  kennzeichnet  ihm 
jetzt,  im  Gegensatz  zum  Technischen,  das  Leben. 

Bedeutsam  ist  es,  wie  jetzt  das  Instinktive,  das 
Unbewußte,  Ausgang  alles  vitalistischen  Theoretisierens 
für  ihn  wird;  im  letzten  Band  der  „Biologie"  fanden  sich 
ja  schon  Hinweise  auf  solche  Wendung. 

Bewußtheit  gehöre  nicht  zum  Kennzeichen  des  Lebens : 
im  Instinkt  sei  der  Zweck  unbewußt,  bei  unserer  Muskel- 
bewegung umgekehrt  „sind  wir  uns  nur  des  letzten  Zweckes, 
nicht  der  Mittel  bewußt". 

Nur  als  „Analogon  der  Vernunft"  ist  stets  Zweck- 
mäßigkeit denkbar:  in  diesem  Sinne  gilt  jetzt  Treviranus 
gerade  der  in  der  „Biologie"  mit  Bezug  auf  Stahl  ab- 
gelehnte Satz:  „Leben  und  Beseeltsein  sind  einerlei" 
(Ersch.   S.  17). 

Es  wird  erwogen,  ob  es  wohl  auch  eine  nicht  durch 
Sinneseindrücke  vermittelte  Wechselwirkung  der  lebenden 
Wesen  aufeinander  gäbe:  das  Regulative  in  der  Zahl  der 

x)  „Die  Erscheinungen  und  Gesetze  des  organischen  Lebens". 
Bremen  T,   1831;  TT,   1832/8. 


102         '  !•  &er  ältere  Vitalismus. 

Geburten  und  der  Todesfälle,  der  Geschlechter,  das  Schlaf- 
wandeln ferner  spreche  dafür.  Immer  und  immer  wieder 
aber  illustriert  der  Instinkt  das  Wesentliche  der  biologi- 
schen Sachlage: 

Der  Instinkt  nun,  z.  B.  bei  den  Bienen,  beruht  auf 
,, produktiver  Einbildungskraft",  er  ist  ,, traumartig",  ent- 
stammt einem  ,, dunklen  Bewußtsein". 

Vielleicht  kann  die  Entwicklung  des  Individuums 
nach  Analogie  des  Instinkts  aufgefaßt  werden,  vielleicht 
,, träumt  das  Weizenkorn  von  Wurzel,  Sproß  und  Ähre". 

Diesen  Gedanken  hat  später  Johannes  Müller  auf- 
genommen; man  sieht,  wie  er  auch  an  Ausführungen 
Schopenhauers  und  v.  Hartmanns,  ja,  wie  er  an  die 
Parallele  anklingt,  weiche  Hering  zwischen  Gedächtnis 
und  Vererbung,  in  freilich  nur  bildlich-analogienhafter 
Weise,  zog. 

Über  das  Verhältnis  von  Lebenskraft  und  Materie 
äußert  sich  Treviranus  jetzt  gar  nicht  mehr:  alles  bleibt 
problematisch,  von  jenen  drei  Alternativen  ist  nicht  mehr 
die  Rede. 

Doch  gibt  er  auch  nicht  alles  Frühere  auf:  ,, Alles 
Lebende  hat  Organisation,  aber  diese  ist  seine  Wirkung", 
solche  Sätze  stehen  auch  in  dem  neuen  Buche;  und  auch 
in  ihm  wird  das  Leben  gekennzeichnet  durch  das  Ver- 
mögen, ,, gleichförmig,  nämlich  durch  Behauptung  seiner 
Gleichheit,  gegen  ungleichförmige  Eindrücke  zu  rea- 
gieren". 

,,Der  höchste  Charakter  des  Lebens  bleibt:  ein  zweck- 
mäßiges Wirken  aus  einem  selbsttätigen  Prinzip,  dessen 
Ziel  die  Fortdauer  des  Wirkens  selber  ist.  Dieses  Wirken 
muß  in  einer  bestimmten  Form  stattfinden,  deren  äußerer 
Ausdruck  die  Organisation  ist"  (1.  c.  S.  213).  ,,Das  phy- 
sische Leben  ist  ein  erzwungener  Zustand.  Sobald  dasselbe 
aufgehört  hat,  verbinden  sich  die  Elemente  des  Körpers, 
der  vorher  belebt  war,  nach  anderen  Gesetzen  als  im 
vorigen   Zustand"    (1.  c.  S.  348).     Lebens-chemische   Ana- 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.         103 

lysen  haben  daher  nur  geringen  Wert;  man  denke  hier  an 
Bichats  „anatomie  cadaverique  des  fluides". 

Die  Urzeugung  gilt  Treviranus  jetzt  als  „min- 
destens unerwiesen' ' . 

Vom  Ernste  eines  Denkers  zeugt  es  allein  schon,  daß 
er  sich  nicht  scheut,  Irrtümer  einzugestehen  und  Über- 
zeugungen preiszugeben.  Aber  auch  sonst  steht  Trevira- 
nus als  ernster,  nach  Gedankenklarheit  ringender,  tief 
gebildeter  Forscher  vor  uns:  er  ist  zugleich  der  letzte 
Vertreter  des  älteren  Vitalismus,  welcher  der 
Biologie  wesentliche  neue  Gedanken  hinzuge- 
fügt hat;  solche  liegen  in  seiner  Definition  des  Lebens  und 
in  der  Bezugnahme  auf  das  Instinktive  vor. 

Was  nun  noch  bis  zum  Verfalle  des  älteren  Vitalis- 
mus folgt,  sind  fast  stets  nur  alte  Gedanken  in  mehr  oder 
minder  verändertem  Gewände,  wenigstens  soweit  Biologen 
als  Autoren  vitalistischer  Systeme  in  Betracht  kommen; 
nur  der  letzte  solcher  Autoren,  J.  Müller,  bildet  hier  eine 
Ausnahme  im  guten  Sinne;  an  eigentlich  fortwirkender 
Kraft  gebrach  es  freilich  auch  seinen  Lehren. 


Der  schulmäßige  Vitalismus1). 

H.  F.  Autenrieth  hat  ein  recht  lesbares  Buch: 
„Ansichten  über  Natur-  und  Seelenleben"  (Stuttgart  1836) 
über  die  Prinzipienfragen  der  Biologie  geschrieben. 

Von  tieferer  Analyse  ist  hier  aber  wenig  mehr  die 
Rede:  der  späteren  Kritik  eines  Lotze  wird  es  leicht 
gemacht. 


J)  In  A.  Nolls  Kleiner  Schrift:  „Die  Lebenskraft"  werden 
aus  dieser  Periode  noch  einige  andere  neben  den  von  uns  genannten 
Autoren  durchgenommen.  Noll  behandelt  aber  überhaupt  nur 
den  Vitalismus  der  naturphilosophischen  Periode,  weder  den 
antiken  noch  den  um  Descartes  und  Leibniz  sich  gruppierenden. 
Für  die  neueste  Gestaltung  der  Autonomielehre,  den  sogenannten 
,,"Neovitalismus",  ist  sein  Buch  vollkommen  ungenügend.         /^nV* 


104  I«  Der  ältere  Vitalismus. 

Im  Leben  ist  „etwas  von  dem  materiellen  Stoffe  noch 
wesentlich  Verschiedenes  mit  im  Spiele";  diese  „Lebens- 
kraft" ist  selbständig,  unabhängig  vom  Körper.  Das 
wird  bewiesen  durch  die  Urzeugung  von  Infusorien  und 
Eingeweidewürmern,  sowie  dadurch,  daß  einzelne  Organe 
oder  ganze  Organismen,  z.  B.  Fische,  erfrieren  und  später 
wieder  auftauen  können:  hier  war  eben  die  Lebenskraft, 
welche  eine  wirklich  meßbare  „Kraft"  ist,  ganz  oder  zum 
Teil  fortgewandert. 

Auch  die  Katastrophentheorie  beweist  die  Selbständig- 
keit der  Lebenskraft,  und  ebenso  wird  sie  durch  die  Tat- 
sachen der  Befruchtung  bewiesen :  da  so  sehr  wenig  Samen 
zu  dieser  genügt,  ist  das  Körperhöhe  an  ihm  unwesentlich. 

Über  Instinkt,  der  „im  Bildungstrieb  der  vegetativen 
Lebenskraft  begründet  ist",  sagt  Autenrieth  noch  das 
Beste,  aber  nichts  anderes  als  Treviranus.  Instinkt  ist 
nicht  Verstand,  kann  sich  aber,  wie  bei  Biene,  Katze, 
Hund,  mit  ihm  kombinieren.  — 

F.  Tiedemann1)  hält  zwar  den  „Versuch  der  Meta- 
physik, eine  vollständige  Erkenntnis  der  Natur  aus  Ver- 
nunftideen  zu  geben",  für  „mißglückt",  aber  doch  für  ein 
Desiderat. 

Seine  eigenen  biotheoretischen  Versuche  leiten  Er- 
wägungen über  chemische  Probleme  ein,  die  überhaupt 
jetzt  eine,  wenigstens  nebensächliche,  Rolle  zu  spielen  an- 
fangen: im  Unorganischen  gibt  es  nur  binäre  Verbin- 
dungen, also  müssen  im  Organischen,  wo  allein  es  ternäre 
und  quaternäre  gibt,  Kräfte  „gegen  die  Affinitäten"  wirk- 
sam sein;  allerdings  habe  man  Harnstoff  und  Oxalsäure 
mit  anorganischen  Mitteln  dargestellt,  aber  diese  stehen 
„auf  der  äußersten  Grenze  zwischen  organischen  und  an- 
organischen Zusammensetzungen"  —  eine  Wendung,  in 
der  man  wohl  die  Einsicht  in  die  Bedenklichkeit  des  vor- 
her Behaupteten  erblicken  darf. 


1)  Physiologie  des  Menschen  I.     Darmstadt   1830. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.         105 

Die  Organismen  seien  nun  der  Form  nach  mannig- 
faltiger als  das  Anorganische,  der  „Mischung"  nach  aber 
einförmiger:  auch  daraus  folge  eine  den  ersteren  eigene 
Kraft,  eine  ,, höhere  Kraft,  welche  die  Gestaltung  be- 
wirkt". Diese  Kraft  „modifiziert"  die  Affinitäten,  was 
allerdings  seine  Grenzen  hat. 

Weitere  Überlegungen,  im  Verlauf  deren  auch  eine 
Urzeugung  von  Infusorien  und  Würmern  aus  zerfallenden 
organischen  Stoffen,  also  eigentlich  eine  Wiedergestal- 
tungsfähigkeit  derselben,  deren  Masse  eben  noch  nicht 
ganz  abgestorben  war,  behauptet  wird,  führen  Tiede- 
mann  nun  —  in  nicht  eben  sehr  logischer  Weise  —  dazu, 
nach  Art  des  sehr  viel  strenger  vorgehenden  Reil  einen 
,, Lebensstoff"  zu  behaupten:  das  „materielle  Substrat  der 
organischen  Körper  ist  eine  Materie  eigener  Art,  und  zwar 
mit  der  Eigenschaft  begabt,  sich  zu  gestalten",  sie  war 
im  Wasser  enthalten  und  gestaltete  sich  selbst.  So  ist 
alles  mit  einem  Male  erledigt.  Daß  aber  „die  Hauptsache 
nicht  erklärt  sei",  muß  Tiedemann  selbst  zugeben. 

Im  weiteren  Verlauf  beruft  sich  unser  Autor  einmal 
auf  die  „eigentümliche  des  Lebens  fähige  Materie"  des 
Treviranus,  ohne  aber  in  die  zwar  auch  nicht  ganz 
klare,  aber  doch  sehr  viel  tiefere  Auffassung  dieses  Vor- 
gängers einzudringen,  und  zitiert  auch  Buffon  und 
Needham  beifällig. 

Blumenbachs  Msus  formativus  wird  als  „dunkel" 
bezeichnet,  wobei  man  sich  denn  doch  wahrlich  fragen 
muß,  ob  denn  Tiedemanns  nie  zu  wirklich  logischer 
Schärfe  durchdringende  Ausführungen  solches  nicht  in 
sehr  viel  höherem  Grade  selbst  sind. 

Das  Beste  bleiben  noch  gewisse  Einzelheiten,  wie 
denn  z.  B.  der  Gedanke,  das  Bestehen  der  leblosen  Körper 
hänge  „von  der  Ruhe,  die  in  der  Mischung  eintritt",  ab, 
„während  das  Dasein  und  die  Erhaltung  der  Organismen 
durch  fortdauernde  Mischungsveränderungen  bedingt"  sei, 
an   den   modernen   Begriff   des   „dynamischen    Gleichge- 


106  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

wichtes"  anklingt;  auch  wird  der  Unterschied  zwischen 
Kristallen  und  den  wahren  „Individuen",  den  Organismen, 
gut  erörtert. 

Von  einem  eigentlichen  Beweise  des  Vitalismus  ist, 
von  den  mißglückten  Eingangserörterungen  über  Chemi- 
sches abgesehen,  nirgends  auch  nur  versuchsweise  die 
Rede.  — 

K.  F.  Burdach1)  steht  noch  mehr  im  unmittelbaren 
Banne  der  Naturphilosophie  als  die  eben  genannten  Männer. 

Das  Lebensprinzip  ist  kein  ,,deus  ex  machina",  son- 
dern ein  ,,deus  ex  vita":  es  genügt  eben  ,, keine  mecha- 
nische, keine  chemische  Theorie  zur  Erklärung  des  organi- 
schen Bildens".  Doch  darf  das  Lebensprinzip  nicht  isoliert 
von  Materie  gedacht  werden;  es  wirkt  ,, durch  materielle 
Mittel",  ,, durch  die  gemeinen  Tätigkeiten  des  Organismus, 
wie  Sekretion,  Absorption  usw.".  ,,Die  Materie  ist  nur 
das  Akzidens,  Tätigkeit  hingegen  die  Substanz  des  Orga- 
nismus." 

Im  Entwicklungsverlauf  wird  jedesmal  „durch  das 
Gebildete  das  Vonstattengehen  ferneren  Bildens  geför- 
dert" (V,  721);  dieser  wahrhaft  geklärt-epigenetische  Ge- 
danke verdient  entschiedene  Anerkennung. 

Soweit  der  fünfte  Band  des  Werkes ;  im  letzten  sucht 
Burdach  noch  tiefer  zu  dringen: 

Sicherlich  kommen  alle  Kräfte  der  anorganischen 
Welt  auch  im  Organismus  zur  Geltung :  darauf  haben  sich 
Descartes  und  die  Iatromechaniker  gegründet.  Man 
hatte  z.  B.  die  Gelenkmechanik  und  manches  am  Blut- 
kreislauf erklärt  und  glaubte  nun  alles  zu  erklären.  Dabei' 
übersah  man  noch  gar  den  hohen  philosophischen 
Standpunkt  des  Descartes. 

Bewiesen  aber  haben  die  Materialisten  nichts; 
von  Männern  wie  Buffon  und  Needham  gilt  freilich 
das  gleiche. 

1)  Die  Physiologie  als  Erfahrungswissenschaft.  Leipzig. 
0  Bände.      Wichtig  besonders  V,   1835  und  VI,   1840. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  107 

Der  Materialismus  kann  stets  nur  Einzelheiten, 
nie  die  Beziehungen  zum  Ganzen  erklären.  Eine 
allgemeine  organische  Materie  aber  mit  besonderen 
Kräften  ist  keine  Erklärung,  ganz  abgesehen  davon, 
daß  es  sie  nicht  geben  kann,  da  das  Leben  ja  auf 
Individualisierung  geht.  Elektrizität  und  Wärme  können 
nicht  der  Lebensgrund  sein,  da  sie  die  Mannigfaltig- 
keit der  Lebensgebilde  schon  voraussetzen.  „Erklä- 
rungen" durch  Irritabilität  und  dergleichen  sind  bloße 
Klassifikationen.  Aber  auch  Stahls  Seele  ist  zu  ver- 
werfen, ebenso  wie  ein  an  ihre  Stelle  gesetztes  Nerven- 
prinzip: es  gibt  Leben  ohne  Nerven.  Das  Wort  „Lebens- 
kraft" endlich  sagt  nur  aus,  ,,daß  es  zu  den  eigentüm- 
lichen Erscheinungen  des  Lebens  auch  einen  eigentüm- 
lichen Grund  geben  muß". 

Wo  also  alles  fehlschlägt  —  was  ist  zu  tun  1 

Das  Leben  muß  ,,aus  dem  alleinigen  Grund  des  Da- 
seins erklärt  werden".  Der  Autor  bezieht  sich  nun  auf 
Fichte  und  Schelling:  ,,Im  Organismus  finden  wir  die- 
selben Prädikate  auf  bedingte  Weise,  welche  als  unbedingt 
der  Natur  überhaupt  zukommen." 

Lebenskraft  ist  ,,der  in  bestimmten  Schranken  sich 
verwirklichende  Urgedanke' ' . 

Wird  solche  Lösung  befriedigen  ?  Den  wirklichen 
Naturforscher  schwerlich.  Jene  Frage  Reils,  „wie  man 
von  der  Idee  zur  Materie  komme",  muß  eben  aufgeworfen 
und  darf  nicht  einfach  abgeschnitten  werden. 

Sachlich  bietet  Burdach  wahrlich  nicht  mehr  als 
Oken,  nur  daß  ihn  klare  logische  Schulung  und  kritische 
Begabung,  die  überhaupt  das  Lesen  des  Werkes  zu  einer 
angenehmen  und  geradezu  anzuratenden  Lektüre  machen, 
vor  offenbaren  Phantasiespielereien  bewahren. 

Schopenhauer  zitiert  Burdach  oftmals  beifällig; 
wenn  man  bedenkt,  daß  es  ihm  nur  auf  Metaphysisches, 
auf  den  „Willen  in  der  Natur"  ankam,  kann  man  das  be- 
greifen. Man  wird  sich  auch  daran  erinnern,  daß  Schopen - 


108  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

hau  er  der  eigentlichen  „Naturphilosophie"  gar  nicht  so 
fernstand,  wie  er  selbst  glaubte.  — 

Karl  Ernst  v.  Baer,  der  berühmte  Embryologe, 
war  Burdachs  Schüler  und  ist  im  Theoretisieren  seiner 
früheren  Zeit,  die  uns  hier  allein  angeht,  durchaus  von 
ihm  und  von  den  Ausstrahlungen  der  Naturphilosophie 
abhängig.  Ja,  es  wird  sich  später  zeigen,  daß  er  in  Sachen 
der  Teleologie  über  solche  Abhängigkeit  eigentlich  nicht 
hinauskam.  Wir  hätten  seines  für  die  Embryologie  grund- 
legenden, für  die  Fragen  des  Vitalismus  aber  nur  wenig 
bedeutsamen  Werkes1)  hier  gar  nicht  zu  gedenken,  wenn 
nicht  in  der  Widmung  an  Pander  jener  Satz  vorkäme, 
der  zum  Überdruß  oft  von  materialistisch-darwinisti- 
schen  Autoren  zitiert  worden  ist,  in  der  Absicht,  Baer 
zu  einem  der  Ihrigen  zu  stempeln: 

,,Noch  manchem  wird  ein  Preis  zuteil  werden.  Die 
Palme  aber  wird  der  Glückliche  erringen,  dem  es  vor- 
behalten ist,  die  bildenden  Kräfte  des  tierischen  Körpers 
auf  die  allgemeinen  Kräfte  oder  Lebensrichtungen  des 
Weltganzen  zurückzuführen.  Der  Baum,  aus  welchem 
seine  Wiege  gezimmert  werden  soll,  hat  noch  nicht  ge- 
keimt." 

Daß  mit  solchem  Wortlaut,  wie  übrigens  ja  auch 
schon  der  Ausdruck  ,, Lebensrichtungen"  sattsam  zeigt, 
Baer  von  nichts  weiter  entfernt  war  als  von  materialisti- 
scher Naturauffassung,  daß  er  hier  vielmehr  geradezu 
im  Sinne  der  Naturphilosophie  denkt,  zeigt  nun  unter 
anderem2)  folgendes: 

,,Ein  Grundgedanke  ist  es,  der  durch  alle  Formen 
und  Stufen  der  tierischen  Entwicklung  geht  und  alle 
einzelnen  Verhältnisse  beherrscht.  Derselbe  Gedanke  ist 
es,    der   im   Weltraum    die   verteilte   Masse   in    Sphären 

1)  ,,Über  Entwicklungsgeschichte  der  Tiere.  Beobachtung 
und  Reflexion."     Königsberg  I,    1828;   II,    1837 

2)  Baer  betont  auch  z.  B.,  daß  Erklärungen  des  Lebens  aus 
der  Oxydation  oder  Elektrizität  immer  nur  eine  Seite  berühren. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.         109 

sammelte  und  diese  zu  Sonnensystemen  verband,  derselbe, 
der  den  verwitterten  Staub  an  der  Oberfläche  des  metal- 
lischen Planeten  in  lebendige  Formen  hervorwachsen  Heß. 
Dieser  Gedanke  ist  aber  nichts  als  das  Leben  selbst,  und 
die  Worte  und  Silben,  in  welchen  er  sich  ausspricht,  sind 
die  verschiedenen  Formen  alles  Lebendigen." 

Das  klingt  beinahe  okenisch,  ist  natürlich  von  klarer 
Stellungnahme  zum  teleologischen  Problem  weit  entfernt 
und  nur  der  Aufklärung  über  die  Person  des  Autors  wegen 
überhaupt  bedeutsam. 

Das  eigentliche  embryologische  Verdienst  des  Werkes 
besteht  bekanntlich  in  der  Unterscheidung  der  Begriffe 
„Typus"  (=  Lage  Verhältnis)  und  ,,Grad  der  Ausbildung" 
und  in  dem  Nachweis,  daß  der  Typus  die  Entwicklungs- 
weise  bedinge,  daß  und  wie  er  sich  in  der  Ontogenie  zeige. 

Doch  wir  müssen  abschließen;  wir  können  nicht  jeden 
Schriftsteller  hier  namentlich  aufführen  aus  einer  Zeit, 
in  der  alle  Welt  ,,vitalistisch"  dachte,  und  daher  auch 
jeder  Autor,  der  gelegentlich  theoretisierte,  „vitalistische" 
Bemerkungen  fallen  ließ:  so  mag  denn  hier  nur  noch 
erwähnt  sein,  daß  R.  Wagner,  der  Herausgeber  des  be- 
kannten „Handwörterbuches",  mit  den  antivitalistischen 
Darlegungen  seines  Mitarbeiters  Lotze,  die  wir  bald 
analysieren  werden,  inhaltlich  nicht  übereinstimmte,  und 
daß  F.  Magen  die,  dem  es  freilich  mehr  auf  das  eigentlich 
Sachliche  als  auf  theoretische  Exkurse  ankam,  ,,rein 
physische  und  rein  vitale  Hergänge"  sonderte,  zugleich 
aber  in  recht  klarer  Weise  ein  Ineinandergreifen  derselben 
behauptet  hat1). 

Und  nun  wenden  wir  uns  der  Betrachtung  des  Mannes 
zu,  der  gewissermaßen  den  letzten  Typus  des  älteren 
Vitalismus  darstellt. 


J)  Precis  elementaire  de  Physiologie.  1816.  Deutsch  von 
Elsässer.  3.  Aufl.  1834.  Tübingen.  M.  redet  u.  a.  von  dem  „schäd- 
lichen und  abgeschmackten  Glauben,  als  hätten  die  physischen 
Gesetze  keinen  Einfluß  auf  den  lebenden  Körper'". 


1 K)  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

Johannes  Müller. 

Johannes  Müller  hat  in  seinem  „Handbuch  der 
Physiologie  des  Menschen"1)  zum  letzten  Male  den  schulen- 
mäßigen Vitalismus  in  systematischer  Darstellung  zu- 
sammengefaßt. Da  dem  eigentlich  sachlichen  Inhalt  nach 
das  Müll  er  sehe  Buch  seine  Vorgänger  überragt  und  daher 
sein  Einfluß  ein  größerer  war,  ist  auch  der  ältere  Vitalis- 
mus als  Ganzes  meist  in  der  Müll  er  sehen  Form  auf 
spätere  Generationen  gekommen,  und  gilt  diesen  Jo- 
hannes Müller  oft  als  ein  besonders  typischer  Vertreter 
desselben.  Das  ist  richtig  im  reinen  Wortsinn,  aber  für 
den  eigentlichen  Ausbau  der  großen  vitalistischen  Lehre 
bedeutet  Müller  trotzdem  nur  in  zwei  einzelnen,  aller- 
dings nicht  unwichtigen  Punkten  einen  wirklichen  Fort- 
schritt, was  uns  immerhin  genügt,  ihn  hier  an  hervor- 
ragender Stelle  und  nicht  etwa  nur  als  letzten  der  schulen- 
mäßige Vitalisten  zu  behandeln.  Irgendein  wesentlich 
neuer  Gedanke  wirklich  prinzipieller  Art  findet  sich 
aber  nicht  bei  ihm. 

Jene  Erörterung  über  den  chemischen  Gegensatz  von 
Organismen  und  Anorganischem,  die  wir  schon  von  Tiede  - 
mann  her  kennen,  und  die,  wie  Müller  betont,  eine 
typische  Stelle  in  jedem  zeitgenössischen  Lehrbuch  der 
Chemie  einnahm,  leitet  das  Werk  ein;  ja,  das  Harnstoff  - 
problem  findet  fast  wörtlich  dieselbe  angebliche  Erledigung 
wie  bei  Tiedemann.  Im  Leben  herrscht  also  außer  der 
Wahlverwandtschaft  ,,noch  etwas  anderes"  dazu. 

Recht  unbestimmt  wird  dann  Kants  Auffassung  vom 
Organischen  eingeführt.  Erörterungen  über  den  Begriff 
des  Individuums  erinnern  wieder  an  andere  Vorgänger. 

Etwas  selbständiger  erscheint,  wenigstens  in  der 
Form,  der  Gedanke,  daß  die  im  Organismus  bestehende 
Harmonie  zwischen  Bau  und  Funktionsgetriebe  zwar  zur 


!)  Koblenz.     1.  Auflage,  Band  I,  1833;  II    1840.     4.  Auflage 
des  Werkes   1844. 


E.   Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  Hl 

Kennzeichnung,  nicht  aber  zur  Erklärung  der  Organi- 
sationskräfte genüge,  da  die  letzteren  doch  früher  be- 
stünden. 

Müller  wendet  sich  dann  gegen  die  Evolutionslehre; 
die  Epigenesis,  die  er  übrigens  nur  streift,  tritt  insofern 
in  geklärter  Form  auf,  als  Urzeugung  in  jeder  Form, 
unter  Berufung  auf  Spallanzani,  nun  endlich  definitiv 
abgelehnt  und  die  Permanenz  organischer  Materie  be- 
hauptet wird. 

Die  Ansicht  Stahls  ist  Müller  sehr  sympathisch, 
wobei  wir  es  allerdings  stark  bezweifeln  möchten,  daß 
Stahl  nicht  die  vorstellende  Seele,  sondern  die  ,,nach 
vernünftigem  Gesetz  sich  äußernde  Kraft  der  Organisation 
selbst"  gemeint  habe.  Jedenfalls  gibt  letztere  Äußerung 
Müllers  eigene  Ansicht,  die  ja  nicht  eben  neu  ist,  wieder, 
und  wenn  er  das  „Bewußtsein"  für  ein  Erzeugnis  der 
Organisation  und  für  an  ein  Organ,  das  Nervensystem, 
gebunden  erklärt,  so  kann  man  hier  nur  die  erkenntnis- 
kritische Unklarheit  des  Ausdrucks,  diese,  allerdings  stark, 
beanstanden. 

Woher  die  Verbindung  jener  Kraft  mit  organischer 
Materie  komme,  ist  unserem  Autor  ,,kein  Gegenstand  des 
Wissens".  Diese  Einsicht  bedeutet  wohl  den  Spekulationen 
der  Früheren  gegenüber  einen  wirklichen  Fortschritt. 

Freilich  bedarf  dieses  Lob  sogleich  wieder  der  Ein- 
schränkung, wenn  nun,  mit  Bezug  auf  Reil,  die  Frage, 
ob  jenes  Neue  im  Leben  materiell  oder  nicht  sei,  als 
,, ungewiß"  bezeichnet  wird.  Müller  ist  hier  sowohl  von 
der  Schärfe  der  Problemzergliederung,  welche  Reil  auf 
seinen  Lebensstoff  führte,  wie  von  der  Schärfe  der  Über- 
legung, die  z.  B.  Treviranus  einen  solchen  ablehnen  ließ, 
gleich  weit  entfernt. 

Die  bedeutsamsten  der  Müll  er  sehen  Überlegungen 
sind  im  letzten  Bande  seines  Werkes  diejenigen,  welche 
von  der  Erörterung  der  sogenannten  ,, Lebensreize"  oder 
„integrierenden  Reize",  d.  h.  in  unserer  Sprache  der  not- 


112  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

wendigen  Bedingungen  des  Lebens,  und  von  der  Er- 
örterung des  Todes  ausgehen.  Die  „Lebensreize"  sollen 
„die  organischen  Kräfte  beleben  und  verstärken".  „Aus 
unbekannten  Quellen  der  Außenwelt"  wird  durch  die 
Pflanze  „die  Lebenskraft  vermehrt".  Und  es  muß  wohl 
so  eine  Vermehrung  geben,  da  ja  „die  organische  Kraft 
beim  Wachstum  und  bei  der  Fortpflanzung  der  organi- 
schen Körper  multipliziert  wird",  man  müßte  denn  „das 
Unbegreifliche  annehmen,  daß  die  beim  Fortpflanzen  statt- 
findende Teilung  der  organischen  Kraft  die  Intensität  der- 
selben nicht  schwäche".  Beim  Sterben  wird  umgekehrt 
die  organische  Kraft  „in  ihre  allgemeinen  natürlichen  Ur- 
sachen aufgelöst,  aus  denen  sie  von  der  Pflanze  regeneriert 
zu  werden  scheint". 

Diese  Erörterungen  klingen  beim  ersten  Anblick 
durchaus  nicht  ganz  klar  und  sind  auch  nicht  alle  neu. 
Daß  die  Lebens,, kraft"  in  quantitativem  Sinne  aufgefaßt 
wird,  hatten  wir  auch  bei  Vorgängern  Müllers  schon  zu 
erwähnen  und  zu  tadeln. 

Neu  aber  ist,  und  eine  wirklich  gute  selb- 
ständige Überlegung,  daß  Müller,  freilich  innerhalb 
des  falschen  Gedankens,  daß  die  „Lebenskraft"  selbst 
eine  quantitativ  bestimmbare  „Kraft"  sei,  die  Frage 
nach  der  Herkunft  einer  „Quantität"  aufwirft, 
also,  modern  gesprochen,  so  etwas  wie  eine  „Energie- 
quelle" ahnungsvoll  fordert.  Richtiges  und  Falsches  ist 
hier  gemengt;  wir  würden  sagen:  freilich  muß  es  eine 
Energiequelle  der  Lebensphänomene  geben,  aber  das- 
jenige, welches  diese  eigentlich  charakterisiert,  hat  selbst 
mit  solcher  Energiequelle  nichts  zu  tun. 

Nach  aristotelischem  Muster  unterscheidet  Müller 
Vegetationskraft,  Bewegungskraft,  Empfindungskraft ; 
alles  stammt  von  dem  „primum  movens"  her,  welches 
immer  Spezifizierteres  erzeugt.  Die  Vernunft,  welche 
analogienhaft  jenem  primum  movens  zuzuschreiben  ist, 
übersteigt  die  menschliche   bei  weitem:   „alle   Probleme 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  113 

der  Physik  sind  vor  dieser  schaffenden  Tätigkeit  gelöst". 
Sie  ist  auch  die  Ursache  der  Instinkte,  die,  nach  Art  des 
Treviranus,  als  ein  ,, Träumen"  gefaßt  werden. 

Neben  der  ahnungsvollen  Frage  nach  einer  „Energie- 
quelle" des  Lebens  ist  es  das  zweite  wirkliche  Verdienst 
Müllers,  daß  er,  im  zweiten  Bande  seines  Werkes,  die 
Probleme  des  sogenannten  ,, Seelenlebens"  als  eigentlich 
naturwissenschaftliche  Probleme  der  Physiologie  ein- 
reiht, wenn  solches  auch  in  kritisch  recht  ungeklärter  Form 
und  unter  sehr  dunklen  Verwendungen  der  Worte  „Frei- 
heit", „Empfindung"  usw.  geschieht. 

Die  Frage,  ob  „die  Seele"  und  Materie  notwendig 
verbunden  seien  oder  nicht,  wird  ebenso  wie  jene  nach 
der  Verbindung  von  Materie  und  Lebenskraft  offen  ge- 
lassen. 

„Der  Wille  setzt  die  Faserursprünge  der  Nerven,  wie 
die  Tasten  eines  Klaviers  in  Tätigkeit."  „Alles  übrige 
ist  bloßer  Mechanismus."  Da  die  Existenz  der  Seele  vom 
unverletzten  Hirnbau  jedenfalls  nicht  abhängt,  insofern 
als  sie  ja  vorher  latent  vorhanden  war1),  so  kann  auch 
wohl  nicht  die  Seele  „krank"  sein,  sondern  nur  das  Gehirn. 

Wie  jene  Aktion  auf  die  Faser  Ursprünge  zustande 
kommt,  ist  vielleicht  unbeant wortbar.  Nicht  maßgebend 
ist  jedenfalls  die  Intensität  einer  Zweckvorstellung, 
denn  „dann  müßte  die  Bewegung  mit  beschleunigter  Ge- 
schwindigkeit wachsen,  wenn  die  Intensität  jener  Vor- 
stellung zunähme";  nicht  maßgebend  ist  auch  die  Er- 
füllung der  Seele  mit  nur  einer  Vorstellung,  denn  man 
kann  mehrere  Bewegungen  zugleich  ausführen. 

Solche  Erwägungen  wird  man  freilich  nicht  als  sonder- 
lich kritisch  bezeichnen  können. 


x)  Hierzu  die  Stelle:  „Mit  der  Struktur  ist  das  Wirken  der 
schon  (vom  Keim  her)  vorhandenen  Kraft  gegeben,  welche  also 
von  der  Struktur  des  Gehirns  nicht  in  ihrem  letzten  Grunde  ab- 
hängig, aber  in  Hinsicht  ihrer  Äußerung  von  der  Struktur  ab- 
hängig ist." 

Driesch,  Vitalisuius.    2.  Aufl.  8 


114  !■  £*er  ältere  Vitalismus. 

Im  einzelnen  verdient  in  diesem  Zusammenhang  wohl 
Erwähnung  die  an  Wundt  erinnernde  Betonung  der  Ver- 
wandtschaft von  Wille  und  Aufmerksamkeit  sowie  die 
Theorie  der  Entstehung  der  Willenshandlungsbewegungen 
aus  den  ungeregelten  Bewegungen  des  Neugeborenen  durch 
Erfahrung,  welche  an  Lotze  gemahnt. 

Besonders  bedeutsam  erscheint  von  Einzelheiten 
ferner  die  von  Müller,  trotz  seiner  Lehre  von  den  „spe- 
zifischen Sinnesenergien",  vertretene  Indifferenz  des 
Hirns:  Verlust  von  Hirnsubstanz  habe  nie  den  Verlust 
bestimmter  Vorstellungsmassen,  sondern  Abnahme 
der  Klarheit  aller  zur  Folge. 

Erörterungen  sehr  allgemeiner  Art  beschließen  Mül- 
lers theoretische  Ausführungen  und  mögen  auch  unsere 
Analyse  derselben  beendigen: 

„Das  Verhältnis  der  Seele  und  des  Organismus  kann 
im  allgemeinen  verglichen  werden  mit  dem  Verhältnis 
jeder  physischen  allgemeinen  Kraft  und  der  Materie,  an 
welcher  sie  sich  äußert,  z.  B.  des  Lichtes  und  der  Körper, 
an  welchen  es  zum  Vorschein  kommt.  Das  Rätselhafte 
des  Zusammenhanges  bleibt  sich  in  beiden  Fällen  gleich." 

Die  Wirkung  von  Geist  auf  Körper  und  von  Körper 
auf  Geist  wird  von  Müller  etwa  im  Schema  der 
H er bart sehen  Monadenlehre  gedacht. 


Liebig. 

Den  einen  Abschluß  dieses  Teiles  unserer  Betrach- 
tungen mögen  eines  bedeutenden  Chemikers  Ansichten 
über  die  Phänomene  des  Lebens  bilden. 

Die  Worte,  welche  J.  v.  Liebig  in  seinen  „Chemi- 
schen Briefen"1)  und,  weniger  eingehend,  auch  in  seiner 
„Tier-Chemie"2)  den  biologischen   Grundproblemen  wid- 


x)  Leipzig  1844.     4.  Aufl.    1859. 

a)  „Die  Tier-Chemie  in  ihrer  Anwendung  auf  Physiologie  und 
Pathologie."     Braunschweig.     3.  Aufl.   1846. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  H5 

met,  gehen  zwar  weniger  auf  das  einzelne  und  auf  eine 
Begründung  des  Vitalismus,  sie  sind  aber  wegen  gewisser 
allgemeiner  Charaktere  sehr  zu  beherzigen,  und  überdies 
zeigen  sie,  daß  die  Chemiker  jener  Zeit  —  und  als  ihr  Ver- 
treter überhaupt  spricht  Lieb  ig  —  von  einer  Gegner- 
schaft gegen  den  Vitalismus  weit  entfernt  waren: 

Obwohl  chemische  Kraft  und  Lebenskraft  einander 
nahestehen  und  der  Chemiker  alle  möglichen  organischen 
Stoffe  bereits  herstellen  kann  und  noch  viel  mehr  Stoffe 
einst  herstellen  können  wird,  so  wird  doch  ,.nie  der 
Chemismus  imstande  sein,  ein  Auge,  ein  Haar,  ein  Blatt 
zu  erzeugen* '.  „Die  Form,  die  Eigenschaften  der  ein- 
fachsten Gruppen  von  Atomen  bedingt  die  chemische 
Kraft  unter  der  Herrschaft  der  Wärme,  die  Form  und 
Eigenschaften  der  höheren,  der  organisierten  Atome  be- 
dingt die  Lebenskraft." 

Freilich  hat  die  letztere  Grenzen:  sie  kann  z.  B.  nicht 
die  Elemente  ineinander  verwandeln. 

Die  antivitalistischen  Materialisten  sind  meist  viel 
zu  summarisch  verfahren;  freilich  war  meist  auch  die 
Methode  der  Vitalisten  zu  summarisch,  da  sie  eben  doch 
nicht  alle  Möglichkeiten  übersahen.  Aber  das  hindert 
nichts  an  der  Richtigkeit  der  vitalistischen  Auffassung. 

„Nur  die  mangelhafte  Kenntnis  der  anorganischen 
Kräfte  ist  der  Grund,  warum  von  manchen  Männern  die 
Existenz  einer  besonderen  in  den  organischen  Wesen 
wirkenden  Kraft  geleugnet,  warum  den  anorganischen 
Kräften  Wirkungen  zugeschrieben  werden,  die  ihrer  Natur 
entgegengesetzt  sind,  ihren  Gesetzen  widersprechen.  Sie 
wissen  eben  nicht,  daß  die  Entstehung  einer  jeden  chemi- 
schen Verbindung  nicht  eine,  sondern  drei  Ursachen 
voraussetzt",  nämlich  neben  Wärme  und  Affinität  die 
„formbildende  Kraft  der  Kohäsion  oder  Kristallisation". 
„Im  lebendigen  Körper  kommt  eine  vierte  Ursache  hinzu, 
durch  welche  die  Kohäsionskraft  beherrscht  wird,  durch 
welche  die  Elemente  zu  neuen  Formen  zusammengefügt 

8* 


üö  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

werden,  durch  die  sie  neue  Eigenschaften  erlangen,  Formen 
und  Eigenschaften,  die  außerhalb  des  Organismus  nicht 
bestehen." 

Gegner  des  Vitalismus  sind  meist  „Fremdlinge  in 
den  Gebieten,  welche  die  Erforschung  chemischer  und 
physikalischer  Kräfte  zur  Aufgabe  haben".  Wer  denkt 
hier  nicht  daran,  daß  auch  in  neuerer  Zeit  Physiker  und 
Chemiker  das  Biologische  oft  viel  vorurteilsloser  beurteilt 
haben  als  Biologen!  Man  denke  an  Ostwald,  Hertz, 
Maxwell  und  andere!  Und  wer  möchte  nicht  glauben, 
daß  Lieb  ig  in  den  sechziger  bis  achtziger  Jahren  des  ver- 
flossenen Jahrhunderts  anstatt  manche  Dezennien  früher 
geschrieben  habe,  wenn  er  liest  von  den  „Dilettanten, 
welche  von  ihren  Spaziergängen  an  den  Grenzen  der 
Gebiete  der  Naturforschung  die  Berechtigung  herleiten, 
dem  unwissenden  und  leichtgläubigen  Publikum  aus- 
einanderzusetzen, wie  die  Welt  und  das  Leben  eigentlich 
entstanden,  und  wie  weit  doch  der  Mensch  in  der  Er- 
forschung der  höchsten  Dinge  gekommen  sei",  von  jenen 
Dilettanten,  an  deren  Reden  über  das  Verhältnis  von 
Geist  und  Gehirn,  wenn  man  allen  „Flitter  und  Tand"  ab- 
streift, übrigbleibt,  „daß  wir  ohne  Gehirn  nicht  denken", 
wie  wir  ohne  Beine  nicht  gehen  können. 

Nur  Auswüchse  der  Naturphilosophie  können  nach 
Liebig  den  Materialismus  wenigstens  einigermaßen  ent- 
schuldigen. 

„Ausnahmen  eines  Naturgesetzes"  aber  hinwiederum 
sollen  seine  „vitalen  Eigenschaften"  nicht  bedeuten. 

Doch  haben  uns  die  letzten  Betrachtungen  schon  in 
eine  Zeit  geführt,  in  der  der  Vitalismus  um  seine  Daseins- 
berechtigung zu  kämpfen  hatte,  in  der  auch  etwas  anderes 
als  er  auf  dem  Plane  war. 

Ehe  wir  aber  in  die  neugeschaffene  Lage  der  wissen- 
schaftlichen Dinge  tiefer  eindringen,  wollen  wir  diesem 
Teile  unserer  Erörterungen  noch  einen  zweiten  Abschluß 
geben. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.         117 

Wie  der  Hinweis  auf  philosophische  Lehren,  auf  die 
Naturphilosophie  Schellin gs  und  Hegels  nämlich,  diesen 
Teil  einleitete,  so  soll  ihn  der  Hinweis  auf  die  Lehren  eines 
Philosophen  beschließen,  der  es  uns,  wenn  er  noch  lebte, 
vielleicht  sehr  verübeln  würde,  daß  wir  ihn  hier  mit  den 
verhaßten  ,,  Philosophieprofessoren"  zusammen  in  einem 
Satze  nennen,  da  er  nämlich  über  Differenzen  das  Ver- 
wandtschaftliche übersah,  der  Hinweis  auf 

Schopenhauer. 

Die  Willensmetaphysik  des  Philosophen  geht  uns  in 
unserer  naturwissenschaftlichen  Geschichtschreibung  zwar 
nicht  mehr  an  als  das  Vernunftsystem  seiner  Gegner,  und 
wenn  er,  um  darzutun,  daß  die  Natur  verschiedene  Stufen 
der  ,,Objektivation  des  Willens"  zeige,  und  daß  die  leben- 
den Wesen  die  höchste  dieser  Stufen  seien,  eine  große 
Menge  biologischer  Tatsachen  beibringt1)  und  in  allgemein 
vitalistischer  Weise  auffaßt,  so  ist  das  in  unserem  Sinne 
höchstens  Material  für  Naturforschung2).  Wie  die  ver- 
schiedenen Objektivationsstufen  zueinander  oder  zu  einem 
Neutralen  (der  Materie  ?)  stehen,,  das  gälte  es  im  Sinne 
des  Vitalismusproblems  auszumachen.  Davon  aber  wird 
nicht  im  einzelnen  geredet .  Überhaupt  wird  von  Schopen- 
hauer die  Richtigkeit  der  vitalistischen  Lehre  mehr  be- 
hauptet, als  sie  bewiesen  wird.  Doch  befindet  man  sich 
bei  ihm,  im  Gegensatz  zu  Schelling,  in  Sicherheit  darüber, 
daß  er  sie,  im  Sinne  dynamischer  Teleologie,  vertritt. 

Unmittelbar  naturwissenschaftlich  bedeutsam  und 
wissenschaftsmethodologisch  wichtig  erscheint  aber  ein 
ganz  bestimmter  Gedanke  Schopenhauers,  und  dieser 


1)  Vgl.  vor  allem  das  „zweite  Buch"  beider  Bände  des 
Hauptwerkes,  ferner  die  Schrift  ,,Über  den  Willen  in  der  Natur". 

2)  Bedeutsam  erscheint  in  dieser  Hinsicht  zumal  die  von 
Schopenhauer  scharf  gezogene  Parallele  zwischen  Instinkt  und 
dem  Wirken  der  organisierenden  Natur.  Vgl.  z.  B.  Welt  a.  W. 
u.  V.  IT.  Buch  2,  Kap.  27. 


Hg  I.  Der  ältere  Vitalismus. 

Gedanke  knüpft  an  die  „Kritik  der  Kantischen  Philo- 
sophie", insbesondere  an  die  Kritik  der  teleologischen 
Urteilskraft  an1);  er  folge  hier  wörtlich: 

„Mit  Recht  behauptet  Kant,  daß  wir  nie  dahin  ge- 
langen werden,  die  Beschaffenheit  der  organischen  Körper 
aus  bloß  mechanischen  Ursachen,  worunter  er  die  ab- 
sichtslose und  gesetzmäßige  Wirkung  aller  allgemeinen 
Naturkräfte  versteht,  zu  erklären.  Ich  finde  hier  je- 
doch eine  Lücke2).  Er  leugnet  nämlich  die  Möglich- 
keit einer  solchen  Erklärung  bloß  in  Rücksicht  auf  die 
Zweckmäßigkeit  und  anscheinende  Absichtlichkeit  der 
organischen  Körper.  Allein  wir  finden,  daß,  auch  wo 
diese  nicht  statthat,  die  Erklärungsgründe  aus  einem 
Gebiet  der  Natur  nicht  in  das  andere  hinübergezogen 
werden  können,  sondern  uns,  sobald  wir  ein  neues  Gebiet 
betreten,  verlassen,  und  statt  ihrer  neue  Grundgesetze 
auftreten,  deren  Erklärung  aus  denen  des  vorigen  gar 
nicht  zu  erhoffen  ist.  So  herrschen  im  Gebiet  des  eigent- 
lich Mechanischen  die  Gesetze  der  Schwere,  Kohäsion, 
Starrheit,  Flüssigkeit,  Elastizität,  welche  an  sich  als 
Äußerungen  weiter  nicht  zu  erklärender  Kräfte  dastehen, 
selbst  aber  die  Prinzipien  aller  ferneren  Erklärung,  welche 
bloß  in  Zurückführung  auf  jene  besteht,  ausmachen.  Ver- 
lassen wir  dieses  Gebiet  und  kommen  zu  den  Erschei- 
nungen des  Chemismus,  der  Elektrizität,  Magnetismus, 
Kristallisation,  so  sind  jene  Prinzipien  durchaus  nicht 
mehr  zu  gebrauchen,  ja,  jene  Gesetze  gelten  nicht  mehr, 
jene  Kräfte  werden  von  anderen  überwältigt,  und  die  Er- 
scheinungen gehen  in  geradem  Widerspruch  mit  ihnen 
vor  sich,  nach  neuen  Grundgesetzen,  die,  eben  wie  jene 
ersteren,  ursprünglich  und  unerklärlich,  d.  h.  auf  keine 
allgemeineren  zurückzuführen  sind  .  .  .  Eine  Erörterung 
dieser  Art  würde,  wie  es  mir  scheint,  in  der  Kritik  der 


!)  Anhang  zum  ersten  Bande  des  Hauptwerkes. 
2)  Dieser  Sperrdruck  rührt  von  mir  her. 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie  .         119 

teleologischen  Urteilskraft  von  großem  Nutzen  gewesen 
sein  und  viel  Licht  über  das  dort  Gesagte  verbreitet 
haben/' 

Dieser  Gedankengang1)  ist  zwar  nicht  ganz  im  Sinne 
Kants,  dem  ja  eine  Auflösung  aller  Physik  in  Bewegungs- 
vorgänge als  Ideal  vorschwebt,  und  er  ist  für  das  An- 
organische, angesichts  der  Entwicklung  der  Physik  und 
Chemie,  die  ja  ein  großes  Ganze  geworden  sind,  auch 
sachlich  nicht  zu  halten,  aber  er  ist  methodisch  insofern 
noch  heute  bedeutsam,  als  er  antidogmatisch  ist  und  den 
Satz,  es  müsse  auf  jeden  Fall  der  Allmechanismus  das  Ge- 
schehensschema der  empirischen  Wirklichkeit  sein,  a  limine 
abweist.  Schopenhauer  beweist  zu  viel:  im  Anorgani- 
schen kann  alles  in  einheitlicher  Form,  im  Sinne  einer 
Materientheorie,  gestaltet  werden.  Aber  denkbar  wäre  ja 
freilich  auch  hier  eine  andere  Lage  der  Dinge;  und  diese 
andere  Lage  der  Dinge  ist  nun  in  der  Welt  des  Lebendigen 
verwirklicht:  die  Biologie  ist  autonome  Sonderwissen- 
schaft. 

Von  den  biotheoretischen  Sondergedanken  Schopen- 
hauers sei  nur  der  eine  erwähnt,  daß  das  Instinktleben 


x)  Der  Gedanke,  daß  die  verschiedenen  Gebiete  der  Natur- 
forschung —  Mechanik,  Physik,  Chemie,  Biologie  —  es  mit  Stufen 
immer  komplizierteren  Geschehens  zu  tun  haben,  findet  sich  auch 
bei  A.  Comte  (Cours  de  Philosophie  positive,  Band  III,  3.  Aufl., 
Paris  1869).  Freilich  verhindert  den  französischen  Philosophen 
seine  Furcht  vor  Metaphysik  und  „Entitäten",  sein  angeblicher 
„Positivismus"  also,  der  tatsächlich  eine  Unvollständigkeit, 
nämlich  ein  Übersehen  des  kategorialen  Zwanges  in  Begriff- 
und  Urteilbildung,  bedeutet,  das  eigentliche  Problem  des  Vitalismus 
klar  zu  sehen.  So  bleibt  es  denn  einigermaßen  unklar,  ob  er  in 
den  verschiedenen  Gebieten  der  Naturerscheinungen  an  sich 
intensiv  komplizierende  Sondergesetzlichkeiten  oder  an  bloßo 
Komplikationen  der  Konstellation  denkt.  Ersteres  freilich  dünkt 
uns  wahrscheinlicher.  Wir  sagen  nur  diese  wenigen  Worte  über 
Comte,  da  wir  später  in  Claude  Bernard  einen  Forscher  zu 
behandeln  haben  werden,  der  einen  ähnlichen  Standpunkt  natur- 
wissenschaftlich durchgebildeter  vertritt. 


120  I-  Der  ältere  Vitalismus. 

in  seiner  Unbewußtheit  und,  um  mit  G.  Wolff  zu  reden, 
,, primären  Zweckmäßigkeit"  gewissermaßen  die  Fort- 
setzung des  Formbildungslebens  sei,  eine  durch  den  Ver- 
lauf der  Forschung  von  Jahr  zu  Jahr  mehr  befestigte  Lehre. 


Des  älteren  Vitalismus  Ende. 

Man  sagt  von  politischen  Parteien,  daß  sie  erschlaffen, 
wenn  sie  keine  Gegner,  mehr  haben. 

Etwas  Ähnliches  gilt  auch  von  wissenschaftlichen  und 
philosophischen  Doktrinen:  nicht  als  ob  sie  als  solche  auf- 
hörten zu  existieren,  aber  sie  verlieren  ihre  Strenge,  ihr 
fortwährendes  Auf -der-Hut-  Sein  in  Gewärtigung  eines  doch 
vielleicht  noch  möglichen  und  nicht  ganz  ungerecht- 
fertigten Angriffs.  Sie  werden  in  ihren  Folgerungen  lax 
und  unvorsichtig,  indem  sie  vergessen,  jede  Folgerung  auf 
ihre  erkenntniskritische  Berechtigung  hin  zu  prüfen; 
schlimmer  aber  noch  ist,  daß  sie  lax  in  bezug  auf  die 
Fundamente  werden:  diese  gelten  für  so  sicher,  daß  es 
gar  nicht  mehr  für  der  Mühe  wert  gilt,  sie  zu  prüfen,  ja 
auch  nur  sie  zu  erwähnen;  geschweige  denn,  daß  man  sie 
durch  immer  neu  beigebrachte  Beweise  des  eigentlichen 
Grundsachverhaltes  zu  festigen  trachtete. 

Und  dann  zerfällt  einmal  die  Doktrin  und  stirbt. 
Sehr  wohl  kann  sie  trotzdem  die  richtige  Deutung  des 
Sachverhaltes  gewesen  sein.  Aber  alles  Richtige  war 
überwuchert  von  Haltlosem  und  Falschem.  Nicht  also 
„widerlegt"  sie  dann  die  nun  aufkommende  gegnerische 
Doktrin;  widerlegen  tut  diese  nur  das  wirklich  Falsche  an 
ihr.  Aber  da  die  neue  Doktrin  scharf  und  streng  vorgeht, 
da  sie  für  sich  kämpft,  so  nimmt  sie  alle  Unselbständigen 
für  sich  ein  und  läßt  darüber  hinwegsehen,  daß  sie  den 
richtigen  Kern  an  jener  durch  Laxheit  verkommenen 
älteren  Lehre  doch  eigentlich  gar  nicht  getroffen  hatte. 

Neu  und  gereinigt  erhebt  sich  endlich  die  richtige 
alte  Lehre  aus  ihrer  scheinbaren  Vernichtung:  sie  kann 


E.  Vitalismus  im  Gefolge  der  Naturphilosophie.  121 

dann  wirklich  sachgemäßer,  ehrlicher  Kritik  aufrichtig 
dankbar  sein,  mag  diese  auch  im  innersten  Kern  un- 
recht gehabt  haben. 

Was  aber  hier  geschildert  wurde,  das  ist  mit  dem 
älteren  Vitalismus  geschehen: 

Er  starb  aus  Mangel  an  Gegnern:  wer  hat  noch 
seine  eigentlichen  Fundamente  in  den  sechs  letzten  von 
uns  geschilderten  Dezennien  seiner  -Entwicklung  wirklich 
geprüft  ?  Wer  suchte  noch  seine  sachliche  Berechtigung 
als  eine  von  mehreren  Möglichkeiten  gegen  die  andere 
zu  beweisen?  Wer  prüfte  j  ede  seiner  Folgerungen  ? 
Blumenbach  hat  als  letzter  unter  Naturforschern  das 
alles  getan. 

Und  so  ist  denn  die  Kritik  gekommen,  die  den  Vitalis- 
mus äußerlich  auf  eine  Zeit  hin  vernichtet  hat. 

Widerlegt  hat  sie  ihn  unseres  Erachtens  nicht,  son- 
dern gereinigt,  und  wir  legen  Wert  auf  unsere  Aussage, 
daß  der  ältere  Vitalismus  ganz  eigentlich  aus  sich  selbst 
gestorben  sei. 


11.   Die  Kritik  und  die  materialistische 

Reaktion. 

Unter  allen  Kritiken  und  Abweisungen,  welche  in 
der  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  und  noch  etwas 
später  gegen  den  älteren  Vitalismus  laut  wurden,  sind  nur 
zwei  gut,  sind  nur  zwei,  die  wirklich  ernst  zu  nehmen 
sind  und  nicht  im  Phrasenhaften  steckenbleiben.  Diese 
zwei  aber  sind  sehr  gut:  sie  rühren  von  Lotze  und  von 
Claude  Bernard  her.  Es  ist  nun  aber  höchst  seltsam 
zu  sehen,  wie  trotz  aller  Kritik  und  Ablehnung  beide 
genannten  Männer  schließlich  manches  Richtige  an  den 
vitalistischen  Lehren  doch  anzuerkennen  durch  die  Wucht 
des  Tatsächlichen  gezwungen  sind. 

Ihre  Äußerungen  sind  also  im  letzten  Grunde  zwar 
Kritiken,  aber  doch  keine  eigentlichen  widerlegenden  Ab- 
weisungen; und  was  wirklich  eine  völlige  Widerlegung 
zu  sein  behauptete,  das  trug,  wie  wir  schon  sagten  und 
begründen  werden,  die  Zeichen  der  Oberflächlichkeit  offen 
an  der  Stirn. 

Daß  trotz  des  wahren  Sachverhaltes  jene  beiden 
Kritiken  vom  materialistischen  Sensationsbedürfnis  der 
Zeit  in  durchaus  mißverständlicher  und  den  Absichten 
ihrer  Urheber  widersprechender  Weise  als  absolute 
Widerlegungen  aufgefaßt  wurden,  tut  der  Richtigkeit 
unserer  Auffassung  natürlich  nicht  im  geringsten  Ab- 
bruch. 


Lotze.  J  93 


Lotze. 


H.  Lotzes  Artikel  „ Leben  und  Lebenskraft"  im 
ersten  Bande  von  Wagners  Handwörterbuch  der  Physio- 
logie (Braunschweig  1842)  ist  aller  Kritiken  des  Vitalis- 
mus gediegenste. 

Wenn  Lotze  freilich  behauptet,  es  sei  schon  darum 
falsch,  die  „Lebenskraft"  zur  Ursache  ,,des  Lebens"  zu 
machen,  da  überhaupt  kein  Geschehen  in  der  Natur  nur 
eine  Ursache  habe,  so  ist  dem  entgegenzuhalten,  daß 
unser  Autor  diesen  angeblichen  Angriff  unterlassen  haben 
dürfte,  wenn  er  anstatt  an  den  neuesten  Vitalismus  sich 
an  Wolff  oder  Blumenbach  gehalten  hätte.  Zumal  des 
ersteren  „Akzessorische  Prinzipien"  durften  den  Angriff 
wohl  gegenstandslos  erscheinen  lassen. 

Und  ein  gleiches  trifft  nun  überall  zu:  der  Aus- 
wüchse waren  eben  so  viele  geworden,  daß  gerade  der 
Zeitgenosse  leicht  den  Blick  für  das  doch  Richtige  verlor. 

Gegen  des  Treviranus  „lebensfähige  Materie"  führt 
unser  Kritiker  an,  daß  sie  eigentlich  überflüssig  sei,  da 
die  spezifischen  Gestalten  sich  ja  durch  die  Beziehungen 
von  Lebenskraft  und  äußeren  Faktoren  ergeben  sollen. 
Gewiß  trifft  dieser  Einwand  zu;  „den"  Vitalismus  trifft 
er  nicht. 

Und  wenn  Lotze  sich  gar  gegen  das  „Wandern" 
der  „selbständigen"  Lebenskraft  im  Sinne  Autenrieths 
wendet  und  bemerkt,  die  Lehre  der  Älteren,  daß  die 
Lebensformen  „Ideen"  seien,  sei  denn  doch  wahrlich  noch 
besser  gewesen,  so  hat  er  uns  ganz  auf  seiner  Seite,  uns, 
die  wir  uns  zum  „Vitalismus"  bekennen. 

Schelling  und  seine  Nachfolger,  meint  Lotze, 
haben  allerdings  „niemals  einen  klaren  Begriff  von  dem 
wirklichen  Verhältnis  einer  legislativen  Idee  zu  ihren 
exekutiven  Mitteln"  gehabt.  Die  „Idee  der  Gattung"  als 
„legislative  Gewalt"  sei  gleichsam  „eine  Gleichung  für 
die  Kurve  des  Lebens";  aber  diese  Gleichung  habe  bei 


124       II-  Die  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

ihnen  „die  Bahn  der  Kurve  nicht  bloß  bestimmt,  sondern 
beschrieben". 

Auch  das  unterschreiben  wir  gern;  es  kommt  uns 
nur  nicht  so  ganz  neu  vor.  Wir  erinnern  uns  z.  B.,  daß 
gerade  Heil  das  Problem,  „wie  man  von  der  Idee  zur 
Materie  komme",  aufs  drückendste  empfand. 

Lotze  meint  nun  freilich  ganz  allgemein:  der  Bil- 
dungstrieb könne  nie  „erklären",  da  hier  ,,das  Gesetz 
fehle";  er  klassifiziere  höchstens. 

Was  soll  denn  „erklären",  was  „das  Gesetz"  be- 
deuten ?  Lotze  denkt  wohl  an  quantitative  Gesetze;  aber 
wo  sollen  die  herkommen,  wo  das  Wesentliche  eben  nicht 
quantitativ  ist  ?  Und  was  heißt  denn  „erklären"  von  Vor- 
gängen anderes  als  unter  Vorgangsschemata  subsumieren  ? 

Wenn  Lotze  weiter  ausführt,  daß  alles  Regulative  im 
Lebensgeschehen  für  den  Vitalismus  nichts  beweise,  da  ja 
bisweilen  kein  Regulationsvermögen  vorhanden  sei,  so  ist 
das  ein  —  leider  auch  in  unserer  Zeit  oft  gehörter  —  Fehl- 
schluß: eine  Faktenreihe  kann  nämlich  überhaupt  immer 
nur  beweisen  da,  wo  sie  vorkommt,  und  nie  da,  wo  sie 
nicht  vorkommt;  ich  kann  auch  Optik  nicht  wohl  in  einer 
dunklen  Höhle  studieren,  ohne  Licht  bei  mir  zu  haben; 
wo  eine  Faktenreihe  vorkommt,  da  tritt  die  Frage  nach 
ihrer  Beweiskraft  überhaupt  erst  auf. 

Wenn  aber  Lotze  die  Monstra  als  Gegengewicht 
gegen  den  Vitalismus  aasspielt  und  von  dem  „Grauen" 
spricht,  das  hier  der  frei  gewordene  Mechanismus  errege, 
nun,  so  hatte  Blumenbach  ganz  dieselbe  Sachlage  ge- 
sehen und  war  doch  Vitalist  geblieben. 

Die  langen  Erörterungen  gegen  die  Bezeichnung 
Lebens„kraft"  aber  und  gegen  die  „Teilung"  dieser 
„Kraft"  sind  durchaus  zutreffend;  nur  ist  zu  bedenken, 
daß  es  sich  hier  doch  nur  um  ein  Wort  handelt,  das 
sogar  von  manchen  Vitalisten  vermieden  wurde,  und 
daß  doch  gerade  des  unmittelbaren  Zeitgenossen  Lotzes, 
Johannes    Müllers,    Verdienst    ganz    wesentlich    darin 


Lotze.  125 

bestand,  daß  er  sich  so  etwas  wie  eine  Energiequelle  der 
Lebens  Vorgänge  plausibel  zu  machen  suchte. 

Seltsam  berührt  es  nach  allem  Gesagten,  wenn  wir 
nun  plötzlich  von  Lotze  erfahren,  daß  des  alten  Stahl 
Lehre  von  der  die  Lebensvorgänge  beherrschenden  „Seele" 
kein  so  großer  Fehler  gewesen  sei,  denn  hier  sei  die 
Seele  als  „Substanz"  gedacht,  und  damit  wenigstens 
etwas,  „das  eine  Wirkung  hervorbringen  kann",  eingeführt 
gewesen. 

Es  scheint  hier  fast,  als  habe  Lotze  sich  bei  allem 
Vitalismus  eigentlich  nur  an  dem  Worte  „Kraft"  ge- 
stoßen. Doch  wäre  das  irrtümlich;  er  lehnt  für  die  eigent- 
lich vegetativen  und  gestaltlichen  Vorgänge  in  der  Tat 
den  Vitalismus  als  sachliche  Lehre  ab  und  erklärt  zum 
Schluß  der  betreffenden  Betrachtungen  ausdrücklich  die 
Organismen  für  „Maschinen",  wobei  freilich  dieser  Be- 
griff weit  gefaßt  werden  müsse1). 

Lotze  ist  also  bis  hierher  statischer  Teleologe;  zu 
dem  Unsinn,  das  Zweckmäßige  überhaupt  als  irreduzible 
Sonderheit  zu  leugnen,  konnte  sich  ein  Mann  wie  er  selbst- 
redend nicht  versteigen. 

Nun  aber  kommt  der  zweite  Teil  des  Lotzeschen 
Aufsatzes,  der  vom  „Seelenleben"  handelt2),  und  nun  wird 
unser  Philosoph  und  Physiologe  ausgesprochener  Vita- 
list! Also  darum  wohl  war  ihm  auch  im  Gebiete  des 
vegetativen  Vitalismus  die  Ansicht  Stahls  noch  die 
sympathischste  gewesen ! 

Die  „Seele",  als  ein  der  übrigen  Natur  gegenüber 
durchaus  Neues,  ist  imstande,  „einen  absolut  neuen  An- 
fang der  mechanischen  Bewegung  zu  setzen". 


x)  Später  wird  ausdrücklich  noch  einmal  die,  sehr  einfach- 
epigenetisch  gedachte,  Formbildung  und  das  funktionelle  Er- 
haltungsgetriebe für  maschinell  erklärt. 

2)  Man  vergleiche  hierzu  auch  die  Aufsätze  von  Lotze: 
, »Instinkt"  und  „Seele  und  Seelenleben"  in  Band  2  und  3  des 
Wagner  sehen  Handwörterbuches. 


126       II-  &Le  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

Lotze  betont,  daß  eben  dieses  Faktum  auch  ange- 
nommen werden  müsse,  wenn  es  etwa  eine  Heilkraft 
der  Natur  wirklich  gäbe. 

Hier  sehen  wir  deutlich,  wie  sein  falscher  dogmatischer 
Mechanismus  einerseits,  seine  geradezu  naturgegensätz- 
liche Auffassung  der  „Seele"  anderseits  Lotze  von  einer 
wirklich  vorurteilslosen  Auffassung  der  Sachlage  fernhält. 

Wie  ,,  wirkt"  nun  nach  Eigengesetzlichkeit  die 
„Seele"? 

Gedanken,  Ideen  als  solche  freilich  „haben  nicht  die 
mindeste  massenbewegende  oder  überhaupt  bewegende 
Kraft.  Sie  können  aber  solche  Kraft  insofern  erlangen, 
als  in  bestimmte  Zustände,  Modifikationen  oder  Bewe- 
gungen eines  Wirklichen,  eines  Substanziellen,  näm- 
lich der  Seele,  sind".  So  nämlich  stehen  sich  Zustände 
verschiedener  Substanzen  „in  dem  gleichen  Sinne  des 
Daseins"  gegenüber.  Ursache  und  Wirkung  aber  gelte 
von  allem  Wirklichen  „unangesehen,  ob  dies  Körper  oder 
Geist"  sei.  So  ist  jede  Schwierigkeit  überwunden.  „Aus 
dem  Begriff  der  Substanz",  welcher  Geist  und  Körper 
gemeinsam  ist,  wird  alles  verstanden. 

Lotze  hält  sogar  eine  unmittelbare  Wirkung  der 
Seele  auf  einen  fremden  Leib  für  möglich. 

Anderseits  denkt  er  an  wirklich  strenge  Gesetze 
der  seelisch -körperlichen  Beeinflussung. 

Daß  Lotze  nun,  trotz  seiner  Ablehnung  des  eigent- 
lichen biologischen  Vitalismus,  diesem  in  seiner  Seelen - 
theorie  doch  so  außerordentlich  nahe  kommt,  daß 
man  sich  immer  wieder  aufs  neue  wundern  muß,  wie  er 
dazu  kommt,  ihn  abzulehnen,  zeigt  eine  nähere  Analyse 
dessen,  was  er  sich  eigentlich  als  seine  „  Seelen"leistung 
denkt : 

Vorstellungen,  Gefühle,  Begierden,  sagt  er,  seien  nur 
„Erscheinungsweisen,  welche  innere  Zustände  der  Seelen  - 
Substanz  für  unsere  eigene  Beobachtung  annehmen.  Als 
solche  Scheine  haben  sie  sämtlich  nicht  die  geringste  Kraft, 


Lotze.  127 

das  Wirkliche  zu  bewegen;  dagegen  die  inneren,  unbe- 
wußten, der  Erfahrung  völlig  abgewandten,  nie  zu  unserer 
Ansicht  gelangenden  Zustände  der  Seele  als  Substanz 
können  mit  den  Zuständen  des  anderen  Wirklichen,  des 
Leibes,  zusammengenommen,  den  Grund  zu  dem  Hervor- 
treten einer  Massenwirkung  mit  ganz  neuem  Anfang  er- 
halten". 

Lotze  ist  Metaphysiker,  das  zeigt  schon  frühzeitig 
sein  Begriff  der  „wirklichen  Substanz";  er  hat  später  in 
seiner  „Metaphysik"  (1884)  seinen  Weltmechanismus 
geradezu  als  Betätigung  einer  Substanz  gedacht,  um  transe- 
unte  Kausalität  aus  immanenter  verständlich  zu  machen. 
Ferner  läßt  er  Unbewußtes  und  doch  Zweckmäßiges  als 
Faktor  in  der  wirklichen  Natur  tätig  sein,  ja,  er  faßt  auch 
die  „Instinkte"  in  entsprechender,  ausgesprochen  nicht- 
maschineller Weise  auf1). 

Warum  denn  lehnt  er  da  den  Vitalismus  ab  ?  Ist 
etwa  seine  Anschauung  etwas  anderes  als  Vita- 
lismus im  speziellen  Gebiet,  nämlich  im  Gebiet 
der  Handlungen  des  Menschen,  der  doch  auch 
ein  Lebewesen  ist?  Unterscheidet  sich  seine  Theorie 
der  Seelen  Wirkung  auch  nur  im  geringsten  von  derjenigen 
Johannes  Müllers?  Soll  doch  sogar  seine  Leib-Seelen- 
Kausalität  nicht  schwieriger  als  jede  Art  von  Kausalität 
zu  verstehen  sein,  und  hat  er  doch  von  der  Materie  eine 
durchaus  geklärte  Auffassung! 

Wahrlich  nur  die  Auswüchse  des  eigentlichen  Vitalis- 
mus im  engeren  Sinne  haben  Lotze  veranlassen  können, 
hier  im  ganzen  abzulehnen,  was  er  im  Teil  doch  annahm ; 
daneben  aber  spielte,  wie  bei  Kant,  der  all-mechanistische 
Dogmatismus  seine  verderbliche  Rolle2). 


x)  Vgl.  den  Artikel  „Instinkt"  in  Band  2  des  Handwörter- 
buches. 

2)  Man  vergleiche  die  gute  Arbeit  von  Paul  Lang:  Lotze 
und  der  Vitalismus,   1913. 


128       II-  I^e  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

Bernard. 

Von  Claude  Bernard  rührt  die  andere  bedeutsame 
Kritik  des  älteren  Vitalismus  her.  Obwohl  sie  erst  aus 
den  siebziger  Jahren  stammt  und  insofern  manchen  bald 
kurz  zu  nennenden  Gelegenheitsäußerungen  und  Zeit- 
strömungen antivitalistischer  Art  zeitlich  nachfolgt,  be- 
handeln wir  sie  hier,  um  das  wenige  an  wirklich  tief- 
gehender Kritik,  das  es  gibt,  nicht  zu  trennen. 

Viele  Kapitel  von  Bernards  „Lecons  sur  les  pheno- 
menes  de  la  vie"1)  sind  biotheoretischen  Erörterungen 
allgemeinster  Art  gewidmet;  auf  die  geschichtlichen  Ex- 
kurse des  zweiten  Bandes,  die  namentlich  über  die  Bio- 
logiegeschichte des  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahr- 
hunderts Gutes  bieten,  sei  hier  ausdrücklich  die  Auf- 
merksamkeit gelenkt. 

Auch  Bernard  kämpft  gleich  Lotze  zum  großen 
Teil  gegen  Windmühlen,  d.  h.,  was  er  bekämpft,  ist  zwar 
einmal  von  einem  Vertreter  des  Vitalismus  —  meist  von 
Bichat  —  gesagt  worden,  und  es  war  nicht  gerade  zu- 
treffend: aber  es  war  doch  nicht  „der"  Vitalismus. 

Wer  hat  denn  zum  Beispiel  die  Lebenserscheinungen 
sein  lassen  „regies  directement  par  un  principe  vital 
interieur"  ohne  Abhängigkeitsbeziehung  von  äußeren  Be- 
dingungen ?  Wolff,  Blumenbach,  Liebig  ganz  sicher- 
lich nicht!  Wer  hat  nichts  anderes  gesehen  als  ,,1'inter- 
vention  d'une  force  extraphysique,  speciale,  indepen- 
dante"  ?    Doch  gewiß  nur  einige. 

Doch  hält  sich  Bernard  nicht  etwa  nur  an  Aus- 
wüchse der  vitalistischen  Lehre,  und  wo  er  das  nicht  tut, 
da  wird  seine  Kritik  in  gewissem  Grade  zur  Zustimmung: 

,,Nous  nous  separons  des  vitalistes,  parce  que  la 
force  vitale,  quel  que  soit  le  nom  qu'on  lui  donne, 
ne  saurait  rien  faire  par  elle-meme,  qu'elle  ne  peut  agir 
qu'en   empruntant  le   ministere   des  forces   generales   de 


!)  Paris  1878/9.     2  Bände. 


Bernard.  129 

la  nature  et  qu'elle  est  incapable  de  se  manifester  en 
dehors  d'elles.  —  Nous  nous  separons  egalement  des 
materialistes ;  car,  bien  que  les  manifestations  vitales 
restent  placees  directement  sous  1'influence  de  conditions 
dhysico-chimiques,  ces  conditions  ne  sauraient  grouper, 
harmoniser  les  phenoinenes  dans  l'ordre  et  la  succession, 
qu'ils  affectent  specialement  dans  les  etres  vivants." 

„II  y  a  dans  le  corps  anime  un  arrangement,  une  sorte 
d'ordonnance  que  Ton  ne  saurait  laisser  dans  l'ombre,  parce 
qu'elle  est  veritablement  le  trait  le  plus  saillant  des  etres 
vivants."  Das  Wort  „force"  sei  zwar  nicht  besonders  gut  zur 
Kennzeichnung  des  Gemeinten,  ,,mais  ici  le  mot  importe 
peu,  il  suffit  que  la  realite  du  fait  ne  -soit  pas  discutable". 

„Les  phenomenes  vitaux  ont  bien  leur  conditions 
physico-chimiques  rigoureusement  determinees;  mais  en 
meme  temps  ils  se  subordonnent  et  se  succedent,  dans 
un  enchainement  et  suivant  une  loi  fixes  d'avance."  .  .  . 
„II  y  a  comme  un  dessin  preetabli  de  chaque  etre  et  de 
chaque  organe." 

Deutlich  teleologisch  gedacht  ist  das,  aber  es  läßt 
wohl  noch  den  beiden  Alternativen  des  Teleologischen, 
dem  Statischen  und  dem  Dynamischen,  Raum.  Ist 
Bernard  in  dieser  Frage  ganz  zu  Klarheit  gekommen 
oder  blieb  ihm  eine  Dunkelheit,  die  selbst  Kant  vielleicht 
nicht  ganz  überwunden  hatte  ? 

Bernard  befürwortet  einen  „plan  organique",  aber 
nicht  die  „Intervention  d'un  principe  vitale".  Letztere, 
eine  „force  vitale",  sei  höchstens  als  „force  legislative", 
aber  nicht  als  „force  executive"  zuzulassen.  Das  klingt 
statisch-teleologisch. 

Aber  dann  folgt  die  Stelle:  „La  force  vitale  dirige 
des  phenomenes  qu'elle  ne  produit  pas;  les  agents  phy- 
siques  produisent  des  phenomenes  qu'ils  ne  dirigent  pas". 
Das  könnte  vitalistisch  klingen. 

Zum  tieferen  Verständnis  der  Meinungen  Bernards 
muß  uns  nun  ein  Gedankengang  dienen,  den  wir  für  sein  ' 

Drie seh,  Vitalismus.    2.  Aufl.  9 


130        II-  Die  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

Bestes  halten  möchten,  eine  Gedankenfolge,  mit  der  er 
sich  den  Bahnen  phänomenologischen  Denkens,  z.  B.  eines 
Mach,  mindestens  nähert: 

Jede  Wissenschaft,  sagt  Bernard,  auch  z.  B.  die 
Optik  oder  Elektrik,  kenne  nur  die  Bedingungen,  die 
,,conditions  physico-chimiques",  unter  denen  sich  die  von 
ihr  studierte  Erscheinungsart  zeige,  sie  kenne  nur  deren 
„determinisme".  An  Stelle  der  alten  ,, cause"  tritt  eben 
diese  Einsicht,  daß  gewisse  „conditions"  das  „pheno- 
mene"  zeitigen. 

Wird  einer  ,, Kraft"  (force)  das  Phänomen  zuge- 
schrieben, so  ist  diese  stets  ,, metaphysisch",  sie  wird  nur 
„gedacht",  ist  nicht  „active".  Die  ,,causes  premieres" 
sind  ,,inaccessibles". 

Und  in  dieser  Bedeutung  der  Worte  studiere  nun 
der  Physiologe  ,,le  determinisme  physico-chimique  corre- 
spondant  aux  manifestations  vitales". 

Ist  das  nicht  Vitalismus  ?  Bernard  wirft  im  Zu- 
sammenhang mit  dem  Erörterten  den  Vitalisten  vor,  daß 
sie  jenen  ,, determinisme"  geleugnet  hätten.  Abgesehen 
davon,  daß  das  viele,  z.  B.  Blumenbach  und  Wolff , 
sicherlich  nicht  trifft:  hat  er  ihnen  nur  das  vorzuwerfen ? 
Nun,  dann  verdient  Bernard  wirklich  die  Bezeichnung 
eines  „geklärten  Vitalisten". 

,,11  y  a  des  conditions  materielles  (physico-chimi- 
ques) determinees  qui  reglent  l'apparition  des  phenomenes 
de  la  vie.  II  y  a  des  lois  preet ablies  qui  en  reglent  1' ordre 
et  la  forme."  „La  vie  n'est  ni  plus  ni  moins  obscure  que 
toutes  les  autres  causes   premieres." 

Freilich  so  ganz  ohne  alle  Bedenken  können  wir 
Bernards  Stellung  zum  Lebensproblem  trotz  alles  Ge- 
sagten doch  immer  noch  nicht  festlegen,  und  es  wird 
wohl  dabei  bleiben  müssen,  daß  er  die  beiden  Seiten  von 
Teleologie  nicht  scharf  genug  geschieden  sah:  anstatt 
„lois  preetablies"  sagt  er  einmal  „conditions  organiques", 
was  offenbar  mehr  nach  maschinentheoretischen  Ansichten 


Bernard.  131 

klingt;  er  fordert  ferner,  man  solle,  mit  Leibniz,  das 
Leben  studieren,  ,,als  ob"  keine  ,,force  vitale"  existiere. 
Warum  denn  das  ? 

Wenn  anderseits  gesagt  wird,  das  Leben  sei  zwar 
kein  ,, principe",  aber  auch  keine  ,,resultante"  der  ,,con- 
ditions",  so  klingt  das  wieder  vitalistisch. 

Kurz  und  gut:  auf  völlig  eindeutigem  Standpunkt 
zeigt  sich  Bernard  unseres  Erachtens,  trotz  des  vielen 
Guten,  das  er  im  einzelnen  beibringt,  doch  nicht.  Man- 
gelnde Analyse  dessen,  was  Erkenntnis  von  Naturphäno- 
menen überhaupt  bedeutet  und  allein  bedeuten  kann,  ist 
wohl  schuld  an  diesem  Zustand. 

Gerade  die  letzten  Worte,  mit  denen  er  am  Schlüsse 
des  zweiten  Bandes  seinen  ,,vitalisme  physique"  noch 
einmal  zusammenfaßt,  lassen  wieder  das  eigentlich  ,, Vita- 
listische" dieses  Vitalismus  im  Dunkel:  ,,1'element  ultime 
du  phenomene  est  physique;  l'arrangement  est  vital". 

Das  wäre  statische  Teleologie  reinster  Art,  wenn 
Bernard  nicht  jenen  schönen  und  klaren  Gedankengang 
über  die  ,,conditions"  und  ,,manifestations"  dargeboten 
hätte. 

Auf  Grund  dieses  Gedankenganges  dürfen  wir  denn 
doch  wohl  Bernard  als  wahren  Vitalisten  in  Anspruch 
nehmen,  der  nur  in  bezug  auf  die  Wahl  mancher  Aus- 
drücke der  Inkonsequenz  zu  zeihen  ist  —  vielleicht, 
weil  er  nicht  ganz  klar  den  Unterschied  von  statischer  und 
dynamischer  Teleologie  gesehen  hat. 

So  hätte  denn  also  unseren  Kritiker  die  Kritik  des 
—  teilweis  mißverstandenen  —  älteren  Vitalismus  selbst 
zum  geklärten  Vitalismus  geführt. 

Wollen  wir  uns  am  Schlüsse  noch  einigen  mehr 
speziellen  Gedankenreihen  Bernards  zuwenden,  vor  allem 
also  jenen  Erörterungen,  die  er  der  tierischen  Entwicklung 
widmet,  so  wird  sich  auch  hier  ein  starkes  Ringen 
nach  Klarheit  ohne  ein  völliges  Erreichen  derselben 
zeigen:  Bernard  besitzt  den  klaren  Begriff  dessen,  was 

9* 


132       II«  I^ie  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

Roux  heute  „ Selbstdifferenzierung"  nennt,  er  weiß,  daß 
die  Teile  des  Embryo  sich  in  relativer  Selbständigkeit 
in  bezug  aufeinander  entwickeln.  Da  nun  alles  Lebens  - 
geschehen,  wie  jedes  andere,  notwendig  ist,  so  ergeben 
sich  eben  auf  Grund  jener  ,, Selbstdifferenzierung"  der 
Teile  bei  Störung  eines  derselben  die  „notwendigen  aber 
unlogischen"  Monstra;  hier  finden  wir  Bernards  Denken 
dem  Lotzes  nahe  verwandt. 

Es  berührt  sich  mit  dem  Gesagten,  wenn  Bernard 
die  Morphogenie,  die  Entstehung  der  individuellen  Form 
mit  dem  Getriebe  einer  großen  Fabrik  vergleicht,  in  der 
auch  die  Arbeiter  der  Teile  das  Ganze  nicht  kennen.  So 
gibt  es  also  das  „Ganze"  in  irgendeiner  aktiven  Form? 
möchte  man  fragen.  Da  werden  uns  nun  wieder,  etwas 
dunkel,  die  morphogenetischen  Gesetze  als  ,,dormantes 
ou  expectantes",  nicht  aber  als  tätig,  bezeichnet.  Doch 
soll  bei  Regenerationen  allerart  der  Organismus  als 
,,ensemble  ou  unite"  in  Betracht  kommen.  Ausdrücklich 
wird  die  organische  Form  nicht  als  Folge  der  Natur  des 
Protoplasmas  hingestellt:  „La  forme  et  la  matiere  sont 
independantes  distinctes". 

Es  scheint  uns,  als  bestätige  die  Analyse  der  be- 
sonderen Ausführungen  Bernards  die  Einsicht,  welche 
aus  Zergliederung  der  allgemeineren  gewonnen  ward. 


Die  materialistisch-darwinistische  Zeitströmung. 

Vier  Grundumstände  haben  den  Charakter  alles 
Denkens  über  Natur,  und  nicht  nur  über  sie,  in  der  zweiten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  bestimmt: 

Zum  ersten  eine  materialistische  Metaphysik, 
wie  sie  als  ganz  allgemeiner  Gegensatz  gegen  die  idea- 
listische Identitätsphilosophie  erwachsen  war. 

Zum  anderen  der  Darwinismus,  jene  Anweisung, 
wie  man  durch  Steinwürfe  Häuser  typischen  Stiles  baut. 


Die  materialistisch -darwinistische  Zeitströmung.         138 

Drittens  die  Entdeckung  des  Satzes  von  der  Er- 
haltung der  Energie  durch  Robert  Mayer;  ein  Satz, 
der  trotz  seiner  Inhaltsarmut  die  Naturwissenschaften  in 
wahre  Verzückung  versetzt  hat. 

Viertens  und  letztens  und  ganz  besonders  für  Bio- 
logisches in  Betracht  kommend,  die  Entdeckung  und 
planmäßige  Erforschung  der  feinen  Strukturen  der 
Lebewesen  mit  Hilfe  der  verbesserten  optischen  Werk- 
zeuge. 

Wir  dürfen  diese  vier  Punkte  als  selbständige 
Quellen  des  Einflusses  betrachten,  ob  sie  sich  schon  auch 
gegenseitig  verstärkten;  in  Hinsicht  der  biologischen 
Grundprobleme,  in  Sonderheit  des  Vitalismus,  kommen 
sie  jedenfalls  je  für  sich  in  Betracht: 

Die  materialistische  Metaphysik  eines  Moleschott, 
Vogt,  Büchner  lehrte,  daß  alles  Wirkliche  Bewegung 
sei,  daß  es   Quali täten  höherer  Art  nur  als  Schein  gäbe. 

Der  Darwinismus  behauptete  zu  zeigen,  wie  zweck- 
mäßig Konstruiertes  durch  absolute  Zufälligkeiten 
entstehen  könne:  wenigstens  gilt  das  von  dem  gleichsam 
kodifizierten  Darwinismus  der  siebziger  und  achtziger 
Jahre;  Darwin  selbst  hatte,  zumal  anfangs,  die  Frage 
nach  der  Natur  und  dem  Maße  der  ,, Variabilität"  be- 
kanntlich offen  gelassen,  womit  sich  seine  Lehre  zwar 
auf  die  Selbstverständlichkeit,  daß  Nichtexistenzfähiges 
nicht  existieren  könne  („Natural  selection"),  reduzierte, 
aber  doch  nicht  offenbar  sinnlos  war1).  Das  eine  einzige 
Faktum  schon,  daß  es  Regulationsleistungen  von  der 
Art  der  Regeneration,  etwa  des  Salamanderbeines, 
gibt,  widerlegt  bekanntlich  den  typischen  Darwinismus, 
denn   in    seiner    Anwendung    auf    diesen   Fall   wird    das 


x)  Die  neuere  ,, Mutationstheorie"  von  de  Vries,  welche 
die  Veränderungen,  unter  denen  dann  „Zuchtwahl"  eventuell 
ausmerzt,  sprungweise  geschehen  läßt,  ist  natürlich  kein 
„Darwinismus".  Anfänglich  war  Darwin  diesen  Gedanken  näher 
als  später. 


134       II-  T>ie  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

Schema  desselben  zu  ganz  offenbarem  Unsinn!  Das 
kann  gar  nicht  oft  genug  betont  werden ! !  Alle  anderen 
Widerlegungen  der  Darwinschen  Lehre  erreichen  die  auf 
die  Regenerationstatsache  gegründete  nicht  an  drasti- 
scher Schärfe1). 

Am  Energiegesetz  erkannte  man  nicht,  daß  es  nur 
der  Kausalsatz  in  quantitativer  Fassung  sei. 

Die  Entdeckung  der  feinen  Strukturen  aber  spielte 
den  Forschern  einen  ebensolchen  Streich,  wie  ihnen  früher 
das  Fehlen  ihrer  Kenntnis  gespielt  hatte:  War  früher 
sehr  vieles  für  die  unmittelbare  Wirkung  einer  letzten 
Lebensgesetzlichkeit  erklärt  worden,  da  man  eben  nicht 
wußte,  daß  noch  sehr  viele  maschinenartige  Mannigfaltig- 
keiten da  seien,  die  doch  zunächst  einmal  für  Erklärungs- 
versuche hätten  herangezogen  werden  müssen,  so  glaubte 
man  jetzt,  da  man  einiges  auf  Grund  der  erkannten  feinen 
Strukturen  etwa  wirklich  verstand,   es  müsse   alles  auf 

* 

Grund  derselben  verständlich  sein:  damit  aber  waren 
bereitwillig  einer  dogmatischen  Maschinentheorie  die  Tore 
geöffnet . 

Die  Wirkungen  des  geschilderten  Gesamtzustandes 
des  Natur denkens  auf  die  Biologie  waren  nun  je  nach 
deren  verschiedenen  Zweigen  recht  verschiedener  Art:  die 
Botanik  ließ  sich  am  wenigsten  beeinflussen,  sie  hat  ihre 
Kontinuität  bewahrt  und  ist  im  großen  und  ganzen  auch 
in  dieser  Depressionszeit  immer  Wissenschaft  geblieben. 
Im  Gebiete  der  Wissenschaft  vom  tierischen  Leben  kam 
die  eigentliche  Physiologie,  die  Lehre  vom  Getriebe  der 
Funktionen,  zwar  auf  einige  Abwege  und  in  einige  Sack- 
gassen hinein,  doch  ist  sie  nie  eigentlich  entartet:  die 
gründlichere  Schulung  ihrer  Vertreter,  sowie  auch  wohl 
der  Umstand,  daß  sie  als  ziemlich  schwierige  Disziplin 
nur  begabte  Elemente  dauernd  fesseln  konnte,  haben  ihr 
dieses  Schicksal  erspart. 


')  Vgl.  Philos.  cl.  Org.     2.  Aufl.     1921.     S.  260  ff. 


Die  materialistisch-darwinistische  Zeitströmung.         135 

Die  Morphologie  der  Tiere  aber  feierte  einen  richtigen 
Hexensabbath !  Einmal  begann  hier  eine  phantastische 
Konstruktion  sogenannter  „Stammbäume"  ohne  paläonto- 
logischer Grundlagen. 

Der  Gedanke  eines  genetischen  Zusammenhanges  der 
verschiedenen  spezifischen  Lebensformen,  der  Gedanke 
einer  „ Deszendenz"  also,  war  bekanntlich  schon  im  acht- 
zehnten Jahrhundert,  ja  schon  im  Altertum,  aufgetaucht. 
Man  hatte  ihn  aber  immer  nur  in  problematischer  Allge- 
meinform vorgebracht,  sich  wohl  bewußt,  daß  man  hier 
Positives  eben  gar  nicht  sagen  könne,  und  Einsichtige,  die 
Philosophen  zumal,  hatten  erkannt,  daß  historische  Nach- 
weisung  überhaupt  nie  und  nimmer  eine  Erklärung, 
daß  sie  etwas  im  Vergleich  zu  wahrer  Wissenschaft  stets 
prinzipiell  Minderwertiges  sei1). 

Nun  aber  hatte  ja  der  Darwinismus  die  Deszendenz 
allgemein  „erklärt"2);  warum  sollte  man  nicht  die 
Einzelabstammung  im  Speziellen  „erklären"!  Und 
so  machte  man  denn  aus  der  alten  vergleichenden 
Anatomie,  die  nicht  mehr  als  eine  klassifikatorische 
Vorarbeit  zur  Erkenntnis  des  Typischen,  ja  des  „Ver- 
nünftigen" in  den  Naturformen  hatte  sein  wollen, 
jenes  Phantasiegebilde,  das  sich  „Allgemeine  Phylo- 
genie"  nennt. 

Als  einmaligen  Wurf  seitens  einer  enthusiastischen 
Persönlichkeit,  wie  Ernst  Haeckel  es  war,  mochte  man 
das  hinnehmen.    Als  schulenmäßiges  Gerede  und  Gezanke 

1)  Man  vergleiche  Hegel:  Kleine  Logik,  Ausgabe  Bolland, 
Leiden  1899,  p.  522,  und  Schopenhauer:  Wille  in  der  Natur, 
Ausgabe  Frauenstädt,  5.  Aufl.,  Leipzig  1891,  S.  44.  Die  beiden 
Gegner  sind  hier  einig! 

2)  Natürlich  dürfen  Deszendenztheorie  und  Darwinismus 
nicht  verwechselt  werden;  letzterer,  den  wir  für  durchaus  erledigt 
halten,  ist  eine  Spezialgestaltung  ersterer,  die  uns  in  allgemeiner 
Hinsicht  auf  Grund  paläontologischer  und  geographischer  Tat- 
sachen für  wahrscheinlich,  aber  für  ihrer  Gesetzlichkeit  nach 
durchaus  undurchschaut  gilt. 


136       II-  Die  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

auf  gänzlich  unsicherem  Grunde  war  aber  alle  Phylogenie 
großen  Stils  wirklich  ganz  unerträglich1). 

Noch  viel  schlimmer  aber  waren  die  „Gesetze",  die 
man  bei  dieser  Gelegenheit  „fand"!  Was  sich  „allgemeine 
Zoologie"  nannte,  war  hier  der  Haupttummelplatz  einer 
,,Gesetzes"fabrikation,  die  jeder  wissenschaftlichen  Be- 
griff sbildung  einfach  ins  Gesicht  schlug.  Von  Wigand 
ist  dieser  Zustand  in  geradezu  klassischer  Weise,  und 
eines  humoristischen  Zuges  nicht  entbehrend,  geschildert 
worden. 

Doch  dürfen  wir  uns  hier  nicht  näher  bei  diesen 
Dingen,  welche  die  Geschichte  des  Vitalismus  nicht  eigent- 
lich angehen,  aufhalten,  und  es  mag  nur  durch  eine  einzige 
analytische  Erörterung  gezeigt  werden,  auf  welchem  Tief- 
stand der  wissenschaftliche  Takt  angelangt  war :  Alle  Form- 
bildung war  den  darwinistischen  Phylogenetikern  zufällig, 
also  mußte  ihnen  folgerichtig  die  Gesamtheit  der  Lebens- 
formen als  „Formen"  von  derselben  Bedeutungslosigkeit 
erscheinen,  wie  sie  etwa  den  Wolkenformen  in  ihrer  je- 
weiligen zufälligen  Sonderheit  zukommt.  Damit  aber  war 
der  zoologischen  Klassifikation  jeder  tiefere  Sinn  von 
vornherein  abgesprochen.  Sie  hätte  als  erledigt,  als 
Frage,  die  keine  Frage  sei,  gelten  müssen.  Trotzdem 
,, erforschte"  man  sie,  wennschon  nur  mit  phantastischen 
Mitteln !  Warum  denn  eigentlich  ?  Wie  konnte  man  seine 
Kraft  verschwenden  an  eine  Aufgabe,  von  deren  wissen- 
schaftlicher Wertlosigkeit  man  von  vornherein  überzeugt 
sein  mußte,   wenn  man   „Darwinist"2)   reinen  Wassers 


*)  Die  Berechtigung,  für  kleine  in  sich  geschlossene  Gruppen 
Stammbäume  auf  paläontologischer  Grundlage  hypothetisch  auf- 
zustellen, soll  damit  natürlich  keineswegs  geleugnet  werden. 
Vgl.  Phil,  d.  Org.,  S.  280ff. 

2)  Leider  muß  Darwin  immer  für  seine  Anhänger  büßen; 
die  Worte  „Darwinismus",  „Darwinist"  sind  einmal  da.  Darwin 
selbst,  obwohl  nicht  immer  kritisch,  hat  sich  doch  von  den 
größten  Fehltritten  des  „Darwinismus"  ferngehalten. 


Die  materialistisch-darwinistische  Zeitströmung.  137 

war  ?  Die  Lösung  der  Frage  liegt  darin,  daß  man  sich  eben 
einer  einzigen  aber  recht  wichtigen  Sache  nicht  bewußt 
war,  der  Frage  nämlich,  was  Wissenschaft  eigentlich 
bedeute. 

Auf  der  einen  Seite  war  es  die  Physiologie  der  Form- 
bildung,  welche  von  His  ausging  und  von  Roux  grund- 
legende Anregung  erfuhr,  auf  der  anderen  die  exakte 
Variations-,  Bastard-  und  Mutationsforschung,  welche  dem 
geschilderten,  durchaus  unwürdigen  Zustand  der  Zoologie 
ein  Ende  zu  machen  wenigstens  begonnen  hat. 

Lenken  wir  jetzt  den  Blick  wieder  auf  unser  eigent- 
liches Ziel,  auf  den  Vitalismus  im  Lichte  der  Gesamtlage 
der  Wissenschaft,  so  ist  klar,  daß  die  Stellung  der  Ver- 
treter des  wissenschaftlichen  Zeitgeistes  ihm  gegenüber 
eine  absolut  abweisende  sein  mußte.  Blieb  im  Rahmen 
der  ,, Zufallstheorie"  doch  nicht  einmal  für  eine  im  bloß 
statisch-teleologischen  Sinne  tiefere  Bedeutung  der  Lebens- 
form ein  Platz. 

An  zwei  Beispielen  wollen  wir  kurz  die  Stellung  jener 
Zeit  zum  Vitalismus  kennzeichnen,  an  den  Äußerungen 
zweier  Männer,  die  zu  den  Besten  ihrer  Zeit  gehörten 
und  deren  positiven  Wissenschaftsleistungen,  trotz  ihrer 
Befangenheit  im  Zeitgeist,  ein  durch  Generationen  reichen- 
der Ruhm  sicher  ist.  Wenn  wir  selbst  die  Äußerungen 
dieser  Besten  als  geradezu  erstaunlich  leichtfertig  und 
oberflächlich  erkennen  werden,  wird  man  uns  nicht  ver- 
übeln, daß  wir  der  Menge  „Urteile"  über  die  Frage  nach 
der  Selbständigkeit  vitalen  Geschehens  mit  Stillschweigen 
übergehen. 

Emil  du  Bois-Reymond  widmete  der  „Wider- 
legung" des  Vitalismus  den  größten  Teil  der  Vorrede  des 
ersten  Bandes  seiner  „Untersuchungen  über  tierische 
Elektrizität".    (Berlin  1848.) 

Er  steht  durchaus  im  Banne  mechanistischer  Physik; 
ist  doch  auch  diesem  seinem  Dogmatismus  später  jenes 


138        IT.   Die  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

berühmte  „Ignorabimus"  entsprossen,  die  Aussage  näm- 
lich, daß  man  nie  begreifen  werde,  „wie  Materie  denken 
könne",  ein  Problem,  welches  von  wahrer  Kritik  des 
Wissens  einfach  durch  die  Wendung  gelöst  wird,  daß 
,, Materie"  eben  gar  nicht  ,, denkt". 

Von  seinem  Standpunkt  mechanischer  Naturforschung 
ausgehend,  eifert  nun  Dubois  zunächst  in  üblicher  Weise 
gegen  das  Wort  Lebens,, kraft";  Kraft  sei  nie  ,, Ursache", 
sondern  nur  Maß  einer  Bewegung.  Derartiges  kennen  wir 
ja  schon;  es  handelt  sich  um  eine  Wortfrage. 

Unser  Autor  will  nun  der  Reihe  nach  zeigen,  daß 
weder  ein  besonderer  Stoff  noch  eine  besondere  Kraft  der 
letzten  Stoff teilchen  —  auf  welche  allein  nämlich  das  Wort 
Kraft  in  seiner  messenden  Bedeutung  hier  angewandt 
werden   könne  —  der  Lebensphänomene   Grundlage    sei: 

„Ein  Eisenteilchen  ist  und  bleibt  zuverlässig  ein  und 
dasselbe  Ding,  gleichviel  ob  es  im  Meteorstein  den  Welt- 
kreis durchzieht,  im  Dampfwagenrade  auf  den  Schienen 
dahinschmettert  oder  in  der  Blutzelle  durch  die  Schläfe 
eines  Dichters  rinnt." 

In  diesem  schön  klingenden  Satze  wird  also  die  Stof  f - 
Sonderheit  des  Lebendigen  abgelehnt;  leider  durch  eine 
Annahme,  von  der  es  „zuverlässig  ist  und  bleibt",  daß  sie 
derb  metaphysisch  und  ohne  eigentlich  klaren  Sinn  ist. 

Doch  ist  das  wohl  nicht  so  wichtig.  Es  soll  also  nun 
noch  widerlegt  werden,  daß  das  Besondere  der  Lebens- 
vorgänge etwa  auf  verschiedenen  Kräften  der  Stoff  - 
teilchen  in  belebten  und  in  anorganischen  Dingen  beruhe. 

Hier  gibt  es  nun  aber  auch  keinen  Unterschied,  sagt 
unser  Kritiker:  „Es  gibt  keine  Lebenskraft  in  ihrem 
(sc.  der  Vitalisten)  Sinne,  weil  die  ihr  zugeschriebenen 
Wirkungen  zu  zerlegen  sind  in  solche,  welche  von  Zentral- 
kräften der  Stoff  teilchen  ausgehen.  Es  gibt  keine  solche 
Kraft,  weil  Kräfte  nicht  selbständig  bestehen,  nicht  der 
Materie  willkürlich  zuerteilt,  und  dann  wieder  von  ihr 
abgelöst  werden  können". 


Die  materialistisch -darwinistische  Zeitströmung.  139 

Zum  ersten  dieser  Sätze  kann  man  wohl  nur  be- 
dauernd fragen,  warum  denn  ihr  Autor  nicht  jene  „Zer- 
legung" in  Zentralwirkungen  ausgeführt  habe.  Ihm  ist 
sie  denn  doch  wohl  nicht  gelungen.  Der  zweite  Satz 
aber  macht  erst  dem  Vitalismus  eine  Unterstellung  und 
bekämpft  dann  diese;  es  hätte  sich  anstatt  dessen  doch 
wohl  gehört  so  zu  fragen:  zwingen  die  Tatsachen,  eine 
Eigengesetzlichkeit  der  Lebensphänomene  anzunehmen 
oder  nicht  ?  Aber  von  dem  Nachweis,  daß  sie  nicht  dazu 
zwingen,  findet  sich  bei  Dubois  wahrlich  keine  Spur. 

Daß  Lebenskraft  dem  Gesetze  der  Erhaltung  der 
Energie  widerspreche,  bildet  den  Beschluß  der  Behaup- 
tungen E.  Dubois-Reymonds.  Doch  haben  wir  Ge- 
legenheit, diesen  angeblichen  Einwand  näher  zu  prüfen, 
wenn  wir  uns  jetzt  den  Meinungen  des  zweiten  der  For- 
scher, welche  hier  überhaupt  in  Betracht  kommen  sollen, 
zuwenden. 

Helmholtz  soll  uns  das  zweite  Beispiel  eines  Gegners 
des  Vitalismus  aus  der  vergangenen  Epoche  materialisti- 
scher Naturforschung  sein:  kurz  können  wir  uns  hier 
fassen,  weil  er  selbst  sich  kurz  faßt.  Gilt  ihm  doch  der 
Vitalismus  eigen tlich  kaum  der  Berücksichtigung  wert. 

Als  ob  der  Vitalismus  von  „Freiheit"  im  Sinne  einer 
Negation  von  Gesetzlichkeit  geredet  habe,  so  wendet 
der  berühmte  Forscher  das  Problem  des  Vitalismus  an 
manchen  Orten  seiner  Schriften  allgemeinen  Inhaltes1). 
War  denn  aber  solches  oder  ähnliches  von  jedem  Vita- 
listen  behauptet  worden,  hatten  nicht  Blumenbach  und 
Wolff  zum  Beispiel  gerade  das  Gegenteil  ausdrücklich 
gesagt  ? 

Dem  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie  soll  der 
Vitalismus  aufs  deutlichste  widersprechen:   ,, Könnte  die 


J)  Vgl.  die  „Vorträge  und  Reden".     3.  Aufl.     Braunschweig 
1884. 


140        II-  £>ie  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

Lebenskraft  die  Schwere  eines  Gewichts  zeitweilig  auf- 
heben, so  würde  dasselbe  ohne  Arbeit  zu  beliebiger 
Höhe  geschafft  werden  können  und  später,  wenn  die 
Wirkung  seiner  Schwere  wieder  freigegeben  wäre,  be- 
liebig große  Arbeit  zu  leisten  vermögen.  So  wäre 
Arbeit  ohne  Gegenleistung  aus  nichts  zu  schaffen. 
Könnte  die  Lebenskraft  zeitweilig  die  chemische  An- 
ziehung des  Kohlenstoffs  zum  Sauerstoff  aufheben,  so 
würde  Kohlensäure  ohne  Arbeitsaufwand  zu  zerlegen 
sein  und  der  frei  gewordene  Kohlenstoff  wieder  neue 
Arbeit  leisten  können".  Es  finde  sich  aber  ,, keine  Spur 
davon,  daß  die  lebenden  Organismen  irgendwelches 
Quantum  Arbeit  ohne  entsprechenden  Vergleich  erzeugen 
könnten". 

Wie  schön  das  doch  klingt;  es  scheinen  nur  zwei 
Kleinigkeiten  übersehen  zu  sein:  nämlich  einmal,  daß 
doch  auch  eine  geriebene  Siegellackstange  die  Schwere 
von  Gegenständen,  z.  B.  von  Papierstückchen  oder  Mark- 
kügelchen  „zeitweilig  aufheben"  kann;  zum  andern  aber, 
daß  doch  nie  eine  Verletzung  des  Erhaltungssatzes  der 
Energie  vom  Vitalismus  behauptet  ist,  aus  einem  recht 
einfachen  Grunde,  weil  man  sich  seiner  notwendigen 
Geltung  eben  noch  nicht  bewußt  war.  Aber,  so  könnte 
Helmholtz  sagen,  man  habe  jenen  Satz  unwissentlich 
verletzt,  und  solche  Verletzung  gehöre  eben  zum  Vitalis- 
mus als  notwendige  Eigenschaft.  Sollte  Helmholtz  die 
vitalistische  Literatur  auch  wohl  nur  oberflächlich  ge- 
kannt haben?  Wenigstens  Johannes  Müller  hätte  er 
eigentlich  kennen  sollen:  Nun  findet  sich  aber  bei  diesem 
Forscher  gerade,  wie  wir  sahen,  ein  Gedankengang,  der 
geradezu  als  Vorahnung  des  Postulates  einer  „Energie- 
quelle" des  Lebens  zu  betrachten  ist;  und  Müller  war 
überzeugter  Anhänger  der  Lehre  von  der  Selbstgesetzlich- 
keit des  Lebens! 

So  hat  es  denn  also  wohl  nicht  allzuviel  auf  sich  mit 
der  ,, Widerlegung"  des  Vitalismus  auf  Grund  des  Energie- 


Die  materialistisch-darwinistische  Zeitströmung.  141 

gesetzes.    Weitere  Gründe  aber  weiß  Helmholtz  ebenso- 
wenig wie  ein  anderer1)  gegen  ihn  vorzubringen. 


Sagen  wir  es  am  Schlüsse  der  ganzen  vom  älteren 
Vitalismus  handelnden  Hauptabteilung  unseres  Buches 
noch  einmal,  was  wir  am  Eingang  dieses  von  der  materia- 
listischen Reaktion  handelnden  Kapitals  gesagt  haben: 

Nicht  durch  Kritiken  oder  „Widerlegungen"  ist  der 
Vitalismus  als  herrschende  Meinung  unterdrückt  worden: 
die  Kritiken  trafen  meist  nur  Auswüchse  von  ihm,  und 
die  „Widerlegungen"  berührten  ihn  gar  nicht,  sondern 
trafen  angebliche  Folgerungen,  welche  die  „Widerleger" 
erst  schufen:  aus  sich  selbst  ist  der  Vitalismus  ge- 
storben. 

Daß  er  aber  aus  sich  selbst  starb,  und  schon  in  noch 
scheinbarer  Glanzzeit,  da  er  nämlich  Schulmeinung  war, 
gleichsam  im  Sterben  lag,  das  hat  einen  ganz  besonders 
tiefen  Grund: 

Die  Probleme  der  Physiologie  der  Formbil- 
dung hatten  schon  seit  Beginn  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  aufgehört,  das  wissenschaftliche 
Interesse  zu  fesseln. 

Die  Formbildung  aber  ist  des  Vitalismus 
eigentlicher  Boden,  aus  ihr  allein  saugt  er  recht 
eigentlich  seine  Kräfte,  wenigstens  soweit  er  nicht 
auch  das  sogenannte  „Seelische"  zu  seinem  Objekte 
machen  will. 


3)  Es  wäre  hier  noch  Karl  Ludwig  zu  nennen,  der  im 
ersten  Bande  seines  „Lehrbuches  der  Physiologie  des  Menschen" 
(2.  Aufl.,  Leipzig  und  Heidelberg  18581»  mit  Bezug  auf  Dubois 
den  Vitalismus  abweist.  Er  ist  aber  weit  weniger  apodiktisch  als  der 
Genannte:  ,, strenge  Anforderungen"  zwar  will  er  an  vitalistische 
Lehren  stellen  und  vermißt  sie  bei  den  vorliegenden;  wäre  aber 
ihnen  genügt,  so  würde  er  sich  „niemals  gegen  eine  solche  Hypo- 
these sträuben,  möchte  der  Erklärungsgrund  auch  noch  so  neu 
und  unerhört  sein". 


142       H«  Die  Kritik  und  die  materialistische  Reaktion. 

Der  neue  Vitalismus  aber,  zu  dessen  Be- 
trachtung wir  sogleich  schreiten  werden,  ist, 
in  Übereinstimmung  mit  dem  soeben  Gesagten, 
im  Gefolge  der  neu  erwachten  Physiologie  der 
Formbildung  ganz  wesentlich  erstanden. 


Ausblick  auf  Psychologisches. 

Sollen  wir  endlich  über  die  Lage  der  Psychologie 
in  der  Verfallzeit  des  Vitalismus  noch  etwas  sagen,  einer 
Wissenschaft,  die  ja,  sobald  sie  die  Handlungen  der 
Menschen  als  ob j ektiv  gegebene  Bewegungs erscheinungen 
studiert  und  des  so  gefaßten  Objektes  Gesetze  zu  ergründen 
sucht,  der  Naturwissenschaft,  und  zwar  der  Biologie,  im 
strengsten  Sinne  zugezählt  werden  darf,  so  ist  charakte- 
ristisch und  verständlich,  daß  die  Hauptblütezeit  der  Lehre 
vom  sogenannten  psycho-physischen  Parallelismus 
mit  der  Zeit  der  materialistischen  Naturforschung,  die  zu- 
gleich die  Zeit  des  Tiefstandes  des  Vitalismus  ist,  zu- 
sammenfällt. 

Damit  waren  denn  auch  die  Handlungen  des  Men- 
schen dem  allgemeinen  Materialismus  unterstellt:  was 
Natur  geschehen  an  ihnen  war,  das  war  Maschinen- 
geschehen; nicht  wurde  die  ,, Seele",  oder  wie  man  es 
nennen  mag,  als  Element  der  Naturkausalität  selbst  zu- 
gelassen1). 

*)  Hier  ist  der  Ort  des  originellen  Aufsatzes  von  E.  Hering: 
„Über  das  Gedächtnis  als  eine  allgemeine  Funktion  der  organi- 
sierten Materie"  (Wien  1876)  Erwähnung  zu  tun.  Hering 
steht  trotz  seines  freien  Blickes,  der  ihn  im  „Gedächtnis" 
und  im  Reproduktionsvermögen  etwas  einander  Ähnelndes, 
jedenfalls  etwas  sehr  Seltsames  erblicken  läßt,  doch  zu  sehr 
im  Banne  der  parallel  istischen  Theorie,  als  daß  er  zu  sagen 
wagte:  etwas  Neues,  etwas  Nicht -Anorganisches  gibt  es  hier. 
So  werden  denn  alle  psychologisierenden  Ausdrücke  nur  bildlich 
verstanden;  das  eigentliche  Naturgeschehen  bleibt  doch  für 
Hering  materialistisch. 


Die  materialistisch -darwinistische  Zeitströmung.  1 43 

Johannes  Müller,  ja  auch  Lotze,  der  Gegner  des 
vegetativen  Vitalismus,  hatten  hier,  hatten  über  die  Hand- 
lungen des  Menschen  noch  anders  gedacht. 

Alles  an  die  Psychologie  Anknüpfende  soll  in  diesem 
Buche  seine  Stelle  gewissermaßen  nur  anhangsweise  finden 
und  soll  uns  nur  beschäftigen,  wenn  es  von  seinen  Ver- 
tretern selbst  in  allgemeiner  biotheoretischer  Form  ver- 
wertet ward:  anhangsweise  werden  wir  denn  also  auch 
an  späterer  Stelle  zu  sagen  haben,  daß  mit  dem  Neu- 
erwachen des  Vitalismus  auch  ein  Neuerwachen  der  Lehre 
von  ,,psycho-physischer  Kausalität",  um  nicht  ganz 
streng,  aber  verständlich  zu  sprechen,  einherging.  Das 
aber  bedeutet  den  Sturz  der  Lehre  vom  ,, psycho -phy- 
sischen Parallelismus". 


III.  Der  neuere  Vitalismus. 

A.  Die  Tradition. 

Nicht  vollkommen  erlöschen  kann  eine  richtige  Lehre. 
Sie  kann  eine  Zeitlang  übertönt  werden  von  ihren  Gegnern, 
aber  Vereinzelte  gibt  es  immer,  die  unbekümmert  um  allen 
Lärm  des  Tages  ihren  Weg  weitergehen,  mag  ihnen  pas- 
sieren, was  da  will.  Und  wahrlich,  schön  ist  es  den  Wenigen, 
welche  in  den  Zeiten  der  materialistischen  Hochflut  die 
Tradition  der  älteren,  das  heißt  der  vitalistischen  Biologie 
wahrten,  nicht  ergangen,  am  liebsten  hätte  man  sie  wohl 
mindestens  in  Irrenhäuser  gesperrt,  wenn  nicht  „Alters- 
schwäche" sie  gewissermaßen  „entschuldigte". 

So  ist  denn  also  auch  der  Vitalismus,  aller  Gegner- 
schaft zum  Trotz,  gewissermaßen  weitergegeben  worden. 
Und  weitergegeben  wurde  auch  —  von  der  stets  intakt  ge- 
bliebenen Botanik  abgesehen  —  wenigstens  von  wenigen 
die  Methode  einer  auf  das  Gesetzliche,  nicht  nur  auf 
„Stammbäume"  gerichteten  Formenkunde  der  Tiere. 

Die  darwinistische  Schule  studierte  Bau  und  Ent- 
wicklung der  Tiere,  nur  um  Bau  und  Entstehung  des 
einen  mit  denen  des  anderen  zu  „vergleichen"  und  aus 
solchen  Vergleichungen  Stammbäume  zurechtzuschmieden ; 
historisch  war  ihre  Arbeitsart.  Die  ältere  Morphologie  aber 
hatte  durch  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte  er- 
mitteln wollen,  was  es  an  Gesetzlichkeit  im  Formen- 
geschehen überhaupt  gäbe,  was  das  Formengeschehen 
eigentlich  sei,  und  daneben  wollte  sie  das  „Typische"  der 


A.  Die  Tradition.  145 

Verschiedenheiten  der  Formen  womöglich  in  ein  aus 
höheren,  vernunftgemäßen  Gesichtspunkten  verstande- 
nes, nicht  in  ein  nur  historisch  gedeutetes  System 
bringen. 

Es  wird  ein  bleibender  Ruhmestitel  des  Leipziger 
Anatomen  Wilhelm  His  sein,  daß  er  diese  Methode  wahr- 
haft rationeller  Morphologie  wenigstens  im  Prinzip 
„weitergab",  und  auch  Alexander  Goettes  Leistungen 
dürfen  hier  nicht  vergessen  werden.  Hat  doch  gerade  an 
diese  Forscher  die  spätere  ,, Entwicklungsmechanik"  an- 
geknüpft, welche  berufen  war,  die  Formenkunde  der  Lebe- 
wesen dem  System  wahrer  Wissenschaften  einzureihen. 

His  und  Goette  hatten  erkannt,  daß  die  wirklichen 
Formbildungsprozesse,  die  sich  in  der  Entwicklung  des 
Individuums  zeigen,  aktueller  wirkender  Ursachen  ihrer 
jedesmaligen  Realisation  bedürfen;  gerade  diese  Sach- 
lage aber,  an  die  naturgemäß  jede  wahrhaft  naturwissen- 
schaftliche Ermittlung  von  Formbildungsgesetzen  an- 
knüpft, hatten  die  Phylogenetiker  übersehen:  sie  Keßen 
die  „Vererbung"  Ursache  eines  Formbildungsprozesses 
sein,  ein  Gedanke,  der  in  anderer,  noch  schlimmerer  Form 
denselben  logischen  Mangel  aufwies,  wie  jener  Gedanke 
der  älteren  Naturphilosophie,  die  „Ideen"  zureichende 
Gründe  der  organischen  Formen  sein  zu  lassen:  es  fehlte 
beide  Male  das  Band,  das  Begriff  und  empirische  Realität 
verknüpft. 

Doch  gehen  wir  über  zu  unserem  Thema:  Noch  aus 
der  naturphilosophischen  Zeit  ragt  zunächst  ein  anti- 
darwinistischer  oder  besser  vordarwinistischer  Deszendenz- 
theoretiker in  die  neue  Zeit  hinein:  Karl  Snell1).  Er 
ist,  modern  gesprochen,  Polyphyletiker,  d.  h.  er  stellte 
die  Gesamtheit  der  Lebensformen  in  ihrer  zeitlichen  Ab- 
folge nicht  in  Form  eines  verästelten  Stammbaums  dar. 


*)  Die   Schöpfung  des  Menschen,    1863;  Vorles.   üb.   d.  Ab- 
stammung d.  Menschen,  2.  Aufl.,   1893. 

Dri es ch,  Vitalismus.    2.  Aufl.  10J  ...../) 


146  III.  Der  neuere  Vitalismus. 

Schon  die  Amoeben  waren  spezifisch  und  determiniert: 
die  einen  dazu,  Amoeben  zu  bleiben,  die  anderen  dazu,  die 
verschiedenen  Typen,  ja,  wohl  gar  die  einzelnen  Ord- 
nungen innerhalb  der  Typen  einst  als  Endziel  zu  erzeugen. 
Und  in  jedem  Phylum  gibt  es  wieder  solche  „Kollektiv- 
formen", die  nur  äußerlich,  aber  nicht  ihren  phyletischen 
Potenzen  nach  einander  gleich  sind.  Die  treibende  Kraft 
aber  ist  eine  immanente,  überpersönliche,  nicht-mechani- 
sche Dynamik. 

Das  alles  mag  richtig  sein;  es  ist  unkontrollierbar. 
Aber  es  gab  Forscher,  die  in  engerer  Fühlung  mit  den 
Tatsachen  blieben.    — 

Unter  den  Forschern,  die  den  eigentlichen  Vitalismus, 
oder  doch  wenigstens  eine  teleologische  Auffassung  der 
Lebewesen  weitergaben,  war  zunächst  einmal  der  alte 
Baer.  Zu  wiederholten  Malen  hat  er,  in  den  sechziger 
und  siebziger  Jahren,  seine  Auffassung  in  Reden  und 
Vorträgen  dargelegt1). 

Viel  Neues  war  eben  nicht  daran,  wie  ja  denn  auch 
Baers  Rolle  im  älteren  Vitalismus  eine  mehr  abhängige 
gewesen  ist.  Aber  es  war  doch  gut,  daß  es  wenigstens 
dieses  gab. 

Als  Gegner  des  Darwinismus  tritt  Baer  in  allen 
teleologischen  Ausführungen  auf,  und  es  mag  denn  hier 
ein  für  allemal  die  eigentlich  selbstverständliche  Tat- 
sache bemerkt  sein,  daß  alle  Männer,  welche  die 
vitalistische  Tradition  in  der  materialistischen 
Epoche  wahrten,  zugleich  Gegner  des  Darwinis- 
mus gewesen  sind,  ja,  daß  in  der  Gegnerschaft  gegen 
die  Zufallslehre  jene  Tradition  sich  eigentlich  bei  Kräften 
erhielt. 

Baers  Ausführungen  sind  jetzt,  wie  früher,  mehr 
geistreich  als  klar,  und  man  kann  sich  wohl  nicht  gerade 


*)  C.  E.  v.  Baer:  Reden  und  Abhandlungen.    Braunschweig. 
2.  Aufl.     1886. 


A.  Die  Tradition.  147 

sehr  Bestimmtes  denken,  wenn  man  hört,  daß  er  den 
Lebensprozeß  nicht  für  ein  Resultat  des  organischen 
Baues  halte,  „sondern  für  den  Rhythmus,  gleichsam  die 
Melodie,  nach  welcher  der  organische  Körper  sich  auf- 
baut und  umbaut" ;  und  auch  die  Bezeichnung  der  Lebens- 
prozesse als  ,, Schöpfungsgedanken,  die  sich  ihre  Leiber 
selbst  aufbauen",  der  Vergleich  von  Typus  und  Spezifität 
mit  „Harmonie  und  Melodie"  sind  doch  eben  nur  Bilder. 

Ausdrücklich  und  deutlicher  werden  die  Triebe  als 
,, etwas  Ursprüngliches,  d.  h.  nicht  aus  der  Körperbe- 
schaffenheit Hervorgehendes,  sondern  über  ihr  Stehen- 
des", als  „Ergänzung  des  Lebensprozesses"  angesehen; 
in  origineller  Wendung  wird  das  „Gewissen"  die  „höchste 
Form  des  Instinkts"  genannt. 

In  unklarer  Weise  wird  dann  freilich  wieder  der 
Streit  über  die  Lebenskraft  als  „leer"  bezeichnet.  Nicht 
gerade  zutreffend  wird  des  Blumenbach  Nisus  f ormativus 
auf  gleiche  Stufe  mit  den  in  leerem  Schematismus  kon- 
struierten „Vermögen"  (facultates)  eines  Fabricius  ab 
Acquapendente  gestellt1). 

Daß  Baer  an  wirklichen  Vitalismus,  nicht  etwa  nur 
an  statische  Teleologie  denkt,  wenn  er  auch  den  hier 
obwaltenden  Unterschied  nicht  ganz  klar  sehen  mag, 
zeigt  z.  B.  der  Satz,  daß  „der  ganze  Lebensprozeß  über- 
haupt nicht  das  Resultat  physikalisch-chemischer  Vor- 
gänge, sondern  ein  Beherrscher  derselben"  sei.  Das  Leben 
ist  ihm  ein  „chemisch-physikalischer  Prozeß  mit  eigener 
Entwicklungsnorm".  Der  Ausdruck  im  einzelnen  wäre 
hier  freilich  auch  zu  beanstanden. 

An  Besonderheiten  kann  hier  aus  Baers  Ansichts- 
komplex  nur   genannt    sein,   daß    er   die    darwinistische 


*)  Nach  diesem  Forscher,  dem  Lehrer  Harveys,  sind  drei 
Prozesse,  Zeugung,  Entwicklung,  Ernährung,  zur  Bildung  des 
Hühnchens  nötig;  jeder  Prozeß  erfordert  zwei  Kräfte.  Das  ergibt 
sechs  „facultates",  nämlich  die  facultas  immutatrix,  formatrix, 
atractrix,  retentrix,  concentrix,  expultrix. 

10* 


148  III«  Der  neuere  Vitalismus. 

Lehre  vom  sogenannten  , ,  biogenetischen  Grundgesetz" 
dahin  berichtigt,  daß  die  Entwicklungsgeschichte  nur  den 
„ Übergang  aus  allgemeineren  Verhältnissen  in  speziellere, 
nicht  aber  den  Übergang  aus  einzelnen  spezielleren  in 
andere"  nachweise.  His  hat  sich  ganz  ebenso  über  diesen 
wichtigen  Punkt  geäußert:  nicht  etwa  durchläuft  der 
Mensch  in  seiner  Embryonalzeit  ein  Fischstadium,  sondern 
Mensch  und  Fisch  durchlaufen  dieselbe  allgemeinere, 
weniger  spezifizierte  Etappe. 

Die  Handlungen  des  Menschen,  das  objektive  „Seelen- 
leben", ist  nach  Baer  nicht,  wie  die  parallelistische  Lehre 
will,  materialistisch  zerlegbar,  sondern  etwas  Elementar- 
gesetzliches: in  ganz  moderner  Wendung  weist  unser 
Forscher  darauf  hin,  wie  doch  z.  B.  der  Effekt  ein  und 
derselben  Nachricht  auf  verschiedene  Menschen,  je  nach 
deren  Vorgeschichte,  ein  ganz  anderer  sei. 

Soviel  über  die  von  Baer,  allen  Angriffen  und  Ver- 
unglimpfungen zum  Trotz,  festgehaltene  vitalistische 
Grundansicht,  die  bedeutsam  ist  durch  ihre  bloße 
Existenz,  ohne  daß  sie  das  eigentliche  theoretische  Ein- 
sichtskapital vermehrt  hätte.  — 

Baer,  ein  seiner  großen  Verdienste  auf  embryo- 
logischem Gebiete  wegen  allgemein  äußerst  angesehener 
Forscher,  konnte  sich  seinen  Vitalismus,  ohne  geradezu  be- 
schimpft zu  werden,  immerhin  erlauben ;  und  es  wurde  in 
derselben  Weise  gleichsam  „durchgelassen",  wenn  ein  Mann 
wie  der  Begründer  der  zellularen  Pathologie  gelegentlich 
äußerte,  daß  er  von  der  mechanistischen  Auflösbarkeit 
aller  Lebensvorgänge  denn  doch  nicht  so  ganz  fest  über- 
zeugt sei:  allerdings  bewegen  sich  Vir chows  Gedanken, 
ebenso  wie  später  die  Äußerungen  seines  Schülers  Rind- 
fleisch,  nur  in  Bahnen  von  der  allerallgemeinsten  Art. 

Auch  J.  v.  Hanstein1)  Keß  man  seine  Verdienste 
auf  anderem   Gebiete  gleichsam  als  Entschuldigung  für 

1 )  Das  Protoplasma  als  Träger  der  pflanzlichen  und  tierischen 
Lebenserscheinungen.     Heidelberg   1880.  , 


A.  Die  Tradition.  149 

seine  Abtrünnigkeit  vom  Zeitgeiste  gelten.  Dieser  For- 
scher äußerte  sich  schon  bestimmter,  wennschon  auch 
nur  Altes  wiederbringend;  in  Hinblick  auf  die  Forment- 
stehung aus  dem  Keim  und  auf  zeitgenössische  Theorien 
zur  mechanischen  Erklärung  derselben  fragt  er:  „Wo- 
durch werden  denn  nun  beim  beginnenden  Aufbau  alle 
diese  Dinge  richtig  verteilt",  wenn  anders  „für  jedwede 
Gestaltung  ein  Anfangskern  im  Ei  verpackt"  sei.  „Müssen 
nicht  der  Schar  der  Mosaikstücke  noch  ordnende  Werk- 
meister mitgegeben  werden?"  Mit  Recht  zieht  er  die 
Vorgänge  der  Regulation  des  Ganzen  nach  Störungen 
heran. 

,,Der  aristotelische  Ausspruch:  das  Ganze  ist  vor 
den  Teilen,  ist  noch  heut  richtig." 

Eine  „Eigengestaltungskraft",  eine  „Eigengestalt- 
samkeit"  und  daneben  für  die  Tiere  „eine  Bewegungs- 
ursache ähnlicher  Art"  beherrsche  die  Organismen.  Jene 
Kraft  ,, haftet  am  Dasein  gewisser  Stoff  Verbindungen,  die 
sie  geordnet  hat  und  beherrscht",  sie  „zerteilt  sich  mit 
denselben,  und  wo  zwei  oder  mehrere  dergleichen  Stoff- 
gruppen miteinander  verschmelzen,  vereinigen  sich  auch 
ihre  Wirkungszentren  zu  einem  einzigen". 

Man  sieht,  wie  sogar  schon  Einzelgedanken  des 
älteren  Vitalismus  schüchtern  wieder  erscheinen. 

Daß  Hanstein  der  Zuchtwahllehre  die  schärfste  Ab- 
weisung zuteil  werden  läßt,  begreift  sich  von  selbst.  — 

Jenem  Manne,  welcher,  ohne  gerade  als  positiver 
Forscher  hervorstechend  zu  sein,  der  eigentlich  klas- 
sische Kritiker  des  Darwinismus  geworden  ist,  Albert 
Wigand,  hat  man  seine  Kritik  und  sein  damit  verbun- 
denes, wahrlich  nur  schüchternes,  Eintreten  für  die  Eigen- 
gesetzlichkeit des  Lebens  nicht  so  leicht  verziehen. 

Ich  kann  aus  eigener  Erfahrung  berichten,  daß  es 
noch  Ende  der  achtziger  Jahre  unter  Zoologen  für  ge- 
wissermaßen nicht  ganz  anständig  galt,  von  Wigands 
großer  Kritik  anders  als  in  den  abfälligsten  Ausdrücken 


150  HI.  Der  neuere  Vitalismus. 

zu  reden  und  in  jenem  Manne  etwas  anderes  als  einen 
ausgemachten  Idioten  zu  sehen. 

Wigands  kritische  Arbeit  kann  uns  hier  nun  eben- 
sowenig wie  die  Darwinismuskritik  überhaupt  beschäf- 
tigen; das  Positive,  das  sich  in  seinem  großen  Werke1) 
findet,  geht  uns  hier  an,  und  da  ich  denn  vor  allem 
wenigstens  kurz  an  dieser  Stelle  hervorzuheben,  daß 
seine  Kritik  wissenschaftlicher  Begriffsbildung  große 
Selbständigkeit  aufweist  und  ihn  durchaus  über  die 
Schulmeinung  erhebt:  ich  möchte  Wigand  geradezu  als 
ersten  Vertreter  jener  wissenschaftlichen  Begriffskritik 
bezeichnen,  die  später  in  Mach  ihren  systematischen 
Begründer  gefunden  hat.  Vergessen  wir  bei  dieser  Ge- 
legenheit nicht,  daß  im  Grunde  hier  auch  schon 
Schopenhauer,  ja  selbst  Blumenbach  in  gewisser 
Hinsicht  Vorläufer  gewesen  waren. 

Aus  seinem  allgemeinen  erkenntniskritischen  Stand- 
punkt erklärt  sich  nun  Wigands  Stellung  zum  vitalisti- 
schen  Problem:  Die  Frage,  ,,ob  es  eine  Lebenskraft  als 
eine  eigentümliche,  in  der  übrigen  Natur  nicht  wirkende 
Kraft  gibt,  aus  welcher  sich  die  Lebenserscheinungen  er- 
klären lassen",  sei  teils  zu  bejahen,  teils  zu  verneinen. 
Ersteres,  wenn  sie  nichts  anderes  bedeuten  solle,  als  die 
Worte  Elektrizität  und  Schwerkraft  bedeuten;  letzteres, 
wenn  ein  ,,von  der  allgemeinen  Naturgesetzlichkeit  un- 
abhängiges, nicht  nach  Ursache  und  Wirkung  sich  äußern- 
des, supranaturalistisches  Prinzip"  gemeint  sei. 

„Erklären"  würde  die  Lebenskraft  im  zulässigen  Sinne 
freilich  auch  nicht;  doch  unterscheidet  sie  das  nicht  von 
jenen  anderen  „Kräften",  welche  auch  nur  Worte  für  je 
eine  „qualitas  occulta"  sind.  Allerdings  leiste  sie  wegen 
des  mangelnden  Quantitativen  doch  wohl  noch  etwas 
weniger. 

J)  „Der  Darwinismus  und  die  Naturforschung  Newtons  und 
Cuviers."  3  Bände.  Braunschweig  1874/77.  Für  uns  besonders 
wichtig  Band  IT,  Kap.  3. 


A.  Die  Tradition.  151 

Auf  alle  Fälle  ist  aber  logisch  eine  „ Lebenskraft" 
wenigstens  provisorisch  zuzulassen,  solange  alle  bekannten 
Wirkungsweisen  zur  Erklärung  des  Lebens  noch  versagen. 

Man  sieht  hier,  wie  Wigand  an  die  eigentliche  Frage 
des  Beweises  eines  ,, Vitalismus"  gar  nicht  herantritt1). 

Bestimmter  äußert  sich  unser  Autor  über  Teleologie 
im  Organischen  überhaupt  und  über  das  viele  statisch, 
d.  h.  maschinell  Teleologische,  das  sich  ja  tatsächlich  im 
Bau  des  Organisierten,  z.  B.  des  Auges,  findet:  für  seine 
Darwinismuskritik  mußte  solches  die  Hauptsache  sein, 
da  ja  gerade  das  Zweckmäßige  an  kombinierten  Organ- 
bildungen die  Zufallstheorie  ganz  besonders  absurd  erschei- 
nen läßt;  hier  konnte  die  Vitalismusfrage  zurücktreten. 

Zu  irgendeinem  Einfluß  auf  die  Zeitströmung  ist 
Wigand  ebensowenig  wie  die  übrigen  hier  genannten 
traditionellen  Vitalisten  gelangt.  Vielleicht  war  ihre 
Stellungnahme  zu  zögernd  dazu,  vielleicht  auch  war  der 
Boden  in  den  siebziger  Jahren  noch  gar  zu  wenig  vor- 
bereitet, war  die  Zeit  ,, nicht  reif".  — 

Letzteres  möchte  man  wahrlich  für  möglich  halten, 
wenn  man  sieht,  wie  um  1890  die  Ansichten  eines  For- 
schers wirklich  in  gewisser  Weise,  ich  sage  nicht  Einfluß 
übten,  aber  doch  wenigstens  die  Aufmerksamkeit  erregten, 
der  eigentlich  in  viel  unbestimmtere  Stellungnahme  zum 
Vitalismus  trat  als  manche  der  Genannten:  G.  v.  Bunge. 
Ja  selbst  die  recht  unklaren,  mit  theologischen  Gesichts- 
punkten verquickten  Worte  Rindfleischs,  die  einer 
näheren    Darlegung    an    dieser    Stelle    nicht    wert    sind, 


x)  Ich  will  dem  Leser  hier  eine  treffliche  Stelle  aus  Zöllners 
,, Natur  der  Kometen"  (1872)  nicht  vorenthalten,  die  bei  Wigand 
zitiert  ist:  „Die  Abnahme  einer  neuen  Eigenschaft  der  Materie 
wäre  erst  dann  eine  notwendige,  wenn  logisch  nachgewiesen 
worden  ist,  daß  in  der  Beschaffenheit  der  zu  erklärenden  Er- 
scheinung begriffliche  Elemente  vorkommen,  welche  in  den 
bisher  der  Materie  beigelegten  Eigenschaften  nicht  vorhanden 
sind  und   daher  auch  nicht  daraus  abgeleitet  werden  können." 


152  III-  De>r  neuere  Vitalismus. 

erregten  doch  wenigstens  die  Aufmerksamkeit.  So  hatte 
sich  denn  doch  wohl  die  „Zeit"  geändert. 

Bunge  hat  in  seinem  Aufsatz  „Mechanismus  und 
Vitalismus"1),  den  er  später,  nicht  zum  Vorteil,  in  „Mecha- 
nismus und  Idealismus"  umtaufte  und,  in  erkenntnis- 
kritisch unzulässiger  Weise,  immer  mehr  mit  „psychi- 
schen" Fragen  verquickte,  nichts  weniger  als  eine 
scharfe  Stellungnahme  für  den  Vitalismus  be- 
zweckt. Alles  ist  nur  vorläufig,  nur  als  ein  „noch 
nicht" -Genügen  der  mechanistischen  Auffassung  gemeint. 
Sagt  Bunge  doch  gerade  angesichts  der  allerkompli- 
ziertesten  der  von  ihm  als  noch  unerklärt  beigebrachten 
Tatsachen:  „Ich  gebe  sogar  unbedingt  die  Möglichkeit 
zu,  daß  diese  Erscheinungen  einst  eine  rein  mechanische 
Erklärung  finden  werden". 

Also  ein  durchaus  problematischer  Vitalismus,  sogar 
mit  Hinneigung  zum  Gegenteil! 

Wahrlich,  daß  man  Bunge  ohne  Bedenken  als  Vita- 
listen nehmen  konnte,  zeigt^  wie  außerordentlich  fremd 
der  Zeit  der  ganze  Begriff  des  vitalistischen  Problems 
geworden  war:  es  zeigt  aber  anderseits,  daß  nun  endlich 
die  Zeit  merkte,  es  könne  etwas  anderes  als  ihre  materia- 
listische Dogmatik  wenigstens  problematischerweise  geben. 

Hatte  doch  Bunge  in  nicht  schärferer  Weise  für  den 
Vitalismus  Partei  ergriffen,  als  etwa  H  i  s ,  wenn  dieser  es ,  vor- 
erst unerörtert  bleiben"  läßt,  „ob  von  dem  früheren  Inhalt 
des  Begriffs  Lebenskraft  einiges  unter  schärferer  Fassung 
und  unter  zeitgemäßer  Benennung  wiederbelebbar"   sei. 

Doch  Bunge  führt  uns  bereits  an  die  Grenze  der 
aller  jüngsten  Geschichte  unseres  Gegenstandes.  Wir  haben 
ihn  hier  schon  behandelt,  weil  er  sich  der  Reihe  der  übrigen 
deutschen  Traditionisten  des  Vitalismus  durchaus  an-  und 
dieselbe  in  gewissem  Sinne  abschließt. 


*•)  Erster  „Vortrag"  seines  „Lehrbuches  der  physiologischen 
und  pathologischen  Chemie". 


B.  Die  Stellung  der  Philosophie.  153 

B.  Die  Stellung  der  Philosophie. 

Wir  müssen  aber  nun  den  Blick  zeitlich  ein  wenig 
zurückwenden,  um  zunächst  die  Stellung  der  Philosophie 
der  siebziger  und  achtziger  Jahre  zum  vitalistischen  Pro- 
blem zu  würdigen. 

Eduard  von  Hartmann. 

Wenn  wir  ankündigen,  daß  wir  die  Stellung  der  reinen 
Philosophie  zum  Vitalismus  hier  untersuchen,  das  heißt 
unserem  Plane  gemäß  kurz  streifen  wollen,  und  wenn  wir 
dann  unseren  ersten  Abschnitt  über  diesen  Gegenstand 
,, Eduard  vonHartmann"  überschreiben,  so  könnte  das 
den  Anschein  erwecken  als,  solle  der  genannte  Denker  uns 
der  Typus  der  neueren  Philosophie  sein. 

Hartmann  ist  nun  sicherlich  nichts  weniger  als  ein 
typischer  Vertreter  der  Durchschnittsphilosophie  in  der 
Zeit  von  1860 — 1900,  aber  er  ist  der  einzige,  oder  doch 
fast  der  einzige  neuere  Philosoph,  der  für  das  Problem 
des  Vitalismus  in  Betracht  kommt. 

Nun  kann  uns  der  Anlage  des  Ganzen  gemäß  Hart- 
manns  Metaphysik  des  „Unbewußten"  hier  als  eigent- 
liches „System"  ebensowenig  eingehend  beschäftigen,  wie 
uns  das  Vernunftsystem  Hegels  oder  Schopenhauers 
Willensmetaphysik  mehr  als  kurze  Ausblicke  gestatten 
durften.  Es  muß  uns  genügen  zu  sagen,  daß  Hartmanns 
ganze  Philosophie  eigentlich  eine  biologische,  d.  h.  auf  Bio- 
logie gegründete  Philosophie  ist,  daß  unser  Autor  aber  die 
Biologie  als  Vitalismus  in  jeder  Beziehung,  also  in 
Hinsicht  der  Formbildung,  in  Hinsicht  der  sogenannten 
Instinkte  und  in  bezug  auf  das  Verhältnis  des  „Psychi- 
schen" zum  „Physischen"  bei  den  Handlungen  des  Men- 
schen, auffaßt. 

Den  Geschichtschreiber  der  theoretischen  Biologie 
können  im  einzelnen  nur  zwei  Vorstellungsreihen  des 
Hartmannschen  Gedankenkreises  näher  interessieren: 


154  HI.  Der  neuere  Vitalismus. 

Die  eine  derselben  ist  rein  begrifflich  und  hängt  mit 
der  Gesamtmetaphysik  der  Welt,  wie  sie  bei  unserem 
Philosophen  gestaltet  ist,  zusammen :  da  stehen  sich  nun 
bei  ihm,  kurz  gesagt,  Faktoren  der  Bewußtheit  und 
Faktoren  des  Unbewußten  gegenüber;  in  zweimal  zwei- 
facher Art  aber  kann  es  Kausalbeziehungen  dieser 
beiden  grundsätzlichen  Arten  von  Faktoren  untereinander 
geben:  isotrope  Kausalität  nennt  Hartmann  Wirkungs- 
beziehung zwischen  Faktoren  gleicher  Gruppe,  allotrope 
Kausalität  das  Gegenstück  dazu;  da  die  höheren  Lebe- 
wesen aus  Faktoren  beider  Gruppen  bestehen  und  „Indi- 
viduen" darstellen,  so  ergeben  sich  ferner  die  Begriffe  der 
intraindividuellen  und  interindividuellen  Kausali- 
tät. Die  sogenannte  ,,psycho-physische  Kausalität",  die 
bei  Hartmann  an  Stelle  des  üblichen  ,,psycho-physischen 
Parallelismus"  tritt,  ist  nach  dem  Gesagten  allotrope 
intraindividuelle  Kausalität,  d.  h.  Kausalität  zwi- 
schen dem  unbewußten  Vitalfaktor  und  dem  Bewußtsein 
desselben  Individuums ;  zwischen  zwei  Individuen  dagegen 
findet  normalerweise1)  unmittelbar  nur  interindividuelle 
isotrope  Kausalität,  und  zwar  im  „unbewußten"  Gebiete 
statt.  Man  möchte  hier  freilich  sagen,  daß  Hartmanns 
allotrope  intraindividuelle  Kausalität  eigentlich  keine 
„Kausalität",  sondern  doch  ein  psycho -physischen  „Paral- 
lelismus", wennschon  kein  psycho-mechanischer  Paral- 
lelismus, ist:  „Kausal"  im  echten  Sinne  wirken  nach 
ihm,  in  sogleich  darzustellender  Weise,  mechanische  und 
vitale  Naturfaktoren  aufeinander,  und  den  Verände- 
rungen der  (unbewußten)  vitalen  Naturfaktoren  geht 
gelegentlich  (bewußtes)  Seelenleben  „parallel". 

Wir  untersuchen  jetzt  an  zweiter  Stelle,  wie  sich 
unser  Philosoph  den  Eingriff  der  Lebensfaktoren  in  das 

1)  Telepathische  Wirkungen  würden  natürlich  entweder 
inter individuelle  isotrope  Kausalität  im  Gebiet  der  Bewußtheits- 
faktoren oder  aber  auch  interindividuelle  allotrope  Kausalität 
bedeuten  können. 


B.  Die  Stellung  der  Philosophie.  155 

Getriebe  der  materiellen  Faktoren  denkt;  da  ihm,  im 
Sinne  der  Materientheorie,  die  Gesamtheit  der  materiellen 
Faktoren  in  letzter  Linie  das  Getriebe  eines  wahrhaft 
mechanischen  Systems  bedeutet,  so  handelt  es  sich  bei 
den  Lebenserscheinungen  also  um  Eingriffe  in  ein  solches  : 

Was  wir  hier  kurz  materielle  Faktoren  nannten, 
nennt  Hartmann  in  Strenge  materiierende  Agen- 
zien, d.  h.  Agenzien,  welche  die  Erscheinung  des  Ma- 
teriellen hervorrufen.  Alle  materiierenden  Agenzien  nun 
haben  ein  Potential  und  sind  zerlegbar  in  Zentral  - 
kräfte.  Die  Lebensagenzien  aber  sind  nicht  „materi- 
ierend",  haben  kein  „Potential",  sind  nicht  Kombina- 
tionen von  „Zentralkräften".  Wie  können  sie  wirken 
auf  das  Gesamtgebiet  des  Materiellen,  ohne  die  soge- 
nannten Energiesätze,  die  Grundlagen  alles  Geschehens 
in  ihm,  zu  verletzen  und  dabei  doch  im  Gegensatz 
zum  Anorganischen,  das  für  die  Auffassung  Hartmanns 
Mechanik  Newtonischer  Art  ist  ? 

Sie  können  das  in  zulässiger,  aber  auch  zureichender 
Weise,  indem  sie  entweder  die  Richtung  einer  Kraft, 
welche  ja  in  den  Energiesätzen  nicht  vorkommt,  ändern, 
oder  indem  sie  den  Angriffspunkt  einer  Kraft  in 
ihrer  Potentialfläche  verschieben.  Freilich  ist  des 
Beharrungsvermögens  wegen  ein,  wenn  auch  nur  sehr 
kleiner  Energieaufwand  auch  zu  Verschiebungen  einer 
Kraft  in  einer  Niveauf lache  nötig,  denn  die  „Kraft"  haftet 
ja  an  Materie;  die  hierzu  benötigte  Energie  kann  aber 
dem  Energie  vor  rat  einer  anderen  Raumachse  des  Ge- 
bildes entnommen  werden.  So  kommt  denn  auf  „Um- 
lagerung"  von  Energie  in  den  verschiedenen  Raumachsen, 
auf  Drehung  der  Elementarteile  also  die  letzte  Wirkung 
der  Lebensfaktoren  auf  das  Anorganische  hinaus.  Man 
sieht  die  Verwandschaft  der  Lehre  Hartmanns  mit  der 
Leib- Seele  =  Theorie  des  Descartes. 

Hartmanns  Lehre  ist  deshalb  von  besonderer  Be- 
deutung für  die   Geschichte  des  Vitalismus,  weil  in  ihr 


156  HI.  Der  neuere  Vitalismus. 

wieder  ein  Versuch  gemacht  wird,  eine  besondere  Folge- 
rung der  Lehre  von  der  Lebensselbständigkeit  zu  ziehen, 
nämlich  genau  zu  bestimmen,  wie  elementare 
Lebensfaktoren  zu  den  Faktoren  des  Anorgani- 
schen in  Beziehung  treten1).  So  macht  er  also  eine 
theoretische  Konsequenz  des  Vitalismus  naturwissenschaft- 
lich inhaltreich.  Den  Vitalismus  als  System  naturwissen- 
schaftlicher Aussagen  in  Hinsicht  des  eigentlich  Tat- 
sächlichen der  Eigengesetzlichkeit  des  Lebens  berührt 
aber  Hartmanns  Lehre  weniger:  denn  ein  wirklich 
strenger  Beweis  der  Unmöglichkeit  mechanistischer 
Lebensauf lösung  ist  von  ihm  nicht  geführt  worden. 

Ist  doch  eben  eine  metaphysische  Konzeption,  nicht 
aber  die  Detailforschung,  der  Philosophie  Hartmanns 
eigentliches  Zentrum. 


Andere  Philosophen. 

Wir  haben  gesagt,  daß  Hart  mann  nahezu  der  ein- 
zige Philosoph  der  letzten  Dezennien  sei,  der  für  eine  Ge- 
schichte des  Vitalismus  in  Betracht  komme:  in  der  Tat 
können  wir  nur  noch  einen  anderen  Vertreter  allgemeiner 
Philosophie  in  unserer  Historie  an  dieser  Stelle  nament- 
lich aufführen:  Otto  Liebmann. 

Lieb  mann  ist,  von  Hartmann  abgesehen,  in  der 
Tat  beinahe  der  einzige  Philosoph  in  dem  Zeitraum  von 
1860 — 1900  gewesen,  der  den  Lebensproblemen  kritische 
Erörterungen  gewidmet  hat,  die  nicht  von  vornherein  in 
den  Banden  der  mechanistisch-darwinistisch-parallelisti- 
schen  Lehre  dogmatisch  befangen  waren.   Liebmann  be- 


*)  Daß  dieser  Versuch  nicht  etwa,  wie  bisweilen  angenommen 
wird,  in  gewissen  Ausführungen  von  Maxwell  und  Helmhol tz 
vorliegt,  habe  ich  an  anderem  Orte  gezeigt.  Vgl.  meine  „ Natur- 
begriffe und  Natururteile",  Leipzig  1904,  S.  102 ff.  Er  liegt  aber 
implicite  vor  in  gewissen  Äußerungen  Lord  Kelvins  und  Boltz- 
manns. 


B.  Die  Stellung  der  Philosophie.  157 

weist  zwar  nicht  den  Vitalismus,  aber  er  sieht  ihn  doch 
wenigstens  als  Möglichkeit,  er  sieht  das  prinzipielle  Ver- 
dienst eines  Alexander  Goette,  er  hat  wenigstens 
Zweifel,  wo  es  im  Sinne  der  Zeitlehre  doch  wahrhaftig 
keine  Gewißheit  gab. 

Zu  kurzer  Wiedergabe  eignen  sich  freilich  die  ledig- 
lich kritischen  Darlegungen  Liebmanns  nicht,  auch  bieten 
sie  nicht  irgend  etwas  eigentlich  Neues,  und  so  mag  denn  hier 
nur  noch  als  charakteristisch  seine  Vorliebe  für  den  aristo- 
telischen Ausdruck  „Entelechie"  genannt  sein,  einen  Be- 
griff, den  ja  auch  Goethe,  und  übrigens  gelegentlich  auch 
Baer,  gern  verwendet  hatten. 

Alle  übrigen  Philosophen  dieser  Zeit  —  (was  Deutsch- 
land angeht,  zum  größten  Teil  Neukantianer  der  älteren 
Form)  —  waren  „apriori"  von  der  Notwendigkeit  einer 
mechanistischen  Biologie  so  überzeugt,  daß  sie  die  Möglich- 
keit von  etwas  anderem  überhaupt  gar  nicht  erwogen. 


Psychologen. 

Das  Problem  des  Vitalismus  erweitert  sich  bekannt- 
lich bedeutend,  wenn  die  Frage  nach  den  Beziehungen  des 
„Seelenlebens"  zur  Natur  in  dasselbe  einbezogen  wird. 
Doch  war  es  bisher  in  diesem  Buche  unser  Prinzip,  auf 
eine  Analyse  der  „Handlungen  des  Menschen"  —  um 
naturwissenschaftlich  zu  reden  —  nur  dann  geschichts- 
betrachtend  einzugehen,  wenn  psychologische  Autoren 
selbst  die  eigentlich  naturwissenschaftliche  Seite 
ihres  Gegenstandes  erblickten,  wie  das  bei  J.Müller  z.B. 
der  Fall  war. 

Solches  ist  nun  bei  neueren  Autoren  selten  oder  nie 
der  Fall  gewesen:  die  enge  Berührung  des  Leib- Seele- 
Problems  mit  dem  eigentlichen  Vitalismus  hat  in  eigent- 
licher Schärfe  kaum  einer  erblickt;  ja,  es  ist  seltsam,  daß 
nicht  einmal  Physiologen  wie  Pflüger  und  Goltz  den 
engen  Zusammenhang,  der  hier  obwaltet,  gesehen  haben. 


158  HI.  Der  neuere  Vitalismus. 

Ich  denke  dabei  nicht  an  Pflügers  „teleologische  Mecha- 
nik"1), die  rein  formal-teleologisch  war  und  eigentlich 
recht  wenig  in  ihrem  Satze,  daß  jedes  Bedürfnis  die  Ur- 
sache seiner  Befriedigung  sei,  besagte;  ich  denke  an 
Pflügers  Lehre  von  der  ,, Rückenmarksseele",  und  bei 
Goltz  denke  ich  an  den  Begriff  der  „Antwortsreaktion", 
der  in  seinen  Untersuchungen  über  den  „Sitz  der  Seele 
des  Frosches"2)  begründet  ward.  Pflüger  meint  bereits 
für  die  Rückenmarksfunktionen,  Goltz  für  diejenigen  der 
sogenannten  niederen  Hirnzentren  gezeigt  zu  haben,  daß 
ihre  Komplikation  und  ihre  freie  Variierbarkeit  größer 
sei,  als  daß  sich  eine  Maschine  als  deren  Basis 
ersinnen  lasse.  Aus  diesem  Grunde  müsse  hier  von 
„Beseeltheit"  geredet  werden. 

Was  ist  „Vitalismus",  wenn  es  dies  nicht  ist?  Es 
ist  sehr  seltsam,  daß,  ganz  wie  Lotze,  weder  Pflüg  er 
noch  Goltz  klar  innegeworden  sind,  daß  hier,  für  einen 
Teil  der  Lebensphänomene  zum  mindesten,  eine  Eigen- 
gesetzlichkeit proklamiert,  daß  zugleich  die  Lehre  des 
psycho-physischen  Parallelismus  verworfen  wird. 

Leiten  wir  die  Betrachtung  von  den  Lehren  der 
Physiologen  Pflüger  und  Goltz  auf  die  Lehren  von 
Psychologen  über,  so  ist  es  hier  also,  wie  gesagt  wurde, 
gerade  die  Frage  des  sogenannten  psycho-physischen 
Parallelismus,  die  eine  Geschichte  des  Vitalismus  angeht. 

Da  muß  es  nun  genügen,  an  dieser  Stelle  zu  sagen,  daß 
die  Lehre  vom  psycho-physischen  Parallelismus  in  dem  Zeit- 
abschnitt, von  dem  wir  hier  reden,  derart  —  abgesehen 
natürlich  von  Hartmann  —  die  Losung  des  Tages  gewesen 
ist,  daß  etwas  anderes  eigentlich  gar  nicht  erörtert  wurde. 

Erst  im  Beginne  des  neuen  Jahrhunderts  wird  das 
anders.    In  dem  großen  Werke  \Busses3)  mag  man  sich 

x)  Bonn   1877. 

2)  Beiträge  zur  Lehre  von  den  Funktionen  der  Nerven- 
zentren des  Frosches.     Berlin  1869. 

3)  Geist  und  Körper,   Seele  und  Leib.     Leipzig  1903. 


B.  Die  Stellung  der  Philosophie.  159 

über    die    psycho -physischen    Theorien    des    ausgehenden 
neunzehnten  Jahrhunderts  näher  unterrichten. 

Bergson  war  zwar  im  letzten  Dezennium  des  Jahr- 
hunderts schon  aufgetreten;  aber  einen  Einfluß  besaß  er 
noch  nicht,  ja,  nur  wenige  wußten  von  ihm. 


Edmund  Montgomery. 

Wenigen  wird  der  amerikanische  Biologe  und  Philo- 
soph bekannt  sein,  der,  ursprünglich  Arzt,  viele  Jahre 
hindurch  ein  ruhiges  Leben  in  den  südlichen  Vereinigten 
Staaten  dem  Nachdenken  über  die  Grundprobleme  des 
Lebens  gewidmet  hat. 

Man  kann  nicht  sagen,  daß  Edmund  Montgomery 
den  Vitalismus  eigentlich  naturwissenschaftlich  begründet 
hat;  deshalb  haben  wir  ihn  auch  den  vitalistischen  Philo- 
sophen der  letzten  Dezennien  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts angegliedert  und  können  hier  in  unserer  Natur- 
wissenschaftsgeschichte überhaupt  nur  kurz  auf  ihn  hin- 
weisen. Montgomery  hat  aber  andererseits  das  ganze 
Problem  der  Lebensselbständigkeit  so  eigenartig  behandelt, 
in  einer  so  besonders  gearteten  Mischung  von  Naturwissen- 
schaft und  Philosophie,  daß  wir  glauben,  seiner  Indivi- 
dualität nur  durch  eine  auch  äußerlich  individualisierende 
Behandlung  gerecht  werden  zu  können1). 


1 )  Für  den  Vitalismus  kommen  von  Montgomerys  Schriften 
vornehmlich  in  Betracht:  The  Substantiality  of  Life,  Mind  1881, 
p.  321;  Zur  Lehre  von  der  Muskelkontraktion,  Pflügers  Archiv  25, 
1891;  To  be  alive,  what  is  it  ?,  Monist  1815.  —  Vorwiegend  von 
erkenntniskritischer  und  psychologischer  Bedeutung,  und  teüweise, 
z.  B.  über  das  „Ich",  sehr  beachtenswert  sind  die  Artikel:  The 
Dependence  of  Quality  on  specific  Energies,  Mind  1880;  The 
Object  of  Knowledge,  Mind  1884;  Mental  Activity,  Mind  1890; 
The  Integration  of  Mind,  Mind  1895;  Are  we  conscious  Automata  ? 
Texas  Acad.  Sc.  1896;  und  einige  andere.  —  In  seiner  Schrift 
,,The  Vitality  and  Organization  of  Protoplasm"  (Austin,  Texas, 
1904)  hat  Montgomery  seine  biologischen  Ansichten  zusammen- 
gefaßt.    Tritt  auch  bisweilen  eine  Neigung  zu  weiterer  Fassung 


|60  HI-  Der  neuere  Vitalismus. 

M  o  n  t  g  o  m  e  r  y  ist  bewußter  metaphysischer  Realist  ge- 
klärter Art.  Eben  seine  Metaphysik  soll  ihm  die  Vereinigung 
der  Lösung  zweier  Probleme  ermöglichen:  der  Probleme 
der  Ichheit  und  der  individuellen  Organisation. 

Die  sinnliche  Erfahrung  bleibt  uns  nicht  ein  „mere 
mosaic  of  elements",  sondern  sie  wird  durch  Synthesis 
„integrated",  wird  eine  „complex  unity". 

Der  körperliche  Organismus  anderseits  ist  ein  ,,in- 
discerptible  whole",  kein  „divisible  aggregate". 

Die  Lösung  beider  Probleme  Hegt  gemeinsam  in 
einem  richtig  formulierten  Substanzbegriff,  und  zwar 
denkt  sich  im  Gefolge  seiner  realistischen  Metaphysik 
Montgomery  seine  Substanz  als  spezifische  chemische 
Verbindung,  also  nach  Art  Reils;  mit  der  Spezifität 
dieser  Lebenssubstanz  aber  sind  unserem  Forscher  be- 
sondere, neue  Gesetze  gegeben:  die  Verbindung  als 
solche,  welche  durchaus  als  ,,chemical  unit",  nicht  etwa 
als  ,,mere  aggregate  of  separate  molecules"  gedacht  wird, 
hat  eine  „Controlling  power"  über  die  Organisation,  wie 
sie  auch  die  Synthesis  des  Mannigfaltigen  im  Ichbegriff 
vollzieht:  sie  ist  die  ,,identical,  indivisible,  perdurable 
and  self-sustaining  substance,  of  which  the  transient 
phenomena,  arising  in  consciousness,  are  but  inherent 
affections".  Eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  Hart- 
mann sehen  Ansichten  hegt  hier  vor,  wie  denn  ein  „Un- 
bewußtes" als  Grundlage  auch  der  Bewußtheit  häufig  in 
Montgomerys  Schriften  wiederkehrt. 

Was  die  eigentliche  Begründung  des  Vitalismus  an- 
geht, so  wendet  sich  Montgomery,  auf  Grund  einer 
Analyse   der  Protoplasmabewegung,   der  Muskelkontrak- 


des  Substanzbegriffes  hervor,  so  bleibt  die  lebende  Substanz  doch 
unserem  Autor  eine  chemische,  freilich  mit  dem  Vermögen 
sich  zu  „ reintegrieren".  Keime  sind  in  diesem  Sinne  ,,chemical 
fragments  or  radicals".  Lebendes  und  Lebloses  aber  sind  von 
der  ,,same  order  of  nature";  nicht  ist  eines  mystischer  als  das 
andere. 


B.  Die  Stellung  der  Philosophie.  161 

tion,  der  Teilbarkeit  der  Infusorien,  der  Regeneration 
überhaupt,  ausdrücklich  gegen  jede  Maschinentheorie  als 
eigentliche  Grundlage  der  organischen  Phänomene.  Die 
Lebenssubstanz  ist  es,  die,  nach  Störungen,  immer  wieder 
ihre  Integrität  herstellt;  und  zwar  ist  dabei  nicht  an 
chemische  Wirkungen  üblicher  Art  gedacht:  die  Assimi- 
lation wird  unserem  Forscher  gewissermaßen  zum  Grund- 
phänomen alles  Biologischen,  aber  sie  erfolgt  auf  Grund 
einer  ,, innerlich  konstituierten  Autonomie".  ,,Hier 
sind  offenbar  genetisch  organisierte  Kräfte  wirksam,  mit 
denen  man  nur  als  spezifische  Energien  zu  rechnen  vermag." 
Die  seltsame  Lehre  vom  ,, Lebensstoff"  kann  die 
Würdigung  der  historischen  Bedeutung  Montgomerys 
für  den  Vitalismus  nicht  hindern:  in  der  Grundfrage  ist 

• 

er  eben  doch  ,, Vitalist";  verwendet  er  doch  geradezu  das 
Wort  „ autonom".  Was  ihn  aber  als  wirklich  selbstän- 
digen, nicht  nur  als  traditionellen  Vitalisten  erscheinen 
läßt,  das  ist  vor  allem  seine  höchst  eigenartige  Me- 
thode, welche,  mag  man  sie  billigen  oder  nicht,  jeden- 
falls ebenso  scharfsinnig  ersonnen  wie  angewendet  worden 
ist:  die  Methode,  das  organisatorische  und  das  psycho- 
logische Integrationsproblem  gemeinsam  lösen  zu 
wollen.  Neben  der  Methode  aber  ist  von  Bedeutung,  daß 
Montgomery  gerade  die  beiden  Probleme,  von  welchen, 
wenn  auch  vielleicht  in  etwas  anderer  Fassung,  jeder 
Vitalist  in  der  Tat  ausgehen  muß,  in  sehr  eigenartiger 
Weise  erkannt  und  formuliert  hat;  die  Formulierung  des 
aus  der  Analyse  der  Handlungen  entspringenden  Pro- 
blems scheint  uns  besonders  geglückt  zu  sein;  das  organi- 
satorische Problem  ist  für  einen  ,,  Beweis"  doch  wohl 
noch  nicht  tief  genug  zergliedert. 

Ja,  wenn  Montgomery  an  Stelle  seiner  chemi- 
schen Einheitssubstanz  den  kategorialen  Substanzbegriff 
ohne  Beziehung  auf  Materie  setzen  würde,  könnten  wir 
wohl    beinahe   vollständig    seine    Ansichten  übernehmen. 


Driesch,  Vitalisnms.    2.  Aufl.  11 


162  m«  Der  neuere  Vitalismus 


C.  Antidarwinistisclie  Deszendenztheoretiker. 

Wenn  wir  über  eine  Deszendenz  der  Organismen  mehr 
Tatsächliches  wüßten,  als  leider  der  Fall  ist,  so  hätten 
wir  auch  die  Verpflichtung,  die  Ansichten,  welche  über 
Gesetze  einer  etwa  vorhandenen  phylogenetischen  Ent- 
wicklung ausgesprochen  sind,  eingehend  zu  analysieren 
und  uns  zu  fragen,  ob  sie  maschinentheoretische  oder 
vitalistische  Gesetze  seien. 

Wo  aber  selbst  die  einfache  Tatsache  von  Deszendenz 
nur  hypothetisch,  wennschon  gut  gesichert,  feststeht, 
werden  alle  besonderen  Deszendenzgesetze  Gebilde  von 
höchster  Fraglichkeit. 

Von  de  Vries  in  seiner  Mutationstheorie,  sowie 
ferner  seitens  der  Bastard-  und  Variationsforscher,  auch 
von  einigen  Entomologen  ist  bekann tlich  jüngst  versucht 
worden,  in  das  Tatsächliche  einer  Abstammung  des  Spe- 
zifischen von  anderem  Spezifischen  wenigstens  in  be- 
scheidenem Maße  mit  exakten  Mitteln  einzudringen;  von 
der  Erkennung  irgend  etwas  Gesetzlichen  ist  aber,  soweit 
wirkliche  „Deszendenz",  also  nur,  soweit  ,, Mutation"  in 
Frage  kommt,  noch  gar  nicht  zu  reden ;  denn  alle  bekannte 
Mutation  beschränkt  sich  bis  jetzt  auf  sogenannte  ,, Kleine 
Arten". 

So  müssen  denn  die  Urheber  von  nicht-darwinisti- 
schen  allgemeinen  Deszendenztheorien,  die  unter  dem 
Titel  eines  „Entwicklungsgesetzes",  „Vervollkommnungs- 
gesetzes", „Gesetzes  des  organischen  Wachsens"  usw.  zum 
Teil  vielleicht  an  irgendeine  autonom-vitalistische  Um- 
wandlungsgesetzlichkeit gedacht  haben,  zum  anderen  Teil 
vielleicht  teleologische  Statiker  gewesen  sind,  es  sich 
gefallen  lassen,  hier  nur  mit  Namen  genannt  zu  sein: 
ein  Vorwurf  soll  damit  gegen  Männer  wie  Kölliker, 
Wigand,  Nägeli,  Eimer  u.  a.,  denen  wohl  der  englische 
Philosoph  Spencer  beizuzählen  ist,  nicht  ausgesprochen 


C.  Antidarwinistische  Deszendenztheoretiker.  163 

sein1):  ihre  mehr  oder  weniger  weitgehende  Gegnerschaft 
gegen  den  echten  Zufallsdarwinismus  war  auf  alle  Fälle 
ein  Verdienst.  Unzweifelhaft  vitalistisch  sind  unter 
den  hier  in  Frage  kommenden  neueren  Theorien,  wie  mir 
scheint,  die  Lehren  von  Hamann2)  und  Cope3).  Der 
erste  lehrt  eine  psychovitalistische  Polyphyletik,  Cope 
ein  immanentes  Gesetz  der  Phylogenie  und  den  Primat 
des  Lebens  gegenüber  der  unbelebten  Welt. 

Es  darf  hier  wohl  die  allgemeine  Bemerkung  ein- 
geschaltet werden,  daß  eine  dem  Darwinismus  wider- 
sprechende Auffassung  des  Deszendenzproblems  an  und 
für  sich  sowohl  als  vitalistisch  wie  als  maschinentheore- 
tisch gedacht  werden  könnte:  in  beiden  Fällen  wird  sie 
sich  zwar  von  der  Auffassung  der  organischen  spezifischen 
Formen  als  zufälliger  Produkte  im  Sinne  der  Darwinisten 
scheiden,  aber  es  wäre  doch  zunächst,  d.  h.  ohne  ein- 
gehende Analyse  des  wirklichen  Sachverhaltes,  den  wir 
eben  gar  nicht  kennen,  wenigstens  denkbar,  daß 
nicht  aus  elementarer  Eigengesetzlichkeit,  sondern  aus 
der  ewig  vorgesehenen  Konstellation  anorganischer  Welt- 
faktoren das  Organisierte  in  seiner  Spezifität  entspränge. 

1)  Mit  undarwinistischen  Deszendenztheorien  finden  sich 
häufig  Theorien  der  ontogenetischen  Entwicklung  verbunden, 
welche,  nach  Art  fiktiv-mechanischer  Physik,  durch  Bilder- 
konstruktionen erklären  wollen;  ja  auch  Darwinisten,  z.  B.  außer 
Darwin  selbst  Weismann,  haben  derartige  Entwicklungs- 
fiktionen  ersonnen;  im  übrigen  mögen  hier  nur  Spencer,  Nägel i, 
Wiesner  genannt  sein.  Wir  müssen  uns  jedes  nähere  Eingehen 
auf  diese,  kritisch  bei  dem  statischen  Teleologen  ^Viesner  (Er- 
schaffung, Entstehung,  Entwicklung,  1916)  am  meisten  geklärten, 
Gedankengebilde  versagen,  da  das  eigentliche  Problem  des  Vita- 
lismus bei  ihrer  Konstruktion,  von  Wiesner  abgesehen,  meist 
nur  sehr  undeutlich,  wenn  überhaupt  gesehen  ward.  Meist  sind 
sie  nur  „Photographien  des  Problems"  (vgl.  meine  Analyt.  Theorie, 
1894,  S.  153).  —  Eine  gute  Kritik  vieler  dieser  Ansichten  gibt 
Montgomery   in   seiner   letzten   Schrift. 

2)  Entwicklungslehre  und  Darwinismus  1892. 

3)  The  primary  factors  of  organic  evolution.    Chicago   1896. 

11* 


164  HI.  Der  neuere  Vitalismus. 

Freilich  wird,  wer  für  die  individuelle  Formbildung 
die  Maschinentheorie  ablehnen  muß,  dieselbe  schwer- 
lich für  die  „Deszendenz"  als  auch  nur  hypothetisch  be- 
rechtigt zulassen. 

Unter  den  Darwinismusgegnern  sind  natürlich  auch 
die  Neulamarckianer.  Es  mag  genügen,  an  dieser  Stelle 
ihren  ersten  Vertreter  Samuel  Butler1)  zu  nennen. 
Bei  ihm  steht  schon  das  meiste  von  dem,  was  heute  als 
,,Neolamarckismus"  zu  gelten  pflegt,  nur  weniger  ver- 
menschlicht als  z.  B.  bei  Pauly. 


D.  Die  Stellung  der  Physiker. 

Unter  diesem,  angesichts  dessen,  was  geboten  werden 
soll,  etwas  zu  engen  Titel,  sollen  in  Kürze  einige,  meist 
recht  wenig  bekannt  gewordene  Äußerungen  von  Mathe- 
matikern, Physikern  und  Chemikern  zum  Vitalismus- 
problem mitgeteilt  werden.  Es  ist  besonders  beachtens- 
wert, daß  alle  Vertreter  der  anorganischen  Wissenschaften, 
wofern  sie  sich  überhaupt  über  das  biologische  Grund- 
problem geäußert  haben,  das  sehr  viel  vorsichtiger  als 
die  meisten  Biologen  zu  tun  pflegten.  Und  den  An- 
organikern  war  die  Leistungsfähigkeit  ihrer  Wissenschaft 
denn  doch  wohl  etwas  besser  bekannt  als  den  Biologen. 

Der  französische  Mathematiker  M.  J.  Boussinesq2) 
hat  im  Jahre  1878  eine  seltsame  mathematisch-mecha- 
nische Theorie  über  mögliche  körperliche  Bewegungen 
aufgestellt,  auf  deren  Boden  nicht  nur  ein  Vitalismus 
überhaupt,  sondern  sogar  eine  mit  dem  Begriffe  der  echten 
Freiheit,  der  Indeterminiertheit  arbeitende  Lehre  möglich 
sein  soll.    Wo  immer  ein  Massenpunkt  im  Verlaufe  seiner 


1)  Unconscious  Memory;  Evolution  old  and  new   1879  usw. 

2)  Conciliation  du  veritable  determinisme  mecanique  avec 
i'existence  de  la  vie  et  de  la  liberte  morale,  Paris  1878;  auch 
Mem.  Soc.  Science;  Lille,  VI,  4  Ser. ;  s.  auch  C.  rend.  84,  1877, 
S.  362.      Siehe  auch  den  Aufsatz  von  Saint- Venant,  1.  c.   S.  419. 


D.  Die  Stellung  der  Physiker.  165 

Bewegung  an  einen  Ort  gelangt,  der  einem  singulären 
Integral  der  seine  Bewegungsbahn  darstellenden  Diffe- 
rentialgleichung entspricht,  dort  ist  die  Art  der  Fort- 
setzung seiner  Bewegungsbahn  mathematisch  nicht  be- 
stimmt. An  solchen  Stellen  soll  nun  das  „principe 
directeur"  nach  beliebiger  Ruhezeit  auf  beliebigem 
Wege  die  weitere  Bewegung  eines  in  Frage  kommenden 
Massenpunktes  bestimmen  können.  So  komme  im  Rah- 
men der  mathematischen  Mechanik  Vitalismus  und  Frei- 
heitslehre zu  vollem  Ausdruck.  Sachlich  liegt  hier  eine 
Verwechslung  mathematischer  und  physikalischer  Be- 
stimmtheit vor,  wie  ich  anderenorts  ausgeführt  habe  und 
wie  auch  schon  E.  duBois-Reymond  vor  Jahren  gesehen 
hat1).  Aber  es  ist  bedeutsam,  zu  sehen,  wie  hier  ein  Mathe- 
matiker und  theoretischer  Physiker  von  der  Richtigkeit  der 
Allmechanismuslehre  so  ganz  und  gar  nicht  überzeugt  ist. 
Nach  Tait2)  weist  gar  nichts  im  Rahmen  des  An- 
organischen darauf  hin,  daß  es  zu  einer  Erklärung  der 
Lebensphänomene  geeignet  sei.  Es  sei  „unscientific", 
eine  solche  Erklärung  auch  nur  zu  versuchen.  Lord 
Kelvin3)  schreibt,  ähnlich  wie  später  auch  0.  Lodge4), 
dem  Leben  eine  ,, power  of  directing  and  moving  particles" 
zu  und  betont  ausdrücklich,  daß  Vererbung  nie  und 
nimmer  durch  zufälliges  Zusammentreffen  von  Atomen 
verständlich  sei.  Boltzmann5)  sieht  eine  Einwirkung 
des  Psychischen  auf  das  Physische  als  möglich  und,  „wenn 
man  annimmt,  daß  diese  Einwirkung  normal  gegen  die 
Mveauf lachen  erfolgt",  sogar  als  mit  dem  Satz  von  der 
Energieerhaltung  verträglich   an.     Nach   Hertz6)   würde 


x)  Vgl.  Sitzungsber.  Akad.  Heidelberg  1919,  Nr.  18,  S.  3 1  f f . ; 
vgl.   ferner  Dubois'   „Sieben  Welträtsel",   2.  Aufl.,   S.  96. 

2)  Contemp.  Rev.    1878,   31.  Januar,   S.  298. 

3)  Pop.  Lect.  II,   S.  464 ff.,  und  Fortnightly  Rev.   1892,  51. 

4)  Life  and  Matter  und  Hibbert   Journ.    10,    1912,    S.  299  f. 

5)  Zitiert  nach  Höflers  Psychologie,    1897,    S.  58. 

6)  Mechanik. 


166  III.  Der  neuere  Vitalismus. 

die  Tätigkeit  eines  vitalen  Agens  das  bekannte  Grund- 
prinzip seiner  Mechanik  nicht  zu  verletzen  brauchen,  wenn 
man  nur  annimmt,  daß  die  Effekte  dieses  Agens  durch 
die  Effekte  eines  anorganischen  Systems  ersetzt  gedacht 
werden  können. 

Diese  Probleme  von  Äußerungen  seitens  hervor- 
ragender Physiker  genügen  uns;  sie  ließen  sich  leicht  ver- 
mehren. 

Endlich  sei  noch  der  Äußerung  eines  Chemikers  ge- 
dacht: Japp1)  hält  den  Begriff  der  Richtung  und  des 
Richtunggebens  für  etwas  irreduzibles  Vitales ;  er  diskutiert 
die  Fähigkeit  gewisser  niederer  Organismen,  von  einem 
Paar  korrespondierender  asymmetrischer  Verbindungen 
nur  die  eine  zu  konsumieren  oder  zu  produzieren.  Es 
sei  dahingestellt,  ob  hier  der  Beweis  einer  Lebensautonomie 
geliefert  ist.  Auf  jeden  Fall  denkt  ein  Chemiker  hier  bio- 
logischer als  viele  Biologen. 


*)   Rep.  68  th  Meeting  Brit.  Assoc.  Bristol,  1898,  S.  813. 


IV.  Der  „Neovitalismus". 

A.  Grundlegungen. 

Man  hat  die  neueste  Wendung  der  Geschichte  des 
Vitalismus  als  „Neovitalismus"  bezeichnet;  eine  Namen- 
gebung,  die  insofern  nicht  gerade  zutreffend  ist,  als  zu 
keiner  Zeit  vitalistische  Lehren  etwa  vollständig  erstorben 
waren,  was  sich  allerdings  jene  Namengeber,  vor  allen 
Emil    du    Bois-Reymond,    wohl   einbilden   mochten. 

In  anderer  Hinsicht,  als  von  den  Urhebern  des  Namens 
gemeint  war,  verdient  nun  aber  allerdings  die  letzte 
Epoche  vitalistischer  Denkweise  die  Bezeichnung  ,,neu", 
nämlich  hinsichtlich  der  Methode  ihres  ganzen  Vorgehens 
—  wenigstens  bei  einigen  ihrer  Vertreter  — ,  und  so  mag 
jene  Bezeichnung  denn  auch  von  uns  übernommen  sein. 

Jenes  „Neue"  der  allgemeinen  Methode  knüpft  aller- 
dings in  gewisser  Hinsicht  —  den  neueren  Autoren  selbst 
freilich  unbewußt  —  an  den  Vitalismus  im  18.  Jahrhundert, 
nicht  aber  an  die  schulmäßigen  Lehren  des  Anfangs  des 
19.  Säkulums  an:  man  geht  wieder  auf  die  Fundamente, 
nicht  nur  auf  die  Folgerungen  aus  einem  angeblich  ganz 
Sicheren;  man  sucht  wieder  zu  beweisen,  daß,  aus  diesen 
oder  jenen  Gründen,  vitalistische  Auffassung  des  Leben- 
digen, und  nur  sie,  zu  Recht  bestehen  müsse.  Das. 
alles  aber  erwuchs  aus  dem  Kampf  gegen  die  materia- 
listische Welttheorie,  zumal  gegen  den  Darwinismus  her- 
aus: so  ist  an  seinen  Feinden  der  Vitalismus 
wieder  groß   geworden.     Ja,  die  Besseren  der  Gegner 


1(38  IV.  Der  „Neovitalismus". 

des  überkommenen  Vitalismus  haben  geradezu  um  sein 
Wiedererwachen  ein  unmittelbares  Verdienst:  sie  hatten 
Falsches  beseitigt;  nun  konnte  man  um  so  klarer  sehen, 
daß  denn  doch  noch  etwas  Richtiges  vorhanden  sei. 

Für  die  eigentliche  Fundamentierung  neovitalistischer 
Lehren  ist,  wie  schon  angedeutet,  das  Wiedererwachen  der 
experimentellen  morphologischen  Forschung,  der  „Ent- 
wicklungsmechanik" Wilhelm  Roux',  Vorbedin- 
gung gewesen:  alle  neuen  tatsächlichen  Stützen  der  Lehre 
von  der  Lebensautonomie  sind  in  der  Tat  —  allerdings 
neben  einer  Analyse  der  Handlung  —  auf  dem  genannten 
Gebiete  der  Forschung  gewonnen.  Freilich  nicht  im  Sinne 
des  genannten  Beginners  jener  Forschungsart,  dessen  Über- 
zeugung von  der  Berechtigung  mechanistischer  Naturauf- 
fassung sich  vielmehr  seltsamerweise  im  Laufe  der  Jahre 
gefestigt  zu  haben  scheint;  im  Anfang  seines  experimen- 
tellen Arbeitens  nämlich  ließ  er  die  vitalistische  Frage  zum 
mindesten  offen:  „Wer  nicht  blind  das,  was  als  höchstes 
Resultat  unserer  Untersuchungen  erst  gewonnen  werden 
muß,  in  Form  der  allerdings  sehr  gebräuchlichen 
petitio  principii  als  selbstverständlich  und  keines 
Beweises  bedürftig  von  vornherein  annimmt,  der  wird  sich 
bei  den  kausalen  Untersuchungen  der  embryonalen 
Entwicklung  immer  unsere  Eventualität"  (nämlich  die 
Frage  nach  besonderen  „organischen  Energien",  die  so 
verschieden  von  allen  bekannten  Energiearten  sind,  „wie 
es  die  Elektrizität  von  den  übrigen  Energien  ist")  „vor 
Augen  zu  halten  und  sich  zu  fragen  haben,  ob  die  von 
ihm  beobachteten  Vorgänge  sich  unter  die 
Leistungen  bekannter  Kraftformen  subsumieren 
lassen,  oder  ob  sie  zur  Annahme  besonderer 
„Wirkungsweisen",  wie  differenzierender  Fern- 
wirkungen u.  dgl.,  und  damit  zur  Annahme  be- 
sonderer   Energien    nötigen"1). 

x)  W.  Roux:   GesammelteAbhandl.il,  S.  188f.    Zuerst  ver- 
öffentlicht in  Zeitschr.  f.  Biol.  21.     1885. 


A.  Grundlegungen.  169 

Später  freilich  ist  Roux  in  das  mechanistische  Lager 
übergegangen,  wenn  auch  mit  dem  Zugeständnis,  daß  von 
einer  auch  nur  grundsätzlichen  Auflösung  der  biologischen 
Phänomene  in  Physik  und  Chemie  in  keinem  Falle  prak- 
tisch die  Rede  sei1). 


Gehen  wir  jetzt  zur  historischen  Betrachtung  im  ein- 
zelnen über,  die  sich  natürlich  in  diesem  Abschnitt  mehr 
als  in  jedem  anderen  auf  das  eigentlich  Typische  zu  be- 
schränken -hat,  so  könnte  es  zunächst  scheinen,  als  hätten 
wir  als  des  ersten  „Neo  vitalisten"  trotz  allem  noch  einmal 
Wilhelm  Roux'  zu  gedenken:  wiederholt  hat  nämlich 
dieser  Autor  betont,  daß  nicht-mechanische,  nämlich 
„seelische"  Faktoren,  wenigstens  an  einem  Punkte  des 
Formbildungsgeschehens  als  geradezu  eingreifend  an- 
zusehen seien:  bei  der  sog.  funktionellen  Anpassung  näm- 
lich, z.  B.  bei  dem  Stärkerwerden  der  Muskeln  durch  den 
Gebrauch,  sei  eben  das  „Seelische",  der  „Wille",  die 
„Erhaltungsintelligenz"  ein  wesentlich  mitbestimmender 
Faktor. 

Doch  hat  Roux  diese  Ansicht  nie  eigentlich  weiter 
analysiert  und  hat  es  nie  ausgesprochen,  daß  solche 
Meinung,  wörtlich  genommen,  denn  doch  durchaus  den 
„Vitalismus",  wenn  auch  nur  im  engen  Felde,  bedeute. 
So  greifen  wir  denn  wohl  nicht  fehl,  wenn  wir  entweder 
jene  Ansicht  als  von  Roux  aus  gewissen  Lehrmeinungen 
übernommen,  ihn  selbst  also  vielleicht  in  dieser  Hin- 
sicht als  „Traditionsvitalisten"  ansehen  oder  aber  seine 
psychologisierenden  Ausdrücke  als  abgekürzte  Redensarten 
nehmen,  die  über  die  Frage  „Parallelismus  oder  Wechsel- 
wirkung ?"  gar  nichts  entscheiden  soll.  Was  die  erste 
Möglichkeit  angeht,  so  erinnern  wir  uns  hier  an  Lotze, 
der  3a  auch  trotz  seiner  Ablehnung  des  vegetativen  Vita- 


x)  Vgl.   „Über  die  bei  der  Vererbung  von  Variationen  an- 
zunehmenden Vorgänge",   1913. 


170  IV.  Der  „Neovitalismus". 

lismus  der  „ Seele"  alles  mögliche  zuschrieb,  ohne  sich 
ganz  klar  zu  sein,  daß  solches  denn  doch  durchaus  den 
Vitalismus  bedeute. 


Unter  dem  Titel  ,, Mechanismus  und  Teleologie"  hat 
F.  Ehrhardt  im  Jahre  1890  eine  Studie  veröffentlicht, 
welche  zum  ersten  Male  wieder  in  der  Art,  wie  das  zu 
Zeiten  des  älteren  Vitalismus  üblich  war,  ausdrücklich' 
verfaßt  ist  zu  dem  Zwecke,  die  logische  Möglichkeit  einer 
vitalistischen  Lebensauffassung  und  die  sachliche  Not- 
wendigkeit ihrer  Annahme  eingehend  zu  begründen:  Der 
Begriff  Mechanismus,  der  schon  in  vielen  Gebieten  der 
Physik  und  im  Chemischen  versagt,  ist  nach  Ehrhardt 
viel  enger  als  derjenige  der  Kausalität.  Teleologie  aber  ist 
nicht  etwa  ein  Gegenstück  zur  Kausalität,  sondern  ist 
ihr  untergeordnet.  Zwar  sind  ,,Causae  finales"  un- 
zulässig in  dem  Sinne,  daß  hier  ein  ,, Zweck"  wirke;  etwas 
Zukünftiges  kann  nicht  wirken.  Aber  es  wirkt  gar  nicht 
,,  der  Zweck",  sondern  das  ,,Im-Auge-Haben  des  Zweckes"; 
so  tritt  der  Zweck  in  die  Causa  efficiens  ein.  „Meta- 
physisch" sind  solche  ,,Causae  efficientes  finales"  ebenso- 
wenig wie  alle  anderen;  sie  inhärieren  der  organischen 
Materie. 

Soweit  das  Methodische  der  Schrift,  das,  abgesehen 
von  dem  nicht  immer  ganz  einwandfreien  erkenntnis- 
kritischen Standpunkt  des  Verfassers,  durchweg  sehr  zu 
billigen  ist.  Der  sachlich  begründende  Teil  ist  schwächer, 
obwohl  immerhin  beachtenswert: 

Wenn  freilich  nur  aus  der  inneren  Erfahrung  be- 
gründet wird,  daß  ja  ,,der  Wille"  „bewegen"  könne,  und 
wenn  Ernährung  und  Fortpflanzung  deshalb  als  Äuße- 
rungen wahrhaft  vitalistischer  Kausalität  angesehen  wer- 
den, weil  ihnen  eben  Triebe  zugrunde  liegen,  so  kann 
solches  nicht  als  wahre  naturwissenschaftliche  Beweis- 
führung aus  der  Sache  selbst  angesehen  werden. 


A.  Grundlegungen.  171 

Viel  bedeutsamer  erscheint  ein  Gedanke,  den  Ehr- 
hardt  in  seiner  Polemik  gegen  Lotzes  statische  Teleo- 
logie  äußert:  Eine  statisch  teleologische  Auffassung  der 
Organismen  sei,  abgesehen  davon,  daß  sie  Ernährung  und 
Fortpflanzung  nicht  erkläre  und  überhaupt  das  Problem 
nur  zurückschiebe,  allein  darum  abzulehnen,  weil  das 
Konstante  im  Auftreten  der  Organismen,  welche 
doch  nicht  nur  gelegentlich  einmal,  sondern  täg- 
lich in  Millionen  typischer  Exemplare  sich  bil- 
den, durch  sie  nicht  gewährleistet  erscheine. 
Ja,  aus  demselben  Grunde  müsse  auch  schon  die  mecha- 
nische Erklärung  etwa  der  Elektrizität  oder  des  Magnetis- 
mus abgelehnt  werden:  die  Gebiete  der  Physik  besitzen  ja 
doch  feste  und  konstante  und  nicht  nur  ungefähr 
geltende,  schwankende  Gesetze,  was  zu  erwarten 
wäre,  falls  sie  als  Äußerungen  von  Kombinationen  ein- 
facherer Naturgesetze  anzusehen  seien. 

Mag  man  keinen  ,, Beweis"  des  Vitalismus  in  diesem 
Gedankengang  erblicken:  auf  jeden  Fall  ist  er  durchaus 
selbständig  und  schon  als  solcher  beachtenswert.  Was 
Ehrhardt  sonst  noch  zum  positiven  Vitalismus  äußert, 
tritt  dagegen  zurück:  er  vertritt  eine  Art  Lebensstoff  - 
theorie;  an  bestimmte  chemische  Verbindungen  sei  die 
Erweckung  spezifisch  organischer,  nicht  mehr  nur 
chemischer  Kräfte  geknüpft;  möge  also  auch  diese  jedes- 
malige Erweckung  in  einer  „Urzeugung"  zufällig  sein, 
ihre  eigentliche   Gesetzesexistenz  ist  nicht  zufällig. 


Gustav  Wolffs  im  Jahre  1890  erschienene,  mit 
Recht  weithin  bekanntgewordene  vortreffliche  Kritik  des 
Darwinismus1)  ist,  obwohl  als  Darwinismuskritik  an  und 
für  sich,  ihrer  Originalität  unbeschadet,  ein  Nachzügler, 
doch  die  erste  ihrer  Art,  welche  aus  der  ganz  klaren  Über- 
zeugung entspringt,   daß    Sturz   des  Darwinismus  gleich- 


x)  Biol.  Zentralbl.   10.     Auch  separat. 


172  IV.  Der  „Neovitalismus". 

zeitig  ein  Wiederaufleben  bedeutungsvoller  Teleologie  be- 
deute. 

Im  Jahre  1894  ließ  Wolff  seiner  Kritik  die  Darstel- 
lung eines  Experimentalresultates  folgen1),  das  ausdrück- 
lich zur  Entscheidung  der  Frage  über  Darwinismus  und 
Teleologie  angestellt  war:  es  galt  zu  sehen,  ob  der  Orga- 
nismus einen  Teil  regenerieren  könne,  der  ihm  nie  im 
Laufe  seiner  Vorgeschichte  genommen  sein  konnte,  und 
zu  prüfen,  wie  er  das  etwa  anstelle.  Eine  ,,primäre 
Zweckmäßigkeit"  würde  sich  durch  den  positiven  Aus- 
fall des  Versuches  dokumentieren,  welche  einerseits  den 
Darwinismus  ad  absurdum  führen,  andererseits  in  „zweck- 
mäßiger Anpassung"  eine  Teleologie  bedeutsamster  Art 
dokumentieren  würde. 

Der  Versuch  bestand  in  der  Entnahme  der  Linse 
—  nur  der  Linse  —  aus  dem  Auge  des  Wassermolches 
(Triton  taeniatus).  Und  die  Linse  wurde  regeneriert, 
und  zwar  vom  vorderen  Rand  der  Iris  aus,  also  in  einer 
der  normalen  Entwicklung  nicht  entsprechenden2),  aber 
sehr  zweckentsprechenden  Weise. 

So  war  also  „primäre  Zweckmäßigkeit"  er- 
wiesen. 

So  hoch  wir  Wolffs  scharf  sinnige  Arbeiten  bewerten, 
die  wahrlich  zu  den  besten  der  neueren  biologischen 
Literatur  überhaupt  gehören,  so  müssen  wir  doch  darauf 
hinweisen,  daß  wohl  die  Frage  der  Bedeutsamkeit  von 
Teleologie  überhaupt,  nicht  aber  die  nach  ihrer  Art 
entschieden  ist:  es  könnte  sich  auch  um  eine  vorgesehene, 
einfach  hinzunehmende,  „gegebene"  Maschinenteleologie 
handeln. 

Wolff  selbst  ging  in  den  zitierten  Arbeiten  auf  den 
Unterschied  zwischen  statischer  und  dynamischer  Teleo- 
logie nicht  ein,  unausgesprochenermaßen  allerdings  wohl 

!)  Biol.  Zentralbl.    14  und  Arch.  f.  Entwickl.  Mech.    1. 
2)  In  der  normalen  Entwicklung  entsteht  die  Linse  von  der 
Körperhaut  aus. 


A.  Grundlegungen.  173 

letzterer,  also  dem  Vitalismus  zuneigend.  Neuerdings1) 
freilich  hat  er  seinen  Vitalismus  ausdrücklich  mehr  provi- 
sorisch, im  Sinne  eines  ,,noch  nicht"  Erklärbaren  aufgefaßt. 
Ich  glaube  auch  nicht,  daß  sein  Versuch  die  Frage  nach 
der  Art  des  Teleologischen  ohne  weiteres  entscheiden 
könnte. 

Übrigens  steht  Wolff  in  seinen  psychiatrischen 
Arbeiten2)  auf  einem  das  ,, Seelenleben"  naturgesetzlich- 
autonom,  also  vitalistisch  auffassenden  Boden. 


Ich  selbst  kam  im  Jahre  1893  dazu,  angeregt  vor- 
nehmlich durch  die  methodologischen  Schriften  von 
Wigand  und  Paul  du  Bois-Reymond3),  das  Teleo- 
logische in  den  Erscheinungen  des  Lebens  alsirreduzible 
Sonderheit  deutlich  zu  sehen:  begriffliche  Analysen  der 
physiologischen  und  formbildenden  Phänomene  führten 
mich  zu  solcher  Einsicht.  Doch  war  mir  der  Unterschied 
zwischen  statischer  und  dynamischer  Teleologie  noch  nicht 
aufgegangen,  und  was  ich  in  der  Schrift  „Die  Biologie  als 
selbständige  Grundwissenschaft"4)  bot,  war  ein  mir  un- 
bewußtes Schwanken  zwischen  der  Annahme  eines  Bil- 
dungstriebes und  einer  gegebenen  Maschinenteleologie. 
1894  vertrat  ich  in  meiner  „Analytischen  Theorie  der 
organischen  Entwicklung"  eine  durchaus  maschinelle  Teleo- 
logie in  Form  verschiedener  gegebener  ,, Harmoniearten", 
aber  auch  hier  war  ich  mir  noch  nicht  eigentlich  klar, 
daß,  was  ich  vertrat,  die  eine  von  zwei  Möglichkeiten 
des  Teleologischen  sei.     In  dem  Artikel  ,,Die  Maschinen - 

x)  Mechanismus  und  Vitalismus.     Leipzig  1902. 

2)  Zum  Beispiel  Klin.  u.  krit.  Beitr.  z.  Lehre  v.  den  Sprach- 
störungen.    Leipzig   1904. 

3)  „Über  die  Grundlagen  der  Erkenntnis  in  den  exakten 
Wissenschaften".  Tübingen  1890.  Hier  wird  die  Selbständigkeit 
jedes  Gebietes  der  Physik  und  Chemie  in  bezug  auf  jedes  andere 
behauptet  (vgl.  Schopenhauer!)  und  eine  gleiche  Selbständigkeit 
auch  der  Biologie  für  möglich  erklärt. 

4)  Zweite,  gänzlich  neugeschriebene  Auflage,   1911. 


174  IV.    Der  „Neovitalismus". 

theorie  des  Lebens",  vom  Jahre  18961),  war  mir  mein  Vor- 
gehen erst  wirklich  bewußt  geworden:  ich  wiederholte  das 
Wesentlichste,  was  ich  in  den  beiden  genannten  Schriften 
eigentlich  gesagt  hatte  —  es  war  nämlich  bisweilen,  so 
z.  B.  von  E.  du  Bois-Reymond2),  mißverstanden 
worden  — ,  ich  wies  mit  allem  Nachdruck  darauf 
hin,  daß  meine  Aussagen  kein  Vitalismus,  son- 
dern M.aschinenteleologie  gewesen  seien,  daß  sie 
mit  L o t z e s  Auf f assung  der  vegetativen  Lebensfunktionen 
die  größte  Ähnlichkeit  besäßen3).  Als  „Vitaltheorie' ' 
stellte  ich  das  problematische,  unausgesprochen  freilich 
schon  als  richtig  erkannte  Gegenstück  meiner  „formal  - 
teleologischen  Theorie",  die  mit  „statisch  Gegebenem" 
rechne,  gegenüber.  Die  Begriffe  der  späteren  „statischen" 
und  „dynamischen"  Teleologie  finden  sich  also  schon  hier, 
wenn  auch  die  Worte  erst  in  meiner  gleich  zu  erwähnenden 
Schrift  „Die  Lokalisation"  geprägt  wurden. 

Mehrjähriges  Experimentieren  über  das  gestaltliche 
Regulationsvermögen  der  Organismen  und  ein  fortdauern- 
des Durchdenken  der  Gesamtheit  meiner  seit  1891  aus- 
geführten entwicklungsphysiologischen  Versuche,  daneben 
eine  Analyse  alles  physiologischen  Regulationsgeschehens 
überhaupt,  zumal  aber  der  sog.  „Handlung",  führte  mich 
dann  zu  einer  vollkommenen  Wendung  meiner  Ansichten 
und  zur  Legung  des  Grundes  für  ein  künftiges 
vitalistisches    System. 

Die  Notwendigkeit  des  Vitalismus  war  mir  persönlich 
zwar  bereits  1895  durch  Analyse  des  Handlungspro- 
blems aufgegangen:  was  ich  zuerst  publizierte,  war 
trotzdem  die  vitalistische  Theorie  eines  besonderen  Pro- 


x)   Biol.  Zentralblatt  16. 

2)  Über  Neo  -Vitalismus ,    Sitzungsber.    Akad.    Berlin    1894. 

3)  Auch  auf  Goette  hätte  ich  mich  beziehen  können,  dessen 
„Formgesetz",  was  bei  dieser  Gelegenheit  erwähnt  sein  mag, 
wohl  eine  statische  Teleologie  bedeutet.  Hierher  gehört  auch 
Bostan:  Näheres  bei  Cl.  Bernard  IL 


A.    Grundlegungen.  175 

blems  der  Formbildung,  da  mir  dieses  in  seiner  gedank- 
lichen Durcharbeitung  am  weitesten  gediehen  war:  die 
Publikation,  von  der  ich  hier  rede,  erfolgte  Anfang  1899 
unter  dem  Titel  „Die  Lokalisation  morphogene- 
tischer  Vorgänge.  Ein  Beweis  vitalistischen  Ge- 
schehens"1). Nach  meiner  subjektiven  Überzeugung  ist 
in  dieser  Schrift  zum  ersten  Male  wirklich  streng  be- 
wiesen worden,  daß  wenigstens  gewisse  Lebensvorgänge 
nur  autonom,  nur  nach  selbsteigener  Gesetzlichkeit,  also 
nur  dynamisch-teleologisch  verstanden  werden  können. 
Hierwar  also  durch  den  Beweis  der  Unmöglichkeit 
des  konträren  Gegenteils  des  Vitalismus  die  eigent- 
liche Grundlegung  eines  künftigen  vitalistischen  Systems 
geschaffen  worden.  Es  handelte  sich  um  von  mir  sog. 
„harmonisch-äquipotentielle  Systeme"  und  ihre 
Differenzierung,  d.  h.  um  den  Sachverhalt,  daß  es  im 
Dienste  der  Formbildung  stehende  Zellengesamtheiten 
gibt,  welche  nach  beliebiger  Entnahme  oder  Verlagerung 
von  Teilen  doch  stets  ein  proportional  richtiges  ganzes 
Formergebnis  Hefern.  Eben  dieser  Sachverhalt  schließt 
die  Möglichkeit  des  Daseins  einer  ,, Maschine"  aus. 


Unter  dem  Titel  ,,  Elemente  der  empirischen  Teleo- 
logie"  hat  Paul  Nikolaus  Cossmann  ebenfalls  im 
Jahre  1899  eine  Schrift  veröffentlicht,  welche  die  logische 
Klärung  des  Begriffes  ,,Teleologie"  recht  eigentlich  zur 
Aufgabe  und  insofern  gewisse  Berührungspunkte  mit 
Kants  ,, Kritik  der  Urteilskraft"  hat.  Nach  der  eigentlich 
naturwissenschaftlichen  Seite  hin  ist  diese  Schrift  nur 
„formal-teleologisch";  übrigens  besitzt  Cossmann  die 
Unterscheidung  einer  statischen  und  einer  dynamischen 
Teleologie  ebensowenig  wie  Wolff  und  wie  ich  selbst  in 
meinen  ersten  Schriften. 


2)  Auch  Archiv  f.  Entwicklungsmech.  8. 


176  IV.  Der  „Neovitalismus". 

Kausalität  ist  unserem  Analytiker  zwar  ,, allgültig", 
aber  nicht  ,, alleingültig",  Teleologie  tritt  als  Beurteilungs- 
maxime neben  sie.  Auch  sie  handelt  von  ,, notwendigen 
Zusammenhängen",  der  Begriff  „Notwendigkeit"  ist  eben 
weiter  als  der  Begriff  „Kausalität".  Für  das  Kausale 
gilt  die  allgemeine  Formel  W  (Wirkung)  =  f  (U)  (Ursache), 
wo  die  Worte  „Ursache"  und  „Wirkung"  in  sehr  all- 
gemeinem Sinne,  als  Inbegriff  der  Gesamtheit  alles  in 
Betracht  Kommenden  gefaßt  sind.  Teleologisch  ist 
M  =  f  (A,  S),  wo  M  „teleologisches  Medium",  A  „Ante- 
cedens", S  „Succedens"  bedeutet. 

Das  Funktionszeichen  f  ( )  soll  in  beiden  Fällen 

nur  logische  Abhängigkeit,  d.  h.  logische  Inhaltsverwandt- 
schaft bedeuten. 

Entscheidet  also  auch  Cossmann  die  Frage  „Vita- 
lismus oder  Maschinentheorie"  nicht,  so  entscheidet  er 
jedenfalls  in  positivem  Sinne  das  Problem  einer  in  tiefem 
Sinne  bedeutungsvollen,  nicht  etwa  aus  Zufällen  „erklär- 
baren", vitalen  Teleologie.  Ein  sehr  großer  Teil  seines 
Buches  ist  gerade  dieser  Absicht  gewidmet.  — 

Eugen  Albrecht,  dem  in  seinen  „Vorfragen  der 
Biologie"  (ebenfalls  1899)  das  Physikalisch-Chemische  und 
das  „Physiologische"  nur  die  Ergebnisse  verschiedener 
„Betrachtungsweisen"  oder  ..Einstellungen",  angewandt 
auf  dasselbe  Gegebene,  sind,  äußert  meines  Erachtens 
'nichts,  das  von  den  Ergebnissen  der  Untersuchungen 
Cossmanns  sowie  von  denjenigen  meiner  „Analytischen 
Theorie"  wesentlich  verschieden  wäre. 


Endlich  ist  auch  Johannes  Reinkein  demselben 
Jahre  1899  dem  teleologischen  Problem  zuerst  näher- 
getreten und  hat  seitdem  eine  große  Reihe  von  Büchern 
und  Artikeln1)  über  dasselbe  veröffentlicht.  Jedoch  kommt 

x)  Die  Welt  als  Tat.  Berlin  1899.  —  Gedanken  über  das 
Wesen  der  Organisation.  Biol.  Zentralbl.  19.  1899.  —  Einleitung 
in  die  theoretische  Biologie.    Berlin  1901;  usw.  —  Für  seine  beste 


A.  Grundlegungen.  177 

er  mehr  begriffstechnisch  als  sachlich  begründend  für 
die  Frage  des  Vitalismus  in  Betracht. 

Neben  den  Energien,  so  führt  Reinke  aus,  kommen 
für  das  Spezifische  an  allem  Geschehen  noch  ,, Kräfte 
zweiter  Hand",  um  mit  Lotze  zu  reden,  in  Frage.  Reinke 
nannte  sie  anfangs  insgesamt  „Dominanten";  sie  be- 
deuten meines  Erachtens  sowohl  das,  was  man  allgemein 
„Maschinenbedingungen",  wie  das,  was  man  „Konstanten" 
zu  nennen  pflegt. 

Später  nannte  Reinke,  von  E.  v.  Hart  mann  be- 
einflußt, für  die  Tatsachen  der  Betriebsphysiologie  seine 
fraglichen  Größen  „Systemkräfte"  und  ist  von  ihrer 
maschinellen  Natur  überzeugt,  ist  hier  also  statischer  Teleo- 
loge;  nur  für  die  Tatsachen  der  Formphysiologie  nannte 
er  sie  noch  „Dominanten",  ließ  ihren  Charakter  aber  derart 
in  dubio,  daß  er  auch  auf  diesem  Gebiete  höchstens  proble- 
matischer Vitalist  ist;  ja,  es  gibt  sogar  Stellen,  wo  er 
auch    hier   der   Maschinenauffassung   zuzuneigen  scheint. 

Freilich  lehnt  er  für  das  „Psycho-physische"  die 
Theorie  des  Parallelismus  ausdrücklich  ab:  da  muß  er 
denn  wohl  wenigstens  in  diesem  Sonderfelde  ganz  rück- 
haltlos „Vitalist"  genannt  werden. 

Das  scharfe  Herausschälen  des  Begriffes  „Dominante" 
und  die  Konzentration  der  Fragestellung  auf  die  Frage 
eben  nach  ihrer  Natur  ist  Reinkes  eigentlich  wesentliche 
Leistung,  wenn  auch  die  Frage  etwas  zögernd  beant- 
wortet wird. 

Wir  erwähnen  an  letzter  Stelle  noch  eine  Gedanken- 
reihe Fritz  Nolls1). 


Darstellung  hält  Reinke  selbst  seinen  Artikel  „Die  Dominanten- 
lehre". Natur  und  Schule  2.  1903.  Neueste  Werke:  „Die  schaffende 
Natur"  (1919),  in  welchem  auf  die  von  mir  übergangenen  vita- 
listischen  Ansätze  bei  Alexander  Braun  und  J.  He  nie  hin- 
gewiesen wird,  und  „Kritik  der  Abstammungslehre"  (1920)  mit 
guter  Darlegung  der  phylogenetischen  Paradoxien  und  Probleme. 
!)  Landwirtschaft.  Jahrbücher  1900.  Biol.  Zentralbl.  23. 1903. 
Driesch,  Vitalismus,  2.  Aufl.  12 


178  IV«  Der  „Neovitalismus". 

Unter  dem  Namen  einer  „Morphästhesie"  spricht 
Noll  den  Organismen  ein  „ Empfinden"  ihrer  Körperform 
und  Körperlage  zu  und  läßt  eben  dieses  Empfinden  form- 
auslösend  wirken.  Bei  der  Algengruppe  der  Siphoneen  sei 
das  eigentliche  Protoplasma  mitsamt  den  Kernen  in  steter 
Bewegung,  nur  die  Hautschicht  sei  etwas  Ruhendes;  von 
ihr  also  müsse  wohl  die  zu  festen  Relationen  führende 
Formbildung  ausgehen.  Die  Hautschicht  aber  nun  ist 
ohne  spezifische  Struktur :  da  wird  ihr  eben  das  Vermögen 
des  Formempfindens  erteilt.  Gewisse  Befunde  über  den 
Einfluß  von  Krümmungen  auf  die  Entstehung  von  Seiten- 
wurzeln, überhaupt  alles,  was  mit  der  Eigenrichtung 
von  Pflanzenteilen  zusammenhängt,  gilt  Noll  als  Stütze 
seiner  Ansicht.  Noll  selbst  hält  zwar  diese  seine  Lehre 
nicht  für  vitalistisch .  ich  meine  aber,  daß  bei  weiterer 
Analyse  sein  Gedankengang  wohl  mit  demjenigen  meines 
eigenen  ,, ersten  Beweises"  der  Autonomie  des  Lebendigen 
Verwandtschaft  zeigt:  handelt  es  sich  doch,  wie  alle 
experimentellen  Erfahrungen  zeigen,  stets  um  „Empfin- 
dungen" von  Relationen.  Freilich  würden  wir  das  Wort 
„Empfindung"  in  diesem  Zusammenhange  vermeiden; 
überhaupt  alles  etwas  anders  formulieren;  auch  scheint 
uns  das  Problem  der  Eigenrichtung  fertiger  Teile  mehr 
ein  Problem  der  Bewegungs-  als  der  Formphysiologie  zu 
sein.  Aber  für  die  Grundlegung  eines  Vitalismus  kommt 
Nolls  Argumentation  ganz  sicherlich  mit  in  Frage. 


B.  Vitalistisclie  Systeme. 

a)  Henri  Bergson. 

Bergsons  Werk  ist  eine  groß  angelegte  Metaphysik 
auf  phänomenologischer  und  biologischer  Grundlage. 

Seine  phänomenologische  Leistung,  insbesondere  seine 
Unterscheidung  des  Zeithaften  als  Erlebnis  (durde)  von 
der  Zeit  als  Beziehungsrahmen  der  Natur  (temps),  diese 


B.  Vitalistische  Systeme.  179 

seine  bedeutendste  Leistung1),  geht  dieses  Buch  nicht  an. 
Seine  tiefgegründete  Ablehnung  des  psycho-physischen 
Parallelismus2)  werden  wir  an  späterer  Stelle,  da,  wo  wir 
die  neuere  Psychologie  kurz  streifen  werden,  erwähnen. 
Sein  drittes  Werk  Devolution  creatrice  (1901)  ist  es,  das 
allein  als  Ganzes  biologisch  im  engeren  Sinne  bedeutsam 
ist,  obschon  auch  dieses  Werk  mehr  ist  als  nur  Biologie. 

Bergson  bekämpft  den  Mechanismus  und  den 
,, Finalismus",  also  einen  Vitalismus  von  der  Art  meines 
eigenen,  weil  beide  auf  den  Satz  sich  gründen,  daß  das 
Ganze  gegeben  sei  (le  tout  est  donne),  d.  h.  weil  beide 
mit  dem  Begriff  der  eindeutigen  Determiniertheit  alles 
Geschehens  arbeiten,  mag  diese  Determiniertheit  das  eine 
Mal  zwischen  Teil  und  Teil,  das  andere  Mal,  beim  Vitalen, 
zwischen  Ganzem  und  Teil  bestehen.  Auch  meine  Ente- 
lechie  hat  ja  festes  Wesen  und  determiniert  aus  ihm 
heraus.  Bergson  ist  aber  von  seiner  Phänomenologie  aus 
zur  Annahme  echter  Freiheit  (liberte)  im  Sinne  völliger 
Unbestimmtheit,  zunächst  für  den  handelnden  Men- 
schen, geführt  worden  und  überträgt  diesen  Begriff  auf  das 
Werden  der  organischen  Natur  als  eines  Ganzen,  also  auf 
die  Phylogenie.  Er  redet  biologisch  eigentlich  nur  von  ihr, 
obschon  er  manches  aus  der  Literatur  über  experimentelle 
Embryologie  kennt. 

Nennen  wir  den  tiefsten  Grund  des  großen  Lebens- 
stromes, der  sich  in  der  Generationenfolge  offenbart,  Gott, 
so  gilt  ihm  der  Satz  Dieu  se  faxt,  Gott  macht  sich, 
d.  h.  er  hat  gar  kein  festes  ,, Wesen"  (essentia),  aus  dem 
heraus  etwas  folgen  könne,  wie  etwa  aus  der  Substantia 
des  Spinoza  alles  folgt,  sondern,  um  es  paradox  aus- 
zudrücken, er  „wird"  sein  Wesen.  In  nichts  also  ist 
ein  künftiger  Schritt  der  Phylogenese  vorherbestimmt, 
weder  in  Innerem  noch  in  Äußerem.     Der  Elan  vital  ist 


1)  Essai  sur  les  donnees  immediates  de  la  conscience;  deutsch 
„Zeit  und  Freiheit". 

2)  Matiere  et  memoire. 

12* 


180  IV.  Der  „Neovitalismus". 

freies  in  Gestaltung  und  in  Wissensform  sich  äußern- 
des reines  Werden. 

Die  unbelebte  Welt  ist  Abfall  von  der  belebten: 
„Dieu  se  defait" ;  alsdann  gilt  der  zweite  Hauptsatz  der 
Thermodynamik . 

In  mehrere  Sonderströme  geteilt  hat  sich  der  große 
vom  Elan  vital  beherrschte  freie  Lebens  wer  destr  om :  die 
Formen  im  Bette  des  einen  Sonderstromes  sind  durch 
Torpeur,  die  im  Bette  des  zweiten  durch  Instinkt,  die 
in  dem  des  dritten  durch  Intelligenz  gekennzeichnet. 
Praktisch  handelt  es  sich  um  die  niederen  Tierkreise,  die 
Arthropoden  und  die  Wirbeltiere.  Und  schon  vorher 
gabelte  sich  der  Lebensstrom  im  Großen,  als  es  zur  Schei- 
dung in  Tiere  und  Pflanzen  kam.  Instinkt  und  Intelligenz 
stehen  also  koordiniert  nebeneinander,  nicht  ist  der  erste 
gleichsam  versteinerter  Abfall  der  zweiten.  Und  dem 
Range  nach  ist  sogar  der  Instinkt  das  höhere,  denn 
Intuition,  auf  der  er  ruht,  ist  höher  als  diskursives  Denken 
und  ist  ja  in  seltenen  Augenblicken  auch  noch  dem  Men- 
schen eigen,  der  sich  freilich  meist  mit  den  Kantischen 
Kategorien  bei  seinem  Wissenserwerb  abplagen  und  be- 
gnügen muß,  jenen  Begriffen,  die  gar  nicht  für  die  Er- 
kenntnis der  absoluten  Wirklichkeit,  sondern  nur  zum 
.  Sichzurechtfinden  in  der  Welt  der  groben  empirischen 
Dinge  taugen.  Homo  faber,  nicht  homo  sapiens  sollte  der 
Mensch  heißen;  als  Platoniker,  d.  h.  als  Begriffswesen 
sind  wir  geboren ;  das  ist  kein  Vorteil,  sondern  ein  Nachteil, 
denn  mit  unseren  Kategorien  verfälschen  wir  fortwährend 
die  echte,  reine  Wirklichkeit. 


b)  Mein  eigenes  System. 

In  dem  Ausbau  eines  vollständigen  vitalistischen 
Systems  bestand  meine  eigene  Arbeit  in  Sachen  der 
Lehre  von  der  Autonomie  des  Lebendigen  während  des 
ersten  Dezenniums  des  neuen  Jahrhunderts. 


B.  Vitalistische  Systeme.  181 

In  der  Schrift  „Die  organischen  Regulationen"  unter- 
suchte ich  im  Jahre  1901  alle  Gebiete  der  Physiologie  und 
Morphogenese  der  Pflanzen  und  Tiere  auf  in  ihnen  etwa 
vorhandene  autonome,  mechanistisch  unauflösbare  Züge. 
Das  Ergebnis  war  ein  „zweiter  Beweis"  des  Vitalismus, 
gegründet  auf  die  Genese  von  mir  so  genannter  „komplex- 
äquipotentieller"  Systeme,  welche  zur  Tatsache  der  Ver- 
erbung der  Beziehung  stehen, -und  eine  Fülle  von  „In- 
dizien", also  nicht  geradezu  Beweisen,  für  die  Lebens- 
autonomie, vornehmlich  der  Lehre  von  den  Anpassungen 
entnommen. 

Im  Jahre  1903  folgte  die  Schrift  „Die  ,Seele(  als 
elementarer  Naturfaktor"1).  Hier  wurden  alle  tierischen 
Bewegungen  analytisch  durchforscht.  Die  Analyse  der 
Instinkte  lieferte  ein  Indizium,  die  der  menschlichen 
Handlung,  rein  als  Naturphänomen,  also  unter  Ab- 
sehen von  der  „psycho-physischen"  Natur  des  Menschen, 
betrachtet,  einen  neuen,  den  „dritten"  vitalistischen  Be- 
weis. Die  Anführungszeichen,  zwischen  denen  das  Wort 
„Seele"  im  Titel  steht,  sollen  andeuten,  daß  nicht  sie  selbst 
—  (das  wäre  logisch  unzulässig)  — ,  sondern  daß  ein 
,, Naturkorrelat"  ihrer,  das  ,,Psychoid"  genannt  wurde,  das 
autonome,  bei  Handlungen  in  Frage  kommende  Naturagens 
ist.  Als  Nebenresultat  ergab  sich  die  Unmöglichkeit  des 
üblichen  psycho-physischen  Parallelrsmus,  der  ja  stets  als 
psychomechanischer  Parallelismus  gefaßt  war.  Es  be- 
steht eben  die  lückenlos  „mechanische"  Seite  der  angeb- 
lichen Parallelität   überhaupt   gar  nicht  in  Wirklichkeit. 

1904  folgte  in  der  Schrift  „Naturbegriffe  und  Natur- 
urteile" die  Auseinandersetzung  mit  den  Wissenschaften 
vom  unbelebten  Geschehen.  Wie  kann  denn  ein  Ein- 
greifen eines  nicht-materiellen  Faktors,  den  ich  schon  1899 
Entelechie  genannt  hatte  —  (wie  ich  wohl  wußte,  nicht 


x)  Vergriffen;  wird  nicht  neu  aufgelegt,  da  der  wesentliche 
Inhalt  in   die   Philosophie  des  Organischen  übernommen   wurde. 


Ig2  IV.  Der  „Neovitalismus". 

ganz  im  Sinn  des  Aristoteles)  — ,  in  das  Getriebe  der 
Materie  gedacht  werden  ?  Eingehend  wurde  hier  die  sog. 
Energetik  Ostwalds  analysiert  und  kritisiert.  Das  war 
das  Beste  in  der  Schrift.  In  bezug  auf  die  Hauptfrage 
blieb  alles  noch  sehr  im  vorläufigen.  Das  einzige  bedeut- 
same Ergebnis  war  die  Einsicht,  daß  die  Entelechie  es 
offenbar  mit  dem  zu  tun  habe,  was  energetisch  als 
„Intensitätsdifferenzen"  bezeichnet  wird.  Mit  der  mecha- 
nischen Physik,  also  mit  einer  sog.  Materientheorie,  setzte 
ich  mich  nicht  auseinander,  da  ich  in  jenen  Jahren  un- 
berechtigterweise glaubte,  das  Streben  nach  einer  ein- 
heitlichen Materientheorie,  sei  sie  newtonisch,  elektro- 
dynamisch  oder  wie  sonst  gefaßt,   ablehnen  zu  müssen. 

Die  erste  Auflage  dieses  Buches  erschien  1905;  es 
enthielt,  als  zweiten  Hauptteil,  zum  ersten  Male  ein 
System  des  Vitalismus  im  Ganzen ;  natürlich  nur  so  weit, 
wie  mir  der  Ausbau  eines  solchen  bis  dahin  gelungen  war. 
Da  fehlte  denn  doch  noch  recht  Wesentliches. 

Im  Jahre  1906  berief  mich  die  schottische  Universität 
Aberdeen  zum  ,, Gifford  Lecturer"  für  die  Jahre  1907/08. 
Als  Vortragsgegenstand  wählte  ich  das  Thema  The  Science 
and  Philosophy  of  the  Organism.  Die  Vorträge  erschienen, 
erheblich  erweitert,  im  Jahre  1908  in  einem  zweibändigen 
gleichbetitelten  Werke  auf  englisch  im  Druck  und  wurden 
1909  als  Philosophie  des  Organischen,  mit  unerheblichen 
Änderungen,  deutsch  herausgegeben. 

Hier  war  nun  ein  vollständiges  System  des  Vitalismus, 
das  freilich  (zum  Glück)  noch  ausbaufähig  war,  aber  doch 
seinen  Grundzügen  nach  von  mir  noch  heute  anerkannt 
werden  kann.  Zuerst  kommt  in  breiter  Darstellung  die 
Lehre  von  den  Indizien  und  Beweisen.  Es  folgt  die 
Lehre  von  der  „Indirekten  Rechtfertigung  der  Ente- 
lechie": Mit  Energetik  und  Mechanik  wird  der 
Entelechiebegriff  konfrontiert,  und  es  wird*  eine  Möglich- 
keit erdacht,  wie  das  vitale  Agens,  ohne  den  Satz  von  der 
Erhaltung  der  Energie  zu  verletzen,  lenkend  in  das  Ma- 


C.  Gegner.  183 

teriengetriebe  eingreifen  kann:  Entelechie  „ suspendiert" 
als  ,, möglich"  materiell  vorgebildetes  Geschehen  und  hebt 
regulativ  ihre  Suspension  auf.  Die  „Direkte  Recht- 
fertigung der  Entelechie"  bringt  die  Logik  des  Vita- 
lismus: eine  neue  „Kategorie"  im  Sinne  Kants:  Indivi- 
dualität wird  eingeführt  und  mit  dem  Kausalitätsbegriff 
zum  Begriff  der  vitalen  Kausalität  verschmolzen.  Aber 
wirklich  logisch  legitimiert  wird  die  neue  Kategorie 
doch  noch  nicht,  und  das  ist  der  Hauptmangel  der  ersten 
Auflage  meines  großen  Werks.  Sie  wird  nur  gesetzt, 
weil  sie  in  allen  biologischen  Aussagen  eigentlich  schon 
darinstecke,  wird  also,  meinetwegen,  „transzendental  dedu- 
ziert" in  der  Redeweise  Kants,  und  es  wird  gesagt,  daß 
psychologisch  ihr  Besitz  garantiert  sei.  Auch  den  stark 
von  Kant  beeinflußten  subjekti vierenden  Standpunkt 
der  Kategorienfrage  gegenüber  teile  ich  heute  nicht  mehr. 
Doch  soll  vom  weiteren  Ausbau  meines  Systems  erst 
später  geredet  werden,  und  so  sage  ich  denn  hier  nur  noch, 
daß  erstens  den  Überpersönlichkeitsproblemen,  der 
Phylogenie  und  der  Geschichte,  kurze,  naturgemäß  im 
Hypothetischen  bleibende  Betrachtungen  gewidmet  wur- 
den, und  daß  zweitens  das  Werk  mit  metaphysischen  Aus- 
blicken, sehr  im  Gegensatz  zu  meinen  früheren,  rein 
„immanenten"  Werken,  abschloß. 


C.  Gegner. 

a)  Philosophen. 

Unter  den  Gegnern  des  neuesten  Vitalismus  stehen 
an  erster  Stelle  die  Philosophen  der  neukantiani- 
schen Richtung  aller  Schattierungen.  Mit  ihm  gehen 
dagegen  die  Phänomenologen,  zumal  Sc  he  ler,  und  die 
meisten  Psychologen  der  neuesten,  vornehmlich  an  die 
Namen  Marbe  und  Külpe  sich  knüpfenden  Schule. 

Die  Marburger  Kantianer  sehen  den  Allmechanismus 
der  Natur  als  so  selbstverständlich  an,  daß  sie  meist  der 

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Ä\4rAes 


184  IV.  Der  „fteovitalismus". 

vitalistischen  Biologie  gar  nicht  viele  Worte  widmen. 
InCassirers  „ Substanz-  und  Funktionsbegriff"  geschieht 
seiner  z.  B.  gar  keine  Erwähnung;  Weismanns  Keim- 
plasmatheorie  wird  von  ihm  an  anderer  Stelle  noch  lange  nach 
ihrer  Widerlegung  als  letztes  Wort  der  Biologie  ausgegeben. 
Cohen  nannte,  obwohl  er  eine  Kategorie  „Incuvidualität" 
kennt,  den  Vitalismus  einmal  einen  ,, Kulturfehler'',  sagt 
aber  nicht,  warum.  Ob  er  ihn  überhaupt  intimer  gekannt 
hat,  ist  mir  sehr  fraglich.  Nicolai  Hartmann  hat  den 
,, Philosophischen  Grundlagen  der  Biologie"  ein  besonderes 
kleines  Werk  gewidmet;  er  würdigt  die  ,,rein  methodische 
Seite"  meines  Entelechiebegriffes,  identifiziert  ihn  aber 
dann  doch  wieder,  meinen  Absichten  entgegen,  mit  der 
„Totalität  der  Bedingungen  im  Sinne  Kants",  so  daß 
Entelechie  nur  eine  Vorläufigkeit,  ein  kurzer  Ausdruck  für 
etwas  noch  nicht  Aufgelöstes  wäre.  Der  Begriff  der 
Teleologie  wird  von  N.  Hartmann  gewürdigt;  im  all- 
gemeinen darf  man  wohl  sagen,  daß  dieser  Denker  im 
Jahre  1912,  dem  Jahre  der  Abfassung  seines  Buches,  auf 
ganz  dem  nämlichen  schwankenden  Boden  stand  wie  die 
,, Kritik  der  Urteilskraft"  des  Meisters,  so  daß  er  also  durch 
dieselbe  Art  von  Kritik  getroffen  wird  wie  dieses  Werk. 
Von  den  ,, Südwestdeutschen"  hat  Kroner  1913  eine 
Schrift ,, Zweck  und  Gesetz  in  der  Biologie"  herausgegeben. 
Seine  Kritik  ist  derjenigen  N.  Hartmanns  ähnlich. 
Scharf  wird  betont,  daß  die  Entscheidung  in  Sachen  des 
Vitalismus  nicht  bei  der  Erfahrung,  sondern  bei  der  Logik 
zu  suchen  sei,  ein  unseres  Erachtens  verfehlter  Standpunkt, 
abgesehen  übrigens  davon,  daß  sich,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  allerdings  auch  zeigen  läßt,  daß  vitale  Kausalität 
einer  der  vier  apriori  „möglichen"  Formen  aller  Natur- 
kausalität entspricht;  eine  von  mir  1912  veröffentlichte 
Darlegung,  welche  Kroner  offenbar  nicht  gekannt  hat. 
Auch  faßt  er,  meinen  ausdrücklichen  Absichten  und  Aus- 
sagen entgegen,  meinen  Vitalismus  ganz  psychologisch. 
Im   großen    und    ganzen    gilt    auch    hier    die    an    Kant 


C.  Gegner.  185 

geübte  Kritik.  Auch  das  jetzige  Haupt  der  Südwest- 
deutschen, Rickert,  hat  sich  jüngst  in  seiner  „Philosophie 
des  Lebens"  (die  freilich  besser  „Erlebnisphilosophie" 
heißen  sollte,  denn  eine  solche  will  er  eigentlich  kritisch 
treffen),  gelegentlich  über  den  Vitalismus  geäußert.  Es 
heißt  da  einmal  (S.  37):  „Das  Lebendige  muß  auch  so 
dargestellt  werden,  daß  es  in  einen  verständlichen  Zu- 
sammenhang mit  der  , Materie'  kommt,  die  nicht  organisch 
ist  und  insofern  tot  genannt  werden  kann."  Das  wollen 
wir  ja  auch!  Aber  dann  wird  doch  gleich  darauf  die 
Forderung  aufgestellt,  die  Biologie  dürfe  nicht  anti- 
mechanisch  gedacht  werden,  alles  Organische  müsse  „unter 
physikalische  oder  chemische  Begriffe  gebracht  werden", 
und  zwar  obschon  „selbstverständlich  der  Organismus 
kein  Mechanismus  ist".  Ich  verstehe  nicht  den  inneren 
Zusammenhang  dieser  Sätze. 

Der  konsequenteste,  zugleich  auch  biologisch  am 
besten  geschulte  philosophische  Gegner  des  Vitalismus  ist 
Julius  Schultz;  oder  vielmehr,  er  ist  gar  kein  eigent- 
licher „Gegner",  er  steht  im  großen  und  ganzen  auf  dem 
Vaihingerschen  Standpunkt  einer  „Als-ob"-Philosophie, 
sieht  im  Mechanismus  und  Vitalismus  zwei  berechtigte 
„Fiktionen"  zur  Verständlichmachung  der  eigentlich  ge- 
gebenen Naturphänomene  und  entscheidet  sich  nun  frei- 
lich zugunsten  des  Mechanismus. 

Schultz1)  ist  Mechanist  und  Teleologe,  ähnlich  wie 
Leibniz.  Die  Welt  ist  ihm  die  eine  den  Geist  aus- 
drückende Maschine;  er  vertritt,  wenn  ich  in  meiner 
eigenen  Terminologie  sprechen  darf,  einen  „raumhaften 
Ordnungsmonismus",  den  man  auch  spinozistischen  Mo- 
nismus nennen  könnte:  es  gibt  am  (unbekannten)  Wirk- 
lichen nichts,  daß   sich  nicht  auch  in  mechanischer  Zu- 


x)  Die  Maschinentheorie  des  Lebens,  1909.  Die  Philos.  d. 
Organischen  im  Jahrb.  d.  Phil.  I,  1913.  Die  Fiktion  vom  Uni- 
versum als  Maschine  und  die  Korrelation  des  Geschehens  in 
Annal.  d.  Phil.  1920.  Die  Grundfiktionen  der  Biologie,  1920  u.  a.  m. 


186  IV.  Der  „Neovitalismus". 

ständlichkeit  oder  mechanischem  Geschehen  erscheinungs- 
haft  Ausdruck  gäbe.  Alle  Paradoxien  des  Ordnungs- 
monismus1) nimmt  J.  Schultz  mit  in  den  Kauf,  auch 
die,  daß  bei  seiner  Allmaschinentheorie  z.  B.  in  dem  Falle, 
wo  die  beiden  ersten  Furchungszellen  eines  Keimes,  nach 
Zertrennung,  je  ein  Ganzes  statt  zusammen  ein  Ganzes 
liefern,  offenbar  eine  Harmonie  des  Weltbaues  mit  Rück- 
sicht auf  gerade  dieses  Ei  und  gerade  diesen  Experi- 
mentator, der  doch  auch  zur  „Welt"  gehört,  angenommen 
werden  muß. 

Wer  eine  Weltenmaschine  annimmt,  steht  eigen thch 
jenseits  des  Gegensatzes  von  Mechanismus  und  Vitalis- 
mus, denn  die  Welt  als  ein  Ganzes  fassen,  in  dem  jene 
Einzelheit  gerade  ihren  Platz  hat,  das  ist  kein  „Mecha- 
nismus" im  Newton  sehen  Sinne.  Nicht  ganz  zu  verstehen 
ist  es  daher,  daß  Schultz  meinen  Vitalismus  als  autonome 
Gesetzeslehre  durch  Ersinnung  eines  mechanischen  Ge- 
setzesschemas für  Embryologie  und  Restitutionen  be- 
kämpfte2). Er  fällt  hier  aus  der  Rolle,  denn  „Gesetze" 
für  selbständige  „Fälle"  darf  es  für  den  Allmaschinen- 
theoretiker eigentlich  nicht  geben.  Daß  nun  sein,  auf  den 
Verwornschen  Biogenbegriff  gegründetes  Gesetzesschema 
die  meinen  „Beweisen"  zugrunde  hegenden  Tatsachen 
irgendwie  erklärt,  kann  ich  nicht  zugeben :  Man  kann  sich 
eine  Lokomotive  aus  lauter  kleinen  Lokomotiven  erbaut 
denken.  Hat  man  nun  aber  die  kleinen  Lokomotiven  alle 
als  Summe  nebeneinander,  so  wird  ohne  ein  auf  die 
eine  Übermaschine  ausdrücklich  gerichtetes  ordnendes 
Prinzip  oder  eine  auf  ihre  Gestaltung  eingestellte  gegebene 
mechanische  Tektonik  nie  die  eine  endgültige  Überma- 
schine, die  große  Lokomotive,  Zustandekommen!  Die  „.ge- 
gebene mechanische  Tektonik' '  scheidet  aber  als  Möglichkeit 
aus,   wenn   man  der  ursprünglichen  Summe  von  kleinen 

!)  Vgl.  meine  Wirklichkeitslehre  (1917),  S.  250ff.,  254. 
Phil.  d.  Organ.  (2.  Aufl.   1921)  S.  595. 
2)  Maschinentheorie,   S.  63 ff.,   143 ff. 


C.  Gegner.  187 

Lokomotiven  b  eliebig  viele  Lokomotivchen  nehmen  kann, 
ohne  dadurch  zu  verhindern,  daß  eine  große  Lokomotive 
entsteht. 

Folgerichtig  vertritt  Schultz  auch  den  psycho- 
mechanischen  Parallelismus ;  er  arbeitet  hier  aber  mit  einer 
atomistischen  Psychologie,  welche  die  wirklich  vorhan- 
denen, in  ihrer  Art  sehr  mannigfaltigen,  psychischen,  ele- 
mentaren Irreduzibilitäten  gar  nicht  berücksichtigt.  Und 
die  sollen  doch  in  ihrer  geordneten  Abfolge  erklärt  werden. 

b)  Naturforscher. 
a)  Radikale  Gegner. 
Rein  naturwissenschaftliche  Gegner  der  vita- 
listischen  Lehre,  ja  sogar  auch  einer  als  wesentlich  an- 
gesehener Teleologe  überhaupt,  waren  eine  lange  Reihe 
von  Jahren  hindurch  beinahe  alle  ,, offiziellen"  Zoologen, 
und  ich  könnte  eine  lange  Reihe  von  Namen  hier  hersetzen, 
wollte  ich  vollständig  sein.  Doch  kann  uns  an  gelegent- 
lichen Glaubensbekenntnissen  zur  mechanistischen  Ortho- 
doxie hier  nichts  Hegen.  Anders  steht  es  natürlich  mit 
solchen  Biologen,  die  in  der  Bekämpfung  des  Vitalismus 
ihre  ganz  ausdrückliche  besondere  Aufgabe  gesehen  haben. 
Ich  greife  unter  diesen  die  drei  bedeutendsten  heraus: 
Bütschli,  Klebs  und  Zur  Strassen,  und  ich  wähle 
auch  noch  deshalb  ganz  besonders  diese  drei  Männer, 
weil  gerade  sie,  trotz  allem  Festhalten  am  Mechanismus, 
nicht  eigentliche  Dogmatiker  gewesen  sind.  Mit  den 
Worten:  ,,An  ihren  Früchten  sollt  ihr  sie  erkennen" 
beschließt  z.  B.  Bütschli  seine  Darstellung  der  mecha- 
nistischen und  der  vitalistischen  Lehre,  und  bei  Klebs 
und  Zur  Strassen  gibt  es  ähnliche  Stellen.  Verworn 
und  andere  sind  viel  weniger  scharf  und  klar  und  in  viel 
höherem  Grade  dogmatisch.  Jensens  Erörterungen  sind 
gar  zu  allgemein  gehalten1). 

x)  Organische  Zweckmäßigkeit,  1907.  Hierzu  meine  Er- 
örterung in  Arch.  Entw.  Mech.  XXV,  1908,  S.  418. 


188  IV.  Der  „Neovitalismus". 

Die  drei  Genannten  halten  den  Vitalismus  für  un- 
nötig, weil  er  trotz  der  Aussagen  seiner  Vertreter,  und 
insonderheit  meiner,  nicht  bewiesen  sei.  Bütschli1) 
meint,  es  gebe  schon  im  Unbelebten  ,,harmonisch-äqui- 
potentielle  Systeme"2),  ein  sich  zur  Kugel  rundender 
Tropfen  sei  z.  B.  ein  solches.  Er  übersieht  hier  und  sonst, 
wie  ich  eingehend  zeigte3),  daß  „typisch  geordnete  spezi- 
fische Ungleichheit  der  Elemente  das  Kennzeichen  der 
Organismen  ist".  Zur  Strassen4)  meint  gewisse,  ganz 
einfache  Fälle  von  harmonischer  Äquipotentialität  (und 
von  tierischen  Bewegungen5)  mechanisch  auflösen  zu 
können.  Ich6)  habe  ihm  erwidert,  daß  algebraische 
Gleichungen  bis  zum  vierten  Grade  auflösbar  sind,  aber 
bei  höherem  Grade  in  allgemeiner  Weise  nicht.  Klebs7) 
hat  weniger  polemisiert,  als  vielmehr  in  mechanistischem 
Geiste  selbständig  geforscht ;  er  hat  die  große  Modifizierbar- 
keit der  pflanzlichen  Gestaltungen  in  reichstem  Maße  nach- 
gewiesen; sehr  bedeutsam  sind  seine  Begriffe  der  „äußeren 
Bedingungen' ' ,  der,  ,inneren  Bedingungen" ,  der ,  spezifischen 
Struktur",  obschon  es  bezüglich  der  letzteren  ja  gerade  in 
Frage  steht,  ob  sie  als  „Struktur"  gedacht  werden  kann. 
Aber  meine  zum  Vitalismus  führenden  besonderen  Ar- 
gumentationen hat  Klebs  an  keiner  Stelle  getroffen8). 

Ich  erwähne  an  dieser  Stelle  endlich  noch  die  Angriffe 
Schaxels9),   der  freilich  immerhin   dem   Vitalismus   als 


2)  Mechan.  und  Vital.    1901. 

2)  Siehe  oben:    S.  175. 

3)  Biol.  Zentralbl.  22,   1902,  S.  441. 

4)  Zoologica  Nr.  40,   1906. 

5)  Die  neuere  Tierpsych.   1908. 

6)  Arch.   f.   Entwicklungsmech.   25,   S.  415,  und  Ergebn.    d. 
Anat.  u.  Entwicklungsgesch.   17,  1909,  S.  99. 

7)  Willkürl.    Entwicklungsänderungen    bei    Pflanzen,    1903; 
ferner  Biolog.  Zentralblatt  24,   1904;  32,   1912;  37,   1917. 

8)  Driesch,  Biol.  Zentr.  23,  1903,  S.  736,  und  39,  1919,  S.  452. 

9)  Die  Leistungen  der  Zellen  bei  der  Entwicklung  der  Meta- 
zoen,    1915. 


C.  Gegner.  189 

einem  logisch  in  sich  geschlossenen  Gebilde  volle  Würdi- 
gung zuteil  werden  läßt1).  Er  glaubt  gelegentlich,  geradezu 
meine  Beobachtungen  widerlegen  zu  können;  ich  konnte 
aber  zeigen2),  daß  er  in  bezug  auf  das,  worauf  es  ankommt, 
harmonische  Äquipotentialität,  überall  dasselbe  gefunden 
hat  wie  ich  selbst.  Neuerdings3)  hat  er  das  Vorkommen 
jeder  Art  von  echter  Restitution  bestritten;  er  hat  aber 
selbst  in  vollstem  Maße  solche  gefunden;  daß  etwa  ein 
Fußregenerat  von  einem  normalen  Fuße  ein  klein  wenig 
abweicht,  tut  hier  doch  nichts  zur  Sache.  Es  ist  doch 
immerhin  ein  „Fuß"  und  nicht  irgend  etwas  Beliebiges 
gebildet,  und  zwar  eben  „wieder"  gebildet  worden. 

Die  naturwissenschaftlichen  Gegner  des  Vitalismus, 
welche  wir  bis  jetzt  betrachtet  haben,  sind  nicht  nur  seine 
Gegner,  sondern  lehnen  zugleich  eine  tiefere  Bedeutung 
der  Zweckmäßigkeit  überhaupt  ab.  Sie  sind  darwinistische 
Zuchtwahltheoretiker. 


ß)  Gegner  mit  Zugeständnissen,  zum  mindesten  an  eine 
Bedeutung  des  Teleologischen. 

Wir  gehen  nun  kurz  auf  einige  Forscher  ein,  welche, 
schon  allein  der  Terminologie  ihrer  Lehren  wegen,  auf  den 
ersten  Anblick  den  Eindruck  erwecken,  als  seien  sie  des 
Vitalismus  Freunde;  freilich  nur  auf  den  ersten  Anblick; 
denn  bei  tiefer,  dringender  Betrachtung  zeigt  sich,  daß  das 
Wort  „Mneme"  bei  Semon  (1904),  das  Wort  „Centro- 
epigenese"  bei  Rignano  (1906)  nur  kurze  Ausdrücke  für 
einen  verwickelten,  aber  doch  mechanischen  Sach- 
verhalt bedeuten  sollen.  Die  genannten  Denker,  zugleich 
Vorkämpfer  der  Lehre  von  der  sog.  „Vererbung  erworbener 
Eigenschaften"  und  (aber  nicht-psychistische)  „Lamark- 
kianer",  sind  also  durchaus  nicht  Vitalisten,  sehen  aber 


x)  Grundzüge  d.  Theorienbildung  in  d.  Biol.   1919. 

2)  Biol.  Zentr.  35,  1915,  S.  545,  und  36,  1916,  S.  472. 

3)  Untersuchungen  über  die  Formbildung  I,   1921. 


190  IV-  Der  „Neovitalismus". 

immerhin,  freilich  ohne  das  weiter  auszuführen,  im 
Leben  etwas  Weltwesentliches,  etwas,  das  von 
Urbeginn  statisch  in  der  Materienkonstellation  garan- 
tiert war. 

Tiefer  ihres  philosophischen  Standpunktes  bewußt  ist 
sich  eine  Gruppe  britischer  Biologen.  Ich  nenne  an  erster 
Stelle  den  ausgezeichneten  Instinktforscher  Lloyd  Mor- 
gan1) und  D'Arcy  W.  Thompson2),  der,  ebenso  wie 
Bütschli,  Rhumbler,  Dreyer  und  andere,  das  große 
Verdienst  hat,  biologische  Formprobleme  auf  scharfe 
mathematische  Ausdrücke  gebracht  zu  haben.  Lloyd 
Morgan  spricht  für  das  Organische  von  ,, Specific  modes 
of  synthesis"  „We  must  be  prepared  to  regard  the  Con- 
stitution of  nature  as  the  ground  of  new  and  unforeseeable 
synthesis".  Cause  und  Source  werden  scharf  geschieden, 
und  gegen  meine  Entelechie  ,,as  ground"  hat  er  nichts  ein- 
zuwenden; freilich  nur  wenn  mein  Wort  ,,the  inherited 
Constitution  under  another  name"  bezeichnen  solle,  was 
allerdings  durchaus  nicht  in  meinem  Sinne  ist.  Thomp- 
son ist  dem  eigentlichen  Vitalismus  wohl  weniger  ab- 
geneigt3); aus  forschungstechnischen  Gründen,  wie  man 
sagen  könnte,  wählt  er  sich  solche  Untersuchungsgegen- 
stände, ,,to  which  the  ordinary  laws  of  the  physical  forces 
more  or  less  obviously  and  clearly  and  indubitably  apply". 
J.  S.  Haidane4)  dürfte  ebenfalls  hier  seinen  richtigen 
Platz  finden.  Er  nimmt  meinen  ,, zweiten  Beweis"  (S.  181) 
des  Vitalismus  an,  hat  sogar  nichts  gegen  eine  Verletzung  des 
Satzes  von  der  Energieerhaltung  durch  das  Leben  ein- 
zuwenden, neigt  aber  gelegentlich  doch  auch  wieder  einer 
Lehre  zu,  welche  die  Welt  als  die  eine  Allmaschine,  etwa 
im  Sinne  des  Leibniz,  auffaßt. 


*)  Theoretisches  zumal  in  Instinct  and  Experience,   1912. 

2)  Growth  and  Form,   1917. 

3)  loc.  cit.   S.  14. 

4)  Mechanism,  Life  and  Personality,   1913. 


;C.  Gegner.  191 

Der  Amerikaner  L.  J.  Henderson  lehrt  die  Theorie 
von  der  Allmaschine  rückhaltlos  und  bewußt.  Er  hat  1913 
unter  dem  Titel  ,,The  fitness  of  the  environment"  ein 
höchst  geistvolles,  mit  dem  Namen  „Die  Umwelt  des 
Lebens"  ins  Deutsche  übersetztes  Werk  verfaßt,  dessen 
Inhalt  man  einen  umgekehrten  Darwinismus  nennen 
könnte,  und  das  für  die  Frage  nach  einer  Teleologie  der 
unbelebten  Welt  von  hoher  Bedeutung  ist.  Sein  Buch 
„The  order  of  nature"  (1917)  zeigt,  ihn  durchaus  als  teleo- 
logischen Statiker,  ja,  er  will  sogar  Aristoteles  für  einen 
solchen  ausgeben. 

Ich  wage  es  endlich,  auch  J.  Loeb,  den  so  ideen- 
reichen und  fruchtbaren  Experimentator,  in  dieser  Gruppe 
von  Denkern  und  nicht  bei  den  radikalen  Leugnern  einer 
Sonderbedeutung  des  Lebens,  sei  es  auch  nur  im  statischen 
Sinne,  unterzubringen.  Loebs  ältere  Werke  würden  das 
freilich  nicht  rechtfertigen,  aber  sein  1916  erschienenes 
Buch  The  organism  as  a  whole  kann  doch  wohl  dem  Begriff 
statischer  Sonderganzheit,  als  einer  für  das  Leben  urkenn- 
zeichnenden Angelegenheit,  zugeordnet  werden1). 

Einige  Physiker  sind  es  nun  noch,  welche,  und  zwar 
an  ebenfalls  dieser  Stelle,  genannt  werden  müssen.  Ich 
denke  hier  weniger  an  Arrhenius,  der  bekanntlich  das 
Leben  auf  Grund  der  Konstellation  der  Materie  ewig  sein 
läßt,  als  an  Auerbach  und  seine  Lehre  vom  Ektropis- 
mus2):  Das  Leben  sei,  im  Gegensatz  zum  anorganischen 
Geschehen,  ,, ein  Kampf  gegen  die  Entwertung  der  Energie". 
Ganz  neu  ist  dieser  Gedanke  nicht.     Schon  Helmholtz 


x)  W.  E.  Ritter' s  Werk  „The  Unity  of  the  Organism,  or  the 
Organismal  Conception  of  Life",  2  Vols.  1919  f.  ist  mir  leider  nicht 
im  Original  bekannt  geworden.  Einer  Besprechung  von  Jennings 
(Phil.  Review  30,  1921)  entnehme  ich,  daß  es  sich  um  eine  Lebens - 
stofftheorie  in  der  Art  von  Reil  und  K.  C.  Schneider  handelt. 
Alles  scheint  sehr  im  Einzelnen  ausgebaut  zu  sein. 

2)  Ektropismus  oder  die  physikalische  Theorie  des  Lebens, 
1910. 


192  IV.  Der  „Neovitalismus". 

hat  erwogen,  ob  eine  Verwandlung  ungeordneter  Be- 
wegung in  andere  Arbeitsformen  „den  feineren  Strukturen 
der  lebenden  organischen  Gewebe  gegenüber  auch  unmög- 
lich sei"1);  und  Preyer  hat  Ähnliches  gedacht.  Da  alles 
nach  Auerbach  auf  gegebener  „Organisation"  beruhen 
soll,  wird  von  ihm  natürlich  'der  eigentliche  Vitalismus 
nicht  etwa  angenommen;  die  einst  von  Maxwell  fingierten 
„Dämonen"  sind  nicht  im  Spiel2). 


D.  Verschiedene  Formen  des  Neovitalismus. 

Wir  verlassen  die  Gegner  nicht  nur  unseres  Systems 
sondern  des  Vitalismus  in  jeder  Form.  Wir  wissen,  daß 
sie  nicht  alle  wegen  ihrer  Gegnerschaft  gegen  diesen,  auch 
Feinde  einer  Lehre  von  der  grundsätzlichen  Weltbedeutung 
des  Lebendigen  sind;  sie  fassen  diese  Bedeutung,  wenn  sie 
sie  annehmen,  aber  statisch,  d.  h.  strukturell  fundiert  auf. 

Jetzt  betrachten  wir,  was  man  die  Erörterung  der 
Lehrmeinungen  der  verschiedenen  Schulen  des  Vitalismus 
im  neuesten  Gewände  nennen  könnte.  Ich  wähle  absicht- 
lich die  Worte  „Formen"  (in  der  Überschrift)  und  „Schulen'4 
und  nicht  das  Wort  „Anhänger".  Denn  dieses  Wort  könnte 
den  Leser  veranlassen,  zu  glauben,  daß  es  sich  um  Freunde 
gerade  meines,  durchaus  gegenständlich,  unpsycho- 
logisch geformten  Vitalismus  handeln  solle;  und  das  ist 
durchaus  nicht  überall  der  Fall. 

Gelegentlich  freundlich  gegenüber  dem  Vitalismus  ge- 
äußert, ohne  jedoch  ein  endgültiges  Wort  zu  sprechen,  hat 
sich  neuerdings  eine  ganze  Reihe  von  Biologen  und  Philo- 
sophen; ich  nenne  nur  Dreyer,  Fischel,  Gemelli, 
Gregoire,  C.  Herbst,  Mackenzie,  T.  H.  Mor- 
gan, Moszkowski,  Schmitz-Dumont,  W.  Stern, 
A.  v.  Tscher mak.     Nicht  immer  ist  ganz  klar,  ob  an 


1)  Ostwalds  Klassiker,  Nr.  124,   S.  130  (Anm.). 

2)  Man  vergleiche  in  diesem  Zusammenhang  auch  W.  Stern, 
Zeitschr.  f.  Phil,  und  phil.  Kritik  121/122,  1903. 


D.  Verschiedene  Formen  des  Neovitalismus.  193 

Teleologie  überhaupt  oder  an  Vitalismus  gedacht  ist. 
Herbst  nannte  die  „Entelechie"  ausdrücklich  einen 
Grenzbegriff,  der  dem  Naturforscher  unzugänglich  sei, 
um  den  er  sich  aber  in  seiner  positiven  Experimental- 
arbeit  nicht  zu  kümmern  brauche. 

0.  Hertwig  ist  wohl  „nur  Teleologe",  aber  nicht 
Vitalist,  und  gehört  daher  nicht  hierher;  den  schon  auf 
S.  190  erwähnten  d'Arcy  W.  Thompson  könnte  ich 
jedoch  auch  hier,  unter  den  Freunden  des  Vitalismus, 
nennen.  Sein  Landsmann  J.  A.  Thomson1)  verdient, 
abgesehen  von  seiner  wohlwollenden  Haltung  dem  Vita- 
lismus gegenüber,  deshalb  besondere  Erwähnung,  weil  er 
der  eigentlichen  Frage  durch  die  Formel ,, Are  there  two 
sciences  of  nature  V  einen  besonders  klaren  und 
scharfen  Ausdruck  gegeben  hat.  Bei  E.  S.  Russell2) 
wird  nicht  ganz  klar,  ob  er  bei  seiner  Gegnerschaft  gegen 
die  Versuche,  die  Biologie  in  Physik  und  Chemie  aufzulösen, 
an  statische  Teleologie  oder  an  echten  Vitalismus  denkt. 
Dasselbe    gilt    von    den    Ausführungen    Neumeisters3). 

Treten  wir  jetzt  an  die  kurze  Erörterung  der  einzelnen 
Formen  des  neuesten  Vitalismus,  von  meiner  eigenen  und 
derjenigen  Bergsons  abgesehen,  heran,  so  nennen  wir  an 
erster  Stelle  die  Vitalenergetiker.  Die  Eigengesetzlich- 
keit ces  Lebendigen  soll  auf  einer  besonderen  ,, Energieart" 
und  ihren  Eigentümlichkeiten  beruhen.  Wilhelm  Ost- 
wald hat  in  diesem  Sinne  von  einer  geistigen  Energie,  die 
er  im  Nervensystem  wirksam  sein  läßt,  geredet;  der 
russische  Psychiater  Bechterew  denkt  ähnlich;  manchen 
anderen  ist  der  Gedanke  auch  offenbar  recht  sympathisch 
und  annehmbar.  Da  einerseits  die  Lehre  von  den  ,, Energie- 
arten" als  von  nicht  weiter  auflösbaren  Naturgrößen  im 


x)  Hibbert   Journal   X,    1911/12;   s.    auch   desselben    Autors 
„The  System  of  animate  nature",  2  Vols,   1920. 

2)  Scientia  Vol.  IX,   1911. 

3)  Betrachtungen  über  das  Wesen  der  Lebenserscheinungen 
1903. 

Driesch,  Vitalismus.    2.  Aufl.  13 


194  IV.  Der  „Neovitalismus". 

Verschwinden  begriffen  ist,  andererseits  aber  das  Zusam- 
menbringen des  vitalen  Problems  mit  dem  rein  quanti- 
tativen Energiebegriff  die  eigentliche  Natur  des  vitalen 
Problems  durchaus  verkennt  —  (wie  in  meiner  „Philo- 
sophie  des  Organischen"  eingehend  dargelegt  worden  ist)  — , 
so  können  wir  die  Vitalenergetiker  schon  wieder  verlassen. 

Als  Lebensstofftheoretiker  bezeichnen  wir  in 
erster  Linie  Karl  Camillo  Schneider,  der  zuerst  im 
Jahre  1903  in  seinem  Buche  Vitalimus,  Elementare  Lebens- 
funktionen und  in  der  Folge  noch  an  vielen  anderen  Orten1) 
seine  Auffassung  vom  Lebendigen  vorgetragen  hat.  Es 
soll  eine  besondere  „lebende  Substanz"  von  bestimmter 
„Zusammensetzung"  geben,  mit  deren  Auftreten  ,,im 
Anorganischen  nicht  vorhandene"  Wirkungsweisen  in  Er- 
scheinung treten  sollen.  Die  lebendige  Substanz  wird  von 
außen  erregt  und  wirkt  dann  in  jedesmal  bestimmter 
Weise  auf  die  unbelebte  Materie,  ohne  sich  selbst  dabei 
zu  verändern.  Das  Leben  ist  also  ,, ein  Prozeß  be- 
sonderer Art,  von  dem  der  Stoffwechsel  uns  nur  gewisser- 
maßen die  Außenseite  zeigt".  Das  „Neue",  das  „Be- 
sondere", was  sich  an  der  lebenden  Substanz  zeigt,  denkt 
Schneider  ganz  ähnlich  wie  Ostwald  als  besondere 
Energieart.  Recht  unbestimmt  ist  die  Ausführung  im 
einzelnen;  einen  eigentlichen  Beweis  der  Unmöglichkeit 
des  Mechanismus  gibt  Schneider  nicht.  Er  will  meinen 
Entelechiebegriff  in  „Kausales  auflösen",  ohne  damit  die 
Lebenseigengesetzlichkeit  zu  beeinträchtigen.  Aus  den 
Lagebeziehungen  der  Zellen  zueinander  sollen  sich  Reize 
ergeben,  welche  auf  das  Zentrosoma,  das  eigentlich  Emp- 
findliche und  Reaktionsbestimmende  wirken.  Das  Wort 
„Zellpsyche"  kommt  gelegentlich  vor. 


x)  Versuch  einer  Begründung  der  Deszendenztheorie,  1908; 
Ursprung  und  Wesen  des  Menschen,  1908;  Vorles.  über  Tier- 
psychol.,  1909;  Grundgesetze  der  Deszendenztheorie,  1910;  Tier- 
psych.  Praktikum,    1912  und  viele  kleine  Aufsätze. 


D.  Verschiedene  Formen  des  Neovitalismus.        t      195 

Schneiders  Theorie  hat  gewisse  Berührungspunkte 
mit  der  oben  auf  S.  94  erörterten  älteren  Lebensstoff - 
theorie  Reils;  sie  darf  natürlich  nicht  mit  den  rein  chemi- 
schen Lebensstoff kategorien  von  Pflüger,  Verworn, 
Loew,  Kattowitz  und  anderen  verwechselt  werden. 
Übrigens  hat  Schneider  in  einem  kleinen  „Vitalismus" 
betitelten  Aufsatze1)  vom  Jahre  1907  seine  Lehre  unseres 
Erachtens  viel  besser  und  klarer  als  in  seinen  Büchern 
geformt;  er  unterscheidet  da  „Entelechie",  als  nicht  ohne 
weiteres  „zweckmäßig"  zu  nennendes  Bild  der  Indivi- 
dualität, von  der  ,, Zweckkraft"  oder  „Finalität",  welche 
die  Formgebilde  einander  anpasse,  und  zu  der  auch  die 
geistigen  Vorgänge  gehören  sollen. 

Die  Schule,  und  zwar  eine  wirkliche  „Schule",  der 
Psychovitalisten,  wurde  von  Pauly  durch  sein  Werk 
Darwinismus  und  Lamarekismus  im  Jahre  1905  eröffnet. 
Pauly  experimentiert  nicht,  untersucht  auch  nicht  ana- 
lytisch vorliegende  Experimentalergebnisse,  sondern  ar- 
beitet phylogenetisch  an  der  Hand  des  vorliegenden 
anatomischen  Materials,  d.  h.  er  fragt:  wie  und  wie  nur 
können  diese  Bildungen  entstanden  sein  ?  Die  Antwort 
aber  lautet  ihm:  Deshalb,  weil  der  Organismus  mit  Rück- 
sicht auf  sein  Anpassungsvermögen,  auf  dessen  Äuße- 
rung alle  phylogenetische  Ausgestaltung  beruhen  soll,  über 
seelisches  Vermögen  und  Kräfte,  insonderheit  über  Urteils- 
vermögen verfügt.  Wir  sehen  hier  den  „Neolamarckismus" 
in  seiner  psychistischen  Form.  Was  der  Organismus  ge- 
staltlich als  angebracht  erkennt,  das  führt  er  aus;  andere 
Gestaltungsgesetze  gibt  es  nicht.  Durch  Ablehnung 
eigener,  nicht  auf  Vererbung  von  zufällig  Erworbenem 
beruhender  Formgesetze  unterscheiden  sich  alle,  die  sich 
Neolamarckianer  nennen,  sehr  von  dem  echten  Lamarck; 
(siehe  oben  S.  89).  Eigentlich  bewiesen  wird  hier  gar  nichts ; 
der    embryologischen    Experimentaluntersuchungen    wird 


*)  Zeitschr.  f.  d.  Ausbau  d.  Entwicklungslehre  I. 

13* 


196  IV.  Der  „Neovitalismus". 

nicht  gedacht.  Unmöglich  aber  ist  die  ganze  Lehre  des- 
halb, weil  G.  Wolffs  Begriff  der  „primären  Zweck- 
mäßigkeit", von  dem  auf*  S.  172  geredet  wurde,  hier  über- 
sehen ist.  Formleistungen,  auch  anormale,  restitutive,  ge- 
schehen wie  Instinktsäußerungen  das  erstemal,  wo  sie 
geschehen,  in  spezifischer  Vollendung,  mag  auch  ihr 
Wiederholtwerden  in  manchen  Fällen  ihren  späteren  Ver- 
lauf rein  zeitlich  beschleunigen.  Von  einer  Analogie  zu 
Seelischem  mag  man  hier  reden ;  ich  habe  es  selbst  getan. 
Aber  ,, unser"  Seelisches,  wie  Pauly  meint,  d.  h.  ein 
Seelisches,  das  auf  Grund  von  Gedächtnis  Erfahrung  er- 
wirbt und  sie  dann  beurteilend  verwertet,  liegt  ganz  sicher- 
lich nicht  vor.  ,, Primäres  Wissen  und  Wollen"  meinet- 
wegen, wenn  man  analogienhaft  reden  will,  aber  kein 
„sekundäres  (erfahrungshaftes)  Wissen  und  Wollen"1). 
Die  ersten  Nachfolger  Paulys  waren  R.  H.  France2) 
und  A.  Wagner3);  beide  arbeiten  aber  exakter  und  ver- 
wenden experimentelles  Material  aus  der  Embryologie  und 
Restitutionslehre . 

Auch  S.  Becher4)  ist  auf  diesem  Boden  Psycho- 
vitalist.  Er  vertritt  einen  mnemischen  Vitalismus, 
arbeitet  mit  den  Begriffen  ,, Gestaltreiz"  und  „ererbtes 
Formresiduum"  und  führt,  in  anderem  Sinne  als  einst 
Noll,  den  Begriff  der  „heterogenen  Induktion"  ein  zur 
Bezeichnung  des  (hypothetischen)  Verhältnisses,  daß 
eine  Formbildung  im  Laufe  der  Generationen  von 
einem  bestimmten  Zeitpunkte  an  auf  einen  anderen 
Anstoß  hin  ins  Dasein  trete  als  ursprünglich.  Dieses 
Verhältnis,  von  E.  Schultz  schon  1910  als  „Reiz- 
ersatz" bezeichnet,  könne  nach  assoziativer  Analogie 
gedacht  werden. 


*)  Philos.  d.  Org.,  2.  Aufl.,  1921,  S.  402.    Ganz  ebenso  schon 
in  der  ersten  Auflage. 

2)  Das   Leben  der  Pflanze,   Kosmos,    1906. 

3)  Der  neue  Kurs  in  der  Biologie,   1907. 

4)  Zool.  Jahrb.,  Allg.  Abt.  31,   1911. 


D.  Verschiedene  Formen  des  Neovitalismus.  197 

S.  Bechers  Bruder,  der  Philosoph  E.  Becher,  hat 
in  seinem  Buche  über  die  ,, fremddienliche  Zweck- 
mäßigkeit der  Pflanzenzellen",  nachdem  er  schon 
vorher  dem  personalen  Psychovitalismus  zuneigte,  im 
Jahre  1917  diesen  wesentlich  vertieft  und  durch  Zulassung 
überpersönlicher  seelischer  Faktoren  in  ähnlicher  Weise 
wie  E.  v.  Hartmann  bedeutsam  erweitert.  Es  wird  sich 
später  zeigen  und  ward  wohl  auch  schon  aus  der  ersten 
Auflage  der  „Philosophie  des  Organischen"  klar, 
daß  ich  in  den  Ergebnissen  durchaus  mit  E.  Becher 
gehen  kann,  wenn  auch  mein  methodischer  Weg  ein 
anderer,  und  zwar  ein  weit  umständlicherer  ist.  Denn  ich 
kann,  solange  Wissenschaft,  d.  h.  Logik  im  weitesten 
Wortsinne  geschrieben  wird,  nicht  zulassen,  daß  „See- 
lisches" im  eigentlichen  Sinne  in  die  Natur  hineinspiele. 
Erst  auf  metaphysischem  Boden  kann  ich  das.  Übrigens 
hat  sich  E.  Becher  von  der  Paulyschen  ziemlich  groben 
Vermenschlichung  der  bei  der  Formbildung  tätigen  „see- 
lischen" Kräfte  in  hohem  Maße  ferngehalten1). 

Die  amerikanischen  Zoologen  Child  und  Holmes 
neigen  wie  Pauly  dazu,  alles  Formbildungsgeschehen  in 
Anpaßungen  und  in  ein  Probieren  aufzulösen,  die  vor- 
züglichen „Trial  and  error"- Untersuchungen  ihres  hervor- 
ragenden Landsmannes  H.  S.  Jennings  über  tierische 
Bewegungen  dabei  verwertend.  Sie  spielen  sehr  bedeutsame 
Dinge  auf  ein  Gebiet  hinüber,  für  das  sie  nicht  passen.  Die 
eigentliche  vitalistische  Frage  steht  bei  ihnen  in  zweiter 
Linie  und  wird  nicht  in  Klarheit  entschieden. 

Nach  Analogie  der  „ Handlung",  ohne  die  falsche 
Auflösung  alles  Formgeschehens  in  Anpassungen  mit- 
zumachen, fast  die  morphogenetischen  Leistungen  auch 
der  russische  Zoologe  Eugen  Schultz  in  seinem  lesens- 


x)  Hierher  auch  Strecker,  Das  Kausalitätsprinzip  in  d. 
Biol.,  1907.  Dazu  meine  Erörterungen  in  Arch.  Entw.  Mech.  25, 
1908,   S.  421. 


198  IV.  Der  „Neovitalismus". 

werten  Buche  „Prinzipien  der  rationellen  vergleichenden 
Embryologie"  (1910)  auf.  Da  er  unter  dem  Worte  „Hand- 
lung" tatsächlich  etwas  versteht,  was  besser  „Instinkt- 
leistung" heißen  sollte,  können  wir  ihm  mehr  als  einem 
der  vorher  Genannten,  mit  Ausnahme  E.  Bechers,  in  der 
Sache  weitgehend  recht  geben. 

M.  Hartog1)  endlich,  auf  den  wir  sogleich  noch  ein- 
mal zu  sprechen  kommen,  vertritt  im  Anschluß  an  den 
auf  S.  164  genannten  S.  Butler  einen  Psychovitalismus. 
Er  definiert  scharf  die  Begriffe  „Maschine",  „Mechanis- 
mus", „Automaton",  „Organismus",  sagt  mit  Recht,  daß 
Butler  dem  Psychovitalismus  eigentlich  schon  alles  vor- 
weggenommen habe,  und  glaubt,  ebenfalls  mit  Recht, 
nicht,  daß  eine  „Mnemelehre",  wie  die  Semons,  auf 
mechanistischem  Boden  überhaupt  möglich  sei:  Sein 
Psychismus  ist  weit  weniger  vermenschlicht  als  der 
Paulys. 

Damit  sei  es  genug  an  „Psychovitalismus".  Gerade 
er  unter  allen  vitalistischen  Formen  fängt  an  „modern" 
zu  werden;  man  findet  ihn  gerade  in  seinen  schwächsten 
Formen  schon  in  den  Tagesblättern. 


E.  Der  Ausbau  des  vitalistisclien  Systems. 

a)  Neue  Tatsachen  zur  Grundlegung. 

Neue  tatsächliche  Stützen  der  Lehre  von  der  Lebens- 
autonomie sind  von  hervorragender  Wichtigkeit.  Nicht, 
als  ob  der  sie  brauchte,  welcher  das  bereits  vorliegende, 
die  sachliche  Grundlegung  des  Vitalismus  ausmachende 
Material  gründlich  durchdacht  hat  und  durch  seine  Wucht 
endgültig  zum  Gegner  des  Mechanismus '  geworden  ist ; 
aber  auf  noch  nicht  gewonnene  Kreise  wirkt  gerade  das 
neue  Tatsächliche. 


2)  Problems  of  Hfe  and  reproduction,  1913. 


E.  Der  Ausbau  des  vitalistischen  Systems.  199 

Viel  gibt  es  da  nun  leider  nicht;  die  lange  Unter- 
brechung ruhiger  Arbeit  durch  den  Krieg  mag  mit  daran 
schuld  sein. 

M.  Hartog1)  sieht  schon  in  der  Zellteilung  ein  Phä- 
nomen, das  mechanischer  Auflösung  spottet.  Eine  polare 
Kraft  sei  am  Werk,  die  sich  keiner  der  bekannten  Kräfte 
der  Physik  zuordnen  läßt.  Tischler  hat  sich  ähnlich  ge- 
äußert,  ebenso  Uexküll. 

Bedeutsam  sind  gewisse  Deutungen  von  Formbil- 
dungstatsachen, die  sich  an  die  Gedankengänge  Nolls, 
deren  wir  auf  S.  178  gedachten,  anschließen.  Der  früh 
verstorbene  Zoologe  Prowazek2)  ist  bei  seinen  Studien 
über  die  Regeneration  der  Algen  zu  der  Überzeugung  ge- 
kommen, daß  hier  von  vorgebildeten  Strukturen  nicht  die 
Rede  sein  könne,  daß  auch  die  Heranziehung  des  Begriffes 
der  Oberflächenenergie  zu  einer  Erklärung  nicht  genügt. 
Er  führt  den  Begriff  einer  „Spezifität  der  Morphe"  als 
etwas  Irreduzibles  ein. 

Der  russische  Zoologe  A.  Gur witsch3)  hat  hier  noch 
tiefer  gedacht.  Neben  die  Determination  einzelner  be- 
stimmter Zellen  zu  bestimmtem  Schicksal  stellt  er  im 
Rahmen  der  Embryologie  den  Prozeß  der  Normierung, 
welche  der  Leistung  der  einzelnen  Zelle  dem  „Zufall" 
überläßt  und  nur  der  Gesamtheit  der  Zellen  einen  Plan 
vorschreibt,  nach  dem  sie  zu  wirken  haben.  Vermöge 
dieses  Planes  empfindet  jede  Zelle,  was  sie  jeweils  zu  tun 
hat.  So  kommt  er  zum  Begriff  der  ,, präformierten  Morphe", 
und  zwar  müsse  sie  als  „dynamisch  präformierte  Morphe" 
gedacht  werden.  Man  sieht  die  Verwandtschaft  mit  Nolls 
„Morphästhesie"  wie  auch  mit  meinem  Entelechiebegriff. 


*)  Arch.  Entw.  Mech.  27,  wo  weitere  Literatur. 

2)  Biol.  Zentralblatt  27,   1907;  Arch.  f.  Protistenkunde  30, 
1913. 

3)  Arch.   Entw.  Mech.   30,    1910;   32,    1911;   39,    1914;   Biol. 
Zentralbl.  32,   1912. 


200  IV.  Der  „Neovitalismus". 

Ungerer  hat  die  „Regulationen  der  Pflanzen" 
(1919)  in  sehr  gründlicher  Weise  unter  dem  Gesichtspunkt 
der  Ganzheit  und  Ganzheitbezogenheit  („Teleologie") 
analytisch  untersucht. 

Seine  Klassifikation  aller  Phänomene  ist  aus- 
gezeichnet, seine  Begriffe  sind  scharf.  Erwähnt  sei  an 
dieser  Stelle  nur,  daß  er  im  Anschluß  an  meine  neuere 
Begriff sschematik  „Regulation"  als  Ganzheitswieder- 
herstellung, „Harmonie"  als  Ganzheitsherstellung 
definiert.  Ich  selbst  hatte  in  der  ersten  Auflage  der 
„Philosophie  des  Organischen"  auf  S.  107 ff.  das  Wort 
„Harmonie"  in  engerem  Sinne  verwendet.  Zur  Frage  des 
eigentlichen  Vitalismus  nimmt  Ungerer  nicht  Stellung. 

In  der  zweiten  Auflage  meines  eben  genannten  Werkes 
habe  ich  (S.  179 f.)  die  Aufmerksamkeit  besonders  auf 
die  bei  pflanzlichen  Adaptationen  und  Restitutionen  in 
Frage  kommenden  histologischen  Vorgänge  gelenkt, 
zumal  auf  die  Potenzen  der  bei  ihnen  in  Frage  kommenden 
sog.  „embryonalen"  oder  durch  Entdifferenzierung  embryo- 
nal werdenden  Zellen;  ich  führte  als  neu  den  Begriff  des 
„adaptiv-histologisch-äquipotentiellen    Systems"    ein. 

b)  Logischer  Ausbau. 

In  der  ersten  Auflage  der  „Philosophie  des  Organischen" 
war  die  logische  Fundierung  des  Begriffes  Entelechie 
noch  unbefriedigend  gewesen1).  In  einer  im  16.  Bande 
der  „Kantstudien"  veröffentlichten  Arbeit  konnte  ich  nun 
zeigen,  daß  man  eine  Kategorie  „Individualität"  oder  auch 
das  Begriffspaar  „Das  Ganze  und  die  Teile"  geradezu 
kantisch  aus  der  „Urteilstafel",  die  sich  allerdings  einer 
kleinen  Reform  unterziehen  muß,  „deduzieren"  kann. 
Wichtiger  noch  war  mir  die  1912  in  der  „Ordnungs- 
lehre"2)  geführte   Ableitung   der    vier    apriori    mög- 


!)   Siehe  oben,   S.  183. 
2)  S.  173ff. 


« 

E.  Der  Ausbau  des  vitalistischen  Systems.  201 

liehen  Formen  der  Kausalität  aus  dem  Begriffe 
„Kausalität"  und  aus  den  letzten  Voraussetzungen  alles 
Wissens  um  Naturdata  überhaupt  heraus.  Zu  diesen 
vier  Kausalitätsformen  gehört  auch  die  vitalistische.  Mehr 
als  diese  vier  Formen  kann  es  nicht  geben.  Später 
habe  ich  in  einer  kleinen  Studie1)  in  ähnlicher  Weise  die 
apriori  möglichen  Formen  von  „Entwicklung"  ab- 
geleitet und  diesen  Begriff  überhaupt  eingehend  unter- 
sucht. In  einer  Fortsetzung  dieser  Studie2)  wurde  diese 
Untersuchung  weitergeführt.  Alle  meine  neueren  Unter- 
suchungen sind  ganz  und  gar  gegenständlich  und  gar 
nicht  mehr  subjektivistisch  gegründet:  der  Begriff  „Teleo- 
logie"  wird  der  Psychologie  überwiesen;  die  Begriffe  Ganz- 
heit und  ganzheitbezogen  nehmen  in  der  Naturlehre,  also 
auch  in  der  Biologie,  seine  Stelle  ein. 

Doch  dienten  die  beiden  soeben  genannten  kleineren 
Arbeiten  nicht  nur  dem  erwähnten  Zweck. 

Ich  rollte  erstens  in  ihnen  auch  die  Frage  der  Krite- 
rien des  Vitalismus  von  neuem  in  logischer  Strenge  auf 
und  diskutierte  das  Problem  der  harmonischen  Äqui- 
potentialität  wie  ein  Problem  der  analytischen  Me- 
chanik, um  den  „Mechanismus"  hier  nicht  nur  unwahr- 
scheinlich, sondern  ganz  und  gar  unmöglich  zu 
machen.  Ich  behandelte  zweitens  das  Problem,  wie  En- 
telechie  auf  Natur  wirken  könne,  aufs  neue,  und  fand  neben 
der  alten  Suspensionstheorie3)  eine  neue  Möglichkeit,  die 
„Theorie  der  realisierten  Bedingungsgleichungen". 

In  meiner  „Wirklichkeitslehre"  (1917)  endlich,  in 
der  ich  einen  „metaphysischen  Versuch"  wagte,  habe  ich 
unter  dem  Begriff  der  Ganzheit  alle  Überpersönlich- 
keitsprobleme, also  Phylogenie  und  Geschichte,  ganz 
eingehend  behandelt. 

1)  Log.  Stud.  über  Entw.  in  Sitzungsber.  Akad.  Heidelberg, 
1918,  Nr.  3. 

2)  Log.  Stud.  über  Entw.,  Zweiter  Teü,  ebenda,  1919,  Nr.  18. 

3)  Siehe  oben  S.  183. 


202  IV.  Der  „Neovitalismus". 

Nachdem  ich  einmal  Metaphysiker  geworden  war,  ja, 
das  ,, Wirkliche"  mit  dem  Quäle  des  Wissens  ausgestattet 
hatte,  durfte  ich  nun  auch  den  aus  der  Logik  verbannten 
Begriff  der  Teleologie  im  eigentlichen  Sinne  wieder  ge- 
brauchen. Als  Metaphysiker  bin  ich  also,  wenn  man 
so  will,  auf  großen  Umwegen  auch  „Psychovitalist"  ge- 
worden, freilich  durchaus  nicht  in  einer  menschlichen  oder 
allzumenschlichen  Form.  Aus  der  Logik  und  der  eigent- 
lichen Wissenschaft  bleibt  mir  aber  der  Teleologiebegriff 
nach  wie  vor  verbannt;  hier  tritt  der  Begriff  „ganzheits- 
bezogen"  an  seine  Stelle. 

Die  kleine  Schrift  „Der  Begriff  der  organischen 
Form"  (1919)  und  in  Ausführlichkeit  die  zweite  Auflage 
meiner  „Philosophie  des  Organischen"  (1921)  geben 
mein  System  in  seiner  heutigen  Gestalt  vollständig  wieder. 
Ganz  neu  ist  in  dieser  zweiten  Auflage  die  Erörterung  des 
dunklen  „Problems  der  Zahl  der  Entelechien"  hinzu- 
gekommen. ■ — 

Es  ist  hier  der  Ort,  einer  Polemik  zwischen  mir  und 
den  amerikanischen  Forschern  Jennings  und  Lovejoy 
zu  gedenken,  die  nicht  unwesentlich  zu  einer  Klärung  ge- 
wisser vitalistischer  Streitfragen  beigetragen  hat.  Jen- 
nings ist  allen  Biologen  durch  seine  ausgezeichneten 
Experimentaluntersuchungen  über  die  Bewegungen  nie- 
derer Organismen  und  durch  sein  im  Jahre  1906  erschie- 
nenes zusammenfassendes  Werk  Behavior  of  the  lower 
Organismus   rühmlich   bekannt;   Lovejoy  ist  Philosoph. 

Jennings  hatte  sich  schon  in  früheren  sachlichen 
Arbeiten  zu  meinem  Vitalismus  halb  zustimmend,  halb 
ablehnend  geäußert.  In  der  eigentlichen  Polemik  ist  ganz 
klar  geworden,  was  er  meint1). 

Die  Polemik  nimmt  ihren  Ausgang  vom  Begriff  der 
Determiniertheit.     Ich  hatte  mich  in  meinem  Haupt- 

1)  Vgl.  von  Jennings  die  Aufsätze  in  American  Naturalist 
1913  und  Johns  Hopkins  University  Circular  1914,  von  Lovejoy 
die  Artikel  in  Science  1909,  1911  und  1912. 


E.  Der  Avisbau  des  vitalistischen  Systems.  203 

werke,  in  einer  kleineren  Studie1)  und  auch  in  ausführ- 
lichen Briefen  gegen  einen  „absoluten"  Indeterminis- 
mus ausgesprochen,  wohl  aber  für  das,  was  meine  ameri- 
kanischen Kollegen  ,,experimental  indeterminism"  ge- 
nannt haben.  Ich  sage:  weil  die  Kräfte  der  materiellen  Teile 
nicht  das  einzige  sind,  was  ein  lebendiges  System  beherrscht, 
so  kann  aus  noch  so  vollständiger  Kenntnis  der  materiellen 
Struktur  eines  solchen  Systems  grundsätzlich  nie  vor- 
ausgesagt werden,  was  an  ihm  geschehen  wird.  Nun  weiß 
man  freilich  praktisch  trotzdem,  daß  ein  Hühnerei  ein 
Huhn  geben  wird,  weil  es  eben  von  einem  Huhne 
stammt  und  weil  der  Satz  ,,Ei  von  A  gibt  A"  als  Gesetz 
gilt;  aber  wenn  eine  evolutive  Phylogenese  an- 
genommen wird,  ist  dieser  praktisch  gültige  Satz  nur 
ein  solcher  von  Wahrscheinlichkeit.  Obwohl  also  in 
der  Sache  Determinismus  als  bestehend  gedacht  wird,  be- 
steht der  Voraussagbarkeit  nach  für  den  Experimen- 
tator in  Strenge  kein  solcher. 

Jennings  hat  dann  behauptet,  mein  Vitalismus  be- 
haupte das  Eingreifen  von  ,,non-perceptual  agents".  Die 
Annahme  solcher  sei  aber  unnötig,  da  auch  im  Reiche  des 
Lebendigen  „diversities  are  determined  by  antecedent 
physical  and  material  diversities". 

Aber  das  ist  doch  gar  nicht  die  vitalistische  Urfrage. 
Daß  bestimmte  an  einem  lebendigen  System  gesetzte 
materielle  („perceptual")  Veränderungen  bestimmte  sich 
materiell  („perceptual")  äußernde  Reaktionen  an  diesem 
System  zur  Folge  haben,  ist  doch  nie  geleugnet  worden.  Alles 
Experimentieren  beruht  ja  doch  auf  dem  Nachweis  solcher 
per zipier baren  Veränderungs Verkettungen.  Und  es  gibt  — 
(wenn  wir  davon  absehen,  daß  die  Phylogenie  gerade  einen 
„Schritt"  tun  möchte!)  ■ —  gut  gekannte  Gesetze,  freilich 
sehr  ,, ramsch" -artiger  Art  für  sie.  „Schneide  dem  Wurm  den 
Kopf  ab,  und  er  regeneriert  ihn"  —  das  ist  so  ein  „Gesetz". 


J)  Hierzu  meinen  Aufsatz  in  Logos  IV,   1911. 


204  IV.  Der  „Neovitalismus". 

Die  vitalistische  Urfrage  ist  vielmehr  diese:  Ist  das, 
was  da  gesetzlich  und  determiniert  geschieht,  abzuleiten 
aus  einer  Kenntnis  der  Lagen,  Geschwindigkeiten  und 
Kräfte  aller  das  System  konstituierenden  materiellen  Letzt  - 
teile  zur  Zeit  t  ? 

Und  diese  Urfrage  muß  ich  verneinen.  Auf  meine 
Verneinung  der  Urfrage  aber  gründe  ich,  um  noch  einmal 
mit  J.  A.  Thomson  zu  reden,  den  Satz,  daß  es  „two 
sciences  of  nature"  gebe.  Denn  für  alle  unbelebten  Systeme 
kann  jene  Frage  bejaht  werden. 

Seltsamerweise  sagen  nun  Jennings  und  Lovejoy 
beide,  jene  Voraussage  des  Künftigen  aus  Kenntnis  der 
Lagen,  Geschwindigkeiten  und  Kräfte  aller  materiellen 
Elemente  zur  Zeit  t  sei  nie  möglich,  auch  im  Un- 
belebten nicht.  Ich  meine,  im  strengen  Sinne  kann  das 
der  Vertreter  einer  Materientheorie  nicht  zugeben;  es 
kann  sich  ihm  höchstens  um  ein  ,,noch  nicht"  handeln. 

Im  Vitalen  aber  handelt  es  sich  um  ein  „grundsätz- 
lich nicht". 

Jennings  gibt  am  Schlüsse  seiner  letzten  Studie  zu: 
The  phenomena  of  life  include  phenomena  not  found  in 
the  non-living. 

Um  was  denn  also  dreht  sich  eigentlich  der  Streit  ? 
Es  klingt  seltsam,  aber  mir  scheint,  er  habe  sich  jetzt  im 
Grunde  zu  der  gänzlich  unbiologischen  Frage  verdichtet: 
Sind  alle  unbelebten  Systemgeschehnisse*aus  vollstän- 
diger, aus  „astronomischer"  Kenntnis1)  der  in  Frage 
stehenden  Systeme  ableitbar  ?  Meine  amerikanischen  Kol- 
legen verneinen  diese  Frage.  Soll  ich  daraus  den  Schluß 
ziehen,  daß  die  gewissermaßen  ,, Vitalisten",  oder  sagen  wir 
,,Autonomisten"  schon  für  das  Unbelebte  sind  ? 

Ich  könnte  da  nicht  mitgehen  und  muß  strikte  bei 
den  ,,two  sciences"  bleiben —  trotz  allem  absoluten  Deter- 
minismus. 


1)  Der  Ausdruck  von  E.  du  Bois-Reymond. 


B.  Der  Ausbau  des  vitalistischen  Systems.  205 

c)  J.  v.  Uexküll. 

Ein  Anhänger  der  Lehre  von  der  weltwesentlichen  Be- 
deutung der  organischen  Einheit  und  Zweckmäßigkeit  ist 
Uexküll  von  jeher  gewesen;  aber  in  seinen  jüngeren 
Jahren,  in  welche  die  grundlegenden  „  Studien  über  den 
Tonus"  fallen,  begnügte  er  sich  mit  der  Erkenntnis  der 
organischen  Teleologie  überhaupt  und  nahm  zum  eigent- 
lichen Vitalismus  keine  ausgeprägte  Stellung.  Seine  zu- 
sammenfassenden Werke  ,, Leitfaden  in  das  Studium  der 
experimentellen  Biologie  der  Wassertiere"  (1905)  und 
„Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere"  (1909,  2.  Auflage  1921) 
stehen  auch  noch  auf  diesem  Standpunkte. 

Das  Wort  „Biologie"  nimmt  Uexküll  nicht  in  dem 
heute  üblichen  weiten  Sinne  einer  Lehre  vom  Lebendigen 
überhaupt,  sondern  er  nennt  „biologisch"  jede  Unter- 
suchung, welche  in  irgendeinem  Sinne  den  Organismus  als 
Ganzheit  nimmt.  Der  Begriff  des  Bauplans  spielt  eine 
große  Rolle  schon  in  seinen  früheren  Untersuchungen; 
ebenso  der  Begriff  Umwelt  als  Gesamtheit  der  dem 
Organismus  auf  Grund  seiner  spezifischen  Zugäng- 
lichkeit für  Reize  bedeutungsvollen  Gegenständlich- 
keiten. Jede  organische  Spezies  hat  auf  Grund  ihres 
Baues  eine  andere  Umwelt:  „Der  Bauplan  schafft  in 
weiten  Grenzen  selbsttätig  die  Umwelt  des  Tieres." 

In  zwei  im  Jahre  1920  erschienenen  Büchern,  den 
„Biologischen  Briefen  an  eine  Dame"  und  seinem 
Hauptwerke,  der  „Theoretischen  Biologie",  hat  sich 
nun  aber  Uexküll  rückhaltlos  zum  echten  Vitalismus 
bekannt.  Sein  Gebiet  ist  die  „Biologie"  in  seinem  Sinne. 
Die,,  Physiologie"nämlich  untersucht  die  auf  Grund  von  schon 
bestehenden  Gefügen  nach  „Funktionsregeln"  erfolgende 
„Zwangsläufigkeit"  der  Organismen,  die  „Biologie"  ihre 
durch  „Entstehungsregeln"  nicht  mechanischer 
Art  verwirklichte  „Planmäßigkeit".  Am  Protoplasma 
haftet,  in  im  einzelnen  unbekannter  Weise,   der  die  Ent- 


206  IV.  Der  „Neovitalismus". 

stehungsregel  verwirklichende  lenkende  Faktor.  Schon  bei 
Einzelligen  lenkt  er  die  Bildung  und  Wiedervernichtung 
der  von  ihnen  nur  auf  Zeit  und  nach  Bedürfnis  gebildeten 
Organe,  bei  höheren  Wesen  wirkt  er  sich  in  allem  Regu- 
lativen aus ;  bei  der  echten  Handlung  greift  er  ins  Zentral- 
nervensystem ein.  Er  macht  Maschinen,  auf  Grund 
von  deren  Bau  dann  alles  mechanisch  abläuft,  solange 
dieser  Bau  existiert.  Aber  der  Bau  kann  eben  in  unmecha- 
nischer Weise  verändert  werden.  Nie  ist  die  Baufolge  im 
Material  gegeben.  Ein  Lenker  ist  da;  und  er  ist  ,, weiser", 
als  bewußtermaßen  das  Tier  ist ;  er  kennt  die  Gesetzlichkeit 
der  Welt,  welche  das  Tier  nicht  kennt;  er  leistet  die  „Ein- 
passung" des  Tieres  in  die  Welt.  Man  sieht,  wie  hier  das 
übliche  Wort  „Anpassung"  durch  ein  treffenderes  ersetzt 
wird.  Ebenso  wird  von  Uexküll  mit  Rücksicht  auf  die 
Embryologie  „Ver"wicklung  statt  Entwicklung  gesagt; 
denn  in  der  von  ihm  durchaus  epigenetisch  gefaßten  Em- 
bryologie wird  ja  in  der  Tat  alles  immer  verwickelter. 
Doch  wir  wollen  nicht  noch  mehr  über  das  Werk 
sagen,  welches  der  Leser  unbedingt  selbst  in  die  Hand 
nehmen  muß. 


F.  Die  moderne  Psychologie. 

Die  Mechanisten  müssen,  wenn  sie  konsequent  sein 
und  kein  Loch  in  ihrer  Lehre  lassen  wollen,  die  Lehre  vom 
psycho-physischen  Parallelismus  annehmen,  die  Vitalisten 
müssen  sie  ablehnen.  Das  wissen  wir  schon,  und  wir  wissen 
auch,  daß  psycho-,, physischer"  Parallelismus  hier  soviel 
wie  psycho-mec hanischer  Parallelismus  heißt.  Die 
Entelechie  als  Naturfaktor  von  der  „anderen  Seite"  ein 
„Seelisches"  sein  zu  lassen,  wie  in  verschiedener  Weise 
E.  v.  Hartmann  und  ich  das  getan  haben,  das  ist  natür- 
lich etwas  ganz  anderes,  obschon  es,  da  ja  Entelechie  zur 
„Natur"  gehört,  natürlich  auch  ein  psycho-„physischer" 
Parallelismus  ist. 


F.  Die  moderne  Psychologie.  207 

Der  übliche,  der  psycho-mec hanische  Parallelis- 
mus wird  also  von  den  vitalistischen  Biologen  aus  bio- 
logischen Gründen  durchbrochen.  Der  ,, Mechanismus" 
ist   eben   nicht    da. 

Nun  hat  die  neuere  Psychologie  aber  auch  von  der 
psychischen  Seite  her  dem  üblichen  Parallelismus  den  Tod 
gegeben;  denn  das,  was  er  auf  dieser  Seite  braucht:  ein 
reines  Assoziationsgetriebe  als  letzte  Gesetzlichkeit 
des  Innenlebens,  das   ist   auch   nicht   da. 

Die  gesamte,  sich  ursprünglich  an  die  Namen  Külpe 
und  Marbe  knüpfende  Denkpsychologie  ist  Gegner  des 
üblichen  Parallelismus,  ebenso  sind  das  die  Phänomeno- 
logen,  in  erster  Linie  also  Husserl  und  Sc  heier,  ebenso 
der  „Entwicklungspsychologe"  Krüger. 

Konfrontiert  worden,  wie  man  wohl  sagen  könnte,  ist 
Mechanisches  und  Psychisches,  so  wie  es  wirklich  ist 
—  (also  nicht,  wie  es  nach  den  Assoziationstheoretikern 
,,sein  sollte")  — ,  von  Bergson1),  Mac  Dougall2), 
E.  Becher3)  und  mir   selbst4). 

Der  Bautypus  und  der  ,,Grad  der  Mannigfaltigkeit" 
sind  für  das  Mechanische  und  das  Psychische  ganz  und 
gar  verschieden,  deshalb  können  beide  nicht,  um  mit 
Spinoza  zu  reden,  una  eademque  res,  sed  duobus  modis 
expressa  sein. 

So  hat  sich  also  der  Widerlegung  des  üblichen  Par- 
allelismus auf  dem  Gebiete  der  Naturlehre,  d.h.  dem  durch 
Ludwig  Busse  in  seinem  Werke  ,, Geist  und  Körper, 
Seele  und  Leib",  durch  mich  selbst  in  meiner  Schrift  über 
die  ,, Seele"  als  Naturfaktor  geführten  Nachweis5),  daß, 
rein  als  Naturphänomen  betrachtet,  der  handelnde  Mensch 
kein  Mechanismus  sein  könne,  zugesellt  die  Widerlegung 

x)  Matiere  et  Memoire. 

2)  Mind  and  Body  (1911). 

3)  Gehirn  und  Seele  (1911). 

4)  Leib  und  Seele  (1916,  2.  Aufl.,   1920). 

5)  Beide  Werke  vom  Jahre  1903. 


208  IV.  Der  „Neovitalismus". 

jener  Lehre  vom  Psychischen  her:  ein  sehr  erfreuliches 
Ergebnis  und  eine  große  Stütze  der  vitalistischen  Lehre 
überhaupt,  wenn  auch  natürlich  eine  Parallelismuswider- 
legung den  Vitalismus  zunächst  nur  für  den  handelnden 
Menschen  begründet. 


G.  Ausblicke. 

Es  ist  zu  hoffen,  daß  der  Vitalismus  einerseits  seine 
auf  empirische  Sachverhalte  gebauten  Grundpfeiler  immer 
mehr  verstärkt,  andererseits  die  Theorie  des  Entelechie- 
begriffs  immer  tiefer  und  feiner  ausarbeitet.  Aber  jene  von 
der  Zukunft  erhofften  neuen  Sachverhalte  werden  doch, 
solange  die  Biologie  in  ihrem  heutigen  Rahmen  bleibt, 
voraussichtlich  immer  nur  solche  Dinge  bringen,  die  mit 
dem,  was  man  schon  kannte,  nahe  Verwandtschaft  haben. 
Es  wird  da  kaum  große  Überraschungen  geben;  zumal 
deshalb  nicht,  weil  die  Zahl  der  Organismen,  insbesondere 
der  tierischen,  mit  denen  man  experimentieren  kann, 
äußerst  beschränkt  ist. 

Nun  scheint  aber  endlich  „Wissenschaft"  zu  werden 
ein  Gebiet,  auf  dem  man  bisher  nur  kasuistische  Fest- 
stellungen gemacht  hat,  auf  dem  man  mehr  ahnte  als 
wußte:  das  Gebiet  der  Parapsychologie  und  der  Para- 
physik,  also  das,  was  leider  immer  noch  „Okkultismus" 
heißt,  obschon  es  sich,  wie  mir  scheint,  durchaus  nicht 
mehr  um  etwas  „Verborgenes"  handelt. 

Ich  habe  es  schon  an  anderen  Stellen  ausgesprochen 
und  tue  es  hier  ausdrücklich  wieder,  daß  ich,  leider  ohne 
schon  über  viel  eigene  Erfahrungen  zu  verfügen,  durch  Lek- 
türe und  durch  persönliche  Mitteilungen  von  Kollegen  und 
Schülern  von  der  Tatsächlichkeit  der  Phänomene, 
welche  Telepathie,  Gedankenlesen,  räumliches  Hellsehen, 
„Psychometrie"  und  Materialisation  heißen,  überzeugt 
bin.      Man  darf   doch   nicht  immer  nur  sich   selbst  für 


G.  Ausblicke.  209 

„kritisch"  halten,  und  man  glaubt  doch  auch  einem  tüch- 
tigen Chemiker,  wenn  er  uns  sagt,  daß  diese  seltene  Ver- 
bindung diese  Konstitutionsformel  habe. 

Die  Parapsychologie  geht  uns  hier  nichts  an x) ,  um  so 
mehr  die  Paraphysik2).  Wenn  das  richtig  ist,  was  in  den 
letzten  Jahren  Schrenck-Notzing,  Crawford,  Geley, 
Grunewald  gefunden  haben  —  um  von  älteren  Autoren, 
die  aber  auch  höchstwahrscheinlich  weder  „Schwindler" 
noch  „Idioten"  waren,  abzusehen  — ,  wenn  das  richtig  ist, 
und  ich  sehe  keinen  Grund,  seine  Unrichtigkeit  an- 
zunehmen, dann  haben  wir,  um  es  etwas  plump,  aber,  wie 
ich  glaube,  sachgemäß  auszudrücken,  so  etwas  wie  einen 
Übervitalismus  geradezu  vor  Augen,  dann  brauchen  wir 
unsere  umständlichen  Beweisgänge  eigentlich  gar  nicht 
mehr,  um  uns  von  der  „Autonomie"  des  Lebendigen  zu 
überzeugen. 

Wir  sagen  es  offen:  Die  Paraphysik  ist  unsere  Hoff- 
nung in  Sachen  der  Biologie,  ebenso  wie  die  Parapsychik 
unsere  Hoffnung  in  Sachen  der  Psychologie  ist.  Beide  aber 
sind  unsere  Hoffnung  in  Sachen  einer  wohlfundierten  Meta- 
physik und  „Weltanschauung". 


x)  Man  lese  die  Proceedings  der  Society  for  Psychical  Research, 
zunächst  wenigstens  die  Arbeiten  von  Hodgson  und  James 
in  Vol  13  und  23.  Man  lese  ferner  die  Werke  von  Tischner, 
Wasielewsky  und  Oesterreich. 

2)  Zur  ersten  Orientierung:  Schrenck-Notzing,  Physi- 
kalische Phänomene  des  Mediumismus. 


Driesch,  Vitalismus.    2.  Aufl.  14 


. 


Namenverzeichnis. 


Albrecht   176. 

Aristoteles   8-19,    22-26,    28, 
31,  39,  46f.,  55,  62,  88,  182. 
Arrhenius   191. 
Auerbach   191  f. 
Autenrieth  94,   103f.,   123. 

Baer  108  f.,  146ff. 
Becher,  E.   197 f.,  207. 

Becher,   S.   196. 

Bechterew   193. 

Bergson    159,   178ff.,    193,   207. 

Bernard     21,     58,      119, 

128-132,   174. 
Bichat  58 f.,   89,   103,   128. 
Blumenbach   35,   55-62, 

105,    123f.,    128,    130, 

147,    150. 
Boerhaave  21. 
Boltzmann   156,   165. 
Bonnet  33,  35,  48-52,  54 f. 
Borelli  21. 
Boussinesq   164  f. 
Braun,  A.    177. 
Büchner,  L.    133. 
Bütschli  69,   187  f. 
Buffon  35,  39-43, 
Bunge   151  f. 
Burckhardt,  R.   88. 
Burdach   106  ff. 
Busse   158,  207. 
Butler,  S.    164,   198. 


122, 


78f., 
139, 


,   190. 
50,  53,  105f. 


Carus,  V.   88. 
Cassirer   184. 
Child   197. 
Comte   119. 
Cope   163. 
Coßmann   175  f. 
Crawford  209. 
Cuvier  89. 

Darwin   39,   89,    133,    136,    163. 

Demokrit   17 f.,  27. 

Descartes  20 f.,  35,  40 f.,  53,  62, 

106,   155. 
Dreyer   190,   192. 
Driesch  173ff.,   180-183,   188, 

200 ff.,  206 f. 
Du   Bois-Reymond,    E.    137 ff., 

141,   165,   167,   174. 
Du  Bois-Reymond,  P.,  173  ff. 
Dühring   19. 

Ehrhardt   170  f. 
Eimer   162. 
Epikur   17,  27. 
Ernst,  W.   86. 

Fabricius  ab  Aquapendente  25, 

147. 
Fichte   107. 
Fischel   192. 
France   196. 


Namenverzeichnis.  . 


211 


Galilei   19. 
Geley  209. 
Gemelli   192. 
Goethe  52,  89. 
Goette   145,   157,   174. 
Goltz   157  f. 
Gregoire   192. 
Grunewald  209. 
Gurwitsch   199. 

Haeckel   135. 

Haidane   190. 

Haies  21. 

Haller,     A.  v.      33,     35,     48 f., 

51-57,  60. 
Hamann   163. 
Hamm  33. 
Hanstein   148  f. 
Hartmann,  E.  v.  101f.,  153  bis 

156,  158,-160,  177,  197,  206. 
Hartmann,  N.    184. 
Hartog   198  f. 
Hartsoeker  35. 

Harvey  23-27,  32,  46,  62,  147. 
Hegel   16,  87 f.  90 ff.,   117,   135, 

153. 
Helmholtz  139  ff.,   156,   191. 
Helmont  21  ff.,  29,   32. 
Henderson   191. 
Henle   177. 
Herbart   114. 
Herbst   192  f. 
Hering  102,   142. 
Hertwig,  O.    193. 
Hertz   116,    165. 
His  23,  26,  43,  52,  137,  145,  152. 
Hobbes  21. 
Hodgson  209. 
Höfler   165. 
Hoffmann,  F.   32. 
Holmes   197. 
Humboldt,  A.  v.   90. 
Husserl  207. 


James  209. 

Japp   166. 

Jennings   197,  202ff. 

Jensen   187. 

Kant  36,  55,  62-87,  90,  96, 
98,  110,  118f.,  127,  129,  175, 
183f. 

Kattowitz   195. 

Kelvin   156,   165. 

Klebs   187  f. 

Koelliker   162. 

Kroner   184. 

Krüger  207. 

Külpe   183,  207. 

Lamarck  89,   195. 
Lang,  P.   127. 
Leeuwenhoek  33,  35,  40. 
Leibniz  35-38,  48,  50,  62,  131, 

185,   190. 
Liebig  114ff.,    128. 
Liebmann   156  f. 
Lodge   165. 
Loeb,   J.   191. 
Loew   195. 
Losacco  91. 
Lotze    58,    66,    103,    109,    114, 

122-128,     132,     143,     158, 

169,   171. 
Lovejoy  202  ff. 
Ludwig  (Botaniker)  46. 
Ludwig,  K.    141. 

Mac  Dougall  207. 
Mach   19,  47. 
Mackenzie   192. 
Magendie   109. 
Malpighi  33,  35. 
Marbe   183,  207. 
Maupertuis  35,  42. 
Maxwell   116,   156,   192. 


212 


Namenverzeichnis . 


Mayer,  R.    133. 
Metzger  91. 
Moleschott   133. 
Montgomery   159ff. 
Morgan,  Lloyd   190. 
Morgan,  T.  H.    192. 
Moszkowski   192. 
Müller,  J.  26,  96,  102, 110-114, 
124,   127,   140,   143,   157. 

Nägeli   162  f. 

Needham  33,  35,  42f.,  46,  93, 

105  f. 
Neumeister   193. 
Newton   19,  47,   186. 
Noll,  A.   103. 
Noll,  F.  177f.,   199. 

Österreich  209. 

Oken  92  ff. 

Ostwald  116,   182,  193  f. 

Pander   108. 
Paiüy  195  ff.,   198. 
Pflüger   157  f.,   195. 
Piaton   18,  88,  90. 
Preyer  192. 
Prowazek  199. 


Radi  47,  88. 

Eeanmur  33,   35. 

Reil91ff.,  99,  107,  111,  124,  160. 

Reinke   176  f. 

Rhumbler   190. 

Rickert  185. 

Rignano   189. 

Rindfleisch   148,   151. 

Rostan   174. 

Roux  61,   137,  168f. 

Russell,  E.  S.   193. 


Samassa  44,  47. 

Schaxel   188  f. 

Scheler   183,  207. 

Schelling   87f.,   90f.,    107,    117, 

123. 
Schmitz-Dumont   192. 
Schneider,  K.  C.   194f. 
Schopenhauer     62,     102,     107, 

117ff.,  135,  150,  153. 
Schrenck-Notzing  209. 
Schultz,  E.    196ff. 
Schultz,   J.    185  ff. 
Semon   189,   198. 
Snell   145. 
Spallanzani  33,  35,  43,  55,  92, 

111. 
Spencer   162  f. 
Spinoza   179,  207. 
Stahl,  G.  E.  23,  27-32,  41,  47, 

53,  62,  81,  95,  97,  101,  107, 

111,   125. 
Stenta  47. 
Stern,  W.    192. 
Strecker   197. 
Strunz  21. 
Swammerdam  30,   35,  51. 


Tait   165. 

Thompson,     d'Arcy     W.     190, 

193. 
Thomson,   J.  A.    193,  204. 
Tiedemann  104  ff.,   110. 
Tischler   199. 
Tischner  209. 
Trembley  33,  35,  51. 
Treviranus   96-105,    111,    113, 

123. 
Tschermak,  A.  v.    192. 


Uexküll   199,  205  f. 
Ungerer  87,  200. 


Namenverzeichnis . 


213 


Vaihinger   185. 
Verworn  186  f.,   195. 
Virchow   148. 
Vogt,  C.   133. 
Vries,  H.  de   133,   162. 

Wagner,  A.   196. 
Wagner,  R.    109. 
Wasielewski  209. 
Weismann  51,   163,   184. 
Whitman  48,  50. 
Wiesner   163. 


Wigand    136,   149ff.,    162,    173. 

Windelband  64. 

Wolff,  C.  F.  33,  35,  43-47,  49, 

51,   53,   59f.,    62,    123,    128, 

130,   139. 
Wolff,  G.  61,  120,  171ff.,   175, 

196. 
Wundt   114. 


Zöllner   151. 

Zur  Strassen   187  f. 


Bandl:  REINKE,  Prof.  Dr.  J.,    Philosophie  der  Botanik. 

VI,  201  S.     1905. 

Band  II:  v.MANACEINE,  MARIA,  Die  geistige  Überbürdung 
in  der  modernen  Kultur,  ihre  Wirkungen,  Ursachen 
und  Heilmittel.  Übersetzung,  Bearbeitung  und  Anhang 
von  Oberlehrer  Dr.  L.  Wagner.     VI,  200  S.     1905. 

Band  III:  DR1ESCH,  Dr.  HANS,  Geschichte  des  Vitalismus. 

2.  verbesserte  und  erweiterte  Auflage  des  ersten  Haupt- 
teils des  Werkes:  „Der  Vitalismus  als  Geschichte  und 
als  Lehre".    X,  213  S.     1922. 

Band  IV:  EISLER,  Dr.  RUDOLF,  Leib  und  Seele.  Dar- 
stellung und  Kritik  der  neueren  Theorien  des  Verhält- 
nisses zwischen  physischem  und  psychischem   Dasein. 

VI,  217  S.     1906. 

Band  V:  RATZEL,  FRIEDRICH,  Raum  und  Zeit  in  Geo= 
graphie  und  Geologie.  Naturphilosophische  Betrach- 
tungen. Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Paul  Barth. 
VIII,  177  S.     1907. 

Band  VI:  STEINMETZ,  Dr.  S.  RUD.,  Die  Philosophie  des 
Krieges.  XVI,  352  S.  1907.  Vergriffen.  Neue  Auflage 
in  Vorbereitung. 

Band  VII:  NEISSER,  Dr.  KARL,  Ptolemäus  oder  Koper= 
nikus?  Eine  Studie  über  die  Bewegung  der  Erde  und 
über  den  Begriff  der  Bewegung.     V,  154S.     1907. 

Band  VIII:  DEL  VECCHIO,  GIORGIO,  Die  Tatsache  des 
Krieges  und  der  Friedensgedanke.  Nebst  zwei  An- 
hängen. Aus  dem  Italienischen  von  Richard  Pubanz. 
Mit   Vorwort    von    Professor    Dr.   Otfried    Nippold. 

VII,  100  S.     1913. 

Band  IX:  KÜHNEMANN,  GEORG,  Das  Problem  des 
Lebens  vom  naturphilosophisch=med.  Standpunkt. 

VIII,  127  S.     1919. 


C.G.Röder  G.m.b.H.,  Leipzig.   816022. 


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