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GESCHICHTE DES
VITALISMUS
VON
HANS DRIESCH
'WEITE VERBESSERTE UND ERWEITERTE AUFLAGE
DES ERSTEN HAUPTTEILS DES WERKES:
„DER VITALISMUS ALS GESCHICHTE
UND ALS LEHRE"
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9
LEIPZIG • VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH
NATUR- UND KULTURPHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK
BAND III
GESCHICHTE DES
VITALISMUS
VON
HANS DRIESCH
ZWEITE VERBESSERTE UND ERWEITERTE AUFLAGE
DES ERSTEN HAUPTTEILS DES WERKES:
„DER VITALISMUS ALS GESCHICHTE
UND ALS LEHRE"
2 2
LEIPZIG • VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH
Copyright by
Johann Ambrosius Barth in Leipzig
1922
Druck von C. G.Röder G.m.b.H., Leipzig. 816022.
'
Vorwort zur ersten Auflage.
Als die Verlagsbuchhandlung mich zur Übernahme
eines Bandes der „Natur- und kulturphilosophischen
Bibliothek" aufforderte, sah ich darin einen willkom-
menen Anlaß, ein lange gehegtes Vorhaben zur Aus-
führung zu bringen: Die ältere vitalistische Literatur
gründlicher und nicht nur in Bruchstücken kennenzu-
lernen, war seit längerem meine Absicht ; hier bot sich ein
realer Antrieb zu solchem Studium in der Gelegenheit,
die Früchte desselben zugleich nutzbar zu machen für
weitere Kreise. Auch war es mir lieb, einmal die Gesamt-
heit meiner Ansichten über das Leben in systematischer
Form darstellen zu können für einen Leserkreis, welcher
weiter als der eigentlich naturwissenschaftliche ist.
So ist denn diese „Geschichte" und diese „Lehre"
des Vitalismus entstanden.
Durchaus anspruchslos treten die Ergebnisse meiner
historischen Studien auf und wünschen auch so aufge-
nommen zu werden. Ich bin kein Historiker, und nichts
liegt diesem Buche ferner als die Absicht sachlich-ge-
schichtlicher Vollständigkeit. Meine wissenschaftlichen
Freunde wundern sich vielleicht überhaupt, wie gerade
ich, der ich über historische Elemente in den eigentlichen
Naturwissenschaften stets sehr abweisend geurteilt habe
— und noch urteile — , dazu komme, Geschichte zu
schreiben.
Ich denke aber, es ist denn doch wohl eine andere
Sache um phantastische „Stammbäume" als um die Er-
XV Vorwort zur ersten Auflage.
kenntnis dessen, was große Männer der Vorzeit über die
Fragen gedacht haben, die auch unser Leben ausfüllen.
Hier, wie in vielen Gebieten der Menschheitsgeschichte
überhaupt, bekommt Historie einen ganz unmittelbar per-
sönlichen Wert.
Und im Sinne des mir persönlich Wertvollen sind
denn auch diese geschichtlichen Skizzen geschrieben. Um
durchaus unbefangen zu bleiben, habe ich kein einziges
größeres Kompendium der Geschichte der Medizin1) bei
meinen Studien benutzt. Nur der kleine historische Ab-
riß in W. Preyers ,, Allgemeiner Physiologie", welcher
übrigens mit Vorsicht zu benutzen ist, und die vortreff-
lichen Aufsätze von W. His: „Die Theorien der geschlecht-
lichen Zeugung" (Archiv für Anthropologie, Bd. IV 1870
S. 197 und 317 und Bd. V 1872 S. 69) dienten mir zur all-
gemeinen Orientierung. Von historischen Sonderstudien
ist nur die im Text genannte ausgezeichnete Bonnet -
Monographie Whitmans von mir benutzt worden.
Rudolf Burckhardt vor allem hat in jüngster Zeit
das Interesse an Biologiegeschichte neu belebt; seine Ar-
beiten gehen aber das Klassifikatorische und im engeren
Sinne Morphologische an, und die große Monographie
seines Schülers Bloch behandelt eine Zeitepoche, die
ich in meinen Studien bewußt ausschaltete.
Von Bedeutung ist es immer, wenn namhafte For-
scher selbst, sei es auch nur skizzenhaft, sich über Ge-
schichte ihrer Wissenschaft äußern: in diesem Sinne
findet sich vieles Wertvolle bei Ha 11 er, Blumenbach
und Burdach. Die historischen Exkurse in Claude
Bernards „Lecons sur les phenomenes de la vie" bieten
eine gute Ergänzung zu meiner Arbeit, zumal im Hinblick
auf den französischen Vitalismus des achtzehnten Jahr-
hunderts und sein Gegenstück.
x) Die Geschichte der Zoologie von V. Carus kam nicht in
Frage, da sie nur auf die klassifikatorischen und deskriptiv-
morphologischen Bestrebungen Rücksicht nimmt.
Vorwort zur ersten Auflage. V
i
So sind denn also vornehmlich, ja beinahe lediglich,
die Originalia unserer Vorarbeiter meine Quellen ge-
wesen. —
Soll ich zu dem besonderen Inhalt dieses Buches
etwas Persönliches bemerken, so mag es nur dieses sein,
daß die Auseinandersetzung mit Kants „Kritik der Ur-
teilskraft" mir mehr als alles andere am Herzen gelegen
hat. Ich selbst kann nicht beurteilen, ob der Erfolg der
Bemühung entspricht. —
Viel Geschichte treiben mag unproduktiv machen,
aber keine Geschichte treiben bedeutet vieles sagen, was
bereits, und wohl gar besser, gesagt war. Zwar kann
Biologiegeschichte nie in dem Grade die Wissenschaft
selbst sein, wie Geschichte der Mechanik das ist; aber
ganz und gar vom Zufall hängt darum doch auch sie nicht
ab : auch in ihr gibt es ein Sich-selbst-vollenden der Grund-
gedanken. Es scheint mir in diesem Sinne von ganz be-
sonderer Bedeutung zu sein, daß klar erkannt werde, wie im
großen und ganzen der ältere Vitalismus dieselbe begriff-
liche Entwicklung nahm, welche unser neuer Vitalismus
nehmen muß. Nur sind unsere kritischen Ansprüche ge-
wachsen und ist das verarbeitete Detail jetzt ein anderes
und dazu unermeßlich reicher: freilich gestattet gerade
dieses Detail die Beweise des neuen Vitalismus.
Heidelberg, am 4. Januar 1905.
Hans Driesch.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die zweite Auflage meines Buches von 1905 mußte
sich, wie die Dinge inzwischen gegangen waren, auf eine
verbesserte, in manchem erweiterte und bis auf die Gegen-
wart fortgeführte Darstellung der Geschichte des
Vitalismus beschränken, konnte also nur die Neu-
auflage des „Ersten Haupt teils" des ursprünglichen
Werkes sein. Hätte ich auch den zweiten, den systemati-
schen Hauptteil neu auflegen wollen, so hätte ich mich
selbst abschreiben müssen; denn in meiner Schrift vom
Jahre 1919 Der Begriff der organischen Form gab ich ein
kurzes System des Vitalismus in einer Weise, wie sie meinen
heutigen Anschauungen entspricht. Für diejenigen aber,
welche sachlich tiefer dringen wollen, ist ja die, seit 1921
in teilweise umgearbeiteter zweiter Auflage vorliegende,
Philosophie des Organischen vorhanden.
Ich habe die Geschichte des Vitalismus nach der
philosophischen Seite hin erweitert. Abschnitte über
Descartes, Leibniz, den deutschen Idealismus sind ein-
geschoben; kurze Abschnitte freilich, denn mein Buch
will in erster Linie Wissenschaftsgeschichte bringen,
nicht Philosophiegeschichte. Das Kapitel über Kant,
schon früher das längste, wurde noch ausgebaut. Die
Hauptaufgabe war die Fortführung der Geschichte bis
auf die Gegenwart. Da war Auswahl und Klassifikation
nicht immer ganz leicht; ich hoffe, daß mir beide ge-
glückt sind. Vielleicht wird man sagen, ich hätte die
ältere Geschichte des Vitalismus jetzt breiter fassen, hätte
Vorwort zur zweiten Auflage. VII
früher nicht genannte Vertreter heranziehen sollen. Aus
zwei Gründen habe ich das nicht getan. Einmal wollte
ich auch jetzt kein vollständiges Geschichtswerk, sondern
nur eine historisch gegründete Typenlehre schreiben; und
dann haben wir ja in E. Radis ausgezeichneter „Ge-
schichte der biologischen Theorien" das Werk,
welches allen Ansprüchen, die man an ein eigentliches
biotheoretisches Geschichtswerk stellen kann, genügt.
Die erste Auflage dieses Buches ist ins Polnische,
Italienische, Russische und Englische übersetzt worden.
Nur die italienische und die englische Ausgabe kenne ich.
In beiden ist der (jetzt für die deutsche Ausgabe, wie be-
gründet wurde, fortgefallene) systematische Teil anders
als im deutschen Original gestaltet worden, weil ja eben
inzwischen die ,, Philosophie des Organischen" erschienen
war. Für die italienische Ausgabe hat der Übersetzer,
Professor Stenta, vieles aus diesem Werke auszugsweise
benutzt ; für die englische Ausgabe schrieb ich den systema-
tischen Teil selbst in gänzlich veränderter, von der Logik,
nicht von der Empirie ausgehender Form neu nieder.
Für den deutschen Leser konnte dieser Teil, wie gesagt,
jetzt ganz fortbleiben; der Ausgang von der Logik findet
sich nämlich auch in gewissen Teilen meiner eingangs
erwähnten systematischen Werke.
Mein Dank gebührt dem Herrn Verleger für die große
Bereitwilligkeit, mit der er sich zur Herausgabe dieser
zweiten Auflage meines jetzt also rein historischen
Werkes bereit fand.
Leipzig, am 15. Januar 1922.
Hans Driesch.
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Inhalt.
Seite
Kritische Vorbemerkung: Die Arten des Zweckmäßigen . 1
I. Der ältere Vitalismus 8
A. Aristoteles 8
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philo-
sophie. — Harvey. — G. E. Stahl 19
Harvey 23
Georg Ernst Stahl 27
C. Vitalistische Lehren im Gefolge des Strei-
tes um „Evolution" und „Epigenesis" . . 33
Leibniz 35
Buffon, Needham, Maupertuis 39
Kaspar Friedrich Wolff 43
Bonnet, Haller 48
Blumenbach 55
D. Kants Kritilf der Urteilskraft 62
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilo-
sophie 87
Die „idealistische" Philosophie 90
Oken 92
Reil 94
Treviranus 96
Der schulmäßige Vitalismus 103
Johannes Müller 110
Liebig . . . . '. 114
Schopenhauer 117
Des älteren Vitalismus Ende 120
II. Die Kritik und die materialistische Reaktion ... 122
Lotze 123
Bernard 128
Die materialistisch-darwinistische Zeitströmung ... 132
Ausblick auf Psychologisches 142
*3onti
X Inhalt.
Seite
III. Der neuere Vitalismus 144
A. Die Tradition 144
B. Die Stellung der Philosophie 153
Eduard von Hartmann 153
Andere Philosophen 156
Psychologen 157
Edmund Montgomery 159
C. Antidarwinistische Deszendenztheoretiker 162
D. Die Stellung der Physiker 164
IV. Der „Neovitalismus" : . 167
A. Grundlegungen 167
B. Vitalistische Systeme 178
a) Henri Bergson 178
b) Mein eigenes System 180
C. Gegner 183
a) Philosophen 183
b) Naturforseher . . . . 187
cc) Radikale Gegner . 187
ß) Gegner mit Zugeständnissen, zum mindesten
an eine Bedeutung des Teleologischen ... 189
D. Verschiedene Formen des Neovitalismus . 192
E. Der Ausbau des vitalistischen Systems . . 198
a) Neue Tatsachen zur Grundlegung 198
b) Logischer Ausbau 200
c) J. v. Uexküll 205
F. Die moderne Psychologie 206
G.Ausblicke 208
V r*r
Kritische Vorbemerkung:
Die Arten des Zweckmäßigen.
Nicht die Frage, ob Lebensvorgänge das Beiwort
„zweckmäßig" verdienen, macht das Problem des ,, Vita-
lismus" aus, sondern diese Frage: ob das Zweckmäßige
oder besser das Ganzheitsbezogene an ihnen einer besonderen
Konstellation von Faktoren entspringe, welche aus
den Wissenschaften vom Anorganischen bekannt sind,
oder ob es Ausfluß ihrer Eigengesetzlichkeit sei.
Denn daß es vieles „Zweckmäßige", vieles auf eine
Ganzheit bezogene an Lebensgeschehnissen gibt, ist nichts
anderes als eine Tatsache, die sich ohne weiteres aus
der Definition jenes Begriffs und aus der Anwendung
dieser Definition auf das Lebendige ergibt.
Im Sprachgebrauch des täglichen Lebens werden als
zweckmäßig solche Handlungen bezeichnet, welche er-
fahrungsgemäß ein bestimmtes gewolltes Ziel mittelbar
oder unmittelbar herbeiführen, oder von denen man das
wenigstens annimmt. In letzterem Falle — dem Falle
des ,,Probierens" — kann in Strenge erst nach Erreichung
des Zieles davon geredet werden, daß diese oder jene Hand-
lung zweckmäßig gewesen sei, woraus sich dann aller-
dings für die Zukunft unter gleichen Umständen ein von
Anfang an zweckmäßiges Handeln ergibt.
Ich beurteile alle Zweckmäßigkeit von Handlungen
von mir aus; das heißt: ich weiß für mich, wann meine
Handlungen das Prädikat zweckmäßig verdienen, da ich
meine Ziele kenne; davon gehe ich aus. Handlungen
Driesch, Vitalismus. 2. Aufl. 1
2 Kritische Vorbemerkung: Die Arten des Zweckmäßigen.
anderer Menschen benenne ich mit jenem Worte, wenn ich
ihr Ziel „verstehe", das heißt, wenn ich mir denken kann,
daß es mein eigenes sein könne, und wenn ich sie mit
Rücksicht auf dieses Ziel beurteile.
Nun beschränke ich aber die Anwendung des Wortes
zweckmäßig nicht auf die Handlungen anderer Menschen,
sondern dehne sie, schon im alltäglichen Leben, nach
zwei Richtungen hin aus, und aus dieser Ausdehnung
entspringt einmal die Anwendung des Wortes zweck-
mäßig auf Biologisches überhaupt, zum anderen entspringt
aus ihr auch schon das biologische Grundproblem.
Ich nenne zweckmäßig sehr vieles an den Bewegungen
der Tiere, und zwar nicht nur solche Bewegungen gewisser
höherer Tiere, welche geradezu „Handlungen" benannt wer-
den, sondern auch solche Bewegungsgruppen, welche ihrer
festeren Geschlossenheit wegen nicht als Handlungen, son-
dern als „Instinkte", „Reflexe" oder ähnlich bezeichnet zu
werden pflegen. Von da bis zu den Bewegungen der Pflan-
zen, etwa gegen das Licht hin oder vom Licht ab, ist nur ein
Schritt, und nur noch einen Schritt weiter bedeutet es, wenn
„zweckmäßig" auch die Wachstumsbewegungen genannt
werden, welche in typischer Folge aus den Keimen die aus-
gewachsenen Organismen der Tiere und Pflanzen schaffen.
So sind denn also schließlich alle Geschehnisse an
lebenden Wesen, welche nachweislich auf einen Punkt
zulaufen, der in irgendeinem Sinne als „Ziel", als zu-
sammengesetztes Ganzes gedacht werden kann, dem
rein deskriptiven Begriffe der „Zweckmäßigkeit" unter-
stellt worden. Es ist nach allem Ausgeführten begreiflich,
daß eine gewisse Willkür bei der Bezeichnung eines Ge-
schehnisses als eines „Zweckmäßigen" unvermeidbar ist':
wird doch durchaus analogienhaft hier vorgegangen. Doch
schadet diese Willkür nicht viel, da ja, um das noch ein-
mal zu sagen, nur eine Art von orientierender Be-
schreibung mit jener Bezeichnung beabsichtigt ist, noch
nichts weiter.
Kritische Vorbemerkung: Die Arten des Zweckmäßigen. 3
Ein Ziel oder, objektiver gesprochen, ein Endganzes
müsse für den als zweckmäßig bezeichneten Vorgang ge-
dacht werden können, so sagten wir: eben damit ist nun
der Begriff des Zweckmäßigen zwar auf sehr viele Vor-
gänge der verschiedensten Art ausgedehnt, andererseits
aber auch auf das Organische eingeschränkt worden,
wenigstens soweit sogenannte Naturdinge in Betracht
kommen : jene mehr oder weniger der Willkür preisgegebene
Denkbarkeit eines Zieles gibt es eben nur bei Organismen.
Es ist das u. a. wesentlich darin begründet, daß zum Be-
griffe der Beziehung eines Geschehnisses auf ein reales Ziel
neben seinem Eingeordnetsein in ein typisch-zusammen-
gesetztes Ganze praktisch auch sein Auftreten in beliebig
vielen Fällen oder Exemplaren, kurz seine Mehrmalig-
keit in ideell unbegrenztem Maße gehört, und zwar seine
typische Mehrmaligkeit, ein Postulat, das eben bei den
organischen Natur dingen und nur bei ihnen erfüllt ist.
Sehr viele biologische Vorgänge können also analogien-
haft als ,, zweckmäßige" beschreibend gekennzeichnet
werden.
Es werden nun aber als zweckmäßig beschreibend
bezeichnet auch Vorgänge an gewissen nicht organischen
Dingen, welche freilich keine Natur dinge engeren Sinnes
sind — insofern nämlich hier überhaupt von einem Gegen-
satz zu ,, Natur" in nicht gerade strenger, aber verständ-
licher Form geredet werden kann — nämlich Vorgänge
an von Menschen gefertigten Artefakten, z. B.
Maschinen. Hier Hegt die zweite Erweiterung des Be-
griffs zweckmäßig, von der wir redeten, und hier liegt zu-
gleich der Ausgang der Aufrollung des biologischen Grund-
problems.
Ich halte es nicht für geraten, die ,, Maschinen" als
Dinge „zweckmäßig" zu nennen: für Vorgänge muß
diese deskriptive analogienhafte Bezeichnung aufgespart
bleiben; aber jedes Einzelgeschehnis an einer Maschine
ist „zweckmäßig".
1*
4 Kritische Vorbemerkung: Die Arten des Zweckmäßigen.
„Praktisch" mag die Maschine als Ganzes heißen; sie
ist das Ergebnis zweckmäßiger Tätigkeit, nämlich mensch-
licher Handlung; daß sie eben für Vorgänge da ist, das
unterscheidet sie von anderen menschlichen Artefakten,
z. B. von Kunstwerken.
Also auch anorganische Dinge, nämlich von Menschen
gefertigte, können Vorgänge aufweisen, welche das Prä-
dikat der Zweckmäßigkeit verdienen. Es ist klar, daß hier
die Zweckmäßigkeit jedes einzelnen Vorganges auf der
spezifischen Ordnung der spezifischen Teile der Maschine
beruht, daß sie durch diese gegeben ist; anders gesagt:
jeder einzelne Vorgang in der Maschine ist nur zweck-
mäßig, insofern er sich als Glied eines höheren spezi-
fischen Ganzen abspielt, und er tut das vermöge der ge-
gebenen Struktur oder Tektonik dieses Ganzen.
Unsere Betrachtungen haben uns jetzt zu dem
Punkte geführt, an dem dasjenige Problem, welches wir
das biologische Grundproblem genannt haben, in unseren
Gesichtskreis tritt. Eine ganz prinzipielle Frage drängt
sich uns auf: Sind etwa die als zweckmäßig be-
zeichneten Vorgänge an Organismen zweckmäßig
nur vermöge einer gegebenen Struktur oder Tek-
tonik, einer „Maschinerie" also im weitesten
, Sinne, auf welcher als Basis sie sich abspielen,
ebenso wie ja nur in diesem Sinne die Vorgänge
an einer von Menschen gefertigten Maschine
zweckmäßig sind; oder liegt eine andere beson-
dere Art des Zweckmäßigen im Bereiche des
organischen Lebens vor?
Man sieht: erst jetzt soll etwas über endgültige Ge-
setzlichkeit des Geschehens entschieden werden, bis-
her wurde nur in mehr äußerlicher Weise analogienhaft
beschrieben.
Denn es kann gar nicht oft genug wiederholt werden,
daß bloße Behauptung von Zweckmäßigkeit, bloße „Teleo -
logie" also, um nunmehr den üblichen Kunstausdruck
Kritische Vorbemerkung: Die Arten des Zweckmäßigen. 5
einzuführen, nur beschreibt. Ausdrücklich als deskrip-
tiv-teleologisch mag daher in diesem ganzen Buche
jede bloß über das Dasein von Zweckmäßigkeiten aus-
sagende Ansicht bezeichnet werden. Deskriptive Telo-
logie läßt das wichtigste noch offen, für das Lebendige
insbesondere diese Frage: sind nur vermöge ihrer ge-
gebenen Ordnung die Lebensvorgänge ,, teleologisch" zu
beurteilen, nur weil ihnen eine gegebene Maschine zu-
grunde liegt, während jeder einzelne von ihnen ein echter
physikalischer oder chemischer Vorgang ist, oder sind
Lebensvorgänge kraft einer unauflösbaren Eigengesetz-
lichkeit „zweckmäßig".
Als statische und als dynamische Teleologie
seien diese Gegensätze in Zukunft im Unterschiede von
bloß deskriptiver Teleologie bezeichnet; wer will, mag
auch von vorgebildeter und nichtvorgebildeter Zweck-
mäßigkeit bzw. Ganzheitsbezogenheit reden.
Die statische Teleologie führt zu einer „Maschinen-
theorie der Organismen"; Lebensgeschehen und seine
Ordnung ist ihr nur ein besonderer Fall der auch sonst
maßgebenden Geschehensgesetzlichkeiten und der allge-
meinen Ordnung der Welt ; die Konstellation aller einzelnen
Weltelemente ist einmal so, daß auch die als ,, Leben"
zusammengefaßten Vorgänge dabei herauskommen. Das
Leben ist dieser Auffassung nur als Kombination, nicht
seiner Gesetzlichkeit nach etwas Besonderes. Die Frage,
„woher" die gegebene Ordnung komme, mit welcher
statische Teleologie operiert, ist unlösbar; eben diese
Umstandes wegen erscheint die Lebensmaschine denn
doch als etwas anderes wie technische Maschinen, deren
Herkunft man kennt, mag die Art der Zweckmäßigkeit
des Geschehens, an beiden, nach Ansicht der teleologischen
Statiker, die gleiche sein.
Die dynamische Teleologie führt zu dem, was meist
„Vitalismus" genannt wird; sie führt zur Einsicht in
die „Autonomie der Lebensvorgänge".
6 Kritische Vorbemerkung: Die Arten des Zweckmäßigen.
Welche beider Auffassungen vom Leben ist richtig,
welche falsch ?
Wie frühere Zeiten diese Frage entschieden haben,
das darzustellen ist der Zweck dieses Buches, und auf
solche Darstellung vorzubereiten, war der Zweck dieser
Einleitung.
Wir haben nämlich mit dem Ergebnis dieser Ein-
leitung, mit der Einsicht nämlich, daß es eine statische
und eine dynamische Teleologie logisch geben könne,
gleichsam ein Reagens in Händen, ein Mittel, mit welchem
wir jeden historisch dargebotenen Ansichtenkomplex
prüfen können daraufhin, was er denn eigentlich bedeute,
und solches selbst dann, wenn einem Autor selbst, was
nicht selten vorkommt, die Begriffe deskriptiv-, statisch-
und dynamisch-teleologisch nichts weniger als geklärt
waren.
Zur Erleichterung der historischen Analyse und da-
mit zur Erleichterung des Verständnisses überhaupt ist
also diese logische Eingangsbetrachtung allem voran-
gestellt worden; sie soll durchaus etwas Vorläufiges, nicht
etwa unsere letzte Ansicht über „Zweckmäßigkeit", be-
deuten. —
Wenn wir uns nunmehr der Betrachtung der Ent-
wicklung des älteren Vitalismus zuwenden, so darf wohl
ein für allemal bemerkt sein, daß unserer Betrachtung
wemger am Persönlichen als, wenn das Wort erlaubt ist,
am Ansichtstypischen gelegen ist, daß sie daher auf
Vollständigkeit im Sinne wahrhafter „Geschichte" enge-
ren Sinnes kein Gewicht, auf passende Auswahl des Ge-
botenen dagegen einen um so größeren Nachdruck legt.
Wenn, trotz unserer Absicht auf Typisches, ein nicht
nur historischer, sondern gleichzeitig logisch fortent-
wickelnder Charakter, wie er in bekannten Geschichten
der Mechanik oder der Wärmelehre geboten ward, unserer
Darstellung unerreichbar bleibt, so wird solchen Mangel
wohl nur tadeln können, wer die sachlichen Sonderheiten
Kritische Vorbemerkung : Die Arten des Zweckmäßigen. 7
der in Frage kommenden Gebiete nicht kennt. Die
Mechanik ist, wenigstens soweit ihre „ Prinzipien" in Frage
kommen, eine zum großen Teil aprioristische, „selbst-
evidente" Wissenschaft, und von wichtigen Teilen der
Physik, der „Thermodynamik" zumal, gilt das gleiche;
hier ist Entdeckung gewissermaßen nur Selbstklärung,
Zufälligkeiten spielen wenig, bei den grundlegenden Prin-
zipien fast gar nicht, in die geschichtliche Entwicklung der
Einsichten hinein. Die Biologie andererseits ist in ihrem
Fortschritt in hohem Grade von Zufälligkeiten, von „Ent-
deckungen" engeren Sinnes abhängig, und wenn ihre Ge-
schichte auch nicht nur aus solchen besteht, so sind die-
selben doch geeignet, das eigentlich Logische an ihrem
Fortschreiten zum mindestens zu verschleiern.
I. Der ältere Vitalismus.
A. Aristoteles
Einer auf das Typische gehenden Geschichtsdarstel-
lung des Vitalismus kann Aristoteles als Vertreter des
Altertums überhaupt gelten. Zugleich aber sind seine
Ansichten über biologische Dinge die Grundlage alles
Theoretisierens bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein, so
daß er mit vollem Recht auch als Vertreter der mittel-
alterlichen und der frühmodernen Auffassungen des Leben-
digen gelten kann. Darum ist die Analyse der aristote-
lischen Lebenstheorie einer der Grundpfeiler jeder Ge-
schichtsschreibung über Biologie.
Für unsere Zwecke kommen neben einigen Abschnitten
der „Metaphysik" Teile der Schrift „Über die Entstehung
der Tiere" und die Schrift „Über die Seele" in Betracht1).
Wir werden die in dem von der Entstehung der Tiere
handelnden Werke niedergelegten theoretischen Ansichten
zuerst analysieren, um uns dann, nachdem wir gesehen
haben werden, wie Aristoteles hier alles auf Leistungen
der „Seele" zurückführt, den tiefer dringenden Dar-
legungen des zuletzt genannten Buches zuzuwenden. ,
Es ist von hohem Interesse, zu gewahren, wie schon
der erste Vertreter eines wissenschaftlichen „Vitalismus"
seinen Ausgang von den Problemen der Formbildung,
*) „Von der Zeugung und Entwicklung der Tiere" (Ilepi Zwwv
TeveaEwO, Griechisch-deutsche Ausgabe von Aubert und Wimmer.
Leipzig 1860. — „Drei Bücher über die Seele" (ITspt <jA>yjiO-
Deutsch von Kirchmann. Berlin 1871.
A. Aristoteles. 9
der Embryologie oder Ontogenie in moderner Sprechweise,
nimmt. Schon hier ist Aristoteles typisch, und zwar
ist er hier nicht nur ein typischer Vertreter des Altertums
und des Mittelalters, sondern auch ein typischer Vor-
läufer jeder vitalistischen Theorie bis in die aller jüngste
Zeit: neben den Phänomenen der tierischen koordinierten
Bewegungen sind stets die Erscheinungen der Form-
bildung aus dem Keim der Urausgang alles Vitalismus
gewesen. —
Männchen und Weibchen tragen beide, aber in ver-
schiedener Weise, zur Zeugung bei, indem beide Samen
(a:i£p{j.a) ausscheiden. Aber die weibliche Ausscheidung,
als welche Aristoteles den Monatsfluß deutet, liefert
nur den Stoff (6Xvj) zur Erzeugung, die männliche be-
dingt die Form und den Ursprung1) der Veränderung;
man sieht: den beiden grundlegendsten Begriffen des
Stagiriten begegnen wir, in besonderer Ausgestaltung,
auch hier.
Vom ganzen Körper her, wie behauptet worden war,
braucht der Same nicht zu kommen, denn „warum kann
nicht der Same von Haus aus so beschaffen sein, daß aus
ihm Blut und Fleisch werden kann, ohne daß er selbst Blut
und Fleisch zu sein braucht?" Die Mischung der männ-
lichen und weiblichen Ausscheidung ergibt den Keim
(xuT||Jta); die Sonderung der Keime in Eier (<J>ov) und
Würmer (gxoAyjS), je nachdem das Junge aus einem Teil
oder aus dem . Ganzen des Keimes entsteht, wobei denn
im ersteren Fall der Rest als Nahrung diene, hat für uns
hier kein tieferes Interesse.
Welche Rolle spielt nun im einzelnen der männliche
Same bei der Entwicklung, jenes „Höhere und Gött-
x) £180? y.cu apyr, vt\$ xiv^asw?. Das Wort xtvr)at? bedeutet
bei A. nicht nur Ortsbewegung, sondern ist viel allgemeiner;
Ähnliches gilt von ap^t), das nicht nur den zeitlichen Anfang
bedeutet.
10 I. Der ältere Vitalismus.
«
lichere" (ßsXxtov xat d-s'.oxspov), das sich nicht irgendwie
stofflich an ihr beteiligt ?
Hier beginnt des Aristoteles Entwicklungs-
theorie. —
Eine klare Fragestellung leitet sie ein:
„ Dieser Punkt nun fordert eine genauere Unter-
suchung, auf welche Art denn eine jede Pflanze oder jedes
Tier aus dem Samen entsteht. Denn notwendig muß
jedes Entstehende aus Etwas entstehen und durch Etwas
und als Etwas (sx v.voc, xai uno v.voq xai ti)". Das, woraus
es entsteht, ist der von der Mutter gelieferte Stoff.
,,Es handelt sich aber hier nicht sowohl darum aus was,
sondern durch was die Teile entstehen."
Daß nun dieser maßgebende Faktor, durch den die
Teile entstehen, etwas außerhalb des Samens Befindliches
sei, wird als widersinnig abgelehnt; also liegt er in ihm,
und zwar nicht als etwas von ihm Gesondertes, sondern
als ein wahrer Teil von ihm selbst, der auch in das Junge
als Teil desselben übergeht.
Aristoteles weiß durch mannigfache Beobachtungen,
daß die embryonalen Teile nicht alle zugleich da sind,
sondern sichtbarlich nacheinander entstehen: er ist also,
um modern zu reden, deskriptiver „Epigenetiker". Wie
entstehen diese Teile nun ? : ,, bildet der eine den anderen,
oder entstehen sie nur schlechthin nacheinander ?" Unser
Forscher entscheidet diese etwas dunkle Frage kurzerhand
dahin, daß nicht etwa das Herz, welches der erste sicht-
bare Teil des Embryos sei, die Leber mache, und diese
wieder einen anderen Teil, „sondern der eine Teil wird
nach dem anderen, wie nach dem Knaben der Mann
kommt, aber nicht durch jenen entsteht". Denn im
anderen Falle müsse ja, ganz abgesehen davon, daß es
an einem Grund für die Entstehung des Herzens fehlen
würde, Art und Gestalt der Leber im Herzen sein: ,,In
allem nämlich, was durch die Natur oder durch die Kunst
hervorgebracht wird, entsteht ein der Möglichkeit nach
A. Aristoteles. 11
Seiendes (b'jva\i.zi ov) durch ein in Wirklichkeit Seiendes
(svtsXsysta öv)".
Hier wird uns das zweite grundlegende Begriffspaar
der aristotelischen Philosophie, werden uns die Begriffe
Dynamis und Entelechie in embryologischem Rahmen
vorgeführt. Wir sind also mit einem Male auf Grund-
probleme, aber auch auf Grundschwierigkeiten der aristote-
lischen Philosophie überhaupt gekommen und müssen da-
her unsere fortschreitende biologische Darstellung kurz
unterbrechen :
Es handelte sich früher um Stoff und Form und handelt
sich jetzt um Möglichkeit und Wirklichkeit: Hyle und Eidos,
Dynamis und Entelechie. Dynamis bedeutet nun bei Aristo-
teles nicht das, was in neuerer Sprache in Begriffen wie
Potential oder potentielle Energie zum Ausdruck kommt,
wenigstens nicht nur und jedenfalls hier, an der von uns
herangezogenen Stelle, nicht. Der Begriff der Dynamis
ist viel weiter: er umfaßt die Möglichkeit, etwas zu
erleiden (öuvajitc; xoo xad-siv). Der „Dynamis" nach ist
auch im Marmorblock die Statue enthalten, ja gerade
dieser Sinn des Wortes ist es, an den Aristoteles, wie
sich noch zeigen wird, an unserer Stelle ausschließlich
denkt. Entelechie aber ist das im höchsten Sinne „Seiende"
einschließlich des ihm innewohnenden Strebens nach realer
Ausgestaltung: in diesem Sinne „ist" die Statue vor ihrer
Realisation im Geiste des Bildhauers. Man sieht, daß eher
noch als der Begriff der Dynamis derjenige der Entelechie
dem modernen Begriff des Potentiellen entspricht, obschon
auch nicht völlig. Aristotelisch gesprochen, kann man die
Entelechie am besten als dynamisch, als „sich äußernd"
oder doch „sich äußern könnend" gedachte „Form"
(vüoq,) bezeichnen.
Doch liegen tiefere logische Untersuchungen uns liier
ja fern, und so fahren wir denn in der Darstellung fort:
Es liegt eine offenbare Schwierigkeit darin begründet,
daß, wie erörtert, nicht ein Teil des werdenden Körpers
12 I. Der ältere Vitalismus.
die Entstehung des anderen bedingen soll, denn damit ist
eigentlich gesagt, daß der Grund für die Differenzierung
der Teile, um kurz zu sprechen, nicht im Samen gelegen
sei; sollte ja doch der Samen als wahrer Teil des werdenden
Körpers angesehen werden. Es war aber früher auch ge-
sagt, daß dieser Grund nicht außerhalb des Samens
liegen könne.
Wie löst sich dieser Knoten %
Er löst sich wohl dadurch, daß unter gewissen
Umständen doch ,, Etwas durch ein außer ihm Seiendes"
entstehen kann.
Und nun bringt Aristoteles in viel allgemeinerer
Form als früher jenes Geschehenschema wieder hervor,
welches er für den besonderen Fall des Entstehens eines
Organs aus dem anderen, also etwa der Leber aus dem
Herzen, nicht als anwendbar erachtete: „es gibt etwas, was
die Teile bildet, aber nicht in der Art, daß es ein indivi-
duelles Wesen wäre, oder als der erste vollendete Teil in
ihm vorhanden wäre"1), vielmehr ist die Formbildung als
Ganzes nach Art der Kunstschöpfungen zu beurteilen:
„Wie aber jeder Teil entsteht, muß man aus dem
Grundsatze herleiten, daß alles, was von Natur oder durch
Kunst wird, durch ein in Wirklichkeit Existierendes
(6tc ev£p"]f£K|L2) ovtoc;) aus einem der Anlage nach (^uvajxst)
ebenso Beschaffenen entsteht. Der Same nun ist ein
solches Wesen, und hat ein solches Bewegungsprinzip,
daß, wenn der Anstoß der Bewegung aufhört, ein jeder
Teil, und zwar als beseelter wird3)."
Das also ist die Grundlehre der aristotelischen
Entwicklungstheorie. Die Ansicht, daß und wie jeder
x) Die Übersetzung erscheint hier wenig zutreffend; das
Original lautet: ,,6xi |o.ev ouv lau ti 6 Ttoiei. outw? 8s &<; toSs w, ou8'
evurcap/ov w? T£T£teatj(.£vov xo Tipwxov, 8t)>.ov."
a) evepyeta und evxeXs/eia sind nahezu identisch.
3) To [i.£v ouv arcepfxa xotouxov xai s/ei xivrjuiv xat ap^Yjv xoiauxYjv,
MGT£ 7T0CUO[Jl£VT}C XTjC XtVT)ff£CO? vivSfffrotl EXOtOTOV TCOV {JtOptCÖV XOtl SJJt<]jU£0V.
A. Aristoteles. 13
organische Teil beseelt sei, daß also z. B. ein totes Auge
nur noch uneigentlich so genannt werde, tritt zunächst
zurück gegen die Hauptsache: Der Same bildet den
Körper durch eine Art von Beseelung aus dem
von der Mutter gelieferten Stoffe, und er tut
das kraft eines besonderen ,,Form"-Prinzips; dieses
Prinzip nun hat er von einem anderen, dem wahren ,,in
Wirklichkeit Existierenden" her; er spielt also eine Art
Mittlerrolle. Das ,,in Wirklichkeit Seiende", von dem
alles ausgeht, aber ist der Erzeugende oder vielmehr
dessen Seele.
Eine Lücke im Text schneidet hier die weitere Dar-
legung ab; das Wesentliche lag wohl schon vor.
Alle Entwicklung hat also die größte Ähnlichkeit mit
der Produktion von Kunstwerken; Aristoteles kommt
immer wieder auf dieses Gleichnis. Interessant ist zu be-
merken, wie er dem Anteil der unbelebten Faktoren so-
wohl an Entwicklung wie an Kunstproduktion durchaus
zutreffend gerecht wird: Härte, Weichheit und anderes
könne wohl Wärme oder Kälte bewirken, aber nicht die
„Wesenheit" (xov >.ofov) z. B. von Knochen, ebenso wie
Wärme und Kälte zwar das Eisen hart und weich mache,
aber noch kein Schwert schaffe.
Der Unterschied zwischen Kunst- und Naturwerk
wird trotz allem nicht übersehen: ,,die Kunst ist Ur-
sprung und Gestalt des Werdenden, aber in einem ande-
ren, die Bewegung der Natur aber hat in dem Ding
selbst statt, ausgehend von einem zweiten Wesen, welches
diese Gestalt schon in Wirklichkeit hat." —
Es wird nicht verkannt werden können, daß des
Aristoteles Entwicklungstheorie nicht von allen Dunkel-
heiten ganz frei ist; ja, ich glaube die Behauptung wagen
zu dürfen, daß Dunkelheiten in der vorstehenden Er-
örterung sicherlich nicht nur meiner Darstellungsart zu-
zuschreiben sind, mag dieselbe noch so verbesserungs-
fähig sein. Was trotz allem in höchste Bewunderung für
14 I- Der ältere Vitalismus.
den großen Griechen versetzt, das ist das überall sicht-
bare Ringen nach Klarheit in dieser schwierigsten aller
Natnrf ragen, dieses fortwährende Hin- und Herwenden
und Vertiefen derselben Fragen, diese feinste logische
Subtilität. Wie plump ist vieles Neuere dagegen! —
Wie der Same im einzelnen die Entwicklungsbeseelung
leistet, das wird recht kurz von Aristoteles abgemacht:
er setzt die Ausscheidung der Gebärmutter in dieselbe
Bewegung, in der er selbst sich befindet. Solches geht an,
weil ja das Weibchen gleichsam ein verstümmeltes Männ-
chen ist und sein Monatsfluß Samen ist, dem eben das
Prinzip der Seele fehlt.
Bedeutsamer für uns sind jene verschiedenen Stufen
von „Seele", welche gewissermaßen die verschiedenen
Stufen des Organischen kennzeichnen : Die Pflanzen haben
zeitlebens und die Tiere im Anfang nur die Ernährungs-
seele (frps-rraxYj 4>üXYi) » welche zugleich Wachstumsseele
(aüSJYpxY]) und auch mit jener im Samen als Prinzip
vorhandenen Zeugungsseele (<fevTfaxq) identisch ist. Spä-
ter bekommen die Tiere dazu die Empfindungsseele
(aiaÖTjTucYj) verbunden mit der begehrenden; kraft dieser
eben sind sie Tiere. Der Mensch allein besitzt als drittes
Vernunft (vous), sie allein ist ,,von außen" (früpafrsv) ge-
kommen und ist „göttlich" (frswv).
Doch sind wir damit bereits in die eigentliche Seelen-
theorie des Aristoteles eingetreten, aus welcher wir an
der Hand der drei Bücher ,,Über die Seele", wenigstens
einiges zur Vertiefung alles Gesagten hier beibringen
müssen.
Der Besitz einer der genannten Seelenstufen genügt
bereits, um einen Körper zu einem lebendigen zu machen,
denn Leben ist im allgemeinsten Sinne ,,die Ernährung
und das Wachsen und Abnehmen eines Dinges durch sich
selbst". Besitzt er mehrere Seelenstufen, so sind immer
in der höchsten alle niederen mit enthalten, ,,wie im
A. Aristoteles. 15
Viereck das Dreieck" mit enthalten ist, und zwar dient
jede niedere Stufe der höheren als Werkzeug, wie denn
schließlich die Körper nur Werkzeuge (op-favov) des
Seelischen sind und ,,nur der Seele wegen da sind".
Daß die Seele als „vollendete Wirklichkeit", als
,,Entelechie" den Körper organisiere, ward schon in der
Entwicklungstheorie erläutert; auch jetzt, in noch höhe-
rem Sinne, nennt Aristoteles wieder die Seele „gleich-
sam den Anfang (ap^y|) der lebenden Wesen", um dann zu
seiner berühmten Definition zu gelangen, daß in allge-
meinstem Sinne die Seele die ,, erste vollendete Wirk-
lichkeit (^pcoTTj svisXs/s'.a) eines dem Vermögen
nach (<$üvgc|isi) lebendigen Naturkörpers, und zwar
eines solchen, der Organe hat", sei.
Damit ist in der Tat, wenn man die Worte richtig
wendet, alles gesagt, was der große Denker sagen will:
die Seele ist zureichender Grund des Daseins
und des Soseins und des Sichsoverhaltens des
organischen Körpers in jeder Beziehung. Sie ist
im höchsten Sinne „Wirklichkeit", und zwar „wie die
Wissenschaft, nicht wie das gegenwärtige Wissen".
Die Frage, ob Seele und Körper Eins seien, hat so
wenig Sinn wie in bezug auf das Wachs und seine Gestalt.
Sie kann nicht ohne Körper sein, sie ist aber nicht der
Körper, sondern etwas am Körper; „wäre das Auge ein
lebendiges Wesen, so würde das Sehen seine Seele sein,
da dieses das begriffliche Sein des Auges ist, und das
Auge wäre dann der Stoff des Sehens".
Der Vernunft des Menschen (vouq) als höchster Seelen-
stufe dienen alle niederen Seelenstufen, wie schon gesagt,
als Werkzeuge ; die Leidenschaften gehören diesen niederen
Stufen an: nicht die höchste Seele also „zürnt oder bemit-
leidet, sondern der Mensch mittels der (niederen) Seele";
auch kommt das Alter nicht davon, daß die höchste
Seele etwas erlitten hat, sondern der Körper, worin
sie ist; „das Denken und Überlegen wird im Alter nur
16 I. Der ältere Vitalismus.
schwach, weil ein anderes im Inneren verdirbt, es selbst
ist leidlos".
Nur die Vernunft, wie sie ja auch von außen gekom-
men und göttlich ist, ist unsterblich: ,,wenn dieses Wesen
untergeht, so hört Erinnern und Leiden auf, denn es
gehört nicht zur Vernunft, sondern nur zu dem Gemein-
samen, was untergegangen ist."
Man beachte hier, was freilich des näheren in die all-
gemeine Metaphysik gehört, daß Aristoteles nicht, wie
wir heute, den großen Einschnitt im Reiche des Lebendigen
zwischen Gestaltungskräften und Seele setzt, sondern
zwischen Gestaltungskräften + niederen Seelenvermögen
und Vernunft. Auch ist nicht zu vergessen, daß Aristoteles
zwar insofern ,, Dualist" ist, als ihm der begriffliche
Gegensatz zwischen Form und Stoff ein Urgegensatz ist,
daß er aber realiter keinen ,, Stoff" ohne ,,Form"
kennt. Er ist also, wenn man so will, auch ,, Vitalist" für das
Anorganische, so daß ihm schließlich der einzige große
Einschnitt in der empirischen Wirklichkeit überhaupt
zwischen dem Geist (vo-jq) und allem anderen liegt.
Nach der anorganischen Seite hin war das ein Mangel;
er kennt Mechanik auch da nicht, wo sie zu Recht besteht.
Solches muß genügen, um uns über des Aristoteles
Ansicht vom Leben im weitesten Sinne aufzuklären; auf
feinere logische Untersuchungen über die Begriffe Dyna-
mis, Entelechie und Energie einzugehen, kann hier nicht
der Ort sein, ebensowenig auf intimere Erörterungen über
Stoff {ok-q); Form (slÖoq) und Wesen (o'jata); für Hegel
ist in dieser Hinsicht bekanntlich das aristotelische Denken
maßgebend geworden. —
Des Aristoteles Lebenslehre ist ein reiner Vitalis-
mus, und zwar möchte ich ihn ursprünglichen oder naiven
Vitalismus nennen, da er aus ganz unbefangenem Be-
trachten der Lebensphänomene heraus erwachsen ist,
nicht im Kampf gegen andere Doktrinen. Nur ganz ge-
A. Aristoteles. 17
legentlich, wie z. B. bei jener Bemerkung, daß doch
Wärme und Kälte nicht ein Schwert mache, zeigt sich
dem aufmerksamen Beobachter, daß Aristoteles bei
seinem Theoretisieren überhaupt Gegner hatte1): wir
wissen, daß die Materialisten der Schule Demokrits
solche Gegner waren, wie deren in Epikurs Schule
später viele erstanden. Vielleicht hielt Aristoteles,
auf seiner biologischen Sachkenntnis gegenüber den
luftigen Thesen der Demokritianer fußend, eine ein-
gehende Widerlegung für überflüssig. Immerhin hätte
er für die unbelebte Seite der Natur von ihnen lernen
können. —
Gegen Ende seines Buches von der Tierentwicklung
faßt Aristoteles einmal kurz zusammen, was seine
Natur auf fassung von derjenigen gegenerischer Philo-
sophen unterscheidet, eine Stelle, welche hier folgen
möge, da sie zugleich ein guter kurzer Ausdruck seines
Vitalismus, seiner Lebensautonomielehre ist:
„Es ist in den geordneten und gesetzlichen Werken
der Natur ein Jegliches nicht deswegen so beschaffen,
weil es mit solchen Eigenschaften entsteht, sondern
vielmehr, weil es ein so Beschaffenes ist, deshalb ent-
steht es mit solchen Eigenschaften: denn die Ent-
stehung und Entwicklung richtet sich nach dem Wesen
(ouata) und ist um des Wesens willen, nicht aber
dieses nach der Entstehung. Die alten Naturforscher
(<puaioXoifoi) hatten aber die entgegengesetzte Meinung,
weil sie nicht erkannt hatten, daß es mehrere Ursachen
gibt, sondern weil sie nur die stoffliche und die be-
wegende und auch diese nicht nach ihren Unterschieden
r) In der Schrift über die Seele bekämpft er einmal des
Demokrit Ansicht, daß die Seele ortsbewegt sein müsse, da sie
bewegen könne. Es gäbe einmal nicht nur Ortsbewegung, sondern
vier Arten Bewegung (xtvriai;), nämlich außer ihr Veränderung,
Zunahme und Abnahme, und ferner sei nicht einzusehen, weshalb
das Bewegende selbst bewegt sein müsse.
Driesch, Vitalismus. 2. Aufl. 2
18 I. I>er ältere Vitalismus.
kannten, die des Begriffs und des Zwecks aber außer
acht ließen1)."
Wir Neueren werden uns aus des Demokrit Lehr-
system immerhin den Begriff der Naturnotwendigkeit
zu eigen machen, welchen Aristoteles nicht in genügen-
der Strenge hat, mögen uns schon die schematischen
materialistischen Behauptungen nichts angehen. —
Die Bedeutung des biotheoretischen Systems des
Aristoteles kann gar nicht hoch genug eingeschätzt
werden. Obschon von Plato ausgehend, verdrängte er
wegen seiner schärferen logischen Begriffs-
mittel gerade in bezug auf im engeren Sinne Natur-
wissenschaftliches dessen Einfluß völlig: er hat in seinem
Begriff der „Enteleehie" das Band zwischen „Idee" und
Wirklichkeit geschaffen, welches bei Plato fehlt; und
eben diese Schöpfung brauchte die theoretische Natur-
forschung.
Aristoteles ist auch in biologischen Dingen — wie
in so vielen anderen — die Autorität bis ins siebzehnte,
ja für viele bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts.
Wir werden in unseren folgenden Betrachtungen immer
und immer wieder seine Ansichten in wechselndem Ge-
wände erblicken.
Daß man von neueren Forderungen aus sagen möchte :
Aristoteles behaupte doch eigentlich mehr, als er be-
weise, tut begreiflicherweise seinem Einfluß auf eine Zeit,
die es mit dem Beweisen überhaupt nicht so gar streng
nahm, keinen Abbruch. Und wir, die wir stolz darauf sind,
es mit dem Beweisen streng zu nehmen, deren intellek-
tuelles Gewissen sehr fein geworden ist: auch wir werden
im Verlaufe unserer Untersuchungen zu der Einsicht
kommen, daß Aristoteles jedenfalls sehr richtig „be-
hauptet" habe. —
x) Hierzu vergleiche man die berühmte vierteilige Definition
des Ursächlichen (^o outiov) im ersten Buche der Metaphysik.
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philosophie. 19
B. Die neue Wissenschaft und die neue
Philosophie. Harvey. G. E. Stahl.
Was Altertum und neuere Zeit in wissenschaftlicher
Hinsicht wirklich fundamental scheidet, das ist das mit
Galilei beginnende quantitative und analytische
Denken über Naturvorgänge; man könnte auch sagen, es
sei die Gewinnung des Begriffes des Naturgesetzes in
der neueren Zeit.
Gewiß kannte das Altertum einzelne quantitative
Naturbeziehungen, wie das Hebelgesetz und den Begriff
des spezifischen Gewichtes; aber es blieb hier eben beim
einzelnen: vollständig und allgemein ist von den Alten
unter allen auf die Natur bezüglichen Wissenschaften1)
nur die Geometrie und einiges aus der Statik entwickelt
worden.
Es ist nun bekannt und in zwei vorzüglichen Werken
eingehend geschildert2), wie jener großen Entdeckung der
Fallgesetze in steter Folge weitere Gewinnung wahrhaft
naturgesetzlicher Einsichten folgte, bis in Newton der
erste große Systematiker und Zusammenfasser alles bis
dahin Gewonnenen erstand. Alles Gewonnene aber war
Mechanik im engeren und weiteren Sinne, war Einsicht
in die möglichen und wirklichen Bewegungen und Gleich-
gewichte der Massen gewesen.
Nicht wunderbar ist es, daß ein so stolzer Siegeszug
eines Wissensgebietes, das seinerzeit ja das Wissensgebiet
war, seinen Einfluß übte auf die Gesamtheit alles Denkens,
welches sich auf Natur überhaupt bezog, also auf einen
großen Teil der Philosophie. War doch auch des Aristo-
teles Gesamtanschauung von dem Sondergebiet her be-
*) Ich sage nicht „Naturwissenschaften".
2) Dühring: Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien
der Mechanik. 3. Aufl. Leipzig 1887. — Mach: Die Mechanik
in ihrer Entwicklung.
2*
20 I. Der ältere Vitalismus.
einflußt gewesen, auf welchem er die meisten eigentlichen
Kenntnisse besaß: das war hier die Biologie, wenn schon,
wie wir sahen, weder Forschungsart noch Kenntnisse
unseren heutigen strengen Forderungen entsprechen.
So wird denn also die gesamte Naturtheorie der großen
Renaissancephilosophen von der Mechanik her beeinflußt,
sie wird mechanistisch; und mechanistisch wird auch
die Theorie des Lebens.
Wir haben in diesem Buche die Philosophie nicht
ihrer selbst willen, sondern nur, soweit sich eigentliches
naturwissenschaftliches Denken in ihrem Lichte abspielt,
zu berücksichtigen: es muß daher hier für unsere Zwecke
— um so mehr, als wir ja eine Geschichte des Vitalismus
und nicht seines Gegenteiles schreiben - — genügen, wenn
wir uns nur die Stellung desjenigen Philosophen etwas
näher betrachten, welcher dieser ganzen Periode des
,, Frühmechanismus", wie man sie nennen könnte, den
Stempel aufdrückt und mit Recht als der Vertreter der
,, neuen" Philosophie gegolten hat und noch gilt. Ich denke
an Descartes und an seine aus der neuen Mechanik ge-
speiste Lehre, daß die Pflanzen und Tiere Maschinen
seien, freilich von Gott eingerichtete Maschinen. Das ist
in unserer Sprechweise statische Teleologie; die Ganz-
heit des Organischen wird nicht geleugnet, nicht etwa auf
Rechnung eines Übrigbleibens des allein Erhaltungsfähigen
gesetzt; aber es werden doch keine ganz machenden
Naturagenzien zugelassen.
Man weiß nun freilich, daß Descartes' Maschinen-
theorie eine Ausnahme zuläßt: auch der Mensch ist
zwar seiner Physiologie im engeren Sinne nach Tier, also
Maschine. Aber da, wo seine vernünftige Seele als
res cogitans in Frage kommt, da wird das reine Maschinen-
geschehen durchbrochen. In der Zirbeldrüse geschieht
diese Wechselwirkung zwischen der ausgedehnten und der
denkenden Substanz, und zwar wird der Seele keine Im-
pulse gebende, sondern nur eine drehende Wirkung auf
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philosophie. 21
die Materie zugeschrieben, weil nur auf diese Weise des
Cartesius' oberster mechanischer Grundsatz, das Prinzip
von der Erhaltung der Bewegungsgröße(rav), gewahrt
bleibe ; ein äußerst feinsinniger Gedanke des großen Mannes.
Man erkennt in des Cartesius' Seele ohne weiteres
den aristotelischen Geist (voug); für diesen läßt also
Descartes eine Ausnahme im Sinne des Vitalismus zu;
ein lückenloses mechanisches System kann ihm also die
Natur nicht sein, denn der handelnde Mensch steht ja
doch in ihr. Die eigentliche Biologie im engeren Sinne
freilich wird dem Cartesius angewandte Mechanik, ganz
ebenso wie Hobbes, seinem großen britischen Zeit-
genossen, und wie vielen anderen derer, die er auf dem
Gebiete der reinen Philosophie bekämpfte.
Des Cartesius biologische Maschinentheorie wurde
nun zur herrschenden Lehre. Was sie an Gegnern vorfand,
das war wahrlich nicht geeignet, ihren Einfluß zu brechen :
ein aus dem Mittelalter überkommener verblaßter, mystisch
durchtränkter Aristotelismus war es lediglich, der von An-
hängern einer vitalistischen Lehre vorgeführt werden
konnte ; immer nur Gedanken über Gedanken und Bücher,
nicht wie bei den großen Mechanikern und bei Descartes
unmittelbare Gedanken über Natur: wahrlich man ver-
steht, wie in den Schulen1) der sogenannten Iatromecha-
niker und Iatrochemiker die maschinelle Lebensauf-
fassung weitgehenden Einfluß erlangen konnte; sie war
wenigstens klar ; man wußte, was man mit ihr hatte ; und
was man etwa mit des J. B. van Helmont2) „Archeus"
1) Borelli 1608—1679, Haies 1678-1761 usw. Näheres in
Band II des in der Vorrede genannten Werkes von Cl. Bernard.
Hierher gehört auchBoerhaave (1668— 1738), dessen Institutiones
medicae (1708, 4. Aufl., Leiden 1721) allerdings überhaupt weniger
ein theoretisierendes als ein nüchternes, tatsächliches und in dieser
Hinsicht sehr bedeutsames Werk sind.
2) 1577 _ 1644. Hauptwerk „Ortus Medicinae". Neue Auf-
lage vom Sohne des Verfassers. Amsterdam 1652. Vgl. F. Strunz,
J. Baptist van Helmont, 1907.
22 I- Der ältere Vitalismus.
besaß, war doch im günstigsten Falle nicht mehr als
eine verschlechterte Auflage der Seelenlehre des Aristo-
teles, mit neuplatonischen Gedanken durchsetzt.
Wenige Worte immerhin mögen dem eben genannten
Helmont persönlich gewidmet sein:
Daß er selbst sich gegen Aristoteles aufs äußerste
wehrt, daß er ihn lächerlich und unwissend (ridiculus et
naturae ignarus) nennt, ändert an unserem Urteil nichts:
die fertige Form, das Ziel könne keine wirkende Ursache
sein1), so eifert der neue Autor gegen den großen Alten.
Als ob Aristoteles je so etwas gesagt hätte1). Sein Be-
griff des etöoc, die „forma" des Helmont, überstieg
eben gewaltig an Begriffsfeinheit die Auffassungskraft
dieses letzteren: das etöo«; ist das absolut und ewig Wirk-
liche, in Hinsicht der jedesmal einzelnen Realisation
aber die Möglichkeit im Sinne der „Potenz" ; die Schola-
stik hatte das wohl verstanden.
Helmont aber glaubt etwas Neues zu sagen, wenn
er (gegen Aristoteles!) seinen „Archeus" als den
„Schmied" (faber) einführt, der das Bild des Erzeugten
und zu Erzeugenden in sich trägt, und nach diesem
Bilde die Geschehnisse ordnet2). Das ist doch wahrlich
durchaus die Aristotelische Lehre — nur weniger
tief.
x) „Nam in primis, cum omnis causa . . . causato sit prior:
certe, forma compositi causa esse nequit producti: sed potius
Entelechia ultima generationis, ipsissimaque generati essentia,
atque perfectio." Das Wort ,, Entelechia" ist hier sehr wenig
tief verstanden. — „Forma enim, cum sit generationis finis, non
est mere actus generationis: sed generati."
2) „Quidquid enim Aristoteles tribuit formae, sive per-
fectioni postremae, in scena rerum, id proprie, directive et ex-
secutive competit . . . Archeo seminali." „Ille inquam faber,
generati imaginem habet, ad cujus initium, destinationes rerum
agendarum componit. Constat Archeus vero, ex connexione
vitalis aurae, velut materiae, cum imagine seminali, quae est
interior nucleus spiritualis, foecunditatem seminis continens."
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philosophie. 23
Daß Helmont durchaus im Banne jüdisch-christ-
licher Dogmatik und Tradition steht, daß Paradies und
Hölle z. B. fortdauernd in seine Erörterungen hinein-
spielen, erhebt sie auch nicht gerade über die des un-
befangenen Griechen.
Erst mit dem Wiederaufkommen einer selbständigen,
beobachtenden und bis zu einem gewissen Grade auch
experimentierenden Physiologie und Entwicklungsge-
schichte beginnt auch wieder eine der näheren Erörterung
werte Behandlung der großen Probleme der Biologie, die
von kirchlicher und von materialistischer Dogmatik
gleich weit entfernt ist. Man wird das Wort „selbständig"
hier vielleicht beanstanden, wenn man die folgenden über
Harvey und Stahl handelnden Abschnitte gelesen haben
wird; so abhängig ist auch hier noch alles von der Autori-
tät des Aristoteles: immerhin doch liegen neue Tat-
sachen vor, über die gedacht wird, und immerhin ist
die Art der Gedankenarbeit doch eine solche, die wirk-
lich aus dem behandelten sachlichen oder begrifflichen
Gegenstand heraus zur Gewinnung klarer Einsichten zu
kommen sucht.
Harvey.
Der Entdecker des Blutkreislaufes und der Vertreter
des bekannten ,,Omne vivum ex ovo", William Harvey
(1578 — 1657), stellt in seinem Buche „Exercitationes de
generatione animalium"1) eine große Reihe theoretischer
Erörterungen über die Natur der Entwicklungsprozesse
an, die sich ihm im Verlaufe seiner Beobachtungen auf-
gedrängt hatten.
Schon His2) hat davor gewarnt, in jenem oft zitierten
Satze ,, Alles Lebendige stammt aus dem Ei", der sich
übrigens nur dem Sinne nach, aber nicht wörtlich bei
Harvey findet, einen gar zu modernen Gedanken sehen
2) London 1651; andere Ausgabe Haag 1680.
2) Man vergleiche seine in der Vorrede genannte Schrift.
24 I. Der ältere Vitalismus.
zu wollen: Harvey war nämlich durchaus kein Gegner
der Urzeugungslehre, die er vielmehr für Würmer, In-
sekten usw. annahm; sein berühmter Satz wollte nur be-
sagen, daß überall da, wo ,, Keime" vorkommen, deren
Natur durch das Lebensreich hindurch gleichförmig, näm-
lich eben „Ei" sei, er richtete sich also eigentlich nur gegen
des Aristoteles Trennung aller Keime in ,,Eier" und
„Würmer".
Doch ist das uns hier nicht die Hauptsache.
Von wesentlicher Bedeutung in lebenstheoretischer
Hinsicht ist jedoch bereits des Harvey Theorie der
Empfängnis: diese geschieht „per contagium aliquod",
durch eine Art Ansteckung, wie etwa Krankheiten ent-
stehen; im Gegensatz zur Ansicht des Aristoteles sollen
sich aber Vater und Mutter dabei beide wesentlich aktiv
verhalten, nicht etwa letztere nur den Stoff liefern. Man
nenne bekanntlich die Empfängnis „Conceptio", ebenso
wie man das spontane Auftreten neuer Gedankenreihen
„Konzeption" nenne; das sei durchaus berechtigt: „sunt
ambae immateriales", beide ,,Conceptiones" sind nichts
Materielles, der Uterus steht in der Tat mit dem Gehirn
in gewisser Parallele.
Es scheint, als habe sich Harvey hier durch den
bloßen Wortausdruck, durch den Gebrauch des Wortes
„Conceptio" in zwei Bedeutungen ohne weiteres zu seinen
theoretischen Konsequenzen verleiten lassen. Die spätere
„aura seminalis" ist ein Abkömmling der Harvey sehen
Zeugungstheorie .
Nach erfolgter Zeugung ist nun das zur Entwicklung
bereite „Ei" ein seltsames Ding: in jeder Hinsicht ist
es ein ,, medium quid", ein Mittelding, sowohl zwischen
„prineipium et finis", wie zwischen den Geschlechtern,
wie zwischen Beseeltem und Unbeseeltem, wie zwischen
Materie und etwas, das Bildungsfähigkeit (facultatem
opificem) in sich hat (Exerc. 26). Es ist nicht eigent-
lich ein Teil der Mutter, sondern lebt auf ihr wie ein
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philosophie. 25
Pilz auf einem Baum durch sein eigenes Leben (propria
sua vita); ein ,, corpus naturale" ist es, aber ein be-
seelter natürlicher Körper, wennschon nicht durch der
Mutter Seele beseelt; es ist nicht ,,opus uteri", sondern
,,opus animae", nicht des Uterus, sondern der Seele
Werk (1. c. 27).
Man erkennt hier ebensowohl die Abhängigkeit von
Aristoteles wie auch ein ernsthaftes Ringen um Klar-
heit in der Sache selbst; seines Lehrers Fabricius ab
Aquapendente gedenkt Harvey zumal in Hinsicht des
Tatsächlichen mit großer Hochachtung.
Vor Schilderung der eigentlichen Entwicklungs-
phänomene wird dem Ei noch ausdrücklich die aristote-
lische ,,anima vegetativa" actu, die ,,anima sensitiva"
potentia zugesprochen.
Die Entwicklung selbst nun geschieht ,,potius per
epigenesin quam per metamorphosin" (1. c. 45), mehr
durch Neu- als durch Umbildung, um die ja zu technischen
Ausdrücken gewordenen gräko-lateinischen Worte mög-
lichst zutreffend zu verdeutschen.
Wie von einem ,,opifex", einem Werkmeister, wird
die Entwicklung geleitet; ein gewisses ,,principium" ist in
den Keimen, aus und von welchem (ex quo et a quo) sie
hervorgehen, ein Prinzip, welches ,,primordium vegetale"
genannt werden kann, ein gewisses für sich Existierendes,
geeignet sich zur Form zu wandeln1).
Das geht nun alles über Aristoteles wenig hinaus
und ist recht unbestimmt. Wesentlich tiefer aber dringt
Harvey, wo er die Unterschiede seines ,,Principium"
von der bewußten Seele und seine in gewissem Sinne
der Seele gegenüber höhere Fähigkeiten darzulegen ver-
sucht. Hier klingen gewisse Äußerungen geradezu an
1) Liceat hoc nobis primordium vegetale nominare; nempe
substantiam quandam corpoream, vitam habentem potentia; vel
quoddam per se existens, quod aptum sit, in vegetativam formam
ab interno principio operante mutari (1. c. 62)
26 I- Der ältere Vitalismus.
viel spätere, bei Johannes Müller anzutreffende Dar-
legungen aufs engste an:
Was der Mensch erst lernen muß, das ist dem Natur-
prinzip angeboren und eingepflanzt (connatum et in-
situm); wer daher die Naturkörper mit Kunstwerken ohne
weiteres vergleicht, der ist kein zureichender Beurteiler
(aequus aestimator) der Natur.
Mit den Worten ,,deus sive natura naturans sive
anima mundi" sucht sich Harvey dann weiterzuhelfen,
um in einen geradezu erkenntniskritisch klingenden Ge-
danken auszumünden: daß es nämlich nur unserem Auf-
fassungsvermögen (conceptui nostro) so scheine, als ob
Klugheit und Intellekt nach unserer Art den Naturwerken
innewohne, da wir eben nach Maßgabe unserer Fähig-
keiten über die göttlichen Werke der Natur urteilen1).
Wie Aristoteles, so ist auch Harvey ein durchaus
unbefangener Vitalist: er will in Worte fassen, was er
über das Lebendige durch Erfahrung ermittelt zu haben
glaubt; selbstverständlich ist das eine Eigengesetz-
lichkeit für ihn2). Er beweist gerade so wenig wie sein
*) Quoniam igitur in puili fabrica ars et Providentia non
minus elucescunt, quam in hominis ac totius mundi creatione,
necesse esse f atemur, in generatione hominis, causam efficientem
ipso homine superiorem et praestantiorem daii. — Nam, quod
in nobis operationum artificialium principium est, intelltctus aut
Providentia, id in naturalibus illis operibus est natura, quodque
illis connatum et insitum, id nobis acquisitum. Ideoque, ad
artificialia qui respiciunt, haud aequi rerum naturalium aesti-
matores habendi sunt. — Fatendum est in naturae operibus nee
prudentiam nee artificium neque intellectum messe; sed ita solum
videri conceptui nostro, qui seeundum artes nostras et facultates
de rebus naturae divinis iudicamus (1. c. 50).
2 ) Nach H i s wäre des Harvey Teleologie mehr eine unbestimmt
metaphysisch als real gedachte, würde also etwa den Ansichten der
späteren Naturphilosophen ähnlich sein. Ich kann diese Ansicht
nicht teilen, zumal auf Grund der Begriffe „primordium vegetale",
,, anima vegetativa", „opifex" usw. glaube ich mit Recht, inHarvey
einen echten Vitalisten, also „dynamischen Teleologen" zu sehen.
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philosophie, 27
großer Vorläufer, aber mit tiefem Ernst ringt er nach
immer tieferer und tieferer Erfassung und Wiedergabe
der entschleierten Geheimnisse.
Einen großen Einfluß haben Harveys theoretische
Darlegungen nicht gehabt; und doch sind sie viel kriti-
scher und vorsichtiger als die Lehren jenes Nachfolgers,
der fast ein Jahrhundert als grundlegende Autorität in
Sachen des Vitalismus galt und den kennenzulernen wir
uns jetzt anschicken.
Georg Ernst Stahl (1660—1734),
der Urheber der Phlogistontheorie in der Chemie, war
lange Jahre als Professor in Halle tätig. In seiner ,, Theoria
medica vera"1) teilt er uns seine Ansichten über das
Lebendige mit, welche, um das gleich im voraus zu sagen,
nichts weniger als sonderlich modern anmuten und nur
wegen des großen Einflusses, den sie gewannen, von uns
in Breite zu behandeln sind; bezieht sich auf Stahl doch
fast jeder biologische Schriftsteller bis zum Ausgang des
Jahrhunderts der Aufklärung.
Stahl beginnt mit einer logischen Untersuchung der
Begriffe Organismus und Mechanismus und ihrer Unter-
schiede; letzterer ist dem ersteren subordiniert. Ebenso
sind Mischung und Leben (mixtio et vita) verschiedene
Dinge, auch ,,aggregatum et individuum"; der lebende
Körper habe eine ,, mixtio specialis" und eine ,,aggregatio
specialis" je von hoher Mannigfaltigkeit, und eben wegen
deren leichter Zerstörbarkeit erfordere er besondere
Kräfte der Erhaltung.
Der Zufall (casus) im Sinne des Demokrit oder
Epikur genügt also nicht zur Erklärung des Lebens-
körpers; von den ewigen Gesetzen, den ,,leges aeternae"
der Alten hat man auszugehen. Mit ausdrücklicher Wen-
dung gegen die Cartesianer, ,,qui corpus humanum machi-
M 2. Auflage. Halle 1737.
28 I- Der ältere Vitalismus.
nam absolutam esse volunt", und nach denen die Seele
nur gleichsam zur Betrachtung beigegeben (superinduci)
worden sei, verwirft er jede Art Maschinentheorie (Theoria,
2. Aufl., S. 30f.).
Die wahre bewußte Seele ist Urgrund des Lebens,
sie, ein dreifaches Wesen (ens triplex), nämlich ein aktives,
bewegendes und vernünftiges (ens activum, movens et
intelligens), schafft sich den Körper, weil sie ein „instru-
mentum" braucht. Nur also wegen der Seele und durch
sie und aus keinem anderen Grunde existiert der Organis-
mus1); die Seele aber wirkt auf den Körper durch ihre
Leidenschaften („Pathemata"). Nichts würde die Seele
ohne den Körper vermögen, weder aktiv noch passiv.
Ihre eigentliche Leistung aber sind Bewegungen, und
zwar gerichtete und geordnete (motus, quos dirigit et
instruit).
Halten wir hier einen Augenblick mit der Schilderung
inne, so erscheint also nach Stahls Ansicht die ,, Seele"
als Grundprinzip sowohl der Entstehung wie auch
alles Funktionieren des Körpers gleichermaßen;
von ihr handelt, modern gesprochen, Funktionalphysio-
logie und Entwicklungsphysiologie2).
Stahl weiß wohl, wie er dadurch, daß er alle diese
Leistungen der vernünftigen Seele, der ,,anima ratio-
nalis" zuschreibt, in Widerspruch zu den meisten anderen
Physiologen tritt:
Aristoteles habe neben der anima rationalis die
anima vegetativa und die anima sensitiva zugelassen und
x) „Non solum corpus simpliciter propter aninam humanam,
rationalem inquam, existere necessario oportet, sed etiam absolute
propter nullam aliam rem." „Anima rationalis non solum corpori
huic inest, sed etiam et per illud agit sentiendo, et in illud agit,
motus locales producendo" (Theoria, 2. Aufl., S. 118).
2) „Ipsa anima et struit sibi corpus, ita ut ipsius usibus,
quibus solis servit, aptum Sit, et regit illud ipsum, actuat, movet,
directe atque immediate, sine alterius moventis interventu aut
concursu" (1. c. S 205).
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philosophie. 29
letzteren beiden eine gewisse „yvoxjk;"1), jener ersten
allein ,,intellectus" zugesprochen; auch habe zum Bei-
spiel Helmont von einer Seele mit höheren und niederen
Fähigkeiten geredet, und das sei ja auch ganz „plau-
sibilis", weil, wer mehr könne, auch weniger könne (,,quod
qui potest plus, potest etiam minus"); aber im ganzen
seien doch alle diese Untersuchungen „steriles" und dazu
überflüssig : man komme sehr gut mit der anima rationalis
allein aus.
Durchaus hinfällig sei der Einwand, daß die ver-
nünftige Seele nicht bewegen könne, weil sie immaterial
sei; vermittelnde Agentien namentlich beseitigten die
Schwierigkeit gar nicht, wenn anders es hier eine gäbe,
da dieselben doch auch entweder material oder immaterial
wären, so daß an einem Punkt der Kette jener Übergang
doch statthaben müsse.
Man könne aber vielleicht einwenden, daß die ver-
i
nünftige Seele von den vegetativen Funktionen doch
keine Kenntnis und Erinnerung habe (,,conscientia, recor-
datio et memoria"); auch diesen Gegengrund schneidet
Stahl zunächst durch eine recht gekünstelte Unter-
suchung2), alsdann durch einen weit besseren und ganz
modern anmutenden Gedankengang ab:
Auch während die Seele denke oder vergleiche, wisse
sie ja nicht eigentlich, daß sie eben dieses tue, auch wenn
sie sich erinnere, sei dieser Akt als solcher eine eigentlich
unbewußte Leistung3), und vom Willen gelte ganz das-
x) Stahl verwendet das griechische Wort; es soll wohl so
etwas wie ,, instinktive Kenntnis" bedeuten.
2) Er unterscheidet die Begriffe Xoyos und loyia[xoq: Xoyoc = ,,ui-
tellectus simplex, simpliciorum, imprimis autem subtilissimorum" ;
Xoyia[j.oc = ,,ratiocinatio atque comparatio plurium et insuper
quidem per crassissimas circumstantias sensibiles, visibiles et
tangibiles notorum" (1. c S. 208 f.).
3) Imo altius cogitandum est, quod etiam in ipsis adeo
ipsius rationis absolute propriis actibus, eorumque speci-
fica et f ormali suprema determinatione constituenda, anima
30 I« Der ältere Vitalismus.
selbe, nicht eigentlich mit Bewußtheit entscheide sich
dieser. Ganz und gar nicht also beweise das Nichtwissen
der Seele von irgend etwas, daß sie nicht doch zu eben
diesem kausal in Beziehung sei.
Es hat nach diesen grundlegenden Erörterungen, da
doch eben Einzeltatsachen und ihre Erklärung bei Stahl
so gut wie gar nicht in Betracht kommen, kein eigent-
liches Interesse, ihm ins Speziellere zu folgen, und so mag
denn nur über das, was er zur Folge der Formentwicklung
beibringt, noch einiges kurz bemerkt sein:
Dem Sperma eine „vis plastica" oder einen „spiritus
genitalis" zuzuschreiben, sind natürlich überflüssige Ver-
mehrungen der Fiktionen (,,supervacuae multiplicationes
rerum fictitiarum"), da ja die vernünftige Seele einmal
alles besorgt; übrigens sei auch das „Versehen" durchaus
beweisend für ihre formative Tätigkeit. Als bedenklich
erscheint nur die Frage, wie denn der Erzeuger Seele
zum werdenden Körper überhaupt in Beziehung treten
könnte, der doch ein fremder sei. Nun, es habe eben
die Seele Beziehungen nicht nur zum „corpus formatum",
sondern auch zum „corpus formandum", nicht nur zum
geformten, sondern auch zum zu formenden Körper, und
wem das nicht genüge, der möge Besseres an die Stelle setzen.
Die notwendig werdende Teilung der Seele aber sei
ganz wohl verständlich, da ja auch ihre Leistungen, die
Bewegungen nämlich, teilbare Dinge seien1).
Ich denke, der Leser wird hier Stahl recht geben,
wenn er diese Darlegungen als „steriles et otiosae quae-
neque ratiocinari atque simpliciter comparare appareat, nee
ullam huius rei conscientiam, saltem quod hoc agat, ne
dum memoriam sive quomodo hoc egerit, quod tarnen agit,
habeat. Quotus quisque enim, aut quoties, cogitat quod cogitet ?
Quis hominum ratione adsequitur, quomodo cogitet? Ne dum
ut huius meminerit, quomodo factum sit ? (1. c. S. 209.)
x) „Cum motus sit res adeo divisibilis, etiam movens videri
potest divisibile" (1. c. S. 374).
B. Die neue Wissenschaft und die neue Philosophie. 31
stiones" bezeichnet, jedenfalls ist seine Behandlung der
Sachlage recht „leer und müßig".
Und so wollen wir denn von Stahl Abschied nehmen,
indem wir noch den guten Gedanken mitteilen, daß nicht
etwa das Blut der Mutter aus eigenem Wesen den Embryo
bilde, und indem wir unseren Autor zum Schluß seine
Ansichten noch einmal zusammenfassen lassen:
,,Propterea vero haec toties repetenda sunt, ut me-
mori utique mente haereant, quod primae undique
partes perpetuo sint actionum, minime vero mate-
riarum: at actionum quidem minime in materiis, sed
in materias: adeo ut hae ad illas simpliciter passive,
et generaliter indifferenter sese habeant, et omnino
activae dispositioni atque coaptationi in quamlibet
structuram atque figuram pure obsequantur. Quod
notandum" (1. c. 383f.).
Oder in freier Übertragung: „Es kann aber gar nicht
oft genug wiederholt werden, daß die Grundlage des
Lebens Aktivitäten, nicht aber Materien sind, und zwar
Aktivitäten nicht etwa in Materien, sondern in bezug auf
solche: derart, daß die Materien sich nur passiv und in-
different zu jenen Aktivitäten verhalten, und der Ver-
teilung und Zuordnung zu irgendeiner Form oder Struktur
einfach gehorchen. Das merke man sich!"
Verdienten diese Lehren wirklich einen Einfluß über
viele Dezennien ? Wird hier im Biologischen auch nur
im geringsten über Aristoteles hinaus, wird nicht eigent-
lich hinter ihn zurückgegangen? Ist der erkenntnis-
kritische Rahmen des Ganzen nicht wesentlich ungeklärter,
als es der zeitgenössischen Philosophie entsprach, die doch
gerade die Anfänge einer Kritik der Erkenntnis erlebte ?
Sicherlich ist es zu einem guten Teil auch die äußere
Autorität des durch Jahre hindurch einflußreichen Pro-
fessors gewesen, die hier schulbildend gewirkt hat. Daß
es ihm an Selbstbewußtsein nicht fehlte, zeigt der Ton
des Ganzen, der nichts weniger als ein suchender, sondern
32 I. Der ältere Vitalismus.
ein rechthaberischer und alles irgendwie Unbequeme
skrupellos beseitigender ist.
Aber verständlich ist trotzdem die Wirkung des
Stahlschen Buches aus ihm selbst, mag es auch der
sachlichen Grundlagen ermangeln, welche den Theorien
Harveys festen Boden gaben. Das großzügige Ganze
ist es, was an dem Stahlschen Buche wirkt: dieses Über-
blicken aller logischen Konsequenzen, mögen sie, wenn
sie schwierig erscheinen, auch oft recht kurzerhand er-
ledigt sein. Und das Ganze war zwar nicht erkenntnis-
kritisch so tief geklärt, wie es hätte sein dürfen und
sein können, aber es war doch frei von Mystik und
Theologie: es war denn doch etwas ganz anderes als die
Phantasien van Helmonts.
Stahl ist der erste gewesen, der uns nach Aristoteles
ein großes System einer wissenschaftlichen theo-
retischen Biologie gegeben hat; und als solches wirk-
liches System, als großer, logisch gegliedeter Bau
hat es gewirkt mehr als ähnliche, aber phantastische
frühere Versuche (van Helmont), mehr als gleichzeitige
besser fundierte Theoriegebäude kleineren Stiles (Har vey),
mehr endlich als gleichzeitige konkurrierende Systemge-
bäude schwächlicher Art1).
Ich möchte bezweifeln, daß alle, die Stahl in späterer
Zeit nennen, die ,, Theoria vera" gelesen haben. Man
kannte ihn eben als eine Art Typus. Zitiert habe ich
nirgendwo eine Stelle aus ihm gefunden.
Stahl ist „Animist" im Gegensatz zum ,, Vitalisten",
wenn man hier einen Unterschied schaffen will ; jedenfalls er-
blaßte derselbe bald, und in jener Schule vonMontpellier2),
in der sich Stahls Einfluß besonders geltend machte, fin-
den sich Vitalisten der verschiedensten Abstufungen.
x) Der Urheber eines solchen war z. B. F. Hoffmann (1660
bis 1742): „Philosophia corporis humani vivi et sani" 1718.
Opusciüa medico -practica. Halle 1736.
2) Näheres darüber bei Cl. Bernard 11.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 33
Und nun treten wir in die Betrachtung von Wissens-
erörterungen ein, in denen das Tatsächliche eine etwas
größere Rolle spielt als in dem bisher Dargelegten.
C. Vitalistische Lehren im Gefolge des
Streites um „Evolution" und „Epigenesis44.
Die Entdeckung einer großen Anzahl neuer Tatsachen
ist es vor allem, welche der Geschichte der Biologie um
die Wende des siebzehnten Jahrhunderts den Charakter
gibt ; und im Anschluß an eben diese Tatsachen erstanden
neue Probleme, neue Lehren.
Leeuwenhoek (1632 — 1723) hatte die Spermatozoen
entdeckt1); Swammerdam (1637 — 1680) und Malpighi
(1628 — 1694) und andere hatten eine Menge entwick-
lungsgeschichtlicher Tatsachen am Huhn, am Frosch und
an Insekten zutage gefördert; durch Bonnet (1720 bis
1793), Needham (1713—1781), Haller (1708—1777),
Wolff (1733—1794) wurden diese wesentlich erweitert
und vertieft; Reaumur (1683—1757), Trembley (1700
bis 1784) und Spallanzani (1729 — 1799) entdeckten das
Regenerations vermögen der Tiere, vornehmlich an Süß-
wasserpolypen und an Würmern experimentierend. Ein
näheres Verfolgen dieser Entdeckungen gehört in eine
Geschichte der allgemeinen Zoologie.
Uns interessieren die Lehren, welche durch die Ent-
deckungen gezeitigt wurden; diese Lehren aber knüpfen
an die Formulierung bestimmter Probleme an, und dieser
Probleme bildeten sich vornehmlich drei: die Frage nach
der Gesetzlichkeit der eigentlichen Entwicklung aus dem
Keim, die Frage nach der Gesetzlichkeit der Regeneration
und die Frage nach dem Ursprung der Keime; die letzte
x) Wenigstens sind sie unter seiner Leitung entdeckt worden;
gesehen hat sie zuerst der Student Hamm.
Drie seh, Vitalismus. 2. Aufl. 3
34 !■ Der ältere Vitalismus.
Frage schließt die Probleme der Zeugung und der so-
genannten „Vererbung", aber auch das Problem der so-
genannten „Urzeugung" ein.
Die Lösungs versuche der aufgestellten Probleme, die
„Theorien" also, gruppieren sich um folgende Denkmög-
lichkeiten und Begriffe:
Entwicklung kann entweder auf Grund einer miniatur-
artigen Präexistenz der Form im Keime erfolgen, in
welchem Falle sie eigentlich nur Wachstum von etwas
schon Vorhandenem ist, oder aber sie ist Neubildung
von Verschiedenem aus mehr oder weniger Gleichartigem :
diese Trennung ergibt zunächst die umfassenden Grund-
begriffe der Evolution und Epigenesis.
Der Begriff der Evolution nun kann auf die eigent-
liche Entwicklung aus dem Keim beschränkt bleiben,
während die Entstehung des Keimes selbst als Neubildung,
als Epigenesis betrachtet wird; oder aber es wird über-
haupt jede Neubildung geleugnet: dann wird die Evolu-
tionstheorie zur ,, Einschachte] ungslehre", es wird die Prä-
existenz aller Keime ineinander von der Schöpfung her
behauptet; und hier kann nun eine Scheidung wieder
statthaben auf Grund der Alternative, daß der männliche
oder der weibliche Beitrag zum Keime Träger des In-
einandergeschachtelten ist; die beiden Lager der „Animal-
culisten" und der „Ovulisten" ergeben sich auf diese
Weise.
Epigenesis anderseits kann einmal als Neubildung des
Organisierten aus dem absolut Ungeordneten, aber auch
als Neubildung des Hoch- aus dem Niederorganisierten
gedacht werden.
Der letzte Begriff leitet zu modernen Vorstellungen
über: in gewissem Grade versöhnt er Evolution und Epi-
genesis. Den älteren Forschern, die uns hier angehen,
war aber gerade dieser Begriff am längsten fremd, wie
wir uns denn überhaupt sehr hüten müssen, die uns ge-
läufigen Vorstellungen ohne weiteres jenen Autoren unter-
C. „Evolution" und „Epigenesis". 35
zulegen; schon allein der Umstand, daß bei ihnen der
Begriff Epigenesis, wenigstens anfangs, stets mit der Über-
zeugung der Realität von „Urzeugung" verknüpft ist,
warnt hier zur Vorsicht.
Die namhafteren Forscher verteilen sich in folgender
Weise auf die von uns erörterten Ansichtsmöglichkeiten:
Evolutionisten strengsten und weitesten Sinnes,
und zwar „Ovulisten", sind Swammerdam, Malpighi,
Bonnet, Haller, Spallanzani u.a.; „Animalculisten"
sind Leeuwenhoek, Hartsoeker u. a., ihnen schloß
sich Leibniz an.
Strenge Epigenetiker sind Needham und Mau-
pertuis.
Epigenetiker für die Keimesentstehung, aber Evolu-
tionist für die Entwicklung ist Buffon.
Als Hauptvertreter einer geklärteren Epigenese können
Wolff und Blumenbach gelten; hier stehen wir dann an
der Schwelle einer neuen Zeit.
Alle Epigenetiker nun sind Vitalisten, und
dadurch eben wird der ganze Streitfall für uns von so
großer Bedeutung. Doch kommen in Hinsicht ihrer
theoretischen Stellungnahme überhaupt nur wenige der
genannten Forscher als bedeutsam in Betracht; gerade
einige der hervorragendsten Beobachter und Experimen-
tatoren, seltsamerweise sämtlich Evolutionisten, scheiden
als theoretisch wenig selbständig aus, so Swammerdam,
Leeuwenhoek, Spallanzani, Reaumur, Trem-
bley u. a.
Leibniz.
Wir beginnen die intimere Darstellung dieser neuen
Periode biologischer Theoriengeschichte in derselben Weise,
in der wir die Darstellung der vorangegangenen begonnen
haben, nämlich mit einer kurzen Würdigung der Lehren
des für sie repräsentativen Philosophen. Das war für die
ältere Periode Descartes, für die neue ist es Leibniz. In
3*
36 I« Der ältere Vitalismus.
beiden Fällen steht der angesehenste Philosoph gegen
die Vitalisten, ohne Materialist zu sein.
Daß Leibniz mit den Grundbegriffen der Monade
und der prästabilierten Harmonie arbeitet, darf als
bekannt vorausgesetzt werden, ebenso, im Ungefähren,
der Inhalt dieser Begriffe. Weniger bekannt ist jedoch,
daß der Begriff der prästabilierten Harmonie bei dem
großen Denker eigentlich drei verschiedene Sach-
verhalte umfaßt, von denen der eine gerade von ganz
besonderem biologischen Interesse ist. Man kennt nun
allgemein die Leibnizsche Lehre von der harmonia prae-
stabilita, insofern sie auf das Verhältnis von Welterleben
und Weltgeschehen geht, wobei wir auf die schwierige
Frage, ob Leibniz das Geschehen an sich als mechanisch
gegolten habe, oder ob ihm, schon ganz ähnlich wie Kant,
alles Raumesgeschehen nur ein, freilich auf ein An-sich
hinweisendes, Phänomen gewesen sei, nicht eingehen
können. Es gibt nun aber neben dieser bekanntesten
Harmonieart für Leibniz noch zwei andere; zunächst die
nur kurz von uns zu erwähnende zwischen dem physischen
Reiche der Natur und dem moralischen Reiche der
,, Gnade"1), vermöge welcher die Züchtigung und Be-
lohnung der Geister durch Erdkatastrophen und Ver-
wandtes im allgemeinen Weltmechanismus von Ewigkeit
her harmonisch vorgesehen ist, so daß trotz völliger
kausaler Isoliertheit alles Geschehens, das ja im letzten
Grunde nur intramonadisch ist, doch im richtigen Momente
Strafe und Belohnung herauskommt — eines der bizarrsten
Gedankengebilde in Leibniz' System. Freilich, was uns
nun angeht, ist kaum weniger bizarr:
Es besteht neben der psycho-physischen und der
ethiko-physi sehen noch eine embryologische, oder
schärfer: vitalistisch-mechanistische prästabilierte Har-
monie.
x) Monadologie Nr. 87, 88, 89; s. auch Theodizee u. sonst.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 37
Monaden gibt es unendlich viele in unendlichen, nach
der „Klarheit" bemessenen Gradabstufungen. In gewissem
Widerspruch mit dieser Lehre werden aber auch gelegent-
lich die Monaden in vier große Gruppen eingeteilt : Körper-
monaden, „Form"monaden, Seelenmonaden und Engel.
Für das morphogenetische Lebensgeschehen kommen nur
die Formmonaden und die Körpermonaden, die wir
praktisch wie die Atome der Physik behandeln mögen, in
Frage. Die „Harmonie" zwischen den Aktionen beider
aber besteht darin, daß die Formmonade das Streben
(Conatus) hat, die Atome so zu lenken, daß der Leib
aus ihnen im Wege der Embryologie oder Regeneration
entsteht, daß aber jedes einzelne Atom sich schon aus
eigner Natur und eignem ,, Conatus" so bewegt, daß
der Organismus herauskommen muß. Also, im Bilde:
Der Zugführer pfeift, der Vorsteher hebt den Stab, der
Lokomotivführer öffnet das Ventil, der Zug fährt ab —
aber, er wäre aus eigener Natur auch ohne alle jene Vor-
gänge in demselben Moment „abgefahren".
Man hat hier, wie man sieht, einen Fall von dem vor
sich, was man heute „Vereinigung" von Mechanismus
und Teleologie zu nennen pflegt, wobei es dahingestellt
bleibe, ob man in solchem Falle überhaupt noch von
„Mechanismus" im eigentlichen Sinne reden dürfte1).
Jedenfalls gilt Leibniz die Gesamtheit der Leibes-
atome eines Organismus als Maschine, ja, weil er auch
die Einschachtelungslehre, nicht nur die Evolutionslehre
annimmt, auch die gesamte Kette der Generationen, und
gerade dem Begriff der organischen Maschine wird
nun von ihm noch eine besondere Betrachtung gewidmet.
Es besteht ein Unterschied „nicht allein im Grade,
sondern sogar in der Art", selbst „zwischen den gering-
fügigsten Hervorbringungen und Mechanismen der gött-
lichen Weisheit und den größten Meisterwerken der Kunst
l) Vgl. meine Wirklkhkeitshhre, 2. Aufl. 1922, S. 79 f.
38 I. Der ältere Vitalismus.
eines begrenzten Geistes". „Die Maschinen der Natur
haben nämlich eine wirklich unendliche Zahl von Organen
und sind so gut ausgerüstet and allen Unfällen gegenüber
stichhaltig, daß es nicht möglich ist, sie zu zerstören.
Eine natürliche Maschine bleibt noch in ihren kleinsten
Teilen Maschine, und mehr noch: sie bleibt immer die
nämliche Maschine, die sie war, da sie durch die ver-
schiedenen Zuschnitte, die sie erhält, nur umgestaltet,
bald ausgedehnt, bald zusammengedrückt und nur gleich-
sam konzentriert wird, wenn man sie für untergegangen
hält"1).
Maschinen, aber sehr seltsame Maschinen freilich,
sind also die Organismen nach Leibniz. In jedem unend-
lich kleinen Teil sind sie noch Maschinen, und zwar ,,die
nämlichen, die sie waren". Leibniz führt hier im Grunde
den Begriff des Maschinendifferentials ein.
Das scheint uns nun freilich ein unmöglicher Begriff
zu sein, denn der Begriff des „unendlich kleinen" Zu-
wachses hat nur Sinn in Anwendung auf Homogenes,
und es ist gar nicht verständlich, was für extensive
Mannigfaltigkeiten ein unendlich kleiner Zuwachs, der
selbst eine, und zwar dieselbe extensive Mannigfaltig-
keit sein soll, eigentlich bedeuten solle. Geht man
aber von extensiven Mannigfaltigkeiten zu intensiven
über, so bricht man mit dem Maschinenbegriff und
würde, in weiterer Verfolgung der Sache, zu den Ge-
dankengängen kommen, auf die ich selbst, wie sich zeigen
wird, meine Lehre von der Autonomie des Lebendigen
gegründet habe.
Doch wir müssen die Lehren des Philosophen der
embryologischen Evolution verlassen, um die eigent-
lichen biologischen Theoretiker unserer Epoche näher
kennenzulernen .
*) Neues System über die Natur. Nr. 10 (Übersetzung von
Habs). Ähnlich Monadologie Nr. 64.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 39
Buffon, Needham, Maupertuis.
George Louis Leclerc Buffon (1702—1788) hat
in seiner berühmten „Histoire naturelle"1) die Vorgänge
der Zeugung und Entwicklung einer eingehenden Analyse
unterzogen. Wir haben schon angedeutet, daß ihn diese
Zergliederung in gewissem Grade in beide feindlichen
Lager hineinführt.
Ein Baum, ein Polyp, kurz Organismen, welche ihre
Form wiederherzustellen oder durch Knospen zu ver-
mehren vermögen, sind aus lauter kleinen Teilen zusam-
mengesetzt zu denken, aus denen sie wieder hervorgehen
können. Diese Teile sind gewissermaßen sie selbst
verkleinert, wie die Einzelkriställchen eines Salz würf eis
er selbst verkleinert sind. Bei den Organismen, welchen
das Vermögen der Knospung und der Regeneration abgeht,
sind wenigstens die Keime solche verkleinerte Ganze.
Alles Wachstum ist also nur Anlagerung gleicher,
dem Wesen nach schon vorhandener Teile : im Samenkorn
ist schon der Baum.
Das ist strengster Evolutionismus. Aber nun ersteht
für Buffon die Frage: sind auch im Samenkorn schon
alle künftigen Samenkörner ? Und diese Frage verneint
er, um eine Theorie zu erfinden, welche ihn einerseits
zum Vitalisten macht und welche anderseits der be-
kannten Pangenesislehre Ch. Darwins in gewissem Grade
ähnelt2):
Eine „innerliche Form", ein ,,moule interne" ist es,
der, selbst schon das Ganze als Mannigfaltigkeit dar-
stellend, die Entwicklung, d. h. eigentlich das bloße
Wachstum, leitet, der der neu sich ansetzenden Materie
1) Paris 1749, Band II; Teil 3 der deutschen Übersetzung
Berlin 1771.
2) Man beachte hier, daß auch schon jene von Aristoteles
abgelehnte antike Ansicht, daß der Same vom ganzen Körper
stamme, eine Vorläuferin der Darwinschen Pangenesislehre war.
40 I« Der ältere Vitalismus.
Ordnung gibt, welche Ordnung eben „aus der Stellung
aller Teile der innerlichen Form entsteht" (Hist. nat. III,
S. 192).
Aber woher stammt jener ,,moule interne" ? Er
stammt nicht wieder von einer anderen präexistierenden
Form, das wäre absurd, sondern er ist das Ergebnis be-
sonderer, dem Lebendigen zukommender Kräfte.
Es ist interessant, daß Buffon diesen Kräften nun auch
jene aus der geordneten Form entspringende geordnete
Anlagerung zuschreibt, so daß also auch seine evolutio-
nistische eigentliche Entwicklungstheorie keine reine
„Maschinentheorie" ist.
Die Kräfte aber, deren Ergebnis der ,,moule interne"
'ist, betätigen sich so, daß sie sich des Überflusses
der zum Wachstum dienenden Materie aller Organe be-
mächtigen1) und diesen Überfluß in den Generations-
organen anhäufen und ordnen; hier eben liegt die Ana-
logie zur Lehre von der „Pangenesis". Wie freilich alles
im einzelnen zu denken ist, das bleibt, wie auch schon
alle auf die bloße Ernährungsphysiologie bezüglichen An-
sichten unseres Autors, ziemlich dunkel.
Jedenfalls wird hier die Entstehung der Keime im
Sinne eines echten Vitalismus gefaßt, und wir wiesen
soeben schon kurz darauf hin, daß Buffon trotz seiner
evolutionistischen Entwicklungstheorie auch die Ausge-
staltung des Keimes durch lebenseigene Kräfte geschehen
läßt.
Zur Rechtfertigung seiner Auffassungsart wendet
sich Buffon vornehmlich gegen Descartes: es komme
ihm „gar zu eitel und unsicher vor, wenn man der Materie
gar keine anderen Eigenschaften beilegen will, als die
wir einmal an ihr erkannt haben". Die Kraft des
x) In den Spermatozoen sieht er Überschuß teilchen, die in
Bildung des „moule" begriffen sind; je für sich sollen sie sich
weder entwickeln noch etwas erzeugen können; auf alle Fälle
seien sie nicht, wie Leeuwenhoek will, präformierte Tiere.
C. ,, Evolution" und „Epigenesis". 41
„moule interne" sei etwas ebenso Spezifisches wie die
Schwerkraft.
Hier sehen wir unseren Forscher auf recht modernen
Wegen, wennschon wir den in seiner Lehre versteckten
Hylozoismus nicht mitmachen können. Über Methodisches
überhaupt äußert er sich so treffend, daß ich nicht umhin
kann, einen entsprechenden Gedanken wörtlich mitzu-
teilen: Le defaut de la philosophie d'Aristote etoit d'em-
ployer comme tous les effets particuliers, celui de celle de
Descartes est de ne vouloir employer comme causes,
qu'un petit nombre d'effets generaux, en donnant l'ex-
clusion a tout le reste. II me semble que la philosophie
sans defaut seroit celle oü Ton n'employeroit pour causes
que les effets generaux, mais oü Ton chercheroit en meme
temps ä en augmenter le nombre, en tächant de generaliser
les effets particuliers" (Hist. nat. II, S. 50).
Ausdrücklich betont Buffon auch, daß er mit seiner
lebenseigenen Kraft nichts gegen die mechanischen
Grundprinzipien sagen wolle, welche eben nur ,,die all-
gemeinen Wirkungen der Natur" darstellen. Weiter aus-
geführt, wie es nötig wäre, wird dieser Gedanke freilich
nicht; nicht also wird, wie etwa bei Descartes in seiner
Leib -Seelen-Theorie, gesagt, was denn an den mechani-
schen Prinzipien gewahrt bleibe, was nicht; eine Frage,
die unbedingt von einem Vitalisten gestellt und beant-
wortet werden muß, weil ein Allein -Mechanismus ihm
ja doch eben nicht genügt.
Ich denke, man wird uns nicht tadeln, wenn wir bei
einer Gesamtbeurteilung von Buffons Leistungen die
methodologische Rechtfertigung seines Vitalismus
für bedeutsamer halten als diesen Vitalismus selbst. Er
selbst ist denn doch nichts weniger als auch nur versuchs-
weise bewiesen, aber daß Buffon seine wissenschaft-
liche Legitimität darzutun versuchte, das erhebt den
Vitalismus aus einem naiven zu einem bewußten. Eben
dadurch erhebt sich Buffon über Stahl, gegen dessen
42 L Der ältere Vitalismus.
Analytik er im übrigen weit zurückbleibt, daß er be-
wußtermaßen betont: ich sage hier etwas der mechanisti-
schen Theorie gegenüber Neues, aber ich darf dieses
Neue sagen, womit freilich über die Richtigkeit des Ge-
sagten nichts ausgemacht sein soll.
Buffons Einfluß war weitreichend; vor allem stehen
unter ihm zwei Männer, welche selbst in eigenen Ge-
danken weiterzugehen suchten, der Präsident der Berliner
Akademie, Maupertuis, bekannt vornehmlich wegen
seines mechanischen Prinzips vom kleinsten Zwange, und
der englische Jesuit Needham.
In einer Schrift ,, Venus physique" (1746) hat Mau-
pertuis seine Ansichten über organische Formbildung
niedergelegt. Er sucht sie mit Kristallisationsphänomenen
in Parallele zu stellen, zumal mit der in der Literatur
jener Zeit eine große Rolle spielenden Erscheinung des
Dianenbaumes; auch in dem aus der Mischung der weib-
lichen und männlichen Teile entstandenen Gemenge sei
eine solche ordnende Kraft tätig, welche die richtige Zu-
sammensetzung der Teile leite und später im Wachstum
erhalte. Wie man sieht: im großen und ganzen eine
Variante der Lehre Buffons.
Tuberville Needham1) aber betont sogar aus-
drücklich bei jeder Gelegenheit seine Übereinstimmung
mit Buffons Lehren. Trotzdem geht eigentlich das
Hauptinteresse Needhams auf etwas anderes als Buffons
Lehre, nämlich auf die Urzeugung aus in Zersetzung
befindlichen organischen Stoffen. Aus ihrer angeblich
nachgewiesenen Existenz zieht er alle Beweise dafür,
daß es eine ,,force reelle productrice" in der Natur gebe,
,,une force vegetale dans chaque point microscopique de
x) Nouvelles observations microscopiques, avec des decou-
vertes interessantes sur la composition et la decomposition des
corps organises. Paris 1750. Besonders der Seite 145 beginnende
Abschnitt: Observ. nouv. sur la generation, la composition et la
decomposition des substances animales et vegetales.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 43
matiere vegetale ou animale" (Nouv. Obs. S. 230). Wenn
er daneben die „germes preexistens" in der eigentlichen
Fortpflanzung leugnet, so ist das dann freilich auch eine
Folge seiner allgemeinen Ansicht, aber im einzelnen streift
er das wahrhaft Morphogene tische so gut wie gar nicht.
Schärfer noch beinahe als Buffon betont er das Unauf-
lösliche, eben das Vitalistische der Doktrin.
Mit den allgemeinen mechanischen Prinzipien hält
auch Needham seine Ansicht für vereinbar, wie er denn
überhaupt lange Erörterungen über Materie und Mechanik
vorbringt. Auch hier mutet manches recht modern an:
,,La matiere n'est q'un pur phenomene, un resultat com-
plexe et un concours de plusieurs effets differens" (1. c. 268).
Die intelligente Seele erklärt unser Denker für etwas
der bildenden Naturkraft völlig Fremdes.
Einen eigentlichen Fortschritt wird man kaum in
Needhams Ausführungen zu sehen geneigt sein1).
Caspar Friedrich Wolff.
Caspar Friedrich Wolff (1733—1794) pflegt meist
als der Vater der epigenetischen beschreibenden Entwick-
lungsgeschichte des Individuums angesehen zu werden.
Wenn das mit besonderer Vorliebe in Geschichtsabrissen
der materialistisch-darwinistischen Literatur geschieht,
und wenn man hier Wolff wohl gar als einen Vorarbeiter
Darwins feiert, so hat man sich offenbar nicht immer
klargemacht, daß seine Entwicklungslehre zwar epi-
genetisch, aber, wie alle epigenetischen Theorien, auch
vitalistisch gewesen ist; eben deshalb interessiert uns
Wolff hier an dieser Stelle.
x) Manche Zitate aus Needham bringt H i s in seiner „Körper-
form". Man kann hier lesen, wie Eva durch eine Art Knospung
entstand, und daß Needham mit seinem jesuitischen Kollegen
Spallanzani sich über die mehr oder weniger große Frömmig-
keit der evolutionistischen oder der epigenetisehen Theorie stritt.
44 I« Der ältere Vitalismus.
Seine „ Theoria generationis" ist 1759 erschienen;
1896 ist durch Samassa eine deutsche Übersetzung des
lateinischen Originals veranstaltet worden1).
Das Prädelineationssystem, sagt Wolff , erklärt nicht,
sondern leugnet Entwicklung. Es gilt die „ Teile des
Körpers und die Art ihrer Zusammensetzung" aus Prin-
zipien und Gesetzen abzuleiten. Eine solche Entwicklungs-
theorie oder ,, rationale Anatomie" würde sich zur deskrip-
tiven Anatomie wie rationale Psychologie zur empirischen,
wie philosophische Erkenntnis zur historischen verhalten.
Wahrlich ein tiefgehender, vieles verheißender An-
fang, der zugleich zeigt, daß Wolff so etwas wie der
Begriff der „Entwicklungsphysiologie" unserer Tage als
Ideal vorschwebte.
Und nun tritt er in die Erörterung der Grundfrage
ein; das aber ist diese: ,,Wie hängt Leben und Maschine
in den organischen Körpern zusammen ?" Hängen beide
von einer gemeinsamen Ursache ab oder eines vom an-
deren; und wenn so, trägt dann das Lebendige zur Ma-
schine oder die Maschine zum Lebendigen bei %
Zuerst wird Pflanzenphysiologisches herangezogen:
Die Kraft, welche Wasser in die Pflanze treibt, kann
,, nicht bloß eine anziehende sein"; das „beweist die Aus-
dünstung". Auch hängt die Flüssigkeitsaufnahme nicht
,,von der feuchten und durch Wärme ausgedehnten Luft"
ab, dagegen spricht das Strömen gerade gegen die jüngeren
Teile und die Knospen hin: ,,die Natur baut auf einer so
wechselnden und unsicheren Grundlage nicht Dinge von
so großer Wichtigkeit auf".
Wolff konstruiert sich also eine besondere lebenseigene
Kraft, die er vis essentialis nennt; sie wird ausgestattet
mit Fähigkeiten, welche eben den von ihr verlangten
Leistungen entsprechen; ,,dies genügt für den vorliegenden
Zweck", „jedenfalls leistet sie die angeführten Wirkungen".
J) Klassiker der exakt. Wissenseh. Nr. 84/8/5.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 45
Ganz ähnliche Folgerungen ergeben sich nun aus
dem Studium der von Wolff so besonders geförderten
tierischen Entwicklung. Wie geht die ernährende Sub-
stanz des Eies in den Embryo über ?, so lautet hier die
Frage. Das geschieht nicht durch Kontraktion des Her-
zens oder der Gefäße, auch nicht durch Kompression des
Herzens mittels von außen wirkender Muskelkontraktion,
denn das Herz steht anfangs mit den Arterien gar nicht
in Verbindung und schlägt auch nicht; auch sind nicht
etwa präformierte Kanäle da. Wiederum also ist eine
besondere Kraft, eine ,,vis essentialis" am Werk; sie
leitet die Epigenese, wie sie auch später des Erwachsenen
Erhaltung leitet.
Von großem Interesse ist nun Wolffs Gedanke, daß
seine Vis essentialis sich mit den Agentien des Anorgani-
schen zu einer Gesamtleistung vereinigen könne, und die
Art und Weise, wie er sich solches denkt: hier sehen wir
ihn wieder auf Bahnen durchaus modernen Denkens.
Zunächst kommt es auf die mehr oder weniger große
„Zähigkeit" und ,, Erstarrungsfähigkeit" der durch die
neue Kraft geleiteten Teile an, auch kann sie selbst
schwächer oder stärker sein; überhaupt kommen eine
ganze Reihe „akzessorischer Prinzipien" zu dem vitalen
Prinzip hinzu; ist es „doch klar, daß mit der Bildung
des Organischen auch ein Körper im allgemeinen
entsteht, der sich durch besondere hinzukom-
mende Einflüsse eben zu einem organischen
Körper gestaltet".
Und der organische Körper braucht „Einflüsse"
von außen, so z. B. den Nahrungszufluß. Nur darf nie
vergessen werden, daß „jene Vorgänge, nach deren
Entfernung das Leben aufhört, noch nicht zum
Leben beitragen und deshalb nicht als Lebens-
vorgänge zu bezeichnen sind", ebensowenig wie der
Faden, an dem ein Schwert über einem hängt, ein Lebens-
vorgang ist.
46 I- Dßr ältere Vitalismus.
So kann denn also das Fazit gezogen, die eingangs
aufgestellte „Grundfrage" beantwortet werden: „Die in
Entwicklung begriffenen Körper sind nicht Maschinen."
„Die sich entwickelnde Substanz ist von der Maschine,
von der sie eingehüllt ist, wohl zu unterscheiden. Die
Maschine aber ist als das Erzeugnis derselben anzusehen."
Die sich entwickelnde Substanz aber wirkt, „inso-
fern sie mit bestimmten Eigenschaften versehen", nicht
„insofern sie auf eine bestimmte Art zusammengesetzt
ist". Jeder aus der Zusammensetzung bestimmte Vor-
gang im Organismus ist „nur akzessorisch". Er beeinflußt
oder modifiziert, „er gehört aber nicht zur Zahl der die
Entwicklung bestimmenden Ursachen".
Hier wird also eine statische oder tektonische Teleo-
logie ganz ausdrücklich zugunsten einer dynami-
schen, eines Vitalismus abgelehnt, mit einfacheren
Worten kann solches gar nicht geschehen!
Und nun setzt sich Wolff noch kurz mit Gegnern
und mit ähnlich Denkenden auseinander:
Es kann nicht wundernehmen, daß er die „mecha-
nische Medizin" ein „imaginäres System" nennt, „das
heißt ein solches, dem nichts in der Natur der Dinge ent-
spricht". Es werde ja sicherlich manches, wie die Blut-
bewegung, die Atmung, die Entleerungen, das Kauen usw.,
„von der Maschine vollbracht"; aber diese mechanischen
Vorgänge sind eben „nur wie ein leichtes Anhängsel der
Tiere zu betrachten" und vom Tier zu unterscheiden.
Mit den Ansichten des Botanikers Ludwig, Harveys
und Needhams, der hauptsächlichen Vertreter eines epi-
genetischen Vitalismus, empfindet Wolff die seinigen als
verwandt, obschon er des letzteren Buch „unerträglich
konfus" nennt, und obschon er zugibt, daß alle, abgesehen
von der seltsamen „Konzeptions"lehre des Harvey, über
die allgemeinsten Feststellungen des Aristoteles, daß
eben eine erzeugende Kraft in der Natur sei, nicht hinaus-
kommen.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 47
Wolff beschließt sein Werk mit einem Gedanken,
der ebenso modern klingt, wie derjenige, mit dem er es
begann: er habe „nichts erklärt" bezüglich der Vorgänge,
deren Maschinennatur er leugne; er habe nur ,,den Zu-
sammenhang, der zwischen der Maschine und dem Leben
besteht, untersucht", ,,den Ursachen des letzteren aber
dort, wo es zu der Maschine keine Beziehung hat, nicht
weiter nachgeforscht".
Hier wird man geradezu an das Newtonische „hypu-
theses non fingo" und an Mach sehe Wendungen erinnert1).
Überblicken wir alles bisher Ausgeführte, so erscheint
Wolff als klarster und tiefster Vertreter des Vitalismus
seit Aristoteles; er versucht wenigstens zu beweisen,
obschon man die Beweise freilich beanstanden könnte.
Er ist reich an Kenntnissen, reich an philosophischer
Bildung; er sagt nichts über Dinge, von denen er nichts
weiß; er beruhigt sich nicht bei Scheinlösungen. Seine
Lehre ist weniger allumfassend, sie ist viel beschränkter
als die Stahls: eben darum ist sie biologisch bedeutungs-
voller.
x) Doppelsinnig ist eine Äußerung Wolffs über Stahl. Im
Scholion 4 des § 255 der Theoria generationis heißt es: „Et cer-
tissime quidem et maxime paterer, si Stahlii . . . sententiam mihi
imputes." Samassa, dem ich in der ersten Auflage dieses Baches
(S. 45) und dem auch E. Rädl gefolgt ist, übersetzt paterer im
Sinne von: ich würde „zulassen", also: „mich noch am meisten
einverstanden erklären, wenn . . .", ein Satz, über den man sich
in gewissem Sinne freilich wundern müßte, da ja Stahl stets
ausdrücklich von der vernünftigen Seele redet. M. Stenta
hat nun in der italienischen Ausgabe der ersten Auflage dieses
Werkes (S. 380) betont, daß vaterer auch mit: „ich würde (am
meisten) darunter leiden (wenn . . .)" übersetzt werden könnte,
und meint, das entspräche mehr dem Geiste des vorsichtigen
Wolff sehen Denkens. Demjenigen, der hier tiefer dringen will,
seien die eingehenden Erörterungen des italienischen Forschers,
der auch noch andere Stellen bei Wolff heranzieht, zum Studium
empfohlen.
48 !• Der ältere Vitalismus.
Bonnet. Haller.
Wir haben schon erwähnt, daß Swammerdam der
eigentliche Urheber des Gedankens der „Evolution" in
dem von uns definierten Sinne ist: in Bonnet und Hall er
haben wir die bedeutendsten biologischen Durcharbeiter
dieser, wie wir wissen, auch von Leibniz angenommenen
Lehre vor uns. Alle Evolutionisten sind, der Natur der
Sache nach, ganz vorwiegend Vertreter einer statischen
Teleologie, eines tektonischen Gegebenseins der Grund-
lage des Zweckmäßigen. ,, Vitalismus" spielt für sie
höchstens nebenbei eine Rolle. Deshalb sind sie für unsere
Zwecke von geringerer Bedeutung und können nicht in
der Breite wie die Epigenetiker von uns in ihren An-
sichten studiert werden.
Charles Bonnet (1720 — 1793) hat seine Ansichten
über Entwicklung vornehmlich in seinem Werke ,,Con-
siderations sur les corps organises" (Amsterdam 1762)
niedergelegt1). Der eigentliche Triebgrund seines Über-
gangs in das evolutionistische Lager ist wohl seine Ent-
deckung der parthenogenetischen Entwicklung der Blatt-
läuse gewesen: es stecken hier in der Tat mehrere auf-
einanderfolgende Generationen der Reihe nach ineinander,
da die Eier von Embryonen sich schon wieder zu ent-
wickeln beginnen: so sah man denn die ,,Einschachtelung",
welche man forderte, gleichsam in Realität vor sich.
,,11 n'est point dans la Nature de veritable genera-
tion; mais nous nommons improprement Generation le
commencement.d'un developpement qui nous rend visible
ce que nous ne pouvions auparavant apercevoir" (Cons.
I, 169).
x) Über Bonnets Lehrsystem hat C. O. Whitman eine vor-
zügliche Monographie verfaßt, auf welche hier verwiesen sei :
,, Bonnets Theory of Evolution. A System of Negations." „The
Palingenesia and the Germ Doctrine of Bonnet." Biolog. Lectures.
Woods Holl in 1894. Boston 1895.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 49
In diesen Worten ist das Wesentliche aller Evolu-
tionslehre gut ausgedrückt; mit Recht hat C. F. Wolf f sie
ein Leugnen, kein Erklären der Entwicklung genannt.
Bbnnet, als „Ovulist", legt ganz besonderes Ge-
wicht darauf, daß eben vor der Befruchtung der Keim
im Ei als vollständig geformtes Wesen existieren müsse,
und er ist kritisch genug, zuzugeben, daß, wenn man
wirklich das Gegenteil nachweise, die Theorie fallen
würde. Aber es sei dieses Gegenteil nicht nachgewiesen:
,,il est demontre que le Poulet existe dans l'oeuf avant
la Fecondation" .
Freilich brauche eine ganz exakte Präexistenz aller
Proportionen des Keimes nicht angenommen zu wer-
den: „Tandis que le Poulet est encore dans l'etat de
Germe, toutes ses Parties ont des formes, des pro-
portions, des situations qui different extremement de
Celles que 1' Evolution leur fera revetir. Cela va au point,
que si nous pouvions voir ce Germe en grand, tel qu'il
est en petit, il nous seroit impossible de le reconnoitre
pour un Poulet" (1. c. II, 295f.); und für die Säugetiere
und den Menschen gilt das gleiche1).
Immerhin betreffen Änderungen der Form nur Äußer-
liches; das Wesentliche derselben dehnt sich nur aus im
Verlauf der ,, Entwicklung". Bonnet sagt einmal, daß
der Keim nur Spezies-, aber keine Individualcharaktere
trüge: er sei ein Pferd, aber nicht dieses Pferd.
Nicht einmal ein Finger dürfe als wahre Neubildung
zugelassen werden; das habe er schon früher gesagt als
Haller, der es jetzt wiederhole, aber damals noch Epi-
genetiker gewesen sei.
Eine gewisse, in der Tat nicht vorhandene Neu-
bildung könne dadurch vorgetäuscht werden, daß die ver-
schiedenen Teile sich verschieden schnell vergrößern.
1) L'homme et les Quadrupedes, dans l'etat de Germe, ont
sans doute aussi des formes et des situations qui ne ressemblent
nullement ä Celles qu'ils acquierrent par le developpement (1. c.).
Driesch, Vitalismus. 2. Aufl. -A
50 I- Der ältere Vitalismus.
Auf Auseinandersetzungen mit Gegnern sich einzu-
lassen, hält Bonnet kaum für nötig; Buffons Ansichten
werden als „des Songes qui ne sont pas meme philo-
sophiques" (1. c. II, 256) ebenso kurz wie radikal abge-
wiesen.
Die in Bonnets „Palingenesie" ausgesprochene uni-
versale Welttheorie zu erörtern, ist hier nicht der Ort:
,,Toutes les pieces de l'Univers sont donc Contempo-
raines. La Volonte Efficace a realise par un seul acte
tout ce qui pouvait l'etre." Es gibt also eigentlich kein
Neu- Geschehen — das ist ihr Grundgedanke.
Bei Whitman mag man hierüber nachlesen; bei ihm
wird man auch das Wesentliche über die Beziehungen der
Evolutionslehre zur Auferstehung1) finden, sowie über die
verschiedenen Keimarten, welche eine Seele für die vor-
adamische Welt gebraucht hat, für die gegenwärtige
braucht und für die zukünftige brauchen wird: alles wird
nach Analogie etwa der Insektenmetamorphose behandelt.
Auch Anklänge an eine, natürlich präformiert gedachte
Deszendenz finden sich: Affen und Elefanten möchten
wohl einst die Newtons und Leibnize, Biber einst die
Vaubans aus sich hervorgehen lassen.
Wichtiger würde es uns sein, anstatt solcher Phan-
tasien etwas Näheres über die Art und Weise zu erfahren,
wie Bonnet sich nun den eigentlichen Vorgang der Aus-
dehnungsentwicklung denkt ; aber da erfahren wir nur, daß
der Keim zwischen den einzelnen Elementar teilen sehr
enge Maschen habe, und daß später die durch Ernährung
hinzukommenden fremden Teile diese Maschen erweitern.
,,Le Germe n'est, pour ainsi dire, compose que d'une suite
de points, qui formeront dans la suite des lignes."
Obwohl manche Schwierigkeiten umgehend, hat Bon-
net doch nie versäumt, wenigstens der wesentlichsten
1) Der Auferstehungsglaube scheint der psychologische Aus-
gang des gesamten biologischen Theoretisierens Bonnets und
übrigens wohl auch Leibniz' gewesen zu sein.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 51
Dunkelheiten, welche ihm bewußt wurden, Aufhellung
zu versuchen. Bedenken mußten ja namentlich die Re-
sultate von Zerstücklungsversuchen machen, wie sie z. B.
von Trembley an Hydra angestellt waren: da wird denn
gesagt, die Hydra sei eben eine Wiederholung sehr vieler
sehr kleiner Polypenkeime, welche nur ihre Entwicklungs-
bedingungen erwarteten; eigentliche Schwierigkeiten
macht Bonnet hier nur die Frage nach der Herkunft der
Seelen für die vielen Polypenknospen. Zur Erklärung
echter Regenerations Vorgänge läßt er nur Keime von
Ganzorganismen, nicht etwa, wie z. B. neuerdings Weis-
raann, von Organisationsteilen, zu: die präformierten
Ganzkeime sind so geordnet, daß sie sich allemal nur so
weit ausdehnen, wie sie das Fehlende zu ersetzen haben.
Bonnet braucht also keine lebenseigenen Wirkungs-
weisen irgendwelcher Art, oder meint doch wenigstens
keine zu brauchen: gegebene Tektonik leistet ihm im
Verband mit Wirkungsweisen sehr einfacher Art alles.
Bonnet ist also kein Vitalist. Übrigens ist seltsam
zu sehen, wie er eigentlich nur die Alternative seiner
tektonischen Teleologie oder einer in wüster Weise mecha-
nisch-zufällig gedachten Epigenese sieht, und wie ihm die
Möglichkeit eines geklärten vorsichtigen Vitalismus, etwa
im Sinne Wolffs, gar nicht ins Bewußtsein kommt.
Man wird vielleicht einwenden, daß ein Forscher, der
soviel mit der ,, Seele" operiere, wie Bonnet, doch als
Vitalist zu bezeichnen sei. Im einzelnen führt er eine
Leib- Seele-Theorie aber nicht durch. Vielleicht ist er hier
Cartesianer gewesen, hätte dann also den Allmechanismus
an einer Stelle, nämlich für den aristotelischen vovc durch-
brochen.
Wie Swammerdam der erste Verkündiger, Bonnet
der Begründer, so ist Haller der eigentliche Systemati-
sierer der Evolutionslehre.
4*
52 !■ Der ältere Vitalismus.
Albert Haller (1708—1777), der bekannte viel-
gebildete Gelehrte und Künstler, kann so recht als der
typische Vertreter der Lehre von der Präformation gelten ;
fast der ganze achte Band seiner umfangreichen ,,Elementa
Physiologiae corporis humani"1) ist ihr, ist überhaupt all-
gemeinen Erörterungen gewidmet. Eine so weitgehende
Vertiefung der Lehre wie bei Bonnet, ein solches Ringen
um Klarheit finden wir aber nicht bei ihm. Alles ist mehr
dogmatisch behandelt, ebenso, obschon natürlich in ent-
gegengesetztem Sinne, wie bei Stahl. Vielleicht hat
gerade das, vielleicht daneben seine Stellung als maß-
gebender Professor seinen großen Einfluß bewirkt.
Erscheint uns nun auch Haller nicht gerade als
selbständig, so wäre es doch durchaus verkehrt, in ihm
den kurzsichtigen Fanatiker zu sehen, als welcher er meist
in Geschichtsskizzen darwinistisch-materialistischen Ur-
sprungs erscheint. Schon His hat das mit Recht hervor-
gehoben. Man pflegt sich bei der Verurteilung Hallers
auf einen nicht gerade eindeutigen Goethe sehen Spruch
zu berufen, angesichts dessen es denn doch als mindestens
der Frage wert bezeichnet werden kann, ob sich so etwas
wie „Kern" und ,, Schale" nicht an der Natur unterscheiden
lasse, und ob nicht, wer nur die letztere kennt, als „glück-
seliger", in naiver Bedeutung des Wortes, bezeichnet zu
werden verdient. Doch wie dem auch sei: jedenfalls ent-
stellte man Haller ebensosehr, wie man Wolff entstellte,
wenn man dessen Hauptangelegenheit, seinen Vitalis-
mus, seine Ablehnung der Maschinentheorie — man ist
versucht zu sagen: „cänogenetisch" — verschwieg.
Kein Forscher jener Zeit ist in solchem Grade auf
gegnerische Ansichten eingegangen, wie gerade Haller;
in ganz bewußtem Gegensatz zu diesen Ansichten, die ihn
nicht zu überzeugen vermochten, wurde er Evolutionist,
x) Bern 1766. — Ich sage Albert und nicht Albrecht, da
Haller sich selbst auf dem Titel ,, Albertus" nennt.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 53
wie wir ja denn schon oben erwähnten, daß er anfangs der
epigenetischen Schule anhing.
Hall er sucht reine Darstellung des Tatsächlichen,
mit fast newtonischer Wendung lehnt er Hypothesen ab:
,, Hypothesin nullam admisi", ,, Hypotheseos neque umbra
subest' '. Es s o 1 1 wenigstens nicht auch nur den , , Schatten'/
einer Hypothese bei ihm geben; ein Wunsch, dem der Sach-
verhalt allerdings nicht entspricht.
Gegen Wolffs vis essentialis wendet er ein1), daß
hier keine Antwort auf die Frage gegeben werde, warum
denn jene Kraft bei einer gegebenen Spezies immer den
Typus bewahre, anderseits aber so viele verschiedene
Typen schaffe, wo doch die unorganische Materie jede
beliebige Form annehmen könne. Wir werden Haller
hier freilich entgegnen, daß es des Hinzunehmenden auf
allen Gebieten der Naturforschung vieles gäbe, und daß
sein Einwand doch erst recht auf ihn selbst passe.
Buffon ferner wisse von seinem ,,modulus interior"
so wenig, daß man schon gesagt habe, es sei ein siebenter
Sinn nötig, um ihn zu begreifen2).
Blinde Kräfte aber, wie Cartesianer und Mechanisten,
wollen, können nichts Geregeltes aus Regellosem schaffen
— was allerdings wenigstens C a r t e s i u s , dem die Schöpfung
ein einmal Geordnetes ist, auch wohl kaum behauptet hatte.
Die organisierende Wirkung von Stahls Seele als
rein bewußter geistiger Potenz sei durch ,, Versehen" und
ähnliche Dinge denn doch wohl gar zu schlecht bewiesen.
x) „Cur vis ea essentialis, quae sit unica, tarn diversas in
animale partes semper eodem loco, semper ad eundem archetypum
struit, si materies inorganica mutabilis et ad omnem figuram
recipiendam apta est? Nulla datur responsio" (1. c. S. 117).
2) Et primum, quid sit modulus interior ? adeo non intelli-
gunt clarissimi viri, ut ipsi fateantur, septimo sensu nos egere,
ut intelligamus (1. c. S. 122). — Treffend wird gegen Buffon
geltend gemacht, daß reife Tiere doch oft gewisse Organe nicht
mehr (Larvenorgane von Frosch und Insekten) oder noch nicht
(Bart) besäßen und doch vererbten.
54 I- Der ältere Vitalismus.
Dann aber bleibt nur das eine übrig, daß d er Embryo
bereits fertig da ist, wenn die Konzeption stattfindet1).
Nulla est epigenesis: Neubildung gibt es nicht.
So schließt Haller sich denn also durchaus der An-
sicht Bonnets an: Gott hat alle Strukturen geschaffen,
sie entwickeln sich nicht, sie wachsen nur; kein Teil wird
vor dem anderen gebildet, alle sind zugleich da: ,, Nulla
igitur in corpore animali pars ante aliam facta
est et omnes simul creatae existunt" (1. c. S. 148).
Mit Hydra und den Phänomenen der Regeneration
findet Haller sich ähnlich wie Bonnet ab; einige
Schwierigkeit macht ihm die Rolle des doch eigentlich
überflüssigen männlichen Elementes: es fache wohl das
Wachstum gewisser Teile an2). Auf die natürlich absolut
hypothetischen Erörterungen über die Entstehung der
Bastarde können wir hier nicht eingehen.
So ist denn also alles erledigt : wenn der fertige Fötus
im Ei bereitliegt und nur der Nahrung bedarf, um zu
wachsen, dann ist jene „höchste Schwierigkeit gelöst, eine
kunstvollste Fabrik aus der rohen Materie aufzubauen"3).
Geordnete unsichtbare Materie wird also zu geord-
neter sichtbarer4); das muß so sein, und wenn man es
nicht sieht, so beweist das gar nichts dagegen!
Das ist wieder klarste Maschinentheorie, statische
Teleologie, kein Vitalismus. Wenigstens braucht es keiner
x) „Superest id unicum ut fetus structus et fabricatus sit,
quando conceptio accessit" (143).
2) „Spero ostensurum me, esse in semine mascnlo vim, quae
certarum partium corporis animalis incrementum promoveat et
tarnen fundamentum futuri animalis a matre esse" (175).
3) „Si in matre est primordium fetus, si id structum in ovo
est et hactenus perfectum ut unice recepto alimento egeat, ex
quo convalescat, soluta est illa summa difficultas artificiosissimae
fabricae ex bruta materia struendae" (143).
4) „Si viscera paulatim de statu invisibili prodire visa sunt,
non ex bruta materie in conspicuam, sed ex male limitata in
melius terminatam transiisse adnotavi" (149).
C. „Evolution" und „Epigenesis". 55
zu sein, wenn schon sich Haller über die natürlich auch
von ihm benötigten Wachstumsagenzien nicht ausspricht.
Auch muß es im unklaren bleiben, wie weit Haller mit
den von ihm zwar nicht geschaffenen, aber sehr eingehend
diskutierten physiologischen Grundbegriffen, vor-
nehmlich denjenigen der Irritabilität1) und Kontrak-
tilität, etwas Sondergesetzligfres hat bezeichnen wollen;
sie könnten auch als nur vorläufig zusammenfassende Be-
griffe gelten.
Auf Spallanzani, den verdienten Experimentator,
der, theoretisch unselbständig, sich B o n n e t und H a 1 1 e r in
allen allgemeinen Fragen anschloß, haben wir hier, ebenso
wie auf viele andere verdiente Männer, nicht einzugehen.
Blumenbach.
In J. F. Blumenbach (1752—1840) erreicht der
ältere Vitalismus seinen Höhepunkt und erreicht zugleich
dessen zweite Periode ihren Abschluß. Die dritte, auf
Kant und die Naturphilosophie folgende Stufe des
älteren Vitalisnms hat ein Werk von der Klarheit der
Blumenb achschen Ausführungen nicht wieder hervor-
gebracht.
Blume nbach benutzt alle Vorteile seiner Vorgänger
und vermeidet alle Fehler derselben ; am Ende des heftigen
Streites über Epigenesis und Evolution stehend und alles
für und wider scharf überblickend, hat er eines nament-
lich aus diesem Streite gelernt: daß man sich unbefangen
dem empirisch gegebenen Sachverhalten hingeben soll.
Auf diesem Wege kommt er endlich einmal zu
etwas, das wirklichen ,, Beweisen" seiner Ansicht
wenigstens ähnlich sieht, und kommt dadurch
endlich einmal wesentlich weiter als Aristoteles.
Zwei Schriften geringen Umfanges sind es, in denen
Blumenbach uns seine Ansichten mitteilt: Die ..Insti-
*) Dieser Begriff stammt von Glisson (1596-1677).
56 I- T)er ältere Vital ismus.
tutiones physiologicae" (Göttingen 1787) und die Schrift
„Über den Bildungstrieb" (Göttingen 1789), letztere,
nebenbei bemerkt, die erste in deutscher Sprache ge-
schriebene Untersuchung unseres Gebietes.
Die ,,Insti tutiones" geben uns eine gute Gelegenheit,
die schon anläßlich Hallers gestreifte Lehre der physio-
logischen Grundfunktionen^etwas näher kennenzulernen.
Als ,, vires vitales", als ,, Lebenskräfte" zählt Blumen-
bach in üblicher Art Kontraktilität, Irritabilität
und Sensibilität, die Vermögen der Zusammenziehbar -
keit, der Reizbarkeit und der Empfindung, auf; sie seien
die physiologischen Grundphänomene, welche zusammen
mit der ,,vita propria", mit dem ,, Eigenleben" der Teile,
das Funktionengetriebe bedingen.
Über die Natur dieser Grundkräfte wird nun bei
Blumenbach ebenso wie bei Haller nicht näher ge-
redet, und es bleibt unentschieden, ob hier eine Eigen-
gesetzlichkeit des Lebendigen gesehen wurde oder nicht.
Neben die genannten Lebenskräfte tritt als vierte
der Bildungs trieb, „nisus formativus", sein Bereich ist
die Formbildung : er leitet sie, erhält sie durch Ernährung
und stellt sie nach Verstümmlungen wieder her; er ist
eine den lebenden Körpern eigentümliche Kraft:
,,peculiaris vis corporibus organicis vi vis connata et
quamdiu vivunt perpetuo actua et efficax" (Inst. S. 462).
,,Nisus" wird er genannt, da er ja den ,, vires", den Kräften
in allgemeinerem Sinne, begrifflich untergeordnet ist, als
eine vis vitalis neben anderen.
Kurz ist das alles ausgeführt; ganz kurz auch nur
wird in den ,,Insti tutiones" so etwas wie ein Beweis für
das Gesagte durch die Aussage geführt, daß nach Mischung
der Geschlechtsflüssigkeiten1) im Uterus erst der Bildungs-
rl) Die Spermatozoon sind nach Blumenbach ,, Würmchen
in einem stagnierenden Saft" (Bildungstrieb, S. 1 1). Gegen ihre Be-
deutung spreche, daß sie bei ähnlichen Tieren oft sehr verschieden,
bei verschiedenen oft fast identisch seien.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 57
trieb wachgerufen werde, daher denn erst in der dritten
Woche „trotz so vorzüglicher optischer Instrumente" der
Embryo sichtbar sei.
Das ist wohl nicht viel wert; bedeutsam sind aber
auch schon in den „Institutiones" zwei methodologische
Bemerkungen: einmal wird eine gewisse Verwandtschaft
des Nisus zu anderen Naturagenzien, wie sie den Lichten -
bergschen Figuren und den Kristallen zugrunde liegen,
behauptet, und zweitens tut unser Forscher den wichtigen
Ausspruch : der nisus formativus sei weniger eine Ursache,
als ein ,,effectus quidam perpetuus sibique semper similis"
(463), er bezeichne einen ,, immer wiederkehrenden und
sich ähnlichen Effekt", und in ebendemselben Sinne und
in keinem anderen wende man doch auch die Worte
„Gravitation" und „Attraktion" an.
Das war in der Tat ebenso richtig wie der Zeit,
wenigstens dem zeitgenössischen biologischen Denken,
voraneilend gedacht.
In Blumenbachs Schrift ,,Über den Bildungstrieb"
finden wir nun eine vertiefte Ausführung alles in den
,,Institutiones" Angedeuteten: ein richtiges System des
Vitalismus.
Eine gute geschichtliche Skizze leitet diese Schrift
ein; dann folgt eine Bemerkung über sich selbst, daß
nämlich der Autor früher ein Anhänger des Evolutionis-
mus gewesen sei, also den umgekehrten Entwicklungs-
gang wie H aller durchgemacht habe. Sein Buch ent-
halte also ,,das Geständnis eigener Irrtümer" (19); aber:
,,Ein verbesserter Irrtum wird oft zu einer ungleich
wichtigeren Wahrheit als manche positive Wahrheiten, die
unmittelbar als solche erkannt werden" (nach De Luc).
Blumenbach wiederholt nun die früher mitgeteilte
Definition des Bildungstriebes; er betont aufs neue, daß
dieser Trieb neben den „übrigen Arten der Lebenskraft"
und neben den „allgemeinen physischen Kräften der
Natur" stehe.
58 I« Der ältere Vitalismus.
Und dann folgt eine weitere Ausführung jener vor-
trefflichen methodologischen Erörterung über die begriff-
liche Parallele zwischen „Bildungs trieb" und „Schwere":
„Das Wort Bildungs trieb, so gut wie die Worte Attrak-
tion, Schwere usw., soll zu nichts mehr und nichts weniger
dienen, als eine Kraft zu bezeichnen, deren konstante
Wirkung aus der Erfahrung anerkannt worden, deren
Ursache aber so gut wie die Ursache der genannten,
noch so allgemein anerkannten Naturkräfte für uns
qualitas occulta ist" (25f.).
Es kann gar nicht nachdrücklich genug gerade auf
diese begriffskritische Wendung Blume nbachs hinge-
wiesen werden. Wären sich alle „Vitalisten" der Not-
wendigkeit solcher begrifflicher Sauberkeit stets bewußt
geblieben: wahrlich, der späteren, teilweise sicherlich,
wie die Verhältnisse lagen, berechtigten Kritik und
Ablehnung der vitalistischen Lehren seitens eines Lotze,
eines Claude .Bernard wäre der Boden entzogen
gewesen.
Man höre aber, wie ein Zeitgenosse Blumenbachs,
der jung verstorbene, verdiente Histologe und Pathologe
X. Bichat (1771 — 1802), der auch einen, freilich nicht
bewiesenen und sich in keiner Weise auf die Phänomene
der Formbildung gründenden Vitalismus vertritt und
auch sogar seine „proprietes vitales" mit der gravite,
elasticite usw. auf eine Stufe zu stellen behauptet, von
der Gesetzlichkeit des Vitalen denkt. Gerade des
Gegensatzes wegen setze ich einen längeren Passus aus
dem ersten Bande seiner „Anatomie generale"1) hier un-
gekürzt hin:
„Les lois physiques sont constantes, invariables;
elles ne sont sujettes ni ä augmenter ni ä diminuer. Dans
aucun cas une pierre ne gravite avec plus de force vers
la terre qu'ä l'ordinaire." „La formule etant une fois
1) Paris. An X. (1801.) Vgl. femer die „Recherches physio-
logiques sur la vie et la mort". 4. Auflage. Paris 1822.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 59
trouvee, il ne s'agit que d'en faire l'application ä tous
les cas." . . . ,,Au contraire, a chaque instant la sen-
sibilite, la contractilite s'exaltent, s'abaissent et s'alterent;
elles ne sont presque jaraais les memes." ,,Toutes les
fonctions vitales sont suseeptibles d'une foule de varietes.
Elles sortent frequemment de leur degre naturel (!);
elles echappent ä toute espece de calcul ; il f audroit presque
autant de formules, que de eas qui se presentent. On ne
peut rien prevoir, rien predire, rien calculer dans leurs
phenomenes. Que deviendroit de monde, si les lois
physiques etoient sujettes aux memes agitations,
aux memes variations que les lois vitales?" (Anat.
S. Lllff).
Eine seltsame Vorstellung vom Wesen des Natur-
gesetzes !
Und dabei bringt Bichat sonst manches Gute bei,
wie ,z. B. die Scheidung der „proprietes vitales" von den
„proprietes de tissu", von denen letztere nur durch die
Struktur bedingt sind und mit ersteren zusammen die
,,vita propria" ergeben; wie die Bezeichnung der Tier-
chemie als ,,1'anatomie cadaverique des fluides" (Rech.
S. 102) und ihre Eliminierung aus der wahren Physiologie;
«
wie die Forderung, man müsse in der Forschung ,,remonter
des phenomenes aux principes, et ne pas descendre des
principes aux phenomenes" (Rech. p. XIII) usw.
Aber es mangelt hier eben an einem ganz wesent-
lichen Methodologischen, an der Erkenntnis des Natur-
gesetzlich-Festenim Vitalen, und gerade deshalb tritt
durch ihren Gegensatz zu den Lehren eines an und für
sich sehr verdienstlichen Biologen Blumenbachs Be-
deutung so besonders klar hervor.
Gehen wir nun weiter den Gedankengängen des deut-
schen Forschers nach.
Nach kurzer, nicht ganz sachgemäßer Bezugnahme
auf Wolff , dessen vis essentialis eigentlich nur Nährstoff
treibend und insofern nur ,,ein Requisit" des Bildung?-
60 I. Der ältere Vitalismus.
triebes sei1), nach Worten großer Anerkennung für seinen
Gegner Hall er, schreitet er zu den Beweisen seiner
Lehre :
Gegen die ,, Präformation" und für „Epigenesis"
sprechen folgende Erscheinungen: erstens die Gallen;
zweitens die Entstehung neuer Blutgefäße um abgekapselte
Geschwülste und Fremdkörper; ferner die Bildung neuer
Gelenke nach Knochenbrüchen ; weiter die Tatsachen der
Bastardierung, deren Bedenklichkeiten für ihre Lehre ja
die Evolutionisten selbst zugeben; endlich die reine Beob-
achtung. Es werde eben doch Neues im Laufe der Ent-
wicklung gebildet, und dieses sei im Keim ebensowenig
als Form enthalten wie der Dianabaum im Silberamalgam.
Auf die Entwicklungsgeschichte von Algen und von
der Hydraknospe weist Blumenbach besonders hin.
Wollen wir ganz streng sein, so beweisen alle diese
Dinge nun allerdings nur die Epigenesis, nicht, wie unser
Autor will, ohne weiteres vitale Eigengesetzüchkeit : der
Begriff des formativen Wachstumgetriebes, der
Begriff der inneren Struktur ist ihm fremd; daß auf
Grund gegebener minutiöser Struktur, deren Teile auf-
einander wirken, die Entstehung des Organismus prin-
zipiell nicht verstanden werden könne, das müßte zum
wirklichen Beweise des Vitalismus gezeigt werden. Immer-
hin war das von Blumenbach als Beweis Vorgebrachte
das beste, wozu ihm seine Zeit die Mittel gab.
Bedeutend vertieft wird nun alles noch durch Be-
merkungen über ,, Reproduktion", d. h. über Restitution
in unserer Sprechweise: hier gehe der neue Stoff aus
dem alten hervor, wie denn bei Hydra der regenerierende
Stamm kleiner werde; Entsprechendes gelte bei der
Heilung großer Wunden. Man habe hier nun zwar auch
versucht, mit der Annahme präexistierender Keime aus-
1) Sie komme doch auch bei Geschwülsten in Betracht;
umgekehrt bei schlechter Ernährung trotz vorhandenen Bildungs-
triebes nicht. Hier mißversteht B. offenbar Wolf f.
C. „Evolution" und „Epigenesis". 61
zukommen, aber das gehe gar nicht an bei den Phänomenen
der Pfropfung oder wenn eine längsgespaltene Hydra
sich durch Zusammenrollen ihrer Längswundränder schließt
oder in ihrem Innern eine neue Bauchhöhle bildet.
Überhaupt müsse man scharf diejenige Art der Wieder-
herstellung, bei welcher neuer Stoff erzeugt werde, trennen
von derjenigen, bei welcher ,,nur die gestörte Bildung
wiederhergestellt zu werden braucht: eine Art von
Reproduktion, die um so sorgfältiger von den übrigen
unterschieden und abgesondert werden muß, je weniger
sie sich mit den prätendierten Keimen vergleichen läßt,
und je größer hingegen das Übergewicht ist, das die Lehre
vom Bildungstrieb durch sie erhält".
Hier glaubt man wahrlich einer entwicklungsphysio-
logischen Erörterung aus den neunziger Jahren des ver-
flossenen Jahrhunderts beizuwohnen: sowohl Roux als
dem Schreiber dieses Buches gegenüber hat hier Blumen-
bach in einer sehr wichtigen Sache, nämlich in der Auf-
stellung des Begriffs nicht-regenerativer Restitution1), die
Priorität !
Und nun kommt gar noch ein Gedanke, durch den
unser Forscher Gustav Wolff gegenüber „Priorität"
beanspruchen kann: Wie solle doch wohl bei Heilungen
und ähnlichem, angesichts der Zufälligkeiten dieser Dinge,
alles präformiert sein? „Es wäre eine starke Zumutung,
jemand davon zu überreden." Solches ist in klarster Form
der Begriff der „primären Zweckmäßigkeit", der hier, wie
bei G. Wolff, gegen die Präformation und für vitale Auf-
fassungsart ins Feld geführt wird.
Dem Mitgeteilten gegenüber treten die näheren Aus-
führungen Blumenbachs über die Art und Weise der
Wirkung seines Bildungstriebes, als der Natur der Sache
nach sehr unbestimmten und vorläufigen Charakters, an
, . \
x) Unter „Regeneration" wird von uns nur die durch
Sprossung von der Wundfläche aus geschehende Wiederher-
stellung entnommener Teile verstanden.
62 I" D©r ältere Vitalismus.
Bedeutung zurück, und es bedarf höchstens noch der Mit-
teilung, daß auch Mißbildungen noch bestimmten Bahnen
folgen, noch ,,an sehr bestimmte Gesetze gebunden" seien,
obwohl hier äußere Ursachen die Leistungen des Bildungs-
triebes stören.
So stehen wir denn am Ende der zweiten Periode des
älteren Vitalismus und, wie schon gesagt, zugleich an
seinem Höhepunkt. Vergleichen wir Anfang und Ende
dieser Periode, also Harvey und Stahl auf der einen
mit C. Fr. Wolff und Blumenbach auf der anderen
Seite, so fällt vor allem eines auf: aus einem Anhängsel
der Philosophie, aus einer Lehre, welche ihre Prinzipien
fertig aus der vorliegenden philosophischen Dogmatik
— und alle Philosophie beinahe war ja noch Dogmatik —
bezog, ist die Biologie zu einer klar und fest fundierten
Naturwissenschaft geworden. Erst jetzt, erst am Ende
der zweiten Periode des älteren Vitalismus ist man über
die Leistungen der ersten, ist man über Aristoteles
hinausgekommen. Das war C. Fr. Wolffs und vor allem
Blumenbachs Verdienst.
D. Kants „Kritik der Urteilskraft44.
Unsere Aufgabe ist es nicht, eine Philosophiegeschichte
zu schreiben oder auch nur vollständig zu vermerken, was
dieser und jener Philosoph aus seinem System heraus über
Biologisches gedacht habe. Nur wenn eine philosophische
Lehre den Typus der Biologie auf einen langen Zeitraum
hin durchgreifend beeinflußt, haben wir darauf kurz die
Aufmerksamkeit gelenkt und werden sie darauf lenken:
ersteres war in bezug auf die Lehren des Descartes und
Leibniz der Fall, letzteres wird mit Rücksicht auf die
Theoreme der sogenannten ,, deutschen Idealisten"
und Schopenhauers der Fall sein.
D. Kants „Kritik der Urteilskraft". 63
Wenn wir mit Kant eine Ausnahme von unserem
Vorgehen machen, wenn wir vorhaben, den Inhalt seiner
,, Kritik der Urteilskraft" sogar besonders eingehend
hier zu analysieren, so hat das seinen Grund in der außer-
ordentlichen, durchaus ungewöhnlichen Bedeutung, welche
dieses Buch bis auf unsere Zeit hin gewonnen hat. Nicht
daß ich glaubte, es hätten allzu viele der heutigen Biologen
Kants Werk gelesen; ich weiß vielmehr, daß das nur
sehr wenige getan haben. Aber man hat davon gehört von
einem anderen, der auch davon gehört hat, und dann —
läßt man sich auch darüber hören. Dieser Mißstand muß
aufhören, und dazu hoffen wir wenigstens ein Geringes
beitragen zu können.
An und für sich betrachtet, würde Kants Werk,
seiner grundlegenden und einzigartigen Bedeutung unbe-
schadet, nicht eine so eingehende Analyse in einem der
Geschichte naturwissenschaftlicher Lehren gewidmeten
Buche erfordern; denn, um dieses eine Wichtige allem
vorauszuschicken :
Man würde sehr fehlgreifen, wenn man an-
nehmen wollte, die Zergliederung biologischer
Fragen sei der eigentliche Zweck gewesen, den
Kant bei Abfassung seiner ,, Kritik der Urteils-
kraft" verfolgte; ja. nicht einmal der sich als Er-
gänzung der Vernunftkritik nebenbei ergebende Satz, daß
der Schluß von der Zweckmäßigkeit der Natur auf einen
persönlichen Schöpfer derselben unerlaubt sei, war dieses
Buches eigentliches Ziel.
Am Anfang und am Schluß des Buches steht deutlich
zu lesen, was Kants eigentliche Absicht gewesen ist:
Die Welt der Natur und die Welt der Freiheit sind
zwei verschiedene Welten, die an und für sich ohne Ein-
fluß aufeinander sind; aber die Welt der Freiheit soll,
nämlich im menschlichen sittlichen Handeln, Einfluß auf
die andere Welt gewinnen. Daher muß die Natur so ge-
dacht werden können, daß das möglich ist; es muß einen
64 I- Der ältere Vitalismus.
Grund der Einheit des Übersinnlichen, das der Natur
zugrunde liegt, und des Inhalts des Freiheitsbegriffes
geben: dieser Grund ist der Zweckgedanke.
Das Ziel der ,, Kritik der Urteilskraft'' ist also
ethisch, nicht naturphilosophisch. Die Teleologie soll
Natur und Moral versöhnen.
Was das heißen solle, ob es überhaupt und ob es in
der Kantischen Form möglich ist, das geht uns nun in
diesem Buche durchaus nichts an : wir müssen aber wissen,
was Kant wollte, um sein Vorgehen nicht grundsätzlich
falsch zu beurteilen.
Von Windelband ist einmal Kants ,, Kritik der
Urteilskraft" als bestes seiner Werke bezeichnet worden.
Wir wollen über dieses Urteil nicht rechten, soweit das
Ganze des Werkes im Ganzen von Kants Gedankenwelt
in Betracht kommt. Soweit uns der Inhalt der dritten
Kritik näher angeht, in Hinsicht der Sonderausführung
einer Kritik der teleologischen Urteilskraft können wir
aber jenem Lobe nicht beipflichten: die Durchführung
dieser Aufgabe ist weit entfernt von der Klarheit der
Vernunftkritik, ganz besonders, wenn man an deren erste
Hälfte denkt; fortwährende Wiederholungen, zum Teil
einem eigensinnigen Schematismus zuliebe durchgeführt,
machen die Lektüre ermüdend und nicht gerade immer
klarer, und das Endergebnis bleibt gerade in Hinsicht
des Biologischen, wie wir sehen werden, zweifelhaft,
oder doch wenigstens nicht ganz eindeutig entschieden;
daher denn auch Vertreter der allerverschieden-
sten biologischen Ansicht, meist allerdings, wie
gesagt, nicht gerade nach tiefer Einsichtnahme
der Kantischen Lehren, sein Buch zu ihren
Gunsten auslegen konnten.
Die Urteilskraft ist das Vermögen, das Besondere als
im Allgemeinen enthalten zu erkennen; sie ist bestim-
mend, wenn unter das gegebene Allgemeine subsumiert
D. Kants „Kritik der Urteilskraft". 65
wird, sie ist reflektierend, wenn zum gegebenen Be-
sonderen das Allgemeine gesucht wird.
Soll die Gesamtheit des der äußeren Erfahrung Ge-
gebenen in diesem Sinne reflektierend beurteilt werden,
so braucht man ein Prinzip, das nicht von der Erfahrung
entlehnt wird, sondern welches die reflektierende Urteils-
kraft sich selbst gibt. Es gibt nun ein solches Prinzip, und
zwar sagt dieses aus, daß Natur dergestalt unter dem Ge-
sichtspunkt einer Einheit zu betrachten sei, als ob ein
Verstand sie für unser Erkenntnisvermögen passend ge-
macht habe. Aber es handelt sich hierbei um ein Gesetz
nur für die reflektierende Urteilskraft, nicht für Natur.
Es ist nun „Zweck" der Begriff von einem Objekt,
sofern er zugleich den Grund zur Wirklichkeit des Objektes'
enthält; Zweckmäßigkeit der Form eines Dinges
ist seine Übereinstimmung mit derjenigen Beschaffenheit
der Dinge, welche nur nach Zwecken möglich ist: Zweck-
mäßigkeit der Natur ist also jenes Prinzip der reflek-
tierenden Urteilskraft, und zwar ein „transzendentales
Prinzip"1).
Der Satz vom kürzesten Weg, das Fehlen der Sprünge
in der Natur, ihre Mannigfaltigkeit trotz Einheit der
Prinzipien sind Beispiele2) für das Gesagte. In allen diesen
Fällen wird nicht gesagt, wie geurteilt wird, sondern
wie geurteilt werden soll.
Es gilt scharf zwischen den a priori erkannten „all-
gemeinen Gesetzen der Gleichförmigkeit" der Natur und
der „Spezifizierung" dieser Gesetze nach dem Prinzip der
Zweckmäßigkeit zu scheiden. Nach dem Erörterten ent-
spricht also die Mannigfaltigkeit der Natur in Hinsicht
*) Also keine „Kategorie".
2) Das erste Beispiel dürfte denn doch anderen Charakters
sein als die beiden letzten: es bezieht sich auf Kausalität, auf
Veränderungsgesetzlichkeit, diese beiden aber beziehen sich auf
Tektonik der Natur. Kant macht, wie unser Text sogleich zeigen
wird, selbst diesen Unterschied.
Drie seh, Vitalismus. 2. Aufl. 5
66 I- Der ältere Vitalismus.
ihrer Besonderheiten, ihrer besonderen Tektonik
unserem „Bedürfnis" nach dem Prinzip der Zweck-
mäßigkeit, während die allgemeine Form der Natur-
gesetzlichkeit überhaupt schon durch die Kategorienlehre
erledigt ist; daher denn auch nur die Auffindung der
ersten, nicht die Erkenntnis der zweiten Lust erzeugt.
Das, was hier „zweckmäßig" ist, und zwar mit Beziehung
auf unseren erkenntnismäßigen Wunsch, ist also, kurz
gesagt, die „glückliche Tatsache" (Lotze) der Systemati-
sier barkeit der Natur, eine Tatsache, von der übrigens
Kant nur in der Einleitung seines Werkes redet.
Es beurteilt nun nach Kant die ästhetische
Urteilskraft die formale Zweckmäßigkeit durch das
Gefühl der Lust und Unlust, die teleologische Urteils-
kraft aber beurteilt die reale Zweckmäßigkeit durch
Verstand und Vernunft. Erstere beurteilt nach einer
Regel, aber nicht nach Begriffen; letztere ist die reflek-
tierende Urteilskraft überhaupt, sie beurteilt, wie alle Er-
kenntnis, nach Begriffen, aber „in Ansehung gewisser
Gegenstände" nach „besonderen Prinzipien"1). Über die
Seltsamkeit des Unternehmens, die ästhetische Schau
dem Begriff der Zweckmäßigkeit überhaupt, sei es auch
nur in „formalem" Sinne, zu subsumieren, ist hier natür-
lich zu reden nicht der Ort.
Soweit die begriffsklärende, nicht ganz leicht ver-
ständliche Einleitung des Werkes. Es folgt die Kritik der
ästhetischen Urteilskraft, die uns hier fernliegt; ihr folgt
die Kritik der teleologischen Urteilskraft, und zwar zunächst
als „Analytik".
Ehe wir zu ihrer Darstellung schreiten, merken wir
an, daß in der Einleitung ganz offenbar eine Verwechslung
von Allgemeinheit mit etwas anderem, das Kant
„Zweckmäßigkeit" nennt, das aber wohl passender Ganz-
heit heißen sollte, vorliegt. Wenn nämlich die reflek-
1) Also abermals : Teleologie ist nach Kant keine „Kategorie".
D. Kants „Kritik der Urteilskraft". 67
tierende Urteilskraft vom Besonderen aus das Allgemeine
finden will — und das ist nach Kant ihr def ini torisch »
festgelegtes Wesen — , so sollte man eigentlich nur so
etwas wie etwa die Auffindung des (allgemeinen) New-
tonischen Gesetzes aus den (besonderen) Gesetzen Keplers
ihr zuschreiben. Aber was hier plötzlich der Zweckbegriff
zu tun haben soll, ist nicht klar, womit natürlich nicht der
Bedeutung dieses Begriffs, sondern nur die Legitimität
seiner (sehr gekünstelten) Einführung bestritten werden soll.
Die Analytik beginnt mit der abermaligen Ablehnung
der kategorialen Natur der Zweckmäßigkeit: es ist „in
der allgemeinen Idee der Natur" a priori kein Grund
dafür, daß Naturdinge einander Mittel und Zweck seien,
und daß nur nach teleologischer Kausalität ihre Möglich-
keit verständlich sei. Teleologie wird also nur proble-
matisch, nur analogienhaft zur Naturforschung gezogen,
ohne die Anmaßung einer Erklärung, d. h. eben nur im
Sinne reflektierender Urteilskraft. Man hat so wenigstens
eine Regel als Prinzip, wo Kausalität, wie noch näher zu
erörtern ist, nicht genügt.
Teleologie ist also nur ein regulatives Prinzip der
Beurteilung; sie als konstitutives Prinzip ansehen
würde aber bedeuten, ,,eine neue Kausalität in die Natur-
wissenschaft einführen, die wir doch nur von uns selbst
entlehnen und anderen Wesen beilegen, ohne sie gleich-
wohl mit uns als gleichartig annehmen zu wollen".
Hier stoßen wir auf die erste Stelle des Kantischen
Werkes, welche biologisch bedeutsam, zugleich freilich
etwas dunkel erscheint. Es ist ja allerdings an diesem
Orte noch nicht die Rede davon, auf was in der Natur
im besonderen denn eigentlich der Zweckmäßigkeitsbegriff
angewendet werden solle, also ist auch noch nicht aus-
gemacht, inwiefern denn etwa ,,eine neue Kausalität
eingeführt" werden würde durch Zulassung der Zweck-
5*
68 I- Der ältere Vitalismus.
mäßigkeit als konstitutiven Prinzips, ob als Schöpfung
oder als Kausalitätsart innerhalb der Natur; eines aber
wird klar ausgesagt, daß wir diese ,,neue Kausalität"
„von uns selbst entlehnen". Da „wir" nun zur Natur
gehören, so gibt es also denn doch wohl diese ,,neue
Kausalität" irgendwo und irgendwie in der Natur!
Doch sollten diese Bemerkungen nur die Aufmerk-
samkeit anregen, und wir gehen einstweilen weiter:
Nach kurzen Bemerkungen über objektive, aber bloß
formale Zweckmäßigkeit, wie zum Beispiel diejenige
mancher geometrischer Figuren zur Lösung von Proble-
men, eine recht seltsame, wenig in den Zusammenhang
passende Angelegenheit übrigens, behandelt Kant nun
der Reihe nach als „objektiv-materiale Zweckmäßigkeit":
die relative Zweckmäßigkeit in der Natur, die
Dinge als Naturzwecke und die Natur als System
der Zwecke.
Von objektiver materialer Zweckmäßigkeit kann
nur die Rede sein, wenn ein Verhältnis von Ursache und
Wirkung vorliegt, „welches wir als gesetzlich einzusehen
uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee
der Wirkung der Kausalität der Ursache, als die dieser
selbst zum Grunde liegende Bedingung der Möglichkeit
der ersteren unterlegen". Solche Zweckmäßigkeit ist nun
relativ, wenn sie bloß Mittel zu anderem Zweck ist, wie
z. B. der Flußschlamm für das Wachstum der Pflanzen.
In solchem Fall kann sehr wohl auch ohne
Teleologie die Wirkung aus der Ursache be-
griffen AVer den; es handelt sich um „zufällige" Zweck-
mäßigkeit oder bloße „Zuträglichkeit", die natürlich über-
haupt nur einen Sinn hat, wenn sie in Hinsicht auf einen
wirklichen „Naturzweck" gilt. Als tiefer bedeutsam er-
scheint nur die relative Zweckmäßigkeit der Geschlechter
in bezug aufeinander.
Also, so möchten wir beifügen, kann relative Zweck-
mäßigkeit eben doch bedeutsam sein. Uns scheint, als
D. Kants „Kritik der Urteilskraft". 69
habe das Problem der relativen Zweckmäßigkeit eine
größere Verwandtschaft zum Problem der „Natur als
System der Zwecke", als Kant anzunehmen scheint.
Ein Ding ist nun aber unbegreiflich durch den „Mecha-
nismus der Natur", und wir sind genötigt, eine Ursache,
„deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt
wird", einzuführen, wenn „seine Form nicht nach bloßen
Naturgesetzen möglich ist, d. h. nach solchen, welche von
uns durch den Verstand allein, auf Gegenstände der Sinne
angewandt, erkannt werden können", sondern wenn „Be-
griffe der Vernunft" einzusetzen haben. Die Form solches
Dinges erscheint hier kausal „zufällig".
Kant untersucht nun, wann dieser Fall vorliege:
er liege z.B. vor, wenn man in einer Wildnis die Zeichnung
einer geometrischen Figur finde. Die Zufälligkeit solcher
würde so groß sein, , , als ob es dazu gar kein Naturgesetz gäbe' ' ,
und man würde ausrufen: „vestigium hominis video"1).
Hier handele es sich nun um ein Produkt der Kunst.
Ein „Natur zweck" aber liegt vor, „.wenn ein Ding
von sich selbst (obgleich in zweifachem Sinne) Ursache
und Wirkung ist". Kant erläutert das zunächst durch
Schilderung dessen, was man heute Entwicklungsgeschichte
oder Ontogenie nennt, um sodann zu begrifflicher Ver-
tiefung überzugehen :
Damit ein Ding als Naturzweck gelte, müssen seine
Teile „nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich
und wechselseitig voneinander Ursache und Wirkung ihrer
Form sein". Die Idee des Ganzen muß „Form und Ver-
bindung aller Teile" bestimmen, „nicht als Ursache — denn
dann wäre es ein Kunstprodukt — , sondern als Erkenntnis-
]) Bütschli (Verh. Nat, Med. Verein Heidelberg 7, 1904)
hat, und zwar, wie uns scheint, mit Recht, gegen das „vestigium
hominis video" eingewendet, daß die Sprungfiguren erstarrender,
gelatinöser Lösungen auch mathematisch regelmäßige Figuren
ergeben. Ja, er hätte wohl bloß an Schneeflocken zu erinnern
brauchen.
70 !• Der ältere Vitalismus.
grund der systematischen Einheit der Form und Ver-
bindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie
enthalten ist, für den, der es beurteilt".
Es erseheint passend, hier die Bemerkung einzu-
schalten, daß im Sinne einer rein deskriptiven Teleo-
logie, welche über die eigentliche Naturgesetzlichkeit der
,, Naturzwecke" noch gar nichts ausmacht, die letzthin
vorgeführten Kantischen Ausführungen wohl am sach-
gemäßesten verstanden werden: es soll ein Kennzeichen
aufgefunden werden für Naturdinge, bei denen teleo-
logische Beurteilungsart im vorläufig orientierenden
Sinne — und nur solche, nicht mehr — einzusetzen hat.
Kant erörtert nun die Unterschiede zwischen Arte-
fakten und Naturzwecken noch tiefer: Beim Artefakt
liegt die Ursache ,, nicht in der Natur ihrer Materie",
sondern in einem nach Ideen wirkenden Wesen, beim
Organismus nicht. Das Artefakt also, wenn es eine Ma-
schine ist, hat ,, lediglich bewegende Kraft", der Organis-
mus hat auch ,, bildende" Kraft, „welche der Mechanismus
nicht erklärt". Die organisierte Natur ist also kein ,,Ana-
logon der Kunst", wenigstens würde das zu wenig be-
sagen. Eher ist sie ein ,,Analogon des Lebens", aber bei
solcher Auffassung muß man entweder ,,die Materie als
bloße Materie mit einer Eigenschaft begaben, die ihrem
Wesen widerstreitet (Hylozoismus)" oder ihr ein „fremd-
artiges" Prinzip, eine Seele beigesellen, und im letzteren
Falle steht wieder nur die Möglichkeit offen, schon organi-
sierte Materie der Seele als Werkzeug zu geben, wodurch
nichts erklärt wird, oder aber ,,die Seele zur Künstlerin
dieses Bauwerks zu machen und so das Produkt der
(körperlichen) Natur zu entziehen".
,, Genau zu reden, hat also die Organisation der Natur
nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir
kennen" und das, obwohl der nach teleologischer Kausali-
tät handelnde Mensch mit zur ,, Natur im weitesten Ver-
stände" gehört.
D. Kants „Kritik der Urteilskraft". 71
Natürzwecke sind also nach keiner Naturkausalität
im weitesten Sinne erklärlich; der Begriff des Natur-
zwecks ist durchaus nur regulativ für die reflektierende
Urteilskraft; man spricht immer nur so, „als ob" etwas
wäre, ,,will aber keinen besonderen Grund der Kausalität"
einführen, auch keinen „Werkmeister" über sie stellen.
Hier endet die Erörterung über Dinge als „Natur-
zwecke", welche ganz vornehmlich das eigentliche
Problem des Vitalismus angeht.
Ich denke, man wird zugeben müssen, daß Kants
Erörterung in hohem Grade unbefriedigend ist für eigent-
lich biologische Aufgaben:
Es könnte zunächst so scheinen, als wolle Kant
nichts weiter als einer rein deskriptiv-teleologischen Be-
iirteilungsart logische Natur klarstellen, aber lediglich
deskriptiv-teleologisch redet Kant hier doch nicht über
Biologisches, da er ja den Menschen, wenigstens als
„Phänomenon", zur Natur zählt und für ihn, bzw.
für sein Handeln, Elementargesetzlichkeit teleologischer
Art, wenn schon ohne eigentlich analytische Beweis-
führung, zuläßt: der Mensch ist aber doch ein
Lebewesen, also ist Kant für gewisse Phänomene
gewisser Lebewesen „Vitalist" unserer Definition, mag
er selbst diesen Schluß ziehen oder nicht.
Nach dieser vorläufigen Ermittlung fragen wir uns
verwundert, warum unser Philosoph denn die Möglichkeit
einer allgemeinen Erkenntnis der Kausalitätsart des
Organischen ablehnt:
Sehr dunkel erscheint zunächst die Wendung, daß
die organische Natur ein „Analogon des Lebens" noch
eher als ein Analogon der Kunst sei, wo doch gerade das
Leben untersucht wird. Da finden wir nun in den „Meta-
physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" die
Definition : Im Gegensatz zur Trägheit der Materie, welche
Leblosigkeit bedeute, heiße „Leben das Vermögen einer
Substanz, sich aus einem inneren Prinzip zum Han-
72 r. Der ältere Vitalismus.
dein, einer endlichen Substanz, sich zur Veränderung,
und einer materiellen Substanz, sich zur Bewegung oder
Ruhe, als Veränderung ihres Zustandes, zu bestimmen".
Das einzige bekannte innere Veränderungsprinzip einer Sub-
stanz nun sei Begehren, die einzige bekannte innere Tätig-
keit Denken; diese Bestimmungsgründe aber seien nicht
„Vorstellungen äußerer Sinne" und also nicht „Bestim-
mungen der Materie als Materie". ,,Also ist alle Materie als
solche leblos" ; solches sage der Trägheitssatz, weiter nichts.
Erwägen wir den Sinn dieser Worte in Beziehung auf
die Ausführung über die Naturzwecke, so könnte man
letztere vielleicht so fassen, daß gesagt sein solle: die
organisierte Natur sei kein „Analogon der Kunst", in-
sofern sie nicht durch etwas außer ihr organisiert, nicht
„geschaffen" sei; sie sei eher ein „Analogon des Lebens"
im Sinne des uns als elementargesetzlich allein
bekannten menschlichen, auf Begehren und
Denken als internen Faktoren beruhenden Han-
delns, also im Sinne des „Er-lebens", d. h. des Psychi-
schen. Bei solcher Auffassung ist klar, daß „Materie als
bloße Materie" in diesem Sinne allerdings nicht (in
hylozoistischem Sinne) „leben" kann, wodurch alle uns
später noch angehenden „Lebensstofftheorien"
abgelehnt werden1). Es ist aber anderseits nicht
klar, warum dadurch, daß ein „fremdartiges Prinzip" der
Materie beigesellt wird, welches die „Künstlerin dieses
Bauwerks", d. h. der organisierten Natur, ist, „das Pro-
dukt der Natur entzogen" werden soll, auf Grund
welcher angeblichen Sachlage Kant nun auch einen
Vitalismus irgendwelcher Art ablehnt.
x) Man vergleiche auch die Sätze aus der Dialektik der
Urteilskraft: „Aber die Möglichkeit einer lebenden Materie (deren
Begriff einen Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit, inertia, den
wesentlichen Charakter derselben ausmacht), läßt sich nicht einmal
denken." Nur ein Zirkel kann nach Kant die Zweckmäßigkeit
aus dem Leben der Materie ableiten.
D. Kants „ Kritik der Urteilskraft". 73
Hat doch Kant ausdrücklich den handelnden Men-
schen als Phänomenon der Natur beigesellt! Und
dieser besitzt doch teleologische Kausalität!
Warum kann da nicht, so fragen wir in moderner
Wendung, die organisierte Welt wenigstens hypothetischer-
weise nach Analogie dieser im phänomenologischen Sinne
wirklichen Sonderkausalität erklärt, oder besser gesagt,
formuliert werden?
Wir sehen jetzt wohl ein, daß, wie wir anfangs sagten,
ungefähr jede Ansicht sich aus der Urteilskraftkritik
ihre Stützen holen könne, zumal wenn sie ins Auge faßt,
was Kant ablehnt. Kant lehnt nämlich ab: erstens, daß
die organisierten Wesen geschaffene Maschinen seien,
zweitens, daß sie aus einer besonderen Materienart ent-
springen, drittens, daß sie vitalistischer Eigengesetzlich-
keit verdankt werden. Solche Eigengesetzlichkeit gibt er
aber für den handelnden Menschen als Bestandteil der
Erscheinungswelt zu ! Man könnte aus seinen drei Ab-
lehnungen vielleicht den Schluß ziehen, daß er, was
sich ja mit seiner Schlußfolgerung in Hinsicht der Her-
kunft des Ganzen der tektonischen Welt decken würde,
die organisierten Wesen Maschinen sein läßt, nach deren
Herkunft nicht zu fragen, welche ,, gegeben"
seien, dann wäre er ,,statischer Teleologe", obschon
immer die Ausnahme für den handelnden Menschen be-
stehen bliebe.
Aber „statische Teleologie" wäre doch auch eine
positive Behauptung, es würde über die Art des Zweck-
mäßigen, daß es nämlich nicht eigengesetzlich, sondern
durch eine Tektonik bedingt sei, doch etwas Bestimmtes
ausgesagt, obschon der Ursprung derselben im dunklen
bliebe. Mit statischer Teleologie würde die eine von zwei
Alternativen bejaht, der ,, Vitalismus" würde verneint.
Aber Kant will über die Gesetzlichkeit der Organisation
gar nichts weder bejahen noch verneinen, wenigstens an
dieser Stelle nicht; ausdrücklich nennt er am Schluß der
74 I- Der ältere Vitalismus.
Analytik den Begriff Naturzweck „durchaus nur regulativ",
und das, obwohl er, was immer wieder betont sein muß,
den eigengesetzlich handelnden Menschen zur Natur
rechnet.
Es scheint uns, daß hier Kant zu berichtigen ist,
daß man nicht bei deskriptiver, rein „regulativer"
Teleologie in Hinsicht der Organisation stehenzubleiben
habe; denn nach unserer Ansicht ist durchaus nicht
einzusehen, warum sich zwischen zwei deutlich
erkannten Alternativen rein natursachlicher Art
nicht solle eine empirische Entscheidung treffen
lassen.
Doch wir werden bald wiederum Gelegenheit haben,
die Dunkelheiten der Kantischen Ausführungen in noch
anderer Form, und zwar mit etwas deutlicherer Hin-
neigung zum Vitalismus, kennenzulernen, und wenden
uns abschließend erst in Kürze den Betrachtungen über
die ,, Natur überhaupt als System der Zwecke" zu.
,,Ein Ding seiner inneren Form halber als Natur-
zweck beurteilen ist ganz etwas anderes, als die Existenz
dieses Dinges für Zweck der Natur halten." Um aber
letzteres in bedeutungsvoller Weise zu können, dazu müßte
man die Kenntnis eines „Endzwecks" haben. Diese fehlt
aber. Also ist das Problem unbehandelbar und ist nur
noch zu bemerken, daß natürlich zu einem „System der
Zwecke" auch Dinge gehören können, welche keine „Natur-
zwecke" sind.
Mit diesen für unsere biologischen Absichten weniger
bedeutungsvollen Erörterungen endet die „Analytik der
teleologischen Urteilskraft' ' .
In der Dialektik der teleologischen Urteilskraft tritt
im Grunde alles in der Analytik Erörterte fortgesetzt
wieder auf, nur in anderer Form und immer mit dem
Schlüsse, daß ein Schöpfer durch die Zweckmäßigkeit
D. Kants „Kritik der Urteilskraft". 75
der Welt nicht bewiesen werden könne. Die dem Schema-
tismus der Vernunftkritik zuliebe ersonnenen angeblichen
„Antinomien" haben eine tiefere Bedeutung nicht. Wir
können uns hier kürzer fassen als bei Erörterung der
Analytik.
Vor allem muß nun klar erkannt werden, daß das
Realistische des Kantischen Standpunktes in der
Kritik der Urteilskraft und besonders in deren uns jetzt
interessierendem Abschnitt weit deutlicher in den Vorder-
grund tritt als in der Vernunftkritik und zumal in deren
ersten Ausgabe: die Natur ist fortwährend als ein Reales
gefaßt, das anders ,,sein könnte, als es uns erscheint",
und das anderes „leisten" könne, als wir „verstehen"
können. Nicht aber ist für Kant die Natur eine Vor-
stellung, deren „Gesetze" eben das wären, was er an
ihr formuliert hätte, so daß ein „Verstehen" und „Nicht-
verstehen" gar nicht in Frage käme.
Die Unmöglichkeit mechanischer Erzeugung der Orga-
nismen, sagt nun Kant in seinem realistischen Sinne,
können wir „nicht beweisen", weil wir „die unendliche
Mannigfaltigkeit der besonderen Naturgesetze ihrem ersten
inneren Grunde nach nicht einsehen". Das „produktive
Vermögen der Natur" möge aber wohl auch für das von
uns teleologisch zu Beurteilende zulangen, „ebensogut,
als für das, wozu wir bloß ein Maschinenwesen der Natur
zu bedürfen glauben". Daß der Mechanismus „respektive
auf unser Erkenntnisvermögen" aber keine Erklärung
geben könne, sei ganz gewiß.
Was soll es bedeuten, daß jenes „produktive Ver-
mögen der Natur wohl ausreichen möchte" ? Will Kant
etwa sagen, daß hier ein elementares Naturgesetz vor-
liege, aber ein solches, welches wir nicht auf bloße Be-
wegungsvorgänge reduzieren können? Man ersieht
nämlich aus den „Metaphysischen Anfangsgründen", daß
Kant im Sinne der Mechanisten die Auflösung aller
Physik in Bewegungsvorgänge fordert ! Hätten wir recht,
76 I- Der ältere Vitalismus.
so wäre also diese Stelle vi talis tisch zu verstehen, was
die Gegenstellung des „Maschinenwesens der Natur" zu
dem durch ihr „produktives Vermögen" Geleisteten noch
besonders gutzuheißen scheint. Es gäbe dann also nach
Kant besondere vitale Eigengesetze, die, obzwar sie der
Kausalität unterstehen, nicht in Bewegungsschemata auf-
lösbar und in diesem Sinne nicht „erklärbar" sind.
Aber paßt diese Deutung zu dem früher Ermittelten ?
Wenn es der Fall wäre, müßte man wohl sagen, daß Kant
seinen Gedanken etwas einfacher hätte ausdrücken können,
als geschehen ist. Also meinte er doch noch etwas anderes ?
Wir wollen die Entscheidung noch vertagen.
Es folgt die oft zitierte Stelle, daß nie ein Newton
kommen werde, der auch nur die Entstehung eines Gras-
halms erklären könne „nach Naturgesetzen, die keine
Absicht geordnet hat".
Freilich bleibt bei der Stelle über Newton die Dunkel-
heit bestehen, daß bei den „geordneten Naturgesetzen"
sowohl an eine gegebene Ordnung von Einzelgesetzen
(statisch -teleologisch) wie an Naturgesetze, in denen
Ordnung, Ordnendes liegt (vitalistisch) , gedacht werden
kann.
Daß man, wie es weiter heißt, „ganz tautologisch ver-
fahren" würde, wenn man als Grund der Weltzweckmäßig-
keit einen Weltschöpfer postulieren würde, ist zwar
richtig, man würde aber hier auch, welche Einsicht ja
gerade die Vernunftkritik angebahnt hat, logisch illegitim
verfahren. Dagegen für das Geschehen in der Welt ver-
fährt man zwar „tautologisch", wenn man, weil man
Zweckmäßigkeit antrifft, a posteriori, um diese zu erklären,
sich auf eine nach Zwecken wirkende Ursache beruft, aber
man verfährt hier legitim.
Ist doch in letztem Grunde alles „ Erklären"
Tautologie.
So wäre denn also Kant als Vitalist zu bezeichnen?
D. Kants „Kritik dei' Urteilskraft". 77
Zur Methoden lehre der teleologischen Urteilskraft
leiten Betrachtungen über die Art, wie Mechanismus und
Teleologie zu vereinigen seien; solches geht an, aber
nicht tritt dabei eines an Stelle des anderen. Sie ver-
halten sich wie Zweck und Mittel ; das „Wirkungsgesetz"
des Mittels aber „für sich" hat „nichts einen Zweck Voraus-
setzendes".
Das klingt nun wieder durchaus statisch- teleo-
logisch und erinnert gar nicht an die „produktive Kraft
der Natur", und so sind wir denn wieder mitten in der
Verwirrung. Zum Überfluß findet sich auch noch die
Wendung von dem „Zugrundelegen" einer „ursprünglichen
Organisation". Doch gehen wir einstweilen weiter!
Das Grundergebnis der „Methodenlehre", daß die
Teleologie weder zur Theologie noch zur Naturwissen-
schaft, sondern nur zur „Kritik", und zwar eben der
Urteilskraft, gehöre, geht uns hier weniger an als einige
besondere Folgerungen.
Nachdem festgestellt ist, daß die „Produkte und
Ereignisse" der Natur, soweit es geht, mechanistisch
erklärt werden müssen, wird die Art der möglichen Ver-
bindung von Mechanismus und Teleologie untersucht. Der
„Okkasionalismus", die Ansicht nämlich, daß die „oberste
Weltursache" bei jeder Begattung der sich mischenden
Materie die organische Bildung gäbe, wird abgelehnt,
da hier „alle Natur gänzlich verloren" geht. Nach dem
„Prästabilisruus" ist alles ein für allemal vorgebildet.
Nun kann das gezeugte Wesen ein „Edukt" sein, dann
gelangt man zur „Evolutionstheorie" ; Kantlehntsieab!
Oder es ist ein „Produkt"; das gilt die Theorie der
Epigenesis, welche besser Theorie der „generischen Prä-
formation" oder auch „Involutionstheorie" genannt werde.
Die spezifische Form ist auch nach dieser Lehre „prä-
formiert", aber „virtualiter", nämlich im „produktiven
Vermögen der Zeugenden" und in ihren „inneren zweck-
mäßigen Anlagen",
78 !• Der ältere Vitalismus.
Kant nimmt die Epigenesis an, da hier doch,
wenn auch nicht der erste Anfang, so doch die Fort-
pflanzung als ,,selbst hervorbringend'' gesetzt und somit
viel ,,der Natur überlassen" werde.
Und zwar erklärt sich der Philosoph aus-
drücklich für Blumenbachs Auffassung der Sach-
lage: Blumenbach hebe alle Erklärungsart ,,von organi-
sierter Materie" an, von einer ,, ursprünglichen Organi-
sation". Das Vermögen der Materie, auf Grund dieser sich
zu gestalten, nenne er „Bildungstrieb' '.
Der Leser, welcher unseren geschichtsanalytischen
Darlegungen aufmerksam gefolgt ist, wird bei der Lektüre
dieser Worte des höchsten erstaunt sein:
Kant akzeptiert die Epigenesis, redet vom „produk-
tiven Vermögen des Zeugenden", behauptet seine Über-
einstimmung mit Blumenbach, dem Vitalisten, und —
zitiert Blumenbach falsch, nämlich ausdrücklich
im Geiste einer statischen auf „ursprünglicher Or-
ganisation" beruhenden Teleologie, mit Worten,
welche dieser Forscher selbst nie gebraucht hat!
Fassen wir alles zusammen, was wir über Kants
Stellung zu den Grundfragen der Biologie in diesen langen
Erörterungen erfahren haben, so kann seine Lehre also
als Stütze verwendet werden:
erstens für eine rein deskriptive, lediglich „regulativ
beurteilende" Teleologie, welche die Frage nach weiterer
Entscheidung prinzipiell ablehnt, für welche Resignation
allerdings keine stichhaltigen Gründe beigebracht werden ;
zweitens für einen Vitalismus, der ihm nur deshalb
bedenklich erscheint, weil er im Dogma der prinzipiellen
Zurückführbarkeit aller Naturphänomene auf Bewegungs-
vorgänge befangen ist, ein Postulat, das sich dem Leben-
digen gegenüber allerdings als durchaus unerfüllbar erweist ;
drittens für eine statische Teleologie, für die Lehre
von einer gegebenen Struktur, auf deren Basis alles
D. Kants „Kritik der Urteilskraft« '. 79
mechanistisch zugeht. Freilich spricht für diese Ansicht
nur ab und zu der Wortlaut, weniger wohl der Sinn der
Sätze Kants; auch wird für den handelnden Menschen
als Phänomenon ganz ausdrücklich eine Ausnahme im
vitalistischen Sinne gemacht.
Läßt sich nun eine befriedigende Lösung dieses selt-
samen Sachverhalts, eine befriedigende Vereinigung der
zunächst offenkundigen Widersprüche in Kants Dar-
legungen finden ?
Wir möchten hier zum Schluß als Versuch solcher
Vereinigung zwei Gedanken der Beachtung empfehlen:
Wenn man Kants Ausdrücke Organisation und
Ordnung nicht gerade im Sinne einer extensiven Tek-
tonik, einer Struktur, einer Maschine, eines Nebenein-
ander von Verschiedenem auffaßt, sondern darunter nur
ein als Spezifisches Gegebensein, ein gegebenes Ord-
nendes, verstehen darf, würden sich die Aussagen
über Blumenbach und manches andere im Sinne
eines reinen Vitalismus auffassen lassen. Blumen-
bach war doch nun einmal ausgesprochener Vitalist; daß
Kant ihn sachlich mißverstand, erscheint fast unmög-
lich ; eine gewisse Freiheit des Ausdrucks im Zitieren liegt
aber wohl bei einem Philosophen, der gewohnt ist, sich
seine Sprache in weitem Maße selbst zu schaffen, nicht
außer der Wahrscheinlichkeit Bereich.
Zum anderen geben wir ganz besonders die Möglich-
keit zu bedenken, daß Kant den begrifflichen Unter-
schied zwischen statischer und dynamischer Teleologie
überhaupt nicht scharf gesehen habe; daß ihm Teleo-
logie, auch in realer, nicht nur in formaler Bedeutung,
gewissermaßen stets eines und dasselbe ist, und er nun
zu ihrer Kennzeichnung bald Worte, welche diese, bald
solche, welche jene Art von Teleologie charakterisieren,
verwendet. Dann wäre Kant also zwar ,, Vitalist",
aber nicht in voller Konsequenz. Wenn wir uns
daran erinnern, daß ein ethischer Zweck der Kritik der
80 I. Der ältere Vitalisrnus.
Urteilskraft eigentliches Teil war, daß es sich aber für
dieses eigentliche Ziel nur um Zweckmäßigkeit über-
haupt handelte, gewinnt unsere Annahme vielleicht an
Wahrscheinlichkeit.
Unsere letzte hypothetische Ansicht über den bio-
logischen Inhalt der „Kritik der Urteilskraft" also ist
diese: Kant ist für den handelnden Mensch als Teil der
Erscheinungswelt in ausgesprochener, für das Organi-
sationsgeschehen in problematischer Form Vitalist; er
ist sich freilich des logischen Unterschiedes zwischen
statischer und dynamischer Teleologie nicht immer klar
bewußt und ist von seinem Vitalismus selbst unbefriedigt,
weil dieser seinem Ideal der Naturwissenschaften allerdings
durchaus widerspricht; dieses Ideal nämlich ist ein rigo-
roser Mechanismus, in welchem seltsamer-, freilich histo-
risch verständlicherweise wohl für das Eingreifen von
,, Seelen", aber nicht für das Eingreifen seelenähnücher
Naturagenzien ein Platz ist.
Die allgemein kritische Erörterung, daß „Teleologie"
überhaupt keine metaphysische Bedeutung haben könne,
geht der biologischen Untersuchung fortwährend neben-
her; der Endzweck des Ganzen aber ist weder biologisch
noch metaphysisch, sondern ethisch: die Weit ist so
geartet, daß Zwecke in ihr verwirklicht werden können,
also kann (und soll) auch der Mensch Zwecke, und zwar
sittliche, in ihr verwirklichen.
Unser Ergebnis mag wenig befriedigend erscheinen;
auf alle Fälle dürften wir aber wohl gezeigt haben, daß
ein Biologe, welcher sich auf Kant für oder wider den
Vitalismus berufen will, gut tut — etwas vorsichtig zu
verfahren.
Bis hierher ging in der ersten Auflage dieses Werkes
der Text über Kant. Er ist absichtlich, von einigen
kleinen Änderungen, Streichungen und Zusätzen abge-
sehen, so stehengeblieben, wie er dastand.
D. Kants „Kritik der Urteilskraft". 81
Ich gebe nun dem ursprünglichen Text noch einige
Zusätze erheblicherer Art.
Zuerst ein paar Stellen aus den vorkritischen
Schriften Kants.
Inder Schrift über den „einzig möglichen Beweis-
grund zu einerDemonstrationdesDaseins Gottes"
heißt es einmal: „Wie z. B. ein Baum durch eine innere
mechanische Verfassung soll vermögend sein, den Nahrungs-
saft so zu formen und zu modeln, daß in dem Auge der
Blätter oder seinem Samen etwas entstände, das einen
ähnlichen Baum im kleinen, oder woraus doch ein solcher
werden könnte, enthielte, ist nach allen unseren Kennt-
nissen auf keine Weise einzusehen." Und weiterhin sagt
er, daß „das Übergewicht der Gründe" gar zu sehr auf
Seiten derer sei, welche die „Produkte des Pflanzen- und
Tierreiches . . . der mechanischen Notwendigkeit nach all-
gemeinen Gesetzen der materiellen Natur entreißen
wollen".
Und weiter in den „Träumen eines Geister-
sehers, erläutert durch Träume der Metaphysik":
„Ich gestehe, daß ich sehr geneigt sei, das Dasein im-
materieller Naturen in der Welt zu behaupten und meine
Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen."
Hierzu dann die Anmerkung: „Was in der Welt ein Prin-
cipium des Lebens enthält, scheint immaterieller Natur
zu sein." Und weiter: Die Berufung auf immaterielle
Kräfte sei zwar eine Zuflucht der faulen Philosophie;
„gleichwohl bin ich überzeugt, daß Stahl . . . oftmals
der Wahrheit näher sei, als Hof mann, Boerhaave u. a. m.,
welche die immateriellen Kräfte aus dem Zusammenhange
lassen, sich an die mechanischen Gründe halten und
hierin einer mehr philosophischen Methode folgen, die
wohl bisweilen fehlte, aber mehrmals zutrifft, und die
auch allein in der Wissenschaft von nützlicher Anwendung
ist, wenn andererseits von dem Einflüsse der Wesen von
unkörperlicher Natur höchstens nur erkannt werden
Drie seh, Vitalismus. 2. Aufl. 6
82 I- Der ältere Vitalismus.
kann, daß er da sei, niemals aber, wie er zugehe und wie
weit sich seine Wirksamkeit erstrecke".
Es handelt sich hier, wie gesagt, um sogenannte
,, vorkritische" Schriften, um Abhandlungen aus den
Jahren 1763 und 1766. Schwankend gehalten sind die
mitgeteilten Sätze ganz ebenso wie die Ausführungen der
,, Kritik der Urteilskraft". Aber eine starke Neigung zur
vitalistischen Auffassung des Lebendigen ist unverkenn-
bar. Und bedeutet hier der ,, vorkritische" Charakter der
Schriften so viel? Die ,, Kritik" läßt doch die empirische
Wirklichkeit bestehen als das, was sie ist, sie untersucht
nur die Frage, ob sie Ausdruck eines An-sich sei. Die
vitalistische Frage geht nun aber ganz unzweifelhaft nur
das Empirische an, so daß ,, Kritik" ihre Lösung eigent-
lich gar nicht beeinflussen kann, es sei denn ganz un-
bestimmt und allgemein in dem Sinne, daß sie sagt: was
Ihr da findet, ist kein Aufstellen über das An-sich, sondern
gilt nur für die Welt der Phänomene. So meint es ja
doch Kant in der ,, Kritik der reinen Vernunft" ein für
allemal (ob mit Recht oder Unrecht, bleibe hier dahin-
gestellt) und ein gleiches in der „Kritik der Urteils-
kraft" zu wiederholen, wird er nicht müde.
Wir erörtern nun die Kantische Lehre noch von
einigen anderen Gesichtspunkten aus:
Daß Kant die Lehre von, der psycho-physischen
Wechselwirkung, welche bekanntlich Vitalismus, wenig-
stens auf eine Seite des Menschen beschränkter Vitalismus
ist, nicht ablehnt, geht aus den „Schlußbetrachtungen"
zu den „Paralogismen der reinen Vernunft" in der ersten
Auflage der Vernunftkritik hervor. Freilich nimmt er
jene Lehre auch nicht an, aber er hält sie doch offenbar
nicht für unsinnig, sondern für möglich. Daß er eine
Entscheidung für ausgeschlossen hält, indem er die ganze
Frage, welche empirischer Art ist, viel zu früh auf den
D. Kants ,, Kritik der Urteilskraft". 83
Boden des An-sich hinüberspielt, tut hier nichts zur
Sache. Ist es doch ein häufiger Fehler des Kantischen
Philosophierens überhaupt, rein auf empirischem Boden
erwachsenen Fragen durch Hinübergleiten auf den Boden
der sogenannten Kritik die Beantwortung, auch die hypo-
thetische, abzuschneiden. Auf keinen Fall, scheint mir,
darf man Kant als ,,psycho-physischen Parallelisten" be-
zeichnen.
Drei Dinge sind es meines Er achtens, welche ganz
wesentlich die außerordentlich schwankende Haltung
Kants in Sachen des Vitalismus Frage bestimmen. Von
der einen Angelegenheit haben wir geredet: von der Un-
bestimmtheit den Begriffen ,,Teleologie überhaupt", „stati-
sche Teleologie", „dynamische Teleologie" gegenüber.
Dazu kommen nun sein schillernder Begriff des Mechanis-
mus und sein schillernder Begriff des Noumenon.
Sehr oft ist „Mechanismus" bei ihm im engen Sinne
des Wortes, also newtonisch gedacht; dann müßte ein
besonderes mechanisches System mit besonderen Leistun-
gen offenbar eine Maschine heißen. Aber gelegentlich heißt
ihm „Mechanismus sein" auch nur: dem Prinzip der Ein-
deutigkeit, der „Determination" unterstellt sein; dann ist
„Maschine" etwas viel Spezielleres als „Mechanismus".
So heißt es in der „Kritik der praktischen Ver-
nunft" z. B. einmal, man könne in dem ganz allgemeinen
Sinne einer allgemeinen Notwendigkeit aller Begeben-
heiten von einem „Mechanismus der Natur" reden, „ob
man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, che ihm
unterworfen sind, wirklich materielle Maschinen sein
müßten"1). Es gibt nämlich auch „psychologische Kausali-
tät". Doch davon später. Uns liegt hier nur daran, die
Vermutung zu äußern, daß Kants Schwanken in Sachen
x) In dem Abschnitt: „Kritische ßeleuchtmig der Analytik
der reinen praktischen Vernunft".
6*
84 I- Der ältere Vitalismus.
des Mechanismus- Begriffs sein Schwanken in Sachen des
Vitalismus erkläre. Er scheint mitunter zu glauben, der
Vitalismus müsse das Eindeutigkeitsprinzip, den „Mecha-
nismus" im weiteren Sinne, durchbrechen; in solchen
Momenten ist er sein Gegner. Sieht er nur einen Gegensatz
zum engeren Mechanismus, zur „Maschine" in ihm, so
ist er sein Freund.
Das „Noumenon", das Ding an sich, ist Kant bis-
weilen ein bloßes X, ja ist „für alle Erscheinungen das-
selbe", gänzlich unbestimmbar, durch keine Aussage
irgendwie betreffbar. Bisweilen ist aber auch das Noume-
non als ein Besonderes gefaßt, um das wir als um ein
Besonderes in jedem Falle, auf Grund unserer Erfahrung
im Erscheinungsreiche, wenigstens ganz bestimmte be-
sondere Daseins aussagen machen können, wenn wir
auch nicht wissen, wie es ,,an sich" beschaffen ist, d. h.
welches besondere Sosein es „an sich" hat. Die besonde-
ren Daseinsaussagen ohne Soseinsbestimmung sind ihm
nun nicht viel wert, und deshalb, nur deshalb, ist ihm
der Vitalismus nicht viel wert. Im Grunde gehört aber
offenbar diese Art des Noumenalen doch noch zur Er-
scheinungswelt, freilich als ihr unanschaulicher Bestandteil.
Was nun den Vitalismus im besonderen angeht,
so kommt noch ein Umstand dazu, der ihn Kant, trotz
aller Zuneigung, doch immer wieder unsympathisch macht,
nämlich dieser, daß wir den Nisus formativus, oder wie
immer man hier zu sagen behebt, doch ad hoc setzen,
und nicht irgendwo anders her kennen, wenigstens soweit
das eigentlich physiologische Leben einschließlich der
Formbildung in Frage steht. Denn daß psychische Kausali-
tät, so wie wir sie kennen, nicht verwendbar ist, sieht
Kant in aller Klarheit. Die „Lebenskraft" äußert sich
ja doch nicht so wie unser Seelisches: sie arbeitet primär
vollendet, „irrt" nicht, „probiert" nicht.
D. Kants „ Kritik der Urteilskraft". 85
Aber „seelische" Kausalität und damit einen Vitalis-
mus für den handelnden Menschen läßt er, wie mir
scheint, ganz offenbar zu. In § 88 der Kritik der Urteils-
kraft ist z. B. von der „vis locomotiva" der Seele die Rede,
„weil wirkliche Bewegungen des Körpers entspringen,
deren Ursache in ihren Vorstellungen liegt".
Und nun die „Freiheits"lehre! Frei ist der
Mensch als Noumenon, frei ist sein „intelligibler Charak-
ter"; kann es wenigstens sein und soll es sein. „Frei"
heißt bei Kant, wie ich an anderem Orte ausgeführt
habe1), soviel wie wesensgemäß, nicht soviel wie
„indeterminiert". Und das „Wesensgemäße" des in-
telligiblen Charakters ragt geradezu soseinsbestimmend in
die*Erscheinungswelt hinein, daher von einer „Kausalität
durch Freiheit" geredet wird. Freiheit ist „die Wirkung s -
form des Naturgesetzes, das der Mensch ist". Ich
weiß nicht, was, wenigstens für den handelnden Men-
schen, „Vitalismus" ist, wenn nicht dieses. Das ist durch-
aus Gegensatz zum Mechanismus im engeren Sinne, und
nur darum handelt es sich ja.
Man nehme noch diese Stelle aus der dritten Kritik
(S. 91) hinzu: „Freiheit ist der einzige Begriff des Über-
sinnlichen, welcher seine objektive Realität (vermittels
der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der
Natur, durch ihre in derselben mögliche Wirkung,
beweiset"2). Und im Eingange des Werkes: „Der Wille
ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der
Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt".
Und weiter in der „Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten": „Freiheit muß... eine Kausalität nach un-
wandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein."
1) Kantstudien, Band 22; ferner „Das Problem der Freiheit",
2. Aufl., 1920.
2) Sperrungen von mir.
86 I- Der ältere Vitalismus.
Endlich noch einiges über das Verhältnis der Teleo-
logie zu den Kategorien1).
Kant faßt den Begriff „Teleologie", vielleicht durch
das Wort verführt, allzu psychologisch. Er sieht nicht, daß
Ganzheit eine echte Kategorie ist, daß „Finalität" nur als
ihre Unterkategorie, als solche aber sehr wohl, gelten kann.
Nur „regulativ" sei der Teleologiebegriff, während
die echten Kategorien, insonderheit Kausalität, „kon-
stitutiv" seien, indem durch sie Gegenstände überhaupt
erst zu Gegenständen (im empirischen Sinne) werden.
Wie schwankend aber auch hier Kant ist, zeigt eine
Stelle in der allgemeinen Einführung der „Analogien der
Erfahrung" in der Vernunftkritik, wo auch die Sätze von
der Substanz und Kausalität als „bloß regulativ"
bezeichnet werden, weil eine „Analogie der Erfahrung"
bloß eine Regel sei, um die Einheit der Erfahrung zu
gewährleisten !
Wir meinen, und das ist nun unser letztes Wort in
der Sache2), Kant selbst hätte von seinem eigenen Stand-
punkt aus die Gleichwertigkeit der Teleologie mit den
Relationskategorien zugeben dürfen. Denn die Aufgabe,
alles in der empirischen Welt auch ihr, oder besser den
Begriffen Ganzheit und Ganzheitsbezogenheit zu unterstellen,
besteht. Zwar ist diese Aufgabe eigentlich erfüllbar nur
mit Rücksicht auf Werden und Gebaren des personalen
Organismus. Wir mögen diese ihre Erfüllbarkeit die echte
„konstitutive" Seite der in Rede stehenden „Kategorien"
nennen. „Bloß regulativ" mag dann Teleologie oder
Ganzheit da heißen, wo sie bloß hypothetisch — (aber
nicht in anderem Sinne „.hypothetisch" als gelegentlich
1) Gutes- bei W. Ernst: „Der Zweckbegriff bei Kant und
sein Verhältnis zu den Kategorien"; Kantstudien, Ergänzungs-
heft Nr. 14 (1909)
2) Vgl. meinen Aufsatz in Kantstudien, Band 16, und Philos.
d. Organischen, 2. Aufl., 1921, S. 535ff., sowie meine anderen
philosophischen Werke.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 87
auch der Kausalitätsbegriff!1) — anwendbar ist, also im
Hinblick auf alle Probleme des Überpersönlichen, z. B. in
Phylogenie und Geschichte.
So würde auch für Kant der Vitalismus als eine
Möglichkeit legitimiert sein, und da er ja nun die Un-
möglichkeit des Mechanismus (im engeren Sinne) für das
organische Leben zugibt, dürfte er auch das tatsächliche
Bestehen einer Autonomie des Lebendigen, einer „dyna-
mischen Teleologie" im allgemeinen ebenso zugeben,
wie er sie für das besondere Gebiet des handelnden Men-
schen fraglos zugegeben hat.
Während des Druckes erschien E. Ungerers vor-
treffliche Schrift Die Teleologie Kants und ihre
Bedeutung für die Logik der Biologie (Berlin, 1921),
von der uns der Abschnitt IIb sehr wesendlich angeht.
Ungerers letztes Ergebnis seiner Kantanalyse geht da-
hin, daß Kant der Gedanke einer statischen Teleologie
gar nicht in den Sinn komme, daß er aber vor einer
dynamischen Teleologie, einem Vitalismus, deshalb immer
wieder Scheu habe, weil er (sachlich zu Unrecht) meine,
damit schon metaphysischen Boden zu betreten, was zu
tun ihm sein eigenes System verbietet. Ich empfehle
Ungerers Schrift dringend eingehendem Studiums; es
werden auch viele Dinge in ihr behandelt, auf welche wir
nicht Bezug nehmen konnten.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie.
Von dem Gedanken einer für unser „Urteilsver-
mögen" passenden Tektonik der Besonderheiten in der
Natur ist die Naturphilosophie Schellings und Hegels
wohl in letzter Hinsicht ausgegangen. Die Naturdinge,
x) Man vergleiche auch meinen Aufsatz in Kantstudien,
Band 22.
88 I- Der ältere Vitalismus.
die Dinge der objektiven Vernunft, der „Idee in ihrem
Anderssein", zumal die organisierten Körper verkörperten
ihr ,, Vernunftideen".
Für die Biologie, insonderheit für den Vitalismus ist
diese Lehre zunächst belanglos, da sie sich prinzipiell
mit einer statischen und mit einer dynamischen Teleologie
vertragen würde, welche beide ja die organischen Formen
als Gesetzesprodukte im Gegensatz zu Zufallsprodukten
betrachten. Die Naturphilosophie tritt aber in Beziehung
zum Problem des Vitalismus, sowie versucht wird die
Ideenwelt mit der Welt des unmittelbar Gegebenen zu
verbinden. Das Verhältnis zwischen der reinen Natur-
philosophie und dem naturphilosophischen Vitalismus ist
ungefähr dasselbe wie zwischen Plato und Aristoteles:
auch bei Plato fehlte das Band zwischen Idee und Wirk-
lichkeit, er kommt daher biologisch nicht eigentlich in
Betracht; Aristoteles verknüpfte das bei seinem Lehrer
Ungetrennte: sofort wird er biologisch bedeutsam, und
zwar im Sinne eines Vitalismus. Wir werden sehen, daß
weniger Schelling und Hegel selbst, wohl aber die
von der Naturphilosophie der Schelling -Hegeischen
Schulen ausgehenden Biologen für' den Vitalismus Bedeu-
tung haben.
Es fällt zeitlich mit der Naturphilosophie dasjenige
auf rein naturwissenschaftlichem Gebiet ungefähr zu-
sammen, was man die Schaffung des Begriffs „Typus"
nennt und was die Grundlage eigentlich wissenschaftlicher
Systematik der lebenden Wesen bildet. Es kann aber
nicht unsere Aufgabe sein, der Geschichte der biologischen
Systematik näher nachzugehen, soweit sie eben nur in
realer Typenanalyse oder anders gesagt : Systemschöpfung
ihre Aufgabe sieht. Hier nehme man die Geschichte der
Zoologie von Viktor Carus, einige Aufsätze Rudolph
Burckhardts und das große im Vorwort genannte
Werk Rädls zur Hand. Der Typenforscher wird uns
nur wichtig, wenn er das Problem behandelt, wie, nach
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 89
welchen Gesetzen, sich der Typus jeweils im Individuum
realisiert, beziehungsweise, wie er sich als Spezifität
ändert, wenn anders solche Änderung, also eine „Deszen-
denz", überhaupt angenommen, und, falls angenommen,
in anderer als schablonenhaft -materialistischer1) oder
sachlich unzureichender2) Weise behandelt wird.
Es ist eine Folge des Gesagten, daß selbst ein Mann
wie Cu vier in unserer Darstellung nicht mehr als genannt
werden kann, denn in den eigentlichen physiologischen
Prinzipienfragen denkt er zwar „vitalistisch", aber, was
ja auch bei seinem wesentlich differenten Leistungsgebiet
nicht verwunderlich ist, ohne Selbständigkeit: er erklärt
sich im allgemeinen mit den Lehren Bichats einver-
standen.
Auch Goethes naturphilosophische Ansichten, welche
sich bekanntlich vorwiegend mit dem Begriff ,, Typus"
beschäftigen, in denen aber auch das Wort „Entelechie"
*) Wie z. B. zwar nicht von Darwin selbst, wohl aber von
den meisten „Darwinisten".
2) Als sachlich unzureichend, weil durchaus nur konstruiert,
nicht bewiesen, muß auch die Deszendenzlehre Jean Lamarcks
(Philosophie zoologique, Paris 1809, deutsch von A. Lang, Jena
1876) bezeichnet werden, obschon sie gute Ansätze enthält. Als
Grundlage der Typenformung gilt Lamarck ein des näheren un-
bekanntes Organisationsgesetz; ein Faktum, das weder
seine darwinistischen Biographen noch seine heutigen
Anhänger, die „Neolamarckianer", kennen! Gebrauch
und Nichtgebrauch machen nur die in jenem Gesetze begründeten
„regelmäßigen Abstufungen" zu „unregelmäßigen". Über die
Art und Weise der Wirkung des Gebrauchs und seines Gegen-
teils — eine Wirkung, die er sich ohne weiteres als vererbbar vor-
stellt — hat Lamarck nicht weiter reflektiert, sonst hätte er
wohl zum mindesten ihren teleologischen, nämlich adaptiven
Charakter erkannt. — Was er über das Allgemeine des Lebendigen
sagt, ist unbedeutend; er verwechselt Bedingungen (Wärme,
Elektrizität) mit dem Wesen der Sache. Übrigens gibt er sachlich
eine Sondergesetzlichkeit der Lebensprozesse eigentlich zu und
eifert wohl nur aus Furcht vor „Übernatürlichem" gegen vita-
listische Lehren. Alles dieses ist wenig klar.
90 I- Der ältere Vitalismus.
sich ab und zu findet, können wir hier, da sie doch einen
wirklich analysierbaren Fortschritt in Sachen des Vita-
lismus schwerlich bedeutet haben, nur nennen, und nicht
mehr denn erwähnen dürfen wir auch A. v. Humboldts
liebenswürdige Allegorie auf die Lebenskraft: „Der rhodi-
sche Genius"1).
Die „idealistische" Philosophie.
Zunächst einige Worte über Schellin g und Hegel
selbst.
Wir haben schon in der Einleitung zu diesem Ab-
schnitte gesagt, daß das vitalistische Problem im eigent-
lich strengen Sinne, d. h. als Frage nach der Form der
im Reiche des Lebendigen bestehenden Teleologie, diesen
Denkern fremd ist. Erstens sind sehr strenge und scharfe
Begriffsformulierungen überhaupt nicht ihre Sache, so daß
man sich nicht wundern darf, wenn sie den selbst von
Kant nicht klar gesehenen Unterschied zwischen statischer
und dynamischer Teleologie nicht würdigen, und zweitens
ist ihnen, kurz gesagt, das Werden, das Geschehen ganz
ähnlich wie Pia ton, im Grunde eine gleichgültige An-
gelegenheit. ,, Ideen" werden in den organischen Formen
verwirklicht; damit ist es gut.
Aus Schelling kann man noch weit mehr als aus
Kant in Sachen des eigentlichen Vitalismus herauslesen,
was einem beliebt. Die Natur muß erscheinen ,,als ein
Produkt, das, obgleich Werk des blinden Mechanismus,
doch so aussieht, als ob es mit Bewußtsein hervorgebracht
wäre". ,,Das Eigentümliche der Natur beruht eben darauf,
daß sie in ihrem Mechanismus, und obgleich selbst nichts
als blinder Mechanismus, doch zweckmäßig ist"2). Klingt
3) In „Ansichten der Natur". Übrigens nimmt Humboldt
in der „Erläuterung" seine Allegorie inhaltlich später so gut
wie ganz zurück. „Lebenskraft" ist ihm mindestens problematisch.
2) Syst. d. transcend. Ideal. 5. Hauptabschnitt.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 91
das nicht deutlich nach statischer Teleologie ? Inder
Welt ist alles maschinell vorgesehen, alles einzelne Ge-
schehen ist mechanisch im eigentlichen Sinne des Wortes.
Aber dann heißt wieder das Leben „Produkt einer höheren
als der bloß chemischen Potenz, ohne aber deswegen eine
übernatürliche, d. h. keinen Naturgesetzen oder Natur-
kräften unterworfene Erscheinung zu sein". Hier klingt's,
als sei das Wort „Mechanismus" im weitesten Sinne ge-
nommen, als könne ein Vitalismus zugelassen werden,
wenn er nur den Begriff der Determination festhält. Ein
anderes Mal wird dann noch unterschieden zwischen den
Kräften, ,,die während des Lebens im Spiel sind"; das
seien ,, keine besonderen, der organischen Natur eigenen
Kräfte". „Was aber jene Naturkräfte in das Spiel ver-
setzt, dessen Resultat Leben ist, muß ein besonderes
Prinzip sein, das die organische Natur aus der Sphäre der
allgemeinen Naturkräfte gleichsam hinwegnimmt/' Als
„den toten Kräften Richtung gebend" wird dieses „Prin-
zip" weiterhin bezeichnet. Das klingt geradezu nach
dynamischer Teleologie.
Es sei dem Leser überlassen, die hier mitgeteilten
Äußerungen zu einem Gesamtbild zu vereinigen; mir ist
es nicht gelungen1).
Hegel, sonst der Naturwissenschaft gegenüber noch
viel souverän-gleichgültiger als Schelling, ist in Sachen
des Vitalismus ein klein wenig schärfer als er. Er nennt
es einmal einen Mangel der Einschachtelungstheorie, „daß
dasjenige, was nur erst in ideeller Weise vorhanden ist, als
bereits existierend betrachtet wird' ' ; er nennt ein ander-
mal das Leben einen beständigen Kampf gegen „elemen-
tarische Mächte der Objektivität"2). Das klingt dyna-
misch-teleologisch. Ein eigentliches Problem wird hier
1) Man vergleiche W. Metz ger , Schelling und die biol. Gründ-
probleme: Arch. f. Gesch. d. Naturwiss. 2, 1910, und M. Losacco,
La Filosofia naturale dello Schelling: Riv. d. Filos. 3, 1911.
2) Sogenannte , »Kleine Logik", Ausgabe Bolland.
92 I- Der ältere Vitalismus.
aber gar nicht gesehen; vielleicht hat Hegel den dynami-
schen Vitalismus für ganz selbstverständlich gehalten.
Wir wenden uns nun den Lehren der Naturforscher zu,
Oken.
Lorenz Oken (1779 — 1851), der verdiente Anatom,
hat, wie viele seiner Zeitgenossen auch, ein ,, Lehrbuch
der Naturphilosophie' ' verfaßt1).
Hier wird der Galvanismus als „das Prinzip des
Lebens" bezeichnet. „Es gibt keine andere Lebenskraft
als die galvanische Polarität. Die Heterogeneität der drei
irdischen Elemente in einem geschlossenen individuellen
Körper ist die Lebenskraft", freilich „kombiniert sie sich
mit höheren Aktionen", und er lehnt eine elementare
„Lebenskraft" höchstens in ihrer Bezeichnung als „Kraft"
ab, wenn anders nämlich soviel Klarheit bei ihm vor-
handen war.
Wenn wir nämlich Sätze hören wie diese: „Das Licht
bescheint das Wasser und es ist gesalzen. Das Licht be-
scheint das gesalzene W^asser und es lebt" — und es gibt
viele solcher Sätze in dem Buch — , so verHeren wir einiger-
maßen das Zutrauen zu der Art des hier obwaltenden
Denkens überhaupt. Wollten wir hier weiteranalysieren —
nun, dann hätten wir, und sogar mit mehr Recht, auch die
voraristotelischen und die mittelalterlichen Biologen ein-
gehend berücksichtigen müssen; ja, wir hätten bei diesen
sehr viel Besseres finden können.
Sehen wir zu, ob uns Okens Buch „Die Zeugung"2)
Besseres darbietet. Bis zu einem gewissen Grade ist das
der Fall.
Zunächst freilich auch hier immer ein Hinneigen
zum Verkehrten: trotz Spallanzani und seiner Nach-
M 2. Auflage. Jena 1831.
'-) Bamberg und Würzburg 180.ri.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 93
folger lehnt Oken einmal wieder die Entstehung der In-
fusorien aus Keimen ab und läßt sie durch Urzeugung1)
entstellen; emphatisch verkündet er den Satz: ,, Nihil
vivum ex ovo" usw.
Aber nun folgt eine epigenetisch-vitaiistische Zeu-
gungstheorie :
Der Same ist in Fäulnis übergehende Substanz, die
Spermatozoen sind die entstehenden Urtiere; bei der Be-
fruchtung vereint sich der Same in diesem Sinne mit dem
„weiblichen Bläschen", und sofort nach der Ver-
einigung ist der Embryo fertig! Die Samentierchen
haben sich eben im weiblichen Bläschen „gestaltet".
,,Die Zeugung ... ist Synthesis der Infusorien durch
den homogenen aber entgegengesetzten Pol der organi-
schen Welt." ,,Das weibliche Bläschen" aber liefert
„weder einen Keim noch organische Grundteilchen oder
sonst etwas Materielles, sondern bloß die Form, welche
die eintretenden Zerkarien durch die mit dem Bläschen
erwachsene organische Tätigkeit so miteinander verbindet,
daß sie, auch noch durchsichtig, schon den Typus des-
jenigen Tieres in Miniatur darstellen, zu dessen Gattung
sie gehören, denn das Bläschen könnte man schlechthin
die Typus gebende Kraft nennen".
Der Embryo entsteht also „durch einen Schlag, so-
bald die Samentierchen mit den Bläschen sich vereinigen".
Eine bequeme Art von „Epigenesis" ist das ja sicher-
lich. Wir wollen es keinem verargen, wenn er hier heiter
gestimmt wird, und wenn er uns anderseits vielleicht
tadelt, daß wir uns überhaupt auf Oken beziehen konnten,
sobald er einen so wüsten Unsinn liest, wie diesen: „Das
Tier ist die höchste Vereinigung des Polypen und der
Pflanze, der Linie und des Kreises — die Verschmelzung
aber dieser beiden in eins gibt die Ellipse, was jeder sich
leicht demonstrieren kann."
*) Allerdings ä la Needham aus zerfallender organischer
Materie, nicht aus Anorganischem strengsten Sinnes.
94 I. Der ältere Vitalismus.
Aber bei aller Abweisung vergesse man eines nicht:
im Inhalt deckt sich auch Okens seltsames Gerede mit
der Grundwahrheit alles Vitalismus: der Irreduzibilität
der organischen Form.
Doch mag dieses eine Beispiel eines Naturphilosophen
der nicht nachahmenswerten Gestalt genügen.
Reil (1759—1813).
Wenn man sich eine deutliche Rechenschaft geben
will von dem, was J. Ch. Reil, der Typus eines Idaren,
philosophisch gebildeten Biologen seiner Zeit, als seine
eigentliche Aufgabe ansah, tut man gut, von dem Inhalt
eines Briefes auszugehen, den er, am 22. Februar 1807,
an Autenrieth schrieb, und dessen Inhalt dieser in
seinem bald zu erwähnenden Werke mitteilt.
Es ist dort die Rede von dem ,, Problem, was noch
keine Naturphilosophie gelöst hat, wie man von der Idee
zur Materie komme". Ja, so möchte man weiter fragen,
warum kommt denn überhaupt die Idee zur Materie;
„warum muß immerhin durch die Alimentation Irische
Materie eintreten, die alte durch die Exkretion ausge-
stoßen werden" 1
Reil sucht nun in seinem Artikel „Von der Lebens-
kraft", veröffentlicht im ersten Band seines Archivs1),
die von ihm empfundene Schwierigkeit auf seine Art zu
lösen.
Alles ist Materie oder Vorstellung; Veränderung der
Materie ist, kartesianisch, nur als Bewegung denkbar;
Vorstellungen sind stets von gleichzeitigen, freilich nicht
im Sinne eines strengen Parallelismus gedachten, Be-
wegungen des Gehirns begleitet. Es folgt daraus, daß
vor der Existenz von Gehirnen alles Naturgeschehen
in der Materie allein gegründet sein muß, und diese,
sehr realistisch gefaßte, Argumentation dient zur Wider -
x) Reils Archiv für die Physiologie I, 1796, p. 8.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 95
lcgung Stahls. Sie führt aber auch positiv dazu, ,,deu
Grund aller Erscheinungen tierischer Körper, die nicht
Vorstellungen sind ... in der tierischen Materie, in der
ursprünglichen Verschiedenheit ihrer Grundstoffe und in
der Mischung und Form derselben zu suchen".
Das Vermögen der, übrigens nach kantischem Muster
dynamisch aufgefaßten, Materie, Erscheinungen hervor-
zubringen, die von ihrer Form und Mischung abhängen,
wird nun ,, Eigenschaft" der Materie genannt.
„Der Grund der regelmäßigen Bildung tierischer
Körper liegt also ursprünglich in der Natur der tierischen
Materie."
Wohl verstanden wird hier die Materie als Einheit-
liches gedacht, und nicht etwa in einer maschinellen
Organisation der Lebensgrund erblickt, ob es schon Organi-
sation bis ins kleinste hinein gäbe1); vielmehr ist ,,das
allgemeinste Attribut dieser eigentümlichen Art von
Materie eine besondere Art der Kristallbildung".
„Wir können nun das Verhältnis dieser Eigenschaft
der tierischen Materie zu ihren Wirkungen", nämlich
„sich fremde Materien von außen zuzusetzen und die-
selben zweckmäßig zu bilden, Kraft nennen. Man hat
ihr den Namen Bildungskraft und Bildungstrieb gegeben' ' .
Reil eifert nur gegen die Namen, nicht gegen die Sache.
Die Naturgesetzlichkeit seiner „Kraft" und ihre Kombi-
nation mit den „toten Kräften" im Organismus betont
er besonders scharf.
Es hat kein Interesse, auf Einzelheiten der Reil sehen
Darlegung näher einzugehen, da er sich auf einen eigent-
lichen Beweis der sachlichen Richtigkeit der von ihm
vertretenen Abart des Vitalismus nicht einläßt; es mag
daher nur noch, als Beispiel der klaren Begriffsbildung
unseres Forschers, seine gute Definition der Reizbarkeit
1) Ausdrücklich wird von Reil abgelehnt, daß die Ordnung
bei Erzeugung. Ernährung und Wachstum ,, durch Instrumente"
komme.
96 I- Der ältere Vitalismus.
hier Platz finden: „Die Eigenschaft tierischer Organe, daß
sie sich durch eine äußere Ursache bestimmen lassen,
ihren gegenwärtigen Zustand durch sich selbst zu ver-
ändern, heißt Reizbarkeit." Ihr Grund liegt wieder in
Mischung und Form der tierischen Materie.
Reil ist der erste Vertreter einer vitalistischen
,, Lebensstofftheorie". Was er vorbringt, ist einfach
und klar gedacht, für die Größe des Problems, wie man
,,von der Idee zur Materie komme", vielleicht zu einfach:
er stattet eben die Materie mit der Idee aus. Das klingt
ja anderseits wieder ganz modern, aber man vergesse hier
nicht jenen von uns zitierten Ausspruch Kants: ,,Die
Möglichkeit einer lebenden Materie (deren Begriff einen
Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit, inertia, den
wesentlichen Charakter derselben ausmacht) läßt sich
nicht einmal denken." Wer diesem Ausspruch beipflichtet,
für den kann Reils Leistung nicht mehr als einen ganz
geschickten, aber von Anfang an verfehlten Versuch
bedeuten.
Treviranus.
Mit G. R. Treviranus, wenn nicht schon mit Reil,
beginnt der eigentlich dogmatische Vitalismus, d. h. der
Vitalismus, dessen Begründung nicht mehr für
nötig gehalten wird, in Hinsicht dessen es vielmehr
nur noch darauf ankommt, wie er gewendet werde. Zu-
gleich beginnt mit Treviranus dasjenige, was man
,, Lehrbuch vitalismus" nennen könnte: jede Gesamtdar-
stellung physiologischer Lehren beginnt jetzt sozusagen
mit einem vitalistischen System, das sich meist nicht
erheblich von seinem Vorgänger unterscheidet; so geht es
bis auf Johannes Müller, den letzten dieser Gruppe von
Vitalisten. Bei allen Lehrbuchvitalisten ist charakte-
ristisch ein starkes Zurücktreten der Probleme der
Formbildung, welche im achtzehnten Jahrhundert
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 97
immer den Mittelpunkt des Interesses behauptet hatten;
dafür tritt Chemisch-physiologisches und tritt namentlich
das Problem der Instinkte, oft auch das Problem des
„Seelenlebens'', als eines Naturphänomens, mehr hervor.
Wenn wir trotz alles Gesagten Treviranus doch
noch äußerlich gesondert hier behandeln, so geschieht es,
weil gerade er noch ein durch sein ganzes Leben reichen-
des Ringen nach Klarheit in vitalistischen Dingen er-
kennen läßt, und weil sich ein recht eigenartiger Gedanke
bei ihm findet.
Von 1802 — 1822 erschienen die sechs Bände seiner
„Biologie oder Philosophie der lebenden Natur"
(Göttingen); vornehmlich ihr erster Band ist allgemeinen
Fragen gewidmet; im Laufe der langen Zeit der Aus-
arbeitung seines Werkes änderte aber ihr Autor in manchen
nicht unwesentlichen Punkten seine Auffassungsart, und
so faßte er denn gegen Ende seines Lebens seine geklärteren
Ansichten noch einmal in einem neuen Werke zusammen,
auf das wir später Rücksicht nehmen werden.
Es erscheint der Beachtung wert, daß bei Treviranus
der Name Biologie zum ersten Male zur Kennzeichnung
des Ganzen der Lehre vom Lebendigen verwendet ist:
„Die Gegenstände unserer Nachforschungen werden die
verschiedenen Formen und Erscheinungen des Lebens sein,
die Bedingungen und Gesetze, unter welchen dieser Zustand
stattfindet, und die Ursachen, wodurch derselbe bewirkt
wird. Die Wissenschaft, die sich mit diesen Gegenständen
beschäftigt, werden wir mit dem Namen der Biologie
oder Lebenslehre bezeichnen" (Biol. I, S. 4).
Treviranus tadelt die Älteren wegen Vernachlässi-
gung einer scharfen Definition dessen, was sie untersuchten,
und wenn einmal eine Definition gegeben wurde, wie z. B.
Stahl „lebend" gleich „beseelt" setzte, so war sie falsch1).
*) Allein schon wegen des Überlebens abgetrennter Organe,
auf die doch keine Vorstellungen wirken.
Driesch, Vitalismus. 2. Aufl. 7
98 I- Der ältere Vitalismus.
„Gleichförmigkeit der Erscheinungen bei zufälligen
äußeren Einwirkungen" ist nun nach Treviranus das
Grundkennzeichen des Lebens.
An diese Definition knüpfen alle Erörterungen an,
die unserem Forscher als wirkliches Eigentum angehören,
die für ihn persönlich charakteristisch sind.
Er bezieht sich auf Kants Theorie der Materie.
Wegen des Gegenwirkungsprinzips werde nun im An-
organischen, wo es sich nur um Materie handelt, durch
eine Änderung alles geändert. Das Gegenteil hiervon
besage seine Definition des Lebens. Wie ist dieses Gegen-
teil möglich x) ? Offenbar nur durch etwas der Materie
Fremdes.
,,Wir haben gezeigt, daß alle Materie organisiert und
unaufhörlichen Veränderungen unterworfen ist, daß aber
in jener Organisation und in diesen Veränderungen nur
so lange etwas Bleibendes ist, als die äußeren Einwirkungen,
wodurch die letzteren erregt werden, unverändert bleiben.
Keine Materie, und also auch nicht die der lebenden
Organismen, kann hiervon eine Ausnahme machen"; sie
muß z. B. auch undurchdringlich sein. „Die Ausnahme,
welche die Materie der lebenden Körper von dem obigen
Satze zu machen scheint, kann folglich nur scheinbar sein.
Es muß ein Damm vorhanden sein, woran sich die Wellen
des Universums brechen, um die lebende Natur in den
allgemeinen Strudel nicht mit hineinzuziehen." Dieses
Mittelglied ist natürlich nicht ,,die zur Möglichkeit der
Materie erforderliche Grundkraft". „Wir nennen sie daher
Lebenskraft (vis vitalis), um sie von jener Grundkraft zu
unterscheiden" (1. c. 51).
Bloße Form und Mischung von Materie enthält also
jedenfalls nicht den Grund des Lebens, wenigstens nicht
bei Zulassung nur der beiden Kantischen Grundkräfte
derselben, Repulsion und Attraktion. Lasse man aber
1) Bei Lektüre des Treviranus ist zu beachten, daß er
„organisch" jede Ordnung, also überhaupt die Natur nennt.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 99
mehr Grundkräfte zu, so bliebe doch die Frage, was sie
denn zusammenhält, übrig.
Das ,, Leben ist also etwas der Materie durchaus
Fremdes" ; und als Neues tritt dann noch hinzu die Kraft
der ,, geistigen Naturen", der vooq des Aristoteles.
Es ist nun wohl zu beachten, daß an und für sich
genommen die mechanischen und chemischen Änderungen
an Organismen dieselben sind wie in der leblosen Natur;
sie unterscheiden sich von ihnen aber ,, darin, daß die
äußeren Anlässe, denen sie ihr Entstehen verdanken, nicht
unmittelbar, sondern durch die Lebenskraft modifiziert,
auf die Materie des lebenden Körpers einwirken".
Es handelt sich aber hier des näheren um drei Mög-
lichkeiten :
Ist Lebenskraft nur, wo lebensfähige Materie ist,
derart, daß letztere als Produkt des Anorganischen ent-
steht, aber, wenn einmal gebildet, die Lebenskraft ,,aus
ihrem Schlummer weckt" ?
Oder ist lebensfähige Materie ein Produkt der Lebens-
kraft ?
Oder sind beide ,, wechselseitig durcheinander, keine
je ohne die andere" ?
In längerer Diskussion, in welcher unter anderem die
Lebenskraft auch quantitativ gefaßt, und in welcher der
Begriff der ,,vita minima" eingeführt wird, entscheidet
sich Treviranus nun hypothetisch für die letzte Alter-
native.
Er braucht also zwei Grundbegriffe, die Lebenskraft
und die „lebensfähige Materie". Das unterscheidet ihn
wesentlich von Reil. Es ist natürlicher weise nicht gerade
etwas sehr Klares.
Seine lebensfähige Materie ist an sich gestaltlos, sie
erhält eine bestimmte Form erst ,, durch die Verbindung
mit Stoffen der leblosen Natur". Im Tode, der also zu
einem Analogon der Seelenwanderung wird, geht durch
jene gestaltlose Materie, die eine Form der ,,vita minima"
7*
100 I. Der ältere Vitalismus.
ist. alles hindurch. Im einzelnen aber denkt sich unser
Forscher die Beziehung zwischen Lebenskraft, gestalt-
loser Lebensmaterie und äußeren Faktoren, im Sinne
seiner Definition des Lebendigen als Gegensatzes zum
Materiellen, folgendermaßen :
„Die Natur des Lebens besteht in dem Vermögen,
der absoluten Ungleichförmigkeit der äußeren Einwir-
kungen relative Gleichförmigkeit zu geben. Verschiedene
Formen des Lebens sind also nur dann möglich, wenn jede
Art von lebendigen Organismen nur für gewisse äußere
Einwirkungen jenes Vermögen besitzt, oder mit anderen
Worten, wenn die Lebenskraft desselben sich nur gegen
gewisse einwirkende Potenzen tätig zeigt, und wenn alle
übrigen Potenzen die Materie des lebendigen Organismus
affizieren, ohne durch die Lebenskraft vorher gebrochen
zu sein" (1. c. S. 99).
Diese Erörterung soll also zugleich eine Erklärung
des Daseins verschiedener spezifischer Lebensformen sein.
Was da nun freilich auf die zufälligen äußeren
Faktoren, was auf Rechnung der Lebenskraft kommt,
und was eigentlich die formlose lebensfähige Materie
noch für eine Rolle spielen soll, das geht denn doch
wohl kaum aus dieser Zusammenfassung hervor , deren
scharfer logischer Zug immerhin hohe Anerkennung ver-
dient.
Aus den spezielleren Ausführungen der späteren
Bände der Biologie teilen wir hier nur ganz weniges mit :
Im zweiten Bande entscheidet sich Treviranus
nochmals ausdrücklich für seine dritte Alternative,
und zwar erstens wegen der Urzeugung aus zerfallenden
organischen Stoffen, einer „Meinung, mit deren Begrün-
dung die ganze Biologie begründet ist", und zweitens
wegen der Tatsache, daß die Organismen durch äußere
Faktoren, wie Nahrung, Feuchtigkeit usw., beeinflußbar
seien. Für besonders glücklich werden wir diese Be-
gründung kaum halten können.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 101
Im vierten Bande findet sich der gute Satz: „das
Organ ist Schranke, nicht aber Ursache der Tätigkeit
des Bildungstriebes ' ' .
Im sechsten Bande wird die Beziehung der Vernunft
zum Bildungstrieb durch Beziehung auf Somnambule,
Hysterische usw. erläutert. Treviranus kommt hier zu
dem recht modernen, z. B. an E. v. Hartmann anklingen-
den Schlüsse, ein Unbewußtes sei der Urgrund des Lebens,
der ins Körperliche einerseits, ins Geistige anderseits
hineinwirke. Die Instinkte werden, in nicht gerade
kritisch geklärter Weise, als „unbewußte Bilder" ge-
deutet. —
Wie wir schon angedeutet haben, hat Treviranus
gegen Ende seines Lebens seine Ansichten über die Grund-
prinzipien der Biologie noch einmal zusammengefaßt1),
und zwar in einer recht wesentlich veränderten Gestalt.
„Zweckmäßigkeit für sich selber" kennzeichnet ihm
jetzt, im Gegensatz zum Technischen, das Leben.
Bedeutsam ist es, wie jetzt das Instinktive, das
Unbewußte, Ausgang alles vitalistischen Theoretisierens
für ihn wird; im letzten Band der „Biologie" fanden sich
ja schon Hinweise auf solche Wendung.
Bewußtheit gehöre nicht zum Kennzeichen des Lebens :
im Instinkt sei der Zweck unbewußt, bei unserer Muskel-
bewegung umgekehrt „sind wir uns nur des letzten Zweckes,
nicht der Mittel bewußt".
Nur als „Analogon der Vernunft" ist stets Zweck-
mäßigkeit denkbar: in diesem Sinne gilt jetzt Treviranus
gerade der in der „Biologie" mit Bezug auf Stahl ab-
gelehnte Satz: „Leben und Beseeltsein sind einerlei"
(Ersch. S. 17).
Es wird erwogen, ob es wohl auch eine nicht durch
Sinneseindrücke vermittelte Wechselwirkung der lebenden
Wesen aufeinander gäbe: das Regulative in der Zahl der
x) „Die Erscheinungen und Gesetze des organischen Lebens".
Bremen T, 1831; TT, 1832/8.
102 ' !• &er ältere Vitalismus.
Geburten und der Todesfälle, der Geschlechter, das Schlaf-
wandeln ferner spreche dafür. Immer und immer wieder
aber illustriert der Instinkt das Wesentliche der biologi-
schen Sachlage:
Der Instinkt nun, z. B. bei den Bienen, beruht auf
,, produktiver Einbildungskraft", er ist ,, traumartig", ent-
stammt einem ,, dunklen Bewußtsein".
Vielleicht kann die Entwicklung des Individuums
nach Analogie des Instinkts aufgefaßt werden, vielleicht
,, träumt das Weizenkorn von Wurzel, Sproß und Ähre".
Diesen Gedanken hat später Johannes Müller auf-
genommen; man sieht, wie er auch an Ausführungen
Schopenhauers und v. Hartmanns, ja, wie er an die
Parallele anklingt, weiche Hering zwischen Gedächtnis
und Vererbung, in freilich nur bildlich-analogienhafter
Weise, zog.
Über das Verhältnis von Lebenskraft und Materie
äußert sich Treviranus jetzt gar nicht mehr: alles bleibt
problematisch, von jenen drei Alternativen ist nicht mehr
die Rede.
Doch gibt er auch nicht alles Frühere auf: ,, Alles
Lebende hat Organisation, aber diese ist seine Wirkung",
solche Sätze stehen auch in dem neuen Buche; und auch
in ihm wird das Leben gekennzeichnet durch das Ver-
mögen, ,, gleichförmig, nämlich durch Behauptung seiner
Gleichheit, gegen ungleichförmige Eindrücke zu rea-
gieren".
,,Der höchste Charakter des Lebens bleibt: ein zweck-
mäßiges Wirken aus einem selbsttätigen Prinzip, dessen
Ziel die Fortdauer des Wirkens selber ist. Dieses Wirken
muß in einer bestimmten Form stattfinden, deren äußerer
Ausdruck die Organisation ist" (1. c. S. 213). ,,Das phy-
sische Leben ist ein erzwungener Zustand. Sobald dasselbe
aufgehört hat, verbinden sich die Elemente des Körpers,
der vorher belebt war, nach anderen Gesetzen als im
vorigen Zustand" (1. c. S. 348). Lebens-chemische Ana-
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 103
lysen haben daher nur geringen Wert; man denke hier an
Bichats „anatomie cadaverique des fluides".
Die Urzeugung gilt Treviranus jetzt als „min-
destens unerwiesen' ' .
Vom Ernste eines Denkers zeugt es allein schon, daß
er sich nicht scheut, Irrtümer einzugestehen und Über-
zeugungen preiszugeben. Aber auch sonst steht Trevira-
nus als ernster, nach Gedankenklarheit ringender, tief
gebildeter Forscher vor uns: er ist zugleich der letzte
Vertreter des älteren Vitalismus, welcher der
Biologie wesentliche neue Gedanken hinzuge-
fügt hat; solche liegen in seiner Definition des Lebens und
in der Bezugnahme auf das Instinktive vor.
Was nun noch bis zum Verfalle des älteren Vitalis-
mus folgt, sind fast stets nur alte Gedanken in mehr oder
minder verändertem Gewände, wenigstens soweit Biologen
als Autoren vitalistischer Systeme in Betracht kommen;
nur der letzte solcher Autoren, J. Müller, bildet hier eine
Ausnahme im guten Sinne; an eigentlich fortwirkender
Kraft gebrach es freilich auch seinen Lehren.
Der schulmäßige Vitalismus1).
H. F. Autenrieth hat ein recht lesbares Buch:
„Ansichten über Natur- und Seelenleben" (Stuttgart 1836)
über die Prinzipienfragen der Biologie geschrieben.
Von tieferer Analyse ist hier aber wenig mehr die
Rede: der späteren Kritik eines Lotze wird es leicht
gemacht.
J) In A. Nolls Kleiner Schrift: „Die Lebenskraft" werden
aus dieser Periode noch einige andere neben den von uns genannten
Autoren durchgenommen. Noll behandelt aber überhaupt nur
den Vitalismus der naturphilosophischen Periode, weder den
antiken noch den um Descartes und Leibniz sich gruppierenden.
Für die neueste Gestaltung der Autonomielehre, den sogenannten
,,"Neovitalismus", ist sein Buch vollkommen ungenügend. /^nV*
104 I« Der ältere Vitalismus.
Im Leben ist „etwas von dem materiellen Stoffe noch
wesentlich Verschiedenes mit im Spiele"; diese „Lebens-
kraft" ist selbständig, unabhängig vom Körper. Das
wird bewiesen durch die Urzeugung von Infusorien und
Eingeweidewürmern, sowie dadurch, daß einzelne Organe
oder ganze Organismen, z. B. Fische, erfrieren und später
wieder auftauen können: hier war eben die Lebenskraft,
welche eine wirklich meßbare „Kraft" ist, ganz oder zum
Teil fortgewandert.
Auch die Katastrophentheorie beweist die Selbständig-
keit der Lebenskraft, und ebenso wird sie durch die Tat-
sachen der Befruchtung bewiesen : da so sehr wenig Samen
zu dieser genügt, ist das Körperhöhe an ihm unwesentlich.
Über Instinkt, der „im Bildungstrieb der vegetativen
Lebenskraft begründet ist", sagt Autenrieth noch das
Beste, aber nichts anderes als Treviranus. Instinkt ist
nicht Verstand, kann sich aber, wie bei Biene, Katze,
Hund, mit ihm kombinieren. —
F. Tiedemann1) hält zwar den „Versuch der Meta-
physik, eine vollständige Erkenntnis der Natur aus Ver-
nunftideen zu geben", für „mißglückt", aber doch für ein
Desiderat.
Seine eigenen biotheoretischen Versuche leiten Er-
wägungen über chemische Probleme ein, die überhaupt
jetzt eine, wenigstens nebensächliche, Rolle zu spielen an-
fangen: im Unorganischen gibt es nur binäre Verbin-
dungen, also müssen im Organischen, wo allein es ternäre
und quaternäre gibt, Kräfte „gegen die Affinitäten" wirk-
sam sein; allerdings habe man Harnstoff und Oxalsäure
mit anorganischen Mitteln dargestellt, aber diese stehen
„auf der äußersten Grenze zwischen organischen und an-
organischen Zusammensetzungen" — eine Wendung, in
der man wohl die Einsicht in die Bedenklichkeit des vor-
her Behaupteten erblicken darf.
1) Physiologie des Menschen I. Darmstadt 1830.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 105
Die Organismen seien nun der Form nach mannig-
faltiger als das Anorganische, der „Mischung" nach aber
einförmiger: auch daraus folge eine den ersteren eigene
Kraft, eine ,, höhere Kraft, welche die Gestaltung be-
wirkt". Diese Kraft „modifiziert" die Affinitäten, was
allerdings seine Grenzen hat.
Weitere Überlegungen, im Verlauf deren auch eine
Urzeugung von Infusorien und Würmern aus zerfallenden
organischen Stoffen, also eigentlich eine Wiedergestal-
tungsfähigkeit derselben, deren Masse eben noch nicht
ganz abgestorben war, behauptet wird, führen Tiede-
mann nun — in nicht eben sehr logischer Weise — dazu,
nach Art des sehr viel strenger vorgehenden Reil einen
,, Lebensstoff" zu behaupten: das „materielle Substrat der
organischen Körper ist eine Materie eigener Art, und zwar
mit der Eigenschaft begabt, sich zu gestalten", sie war
im Wasser enthalten und gestaltete sich selbst. So ist
alles mit einem Male erledigt. Daß aber „die Hauptsache
nicht erklärt sei", muß Tiedemann selbst zugeben.
Im weiteren Verlauf beruft sich unser Autor einmal
auf die „eigentümliche des Lebens fähige Materie" des
Treviranus, ohne aber in die zwar auch nicht ganz
klare, aber doch sehr viel tiefere Auffassung dieses Vor-
gängers einzudringen, und zitiert auch Buffon und
Needham beifällig.
Blumenbachs Msus formativus wird als „dunkel"
bezeichnet, wobei man sich denn doch wahrlich fragen
muß, ob denn Tiedemanns nie zu wirklich logischer
Schärfe durchdringende Ausführungen solches nicht in
sehr viel höherem Grade selbst sind.
Das Beste bleiben noch gewisse Einzelheiten, wie
denn z. B. der Gedanke, das Bestehen der leblosen Körper
hänge „von der Ruhe, die in der Mischung eintritt", ab,
„während das Dasein und die Erhaltung der Organismen
durch fortdauernde Mischungsveränderungen bedingt" sei,
an den modernen Begriff des „dynamischen Gleichge-
106 I- Der ältere Vitalismus.
wichtes" anklingt; auch wird der Unterschied zwischen
Kristallen und den wahren „Individuen", den Organismen,
gut erörtert.
Von einem eigentlichen Beweise des Vitalismus ist,
von den mißglückten Eingangserörterungen über Chemi-
sches abgesehen, nirgends auch nur versuchsweise die
Rede. —
K. F. Burdach1) steht noch mehr im unmittelbaren
Banne der Naturphilosophie als die eben genannten Männer.
Das Lebensprinzip ist kein ,,deus ex machina", son-
dern ein ,,deus ex vita": es genügt eben ,, keine mecha-
nische, keine chemische Theorie zur Erklärung des organi-
schen Bildens". Doch darf das Lebensprinzip nicht isoliert
von Materie gedacht werden; es wirkt ,, durch materielle
Mittel", ,, durch die gemeinen Tätigkeiten des Organismus,
wie Sekretion, Absorption usw.". ,,Die Materie ist nur
das Akzidens, Tätigkeit hingegen die Substanz des Orga-
nismus."
Im Entwicklungsverlauf wird jedesmal „durch das
Gebildete das Vonstattengehen ferneren Bildens geför-
dert" (V, 721); dieser wahrhaft geklärt-epigenetische Ge-
danke verdient entschiedene Anerkennung.
Soweit der fünfte Band des Werkes ; im letzten sucht
Burdach noch tiefer zu dringen:
Sicherlich kommen alle Kräfte der anorganischen
Welt auch im Organismus zur Geltung : darauf haben sich
Descartes und die Iatromechaniker gegründet. Man
hatte z. B. die Gelenkmechanik und manches am Blut-
kreislauf erklärt und glaubte nun alles zu erklären. Dabei'
übersah man noch gar den hohen philosophischen
Standpunkt des Descartes.
Bewiesen aber haben die Materialisten nichts;
von Männern wie Buffon und Needham gilt freilich
das gleiche.
1) Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Leipzig.
0 Bände. Wichtig besonders V, 1835 und VI, 1840.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 107
Der Materialismus kann stets nur Einzelheiten,
nie die Beziehungen zum Ganzen erklären. Eine
allgemeine organische Materie aber mit besonderen
Kräften ist keine Erklärung, ganz abgesehen davon,
daß es sie nicht geben kann, da das Leben ja auf
Individualisierung geht. Elektrizität und Wärme können
nicht der Lebensgrund sein, da sie die Mannigfaltig-
keit der Lebensgebilde schon voraussetzen. „Erklä-
rungen" durch Irritabilität und dergleichen sind bloße
Klassifikationen. Aber auch Stahls Seele ist zu ver-
werfen, ebenso wie ein an ihre Stelle gesetztes Nerven-
prinzip: es gibt Leben ohne Nerven. Das Wort „Lebens-
kraft" endlich sagt nur aus, ,,daß es zu den eigentüm-
lichen Erscheinungen des Lebens auch einen eigentüm-
lichen Grund geben muß".
Wo also alles fehlschlägt — was ist zu tun 1
Das Leben muß ,,aus dem alleinigen Grund des Da-
seins erklärt werden". Der Autor bezieht sich nun auf
Fichte und Schelling: ,,Im Organismus finden wir die-
selben Prädikate auf bedingte Weise, welche als unbedingt
der Natur überhaupt zukommen."
Lebenskraft ist ,,der in bestimmten Schranken sich
verwirklichende Urgedanke' ' .
Wird solche Lösung befriedigen ? Den wirklichen
Naturforscher schwerlich. Jene Frage Reils, „wie man
von der Idee zur Materie komme", muß eben aufgeworfen
und darf nicht einfach abgeschnitten werden.
Sachlich bietet Burdach wahrlich nicht mehr als
Oken, nur daß ihn klare logische Schulung und kritische
Begabung, die überhaupt das Lesen des Werkes zu einer
angenehmen und geradezu anzuratenden Lektüre machen,
vor offenbaren Phantasiespielereien bewahren.
Schopenhauer zitiert Burdach oftmals beifällig;
wenn man bedenkt, daß es ihm nur auf Metaphysisches,
auf den „Willen in der Natur" ankam, kann man das be-
greifen. Man wird sich auch daran erinnern, daß Schopen -
108 I. Der ältere Vitalismus.
hau er der eigentlichen „Naturphilosophie" gar nicht so
fernstand, wie er selbst glaubte. —
Karl Ernst v. Baer, der berühmte Embryologe,
war Burdachs Schüler und ist im Theoretisieren seiner
früheren Zeit, die uns hier allein angeht, durchaus von
ihm und von den Ausstrahlungen der Naturphilosophie
abhängig. Ja, es wird sich später zeigen, daß er in Sachen
der Teleologie über solche Abhängigkeit eigentlich nicht
hinauskam. Wir hätten seines für die Embryologie grund-
legenden, für die Fragen des Vitalismus aber nur wenig
bedeutsamen Werkes1) hier gar nicht zu gedenken, wenn
nicht in der Widmung an Pander jener Satz vorkäme,
der zum Überdruß oft von materialistisch-darwinisti-
schen Autoren zitiert worden ist, in der Absicht, Baer
zu einem der Ihrigen zu stempeln:
,,Noch manchem wird ein Preis zuteil werden. Die
Palme aber wird der Glückliche erringen, dem es vor-
behalten ist, die bildenden Kräfte des tierischen Körpers
auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des
Weltganzen zurückzuführen. Der Baum, aus welchem
seine Wiege gezimmert werden soll, hat noch nicht ge-
keimt."
Daß mit solchem Wortlaut, wie übrigens ja auch
schon der Ausdruck ,, Lebensrichtungen" sattsam zeigt,
Baer von nichts weiter entfernt war als von materialisti-
scher Naturauffassung, daß er hier vielmehr geradezu
im Sinne der Naturphilosophie denkt, zeigt nun unter
anderem2) folgendes:
,,Ein Grundgedanke ist es, der durch alle Formen
und Stufen der tierischen Entwicklung geht und alle
einzelnen Verhältnisse beherrscht. Derselbe Gedanke ist
es, der im Weltraum die verteilte Masse in Sphären
1) ,,Über Entwicklungsgeschichte der Tiere. Beobachtung
und Reflexion." Königsberg I, 1828; II, 1837
2) Baer betont auch z. B., daß Erklärungen des Lebens aus
der Oxydation oder Elektrizität immer nur eine Seite berühren.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 109
sammelte und diese zu Sonnensystemen verband, derselbe,
der den verwitterten Staub an der Oberfläche des metal-
lischen Planeten in lebendige Formen hervorwachsen Heß.
Dieser Gedanke ist aber nichts als das Leben selbst, und
die Worte und Silben, in welchen er sich ausspricht, sind
die verschiedenen Formen alles Lebendigen."
Das klingt beinahe okenisch, ist natürlich von klarer
Stellungnahme zum teleologischen Problem weit entfernt
und nur der Aufklärung über die Person des Autors wegen
überhaupt bedeutsam.
Das eigentliche embryologische Verdienst des Werkes
besteht bekanntlich in der Unterscheidung der Begriffe
„Typus" (= Lage Verhältnis) und ,,Grad der Ausbildung"
und in dem Nachweis, daß der Typus die Entwicklungs-
weise bedinge, daß und wie er sich in der Ontogenie zeige.
Doch wir müssen abschließen; wir können nicht jeden
Schriftsteller hier namentlich aufführen aus einer Zeit,
in der alle Welt ,,vitalistisch" dachte, und daher auch
jeder Autor, der gelegentlich theoretisierte, „vitalistische"
Bemerkungen fallen ließ: so mag denn hier nur noch
erwähnt sein, daß R. Wagner, der Herausgeber des be-
kannten „Handwörterbuches", mit den antivitalistischen
Darlegungen seines Mitarbeiters Lotze, die wir bald
analysieren werden, inhaltlich nicht übereinstimmte, und
daß F. Magen die, dem es freilich mehr auf das eigentlich
Sachliche als auf theoretische Exkurse ankam, ,,rein
physische und rein vitale Hergänge" sonderte, zugleich
aber in recht klarer Weise ein Ineinandergreifen derselben
behauptet hat1).
Und nun wenden wir uns der Betrachtung des Mannes
zu, der gewissermaßen den letzten Typus des älteren
Vitalismus darstellt.
J) Precis elementaire de Physiologie. 1816. Deutsch von
Elsässer. 3. Aufl. 1834. Tübingen. M. redet u. a. von dem „schäd-
lichen und abgeschmackten Glauben, als hätten die physischen
Gesetze keinen Einfluß auf den lebenden Körper'".
1 K) I. Der ältere Vitalismus.
Johannes Müller.
Johannes Müller hat in seinem „Handbuch der
Physiologie des Menschen"1) zum letzten Male den schulen-
mäßigen Vitalismus in systematischer Darstellung zu-
sammengefaßt. Da dem eigentlich sachlichen Inhalt nach
das Müll er sehe Buch seine Vorgänger überragt und daher
sein Einfluß ein größerer war, ist auch der ältere Vitalis-
mus als Ganzes meist in der Müll er sehen Form auf
spätere Generationen gekommen, und gilt diesen Jo-
hannes Müller oft als ein besonders typischer Vertreter
desselben. Das ist richtig im reinen Wortsinn, aber für
den eigentlichen Ausbau der großen vitalistischen Lehre
bedeutet Müller trotzdem nur in zwei einzelnen, aller-
dings nicht unwichtigen Punkten einen wirklichen Fort-
schritt, was uns immerhin genügt, ihn hier an hervor-
ragender Stelle und nicht etwa nur als letzten der schulen-
mäßige Vitalisten zu behandeln. Irgendein wesentlich
neuer Gedanke wirklich prinzipieller Art findet sich
aber nicht bei ihm.
Jene Erörterung über den chemischen Gegensatz von
Organismen und Anorganischem, die wir schon von Tiede -
mann her kennen, und die, wie Müller betont, eine
typische Stelle in jedem zeitgenössischen Lehrbuch der
Chemie einnahm, leitet das Werk ein; ja, das Harnstoff -
problem findet fast wörtlich dieselbe angebliche Erledigung
wie bei Tiedemann. Im Leben herrscht also außer der
Wahlverwandtschaft ,,noch etwas anderes" dazu.
Recht unbestimmt wird dann Kants Auffassung vom
Organischen eingeführt. Erörterungen über den Begriff
des Individuums erinnern wieder an andere Vorgänger.
Etwas selbständiger erscheint, wenigstens in der
Form, der Gedanke, daß die im Organismus bestehende
Harmonie zwischen Bau und Funktionsgetriebe zwar zur
!) Koblenz. 1. Auflage, Band I, 1833; II 1840. 4. Auflage
des Werkes 1844.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. Hl
Kennzeichnung, nicht aber zur Erklärung der Organi-
sationskräfte genüge, da die letzteren doch früher be-
stünden.
Müller wendet sich dann gegen die Evolutionslehre;
die Epigenesis, die er übrigens nur streift, tritt insofern
in geklärter Form auf, als Urzeugung in jeder Form,
unter Berufung auf Spallanzani, nun endlich definitiv
abgelehnt und die Permanenz organischer Materie be-
hauptet wird.
Die Ansicht Stahls ist Müller sehr sympathisch,
wobei wir es allerdings stark bezweifeln möchten, daß
Stahl nicht die vorstellende Seele, sondern die ,,nach
vernünftigem Gesetz sich äußernde Kraft der Organisation
selbst" gemeint habe. Jedenfalls gibt letztere Äußerung
Müllers eigene Ansicht, die ja nicht eben neu ist, wieder,
und wenn er das „Bewußtsein" für ein Erzeugnis der
Organisation und für an ein Organ, das Nervensystem,
gebunden erklärt, so kann man hier nur die erkenntnis-
kritische Unklarheit des Ausdrucks, diese, allerdings stark,
beanstanden.
Woher die Verbindung jener Kraft mit organischer
Materie komme, ist unserem Autor ,,kein Gegenstand des
Wissens". Diese Einsicht bedeutet wohl den Spekulationen
der Früheren gegenüber einen wirklichen Fortschritt.
Freilich bedarf dieses Lob sogleich wieder der Ein-
schränkung, wenn nun, mit Bezug auf Reil, die Frage,
ob jenes Neue im Leben materiell oder nicht sei, als
,, ungewiß" bezeichnet wird. Müller ist hier sowohl von
der Schärfe der Problemzergliederung, welche Reil auf
seinen Lebensstoff führte, wie von der Schärfe der Über-
legung, die z. B. Treviranus einen solchen ablehnen ließ,
gleich weit entfernt.
Die bedeutsamsten der Müll er sehen Überlegungen
sind im letzten Bande seines Werkes diejenigen, welche
von der Erörterung der sogenannten ,, Lebensreize" oder
„integrierenden Reize", d. h. in unserer Sprache der not-
112 I. Der ältere Vitalismus.
wendigen Bedingungen des Lebens, und von der Er-
örterung des Todes ausgehen. Die „Lebensreize" sollen
„die organischen Kräfte beleben und verstärken". „Aus
unbekannten Quellen der Außenwelt" wird durch die
Pflanze „die Lebenskraft vermehrt". Und es muß wohl
so eine Vermehrung geben, da ja „die organische Kraft
beim Wachstum und bei der Fortpflanzung der organi-
schen Körper multipliziert wird", man müßte denn „das
Unbegreifliche annehmen, daß die beim Fortpflanzen statt-
findende Teilung der organischen Kraft die Intensität der-
selben nicht schwäche". Beim Sterben wird umgekehrt
die organische Kraft „in ihre allgemeinen natürlichen Ur-
sachen aufgelöst, aus denen sie von der Pflanze regeneriert
zu werden scheint".
Diese Erörterungen klingen beim ersten Anblick
durchaus nicht ganz klar und sind auch nicht alle neu.
Daß die Lebens,, kraft" in quantitativem Sinne aufgefaßt
wird, hatten wir auch bei Vorgängern Müllers schon zu
erwähnen und zu tadeln.
Neu aber ist, und eine wirklich gute selb-
ständige Überlegung, daß Müller, freilich innerhalb
des falschen Gedankens, daß die „Lebenskraft" selbst
eine quantitativ bestimmbare „Kraft" sei, die Frage
nach der Herkunft einer „Quantität" aufwirft,
also, modern gesprochen, so etwas wie eine „Energie-
quelle" ahnungsvoll fordert. Richtiges und Falsches ist
hier gemengt; wir würden sagen: freilich muß es eine
Energiequelle der Lebensphänomene geben, aber das-
jenige, welches diese eigentlich charakterisiert, hat selbst
mit solcher Energiequelle nichts zu tun.
Nach aristotelischem Muster unterscheidet Müller
Vegetationskraft, Bewegungskraft, Empfindungskraft ;
alles stammt von dem „primum movens" her, welches
immer Spezifizierteres erzeugt. Die Vernunft, welche
analogienhaft jenem primum movens zuzuschreiben ist,
übersteigt die menschliche bei weitem: „alle Probleme
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 113
der Physik sind vor dieser schaffenden Tätigkeit gelöst".
Sie ist auch die Ursache der Instinkte, die, nach Art des
Treviranus, als ein ,, Träumen" gefaßt werden.
Neben der ahnungsvollen Frage nach einer „Energie-
quelle" des Lebens ist es das zweite wirkliche Verdienst
Müllers, daß er, im zweiten Bande seines Werkes, die
Probleme des sogenannten ,, Seelenlebens" als eigentlich
naturwissenschaftliche Probleme der Physiologie ein-
reiht, wenn solches auch in kritisch recht ungeklärter Form
und unter sehr dunklen Verwendungen der Worte „Frei-
heit", „Empfindung" usw. geschieht.
Die Frage, ob „die Seele" und Materie notwendig
verbunden seien oder nicht, wird ebenso wie jene nach
der Verbindung von Materie und Lebenskraft offen ge-
lassen.
„Der Wille setzt die Faserursprünge der Nerven, wie
die Tasten eines Klaviers in Tätigkeit." „Alles übrige
ist bloßer Mechanismus." Da die Existenz der Seele vom
unverletzten Hirnbau jedenfalls nicht abhängt, insofern
als sie ja vorher latent vorhanden war1), so kann auch
wohl nicht die Seele „krank" sein, sondern nur das Gehirn.
Wie jene Aktion auf die Faser Ursprünge zustande
kommt, ist vielleicht unbeant wortbar. Nicht maßgebend
ist jedenfalls die Intensität einer Zweckvorstellung,
denn „dann müßte die Bewegung mit beschleunigter Ge-
schwindigkeit wachsen, wenn die Intensität jener Vor-
stellung zunähme"; nicht maßgebend ist auch die Er-
füllung der Seele mit nur einer Vorstellung, denn man
kann mehrere Bewegungen zugleich ausführen.
Solche Erwägungen wird man freilich nicht als sonder-
lich kritisch bezeichnen können.
x) Hierzu die Stelle: „Mit der Struktur ist das Wirken der
schon (vom Keim her) vorhandenen Kraft gegeben, welche also
von der Struktur des Gehirns nicht in ihrem letzten Grunde ab-
hängig, aber in Hinsicht ihrer Äußerung von der Struktur ab-
hängig ist."
Driesch, Vitalisuius. 2. Aufl. 8
114 !■ £*er ältere Vitalismus.
Im einzelnen verdient in diesem Zusammenhang wohl
Erwähnung die an Wundt erinnernde Betonung der Ver-
wandtschaft von Wille und Aufmerksamkeit sowie die
Theorie der Entstehung der Willenshandlungsbewegungen
aus den ungeregelten Bewegungen des Neugeborenen durch
Erfahrung, welche an Lotze gemahnt.
Besonders bedeutsam erscheint von Einzelheiten
ferner die von Müller, trotz seiner Lehre von den „spe-
zifischen Sinnesenergien", vertretene Indifferenz des
Hirns: Verlust von Hirnsubstanz habe nie den Verlust
bestimmter Vorstellungsmassen, sondern Abnahme
der Klarheit aller zur Folge.
Erörterungen sehr allgemeiner Art beschließen Mül-
lers theoretische Ausführungen und mögen auch unsere
Analyse derselben beendigen:
„Das Verhältnis der Seele und des Organismus kann
im allgemeinen verglichen werden mit dem Verhältnis
jeder physischen allgemeinen Kraft und der Materie, an
welcher sie sich äußert, z. B. des Lichtes und der Körper,
an welchen es zum Vorschein kommt. Das Rätselhafte
des Zusammenhanges bleibt sich in beiden Fällen gleich."
Die Wirkung von Geist auf Körper und von Körper
auf Geist wird von Müller etwa im Schema der
H er bart sehen Monadenlehre gedacht.
Liebig.
Den einen Abschluß dieses Teiles unserer Betrach-
tungen mögen eines bedeutenden Chemikers Ansichten
über die Phänomene des Lebens bilden.
Die Worte, welche J. v. Liebig in seinen „Chemi-
schen Briefen"1) und, weniger eingehend, auch in seiner
„Tier-Chemie"2) den biologischen Grundproblemen wid-
x) Leipzig 1844. 4. Aufl. 1859.
a) „Die Tier-Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und
Pathologie." Braunschweig. 3. Aufl. 1846.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. H5
met, gehen zwar weniger auf das einzelne und auf eine
Begründung des Vitalismus, sie sind aber wegen gewisser
allgemeiner Charaktere sehr zu beherzigen, und überdies
zeigen sie, daß die Chemiker jener Zeit — und als ihr Ver-
treter überhaupt spricht Lieb ig — von einer Gegner-
schaft gegen den Vitalismus weit entfernt waren:
Obwohl chemische Kraft und Lebenskraft einander
nahestehen und der Chemiker alle möglichen organischen
Stoffe bereits herstellen kann und noch viel mehr Stoffe
einst herstellen können wird, so wird doch ,.nie der
Chemismus imstande sein, ein Auge, ein Haar, ein Blatt
zu erzeugen* '. „Die Form, die Eigenschaften der ein-
fachsten Gruppen von Atomen bedingt die chemische
Kraft unter der Herrschaft der Wärme, die Form und
Eigenschaften der höheren, der organisierten Atome be-
dingt die Lebenskraft."
Freilich hat die letztere Grenzen: sie kann z. B. nicht
die Elemente ineinander verwandeln.
Die antivitalistischen Materialisten sind meist viel
zu summarisch verfahren; freilich war meist auch die
Methode der Vitalisten zu summarisch, da sie eben doch
nicht alle Möglichkeiten übersahen. Aber das hindert
nichts an der Richtigkeit der vitalistischen Auffassung.
„Nur die mangelhafte Kenntnis der anorganischen
Kräfte ist der Grund, warum von manchen Männern die
Existenz einer besonderen in den organischen Wesen
wirkenden Kraft geleugnet, warum den anorganischen
Kräften Wirkungen zugeschrieben werden, die ihrer Natur
entgegengesetzt sind, ihren Gesetzen widersprechen. Sie
wissen eben nicht, daß die Entstehung einer jeden chemi-
schen Verbindung nicht eine, sondern drei Ursachen
voraussetzt", nämlich neben Wärme und Affinität die
„formbildende Kraft der Kohäsion oder Kristallisation".
„Im lebendigen Körper kommt eine vierte Ursache hinzu,
durch welche die Kohäsionskraft beherrscht wird, durch
welche die Elemente zu neuen Formen zusammengefügt
8*
üö I. Der ältere Vitalismus.
werden, durch die sie neue Eigenschaften erlangen, Formen
und Eigenschaften, die außerhalb des Organismus nicht
bestehen."
Gegner des Vitalismus sind meist „Fremdlinge in
den Gebieten, welche die Erforschung chemischer und
physikalischer Kräfte zur Aufgabe haben". Wer denkt
hier nicht daran, daß auch in neuerer Zeit Physiker und
Chemiker das Biologische oft viel vorurteilsloser beurteilt
haben als Biologen! Man denke an Ostwald, Hertz,
Maxwell und andere! Und wer möchte nicht glauben,
daß Lieb ig in den sechziger bis achtziger Jahren des ver-
flossenen Jahrhunderts anstatt manche Dezennien früher
geschrieben habe, wenn er liest von den „Dilettanten,
welche von ihren Spaziergängen an den Grenzen der
Gebiete der Naturforschung die Berechtigung herleiten,
dem unwissenden und leichtgläubigen Publikum aus-
einanderzusetzen, wie die Welt und das Leben eigentlich
entstanden, und wie weit doch der Mensch in der Er-
forschung der höchsten Dinge gekommen sei", von jenen
Dilettanten, an deren Reden über das Verhältnis von
Geist und Gehirn, wenn man allen „Flitter und Tand" ab-
streift, übrigbleibt, „daß wir ohne Gehirn nicht denken",
wie wir ohne Beine nicht gehen können.
Nur Auswüchse der Naturphilosophie können nach
Liebig den Materialismus wenigstens einigermaßen ent-
schuldigen.
„Ausnahmen eines Naturgesetzes" aber hinwiederum
sollen seine „vitalen Eigenschaften" nicht bedeuten.
Doch haben uns die letzten Betrachtungen schon in
eine Zeit geführt, in der der Vitalismus um seine Daseins-
berechtigung zu kämpfen hatte, in der auch etwas anderes
als er auf dem Plane war.
Ehe wir aber in die neugeschaffene Lage der wissen-
schaftlichen Dinge tiefer eindringen, wollen wir diesem
Teile unserer Erörterungen noch einen zweiten Abschluß
geben.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 117
Wie der Hinweis auf philosophische Lehren, auf die
Naturphilosophie Schellin gs und Hegels nämlich, diesen
Teil einleitete, so soll ihn der Hinweis auf die Lehren eines
Philosophen beschließen, der es uns, wenn er noch lebte,
vielleicht sehr verübeln würde, daß wir ihn hier mit den
verhaßten ,, Philosophieprofessoren" zusammen in einem
Satze nennen, da er nämlich über Differenzen das Ver-
wandtschaftliche übersah, der Hinweis auf
Schopenhauer.
Die Willensmetaphysik des Philosophen geht uns in
unserer naturwissenschaftlichen Geschichtschreibung zwar
nicht mehr an als das Vernunftsystem seiner Gegner, und
wenn er, um darzutun, daß die Natur verschiedene Stufen
der ,,Objektivation des Willens" zeige, und daß die leben-
den Wesen die höchste dieser Stufen seien, eine große
Menge biologischer Tatsachen beibringt1) und in allgemein
vitalistischer Weise auffaßt, so ist das in unserem Sinne
höchstens Material für Naturforschung2). Wie die ver-
schiedenen Objektivationsstufen zueinander oder zu einem
Neutralen (der Materie ?) stehen,, das gälte es im Sinne
des Vitalismusproblems auszumachen. Davon aber wird
nicht im einzelnen geredet . Überhaupt wird von Schopen-
hauer die Richtigkeit der vitalistischen Lehre mehr be-
hauptet, als sie bewiesen wird. Doch befindet man sich
bei ihm, im Gegensatz zu Schelling, in Sicherheit darüber,
daß er sie, im Sinne dynamischer Teleologie, vertritt.
Unmittelbar naturwissenschaftlich bedeutsam und
wissenschaftsmethodologisch wichtig erscheint aber ein
ganz bestimmter Gedanke Schopenhauers, und dieser
1) Vgl. vor allem das „zweite Buch" beider Bände des
Hauptwerkes, ferner die Schrift ,,Über den Willen in der Natur".
2) Bedeutsam erscheint in dieser Hinsicht zumal die von
Schopenhauer scharf gezogene Parallele zwischen Instinkt und
dem Wirken der organisierenden Natur. Vgl. z. B. Welt a. W.
u. V. IT. Buch 2, Kap. 27.
Hg I. Der ältere Vitalismus.
Gedanke knüpft an die „Kritik der Kantischen Philo-
sophie", insbesondere an die Kritik der teleologischen
Urteilskraft an1); er folge hier wörtlich:
„Mit Recht behauptet Kant, daß wir nie dahin ge-
langen werden, die Beschaffenheit der organischen Körper
aus bloß mechanischen Ursachen, worunter er die ab-
sichtslose und gesetzmäßige Wirkung aller allgemeinen
Naturkräfte versteht, zu erklären. Ich finde hier je-
doch eine Lücke2). Er leugnet nämlich die Möglich-
keit einer solchen Erklärung bloß in Rücksicht auf die
Zweckmäßigkeit und anscheinende Absichtlichkeit der
organischen Körper. Allein wir finden, daß, auch wo
diese nicht statthat, die Erklärungsgründe aus einem
Gebiet der Natur nicht in das andere hinübergezogen
werden können, sondern uns, sobald wir ein neues Gebiet
betreten, verlassen, und statt ihrer neue Grundgesetze
auftreten, deren Erklärung aus denen des vorigen gar
nicht zu erhoffen ist. So herrschen im Gebiet des eigent-
lich Mechanischen die Gesetze der Schwere, Kohäsion,
Starrheit, Flüssigkeit, Elastizität, welche an sich als
Äußerungen weiter nicht zu erklärender Kräfte dastehen,
selbst aber die Prinzipien aller ferneren Erklärung, welche
bloß in Zurückführung auf jene besteht, ausmachen. Ver-
lassen wir dieses Gebiet und kommen zu den Erschei-
nungen des Chemismus, der Elektrizität, Magnetismus,
Kristallisation, so sind jene Prinzipien durchaus nicht
mehr zu gebrauchen, ja, jene Gesetze gelten nicht mehr,
jene Kräfte werden von anderen überwältigt, und die Er-
scheinungen gehen in geradem Widerspruch mit ihnen
vor sich, nach neuen Grundgesetzen, die, eben wie jene
ersteren, ursprünglich und unerklärlich, d. h. auf keine
allgemeineren zurückzuführen sind . . . Eine Erörterung
dieser Art würde, wie es mir scheint, in der Kritik der
!) Anhang zum ersten Bande des Hauptwerkes.
2) Dieser Sperrdruck rührt von mir her.
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie . 119
teleologischen Urteilskraft von großem Nutzen gewesen
sein und viel Licht über das dort Gesagte verbreitet
haben/'
Dieser Gedankengang1) ist zwar nicht ganz im Sinne
Kants, dem ja eine Auflösung aller Physik in Bewegungs-
vorgänge als Ideal vorschwebt, und er ist für das An-
organische, angesichts der Entwicklung der Physik und
Chemie, die ja ein großes Ganze geworden sind, auch
sachlich nicht zu halten, aber er ist methodisch insofern
noch heute bedeutsam, als er antidogmatisch ist und den
Satz, es müsse auf jeden Fall der Allmechanismus das Ge-
schehensschema der empirischen Wirklichkeit sein, a limine
abweist. Schopenhauer beweist zu viel: im Anorgani-
schen kann alles in einheitlicher Form, im Sinne einer
Materientheorie, gestaltet werden. Aber denkbar wäre ja
freilich auch hier eine andere Lage der Dinge; und diese
andere Lage der Dinge ist nun in der Welt des Lebendigen
verwirklicht: die Biologie ist autonome Sonderwissen-
schaft.
Von den biotheoretischen Sondergedanken Schopen-
hauers sei nur der eine erwähnt, daß das Instinktleben
x) Der Gedanke, daß die verschiedenen Gebiete der Natur-
forschung — Mechanik, Physik, Chemie, Biologie — es mit Stufen
immer komplizierteren Geschehens zu tun haben, findet sich auch
bei A. Comte (Cours de Philosophie positive, Band III, 3. Aufl.,
Paris 1869). Freilich verhindert den französischen Philosophen
seine Furcht vor Metaphysik und „Entitäten", sein angeblicher
„Positivismus" also, der tatsächlich eine Unvollständigkeit,
nämlich ein Übersehen des kategorialen Zwanges in Begriff-
und Urteilbildung, bedeutet, das eigentliche Problem des Vitalismus
klar zu sehen. So bleibt es denn einigermaßen unklar, ob er in
den verschiedenen Gebieten der Naturerscheinungen an sich
intensiv komplizierende Sondergesetzlichkeiten oder an bloßo
Komplikationen der Konstellation denkt. Ersteres freilich dünkt
uns wahrscheinlicher. Wir sagen nur diese wenigen Worte über
Comte, da wir später in Claude Bernard einen Forscher zu
behandeln haben werden, der einen ähnlichen Standpunkt natur-
wissenschaftlich durchgebildeter vertritt.
120 I- Der ältere Vitalismus.
in seiner Unbewußtheit und, um mit G. Wolff zu reden,
,, primären Zweckmäßigkeit" gewissermaßen die Fort-
setzung des Formbildungslebens sei, eine durch den Ver-
lauf der Forschung von Jahr zu Jahr mehr befestigte Lehre.
Des älteren Vitalismus Ende.
Man sagt von politischen Parteien, daß sie erschlaffen,
wenn sie keine Gegner, mehr haben.
Etwas Ähnliches gilt auch von wissenschaftlichen und
philosophischen Doktrinen: nicht als ob sie als solche auf-
hörten zu existieren, aber sie verlieren ihre Strenge, ihr
fortwährendes Auf -der-Hut- Sein in Gewärtigung eines doch
vielleicht noch möglichen und nicht ganz ungerecht-
fertigten Angriffs. Sie werden in ihren Folgerungen lax
und unvorsichtig, indem sie vergessen, jede Folgerung auf
ihre erkenntniskritische Berechtigung hin zu prüfen;
schlimmer aber noch ist, daß sie lax in bezug auf die
Fundamente werden: diese gelten für so sicher, daß es
gar nicht mehr für der Mühe wert gilt, sie zu prüfen, ja
auch nur sie zu erwähnen; geschweige denn, daß man sie
durch immer neu beigebrachte Beweise des eigentlichen
Grundsachverhaltes zu festigen trachtete.
Und dann zerfällt einmal die Doktrin und stirbt.
Sehr wohl kann sie trotzdem die richtige Deutung des
Sachverhaltes gewesen sein. Aber alles Richtige war
überwuchert von Haltlosem und Falschem. Nicht also
„widerlegt" sie dann die nun aufkommende gegnerische
Doktrin; widerlegen tut diese nur das wirklich Falsche an
ihr. Aber da die neue Doktrin scharf und streng vorgeht,
da sie für sich kämpft, so nimmt sie alle Unselbständigen
für sich ein und läßt darüber hinwegsehen, daß sie den
richtigen Kern an jener durch Laxheit verkommenen
älteren Lehre doch eigentlich gar nicht getroffen hatte.
Neu und gereinigt erhebt sich endlich die richtige
alte Lehre aus ihrer scheinbaren Vernichtung: sie kann
E. Vitalismus im Gefolge der Naturphilosophie. 121
dann wirklich sachgemäßer, ehrlicher Kritik aufrichtig
dankbar sein, mag diese auch im innersten Kern un-
recht gehabt haben.
Was aber hier geschildert wurde, das ist mit dem
älteren Vitalismus geschehen:
Er starb aus Mangel an Gegnern: wer hat noch
seine eigentlichen Fundamente in den sechs letzten von
uns geschilderten Dezennien seiner -Entwicklung wirklich
geprüft ? Wer suchte noch seine sachliche Berechtigung
als eine von mehreren Möglichkeiten gegen die andere
zu beweisen? Wer prüfte j ede seiner Folgerungen ?
Blumenbach hat als letzter unter Naturforschern das
alles getan.
Und so ist denn die Kritik gekommen, die den Vitalis-
mus äußerlich auf eine Zeit hin vernichtet hat.
Widerlegt hat sie ihn unseres Erachtens nicht, son-
dern gereinigt, und wir legen Wert auf unsere Aussage,
daß der ältere Vitalismus ganz eigentlich aus sich selbst
gestorben sei.
11. Die Kritik und die materialistische
Reaktion.
Unter allen Kritiken und Abweisungen, welche in
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und noch etwas
später gegen den älteren Vitalismus laut wurden, sind nur
zwei gut, sind nur zwei, die wirklich ernst zu nehmen
sind und nicht im Phrasenhaften steckenbleiben. Diese
zwei aber sind sehr gut: sie rühren von Lotze und von
Claude Bernard her. Es ist nun aber höchst seltsam
zu sehen, wie trotz aller Kritik und Ablehnung beide
genannten Männer schließlich manches Richtige an den
vitalistischen Lehren doch anzuerkennen durch die Wucht
des Tatsächlichen gezwungen sind.
Ihre Äußerungen sind also im letzten Grunde zwar
Kritiken, aber doch keine eigentlichen widerlegenden Ab-
weisungen; und was wirklich eine völlige Widerlegung
zu sein behauptete, das trug, wie wir schon sagten und
begründen werden, die Zeichen der Oberflächlichkeit offen
an der Stirn.
Daß trotz des wahren Sachverhaltes jene beiden
Kritiken vom materialistischen Sensationsbedürfnis der
Zeit in durchaus mißverständlicher und den Absichten
ihrer Urheber widersprechender Weise als absolute
Widerlegungen aufgefaßt wurden, tut der Richtigkeit
unserer Auffassung natürlich nicht im geringsten Ab-
bruch.
Lotze. J 93
Lotze.
H. Lotzes Artikel „ Leben und Lebenskraft" im
ersten Bande von Wagners Handwörterbuch der Physio-
logie (Braunschweig 1842) ist aller Kritiken des Vitalis-
mus gediegenste.
Wenn Lotze freilich behauptet, es sei schon darum
falsch, die „Lebenskraft" zur Ursache ,,des Lebens" zu
machen, da überhaupt kein Geschehen in der Natur nur
eine Ursache habe, so ist dem entgegenzuhalten, daß
unser Autor diesen angeblichen Angriff unterlassen haben
dürfte, wenn er anstatt an den neuesten Vitalismus sich
an Wolff oder Blumenbach gehalten hätte. Zumal des
ersteren „Akzessorische Prinzipien" durften den Angriff
wohl gegenstandslos erscheinen lassen.
Und ein gleiches trifft nun überall zu: der Aus-
wüchse waren eben so viele geworden, daß gerade der
Zeitgenosse leicht den Blick für das doch Richtige verlor.
Gegen des Treviranus „lebensfähige Materie" führt
unser Kritiker an, daß sie eigentlich überflüssig sei, da
die spezifischen Gestalten sich ja durch die Beziehungen
von Lebenskraft und äußeren Faktoren ergeben sollen.
Gewiß trifft dieser Einwand zu; „den" Vitalismus trifft
er nicht.
Und wenn Lotze sich gar gegen das „Wandern"
der „selbständigen" Lebenskraft im Sinne Autenrieths
wendet und bemerkt, die Lehre der Älteren, daß die
Lebensformen „Ideen" seien, sei denn doch wahrlich noch
besser gewesen, so hat er uns ganz auf seiner Seite, uns,
die wir uns zum „Vitalismus" bekennen.
Schelling und seine Nachfolger, meint Lotze,
haben allerdings „niemals einen klaren Begriff von dem
wirklichen Verhältnis einer legislativen Idee zu ihren
exekutiven Mitteln" gehabt. Die „Idee der Gattung" als
„legislative Gewalt" sei gleichsam „eine Gleichung für
die Kurve des Lebens"; aber diese Gleichung habe bei
124 II- Die Kritik und die materialistische Reaktion.
ihnen „die Bahn der Kurve nicht bloß bestimmt, sondern
beschrieben".
Auch das unterschreiben wir gern; es kommt uns
nur nicht so ganz neu vor. Wir erinnern uns z. B., daß
gerade Heil das Problem, „wie man von der Idee zur
Materie komme", aufs drückendste empfand.
Lotze meint nun freilich ganz allgemein: der Bil-
dungstrieb könne nie „erklären", da hier ,,das Gesetz
fehle"; er klassifiziere höchstens.
Was soll denn „erklären", was „das Gesetz" be-
deuten ? Lotze denkt wohl an quantitative Gesetze; aber
wo sollen die herkommen, wo das Wesentliche eben nicht
quantitativ ist ? Und was heißt denn „erklären" von Vor-
gängen anderes als unter Vorgangsschemata subsumieren ?
Wenn Lotze weiter ausführt, daß alles Regulative im
Lebensgeschehen für den Vitalismus nichts beweise, da ja
bisweilen kein Regulationsvermögen vorhanden sei, so ist
das ein — leider auch in unserer Zeit oft gehörter — Fehl-
schluß: eine Faktenreihe kann nämlich überhaupt immer
nur beweisen da, wo sie vorkommt, und nie da, wo sie
nicht vorkommt; ich kann auch Optik nicht wohl in einer
dunklen Höhle studieren, ohne Licht bei mir zu haben;
wo eine Faktenreihe vorkommt, da tritt die Frage nach
ihrer Beweiskraft überhaupt erst auf.
Wenn aber Lotze die Monstra als Gegengewicht
gegen den Vitalismus aasspielt und von dem „Grauen"
spricht, das hier der frei gewordene Mechanismus errege,
nun, so hatte Blumenbach ganz dieselbe Sachlage ge-
sehen und war doch Vitalist geblieben.
Die langen Erörterungen gegen die Bezeichnung
Lebens„kraft" aber und gegen die „Teilung" dieser
„Kraft" sind durchaus zutreffend; nur ist zu bedenken,
daß es sich hier doch nur um ein Wort handelt, das
sogar von manchen Vitalisten vermieden wurde, und
daß doch gerade des unmittelbaren Zeitgenossen Lotzes,
Johannes Müllers, Verdienst ganz wesentlich darin
Lotze. 125
bestand, daß er sich so etwas wie eine Energiequelle der
Lebens Vorgänge plausibel zu machen suchte.
Seltsam berührt es nach allem Gesagten, wenn wir
nun plötzlich von Lotze erfahren, daß des alten Stahl
Lehre von der die Lebensvorgänge beherrschenden „Seele"
kein so großer Fehler gewesen sei, denn hier sei die
Seele als „Substanz" gedacht, und damit wenigstens
etwas, „das eine Wirkung hervorbringen kann", eingeführt
gewesen.
Es scheint hier fast, als habe Lotze sich bei allem
Vitalismus eigentlich nur an dem Worte „Kraft" ge-
stoßen. Doch wäre das irrtümlich; er lehnt für die eigent-
lich vegetativen und gestaltlichen Vorgänge in der Tat
den Vitalismus als sachliche Lehre ab und erklärt zum
Schluß der betreffenden Betrachtungen ausdrücklich die
Organismen für „Maschinen", wobei freilich dieser Be-
griff weit gefaßt werden müsse1).
Lotze ist also bis hierher statischer Teleologe; zu
dem Unsinn, das Zweckmäßige überhaupt als irreduzible
Sonderheit zu leugnen, konnte sich ein Mann wie er selbst-
redend nicht versteigen.
Nun aber kommt der zweite Teil des Lotzeschen
Aufsatzes, der vom „Seelenleben" handelt2), und nun wird
unser Philosoph und Physiologe ausgesprochener Vita-
list! Also darum wohl war ihm auch im Gebiete des
vegetativen Vitalismus die Ansicht Stahls noch die
sympathischste gewesen !
Die „Seele", als ein der übrigen Natur gegenüber
durchaus Neues, ist imstande, „einen absolut neuen An-
fang der mechanischen Bewegung zu setzen".
x) Später wird ausdrücklich noch einmal die, sehr einfach-
epigenetisch gedachte, Formbildung und das funktionelle Er-
haltungsgetriebe für maschinell erklärt.
2) Man vergleiche hierzu auch die Aufsätze von Lotze:
, »Instinkt" und „Seele und Seelenleben" in Band 2 und 3 des
Wagner sehen Handwörterbuches.
126 II- &Le Kritik und die materialistische Reaktion.
Lotze betont, daß eben dieses Faktum auch ange-
nommen werden müsse, wenn es etwa eine Heilkraft
der Natur wirklich gäbe.
Hier sehen wir deutlich, wie sein falscher dogmatischer
Mechanismus einerseits, seine geradezu naturgegensätz-
liche Auffassung der „Seele" anderseits Lotze von einer
wirklich vorurteilslosen Auffassung der Sachlage fernhält.
Wie ,, wirkt" nun nach Eigengesetzlichkeit die
„Seele"?
Gedanken, Ideen als solche freilich „haben nicht die
mindeste massenbewegende oder überhaupt bewegende
Kraft. Sie können aber solche Kraft insofern erlangen,
als in bestimmte Zustände, Modifikationen oder Bewe-
gungen eines Wirklichen, eines Substanziellen, näm-
lich der Seele, sind". So nämlich stehen sich Zustände
verschiedener Substanzen „in dem gleichen Sinne des
Daseins" gegenüber. Ursache und Wirkung aber gelte
von allem Wirklichen „unangesehen, ob dies Körper oder
Geist" sei. So ist jede Schwierigkeit überwunden. „Aus
dem Begriff der Substanz", welcher Geist und Körper
gemeinsam ist, wird alles verstanden.
Lotze hält sogar eine unmittelbare Wirkung der
Seele auf einen fremden Leib für möglich.
Anderseits denkt er an wirklich strenge Gesetze
der seelisch -körperlichen Beeinflussung.
Daß Lotze nun, trotz seiner Ablehnung des eigent-
lichen biologischen Vitalismus, diesem in seiner Seelen -
theorie doch so außerordentlich nahe kommt, daß
man sich immer wieder aufs neue wundern muß, wie er
dazu kommt, ihn abzulehnen, zeigt eine nähere Analyse
dessen, was er sich eigentlich als seine „ Seelen"leistung
denkt :
Vorstellungen, Gefühle, Begierden, sagt er, seien nur
„Erscheinungsweisen, welche innere Zustände der Seelen -
Substanz für unsere eigene Beobachtung annehmen. Als
solche Scheine haben sie sämtlich nicht die geringste Kraft,
Lotze. 127
das Wirkliche zu bewegen; dagegen die inneren, unbe-
wußten, der Erfahrung völlig abgewandten, nie zu unserer
Ansicht gelangenden Zustände der Seele als Substanz
können mit den Zuständen des anderen Wirklichen, des
Leibes, zusammengenommen, den Grund zu dem Hervor-
treten einer Massenwirkung mit ganz neuem Anfang er-
halten".
Lotze ist Metaphysiker, das zeigt schon frühzeitig
sein Begriff der „wirklichen Substanz"; er hat später in
seiner „Metaphysik" (1884) seinen Weltmechanismus
geradezu als Betätigung einer Substanz gedacht, um transe-
unte Kausalität aus immanenter verständlich zu machen.
Ferner läßt er Unbewußtes und doch Zweckmäßiges als
Faktor in der wirklichen Natur tätig sein, ja, er faßt auch
die „Instinkte" in entsprechender, ausgesprochen nicht-
maschineller Weise auf1).
Warum denn lehnt er da den Vitalismus ab ? Ist
etwa seine Anschauung etwas anderes als Vita-
lismus im speziellen Gebiet, nämlich im Gebiet
der Handlungen des Menschen, der doch auch
ein Lebewesen ist? Unterscheidet sich seine Theorie
der Seelen Wirkung auch nur im geringsten von derjenigen
Johannes Müllers? Soll doch sogar seine Leib-Seelen-
Kausalität nicht schwieriger als jede Art von Kausalität
zu verstehen sein, und hat er doch von der Materie eine
durchaus geklärte Auffassung!
Wahrlich nur die Auswüchse des eigentlichen Vitalis-
mus im engeren Sinne haben Lotze veranlassen können,
hier im ganzen abzulehnen, was er im Teil doch annahm ;
daneben aber spielte, wie bei Kant, der all-mechanistische
Dogmatismus seine verderbliche Rolle2).
x) Vgl. den Artikel „Instinkt" in Band 2 des Handwörter-
buches.
2) Man vergleiche die gute Arbeit von Paul Lang: Lotze
und der Vitalismus, 1913.
128 II- I^e Kritik und die materialistische Reaktion.
Bernard.
Von Claude Bernard rührt die andere bedeutsame
Kritik des älteren Vitalismus her. Obwohl sie erst aus
den siebziger Jahren stammt und insofern manchen bald
kurz zu nennenden Gelegenheitsäußerungen und Zeit-
strömungen antivitalistischer Art zeitlich nachfolgt, be-
handeln wir sie hier, um das wenige an wirklich tief-
gehender Kritik, das es gibt, nicht zu trennen.
Viele Kapitel von Bernards „Lecons sur les pheno-
menes de la vie"1) sind biotheoretischen Erörterungen
allgemeinster Art gewidmet; auf die geschichtlichen Ex-
kurse des zweiten Bandes, die namentlich über die Bio-
logiegeschichte des sechzehnten und siebzehnten Jahr-
hunderts Gutes bieten, sei hier ausdrücklich die Auf-
merksamkeit gelenkt.
Auch Bernard kämpft gleich Lotze zum großen
Teil gegen Windmühlen, d. h., was er bekämpft, ist zwar
einmal von einem Vertreter des Vitalismus — meist von
Bichat — gesagt worden, und es war nicht gerade zu-
treffend: aber es war doch nicht „der" Vitalismus.
Wer hat denn zum Beispiel die Lebenserscheinungen
sein lassen „regies directement par un principe vital
interieur" ohne Abhängigkeitsbeziehung von äußeren Be-
dingungen ? Wolff, Blumenbach, Liebig ganz sicher-
lich nicht! Wer hat nichts anderes gesehen als ,,1'inter-
vention d'une force extraphysique, speciale, indepen-
dante" ? Doch gewiß nur einige.
Doch hält sich Bernard nicht etwa nur an Aus-
wüchse der vitalistischen Lehre, und wo er das nicht tut,
da wird seine Kritik in gewissem Grade zur Zustimmung:
,,Nous nous separons des vitalistes, parce que la
force vitale, quel que soit le nom qu'on lui donne,
ne saurait rien faire par elle-meme, qu'elle ne peut agir
qu'en empruntant le ministere des forces generales de
!) Paris 1878/9. 2 Bände.
Bernard. 129
la nature et qu'elle est incapable de se manifester en
dehors d'elles. — Nous nous separons egalement des
materialistes ; car, bien que les manifestations vitales
restent placees directement sous 1'influence de conditions
dhysico-chimiques, ces conditions ne sauraient grouper,
harmoniser les phenoinenes dans l'ordre et la succession,
qu'ils affectent specialement dans les etres vivants."
„II y a dans le corps anime un arrangement, une sorte
d'ordonnance que Ton ne saurait laisser dans l'ombre, parce
qu'elle est veritablement le trait le plus saillant des etres
vivants." Das Wort „force" sei zwar nicht besonders gut zur
Kennzeichnung des Gemeinten, ,,mais ici le mot importe
peu, il suffit que la realite du fait ne -soit pas discutable".
„Les phenomenes vitaux ont bien leur conditions
physico-chimiques rigoureusement determinees; mais en
meme temps ils se subordonnent et se succedent, dans
un enchainement et suivant une loi fixes d'avance." . . .
„II y a comme un dessin preetabli de chaque etre et de
chaque organe."
Deutlich teleologisch gedacht ist das, aber es läßt
wohl noch den beiden Alternativen des Teleologischen,
dem Statischen und dem Dynamischen, Raum. Ist
Bernard in dieser Frage ganz zu Klarheit gekommen
oder blieb ihm eine Dunkelheit, die selbst Kant vielleicht
nicht ganz überwunden hatte ?
Bernard befürwortet einen „plan organique", aber
nicht die „Intervention d'un principe vitale". Letztere,
eine „force vitale", sei höchstens als „force legislative",
aber nicht als „force executive" zuzulassen. Das klingt
statisch-teleologisch.
Aber dann folgt die Stelle: „La force vitale dirige
des phenomenes qu'elle ne produit pas; les agents phy-
siques produisent des phenomenes qu'ils ne dirigent pas".
Das könnte vitalistisch klingen.
Zum tieferen Verständnis der Meinungen Bernards
muß uns nun ein Gedankengang dienen, den wir für sein '
Drie seh, Vitalismus. 2. Aufl. 9
130 II- Die Kritik und die materialistische Reaktion.
Bestes halten möchten, eine Gedankenfolge, mit der er
sich den Bahnen phänomenologischen Denkens, z. B. eines
Mach, mindestens nähert:
Jede Wissenschaft, sagt Bernard, auch z. B. die
Optik oder Elektrik, kenne nur die Bedingungen, die
,,conditions physico-chimiques", unter denen sich die von
ihr studierte Erscheinungsart zeige, sie kenne nur deren
„determinisme". An Stelle der alten ,, cause" tritt eben
diese Einsicht, daß gewisse „conditions" das „pheno-
mene" zeitigen.
Wird einer ,, Kraft" (force) das Phänomen zuge-
schrieben, so ist diese stets ,, metaphysisch", sie wird nur
„gedacht", ist nicht „active". Die ,,causes premieres"
sind ,,inaccessibles".
Und in dieser Bedeutung der Worte studiere nun
der Physiologe ,,le determinisme physico-chimique corre-
spondant aux manifestations vitales".
Ist das nicht Vitalismus ? Bernard wirft im Zu-
sammenhang mit dem Erörterten den Vitalisten vor, daß
sie jenen ,, determinisme" geleugnet hätten. Abgesehen
davon, daß das viele, z. B. Blumenbach und Wolff ,
sicherlich nicht trifft: hat er ihnen nur das vorzuwerfen ?
Nun, dann verdient Bernard wirklich die Bezeichnung
eines „geklärten Vitalisten".
,,11 y a des conditions materielles (physico-chimi-
ques) determinees qui reglent l'apparition des phenomenes
de la vie. II y a des lois preet ablies qui en reglent 1' ordre
et la forme." „La vie n'est ni plus ni moins obscure que
toutes les autres causes premieres."
Freilich so ganz ohne alle Bedenken können wir
Bernards Stellung zum Lebensproblem trotz alles Ge-
sagten doch immer noch nicht festlegen, und es wird
wohl dabei bleiben müssen, daß er die beiden Seiten von
Teleologie nicht scharf genug geschieden sah: anstatt
„lois preetablies" sagt er einmal „conditions organiques",
was offenbar mehr nach maschinentheoretischen Ansichten
Bernard. 131
klingt; er fordert ferner, man solle, mit Leibniz, das
Leben studieren, ,,als ob" keine ,,force vitale" existiere.
Warum denn das ?
Wenn anderseits gesagt wird, das Leben sei zwar
kein ,, principe", aber auch keine ,,resultante" der ,,con-
ditions", so klingt das wieder vitalistisch.
Kurz und gut: auf völlig eindeutigem Standpunkt
zeigt sich Bernard unseres Erachtens, trotz des vielen
Guten, das er im einzelnen beibringt, doch nicht. Man-
gelnde Analyse dessen, was Erkenntnis von Naturphäno-
menen überhaupt bedeutet und allein bedeuten kann, ist
wohl schuld an diesem Zustand.
Gerade die letzten Worte, mit denen er am Schlüsse
des zweiten Bandes seinen ,,vitalisme physique" noch
einmal zusammenfaßt, lassen wieder das eigentlich ,, Vita-
listische" dieses Vitalismus im Dunkel: ,,1'element ultime
du phenomene est physique; l'arrangement est vital".
Das wäre statische Teleologie reinster Art, wenn
Bernard nicht jenen schönen und klaren Gedankengang
über die ,,conditions" und ,,manifestations" dargeboten
hätte.
Auf Grund dieses Gedankenganges dürfen wir denn
doch wohl Bernard als wahren Vitalisten in Anspruch
nehmen, der nur in bezug auf die Wahl mancher Aus-
drücke der Inkonsequenz zu zeihen ist — vielleicht,
weil er nicht ganz klar den Unterschied von statischer und
dynamischer Teleologie gesehen hat.
So hätte denn also unseren Kritiker die Kritik des
— teilweis mißverstandenen — älteren Vitalismus selbst
zum geklärten Vitalismus geführt.
Wollen wir uns am Schlüsse noch einigen mehr
speziellen Gedankenreihen Bernards zuwenden, vor allem
also jenen Erörterungen, die er der tierischen Entwicklung
widmet, so wird sich auch hier ein starkes Ringen
nach Klarheit ohne ein völliges Erreichen derselben
zeigen: Bernard besitzt den klaren Begriff dessen, was
9*
132 II« I^ie Kritik und die materialistische Reaktion.
Roux heute „ Selbstdifferenzierung" nennt, er weiß, daß
die Teile des Embryo sich in relativer Selbständigkeit
in bezug aufeinander entwickeln. Da nun alles Lebens -
geschehen, wie jedes andere, notwendig ist, so ergeben
sich eben auf Grund jener ,, Selbstdifferenzierung" der
Teile bei Störung eines derselben die „notwendigen aber
unlogischen" Monstra; hier finden wir Bernards Denken
dem Lotzes nahe verwandt.
Es berührt sich mit dem Gesagten, wenn Bernard
die Morphogenie, die Entstehung der individuellen Form
mit dem Getriebe einer großen Fabrik vergleicht, in der
auch die Arbeiter der Teile das Ganze nicht kennen. So
gibt es also das „Ganze" in irgendeiner aktiven Form?
möchte man fragen. Da werden uns nun wieder, etwas
dunkel, die morphogenetischen Gesetze als ,,dormantes
ou expectantes", nicht aber als tätig, bezeichnet. Doch
soll bei Regenerationen allerart der Organismus als
,,ensemble ou unite" in Betracht kommen. Ausdrücklich
wird die organische Form nicht als Folge der Natur des
Protoplasmas hingestellt: „La forme et la matiere sont
independantes distinctes".
Es scheint uns, als bestätige die Analyse der be-
sonderen Ausführungen Bernards die Einsicht, welche
aus Zergliederung der allgemeineren gewonnen ward.
Die materialistisch-darwinistische Zeitströmung.
Vier Grundumstände haben den Charakter alles
Denkens über Natur, und nicht nur über sie, in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt:
Zum ersten eine materialistische Metaphysik,
wie sie als ganz allgemeiner Gegensatz gegen die idea-
listische Identitätsphilosophie erwachsen war.
Zum anderen der Darwinismus, jene Anweisung,
wie man durch Steinwürfe Häuser typischen Stiles baut.
Die materialistisch -darwinistische Zeitströmung. 138
Drittens die Entdeckung des Satzes von der Er-
haltung der Energie durch Robert Mayer; ein Satz,
der trotz seiner Inhaltsarmut die Naturwissenschaften in
wahre Verzückung versetzt hat.
Viertens und letztens und ganz besonders für Bio-
logisches in Betracht kommend, die Entdeckung und
planmäßige Erforschung der feinen Strukturen der
Lebewesen mit Hilfe der verbesserten optischen Werk-
zeuge.
Wir dürfen diese vier Punkte als selbständige
Quellen des Einflusses betrachten, ob sie sich schon auch
gegenseitig verstärkten; in Hinsicht der biologischen
Grundprobleme, in Sonderheit des Vitalismus, kommen
sie jedenfalls je für sich in Betracht:
Die materialistische Metaphysik eines Moleschott,
Vogt, Büchner lehrte, daß alles Wirkliche Bewegung
sei, daß es Quali täten höherer Art nur als Schein gäbe.
Der Darwinismus behauptete zu zeigen, wie zweck-
mäßig Konstruiertes durch absolute Zufälligkeiten
entstehen könne: wenigstens gilt das von dem gleichsam
kodifizierten Darwinismus der siebziger und achtziger
Jahre; Darwin selbst hatte, zumal anfangs, die Frage
nach der Natur und dem Maße der ,, Variabilität" be-
kanntlich offen gelassen, womit sich seine Lehre zwar
auf die Selbstverständlichkeit, daß Nichtexistenzfähiges
nicht existieren könne („Natural selection"), reduzierte,
aber doch nicht offenbar sinnlos war1). Das eine einzige
Faktum schon, daß es Regulationsleistungen von der
Art der Regeneration, etwa des Salamanderbeines,
gibt, widerlegt bekanntlich den typischen Darwinismus,
denn in seiner Anwendung auf diesen Fall wird das
x) Die neuere ,, Mutationstheorie" von de Vries, welche
die Veränderungen, unter denen dann „Zuchtwahl" eventuell
ausmerzt, sprungweise geschehen läßt, ist natürlich kein
„Darwinismus". Anfänglich war Darwin diesen Gedanken näher
als später.
134 II- T>ie Kritik und die materialistische Reaktion.
Schema desselben zu ganz offenbarem Unsinn! Das
kann gar nicht oft genug betont werden ! ! Alle anderen
Widerlegungen der Darwinschen Lehre erreichen die auf
die Regenerationstatsache gegründete nicht an drasti-
scher Schärfe1).
Am Energiegesetz erkannte man nicht, daß es nur
der Kausalsatz in quantitativer Fassung sei.
Die Entdeckung der feinen Strukturen aber spielte
den Forschern einen ebensolchen Streich, wie ihnen früher
das Fehlen ihrer Kenntnis gespielt hatte: War früher
sehr vieles für die unmittelbare Wirkung einer letzten
Lebensgesetzlichkeit erklärt worden, da man eben nicht
wußte, daß noch sehr viele maschinenartige Mannigfaltig-
keiten da seien, die doch zunächst einmal für Erklärungs-
versuche hätten herangezogen werden müssen, so glaubte
man jetzt, da man einiges auf Grund der erkannten feinen
Strukturen etwa wirklich verstand, es müsse alles auf
*
Grund derselben verständlich sein: damit aber waren
bereitwillig einer dogmatischen Maschinentheorie die Tore
geöffnet .
Die Wirkungen des geschilderten Gesamtzustandes
des Natur denkens auf die Biologie waren nun je nach
deren verschiedenen Zweigen recht verschiedener Art: die
Botanik ließ sich am wenigsten beeinflussen, sie hat ihre
Kontinuität bewahrt und ist im großen und ganzen auch
in dieser Depressionszeit immer Wissenschaft geblieben.
Im Gebiete der Wissenschaft vom tierischen Leben kam
die eigentliche Physiologie, die Lehre vom Getriebe der
Funktionen, zwar auf einige Abwege und in einige Sack-
gassen hinein, doch ist sie nie eigentlich entartet: die
gründlichere Schulung ihrer Vertreter, sowie auch wohl
der Umstand, daß sie als ziemlich schwierige Disziplin
nur begabte Elemente dauernd fesseln konnte, haben ihr
dieses Schicksal erspart.
') Vgl. Philos. cl. Org. 2. Aufl. 1921. S. 260 ff.
Die materialistisch-darwinistische Zeitströmung. 135
Die Morphologie der Tiere aber feierte einen richtigen
Hexensabbath ! Einmal begann hier eine phantastische
Konstruktion sogenannter „Stammbäume" ohne paläonto-
logischer Grundlagen.
Der Gedanke eines genetischen Zusammenhanges der
verschiedenen spezifischen Lebensformen, der Gedanke
einer „ Deszendenz" also, war bekanntlich schon im acht-
zehnten Jahrhundert, ja schon im Altertum, aufgetaucht.
Man hatte ihn aber immer nur in problematischer Allge-
meinform vorgebracht, sich wohl bewußt, daß man hier
Positives eben gar nicht sagen könne, und Einsichtige, die
Philosophen zumal, hatten erkannt, daß historische Nach-
weisung überhaupt nie und nimmer eine Erklärung,
daß sie etwas im Vergleich zu wahrer Wissenschaft stets
prinzipiell Minderwertiges sei1).
Nun aber hatte ja der Darwinismus die Deszendenz
allgemein „erklärt"2); warum sollte man nicht die
Einzelabstammung im Speziellen „erklären"! Und
so machte man denn aus der alten vergleichenden
Anatomie, die nicht mehr als eine klassifikatorische
Vorarbeit zur Erkenntnis des Typischen, ja des „Ver-
nünftigen" in den Naturformen hatte sein wollen,
jenes Phantasiegebilde, das sich „Allgemeine Phylo-
genie" nennt.
Als einmaligen Wurf seitens einer enthusiastischen
Persönlichkeit, wie Ernst Haeckel es war, mochte man
das hinnehmen. Als schulenmäßiges Gerede und Gezanke
1) Man vergleiche Hegel: Kleine Logik, Ausgabe Bolland,
Leiden 1899, p. 522, und Schopenhauer: Wille in der Natur,
Ausgabe Frauenstädt, 5. Aufl., Leipzig 1891, S. 44. Die beiden
Gegner sind hier einig!
2) Natürlich dürfen Deszendenztheorie und Darwinismus
nicht verwechselt werden; letzterer, den wir für durchaus erledigt
halten, ist eine Spezialgestaltung ersterer, die uns in allgemeiner
Hinsicht auf Grund paläontologischer und geographischer Tat-
sachen für wahrscheinlich, aber für ihrer Gesetzlichkeit nach
durchaus undurchschaut gilt.
136 II- Die Kritik und die materialistische Reaktion.
auf gänzlich unsicherem Grunde war aber alle Phylogenie
großen Stils wirklich ganz unerträglich1).
Noch viel schlimmer aber waren die „Gesetze", die
man bei dieser Gelegenheit „fand"! Was sich „allgemeine
Zoologie" nannte, war hier der Haupttummelplatz einer
,,Gesetzes"fabrikation, die jeder wissenschaftlichen Be-
griff sbildung einfach ins Gesicht schlug. Von Wigand
ist dieser Zustand in geradezu klassischer Weise, und
eines humoristischen Zuges nicht entbehrend, geschildert
worden.
Doch dürfen wir uns hier nicht näher bei diesen
Dingen, welche die Geschichte des Vitalismus nicht eigent-
lich angehen, aufhalten, und es mag nur durch eine einzige
analytische Erörterung gezeigt werden, auf welchem Tief-
stand der wissenschaftliche Takt angelangt war : Alle Form-
bildung war den darwinistischen Phylogenetikern zufällig,
also mußte ihnen folgerichtig die Gesamtheit der Lebens-
formen als „Formen" von derselben Bedeutungslosigkeit
erscheinen, wie sie etwa den Wolkenformen in ihrer je-
weiligen zufälligen Sonderheit zukommt. Damit aber war
der zoologischen Klassifikation jeder tiefere Sinn von
vornherein abgesprochen. Sie hätte als erledigt, als
Frage, die keine Frage sei, gelten müssen. Trotzdem
,, erforschte" man sie, wennschon nur mit phantastischen
Mitteln ! Warum denn eigentlich ? Wie konnte man seine
Kraft verschwenden an eine Aufgabe, von deren wissen-
schaftlicher Wertlosigkeit man von vornherein überzeugt
sein mußte, wenn man „Darwinist"2) reinen Wassers
*) Die Berechtigung, für kleine in sich geschlossene Gruppen
Stammbäume auf paläontologischer Grundlage hypothetisch auf-
zustellen, soll damit natürlich keineswegs geleugnet werden.
Vgl. Phil, d. Org., S. 280ff.
2) Leider muß Darwin immer für seine Anhänger büßen;
die Worte „Darwinismus", „Darwinist" sind einmal da. Darwin
selbst, obwohl nicht immer kritisch, hat sich doch von den
größten Fehltritten des „Darwinismus" ferngehalten.
Die materialistisch-darwinistische Zeitströmung. 137
war ? Die Lösung der Frage liegt darin, daß man sich eben
einer einzigen aber recht wichtigen Sache nicht bewußt
war, der Frage nämlich, was Wissenschaft eigentlich
bedeute.
Auf der einen Seite war es die Physiologie der Form-
bildung, welche von His ausging und von Roux grund-
legende Anregung erfuhr, auf der anderen die exakte
Variations-, Bastard- und Mutationsforschung, welche dem
geschilderten, durchaus unwürdigen Zustand der Zoologie
ein Ende zu machen wenigstens begonnen hat.
Lenken wir jetzt den Blick wieder auf unser eigent-
liches Ziel, auf den Vitalismus im Lichte der Gesamtlage
der Wissenschaft, so ist klar, daß die Stellung der Ver-
treter des wissenschaftlichen Zeitgeistes ihm gegenüber
eine absolut abweisende sein mußte. Blieb im Rahmen
der ,, Zufallstheorie" doch nicht einmal für eine im bloß
statisch-teleologischen Sinne tiefere Bedeutung der Lebens-
form ein Platz.
An zwei Beispielen wollen wir kurz die Stellung jener
Zeit zum Vitalismus kennzeichnen, an den Äußerungen
zweier Männer, die zu den Besten ihrer Zeit gehörten
und deren positiven Wissenschaftsleistungen, trotz ihrer
Befangenheit im Zeitgeist, ein durch Generationen reichen-
der Ruhm sicher ist. Wenn wir selbst die Äußerungen
dieser Besten als geradezu erstaunlich leichtfertig und
oberflächlich erkennen werden, wird man uns nicht ver-
übeln, daß wir der Menge „Urteile" über die Frage nach
der Selbständigkeit vitalen Geschehens mit Stillschweigen
übergehen.
Emil du Bois-Reymond widmete der „Wider-
legung" des Vitalismus den größten Teil der Vorrede des
ersten Bandes seiner „Untersuchungen über tierische
Elektrizität". (Berlin 1848.)
Er steht durchaus im Banne mechanistischer Physik;
ist doch auch diesem seinem Dogmatismus später jenes
138 IT. Die Kritik und die materialistische Reaktion.
berühmte „Ignorabimus" entsprossen, die Aussage näm-
lich, daß man nie begreifen werde, „wie Materie denken
könne", ein Problem, welches von wahrer Kritik des
Wissens einfach durch die Wendung gelöst wird, daß
,, Materie" eben gar nicht ,, denkt".
Von seinem Standpunkt mechanischer Naturforschung
ausgehend, eifert nun Dubois zunächst in üblicher Weise
gegen das Wort Lebens,, kraft"; Kraft sei nie ,, Ursache",
sondern nur Maß einer Bewegung. Derartiges kennen wir
ja schon; es handelt sich um eine Wortfrage.
Unser Autor will nun der Reihe nach zeigen, daß
weder ein besonderer Stoff noch eine besondere Kraft der
letzten Stoff teilchen — auf welche allein nämlich das Wort
Kraft in seiner messenden Bedeutung hier angewandt
werden könne — der Lebensphänomene Grundlage sei:
„Ein Eisenteilchen ist und bleibt zuverlässig ein und
dasselbe Ding, gleichviel ob es im Meteorstein den Welt-
kreis durchzieht, im Dampfwagenrade auf den Schienen
dahinschmettert oder in der Blutzelle durch die Schläfe
eines Dichters rinnt."
In diesem schön klingenden Satze wird also die Stof f -
Sonderheit des Lebendigen abgelehnt; leider durch eine
Annahme, von der es „zuverlässig ist und bleibt", daß sie
derb metaphysisch und ohne eigentlich klaren Sinn ist.
Doch ist das wohl nicht so wichtig. Es soll also nun
noch widerlegt werden, daß das Besondere der Lebens-
vorgänge etwa auf verschiedenen Kräften der Stoff -
teilchen in belebten und in anorganischen Dingen beruhe.
Hier gibt es nun aber auch keinen Unterschied, sagt
unser Kritiker: „Es gibt keine Lebenskraft in ihrem
(sc. der Vitalisten) Sinne, weil die ihr zugeschriebenen
Wirkungen zu zerlegen sind in solche, welche von Zentral-
kräften der Stoff teilchen ausgehen. Es gibt keine solche
Kraft, weil Kräfte nicht selbständig bestehen, nicht der
Materie willkürlich zuerteilt, und dann wieder von ihr
abgelöst werden können".
Die materialistisch -darwinistische Zeitströmung. 139
Zum ersten dieser Sätze kann man wohl nur be-
dauernd fragen, warum denn ihr Autor nicht jene „Zer-
legung" in Zentralwirkungen ausgeführt habe. Ihm ist
sie denn doch wohl nicht gelungen. Der zweite Satz
aber macht erst dem Vitalismus eine Unterstellung und
bekämpft dann diese; es hätte sich anstatt dessen doch
wohl gehört so zu fragen: zwingen die Tatsachen, eine
Eigengesetzlichkeit der Lebensphänomene anzunehmen
oder nicht ? Aber von dem Nachweis, daß sie nicht dazu
zwingen, findet sich bei Dubois wahrlich keine Spur.
Daß Lebenskraft dem Gesetze der Erhaltung der
Energie widerspreche, bildet den Beschluß der Behaup-
tungen E. Dubois-Reymonds. Doch haben wir Ge-
legenheit, diesen angeblichen Einwand näher zu prüfen,
wenn wir uns jetzt den Meinungen des zweiten der For-
scher, welche hier überhaupt in Betracht kommen sollen,
zuwenden.
Helmholtz soll uns das zweite Beispiel eines Gegners
des Vitalismus aus der vergangenen Epoche materialisti-
scher Naturforschung sein: kurz können wir uns hier
fassen, weil er selbst sich kurz faßt. Gilt ihm doch der
Vitalismus eigen tlich kaum der Berücksichtigung wert.
Als ob der Vitalismus von „Freiheit" im Sinne einer
Negation von Gesetzlichkeit geredet habe, so wendet
der berühmte Forscher das Problem des Vitalismus an
manchen Orten seiner Schriften allgemeinen Inhaltes1).
War denn aber solches oder ähnliches von jedem Vita-
listen behauptet worden, hatten nicht Blumenbach und
Wolff zum Beispiel gerade das Gegenteil ausdrücklich
gesagt ?
Dem Gesetz von der Erhaltung der Energie soll der
Vitalismus aufs deutlichste widersprechen: ,, Könnte die
J) Vgl. die „Vorträge und Reden". 3. Aufl. Braunschweig
1884.
140 II- £>ie Kritik und die materialistische Reaktion.
Lebenskraft die Schwere eines Gewichts zeitweilig auf-
heben, so würde dasselbe ohne Arbeit zu beliebiger
Höhe geschafft werden können und später, wenn die
Wirkung seiner Schwere wieder freigegeben wäre, be-
liebig große Arbeit zu leisten vermögen. So wäre
Arbeit ohne Gegenleistung aus nichts zu schaffen.
Könnte die Lebenskraft zeitweilig die chemische An-
ziehung des Kohlenstoffs zum Sauerstoff aufheben, so
würde Kohlensäure ohne Arbeitsaufwand zu zerlegen
sein und der frei gewordene Kohlenstoff wieder neue
Arbeit leisten können". Es finde sich aber ,, keine Spur
davon, daß die lebenden Organismen irgendwelches
Quantum Arbeit ohne entsprechenden Vergleich erzeugen
könnten".
Wie schön das doch klingt; es scheinen nur zwei
Kleinigkeiten übersehen zu sein: nämlich einmal, daß
doch auch eine geriebene Siegellackstange die Schwere
von Gegenständen, z. B. von Papierstückchen oder Mark-
kügelchen „zeitweilig aufheben" kann; zum andern aber,
daß doch nie eine Verletzung des Erhaltungssatzes der
Energie vom Vitalismus behauptet ist, aus einem recht
einfachen Grunde, weil man sich seiner notwendigen
Geltung eben noch nicht bewußt war. Aber, so könnte
Helmholtz sagen, man habe jenen Satz unwissentlich
verletzt, und solche Verletzung gehöre eben zum Vitalis-
mus als notwendige Eigenschaft. Sollte Helmholtz die
vitalistische Literatur auch wohl nur oberflächlich ge-
kannt haben? Wenigstens Johannes Müller hätte er
eigentlich kennen sollen: Nun findet sich aber bei diesem
Forscher gerade, wie wir sahen, ein Gedankengang, der
geradezu als Vorahnung des Postulates einer „Energie-
quelle" des Lebens zu betrachten ist; und Müller war
überzeugter Anhänger der Lehre von der Selbstgesetzlich-
keit des Lebens!
So hat es denn also wohl nicht allzuviel auf sich mit
der ,, Widerlegung" des Vitalismus auf Grund des Energie-
Die materialistisch-darwinistische Zeitströmung. 141
gesetzes. Weitere Gründe aber weiß Helmholtz ebenso-
wenig wie ein anderer1) gegen ihn vorzubringen.
Sagen wir es am Schlüsse der ganzen vom älteren
Vitalismus handelnden Hauptabteilung unseres Buches
noch einmal, was wir am Eingang dieses von der materia-
listischen Reaktion handelnden Kapitals gesagt haben:
Nicht durch Kritiken oder „Widerlegungen" ist der
Vitalismus als herrschende Meinung unterdrückt worden:
die Kritiken trafen meist nur Auswüchse von ihm, und
die „Widerlegungen" berührten ihn gar nicht, sondern
trafen angebliche Folgerungen, welche die „Widerleger"
erst schufen: aus sich selbst ist der Vitalismus ge-
storben.
Daß er aber aus sich selbst starb, und schon in noch
scheinbarer Glanzzeit, da er nämlich Schulmeinung war,
gleichsam im Sterben lag, das hat einen ganz besonders
tiefen Grund:
Die Probleme der Physiologie der Formbil-
dung hatten schon seit Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts aufgehört, das wissenschaftliche
Interesse zu fesseln.
Die Formbildung aber ist des Vitalismus
eigentlicher Boden, aus ihr allein saugt er recht
eigentlich seine Kräfte, wenigstens soweit er nicht
auch das sogenannte „Seelische" zu seinem Objekte
machen will.
3) Es wäre hier noch Karl Ludwig zu nennen, der im
ersten Bande seines „Lehrbuches der Physiologie des Menschen"
(2. Aufl., Leipzig und Heidelberg 18581» mit Bezug auf Dubois
den Vitalismus abweist. Er ist aber weit weniger apodiktisch als der
Genannte: ,, strenge Anforderungen" zwar will er an vitalistische
Lehren stellen und vermißt sie bei den vorliegenden; wäre aber
ihnen genügt, so würde er sich „niemals gegen eine solche Hypo-
these sträuben, möchte der Erklärungsgrund auch noch so neu
und unerhört sein".
142 H« Die Kritik und die materialistische Reaktion.
Der neue Vitalismus aber, zu dessen Be-
trachtung wir sogleich schreiten werden, ist,
in Übereinstimmung mit dem soeben Gesagten,
im Gefolge der neu erwachten Physiologie der
Formbildung ganz wesentlich erstanden.
Ausblick auf Psychologisches.
Sollen wir endlich über die Lage der Psychologie
in der Verfallzeit des Vitalismus noch etwas sagen, einer
Wissenschaft, die ja, sobald sie die Handlungen der
Menschen als ob j ektiv gegebene Bewegungs erscheinungen
studiert und des so gefaßten Objektes Gesetze zu ergründen
sucht, der Naturwissenschaft, und zwar der Biologie, im
strengsten Sinne zugezählt werden darf, so ist charakte-
ristisch und verständlich, daß die Hauptblütezeit der Lehre
vom sogenannten psycho-physischen Parallelismus
mit der Zeit der materialistischen Naturforschung, die zu-
gleich die Zeit des Tiefstandes des Vitalismus ist, zu-
sammenfällt.
Damit waren denn auch die Handlungen des Men-
schen dem allgemeinen Materialismus unterstellt: was
Natur geschehen an ihnen war, das war Maschinen-
geschehen; nicht wurde die ,, Seele", oder wie man es
nennen mag, als Element der Naturkausalität selbst zu-
gelassen1).
*) Hier ist der Ort des originellen Aufsatzes von E. Hering:
„Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organi-
sierten Materie" (Wien 1876) Erwähnung zu tun. Hering
steht trotz seines freien Blickes, der ihn im „Gedächtnis"
und im Reproduktionsvermögen etwas einander Ähnelndes,
jedenfalls etwas sehr Seltsames erblicken läßt, doch zu sehr
im Banne der parallel istischen Theorie, als daß er zu sagen
wagte: etwas Neues, etwas Nicht -Anorganisches gibt es hier.
So werden denn alle psychologisierenden Ausdrücke nur bildlich
verstanden; das eigentliche Naturgeschehen bleibt doch für
Hering materialistisch.
Die materialistisch -darwinistische Zeitströmung. 1 43
Johannes Müller, ja auch Lotze, der Gegner des
vegetativen Vitalismus, hatten hier, hatten über die Hand-
lungen des Menschen noch anders gedacht.
Alles an die Psychologie Anknüpfende soll in diesem
Buche seine Stelle gewissermaßen nur anhangsweise finden
und soll uns nur beschäftigen, wenn es von seinen Ver-
tretern selbst in allgemeiner biotheoretischer Form ver-
wertet ward: anhangsweise werden wir denn also auch
an späterer Stelle zu sagen haben, daß mit dem Neu-
erwachen des Vitalismus auch ein Neuerwachen der Lehre
von ,,psycho-physischer Kausalität", um nicht ganz
streng, aber verständlich zu sprechen, einherging. Das
aber bedeutet den Sturz der Lehre vom ,, psycho -phy-
sischen Parallelismus".
III. Der neuere Vitalismus.
A. Die Tradition.
Nicht vollkommen erlöschen kann eine richtige Lehre.
Sie kann eine Zeitlang übertönt werden von ihren Gegnern,
aber Vereinzelte gibt es immer, die unbekümmert um allen
Lärm des Tages ihren Weg weitergehen, mag ihnen pas-
sieren, was da will. Und wahrlich, schön ist es den Wenigen,
welche in den Zeiten der materialistischen Hochflut die
Tradition der älteren, das heißt der vitalistischen Biologie
wahrten, nicht ergangen, am liebsten hätte man sie wohl
mindestens in Irrenhäuser gesperrt, wenn nicht „Alters-
schwäche" sie gewissermaßen „entschuldigte".
So ist denn also auch der Vitalismus, aller Gegner-
schaft zum Trotz, gewissermaßen weitergegeben worden.
Und weitergegeben wurde auch — von der stets intakt ge-
bliebenen Botanik abgesehen — wenigstens von wenigen
die Methode einer auf das Gesetzliche, nicht nur auf
„Stammbäume" gerichteten Formenkunde der Tiere.
Die darwinistische Schule studierte Bau und Ent-
wicklung der Tiere, nur um Bau und Entstehung des
einen mit denen des anderen zu „vergleichen" und aus
solchen Vergleichungen Stammbäume zurechtzuschmieden ;
historisch war ihre Arbeitsart. Die ältere Morphologie aber
hatte durch Anatomie und Entwicklungsgeschichte er-
mitteln wollen, was es an Gesetzlichkeit im Formen-
geschehen überhaupt gäbe, was das Formengeschehen
eigentlich sei, und daneben wollte sie das „Typische" der
A. Die Tradition. 145
Verschiedenheiten der Formen womöglich in ein aus
höheren, vernunftgemäßen Gesichtspunkten verstande-
nes, nicht in ein nur historisch gedeutetes System
bringen.
Es wird ein bleibender Ruhmestitel des Leipziger
Anatomen Wilhelm His sein, daß er diese Methode wahr-
haft rationeller Morphologie wenigstens im Prinzip
„weitergab", und auch Alexander Goettes Leistungen
dürfen hier nicht vergessen werden. Hat doch gerade an
diese Forscher die spätere ,, Entwicklungsmechanik" an-
geknüpft, welche berufen war, die Formenkunde der Lebe-
wesen dem System wahrer Wissenschaften einzureihen.
His und Goette hatten erkannt, daß die wirklichen
Formbildungsprozesse, die sich in der Entwicklung des
Individuums zeigen, aktueller wirkender Ursachen ihrer
jedesmaligen Realisation bedürfen; gerade diese Sach-
lage aber, an die naturgemäß jede wahrhaft naturwissen-
schaftliche Ermittlung von Formbildungsgesetzen an-
knüpft, hatten die Phylogenetiker übersehen: sie Keßen
die „Vererbung" Ursache eines Formbildungsprozesses
sein, ein Gedanke, der in anderer, noch schlimmerer Form
denselben logischen Mangel aufwies, wie jener Gedanke
der älteren Naturphilosophie, die „Ideen" zureichende
Gründe der organischen Formen sein zu lassen: es fehlte
beide Male das Band, das Begriff und empirische Realität
verknüpft.
Doch gehen wir über zu unserem Thema: Noch aus
der naturphilosophischen Zeit ragt zunächst ein anti-
darwinistischer oder besser vordarwinistischer Deszendenz-
theoretiker in die neue Zeit hinein: Karl Snell1). Er
ist, modern gesprochen, Polyphyletiker, d. h. er stellte
die Gesamtheit der Lebensformen in ihrer zeitlichen Ab-
folge nicht in Form eines verästelten Stammbaums dar.
*) Die Schöpfung des Menschen, 1863; Vorles. üb. d. Ab-
stammung d. Menschen, 2. Aufl., 1893.
Dri es ch, Vitalismus. 2. Aufl. 10J ...../)
146 III. Der neuere Vitalismus.
Schon die Amoeben waren spezifisch und determiniert:
die einen dazu, Amoeben zu bleiben, die anderen dazu, die
verschiedenen Typen, ja, wohl gar die einzelnen Ord-
nungen innerhalb der Typen einst als Endziel zu erzeugen.
Und in jedem Phylum gibt es wieder solche „Kollektiv-
formen", die nur äußerlich, aber nicht ihren phyletischen
Potenzen nach einander gleich sind. Die treibende Kraft
aber ist eine immanente, überpersönliche, nicht-mechani-
sche Dynamik.
Das alles mag richtig sein; es ist unkontrollierbar.
Aber es gab Forscher, die in engerer Fühlung mit den
Tatsachen blieben. —
Unter den Forschern, die den eigentlichen Vitalismus,
oder doch wenigstens eine teleologische Auffassung der
Lebewesen weitergaben, war zunächst einmal der alte
Baer. Zu wiederholten Malen hat er, in den sechziger
und siebziger Jahren, seine Auffassung in Reden und
Vorträgen dargelegt1).
Viel Neues war eben nicht daran, wie ja denn auch
Baers Rolle im älteren Vitalismus eine mehr abhängige
gewesen ist. Aber es war doch gut, daß es wenigstens
dieses gab.
Als Gegner des Darwinismus tritt Baer in allen
teleologischen Ausführungen auf, und es mag denn hier
ein für allemal die eigentlich selbstverständliche Tat-
sache bemerkt sein, daß alle Männer, welche die
vitalistische Tradition in der materialistischen
Epoche wahrten, zugleich Gegner des Darwinis-
mus gewesen sind, ja, daß in der Gegnerschaft gegen
die Zufallslehre jene Tradition sich eigentlich bei Kräften
erhielt.
Baers Ausführungen sind jetzt, wie früher, mehr
geistreich als klar, und man kann sich wohl nicht gerade
*) C. E. v. Baer: Reden und Abhandlungen. Braunschweig.
2. Aufl. 1886.
A. Die Tradition. 147
sehr Bestimmtes denken, wenn man hört, daß er den
Lebensprozeß nicht für ein Resultat des organischen
Baues halte, „sondern für den Rhythmus, gleichsam die
Melodie, nach welcher der organische Körper sich auf-
baut und umbaut" ; und auch die Bezeichnung der Lebens-
prozesse als ,, Schöpfungsgedanken, die sich ihre Leiber
selbst aufbauen", der Vergleich von Typus und Spezifität
mit „Harmonie und Melodie" sind doch eben nur Bilder.
Ausdrücklich und deutlicher werden die Triebe als
,, etwas Ursprüngliches, d. h. nicht aus der Körperbe-
schaffenheit Hervorgehendes, sondern über ihr Stehen-
des", als „Ergänzung des Lebensprozesses" angesehen;
in origineller Wendung wird das „Gewissen" die „höchste
Form des Instinkts" genannt.
In unklarer Weise wird dann freilich wieder der
Streit über die Lebenskraft als „leer" bezeichnet. Nicht
gerade zutreffend wird des Blumenbach Nisus f ormativus
auf gleiche Stufe mit den in leerem Schematismus kon-
struierten „Vermögen" (facultates) eines Fabricius ab
Acquapendente gestellt1).
Daß Baer an wirklichen Vitalismus, nicht etwa nur
an statische Teleologie denkt, wenn er auch den hier
obwaltenden Unterschied nicht ganz klar sehen mag,
zeigt z. B. der Satz, daß „der ganze Lebensprozeß über-
haupt nicht das Resultat physikalisch-chemischer Vor-
gänge, sondern ein Beherrscher derselben" sei. Das Leben
ist ihm ein „chemisch-physikalischer Prozeß mit eigener
Entwicklungsnorm". Der Ausdruck im einzelnen wäre
hier freilich auch zu beanstanden.
An Besonderheiten kann hier aus Baers Ansichts-
komplex nur genannt sein, daß er die darwinistische
*) Nach diesem Forscher, dem Lehrer Harveys, sind drei
Prozesse, Zeugung, Entwicklung, Ernährung, zur Bildung des
Hühnchens nötig; jeder Prozeß erfordert zwei Kräfte. Das ergibt
sechs „facultates", nämlich die facultas immutatrix, formatrix,
atractrix, retentrix, concentrix, expultrix.
10*
148 III« Der neuere Vitalismus.
Lehre vom sogenannten , , biogenetischen Grundgesetz"
dahin berichtigt, daß die Entwicklungsgeschichte nur den
„ Übergang aus allgemeineren Verhältnissen in speziellere,
nicht aber den Übergang aus einzelnen spezielleren in
andere" nachweise. His hat sich ganz ebenso über diesen
wichtigen Punkt geäußert: nicht etwa durchläuft der
Mensch in seiner Embryonalzeit ein Fischstadium, sondern
Mensch und Fisch durchlaufen dieselbe allgemeinere,
weniger spezifizierte Etappe.
Die Handlungen des Menschen, das objektive „Seelen-
leben", ist nach Baer nicht, wie die parallelistische Lehre
will, materialistisch zerlegbar, sondern etwas Elementar-
gesetzliches: in ganz moderner Wendung weist unser
Forscher darauf hin, wie doch z. B. der Effekt ein und
derselben Nachricht auf verschiedene Menschen, je nach
deren Vorgeschichte, ein ganz anderer sei.
Soviel über die von Baer, allen Angriffen und Ver-
unglimpfungen zum Trotz, festgehaltene vitalistische
Grundansicht, die bedeutsam ist durch ihre bloße
Existenz, ohne daß sie das eigentliche theoretische Ein-
sichtskapital vermehrt hätte. —
Baer, ein seiner großen Verdienste auf embryo-
logischem Gebiete wegen allgemein äußerst angesehener
Forscher, konnte sich seinen Vitalismus, ohne geradezu be-
schimpft zu werden, immerhin erlauben ; und es wurde in
derselben Weise gleichsam „durchgelassen", wenn ein Mann
wie der Begründer der zellularen Pathologie gelegentlich
äußerte, daß er von der mechanistischen Auflösbarkeit
aller Lebensvorgänge denn doch nicht so ganz fest über-
zeugt sei: allerdings bewegen sich Vir chows Gedanken,
ebenso wie später die Äußerungen seines Schülers Rind-
fleisch, nur in Bahnen von der allerallgemeinsten Art.
Auch J. v. Hanstein1) Keß man seine Verdienste
auf anderem Gebiete gleichsam als Entschuldigung für
1 ) Das Protoplasma als Träger der pflanzlichen und tierischen
Lebenserscheinungen. Heidelberg 1880. ,
A. Die Tradition. 149
seine Abtrünnigkeit vom Zeitgeiste gelten. Dieser For-
scher äußerte sich schon bestimmter, wennschon auch
nur Altes wiederbringend; in Hinblick auf die Forment-
stehung aus dem Keim und auf zeitgenössische Theorien
zur mechanischen Erklärung derselben fragt er: „Wo-
durch werden denn nun beim beginnenden Aufbau alle
diese Dinge richtig verteilt", wenn anders „für jedwede
Gestaltung ein Anfangskern im Ei verpackt" sei. „Müssen
nicht der Schar der Mosaikstücke noch ordnende Werk-
meister mitgegeben werden?" Mit Recht zieht er die
Vorgänge der Regulation des Ganzen nach Störungen
heran.
,,Der aristotelische Ausspruch: das Ganze ist vor
den Teilen, ist noch heut richtig."
Eine „Eigengestaltungskraft", eine „Eigengestalt-
samkeit" und daneben für die Tiere „eine Bewegungs-
ursache ähnlicher Art" beherrsche die Organismen. Jene
Kraft ,, haftet am Dasein gewisser Stoff Verbindungen, die
sie geordnet hat und beherrscht", sie „zerteilt sich mit
denselben, und wo zwei oder mehrere dergleichen Stoff-
gruppen miteinander verschmelzen, vereinigen sich auch
ihre Wirkungszentren zu einem einzigen".
Man sieht, wie sogar schon Einzelgedanken des
älteren Vitalismus schüchtern wieder erscheinen.
Daß Hanstein der Zuchtwahllehre die schärfste Ab-
weisung zuteil werden läßt, begreift sich von selbst. —
Jenem Manne, welcher, ohne gerade als positiver
Forscher hervorstechend zu sein, der eigentlich klas-
sische Kritiker des Darwinismus geworden ist, Albert
Wigand, hat man seine Kritik und sein damit verbun-
denes, wahrlich nur schüchternes, Eintreten für die Eigen-
gesetzlichkeit des Lebens nicht so leicht verziehen.
Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, daß es
noch Ende der achtziger Jahre unter Zoologen für ge-
wissermaßen nicht ganz anständig galt, von Wigands
großer Kritik anders als in den abfälligsten Ausdrücken
150 HI. Der neuere Vitalismus.
zu reden und in jenem Manne etwas anderes als einen
ausgemachten Idioten zu sehen.
Wigands kritische Arbeit kann uns hier nun eben-
sowenig wie die Darwinismuskritik überhaupt beschäf-
tigen; das Positive, das sich in seinem großen Werke1)
findet, geht uns hier an, und da ich denn vor allem
wenigstens kurz an dieser Stelle hervorzuheben, daß
seine Kritik wissenschaftlicher Begriffsbildung große
Selbständigkeit aufweist und ihn durchaus über die
Schulmeinung erhebt: ich möchte Wigand geradezu als
ersten Vertreter jener wissenschaftlichen Begriffskritik
bezeichnen, die später in Mach ihren systematischen
Begründer gefunden hat. Vergessen wir bei dieser Ge-
legenheit nicht, daß im Grunde hier auch schon
Schopenhauer, ja selbst Blumenbach in gewisser
Hinsicht Vorläufer gewesen waren.
Aus seinem allgemeinen erkenntniskritischen Stand-
punkt erklärt sich nun Wigands Stellung zum vitalisti-
schen Problem: Die Frage, ,,ob es eine Lebenskraft als
eine eigentümliche, in der übrigen Natur nicht wirkende
Kraft gibt, aus welcher sich die Lebenserscheinungen er-
klären lassen", sei teils zu bejahen, teils zu verneinen.
Ersteres, wenn sie nichts anderes bedeuten solle, als die
Worte Elektrizität und Schwerkraft bedeuten; letzteres,
wenn ein ,,von der allgemeinen Naturgesetzlichkeit un-
abhängiges, nicht nach Ursache und Wirkung sich äußern-
des, supranaturalistisches Prinzip" gemeint sei.
„Erklären" würde die Lebenskraft im zulässigen Sinne
freilich auch nicht; doch unterscheidet sie das nicht von
jenen anderen „Kräften", welche auch nur Worte für je
eine „qualitas occulta" sind. Allerdings leiste sie wegen
des mangelnden Quantitativen doch wohl noch etwas
weniger.
J) „Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und
Cuviers." 3 Bände. Braunschweig 1874/77. Für uns besonders
wichtig Band IT, Kap. 3.
A. Die Tradition. 151
Auf alle Fälle ist aber logisch eine „ Lebenskraft"
wenigstens provisorisch zuzulassen, solange alle bekannten
Wirkungsweisen zur Erklärung des Lebens noch versagen.
Man sieht hier, wie Wigand an die eigentliche Frage
des Beweises eines ,, Vitalismus" gar nicht herantritt1).
Bestimmter äußert sich unser Autor über Teleologie
im Organischen überhaupt und über das viele statisch,
d. h. maschinell Teleologische, das sich ja tatsächlich im
Bau des Organisierten, z. B. des Auges, findet: für seine
Darwinismuskritik mußte solches die Hauptsache sein,
da ja gerade das Zweckmäßige an kombinierten Organ-
bildungen die Zufallstheorie ganz besonders absurd erschei-
nen läßt; hier konnte die Vitalismusfrage zurücktreten.
Zu irgendeinem Einfluß auf die Zeitströmung ist
Wigand ebensowenig wie die übrigen hier genannten
traditionellen Vitalisten gelangt. Vielleicht war ihre
Stellungnahme zu zögernd dazu, vielleicht auch war der
Boden in den siebziger Jahren noch gar zu wenig vor-
bereitet, war die Zeit ,, nicht reif". —
Letzteres möchte man wahrlich für möglich halten,
wenn man sieht, wie um 1890 die Ansichten eines For-
schers wirklich in gewisser Weise, ich sage nicht Einfluß
übten, aber doch wenigstens die Aufmerksamkeit erregten,
der eigentlich in viel unbestimmtere Stellungnahme zum
Vitalismus trat als manche der Genannten: G. v. Bunge.
Ja selbst die recht unklaren, mit theologischen Gesichts-
punkten verquickten Worte Rindfleischs, die einer
näheren Darlegung an dieser Stelle nicht wert sind,
x) Ich will dem Leser hier eine treffliche Stelle aus Zöllners
,, Natur der Kometen" (1872) nicht vorenthalten, die bei Wigand
zitiert ist: „Die Abnahme einer neuen Eigenschaft der Materie
wäre erst dann eine notwendige, wenn logisch nachgewiesen
worden ist, daß in der Beschaffenheit der zu erklärenden Er-
scheinung begriffliche Elemente vorkommen, welche in den
bisher der Materie beigelegten Eigenschaften nicht vorhanden
sind und daher auch nicht daraus abgeleitet werden können."
152 III- De>r neuere Vitalismus.
erregten doch wenigstens die Aufmerksamkeit. So hatte
sich denn doch wohl die „Zeit" geändert.
Bunge hat in seinem Aufsatz „Mechanismus und
Vitalismus"1), den er später, nicht zum Vorteil, in „Mecha-
nismus und Idealismus" umtaufte und, in erkenntnis-
kritisch unzulässiger Weise, immer mehr mit „psychi-
schen" Fragen verquickte, nichts weniger als eine
scharfe Stellungnahme für den Vitalismus be-
zweckt. Alles ist nur vorläufig, nur als ein „noch
nicht" -Genügen der mechanistischen Auffassung gemeint.
Sagt Bunge doch gerade angesichts der allerkompli-
ziertesten der von ihm als noch unerklärt beigebrachten
Tatsachen: „Ich gebe sogar unbedingt die Möglichkeit
zu, daß diese Erscheinungen einst eine rein mechanische
Erklärung finden werden".
Also ein durchaus problematischer Vitalismus, sogar
mit Hinneigung zum Gegenteil!
Wahrlich, daß man Bunge ohne Bedenken als Vita-
listen nehmen konnte, zeigt^ wie außerordentlich fremd
der Zeit der ganze Begriff des vitalistischen Problems
geworden war: es zeigt aber anderseits, daß nun endlich
die Zeit merkte, es könne etwas anderes als ihre materia-
listische Dogmatik wenigstens problematischerweise geben.
Hatte doch Bunge in nicht schärferer Weise für den
Vitalismus Partei ergriffen, als etwa H i s , wenn dieser es , vor-
erst unerörtert bleiben" läßt, „ob von dem früheren Inhalt
des Begriffs Lebenskraft einiges unter schärferer Fassung
und unter zeitgemäßer Benennung wiederbelebbar" sei.
Doch Bunge führt uns bereits an die Grenze der
aller jüngsten Geschichte unseres Gegenstandes. Wir haben
ihn hier schon behandelt, weil er sich der Reihe der übrigen
deutschen Traditionisten des Vitalismus durchaus an- und
dieselbe in gewissem Sinne abschließt.
*•) Erster „Vortrag" seines „Lehrbuches der physiologischen
und pathologischen Chemie".
B. Die Stellung der Philosophie. 153
B. Die Stellung der Philosophie.
Wir müssen aber nun den Blick zeitlich ein wenig
zurückwenden, um zunächst die Stellung der Philosophie
der siebziger und achtziger Jahre zum vitalistischen Pro-
blem zu würdigen.
Eduard von Hartmann.
Wenn wir ankündigen, daß wir die Stellung der reinen
Philosophie zum Vitalismus hier untersuchen, das heißt
unserem Plane gemäß kurz streifen wollen, und wenn wir
dann unseren ersten Abschnitt über diesen Gegenstand
,, Eduard vonHartmann" überschreiben, so könnte das
den Anschein erwecken als, solle der genannte Denker uns
der Typus der neueren Philosophie sein.
Hartmann ist nun sicherlich nichts weniger als ein
typischer Vertreter der Durchschnittsphilosophie in der
Zeit von 1860 — 1900, aber er ist der einzige, oder doch
fast der einzige neuere Philosoph, der für das Problem
des Vitalismus in Betracht kommt.
Nun kann uns der Anlage des Ganzen gemäß Hart-
manns Metaphysik des „Unbewußten" hier als eigent-
liches „System" ebensowenig eingehend beschäftigen, wie
uns das Vernunftsystem Hegels oder Schopenhauers
Willensmetaphysik mehr als kurze Ausblicke gestatten
durften. Es muß uns genügen zu sagen, daß Hartmanns
ganze Philosophie eigentlich eine biologische, d. h. auf Bio-
logie gegründete Philosophie ist, daß unser Autor aber die
Biologie als Vitalismus in jeder Beziehung, also in
Hinsicht der Formbildung, in Hinsicht der sogenannten
Instinkte und in bezug auf das Verhältnis des „Psychi-
schen" zum „Physischen" bei den Handlungen des Men-
schen, auffaßt.
Den Geschichtschreiber der theoretischen Biologie
können im einzelnen nur zwei Vorstellungsreihen des
Hartmannschen Gedankenkreises näher interessieren:
154 HI. Der neuere Vitalismus.
Die eine derselben ist rein begrifflich und hängt mit
der Gesamtmetaphysik der Welt, wie sie bei unserem
Philosophen gestaltet ist, zusammen : da stehen sich nun
bei ihm, kurz gesagt, Faktoren der Bewußtheit und
Faktoren des Unbewußten gegenüber; in zweimal zwei-
facher Art aber kann es Kausalbeziehungen dieser
beiden grundsätzlichen Arten von Faktoren untereinander
geben: isotrope Kausalität nennt Hartmann Wirkungs-
beziehung zwischen Faktoren gleicher Gruppe, allotrope
Kausalität das Gegenstück dazu; da die höheren Lebe-
wesen aus Faktoren beider Gruppen bestehen und „Indi-
viduen" darstellen, so ergeben sich ferner die Begriffe der
intraindividuellen und interindividuellen Kausali-
tät. Die sogenannte ,,psycho-physische Kausalität", die
bei Hartmann an Stelle des üblichen ,,psycho-physischen
Parallelismus" tritt, ist nach dem Gesagten allotrope
intraindividuelle Kausalität, d. h. Kausalität zwi-
schen dem unbewußten Vitalfaktor und dem Bewußtsein
desselben Individuums ; zwischen zwei Individuen dagegen
findet normalerweise1) unmittelbar nur interindividuelle
isotrope Kausalität, und zwar im „unbewußten" Gebiete
statt. Man möchte hier freilich sagen, daß Hartmanns
allotrope intraindividuelle Kausalität eigentlich keine
„Kausalität", sondern doch ein psycho -physischen „Paral-
lelismus", wennschon kein psycho-mechanischer Paral-
lelismus, ist: „Kausal" im echten Sinne wirken nach
ihm, in sogleich darzustellender Weise, mechanische und
vitale Naturfaktoren aufeinander, und den Verände-
rungen der (unbewußten) vitalen Naturfaktoren geht
gelegentlich (bewußtes) Seelenleben „parallel".
Wir untersuchen jetzt an zweiter Stelle, wie sich
unser Philosoph den Eingriff der Lebensfaktoren in das
1) Telepathische Wirkungen würden natürlich entweder
inter individuelle isotrope Kausalität im Gebiet der Bewußtheits-
faktoren oder aber auch interindividuelle allotrope Kausalität
bedeuten können.
B. Die Stellung der Philosophie. 155
Getriebe der materiellen Faktoren denkt; da ihm, im
Sinne der Materientheorie, die Gesamtheit der materiellen
Faktoren in letzter Linie das Getriebe eines wahrhaft
mechanischen Systems bedeutet, so handelt es sich bei
den Lebenserscheinungen also um Eingriffe in ein solches :
Was wir hier kurz materielle Faktoren nannten,
nennt Hartmann in Strenge materiierende Agen-
zien, d. h. Agenzien, welche die Erscheinung des Ma-
teriellen hervorrufen. Alle materiierenden Agenzien nun
haben ein Potential und sind zerlegbar in Zentral -
kräfte. Die Lebensagenzien aber sind nicht „materi-
ierend", haben kein „Potential", sind nicht Kombina-
tionen von „Zentralkräften". Wie können sie wirken
auf das Gesamtgebiet des Materiellen, ohne die soge-
nannten Energiesätze, die Grundlagen alles Geschehens
in ihm, zu verletzen und dabei doch im Gegensatz
zum Anorganischen, das für die Auffassung Hartmanns
Mechanik Newtonischer Art ist ?
Sie können das in zulässiger, aber auch zureichender
Weise, indem sie entweder die Richtung einer Kraft,
welche ja in den Energiesätzen nicht vorkommt, ändern,
oder indem sie den Angriffspunkt einer Kraft in
ihrer Potentialfläche verschieben. Freilich ist des
Beharrungsvermögens wegen ein, wenn auch nur sehr
kleiner Energieaufwand auch zu Verschiebungen einer
Kraft in einer Niveauf lache nötig, denn die „Kraft" haftet
ja an Materie; die hierzu benötigte Energie kann aber
dem Energie vor rat einer anderen Raumachse des Ge-
bildes entnommen werden. So kommt denn auf „Um-
lagerung" von Energie in den verschiedenen Raumachsen,
auf Drehung der Elementarteile also die letzte Wirkung
der Lebensfaktoren auf das Anorganische hinaus. Man
sieht die Verwandschaft der Lehre Hartmanns mit der
Leib- Seele = Theorie des Descartes.
Hartmanns Lehre ist deshalb von besonderer Be-
deutung für die Geschichte des Vitalismus, weil in ihr
156 HI. Der neuere Vitalismus.
wieder ein Versuch gemacht wird, eine besondere Folge-
rung der Lehre von der Lebensselbständigkeit zu ziehen,
nämlich genau zu bestimmen, wie elementare
Lebensfaktoren zu den Faktoren des Anorgani-
schen in Beziehung treten1). So macht er also eine
theoretische Konsequenz des Vitalismus naturwissenschaft-
lich inhaltreich. Den Vitalismus als System naturwissen-
schaftlicher Aussagen in Hinsicht des eigentlich Tat-
sächlichen der Eigengesetzlichkeit des Lebens berührt
aber Hartmanns Lehre weniger: denn ein wirklich
strenger Beweis der Unmöglichkeit mechanistischer
Lebensauf lösung ist von ihm nicht geführt worden.
Ist doch eben eine metaphysische Konzeption, nicht
aber die Detailforschung, der Philosophie Hartmanns
eigentliches Zentrum.
Andere Philosophen.
Wir haben gesagt, daß Hart mann nahezu der ein-
zige Philosoph der letzten Dezennien sei, der für eine Ge-
schichte des Vitalismus in Betracht komme: in der Tat
können wir nur noch einen anderen Vertreter allgemeiner
Philosophie in unserer Historie an dieser Stelle nament-
lich aufführen: Otto Liebmann.
Lieb mann ist, von Hartmann abgesehen, in der
Tat beinahe der einzige Philosoph in dem Zeitraum von
1860 — 1900 gewesen, der den Lebensproblemen kritische
Erörterungen gewidmet hat, die nicht von vornherein in
den Banden der mechanistisch-darwinistisch-parallelisti-
schen Lehre dogmatisch befangen waren. Liebmann be-
*) Daß dieser Versuch nicht etwa, wie bisweilen angenommen
wird, in gewissen Ausführungen von Maxwell und Helmhol tz
vorliegt, habe ich an anderem Orte gezeigt. Vgl. meine „ Natur-
begriffe und Natururteile", Leipzig 1904, S. 102 ff. Er liegt aber
implicite vor in gewissen Äußerungen Lord Kelvins und Boltz-
manns.
B. Die Stellung der Philosophie. 157
weist zwar nicht den Vitalismus, aber er sieht ihn doch
wenigstens als Möglichkeit, er sieht das prinzipielle Ver-
dienst eines Alexander Goette, er hat wenigstens
Zweifel, wo es im Sinne der Zeitlehre doch wahrhaftig
keine Gewißheit gab.
Zu kurzer Wiedergabe eignen sich freilich die ledig-
lich kritischen Darlegungen Liebmanns nicht, auch bieten
sie nicht irgend etwas eigentlich Neues, und so mag denn hier
nur noch als charakteristisch seine Vorliebe für den aristo-
telischen Ausdruck „Entelechie" genannt sein, einen Be-
griff, den ja auch Goethe, und übrigens gelegentlich auch
Baer, gern verwendet hatten.
Alle übrigen Philosophen dieser Zeit — (was Deutsch-
land angeht, zum größten Teil Neukantianer der älteren
Form) — waren „apriori" von der Notwendigkeit einer
mechanistischen Biologie so überzeugt, daß sie die Möglich-
keit von etwas anderem überhaupt gar nicht erwogen.
Psychologen.
Das Problem des Vitalismus erweitert sich bekannt-
lich bedeutend, wenn die Frage nach den Beziehungen des
„Seelenlebens" zur Natur in dasselbe einbezogen wird.
Doch war es bisher in diesem Buche unser Prinzip, auf
eine Analyse der „Handlungen des Menschen" — um
naturwissenschaftlich zu reden — nur dann geschichts-
betrachtend einzugehen, wenn psychologische Autoren
selbst die eigentlich naturwissenschaftliche Seite
ihres Gegenstandes erblickten, wie das bei J.Müller z.B.
der Fall war.
Solches ist nun bei neueren Autoren selten oder nie
der Fall gewesen: die enge Berührung des Leib- Seele-
Problems mit dem eigentlichen Vitalismus hat in eigent-
licher Schärfe kaum einer erblickt; ja, es ist seltsam, daß
nicht einmal Physiologen wie Pflüger und Goltz den
engen Zusammenhang, der hier obwaltet, gesehen haben.
158 HI. Der neuere Vitalismus.
Ich denke dabei nicht an Pflügers „teleologische Mecha-
nik"1), die rein formal-teleologisch war und eigentlich
recht wenig in ihrem Satze, daß jedes Bedürfnis die Ur-
sache seiner Befriedigung sei, besagte; ich denke an
Pflügers Lehre von der ,, Rückenmarksseele", und bei
Goltz denke ich an den Begriff der „Antwortsreaktion",
der in seinen Untersuchungen über den „Sitz der Seele
des Frosches"2) begründet ward. Pflüger meint bereits
für die Rückenmarksfunktionen, Goltz für diejenigen der
sogenannten niederen Hirnzentren gezeigt zu haben, daß
ihre Komplikation und ihre freie Variierbarkeit größer
sei, als daß sich eine Maschine als deren Basis
ersinnen lasse. Aus diesem Grunde müsse hier von
„Beseeltheit" geredet werden.
Was ist „Vitalismus", wenn es dies nicht ist? Es
ist sehr seltsam, daß, ganz wie Lotze, weder Pflüg er
noch Goltz klar innegeworden sind, daß hier, für einen
Teil der Lebensphänomene zum mindesten, eine Eigen-
gesetzlichkeit proklamiert, daß zugleich die Lehre des
psycho-physischen Parallelismus verworfen wird.
Leiten wir die Betrachtung von den Lehren der
Physiologen Pflüger und Goltz auf die Lehren von
Psychologen über, so ist es hier also, wie gesagt wurde,
gerade die Frage des sogenannten psycho-physischen
Parallelismus, die eine Geschichte des Vitalismus angeht.
Da muß es nun genügen, an dieser Stelle zu sagen, daß
die Lehre vom psycho-physischen Parallelismus in dem Zeit-
abschnitt, von dem wir hier reden, derart — abgesehen
natürlich von Hartmann — die Losung des Tages gewesen
ist, daß etwas anderes eigentlich gar nicht erörtert wurde.
Erst im Beginne des neuen Jahrhunderts wird das
anders. In dem großen Werke \Busses3) mag man sich
x) Bonn 1877.
2) Beiträge zur Lehre von den Funktionen der Nerven-
zentren des Frosches. Berlin 1869.
3) Geist und Körper, Seele und Leib. Leipzig 1903.
B. Die Stellung der Philosophie. 159
über die psycho -physischen Theorien des ausgehenden
neunzehnten Jahrhunderts näher unterrichten.
Bergson war zwar im letzten Dezennium des Jahr-
hunderts schon aufgetreten; aber einen Einfluß besaß er
noch nicht, ja, nur wenige wußten von ihm.
Edmund Montgomery.
Wenigen wird der amerikanische Biologe und Philo-
soph bekannt sein, der, ursprünglich Arzt, viele Jahre
hindurch ein ruhiges Leben in den südlichen Vereinigten
Staaten dem Nachdenken über die Grundprobleme des
Lebens gewidmet hat.
Man kann nicht sagen, daß Edmund Montgomery
den Vitalismus eigentlich naturwissenschaftlich begründet
hat; deshalb haben wir ihn auch den vitalistischen Philo-
sophen der letzten Dezennien des neunzehnten Jahr-
hunderts angegliedert und können hier in unserer Natur-
wissenschaftsgeschichte überhaupt nur kurz auf ihn hin-
weisen. Montgomery hat aber andererseits das ganze
Problem der Lebensselbständigkeit so eigenartig behandelt,
in einer so besonders gearteten Mischung von Naturwissen-
schaft und Philosophie, daß wir glauben, seiner Indivi-
dualität nur durch eine auch äußerlich individualisierende
Behandlung gerecht werden zu können1).
1 ) Für den Vitalismus kommen von Montgomerys Schriften
vornehmlich in Betracht: The Substantiality of Life, Mind 1881,
p. 321; Zur Lehre von der Muskelkontraktion, Pflügers Archiv 25,
1891; To be alive, what is it ?, Monist 1815. — Vorwiegend von
erkenntniskritischer und psychologischer Bedeutung, und teüweise,
z. B. über das „Ich", sehr beachtenswert sind die Artikel: The
Dependence of Quality on specific Energies, Mind 1880; The
Object of Knowledge, Mind 1884; Mental Activity, Mind 1890;
The Integration of Mind, Mind 1895; Are we conscious Automata ?
Texas Acad. Sc. 1896; und einige andere. — In seiner Schrift
,,The Vitality and Organization of Protoplasm" (Austin, Texas,
1904) hat Montgomery seine biologischen Ansichten zusammen-
gefaßt. Tritt auch bisweilen eine Neigung zu weiterer Fassung
|60 HI- Der neuere Vitalismus.
M o n t g o m e r y ist bewußter metaphysischer Realist ge-
klärter Art. Eben seine Metaphysik soll ihm die Vereinigung
der Lösung zweier Probleme ermöglichen: der Probleme
der Ichheit und der individuellen Organisation.
Die sinnliche Erfahrung bleibt uns nicht ein „mere
mosaic of elements", sondern sie wird durch Synthesis
„integrated", wird eine „complex unity".
Der körperliche Organismus anderseits ist ein ,,in-
discerptible whole", kein „divisible aggregate".
Die Lösung beider Probleme Hegt gemeinsam in
einem richtig formulierten Substanzbegriff, und zwar
denkt sich im Gefolge seiner realistischen Metaphysik
Montgomery seine Substanz als spezifische chemische
Verbindung, also nach Art Reils; mit der Spezifität
dieser Lebenssubstanz aber sind unserem Forscher be-
sondere, neue Gesetze gegeben: die Verbindung als
solche, welche durchaus als ,,chemical unit", nicht etwa
als ,,mere aggregate of separate molecules" gedacht wird,
hat eine „Controlling power" über die Organisation, wie
sie auch die Synthesis des Mannigfaltigen im Ichbegriff
vollzieht: sie ist die ,,identical, indivisible, perdurable
and self-sustaining substance, of which the transient
phenomena, arising in consciousness, are but inherent
affections". Eine gewisse Verwandtschaft mit Hart-
mann sehen Ansichten hegt hier vor, wie denn ein „Un-
bewußtes" als Grundlage auch der Bewußtheit häufig in
Montgomerys Schriften wiederkehrt.
Was die eigentliche Begründung des Vitalismus an-
geht, so wendet sich Montgomery, auf Grund einer
Analyse der Protoplasmabewegung, der Muskelkontrak-
des Substanzbegriffes hervor, so bleibt die lebende Substanz doch
unserem Autor eine chemische, freilich mit dem Vermögen
sich zu „ reintegrieren". Keime sind in diesem Sinne ,,chemical
fragments or radicals". Lebendes und Lebloses aber sind von
der ,,same order of nature"; nicht ist eines mystischer als das
andere.
B. Die Stellung der Philosophie. 161
tion, der Teilbarkeit der Infusorien, der Regeneration
überhaupt, ausdrücklich gegen jede Maschinentheorie als
eigentliche Grundlage der organischen Phänomene. Die
Lebenssubstanz ist es, die, nach Störungen, immer wieder
ihre Integrität herstellt; und zwar ist dabei nicht an
chemische Wirkungen üblicher Art gedacht: die Assimi-
lation wird unserem Forscher gewissermaßen zum Grund-
phänomen alles Biologischen, aber sie erfolgt auf Grund
einer ,, innerlich konstituierten Autonomie". ,,Hier
sind offenbar genetisch organisierte Kräfte wirksam, mit
denen man nur als spezifische Energien zu rechnen vermag."
Die seltsame Lehre vom ,, Lebensstoff" kann die
Würdigung der historischen Bedeutung Montgomerys
für den Vitalismus nicht hindern: in der Grundfrage ist
•
er eben doch ,, Vitalist"; verwendet er doch geradezu das
Wort „ autonom". Was ihn aber als wirklich selbstän-
digen, nicht nur als traditionellen Vitalisten erscheinen
läßt, das ist vor allem seine höchst eigenartige Me-
thode, welche, mag man sie billigen oder nicht, jeden-
falls ebenso scharfsinnig ersonnen wie angewendet worden
ist: die Methode, das organisatorische und das psycho-
logische Integrationsproblem gemeinsam lösen zu
wollen. Neben der Methode aber ist von Bedeutung, daß
Montgomery gerade die beiden Probleme, von welchen,
wenn auch vielleicht in etwas anderer Fassung, jeder
Vitalist in der Tat ausgehen muß, in sehr eigenartiger
Weise erkannt und formuliert hat; die Formulierung des
aus der Analyse der Handlungen entspringenden Pro-
blems scheint uns besonders geglückt zu sein; das organi-
satorische Problem ist für einen ,, Beweis" doch wohl
noch nicht tief genug zergliedert.
Ja, wenn Montgomery an Stelle seiner chemi-
schen Einheitssubstanz den kategorialen Substanzbegriff
ohne Beziehung auf Materie setzen würde, könnten wir
wohl beinahe vollständig seine Ansichten übernehmen.
Driesch, Vitalisnms. 2. Aufl. 11
162 m« Der neuere Vitalismus
C. Antidarwinistisclie Deszendenztheoretiker.
Wenn wir über eine Deszendenz der Organismen mehr
Tatsächliches wüßten, als leider der Fall ist, so hätten
wir auch die Verpflichtung, die Ansichten, welche über
Gesetze einer etwa vorhandenen phylogenetischen Ent-
wicklung ausgesprochen sind, eingehend zu analysieren
und uns zu fragen, ob sie maschinentheoretische oder
vitalistische Gesetze seien.
Wo aber selbst die einfache Tatsache von Deszendenz
nur hypothetisch, wennschon gut gesichert, feststeht,
werden alle besonderen Deszendenzgesetze Gebilde von
höchster Fraglichkeit.
Von de Vries in seiner Mutationstheorie, sowie
ferner seitens der Bastard- und Variationsforscher, auch
von einigen Entomologen ist bekann tlich jüngst versucht
worden, in das Tatsächliche einer Abstammung des Spe-
zifischen von anderem Spezifischen wenigstens in be-
scheidenem Maße mit exakten Mitteln einzudringen; von
der Erkennung irgend etwas Gesetzlichen ist aber, soweit
wirkliche „Deszendenz", also nur, soweit ,, Mutation" in
Frage kommt, noch gar nicht zu reden ; denn alle bekannte
Mutation beschränkt sich bis jetzt auf sogenannte ,, Kleine
Arten".
So müssen denn die Urheber von nicht-darwinisti-
schen allgemeinen Deszendenztheorien, die unter dem
Titel eines „Entwicklungsgesetzes", „Vervollkommnungs-
gesetzes", „Gesetzes des organischen Wachsens" usw. zum
Teil vielleicht an irgendeine autonom-vitalistische Um-
wandlungsgesetzlichkeit gedacht haben, zum anderen Teil
vielleicht teleologische Statiker gewesen sind, es sich
gefallen lassen, hier nur mit Namen genannt zu sein:
ein Vorwurf soll damit gegen Männer wie Kölliker,
Wigand, Nägeli, Eimer u. a., denen wohl der englische
Philosoph Spencer beizuzählen ist, nicht ausgesprochen
C. Antidarwinistische Deszendenztheoretiker. 163
sein1): ihre mehr oder weniger weitgehende Gegnerschaft
gegen den echten Zufallsdarwinismus war auf alle Fälle
ein Verdienst. Unzweifelhaft vitalistisch sind unter
den hier in Frage kommenden neueren Theorien, wie mir
scheint, die Lehren von Hamann2) und Cope3). Der
erste lehrt eine psychovitalistische Polyphyletik, Cope
ein immanentes Gesetz der Phylogenie und den Primat
des Lebens gegenüber der unbelebten Welt.
Es darf hier wohl die allgemeine Bemerkung ein-
geschaltet werden, daß eine dem Darwinismus wider-
sprechende Auffassung des Deszendenzproblems an und
für sich sowohl als vitalistisch wie als maschinentheore-
tisch gedacht werden könnte: in beiden Fällen wird sie
sich zwar von der Auffassung der organischen spezifischen
Formen als zufälliger Produkte im Sinne der Darwinisten
scheiden, aber es wäre doch zunächst, d. h. ohne ein-
gehende Analyse des wirklichen Sachverhaltes, den wir
eben gar nicht kennen, wenigstens denkbar, daß
nicht aus elementarer Eigengesetzlichkeit, sondern aus
der ewig vorgesehenen Konstellation anorganischer Welt-
faktoren das Organisierte in seiner Spezifität entspränge.
1) Mit undarwinistischen Deszendenztheorien finden sich
häufig Theorien der ontogenetischen Entwicklung verbunden,
welche, nach Art fiktiv-mechanischer Physik, durch Bilder-
konstruktionen erklären wollen; ja auch Darwinisten, z. B. außer
Darwin selbst Weismann, haben derartige Entwicklungs-
fiktionen ersonnen; im übrigen mögen hier nur Spencer, Nägel i,
Wiesner genannt sein. Wir müssen uns jedes nähere Eingehen
auf diese, kritisch bei dem statischen Teleologen ^Viesner (Er-
schaffung, Entstehung, Entwicklung, 1916) am meisten geklärten,
Gedankengebilde versagen, da das eigentliche Problem des Vita-
lismus bei ihrer Konstruktion, von Wiesner abgesehen, meist
nur sehr undeutlich, wenn überhaupt gesehen ward. Meist sind
sie nur „Photographien des Problems" (vgl. meine Analyt. Theorie,
1894, S. 153). — Eine gute Kritik vieler dieser Ansichten gibt
Montgomery in seiner letzten Schrift.
2) Entwicklungslehre und Darwinismus 1892.
3) The primary factors of organic evolution. Chicago 1896.
11*
164 HI. Der neuere Vitalismus.
Freilich wird, wer für die individuelle Formbildung
die Maschinentheorie ablehnen muß, dieselbe schwer-
lich für die „Deszendenz" als auch nur hypothetisch be-
rechtigt zulassen.
Unter den Darwinismusgegnern sind natürlich auch
die Neulamarckianer. Es mag genügen, an dieser Stelle
ihren ersten Vertreter Samuel Butler1) zu nennen.
Bei ihm steht schon das meiste von dem, was heute als
,,Neolamarckismus" zu gelten pflegt, nur weniger ver-
menschlicht als z. B. bei Pauly.
D. Die Stellung der Physiker.
Unter diesem, angesichts dessen, was geboten werden
soll, etwas zu engen Titel, sollen in Kürze einige, meist
recht wenig bekannt gewordene Äußerungen von Mathe-
matikern, Physikern und Chemikern zum Vitalismus-
problem mitgeteilt werden. Es ist besonders beachtens-
wert, daß alle Vertreter der anorganischen Wissenschaften,
wofern sie sich überhaupt über das biologische Grund-
problem geäußert haben, das sehr viel vorsichtiger als
die meisten Biologen zu tun pflegten. Und den An-
organikern war die Leistungsfähigkeit ihrer Wissenschaft
denn doch wohl etwas besser bekannt als den Biologen.
Der französische Mathematiker M. J. Boussinesq2)
hat im Jahre 1878 eine seltsame mathematisch-mecha-
nische Theorie über mögliche körperliche Bewegungen
aufgestellt, auf deren Boden nicht nur ein Vitalismus
überhaupt, sondern sogar eine mit dem Begriffe der echten
Freiheit, der Indeterminiertheit arbeitende Lehre möglich
sein soll. Wo immer ein Massenpunkt im Verlaufe seiner
1) Unconscious Memory; Evolution old and new 1879 usw.
2) Conciliation du veritable determinisme mecanique avec
i'existence de la vie et de la liberte morale, Paris 1878; auch
Mem. Soc. Science; Lille, VI, 4 Ser. ; s. auch C. rend. 84, 1877,
S. 362. Siehe auch den Aufsatz von Saint- Venant, 1. c. S. 419.
D. Die Stellung der Physiker. 165
Bewegung an einen Ort gelangt, der einem singulären
Integral der seine Bewegungsbahn darstellenden Diffe-
rentialgleichung entspricht, dort ist die Art der Fort-
setzung seiner Bewegungsbahn mathematisch nicht be-
stimmt. An solchen Stellen soll nun das „principe
directeur" nach beliebiger Ruhezeit auf beliebigem
Wege die weitere Bewegung eines in Frage kommenden
Massenpunktes bestimmen können. So komme im Rah-
men der mathematischen Mechanik Vitalismus und Frei-
heitslehre zu vollem Ausdruck. Sachlich liegt hier eine
Verwechslung mathematischer und physikalischer Be-
stimmtheit vor, wie ich anderenorts ausgeführt habe und
wie auch schon E. duBois-Reymond vor Jahren gesehen
hat1). Aber es ist bedeutsam, zu sehen, wie hier ein Mathe-
matiker und theoretischer Physiker von der Richtigkeit der
Allmechanismuslehre so ganz und gar nicht überzeugt ist.
Nach Tait2) weist gar nichts im Rahmen des An-
organischen darauf hin, daß es zu einer Erklärung der
Lebensphänomene geeignet sei. Es sei „unscientific",
eine solche Erklärung auch nur zu versuchen. Lord
Kelvin3) schreibt, ähnlich wie später auch 0. Lodge4),
dem Leben eine ,, power of directing and moving particles"
zu und betont ausdrücklich, daß Vererbung nie und
nimmer durch zufälliges Zusammentreffen von Atomen
verständlich sei. Boltzmann5) sieht eine Einwirkung
des Psychischen auf das Physische als möglich und, „wenn
man annimmt, daß diese Einwirkung normal gegen die
Mveauf lachen erfolgt", sogar als mit dem Satz von der
Energieerhaltung verträglich an. Nach Hertz6) würde
x) Vgl. Sitzungsber. Akad. Heidelberg 1919, Nr. 18, S. 3 1 f f . ;
vgl. ferner Dubois' „Sieben Welträtsel", 2. Aufl., S. 96.
2) Contemp. Rev. 1878, 31. Januar, S. 298.
3) Pop. Lect. II, S. 464 ff., und Fortnightly Rev. 1892, 51.
4) Life and Matter und Hibbert Journ. 10, 1912, S. 299 f.
5) Zitiert nach Höflers Psychologie, 1897, S. 58.
6) Mechanik.
166 III. Der neuere Vitalismus.
die Tätigkeit eines vitalen Agens das bekannte Grund-
prinzip seiner Mechanik nicht zu verletzen brauchen, wenn
man nur annimmt, daß die Effekte dieses Agens durch
die Effekte eines anorganischen Systems ersetzt gedacht
werden können.
Diese Probleme von Äußerungen seitens hervor-
ragender Physiker genügen uns; sie ließen sich leicht ver-
mehren.
Endlich sei noch der Äußerung eines Chemikers ge-
dacht: Japp1) hält den Begriff der Richtung und des
Richtunggebens für etwas irreduzibles Vitales ; er diskutiert
die Fähigkeit gewisser niederer Organismen, von einem
Paar korrespondierender asymmetrischer Verbindungen
nur die eine zu konsumieren oder zu produzieren. Es
sei dahingestellt, ob hier der Beweis einer Lebensautonomie
geliefert ist. Auf jeden Fall denkt ein Chemiker hier bio-
logischer als viele Biologen.
*) Rep. 68 th Meeting Brit. Assoc. Bristol, 1898, S. 813.
IV. Der „Neovitalismus".
A. Grundlegungen.
Man hat die neueste Wendung der Geschichte des
Vitalismus als „Neovitalismus" bezeichnet; eine Namen-
gebung, die insofern nicht gerade zutreffend ist, als zu
keiner Zeit vitalistische Lehren etwa vollständig erstorben
waren, was sich allerdings jene Namengeber, vor allen
Emil du Bois-Reymond, wohl einbilden mochten.
In anderer Hinsicht, als von den Urhebern des Namens
gemeint war, verdient nun aber allerdings die letzte
Epoche vitalistischer Denkweise die Bezeichnung ,,neu",
nämlich hinsichtlich der Methode ihres ganzen Vorgehens
— wenigstens bei einigen ihrer Vertreter — , und so mag
jene Bezeichnung denn auch von uns übernommen sein.
Jenes „Neue" der allgemeinen Methode knüpft aller-
dings in gewisser Hinsicht — den neueren Autoren selbst
freilich unbewußt — an den Vitalismus im 18. Jahrhundert,
nicht aber an die schulmäßigen Lehren des Anfangs des
19. Säkulums an: man geht wieder auf die Fundamente,
nicht nur auf die Folgerungen aus einem angeblich ganz
Sicheren; man sucht wieder zu beweisen, daß, aus diesen
oder jenen Gründen, vitalistische Auffassung des Leben-
digen, und nur sie, zu Recht bestehen müsse. Das.
alles aber erwuchs aus dem Kampf gegen die materia-
listische Welttheorie, zumal gegen den Darwinismus her-
aus: so ist an seinen Feinden der Vitalismus
wieder groß geworden. Ja, die Besseren der Gegner
1(38 IV. Der „Neovitalismus".
des überkommenen Vitalismus haben geradezu um sein
Wiedererwachen ein unmittelbares Verdienst: sie hatten
Falsches beseitigt; nun konnte man um so klarer sehen,
daß denn doch noch etwas Richtiges vorhanden sei.
Für die eigentliche Fundamentierung neovitalistischer
Lehren ist, wie schon angedeutet, das Wiedererwachen der
experimentellen morphologischen Forschung, der „Ent-
wicklungsmechanik" Wilhelm Roux', Vorbedin-
gung gewesen: alle neuen tatsächlichen Stützen der Lehre
von der Lebensautonomie sind in der Tat — allerdings
neben einer Analyse der Handlung — auf dem genannten
Gebiete der Forschung gewonnen. Freilich nicht im Sinne
des genannten Beginners jener Forschungsart, dessen Über-
zeugung von der Berechtigung mechanistischer Naturauf-
fassung sich vielmehr seltsamerweise im Laufe der Jahre
gefestigt zu haben scheint; im Anfang seines experimen-
tellen Arbeitens nämlich ließ er die vitalistische Frage zum
mindesten offen: „Wer nicht blind das, was als höchstes
Resultat unserer Untersuchungen erst gewonnen werden
muß, in Form der allerdings sehr gebräuchlichen
petitio principii als selbstverständlich und keines
Beweises bedürftig von vornherein annimmt, der wird sich
bei den kausalen Untersuchungen der embryonalen
Entwicklung immer unsere Eventualität" (nämlich die
Frage nach besonderen „organischen Energien", die so
verschieden von allen bekannten Energiearten sind, „wie
es die Elektrizität von den übrigen Energien ist") „vor
Augen zu halten und sich zu fragen haben, ob die von
ihm beobachteten Vorgänge sich unter die
Leistungen bekannter Kraftformen subsumieren
lassen, oder ob sie zur Annahme besonderer
„Wirkungsweisen", wie differenzierender Fern-
wirkungen u. dgl., und damit zur Annahme be-
sonderer Energien nötigen"1).
x) W. Roux: GesammelteAbhandl.il, S. 188f. Zuerst ver-
öffentlicht in Zeitschr. f. Biol. 21. 1885.
A. Grundlegungen. 169
Später freilich ist Roux in das mechanistische Lager
übergegangen, wenn auch mit dem Zugeständnis, daß von
einer auch nur grundsätzlichen Auflösung der biologischen
Phänomene in Physik und Chemie in keinem Falle prak-
tisch die Rede sei1).
Gehen wir jetzt zur historischen Betrachtung im ein-
zelnen über, die sich natürlich in diesem Abschnitt mehr
als in jedem anderen auf das eigentlich Typische zu be-
schränken -hat, so könnte es zunächst scheinen, als hätten
wir als des ersten „Neo vitalisten" trotz allem noch einmal
Wilhelm Roux' zu gedenken: wiederholt hat nämlich
dieser Autor betont, daß nicht-mechanische, nämlich
„seelische" Faktoren, wenigstens an einem Punkte des
Formbildungsgeschehens als geradezu eingreifend an-
zusehen seien: bei der sog. funktionellen Anpassung näm-
lich, z. B. bei dem Stärkerwerden der Muskeln durch den
Gebrauch, sei eben das „Seelische", der „Wille", die
„Erhaltungsintelligenz" ein wesentlich mitbestimmender
Faktor.
Doch hat Roux diese Ansicht nie eigentlich weiter
analysiert und hat es nie ausgesprochen, daß solche
Meinung, wörtlich genommen, denn doch durchaus den
„Vitalismus", wenn auch nur im engen Felde, bedeute.
So greifen wir denn wohl nicht fehl, wenn wir entweder
jene Ansicht als von Roux aus gewissen Lehrmeinungen
übernommen, ihn selbst also vielleicht in dieser Hin-
sicht als „Traditionsvitalisten" ansehen oder aber seine
psychologisierenden Ausdrücke als abgekürzte Redensarten
nehmen, die über die Frage „Parallelismus oder Wechsel-
wirkung ?" gar nichts entscheiden soll. Was die erste
Möglichkeit angeht, so erinnern wir uns hier an Lotze,
der 3a auch trotz seiner Ablehnung des vegetativen Vita-
x) Vgl. „Über die bei der Vererbung von Variationen an-
zunehmenden Vorgänge", 1913.
170 IV. Der „Neovitalismus".
lismus der „ Seele" alles mögliche zuschrieb, ohne sich
ganz klar zu sein, daß solches denn doch durchaus den
Vitalismus bedeute.
Unter dem Titel ,, Mechanismus und Teleologie" hat
F. Ehrhardt im Jahre 1890 eine Studie veröffentlicht,
welche zum ersten Male wieder in der Art, wie das zu
Zeiten des älteren Vitalismus üblich war, ausdrücklich'
verfaßt ist zu dem Zwecke, die logische Möglichkeit einer
vitalistischen Lebensauffassung und die sachliche Not-
wendigkeit ihrer Annahme eingehend zu begründen: Der
Begriff Mechanismus, der schon in vielen Gebieten der
Physik und im Chemischen versagt, ist nach Ehrhardt
viel enger als derjenige der Kausalität. Teleologie aber ist
nicht etwa ein Gegenstück zur Kausalität, sondern ist
ihr untergeordnet. Zwar sind ,,Causae finales" un-
zulässig in dem Sinne, daß hier ein ,, Zweck" wirke; etwas
Zukünftiges kann nicht wirken. Aber es wirkt gar nicht
,, der Zweck", sondern das ,,Im-Auge-Haben des Zweckes";
so tritt der Zweck in die Causa efficiens ein. „Meta-
physisch" sind solche ,,Causae efficientes finales" ebenso-
wenig wie alle anderen; sie inhärieren der organischen
Materie.
Soweit das Methodische der Schrift, das, abgesehen
von dem nicht immer ganz einwandfreien erkenntnis-
kritischen Standpunkt des Verfassers, durchweg sehr zu
billigen ist. Der sachlich begründende Teil ist schwächer,
obwohl immerhin beachtenswert:
Wenn freilich nur aus der inneren Erfahrung be-
gründet wird, daß ja ,,der Wille" „bewegen" könne, und
wenn Ernährung und Fortpflanzung deshalb als Äuße-
rungen wahrhaft vitalistischer Kausalität angesehen wer-
den, weil ihnen eben Triebe zugrunde liegen, so kann
solches nicht als wahre naturwissenschaftliche Beweis-
führung aus der Sache selbst angesehen werden.
A. Grundlegungen. 171
Viel bedeutsamer erscheint ein Gedanke, den Ehr-
hardt in seiner Polemik gegen Lotzes statische Teleo-
logie äußert: Eine statisch teleologische Auffassung der
Organismen sei, abgesehen davon, daß sie Ernährung und
Fortpflanzung nicht erkläre und überhaupt das Problem
nur zurückschiebe, allein darum abzulehnen, weil das
Konstante im Auftreten der Organismen, welche
doch nicht nur gelegentlich einmal, sondern täg-
lich in Millionen typischer Exemplare sich bil-
den, durch sie nicht gewährleistet erscheine.
Ja, aus demselben Grunde müsse auch schon die mecha-
nische Erklärung etwa der Elektrizität oder des Magnetis-
mus abgelehnt werden: die Gebiete der Physik besitzen ja
doch feste und konstante und nicht nur ungefähr
geltende, schwankende Gesetze, was zu erwarten
wäre, falls sie als Äußerungen von Kombinationen ein-
facherer Naturgesetze anzusehen seien.
Mag man keinen ,, Beweis" des Vitalismus in diesem
Gedankengang erblicken: auf jeden Fall ist er durchaus
selbständig und schon als solcher beachtenswert. Was
Ehrhardt sonst noch zum positiven Vitalismus äußert,
tritt dagegen zurück: er vertritt eine Art Lebensstoff -
theorie; an bestimmte chemische Verbindungen sei die
Erweckung spezifisch organischer, nicht mehr nur
chemischer Kräfte geknüpft; möge also auch diese jedes-
malige Erweckung in einer „Urzeugung" zufällig sein,
ihre eigentliche Gesetzesexistenz ist nicht zufällig.
Gustav Wolffs im Jahre 1890 erschienene, mit
Recht weithin bekanntgewordene vortreffliche Kritik des
Darwinismus1) ist, obwohl als Darwinismuskritik an und
für sich, ihrer Originalität unbeschadet, ein Nachzügler,
doch die erste ihrer Art, welche aus der ganz klaren Über-
zeugung entspringt, daß Sturz des Darwinismus gleich-
x) Biol. Zentralbl. 10. Auch separat.
172 IV. Der „Neovitalismus".
zeitig ein Wiederaufleben bedeutungsvoller Teleologie be-
deute.
Im Jahre 1894 ließ Wolff seiner Kritik die Darstel-
lung eines Experimentalresultates folgen1), das ausdrück-
lich zur Entscheidung der Frage über Darwinismus und
Teleologie angestellt war: es galt zu sehen, ob der Orga-
nismus einen Teil regenerieren könne, der ihm nie im
Laufe seiner Vorgeschichte genommen sein konnte, und
zu prüfen, wie er das etwa anstelle. Eine ,,primäre
Zweckmäßigkeit" würde sich durch den positiven Aus-
fall des Versuches dokumentieren, welche einerseits den
Darwinismus ad absurdum führen, andererseits in „zweck-
mäßiger Anpassung" eine Teleologie bedeutsamster Art
dokumentieren würde.
Der Versuch bestand in der Entnahme der Linse
— nur der Linse — aus dem Auge des Wassermolches
(Triton taeniatus). Und die Linse wurde regeneriert,
und zwar vom vorderen Rand der Iris aus, also in einer
der normalen Entwicklung nicht entsprechenden2), aber
sehr zweckentsprechenden Weise.
So war also „primäre Zweckmäßigkeit" er-
wiesen.
So hoch wir Wolffs scharf sinnige Arbeiten bewerten,
die wahrlich zu den besten der neueren biologischen
Literatur überhaupt gehören, so müssen wir doch darauf
hinweisen, daß wohl die Frage der Bedeutsamkeit von
Teleologie überhaupt, nicht aber die nach ihrer Art
entschieden ist: es könnte sich auch um eine vorgesehene,
einfach hinzunehmende, „gegebene" Maschinenteleologie
handeln.
Wolff selbst ging in den zitierten Arbeiten auf den
Unterschied zwischen statischer und dynamischer Teleo-
logie nicht ein, unausgesprochenermaßen allerdings wohl
!) Biol. Zentralbl. 14 und Arch. f. Entwickl. Mech. 1.
2) In der normalen Entwicklung entsteht die Linse von der
Körperhaut aus.
A. Grundlegungen. 173
letzterer, also dem Vitalismus zuneigend. Neuerdings1)
freilich hat er seinen Vitalismus ausdrücklich mehr provi-
sorisch, im Sinne eines ,,noch nicht" Erklärbaren aufgefaßt.
Ich glaube auch nicht, daß sein Versuch die Frage nach
der Art des Teleologischen ohne weiteres entscheiden
könnte.
Übrigens steht Wolff in seinen psychiatrischen
Arbeiten2) auf einem das ,, Seelenleben" naturgesetzlich-
autonom, also vitalistisch auffassenden Boden.
Ich selbst kam im Jahre 1893 dazu, angeregt vor-
nehmlich durch die methodologischen Schriften von
Wigand und Paul du Bois-Reymond3), das Teleo-
logische in den Erscheinungen des Lebens alsirreduzible
Sonderheit deutlich zu sehen: begriffliche Analysen der
physiologischen und formbildenden Phänomene führten
mich zu solcher Einsicht. Doch war mir der Unterschied
zwischen statischer und dynamischer Teleologie noch nicht
aufgegangen, und was ich in der Schrift „Die Biologie als
selbständige Grundwissenschaft"4) bot, war ein mir un-
bewußtes Schwanken zwischen der Annahme eines Bil-
dungstriebes und einer gegebenen Maschinenteleologie.
1894 vertrat ich in meiner „Analytischen Theorie der
organischen Entwicklung" eine durchaus maschinelle Teleo-
logie in Form verschiedener gegebener ,, Harmoniearten",
aber auch hier war ich mir noch nicht eigentlich klar,
daß, was ich vertrat, die eine von zwei Möglichkeiten
des Teleologischen sei. In dem Artikel ,,Die Maschinen -
x) Mechanismus und Vitalismus. Leipzig 1902.
2) Zum Beispiel Klin. u. krit. Beitr. z. Lehre v. den Sprach-
störungen. Leipzig 1904.
3) „Über die Grundlagen der Erkenntnis in den exakten
Wissenschaften". Tübingen 1890. Hier wird die Selbständigkeit
jedes Gebietes der Physik und Chemie in bezug auf jedes andere
behauptet (vgl. Schopenhauer!) und eine gleiche Selbständigkeit
auch der Biologie für möglich erklärt.
4) Zweite, gänzlich neugeschriebene Auflage, 1911.
174 IV. Der „Neovitalismus".
theorie des Lebens", vom Jahre 18961), war mir mein Vor-
gehen erst wirklich bewußt geworden: ich wiederholte das
Wesentlichste, was ich in den beiden genannten Schriften
eigentlich gesagt hatte — es war nämlich bisweilen, so
z. B. von E. du Bois-Reymond2), mißverstanden
worden — , ich wies mit allem Nachdruck darauf
hin, daß meine Aussagen kein Vitalismus, son-
dern M.aschinenteleologie gewesen seien, daß sie
mit L o t z e s Auf f assung der vegetativen Lebensfunktionen
die größte Ähnlichkeit besäßen3). Als „Vitaltheorie' '
stellte ich das problematische, unausgesprochen freilich
schon als richtig erkannte Gegenstück meiner „formal -
teleologischen Theorie", die mit „statisch Gegebenem"
rechne, gegenüber. Die Begriffe der späteren „statischen"
und „dynamischen" Teleologie finden sich also schon hier,
wenn auch die Worte erst in meiner gleich zu erwähnenden
Schrift „Die Lokalisation" geprägt wurden.
Mehrjähriges Experimentieren über das gestaltliche
Regulationsvermögen der Organismen und ein fortdauern-
des Durchdenken der Gesamtheit meiner seit 1891 aus-
geführten entwicklungsphysiologischen Versuche, daneben
eine Analyse alles physiologischen Regulationsgeschehens
überhaupt, zumal aber der sog. „Handlung", führte mich
dann zu einer vollkommenen Wendung meiner Ansichten
und zur Legung des Grundes für ein künftiges
vitalistisches System.
Die Notwendigkeit des Vitalismus war mir persönlich
zwar bereits 1895 durch Analyse des Handlungspro-
blems aufgegangen: was ich zuerst publizierte, war
trotzdem die vitalistische Theorie eines besonderen Pro-
x) Biol. Zentralblatt 16.
2) Über Neo -Vitalismus , Sitzungsber. Akad. Berlin 1894.
3) Auch auf Goette hätte ich mich beziehen können, dessen
„Formgesetz", was bei dieser Gelegenheit erwähnt sein mag,
wohl eine statische Teleologie bedeutet. Hierher gehört auch
Bostan: Näheres bei Cl. Bernard IL
A. Grundlegungen. 175
blems der Formbildung, da mir dieses in seiner gedank-
lichen Durcharbeitung am weitesten gediehen war: die
Publikation, von der ich hier rede, erfolgte Anfang 1899
unter dem Titel „Die Lokalisation morphogene-
tischer Vorgänge. Ein Beweis vitalistischen Ge-
schehens"1). Nach meiner subjektiven Überzeugung ist
in dieser Schrift zum ersten Male wirklich streng be-
wiesen worden, daß wenigstens gewisse Lebensvorgänge
nur autonom, nur nach selbsteigener Gesetzlichkeit, also
nur dynamisch-teleologisch verstanden werden können.
Hierwar also durch den Beweis der Unmöglichkeit
des konträren Gegenteils des Vitalismus die eigent-
liche Grundlegung eines künftigen vitalistischen Systems
geschaffen worden. Es handelte sich um von mir sog.
„harmonisch-äquipotentielle Systeme" und ihre
Differenzierung, d. h. um den Sachverhalt, daß es im
Dienste der Formbildung stehende Zellengesamtheiten
gibt, welche nach beliebiger Entnahme oder Verlagerung
von Teilen doch stets ein proportional richtiges ganzes
Formergebnis Hefern. Eben dieser Sachverhalt schließt
die Möglichkeit des Daseins einer ,, Maschine" aus.
Unter dem Titel ,, Elemente der empirischen Teleo-
logie" hat Paul Nikolaus Cossmann ebenfalls im
Jahre 1899 eine Schrift veröffentlicht, welche die logische
Klärung des Begriffes ,,Teleologie" recht eigentlich zur
Aufgabe und insofern gewisse Berührungspunkte mit
Kants ,, Kritik der Urteilskraft" hat. Nach der eigentlich
naturwissenschaftlichen Seite hin ist diese Schrift nur
„formal-teleologisch"; übrigens besitzt Cossmann die
Unterscheidung einer statischen und einer dynamischen
Teleologie ebensowenig wie Wolff und wie ich selbst in
meinen ersten Schriften.
2) Auch Archiv f. Entwicklungsmech. 8.
176 IV. Der „Neovitalismus".
Kausalität ist unserem Analytiker zwar ,, allgültig",
aber nicht ,, alleingültig", Teleologie tritt als Beurteilungs-
maxime neben sie. Auch sie handelt von ,, notwendigen
Zusammenhängen", der Begriff „Notwendigkeit" ist eben
weiter als der Begriff „Kausalität". Für das Kausale
gilt die allgemeine Formel W (Wirkung) = f (U) (Ursache),
wo die Worte „Ursache" und „Wirkung" in sehr all-
gemeinem Sinne, als Inbegriff der Gesamtheit alles in
Betracht Kommenden gefaßt sind. Teleologisch ist
M = f (A, S), wo M „teleologisches Medium", A „Ante-
cedens", S „Succedens" bedeutet.
Das Funktionszeichen f ( ) soll in beiden Fällen
nur logische Abhängigkeit, d. h. logische Inhaltsverwandt-
schaft bedeuten.
Entscheidet also auch Cossmann die Frage „Vita-
lismus oder Maschinentheorie" nicht, so entscheidet er
jedenfalls in positivem Sinne das Problem einer in tiefem
Sinne bedeutungsvollen, nicht etwa aus Zufällen „erklär-
baren", vitalen Teleologie. Ein sehr großer Teil seines
Buches ist gerade dieser Absicht gewidmet. —
Eugen Albrecht, dem in seinen „Vorfragen der
Biologie" (ebenfalls 1899) das Physikalisch-Chemische und
das „Physiologische" nur die Ergebnisse verschiedener
„Betrachtungsweisen" oder ..Einstellungen", angewandt
auf dasselbe Gegebene, sind, äußert meines Erachtens
'nichts, das von den Ergebnissen der Untersuchungen
Cossmanns sowie von denjenigen meiner „Analytischen
Theorie" wesentlich verschieden wäre.
Endlich ist auch Johannes Reinkein demselben
Jahre 1899 dem teleologischen Problem zuerst näher-
getreten und hat seitdem eine große Reihe von Büchern
und Artikeln1) über dasselbe veröffentlicht. Jedoch kommt
x) Die Welt als Tat. Berlin 1899. — Gedanken über das
Wesen der Organisation. Biol. Zentralbl. 19. 1899. — Einleitung
in die theoretische Biologie. Berlin 1901; usw. — Für seine beste
A. Grundlegungen. 177
er mehr begriffstechnisch als sachlich begründend für
die Frage des Vitalismus in Betracht.
Neben den Energien, so führt Reinke aus, kommen
für das Spezifische an allem Geschehen noch ,, Kräfte
zweiter Hand", um mit Lotze zu reden, in Frage. Reinke
nannte sie anfangs insgesamt „Dominanten"; sie be-
deuten meines Erachtens sowohl das, was man allgemein
„Maschinenbedingungen", wie das, was man „Konstanten"
zu nennen pflegt.
Später nannte Reinke, von E. v. Hart mann be-
einflußt, für die Tatsachen der Betriebsphysiologie seine
fraglichen Größen „Systemkräfte" und ist von ihrer
maschinellen Natur überzeugt, ist hier also statischer Teleo-
loge; nur für die Tatsachen der Formphysiologie nannte
er sie noch „Dominanten", ließ ihren Charakter aber derart
in dubio, daß er auch auf diesem Gebiete höchstens proble-
matischer Vitalist ist; ja, es gibt sogar Stellen, wo er
auch hier der Maschinenauffassung zuzuneigen scheint.
Freilich lehnt er für das „Psycho-physische" die
Theorie des Parallelismus ausdrücklich ab: da muß er
denn wohl wenigstens in diesem Sonderfelde ganz rück-
haltlos „Vitalist" genannt werden.
Das scharfe Herausschälen des Begriffes „Dominante"
und die Konzentration der Fragestellung auf die Frage
eben nach ihrer Natur ist Reinkes eigentlich wesentliche
Leistung, wenn auch die Frage etwas zögernd beant-
wortet wird.
Wir erwähnen an letzter Stelle noch eine Gedanken-
reihe Fritz Nolls1).
Darstellung hält Reinke selbst seinen Artikel „Die Dominanten-
lehre". Natur und Schule 2. 1903. Neueste Werke: „Die schaffende
Natur" (1919), in welchem auf die von mir übergangenen vita-
listischen Ansätze bei Alexander Braun und J. He nie hin-
gewiesen wird, und „Kritik der Abstammungslehre" (1920) mit
guter Darlegung der phylogenetischen Paradoxien und Probleme.
!) Landwirtschaft. Jahrbücher 1900. Biol. Zentralbl. 23. 1903.
Driesch, Vitalismus, 2. Aufl. 12
178 IV« Der „Neovitalismus".
Unter dem Namen einer „Morphästhesie" spricht
Noll den Organismen ein „ Empfinden" ihrer Körperform
und Körperlage zu und läßt eben dieses Empfinden form-
auslösend wirken. Bei der Algengruppe der Siphoneen sei
das eigentliche Protoplasma mitsamt den Kernen in steter
Bewegung, nur die Hautschicht sei etwas Ruhendes; von
ihr also müsse wohl die zu festen Relationen führende
Formbildung ausgehen. Die Hautschicht aber nun ist
ohne spezifische Struktur : da wird ihr eben das Vermögen
des Formempfindens erteilt. Gewisse Befunde über den
Einfluß von Krümmungen auf die Entstehung von Seiten-
wurzeln, überhaupt alles, was mit der Eigenrichtung
von Pflanzenteilen zusammenhängt, gilt Noll als Stütze
seiner Ansicht. Noll selbst hält zwar diese seine Lehre
nicht für vitalistisch . ich meine aber, daß bei weiterer
Analyse sein Gedankengang wohl mit demjenigen meines
eigenen ,, ersten Beweises" der Autonomie des Lebendigen
Verwandtschaft zeigt: handelt es sich doch, wie alle
experimentellen Erfahrungen zeigen, stets um „Empfin-
dungen" von Relationen. Freilich würden wir das Wort
„Empfindung" in diesem Zusammenhange vermeiden;
überhaupt alles etwas anders formulieren; auch scheint
uns das Problem der Eigenrichtung fertiger Teile mehr
ein Problem der Bewegungs- als der Formphysiologie zu
sein. Aber für die Grundlegung eines Vitalismus kommt
Nolls Argumentation ganz sicherlich mit in Frage.
B. Vitalistisclie Systeme.
a) Henri Bergson.
Bergsons Werk ist eine groß angelegte Metaphysik
auf phänomenologischer und biologischer Grundlage.
Seine phänomenologische Leistung, insbesondere seine
Unterscheidung des Zeithaften als Erlebnis (durde) von
der Zeit als Beziehungsrahmen der Natur (temps), diese
B. Vitalistische Systeme. 179
seine bedeutendste Leistung1), geht dieses Buch nicht an.
Seine tiefgegründete Ablehnung des psycho-physischen
Parallelismus2) werden wir an späterer Stelle, da, wo wir
die neuere Psychologie kurz streifen werden, erwähnen.
Sein drittes Werk Devolution creatrice (1901) ist es, das
allein als Ganzes biologisch im engeren Sinne bedeutsam
ist, obschon auch dieses Werk mehr ist als nur Biologie.
Bergson bekämpft den Mechanismus und den
,, Finalismus", also einen Vitalismus von der Art meines
eigenen, weil beide auf den Satz sich gründen, daß das
Ganze gegeben sei (le tout est donne), d. h. weil beide
mit dem Begriff der eindeutigen Determiniertheit alles
Geschehens arbeiten, mag diese Determiniertheit das eine
Mal zwischen Teil und Teil, das andere Mal, beim Vitalen,
zwischen Ganzem und Teil bestehen. Auch meine Ente-
lechie hat ja festes Wesen und determiniert aus ihm
heraus. Bergson ist aber von seiner Phänomenologie aus
zur Annahme echter Freiheit (liberte) im Sinne völliger
Unbestimmtheit, zunächst für den handelnden Men-
schen, geführt worden und überträgt diesen Begriff auf das
Werden der organischen Natur als eines Ganzen, also auf
die Phylogenie. Er redet biologisch eigentlich nur von ihr,
obschon er manches aus der Literatur über experimentelle
Embryologie kennt.
Nennen wir den tiefsten Grund des großen Lebens-
stromes, der sich in der Generationenfolge offenbart, Gott,
so gilt ihm der Satz Dieu se faxt, Gott macht sich,
d. h. er hat gar kein festes ,, Wesen" (essentia), aus dem
heraus etwas folgen könne, wie etwa aus der Substantia
des Spinoza alles folgt, sondern, um es paradox aus-
zudrücken, er „wird" sein Wesen. In nichts also ist
ein künftiger Schritt der Phylogenese vorherbestimmt,
weder in Innerem noch in Äußerem. Der Elan vital ist
1) Essai sur les donnees immediates de la conscience; deutsch
„Zeit und Freiheit".
2) Matiere et memoire.
12*
180 IV. Der „Neovitalismus".
freies in Gestaltung und in Wissensform sich äußern-
des reines Werden.
Die unbelebte Welt ist Abfall von der belebten:
„Dieu se defait" ; alsdann gilt der zweite Hauptsatz der
Thermodynamik .
In mehrere Sonderströme geteilt hat sich der große
vom Elan vital beherrschte freie Lebens wer destr om : die
Formen im Bette des einen Sonderstromes sind durch
Torpeur, die im Bette des zweiten durch Instinkt, die
in dem des dritten durch Intelligenz gekennzeichnet.
Praktisch handelt es sich um die niederen Tierkreise, die
Arthropoden und die Wirbeltiere. Und schon vorher
gabelte sich der Lebensstrom im Großen, als es zur Schei-
dung in Tiere und Pflanzen kam. Instinkt und Intelligenz
stehen also koordiniert nebeneinander, nicht ist der erste
gleichsam versteinerter Abfall der zweiten. Und dem
Range nach ist sogar der Instinkt das höhere, denn
Intuition, auf der er ruht, ist höher als diskursives Denken
und ist ja in seltenen Augenblicken auch noch dem Men-
schen eigen, der sich freilich meist mit den Kantischen
Kategorien bei seinem Wissenserwerb abplagen und be-
gnügen muß, jenen Begriffen, die gar nicht für die Er-
kenntnis der absoluten Wirklichkeit, sondern nur zum
. Sichzurechtfinden in der Welt der groben empirischen
Dinge taugen. Homo faber, nicht homo sapiens sollte der
Mensch heißen; als Platoniker, d. h. als Begriffswesen
sind wir geboren ; das ist kein Vorteil, sondern ein Nachteil,
denn mit unseren Kategorien verfälschen wir fortwährend
die echte, reine Wirklichkeit.
b) Mein eigenes System.
In dem Ausbau eines vollständigen vitalistischen
Systems bestand meine eigene Arbeit in Sachen der
Lehre von der Autonomie des Lebendigen während des
ersten Dezenniums des neuen Jahrhunderts.
B. Vitalistische Systeme. 181
In der Schrift „Die organischen Regulationen" unter-
suchte ich im Jahre 1901 alle Gebiete der Physiologie und
Morphogenese der Pflanzen und Tiere auf in ihnen etwa
vorhandene autonome, mechanistisch unauflösbare Züge.
Das Ergebnis war ein „zweiter Beweis" des Vitalismus,
gegründet auf die Genese von mir so genannter „komplex-
äquipotentieller" Systeme, welche zur Tatsache der Ver-
erbung der Beziehung stehen, -und eine Fülle von „In-
dizien", also nicht geradezu Beweisen, für die Lebens-
autonomie, vornehmlich der Lehre von den Anpassungen
entnommen.
Im Jahre 1903 folgte die Schrift „Die ,Seele( als
elementarer Naturfaktor"1). Hier wurden alle tierischen
Bewegungen analytisch durchforscht. Die Analyse der
Instinkte lieferte ein Indizium, die der menschlichen
Handlung, rein als Naturphänomen, also unter Ab-
sehen von der „psycho-physischen" Natur des Menschen,
betrachtet, einen neuen, den „dritten" vitalistischen Be-
weis. Die Anführungszeichen, zwischen denen das Wort
„Seele" im Titel steht, sollen andeuten, daß nicht sie selbst
— (das wäre logisch unzulässig) — , sondern daß ein
,, Naturkorrelat" ihrer, das ,,Psychoid" genannt wurde, das
autonome, bei Handlungen in Frage kommende Naturagens
ist. Als Nebenresultat ergab sich die Unmöglichkeit des
üblichen psycho-physischen Parallelrsmus, der ja stets als
psychomechanischer Parallelismus gefaßt war. Es be-
steht eben die lückenlos „mechanische" Seite der angeb-
lichen Parallelität überhaupt gar nicht in Wirklichkeit.
1904 folgte in der Schrift „Naturbegriffe und Natur-
urteile" die Auseinandersetzung mit den Wissenschaften
vom unbelebten Geschehen. Wie kann denn ein Ein-
greifen eines nicht-materiellen Faktors, den ich schon 1899
Entelechie genannt hatte — (wie ich wohl wußte, nicht
x) Vergriffen; wird nicht neu aufgelegt, da der wesentliche
Inhalt in die Philosophie des Organischen übernommen wurde.
Ig2 IV. Der „Neovitalismus".
ganz im Sinn des Aristoteles) — , in das Getriebe der
Materie gedacht werden ? Eingehend wurde hier die sog.
Energetik Ostwalds analysiert und kritisiert. Das war
das Beste in der Schrift. In bezug auf die Hauptfrage
blieb alles noch sehr im vorläufigen. Das einzige bedeut-
same Ergebnis war die Einsicht, daß die Entelechie es
offenbar mit dem zu tun habe, was energetisch als
„Intensitätsdifferenzen" bezeichnet wird. Mit der mecha-
nischen Physik, also mit einer sog. Materientheorie, setzte
ich mich nicht auseinander, da ich in jenen Jahren un-
berechtigterweise glaubte, das Streben nach einer ein-
heitlichen Materientheorie, sei sie newtonisch, elektro-
dynamisch oder wie sonst gefaßt, ablehnen zu müssen.
Die erste Auflage dieses Buches erschien 1905; es
enthielt, als zweiten Hauptteil, zum ersten Male ein
System des Vitalismus im Ganzen ; natürlich nur so weit,
wie mir der Ausbau eines solchen bis dahin gelungen war.
Da fehlte denn doch noch recht Wesentliches.
Im Jahre 1906 berief mich die schottische Universität
Aberdeen zum ,, Gifford Lecturer" für die Jahre 1907/08.
Als Vortragsgegenstand wählte ich das Thema The Science
and Philosophy of the Organism. Die Vorträge erschienen,
erheblich erweitert, im Jahre 1908 in einem zweibändigen
gleichbetitelten Werke auf englisch im Druck und wurden
1909 als Philosophie des Organischen, mit unerheblichen
Änderungen, deutsch herausgegeben.
Hier war nun ein vollständiges System des Vitalismus,
das freilich (zum Glück) noch ausbaufähig war, aber doch
seinen Grundzügen nach von mir noch heute anerkannt
werden kann. Zuerst kommt in breiter Darstellung die
Lehre von den Indizien und Beweisen. Es folgt die
Lehre von der „Indirekten Rechtfertigung der Ente-
lechie": Mit Energetik und Mechanik wird der
Entelechiebegriff konfrontiert, und es wird* eine Möglich-
keit erdacht, wie das vitale Agens, ohne den Satz von der
Erhaltung der Energie zu verletzen, lenkend in das Ma-
C. Gegner. 183
teriengetriebe eingreifen kann: Entelechie „ suspendiert"
als ,, möglich" materiell vorgebildetes Geschehen und hebt
regulativ ihre Suspension auf. Die „Direkte Recht-
fertigung der Entelechie" bringt die Logik des Vita-
lismus: eine neue „Kategorie" im Sinne Kants: Indivi-
dualität wird eingeführt und mit dem Kausalitätsbegriff
zum Begriff der vitalen Kausalität verschmolzen. Aber
wirklich logisch legitimiert wird die neue Kategorie
doch noch nicht, und das ist der Hauptmangel der ersten
Auflage meines großen Werks. Sie wird nur gesetzt,
weil sie in allen biologischen Aussagen eigentlich schon
darinstecke, wird also, meinetwegen, „transzendental dedu-
ziert" in der Redeweise Kants, und es wird gesagt, daß
psychologisch ihr Besitz garantiert sei. Auch den stark
von Kant beeinflußten subjekti vierenden Standpunkt
der Kategorienfrage gegenüber teile ich heute nicht mehr.
Doch soll vom weiteren Ausbau meines Systems erst
später geredet werden, und so sage ich denn hier nur noch,
daß erstens den Überpersönlichkeitsproblemen, der
Phylogenie und der Geschichte, kurze, naturgemäß im
Hypothetischen bleibende Betrachtungen gewidmet wur-
den, und daß zweitens das Werk mit metaphysischen Aus-
blicken, sehr im Gegensatz zu meinen früheren, rein
„immanenten" Werken, abschloß.
C. Gegner.
a) Philosophen.
Unter den Gegnern des neuesten Vitalismus stehen
an erster Stelle die Philosophen der neukantiani-
schen Richtung aller Schattierungen. Mit ihm gehen
dagegen die Phänomenologen, zumal Sc he ler, und die
meisten Psychologen der neuesten, vornehmlich an die
Namen Marbe und Külpe sich knüpfenden Schule.
Die Marburger Kantianer sehen den Allmechanismus
der Natur als so selbstverständlich an, daß sie meist der
|uj(libra
Ä\4rAes
184 IV. Der „fteovitalismus".
vitalistischen Biologie gar nicht viele Worte widmen.
InCassirers „ Substanz- und Funktionsbegriff" geschieht
seiner z. B. gar keine Erwähnung; Weismanns Keim-
plasmatheorie wird von ihm an anderer Stelle noch lange nach
ihrer Widerlegung als letztes Wort der Biologie ausgegeben.
Cohen nannte, obwohl er eine Kategorie „Incuvidualität"
kennt, den Vitalismus einmal einen ,, Kulturfehler'', sagt
aber nicht, warum. Ob er ihn überhaupt intimer gekannt
hat, ist mir sehr fraglich. Nicolai Hartmann hat den
,, Philosophischen Grundlagen der Biologie" ein besonderes
kleines Werk gewidmet; er würdigt die ,,rein methodische
Seite" meines Entelechiebegriffes, identifiziert ihn aber
dann doch wieder, meinen Absichten entgegen, mit der
„Totalität der Bedingungen im Sinne Kants", so daß
Entelechie nur eine Vorläufigkeit, ein kurzer Ausdruck für
etwas noch nicht Aufgelöstes wäre. Der Begriff der
Teleologie wird von N. Hartmann gewürdigt; im all-
gemeinen darf man wohl sagen, daß dieser Denker im
Jahre 1912, dem Jahre der Abfassung seines Buches, auf
ganz dem nämlichen schwankenden Boden stand wie die
,, Kritik der Urteilskraft" des Meisters, so daß er also durch
dieselbe Art von Kritik getroffen wird wie dieses Werk.
Von den ,, Südwestdeutschen" hat Kroner 1913 eine
Schrift ,, Zweck und Gesetz in der Biologie" herausgegeben.
Seine Kritik ist derjenigen N. Hartmanns ähnlich.
Scharf wird betont, daß die Entscheidung in Sachen des
Vitalismus nicht bei der Erfahrung, sondern bei der Logik
zu suchen sei, ein unseres Erachtens verfehlter Standpunkt,
abgesehen übrigens davon, daß sich, wie wir noch sehen
werden, allerdings auch zeigen läßt, daß vitale Kausalität
einer der vier apriori „möglichen" Formen aller Natur-
kausalität entspricht; eine von mir 1912 veröffentlichte
Darlegung, welche Kroner offenbar nicht gekannt hat.
Auch faßt er, meinen ausdrücklichen Absichten und Aus-
sagen entgegen, meinen Vitalismus ganz psychologisch.
Im großen und ganzen gilt auch hier die an Kant
C. Gegner. 185
geübte Kritik. Auch das jetzige Haupt der Südwest-
deutschen, Rickert, hat sich jüngst in seiner „Philosophie
des Lebens" (die freilich besser „Erlebnisphilosophie"
heißen sollte, denn eine solche will er eigentlich kritisch
treffen), gelegentlich über den Vitalismus geäußert. Es
heißt da einmal (S. 37): „Das Lebendige muß auch so
dargestellt werden, daß es in einen verständlichen Zu-
sammenhang mit der , Materie' kommt, die nicht organisch
ist und insofern tot genannt werden kann." Das wollen
wir ja auch! Aber dann wird doch gleich darauf die
Forderung aufgestellt, die Biologie dürfe nicht anti-
mechanisch gedacht werden, alles Organische müsse „unter
physikalische oder chemische Begriffe gebracht werden",
und zwar obschon „selbstverständlich der Organismus
kein Mechanismus ist". Ich verstehe nicht den inneren
Zusammenhang dieser Sätze.
Der konsequenteste, zugleich auch biologisch am
besten geschulte philosophische Gegner des Vitalismus ist
Julius Schultz; oder vielmehr, er ist gar kein eigent-
licher „Gegner", er steht im großen und ganzen auf dem
Vaihingerschen Standpunkt einer „Als-ob"-Philosophie,
sieht im Mechanismus und Vitalismus zwei berechtigte
„Fiktionen" zur Verständlichmachung der eigentlich ge-
gebenen Naturphänomene und entscheidet sich nun frei-
lich zugunsten des Mechanismus.
Schultz1) ist Mechanist und Teleologe, ähnlich wie
Leibniz. Die Welt ist ihm die eine den Geist aus-
drückende Maschine; er vertritt, wenn ich in meiner
eigenen Terminologie sprechen darf, einen „raumhaften
Ordnungsmonismus", den man auch spinozistischen Mo-
nismus nennen könnte: es gibt am (unbekannten) Wirk-
lichen nichts, daß sich nicht auch in mechanischer Zu-
x) Die Maschinentheorie des Lebens, 1909. Die Philos. d.
Organischen im Jahrb. d. Phil. I, 1913. Die Fiktion vom Uni-
versum als Maschine und die Korrelation des Geschehens in
Annal. d. Phil. 1920. Die Grundfiktionen der Biologie, 1920 u. a. m.
186 IV. Der „Neovitalismus".
ständlichkeit oder mechanischem Geschehen erscheinungs-
haft Ausdruck gäbe. Alle Paradoxien des Ordnungs-
monismus1) nimmt J. Schultz mit in den Kauf, auch
die, daß bei seiner Allmaschinentheorie z. B. in dem Falle,
wo die beiden ersten Furchungszellen eines Keimes, nach
Zertrennung, je ein Ganzes statt zusammen ein Ganzes
liefern, offenbar eine Harmonie des Weltbaues mit Rück-
sicht auf gerade dieses Ei und gerade diesen Experi-
mentator, der doch auch zur „Welt" gehört, angenommen
werden muß.
Wer eine Weltenmaschine annimmt, steht eigen thch
jenseits des Gegensatzes von Mechanismus und Vitalis-
mus, denn die Welt als ein Ganzes fassen, in dem jene
Einzelheit gerade ihren Platz hat, das ist kein „Mecha-
nismus" im Newton sehen Sinne. Nicht ganz zu verstehen
ist es daher, daß Schultz meinen Vitalismus als autonome
Gesetzeslehre durch Ersinnung eines mechanischen Ge-
setzesschemas für Embryologie und Restitutionen be-
kämpfte2). Er fällt hier aus der Rolle, denn „Gesetze"
für selbständige „Fälle" darf es für den Allmaschinen-
theoretiker eigentlich nicht geben. Daß nun sein, auf den
Verwornschen Biogenbegriff gegründetes Gesetzesschema
die meinen „Beweisen" zugrunde hegenden Tatsachen
irgendwie erklärt, kann ich nicht zugeben : Man kann sich
eine Lokomotive aus lauter kleinen Lokomotiven erbaut
denken. Hat man nun aber die kleinen Lokomotiven alle
als Summe nebeneinander, so wird ohne ein auf die
eine Übermaschine ausdrücklich gerichtetes ordnendes
Prinzip oder eine auf ihre Gestaltung eingestellte gegebene
mechanische Tektonik nie die eine endgültige Überma-
schine, die große Lokomotive, Zustandekommen! Die „.ge-
gebene mechanische Tektonik' ' scheidet aber als Möglichkeit
aus, wenn man der ursprünglichen Summe von kleinen
!) Vgl. meine Wirklichkeitslehre (1917), S. 250ff., 254.
Phil. d. Organ. (2. Aufl. 1921) S. 595.
2) Maschinentheorie, S. 63 ff., 143 ff.
C. Gegner. 187
Lokomotiven b eliebig viele Lokomotivchen nehmen kann,
ohne dadurch zu verhindern, daß eine große Lokomotive
entsteht.
Folgerichtig vertritt Schultz auch den psycho-
mechanischen Parallelismus ; er arbeitet hier aber mit einer
atomistischen Psychologie, welche die wirklich vorhan-
denen, in ihrer Art sehr mannigfaltigen, psychischen, ele-
mentaren Irreduzibilitäten gar nicht berücksichtigt. Und
die sollen doch in ihrer geordneten Abfolge erklärt werden.
b) Naturforscher.
a) Radikale Gegner.
Rein naturwissenschaftliche Gegner der vita-
listischen Lehre, ja sogar auch einer als wesentlich an-
gesehener Teleologe überhaupt, waren eine lange Reihe
von Jahren hindurch beinahe alle ,, offiziellen" Zoologen,
und ich könnte eine lange Reihe von Namen hier hersetzen,
wollte ich vollständig sein. Doch kann uns an gelegent-
lichen Glaubensbekenntnissen zur mechanistischen Ortho-
doxie hier nichts Hegen. Anders steht es natürlich mit
solchen Biologen, die in der Bekämpfung des Vitalismus
ihre ganz ausdrückliche besondere Aufgabe gesehen haben.
Ich greife unter diesen die drei bedeutendsten heraus:
Bütschli, Klebs und Zur Strassen, und ich wähle
auch noch deshalb ganz besonders diese drei Männer,
weil gerade sie, trotz allem Festhalten am Mechanismus,
nicht eigentliche Dogmatiker gewesen sind. Mit den
Worten: ,,An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen"
beschließt z. B. Bütschli seine Darstellung der mecha-
nistischen und der vitalistischen Lehre, und bei Klebs
und Zur Strassen gibt es ähnliche Stellen. Verworn
und andere sind viel weniger scharf und klar und in viel
höherem Grade dogmatisch. Jensens Erörterungen sind
gar zu allgemein gehalten1).
x) Organische Zweckmäßigkeit, 1907. Hierzu meine Er-
örterung in Arch. Entw. Mech. XXV, 1908, S. 418.
188 IV. Der „Neovitalismus".
Die drei Genannten halten den Vitalismus für un-
nötig, weil er trotz der Aussagen seiner Vertreter, und
insonderheit meiner, nicht bewiesen sei. Bütschli1)
meint, es gebe schon im Unbelebten ,,harmonisch-äqui-
potentielle Systeme"2), ein sich zur Kugel rundender
Tropfen sei z. B. ein solches. Er übersieht hier und sonst,
wie ich eingehend zeigte3), daß „typisch geordnete spezi-
fische Ungleichheit der Elemente das Kennzeichen der
Organismen ist". Zur Strassen4) meint gewisse, ganz
einfache Fälle von harmonischer Äquipotentialität (und
von tierischen Bewegungen5) mechanisch auflösen zu
können. Ich6) habe ihm erwidert, daß algebraische
Gleichungen bis zum vierten Grade auflösbar sind, aber
bei höherem Grade in allgemeiner Weise nicht. Klebs7)
hat weniger polemisiert, als vielmehr in mechanistischem
Geiste selbständig geforscht ; er hat die große Modifizierbar-
keit der pflanzlichen Gestaltungen in reichstem Maße nach-
gewiesen; sehr bedeutsam sind seine Begriffe der „äußeren
Bedingungen' ' , der, ,inneren Bedingungen" , der , spezifischen
Struktur", obschon es bezüglich der letzteren ja gerade in
Frage steht, ob sie als „Struktur" gedacht werden kann.
Aber meine zum Vitalismus führenden besonderen Ar-
gumentationen hat Klebs an keiner Stelle getroffen8).
Ich erwähne an dieser Stelle endlich noch die Angriffe
Schaxels9), der freilich immerhin dem Vitalismus als
2) Mechan. und Vital. 1901.
2) Siehe oben: S. 175.
3) Biol. Zentralbl. 22, 1902, S. 441.
4) Zoologica Nr. 40, 1906.
5) Die neuere Tierpsych. 1908.
6) Arch. f. Entwicklungsmech. 25, S. 415, und Ergebn. d.
Anat. u. Entwicklungsgesch. 17, 1909, S. 99.
7) Willkürl. Entwicklungsänderungen bei Pflanzen, 1903;
ferner Biolog. Zentralblatt 24, 1904; 32, 1912; 37, 1917.
8) Driesch, Biol. Zentr. 23, 1903, S. 736, und 39, 1919, S. 452.
9) Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Meta-
zoen, 1915.
C. Gegner. 189
einem logisch in sich geschlossenen Gebilde volle Würdi-
gung zuteil werden läßt1). Er glaubt gelegentlich, geradezu
meine Beobachtungen widerlegen zu können; ich konnte
aber zeigen2), daß er in bezug auf das, worauf es ankommt,
harmonische Äquipotentialität, überall dasselbe gefunden
hat wie ich selbst. Neuerdings3) hat er das Vorkommen
jeder Art von echter Restitution bestritten; er hat aber
selbst in vollstem Maße solche gefunden; daß etwa ein
Fußregenerat von einem normalen Fuße ein klein wenig
abweicht, tut hier doch nichts zur Sache. Es ist doch
immerhin ein „Fuß" und nicht irgend etwas Beliebiges
gebildet, und zwar eben „wieder" gebildet worden.
Die naturwissenschaftlichen Gegner des Vitalismus,
welche wir bis jetzt betrachtet haben, sind nicht nur seine
Gegner, sondern lehnen zugleich eine tiefere Bedeutung
der Zweckmäßigkeit überhaupt ab. Sie sind darwinistische
Zuchtwahltheoretiker.
ß) Gegner mit Zugeständnissen, zum mindesten an eine
Bedeutung des Teleologischen.
Wir gehen nun kurz auf einige Forscher ein, welche,
schon allein der Terminologie ihrer Lehren wegen, auf den
ersten Anblick den Eindruck erwecken, als seien sie des
Vitalismus Freunde; freilich nur auf den ersten Anblick;
denn bei tiefer, dringender Betrachtung zeigt sich, daß das
Wort „Mneme" bei Semon (1904), das Wort „Centro-
epigenese" bei Rignano (1906) nur kurze Ausdrücke für
einen verwickelten, aber doch mechanischen Sach-
verhalt bedeuten sollen. Die genannten Denker, zugleich
Vorkämpfer der Lehre von der sog. „Vererbung erworbener
Eigenschaften" und (aber nicht-psychistische) „Lamark-
kianer", sind also durchaus nicht Vitalisten, sehen aber
x) Grundzüge d. Theorienbildung in d. Biol. 1919.
2) Biol. Zentr. 35, 1915, S. 545, und 36, 1916, S. 472.
3) Untersuchungen über die Formbildung I, 1921.
190 IV- Der „Neovitalismus".
immerhin, freilich ohne das weiter auszuführen, im
Leben etwas Weltwesentliches, etwas, das von
Urbeginn statisch in der Materienkonstellation garan-
tiert war.
Tiefer ihres philosophischen Standpunktes bewußt ist
sich eine Gruppe britischer Biologen. Ich nenne an erster
Stelle den ausgezeichneten Instinktforscher Lloyd Mor-
gan1) und D'Arcy W. Thompson2), der, ebenso wie
Bütschli, Rhumbler, Dreyer und andere, das große
Verdienst hat, biologische Formprobleme auf scharfe
mathematische Ausdrücke gebracht zu haben. Lloyd
Morgan spricht für das Organische von ,, Specific modes
of synthesis" „We must be prepared to regard the Con-
stitution of nature as the ground of new and unforeseeable
synthesis". Cause und Source werden scharf geschieden,
und gegen meine Entelechie ,,as ground" hat er nichts ein-
zuwenden; freilich nur wenn mein Wort ,,the inherited
Constitution under another name" bezeichnen solle, was
allerdings durchaus nicht in meinem Sinne ist. Thomp-
son ist dem eigentlichen Vitalismus wohl weniger ab-
geneigt3); aus forschungstechnischen Gründen, wie man
sagen könnte, wählt er sich solche Untersuchungsgegen-
stände, ,,to which the ordinary laws of the physical forces
more or less obviously and clearly and indubitably apply".
J. S. Haidane4) dürfte ebenfalls hier seinen richtigen
Platz finden. Er nimmt meinen ,, zweiten Beweis" (S. 181)
des Vitalismus an, hat sogar nichts gegen eine Verletzung des
Satzes von der Energieerhaltung durch das Leben ein-
zuwenden, neigt aber gelegentlich doch auch wieder einer
Lehre zu, welche die Welt als die eine Allmaschine, etwa
im Sinne des Leibniz, auffaßt.
*) Theoretisches zumal in Instinct and Experience, 1912.
2) Growth and Form, 1917.
3) loc. cit. S. 14.
4) Mechanism, Life and Personality, 1913.
;C. Gegner. 191
Der Amerikaner L. J. Henderson lehrt die Theorie
von der Allmaschine rückhaltlos und bewußt. Er hat 1913
unter dem Titel ,,The fitness of the environment" ein
höchst geistvolles, mit dem Namen „Die Umwelt des
Lebens" ins Deutsche übersetztes Werk verfaßt, dessen
Inhalt man einen umgekehrten Darwinismus nennen
könnte, und das für die Frage nach einer Teleologie der
unbelebten Welt von hoher Bedeutung ist. Sein Buch
„The order of nature" (1917) zeigt, ihn durchaus als teleo-
logischen Statiker, ja, er will sogar Aristoteles für einen
solchen ausgeben.
Ich wage es endlich, auch J. Loeb, den so ideen-
reichen und fruchtbaren Experimentator, in dieser Gruppe
von Denkern und nicht bei den radikalen Leugnern einer
Sonderbedeutung des Lebens, sei es auch nur im statischen
Sinne, unterzubringen. Loebs ältere Werke würden das
freilich nicht rechtfertigen, aber sein 1916 erschienenes
Buch The organism as a whole kann doch wohl dem Begriff
statischer Sonderganzheit, als einer für das Leben urkenn-
zeichnenden Angelegenheit, zugeordnet werden1).
Einige Physiker sind es nun noch, welche, und zwar
an ebenfalls dieser Stelle, genannt werden müssen. Ich
denke hier weniger an Arrhenius, der bekanntlich das
Leben auf Grund der Konstellation der Materie ewig sein
läßt, als an Auerbach und seine Lehre vom Ektropis-
mus2): Das Leben sei, im Gegensatz zum anorganischen
Geschehen, ,, ein Kampf gegen die Entwertung der Energie".
Ganz neu ist dieser Gedanke nicht. Schon Helmholtz
x) W. E. Ritter' s Werk „The Unity of the Organism, or the
Organismal Conception of Life", 2 Vols. 1919 f. ist mir leider nicht
im Original bekannt geworden. Einer Besprechung von Jennings
(Phil. Review 30, 1921) entnehme ich, daß es sich um eine Lebens -
stofftheorie in der Art von Reil und K. C. Schneider handelt.
Alles scheint sehr im Einzelnen ausgebaut zu sein.
2) Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens,
1910.
192 IV. Der „Neovitalismus".
hat erwogen, ob eine Verwandlung ungeordneter Be-
wegung in andere Arbeitsformen „den feineren Strukturen
der lebenden organischen Gewebe gegenüber auch unmög-
lich sei"1); und Preyer hat Ähnliches gedacht. Da alles
nach Auerbach auf gegebener „Organisation" beruhen
soll, wird von ihm natürlich 'der eigentliche Vitalismus
nicht etwa angenommen; die einst von Maxwell fingierten
„Dämonen" sind nicht im Spiel2).
D. Verschiedene Formen des Neovitalismus.
Wir verlassen die Gegner nicht nur unseres Systems
sondern des Vitalismus in jeder Form. Wir wissen, daß
sie nicht alle wegen ihrer Gegnerschaft gegen diesen, auch
Feinde einer Lehre von der grundsätzlichen Weltbedeutung
des Lebendigen sind; sie fassen diese Bedeutung, wenn sie
sie annehmen, aber statisch, d. h. strukturell fundiert auf.
Jetzt betrachten wir, was man die Erörterung der
Lehrmeinungen der verschiedenen Schulen des Vitalismus
im neuesten Gewände nennen könnte. Ich wähle absicht-
lich die Worte „Formen" (in der Überschrift) und „Schulen'4
und nicht das Wort „Anhänger". Denn dieses Wort könnte
den Leser veranlassen, zu glauben, daß es sich um Freunde
gerade meines, durchaus gegenständlich, unpsycho-
logisch geformten Vitalismus handeln solle; und das ist
durchaus nicht überall der Fall.
Gelegentlich freundlich gegenüber dem Vitalismus ge-
äußert, ohne jedoch ein endgültiges Wort zu sprechen, hat
sich neuerdings eine ganze Reihe von Biologen und Philo-
sophen; ich nenne nur Dreyer, Fischel, Gemelli,
Gregoire, C. Herbst, Mackenzie, T. H. Mor-
gan, Moszkowski, Schmitz-Dumont, W. Stern,
A. v. Tscher mak. Nicht immer ist ganz klar, ob an
1) Ostwalds Klassiker, Nr. 124, S. 130 (Anm.).
2) Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch W. Stern,
Zeitschr. f. Phil, und phil. Kritik 121/122, 1903.
D. Verschiedene Formen des Neovitalismus. 193
Teleologie überhaupt oder an Vitalismus gedacht ist.
Herbst nannte die „Entelechie" ausdrücklich einen
Grenzbegriff, der dem Naturforscher unzugänglich sei,
um den er sich aber in seiner positiven Experimental-
arbeit nicht zu kümmern brauche.
0. Hertwig ist wohl „nur Teleologe", aber nicht
Vitalist, und gehört daher nicht hierher; den schon auf
S. 190 erwähnten d'Arcy W. Thompson könnte ich
jedoch auch hier, unter den Freunden des Vitalismus,
nennen. Sein Landsmann J. A. Thomson1) verdient,
abgesehen von seiner wohlwollenden Haltung dem Vita-
lismus gegenüber, deshalb besondere Erwähnung, weil er
der eigentlichen Frage durch die Formel ,, Are there two
sciences of nature V einen besonders klaren und
scharfen Ausdruck gegeben hat. Bei E. S. Russell2)
wird nicht ganz klar, ob er bei seiner Gegnerschaft gegen
die Versuche, die Biologie in Physik und Chemie aufzulösen,
an statische Teleologie oder an echten Vitalismus denkt.
Dasselbe gilt von den Ausführungen Neumeisters3).
Treten wir jetzt an die kurze Erörterung der einzelnen
Formen des neuesten Vitalismus, von meiner eigenen und
derjenigen Bergsons abgesehen, heran, so nennen wir an
erster Stelle die Vitalenergetiker. Die Eigengesetzlich-
keit ces Lebendigen soll auf einer besonderen ,, Energieart"
und ihren Eigentümlichkeiten beruhen. Wilhelm Ost-
wald hat in diesem Sinne von einer geistigen Energie, die
er im Nervensystem wirksam sein läßt, geredet; der
russische Psychiater Bechterew denkt ähnlich; manchen
anderen ist der Gedanke auch offenbar recht sympathisch
und annehmbar. Da einerseits die Lehre von den ,, Energie-
arten" als von nicht weiter auflösbaren Naturgrößen im
x) Hibbert Journal X, 1911/12; s. auch desselben Autors
„The System of animate nature", 2 Vols, 1920.
2) Scientia Vol. IX, 1911.
3) Betrachtungen über das Wesen der Lebenserscheinungen
1903.
Driesch, Vitalismus. 2. Aufl. 13
194 IV. Der „Neovitalismus".
Verschwinden begriffen ist, andererseits aber das Zusam-
menbringen des vitalen Problems mit dem rein quanti-
tativen Energiebegriff die eigentliche Natur des vitalen
Problems durchaus verkennt — (wie in meiner „Philo-
sophie des Organischen" eingehend dargelegt worden ist) — ,
so können wir die Vitalenergetiker schon wieder verlassen.
Als Lebensstofftheoretiker bezeichnen wir in
erster Linie Karl Camillo Schneider, der zuerst im
Jahre 1903 in seinem Buche Vitalimus, Elementare Lebens-
funktionen und in der Folge noch an vielen anderen Orten1)
seine Auffassung vom Lebendigen vorgetragen hat. Es
soll eine besondere „lebende Substanz" von bestimmter
„Zusammensetzung" geben, mit deren Auftreten ,,im
Anorganischen nicht vorhandene" Wirkungsweisen in Er-
scheinung treten sollen. Die lebendige Substanz wird von
außen erregt und wirkt dann in jedesmal bestimmter
Weise auf die unbelebte Materie, ohne sich selbst dabei
zu verändern. Das Leben ist also ,, ein Prozeß be-
sonderer Art, von dem der Stoffwechsel uns nur gewisser-
maßen die Außenseite zeigt". Das „Neue", das „Be-
sondere", was sich an der lebenden Substanz zeigt, denkt
Schneider ganz ähnlich wie Ostwald als besondere
Energieart. Recht unbestimmt ist die Ausführung im
einzelnen; einen eigentlichen Beweis der Unmöglichkeit
des Mechanismus gibt Schneider nicht. Er will meinen
Entelechiebegriff in „Kausales auflösen", ohne damit die
Lebenseigengesetzlichkeit zu beeinträchtigen. Aus den
Lagebeziehungen der Zellen zueinander sollen sich Reize
ergeben, welche auf das Zentrosoma, das eigentlich Emp-
findliche und Reaktionsbestimmende wirken. Das Wort
„Zellpsyche" kommt gelegentlich vor.
x) Versuch einer Begründung der Deszendenztheorie, 1908;
Ursprung und Wesen des Menschen, 1908; Vorles. über Tier-
psychol., 1909; Grundgesetze der Deszendenztheorie, 1910; Tier-
psych. Praktikum, 1912 und viele kleine Aufsätze.
D. Verschiedene Formen des Neovitalismus. t 195
Schneiders Theorie hat gewisse Berührungspunkte
mit der oben auf S. 94 erörterten älteren Lebensstoff -
theorie Reils; sie darf natürlich nicht mit den rein chemi-
schen Lebensstoff kategorien von Pflüger, Verworn,
Loew, Kattowitz und anderen verwechselt werden.
Übrigens hat Schneider in einem kleinen „Vitalismus"
betitelten Aufsatze1) vom Jahre 1907 seine Lehre unseres
Erachtens viel besser und klarer als in seinen Büchern
geformt; er unterscheidet da „Entelechie", als nicht ohne
weiteres „zweckmäßig" zu nennendes Bild der Indivi-
dualität, von der ,, Zweckkraft" oder „Finalität", welche
die Formgebilde einander anpasse, und zu der auch die
geistigen Vorgänge gehören sollen.
Die Schule, und zwar eine wirkliche „Schule", der
Psychovitalisten, wurde von Pauly durch sein Werk
Darwinismus und Lamarekismus im Jahre 1905 eröffnet.
Pauly experimentiert nicht, untersucht auch nicht ana-
lytisch vorliegende Experimentalergebnisse, sondern ar-
beitet phylogenetisch an der Hand des vorliegenden
anatomischen Materials, d. h. er fragt: wie und wie nur
können diese Bildungen entstanden sein ? Die Antwort
aber lautet ihm: Deshalb, weil der Organismus mit Rück-
sicht auf sein Anpassungsvermögen, auf dessen Äuße-
rung alle phylogenetische Ausgestaltung beruhen soll, über
seelisches Vermögen und Kräfte, insonderheit über Urteils-
vermögen verfügt. Wir sehen hier den „Neolamarckismus"
in seiner psychistischen Form. Was der Organismus ge-
staltlich als angebracht erkennt, das führt er aus; andere
Gestaltungsgesetze gibt es nicht. Durch Ablehnung
eigener, nicht auf Vererbung von zufällig Erworbenem
beruhender Formgesetze unterscheiden sich alle, die sich
Neolamarckianer nennen, sehr von dem echten Lamarck;
(siehe oben S. 89). Eigentlich bewiesen wird hier gar nichts ;
der embryologischen Experimentaluntersuchungen wird
*) Zeitschr. f. d. Ausbau d. Entwicklungslehre I.
13*
196 IV. Der „Neovitalismus".
nicht gedacht. Unmöglich aber ist die ganze Lehre des-
halb, weil G. Wolffs Begriff der „primären Zweck-
mäßigkeit", von dem auf* S. 172 geredet wurde, hier über-
sehen ist. Formleistungen, auch anormale, restitutive, ge-
schehen wie Instinktsäußerungen das erstemal, wo sie
geschehen, in spezifischer Vollendung, mag auch ihr
Wiederholtwerden in manchen Fällen ihren späteren Ver-
lauf rein zeitlich beschleunigen. Von einer Analogie zu
Seelischem mag man hier reden ; ich habe es selbst getan.
Aber ,, unser" Seelisches, wie Pauly meint, d. h. ein
Seelisches, das auf Grund von Gedächtnis Erfahrung er-
wirbt und sie dann beurteilend verwertet, liegt ganz sicher-
lich nicht vor. ,, Primäres Wissen und Wollen" meinet-
wegen, wenn man analogienhaft reden will, aber kein
„sekundäres (erfahrungshaftes) Wissen und Wollen"1).
Die ersten Nachfolger Paulys waren R. H. France2)
und A. Wagner3); beide arbeiten aber exakter und ver-
wenden experimentelles Material aus der Embryologie und
Restitutionslehre .
Auch S. Becher4) ist auf diesem Boden Psycho-
vitalist. Er vertritt einen mnemischen Vitalismus,
arbeitet mit den Begriffen ,, Gestaltreiz" und „ererbtes
Formresiduum" und führt, in anderem Sinne als einst
Noll, den Begriff der „heterogenen Induktion" ein zur
Bezeichnung des (hypothetischen) Verhältnisses, daß
eine Formbildung im Laufe der Generationen von
einem bestimmten Zeitpunkte an auf einen anderen
Anstoß hin ins Dasein trete als ursprünglich. Dieses
Verhältnis, von E. Schultz schon 1910 als „Reiz-
ersatz" bezeichnet, könne nach assoziativer Analogie
gedacht werden.
*) Philos. d. Org., 2. Aufl., 1921, S. 402. Ganz ebenso schon
in der ersten Auflage.
2) Das Leben der Pflanze, Kosmos, 1906.
3) Der neue Kurs in der Biologie, 1907.
4) Zool. Jahrb., Allg. Abt. 31, 1911.
D. Verschiedene Formen des Neovitalismus. 197
S. Bechers Bruder, der Philosoph E. Becher, hat
in seinem Buche über die ,, fremddienliche Zweck-
mäßigkeit der Pflanzenzellen", nachdem er schon
vorher dem personalen Psychovitalismus zuneigte, im
Jahre 1917 diesen wesentlich vertieft und durch Zulassung
überpersönlicher seelischer Faktoren in ähnlicher Weise
wie E. v. Hartmann bedeutsam erweitert. Es wird sich
später zeigen und ward wohl auch schon aus der ersten
Auflage der „Philosophie des Organischen" klar,
daß ich in den Ergebnissen durchaus mit E. Becher
gehen kann, wenn auch mein methodischer Weg ein
anderer, und zwar ein weit umständlicherer ist. Denn ich
kann, solange Wissenschaft, d. h. Logik im weitesten
Wortsinne geschrieben wird, nicht zulassen, daß „See-
lisches" im eigentlichen Sinne in die Natur hineinspiele.
Erst auf metaphysischem Boden kann ich das. Übrigens
hat sich E. Becher von der Paulyschen ziemlich groben
Vermenschlichung der bei der Formbildung tätigen „see-
lischen" Kräfte in hohem Maße ferngehalten1).
Die amerikanischen Zoologen Child und Holmes
neigen wie Pauly dazu, alles Formbildungsgeschehen in
Anpaßungen und in ein Probieren aufzulösen, die vor-
züglichen „Trial and error"- Untersuchungen ihres hervor-
ragenden Landsmannes H. S. Jennings über tierische
Bewegungen dabei verwertend. Sie spielen sehr bedeutsame
Dinge auf ein Gebiet hinüber, für das sie nicht passen. Die
eigentliche vitalistische Frage steht bei ihnen in zweiter
Linie und wird nicht in Klarheit entschieden.
Nach Analogie der „ Handlung", ohne die falsche
Auflösung alles Formgeschehens in Anpassungen mit-
zumachen, fast die morphogenetischen Leistungen auch
der russische Zoologe Eugen Schultz in seinem lesens-
x) Hierher auch Strecker, Das Kausalitätsprinzip in d.
Biol., 1907. Dazu meine Erörterungen in Arch. Entw. Mech. 25,
1908, S. 421.
198 IV. Der „Neovitalismus".
werten Buche „Prinzipien der rationellen vergleichenden
Embryologie" (1910) auf. Da er unter dem Worte „Hand-
lung" tatsächlich etwas versteht, was besser „Instinkt-
leistung" heißen sollte, können wir ihm mehr als einem
der vorher Genannten, mit Ausnahme E. Bechers, in der
Sache weitgehend recht geben.
M. Hartog1) endlich, auf den wir sogleich noch ein-
mal zu sprechen kommen, vertritt im Anschluß an den
auf S. 164 genannten S. Butler einen Psychovitalismus.
Er definiert scharf die Begriffe „Maschine", „Mechanis-
mus", „Automaton", „Organismus", sagt mit Recht, daß
Butler dem Psychovitalismus eigentlich schon alles vor-
weggenommen habe, und glaubt, ebenfalls mit Recht,
nicht, daß eine „Mnemelehre", wie die Semons, auf
mechanistischem Boden überhaupt möglich sei: Sein
Psychismus ist weit weniger vermenschlicht als der
Paulys.
Damit sei es genug an „Psychovitalismus". Gerade
er unter allen vitalistischen Formen fängt an „modern"
zu werden; man findet ihn gerade in seinen schwächsten
Formen schon in den Tagesblättern.
E. Der Ausbau des vitalistisclien Systems.
a) Neue Tatsachen zur Grundlegung.
Neue tatsächliche Stützen der Lehre von der Lebens-
autonomie sind von hervorragender Wichtigkeit. Nicht,
als ob der sie brauchte, welcher das bereits vorliegende,
die sachliche Grundlegung des Vitalismus ausmachende
Material gründlich durchdacht hat und durch seine Wucht
endgültig zum Gegner des Mechanismus ' geworden ist ;
aber auf noch nicht gewonnene Kreise wirkt gerade das
neue Tatsächliche.
2) Problems of Hfe and reproduction, 1913.
E. Der Ausbau des vitalistischen Systems. 199
Viel gibt es da nun leider nicht; die lange Unter-
brechung ruhiger Arbeit durch den Krieg mag mit daran
schuld sein.
M. Hartog1) sieht schon in der Zellteilung ein Phä-
nomen, das mechanischer Auflösung spottet. Eine polare
Kraft sei am Werk, die sich keiner der bekannten Kräfte
der Physik zuordnen läßt. Tischler hat sich ähnlich ge-
äußert, ebenso Uexküll.
Bedeutsam sind gewisse Deutungen von Formbil-
dungstatsachen, die sich an die Gedankengänge Nolls,
deren wir auf S. 178 gedachten, anschließen. Der früh
verstorbene Zoologe Prowazek2) ist bei seinen Studien
über die Regeneration der Algen zu der Überzeugung ge-
kommen, daß hier von vorgebildeten Strukturen nicht die
Rede sein könne, daß auch die Heranziehung des Begriffes
der Oberflächenenergie zu einer Erklärung nicht genügt.
Er führt den Begriff einer „Spezifität der Morphe" als
etwas Irreduzibles ein.
Der russische Zoologe A. Gur witsch3) hat hier noch
tiefer gedacht. Neben die Determination einzelner be-
stimmter Zellen zu bestimmtem Schicksal stellt er im
Rahmen der Embryologie den Prozeß der Normierung,
welche der Leistung der einzelnen Zelle dem „Zufall"
überläßt und nur der Gesamtheit der Zellen einen Plan
vorschreibt, nach dem sie zu wirken haben. Vermöge
dieses Planes empfindet jede Zelle, was sie jeweils zu tun
hat. So kommt er zum Begriff der ,, präformierten Morphe",
und zwar müsse sie als „dynamisch präformierte Morphe"
gedacht werden. Man sieht die Verwandtschaft mit Nolls
„Morphästhesie" wie auch mit meinem Entelechiebegriff.
*) Arch. Entw. Mech. 27, wo weitere Literatur.
2) Biol. Zentralblatt 27, 1907; Arch. f. Protistenkunde 30,
1913.
3) Arch. Entw. Mech. 30, 1910; 32, 1911; 39, 1914; Biol.
Zentralbl. 32, 1912.
200 IV. Der „Neovitalismus".
Ungerer hat die „Regulationen der Pflanzen"
(1919) in sehr gründlicher Weise unter dem Gesichtspunkt
der Ganzheit und Ganzheitbezogenheit („Teleologie")
analytisch untersucht.
Seine Klassifikation aller Phänomene ist aus-
gezeichnet, seine Begriffe sind scharf. Erwähnt sei an
dieser Stelle nur, daß er im Anschluß an meine neuere
Begriff sschematik „Regulation" als Ganzheitswieder-
herstellung, „Harmonie" als Ganzheitsherstellung
definiert. Ich selbst hatte in der ersten Auflage der
„Philosophie des Organischen" auf S. 107 ff. das Wort
„Harmonie" in engerem Sinne verwendet. Zur Frage des
eigentlichen Vitalismus nimmt Ungerer nicht Stellung.
In der zweiten Auflage meines eben genannten Werkes
habe ich (S. 179 f.) die Aufmerksamkeit besonders auf
die bei pflanzlichen Adaptationen und Restitutionen in
Frage kommenden histologischen Vorgänge gelenkt,
zumal auf die Potenzen der bei ihnen in Frage kommenden
sog. „embryonalen" oder durch Entdifferenzierung embryo-
nal werdenden Zellen; ich führte als neu den Begriff des
„adaptiv-histologisch-äquipotentiellen Systems" ein.
b) Logischer Ausbau.
In der ersten Auflage der „Philosophie des Organischen"
war die logische Fundierung des Begriffes Entelechie
noch unbefriedigend gewesen1). In einer im 16. Bande
der „Kantstudien" veröffentlichten Arbeit konnte ich nun
zeigen, daß man eine Kategorie „Individualität" oder auch
das Begriffspaar „Das Ganze und die Teile" geradezu
kantisch aus der „Urteilstafel", die sich allerdings einer
kleinen Reform unterziehen muß, „deduzieren" kann.
Wichtiger noch war mir die 1912 in der „Ordnungs-
lehre"2) geführte Ableitung der vier apriori mög-
!) Siehe oben, S. 183.
2) S. 173ff.
«
E. Der Ausbau des vitalistischen Systems. 201
liehen Formen der Kausalität aus dem Begriffe
„Kausalität" und aus den letzten Voraussetzungen alles
Wissens um Naturdata überhaupt heraus. Zu diesen
vier Kausalitätsformen gehört auch die vitalistische. Mehr
als diese vier Formen kann es nicht geben. Später
habe ich in einer kleinen Studie1) in ähnlicher Weise die
apriori möglichen Formen von „Entwicklung" ab-
geleitet und diesen Begriff überhaupt eingehend unter-
sucht. In einer Fortsetzung dieser Studie2) wurde diese
Untersuchung weitergeführt. Alle meine neueren Unter-
suchungen sind ganz und gar gegenständlich und gar
nicht mehr subjektivistisch gegründet: der Begriff „Teleo-
logie" wird der Psychologie überwiesen; die Begriffe Ganz-
heit und ganzheitbezogen nehmen in der Naturlehre, also
auch in der Biologie, seine Stelle ein.
Doch dienten die beiden soeben genannten kleineren
Arbeiten nicht nur dem erwähnten Zweck.
Ich rollte erstens in ihnen auch die Frage der Krite-
rien des Vitalismus von neuem in logischer Strenge auf
und diskutierte das Problem der harmonischen Äqui-
potentialität wie ein Problem der analytischen Me-
chanik, um den „Mechanismus" hier nicht nur unwahr-
scheinlich, sondern ganz und gar unmöglich zu
machen. Ich behandelte zweitens das Problem, wie En-
telechie auf Natur wirken könne, aufs neue, und fand neben
der alten Suspensionstheorie3) eine neue Möglichkeit, die
„Theorie der realisierten Bedingungsgleichungen".
In meiner „Wirklichkeitslehre" (1917) endlich, in
der ich einen „metaphysischen Versuch" wagte, habe ich
unter dem Begriff der Ganzheit alle Überpersönlich-
keitsprobleme, also Phylogenie und Geschichte, ganz
eingehend behandelt.
1) Log. Stud. über Entw. in Sitzungsber. Akad. Heidelberg,
1918, Nr. 3.
2) Log. Stud. über Entw., Zweiter Teü, ebenda, 1919, Nr. 18.
3) Siehe oben S. 183.
202 IV. Der „Neovitalismus".
Nachdem ich einmal Metaphysiker geworden war, ja,
das ,, Wirkliche" mit dem Quäle des Wissens ausgestattet
hatte, durfte ich nun auch den aus der Logik verbannten
Begriff der Teleologie im eigentlichen Sinne wieder ge-
brauchen. Als Metaphysiker bin ich also, wenn man
so will, auf großen Umwegen auch „Psychovitalist" ge-
worden, freilich durchaus nicht in einer menschlichen oder
allzumenschlichen Form. Aus der Logik und der eigent-
lichen Wissenschaft bleibt mir aber der Teleologiebegriff
nach wie vor verbannt; hier tritt der Begriff „ganzheits-
bezogen" an seine Stelle.
Die kleine Schrift „Der Begriff der organischen
Form" (1919) und in Ausführlichkeit die zweite Auflage
meiner „Philosophie des Organischen" (1921) geben
mein System in seiner heutigen Gestalt vollständig wieder.
Ganz neu ist in dieser zweiten Auflage die Erörterung des
dunklen „Problems der Zahl der Entelechien" hinzu-
gekommen. ■ —
Es ist hier der Ort, einer Polemik zwischen mir und
den amerikanischen Forschern Jennings und Lovejoy
zu gedenken, die nicht unwesentlich zu einer Klärung ge-
wisser vitalistischer Streitfragen beigetragen hat. Jen-
nings ist allen Biologen durch seine ausgezeichneten
Experimentaluntersuchungen über die Bewegungen nie-
derer Organismen und durch sein im Jahre 1906 erschie-
nenes zusammenfassendes Werk Behavior of the lower
Organismus rühmlich bekannt; Lovejoy ist Philosoph.
Jennings hatte sich schon in früheren sachlichen
Arbeiten zu meinem Vitalismus halb zustimmend, halb
ablehnend geäußert. In der eigentlichen Polemik ist ganz
klar geworden, was er meint1).
Die Polemik nimmt ihren Ausgang vom Begriff der
Determiniertheit. Ich hatte mich in meinem Haupt-
1) Vgl. von Jennings die Aufsätze in American Naturalist
1913 und Johns Hopkins University Circular 1914, von Lovejoy
die Artikel in Science 1909, 1911 und 1912.
E. Der Avisbau des vitalistischen Systems. 203
werke, in einer kleineren Studie1) und auch in ausführ-
lichen Briefen gegen einen „absoluten" Indeterminis-
mus ausgesprochen, wohl aber für das, was meine ameri-
kanischen Kollegen ,,experimental indeterminism" ge-
nannt haben. Ich sage: weil die Kräfte der materiellen Teile
nicht das einzige sind, was ein lebendiges System beherrscht,
so kann aus noch so vollständiger Kenntnis der materiellen
Struktur eines solchen Systems grundsätzlich nie vor-
ausgesagt werden, was an ihm geschehen wird. Nun weiß
man freilich praktisch trotzdem, daß ein Hühnerei ein
Huhn geben wird, weil es eben von einem Huhne
stammt und weil der Satz ,,Ei von A gibt A" als Gesetz
gilt; aber wenn eine evolutive Phylogenese an-
genommen wird, ist dieser praktisch gültige Satz nur
ein solcher von Wahrscheinlichkeit. Obwohl also in
der Sache Determinismus als bestehend gedacht wird, be-
steht der Voraussagbarkeit nach für den Experimen-
tator in Strenge kein solcher.
Jennings hat dann behauptet, mein Vitalismus be-
haupte das Eingreifen von ,,non-perceptual agents". Die
Annahme solcher sei aber unnötig, da auch im Reiche des
Lebendigen „diversities are determined by antecedent
physical and material diversities".
Aber das ist doch gar nicht die vitalistische Urfrage.
Daß bestimmte an einem lebendigen System gesetzte
materielle („perceptual") Veränderungen bestimmte sich
materiell („perceptual") äußernde Reaktionen an diesem
System zur Folge haben, ist doch nie geleugnet worden. Alles
Experimentieren beruht ja doch auf dem Nachweis solcher
per zipier baren Veränderungs Verkettungen. Und es gibt —
(wenn wir davon absehen, daß die Phylogenie gerade einen
„Schritt" tun möchte!) ■ — gut gekannte Gesetze, freilich
sehr ,, ramsch" -artiger Art für sie. „Schneide dem Wurm den
Kopf ab, und er regeneriert ihn" — das ist so ein „Gesetz".
J) Hierzu meinen Aufsatz in Logos IV, 1911.
204 IV. Der „Neovitalismus".
Die vitalistische Urfrage ist vielmehr diese: Ist das,
was da gesetzlich und determiniert geschieht, abzuleiten
aus einer Kenntnis der Lagen, Geschwindigkeiten und
Kräfte aller das System konstituierenden materiellen Letzt -
teile zur Zeit t ?
Und diese Urfrage muß ich verneinen. Auf meine
Verneinung der Urfrage aber gründe ich, um noch einmal
mit J. A. Thomson zu reden, den Satz, daß es „two
sciences of nature" gebe. Denn für alle unbelebten Systeme
kann jene Frage bejaht werden.
Seltsamerweise sagen nun Jennings und Lovejoy
beide, jene Voraussage des Künftigen aus Kenntnis der
Lagen, Geschwindigkeiten und Kräfte aller materiellen
Elemente zur Zeit t sei nie möglich, auch im Un-
belebten nicht. Ich meine, im strengen Sinne kann das
der Vertreter einer Materientheorie nicht zugeben; es
kann sich ihm höchstens um ein ,,noch nicht" handeln.
Im Vitalen aber handelt es sich um ein „grundsätz-
lich nicht".
Jennings gibt am Schlüsse seiner letzten Studie zu:
The phenomena of life include phenomena not found in
the non-living.
Um was denn also dreht sich eigentlich der Streit ?
Es klingt seltsam, aber mir scheint, er habe sich jetzt im
Grunde zu der gänzlich unbiologischen Frage verdichtet:
Sind alle unbelebten Systemgeschehnisse*aus vollstän-
diger, aus „astronomischer" Kenntnis1) der in Frage
stehenden Systeme ableitbar ? Meine amerikanischen Kol-
legen verneinen diese Frage. Soll ich daraus den Schluß
ziehen, daß die gewissermaßen ,, Vitalisten", oder sagen wir
,,Autonomisten" schon für das Unbelebte sind ?
Ich könnte da nicht mitgehen und muß strikte bei
den ,,two sciences" bleiben — trotz allem absoluten Deter-
minismus.
1) Der Ausdruck von E. du Bois-Reymond.
B. Der Ausbau des vitalistischen Systems. 205
c) J. v. Uexküll.
Ein Anhänger der Lehre von der weltwesentlichen Be-
deutung der organischen Einheit und Zweckmäßigkeit ist
Uexküll von jeher gewesen; aber in seinen jüngeren
Jahren, in welche die grundlegenden „ Studien über den
Tonus" fallen, begnügte er sich mit der Erkenntnis der
organischen Teleologie überhaupt und nahm zum eigent-
lichen Vitalismus keine ausgeprägte Stellung. Seine zu-
sammenfassenden Werke ,, Leitfaden in das Studium der
experimentellen Biologie der Wassertiere" (1905) und
„Umwelt und Innenwelt der Tiere" (1909, 2. Auflage 1921)
stehen auch noch auf diesem Standpunkte.
Das Wort „Biologie" nimmt Uexküll nicht in dem
heute üblichen weiten Sinne einer Lehre vom Lebendigen
überhaupt, sondern er nennt „biologisch" jede Unter-
suchung, welche in irgendeinem Sinne den Organismus als
Ganzheit nimmt. Der Begriff des Bauplans spielt eine
große Rolle schon in seinen früheren Untersuchungen;
ebenso der Begriff Umwelt als Gesamtheit der dem
Organismus auf Grund seiner spezifischen Zugäng-
lichkeit für Reize bedeutungsvollen Gegenständlich-
keiten. Jede organische Spezies hat auf Grund ihres
Baues eine andere Umwelt: „Der Bauplan schafft in
weiten Grenzen selbsttätig die Umwelt des Tieres."
In zwei im Jahre 1920 erschienenen Büchern, den
„Biologischen Briefen an eine Dame" und seinem
Hauptwerke, der „Theoretischen Biologie", hat sich
nun aber Uexküll rückhaltlos zum echten Vitalismus
bekannt. Sein Gebiet ist die „Biologie" in seinem Sinne.
Die,, Physiologie"nämlich untersucht die auf Grund von schon
bestehenden Gefügen nach „Funktionsregeln" erfolgende
„Zwangsläufigkeit" der Organismen, die „Biologie" ihre
durch „Entstehungsregeln" nicht mechanischer
Art verwirklichte „Planmäßigkeit". Am Protoplasma
haftet, in im einzelnen unbekannter Weise, der die Ent-
206 IV. Der „Neovitalismus".
stehungsregel verwirklichende lenkende Faktor. Schon bei
Einzelligen lenkt er die Bildung und Wiedervernichtung
der von ihnen nur auf Zeit und nach Bedürfnis gebildeten
Organe, bei höheren Wesen wirkt er sich in allem Regu-
lativen aus ; bei der echten Handlung greift er ins Zentral-
nervensystem ein. Er macht Maschinen, auf Grund
von deren Bau dann alles mechanisch abläuft, solange
dieser Bau existiert. Aber der Bau kann eben in unmecha-
nischer Weise verändert werden. Nie ist die Baufolge im
Material gegeben. Ein Lenker ist da; und er ist ,, weiser",
als bewußtermaßen das Tier ist ; er kennt die Gesetzlichkeit
der Welt, welche das Tier nicht kennt; er leistet die „Ein-
passung" des Tieres in die Welt. Man sieht, wie hier das
übliche Wort „Anpassung" durch ein treffenderes ersetzt
wird. Ebenso wird von Uexküll mit Rücksicht auf die
Embryologie „Ver"wicklung statt Entwicklung gesagt;
denn in der von ihm durchaus epigenetisch gefaßten Em-
bryologie wird ja in der Tat alles immer verwickelter.
Doch wir wollen nicht noch mehr über das Werk
sagen, welches der Leser unbedingt selbst in die Hand
nehmen muß.
F. Die moderne Psychologie.
Die Mechanisten müssen, wenn sie konsequent sein
und kein Loch in ihrer Lehre lassen wollen, die Lehre vom
psycho-physischen Parallelismus annehmen, die Vitalisten
müssen sie ablehnen. Das wissen wir schon, und wir wissen
auch, daß psycho-,, physischer" Parallelismus hier soviel
wie psycho-mec hanischer Parallelismus heißt. Die
Entelechie als Naturfaktor von der „anderen Seite" ein
„Seelisches" sein zu lassen, wie in verschiedener Weise
E. v. Hartmann und ich das getan haben, das ist natür-
lich etwas ganz anderes, obschon es, da ja Entelechie zur
„Natur" gehört, natürlich auch ein psycho-„physischer"
Parallelismus ist.
F. Die moderne Psychologie. 207
Der übliche, der psycho-mec hanische Parallelis-
mus wird also von den vitalistischen Biologen aus bio-
logischen Gründen durchbrochen. Der ,, Mechanismus"
ist eben nicht da.
Nun hat die neuere Psychologie aber auch von der
psychischen Seite her dem üblichen Parallelismus den Tod
gegeben; denn das, was er auf dieser Seite braucht: ein
reines Assoziationsgetriebe als letzte Gesetzlichkeit
des Innenlebens, das ist auch nicht da.
Die gesamte, sich ursprünglich an die Namen Külpe
und Marbe knüpfende Denkpsychologie ist Gegner des
üblichen Parallelismus, ebenso sind das die Phänomeno-
logen, in erster Linie also Husserl und Sc heier, ebenso
der „Entwicklungspsychologe" Krüger.
Konfrontiert worden, wie man wohl sagen könnte, ist
Mechanisches und Psychisches, so wie es wirklich ist
— (also nicht, wie es nach den Assoziationstheoretikern
,,sein sollte") — , von Bergson1), Mac Dougall2),
E. Becher3) und mir selbst4).
Der Bautypus und der ,,Grad der Mannigfaltigkeit"
sind für das Mechanische und das Psychische ganz und
gar verschieden, deshalb können beide nicht, um mit
Spinoza zu reden, una eademque res, sed duobus modis
expressa sein.
So hat sich also der Widerlegung des üblichen Par-
allelismus auf dem Gebiete der Naturlehre, d.h. dem durch
Ludwig Busse in seinem Werke ,, Geist und Körper,
Seele und Leib", durch mich selbst in meiner Schrift über
die ,, Seele" als Naturfaktor geführten Nachweis5), daß,
rein als Naturphänomen betrachtet, der handelnde Mensch
kein Mechanismus sein könne, zugesellt die Widerlegung
x) Matiere et Memoire.
2) Mind and Body (1911).
3) Gehirn und Seele (1911).
4) Leib und Seele (1916, 2. Aufl., 1920).
5) Beide Werke vom Jahre 1903.
208 IV. Der „Neovitalismus".
jener Lehre vom Psychischen her: ein sehr erfreuliches
Ergebnis und eine große Stütze der vitalistischen Lehre
überhaupt, wenn auch natürlich eine Parallelismuswider-
legung den Vitalismus zunächst nur für den handelnden
Menschen begründet.
G. Ausblicke.
Es ist zu hoffen, daß der Vitalismus einerseits seine
auf empirische Sachverhalte gebauten Grundpfeiler immer
mehr verstärkt, andererseits die Theorie des Entelechie-
begriffs immer tiefer und feiner ausarbeitet. Aber jene von
der Zukunft erhofften neuen Sachverhalte werden doch,
solange die Biologie in ihrem heutigen Rahmen bleibt,
voraussichtlich immer nur solche Dinge bringen, die mit
dem, was man schon kannte, nahe Verwandtschaft haben.
Es wird da kaum große Überraschungen geben; zumal
deshalb nicht, weil die Zahl der Organismen, insbesondere
der tierischen, mit denen man experimentieren kann,
äußerst beschränkt ist.
Nun scheint aber endlich „Wissenschaft" zu werden
ein Gebiet, auf dem man bisher nur kasuistische Fest-
stellungen gemacht hat, auf dem man mehr ahnte als
wußte: das Gebiet der Parapsychologie und der Para-
physik, also das, was leider immer noch „Okkultismus"
heißt, obschon es sich, wie mir scheint, durchaus nicht
mehr um etwas „Verborgenes" handelt.
Ich habe es schon an anderen Stellen ausgesprochen
und tue es hier ausdrücklich wieder, daß ich, leider ohne
schon über viel eigene Erfahrungen zu verfügen, durch Lek-
türe und durch persönliche Mitteilungen von Kollegen und
Schülern von der Tatsächlichkeit der Phänomene,
welche Telepathie, Gedankenlesen, räumliches Hellsehen,
„Psychometrie" und Materialisation heißen, überzeugt
bin. Man darf doch nicht immer nur sich selbst für
G. Ausblicke. 209
„kritisch" halten, und man glaubt doch auch einem tüch-
tigen Chemiker, wenn er uns sagt, daß diese seltene Ver-
bindung diese Konstitutionsformel habe.
Die Parapsychologie geht uns hier nichts an x) , um so
mehr die Paraphysik2). Wenn das richtig ist, was in den
letzten Jahren Schrenck-Notzing, Crawford, Geley,
Grunewald gefunden haben — um von älteren Autoren,
die aber auch höchstwahrscheinlich weder „Schwindler"
noch „Idioten" waren, abzusehen — , wenn das richtig ist,
und ich sehe keinen Grund, seine Unrichtigkeit an-
zunehmen, dann haben wir, um es etwas plump, aber, wie
ich glaube, sachgemäß auszudrücken, so etwas wie einen
Übervitalismus geradezu vor Augen, dann brauchen wir
unsere umständlichen Beweisgänge eigentlich gar nicht
mehr, um uns von der „Autonomie" des Lebendigen zu
überzeugen.
Wir sagen es offen: Die Paraphysik ist unsere Hoff-
nung in Sachen der Biologie, ebenso wie die Parapsychik
unsere Hoffnung in Sachen der Psychologie ist. Beide aber
sind unsere Hoffnung in Sachen einer wohlfundierten Meta-
physik und „Weltanschauung".
x) Man lese die Proceedings der Society for Psychical Research,
zunächst wenigstens die Arbeiten von Hodgson und James
in Vol 13 und 23. Man lese ferner die Werke von Tischner,
Wasielewsky und Oesterreich.
2) Zur ersten Orientierung: Schrenck-Notzing, Physi-
kalische Phänomene des Mediumismus.
Driesch, Vitalismus. 2. Aufl. 14
.
Namenverzeichnis.
Albrecht 176.
Aristoteles 8-19, 22-26, 28,
31, 39, 46f., 55, 62, 88, 182.
Arrhenius 191.
Auerbach 191 f.
Autenrieth 94, 103f., 123.
Baer 108 f., 146ff.
Becher, E. 197 f., 207.
Becher, S. 196.
Bechterew 193.
Bergson 159, 178ff., 193, 207.
Bernard 21, 58, 119,
128-132, 174.
Bichat 58 f., 89, 103, 128.
Blumenbach 35, 55-62,
105, 123f., 128, 130,
147, 150.
Boerhaave 21.
Boltzmann 156, 165.
Bonnet 33, 35, 48-52, 54 f.
Borelli 21.
Boussinesq 164 f.
Braun, A. 177.
Büchner, L. 133.
Bütschli 69, 187 f.
Buffon 35, 39-43,
Bunge 151 f.
Burckhardt, R. 88.
Burdach 106 ff.
Busse 158, 207.
Butler, S. 164, 198.
122,
78f.,
139,
, 190.
50, 53, 105f.
Carus, V. 88.
Cassirer 184.
Child 197.
Comte 119.
Cope 163.
Coßmann 175 f.
Crawford 209.
Cuvier 89.
Darwin 39, 89, 133, 136, 163.
Demokrit 17 f., 27.
Descartes 20 f., 35, 40 f., 53, 62,
106, 155.
Dreyer 190, 192.
Driesch 173ff., 180-183, 188,
200 ff., 206 f.
Du Bois-Reymond, E. 137 ff.,
141, 165, 167, 174.
Du Bois-Reymond, P., 173 ff.
Dühring 19.
Ehrhardt 170 f.
Eimer 162.
Epikur 17, 27.
Ernst, W. 86.
Fabricius ab Aquapendente 25,
147.
Fichte 107.
Fischel 192.
France 196.
Namenverzeichnis. .
211
Galilei 19.
Geley 209.
Gemelli 192.
Goethe 52, 89.
Goette 145, 157, 174.
Goltz 157 f.
Gregoire 192.
Grunewald 209.
Gurwitsch 199.
Haeckel 135.
Haidane 190.
Haies 21.
Haller, A. v. 33, 35, 48 f.,
51-57, 60.
Hamann 163.
Hamm 33.
Hanstein 148 f.
Hartmann, E. v. 101f., 153 bis
156, 158,-160, 177, 197, 206.
Hartmann, N. 184.
Hartog 198 f.
Hartsoeker 35.
Harvey 23-27, 32, 46, 62, 147.
Hegel 16, 87 f. 90 ff., 117, 135,
153.
Helmholtz 139 ff., 156, 191.
Helmont 21 ff., 29, 32.
Henderson 191.
Henle 177.
Herbart 114.
Herbst 192 f.
Hering 102, 142.
Hertwig, O. 193.
Hertz 116, 165.
His 23, 26, 43, 52, 137, 145, 152.
Hobbes 21.
Hodgson 209.
Höfler 165.
Hoffmann, F. 32.
Holmes 197.
Humboldt, A. v. 90.
Husserl 207.
James 209.
Japp 166.
Jennings 197, 202ff.
Jensen 187.
Kant 36, 55, 62-87, 90, 96,
98, 110, 118f., 127, 129, 175,
183f.
Kattowitz 195.
Kelvin 156, 165.
Klebs 187 f.
Koelliker 162.
Kroner 184.
Krüger 207.
Külpe 183, 207.
Lamarck 89, 195.
Lang, P. 127.
Leeuwenhoek 33, 35, 40.
Leibniz 35-38, 48, 50, 62, 131,
185, 190.
Liebig 114ff., 128.
Liebmann 156 f.
Lodge 165.
Loeb, J. 191.
Loew 195.
Losacco 91.
Lotze 58, 66, 103, 109, 114,
122-128, 132, 143, 158,
169, 171.
Lovejoy 202 ff.
Ludwig (Botaniker) 46.
Ludwig, K. 141.
Mac Dougall 207.
Mach 19, 47.
Mackenzie 192.
Magendie 109.
Malpighi 33, 35.
Marbe 183, 207.
Maupertuis 35, 42.
Maxwell 116, 156, 192.
212
Namenverzeichnis .
Mayer, R. 133.
Metzger 91.
Moleschott 133.
Montgomery 159ff.
Morgan, Lloyd 190.
Morgan, T. H. 192.
Moszkowski 192.
Müller, J. 26, 96, 102, 110-114,
124, 127, 140, 143, 157.
Nägeli 162 f.
Needham 33, 35, 42f., 46, 93,
105 f.
Neumeister 193.
Newton 19, 47, 186.
Noll, A. 103.
Noll, F. 177f., 199.
Österreich 209.
Oken 92 ff.
Ostwald 116, 182, 193 f.
Pander 108.
Paiüy 195 ff., 198.
Pflüger 157 f., 195.
Piaton 18, 88, 90.
Preyer 192.
Prowazek 199.
Radi 47, 88.
Eeanmur 33, 35.
Reil91ff., 99, 107, 111, 124, 160.
Reinke 176 f.
Rhumbler 190.
Rickert 185.
Rignano 189.
Rindfleisch 148, 151.
Rostan 174.
Roux 61, 137, 168f.
Russell, E. S. 193.
Samassa 44, 47.
Schaxel 188 f.
Scheler 183, 207.
Schelling 87f., 90f., 107, 117,
123.
Schmitz-Dumont 192.
Schneider, K. C. 194f.
Schopenhauer 62, 102, 107,
117ff., 135, 150, 153.
Schrenck-Notzing 209.
Schultz, E. 196ff.
Schultz, J. 185 ff.
Semon 189, 198.
Snell 145.
Spallanzani 33, 35, 43, 55, 92,
111.
Spencer 162 f.
Spinoza 179, 207.
Stahl, G. E. 23, 27-32, 41, 47,
53, 62, 81, 95, 97, 101, 107,
111, 125.
Stenta 47.
Stern, W. 192.
Strecker 197.
Strunz 21.
Swammerdam 30, 35, 51.
Tait 165.
Thompson, d'Arcy W. 190,
193.
Thomson, J. A. 193, 204.
Tiedemann 104 ff., 110.
Tischler 199.
Tischner 209.
Trembley 33, 35, 51.
Treviranus 96-105, 111, 113,
123.
Tschermak, A. v. 192.
Uexküll 199, 205 f.
Ungerer 87, 200.
Namenverzeichnis .
213
Vaihinger 185.
Verworn 186 f., 195.
Virchow 148.
Vogt, C. 133.
Vries, H. de 133, 162.
Wagner, A. 196.
Wagner, R. 109.
Wasielewski 209.
Weismann 51, 163, 184.
Whitman 48, 50.
Wiesner 163.
Wigand 136, 149ff., 162, 173.
Windelband 64.
Wolff, C. F. 33, 35, 43-47, 49,
51, 53, 59f., 62, 123, 128,
130, 139.
Wolff, G. 61, 120, 171ff., 175,
196.
Wundt 114.
Zöllner 151.
Zur Strassen 187 f.
Bandl: REINKE, Prof. Dr. J., Philosophie der Botanik.
VI, 201 S. 1905.
Band II: v.MANACEINE, MARIA, Die geistige Überbürdung
in der modernen Kultur, ihre Wirkungen, Ursachen
und Heilmittel. Übersetzung, Bearbeitung und Anhang
von Oberlehrer Dr. L. Wagner. VI, 200 S. 1905.
Band III: DR1ESCH, Dr. HANS, Geschichte des Vitalismus.
2. verbesserte und erweiterte Auflage des ersten Haupt-
teils des Werkes: „Der Vitalismus als Geschichte und
als Lehre". X, 213 S. 1922.
Band IV: EISLER, Dr. RUDOLF, Leib und Seele. Dar-
stellung und Kritik der neueren Theorien des Verhält-
nisses zwischen physischem und psychischem Dasein.
VI, 217 S. 1906.
Band V: RATZEL, FRIEDRICH, Raum und Zeit in Geo=
graphie und Geologie. Naturphilosophische Betrach-
tungen. Herausgegeben von Prof. Dr. Paul Barth.
VIII, 177 S. 1907.
Band VI: STEINMETZ, Dr. S. RUD., Die Philosophie des
Krieges. XVI, 352 S. 1907. Vergriffen. Neue Auflage
in Vorbereitung.
Band VII: NEISSER, Dr. KARL, Ptolemäus oder Koper=
nikus? Eine Studie über die Bewegung der Erde und
über den Begriff der Bewegung. V, 154S. 1907.
Band VIII: DEL VECCHIO, GIORGIO, Die Tatsache des
Krieges und der Friedensgedanke. Nebst zwei An-
hängen. Aus dem Italienischen von Richard Pubanz.
Mit Vorwort von Professor Dr. Otfried Nippold.
VII, 100 S. 1913.
Band IX: KÜHNEMANN, GEORG, Das Problem des
Lebens vom naturphilosophisch=med. Standpunkt.
VIII, 127 S. 1919.
C.G.Röder G.m.b.H., Leipzig. 816022.
A.
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