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Full text of "Der Zweck im Recht"

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Vertag  t>on  53re(tfopf  &  Partei 


2>er 

vozd  im  Becfyt 

von 

#ufcolpfy  von  3^«n94 

tHotto: 

Per  gtoetf  tft  fcer  Schöpfer  bes  gan3en  Redfts 

^weiter  Ban&» 

6.-8.  Auflage, 


Drucf  unb  Perlag  t>on  SreitFopf  unt>  EfärteL 
1923. 


Me  Becbte,  msbefortbere  bas  ber  Überfetjung,  uorbeqaltetu 


Printed  in  Germany 


Porrebe  3ur  erften  Auflage* 


Selten  mag  fich  ein  Schriftfteller  in  be3ug  auf  bie  Sott* 
fefeung  eines  »on  ihm  begonnenen  IDerfes  fo  verrechnet  haben, 
toie  ich  in  be3ug  auf  ben  gegenwärtigen  23anb  meines  «§n?ec!es 
im  Hecht  Zlxd\i  bloß  baß  berfelbe  bas  IDerf  nicht  3U  <£nbe 
bringt,  tx>ie  ich  beabfichttgt  unb  bem  £efer  serfprochen  hatte, 
fonbern  berfelbe  fyat  fogar  einen  gän3lich  anbern  3nBjaIt  be< 
fommen,  als  ich  für  ihn  in  21usjtcht  genommen  hatte.  Der 
ursprünglichen  Anlage  besfelben  gemäß  fyätte  ber  egoiftifchen 
Selbftbehauptung,  mit  ber  ber  erfte  Sanb  abf djließt,  im 
neunten  Kapitel  bie  etfyfche  folgen  follen,  aber  als  ich  mich 
vn  bie  Bearbeitung  besfelben  machte,  über3eugte  ich  mich 
fehr  balb,  baß  ich  mich  bes  21usbru<fs  etfyfch  nicht  bebienen 
fönne,  ohne  eine  Begriffsbestimmung  Boraus3ufchicfen.  Die 
gangbare  genügte  mir  nicht,  fte  fefet  bie  2tnfchauung  bes 
Sittlichen,  welche  fie  in  bie  Soxm  bes  Segriffs  3u  bringen 
fudjt,  als  gegebene  Catfache  voraus;  ohne  biefe  prämiffe  ift 
fie  nicht  imftanbe,  ben  Begriff  flar3uftellen.  3df  meinerfeits 
war  3U  bem  Hefultate  gelangt,  baß  biefe  Slnfdjauung  nicht 
bas  Urfprüngliche,  fonbern  nur  bas  Hefultat  ber  gefchicht* 
liehen,  burch  praftifche  «gweefe  geleiteten  unb  e^txmngenen 
gefeUfdjaftlichen  <£ntwi<flung  ijh  Das  Verhältnis  ber  objef* 
tiven  jtttlichen  ©rbnung,  3U  ber  ich  neben  bem  Hechte  auch 
bie  ZTCoral  unb  Sitte  3ähle,  unb  bes  fubjeftioen  ftttlichen  (ßc- 
fühls  brehte  fich  für  mich  gän3Üch  um,  nicht  lefeteres  erfchien 
mir  mehr  als  bie  Quelle  ber  erfteren,  wie  bie  I7errfcä7ent>e 


rv 


Dorrebe* 


Cl^corie  feiert  (f,  tue  öelege  S.  86,  Xtote),  fonbern  öftere  als 
bie  bes  lefcteren.  2llle  fittlichen  formen  unb  Einrichtungen 
tiaben  nach  meiner  Überseugung  ihren  legten  <5runb  in  ben 
praftifchen  «gtoeefen  ber  (Sefeßfchaft,  leitete  fmb  t>on  einer 
fo  umtnberftehlich  3toingenben  (Betoalt,  ba§  bie  Znenfd^I^ett 
nicht  ber  geringsten  fittlichen  Beanlagung  beburft  hätte,  um 
alles,  tt>as  fte  erf orbern,  h^o^ubringen,  bie  Vftadit  bes 
obje!tir>  Sittlichen,  b.  %  ber  in  5orm  ber  brei  gefellfchaftlicheu 
3tnperatu>e:  Hecht,  ZHoral,  Sitte  t>ern>irf listen  ©rbnung  ber 
(Sefellfdjaft  beruht  auf  feiner  praftifchen  Unentbehrlichst, 
bas  fubjeftipe  fittltche  <5efütjl  ift  nicht  bas  l|iftorifc^e  prius, 
fonbern  bas  pofterius  ber  realen,  burch  ben  praftifchen  gtoed 
gefchaffenen  IDelt,  unb  erji,  u>enn  basfelbe  auf  (Srunb  ber 
unabhängig  von  ihm  entftanbenen  IDelt  ftcfj  gebilbet  h<*t, 
unb  roenn  es  3U  Kräften  gefommen  ift,  ergebt  es  feine 
Stimme,  um  basjenige,  was  es  in  ber  ZDelt  gelernt  bLatt  an 
ber  JDelt  3U  verwerten,  ben  ZHaßftab,  ben  es  it^r  auf  bem 
töege  ber  unbetonten  2lbjiraftion  allgemeiner  <5runbfäfee 
entlehnt  hat,  auf  fie  felber  3ur  2lmx>enbung  311  bringen,  b.  h- 
bie  2lnforberung  3U  ftellen,  baß  fie  bie  prin3ipien,  meiere  fie 
bisher  nur  unpoHfommen  realifiert  ha*/  t>oItfommen  burch« 
führe  —  es  ift  bas  Kinb,  bas,  toenn  es  herattgett>achfen,  bie 
ZHutter  nach  ih^en  eignen  Sehren  meiftert. 

2)iefe  2luffaffung,  ber  ich  für  bas  Hecht  in  bem  TXiotto 
meiner  Schrift  ben  JtusbrucE  gegeben  fyxtte:  ber  §tt>ecf  ift 
ber  Schöpfer  bes  gan3en  Hechts,  burfte  ich,  als  ich  ben  23e« 
griff  bes  Sittlichen  3uerji  in  meiner  Schrift  beruhte,  nicht 
uuterlaffen  auch  für  festeres  3U  begrünben.  kleinem  <8eftd|ts* 
punfte  ber  ethifchen  Selbftbehauptung ,  ben  ich  im  neunten 
Kapitel  aus3uführen  gebachte,  toürbe  ber  fefle  Unter grunb 
gefehlt  liaben,  wenn  ich  mich  beffen  hätte  überheben  woüen. 
So  erhielt  benn  biefes  Kapitel  ben  3nhalt,  ben  es  jefet  an 
ftch  trägt :  bas  Sittliche*    J^ätte  ich  bamals,  als  ich  basfelbe 


Voxxebe. 


V 


in  Eingriff  nahm  unb  bas  erjle  fertig  geworbene  Stücf  ZHarm* 
ffript  ber  Drucferei  übergab,  sorausfeljen  fönnen,  rote  weit 
fiel}  basfelbe  ausbefynen  mürbe,  idj  fyätte  baraus  eine  eigene 
Schrift  gemacht,  auf  bie  xd\  in  bem  JDerfe  felber  bloß  Be3ug 
genommen  Ijcitte*  2Wein  idj  Ijatte  von  bem  Umfange  bes» 
jenigen,  was  mir  im  Saufe  ber  Unterfudjung  entgegentrat, 
gar  feine  DorfteHung.  <£ine  5rage  rief  bie  anbere  Ijeroor, 
unb  wenn  idj  meinem  <Srunbfat$e  treu  bleiben  wollte,  feiner 
einigen  5rage,  beren  Beantwortung  burd?  ben  <§ufammen* 
fjang  bes  (Sanken  geboten  war,  aus3uweidjen,  fo  blieb  mir 
feine  lüafyl,  idj  mußte  meinen  &)eg  bis  3U  <£nbe  fortfefcen. 
Don  ber  Sittlid?feit  warb  icfj  3urücfgeworfen  auf  bie  Sitte, 
idj  mußte  Hebe  unb  Antwort  ftetjen,  wie  Iefetere  ftdj  von 
ber  ZHoral  unterfdjeibe,  unb  wie  fie  3U  i^rem  Seile  bie  2luf* 
gäbe,  weldje  bas  Hedjt  unb  bie  2TtoraI  in  ber  fittlidjen 
XDeltorbnung  3U  befdjaffen  Ijaben,  unterftüfee  unb  förbere, 
unb  t>on  ber  Sitte  mußte  idj  erft  bie  vexwanbte  <2rfd}einung 
ber  XTiobe  ablieben,  bie  ifyrerfeits  midi  wieberum  nötigte, 
ifyren  (Segenfa^  3ur  Crad]t  3U  bejHmmen.  So  reifte  jtd] 
eine  Aufgabe  an  bie  anbere,  unb  als  idj  fd?ließlidf  bei 
ber  Sitte  £|alt  machte,  um  jte  einer  eingetjenben  Unter* 
fudjung  3U  unterwerfen,  über3eugte  idj  midi  balb,  ba%  es 
Bjier  in  ZDafyrfyeit  nodj  an  allem  unb  jebem  fefyle,  baß 
idj  bie  Cljeorie  berfelben  von  (Srunb  aus  felber  auf3u- 
bauen  tjabe. 

Diefer  Ojeorie  ber  Sitte  ijl  ber  weitaus  größte  Seil  bes 
porliegenben  Zianbes  (von  Seite  \8ty  bis  3U  <£nbe)  gewibmet 
unb  fie  ift  mit  ifym  nod?  nicfyt  einmal  abgefdjloffen,  nur  ber 
äußere  (Srunb,  ben  Umfang  besfelben  nidjt  gar  3U  fefyr  an* 
fcfyweHen  3U  laffen,  I^at  midi  beftimmt,  bie  nod)  fefylenbe 
wenig  umfängliche  partie  bem  folgenben  23anbe  3U  über- 
reifen. 

Den  bei  weitem  größten  Seil  meiner  Ojeorie  ber  Sitte 


VI 


Dorrebe* 


(5.  257  bis  311  <£nbe)  nimmt  ber  21bfdinitt  über  bie  Umgangs» 
formen  in  2lnfprudi,  unb  idi  füfyle,  baß  in  be3ug  auf  bie 
innere  (Öfonomie  bes  gegenwärtigen  Banbes  fein  punft  fo 
fefyr  ber  Bemängelung  ausgefegt  fein  wirb  unb  fo  fefyr  eine 
Hedjtfertigung  meinerfeits  nötig  madjt,  als  ber  weite  Haum, 
ben  idi  biefer  ZHaterie  pergönnt  fyabe,  3dj  gebenfe  meine 
Heditfertigung  ntet^t  burdi  J^inweis  auf  ben  IDert  besjenigen 
3u  erbringen,  was  idi  fyter  geboten  fyabe,  idi  barf  ofyne 
Selbftüberfyebung  b&ianpten,  baß  xdi  3uerft  liier  ber  XDiffen- 
fdjaft  ein  (Sebtet  erfdjloffen  fyabe,  bas  fie  bisher  nie  betreten 
t[ait  unb  bas  burdi  bie  Ausbeute,  bie  idi  gewonnen  fyabe, 
ben  2tufentfyalt  auf  bemfelben  pollauf  be3aljlt  gemacht  I^at. 
2)ie  Unterfudjungen,  bie  idi  in  biefer  Hidjtung  angeftellr 
fyabe,  gehören  3U  ben  ergebnisreichen  meines  gan3en  Cebens. 
5reilidi  audj  3U  ben  atlermülifamften.  Efätte  nicfyt  ber  (Se- 
kante, baß  idi  im  Dienfte  ber  IDiffenfdjaft  eine  2trbeit  aus* 
fixere,  bie  nie  befdjafft  worben  ift,  unb  bie  bodi  getan 
werben  muß,  midi  aufrecht  erhalten,  idi  würbe  nidit  bie 
Kraft  befeffen  fyaben,  jahrelang  midi  einer  Aufgabe  3U 
wtbmen,  bie  midi  in  bie  nieberften  Hegionen  bes  täglichen 
£ebens  perfekte  unb  midi  nötigte,  bas  Material  3ur  Cöfung 
berfelben,  idi  möchte  fagen:  auf  ber  Straße  unb  im  Kefyrtdit 
3U  fudjen,  unb  ifym  eine  ebenfo  emfige,  unserbroffene  unb 
einbringenbe  Beachtung  3U3uwenben,  wie  idi  fte  bis  bafyn 
nur  bei  ben  tjödjften  Problemen  auf3ubieten  gewohnt  ge* 
wefen  war.  2)ie  ZlTütjen  unb  2lnftrengungen,  welche  idi 
biefer  Aufgabe  gewibmet  Ijabe,  3äljlen  3U  ben  fdiwerften 
Prüfungen  meines  gan3en  £ebens  —  idi  bin  unter  bem 
Drude  bes  Kleinen  unb  Kleinften,  bas  idj  3U  unterfudjen 
Ijatte,  faft  erlegen.  2tber  idi  Ijabe  nidit  refleftiert,  ob  es 
Hein  ober  groß  war,  idj  tjabe  midi  einfadi  an  ben  (Sebanfen 
gehalten:  bie  Jtrbeit  muß  getan  werben,  unb  wer  3uerft  tfp 
begegnet  unb  in  ber  £age  ift,  fte  befdiaffen  3U  fönnen,  muß 


Porrebe. 


VII 


fie  perrtchten  —  feine  tnbiptbueHe  ZTeigung  fyat  er  ber  tDiffen« 
fd]aft  sunt  ©pfer  311  bringen. 

©b  ich  nun,  wenn  man  einmal  t>ie  Aufgabe  felber  als 
in  ben  Hammen  meiner  Unterfuchung  über  bas  Sittliche 
faltenb  anerfennt,  bes  (5uten  3U  piel  getan  i^abe,  iji  eine 
5rage,  beren  Beantwortung  von  Reiten  urteilsfähiger  Cefer 
ich  ol\ne  Sangen  entgegenfehe.  2Ttit  allgemeinen  (5efichts* 
punften  ift  bei  einer  £efyre,  bie  gän3lich  erft  aus  bem  Hohen 
heraus  3U  geftalten  ift,  tpenig  ausgerichtet,  es  bebarf  ber 
IDucht  bes  ZHaterials,  um  bie  <5efichtspunfte  3U  begrünben 
unb  einbringlich  3U  machen.  'Darum  habe  ich  ntein  2tugen' 
merf  unausgefefet  barauf  gerietet,  an  detail  fopiel  gerbet* 
3ufd>affen,  als  ich  nur  irgenb  permochte,  nicht,  tpeil  ich 
letzterem  als  folgern  einen  IDert  beigelegt  ^ätte,  fonbern 
tpeil  unb  infofern  es  Zeugnis  ablegt  für  bie  Hichtigfeit  ber 
von  mir  aufgeteilten  allgemeinen  (ßebanfen.  Unb  nicht  minber 
forgfam  unb  ängftlich  bin  ich  perfahren  in  be3ug  auf  ben 
bialeftifchen  Ceil  meiner  Aufgabe:  bie  genaue  ^efifteHung 
unb  2lbgren3ung  ber  Segriffe  unb  ben  ZTachipeis  ih*^  fvftc* 
matifchen  (Slieberung  3U  einem  ^St^eren  (Sanken.  3$  ha&e 
meine  Aufgabe  gan3  fo  3U  löfen  gefugt,  als  ob  fie  juriftifcher 
2lrt  tpäre,  unb  ich  glaube  I^tert>et  burch  bie  Cat  ge3eigt  3U 
haben,  in  toelchem  VCiafae  unb  mit  toelchem  Dorteil  fich  bie 
juriftifche  2Hethobe  felbfl  bei  Singen  nicht  juriftifcher  2lrt 
perroerten  läßt;  nur  ihr  glaube  ich  es  perbanfen  3U  f ollen, 
rpenn  es  mir  gelungen  ift,  ben  pielen  Begriffen,  bie  mir  tyet 
in  ben  lüurf  famen,  tpie  3.  B.  ^öflichfeit,  Dichtung,  2tnftanb, 
Ärgernis  u.  a.  m.  einen  (5rab  ber  Klarheit  unb  Sicherheit 
3U  perleihen,  bie  fie  ben  juriftifchen  Begriffen  nahe  bringt 
—  es  fteeft  barin  bie  fpe3iftfche  Arbeit  bes  3uriften,  Ptelfad? 
auch  eine  Dertpertung  ber  fpe3iftfch*]uriftifchen  Begriffe.  Jluch 
in  biefer  Hichtung  mu§  ich  ben  £efer  barauf  porbereiten, 
baj$  bie  Hefultate,  bie  ich  ihm  biete,  nicht  auf  leichtem  XOege 


vm 


Porrebe* 


gewonnen  fmb,  baß  ich  vielmehr  genötigt  gewefen  hin, 
einen  umftchtblichen  Apparat  auf3ubieten.  €s  hängt  bies 
mit  ber  ZTatur  meiner  Aufgabe  3ufammen.  3n  einer  anbern 
£age  befindet  pdf  ber  ZHann,  ber  ein  bereits  urbar  ge* 
madites  Cerrain  befiellt,  in  einer  anbern,  wer  es  erft  urbar 
3u  machen  i[at  Cefeterer  muß  ben  Urwalb  listen,  bie  Saum* 
tDurseln  befettigen,  bas  <5ejküpp  entfernen,  minber  bilblich: 
fehr  pieles  tun,  beffen  jener  pdj  überleben  fann.  5ür  ben 
gewöhnlichen  £efer,  für  ben  bie  Arbeit  als  folche  feinen  Kei3 
hat,  fonbern  bem  nur  am  Hefultate  berfelben  etwas  liegt, 
ift  es  nicht  gerabe  erfreulich,  ben  Schriftfteller  mit  berartigen 
2)ingen  fich  abmühen  3U  f  etjen.  3ch  meinerfeits  l^ätte  nichts 
mehr  gewünfeht,  als  baß  ich  mein  eigner  ZTachf olger  ge< 
tiefen  wäre,  ich  Tratte  bann  meiner  Untersuchung  ungleich 
mehr  ben  2lnftrich  bes  (51atteu  geben  fonnen,  als  es  mir 
jet$t  möglich  geworben  ift.  ÜDie  manche  Anläufe  Ijätte  ich 
mir  erfparen  fönnen,  bie  bloß  in  ber  2lbfid}t  unternommen 
finb,  um  3U  seigen,  baß  in  biefer  Sichtung  nichts  3U  finben 
x%  baß  man  beim  Suchen  eine  anbere  Züchtung  einsufchlagen 
hat,  um  ben  nötigen  Segriff  3U  finben  —  bas  <Lappen  unb 
Saften  auf  einem  unbefannten  Cerrain,  um  fich  erft  3U  orien* 
tieren  —  wie  manche  €inwenbungen  h^tte  ich  nicht  auf3u< 
werfen  unb  3U  wiberlegen  brauchen,  bie  niemanb  mehr  er- 
heben wirb,  wenn  bie  (5runbanfchauungen  unb  Segriffe, 
welche  es  erft  ein3uführen  gilt,  einmal  anerfannt,  ange* 
nommen  unb  jebem  geläufig  geworben  finb.  Kur3  bie  erfte 
Bearbeitung  unb  (Einführung  einer  £ehre  fleht  unter  völlig 
anberen  (Sefefeen,  als  bie  fpätere  Behanblung  berfelben,  unb 
bies  bitte  ich  bei  ber  Beurteilung  meiner  Unterfuchungen 
nicht  außer  acht  3U  laffen  —  wer  mit  fertigen  Segriffen  unb 
21nfchauungen  operiert,  fann  unb  foll  fid?  bei  ber  Darftellung 
burch  anbere  Hücffichten  leiten  lajfen,  als  wer  fie  erfi  3U  be- 
grünben  fyat,  was  bei  jenem  ben  Vorwurf  ber  IDeitläufigfett, 


Dorrebe. 


IX 


öreite,  auf  jtcfy  laben  würbe,  ift  für  biefen,  wenn  er  feie 
richtige  Dorftettung  fetner  Aufgabe  in  jtcfy  trägt,  unb  wenn 
es  ifym  barum  3U  tun  ift,  fie  grünbltcfy  unb  erfcfyöpfenb  3U 
Iöfen,  nicfyt  3U  umgeben. 

2lHes  bas,  was  icfy  bisher  gesagt  fyabe,  besiegt  fiefy  nur 
auf  bie  2lrt,  wie  icfy  meine  Aufgabe  3U  löfeu  t>erfucfyt  fyabe, 
unb  ber  Sejer  fann  fiefy  immerhin  bamit  völlig  ehwerftanben 
erflären,  baß  fie,  wenn  jte  überhaupt  geftellt  werben  burfte, 
in  biejer  IDeife  gelöft  werben  mußte*  2Iber  wie  paßte  fie  in 
ben  Hammen  bes  gegenwärtigen  IDerfes  hinein? 

3cfy  fyabe  fcfyon  oben  bemerft,  baß  fiefy  letzterer  im  laufe 
b£r  Unterfucfyung  immer  mefyr  erweitert  fyat,  baß  bas  Hecfyt 
miefy  auf  bas  Sittliche,  bas  Sittliche  auf  bie  Sitte  3urü<£* 
warf,  Sei  festerer  angelangt,  fyatte  icfy,  angeficfyts  ber 
gän3lid?en  Un3u[änglicfyfeit  beffen,  was  bie  bisherige  €tfyif 
über  jte  enthält,  feine  anbere  IDafyl,  als  ifyr  entweber  üöHig 
aus3uweicfyen,  woburefy  mein  Syftem  ber  gejeßfcfyaftlicfyen 
(Drbnung  ebenjo  lücfenfyaft  geworben  wäre,  wie  es  bas  ber 
gangbaren  (JEtfyif  in  ber  Cat  ift,  ober  aber  fie  oöllig  er* 
fcfyöpfenb  3U  helianidn  unb  ben  Hacfyweis  3U  erbringen,  ein 
wie  wichtiges  (Blieb  jener  (Drbnung  jte  bilbet,  Das  fyabe 
icfy  getan.  (Db  icfy  für  meine  Cfyeorie  ber  Umgangsformen 
einen  größeren  Kaum  beanfprucfyt  fyabe,  als  bei  ber  gän3* 
licfyen  Zteufyeit  ber  Aufgabe  unb  bei  ber  außerorbentltcfyen 
5üIIe  bes  ZHaterials  unumgänglicfy  war,  möge  ber  Cefer 
entjcfyeiben,  icfy  meiner jeits  fyabe  miefy  naefy  Kräften  bejlrebt, 
ben  «gweef,  für  ben  icfy  letzteres  aufgeboten  fyabe,  unser* 
änbert  im  2luge  3U  befyalten,  icfy  glaube  nicfyts  aufgenommen 
3U  fyaben,  was  nicfyt  3U  ben  allgemeinen  3been,  auf  bie  es 
abgefefyen  war,  einen  wenn  auefy  noefy  \o  wtn3igen  Seitrag 
jlellte,  Diefelben  münben  fämtltcfy  in  ben  einen  (5ebanfen, 
ber  ben  (ßrunbgebanfen  biefes  Xüerfes  bilbet:  ben  <§wecf. 
Überall,  jelbft  im  2lIIerfleinften  unb  XTiinutiöfeften  glaube  id] 


X 


Votrebt. 


betreiben  bei  ben  Umgangsformen  nachgewiefen  3U  l\abenf 
unb  baraus  benfe  ich  bemnächft  Kapital  511  fdjlagen  für 
ben  Ztachweis  bes  «gwecfs  in  ber  fittlichen  IDeltorbnung. 
IDenn  bie  2IQgewalt  bes  gwecfs  für  bie  (Seftaltung  ber 
gefeQfchaftlichen  ©rbnung  fleh  felbft  in  ben  nieberften  He* 
gionen  bes  Cebens  bewährt,  in  benen  nach  ber  lanbläuftgen 
Anficht  nur  ber  <§ufaH,  bie  Saune,  bie  lüiUfür  fyerrjcfyen, 
wenn  ich  liiev,  wo  es  fich  um  bas  fdjeinbar  t>ötlig  Beben« 
tungslofe  unb  (geringfügige  fyanbelt,  ben  Nachweis  erbracht 
liabe,  ba%  ber  gwecf  alles  gemacht  fyat,  wie  fotlte  es  anbers 
fein  in  benen,  wo  bie  Aufgaben,  bie  er  3U  t>oflbringen  fyat, 
fich  mehr  unb  mehr  fteigern  unb  ben  CBjarafter  pon  unab- 
weisbaren £ebensbebingungen  ber  (Sefellfchaft  annehmen,  in 
benen  ber  XlToral  unb  bes  Hechts?  ZHit  biefer  5*age  ent* 
laffe  ich  ben  £efer  im  gegenwärtigen  Sanbe;  ich  Ijoffe,  ba% 
ich  fie  nicht  umfonft  aufgeworfen  ^aben  werbe,  ■ —  möge  jte 
ber  Antwort,  bie  ich  im  folgenben  barauf  erteilen  werbe,  ben 
ZDeg  bereiten* 

Zllit  bem  gegenwärtigen  23anbe  ift  bas  neunte  Kapitel, 
mit  bem  er  beginnt,  noch  immer  nicht  abgefchloffen,  ber 
folgenbe  wirb  noch  ein  gan3  beträchtliches  Stücf  besfetben 
nachbringen  liaben.  <£in  Kapitel,  bas  fich  über  3wei  Bänbe 
hinsieht!  Qa%  ich  bamit  ein  literarifdj » ^iflorif d?es  Unifum 
gefchaffen  liabe,  ift  eine  Catfache,  gegen  bie  ich  nichts  ein« 
wenben  fann;  ein  folches  Kapitel  ift  bisher  fchwerlich  je 
bagewefen  unb  wirb  auch  wohl  nie  wieber  gefchrieben  werben. 
H?äre  es  mir  barum  3U  tun  gewefen,  bem  tEabel,  bem  ich 
mich  bamit  ausgefegt  liabe,  aus3uweichen,  ich  h^tte  es  leicht 
erreichen  fönnen,  inbem  ich  <w  geeigneten  Stellen  neue 
Kapitel  gemacht  unb  bas  erfie  231att  bes  'Banbes  burch 
einen  Karton  mit  x>eränberter  3nhaltsangabe  bes  neunten 
Kapitels  t^ätte  erfefeen  laffen.  XDeun  ich  nid?t  getan  habe, 
fo  ha*  öies  feinen  (Srunb  in  ber  2Ibftcht,  bie  midi  bei  meiner 


Porrebe» 


XI 


Kapiteleinteilung  in  tiefem  IDerfe  geleitet  Ijat,  unb  über 
bie  ich  mich  fchon  in  ber  Dorrebe  3um  erften  öanbe  (S.  VII  f ,) 
ausgefprochen  fyabe.  2T£eine  Kapiteleinteilung  ift  nicht  ber 
äußeren  Hücfftcht  auf  angemeffene  2tbrunbung  entlehnt,  fon* 
bem  fte  fyat  bie  öeftimmung,  ben  bialeftifchen  5ortfchritt  bes 
§we<Ss  in  bem  2lufbau  ber  fittlichen  HMtorbnung  3U  Der« 
anfehaulichen,  jebes  Kapitel  umfaßt  ein  innerlich  abge* 
fchloff  enes  <San3e,  unb  biefer  inneren  Hücfficht  gegenüber 
habe  ich  bie  äußere  gän$Iidj  surüeftreten  laffen*  So  ift  es 
fchon  im  erften  Sanbe  gefchehen,  innerhalb  beffen  bas  fiebte 
Kapitel  ftch  pon  5.  bis  \8\,  bas  achte  fleh  t>on  5. 
bis  4^5  erftredt,  unb  fo  ^abe  ich  es  auch  in  biefem  Sanbe 
mit  bem  Kapitel  über  bas  Sittliche  gemacht  Durch  bie 
<£inrid}tung,  welche  id?  bei  jenen  beiben  getroffen,  unb  bie 
ich  I|ier  beibehalten  fyabe:  bie  Hummern  unb  Überfdirif  ten 
über  bie  ein3elnen  Unterabteilungen  habe  ich  in  anberer  $oxmf 
bie  gewöhnlichen  Kapitel  erfefct,  unb  id?  fyabe  auf  biefe 
logifche  (Slieberung  bes  ein3elnen  bie  allergrößte  5orgfaIt 
serwanbt,  ich  glaube  nirgenbs  einen  Sprung  gemacht,  ftets 
sielmehr  bie  Übergänge  t>on  einem  (ßebanfen  3um  anbern 
nicht  bloß  angegeben,  fonbern  als  uotwenbig  motiviert  3U 
haben.  5ür  bie  richtige  logifche  Reihenfolge  unb  Derfettung 
meiner  ein3elnen  Hummern  ■ —  ber  Kapitel  im  gewöhnlichen 
Sinn  —  unb  bie  barauf  fich  au^banenbe  innere  21rchiteftontf 
bes  gan3en  neunten  Kapitels  übernehme  ich  in  eben  bem 
JTlaße  bie  Verantwortung,  wie  ich  bie  Benennung  bes  lefe* 
teren  als  Kapitel  bem  billigen  Cabel  ber  jenigen,  bie  an 
biefer  ungewöhnlichen  Derwenbung  bes  Hamens  21nftoß 
nehmen,  preisgebe.  3n  biefer  Hichtung  fcheue  ich  ben  Der* 
gleich  mit  Büchern,  bei  benen  bie  äußere  Kapiteleinteilung 
nichts  3U  wünfehen  übrig  läßt,  fo  wenig,  baß  ich  ftc  fogar 
herausforbere;  bei  manchen  berfelben  fyabe  ich  bas  (5efühl 
gehabt,  baß  biefe  (Einrichtung  nur  ba3u  bient,  bie  Catfache 


XII 


Porrebe* 


3U  t>erbecfen,  baß  ber  $aben  ber  logifcfyen  (SebanfenentoicF* 
lung  bem  Derfaffer  abgeriffen  ift  —  er  fylft  fidj,  inbem  er 
ein  Kapitel  madjt  unb  einen  neuen  5<*ben  anfnüpft,  ofyne 
baß  ber  £efer  2tus?unft  barüber  erhält,  tx>ie  berfelbe  bas 
(Sefpinjl  fortfefct,  bas  Kapitel  ijl  ber  Hetter  in  ber  TXot,  — 
in  ben  21ugen  bes  Kunbigen,  ber  bie  innere,  nidjt  bie  äußere 
(Slieberung  ©erlangt,  gleidjbebeutenb  mit  ber  Sanferotter* 
flärung  bes  Senfens. 

Sie  bem  Sucfye  üorausgefdjicfte  betaillierte  unb  mit 
XTummem  serfeljene  3nl?altsangabe  toirb  ben  £efer  inftanb* 
fe&en  ftdj  über  ben  ftreng  logifdjen  (Sang  meiner  (Sebanfen* 
enttx>icflung  3U  unterrichten.  Sie  foH  ifym  nidjt  als  bloßer 
JDegtr>eifer  bienen  bei  bem  langen  (Sange,  ben  er  mit  mir 
ansutreten  ^at,  fonbern  fie  foQ  tfyn  nadj  2lrt  bes  <5runb* 
riffes  eines  (Sebäubes  ben  logifdjen  2lufbau  bes  (Sanken  in 
einer  IDeife  t>eranfd}aulidjen ,  baß  er  baburd)  nicfyt  bloß 
inftanb  gefegt  roirb,  bie  Hidjtigfeit  bes  planes  3U  beurteilen, 
fonbern  baß  er,  tr>enn  er  fidj  benfelben  in  feinen  großen 
Umriffen  eingeprägt  fyat,  als  probe  auf  bie  tfym  von  mir 
nachgerühmte  fiigenfdjaft  ftreng  logifdjer  <£nttx>tcftung  in  ber 
Cage  fein  muß,  bei  etwaigem  fpäteren  Suchen  nach  einem 
ber  fielen  r>on  mir  berührten  punfte  genau  bie  Stelle  an3u« 
geben,  too  berfelbe  fich  finben  muß. 

Wie  im  porigen  Sanbe,  fo  fyabe  ich  auch  im  gegen* 
roärtigen  ber  Sprache  eine  gan3  außerorbentliche  Beachtung 
gefchenft.  Über  bie  Autorität,  welche  fie  in  allen  etfyfdjen 
Singen  beanfpruchen  fann,  l\ahe  ich  mich  im  Suche  felber 
(S*  \2ff.)  geäußert.  3ch  glaube  es  nicht  bebanexn  3U  follen, 
baß  ich  fiets  in  erfter  Cinie  fie  um  2lusfunft  angegangen 
bin,  jte  ha*  mir  biefelbe  faft  nie  perfagt,  tt>ot)l  aber  umge* 
!ehrt  mir  nicht  feiten  2luffd)lüffe  gewährt,  bie  mich  mit  tx>afyrem 
Staunen  über  ben  ©effinn  ber  Sprache  erfüllt  haben,  3ugleid? 
freilich  auch  über  bie  2tchtlofigfeit  ber  IPiffenfdjaft,  bie  an 


Porrebe. 


XIII 


ben  am  IDege  liegenden  diamanten  vorübergegangen  ift,  als 
mären  es  Kief  elfteine.  Cerne  beim  Dolfe  f elber,  rote  bas 
£>olf  benft  unb  fühlt  ■ —  bas  ift  bie  XHafime,  bie  ich  bei 
biefem  ZDerfe  ftets  unverrüeft  im  2luge  behalten  h<*be  unb 
behalten  tverbe;  bie  bamit  gewonnenen  Befultate  tverbeu 
teuren,  ob  ich  tvohl  bavan  getan  habe,  mich  von  ber  Autorität 
ber  bisherigen  tviffenfdjaftlichen  £ehre  unb  ZHethobe  I0S3U» 
fagen  unb  beim  Dolfe,  b.  i.  bei  ber  Spraye  in  bie  £efyre 
3u  gehen. 

Der  Umftanb,  ba§  mein  IDerf  fiücftveife  erfcheint,  verfefct 
mich  öer  Kritif  gegenüber  in  eine  ungünfiige  £age,  biefelbe 
fann  nicht  anbevs  als  nach  ben  Daten  urteilen,  bie  ihr  3ur* 
3eit  vorliegen.  Siefes  Urteil  aber  ift,  fotveit  es  fich  nicht  um 
irrige  tatf  ach  liehe  Behauptungen  von  mir,  fonbern  um  meine 
(Srunbauffaffungen  lianbelt,  fein  3utreffenbes.  (£rft  tvenn 
bas  &>erf  fertig  vorliegt,  iji  für  fie  ber  <§eitpunft  gefommen, 
um  3U  ben  2tnfid?ten,  bie  ich  in  bemfelben  vertrete,  Stellung 
3U  nehmen,  es  tvirb  fich  bann  3eigen,  ba§  Unterftellungen 
unb  <£\nwenbün$en,  bie  man  gegen  mich  bereits  jefet  vor- 
schnell erhoben  h^  fich  in  nichts  auflöfen.  laffe  feinen 
(ßebanfen  in  meinem  IDerfe  früher  auftreten,  als  ba,  rvo  er 
fyftematifch  feine  richtige  Stelle  fmbet.  Den  Schein,  ba§  ber* 
felbe  mir  fremb  fei,  muß  ich  fo  lange  über  mich  ergehen  laffen, 
bis  ber  richtige  2Tloment  gefommen  ift,  ihn  3U  befeitigen;  bis 
bahin  mu§  ich  nur  bie  Belehrungen  unb  Berichtigungen  von 
feiten  voreiliger  unb  fur3fichtiger  Kritif  er  fchon  gefallen  laffen. 
Diefes  Cos  tvirb  mir  gan3  befonbers  blühen  in  be3ug  auf 
meine  gurüefführung  bes  Sittlichen  auf  ben  <5e(tchtspunft 
bes  gefellfchaftlichen  (objeftiven)  Utilitarismus.  2Tfan  tvirb 
ihn  mit  bem  abgeftanbenen  oben  inbivibuellen  Utilitarismus 
vertvechfeln  unb  mich  fchlanftveg  3um  Utilitariften  im  lefeteren 
Sinne  ftempeln,  bis  im  britten  Banbe  bie  partie  über  bie 
ethifche  Selbftbehauptung  unb  ben  etfyf chen  3^ltsmus  3eigen 


XIV 


Dorrebe* 


wirb,  ba§  noch  ntemanb  bisher  bie  5ahn*  bes  ibeal  Sittlichen 
auf  fo  feftem  (Srunbe  bef  eftigt  ha*  tsie  ich.  ZDorauf  ber 
S>fvd7ologtfd7e  gtoang  3um  Sittlichen  beruhen  foH,  habe  ich 
auf  (Srunb  ber  bisherigen  ethifchen  Debuftionen  noch  nie 
begriffen  —  ich  meinerfeits  E^off e ,  benfelben  in  einer  XDeife 
begrünben  3u  fönnen,  toelche  mit  berfelben  über3eugenben 
Kraft  aus  ber  realen  JDelt  bie  praftifche  Zlotroenbigfeit  bes* 
felben  naebroeift  (Celeologie  bes  Sittlichen),  n>ie  bie  formen, 
in  benen  er  fich  x>olt3ieht  (foiales  gtoangsfYftem)  3ur  2In* 
fchauung  bringt. 

(Böttingen,  ben  22.  Jluguft  J883« 


Kubolpty  von  3^ering* 


TXns  ber  Porrebe  3ur  jt^etten  Auflage* 


3cf?  fann  biefes  Voxwoxt  mcfyt  fdjliegen,  ofyne  bes  einen 
ber  beiden  ZHänner  3U  gebenfen,  beren  Hamen  biefer  Banb 
an  ber  Stirn  trägt*),  3ulius  <5lafer  ifi  nidtf  mefyr;  am 
26,  T>e3ember  porigen  3afyrcs  fya*  *n  5üIIe 

ber  Kraft  unb  in  bem  raftlofen  unermüblicfyen  Drange  bes 
Staffens  plöfelicfy  bafyingerafft.  Zfixdi  traf  bie  Ztacfyricfyt  n>ie 
ein  Donnerfcfylag,  Ztie  im  £eben  Ijat  micfy  ber  Cob  eines 
5reunbes,  fo  tief  erfcfyüttert,  es  tr>ar  mir,  als  ob  mit  biefem 
^reunbe  ein  StucE  meines  eignen  Wersens  ins  <5rab  gefenft 
fei.  IDas  fein  Paterlanb  (Öfterreicfy  an  ifym  perloren,  3U 
beffen  ebelften  unb  begabteften  Söhnen  er  3äfylte,  unb  bem 
er  in  feinen  r>erfd)iebenen  Stellungen:  3uerft  als  Celjrer  bes 
Strafrecfyts  an  ber  ^ocfyfcfyule  XDien,  bann  als  3ufti3m*nißer 
unb  {d}lie§licfy  als  (ßeneralprofurator  am  oberften  (Seridjts* 
fyofe  unfcfyäfebare  3)ienfte  geleiftet  tjat,  toelcfye  im  banfbaren 
2tnbenfen  ber  Ztacfyioelt  ftets  fortleben  toerben,  überall  ein 
ZHufter  ftrengfter  pflichttreue  unb  sotlfter  Eingebung  an  feinen 
Beruf  —  roeldje  (Einbuße  bie  lUiffenfdjaft  bes  Strafrecfyts 
an  ifym  erlitten  t^at ,  bie  in  ifyn  einen  ber  toenigen  2lus* 
ertoäfylten  befaß,  ber  mit  ifym  über  bas  getsöfynlicfye  ZTfaß 
weit   fynausreicfyenben  <£igenfcfyaften   bes  Cfyeoretifers  bie 


*)  DergL  bie  Semerftmg  bes  Herausgebers  in  ber  Dorrebe  3U  bfefer 
neuen  Ausgabe  (Sanb  I  Seite  III),  unb  bie  Scfylugtporte  obiger  Dorrebe 
unten  Seite  XIX. 


XVI 


Dorrebe, 


Do^üge  eines  Ijerporragenben  praftifers  perbanb  —  bas 
aus3ufüfyren  tft  lieber  btefes  (Drts,  nodf  bin  id?,  ber  Ztidjt* 
öfterreicfyer  unb  ber  <gir>ilijl,  ber  berufene  ba3U*).  2lber  was 
ber  ZHenfdj  war,  xxrxb  was  5er  5reunb  bem  5reunbe  geroefen, 
bason  glaube  idj  in  bem  Donx>ort  3U  einem  öucfye,  bas  einft 
als  5reunbesgabe  in  feine  fjanb  gelegt  toarb,  öffentlich  Zeugnis 
ablegen  3U  dürfen. 

3d]  perbanfe  meine  öefanntfdjaft  mit  (ßlafer  bem  erften 
3urijlentage,  es  wav  5er  berliner  pon  \8<50.  £jier  mar  (Dfter* 
reid}  burcfy  eine  Heifye  fyerporragenber  ZTcänner  oertreten,  unter 
ifynen  (Blafer  unb  Unger,  unb  mit  beiben  fnüpfte  jtd?  t^ier 
bereits  ein  Derfyältnis  ber  £>ertraulid}feit  an,  bas  fid}  auf 
ben  fpäteren  3uriftentagen  mefyr  unb  mefyr  befeftigte  unb  \xd\ 
fcfyließlicfy  3U  einem  innigen  5reunbfdjaftsperfyältnis  gefaltete. 
3er  3uripcnia9  in  lüien  führte  midi  \8<52  aud)  in  bas 
(ölaferfcfye  i}aus,  bie  pf orten  tparen  toeit  geöffnet,  unb  als 
idj  pier  3a^e  fpäter  nadj  ZDien  gerufen  umrbe,  roarb  biefes 
£;aus  mir  faft  u>ie  bas  eigene.  <£s  war  eine  Stätte  bes 
größten  Ijäuslidjen  (Slücfs.  (Slafer  ftanb  eine  5rau  3ur  Seite, 
beren  gan3es  £eben  unb  Sein,  Sinnen  unb  Denfen  in  bem 
IHanne  aufging,  eine  IDteberfpiegelung  feiner  felbft,  gleid}  ifym 
bie  Derförperung  bes  iDofytooüens  unb  ber  f^e^ensgüte, 
unabläffig  bemüht  anbern  3U  Reifen  unb  3U  bienen,  gleid) 
ifym  fcfylidjt,  einfad],  natürlich,  Reiter,  offen,  waty,  wie  es 
nur  tpafyrljaft  eble  unb  gute  Ztaturen  fein  fönnen.  Was 
perbanfe  idj  biefen  beiben  ZHenfdienl  Zfieine  £r  inner  ung 
an  IDien  ift  für  immer  mit  bem  (Sebanfen  an  bas  (ßlaferfcfye 


*)  3n  metftertjafter  IPeife  tfl  bas  23tlb  feines  Staffens  unb  UHrfens 
unb  fetner  perfönlid?fett  auf  a>emg  Seiten  von  feinem  älteften  unb  oer- 
trauteften  Jreunbe  Unger  in  feinem  Hadjruf  an  3ulius  (Slafer,  tPien 
bei  (Serolb,  (886  enttuorfen,  einen  anbern  umarmen  Hacbnif  tyat  ifym 
Santa,  profeffor  in  präg,  in  ber  jurtftif d?en  riertelja^rsfd^rtft, 
(Drgan  bes  beutfd?en  3uriftem>ereins  in  präg,  (886,  3*  X ff^  geanbmet. 


Porrebe«. 


XVII 


X}aus  serfnüpft  unb  biefer  rtneberum  mit  bem  (Sefüfyle  ber 
größten  Danfesfdiulb, 

Das  tüar  mir  ber5*eunb!  3d?  fonnte  ifyn  n\d\t  3etd}nen, 
ofyne  in  ifym  bereits  ben  ZTTenfdjen  3U  fd^ilbem*  (Slafer 
gehörte  3U  ben  feltenen  Staturen,  bie  man  nicfyt  fennen  lernen 
fann,  ofyte  fte  lieb  3U  gewinnen.  €ine  rjersgetrnnnenbe  5reunb* 
licfyfeit,  eine  fonnige  Ejeiterfeit,  erquiefenb  u>ie  ein  ladjenber 
^rüfylingsmorgen,  ein  2luge,  offen  in  bie  IDelt  bliefenb,  flar, 
burd)ftd}ttg  roie  bas  friftaüfyelte  ZDaffer  in  einem  211penfee, 
ein  geller  Spiegel  gleichmäßig  ber  Beinfyeit  ber  Seele,  roie 
ber  Klarheit  bes  (ßeiftes,  nie  getrübt  burefy  bas  2luflobern 
ber  Ceibenfcfjaft,  aber  nidjt  feiten  leud]tenb  im  <Slan$e  gut* 
mütigjler,  faft  finblidjer  Sdjalfhaftigfeit  —  bas  roaren  bie 
fiigenf  djaften  bes  äußeren  ZHenfdjen,  bie  jebem  beim  erften 
2tnbli<f  entgegentraten,  unb  bie  it)m  fofort  bas  Pertrauen 
gewannen  unb  bas  ^er3  erfdtfoffen*  Sein  Benehmen  roar 
gegen  alle  oljne  Hnterfdjieb  bes  3,ar\Qcs  unb  Stanbes  bas 
gleiche,  überall  basfelbe  root|IrooHenbef  freunblidje,  fdjlidjte, 
einfache  JDefen.  Wie  rnele  würben  tr>oBjl  bie  probe  beftanben 
traben  gleich  ihm,  ber  t>on  jübifcher  fjerfunft  unb  in  f leinen 
Perhältniffen  aufgetoachfen,  bie  Ungunji  ber  Derhältniffe 
lebiglich  burch  eigene  Kraft  befiegenb,  alles  allein  fich  felber 
r>erbanfenb,  als  noch  nicht  X?ie3tgjähriger  3U  ben  höchjien 
Staatsftellungen ,  3uerft  ber  eines  ZHinifterialbireftors  im 
Kultusmini jterium,  bann  3U  ber  eines  3ufti3minifters  empor* 
flieg,  ausge3eidjnet  r>or  vielen  burch  bas  gan3  befonbere 
IDot|lrDollen  feines  ZHonarchen.  Stets  blieb  er  ber  gleid^e, 
ftets  behauptete  er  basfelbe  einfache,  anfprudjslofe  JDefen  — 
ben  ZHtnifter  B|at  man  bei  ihm  nur  gemerft  an  bem,  roas 
er  leiftete.  Daran  allerbings  aber  um  fo  mehr.  Die  Straf* 
pro3ejjorbnung  r>om  3al|re  \873,  bie  alle  bis  bahnt  por> 
hanbenen  gefchlagen  bat,  ift  fein  IDerf,  in  ifyr  hat  er  fleh 
ein  unvergängliches  Denfmal  gefegt    Die  2lrt,  roie  er  fein 


XVIII 


Porrebe» 


Amt  verwaltet  hat,  ift  über  alles  £ob  ergaben.  £}öd?flc  pflidjt* 
treue,  unermübliche  Arbettsfraf t ,  überlegene  Sachkenntnis, 
eine  feiten  e  Ceidtfigfeit  unb  Hafchhet*  ber  Auffaffung,  Klar* 
£jeit  bes  Denfens  unb  Schärfe  bes  praftifdjen  Bticfs,  §u* 
gänglichfeit  gegen  frembe  Anflehten  unb  Un3ugänglichfeit 
gegen  aGe  ungehörigen  Beeinfluffungen,  t>oHenbete  Unpar* 
teilichfeit  unb  <5ered]figfeit,  fur5  alles  vereinigte  ftd?  in 
ihm,  um  feine  Amtsführung  3U  einer  wahrhaft  muftergül* 
tigen  5U  ergeben.  Die  (Serechtigfeit,  beren  Bjöd^ftcr  Der* 
treter  er  amtlich  toar,  war  an&i  perfönlid]  in  ihm  $lex\d\ 
unb  Blut  geworben.  Der  Huf,  ben  (Blafer,  als  polt* 
tifche  ZDanblungen  feiner  bisherigen  Stellung  ein  €nbe 
matten,  mit  in  bie  neue:  bie  eines  (ßeneralprofurators  am 
höd]ften  (Seridjtshofe  übernahm,  toar  flecfenlos  rein,  vor 
feiner  per[önKchfeit  perftummte  auch  bie  gehäffigfte  Derbädv 
tigungsfucht. 

Das  Urteil,  bas  ich  h^r  miebergegeben  habe,  toar  bas 
ausnahmslos  allgemeine:  ein  (Zfyaratter,  ber  fich  in  allen 
Cebenslagen  bewährt  fyat,  immer  fich  gleich,  tourselnb  im 
fefien  fittlichen  <5runbe,  ftets  von  ber  reinften  (ßefimtung 
befeett,  bem  (Bemeinen  unb  Uneblen  un3ugänglich,  feine  gan3c 
Kraft  bem  Daterlanbe,  ber  XDahrh^it  unb  ber  IDiffenfchaft 
mibmenb,  nie  an  fich  benfenb,  nie  über  fich  bie  5ad?e  aus 
ben  Augen  laffenb,  ohne  5alfch,  ohne  Citelfeit,  ohne  einen 
anbern  <£rgei3,  als  ben  3U  toirten  in  ber  IDelt,  nie  nach  An« 
erfennung  unb  €h*en  ftrebenb  —  bie  <£fyren  $aben  xfyx  auf* 
gefucht,  nicht  er  fie. 

Das  war  ber  XHann,  unb  man  tsirb  es  jefet  r>erftehen, 
wenn  ich  fagte,  jeber,  ber  ihn  fannte,  mu^te  ihn  lieben. 
3h"  3H  meinen  näheren  5^unben  gesählt  3U  liaben,  be* 
traute  ich  als  eine  ber  tsertüollften  Fügungen  meines  gatt3en 
Cebens,  feinen  früh3eitigen  Cob  als  einen  ber  fditoerften 
Schläge,  bie  mich  ie  in  meinem  ^reunbesfreife  betroffen 


Dorrebe* 


XIX 


tjaben  —  er  Ijätte  mid],  nidjt  xd\  iB^n  überleben  f ollen*  So* 
lange  biefes  mein  Sud)  nod?  gelefen  toirb,  f  ollen  biefe  geilen 
bem  Cefer  serfünben,  was  mir  ber  Ztiann,  beffen  Harne  bas 
Stoeife  Blatt  stert,  gercefen  ift 

(Söttingen,  am  2flär3 


3ttf}altsper3£tcf}ttis 

6es  5u?etten  Ban&es* 


Kapitel  IX. 
Das  Sittliche, 


0  Unzulänglichkeit  von  £ofyt  unb  «gmang  für  bte  gofung  bes 

fogtalen  Problems   3 

2)  poftulat  anberer  ITCotine   9 

5)  Catfächlichfett  berfelben  —  bas  Sittliche  —  fpradjltdjer  ttfeg 
3ur  feftpeüung  bes  Begriffs   9 

I.  Die  ^Husfagen  6er  Spradje  über  öas  Sittliche. 

Die  Autorität  ber  Sprache  in  Dingen  bes  Sittlichen  \2 

5)  Die  Sitte  ber  fpracfyltdje  2lusgangspunFt  —  bte  urfprüngitcbe 
IDortbebeutung  t>on  Sitte  \   16 


6)  Sprachliche  2fbgren3ung  ber  Sitte  von  ber  (Setpofmhett  t  #  m  ^ 

Das  ttloment  ber  allgemeinen  Horm  —  (Srmtb  ber  t>erbtu* 
benben  Kraft  ber  Sitte  —  Sitte  unb  (SetDofmfyeitsrecbt 

7)  Sprachliche  2lbgren3ung  ber  Sitte  vom  Sittlichen  22 

«Segenfat)  r>on  (form  unb  Inhalt  bes  ^anbelns  —  2Jus* 
brücfe  für  erftere  (formen,  ITCanieren,  2trt  u*  a.)  —  bas  ctftlje* 
tifche  Ittoment  ber  form  (2lnjtanb,  decus,  <Sxa$\e,  ^ulb,  £ieb* 
rei3)  —  benehmen,  XDefen  im  (Segenfatj  3u  Charakter  — -  bas 
lln^ianos*  ober  Schief lichfeitsgefü^l  im  (Segenfa^  311m  Sittlich* 


MtsgefuhL 

8)  Steigerung  bes  erfteren  3um  CaFt  55 

ilrteilenbe  unb  prafttfebe  $nn?tion  betber  (Befühle  —  letztere 
==  (Taft  unb  (Seariffen* 

9)  Die  Sitte  —  fortfehrttt  bes  fprachlichen  Deutens  feit  bem 
Altertum   •  53 


Allmähliche  fpradjliche  Schetbung  t>on  Sitte,  Sittlich  feit,  Hecht 


3ntjaltst)er3eidjttis# 


XXI 


Seite 

—  (kriechen  (St*?)),  Homer  (fas,  jus,  mores),  (Sermanen  (Hecht 

—  ITIoral  —  Sitte)* 

{0}  Das  Sittliche  —  bie  2lusfagen  ber  Spraye  —  bas  Verhältnis 
bes  Sittlichen  3ur  Sitte  $5 

2Irmut  ber  Sprache  in  be3ug  auf  bas  Sittliche  —  fittltch, 
tnoralifd},  ethifcf?  -—  (Semetnfamfeit  bes  tlrfprnngs  bes  Sitt- 
lichen unb  ber  Sitte  —  Perfekt eben^eit  ber  (Seltung;  lofale 
unb  nationale  Befdjränftheit  ber  Sitte  (Volfs-,  £anbesfitte), 
Allgemeinheit  bes  Sittlichem 
XX)  Das  Verhältnis  bes  Sittlichen  3um  «gtpeefmägigen  49 

Die  Horm  für  bie  gu>ecfe  unb  bie  3mpÜ3ierung  ber  mittel 
burch  ben  groeef  —  Verantmortlichfeit  bes  IVülens  für  bie 
XPahl  ber  richtigen  mittel,  (Einfluß  bes  XVillens  auf  bas  Denfen 

—  bie  Denffaulheit  (culpa)  —  fittliche  Veranttportlichfett  bafür* 

X2)  Das  Verhältnis  bes  Sittlichen  3um  Egoismus  55 

Das  Set$en  ber  gwede  bes  3chs  —  bie  tienfehe  Sphäre 
(Selbfterhaltung)  —  bie  menf deiche:  Selbftfucht,  (Eigennutz 
(Egoismus  ((Einheit  üon  Selbstbehauptung  unb  Selb jtbemugtf ein)* 
Das  hinausgehen  ber  §n>ecfe  über  bas  3^  Selbftlofigf ext, 
Selbstverleugnung*  —  Das  3dj  nicht  bas  §u?ecffubjeft  bes 
Sittlichen» 

X3)  (Segenfafc  t?on  ftttlich  unb  unfittlich  61 

Hegatioe  Jorm  bes  (Segenfat$es  —  Unter) chieb  besfelben 
von  bem  bes  ftttlich  Gebotenen  unb  Verbotenen  —  bas  nnfifo 
liehe  Unterlaffen  einer  IVtllensaftton* 

XVj  Das  (Erlaubte  —  bas  groeeffubjeft  bes  Sittlichen  66 

Das  (Erlaubte  ber  Sprache  3ufolge  bas  ein3ig  mögliche  Xiüttel* 
glieb  3U)ifchen  bem  Sittlichen  unb  Unftttltchetu  —  Das  3<h  ber 
Sprache  3ufolge  nicht  gtoecffubjeft  bes  Sittlichen  —  ebenforoenig 
(Sott  —  bie  (Sefellfchaft* 

IL  Das  Sittliche  als  ©egenftanö  ber  nnffenfcfjafts 
liefen  Unterfudjung* 

X5)  Die  tDiffenfdjaft  —  plan  ber  Unterfuchung  —  Die  brei  Kar* 
btnalf  ragen  ber  (Ethtf  —  Das  gefdjichtlich'gefellfchaftliche  Syftem 

ber  (Etljtf  —  Die  (Ethtf  ber  gnfunft  74 

Der  (Segenfat5  bes  objefttt»  unb  fubjeftto  Sittlichen  (ber  fxtt^ 
Uelsen  Hormen  unb  bes  fittlichen  XVillens)  —  Die  txxxatx  ftd? 

p.  3  Ii  er  in  g,  Der  gmeef  im  Hedjt.  II. 


xxn 


3nhaltsr>er3eidmis, 


Fnüpfenben  brei  Karbinalf ragen  ber  (Ethtf :  ber  Urfprung  ber 
XTormen,  ber  ,§tr>ecf  berfelben,  bie  D  er  unrf  lidmng  berfelben 
burd?  ben  IDillen  —  plan  ber  folgenben  Unterfucbung. 

Beibehaltung  ber  imperatioifchen  f  orm  bes  Sittlichen —  Die 
fUtltcfye  Horm  Fein  inneres  (Sefetj  bes  Subjekts  fonbern  ein 
äußeres  (Sebot  ber  (Sefellfchaft  —  Der  gefellfchaftliche  gmecf 
bte  Quelle  aller  ftttlicfyen  Hormen  —  (Segenfat$  ber  gefd?id?t* 
liehen  unb  natioifttf d?en  Ct^eorie  —  Die  tjiftorifcfye  Btlbung  bes 
fittltd?en  Hillens  burd?  bie  (Sefellfchaft  —  Ungefcbichtlicher 
Cbarafter  ber  bisherigen  <Ethif\  —  Die  brei  Stanbpunfte:  ber 
pfycfyologifdje,  ttjeologifcfye,  gefd>id?tlia^e  —  Die  (Etln!  ber 
gufunft, 

€rficr  abfcf?mtt. 
Die  Celeologie  bes  objeftio  Stttlid?en* 

M>)  Die  möglichen  «gmecffubjefte  bes  Sittlichen  

Die  gtuecffrage  beim  Sittlichen  —  <Segenfat$  bes  objeftioen 
gtuecfs  unb  bes  fubjeftioen  ITCotios  beim  Sittlichen  —  2Jus<» 
fcheibung  bes  letzteren  —  Die  <§tr>ecFfrage  gelegen  in  ber  nach 
bem  <5ti>ecffubjeft  —  (5ott?  —  Das  Cier?  (Tierquälerei)  — 
Der  IHenfcb?  —  Das  3nbioibuum  als  <§ti>ecffubjeft  QtoafyU 
bie  inbbibualiftifch^teleologifche  Cheorie  —  Kritif  berfelben  — 
gän3liche  Unhaltbarst  —  Die  (SefeHfchaft  bas  ein3ig  mögliche 
gtbecffubjeft. 

47)  5)^  ^ortfchritt  r>on  ber  inbiütbualiftifchen  3ur  gefellfcbaftlichen 

Cheorie  ,  

Die  erften  2Jnfät$e  (£eibni3,  Kant,  Bentham)  —  Die  So3ial* 
ethif  r>on  21.  von  (Dttingen* 

IS)  Die  gefellfchaftliche  Cheorie  —  Begrünbung  berfelben  auf 
bebuftbem  XPege  —  Die  gefellfchaftliche  (Drbnung  —  Differen3 
bes  objeftto  unb  fubjeftir»  Sittlichen  —  Der  Selbfterhaltungs* 
trieb  ber  (SefeUfchaft  — -  gefellfchaftlicher  (Egoismus  —  (Euba* 
monismus  —  Utilitarismus  —  Der  IHagftab  bes  gefellfchaft* 

lieh  nützlichen  

Debuftion  ber  Cheorie  aus  bem  Begriffe  bes  <5an$en  — 
Die  poftulate,  bie  (Drbnung,  bie  Hormen,  ber  <gn>ang  —  lln* 
3ulänglichFeit  ber  Hechtsorbnung  —  €rgän3ung  burdj  bas  Sitt* 
liehe:  bie  ftttltd?e  (Drbnung,  bas  Sittengefet},  bas  fo3iale  ^man^s* 
fvftem  —  Kongruen3  bes  Sitrengefet$es  mit  ber  objeftto  fttt- 


3nl}altsöer3eicfyms* 


XXIII 


Seite 

liefen  (Drbnung  —  Der  (Egoismus  tm  Dienfte  besfelben,  fjer* 
Porträten  bes  leiteten,  wo  jener  t>er|agt. 

Debuftton  ber  (Theorie  aus  bem  Begriffe  ber  perfott  — 
Die  (SejeUfcfyaft  als  lebenbes  IDefen  —  Die  £ebensbebingungen 
berfelben  unb  bie  2lnforberungen  ber  Selbfterbaltung  —  Das 
Sittliche  unter  bem  (Seftcfytspunfte  bes  (Egoismus  ber  (SefeU* 
fcfyaft  —  (Einheit  ber  IDeltorbnung  tm  (5ebanfen  ber  (mbim* 
buellen  unb  getellfdjaftltcfyenj  Selbstbehauptung  —  Steigerung 
bes  gefeHfd}aftltd?en  (Egoismus  sunt  (Eubämonismus  —  Heia* 
ttoität  bes  IHaßftabes  —  Beredjttgung  des  Strebens  naa?  Woty* 
fein  —  Die  öffentlid?e  jfreube  (bie  fefte). 

Der  gefellf d?aftlia>  Utilttarismus  als  ettyf d?es  Syrern  — 
Ittagftab  bes  gefellfd?aftlid?  ZTüt$lid}en;  bas  Dauernbe  tm  (begen- 
fat^e  3nm  Doriibergefyenben  unb  bie  Htdjtung  auf  bas  <San3e 
im  (Segenfa^e  3U  ber  auf  ben  Ceil. 

19)  Die  (Srunbbegrtffe  ber  ftttlicfyen  8?elt  im  £icfyte  bes  gefellfcfyaft* 

lidjen  Utilttarismus  .  .      ...   168 

!♦  Der  <Segenfat$  von  gut  unb  böfe, 

2*  Der  du genb begriff, 
3.  Der  pf(id?tbegriff, 
Die  (Seredjtigfett. 

20)  Das  gtueefmoment  ber  ^talen  ^mperattoe  180 

1)  Die  IKobe  180 

Begrtffsbefitmmung  —  Unterfdjieb  von  ber  Cradjt  —  Das 
fo3taIe  XUottD  ber  ITCobe:  bte  2lbfa^etbung  ber  Stäube» 

2)  Die  Sitte   189 

Die  (Theorie  ber  Sitte* 

1)  Begrifflicher  Unterf  dn'eb  ber  Sitte  r>on  ber  (Semofmljett.  ...  190 

2)  (Erhebung  ber  (Serootmlieit  3ur  Sitte  (£eid?enfdjmäufe,  (Erinf* 
gelber)  192 

3)  Das  ^erabftnFen  ber  Sitte  3um  praftifdj  bebeutungslofen  Brauck 

(gutrinfen)  196 

Die  fdjledjte  Sitte  ober  bie  Unfttte  (Duell)  .  197 

5)  Die  gute  Sitte  200 

Un^ulänglidjfeit  bes  äftfyetifdjen  <Seftdjtspun!tes  —  prafttfa> 
etfyfdje  Bebeutung  berfelben  —  fyeuriftifdje  Ermittlung  ber* 
felben  —  Das  lüeib  im  Sdmt$e  ber  Sitte,  bie  SittfamFeit  als 
Sdnrmertn  ber  Sittlid^eit. 


XXIV 


3nl|altsüer3etd?nis» 


Seite 

Das  IPefen  ber  Sitte  —  Die  brei  d?arafteriftifdjen  güge  ber* 
felben;  l)  innere  Derfdjiebenfyeit  von  ber  Hloral  —  2)  proptjv* 
laFtifd^er  gmecf;  bie  Sitte  bie  Sidjert|eitspoli3ei  bes  Sittlidjen 
—  3)  Sofalifation  berfelben  im  (Segenfafee  3nr  IKoraL 

Erprobung  bes  gewonnenen  Hefultats  —  Der  Streit  unter 
(Sebilbeten  unb  Ungebilbeten,  Sicherung  bes  friebüdjen  Derfefyrs 
burd?  bie  Sitte  —  Die  Sonntagsfeier;  poftttoer  &wed  berfelben 
im  (Segenfatje  bes  bloß  negatfo  propl^Iaf  tif  d?en  —  guf ammen* 
faffung  beiber  gn>ecfe  unter  ben  (Sejidjtspunft  ber  ftttlia> 
abminifnlierenben  (funftion  ber  Sitte* 

6)  Die  Syjiematif  ber  Sitte  2\7 

(Segenfätje*  3n  fo3i*g  auf  ifjren  IPert;  bie  böfe,  bie  foial* 
tnbifferente,  bie  fo3ial*u>ertr>ofle  Sitte*  —  3«  fc*3ug  auf  \b\xen 
3nt|alt;  (geben  unb  (Eun  (präftattons*  unb  perfona^tvang 
ber  Sitte)» 

I.  Der  präflattons3»attg  —  Die  fatalen  Derpfltdj* 
tun  gen  22# 

X*  Der  £iberalitätS3u>ang  (bas  2lnftanbsgefd}enf,  munus). 
2*  Der  Solutions3tt>ang  (Spielf Bulben,  (Erinfgelber)» 
3*  Der  gen>irtungs3tpang* 

n.  Der  perfona^mang  22? 

Das  Benehmen  —  &tved  ber  SSefdjränftutgen  in  bt3ug  auf 
basfelbe:  felbftnüt$iger,  frembnüfeiger, 

7)  Die  allgemeine  (üolfs*)  unb  bie  parttfulä're  {Stanbts*)Sitte .  .  23* 

(Erftrecfung  ber  Sitte  über  alle  (Sebiete  bes  £ebens  —  Der 
Stoff  ber  Sitte  in  (Seftalt  bes  Hedjts  —  Die  öffentlidje  Sitte 
(parlamentarifdje);  bie  frrd?lid?e;  bie  T>ölferred?tltdje. 

Die  Stanbesfttte  —  (Dffaiere  (Duell  —  2lbfdn'eb),  minder 
(Hücftritt),  (Seiftlidje* 

23efonbere  Husfdjeibung  breier  Stücfe  ber  Sitte  3ur  näheren 
23etrad?tung;  ber  (Eradjt,  ber  Umgangsformen,  ber  gef eiligen 
Hepräfentation* 

8)  Die  dradjt  2*5 

begriff  unb  2lrten;  Dolf straft  —  männlid/e  unb  tpeiblidje 
Cradjt  —  (Erauer-  unb  ^ejtfleib  —  ^ImtsUadjt  —  praftijdjer 


^nhaltsse^etcfmis» 


XXV 


Seite 

9)  Die  Umgangsformen   257 

Bebürfnis  ber  anffenfefy af tücfyen  behanblung  —  Der  Ilmgang 
—  Unterfdjieb  t>om  Derfefyr  —  Der  Umgang  eine  feciale  3n* 
fiitution  unb  eine  feciale  Pflicht  —  Sicherung  bes  Umgangs 
burd?  bie  Sitte  —  praftifcfyer  IPert  ber  Umgangsformen  — 
etl]tfd?er  €influ§  berfelben  auf  ben  Ittenfdjerr  —  (Drganifation 
bes  Umgangs  burd?  biefelben  —  XTCöglichfeit  unb  Hota?enbig?ett 
einer  Cfjeorie  berfelben» 

Die  Cfyeorie  ber  Um  gangsf ormen, 
XO)  n^iffenfcfyaftUdje  Kritik  ber  Umgangsformen  —  echte  unb  un* 

echte  2Xnftanbsregeln  275 

Der  IHagftab  —  Das  guütel  unb  gutoeuig  (Kappen  unb 
Komturen  ber  Sitte)» 
XX)  Die  UTagftäbe  ber  feine*  Sitte;  Anftanb,  Höflichkeit,  Caft .  .  280 
Unterf  cbeibung  berfelben  feitens  ber  Sprache  —  Sprachliche 
Umgren3ung  ber  brei  Dorftelhmgsfreife  —  begriffliche  Untere 
fcfyeibung  berfelben  —  (Segenfafe  bes  2Jnjfanbes  unb  ber  I}öf=* 
Itcbfeit  —  UToment  bes  Abfohlten  unb  Kelatit>en,  bes  Hegattoen 
unb  pofittoen  —  HTögltcf^feit  ber  (Srabation  bei  bem  2Jnjtanb 
nad?  ber  negativen,  bei  ber  I}öflich?eit  nach  ber  negattoen  unb 
poftttoen  Seite  —  pfych  ologif  djes  2(useinanberfaöen  bes  (Segen* 
fat$es  (^ran3ofen,  (Englctnber)» 


I.  Der  2Inftan&. 

X2)  Der  Anftanb   .  500 

Hegattoer  <gu)ecf;  fernhaltung  bes  Zlnftögigem 

X*  Der  begriff  bes  Anftößigen  ZOX 

jnneres  unb  äußeres  UToment  —  XPahrnehmbarfeit  —  bie 
Hotlage  —  bas  öffentlich  Anftößige  —  3beale  Konfurren3  bes 
öffentlich  2lnftögtgen  mit  bem  Unmoralifchen  unb  Hechtsunbrigen 
—  bas  Ärgernis» 

2»  Der  Ittagjtab  bes  2Jnftö§igen  5U 


Mgemeingülttgfeit  bei  Subjeftioität  unb  Belattüität  besfelben 
— •  Übereinftimmung  unb  Abweichung  bei  serfchiebeuen  Dölfern 
(2lnatogie  bes  jus  gentium  unb  jus  civile)  —  Coleratvj  bes 
nationalen  Anftanbsgefühls  (KonnfoenäfäHe  aus  alter  unb  neuer 
2>eit  —  bas  Hauchen)» 


XXVI 


Seite 

5)  Die  Kategorien  bes  ^Inftögigen  322 

JU  Das  fiunlidj  21nftö§ige  325 

Das  unmittelbar  unb  bas  mittelbar  finnlidj  2Jnftögtge  (<EfeU 
ftafie). 

2.  Das  äftfjetifd?  2Inftö§ige  330 

a)  Der  menfdjlicfye  Körper  —  Die  Beihilfe  ber  Kunft. 

b)  Die  Kleibung* 

c)  23efriebigung  bes  leiblichen  Bebürfniffes  —  tierifd^e  anb 


menfdjliche  (Jorm  —  Spijettf  bes  Iffens  unb  Crtnfens 
—  tyjlorifdje  <£ntvo\d lung  ber  formen  bes  XHatjles,  Über* 
gang  r>om  Kommunismus  3um  3«°i^iöualismus, 
d)  Die  Sprache  —  bte  Sprache  bes  pöbels  —  bie  ifrembtpörter* 

3*  Das  patfyologifdj  2lnftö§tge  

<£inurirfung  bes  £eibes,  bes  £eibens,  ber  £etbenfdjaft  auf 
anbere  —  (femfjaltnng  ber  fympatt|if djen  (Sefüfylserregung 
—  ber  antipatfn'fdjen  —  bie  üble  £aune  —  bie  fjeftigfeit  — 
ber  (Eflat,  bie  S$ene  —  bie  23ered}tigung  ber  £eb^afttgfeit* 

%  Das  feruell  2lnjtö§ige  (bas  3tibe3ente)  36$ 

praftifcfyes  ZHotto  feines  Verbotes— <Sreit5en  besfelben  — 
bas  3nbt$ente  ößS  etl]tfd)e  Chamäleon* 

IL  Die  ^öfiic^fctt 
13)  Die  X}d'flid}feii  begriff,  tDefen,  Phänomenologie  berfelben  .  376 
pofitiper  Scfyut}  ber  perfon  burdj  bie  ^öflid^feit  im  (Segeu- 
fatje  3U  bem  bloß  negativen  bes  2Injtanbes  unb  bes  Bedjts  — 
bie  fo3tale  ga>e(fbeflimmung  ber  ^öflid/feit  —  reglementierte 
^öfltd^ett  —  bie  3U)et  (Srunbgebanfen;  2Id?tung  unb  IDofyl* 
w  ollem 

Die  2ld?tung  388 

Der  IDertbegrtff  in  2intr>enbung  auf  bie  perfon;  JPürbe, 
<Efyre,  2lcr/tung  —  Hegattoer  <£ljarafter  bes  rechtlichen  2lnfprud?s 
auf  (Hfyre,  pofittoer  bes  fo3ia!en  auf  Dichtung  —  Die  2lnsfagen 
ber  Sprache  über  beibe  —  Der  (Seftcfytspunft  ber  23eacbtung 
ber  perfon  —  (Erprobung  besfelben  an  ben  Qöflicbfeitsformert 
ber  2ldjtung  —  Der  2tnfprudj  auf  2ldjtung  —  mbunbnelle  Vox* 
ausfet$ung  besfelben;  bie  perfönlidje  ^iefyung  —  Deruntfung 
bnrdj  Unu>ürbig!eit —  Der  abftrafte  IDert  ber  perfon  —  (Sra* 
buelle  2Jbftufuug  besfelben;  (Seburtsftanb,  ftaatlicbe  Stellung 
(Hang,  (Eitel)* 


3Htialtsüec3etcfyms* 


xxvn 


Seite 

Pas  Wofyxvoüen  $2$ 

Kriterien  ber  ^öfUcfyifettsbetpeife  ber  Ad]tung  unb  ber  bes 
WohlwoUtns  —  (gegenfaft  bes  moralifcfyen  unb  bes  Fialen 
IDofyltPollens  —  Die  eigentütnlidjen  formen  bes  letjteren;  bie 
fostale  (Teilnahme  (bte  A^eigepfltdjt  als  Korrelat  berfelben), 
bas  fo3taIe  3ntereffe,  bie  Dien jlfertig Feit —  Unterfdjteb  von  ber 
XHenf  cfyenfreunblidjF  eit. 


Das  äußere  UToment  ber  £jöfltd?Feit* 

X)  ^tftorif  djes  Dertjältnis  bes  äußeren  unb  inneren  HToments .  .  $38 
Hrfprung  bes  erfieren  aus  bem  letzteren — aHmäfylidjer  Hieber- 
fd?Iag  f efter  Formern 

2)  praFtifdjes  Derfyältnis  betber  $$2 

(Dbligate  (Seltuttg  ber  äußeren  formen  —  Außerlidjlfeit  Der 
^öfIid)Feit  —  Derfyältnis  berfelben  3ur  IHoral  unb  3um  Hedjt 
(bie  innere  (Sejtnnnug,  ber  äußere  (Erfolg,  ber  Sdjetn)  —  Apo- 
logie ber  *?öflid?Feit  —  boppelte  Art  bes  Sdjeines  unb  ber 
Cäufdutng  —  bas  (gebot  ber  XDafyrfyeit  im  Hedjt  unb  in  ber 
HIoral  (<£l?rlid?Feit,  H)a^r^aftig?eit  —  betrug,  £üge)  —  bte 
<&ten$m  biefes  (Gebots  —  bie  erlaubte  £ifl  —  bie  bösartige 
unb  bie  gutartige  £iige  —  praftifdjes  XTTottr»  bes  tüafyr^eits- 
gebotes  —  Die  lOafjrfyeit  aus  3treiter  £?anb  —  pofiulat  bes 
(Slaubens  unb  ber  Creue  —  Analogie  bes  Hedjts  —  Über- 
tragung ber  (Terminologie  besfelben  auf  bie  IDatjrfyett  —  <Se- 
fäljrbung  ber  (Sefeftfdjaft  burdj  UnmafyrljafttgFeit  unb  Un5U" 
serläfftgFeit  —  fyiftorifdje  €ntt»icflung  bes  2Daf)rt)eitsgefet$es 
—  periobe  ber  £ift  unb  ber  £üge  —  bie  erlaubte  Unmafyrtfeit 
(bie  rettenbe  unb  bie  fonr>entionelle  £üge)  —  Unwtnbnng,  auf 
bie  JjöfltcfyFett  —  bas  Sdjehtmefen  bei  ber  £}öflid?Feit  —  KritiF 
com  etilen  unb  praFtifcqen  StanbpunFt  —  Sdjlußrefultat  in 
be3ug  auf  bas  Derfyältnis  bes  inneren  unb  äußeren  ItToments 
ber  £}öflid/fett;  <Entbefyrlid>Feit  ber  (geftmtung,  (Erforbemis  bes 
Derpnbniffes  —  Spielraum  innerhalb  ber  ^öflidjFeit  —  €r- 
Hebung  berfelben  in  bie  Hegion  bes  ITCoralifdjeit, 

5)  Die  Phänomenologie  ber  fJöflidjFeit  $95 

KlaffiftFatton  ber  l^öfltdjFeitsformen  —  ausfdjließlidj  poftttoer 
<£ljaraFter  berfelben  —  bie  brei  Arten* 

X*  Die  ejfeFtioen  fjöflidjFeitsformeu  501 


XXVIII 


3nljaltstter3etcfyttts* 


Seite 

2»  Die  fYmfcoltf djen  502 

Die  Symboli?  bes  menfd)lid?en  Körpers  505 

€utfpred?enbe  Hicfytung  bes  Körpers  —  Sitten  unb  Steden 
—  üegen,  Knien,  Derbeugumg  —  (Seben  ber  £}änbe,  urfprüng- 
lid?e  unb  heutige  23ebeutung  —  ber  formelle  Ku§* 
Die  Symboli!  son  <§eit  unb  Haum  .  515 

Der  platj  ber  erften  —  Übertragung  besfelben  auf  Hebe  unb 
Sdjrift  —  Der  <£fyrenplafe  —  Die  Symbolif  ber  Sdjrtft* 
5.  Die  r>erbalen  l}öflid?feitsformen  519 

Die  Spraye  ber  ^öflicfyfeit  —  pfyrafeologie  unb  Syntax.  — 
Der  Sünbenfatt  ber  Sprad?e* 

Die  pfyrafeologie  ber  £JöfIid??ett  525 

Die  2lnrebeformen:  ber  (Eigenname  —  ber  (Ehrenname;  ge* 
fä?td?tlid?e  Derbrängung  bes  Eigennamens  burd?  ben  (Sattungs* 
ttamen;  bie  heutigen  (Ehrennamen;  allmäf}licr/e  Deoabatiou 
berfelben  —  ber  Staatsname  ((Eitel)  —  ber  2Segriffsname; 
tjiftorlfdjes  2tuf!ommen;  Imitation  bes  ftaatlidjen  bnrd?  ben 
fo3iaIen. 

Die  (Erhebung  ber  fremben  perfon  (bie  epitheta  omantia)  — 
bie  ^erabfefeung  von  fxdj  unb  bem  Semigen  (£}öflidjfeitspljrafeu 
ber  Bebtentenfpradje)  — r  23 efdjeibenbeitsp trafen  —  pfyrafen  ber 
(Sefä'HigFeit  —  £erfta?ernng  ber  (Sefhmung  —  23enuflFom?r»-- 
nungspbrafen  —  2lbfd>iebspfjrafen  —  bie  guten  tt>üufd)e  bie 
profane  unb  bie  religiöfe  ^orm). 

Die  Syntax  ber  X?öflid?Feit  —  bas  pronomen  insbefonbere  .  .  551 

23eanftanbung  bes  3d?  burd?  bie  ^öflicbfeit  —  IDeglaffeu 
besfelben  —  <Erfat$  burd?  bie  gegenfiänblid^e  23e3eid?nung  ber 
Perfon  —  bas  IPir  ber  Befdjeibenfyeit;  23eanjtanbung  bes  XVh 
unb  bas  Unfer;  bas  2lnjtögtge  ber  ^eroorfyebung  ber  (Seinem^ 
fd?aft  im  Deüotionsüerfyä'ltnis  —  bie  Perbannung  bes  Du  — 
bie  fprad?ltd>en  (formen,  tseldje  bas  Du  abgelöft  fyabeu;  b;c 
5tDeite  perfon  bes  pronomen  im  plural,  bie  britte  bes  Singular, 
bes  plural,  bie  gegenftä'nblidje  23e3eid)nnng  ber  perfon,  bie 
unperfönlid^e  2lusbrucfsform  —  bas  3tn?  ber  ITIefyrfjeit  —  bas 
Pronomen  possessivum  ber  3tr>eiten  perfon  —  gufammen» 
fteHung  ber  fprad^idjen  Deformitäten  ber  f^öflidrfeitsfpracfje. 


Kapitel  IX*). 

Die  fojialc  lHed?amf, 

Das  Sittliche. 

UttjnWttgltdjFett  von  £olm  unb  §wan$.  —  poftulat  unb  Catfäcfylicfyfeti 
bes  Sittlidjen*  —  Die  2lusfagen  ber  Spraye  über  bas  Sittliche.  — 
(Seroolmlieit,  Sitte,  gtpecfmägigfeit,  Sittlidjfeih  —  Die  <funbamental* 
Probleme  ber  (Etfyif*  —  Die  tnb tr> tbnaltfttf d? e  Cfyeorie  bes  Sittlichen  nnb 
bas  Syrern  bes  gefellfdjaftlicfyen  Uttlitarismus.  —  Die  (Eeleologie  bes 
objeftiü  Sittlichem  —  Die  gefellfdjaftlicfyen  Zm^tvatwe:  Hlobe,  Sitte, 
ITToral,  Hed?t*  —  Die  XTTobe.  —  Die  Sitte.  —  tEtjeorie  berfelbem  — 
Die  Umgangsformen  tnsbefonbere.  —  Der  2Inftonb,  —  Die  £}öflid}feit. 

Unfere  <£ntn>icflung  fieht  t>or  einem  Wenbepunft:  beim 
Übergang  aus  ber  Hegion  bes  (Egoismus  in  bie  bes  Situ 
liefen.  IDcnn  ich  bem  Cefer  mit  tr>enig  IDorten  ben  früher 
(I.  S.  73)  mitgeteilten  plan  meiner  Unterfuchung  in  bie  €r« 
innerung  3urücfrufen  barf,  fo  be3toecfte  biefelbe  bie  treibenben 
Kräfte  auf3ufuchen  unb  bar3ulegen,  toelche  bie  Beilegung 
ber  <5efellfchaft  hervorrufen  unb  unterhalten  (Cheorie  ber 
)03ialen  ZHechamf),  unb  ich  unterfchieb  3u>ci  Birten  berfelben: 
bie  egotftifchen  Ejebel  ber  Fialen  Sett>egung:  Cohn  unb 
<§t*>ang,  unb  bie  ntchtegotftifchen  [2]  ober  etlichen: 
Pflichtgefühl  unb  £iebe.  3^  hatte,  als  ich  meinen  plan 
entoarf,  für  ledere  beibe  Kapitel  IX  unb  X  beftimmt,  inbem 
jeh  beab {tätigte,  ben  ihnen  beiben  gemeinfehaftlichen  Segriff 
bes  Sittlichen  als  (Einleitung  3U  Kapitel  IX  t>oraus3ufchicfen. 

*)  Die  obige  3n^a^siib erjtdjt  gibt  nicfyt  ben  3nfyalt  bes  ganzen 
Kapitels  an  tute  bie  ber  erfteu  Auflage,  fonbem  fie  befdjra'nft  fic^  auf 
btejenigen  partten,  welche  in  biefem  23anbe  befyanbelt  werben* 

t>-3fyering,  Der  gtoeef  im  Hedjt.  IL  ^ 


2  Kapitel  IX.   Die  feciale  Vfie^amt  Das  SMxty. 

Sei  ber  Ausführung  l^at  fich  bies  jeboch  als  völlig  untunlich 
erwiefen.  IDährenb  ber  Arbeit  behnte  ftch  bie  Aufgabe  immer 
me{|r  aus;  je  näher  ich  bem  <§iel  3U  fommen  glaubte,  bejk> 
weiter  entrüefte  es  fich  meinen  BlicEen,  eine  $rage  30g  bie 
anbere  nach  fich,  unb  bes  Stoffes  warb  fchltepch  fo  viel,  ba§ 
aus  ber  (Einleitung  3U  einem  Kapitel  ein  Wext  würbe.  <£s 
ging  mir  wie  bem  S'x\ efter,  ber  ein  Zle§  ausgeworfen,  um 
einen  f leinen  5ang  3U  machen,  unb  ber,  wie  er  es  fterauf« 
3ieften  will,  es  fo  soll  ftnbet,  ba%  bie  ZHafchen  3U  3errei|en 
broften  —  als  ich  bas  meinige  B|eraus3og,  ftedte  nahe3u  bie 
gan3e  <£thif  barin.  3ch  fonnte  mich  ber  eingeftenben  23e< 
hanblung  ber  pielen  fich  mir  aufbrängenben  5*agen  nicht 
ent3teften,  ba  manche  berfelben  r>on  ben  bisherigen  Bearbeitern 
ber  (£tl)if  teils  gar  nicht  aufgeworfen,  teils  in  einer  IDeife 
beantwortet  worben  waren,  mit  ber  ich  mich  nicht  eint>er* 
ft anben  erflären  fonnte.  3n  biefer  £age  ftabe  ich  mich  ent* 
fchloffen,  meine  urfprüngliche  2Inorbnung  bes  IDerfes  3U  änbern 
unb  ein  neues  Kapitel  ein3ufchieben,  weites  ausfchlieglich  ber 
€ntwic?lung  bes  Begriffs  bes  Sittlichen  gewibmet  iß:  bas 
gegenwärtige,  wobureft  fich  bann  bie  Ziffer  ber  folgenben 
Kapitel  meinem  urfprünglicften  plane  gegenüber  um  eins 
x>erfcftiebt.  £jätte  [3]  ich  bei  ber  gegenwärtigen  neuen  2tuf* 
läge  bes  IDerfes  noch  freie  ^anb,  fo  würbe  ich  basfelbe 
gän3lid)  ausgefeftieben  unb  als  eigene  Schrift  veröffentlicht 
unb  fyev  nur  bie  Hefultate  berfelben  perwertet  l\aben,  aber 
mit  ber  erften  Auflage  fyahe  i&l  &ücF3ug  bei  ber 

3weiten  abgefchnitten. 

Der  Begriff  bes  Sittlichen  ift  uns  3ur3eit  noch  ein  frember; 
wir  waren  im  bisherigen  nicht  genötigt,  ihn  h*ran3u3tehen, 
unb  wir  l\aben  gefliffentlich  t>ermieben,  es  3U  tun,  um  ju 
fehen,  wieweit  wir  mit  bem  €goismus  allein,  b.  h-  wit  ben 
beiben  Criebfebern,  welche  er  uns  3um  Aufbau  ber  gefell- 
fchaftlichen  (Drbnung  in  £oB|n  unb  ^wang  3ur  Verfügung 


Un3ulärtgltd}?ett  von  £ofjn  unb  groang. 


3 


[teilt,  gelangen  fonnten.  €s  galt  uns,  um  es  fur3  aus3u* 
Brüden:  bas  fosiale  Ceiftungspermögen  bes  Egoismus  eyaft 
bar3ulegen.  Das  im  bisherigen  gefchilberte  Syftem  bes  Der* 
Mjrs,  bes  5taats  unb  bes  Hechts  hat  uns  bie  2Inttr>ort  barauf 
gegeben»  Damit  ift  aber  auch  bas  feciale  Ceiftungspermögen 
bes  (Egoismus  erfchöpft. 

Heicht  basjenige,  was  er  für  bie  (ßefellfchaft  befchafft 
l|atf  für  i^re  gwede  aus?  Darauf  tpollen  toir  uns  im 
folgenben  bie  2lntu>ort  fyolen;  bie  <£rfenntnis  feiner  Un3u* 
länglichfeit  für  bie  poUftänbige  Cöfung  ber  gefelifchaftlichen 
Stufgabe  toirb  uns  ben  Übergang  3um  Sittlichen  bahnen:  in 
bie  CücFe,  bie  er  übriggelaffen  fyat,  greift  bas  Sittliche  ein. 

[4]  \)  Utt3ulänglich?eit  pou  Cohn  unb  «gtpang  für 
bie  Cöfung  bes  gefelifchaftlichen  Problems. 

JDir  fyahen  in  ben  beiben  r>orhergehenben  Kapiteln  ge3eigt, 
was  Cohn  unb  §roang  oermögen,  unb  u>ir  bürfen  bie 
Summe  unferer  Ausführungen  in  ben  Safe  3ufammenf äffen: 
fte  bilben  bie  abfoluten  poftulate  ber  gefelifchaftlichen 
©rbnung  —  bie  (ßefellfchaft  ift  unbenfbar  ohne  «guhilfe* 
nähme  von  gtpang  unb  Cohn.  ZITan  fyat  Pölfer  gefunben, 
benen  bas  (Sottesbetpujjtfein  fehlte,  feins  bem  bie  Densen* 
bung  pou  Cohn  unb  «§tr>ang  für  bie  gtoeefe  ber  gefellfchaft* 
liehen  ©rbnung,  toenn  auch  in  xxod\  fo  mtpollfommener  JDeife, 
pöllig  fremb  getpefen  rpäre  —  ber  Caufdjpertrag  in  feiner 
roheften  5orm  unb  bie  Selbftoerteibigung  ber  (ßefellfchaft  gegen 
ben  Derbrecher  mittels  Strafe,  b.  i.  bie  erften  2lnfäfee  bes 
Derfehrs  unb  ber  Hechtsorbnung  finben  ftch  überall.  Über* 
3eugen  tpir  uns  jefet,  nachbem  tpir  pofitip  ge3eigt,  toas  Cohn 
unb  Strafe  permögen,  negatip  bapon,  was  fte  nicht  per* 
mögen,  roo  fte  bie  (ßefellfchaft  im  Stiche  laffen. 

Die  5rage:  ob  Cohn  unb  «gtpang  allein  imftanbe  ftnb, 
eine  befriebigenbe  ©rbnung  ber  (ßefellfchaft  h^3uftellen,  lägt 

i* 


4 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IRec^atttf*  Das  Sittliche. 


ftd?  auch  fo  ausbrühen:  fann  bie  (Sefeßfchaft  ausfommen  mit 
benjenigen  f^anblungen  ober  Unterlaffungen  ihrer  XHitglieber, 
vodd\e  fte  imftanbe  ift  3U  be3ahlen  ober  3U  entrungen? 
Die  Verneinung  fann  nicht  3tt>eifelhaft  fein.  Die  Ciebe  bes 
IDeibes  unb  ber  XHutter  roirb  toeber  be3ahlt  noch  er3toungen, 
unb  boch  bilbet  fie  eine  [5]  unerläßliche  Bebingung,  ein 
^unbamentalpoftulat  bes  gefeßfehaftlichen  €ebcns;  an  ibr 
hängt  bas  f}aus  unb  bamit  bas  <5ebeifyen  ber  gan3en  <Sefeß< 
fdjaft.  Denn  bas  fjaus  ijl  für  letztere,  tr>as  bie  gelle  für 
ben  tierifchen  Körper,  ber  Bilbungsherb  bes  Cebens,  bie  lefete 
Quelle  aller  Kraft,  ber  öfonomifchen  fotoo^I  tüte  ber  ftttlichen 
—  taugt  bas  £}aus  nichts,  fo  taugen  auch  biejenigen  nicht, 
roelche  baraus  fyxvoxqelten. 

Derfuchen  toir  bie  (Breden  ber  Fialen  Ceiftungsfähtgfeit 
von  Cohn  unb  gtoang  prin3ipiefl  ab3ujlecfen. 

tDir  unterfcheiben  3tx>ei  Jtrten  von  Perhältniffen.  Die 
einen  finb  biejenigen,  auf  welche  Cohn  unb  gvoanQ  überall 
feine  2tntr>enbung  finben,  bie  jenfeits  ber  Sphäre  bes  Hechts 
unb  bes  Derfehrs  liegen,  3U  fein  geartet,  um  bie  unfanfte, 
rauhe  Berührung  bes  äußeren  gtoanges,  3U  ebel,  um  bie 
Verunreinigung  burch  fchnöben  Cohn  3U  ertragen.  <£s  finb 
bie  ftttlichen  Derhältniffe  im  engeren  Sinne:  bie  ber  Ciebe 
unb  ber  5reunbfchaft.  3hre  richtige  (Sejialtung  ifi  ausfchlte^ 
lieh  bem  fittlichen  (ßeifte  überliefen,  Cohn  unb  <§tt>ang  haben 
über  fie  feine  2T?ad)t.  Die  3tt>eite  2Irt  bilben  biejenigen, 
toelche  auf  Cohn  unb  <§tr>ang  gebaut  frnb;  unterfuchen  toir, 
ob  lefetere  t>ermögenb  finb,  bei  ihnen  ihre  Stufgabe  erfchöpfenb 
3U  löfen. 

VOiv  richten  biefe  5rage  3uerfi  an  ben  Cohn.  211s  fo3iale 
^unftion  besfelben  $aben  toir  feine^eit  erfannt  bie  geftchertc 
Sefriebigung  ber  menfchlid^en  Sebürfniffe.  ZHit  fo  t>oIIenbeter 
Hegelmäßigfeit  unb  unausbleiblicher  [6]  Sicherheit  ber  Cotm 
nun  auch  &iefe  Aufgabe  in  roeitejier  2tusbehnung  t>oß3ieM, 


Utt3ulättgIid}Feit  pon  £ofjn  unb  <§ti>ang* 


5 


fo  haftet  bod?  gleiditpofyl  bem  ganzen  £ofynfyftem  (bem  Vev 
feljr)  ein  XHangel  an,  ber  mit  ifym  unabtsenblidj  gefegt  ift. 
Die  feciale  IDirffamfett  6es  £ofyies  im  ein3elnen  5aH  ijt 
nämlid?  bebingt  burdj  3t#ei  Porausfefeungen,  bie  erfte:  baß 
berjenige,  tr>eld}er  fein  23ebürfnis  burefy  bie  £etftung  eines 
anbern  3U  beliebigen  gebenft,  imfkmbe  ift,  bafür  ben  ent* 
fpredjenben  £ofyn  3U  bieten,  bie  anbere:  baß  ber  (Segenpart 
geneigt  ift,  ben  £ofyn  an3uneljmen,  b.  i.  jtcfy  baburdj  3ur  (Segen- 
leiftung  beftimmen  3U  laffen.  Wo  es  an  einer  biefer  Poraus* 
fefeungen  gebridjt,  serfagt  ber  £ofyn  feine  Dienfte,  2tn  ber 
erften  fefylt  es  beim  Firmen,  ber  ben  £o^n  nidtf  l^at,  an  ber 
3tx>eiten  beim  Heiden,  ben  er  mcfyt  Iocft,  23eibe  perfonen, 
be3iefyungstr>eife  bie  Klaffen  ber  (Sefeßfcfyaft,  für  toelcfye  bies 
3utrifft,  ftefyen  mithin  infofern  auger  bem  Perfefyr,  auf  fie 
fann  er  nicfyt  rechnen,  (Säbe  es  nun  feine  anbevn  gefeH« 
fdjaftlidjen  Criebfebem  außer  bem  Coline,  fo  müßten  bie 
2Irmen  unb  Arbeitsunfähigen  verhungern,  unb  bie  Heichen 
würben  bie  fjänbe  in  ben  Schoß  legen  unb  lebiglid]  bas 
Kapital  für  fich  arbeiten  laffen,  ihre  Arbeitskraft  unb  ihr 
Calent  tsürbe  ber  ZDelt  verloren  gelten,  bie  (Sefellfchaft  toürbe 
bamit  eine  erhebliche  (Einbuße  erleiben.  Die  (Erfahrung  aber 
5eigt,  baß  einerfeits  auch  bas  Calent  unb  bie  3nteIIigen3  ber 
Heiden  ber  IHenfchheit  3um  Ztufeen  gereicht,  unb  baß  anberer* 
feits  bie  Firmen  nicht  verhungern, 

[7]  So  erroeift  fich  alfo  ber  £ofyt  als  Criebfeber  bes  Der* 
fefyrs  in  ber  boppelten  Htd)tung  als  unzulänglich,  forr>ol^I  tr>as 
bie  Befriebigung  ber  Sebürfniffe  auf  ber  einen,  als  bie 
i}eran3ief)ung  ber  r>orfyanbenen  Kräfte  für  biefen  «gtseef  auf 
ber  anbern  Seite  anbetrifft  (Seböte  ber  fo3iale  Körper  über 
feine  anb^vn  ZHittel,  um  biefen  Übelftanb  ab3uhelfen,  fein 
«guftanb  roürbe  ber  einer  mangelhaften  Blut3irfulation  fein: 
Slutleere  an  biefem,  Blutüberfüllung  an  jenem  punft. 

Aber  felbft  von  biefen  e^eptionellen  Perhältniffen  abge- 


6 


Kapitel  IX.   Die  f<>3tale  tHedjattif*   Das  Sittliche* 


(etjen,  alfo  oorausgefefct,  baß  ber  £ohn  nach  beiben  Seiten 
hin  feine  normale  5unftton  t>ollftänbig  ausübt,  fo  reicht  boch 
er  allein  in  feiner  VOex\e  aus,  bie  gefeUfchaftliche  Aufgabe, 
feie  ihm  3ugewiefen  ift,  erfchöpf  enb  3U  löfen.  <2in  Arbeiter, 
ber  nur  um  bes  Sohnes  willen  arbeitet,  5er  nicht  feine  £I>re 
barein  fefct,  gut  311  arbeiten,  arbeitet  fehlest,  wenn  er  gewiß 
tji,  barunter  nid\t  3U  leiben.  Die  Garantie  für  gute  Arbeit, 
welche  ber  £ohn  gewägt,  reicht  nicht  weiter  als  ber  <£gois* 
mus;  wo  letzterer  nicht  babei  beteiligt  iji  (furcht  t>or  XTicht* 
abnähme  bes  befteüten  2trbeitsprobuftes,  Kür3ung  bes  £ohnes, 
Schäbigung  bes  Hufes  unb  bamit  bes  2lbfafees),  muß  bie 
Arbeit  notwenbigerweife  fchlecht  ausfallen,  bie  (Sefellfdjaft 
aber  t^at  bas  größte  3^tereffe  baran,  gute  Arbeit  311  erhalten. 

So  poftuliert  alfo  ber  Cofyn  3U  feiner  €rgän3ung  noch 
ein  anberes  2TJotir>,  bas  über  ihn  hinausragt,  es  ift  bas 
ftttliche  bes  Pflicht*  unb  €I]rgefül>ls  bes  Arbeiters.  Die  [8] 
2trbeitsfrage  hängt  nicht  allein  am  technifeben  unb  öfono* 
mifchen  tHoment,  fonbern  gan3  wefentlich  aud]  am  etfyfdjeu. 
Der  richtige  Arbeiter,  tote  bie  (SefeUfdjaft  iEjn  braucht  (id? 
perjiefye  barunter  nicht  bloß  ben  £>anbwerfer,  fonbern  jeben, 
ber  um  £ohn  feine  Dienfte  erweift,  alfo  auch  ben  Staats* 
unb  Kirchenbiener,  (Belehrten,  Künftler),  ift  nicht  ber  bloß 
gefdjicfte,  fenntnisreiche,  funbige,  fonbern  ber  3ugleicb  gewiffen* 
hafte,  pflichttreue.  <5ewiffenhaftigfeit,  €I(rlid?feit  unb  <£h*' 
gefühl  firtb  bie  unentbehrlichen  Begleiter  ber  (Sefchicflichfeit, 
fie  müffen  biefelbe  unausgefefet  bewachen,  ftacheln,  fpornen; 
ftnb  fie  t>orhanben,  fo  fteDt  lefetere  r>on  felber  fich  ein,  nicht 
aber  umgefehrt  Darum  l\aben  fie  neben  ihrem  ethifchett 
3ugletch  einen  eminent  öfonomifchen  IDert,  ihr  ZHangel  be* 
3iffert  fich  für  ben  Perfehr  eines  Dolfs,  fowohl  ben  internen 
als  gan3  befonbers  ben  auswärtigen,  für  feinen  Anteil  am 

IPeltperfehr,  nach  ZHillionen  unfere  beutfehe  3nbufirie 

unb  unfer  £}anbel  wiffen  bar>on  traurige  Dinge  3U  berieten! 


Utt3ulän<jltd}?eit  von  £ofjn  unb  gtrang*  7 

Diefelbe  (Erfahrung,  tx>eldje  toir  in  be3ug  auf  ben  £o^n 
gemacht  fyaben,  toieöert^olt  fid?  aud?  beim  <§tr>ange.  2tudj  er 
ifi  für  jtet}  allein  nicfyt  imftanbe,  bie  itjm  im  Becfyt  3ugetr>iefene 
Aufgabe  3U  vollbringen.  ®Bjne  f}in3ufommen  t>er  fittlicfyen 
(Sefinnung  ift  bie  gan3e  Hecfytsorbnung  eine  tjöcfyft  unt>olt* 
fommene,  unficfyere.  Sebiglicfy  auf  ben  §tt>ang,  b.  fy.  auf  bas 
egoiftifdje  VTiotiv  ber  5urcfyt  gebaut,  ftefyt  unb  fällt  fie  mit 
ifym,  fie  ift  bann  nidtfs  als  [9]  bie  ©rbnung  bes  öagno  ber 
<5aleerenfträflinge:  gefiebert,  folange  bie  peitfdje  in  Sidjt, 
aufgelöft,  fotr>ie  fie  aus  ben  2lugen  ift.  3)ie  politif  bes 
(Egoiften  toürbe  fid?  unter  biefer  Dorausfefcung  barauf  rebu« 
3ieren,  fid}  ben  Süden  bes  (Sefefees  möglidjft  3U  ent3iefyen. 
5inb  toxx  fidjer,  baß  bas  2luge  bes  <5efet$es  uns  nidjt  tr>afyr* 
nimmt,  fo  tonnen  voiv  alles  tun,  tx>as  unfer  Porteil,  unfere 
£uft,  unfere  £eibenfd)aft  mit  fiel)  bringt,  —  bas  <5efefc,  baß 
uns  nid]t  fie^t,  eyiftiert  für  uns  nidtf,  fein  2lrm  reicht  nidji 
weiter,  als  fein  2luge.  23in  idj  fidler,  baß  ber  (Släubiger 
ben  Beweis  ber  5d\nlb  nicfyt  führen  fann,  fo  leugne  idj  fie 
ab,  treffe  id?  meinen  ^einb  an  einfamer  5telle  im  JDalbe, 
fo  räume  id?  xfyx  aus  bem  JDege,  jebes  Perbredjen,  bas  mir 
Porteil  bringt  ober  (ßenuß  perfprtcfyt,  unb  r>on  bem  idj  fidjer 
bin,  baß  niemanb  midj  besfelben  überführen  ober  befcfyulbigen 
roirb,  ift  bann  nid]t  bloß  möglid),  fonbern  t>om  5tanbpnntt$ 
bes  (Egoismus  pfvcliologtfcf^  uuabn^enblid?. 

3d)  fann  ben  legten  punft  nxd\t  genug  betonen.  Sefcen 
tr>ir  ben  (Egoismus  als  ein3iges  ZTTotit>  bes  Zltenfd^en,  benfeu 
ipir  alfo  bie  fittlicfye  (Sefinnung  gän3lid)  fynroeg,  fo  ift  bei 
fjintoegfall  bes  einigen  (Begengettncfyts,  toeldjes  bie  2lusfid)t 
auf  Strafe  unb  gwanq  bem  Egoismus  entgegenfefct,  bie  23e* 
gefyung  aller  £}anblungen,  toeldje  fidj  t>om  Stanbpunfte  bes 
(Egoismus  aus  empfehlen,  pfydjologifd)  ebenfo  notoenbig 
unb  unabtoenblid),  wie  ber  5aß  bes  Körpers,  rr»enn  ber 
Stüfepunft,    ber   ifym    bisher  [10]  3ur   Untertage  biente, 


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Kapitel  IX.   Die  feciale  Ulecbamf.    Das  Sittliche* 


Ijmtpeggenommen  ifi*  Der  ZHenfdj  mug  bann  jebes  Der* 
brechen,  jebe  Sdjanbtat  perüben;  jeber  trägt  bann  ben  Der* 
bredjer,  bie  tpilbe  öeftie  in  fiel],  bie  er  nur  fo  lange  im 
«gaume  ti<\lt,  als  bie  5urd}t  por  bem  (Befefc  ifyt  3tpingt,  ber 
er  aber  bie  gügel  fließen  läßt,  foune  biefe  Hücfftdft  fyntpeg* 
gefallen  iji 

Das  toäre  bie  £}errfdjaft  bes  <Sefet$es,  tpenn  jte  aus* 
fdjliepdi  auf  ben  gtpang  gegründet  ix>äre.  XDirffam,  roo 
ber  Büttel  in  Sidjt,  toürbe  bas  (Sefefc  unter  ber  entgegen« 
gefegten  X>orausfe&ung  ftets  ohnmächtig  fein,  unb  bie  gefamte 
(Sefellfchaft  ohne  Ausnahme  tpürbe  su  ber  Hechtsorbnung 
biefelbe  Stellung  einnehmen,  rote  jefet  ber  f leine  Bruchteil 
ierfelben,  ber  nur  burch  bie  5urcfyt  por  5trafe  im  gaume 
gehalten  tpirb:  bas  Verbrechertum. 

<£s  ergibt  fich  hieraus  bie  gän3liche  ynxgteit  ber  früher 
allgemein  perbreiteten  Ce^re,  tsefrhe,  inbem  fie  ben  Unterfdjieb 
5ioifc^en  2lecht  unb  ZHoral  in  ben  ber  äußeren  fjanblung  unb 
öer  inneren  (Sefinnung  fefete,  letztere  für  bas  Hecht  glaubte 
entbehren  3U  fönnen*  <£s  roäre  ein  fauberer  guftanb,  ber 
fich  baraus  für  bas  Hecht  ergeben  tpürbe!  S)ie  Cl|eorie  tsar 
nach  beiben  Seiten  l^in  perfehrt  Zlad)  feiten  ber  HToral, 
inbem  fie  bas  ZHoment  bes  «gtpanges  überfah,  bas  auch  ibr, 
urie  ich  fpäter  nachreifen  tperbe,  unerläßlich  ift,  nur  baß  es 
bei  ify;  eine  anbere  (ßeftalt  annimmt,  als  beim  Hecht:  bie 
bes  gefellfchctftltchen  oranges  im  <5egenfafc  bes  ftaat« 
liefen*  Zlad\  feiten  bes  Hechts,  inbem  jte  bas  aud> 
ihm  fo  [11]  roef  entliche  innere  Hloment  ber  (Sefinnung 
außer  acht  lieg*  23eibe  Sphären  ber  jtttlichen  IPeltorb* 
nung  ftef^en  jtch  unverhältnismäßig  piel  näher,  als  jte  an- 
nahm, bas  Hecht  fann  ohne  bie  innere  (ßejtnnung  ebenfo* 
ipenig  feine  ZHifftou  auf  €rben  erfüllen,  rpie  bie  ZTioral 
ohne  ben  gtpang. 

Wxt  f daliegen  unfere  erfte  Unterfuchung  mit  bem  Hefultat 


Das  pojhiiat* 


9 


ab:  §toar\Q  unb  £ofyn  reichen  3ur  Dollbringung  beffen,  xoas 
fte  für  bie  (SefeUfdjaft  felbft  innerhalb  ber  ifynen  eigentüm* 
lidicn  Sphäre  3U  bef djaffen  fyaben,  in  fetner  IDeife  aus. 

2)  Das  poftulat. 

Kann  bie  (ßefeHfdjaft  bei  £ofyn  unb  gtoang  allein  nicfyt 
befielen,  fo  muffen,  roenn  fie  bennodj  befielen  foll,  anbere 
Criebfebern  bie  £ücfe  ausfüllen.  ZDelcfyer  2lrt  biefelben  finb, 
ob  pielletdjt  audj  fie  fxd?  auf  ben  (Egoismus  3urücffüi|ren 
laffen,  fümmert  uns  3unädjft  nod?  nidjt.  Zlux  fopiel  fönnen 
tpir  fagen,  ba£  fie,  tpenn  fie  ben  Dienft,  ben  tpir  pon  tfjnen 
erwarten,  roirflidj  leiften  follen,  in  ifyrem  23eftanb  unb  iBjrer 
IPirffamfeit  ebenfo  gefiebert  fein  müffen,  rpie  jene,  öerufyt 
alfo  it^r  Dafein  lebigltcfy  auf  inbipibuellen  Porausfefcungen, 
bie  tjier  porijanben  finb,  bort  fehlen,  auf  einem  ungetpöfyn» 
lid^en  ZHaße  ber  moralif  djen  Kraft  ober  ber  3nteüigen3,  fo 
finb  fie  für  ben  «gtoecf  ungeeignet;  bie  (ßefeDfdjaft  muß  fidjer 
fein,  baß  fie  ftets  in  ausreidjenbem  Ztlaße  porfyanben  finb. 
2)as  Däfern  biefer  anbern  Criebfebern  gehört  bemnadf  3U 
ben  abfoluten  [12]  Sebensbebingungen  ber  (Sefellfcfyaft.  (Db 
bie  Ztatur  es  ift,  rpeldje  bafür  forgt,  baß  jte  porljanben  finb, 
ober  ob  bie  (Sefellfdjaft  bie  IHacfyt  befifet,  fie  3U  er3eugen, 
bapon  tpiffen  tpir  3ur3eit  nod}  nichts,  fur3,  jte  müffen  ba  fein, 
jte  bilben  ein  abfolutes  poftulat  bes  öeftefyens  ber 
<ßefellfd?aft. 

Unb  fie  finb  ba» 

3)  Catfädjlidjfeit  fo3ia!er  ZlTotipe  außer  £ofyn 
unb  <§rpang. 

3d]  Ijebe  biefen  punft  nur  fyerpor,  tpeil  er  ein  (Slieb  in 
meiner  (ßebanfenfette  bilbet,  bas  an  btefer  Stelle  ein3ureifyen 
ijt,  nidjt,  tpeil  er  eines  Betpeifes  bebürfte,  beun  beffen  bebarf 
er  nidjt;  ber  ßüdjttgfte  Slicf  auf  bas  £eben,  tpeldjes  uns 


HO  Kapitel  IX.   Die  fatale  ttTedjantf,   Das  Sittliche* 


täglich  fjanblungen  vorführt,  bie  u>eber  belohnt,  noch  er* 
3ioungen  werben,  reicht  ans,  um  uns  von  bem  Va\ein  von 
Zfiotiven  bes  menf  deichen  f^anbelns  für  anbete  auger  €ofy\ 
unb  «gtsang  311  über3eugen.  3ch  fyahe  mir  einmal  sorge« 
nommen,  jeben  Schritt,  ben  meine  Debuftion  macht,  äußerlich 
mittels  befonberer  Überfchrift  bemerflich  3U  machen,  u>ie  ich 
es  in  ben  beiben  sorhergehenben  Kapiteln  getan  fyabe.  Es 
finb  bie  IDegtoeifer,  bie  ich  bei  jeber  Wenbnnq  bes  Weges 
an3ubringen  gebenfe,  unb  bie  uns  fortan  unausgefefct  3ur 
5eite  bleiben  follen.  Sie  gewähren  bem  £efer  bie  ZtTöglich* 
feit,  ben  3urücf  gelegten  H?eg  t>on  Anfang  bis  3U  Enbe  aufs 
genauefte  3U  überfeinen  unb  ben  punft  fefouftetlen,  tt>o  er  bas 
(Sefühl  l^at,  ba§  er  fernerhin  [13]  nicht  mehr  mit  mir  gehen 
fann.  Permag  er  mir  trofe  ber  Erleichterung,  bie  ich  ihm 
burch  jene  Einrichtung  serfchafft  fyahe,  ben  punft  nicht  3U 
be3eicfyten,  fo  ha*  er  nicht  bas  Hecht,  bas  «giel,  bei  bem  tt>ir 
fchließlich  angelangt  finb,  als  ein  unrichtiges  ab3ulehnen  — 
er  muß  es  entoeber  annehmen  ober  bie  Stelle  nahmhaft 
machen,  wo  ich  feiner  21nftcht  nach  vom  richtigen  lüege  ab* 
gereichen  bin. 

(ßibt  es  ^anblungen,  welche  tseber  be3ahlt  noch  er3u>ungen 
roerben,  fo  ift  bamit  ber  Bereeis  erbracht,  baß  Cohn  unb 
<§tr>ang  nicht  bie  einigen  UTotise  bes  menfchlidjen  J^anbelns 
bilben,  ba%  bie  <5efellfchaft  alfo  für  ihre  &we$e  auch 
über  2Hotit>e  anberer  2trt  gebietet.  2luch  bie  Sprache  erfennt 
bie  Catfächlichfeit  berfelben  an,  fte  fpridjt  von  „uneigen' 
nüfcigen,  felbftlofen,  felbjiperleugnenben,  unegoifti* 
fchen"  £}anblungen.  0b  fte,  inbem  fte  biefelben  3U  ben 
„eigennützigen,  felbßfüchttgen,  egoiftifchen"  in  (5egetv 
fat$  (teilt,  Hecht  ha*  mit  ihrer  Annahme  ber  2lbn>efenheit 
jeber  23eimifchung  bes  Egoismus  bei  ihnen,  laffen  wir  bjer 
3unächft  bahm  geftellt,  um  bie  $vaqe  an  anberer  Stelle 
toieberum  auf3unehmen;  fyev  sollen  u?ir  bie  2luffaffung  ber 


tttdjtegotftifdje  ITCotroe*   Das  Sittliche» 


u 


Sprache  nicht  fritifteren,  fonbern  3uvörberft  nur  !ennen 
lernen. 

Zleben  ben  angegebenen  2lusbrücfen  bejtfet  bie  Spraye 
noch  einen  anbern:  ben  bes  Sittlichen,  unb  mit  biefem 
Begriff  nennt  fie  uns  bie  XHacht,  welche  ihrer  21uffaffung 
3ufolge  bas  burch  £ot?n  unb  gwang  nur  unvoHjlänbig  gelöfte 
Problem  ber  gefellfchaftlichen  ©rbnung  sunt  2lbfd)lu§  [14] 
bringt  unb  bem  Syftem  bes  gefellfchaftlichen  £ebens  biejenige 
Pollenbung  verleiht,  bie  fie  als  „fittliche  IDeltorbnung"  be* 
3eichnet. 

IDas  ift  bas  Sittliche?  3n  biefer  5*<*ge  ftecft  na^eju 
bie  halbe  philofophie,  unb  feit  3ahrtaufenben  mül}t  fie  fiel] 
ab,  fie  3U  beantworten.  3d?  mürbe  viel  barum  gegeben 
haben,  wenn  ich  ihr  bei  meinen  Unterfuchungen  hätte  aus 
bem  IPege  gehen  ober  mich  bei  ber  von  anbern  erteilten 
Antwort  hätte  beruhigen  fönnen.  23eibes  war  mir  nicht 
möglich,  unb  fo  liabe  ich  roich  genötigt  gefehen,  felbftänbig 
ben  Derfuch  3U  ihrer  Cöfung  311  unternehmen.  3ch  ha&e 
babei  einen  anbern  &)eg  eingefchlagen,  als  ben  bie  bisherige 
<£thi?  3U  gehen  gewohnt  tft.  H)ährenb  festere  nämlich  bas 
Problem  von  vornherein  ber  JDiffenfchaft  3uweift,  fyabe  ich 
es  für  3toedEmäßig  erachtet,  mich  ^unächft  an  bie  Spraye  3u 
halten  unb  ihr  bie  5**tge  vo^ulegen,  was  fie  fich  bei  bem 
Sittlichen  benft.  Unb  ich  ha&e  es  nicht  bereut;  fie  ha*  m^ 
auch  h^r  wieberum,  wie  fo  oft,  wertvollere  21uffchlüffe  ge* 
währt,  als  ich  i>on  vornherein  erwartet  hätte,  wichtige  Ringer* 
weife,  welche  bie  £tB|if  wohl  getan  hätte  3U  beher3igen,  unb 
welche  ihr  manche  ^vtwnQen  hätte  erfparen  fönnen. 

ZtTöge  ber  £efer  fich  bie  Zfiühe,  mir  bei  biefen  fprachlicheu 
Unterfuchungen  31t  folgen,  nicht  verbriefen  taffen.  Hachbem 
bie  Sprache  uns  mitgeteilt  h<*t,  was  fie  über  bas  Sittliche 
aus3ufagen  vermag,  (oll  bie  Xt>iffenfchaft  bas  IDort  erhalten. 


\2  Kapitel  IX.  Die  feciale  IlTedjantf.   Das  SittUdje* 


4)  Die  Autorität  ber  Sprache  in  Singen  bes 
Sittlidjen. 

Der  iiolje  XPert,  ber  bei  einer  auf  ^eftftellung  bes  Begriffs 
unb  (Ermittlung  bes  IDefens  bes  Sittlidjen  gerichteten  Unter» 
fudjung  bem  Sprachgebrauche  3ufommt,  bebarf  roohl  nicht 
erft  bes  Zlad)toex\es>  Bei  bem  Sittlidjen  Ijanbelt  es  ftdf  nicht 
um  tpiffenfehaftliche,  ber  €rfenntnis  unb  bem  Urteil  bes  Doifs 
fern  liegenbe  Probleme,  fonbern  um  pfydjologifche  <£rfafy 
rungstatf  adjen,  bie  jeber  unausgefefet  an  ftch  felber  täglich 
erlebt,  unb  über  bie  jeber  in  ber  £age  ift,  ftch  fein  Urteil  3U 
bilben.  €s  gibt  feinen  ZlTenfcfyen,  ber  nicht  bie  Hegungen 
bes  Ulitleibes  von  benen  bes  fjaffes  3U  unterfetjeiben  per- 
möchte, unb  ber  ftch  nicht  betoujjt  roäre,  ba§  ber  2lft  ber 
Selbftperleugnung,  ben  er  pormmmt,  tpenn  er,  um  ein 
ZlTenfchenleben  3U  retten,  ins  5euer  ober  JDaffer  fpringt,  einen 
anbem  XDert  beanfprudjen  barf,  als  roenn  er  eine  2)ienft« 
leiftung  pornimmt,  für  bie  er  be3ahlt  tpirb, 

J)ie  Befultate  biefer  burch  Zllilliarben  pon  ZHenfdjen  be* 
funbeten  inneren  (Erfahrung  jinb  in  ber  Sprache  niebergelegt. 
2)er  Sprachgebrauch,  ber  biefen  Schafe  in  ftch  birgt,  unb  ber 
an  jebem  eiu3elnen,  ber  ftch  ber  ihm  pon  ber  Sprache  3ur 
Verfügung  geftellten  2lusbrü<ie  bebient,  jeben  ZTEoment  feine 
probe  3U  beftehen  unb  ftch  barüber  aus3uu>eifen  tjat,  ob  bie 
Ausprägung  bes  (Sefüfyls  pon  feiten  ber  Sprache  ber  eignen 
(SEmpfmbung  entfpridjt,  biefer  Sprachgebrauch  [16]  ift  eine 
Catfadje,  roeldje  bie  XDiffenfdjaft  3U  refpeftieren  l\at  ZTidjt 
in  bem  Sinne,  baß  fte  nicht  bas  in  ihm  niebergelegte 
Smpfmben  unb  Denfen  bes  Dolfs  einer  Kritif  untertperfen 
unb  ben  Derfuch  rpagen  bürfte,  tiefer  in  bas  JDefen  ber 
Sache  einbringen,  als  bas  Polf,  roohl  aber  in  bem  Sinne, 
ba§  fte  ben  feft  ausgebilbeten  Sprachgebrauch  ftehen  laffen 
foH,  unb  nicht,  tote  es  pon  manchen  philofoptjen  im  3ntereffe 


Die  Autorität  ber  Sprache  in  Dingen  bes  Sittlichen* 


ber  von  ihnen  aufgehellten  {Theorien  mit  bem  2lusbruc! 
(Egoismus  gefdjehen  tfi,  bemfelben  (Seroalt  antun  barf.  Das 
ifi  eine  Sprachfälfdnmg,  bie  in  besug  auf  ihren  gemein- 
gefährlichen (Zfyatattet  auf  einer  £inie  fleh*  mit  ber  ZfLün$< 
fälfdjung,  benn  t»ie  Iefetere  bie  Sicherheit  bes  Derfehrs  im 
öfonomif  djen  Sinn  untergräbt,  fo  fte  bie  bes  geiftigen,  bie 
Sicherheit  beiber  beruht  auf  ber  feftftehenben  (ßeltung  ber 
einmal  ausgeprägten  Ö?ert3eid?en,  jeber  mu§  ftcher  fein,  ba§ 
bie  2Hün3enf  bie  er  empfängt  unb  ausgibt,  echt  ftnb.  5ür 
feine  eignen  von  ihm  vermeintlich  neu  auf  ben  TXiaxit  ge« 
brachten  (Sebanfen  mag  jeber  ftd?  feine  eignen  2Iusbrücfe 
bilben,  es  roirb  jtd)  ja  3eigen,  ob  ber  Perfehr  bie  ueu  aus- 
geprägten Xfiün3en  als  nottoenbige  unb  tr>erh>oHe  Vermehrung 
bes  Sprachfcbafces  aufnimmt  ober  als  roertlofe  231echmün3en 
ober  Rechenpfennige  bem  Urheber  3um  ausfchließlichen  prtoat« 
gebrauch  überlägt.  2lber  ben  Sprachgebrauch  (bie  fprach' 
Iid]e  ZDä Irrung)  foll  jeber  ftefyen  laffen  unb  anerfennen, 
b.  h-  bie  einmal  feft  ausgeprägten  tt)ert3eichen  ber  Sprache 
auch  3U  bemjelben  JPert  annehmen,  ben  fte  felber  bamit  [17] 
oerbunben  b{at  Wer  bie  Sprache  meiftern  tr>iH,  foH  fich  brei* 
unb  viermal  t>orfefyen;  nach  meinen  bisherigen  (Erfahrungen 
fällt  ber  Dortourf,  ben  er  ihr  macht,  regelmäßig  auf  ihn 
felber  3urücf. 

3nbem  ich  mich  burch  btefen  <5efichtspunft  leiten  laffe, 
richte  ich  mein  2lugenmerf  in  erfter  £inie  auf  bie  Sprache, 
um  feft3uftellen,  tt>as  fte  fid)  unter  bem  Sittlichen  benft.  ZTach 
ben  (Erfahrungen,  bie  id?  fonfl  überall,  wo  ich  bie  Sprache 
um  Hat  gefragt  h<*be,  mit  ihr  gemacht  iiabe,  unb  bie  mich 
ftets  über  ben  txninberbaren  Treffer  ber  Spvad\e  Reiben 
ftaunen  laffen,  trete  ich  auch  biefes  ZtTal  mit  ber  (Erwartung 
an  fie  lietan,  in  ihr  bas  Richtige  3u  finben  unb  nicht  in  bie 
Sage  fommen  3U  follen,  fie  3U  meiftern. 

<§tx>et  2Jnhaltspunfte  bietet  uns  bie  Sprache  bar,  um  uns 


\%  Kapitel  IX.   Die  feciale  IHed^aniL   Das  Sittlid^ 


ber  Porftelluugen,  bie  fte  mit  ihren  Ausbrücfen  verbindet,  3U 
bemäd]tigen:  bie  (Etymologie  unb  ben  Sprachgebrauch.  3ene 
nennt  uns  ben  hiftorifchen  Ausgangspunkt  ber  Dorftellung. 
Auch  für  bas  Überftnnliche  befielt  er  regelmäßig  in  einer 
finnlichen  Dorftellung,  benn  mit  bem  Sinnlichen  tjat  alles 
Denken  begonnen,  Der  Sprachgebrauch,  be3iehungstr>eife  bie 
(Sefchichte  besfelben  lehrt  uns,  was  aus  ben  urfprünglichen 
Begriffen  im  Caufe  ber  geit  geworben  ift.  3n  basfelbe 
fprachliche  (ßefäß  fchüttet  bie  eine  §eit  biefen,  bie  anbere 
jenen  3nhalt,  bas  <5efä§  bleibt,  ber  3nfyalt  änbert  pdf.  Die 
IDorte  gleichen  Käufern,  beren  33efifcer  wechfeln,  ber  eine 
ftirbt  ober  3iefyt  aus,  ein  anberer  [18]  3ieht  ein.  Käme  bie 
Ih^eit,  ber  tx>ir  unfere  heutige  Spvad\c  perbanfen,  3urücf,  fie 
würbe  ben  Sinn  ber  meiften,  auf  bas  Uberfinnlidje  gerichteten 
IDorte  faum  roiebererfennen  —  (Sott,  Cugenb,  IDeisheit 
haben  in  unferem  ZHunbe  eine  gänslid^  anbere  Sebeutung  als 
in  bem  unferer  Dorfahren. 

Sache  ber  Sprachforfchung  ift  es,  neben  bem  IDechfel  ber 
Sprachformen  auch  biefe  innere  5ortbiIbung  ber  Segriffe, 
bas  allmähliche  iDacfystum  ber  3&een  3U  oerfolgen.  (2s  ift 
ein  gweig  ber  Sprachforfchung,  ber,  3ur3eit  noch  wenig  aus- 
gebilbet,  erft  t>on  ber  gufunft  unb  3war  mehr  t>on  ben  philo* 
foppen  als  r>on  ben  Cinguiften  feine  Ausbeutung  3U  erwarten 
I^at.  <£r  wirb  uns  auch  über  bie  (Befchichte  ber  ftttlichen 
3been  überrafdjenbe  Auffchtüffe  geben.  Sosiel  permag  id] 
fchon  nach  ben  geringen  (Erfahrungen,  bie  ich,  ber  reine 
Dilettant  auf  biefem  (gebiete,  gemacht  liabe,  mit  aller  Sicher- 
heit poraus3ufagen.  ZlTein  tDiffen  reicht  nicht  foweit,  um 
biefe  Aufgabe  für  bas  Sittliche  3u  löfen,  ich  muß  mich  bamit 
begnügen,  bie  beiben  (Enbpunfte  bes  fprachlichen  (Entwicflungs« 
pro3effes  namhaft  3U  machen:  ben  erften  Ausgangspunkt,  ben 
bie  (Etymologie  aufbewahrt  hat,  unb  ben  gegenwärtigen 
Sprachgebrauch,        ich  felber  aus  bem  £eben  fenne  —  was 


Die  Autorität  ber  Sprache  in  Dingen  bes  Sittlichem 

in  bie  XHitte  fällt,  ift  (Segenftanb  ber  p^ilofop^ifcft-^tftorifd^en 
Sprachforschung.  3^  beneibe  jte  um  i>ic  2Iuffd?lüffef  bie  fte 
hier  gewinnen  wirb.  (Erft  ber  in  biefem  Sinne  vorgehenben, 
fämtliche  Spraken  in  ben  Kreis  [19]  ihrer  Unterfuchung 
3iehenben  #)iffen)"chaft  wirb  bie  (Sefdn'chte  bes  menfehüchen 
Denfens  unb  bamit  auch  bie  ber  fittlichen  3^^en  fich 
f daließen,  unb  von  ber  £}öhe,  bie  fte  bamit  erftiegen,  wirb 
ftc  auf  bie  Beftrebungen  vorangegangener  roiffenfcf^aftlid^er 
(Epochen,  bas  Derftänbnis  bes  Sittlichen  ohne  bie  <5efdn'chte 
3U  gewinnen,  h^rabfehen  als  auf  bie  müßigen  Spiele  unreifer 
Kinber. 

Der  IDortfchafc  ber  Spraye  für  bas  Sittliche  3erfäHt  in 
3wei  (Sruppen.  Die  eine  umfaßt  bie  fpejieöen  Criebe, 
Cugenben,  £after,  welche  bie  Sprache  als  befonbere,  eigen* 
tümliche  (Seftaltungen  bes  fittlichen  ober  unjtttlichen  Der* 
Raitens  anerfennt  tote  3»  23.  ^abjucht,  Hachfudjt,  ZHitleib, 
fiebe,  (Ehrgefühl,  Pflichtgefühl.  Sie  Reiben  für  uns  an  biefer 
Stelle  fein  3ntereffe;  ben  bret  3ulefet  genannten  werben  wir 
fpäter  eine  genauere  Betrachtung  3utr>enben.  Die  3weite  (ßruppe 
umfaßt  bie  geringe  <§<*hl  berjenigen  2Iusbrücf e,  in  welche  bie 
Sprache  ihre  allgemeine  tEh^orie  über  bas  Sittliche  nieber* 
gelegt  h<*t:  Sitte,  fittlich,  Sittltd^feit,  Sittengefefe, 
unfittlich,  moralifch,  XHoral,  unmoralifch,  eigen* 
nüfeig,  uneigennützig,  felbftlos,  felbftverleugnenb, 
felbftfüchtig,  egoiftifch,  unegoifttfeh,  W03U  bie  wiffen* 
fchaftliche  Cheorie  bann  noch  „ethifch"  h^ugefügt  h^t. 
Diefen  Xüorten  l\abex\  n>i*  bie  Zlnfchauung  bes  Sittlichen, 
welche  ber  Sprache  vorfchwebt,  3U  entnehmen.  (Es  ift  ein 
Derhör  mit  ber  Sprache,  bei  bem  es  ebenfo  wichtig  wirb  3U 
fonftatieren,  worauf  biefelbe  Antwort  gibt,  als  [20]  worauf 
jte  biefelbe  verweigert;  wie  ber  3nquirent  beim  Derhör, 
werben  auch  toix  uns  forgfam  3U  hüten  haben,  etwas  hinein* 
Sutragen,  was  bie  Sprache  nicht  ausfagt. 


\(o  Kapitel  IX.   Die  \05\aU  niedjantf.   Das  ftttltdje. 

5)  Kücfgriff  vom  Sittlichen  3ur  Sitte. 
Vas  Wort  „ftttlicfy"  tseift  uns  fpracfylid}  auf  „Sitte" 
3urü<f.  Ztadj  ben  Unterteilungen  ber  neueren  €tymologie  *), 
meldte  bie  früher  übliche  t>erlo<fenbe  Ableitung  ber  Sitte  von 
Sifeen  (sitta,  sitja,  sittjan,  sittan)  als  gän3lidj  unhaltbar  t>ertx>orf  en 
^at,  flammt  Sitte  (gotifefy  sidu,  sidus,  altljocfybeutfd)  sito,  situ, 
mittelfyodjbeutfcfy  site)  von  bem  altinbifc^en  svadhä  =  (ßerool^n* 
fyeit,  bas  man  auf  sva==suus  unb  dhä  =  jefeen,  machen,  tun, 
3urücf  geführt  fyat,  unb  bas  aijo:  §u  eigen  machen,  2tneig* 
nung,  (Eigenheit,  <£igentümlid]?eit  bebeuten  ttmrbe.  Don  bem- 
felben  svadhä  bilbete  bie  latetnifcfye  Sprache  con  —  suetudo 
(sveth,  suescere),  bie  griediifcfye  I&oc,  föoe,  (sueth,  eth),  alte 
brei  Spraken  würben  alfo  ifyre  2lusbrü<f e  für  Sitte  trot$  ber 
für  ben  ZTicfytfenner  gar  nicfyt  mefyr  erkennbaren  VevwanttU 
fcfyaft  einer  unb  berfelben  fpracfylidjen  ffiuv$el  unb  einer  unb 
berfelben  Dorjteüung:  ber  bes  <§u*  eigen  >madiens  entlehnt 
fyaben. 

Das  §u*eigen*mad}en  ber  Sitte  gefcfyeBjt  burdj  beftänbige, 
unausgefefcte  IDieberfyolung  berfelben  £}anblung,  [21]  burd? 
Übung,  Brauck**).  Die  Übung  mad}t  bie  JEjanblung  immer 
leichter  („Übung  macfyt  ben  XlTeiffer"),  ber  3U  ifjr  erforberlicfye 
Kraftaufroanb  bes  XPillens  tx>irb  immer  geringer,  fo  bajj  es 
fcfyliejjlidj  nidjt  mefyr  ber  2Infpannung  ber  iDttlensfraft,  ja 
nxdit  einmal  bes  bewußten  €ntfdjluffes  bebarf.  Der  2Tlenfd> 
fyanbelt,  roenn  bie  Situation  bes  fjanbelns  einmal  an  itin 

*)  Z^t  t>ertt>etfe  auf  bie  «gufatjausf üfjrungen  von  £eo  ineycr 
Dorpat)  in  211  e^anb er  von  (Sttingens  ITCoralftottfUF  unb  d>rtffltcbe 
Sittenlehre,  53b.  2,  (Erlangen  1873,  S.  W  2lnmerfung* 

**)  Der  usus  ber  £ateiner,  n>eicfyer  ebenfalls  bas  «gjueigenma eben 
in  ftcf^  f dj  liegt;  Übung  eines  Ked?tsfat$es  =  usus  longaevus,  in  usu 
esse,  b.  !}♦  23egrünbmtg  besfelben  auf  gett>ofyntjeitsted?tlid}em  Weac, 
eines  Kecfyts  =  usus,  usu-capio  b*  lj.  23egrünbung  besfelben  burd?  <£r* 
ft^ung. 


Die  Sprache*  —  Die  Sitte»  —  Die  <SetPot{nfyeti* 


herangetreten  ift,  fo3ufagen  von  fclbfif  mechanifch,  bas  J^an* 
beln  ift  3ur  „^weiten  ZXatnt"  geworben  (»consuetudo  altera 
natura  est«). 

Dies  Phänomen,  bas  u>ir  als  bas  ber  <8ett>ohnheit 
h^exdinerXf  uneberholt  {ich  ebenfotoohl  im  £eben  ber  Voltev 
wie  in  bem  ber  3n^'I>^u^n*  ^on  bloßen  <5en>ohnheit 
aber  ift  bie  Sitte  xvol\l  3U  unterfchetben,  jene  betont  nichts 
rpeiter  als  bas  äußerliche  ZHoment  ber  Konftan3,  b,  i.  ber 
fortgefefeten  <5leichmäßigfeit  bes  Ejanbelns,  3ur  Sitte  fommt 
aber  noch  ein  inneres  ZTtoment  h™3U* 

6)  Sprachliche  2tbgren3ung  ber  Sitte  t>on 
ber  (SerDotjnheit. 

Die  Sprache  unterfcheibet  Sitte  unb  (Seroohnheii  f,<5e* 
tt>ohnheit"  liängt  etymologifch  mit  „wohnen"  3ufammen*), 
bilbüch  ausgebrüeft  ift  es  bas  £janbeln,  welches  [22]  jtch 
bauemb  niebergelaffen,  fich  gefefet,  fefien  IDohnftfe  genommen 
hat  Die  <Setr>ohnheit  t>ergegena>ärtigt  uns  bie  Übertragung 
ber  3&ce  bes  Befifees  auf  bas  ^anbeln.  Der  Seftfe  als 
folcher  ift  lebiglich  etwas  äußerliches,  er  fann  ein  recht* 
mäßiger  ober  ein  unrechtmäßiger  fein,  (5an3  basfelbe  gilt  auch 
pon  ber  <5etr>ohnheit,  es  gibt  gute  unb  f chlechte  ßetoofyv 
heiten.  Der  öegriff  ber  (Seroohnheit  x>erhält  fich  ebenfo  rote 
ber  bes  23eftfees  gegen  bas  ZHoment  ber  innerlichen  (Quali* 
ftfation  pööig  inbifferent.  Dem  Befifee  fteht  gegenüber  bas 
(Eigentum  als  guftanb  ber  rechtmäßigen  Aneignung.  Derfelbe 


*)  Hadj  tPeiganb,  beutfcfyes  IDörterbud?  (gen>  offnen)  ift  altbocfy- 
beutfd?  Kiwon,  giwon,  Kawon,  mittel o cfyb eutfefy ;  gewon  =  gerootjnt, 
giwennan,  giwenjam  =  getPÖfytten,  dltltorbifdj;  venja  =  Sitte,  vinja  = 
IDeibe,  wonen  =  tDofjrten,  altl}od?beutfd?;  Kiwonaheit,  Kawohnaheit 
altfädjftfdj;  gowonohod,  mitteltjodjbeutfd? ;  gewonheit.  tt)eiganb  roxU 
gewon  auf  ein  Tticfyt  mefyr  ejiftierenbes  tDm^efoerbum  vinan  (£eo  ITCeyer 
cu  a.  <D.;  vunan)  $uxM führen,  irelcfyes  „jldj  freuen"  bleutet  habe,  unb 
u?ofyer  aua?  wunna  =  IPonne  fommen  fotU 

p,  3 e r  l n     Der  ^toeef  im  Hecht-   IL  2 


18 


Kapitel  IX.   Die  fo3taIe  ITCecfyantf*   Das  Sittliche* 


(Segenfafe  roaltet  ob  3tx>ifcfyen  (SetDofytfyeit  unb  Sitte.  Die 
(SetDofynfyeit  I^cilt  ftd}  an  bas  rein  ^Uißerlicfje,  fte  füfyrt  uns 
bloß  ben  Körper  bes  fontinuierlicljen  fjanbelns,  bas  (Sefäg 
t>or  klugen,  oljne  alles  Urteil  über  ben  3n^alt.  Die  Sitte 
bagegen  brücft  3ugleid?  ein  Urteil  über  ben  3nljalt  aus, 
nämlicfy,  baß  er  ein  guter  fei.  „Sitte"  fdjledjtfyn  iji  bie  gute 
Sitte.  Die  SJbtoeicfjung  von  ber  Sitte  roirb  be$tid\net  als 
„Perjloß",  als  „Übertreten"  ber  Sitte,  es  liegt  barin  ber  Dor* 
nmrf,  baß  ettoas  gefdjeljen  iji,  roas  Blatte  unterbleiben  foHen. 
Don  ber  <Setool}nt|eit  bebienen  tr>ir  uns  biefer  2fasbrücfe  [23] 
ntcfyt,  unb  bamit  ift  ber  <5egenfafe  berfelben  3ur  Sitte  ge* 
fenn3eid?net. 

2Iuf  biefem  inhaltlichen  UToment  ber  Sitte,  baß  fte  bie 
gute  ift,  beruht  bie  €igenfcfyaft  i^rer  r>erbinbenben  Kraft. 
Sie  ergebt  ben  2lnfprucfy  einer  ZTorm,  bie  jeber  befolgen  foH, 
beren  ZTidjtadjtung  mithin  Cabel,  beren  Sefolgung  2Iner* 
fennung  üerbient.  Da^er  Unfitte  =  fcfylecfyte  Sitte,  un« 
gefittet,  fittenlos  =  ofyne  gute  5xiten,  fittfam,  ge< 
fittet,  fittlicfy  =  ber  guten  Sitte  entfpredjenb. 

Die  (öetttofyntjeit  bagegen  fcfyließt  nid}t  bas  ZHoment  ber 
2Torm  in  fxcf?.  Zttemanbem  tsirb  es  3um  Dorttmrf  gemacht, 
anbere  „<5etool}nheiten"  3U  haben,  als  bie  ZtTefyrfyeit,  bie  <Se* 
rootjnheit  3U  „übertreten",  gegen  fie  3U  „x>erftoßen",  ja  roa^renb 
fämtliche  von  Sitte  gebilbeten  2lbjeftir>a  ein  £ob  enthalten, 
hat  bas  Don  „(ßemofytfyeit"  gebildete  „gewöhnlich"  bie  23e- 
beutung  bes  (Seringfchäfeigen,  ein  „gewöhnlicher"  UTenfch  ijt 
ein  mittelmäßiger,  ein  „ungewöhnlicher"  ein  ^errorragenber 
ZTTenfch- 

£Die  gelangte  bie  „Sitte"  3U  biefer  Ztebenbebeutung  bes 
(Suten  unb  X>erpflichtenben?  Das  r>ermittelnbe  (Slieb  iji  bas 
X>olf:  Sitte  ift  urfprünglich  gleich  Dolfsfitte:  ,§war  be« 
bienen  wir  uns  h^utage  bes  2tusbru<fs  auch  wohl  für  bas 
3nbioibuum  im  pöllig  gleichen  Sinne  mit  (ßewohnheit,  allein 


Die  Sprache*  —  Die  Sitte*  —  Unterfdjteb  von  (Setpoljnfjeit*  \ty 

bies  ift  nietet  ber  urfprünglidje  Sinn  bes  Wortes,  was  nidjt 
bloß  aus  ben  oben  mitgeteilten  bertoattoen  21bjeftir>en,  fonbern 
audj  aus  anbern  2ln3eidjen  [24]  fyersorgefyt  *)♦  Sitte  fou>ofyl 
tt>ie  Hedjt  toeifen  auf  bie  allgemeine  ©rbnung  Ijin,  bie 
2Jnu?enbung  beiber  2tusbrücfe  auf  bas  3nbit>ibuum  als  Sitte, 
als  Hecfyt  biefes  Zfiannes  beruht  auf  Übertragung  (bert* 
oattoe  Bebeutung).  3)ie  fran3Öfifdje  unb  englifdje  Sprache 
unterfcfyeiben  genauer  bie  allgemeine  unb  bie  inbit>ibuette 
(Setoofyifyeit,  für  jene  Ijaben  fte  bas  von  bem  lateinifcfyen 
consuetudo  (im  Sinne  bes  (ßetsofyifyeitsredtfs,  f,  u.)  abge* 
leitete  coutumes  unb  customs,  für  biefe  bas  vom  lateinifdjen 
habitus  (bie  IDeife  bes  „Stdj  Gabens")  abgeleitete  habitude. 

Sitte  ift  alfo  bie  im  Ceben  bes  Dolfs  fidj  bxU 
benbe  r>erpf ficfytenbe  (Setx>ofynfyeit. 

3m  Ceben  bes  Dolfs  fommt  von  felbft  bie  burdj  bie  23e* 
bingungen  bes  (Bemeinlebens  poftulierte  (Drbmmg  3ur  (ßeltung, 
unb  biefe  als  richtig  unb  nottoenbig  erprobte  (Drb* 
nung  ift  bie  Sitte.  Damit  ftellt  fie  fid?  als  eine  Xloxm 
fyn,  bie  ber  ein3elne  3U  befolgen  l}at.  2ludj  bas  Dolf  fann 
gleid]  bem  3nbipibuum  „böfe  (Setooljniieiten"  Ijaben**), 
unb  im  plural  mag  man  tsie  pom  3n^iü^uum  f°  auc*f  von 
Dölfern  ben  2tusbrucf :  böfe,  fcfylecfyte  Sitten  gebrauchen,  aber 
mit  bem  Begriffe  ber  Sitte  (im  Singular)  als  einer  ZTorm 
bes  (Semeinlebens  perbinbet  [25]  bie  Sprache  ftets  ben  Segriff 
bes  (Buten,  bie  Sitte  als  folcfye  ift  nie  böfe,  fotoenig  toie  bas 
Hed]t  als  folcfyes  es  ift,  es  wäre  eine  contradictio  in  adjecto, 
gan3  basfelbe  tt>ie  eine  böfe  Sugenb  ober  eine  böfe  (Berede 


*)  £eo  Weyer  [S.\9  Hote  JQ  madjt  bie  ITCitteilung,  ba§  ifjm  „tn 
ber  Itülctnbifcfyen  Beimdjronif  bas  IDort  site  gegen  fünf3igmal  begegnet 
fei,  barunter  aber  ntdjt  ein  einiges  ITCal  von  einet  beßimmten  perfön* 

**)  2lxt  2\&  ber  peinlichen  fjalsgeridjtsorbnung :  Böfe  unb  unser* 
nünftige  (SetDofynfyeiten. 

2* 


20 


Kapitel  IX.   Die  fokale  tllecfjam?*   Das  Sittliche* 


tigfeit;  bas  2lbjeftir>um  „böfe"  famt  nid}t  einem  Sufcftcmtit) 
I|in3ugefügt  tserben,  tpeldjes  an  ftdj  fcfyon  bas  (Sute  bebeutet, 
es  erübrigt  bafür  nur  bie  Negation  bes  $>ofttit>en  Begriffs: 
Umtugenb,  tfn*gered]tigfeit,  Un*fitte,  Un*red}t» 

So  trägt  alfo  bie  Sitte  im  Sinn  ber  Sprache  fdjon  als 
foldje  bas  2T(oment  bes  (Buten,  Bidjtigen  unb  bamit  bes 
Bidjtmages,  ber  23orm  in  ßdi.  Die  <Betool}nB|eit  bagegen 
als  ettoas  rein  äußerliches,  infyaltlidj  3n^iffercnt^  gewinnt 
iljre  nähere  Seftimmung  erji  burdj  ben  «§ufai$:  gut  ober  bofe« 

€ben  barum,  u>eit  bie  (Setsofynljeit  nichts  3nn*rlid?es 
ausfagt,  läßt  fie  fid]  mit  bem  Segriffe  bes  Becbts  3ur  (Ein* 
fyeit  eines  ^usbruefes  unb  Segriffes  perbinben  (,,(5eiool|n* 
fyeitsredjt'Of  toäfyrenb  ber  Segriff  ber  Sitte,  ba  er  bereits 
bas  ZHoment  bes  X>erbinblid}en  unb  $u>ar  einer  *>on  ber  bes 
Bedjts  ftcfy  unterfdjeibenben  2lrt  bes  Derbinblidjen  in  jtd? 
fdtfiegt,  biefer  Perbinbung  anberjirebt:  ber  eine  Segriff  toürbe 
ben  anbem  aufgeben.  <£benfo  unbenfbar  tsäre  bie  Perbinbung 
von  (Betoofynfyeit  unb  Sitte  3U  einem  tDort,  benn  lefetere  fdjließt 
basjenige  IHoment,  tx>eld]es  jene  betont,  bereits  in  jtd).  2lber 
Becfyt  unb  <Serx>oJ|nfyeit  Iaffen  jtdj  fombinteren,  ba  ber  lefetere 
Segriff  im  erfteren  nidjt  enthalten  ift,  bas  gefefelidie  [26] 
Bedjt  eftftiert  fofort  mit  bem  <£rla§  bes  (ßefefees,  ber>or  nodj 
bie  Übung  I)in3ugefommen  ift. 

2TEit  bem  (Befagten  fcfyeint  nidjt  3U  jiimmen  bas  „Sitten* 
gefefc",  ba  in  ifym  bas  XHoment  ber  Horm,  u?eld?es  bereits 
mit  „Sitte"  gegeben  ift,  nodj  3um  3toeitenmal  burd)  „(Sefek" 
betont  wirb«  Diefelbe  fpradjlidje  Silbung  toieberljolt  ftcf? 
audj  im  „Bedjtsgefefc",  audj  bas  „Bedjt"  fd]  liegt  bereits  bas 
ZHoment  ber  ZTorm,  bes  (Befefces  in  ftdj,  unb  gerabe  biefer 
<ßegenfat$  gibt  uns  r>ielleid}t  bie  (Erflärung  in  bie  £}anb, 
roeldje  \d\  barin  ftnben  mödjte,  baj$  bie  Spradje  mittels 
„(Sefefc"  beibe  Segriffe  unter  einen  gemeinfamen  Ztenner  3U 
bringen  gefudjt  l[at.    Übrigens  ifi  es  beim  Sittengefefe  nid]t 


Die  Sprache.  —  Die  Sitte.  —  Unterfcr/ieb  t>oit  (Semorjnrjeit  2\ 


\oxx>oty  bie  Sitte,  rr>etche  bie  Sprache  babei  ins  2Iugc  faßt, 
fonbem  bas  x>on  ber  Sitte,  toie  voxx  bemnächft  feiert  toerben, 
tr>oi|l  3U  unterferjeibenbe  „Sittliche", 

Dem  obigen  (ßegenfafee  3tt>ifchen  Sitte  unb  (ßetoofynfyeit 
entfpricht  in  ber  lateinifchen  Sprache  ber  3ioifchen  mos,  mores*) 
unb  consuetudo,  aber  ber  <5egenfafe  ift  fyer  minber  ferjarf 
ausgeprägt.  Der  erjiere  2lusbru<f  bient  nämlich  3ur  23e3eich* 
nung  breier  x>on  ber  beutfehen  Sprache  genau  auseinanber 
gehaltener  Segriffe:  ber  Sitte,  bes  [27]  Sittlichen**)  unb 
bes  <5ert>ohnheitsrechts,  unb  felbji  bie  römifchen  3**riften, 
rselche  fonjt  fo  eifrig  auf  Jtusbilbung  einer  feften  Kunftfprache 
Bebaut  nahmen,  tiaben  fich  in  biefem  punfte  ber  unbe« 
ftimmten  Sprachtoeife  bes  Volts  angefchloffen,  nur  baf$  fte, 
wo  fie  ben  Begriff  bes  Sittlichen  ausbrüefen  rooHen,  tooJ|l 
noch  ben  Sufafc  boni  3U  mores  hi^ufügen  (insbefonbere 
contra  bonos  mores  =  unjtttlich).  5üt  bas  (Setsohnheits- 
recht  l\abet\  jte  es  3U  feinem  feftftehenben  2lusbru<fe  gebracht, 
fonbern  fie  bebienen  fleh  bafür  einer  ZTCenge  t>on  IPenbungen, 
balb  liehen  jte  bas  entfeheibenbe  Moment  bes  Hechts  h^or 
(jus,  quod  moribus  constitutum,  consuetudine  induetum  est), 


*)  Über  bie  Ableitung  r>on  mos  fyerrfcfyt  unter  ben  Etymologen 
nodj  Streit,  ZTad?  <S.  Curtius,  (Srunb3Üge  ber  griecr/ifef/en  Etymologie, 
21x1$.%,  5*329,  bringt  Corffen  mos  in  Derbinbung  mit  ber  SansFrit* 
roru^el  ma  =  meffen,  monad}  es  ITCa§  bebeuten  mürbe,  was  3U  ber 
oben  entmicfelten  23ebeutung  gut  jtimmen  mürbe»  Über  consuetudo  f, 
oben  5.  16» 

**)  3n  biefem  boppelten  5inne  von  Sitte  unb  Stttlidjfeit  hatte  Cicero 
ifyn  bei  feinem  bem  griedjif djen  ^1x6;  nacf/gebilbeten  moralis  (de  fato 
c.  \)  r>or  2Jugen,  unb  in  bemfelben  Sinne  begegnet  er  uns  bei  ber  alten 
morum  coercitio  bes  <Htjerecr/ts,  bei  ber  man  mores  graviores  unb  leviores 
unrerfd/teb*  Jiir  ben  britten  Sinn  (bes  (Semohnrjeitsredjts)  rermeife  tdj 
auf  Gaj.  IV,  26:  per  pignoris  capionem  lege  agebatur  de  quibusdam 
rebus  moribus  unb  I,  25  ad  munic.  (50.  \):  moribus  competit.  £ut 
23e3eidjnmig  ber  Sitte  unb  bes  Sittlichen  bebtenen  bie  ^uriften  fidj  bes 
21usbrucfs  consuetudo  niemals. 


22         Kapitel  IX.   Die  feciale  mefyanxt.   Das  Sittliche» 

halb  betonen  fte  lebiglidj  bas  äußere  ZHoment,  in  ber  Hegel 
mit  bem  <§ufafc  ber  langen  Dauer  (inveterata,  longa,  diuturna, 
tenaciter  servata,  perpetua  consuetudo,  diuturni  mores,  usus 
longaevus),  aber  auch  fdjlechthin  consuetudo  ober  mores.  2Ius 
biefem  burch  bie  römifchen  Hechtsquellen  überlieferten  Sprach« 
gebrauch  t>on  consuetudo  im  Sinne  bes  (Setoohnhettsrechts, 
ben  bie  mittelalterlichen  (Quellen  beibehalten  Reiben  (3.  23. 
leges  et  consuetudines  Angliae),  B|aben  bie  fran3Öftfche  [281 
unb  burch  Vermittlung  ber  Zlormannen  bie  englifdje  Sprache 
bas  ZVort  coutumes  unb  customs  gebilbet,  tt>obei  aber  bie 
ftrenge  Scheibung  3tr>ifcf)cn  Sitte  unb  (ßetoohnheitsrecht  auf* 
gegeben,  unb  berfelbe  unbeftimmte  Begriff  ijerausgefommeu 
iftf  ben  bas  lateinifcfye  mores  ausbrüeft.  <£s  bewährt  ftet? 
auch  an  biefem  fprachlichen  Vorgänge  tsieberum  bie  ilüfftg* 
feit  bes  Unterfchiebes  3tt>ifchen  Sitte  unb  <5etr>ohnheitsrecht, 
bie  ich  unten  bei  (Selegenheit  bes  Verhältniffes  oon  Hecht 
unb  XHoral  ausführen  toerbe. 

Raffen  roir  bas  gewonnene  Hefultat  3itfammen,  fo  impli- 
3tert  ber  Begriff  ber  Sitte  3tr>ei  Htomente:  bas  ber  2111* 
gemeinfyeit  (Sitte  =  Volfsfitte)  unb  fobann  bes  Sichtigen 
(Sitte  =  ZTorm).  Das  erfte  ZHoment  ber  Allgemeinheit  ift 
bie  Quelle  bes  3tr>eiten,  bie  t>erbinbenbe  Kraft  ber  Sitte  be« 
ruht  barauf,  baß  fie  burch  bas  allgemeine  Ejanbeln  bes  Dolfs 
als  rid^tig  unb  nota>enbig  erprobt  tr>orben  ift. 

7)  Sprachliche  2lbgren3ung  ber  Sitte  x>om 
Sittlichen. 

Die  Sitte  bilbet  fprachlich  unb  fact^Itcf?  ben  Jlusgangspunft 
bes  Sittlichen,  aber  fte  enthält  nur  ben  2tusgangspunft,  nicht 
bas  Sittliche  felber,  lefeteres  ift  vielmehr  fprachlich  tt>ie  fach- 
lich t>on  ber  Sitte  genau  31t  unterfcheiben.  <£ine  ^anblung 
fann  gegen  bie  Sitte  oerftoßen,  aber  fte  ift  barum  nod}  nicht 
unfittlich,  unmoralifch*    <Db  bie  Spraye,  inbem  fte  beibes 


Die  Sprache*  —  Unterfcfyetbuttg  ber  Sitte  r>om  Sittlichen*  23 


genau  unterfchieb,  [29]  bas  Hichtige  getroffen,  werben  roir 
feine^eit  erfahren,  roenn  roir  bas  gioecfmoment  bes  Sittlichen 
3um  <5egenftanb  unferer  Unterfuchung  machen,  an  ber  gegen* 
roärtigen  5teIIe  Ijaben  toir  bas  ZHaterial,  welches  bie 
Sprache  uns  bietet,  feiner  Kritif  3U  unterwerfen,  fonbem  3U 
gewinnen. 

Der  (ßebanfe,  welcher  ber  Sprache  3ugrunbe  liegt,  ift: 
auch  bie  Sitte  perpflichtet,  aber  in  anberer  IDeife  als  bie 
XHoral.  5ür  bie  Verpflichtungen,  welche  lefetere  auferlegt, 
bebient  fie  fich  ber  2lusbrücfe:  jtttlich,  moralifch,  für  bie  Der* 
pflichtungen  ber  Sitte  J^at  fie  eine  Heihe  anberer  2lusbrücfe, 
bie  roir  fyer  3ufammenftellen. 

gunächft  ben  ber  Sitte  felber.  Ztiemanb  fagt  von  bem* 
jenigen,  ber  lieblos  gegen  bie  Seinigen,  fyartfye^ig  gegen  bie 
2trmen  ift:  er  oerftoße  gegen  bie  Sitte,  noch  umgefefyrt  oon 
bemjenigen,  ber  bie  Sitte  übertritt,  3,  23.  bie  üblichen  Um* 
gangsformen  außer  acht  lägt,  er  fyanble  unmoralifch,  unfittltch. 
3n  beiben  fällen  fefet  er  ftch  über  (ßebote  hinweg,  bie  er 
als  für  fich  oerbinblich  anerf ernten  follte,  aber  bie  (Sebote 
pnb  wefentlich  oerfchiebener  2trt.  2ln  ber  gegenwärtigen 
Stelle,  wo  roir  noch  nicht  in  ber  £age  finb,  bie  innere  IDefens* 
oerfchiebenheit  beiber  3U  entwicfeln,  was  nur  mit  «guhilfe* 
nähme  bes  gweefmoments  gef drehen  fann,  mag  3ur  oor* 
läufigen  Deranfchaulichung  bes  (ßegenfafees  ein  (5efichtspunft 
genügen,  ben,  wie  ich  glaube  nachweifen  3U  fönnen,  bie 
Sprache  felber  babei  oor  klugen  ha*,  ift  &er  (Segenfafc 
3wifchen  [30]  bem  äußeren  unb  bem  3mxem  ober  ber  $oxm 
unb  bem  3nhalt  bes  f^anbelns.  (£s  ift  berfelbe  (ßegenfafe 
in  be3ug  auf  bas  Ejanbeln,  wie  er  in  be3ug  auf  bas  Sprechen 
3toifchen  bem  grammatifalifch  richtigen  2tusbrud  ber  (Sebanfen 
unb  bem  richtigen  (ßebanfeninhalt  befteht;  bie  Sitte  bebeutet 
für  bas  £janbeln  basfelbe,  was  bie  (ßrammatif  für  bas 
Sprechen:  bie  forrefte  5orm, 


2\  Kapitel  IX.   Die  feciale  UTed^anif.   Das  Sittliche. 


<£s  i#  überrafcfyenb,  mit  toeldjer  Klarheit  unb  Sicherheit 
bie  Spraye  biefen  (Seftchtspunft  ber  form  bes  Ejanbelns 
erfaßt  unb  burchgeführt  I|at;  unb  es  h<*t  für  mich  einen  hohen 
Hei3  gehabt,  ihr  babet  3U  folgen,  ich  bin  von  neuem  erjiaunt 
getoefen  über  ben  feinen  Caftfinn,  ben  fie  auch  hier  roteberum 
bettfährt. 

Unter  ben  IPenbungen,  beren  fie  fich  bebient,  nimmt  bie 
erfle  Kelle  ein  bie  form.  XDie  fie  r>on  Sprachformen 
fpricht,  fo  auch  von  Umgangsformen  ober  t>on  formen 
{d]led)tl)in.  <£in  ZTIann  „von  formen"  (auch  in  ben  romemi' 
fetjen  Spraken,  3.  23.  im  Spanifchen  hombre  de  formas)  ift 
ber  jenige,  welcher  fein  äußeres  SeneBjmen  im  DerfeB^r  fo 
einrichtet,  roie  bie  Sitte  es  ihm  Dorf  einreibt,  exnXÜann  „ohne 
formen",  welcher  fich  barüber  hinwegfegt  ober  fte  nicht 
fennt,  toie  ber  TXiann  ber  unteren  (SefeHfchaftsfchichten,  beffen 
Benehmen  3eigt,  baß  er  nicht  t>on  (ßefchlecfjt  (ba^er  ,,un« 
gefchlacht",  ähnlich  „ungentil"  t>on  gens),  nicht  „von  familie" 
iji,  benn  bie  gute  form  ift  bas  IDerf  bes  bei  biefer  JDenbung 
im  5inne  von  „gut"  gemeinten  (Sefchlechts,  ber  familie.  form 
fdjled)t^in  [31]  ift  alfo  n>ie  Sitte  fchlechthin  (S.  \S)  bie  gute, 
es  fehrt  B^ier  ber  bei  Gelegenheit  ber  lefeteren  nachgetsiefene 
(Sebanfe  rsieber,  baß  basjenige,  was  fich  im  £eben  als  Hegel 
herausgebilbet  t|abe,  bas  richtige  fein  müffe.  J)ie  Über» 
treibung  ber  form  über  bas  richtige  ZlTaß  hinaus  begrünbet 
ben  Donourf  bes  förmlichen,  formellen,  Steifen,  bie 
Demachläffigung  berfelben  ben  bes  formlofen.  Die  Dor* 
fiellung,  rt>eld?e  bie  Sprache  bei  ber  form  im  2luge  h<*t,  iji 
bie  eines  äußeren  (bafyer  bie  »Dehors«  =  de  hors  00m 
lateinifdien  de  foris  =  r>on  außen),  welches  3um  2nnetrx 
ljin3ufommt  Das  3nnere  ohne  bie  jtch  hin3ugefeltenbe  form 
iji  „roh,  unfein,  ungehobelt,  ungeglättet,  plump, 
maffiü";  fommt  bie  form  tiin^n,  fo  wirb  bas  Benehmen 
„fein,  glatt,  geglättet,  poliert". 


Die  Sprache*  —  Sitte*  Umgangsformen.  £ebensari  I?öflidj?eit  25 


Diefelbe  Porftellung  toieberholt  fich  in  ben  bem  mittel* 
alterlichen  manuarius  (von  manus,  alfo  urfprüngltch  =  h<*nb* 
lieh)  entnommenen  2lusbrücFen  bes  italienifchen  maniera, 
fran3Öjtfch  mani£res,  englifch  manners,  fpantfeh  maneras, 
beutfeh  ZTlanier  (ein  Zttann  von  ober  ohne  Zllanieren, 
manierlich,  unmanierlich).  €benfo  in  bem  bem  £atei> 
nifchen  facies  (=  äußere  (Sejlalt,  5orm)  entnommenen  fran* 
3Öjtfchen  unb  auch  ins  Deuifdje  ^^übergenommenen  fagon 
unb  bem  englifchen  fashion. 

Zlatie  t>ertx>anbt  mit  biefer  DorfteHung  ber  5orm  ift  bte 
ber  2lrt,  b.  Ij.  bes  Cypus,  ber  (ich  im  £eben  in  be3ug  auf 
bte  Umgangsformen  als  feftjlefyenber  I^erausgebilbet  hat.  JX>ie 
Sitte  unb  5orm  ohne  nähren  §ufafe  bie  richtige,  [32]  gute 
moolsieren,  fo  auch  2lrt.  Der  XlTann,  ber  jte  befolgt,  ift 
„artige,  tiat  „£ebensart",  fefct  er  fich  über  jte  hinweg, 
fo  h<*t  fein  benehmen  „feine  2lrt",  es  ift  „unartig"*). 
2lls  Dorbilb  ber  richtigen  2lrt  gilt  ber  Sprache  biejenige, 
roelch^  fich  Brf  Ejofe  ausgebtlbet  h<*t:  öie  2lrt  bes  I^ofes, 
baher  bie  ^öfltd|fett,  ttalienifch  unb  fpanifch  cortesia, 
fran3Öjtfch  courtoisie,  englifch  courtesy  (vom  mittelalter- 
lichen curtis  ==  £|of,  bah^r  corte,  cour).  Darauf  toeiji 
auch  bas  JDort  (Salanterte  3urücf.  2tus  bem  arabifchen 
hhali  (=  Schmuc!)  h<*ben  bte  Spanier  ben  2lusbrucf  gala 
(=  fjoffleib)  gemacht  unb  baraus  bas  2lbjeftit>um  galante 
unb  bas  Subftanthmm  galant eria  als  23e3eichnung  für  bas 
benehmen  bes  in  Qoftracfjt  (in  „<5alla"  richtiger  ,,(5ala")  <£r> 
fchetnenben,  b.  i.  bes  fich  ber  £(oft»eife  23efleif$igenben,  tt>as 
bann  bei  bem  bejiimmenben  €influ§  ber  fpanifchen  i}of* 


*)  Der  2Jusornc?  nrirb  übrigens  in  gemtffen  IDenbungen  audj  com 
Sittlichen  gebraucht:  „aus  ber  2lrt  f dalagen",  entarten,  ein  „entarteter 
Ittenfdj",  tpätjrenb  artig,  unartig,  Cebensart  ausfdjlie§lid?  fid?  auf  bte 
Sitte  be3tefyen. 


26 


Kapitel  IX.   Die  fatale  mecfjamt   Das  Sittliche. 


etifette  auf  bie  übrigen  JEjöfe  allgemeiner  Sprachgebrauch 
geworben  ift. 

2luch  in  bem  bas  porfchriftsmäßige  Benehmen  bei  X}ofe 
be3eid)nenben  JDort  (Etifette  wieberholt  jtch  bie  obige  Vor* 
ftellung  ber  $otm,  welche  als  etwas  rein  äußerliches  bem 
3nt^alt  aufgeheftet  wirb:  etiquette  ift  ber  auf gef lebte  gettel. 

2Iußer  bem  £}of  als  Quelle  ber  Ejöflicfyfeit  nennt  uns  bie 
Sprache  noch  eine  anbere,  es  ift  bie  IDeife  bes  [33]  Hüters. 
3n  faft  allen  mobernen  Sprachen  erfcheint  feine  JDeife  als 
Porbilb  ber  feinen  5orm,  baher:  ritterlich,  chepaleresf, 
Kapalier  (vom  lateinifchen  caballüs  =  pferb,  bafyer  cabalero, 
cavalliero,  cavaliere,  chevalier ,  chevaleresque) ,  nur  baß  bie 
Dorfteilung,  welche  bie  Sprache  babei  im  2luge  h<**,  über 
bie  bloße  5orm  bes  Benehmens  I^tnausgel^t  unb  auch  bie 
(ßejinnung  mit  umfaßt, 

2luch  „Hlobe"  fchließt  ftch  biefem  Dorftellungsfreife  au. 
2luch  fie  ift  eine  5orm,  bie  ftch  im  Ceben  ausgebilbet  fyat, 
nämlich  bie  übliche  5orm  in  be3ug  auf  bie  <5egenftänbe,  bereu 
man  ftch  für  fein  perfönliches  Bebürfnis  bebient,  insbefonbere 
i)ie  Kleibung.  2)as  ZDort  ftammt  r>on  bem  lateinifchen  modus 
=  ZHaß  unb  2lrt,  lefeteres  pon  ber  Sansfritwur3el  ma  = 
meffen,  pon  ber  auch  mos  =  bie  Sitte ,  b.  i.  bas  ZHaß  bes 
fjanbelns,  abftammt  (f.  oben  5.  2\,  Zlote). 

2llle  Schönheit  beruht  auf  ber  5orm,  unb  bamit  gewinnen 
wir  einen  neuen  wichtigen  (Seftchtspunft  für  bie  Sitte,  es  ift 
ber  bes  äfthetifch  Schonen.  Die  Sprache  wenbet  ihn  nur 
auf  bie  Sitte,  nicht  auf  bie  ZTloral  an.  Der  21usbrucf,  mittels 
beffen  fte  es  tut,  ift  2lnftanb.  Hiemanb  be3eichnet  eine  fttt- 
liche  €at  ober  tEugenb  3.  B.  Danfbarfeit,  Selbftperleugnung, 
Züahrheitsliebe  als  anftänbig,  niemanb  einen  jtttlichen  ZTTangel: 
£ügenhaftigfeit,  (Braufamf eit,  Bachfncht  als  unanftänbig.  3)ief er 
beiben  2lbjeftipa  fowie  bes  Subftantipums  2lnftanb  bedienen 
wir  uns  nur  für  bie  äußere,  burch  bie  Sitte  porgefchriebene 


Die  Sprache.  Die  Sitte*  äftfjetifdjer  (Seficfytspunft*  27 


[34]  5orm  bes  Settel} mens.  2lnftcmb  ijt  bas  jenige,  tr>as 
bem  ZTTanne  ff roof^I  anfleht",  il^rt  fcfymücft,  ifyt3iert,  tfyn 
gut  fi^t  tt>ie  ein  gut  angepaßtes,  angemeffenes  Kleib  (baBjer: 
paffenbes,  unpaffenbes,  angemeffenes,  unangemeffe* 
nes  Benehmen).  3)as  2lnftänbige  3tert,  bas  Unanftänbige 
t>ermt3tert.  Diefe  2)oppelbebeutung  bes  Sdjmucfes,  ber  «gierbe 
unb  bes  Siebentens  liegt  audj  bem  lateinifcfyen  decet,  decus 
unb  bem  griecfyifcrjen  Tcpercov  3ugrunbe,  nur  ba§  beibe  Spraken 
babei  ben  (Beftcfjtspunft  bes  äftfyetifcfy  Schönen  ungleich  weiter 
crfirecE en  als  bie  beutfctye  (fteBje  unten).  Die  griecfyifdje  Sprache 
gefyt  fogar  forseit,  ben  äftfyetifcfyen  (Seficfytspunft  bes  Schönen 
felbft  auf  bie  Cugenb  an3Utt>enben  unb  fte  to  xaXov  3U  nennen. 
Unfere  beutfcfye  Sprache  fyat  ben  (Beftcfytspunft,  fotoeit  id? 
fyabe  ftnben  tonnen,  nur  in  3tr>ei  fällen  auf  bas  Cugenbgebiet 
übertragen.  <£s  ijl  einmal  ber  fcfyöne  (Sebanfe,  in  bem  fte 
fldj  mit  ber  griedjifdien  unb  Iateinifcfyen  begegnet,  ba§  bas 
IDoljtoollen  einen  perflärenben,  äftfyetifd?  fcfyönen  Bei3  über 
bas  gan3e  Xüefen  bes  ZHenfcfyen  verbreitet.  2)as  iDofylmolIen 
ifi  bie  ZHutter  ber  (5ra3ien.  Don  yß-?1^  (=  <5unft,  JEjulb) 
bilbet  ber  (Sriedje  bie  (Söttinnen  bes  £iebrei3es:  bie  £fyari* 
tinnen  (x*PtTe0f  pon  ^cm  Pnn'  un^  fpt4ad)t>eru>anbten  gratia*) 
ber  Homer  feine  (Stadien  (gratiae),  von  „Ejulb"  ber  [35] 
Deutfcfye  feine  „Ejulbinnen,  Efulbgöttiunen",  t>on  fyolb  (=  ge* 
neigt;  bas  „tjolb  unb  geroärtig"  bes  Cefytseibes,  (Srunbljolben) 


*)  Über  Me  jpradjlidje  Dermanbtfcfyaft  beiber  f*  <£♦  Curtius, 
(Srunb3Üge  ber  griedjif djen  (Etymologie,  ilufL  S*J[98;  XVux$el  char, 
bafyer  ^oupw  idj  freue  midi,  ^api;  (Sunfi,  u.  a.  m.,  gratus,  ujotjltDollenb, 
geneigt,  gratia,  (Smtji,  tDofyltt) ollen.  (2s  ift  bies  etitmal  ein  redjt  fdjlagenbes 
Beifpiel  bafür,  t»ie  Unrecht  bie  (Etymologen  tun,  tsemt  fie,  ttne  t^ter 
gefdjetjen  (f.  bariiber  Curtius  S*  120),  bei  itjren  etymologtfcfyen  IIb* 
leitungen  bas  fadjlidie  ITComent  gar  3U  gering  anfdjlagem  Die  Über* 
einftimmung  ber  im  (Eejt  nadjgennefenen  2luffaffung  ber  beutfcfyen 
Sprache  mit  ber  grtedjtfdjen  unb  Iateintfcf/en  3eigt,  ba§  w'it  es  fyier  mit 
einem  (Sebanfen  t>on  tiefer  pfydjologifcfyer  IDafyrfyeit  311  tun  tyabm. 


28 


Kapitel  IX.   Die  feciale  XHed?amf.   Das  Sittliche* 


bas  Ejolbe  unb  fyolbfelig.  €s  ift  alfo  bie  f}ulb,  toeldje  fdjön, 
t>oIb(cIig  mad\t  Das  3tt>eite  öeifpiel  ift  bte  Ableitung  bes 
„lieblichen"  unb  bes  f,£iebrei3es",  alfo  bes  äfttjetifd?  Schönen 
von  „Ciebe",  bie  £iebe  wie  bas  XPofyfooIIen  machen  ben 
Ifienfcfyen  fdjön. 

2tbgefeB}en  t>on  biefen  3tx>ei  5äHen,  befdjränft  aber  bie 
beutfdje  Sprache  ben  (ßefidtfspunft  bes  äft^etifd?  Schönen 
ausfd?ltepd}  auf  bie  äußere  5orm  bes  fjanbelns:  ben  2ln* 
jlanb.  Der  2tnftanb  gilt  ifyr  als  3nbegriff,  als  Kanon  bes 
burd]  bie  Sitte*  sorgefcfyriebenen  23eneBjmens,  unb  fie  bebknt 
ftcfy  3ur  23e3eid?nung  fetner  perpfüdjtenben  Kraft  bes  2lus« 
brudfs:  (Sefefe  ((Sefefce  bes  2lnftanbes)  unb  Pflicht  (Jtnftanbs* 
pjltditen,  aud?  (Ehrenpflichten).  5ür  bas  bem  2Inftanb  ober 
ber  Sitte  entfpredjenbe  Ejanbeln  t^at  fie  3toei  2Iusbrücfe,  beren 
fie  fich  in  2tnroenbung  auf  bas  Sittliche  ober  bas  Hecht  nie 
bebient,  ba  beibe  lebiglich  bas  rein  äußerliche  ber  (grfcheinung 
3um  (Segenftanbe  haben:  benehmen  (Curnüre)  unb  IDefen. 
Ztiemanb,  ber  fid}  im  Deutfchen  forreft  ausbrüefen  toill,  fpridit 
von  einem  unfittlichen,  egoiftifchen  ober  felbftoerleugnenben, 
ftttlichen  [36]  Benehmen,  2TCit  bem  festeren  IDorte  bringt 
er  nur  2lbjeftit>a  in  Derbinbung,  bei  benen  man  bie  Sitte  als 
IHaßftab  anlegt,  roie  3«  23,  anftänbig,  paffenb,  fchicflidj,  taft* 
x>oü,  geroanbt  uftr>,  unb  bie  entfpredjenben  Negationen:  un« 
anflänbig,  unpaffenb  x\\vo.  Der  (SEinbrucf,  ben  bas  (Segenteil 
bes  3U  beobachtenben  Benehmens  tyvvoxvnft,  toirb  mit  bem 
IDort:  „2tnftoß,  Perjioß"  be3eichnet,  bas  roieberum  niemals 
für  bas  Sittliche  gebraucht  tüirb,  u>ährenb  „Ärgernis"  bereits 
auf  festeres  3ielt. 

2Tlit  bem  2Iusbruct  „IDefen"  t^at  es  eine  eigentümliche 
23et£>anbtnis,  er  pereinigt  3tr>et  gerabe  entgegengefefcte  Se« 
beutungen  in  fich*  Die  eine  serfefet  uns  ins  3nnere  unb 
3nnerfte  ber  Dinge«  3m  (Segenfafc  3um  äußeren  Sd]ein,  an 
bem  ber  Süd  bes  minber  (Beübten  fyaften  bleibt,  feljrt  biefe 


Z)ie  Sprache.  —  Die  Sitte:  ^ettefjmett,  Vöt\tn*  29 


öebeutung  bie  innere  Subftan3,  bie  Seele  bes  Dinges  Ijert>or. 
3n  biefem  Sinne  fprechen  wir  00m  IDefen  ber  Dinge,  ber 
menf  deichen  Freiheit,  bes  Hechts  ufw.,  es  ftnb  bie  Bjöd^fien 
Probleme  ber  phtlofophie,  bie  mit  bem  IDorte  IDefen  nam- 
haft gemalt  werben»  Die  anbere  bagegen  hält  ftch  aus- 
fchließlich  an  bie  äußere  €rf Meinung ,  unb  $wat  an  bie  bes 
IHenfdjen,  aber  nicht  bes  ZTienfchen  in  abstracto,  fonbem 
eines  gan3  beftimmten  3n^^^uums*  3n  biefem  Sinne 
fprechen  wir  von  einem  lieblichen,  anmutigen,  h^nrifchen, 
freuen,  eefigen,  linfifchen  IDefen.  Den  (Segenfafe  3U  IDefen 
in  biefem  Sinne  bilbet  ber  (Eharafter;  wie  jenes  uns  bas 
Außere,  fo  3eichnet  biefer  uns  bas  3nnere  bes  ZtTenfchen. 

[37]  IDoher  nun  jener  befrembenbe  IDiberfpruch  in  ber 
Doppelbebeutung  bes  2tusbrucfs?  <£s  ijl  gar  fein  IDiber- 
fpruch,  bie  Sprache  h<*t  xnelmefy:  auch  ^ier  wie  immer  bas 
nichtige  getroffen.  5ie  fefct  bas  IDefen  bes  XHenfchen  nicht 
in  bas  rein  äußerliche  als  folches,  fonbern  fte  erblicft  in 
bemfelben  ben  2lusbrucf  bes  3nnern,  ben  IDiberfchein  bes 
C^arafters;  es  ift  ber  (Sebanfe,  baß  bas  innere  IDefen  bes 
ZHenfchen  in  feinem  Süßeren  3ur  <£rfcheinung  gelangt,  in 
bem  lieblichen,  freunblichen  bie  Ciebe,  bas  IDohlwoHen,  in 
bem  h^fchfüchtigen  ^ie  I^errfchfucht,  in  bem  fcheuen  bie 
innere  Unftcherheit.  Daß  bas  IDefen  auch  etwas  bloß  äußer- 
lich eingenommenes,  eingelerntes  fein  fann,  ein  5intiß,  ben 
ber  Ulenfch  aufgelegt  h<*t,  um  fein  „wahres  IDefen"  3U  ver- 
bergen, fteht  bem  nicht  entgegen,  bie  Sprache  hält  ftch  bei 
jebem  eiusbrucf  an  bas  normale  Derhältnis,  unb  bas  bejleht 
eben  barin,  baß  bas  IDefen  in  bem  einen  Sinne  ber  Jtusbrucf 
bes  IDef ens  in  bem  anbern  Sinne  b.  i.  bes  (£hara?ters  iß. 

ZHit  „benehmen"  unb  „IDefen"  pflegen  wir  neben  fonftigen 
2tbjeftit>en,  beren  wir  uns  nur  für  fte  bebienen,  auch  einige 
anbere  3U  oerbinben.  <£s  jtnb:  „gefittet  unb  ftttfam"  im 
(Segenfafe  3U  „fittlich",   unb  „ehrbar  unb  ehrfam"  im 


30 


Kapitel  IX.    Die  feciale  HTedjamL   Das  Sittliche» 


<5egenfaft  311  „ehrlich".  3eber,  toelcher  bie  beutfehe  Sprache 
fennt,  ioeiß,  ba  ß  von  liefen  eiben  <5egenfä&en  bas  erfle  <5lteb 
nur  auf  bas  Benehmen  unb  äußere  lüefen,  bas  $voe\te  nur 
auf  ben  €i|araftcr  21nrt>enbung  fmbet.  5ittfam  ift  bas  ZHäbchen, 
tr>eld}es  bereits  in  feiner  [38]  äußeren  <£rfcheinung  ben  €in« 
bruef  echter  3ungfräulichfeit  macht,  biejenige  5arte  Scheu, 
gurüdi|altung,  5d\am  befunbet,  in  ber  toir  bei  th™  ben  2lus* 
bruef  jungfräulicher  Heinheit  erblicfen.  Sittfamfeit  ift  bas 
(Segenteil  ber  Dreiftigfeit,  Frechheit.  3lber  bie  Sittfamfeit 
ift  nur  etu>as  äußerliches,  fynter  bem  fich  bie  Unftttlidjfeit 
unb  Unfeufchheit  verbergen  fann,  fie  gehört  ba^er  nicht  bem 
(5ebiete  bes  Sittlichen,  fonbern  bem  ber  Sitte  an.  €benfo 
verhält  es  fich  mit  „gefittet".  <£in  „gefüteter"  ZHann  fann 
höchft  unfittlich  fein,  es  ift  nur  ber  äußere  Schliff,  ben  er 
ber  fi^iehung  verbanft,  roelchen  roir  mittels  biefes  präbifats 
il^m  suerf ennen ;  ber  „tf  ngefittete",  bem  fie  abgebt,  fann  unter 
biefer  mangelhaften  2lußenfeite  einen  ungleich  höhten  fttt« 
liehen  5onbs  in  fich  bergen,  als  ber  <5efittete.  „Sittlich"  ba* 
gegen  geht  ftets  auf  bas  3nnere  bes  Ifienfchen:  feine  <Se« 
finnung,  feinen  Charafter,  feine  moralif chen  (Srunbfäfce. 

(San3  basfelbe  gilt  für  ben  3toeiten  (Begenfafc  von  „ehrbar 
unb  ehrfam"  unb  „ehrlich".  2)ie  beiben  erften  21usbrücfe 
treffen  tvieberum  nur  bie  2tußenfeite:  bas  benehmen,  fte  ftnb 
völlig  äquivalent  mit  ftttfam.  „Ehrlich"  bagegen  geht  auf 
bie  <5efmnung,  es  3eichnet  uns  ben  Zfiann,  ber  innerlich  ettvas 
auf  fich  hält,  bem  feine  „<£hre"  bas  ift  feine  perfönlid^e  Selbft* 
achtung,  höher  fteht,  als  ber  Dorteil,  ben  er  burch  Unreb« 
lichfeit  erlangen  fönnte,  tvährenb  ber  tf<£l\vbaveil  nur  äußerlich 
etwas  auf  fich  hält,  tvomit  fich  Unehrlid^feit  verträgt,  tvie 
umgefehrt  [39]  ein  „unehrbares"  b.  i.  freches  JDefen  mit 
£hrlichfeit. 

Vev  Wext  biefes  3)oppeIpaares  von  2tusbrücfen  für  unfern 
&xoe d  erfchöpft  fich  nicht  barin,  baß  fte  uns  einen  neuen  Beleg 


Die  Sprache.  —  Die  Sitte»  Sitte  unb  (Efjre* 


31 


geben  für  bte  fcharfe  <Sren3fcheibe,  welche  bie  Sprache  in 
be$uQ  auf  Sitte  unb  Sittlichfeit  beobachtet,  fonbem  baß  fte 
bemfelben  Stammwort:  Sitte  unb  €t|re  $toei  fo  gätt3lt<ä^  vev 
fchiebene  Bebeutungen  entlegnen.  3n  meinen  2lugen  t^ätte 
bie  Sicherheit,  mit  ber  bie  Sprache  über  ihre  2lnfchauung 
von  Sitte  unb  Sittlichfeit  verfügt,  nicht  glän3enber  bewährt 
werben  fönnen,  als  inbem  fie  bei  ber  Bilbung  bes  2lbjef* 
tipums  ein  unb  basfelbe  Subftantit)  in  boppeltem  Sinn  aus* 
prägt,  einmal  im  Sinne  bes  rein  äußerlichen:  ber  Sitte, 
bes  2htftanbes,  ber  äußeren  übte,  fur3  bes  Benehmens,  bas 
anbete  VCia\  im  Sinne  bes  3nn  er  liehen:  ber  Sittlichfeit,  ber 
inneren  <£fyce,  fur3  bes  <Zl\avaftevs.  Schon  bei  bem  Stamm* 
worte  felber  muß  bie  Sprache  ftch  biefes  (5egenfat$es  3wifchen 
bem  3nnern  äußeren  flar  bewußt  gewefen  fein,  ftch  »er* 
gegenwärtig!  iiaben,  baß  bie  Sitte  in  ihrer  urfprünglichen 
hiftorifchen  (Seftalt  als  ZTieberfchlag  unb  <£rfcheinungsform 
ber  IDeife  bes  Dolfs  ebenfowohl  formen  über  bie  moralifche 
Bestimmung  bes  IPillens  wie  über  bas  äußere  Perhalten  bes 
ZHenfchen  in  fich  birgt,  unb  baß  bie  <£l\ve  im  fubjeftwen  Sinn 
als  Selbftfchät$ung  ftch  ebenfowohl  im  äußeren  Benehmen  als 
im  f^anbeln  bewährt.  Sprachlich  fichtbar  wirb  biefe  [40] 
Unterfcheibung  aber  erft  in  ben  2Ibjeftit>en,  fte  finb  bie  bir>er* 
gierenben  Cinien,  bie  an  bem  punfte,  wo  wir  fte  treffen, 
einen  weiten  2Ibftanb  üoneinanber  bilben,  bie  aber,  wenn  wir 
jxe  3U  ihrem  Schnittpunfte  3urü(f oerfolgen,  bereits  ftch  getrennt 
haben  müffen,  um  fo  weit  auseinanber3ugehen.  Der  Schnitt« 
punft  ift  ber  urfprüngliche  Doppelbegriff  ber  Sitte  unb  ber 
<£tye  —  wer  ihn  nicht  annimmt,  fteht  r>or  einem  fprachlichen 
HätfeL  Daß  bie  „Sitte1',  nachbem  fte  bas  Sittliche  aus  ftch 
entlaffen,  im  Sprachgebrauch  fpäter  eine  engere  Bebeutung 
angenommen,  bie  Züchtung  ber  einen  £inie  eingefdjlagen  hat, 
fteht  bem  nicht  im  £üege,  bie  <5efd]ichte  ber  Sprache  bietet  un< 
3ähüge  Beifpiele  einer  folchen  Verengerung  bes  urfprünglichen 


32 


Kapitel  IX.  Die  feciale  ntec^anif.   Das  fittltdje. 


Sinnes,  einer  Verengerung,  bie  anbererfeits  eine  €rtoeiterung, 
PerpoIIfommnung  bes  fpradjlidjen  Denfens  in  ftdj  fdjlteßi 

gu  den  21usbrü<fen,  beren  roir  uns  im  T>eutfdien  eben- 
falls nur  für  bas  „Benehmen"  bebtenen,  gehört  fobann  nodj 
„taftt>olI  unb  taftlos",  unb  bamit  berühre  idj  einen  Be- 
griff, ber  uns,  roenn  tt>ir  ber  Anregung,  bie  er  barbietet, 
5olge  leiften,  bas  inner  jle  (Seäber  bes  fpradtlidjen  Denfens 
enthüllt.  3d?  mochte  fagen:  Der  Segriff  bes  Caftes  ijl  ein 
ZTert>,  ber,  roenn  toir  it|n  3urücf  oerfolgen,  in  bas  «gentralorgan, 
ber  Sprache  füt^rt;  man  famt  i^n  nidjt  präparieren,  oI>ne 
ifyn  bis  in  feinen  Urfprung  3U  perfolgen  unb  eine  Heifye 
anberer  ZTert>en  bloßsulegen. 

Unter  Caft  in  bem  Sinne,  ben  it>ir  fyer  mit  i^m  t>er« 
b\nbmt  [41]  perfteljen  tsir  ben  fieberen  Creffer  bes  (Sefü^Is 
in  Dingen  bes  2tnftanbes,  er  be3eidjnet  alfo  eine  poten3ierung 
bes  Sdjidlidifeits*  ober  21njlanbsgefüljls.  2lber  biefes  ZHo- 
ment  ift  es  nicht  allein,  roelc^es  i^n  t>on  lefeterem  unter- 
f Reibet,  fonbern  bie  Sprache  beamtet  im  (5ebraudje  biefes 
Jtusbrucfs  noch  eine  feine  Ituancierung*  Saft  iji  nicht  bas 
Schicflichfeitsgefühl  in  feiner  fritifchen  5unftion,  in  ber 
basfelbe  ftch  gleichmäßig  in  ber  Beurteilung  bes  fremben  toie 
bes  eignen  Benehmens  betätigt  (bas  Schicflichfeitsgefühl  als 
Urteils! raft),  fonbern  in  feiner  prafttfdjen  5unftion  als 
Iüegu>eifer  für  bas  eigene  ^anbelm  Von  einer  fremben 
unf  endlichen  Jjanblung  fagen  unr  nicht,  baß  jte  unfern  Caft, 
fonbern  baß  fte  unfer  Schicflichfeits*  ober  2Inftanbsgefühl  per- 
lene, Bei  Saft  benfen  u>ir  alfo  bloß  an  ben  (Einfluß,  ben 
letzteres  auf  bas  Benehmen  ausüben  foQ,  felbftoerftänblich 
nicht  bloß  auf  bas  unfrige,  fonbern  auch  auf  bas  frembe, 
unb  in  biefem  Sinne  be3eichnen  tt>ir  ein  Benehmen,  welches 
bagegen  rerftößt,  als  taftlos  unb  fprechen  bem  jenigen,  ber 
ss  jtch  ^at  3uf Bulben  fommen  laffen,  ben  £aft  ab,  Jlber 
bies  Urteil  fällt  nicht  unfer  Caft,  fonbern  unfer  Schief  lieh* 


Die  Sprache*  —  Die  Sitte;  Cafi 


33 


fettsgefüfyl.  Saft  aljo  ift  bie  Bewährung  bes  Sdjtcflid}* 
feitsgefüfys  im  fjanbeln. 

<5an3  benfelben  Unterfcfyieb  macfyt  öie  Sprache  in  bejug 
auf  bas  5ittIid?feitsgcfü^I  unb  bas  (Beziffert.  Don 
einer  fremben  unfittlidjen  fjanblung  fagen  tx>ir  nicfyt,  bajj  jte 
unfer  <5etoiffen,  fonbem,  bag  fie  unfer  Sittlicfyf eitsgefüfyt 
[42]  t>ertefce.  Dagegen  fpred^en  toir  bemjenigen,  ber  jte 
t>erübt  fyat,  bas  „(Setxnffen"  ab  unb  be3eidjnen  [eine  J^anblung 
als  eine  „geroiffentofe".  Die  Sprache  unterfdjeibet  alfo  audj 
hier  ttueberum  3tr>ifcfyen  ber  fritif  djen  unb  prafttfdjen 
^unftion  bes  (Sefüfyls.  Das  (ßeroiffen  bebeutet  für  bas  Sitt< 
Iidje  basfelbe,  was  ber  Ca!t  für  bie  Sitte» 

Damit  fönnten  tr>ir  uns  begnügen,  wenn  es  blo§  barauf 
anfäme,  audj  an  biefem  punfte  bie  fpradilidje  Unterfdjeibung 
ber  beiben  Sphären  ber  Sitte  unb  Sittlidjfeit  3U  fonftatieren. 
ZITan  ftct)t,  bie  Spraye  bleibt  ficfy  aud]  l}ier  toieberum  treu, 
fie  be3eid]net  bas  ber  Sitte  unb  ber  Sittlidjfeit  entfpredjenbe 
fubjeftit>e  <5efüfyl  mit  3tx>ei  r>erfd]iebenen  Hamen,  bas  eine 
als  2lnftanbs*  ober  Scfycflidjfeits*,  bas  anbere  als  ftttltdjes 
ober  Sittlid]feitsgefüf}l,  unb  für  beibe  bilbet  fie  in  be3ug  auf 
ifyre  praftifcfye  Betätigung  im  fyanbeln  3«?ei  befonbere  Hamen: 
Caft  unb  <5eu>iffen.  Die  Behauptung  u>irb  feinen  IDiber* 
fprudj  finben,  ba§  unfere  beutfcfye  Sprache  ben  obigen  Unter* 
fdjieb  in  einer  IDeife  ausgeprägt  Ijat,  bie  nichts  3u  trainfdjen 
übrig  lägt,  er  gehört  3U  ben  am  flarften  erfaßten  unb  am 
genaueren  burcfygefüfyrten  Unterfcfyieben  ber  beutfcfyen  Spraye, 
insbefonbere  fyat  fie  babei  bie  Sitte  mit  gan3  befonberer  Dor« 
liebe  befyanbelt,  fie  bietet  für  biefelbe  eine  eigentüm* 
lieber  IDenbungen  auf,  gegen  toeldje  ber  iDortoorrat,  ben  jte 
für  bas  Sittliche  r>em>enbet,  ftd}  faft  als  2trmut  ausnimmt 
|  eine  (2rfdjeinung,  für  bie  tr>ir  [43]  unten  tnelleidtf  imftanbe 
fein  roerben  bie  <£rflärung  3U  finben. 

Dieselbe  <£rfdjeinung,  toelcfye  roir  für  bas  (ßebiet  ber  Sitte 

v.  2  h  e  ring,  Der  §wed  im  Kcdjt.  II.  3 


3^         Kapitel  IX.   Die  fötale  medjantf*  Das  Sittliche. 


im  Saft,  für  bas  bes  Sittlichen  im  (ßeunffen  nachgetoiefen 
haben,  tt>ieberhoIt  ftch  auf  bem  bes  Schönen  im  <5efchmacf. 
2)er  (ßefchmacf  perhält  ftch  3um  Schönheitsgefühl,  roie  ber 
Caft  311m  Schicfltchfeits*,  bas  (Sewiffen  3um  SittltchfeitsgefüB>I, 
b.  h.  er  ^at  ausfchliepch  bie  praftifche  5unftion  bes  Schön* 
heitsgefühls  3um  3nhalt  im  (Begenfafe  ber  fritifchen,  b.  h* 
bie  Betätigung  besfelben  in  ber  eignen  (5eftaltung  bes  Schönen. 
Das  Unfdjöne,  bas  toir  bei  anbern  wahrnehmen,  beriefet 
nicht  unfern  (ßefchmaef,  fowenig  wie  bas  Unfchicflidje  unfern 
Caft  ober  bas  Unfittliche  unfer  (Sewiffen,  fonbern  bas  erfte 
t>erlefet  unfer  Schönheits*,  bas  3weite  unfer  Schief  lichfeits*,  bas 
britte  unfer  Sittlichfettsgefühl  —  (Sefchmacf,  Caft,  (5ett>iffen 
bewähren  ftch  im  fyanbeln,  nicht  im  Urteilen. 

<§um  vierten  VTiaU  wieberbolt  fich  bie  (£rfcheinung  auf  bem 
(Sebiete  bes  Hechts  in  (Seftalt  bes  jurtjlifchen  Cafts. 
Unter  lefeterem  serftehen  wir  ben  Creffer  bes  juriftif dien 
(Sefühls  in  ber  (Entfcbeibung  fchwieriger  Hechtsfragen,  alfo 
bie  praftifcfye  5unftion  bes  geläuterten  Hechtsgefühls  bes 
3urijkn.  €ine  perfekte  €ntfcheibung  Deriefet  nicht  ben  Caft 
bes  3uriffen,  fonbern  fein  Hechtsgefühl,  für  bie  fritifche  5unf* 
tion  bes  lefeteren  hebknen  wir  uns  biefes  2Iusbrucfs,  nidit 
bes  2Iusbrucfs  Caft  ZDir  haben  bamit  folgenbes  Schema 
gewonnen;  [44] 


Das  Schöne. 
Sie  Sitte. 

Das  Sittliche. 
3)as  Hecht. 


Schönheitsgefühl. 

Schicflichfeits*, 

^nftanbsgefühl. 

Sittlichfeitsgefühl. 

Hechtsgefühl. 


(ßefchmadf. 
Caft. 

(Sewiffen. 
3urijlifcher  Caft. 


2lus  bem  Bisherigen  ergibt  ftch,  baß  toir  es  h^r  ^it 
einem  wohlerwogenen,  t>olIftänbtg  3U  €nbe  gebachten  <5e* 
banfen  ber  Spraye  3U  tun  h^ben.  <£s  mu§  einen  triftigen 
(ßrunb  h^en,  baß  biefelbe  Scheibung  ber  praftifdjen  t>on 


Die  Sprache.  —  Die  Sitte:  Cafi 


35 


ber  fritifcfyen  5unftion  bes  (SefüE^ls  (b,  I  ber  fubjefttoen  2ln« 
eignung  ber  Hegeln  in  $otm  bes  Unbetonten)  jtdj  auf  allen 
r>ier  (Sebieten  toieberljolt.  21uf  ben  erften  23li<f  Bjat  es  ettoas 
23efrembenbes,  benn  roenn  einmal  biefelben  Hegeln,  burefj 
roeldje  xdt  midi  bei  meinem  Urteil  über  frembe  ^anblungen 
leiten  laffen  barf  unb  foH,  auf  mein  eignes  J^anbeln  2lmr>en* 
bung  erleiben,  roarum  ben  teueren  5att  befonbers  Jjerrw 
heben?  3ft  bas  (Sefüfyl,  bas  midi  bei  meinem  I^anbeln 
leitet,  ein  anbetes,  als  bas  mir  mein  Urteil  über  frembe 
fjanblungen  biftiert,  ift  es  nacfyfidjtiger,  ober  umgefe^rt 
(trenger?  darauf  foll  uns  ber  Caft  unb  3tsar  3unädjft  ber 
Caft  im  f03ialen  Sinne  bie  2tnttoort  geben;  fpäter  roirb  ftd? 
Seigen,  baß  basfelbe,  toas  für  ifyi,  aud}  für  ben  Caft  im 
jurijiifdjen  Sinne  3utrifft 

8)  Steigerung  bes  Scfyicflidjf eitsgef üljls 
[45]  3um  Caft 

Das  Wovt  Caft  roeift  uns  etymologisch  auf  bas  (Sefü^l 
3urücf,  es  ift  bas  lateinifdje  tactus  (von  tangere  =  füllen, 
berühren,  treffen)«  2lber  im  2)eutfd]en  t>erbinben  u>ir  bamit 
eine  Zlebenbebeutung,  bie  in  bem  lateinifcfyen  U)orte  nicht 
liegt  (bie  Horner  bebienen  fich  bafür  ber  IDenbung:  rem  acu 
tangere  =  ben  Hagel  auf  ben  Kopf  treffen),  nämlich  bie 
einer  Steigerung  besfelben:  bes  fein  entoicfelten  (ßefüfyls 
ober  Caftfinns  (bes  „5ühlers")-  Caft  ift  bie  Sicherheit  bes 
(ßefüfyls,  welches  in  Schwierigen  Cagen  bas  Htchtige  trifft, 
toir  fönnen  fur3  fagen:  ber  fidlere  Creffer  bes  (Sefüfyls. 
Diefe  Sebeutung  fyat  bas  IDort  auch  im  muftfalif chen  Sinn, 
es  be3eid]net  fyer  bie  Sicherhett  bes  (Sefühls  für  bas  muft* 
falifche  Seitmag,  ben  HfyYtfymus,  T>er  lefetere  Sinn  ift  ber 
ursprüngliche,  ber  objeftise  (Caft  =  Caftart)  ift  ber  abge- 
leitete, übertragene,  rx>as  ich  nur  bestjalb  bemerfe,  um  ben 
oerlocfenben  (ßebanfen,  als  ob  ber  Sprache  bei  ber  Silbung 

3* 


36 


Kapitel  IX.   Die  fatale  2Hed?amt   Das  Sittliche. 


bes  Wortes  Caft  im  fetalen  Sinne  bie  PorfteHung  bes 
mufifalifcheu  HhY*h™us  porgefdjrpebt  h<*be,  fernhalten* 

2)ie  Steigerung  bes  (BefüBjls  für  bas  Schiefliefe,  toelches 
ber  Segriff  Caft  in  fid]  begreift,  betpährt  fich  an  ben  3tt>eifel* 
haften  fällen,  an  ben  fritifchen  lagen,  in  benen  er,  perlaffen 
von  ben  Hegeln,  bie  ihm  an  bie  J^anb  gegeben  finb,  felb* 
ftänbig  bas  nichtige,  b.  f.  bas  ihrem  Sinn  unb  ihrer  Be* 
ffimmung  gemäße  3U  treffen  fyal  Caft  [46]  ift  nicht  bie 
bloße  mechanifdje  #mpenbung  ber  Hegeln,  bie  fchablonen* 
mäßige  Befolgung  berfelben,  3U  ber  es  nur  ber  2lbrichtung, 
bes  äußeren  Schliffs  bebarf,  fonbem  Caft  ift  bie  Bewährung 
ihrer  perftänbnispoHen  Aneignung  burch  <2rgän3ung,  3ort* 
bilbung  berfelben  in  gälten,  wo  fie  ihn  im  Stiche  laffen,  ber 
3urift  roürbe  fagen:  burch  analoge  2tusbehnung.  Caft  ift 
Sipination  in  Singen  bes  2Inftanbs,  praftifches  <£mpftnbungs« 
permögen,  ber  Creffer  bes  (5efühls,  toie  ich  mich  ausbrüefte. 
<2s  ift  alfo  nicht  bie  praftifche  5unftion  bes  Schief  lichfeits* 
gefühlt  alz  folche  getpefen,  tpelche  bie  Sprache  fich  gebrungen 
fühlte  befonbers  ^ert>or3uI^cbcn,  als  fie  ben  2Iusbrucf  Caft 
fchuf,  fonbem  bie  angegebene  Steigerung  besfelben,  fie 
bofumentierte  bamit  basfelbe  Derftänbnis  für  bie  (Eigenartig* 
feit  biefer  €rfcheinung,  tpie  bie  3urt5Pruben3,  als  fie  ben 
Begriff  ber  analogen  2lntpenbung  fchuf*  ließen  bie  Hegeln 
bes  2Inftanbes  unb  bes  Hed]ts  fich  \o  erfchöpfenb  aufhellen, 
baß  fie  für  alle  5älle  ausreichten,  fo  tpürben  beibe  Begriffe 
auf  biefen  (ßebieten  feinen  Haum  gefunben  fyaben,  fie  per» 
banfen  ihre  (£^iften3  lebiglich  ber  Un3ulänglid]feit  ber  Hegeln 
unb  ber  bamit  gegebenen  XTottpenbigfett  ihrer  perftänbnis- 
polten  (£rgän3ung  burd]  bas  Subjeft 

(San3  basfelbe  gilt  für  ben  (ßefchmaef  in  be3ug  auf  bas 
Schöne,  2üich  Ijier  ift  es  tpieberum  nicht  bie  bloße  praftifd]e 
Betätigung  bes  Schönheitsgefühls,  tpelche  bie  Sprache  mit 
biefem  £>ort  ausbrühen  tpill,  fonbern  bas  Vermögen  besfelben 


Die  Sprache*  —  Saft,  (Sefcfymacf,  (Seunffett* 


57 


3ur  eignen,  felbftänbigen  (Erfindung.  [47]  Der  <ßefd}macf  tt>ie 
ber  Caft  ijl  erfinberifd?,  er  gefyt  über  bie  bloße  ^lac^a^mung 
gegebener  ZHufier,  über  bie  bloße  Befolgung  feftftefyenber 
Hegeln  hinaus,  er  t>erfud]t  fid?  felber. 

Diefer  (Seftcfytspunft  betsäfyrt  ftd?  aucfy  beim  Caft  im 
juriftifcfyen  Sinne«  Don  ifym  fprecfyen  rr>ir  nur  beim  3uriften, 
nxdit  beim  Caien.  &)arum?  IPeil  bie  Steigerung  bes  <Se* 
füfyls,  tr>eld)e  ber  Caft  impli3iert,  fyer  bes  Hecfytsgefüfyls,  bas 
Pirtuofentum  in  Dingen  bes  Hecbts  nur  beim  3uriften  möglidj 
ift;  nur  in  feiner  perfou  finben  fid)  bie  Porausfefeungen, 
bamit  bas  Hedjtsgefüfyl  fidj  3ur  fyödjften  Blüte  entfalte,  2TTan 
toenbe  mir  uicfyt  ein,  baß  es  ßdj  in  biefem  5<*ße  nidjt  um 
bie  praftifcfye,  fonbern  um  bie  fritifdje  ^unftion  bes  Hedjts* 
gefügte  Ijanble,  ba  ja  ber  3ul'if*  ben  juriftifcfyen  Caft  nid?t 
im  fyanbeln,  fonbern  im  Urteilen  bewähre,  benn  ber 
3urift,  tt>elct?er  urteilt,  fyanbelt,  barin  eben  beftefyt  fein 
praftifdjer  Beruf .  Pon  biefem  praftifcfyen  <£rfmbungst>ermögen 
bes  3urijien  unterfdjeibet  bie  Sprache  gan3  fein  bas  juriftifcfye 
IPafymefymungsDermögen.  Das  ift  ber  juriftifdje  Blicf,  bie« 
felbe  <£igenfd?aft,  bie  toir  beim  2tr3t  als  Diagnofe  be3eid}nen. 
2Hit  ber  bloßen  €rfenntnis  beffen,  roas  ift,  ift  es  aber  in 
praftifcfyen  Dingen  nod)  nidtf  getan,  es  foll  geholfen  werben, 
unb  bies  Vermögen,  bas  richtige  praftifcfye  Ejifsmittel  auf3it* 
finben,  ift  es  eben,  bas  bie  Sprache  im  Unterfcfyiebe  von  bem 
juriftifdjen  Blicf  bei  bem  juriftifdien  Caft  im  2luge  Fjat. 

[48]  <£s  bleibt  uns  nodj  bas  <Setx>iffen.  iPie  Caft  unb 
(SefcfymacE  ift  audj  bas  (Betoiffen  Berater  in  eignen  2tngc* 
legenfyeiten,  uicfyt  Hid^ter  in  fremben.  <§tr>eifelljaft  ift  nur, 
ob  unb  inwieweit  bie  Sprache  bamit  3ugleid),  n>ie  bei  jenen, 
bie  Dorftellung  einer  Steigerung  bes  entfprecfyenben  (Sefüfyls 
perbinbet.  (Senzig  nicfyt  in  bem  Sinne,  baß  jte  bamit  eine 
nur  in  befonbers  günftigen  Sagen  3ixr  Keife  gebeifyenbe  Blüte 
bes  Sittlid]feitsgefül]Is  be3eid]nen  sollte,   IPäfyrenb  Caft  unb 


38  Kapitel  IX.   Die  fatale  tTCedjantf*   Das  Sittliche. 

<5efdjmacf  Vorzüge  bilben,  meiere  nicfyt  jebem  eignen,  unb 
bie  3u  if^rer  Slusbtlbung  ber  befonberen  (Sunft  ber  Umftänbe 
bewürfen,  liegt  ber  Spraye  biefe  Dorfteilung  beim  (Seroiffen 
gänslidj  fern,  jte  betrautet  basfelbe  als  eine  (Eigenfdjaft,  bie 
man  bei  jebem  in  gleicher  tDeife  t>orausfefeen  barf,  als  einen 
Beftanbteil  ber  normalen  2lusftattung  bes  Xllenfdjen,  ben 
niemanb  erjt  befonbers  3U  erwerben  ober  erji  burefy  Übung 
aus3ubilben  B|at,  21ber  in  anberem  Sinne  lägt  ftdj  boefy  ber 
(Sebanfe  einer  Steigerung  bes  entfprecfyenben  <5efül|ls  audj 
beim  (Settnffen  aufredet  erhalten,  nämlich  in  bem,  baß  bas 
ftttlicfye  (gefügt  in  21ntr>enbung  auf  bas  eigene  S^anbeln  ftd> 
in  einer  günftigeren  Sage  befinbet  als  bei  ber  Beurteilung 
frember  £}anblungem  Bei  lefeteren  liegen  uns  in  ber  Hegel 
mdjt  bie  r>oHftänbigen  Daten  3ur  Beurteilung  t>or,  toir  fefyen 
nur  bie  äu§ere  t£at,  ber  €mbli<f  in  bie  Seele  bes  fyanbelnben 
unb  in  feine  ZKotive  iji  uns  t>erfd}loffen,  toir  fyaben  nur  ben 
ein3elnen  2lft  t>or  uns,  nid)t  ben  gufammen^ang  [49]  bes« 
felben  mit  ber  Vergangenheit  bes  XHenfcfyen,  feiner  <£r3iefyung 
ufro.,  ber  fo  oft  ben  ein3ig  richtigen  Scfylüffel  3U  ifyrer  SEr* 
flärung  barbietet,  toäfyrenb  uns  alle  biefe  inneren  unb  äußeren 
gufammenfyänge  bei  ber  eignen  Cat  befannt  fmb.  Darum 
barf  man  fagen:  eigene  ^anblungen  ift  man  beffer  in  ber 
£age  3U  beurteilen,  als  frembe,  b.  fy.  bas  (Betreffen  urteilt 
richtiger  als  bas  Sittlicfjfeitsgefüfyl.  freilief?  gibt  es  fein 
Urteil  häufig  erft  ab,  toenn  es  3U  fpät,  toenn  bie  Qanblung 
bereits  gefc^el^en  ift,  unb  fyolt  in  ber  frttifcfyen  5unftion  erft 
nadj,  was  es  bei  ber  praftifdjen  serfäumt  fyat,  unb  nacb 
biefer  Seite  E^in  trifft  ber  Dergleicfy  mit  bem  Caft  unb  (5e* 
fcfymacf  nicfyt  3U,  bie  fkfy  ausfcfyließlicfy  im  ^anbeln  beroäfjreu. 
2lber  bas  ift  toteberum  allen  brei  gemeinfam,  ba§  es  bie 
3toeifelI|aften  fragen,  bie  fritifdjen  fälle  jtnb,  in  benen  ftc 
ftdj  erproben»  $nv  bas  Sittliche  be3eicfynet  bie  Sprache  bie* 
felben  als  „<Setx>iffensfragen"  (casus  conscientiae  in  ber 


Die  Sprache.  —  Das  (Senriffen*  Die  23etdjte*  39 


Sprache  ber  theologifdjen  ilToralfafuiftif  bes  ZTlittelalters), 
nicht  als  „ftttliche  fragen".  Vamxt  fagt  fte  uns:  über  pe  tjat 
nur  ber  Qanbelnbe  f elber  ein  Urteil,  ein  ^Dritter  foH  fich  bes 
Urteils  enthalten,  roenn  er  nicht  t>on  ihm  felber  ins  Pertrauen 
unb  3U  Hate  exogen  ift,  tt>ie  es  bie  fatfyolifcfye  Kirche  in  ber 
perfon  bes  Beichtvaters  ermöglicht  —  eine  (Einrichtung,  ber 
xdl,  obfehon  felber  proteftant,  boch  ihre  Berechtigung  unb 
ihren  I)o^en  IDert  nid^t  abfprechen  fann,  ba  fte  bem  £>tt>eif*tn« 
ben  ftatt  ber  bto§  fubjeftipen  eignen  Autorität  bie  objeftise 
[50]  Kirche  als  Hücfhalt  in  2lusftd|t  fteHt  unb  ber  firchlichen 
Doftrin  ben  21nla§  geboten  fyat,  bie  tE^eorie  bes  Sittlichen 
nidjt  ausschließlich  unter  bem  rein  tüiffenfchaftlichen  <5efichts« 
punfte  ber  fithtf,  fonbem  3ugleich  unter  bem  praftifdjen  ber 
ZHoralfafuiftif  3U  behanbeln.  Cefctere  perhält  [ich  3U  jener 
tt>ie  bie  3u^^P^ben3  3ur  Bechtsphtlofophte,  ^r  3we&  ift  ber 
ber  21nroenbung  auf  bie  fonfreten  Derhältniffe  bes  Cebens, 
es  ift  bas  23ebürfnis  eines  forum  internum,  bem  fte  gan3  fo 
Stbhtlfe  3U  gewähren  fucht,  roie  bie  3urispruben3  bem  bes 
externum. 

9)  Sie  Sitte  —  5ortfchritt  bes  fprachltchen 
3>enfens  feit  bvem  Altertum. 
3ch  fomme  3ur  Sitte  noch  einmal  3urücf,  sticht,  toeil  td| 
in  be3ug  auf  ben  punft,  ber  uns  bei  biefer  rein  fprachltchen 
Unterfuchung  allein  intereffiert:  ihre  fcharfe  fprachliche  Unter- 
treibung t>om  Sittlichen,  noch  etroas  nach3utragen  hätte,  ich 
habe  bas  IHaterial,  bas  ich  3U  biefem  §>wed  auf3ubieten  t>er< 
mochte,  erfchöpft,  unb  ich  glaube,  bajj  es  pollfommen  aus* 
gereicht  fyaben  wirb,  um  biefen  punft  über  aßen  <§u>eifel  311 
erheben.  Was  xd\  \\xev  noch  3U  tun  gebenfe,  befteht  vielmehr 
barin,  ben  IDert  besfelben  ins  richtige  Sicht  3u  fefeen  unb 
bem  Cefer  bie  Über3eugung  3U  serfchaffen,  baß  er  barin  eine 
£eiftung  ber  beutfehen  Sprad^e  t>or  fich  fyat,  welche  einen 


Kapitel  IX.   Die  feciale  flTedjamf*   Das  Sittliche* 


tr>ertt>ollen  ^ortfd^ritt  unb  eine  bauernbe  Bereicherung  ber 
£thif  enthält  (Ein  Pergleich  mit  ben  [51]  beiben  Kultur* 
fprachen  bes  Altertums  roirb  btes  üerbienft  unferer  XHutter« 
fprache  bartun ;  es  ift  ein  Stücf  aus  ber  (Sefdjichte  bes  Senfens 
ber  üölfer,  ber  ftch  jlets  fortfefeenben  unb  ablöfenben  2lrbeit 
berfelben  an  ber  Cöfung  eines  unb  besfelben  Problems. 

Das  Problem  beftefyt  in  ber  Scheibung  ber  brei  serfchie* 
benen  Seiten  ber  gefeßfchaftlichen  (Drbnung:  Sitte,  Zfioral, 
3ed>t. 

Die  niebrigfte  Stufe  ber  fittlichen  €ntu>icf  lung ,  t>on  ber 
alle  Völhv  ausgegangen  ftnb,  3eigt  uns  biefen  <5egenfa£  nod? 
in  feiner  (Sebunbenfyeit  Das  ift  ber  Stanbpunft  ber  grie* 
djifchen  2tuffaffung:  fte  ift  ausgeprägt  in  bem  griechifchen 
3i'x7]*)*  Die  gan3e  ©rbnung  bes  Cebens:  Sitte,  Sittlichfeit, 
Hecht,  alles  ift  8(x7j.  XDer  fie  beamtet,  ift  Stxaiog,  tt>er  fic 
mißachtet,  aSixos,  ohne  baß  babei  bie  Porfchriften  bes  bürger* 
Siefen  <ßefet$es,  ber  2Tforal  unb  bes  2tnftanbes  unterfchiebeu 
ipürben.  Ai'xaios  ift  ber  ZHann,  tr>ie  er  fein  foll,  ber  etwas 
auf  ftch  ^ält,  aSixos  fein  iDiberfpiel,  gleichmäßig  ber  Der* 
ächter  bes  (Sefetjes  ttne  ber  (5ottIofe,  ber  ööfe,  freche  unb 
Schamlofe.  Selbftperftänblich  ift  bamit  nicht  gemeint,  baß  bie 
(5ried]en,  bie  fotoenig  roie  ein  anberes  Kulturt>olf  bes  (Sefe&es 
entbehren  fonnten,  nicht  auch  ben  Segriff  besfelben  richtig  erfaßt 
hätten,  fie  unterfcheiben  fogar  bas  göttliche  unb  [52]  menfehliche 
(Ö£[jli<;  unb  vojxo;).  Sonbem  tx>as  ben  2lusfchlag  gibt,  bejieht 
barin,  baß  fie  jenen  unbeftimmten  allgemeinen  Begriff  t>ou 
SfxYj  bauemb  beibehalten  ha^n,  unb  baß  fie  ihn  felbft  3ur 
Be3eid>nung  beffen,  roas  bem  (ßefefe  gemäß  ift  (tö  Sfxaiov) 
ober  ihm  rr>iberfprid]t  (to  aoixov),  nicht  entbehren  fönnen. 

Die  Unbestimmtheit  ber  griedfifchen  etfyfchen  2tuffaffuug 

*)  €s  entfprtdjt  unferein  berufenen  „2Xrt  unb  tDeife"  unb  ftammt 
r>on  ber  XDur3eI  die  (=  3etgert/  grieefy*  ostavuii/.,  lai  dicere,  goi  zeigom;, 
<S*  <£urtitts,  (Srunb3iige  ber  (jried?*  (EtymoL  (2IufL  S* 


Die  Sprache.— tticfytunterfcfjet^  v.  Hecfyt,  Sitte,  Stttlicfyf*  im  Altert.  q<\ 

ftetgert  jtcfy  noch  baburch,  baß  ber  (ßrieche  mit  bem  ethifchen 
(Sefichtspunft,  tote  oben  (5.  27)  bereits  bemerft  toavb,  auch 
ben  äfthetifchen  perbinbet.  Das  (Bute  (aya&äv)  ift  3ugleich 
bas  Schöne  (xaXov).  X>as  bekannte  ZlTufterbilb  ber  (Sriechen: 
ber  xaXoxcfya&os  faßt  beibes  3m:  (Einheit  3ufammen,  unb  fo 
lägt  frch  behaupten,  baß  bas  Sittliche  auf  griechifd^em  Soben 
tseber  feine  Spaltung  in  fich,  noch  auch  feine  Scheibung  vom 
äfthetifchen  Donogen  Ijat. 

Dag  jene  mangelnbe  Unterfcheibung  ber  perfchiebenen 
5eiten  bes  Sittlichen  nicht  etwas  national  (ßriedjifcfyes  ift, 
tx>as  bei  bem  pfylofopfyfdj  fo  eminent  beanlagten  grtechifchen 
Volt  am  roenigften  3U  glauben  toäre,  fonbem  baß  jte  nur 
ein  ber  nieberen  <£nttt>ic?lungsftufe  angehöriger  <§ug  ift,  ergibt 
ber  Pergleich  mit  anbern  Dölfern,  3,  3*  bem  jübifchen.  Wie 
bas  griecfyfche  8(xyj,  fo  be^exdinet  auch  bas  Ijebräifd^e  Misch« 
pat  gleichmäßig  Hecht,  Sitte,  Sittlichfeit,  nur  baß  Mischpat 
nicht  ben  lüillen  bes  Dolfes,  fonbem  (Sottes  hinter  fich  Ijat 
2llles  ift  Mischpat:  bas  Bitualgefefe  foroohl,  welches  unferer 
„Sitte"  entfpridjt,  [53]  wie  bie  3ehn  (ßebote,  in  benen  ZlToral 
unb  Hecht  noch  ununterf Rieben  nebeneinanber  liegen,  (Sans 
basfelbe  gilt  com  dhärma  ber  ^nbev. 

3n  Horn  bei  bem  Dolfe  bes  Hechts  reißt  ftd]  bas  Hecht 
pon  Sitte  unb  ZHoral  los,  unb  innerhalb  bes  Hechts  f elber 
x>oD3iel|t  ftch  eine  Scheibung,  bie  3tr>ar  ben  (Sriechen  theo« 
retifch  bereits  befamtt,  von  ihnen  aber  nicht  praftifch  burch* 
geführt  worben  war:  bie  3wifchen  bem  göttlichen  unb 
menfd]lid?en  Hecht  (fas  unb  jus)  mit  äußerfter  Klarheit  unb 
t>olljiänbigfter  Durchführung,  inbem  für  beibe  gweige  nicht 
bloß  eigentümliche,  ftreng  gefcfyebene  (Srunbfäfce  aufgeteilt 
werben,  man  fann  fagen:  3wei  felbftänbige  SYfieme  bes 
Hechts,  fonbern  befonbere  öehörben  eiugefefet  werben,  benen 
bie  pflege  unb  fjanbhabung  berfelben  anvertraut  ift  (bie 
pontifoes,  ^etialen,  Auguren  auf  ber  einen  unb  bie  weltlidien 


^2 


Kapitel  IX.   Die  fetale  Xtlecftanif*  Das  Sittliche* 


ZTfagiftrate  auf  ber  anbem  Seite  *)♦  Dagegen  bleiben  Sitte 
unb  ZTioral  fprachlich  in  ungetrennter  (Semeinfchaft,  bie  latei- 
nifche  Spraye  l\at  es  nicht  3U  einem  2lusbrucE  gebracht,  ber 
ausfchließlich  bie  eine  von  beiben  träfe,  fie  ift  genötigt,  fxet^ 
für  beibe  33egriffe  besfelben  2lusbrucfs  3U  bebienen:  mos, 
mores.  3a  fie  benufet  benfelben  fogar  auch  für  bas  <ße* 
toohnheitsrecht.  Die  fprachlich  mangelnbe  Ausprägung  bes 
legten  23egriffs  iji  noch  ber  lefcte  toaljmefymbare  Heft  ber 
ur anfänglichen  2luffaffung,  tseldje  alle  [54]  Seiten  bes  Sitt* 
liehen  3ur  (Einheit  bes  Segriffs  3ufammenfa]3te,  ein  fofjtles 
Stücf  aus  ber  Ur3eit, 

ttnfere  beutfehe  Sprache  ^at  bas  lefete  noch  fehlenbe  (ßüeb 
aus  ber  (Bememfchaft  ausgelöft  unb  basfelbe,  txne  oben  nach* 
getmefen,  mit  einer  Klarheit  unb  23efiimmtheit  ausgeprägt, 
bie  jebe  Pertsechflung  ausfchliejjjt.  Die  Sitte  ift  tyev  3um 
erften  ZHale  fprachlich  nicht  bloß  abgehoben  t>om  Sittlichen,, 
fonbern  in  ihrer  (Eigenart  aufs  fdjärfjie  inbioibualiftert  unb 
charafteriftert,  bie  Sprache  ha*  für  fie  einen  Heichtum  x>on 
IDenbungen,  ich  möchte  fagen  eine  5üöe  t>on  Farben  auf* 
geboten,  um  ihr  23ilb  aus3umalen,  gegen  toelche  bie  2lrmut 
ber  ZHittel,  welche  fie  für  ihre  beiben  Schtoefiem  auftx>enbet, 
fchroff  abfticht  Die  Sitte  iji  bas  Schoßfinb  ber  beutfehen 
Spraye» 

Der  Sprachfchafe  bes  Hechts  im  Deutfdjen  ift  ein  äugerft 
geringer,  er  fällt  3ufammen  mit  bem  XDorte  Hecht  unb  feinen 
Derix>atir>en.  Der  ber  Sittlichfeit  ift  fchon  ein  etwas  erheb* 
Iicherer,  toir  werben  ihn  fofort  fennen  lernen.  2Jber  bor 
£öu>enanteil  fällt  ber  Sitte  3U.  Sie  jianb  bem  Volt,  als  es 
bie  Sprache  bilbete,  offenbar  am  nächjien,  es  ift  ber  tsarmc, 
soHe  pulsfchlag  bes  Iebenbigen  Polfsgefühls,  ber  in  biefem 


*)  Das  Weitere  gehört  nicht  fyerl|er,  f*  darüber  meinen  „(Seifi  &es 
röm.  Hecfjts"  I,  §  *8,  {8  a. 


Die  Sprache*  —  Die  Sitte*  —  Sprachliche  lltmut  bes  Hechts*  ^3 


Stücf  ber  Sprache  pulftert,  tt>äfyrenb  berfelbe  immer  \diwad\ev 
wirb,  je  toeiter  rotr  uns  von  bem  jenigen ,  was  bas  Volt 
f  elber  gef Raffen,  entfernen  unb  uns  demjenigen  nähern,  voas 
nxd\t  bas  Volt  metjr  ma<ht/  fonbem  ber  Staat:  bas  Hecht. 
Wo  t>ie  IDiffenfchaft  beginnt,  B^ört  ber  reiche  Strom  ber 
Sprache  3U  [55]  fliegen  auf,  bie  2Iusbrücfe  toerben  immer 
dürftiger,  ärmer,  magerer.  21m  reidjfyaltigfien  ift  er  auf  bem 
(gebiete  ber  Sitte,  auf  bem  bie  tüiffenfchaft  jtch  bisher  nicht 
fyat  bltcfen  laffen.  2luf  bem  (gebiete  bes  Sittlichen  tritt  fie 
3ix>ar  bereits  als  Cfyeorie  auf,  aber  fie  entlehnt  ifyren  Stoff 
bem  (gefüfyle  bes  Dolfs*  Sei  bem  Hechte  bagegen  befmbet 
fie  ftch  auf  einem  (gebiete,  auf  bem  bas  Polf,  abgefetjen  pon 
bem  engen  Haume  bes  (getoofynljeitsrecfjts,  feinen  geftaltenben 
«Einfluß  ausübt,  ber  oielmefyr  ber  Heflejrion  bes  (gefe^gebers 
unb  ber  begriff bilbenben  tEättgfeit  ber  IPiffenfcfyaft  3ufällt. 
Diefer  (Stabatxon  vom  Volte  3ur  XDiffenfehaft,  t>om  Unbe* 
roußten  3um  Senaten  entspricht  bie  entgegengefe&te  in  be3ug 
auf  bie  2hisbilbung  unb  ben  Heihtum  ber  Sprache.  3*  a*>' 
ftrafter  ber  Denfftoff,  befto  fonfreter  unb  ärmer  bie  Sprache, 
\tatt  bes  oft  erbrüefenben  Überfluffes  an  IDorten  unb  Wen> 
bungen  für  (gegen jiänbe  unb  21nfdjauungen,  bie  bem  Polfe 
nafye  liegen,  eine  2lrmut,  bie  nicfyt  feiten  ooQftänbiger  ZlTangel 
ift  unb  bie  ZTötigung  in  ftch  fcftüeßt,  in  manchen  5äHen  einen 
Segriff,  fiatt  3U  benennen,  lebiglich  3U  umschreiben  ober  burch 
5rembroörter  aus3ubrücfen.  Selbft  bie  Synonyma,  rx>el<he  bie 
Sprache  für  einen  Segriff  bes  Hechts  früher  in  (gebrauch 
batte,  jierben  nad]  unb  nach  ab,  roenn  berfelbe  aus  ben 
fjänben  bes  Dolfs  in  bie  ber  IDiffenfchaft  übergebt,  wie 
bies  3*  S.  bei  bem  „(gerooljnfyeitsreht"  ber  5aE  ift,  für 
welches  alle  anbern  2(usbrücfe,  mit  benen  ber  Dolfsmunb 
basfelbe  einft  be3eichnete:  ^erfommen,  [56]  Srauch,  Übung, 
(getoofynljeit  biefem  einen  plafc  gemacht  fyaben. 

3h  faffe  ben  3n^<^It  biefer  fprachgefchichtltchen  2lusfüt|rung 


Kapitel  IX.   Die  fo3taIe  Ittechantf*   Das  Sittliche. 


überfichtlich  3ufammen,  inbem  ich  bamxt  basjenige  t>erbinbe, 
ir>as  bie  votieren  Sümmern  uns  für  bie  ttnterfchetbung  ber 
t>erfchtebenen  Sphären  ber  gefcllfcl^aftlicf^en  (Drbnung  abge= 
trorfen  I^aberi» 

JQ  Die  tatfäcfylidje  (Drbnung  bes  Dolfslebens,  bie  (Sets ofynljett. 

2)  Unterfdjeibung  bes  perbinblicfyen  mtb  bes  ntd?t  perbmblidjen  (Teils 
berfelben  als  (SetDoljnljeit  uitb  alle  Seiten  ber  ftttlicfyen  (Drbnung 
Utnfaffenbe  Sitte  (Sfouq,  Mischpat,  dhärma). 

3)  2(usf Reibung  bes  Hechts  in  feiner  pollften  Selbftänbigfeit  burefy  bie 
Homer* 

Das  Hecfyt*    <Segenfat$:  mos,  mores 

a)  Das  fas.  (Sitte  unb  ITtoral  —  beibe  nod?  eins)* 

b)  Das  jus. 

4)  Scfyeibung  ber  Sitte  r»om  Sittlichen  burefy  bie  (Sermanen. 

Das  Ked?t        Das  Sittliche  im  en*  Die  Sitte  (ftttfam, 
(rechtmäßig,  unrecht   geren  Sinne,  bie  ITIoral     ehrbar,  anjiänbig, 
mäßig,  rechts mibrig),   (flttltd?,  unftttltd?,  mora=*     f c^tcf lic^ ,  paffenb, 
(Setpolntlieitsrecfyk.       Iifdj,  umnoralifebj*  3iemlid?  uftt>*)* 

5)  <£ntfpred?enbe  Unterf Reibung  ber  fubjeftipen  3mmanen3  biefer  brei 
Seiten  ((SefübJ). 

Das  Hechtsgefü^U   Das  Sittlid?f eits*  Das  Schief  licfyf eits* 
gefü^L  ober  2fn#anbs* 

gef  ÜI7L 

<ö)  2Sefonbere  fjerporfyebung  ber  praftifcfyen  (funftion  besfelben* 

Der  juriftifcfye         Das  <Sea>iffen*        Der  feciale  Zaft 
Caft. 

gu  ben  brei  gefeHfchaftlichen  ^mpexativen,  mit  benen 
biefe  Cabeße  fch  ließt:  Sitte,  ZHoral,  Hecht,  I^at  bie  moberne 
IDelt  noch  einen  vierten  I)in3ugefüc3t,  ben  toir  I|ier  3unächft 
noch  übergangen  fyaben,  ba  er  an  biefer  Stelle  [57]  fein 
3ntereffe  für  uns  fyatte,  bem  tr>ir  aber  feiner3eit  un(ere  2tuf* 
merffamfeit  3uroenben  tx>erben:  bie  2Hobe,  unb  bas  poflftänbige 
Schema  ber  fo3talen  ^mp^vatxve  (einen  Segriff,  ben  wir 
bemnächft  rechtfertigen  toerben),  nach  ZTJaßgabe  ber  (ßraba* 
Hon  i^rer  fo3ialen  Sebeutung,  ift: 

0  ZHobe, 

2)  Sitte, 


Die  Sprctcbe*  —  Das  Sittliche  unb  bie  Sitte. 


3)  inoral, 

4)  Hecht 

IDtrb  eine  fommenbe  geit  bie  Scheibung  noch  weitet  fort« 
fefeen?  3ch  I^alte  es  nicht  für  unmöglich.  3n  Süte 
fteefen  3tx>ei  bwergente  demente,  bie  ich  f  erneuert  bei  ihrer 
fritifchen  Betrachtung  barlegen  werbe,  unb  bie  vielleicht  eine 
fommenbe  geit  burch  bie  entfpredjenben  fprachlichen  2lusbrücfe 
genau  t>onemanber  fcheiben  wirb. 

\0)  Das  Sittliche.  —  Die  Jlusfagen  ber  Spraye.  — 
Konfrontation  bes  Sittlichen  mit  ber  Sitte, 

Wix  fefeen  unfer  Perhör  mit  ber  Sprache  fort,  inbem  wir 
es  auf  bas  Sittliche  ausbehnen.  IDir  wiffen,  baß  fie  le&teres 
genau  r>on  ber  Sitte  unterfcheibet,  aber  was  fie  ftch  unter 
bemfelben  benft,  ift  uns  3ur3eit  noch  unbefannt.  Wix  be« 
fchränfen  unfer  Perhör  aber  nicht  auf  bas  eine  IDort,  an 
welches  fie  ihre  Porftellung  fnüpft,  fonbern  wir  oerbinben 
bamit  alle  btejenigen,  welche  3U  bemfelben  in  irgenbeinem 
Derfycütnis,  fei  es  ber  Derwanbtfdjaft  ober  bes  (Segenf  a&es 
flehen,  fur3  wir  3ieh*n  [58]  auch  bie  fprach  liehe  Umgebung 
jenes  IDortes  in  ben  Kreis  ber  tfnterfuchung.  iDie  ber 
Hichter  bei  feinem  Derhör  nicht  bloß  ben  2lngefchulbigten 
oernimmt,  fonbern  alle  geugen,  beren  er  ha*>haft  werben 
fann,  fo  werben  auch  wir  bie  fprachlichen  «geugen,  fo3ufagen: 
bie  begrifflichen  Nachbarn  oorforbern,  um  von  ihnen  über  bie 
(Breden,  bie  ihr  (5ebiet  von  bem  ftreitigen  bes  Sittlichen 
fcheiben,  2tusfunft  3U  erhalten,  €s  finb  bas  Sittliche,  bas 
gweefmäßige  unb  ber  (Egoismus. 

3nbem  wir  3uerft  ben  Sprachfchafc  für  bas  Sittliche  felber 
unterfuchen,  fonftatieren  wir  3unächft  bie  überrafchenbe  <£nt- 
haltfamfeit,  welche  bie  Sprache  in  biefer  Se3iehung  beob* 
achtet.  IDähreub  fie  für  bie  Sitte,  wie  oben  uachgewiefen, 
eine  XTTenge  pon  fprachlid]  perfchiebenen  2lusbrücfen  unb 


46  Kapitel  IX.   Die  fötale  IKedjami   Das  Sittliche. 


IDenbungen  3utage  gefördert  fyat,  entlehnt  fte  ihren  gefamten 
tDortfchafe  für  bas  Sittliche:  fittlich,  unfittlich,  SittltdEj* 
feit,  Unfittlichfeit,  Sittengefefc,  Sittlichfeitsgefühl 
bem  einen  &)ort:  Sitte,  unb  felbft  bei  ben  ber  lateinifchen 
unb  griechifdjen  Spraye  entlehnten  2tusbrücfen:  moralifch*), 
ITIoral  (mos,  mores),  ethifch  unb  Ctljil  behält  fte  biefe 
Anlehnung  an  bie  Sitte  bei* 

Diefelben  finb  nicht  völlig  fvnonym,  bie  Spraye  beob* 
achtet  3tt>ifchen  ihnen  vielmehr  folgenben  Unterfdjieb.  Set 
„ethifch"  hat  fte  bie  C^eorie  bes  Sittlichen  (<EÖjif)  [59] 
im  2luge,  ethifch  t>erhält  fich  3u  fittlich,  tr>ie  juriftifch  3U  reebt* 
lieh,  u>\t  hobeln  fittlich,  rechtlich,  nicht  ethifch,  juriftifch, 
tx>ir  urteilen  ethifch,  juriftifch«  Sittlid]  unb  moralifch  toirb 
in  ber  Hegel  gleichbebeutenb  gebraust,  iDer  genau  fpred^en 
unH,  betont  mit  ZTforal  unb  moralifch  ben  (Segenfafc  3U 
Hecht  unb  rechtlich,  b.  h*  negiert  bamit  bas  ZIToment  bes 
äußeren  gtoanges,  roährenb  er  mit  Sittfichfeit  bloß  bavon 
abjirahiert  <£ine  moralifche  Derbtnblichfeit  in  ber  Sprache 
bes  3uriften  (bie  naturalis  obligatio  ber  Horner)  ift  bie  jenige, 
rselche  rechtlich  nicht  er3toungen  werben  fann,  fte  bilbet  ben 
(Segenfafe  3U  ben  rechtlich  er3u>ingbaren,  ber  ghnlserbinblich* 
feit  (obligatio  civilis)«  Die  XHorat  als  Dis3tplin  befchränft  ftd? 
auf  biefe  rechtlich  nicht  er3tr>ingbaren  Dorfchriften  bes  Sittzw 
gefefees.  Das  Sittliche  ober  bas  Sittengefefc  bagegen  umfaßt 
auch  bas  Hedjt  mit,  t>on  feinem  Stanbpunft  aus  erfcheint  bas 
ZlToment  bes  äußeren  g>rt>anges  als  gleichgültig,  bas  <£nt< 
fcheibenbe  tft  bie  innere  Derbinblidjfeit  für  bas  Subjeft. 

Die  breimal  fich  uneberholenbe  fprachliche  Anlehnung  bes 
Sittlichen  an  bie  Sitte  (mos,  ^&o?)  bea>eift,  baß  tt>ir  es  hierbei 
nicht  mit  einer  3ufäHigen,  fonbern  mit  einer  3tx>ingenben  £>or< 


*)  Das  latetntfdje,  bem  grtedjif  d?en  ^txo;  Ttadjgebilbete  moralis 
flammt  r>on  Cicero,  ttne  er  felber  (de  fato  c.  X)  fcemerfi 


(SetnemfdjaftlgefcfyidjtLtt.  solfstümLItloment  in  Sitte  mSittlidjf  eil  ^7 

Teilung  ber  Sprache  3U  tun  {jaben.  Cefetere  permag  fich  ben 
Segriff  bes  Sittlichen  nicht  anbers  3U  benfen,  als  tnbem  fte 
ben  ber  Sitte  3U  ^ilfe  nimmt  Der  (Bebanfe,  ben  fte  babei 
im  2tuge  I|at;  ijl  bie  Ijijlorifcfoe  (Entftehung  bes  Sittlichen  aus 
5er  Sitte»  23eibe  entwicfeln  fich  aus  bem  Ceben  bes  £>olfs 
als  ZTormen,  welche  fich  [60]  burch  bie  (Erfahrung  als  not« 
wenbig  bewährt  haben.  Sowenig  bie  Sitte  etwas  rein 
3nbh>ibueHes  ift,  welches  bas  Subjeft  aus  fich  felber  ent- 
nehmen fönnte,  ebenfowenig  bas  Sittliche;  für  beibe  bebarf 
es  bes  Volts  unb  3war  bes  gefchichtlidjen  Cebens  bes  Polfs: 
ber  gefeEfchaftlichen  (Erfahrung,  um  fte  ins  Däfern  3U  rufen. 

Damit  h<*t  bie  Spraye  uns  ein  höchft  wichtiges  UToment 
für  bie  23egriffsbeftimmung  bes  Sittlichen  angegeben,  bas  bie 
IDiffenfchaft  3U  ihrem  größten  Schaben  bisher  nur  3U  fehr 
aus  ben  2tugen  gelaffen  h<*t,  unb  bas  wir  unfererfeits  bem- 
nächft  perwerten  werben.  <£s  ift  bas  Xttoment  bes  (5 efchi cht* 
liehen  unb  bes  Polfstümltchen.  Sowenig  wie  bas  3^bim* 
buum  bie  Sprache  aus  fich  3U  entwicfeln  permag,  ebenfowenig 
bas  Sittliche,  beibe  enthalten  Aufgaben,  bie  nur  bas  £>olf 
in  ber  (5emeinfamfeit  feines  Cebens  3U  löfen  permag*). 

Das  hijforifche  unb  polfstümliche  ZHoment:  bie  (gemein- 
famfett  bes  Urfprungs  iji  bas  jenige,  was  bie  Sitte  unb  bie 
Sittlichfeit  ber  Sprache  3ufolge  miteinanber  teilen,  jte  fmb 
gwiüingsfchweftern,  beren  IDege  fich  aber  balb  trennenf 
inbem  fte  fich  3U  3**>ei  befonberen,  felbftänbigen  Segriffen  ge* 
ftalten,  welche  bie  Sprache  genau  auseinanberhält.  Dies  ift 
oben  (Ztr.  7)  bereits  nachgewiefen:  bie  Sprache  bebient  fich 
für  bie  Sitte  eines  reichen  Schates  pon  JDenbungen,  welche 


*)  für  bie  Sprache  nacfygenriefen  in  ber  fyödjfi  gebanfenretcfyen 
Schrift  von  £ubtDig  iXo\x6t  £ogos,  Urfprung  xmb  IDefen  ber  Be- 
griffe, J£etp3tg  1885.  Der  (Srimbgebanfe  bes  Buddes  fur3  tpiebergegeben 
lautet:  Die  GEntftefyung  ber  Sprache  frtüpft  an  bie  gemetnfame  (Eätig- 
feit  an. 


48  Kapitel  IX.   Die  feciale  medjattif.   Das  Sittliche. 

fie  für  bas  Sittliche  nie  gebraucht,  unb  3tt>ar  tiaben  toir  bort 
gefehen,  baß  es  ber  <5eftchtspunft  ber  äußeren  5orm  bes 
Handelns  tt>ar,  burch  ben  fie  bie  Sitte  oom  Sittlichen  abgebt 
Sie  bietet  uns  aber  noch  einen  anbern  <5efichtspunft  3ur 
Hnterfcheibung  beiber  bar,  ber  für  bie  2trt,  tt>ie  fte  fich  it^r 
Verhältnis  benft,  höchft  charafteriftifch  ift. 

Die  Sprache  rebet  von  einer  „£anbes*,  Stanbes*, 
Dolfs*,  ©rts*Sitte",  nicht  von  einer  ,,£anbes»,  Stanbes*, 
Polfs-,  ®rts*Sittlichfeit",  2TJit  biefem  einen  guge  bat 
fte  bas  unterfcheibenbe  JDefen  beiber  flar  zeichnet,  es  if* 
ber  <5egenfafc  bes  bloß  bebingt  unb  bes  abfolut  23inbenben. 
(Seben  roir  bem  (Sebanfen,  ben  bie  Sprache  bamit  oerbinbet, 
21usbrucf,  fo  fagt  fie  baburch  folgenbes  aus.  Die  Sitte  ifi 
etroas  lofal,  national,  fo3ial  23ebingtes,  fie  binbet  nur  ba, 
roo  fte  befteht.  Die  Sitte  laffe  ich,  toenn  ic^  auf  Heifen 
gehe,  in  ber  Ejeimat  surücf  unb  or bne  mich  ber  £anbesfttte 
unter,  felbft  roenn  fte  pon  ber  meiner  ^eimat  noch  fo  [ehr 
abdeicht.  21ber  bie  Sittlichkeit  begleitet  mich  auf  ber  Heife 
um  bie  IDett,  eine  unftttliche  £(anblung:  23etrug,  Diebftahl, 
Völlerei,  (Ehebruch  roerbe  ich  felbft  unter  einem  tr>ilben  Dolfe, 
bei  bem  jte  an  ber  Cagesorbnung  ftnb,  unb  bas  in  ihnen 
nichts  Jlnftößiges  erblidt,  nicht  mit  anbevn  21ugen  anfehen 
als  bahetm.  Unb  roie  bie  Sitte  mich  nur  ba  binbet,  u>o  fte 
befteht,  fo  auch  nur  fo  lange,  als  fie  befteht,  ihre  perpjKich* 
tenbe  [62]  Kraft  beruht  iebiglich  auf  ihrer  Catfädilicbfeit; 
hat  fte  aufgehört  3u  eyiftieren,  fo  liat  fie  fernerhin  feine 
binbenbe  Kraft  mehr  für  mich*  2tnbers  bei  ber  Sittlichfett. 
Sie  behält  für  mich  ihre  t>erpflichtenbe  Kraft,  auch  u>enn 
Caufenbe  fte  mit  5üßen  treten,  ihre  Autorität  ift  von  ber 
Cat[ächüchfeit  völlig  unabhängig,  benn  mein  jtttliches  Urteil 
erfennt  bie  äußere  JDirHichfeit  nicht  als  XHaßftab  bes  Sitt< 
liehen  an,  fonbem  probiert  auf  fleh  felber,  auf  feine  eigene 
innere  IDahrheit  unb  füblt  fich  babet  t>on  berfelben  guperftd]t 


Die  Sprache.  —  2UIgememgülttgfett  ber  flttltcfyett  (Sefetse*  ^(J 


beseelt,  xok  ber  Denfer,  toeldjer  eine  tPafyrfyeit  gefunden  Ijatf 
mit  ber  er  einfam  ber  gan3en  &)elt  gegenüberffeljt 

Wir  haben  bamit  einen  für  bie  (Eharafterifiif  bes  Sitt- 
lichen nad?  21uffaffung  ber  Spraye  I^öc^fi  nichtigen  gug 
gewonnen:  ben  bes  allgemein  (Sültigen*  Das  Sittliche 
nach  PorfteHung  ber  Sprache  fennt  feinen  Unterfdjieb  von 
Canb,  Hang,  Staub,  es  richtet  feine  (Sebote  gleichmäßig  an 
alle  Klaffen  ber  (SefeUfdjaft  unb  an  alle  X>ölfer.  Darin  liegt 
3ugteich,  ba§,  gleid?tr>ie  es  bem  Wnterfchiebe  bes  £anbes  unb 
ber  Ztationalttäf  feinen  (Einzug  3ugefteht,  es  ebenforoenig  ben 
Unterfchieb  ber  geil  anerfennt.  Der  <5egenfa£  x>on  0rt  unb 
geit,  t)6Hig  maßgebenb  für  bie  Sitte,  iß  für  bas  Sittliche 
ohne  Bebeutung,  bas  Sittliche  t>inbi3iert  ftch  ben  Cfyarafter 
bes  2tbfoIuten.  (Db  biefe  2luffaffung  faltbar  iß  ober  nicht, 
gilt  uns  fyer  gleich,  es  fommt  nur  barauf  an,  ob  fte  ber 
Spxadie  3ugrunbe  liegt,  unb  biefer  53ad]tr>eis  ifl  bamit  [63] 
erbracht,  baß  bie  Sprache  bie  2TTögIichfeit  eines  befchränften 
Geltungsgebiets,  bie  fte  für  bie  Sitte  ausbrüdElich  betontf  für 
i>as  Sittliche  nicht  anerfennt 

\\)  Die  2tusfagen  ber  Sprache.  —  Konfrontatton 
bes  Sittlichen  mit  bem  «gtoeef mäßigem 
(Eine  23orm  für  bas  freie  menfehliche  ^anbeln  getoährt 
auch  bas  «gtoeefmäßige.    IDorin  unterf Reibet  es  fief?  t>om 
Sittlichen? 

Die  Sprache  djarafteriftert  basfelbe  als  basjenige,  was 
im  „gtr>ecf"  fein  „2Tlaß"  ftnbet,  alfo  als  bas  bem  «gmeef 
„yngemeffene".  5ür  bas  <§tr>ecfmäßige  ift  bemnach  ber  gvoed 
bas  ZTTaßgebenbe,  er  roirb  als  gefefet  gebacht,  bas  <gtr>ecfmäßige 
hat  ihn  nur  3U  ©ermitteln,  3U  sertsirflichen,  b.  h-  bas  richtige 
ZHittel  3U  fuchen.  Daraus  ergibt  jtch  ber  Unterfchieb  00m 
Sittlichen.  Cefeteres  3eichnet  bie  gtoeefe  t>or,  bas  «gioedmäßige 
bie  ZTTittel,  bie  <£thtf  ift  bie  Cefyre  t>on  ben  «groeden,  bie 

p.  3  gering,  Der  gmeef  im  Hedjt.  II.  ^ 


50 


Kapitel  IX.   Die  feciale  medjantf.  Das  SMxty. 


politif  bie  von  ben  2TEitteln.  Da§  lefetere  nur  in  2ln« 
it>enbung  auf  bie  <§>tr>ecfe  bes  5taats,  b,  i.  auf  bie  richtige 
Derfolgung  bes  allen  2Tüt$lid)en  im  (Segenfat*  3U  bem  blo§ 
inbit>ibuell  Zlü^lidjen,  unffenfdjaftlidj  ausgebildet  ifl,  tut 
ber  Weite  biefes  Segriffs  feinen  €intrag.  politif  mit  (Eilpf 
umf  äffen  bas  gan3e  (Bebiet  bes  menfd]Iid)en  J^anbelns,  einerlei 
ob  bie  Staatsgewalt  ober  bie  prtoatperfon  als  Ijanbelnb  ge- 
badet wirb;  erftere  foll  ebenfotoenig  unfittlid),  tote  letztere  un* 
3toedmä§ig  fyanbeln.  2lu§er  biefen  [64]  beiben  ZtTajsftäben, 
roelcfye  bas  Subftantielle  bes  fjanbelns  betreffen,  gibt  es  nod? 
einen  brüten,  toelcfyer  bie  5orm  3um  (Segenftanbe  Ijat,  es  ift 
ber  äftfyetifcfye,  ben,  tt>ie  tr>ir  oben  (S.  26)  gefel>en  fyaben, 
bie  Sprache  ebenfalls  auf  bas  J^anbeln  3ur  2lmx>enbung  bringt. 

Die  obige  2tbgren3ung  bes  gtoeefmäßigen  gegenüber  bem 
Sittlichen  läßt  jtdj  in  boppelter  We\\e  bemängeln.  Seibe 
Segriffe  fcfyeinen  babei  r>erfür3t  3U  fein.  <§unäd)ft  bas  g>voed* 
mäßige.  XDir  beiexdixxen  bod?  nic^t  bloß  bie  WabJ,  unge- 
eigneter ZHittel,  fonbern  aud]  bas  Setzen  perfekter  gtoedfe 
als  un3n?e<fmägig.  Der  €inroanb  erlebigt  fidj  burdj  bie 
Helatipität  bes  gtoeefbegriffs.  Der  groect  b,  3U  bem  a  bas 
JHittel  enthält,  fann  feinerfeits  toieberum  nur  ein  ZHittel  für 
ben  «gtoeef  c  fein  (a  =  2lrbeit,  b  =  Vermögen,  c  =  (Senufc), 
ber  §we<£  richtet  por  bem  ZHenfdjen  eine  £eiter  auf,  auf  ber 
jebe  Sproffe  3U  ber  r>ort)ergel)enben  im  Derfyältniffe  bes 
§weds,  bagegen  3U  ber  näcfyft  höheren  im  X>ert)ältniffe  bes 
ZHittels  ftefyt  Die  Beurteilung  unter  bem  <5eftd]tspunfte  bes 
gtoeefmäßigen  fann  jtcfy  lebiglidj  an  bas  Derfyältnis  pon  a 
unb  b  galten,  jte  fann  aber  aud?  bas  bem  fjaubelnben  felber 
r>ielleid]t  entgetjenbe  Derfyältnis  uon  b  ju  c  ins  Jluge  f äffen; 
in  bem  5aHe  he$e\<t\net  jte  bas  Sefeen  von  b  als  un3mecf* 
mäßig,  bemängelt  alfo  fdjeinbar  ben  Str>ecf ,  in  ZDirflidtfeit 
aber  bas  ZlTtttel  (b  im  Derljältnts  3u  c).  (Segen  bie  fittlidje 
Xüürbigung  foroo^I  bes  gtoeefs  tt>ie  bes  Littels  perbält  jte 


Die  Sprache*  —  Das  Sittliche*  Per^ältnis  311m  groecfmägigett*  5^ 

fich  pollfommen  indifferent;  der  23randftifter,  [65]  ZHörder 
f^at  3tpedmägig  gehandelt,  roenn  er  dafür  Sorge  getragen 
I^at,  dag  feine  Cat  den  getpünfchten  (Erfolg  fyatte  und  nicht 
entbedt  werben  fonnte. 

Dom  Standpunfte  des  Sittltd] cn  aus  lägt  fich  jene 
<ßren3fd]eibung  damit  bemängeln,  dag  das  Se&en  eines 
«gtpedes  die  ZDahl  der  richtigen  ZHittel  impli3iere.  Schreibt 
das  Sittliche  getpiffe  «gtpede  por,  3.  23.  (E^iehung  der  Kinder, 
Unterftü^ung  der  hilfsbedürftigen,  fo  perlangt  es  damit  auch 
die  entfprechenden  ZHittel.  Pollfommen  richtig!  Allein  diefer 
praftifche  ^ufammenhcmg  3tpifchen  «gtped  und  ZHittel  fchliegt 
die  felbftändige  Surteilung  beider  nach  den  perfchiedenen 
ZHagftäben  des  Sittlichen  und  des  gtpedmägigen  feinestoegs 
aus.  tDir  tperden  der  ZHildtätigfeit  unfere  fittliche  2lner- 
fennung  nicht  perfagen,  auch  roenn  fie  fich  in  der  VOal[{  des 
ZTiittels  pergriffen  h<*t,  tpir  tpürdigen  fie  lediglid]  nach  dem 
Stpecf,  und  gleich  rpie  tpir  unfer  Urteil  über  einen  X>er* 
brecher  dahin  abgeben  fönnen,  dag  er  3tpedmägig,  aber  un* 
fittlid],  fo  über  den  mildtätigen,  dag  er  ftttlidj  aber  un3toecf* 
mäßig  gehandelt  ^abe.  Das  Un3tpedmägige  fommt  auf 
Rechnung  der  3ntelligen3,  das  Unfittliche  auf  Hechnung  des 
lüillens.  Ztur  da  dürfen  xoxx  das  Ut^tpedmägige  dem 
ZHenfchen  3um  DortPurf  anrechnen,  tpo  rpir  feinen  IDillen 
dafür  peranttportlid]  machen  fönnen,  und  nur  in  diefer  33e* 
gren3ung  lägt  fich  der  H?ahl  eines  untauglichen  ZTiittels  für 
einen  fittlid]  porgefchriebenen  <gtped  der  Dommrf  der  Pflicht* 
rpidrigfeit  machen.  Diefer  punft:  die  Deranttportlich? eit 
[66]  des  Derftandes  in  fittlidjer  23e3iehung,  iji  für  die 
richtige  Jluffaffung  des  Sittlichen  und  feine  2tbgren3ung  gegen- 
über dem  «gtpedmägigen  von  f°  eminenter  2Did]tigfeit,  dag 
ich  demfelbeu  eine  genauere  (Erörterung  tpidmen  mug. 

Die  (Erfenntnis  der  Cauglidjfeit  des  mittels  für  den  «gtpecF, 
ipird  mau  fagen,  ift  nicht  Sache  des  U)ollens,  fondem  des 


52  Kapitel  IX.   Die  fatale  irtedjanit   Das  Sittliche. 


3)enfens,  ein  ZlTiggriff  in  biefer  Ziehung :  bas  Derfehen 
(culpa),  bofumentiert  feine  Schwäche  bes  £Di  Ileus,  fonbern  bes 
3ntellefts,  bes  Derftanbes.  ZDie  lägt  ftdj  bem  tffenfehen 
bie  Schtoäch*  bes  Derftanbes  3um  Vovwuvf  anrechnen?  Weil 
unb  infofern  babei  ben  IDillen  3ugleich  eine  Schulb  trifft, 
©b  jemanb  aus  Bequemlichfett  eine  förderliche  ober  ob  er 
eine  geiftige  2Inftrengung,  bie  ihm  oblag,  unterlaffen  hat,  ob 
er  feine  Seine,  2tane,  ober  ob  er  feinen  Derftanb  nicht  ge* 
hörig  gebraust  fyat,  gilt  t>öHig  gleich,  in  beiben  5äHen  ift 
es  ber  IDille,  ber  gefehlt  l)at  2luch  mangelhaftes  Denfen 
begrünbet  für  ben  jenigeu,  ber  in  ber  £age  rt>ar,  beffer  311 
benfen,  wenn  er  feinen  (Seift  nur  Blatte  anftrengen  tooHen, 
ben  Dortxmrf  ber  Schulb,  es  ift  ber  ber  Senf  faul* 
h  e  i  t ,  ber  culpa  ber  römifcfyen  3uriften  *)♦  T>ie  [67] 
Sprache  geht  von  ber  Annahme  aus,  ba§  ber  ZDille  ZHacht 
hat  über  ben  (Seift*  Der  ZHenfch  fann  unb  foH  „fich  3U- 
fammennehmen",  b.  h*  fcine  (Sebanfen  auf  ben  punft,  ben 
es  gerabe  gilt,  fon3entrieren  (con-agitare  =  cogitare  =  benfen), 
ftatt  fie  ins  £eere  fchtoeifen  3U  Iaffen;  es  ift  bas  Sammeln 
ber  (Sebanfen  („Sammlung")  im  (Segenfafe  3U  bem  §et* 
ftreuen  berfelben  („gerftreutheit")*  Die  lateinifd^e  Spraye 
bebient  fich  h^r  9an5  besfelben  23ilbes  tote  bie  beutfehe.  Don 


*)  >Non  intelligere,  quod  omnes  intelligunt«  bei  ber  culpa  lata,  L  2(5, 
§  2  1.  223  pr.  de  V.  S.  (50*  J[6)»  3ebe  culpa,  and?  bie  levis  unb  bte 
fog.  fonfrete  ober  inbiüibuelle  enthält  ben  Dornmrf  bes  mangelhaften 
Hacfybenfens,  itnb  ber  XPille  trägt  bie  5d>nlb  baram  ®fnte  biefe  Per* 
anttportücfyfett  bes  IDiflens  lägt  ftdj  bie  Haftung  für  culpa  gar  nidjt 
bebu3teren  ober  erklären,  fie  n>ürbe  ben  Cfjarafter  einer  tt>iflfürlid?en, 
rein  pofittoen  33eftunmung  an  fid?  tragen,  rcä'fjrenb  bie  römifcfyen  3U* 
rtften  fie  bod?  ber  Hatur  ber  5ad?e  entlehnt  fjaben.  2iUd?  bie  Der* 
fdjiebenfyeit  ber  Haftung  nad?  Derfa^tebenfjeit  ber  fontraftlidjen  Vevfyält 
niffe  n>iirbe  ofyne  biefes  <§ur umgreifen  auf  eine  5d?ulb  bes  IPiftens 
mtt>erftänbltcfy  fein,  r>erftänblid}  nrirb  fie  erft  baburd?,  ba§  bte  Derf  d?ie* 
benfyeit  biefer  Derrjä'ltniffe  bie  Jorberung  einer  i^nen  entfpredjeuben 
^(nfpannung  bes  IDiüens  rechtfertigt. 


Die  Sprache*  —  Das  «gtuecfmäßige*  —  Die  Sdmlb* 


53 


legere  (=  fammeht,  bafyer  lefen  =  bie  öuctjftaben  3ufammen' 
legen,  fammeln)  hübet  fte:  diligentia  (=  Sorgfalt),  in- 
tillegentia,  intellectus  (=  Derftcmb,  bas  entfpredjenbe 
beutfcfye  lüort  ift  Überlegen  ==  interlegere,  intelligere)  unb 
bas  negatise  negligentia  (nec-legere  =  bas  23id)tfammeln, 
ZTid}t*über*legen);  ät^nlid^  dissolutus  (=  3erftreut  von  dis- 
solvere)  unb  „leicfjtf  ertig"  (=  leidet  fertig  werben  b),  ZDer 
eine  Aufgabe  3U  löfen  t^at  f  foH  ficfj  barum  „flimmern",  b. 
ficfy  Kummer  macfjen,  jtdi  in  (ßebanfen  bamit  3U  fcfjaffen 
machen,  foH  „Sorge  empfinben,  forgen",  Dafyer  im 
©eutfcfyen  Sorfalt,  forgfam,  Sorglofigf  eit,  im  Catei* 
mfcrjen  cura,  curiosus,  accuratus,  incuria.  Kommt  er 
ber  5orbernng  nacfj,  öffnet  er  fein  pfyyfifcrjes  unb  [68]  getjiiges 
2{uge,  fo  ift  er  umfielt g,  t>orficffttg  (providens  =  pru- 
dens,  improvidens  =  imprudens).  3f*  cr  3U  träge,  um 
ficrj  an3uftrengen,  fo  bleibt  er  fifeen  (desidia  von  de-sedere)/ 
fo  lägt  er  bie  Sacfye  ober  fid\  fahren  (5ctB)rläffigfett, 
provinziell  fahrig),  fo  lägt  er  nadj  von  ber  nötigen  Tin* 
fpannung  (2tacfyläffig!eit,  latemifdj  delictum  von  de- 
linquere  =  los*  ober  nachäffen). 

2luf  biefer  Jlnfcfjauung  ber  Sprache  t>on  ber  bem  lüillen 
an3uredinenben  £?acfiläffigfett  bes  Perftanbes  beruht  ber 
Hecfftsbegriff  ber  römifcfyen  culpa.  (Es  ift  fpradjlicfj  basfelbe 
XDort  mit  unferem  beutfcfyen  Scfyulb*).  Slber  tttäfyrenb 
unfere  beutfd^e  Sprache  biefes  lüort  in  boppeltem  Sinne 


*)  (Sotfyfdj;  skulan,  altfyodjbeutfdj;  sculan  =  follen,  skulda,  scolta 
=  idj  foü ;  bafyer  cult,  sculd,  scult,  scholt  =  Sdjulb.  3n  culpa  ifl  bas 
s  von  skulan,  sculan,  trie  fo  oft  üor  k  ober  c  weggefallen,  tpäfyrenb  es 
nodj  in  scelus  erhalten  ift*  Das  p  in  culpa,  an  bem  id?  bei  ber  obigen 
Ableitung  3uerft  2lnfto§  nafym,  ift  nadj  einer  miinbltcfyen  Mitteilung 
meines  rerftorbenen  Kollegen,  bes  Spracfyforfcfyers  Benfey,  bas  Kaufale, 
roelcfyes  3um  nominale;  Skul,  cul  t]in3utritt,  basfelbe  brüeft  alfo  ben  im 
dejte  fyerüorgetjobenen  Unterfdjieb  bes  tranfitipen  culpa  (=  r>erfd?ulben) 
vom  intranjtttoen  seul  (=  fcfyuiben)  ans« 


5^  Kapitel  IX.   Die  feciale  riTedjatti?*   Das  Stttttcf^ 


gebraucht,  in  bem  intranfitisen  bes  fchulbig  feins  (Schulb, 
Schulben)  unb  bem  tranfitisen  bes  serfchulbet  Gabens  (Per* 
fchulbung),  ift  bie  Hechtsfprache  ber  Homer  genauer,  für 
erfteren  vetwenbet  fie  debere  (fchulben,  debitum  =  bas 
(Sefchulbete),  für  lefeteren  culpa  (t>erfchulben),  Der  (Segen- 
fafc  pon  culpa  unb  dolus  liegt  befchloffen  in  bem  von  VTixttel 
unb  <gtx>ecf.  Dolus  enthält  ben  £>ortx>urf  bes  abftchtlichen 
Sefeens  eines  [69]  rechtsanbrigen  gtoeefs,  eines  gtoeefs,  ber 
mit  ben  rechtlich  gefegten  gweden  anberer  perfonen  in  IDiber* 
fpruch  tritt,  culpa  ben  ber  aus  mangelhafter  IDillensan* 
fpannung  unterlaffenen  Slntoenbung  bes  richtigen  ZtTittels 
in  be3ug  auf  frembe  §tr>ecfe,  fei  es,  baß  uns  für  biefelben 
lebiglich  ein  negatives  Perhalten:  ein  iTnterlaffen,  ober  ein 
pofttipes:  ein  fyanbeln,  rechtlich  3ur  Pflicht  gemalt  tr>ar.  Das 
Vflotw  ift  egoiftifcher  2trt:  Scheu  vot  ber  2tnftrengung,  ber 
förperlichen  ober  geiftigen,  23equemlichfeit,  ein  Sichgehenlaffen 
auf  frembe  Hedjnung.  Darin  liegt  ber  u  n  f  i  1 1 1  i  ch  e 
Cfyarafter  ber  culpa  unb  bamit  ift  ber  2Tad}tr>eis  erbracht, 
ba§  bas  Unstoecfmäfuge  3ugleich  unfitllich  fein  faun. 
(Es  ift  bies  überall  ba,  voo  ben  ZHenfchen  ber  Dortxmrf  trifft, 
ben  Derhältniffen,  bie  ihm  bie  Pflicht  auferlegten,  bie  richtigen 
ZHittel  sum  g>toed  3U  rt>äfylen,  3,  23.  als  23en>ahrer  einer 
fremben  Sache,  als  Dormunb  ober  öeamter,  aus  Denffaul* 
heit  bie  forgfame  prüfung  berfelben  unterlaffen  3U  haben. 

So  erflärt  es  ftch,  bajj  toir  eine  unüberlegte,  übereilte  ^anb* 
lung,  bie  ftch  in  xiivcrx  folgen  als  für  uns  nachteilig  ertoies, 
uns  3um  Dorumrf  anrechnen  unb  Heue  barüber  empfmben, 
Schopenhauer  nennt  fie  gan3  treffenb  bie  egoifiifche.  IPir 
flagen  babei  nicht  unfere  cEinf ic^t  an,  was  gar  feinen  Sinn 
hätte,  fonbern  unfere  Umficht,  b.  h-  unfern  JDillen,  tr>ir  finb 
uns  babei  unferer  Schulb  tsohl  betrugt.  Über  etmas  anberes 
als  bas  Un3tr>ecfmä§ige  fann  ber  (Egoismus  feine  Heue 
empfinben.  [70]  (Empfmbet  er  fie  bei  einer  unfittlichen  ober 


Die  Sprache.  —  gwed  unb  mittel,  (Htfy?  unb  polittF.  55 


unfchicflichen  £janblung,  fo  ift  es  nicht  bas  Unftttliche  ober 
Unfchidltche  baran,  tpas  er  bebauert,  fonbern  t>as  für  ihn 
ftch  baraus  ergebenbe  tt^tpedmägige. 

3ch  glaube  im  bisherigen  bie  obige  Begriffsbeftimmung 
gerechtfertigt  311  fyaben:  bas  Sittliche  ^at  bie  «gtpede,  bas 
gtpedmäßige  bie  ZHittel  3um  (Segenftanbe,  bas  Sittliche 
fdjreibt  bem  ZHenfchen  (ber  (Sefellfchaft,  ZHenfcfyfyeit)  bie 
gtpede  por,  bie  er  311  ben  feinigen  3U  machen  ^at,  bie  (Ethtf 
ift  bie  £ehre  pon  ben  «gtpeden,  bie  politif  bie  pon  ben  ZHttteln, 
letztere  t^at  bie  <§tpede  pon  jener  3U  entnehmen.  Daß  btes 
nicht  blojj  pon  ber  pripatpolitif,  fonbern  auch  x>on  ber  öffent- 
lichen: ber  Staatspolitif  gilt,  tpirb  feiner3eit  ge3eigt  tperben. 

HMcher  Art  ftnb  nun  bie  gtpede,  tpeldje  bas  Sittliche 
bem  ZHenfchen  po^eichnet?  Darauf  follen  uns  bie  folgenben 
Ausführungen  Anhport  erteilen. 

\2)  Die  Ausfagen  ber  Spraye*  —  Konfrontation 
bes  Sittlichen  mit  bem  Egoismus« 

Die  folgenbe  Ausführung  foll  uns  barüber  Ausfunft  geben, 
ob  bie  Sprache  ben  gtoecf  bes  Sittlichen  in  bas  eigene  &es 
Qanbelnben  r>erlegt,  ober,  in  meiner  Cerminologie  ausgebrüht: 
ob  ber  fyanbelnbe  felber  «gtpedfub  jef  t  bes  Sittlichen  ijl. 

Die  Sichtung  auf  bas  eigene  Selbft  ift  bie  burch  bie  Ztatur 
felbft  porgefdjriebene  erfte  unb  normale  5un!tion  [71]  bes 
JDillens,  er  poll3ieht  bamit  bas  (Srunbgefefe  ber  Schöpfung: 
bie  Selbftbehauptung. 

Die  Sprache  t>ertt>enbet  3ur  Se3eid]nung  biefer  &we<S* 
be3iehung  brei  IDorte:  Selbft,  <£igen,  (Ego.  X>on  bem 
erften  bilbet  fie:  Selbfterhaltung,  Selbstbehauptung, 
Selbftfucht,  pon  bem  3tr>eiten  (Eigennufe,  pon  bem  britteu 
(Egoismus.  Von  biefeu  Ausbrüden  gebraucht  fie  nur  ben 
erften  (Selbfterhaltung  be3.  Selbfterhaltungstrieb)  gleichmäßig 
pom  ©er  tpie  Pom  ZHenfchen,  bie  anbern  nur  pon  lefeterem. 


56  Kapitel  IX.  Die  feciale  Hieran».   Das  Sittliche. 


<£s  i{i  offenbar,  baß  fie  babei  einen  IHaßftab  anlegt,  ber  in 
ihren  klugen  auf  bas  Cier  feine  2lmt>enbung  erletbet. 

Das  ©er  fennt  feine  Selbftfucht.  ZTTit  bem  IPorte: 
Sndit  be3eid^net  bie  Spraye  bie  franf  hafte  Ausartung  eines 
an  pch  berechtigten  Crtebes,  mit  Selbftfucht  alfo  bie  21us- 
fchreitung  bes  auf  bas  eigene  5elbft  gerichteten  Strebens 
aber  bas  richtige  2Tfaß  hinaus. 

2luch  „<£igennu&"  unb  „etgennüfcig"  gebrauten  wir 
ntc^t  vom  Cier*  IPenn  Schopenhauer*),  ber  biefe  richtige 
Semerfung  macht,  fie  bamit  5U  begrünben  gebenft,  baß  (Eigen- 
uufe  in  ber  „burch  bie  Pemunft  bebingten  planmäßigen  Der* 
folgung  bes  <§>tr>ecfs'J  beftehe,  fo  fann  ich  mich  bamit  nicht 
einperftanben  erflären.  „planmäßig"  unb  mit  großer  Per- 
fchlagenheit  fann  auch  &as  Cier  perfahren,  ba3u  bebarf  es 
nicht  ber  „Pernunft",  [72]  ber  bloße  Perftanb  reicht  3ur  rich- 
tigen (Erfenntnis  bes  „eignen  ZTufeens"  unb  ber  richtigen  IPahl 
ber  IHittel  aus.  XUeiner  Anficht  nach  Kegt  ber  (ßrunb,  toarum 
bie  Sprache  ben  21usbrucf  auf  ben  ZTIenfchen  befchränft,  nicht 
im  3ntelleftuellen,  worin  Schopenhauer  ihn  fucht,  fonbem  im 
(Ethifch^n.  2luch  h^r,  toie  bei  ber  Selbftfucht,  fteht  roieberum 
bas  Sittliche  im  f}intergrunb  —  (Eigennufc  enthält  einen 
fittlichen  Portmirf,  Selbfterhaltung,  Selbftbehauptung  nicht. 

(Egoismus  ift  fprachlidj  bie  §tr>ecfbe3tehung  bes  IPollens 
auf  bas  eigene  3^h*  Wäte  es  lebiglich  bie  Befangenheit  im 
eignen  Selbft,  was  bie  Sprache  babei  im  Sinne  hat,  fo  würbe 
ber  Jlusbrucf  auch  auf  bas  ©er  paffen,  unb  Schopenhauer 
a.  a.  ©.  will  benfelben  in  ber  Cat  auch  auf  bas  Cier  er- 
jlrecfen.  2tber  bas  3ch,  bem  bie  Spraye  bie  Benennung  bes 
Egoismus  entlehnt,  trifft  nur  für  ben  ZTTenf chen  3U,  3 um  3d] 
erhebt  fich  bas  lebenbe  IPefen  erft  im  ZHenfchen.  3^ 
iji  nur  berjenige,  ber  bas  iPort  ausfprechen  fann —  bas 


*)  Die  (Srunblagen  ber  lUoral  §  \%  fämtitd?e  Werft  23b*  %  5.  \%. 


Die  Sprache.  —  Das  Sittliche.  —  Perfyältnis  jum  (Egoismus.  57 


Wovt  3d?  ift  ber  fprachüche  2)urd}brudi,  bie  phänomenale 
Cat  bes  Selbftbenmgtfeins*  Kinber  fpredjen  3uerft  im  3n* 
ftnitip  —  bas  3^  muffen  jte  erft  lernen,  unb  fie  lernen  es 
erjl,  roenn  bas  3$  ftdt  fühlt.  3)as  Selbft  gebraust  bie 
Sprache  auch  vom  Cier  (Selbfterhaltung),  bas  3ch  (Egoismus) 
nur  vom  XHenfchen  —  ber  XHenfch  ift  ber  einige  €goift  in 
ber  Schöpfung,  benn  3um  Egoismus  gebort  neben  bem  IDiHen, 
ber  fich  auf  bas  3^  rietet,  auch  bas  23en?u§tfein  bes  [73J 
3d}s.  (Egoismus  ift  bie  (Einheit  von  Selbftbehaup* 
tung  unb  Selbftbetpußtfein*),  er  be3eichnet  für  ben 
H?iüen  basfelbe  Phänomen,  rote  bas  Selbftbetsujjtfein  für 
ben  (Seift,  festeres  ift  bas  3dj,  bas  fich  benft,  biefer  bas 
3ch,  bas  fich  roill. 

ZHit  bem  3^  &em  3>enfen  feiner  felbft  3ieht  fich  ber 
ZHenfch  auf  fich  felber  3urücf  unb  fteHt  bamit  bie  gan3e  IDelt 
3U  ftch  in  (ßegenfafe.  iolgt  bas  XDoßen  barin  bem  Senfen, 
3tel|t  auch  ber  U?ille  ftch  auf  bas  eigene  3d?  3urücf,  fo  er» 
fdjeint  ihm  bie  gan3e  ZDelt,  fotoeit  er  ihrer  fyabfyaft  toerben 
fann,  nur  als  ZHittel  für  feine  gtt>ecfe  —  ber  (Egoismus  ift 
bie  Ziiefenfpmne,  bie  in  ihrem  IDinfel  am  aufgefpannten 
ZIe&e  harrt,  ber  ®pfer  lauernb,  bie  fich  barin  fangen. 

£iegt  barin,  b.  im  (Egoismus,  bas  IDefen  bes  IPillens 
befchloffen? 

Q'xe  Sprache  erteilt  uns  barauf  ilntroort  mittels  einer  Heihe 
oon  2lusbrücfen,  burch  bie  fte  bie  pfychologifche  ZTtöglichfeit 
einer  bem  3<äj  fidj  abfehrenben  IDiüensrichtung  anerfennt: 
Selbft  Verleugnung,   Selbft  lofigfeit,   Selbft  übern?  in* 


*)  Die  lateinifdje  unb  griedn'fdje  Spraye  fjat  es  3U  feinem  2lusbrucF 
für  (Egoismus  gebracht,  ber  übrigens  aud?  für  bie  mobernen  Sprachen 
nod?  von  fefyr  fpätem  Datum  ift;  bas  Sausfrtt  t^at  bafür  nadj  einer 
lllitteilung,  bie  td?  3Senfey  oerbanfe,  Aham-kara  (=  Selbft*mad}en,  tporiu 
and?  bas  ITComent  bes  Selbft 'berougtf eins  Hegt),  fobann  Aham-kriti 
nebft  bem  21bjeftio  Aham-krita  (=  egotftifcfy). 


58 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjanif«.  Das  Sittliche. 


bung,  uneigennüfcig,  unegoiftifd).  Vfiarx  beachte  bie  nega- 
tive $ovm,  in  ber  bie  Sprache  bie  [74]  Abfefyr  bes  ÄttHens  vom 
eignen  3d]  3um  Ausbrucf  bringt*).  IDas  tjätte  näljer  gelegen, 
follte  man  fagen,  als  biefe  Hicfytung  pojttiv  als  bie  Hidjtung 
auf  einen  anbem  aus3ubrücfen?  Mnb  in  ber  Cat  hat  ein 
neuerer  pBjilofopfy  (2luguft  Comte)  geglaubt,  btefem  2TJangel 
burefy  23ilbung  bes  gan3  3utreff enben  2tusbrucfs:  Altruismus 
abhelfen  3U  muffen.  Daß  bie  Sprache,  wenn  fie  getvollt 
fyätte,  f elber  einen  entfprecfyenben  JlusbrucE  hätte  fdjaffen 
tonnen,  ift  flar,  unb  einen  Anfafc  ba3u  hat  fie  in  ber  (Cat 
gemacht  in  „Xlächftenliebe",  „ITTenfchenfreunblichfeit".  Aber 
ber  »olle  (Segenfafe  3um  (Egoismus  ift  bamit  nicht  erfchöpft. 
für  ihn  fennt  bie  Sprache  nur  bie  obigen  negativen  23e3etch' 
nungen.  Wenn  fie  feinen  entfprechenben  Ausbrucf  gebilbet 
hat,  fo  fann  ich  ben  <5runb  hierfür  nur  barin  erblicfen,  baß 
fie  es  nicht  gesollt  fyat,  unb  es  betvährt  ftet?  für  mich  bei 
biefer  Gelegenheit  tx>ieberum  bie  oft  gemalte  (Erfahrung, 
baß  bie  Sprache  in  ihrem  ©efjtmt  ungleich  philofophifcher 
ift  als  gar  manche  philofophen  von  profeffion.  ZTTit  bem 
JDort  Altruismus  fteüen  tvir  bem  (Egoismus  ein  felbftänbiges 
äquivalentes  prht3tp  bes  ^anbelns  gegenüber;  tx>ir  be3eichnen 
bamit  eine  pojttion  bes  ZDillens,  auf  ber  er  bas  eigene  3cb 
gän3lich  aus  ben  Augen  verloren  I|at,  auf  ber  ihm  nichts 
mehr  an  feinen  Ausgangspunft  erinnert.  Die  Spraye  ba« 
gegen  hält  auch  bei  biefer  Cosreißung  bes  lüillens  vom  3^h 
bie  urfprüngliche  [75]  23e3ie^ung  3um  3^  0&2r  Selbft  feft, 
ber  urfprüngliche  Ausgangspunft  bes  IDiHens  bleibt  fprachlich 
in  Sicht  unb  vergegenwärtigt  bamit  bie  5erne,  in  ber  er  jtch 
bervegt,  bie  Catfadje,  baß  berfelbe  fief?  erft  vom  3$  l]a*  1°5' 
reißen,  bie  Kluft  3*vifchen  ihm  unb  ber  IDelt  h<*t  überfpringen 


*)  <2me  wettere  Ausführung  über  bie  23ebeutung  ber  negativer, 
Ausbrucfsform  ber  (Segenfät^e  f*  u.  Hr.  13. 


Die  Sprache.  —  Das  Sittliche»  —  Vethältnxs  3um  €gotsmus.  59 


muffen  —  es  ift  bas  ZTtuttermal  bes  (Egoismus,  welches 
bie  Sprache  ber  Selbftlofigfeit  in  biefer  ihrer  Benennung 
mit  auf  ben  tDeg  gegeben  fyat. 

<Db  nun  ber  £>ille  in  JDirflichfeit  bie  ZTtadit  beftfet,  bei 
feinem  fjanbeln  fich  ber  Ziehung  3um  3d?  gä^lich  3U  ent< 
fchlagen,  unb  ob  nicht  pielmehr  bas  jenige,  was  bie  Sprache 
Selbstverleugnung  unb  Selbftlofigfeit  nennt,  nur  eine  anbere, 
höhere  2lrt  ber  Selbfibehauptung  ift,  bie  fie  unter  biefem 
Flamen  ber  egoiftifchen  entgegenftellt,  werben  wir  an  fpäterer 
5teIIe  Gelegenheit  haben  3U  unterfuchen,  liiev  genügt  uns, 
ba§  bie  Sprache  biefelbe  anerfennt. 

Raffen  wir  bas  Hefultat,  welches  bie  fprachliche  öetrach« 
tung  bes  €goismus  für  uns  abgeworfen  h<*t,  3ufammen,  fo 
befteht  es  barin:  ber  JTlenfch  wie  bas  Cier  entnehmen  bie 
<§wecfe  ihres  fyanbelns  fich  felber  (Selbfterhaltung),  aber 
bei  bem  UTenfchen  fonfiatiert  bie  Spraye  außerbem  noch  3wei 
Phänomene:  eine  Ausartung  biefer  <§tr>ecfbe3iehung  auf  bas 
eigene  3^  (Selbftf  ucht)  unb  ein  5<*llenlaffen  berfelben 
(Selbstverleugnung,  Selbftlofigfeit).  23eibe  finb  r>om 
Stanbpunfte  bes  «Egoismus  aus  nicht  3U  begreifen.  33ilbei 
ber  (Egoismus  ben  ausfchließltchen  [76]  ZtTafjft  ab  3ur  Be- 
urteilung ber  menfehlichen  f}anblungen,  fo  laffen  fich  nicht 
gewiffe  als  felbftfüdjtige  befonbers  hervorheben,  bann  paßt 
bie  Se3eichnung  für  alle  ober  feine  unter  ihnen.  Silbet  ber 
€goismus  bas  ausschließliche  XHotio  bes  menf glichen  ^an* 
belns,  fo  enthält  bie  Selbftlofigfeit  eine  pfychotogifche  Un« 
möglichfeit. 

Was  nun  auch  bie  Sprache  pofitio  über  bas  Sittliche 
aus3ufagen  x>ermag,  fopiel  ift  fchon  oon  vornherein  fidler, 
baß  fie  basfelbe  nicht  auf  bas  3^  ftüfeen  fann,  wie  es  bie 
unten  3U  betrachtenbe  inbmibualiftifche  Cheorie  bes  Sittlichen 
tut.  Daburch  würbe  fie  genötigt,  ein  boppeltes  3d?  3U  unter* 
fcheiben:  ein  nieberes  unb  ein  höh^s,  jenes  waltenb  in  ber 


60 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjantf.   Das  Sittliche. 


Sphäre  bes  (Egoismus,  biefes  in  ber  bes  Sittlichen.  Das  3d? 
aber  I^at  fte  fprachlich  bereits  in  ben  obigen  2tusbrücf  en  für  ben 
(Egoismus  t>otlftänbig  ausgenufet,  tDä^renb  es  ihr  bodj,  menn  [ie 
ein  boppeltes3<h:  ein  egoiftifches  unb  ein  fittliches  unterfcheiben 
toollte,  ein  leidstes  geroefen  tsäre,  bie  entfprechenben  2Ius« 
brüefe  bafür  3U  bilben  unb  bie  Cerminologie  bes  Sittlichen 
ftatt  an  ben  fprachlichen  Ausgangspunkt  ber  Sitte  an  ben 
biefes  3tx>eiten  ^öt^eren  3<hs  an3ulehnen.  Das  ift  aber  nicht 
gesehen,  bie  Sprache  fennt  nur  bas  3ch,  bas  tt>ir  bisher 
gefchilbert  h<*&en:  bas  natürliche  3^  *>es  (Egoiften. 

Das  3^  9tft  kenn  auch  ber  Sprache  nicht  als  bas  <gtx>ecf* 
fubjeft  bes  Sittlichen.  2TCit  biefem  negativen  Hefultate  fehltest 
nnfere  Betrachtung  bes  (Egoismus  ab,  unb  [77]  bamit  ifi  ber 
erjle  Ceil  unferer  fprachlichen  Untersuchungen  erlebigt.  <£r 
hatte  3um  «groeef,  burch  bas  Abhören  ber  begrifflichen  Zlad}> 
baxn  bes  Sittlichen,  um  meinen  früheren  Pergletch  bei3u* 
behalten,  Auffchluß  über  bas  Sittliche  3u  gewinnen.  Durch 
ihren  <5egenfafe  3um  Sittlichen  h^ken  bie  Sitte,  bas  <§tr>edP* 
mäßige  unb  ber  (Egoismus  uns  über  tsefentliche  ZHomente  bes» 
felben  aufgeflärt.  <£s  jtnb  folgenbe  brei:  Allgemeingültig* 
feit  ber  fittlichen  formen  im  (ßegenfafee  su  ber  bebingt 
serbinbenben  Kraft  ber  Sitte  —  bas  Z?or3eichnen  x>on 
«§tr>ecfen  im  (ßegenfafee  3U  bem  ber  ZHittel,  tx>elche  Sache 
bes  groeefmäßigen  ift  —  bie  groede  bes  Sittlichen  jtnb 
nicht  bem  3^  entnommen,  biejenigen,  welche  bas  3<h  sunt 
§ielpunft  haben,  fallen  bem  (Egoismus  anheim. 

Derfuchen  roir  nunmehr,  ob  tx>tr  nicht  bem  Sittlichen  felber 
eine  Antwort  ab3ugeroinnen  vermögen.  Was  bie  Etymologie 
barüber  aus3ufagen  vermag,  toiffen  roir  bereits,  es  iß  bie 
hiftorifche  Catfache,  bag  bas  Sittliche  gleich  ber  Sitte  hervor- 
geht aus  bem  £eben  bes  Polfs  (S.  \8);  über  bas  IDefen  bes 
Sittlichen  fagt  fte  uns  nichts  aus.  Sehen  wir  3U,  ob  es  nid]t 
bie  fertige  Sprache  tut. 


Die  Sprache*  —  Stttltdj  unb  mtjtttlidj* 


61 


\S)  Die  2lusfagen  ber  Sprache-  —  Sittlich  unb 
unfittlidj. 

Die  Spraye  fennt  3um  Jlusbrucfe  pon  <5egenfäfeen  3tpei 
formen:  eine  pojttipe  unb  negatipe.  23ei  ber  erjteren  be- 
3eidjnet  jte  beibe  (5 lieber  bes  (Segenfafees  mit  3*oei  [78]  per« 
fcfyiebenen  ZTamen  (3»  23.  reidj  unb  arm,  jung  unb  alt,  falt 
unb  rparm),  beibe  tperben  bamit  als  völlig  felbftänbige  23e< 
griffe  jtdj  gegenübergeftellt.  Sei  ber  3tpeiten  beljilft  jte  jtd? 
mit  einem  einigen  2lusbrucf,  aus  bem  fie  burdj  Hegation 
ben  3it>eiten  bilbet  (3.  3,  perftänbig,  unperftänbig;  pergäng* 
lidj,  unpergänglictj ;  mutig,  mutlos)»  Der  pojtttpe  23egriff 
mußte  erft  gebaut  unb  fpracfylidj  ausgeprägt  fein,  um  ben 
negatipen  3U  bilben,  Iefeterer  fteBjt  3U  iljm  in  ber  fyjtorifcfjen 
unb  logifdjen  Jlb^ängigfeit.  Jftandje  (ßegenfäfee  Ijat  jte  in 
beiben  formen  ausgebrücft,  neben  mutlos  3.  23.  Ijat  jte  feige, 
neben  unperftänbig  töricht,  neben  unfterblicfj  etPtg. 

€s  ift  nun  in  meinen  2tugen  eine  fyöcfyft  beac^tenstoerte 
unb  3um  näheren  Stacfybenfen  aufforbernbe  Catfac^e,  bajj 
fämtlidje  (ßegenfä&e  auf  bem  jtttlicfyen  <5ebiete  bas  (Setpanb 
ber  negatipen  Jtusbrucfsform  an  jtdj  tragen*).  ZTlan  per* 
gleiche: 

Hedjt        —  Unrecht. 
<Drbnung   —  Unorbnung. 
^rieben     —  Unfrieben. 


*)  Merbings  t^at  tue  Sprache  audj  einen  poflttoen  (Segenfa^:  gut 
unb  böfe  ober  fcfyledjt,  aber  er  tjt  fein  originär^  ittltdjer  23egrtff, 
fonbern  auf  bas  Sittliche  erft  übertragen;  es  ift  ber  gan3  allgemeine 
(Segenfafe  bes  Hütjltdjen  unb  Sdjäbltcfyen,  beffen  urfpriinglidjes 
23eobad?timgsfelb  bte  ftnnüd)e  IDelt  war,  3U  ber  bann  erft  fpäter  bte 
ftitltd^c  fyu^ufam*  Der  <Segenfat$  von  gut  unb  böfe  ffttbet  mcfyt  blog 
auf  bte  perfon,  fonbern  auefy  auf  bte  Sacfye  2Inmenbung,  was  bei  feinem 
originär  *  ftttltdjen  2lusbrucfe  ber  $aU  ift,  ba  bas  Sittliche  fidj  nur  auf 
bie  perfon  be3tef|t„ 


62 


Kapitel  IX.  Die  fatale  IlTedjantf.   Das  Sittliche» 


Sitte        —  Mnfttte. 
Sittlidjfeit  —  Unftttßdifeit. 
2tnftänbig  —  Unanftänbig. 


Sollte  btes  gufall  fein?    Das  erfdjeint  mir  faum  glaublich 
3<äf  tserbe  in  btefer  2JnnaI)me  burdj  bie  Catfadje  beftärft, 
bafc  bie  Sprache  von  ben  Cugenben  £?egattonen  btlbet,  nid]t 
aber  von  ben  Caftem  unb  X> ergeben.    Ulan  pergleidje: 


3)en  Cugenben  fteße  icfy  bie  £after  gegenüber:  (5et3,  £}ab« 
gier,  Hadjfudjt,  (Sraufamfeit,  £}a§,  ieigfyeit,  Stol3,  €itelfeit, 
(Eiferfudjt  —  von  feinem  btefer  IDorte  bilbet  bie  Sprache 
eine  Negation. 

3rre  tdj  mxd\,  wenn  xd\  barauffyin  fage:  ber  Sprache 
erfdjetnt  bas  £after  als  ZTegatton  ber  Cugenb,  bie  Cugenb 
aber  nietet  als  Negation  bes  £afters,  bas  Unfittltcfye  als 
ZTegatton  bes  Sittlichen,  bas  Sittliche  aber  nxd\t  als  ZXegation 
bes  Hnfittlidjen?  2)te  2Iusfage  ber  Sprache  über  biefen 
(ßegenfafe  trmrbe  ftdj  banaefy  bafyn  3ufammenf  äffen  laffen: 
ber  Segriff  bes  Sittltdjen  bebarf  ber  pofitit>en  [80]  (Efjaraf* 
tertfttf,  für  ben  bes  Unftttltdjen  reidjt  bie  negatipe  aus. 

3>apon  gibt  es  meines  IPiffens  nur  eine  Slusnatjme.  Das 
religiös  Unjtttltcfye;  bie  Sünbe  ift  pofitio  be3eidjnet,  unb  ber 


Cugenb 
<£tye 

Sanfbarfeit 

23arml}er3igfeit 

Creue 

(Beredjttgfeit 

5rtebferttgfett 

Derträgltdjfeit 

£iebe 

Sdjam 


Untugenb. 

€fyrlofigfeit. 

ttnbanfbarfett. 

Hnbarml|er3igfeit 

Creuloftgfett,  Untreue, 

Mngered^tigfeit. 

ttnfrtebferttgfeit. 

Unperträglicfyfeit, 

£tebloftg!eit. 

Scfyamlofigfeit,  Unüerfdjämtlieit. 


Die  Spraye*  —  Sittltd?  unb  unfittltd?.  —  Die  Sünbe.  63 


(Segenfafe  ba3u:  bic  Sünbloftgf eit  negativ.  Die  Ausnahme 
erflärt  jtch  fprachltch  als  2tusbru<f  ber  christlichen  Cetjre  t>on 
ber  (Erbfünbe.  &)ährenb  bie  Sprache  auf  bem  <5ebiete  bes 
menfchltch  Sittlichen  vom  Korreften  ausgebt,  um  bavon  bas 
3nforrefte  3U  bilben,  verfährt  fte  auf  bem  bes  religiös 
Sittlichen  im  Jtnfchluß  an  bie  £ehre  bes  Cfyrijientums  um* 
gefehrt,  fie  geht  aus  von  ber  Sünbe  als  bem  ursprünglichen 
^uftanbe  bes  Zllenfchen  unb  gelangt  bann  erft  3ur  Sünblofig« 
feit.  Qiftorifch  h<*t  fich  bie  ItTenfcbB^ü  <*uf  bem  33oben  bes 
menfchltch  Sittlichen,  gan3  ebenfo  tote  auf  bem  bes  religiös  SitU 
liehen,  tatfächlich  »om  3n?0r*^ten  3um  Korreften  erheben 
muffen:  x>on  ber  Unorbnung,  ber  Unfitte,  bem  Hnfrieben, 
bem  Unrecht,  bem  Unfittlichen  3ur  ©rbnung,  Sitte,  3um 
^rieben,  Hecht,  Sittlichen,  2lber  ein  anbeves  ift  bas  tatfäch« 
liehe  Dafein  t>on  guftänben,  ein  anberes  bie  begriffliche  £r* 
faffung  unb  iDiebergabe  berfelben  burch  bie  Spraye,  liiev 
breht  fich  bas  obige  Verhältnis  t>ölltg  um:  ber  pofttipe  33e* 
griff  mußte  erft  erfaßt  unb  ausgeprägt  fein,  beoor  ber  nega« 
tioe  gebilbet  werben  fonnte. 

3ft  biefe  Behauptung  begrünbet,  fo  tjt  bamit  t>om  Stanb* 
punfte  ber  Sprache  aus  ber  (ßegenberoeis  gegen  bie  trmnber* 
Hche  3bee  von  Schopenhauer  erbracht,  welcher  [81]  im 
Hecht  nichts  als  eine  XTegation  bes  Unrechts  erblicft*).  Jjätte 
bie  Sprache  biefe  2tuf faffung  geteilt,  fo  hätte  fte,  toie  fte  es 
ja  bei  ber  Sünbe  in  ber  Cat  getan  h<*t,  für  bas  Unrecht 
einen  pofttioen  2tusbrucf  bilben  unb  ben  Segriff  bes  Hechts 
in  5orm  ber  Negation  ausbrüefen  muffen. 


*)  Die  (Srunblage  ber  ITToral  §  V?  (Sämmtl.  Werte  23&.  5.  216); 
„Der  Segriff  bes  Unrechts  ift  ein  poftttper  unb  bem  bes  HecMs 
corgängig,  als  meldjer  ber  negative  ift  unb  blo§  bie  fjanblung  be- 
3eidmet,  n?eld?e  man  ausüben  rann,  orme  anbere  3U  perlenen,  b.  fy.  otme 
Unrecht  3U  tun."  Hidjt  ber  begriff  bes  Unrechts  tjt  bem  bes  Bedjts 
rorgängtg,  fonbern  bie  (Tatfadje* 


6% 


Kapitel  IX.   Die  fötale  Hled/ani?*   Das  Sittliche* 


Xfiit  bem  (Segenfafee  bes  Sittlichen  unb  Unftttlidjen  ift 
nid?t  3U  t>ertt>edjfeln  ber  bes  ftttlicfy  (gebotenen  unb  Ver- 
botenen, 3eber  3mperatit>,  unb  fo  aud?  ber  pttlidje,  fann 
boppelter  2trt  fein:  pofitit>er  Jlrt  ((Sebot),  inbem  er  uns 
ein  l^anbeln,  negativer  2trt  (P  e  r  b  o  t),  inbem  er  uns 
ein  Unterlagen  auferlegt  22id]t  bie  bloße  fpradjlicfye  2Ius- 
bruefsform  ifi  babei  bas  <£ntfdjeibenbe,  benn  jeber  3mperatio 
lägt  ftd)  in  pofttiper  roie  negativer  Raffung  ausbrühen,  3.  ö. 
bu  fotlfi  nid}t  lügen  =  bu  foHft  bie  IPaBjrljeit  reben  —  bu 
follft  nicfyt  töten,  fielen  =  bu  foHft  bas  £eben,  (Eigentum 
anberer  refpeftieren.  Das  <£ntfdjeibenbe  iß  tnelmeljr  ber 
(Segenfatj  ber  Sacfye,  ob  bie  Befolgung  bes  3^P^^tips  burdj 
bloß  pafftoes,  negatives  Debatten  möglich  ift  ober  eine  poft« 
tipe  Cätigfeit  erforbert.  Du  foHft  nidjt  töten,  fielen  uftr>. 
ift  ein  Perbot,  bu  foHft  nidjt  lügen,  ift  ein  (Sebot,  es 
müßte  eigentlich  lauten:  bu  foQfi  bie  tDafyrljeit  reben. 

[82]  Soroie  nun  bie  ZTidjtbefolgung  eines  redjtlidjen  3™' 
peratit>s,  einerlei  ob  pofttiper  ober  negativer  2lrt,  ben  Por* 
rpurf  bes  Hedjtstoibrigen  begrünbet,  ebenfo  bie  eines  fitt- 
liefen  ben  bes  Unfittlidjen. 

Unftttlidj  ijl  alfo  nidjt  bloß  bie  UTißadjtung  ber  ftttlicfyeu 
Perbote,  fonbern  aud)  bie  ber  ftttlidjen  (ßebote.  2lHerbings 
beobad|tet  unfer  jtttlidies  Urteil  in  biefer  8e3iefyung  einen 
Unterfdjieb,  Die  UTißad)tung  ber  fittlidjen  (Sebote  jleljt  in 
unferen  2lugen  nidjt  auf  einer  £inie  mit  ber  ber  ftttlidjen 
Perbote,  bas  Perfagen  eines  2tlmofens,  Unbanf barfeit,  nid)t 
auf  berfelben  £inie  mit  (ßraufamfeit,  Bacfyfudjt.  Der  (ßrunb 
ift  barin  3U  erblicfen,  baß  roir  bort  bem  anbern  lebiglid? 
etroas  vorenthalten,  toorauf  er  glaubt  einen  2lnfprucb 
machen  3U  fönnen,  t^ier  bagegen  xfyx  pojttit)  fd?äbigen.  €s 
ift  berfelbe  (Segenfafe,  ben  bie  römifdjen  3nrtften  bei  ihren 
brei  praeeepta  juris*)  mit:  suum  cuique  tribuere  unb  alterum 

*)  I.  10,  §  {  de  J.  et  J.  \). 


Die  Spraye*  —  (Segenfa^  oon  ftttltdj,  un  jtttltdj,  65 


non  laedere  toiebergeben,  unb  ber  im  großen  unb  gan3en 
bem  <5egenfafe  bes  gitnlrechts  unb  Kriminalr edjts  3ugrunbe 
liegt.  Das  Kriminalunrecht  wiegt  fehlerer  als  bas  &w\U 
unrecht  ähnlich  serhält  es  fich  mit  ber  ZTichtbefolgung  bes 
Sittengefefees;  bas  omiffto  Unftttliche,  wie  xoiv  es  nennen 
tonnen,  toiegt  tseniger  fchtser  als  bas  fommifftt)  Unjtttliche. 
2tber  unfittlich  ift  beibes.  <£ine  anbere  (£rfaffung  bes  Segriffs 
bes  Unfittlichen  ift  fprachlich  wie  logifch  unbenfbar,  er  [83] 
ttmrbe  fich  mit  bem  pofttipen  Segriffe  bes  Sittlichen,  beffen 
Negation  er  enthält,  unb  ber  gleichmäßig  bas  ftttlich  (Sebotene 
tsie  Verbotene  in  ftch  fchließt,  nicht  becfen. 

§u  bem  ZHomente  bes  bloß  negativen  Verhaltens  in  be3ug 
auf  bie  Befolgung  ber  ftttlidjen  Perbote  muß  aber  noch  ein 
anderes  ZtToment  hi^ufommen,  um  ihm  ben  Ctjarafter  bes 
ftttlichen  ^anbelns  3U  perleihen.  Das  ift  bie  IDillens* 
beftimmung.  Das  Unterlaffen  muß  eine  negative  fjanb* 
Iung  fein,  eine  XDillensaftion,  gerichtet  auf  bie  Nichtvornahme 
bes  Unfittlichen.  Der  ftttliche  ZPert  biefer  IDiHensaftion  be< 
flimmt  fich  nach  bem  2tnrei3  3ur  Übertretung,  unb  baraus 
ergibt  fich,  baß  pom  Stanbpnntte  bes  ftttlichen  Urteils  aus 
berjenige,  tpelcher  bas  Derbot  3toar  übertreten  I|at,  aber 
ber  Perfuchung  erft  nach  langem,  fehlerem  Kampfe  erlegen 
iji,  in  ftttlicfyer  Se3ie^ung  ungleich  mehr  geleijlet  ^at,  als 
ber  jenige,  ber  es  nur  aus  bem  (Srunbe  beo backtet  h<*t, 
roeil  bie  Derfuchung  nie  an  ihn  herangetreten  ift.  Die  23e* 
hauptung  einer  5eftung,  bie  nie  angegriffen  tporben  ift,  be< 
grünbet  fein  Derbienft,  erft  ber  Angriff  erprobt  ben  2Tfut 
berer,  benen  fte  anvertraut  ift,  unb  ber  Kommanbant,  ber 
nach  tapferjter  (ßegempehr  fchüeßlich  bie  5eflung  übergibt, 
hat  met|r  Urfache  ftol3  3U  fein,  als  berjenige,  ber  bie  feinige, 
bie  nie  angegriffen  tparb,  behauptet  h<*t.  (5an3  basfelbe  gilt 
pom  Sittlichen.  Die  fittliche  Korref theit  eines  ZHannes,  bem  feine 
£ebensftellung,  fein  Heichtum,  feine  (Erziehung,  Derfuchungen 

d.  3f!*Hn9/        §a>eff  im  Hed?t.  II  5 


66 


Kapitel  IX.   Die  fatale  UTecfyamf.   Das  Sittliche, 


erfparen,  welche  bie  gan3e  Kraft  minber  günftig  <5eftellter 
[84]  herausfordern,  ift  bie  Hm>erfehrtheit  eines  3nftruments, 
das  nie  gebraucht  toorben  ift  —  ein  ZHeffer,  mit  bem  nie 
gefchnitten  ift,  foE  fich  nicht  rühmen,  feine  Scharten  su  I^aben, 
erft  bas  Schneiden  erprobt  bie  $efltgfeit  bes  Stadls* 

3ch  berühre  bamit  toieberum  einen  jener  punfte,  bei 
benen  bie  fprachltdje  Unterfudiung  unsermerft  in  eine  fachliche 
unt3ufd)Iagen  bxoht,  unb  tx>o  ich  genötigt  bin  gewaltfam  ab* 
5ubred]en.  3^  behalte  mir  r>or,  ben  (Sebanfen,  ben  ich  hier 
nur  geftreift  I|abe:  bie  Beurteilung  bes  fittlichen  C^arafters 
einer  ^anblung  nach  2Ttaßgabe  ber  fubjeftit)  aufgebotenen 
IDillensfraft  bei  einer  anbern  (Gelegenheit  (CI>eorie  bes 
fittlichen  £?iHens),  wieberum  auf3unehmen. 

\%)  Die  2tusfagen  ber  Sprache*  —  Das  (Erlaubte.  — 
Das  gtoecffubjeft  bes  Sittlidjen, 
Sie  beiben  (Slieber  eines  (Segenfafces  fönnen  fo  befchaffen 
fein,  baß  fie  ben  Haum,  ben  er  einnimmt,  t>oüftänbig  aus* 
füEen,  fo  baß  er  alfo  neben  ben  beiben  Zfiöglichfeiten,  welche 
fie  ftatuieren,  für  eine  britte  feinen  plafe  mehr  bietet,  ober 
fo,  baß  fie  3tmfchen  fich  noch  ein  (ßebiet  in  ber  JTtitte  offen 
laffen,  welches  burch  ben  <5egenfat$  nicht  berührt  wirb. 
<gwifd?en  wahr  unb  unwahr,  fterblich  unb  unfterblich  liegt 
nichts  in  ber  ZHitte,  3wifdjen  reich  unb  arm,  fd)ön  unb  häß* 
lieh  bagegen  gibt  es  ein  ZHittelmaß  bes  Vermögens  unb  ber 
förperlichen  (ßeftaltung,  [85]  für  welches  weber  bie  eine,  noch 
bie  anbere  Be3eichnung  3utrifft,  ebenfo  wie  3wifd]en  ber  falten 
unb  Reiften  gone  bie  gemäßigte  in  ber  ZUitte  liegt.  Die  Cogtf 
nennt  ben  erfien  <5egenfafe  einen  fontrabtftorifchen,  ben 
3weiten  einen  fonträren;  anfehaulicher  möchte  bie  23e3eicfy 
nung  3weigliebriger  unb  breigliebriger  fein.  Das  britte 
(Slieb,  welches  fich  bei  lefeterem  hn^ugefeflt,  vergegenwärtigt 
uns  ben  Segriff  faufagen  im  guftanbe  bes  (ßleichgewtchfs 


Die  Sprache.  —  (Segenfatj  von  fittlich,  unftttlich» 


67 


ober  ber  3n^ffercn3/  bie  beiben  äußeren  (ßlieber  bie  2Xb* 
lenFung  besfelben  nach  ber  einen  unb  anbem  Seite  fyn. 

gu  roelcher  x>on  beiben  Klaffen  gehört  nun  ber  (Segenfafe 
von  fittlich  unb  unftttlich?  IPäre  er  ein  3U>eigliebriger,  fo 
müßten  alle  ^anblungen  enttoeber  fittliche  ober  unfittliche 
fein,  Dies  ift  aber  bekanntlich  nicht  ber  5aü,  es  gibt  viel- 
mehr noch  eine  britte  Kategorie  t>on  fjanblungen,  meldte  fidj 
biefem  <5egenfa&e  gegenüber  inbifferent  perhalten,  über  toelche 
bie  ftttliche  Horm  nichts  ausfagt,  es  finb  biejenigen,  bie  in 
ben  freien  UMHen  gefteHt  finb:  bie  erlaubten* )♦  VTtit  bem 
Segriffe  bes  Erlaubten  ftatuiert  bie  [86]  Sprache  3toif chen 
bem  Sittlichen  unb  Unfittltchen  noch  ein  ZHittelgebiet,  roelches 
burch  biefen  <5egenfafc  nicht  getroffen  toirb:  bas  neutrale  ober 
3nbifferen3gebiet  bes  Sittlichen,  unb  im  5inne  ber  Sprache 
fönnen  roir  biefe  fjanblungen  als  fittlich  inbifferente 
be3eichnen.  ©b  fich  nietet  auch  für  fte  eine  2Iuffaffung  be* 
grünben  läßt,  welche  fte  bem  Sittlichen  unterorbnet,  fteht  h^r 
noch  nicht  3ur  5?age,  ich  werbe  barauf  fpäter  (Kapitel  X) 
5urüdfommen;  fyev  haben  wxv  es  lebiglich  mit  ber  2luffaffung 
ber  Sprache  3U  tun,  unb  in  be3ug  auf  fte  fteht  bie  Hichtig!eit 
bes  <5efagten:  bie  fprachlidje  Dreiteilung  ber  menfehlichen 
fjanblungen  in  fittliche,  unfittliche  unb  erlaubte  außer  <gtt>eifel. 
Die  nah>e  21uffaffung  bes  t>olfs  roirb  es  fich  nie  nehmen 
laffen,  baß  bas  (Erlaubte  etwas  arxbeves  ift  als  bas  Sittliche, 


*)  2ludi  bie  römifchen  ^uriften  betonen  für  bas  Hecfyt  bie  Kategorie 
bes  (Erlaubten,  inbem  fte  als  eine  ber  r>ier  inhaltlichen  Beftimmungen 
bes  (Sefefees  bas  permittere  be3eidmen  1.  7  de  leg.  {.  3:  Legis  virtus  est 
imperare,  vetare,  permittere,  punire.  Die  Klafftftf atton  ift  htfofem  eine 
verfehlte ,  als  fte  bas  punire,  meines  nur  bie  praftifcfye  Sicherung  bes 
imperare  unb  vetare  enthält,  mit  beiben  auf  eine  £iuie  fiellt.  Die  beiben 
erften  (Slieber  entfprechen  bem  foeben  befyaubeltett  (Segeufa^e  bes  fttt* 
liefen  (Sebotes  unb  Derbotes,  bie  Kategorie  bes  permittere  irnrb  t>on 
unfern  heutigen  3ur^ften  rielfad?  beftritten,  meiner  Anficht  nach  mit 
Unrecht. 

5* 


68         Kapitel  IX.   Die  feciale  Ittedjani?*   Das  Sittliche. 

ba§  ein  ZHenfch,  ber  igt,  trinft,  fich  vergnügt,  ftch  nicht 
rühmen  barf,  eine  fittltche  ?janblung  vorgenommen  3U  Reiben. 

Das  Zfiotiv  einer  jeben  erlaubten  E}anblung,  bie  nichts 
iveiter  ift  als  bies,  b.  i.  nicht  unter  bie  Kategorie  6er  ftttlichen 
fällt,  liegt  im  -^anbelnben  felber,  es  ift  bas  eigene  IDohl 
ober  Sebürfnis,  ba£  ihn  ba3u  oeranlaßt,  fte  gehört  alfo  3ur 
Kategorie  ber  bes  eignen  3chs  tvegen  vorgenommen,  b.  u 
ber  egoiftifchen.  2lber  bei  ihnen  fyält  ber  Egoismus  ftch 
innerhalb  ber  ihm  burch  bas  Sittengefefe  gejiedEten  (Breden, 
tvährenb  er  fie  bei  ben  unfittlichen  ^anblungen  überfchreitet; 
bort  nimmt  er  bie  (Seftalt  ber  Selbstbehauptung,  I)ier  bie  ber 
Selbftfucht  an. 

[SU]  Was  ift  mit  biefer  Dreiteilung  ber  Ejanblungen  für 
bie  (Erfenntnis  bes  Sittlichen  getvonnen?  tDir  Idolen  einen 
anbem  breigliebrigen  (Segenfafe  ^eran,  ben  tvir  oben  bei  ber 
Betrachtung  bes  (Egoismus  (S.  59)  gefunben  l\aben:  ben 
3tvifchen  Selbftbehauptung,  Selbftfucht,  Selbftlofigfeit.  £egen 
tvir  bie  beiben  (Segenfä&e  übereinanber  unb  fügen  mir  3u- 
gleich  bie  Be3iehung  bes  (Egoismus  3U  ihnen  h™3u,  (o  ergibt 
jtch  folgenbes  Schema: 

Das  Sittliche*  Das  (Erlaubte.       Das  Unfittliche. 

Selbftverleugnung.        Selbjtbehauptung.  Selbftfucht. 

(Egoismus. 

Das  Schema  bietet  Stoff  3um  Denfen  —  mehr,  als  id? 
hier  betvältigen  fann  unb  3U  betvältigen  brause;  mir  fommt 
es  nur  barauf  an,  ihm  ben  fprach liehen  2Inhalt  3ur  öeftim« 
mung  bes  Segriffs  bes  Sittlichen  311  entnehmen. 

<£s  leuchtet  ein,  ba§  bie  beiben  (Begenfäfee  in  enger  Se= 
3iehung  3ueinanber  ftehen.  Die  Selbfterhaltung  ober  Selbft* 
behauptung  betvegt  fich  in  ber  Hegion  bes  (Erlaubten,  bie 
Selbfifucht  in  ber  bes  Unfittlichen,  bie  Selbstverleugnung  ober 
SelbjHoftgfeit  in  ber  bes  Sittlichen. 


Die  Sprache*  —  ^weä\ub\eft  bes  Sittlichen* 


69 


Das  mittlere  (Blieb  führt  uns  bas  3&  in  Hichtung  auf 
bie  eigene  Selbjlbehauptung  t>or  unb  charafterifiert  bie  Sphäre, 
in  ber  biefelbe  vov  fich  geht,  als  bie  bes  Erlaubten  ober 
ftttlich  3n^ifferßn^n*  2>as  britte  <5lieb  vergegenwärtigt  uns 
bie  Ausartung  ber  Selbjlerhaltung  in  Selbftfucht  unb  brüeft 
ihr  ben  Stempel  bes  Unjtttlichen  auf,  bas  erfte  (ßlieb  erfennt 
bie  ZHöglichfeit  einer  Verleugnung  [88]  bes  3^  a^  unb 
erJennt  ihr  ben  Ct|arafter  bes  Sittlichen  3U.  Darin  liegt 
ausgefprochen:  bas  3^h  ?a"n  nidit  P*tn3tp  ober,  ba  in  praf* 
tifchen  Dingen  bas  prin3ip  im  gweef  befchloffen  liegt,  nicht 
gweeffubjeft  bes  Sittlichen  fein,  benn  fonft  fönnte  unmög« 
lieh  bie  <gwe<fbetätigung  bes  ^dis,  foweit  jte  bie  richtigen 
<5ren3en  innehält,  für  ftttlich  inbifferent,  foweit  fie  biefelben 
überfchreitet,  für  unftttlich,  noch  auch  ber  Verzicht  auf  bie 
Verfolgung  ber  eignen  gweefe  für  ftttlich  erflärt  werben. 
Das  3^  fann  ber  Spraye  3ufolge  nicht  gweeffub« 
jeft  bes  Sittlichen  fein. 

Der  Safe  iji  uns  nicht  neu,  er  h<*t  ft^  uns  bereits  bei 
Gelegenheit  ber  Betrachtung  bes  Egoismus  (S.  60)  ergeben. 
2lber  bem  ZTegatipen,  mit  bem  rx>ir  bort  abfchließen  mußten, 
gilt  es  jefet,  bas  pofttioe  ^in3U3ufügen.  <£s  iji  bie  lefete 
5rage,  bie  wir  ber  Sprache  so^ulegen  h^ben,  fte  lautet:  was 
benft  fte  ftd?  als  gweetfubjeft  bes  Sittlichen? 

3nbem  ich  bie  5rage  fo  [teilte,  fchltege  ich  »on  vornherein 
bie  Be3iehung  bes  Sittlichen  auf  etwas  anberes  als  ein  Sub* 
jeft,  b.  h»  ein  Uhenbes  £Defen  aus,  unb  bies  bebarf  ber 
Hechtfertigung.  3^  behaupte  alfo:  prin3ip  bes  Sittlichen 
fann  nicht  etwas  Unperf önliches,  fonbern  nur  bie  perfon, 
ein  Ubenbes  XPefen  fein,  beffen  «gweefe  burch  bas  Sittliche 
geförbert  werben  f ollen  («gweef f ubjef t). 

2tllerbings  bebienen  roir  uns  in  ber  Sprache  mancher  [89] 
lt)enbungen,  welche  eine  Hichtung  auf  etwas  Unperfönliches 
impli3ieren.  JDir  fpred^en  3.  23.  von  einer  £iebe  3ur  IDahrheit, 


70 


Kapitel  IX.   Die  fokale  tfledjantF.    Das  Sittliche* 


einem  Cobe  fürs  Daterlanb,  einer  Aufopferung  für  tue  XDiffen* 
fdjaft.  Diefe  Hebetoeife  foll  in  feiner  IDeife  bemängelt  werben, 
allein  in  £Dirflid]feit  ift  es  nidjt  ehr>as  Unperfönlidjes,  fmb 
es  nidjt  Segriffe,  toeldje  roir  lieben  unb  für  bie  tsir  uns 
opfern,  fonbern  IHenfdjen,  welche  baburdj  in  ifyren  <§tt>ecfen 
geförbert  toerben  folten.  hinter  ben  fogenannten  ibealen 
3ntereffen,  welche  voiv  ©erfolgen,  fynter  ber  3bee,  für  u>eld}e 
voiv  unfere  Kräfte  ober  unfer  £eben  etnfefcen,  ftecfen  reale 
perfönlidjfeiten,  beren  IDofyl,  fei  es,  toeldjes  es  fei,  baburcf? 
geförbert  werben  foll,  tr>ir  felber,  unfere  Angehörigen,  unfere 
(Slaubensgenoffen,  unfere  Mitbürger,  bie  Armen,  bie  Vertreter 
ber  IDiffenfcfyaft  uftr>.,  in  höherer  poten3  ein  gan3es  Volt, 
in  fyödjfter  bie  2Tfenfd$eit  —  jebe  3^^e  a^  praftifdjes 
2Tlotit>  unferes  J^anbelns  enbet  fdjliefclid?  in  lebenben 
IDefen. 

£Tur  ein  lebenbes  IDefen  alfo  fann  <§tx>ecffubjeft  bes  Sitt* 
liefen  fein,  bas  Unlebenbige,  bem  bie  fittlidje  Cat  ftcf)  fdjeinbar 
3Utoenbet:  bie  IDa^rBieit,  bie  tDiffenfdjaft,  bas  Daterlanb  ufnx 
ift  nur  ber  Sdjauplafc  ober  ber  <5egenftanb  unferes  Cuns, 
3ugute  fommt  es  nur  einer  perfon  —  bie  perfon  ift  bas 
gtsecffubjeft  allen  fittltdjen  £}anbelns. 

Als  groeeffubjeft  bes  Sittlichen  laffen  fid}  nur  brei  benfen: 
ber  £}anbelnbe  felber  (bas  3d)),  anbere  [90]  2ftenfd?en 
außer  i^m  (bie  (ßefeUfdjaft)  unb  (Sott  «gtoifdjen  biefen  brei 
Subjeften  muß  jebe  Ojeorie  bes  Sittlidjen  toäfylen,  es  gibt 
feine  anbere  XDafyl,  unb  idj  glaube  bamit  eine  erfcfyöpfenbe 
Klaffiftfation  fämtltdjer  etfyfcfyen  Syfteme  aufgeteilt  3U  haben, 
(ßott,  bas  bie  (5efellfd?aft  —  bamit  ift  ber  Umfreis  bes 
ZHöglidjen  in  be3ug  auf  bas  «groeeffubjeft  fftr  bie  £tB|if  um* 
fcfyrieben. 

Dem  (Dbigen  3ufolge  fdjeibet  nach  ber  Dorftellung  ber 
Sprache  bas  3^  au5/  bleibt  alfo  nur  bie  XDafyl  3tt>ifd?en 
(Sott  unb  ber  (Sefellfchaft  übrig. 


XHe  Sprache*  —  gtsecffubjeft  bes  Sittlichen* 


(5ott  fann  nicht  «gtvecffubjeft  bes  Sittlichen  fein  —  bas 
hieße  nur  unfer  menf  etliches  I?(anbeln  3U  einer  Bebingung 
feines  Dafeins  ergeben,  bie  (Erreichung  feiner  gwede  ^on 
unferm  Ejanbeln  abhängig  machen.  Denn  jeber  §tr>ecf ,  ben 
toir  bem  Dafein  eines  anbern  entnehmen,  beabfichtigt,  bas* 
felbe  3U  förbem,  bem  anbern  burch  unfere  23eiB|iIfe  bie  £r* 
reichung  feiner  eignen  <§tx>ecfe  möglich  3U  machen,  ihm  $u 
Reifen. 

XDenn  n>ir,  roas  fchließlich  an  richtiger  Stelle  von  uns 
gefcfyefyen  tt>irb,  ben  legten  (Srunb  bes  Sittengefefces  in  <5ott 
verlegen  toerben,  fo  ift  bamit  bie  5rage:  ob  (5ott  f elber  als 
<§tr>ecffubjeft  bes  Sittlichen  an3ufehen  ift,  in  feiner  IDeife  an* 
gegriffen.  <5ott  faun  Urheber  bes  Sittengefe&es  fein,  aber 
baburch  tsirb  er  nicht  3um  gtvecffubjeft.  2luch  ber  ein3elne 
fann  burch  Vertrag  ober  Ceftament,  ober,  tr>o  er  in  ber  Sage 
ift  3U  befehlen,  burch  Sefehl,  etwas  anorbnen,  roas  nicht  bie 
eignen  gvoede,  [91]  b.  i.  5örberung  bes  eignen  Dafeins,  3um 
<5egenftanbe  Ijat.  Der  (Sh^ieher,  ber  bem  Zöglinge  Perhat* 
tungsmaßregeln  für  fein  Benehmen,  ber  Cehrer,  ber  bem 
Schüler  Aufgaben  gibt,  tut  es  nicht  feinet*,  fonbem  bes  lefe« 
teren  u>egen.  (5ott  3um  <§u>ecffubjeft  bes  Sittlichen  machen, 
ift  ein  (ßebanfe,  ber  mit  ber  Dorftellttng  eines  hofften  IDefens 
fchlechterbings  unverträglich  ift,  es  h^ße,  bas  Abhängigfeits* 
Verhältnis  (5ottes  vom  ZHenfchen  behaupten.  Da§  bie  reit« 
gtöfe  Auffaffung  bes  Unfittlichen  als  Sünbe  (S.  62/63),  inbem 
fte  bie  Hichtung  besfelben  gegen  (Sott  betont,  bem  nicht  ent* 
gegenfteht,  bebarf  nicht  ber  Ausführung. 

ZÜachbem  bas  3d?  unb  (ßott  als  «gtvecffubjefte  bes  Sitt* 
liehen  ausgefchteben  finb,  bleibt  nur  noch  öte  (SefeQfchaft 
übrig,  unb  tvir  föunen  nunmehr  mit  aller  Seftimmtheit  fagen: 
bie  Sprache  fann  fein  anberes  Subjeft  im  Auge  t\aben  als 
bie  (ßefellfchaft. 

Aber  tvenn  es  uns  auf  biefem  lüege  auch  gelungen  iji, 


72  Kapitel  IX.   Die  feciale  XTCedjcmif.   Das  Sittliche. 


bie  Sprache  burch  ihre  eignen  Stusfagen  fo  3a  umjleEen  unb 
ein3ufd)Iie§en,  bag  ihr  nichts  mehr  übrig  bleibt,  als  uns  bie 
(Sefeüfchaft  3U  nennen,  fo  ift  es  boch  eine  anbere  5r<*ge,  ob 
jte  fetber  jtch  beffen  flar  bewußt  geworben  iß. 

Klar  unb  un3tpeibeutig  iji  ber  (ßebanfe,  baß  bie  <5efell- 
fd7aft  bas  «gtoecffubjeft,  b.  t.  bas  praftifdje  prin3tp  bes  Sitt- 
lichen ift,  jebenfaUs  t>on  ihr  nicht  sunt  2lusbrucfe  gebracht 
roorben.  <£s  fehlt  aQerbings  nicht  an  JDortbilbungen,  bei 
benen  jte  ben  Schroerpunft  bes  Sittlichen  [92]  in  bie  frembe 
perfon  perlegt :  ZI  ä  ch  ft  e  n  *  liebe ,  2TX  e  n  f  ch  e  n  * f  reunblichf  eit, 
ZRtt'Ieib;  allein  eine  prtn3ipielle,  b.  h*  für  aüe  fittlichen 
üorfchrtften,  pflichten,  Cugenben,  für  bas  Sittliche  fchlechtbin 
Sutreffenbe  Ziehung  auf  bie  (ßefeüfchaft  ifi  barin  nicht  3U 
erblicfen.  Dagegen  lägt  fich  bafür  aQerbings  bie  breimal 
jtch  tpieberholenbe  etymologifche  Anlehnung  bes  Sittlichen  an 
bie  Sitte  in  23e3ug  nehmen,  in  ber  voxv  oben  (S.  bie  als 
perbinblich  gebadete  ©rbnung  bes  (5emeinlebens  erfanui 
haben*  Damit  nennt  uns  bie -Sprache  bie  (ßefellfchaf  t 
als  basjenige  Subjeft,  welches  biefe  ZTormen  3ur  (ßeltung 
bringt.  freilich  muß  bann  noch  fuppliert  werben,  baß  bie 
(Befeüfchaft  es  ihretwegen  tut,  b.  h*  fie  nicht  blog  Ur« 
heberin,  fonbem  auch  Swecffubjeft  ber  Sitte  unb  bes 
Sittlichen  tji,  beibes  aber  fällt,  wie  wir  foeben  nachgewiefen 
haben,  nicht  3ufammen. 

So  fehltest  unfere  Unterfuchung  über  bie  Sprache  in  be3ug 
auf  ben  fpringenben  punft  ber  gan3en  fithtf  mit  einem 
3tt>eifelhaften  Hefultat  ab.  Die  23e3iehung  bes  Sittlichen  3ur 
(SefeQfchaft  wirb  in  ber  Sprache  wahrnehmbar,  aber  nicht 
in  poQer  Klarheit,  fonbem  wie  im  ZTebel.  So  mu§  benn 
bie  XDiffenfdjaft  fommen,  um  mit  ihrer  5a<f el  in  fyeües,  volles 
£icht  3U  rücPen,  was  wir  im  J^albbunfel  ber  Sprache  nicht 
3U  erfdjauen  permochten:  es  wirb  ftd?  3etgen,  baß  jte  es 
permag. 


Die  Spraye*  —  Perftummen  berfelben. 


73 


2)amit  I}aben  tt>ir  ben  Übergang  3um  5oIgenben  gewonnen. 
XOxx  nehmen  von  ber  Sprache  Hb\d\ki> ,  um  uns  [93]  ber 
IDiffenfdtaft  3U3Utpenben  unb  erjiere  nur  bann  noef)  3U  IDorte 
fommen  3U  laffen,  u>o  fie  über  punfte,  tpelcfye  tpir  bei  <ße* 
legenfyeit  ber  folgenben  Unterfucfyung  berühren  werben,  etwas 
ausjufagen  vermag. 

ZTur  eine  Bemerfung  fyaben  tx>ir,  inbem  tpir  unfer  Derfyör 
mit  ber  Spraye  befcfyliejjen,  noefj  Ijm3U3ufügen. 

ZDir  fagten  oben,  ba§  es  bei  einem  X>erB|ör  nicfyt  blojj 
barauf  anfomme,  was  ber  3U  Derfyörenbe  pofttip  aus3ufagen, 
fonbern  auefj  auf  basjenige,  tporauf  er  feine  Untwovt  3U  er« 
teilen  permöge.  Keine  21nttoort  erteilt  uns  bie  Sprache  auf 
bie  5*ctge  nad\  ber  Quelle  bes  Sittlichen.  ZDofyer  nimmt 
bas  3nbipibuum  ober  bie  (Sefellfdiaft,  tper  immerhin  pon 
beiben  fie  audj  3utage  förbern  möge,  bie  fittlicfyen  formen? 
Tins  bem  3nnern  heraus,  aus  ber  Dernunft,  bem  angeboren 
ftttlidjen  (Sefüfyl?  Sinb  bie  <Srunbfät$e  bes  ftttlid^en  ^art« 
belns  bem  ZHenfcfyen  ebenfo  angeboren  toie  bie  bes  logifdjen 
Denfens?  ®ber  iji  es  erjl  bie  (Erfahrung,  tpelcfye  ben 
ZHenfcfyen  belehrt,  tpas  er  3U  tun  unb  3U  meiben  habe,  was 
gut  unb  böfe,  fittlicfy  unb  unftttlidf  fei? 

2)ie  Sprache  perfagt  uns  barauf  jebe  2JnttPort,  unb  es 
ift  pon  IDicfytigfeit,  biefes  negatipe  (Ergebnis  I|ier  3U  fon- 
ftatieren.  Keinem  ewigen  ber  2tusbrücfe,  bie  fie  für  bas 
Sittliche  pertoenbet:  Sittengefefe,  Sittlictjfeitsgefüfyl,  (ßetpiffen, 
tpofynt  bie  Dorfteilung  bes  21ngebornen  inne,  bie  Sprache 
gerpäljrt  für  biefe  3bee  ntd}t  ben  leifeften  21nfyalt.  ZTicfyt 
SUtengefefc.  Der  Segriff  bes  (Sefefees,  [94]  ben  fie  babei 
perroenbet,  perträgt  fictj  ebenfotpofyl  mit  ber  öorfteHung,  baß 
basfelbe  2T?enfd)entperf  auf  empirifdjem  ober  hiftorifcfyem 
IDege  getponnen  fei,  tpie  mit  ber,  ba§  es  bem  ZTienfcfyen 
nad\  2trt  ber  Denfgefefee  angeboren  fei,  ber  Begriff  ber  Sitte 
aber,  burd?  ben  fie  ben  bes  (Sefefees  näfyer  erläutert,  pertpeift 


7* 


Kapitel  IX.   Die  totale  medjantf.   Das  Sittliche. 


uns  ausfchliepch  auf  ben  erfiten  IDeg.  nicht  Sittlich?  etts* 
gefühl.  3n  ber  t>on  Sitte  gebildeten  Sittlichfett  ift  bas 
ZHoment  jebenfalls  nicht  enthalten.  5o  formte  es  alfo  nur 
im  (Sefüfyl  liegen,  3ft  bas  (Befühl  nottoenbigertoeife  ettoas 
Angeborenes?  Sicherlich  nicht!  €s  genügt,  auf  bas  Schief* 
lichfeits*  unb  bas  Sprachgefühl  3U  »enoetfen,  bie  beibe  bie 
Anlehnung  an  eine  befitmmte  Sitte  unb  Sprache  3ur  £>or* 
ausfefeung  l\aben  unb  fich  bamit  als  etroas  ^ifiortfcfyes,  unter 
gegebenen  Derhältniffen  erft  3U  (£rtr>erbenbes,  nicht  Angeborenes 
funbgeben.  sticht  (Betreffen.  Denn  (Betreffen  be3eichnet 
fprachlich  nur  eine  befonbere  Art  bes  tt)iffens,  aber  toofyer 
bies  IDiffen  ftammt,  barüber  fagt  uns  bie  Sprache  mittels 
bes  XDortes  f  elber  nichts  aus  —  bie  5*age,  ob  bas  (Betreffen 
angeboren  fei,  bleibt  eine  offene* 

\S)  Das  Sittliche.  —  Die  IPiff enfehaft.  —  plan  ber 
Unterfuchung. —  Die  brei  Karbinalfr agen  ber  <£thtf- 
- —  Das  gefchichtlichsgefellfchaftliche  Syftem  ber  (£tt>if. 
—  Die  (Ethtf  ber  gufunft. 

Die  bisherigen  Unter  fudjungen  über  bie  Sprache  fyaben 
uns  Ausfunft  barüber  gegeben,  trne  festere  ftd]  bas  Sittliche 
i>enft,  unb  uns  bamit  einen  roertoollen  23eitrag  3ur  (Erfenntnis 
besfelben  geliefert,  allein  auch  nur  einen  Seitrag,  Sache  ber 
IDiffenfchaft  ift  es,  unter  Derroenbung  bes  ihr  t>on  ber 
Sprache  (gebotenen  bis  3ur  sollen  <£rfenntnis  por3ubringen. 

Seit  3(*hrtaufenben,  von  ben  Reiten  ber  griechifchen  Philo* 
fophen  an  bis  auf  bie  (Begentoart  t^ab,  anbmet  fie  ftd? 
tiefer  Aufgabe,  unb  toenn  irgenbeine,  fo  follte  man  entarten, 
bajj  biefe  längft  gelöft  tsorben  fei.  Denn  bas  Sittlid^e  liegt 
bem  ZHenfdjen  nicht  ferne  wie  Sonne,  ZHonb  unb  Sterne, 
unb  es  bebarf  3ur  €rfenntnis  besfelben  nicht  fünftlicher  fjilfs* 
mittel  unb  ^ppavate,  fonbern  bie  fittliche  &>elt  umgibt  ihn 


Die  rDtffenfdjafk 


75 


wie  bie  JttmofpBjäre ,  in  5er  er  Übt,  unb  bie  er  täglidj  ein- 
atmet; er  braucht,  foQte  man  jagen,  nur  fein  Jluge  511  off nenr 
um  biefes  StüdP  feiner  VOelt  3U  begreifen»  2lber  5er  €r- 
fafyrungsfafe,  ba§  basjenige,  a>as  uns  am  nädjften  liegt,  nidjt 
feiten  am  fdjtoerften  unb  fpäteften  erfannt  n>irb,  betDätjrt  ftdj 
aud?  fyer  tsieber.  3)er  ZHenfdj  begreift  eljer  alle  Dinge  auger 
jtd?  als  ftdj  [96]  felbji,  —  pon  aHen  Hätfeln,  u>eldje  bie 
ZTatur  ifym  aufgegeben  Ijat,  ift  er  felbft  bas  fd?n>erfte. 

2luf  feinem  (ßebiete  bes  menfdjlidjen  IDiffens  gefyen  nod? 
bis  auf  ben  heutigen  Cag  bie  (Srunbanfdjauungen  fo  toeit 
auseinanber  roie  auf  bem  ber  €tfyf,  unb  wenn  man  manche 
lüerfe  über  biefe  3)is3iplin  miteinanber  t>ergleid}t,  insbefonbere 
bie  ber  Deutfc^en  unb  <£nglänber,  5.  23.  aus  früherer  geit 
Kant  unb  Sdjleiermadjer  wt*  23entfyam,  aus  aÜerjüngfter 
€.  r>.  Jjartmann  mit  fjerbert  Spencer*),  fo  foHte  man 
faum  glauben,  baß  fte  auf  bemfelben  anffenfdjaftlidien  Sobeu 
getoadjfen  feien* 

IDäre  tdj  imjlanbe  getsefen,  mid>  einer  ber  bisher  auf- 
gehellten (ßrunbanfdjauungen  fdjledjtfyin  an3uf daliegen,  gern 
mürbe  xd\  es  permieben  I^aben,  midj  <*n  einem  Probleme 
3U  r>erfud}en,  bas  meinem  23erufsu>iffen  fern  liegt  unb 
bem  id|  früher,  fo  oft  id}  in  feine  ZTälje  fam,  fdjeu  aus* 
getx>id}en  bin.  <£in  folcfyes  Umgeben  tpar  aber  bei  bem 
gegenwärtigen  IDerf  unmöglich,  bie  5eftfteHung  bes  Perljätt* 
niffes  bes  Hecfyts  3um  Sittlichen,  ber  idj  mid?  nidjt  ent3ie^eu 
fonnte,  nötigte  midj,  Hebe  unb  2tnttoort  3U  ftefyen,  unb  fo 
rr>ar  id?,  ba  id)  mid)  pon  ber  Hidjtigfeit  ber  Cöfung  bes 
Problems  r>on  feiten  anberer  nidjt  über3eugen  fonnte,  ge* 
3tr>ungen,   mid?  felbftänbig  bavan  3U  t>erfud?en.  Subjeftio 


*)  €.  von  Qartmaun,  Phänomenologie  bes  jtttlidjm  Bettmßt* 
(eins,  Berlin  *879,  unb  Herbert  Spencer,  Die  CEatf adjen  ber  €tfyf. 
2(utorifierte  beutfdie  Ausgabe  von  B.Detter,  Stuttgart  J879. 


76  Kapitel  IX.   Die  feciale  Hledjantf.   Das  Sittliche. 

bin  id?  [97]  von  ber  Bidjtigfeit  5er  gefundenen  £öfung  aufs 
fefiejle  über3eugt.  Diefelbe  B^at  ftdj  mir  im  Saufe  ber  3abre 
an  altem,  wotan  td?  fte  erprobte:  an  ber  €rfaljrung  bes 
täglichen  Cebens  roie  an  ben  Catfadjen  ber  (Sefdjidjte  unb 
bei  ber  Kritif  ber  2lnftdjten  anberer  flets  betont,  idj  habe 
nie  (Selegenfyett  gefunben,  fte  in  gtoeifel  $u  3iefyen,  jte  ift  bei 
aßen  fragen,  an  benen  fte  ftdj  3U  bewähren  hatte,  ftets  ohne 
Hefi  aufgegangen,  3a  mehr  als  bas:  fte  fyat  ftch  mir  als 
eine  Ceucfyte  erliefen,  bie,  roohin  ich  fte  trug,  ftets  neues 
£idjt  verbreitete,  mir  Jtuffdjlüffe  gewährte,  bie  ich  f elber  nicht 
ertx>artet  Ijatte,  unb  a>emt  bie  toiffenfchaftliche  <£rgiebigfeit 
unb  5^ud]tbarfeit  eines  allgemeinen  (Sefichtspunftes,  ba§  ihm 
gleich  ber  lebenbigen  Quelle  ftets  ein  neuer  IDahrheitsgehalt 
entquillt,  ohne  ftch  je  3U  erfchöpfen,  ein  Kriterium  ber  IDafyr* 
heit  ift,  fo  barf  ich  glauben,  bie  XDahrljeit  gefunben  3U  traben. 
3ch  orientiere  ben  £efer  über  ben  plan  unb  (Sang  ber  folgen* 
ben  Unterfudjungen. 

Der  (Srunbplan  berfelben  beruht  auf  ber  Unterfdjeibung 
3toeier  Seiten  bes  Sittlidjen:  bes  objeftis  unb  bes  fub* 
jeftit>  Sittlichen.  Unter  erfterem  perftehe  ich  bie  ftttlidjen 
formen,  bie  objeftit>e  ftttliche  (Drbnung,  unter  lefeterem 
bas  praftifdje  Verhalten  bes  Subjefts  3U  berfelben:  ben 
fubjeftipen  ftttlichen  IDillen,  bie  ftttliche  (Sefinnung. 

Die  anffenfehaftliche  Betrachtung  ber  erften  Seite  hat  3n?ei 
fragen  3um  (Segenftanb:  bie  nach  bemUrfprung  [98]  ober 
ber  Quelle  ber  ftttlichen  Ztormen,  —  rooljer  fommen  fte? 
—  unb  bie  nach  bem  <3tt>ecf,  — teas  foHen  fte?  Die  3tr>eite 
Seite  fällt  3ufammen  mit  ber  5rage  nach  bem  fubjeftit>en 
ZHotit)  bes  ftttlidjen  JPillens  —  tr>as  befiimmt  ben  IDiHen, 
bie  ftttlichen  formen  3U  befolgen? 

Die  brei  l|ier  aufgeführten  fragen  laffen  ftch  als  bie  brei 
Karbinalfragen  ber  (£tfyi?  be3eichnen.  Sie  bebeuten  für 
bie  Ctlfif  basfelbe,  was  für  bas  Dreiecf  bie  brei  gegebenen, 


Die  bret  "Karbmalfragett  ber  (Etfytf* 


77 


basfelbe  beftimmenben  Stüde.  £Der  fxe  in  einer  befiimmten 
2lrt  beantwortet  Ijat,  E^at  bamit  3U  ben  (Srunbproblemen  ber 
<£tfyf  Stellung  genommen;  fie  bilben  bie  trigonometrifdje 
Crias  ber  <£tfyif,  aus  ber  fidj  alles  anbere  beregnen  läßt. 
IDer  fid?  unb  anbern  Klarheit  über  fein  Derfyalten  3U  biefen 
Problemen  serfdjaffen  tr>iö,  muß  fie  beantworten;  folange  er 
bies  nidjt  getan  Bjat,  ift  bas  DreiedP  nodj  nidjt  fertig.  Die 
punfte,  voeldie  man  fonft  toofyl  als  entfcfyeibenbe  an3ufefyen 
pflegt,  3.  53.  bie  betannte  Crias  ber  etfyfdjen  <5üter,  Cugenben, 
pflichten  (Sdjleiermadjer)  reiben  3U  bem  «gtoeefe  nxdtt  ans, 
fie  bebeuten  für  bie  €tfyf  nxd\t  mefyr,  als  bie  brei  IDinfel 
für  bas  Dreiecf,  le&teres  iji  bamit  feinestsegs  gegeben. 

JDenn  idj  bie  fittlidjen  formen  3um  2iusgangspunft  unb 
3um  5unbament  meiner  gansen  Hnterfudjung  madje,  fo  bebarf 
bies  ber  Bed]tfertigung.  3dj  madje  mid?  bamit  eines  Hücf* 
falls  in  eine  angeblich  t>on  ber  JDiffenfdjaft  längji  über* 
tr>unbene  Beljanblungsroeife  fcfyulbig. 

3n  berfelben  IPeife,  voxe  bie  3urispruben3  aus  (ßrünben, 
[99]  bie  nidjt  Ijierfyer  gehören,  bie  urfprünglidje  $otm,  in 
ber  bas  Hedjt  J|iftortfdj  3ur  <£rfdjeimmg  gelangt:  bie  impera* 
tit>ifdje  bes  (Sebots  unb  Derbots  mit  einer  anbern:  ber  be* 
griff  Udjen  t>ertaufd}t  Ijat*),  Ijat  es  aud)  bie  <£tl\xt  mit  ben 
ftttlicfyen  3mP^ötir>en  getan.  2tn  bie  Stelle  bes  Solls  ber 
Horm  fyat  fie  bas  Sein  bes  Begriffs  (bes  fittlid?en  (Sutes, 
ber  Cugenb,  ber  Pflicht,  bes  fittlidien  ZHenfcfyen)  gefefet,  bie 
formen  greifen  iBjre  imperatitnfcfye  5orm  ab  unb  fdjlagen 
nieber  3U  Begriffen.  Die  gan3e  Darftellung  nimmt  auf  biefe 
XDeife  ben  £fyarafter  ber  Sefcfyreibung  einer  geiftigen  IDeit 
an,  ber  ftd)  bie  K)iffenfd}aft  gerabe  fo  gegenüberjieÜt,  n>ie  ber 


*)  2$  k^e  biefe  HTetfyobe  unb  bie  (Sriinbe,  tüelcfye  fie  ljen>or* 
gerufen  fyaben,  weiter  ausgeführt  in  meinem  (Seift  bes  römtfdjen  Hed>ts 
Bb.  3,  §  38— 


78  Kapitel  IX.   Die  feciale  XKect/aiii?.    Das  Sittliche. 


2?aturforfcher  ber  23atur:  fte  gibt  nicht  an,  was  fein  foll, 
was  von  feiten  5er  perfon  gefcheh^n  foll,  fonbern  fte  ftellt 
bat,  was  ift,  fte  fchilbert,  befchreibt,  entrt>icf elt*). 
für  bie  <£thif  ifi  (ßegenftanb  ber  2)arftellung  ber  Cypus  bes 
üoflenbet  fittlichen  ZHenfchen,  fein  3bealbilb,  3hm  entnimmt 
fie  ben  3^1*  *>es  Sittlichen,  aber  nidjt  als  eine  Horm,  bie 
von  außen  an  ihn  herantritt,  [100]  fonbern  als  begrifflich 
notroenbigen  Ausflug  feines  3nnern,  als  (Emanation  feines 
eignen  toafyren  ftttlichen  tDefens.  Das  Soll  ift  übemmnben: 
Soll  unb  Sein  ift  eins. 

<£s  liegt  nicht  in  metner  21bficht,  ben  Döring,  ben  biefe 
2)arfteIlungstDeife  in  äfthetifcher  Be3iehung  x>or  ber  impera* 
titufchen  in  21nfpruch  nehmen  fann,  5U  beftreiten  unb  ebenfo* 
roenig  %e  tmffenfchaftliche  Berechtigung  als  bloße  form  ber 
DarfteHung ;  allein  r>on  ber  Darftellung  ift  bie  tfnterfuchung 
unb  forfchung  toohl  3U  unterf Reiben,  für  lefetere  aber  ift  bie 
HüdEFefyr  3U  ber  natürlichen  unb  urfprünglichen  form  bes 
3mperattos  meines  (Erachtens  unerläßlich.  2tls  ausfehießliche 
Betrachtungsform  bes  Sittlichen  fehltest  jebe  begriffliche  2luf-- 
faffungstoetfe  für  bie  <£tf}if  eine  (5efahr  in  ftch,  bereu  ich 
bei  ber  ^nvxspvnben^  aus  eigner  unb  frember  (Erfahrung 
längft  inne  geroorben  bin:  bie,  über  ben  Begriff  ben  §we<£ 
außer  acht  3U  laffen.  Bei  bem  Begriff  entfehlägt  man  ftch 
nur  3U  leicht  ber  frage  nach  bem  <gtr>ed\  £r  tritt  uns  ent« 
gegen  in  bem  (getoanbe  einer  für  ftch  feienben,  in  fich  ruhenben, 
abgefchloffenen  (£fiften3,  er  ift  ba,  gan3  fo  gut  wie  bie  T>inge 

*)  Beifpielstreife  nenne  ia?  bas  neuefte  Syftem  ber  trjeologtf a?en 
<Ett}i?  von  3*  von  ^ofmann,  ITörblingen  \878,  S.7[:  „Be* 
fd?reibung  bes  cfyrtftlicfyen  Der  Raitens  ♦  Diefes  ijt  vov  allem  ein  inner- 
liches; bie  3nnerlid??eit,  bie  d?riftltd?e  (Seftnnnng  rjaben  wir  3im8d$ 
3u  befcfyretben,  bann  beren  Betätigung  im  ^anbeln",  5.  72;  „fo 
tDÜrbe  bas  ftd?  ergebenbe  Bilb  ein  unrichtiges  werben''*  5*79;  „Wir 
bef abreiben,  rote  ber  Crjrift  als  folcr/er  ft<f?r  unb  trie  er  ftdj  als  ben, 
ber  er  ift,  betätigt"* 


Die  tmperathrifcfye  ^orm  bes  Stttengefetjes*  7() 


ber  2Tatur.  ID03U  noch  erft  feine  <££iften3bered)tigung  in 
5rage  fteHen?  Sie  ift  mit  ihm  felber  gegeben,  feine  <££iften3 
überlebt  ihn  biefes  Ziad\voe\\es.  Sei  bem  3mperatto  dagegen 
fragt  jeber  benfenbe  ZHenfch  fofort  nad\  bem  IParum,  unb 
biefe  5rage  füE^rt  ihn  3um  legten  <5runb  ber  Sache  3urücf, 
ber  bei  allen  praftifchen  Singen  im  <gtt>ecfe  befte^t  Die 
begriffliche  Sovm  bagegen  [101]  lenft  ihn  r>on  biefer  5^age 
nach  ber  (Quelle  ab  unb  t>erIodft  ihn  in  bie  Bahn  einer 
Dialeftif,  toelche  ihm  sorfpiegelt,  er  fönne  mit  Ejilfe  rein 
formaler  ©perationen  (Konfequen3  —  Konftruftion  — - Spefu* 
lation)  bie  lDa^rt)eit  gereimten,  fein  problem  erforbere  fein 
axxbeves  Perhalten  als  bas  bes  ZTaturforfchers  gegenüber  ben 
Dingen  ber  2Tatur:  reine,  unbefangene  Ejingabe  an  bas  <Db* 
jeft,  21mt>enbung  ber  naturfyiftorifcfyen  JHet^obe  auf  bie  Welt 
bes  (ßeiftes. 

Darum  nehme  ich  mit  2tbftd]t  unb  23erou§tfein  für  ben 
«gtoeef  meiner  Unterfud]ung  bie  5orm  bes  3mPeratit>s:  bie 
ber  fittltcben  formen  uneberum  auf;  es  n>irb  fich  3eigen,  ob 
biefer  fcheinbare  Bücffall  in  eine  angeblich  ttnffenfchaftlich 
überrounbene  5orm  —  benn  als  folche  u>irb  fte  beseichnei  — 
ber  Sache  förberlich  ift  ober  nicht. 

Xlod\  in  einer  anbern  Hichtung  toirb  bie  folgenbe  Dar* 
Peilung  ben  Schein  eines  ttuffenfchaftlichen  Hücffchrittes  auf 
fich  laben.  Sie  finbet  bie  Quelle  bes  fittlichen  3mPera*tos 
nicht  im  3nkwibuum,  fonbern  in  ber  (Sefellfchaft,  fte  läßt 
alfo  benfelben  t>on  außen  an  bas  Subjeft  herantreten.  Damit 
verfällt  fie  bem  Dorrourfe  ber  Ejeteronomie  bes  ZHoral« 
prin3ips,  tx>as  für  gleicfybebeutenb  gilt  mit  Umtnffenfchaftlich' 
feit  Das  roafyre  2Tk>ralprin3ip  foll  ber  neuern  <£tfyf  3ufolge*) 


*)  21uf  btefen  (Segenftanb  ber  2lutonomte  unb  ^etcrouomte  bes 
inoraIprtri3ips  ift  bas  aait3e  oben  3ttterte  Wext  von  (£♦  von  ^art- 
mann  gebaut. 


80  Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjam?*  Das  Sittliche. 


ein  autonomes  fein,  es  [102]  foQ  beut  3nbu>ibuum  nadj- 
getsiefen  toerben  als  (ßefefc  feiner  felbjl. 

2Iudj  idj  gelange  fdjließltdj  3U  bem  Hefultate,  baß  bas 
3nbipibuum  bas  Sittliche  als  (Sefefe  feiner  felber  in  ftcfy 
tragen  foQ,  unb  baß  es,  inbem  es  fxttlict^  fyanbelt,  nur  ftd? 
felber  behauptet  (etljifdje  Selbjlbeljauptung,  Kapitel  XI), 
aber  id?  gelange  ba3u,  xd\  ge^e  nidjt  bapon  aus.  Das 
Sittliche  ifi  fyifiorifd}  nidjt  Pom  3nbbibuum,  fonbern  pon 
ber  (Sefellfdjaft  aus  getponnen  tporben,  unb  audj  praftifd? 
befte^t  bas  toaBjre  Perfyälinis  beiber  barin,  baß  bie  <5e- 
fellfdjaft  es  pon  ifyn  forbert.  Die  Überroinbung  biefes 
(Segenfafees  bes  Süßeren  3um  3™tem,  bas  pöHige  (Eins* 
roerben  bes  3n^t>töuums  m^  bem  Sittengefefc,  fur3  bie 
Autonomie  besfelben  ift  bie  lefete,  tjödjfte  5orm,  in  ber  bas* 
felbe  in  il}m  feine  IDirffamf eit  entfaltet,  aber  bie  Catfadje, 
baß  es  als  (gebot  unb  3tr>ar  als  (ßebot  ber  (SefeUfdjaft  pon 
außen  fyer  ifym  aufge3toungen  toorben  ift,  tpirb  babur* 
ebenfotpenig  ungef  diesen  gemalt,  tpie  es  pon  ifyn  felber  per* 
fannt  tperben  barf.  Das  3nbiptbuum  foll  unb  muß  tpijfen, 
baß  es  ftdj  in  Jlbfyängtgfeit  pon  ber  (ßefeUfdjaft  befmber, 
baß  es  fein  (Sefefe  pon  tf^ r  erhält;  eine  Ojeorie,  bie  ifym 
bas  (5egenteil  porfpiegelt,  ftetlt  bie  H)af|r^eit  auf  ben  Kopf. 
Das  3nbipibuum  ift  Ceil  bes  (5an3en,  ber  Ceil  aber  nimmt 
fein  (ßefefe  entgegen  Pom  (Sanken,  unb  mag  bas  3nbipibuum 
als  (Slieb  ber  <5efeHfdjaft  fiefy  audj  nodj  fo  einig  mit  ibr 
füllen,  immer  ift  es  bie  (Befellfdjaft,  voeld\e  ifym  bie  Hormcu 
[103]  bes  ftttlicfyen  £[anbelns  por3eid}net.  Gegenüber  bem 
5irenengefang  einer  ungefunben  Ojeorie,  tpeldje  bas  3n^' 
pibuum  mit  feiner  fittlidjen  Autonomie  3U  betören  fudjt,  hälfe 
id]  es  für  geboten,  tfym  einmal  bie  nüchterne  XDa^rljeit  ins 
(D^r  3U  rufen:  bu  bift  nur  <51ieb  bes  <5an3en  unb  erfyältfr 
Don  tfyn  beine  <5efefee,  eigne  fte  bir  fo  an,  baß  bas  äußere 
<8efe<3  bein  eignes,  unb  baß  bamit  bie  äußere  itottpenbigfeit 


Die  ^eteronomte  bes  Stttengefetjes*  8{ 


innere  ^reifyeit  tserbe,  aber  gib  bid)  nidtf  bem  tDaljne  Ijin, 
baß  bie  gügel,  tseil  bu  fie  jubjeftis  nidjt  fütjlft,  objeftiü 
nidjt  efiftteren  unb  baß  bu  felber  bein  eigner  (Sefefe* 
geber  feift. 

So  fe^re  idj  aljo  311  ber  urfprihtglicfyen  unb  natürlichen 
torm  bes  Sittlidjen:  ber  fittlidjen  Tlovm  3urücf,  um  jte  3um 
2tusgangspunfte  meiner  gan3en  Untersuchung  3U  machen, 
unb  ich  greife  bie  beiben  erften  ber  oben  (S.  76)  genannten 
Karbinalfragen  ber  <Stt^tP  tr>ieberum  auf,  um  fur3  bie  Stellung 
an3ubeuten,  bie  ich  3U  ihnen  einnehme« 

Die  erfte  voav  bie  Urfprungsfrage.  $nt  mich  perfön* 
lieh  ift  fie  bie  3toeite  getoefen,  ich  I|abe  3uerft  bie  5rage  r>om 
<§tr>ecf  ber  fittlichen  formen  ins  2Iuge  gefaßt,  unb  ich  behalte 
biefe  Orbnung  auch  im  folgenben  bei,  inbem  ich  mich  3unächft 
ber  le&teren  3utr>enbe. 

3n  be3ug  auf  fie  bin  ich  3U  bem  Hefultate  gelangt,  baß 
alle  fittlichen  Zlormen  im  tseiteften  Sinne  bes  JDortes  (Hecht, 
ZHoral,  Sitte)  lebiglidj  bas  £)ohl  unb  (Sebexen  ber  (ßefeH* 
fdjaft  3um  &wed  I|aben,  in  meiner  Cerminologie  vom  ,§tt>ed* 
fubjeft  (I,  S- ^63  ff.,  II,  S.  89/90  cmsgebrücft:  baß  bie  [104] 
(Sefellfchaft  bas  gtsecfjubjeft  bes  Sittlichen  bilbet.  Sittlidi 
unb  gefeüfchafttich  ift  gleidjbebeutenb,  überall,  roo  man  ftttlid) 
fagt,  fann  man  ben  2lusbrudE  mit  gefellfchaftlich  oertaufdjen 
—  alle  fittlichen  ZTormen  finb  gef  ellfchaf  tlidje  3m* 
peratise. 

Der  Ausführung  biefes  (ßebanfens  iji  ber  erfte  2lbfd]nitt 
ber  folgenben  Unterjochungen:  bie  tEeleologie  bes  ob* 
jeftir>  Sittlidjen  getoibmet.  ^d\  beginne  benfelben  mit  bei- 
trage nach  ben  möglichen  <§tt>ecf fubjeften  bes  Sittlichen  (Ztr.  \<5) 
unb  gelange  babei  3U  bem  Hefultat,  baß  nur  bie  (ßefellfchaft 
als  folches  angefehen  werben  fann. 

Daran  [daließt  fich  bie  Betrachtung  ber  gefellfchaft* 
liehen  3mperatit>e,  b.  h«  berjenigen  Ztormen,  benen  bas 

p.  3f)ertng,  Der  groecf  im  Hedjt.  II.  (5 


82  Kapitel  IX.   Die  feciale  lTCed?amf*  Das  Sittliche* 


3nbunbuum  im  gefellfchaftltchen  £eben  unterworfen  ift  (ZHobe, 
Sitte,  ZHoral,  Hecht),  unb  3  war  ift  es  fyier  nur  bte  gweef* 
frage,  bie  id}  ins  2luge  faffe,  wäBpenb  ich  bie  5rage:  rt>ie 
bie  (ßefeßfehaft  biefelben  realifiert  (fc^iales  gmangsfyftem), 
einer  fpätereu  Stelle  ber  Untersuchung  vorbehalte.  Die  ZHobe 
unb  bas  Hecht  neunte  ich  dabei  nur  auf,  um  3U  prüfen,  ob 
fie  fich  innerlich  (b.  h*  ihrem  gweefe  nach)  von  Sitte  unb 
ZTIoral  unterfcheiben  laffen*  Der  2lbfchnitt  über  bie  gefell' 
fdjaftlichen  3mperatipe  E^at  3um  «gweefe  ben  Nachweis,  baß 
alle  gefellfchaftlichen  formen  burch  gefeUfchaftliche  gweefe 
ins  £ebeu  gerufen  Horben  finb* 

Sinb  fie  es,  fo  müffen  fie  bebingt  fein  burch  ben  [105] 
jebesmaligen  guftanb  ber  (ßefetlfchaft,  benn  bie  gweefe  ftnb 
bei  Dölfem  wie  bei  3nbir>ibuen  ftets  fo  befchaffen,  wie  fie  felber 
es  ftnb.  Daß  biefe  Konfequen3  für  bie  jtttlichen  formen 
sutrijft,  werbe  ich  bartun,  inbem  ich  bas  Ijiftorifdje  unb  praf* 
tifche  #bhängigfeitst>erhältnis  aller  fittlichen  Ztormen  r>on  ber 
beseitigen  (Seftaltung  ber  (Sefellfchaft  nachweife.  Das  I]ifto» 
rifche  —  inbem  ich  5eige,  wie  bie  (Entwidmung  bes  fittlichen 
33ewu§tfeins  parallel  geht  mit  ber  ber  (Sefellfchaft,  fowoljl 
intenfit),  was  bie  allmähliche  (Erweiterung  unb  Vevvoti> 
fommnung  ber  fittlichen  (Erfahrung,  2tnfd]auungen,  formen 
anbetrifft,  als  ej:tenfir>,  was  bie  Subjefte  anbetrifft,  benen 
gegenüber  man  fich  3ur  Beobachtung  ber  fittlichen  (Srunbfäfee 
perpflichtet  fühlt,  b.  i.  bie  2lusbehnung  ber  perbinbenbeu 
Kraft  berfelben  über  ben  urfprüngltchen  Kreis  ber  (Senoffeu 
hinaus  auf  immer  weitere  Kreife  (Stamm,  X>olf,  Konfeffion, 
Baffe,  ZHenfchheit)*  IDte  bas  Hecht,  fo  fyat  fid]  auch  bas 
Sittliche  in  biefer  e^tenfipen  23e3iehung  mühfam  pon  einer 
Stufe  3ur  anbern  erheben  müffen.  XPer  nicht  3ur  (Semein* 
fchaft  gehört,  h<*t  barauf  feinen  2lnfpruch,  unb  biefe  (Semem* 
fchaft  war  urfprünglid?  eine  fehr  enge,  erft  h<>chft  allmählid) 
hat  fie  fich  erweitert  unb  bamit  3ugleich  ber  (Sebanfe  ber 


plan  t>et  Urtterfucfymtg* 


85 


rechtlichen  unb  jtttltchen  Berechtigung  unb  (Sebunbenheit,  Bis 
er  fchließlich  bei  bem  Punft  angelangt  ift,  ber  unfere  heutige 
21nfchauung  charafterijtert:  red]tltche  unb  jtttliche  <5emeinfchaft 
ber  gan3en  UTenfchheü*  Das  serjtehe  ich  barunter,  wenn  ich 
von  einem  ^ijlorif chen  2lbhängigfeitst>erhältnis  [106]  bes  Sitt* 
liehen  von  ber  2tusbehnung  ber  <5efeHfchaft  rebe,  urfprünglid? 
fiel  lefctere  3ujammen  mit  bem  Vevhanbe  ber  (Senoffen,  fyeut* 
3utage  umfaßt  fte  bie  gan3e  UTenfchh*tt»  Siefen  enblichen 
2tbfd^Iu§  bes  <£ntwicflungspro3effes  bes  Sittlichen  auf  €rben 
hat  bie  Spraye  treffenb  wiebergegeben  mit  bem  2tusbruc? 
UTenfchlichfett. 

Unter  bem  praftifdjen  2lbhängigfeitsserhältms  ber  jttt* 
liehen  Hormen  von  ber  (SefeHfchaft  serftehe  ich  ben  <£influß, 
ben  gefeUfchaftlidje  Unterfdjiebe  auf  unfer  ftttliches  Urteil  unb 
Oerhalten  ausüben,  Dom  Stanbpunfte  ber  abflraften  ethifchen 
Theorie  aus  fommen  biefelben  gar  nicht  in  Betracht,  ein 
gefchlechtliches  Vergehen  wiegt  gleich  fchwer,  ob  ein  UTäbchen 
ber  höhten  Stäube  ober  ein  Bauernmäbchen,  ein  prebiger 
ober  ein  fjelbentenor,  ein  2tft  ber  XHutlofigfeit,  ob  ein  ®ffi* 
3ier  ober  ein  Schneiber,  eine  wiffenfdjaftliche  Cetchtfertigfeit, 
ob  ein  (Belehrter  ober  ein  <§eitungsf Treiber  jtch  beffen  fchulbig 
gemalt  h<***  IDir  werben  fehen,  baß  unfer  ftttliches  Urteil, 
wie  es  nun  einmal  ift  —  unb  bie  Catfächlichfeit  besfelben 
bilbet  überall  bie  (ßrunblage  meiner  Betrachtungen  —  fich 
gan3  perfcfyeben  bagegen  perhält.  Das  f^cigt  aber  m,  a.  ffl. 
unfer  ftttliches  Urteil  reagiert  gegen  gefeüfchaftliche  UTomente 
—  warum?  wirb  ftch  feiner3eit  3eigen, 

Den  2lnfchlu§  ber  Celeologie  bes  Sittlichen  bilbet  ber 
Xladiwexs  ber  2lnwenbbarfeit  bes  t>on  uns  aufgehellten  Ulaß* 
ffabes  bes  Sittlichen  als  bes  gefellfchaftlich  ZTüfelichen  auf  bie 
Staatsgewalt  3jl  bie  (SefeHfchaft  bas  [107]  gweeffubjeft 
bes  Sittlichen,  fo  iji  bie  Staatsgewalt  als  Vertreterin  ber- 
felben  in  erfter  Cinie  berufen,  bas  Sittliche  3u  t>erwirf  liehen 

6* 


Kapitel  IX.   Die  fokale  ItTedjanif*  Das  Sittliche* 


unb  3u  fördern»  Sritt  fie  bei  ihren  2tnorbnungen  mit  ben 
fittlidien  2tnfchauungen  bes  Volfs  in  IDiberfpruch,  fo  unter* 
liegt  auch  fie  bem  Dorwurfe  bes  Unfittlichen  unb  3war  nid^t 
bloß  in  be3ug  auf  ein3elne  sorübergehenbe  ZHajjregeln,  fonbern 
nicht  minber  in  be3ug  auf  bie  rechtlichen  3nftitutionen,  bie  fie 
einführt,  ober  bie  fie,  nachbem  fie  ihre  Berechtigung  in  ben 
2Iugen  bes  Polfs  verloren  haben,  aufrecht  erhält. 

2lls  3toeiter  2lbfdinitt  ber  Ch^orie  bes  objeftip  Sittlichen 
mü£te  bie  Unterjochung  über  bie  Quelle  bes  Sittlichen  folgen. 
3ft  bas  fittliche  (Sefühl  eine  ZHitgtft  ber  Ztatur  ober  ein 
JDerf  ber  (Sefchichte,  finb  bie  fittlichen  (Srunbfä&e  bem 
21Tenfchen  angeboren,  ober  bilben  fie  einen  Jtieberfchlag  ber 
gefd)id]t!id)*gefeHfchaftlichen  (Erfahrung?  3^  serweife  biefe 
5rage  jeboch  an  eine  fpätere  Stelle  bes  IPerfes,  wo  fie  in 
etwas  anberer  (Seftalt,  nämlich  als  5*age  r>om  Urfprunge  bes 
Hechtsgefühls  wieberum  an  uns  h^antreten  wirb.  23eibe 
fragen  laffen  fich  nicht  soneinanber  trennen,  unb  bei  ber 
Slltematwe,  bie  3U  einer  einigen  3uf  ammengefaßten  5tage 
entweder  fchon  h*er  obev  *rft  fpäter  3U  behanbeln,  entfehieb 
ich  mich  aus  3wei  (Srünben  für  le^teres,  einmal  weil  bas 
Hecht  im  plane  meines  IPerfes  bie  erfte  Stelle  einnimmt,  unb 
fobann,  um  mir  für  bie  gegenwärtige,  ftofflich  bereits  mehr 
als  mir  lieb  ift,  überlabene  £>arfteHung  eine  wünfehenswerte 
[108]  (Entladung  3U  t>erfchaffen.  3^  fann  es  inbeffen  nicht 
umgehen,  meine  Anficht  bereits  Ipex  mit3uteilen,  ba  id]  im 
Perlaufe  ber  folgenben  (Entwidmung  oft  genötigt  bin  auf  fie 
23e3ug  3U  nehmen. 

2Iuf  bie  5^age  nach  bem  Ursprünge  bes  fütlidien  (Sefühls 
antwortet  eine  Sh^orie,  welche  fo  alt  ift  als  bas  wiffenfehaft* 
liehe  3)enfen,  unb  welche  fich  r>on  ben  Sagen  ber  gried)ifd^en 
phüofophen  bis  auf  bie  (Segenwart  behauptet  hat:  bas  fitt« 
liehe  (Befühl  ift  bem  2Henfchen  angeboren,  bie  tfatur  ((Sott) 
hat  es  ihm  ins  ^er3  gefenft    3ch  be3eichne  bementfprechenb 


Die  nattoifiifdje  unb  Me  gef <^t<^tlt^gef eltf d?af tltd?e  (Theorie.  85 


btefe  Cfyeorie  als  bte  natipiftifdje.  Xlnv  barm  roctd^en 
ifyre  Derteibiger  soneinanber  ab,  baß  bie  einen  bie  an* 
geblidje  ZHitgift  ber  2Tatur  auf  ein  bloß  formales  <£r* 
fenntnist>  er  mögen  befdjränten  (formaliftifdj  «natisi* 
ftifdje  Cfyeorie).  Wie  ber  ZlTenfdi  fid?  feines  2luges  erft  be* 
Lienen  muß,  um  bte  2lnfdjauung  t>on  ber  2tußemr>elt  in  jtdj 
auf3uneljmen,  fo  aud>  jenes  <2rfenntnist>ermögens,  um  feine 
ftttltcfyen  2lnfdjauungen  3U  gewinnen*  <£ine  3tx>ette  2lnftd}t 
(fubftantiell*natit>ijHfdie  Cfyeorte)  erftrecft  bie  Mitgift 
ber  Hatur  auf  ben  ^nl\aU  biefes  (Sefüfyls,  fo  baß  ifyr  3U* 
folge  bem  ZHenfcfyen  bte  funbamentalen  Xtormen  für  fein  fitt* 
liebes  %ani>eln  ebenfo  angeboren  toären,  wie  bie  logifdjen 
(Sefefee  für  fein  Denfen, 

Der  natit>iftif  djen  O>eorie  fefee  idj  meinerfeits  bie  gefcfyicfyt* 
lidje  gegenüber.  Zlid\t  bie  Statur,  fonbern  bie  (Sefdiidjte  ift 
bie  Urheberin  bes  Sittlichen  unb  3toar  nidjt  [109]  bloß  ber 
3ur  5orm  bes  Bettmßtfetns  erhobenen  (ßebanfen:  ber  fittlicfyen 
Hormen,  3been  unb  bes  biefelben  in  5orm  bes  Unberoußten 
in  ficfy  tragenben  fittlidjen  (Sefüfyts,  fonbern  audj  bes  fittlidjen 
IDillens.  Die  2lnjtcfyt  pon  bem  fyftorifdjen  Hrfprung  unferer 
fittlicfyen  2lnfcfyauungen  ift  bereits  r>or  nafye3u  3tt>etfyunbert 
3a^ren  t>on  Cocfe  in  feiner  bekannten  Scfyrift  über  ben 
menfcfylicfyen  Derftanb  sertetbigt  toorben.    2lber  feine 

<2ntbecf ung  —  in  meinen  2tugen  eine  ber  größten  Caten  bes 
menfd}Iid?en  (Seifies  im  Caufe  ber  gan3en  &)eltgefd]td}te,  eine 
voative  Hiefenleiftung,  bie  jeben  mit  Betounberung  r>or  ber 
(ßetoalt  ber  menfdilidjen  Denffraft  erfüllen  muß  —  ift  an 
ber  fpäteren  <£tfyf  unb  Bed?tspfylofopfyie  fpurlos  vorüber* 
gegangen.  Statt  bes  t>erfyängnist>ollen  3U  fpät  traf  fie  ber 
Dortourf:  3U  früfy!  Selbjl  ein  fo  gewaltiger  (Seift  tr>ie  Kant, 
ber  in  be3ug  auf  ben  Don  £ocfe  ebenfalls  behaupteten  fyifto* 
rifcfyen  ilrfprung  aller  unferer  tfyeoretif d]en  (£rfenutniffe 
feinen  (Seban!en  aufnahm,  t>ermod]te  fid]  in  be3ug  auf  bie 


86  Kapitel  IX.   Die  fokale  nTed?anir\   Das  Sittliche* 


praftifd?cn  Waty: Reiten,  meldte  unfer  angeblich  angeborenes 
fttttidjes  (SefüBjI  uns  lehren  foUf  nidjt  von  ber  ererbten  E>or* 
Rettung  frei  3U  machen,  unb  bie  £eijre  von  bem  angeborenen 
fittlidjen  (Sefüfy,  fei  es  als  5orm  bes  <£rfenntnist>ermögens, 
fei  es  als  3nk£9r*ff  t^altt  3beenf  fei  es  unter  biefem  ober 
jenem  Hamen:  als  <5ert>iffen,  fittlidjer  Crieb,  Der* 
nunfttrieb,  Dernunft,  angeborne  3been,  natürliche 
lüa^r^eiten,  DemunfttoaBjrBjeiten,  unb  toeldje  Flamen 
man  fonft  für  [110]  eine  unb  biefelbe  DorfteHung  in  Bereit« 
fdjaft  ^atf  biefe  PorfteHung  ^at  ftdj  nod?  bis  auf  ben  heutigen 
tEag  behauptet*). 


*)  3^?  P^He  einige  «geugniffe  aus  ben  legten  3afyren  (1878— J880) 
3ufammen.  fy£o^e,  21?if  rof  osmus ,  Bb.  2,  21ufL  3  (1878)  5»  338  ff., 
insbefonbere  S*  3^0  „ein  unaustilgbarer  Keim  bes  (Suten  ift  bem 

menfcr/Itdjen  (Seift  im  <8etr>iffen  angeboren  aber  bas 

naturroüdjfige  (Semüt  bes  ITCenfdjen  erzeugt  feinestuegs  bie  flare 
(Einfielt  in  alle  ftttltc^en  (Sebote".  €.  t>on  artmann,  Phänomene 
logie  bes  ftttlidjen  Betimgtf eins ,  Berlin  (X879)  5. 322  ff*  3<h  tjebe  ben 
Sat$  auf  5.  325  rjercor.  „Die  bem  XUenfdjen  innerootfnenbe  Der* 
nunft  roirb  fo  3um  autonomen  <Sefet$geber,  inbem  fie  aus  bes 
Iftenfcr/en  fittlidjem  eigenften  IDefen  heraus  ben  fatego* 
rtfdjen  21nfprucfy  ergebt,  bag  audj  im  menfdjlicfyen  fjanbeln  alles  vex* 
nünftig  3ugelje  unb  bas  Demunftmibrige  ausgefd?loffen  bleibe.  Wix 
tpiffen,  bag  bie  Vernunft  gan3  ebenfo  ben  21nfprudj  ergebt,  bag  aud> 
im  menfdjlicfyen  Denfen  alles  cemünftig  3ugelje,  unb  bag  biefer  Tin- 
fprud)  feinen  21usbrucf  ffnbet  in  ben  logifdjen  Denfgefetjen  unb  bereu 
Ünmenbung  auf  (Erkenntnistheorie  unb  ITCetljobologie;  bies  ift  ber  fate* 
gorifd?e  3mP^atir>  ber  Demunft  auf  ttjeoretifdjem  (Sebiete,  n>ie  bie 
rationellen  (ßefefee  bes  ^anbelns  berjeuige  auf  praftifd^em  Ge- 
biete. 3e  ^ad?  bet  Betätigung  ber  freien  Vernunft  auf  biefem 
ober  jenem  (Sebiete  unterfdjeibet  man  eine  trjeoretif d?e  unb  praf* 
tifdje  Seite  berfelben,  ober  aud?  fiu^er  ausgebrüeft  eine  theorettfcfye 
unb  praftifdje  Pernunft".  £icbmann,  21nalvfe  ber  IPirFIicfyfeit, 
Strasburg  (J88Q)  S.  652:  Das  (Seariffen  fei  nid?t  blog  eine  formale, 
inhaltsleere  Anlage  ober  ^unftion,  bie  ihren  fpesiftfdjen  3nfjalt  r»ou 
äugen  erhalte.  5.  670  „natürli d?es  nid?t  fünftlid]  aner3ogenes 
<8etr>iffen\  fjugo  Sommer,  Die  (Et^if  bes  pefftmismus,  in  ben  preug. 
3at|rbüdjem,  Bb.^3  S.  396  (1880);  „Das  (geunffen  ift  bie  ein3ige  wahre 


(Sefd^tcfytltd^gefellfdjaftlidje  (Efyeorie» 


87 


[III]  2)en  (Srunb  ber  <£rfolglofigfeit  ber  <£ntbecfung  £ocf  es 
fann  idj  nur  barm  erblicfen,  baß  er,  n>ie  er  im  Sinne  feiner 
Aufgabe  (Kritif  bes  menfcfylicfyen  (£rfemttnist>ermögens)  alter* 
bings  burfte  unb  mußte,  fiel]  auf  bie  ZTegatit>e  befdjränfte, 
baj$  bie  fittlicfyen  (Srunbfäfee  bem  ZHenfcfyen  nicfyt  angeboren 
feien,  ofyne  pofitip  ben  Zladimeis  3U  erbringen,  n>ie  unb 
xpo^er  bie  ZTTenfcf^^eit  in  ben  Befifc  i^rer  fittlicfyen  (Srunbfäfee 
gelangt  fei  unb  bas  3nbir>ibuum  ba3u  gelange.  Zlad\  biefer 
Seite  t|in  glaube  id?  mit  fjilfe  bes  (Srunbgebanfens  biefer 
Sdjrift:  bes  groedes  feine  Untersuchung  bemnädjft  t>erpoH* 
ftänbigen  3U  fönnen. 

3n  fonfequenter  Verfolgung  biefes  (Sebanfens  bin  idj  3U 
ber  Über3eugung  gelangt,  baß  alle  Beditsfäfee  unb  Hedjtsein* 
ridjtungen  ofyne  21usnal}me  praftifcfyen  tnotioen  ifyren  Urfprung 
oerbanfen,  lebiglid?  ZTieberfdjläge  ber  fyftorifdjen  (Erfahrung 
fmb,  baß  fein  einiger  berfelben  bem  ZHenfdjen  burd?  fein 
angebornes  Bedjtsgefüfyl  x>orge3eid)net  roorben  ift,  felbjf  nidjt 


aprtorifttf d?e  (Srunblage  aller  Sittlidjfeit",  3n  be3ug  auf  anbere 
Sdjriftftefler  bin  tdj  mcfyt  t>öllig  ftc^er,  ob  tdj  fie  t^iert^er  3äfylen  barf,  fo 
3*  3,  3*  3*  Baumann,  £?anbbudj  ber  ITCoral,  £etp3ig  tpeldjer 
S.  7<k  „ben  (Sang  ber  HTenfdjtjeit  auf  bie  Hatur  bes  XDillens  unb 
bie  (Sefetje  fetner  2lusbilbung"  grünbet,  S.{2%  von  moralifdjen  (Ten- 
ben3en  fprtcf/t,  rpelcfye  bem  ItTenfcfyen  üon  Einfang  an  bet3ulegen  feien 
Je  Ii  i  X)atjn,  Die  Dermmft  im  Hecr/t,  Berlin  (1879)  unb  21bfj*  in  ber 
«geitfdjrift  für  vergleich  enbe  Hecfytsnnffenfdjaft,  Bb*3,  S.  5  (1880),  u>o 
er  bie  XHoral  auf  bie  3&ee  bes  (Suten  unb  ben  Crieb  ber  fyarmonifdjen 
(Seftaltung  r»on  Selbjterljaltung  unb  Eingebung  3urücffüfyrt.  3n  bem 
angebltcr/en  befonberen  (Triebe  für  bas  Sittliche  fann  idj  nur  eine  von 
ber  Hatur  bem  HTenfcr/en  gewährte  befonbere  Beanlagung  für  bas  Sitt* 
üdje  erblicfen*  Bei  ber  gegenwärtigen  3tr>eiten  Auflage  trage  idj,  um 
ntcfyt  alle  Stimmen  auf3U3CÜjlen ,  nur  nod?  nadj  Scfyuppe,  <Srunb3Üge 
ber  €tfn'f  unb  Hecfytspfnlofoptye,  £etp3tg  \88[,  S.  25,  26,  *58  („ins  §ev$ 
gefdjrtebene  (Sefet}"),  £a3arus,  Das  £eben  ber  Seele  in,  S.  52,  21uflf*2* 
geller,  Begriff  unb  Begrünbung  ber  flttltd?eu  <5efet$e,  Berlin  J883, 
S.  U,  J2,  28»  Dagegen  ift  feit  ber  erften  Auflage  ber  XDerfes  bie  von 
mir  vertretene  tjtftorifcfye  2lnfid?t  verfochten  u>orben  t>on  paul  Hee, 
Die  <£ntftefytmg  bes  (Sennffens,  Berlin  J885* 


88  Kapitel  IX.   Die  feciale  Ittecfjamf.   Das  Sittliche* 


bie  eiuf adi\Un,  fdjeinbar  [112]  ftcf?  r>on  felbft  *>erjlel|enbeu 
Hedjtstpafyrfyeiten*  T>a§  er  nidjt  morben,  rauben,  [teilen  biirfe, 
t}at  ber  ZTTenfd^  erft  auf  bem  IDege  ber  €rfafyrung  lernen, 
fte  erfl  fyat  ifyn  belehren  muffen,  ba§  babei  ein  (Semeinleben 
nxdit  befielen  fann  —  aud)  im  Hechte  tote  in  allen  fingen 
fyat  bie  ZHenfd^ett  erft  burdj  Stäben  fing  tperben  muffen, 
bie  ITatur  Ijat  bem  XUenfdjen  für  bas  Hecfjt  feine  anbere 
2lusfiattung  mit  auf  ben  £ebenstr>eg  gegeben,  als  für  alle 
übrigen  £>tx>eige  bes  prafttfcfyen  iDiffens:  feinen  Perfianb,  um 
fidf  feine  (Erfahrungen  3unufee  3U  machen,  unb  fotsenig  fte 
ifyt  gelehrt  ^at,  Sd}ul}e,  Kleiber,  Efäufer,  Schiffe  3U  machen, 
ebenfotoenig  fyat  fte  ifym  eine  2tmseifung  getoäfyrt,  bie  tljm 
nötigen  Hecfytsetnricfytungen  l}er3uftelten.  Kur3,  bas  Hedjt  ift  nid)t 
minber  ein  fyifiorifdjes  probuft,  als  bas  I}anba>erf,  bie  Schiffs* 
bantnnft,  bie  Cecfynif  —  fou?enig  roie  bie  ZTatur  bem  2lbam 
bie  Dorfteltung  eines  Kod]topfes,  Schiffes  ober  einer  ©ampf* 
mafcfyine  in  bie  Seele  gelegt  f?at,  aus  ber  er  fte  im  Caufe 
ber  <5>eit  nur  mühelos  Ijeraussuljolen  brauchte,  u>ie  es  bei  ben 
Hec^tsibeen  ber  5att  fein  foll,  ebenfotsenig  bie  bes  (£igen* 
tums,  ber  €fye,  ber  btnbenben  Kraft  ber  Verträge,  bes  Staats. 
Unb  roas  von  bem  Bedjte,  ben  Hecfytseinricfytungen  unb 
Bedjtstpatjrfyeiten,  gan3  basfelbe  gilt  audj  t>on  ben  mora* 
lifdjen  (Srunbfäfeen  unb  r>on  ber  Sitte,  fur3  von  ber  gefamten 
fittlicfyen  JDelt.  2)te  gan3e  ftttlidje  JDeltorbnung  ijl  ein  pro- 
buft ber  (Sefcfyicfyte,  b.  t,  genauer,  bes  gtoedfgebanfens,  ber 
unausgefefeten  Cätigfeit  unb  Arbeit  bes  [113]  menfd}lid7eu 
Derftanbes,  ber  mit  jeber  Hot,  ber  er  abhalf,  jebem  öebürf* 
niffe,  bas  er  bef  riebigte,  nur  ben  23oben  fyerftetlte,  auf  bem 
ein  neues  öebürfnis,  ein  neuer  §wed  ftdj  ergeben  tonnte. 
T>er  groeef  Ijat  in  JDtrflicfyfeit  bie  5äfygfeit,  tt>eld]e  f(egel  in 
feiner  btaleftifdjen  UTetfyobe  fälfd^lid]  bem  Segriff  beilegte: 
er  entlägt  flets  einen  neuen  aus  fidj,  er  tfi  bas  Perpetuum 
mobile  ber  £Deltgefd)id}te. 


(Sefdjtdjtlidje  Bübuttg  bes  flttltdjen  (gefügte.  89 


Zlnt  ber  Umftanb,  baß  bie  <Brunbfät$e  unb  ZHafimen,  bie 
ber  XHenfd}  auf  bem  H)ege  einer  unenblicfy  langen  (Erfahrung 
|td]  ab  jlrafyert  B^at,  bem  ein3elnen  3n&i*>töuum  in  einem  fo 
frühen  Hilter  unb  in  einer  fo  unfcfyeinbaren  5orm  3ugetragen 
werben,  baß  jebe  Kontrolle  feinerfeits  über  bie  r>on  außen 
erfolgte  21ufnafyme  ausgefd>toffen  ift,  fyat  ben  (ßlauben  ^cr* 
oorgerufen,  baß  bas  Hecfytsgefüfyl  angeboren  fei.  X>as  er* 
toad^enbe  23ewußtfein  ftnbet  fidj  im  Seftfe  aller  biefer  fl?a^r* 
Reiten;  was  ift  natürlicher  als  bie  ZHeinung,  baß  fie  i^rem 
Cräger  unb  fomit  auefy  bem  menfcfylicfyen  (ßeifte  überhaupt 
von  allem  2lnfang  an  3U  eigen  gewefen  feien?  Die  <geit  liegt 
nodj  nicht  lange  hinter  uns,  wo  bie  2TEebi3m  unb  ZTatur* 
wiffenfdjaft  in  ben  perfdjiebenen  <§erfefeungspro3effen  bes 
organifdjen  Körpers:  ber  €iterbilbung,  5äulnis,  (Särung, 
bem  Schimmeln,  Perwefen  ufw,  r>on  innen  heraus  (fpon tan) 
erfolgenbe  Porgänge  erblicfte.  3n3wifd]en  t[at  bie  iDiffen* 
fchaft  mit  Jjilfe  bes  ZHifroffops  ben  ZXadiwexs  erbrad]t,  baß 
alle  jene  pro3effe  r>on  außen  burch  Aufnahme  ber  bem  un* 
bewaffneten  [III]  21uge  nicht  wahrnehmbaren  in  ber  £uft 
fcha>ebenben  pÜ3e  unb  Sporen  hervorgerufen  werben» 

Vas  Phänomen,  um  bas  es  fich  bei  ber  5tage  pom  fitt* 
liefen  (Befühle  Ijanbelt,  ift  gan3  basfelbe,  21uch  bie  fittlichen 
H>al)rl|eiten  fchtoeben  gleich  jenen  Sporen  in  ber  uns  um* 
gebenben  £uft,  wir  atmen  fie  ein,  ohne  uns  beffen  bei  ber 
^iQmä^lid^feit  unb  Unmerflichfeit  biefer  Aufnahme  unb  bei 
bem  3U  biefer  Seit  noch  söllig  uuentwicfelten  «guftanb  unferes 
(ßeijtes  bewußt  3U  werben.  Wenn  bie  €t^i!  fich  entfchließen 
wirb,  benfelben  IPeg  ber  ejaften  Beobachtung  ein3ufchlagen, 
wie  bie  ZHebi3in  unb  Haturwiffenfchaft,  fo  wirb  fie  auch  3U 
bemfelben  Hefultate  gelangen,  unb  ich  lebe  ber  feften  Über* 
3eugung,  baß  eine  fpätere  geit  über  bie  Anficht  r>on  ber 
fpontanen  Beugung  bes  fittlichen  (ßefühls  im  ZHenfchen 
ebenfo  urteilen  wirb  wie  über  bie  Cl]eorie  r>on  bem  fpontanen 


yo 


Kapitel  IX.    Die  totale  XTCedjamt   Pas  Stttlidje. 


Auftreten  ber  gefetjungsp^effe  im  menfd? liefen  Körper:  3rr- 
tümer  ber  Vov$eit,  bie  in  ber  Ungenauigfeit  ber  Beobachtung 
i^ren  (Srunb  Ratten,  unb  bie  nur  burefy  ZHangel  an  Kritif  fo 
lange  i^r  Ceben  5U  friften  vermochten.  3n  ber  <Sefd>id}ts* 
tr>iffenfd?aft  t^at  man  längjl  erfannt,  ba§  bie  Kritif  ber  Quellen 
bie  erfte  unb  unerläpdjfte  Aufgabe  bes  ^iftorifers  ift.  3jt 
es  nicht  an  ber  <§eit,  ba§  bie  <£tfyf  fich  enblich  einmal  ber- 
felben  Pflicht  beimißt  nnrb,  bie  Quelle,  aus  ber  fie  fchöpft,  einer 
Kritif  3U  unterwerfen?  Zlatnv  ober  (Sefchichie?  (£ine  €thtf 
unb  Hecfytspbilofopfyie,  welche  biefe  5r<*ge  nicht  [115]  3um 
(Segenftanbe  ber  ernfteften,  einbringenbften  Unterfuchung  macht, 
erfennt  fich  in  meinen  2lugen  bas  präbifat  ber  IDiffenf-chaft* 
lichfeit  ab.  ZHag  fie  bie  Staqe  beantworten,  rote  immerhin 
fie  wolle,  aber  wenn  fie  bie  5*<*ge  umgebt,  fo  ift  bas  ganse 
(Sebäube,  bas  fie  errichtet,  auf  5anb  gebaut  unb  aller  2luf  * 
put$  mit  fchönen  unb  t|oc^flingenben  phrafen,  an  benen  es 
nirgenbs  weniger  fehlt  als  in  ber  €thif,  fann  nur  ba3u 
Lienen,  ben  Kontra jt  3wtfchen  ber  Dernachläffigung  ber  erften 
funbamentalen  Aufgabe,  ber  (ßrunblegung ,  unb  ber  23e* 
fchaffung  biefes  5litterwerfs  nur  um  fo  fühlbarer  unb  greller 
3U  machen. 

2>er  3toeite  2lbfchnitt  ber  folgenben  Unterteilungen  I^at 
ben  fitt  liehen  2DilIen  3um  (Segenftanbe.  2tn  ihm  hängt 
i>ie  praftifebe  IDirflid^feit  bes  Sittlichen,  ohne  ihn  ifl  basfelbe 
bloß  etwas  (Sebachtes,  PorgefteUtes ,  Beabfichtigtes,  nichts 
Xöirfliches,  Heales,  —  ein  3bealbilb  ber  (SefeUfdjaft  t>on 
demjenigen,  was  fein  foll,  was  aber  nicht  ift. 

JDofyer  nun  ber  fittliche  JDille?  Der  Cljeorie  t>om 
angebomen  ftttlichen  (Sefühle  macht  bie  5rage  nicht  bie  ge* 
ringfte  Schwierigfeit.  So  leicht  wie  es  ihr  fällt,  bie  5**age 
von  bem  Urfprunge  bes  Sittlichen  auf  bie  Ztatur  ab3ulaben, 
cbenfo  bie  t>om  ftttlichen  IDiHen.  3hr  3ufoIge  I>at  bie  Zlatux 
uns  mittels  bes  ftttlichen  (Sefühls  nicht  bloß  3um  <£rfenuen 


<5 efdjidj tltcbe  Silbung  bes  ftttitcfyett  XXHÜens* 


(theoretifch  *  natiüiftifche  Cheorie),  fonbem  auch  3um 
XPollen  bes  Sittlichen  ausgerüftet  [116]  (praf tifch*  natioi« 
ftifche  Ch^orie),  Der  Schufegeift,  ben  fie  uns  mitgegeben:  bas 
^etsiffen  lehrt  uns  nicht  bloß,  was  gut  unb  böfe  ift,  fonbem 
nötigt  uns  auch,  feine  Mahnungen  3U  befolgen  —  bas  XüoEen 
bes  Sittlichen  ift  nur  bie  etoas  mühfame,  aber  von  bem  fxtt* 
liefen  (Befühl  als  unabläfftg  unb  unerbittlich  in  (Erinnerung 
gebrachte  praftifdje  Konfequen3  bes  HMffens.  §roei  tx>iber* 
ftrebenbe  Criebe  hat  öic  ZTatur  bem  ZHenfdjen  emgepflan3t 
3n  bie  eine  £}er3fammer  hat  ^n  Egoismus  gelegt,  in 
bie  anbere  bas  ftttliche  (ßefühl,  ber  2T£enfch  ift  von  XXatnv 
aus  3tr>iefpältig  angelegt  —  bie  Cheorie  bes  pfychologi« 
fchen  «groeif  ammerfvftems. 

ZTach  meiner  2tuffaffung  ift  ber  IDille  bes  ZHenfdjen  von 
ber  Xlatnv  t>on  vornherein  einheitlich  angelegt  Der  menfdv 
liehe  IDiHe,  roie  er  aus  ben  ^änben  ber  Hatur  von  allem 
Anfang  an  fytvovgeQanQen  ift  unb  täglich  neu  fiert>orgeftt, 
hat  lebiglich  bie  Erhaltung  unb  Behauptung  bes  eignen  3^* 
3um  groeef  (Selbflerhaltungstrieb),  es  ift  m.  a.  ZD.  ber  naefte, 
bürre  (Egoismus,  ben  bie  ZTatur  bem  ZtTenfchen  eingepflan3t 
hat  Die  (Sefchichte  allein  ift  es,  tr>etche  aus  ihm  bie  ftttliche 
(Sejtnnung  h^orbringt  2ln  bem  freatürlichen  IDillen  gleitet 
bas  Sittliche  ab,  tt>ie  bas  IDaffer  am  harten  Stein,  ber  3n' 
telleft  wie  ber  IDilte  bes  2Ttenfchen  bringen  für  bas  Sittliche 
nicht  bie  minbefte  (Empfänglichkeit  mit;  alles  Sittliche:  bas 
XDiffen  wie  bas  XPolten  besfelben  ift  probuft  ber  (Sefchichte, 
bes  gefdjichtlichen  Gebens,  ber  (Sefellfchaft.  Die  Umtoanblung, 
[117]  welche  ftch  mit  bem  freatürlichen  menfehlichen  JDillen 
im  Caufe  ber  gefchichtlich*gefellfchaftlichen  (Entroicflung  voü* 
3ogen  hat,  um  ihn  3ur  Aufnahme  bes  Sittlichen  empfänglid? 
3ii  machen,  ift  feine  geringere  getoefen,  roie  bie  bes  Reifens, 
ber  erft  unter  ber  fortgefefcten  <£imx>irfung  ber  2Itmofphäre 
hat  senxnttem  müffen,  um  jtch  mit  ZHoos,  (Sras,  (ßejiräuch, 


92 


Kapitel  IX.   Die  fatale  XTCedjanif,  Das  Sittliche, 


Säumen  3U  bebecfen.  3afyrtaufertbe  haben  sergeljen  müffen, 
um  bies  fertig  3U  bringen.  33et>or  fid]  als  le&te  pfyafe  ber 
<£ntu>icflung  ber  VOalb  auf  bem  $el\en  t|at  ergeben  fönnen, 
mußte  bie  Vegetation  alle  Porftufen  burdjlaufen,  vom  fümmer* 
lidiften  ZHoos  an  bis  3 um  Saum,  um  aHmäfjlid}  ben  Boben 
3U  bereiten.  Denfelben  €ntroicElungsgang  I|at  audj  bas  Sitt* 
Hdje  in  ber  Welt  genommen,  es  Ijat  mit  bem  Hofften  be* 
ginnen  muffen:  mit  bem  Verbote  txm  ZHorb,  Haub  unb 
Diebftafjl,  unb  3tr>ar  3unäd)ft  nur  mit  ber  JtuffteHung  unb 
ijanbfyabung  besfelben  im  Kreife  ber  (ßenoffen,  um  ftdj  fobann 
erft  aßmäfylidj  3U  Ijöljeren  formen  unb  23ilbungen  3U  ergeben 
—  alles,  bas  Kleinfte,  rote  bas  (größte,  Ijat  bie  <Sefd]id}te 
erft  bem  (Egoismus  abringen  müffen. 

2>iefe  gefdjidjtlidje  (Erhebung  bes  (Egoismus  3ur  fittlidien 
(ßefinnung  bilbet  bie  Aufgabe  bes  3tr>eiten  Ceils  ber  folgenben 
Unterfucfyung:  ber  Cljeorie  bes  fittlidjen  Willens.  <£s 
iß  bas  größte  XHeifterftücf,  toeldjes  bie  <Sefd)id]te  auf  <£rben 
fertiggebracht  tjat,  mit  biefer  £eijlung  fann  fid]  feine  t>on 
allen  anbern  meffen*).  23ei  [118]  allen  anbern  Ceiftungen, 
meiere  ber  menfdjlidje  (Seift  im  Saufe  ber  3al)rtaufenbe  be* 
fdjafft  t|at,  fällt  ber  €nbpunft  bes  <Enttt>icflungspro3effes  in 
bie  Bidjtungslinie  bes  erften  Anfangs,  Stoff  fommt  3U  Stoff 
I^in3u,  es  ift  nur  ein  ^ortfcfyritt  in  quantitativer,  nicfyt  in 

*)  2Iudj  nicfyt  bie  ber  €r3iefjung  ber  UTenfd^eit  3um  (Sefyorfam, 
auf  tpelcfye  tdj  bei  einer  anbern  (Selegenljeit  eingeben  werbe*  2Jud>  fte 
toar  eine  auger orbentlid?  fdjurierige,  benn  bas  Sdjtüierigfie  unb  £}öd>fte, 
was  bie  (Sefdjicfyte  mit  ber  ITCenfd$eit  fertig  3U  bringen  ^atte,  betpegt 
fidj  auf  bem  Soben  bes  IDillens,  nicfyt  bes  3ntellefts;  nur  rvev 
nie  über  bie  Scfytxrierigfetten  ber  (E^iefjung  bes  ITCenfdjengefdjledjts  3um 
VOoUen  nacfygebacfyt  l^at  unb  naiü  genug  ift,  (Sefjorfam  unb  ftttltd?e  <Se> 
finnung  als  ettuas  Selbftüerftänblidjes  3U  betrauten,  fann  bie  £eiffunge?i 
bes  menfcfylidjen  3ntellefts  über  bie  bes  menfdjlicfyen  Hillens  fefeen  — - 
es  Ijat  tr>eit  me^r  ba3u  gehört,  ben  5inn  ber  (Sefe^Iid?feit  unb  bie  fttt- 
lidje  (Sefinnung  in  bie  Wtit  3U  fefeen,  als  bie  Dampfmafdime,  bie 
<2if enbalmcn  unb  ben  elef  triften  Telegraphen. 


(Sefdjtdjtlidje  Btlbung  bes  fittlid?en  VOiUens.  95 


qualitative*  23e3iehung*  2lber  bei  ber  hiftorifchen  €rhebung 
bes  (Egoismus  3ur  Sittlichfeit  bilbet  ber  Schlugpunft  bes 
<£ntu>idlungspro3effes  ben  biametralen  (Segenfafc  bes  2Ius' 
gangspunftes:  ber  (Egoismus  ift  in  fein  gerabes  <Seg  enteil 
umgefchlagen,  er  I|at  fich  f elber  negiert  Die  änberung, 
bie  t|ier  t>or  fich  gegangen,  iji  qualitativer  2lrt,  bie  <5e* 
fchichte  bilbet  aus  bem  Cone,  bem  Ceige,  ben  bie  Statur  ihr 
geliefert  Ijat:  bem  natürlichen  ZlTenfchen,  bem  Ciere  ein 
XDefen  ^ö^erer  2Jrt,  welches  bas  gerabe  ZDiberfpiel  bes  ur* 
fprünglidjen  bilbet:  ben  fittlichen  ZHenfdjen;  ber  <£goijl  ift 
bas  JDerf  ber  Statur,  ber  ftttliche  ZTTenfch  bas  ber  <5e* 
fchichte. 

Die  5orm,  in  ber  fich  biefer  Umbilbungspro3e§  poltyeht, 
[119]  ift  bie  (Sefellfchaft  Sie  ift  bie  Quelle  alles  Sittlichen, 
2llle  ftttlichen  2lnfchauungen,  (ßrunbfäfee,  formen  ftnb  erft  burch 
bas  gefetlfchaftliche  Ceben  geförbert  roorben  unb  toerben  nnans* 
gefegt  burch  basfelbe  in  jebem  3n^^^uum  «tgeugt.  Das 
ift  bie  tljeoretifcfye  ober  intelleftuelle  Seite  bes  Sittlichen, 
welche  basfelbe  3um  (ßegenftanbe  ber  mehr  ober  minber 
Haren,  betonten  ober  unbewußten  Aneignung  von  feiten  bes 
Subjefts  macht  (ftttliche  (Erfenntnis,  ftttliches  (Befühl). 
3hr  fteh*  gegenüber  bie  praftifdje  ober  moralifche  Seite, 
b.  i.  bie  Dertoirflichung  ber  ftttlichen  (Srunbfäfee  burch  bas 
fjanbeln,  unb  ba3u  bebarf  es  ttueberum  ber  (ßefeüfchaft  unb 
ber  Einleitung  unb  Ziehung  bes  UMllens  3um  Sittlichen. 
Das  Hefultat  berfelben:  bie  bem  ZHenfchen  3um  Stüde  feiner 
felbft  geworbene  IDillensrichtung  auf  bas  Sittliche  be3eichnet 
bie  Spradie  als  bie  fittliche  <5efinnung.  IDiffen  unb 
IDollen  bes  Sittlid^en,  bas  ftttliche  (ßefühl  unb  bie  fittliche 
<5efinnung  ftnb  bas  JDerf  ber  (ßefellfchaft. 

3n  tx>elcher  IDeife  bie  <8efellfchaft  bie  ftttliche  €t'3iehung 
bes  XDiHens  fertig  bringt,  welche  Xfüttel  unb  IDege  ftch  ihr 
barbieten,  um  ben  (Egoismus,  ber  bie  Kraft  ift,  mit  ber  fte 


Kapitel  IX.   Die  foiate  IRedjamf.   Pas  Sittliche. 


arbeiten  mug,  aus  feiner  befdjränften  Sphäre  hercws3ulocfen, 
für  ifyren  Dienft  3U  gewinnen  unb  imterltcfj,  oljne  ba§  er 
felber  ein  Betpußtfein  bapon  hat,  um3ugejlalten,  darüber 
brauche  id?  mid?  an  biefer  Stelle  nid?t  aus3ulaffen,  ba  es  3um 
üerftänbnis  bes  ^olgenben  nicht  nötig  ift, 

[120]  Dem  Bisherigen  nad?  bilbet  bie  (Sefeüfchaft  mithin 
ben  2lngelpunft  ber  gan3en  <£thif.  2tHe  brei  oben  genannten 
Karbinalfragen  berfelben  führen  uns  auf  jte  3urücf.  Was 
ift  bie  Quelle  ber  fittlid?en  ZTormen?  Sie  (ßefellfchaf t. 
Was  ber  «gtpecf  betreiben?  Sie  <ßef  ellfd?aft.  Xüas  bie 
(E^eugerin  bes  jtttlichen  IDillens?    Sie  <Sefellfd?aft. 

ZHit  Hücffid)t  barauf  be3eid?ne  id?  bie  pon  mir  perteibigte 
©jeorie  als  bie  gef  ellfd?af  tlid?e.  3n  biefer  PoHflänbigfeit, 
b*  h*  gleichmäßig  auf  alle  brei  $vaqen  fid?  erftrecfenb,  ift 
biefelbe  bisher  nod?  nicht  aufgeteilt  iporben, 

<gu  biefem  präbifat  gefeßfchaftltd?  ift  als  3tpettes  nod) 
I|tn3U3ufügen:  gefd?ichtlid?,  ber  entfpred?enbe  ZTame  für 
meine  Cl^eorie  ift  bafyer  bie  gefchid?tlid?*gefellfd?af tlid?e. 

Über  bie[es  3tpeite  ZHoment  muß  id]  mir  perftatten,  mid] 
im  folgenben  etroas  tpeiter  aus3ulaffen. 

Der  (5runb3ug  ber  3ur3eit  nod)  fyerrfcfyenben  23ehanbtungs* 
rpeife  ber  €thtf  (toobei  id?  3unäd?jt  nur  bie  pfylofopfyfdie 
im  2luge  I?abef  über  bie  theologifd?e  roerbe  id?  midi  unten 
äußern)  ift  iBjr  ungef  d?ichtlid?er  £fyarafter.  3n  biefem 
negativen  punfte  treffen  fämtlid?e  etfyfche  CI|eorien  unb  2tuf< 
faffungen,  fotpeit  fie  3U  meiner  Kunbe  gefommen  finb,  überein, 
id?  fenne  feine  einige,  in  ber  bie  <ßefd?id?te  auf  bem  (Sebiete 
bes  Sittlichen  tpirflid?  3U  ihrem  Heerte  gefommen  tpäre.  3^nen 
[121]  allen  nämlid?  iji  gemeinfam  ber  (Sebanfe  eines  ab* 
foluten  b,  !?♦  pon  §eit  unb  ®rt,  alfo  pon  ber  <ßefd?id?te 
unabhängigen  (Z^avattexs  ber  jtttlid?en  XDal?rt?eiten*).  Die 


*)  §u  btefer  2lnfid?t  von  bem  abfohlten  Cfyarafter  ber  etfyfcben 


<Sefd?td?tüd?e  {Theorie  bes  Sittlichen. 


95 


gefchichtliche  fflieoxie  bes  Sittlichen  beruht  auf  ber  2lner* 
fennung  ber  Relativität  bes  Sittlichen,  ober,  um  einen 
früher  (I.)  von  mir  entoicfelten  (Segenf  at>  toieber  auf3u* 
nehmen,  auf  ber  (Erkenntnis,  baß  nicht  bie  Walixlieit, 
fonbern  bie  Bidjtigfeit  b.  h*  ^as  praftifchen  «gtoeefen 
bes  Cebens  2lngemeffene  ben  ZHaßftab  bes  Sittlichen  bilbet. 
3nbem  fie  bie  öebingtheit  bes  Sittlichen  burch  bie  3eitige 
(Entoicflungsftufe  ber  (SefeHfchaft  anerkennt,  fiebert  jte  fich  bie 
Zn8glid]feit,  aßen  (Entroidlungsphafen  öcs  Sittlichen  gerecht 
3U  tüerben  unb  felbft  2lnfchauungen  unb  (Einrichtungen  einer 
vergangenen  Kulturperiobe,  über  bie  unfere  heutige  2tuff äff ung 
bes  Sittlichen  bas  Derbammungsurteil  gefällt  hat,  3.  23.  bie 
frühere  Hechttojtgfeit  ber  $vemben  vom  5tanbp\mft  ihrer  <§eit 
aus  ihre  pollfommen  fittliche,  b.  i.  gefellfchaftlidie  öerech* 
tigung  3U3ugeftehen.  Vie  Schultern  bes  Kinbes  tragen  nicht 
bie  £aft,  ber  bie  Kraft  bes  ^Hannes  getoachfen  ijt,  ein  Dolf 
in  ber  Kinbheitsperiobe  [122]  nicht  bas  Sittengefet*  einer 
gereiften  geit.  (Einen  abfohlten  Kanon  bes  Sittlichen  auf» 
3ufteIIen  ift  um  nichts  beffer  als  im  £eben  ber  pjlan3e  bie 
letzte  <EnttDicEIungsphaf^  bie  Frucht  für  bie  aQein  berechtigte 
3u  erf  lehren.  ^}ebe  phafe  ift  gleichberechtigt,  benn  ohne  fte 
roäre  auch  bie  folgenbe  nicht  ba.  So  auch  beim  Sittlichen. 
IDill  man  bei  ihm  ftatt  r>on  Hichtigfeit  r>on  IDahrheit  fprechen, 
fo  fann  man  nur  fagen:  bie  lüahrheit  bes  Sittlichen  erf daließt 
fich  im  gefchichtlichen  Qinteretnanber  —  bie  <£nta>icf  lung 
ift  bie  XDahrheit. 


rDafyrfyetten  benennt  fid?  audj  Herbert  Spencer  in  feinem  bereits 
oben  ermähnten  IPerfe  „Die  (Eatfacfyen  ber  (Etfn'F,  nur  ba§  er  ber  ab« 
f  oluten  (Etfytf,  unter  ber  er  biejenige  rerfiet^t,  bie  er  t>on  feinem  Stant>* 
punfte  bes  fubjefttüen  Utilttartsmus  aus,  beffen  let$tes  giel  fubjeFttoes 
XPofylbeftnben  tfl,  für  bie  rtd?ttge,  aber  burdj  unfere  heutigen  fittlicfyen 
Zhtfcfyauungen  nodj  ntd?t  üerttnrfltdjte  hält,  bie  letztere  als  relattoe  b.fy 
im  ^ortfcfyritte  ber  «gett  3U  übertpinbenbe  (EtfytF  gegenüberstellt,  fietje 
Kapitel  XV  ber  Sdfrift. 


g6         Kapitel  IX.   Die  fatale  XTCedjantf,   Das  Sittliche. 

£>ie  unabwenbliche  Konfequen3  biejer  2luffaffung  begebt 
in  bem  gugeftänbnis,  ba§  berfelbe  5ortfchritt  in  ber  jtttlichen 
Jlnfchauung  ber  Wolter,  ber  t>on  jc^er  ftattgefunben  hat,  auch 
fernerhin  jtch  wieberholen  wirb,  baß  alfo  auch  auf  uns  unb 
unfere  (Einrichtungen  unb  fittlichen  3been  eine  ferne  geit  — 
benfen  wir  uns  immerhin  hunberttaujenb  3ahre  —  mit  bem* 
felben  23efremben  unb  5taunen  t^erabblidfen  wirb,  wie  wir 
auf  frühere  Kulturepochen.  Uns  wirb  fein  axxbexes  Schief \al 
befchieben  fein  als  es  über  plato  unb  2trijioteIes  in  be3ug 
auf  i^re  Cehren  von  ber  Bechtmäßigfeit  ber  Sfkwerei  er* 
gangen  ifh  IDir  haben  in  be3ug  auf  bie  (Einrichtungen,  mit 
benen  bie  (Segenwart  uns  umflammert  heilt,  unb  benen  unfere 
2Infchauungen  ftch  völlig  affommobiert  bähen,  biefelbe  Sinbe 
r>or  ben  2tugen  wie  fie  in  be3ug  auf  bie  ihrigen.  Diefe  Binbe 
fäHt  erfi  ober  lüftet  ftch  ein  wenig,  wenn  auf  bem  IDege 
einer  burch  bie  praftifch  3wingenbe  TXiadit  gefeHfchaftlich 
fchroer  [123]  empfunbener  Übelftänbe  bewirften  gewaltigen 
Umtoäl3ung  bie  reale  IDelt  eine  anbere  geworben  ift;  —  um 
ben  ZHenfchen  t>on  feinen  23anben  3U  befreien,  mu§  bas  £eiben 
bem  ©enfen,  ber  ©nficht  3U  £)ilfe  fommen, 

3ch  tiabe  bie  henrfchenbe  23ehanblungsweife  ber  <£thif  als 
bie  ungef  chichtliche  charafteriftert,  ich  füge  biefer  negativen 
Chcirafteriftif  bie  pofitipe  tixrx^u,  bie  ich  ebenfalls  mit  einem 
einigen  IDort  glaube  erbringen  3U  fönnen,  nämlich  mittels 
bes  2tusbrucfes  pfychologifch«  3)amit  glaube  ich  3ugleich 
bie  richtige  Stellung  angegeben  3U  liaherx,  welche  bie  bis* 
herige  philofophifche  (Etfyf  im  <Sefamt3ufammenhcmge  ber 
XDiffenf haften  einnimmt.  3ft  *>xe  menfehliche  Seele  ber  Sifc 
unb  bie  Quelle  bes  Sittlichen,  braudjt  ber  5orfcher  nur  liinab* 
3ufteigen  in  bas  3n^ere  bes  2TJenfchen,  um  ihm  ben  ganzen 
3nhalt  bes  Sittlichen  3U  entnehmen,  fo  bilbet  bie  <£thif  einen 
g>weig  ber  pfychologie.  Sie  tritt  bamit  auf  eine  Cinie  mit 
ber  Cogif,    letztere  h<*t  3U  ergrünben  bie  bem  ZlTenfchen 


llttgefdjtdjtlicfyer  C^arafter  ber  pfYodjIostfcfyen  (Etfjif*  97 


angebornen  (Sefefee  bes  Denfens,  jene  bie  ifym  angebornen 
(gefefee  bes  Ejanbelns,  beibe  entlegnen  ifyre  Kenntnis  ber 
Zlatur. 

£>on  biefer  pfydjologifdien  unb  eben  barum  nottoenbiger- 
tseife  ungefdjid}tlid)en  C^eorte  ber  <£tfyif  ift  eine  embere  su 
unterfcfyeiben,  meiere  bie  öebeutung  ber  (5efd)id)te  für  bie 
Cfyeorie  bes  Sittlichen  in  befcfyränfter  XDeife  3ugibt;  es  ift  bie 
cfyriftIid}*ti?eoloc}ifdie.  §u  ber  ZTatur  als  Quelle  ber  fttt* 
liefen  <£rfenntnis,  bie  audj  fie  nidtf  beffreitet,  gefeilt  fidt  für 
fie  noefy  bie  pofttio*göttlid}e  [124]  Offenbarung  burefy  bas 
<£fyriftentum  fyn3u*  Damit  ift  ber  (ßefcfyidjte  ber  Zutritt  ge* 
tpäfyrt,  aber  nidjt  ber  t>oHe,  freie,  toie  fie  iljn  begehren  fann, 
fonbem  nur  ein  fyödjft  befdiränfter*  Die  Cüre  für  fie  tsirb  nur 
geöffnet,  um  jteft  fofort  roieber  $u  f erließen,  mit  bem  einen 
2Ifte  ber  Offenbarung  fyat  bie  (Sefdjidjte  fidj  für  bie  tljeolo- 
gifdje  <2tfyf,  u>enigftens  bie  proteftantifdje,  t>oHftänbig  er* 
fdjöpft,  nur  bie  fatfyolifdje  Kirche  Ijat  fxcf?  in  bem  göttlichen 
£ei)ramt,  bas  fie  ftd?  3ufprid)t,  bie  XHöglid^feit  einer  fyftorif  cfyen 
5ortbiIbung  bes  djrifilicfyftttlidjen  Kanons  getoafyrt  Tibet  in 
be3ug  auf  ben  entfdjeibenben  punft:  bie  23eanfprudjung  bes 
abfoluten  C^arafters  ber,  fei  es  burdj  einmalige  ober  burd> 
fortgefefete  göttliche  Offenbarung,  ber  XHenfcf^eit  übermittelten 
fittlidien  IDafyrljeiten  ftimmt  bie  fatfyolifdje  Cefjre  mit  ben 
übrigen  cfyriftlicfyen  Konfeffionen  überein,  unb  bamit  ift  bie 
(Sefdjicfyte  im  prin3ip  negiert  Keine  auf  bem  (Srunbe  biefer 
£efyre  erbaute  <£tfyf  fann  einräumen,  baß  eine  ber  JDaljr* 
Reiten,  bie  fte  als  foldje  lefyrt,  biefen  (Ojarafter  jemals  ein« 
büßen  fönne,  ober  baß  bas  <5egenteil  berfelben,  roenn  es 
aud)  tatfädjlid)  nodj  folange  unb  fejt  bejianben  Bjabe,  jemals 
IDafyrljeit  getoefen  fei.  Der  ZTTaßftab  ber  iDatyrljeit  ift  einmal 
ein  abfoluter;  roas  nidjt  tDafyrljeit  ift,  fann  nur  3rr^m 
fein,  —  um  biefen  Safe  brefyt  pdf  ber  gan3e  (ßegenfafe  ber 
gefdjtd}tlid}en  unb  ungefd}td}tlid)en  Cfyeorie  bes  Sittlichen» 

v.  3 bering,  Der  £werf  im  Hed?t.  II.  7 


98 


Kapitel  IX.   Die  feciale  UTedjatttf*   Das  Sittliche* 


Die  oben  charafterifierte  pI|i[ofopB)tfd)e  23ehcmblungstr>eife 
ber  <£thif  macht  aus  ihr  einen  §rt>eig  ber  [125]  pfycho* 
Iogie  unb  eine  «gtoillingsfchtsefter  ber  £ogif,  bie  christlich» 
theologifche  einen  «gtoeig  ber  Ökologie  unb  eine  ^wiüxnqs* 
fch*t>efter  ber  Dogmatil,  bie  unfrige  einen  gtoeig  ber  <5efeß' 
fc^aftstr>iffen[d^aft  unb  eine  §tr>iUmgsfcha>ejier  aHer  berjenigen 
Dis3iplinen,  bie  mit  ifyr  auf  bemfelben  realen  23oben  ber 
gefchichtlicfygefeHfchaftlichen  (Erfahrung  ftefyen,  b.  fc  ber  3urts* 
pruben3,  Statiftif,  £lationalöfonomie,  politif, 

Damit  ift  bem  Vertreter  biefer  Sä&ev  ber  «gugang  5u 
ihr  eröffnet  unb  bie  2TCögIid]feit  geroährt,  fie  nicht  bloß 
in  ftofflicher  Be3iehung  burch  «?ertt>oHe  Seiträge  aus  bem 
Schate  feines  IDiffens  3U  Bereitern,  fonbern  fie  auch  burch 
bie  eigentümliche  2luffaffungstr>eife,  bie  gerabe  fein  fpe$ieller 
H)iffens3n?eig  in  ihm  ausgebilbet  I|at,  3U  förbem. 

ZHein  Perfuch  be3tr>ec?t,  bies  t>on  feiten  ber  3urisprubens 
aus  3U  tun,  unb  roenn  er  fich  als  fruchtbar  ern>eifen  fotlte, 
fo  tr>irb  bies  öffentlich  auf  Hechnung  bes  Umftanbes  31t 
fet$en  fein,  baß  ich  mich  ber  fitfyif  von  einer  Seite  Ijcr  ge< 
nähert  iiabe,  bie  mir  von  vornherein  bie  Dinge  unter  einem 
anbem  (Befichtspunfte  3eigte,  als  ber  philofoph  *>on  5ach  ibn 
mitbringt,  unter  bem  praftifchen  bes  gtoeefs.  Hnd\  für 
bie  ZDiffenfcfyaft  finb  bie  Zugänge  nicht  gleichgültig,  t>on  benen 
aus  man  fich  ih*  naht,  ber  eine  enthüllt  mehr  biefe,  ber 
anbere  mehr  jene  Seite  bes  (Segenftanbes;  —  bie  t>oße 
Kenntnis  ift  erji  gewonnen,  wenn  alte  biefe  Zugänge  t>erfud}t 
unb  bamit  [126]  alle  möglichen  Stanbpunfte  ber  Betrachtung 
erfchöpft  finb. 

Die  §ahl  ber  Dis3iplinen ,  toelche  in  ber  Sage  finb,  ber 
<2tht!  hilfreiche  fjanb  3U  bieten,  ift  übrigens  mit  ben  ango* 
gebenen  in  feiner  ZDeife  befdjloffen,  ich  felber  bin  bereits  tu 
ber  £age  getoefen,  anbere  für  meine  §wede  h^a^^iehen. 
Dahin  gehört  sunächft  bie  Sprachtoiffenfchaft,  über  beren 


Die  (Ettjif  ber  «gufmtft. 


99 


hohen  IDert  für  bie  Ermittlung  ber  fittlichen  21nfchauungen 
ich  mich  bereits  früher  (5.  }2ff,)  ausgelaffen  Ijabe,  unb  für 
ben  ich  auger  ben  früher  beigebrachten  Seiegen  noch  mand]e 
anbere  I^offe  beibringen  3U  fönnen.  Sobann  bie  ZHythologie. 
Heben  ber  (Etymologie  ift  fie  bie  ältejle  unb  3ur>erläfftgjte 
geugin  über  bie  jtttlichen  ilranfdjauungen  ber  Pölfer;  beibe 
5ufammen  laffen  jtch  als  bie  Paläontologie  ber  Ethi? 
be3eichnen.  3n  ben  J}anblungen  ber  (Sötter,  in  bem,  roas 
fie  ftch  erlaubten  unb  erlauben  burften,  ohne  in  ben  2tugen 
bes  Dolfs  ihren  2lnfpruch  auf  Verehrung  ein3ubü§en,  ifl  uns 
bas  ältefte  Urteil  ber  XHenfc^eit  über  bas  ftttlich  (Erlaubte 
erhalten,  es  fpiegelt  jtch  barin  ber  jtttliche  Kanon  ber  geit 
ab,  bie  (Sötter  jtnb  bie  petrifoierten  Cyp^n  bes  jtttlichen 
ZHenfdjen  ber  Hr3eit.  3n  anberer  H)eife  ifl  auch  eine  anbere 
T>is3iplin:  bie  päbagogif  berufen,  ber  fitfyif  n>erft>oHe 
Dienfte  3U  em>eifen,  tx>ir  roer ben  uns  unten,  bei  (Selegenheit 
ber  5rage  r>on  ber  23ilbung  bes  fittlichen  ZDitlens,  bat>on 
über3eugen. 

Die  (£t^if  ber  gufunft,  bie  realiftifche  unb  gefchichtlidje 
[127]  Etfyf  im  (Segenfafce  3ur  abftraften,  pfvchologifdjen, 
ungefchichtlichen  beruht  auf  ber  vereinten  ZHittoirfung  aller 
biefer  T>is3tplinen.  Sie  rt>irb  jebe  berfelben  in  ihren  Dienft 
Stellen,  von  jeber  berfelben  ben  Beitrag  entlegnen,  ben  jte 
3U  bieten  permag,  Den  meijien  roirb  jte  imftanbe  fein, 
bas  (Empfangene  reichlich  3urücf  3uerftatten ,  es  u>irb  jtch  ein 
Verhältnis  gegenseitigen,  für  alle  Ceile  gleichmäßig  befruch- 
tcnben  2tustaufd]es  herausjtellen*  3ch  reichte  barauf,  bies 
im  ein3elnen  tseiter  aus3uführen,  aber  ich  fann  tsenigftens 
ben  2tusbrucf  ber  Über3eugung  nicht  unterbrücfen,  ba§  bei 
allen  T>is3iplinen,  toeld|e  eine  praftifche  Be3iehung  3ur  Etfyf 
haben,  roie  ber  3uri5Pru^n3,  Stattftif,  Hationalöfonomie, 
politif,  päbagogif  biejenige  Seite,  mit  ber  jte  ftch  ber  €tfy? 
3uf ehren,  eine  t>öllig  anbere  lüürbigung  unb  2lusbilbung 

7* 


\00        Kapitel  IX.   Die  fostaie  IRe^antf*  Das  Sittliche. 


erfabren  toirb,  als  bies  bisher  ber  5aH  getsefen  ift.  Die 
ZTationalöfonomie  ift  bereits  mit  gutem  33eifpiel  »orange» 
gangen,  inbem  fie  ben  nationalöfonomif  d]eu  ZDert  ber  ptt* 
liefen  Kraft  unb  bie  pttlidje  23ebeutung  nationalöfonomifdjer 
Porgänge  anerfannt  tjat,  unb  audj  bie  Statiftif  Ijat  in  be3ug 
auf  iljr  pttlidjes  Beobadjtungsfelb  bas  roije  Befultat  ber 
H)irflid]feit:  bie  gafyl  in  Derbinbung  gebracht  mit  ben  gefeH* 
fdjaftlidjen  «guftänben,  in  betten  basfelbe  feinen  legten  (Srunb 
fyat;  i^re  ga^Ien  enthalten  nicfyt  bloße  naefte  Catfadjen, 
fonbern  praftifdje  pttlidje  Jtnforberungen  an  bie  (Sefellfdjaft, 
fie  bilben  bas  fosiale  Sdjulbbudj  berfelben,  aus  bem  bie 
Ztu^antoenbung  pdf  von  [128]  f elber  ergibt  2Iud?  für  bie 
3urispruben3  ber  §ufunft  verfprecfye  id)  mir  von  einer  innigen 
Berührung  mit  ber  <£tf}if,  ber  pe  bisher  fd?eu  aus  bem  IDege 
gegangen  ift,  einen  neuen  Jtuffd^ung,  idj  meine  nidjt  fotsofy 
einen  tfyeoretifcfyen,  fonbern  ben  ungleid}  Ijöfyer  an3ufd?lagenben 
praftifcfyen  ber  richtigen  <£rfaffung  ber  tt>id]tigen  Aufgabe, 
toeld^e  pe  für  bie  (SefeUfcftaft  3U  leiften  I}at,  ber  €rfenntnis, 
baß  biefelbe  nicfyt  ber  bes  XlTattjematifers  3U  vergleichen  tp, 
ber  bie  feinige  löft,  inbem  er  richtig  rechnet,  fonbern  ber  bes 
(S^ieljers,  bem  eine  Xfiadit  anvertraut  ift,  bamit  er  pe  3tt>ecf- 
entfpredjenb  praftifdj  vertvenbe, 

£jat  bie  (£tt|iJ  ber  <§ufunft  burdj  bie  vermehrte  <guful?r 
neuen,  it^r  von  i^ren  gmiIIingsfd)tDeftem  3U  ftellenben  Stoffes 
unb  bie  2tmr>enbung  ber  empirifd]*gefd}id}tlidjen  ZHetfyobe, 
roeldje  unbeirrt  burd?  vorgefaßte  „3been"  fid?  ben  Catfacfyen 
ber  ptilidien  XDelt  ebenfo  unbefangen  gegenüberftettt,  tvie  ber 
Statur  forfd}  er  benen  ber  natürlichen,  l\at  pe  baburd?  ben 
empirifcfyen  Ceil  ber  Aufgabe  gelöft,  fo  mag  ber  pfyfofoph 
von  $ad\  fommen  unb  bie  Summe  3ieljen. 

2tuf  aßen  praftifcfyen  (Sebieten  bes  menfdjlidjen  ZPiffens 
ift  bie  €rfenntnis  bes  Porl^anbenen  ber  erpe  Schritt,  ben 
3tveiten  bilbet  bie  Dertvertung  besfelben  für  bie  praftifd?en 


Die  (Ettiif  ber  gufunfi 


^01 


«gwecfe  bes  £ebens.  ZTadjbem  bie  Cfyeorie  erfannt  Ijat,  was  iftr 
unb  worin  es  feinen  (ßrunb  I^at,  wirb  jtdi  ifyr  bie  5rage  auf* 
drängen:  muß  es  fo  fein,  wie  [129]  es  ifi,  unb,  wenn  fie  glaubt, 
biefe  5rage  perneinen  3U  foßen,  wie  läßt  es  fidj  änbem.  Die 
richtige  <£rfenntnis  wirb  fid?  bavan  bewähren,  baß  fie  baburd? 
inffanb  gefefet  ift,  biefe  beiben  5rctgen  3U  beantworten. 

5oIange  bie  €tfyf  bie  Autorität  bes  fittlidjen  <5efül|ls 
als  abfolute  3nf*an3  cmerfennt,  ift  fie  an  beffen  2Ttacf}tfprüdje 
gebunben«  Die  einige  (Selegenfyeit,  ifyr  fritifdjes  Urteil  3U 
betätigen,  bieten  ifyr  bie  abwexd\enbm  ftttlicfyen  3^een  ber 
Ur3eit  ober  t>on  Pölfern  auf  nieberer  Kulturftufe,  eine  23e* 
redjtigung  berfelben  fann  fie  natürlich  nidjt  anerfennen,  fie 
fann  fie  nur  als  Hnooßfommenljeiten  ober  Derirrungen  3urücE * 
weifen.  3^ren  eignen  ftttltdjen  Kanon  bagegen  fann  fie 
ebenfowenig  ber  Kritif  unterwerfen,  wie  ben  bes  menfcfyltcfyen 
Denfens,  er  enthält  ja  bie  abfolute  XPatjrfyeit,  bie  ftdi 
ebenfowenig  in  5^ge  [teilen  läßt,  wie  fie  ber  Begrünbung 
bebärftig  ober  3ugänglidj  ift. 

Der  relative  ZHaßfiab,  ben  bie  gefd}id]tlid]e  £tf|if  für 
bas  Sittliche  aufftellt,  ermöglicht  nidjt  bloß,  wie  oben  bereits 
ge3eigt,  eine  richtige  IDürbigung  berartiger,  früheren  <ZnU 
wicflungsftufen  angefyörtger,  abweidjenber  (Seftaltungen  bes 
Sittlidjen,  fonbern,  was  ungleich  wichtiger,  audj  eine  Kritif 
unfever  eigenen  jtttlicfyen  Dorftellungen,  3f*  IDoEjl  ber 
(SefeUfcfyaft  ber  leitenbe  (ßeficfytspunft  aller  ftttßdjen  (Srunb* 
fäfee,  fo  l|aben  wir  bavan  ben  Ulaßjtab  in  £}änben,  biefe 
unfere  X>orftelIungen  unb  bie  befkfyenben  gefellfdjaftlidjen 
(Einrichtungen  3U  meffen  unb  3U  [130]  prüfen,  unb  wie  auch 
unfer  Urteil  ausfällt,  ob  für  ober  gegen  fte,  in  beiben  hätten 
ift  bies  oon  hohem  tPerte,  im  erften,  inbem  an  bie  Stelle 
bes  bloßen  (ßlaubens  bie  €rfenntnis  ihrer  XTotwenbigfeit 
tritt,  inbem  wir  innerlich  mit  ihnen  t>erföhnt  werben,  im 
Streiten,  inbem  bie  gewonnene  innere  Befreiung  pon  ihnen, 


\02         Kapitel  IX.   Die  feciale  UTe^atttf.   Das  Sittliche» 


bie  erlangte  (£inftcht  in  %e  mangelnbe  Berechtigung  bie 
2lufforberung  an  uns  heranträgt,  ihrer  ferneren  (ßeltung  ein 
<£nbe  3U  machen.  2tn  bie  Stelle  ber  inappellablen  3nftan5 
unferes  fittlichen  (Sefühls,  bes  ZHachtf prüdes  einer  unfern* 
troQierbaren  Autorität,  auf  bie  ber  IDilbe  mit  gan3  bemfelben 
Hechte  pochen  fann,  roie  tr>ir,  tritt  bie  objeftise  praftifche 
2)ebu3ierbarfeit  ber  fittlichen  formen»  So  u>ir6  bie  <£tfyf 
3ur  2lpologetif  bes  Sittlichen,  ber  bie  ban?bare  Aufgabe 
3ufällt,  uns  mit  bem  Sittengefefe  erft  wahrhaft  eins  3U  machen, 
nicht  mittels  jenes  erfchlichenen  <S  eftch  tspunftes,  ba§  basfelbe 
bas  <Sefet$  unferer  felbft  fei  (S.  80),  ber  nichts  als  bie  bem 
gefchichtlich  überfommenen  Stoff  auf  geliebte  €tifette  iji,  unb 
fich  bei  ber  Kritif  bes  eiit3elnen  gä^lich  unfruchtbar  eru>eift 
(Vit.  \<5),  jonbern  mittels  bes  2Tachtt>eifes,  ba§  unb  tt>arum 
un[ere  fittlichen  (ßrunbfäfee  für  bas  Seftehen  unb  (5ebeihen 
ber  (ßefelljchaft  auf  berjenigen  Stufe  ber  <£nttt>icflung,  auf 
ber  fie  fich  3ur3eit  t>orftnbet,  notoenbig  ftnb.  2lnjtatt  ben* 
jenigen,  ber  ihr  bie  5rage  vorlegt:  roarum  foll  ich  fittlich 
hanbeln?  mit  bem  XHachtfpruche  bes  fategorifchen  3mperatit>s: 
bu  mußt  ober  mit  bem  nur  tialbmafyveri  (Srunbe:  beines 
eignen  [131]  (ßlücfes,  beiner  Dollfommenheit  unHen  ab3u* 
finben,  tvertDeift  fie  ihn  auf  ben  wahren  (Srunb  aller  fittlichen 
2Inforberungen:  bie  (SefeUfchaft,  unb  fie  ermöglicht  es  ihm, 
fich  von  ber  Hottvenbigfeit  unb  Unentbehrlichfeit  berfelbert 
f  elber  3U  über3eugen.  Sieh  3u,  ruft  fie  ihm  3U,  toas  aus  ihr 
rpirb,  roenn  bu  unftttlich  J^anbelfi  —  bu  b.  h*  nicht  bu  ein* 
3elner,  fonbern  alle,  fo  wie  bu  —  lüge,  betrüge,  brich  bie 
<£he/  t>ertx>ahrlofe  beine  Kinber,  tue  Übles  benen,  bie  bir 
(Sutes  getan  haben,  *affe  bie  2trmen  verhungern,  benfe  ftets 
nur  an  bich,  nie  an  anbere,  unb  bann  fieh  3U,  was  aus  ber 
(SefeUfchaft  geworben  ift.  3ebe  fittliche  ZTorm  bilbet  einen 
ber  (Srunbpf eiler  ihrer  <£yiften3,  rüttle  an  ihm,  unb  bu  be* 
brohji  bie  Sicherheit  bes  ga^en  (Sebäubes. 


Die  (Etljtf  ber  «gufunft. 


\03 


Die  im  bisherigen  als  Aufgabe  ber  <£thtf  ber  ^^nft 
in  2tusficht  genommene  Kritif  unb  21pologetif  bes  Sitt« 
liehen  ^atte  bas  objeftis  Sittliche:  bie  richtige  ttuffenfchaftliche 
Setjanblung  ber  fittlichen  formen  3um  (Segenftanb.  <£me 
anbete  für  ben  <£nb$wed  bes  Sittlichen  noch  ungleich  belang* 
reichere  unb  banfbarere  Aufgabe  eröffnet  fich  ber  <£thtf  in 
be3ug  auf  bas  fubjeftio  Sittliche.  E[at  fie  ftdi  3u  ber  <£in« 
ficht  erhoben,  bag  ber  ftttliche  Wille,  ber  bes  ei^elnen,  u>ie 
ber  bes  gan3en  Dolfs,  ein  gefchichtltch<gefellfchaftliches  probuft 
ift,  ha*  fi*  bxe  treibenben  Kräfte,  toelche  bie  Ziehung  bes 
XüiUens  3um  Sittlichen  3utr>ege  bringen,  ben  <£injlug  aller 
jener  mannigfachen  5aftoren  im  Ceben  ber  (SefeUfchaft,  roelche 
[132]  3U  bem  <§tr>ecfe  mittsirfen,  ermittelt  unb  bargelegt,  bann 
braucht  fie  mit  biefer  ber  IDirflichfeit  abgelaufenen  23ilbungs* 
gefliehte  bes  fittlichen  XDißens  fich  nur  bem  £eben  3U3ufehren, 
um  ber  2TTenfchhctt  einen  Dienft  3U  leiten,  toie  er  nicht  groger 
gebacht  roerben  fann.  JDie  bie  <£rforfchung  ber  Cebens* 
begingungen  ber  Ciere  unb  pflan3en  bie  2Diffenfchaft  inftanb 
fefet,  in  ben  palmenhäufem  bes  Horbens  bie  palmen  ber 
Cropen  unb  in  ben  Aquarien  bes  5eftlanbes  bie  ©ertoelt  ber 
ZHeere  3ur  Keife  3U  bringen  unb  fort3upfIan3en,  inbem  fte 
fünftlich  beren  Cebensbebingungen  h^rftellt,  in  berfelben  IDeife 
geroährt  bie  (Ergrünbung  bes  23ilbungspro3effes  bes  fittlichen 
Willens  ber  <£thi?  bie  OTöglidifeii  bie  2T(ittel  unb  IDege  an- 
3ugeben,  roie  bie  ftttliche  IDillensfraft  ber  Station  fich  h^u 
lägt.  Die  Kenntnis  ber  Quellen  bes  fittlichen  (Seiftes  auf 
bem  tt)ege  ber  theoretischen  5°rfchung  erweitern,  Bjcigt  ber 
prafis  ben  it)eg  tr>eifen,  biefen  (Seift  f  elber  mehr  unb  mehr 
in  ihre  XHacht  3U  bringen. 

£öft  bie  (£thtf  biefe  Aufgabe,  fo  roirb  fie  aus  einer  blogen 
HMffenfchaft  eine  Kunft,  ein  §tr>eig,  unb  3tr>ar  ber  toichtigfte 
<§tx>eig  ber  foialen  politif:  nationale  päbagogif.  Unb 
bas  ift  meiner  Über3eugung  nach  bie  h^hc  Aufgabe  ber  €thif 


Kapitel  IX.   Die  fötale  medjantf.   Das  StitHd^ 


ber  gufunft.  Der  2Henfch,  ber  bas  Cier  unb  bie  pjlan3e  in 
feine  (ßetpalt  befommen  unb  bem  fpontanen  IPachstum  in 
ber  ZTatur  bie  fünftliche  gucht  fubftituiert  h<**,  tpirb  auch  an 
bem  menfchltchen  JOiQen  feine  Kunjl  unb  bie  XHacht  feines 
(ßeißes  in  immer  [133]  ijöfyerem  ZHaße  betpähren,  er  totrb 
es  lernen,  burch  Denpenbung  aller  ber  mittel,  tpelche  bie 
CI)eorie  ber  gefeüfchaftlichen  Sitbung  besfelben  ihm  an  bie 
I^anb  gibt,  bie  gefeHfchaftliche  (£r3iehung  bes  IDiUens  3um 
Sittlichen  in  einer  XDeife  3U  perpoHfommnen,  r>on  ber  eine 
Ǥeit  roie  bie  heutige,  bie  bas  3I|nc$e  reblich  getan  tiat,  um 
bie  Xdad\t  ber  fittlich  bilbenben  5aftoren,  über  tpelche  bie 
Vergangenheit  gebot,  ab3ufchtpächen,  unb  bie  aus  bem  Zfiunbe 
eines  ihrer  namhafteften  pfylofopB^n  (Schopenhauer)  bie 
Spröbigfett  unb  Unbilbfamfeit  bes  IDiHens  als  pt^ilofopE^ifd^cu 
Cetjrfafe  I^cxt  perfünben  hören,  fich  feine  DorfteHung  macht 
3ch  lebe  ber  feften  guperpdjt,  ba§  bie  ZHenfchhei*  nicht  immer 
fdjlechter,  fonbern  immer  beffer  tpirb*  2lber  allerbings  nicht 
pon  felbft,  inbem  fie  nichts  ba3U  tut  unb  ftcf?  bes  fpontanen 
ZDachstums  bes  fittlichen  (Seiftes  getröftet,  fonbern  inbem  fie 
bie  (Erfahrungen,  Cehren  unb  ZDarnungen  ber  (Sef dachte 
forgfam  beher3igt  unb  fie  praftifch  pertpertet. 

Diefe  praftifche  X>em>enbbarfeit  ber  (Ethtf  bar3utun,  ha^^ 
ich  mir  bei  meinen  folgenben  Unterfuchungen  fiets  angelegen 
fein  Iaffen,  fie  mögen  als  erfter  2lnlauf  3U  einer  Aufgabe 
gelten,  beren  apirfliche  Cöfung  ber  IDiffenfchaft  ber  gufunft 
vorbehalten  bleibt,  unb  burch  welche  bie  €thif  erft  bes  Heertes 
unb  bes  Hanges  teilhaftig  werben  wirb,  ber  ihr  gebührt, 
unb  beffen  nur  bie  bisherige  falfche  <3ehanblungstt>eife  fie 
perluftig  gemacht  h<*t:  bes  einer  praftifchen  IDiffenfchaft  unb 
$tpar  ber  praftifch  [134]  rpertpoHften,  ber  Königin  unter  ben 
(ßefellfchaftstoiffenfchaften.  Den  erborgten  51itterjiaat  ber 
abfoluten  XPahrheit  pon  fich  tperfenb  unb  aus  ber  Hebel* 
region  ber  Spefulation  fich  auf  bie  <£rbe  h^^blaffenb,  tpirb 


gmecf  unb  ITCotto  bes  Sittlidiin. 


\05 


bie  <£thif  ben  Schauplafc  ihrer  fünftigen  Cätigfeit  auffchlagen 
auf  bem  fejlen  Boben  ber  realen  IDirflichfeit  unb,  inbem  fie 
fich  bamit  bas  wahre,  b.  i.  bas  empirifttfehe  Perftänbnis  bes 
Sittlichen  erf fliegt,  rote  es  entfteht  unb  wächft  unb  wirft  im 
£eben  ber  (SefeUfchaft,  bem  ZHenfchen  ftatt  eines  abftraften 
für  alle  üölfer  unb  Reiten  gleichmäßig  3ugefchnittenen  3m* 
perattos,  eines  Spiegels  ber  menschlichen  DoHfommenheit,  bie 
hilfreiche  ^anb  bieten,  baß  er  bie  Schwierigkeiten  bes  langen, 
ihm  Porge3eichneten  IDeges  je  an  ber  Stelle,  an  ber  er  fleh 
augenblicklich  befinbet,  überwinbe;  fie  tx>irb  ihm  nicht  bloß 
ben  punft  3eigen,  ben  er  3unächft  3U  erreichen  l\at  —  unb 
es  fann  ftets  nur  ber  nächfte  fein,  benn  bie  fernen  ent3iehen 
fich  unfern  Blicfen,  fie  fommen  erft  in  Sicht,  wenn  bie  ZtTenfch* 
heit  fich  ihnen  genähert  h<**  —  fonbern  ihm  Reifen,  ihn  3U 
erreichen. 


[135]  <2rfier  llbfänitt. 

Die  Celeologie  &es  objefito  Sittlichen* 

\6)  Q\e  möglichen  gweeffubjefte  bes  Sittlichen.  — 
gweef  unb  TXlotiv  bes  Sittlichen.  —  2)er  IHenfch  bas 
einige  gwecffubjef t  —  Kritif  ber  inbipibualifHfdi* 
teleologifchen  Cheorie. 

Die  5rage  com  «gweef  bes  Sittlichen  lägt  fich  in  einem 
boppelten  Sinn  auf  werfen,  ber  mit  bem  oben  (S.  76)  auf* 
geseilten  (ßegenfafee  bes  objeftio  unb  fubjeftio  Sittlichen 
3ufammenfätlt.  3n  bem  erften  Sinne  bebeutet  fie:  was  ijl 
ber  gweef  ber  fittlichen  formen,  was  foüen  fie  in  ber 
IDelt?  in  bem  3weiten:  welchen  «gweef  ha*  ober  foH  bas 
5ubjeft  im  2luge  iiaben,  inbem  es  fie  befolgt?  3^  bebiene 
mich  bes  2tusbruds  gwed  im  folgenben  nur  im  erften  Sinne, 
ben  ^weef  im  3weiten  Sinne  nenne  ich  ZTCotis. 


\06 


Kapitel  IX.   Die  feciale  irtedjant?»   Das  Sittlid^ 


Daß  betbe  genau  3U  unterfcheiben  finb,  liegt  auf  ber 
^anb.  2Tlöglich,  baß  unfere  bemnächftige  Unterfuchung  bes 
fubjeftit>  Sittlichen  ergeben  wirb,  baß  gtoeef  unb  ZHotit>  jtch 
ber  3bee  bes  Sittlichen  3ufoIge  [136]  bedfen  f ollen:  3ur3eit 
wiffen  wir  barüber  noch  nichts.  21ber  3  weifellos  tft,  baß 
beibe  auseinanbergehen  fönnen»  Die  5ortpfIan3ung  bes 
ZHenfchengefchlechts  tft  objeftit>  gweef  ber  Ztatur,  etwas,  was 
fie  erreichen  will,  aber  bas  fubjeftwe  ZTTottx>,  bas  fte  3U  bem 
gweefe  beim  2XJenfchen  in  Bewegung  fefct,  ift  bie  £ujl.  Die 
XHutter,  welche  bas  Kinb  beftimmen  will,  bie  21r3enei  einsu« 
nehmen,  bebient  ftch  bes  Stücfs  «guefer,  um  basfelbe  willig 
3U  machen;  gweef  iji,  baß  bas  Kinb  gefunb  werbe,  ZTTotit) 
für  bas  Kinb  bie  ZHebi3in  3U  nehmen,  ift  bas  Stücf  §u<ier. 
So  müffen  wir  es  auch  t>on  vornherein  beim  Sittlichen  als 
möglich  anerfennen,  baß  gweef  unb  XHotw  auseinanberfaHen, 
baß  auch  neben  bem  Sittlichen  ein  Stücf  «guefer  liegt,  bureb 
welches  ber  gweef  besfelben  erreicht  werben  foH,  jebenfaüs 
aber  haben  wir  beibe  Begriffe  genau  3U  unterfcheiben. 

X?on  bem  2Ttotir>e  bes  Sittlichen  I^anbelt  ber  3weite  Ceil 
unferer  Unterjochung,  r>om  «gweef  ber  gegenwärtige.  3^ 
bisherigen  Behanblung  ber  <£tlji?  ift  bie  letztere  5r<*$e  Sur 
Ungebühr  über  ber  erjien  t>emachläffigt  worben.  Die  wiffen* 
fchafttidje  Bewegung  auf  biefem  (5ebiete  breht  ftch  feit  einem 
3ahrhunbert  faft  nur  um  bas  Verhalten  bes  Subjefts  3um 
Sittengefefe,  nicht  um  bie  objeftit>e  Bebeutung  unb  Be* 
ftimmung  besfelben.  Die  brei  5unbamentalrichtungen  inner- 
halb ber  <2thif,  welche  biefe  periobe  uns  aufweift:  ber  fttt« 
liehe  <£ubämomsmus,  ber  fotegorifche  3mperatio  Kants 
unb  ber  fubjeftit>e  Utilitarismus  [137]  Benthams,  ber  in 
neuerer  geit  wieberum  in  etwas  anberer  (Sefialt  von  fferbert 
Spencer  aufgenommen  iji,  tidben  lebiglich  bie  $va$e  5um 
(Segenft anbe:  warum  foH  ich  fittlich  lianbeln?  Darauf  ant- 
wortet bie  erfte  Chlorier  ber  ftttlichen  Befriebigung,  bie 


gtpec?  unb  XTCottP  bes  Sittltd^en. 


\0? 


3tx>eite:  bcr  Pflicht,  bie  brtttc :  bes  2tu&ens  tt>egen.  Wenn 
Kant  jebe  <gtx>ec!be3tehung  bes  Sittlichen  als  eine  Derunreint* 
gung  besfelben  3urüdtc>eift,  fo  I)at  auch  er  babei  nur  bas 
fubjeftipe,  nicht  bas  objeftit>e  gtsedmoment  im  Jluge,  2tQer« 
bings  taucht  lefcteres  fye  unb  ba  als  mttenrfenber  (Seftchts* 
punft  auf,  fo  insbefonbere  bei  23  entham,  allein  es  toirb 
nirgenbs  3um  (Segenftanbe  einer  einbringenben,  bas  fubjeltit>e 
Zfioment  fchlechthin  femfyaltenben  Unterfuchung  gemacht.  3ch 
glaube  batjer  3ur  befferen  £öfung  bes  etfyfcfyen  Problems  bet- 
tragen 3U  fönnen,  trenn  ich  bie  beiben  Fragen  fdjarf  von* 
einanber  fonbere.  3n&£™  tdj  bie  Frage:  was  beftimmt  bas 
Subjekt,  ober  was  f oll  bas  Subjeft  beftimmen,  bas  Sitten^ 
gefefc  3U  befolgen,  bem  3toeiten  Seile  meiner  Unterfuchung 
vorbehalte,  befchränfe  ich  mich  im  erjien  Seile  ftreng  auf  bie 
Frage:  tr>as  be3tt>ecft,  was  foH  bas  Sittengefefc  felber? 

Die  Por frage  ift  bie:  ob  tr>ir  basfetbe  überhaupt  unter 
bem  (Sefichtspunfte  bes  <§n>ecfs  betrachten  bürfen,  <£s  wäve 
ja  möglich,  baß  bie  Derteibiger  ber  natunflifchen  tLfyeovie  jtd> 
einfach  auf  bie  bloße  Catfache  3urücf3Ögen :  bas  Sittengefefc 
ift  einmal  ba,  gan3  fo  wie  bie  (Sefefee  ber  äußeren  Statur  unb 
bie  (Sefefee  bes  Denfens  —  u>er  tmll  ergrünben,  rt>arum  fxe 
ba  finb? 

[138]  3^  glaube  nicht  nötig  3U  traben,  biefe  bloß  als 
problematifch  t^ingcftelltc  Anficht,  von  ber  ich  nicht  toeiß,  ob 
jte  jemals  ausgefprodjen  ober  perteibigt  roorben  ift,  unb  bie 
ich  nur  bes  ftreng  logifdjen  Fortganges  unferer  Debuftion 
roegen  berührt  fyabe,  in  Betracht  3U  3iehen.  Sie  rt>iberlegt 
ftch  burch  ih^  eigene  Croftlojtgfeit  Sie  fteöt  bas  Sittengefefe 
hin  als  eine  rohe,  nadte  ZTohsenbigfeit,  ber  jtch  ber  ZHenfch 
blinblings  3U  unterwerfen  fyabe,  man  fönnte  jte  bie  Chlorte 
bes  brutalen  ethifchen  Fatalismus  nennen. 

Xüir  unfererfeits  ha^en  für  bas  Sittliche  an  bem  <gtr>ecfe 
feft  unb  flellen  bie  Forberung,  baß  jebe  ^eovie,  wie 


\0S         Kapitel  IX.   Die  feciale  IHedjanif.   Das  Sittltd?*. 

t>erfd)ieben  fie  auch  über  i>ie  Quelle  ober  ben  Urfprung  bes 
Sittlichen  benfe,  uns  über  bie  ££n>ecffrage  Hebe  unb  Antwort 
flehe.  ®b  man  ben  Urfprung  bes  Stttengefet^es  3urüc!führe 
auf  eine  unperfönliche  Ztatur,  auf  einen  persönlichen  (Sott, 
welche  uns  basfelbe  ins  E[er3  gefenft  ^aben  ober  mit  ber 
Cefyre  bes  C^riftentums  auf  bie  pofitis  göttliche  ©ffenbarung 
ober  enbltdj  mit  uns  auf  bas  gefchichtliche  Ceben  ber  (Sefeft* 
fchaft,  jebe  biefer  tE^eorien  muß  bie  gweeffrage  beantworten, 
wenn  fie  nicht  bem  obigen  Dorwurf  bes  ethifcheu  5atalismus 
verfallen  will. 

Wh  haben  btefe  5rage  fchon  oben  (3*  69  ff.)  bei  <ße« 
legenheit  ber  fprachltchen  Unterfuchungen  über  bas  Sittliche 
aufgeworfen,  um  3U  feigen,  ob  bie  Sprache  barauf  eine  2tnt* 
wort  erteilt 

ZDir  nehmen  bie  5*ctge  likt  wieberum  auf,  inbem  wir 
[139]  auf  ben  Hefultaten,  bie  ich  bort  begrünbet  3U  Reiben 
glaube,  weiter  fortbauen.    <£s  waren  brei: 

\.  3)ie  5rage  t>om  ^weefe  bes  Sittlichen  fällt  3ufammen 
mit  ber  nach  ^weeffubjefte  besfelben,  b.  i.  nach  bem« 
jenigen  perfönlidjen  tDefen,  beffen  Däfern  burch  bas  Sittliche 
geförbert  werben  foll. 

2.  (Sott  fann  es  nicht  fein. 

3.  £tur  ber  ZHenfch  fann  es  fein. 

2>ie  beiben  erften  Säfee  betrachte  ich  ctb  unanfechtbar 
unb  füge  Itter  nichts  weiter  tflnyx.  2tber  ber  britte  ifl  einem 
(Einwanbc  ausgefegt,  ben  ich  an  jener  Stelle,  um  bie  fprach* 
liehen  Unterfuchungen  nicht  3U  fehr  3U  unterbrechen,  nicht  auf* 
geworfen  iiahe,  bem  ich  aber  fyet  nicht  ausweisen  fann. 
€r  betrifft  bie  Se3iehungen  bes  Sittlichen  3um  Ciere. 

J)as  Sittengefefe  verbietet  uns  Cierquälerei,  folglich,  fann 
man  fagen,  erfennt  basfelbe  auch  gegen  bas  Cier  pflichten 
an.  pflichten  finb  aber  nur  möglich  gegen  ein  Subjeft,  md)t 
gegen  eine  Sache,  mithin  ift  auch  bas  Cier  als  3wed\x\bieft 


Das  gtpedfubjefi  —  Das  Cier,  bte  Sadje* 


109 


bes  Sittlichen  an3ujehen,  unb  mit  Bücf  ficht  barauf  taxxrx  bie 
2tnttt>ort  auf  bte  5rage  oom  gtoecffubjefte  bes  Sittlichen  nicht 
lauten:  ber  ZHenfch,  fonbern  bas  lebenbe  JDefen.  Damit 
Ratten  nnr  bie  belebte  Schöpfung  als  ben  Schauplafe  unb 
bas  Ceben  (Erhaltung,  tförberung)  als  gtsecffubjeft  bes  Sitt- 
lichen gewonnen. 

Die  Debuftion  fyat  etwas  Beftechenbes,  ich  halte  jte  aber 
nicht  für  richtig.  Xlad]  meiner  2Iuffaffung  ift  es  nur  [140] 
eine  Beflejtxnrfung  ber  ausfchließltch  auf  bem  XHenfchen  als 
«gtoecffubjeft  be$ogenen  *3bee  bes  Sittlichen,  ber  bas  Cier 
feinen  Schüfe  verbanft.  Das  Cier  ift  &wed objeft  für  ben 
ZHenfchen,  b.  h*  fehl  echt  hin  feinen  gtoecfen  bahin  gegeben, 
wie  fchon  einer  ber  älteften  2lusfprüche,  bie  toir  über  bas 
Verhältnis  bes  ZHenfchen  3um  Ciere  befifeen,  ber  jenige,  ben 
bie  mofaifche  Schöpfungsgefchichte  (Sott  bem  Ejerrn  in  ben 
ZTcunb  legt  (ZHofes  I,  D.  28),  anerfennt:  „Qerrfchet  über  bie 
iifdje  im  ZHeere  unb  über  bie  Vögel  unter  bem  f^tmmel  unb 
über  alles  Cier,  bas  auf  €rben  freucht".  2lber  ber  (Sebanfe 
ber  gtoecf  beftimmung  für  bas  menfchliche  23ebürfnis,  unter 
bem  ber  ZHenfch  toie  alle  Dinge  ber  &)elt  fo  auch  &as  Cier 
betrautet  unb  behanbelt,  fefet  ber  §u>ectpern>enbung  VTia% 
unb  §iel,  gioecflofes  23efchäbigen,  gerftöven,  Vernichten 
von  Dingen,  tx>elche  bem  2T!enf chen  bienen  fönnen,  enthält 
eine  Verfügung  ber  (ßefellfdjaft,  unb  rr>ie  bas  Hecht  in  beren 
3ntereffe  in  gersiffen  Verhältniffen  bafür  Sorge  getragen  hat, 
ba§  bie  Sache  biejenige  Vertt>enbung  ftnbe,  beren  fie  fähig 
ift  (Sebauen  ber  (ßrunbftücfe,  ber  römifche  ager  desertus,  bie 
Seftimmungen  neuerer  (Sefefegebungen  über  bie  Verpflichtung 
3ur  Kultivierung  berfelben  —  gebotene  Senufeung  von  Bau* 
pläfeen  in  ber  Stabt  —  Jlusnufeung  von  Sergtoerfen  — 
H)albpoIi3et  —  Verpflichtung  3ur  2lusnufeung  von  Kon3efftonen, 
patenten,  Privilegien  ufro,  f.  23b.  I,  5.  39^  —  397),  \o  hat 
auch  &as  fittliche  (Sefühl  bas  Anrecht  ber  (ßefellfd^aft  auf 


\{0         Kapitel  IX.   Dir  feciale  IHecfyanif*  Das  Stttltdje. 

Bealifterung  [141]  ber  <§tr>edEbeftimmung  ber  Dinge  richtig 
erfannt.  3n  bem  Dergeuben  t>on  Nahrungsmitteln,  5.  23. 
bem  tt)egtx>erfen  von  Brot,  felbft  in  bem  nufelofen  Brennen 
bes  Cichts  erblicft  bie  ZHoral  bes  gemeinen  ZlTannes  eine 
Siinbe,  unb  bie  gerftörungsluft  gilt  allgemein  unb  mit  Hecht 
als  Setoeis  ftttlicher  Hoheit,  ja  5äße  eines  frevelhaften  2tus* 
laffens  berfelben  an  ©bjeften  ber  Kunft  unb  IDiffenfchaft,  toie 
fie  bie  Cat  bes  fjeroftratus  am  Cempel  3U  <£phefus,  bie  bes 
©mar  an  ber  23tbltothef  in  2lle£anbrien,  bie  (Sräuel  ber 
Panbalen  an  ben  Kunftfchäfeen  Horns  enthielten,  l\at  bie 
(Sef  deichte  für  etüige  <§eiten  bem  2lbfcheu  ber  2ncnfd]I^ett  auf* 
betsafyrt;  bem  lefetgenannten  ^alle  hat  bie  Sprache  befannt* 
lieh  ben  Hamen  für  eine  berartige  Hoheit  entlehnt:  E>an* 
balismus.  T>as  fittliche  Urteil  nimmt  alfo  auch  bie  Sache 
in  Schüfe,  aber  es  geflieht  nicht  th^t*,  fonbern  ber  HTenf  chen 
roegen,  fie  ift  unb  bleibt  nur  gwedobieft,  aber  in  bem  gtoecJ* 
objeft  roirb  3ugleich  bas  §tr>ecf  fubjef  t  getroffen. 

3>iefen  Schüfe  teilt  auch  bas  ©er  mit  ber  Sache.  Slber 
bei  ihm  gefeilt  ftch  noch  ein  HToment  h^3u,  welches  bie  ©er* 
quäteret  in  fittlicher  23e3iehung  um  eine  Stufe  tiefer  fteHt  als 
ben  Panbaltsmus:  bie  nufelofe  gufügung  üon  Scbme^en  an 
ein  empfmbenbes  IDefen.  XDorauf  beruht  unfer  2Jbfcheu  gegen 
bie  Tierquälerei ?  Zfietnem  Dafürhalten  nach  ift  es  ber  2lb* 
fcheu  gegen  bie  (Sraufamfeit  überhaupt,  bie  ftch  am  ©ere 
nur  äußert.  3m  jugenblichen  ©erquäler  fürchten  unb  per* 
abfeheuen  roir  [142]  ben  fünftigen  ZHenfchenquäler;  er  beginnt 
beim  ©er  unb  enbet  beim  Hienfchen.  2luch  fy^  iß  meiner 
Anficht  nach  tt>ieberum  ein  abgeleiteter  Schüfe,  ber  bem 
©ere  3uteil  roirb.  3m  (Eiere  fchüfet  ber  ZHenfch  ftch  fetber, 
bas  Derbot  ber  (Sraufamfeit,  bas  er  feinetu>egen  auf* 
ftellt,  erforbert,  ba§  es  auch  bem  ©ere  gegenüber  beachtet 
roerbe. 

XDer  fich  mit  biefer  2luffaffung  nid)t  eim>erftanben  erflärt, 


gwecffubjeft  bes  Sittlichen.  —  (Tierquälerei*  \\\ 


bem  Ciere  pielmehr  einen  bireften  2lnfpruch  auf  Schufc  3U* 
erfennt,  gerät  in  ein  arges  (ßebränge*  3ft  bas  Ger  «gweef* 
fubjeft  bes  Sittlichen,  was  nur  ein  anderer  21usbrucE  für  bte 
lefetere  Jlnftcht  ift,  wie  rechtfertigt  5er  XHenfch  Schmer3en  unb 
Qualen,  bie  er  bem  Ciere  3*ifügt,  um  es  für  feine  <§wecfe 
3u  perwenben?  3)as  Schlachten  bes  Haustieres,  bas  Cöten 
bes  IDilbes  gilt  fittlich  nicht  für  perwerflich  unb  boch  müßte 
es  als  folches  gelten,  wenn  wir  bem  Ciere  jene  (gigenfehaft 
beilegen  wollten,  2tber  bem  menfehlichen  gweefe  gegenüber 
ift  bas  ©er  restlos,  lebiglich  gweefobjeft,  fchlechthin  feinen 
gweefen  preisgegeben,  unb  es  ift  von  fyol}er  XDidjtigfeit, 
biefen  (Sefichtspunft  fernhalten*  Ztur  mittels  feiner  lägt  jtch 
bas  Kec^t  ber  IDiffenfchaft,  bas  Cier  für  ihre  «gweefe  3U 
perwenben,  felbft  wenn  bie  Verfolgung  berfelben  mit  großen 
Qualen  für  basfelbe  perbunben  ift,  wie  3«  23.  bie  Derfuche 
bes  phYftoIogen  am  Ubenben  Ciere,  bie  Diptfeftionen,  gegen 
bie  Angriffe  aufrecht  erhalten,  welche  insbefonbere  pon  jenfeits 
bes  Kanals  her  *>°n  gut  meinenben,  [143]  aber  unperftän* 
bigen  £euten  bagegen  erhoben  finb,  3)as  ZHitletb  mit  bem 
Ciere,  burch  welches  letztere  fich  leiten  laffen,  ift  in  ZDirflich* 
feit  Ztücffichtslofigfeit  gegen  ben  ZTTenfchen,  eine  Perirrung 
bes  ftttlichen  (Sefühls,  bie  ben  ZHenfchen  opfert,  um  bas  Cier 
3U  fchonen,  es  ift  jener  gug  einer  ungefunben  fittlichen 
Sentimentalität,  bie  unfere  <§eit  unter  anbern  auch  barin 
befunbet,  i>a%  fie  ftch  bes  Verbrechers  annimmt  auf  Koften 
bes  pon  ihm  Sebrohten,  3)ie  Qualen,  bie  einigen  wenigen 
3u  Derfuchsobjeften  pertpanbten  Cteren  3ugefügt  werben, 
fönnen  burch  bie  <£rgebnif)"e,  welche  fie  ber  praftifchen  2Tfebi3in 
abwerfen,  Millionen  pon  ZlTenfchen  3ugute  fommen  —  um 
fie  jenen  3U  erfparen,  f ollen  biefe  geopfert  werben!  Kon« 
fequent  burchgeführt  würbe  biefe  ZTlübe  bahin  führen,  baß 
fein  Cier  mehr  gefchlachtet,  fein  Dogel,  fein  IDilb  mehr  erlegt, 
fein  5ifch  mehr  gefangen,  fein  pferb  mehr  geritten,  fein 


\\2         Kapitel  IX.   Die  fatale  HTedjanif.   Das  Sittliche* 

fauler  (Dd\s  ober  <£fel  gefdjlagen  werben  bürfte,  unb  bie 
{Eiere  würben  fcf^Itegltc^  ben  ZHenfcfyen,  ber  fief^  t>on  ifyien 
nid?t  mefyr  nähren  bürfte,  t>om  <£rbboben  serbrängen.  £ine 
(Einfpradje  gegen  bas  Hedjt  ber  UMffenfdjaft,  bie  (Eiere  für 
ifyre  gweefe  $u  x>erwenben,  barf  im  Zllunbe  ber  jenigen  laut 
werben,  weldje  biefe  Konfequen3en  anerfennen*  ZHeine  erfte 
5rage  an  einen  21poftel  biefer  ^xxUiixe  würbe  bafyn  gelten, 
ob  er  nodj  51eifdj  effe,  unb  pferbe  3um  Beiten  ober  5c^ren 
benufce*  Seja^t  er  fie,  fo  E^at  er  fid}  felber  gefdtfagen,  er  Ijat 
bamit  anerfannt,  baß  ber  ZHenfdj  bas  ©er  für  feine  «gweefe 
t>erwenben  [144]  barf,  felbft  wenn  er  ifyn  Sd\mex$en  ober 
Unbequemlichkeiten  3ufügt.  Die  21bftufung  in  biefen  Sd}mer3en 
von  ber  peitfdje  bes  Kutfdjers  bis  3um  Seile  bes  ZHefcgers 
unb  bem  ZHeffer  bes  p^ypologen  ift  nur  eine  grabueüe,  unb 
wer  letzterem  basfelbe  3U  entwinben  gebenft,  muß  ftdj  audj 
bie  peitfdje  unb  bas  Beil  ausliefern  laffen,  por  allen  aber 
bie  XDaffen  bes  Solbaten,  benn  letztere  bereiten  bem  ZlTenfcfyen 
ärgere  Sdimex$en  als  bas  Hleffer  bes  pfyvftologen  bem  (Eiere, 
ja  ber  muß  fonfequenterweife  fiel?  aud?  bas  Schwert  ber  <Se* 
redtfigfeit  ausbitten.  IDenn  ber  ZHenfdj  um  bes  Paterlanbes 
willen  ben  (Eob  unb  bie  furdjtbarften  Qualen  erleiben  muß, 
braucht  er  bann  3urücf3ufd)recfen,  um  ber  ZDiffenfcfyaft,  b.  i. 
bes  VOo\\Us  ber  Znenfd)fyeit,  willen  bem  (Eiere  ein  Cos  3U 
bereiten,  bas  ifyn  felber  nidjt  erfpart  bleiben  fann?  5ür  bas 
©er  wirb  bie  Stunbe  feiner  SicfyerfteUung  gegen  bas  <££peri< 
ment  bes  XHebi3iners  unb  ZTaturforfdjers  erft  bann  fdjlagen, 
wenn  bie  (51ocfen  ben  t>oöen  Sxieben  auf  Crben  einläuten: 
feine  Kriege  nadj  außen,  feine  Perbredjen  im  ^nnexn  unb 
barum  audj  feine  5trafen  im  3nnern,  feine  animalifcfye  (Er- 
nährung unb  .  ♦  .  feine  Kranffyeiten  für  ben  2ttenfd?en. 
Dann,  bei  biefer  XDieberfefyr  bes  parabiefes,  in  bem  ©d?s 
unb  <£fel,  Cöwe  unb  (Eiger  mit  bem  2TJenfdjen  in  fdjönfter 
<£mtrad}t  leben,  ofyte  jtdj  etwas  3uleibe  3U  tun,  befeljre  aud? 


Der  IHenfd?  «gtpecffubjefi  bes  Sittlichen*  ^3 


ich  mich  3U  jener  £ehre,  bie  ich  3m*3eit  mich  noch  gebrungen 
fühle  3U  befämpfen, 

[145]  3ch  faffe  bas  Befultat  bes  bisherigen  3ufammen: 
bas  Cier  ift  nach  richtiger  ftttlicher  2Iuffaffung  lebigltch  «gtsecf- 
objeft  für  ben  ZlTenfchen,  ewiges  gtoecffubjeft  bes  Sitt* 
liefen  aber  ift  ber  ZHenfd?, 

Der  ZHenfch.  Das  fann  bebeuten:  ber  ZHenfch  als 
<£in3elu>efen  gebacht,  in  feiner  3f°lierung  auf  ftch  felbft,  ober 
ber  ein3elne  als  <5lieb  ber  (SefeHfchaft,  fagen  roir  bas  3n* 
bir>ibuum  ober  bie  (ßefellfchaft.  £ntfcheiben  roir  uns  für 
bie  erjtere  2lltematit>e,  fo  t^etgt  bas:  bas  Sittengefe^  ^at  nur 
bas  3n&wibuum  in  feiner  3foKerung  im  2Iuge,  etroa  roie  ber 
2U43t  bei  feiner  Kur  ben  ein3elnen  patienten,  ber  leerer  bei 
ber  £r3iehung  ben  ein3elnen  «gögling*  ©b  bie  Aufgabe  bes 
2lr3tes  unb  £et>rers  fich  in  I^unberten  ober  taufenben  ^nbu 
x>ibuen  roieberholt,  ift  gleichgültig,  für  jeben  ein3elnen  ijl  fie 
mit  öefchränfung  auf  ihn  3U  löfen,  unb  fo  umrbe  auch  ber 
Hmftanb,  baß  bas  Sittengefefe,  tx>enn  es  einmal  feinen  §voe<S 
bem  3n^ir>^uum  entnehmen  fott  (irtbit>ibueHe  DoQfommen« 
heit),  feine  2tnforberungen  an  fämtliche  3ttbit>ibuen  ber  ZDeti 
richtet,  nichts  t>erfchlagen,  bas  <§u>ec£ftibjeft  bliebe  ftets  bas 
3nbioibuum»  Sagen  roir  bagegen:  bie  (Sefellfchaft,  fo  richtet 
bas  Sittengefefe  felbftoerficmblich  auch  tjtcr  fein  2tugenmerf 
auf  bas  3tt&uncmum,  aber  in  feiner  (Eigenfchaft  als  (Slieb 
bes  (5an3en,  ebenfo  wie  ber  militärifcfye  3nf^u^or  bei  ber 
militärifchen  2Uisbilbung  bes  Solbaten,  ber  nicht  ben  ein3elnen 
als  foldjen,  fonbern  als  <5lieb  bes  fyöfyeren  taftifcheu  (Sargen, 
bem  er  eingereiht  roerben  foll,  im  2tuge  hat 

[146]  3ft  ber  ein3elne  groeeffubjeft  bes  Sittlichen,  fo 
müffen  bie  fittltchen  formen  fo  befchaffen  fein,  ba§  fie  ihn 
für  bie  Verfolgung  feiner  rein  privaten  £eben£3tt>ecEe  taug- 
licher machen,  als  er  es  ohne  fie  fein  roürbe,  tt>oburch  nicht 
ausgefchloffen  ift,  bag  bie  vorteilhaften  HMrfuugen,  tt>eld]e 

r>.  3b  e  ring,  Der  ^werf  im  Hed?t,  II.  8 


Kapitel  IX.   Die  fetale  ItTecfyanif.   Das  Sittliche. 


jtc  in  feiner  perfon  er3eugen,  mittelbar  auch  anbem  3ugute 
fommeu,  rote  es  ja  ebenfalls  in  be3ug  auf  Teilung  bes  pa* 
tienten  burch  ben  2Ir3t  hinfichtlich  ber  5reunbe  unb  Ange* 
porigen  besfelben  ber  5aH  ift.  Aber  bies  wären  bann  nur 
bie  Hefle^wirfungen,  bie  bloßen  folgen  bes  Sittengefe^es,  in 
ihnen  würbe  nicht  ber  «gweef  besfelben  3U  erblicfen  fein,  fo* 
wenig  wie  bei  ber  Kur  bes  Ar3tes  —  letzterer  furiert  ben  pa* 
tienten  feiner  felbffc,  nicht  feiner  ^reunbe  unb  Angehörigen  wegen. 

3ft  bagegen  bie  (ßefeDfcfyaft  «gweeffubjeft  bes  Sittlichen, 
fo  muffen  bie  fittlichen  Hormen  fo  bef Raffen  fein,  baß  burch 
i^re  Befolgung  bas  Befte^en  ober  bas  Wofy  ber  (Sefamtheit 
geförbert  wirb,  womit  bie  vorteilhafte  Bücf  wirfung  auf  bas 
XDohl  bes  hattbelnben  3nbir>ibuums  nicht  bloß  als  mögliche, 
3ufällige,  fonbem  als  notwenbige  5oIge  gefegt  ift,  ja  nicht  bloß 
als  5olge,  fonbem  implicite  als  <gwecf.  T>as  3nbir>ibuum  ift 
(5 lieb  ber  (Sefeßfchaft,  lefetere  bas  probuft  ber  3nbit>ibuen, 
nur  nicht  ein  bloßes  Aggregat,  fonbem  bie  glieblidie  (Einheit 
berfelben,  bas  (5an3e  aber  fann  fich  nicht  wohl  befmben,  wenn 
ber  Ceil  leibet.  Sie  (ßefeüfchaft  als  gweeffubjeft  bes  Sittlichen 
umfaßt  auch  has  3n^töuum  ^  <§n>ecffubjeft,  nicht  aber 
[147]  umgefehrt  —  im  (San^n  fteeft  ber  Seil,  im  Cetle  nicht 
bas  <5an5e. 

XDir  verfolgen  ben  (Segenfafc  beiber  Auffaffungen  weiter, 
um  uns  ber  Konfequen3en  beiber  bewußt  3u  werben,  woburdi 
wir  uns  inftanb  fefeen  werben,  unfere  fchlteßliche  iDahl  3wifd]en 
beiben  3U  treffen. 

3ft  bas  3nbitnbuum  «gweeffubjeft  bes  Sittlichen,  fo  müffen 
bie  fittlichen  ZTormen,  ba  fte  bem  abftraften  Segriffe  bes 
3nbit>ibuums,  bem  fittlichen  3^aItvpus  bes  ZHenfchen,  wie 
er  feiner  2Tatur  nach  fein  foll,  entnommen  werben,  für  alle 
völlig  gleichlauten,  ber  (Einfluß  bes  gefellfchafttichen  ZTToments 
auf  bas  Sittengefefe  ift  bamit  ausgefchloffen,  fowohl  ber  ber 
(ßlieberung  ber  (Sefellfchaft,  welche  bie  Pflicht  für  biefes  (Slieb 


gtpecffubjeft*  —  3ttMmtom™  ober  (Sefettfcfyaft?  \\§ 


anbevs  geftaltet,  tote  für  jenes,  —  als  ber  ber  t>erfd}iebenen 
Cagen  ber  (Sefeüfdjaft  (beifpielstseife  Krieg  unb  Rieben), 
5ür  alle  3n^ir)^u^n  un^  f^r  Stellungen  unb  Aufgaben 
berfelben  innerhalb  ber  <Sefellfd]aft  fotoie  für  alle  Cagen,  in 
roelcfye  le&tere  möglid?eru>eife  geraten  fann,  fyat  r>ielmefyr  ber 
Kanon  bes  Sittlichen  t)öHig  gleid}  3n  lauten*  3ft  bagegen 
bie  (5efeHfd]aft  bas  «grcecffubjeft,  fo  ift  bamit  nxd\t  bloß  bie 
guläffigfeit,  fonbern  bie  2Tottx>enbigfeit  einer  2lffommobation 
bes  Sittengefet$es  an  bie  €igentümIid)Fett  ber  gefeHfcfyaftlidien 
Aufgaben  gefefet.  Xladi  Perfdiiebenfyeit  ber  glieblicfyen  5teIIung 
innerhalb  ber  (SefeHfcfyaft  fann  bas  Sittengefet^  biefem  3^* 
rnbuum  biefe,  jenem  jene  pjTicf}t  auferlegen,  im  Kriege  fann 
es  [148]  gerabe  bas  (ßegenteil  von  bemjenigen  r>erftatten 
unb  anbefehlen,  toas  es  im  ^rieben  sorfdjreibt,  ber  gause 
3nt|alt  besfelben  fann  fid]  t>erfd]teben,  im  Kriege  unb  3ur  <geit 
ber  Xloi  fann  bas  Sittengefe^  eine  anbere  Sprache  reben  als 
im  ^rieben  unb  3U  gewöhnlichen  «geiten* 

ferner:  3f*  ^as  3n^^^uum  3u>e<äfubjeft  bes  Sittlichen, 
fo  muß,  tsie  bie  Befolgung  ber  ftttlichen  Hörnten  fich  an 
ber  (Erhöhung,  fo  bie  Nichtbeachtung  berfelben  fid]  au  ber 
ZHinberung  feines  IPohlergehens  bofumentieren,  bie  nachteilige 
Bücftoirfung  bes  Unftttlichen  auf  bie  <5efeHfd]aft  bagegen  ift 
babei  3toar  möglich,  aber  feinestsegs  notoenbig.  3f*  abev 
bie  (ßefellfchaft  bas  groedfubieft,  fo  ift  bie  nadjteilige  lüirfung 
bes  Unftttlichen  auf  fie  unausbleiblich;  benn  tr>enn  bie 
Dertoirflichung  ber  fittlichen  Hormen  bie  Bebingung  ihres 
!Dof}lergei}ens  ift,  fo  muß  uotu>enbigerroeife  bie  Zlid\tvev* 
mixt lichung  berfelben  fie  fdictbigen,  a>omit  fid)  fehr  gut 
verträgt,  baß  bas  3n^t>töuum  babei  immerhin  noch  feine 
Rechnung  finbe. 

(gnblich  ein  Viertes,  3f*  öas  3n^t>ibuum  <§tr>ecffubjeft, 
fo  werben  roir  ihm  auf  bie  5rage:  toarum  foll  ich  fittlich 
banbeln?  antworten:  beinetoegen,  ift  es  bie  (ßefellfchaft,  fo: 

8* 


\\6 


Kapitel  IX.   Die  totale  HTecfyanif*   Das  Sittltd^ 


ihrettt>egen.  Wvc  berühren  bamit  bie  5rage  vom  VCiotiv  bes 
Sittlichen,  bie  voiv  $toav,  wie  oben  bemerft,  3ur3eit  noch  aus« 
fefeen,  bie  tr>ir  jeboch  hier  bereits  infotoeit  hinet^iehen  mußten, 
um  ben  <5egenfat$  ber  beiben  möglichen  2luffaffungen  vom 
g>we<£  bes Sittlichen :  ber  inbtt>ibuattftifch*teleogtfchen  unb 
ber  gefellfchaftlich'teleologifchen  [149]  x>ollfommen  bar- 
3ulegen<  ü?er  bie  5rage  nach  bem  TTiotwe  bes  ftttlichen  ^an« 
belns  (bas  fubjeftip  Sittliche)  im  erfteren  Sinne  beantwortet, 
wie  bies  t>on  feiten  ber  eubchnoniftifchen  unb  ber  fubjeftir> 
utilitariftifchen  fLfyeoxie  gefchieht,  hat  bamit,  tpenn  er  fem* 
fequent  fein  wiü,  auch  bie  gtseeffrage  (bas  objeftio  Sittliche) 
im  inbunbualiftifchen  Sinne  beantwortet,  er  gefleht  bamit  ein, 
bas  Sittengefet$  ift  nur  bes  3nbit)ibuum5  tt>egen  ba,  £ehnt  er 
bas  ab,  fo  fyat  er  eingeräumt,  baß  er  bas  fubjeftioe  ZHottp 
nicht  in  Übereinftimmung  mit  bem  objeftit>en  gwede  beflimmt 
habe*  <£r  weift  bann  bem  3nbir>ibuum  bie  Holle  bes  Kinbes 
in  meinem  an  früherer  Stelle  benutzen  Beifpiele  3U,  welches 
bie  2Hebi3in  nimmt,  nid\t  um  gefunb  3U  werben,  fonbern  um 
bas  Stücf  <§ucfer  3U  bekommen,  «gtoeef  unb  ZTlotiü  beefen 
fich  nicht  Seim  Kinbe  mag  bas  Stücfchen  §udEer  nötig  fein, 
bes  VTiannes  ift  basfelbe  umtmrbig«  3n  biefem  Sinne  hatte 
Kant  t>oHfommen  recht,  wenn  er  über  bie  ethtfehen  <§ud?er« 
theorien,  wie  man  bie  eubämoniftifche  unb  fubjefttp  utilita- 
riftifcf)e  nennen  fann,  ben  Stab  brach  unb  ihnen  feinen  herben 
fategorif chen  3mP*r  &er  Pflicht:  ber  Pflichterfüllung  um 
ber  Pflicht  roiHen  entgegenfefete,  es  war  ber  erfte  Schritt,  um 
fich  Dom  Xfiotive  3um  <§tx>ecf  3U  erheben,  bie  <gurücfu>eifung 
eines  ber  wahren  23ebeutung  bes  Sittlichen  nicht  entfprechenben 
fubjeftben  XHotips,  2lber  3U  biefer  2Tegatit>e  mußte  fich  bie 
pofttwe  hin3ugef eilen,  unb  biefen  Schritt  hat  Kant  noch  nicht 
getan.  3hm  3ufolge  müßte  [150]  ber  ZTCamt  bie  2TTebi3tn  ber 
2Hebi3in  wegen  nehmen  —  er  perlaugt  fogar,  baß  fte  ibm 
bitter  fehmeefe  —  in  ZtHrflichfeit  aber  nimmt  er  jte,  unb  foK 


Krittf  ber  mbimbualtftifcfyett  Cfyeorie* 


XU 


et  fte  nehmen,  um  gefunb  311  werben,  b.  et  fyanbelt  ftttlid) 
ber  (SefeDfcfjaft  toegen  —  erff  bamit  ift  bas  2T£otit>  auf  bie 
fjöfce  bes  gweds  erhoben* 

Wxt  müffen  jebod]  bev  ZHöglicfyfeit  Haum  laffen,  ba§  jene 
beiben  Cfyeorien  mit  bem  ZHottoe,  bajj  fte  bem  3n^^^uum 
für  fein  jtttlicfyes  £[anbeln  r>or3eidjnen,  sugleid?  ben  «gtoeef  3U 
treffen  gebenden,  b.  I).  baß  fie  fiefy  in  JDirflicfyfeit  ber  Tlot< 
roenbtgfeit  ber  Übereinftimmung  beiber  t>öllig  bemüht  gerr>efen 
fmb  unb  bemgemäß  ben  &wed  bes  Sittengefefces  lebiglicfy  in 
bas  3nbit>ibuum  fyaben  »erlegen  wollen. 

Vev\\xd\en  wxv,  wofyn  u>ir  mittels  biefer  Cfyeorie,  bie  idj 
als  inbit>ibualiftifd]*teleologifd}e  im  (Segenfafee  3U  ber 
von  mir  serteibigten  gef ellfcfyaf tlid}*teleologifcfyen  be* 
seicfyne,  gelangen*  XD'xt  fe&en  einen  Vertreter  berfelben 
ooraus,  ber  fte  uns  gegenüber  im  sollen  Umfange  aufregt 
erhält 

Die  Oiefts  lautet:  aHe  ftttlid^en  XTormen  fmb  bes  3nbi* 
mbuums  toegen  ba,  fie  be3tt>ecfen  nichts  als  bas  IDo^lfem, 
bas  (Slücf  bes  3rcbir>ibuums. 

2lIfo  bie  ZTatur  ober  (Sott  —  von  bev  <5efeHfcfyaft  als 
Urheberin  ber  fittlicfyen  formen  fann  B^ier  felbftoerftänblid} 
nxd\t  bie  Hebe  fein  —  fyat  bem  ZHenfdien  bas  Sittengefet) 
ins  £jer3  gepflanst,  lebiglid)  um  fein  iDo^Ifein  3U  [151]  er- 
höben? <£ine  ttmnberlicfye  Deranftaltung ,  bie  fonft  in  ber 
gart3en  Ztatur  nicfyt  ihresgleichen  ftnbet:  bie  £uft  bloß  ber 
£uft  roegen!  Überall  anbertsärts  bient  bie  £uft  in  ben  f^änben 
ber  Ztatur  nur  als  ZHittel  3um  &wed,  als  prämie  für  etwas, 
bas  bie  Zlatnr  von  ihrem  <5efchöpfe  begehrt,  —  bie  ZTatur 
febenft  nicht,  fie  be$a]qlt  nur  (I,  S,  3\).  3™  Sittlichen  ba* 
gegen  geroäfyrt  bie  Ztatur  ein  reines  (ßefcfyenf.  2lber  welches 
<5efchenf  —  ein  Danaergefchenf !  TXlan  frage  fich  unbefangen, 
ob  bie  23efchränfung  unferer  natürlichen  Criebe,  we\d\e  bas 
Sittengefefc  uns  auferlegt,  geeignet  ift,  unfer  £uftgefül|l  3U 


jj8         Kapitel  IX.   Die  feciale  HTed/anif*   Das  Stttltcf^ 


evbßfyn.  (Serabe  im  (SegenteiL  IDie  müfyfam  l?at  ber  ZHenfdj 
mit  ftd?  3^  fämpfen,  um  ben  €inflang  mit  ftd?  f  elber,  ben 
bie  Hatur  il}m  x>on  rornfyerein  in  feinem  finnlidjen  Däfern 
getränt  fyat,  unb  ben  bas  Sittengefet$  ifym  ftört,  roieber  ber* 
3uftellen!  Unb  bodj  trenn  er  alle  2tnftrengungen  3U  bem 
«gtrecfe  aufgeboten  fyat,  tote  oft  trirb  er  fidj  geftefyen  muffen, 
bag  bas  (ßltU,  bas  .er  auf  biefe  IDeife  triebergetronnen 
bat,  mit  bem  bes  Kinbes  ober  bes  Haturmenfdjen  faum 
einen  Dergleid?  ausmalt.  ZITan  täufcfye  fid?  nur  nidjt  über 
bas  tx>afy:e  Sad)rerB)ältnis<  Die  $va$e  lautet  nid}l:  ge* 
Ijört,  bas  Däfern  bes  Sittengefefees  rorausgefefet,  bie  Se* 
folgung  besfelben  3 um  rollen  (ßlücfe  bes  JTCenfcfyen,  3ur  E;er= 
ffeHung  bes  inneren  5riebens?  fonbern:  trürbe  bas  menfcfylidie 
(Slücf  burd]  bas  5efylen  bes  Sittengefefees  eine  £inbu§e  er« 
leiben?  Das  IDofylbefmben  eines  ZHenfdien,  bem  ein  fyofyler 
gafyt  heftige  Sdjmer3en  rerurfacfyt,  trirb  [152]  3treifellos 
gehoben,  trenn  er  ftdi  ben  <§at}n  aus3iefyen  lägt,  aber  barum 
trirb  man  bod)  einen  fyoljlen  «gafyt  nicfyt  für  eine  Quelle  ge* 
fleigerten  (ßlücEes  erflären.  Die  3bee,  ba§  bie  Itatur  ben 
ZlTenfdjen,  lebiglid?  um  ifyn  eine  3treite  Quelle  bes  (ßlücfes 
3U  erfdjliegen,  mit  bem  Sittengefe^e  ausgerüftet  tjabe,  ijt  um 
nichts  beffer  als  biefelbe  21nnafyne  beim  tjofylen  gafyne.  211s 
ob  bie  Hatur,  trenn  es  ifyre  2Ibfid}t  getrefen  träre,  bem 
2Henfdien  ein  möglidift  l^ofyes  2Tla§  bes  (ßlücPes  3U3utrenben, 
bies  nicfyt  in  riel  trirffamerer  unb  jtdjerer  IDeife  fyätte  be* 
trerfftelligen  fönnen!  Sie  fyätte  ifym  nur  einen  neuen  Sinn 
ober  eine  roßfommenere  (Drganifation  feines  Körpers,  (Seiftes 
ober  (ßemüts  3U  getragen,  ober  ifym  negatir  nur  Sd|mer3en 
unb  Sdjträcfye  3U  erfparen  brauchen.  Statt  beffen  wirft  fic 
mittels  bes  Sittengefefees  ben  «gtriefpalt  in  feine  Seele,  bem 
reinen  21fforbe  berfelben  fügt  fte  eine  Diffonan3  fyn3u,  bie, 
trenn  es  il>m  nicfyt  gelingt,  fie  auf3ulöfen,  ben  (Etnflang  ftört, 
unb  trenn  fie  aufgelöft  trirb,  ifyn  um  nichts  beffer  ftellt,  als 


Krttif  ber  ittbhribualifltfcfyeu  (Theorie* 


wenn  bie  zweite  5aite,  t>on  ber  fte  erflang,  pon  tfyr  gar 
nidjt  aufgesogen  tx>äre. 

®ber  träte  es  bodj  t>ielleid}t  eine  pofitipe  Steigerung  bes 
(ßlücfs,  bie  bem  ZHenfcfyen  burd?  bas  Sittengefefe  3iigebadjt 
ift?  Das  <§iel,  bas  man  ifym  in  be3ug  auf  basfelbe  vov* 
3eidjnet,  unb  bas  feinen  £oIjn  in  ftd}  f  daließen  folt,  ift  feine 
Pollfornmenl^eit  2lls  ob  ber  toirfltd?  fittlicfye  ZHenfcfy  ftdj 
im  (Sefüfyle  feiner  Dollfommenfyeit  fonnte,  um  baraus  Der* 
gnügen  3U  fcfyöpfen,  unb  als  ob  bies  3U  errr>artenbe  [153] 
Dergnügen  ober  <5lücf  ben  Sporn  feines  ftttlidjen  Jjanbelns 
bilbete.  <£r  Ijanbelt  ftttlicfy,  ofyne  3U  fragen,  ob  ii|m  ein  Cofyn 
bafür  in  2lusfid}t  ftefyt.  Darin  fyat  Kant  mit  feiner  2tbu>el>r 
bes  (£ubämonismus  t>oßfommen  bas  Hidjtige  getroffen  — 
bas  (Slücf,  roelc^es  fid}  an  bas  ftttlicfye  Jjanbeln  fnüpft,  mag 
5oIge  besfelben  fein,  unb  felbft  eine  entartete  5oIge,  aber 
felbft  eine  ertoartete  5oIge  ift  barum  nod\  nicfyt  <§tr>ecf,  was 
xdl  an  anberer  Stelle  bartun  toerbe.  <£in  ZHenfd],  ber,  um 
einen  anbern  3U  retten,  jtdj  f elber  bem  fiebern  Untergang 
ausfegt,  txmrbe  einen  feltfamen  3£>eg  einfcfylagen,  um  fid]  bes 
(Slücf es,  toeldjes  bas  (Sefüfyl  ber  Doßfommen^eit  gewährt, 
teilhaftig  3U  machen  —  in  bem  Momente,  wo  er  es  foften 
foll,  lebt  er  nidjt  mefyr! 

Se^en  tr>ir  3U,  ob  ber  Safe,  ba§  bie  inbiüibueHe  Doli* 
fommenfyeit  ber  «groeef  bes  Sittengefefees  fei,  an  ben  ein3elnen 
pflichten  unb  Cugenben  bie  probe  beftefyt 

Sei  ben  pflichten  bes  2Ti[enfd}en  gegen  fid?  felber,  bei 
ben  Cugenben,  bie  ifym  felber  ifyre  5rüd}te  tragen:  ZHägigfeit,. 
Heinlid]feit,  Sparfamfeit  ufto.  lägt  ber  (Seftd}tspunft  ftcfy  3ur 
230t  noefy  aufredet  erhalten,  aber  auefy  nur  um  ben  preis, 
baj$  man  ben  bes  perftänbigen  (Egoismus  3U  JEjilfe  nimmt 
Das  angeblid}  Sittliche  rebu3iert  fid?  fyier  in  ber  Cat  lebig« 
lid]  auf  eine  politif  bes  Egoismus.  Dag  felbft  biefe  pflichten 
unb  {Eugenben  t>om  5tan^pi\ntie  ber  gefelIfd]aftlid)*teleolo* 


\20 


Kapitel  IX.  Die  fetale  Ittecfyamf.   Das  SittUcbe. 


giften  (Theorie  aus  eine  etfytfcfye  Bebeutung  geroinnen  (bie 
bes  2Tlenfd}en,  ber  im  3ntereffe  ber  [154]  (gefeKfchaft  fich 
felber  erhält),  werben  wir  feine^eit  nachweifen,  r>om  inbiot* 
bualifttfd] 'teleologischen  Stanbpnritt  aus  fmb  fte  nichts  als 
2Iusfiüffe  eines  wohfoerftanbenen  €goismus. 

Set  allen  anbern  pflichten  unb  Cugenben  bagegen,  bie 
nicht  bem  fjanbelnben  felber,  fonbern  anbern  perfonen  ober 
ber  (BefeHjchaft  3ugute  fommen,  beruht  ber  (Seftchtspunft  ber 
baburch  3U  erstelenben  inbbibueHeu  DoQJommenheit  auf  einer 
(Erfchleichung,  Kannte  man  biefelben  nicht,  wären  fie  ber 
C^eorie  nicht  burch  bas  gefdjichtliche  Ceben  ber  (ßefeEfchaft 
fertig  überliefert  worben,  ich  möchte  wiffen,  wie  man  fie  auf 
bem  IDege  ber  Debuftion  mittels  biefes  (Sefichtspunftes  Blatte 
gewinnen  wollen  1  Der  3bee  ber  inbitubueEen  X>oE!ommen« 
beit  I|at  noch  fein  Pol?  ber  <£rbe  ben  realen  3nl)alt  bes 
Sittlichen  entnommen,  biefelbe  hat  gefchichtlich  in  feiner  XPetfe 
mitgeholfen  beim  Sau  ber  ftttlichen  JDelt,  fonbern  ftch  erft 
eingefteEt,  nachbem  berfelbe  fertig  geworben  ift,  ba  h<*t  fie 
jtch  getnelbet,  um  bas  fertige  XDerf  in  Befife  3U  nehmen,  unb 
fteßt  fich,  als  ob  fie  es  errichtet  ober  ben  plan  ba3u  ent« 
werfen  fyabe.  Die  gefeEfchaftlich'teleologifche  (Eheorte  bes 
Sittlichen  ift  imftanbe,  ihren  (Sefichtspunft  an  jeber  ei^elnen 
Cugenb  unb  Pflicht  3U  erproben,  jebe  als  notweubig  nach- 
3uweifen,  fie  3U  bebu3ieren,  unb  bamit  erbringt  fie  ben 
Beweis,  baß  fie  bas  genetifcfye  prin3ip  bes  Sittlichen 
enthält  Die  inbipibualiftifcfyteleologijche  Cheorie  würbe  bei 
einem  ernftüchen  in  biefer  Hichtung  unternommenen  Derfud} 
[155]  fläglich  5iasfo  machen.  Denn  ihr  (ßeftchtspuntt  ber 
inbirnbueEen  DoEfommenheit  ift  ein  pöllig  pager,  ein  rein 
formaliftifcher,  aus  bem  ber  fonfrete  3nl]alt  bes  Sittengefefees 
an  ei^elnen  Hormen,  pflichten  unb  Cugenben  fich  burchaus 
nicht  gewinnen  lägt  unb  beffen  fchablcnenhafte  2lim>enbung 
auf  bie  ein3elnen  Cugenben  unb  pflichten  bie  €rfenntms 


Kritif  ber  inbtPtbualtfttf d? en  Cfjeorie* 


\2\ 


berfelben  nid?t  im  minbeften  förbert.  <£r  gehört  3U  jenen 
ttnffenfdjaf Hieben  Kautfcfyucfübe^ügen,  n>ie  id\  fie  früher  ge* 
nanni  habe,  bie  permöge  ihrer  iDeite  unb  cEIafttsttcit  fich 
altem  unb  jebem  3nl|alt  überziehen  laffen.  2Tüan  bLat  ben 
gefamten  3nI)a^  *>es  Sittengefefees  t>or  ftch  unb  ift  fich  über 
bie  (Etifette:  inbisibueHe  DoHfommenI|eit  r>on  vornherein  einig, 
biefe  <£tifette  wirb  bann  jebem  ein3elnen  <5egenftanbe  auf* 
geflebt  —  bamit  ift  öie  Arbeit  getan.  2tber  eine  (Etifette  ift 
fein  Hrfprung53ertiftf at  —  nicht  alle  £(üte,  bie  ben  Stempel 
paris  in  fich  tragen,  ftnb  in  paris  gemalt! 

3ch  fchlie^e  meine  Kritif  ber  inbipibualiftifch'teleologtfchen 
Cl)eorie  mit  bem  Safe:  r>om  Stanbpunfte  bes  3nkfo&uums 
aus  Idgt  fich  bas  genetifche  prin3tp  bes  Sittengefefees,  welches 
nur  im  &xved  gelegen  fein  fann,  nicht  gewinnen,  unb  wenn 
nicht  bie  (SefeQfchaft,  fonbern  (Sott  ober  bie  ZTatur  es  fein 
follen,  auf  welche  ber  Ursprung  bes  Sittengefefees  3urüd> 
3ufü^ren  ift,  fo  muffen  fte  babei  ein  anberes  «giel  im  2tuge 
gehabt  traben  als  bas  aus  bem  (Sefüfyl  erreichter  Dollfommen» 
heit  für  bas  3n^iD^uum  fi^l  ergebenbe  (Slücf*  Die  inbtoi* 
bualiftifch'teleologifche  ©leorie  [156]  ber  <£thif  ift  unhaltbar, 
«gwecffubjeft  bes  Sittlichen  fann  nicht  bas  3n^ir>ibuum  als 
folcfyes  fein» 

€s  bleibt  nur  ber  ZTCenfch  als  (Slieb  ber  (Semeinf  djaf  t 
übrig.  Damit  I^aben  wir  bas  nichtige  getroffen:  bie  <Se* 
fellfchaft  ift  gmecffubjeft  bes  Sittlichen. 

\7)  Der  5ortfchritt  t>on  ber  inbipibualiftifdjen 

3ur  gef  ellfchaftltchen  C^eorie. 
Die  inbioibualiftifcfye  CI|eorie,  wie  ich  jte  fortan  ftatt 
inbwibualiftifch'teleologifche  nennen  werbe,  oerlegt  ben  «gweef 
bes  Sittlichen  in  bas  3n&i*>töuum/  bie  gefellfchaftüche,  wobei 
ich  ebenfalls  fortan  ben<§ufafe:  teleologifch  fortlaffen  werbe, 
in  bie  (Sefellfchaft,  ober  in  meiner  IDeife  ausgebrüeft:  für 


\22         Kapitel  IX.   Die  feciale  XTCecfcamf.    Das  Sittliche* 


jene  ift  bas  ,gtr>ecffubjeft  bes  Sittlichen  bas  3nbtpibuum,  für 
biefe  bie  (Sefellfd^aft.  3n  wenig  Wotte  3ufammengefaj3t 
lautet  bie  Iefetere:  bas  23eftefyen  unb  bie  XDoIjlfafyrt  ber 
(Befellfcfyaft  ift  ber  <§tr>ecf  aller  fittlidjen  formen,  €s 
ift  ber  befamtte  Safe,  ben  Cicero  de  legib.  III,  3  für  bie 
Staatsgewalt  ausfpridjt:  salus  populi  summa  lex  esto. 

3nbem  bie  gefeHfcfyaftlicfye  Cfyeorie  bas  3ttbhnbuum  von 
bem  plafee,  ben  basfelbe  fid)  mit  Unrecht  angemaßt  t^at, 
Derbrängt  unb  bie  (Sefellfcfyaft  bafür  an  bie  Stelle  fefet,  ift 
fie  fidj  betonet,  bem  2Infprud},  ben  bas  3nkir>ibuum  *n  be$u$ 
auf  feine  fittlidje  Beftimmung  3U  ergeben  berechtigt  ift,  fo* 
wenig  Slbbrucfy  3U  tun,  baß  fie  im  (ßegenteil  fid?  rühmen 
barf,  bemfelben  erft  t>oIIfommen  [157]  gerecht  3U  werben. 
3)ie  gefeltfdjaftlidje  C^eorie  Ijat  für  bas  3rcbitnbuum  Baum, 
bie  inbhnbualiftifdje  aber  nid}t  für  bie  <Sefeltfd]aft  —  bas 
(5an3e  fdjließt  ben  Seil  in  fid},  ber  Seil,  ber  für  ftcf?  allein 
^iftieren  will,  f  erließt  bas  (5an3e  aus.  Sefet  ber  Seil  jtdj 
fein  ifoliertes  lDoI|[ergeI|en  3um  giel,  fo  fann  barüber  bas 
(5an3e  3ugrunbe  gelten,  fefet  bas  (San^e  fidt  fein  IDofylergetjen 
3um  <§iel,  fo  ift  bamit  notwenbigerweife  bie  Sorge  für  bas 
bes  Ceils  gegeben,  benn  bas  (San^e  fann  nicht  gefunb  fein, 
wenn  ein  tEeit  franf  ift 

Vas  ift  bie  erfte  Überbilan3,  bereu  fid]  bie  gefetlfdjaftliche 
Cbeorie  bei  ber  Abrechnung  mit  ber  inbitnbualiftifchen  rühmen 
barf.  <£s  ift  ber  wichtige  Safe:  bie  (Sefellfchaft  ift  t>er- 
p flicktet  für  ihre  ZlTitglieber  3U  forgen.  2>ie  inbit>i* 
bualiftifche  Cfyeorie  ift  nicht  imftanbe,  biefe  Verpflichtung  3U 
bebu3ieren.  Das  3n^)it)^uum?  bas  fich  f elber  als  <§wecf* 
fubjeft  fefet,  forgt  für  anbere  nur  infoweit,  als  bie  Hücfftcht 
auf  fich  f elber  es  erforbert,  bie  Verpflichtung  3ur  Sorge  für 
anbere  lägt  fich  r>on  biefem  Stanbpunfte  nur  bebu3teren  als 
Befle^wirfung  ber  Sorge  für  fich  felber,  fie  enbet,  wo  lefetere 
aufhört 


Überlegenheit  ber  gefeüfd>aftltd?en  Cfjeorie*  —  (Sefcfytefytltcfyes»  ^23 

3)ie  3n>eite  Überbüan5  ber  gefellfchaftlichen  über  bie 
inbit>ibualiftifche  Cfyeortc  befielt  in  bem  ibealen  £ebens3iel, 
bas  ftc  bem  3u&K>ibuum  t>or3Ctdjnct  unb  bem  B^o^cn  JDert, 
ben  fie  bem  inbirnbuelleu  £>afein  suerfennt  ZTach  ber  inbi* 
üibualiftifchen  C^eorie  breht  [ich  bie  ganse  Aufgabe  bes  3n* 
bir>ibuums  lebiglich  um  fich  felbft,  es  ift  bas  [158]  2Itom, 
bas  für  ftch  allein  eyiftieren  3U  fönnen  vermeint,  beffen  gan3e 
IDajeinsfumme  baher  im  glücflichften  5aHe  barin  aufgebt,  ba£ 
es  für  fich  bas  jenige  erreicht  £>at ,  tr>as  in  biefer  ^\olkvnnq 
3U  erretten  mar,  b.  h-  baß  es  fich  tt>ofyIgefüE]lt  ^at  auf  (£rben 
—  es  ift  bas  Syftem  ber  ethifchen  SelbftgenügfamFeit  unb 
5elbft^errlid|feit  Die  gefellfchaftliche  Cheorie  bagegen  reiht 
bas  3nbtbibuum  ein  in  bas  <5efamtleben,  in  ben  <£nttmd> 
lungspro3ejj  ber  IHenfcfyfyeit  <£rft  baburch  befommt  bas 
inbimbuelle  leben  IDert,  erft  bamit  gewinnt  bas  3ttbisibuum 
bie  erhebenbe  (ßeanpjeit,  ba§  es  nicht  vergebens  gelebt  hat, 
bajj  es  einen  wenn  auch  noch  fo  t>erfchu>inbenben  Beitrag 
geliefert  fyat  3um  JDerfe  ber  ZHenfd^eit. 

Daß  nun  eine  anbere  als  bie  gefellfchaftliche  2luffaffung 
bes  Sittlichen  fich  bauernb  auf  bem  Boben  ber  IDiffenfchaft 
hat  behaupten  fönnen,  follte  man  faum  für  möglich  galten, 
am  roenigften,  roenn  man  bebenti,  ba§  nicht  blo§  bereits  bie 
gried)ifd]e  p^ilofopB^te  bie  gefellfchaftliche  Beftimmung  bes 
ZHenf  djen  (Cwov  ttoXitixcJv)  DoQfommen  richtig  geu>ürbigt  hatte, 
fonbern  ba§  auch  bas  CB|riftentum  fon>ohl  theoretifch  mittels 
ber  Cefyre  vom  Heiche  (Sottes  als  praftid?  mittels  ber  soll* 
fommen  neuen  realen  (Seftaltung  ber  auf  bie  gan3e  ZTTenfch* 
heit  berechneten  chriftlichen  Kirche  jenen  (Sebanfen  ber  gefell* 
fchaftlichen  Derbinbung  unb  Beftimmung  ber  ZHenfchen  neu 
aufgenommen  unb  weiter  fortgebilbet  hatte.  2lber  g!eid]toie 
bie  (5efellfchaft  fich  auf  bem  praftifd]en  (ßebiete  bes  £ebens 
[159]  ftets  3um  ewigen  Kampfe  mit  bem  3nki*>ibuum  &er< 
bammt  fiebt,  fo  hat  fie  auch  auf  bem  theoretifchen  ber  <£thif 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Xd^anxt  Pas  Sittltd?e. 


pon  jefyer  ben  XDiberftanb  unb  bie  2luflefynung  besfelben 
gegen  it^re  ©berljo^ett  3U  erbulben  gehabt«  2Han  möchte 
fagen,  es  fei  ber  rc>iffenfd]aftltc^e  Crofc  bes  ftdf  als  Selbfi* 
3tpecf  füfylenben  3nbipibuums  ,  tpeldjes  ftdj  bem  pon  außen, 
pon  fetten  ber  (Sefellfcfyaft  fyerantretenben  (Sefe&e  ntdjt  fügen 
roxü,  ftdj  pielmel^r  mit  bemfeiben  nicfyt  anbers  glaubt  per* 
ftänbtgen  unb  perföfyten  3U  fönnen,  als  inbem  es  basfelbe 
pon  jtd]  aus  ju  gereimten  unb  $u  bebu$teren  perfucfyt  —  ber 
X>erfud},  bas  3$  3um  2lngelpunfte  ber  ftttlidjen  JDeltorbnung 
3u  machen.  JDie  biefe  inbtpibualifttfdje  Jluffaffung  ftd?  an 
ber  Konfination  bes  Hechts  unb  Staates  perfudjt  Ijat,  ipo  fte 
in  ber  Cfyeorte  bes  Zlaturrecfyts  eine  <§eit  fur3en  tpiffenfcfyaft* 
liefen  (Sla^es  unb  balbigen  Banferotts  erlebte,  fyaben  totr 
im  ©erlaufe  unferes  XDerfes  oft  bemerft.  2luf  biefem  (Sebiete, 
roo  es  fxdi  bloß  um  bie  rpiffenfd}aftltd}e  Konflruftton  ber 
äußeren  (Drbnung  fyanbelt,  Ijat  fte  f elber  fid?  t>on  ifyrem  Un* 
vermögen,  biefelbe  pon  ifyrem  Stanbpunft  aus  3U  befdjaffen, 
längft  über3eugt  unb  ben  Hü<f3ug  angetreten,  auf  bem  (Se- 
biete ber  (Etfyf  bagegen,  wo  bas  rein  ^nnetHdie  ber  (Se» 
finnung  in  5rage  fommt,  t^at  fte  eben  aus  bem  (ßrunbe  fid> 
länger  3U  b&iaxxpten  permod?t,  unb  nod}  bis  auf  ben  heutigen 
Cag  ifi  ber  3nbir>tbualtsmus  aus  biefem  feinem  legten  Schlupf« 
roinfel  nidjt  pertrieben.  3Dte  Aufgabe  ber  (Segerxwatt  unb 
gufunft  beftefyt  barin,  iljm  [160]  audj  biefen  feinen  legten 
gufludjtsort  ab3ufd]neiben  unb  an  bie  Stelle  ber  3n&itn&ual' 
etfpf  bie  So5taletfyi.f  3U  fefeen. 

Vxe  2lnfät$e  ba3u  finb  allerbings  fo  alt  tx>ie  bie  <£tbif 
überhaupt  2lber  es  tft  tpunberbar,  rpie  bie  inbipibualifitfdje 
2inftdjt  fid]  ber  gefellfdjaftlicfyen  gegenüber  ntcfjt  bloß  prin3tpicll 
3U  behaupten  permod]t  Ijat,  fonbem  tPte  fte  felbji  3U  bem 
gtpedE  eine  Baftarbperbinbung  mit  it^r  ntd)t  gefreut  Ijat 
€s  ift  ein  Setpeis  für  bie  unauberflefylidie  ZTTadit  ber  Ä>afy> 
Ijeit,  baß  felbft  in  ber  periobe  ber  uaturreditlidjen  2lnftdjt  bei 


Das  gefellfdjaftlidje  Softem.  —  £eibni3. 


J25 


ber  h°chften  Blüte  bes  3nbit>ibualismus  öie  gefeHfchaftliche 
2Iuffaffung  bie  Schränken,  tselche  bie  inbtoibualifttfche  €thif 
ihr  j>rin3tpicE  gefegt  Blatte,  in  ein3elnen  Äußerungen  burch* 
bricht,  bie  ftch  mit  festerer  in  feiner  tDeife  oertragen,  3ugleich 
freiließ  auch  ein  'Beweis  bafür,  toas  ber  menschliche  (Seift  an 
inneren  XDiberfprüchen  in  fich  3U  beherbergen  vermag,  unb 
u>ie  roenig  mit  ber  falben  #>ahrheit  geroonnen  ifl*  2)as 
Schaufpiel,  toelches  uns  bie  tDiffenfdjaft  hier  auf  ihrem  <ße> 
biete  barbietet,  gleicht  bem  ber  Sonne,  voeldie  in  ein3elnen 
Straelen  bas  ZDolfenmeer  burchbricht,  bas  fie  umfüllt  —  es 
finb  eben  nur  einzelne  Strahlen,  bie  feine  Qanet  Reiben. 

3ch  greife  3um  Betoeife  brei  ber  bei>entenb\ten  Schrift- 
fteller  ber  beiben  legten  ^ativlinnbexte  heraus:  £eibni$, 
Kant,  Bentham. 

H?enn  ich  für  bie  gefeHfchaftliche  Cheorie  ein  ZHotto  [161] 
fuchte,  ich  u>ü§te  in  ber  ganzen  Citeratur  fein  befferes  als 
ben  prägnanten  2lusfpruch  r>on  £eibni3*):  omne  honestum 
publice  i.  e.  generi  humano  et  mundo  utile,  omne  turpe 
damnosum.  Darin  ift  bas  Syftem  bes  gefellfchaftlichen 
Utilitarismus,  tote  ich  es  im  folgenben  3u  begrünben  gebenfe, 
r>oHftänbig  ausgeprägt,  unb  £eibni3  f elber  hätte  nichts  toeiter 
nötig  gehabt,  als  biefen  (Sebanfen  3U  <£nbe  3U  benfen,  um 
bas  gan3e  Syftem  3U  begrünben**). 

*)  Nova  methodus  discendae  docendaeque  jurisprudentiae  §  76  (Opera 
omnia  et  Dutens  IV,  p.  2{%)+ 

**)  3n  btv  gegenwärtigen  (3 weiten)  Auflage  madje  tdj  3um  €e|te 
einen  Hadjtrag,  ben  tdj  ber  23efprecfyung  meines  IDerfes  im  £iterartfdjen 
fjanbweifer,  3imäd?ft  für  bas  fatfyolifdje  Dentfdjlanb,  Iftünfter,  3afyrg.23, 
Hr.  2  burdj  W.  X?ofjoff,  Kaplan  in  fjäffe,  r>erbanfe,  ber  mir  audj 
perfönlid}  mit  manchen  wertvollen  Derweifungen  auf  bie  fatfjolifcfye 
etfyifcfye  Literatur  an  bie  *?anb  gegangen  tji.  Derfelbe  weift  mir  burdj 
«gttate  aus  Cfjomas  ab  2Iqumo  nadj,  ba§  biefer  große  (Seift  bas 
realtfiifdj*  prafttf  d?e  unb  gefettfdjaftlidje  ITComent  bes  Sittlichen  ebertfo 
rote  bas  fytftorifdje  bereits  rollFommen  rid/tig  erfamtt  hatte.  Den  Dor* 
trmrf  ber  Unfenntnis,  ben  er  für  mtdj  baran  Fnüpft,  fann  idj  ntdjt  oon 


\26 


Kapitel  IX.   Die  feciale  tfledianif.   Das  Sittliche. 


[162]  2lber  ber  (Sebanfe  taucht  bei  ifyn  nur  auf,  tote  ber 
Sliö  bei  bunfler  Ttad\t,  um  fofort  rtneber  3U  Derfcbtsinben. 
<£r  gehört  311  jenen  phänomenalen  3ntuitionen  bes  (Senies, 
u?eld]e  bie  fernen  «giele  ber  HMffenfcfyaff ,  bie  letztere  erft 
auf  bem  langgeftreeften  unb  mutanten  IDege  metfyobifcrier 
5orfd]ung  3U  erreichen  permag,  bereits  längft  im  voraus 


mir  ablehnen,  aber  mit  ungleich  fcfywererem  (Sewicfyt  als  mid?  trifft  er 
bie  mobemen  pr?ilofopr)en  unb  proteftantifcr>en  (Theologen,  bie  es  »er* 
fäumt  r^aben,  fid}  bie  großartigen  (Sebanfen  biefes  IHannes  3unut$e  3U 
magern  5tannenb  frage  id?  midj,  wie  war  es  möglid?,  ba§  fokbe 
IP  arbeiten,  nadjbem  fte  einmal  ausgef proben  waren,  bei  unferer  pro= 
ieftantifcfyen  IDtffenfdjaft  fo  gcrn^licr?  in  Dergeffenrjeit  geraten  formten? 
lX>eId]e  3^tr>ege  fyäite  fie  ftet}  erfparen  fönnen,  wenn  fie  biefelben  be* 
I^igt  tyätte!  3d?  meinerfeits  blatte  rielletdjt  mein  gan3es  23ucr/  nid)t 
gef ^rieben,  wenn  icfy  fie  gefannt  bjatte,  benn  bie  (Srunbgebanfen,  um 
bie  es  mir  3U  tun  war,  finden  ftdj  feb/on  bei  jenem  gewaltigen  Penfei* 
in  üollenbeter  Klarheit  unb  prägnanterer  Raffung  ausgefprodjeu.  3& 
gebe  bem  £efer  einige  feiner  2lusfprücfye  3m:  probe.  »Firmiter  nihil  con- 
stat  per  rationem  practicam,  nisi  per  ordinationem  ad  ultimum  fmem, 
qni  est  bonum  commune.  —  In  speculativis  est  eadem  veritas  apucl 
omnes  in  operativis  autem  non  est  eadem  veritas  vel  rectitudo  practica 
apud  omnes.  —  Humanae  rationi  naturale  esse  videtur,  ut  gradatim  ab 
imperfecto  ad  perfeetnm  veniat  —  Ratio  humana  mutabilis  est  et  im- 
perfecta et  ideo  ejus  lex  mutabilis  est.  —  Finis  humanae  legis  est  utilitas 
hominum.« 

Die  fatfyolifcfye  €tt}if  baut  auf  biefer  (Srunblage  weiter  fort»  Der 
perfönlicfyeu  Mitteilung  bes  genannten  He^enfenten  oerbanfe  td*  bie 
Haml^aftmacbung  eines  foeben  erfdjienenen  WetUs  r»on  p*  Cbjeobor 
Uleyer:  Institutiones  juris  naturalis  seu  Philosophiae  moralis  universae 
secundum  prineipia  S.  Thomae  Aquinatis.  Pars  I.  Jus  naturale  generale 
continens  Ethicam  generalem  et  jus  sociale  in  genere,  in  welchem  ber 
Derfaffer  auefy  3U  meinem  IDerfe  Stellung  nimmt.  3<*?  meinerfeits  bin 
leiber  nicfyt  mefyr  imftanbe,  basfelbe  aud?  in  be3ug  auf  ben  mittelalter* 
liefen  Sd?olaftt3tsmus  unb  bie  heutige  ratfyolifdje  (Etbjif  3U  tun  unb  bas 
früher  Perfäumte  nacrßurjolen ,  aber  wenn  mein  gegenwärtiges  XPerF 
Erfolg  fyaben  follte,  fo  wirb  er  fid?  audj  barin  bewähren  miiffen,  baß 
bie  proteftantifeb/e  IDiffenfcfyaft  ftet/  bie  ^örberung,  weldje  fte  bureb  bie 
?atrfolifcfy*tfyeologifcr/e  erfahren  fann,  3unut$e  mad>t  —  wer  ftd>  bie 
Belehrungen,  welcb/e  er  burd>  feinen  (Segner  erhalten  fann,  entgehen 
lägt,  fdjäbigt  fid?  felber> 


Das  gefeHfdjaftltcfye  Syrern.  —  £etbni3* 


127 


erfchauen  —  meteorartige  firfcheinungen,  bie  aber  eben  barum, 
weil  fic  ZHeteore  finb,  an  ben  «geitgenoffen  unbeachtet  unb 
fpurlos  vorübergehen,  unb  auf  bte  erft  ber  fpätere  5orfcher, 
teenn  bie  JDiffenfchaft  in3n>ifchen  fo  rseit  r>orgerüft  ift,  um 
bas  giel  in  poHem  Cageslichte  x>or  fich  3U  haben,  aufmerJfam 
ttnrb.  5ür  bie  [163]  bamalige  IDiffenfchaft  unb  für  £eibni$ 
felber,  ber,  toenn  auch  eins  ber  größten,  fo  boch  immerhin 
ein  Kinb  feiner  <geit  toar,  tx>ar  ber  (Sebanfe,  ben  er  aus* 
fprach,  noch  3U  früh-  <£r  tritt  bei  ihm  auf  in  Derbinbung 
mit  3tpei  anbeten  (ßebanfen,  bie  feine  solle  (Entfaltung  3ur 
Unmöglichfeit  machten,  unb  ich  trage  jefet  ben  gan3en  paffus 
nach,  bem  ich  jene  IDorte  entnommen  Bjabe,  unb  ben  ich 
oben  abfichtlich  unterbrüeft  habe,  um  bas  Überrafchenbe  bes 
<5ebanfens  nicht  ab3ufd]toäd]en,  »Deus  accedens  effecit, 
ut  quidquid  publice  i.  e.  generi  humano  et  mundo  utile  est, 
idem  fiat  etiam  utile  singulis,  atque  ita  omne  honestum  sit 
utile  et  omne  turpe  damnosum.« 

Sarin  liegen  folgenbe  brei  (Sebanfen  nebeneinanber. 

\.  Der  t)olIfommen  richtige  ber  3bentität  bes  Sittlichen 
mit  bem  gefellfchaftlich  2Tüfelichen. 

2*  Der  unrichtige  ber  ^beniiiät  bes  gef ellfchaftlich 
ober  allgemein  ZTüt$lichen  mit  bem  inbit>ibuell  23üt$lichen. 
öeibes  fann  x>öllig  auseinanberfallen*  Der  Cob  fürs  Pater* 
lanb  ift  ber  (SefeQfchaft  nützlich,  nid]t  aber  bem  3nbit>ibuum, 
bas  ihn  erleibet  Ejier  fpielt  alfo  gan3  fo  tt>ie  bei  23entfyam 
(f.  u.)  ber  objeftir>e  unb  fubjeftit>e  lUilitarismus  ineinanber 
über. 

3.  Die  ^urücffüfyrung  bes  Sittlichen  auf  (5ott,  ber  es 
einmal  fo  eingerichtet  iiahe,  baß  bas  Sittliche  für  bie  (Sefell* 
fd]aft  gleichmäßig  wie  für  ben  ein3elnen  nüfclid]  fei.  <£s 
liegt  barin  bereits  ber  erfte  2tnfat$  3U  bem  fpäter  r>on  £eibni3 
ausgebilbeten  (Sebanfen  ber  präftabilierten  [164]  Harmonie 
ber  IDeltorbnung.    Das  Sittliche  beruht  biefer  Jluffaffung 


\2S 


Kapitel  IX.   Die  fatale  llIedjatuF*  Das  Sittliche* 


3ufolge  nxd)t  barauf,  baß  bie  (SefeUfchaft  es  felber  aufge- 
richtet, tr>etl  fte  es  als  unerläßliche  Cebensbebingung  erprobt 
hat,  fonbern  barauf,  baß  (ßott  bie  pofitit>e  Peranftaltung 
getroffen  fyat,  baß  es  ihr  unb  bem  ein3elnen  nüfelich  fei  — 
es  ift  nicht  fittlich,  toeil  es  nüfelich,  fonbern  nüfelich,  roeü 
es  fittlich  iji. 

3m  guf ammenbange  biefer  (Sebanfen  fonnte  allerbings  • 
bie  richtige  firfenntnis  ber  3^ntität  bes  Sittlichen  mit  bem 
gefeltfchaftlich  ZTüfelichen  tx>eber  für  £eibni3  felber,  noch  für 
feine  geit  roeitere  Früchte  tragen» 

sticht  minber  überrafchenb  ift  bie  2Inerfenmmg  ber  gefeH* 
fchaftlichen  Sebeutung  unb  Beftimmung  bes  Sittlichen  bei 
Kant,  toomit  fich  bei  ihm  bann  noch  bie  ber  gefeUfchaftlichen 
finttoicflung  besfelben  serbinbet,  freilich  nicht  ber  sollen,  rx>ie  I 
bie  gerichtliche  tEheorie  bes  Sittlid]en  fte  lehrt:  gleichmäßig 
bie  ber  fittlichen  ZTormen,  tt>ie  bes  fittlichen  IDiHens,  fonbern 
bie  ber  äußeren  fittlichen  XPeltorbnung.  Don  feinem  Stanb* 
punfte  bes  fategorifchen  3mperath>s  unb  ber  angebornen 
Pernunft  aus,  roelcher  ber  bes  3n^^^uum5  *?/  I?ätte  ihm, 
follte  man  fagen,  ebenfotr>obl  bie  (SefeUfchaft  toie  bie  <Se* 
fchichte  unerreichbar  fein  müffen*  2lber  mit  jener  unbeftech* 
liehen  ZDahrheitsliebe,  toelche  ihn  fenn3eichnet,  jener  Selbft* 
Verleugnung,  toelche  lieber  bie  eigene  Ch^orie  preisgibt,  als 
ber  IDahrh^it  ben  gutritt  t>erfagt,  jenem  ZTTute  ber  3nf°n' 
fequen3,  [165]  roelche  fotsohl  im  £janbeln  wie  im  Denfen  bas 
unterfdjeibenbe  UTerfmal  aller  gefunben  von  ben  ungefunben 
Zlaturen  bilbet,  fet$t  Kant  ftch  über  bas  JEiinbernis,  bas  bie 
eigene  {Theorie  ihm  entgegenfteüt,  him^g.  3^  laffc  ^n  wiit 
feinen  eignen  IDorten  reben,  ba  lefctere  mir  nicht  bloß  bei 
biefer  Gelegenheit  von  Wext  finb,  fonbern  ba  ich  fte  noch 
an  fpäterer  Stelle  in  23e3ug  3U  nehmen  gebenfe*). 


X>ie  folaenbett  <§itate  b^ieljen  fid?  auf  bie  Hus^abt  fein« 


Das  gefelffdjaftltdje  Syrern*  —  Anläufe.  —  Kant 


„<£s  ift  ein  nicht  blog  gut  gemeinter  unb  in  praftifcher 
2Ibjtd]t  empf et>lenswürbiger ,  fonbern  allen  Ungläubigen  3um 
Crofe  auch  für  bte  ftrenge  Cfyeorie  faltbarer  Safe:  baß  bas 
menfchliche  (ßefchledjt  im  5ortfchreiten  3um  Seffern  immer 
gewefen  fei,  unb  fo  fernerhin  fortgeben  werbe,  welches,  wenn 
man  nicht  bloß  auf  bas  fielet,  was  in  trgenb  einer  IDeife 
gefdjehen  fann,  fonbern  auch  auf  bie  Verbreitung  über  alle 
Dölfer  ber  <£rbe,  bie  nach  unb  nach  bavan  teilnehmen  bürften, 
bie  2lusjtcht  in  eine  unabfehbare  §ufunft  eröffnet"  (X,  S.  350» 
T>er  (Ertrag,  ben  ber  5ortfdjritt  3um  Seffern  bem  ZHenfchen* 
gefchlecht  abwerfen  wirb,  wirb  nicht  fein  „ein  immer  wach« 
fenbes  Quantum  ber  ZHoralität  in  ber  (Sefinnung,  fonbern 
Vermehrung  ber  probufte  ihrer  Cegalität  in  pflichtmäßigen 
[166]  I}anblungen,  burch  welche  Criebfeber  fie  auch  per- 
anlagt fein  mögen,  b.  i.  in  ben  guten  Caten  ber  Ztlenfchen, 
bie  immer  3ahlreid?er  unb  beffer  ausfallen  werben"  (S.  35^). 
3eber  für  feinen  Ceil  ift  berufen,  an  ber  Perwirflichung  bes 
Sittlichen  in  ber  JDelt  mit3uwirfen.  „Die  Cugenbgeftnnung 
befchäfttgt  ftch  mit  etwas  IDirfltchem,  was  ♦  .  ♦  .  3um  iDelt* 
beften  3ufammenftimmt.  3n  ihr  ben  haften  IDert  3U  fefeen, 
ift  fein  £)ahn,  .  • ,  ,  .  fonbern  barer  3um  HMtbeften  hin* 
wirfenber  Seitrag"  (X,  5.  209).  2>iefcr  5ortfchritt  3um 
Seffern  „wirb  ftch  enbltch  auch  auf  bie  Dölfer  im  äußeren 
Verhältnis  gegeneinanber  bis  3ur  weltbürgerlichen  (5efellfchaft 
erftrecfen"  (S.  355).  Wir  iiahen,  wenn  wir  einen  „naturplan 
porausfefeen,  bie  tröftenbe  2lus ficht  in  bie  «gufunft,  jn  j^^^ 
bie  ZHenfchengattung  in  weiter  5^ne  porgeftellt  wirb,  wie 


fämtlidjen  tDerfe  pon  Bofentran3  unb  Schubert  Sie  flnb  entnommen 
fetner  ilbfjanblmtg  „Über  ben  <8emeinfprucfy;  bas  mag  für  bte  (Etjeorte 
richtig  fem,  taugt  aber  ntd?t  für  bte  prajts"  (8b.  VII,  2lbt  l,  S. 176  ff»)/ 
feinen  „3been  3U  einer  allgemeinen  (ßefdjtdjte  in  n>eltbiirgerlia>r  2lb* 
firf?t"  (bafeibjt  S.  317  ff.)  unb  feinem  „Streit  ber  f  aFultäten"  (8b.  X, 
5-  25t  ff.). 

»  3 gering,  Per  §»ecf  im  Hed?t.  II.  9 


\50        Kapitel  IX.  Die  feciale  ITCedjantf.   Das  Sittliche* 

ftc  ftd?  enblict?  bodj  3U  bem  guftanbe  emporarbeitet,  in  melcfjem 
alle  Keime,  bie  bie  Statur  in  fte  legte,  völlig  fönnen  ent* 
vo\deli,  unb  ifyre  23eftimmung  fyer  auf  <£rben  fann  erfüllt 
merben"  (VII,  S.  334(<).  Das  (ßegenteil  Ijiege  aus  ber  <5e* 
fcfydtfe  ein  poffenfpiel  machen.  „<£s  ift  ein,  tef?  miß  md]t 
fagen  einer  (Sottfyeit,  fonbem  felbft  bes  gemeinften,  aber 
mofylbenfenben  XlTenfcfyen  fyöcfyft  umxmrbiger  Jlnblicf,  bas 
menfdjlidie  (ßefcfyledjt  t>on  periobe  3U  periobe  3ur  Cugenb 
hinauf  Stritte  tun  unb  balb  barauf  ebenfo  tief  lieber  in 
£after  unb  <£lenb  3urücffallen  3U  fefyen.  <£ine  IDeile  biefem 
Crauerfptele  3U3ufd?auen,  fann  t>ietleid?t  rü^renb  unb  belefyrenb 
fein;  aber  enblicfy  mu§  boefy  ber  Porfyang  [167]  fallen.  Denn 
auf  bie  Cänge  toirb  es  3um  poffenfpiel,  unb  menn  bie  2lfteurs 
es  gleich  ntcfyt  mübe  merben,  toeil  fte  Harren  finb,  fo  roirb 
es  boefy  ber  gufcfyauer,  ber  an  bem  einen  ober  anbem  2lft 
genug  Ijat,  toenn  er  baraus  mit  (Srunb  abnehmen  fann, 
baß  bas  nie  3U  <£nbe  fommenbe  Stücf  ein  eisiges  (Einerlei 
fei"  (bafelbft  S.  222). 

IDoburcfy  mirb  biefer  5ortfctjritt  betoerfftelligt?  Die  2lnt« 
toort,  melcfye  Kant  barauf  erteilt,  ift  Ijöctjft  überrafdjenb. 
Zlxdit  burefy  „ein  immer  toad\\erxbes  Quantum  ber  ZHoralität 
in  ber  (Sefinnung"  (f.  oben).  „Der  ^ortfcfyrttt  mirb  nid?t 
fotoofyl  bapon  abhängen,  was  wir  tun  (3.  23.  t>on  ber  <£r« 
3tefyung,  bie  mir  ber  jungen  XDelt  geben  merben)  unb  nadj 
welcher  ZHetfyobe  mir  perfaljren  foßen,  um  es  3U  bemirfen, 
fonbern  t>on  bem,  mas  bie  menfd)lid}e  Ztatur  in  unb  mit  uns 
tun  mirb,  um  uns  in  ein  (ßeleis  3U  nötigen,  in  meldjes  mir 
uns  x>on  felbft  \xxd\t  leicht  fügen  mürben.  Denn  von  ifyr  ober 
tnelmefyr  (meil  fyödjfte  IDeisfyeit  3ur  Dollenbung  biefes  §weds 
erforberlidj  mirb)  t>on  ber  Dorfe^ung  allein,  fönnen  mir  einen 
€rfo!g  ermarten,  ber  aufs  <ßan3e  unb  t>on  ba  auf  bie  Ceile 
ge^t,  ba  im  Gegenteil  bie  ZHenfcfyen  mit  iBjren  (Entmürfen 
nur  pon  ben  Ceilen  ausgeben,  mofyl  gar  nur  bei  il^nen  fte^en 


Das  gefellfdjaftltdje  Syftem.  —  Anläufe.  —  Kant  \Z{ 


bleiben  unb  aufs  <San$e,  als  ein  folches,  welches  für  fte  3U 
groß  ift,  3tt>ar  ihre  ^been(  aber  nicht  ihren  <£influß  erftreefen 
fönnen"  (VII,  S.  324ß. 

Damit  l^aben  tx>ir  wieber  ben  gan3en  3nbit>ibualismus 
ber  fantifd?en  ethifdjen  2luffaffung,  bas  <£ingeftänbnis,  [168] 
baß  5er  fategorifdje  ^mpevativ  5er  Pflicht,  ber  nur  auf  ben 
Ceil,  nicht  auf  bas  <San3e  gerietet  ift,  nicht  imftanbe  ift,  bie 
gefellfdjaftliche  <£nttt>icflung  bes  Sittlichen  3U  befchaffen,  bie 
Dorfehung  muß  ihm  3U  JEjilfe  fommen.  2Iber  eine  gewiffe 
Hnterftüfeung  ftnbet  lefetere  boch  im  ZHenfchen  felber.  freilich 
„nicht  burch  ben  <5ang  ber  Dinge  von  unten  hinauf,  fonbern 
von  oben  I|erab"  (bie  obige  £egalität  in  pflichtmäßigen  fjanb* 
lungen).  <£s  ift  3U  hoffen,  baß,  roenn  bie  ZDeltregierer  nur 
ihren  eignen  Porteil  verfielen,  „bie  2lufflärung  unb  mit  ihr 
auch  ein  gewiffer  £(er3ensanteil,  ben  ber  aufgeflärte  ZHenfch 
am  <5uten,  bas  er  Dollfommen  begreift,  3U  nehmen  nicht  vev* 
meiben  fann,  nach  unb  nach  bis  3U  ben  Coronen  Ijinaufge^e 
unb  felbft  auf  ifyre  Hegierungsgrunbfäfee  (Einfluß  ^abeiJ  (VII, 
S*  330»  2fach  ber  öffentlichen  ZHeinung  räumt  Kant  einen 
erheblichen  (Einzug  an  bem  5ortfchritt  ein.  Dagegen  ift  tfvon 
ber  Silbung  ber  ^uqenb  in  t|äuslid)er  Untertoeifung  unb 
Schulen,  in  (Seiftes*  unb  moralifcher,  burch  Heligionslehre 
perftärfter,  Kultur"  für  bie  «Ziehung  3um  <5uten  wenig  3u 
erwarten  (X,  356).  Die  moralifdje  (5runblage  im  ZHenfchen* 
gefchledjte  toirb  nicht  im  minbeften  vergrößert  werben,  als 
W03U  eine  2Irt  von  neuer  Schöpfung  (übernatürlicher  (Einfluß) 
erforberlich  fein  würbe  (bafelbft  5.  ^55). 

Die  Äußerungen  Kants  follen  mir  an  fpäterer  Stelle 
(Cheorie  bes  fittlichen  IDillens)  ba3u  bienen,  um  3U  3eigen, 
wie  weit  er  noch  *>on  ber  vollen  tDahrheit  entfernt  war, 
[169]  an  ber  gegenwärtigen  bagegen,  um  bar3utun,  tt>ie  weit 
er  fich  ih*  bereits  genähert  hatte.  Das  enblicfye  <§iel  alles 
Sittlichen  hat  er  vollkommen  flar  vor  2lugen,  aber  von  feinem 

9* 


1(32         Kapitel  IX.   Die  fatale  Itted?atti?*   Das  Sittliche. 


2lusgangspunft  ift  es  nicht  3U  erreichen,  3ioifchen  beiben  fpannt 
ftch  eine  Kluft,  bie  feine  Debuftton  3U  überbrüefen  permag. 
2Iber  feine  Über3eugung  t>on  ber  2totn>enbigfeit  6er  Verfolgung 
unb  von  ber  IHöglicbfeit  ber  (Erreichung  biefes  giels  ift  eine 
fo  felfenfefte,  baß  er  pon  ber  Dorfehung  ertpartet,  was  bie 
CI)eorie  nicht  3U  leiften  imftanbe  ift.  „'Die  moralifche  (Srunb* 
läge  im  IHenfchengefchlecht  toirb  nicht  im  minbeften  peränbert 
werben,  bas  Quantum  ber  XHoralität  in  ber  <5efmnung  nicht 
rcadtfen"  —  bamit  i|ält  er  an  feinem  2Iusgangspunfte  feft. 
€s  ift  bie  Cfjeorie  pon  ber  gän3lid?en  Unbilbfamfeit  bes 
Wittens,  bie  Schopenhauer  t>on  ihm  übernommen  unb  in 
fdjrofffter  IDeife  3wgefpifet  Ijat,  ber  (5runb3ug  bes  Ungefchicbt* 
liefen,  ber  einmal  pon  ber  inbipibualiftifchsnatipiftifchen  (Theorie 
u^ertrennbar  ift  (S.  9^)-  2lber  im  übrigen  fmbet  boch  bie 
(ßefchichte  gutritt.  Die  Caten  tperben  immer  beffer,  ob* 
fchon  bie  (Befmnung  ftch  nicht  änbert,  bas  „IDeltbefte",  bas 
giel,  bem  bie  gan3e  Belegung  bes  ZHenfchengefchlechts  nach 
bem  „Z?aturplan"  3uftrebt,  roirb  mehr  unb  mehr  penpirflicht, 
bie  ZHenfchhei*  befmbet  ftch  m  beftänbigen  5ortfcbritt.  Die 
XTttttel,  bie  ba3u  führen,  fmb  nur  äußere:  Staatsgetpalt, 
öffentliche  XHeinung,  unb  fomit  ift  auch  bas  enbliche  Hefultat 
ber  <£nttPtcfIung  nur  ein  äußeres,  in  objeftiper  Be3iehung 
bie  Derpotlfommnung  ber  äußeren  [170]  (Drbnung,  in  fub* 
jeftiper  bie  bloß  äußerliche  ber  £}anb  hingen. 

So  ift  es  alfo  nur  bie  fyalbe  IDahrheit,  bie  bei  Kant 
burchbricht:  ha^  w  be3ug  auf  bie  (Sefchtchte,  tpelche  nur 
über  bas  Süßere,  nicht  über  bas  3nnere  2ftacht  hat,  halb  in 
be3ug  auf  bie  <5efellfchaft,  welche  3tpar  pon  bem  ^nb\* 
pibuum  beffen  „Beitrag  3um  IDeltbeften"  empfängt,  aber 
ohne  felber  als  g>xx>ed\\\b\eU  bes  Sittlichen  anerfannt  tporben 
3U  fein  —  es  jtnb  nur  bie  HefJe^mirfungen  bes  auf  bas 
3nbipibuum  berechneten  fategorifchen  3mperatips,  bie  ihr 
3ugute  fommen. 


Das  gefeflfdjaftlidje  Syrern*  —  Anläufe*  —  £entfjanu  ^33 


<£inen  Ijödjjl  bebeutenbert  5ortfd]ritt  macfyt  &ie  €rfenutnis 
bes  gefeHfdjaftlidjen  <£fyarafters  bes  Sittlichen  mit  öentfyam. 
3n  Deutfdjlanb  unter  bem  <£influffe  ber  ber  realiftifd?*praf* 
tifdjen  Bidjtung  ber  (Englänber  biametral  entgegengefefcten 
ibeal-fpefulatipen  Biegung  ift  berfelbe  piel  311  tpenig  getpürbigt 
tporben,  es  gehört  bei  uns  3um  guten  Cone,  über  [eine 
Cfyeorie  tpie  über  ben  perfekten  Eintrag  eines  Jlbgeorbneteu 
in  ber  Kammer  einfad)  3ur  Cagesorbnung  über3uge^en.  2Hit 
großem  Unrecht,  unb  3U  unferem  eignen  größten  5d\aben\ 
Sentljam  roar  nxd\t  bloß  einer  ber  felbftänbigften,  ortgineüfteu 
Denfer,  ber  burdj  bie  5ülle  unb  anregenbe  Kraft  feiner  <Sz> 
banfen  unb  burefy  feinen  gefunben  praftifdjen  Sinn  unb  rpeit* 
tragenben  ölief  bas  Stubium  feiner  Schriften  in  toeit  leerem 
(Srabe  be3afylt  macht,  als  basjenige  ber  Schriften  ber  meiften 
feiner  auf  fpefulatipen  5tel3en  ein^erfd]reitenben  unb  bie  [171] 
©riflamme  bes  2^a^smns  fdjunngenben  (Segner,  fonbern 
er  J?at  auch  bie  (Etfyf  um  einen  Beitrag  permehrt,  ber  ihr 
meines  €rachtens  nie  roieber  verloren  gehen  fann.  Den 
(gebanfen,  ber  bereits  bei  £eibni3  porübergehenb  auftauchte: 
»omne  honestum  publice  utile,  omne  turpe  publice  damnosum«, 
unb  ben  auch  Kant  bei  feinem  „IDeltbefien"  im  2luge  fyatte, 
hat  23entham  3uerfi  betpußt  unb  in  poller  Klarheit  erfaßt 
unb  xfyx  unter  bem  gan3  3utreffenben  ZTamen  bes  Htüttaris* 
mus  3U  einem  felbftänbigen  etB)ifd)en  Syftem  ausgebilbet*). 
2lber  leiber  perbinbet  fich  mit  biefem  pollfommen  richtigen 
(ßebanfen  ber  pöüig  irrige,  ba§  bas  Sittliche  biefen  (Efyarafter 
fubjeftip  beu)ät|ren  muffe.  „5ür  bie  Anhänger  bes  prin3ips 
ber  üfelichfeit,  fagt  er  (33 1>.  I,  2ibt  \,  Kap.  \),  ift  bie  Cugenb 
nur  ein  (ßut  mit  Bücfftdjt  auf  bie  mit  ihr  perbuubeue  £uft, 
bas  £aßer  nur  ein  Übel  in  Bücfficht  ber  aus  ihm  I^erpor- 

*)  Das  üjaupttperf  tfi;  (Srunbfä'fee  ber  §xo'\U  unb  Krtminalaefet}* 
gebung,  herausgegeben  von  Dumont,  beutfcfye  Ausgabe  pou  f.  <H« 
33enefe,  2  23äube,  Berlin  1830. 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Itled|antt.   Das  Sittliche. 


gefyenben  Unluft  ♦  ♦  .  ♦  5änbe  ber  Anhänger  bes  prht3ips 
ber  Hüfelidjfeit  in  bem  allgemein  angenommenen  t>er3eid}nis 
5er  Cugenben  eine  fjanblung,  toeldje  meljr  Unluft  als  £uft 
3ur  $ol$e  fyätte,  fo  mürbe  er  fein  Sebenfen  tragen,  biefe  an* 
geblidje  Cugenb  für  ein  Cafter  3U  erflären."  Damit  roirb 
bas  fubjeftiü  nüfctidje  3um  IHaßftab  unb  Kriterium  bes 
objeftit)  ober  gefellfdjaftlidj  itüfelidjen  erhoben  unb  ber 
richtige  (Sebanfe,  ber  in  ber  Betonung  bes  lefeteren  lag, 
[172]  ttneberum  preisgegeben,  ber  Htilitarismus  öentfyams 
münbet  in  <£ubämonismus.  Kein  lüunber,  ba§  nad)  ben 
toudjtigen  Schlägen,  tt>eldje  Kant  bem  €ubämonismus  perfekt 
Ijatte,  biefe  Cfjeorte  bes  Sittlichen  in  Deutfdjlanb  feinen 
23oben  finben  fonnte. 

2lber  inbem  man  fid?  bei  uns  an  ben  3rrtum  fyelt,  ben 
23entl}am  ber  iDafyrljeit  beigemifd]t  hatte,  unb  ber  nod|  in 
jüngfter  <geit  t>on  feinem  Canbsmann  E(erbert  Spencer  in 
bem  oben  genannten  IDerfe  r>on  neuem  in  einer  lüeife  auf* 
gefrif cfyt  ift,  bie  ihm,  roie  ich  an  einer  fpäteren  5telle  hoffe 
bartun  3U  fönnen,  ben  <ßnabeufto§  t>erfet$t  l|at,  lie§  man  ftch 
bie  tr>ertt>ollen  Anregungen  3ur  €rfenntnis  ber  tt>a£^rl>cit, 
toelche  man  Senttjam  liätte  entnehmen  fönnen,  entgegen. 

3n3tr>ifcfyen  ift  bie  <§>eit  eine  anbere  geworben.  £s  ift 
nietet  mehr  bie  leidet  perballenbe  Stimme  bes  ZHannes  ber 
2t>iffenfchaft,  welche  um  £inlaf}  bittet  für  bie  gefellfchaftliche 
Ct^eorie,  fonbern  es  ift  bie  bureb  bie  fo3taIiftifchen  C^eorieu 
roilb  unb  leibenfdjaftlich  erregte  ZHaffe,  welche  mit  mächtigen 
Schlägen  ans  Cor  pocht,  ba§  es  weithin  erfchatlt,  unb  bie 
Schläfer  aus  ihren  Cräumen  aufgefdjeucht  werben.  3$  fabe 
fchon  an  früherer  Stelle  (S.  $6)  bie  Über3eugung  ausge* 
fprochen,  ba§  nicht  bas  Deuten,  fonbern  bas  £eiben  ben 
wirffamften  3mpuls  bes  gefeHfchaftlid^en  5orfd?ritts  enthält. 
Vex  Qxud  ber  bisherigen  (Einrichtungen  mu§  erft  fühlbar 
geworben  fein,   ber  2Tüi§brauch  tief  unb  fchmer3haft  ins 


Das  gefellfdjaftltdje  Sutern.  —  Drang  ber  <§eit*  ^35 


lebenbige  5leijch  [173]  eingefchnitten  tiaben,  bamit  ber  ZTienjch 
aufgerüttelt  tperbe  unb  bie  beftehenben  «guftänbe  einer  Kritif 
unterstehe.  Der  Drucf  bes  autoritativen  unb  forporatioen 
prin3ips  in  Staat  unb  Kirche  l|at  feine^eit  bie  Heaftion  bes 
3nbipibualismus  h^rporgerufen,  gleichmäßig  im  Ceben  roie 
in  ber  IDiffenfchaft  <£s  wat  bie  <geit  ber  Auflehnung  bes 
3nbipibuums  gegen  bie  überlieferte  ©rbnung,  bie  3uerft 
innerhalb  ber  Kirche  mit  ber  Heformation  begann  unb  fich 
bann  im  Staatsleben  in  ben  Bepolutionen  fortfefete  unb  in 
ber  naturrechtlichen  Cheorie  ihren  tpiffenfehaftlichen  Ausbrucf 
fanb.  Aber  tpie  ber  3nbioibuali5mus  hervorgerufen  tparb 
burch  eine  porangegangene  ©nfeitigfeit,  fo  ift  auch  er  tpieberum 
ber  fiinfeitigfeit  perfallen,  um  jobann  abermals  eine  neue 
3U  er3eugen.  Auch  im  5o3ialismus  tritt  eine  Übertreibung 
ber  anbern  entgegen,  unb  bie  (ßefeHfchaft  ha*  bie  größte 
ttrfache  auf  ihrer  ffut  3U  fein.  Aber  bes  3rrtums  unb  ber 
Übertreibung,  beren  er  fich  fchulbig  macht,  tperben  u>ir  uns 
nur  baburch  ertpehren,  baß  rpir  bie  lüahrheit,  beren  auch  er 
fich  rühmen  barf,  anerfennen.  Dies  praftifch  3U  tun,  ift  Auf« 
gäbe  ber  politif  unb  ficherlich  eine  ber  fchtpierigften,  bie  je 
im  £aufe  ber  <5efchichte  an  fie  herangetreten  ftnb.  <£s  tpiffen* 
fchaftlich  3U  tun,  ijt  Aufgabe  ber  (SejeHfchaftstpiffenfchaften 
unb  fo  insbefonbere  ber  €thif.  3n  beiben  Sichtungen  be« 
3eichnet  unfere  geit  bie  periobe  bes  Umfchtpungs.  Was  in 
ber  erfteren  bereits  gefchehen  ijt  unb  noch  gefchieht,  gehört 
nicht  h^rher,  jebenfalls  aber  [174]  3eigt  es,  tpelch  getpaltiger 
5ortfchritt  fich  in  unseren  Anschauungen  ponogen  fyat,  wenn, 
wie  es  bei  uns  in  Deutfchlanb  augenblicflich  ber  5all,  bie 
Staatsgemalt  fich  &ie  Pertpirflichung  ber  3&een  3um  <§iele 
gefefet  fyat,  beten  bloßes  Ausfprechen  noch  t>or  einigen  De* 
3ennien  bem  Cheoretifer  ben  pernichtenben  Portpurf  eines 
So3ialiften  eingetragen  hätte-  Der  große  ZTTann,  bem  tpir 
Deutschen  bie  polttifdje  IDiebergeburt  unferes  Vatevlanbes 


\36         Kapitel  IX.   Die  f<>3tale  Illedjamf*   Das  Sittlxdie. 


perbanfen,  l\at  auch  in  biefer  Hichtung  feinen  tpeittragenben 
jktatsmännifchen  23lic!  unb  feine  befannte  Dorurteilslofigfeit 
unb  llnerfchrocfenheit  betpährt;  auch  t^ier  ift  er  es  wiederum 
getpefen,  tpelcher  mit  eiferner  5aufi  bas  Cor  $u  öffnen  ftch 
anfchtcft,  burch  welches  ber  XDeg  ber  gufunft  ^inburc^fü^rf. 

£eicht  ift  im  Vergleiche  bamit  bie  2trbeit,  tpelcfye  bie 
Clieorie  3U  pollbringen  fyat,  aber  auch  fte  tpiU  getan  fein» 
3nbem  ich  ber  bloßen  2lnläufe,  bie  in  biefer  Bicfytung  gc 
fchehen  finb,  unter  benen  in  erfter  £inie  bie  €tfyif  bes  jüngeren 
5id^te  Ommanuel  fjermann  Richte,  Syftem  ber  €tfyf, 
£eip3tg,  2  öbe.  \850 — \853)  3U  nennen  fein  bürfte,  gefchtpeige, 
hebe  ich  nur  basjenige  XDerf  h^rpor,  in  bem  bie  gefellfchaft* 
liehe  Cl^eorie  meines  JDiffens  3um  erjtenmal  als  tpiffenfchaft* 
licfyes  Syftem  unb  unter  bem  entfprecfyenben  ZTamen  ber 
5o3iaIetI|if*)  ben  Boben  ber  [175]  Citeratur  betritt  <£s 
ift  bas  JDerf  bes  Dorpater  C^eologen  2llejanber  pon 
(Öttingen,  bie  Hloralftatiftif  unb  bie  chriftliche  Sittenlehre, 
Derfud]  einer  5o3ialett|if  auf  empirifcher  (ßrunblage  ((Erlangen, 
2  Zeile,  \858— 7%  Z.  \,  2lufL  2,  (8749,  ein  ZDerf,  gleichmäßig 
herporragenb  burch  ben  Umfang  unb  bie  (ßebiegenfyeit  bes 
XDiffens,  burch  bie  5ülle  bes  5toffs,  ben  ber  Derfaffer  pon 
ben  perfchiebenfien,  bem  Cfyeologen  am  tpenigjten  naheliegenben 
(Bebieten  für  feine  «gtpecfe  hcra^ieht,  tpie  burch  philofopfy5 
fchen  (5eift,  Klarheit  unb  Sicherheit  in  ber  Durchführung  ber 
<5runbanfchauungen  unb  rparme,  geiftpoüe  Darftellung.  <Dl[\\e 
bem  Derbienjie  bes  X?erfaffers,  bas  niemanb  freubiger  an« 
erfennen  fann  als  ich,  im  minbeften  3U  nahe  3U  treten,  barf 

*)  Der  Harne;  So3taletfn'f  ift  3tt>ar  audj  von  anbeten  gebrannt 
woxben,  aber  nicfyt  in  bem  Sinne  ber  auf  bie  gefeflfd?aftltd?e  2Xnfid>t 
gebauten  gefamten  €tt|tf,  fonbern  er  btent  ifmen  blog  3ur  £e3etdmmtg 
besjenigen  Ceüs  berfelben,  ber  bie  gefellfdjaftltdje  Stellung  bes  3nbirt* 
bnums  3um  (Segenftanbe  fyat,  bem  fie  bann  bie  3nbtoibualett}if  gegen* 
iiberftellen*  So  3*  in  bem  Syrern  ber  <£tf}if  bes  bänifdjen  (Theologen 
IHartenf  em 


Das  gefeflfcfyaf tltdje  Syrern*  —  Die  (Segenmari  ^37 


ich  bodj  bie  öemerfung  nicht  unterbrücfen,  ba§  er  bie  2tuf- 
gäbe  in  bem  pollen  Umfange,  rote  ich  fte  faffe,  fich  tpeber 
gejtellt  ijat,  noch  als  C^eologe  fleh  [teilen  fonnte.  3$ 
glaube  unfer  Derhältnis  fur3  fo  be3eichnen  3U  fönnen,  ba§  er 
t>on  ben  bret  oben  (5.  76)  aufgehellten  Karbinalfragen  ber 
<2thi?  nur  an  ber  3tpeiten:  5er  vom  ^roecf  bes  Sittlichen 
bie  Bichtigfeit  ber  gefellfdjaftlichen  2luffaffung  nad^utpeifen 
perfucht,  tpährenb  bie  beiben  anbern  bapon  gcut3ltch  unberührt 
bleiben;  unb  auch  in  be3ug  auf  bie  3tpeite  ^at  er  mir  nocfy 
manches  3U  tun  übrig  gelaffen.  3^1  betone  bies  nicht,  um  mein 
eignes  [176]  Perbienft  iiewot^eben ,  fonbern  nur  um  3U 
fonftatieren,  ba§  mein  Unternehmen  burch  feine  Arbeit  nicht 
überflüfflg  gemalt  tporben  ift,  toas  ber  Kunbige  3tpar  auch 
ohne  meine  23emerfung  tpiffen  tpirb,  bem  Unfunbigen  aber 
gefagt  tperben  mußte.  Um  jeben  Schein  ber  Anmaßung  von 
mir  fern3uhctlten,  will  ich  gern  geflehen,  ba§  ich  ntir  tpohl 
betpußt  bin,  roie  gering  mein  perfönliches  Derbienft  ift  3<$ 
habe  bie  £uft  meiner  <geit  eingeatmet,  ohne  imftanbe  getpefeu 
3U  fein,  über  jeben  2ltem3ug  Sud?  3U  führen,  ich  B>eij$  nur, 
baß  ich  ctHes,  was  ich  3U  geben  imftanbe  bin,  ber  Seit  pci* 
banfe,  in  ber  ich  lebe,  unb  ich  fühle  mich  nur  als  ben  punft, 
in  bem  ber  (Sebanfenjfoff  ber  §eit  porübergehenb  perfönliche 
(Seftalt  angenommen  ha*«  gefchichtlich*gefeßfchaftlid]e 
tLtieoxie,  bie  ich  3U  begrünbeu  gebenfe,  hing  reif  am  Saume 
ber  <§eit,  mir  erübrigte  nur,  bie  reife  5*ucht  3«  brechen, 
tpomit  freilich  nicht  gefagt  fein  foll,  ba§  es  ba3U  nur  bes 
fjanbausftrecFens  beburft  hätte  —  ohne  Ceitern  unb  Klettern 
ift  es  babei  nicht  hergegangen. 

©b  nicht  bie  5rud]t,  bie  ich  biete,  pon  manchen  als 
ipurmftichige  3urücfgetpiefen  rperben  tsirb?  Wenn  ich  bebenfe, 
welchem  IDiberftanbe  ber  immerhin  in  befchetbenen  (Stenden 
gehaltene  Derfuch  pon  (Öttingen  begegnet  ift*),  fo  fann  id? 


*)  5*  feinen  Seridjt  bariiber  in  33b>  2,  5*  2\  ff*  unb  S,  36  ff* 


\38       Kapitel  IX.   Die  foiale  tHedjanit  Das  Sittliche. 


bas  Schief  fal,  bas  bem  meinigen  bet>orfteht,  im  voraus  toiffen. 
<£ine  anbete  5rage  ift,  ob  man  [177]  meine  Cfyeorie  toiber- 
legen  toirb,  unb  bas  bürfte  nicht  fo  leicht  fein,  als  über  jte 
ben  Stab  311  brechen. 

\S)  Die  gefellfchaftliche  Cljeorie.  —  Segrünbung  ber* 
felben  auf  bebuftipem  IDege. —  Die  gef ellf d?af tlid> e 
(Drbnung,  —  Differen3  bes  objeftip  unb  fubjeftip 
Sittlichen,  —  Der  Selbfierhaltungstrieb  in  2Intt>en* 
bung  auf  bie  (5efellfchaft —  gefellfchaftlicher  (Egois- 
mus, <£ubämonismus,  Utilitarismus.  —  Der  ZlTag* 
ftab  bes  gefellfchaftlich  Ztüfclichen. 

Die  gefellfchaftliche  C^eorie  bes  Sittlichen,  b.  h-  bie  Be- 
hauptung, ba§  alle  fittlichen  Hormen  bas  Beßehen  unb  <Se< 
beiden  ber  (ßefellfchaft  3um  gtpeef  l\aber\t  lägt  ftch  auf 
boppeltem  IDege  betpeifen,  auf  bem  ber  3nbuftion  unb  bem 
ber  Debuftion,  auf  jenem,  inbem  toir  aus  bem  gefchtchttichen 
Dafein  ber  (Befellfchaft  nachtpeifen,  bag  es  fo  iji,  auf  biefem, 
inbem  tpir  aus  ben  Sebingungen  ihres  Dafeins  bartun,  bag 
es  fo  fein  muß*  2£>ir  werben  beibe  IDege  einfchlagen,  ben 
3tr>eiten  an  biefer,  ben  erften  an  fpäterer  SteQe  (ZTr.  $  u-  ff 

Debuftion  ift  Darlegung  logifchen  «gtpanges.  Sie 
fefet  einen  t^ötjeren  Segriff  poraus,  aus  bem  ftch  ber  3U 
bebu3ierenbe  niebere  mit  3tpingenber  Hottoenbigfeit  erfchliegen 
lägt  3n  be3ug  auf  bie  gefellfchaftliche  Cheorie  lägt  ftch  bie 
Ztottoenbigfeit  bes  Sittlichen  für  bie  (ßefellfchaft  aus  smei 
folchen  li'otiexen  Segriffen  bebusieren:  [178]  aus  bem  eines 
aus  ein3elnen  Beftanbteilen  ober  (Sliebern  ftch  3ufammen* 
fefcenben  (Sanken  unb  aus  bem  eines  Subjefts.  Die  bia- 
leftifche  Dertpenbung  bes  erfteren  Segriffs  ergibt  uns  bas 
poftulat  ber  0rbnung  unb  ber  Sicherung  berfelben  burch 
ZTormen,  bie  bes  3tpeiten  ben  (Sefichtspunft  ber  Cebens- 


Debnftton  ber  g^fettfdjaftltdjen  (Efyeorie*  —  Das  (5an^ 


bebingungen  ber  (Sefellfcfyaft  unb  bamit  bie  2tmr>enbbar» 
feit  bes  SelbfterBjaltungstriebs  auf  lefetere. 

(Eine  bloße  Pielfyeit  t>on  ein3elnen  (Segenftänben  ift  fein 
<ßan3es,  fein  neuer  von  ifyten  t>erfd}iebener  <5egenftanb, 
fonbern  biefelbe  Sacfye,  ftatt  im  Singular  im  plural  gefefet, 
eine  bloße  ZTlaffe,  Jlber  bas  aus  einer  ZHaffe  t>on  Steinen 
evbante  J^aus  ift  fein  bloßer  plural  x>om  Singular  Stein, 
fonbern  ein  neuer  bie  fämtlicfyen  ein3elnen  Seftanbteile  3ur 
(Einheit  3ufammenfaffenber  (Segenftanb,  eine  (Einheit,  ein 
(Sanges.  Der  beftimmenbe  (Sebanfe,  ber  biefe  (Einheit  tjer* 
gerufen  Ijat,  ift  ber  groedP,  bas  Ejaus  bient  einem  anbern 
§wed,  als  ber  Stein,  unb  bie  äußere  Deränberung ,  bie  mit 
ben  Steinen  vorgegangen  ift,  ift  nur  bie  $olqe  ber  veränberten 
5tr>ecfbeftimmung.  ©er  Stein  fyat,  inbem  er  3um  Ejaufe  per* 
u>anbt  tsarb,  eine  fyöfyere  gtoecfbeftimmung  erhalten,  als  er 
sorfyer  fyatte. 

So  ift  aud?  bie  (BefeUfcfyaft  nicfyt  bie  bloße  Dielfyeit  ber 
ein3elnen,  nicfyt  ber  plural  vom  Singular  Xnenfdj,  fonbern 
bie  Dtelljeit  berfelben  in  ifyrer  burcfy  bie  <5emeinfamf eit 
bes  «gtoecfs  fyergeftellten  inneren  unb  äußeren  ^ufammen* 
getjörigfeit,  Derbinbung,  €mfyeit,  b*  fy.  jte  ift  [179]  ein 
aus  ben  ein3elnen  als  ifyren  <S  liebern  ftcfy  3ufammenfefcenbes 
(5an3e. 

Die  burdf  bie  <£igentümlicfyfeit  bes  groecfs  bebingte  unb 
Dorge3eidjnete  2lrt  ber  Derbinbung  bes  ein3elnen  3um  (Sanken 
be3eic^net  bie  Sprache  als  ©rbnung.  Die  <£jiften3  bes 
f}aufes  beruht  barauf,  allen  23ejtanbteilen  besfelben  bie  be* 
ftimmte,  burdj  ben  §voe<S  gegebene  Stelle  an3Mt>eifen,  bie 
man  ifynen  laffen  muß,  toemt  bas  ^aus  beftefyen  foll,  nmrben 
fte  belebt  unb  x>eränberten  ifyre  £age,  fo  toäre  es  um  bas 
f}aus  gefetteten. 

2tuf  ber  ©rbnung  beruht,  tt>ie  bas  Dafein  bes  Kaufes, 
fo  audj  bas  ber  (Sefellfcfyaft,  jte  bilbet  ein  abfolutes,  auf 


Kapitel  IX.   Die  feciale  tfledjcmtf*   Das  Sittliche. 


bebuftipem  IDege,  £>♦  fy.  aus  bem  Segriffe  bes  (ßa^en  a  priori 
3U  erfdjließenbes  pojlulat  ber  (SefeHfdjaft  —  feine  (gefellfdjaft 
ofyne  gefellfcfyaftlicfye  ©rbnung, 

(Drbnung  iji  2lbfyängigfeit  ber  Ceile  pom  <Ban3en.  Der 
Ceti  mu§  jtcfj  bem  (Sanken  fügen,  tpenn  lefeteres  befteljen 
foö.  (Drbnung  ber  (ßefeQfctjaft  bebmtet  alfo  ^tb^ängtgfctts- 
petfyältnis  ifyrer  (Slieber,  3nnefyaltung  bes  i^nen  burdj  ben 
Plan  bes  <San3en  porge3eidjneten  Verhaltens, 

Daraus  ergibt  jtdj  bas  poftulat  einer  gefellfdjaftlidjen 
Horm,  tpeldje  ben  ein3elnen  (ßliebem,  fotpeit  biefelben  niebt 
\d}on  it)rer  felbjt  tpegen  basjenige  tun,  rx?as  bie  gefellfdjaft* 
lid?e  ©rbnung  mit  jxdj  bringt,  iljr  Derfyalten  Por3eid}net  unb 
bie  ZTohpenbigfeit  ber  Sicherung  ber  Befolgung  ber  ZTorm 
mittels  «gtpanges.  Die  Begriffe  (Sef  ellfd^aft,  gefelljdjaft« 
lidje  (Drbnung,  gefellfdjaftlidie  [180]  ZTorm,  gefellfdiaft- 
lieber  ^tpang  Rängen  bemnad)  aufs  engfte  3ufammen,  mit 
bem  Begriffe  ber  (ßefellfcfyaft  finb  bie  brei  Iefeteren  mit  be- 
grifflicher Hotroenbigfeit  gefefet. 

Sellen  tt>ir  uns  nun,  nadjbem  rpir  biefe  brei  poftulate 
auf  bem  U?ege  ber  Debuftion  gewonnen  traben,  empirifd? 
banadj  um,  rt>ie  bie  XDirflic^feit  ftdj  3U  ifynen  perfyält,  fo 
ipeijl  uns  bas  gefellfcfyaftlidie  Ceben  3unädjji  eine  Sphäre 
auf,  in  ber  jte  fämtlicfy  pertpirflidjt  erfdjeinen,  es  iji  bie  bes 
Bedjts,  wir  finben  fte  fyer  penpirflidjt  als  Bed)tsorbnung, 
Rechtsnormen,  Hechts 3 tx>ang. 

über  bas  Hecht  beeft  bie  gefellfchaftliche  (Drbnung  nicht. 
Der  apriorifcfye  Betpeis  bafür  liegt  in  ber  früher  (S.  6  ff.) 
nachgeroiefenen  Un3ulänglichfeit  bes  med]anifcheu  gtpanges 
felbft  für  biejenigen  gtpeefe,  auf  bie  bas  Recht  fich  befchränft, 
ber  empirtfehe  barin,  ba§  bie  Sprache  neben  ber  Rechts* 
orbnung  noch  eine  3tpeite  fennt:  bie  fittlidje  (Drbnung, 
bei  ber  fie  ebenfalls  bie  (ßejialtung  bes  gefellfdjaftlidien, 
nid\t  bie  bes  rein  inbisibuellen  Cebens  im  2luge  ^at  Dem 


Paratfeltsmus  bes  Hedjts  unb  bes  Sittlichem 


Sittenge  fefc  lagt  ftch  3ur  Zlot,  roie  es  bic  inbtpibualiftifche 
tLtieotxe  in  6er  Cat  tut,  eine  ausfchliejsliche  33e3iehung  auf 
bas  ^nbwxbn\xm  geben,  ber  fittlichen  ©rbnung  nicht;  bei 
bem  lefeteren  2lusbrucf  fann  bie  Sprache  ebenfo  rote  bei  ber 
Hechtsorbnung  nur  bas  £eben  ber  <5efamtheit  im  Sluge  haben. 

2luch  bem  3toeiten  obigen  poftulate:  ber  £Torm,  begegnen 
toir  innerhalb  ber  Sphäre  bes  Sittltdjen,  es  ift  bas  [181] 
Sittengefefe,  unb  toenn  es  toahr  ift,  u>as  roir  behaupteten, 
baß  jebe  (Drbnung  in  2lntt>enbung  auf  eine  ZHefyrfyeit  r>on 
tHenfchen  bie  53orm  poftuliert,  unb  n>enn  ferner  bas  Ceben 
ber  (BefeHfctjaft  ber  Schauplafe  ift,  auf  bem  ttnr  bie  ftttliche 
(Drbnung  3U  fuchen  traben,  fo  ift  bamit  auch  bas  Sittengefefe 
als  ein  poftulat  biefer  ©rbnung  bargetan,  b.  h*  es  iji  bamit 
auf  bebuftipem  JDege  ber  33etr>eis  ber  gefeHfchaftlichen  Se* 
beutung  bes  Sittengefefees  erbracht. 

So  timrbe  uns  für  bie  fittliche  ©rbnung  nur  noch  bas 
ZHoment  bes  Sanges  fehlen.  21uch  bies  britte  Zftoment 
mufc  ftch  ftnben  laffen,  bie  fittliche  IDeltorbnung  böte  eine 
£ü<fe  bar,  u>enn  es  fehlte.  2)as  (Begenteil  ^iege:  bie  (ßefetl* 
fchaft  ftellt  XTormen  auf,  bie  jie  im  3nte*^ff*  ©rbnung 
für  erforberlich  l^ält,  ohne  ihnen  ben  nötigen  ZIachbrucf  $u 
»erleiden  —  fie  phitofophiert  über  basjenige,  n>as  nötig  ift, 
aber  jte  forgt  nicht  bafür,  baß  es  gefdjelje.  2tuch  an  biefem 
ZHomente  bes  §tx>anges  fehlt  es  ber  fittlichen  ©rbnung  nicht. 
UMe  bem  Hechtsgefefee  bie  mechanifche  §tr>angsgett>alt  bes 
Staats,  fo  forrefponbiert  bem  Sittengefefe  bie  pfychologifche 
Str>angsgetx>alt  ber  (Sefeüfchaft.  Sie  betätigt  ftcf>  in  ber 
öffentlichen  ZTCeinung.  <£s  ift  bie  ZICladit,  bie  uns  auf  Schritt 
unb  (Tritt  umgibt,  ber  niemanb,  auch  ber  höchfie  nicht,  ftch 
ent3iehen  fann,  unb  bie  auch  biejenigen,  toelche  ber  2lrm  bes 
(ßefefees  nicht  erreichen  fann,  ober  toelche  ber  Kichter  frei* 
gefprochen  h^t,  por  ihren  Hichterßuhl  forbert.  IDelcher  2Irt 
bie  ZlTittel  ftnb,  tt>oburch  jte  ftch  Beachtung  er3ix>ingt,  [182] 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IHedjam?*  Das  Sittliche, 


roerben  wir  feine^eit  bei  ber  Ch^orie  bes  jtttlichen  Willens 
nachreifen  (foiales  &wat\Qs\tftim). 

So  haben  von  bic  Dreiteilung,  bie  xoxx  auf  aprtorifchem 
IDege  bebu3tert  haben,  nicht  minber  beim  Sittlichen  als  beim 
Hechte  ttnebergefunben: 


Hec^t 
Hechtsorbnung* 
Hechtsgefefe. 

JTlechanifcher  <§tx>ang  ber 
Staatsgewalt 


Sittlichfeit 
Sittliche  ©rbnung. 
Sittengefefc. 

pfychologifcher  <§tx>ang  ber 
(ßefeüfchaft. 


2tlfo  3roet  ©rbnungen  ^tatt  ber  von  uns  auf  apriorifchem 
IDege  bebu3terten  einen?  2>er  (Srunb  h^rson  liegt  barin, 
baß  it>eber  ber  Staat  mit  bem  mechanifdjen,  noch  bie  (ßefell* 
fdjaft  mit  bem  pfychologifchen  «gtoange  für  ftet?  allein  bie 
erforberliche  gefellfchaftliche  (Drbnung  sollftänbig  h**3ujiellen 
unb  3U  fiebern  permögen.  Seibe  Birten  bes  «gisanges  fmb 
unvollkommen,  beibe  haben  ihre  £>or3Üge  unb  ihre  IHängeL 
2)er  Por3ug  bes  mechamfehen  Stranges  ber  Staatsgemalt  liegt 
in  ber  Sicherheit  feiner  IDirfung  —  wo  er  am  plafee  ijl, 
erreicht  er,  roas  er  foll,  2lber  er  ift  nicht  überaß  am  plafee, 
unb  barin  liegt  feine  UnooQfommenheit  €r  ift  3U  fehler* 
fällig,  3U  unbeholfen,  um  f amtliche  ZTormen,  tseldje  bie  <ße* 
feQfchaft  als  notroenbig  anerfennt,  3U  realijteren.  Der  Hechts» 
3tx>ang  fann  aus  bem  IPeibe  nicht  bie  IHutter  machen,  tr>ie 
fte  fein  foH,  bie  £iebe  3um  Kinbe  läßt  fich  nicht  burch  Staats* 
gefefe  er3U>ingen,  bie  2lrt,  tt>ie  fte  pdf  3U  äugern  h<*t,  nicht  in 
[183]  Paragraph**1  bringen,  unb  felbft  roenn  es  möglich  rr>äre, 
bie  Befolgung  berfelben  ftd?  nicht  fontroüieren.  Der  X>or3ug 
bes  pfychologifchen  ,§tr>anges  liegt  barin,  baß  er  x>or  feinem 
£ebensr>erhältniffe  fjalt  3U  machen  braucht,  er  bringt  wie  bie 
£uft  überall  h^,  in  bas  3*™**^  bes  Kaufes  tx>ie  an  bie 
Stufen  bes  Chrones,  an  Stellen,  wo  ber  mechanifche  §u>ang 


€rftrecfmtg  bes  Sittengefetjes. 


jebe  tDirffamfeit  t>erf agen  nmrbe.  Seine  Schwäche  liegt  in 
ber  Hnjtcherhett  feiner  IDirfung  —  bem  ftttlichen  Urteile  ber 
(Sefellfchaft,  ber  öffentlichen  ZTleinung  femn  man  Crofe  bieten, 
bem  2lrme  bes  Staates  nicht. 

So  muffen  alfo  beibe  Birten  bes  «grtxmges  $ufammentreffen, 
um  ftch  gegenfeitig  3U  ergäben,  unb  bamit  ift  bie  praftifcfye 
Hottoenbigfeit  beiber  (Drbnungen  bargetan,  bie  ba^er  auch 
uberall  fich  tmeberholen ;  es  gibt  fein  Dolf,  bas  ohne  bas 
Hecht,  unb  feins,  bas  bloß  mit  bem  Hecht  ausgereicht  hätte. 

Der  Dergleich  ber  ftttlichen  mit  ber  rechtlichen  ©rbnung 
hat  uns  ergeben:  jene  reicht  toeiter,  als  biefe*  IDie  u>eit? 
Die  5*<*ge  ift  gleichbebeutenb  mit  ber  ber  <£rftrecfung  bes 
Sittengefefees,  bat  wie  wiv  oben  ge3eigt  liaben,  (Befefe  unb 
©rbnung  ftch  ftets  bebingen. 

2tlfo  txne  toeit  reicht  bas  Sittengefefe?  Umfaßt  es  bas 
gefamte  menfehliche  Btanbeln  ober  nur  ein  toemt  auch  noch 
fo  beträchtliches  Sruchftücf  besfelben? 

Pom  Stanbpnntt  unferer  apriorif  djen  Betrachtung  aus 
möchte  man  fagen:  alles,  toas  an  menfehlichen  J^anblungen 
[184]  3um  Seftehen  ber  (Sefellfchaft  nötig  ift,  bilbet  ein  Stücf 
ber  ftttlichen  ©rbnung  unb  fällt  eben  bamit  in  ben  Sereid) 
bes  Siüengefefees,  ba  nun  aber  bie  (Sefellfchaft  ohne  bie 
3nbbibuen  nicht  beftehen  fann,  fo  toürbe  auch  basjenige, 
was  bas  3nbir>ibuum  pornimmt,  um  3U  leben,  felbft  bas 
<£ffen  unb  Srinfen  ftch  bem  (Sefichtspunfte  bes  Sittlichen  unter* 
orbnen.  VOit  roürben  auf  biefem  ZDege  bahin  gelangen,  bas 
gefamte  menfehliche  Dafein  nad)  alten  feinen  Seiten  hin,  nach 
ber  phYfifdien,  geizigen,  öfonomifchen,  rechtlichen,  bem  Sitten* 
gefefee  3U  t)inbi3ieren  unb  ber  <£goift,  ber  lebiglich  feinetoegen 
hanbelt,  bürfte  ftch  rühmen,  bamit  eine  fittliche  fjanblung 
vollbracht  3U  iiaben  —  er  erhält  fich  ber  (Sefellfchaft. 

Damit  fcheint  es,  roürbe  bas  Sittengefefe  fich  felber  Der* 
nichtet  haben,  benn  ein  Sittengefefe,  bas  bem  Egoismus  eine 


Kapitel  IX.   Die  fötale  IHed?anif.   Das  Sittliche. 


fittlicfye  23ebeutung  3ugeftety,  Ijat  jtd?  f  elber  negiert,  fein 
gan3C5  Dafein  beruht  ja  flar  auf  ber  früher  (5.  55  ff.)  naefy 
gett>iefenen  <5egenfäfelid)feit  jum  (Egoismus.  Unb  tseldjen 
Sinn  foUte  es  fyaben,  bem  Egoismus  nodj  erft  burdj  bas 
Sittengefefe  basjenige  x>or3ufd?reiben,  roas  er  fc^on  r>on 
felbfi  tut? 

Unfere  fprad)Iid)en  Unterfud^ungen  (5.  60  ff.,  65  ff.)  haben 
uns  in  be3ug  auf  tue  fjanblungen  bes  3nbit>ibuums  feie  Drei* 
teilung  ber  ftttlicfyen,  unftttlicfyen  unb  ftttlid}  inbifferenten  ober 
erlaubten  fjanblungen  ergeben,  Damit  ift  eine  fdjarfe  De» 
marfationslinie  3unfdjen  bem  (Egoismus  unb  bem  Sittengefefee 
gesogen,  beibe  haben  ihr  Heid]  für  [185]  ftch,  bie  Sittlichfeit 
bas  irrige,  auf  bem  fie  bie  Unterorbnung  bes  (Egoismus  in 
2Infpruch  nimmt,  Iefeterer  bas  feinige,  in  bas  fte  jtch  nicht 
einmifcht,  auf  bem  pe  ihm  t>ielme^r  freies  Spiel  lägt.  Die 
Kategorie  bes  „(Erlaubten"  fehltest  im  Sinne  ber  Sprache, 
b.  h«  nad]  bem  Urteile  bes  X>oIfs,  tselches  ja  für  bie  Svaqe 
vom  Sittlidjen  in  erfler  £inie  in  33etxad}t  ge3ogen  toerben 
muß,  bie  oben  x>erfudjte  2lusbehnung  bes  Sittengefefees  über 
bas  gefamte  menfehliche  ^anbeln  aus.  €ffen,  (Erinfen, 
Schlafen,  5ortpfIan3ung  mag  3ur  €rt|altung  bes  ZTCenfchen 
unb  bes  ZHenfchengefchlechts  unb  bamit  ber  <5efellfchaft  noch 
fo  nottoenbig  fein,  aber  niemanbem  fällt  es  ein,  in  ihnen 
ftttliche  Ejanblungen  3U  erblicfen. 

So  bliebe  mithin  bas  Sittengefefe  hinter  ber  jtttlidjen  b.  h. 
ber  burch  ben  &we<S  ber  (Erhaltung  ber  (ßefeüfdjaft  gebotenen 
gefeUfchaftlichen  ©rbnung  3urücf,  unb  unfere  gan3e  Debuftion 
t>on  ber  noteoenbigen  Kongruen3  ber  ©rbnung  unb  bes  <Se« 
fefees  toürbe  hinfällig,  roenn  tx>ir  nicht  etwa,  um  fte  3U  retten, 
ben  (Einflang  beiber  babnreh  ^erfteHen  trollten,  ba§  wir  ben 
Segriff  ber  ftttlidjen  ©rbnung  auf  bie  bloße  £jerrfd?aftsfphäre 
bes  Sittengefefees  einengten.  Das  ift  aber  fpradjlid?  unmög- 
lich. Unter  biefem  2lusbrucf  perjieht  bie  Sprache  bie  gefamte 


€rftrecfmtg  bes  Sittengefefees* 


W5 


©rbnung  bes  menfchlichen  Däferns:  ^anbel  unb  IDanbel, 
Derfehr,  Arbeit,  Setbfterhaltung ,  5ortpfIan3ung,  ohne  babei 
3U  unterfdjetben,  ob  bie  Ztatur  burch  ben  (Egoismus  ober  ob  tue 
(SefeHfchaft  unb  ber  5taat  burch  bas  Sitten*  unb  Hechtsgefefc 
bas  (Betriebe  [186]  erhält  —  ber  Egoismus  ift  ein  unent* 
behrlicher  5aftor  ber  gefeHfdjaftltchen  ©rbnung* 

©ber  follte  bodj  nicht  pielleidjt  bas  Sittengefefc  über  bie 
gan3e  gefellfd^aftlid^e  ©rbnung  ausgebest  tperben  fönnen? 
Dielleicht,  ba§  ber  (Egoismus  bas  (ßebiet,  bas  er  als  bas 
feinige  betrachtet,  com  Sittengefefee  nur  3U  £ehn  trägt  unb 
nur  fo  lange  frei  auf  bemfelben  3U  galten  unb  3U  tpalten 
ermächtigt  ift,  als  er  als  DafaH  feine  Pflicht  tut,  pon  bem 
ZtToment  an  aber,  u>o  er  ftch  ihrer  entfehlägt,  3ur  pflückt  unb 
©rbnung  gerufen  toirb. 

Unb  fo  ift  es  in  ber  Cat  Das  Sittengefefc  li<xt  nicht 
notig,  bem  XHenfchen  bas  (Effen  unb  Crinfen  an3ubefehlen, 
niemanb  erfüllt  bamit  eine  fittliche  pjlicht  Unb  bodjl  — 
wenn  ber  £ebensfatte  ftch  besfelben  enthält,  um  feinem  £eben 
ein  (Enbe  3U  machen,  fo  ergebt  bas  Sittengefefc  feine  Stimme 
unb  macht  aus  (Effen  unb  tErinfen  eine  Pflicht,  benn  rt>er 
feinem  eignen  Ceben  ein  (Enbe  macht,  beraubt  bamit  bie 
(SefeQfchaft  eins  ihrer  UTitglieber.  3"  biefem  5aHe,  too  bie 
£uft  bes  Cebens  3ur  £aft  toirb,  tpirb  bie  £aft  3ur  Pflicht 
—  bas  Sittengefefe  fommt  bem  Xlaturgefefce,  bas  h^r 
feine  Dienfte  perfagt,  3U  fjilfe. 

Da  tritt  alfo  h^ter  bem  fcheinbar  gän3lich  pch  felber 
überlaffenen  (Egoismus  plöfelich  bie  (ßefellfchaft  mit  einem 
(Sebote  hen>or,  pon  bem  bisher  nichts  oerlautete,  ein  «gügel 
roirb  ange3ogen,  pon  bem  ber  (Egoismus,  folange  er  ftch 
in  ber  richtigen  Sahn  bewegte,  nichts  merfte,  beu  er  aber 
[187]  3U  fühlen  befommt,  fotoie  er  ZTiiene  macht,  fte  3U 
perlaffen. 

Ztun  ift  es  aber  flar,  ba§  bie  Unterlaffung  eines  Sianbelm 

o.  3  t)  er  in  g,  Der  groeef  im  Hedjt.  II.  m 


W6 


Kapitel  IX.   Die  fo3tale  HTedjamf*   Das  Stttltä>, 


nicht  pflichtoerlefcung  fein  fann,  wenn  bas  fyanbeln  f  elber 
md\t  Pflicht  ift  Die  Pflicht  muß  bereits  sorhanben  fein, 
n?enn  fte  übertreten  toerbeu  folt  Qaben  vok  fte  vorher  nicht 
bemerft,  fo  ifi  bas  unfere  Schulb.  Derjledft  als  latente, 
tt>ar  fte  bereits  ba,  bie  ungewöhnliche  (ßeftaltung  bes  Der* 
hältniffes  ruft  fte  nicht  erfl  ins  £eben,  fonbem  nur  uns  ins 
Setougtfein. 

3n  biefer  latenten  (ßeftalt  beherrfcht  bas  Sittengefefc 
unb  bie  Pflicht  bas  gan3e  (Sebiet  bes  menfehlichen  Qanbelns, 
Solange  ber  (Egoismus  tut,  was  er  foH,  I|aben  beibe  feinen 
2lnlaj3  fich  3U  rühren,  fte  überlaffen  ihn  fcheinbar  gan3  jtch 
felber,  gleich  als  ob  fte  an  feinem  Cun  unb  Creiben  nicht 
ben  geringften  Anteil  nähmen;  es  ift  ber  ^ügel,  ber  fchtaff 
herunterhängt,  folange  bas  pferb  in  geraber  Bahn  fortläuft 
JCber  fowie  ber  (Egoismus  in  eine  serfetjrte  23ahn  einlenft, 
wirb  ber  <§üget  angesogen,  unb  von  jefet  an  übernimmt  bas 
Sittengefefc  feine  £eitung. 

IDürbe  ber  Crieb  ber  Selbfierhaltung,  ben  bie  tlatur  bem 
XHenfchen  eingepflan3t  ^at,  niemals  t>erfagen,  fo  bebürfte  es 
aöerbings  beffen  nicht  2lber  er  fann  t>erfagen,  unb  in  biefem 
5aüe  greift  bas  Stttengefefc  in  bie  £ücfe  ein.  €s  iji  bie 
Sicherheitsüorricfjtung  ber  Xtlafchtne,  ber  Mechanismus,  ber 
beim  regelmäßigen  (Sange  berfelben  ruht,  [188]  aber  bei 
einer  Störung  in  Cätigfeit  tritt  3n  biefer  IDeife  fieht  bas 
Sittengefefe  überall  hinter  bem  ZTaturgef efe ;  untätig,  folange 
basfelbe  ausreißt,  ftets  auf  ber  £auer,  um  ein3ugreifen,  wann 
es  ZTot  tut  Daburch  erlangt  alfo  auch  bas  rein  Natürliche, 
fcheinbar  ftttlich  ^nbi^etente  eine  objeftip  ftttliche  Bebeutung. 

Jüenn  gleichwohl  bie  Sprache  mittels  ber  Kategorie  bes 
(Erlaubten  eine  Sphäre  bes  menf deichen  ^anbelns  B^tnfleHt, 
für  welche  fte  bie  (Seltung  bes  Sittengefefees  unb  bie  2ln* 
wenbbarfeit  bes  <ß ejtch tspnntts  ber  Pflicht  3U  negieren  fcheint, 
fo  erflärt  ftch  bies  baraus,   baß  fte  jtch  babei  auf  ben 


Sittltd}  im  objefttoett  unb  fubjeftioen  Sinne» 


Stanbpunft  bes  h<*nbelnben  Sub jcfts  verfemt,  bas  biefes 
J^anbcln  nicht  um  ber  Pflicht,  fonbern  um  feiner  felbft  toitlen 
vornimmt.  (Es  £>eu>äfyrt  fich  t^ier  bie  XDichtigfeit  bes  t>on 
uns  betonten  Unterfdjiebes  3tr>ifchen  gvoed  unb  ZTIotip  bes 
Sittlichen.  Die  (ßefetlfchaft  t^at  feinen  (ßrunb,  bem  Egoismus 
ben  53ettrag,  ben  er,  inbem  er  für  jtch  hobelt,  ihr  3uführt, 
fubjeftit)  3umDerbienji  an3urechnen,  bies  ift  objeftiv  fittlich, 
b,  h*  eine  f}anblung,  tvelche  bie  gtoeefe  ber  (ßefetlfchaft  förbert, 
aber  es  ijl  nicht  fubjeftts  fittlich,  es  ift  nicht  hervorgegangen 
aus  ber  2lbfkht  für  bie  (ßefellfchaft,  fonbern  für  fich  f  elber 
3U  fyatxbeln,  es  fommt  ber  (ßefellfchaft  Iebiglich  3ugute  in 
5orm  ber  Hefleftoirfung  bes  (Egoismus* 

<San3  basfelbe  toie  vom  fittlich  (Erlaubten  gilt  auch  von 
bem  fittlich  Verbotenen,  tvenn  bie  Hnterlaffung  besfelben 
fich  nicht  als  ZDillensaftiou  qualifoieren  läßt  [183] 
(S*  65),  b.  h»  tvenn  für  bas  Subjeft  nicht  bie  minbejte  Per* 
fuchung  3ur  Dornahme  besfelben  beftanb.  ©bjeftiv  gereift 
ber  (ßefeUfchaft  bie  Hnterlaffung  bes  Schlechten  gan3  fo  3U* 
gute,  ob  fie  aus  ZTJangel  an  2lnrei3  3ur  Dor nähme  besfelben 
ober  aus  Selbftübenvinbung  gefchieht,  aber  vom  5tanbpnntte 
bes  Ejanbelnben  aus  verbient  fie  im  erfteren  5aHe  nicht  bas 
präbif at  ber  jtttlichen  Ejanblung,  im  lefeteren  tvohl.  Das 
bloße  Unterlaffen  an  fich  ift  fubjeftiv  nichts  Sittliches,  fonft 
tvürbe  ber  ZTCenfch  am  jtttlichften  fein,  inbem  er  fchliefe. 

Die  bisherige  Ausführung  h<*t  bargetan,  baß  gan3  fo  rvie 
auf  bem  (Sebiete  bes  Hechts  bie  Hechtsorbnung  unb  bas 
Hechtsgefefe,  fo  auch  auf  bem  bes  Sittlichen  bie  fittliche  (Drb* 
nung  unb  bas  Sittengefefe  fich  beefen,  nur  baß  festeres  ba, 
tvo  ber  (Egoismus  aus  eignem  Antriebe  bas  (Erforberlidje 
befchafft,  nicht  fichtbar  tvirb,  <£rft  baburch  befommt  bas 
menfchltche  £eben  feine  IDethe.  Das  Sittengefefc  breitet  feinen 
verflärenben  Schein  über  alles,  tvas  tvir  tun,  felbft  über  bas 
fcheinbar  völlig  Sebeutungslofe,  felbft  über  bie  £uj?,  bie 

10* 


\%8         Kapitel  IX.   Die  fatale  ttTecfyaittf.   Das  Stttltdje* 

(Erholung,  bas  Vergnügen.  2ludj  fte  fyaben  eine  tjofye  ob« 
jeftit>  ftttlicfye  Sebeutung,  benn  fte  finb  bie  unentbehrlichen 
Quellen  unferer  Kraft,  lefetere  aber  fommt  nid^t  bloß  uns, 
fonbem  ber  (BefeUfcfyaft  3ugute.  2ludj  bas  Vergnügen,  bie 
^reube,  bie  £uft  Ijaben  it^re  t^ot^e  foiale  Sebeutung,  fte  ftnb 
bas  erfrifdjenbe  Sab,  burdj  bas  wir  uns,  wenn  wir  matt 
unb  mübe  geworben,  von  neuem  im  eignen  unb  im  3ntereffe 
[190]  anberer  3U  unferer  Lebensaufgabe  ftärfen.  Hud)  ber« 
jenige,  welcher  biefes  Sab  anberen  reicht,  unb  beftänbe  fein 
gan3er  £ebensberuf  wie  ber  bes  Künftlers  in  nidjts  anberem, 
als  bie  2Hüben  unb  ZHatten,  bie  (ßebrücften  unb  Setrübten 
burdj  bas  Calent,  welches  bie  23atur  i^m  serliefyen,  auf3u- 
richten,  3U  erfreuen  unb  3U  erquiefen,  audj  er  fü^rt  ber  <Se* 
feöfcfyaft  feinen  Seitrag  3U  i^rem  (Sebexen  reid}lid?  ab.  Unb 
felbjl  biejenigen,  welche  burefy  bie  (gaben  ifyres  (ßeiftes  ober 
XDifyes  ober  bloß  burdj  i^ren  5*ofyfinn  unb  i^re  fjetterfeit 
bie  Stimmung  anberer  fyeben  unb  beleben,  aud]  fte  wirfen 
oljne  es  3U  wiffen  unb  3U  beabftcfytigen,  mit  an  ber  ftttltdjen 
©rbnung,  benn  aud)  fte  liefern  i^re  Seifteuer  3ur  5tärfung 
ber  menfdjlidjen  Kraft.  <£s  finb  £idjt*  unb  Sonnenfiratjlen, 
bie  fte  in  ein  £eben  werfen,  bas  öbe  unb  büfter  wäre,  wenn 
es  bes  Weiteren  Sonnenfdjeins  entbehren  müßte.  Wenn  es 
einen  (ßeift  gäbe,  ber  ben  Seitrag  eines  jeben  3um  ,f£Delt« 
beften",  um  ben  2Iusbru<f  pon  Kant  bei3ubeljalten,  in  ein 
Sud)  eintrüge  unb  nadj  feinem  IDert  be3ifferte,  es  wäre  bie 
5rage,  ob  er  nid)t  ben  leicfyt  befcfywingten  Crägern  ber  5reube 
einen  ebenfo  Ijotjen  poften  gutfdjreiben  würbe,  als  ben  fcfywer 
feudjenben  £aftträgem  bes  Hüfelidjen,  im  fjausfyalte  ber 
Znenfcfyfyeit  Üann  ein  fdjönes  £ieb  ober  Kunfiwerf,  bas  Saufen« 
ben  unb  2tbertaufenben  eine  Quelle  ber  <£rfrifd)ung  unb 
feiigen  Selbftoergeffens  wirb,  einen  gan3en  Raufen  von  harter 
Arbeit  für  bie  Ztot  bes  £ebens  aufwiegen. 

[191]  Oermittels  biefer  2tuffaffung  wirb  aud}  ber  (Egoismus 


€rflrecfung  b*obje?tu>  Stttlidjen»— perfontftfatton  b*<Sefeflfd?aft*  \qß 

in  feine  richtige  fittliche  Beleuchtung  gerücft.  2tuch  er  barf 
ftch  rühmen  ber  ftttlicf^cri  (Drbnung  an3ugehören,  ein  von  (Sott 
felber  porgefehenes  (ölieb  berfelben  3U  fein,  unb  er  fyat,  inbem 
er  bas  JDerf  perridftet,  bas  ihm  im  UMtplane  3ugebad)t  ift, 
feine  Hrfache,  ftch  fcheu  3U  perfriedjen,  ober  fich  feiner  felbft 
3U  fchämen.  nicht  ber  (Egoismus  als  folcher  ift  unfittlich, 
fonbem  nur  bas  Übermaß  besfelben.  2luch  ihn  alfo  nehmen 
xvit  in  bie  fittliche  IDeltorbnung  auf,  unb  nicht  u>ibertoiHig 
als  einen  leibigen  <£inbringling,  tx>eit  tt>ir  ihn  einmal  nicht 
3urücfu?eifen  fönnen,  fonbem  tt>ir  erfennen  ihn  an  als  ben 
erftgebornen  Sohn  bes  fjaufes,  ber  barin  fein  €rftgeburts> 
recht  beanfprucht,  tx>tr  fügen  nur  ben  Vorbehalt  h*n3u,  ba§ 
er  ftch  ber  fjausorbnung  füge. 

Das  ift  bie  fittliche  (Drbnung,  unb  bamit  t|abeti  n>ir  ben 
erften  Ceti  unferer  Aufgabe  erlebigt.  €r  beftanb  in  ber 
bialeftifdjen  Dertoertung  bes  Begriffs  bes  (Sanken  in  2ln* 
roenbung  auf  bie  <5efeHfchaft,  in  bem  23achu>eife,  bag  ber 
Begriff  bes  (ßa^en  in  biefer  2lmx>enbung  ben  ber  (Drbnung, 
biefer  ben  bes  (Befefces,  unb  lefeterer  uneberum  ben  bes 
§u>anges  in  ftch  fchließt  Die  empirtfche  Betrachtung  ber 
(SefeQfchaft  h<**  ergeben,  ba§  biefe  brei  pojtulate  innerhalb 
i^rer  in  boppelter  (Sejtolt  realifiert  finb:  in  ber  bes  Hechts: 
als  Bechtsorbnung,  Bechtsgefefe,  Sechts3tx>ang  —  in  ber 
bes  Sittlichen:  als  fittliche  (Drbnung,  Sittengefefe,  fo3ialer 
<§tx>ang. 

[192]  VOxv  toenben  uns  bem  3toeiten  Ceil  unferer  Aufgabe 
3u:  ber  bialeftifchen  Dertsertung  bes  auf  bie  <5efellfchaft 
übertragenen  Begriffs  bes  Subjefts.  Wh  feigem  unfere 
bisherige  Dorfteilung  eines  (Sanken,  tselches  fich  auch  als 
unbelebtes  benfen  lägt,  3U  ber  eines  belebten,  3ur  Ein- 
heit ber  Perfönlichfeit  3ufammengefaßten  &)efens.  Die  brei 
ZHomente  unferer  bisherigen  Debuftion:  ©rbnung,  (ßefefe, 
<§tx>ang  nehmen  bamit  bie  (ßeftalt  an:  £eben,  (SErfenntnis  unb 


^50        Kapitel  IX.   Die  faiale  tftedjanif*  Das  Sittliche* 


Sicherung  ber  Cebensbebingungen  ber  (BefeUfc^aft*  Das 
Perhältnis  bes  Sittlichen  $ur  (ßefeUfc^aft  im  £id?te  btefer 
2luffaffung  ift  ausgebrücft  in  ber  Formel:  bie  (Sefellfdjaft 
ift  gtpecffubjeft  bes  Sittlichen. 

3ch  toex%,  baf  ber  <5ebrauch,  ben  ich  im  erften  Sanbe 
btefer  Schrift  von  biefer  PorfteHung  ber  perfönlichfeit  ber 
(Sefellfchaft  gemacht  liabe,  bei  3uriften  2lnjio§  erregt  fyat, 
unb  ber  3urif*  h<*t  soEfommen  recht,  wenn  er  ihr  bie  psj« 
fönlichfeit  im  jurifttfehen  Sinne  (=  jurtftifche  perfon)  abfpricht. 
2)ie  (Sefellfchaft  fann  nicht  r>or  (Bericht  auftreten  —  bamit 
ift  ihre  perfönlichfeit  für  ben  3ur*fterc  abgetan.  Tibet  auch 
bie  Pölfer  fönnen  nicht  t>or  (Bericht  auftreten,  unb  boch  nimmt 
bie  (ßefchichte  feinen  Stnftanb,  von  ben  Caten  unb  Schicffalen, 
com  IPerben  unb  Untergang  ber  Pölfer  3U  reben.  Soll  ihr 
biefe  perfonififation  t>em>ehrt  werben,  toeil  fte  nicht  über  ben 
Cetften  ber  juriftifchen  perfon  pa§t?  Soll  ber  poltttfer  nid?t 
mehr  t>on  politifchen  Parteien  reben  bürfen,  ber  Ökologe 
nicht  mehr  t>on  religiöfen  Seften,  toeil  biefelben  [193]  im 
juriftifchen  Sinne  feine  perfonen  fmb?  IPeber  bie  IPiffen« 
fchaft  noch  öic  Polfsanfchauung  fann  unb  roirb  fich  ber 
Pomahme  folcher  im  Sinne  bes  3ur^ft^  völlig  pager  unb 
unbeftimmter  unb  boch  für  bie  Perhältniffe,  auf  toeldje  fte 
berechnet  finb,  t>oEfommen  3utreffenber  perfoniftfationen  je 
enthalten,  unb  felbft  aus  bem  Zltunbe  ber  3ur*ften  Pom 
reinften  IPaffer  Reiben  wi*  ben  Polfsgeifl  als  Quelle  bes 
<5ett>ohnheitsrechts  be$e\dinen  hören.  3f*  bet  Polfsgeift  be» 
ftimmter,  als  bie  (SefeEfchaft?  3^h  benfe,  beibe  nehmen  pdf 
nicht  t>iel! 

So  greife  ich  benn  bie  PorfteEung  ber  perfönlichfeit 
ber  (SefeHfchaft,  beren  ich  mich  ittt  Perlaufe  meines  JPerfes 
in  23e3iehung  auf  bie  5^cige  vom  §rr>ecffubjeft  bes  2?ed>ts 
unb  bes  Sittlichen  fdjon  fo  oft  bebient  habe,  unbean- 
ftanbet  toieberum  auf.    Sie  toirb  uns  fortan  unausgefefet 


perfontfifatton  ber  <Sefellfd>aft. 


begleiten;  es  tt>irb  fich  seilen,  welche  Dienjle  jte  3U  leiften 
t>ermag. 

Der  (gebrauch,  ben  tsir  t>on  ihr  an  btefer  Stelle  3U  machen 
gebenfen,  befielt  barm,  mittels  it^rer  bas  (ßefefe  ber  Selbft* 
erhaltung  auf  bie  (ßefellfchaft  3U  übertragen,  (Betört  letztere 
3u  ben  lebenbigen  JDefen,  fo  unterliegt  auch  jte  bem  (ßefefee, 
bas  bie  Zlatur  für  aHes  Sebenbige  aufgeteilt  Ijat.  Der 
Seibfterhctltungstrieb  ift  ber  un3ertrennliche  Segleiter  alles 
Cebens,  ber  JDächter  unb  ^üter,  bem  bie  tlatur  bie  Sorge 
für  bie  (Erhaltung  besfelben  anvertraut  Ijat  ZKit  ber  Sta* 
tuierung  bes  £ebens  auf  feiten  ber  (SefeHfchaft  tji  ber  Seibft- 
erhctltungstrieb auf  bebuftisem  fl94r]  U)ege  auch  für  jte  bar* 
getan.  Damit  eröffnet  jtch  uns  für  bas  Derftänbnis  bes 
Sittlichen  ein  neuer,  fyödtft  fruchtbarer  <5ebanfe.  2lHe  fttt- 
liehen  <5runbfäfee  haben  3um  <§a>ecfe  bas  23eftehen  unb  (5e- 
beiden  ber  (SefeHfchaft,  alle  jtnb  um  ber  (SefeHfchaft  willen 
aufgehellt,  jte  [teilten  uns  bar  ben  3nbegriff  beffen,  was 
bie  (SefeHfchaft  3U  ihrem  wahren  (Sebexen  für  nötig  ober 
tr>ünfdjenstr>ert  t^ält.  Damit  gewinnen  wir  für  fie  benfelben 
(Sejtchtspunft  wie  für  bie  Porfchriften  bes  Hechts  (I,  S.  339 ff.): 
ben  ber  burch  jte  funbgegebenen  £ebensbebingungen  ber 
(SefeHfchaft.  3n  biefem  (Seftchtspunfte  treffen  bas  Hecht 
unb  bie  Sittlichfeit  3ufammen,  nur  bie  (Brabation  berfelben 
unb  bie  2lrt  ihrer  Z?erwirfltchung  ift  eine  oerfdjiebene,  was 
uns  an  biefer  Stelle  nicht  fümmert 

IDenn  wir  mit  biefem  (Sejtchtspunfte  bas  nichtige  ge- 
troffen haben,  fo  (teilt  jtch  uns  bas  Sittliche  bar  als  ber 
(Egoismus  in  l\ölievev  5orm:  ber  (Egoismus  ber  (SefeH- 
fchaft. Derfelbe  tErieb  ber  Selbfterhaltung,  ber  auf  ber 
Stufe  bes  inbisibueHen  Dafeins  bie  (Bejlalt  bes  (Egoismus 
annimmt,  tauf  cht  bafür  auf  ber  gefeHfchaftlidjen  bie  5orm 
bes  jtttlidjen  ein.  Zlur  ber  ZI  a  m  e ,  mit  bem  bie  Sprache 
biefe  höhere  $oxm  besfelben  belegt,  wirb  ein  anberer,  bie 


\52 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IHec^anif.   Das  Sittliche* 


Sache  bleibt  biefelbe.  Den  ZTamen  gebraucht  fte  nur  für 
bie  Hegton  bes  tnbir>ibuellen  menjchltchen  Dafeins:  was 
unter  btefer  Hegton  liegt:  bie  Sphäre  bes  tterifchen,  tx>irb 
von  ity  ebenfoa>entg  mit  biefem  ZTamen  belegt,  als  voas 
über  berfelben  liegt:  bie  bes  [195]  gefellfchaftltchen 
Dafeins.  Der  (ßrunb  ift  barin  3U  erblicfen,  ba§  fte  beim 
(Egoismus  ben  (Segenf  at$  3um  Sittlichen  im  21uge  tjat,  unb 
biefer  (ßegenfafe  ift  befchränft  auf  bte  ZTTittelregton  bes  inbiot* 
buellen  menfchltchen  Däferns;  bte  untere  fennt  benfelben  nicht, 
roeil  bas  Sittliche  nicht  bis  3um  ©ere  hinabreicht,  bie  obere 
nicht,  roeil  ber  (Egoismus  bei  ber  (ßefeQfchaft  bie  (ßeftalt 
bes  Sittlichen  annimmt.  Allein  bies  hwbert  un5  nicht,  bas 
Phänomen,  bas  alle  brei  Stufen  uns  roiberfpiegeln,  als  ein 
feinem  legten  (ßrunbe  nach  gleiches  3U  ernennen.  Die  Dorber* 
füge  bes  Pierfüßlers  nehmen  beim  ZHenf  djen  bte  (Seftalt  unb 
ben  itamen  ber  2lrme  an,  aber  ber  Zoologe,  ber  bem  (Sc* 
banfen  ber  Zlatur  in  ber  Schöpfung  nachgeht,  erblicft  in  ben 
21rmen  bes  HTenfchen  nur  eine  5ortbilbung  ber  X>orberfü§e 
ber  Ciere.  Das  Verhältnis  bes  Sittlichen  3um  (Egoismus 
ijl  fein  anbetes  —  eine  Hepetttion  besfelben  (Sebanfens  auf 
einer  ^öt^eren  Stufe  bes  Däferns.  5reilich  eine  Hepetition, 
toelche  mit  einem  HucE  ber  gan3en  Welt  eine  anbere  (Seftalt 
gibt  2tber  auch  ber  Hucf,  ben  bie  Ztatur  bei  ber  Dertsanb* 
lung  ber  Dorberfüße  in  2lrme  macht,  ift  ein  ungeheurer. 

HTtt  biefer  gurüefführung  bes  Sittlichen  auf  ben  Selbst- 
erhaltungstrieb ber  (Sefellfchaft  l\aben  &k  bie  Ch^orie  bes« 
felben  oon  jenem  Antagonismus  befreit,  ben  bie  inbipibua* 
liftifche  Cheorie,  tr>ie  früher  nachgen>iefen,  an3unehmen  fich 
genötigt  fieht.  3hr  3ufolge  ftehen  ber  (Egoismus  unb  bas 
Sittliche  in  unserföhnlichem  IDiberfpruch  [196]  3ueinanber, 
bte  Ztatur  h<*t  ben  Zfienfchen  r>on  vornherein  3tt>tefpältig  an- 
gelegt, inbem  fte  ihm  in  bie  eine  f{er3fammer  ben  (Egoismus, 
in  bie  anbere  ben  Crieb  3um  Sittlichen  gelegt  hat,  nach  unfercr 


Das  Sittliche  als  gefellfdjaftlicbe  ^ortbtftmna.  oes  (Egoismus.  ^53 

2iuffaffung  bagegen  erfcheint  bas  Sittliche  nur  als  5c*tbilbung 
bes  (Egoismus  in  ber  Hegion  ber  (SefeUfchaft;  an  Stelle  ber 
3tt>ei  Criebe,  beten  fte  bebarf,  pon  benen  ber  eine  pöllig 
unerfmblich  ift,  reiben  tt>ir  mit  einem  einigen  ,  über  allem 
<§tt>eifel  erhabenen  aus,  um  bie  (Sejtolt,  meldte  bte  menfeh* 
liehe  Welt  an  ftd?  trägt,  3U  perjie^en.  2Iuf  bem  (Sebiete  bes 
Sittlichen  toieberholt  ftch  auf  btefe  IDeife  berfelbe  (Sebanfe 
ber  (Einheit  unb  ber  burch  ihn  bedingten  <£ntoicflung  bes 
fjöheren  aus  bem  fieberen,  ber  bie  gan3e  Schöpfung  burch- 
bringt,  tr>it  I^aben  nicht  mehr  nötig,  ber  ZTatur  fyer  einen 
Derftog  gegen  ftch  felber  auf3ubürben,  ben  fte  fonft  nie  be- 
gangen Ijat,  baß  jte  nämlich,  um  aus  ber  2ftenfcf]E>eit  bas- 
jenige  3U  machen,  roas  fie  beabfichtigt  I^at,  3tx>ei  gän3lid> 
heterogene  Kräfte  in  Beilegung  gefegt  fyat.  Die  gan3e 
ZTTenfchemselt  ijl  aus  einem  <5ebanfen  3U  begreifen:  Sehaup- 
tung,  5örberung  bes  £ebens.  Damit  I^aben  tpir  für  bie 
jittlidje  XDelt  3ugleich  bie  2tnfnüpfung  an  bie  p^pfdie  ge» 
sonnen.  €in  ewiger  (Sebanfe  geht  burch  bie  gan3e  Schöpfung 
hinburch:  Selbfterhaltung  aßes  (Sefchaff enen,  bas  2lnf lammern 
alles  Dafeienben  an  bas  Dafein.  £r  beginnt  bei  ber  toten 
IHaterie  unb  enbet  mit  bem  Sittlichen.  2luf  ber  nieberften 
Stufe  ber  Schöpfung:  in  ber  unorganischen  Welt  ift  er  be- 
fchränft  auf  bie  5orm  bes  [197]  rein  negativen  ober  pafftoen 
Perhaltens  im  Kampfe  ums  Dafein,  auf  ben  IDiberftanb  ber 
IHaterie,  ben  ber  Körper  bem  Körper  entgegenfefct,  bis  er 
burch  bie  Übermacht  überwältigt  bem  äußeren  2lnbrängen  bes 
fremben,  ber  ihm  ben  Saum  ftreitig  macht,  erliegt  unb  feine 
bisherige  Dafeinsform  einbüßt.  3n  öer  organifchen  fteigert 
ftch  bie  negatioe  ober  pafftpe  5orm  ber  Selbfterhaltung  3ur 
pojttioen  ober  aftioen,  b.  h»  3ur  Behauptung  bes  eignen  Dä- 
ferns auf  Koften  ber  Umgebung,  jeber  Dafeinsmoment  bes 
©rganismus  ift  Aufnahme  aus  ber  2lußentselt,  beflänbe  bas 
^uf3unehmenbe  auch  t>Io§  in  ber  Cuft,  bie  er  einatmet  — 


Kapitel  IX.   Die  f<>3iale  tftedjantf.   Das  Sittlich 

£eben  ift  gtoecf t>ertx>enbung  ber  2lußentt>elt  für  bas 
eigene  D  afein,  Don  ber  pflm^e  3um  ©er  abermals  ein 
5ortfchritt.  Die  Umgebung,  aus  ber  ber  ©rganismus  ftctj 
serforgt,  unb  bie  bei  ber  pjianse  eine  ein  für  allemal  feji 
beftimmte  iji,  unrb  burch  bie  Seroegung  bes  ©eres  eine 
tsanbelbare,  toechfelnbe,  bas  ©er  fann  fich  feine  Cebens* 
bebingungen  im  Haume  fuchen,  Seim  Übergänge  vom  ©ere 
5um  ZHenfchen  geht  mit  ber  phvftf^n  Jlusftattung  3ur  Selbft» 
erhctltung  feine  erhebliche  Peränberung  sor  fich.  Die  ZHög« 
lichfeit,  in  allen  Klimaten  3U  eyijiieren  unb  überall  feine 
Cebensbebingungen  3U  fuchen,  ift  3tr>ar  ben  meiften  ©eren 
»erfagt,  aber  es  gibt  boch  manche,  bie  fie  mit  ben  XHenfchen 
teilen» 

Das  XHittel,  tsoburch  bie  Statur  auf  bie  Stufe  bes  ZHenfchen 
i>ie  Selbfterhaltung  bem  ©ere  gegenüber  fteigert,  ift  weniger 
ber  menfehiiehe  (Seift  mit  feinem  33lkfe  [198]  rücfrt>ärts  in 
bie  Vergangenheit ,  x>ortt>ärts  in  bie  «gufunft,  u>oburch  er 
fähig  roirb,  bie  (Erfahrungen  ber  einen  für  bie  anbere  3U 
t>ertr>erten  —  benn  ber  2lnfafc  ba3U  ftnbet  fich  auch  &ei  ©eren, 
33.  beim  £}amfter  —  fonbern  bas  (Drgan  bes  (ßeiftes :  bie 
Spraye,  tooburch  er  bas  Permögen  gewinnt,  feine  eignen 
(Erfahrungen  anbern  f einesgleichen  mit3uteilen  —  bie  menfeh« 
liehe  Selbfterhaltung  operiert  mit  ber  (Erfahrung  bes  gan3en 
ZlTenfchengefchlechts» 

Damit  ift  aber  bas  Sittliche  noch  nicht  gegeben.  Der 
€goismus  fann  bie  (Erfahrungen  aller  Reiten  unb  Pölfer, 
ben  (Erfahrungsnieberfchlag  ber  gefamten  ZTienfchheit  für  feine 
groeefe  x>enr>enben,  ohne  im  minbeften  fkh  f elber  untreu  3U 
toerben.  §um  Sittlichen  fteigert  er  fich  erji,  wenn  er  bie 
€mjtcht  geroinnt,  ba§  feine  inbipibueöe  Selbjierhaltung  burch 
feine  gefellfchaftliche  bebingt  ift.  Das  iji  ber  entfeheibenbe 
punft,  too  bas  Sittliche  burchbricht.  ZTicht  alfo  ber  Übergang 
t>om  ©ere  3um  ZHenfchen,  an  ben  bie  inbipibualiftifche  Cheorte 


Selbfterfyalturtg  ber  (gefellfcfyaft.  —  prin3tp  bes  Sittlichem  ^55 

bas  Auftreten  besfelben  fnüpft,  ift  ber  punft,  roo  bas  SxtU 
liehe  in  ber  Schöpfung  auftritt  —  bamit  ift  basfelbe  poten3ieU, 
aber  noch  nicht  aftuett  gefegt  —  fonbem  biefen  punft  bilbet 
ber  Übergang  t>om  3nbipibuum  3ur  (SefeUfchaft.  Das  Sitt- 
liche ift  nicht  bas  IDerf  5er  Statur,  tpelche  ben  natürlichen 
XHenfchen  in  bie  IDelt  gefefet  Ijatr  fo  ba§  ber  ZTTenfch  es 
bereits  fertig  mit  3ur  IDelt  brächte,  fonbem  bas  XDerf  ber 
<5efchtchte,  roelc^e  aus  bem  natürlichen  ben  gefchichtlichen, 
b.  i.  gefeUfchaftlichen  ober  fittlichen  ZTlenfchen  [199]  bilbet, 
ber  (gefliehte,  welche  bie  Ztatur  ablöft,  um  ihr  IDerf  gan3 
in  ihrem  Sinn  unb  plane  fort3ufe&en  unb  ben  (ßebanfen  ber 
Selbfterhaltung  auch  in  be3ug  auf  bie  (SefeHfchaft  3U  per* 
tpirflichen. 

So  ift  es  ein  unb  berfelbe  (ßebanfe:  ber  Crieb  ber  Selbft* 
erhctltung,  ber  fich  burch  bie  gan3e  Schöpfung  hinburchfchlingt 
pom  ZTieberften  bis  3 um  i}öchften*  Der  Dualismus,  ben  bie 
inbipibualiftifche  Ch^orie  ber  Statur  aufbürbet,  inbem  fte  bas 
Sittliche  felbftänbig  neben  unb  unabhängig  x>om  (Egoismus 
auftreten  läßt,  ift  bamit  befeitigt,  bas  Sittliche  reiht  fich  bem 
€goismus  an  als  eine  5ortbilbung  besfelben  auf  ber  Stufe 
ber  (Befellfchaft 

2lber  um  tpelchen  preis,  u>irb  vielleicht  mancher  fagen, 
ift  bies  Hefultat  er3ielt!  Das  Sittliche  ift  bamit  h^abge3ogen 
pon  feiner  Jjöhe,  ift  auf  eine  £inie  mit  bem  (Egoismus  ge* 
rücft,  feines  2lbels,  feiner  Roheit  entf leibet! 

Der  Dortpurf  fann  nur  aus  bem  ZHunbe  pon  folgen 
f  ommen,  toelche  ben  (Egoismus,  beirrt  burch  ben  gehäfftgen  Sinn, 
ben  rpir  mit  ihm  perbinben,  inbem  rpir  babei  an  feine  (Segen* 
fäfelichfeit  3um  Sittlichen  benfen,  fchlechthin  für  pertperflich 
halten.  2lls  ob  er  abgefehen  Pom  Sittlichen  nicht  gan3  fo  berech* 
tigt  tpäre,  rpie  lefeteres  felber,  als  ob  nicht  auch  et  von  (ßottes 
(5naben  tpäre,  unb  als  ob  nicht  gerabe  auf  ihn  bie  JDelt* 
orbnung  in  erfter  £inie  gegrünbet  tpäre*   IDer  ben  (Egoismus 


\56         Kapitel  IX.   Die  feciale  med?attif.   Das  Sittliche, 

als  folgen  für  etwas  Unfittlicfjes  i)ält,  muß  auch  (ßott  bes 
(Egoismus  3eihen,  benn  auch  (Sott  behauptet  fich  felbft.  Die 
Konfequen3  [200]  biefer  2lnftcht  ttmrbe  barm  beftehen,  baß 
bie  Behauptung  bes  Seins  bas  Derfehrte,  bie  Vernichtung 
besfelben  bas  nichtige  wate  —  bas  Xtichts  wüvbc  bas  §iel 
bes  Sittlichen  fein.  TXlit  einer  folgen  Anficht,  3U  ber  bie 
pefftmifttfehe  €I|eorie  Schopenhauers  in  ber  Cat  gelangt  ift, 
unb  in  ber  ich  nur  bie  Ausgeburt  bes  jtch  felbft  überfchlagenben 
menf  deichen  (Seiftes  erbltcfen  fann,  l\abe  ich  feinen  Anlaß, 
mich  auseinanber3ufet$en*  X>or  bem  Sein  mache  ich  Jfalt,  mit 
bem  Sein  aber  ift  bie  Behauptung  besfelben  gegeben. 

Das  ZHittel,  welches  bie  Xlatnv  in  Anroenbung  bringt, 
um  bas  (Sefefe  ber  Selbfterhaltung  3U  seraurf  liehen,  iji  bie 
£uft.  <£s  iji  bie  prämie,  welche  fie  ihrem  (ßefchöpfe  be* 
willigt,  bamit  es  fich  bie  ZHühfeligfeiten  bes  £ebens  gefallen 
laffe,  ber  Cohn,  ben  fie  3ahlt  unb  3at>Ien  muß,  um  jtch  feiner 
in  ihrem  Dienfte  3U  serjtchem.  Von  bem  Augenblicfe  an, 
wo  bie  (Sefamtfumme  ber  mit  bem  £eben  perbunbenen  Unlujl 
(nicht  bie  bloß  momentane,  welche  bie  Ausgleichung  burch 
bemnächftige  £ujl  in  Ausjtcht  h<*0  größer  würbe  als  bie  <Se* 
famtfumme  ber  mit  ihm  perbunbenen  £uft,  würbe  bie  Ztatur 
allein  (alfo  x>on  ber  Zllitwirfung  bes  Sittengefefees  abgefeljen, 
S.  \%5)  nicht  mehr  imftanbe  fein,  ihren  plan  3U  erreichen, 
bie  2TEenfd?heit  würbe  bie  Bühne  oerlaffen  unb  ber  Zlatnt 
ihre  Holle  3urücfftellen.  Stach  2TCaßgabe  ber  bloßen  Ztatur- 
orbnung  behauptet  fich  bas  £eben  nur  burch  öen  Überfchuß 
ber  £uft  über  bie  Unluft. 

[201]  Der  guflanb  ber  befriebigten  £uft  iji  bas  ZPohlfein. 
J0om  einfeitigen  Stanbpunfte  bes  Subjef  ts  aus  iji  IDohlfein 
ber  lefete  gweef  ber  Behauptung  bes  Dafeins,  bas  bloße 
Dafein  ift  nur  ber  leere  Hahmen,  beftimmt,  bas  IDohlfein  in 
fich  auf3unehmen  —  ber  ü?ert  bes  £ebens  bemißt  jtch  nicht 
nach  bem  Kähmen,  fonbern  nach  bem,  was  er  in  jtch  fchließt. 


Sittlicher  Vdvct  bes  rt)of?Ifems. 


157 


Pom  Stanbpunfte  ber  Statur  aus  aber  h<*t  bas  H?ohlfein 
nod^  eine  ungleich  ^öt^ere  Bebeutung  als  bie  hervorgehobene 
einer  Biogen  prämie  für  bie  Behauptung  bes  T>afeins.  2Dohl- 
fein  ift  bie  Afme  bes  Cebens,  ber  £[öhepunft  bes  Dafeins, 
auf  bem  bie  Cebensfraft  erft  3U  itjrer  vollen  Entfaltung  ge« 
langt  unb  für  bie  gtoecfe  ber  Ztatur  vertvenbbar  tvirb.  VOoty* 
fein  ift  Befife  ber  sollen  Kraft  —  gebunbene,  für  fünftige 
gtsecfe  vertvenbbare  Kraft;  ber  Beroeis,  baß  bas  3n^ir)^buum 
besjenigen  Kapitals  an  Kraft  teilhaftig  geworben  ift,  welches 
bie  Statur  ber  <5attung  3ugebadjt  fyat,  unb  beffen  grr>ecf  unb 
XDert  für  ben  ZHenfcheu  nicht  barin  aufgebt,  bafc  es  ihm 
sorübergehenb  bas  (ßefühl  ber  £uft  gewährt,  fonbern  ba§ 
es  ihm  3ur  Ausgleichung  biene  für  bas  Defoit  fommenber 
«geiten,  wie  bie  in  ber  <£rbe  unb  im  ZHeere  gebunbene  JDärme 
bes  Sommers  für  bie  Kälte  bes  IDinters,  ein  Hefervefapital 
an  £ebensfraft  unb  £ebensluft,  ein  bisponibler  5onbs  5ur 
Beftreitung  ber  Ausgaben  ber  <§ufunft  —  ber  normale  ZHenfch 
muß  bei  ber  £uft  bie  Anleihe  machen,  um  bie  fommenbe 
Unlufi  beftreiten  su  fönnen. 

Vatin  liegt  bie  jtttliche  Berechtigung  bes  Strebens  [202] 
nach  tDohlfein.  (5inge  letzteres  auf  in  ber  momentanen  Be* 
friebigung,  fo  fönnte  von  einer  fittlichen  Berechtigung  biefes 
Strebens  nicht  bie  Hebe  fein.  Aber  im  IDohlfein  wirb  bie 
fünftige  Kraftverwenbung,  im  (5enuffe  bie  fünfttge  Arbeit 
vorbereitet  —  IDohlfetn  ift  für  ben  fittlichen  2Tlenfd)en  auf- 
gefpeicherte  Arbeitsfraft.  3n  biefem  Sinne  ift  bas  Stvebm 
nach  lüohlfein  fittlich  vollfommen  berechtigt,  es  bewährt  fich 
barin  bas  richtige  (ßefühl  für  bie  Bebingungen  ber  menfeh* 
liehen  Kraft.  5reube  unb  f}eiterfeit  bebeuten  für  bie  ZHenfchen» 
welt,  was  ber  Sonnenfchein  für  bie  Statur.  2Lnbexn  5reube 
3u  machen,  bie  Summe  bes  IDohlfeins  in  ber  lüelt  3U  er- 
höhen,  ijt  baher  in  ftttlicher  Be3tehung  ein  gutes  IDerf  (S.  ^8;, 
mit  Kant  3U  reben:  ein  „barer  Beitrag  3um  IDeltbeften". 


\58 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Xlediamt  Das  Sittliche* 


Zl\d\t  bafyn  gciit  bie  fittliche  Aufgabe  bes  ZlTenfchen,  tote  eine 
ungefunbe  2tsfefe  uns  glauben  machen  möchte,  bas  ^eitere 
Sonnenlicht  3U  fliegen,  fonbern  im  tvonnigen  Sonnenfdjein 
ftd)  bie  Kraft  3U  ertoerben,  ihn,  toenn  bte  ZTacht  fommt,  ent« 
beeren  3U  Tonnen,  —  was  ber  Schlaf  für  ben  Körper,  ifi 
bie  5^ube  für  bas  (ßemüt:  «gufuBjr  neuer  Cebensfraft. 

3m  nötigen  üerftänbniffe  bavon  t|at  ber  gefunbe  Sinn 
bes  ZHenfchen  von  jeher  bie  $xenbe  unb  ben  5rohjtnn  ent* 
boten,  um  alle  erhebenben  ZHomente  feines  £ebens,  fotvohl 
bes  privaten  tvie  bes  öffentlichen  unb  felbjl  bes  religiöfen, 
3u  oer^errlic^en.  Was  er  feiern,  b.  h»  clIs  hoch  unb  tvert- 
voll  für  fein  J)afein  anerfennen  tvoHte,  [203]  feiert  er  burch 
ein  5eft*),  b*  i.  bie  Bereinigung  ber  (ßenoffen  3ur  gemein» 
famen  5reube.  3m  5eß  erhebt  ftch  bie  inbivibuetle  5reube 
3ur  £;öhe  ber  gefeßfchaftlichcn.    J)te  bilben  eins  ber 

fchönften  Banbe  ber  gefeUfdjaftlichen  Derbinbung  ber  XHenfch« 
heit,  fte  gehören  3U  ben  früheren  £ebensregungeu  ber  ZTCenfch* 
heit,  bie  erjien  2lnfäfee  ber  (Sottesverehrung  tverben  t>on 
ihnen  begleitet,  bie  erjien  (Taten,  ber  jte  ftch  glaubte  rühmen 
3u  lönnen,  tverben  überall  burch  fte  beftegelt  unb  verherrlicht 
—  es  iji  ber  3nbel  ber  (Sefeüfchaft  über  bas,  tvas  fte  fertig 
gebracht  ha*  —  un&  fie  werben  bie  ZTCenfchh^t  bis  an  bas 
<£nbe  ihrer  (Tage  begleiten.  3^  große  gefetlfchaftliche  Cat 
ftnbet  mit  berfelben  ZTottvenbigfeit  in  einem  ihren  2lus- 
bruef  tvie  bie  bes  3nbivibuums  *n  bev  inbivibuellen  Reiter» 
feit;  bie  (Sefchtchte  ber  menfehlichen  $efte  iji  bie  ber  toirf liehen 
ober  vermeintlichen  Caten  unb  5ortfchritte  ber  IHenfchheü. 
^eut3utage  h<**  bie  gemeinfame  5reube  ihren  Jjauptjtft  im 
fjaufe  aufgefchlagen,  bie  öffentliche  fleht  3U  ihr  im  Verhältnis 
ber  Ausnahme  3ur  Kegel.    Urfprünglich  tvar  es  umgefehrt, 

*)  £ehntt>ort  aus  lat.  festus  (=  gläit3<mb),  vom  Sansfrit  bhas, 
flehten,  leuchten  {lat  fes,  wovon  fesiae,  feriae  =  glä^enbe,  reine, 
^eilige  geit)*   2l*£>antcef,  (Srie^lat^etvmol.  IDörterbua?  n,  5.  581* 


Sittlicher  VOett  ber  tfreube*  —  Die  tfefte.  ^59 

bie  gemeinfame  5reube  toar  eme  öffentliche,  fclbjl  bei  Familien- 
feften,  erfl  im  laufe  ber  geit  B^abcn  ftch  bic  5efte  t>on  bem 
ZHarftplafee,  ber  Straße,  ben  fallen  ber  Hathäufer  ober  ben 
(Saftoirtfchaften  in  bas  Ejaus  3urü<f  ge3ogen,  ein  He£  ber  [204] 
alten  Sitte  fyat  ftch  noch  vielfach  auf  bem  £anbe  bei  Sauern* 
hod^eiten  erhalten ,  wo  bas  gan3e  Dorf  3U  (Saft  eingelaben 
tx>irb,  alle,  bie  man  fennt,  müffen  geugen  unb  Ceilnehmer 
ber  eignen  5reube  fein, 

Die  <£tfyf  be3eid|net  bas  Streben  nach  Q?ot|lfein  als 
<£ubämonismus.  Dag  ber  fiubämonismus  in  2Im»enbung 
auf  bas  3nbix>ibuum  nicht  ausreicht,  bas  IDefen  bes  Sittlichen 
3u  erfchltejjen,  barüber  fyahen  n>ir  uns  fchon  oben  ausge- 
brochen. 2lber  ben  €ubämonismus  behalten  auch  wir  als 
prin3tp  bes  Sittlichen  bei,  nur  baß  toir  an  bie  Stelle  bes 
3nbit>ibuums  bie  (ßefellfchaft  fefcem  3n  biefem  Sinne  be- 
3eichnen  a>ir  ben  gefellfchaftltchen  <2ubämonismus  als 
giel  unb  treibenben  (ßebanfen  ber  gefamten  ftttlichen  Welt* 
orbnung,  als  prht3ip  bes  Sittlichen,  etiles  Sittliche,  fotr>ohl 
bas  objeftip  wie  bas  fubjeftio  Sittliche:  bie  ftttlichen  XTormen 
toie  bie  ftttliche  (ßefinnung  i\at  bas  Wohlergehen  ber  (gefell- 
fchaft  3um  ^roecfe,  bas  Unftttliche  charafteriftert  ftch  mithin 
baburch,  bajj  es  basfelbe  bebroht  ober  beeinträchtigt 

Das  IDohl  ber  <5efeHfchaft?  —  roelch  elaftifcher  Segriff! 
H?as  gehört  ba3U?  Huhe,  Stieben?  €in  friegerifches  Dolf 
ftnbet  fein  (Slücf  im  Kriege,  ber  ^rieben  ift  ihm  unerträglich* 
XDohljianb,  Heichtum,  Silbung?  Die  Sübfeeinf ulaner  auf 
ber  nieberften  Stufe  ber  Kultur  erfchienen  Coof  als  bas 
glücflichfte  Polf,  bas  er  bei  feiner  Keife  um  bie  ttMt  ge- 
funben  fyatte.  tftit  ben  Dolfern  ©erhält  es  ftch  nicht  axxbexs 
toie  mit  ben  3nbtt>ibuen.  Sowenig  man  [205]  für  lefetere 
eine  allgemein  gültige  Formel  bes  lüohls  ober  (Slücfs  auf- 
3uftellen  imftanbe  ift,  ebenforcenig  für  bie  Dölfer.  2lber  bie 
unenbliche  ZHannigfaltigfeit  ber  fonfreten  <£rfaffung  bes  (ßlücfs 


\60         Kapitel  IX.   Die  totale  IHecfyam?*  Pas  Sittliche. 

fynbert  uns  nicht,  bas  <5lücf  felber,  worein  immerhin  es  auch 
gefefet  werben  möge,  als  <§iel  bes  Strebens,  gleichmäßig  ber 
3nbit>ibuen  unb  Dölfer,  fynsufteHen  unb  fo  nehmen  wir  ben 
Hamen  unb  ben  Begriff  bes  <£ubämonismus  r>on  ber  inbioi* 
bualiftifchen  C^eorie,  wo  er  feine  probe  nicht  beftanben  t^at, 
in  bie  gefellfchaftliche  hinüber,  wo  er  fie  befielen  wirb. 

JDorein  bas  IPofyl  unb  (ßlücf  ber  <5efeHfchaft  3U  fefeen 
fei,  bas  iji,  tote  gefagt,  eine  5tage,  welche  jtdj  nicht  son  ber 
C^eorie  in  5orm  einer  abftraften  gefeUfchaftlichen  <5lücffelig« 
feitstheorie  beantworten  läßt  —  biefelbe  würbe  bei  jebem 
berartigen  Perfudje  ftets  nur  bas  etwas  ibealifierte  Spiegel* 
bilb  ihrer  eignen  geit  wiebergeben  —  fonbern  bas  ift  eine 
5rage,  welche  bie  (ßefdjichte  ber  UTen^^eit  beantwortet, 
inbem  fie  Blatt  für  23Iatt  ihres  Buches  entrollt.  Jluf  jebem 
Blatte,  bas  pe  nmvoenbet,  fte^t  bereits  bas  »Veite«  für  bie 
folgenbe  Seite,  ber  erreichte  gwecf  f ch  ließt  einen  neuen  in 
ftch.  2lber  beoor  bie  Seite  nicht  gan3  bis  3U  <£nbe  gelefen 
ift,  fommt  fein  neues  Blatt  an  bie  Heifye,  jeber  neue  <gwecf 
hat  bie  (Erreichung  bes  früheren  3ur  unerläßlichen  Doraus« 
fefeung.  Unb  ba  follten  wir,  bie  wir  3ur3eit  ftets  nur  ein 
einiges  Blatt  im  Buche  ber  <5efdjidjte  x>or  uns  l^aben,  uns 
herausnehmen  wollen,  an3ugeben,  was  auf  bem  legten  [206] 
Blatte  ber  <5efd}ichte  gefdjrieben  fte^t?  Don  ber  t>ollenbeten 
(5eftalt  bes  IDohlfeins  ber  ZHenfchheit  iiahen  wir  gar  feine 
21hrmng. 

2Xlfo  es  bleibt  bei  unferm  (Sejtchtspunfte  bes  (Blücfs  ober 
bes  IDofyls  ber  (Befellfchaft,  unb  wir  nehmen  ben  Vorwurf 
feiner  Unbestimmtheit  unb  lüanbelbarfeit,  ber  nur  aus  bem 
ZTTunbe  pon  folgen  fommen  fann,  benen  es  bloß  barum  3U 
tun  ift  3U  bisfutteren,  —  bie  IDahrheit  an3ubeDen  — ,  wiEtg 
entgegen,  inbem  wir  ihn  unfererfeits  an  bie  2lbreffe  ber  <5e« 
fliehte  weiter  beförbern.  Sache  bes  bemnächfi  folgenben 
inbuftioen  Beweifes  ber  gefellfchaftlichen  Ch^orie  wirb  es 


€ubämotttsmus  unb  Uttlttartsmus* 


fein,  bie  Hichtigfeit  biejes  <5eftchtspunftes  an  bem  fonfreten 
UTaterial,  welches  uns  bie  <5efchichte  bes  Sittlichen  3ur  Der* 
fügung  jiellt,  3U  erroeifen,  an  ber  gegenwärtigen  Stelle  genügt 
es  uns,  benfelben  auf  bebuftivem  IDege  begrünbet  3U  haben. 
2TCtt  bem  Dafein  ber  (ßefeßfchaft  ift  als  notoenbige  Kon* 
fequen3  besfelben  tote  ber  (Egoismus  als  praftifdjer  fjebel 
fo  auch  ber  <£ubämonismus  als  <£nb3iel  ihres  Strebens 
bargetan;  tr>er  letztere  Kon[equen3  bejireiten  tr>iU,  mu§  bis 
3um  erften  (Bliebe  ber  53egriffsfette  3urücfgreifen  unb  bas 
Dafein  ber  (Befellfcbaft  in  2Ibrebe  fteHen;  u?er  Iefeteres  an* 
erfennt,  mu§  bie  Konfequen3en  3ugeben, 

Der  <£ubämomsmus ,  von  einer  etwas  anbern  Seite  aus 
gefehen,  ifi  Utilitarismus*  ZXnv  ber  5tani>pxxnh  ber  23e* 
trachtung,  nicht  ber  ZtTaßftab,  ben  man  anlegt,  ifi  bei  beiben 
ein  verriebener,  bort  ift  es  ber  bes  gweds,  [207]  I^ier  ber 
bes  ZHittels.  Setbes,  §we&  unb  ZHittet,  hängt  aufs  engfte 
3ufammen.  Darum  ifi  ber  (Eubämonismus,  ber  ben  gtsecf 
in  ben  Dorbergrunb  ftellt,  ebenfofehr  genötigt  über  bie  ZTtittel 
3um  (ßlücf  Hebe  unb  Jlnttoort  3U  ftehen,  tr>ie  ber  Utilitarismus, 
ber  in  erfier  £inie  bie  ZTTtttel  ins  2luge  faßt,  über  ben  <gtx>ecf. 
(Ein  prut3ipieHes  2luseinanbergehen  beiber  in  be3ug  auf  ben 
«groecf  iji  bamit  in  feiner  tDeife  involviert.  Der  <£ubämonift 
fann  bas  giel  fehr  niebrig  ftecfen,  3.  £3.  in  ben  bloßen  Sxxxxxexx* 
genug  verlegen  (£(ebonismus) ,  ber  Utilitariji  umgefefyrt  es 
fehr  hoch  ftecfen,  rvie  ber  Dater  bes  Utilitarismus:  Bentham 
es  in  ber  Cat  getan  I^at. 

So  eyiftiert  alfo  tviffenfchaftlich  3tvifchen  beiben  fein  Unter* 
fchieb,  es  ftnb  nur  3tvet  verfchiebene  XTamen  für  eine  unb 
biefelbe  Sache.  3n  IDirflichfeit  aber  ^aben  ftch  beibe  3U 
3tvei,  3toar  nicht  in  ihrem  (ßrunbgebanf en ,  aber  in  ber  2trt 
feiner  Durchführung  erheblich  voneinanber  abtveichenben 
Syftemen  gehaltet.  Der  €ubämonismus  fyat  fleh  im  tvefent* 
liehen  babei  begnügt,  bas  Stxebexx  nach  <5lücf  als  prin3ip  3U 

v.  3  gering ,  Ser  §mtd  im  Hecfyt.  II. 


\62         Kapitel  IX.  Die  fatale  XUedjamf.   Das  Sittliche* 

proffamieren,  ohne  ftch  bie  ZHühe  3U  nehmen,  im  eit^elnen 
ben  Itachweis  3U  führen,  bag  unb  wie  bas  (Sind  burch  bas 
Dotlbringen  bes  Sittlichen  gefördert  werbe,  <Es  ift  bie  iüolfen« 
region  ber  Spefulation,  in  ber  er  feinen  Sifc  aufgefchlagen 
liat,  unb  t>on  ber  er  es  t>erfchmäht  3ur  (Erbe  ^era£>3ujiei^en  — 
bie  entfeheibenben  fragen  werben  in  ber  fjöt^e  ahqetan;  finb 
jte  es  bort,  fo  fmb  fie  es  auch  für  bie  (Erbe*  J)er  Utilitaris* 
mus  [208]  bagegen  verlegt  ben  Schauplafc  ber  Untersuchung 
auf  bie  (Erbe,  er  perfekt  [ich  auf  ben  realen  Boben  ber  empi* 
rif  djen  IDirflichfeit,  inbem  er  ben  mühfamen  IDeg  bes  inbuf* 
tioen  Beweifes  einfehlägt  unb  für  jebes  ein3elne  Stücf  ber 
fittlichen  ZDelt  bie  5rage,  wiefo  es  bem  (5Iü<ie  bes  ZHenfchen 
btenen,  feine  gufriebenheit  mit  ftch  unb  ber  ZDelt  förbern 
fönne,  auf  wirft  unb  3U  beantworten  fucht.  (Es  ift  ber  IDeg 
ber  praftifchen  Unterfuchung  im  (ßegenfa^e  ber  fpefnlatwen. 
Darum  ift  es  nid}t  3ufäHig,  ba§  berfelbe  3uerft  von  ber  bem 
praftifchen  3ugefehrten  englifchen  IDiffenfchaft  eingefchfagen 
ift,  währenb  wir  Deutfche  unferm  ZtatureH  3ufolge  ben  fpefu* 
latioen  £>eg  t?orge3ogen  Reiben.  5ür  bie  richtigen  Deutfcben 
hat  bie  nüchterne  «gerglieberung  bes  praftifchen  Jflufeens  bes 
Sittlichen  etwas  IDiberßrebenbes,  ber  richtige  3beolog  auf 
beutfdjer  <£rbe  erblicft  in  ber  2tnwenbung  praftifcher  <5eftchts« 
punfte  auf  2)inge,  bie  ihm  als  hoch  unb  heilig  gelten,  eine 
Derfünbigung,  bie  y$ee  mu§  *m  Gimmel  wohnen,  ihrer  felbji 
wegen,  nicht  irbifcher  gweefe  wegen  ba  fein,  wenn  jte  ihre 
JDeihe  in  feinen  2lugen  behalten  fotl*)  —  vielleicht  weil  er 
bas  bunfle  (Sefüfjl  h<*t,  ba§  jte  bie  unfanfte  Berührung 
mit  bem  harten,  fteinigen  Boben  ber  (Erbe  nicht  immer  t>er« 
tragen  würbe.  3<^  erinnere  mich  eines  gläubigen  Kanbibaten 
ber  Ökologie,  ber  mit  einem  minber  gläubigen  23ef  annten 


*)  3d?  toexoe  ben  Pornwrf  im  brüten  Banbe  an  einer  Betye  von 
Beifptelen  begrünben* 


Segriffsbefttmmung  bes  tTütjltdjeTU 


\63 


einen  Streit  über  feie  €rfcheinung  bes  ^eiligen  [209]  (Seiftes 
in  (ßeftalt  t>er  Caube  führte,  <£r  gab  bie  Caube  preis  unb 
nicht  tninber  jeben  anbern  Dogel,  ber  ihm  pon  feinem  (Segnet 
genannt  tpurbe  —  mit  ber  finnlich-anfchaulichen  PorfieHung 
permochte  er  fid}  ben  (Sebanfen  nicht  3U  pereinigen  —  aber 
ftete  fam  er  barauf  3urücf :  ein  Dogel  müffe  es  boch  getpefen 
fein!  Den  abjiraften  Dogel  permochte  ftch  fein  (Blaube  3U 
benfen,  por  bem  fonfreten  fyielt  er  nicht  ftanb»  Der 
<£ubämonismus  ifl  ber  abftrafte,  ber  Utilitarismus  ber  fon* 
frete  Pogel.  lt>er  tpirflich  <£rnft  machen  tpill  mit  ber  23e* 
hauptung,  baß  bas  Sittliche  bie  Sebingung  bes  (ßlücfes  fei, 
fei  es  bes  3nbipibuums,  fei  es  ber  (SefeUfchaft,  unternehme 
es,  am  ein3elnen  it>re  Hichtigfeit  bar3utun  —  bie  unerfchrocfene 
2)urd)fü^rung  eines  <5ebanfens  bis  in  alle  feine  Konfequen3en 
hinein  ift,  ipie  objeftip  bie  probe  feiner  IDahrheit,  fo  fub* 
jeftip  ber  jtctjerfte  öetpeis  ber  Pollen  guperficht  3U  berfelben 
—  tper  jkh  ih^  entfchlägt,  berpeift  bamtt,  baß  es  ihm  an 
ber  lefeteren  fehlt,  bie  tpiffenfchaftliche  bona  fides  bewährt 
ftch  baran,  fraß  man  feine  2tnjtchten  por  ben  2tugen  bes 
Cefers  bie  Senevpvobe  aller  in  ihnen  gelegenen  Konfequensen 
beftehen  lägt  Wxv  unfererfeits  gebenfen,  biefen  Betpeis  für 
bie  Hichtigfeit  ber  gefellfchaftlichen  Ch^orie  an3Utreten,  inbem 
tpir  ben  gefamten  3nhalt  ber  <£thi?,  foipohl  ih**  abftraften 
(Srunbbegriffe:  ben  (ßegenfafe  pon  gut  unb  böfe,  ben  Segriff 
ber  Cugenb,  (Serechtigfeit  uftP,  als  bie  fittlichen  ZTormen  im 
eh^elnen  biefer  Feuerprobe  unter3iehen  tperben. 

[210]  Dorher  tPtrb  es  notig  fein,  uns  über  ben  Segriff 
bes  Utilitarismus  3U  perftänbigen. 

H?ir  fagen  pon  einem  Ding  ober  (Ereignis,  ba§  es  uns 
nüfce,  rpenn  tpir  ber  Anficht  finb,  baß  es  uns  in  unferen 
«gtpecfen  förbere,  uns  aus  ber  Stelle  („fürber",  „portpärts") 
b.  i.  bem  <gtele  näher  bringe.  Hufeen  ift  betpirfte  Annähe- 
rung an  bas  geftecfte  «giel.    3nfou>eit  nun  bas  Dafein  auch 

U* 


Kapitel  IX.   Die  fatale  tfTed?amf\   Das  Stttltd^e* 


bas  iDohlfein  in  fich  begreift ,  toenben  wir  ben  Jtusbruc! 
nü&en,  5er  im  engeren  Sinne  fich  nur  auf  erfteres  besiegt 
unb  bann  t>on  „angenehm"  unterfchieben  toirb,  auch  auf 
lefeteres  an*)  unb  in  biefem  toeiteren  Sinne  ift  ber  t>on  uns 
gebrauchte  2Iusbruc!  Utilitarismus  im  folgenben  3U  serftehen. 

®b  nun  etwas  in  biefem  Sinne  nüfelich  fei,  beftimmt  fich 
nic^t  bloß  nach  ben  fofortigen,  unmittelbaren,  fonbem  3ugleich 
nach  ben  fpäteren,  mittelbaren  folgen,  nur  bas  (5efamtrefultat 
fämtlicher  IDirfungen  fotoo^l  in  ber  (Segenroart  toie  in  ber 
gufunft  entfeheibet  barüber,  ob  ettr>as  nüfelich  ober  fchäblich 
ift.  Dom  Stanbpunfte  bes  UToments  aus  betrachtet  ifi  es 
für  ben  Kaufmann  nüfelich,  feine  Kunben  3u  übervorteilen, 
aber  ber  ZTufeen  bes  2T£oments  unrb  von  ihm  burch  ben  Der* 
luft  ber  Kunben  teuer  erfauft,  im  <£nbrefultat  bringt  ihm 
feine  Hnreblichfeit  nicht  ZTufeen,  fonbem  Schaben. 

[211]  tiefer  ZHagftab  bes  bauernb  im  (ßegenfatje  bes 
t>orübergehenb  ZTüfelichen  gilt  wie  für  bas  3nbbibuum  fo 
auch  für  bie  (ßefeöfchaft.  Ztüfelich  für  ben  2Tfoment  ift  es, 
wenn  bie  Staatsgewalt  burch  Konfisfationen,  Ztieberfchlagung 
ber  Staatsfchulben,  ^erabfefcung  bes  vertragsmäßig  ftipu* 
Herten  Zinsfußes,  übermäßige  <£miffton  von  papiergelb  fid? 
aus  einer  (Selbt>erlegenheit  befreit,  aber  bem  vorübergehenben 
<5eu>inne  [teilen  [ich  Nachteile  gegenüber,  bie  ungleich  fd]tx>erer 
tr>iegen:  (Sefährbung  ber  Hechtsficherheit,  Zerrüttung  ber  Der* 
fehrsoerhältniffe,  Schäbigung  bes  Staatsfrebits.  3n  tDixh 
lid|feit  ift  alfo  bie  Ulagregel  nicht  nüfelich,  fonbem  fchäblich. 

Sei  ber  2lmr>enbung  bes  Hüfelichfeitsmaßftabes  auf  bie 
(Befellfchaft  gefeilt  fid)  außerbem  noch  ein  (5eftd]tspunft 
hin3u:  ber  ihr  eigentümlich  ift.    <£s  ift  bie  Hücfftcht  auf  bas 

*)  3n  biefem  weiteren  Sinne  gebrauten  auch  bie  romif  eben  3"rif*en 
ben  Begriff  bes  utile.  HXit  bem  (Erforbernis,  ba§  bie  »servitus  fundo 
atilis  esse  debet«  perträgt  pdf  audj;  »ut  amoenitatis  causa  aqua  duci 
possit,  1.  3  pr.  de  aqua  ($3.  20). 


Der  IHagftab  bes  gefeflfdjaftitdj  Zlü#idjen*  \<55 


<San3e.  (SefeHfchaftlich  nüfeltch  ijt  nur  dasjenige,  was  bem 
(Sanken  frommt ,  bie  Beförderung  bes  IDohtfeins  bes  Ceüs 
auf  Kojien  ber  (Sefamtheit  ftetlt  uns  benfelben  IHißgriff  in 
be3ug  auf  6te  fjanbhabung  bes  23üt$lichfeitsbegriffs  bar,  tote 
5er  eben  befprochene  ber  €rfirebung  bes  Hubens  bes  Mo- 
ments auf  Kojten  r>on  bem  ber  Dauer.  Die  Beuo^ugung 
eines  ein3elnen  Bruchteils  ber  23et>ölferung,  eines  ein3elnen 
Stanbes  ober  einer  Beruf sflaffe  ift  bafyer  com  gefellfchaft* 
liehen  Stanbpunft  aus  nur  bann  suläffig,  wann  fie  bem 
3ntereffe  ber  (ßefamtheit  entfpricht;  bann  aber  ift  fie  nicht 
blo§  3uläfjtg,  fonbern  geboten.  Privilegien  (teilen  baher  mit 
ber  gefeüfchaftlichen  [212]  Ct|eorie  fo  tx>enig  in  IDiberfpruch, 
baft  biefelben  im  (Segenteil  fich  nur  von  ihrem  5tanb?nntt 
aus  rechtfertigen  laffen.  Die  inbiinbualiftifche  Clieorie,  welche 
bas  abjlrafte  3n^^^uum  ö*5  ^tr»e<Jf ubjef t  unb  bamit  bie 
(Sleidjfyeit  aller  3nbipibuen  als  prin3ip  proflamiert,  ift  nicht 
imjianbe,  bie  Statthaftigfeit  ber  Privilegien  3u  bebu3ieren, 
fie  fann  in  ihnen  nur  einen  völlig  ungerechtfertigten  ZDillfüraft 
ber  Staatsgewalt  erblicfen.  Schon  bamit  allein  fonftatiert  fie 
ihre  praftifdje  Unbrauchbarfeit  unb  politifdje  Perrverflichfeit; 
benn  bie  (SefeQfdjaft  fann  es  jtch  nicht  nehmen  laffen,  ben  ein- 
3elnen  Ceilen  bes  gefellfchaftlichen  Korpers  biejenige  Stellung 
unb  (Sejialtung  3U  geben,  tvelche  burch  ihre  Bejlimmung  unb 
<£inglieberung  in  bas  <San^  geboten  ifl. 

Der  l^ier  entroicfelte  Sinn  bes  ZTüfelichen  ift  es,  ben  tx>ir 
bei  bem  3ur  Beseichnung  unferer  Cl^eorie  bes  Sittlichen  ge- 
rodelten 2lusbrucf  bes  gefellfchaftlichen  Utilitarismus  im  21uge 
haben.  Das  Hüfelidje  in  biefem  Sinne  beeft  fich  mit  bem 
obigen  (Sefichtspunfte  ber  Cebensbebingungen  ber  (ßefeUfc^aft. 
Hur  roas  ber  gan3en  (BefeHfchaft  unb  nur  tvas  ihr  bauernb 
mißlich  ifi,  fann  fich  rühmen,  ihr  roahrhaft  förberlich,  nüfclich 
3u  fein,  b.  h  ihrcn  Cebensbebingungen  3U  entfprechen  unb  ben 
2lnfpruch  ergeben,  in  bie  £orm  ber  rechtlichen  ober  gefeHfchaft« 


\66         Kapitel  IX.   Die  f totale  ItTedjantf.   Das  Stttltd^e. 


liehen  Horm  gebracht  3u  werben.  Xlnv  voas  fich  als  folches 
ausreifen  fann,  t>erbient  bas  präbif  at  bes  Sittlichen,  b.  i. 
bes  gejellfchaftlich  Hüfelichen  in  biefem  Sinne.  Damit  ift 
nic^t  bloß  [213]  bte  lefete  Quelle  unb  ber  §wed  bes  Sitt* 
liefen  namhaft  gemalt,  fonbern  3ugleich  ein  XHaßftab  ge« 
n>onnen,  um  bie  üorübergehenben  2lfte  ber  Staatsgewalt 
fotsohl  toie  bie  von  ihr  als  bauernb  aufgehellten  Ztormen 
((Sefefee)  unb  bie  gefellfchaftlichen  (Einrichtungen  3U  beurteilen. 
Was  bem  wahren  IDohle  ber  (5efeH[chaft  (auf  biefer  ihrer 
Seitlichen  (Entuncflungsftufe)  nicht  entfpricht,  ift  unfittlich.  Das 
fittliche  Urteil  macht  alfo  t>or  bem  (Segebenen  nicht  I}alt,  es 
erfennt  3tr>ar  einfach  praftifch  bie  Derpjlichtung  an,  fich  ber 
Staatsgewalt  3U  fügen  unb  bie  geltenben  (ßefe&e  3U  befolgen, 
aber  innerlich  weiß  es  fich  frei  unb  fühlt  fich  in  feinem  Hecht, 
tnbem  es  bie  (ßefefee  unb  (Einrichtungen  prüft,  ob  fie  auch 
bie  probe  bes  ZTfaßftabes  bes  Sittlichen  beftehen,  ben  es  in 
fich  trägt.  Dtefer  XTlaßftab  ift  aber,  f  elbft  wenn  bas  yxbu 
t>ibuum  fich  beffen  nicht  bewußt  ift  unb  benfelben  noch  fo 
weit  3urücfweift,  ftets  ber  x>on  uns  angegebene  bes  gefetl* 
fchaftlich  nützlichen  im  obigen  Sinne.  <£s  gibt  feinen  anbern, 
er  ift  ber  ein3ig  objeftiue,  ber  in  ber  ZTatur  ber  Singe  f  elber 
gelegene,  unb  ber  jenige,  ben  tatfäehlich  f  elbft  biejenigen  3ur 
2Inwenbung  bringen,  bie  ihn  burch  Berufung  auf  ihr  fittliches 
(Befühl  ablehnen  3u  fönnen  glauben.  Das  ftttliche  (5efühl  ift 
nicht  bie  lefete,  fonbern  bie  erfte  3nftan3  Sittlichen,  fte 
gibt  feine  <£ntfcheibungsgrünbe  an,  aber  fie  trifft  regelmäßig 
bas  nichtige.  Die  3weite  unb  lefcte  3nftan3  ift  bie  ber 
IDiffenfchaft,  fie  wirb  bie  Urteile  ber  erften  3nftan5  regel« 
mäßig  betätigen,  aber  fte  foH  auch,  was  erftere  [214]  t>er* 
fäumt  fyat,  bie  (Entfcheibungsgrünbe  angeben,  unb  wirf  lieh 
haltbare  fann  fie  nur  bem  von  uns  aufgehellten  (ßeftchtspunft 
entnehmen» 

3ch  wenbe  mich  nunmehr  ber  Aufgabe  3U,  bie  Hidjtigfeit 


„Stttltdj  tj*  b*  gefeöfd?aftl  Hiifeltdje"*  plan  b,  Begrfinbg.  biefer  Cljefe*  J67 

bes  lefeteren  (ßejtchtspunfts  bar3utun.  Sie  wirb  uns  lange, 
lange  in  2lnfpruch  nehmen,  wir  ^aben  bas  gefamte  (Bebtet 
ber  <£thi?  3U  burchwanbern,  es  barf  uns  auf  bemfelben  nichts 
aufftoßen,  bei  bem  unfer  (5ejtchtspunft :  fittlich  ift  bas  gefell* 
fdjaftlich  ZTü&liche  ober  JXotwenbige,  feine  Dienfte  serfagt, 
erft  bann  ift  ber  beweis  besfelben  auf  inbuttipem  IDege  in 
pollftänbiger,  unwiberfprechlicher  IDoife  erbracht.  Das  I^öchfte 
wie  bas  Kleinfte  foö  uns  Hebe  unb  Antwort  ftehen,  unb  wir 
werben  es  nicht  serfchmähen,  bei  ber  Ojeorie  ber  Sitte  bis 
in  Ztieberungen  bes  förperlidjen  Cebens  h^rab3ufteigen,  meldte 
ber  5u§  ber  IDiffenfchaft  bisher  noch  nie  betreten  fyat  (C^eorie 
ber  Umgangsformen),  (gerabe  bas  Kleinfte  unb  fetjeinbar 
geldlich  Sebeutungslofe  ift  für  uns  t>on  äußerftem  IDert,  benn 
welchen  fchlagenberen  Beweis  fann  es  für  bie  behauptete 
IDal|rI|eit  unb  Allgewalt  eines  (ßebanfens  geben,  als  wenn 
berfelbe  fich  felbft  an  ihm  nicht  verleugnet?  J)ie  Sehaup* 
tung,  welche  wir  biefem  IDerf  als  ZHotto  r>orgefe§t  haben: 
ber  &we<£  ift  ber  Schöpfer  bes  gan3eu  Hechts,  wirb  ^ier 
bahin  erweitert:  er  ift  ber  Schöpfer  ber  gan3en  fitttichen 
©rbnung —  Sitte,  ZTToral,  Hecht,  bie  brei  Ceile,  aus  benen 
fie  ftch  3ufammenfefet,  serbanfen  gleichmäßig  ihm  ihren  ttr* 
fprung,  es  gibt  nichts  im  gan3en  Umfange  ber  fittlichen  [215] 
&>elt,  bas  fich  nicht  auf  ihn  3urücfführen  ließe  —  wer  mir 
etwas  (gegenteiliges  nachweifen  fann,  tjat  mich  gefchlagen. 

3ch  orientiere  ben  £efer  über  ben  plan  bes  5olgenben* 
3ch  wenbe  mich  3uerft  ben  fittlichen  (ßrunbbegriffen  unb 
fobann  ben  angegebenen  brei  teilen  ober  2lbftufungen  bes 
Sittlichen  3U,  bie  ich  in  ber  ihrer  praftifdjen  IDichtigfeit  ent- 
gegengefefeten  ©rbnung  flaf fixiere:  Sitte,  ZTCoral,  Hecht. 


Kapitel  IX.   Die  foiale  XKedjattif*   Das  Sittliche, 


\9)  Die  (5runbbegriffe  ber  fittlidjen  Welt 
im  £id}te  bes  gef ellf dt^af tltd?en  ober  objeftipen 
Militarismus» 

3d?  laffe  bie  utilitariftifdje  2luffaffung  an  ben  (Srunb* 
begriffen  ber  <£tfyt!  bie  probe  beftefyen  unb  roenbe  midj  3U* 
näcfyfi  bem  5unbamentalgegenfafee  3U,  ber  mit  bem  pon  fittlid? 
unb  unftttlidj  3ufammenfäHt,  bem  von  gut  unb  böfe. 

X)  Der  (Segenfafe  von  gut  unb  böfe* 
Sie  Ijerrfdjenbe  2lnfidjt,  bie  icfy  im  <5egenfafee  3ur  utili* 
tarifHfdjen  als  ibealiftifdf  be3etdjnen  n>iH,  lägt  ftdj  in  3toei 
Säfee  3ufammenf äffen,  €rfter  Safe:  ber  obige  (Segenfafe  ift 
ein  objeftiper,  b.  Bj.  in  ben  Dingen  felber  gelegen.  IDas 
ber  (Segenfafe  bes  (ßefdjlecfyts  für  bie  Ciertoelt,  bas  bebeutet 
er  für  bie  ftttlicfje  tt)elt:  bie  pon  aHem  Anfang  an  bualifttfd? 
gejlaltete  €yiften3form  berfelben.  [216]  gtpeiter  Safe:  biefem 
objeftipen  (ßegenfafe  entfpridjt  ein  ifyn  fonformes,  bem 
ZHenfdjen  angebornes  fubjeftipes  Unterfdjetbungsper* 
mögen.  (ßleidjtpie  bas  leibliche  2luge  pon  ber  Ztatur  sur 
IDafyrnefymung  ber  2tu§enrpelt  präbisponiert,  auf  jte  einge* 
rietet  unb  geflimmt  iji,  fo  bas  geijtige  auf  ben  Unterfcfyeb 
3tpifdjen  gut  unb  böfe. 

Der  3tpeite  Safe  Ijat  für  uns  an  biefer  Stelle  fein  3ntereffe, 
idj  tpenbe  midf  fyier  ausfdjließlidj  bem  erften  3U.  3d)  fefee 
it|m  bie  23efyauptung  entgegen:  ber  Unterfdjieb  pon  gut  unb 
böfe  liegt  nidjt  in  ben  Dingen  an  jtdj,  fonbern  er  ergibt  fid) 
erji  aus  ber  Öe3iefyung  ber  Dinge  unb  ^anblungen  auf  bie 
<§tpecfe  bes  ZHenfcfyen,  er  enthält  ein  «gtpecfurteil.  <8ut  pom 
Stanbpunfte  bes  3n&ir>&uum5  ift,  was  feinen  «groecfen  ent* 
fpridjt,  gut  im  gefeßfdjaftlidjen,  b.  i.  fittlidjen  Sinne,  was 
ftdj  burd?  bie  (Erfahrung  als  ben  gvoeden  ber  (ßefeQfdiaft 
förberlidj,  fcfylecfyt  ober  böfe  bagegen,  u>as  jtd?  üjnen  als 


y 


Vet  (Segmfatj  von  gut  unb  böfe. 


hinberlich  ober  fchäblich  ertoiefen  hat.  nicht  bie  Dinge  (beim 
Sittlichen:  bie  X^aublungen  ber  ZHenfchen)  finb  an  fich  gut 
ober  böfe,  fonbern  bie  Dertsenbbarfeit  für  unfere  «gtsecfe 
bilbet  ben  ZtTaßftab,  nach  bem  toir  biefe  ihre  <£igenfchaft  be* 
ftimmen.  3nbem  tx>ir  bie  Dinge  ober  ^anblungen  gut  ober 
fchlecht  nennen,  probieren  toir  etwas,  was  in  uns  feinen 
(Srunb  h<*t,  in  jte  als  <£igenfcbaft  h^in,  gleich  als  ob  es 
ettoas  ihnen  immanentes  wäre.  <£s  verhält  fich  bamit  nicht 
anbers,  als  tsenn  tx>ir  bie  5<*rbe  in  bie  Sache  hinein  verlegen. 
Der  Saum  ift  nicht  an  fich  grün,  bie  [217]  <£rbe  nicht  \d\wax$t 
fonbern  bas  (Srüne  unb  Sdiwav$e  ftedt  in  unferen  2lugen,  es 
ift  ber  <£inbrucf  bes  <5egenftanbes  auf  unfer  einmal  in  einer 
gan$  beftimmten  H>eife  eingerichtetes  2Juge  —  unfer  2tuge 
anbevs  geftaltet,  unb  bie  5<*rbe  ber  Dinge  toäre  eine  anbere, 
roie  es  ja  beim  5arbenblinben  in  ber  Cat  ber  5aII  ift,  ber 
ZtTenfch  anbers  gefchaffen  als  er  es  ift,  mit  anbern  (Sahen 
bes  Körpers  unb  (5eiftes  unb  anbern  Sebürfniffeu,  unb  gut 
unb  böfe  roäre  ebenfalls  etwas  anberes. 

So  fiecft-  gut  unb  böfe  nur  in  bem  Subjefte,  roelches  bie 
Dinge  t>om  Stanbpunfte  feiner  <gtx>ecfe,  b.  i.  nach  ZTIaßgabe 
feiner  perfönlichfeit  —  benn  lefctere  3eichnet  ihm  biefelben 
vor  —  beurteilt.  Zlnv  inbem  tx>ir  bie  gewöhnliche  (Beftaltung 
ber  menfchlichen  öebürfniffe  unb  &wede  3ugrunbe  legen,  ge* 
langen  wir  ba3u,  geroiffe  Dinge  fchledtfhin  als  gut,  anbere 
fchlechthin  oXs  fehlest  3U  be3eichnen.  2lber  ba§  auch  h*^  öer 
XHaßftab  ein  rein  fubjef tiper  ift,  erhellt  baraus,  baj$  ber 
(ßegenfafe  burch  eine  eigentümliche  Derfchiebung  ber  fubjef- 
tipen  Derhältniffe  fich  völlig  umf ehren  fann:  rr>as  gut  ift, 
fann  böfe,  tr>as  böfe,  fann  gut  toerben,  —  ein  feuriger  XDein 
für  ben  (ßefunben  ein  Cabfal,  ift  für  ben  Kranfen  (5ift,  (5ift 
für  jenen,  eine  2lr3net  für  biefen,  —  mit  bem  öebürfniffe 
tsechfelt  ber  IHajjjtab  für  gut  unb  böfe. 

Das  gilt  auch  für  bas  fittlich  <5ute  unb  Söfe.    €s  gibt 


\70         Kapitel  IX.   Die  feciale  irtedjantf*   Das  Sittliche. 

feine  £}anblung,  bie  an  fid}  böfe  tr>äre*  Htcfyt  bie  Cötung 
bes  2Tfenfd?en  —  im  Kriege  ift  fie  pflid>t,  im  [218]  23otftanbe 
erlaubt.  Xl'xdit  bie  Untoafyrfyeit,  Cäufdjung,  Perftellung  — 
im  Kriege  gilt  von  ifyr  basfelbe  u>te  t>on  ber  Cötung,  hier 
rr>irb  fie  als  Kriegslift  erlaubt  unb  geboten,  Xlxd\t  bie  «ger* 
ftörung  fremben  (Eigentums  —  im  ZTotftanbe,  3.  bei  einer 
feuersbrunft  ift  fie  erlaubt,  ebenfo  toteberum  im  Kriege,  fofern 
bas  3n^reffß  bes  Kriegfüfyrenben  fie  erfyeifdtf. 

Wo  bleibt  nun  bie  t>ermeintlidje  objeftit>e  3^^^nen3  bes 
(5uten  unb  Böfen,  toenn  ber  (Segenfafe  ftdj  t>erfdjiebt  nad? 
ben  Sagen  unb  gtoecfen  bes  ZHenfdjen?  £tur  ber  Umftanb, 
ba&  man  bie  regelmäßige  unb  normale  (Seftaltung  ber  menfd}* 
Iidjen  £agen  unb  §wede  t>or  2lugen  Ijat  unb  banad?  fein 
Urteil  über  gut  unb  böfe  3ufd}neibet,  fonnte  bie  Oufdjung 
beroirfen,  als  ob  ber  (Segenfafe  x>on  gut  unb  böfe  in  ben 
Dingen  jiecfe.  Den  menfcfjlidjen  &wed  IjintDeggebad?t,  unb 
bie  Dinge  finb  webet  gut  nodj  böfe,  fott>enig  ttne  es  rot, 
blau,  fd}u>ar3,  roeiß  gibt  ofyxe  bas  menfdjlidje  2luge,  unb 
füg,  fauer,  bitter  ofyne  bie  menfd?lidje  <§unge  —  ber  (Segen* 
fafc  pou  gut  unb  böfe  entfpringt  lebiglidj  bem  g>we<S. 

Daraus  ergibt  fidj,  ba§  gut  unb  böfe  ober  fdjlecfyt  im 
P^yftfdien  unb  im  fittlidjen  5inne  auf  einer  unb  berfelben 
£inie  ftefyen.  (Sut  im  plivjif^cn  Sinne  nennen  mir,  tt>as 
unferem  Körper  ober  unferer  <£mpfinbung  u>ol}l  tut,  böfe  ober 
fcfytedjt,  u>as  uns  fdjabet  ober  unangenehm  berührt.  (Sani 
in  berfelben  JDeife  nennt  bie  (Sefellfcfyaft  oon  ifyrem  Staub« 
punft  aus  in  be3ug  auf  bas  menfcfylidje  [219]  fjanbeln  gut 
im  fittlidjen  5inne  bas  jenige,  was  ifyr  Dafein  förbert  ober 
tljr  IDo^lfein  erljöfyt,  fdtfedjt,  böfe  bas  jenige,  was  bemfelben 
2lbbrudj  tut  3n  beiben  Bidftungen  fonnte  nur  bie  <£rfafy* 
rung  ben  ZHenfcfyen  belehren,  was  gut  unb  böfe  fei  —  es  ift 
ber  Saum  ber  Crfenntnis  bes  alten  Cefiaments,  t>on  beffen 
^rüdjten  ber  XHenfd)  erft  effen  mußte,  um  bes  Unterfcfyiebs 


Per  (Segenfa^  von  gut  unb  böfe. 


3totfd7en  gut  unb  böfe  inne  5U  roerben.  3X>enn  nicfyt  jebes 
3nbh>ibuum  unb  im  Ceben  ber  Dölfer  nicfyt  jebe  (Seneration 
erft  felber  bie  (Erfahrung  3U  machen  braucht,  fo  fyat  bas  nur 
barin  feinen  (ßrunb,  ba§  beiben  bie  Erfahrungen  anberer 
5ugute  fommen.  2tber  bajj  ber  ZHenfd)  feinen  Ringer  nicfyt 
ins  £id]t,  bie  glüfyenbe  Kofyle  nicfyt  in  ben  ZtTunb  ftecfen  barf, 
baß  er  oBjne  £uft  nidjt  e^iftieren  unb  im  IDaffer  nic^t  fielen 
fann,  tjat  er  ebenfogut  erft  lernen  muffen,  roie  bie  (ßefeUfcfmft, 
ba§  fie  bei  ZlTorb,  Haub,  2)iebftal}l  nicfyt  befielen  fann. 

J)arum  ift  es  nicfjt  3ufällig,  ba§  bie  Sprache  aller  Kultur* 
x>ölfer  fid?  3ur  23e3eicrmung  bes  fittlicfy  (Suten  unb  Schlechten 
berfelben  2Iusbrüc!e  bebient  wie  3U  ber  bes  phvfH^  <5nten 
ober  Schlechten.  Die  3toeite  Bebeutung  ift  bie  urfprüngliche, 
bie  erfte  bie  übertragene*).   Wo  ein  JPort  eine  ftnnliche  unb 


*)  Die  grtedjtfcfye  Sprache:  dfaftov  auch  y.aXovxdY'*$6v.  Die 
latetntfd?e:  bonum,  malum,  bavon  entlehnt  in  ben  romantf djen 
Sprachen  3*  33*  itaL  buono,  bene,  il  bene,  bontä,  male,  il  male,  IP03U 
no&i  cattivo  fommt,  frau3*  bon,  bien,  bonte ,  mal,  mauvais.  Die 
beutfdje:  gut,  bas  (Sute,  (Süte,  bie  (Süter,  fehlest  (IDetter,  Iftenfch), 
böfe  (Sturm,  XUenfdj),  bas  Böfe,  arg  (£ärm,  (Seftnmmg,  2XrgItft) ,  übel 
((Semd?),  bas  Übel,  fd?limm  (Had^rid^t,  (Semormhett).  Die  englifd^e; 
good,  goods,  goodness,  bonty,  bad,  badness,  male  in  feinen  Kompofttis* 
3u  ben  fetnitifdjen  Sprachen  gelten  nach  einer  Mitteilung,  bie  ich  ber 
(Süte  r>on  profeffor  Delttjfch  in  £eip3tg  üerbanfe,  „bie  Be3etch* 
nungen  bes  ftttlich  (Suten  unb  Böfen  ebenfalls  von  fimtlidjen  (Srunb* 
begriffen  aus.  (Sut  in  feiner  urfprün glichen  Bebeutung  ift,  mas  einen 
angenehmen  ftmtltdjen  (Einbrucf  macht.  Dem3ufolge  perbinbet  ftd?  auch 
mit  bem  Begriffe  bes  ftttlich  (Suten  ber  Begriff  bes  IDorjltuenben  unb 
Betlfamen,  bas  es  in  fid>  fernliegt  unb  aus  fid?  heransfetjt.  <£benfo 
fallen  bie  Begriffe  bes  Böfen  uub  Sdjltmmen  3ufammen.  Statt:  Baum 
ber  (Erkenntnis  bes  (Suten  unb  Böfen  lägt  ftd?  nicht  minber  richtig  über= 
fetten;  bes  (Suten  unb  Schlimmen.  Die  gewöhnlichen  arabifd^eu  IPorter 
für  „gut"  be3eidinen  bas  (Sute  als  bas  Schöne  unb  Dor3Ügliche"* 

3d?  habe  mich  augerbem  noch  teils  mittelbar  teils  unmittelbar  an 
einige  aubere  (Seiehrte  qewanbt  uub  id?  glaube  ber  IPtffenfd^aft  einen 
Dienft  3U  enpeifen,  wenn  ich  bie  mir  geworbenen  Antworten  (wörtlich) 
mitteile. 


\72         Kapitel  IX.   Die  fatale  IlTecbamL    Pas  Sittliche. 


eine  überfumlidie  Sebeutung  ijat,  [220]  ift  jene  6ie  ältere, 
öiefe  fcie  fpätere;  im  sorliecjenben  5aüe  ergibt  fief?  fctes  fdicm 

profeffor  H.  Hoth  in  (Tübingen*  Die  (Segenfefeung  pon  gut  unb 
böfe  fo  verallgemeinert  urie  im  heutigen  Dentfdj  ftammt  mer/t  aus  ber 
älteften  «geit  ber  Sprache*  Unb  man  barf  in  feiner  jugenblichen  Sprache 
biefe  2lbnut$ung  ober  Dermifd^ung  ber  Bebeutung  erwarten.  Das  alte 
Sansfrit  (im  Deba)  tjat  voofy  ein  Dutjenb  IDörter,  bie  man  ettva  mit 
gut,  ebenfopiele  anberf,  bie  man  mit  bös  überfeinen  fann,  aber  allen 
fommt  ein  näher  umfehriebener  (Srunbbegriff  3U,  3»  53.  päpa  (nicht  3U 
etymologifieren)  bös  b*  h*  fchlimm,  übel,  ungünftig;  aber  auch  arm, 
elenb.  (Segenfat$  bhadra  (tpohl  pertpanbt  mit  ba§,  beffer)  eigentlich 
erfreulich,  löblich,  glüeflid?;  ober  punja  eigentlich  rein.  Satja  (j  ift  ber 
beutfehe  £aut)  gut,  eigentlich  tpahr,  tpirflid}  (gehört  3ur  Wnx^el  as  = 
effe,  fein),  (Segenfat$  asatja  (a  privativum).  Sakrt  gut  =  gut^anbelnb, 
(Segenfaß  dushkrt  =  böshanbelnb*  Das  finb  bie  „(Suten  unb  Böfen"  im 
engeren  moralifdj  religiöfen  Sinn,  bie  d^a%o\  %al  ttovyjpoi,  bie  n>ir  aus  bem 
neuen  (Eeftament  traben*  Ulfilas  fennt  aber  bas  3£>ort  bös  gar  nidrt, 
fonbern  h<*t  bafür  ubils  ober  ursels  (unfeltg)  unb  bös  ift  urfprünglicb 
=  gering,  umperr,  nrie  gut  =  paffenb,  fügfam,  brauchbar. 

profeffor  Cl^eipreip?  in  peft*  (Sut  ungarifch  jö.  3n  *>en 
ugrif djen  Sprachen  ift  ber  Begriff  gut  t>on  IDohlftanb,  Heia^tum,  (Slücf 
ausgegangen.  Der  tfcheremtfftch  jumo,  ftnnifd?  jumala,  efthifd?  jumal, 
lipifch  jumal,  lappifdj  jubmel  ober  ibmel  als  Be3eichnung  für  (Sott 
im  (Segenfat$e  311m  „armen"  ITCenfdjen*  Diefe  pon  Buben3  anfge* 
ftellte  (Erklärung  ipirb  burd?  bie  Analogie  im  3nbogermanifa^en  gefd?ü^t* 
5lau>ifdj  bog  =  (Sott,  bogatu  =  reich,  ubogu  =  arm;  pergletche  fansfr. 
bhaga  =  (Sind,  XDohlftanb,  altperfifd?  baga  =  (Sott  Böfe  ungarifch 
rossz.  3n  oer  £Dar3el  Kegt  ber  Begriff  Pon  caedere,  frangere,  rossz  ift 
alfo  eigentlich,  was  feine  3ntegritctt  Perloren  fyat,  corruptus,  inutilis. 
(Sin  anöexes  VOoxt  für  böfe  ift  gonosz,  flanrifdjen  Urfpnngs,  flanufch 
gnüs  =  eigentlich  fdjmutjig,  garftig. 

Uber  ben  heutigen  ungarifch  en  Sprachgebrauch  füge  ich  noc*?  «ne 
IHtttetlung  pon  meinem  (freunb  unb  ehemaligen  «gutjorer,  profeffor 
Biermann  in  £?ermamtftabt,  t\in$vL. 

(Sut  im  technifchen,  öfonomif  d?en,  moraltfcr/en  Sinne  be3eid>nen  mir 
mit  jö;  unfere  nationalen  Philologen  permeifen  auf  bie  Dertpanbtfchaft 
mit  e5,  eus,  bem  beutfdjen  gut,  bem  türfifchen  ejü,  bem  chineftfehen 
jü  (bene).  $üt  bie  ein3elnen  Zluancen  bes  (Suten  gibt  es  fobann  eine 
große  IHaffe  pon  Spe3ialausbrüc?en.  Pon  jö  jösäg  —  bie  (Süte  unb 
jöszag  bas  (Sut  im  Sinne  pon  £anbgut.  Böfe  unb  fehlest  ift  rossz. 
fehlest  fou)ohI  im  öFonomtfchen  Sinne,  feinem  gwede  nicht  entfpred?enb, 
rafd?  perberbenb,  als  im  fittlichen. 


Der  (Segenfarj  von  gut  unb  böfe. 


\73 


daraus,  ba§  bie  inbitnbueHe  (Erfahrung  [221]  notoenbiger* 
tseife  ber  gefeKfchaftlichen  I^at  porausgehen  muffen. 

Von  fittltch  unb  unf itt lief?  unterfdjeibet  fich  gut  unb 
böfe  im  fittlichen  Sinne  baburch,  ba§  jener  (ßegenfafc  [222] 
bas  innere  2T£oment  ber  fjanblung,  bie  fubjeftioe  (Sefinnung, 
aus  ber  fie  hervorgegangen  ift,  biefe  bas  äußere  ober  ob* 
jeftioe  2Ttoment:  bie  IDirfung,  welche  fie  hervorgebracht  r^at, 
betont.  Vavmn  gebraucht  bie  Sprache  überall,  wo  fie  bas 
IDiHensmoment  betonen  roill,  ben  2Iusbrui  jtttlich,  3.  23*  bas 
Sittengefefe,  fittliche  ZTormen,  nicht  <Sefet$  ober  Hormen  bes 
(Suten,  ftttliches  <5efüt?l,  fittliche  (ßefinnung,  nicht  <8efüfyl, 
(Sefinnung  bes  (Suten,  tsährenb  fie  fich,  tx>o  fie  bie  fflivf fam- 
feit  ober  ben  £)ert  bes  Sittlichen  für  bas  (Semeiwsefen  aus* 
brüden  roill,  bes  2Iusbruds  gut  bebient:  ein  guter  ZHenfch, 
eine  gute  £at,  gute  (Sefet^e,  (Einrichtungen,  b.  h-  folche,  welche 
ber  (SefeUfchaft,  ZHenfchheit  3um  f}eile,  5egen,  biefelben  Sub* 
ftantir>a  mit  bem  präbifat  böfe,  fchledjt  =  biejenigen,  toekhe 
ihr  3um  Unheil,  Unfegen  gereichen. 

3)en  religiöfen  ZHagftab  legen  an  bie  IDorte:  fromm, 
gottlos,  auch  böfe,  bas  alfo  in  boppeltem:  in  gefeit* 
fchaftlichem  unb  religiöfem  Sinne  gebraucht  wirb,  fie  t>er* 
halten  fich  3U  gut  unb  böfe,  fittlich,  unftttlich,  wie  bie  IPorte 


profeffor  ^retrjerr  von  (Sabelent$  in  £etp3tg  über  bas  <£fyme(tfcbe. 
Haö  ift  gut  (fittltdj  unb  pfyYfifdj,  \a  foaar  gelegentltd?  äftt^etifd?  3» 
haö  niü,  tjiibfd?e  Ttt&bdien),  täi  fdjtedjt,  übel,  c£n  gut,  namentlich  ber 
XDtrfung  nad),  tüchtig  ober  gefdjtcft,  etroas  ^u  tun,  cüng  aufrichtig, 
loyal,  offenbar  üon  cüng  ITCitte.  £et$teres  fptelt  in  ber  cfyineftfdjen  (HtrjiF 
eine  bebeutenbe  Holle:  ein  pofttto  Böfes  gibt  es  nicr/t,  nur  ein  gurnel 
ober  «gutpeutg,  bas  (Sute  liegt  in  ber  IHitte* 

§u  ber  3n>eiten  Auflage  trage  tdj  nod?  bas  «gttat  von  (Seiger, 
Urfprung  ber  Spraye  33b.  2,  5.  173  nadj,  ber  wie  irgenb  jemanb  in 
ber  Sage  mar,  ein  maßgebenbes  Urteil  ab3ugeben;  itjm  ^ufolge  ift  bte 
fittltcrje  Bebeutung  r»on  gut  unb  böfe  eine  relatto  fpä'tere  £3ilbung,  bie 
urfprüngltdje  n?ar  überall  bie  fmnhdje* 


Kapitel  IX.   Die  feciale  riTed/cmi?*   Das  Sittliche. 

Sünbe  unb  Sünblofigfeit  3U  Unftttlidjfeit  unb  Sittlichfeit 

(S.  62/63,  70* 

Wir  h<*ben  barmt  erliefen,  baß  i>er  (Segenfafe  von  gut 
unb  böfe  im  ftttlichen  Sinne 

\.  fein  abfoluter  ift,  fonbern  ein  relativer, 

2.  t>a%  ber  flla^ftab,  nach  bem  er  fich  befttmmt,  ber  bes 
§n?ecfs  ijl,  b*  i.  ber  utilitariftifche, 

3,  baß  ber  (Segenfafe  fyftorifcf?  erft  vom  plftjtfdien  [223] 
auf  bas  Sittliche  übertragen,  ber  ZHenfd^eit  alfo  nicht 
angeboren  ifi. 

Damit  fönnen  tr>ir  uns  i|ier  begnügen.  (Db  ber  Stanb* 
punft,  von  bem  aus  bas  §toed urteil  gefällt  nnrb,  ber  bes 
3nbit)ibuums  ober  ber  ber  (SefeUfchaft  ift,  toerben  toir  bei 
ber  Kritif  ber  Xfiorafoorfchriften  ins  2tuge  faffen. 

2)  Der  ÜCugenbbegriff* 
Cugenb  ijl  fprachlich  toie  fachlich  urfprünglich  nichts  als 
Cüchtigfeit,  Cauglichfeit  für  einen  gettnffen  <§a>ecf*),  alfo 
abermals  ein  ^toecfbegrtff.  Derfelbe  finbet  ebenfo  toie  gut 
unb  fdjlecht  foa>oI|I  auf  Sachen  u>ie  auf  perfonen  2Imx>enbung. 
Der  2Iusgangspunft  bes  Begriffs  ber  Cugenb  im  ftttlichen 
Sinne  ift  auch  fyev  mieberum  ber  im  natürlichen  Sinne,  b.  h» 
bie  Cauglicfyfett  eines  Dinges  3ur  (Erreichung  eines  gen>iffen 
£xve<£ s.  Unfere  heutige  DorjleHung  ber  Cugenb  als  eines  an 
jtch  toertpollen  unb  ohne  alle  Hücfftcht  auf  ihre  Dertoertbar« 
feit  3U  erftrebenben  (Sutes  umrbe  t>on  ben  Dölfern  ber  It^eit 
unb  felbft  t>orgerücfter  Kulturftufen  gar  nicht  oerfianben 
toorben  fein.  3n  ihr*n  2lugen  beftanb  ber  XDert  ber  Cugenb 
in  bem,  was  fich  mit  ihr  im  £eben  ausrichten  ließ.  Cugenb 


*)  Tugan  ==  taugen,  tüdyitg  fein,  alttj.  tugundi,  mittel^,  tugent  = 
dugenb*  Spultet}  grtedj*  dpenf)  t>on  ber  tDur3eI  ar,  wovov.  dpexao)  td> 
tauge,  apiaxo?  ber  23ejte.  <S*  Curtius,  (Srm^üge  ber  griedj*  <£ty* 
mologte,  21ufL     S.  3<*2* 


Der  (Eugenbbegriff* 


*75 


ber  alten  Normannen  wat  Tftnt  unb  E>ertr>egenr)ett  im  See- 
raub,  Cugenb  ber  alten  (Brieden  förperlidje  (Seroanbtfyeit  [224] 
unb  (Sefd^idFItdffcit  in  ben  olympischen  Spielen  unb  felbft  ber 
Perfdjlagenfyeit  eines  (Dbyffeus  räumte  man  ben  Cugenbpreis 
ein»  Das  roar  bie  Cugenb,  roeldje  bas  Volt  anerfannte 
unb  efyrte,  unb  meldte  bie  Sänger  feierten.  (JErfdjienen  biefe 
Cugenbfyelben  in  ber  heutigen  IDelt,  um  itjren  Cugenbpreis 
3u  forbern,  tx>ir  roürben  einige  r>on  ifynen  mutmapdj  jofort 
bingfeft  madjen,  anbere  mit  ifyren  Künften  in  ben  girfus  3U  ben 
Seiltän3ern  roeifen.  Bei  Horner  bebeutet  apetY]  rxodi  blojj  Dor- 
3Üge  bes  Körpers  ober  bes  (ßlücfs,  einige  3at|rfjunberte  fpäter 
Ijat  jtcfj  ber  Segriff  bem  £ortf  dritte  ber  Kultur  fonform  auf 
bie  Dor3Üge  bes  (Beijtes  unb  $ev$er\s  erweitert.  Der  Cugenb* 
begriff  bes  alten  Homers  (virtus)  ift  auf  bie  frtegerifcrje  Od}* 
tigfeit  geftetlt,  virtus  ift  bie  <£igenfd?aft  bes  Kriegers*)  (vir, 
Sansfrit  wira,  ber  Krieger,  £}elb),  in  ber  fpäteren  <§eit  Ijat 
ber  Cugenbbegriff  fid?  auf  alle  <£igenfdjaften  erweitert,  roeldje 
ben  ZHann  (nicfjt  bie  £rau)  3ieren**).  Denfelben  Ausgangs* 
punft  t|at  bas  tjebräifcbe  chajil,  es  bebentet  urfprünglid? 
pt|Yfifcr|e  Kraft,  bann  Cugenb. 

Könnten  tt>ir  bie  fpracfjlicfje  <£nttoicflung  bes  Cugenb* 
begriff s  bei  allen  Dölfem  ber  €rbe  ©erfolgen,  idj  mödjte 
[225]  glauben,  baß  fie  uns  folgenbe  3tr>ei  Säfee  erroeifen 
roürbe***).  S&v  bie  Urseit:  ba§  bie  fprad}lid]e  23e3eidjnung 


*)  Cic.  Tusc.  Disp.  II,  \8,  ^3.  Apellata  est  enim  ex  viro  virtus,  viri 
autem  propria  est  maxime  fortitudo. 

**)  Cic.  de  off.  I,  $6.  his  virtutibus:  modestia,  temperantia, 
justitia;  pro  Murena  c.  \0.  virtutibus  continentiae,  gravitatis,  justitiae, 
fidei.    Tusc.  Disp.  II,  J8,  %5  omnes  rectae  animi  affectiones. 

***)  3<$  Fanrt  ntcfyt  umfjht,  fyier  bem  bringenden  IDunfcfye,  ben  id? 
fo  oft  fdjon  empfunben  fjabe,  IDorte  311  leiten,  ba§  bocfy  bie  pergleicfyenbe 
Sprad?ti>iffenfd?aft  in  be3ug  auf  biefe  unb  ätmltcfye  jragen  ber  (Etl|tf 
einmal  3U  tylfe  fäme..  VOk  anßerorbentlidj  wertooüe  Dienfte  fönnte 
fie  it|r  leiften,  wenn  fie  mit  itjven  Ittitteln  bie  urfprüngltcfyen  Ausgangs* 


\76         Kapitel  IX.   Die  foiale  IHedjamf.   Das  Sittlicbe* 


der  Cugend  bei  vielen  Dölfern  derjenigen  €igenfchaft  ober 
demjenigen  Berufe  entlehnt  worden  ift,  der  für  jte  auf  tfyrer 
damaligen  Kulturftufe  in  erfter  £inie  fiand,  alfo  3.  B.  bei 
einem  J^trtenpolfe  dem  Beichtum  an  Ejerden  oder  der  pflege 
des  Dietjs,  bei  einem  2lcEerbau  treibenden  Dolfe  dem  5lei§e 
des  £andmanns,  bei  einem  £}andelsx>olfe  der  gefchäftlichen 
(Seioandtheit  oder  Derfchlagenheit,  bei  einem  friegerifchen 
Dolfe  dem  friegerifchen  ZHute.  211s  5n>eiten  Safe:  da§  der 
Cugendbegriff  bei  unveränderter  Beibehaltung  des  urfprüng* 
liefen  21usdrucfs  im  £aufe  der  <£ntttncflung  in  eben  dem  ZRafce 
fich  erweitert  li<xt,  als  die  (Erfahrung  über  dasjenige,  roas 
der  (ßefellfchaft  dienlich  und  förderlich  ift,  3ugenommen,  und 
als  der  gefeüfchaftiiche  guftand  felber  [226]  ftch  percoU« 
fommnet  h<*t.  Die  Weite  des  Cugendbegriffs  wird  mit  der 
gefeHfchaftlichen  (gnttoicflung  ftets  gleichen  Schritt  gehalten 
haben*). 


punfte  ber  ftttltcr/en  Begriffe  unb  itjr  aHmäl}Itcfc1es  t£>ad?srnm  barlegte. 
Bei  jeber  berarttgen  (frage  ift  mir  ftets  ber  Langel  btefer  Unterftütjung 
r>on  fetten  ber  Spradjariffenfcfyaft  fühlbar  geroorben,  unb  bod?  reiben  bie 
Hefultate,  bie  id?  mit  meinen  geringen  ITCitteln  geroonnen  fyabe,  bereits 
aus,  um  3U  setgen,  melier  Sdjat$  in  ber  Sprache  perborgen  liegt,  unb 
ba§  es,  u>ie  £id?tenberg  fagt,  nur  bes  DenFens  bebarf,  „um  in  ber 
Sprache  r>iele  XDetshett  eingetragen  3U  ftnben"*  IDie  perbient  fönuten 
ftd?  unfere  21?abemien  unb  pfylofoptjifcfyen  Jafultäten  mad?en,  u>enn 
fte  einmal  berartige  (fragen  ftellten  unb  bamit  bie  Spradjanffenfdjaft  3U 
bem  Dienfie  entböten,  ben  fte  ber  (Etfyf  letften  fann  unb  foÜ* 

*)  3<$  teile  audj  l|ier  bie  fprad?lid?en  Angaben  mit,  bie  id?  auf 
mein  2Infud?en  von  r>erfdn' ebenen  (gelehrten  erhalten  fyabe* 

Hotfy  in  (Tübingen*  3m  <Sortfd?en  fefylt  bas  tDort  (Zugenb,  dper/j 
tpirb  burdj  godei,  (gute  ausgebrücfh  (Eugenb  ift  aud?  bei  £utfyer  ntdjt 
ba'uftg*  Das  alte  Sansfrtt  fyat  feinen  unmittelbar  entfprea?enben  2Ius* 
brurf,  aber  fefyr  triele  nafjeliegenbe.  3n  &er  fpäteren  Spraye  tuäre  3U 
nennen  sddhutva  (aus  abj.  sädhu  mit  bem  2lbftraftsfuffir,  tva,  etma  = 
tun)  ein  Heutrum*  Das  Zlbjeftir»  bebeutet;  gerabe  3um  £iele  füfjrenb, 
unrffam,  gut»  (Ebenfo  in  ber  fpSteren  Spradje  guna  (masf*)  (Eüdjtig- 
fett,  (Eugenb;  tseiter  rücf  tuärts  »erfolgt:  gute  (Eigenfdjaft,  bamt  (Eigen* 
fdjaft  überhaupt*    Der  abftrafte  Begriff  <£i$m\diaft  l?at  aber  einen 


Der  pfUcr/tbegriff. 


\77 


3ch  fernliege  hiermit  meine  Setrachtung  bes  Cugenbbegriffs, 
[227]  um  biefelbe  bei  ben  ein3elnen  Cugenben  roieberum  auf* 
3unehmen  unb  an  ihnen  im  ein3elnen  bie  Hichtigfeit  ber 
utilitartftifchen  2Juffaffung  bar3utun,  bie  ^ier  nur  prin3ipiell 
begrünbet  toerben  foHte. 

3)  Per  pfiichtbegrtff* 

Xüir  jinb  bemfelben  bereits  in  anberem  gufammenhange 
begegnet  (I,  5.  50,  372)  unb  toerben  an  fpäterer  Stelle  bei 
(Selegenheit  bes  Pflichtgefühls  (Kapitel  XI)  noch  einmal  auf 
il^n  3urücEgeführt  toerben,  bafyer  hier  nur  tt>enig  IDorte,  um 
bie  Kichtigfeit  unferes  (ßeftchtspunftes  auch  an  ihm  bar3utun. 

JDir  nehmen  unfere  frühere  Definition  nneberum  auf: 
Pflicht  ift  bas  Seftimmungsperhältnis  ber  perfon  für  bie 
gwede  ber  (ßefellfchaft,  inbem  tt>tr  uns  porbehalten,  bie 


fonberbaren  Urfprung*  Guna  bebeutet  nämlich  3uerft  bett  et^elnen 
(Jaben,  ber  ben  33eftanbtetl  einer  Schnur  ober  eines  Strtcf es  ausmalt, 
aisbann  allgemein;  Beftanbteil,  (Element  unb  baljer  <£tgenfd?aft,  prä* 
btfat  So  fommt  ber  trmnberlicfye  Übergang  von  Jaben  —  aber  nur 
als  Ceti  eines  <8an$en  —  3U  guter  (Eigenfd^aft  ober  Cugertb  auf  logifd^em 
XPege  3uftanbe* 

(Eheroretof  in  peft.  (Eugenb  ungarifch  er£ny.  XHan  l^at  virtus 
r»on  vis  abgeleitet  unb  auf  (Srunb  biefer  Ableitung  cor  etroa  tmnbert 
3afycen  er6ny  aus  erö  =  Kraft  gebilbet.  3m  211tungartf djen  mürbe 
bie  (Eugeub  burd}  jösägos  ober  jöszägos  eselekedet  (=  „gut  —  fyett  — 
liehe"  (Tat),  ausgebrüeft  (Eugenb  ff nntfeh  hyvä,  IDort  ber  Schrtftfprache 
(eigentlich  aptus,  commodus,  utilis).  Sonft:  Kunto  ober  jalons  =  (Eiicr)*- 
tigfeit  ober  hyvä  avu=  gute  (Etgenfchaften*  21ucfy  im  «gürjenifchen  tjeigt 
bas  für  (Eugenb  oerroanbte  Wovt  einfach  (Eüchtigfeth 

3.  IDinbifd?  in  £etp3tg  über  bas  21lttrifche,  Der  abftrafte  Begriff 
ber  (Eugenb  ift  in  ber  älteren  Sprache  nict/t  r>orhanben,  bafür  finben  ftdj 
bie  eitt3elnen  (Eugenben  rote  (Eapf  erfett,  (Sefcr/icflict/feit,  Jreunbltchf  eit, 
Keufchhett  u»  a.  m.  Der  neuere  21usbrucf  für  bie  chriftlidje  (Eugenb  im 
allgemeinen  ift  im  Katechismus  so-bailce,  su-bhailce.  So-su-  ift  fansf. 
su-,  grieeh*  —  (roohl,  gut)  >bailce«  ift  21bfrraftum  ron  balc  ftarf, 
fo  ba§  alfo  aud?  im  chriftlicheu  3riW  °i*  (Eugenb  „bie  gute  Kraft- 
Stärfe"  ift 

t>.  3  t? e ritt Der  gmetf  Im  Hed)t.  II.  \2 


\78 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Itledjanif.   Das  Sittliche. 


Sichtigfeit  berfelben  an  ben  einzelnen  (ftttlichen  unb  recht* 
liefen)  pflichten  feine^eit  nadftuweifen. 

3n  ber  Pflicht  liegt  bie  23eftimmung  für  etwas  außer  ihr, 
jte  weift  über  ftch  hinaus  auf  ben  (Erfolg,  ber  burch  ihre 
€rfüHung  erreicht  werben  fott.  €s  gibt  feine  Pflicht  ber 
Pflicht  wegen.  XDürbe  mit  ber  (Erfüllung  ber  Pflicht  nichts 
in  ber  IDelt  erreicht,  fo  wäre  es  finnlos,  jte  Dor3uf chreiben, 
bie  praftifcfye  Hechtfertigung  bes  Pflichtbegriffs  vom  Stank* 
punfte  ber  (Ethtf  aus  fann  nur  in  bem  (Suten  gefunben 
werben,  bas  er  vermitteln  foD.  Dem  3nbit>ibuum  fann  man 
mit  Kant  3urufen:  erfülle  bie  Pflicht  [228]  um  ber  Pflicht 
willen,  b.  t.  jebes  anbere  TXlotxv,  als  bas,  beine  Pflicht  3U 
tun,  fei  bir  fremb,  lebiglich  bas  Pflichtgefühl  foll  bich  leiten, 
2tber  ber  Stanbpunft  bes  Sittengefefees,  inbem  es  bie  Pflicht 
sorfchreibt,  ift  ein  anberer  als  ber  bes  Subjefts,  inbem  es 
jte  erfüllt,  bas  Sittengefefc  3eichnet  bie  Pflicht  nur  vot  wegen 
bes  praftifchen  (Erfolgs,  ben  es  baburch  3U  er3ielen  gebenft, 
pon  feinem  Stanbpnnft  ift  ber  pflichtbegriff  ein  §u>ecf begriff. 

Sief  er  praftifcfje  (Erfolg  äußert  ftch  regelmäßig  in  anbern 
perfonen  als  bem  J^anbelnben  Qnbhnbuum,  Familie,  <Se* 
meinbe,  Staat),  aber  er  fann  fleh  auch  ih™  felber  3ufehren, 
unb  baraufhin  h<*t  man  *>on  Pflichten  gegen  ftch  felber  ge« 
f proben.  IPir  werben  feiner3eit  nach  weifen,  baß  bies  eine 
contradictio  in  adjecto  enthält,  baß  vielmehr  auch  bei  biefen 
angeblichen  pflichten  gegen  fich  felbft  bas  3ntereffe  ber  <Se< 
feßfehaft  im  ^intergrunbe  fleht.  JDenn  bas  Sittengefefc  uns 
gebietet,  uns  felbft  3U  erhalten,  fo  ift  es  nicht  unfertwegen, 
fonbern  ber  (SefeHfchaft  wegen,  unb  gan3  basfelbe  gilt  von 
allen  pflichten  gegen  fleh  felbft,  jte  haben  ihren  <5runb  nicht 
im  3nbipibuum,  fonbern  in  ber  (SefeUfcfjaft,  mit  bem  5cheine 
bes  (ßegenteils  h<*t  es  biefelbe  13ewanbtrixs  wie  mit  bem 
ZHonblicht:  es  ift  nur  ber  Befle£  bes  Sonnenlichts. 


Die  (Seredjttgfett. 


fj  Die  (geredjttgfett* 

3n  be3ug  auf  fie  fabelt  mit  ben  utilitartfitfchen  (Beftchts* 
punft  bereits  früher  (I,  S.  285  ff.)  3*r  <5eltung  [229]  gebraut. 
Die  (ßeredjtigfeit  i^at  nicht  als  folche  Wext  unb  Berechtigung, 
roie  eine  ungefunbe  tbealiftifdje  Betrachtung,  bie  in  bem  Safee 
gipfelt:  fiat  justitia,  pereat  mundus  uns  glauben  machen  möchte, 
fonbern  nur  roeil  unb  infofern  fte  bte  Bebingung  bes  Wolfis 
ber  (ßefeüfchaft  ifi.  ZDürbe  jte  basfelbe  fdjäbigen  ftatt  förbern, 
fo  müßte  ber  Safe  lauten:  pereat  justitia,  vivat  mundus. 

Was  von  ber  (Berechtigfeit,  gilt  ebenfo  auch  von  ber 
Strafe.  Bebürfte  es  berfelben  nicht  mehr,  es  wäre  unver- 
antwortlich, roenn  bte  (BefeUfchaft  fich  berfelben  fernerhin 
bebienen  wollte.  Damit  iji  ber  fog,  abfoluten  Strafrechts- 
theorie bas  Urteil  gefprodjen.  3n  meinen  21ugen  enthält 
biefelbe  eine  ber  größten  Perirrungen,  3U  benen  eine  ber  Be- 
achtung ber  praftifchen  Beftimmung  aller  menfehlichen  Ein- 
richtungen fich  entfdjlagenbe  ungefunbe  phüofophifche  Spefu- 
lation  fich  nur  jemals  ^at  perleiten  laffen,  eine  UTifjachtung 
ber  (Befchtchte  bes  Strafrechts,  bie  uns  überall  bie  Cefyre 
prebigt,  ba§  bie  Strafen  um  praftifcher  gtoeefe  willen  ein- 
geführt jtnb.  Den  praftifchen  «gweef  ber  Strafe,  b.  t.  bie 
Sicherung  ber  (BefeHfchaft  gegen  bas  Derbrechen,  burch  ben 
fategorifchen  abfoluten  Strafimperatiü  erfefeen  wollen,  ifl  um 
nichts  beffer  als  3U  behaupten,  eine  XTTühle  fei  nicht  ba, 
um  ZHehl  3u  mahlen,  fonbem  ihrer  felbft  ober  ber  ^}bee  einer 
Ztlühle  wegen  —  fie  perwirfltche  nur  bie  ^bee  ober  ben 
fategorifchen  3mperatio  bes  ZTTahlens.  IDenn  nicht  ber  Efunger 
bie  Bühlen,  nicht  bte  Xlot  bas  Strafrecht  in  bie  [230]  XPelt 
gefefet  h^tte,  wir  hätten  lange  warten  fönnen,  bis  bie  ^}bee 
fie  aus  jtch  lievansqeivieben  hätte!  Unb  als  ob  bie  Aufgabe, 
bie  beibe  löfen,  nicht  ibeal  genug  fei!  211s  ob  es  ibealer 
fei,   einen  logifdjen  pro3eß  (bie  begriff  liehe  Hegation  bes 

12* 


\S0         Kapitel  IX.    Die  feciale  ITCedjamf*  Das  Sittliche* 


Derbrechens  burch  bie  Strafe)  bar3uftellen ,  als  prafttfeh  eine 
ber  erften  unb  höchjten  2tuf  gaben  ber  2TJenfd}E|eit:  bie  Aufrecht* 
erhaltung  unb  Sicherung  ber  gefellfchaftlichen  ©rbnung  gegen 
bas  Verbrechertum  3U  löfen» 

<£s  erübrigt  mir  noch  ein  (Srunbbegriff  ber  €thif:  bie 
<£f?re;  ich  toerbe  ihn  an  fpäterer  Stelle  in  einem  anbern 
«Sufammenfyange  behanbeln. 

lüir  tt>enben  uns  im  folgenben  bem  3tr>eiten  (Segenftanbe 
unferer  Unterfuchung  3U:  ber  inhaltlichen  Kritif  ber  foialen 
3mperatbe  vom  Stanbpunfte  bes  foialen  Militarismus  aus. 

20)  Das  «gtoeefmoment  ber  [o3ta!en  3mPera*t*>e. 

X)  Die  XlTobe*)* 

Unfere  fprachlichen  Unterfuchungen  (S.  ^)  Reiben  uns  tner 
2lrten  von  foialen  ^}mpevativen  ergeben,  b.  h-  ^on  formen, 
tselche  bie  (Sefeüfchaft  ihren  ZHitgliebem  ©o^eichnet,  [231] 
bie  IHobe,  bie  Sitte,  bie  ZHoral,  bas  Hecht  Wie  unb 
tsoburch  bie  <5efeIIfchaft  bie  Beachtung  berfelben  e^toingt, 
hat  für  uns  in  biefem  «gufammenhange  !ein  3ntereffe,  tiiet 
fümmert  uns  nur  ber  <?Jtt>ecf,  ben  fie  bei  2Iufftellung  berfelben 
im  2Iuge  ha^  unb  tr>ir  tiaben  3U  unterfuchen,  einmal:  ob  es 
roirfIid>  ein  gefellfchaftlicher  <§tx>ecf  ift,  ber  baburch  erreicht 
werben  foH,  unb  fobann:  ob  berfelbe  bei  ben  t>ier  Birten  ein 
eigentümlicher  ift,  ob  bie  Sprache  alfo  in  ihrem  Hedite  gctr>efen 
ift,  roenn  fie  biefelben  t>oneinanber  gefchieben  fyat;  unfere 


*)  (Segen  bie  im  folgenben  eutttucfelte  2lnftd?t  ift  mefyrfad?er  tDtber* 
fprud?  erhoben  trorben,  3*  B.  r>on  3.  von  ^alfe  tu  ber  „ (Segen mart", 
Berlin  JL882,  <*8,  $van$  ^rötjlid?,  Die  ITCobe  im  alten  Horn, 

Bafel,  Sdnpeigfyäufer  J88$  (öffentlia^e  Dorträge,  gehalten  in  ber  S&meij, 
herausgegeben  von  Bruno  Scfymabe,  Bb*  8,  fjeft  [),  ber  mta?  \ebod} 
ntdjt  irre  gemadjt  tyat,  ba  er  ben  entfd?eibenben  punft  metner  21n- 
fid?t  nid?t  trifft;  eine  Perteibigung  berfelben  an  biefer  Stelle  ift  aus* 
gefdjloffen. 


Die  ITTobe. 


Unterfucfyung  nimmt  bamit  3ugleid?  ben  (£l}arafter  einer  Kritif 
5er  Sprache  an. 

XDenn  tsir  bie  IHobe  in  ben  Kreis  unferer  Uuterfudiung 
aufnehmen,  fo  gefdjiefyt  es  nidjt  ber  pofitioen  Sebeutung 
roegen,  bie  fie  für  bas  gefeHfcfyaftlidje  £eben  beanfprudjen  fann 
—  unr  werben  3U  bem  Hefultate  gelangen,  baß  ifyr  ein  gefeit* 
fcfyaftlicfyer  IDert  überall  nicfyt  3ufommt  —  fonbern  bes  nega* 
tioen  3ntere(fes  toegen,  um  fie  r>on  ber  Sitte  aus3ufdjeiben 
unb  bas  (ßebiet  ber  lefeteren,  t&eldjes  fiel)  3tt>ifcfyen  Ztlobe  unb 
ZTToral  in  bie  2TJitte  fdjiebt,  u>ie  nad)  feiten  ber  (enteren  fo 
auefy  nad\  feiten  jener  fcfyarf  ab3ugren3en» 

Die  ZTTobe  ftimmt  barin  mit  ber  Sitte  überein,  baft  fie 
für  biejenigen  Kreife,  für  tselcfye  fie  überhaupt  in  Betracht 
fommt,  eine  3tr>ingenbe  (Setoalt  ausübt,  fie  ift  alfo  mcfyt 
ber  (ßetpofynljeit  3U3U3äfylen  (S,  i(7ff*)*  (Db  jemanb  bie  in 
einer  (ßegenb  allgemein  perbreitete  2lrt  ber  Ijäuslidjen  <£in* 
ridjtung  unb  bes  fyäuslicfyen  Cebens  befolgen  [282]  will,  ijl 
gan3  feinem  inbioibueßen  Belieben  überlaffen;  bas  öffentliche 
Urteil  nimmt  an  einer  2lbtr>eid}ung  von  biefer  IDeife  feinen 
2Jnflo§,  es  refpeftiert  innerhalb  bes  Kaufes  bie  inbbibuelle 
5reit|eit,  inbem  es  biefe  Dinge  als  d5efd}macfsfad)en  be3eidjnet, 
über  bie  nief^t  3U  redeten  fei  (de  gustibus  non  est  disputan- 
dum).  (Sani  basfelbe,  follte  man  fagen,  müßte  audj  gelten 
in  be3ug  auf  bie  2lrt  tr>ie  jemanb  fid?  fleibet*);  benn  n>er 
Ijat  ein  3ntcreffe  baran,  fofern  nur  nieftt  bie  Hücffidjten  bes 
2lnftanbes  außer  adjt  gelaffen  roerben?  Befanntlidj  gilt  aber 
bas  (ßegenteil;  aud)  bie  Kleibung  bilbet  einen  (Segenftanb 


*)  3^?  befdjränfe  mta?  bei  ber  folgenben  Unterfudjung  auf  ben 
l^auptgegenftanb  ber  HTobe;  bie  Kleibung,  obfdjon  bie  ITCobe  fid^  be* 
fanntlidj  aud?  auf  anbere  (Segenftanb  e  erftreefh  <£s  t^at  für  nüd?  nia?t 
bas  geringfte  3ntereffe,  ben  Umfang  ber  UTobe  fefoufteüen,  es  genügt 
mir,  an  ber  Ejauptart  berfelbeu  bas  eigentümlidje  IHotit?  berfelben  flar* 
3ufteflen> 


\S2 


Kapitel  IX.   Die  fatale  Hlea^attif.   Das  Stttltdje* 


ber  gefeflfc^aftlid^cn  2lnf orberungen  ,  unb  niemanb,  ber  ben 
Kreifen  angehört,  für  welche  bas  „(ßefefc  ber  ZITobe"  über* 
haupt  eyifiiert,  fann  ftch  bemfelben  ent3iehen,  ohne  an3ufio§en, 
bie  öffentliche  XTCeinung  3wtngt  ihn,  ben  jeweiligen  Cypus, 
ben  bie  Zfiobe  für  bie  Kleibung  aufgeteilt  h<*t,  311  befolgen; 
bie  Utobe  gehört  alfo,  fotoeit  ihr  (Seitungsgebiet  reicht,  311 
ben  gefellf chaftlidjen  3mperattt>en  (S. 

Don  ber  UTobe  ifi  too^I  3U  unterfdjeiben  bie  £  r  a  dj  t. 
Beibe  jtnb  obligatortfcher  2lrt.  2lber  bas  2Tüotit>  beiber 
ifi  ein  gcm3  perfchtebenes:  bei  ber  Cradjt  ifi  es  ein  gefunbes, 
[233]  fo5iaI  berechtigtes,  fte  gehört  ber  Sitte  an,  bei  ber 
ZHobe  ein  ungefunbes,  faial  unberechtigtes,  fte  gebort  nicht 
3ur  Sitte  in  bem  fpäter  (Tit.  2\)  von  mir  3U  entwicfelnben 
Sinne.  Damit  hängt  als  3weiter  Unterfdjieb  bie  Derfchieben- 
heit  ihrer  DauerBjaftigfeit  3ufammen:  bie  Cradjt  tfi  bleibenb, 
bie  2ftobe  vorübergehen  b.  Unb  als  britter,  ba§  bie  bracht 
nicht  bloß  burch  bie  Sitte,  fonbern  auch  burch  (Sefefe  oor- 
gefdjrieben  fein  fann  (2lmtstracht,  Uniform). 

Das  (ßemetnfame  beiber  befielt  barin,  ba§  fte  ber  perfon 
burch  bas  Kleib  einen  Stempel  aufprägen,  welcher  bie  Kate- 
gorie von  perfonen,  3U  ber  fte  gehört,  äußerlich  jtdjtbar 
macht,  ähnlich  rote  bas  (Bepräge  ber  ZTlü^en  ben  UletaH* 
gehalt  berfelben.  Die  Unterfdjtebe,  welche  bie  (Eracht  a?3en- 
tuiert,  ftnb  berechtigter,  bie  ber  UTobe  unberechtigter  2lrt. 

Der  widjtigfte  Unterfchieb,  ben  bie  Cradjt  ftgnaliftert,  tfi 
ber  bes  (ßefdjlechts.  Die  Kunbgebung  besfelben  burch  bie 
Derfchiebenheit  ber  männlichen  unb  weiblichen  Cracht  gehört 
3U  ben  überall  ftch  wieberholenben  <£rf cheinungen ,  unb  tt>ir 
werben  uns  unten  (Ztr.  2\)  über3eugen,  ba§  fte  eins  ber  mv 
erläglichften  firforbemiffe  ber  ftttlichen  ©rbnung  bilbet. 

(Ein  3tt>eiter  Unterfchieb,  ben  bie  (Eracht  3um  2lusbrucf 
bringt,  ifl  ber  ber  ftaatlichen  DienfifieHung :  bie  2lmts* 
t  rächt  ber  Seamten,  (ßeifilichen  unb  bie  Uniform  [234] 


Die  irtobe*  —  Die  Cradjt. 


bes  Vdxlxtäts,  aber  fte  gehört  nidjt  ber  Sitte  f  fonbern  bem 
(ßefefc  an. 

<gine  britte  2trt  tfi  bie  Po If stracH  3fc  (Bebtet  Ijat 
ftdj  im  £aufe  ber  &e\t  meljr  unb  mefyr  verringert ,  unb  bei 
ben  mobernen  Kultursölfem  ift  fte  für  bie  fyöBjeren  Kreife 
vollflänbig  burdj  bie  UTobe  perbrängt  toorben.  Wo  fte  nodj 
beftefyt,  I^ebt  audj  fte  ftdj,  tt>ie  bie  beiben  vorfyergenannten 
beutlidj  von  ber  ZTtobe  ab.  (Einmal  burdj  itjr  Ztlotto.  Sie 
ijat  3um  gtsecfe  bie  Kunbgebung  ber  Volts*  ober  Stammes« 
gemeinfdiaft*)  unb  bilbet  eins  ber  äußeren  Banbe,  toeldje 
btefelbe  aufredet  erhält  f  einen  Cräger  ber  fyiftorifdjen  Konti* 
nuität  bes  Dolfslebens.  3)er  2lngefyörige  eines  Polfsftammes, 
bei  welchem  eine  Polf stradjt  3ur3eit  nodj  befielt,  umrbe 
burdi  Cosfagen  von  berfelben  eine  ZTlißaditung  bes  Potfs* 
tümlidjen,  eine  (ßeringfdjä&ung  ber  IPeife  feiner  Päter  bofu« 
mentieren,  bie  er  bem  JDiberftanbe  ber  öffentlichen  XHeinung 
gegenüber  fdjtDer  würbe  aufredet  erhalten  fönnen.  Das  3tr>eite 
ZTToment,  tseldjes  bie  Polfstradjt  r>on  ber  ZTTobe  unterfdjeibet, 
ift  tljre  Dauerfyafttgfett.  2Tfandje  Polfs tradjten  fyaben 
jtd?  burdj  viele  3afyrfyunberte  Bjtnburdj  behauptet,  tväljrenb 
bie  ZHoben  oft  faum  nadf  3a^ren  3<$fylen;  bie  Polf  stradjten 
ber  ZHontenegriner,  2tlbanefen  u*  a.  haben  un3äfylige  ZHoben 
ber  3ir>ilifterten  Pölfer  überlebt. 

[23B]  3"  biefem  ZHomente  ber  Dauerfyaftigfett  ifl  bas 
große  Übergetoicfyt  gelegen,  tx>eldjes  ber  Polfstradjt  in  äflfye- 
tifdjer  Be3iet|ung  ber  XHobe  gegenüber  3ufommt.  ^Sene  Ijat 
geit,  einen  geroiffen  Cypus  ber  Kleibung  voHftänbig  aus3u* 
bilben  unb  ettoas  unrflidj  Schönes  unb  (Efyaraftertftifdjes  3U 
fdjaffen,  tvätjrenb  bie  ZTCobe,  bie  aus  einem  <5runbe,  ben 

*)  Darum  toar  bei  ben  Hörnern  ber  (Sebraud?  ber  römifdjen  Polfs* 
tradjt:  ber  (Eoga  ben  ^remben  unb  SFlauen  mtterfagt,  unb  felbfl:  ber 
gitterte,  ba  er  aufgehört  tjatte,  römifdjer  Bürger  3U  fein,  mugte  fie 
fofort  ablegen. 


Kapitel  IX.   Die  foiale  XTTedjanit   Das  Sittliche. 


rpir  unten  fennen  lernen  tperben,  ftets  ifyr  eignes  IDerf  rafdj 
tpieber  3erftört  unb  von  einem  (gftrem  ins  anbete  fpringt, 
bie  ettpaigen  21nfäfee  3um  Schönen  nie  weiter  perfolgen  fann, 
fonbem  faum  erfaßt,  tpieber  fallen  läßt 

Wit  ge^en  3ur  näheren  Betrachtung  ber  2T?obe  über. 
XDäfyrenb  bie  Cracfyt  bauernb  ift,  irrt  bie  ZHobe  ruhelos  un* 
ausgefegt  untrer,  um  jtets  Zteues  auf3ufudjen.  2lber  rx\d\i 
etwa  ein  folcfyes,  tpeldjes  gefdjmacfpoQer  tpäre  als  bas  Bis* 
fyerige,  fonbem  ifyr  ift  es  nur  um  bas  Zteue  als  folcfyes  3U 
tun,  fte  fdjricft  felbji  bapor  nicfyt  3uriicf,  bas  gefunbene  Sdjöne 
unb  (ßefcfymacfpoHe  mit  bem  £}äßlid}en  unb  (Sefdjmacflofen 
3u  pertaufdjen  unb  formen  ber  Kleibung  3U  erfmben,  bie  mit 
ben  pon  ber  Hatur  burcfy  bie  (Seftalt  bes  menfdjlidjen  Körpers 
porge3eicfyneten  (5runblinien  ber  23efleibung  im  fdjroffften 
tDiberfprudje  ftefyen.  IDäfyrenb  fonft  jebe  Kultur  auf  ber 
Kontinuität  ber  €nttpicflung  beruht,  auf  bem  ^eft^altcn  unb 
ber  forgfamen  pflege  unb  5ortbilbung  bes  einmal  (Setponnenen, 
fagt  fidj  allein  bie  ZHobe  bapon  los,  um  im  regellofen  &id$adf 
im  rpilben  Caumel,  fyn  unb  tje^ufpringen,  jebe  eben  [236] 
getponnene  pofttion  fofort  lieber  opfernb  unb  felbftmörberifdj 
i^r  faum  gefcfyaffenes  Wext  3erftörenb.  Die  £t)inefeu  be« 
3eid?nen  eine  getpiffe  21rt  ber  Sitte,  bie  tpir  burdj  „Cages* 
ftrömung"  tpiebergeben  fönnen,  als  XDinb  (füng)*),  bie  23e« 
3eid]nung  rpäre  rpie  gemacht  für  bie  ZHobe. 

#>orin  Bjat  biefe  feltfame  Derirrung  iE|ren  (Srunb?  ©ffen* 
bar  muß  berfelbe  3tpingenber  2trt  fein.    3f*  5*eube 


*)  Hadj  einer  Ittittetlung,  bie  idj  ber  (Siite  bes  Sinologen  f  retfjerru 
von  (Sab  eleu  tj  rerbanfe,  „Die  Cfyinefen  fennen  bret  2Iusbriicfe  für 
bie  Sitte*  Li  =  gute  Sitte,  2Jnftanb,  (Ettfette  unb  religiöfer  Kultus 
i»irb  burdj  (bas  gleichlautende,  aber  völlig  anbers  gefdjriebene)  Ii  Der* 
nunft,  (Drbnung  erflärt;  suk  Sitte,  mefyr  im  Sinne  bes  Dulgä'ren, 
lanbesublidjen  im  (Segenfat$  3um  (Sepflegten,  (Sebilbeten;  fung  eigentlich 
IPinb  =  Sitte,  tpofyl  metjr  im  Sinne  bes  <§ett*  ober  Hatiottalgeiftes." 


Die  Tttobe.  —  HIotitu 


\S5 


an  ber  Deränberung,  ber  Hei3  ber  ZTeuheit?  (£5  ijl  ja  richtig, 
baf$  ber  ZHenfch  bie  Deränberung  liebt,  baß  er  von  Seit  311 
<§eit  ettoas  XTeues  fehen  unb  erleben  muß,  toenn  er  frifch 
bleiben  foll,  fotpie  ferner,  baß  biefer  Crieb  fich  mit  fort* 
fchreitenber  Kultur  fieigert,  Der  (Sebilbete  ift  unfiäter,  per* 
änberungsbebürftiger  als  ber  Ungebilbete,  er  perlangt  unaus* 
gefefet  neue  Anregung,  neue  €inbrücfe,  toenn  ihm  bas  Ceben 
nicht  fchal  roerben  foH,  unb  biefer  C^araftersug  betpährt  ftch 
toie  bei  3n^)il>^uen/  \°  auc*?  bei  Dölfern.  So  fönnte  man 
es  ja  tnelleicfjt  erklären,  baß  bie  Polfstracht  bei  ungebilbeten, 
bie  JHobe  bei  gebilbeten  Dölfern  ihren  Sife  auffchlägt  2tHein 
roenn  bies  ber  richtige  (Srunb  tpäre,  fo  müßte  fich  bie  UTobe 
bei  allen  Pölfern  auf  einer  getruffen  Kulturftufe  tpieberholen, 
unb  boch  [237]  ljaben  bie  Homer,  felbft  auf  ber  tjöcfyften 
Stufe  ihrer  Kultur,  bie  ZHobe  in  unferem  heutigen  Sinne 
•  nicht  gefannt.  2Tfan  l|at  3tpar  auch  bei  innert  pon  einer  ZHobe 
gefprochen*),  allein  meines  <£rachtens  mit  Unrecht.  ZHan 
pertpechfelt  babei  bas  allmähliche  2Iuffommen  bes  XTeuen, 
bas  <£rfmben  unb  bas  Nachahmen  frember  Crachten,  pon 
bem  uns  allerbings  bie  römifchen  SchriftfteUer  3U  berichten 
roiffen,  mit  ber  ZHobe.  3^  fenne  fein  einiges  Zeugnis, 
meines  uns  bie  beiben  charafteriftifchen  güge  berfelben:  bie 
Kur3lebigfeit  unb  bie  3toingenbe  ZHacht  berfelben  für  bie  ent* 
fprechenben  römifchen  <5efellfchaftsfreife  namhaft  machte.  Keine 
römifche  ZTTatrone  toar,  roie  es  unfere  gütige  ^rauenroelt  ber 
gebilbeten  Kreife  in  ber  Cat  ift,  genötigt,  bie  ZHobe  mit3u« 
machen:  nicht  biejenigen  5^uen  fielen  in  Horn  auf,  tpelche 
an  ber  hergebrachten  bracht  fefthielten,  fonbern  biejenigen, 
roeldje  fie  per liegen,  unb  baß  erftere  bies  permochten,  3eigt, 
baß  es  eine  2T?obe  in  unferem  Sinne  nicht  gab,  h^^utage 


*)  IHarquarbt,  Hömtfcfye  prinataltertiimer,  Tibi.  2.  £etp3tg 
1867.  S.XTi. 


\S6         Kapitel  IX.   Die  fatale  ITCedjamf.   Das  Stttliä>, 


tr>äre  bies  unmöglich  Damit  oerträgt  jtch  pollfommen,  ba§ 
auch  bas  Zteue  in  Horn  feinen  2$et3  ausübte,  ba%  ber  (Se* 
fehmaef,  ber  Schönheitsjtmt  unb  bie  (Erftnbungsfraft  bes  weih* 
liefen  (Befchlechts  in  Schmucf  unb  Kleibung  jtch  aufs  er* 
giebigjte  betätigte,  unb  bajj  felbfl  bie  althergebrachte  Cracbt 
im  £aufe  ber  geit  aHertjanb  XDanblungen  erfuhr.  2llles  bies 
hat  mit  ber  XlTobe  in  unferem  heutigen  Sinne  nichts  3U 
fdjaffen. 

[238]  Um  bas  IDefen  ber  heutigen  ZTCobe  3U  begreifen, 
barf  man  nicht  auf  2TIotit>e  inbitnbueller  21rt  3urücf  greifen, 
u>ie  es  bie  bisher  aufgeführten  pnb:  Deränberungsluft,  Schön- 
heitsjtmt, pufefucht,  Nachahmungstrieb.  <£s  ijt  3u>eifellos, 
baß  biefe  2Tiottt>e  jtch  3U  ben  perfchiebenjien  Reiten  in  ejtra- 
t>agaritefter  IDeife  an  ber  (ßeftaltung  ber  Kleibung,  unb  3«?ar 
in  erjler  £inie  ber  toeiblichen  serfucht  liaben,  fte  haben  ben 
Satirifern  aller  Kulturüölfer  von  jeher  ben  reichten  Stoff 
bargeboten.  2lber  bie  ZlTobe  in  unferem  heutigen  Sinne  h<*t 
feine  inbhnbueHen  2TJotix>e,  fonbem  ein  fo3iales  ZHotto,  unb 
auf  ber  richtigen  dErfenninis  besfelben  beruht  meines  <£r* 
achtens  bas  Derjlänbnis  ihres  gan3en  IDefens.  (Es  ijt  bas 
Seftreben  ber  2lbfcheibung  ber  höheren  (SefeHfchaftsflaffen 
von  ben  nieberen  ober  richtiger  ben  mittleren;  benn  bie 
unteren  fommen  babei  nicht  in  Betracht,  ba  bie  (5efahr  einer 
Derroechflung  mit  ihnen  jtch  fchon  t>on  felbft  ausfeh ließt.  Sie 
ZHobe  ift  bie  unausgefefct  son  neuem  aufgeführte,  toeil  fiets 
oon  neuem  niebergeriffene  Schranfe,  burch  welche  jtch  bie 
Dornehme  lüelt  i>on  ber  mittleren  Jtegion  ber  (ßefellfchaft 
ab3ufperren  fucht,  es  ift  bie  ^efejagb  ber  Stanbeseitel- 
feit,  bei  ber  jtch  ein  unb  basfelbe  Phänomen  unausgefefet 
toieberholt:  bas  23eftreben  bes  einen  (Teils,  einen  u>enn  auch 
noch  fo  Keinen  Oorfprung  3U  gewinnen,  ber  ihn  t>on  feinem 
Verfolger  trennt,  unb  bas  bes  anberen,  burch  fofortige  Auf- 
nahme ber  neuen  ZHobe  benfelben  uneberum  aus3ugleichen. 


So3tales  UTotfo  ber  ITCobe* 


\S7 


[239]  Daraus  erflären  jtcfy  bie  cfyarafteriflifcfyen  §üge  ber 
heutigen  fllobe.  gnevft  litte  <£ntflel}ung  in  ben  Bieren 
(ßefetlfdjaftsfreifen  unb  iB^rc  ZTacfjafymung  in  ben  mittleren. 
Die  ZlTobe  ge^t  t>on  oben  nact^  unten,  nidjt  von  unten  naefy 
oben.  Die  ^ö^eren  Kreife  ftnb  bie  „tonangebenben",  toie  es 
t|ei§t*  (Ein  Derfudf  ber  mittleren  Klaffen,  eine  neue  HTobe 
auf5ubringen,  toürbe  felbft  mit  i}ilfe  uoefy  fo  toirf  famer  äftBje* 
tifc^er  XKottoe  niemals  gelingen,  ben  Rotieren  würbe  nichts 
ertDÜnfct^ter  fein,  als  toenn  jene  ttjre  eigene  HTobe  für  ftcfy 
Ratten  *). 

5obann  ber  unausgefefete  &?ecf?fel  ber  ITCobe,  Qaben 
bie  mittleren  Klaffen  bie  neuaufgebradjte  ZHobe  aboptiert,  fo 
Ijat  fte  aus  bem  angegebenen  <5runb  i^ren  Ü?ert  für  bie 
Ijöfyeren  verloren,  bas  Unterfdjeibungsmerfmal  Ijat  aufgehört 
es  3U  fein,  roie  bas  5elbgefdjrei,  bas  bem  5*inbe  befannt 
geworben  iji,  unb  es  bebarf  ba^er  eines  neuen.  Darum  ift 
ZTeuBjeit  bie  unerläßliche  2Jebingung  ber  HTobe,  wenn  fte 
i^ren  §voed  erreichen  foQ,  Selbji  bas  ^äßlictje  unb  <5e- 
fdjmacflofe  fhtbet  um  biefen  preis  Zutritt,  wenn  bas  Schone 
ftdj  erfdjöpft  unb  ben  Vorzug  ber  Zteuljeit  verloren  tjat.  Die 
Cebensbauer  ber  Hlobe  beftimmt  [240]  ftcfy  im  entgegen* 
gefefeten  Verhältnis  3ur  Hafd^eit  i^rer  Verbreitung;  i^re 
Kur3lebigfeit  hat  ftdf  in  unferer  geit  in  bemfelben  Hlaße  ge» 
fteigert,  als  bie  ZTlittel  3U  ihrer  Verbreitung  burch  unfere 
pert>ollfommneten  Kommunifationsmittel  gewachfen  ftnb.  gur 
<§eit  als  es  noch  feine  <£ifenbahnen  gab,  welche  täglich  taufenbe 


*)  Was  fte  aber  gleidjtDofyl  nic^t  abhält,  in  ber  Kloafe  bes  parifer 
Demtmonbetums  nadj  neuen  Alupent  3U  fudjen  unb  IHoben  auf3ubringen, 
roeldje  ben  Stempel  it^res  un3tidjtigen  Urfprungs  beutlidj  an  ber  Stirn 
tragen,  rote  ^r.  Vifdjer  in  feinem  wegen  ber  uns  erfüllten  2Xrt,  u>ie  er 
bie  Sadje  beim  regten  Hamen  nennt,  melgetabelten,  meines  <£xad)Uns 
aber  eben  barum  fjödjfl  üerbienjHidjett  2Iuffat$  über  bie  UTobe  in  Horb 
trnb  Süb  |878,  8b.  %  S.  365  ff*  fdjlagenb  nad?geu>iefen  fjat. 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Xftecfyanif.   Das  Sittliche* 


t>ou  Kleinftäbtem  in  bie  großen  Stäbte  bringen  unb  bie  neuen 
Xfloben  in  (ßeftalt  von  ZHobejoumalen  unb  Hluftern  fofort 
über  bie  gan3e  Welt  verbreiten,  roar  bas  Cempo  ber  ZHobe 
ein  ungleich  langfameres  als  h^utage,  wo  basfelbe  eine 
rapibe  (Sefctjroinbigfeit  angenommen  l\atf  welche  fich  3U 
ber  früheren  verhält  wie  bie  heutige  <£ifenbahn  3ur  alten 
Beichspoft. 

21ns  bem  angegebenen  foialen  Xfiotiv  erflärt  fich  enblich 
auch  ber  britte  charafteriftifche  <gug  unferer  heutigen  ZTTobe: 
ihre  t>ielgefcholtene  unb  bodj  willig  ertragene  ^Tyrannei, 
Die  JTfobe  enthält  bas  äußere  Kriterium,  baß  man,  rt>ie  ber 
2lusbrucE  lautet,  „mit  3ur  (ßefeßfehaft  gehört".  IDer  barauf 
nicht  reichten  will,  muß  fie  mitmachen,  felbft  wenn  er  aus 
äftfyetifcfyen  ober  gweefmäßigfeitsgrünben  eine  neu  aufge* 
fommene  (5eftaltung  berfelben  noch  fo  fetjr  perwirft.  <£ben 
barauf,  ba§  bie  ZHobe  bie  Unterorbnung  ber  eignen  befferen 
Über3eugung  unter  bas  als  verfemt  <£xtannte  erforbert  — 
bas  sacrificium  intellectus  in  SaA\en  bes  (ßefchmaefs  unb  ber 
<§wec!mä§igfeit  —  beruht  es,  ba§  ber  Sprachgebrauch  ihre 
fjerrfchaft  gan3  3utreffenb  als  „^Tyrannei"  unb  biejenigen,  bie 
fich  ihr  willenlos  unterorbnen,  als  „Silasen"  ber  ZHobe  [241] 
be^exdinet,  fie  ift  nicht  eine  bloße  J^errin,  wie  es  bie  Schön- 
heit unb  bie  IDaijrfyeit  ift,  ber  man  fich  unterorbnet,  weil 
il^re  fjerrjehaft  eine  berechtigte  ift  unb  als  folche  anerfannt 
wirb,  fonbem  fie  ift  eine  tEyrannin,  beren  ZHacht  man  als 
unberechtigt  erfennt,  unb  bie  man  bennoch  fchwach  genug 
ift  5U  ertragen» 

Damit  ift  ber  ZHobe  ihr  Urteil  gesprochen.  Die  Zfladit 
ber  Sitte  teilenb,  bie  ber  ITtoral  vielfach  weit  überbietenb, 
üerbanft  fie  bie  fjerrfchaft,  welche  fie  ausübt,  nicht  gleich 
ihnen  gefeUfchaftlich  berechtigten  Motiven,  fonbem  bem  uu* 
lautern  <§uge  ber  Stanbeseitelfeit.  (Belangten  bie  Stäube, 
welche  fchtr>ach  unb  töricht  genug  finb,  fte  nadftuahmen,  3um 


Schales  ZTCotto  ber  XTlobe.  —  Die  Sitte» 


189 


(Sefüfyl  itjrer  IDürbe  unb  Selbfiadjtung,  toeldjes  fid?  bavan 
bemätivt,  ba§  man  nidjts  anderes  porftellen  tt>iH,  als  was 
man  ift,  [o  toäre  es  um  bie  ZHobe  gefdjefyen,  unb  bie  Sd?ön< 
B^cit  fönnte  uneberum  ifyren  Sit$  auffdjlagen,  txne  fxe  ifyn  bei 
allen  Dölfem  behauptet  hat,  meiere  bie  ZHobe  in  unferem 
heutigen  Sinne  nicfyt  fannten,  tr>eil  fie  entoeber  md\t  bas 
öebürfnis  füllten,  bie  Stanbesunterfdjiebe  burefy  bie  Kleibung 
3U  af^entuieren  ober,  too  es  gefcfyafy,  perftänbig  genug  u>aren, 
fte  3U  refpeftieren» 

2)  Die  Sitte. 

<£s  ift  bas  3tx>eitemal,  baf$  unfere  Unterfucfyung  bie  Sitte 
berührt;  bas  erftemal  (S.  \6ff.)  gefcfyafy  es,  um  bie  2Iusfage 
ber  Sprache  über  fte  3U  t>ernefymen,  gegenwärtig,  um  bie 
tDiffenfcfyaft  3U  IDorte  fommen  3U  laffen.  Unb  [242]  beffen 
bebarf  es  in  fyofyem  (grabe*  <£s  gibt  im  gan3en  Umfreife 
ber  <£tfyf  fein  5elb,  bas  in  bem  ZHage  im  argen  liegt,  bei 
bem  es  nod?  fefyr  an  allem  unb  jebem  gebricht,  was  roiffen* 
fcfyaftlid}  3U  tun  ift,  als  bie  Sitte;  fie  gleicht  einem  toilben 
21<fer,  ber  erft  urbar  3U  machen  ift.  3^  ^5  nid?tf  um 
mein  Derbienft  ins  £id}t  3U  fefeen,  fonbern  um  ben  Cef  er 
barauf  por3ubereiten,  ba§  es  fyer  fd]u>ere  2lrbeit  3U  tun  gibt, 
unb  ba§  er  ftcfy  bie  ZHüfye  unb  ben  langen  21ufentfyalt  auf 
biefem  5led  unangebauter  (Erbe  nidjt  r>erbrie§eu  laffen  barf. 
21uf  urbarem  23oben  ift  leid?t  pflügen,  bie  2X>ilbms  muß  man 
erft  roben,  beoor  man  ben  Pflug  3ur  Ejanb  nehmen  fann. 
gugleid]  fage  \<i\  es,  um  bamit  bas  (ßeftänbnis  3U  t>erbinben, 
baß  tdj  trofe  langer  barauf  oermanbter  müfyfamer  Arbeit 
nicfyt  imftanbe  geroefen  bin,  mir  f  elber  Polles  (ßenüge  3U 
leiften,  idf  fyabe  bas  (ßefüfyt,  ba§  nod?  manches  3u  tun  übrig 
geblieben  ift,  bas  id}  trofe  aller  2lnftreugung  nid?t  l?abe  be* 
wältigen  fönnen,  unb  bas  einer  frifcfyen  Kraft  vorbehalten 
bleiben  muß. 


$0        Kapitel  IX.   Die  feciale  nTedjanif.   Das  Stttltdje. 

Die  erfte  Arbeit,  bie  es  ju  tun  gibt,  iji,  bas  5elb,  auf 
bem  ftcf?  unfere  Itnterfucfjung  betpegen  foH,  genau  ab3ujiecfen. 
(£5  toirb  begren3t  burdj  $wex  henadfiatte  (Bebiete:  bas  ber 
(ßetpohnfyeit  unb  bas  ber  ZTforal.  Die  Sprache  B^at  $xoat  bie 
<5ren3pfät}le  bereits  gefegt,  aber  roarum  jte  es  getan,  unb 
ob  fte  babei  bas  Hidjtige  getroffen,  bleibt  uns  3U  ermitteln 
übrig»  3n  be3ug  auf  bie  2lbgren3ung  ber  Sitte  pon  ber 
(Setpofytljeit  foH  bies  I|ier  [243]  gefdjeBjen,  in  be3ug  auf  bie 
ZTToral  oermögen  tpir  es  erft  fpäter,  nacfybem  rr>ir  uns  burdj 
eine  längere  Hnterfudjung  ben  IDeg  ba3u  gebahnt  I^aben. 
3cfy  behalte  meine  JDeife  ber  betaillierten  2Iuf3äfylung  ber 
ein3elnen  Unterfudjungspunfte  bei. 

0  Begrifflicher  Unterfdjieb  ber  Sitte  pon  ber  (ße- 
tpofyntjeit. 

Die  fpradjlicfye  Catfadje  biefer  Hnterfcfjeibung  ijl  uns 
bereits  pon  unferen  fpracfylidjen  Unterfudjungen  I^er  befannt 
(S.  \7  ff.).  (Setpoljnfyeit,  worunter  tpir  hier  nicht  bie  inbipi* 
bueHe,  fonbern  bie  allgemeine  perftehen,  ift  bie  bloße  Cat* 
fächltchfeit  bes  fortgefefeten  allgemeinen  J^anbelns,  Sitte,  bie 
fich  3U  i^r  l^in3ugefellenbe  gefetlfchaftlich  perbinbenbe  <5eltung 
berfelben.  Ztur  in  bem  le&teren  Sinne  gebrauten  tpir  fortan 
biefen  2Iusbrucf*)f  unb  toir  befinben  uns  barin  in  Überein» 
ftimmung  mit  ber  Sprache,  toelche  pon  (ßeboten  ber  Sitte, 
nic^t  ber  (ßetpofynfyeit  rebet.    3n  be3ug  auf  ben  plural:  bie 


*)  (Segenüber  £efern,  t»eld?e  bie  Sacfye  nidjt  vom  Wort  unter* 
fdjeiben  fönnen,  fjatte  idj  bie  BemerFmtg  nidjt  für  verloren,  bag  alles, 
was  idj  im  Perlaufe  meiner  Unterfndjung  über  bie  Sitte  entoicfeln 
n>erbe,  feine  »olle  (Seltung  behält,  audj  tuenn  ber  von  mir  3ugrmtbe 
gelegte  Begriff  fidj  mit  bem,  tpeldjen  bie  Sprad?e  mit  bem  XDorte  vev* 
fnüpft,  nidjt  t?oüftänbtg  beefen  follte,  es  trmrbe  btes  nur  bartnn,  bag 
es  3um  2lusbruc£  besfelben  eines  befonberen  IDortes  bebarf,  ben  Begriff 
f elber  fjoffe  idj  in  einer  IDeife  begrünben  3U  fönnen,  bag  bie  Selb* 
flänbigfett  unb  ltnentbefyrlid?Fett  oon  jebem  3ugegeben  merben  mug,  aber 
audj  an  ber  fprad?lid?en  Decfung  bürfte  es  üjm  nidjt  fehlen. 


Die  Sitte. 


Sitten  roirb  btcfc  flrenge  Unterfcheibung  vom  Sprachgebrauch 
nietet  beobachtet,  unter  [244]  ben  „Sitten"  ber  perfchtebenen 
Dölfer,  von  benen  bie  Heifebefchreiber  3U  berichten  rpiflen, 
perfleden  fleh  neben  ben  Obligatorien  auch  piele  nicht* 
obligatorifche:  bloße  Gebräuche,  mit  benen  es  jeber  halten 
fann,  toie  er  £uft  fyat,  b.  h*  nach  unferer  Spradjtpeife 
nicht  2lmpenbungsfäHe  ber  Sitte,  fonbern  ber  (ßetpohnhett 
enthalten. 

XDorauf  beruht  nun  biefer  (ßegenfafc  3tpifchen  (ßetpohn* 
heit,  Brauch,  (gebrauch  einerfetts  unb  ber  Sitte  anbererfeits? 
3fl  es  Zufall,  baß  ber  eine  Brauch  perpflichtet,  ber  anbere 
nicht? 

Der  (Srunb  liegt  in  ber  Oerfdjiebenheit  bes  3ntereffes. 
3ft  es  bloß  bas  eigene  3ntereffe  bes  JE^anbelnben,  bas  ihn 
3um  f^anbeln  per  anlagt,  unb  bas  roegen  feines  gleichmäßigen 
Dorfommens  in  pielen  Caufenben  ein  gleichmäßiges,  allge- 
meines fjanbeln  tyxvoxtnft,  fo  fyaben  wxx  lebiglich  eine  <ße< 
rpohnheit,  einen  Brauch«  (ßeroohnheit,  Brauch  ift  es,  baß 
in  einer  (ßegenb,  reo  bas  I}ol3  billig,  ^013,  unb  roo  Corf 
ober  Steinfohle  billig  finb,  lefetere  gebrannt,  baß  in  biefer 
(gegenb  Bier  ober  IDein,  bort  Schnaps  getrunfen  tpirb,  baß 
hier  3U  Befleibung  IDolle,  bort  BaumrooHe  ober  gar  bloß 
ein  Schu^fetl  pertoanbt,  baß  fyet  um  biefe  Stunbe,  bort  um 
jene  3U  mittag  gegeben,  fyet  3ur  Bebauung  Siegel,  bort 
£}ol3fchtnbeln  pertoanbt  tperben.  21ber  bas  ifl  feine  Sitte  im 
tpiffenfchaftlidjen  Sinne,  wenn  auch  ein  Heifebefchreiber  ben 
21usbrud  barauf  anvoenben  mag;  benn  bei  allen  biefen  Dingen 
tut  jeber  bas,  was  er  tut,  nur  im  eignen  3ntere((e,  [245] 
bas  3n*ereffe  anberer  perfonen  iji  babei  nicht  beteiligt 

(San3  ani>exs  bei  ber  Sitte.  Bei  ihr  fleht  nicht  bloß 
bas  eigene  3nterefle  bes  Qanbelnben,  fonbern  auch  ober  aus- 
fchließlich  bas  britter  perfonen  ober  bes  gan3en  publifums 
auf  bem  Spiel.    <£s  t^ctribclt  fleh  babei  um  jene  3ntereffen- 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ITtecfyantF.    Das  Sittliche* 


t>erfettung,  voeld\e  ben  (Srunb3ug  bes  gefellfchaftlichen  £ebens 
bilbet  unb  ber  bie  (SefeUfchaft  bie  2Inforberung  entnimmt, 
baß  ber  f}anbelnbe  auf  fte  Hücfficht  nehmen  foHe.  Diefe  t>on 
ber  öffentlichen  IHeinung  geforberte  Hücf  ficht  auf  bie  3ntereffen 
anberer,  fagen  toir  fur3:  bas  poftulat  bes  gefellfchaftlichen 
£(anbelns  ift  es,  tr>elcfye  bas  IDefen  ber  Sitte  im  (Segenfafe 
ber  (Setoohnheit  ausmacht 

Daraus  erflärt  ftch  bie  nachteilige  5olge,  toelche  bie  XTicht* 
achtung  ber  Sitte  im  (ßegenjafee  3U  ber  bloßen  <5etr>ohnheit 
für  ben  ^anbelnben  nach  ftch  stellt:  ber  Cabel,  bie  Büge, 
ZHtßbilligung  feiner  f}anblungsu>eife  von  feiten  bes  publifums. 
3n  lefcterer  fpricht  fich  nicht  ettx>a  ein  bloß  theoretifches 
Urteil  aus  toie  über  einen  falfchen  Schluß,  ein  irriges  Bechen* 
eyempel,  ein  mißlungenes  Kunfttoerf,  fonbem  bie  2Xbftcfyt  einer 
praftifchen  Behauptung  ber  Sitte  als  einer  tt>ertDollen 
fo3ialen  3nftitution  gegen  ben  Derfuch  ihrer  BTißachtung.  3n 
bemfelben  BTaße,  in  bem  jemanb  ben  XPert  ber  Sitte  für 
bas  <öemeimr>efen  mehr  ober  minber  lebhaft  empfmbet,  toirb 
er  biefem  (ßefühle  nicht  bloß  ba,  wo  fein  eignes  3n^t<cffe 
auf  bem  [246]  Spiele  fteht,  fonbem  auch  ba,  voo  er  felber 
gar  nicht  beteiligt  ift,  burch  fein  Urteil  2üisbrucf  geben. 

So  fcharf  bem  Bisherigen  nach  <Sett>ohnheit  unb  Sitte 
fich  begrifflich  unterfcheiben,  fo  fonnen  fte  boch  in  einem  unb 
bemfelben  Derhältnis  fich  fu^effto  einanber  ablöfen:  bie  <ße< 
roohnh^it  fann  ftch  3ur  Sitte  erheben. 

2)  (Erhebung  ber  (ßetoohnheit  3ur  Sitte. 

Das  allgemeine  J^anbeln  fann  t>erfchiebene  Stabien  burch* 
laufen.  5inbet  bie  Ejanblungsrueife  bes  ein3elnen  allgemeine 
Ztachahmung,  fo  tpirb  fte  (Bemohnheit,  gefeilt  ftch  3ur  <Se* 
toohnheit  aus  bem  angegebenen  <5runbe  bas  ZHoment  bes 
fo3ial  Derpflichtenben  h^u,  fo  toirb  fte  Sitte;  t>erbichtet  ftch 
bie  in  lefcterer  pulfierenbe  3^  öer  fo3ialen  Verpflichtung 
3ur  restlichen,  fo  roirb  bie  Sitte  <$5en>ohnheitsrecht. 


Die  Sitte»  —  Dertpanblun<$  ber  (SetDotintjeit  in  Sitte»  ^3 


3jl  es  bloß  bie  £änge  ber  §eit,  welch*  biefe  Umwanb- 
lung  bewirft?  Sicherlich  nicf^t!  Sowenig  ein  Ding  burch 
feie  £änge  ber  geit  fich  in  ein  anberes  serwanbelt,  fo  wenig 
t>erwanbelt  fich  baburch  allem  t>ie  Gewohnheit  in  Sitte  ober 
Gewohnheitsrecht.  XDo  in  ber  ZTatur  eine  foldje  Vetwanb* 
lung  t>or3ugefyen  fcheint,  wie  3.  23.  beim  ^oI$e  bie  in  23raun- 
fohle  ober  Steinfohle,  wirfen  anbere  Umftänbe  mit,  als  ber 
bloge  2tblauf  ber  §eit;  ebenfo  »erhält  es  ftch  auch  bei  ben 
menfdjlidien  (Einrichtungen  *). 

[247]  Der  Übergang  ber  Sitte  in  Gewohnheitsrecht  hat 
für  uns  l|ier  fein  3"tereffe,  nur  fo  x>iel  fei  Ijier  bemerft,  ba§ 
auch  für  ihn  ber  eben  aufgehellte  Safe,  ba§  bie  <§eit  allein 
feinen  (Einfluß  ausübt,  solle  Geltung  h<*t.  Die  Sitte,  bei 
gewiffen  Gelegenheiten  Gefchenfe  3U  geben,  befteht  feit  un* 
benflicher  §eit,  aber  fte  ift  gleichwohl  fein  Gewohnheitsrecht 
geworben  unb  wirb  es  nie  werben  —  ber  Stoff  eignet  fich 
nic^t  ba3U. 

(Eine  Gewohnheit  wirb  bann  3ur  Sitte,  wenn  fte,  obfehon 
i^rem  urfprünglichen  HTotioe  nach  lebiglich  bem  3ntereffe  ber 
Ejanbelnben  bienftbar,  ben  Kriftatlifationspunft  abgibt,  an 
ben  fich  nach  unb  nach  3ntereffen  anberer  Perfonen  anfefeen, 
welche  bie  Gewohnheit  3ur  Dorausfefeung  ihres  Seftanbes 
nehmen,  fte  parafitenartig  umflammernb  unb  umf pannenb, 
fo  baft  fich  baraus  ein  einheitlicher,  fich  gegenfeitig  bebingenber 
3ntereffenfompley  bilbet.  3^  Mte  es  für  ange3eigt,  biefe 
fefunbäre  <£ntftehungsweife  ber  Sitte,  wie  ich  jte  3um  Unter* 
fchiebe  oon  ber  primären,  wo  fte  ohne  Durchgang  burch 
bas  Stabium  ber  Gewohnheit,  t>on  Anfang  an  als  Sitte 
auftritt,  nennen  möchte,  burch  einige  23etfpiele  3U  oeranfd?au* 


*)  (Sait3  fo  bie  £efyre  ber  römifdjen  3urtften:  ber  bloße  Ablauf  ber 
§eit  als  foldjer  ift  einflußlos,  quod  inito  vitiosum,  non  potest  tractu 
temporis  convalescere,  1.  29  de  R.  J.  (50.  17). 

».  3  gering,  Der  groeef  im  Hedjt.  IL  ^3 


jgq,        Kapitel  IX.   Die  feciale  IHedjantf*  Das  Sittliche* 

lidjen,  bie,  abgeben  von  bem  «gtoeefe,  für  ben  idj  fte  I^tcr 
aufbiete,  mir  bemnädjji  nodj  iljre  Dtenjle  leijlen  foHen, 

(Eine  ber  anftößigften  5ittenf  bie  es  B>oIjl  überhaupt  gibt, 
bilben  bie  £eidienfd}mäufe,  bie  fxdi  bei  uns  [248]  tnelfadj 
auf  bem  £anbe  finben*)!  Zladt  33eftattung  ber  £eidje  oer- 
fügt jtcfy  bas  <5efolge  in  bas  Crauerljaus,  voo  Speifen  unb 
(5etränfe  aufgetragen  ftefyen,  unb  ein  gedjgelage  bie  Crauer- 
feierltdtfeit  abf  daließt  Der  Braucfj  ift  Sitte,  nidjt  (ßetDofyt* 
ljeit,  b*  fy.  er  ift  t>erpflid}tenber  2lrt,  bie  Hinterbliebenen  müffen 
jtdj,  toenn  aud}  mit  blutenbem  fersen  unb  im  5aUe  ber  mittel« 
tojtgfeit,  felbjl  mit  (Entblößung  t>om  ZTotroenbigften,  bemfelben 
fügen. 

Wie  tonnte  ftdf  eine  foldje  alles  menfd?lid?e  (Sefütjl  oer* 
lefeenbe  Sitte  btlben?  ZlTeiner  Über3eugung  nadj  urfprünglicfj 
nidjt  als  Sitte,  fonbern  als  (Semofynfyeit  3n  fyobeven 
Kreifen  B^at  man  nidjt  nötig,  bas  (Befolge  3ur  £eidje  burdj 
Prämien  tjeran3ulocfen,  aber  ber  gemeine  Zfiann,  ber  feine 
Arbeit  im  Stiche  laffen,  unb  ber  auf  bem  £anbe  gar  rt>o^l 
aus  roeiter  (Entfernung  unb  bei  fdjledjtem  IDetter  $ur  £eidje 
fommen  foH,  entfdjließt  fiefy  nidjt  fo  leicht  3U  biefem  ©pfer 
an  geit  unb  ZHüfye,  Darum  ein  Hei3mittel,  bas  ifyn  Ijerbei* 
fdjafft,  inbem  es  ifyt  für  bie  Seitoerfäumnis  unb  ben  roeiten 
XDeg  entfdjäbtgt  Das  ZHittel  tx>ar  von  bemjenigen,  ber  3uerjl 
barauf  oerfiel,  unb  bem  es  barum  3U  tun  tx>ar,  bie  £eid)e 
mit  (Slan3  3ur  (Erbe  beftattet  3U  fe^en,  getieft  gett>ä!)lt  unb 
er  toußte  audj  fefyr  gut,  toarum  er  bie  (Erqutcfung  erfl  nad? 
Seftattung  ber  £eicfye  t>erabreid}te,  unb  ntdjt,  toas  bod)  bas 
Hatürlidtfte  getoefen  tx>äre,  fdjon  oorfyer.  Das  ZHittel  be- 
toäl?rte  [249]  jtdj,  anbete  folgten  bem  Beispiele.  So  roarb 
es  „öraudt",  IDie  fdjlug  nun  ber  23raudj  in  Sitte  um? 
Daburdt,   ba§  bie  beiberfeitigen  3ntereffen  ftdj  foufagen 


*)  Und)  bei  ben  alten  (Striefen,  f.  3. $omer  Zitas  XXm,  9— U- 


Die  Sitte*  —  £eidjenfd?m8ufe,  (Erntfcjelber*  $5 


hteinanber  serft^ten  unb  ein  eitriges  <San$e  gegenfettiger 
Verrichtungen  bilbeten*  2)ie  £eute  muffen  3ur  £eiche 
fommen,  aber  bte  Hinterbliebenen  ntüffen  ihnen  bas  TXlafy 
anrieten,  b*  h*  ber  £eidjenfchmaus  unb  bas  $olqen  3ur  £eiche 
iß  aus  beiberfeittger  freier  <5eu>ohttheit  eine  beibe  3ur  (Ein- 
heit oerbinbenbe  Sitte  geworben. 

€in  3u?eites  33eifpiel  gewährt  bie  Sitte  bes  Crinfgelb- 
gebens*),  ttrfprünglich  eine  freie  <5abe  einzelner,  warb 
bas  Crinfgelb  allmählich  allgemeine  (ßetpotjnfyeih  Sitte  warb 
es  baburd],  baß  biejenigen,  welche  es  erhielten,  ftch  nach 
unb  nach  baran  gewöhnten,  bas  Crinfgelb  bei  Berechnung 
ihres  mutmaßlichen  (Einfommens  mit  in  21nfchlag  3U  bringen, 
unb  baß  felbß  bie  2)ien(il|erren  jte  bei  Bemeffung  bes  £ohnes 
barauf  oerwtefen.  So  warb  bas  Crinfgelb  3U  einem  (Ele- 
mente bes  Dienftoerhältniffes,  einer  eigentümlichen  21rt  bes 
£ohnes,  ben  niemanb  fortan  vorenthalten  fann,  ohne  ein 
barauf  bajtertes  £ebenst>erhältnis  3U  läbieren*  2luch  Ijtet 
djarafterifiert  jtch  bie  Sitte  wieberum  als  bie  burd)  bas 
3ntereffe  [250]  bes  anbern  Ceils  in  23anben  gefchlagene 
(Bewohnhett  bes  einen» 

3d)  Ijabe  fymmt  ben  Hergang  seranfehaulicht,  rote  er 
meiner  2lnjtcht  nach  bei  ber  23ilbung  ber  Sitte  aus  ber  (Be- 
wohntet ftattgefunben  fyat  Vamxt  l\at  aber  feineswegs 
behauptet  werben  foHen,  baß  biefer  Übergang  überaß  erfolgt, 
wo  3U  einer  bejtehenben  (Bewohnheit  bas  3ntereffe  jtch  h*n- 
3ugefetlt;  fonji  müßte  aus  berfelben  auch  in  fällen,  wo  bie 
hergebrachte  ZDeife  ber  Kleibung,  Ernährung,  E[ei3ung  ufw, 


*)  Das  (Ojema  ift  von  mir  h^mifdjen  fett  bem  (Erfahrnen  ber  erften 
Auflage  biefes  Raubes  in  einem  befonberen,  aus  ben  obtaen  Unter* 
fndpmgen  über  bte  Sitte  tjerüorgegangenen  Zlnffa^e  befyaubelt  roorben, 
ber  urfprünghdj  in  Wettermanns  HIonatst]eften  1882,  Zlprilfyeft  oer- 
3ff enthalt  morben  unb  oann  als  befonbere  Sd?rtft  erf  dienen  iß;  Das 
Erinfgelb,  8raunfd?meig,  2*  ZluflL,  1882,  5.  2lu$.,  {902. 

13* 


Kapitel  IX.   Die  (totale  tITed>antf.   Das  Sittliche. 

2lnla§  geboten  Ijat  3ur  33egrünbung  geunffer  3nbujh:te3tt>etge, 
ebenfalls  eine  Sitte,  b.  h»  eine  Verpflichtung  3ur  Beibehaltung 
ber  (Setpofynfyeit  im  3ntereffe  bes  andern  Ceils  h^orgeheu. 
ZTteine  Behauptung  geht  nicht  bahin,  ba§  überaß,  tr>o  sur 
<J3etx>ohnheit  bes  einen  Ceils  ein  3ntereffe  bes  anbern  ftch 
fyn3iigefellt,  bie  Sitte  baraus  h^sorgehe,  fonbern  ba§,  u>o 
bie  bloße  (ßewohnheit  fiel?  in  Sitte  t>ertt>anbelt,  bies  auf 
bie  angegebene  XVeife  3U  erflären  fei,  woraus  ftch  bann  von 
felbft  ergibt,  baj$  nicht  jebes  3ntereffe  fchledfthin  ba3ii  aus- 
reicht, fonbern,  ba§  es  einer  befonberen  (Seftaltung  besfelben 
bebarf,  über  bie  fiel}  im  allgemeine^  nichts  fagen  lägt. 

€in  gewiffes  (Segenftücf  3U  bem  bisher  erörterten  phä« 
nomen  bietet  bas  5olgenbe  bar. 

3)  Das  ^erabfinfen  ber  Sitte  3um  praftifch'bebeutungs- 
lofen  Brauche. 

3ft  ber  §toe<f  hntweggefallen,  bem  bie  Sitte  3U  bienen 
[251]  hat,  fo  h<*t  fte  ihre  Bebeutung  perloren,  unb  fte  foHte 
jefet  bas  5elb  räumen.  2lber  bie  (ßefchichte  führt  uns  in 
be3ug  auf  bie  Sitte  biefelbe  firfcheinung  x>or,  ber  wir  auf 
allen  (ßebieten  bes  £ebens,  sornehmlich  im  Hecht  unb  in 
ber  Hechtsfymbolif  begegnen*):  5ortbeftehen  bes  einmal  <5e* 
worbenen  nach  IVegfall  feiner  Berechtigung  oermöge  ber 
blogen  h'ftorifchen  vis  inertiae.  Das  einft  Bebeutungsoolle 
erhält  fich  noch  als  ein  fofftles  Stücf  Vergangenheit,  bas 
oft  wunberlich  in  bie  (ßegenwart  hineinragt,  als  wertgehaltene 
Heliquie,  in  ber  man  bas  Jlnbenfen  ber  X>or3eit  ehrt,  als 
U)ahr3eichen  ber  Vergangenheit,  es  ift  bas  (Snabenbrot  ber 
<5efchichte  nach  beenbetem  Dienfte. 

2lls  Beifpiel  einer  folchen  urfprünglich  bebeutungsooöen, 
fpäter  bebeutungslos  geworbenen  Sitte  aus  heutiger  <§eit 


*)  S.  barüber  meinen  (Seift  bes  H.  H*  II.  I,  5.  b{%  wo  bie  fultur* 
fyftorifcfye  23ebeutung  biefer  (Erfdjemmtg  gemürbtejt  tfl» 


Die  Sitte*  —  Der  33rcwdj  (bas  gutrtnfen)*  —  Die  Unfttte.  $7 


nenne  ich  bas  gutrinf  en  beim  gaftlichen  ZHahle.  Don  bem 
urfprünglichen  I)öd)ft  praftifchen  gweefe  biefes  Braucks  t?at 
heut3utage  faum  jemanb  eine  Ahnung  mehr,  man  erblicft 
barin  nichts  als  einen  freundlichen  <ßru§.  3n  UMrflichfeit 
hatte  aber  ber  23rauch  einftmals  eine  gar  ernjte  öebeutung: 
bas  gutrinfen  war  Dortrinfen  aus  bemfelben  Sedier,  unb 
es  gefchah,  um  feinen  (5aft  gegen  t>ie  Seforgnis,  baß  ber 
Cranf  vergiftet  fei,  jtcher3ußetlen.  <ßan3  basfelbe  gefchieht 
noch  bis  auf  ben  heutigen  Sag  bei  mannen  apatifdjen  unb 
afrifanifchen  Pölferfchaften  burch  ben  ZTlunbfchenf  unb  ben 
£eibar3t,  ber  bem  dürften  [252]  ben  Sedier  IDein  ober  2lr3nei 
freben3t,  unb  wer  bie  Sinnesart  unferer  Altporbern  nicht 
bloß  aus  <5ebidjten  ober  Homanen,  fonbern  aus  ber  (5e* 
fdjichte  fennt,  wirb  begreifen,  baß  unb  warum  biefe  Dorfichts* 
maßregel  auch  bei  ihnen  ihren  triftigen  (5runb  hatte. 

IDie  bie  Sitte  ihren  urfprünglicheu  <§wed?  gän3lich  per- 
lieren  fann,  fo  muß  es  auch  <*fe  möglich  anerfannt  werben, 
baß  fte  benfelben  wechfett;  äußerlich  bleibt  alles  beim  Alten, 
aber  bie  innere  Sebeutung  ber  Sitte  ijl  göttlich  peränbert. 
Als  öeifpiel  biene  bie  Deränberung,  welche  mit  bem  (Bruße 
vorgegangen  ift,  ber  urfprünglid),  wie  bemnächjt  bei  ben 
Umgangsformen  nachgewiefen  werben  wirb,  ben  Sinn  ber 
^uftcherung  ber  Annäherung  in  frieblidjer  (ßefinnung  3um 
5wecf  hatte,  fpäter  aber  bie  einer  fonpentionellen  Artigfett 
bagegen  eintaufchte. 

4ß  Die  fchlechte  Sitte. 

Die  Sitte  als  3nftitution  iji  gut,  ebenfo  wie  bas  Hecht. 
Aber  bies  fchließt  nicht  aus,  baß  bies  für  ben  3nh<*lt  ein» 
3  ein  er  Einrichtungen  ber  Sitte  wie  bes  Hechts  nicht  3utrifft. 
Dasjenige,  was  einjt  gut  war,  fann  burch  eine  Deränberung 
ber  Derhältniffe  fchlecht  geworben  fein,  unb  felbft  pon  allem 
Anfang  an  fönnen  unberechtigte,  aber  übermächtige  Cinjlüffe 
bem  Schlechten  Eingang  perfdjafft  haben. 


$8         Kapitel  IX.   Die  fokale  ITCedjattt?*  Das  Sittliche* 

IDonach  bemeffen  voxx,  uoas  bei  beiben  gut  ober  fchlecht 
fei?  Wiv  fennen  ben  XHaßfiab,  er  iji  5er  bes  gefellfchaftlich 
ttüfclichen*  sticht  ber  abftrafte,  ber  alle  [253]  Reiten  unb 
Pölfer  mit  berfelben  <£He  mißt,  fonbem  ber  relattoe,  ber 
bas  gtseefmäßige  nach  ben  gegebenen  fyftorifdjen  Perhält* 
niffen  bemigt  Um  ihn  an3ulegen,  muß  man  alfo  biefe  Der» 
hältniffe  genau  fennen*  (Sar  ©ieles,  tx>as  im  Hecht  unb  in 
ber  Sitte  vergangener  Seiten  auf  ben  erften  Slicf  höchfi  an* 
ftößig  unb  nahe3u  unbegreiflich  erfcheint,  u>irb  bei  näherem 
itachbenfen  unb  mit  ^ilfe  ber  (Sef  dachte  serftänbltch* 

21uch  für  bie  Sitte  unferer  heutigen  geit  gilt  bie  obige 
Semerfung,  fie  bietet  uns  einzelne  <5eftaltungen  bar,  roelche 
mit  bem  ber  Sitte  als  3nftitution  nachgerühmten  (Zliavaftev 
3uge  bes  gefellfchaftlich  Hüfelichen  in  fchreienbem  IDiberfpruch 
fte^en.  2lls  Jjauptbeifpiel  nenne  ich  &<ts  Duell  <£in  Über» 
reft  aus  ben  Reiten  bes  5auftrechts  unb  bes  Htttertums,  balb 
tote  bei  ben  €ru>achfenen,  §u>eifampf  auf  Cob  unb  £eben, 
balb  toie  in  Stubentenf reifen,  ein  auf  SchaufteHung  ber  <5e« 
fehieflichfeit  unb  bes  ZHutes  berechnetes  vov  §ufchauern  auf« 
geführtes,  nicht  immer  ungefährliches  Schaufpiel,  fyat  es  jtch 
trofc  bes  £>erbammungsurteils  ber  öffentlichen  Zlteinung  unb 
trofe  aller  bagegen  gerichteten  Bemühungen  ber  XtToraliften 
toie  ber  (Sefefegebung  bis  auf  ben  heutigen  (Eag  behauptet, 
unb  stoar  toohlgemerft  nicht  ettoa  als  ettoas  bloß  (Eatfäch- 
liches,  fonbem  als  eine  3nftüution  ber  Sitte,  b.  h*  cxls 
5tt>ingenbe  XHacht,  ber  ftch  felbft  ber  jenige  nicht  3u  ent3iehen 
tr>agt,  ber  x>on  ihrer  XJertoerflichfeit  über3eugt  iji,  unb  bie 
ber  ZTlacht  bes  (ßefefees  fpottet.  (Eacitus  rühmt  von  ben  alten 
(Sermanen:  [254]  plus  valent  ibi  boni  mores  quam  alibi  bonae 
leges;  im  ^inblicf  auf  bas  Duell  möchte  man  fagen:  plus 
valent  ibi  maJi  mores  quam  bonae  leges. 

Die  Sprache  be3etchnet  eine  Sitte,  bie  fie  mißbilligt,  als 
Unfitte  (Unfug),  Wit  fönnen  3u>ei  Jtrten  unterfcheiben:  bie 


Die  Sitte*  —  Kriterium  ber  Unfttte* 


lape  Sitte,  roeldje  etwas  bulbet,  perftattet,  xoas  fte  nicht 
bulben  follte,  bte  alfo  für  bie  öffentliche  UTeinung  ben  Dor- 
tpurf  ber  3U  tpeit  getriebenen  CEoleran3  in  fich  f chliegt,  unb 
bie  3tpingenbe  Unfttte,  tpelche  etwas  perlangt,  gebietet, 
was  fich  mit  bem  tpohlperftanbenen  3ntereffe  ber  (ßefellfchaft 
nicht  perträgt*  Die  lefetere  2trt  ift  öie  bebenf lichfte;  bemx 
bie  erftere  brauet  niemanb  mit3umachen,  ber  nicht  £uft  h<*t, 
fie  läßt  bie  inbipibuelle  5reihett  neben  fich  befielen,  bie 
anbere  nicht 

2>as  von  ber  Sprache  anerfannte  Dafein  ber  fdjlechten 
Sitte  als  Unfttte  3tpingt  uns,  unfere  Behauptung,  ba§  bie 
Sitte  bas  gefeUfchaftltch  Hüfelictje  3um  3nhal*  3U  mobi* 
feieren,  toir  muffen  einräumen,  baf$  ber  Safe  Ausnahmen 
erleibet,  unb  neben  ber  Sitte  im  engeren  Sinne:  ber  guten 
auch  eine  fchledjte  ober  Unfttte  anerfennen* 

Der  <5eftchtspunft,  nach  bem  toir  beftimmen,  ob  eine  Sitte 
als  gute  ober  fchlechte  3U  qualifeieren  fei,  ift  ber  von  uns 
aufgeteilte  UTaßftab  bes  gefeHfchaftlich  XTüfclichen,  €ine  Sitte, 
meiere  biefe  prüfung  nicht  befteht,  gilt  uns  als  gefellfchaft« 
lieh  unberechtigt,  als  Unfraut  unter  bem  £Dei3en.  Das 
Unfraut  enthält  feine  2tnflage  gegen  ben  23oben,  ber  es 
trägt,  tpohl  aber  gegen  ben  XHenfdjen,  [255]  ber  es  fte^en 
läßt;  ber  Boben  ber  Sitte  hört  barum  nicht  auf  ein  guter  3U 
fein,  toeil  ftch  unter  bem  It)ei3en  auch  ein3elnes  Unfraut  fmbet. 

2tn  folgern  Unfraut  fehlt  es  auf  bem  23oben  unferer 
heutigen  Sitte  nicht.  2tu§er  bem  Duell  nenne  id]  beifpiels« 
tpeife  bie  oben  berührten  £eichenfchmäufe  unb  bas  (Erinf« 
gelbertpefen.  (Erftere  finb  bem  Derbammungsurteil  bes  fttt- 
liefen  (Sefüfyls  root^l  in  ben  meiften  (ßegenben  Deutfchlanbs 
bereits  erlegen,  tpäljrenb  bas  Crinfgelberumpefen  eher  im 
Wad\\en  als  im  Abnehmen  begriffen  ift.  IDenn  ich  lefeteres 
für  eine  Unfttte  erfläre,  ber  bie  <5efetlfchaft  allen  (Srunb 
hätte  ftch  je  eher  je  lieber  3U  ertpehren,  fo  h<*be  ich  wich 


200       Kapitel  IX.   Die  foßtale  ZlTedjamf.   Vas  Sittliche. 

barnber  fdjon  an  ber  oben  (S.  $5)  genannten  Stelle  aus* 

gefprochen. 

Das  Unfraut  enthält  eine  21nflage  für  ben  (ßärtner,  ber 
es  fielen  lägt,  bie  Unjttte  eine  2tnflage  für  bie  <ßefeüfd^aftf 
welche  jte  bulbet.  3*ber  ein3elne  fann  unb  foU  für  feinen 
Ceti  5a3u  bettragen,  ihr  ein  (Enbe  3U  machen,  unb  was  ber 
etn3elne  nicht  permag,  permögen  Jlffoiattonen.  3n  biefer 
33e3iel|ung  herrfdjt  freiließ  bei  uns  eine  große  Stumpfheit  unb 
3nbolen3.  Klan  fann  täglich  Klagen  pernehmen  über  2Tli§* 
jlänbe  unb  Ausartungen  bes  gefellfchaftlichen  £ebens,  in  ber 
Der  bammung  berfelben  iji  jeber  einher  ftanben,  aber  faum 
einem  fommt  ber  (ßebanfe,  baß  er  bamit  jtch  f  elber  anflagt, 
unb  baß  es  ja  nur  pon  ihm  abginge,  fich  praftifch  ihnen  3U 
tpiberfefcen,  es  ijl  bas  befannte  23eifpiel  pom  Stein  im  ZDege, 
an  bem  [256]  jeber  ftch  ftößt,  ben  jeber  pertpünfeht,  ben  aber 
niemanb  jtch  bie  ZHühe  nimmt  aus  bem  IDege  3U  räumen. 
3ft  ber  Stein  für  ben  eht3elnen  3U  fchtper,  um  ihn  aus  ber 
Stelle  3U  fdjaffen,  tparum  pereinigen  jtch  nicht  mehrere  ba3u? 
Reinigung  ber  Sitte  pon  berartigen  2lusu>üchfen  toäre  in 
meinen  2tugen  eine  ber  banfbarften  Aufgaben,  tpelche  bie 
2lffo3iationen  jtch  jieHen  fönnten,  unb,  bie  Sache  beim  richtigen 
€nbe  angefaßt,  toürbe  ber  €rfolg  nicht  ausbleiben* 
5)  Sie  gute  Sitte. 

Xlad\  Ausfcheibung  ber  fchlechten  Sitte  ober  ber  Unjttte 
roenbe  ich  mich  im  folgenben  ausschließlich  ber  guten  Sitte 
ober  ber  Sitte  fchledtfhin  3u.  <£s  fommt  barauf  an,  bie 
5rage  3U  beantworten,  ob  bie  Sprache  recht  getan  Ijat,  jte 
pon  ber  ZHoral  3U  unterfcheiben  (S.  22),  b.  h»  nicht  bloß:  ob 
ber  (Segenfafe,  ben  jte  3tpifdjen  beiben  annimmt,  toirftich 
ejijliert,  fonbern  ob  er  ein  innerlich  berechtigter  iji  —  es 
tpäre  ja  möglich,  baß  er  ein  rein  äußerlicher,  gän3lidj  be* 
beutungslofer  tpäre,  bem  bie  IDiffenfchaft  bie  Anerfennung 
perjagen  müßte  —  unb  tpenn  tpir  uns  bapon  über3eugt  haben, 


Die  Sitte»  —  Uit3ulättgUd}feit  bes  äjtyetifdjeu  (ßeficrftspunftes.  20\ 

ob  bie  Sitte  ben  2tnfpruch  erheben  fann,  neben  Hecht  unb 
JTloral  als  drittes  (Blieb  bem  Sittlichen  3uge3ät|It  3U  werben, 
ober  ob  fte  von  bem  (Sebiete  bes  Sittlichen  3urücfgewtefen 
werben  mujj.  Kur3  ausgebrüht  lautet  bie  Aufgabe:  €rmttt* 
lung  ber  eigentümlichen  fo3ialen  23eftimmung  unb  Berech* 
tigung  ber  Sitte. 

Dtefelbe  iji  3ur3eit  noch  eine  ungelöjte.  Kein  Segriff 
[257]  ber  €tt|i?  liegt,  wie  früher  bereits  bemerft  warb,  fo 
im  argen  tote  ber  ber  Sitte.  Der  Itmjlanb,  bajj  bie  Gilten 
ihn  noch  nicht  fannten  (S.  ^Off.),  fdjeint  es  verfchulbet  3u 
haben,  ba§  auch  bie  moberne  tPiffenfchaft  von  ihm  fo  gut 
wie  gar  feine  Ztoti3  genommen  ha*/  —  bie  Sitte  bilbet  nicht 
bloß  bas  iüngfte,  nachgeborene  Kinb  ber  €thif,  fonbern  bas 
verwahrlose,  bas  Stieff inb ;  ihren  beiben  älteren  Schweftern : 
ber  UToral  unb  bem  Hechte  gegenüber  ift  ihr  bisher  bas  Cos 
bes  2lfchenbröbels  3uteü  geworben.  Der  tDiffenfdjaft  lägt 
ftch  ber  Porwurf  nicht  erfparen,  ba§  jte  hinter  ber  Spraye 
weit  3urücf geblieben  ijl;  ber  2lnpo§,  ben  lefctere  ihr  mittels 
ber  fo  fcharf  burchgeführten  Scheibung  ber  Sitte  von  ber 
ZHoral  3ur  einbringenben  Unterfuchung  fyätte  bieten  fönnen, 
ip  an  th*  fpurlos  vorübergegangen.  3n  manchen  Dar* 
Teilungen  wirb  bie  Sitte  von  ber  XtToral  nicht  einmal  unter» 
fdjieben,  beibe  2lusbrücfe  werben,  wie  es  gerabe  pagt,  als 
völlig  gletdjbebeutenb  gebraud]t  *),  in  anbeten  wirb  3war  bie 
Perfchiebenheit  beiber  anerfannt,  aber  an  ber  <£rfenntnis  ber 
wahren  Sebeutung  ber  Sitte  fehlt  fo  viel,  baß  lefetere  balb  als 
etwas  völlig  Bebeutungslofes  von  ber  Betrachtung  ber  €thi? 
gän3lich  ausgefchloffen**),  balb  nur  mit  bem  ^ugeftänbnis 


*)  So  3.53.  von  £a3arus  in  feiner  Heuten  Schrift  über  ben  lh> 
fprung  ber  Sitten.   Berlin,  2lufif.  2,  1867. 

**)  So  3.  B.  üon  <£ty\  oort  Qofmann  in  feiner  tfyeologtf djen  <Ettyf* 
tlörblingen  1878,  S.  80.  „Die  <2tt}if  voxxo  aud?  nidjt  foldjes  mit  ein* 
f daliegen,  tpas  nur  äugere  lebensform  unb  Sitte  ijV' 


202        Kapitel  IX.   Die  feciale  tttedjattif.  Das  Sittliche* 

ihres  äfthetifchen  IDertes,  eines  rein  beforatioen  2Iufpufces 
[258]  abgefangen  n>irb*).  Daß  bte  Sitte  eine  eminente 
praftifdj'etfyifcfye  23ebeutung  bat,  unb  txne  pdf  biefelbe  von 
t>ev  ber  ZTCoral  unterfcheibet,  ift  bis  auf  ben  heutigen  Cag 
meines  IDiffens  noch  t>on  niemanbem  nachgetr>iefen,  ja  nicht 
einmal  angebeutet;  ein  abermaliger  Beleg  für  ben  von  mir 
ber  mobernen  <£ttjif  gemachten  Oorrourf  ihrer  geringen  23e« 
obachtungsgabe  für  bie  Catfachen  bes  £ebens  unb  ber  ihr 
mangolnben  praftifchen  2luffaffungsroeife. 

Die  Sprache  fyat  ben  Unterfdjieb  3tt>ifchen  XHoral  unb 
Sitte  richtig  herausgefühlt,  aber  ber  <5ejtchtspunft  ber  bloßen 
5orm  ober  ber  2trt  bes  Benehmens,  ben  jte  t>ertr>enbet,  bält 
bie  probe  nicht  aus.  <£r  trifft  roeber  überall  3U,  noch  trifft 
er,  u>o  bies  ber  5atl,  bas  XDefen  ber  Sache.  Die  $orm  iji 
nur  bas  Süßere,  aber  unter  bem  Süßeren  serfteeft  ftch  ein 
realer,  praftifdjer  gtoeef ,  ben  bie  Sprache  nicht  funb  gegeben 
hat.  Wex  bloß,  tt>ie  u>ir  es  oben  bei  unferen  fprachltchen 
Unterfuchungen  über  bie  Sitte  getan  kaben  unb  tun  mußten, 
bie  21usfage  ber  Sprache  übet  jte  regiftriert,  gelangt  über 
ben  (Beftchtspunft  ber  roohltuenben,  paffenben,  anmutigen, 
fchönen  5orm,  fürs  über  bie  äfthetifche  23ebeutung  ber  Sitte 
nicht  kinans,  bie  fittlidje  Bebeutung  berfelben  bleibt  ihm 
babei  gänslich  serfdjloffen.  Daß  aber  biefes  äfthetifche  [259] 
ZHotip  ber  Sitte  in  feiner  IDetfe  ausreicht,  bas  tt>ahre  tPefen 
berfelben  3U  erfchließen,  tt>irb  burch  bie  folgenbe  pofttipe 
Darlegung  ihrer  u>ahren  23ebeutung  in  bem  2Tlaße  außer 
aßen  §tt>eifel  gefteHt  werben,  baß  ich  es  für  überflüfftg 
halte,  biefelbe,  rote  es  ber  Strenge  nach  kälte  gefchehen 


*)  So  3»  von  Ittartettfen  (Bifdjof  von  Seelanb)»  Die 
d?riftüd?e  (Etfytf,  2luft  2,  (Sotlja  1873,  33b.  *,  S.  537,  welket  bas 
2lnftänbige  als  f,bie  äfttjettfcfye  Seite  ber  fittttdjen  perföuitcfyfeit,  bett 
äußeren  tPtberfdjein  in  bem  gan3en  tt)efen,  Auftreten  ber  perförtltdjfeit" 
befmiert» 


Die  Sitte*  —  praftifdjer  gtpetf. 


203 


muffen,  burch  ben  negativen  beweis  ber  Un3ulänglichfeit 
jener  Jluffaffungstoeife  t>or3itbereiten,  nur  beifptelstoeife  toerbe 
ich  biefelbe,  mo  ftch  mir  bte  (Selegenheit  ba$\x  bietet,  an  ein- 
selnen  5äßen  peranfdjaulichen. 

Perfuchen  toxx  uns  bes  praftifdjen  &voe<£es,  ben  bie  Sitte 
im  2luge  h<*t,  su  bemächtigen»  3^  fdjlage  babei  ben  fyeuri* 
ftifchen  tt)eg  ein,  b.  h*  ich  tserbe  bem  Cef  er  nicht  bie  2ln  jtcht, 
bie  ich  felber  mir  über  ben  &we<S  unb  bas  eigentümliche 
IDefen  ber  Sitte  gebilbet  fertig  vorführen,  fonbern  er 

felber  fott  fte  fmben.  3ch  führe  ihm  einige  Perhältmffe  t>or, 
bie  il|n  basu  inflanb  fefeen  werben. 

Die  feinere  Sitte  ber  liötyten  Stäube  unterfagt  bem 
JHäbchen  unb  ber  5*au  bes  2lbenbs  ohne  Segleitung  aus3u* 
gehen,  Hlänner  auf  ihrem  Limmer  3U  befuchen,  unb  manches 
bem  ähnliche.  ZDarum?  5)as  äfthetifche  TXlotiv  ber  fdjönen 
5orm  reicht  h^r  in  feiner  XDeife  aus,  benn  unfehön  ift  es 
nicht,  roenn  3.  23.  ein  2Tläbchen,  um  fortan  ber  Kür3e  roegen 
beffen  allem  3U  gebenfen,  in  fchöner  ZHonbnacht  an  einfamer 
Stelle  im  H?albe  ftch  lagert,  um  ber  Nachtigall  3U  lauften 
ober  ftch  om  ZlTonbfcheine  3U  erfreuen.  Um  ber  üblen  Ztach« 
rebe  3U  entgehen?  2)ie  Hücf  ficht  [260]  bar  auf  mag  fub- 
jeftb  ein  2Tlotit>  für  bas  ZHäbdjen  bilben,  aber  bas  fubjef« 
tipe  ZHotio  unb  ber  objeftise  §tr>ecf  einer  (Einrichtung  betfen 
fich  nicht  (S.  \05f.).  3m  porliegenben  5aU  ift  ber  gmeef 
nicht  fdjtoer  3U  entbeefen.  J)ie  Sefchränfungen,  tselche  bie 
Sitte  auferlegt,  f ollen  ben  Perfuchungen  vorbeugen,  meldte 
in  jenen  lagen  an  bas  tlläbchen  herantreten  fönnen,  fte  ftnb 
gebacht  als  Sicherungsmittel  ber  weiblichen  tEugenb  —  bie 
Sittfamfeit,  tr>ie  bie  Sprache  in  ^inftcht  auf  bies  Stücf 
Sitte  fagt,  foH  bie  ^üterin  ber  Sittlichfeit  fein.  2>a§  jene 
Sefdjränfungen  ihren  gtoeef  nicht  fchlechthin  erreichen,  tji 
freilich  ebenfo  jtoeifellos,  n>ie  baß  fte  nicht  fchledtfhtn  nötig 
ftnb  —  bie  ihrer  felbft  DöHig  fichere  Cugenb  fann  ihrer 


20^       Kapitel  IX.   Die  feciale  ttTecbanif.   Das  Sittliche. 

entbehren  —  aber  auch  Schlöffer  unb  Siegel  gewähren  feine 
abfolute  Sicherhett  gegen  Diebe,  unb  boch  machen  jte  ftch  im 
Ceben  t>oHauf  6c3aB?It* 

TXladien  auch  jene  23efchränfungen  fict?  besagt?  Darauf 
folt  uns  bas  ZlTäbchen  ber  bienenben  Klaffe  2Intwort  erteilen. 
Dasfelbe  befmbet  fich  nicht  in  ber  Cage,  biefelbeu  beachten 
5U  fönnen,  ihr  Dienjfoerhältnis  notigt  fte,  sieles  von  bem« 
jenigen  3U  tun,  was  bie  Sitte  bem  ZHäbchen  ber  t|öl|eren 
Stänbe  unterfagt.  Damit  aber  befdjwört  basfelbe  Verfügungen 
für  fich  herauf,  meldte,  wie  bie  (Erfahrung  3eigt,  ihm  nur 
3U  oft  perB|ängnispott  werben ,  unb  toir  werben  nicht  fehl* 
greifen,  wenn  wir  einen  großen  (Teil  ber  Fehltritte  ber 
bienenben  weiblichen  23er>ölferung  auf  bie  Ungunji  biefer 
äußeren  Derhältmffe  [261]  3urüdführen.  Die  Seltenheit  ber 
Fehltritte  bei  Uläbcfjen  ber  höheren  Stänbe  fommt  feineswegs 
bloß  auf  Rechnung  ber  größeren  fittlichen  &>iberfianbsfraft, 
fonbern  wef  entlich  mit  auf  Bechnung  ber  Sitte,  welche  ihre 
fchirmenbe  Qanb  über  fte  ausbreitet,  ihr  bie  (Befahren,  Per» 
lodungen  fernhält,  bie  jenen  broljen,  unb  wenn  wir  gerecht 
fein  wollen,  müffen  wir  fagen:  ber  Schüfe  unb  ber  IHangel 
ber  fchtrmenben  Sitte  bilben  einen  wefentlichen  Faftor  3ur 
€rflärung  bes  fo  äußerjl  perfdjtebenen  pro3entfafees  ber  Per- 
irrungen ber  XHäbdjen  ber  fyöljeren  unb  ber  nieberen  Stänb 
—  eine  Behauptung,  für  welche  bie  unten  folgenbe  Dar 
ftellung  uns  noch  ein  weiteres  Argument  geben  wirb. 

<£in  Seitenftüd  3U  biefer  unferer  Sitte  gewährt  ber  Sdtfeie 
ber  Orientalin.  Die  Sitte  bes  (Orients  gebietet  ber  anfttht 
bigen  5rau  öffentlich  nicht  ohne  Schleier  3u  erfcheinen:  ein 
5rau,  bie  btes  wagen  würbe,  hätte  fich  baburch  allein  fdjo 
ben  2Infpruch  auf  jene  Zeichnung  aberfannt.  Der  äfth* 
tifche  (5ejtd]tspunft  fdjließt  fich  l\kv  von  felbfi  aus,  ber  Schleier 
bient  fyev  fowenig  ber  Schönheit,  baß  er  gerabe  bie  J3e» 
jtimmung  fy**,  bie  Schönheit  bes  JDeibes  ben  Süden  ber 


Die  Sitte.  —  prafttfdjer  groecf* 


205 


Welt  3U  entstehen.  Der  Schleier  tfi  foufagen  ber  Derfdilufc 
bes  Biatems  in  portativer  (ßeftalt,  er  oerfolgt  benfelben  §wed 
wie  jener:  bas  H?etb  vot  ber  Zfictnnertx>elt  ab3ufperren.  £tadj 
ber  Jluffaffung  bes  Orientalen  hängt  an  ber  23ett>afy:ung  bes 
Schleiers  bie  Sittlidtfeit,  Keufcfyljeit,  Cugenb  ber  £rau,  bie 
Cüftung  besfelben  [262]  von  ifyet  Seite  ober  Don  feiten  eines 
ZHannes  gilt  in  feinen  2lugen  als  fcfytoerer  5rer>el,  ben  er  mit 
231ute  fütjnt,  unb  nach  ben  Sendeten  ber  Kenner  bes  Orients 
fteeft  tatfädjlich  im  Schleier  bie  halbe  £ugenb  ber  Orientalin. 
2Ln  ber  ftrengen  23eu>ahrung  biefer  Sitte  Ijat  bas  gan3e  tr>eib* 
liehe  (Sefchledjt  bas  lebhaftefte  ^ntete^e,  benn  an  fte  fnüpft 
fidj  bas  fpärliche  Stüc!  ber  ihm  r>erftatteten  5reiheit:  bie  €r* 
laubnis,  bas  Qaus  ober  ben  ^arem  perlaffen  3U  bürfen  — 
eine  Kon3effton,  3U  ber  fidj  bie  <£iferfudjt  bes  Orientalen 
nimmer  perftel^en  txmrbe,  toenn  er  ber  23ett>ahmng  bes  <Se* 
heimniffes  nicht  ftcf?er  n>äre. 

Die  33efchränfungen,  roelche  bie  Sitte  in  ben  beiben  obigen 
Derhältniffen  ber  „fittfamen,  3Üchtigen,  anftänbtgen" 
5rau  —  bas  ftnb  bie  ilusbrücf e,  mit  benen  fte  bie  Stau,  meldte 
bie  Sitte  beamtet,  be3eichnet  —  auferlegt,  f ollen  uns  ba3U 
bienen,  um  uns  bes  eigentlichen  tDefens  ber  Sitte  betonet 
3U  n>erben. 

Drei  charafteriflifch*  §üge  jtnb  es,  bie  ich  ihnen  glaube 
entnehmen  3U  fönnen. 

Der  erfte  §ug:  bie  innere  Derfdjiebentjeit  ber  Sitte 
oon  ber  ZHoral. 

3ft  bie  Sprache  in  ihrem  Hechte ,  wenn  jte  in  ber  Der- 
lefeung  ber  oben  angegebenen  Hegeln  bes  21nftanbes  nichts 
Unftttliches  ober  Unmoraltfches,  fonbem  lebiglich  ettx>as  Un« 
fehiefliches  erblicft?  IDäre  beibes  ibentifch,  fo  toürben  bie 
JTIäbchen  ber  bienenben  Klaffe  fetjon  burch  ihre  Dienststellung 
allein  3um  Unmoralifchen  perbammt  [263]  fein,  unb  ein 
ZTläbdten  ber  teeren  Stänbe,  bas  bei  plöfelicher  <£rfranfung 


206        Kapitel  IX.   Die  feciale  UTecfyantf.   Das  Sittliche* 

eines  ber  irrigen  in  (Ermangelung  eines  bienjlbaren  <5eifies 
f elber  genötigt  tx>äre,  in  ber  Hadjt  ä^tlidje  I}ilfe  3U  Idolen, 
mürbe  ftdj  eine  unftttlidje  J^anblung  3U  fcfyulben  fommen 
laffen,  n?äl)renb  basfelbe  ja  gerabe  umgefeljrt  ftttlidt  tjanbelt, 
inbem  es  t|ier  ben  pflichten  ber  TXloxal  t>or  ben  Hücfjtdjten 
ber  Sitte  ben  Dorrang  einräumt*), 

tt)orin  liegt  ber  (Brunb,  toatnm  bie  Spraye  bas  Unfttt« 
Itdje  unb  Unmoralifdje  unterfdjeibet?  3n  ber  inneren  Der- 
fdjiebenljeit  beiber*  Seibe  verhalten  pdf  3ueinanber  toie  bas 
Hedjtstmbrige  3U  bem  poli3ein>ibrigen  ober  bas  Sd?äblid?e 
3u  bem  bloß  <5efäfyrlid}en*  Die  23ranbjiiftung  enthält  etoas 
an  jtdj  Sd}äblidjes,  bas  Betreten  von  Scheunen,  Ställen, 
Söben  mit  um>ertoafyrtem  5euer  ober  £idjt  bloß  etwas  (ge- 
fährliches; bas  Derbot  ber  erjieren  bilbet  ben  (Segenjianb 
einer  Hechts-,  bas  ber  lefeteren  einer  poli3eit>orfdjrift**).  Die 
23ranbftiftung  ift  nicht  möglich,  ohne  baß  ein  tt>irflicher  Schaben 
gefdjieht,  bie  Übertretung  ber  genannten  polt3eit>orfchrift  fann 
ohne  nachteilige  5olgen  »erlaufen;  aber  bie  poÜ3ei  voe\$f 
roarum  [264]  jte  bie  Porfdjrift  erlägt,  jte  oerbietet  bas  (ge- 
fährliche, bamit  nicht  bas  Sdjäbliche  baraus  entflehe. 

So  verhält  es  fich  in  bem  obigen  Verhältnis  mit  ber 
Sitte  unb  ber  XHoraL  Diefe  ©erbietet  bas  an  ftch  Schäblidje, 
jene  bloß  bas  (gefährliche*  Die  geschlechtliche  Derirrung  bes 
ZDeibes  ijl  an  jtch  {djäblich,  bie  Behauptung  ihrer  Keufchheü 
unb  Cugenb  bilbet  ein  unerläßliches  pofiulat  ber  ftttlichen 
©rbnung,  unb  bie  UToral  serftattet  bason  Jeine  2lusnahme, 


*)  Dies  Vtxl\%\tnxs  ber  ttnterorbnung  ber  (Öebote  ber  Sitte  unter 
bie  ber  XTCoral  im  Konfiftsfalle  tpirb  feine^eit  am  <£nbe  ber  (Djeorie 
ber  Sitte  von  uns  befprodjen  werben* 

**)  Dag  letztere,  wie  es  bei  nnferem  bentfdjen  5trafgefe$bna>e 
ber  $ all  iji  (§  368,  5),  in  bas  Strafgefefcbudj  aufgenommen  ift,  aiteriert 
ben  inneren  (Ojarafter  berfelben  nidjt,  —  fle  gehört  ber  Siajertjeits* 
polt3ei  an,  beren  Aufgabe  barin  befielt,  bem  Oefä^rltc^ett  uorjnbeuaen* 


Die  brei  djaraftertjüfdjeit  §ücje  ber  Sttte* 


207 


bas  (Sebot  iji  ein  ebenfo  abfolutes,  ausnaBjmslofes,  toie  bas 
Perbot  ber  Sranbjiiftung*  2lber  bie  Übertretung  ber  obigen 
(5ebote  ber  Sitte  iji  nidjt  an  jtdj  fd)äblicf^f  jte  iji  gleich  bem 
Betreten  von  Sdjeunen,  Ställen  mit  offenem  £idjte  möglich, 
otjne  baj$  baraus  ber  minbejie  5<ti<xben  ljert>orgel)t. 

gtoeiter  §ug:  bie  ptopliYlatttfdie  Bejiimmung 
ber  Sitte. 

Sie  ergibt  fidj  aus  bem  Bisherigen  von  felbji:  bie  Sitte 
oerbietet  bas  (gefährliche,  bamit  bas  Schäbliche  nicht  baraus 
hervorgehe,  jte  roe^rt  bem  unoorfichtigen  (gebrauche  t>on 
5euer  unb  ficht,  bamit  fein  5euer  baraus  entjiehe*  2>ie  Oor- 
fdjrift  iji  nicht  auf  biejenigen  berechnet,  toelche  mit  bem  £icht 
um3ugel|en  roiffen:  auf  bie  ihrer  Cugenb  oöllig  fieberen  per« 
fonen  weiblichen  (Sefchledjts  —  jte  gelten  burch  alle  (Befahren 
unb  Derlocfungen  oöQig  unangefochten  fynburcfy  —  fonbern 
auf  biejenigen,  toeldje  biefer  ooüenbeten  Sicherheit  entbehren 
—  nicht  auf  bie  Starfen,  fonbern  auf  bie  Schwachen.  2lber 
[265]  bamit  biefelbe  bei  letzteren  ihren  «gtoeef  erreiche,  muß 
jie  pon  allen  befolgt  toerben,  toie  bie  poli3eit>orfcfyrift  gleich« 
mäßig  beachtet  toerben  muß  pon  ben  Dorjtchtigen  tote  oon 
ben  Unoorfichtigen*  J)arum  begrünbet  bie  Nichtachtung  ber 
Sitte  auch  für  biejenigen  einen  Dorrourf,  benen  baoon  per* 
jonlich  nicht  ber  minbejie  XTachteil  broht,  benn  jte  fyanbeln 
rücf  jtchtslos  gegen  ihr  (Sefdjlecht,  inbem  fte  bas  Beftehen  ber 
Sitte  gefäfyrben,  bie  Starfen  l^aben  jtch  ihr  3U  unterwerfen, 
bamit  jte  in  ber  Perfon  ber  Schwachen  ihre  I^eilfamen  IDir- 
fungen  ausübe  —  bie  2lufrechterhaltung  ber  auf  bas  IDeib 
berechneten  Sitte  iji  ein  gemeinjames  3"tereffe  bes  gan3en 
weiblichen  <5ejchlechts. 

XüoHen  wir  bie  t|ier  entwicfelte  2luffaffung  ber  gefetl- 
fdjaftlichen  Seftimmung  ber  Sitte  in  ein  einiges  U)ort  3u- 
fammenbrängen,  fo  jagen  wir:  bie  Sitte  iji  bie  Sicher* 
l|eitspoli3ei  bes  Sittlid^ert. 


208        Kapitel  IX.   Die  f totale  IKedjattif.  Das  Sittliche* 

Dritter  gug:  bie  £ofalifation  ber  Sitte. 

Die  nieberen  Stäube  jtnb  nicht  in  ber  £age,  bie  obige« 
Dorfchriften  ber  Sitte  3U  befolgen,  für  fte  I|aben  biefelben 
feine  (Seltung.  Darin  liegt  ein  abermaliger  Unterfdjieb  ber 
Sitte  von  ber  ZTforal.  festere  rietet  bie  ^>orfchriften  gleich 
mäßig  an  alle  Klaffen  ber  (ßefeßfehaft  —  es  gibt  feinen 
JTioralfobey  für  gewiffe  Stänbe  —  aber  bie  Sitte  ift  genötigt, 
ftch  ben  äußeren  Derhältniffen  3U  affomobieren,  fte  fefct  einen 
günfttgen  23oben  voraus,  ben  fie  nur  in  ben  Ijöfyeren  unb  mitt- 
leren Hegionen  ber  <5efeflfcf)aft  ftnbet,  nicht  in  ben  nieberen. 
Die  Sprache  [266]  t^at  biefe  €igentümlid)feit  ber  Sitte  im 
(Segenfafee  ber  21Toral  richtig  erfannt,  fte  rebet  t>on  einer 
„£anbes*t  Stanbes*,  ©rts«  Sitte",  nicht  von  einer  r,£anbes*, 
Stanbes*,  ©rtS'HToral"  (S.  ^8),  biefe  früher  bloß  fonftatierte 
fpradflicfye  (Eatfache  ftnb  tt>ir  hier  in  ber  £age  3U  begreifen, 
fte  ergibt  ftch  aus  ben  eigentümlichen  33ebingungen  ber  Sitte 
ebenfo  von  felbft,  als  baß  bie  alpine  5lora  nur  in  alpinen 
Legionen,  nicht  in  ber  <£bene  gebeizt, 

3n  biefer  £ofalifation  ber  Sitte  liegt  es  begrünbet,  baß 
biejenigen  Klaffen  ber  (Sefeflfdjaft,  beren  ungünftige  Derhält* 
niffe  ihr  in  ber  t)ier  angegebenen  Bichtung  feinen  Haum 
t>erjlatten,  bes  eigentümlichen  Schuftes,  ben  fte  ber  weiblichen 
feyueßen  Sittlichfeit  gewährt,  entbehren,  unb  t>on  welchem 
(Einfluß  auf  bie  Sittlichfett  ber  unteren  weiblichen  23et>ölferung 
bies  ift,  hä&e  ich  bereits  herDorgehoben.  Die  unteren  Klaffen 
finb  in  bejug  auf  bie  Sütlichfeit  ungünftiger  geftellt  als  bie 
oberen,  fte  entbehren  ber  Schufeanftalt  ber  Sitte,  lefctere  bilbet 
eins  ber  Dielen  Dorrechte,  welche  bie  höheren  5tänbe  vov 
ben  nieberen  voraus  liahen. 

Das  ftnb  bie  brei  charafterifiifchen  8)&Qe  ber  Sitte,  bie 
ich  bem  obigen  Verhältnis  glaube  entnehmen  3U  tonnen. 
2tber  möglich,  baß  fte  bemfelben  eigentümlich  ftnb,  baß  fte 
mit  ber  Stellung  bes  IDeibes  3ufammenhängen  unb  ftch  baher 


Die  Sitte*  —  Der  Streit  unter  (Sebilbeten. 


209 


nidjt  von  ber  Sitte  fd)lecf|trjin,  fonbern  nur  von  biefem  be* 
ftimmten  Stücfe  berfelben  aussagen  laffen. 

[267]  Xjolen  roir  ben  ZHann  3um  Dergleidje  tjeran.  Das 
Derfyältnis,  an  bem  voxv  bie  Sebeutung  ber  Sitte  erproben 
n>oQen,  fott  ber  Streit  3tr>if  djen  ZHännem  fein.  2tud?  fyier 
jtellen  roir  txneberum  ben  ZHann  ber  rjötjeren  unb  nieberen 
Stäube  ftdj  gegenüber. 

Sie  feine  Sitte  3eicrjnet  bem  XHanne  ber  tjörjeren  Stänbe 
gett>iffe  5ormen  unb  (Svenen  r>or,  bie  er  nid)t  mißachten 
ober  überfctjreiten  barf,  otjne  fcfjtr>eren  2lnfto§  3U  erregen  unb 
ben  Hüdffcfylag  bat>on  auf  feine  gefetlfd)aftlidje  Stellung  in 
empfmblicfyer  tDeife  3U  r>erfpüren.  Sie  pertjinbert  ifyn  uicrjt, 
rocnn  ber  2tnla§  banacfj  angetan  ift,  jtdj  gegen  feinen  (5egner 
ber  fcfjärfften  IDaffen  3U  bebienen,  er  barf  iljm  mit  IDorten 
ben  Qoldi  ins  J[er3  bohren,  ifyn  forbern  3um  3we\tamp\  auf 
£eben  unb  Cob,  aber  er  barf  ftd}  nierjt  ber  Keule  im  figür- 
lichen Sinne  bebienen,  nicfyt  plump  t>erfafyren,  ifyn  nidjt 
fcfyimpfen,  nicfyt  fdjlagen  —  eine  prügelet  ift  in  ber  guten 
(Sefellfdjaft  fdjledjtrjin  unerhört,  unb  felbft  eine  Saigerei  mit 
IDorten:  ganfen,  Schelten,  Schimpfen  ift  von  ber  feinen  Sitte 
aufs  ftrengfte  verpönt 

Was  ift  ber  <5runb  biefer  23efcfyränfung?  Der  äjtfyetifdje 
(Beftdjtspunft?  Derfelbe  fyat  tjier  allerbings  großen  Schern, 
es  iji  nichts  fieserer,  als  ba§  bas  äftrjetifdje  (Sefüfyl  ftd?  oon 
berartigen  S3enen  eines  rotten  Streits  mit  UnroiHen  ab« 
roenbet.  2lber  aud?  fyier  getjt  ber  Xüert  ber  feinen  5orm 
n\<t\t  auf  im  2lftr}etifcr|en,  hinter  lefeterem  fteeft  auefy  tjier  bas 
praftifdie. 

[268]  Dapon  foH  uns  bie  IPeife  bes  gemeinen  TXlannes 
über3eugen.  Bei  it|m  artet  ber  Streit  leidet  in  ganten, 
Schelten,  Schimpfen  aus  (für  bas  IDeib  tjat  bie  Spvadte  ben 
befonberen  2tusbrucf  Keifen),  er  bleibt  ntcfjt  bei  bem  urfprüng- 
liefen  Streitgegenftanbe  ftefyen,  fonbern  3tet}t  bie  perfönlicfyfeit 

v.  3t}ertng,  Der  gtoeef  im  Hedjt.  II.  ^ 


2\0 


Kapitel  IX.   Die  fatale  IKecfyatti?*  Das  Sittliche* 


bes  (Segners  mit  ins  Spiel,  inbem  er  ihn  befchtmpft,  unb  hat 
bie  <§unge  ihren  Porrat  an  Schtmpftoorten  erfchöpft,  fo  fommen 
öie  Raufte  an  bte  HeiBje,  fdjliepch  bas  ZHeffer,  unb  nicht  feiten 
enbet  ber  anfänglich  geringfügige  IDortftreit  mit  Cotfchlag. 

IDürbe  man  ben  UTann  fragen,  ob  benn  ber  urfprüng- 
liehe  21nlaj$  bes  Streites  einer  folgen  Art  ber  Ausfechtung 
toürbig  gemefen  fei,  er  mürbe  es  verneinen.  Was  h<*t  bie 
Ausfchreitung  hervorgerufen?  £ebiglich  bie  ZDetfe  bes  Streites. 
Vet  Streit  fyat  ben  Streit  genährt;  jebes  folgenbe  Woxt  tjat 
neuen  «günbftoff  hinzugefügt,  bis  bie  £eibenfcf)aft  3um  Siebe* 
punft  gebieten  mar  unb  ber  <Sexe\$te  in  ber  23ejiimmungs< 
Iofigfeit  3 um  Xfteffer  griff.  Aber  bas  ITIeffer  3ucfte  bereits  in 
ber  Scheibe,  als  bie  Hebe  3uerft  bie  <Sren3linien ,  toeldje  bie 
feine  5orm  ben  teeren  (SefeHfchaftsHaffen  t>or3eichnet,  über* 
fdiritt  unb  bie  erften  Schimpfmorte  fielen.  Vaxan  eben  he» 
mährt  jtch  ber  praftifche  Wext  ber  feinen  5orm,  ba§  fte  ben 
(ßebilbeten  von  ber  Überfchreitung  biefer  (Stenden  abhält, 
unb  barauf  beruht  ber  unfehäfebare  IDert  ber  guten  (ßefell* 
fdjaft,  ba§  fte  es  ihren  ZHitgliebern  ermöglicht,  trofe  perfön* 
lieber  Abneigungen  unb  Antipathien  unb  trofe  bes  fdjroffften 
[269]  (Segenfafees  ber  Anflehten  unb  3ntereffen  miteinanber 
3U  perfe^ren.  €s  ift  ber  größte  {Triumph,  beffen  ftd?  bie 
gebilbete  (SefeUfchaft  in  besug  auf  bie  burch  fte  befchaffte 
(ßeftaltung  bes  gefelligen  Derfehrs  rühmen  fann,  ba§  auf 
ihrem  Soben  felbft  Cobfeinbe  fich  begegnen  fönnen,  barin 
liegt  eine  ungleich  mertooQere  £ei(iung  als  in  allem  bem,  tt>as 
<5eift,  tüife,  Kunji,  Cujus  bei3ujieuem  permögen,  um  ben* 
felben  3U  fdjmücfen.  Die  feine  Sitte  gemährt  jebem,  ber  tt?n 
betritt,  bas  poHe  (Sefühl  ber  Sicherheit,  auch  h^r  ol\o  be* 
mährt  bie  Sitte  bie  5unftion,  bie  mir  ihr  in  bem  obigen 
Verhältnis  bei  ber  5*au  nachgerühmt  iiaben:  bie  Sidjerheits* 
poÜ3ei  bes  Sittlichen. 

Wo  jte  biefes  ihres  Amtes  nicht  maltet,  fehlt  es  an  ber 


Die  Sitte* —Der  Streit  uni<8ebilbetett*—  Berüfyrg*  im  b*nieb*  Klaffen*  2\\ 

ooEen  Sid^ertjeit,  unb  an  folcfjer  Stelle  muß  aucfy  ber  5rieb* 
fertige  roie  auf  unfreierer  £anbftraße  geroärtigen,  baß  er 
angefallen  roirb.  Darum  ift  es  nierjt  Ejocfjmut,  roenn  ber 
(ßebilbete  eine  23erürjrung  mit  rotten  Ceuten  meibet,  toeldje 
i^n  folgen  (gefahren  ausfegen  fann,  fonbem  roorjlangebracfyte 
Porftcfyt*  3n  3apan  rt>ar  ben  ZHitgliebem  ber  einft  rjerr* 
fcfyenben  Kriegerfafte  (5amurai)  ber  öefucfj  Don  Dergnügungs* 
lofalen  bes  Dolfs:  Sweatern,  Baberjäufem  ufio*  ftreng  unter* 
fagt,  unb  tr>er  an  folgen  ©rten  mit  jemanbem  aus  bem  Poll 
in  Streit  geriet,  büßte  es  mit  bem  Cobe.  So  ©erlangte  es 
bas  politifcfte  3n^reffe  bes  tjerrfcfyenben  5tanbesf  bas  jeben 
2lnlaß  5U  einem  Konflikte  mit  bem  X>oIP,  aus  bem  eine  2Iuf* 
lefynung  gegen  feine  bevorrechtete  Stellung  fyemorgetjen  fonnte, 
forgfam  meiben  [270]  fyeß  —  aus  bem  5unfen  fonnte  ein 
Branb  roerben!  Dtefelbe  Sefcfjränfung  legt  aus  gutem  (Srunbe 
bie  Stanbes^itte  audj  bei  uns  bem  (Dfföier  unb  bem  Beamten 
auf  —  fte  foUen  bie  (ßelegentjeit  3U  ^cmbeln  meiben,  benn 
fte  exponieren  bei  benfelben  nicfyt  bloß  ftcfy  f elber,  fonbem 
ifyre  Stellung,  tfyren  Staub*  Der  (Dfftier  Ijat  noch  ben  be* 
fonbem  (ßrunb  ba3u,  baß  er  eta>aige  Cätlicrjfeiten  fofort  mit 
blanfer  ZDaffe  3U  beantworten  Ijat*  Darum  tjat  bie  Sitte, 
rr>elcf}e  fte  nötigt,  bie  gefeUfcfjaftticfie  23erüfyrung  mit  ber 
nteberen  Klaffe  3U  meiben  (Befucfy  x>on  Pergnügungslofalen, 
pläfeen  im  Cfyeater,  in  ben  (£ifenbal}nen,  roo  fie  gewärtigen 
fönnen  mit  ifynen  3ufammen3utreffen)  itjren  gan3  r>erfiänbigen 
praftifcfyen  (5runb,  es  fyanbelt  ftcfj  babei  nicfyt  bloß  um  ^en« 
tuterung  ifyrer  gefellfcrfaftlicrjen  Stellung,  fonbem  um  Der* 
meibung  r>on  Konflikten,  es  ift  nierjt  ber  vornehme  ZTCann, 
ber  bem  nieberen,  fonbem  ber  geftttete,  friebliebenbe,  ber  bem 
rofyen,  fyänbelfücfytigen  aus  bem  ZDege  gel^t. 

So  beroätjrt  bie  feine  Sitte  in  unferem  3tr>eifen  ZTTufier* 
falle  gan3  benfelben  proprjylaftifcfjen  Cfyarafter  wie  in  bem 
erften,  unb  ifyr  praftifcfyer  lüert  läßt  jtcfj  auefj  t^ier  roie  bort 

«* 


2\2         Kayitü  IX.   Die  fo3tale  iKedjattif*  Das  SMity* 


fiattfHfch  in  «galjlen  ausbrücfen,  bie  Ziffer  ber  Schlägereien, 
Körperverlefeungen,  Cotfdjläge  bes  männlichen  (Befchledjts 
btlbet  bas  Seitenfiücf  3U  ben  Pertrrungen  bes  weiblichen. 
Zftögen  toir  auch  bitten  getoiffen  pro3entfafe  bavon  auf  Hech« 
nung  ber  geringeren  Sittlichfeit  3U  fefeen  Reiben  t  ftdjer  tfi, 
ba§  ein  gan3  beträchtlicher  [271]  Ceil  bason  auf  Rechnung 
ber  mangelnben  Sdjufeanftalt  ber  Sitte  fommt  Tin  ben  ab» 
fchüfftgen  Stellen  bes  IDeges,  bie  in  bie  Ctefe  führen,  fdjlägt 
bie  feine  Sitte  für  ben  TXlann  ber  gebilbeten  Klaffe,  ben  bie 
<£r3iehung  gewöhnt  liat,  fie  unverbrüchlich  3u  beachten,  eine 
Sarriere,  bie  ihn  vor  ber  (Befahr,  in  bie  Ciefe  3U  ftü^en, 
bewahrt,  währenb  ber  gemeine  ZHann,  ber  benfelben  entbehrt, 
ber  (ßefahr  ausgefegt  ift,  wenn  einmal  fein  5u§  jirauchelt, 
haltlos  von  einem  2lbfa&  3um  anbern  in  ben  2lbgrunb  3U 
rollen»  Sein  Verhängnis  war  ber  in  ben  Kreifen,  in  benen 
er  aufgewachfen  ift,  unb  in  benen  er  fich  bewegt,  tytxffienbe 
Umgangs  ton,  —  er  warb  bas  (Dpfer  ber  bort  fehlenben 
feinen  gefeüfchaftlichen  5orm. 

2)as  alfo  iji  ber  h°he  Zinsen  ber  feinen  5orm,  ba§  fte 
ben  Streit  auf  ben  Streitftoff  befchränft  unb  ber  (ßefahr  vor* 
beugt,  bafj  nicht  ber  Streit  ben  Streit  nähre,  ba§  nicht  nufelos 
(Öl  ins  5euer  gegoffen,  nicht  bie  flamme  3um  Branbe  ent* 
facht  werbe,  unb  fte  bewirft  bies  baburch,  bafc  jte  eine  (Drb* 
nung  bes  Streits  vor3eichnet,  wie  ber  pro3e§  es  für  bas 
Hechtsverfahren,  toie  bie  Hegeln  bes  2)uells  es  für  lefcteres 
tun,  fur3  gefagt:  fie  bewirft  eine  3)is3iplinierung  bes 
Streits  unter  ben  (Sebilbeten*  3hren  kodiften  Wext  beweifi 
fie  im  völf  errechtlichen  DerfeBjr,  benn  wenn  irgenbwo,  fo  gilt 
es  hi*rf  &i*  vorhanbenen  wirf  liehen  Differen3en  nid]t  burch 
nufelofe  Untaten  3U  fteigem,  unb  bie  fprichwörtlich  geworbene 
(ßlätte  bes  Diplomaten,  bem  es  3ufommt,  ben  völferred]tltchen 
Derfehr  [272]  3U  vermitteln,  leiftet  ben  Dölfem  unter  Umftänben 
wichtigere  Dienfte  als  bas  Schwert  bes  Solbaten,  benn  fte 


Die  Sitte*  —  Sebeuttmg  ber  feinen  Perfefyrsformen* 


forgt  bafür,  baß  es  nur  bann  3um  Kriege  fomme,  roenn  er 
unpermeiblich  geworben  ift  —  ein  plumper  Diplomat  u>äre 
ein  (ßrobfchmieb,  bem  man  eine  Ufyr  3ur  Hegulierung  über- 
geben tt>ollte,  feine  grobe  fjanb  amrbe  bas  IDerf  erji  recht 
in  Dertsirrung  bringen» 

<£s  liegt  aber  auf  ber  fjanb,  baß  fich  bie  23ebeutung  ber 
feinen  5orm  an  biefer  rein  negativen  ober  prophylaftifchen 
^unftion  berfelben  (Derhinberung  ber  Slusfchreitung  bes  Streits) 
feinestsegs  erfchöpft.  3nbem  uns  vorbehalten,  an  fpä* 
terer  Stelle  itjre  poftttoe  23ebeutung  für  bas  gefeHfdjaftliche 
Ceben  ins  2tuge  3U  f äffen,  befchränfen  voxx  uns  hier  barauf, 
bie  Pergleichung  unferes  3tt>eiten  ZTlufterfaßes  mit  bem  erjien 
3um  2lbfchluß  3U  bringen. 

Die  brei  charafteriftifchen  güge  ber  Sitte,  welche  u>ir  bem 
erjien  entnommen  l\abet\f  toieberholen  fich  auch  bei  ihm*  Der 
erjie  roar:  bie  Derfchiebenheit  ber  Sitte  t>on  ber  TXloxaU  Die 
Unfenntnis  ober  Nichtbeachtung  ber  feinen  5orm  begrünbet 
im  3toeiten  5all  ebenfotsenig  wie  im  erften  ben  Porumrf  bes 
ttnmoralifchen,  fonft  müßten  tsir  ben  gemeinen  ZHann,  ber 
fte  nicht  beamtet,  u>eil  er  fte  gar  nicht  fennt,  als  unmoralifch 
be3eichnen.  Der  3n>eite  toar:  bie  prophYlafttfd)e  5unftion 
berfelben,  Diefelbe  fteigert  fich  h*^  noch  baburch,  baß 
jte  nicht  bem  bloß  Unmoralifchen,  fonbern  bem  Hechts» 
anbrtgen  vorbeugt.  [273]  Der  britte  tt>ar:  ihre  gefellfchaft* 
liehe  Cofalifterung*  Diefelbe  ift  tixev  nicht  u>ie  im  erjien  ^alle 
burch  bie  äußeren  X>erhältniffe  nottoenbig  bebingt  —  bas 
ZTTäbchen  ber  nieberen  Stänbe  fann  bie  obigen  Dorfchriften 
ber  feinen  Sitte  nicht  befolgen,  felbji  wenn  es  sollte,  ber 
gemeine  ZHann  fönnte  fich  bie  gefellfchaftlichen  formen  ber 
höheren  Kreife  aneignen,  unb  bie  (Erfahrung  3eigt,  baß  bies 
bei  einigen  Dölfem,  insbefonbere  ben  romanifchen,  in  h^h^m 
(ßrabe  ber  5aII  ift,  toähreub  bei  ben  meiften  allerbings  bas 
<5egenteil  bie  Kegel  bilbet. 


2W 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjattif*  Das  Sittliche* 


3d?  füge  noch  einen  britten  5att  h*n3u(  ber  uns  ba3u 
bienen  foH,  unfere  21nfchauung  über  bie  praftifche  öebeutung 
ber  Sitte  3U  t>en>oHftchtbigen,  es  ift  bie  Sonntagsfeier. 

3)te  Sonntagsfeier  ift  fein  3nftitut  ber  Sitte  als  folcher, 
benn  fte  führt  ihren  Hrfprung  auf  eine  religiöfe  Dorfchrtft 
bes  alten  Ceftaments  3urücf,  bie  von  ber  weltlichen  (Sefefe* 
gebung  vielfach  in  bie  5orm  einer  poli3eit>erorbnung  gebracht 
toorben  ift,  aber  in  Cänbern,  wo  fie,  tote  in  €nglanb  unb 
2tmerifa,  tatf  Schlich  in  poller  Strenge  geübt  wirb,  ift  es  boch 
bie  Sitte,  welche  fie  erft  311  bemjenigen  gemacht  fyat,  was  fte 
in  IDirflichfeit  ift.  VTixt  Hücfftcht  barauf  wirb  es  t>erftattet 
fein,  fte  ber  Sitte  3U3uweifen. 

Segen  wir  an  fte  unferen  bisher  gewonnenen  2TCaßftab 
an,  fo  ift  3unäcfyft  flar,  ba§  ber  Unterfchteb  ber  Sitte  t>on 
ber  ZlToral  fich  auch  bei  ihr  wieberholt.  Z>ie  [274]  3nne* 
Haltung  ber  Sonntagsfeier  ift  feine  moralifche  ^anblung,  bie 
Übertretung  berfelben  feine  unmoralifche;  fonft  müßte  ber 
2tr3t,  ber  am  Sonntage  bem  Kranfett  ältliche  I}ilfe  bringt, 
unb  ber  2lpotfyefer,  ber  ihm  bie  2tr3nei  bereitet,  unmoralifch 
hanbeln,  unb  unfere  öffentlichen  Derfehrsanftalten:  bie  poften, 
<£ifenbahnen  müßten  bes  Sonntags  feiern.  J)ie  Sonntags* 
feier  gehört  nicht  ber  XHoral,  fonbern  ber  Sitte  an.  Sellen 
wir  3u,  was  bie  Sitte  mit  ihr  be3wecft.  J)er  ^weef  liegt 
ntef^t  in  bem  bloß  23egatit>en  bes  itichtarbeitens,  fonbern  in 
bemjenigen,  was  baburch  pofitit)  erreicht  werben  foll:  2lus- 
fpannung  x>on  Körper  unb  (5eift,  Sammlung  bes  (ßemüts, 
€infehr  in  fich  felbft,  Erhebung  3U  (Sott,  23efuch  bes  (ßottes- 
bienftes,  Stärfung  3ur  Arbeit  ber  neuen  IDoche,  fur3,  bie 
Sonntagsfeier  ift  nicht  Selbfowecf,  fonbern  2Tftttel  3um  gweef. 

Qamit  aber  traben  wir  für  bie  Sitte  auch  an  biefem  5aüe 
biefelbe  5unftion  fonfiatiert,  wie  an  ben  beiben  obigen  fallen, 
nämlic^,  etwas  gefeHfchaftlich  IDertooQes  herbei3uführen,  inbem 
fte  bie  Sebingungen  besfelben  h^rftellt,  unb  baß  basfelbe  hier 


Die  Sitte. 


—  praftifdje  jfunftion. 


2\5 


nicht  negativer,  fonbem  pofitioer  2trt  ift.  Die  Sonntagsfeter 
foH  nicht  bas  gcfellfd^aftlicf)  Schäbliche  abroehren,  tote  in  ben 
beiden  obigen  fällen,  fonbem  bas  gefeüfchaftlich  Vorteilhafte 
ermöglichen,  erleichtern.  Dasjenige,  tr>as  fte  x>or3etchnet,  ift 
ebenfotoemg  tote  bas  jenige,  toas  bie  Sitte  in  ben  beiben 
obigen  Verhältmffen  erforbert,  an  ftch  gut,  aber  basfelbe 
fann  unb  foll  als  IHittel  bienen,  baß  bas  (Sute  baraus 
entftehe  —  [275]  bie  Sonntagsfeier,  richtig  r>eru>anbt,  enthält 
eine  H?ohltat,  einen  Segen  für  bie  (SefeHfchaft.  Die  Per* 
toenbung  berfelben  3ur  Erholung  unb  3um  Vergnügen  ift 
burch  biefen  ihren  §toecf  fotoenig  ausgefchloffen,  bajj  fte  bem* 
felben  im  (Segenteil  ooQfommen  entfpricht,  benn  bie  €rhoIung 
unb  2tusfpannung ,  bie  $vmbt  unb  bas  Vergnügen  tft  ein* 
mal  bas  erfrifchenbe  Sab,  beffen  ber  2TJenfch  3ur  (Erhaltung 
feiner  Kraft  bebarf  (S.  \%8(  \57),  unb  ber  gefunbe  Sinn  ber 
meiften  Völfer  ha*  barin  fotoenig  einen  IDiberfpruch  gegen 
bie  5etertagsbeftimmung  erblicft,  bajj  fte  gerabe  bie  Sonn* 
unb  Vertage  ber  toeltlichen  5^ube  getoibmet  liaben,  unb 
felbji  bas  Volf  (Sottes  fcheute  ftch  nicht,  ben  Sabbatli  ber 
erlaubten  Cuftbarfeit  unb  felbft  ber  (Safterei  off  einhalten*). 

Suchen  toir  für  bie  lixet  gefunbene  pofitioe  unb  bie  früher 
nachgetoiefene  negatioe  ober  ptopliylatttfdie  5unftion  ber  Sitte 
bie  entfprechenbe  gemeinfame  23e3eichnung,  fo  bürfte  es  bie 
ber  fittlich-abmtnifulierenben  23eftimmung  ber  Sitte 
fein.    Die  Sitte  fteHt  ftch  bar  als  bie  Dienerin  ber  Itloral, 


*)  midjaeits,  Itlofatfc^es  Hedjt  V,  §2*9  (S.  *5*),  §  m  (S.  X2\). 
„IDemt  mand?er  3sraelite  fid?  am  Sabbat  mit  Ca^en  ermübet  haben 
mag,  fo  toar  bies  ntdjt  allein  bem  mofaifcfyett  Hedjte  nidjt  3umtber, 
fonbem  etgentltd?  feinem  (£nb3tt>ecfe  gemäß.  €rft  bie  Calmubtften  haben 
aus  bem  Sabbat  jenen  büftern  (Tag  gemadjt,  an  bem  man,  ^tatt  (Er* 
holung  3U  gewinnen,  eher  tiypodjonbrtfd?  werben  unb  von  bem  man 
nur  oünfdjen  möd?te,  ba§  er  3U  (Hube  wäre  —  einen  wahren  pö'nite^» 
tag",  Hur  bie  (Englänber  unb  2htgloamertfaner  traben  biefen  talmu* 
btfa?en  Sabbat  abopttert* 


2\6         Kapitel  IX.   Die  feciale  mtfyamh   Das  Sittliche* 

lefetere  3eidjnet  il\v  bie  ^tele  t>or,  [276]  für  bie  ftc  in  Cätig* 
feit  3U  treten,  unb  beren  Verfolgung  unb  (Erreichung  fte  in 
iljrer  lüeife  3U  jtdjem  unb  förbem  Ijat,  jte  empfängt  une 
bie  Dienerin  ifyre  3ttftoiftionen  von  ber  X}errin.  3)arum  ftnb 
bie  (5ebote,  roelc^e  bie  Sitte  auffteHt,  nur  (ßebote  3u>eiter, 
bie  ber  ZTioral  (be3te!jungstDeife  bes  Hedjts)  erjier  ©rbnung, 
unb  too  ausna^mstoeife  ein  Konjlift  3tr>ifd}en  betben  entfielt, 
fyaben  jene  biefen  3U  meieren.  2Die  bas  anjlänbigfte  ZHäbdjen, 
tx>enn  eine  tjötjere  Pflicht  ruft,  unb  bie  Hot  brängt,  bes  Ztadjts 
allein  bas  l}aus  perlaffen  barf  unb  muß,  fo  barf  unb  mu§ 
im  gleiten  5aH  audj  bie  Sonntagsfeier  fyntangefefet  toerben. 
Der  2lr3t  barf  unb  mu§  feine  patienten  befugen,  ber  2lpo* 
tiefer  bie  2lr3nei  bereiten,  ber  5eemann  bie  Segel  raffen 
unb  bas  Steuerruber  führen,  ber  Sauer  bas  Diefy  füttern, 
bie  £öfdfmannfd}aft  ben  23ranb  löfdjen,  ber  Solbat  in  ben 
Kampf  3ie^en  —  bas  £eben  t>on  ZHenfdjen  unb  Viel),  bie 
Sicherung  ber  <5efeHfcrjaft  gegen  5euersgefa^r  unb  gegen 
ben  5einb  wiegen  fdjtserer  als  bas  (Sebot  ber  Sonntags- 
orbnung,  unb  ber  gefunbe  Caft  ber  Dölfer  l\at  bies  (Sraba* 
ttonsperljältnis  ftets  richtig  erfannt*)*  <£ine  5olge  bat>on 
i%  baj$  geunffe  Berufsarten  [277]  praftifefy  fo  gut  toie  außer 
ßanb  jtnb,  bie  Sonntagsorbnung  inne3ufyalten,  unb  bamit 
urieberfyolt  ftdj  audt  für  biefes  Stü<f  ber  Sitte  ber  obige  gug 
ifyrer  gefeQfdjaftlidien  £ofalijterung,  —  bie  £eute,  roeldje  am 
Sonntag  arbeiten  müffen,  bilben  ein  Seitenßücf  3U  ben  ZHäbdjen 


*)  Die  praftifdjen  Hö'mer  Ratten  genau  beftimmt,  roeldje  (Sefdjä'fte 
unb  Derridjtungen  aucr/  an  Feiertagen  3uläfflg  feien,  nur  bas  Volt 
(Softes  tueift  uns  bas  in  ber  (Sefcbidjte  t>ielleia}t  ein3ig  bajterjenbe  Sei- 
fptel  auf,  ba§  an  taufenb  3uben  ftdj  an  einem  Sabbat,  um  bie 
Sabbatsorbming  nicr/t  3U  übertreten,  tDtberftanbslos  von  ben  Syrern 
abfcfylad?ten  liegen,  \.  Ifta? fab.  2  r>*36— 38  —  ein  SriicF  reltgtö'fer  Per* 
irrung,  bei  bem  man  fidj  bes  (Sefüljls  bes  Sdjaubems  nidjt  ermerjren 
unb  bem  man  boefy  feine  t^öd^fte  23ertmnbermtg  ntdjt  oerfagen  fann  — 
fer/aurig^errtaben* 


Die  Sitte*  —  Syliemati?  berfelben* 


2(7 


ber  bienenben  Klaffe,  bie  im  Dunfeln  allem  ausgeben  müffen 
(S.  203  f.). 

2TUt  ben  brei  ZlTufierfäßen,  bie  ich  im  bisherigen  vorgeführt 
unb  analvfiert  t^abe,  ifi  ber  gwecf,  ben  ich  babei  im  2luge 
hatte,  erteilt,  fie  foßten  bem  £efer  bie  charafterifiifchen  §üge, 
in  welche  ich  bas  IPefen  ber  Sitte  fefee,  an  befonbers  ba3u 
geeigneten  unb  mit  biefer  Hücfficht  abftchtlich  ausgezahlten 
Seifpielen  peranfchaulichen,  in  ber  anfchaultchen  Sovm  bes 
fonfreten  5aßes  foßten  ihm  bie  3been,  welche  ich  ihm  x>or* 
3uführen  gebenfe,  3uerft  pertraut  unb  geläufig  werben.  XHeine 
gan3e  bisherige  Ausführung  t^atte  bemnach  nur  einen  x>or* 
bereitenben  £h<*rafter,  es  war  ein  3um  &we<£t  bes  He* 
fognos3ierens  unternommener  5treif3ug  in  ein  bisher  gän3lich 
unbefanntes  Cerrain,  Iebiglich  bar  auf  beregnet,  bie  punfte 
fefoujleflen,  welche  bemnächft  ins  2luge  3U  faffen  fein  werben. 
23ei  einem  von  ber  IDiffenfchaft  bereits  in  Sefife  genommenen 
(gebiete  würbe  bies  eine  überflüfftge  unb  tabelnswerte  IDeit* 
läufigfeit  fein,  im  oorliegenben  5afle  war  es  nicht  3U  um* 
gehen* 

[278]     6)  Sie  Svftematif  ber  Sitte. 

3m  bisherigen  iiabm  wir  aus  ber  reichen  5üfle  bes 
Stoffes,  ben  uns  bie  Sitte  3ur  Verfügung  fießt,  ein3elne  5äße 
herausgegriffen.  XHögltch,  ba§  biefelben  fo  eigentümlich  ge* 
artet  waren,  bag  basjenige,  was  wir  an  ihnen  wahrgenommen 
haben,  feine  aßgemeine  (Seltung  beanfpruchen  fann;  unter 
biefer  Dorausfefeung  wäre  basfelbe  für  unferen  &wed,  ber 
ben  Sinn  unb  bie  Bebeutung,  tr>elche  ber  Sitte  als  3nfHtu* 
tion  für  bas  gefeflfchaftliche  Ceben  3ufommt,  3um  (Segen* 
jianbe  hat,  wertlos.  ZTTit  ein3elnen  5äßen  ift  für  biefen  «gwecf 
nichts  ausgerichtet,  —  exempla  illustrant,  non  probant.  ZDoßen 
wir  (ßewißheit  erlangen,  fo  müffen  wir  bas  gefamte  ItTaterial, 
bas  uns  bie  Sitte  barbietet,  einer  Prüfung  unterwerfen. 

3ji  bies  burchführbar?  <£s  ift  ein  unenblich  ausgebehntes 


2\&        Kapitel  IX.   Die  fo3iaIe  ITCedjanif.  Das  Sittliche* 

(öebiet,  welkes  bte  Sitte  bebedft,  es  erftrecft  jtcfy  faft  über 
bas  gan3e  £eben.  VOk  laffen  fidj  aber  alle  <£rfdjeinungen, 
bie  es  in  ftdj  faßt,  ein3eln  aufführen  unb  artatvfieren?  IDir 
toürben  (ßefafyr  laufen  unter  5er  ZHaffe  bes  ein3elnen  3U  er* 
liegen,  im  Strome  3U  ertrinfen.  2lber  beffen  bebarf  es  aud? 
nidjt,  es  gibt  einen  anbern  IDeg,  ber  ebenfalls  3um  Siele 
fü^rt,  es  ift  berfelbe,  ber  uns  auf  beut  nidjt  minber  aus* 
gebefynten  (ßebiete  bes  23edjts  bie  Sicfyerljeit  geroäfyrt,  ba§ 
uns  vom  ein3elnen  nichts  entgeht:  ber  fyftematifdje,  <£in 
richtig  angelegtes  Syftem  nimmt  alles  ein3elne  in  jtd)  auf. 

[279]  So  iji  es  alfo  bie  SYftematif  ber  Sitte,  auf  bie 
uufer  2lbfel}en  gerichtet  fein  muß,  tt>enn  toir  unfer  &kl  er* 
reichen  tPoQen,  unb  3toar  ift  es  bie  Sitte  unferes  heutigen 
Cebens,  bie  idj  3ugrunbe  lege«  Diefelbe  ift  jebem  befannt 
unb  geläufig,  es  bebarf  für  fte  nidjt  erft  ber  itadjtoeife,  um 
if^r  3)afein  fe^ufteüen,  nidjt  weitläufiger  Erläuterungen,  um 
ifyr  Perftänbnis  3U  »ermitteln,  id]  fann  t>ielmel|r  bei  allen 
pütxften  ftets  auf  bie  unmittelbare  2lnfd?auung  unb  bas  Urteil 
ber  £efer  Be3ug  nehmen.  3nbem  unfere  SYftematif  ber  heutigen 
Sitte  bas  ein3elne  unter  getoiffe  Kategorien  bringt,  beren 
(Sefamtfumme  felbftoerftänblidj  bas  gefamte  ZHaterial  er- 
fdjöpfen  muß,  ermöglicht  fte  es,  bie  entfdjeibenben  5ragen 
aus  ber  nieberen  Sphäre  bes  ein3elnen  in  bie  fyöfyere  ber 
Kategorie  3U  ergeben  unb  fategorientoeife  3U  beantworten. 

3n  biefem  Sinne  ift  ber  folgenbe  Derfud?  unternommen. 
€r  fott  uns  burdj  bie  (Beunßljeit  ber  eytenftoen  Dedung 
unferer  Unterfucfyung  mit  ber  Sitte  bie  Sicherheit  gewähren, 
baß  tr>ir  nichts  öffentliches,  was  3ur  Sitte  gehört,  übergeben. 

2lber  ber  gtoedf,  ben  roir  babei  im  2luge  ^aben,  ift  nicht 
bie  Kenntnis  ber  Sitte  als  folcher,  es  ift  nicht  bas  etfjno* 
grapl^ifd^e  3ntereffe,  biefes  Stüd  £eben  bes  Polfs  3ur  Dollen 
2lnfchauung  3u  bringen,  bem  tt>ir  3U  entfprechen  gebenfen, 
fonbern  unfer  Jlugenmerf  ifl  lebiglich   gerichtet   auf  bie 


Die  Sitte*  —  Svftematif  berfelbetu 


219 


Bebeutung  5er  Sitte  für  bas  Befteljen  unb  Wohlergehen  ber 
<5efellfd}aft:  bie  Sitte  in  ihrer  nachweisbaren  [280]  Fialen 
5unftion,  als  feciale  3#^u^on  neben  Hecht  unb  XHoral. 

3nbem  u>ir  biefen  2TCaßftab  an  bie  Sitte  anlegen,  ge- 
langen roir  3u  bem  Hefultate,  ba|$  nicht  alle  Ceile  berfelben 
biefelbe  Bebeutung  in  2lnfpruch  nehmen  fömten,  baf$  siel« 
mehr  brei  2trten  berfelben  3U  unterfcheiben  finb.  <£s  ftnb 
folgenbe: 

\.  Die  böfe  Sitte  ober  bie  Hnfitte,  welche  bereits  oben 
(S.  \ty7)  charafterifiert  roorben  ifh 

2.  Die  [03tal*inbifferente  Sitte.  Sie  charafterifiert 
fich  baburch,  bajj  fte  für  bie  <5efeßfchaft  tx>eber  nüfelich  noch 
fdjäblich  ift,  fte  fönnte  mithin  fehlen  ober  fywoegfaHen,  ohne 
baß  festere  baburch  bie  minbejie  (Einbuße  erlitte.  Die  <Se< 
fellfdjaft  liat  fein  3ntereffe,  ihr  entgegentreten,  fte  lägt  fie 
beftehen,  toleriert  fie,  —  nicht  wie  hex  ber  Hnfitte,  weil  fie 
ftch  ihrer  nicht  erwehren  fann,  fonbern  weil  fie  fich  ihrer  nicht 
3U  erwehren  braucht 

3.  Die  gute  ober  fo3ial*wertt>olle  Sitte.  3^  liefen 
befteht  barin,  baß  fte  bie  gweefe  ber  (ßefeßfehaft  förbert, 
bafc  fie  alfo  nicht  fehlen  ober  hwwegf  allen  fönnte,  ohne  eine 
Cücfe  3u  fynterlaffen,  fte  bilbet  mithin  ein  (Blieb  bes  gefett* 
fchaftlidjen  Organismus  gan3  fo  wie  bas  Hecht  unb  bie 
ZTloral.  Diefen  Hlafjftab  bes  fo3ialen  IDerts  werben  wir  bei 
unferer  DarfteHung  unb  Betrachtung  ber  Sitte  bes  heutigen 
Cebens  ftets  3ur  2lnwenbung  bringen,  jebes  Stücf  berfelben 
foll  uns  Hebe  unb  Antwort  barüber  fielen,  ob  ber  Beitrag, 
ben  es  3u  unferer  gefellfchaftlidjen  [281]  (Drbnung  ftellt,  ein 
guter,  wertlofer  ober  gar  fd}led]ter  ijt,  fur3  wir  wollen  mit 
ber  Sitte  abred?nen. 

2lls  oberften  Ceilungsgrunb  bei  ber  Syftematif  ber  Sitte 
benufee  ich  ben  (Segenfafe,  ob  ber  3n^a^  öcr  Verpflichtung, 
welche  bie  Sitte  auferlegt,  öfonomtfdjer  ober  nicht 


220        Kapitel  IX.  Die  fötale  HIed?aitif.  Das  Sittliche. 


öfonomifc^cr  2trt  x%  Unter  bcn  (geboten  ber  Sitte  gibt  es 
nämlidj  geunffe,  toelcfye  einen  öfonomifdjen  Jluftsanb,  ein 
(Seben,  anbere,  toeldje  bloß  ein  Cun  ober  ttnterlaffen  er* 
lieifdien,  Diefe  erjie  2lrt  fönnte  man  als  bie  Sitte  bes 
(Bebens,  bie  3toeite  als  bie  bes  Cebens  djarafterifteren, 
alfo  fur3  als  (Bebe*  unb  Cebefttte,  icfy  tr>äl)le  jebodj  jiatt 
biefer  beiben  2lusbrüde,  bie  fdjtperlidj  2hisftd}t  auf  2Jnnafyme 
Bjaben,  3u>ei  anbere,  bei  benen  idj  bas  3tmngenbe  ZHoment 
ber  Sitte  mit  in  bas  tDort  aufnehme,  nämltdi  präflations* 
unb  perfonal3toang  ber  Sitte;  ber  erftere  21usbrucf  fdjeint 
mir  angemeffener,  als  ber  fonfi  burdj  ben  fpradilidjen  (Segen* 
fafe  gebotene,  aber  3tx>eibeutige  Heal3tr>ang. 

I.  Der  präftattons3u?an^ 
Die  Perpfüdjtung  3U  ber  öfonomifdjen  Ceifiung  ober  prä« 
fiation,  u>eldje  bie  Sitte  für  gennffe  Derljältniffe  auferlegt, 
geftaltet  ftdj  nad)  Perfdjiebenfyeit  berfelben  in  breifad]  per« 
fdjiebener  ZDeife.  3df  bebiene  mid?  3ur  Unterfdjeibung  biefer 
brei  Hidtfungen  ber  Jlusbrücfe:  £iberalitäts*,  Solutions*, 
Seu>irtungs3U>ang. 

[282]     l  Der  £iberalitäts3tx>ang. 

Die  Sitte  forbert,  bajj  man  bei  gett>iffen  (Selegenljeiten 
(Sefdjenfe  madje.    Die  f^odfteitsgäfte  geben  ein  ^ocfoeits* 
gefdjenf,  ber  (Besatter  ein  patengefdjenf,  roer  ein  J}aus  baut, 
Ijat  beim  Sichten  ben  2lrbeitsleuten,  unb,  toenn  er  es  be3ie^t, 
in  manchen  (5egenben  bem  (Befinbe  ber  ZTadjbarfdjaft  ei 
ZtTatjl  an3urid)ten,  unb  vieles  bem  ätjnlidje*    So  u>ill  e 
einmal  bie  Sitte,  unb  niemanb  fann  ftdj  ifjr  ofyne  empftnb 
liefen  Hadjtetl  ent3ietjen.    <£s  ift  bies  ein  punft,  u>o  pe  au 
leidet  erjtdjtlidjen  (Srünben  am  unerbittlid]fien  ift,  unb  vo 
barum  ifyre  (Bebote  am  unr>erbrüd}lid?fien  befolgt  tserben 
felbfl  ber  <Bei3l}ats,  beffen  f}anb  jtdj  fonfi  jlets  frampf^a 
x>erfd}lie§t,  ifl  fyer  genötigt,  ben  23eutel  3U  3iefyen, 


Die  Sfonomifdje  Sitte.  —  Der  Eiberalitä^toang.  22\ 

2)er  Umjianb,  baft  bie  Sitte  derartige  Ceijiungen  3ur  Pflicht 
macfyt,  fdjemt  bie  2lntoenbbarfeit  bes  (Sejtcfytspunfts  ber  £ibe* 
ralität  auf  jte  aus3ufcfylief$en,  unb  bie  Perbinbung  ber  beiben 
ZHomente  £iberalttät  unb  gwang  3U  einem  IDorte  fcfjemt  eine 
contradictio  in  adjecto  3U  enthalten ,  benn  entoeber  iji  ber 
21ft  eine  £iberalttät,  bann  fann  er  nicfyt  er3wungen  werben, 
ober  er  fann  er3tx>ungen  werben,  bann  iji  er  feine  £iberalität. 
3)er  Schein  bes  IDiberfprudjs  löft  jtcfy  auf  buref)  bie  Bemer* 
fung,  ba§  ber  2tusbrucf  £iberalität  ein  Becfytsbegriff  iji,  ber 
nur  forMel  ausfagt,  bajj  ein  Hed}ts$n>ang  nidjt  plafe  greift, 
tooburd)  aber  bie  XHöglidjfeit  eines  burdj  bie  Sitte  ausge- 
übten [283]  gtx>anges  in  feiner  £)eife  ausgefdjloffen  iji,  <£in 
£iberalitäts3tx>ang  im  Iefeteren  Sinne  wirb  audj  von  ben 
römif d]en  3^rtjien  anerfannt*). 

Die  Derpjitd?tung  3U  biefen  (Sahen  iji  nieftf  moralifcfyer 
2lrt.  ZTiemanb  fagt  von  bem jenigen,  ber  jtdj  iljr  ent3ietjt, 
bajj  er  unmoralifdj,  unfxttlicf?  getjanbelt  Ijabe.  Diefelbe  iji 
t>ielmet|r  fötaler  2trt,  bie  Sitte,  nidjt  bie  Zltoral  erforbert 


*)  Sie  unterfdjetben  bas  burd?  bie  Sitte  geforberte  (Sefdjenf :  munus 
(womit  bas  ItToment  bes  23elaftenben  betont  nrirb  roie  bei  munus  im 
Sinne  non  (Semeinbeamt),  von  bem  oölltg  freien;  donum  1.  2V*  de  V. 
S.  (50*  J6),  unb  fle  nehmen  öfter  Deranlaffung  in  Derfya'ltniffett,  u?o 
bie  23eacf?tung  ber  Sitte  geboten  ift,  biefelbe  in  be3ug  auf  bas  munus 
eht3ufdjärfen,  fo  3»  33,  bem  Dormunbe  in  be3ug  auf  bie  bem  puptüen 
obliegenbert  munera,  1.  \2  §  3  de  admin.  (26.  7)  solennia  munera  paren- 
tibus  cognatisque  mittet,  fie  unterfudjen  fogar,  ob  bie  Sitte  fd?led}tt}tn 
ober  nur  bebingt  gebtetenb  iji,  fo  3.  23*  I.  \  §  5  de  tut.  rat.  (27.  3):  nec 
perquam  necessaria  est  ista  muneratio,  unb  bei  (Ehegatten  nehmen  fte  bas 
übliche  munus  fogar  00m  Sd}enfungst>erbot  aus,  1.  31  §  8  de  don.  i.  V 
(2^  \).  IHein  Jrennb  3ofepfy  Unger  in  Wien  tjat  in  einer  brieflichen 
Mitteilung  an  mtd?  für  munus  pfltcr/tgefd^enf  in  Dorfd?lag  gebraut  unb 
midj  auf  Jretgefcr/enf  bei  (Soettje  ^auft  II.  2lh  3  aufmerffam  ge* 
madjt.  Der  römifet/e  2lusbrucf  liberalitas,  bem  unfere  $  r  etgebtgPctt 
nadjgebilbet  3U  fein  fdjeint,  betont  nidjt  bas  ITToment  ber  freien  <ßabe 
(libera  datio),  fonbern  bas  ber  liberalen  (Sefinnung  bes  freien 
ITtannes* 


222        Kapitel  IX.   Die  fatale  XtTedjanif*  Das  Sittliche. 

fte,  tote  bies  von  ber  Sprache  in  mefyrf adjen  iDenbungen 
beutlidj  ausgebrücft  tft  Ce&tere  fprtdjt  fyer  pon  fetalen 
pflichten  unb  bringt  auf  fte  benfelben  2tusbrucf  2tnftanb  3ur 
Stwpenbung,  mit  bem  fte  audj  fonft  bie  Sitte  im  (Segenfafee 
3ur  ZlToral  fem^etdjnet:  (2tnftanbspf listen,  2lnjianbs* 
gefcfyenfe);  audj  ben  Jlusbrucf  (£E^re  (£I|rengefd?enf e, 
(Ehrenpflichten), 

[284]  3^  bringe  biefe  burdj  bte  Sitte  perlangten  (Sahen 
unter  ben  (Sefidjtspunft  bes  £iberalttäts3toanges  ber  Sitte. 
Einen  gefellfdjaftlidjen  gtoeef  fann  idj  bei  iljnen  nid)t  ent* 
beefen;  tdj  tpüßte  nicht,  was  an  bem  Seftefyen  unb  bem 
(Sebexen  ber  (gefeHfdjaft  ftdj  änbern  toürbe,  tpenn  fte  ber 
freien  Liberalität  überlaffen  roürben*  Sie  bienen  aüerbtngs 
3ur  Perfcfyönerung,  Erweiterung  bes  £ebens,  unb  als  2tfte 
völlig  freien  IDohltooIIens  toürben  fte  jelbft  einen  moralischen 
lüert  in  2lnfpruch  nehmen  fönnen,  gan3  fo  rote  bas  freie 
(ßefchenf  ober  bas  2tlmofen,  aber  in  ber  5orm  eines  aus 
Scheu  t>or  ber  öffentlichen  XHeinung*)  ober  vor  ber  VTi\% 
jiimmung,  ber  Empftnblichfeit  bes  in  feinen  Erwartungen 
getäufchten  anberen  Cetls  erfüllten  bitteren,  fetalen  ZHujs 
fann  ich  ihnen  rpeber  einen  fubjeftip  (inbipibuell)  noch  ob 
jeftip  (gefeUfchaftlich)  ftttltchen  C^arafter  3ugeftehen,  ich  toürbe 
btefes  Sind  ber  Sitte  3ur  Kategorie  ber  faial  inbifferenten 
rechnen« 

2,  3)er  Soluttons3tpang. 
3)te  Sitte  perlangt,  ba§  man  bas  im  Spiel  Perlorene 
3ahle,  auch  roenn  bas  Hecht  einen  2tnfpruch  barauf  nicht  3U 
gefteht  ober  tpotjl  gar  bas  Spiel  perboten  fyat  (51eid]tPot)l 
erfennt  bie  Sprache  l|ier  bas  J)afetu  einer  Schulb  an  unb 


*)  Dies  HToment  tPtrb  r>on  bem  römtfdjen  ^urtfien  bei  ber  33e* 
artffsbefttmmmtg  bes  munus  in  I.  2V*  de  V.  S.  (50*  *6)  ausbriicfltcf? 
fjercor  gel}  oben;  quae  si  non  praestentur,  reprehensio  est. 


Die  öfoitomtfdje  Sitte*  —  Der  SoluttottS3tt>cmg*  223 


be$exd\net  btefe  „Spielfchulben"  als  „(gh^nfchulben",  [285] 
Die  (Entrichtung  betreiben  fällt  bemnach  im  Sinne  ber  Sprache 
unb  Sitte  nicht  unter  ben  obigen  (Sejtchtspunft  ber  Ciberalität, 
fonbern  ben  einer  Zahlung;  toer  feine  Spielfchulben  entrichtet, 
fchenft  nicht,  fonbern  be3ahlt  fte,  toir  traben  mithin,  u>ie  fiel) 
hieraus  ergibt,  ben  Solutions3tt>ang  ber  Sitte  von  bem  £ibe- 
ralitäts3u>ang  3U  unterfcheiben, 

2luch  lihv  liegt  ber  Sitte  fotoenig  ein  gefeQfchaftliches 
3ntereffe  3ugrunbe,  baß  fie  ftch  h*^  umgefefyrt  in  mannen 
fallen  fogar  mit  Hecht  toie  ZHoral  im  offenen  IDiberfpruche 
befinbet.  <£in  Spieler,  ber,  um  feine  Spielfchulben  3u  be« 
3at|Ien,  bie  Seinigen  vom  Hottoenbigften  entblößt,  hobelt 
nicht  moralifch,  fonbern  unmoralifch,  benn  er  fefet  feine  per- 
fönliche  Spielehre  unb  bas  3ntereffe  ber  Erhaltung  feines 
Spielfrebits  über  bie  pflichten  gegen  bie  Seinigen.  €ben 
aus  biefem  (ßrunbe  h<*t  bas  Hecht  biefe  Schulben  in  getoiffen 
5äöen  nicht  bloß  für  unserbinblich  erflärt,  fonbern  bie  ge* 
fährlichpen  Arten  bes  Spiels  fogar  bei  Strafe  perboten*  ZPir 
haben  h^*  alfo  roieberum  einen  5aH  ber  Auflehnung  ber 
Sitte  gegen  bas  Hecht  unb  bie  HToral,  b,  t,  einen  £all  ber 
Unfitte  vov  uns,  ein  toürbiges  Seitenftücf  3um  Duell,  fchlagenbe 
€f emplififationen  für  bie  HTachtlofigfeit  bes  <5efefces  gegen* 
über  ber  Sitte.  3n  beiben  $äüen  ijt  es  bas  (5efühl  ber 
€hre,  welches  ben  Anforberungen  ber  HToral  unb  bes  <5e* 
fefees  h^^tnäefigen  XDiberftanb  entgegenfefet,  pch  3U  fchlagen 
unb  feine  Spielfchulben  3U  be3ahlen,  auch  toenn  fte  bas  gan3e 
Permögen  [286]  perfchlingen,  gilt  einmal  in  getroffen  Kreifen 
als  €h^nfache,  unb  folange  eine  folche  Auffaffung  befteht, 
ftnb  alle  Derfuche  ber  <5efefcgebung,  bas  Übel  aus3urotten, 
vergebens,  ber  Wixx^l  tann  fie  nicht  beifommen.  Das  2Tltß- 
liche  bei  ben  Spielfchulben  befteht  barin,  baß  bas  <5efühl 
ber  Derpflichtung  3ur  <§<*hfang  berfelben  innerhalb  getoiffer 
<5ren3en  ein  pollfommen  berechtigtes  ift.    Auch  bas  Spiel 


22%        Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjanif*  Das  Sittliche* 

l}<xt  feine  feciale  23ered]tigung,  es  gilt  von  ttjm,  was  toir 
oben  über  ben  fötalen  IDert  ber  (Erholung,  2lusfpannung, 
5reube  gefagt  fy*ben,  tüte  ber  Schlaf  ber  Xlad^t  bie  Arbeit 
bes  Cages  ablöft,  um  bie  Kraft  neu  3U  er3eugen,  fo  bas 
Spiel  ben  (Ernft,  unb  felbft  gegen  bas  Spielen  um  (ßelb  lägt 
fiel)  nidjts  ehwenben,  tr>emt  es  ftdj  innerhalb  ber  richtigen 
(5ren3en  fyätt.  Siefelben  ftnb  gegeben  burdj  ben  (Sejtdjts* 
punft  bes  gtt>edEes,  bem  bas  Spiel  bienen  fotl:  bas  Ver- 
gnügen, bas  Spielen  um  (Selb  bilbet  einen  pojien  bes  Der* 
gnügungsetats ,  ber  fiefy  nadf  bem  (Emfommen  3U  bemeffen 
fyat*).  ^ält  es  fidj  innerhalb  btefer  (Sre^en,  fo  toirb  audj 
ber  ftrengfte  ZKoralift  nichts  batan  bemängeln  fönnen,  ba 
bie  2Irt,  u>ie  jeber  bie  Summe,  bie  er  naefy  feinen  X>erl|ält- 
niffen  für  fein  Vergnügen  ausgeben  fann,  x>ertr>enben  vom 
feiner  Steigung  überlaffen  bleiben  mufj,  unb  mit  biefem  X>or* 
behalt  toürbe  ftdj  felbft  gegen  bie  <51ücfsfpiele  nichts  ein« 
toenben  laffen.  [287]  2tber  bas  23ebenfltd?e  bei  ber  Sacfye 
befielt  barin,  baj$  biefe  (5ren3en  nur  3U  leidet  überfdjritten 
u>erben,  insbefonbere  bei  ben  (Blücfsfpielen,  unb  bas  iß  ber 
punft,  tx>o  basjenige,  toas  bisher  bloß  Spiel  u>ar,  3um  t>er- 
fycmgnist>oHen  (Ernfie  toirb,  unb  bas  (ßefüljl  ber  binbenben 
Kraft  bes  Spiels,  bas,  folange  basfelbe  fidj  innerhalb  ber 
richtigen  (Svenen  fyelt,  pollfommen  am  plafce  a>ar,  nidjt 
mefyr  3urücf  fann  unb  ftdj  genötigt  fte^t,  aud]  bie  Überfdjrei- 
tungen  berfelben  an3uerfennen,  ftdj  in  feiner  eignen  Konfequen3 
3U  fangen. 

(Eine  3toeite  2trt  bes  Solutions3toanges  ber  Sitte  bilben 
bie  oben  (S.  $5)  bereits  berührten  Crinfgelber,  biefer 
nmnberlicfye  23aftarb  t>on  5reigebig!eit  unb  £ofyn.  3)ie  Spraye 


*)  Durd?  biefen  (Sefidjtsnunft  fyat  3ujtintan  tfd?  in  ber  L  3  Cod. 
de  aleat.  (3*  $3)  leiten  laffetti  in  his  non  ultra  unum  solidum,  si  multum 
dives  sit,  ut  si  quem  vinci  contigerit,  casum  gravem  non  sustineat. 


Die  öfonomifdje  Sitte.  —  Der  SeiPtrtmtgssmang. 


bebient  fid?  aud}  bei  ifjnen  bes  2lusbrucfs  3aBjlen,  fie  bringt 
fte  alfo  unter  ben  <Seftd?tspunft  6er  (Erfüllung  einer  Per- 
binblidtfeit  Ztadj  ber  pon  mir  an  ber  oben  (5.  $5)  mit* 
geteilten  Stelle  entoicfelten  Jluffaffung  enthält  ber  Crtnl- 
gelberjmang  einen  5aH  ber  Hnfttie,  einen  Unfug,  von  bem 
bie  <5efellfcr>aft  ftd?  je  e^er  je  lieber  befreien  foltte*),  3dj 
leugne  aüerbings  nicr?t,  ba§  es  Porausfefeungen  geben  fann, 
wo  bie  SiHigfeit  bas  (Beben  eines  Crinfgelbes  erBjeifdtf, 
allein  abgeferjen  von  biefen  feltenen  fällen  unb  bie  regel* 
mäßige  <5eftalt  ber  Sadje  ins  2luge  gefaßt,  !ann  [288]  id? 
ben  Crinf gelbern  fort>enig  eine  feciale  Berechtigung  3ugefteb,en, 
baß  id)  fie  melmetfr  für  eine  foial  t>öHig  r>ent>erflid}e  «in* 
ricfjtung  fyalte,  eine  plage  für  benjenigen,  ber  fie  3U  geben 
tiat,  unb  ein  Danaergefcfjen!  für  benjenigen,  ber  fie  empfängt 

(Seförberungsmittel  einer  bettetyaften  (Sefinnung    Der- 

rücfung  bes  richtigen  ZHaßftabes  bes  (Selbroertes,  Derlocfung 
3ur  Perfdircenbung).  21udi  berjenige,  meiner  biefe  ftrenge 
2lnftd?t  nid\t  teilt,  wirb  bies  Stücf  Sitte,  roenn  aud?  nidjt 
mit  mir  3ur  Unfitte,  fo  boef}  !einenfaUs  3ur  fo3ial  toertoollen, 
fonbern  3ur  fo3ial  inbifferenten  Sitte  [teilen. 

3.  Der  23eroirtungs3u>ang. 
53ef anntlid)  fnüpft  unfere  heutige  Sitte  an  geu>iffe  »er- 
fyältniffe  unb  (5elegenB)eiten  bie  Derpflidtfung  3ur  (Saftlidtfeit: 
$ur  Seroirtung  von  (5äften,  unb  felbft  bie  Staatsgewalt  t?at 
nidjt  umfyn  gefonnt  von  biefem  <3a>angsgebot  ber  Sitte 
Vlotii  3u  nehmen,  inbem  fie  ben  teeren  Staatsbienern,  an 
weld\e  bie  öffentliche  Meinung  einmal  bie  2Inforberung  rietet 


*)  «rmcttitmng  einer  fokben  Derbmbung  von  JretgebtgFeit  unb 
tof?n  in  ben  römifdjen  Quellen  in  1.  27  de  donat.  (29.  5)  .  .  .  .  non 
neram  donationem  esse,  verum  officium  magistri  quadam  mercede 
emuneratum. 

o.  31]  «ring,  Der  gtpeef  im  «ed?t.  II  1R 


226 


Kapitel  IX.   Die  fötale  ITCedjaniF.   Das  Sittliche. 


I9ein  J(aus  311  mad\enil  (in  btcfcr  ZDenfeung  liegt,  feag  feas 
richtige  fjaus  ein  gafUidjes  ift),  feie  ZHittel  3ur  (Erfüllung  feer 
Perbinfelicfyfeit  gewährt  (Hepräfentations*,  Cafelgelfeer). 

Über  feen  (Efyarafter  feiefer  DerpfHcfytung  als  einer  ntc^t 
moralifcfyen,  fonfeem  rein  fötalen  fann  md]t  feer  minfeefte 
gtr>eifel  obumlten.  Die  Sprache  be^eidinet  fte  als  „fötale 
üerpjlidjtungen",  feie  „föiale  Stellung"  bringt  [289]  fte  mit 
fid),  unfe  gar  mancher,  feem  es  fcfyroer  fällt,  fte  3U  erfüllen, 
unfe  feer  frehx>iHig  es  nimmer  tun  trmrfee,  tut  es  „anfianfes*, 
eljreu*,  wolfi  audj  fdjanfeenljalber",  fe.  Ij.  er  fdjeut  feas  (Serefee, 
feie  »reprehensio«  (S.  222  2Tote),  toenn  er  es  unterläßt.  Da 
es  ftd]  bei  Erfüllung  feiefer  pflichten  um  pefuniären  2luftt>anfe 
Ijanfeelt,  fo  ift  feas  Dertjältnis  unter  unfern  (Seftdjtspunft  fees 
präftattons3tt>anges  3U  bringen.  Da§  idj  feasfelbe  nidjt  unter 
feen  £tberalitäts3tr>ang  fubfumiere,  tr>irfe  tüofyl  n\d\t  feer  Hedjt* 
ferttgung  befeürfen.  Die  23en>irtung  von  (ßäjlen  bilfeet  feinen 
(ßegenjianfe  eines  (Sefdjenfs,  feer  richtige  Witt  glaubt  fo* 
toenig  feinen  (Säften  etroas  3U  fcfjenfen,  feafc  er  umgefe^rt 
ifyien  feanft,  feaß  fte  ifyn  feas  „Vergnügen"  oöer  feie  „(Etjre" 
ifyres  öefudjs  „gefcfyenft"  Ijaben,  als  IDtrt  muß  er  ifynen 
feanfen,  nicfyt  fie  ifym  —  er  fyat  fte  „gebeten",  fe.  I?.  eine  Bitte 
an  fte  gerichtet,  unfe  fie  Ijaben  feiefelbe  erfüllt. 

3n  be3ug  auf  feen  gefeHfdjaftlidjen  Cljarafter  feiefer  feritten 
2trt  fees  präftations3ioanges  ftefyt  feie  Sadje  nidjt  fo  einfad?, 
toie  bei  feen  beifeen  erften.  3<^  3toeifle  nicfyt,  feafc  alle  örei 
an  ftdf  möglichen  Jluffaffungen  Vertreter  ftnfeen  roerfeen.  Der 
eine  roirfe  öarin  eine  Unfitte  erblicf en,  feer  anfeere  fte  mit  feem 
präfeif at  einer  föial  infeifferenten  5itte  abftnfeen,  tt>äl}ren& 
idj  meinerfeits  ifyr  feen  Ctjarafter  einer  föial  tx>ertpollen  Sitte 
glaube  abgewinnen  3U  fönnen.  3^  fann  b\e\e  2luffaffung 
erft  unten  begrünfeen,  nadjfeem  id?  porfyer  feie  ftttlidje  Se* 
feeutung  fees  Umgangs  entoicfelt  Ijabe,  fyer,  wo  es  mir  nur 
um  [290]  (Betpinnung  feer  Überfielt  über  feas  (Sebiet  feer  Sitte 


Die  Sitte*  — 


Der  perfona^roang» 


227 


unb  bie  Jtusfdjeibung  ber  jenigen  23ejlanbteile  berfelben  3U 
tun  ift,  bie  feine  foiate  Sebeutung  beanfprudjen  tonnen,  ifi 
ba3u  nod?  nidjt  ber  (Drt. 

ZHit  ben  brei  angegebenen  <5ejialtnngen  bes  präflations- 
$toanges  ber  Sitte  ifi,  foroeit  tdf  n>eif$,  ber  Umfang  besfelben 
erfdjopft,  €s  tjl  bas  Uerbienjl  bes  mobernen  fpradtlidjen 
Dentens,  bei  ifyn  ben  (Segenfafc  ber  Sitte  3ur  Xtloral  in 
ooller  Klarheit  3ur  2tnfdjauung  gebracht  3U  Ijaben,  fo3tal 
fenn3eid}net  bie  eine,  moralifdj  bie  anbere*  2)ie  Perpflicfy 
tung,  einem  Firmen  ein  2Umofen  3u  geben,  ift  moralifdjer, 
bie,  ein  (ßelegenfyeitsgefdtenf  3U  machen,  fo3iaIer  2Irt,  bie 
t?erpfiid}tung,  feine  Spielfcfyulben  3u  be3at|len  ober  Crinfgelber 
\n  geben,  ifi  fc^iafer,  bie,  feine  mit  ber  3n^n^ion  ber  23e* 
^ränbung  einer  Hed?tst>erbinblidjfeit  abgelegten  Perfpredjen 
Dber  fontrafyterten  Sdjulben  3U  be3afylen  in  einem  5<*H?  tx>o 
Sas  Hedjt  aus  irgenb  einem  (ßrunbe  (3.  23«  roegen  Zfiangel 
)er  sorgefdjriebenen  $oxm  ober  toegen  Derjätjrung)  bie  Klage 
:>erfagt,  moralifdjer  2lri 

n.  Der  perfonal3U>ang  ber  Sxttt. 
(Er  Bjat  bas  Benehmen,  bas  perfönlidje  Auftreten,  bie  ge* 
ellfdiaftlidie  2Iuffüfyrung,  bie  formen  bes  gefellfdiaftlidjen 
Gebens  3um  (Segenftanb.  ZHit  iljm  berühren  toir  basjenige 
ßebiet  ber  Sitte,  auf  bem  fie  ifyre  größte  £Dirffam!eit  ent* 
altet,  unb  n>o  fte  ftdj  nadj  unferer  freiließ  erfi  auf  müfyfamem 
mb  langem  tDege  3U  begrünbenben  [291]  2tnftdjt  3um  Hange 
wer  britten  fo3ialen  3nP^u^on  neben  ober  richtiger  tjinter 
Sedjt  unb  ZHoral  ergebt  2lttes,  toas  bie  Sitte  in  biefer 
Sichtung  t>orfd?reibt,  ljebt  jtdj  oon  ben  Dorfcfyriften  ber  ZlToral 
n  fdjärffter  IDeife  ab,  es  ift  n\d\t  bas  gefeüfdiaftlid)  (ßute 
m  ftdt,  bas  bie  Sitte  t>era>irflid]t,  unb  nidjt  bas  an  jtd? 
3d]Iedjte,  bas  fte  t>ert|inbert,  fonbem  fie  arbeitet  bem  <5uten 
tur  in  bie  Ejänbe,  inbem  fte  ifym  bie  pf abe  ebnet  unb  bem 

*5* 


228        Kapitel  IX.   Die  fatale  ITCecfjatttf*   Das  Sittliche* 

Schlechten  £}inberniffe  in  ben  £)eg  ftetlt  Darum  toirb  es 
fo  oft  als  etwas  (gleichgültiges,  rein  äußerliches  angefehen, 
was  ben  inneren  IDert  bes  ZHenfchen  nicht  berühre,  u>ie  es 
benn  ja  tr>ahr  ift,  baß  eine  rauhe  5<t\aU  einen  eblen  Kern, 
unb  eine  glatte  Schale  einen  fchlechten  Kern  in  fich  [erließen 
fann,  obfehon,  n?ie  tsir  feinest  fehen  werben,  Schale  unb 
Kern  boch  in  innigerer  Derbinbung  3ueinanber  [teilen,  als 
man  gemeinhin  annimmt  2tber  fo  äußerlich  auch  bie  (Sebote 
ber  Sitte  im  Dergleicfy  3U  benen  ber  XHoral  erf ehernen  mögen, 
fte  haben  boch  ihren  guten  Sinn,  fte  oerhalten  fich  3u  ben 
letzteren  u>ie  bie  ber  poli3ei  3U  benen  bes  Hechts,  —  bie 
Sitte  tjl  bie  poli3ei  im  Dienfte  ber  ZHoral  (S.  207). 

Der  Perfuch,  uns  biefes  Ceils  ber  Sitte  burch  Jlufftellung 
erfchöpfenber  Kategorien  3U  bemächtigen,  ließe  fich  3unächft 
in  ber  IDeife  ausführen,  baß  tt>ir  bas  £eben  in  allen  feinen 
mannigfaltigen  typifchen  (ßeftaltungen  unb  £agen  t>on  ber 
(Seburt  bis  3um  Cobe  3ugrunbe  legten  unb  überall  ben 
punft  be3eid]neten,  wo  bie  Sitte  eingreift.  [292]  Diefe,  ich 
möchte  fagen:  biologifche  KlafjtfiJation  ber  Sitte,  bie  bei  ben 
(Ethnographen  *>\e  übliche  unb  für  fte  völlig  3utreffenb  ift, 
wäve  nicht  ohne  3ntereffe,  fte  ttmrbe  uns  bie  Über3eugung 
gewähren,  wie  bie  Sitte  uns  auf  Schritt  unb  {Tritt  begleitet 
5ür  meine  <gu>ec!e  ift  fte  untunlich,  nicht  bloß,  weil  fte  3U 
weitläufig,  fonbern  auch,  weil  jte  3U  äußerlich  iji. 

Das  natürliche  Klaffiftfationsprin3ip  bei  allen  praftifchen 
Dingen  ift  ber  gweef,  unb  tx>enn  wir  einmal  uns  über3eugen 
tx>ollen,  inwieweit  bie  Sitte  ben  ,§we<fen  ber  (ßefellfchaft  btent, 
fo  ift  ber  gegebene  XDeg  ba3u  bie  2tuf3ählung  ber  ein3elnen 
«gtoeefe  unb  ber  Nachweis,  wie  bie  Sitte  biefelben  förbert. 
21ber  er  wäre  es  nur  unter  ber  Porausfefeung ,  baß  bie  ein- 
3elnen  gweefe  bei  ben  r>erfchiebenen  (ßeftaltungen  ber  Sitte 
rein  unb  mwermifcht  3ur  21usroirfung  gelangten.  Das  ijt 
aber  feinesroegs  ber  5<*ö.    Diefelbeu  freu3en,  r>ermi|d]en, 


Die  Sitte.  —  Selbftttüfeige  uttb  fretnbnüfcige.  229 

oerbinben  ftch  mit  anbeten  in  einem  unb  bemjelben  punft, 
unb  5er  Derfuch  einer  2Juslöfung  desjenigen  33eftanbteils,  ber 
babet  auf  ben  ein3elnen  beftimmten  &med  faßt,  würbe  bie 
(Einheit  ber  natürlichen  öilbungen  ber  Sitte  3erreißen,  311 
einer  gerjiücflung  führen,  wie  wir  umgefehrt  basjenige.  was 
bie  Sitte  für  irgenb  einen  bejiimmten  §wec!  getan  hat,  aus 
ben  t>erfcfyiebenften  lüinfeln  unb  <£cf  en  3ufammenfuchen  müßten* 
3ch  nehme  3.  B.  ben  <§wecf  ber  Sicherung  ber  weiblichen 
Keufchheit.  §um  erften  ZHale  ift  uns  berfelbe  oben  (S.  203fj\) 
entgegengetreten  bei  bem  bort  befprodjenen  (ßebote  ber  feinen 
[293]  Sitte,  3um  3wettert  XHale  toiri>  er  uns  begegnen  unten 
(Xlv.  8)  bei  ber  weiblichen  Cracht,  3um  britten  JHale  bei  ben 
Umgangsformen  (Kategorie  bes  fejuett  2lnftö§igen). 

3ch  i^abe  für  mich  ben  Perfuch  unternommen,  ben  (ße* 
ftchtspunft  bes  «gwecffubjefts  (I,  S.  360)  für  bie  Sitte  3U  ver- 
werten, allein  auch  er  hat  mich  im  Stiche  gelaffen.  J)ie  einige 
Ausbeute,  bie  er  abgeworfen  h<*t,  befteht  in  ber  Konftatierung 
einer  DerfchiebenBjeit,  bie  für  ben  porliegenben  §wecf  ohne 
XDert  ift,  bie  ich  aber  boch  mitteile,  roeil  jte  bie  2lnfd]auung 
üon  ber  foialen  5unftion  ber  Sitte  förbert.  Die  Sefchrän* 
fungen,  welche  bie  Sitte  auferlegt,  fönnen  in  erjler  £inie  bas 
eigene  JDohl  unb  Befte  besjenigen  3um  (ßegenftanbe  h<*ben, 
ben  jte  treffen*);  beifpielsweife  nenne  ich  bie  oben  genannten 
in  be3ug  auf  bie  IHäbd^en  unb  grauen  ber  Iqöfyven  Stäube 
unb  bie  Sonntagsfeier  (5.2^).  Xfian  tonnte  fie  als  felbft- 
nüfeige  ober  bepormunbenbe  Säfee  ber  Sitte  be$eidinen. 
3hn^tt  ftehen  gegenüber  biejenigen,  welche  bas  3ntereffe 
britter  perfonen  be3wecfen,  3.  bie  (ßefefce  bes  2tnfianbes 
unb  ber  £}öflichfeit;  man  fönnte  ftch  für  jle  bes  Samens  ber 
frembnüfeigen  bebienen.    <£nblid)  gibt  es  nod}  eine  britte 


*)  Daß  babet  bas  ^tereffe  ber  (Sefellfdjaft  im  Qttttera,ntttbe  ftefyt, 
ift  5.  J$5ff«  bemerkt  morbem 


230        Kapitel  IX.   Die  fötale  ttledjantf*  Das  Sittliche. 

Klaffe,  toeldje  gleichmäßig  bas  eigene  unb  bas  f  rembe  3ntereffe 
be3n>eden,  vofc  $♦  23*  bie  Cradjt  (Hr.  8).  <£s  ift  berfelbe 
(Segenfafc,  tx>ie  auf  bem  (ßebiete  bes  Hechts.  Don  ben  23e* 
fdjränfungen,  u>eldje  bas  Hedjt  [294]  auferlegt,  haben  geunffe 
bas  eigene  3ntereffe  bes  23efdjränften  im  2tuge  (5.  23.  bas 
SC.  Vellejanum,  welches  bie  Derbürgung  ber  5rauen3immer 
ber  leiteten  toegen  für  nichtig  erflärt),  anbere  bas  einer 
britten  perfon  (3.  23,  bas  an  ben  2TIann  gerichtete  Peräuße« 
rungsoerbot  in  be3ug  auf  bas  3>otalgrunbftüd  bas  3ntereffe 
ber  5rau),  eine  britte  21rt  enblid?  bas  3ntereffe  beiber  Ceüe 
(3.  23.  bas  SC.  Macedonianum,  toeldjes  bas  (ßelbbarle^n  bes 
^ausfofynes  für  ungültig  erflärt,  bas  ^ntete\\e  bes  Sohnes 
unb  bes  Paters).  2>aß  bei  aßen  biefen  3mperatit>en  bie 
(ßefeHfdjaft  als  letztes,  enblidjes  ^toedfubjeft  im  Qintergrunbe 
fteht,  tut  ber  JUSglidtfeit,  bei  ihnen  bas  nächftbeteiligte,  un« 
mittelbare  auf3ufudjen  feinen  Abbruch,  unb  ebenfotoemg  lägt 
fich  ber  (Eintoanb  ergeben,  baß  man  bie  (Sebote  ber  5itte 
um  feiner  felbft  unHen  befolge,  er  beruht  auf  ber  £>ertr>echs= 
lung  bes  2JTotir>s  mit  bem  gu>edEe  (S.  1(05  f,)-  2>as  ZTCotip, 
toarum  ich  bie  Kegeln  bes  2lnftanbes  befolge,  mag  ich  ber 
Äücfficht  auf  midi  fd&ft  entnehmen,  ber  gtt>ecf ,  um  beffent« 
toillen  fte  aufgehellt  finb,  liegt  in  ber  Hüdftcht  auf  biejenigen 
perfonen,  mit  benen  ich  perfehre. 

2tber  u>enn  bemnach  auch  bie  Hidjtigfeit  biefer  (Einteilung 
fich  nicht  bemängeln  läßt,  als  oberftes  Klaffiftfationsprinstp 
für  bie  Syftematit  ber  Sitte  ift  fte  ohne  allen  ZPert.  3n 
biefer  £age  fyahe  ich  es  für  bas  2lngemeffenfte  gehalten,  auf 
eine  prin3ipielle  Klaf  fiftf  ation ,  toelche,  wie  immer  fte  auch 
ausfallen  roürbe,  ftets  ben  <£inbrucf  bes  geriffenen  machen 
toürbe,  gän3lidj  Per3icht  [295]  3U  leiften.  3^  k&be  t>ielmehr 
einen  anbern  IDeg  eingeschlagen,  bei  bem  bie  Hüdftcht  auf 
bie  2lnfchaulichfeit  unb  innere  2lbrunbung  ber  DarfteHung  bie 
maßgebenbe  getoefen  ift.    3^  u>erbe  nämlich  3u>ei  Stüde 


Sitte*  —  ungemeine  unb  parttfuläre. 


23* 


I  biefes  Cetls  ber  Sitte  in  ihrer  gan3en  Weite  unb  Breite 
I Uum  (Begenftanb  einer  eingehenben  Sdjilberung  unb  prüfung 
i  machen:  bie  Cracht  unb  bie  Umgangsformen,  311  benen 
noch  ber  oben  3ur  bemnächfttgen  Behanblung  3urücFgeIegte 
Ii  2Jewtrtungs3wang  ^in3ufommen  wirb.    2tn  biefen  brei 
!  Stücfen  foll  meine  Cfyeorie  t>on  ber  fo3talen  5unftion  ber 
i  Sitte  Ope  probe  beftehen*    Porter  gebenfe  ich  aber  noch 
J  bem  3ntere(fe  ber  äußeren  DoKftänbigfeit  ber  Überfielt  über 
bie  Sitte  baburch  3U  entfprechen,  baß  ich  einen  (Segenfa^  ber 
Sitte  vorführe,  ber  ftd7  in  formaler  Be3iehung  als  oberjier 
(Einteilungsgrunb  he$eidinen  lägt,  unb  ber  uns  Gelegenheit 
bieten  foll,  außer  bem  Gefamtüberblicf  über  bas  (Seltungs- 
gebiet  ber  Sitte  noch  bie  Slnfchauung  von  einem  gan3  be- 
fonberen  Stücf  berfelben  3U  gewinnen,  bas  uns  fonft  ent- 
gegen würbe. 

7)  Die  allgemeine  unb  bie  partifuläre  Sitte. 
Der  3Hrift  perftefyt  unter  allgemeinem  Hechte  bas  im 
gan3en  £anbe,  unter  partifulärem  bas  bloß  in  einem  ein* 
3elnen  Ceife  besfelben  geltenbe  Hecht.  3n  biefem  Sinn  ift 
ber  obige  (ßegenfafe  nicht  gemeint,  für  bie  Sitte  würbe  biefe 
ttnterfcheibung  feinen  IDert  haben.  Der  Sinn,  ben  ich  bamit 
perfnüpfe,  ift  bie  allgemeine  Geltung  ber  Sitte  [296]  für 
alle  Klaffen  ber  Bet>ölferung  unb  bie  partifuläre  für  gewiffe 
Klaffen,  insbefonbere  für  gewiffe  Beruf sarten. 

Der  Gegenfafc  foll  uns  3unächft  bie  IDeite  bes  äußeren 
2lusbehnungsgebietes  ber  Sitte  t>eranfchaulichen,  bei  Gelegen- 
heit ber  partifulären  Sitte  werben  wir  fobann  noch  bas 
innere  ober  gweefmoment  berfelben  ins  2luge  faffen,  toeil 
uns  fonft  feine  Gelegenheit  ba3u  geboten  werben  wirb. 

3ch  fagte  oben,  baß  bie  Sitte  unfer  gan3es  £eben  burch- 
bringt.  <£s  gibt  feinen  punft  besfelben,  wo  fte  ftdj  nicht 
angefiebelt  fyätte,  unb  wenn  wir  bie  parallele  bes  Hechts 
3ur  Pergleichung  heranziehen,  fo  ftnben  wir,  baß  bie  Sitte 


232 


Kapitel  IX.   Die  foßtale  ItTedjattif.   Das  Sittliche* 


bemfelben  immer  3m:  Seite  bleibt.  Von  ber  breiten  Safts 
bes  täglichen  Gebens,  wo  fte  bas  Seitenftücf  3um  prisatrecht 
abgibt  unb  bas  reichfte  ^clb  ihrer  Betätigung  fmbet,  ergebt 
jte  fich,  ftets  bem  Hed]te  3ur  Seite  bleibenb,  in  bie  Hegtonen 
bes  firchltdjen  unb  bes  öffentlichen  Cebens,  unb  fchließlich  bes 
Pölferr>erfefyrs.  Sie  u>ürbe  in  biefen  oberen  Hegtonen  noch 
einen  breiteren  Haum  einnehmen,  roenn  nicht  manches  x>on 
bem,  tt>as  innerlich  eigentlich  ihr  gehört,  unb  roas  3um  großen 
Ceil  auch  äußerlich  3uerft  in  ber  (ßeftalt  ber  Sitte  ins  £eben 
getreten  ift,  fpäterhin  r>om  Hecht  in  bie  5orm  pofttmer  Safeung 
gebracht  toorben  tr>äre. 

Die  letztere  23emerfung  fchließt  eine  Anficht  über  bie 
innerliche  Perfdjiebenheit  t>on  Hecht  unb  Sitte  in  fich,  bie  ber 
Hechtfertigung  bebarf*  Wenn  man  in  früherer  geit,  [297] 
bet>or  ich  ber  Sitte  ein  einbringenbes  Stubium  3ugeu>anbt 
hatte,  mir  bie  5rage  vorgelegt  Rätter  roorin  ber  Hnterfchieb 
3toifd)en  Hecht  unb  Sitte  gelegen  fei,  fo  toürbe  ich  geantwortet 
haben:  lebiglich  in  ber  X>erfchiebenheit  ihrer  perbinblichen 
Kraft,  bas  Hecht  ftüfee  bie  feinige  auf  bie  mechanifche  Strangs* 
getoalt  bes  Staats,  bie  Sitte  bie  ihrige  auf  bie  pfychologifche 
ber  <5efellfchaft,  inhaltlich  roalte  3toifchen  beiben  feine  Per- 
fd]iebenh^it  ob,  ein  unb  berfelbe  3^h^It  eigne  fich  ebenfogut, 
bie  5orm  bes  Hechts  unb  bie  ber  Sitte  an3unehmen.  Hieinen 
Unterfuchungen  über  bie  Sitte  x>erbanfe  ich  eine  anbere  2ln« 
fdjauung,  ich  bin  3U  ber  Über3eugung  gelangt,  baß  jenem 
äußeren  (Segenfafc  ein  innerlicher  entfpridjt,  baß  es  einen 
3nhalt  gibt,  ber  feiner  ZTatur,  b.  i.  feiner  ^ialen  gtr>ed- 
beftimmung  nach  bem  Hecht,  einen  anbern,  ber  aus  bemfelben 
<5runbe  ber  Sitte  angehört,  tsomit  fich  bie  HTögltd)feit  Der* 
trägt,  baß  jener  fyftorifch  bie  5orm  ber  Sitte,  biefer  bie  bes 
Hechts  annimmt.  Die  <£nta>tcflungsgefchichte  bes  römifchen 
Ziedits  führte  mir  ein  Seifpiel  ber  erften  2trt  por  2tugen: 
einen  feiner  Viatnv  nach  redlichen  3nhalt  in  5orm  ber  Sitte, 


Sitte  unb  Hedji  —  Die  Cratfji 


233 


es  waten  bie  bonae  fidei  negotia  ber  Homer  3m:  g>eit,  als  bic- 
felben  noch  nicht  ftagbar  geworben  waren  unb  nur  ben  Schufc 
ber  Sitte  genoffen.  3h*  3rchaft  toar  in  ber  Cat  rechtlicher 
2trt,  wenn  ihm  auch  bie  5orm  bes  Hechts  fehlte,  benn  biefe 
Derträge  bienten  ben  «gweefen  bes  J^anbelsserfehrs,  ber  feiner 
Hatur  unb  Beftimmung  nach  rechtlicher  2Irt  ift  unb  bie  5orm 
bes  Hedits  poftuliert.  [298]  Die  Sitte  beefte  fyer  bas  Defoit 
bes  Hechts,  fie  f prang  in  bie  £ücfen  ein,  bie  bas  Hecht  offen 
ließ,  bis  biefes  fie  fpäter  felbft  ausfüllte. 

Die  entgegengefefete  <£rf Meinung  ift  es,  bie  roir  B|ier  su 
betrachten  traben:  3nfyalt  ber  Sitte  in  5orm  bes  Hechts.  3^ 
©eranfehauliche  bies  an  bem  Beifpiele  ber  Cradjt. 

Die  Cracht  ift  3wetfellos  eine  3nftttution  Sitte,  aber 
bie  Staatsgewalt  ^at  für  ITülitär  unb  Beamte  bie  Cracht 
ansbrücflid}  sorgefchrieben  (Uniform,  2lmtstrad}t),  bamit  alfo 
biefem  StücE  Sitte  einen  rechtlichen  Ci|arafter  üerliehen.  ZDirb 
fie  baburch  innerlich  etwas  anbeves?  eingenommen  ber 
(ßegenfafe  ber  männlichen  unb  weiblichen  Cradjt,  beffen  Be« 
adjtung  unb  2tufred>terhaltung  bei  uns  ber  Sitte  überliefen 
ijt,  würbe  ron  ber  (Sefefegebung  als  t>erbinblich  für  beibe 
(Sefdjlechter  t>orge3eidjnet,  wie  bies  in  ber  Cat  im  mofaifchen 
Hecht  gefdjehen  ift  (f.  u.),  würbe  bie  Cradjt  bamit  eine  anbere 
fo3ia!e  Bebeutung  gewinnen?  Sicherlich  nicht  l  3$  würbe 
barum  gleichwohl  nicht  aufhören,  bie  Cracht  als  ein  3nftttut 
3u  diarafterifieren,  bas  feiner  Ztatur,  b.  h*  ber  (Eigentümltd]* 
feit  feiner  gwedb eftimmung  nach  ber  Sitte  angehört,  unb 
nur  ben  <§ufafc  ^in3ufügen,  baß  es  in  biefem  5alle  rechtlidje 
5orm  angenommen  h<*be.  2tuch  bie  Ejoftracht  ift  burdj  bie 
ffofetifette  ausbrüeflich  Dorgefcbrieben,  fie  bilbet  gleich  ber 
Uniform  bes  Solbaten  unb  ber  2lmtstracht  ber  Beamten  unb 
(ßeiftlichen  ein  StücE  ber  reglementierten  Sitte,  aber  [299] 
innerlich  3<ühlen  fie  boch  alle  3U  einer  3nftitutton,  wekhe 
fyftorifch  wie  ihrer  Hatur  nach  bet  Sitte  angehört 


23^        Kapitel  IX.   Die  foiale  ITCedjanif*  Das  Sittitdje. 

Xlxdit  anbevs  verhält  es  ftct|  mit  ben  Umgangsformen» 
Die  bes  gewöhnlichen  £ebens  fallen  ausfchlteßlich  ber  Sitte 
anheim,  bei  fjofe  eytftiert  für  fte  ein  eignes  I}of3eremomell, 
bem  Solbaten  ift  bie  $oxm  bes  (Srüfjens  (Sahitterens)  burch 
feine  Dtenftinjiruftion  ausbrüeflich  sorgeseicfynet,  für  ben  Kurial* 
ftil  ber  Beworben  finb  im  Perfehr  berfelben  untereinanber  ge* 
tr>iffe  tDenbungen  obligat.  3n  allen  biefen  fällen  ift  ber 
(Segenftanb  biefer  Bestimmungen  nicht  an  ftch  rechtlicher  Art, 
fonbern  nur  in  bie  5orm  bes  Beglements  gebracht  <£nbltch 
noch  bas  J}och3etts3eremoniell.  Überaß  ift  es  bie  Sitte, 
welche  basfelbe  ausgebilbet  hat  unb  aufrecht  erhält.  Ange- 
nommen, basfelbe  würbe  burch  <5efefe  3ur  23ebingung  ber 
(Eingehung  ber  <£lje  erhoben,  würb*  fein  innerer  Cfyarafter 
ftch  baburch  änbern?  3^  meinerfeits  würbe  es  nach  wie 
por  als  ein  urfprüngliches  Stücf  Sitte  charafterifieren,  bas 
nur  bie  5orm  bes  Hechts  angenommen  hätte.  Selbft  ba,  wo 
bas  Hecht  eine  beftimmte  $oxm  für  gewiffe  feierliche  Afte 
bes  Cebens  t>orge3eichnet  hat,  fügt  bie  Sitte  im  2)range  nach 
reiferer  SYtnbolifterung ,  poetifdjerer  (Seftaltung  bes  X>or* 
ganges  nicht  feiten  noch  anbere  ^üge  hw3u,  wie  bies  3.  23.  in 
Horn  bei  ber  ©ngehung  ber  <£fye  burch  confarreatio  ber  5all 
war,  wo  bas  Hitual  unb  Zeremoniell  ber  Sitte  über  bas  bes 
Hechts  weit  hinausging. 

Die  bisherige  Ausführung  hat  ge3eigt,  bafj,  wenn  wir 
[300]  biefen  Hlaßftab  ber  inneren,  inhaltlichen  «gugehörigfeit 
3ur  Sitte  anlegen,  gar  vieles  auf  ihr  Konto  3U  fefeen  ift,  was 
nicht  bie  5orm  berfelben,  fonbern  bie  bes  Hechts  (jus  scriptum) 
an  ftch  trägt:  3nh<*lt  ber  Sitte  in  5orm  bes  Hechts,  unb  bamit 
wirb  bie  obige  Behauptung  (S.  23\  f.),  welche  uns  3U  biefer 
Ausführung  Anlaß  bot,  gerechtfertigt  fein.  3^h  fa9te  oben, 
ba%  bie  Sitte  ftch  ü&er  alle  Seiten  unb  gweige  unferes  £ebens 
erftreeft,  auch  üfor  bas  öffentliche  unb  firchltche  Ceben,  unb 
bies  foll  nunmehr  burch  einige  öeifpiele  Deranfchaulidjt  werben. 


parttfttläre  Sitte*  —  Die  parlamentarifdje  Sitte»  235 


2lls  53eifpiel  auf  bem  (gebiete  bes  öffentlichen  £ebens 
aus  lieuttger  geit*)  nenne  ich  bie  parlamentarif  che  Sitte, 
u>eld?e  bie  äußere  ©rbnung  ber  Derhanblung  unb  bie  23eob* 
adjtung  ber  anjtänbtgen  $otmen  ber  Debatte  in  öffentlichen 
Perfammlungen  3um  (Segenftanbe  l|at**).  «guerft  [301]  aus* 
gebilbet  auf  beut  23oben  <£nglanbs  als  2Tieberfchlag  ber  <£r* 
fahrungen  bes  englifdjen  Parlaments,  ift  fte  bann  auf  bie 
entfprechenben  Körperfchaften  bes  Kontinents  unb  felbft  auf 
öffentliche  Derfammlungen  aller  2lrt  übertragen  tporben.  Sie 
bebautet  für  bas  öffentliche  £eben  basfelbe,  toas  bie  Umgangs* 
formen  für  bas  tägliche.  Die  (ßarantie  ihrer  23eachtung 
beruht  ebenfo  tpie  bie  ber  festeren  vielfach  lebiglich  auf  bem 
2lnftanbsgefüt|l  unb  ber  Scheu  vov  ber  öffentlichen  ZHeinung, 
be3iehungsu>eife  bem  (Drbnungsrufe  bes  präfibenten.  <£s 
tPtrb  fich  3eigen,  ob  man  auf  bie  Sauer  bamit  aus3ufommen 
permag,  ober  ob  man  nicht,  u>ie  ich  glaube,  burch  abfehredfenbe 
(Erfahrungen  getoifeigt,  fich  genötigt  fehen  toirb,  bem  (ßebote 
bes  parlamentarifchen  2lnftanbes  burch  geeignete  gef etliche 
Maßregeln  3U  J^ilfe  3U  !ommen.  <£s  ift  ein  mit  bem  h^h^n 
2lnfehen  einer  parlamentarifchen  Körperfcfjaft  fchtoer  perträg* 

*)  Über  bie  Sitte  im  römif cfyett  Staatsleben  h<*be  idj  ausführlich 
gehanbelt  in  meinem  (Seift  bes  römifer/en  Hechts  II,  \*  S*  27$  (ZlufU 

**)  lUit  bem  polittfc^en  Syftem  bes  Parlamentarismus  l\ai  ffe 
nichts  3U  f djaffen-  letzteres  beruht  auf  bem  (8runbfat$e,  ba§  bie  in  ber 
IttajorUat  befhtbliche  partei  ber  Dolfspertretung  bie  eigentliche  Per* 
treterin  bes  Polfsnrillens  unb  bie  (Trägerin  feines  Pertrauens  ift,  unb 
ba§  bat^er  ein  iTCmtfterium,  bas  biefe  ITCajorität  nicht  mehr  für  fta?  hat, 
ab3Utreten  h<*k  Wenn  man  auch  biefen  Sat}  ber  politifchen  Sitte  <£ng* 
lanbs,  ber  bort  in  ber  trabittonellen  IPeife  ber  politifchen  partetbilbuug 
feinen  (Srunb  unb  bie  23ebmgungen  feiner  Durcfc>führbar?ett  fanb  unb 
fhtbet,  auf  bem  Kontinent  ha*  übertragen  wollen,  roo  es  an  bett  33e* 
bingungen  feiner  Durchführbarfeit  meiftens  gän3Üch  fehlt,  fo  ift  bies 
nicht  Ptel  beffer,  als  wenn  ein  Kinb,  bas  einen  (Ermachf  enen  h<*t  retteu 
fehen,  auch  ein  pferb  haben  möchte;  ein  Pater,  ber  biefen  tPunfd}  er* 
füllen  roollte,  müßte  ebenfo  einftchtslos  fein  als  bas  Kinb  felber,  bfe 
(Erfüllung  besfelben  mürbe  balb  mit  bem  Stur3  t>om  pferbe  enbem 


256 


Kapitel  IX.   Die  feciale  med?anif*   Pas  Sittliche, 


lid]es  Schaufpiel,  bie  Cümmelhaftigfeit  auf  ber  Cribüue  fich 
ungehindert  unb  ungeftraft  breit  machen  3U  fehen  —  2tus« 
fd)ließung  eines  unnmrbigen  Zllitgliebes  ift  überall  bas  ZTIittef, 
rooburch  feie  (SefeHfchaft  fich  gegen  eine  Schäbigung  ihres 
2lnfehens  ficherffeHt. 

2lus  ber  Sitte  bes  firchlt djen  Cebens  nenne  ich  bas  beim 
proteftantifchen  (ßottesbienft  übliche  ilufffeh^n  ber  (ßemeinbe 
bei  bem  Derlefen  bes  (Evangeliums  unb  bem  Empfange  bes 
Segens,  forme  bas  im  fatholifchen  (Sottesbienjl  übliche  Knien, 
bas  Befprengen  mit  ZDeifyroaffer,  bas  Schlagen  bes  Kreu3es* 

[802]  3m  t>ölf errechtlichen  Dertehre  ftnbet  bie  Sitte 
mannigfache  2Ina>enbung.  gunächft  im  f  rieb  liefen  bie 
burch  bie  (Etifette  erforberte  2trt  ber  persönlichen  Begrüßung 
ber  2ftonar  djen  (Anlegung  ber  wechfelfeitig  erteilten  (Drben, 
bei  Verleihung  eines  Regiments  Anlegung  ber  Uniform  bes« 
felben,  fofortige  2lbftattung  bes  (Segenbefuchs),  bes  (Empfangs 
ber  (Sefanbten,  ber  2Iustaufchung  r>on  ©rben  an  bie  Bet>oU« 
mächtigten  u.  a.  m.  Die  Sitte  ifi  tiiev  in  bem  ZTfaße  obligat, 
baß  bie  fjintanfe&ung  berfelben  ben  <£h<*rafter  einer  Be« 
leibigung  an  ftch  trägt  —  eine  fehlere  Mißachtung  berfelben 
(bas  befannte  „Brüsfieren"  Benebettis  gegenüber  Kaifer 
Xüilhelm)  enthält  einen  casus  belli.  2lus  bem  feinbfeligen 
Pölferoerfehre  liebe  id)  lietvcv  bas  2luf3iehen  ber  »eigen 
flagge  in  ber  5eftung  als  geidjen  ber  Übergabe,  bas  H?eg* 
werfen  bes  <Setr>ehrs  als  Reichen  ber  (Ergebung,  bie  Unter« 
laffung  x>on  5ewbfeligfetten  unter  Porpoflen. 

Die  bisherige  T)arfteHung  liatte  lebiglid]  ben  <§toecf,  bie 
äußere  2lusbehnung  ber  Sitte  über  bas  gan3e  (ßebiet  bes 
Cebens  3U  t>eranfch<*ulichen. 

2lber  mit  biefer  2tnfchauung  von  ber  äußerlichen  2lus- 
behnung  ber  Sitte  ift  bie  (Einficht  in  bas  innere  XDefen  ber« 
felben  noch  nicht  gewonnen,  bie  entfeheibenbe  5rage  pon  ihrem 
fo3ialen  lüert,  ihrer  Fialen  Berechtigung  unb  X?ottt>enbigfeit 


parttfuläre  Sitte*  — 


Die  mtlitärtfdje  Sitte* 


237 


ifi  babet  noch  nicht  berührt.  5ür  bie  allgemeine  Sitte  roirb 
es  im  folgenden  2lbfchnitte  [303]  gefcheh^n,  für  bie  partt- 
fuläre fyer,  inbem  ich  einige  befonbers  lehrreiche  Beifptele 
herausgreife. 

(Eine  außerordentlich  tr>ertpotle  Ausbeute  gewährt  in  biefer 
Se3tet|ung  bie  militärifche  Sitte  in  ben  Jlnforberungen, 
bie  fie  bei  uns  in  2)eutfchlanb  an  ben  ©ffcier  ftellt*).  2tn 
feinen  Staub  ergebt  bie  Sitte  fo  ftrenge  2lnforberungen  toie 
an  ben  beutfehen  (Df foierftanb ,  unb  bei  feinem  fann  man 
ihrer  unverbrüchlichen  Beachtung  fo  fidler  fein  als  bei  ihm. 
Das  (Dffoierforps  ift  eine  gegenfeitige  (£r3iehungs«  unb  Über* 
u>achungsanftalt,  welche  bie  Crabitionen  ber  militärifchen  Sitte 
unb  ben  ihr  entfpredjenben  militärifchen  (ßeift  in  jebem  ZTlit* 
gliebe  ^egtf  pflegt,  lebenbig  erhält,  ja  im  3^tereffe  ber  fo3ialen 
Stellung  bes  gan3en  Stanbes  felbft  bas  gefellfdjaftliche  Be- 
nehmen bes  etn3elnen  3um  <5egenftanbe  ber  forporatisen  0b« 
hut  macht.  €s  gibt  feinen  5tanb,  ber  über  feine  ZHitglieber 
eine  folche  2lufftcht  führt,  roie  er,  unb  ber  baher  auch  fo 
feiten  in  bie  £age  fommt,  bie  Stellung,  bie  er  in  ber  öffent- 
lichen ZHeinung  einnimmt,  burch  eines  feiner  ZHitglieber  fom- 
promittiert  3U  fehen,  —  ber  Untoürbige  oerfchtüinbet  fofort 
aus  feinen  Heilen,  u>ährenb  er  im  gimlftaatsbienft  unb  im 
Kirchenbienjl,  fotoeit  ber  5<*H  fich  nicht  3ur  2lbfefeung  eignet, 
fein  2lmt  beibehält.  3)tefe  [304]  ITCöglichfeit,  fich  bes  «n- 
umrbigen  fofort  3U  entlebigen,  bilbet  überall  neben  ber  for- 
poratioen  fi^iehung  bas  txnrffamfte  ZHittel  3ur  Behauptung 
ber  Stanbesfitte. 

Das  3«terejfe,  welches  bie  militärifche  Stanbesfitte  für 


*)  3<*?  betone;  Deutfdjlanb ,  metl  bei  fremben  Armeen  3um  (Eeil 
anbete  <Srunbf.ä't$e  gelten  3. 23.  in  be3ug  auf  bie  Derpfüd?tung,  im  ^all 
ber  Übergebung  beim  2loancement  ben  2Jbfdjieb  31t  nehmen,  bie  ba,  wo 
bie  unteren  ©ffaiersfteflen  mit  Uuteroffoieren  befetjt  werben,  für  letztere 
nidit  ejtftiert  unb  ntdjt  nötig  \% 


238        Kapitel  IX.   Die  feciale  Ittedjaittf.   Das  Sittliche* 

mich  in  21nfpruch  nimmt,  beftet^t  in  bem  Nachweis,  ba§  unb 
wie  bie  eigentümliche  Stanbesaufgabe  burch  fte  geförbert 
wirb,  fur3  in  ber  Darlegung  ber  oben  (S.  2$)  behaupteten 
loyalen  5unftion  ber  Sitte  in  befonberer  Jlnwenbung  auf  bie 
partifuläre  Sitte»    3ch  hebe  folgenbe  punfte  tjeroor* 

IDä^renb  bas  Hecht  bie  Selbfttjüfe  unterfagt,  macht  bie 
militärifche  Sitte  fie  bem  ©ffoier  3ur  Pflicht  €r  foß  [eine 
angegriffene  (Efyre  f  elber  behaupten,  fei  es  fofort  auf  frifdjer 
Cat  mittels  blanfer  lüaffe,  fei  es  hinterher  burd]  gufenbung 
einer  5orberung.  ZDas  lägt  ftd)  für  bie  Sitte,  bie  fyer  mit 
ber  XHoral  unb  bem  Hecht  in  offenen  IDtberfprudf  tritt,  an» 
führen?  Die  €mpfmblichfeit  bes  militärifchen  €l)rgefüt|ls? 
XDarum  ift  bas  militärifche  (E^rgefü^l  fopiel  empfmblicher  als 
bas  ber  anbeten  Stäube?  £ür  ben  gioilftaatsbiener  befielt 
bas  (ßebot  nicht.  Die  größere  €mpfmblid)feit  bes  €t|rgefü^fs 
ift  nicht  ber  (ßrunb,  fonbern  nur  ein  Symptom,  eine  5olge 
bes  (ßrunbes,  letzterer  felbft  ift  in  ber  eigentümlichen  Serufs* 
ftellung  bes  ZHilitärs  gelegen.  Diefelbe  befteht  in  ber  Rührung 
ber  U?affe,  unb  ZTÜut  ift  bie  fpe3ififche  Cugenb  bes  Solbaten. 
2lllerbings  foß  es  nur  ber  5einb,  ber  äuger  e  ober  ber  innere, 
fein,  gegen  ben  er  fich  ber  IDaffe  bebienen  unb  ben  ZTiut 
3etgen  foll,  [305]  aber  bie  bewaffnete  (Sewalt  als  eine  3nfti* 
tution  bes  Staates  muß  gefürchtet  fein,  jeber  foH  tx>iffen,  ba§ 
er  nicht  mit  ihr  fpielen  unb  ber  Klinge  bes  Solbaten  ebenfo- 
wenig  3U  nahe  fommen  barf  tote  ben  Ztäbem  unb  Uleffem 
einer  ZHafchine.  Die  Selbjiwehr  bes  ©ffoters  ijl  bas  argu- 
mentum ad  hominem  für  biefe  Unnahbarfeit  ber  bewaffneten 
(Sewalt,  ber  perfönlidje  imperativ ,  bas  noli  me  tangere 
berfelben.  sticht  minber  fdjwer  fällt  bie  Hücfftcht  auf  bie 
Stellung  bes  Dorgef  efcten  3U  feinen  Untergebenen  ins  (gewicht. 
<£s  gibt  !eine  anbere  öffentliche  Dienftßeöung,  bie  wegen  ber 
einmal  gebotenen  unbebingtejien  Unterorbnung  bes  Unter- 
gebenen bie  unnachjtchtige  2lufrechterhaltung  ber  Autorität 


Die  militärifdje  Sitte*  —  Der  QueU$voatiQ+  239 


bes  Porgefefcten  in  bem  Zttaße  erforderte  wie  fte»  So  tote 
bie  ZHenfchen  nun  einmal  finb,  toürbe  i>te  Autorität  des  CDfft* 
3iers  in  ben  2tugen  bes  gemeinen  TXlannes,  bem  bie  ent* 
fchloffene  perfönltchfeit  mehr  imponiert  als  bas  <5efefc,  ge* 
fätjrbet  fein,  roenn  ber  (Dffoier  im  5aH  einer  öefchimpfung, 
anpatt  felber  ben  Segen  3U  sieben,  bie  Behauptung  feiner 
<£tjre  ber  5eber  eines  2tboofaten  überlaffen  toollte.  3n  *>et 
Schlacht  beruht  ber  militärifche  (Behorfam  nicht  mehr  auf  ber 
Zftadtt  bes  (Sefefees,  —  bas  <ßefet$  ift  I|ier  toeit  entfernt l  — 
fonbern  auf  ber  unmittelbaren  perfönlichen  Autorität  bes  Dor< 
gefegten,  unb  ber  5oIbat  muß  toiffen,  baß  ihm,  toenn  er  ben 
Kugeln  bes  5einbes  entrinnen  toill,  ber  Degen  feines  (Dfföiers 
broht  —  incidit  in  Scyllamj  qui  vult  vitare  Charybdim  — 
einen  Segen  aber,  ber  im  ^rieben  in  ber  Scheibe  fteefen 
blieb,  [306]  too  er  feiner  Anficht  nach  heraus  mußte,  fürchtet 
er  auch  in  ber  Schlacht  nicht,  —  fein  Cräger  ift  ja  ein 
gar  frommer  ZHann,  er  tut  niemanbem  ettoas  3uleibel  Ser 
Hefpeft  t>or  bem  Segen  feines  Porgefe&ten  muß  bem  Solbaten 
$um  fiüangelium  roerben,  unb  ein  Stücf  von  biefem  €t>an* 
gelium  ift  bas  SueH  bes  ©ffoiers*  <£m  trauriges  <£r>angelium 
geroißl  Jtber  iji  ber  Krieg,  auf  ben  bie  gan3e  Stellung  bes 
ZHilitärs  einmal  3ugef dritten  fein  muß,  ein  freubiges?  Bei 
beiben  bleibt  bemjenigen,  ber  bie  XDelt  3U  x>erftehen  fucht, 
txrie  jte  einmal  ift,  nichts  übrig  als  ber  Ausruf:  dira  neces- 
sitas,  —  man  fchafft  lefctere  nicht  aus  ber  XDelt,  inbem  man 
jte  oertüünfcht  ober  feine  2tugen  üerfchließh 

ZHit  bem  burdj  bie  militärifche  Sitte  über  ben  (Dffoier 
©erhängten  gtt>ang  3ur  perfönlichen  H)al|rung  feiner  €I|re 
fleht  im  engften  gufammenhang  bie  ihm  gleichfalls  burch 
bie  Stanbesjttte  auferlegte  Derpflichtung,  (Drte  unb  (Belegen* 
Reiten,  n>elche  bie  <5efahr  eines  Konflifts  an  ihn  herantragen 
fönnen,  3U  permeiben  (S.  2\\).  2luch  hier  ift  es  nicht  bie 
bloße  Hücfficht  auf  feine  fo3iale  Stellung,  ber  bies  (ßebot 


2^0        Kapitel  IX.   Die  feciale  IKedjattif.   Das  Sittliche. 

entflammt  t  fonbern  auch  h^r  perjlecEt  fich  hinter  bem,  tt>as 
f  diembar  bie  Stanbesetjre  mit  fich  bringt,  ein  ernfier  praf« 
tifcher  groeef  —  bie  Befchränfung  nach  biefer  Seite  ijt  bas 
nottoenbige  Komplement  unb  Cemperament  ber  Jlusnahms« 
ftellung  nach  ber  anbern  Seite. 

(Ein  emberes  Stücf  ber  militärifchen  Stanbesfttte  iji  [307] 
bie  Derpflichtung  bes  ©fföiers,  im  SaVi  ber  gurüeffefeung 
beim  21x>ancement  feinen  2lbfd}ieb  3U  nehmen.  2tud?  fyer  foll 
tmeberum  bie  ungewöhnliche  Hei3bar?eit  bes  militärifchen 
Ehrgefühls  ben  (5runb  ber  Sitte  abgeben.  2tber  meiner 
Anficht  nach  serhält  es  fich  auch  B|ier  nicht  anbers,  n>ie  im 
obigen  b.  h-  hinter  ber  Hücf  ficht  auf  bie  <£fyre,  bie 

fubjeftit)  bas  UToth>  abgeben  mag,  ftecEt  objeftio  als  §wed 
ber  Einrichtung  bie  Äücfficht  auf  Erhaltung  ber  Autorität 
bes  Dorgefefeten  in  ben  2lugen  ber  Untergebenen.  Über* 
fpringung  beim  2lt>ancement  bedeutet  Hnfäfygfeitserflärung 
3ur  23efleibung  eines  Ijöfyeren  (Stabes,  unb  biefes  t>on  ber 
höchften  23ehörbe  ausgefprodjene  Urteil  ift  maßgebenb  für 
bas  ber  Untergebenen  unb  untergräbt  bamit  bie  unerläßliche 
Sebingung  bes  ftrengen  militärifchen  (Sehorfams:  bie  Autorität 
bes  Dorgefefeten.  Ulan  voenbe  nicht  ein,  baß  ber  (ßrunb  3U 
viel  beroeife,  inbem  biefelbe  5olge  in  gleichem  5all  and]  bei 
bem  gipilbeamten  eintreten  muffe,  tsährenb  boch  für  ihn 
jenes  (Sebot  nicht  beftehe.  <£ben  biefer  <5egenfafe  ifi  gan3 
geeignet,  bie  Eigentümlichfeit  ber  Stellung  bes  militärifchen 
Porgefefeten  im  (Segenfafe  3U  ber  bes  Staatsbeamten  ins 
richtige  Cidjt  3U  fefcen.  gur  Sicherung  ber  lefeteren  reid]t 
bas  (ßefefc  allein  aus,  fte  fennt  feine  fritifchen  Cagen,  in 
benen  voxe  in  ber  Schlacht  bie  Scheu  por  ber  perfönlichfeit 
bie  Sichtung  Dor  bem  <5efefe  erfeften  muß,  bie  ZHacht  belegt 
fich  h^r  *n  geregelten  Bahnen,  unb  ein  IDiberftanb  ber  Unter» 
gebenen  gegen  ben  Dorgefefcten  läßt  fich  [308]  bei  ihr  auf 
ben  U)eg   bes  Hechts  (Dis3iplinarunterfuchung)  pertpeifeu. 


ParttMäre  Sitte. 


—  Kiicftrttt  ber  IKintper* 


2<W 


Die  Aufgabe  bes  &w\lbeamten  unb  bes  milttärifdjen  X?or- 
gefegten  cerfyalten  ftdj  3ueinanber  tx>ie  bie  Aufgabe  eines 
Cofomotit>füI|rers  unb  eines  Heiters,  ber  ein  toilbes  pferb 
3u  reiten  ljat  —  tt>enn  Iefeteres  nidjt  bie  ftarfe  £}anb  bes 
Heiters  füfylt,  tüirft  es  ifyn  ab»  2lHe  Stellungen  im  öffent* 
liefen  £eben,  toeldje  auf  bie  perfönlicfjfeit  im  (ßegenfafe  $um 
(Sefefc  geftellt  finb  (tt>ie  3.  23.  audj  bie  abfolute  ZTfonarcfyie 
unb  ber  Defpottsmus  im  (Segenfaij  3ur  fonftituttonellen 
Hlonardjie)  bebürfen  ber  ^urdjt  x>or  ber  perfönlidtfeit,  unb 
in  biefen  Derfyältmffen  enthält  alles,  n>as  letztere  abfcfytpäcfyen 
fann,  eine  Sebrofyung  ber  HTadit,  —  2lufred}terfyaltung  bes 
21nfeljens  ber  perfon  ift  fyer  bie  unerläßliche  23ebingung  ber 
2T(ad]tfteHung. 

€ine  Hlacfjtftellung  gibt  es  aüerbings  auch  im  ^toil« 
ftaatsbienft,  bei  ber  bie  Sitte  ifyrem  Cräger  unter  geroiffen 
Dorausfefeungen  gan3  biefelbe  Verpflichtung  tüie  bem  (Dffoier 
auferlegt,  feine  <£ntlaffung  3U  nehmen,  unb  biefer  2lusnahms< 
fall  beftätigt  bie  Hidjtigfeit  bes  von  uns  geltenb  gemachten 
(Bejtchtspunftes,  €s  ift  bie  Stellung  ber  Ijödjften  Häte  ber 
Krone:  ber  HTinifter.  3m  Syftem  bes  Parlamentarismus 
(S.  235  Hote)  ift  biefe  Verpflichtung  an  bie  Vorausfefcung 
gefnüpft,  baß  fie  bie  Majorität  im  J^aufe  ber  Volfst>ertreter 
verloren  I|abenf  außerhalb  besfelben  liegt  ber  5all  bann  vov, 
wenn  ber  2ftonarch,  ber  ben  Hlinifter  offoiell  3U  bem  Cräger 
feines  Vertrauens  beftellt  t^at,  ihn  bei  Dingen  feines  Hefforts 
umgebt  (3.  S.  (Erteilung  [309]  t>on  3nftruftionen  an  (Sefanbte 
ohne  Kenntnis  bes  ZlTmifters  bes  2lusn>ärtigen) ,  itjm  alfo 
bamit  ben  Seroets  liefert,  baß  er  fein  Vertrauen  in  IVirflich* 
feit  nicht  mehr  beftfet.  <2ine  folche  f(anblungsn>eife  enthält 
eine  perfönlidje  Kränfung,  tr>eil  eine  Zfiißachtung  ber  mit  bem 
2lmt  gewährten  2lnfprüche,  unb  bie  (Sefefee  ber  <£fyre  unb  bes 
Unfianbes  erf orbern,  fte  burch  bas  <£ntlaffungsgefuch  3U  be* 
antworten,  toie  ein  (Saft  bas  £}aus  perläßt,  in  bem  ber  IVirt 

o-3 bering,  Der  gwerf  im  Ked?t.  IL  iß 


2^2 


Kapitel  IX.   Die  fö3tale  riTedjantf.   Das  Sittliche. 


ftch  gegen  ihn  eine  Bücfjtchtsloftgfeit  t^at  3ufchulben  fommen 
Iaffen.  Slber  hinter  bem  (gebot  ber  £^re,  bas  fubjeftiü  als 
TXlotiv  t>oHfommen  ausreicht,  um  biefen  Schritt  3U  motivieren, 
jieett  auch  lixet  une  bei  bem  ©ffeter  ein  anberer  (ßrunb,  ber 
unabhängig  von  aller  perfönlicfjen  €mpfmbung  benfelben  3ur 
Stottoenbigfeit  macht:  bas  objeftit>e  3^tereffe  ber  bienjilichen 
5teHung.  Wo  bas  Vertrauen  bes  Monarchen  bie  Sebingung 
3ur  €rreichung  bes  §xoeds  bilbet,  iji  mit  bem  Vertrauen  auch 
bie  €rreichbarfeit  bes  gvoeds  t|intt>eggefalten,  unb  toemt  bie 
<£fy;e  I|ier  fubjeftit)  als  ZHotis  bas  <£ntlaffungsgefuch  biftiert, 
fo  tut  fte  es  objeftb  nur  im  3ntereffe  bes  S^cfs. 

2luch  an  ben  (Seift liefen  richtet  bie  Sitte  manche  2ln- 
forberungen,  toelche  an  3nbit>ibuen  anberer  Beruf  sf  Iaffen 
nicht  ergeben*  3n  manchen  (Segenben  geht  jte  barin  fotreit, 
baf$  fte  ihm  gettnffe  Vergnügungen  fchlechthin  unterfagt,  er 
foD  nicht  Karten  fpielen,  nicht  Ojeater,  Säße,  felbfi  nicht 
Köderte  befugen.  2luch  t^ier  hebt  ftch  bie  Sitte  toieberum 
gan3  fcharf  t>on  ber  ZlToral  ab.  dasjenige,  [310]  n>as  fte 
ihm  unter(agtf  iji  nicht  unmoraltfch,  aber  es  paßt  ihrer  2luf- 
faffung  nach  nicht  3U  ben  eigentümlichen  persönlichen  23e« 
bingungen  ber  IVirffamfeit  bes  Slmts,  es  iji  geeignet  ,  ben 
Cräger  besfelben  in  ben  2tugen  roenn  auch  ntd^t  aller,  fo 
boch  mancher  (Semeinbeglieber  her<*b3ufefcen  unb  bamit  feine 
ooHe  IVirffamfeit  3U  beeinträchtigen.  2lus  bemfelben  (Srunbe, 
aus  bem  jte  beim  (Dffoier  bie  Behauptung  fetner  <£litef  vev 
langt  jte  beim  (Seijilichen  bie  feiner  tVürbe,  nicht  feiner  felbfi 
toegen,  fonbem  im  3ntereffe  ber  er  f  auf  bie  er  unrfen  foH, 
bamit  es  ihm  an  beren  Sichtung,  welche  einmal  bie  Sc* 
bingung  fetner  sollen  IVirffamfeit  bilbet,  nicht  fehle.  2luch 
hier  mag  man  bas  (Element,  in  bem  biefe  Sichtung  umreit, 
als  Porurteil  be3eichnen;  aber  folange  biefes  Vorurteil  einmal 
bejieht,  ©erlangt  bie  volle  IVirffamfeit  bes  Slmts,  ba§  es  ge* 
fchont  tverbe. 


patttfuläre  Sitte*  —  Die  dradjh 


2^3 


dürfen  voxv  basjenige,  was  bie  Betrachtung  biefer  5äQe 
uns  abgemorfen  t^at,  generalifieren,  fo  formen  unr  fagen:  bte 
partifuläre  Sitte  h<*t  3U  intern  3«^ölt  unb  SroecE  bie  <£in* 
fchärfung  ber  eigentümlichen  Bebingungen,  von  benen  inner* 
halb  einer  getxnffen  Berufsart  bie  Stellung  ber  perfon  (2tn* 
fe^en,  €hrcf  IDürbe)  unb  bamit  beren  <£rfolg  für  bie  <5e* 
feHfchaft  abfängt,  unb  fte  serfchmäht  es  babei  nicht,  felbft 
befietjenbe  Dorurteile  3U  berücf  fichtigen;  ihr  3nh^K  ift  nicht 
bas  an  fich  (Sute,  fonbern  basjenige,  roas  geeignet  ift,  teueres 
3U  ermöglichen,  3U  f orbern,  ihre  fo3iale  Bebeutung  lägt  fich 
alfo  unter  benfelben  (Seftchtspunft  [311]  bringen,  ber  uns 
oben  (S.  2\S)  3uerft  aufjHeß,  unb  ben  roir  nunmehr  für  bie 
allgemeine  Sitte  im  folgenben  genauer  begrünben  roerben: 
ben  ber  ftttlich'abminifulierenben  5  u  n  f  t  i  o  n  ber 
Sitte. 

8)  Die  Cracht- 

Der  Begriff  ber  Cradjt  ift  bereits  (S*  \82ff>)  angegeben« 
JTlit  ber  Zfiobe  teilt  fie  bas  ZHoment  bes  <§tr>ingenben,  beibe 
fteßen  obligate  Cypen  ber  Kleibung  auf,  nur  ba§  bie  Cracht 
auch  burch  (Sefefe  sorgefchrieben  fein  fann  (2tmtstracht,  Uni* 
form).  Don  ber  ZlTobe  unterfdjeibet  fich  bie  Cracht  burch 
bas  ZHoment  bes  Dauerhaften:  ber  Cypus,  ben  bie  ZHobe 
auf jleHt,  ifi  ein  ftets  tr>echfelnber,  ber  ber  Cracht  ein  bleibenber. 
Die  äfthetifche  Seite  ber  Cracht  fteht  für  uns  außer  Betracht, 
roir  halten  uns  ausfchließlich  an  bie  praftifdje  Seite,  b*  i.  bie 
gefellfchaftliche  Bebeutung  unb  Beftimmung  berfelben. 

Die  Sitte  Jennt  brei  Birten  ber  Cracht.  Die  erjle  ift  bie 
Dolfstracht,  über  bie  bereits  oben  (S.  J(38)  bas  <£rforber- 
liche  gefagt  ift.  Die  3tt>eite  fnüpft  ftch  an  ben  (Segenfafe 
bes  (ßefdjlechts  (männliche  unb  weibliche  Cracht);  bie 
britte  an  getoiffe  t>orübergehenbe  2lnläffe  bes  meufdjlichen 
Cebens,  nämlich  Sehnte^  unb  5reube  (bas  Cr  au  er*  unb  bas 
5eftlleib). 

*6* 


2^         Kapitel  IX.   Die  feciale  XTCedjanif*  Das  Sittliche. 

Bei  allen  Kulturvölkern  wirb  ber  Unterfdjieb  bes  <5e* 
fdjlechts  äußerlich  burch  eine  DerfchiebenBjeit  ber  Kleibung 
funbgegeben,  unb  bies  ift  nietet  etwa  bloßer  Brauch,  (Sewohn* 
heit,  fonbern  Sitte,  b.  h-  eine  (Einrichtung  [312]  3wingenber 
2Irt.  <£in  ZHann  barf  öffentlich  nicht  in  IDeibertracht,  ein 
XDeib  nicht  in  ZHännertracht  erf djeinen.  IDarum?  ber  äfthe* 
tifdjen  Hückjtcht  wegen?  (Es  ift  richtig,  baß  bie  Uerfdjieben* 
heit  ber  anatomif djen  Struktur  beiber  (Sefchledjter  eine  Der* 
fdjiebenheit  ber  (ßewanbung  bebtngt,  unb  ber  äfthetifdje  <5e< 
ftdjtspunft  mag  ausreißen,  um  bie  Catfädjlidjfeit  biefev 
Derfchiebenheit  3U  erklären,  aber  bas  3wingenbe  (5ebot  ber 
Sitte  erklärt  er  uns  nicht.  Das  VTiotxv  ber  Sitte  ifi  nicht 
äfthetifdjer,  fonbern  praktifdjer  ober  etfyifdjer  2lrt.  Wenn  ich 
oon  mir,  bem  basfelbe  erft  bei  Gelegenheit  ber  gegenwärtigen 
Unterfuchung  klar  geworben  iji,  auf  anbere  fchließen  barf,  fo 
glaube  ich  behaupten  3U  bürfen,  ba§  bie  wenigften  bat>on 
eine  klare  PorfteHung  haben,  unb  biefer  5att  enthält  wieberum 
einen  fchlagenben  Beweis  bafür,  wie  wenig  wir  über  ben 
gweef  ber  allereinfachften  (Einrichtungen  bes  £ebens,  weil  wir 
einmal  an  jte  gewöhnt  finb,  nadßubenten  pflegen.  2Tfan  male 
jtch  einmal  einen  §txftanb  ber  (Sefellfchaft  aus,  in  bem  bie 
(ßefchlechter  an  ber  Cracht  nicht  3U  unterbleiben  wären  unb 
man  wirb  über  ben  Sinn  einer  (Einrichtung  nicht  im  «gweifel 
fein,  welche  ben  <5egenfat$  bes  (Sefdjlechts  fofort  äußerlich 
erkennbar  macht.  Die  Derfdjiebenfyeit  ber  männlichen  unb 
weiblichen  Cradjt  gehört  3U  ben  funbamentalften  unb  uner* 
läpehften  (Einrichtungen  ber  fittlichen  (Drbnung  ber  <Sefell« 
fdfaft,  benn  fie  erinnert  nicht  bloß  bas  ein3elne  3n^ü^uum 
unausgefefet  an  bie  Bücffichten,  bie  es  im  Derkehr  mit  bem 
anbem  (Sefchlechte  3U  beobachten  [313]  h<*t,  an  bie  Schranken, 
bie  ihm  gefefet  finb  in  H?ort  unb  Hebe  unb  Benehmen,  fonbern 
jte  gewährt  3ugleich  ber  (Sefellfchaft  bas  ficherfte  unb  leidste jie 
2T?ittel  ber  öffentlichen  Überwachung  bes  Verkehrs  ber  beiben 


Die  Sitte»  —  (Eraefyt,  männliche,  metblid)e.  2^5 


(Sefchlecbter.  Wir  traben  barm  alfo  abermals  ein  Stücf 
5idievtie\tspolx$e\  bes  Sittlichen  t>or  uns,  bie  Sitte  in 
ifyrer  \xttlxdi*pvopliylatt\\dien  5unftion.  £}ätte  nicht  bie 
Sitte  felber  in  nötiger  <£rfenntnis  von  beten  Unerläßlichfeit 
biefe  3uchtpolt3eiliche  Sidjerungsmaßregel  getroffen,  bie  ftaat* 
liehe  poÜ3ei  müßte  es  tun.  unb  verlöre  jemals  bie  Sitte  bie 
TXladttf  fie  aufrecht  3U  erhalten,  letztere  müßte  an  ihrer  5tatt 
bie  Sache  in  bie  ^anb  nehmen*). 

Sei  Kinbern  in  ben  erften  Cebensjatjren  pflegt  bas  <Se» 
fehlest  burch  bie  Cracht  noch  nicht  unterfcfjieben  3U  roerben, 
aber  faum  fyaben  fie  bie  Kinberfdjuhe  ausgetreten,  fo  beginnt 
bereits  ber  (Begenfafe  ber  Cracht.  IDarum?  Von  einer 
fejuellen  (ßefa^r  fann  B^ier  noch  feine  Hebe  fein.  2tber  bie 
lüeisfyeit  ber  Sitte  t|at  auch  h**r  abermals  bas  Hichtige  ge< 
troffen.  Die  (Einrichtung  hat  einen  ernften  [314]  päbago* 
gifchen  gwedt.  Der  (ßegenfafe  ber  (Sefcfjlechter  gehört  3U  ben 
früheften  C^atfachen,  bie  bas  Kinb  erfahren  muß,  um  fie 
pon  allen  Anfang  an  beim  erften  <£vmadien  feines  Unter« 
fcheibungspermögens  refpeftieren  3U  lernen.  Schon  ber  Knabe 
muß  roiffen,  baß  er  Knabe,  bas  2T?äbchen,  baß  es  Znäbcfyen 
ift,  benn  ber  fünftige  ^ünglinQ  un&  2Tfann,  bie  fünftige 
3ungfrau  unb  5rau  müffen  fchon  im  Knaben  unb  UTäbchen 
porgebilbet  roerben;  es  ift  päbagogtfch  von  äußerfter  IDichtig* 
feit,  baß  fie  ben  (Segenfafe  bes  (Sefchlechts  fennen,  bevor  fie 
ihn  merfen,  tr>ie  auch  ber  Solbat  bie  Dorfteüung  ber  <5efahren 


*)  VO'xt  bies  von  fetten  ber  mofatf d?en  (Sefetjgebung  ausbriicflidj 
gefcf?ehen  ift,  5»  ITCof.  22,  5:  „(Hin  IPeib  foll  nid?t  ITTamtes  (Serät  tragen, 
unb  ein  Vdann  foü  nid?t  IPeiberfleiber  antun,  beim  wet  foldjes  tut,  ift 
bem  £?errn,  Deinem  (Sott,  ein  (Sräuel".  IHid^aelis,  ITTofaifdjes 
Ivedjt  IV,  §  222,  nermeift  bei  33efpred?ung  biefer  Bejttmmitng  auf  einen 
^all  in  £onbon,  „tpo  eine  ITCannsperfon  ftd?  als  Dienftmäbdjen  in  eine 
Boarbingfdjool,  barin  junge  Jraucn3immer  er3ogen  mürben,  oermietet 
tjat,  wovon  bie  folgen  nadj  einigen  IHonaten  fichtbar  mürben".  Die- 
felbe  Bestimmung  ift  in  ben  legten  De3ennien  in  3apan  getroffen. 


Kapitel  IX.   Die  fatale  med?anif*   Das  Sittliche. 


ber  Schlacht  h<*ben  foH,  besor  bie  Jt)trflich?ett  fic  an  ihn 
heranträgt  —  bie  ttnaben*  unb  IHäbchentracht  ift  ber  erfte 
Anfang  ber  fe^uellen  gucht*)» 

21us  bem  Bisherigen  ergibt  fich,  in  welchem  Sinne  mir 
t>om  ftttlichen  Stanbpunft  aus  bte  Begebungen  5U  beurteilen 
traben,  ben  (Segenfafe  ber  männlichen  unb  weiblichen  Cracht 
3U  einer  2lrt  von  fjermaphrobttentum  in  ber  {Tracht  ab3u* 
fchn>ächen,  Don  feiten  bes  männlichen  (ßefchlechts  finb  fte 
nicht  3U  befürchten,  bie  2lmtäherungst>erfuche  [315]  gehen 
ftets  nur  t>om  toeiblichen  aus,  unb  in  ber  heutigen  Seit 
haben  fie  einen  (Srab  erreicht,  ba§  man  beim  2lnblicf  mancher 
tseiblichen  XDefen  glauben  möchte,  fie  hätten  eine  Herren* 
garberobe  geplünbert  2Tur  ein  töeib,  bas  bas  IDeib  in  jtch 
uergifjt  ober  pergeffen  machen  möchte:  bie  feile  Dirne  ober 
bas  eman3ipierte  5rauen3immer  femn  auf  ben  (ßebanfen  ge« 
raten,  bie  Schränken,  tselche  bie  Sitte  mit  tpeifem  Dorbebacht 
3tsifchen  21Tann  unb  JDeib  errietet  h<*t,  niebet43ur eigen,  unb 
nur  bie  Dummheit  unb  Urteilsloftgfeit  fann  jtch  perleiten 
laffen,  ein  folches  Beifpiel  nadföuäffen,  3n  Sobom  unb 
<5omorra  mag  auch  bas  Xfiobe  getpefen  fein;  in  einem  <5e- 
meintpefen,  roo  noch  Sucht  unb  Sitte  herrfcht,  foHte  man 
jebes  folches  beginnen  mit  Verachtung  [trafen  —  einem 
5rauen3immer  gegenüber,  bas  äußerlich  ben  ZTTann  imitiert, 
feilte  fich  jeber  ber  Hücffichten,  bie  er  bem  IDeibe  fchulbet, 


*)  21uf  berfelben  feruell'propfyylaftifdjen  ^ürforge  beruht  aueb  bie 
Trennung  ber  (gefriedeter  in  ben  Spulen,  felbft  folange  bie  Ünterridjts* 
gegenftänbe  für  beibe  nodj  biefelben  finb,  wo  alfo  biefe  Trennung  burdj 
rein  bibaftifdje  gmeefe  md?t  geboten  wäre*  2luf  bem  £anbe  ift  biefelbe 
tiid?t  burdrfüfyrbar,  fte  bilbet  ehten  Po^ug  bes  Stäbttts,  ben  er  alle 
Urfadje  t^at  f}odj3ufd?ctt$en  —  abermals  ein  Beleg  für  ben  oben  (5*  208) 
r»on  mir  hervorgehobenen  britten  <Srunb3ug  ber  Sitte:  ifjre  gefellfdjaft- 
ltdie  £ofaltfterung,  treibe  gemiffe  Klaffen  ber  (Sefellfdjaft  son  ihren 
Dortetlen  ausfließt* 


Die  Sitte.  —  Die  Cradjt.  —  Crcmertrad/t.  2^7 

entfdjlagen  —  nur  bas  anftänbige  IDeib  perbient  pom  2TCanne 
anftänbig  behanbelt  3U  tperben. 

3nnerhalb  bes  Hammens  ber  männlichen  unb  weiblichen 
Cracht  t^at  bie  Sitte  mancher  Dölfer  pielfach  noch  burch 
befonbere  2lb3eichen  (3.  23*  bas  Scheren  bes  I^aares  bei  ber 
5rcm,  bie  ^aube)  ben  ttnterfchteb  3tpifchen  Verheirateten  unb 
Unverheirateten  betont,  bei  ben  mobernen  Kulturpölfem  i|i 
als  einiger  Keft  berfelben  ber  (Trauring  übrig  geblieben. 
Das  praftifche  TXlotw  für  bie  Betonung  biefes  ttnterfchtebes 
liegt  fo  fehr  auf  ber  ^anb,  bag  ich  wich  jeber  23emerfung 
barüber  enthalte. 

[316]  Die  3toeite  2lrt  ber  burd}  bie  5itte  porgefdjriebenen 
Cracht  tft  bas  Crauerfleib.  JDorin  ha*  basfelbe  feinen 
(ßrunb?  3n  bem  Bebürfnis  bes  <5emüts,  ber  Stimmung 
bes  Schmedes  äußeren  2lusbrucf  3U  geben?  So  fcheint  es. 
Was  ift  natürlicher,  möchte  man  fagen,  als  baf$  bie  büfiere 
Stimmung  3ur  büfteren  5arbe  greift?  IDenn  ber  Sonnen* 
fchein  bes  Cebens  ber  ZTadjt  gewichen  tft,  f leibet  jtch  bas 
Ceben  in  bie  5arbe  ber  Ztacht:  in  5d\wax$. 

Die  2tuffaffung  li<xt  etwas  Bejledjenbes,  aber  jte  ertpeifl 
ftch  bei  näherer  Betrachtung  nicht  als  ftichhaltig.  3^  1*9* 
fein  <5etoicht  baranf,  ba§  manche  Dölfer  an  Stelle  ber 
fchtt>ar3en  5arbe  eine  anbere  (3.  B.  blau,  roeig)  als  (Erauer* 
färbe  geroählt  liaben,  ba§  alfo  ber  permeintlidfe  gufammen« 
hang  3tpifchen  ber  büjieren  5<**be  unb  ber  büfteren  Stimmung 
fein  fo  3toingenber  fein  mujj,  tpie  roir  unter  bem  <£mfluffe 
ber  (Setpohnhett  an3unehmen  geneigt  fmb;  bei  bem  TXianne 
bilbet  bas  Schwaß:  ber  fcha>ar3e  5radC  bas  (5efellfchafts* 
unb  5*ftfleib.  2tber  immerhin  3ugegeben,  ba§  bie  \d\wax$e 
Saxbe  ber  (Trauer  am  abäqnateften  fei,  ifl  es  benn  wahr, 
ba§  bas  pom  tiefften  Schmer  erfüllte  (ßemüt  ein  Bebürfms 
empftnbet,  ber  Stimmung  burch  bas  Kleib  2lusbrucE  3U  geben? 
3ch  foHte  meinen,  ba§  einer  5rau,  bie  h^nberingenb  an  ber 


2^S        Kapitel  IX*   Die  feciale  IHedjantf,   Das  Sittliche* 

'Ballte  bes  Kinbes  ober  bes  (Satten  fniet,  jeber  anbete  (5c* 
baute  näher  läge  als  ber,  ftch  Crauerfleiber  anmeff en  3U 
laffen  ober  f elber  bie  Habel  3ur  f}anb  ju  neuntem  3n  VOxtt* 
lidtfeit  entfpricht  bies  fowenig  ihrer  Stimmung,  baß  [317] 
fte  berfelben  im  (Segentetie  bie  größte  (Sewalt  antun  muß, 
um  ftch  bem  gwangsgebote  ber  Sitte  3U  fügen.  5ie  tut  es 
nicht,  weil  fte  will,  fonbern  weil  fte  muß.  (Dhne  bas  3wingenbe 
(Sebot  ber  Sitte  würben  gerabe  biejenigen,  welche  ben  Sd\met$ 
am  tiefften  empfmben,  am  wenigften  auf  folche  äußerlichfeiten 
perfallen.  23eftänbe  bas  Zltotio  ber  Anlegung  ber  Crauer* 
itad\t  in  bem  eignen  Bebürfnis  bes  (Semüts  nach  äußerlicher 
Svmbolifierung  ber  Stimmung,  warum  überläßt  bie  Sitte  es 
nicht  jebem  felber,  ob  er  biefes  Bebürfnis  empftnbet?  Unb 
warum  äußert  ftch  bies  Bebürfnis,  inbem  es  fich  3U  befrie« 
bigen  fucht,  bloß  in  ber  Kleibung,  warum  nicht  auch  in  ber 
häuslichen  (Einrichtung,  warum  machen  nicht  auch  h^r  bie 
hellen  5<*rben  ben  bunflen  plafe:  bie  Vorhänge,  (Sarbinen, 
Über3üge  ber  XHöbel,  bas  Cifd^eug,  Bett3eug?  ££>er  einmal 
ben  Heffey  feiner  Stimmung  in  ber  Außenwelt  wahrnehmen 
will,  bem  fteht  boch  bie  häusliche  ^Einrichtung,  bie  er  jeben 
ZHoment  por  2tugen  fyat,  ebenfo  nahe  ober  richtiger  näher 
als  bas  Kleib  unb  ber  ^ut,  mit  bem  er  außer  bem  £}aufe 
erfcheint.  <£in  Ceinwanbfabrifant  perfuche  einmal,  baraufhin 
\d\wat^e  £einwanb  3U  fabri3ieren,  er  wirb  balb  inne  werben, 
baß  er  fich  perrechnet  hat. 

lüarum  alfo  fucht  bie  fd]war3e  5<*rbe  fkf|  bloß  bas  Kleib 
unb  ben  Qut  aus,  warum  3ieht  fte  ftch  pon  allen  anbem 
(Segenftänben,  bie  man  um  fich  hat,  3urücC? 

Zfiit  biefer  5rage  treffen  wir  ben  entfeheibenben  punft: 
bas  Schwaß  ift  nicht  bes  Crauernben,  fonbern  ber  britten 
[318]  perfonen  wegen  ba,  mit  benen  er  in  Berührung  tritt, 
fte  finbet  ihre  Beftimmung  nicht  in,  fonbern  außer  bem  Crauer* 
häufe,  barum  wieberholt  fte  ftch  außer  an  bem  Kleibe  unb 


Die  Sitte*  — 


Die  Cradjt.  — 


CCrauertradjt* 


249 


bem  i}ute  (beim  männlichen  (Befehlest  als  5lor)  auch  art 
bem  fd^toarsen  Hanbe  ber  örieffut>erts,  bes  papiers,  am 
Siegellacf,  fur3  bie  \diwav$e  5a*be  fehrt  ihr  2tntlit$  nicht  bem 
(Erauernben,  fonbern  ber  Stußenwelt  3U,  jte  ift  eine  unabläffig 
in  Erinnerung  gebrachte  Cobesan3eige. 

gu  welchem  <§wecf?  <£r  liegt  offen  vov.  Das  Schwaß 
foll  eine  Scheibewanb  3iehen  3wifchen  bem  Schmer  unb  bem 
Sd?er3,  bem  Kummer  unb  ber  5reube,  es  foll  ben  Crauemben 
jkhern  gegen  bie  Qeiterfeit  ber  Welt  unb  bie  ^eiterfeit  ber 
IDelt  gegen  ihn. 

3hn  gegen  bie  Ejeiterfeit  ber  IDelt.  Das  fchwar3e  <Be* 
voanb  ift  bie  fymbolifche  Bitte  um  Schonung  für  ein  wunbes 
(ßemüt.  ZHan  fann  barauf  ben  befannten  Safe  anwenden: 
hic  niger  est,  hunc  tu,  Romane,  caveto,  frei  überfefet:  f ehrsame 
bracht,  ^Jung'  in  acht.  Der  biege  2tnblicf  ber  Crauerfleibung 
bewirft  in  jebem  Reitern,  ber  nicht  gcu^lich  roh  un&  gefühllos 
ift,  einen  fofortigen  IDechfel  ber  Stimmung  unb  eine  ihr  ent* 
fprechenbe  änberung  bes  Unterhaltungstons,  ben  Übergang 
ber  Conart  aus  Dur  in  VCioVL  —  ber  Scher5  oerftummt,  bie 
Fjeiterfeit  entflieht,  bas  Cachen  erftirbt  auf  ber  £ippe,  man 
rernimmt  ben  fernen  Klang  ber  Cotenglocfe. 

Die  £i eiterfeit  ber  IDelt  gegen  ihn.  Das  Cauergewanb 
[319]  foll  feinen  Cräger  fernhalten  t>on  ben  ©rten,  wo  bie 
5reube,  bie  Fjeiterfeit,  ber  Scher3  ihren  Sife  aufgefchlagen  höben. 
3nbem  es  ihm  unausgefefet  fein  Ceib  in  Erinnerung  bringt, 
foll  es  ihm  ftets  bie  ZlTahnung  gegenwärtig  erhalten,  ba§  er 
nicht  hinein  gehört  in  eine  (Sefellfchaft,  in  ber  man  fcherst, 
lacht,  fingt,  3ed]t,  tan3t,  fm*3  bie  Crauerfleibung  foll  wie  ben 
Scher3  unb  ben  5rohpnn  t>on  ihm,  fo  auch  ihn  t>on  ihnen 
fernhalten. 

Die  Crauerfleibung  wirb  beim  ZVüaune  regelmäßig  burch 
einen  bloßen  5Ior  erfefet.  JDarum?  5ühlt  ber  Zfiann  ben 
Schmer3  weniger?    IDäre  bie  oben  3urücfgewiefene  pfycho» 


250      Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjantf*   Das  Sittliche» 

Iogifdje  Deutung  ber  CrauerHeibung,  bie  fie  auf  bas  ?3e* 
bürfnis  nadj  äußerer  Svmbolifterung  ber  Seelenftimmung 
3urücffül)rt,  bie  richtige,  fo  müßten  toir  bie  5rage  bejahen. 
Die  Trauer  bes  2Hamtes  a>ürbe  ftdj  bann  $u  ber  bes  IDeibes 
r>ert|alten  tote  ber  5lor  3um  Crauerfleib!  IDarum  entbinbet 
bie  Sitte  ben  Xfiann  von  lefeterem?  Weil  fein  Beruf  bie 
Anlegung  besfelben  t>ielf  adj  unmöglich  macfyt.  Dem  Solbaten 
unb  Beamten  ift  bie  beftimmte  Cracfyt  oorgefdjrieben,  bie  er 
nxdit  mit  bem  Crauerfleibe  »ertaufdjen  barf.  <£benfou>enig 
fönnen  21rbeitsleute,  Cagelöfyter,  J}anbtr>erfer  bei  ber  Arbeit 
tfyr  21rbeitsfoftüm  ablegen,  unb  fo  Ijat  benn  bie  Sitte  aus 
praftifdj  3u>ingenben  ZSücfftdjten  jte  unb  ben  2ftann  überhaupt 
mit  bem  bloßen  5lor  abgefunben.  XOenn  letzterer  aud?  feinem 
finnlidfen  <£mbru<Je  nadj  hinter  bem  fd}tt>ar3en  Kleibe  ber 
5rau  toeit  3urücfbleibt,  fo  reicht  er  bodj  [320]  als  <§eid?en 
ber  Crauer  für  ben  gtoeef  »oEfommen  aus,  —  ein  aber* 
maliges  2lrgument  für  bie  pon  mir  »erteibigte  2luffaffung. 

Das  (ßegenftüdP  bes  Crauerfleibes  bilbet  bas  5eftfletb. 
äußerlich  unterf Reiben  fidf  beibe  baburefy  baß  erfteres  abfolut 
erfennbar  ift,  lefeteres  nidjt  —  ben  Crauernben  erfennt  man 
fofort  an  feinem  Kleibe,  bas  ^eftfleib  bes  2trmen  tfl  faum 
fo  gut  als  bas  21Htagsfleib  bes  Heidjen.  (£s  gibt  tr>eber 
eine  beftimmte  5<**&e,  nodi  einen  bestimmten  Schnitt,  ber  bas 
5efifleib  t>on  bem  geioöljnlidien  (21tttagsfleib)  unterfcfyebe, 
basfelbe  Ijebt  fid)  t>on  lefcterem  bloß  relatio  ab,  nämlidj 
baburd?,  baß  es  nadj  ben  Perfyältniffen  bes  Crägers  beffer, 
gewählter  ift  als  bas  2lHtagsfleib,  oft  lebiglidj  baburdj,  baß 
es  neu  tji,  Der  Bauernburfcfye  unb  ber  I}anbtr>erfer  trägt 
am  Sonntaq  einen  befferen  Hocf  als  alltags,  r>ielleidrt  einen 
fdjledjteren,  als  in  bem  anbere  getpöljnlidj  erfdjeinen.  Die 
Firmelung  unb  bie  Konfirmation  bringt  ben  Kinbern  neue 
21n3üge,  bie  £}odfteit  ber  Braut  ein  neues,  bisher  nod?  nidjt 
getragenes  Kleib,  in  beiben  fällen  tnelleidjt  faum  fo  gut  als 


Die  Sitte*  —  Die  Cradji  —  Das  feftfietb,  25\ 

bas  2lQtagsfleib  bes  Pomehmen  Kinbes  ober  ber  Pornehmen 
5rau;  bas  einige  2lb$exdien,  an  bem  man  I^ter  bie  öraut 
erfennt,  ift  ber  Krans!  Zluv  ber  ZlTann  ber  Ijöfyeren  Stäube 
barf  fich  rühmen,  eine  $ovm  bes  Kleibes  3U  befifcen,  bie  fchon 
als  folche  bie  Ungetpöhnlichfett  ber  Peranlaffung  ober  Sage, 
bie  ben  Cräger  3um  einlegen  besfelben  beftimmt,  funbgibt: 
ben  fchtDar3en  5racf ,  aber  ein  [321]  ausfchließliches  5eftfleib 
bilbet  auch  er  nicht  —  bie  Sitte  fennt  feine  eigentümliche 
Se\ttxad[t  Das  5eftfleib  bleibt  alfo  hinter  bem  Crauerfleib 
in  be3ug  auf  feine  €rfennbarfeit  3urücf,  bei  lefcterem  ift  bie- 
felbe  abfoluter,  bei  biefem  bloß  relativer  2lrt. 

<£in  anberer  Unterfchieb  3tpifchen  beiben  befteht  barin, 
ba§  bas  Crauerfleib  bauernber,  bas  ^efifleib  porübergehenber 
2trt  ift.  £efcteres  macht  fofort  mit  feiner  Peranlaffung  ber 
2tntagstracfyt  plafe,  bie  Crauerfleibung  toirb  längere  «§>eit 
hinburch  beibehalten  —  bie  5reube  fliegt,  ber  Sehnte^  bleibt. 

(Ein  britter  Unterfchieb  3tpifchen  beiben  befielt  barin,  bafc 
bas  5eft?leib  ben  2lnläffen  gemeinfamer  5reube  vorbehalten  ift 
Dies  brücft  fchon  ber  Ztame  5^ftHeib  aus.  <£in  5eji  (ebenfo 
bie  dies  festi  ber  Homer,  pon  benen  ber  ZTame  entlehnt  ift) 
bebeutet  ein  gemeinfames  5*te*n  (€ntt)altung  pon  ber  2lrbeit), 
Pereinigung  3ur  gemeinfamen  tfreube  (S.  H58).  <£in  ^eft  fann 
niemanb  allein  begeben,  3um  ^efte  gehören  bie  5eftgenoffen; 
bie  Sitte  aber  perlangt,  ba§  alle  5eftgenoffen  bas  5eftfleib 
anlegen.  Das  Crauerfleib  bagegen  erfcheint  gleichmäßig  bei 
gemeinfamer  toie  bei  inbiptbueller  Crauer;  man  trauert  nicht 
bloß  um  ben  Derluft  ber  Seinigen,  fonbern  auch  bei  fehleren 
Schlägen,  bie  bas  Daterlanb  getroffen  Reiben  (£anbestrauer). 

Den  Einlaß  3ur  Anlegung  bes  5^ftfleibes  bieten  teils  bie 
trächtigen  5cimilienereigniffe  (Kmbtaufe,  Konfirmation,  [322] 
Firmelung,  fjodtfeit),  teils  bie  firchlichen  unb  öffentlichen  5ejie 
unb  5^i^lichfeiten,  für  bie  nieberen  Klaffen  unb  bie  Kinber 
felbft  ber  Sonntag  (ber  Sonntagsrocf),  teils  bie  gefelligen 


252 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Illecijantf*   Das  Stttlidje. 


gufammenfünfte.  Der  §roecf  ift  überaß  berfelbe:  Anregung 
unb  (Erhaltung  ber  freubigen  Stimmung  burd?  Dergegen* 
ftänblidjung  ber  5?eube  in  ber  äußeren  firfdjeinung  ber  ge* 
pufeten  5^P9^no(fen.  3eber  foß  fdjon  burd]  ben  Jlnblicf  an 
ben  <gtx>ecf  bes  gufammenfeins  erinnert  toerben;  mit  bem 
2Ißtagsrocf  foß  er  audj  bie  2tßtagsftimmung  aus»,  mit  bem 
5eftfleib  bie  ^eftfiimmung  an3iefyen,  Das  ift  bie  2tbjtd?t, 
tseldje  bie  5itte  babei  im  21uge  fyat.  3*1*  Wtotw  ifi  alfo 
it>ieberum  ein  fo3ia!es,  gan3  fo  roie  bei  bem  Crauerfleibe. 
2Iud?  bas  5eftfleib  ifi  eine  2Irt  ber  Cracfyt,  b.  ber  burd? 
bie  Sitte  erforberten  Kleibung;  man  legt  es  nicfyt  bloß 
feinetoegen  an,  voeil  unb  infofern  man  f elber  bie  freubige 
Stimmung  empfmbet,  ber  es  2tusbrucE  geben  foll,  fonbern 
man  tut  es  ber  anbern  roegen,  um  ben  eignen  Anteil  an  ber 
gemeinsamen  5*eube  3U  befunben,  es  ifi  ber  Seitrag  jebes 
ein3elnen  3ur  ^eftftimmung.  2üxdj  beim  5eftfleib  ijl  mithin 
bas  IHotio  nxdit  inbir>ibueßer  2lrt,  nid]t  bas  äfttjetifdje  ober 
pfYC^oIogtfd]e  23ebürfnis,  ber  eignen  Stimmung  2(usbrucf  311 
geben  —  toäre  bies  ber  5aß,  fo  fönnte  man  es  bamit  galten, 
n>ie  man  troßte,  unb  man  nmrbe  and\  bei  2lnläffen  3U  rein 
inbipibueßer  5^^ube  (3.  ö.  bei  einer  23eförberung,  beim  (Setxunn 
bes  großen  Cofes)  ben  5eftrocf  an3ietjen,  u>as  [323]  befannt» 
lief]  nicfyt  gefcfyefit  —  fonbern  bas  ZHotis  ift  fo3taI»praftifd?er 
2lrt,  es  ift  bie  Sitte,  bie  ettoas  bamit  für  bie  <5efeflfd?aft 
erreichen  tt>iß,  unb  bie  man  mit3umad}en  fyat,  es  mag  einem 
ums  £}er3  fein  tt>ie  es  tr>iß  —  iB?re  23id}tbead]tung  enthält 
einen  gefeflfcfyaftlicfyen  Derfloß,  eine  Bücfficfytslofigfeit  gegen 
f amtliche  übrige  Ceilnefymer. 

Daß  bie  Sitte  ben  §tt>ecf,  ben  fie  babei  im  2Iuge  l?at, 
baß  bas  Kleib  nidjt  bloß  äußerlid)  Stimmungsträger,  fonbern 
audj  innerlich  Stimmungstoecfer  fei,  n\d\t  burd)tt>eg  erreicht, 
ftefyt  bem  nidjt  im  &)ege.  5ür  ben  blajterten  2Tfenfd]en  ifi 
ber  SocF,  ben  er  ansieht,  üößig  einflußlos,  feine  Stimmung 


Die  Sitte.  — 


Die  (Eradjt.  —  Das  feftfleib. 


253 


ift  immer  biefelbe  gleichmäßig  gelangweilte  —  bas  ^eftfleib 
hat  über  ihn  feine  Xfiadit  2lber  er  ift  es  ja  auch  nicht,  ber 
bas  5eftffei&  erfunben  i|at,  fonbern  bas  ift  gewefen  ber  natür- 
liche, geifttg  gefunbe  ZHenfch,  ber  bas  Sebürfnis  empfmbet, 
bie  fparfam  3ugemeffenen  2lnläffe  3U  erhebenber  5*eube  burch 
Ceilnahme  anberer  3U  ftetgem,  ber  fich  noch  voll  freuen 
fannf  unb,  um  es  3U  fönnen,  ftch  mit  anbeten  freuen  muß. 
5ür  ihn  ftecft  in  ber  Cat  im  Hocfe  bie  5reube  felber,  er  3ieht 
mit  bem  5eft*  ober  Sonntagsrocf  einen  anbern  als  ben  21H» 
tagsmenfchen  an,  unb  gan3  basfelbe  »erlangt  er  auch  von 
feinen  (ßenoffen.  <£in  Bauemburfdje,  bem  am  5onntag  ber 
Sonntagsrocf,  ein  Kinb,  bem  bei  ber  Konfirmation  ber  neue 
2ln3ug,  eine  33raut,  ber  bei  ber  Crauung  bas  bloß  für  biefen 
Hnla%  gefertigte  Efod^eitsfleib  fehlte  ,  [324]  würben  ben 
ZTTangel  beffen,  was,  wie  bie  Sprache  ftch  ausbrücft,  „einmal 
mit  ba3u  gehört''  bitterlich  empfinben,  benn  wenn  fie,  toas 
in  biefen  brei  fällen  faum  an3unefymen  fein  würbe,  auch 
felber  für  fich  über  bie  Sitte  ergaben  wären  unb  in  ihr  nur 
eine  wert»  unb  bebeutungslofe  Sußerlichfeit  erblicfen  würben, 
fo  würben  fte  boch  bas  Urteil  ber  anbern  fdjeuen  unb  berent- 
wegeu  es  so^iehen  ftch  ber  Sitte  3U  fügen.  Die  TXiadtt, 
welche  bie  Sitte  in  biefer  lefeteren  Hichtung  ausübt,  ift, 
wie  bie  (Erfahrung  3eigt,  eine  unwiberftehliche,  fie  erinnert 
an  bie  Cyrannei  ber  ZtTobe.  Selbft  ber  2Irme  erträgt  lieber 
alle  Ztot  unb  €ntbe!jrung,  als  baf$  er  bei  folgen  (Belegen* 
Reiten  burch  ben  UTangel  bes  5eftfleibes  bas  öffentliche  <ße* 
ftänbnis  feiner  2lrmut  ablegt  —  bas  £eii$aus  wirb  nie  mehr 
belagert,  als  bei  <5elegenheit  t>on  öffentlichen  5ejien  unb 
5eierltch?eiten,  bas  £e&te  geht  barauf,  um  3U  bofumentieren, 
ba§  man  „mit  ba3u  gehört"  unb  l[\ntet  ben  anbern  nid^t 
3urürf3ubleiben  braucht.  <£in  wahres  Kabinettftücf  für  biefe 
tyrannifche  gwangsgewalt  ber  Sitte  über  bas  gemeine  Dolf 
hat  3ean  paul  in  feiner  Cenette  im  Stebenfäs  geliefert;  fie 


25^ 


Kapitel  IX.  Dt*  fatale  ITCedjantf.  Das  Sittliche* 


erträgt  voiüiQ  unb  ohne  3U  murren  bie  fchtoerften  (Entbehrungen, 
aber  in  ihrem  grillierten  Kattunfleibe,  mit  bem  fte  Sonntags 
öffentlich  erfcheint,  unb  in  ihrem  ^eftfuchen  flecft  für  fie  ber 
lefete  Hefl  ihrer  faialen  Stellung,  ber  SttolfaoLlm,  an  bem 
ftch  i^re  Selbftachtung  anflammert. 

3ch  faffe  bas  (ßefamtrefultat  ber  gan3en  bisherigen  [325] 
Ausführung  über  bie  Cracht  in  ben  Safe  3ufammen:  bie 
Cracht  h<*t  ein  foiales  unb  $wav  praftifches  Zfiotb.  Damit 
haben  toir  für  fte  basfelbe  Zfiotxv  gewonnen  txne  für  bie 
ZlTobe  (S,  \80ff.),  nur  freilich  mit  bem  öffentlichen  Unter* 
fchiebe,  ba§  bie  2lf3entuterung  ber  gefeUfchaftlichen  Stellung, 
welche  ben  gtoeef  ber  tltobe  bilbet,  im  eignen  3ntereffe,  bie 
Befolgung  ber  burch  bie  Sitte  sorgefchriebenen  Cracht  ba* 
gegen  in  bem  ber  (SefeHfchaft  gefdjieht;  aber  l^tcr  wie  bort 
muß  bie  (ßefeßfdjaft  in  23e3ug  genommen  werben,  um  beibe 
begreiflich  3u  machen,  bas  bloße  3n^i°i^uum  ™i*  feinen 
inbixnbuellen  Steigungen,  Sebürfniffen,  Stimmungen  reicht 
ba3u  nicht  aus. 

Die  hie*  entwicfelte  2tnfid?t  über  bas  fo3ial«praftifche 
ZHotir>  ber  Cracht  finbet  eine  gan3  erhebliche  Unterftüfeung  in 
ber  fiaatlich  r>orgefchriebenen  Cracht:  ber  Amtstracht,  in  ber 
wir  unferer  obigen  Ausführung  3ufolge  (S.  233)  ein  Stücf  mit 
ber  5orm  bes  Hechts  befleibeter  Sitte  erblicfen.  Die  gurücf* 
führung  berfelben  auf  ein  äftljetif djes  ZHotro,  welche  bei  ber 
burch  bie  Sitte  t>orge3eichneten  Cracht  wenigfiens  noch  einen 
gewiffen  Schein  für  ftch  h<*t,  f chließt  ftch  hier  x>on  felbfl  aus, 
bie  Abftcht,  bie  ben  Staat  babei  leitet  —  unb  basfelbe  gilt 
r>on  ber  Kirche  in  be3ug  auf  ihre  Diener  —  ift  3weifellos 
nicht  barauf  gerichtet,  bem  Schönheitsfinn  ihrer  Cräger  ober 
bes  publifums  Ztahrung  3U  gewähren,  ben  Hichter  unb  ben 
<5eiftlichen  heraus3upufeen,  bamit  fte  (Segenflanb  bes  eignen 
unb  fremben  finnlichen  tPohlgefattens  feien,  [326]  fonbern 
bie  Cracht  h<*t  einen  ernften,  praftifchen  §wecf,  fte  foD  ihren 


Die  Sitte*  —  Die  Cradji  —  Die  2Imtstrad)t*  255 


Cräger  unb  bie  Welt  an  bas  erinnern,  was  ber  UTann  vov 
ftellt,  bebeutet  UTit  ber  prfoattradtf  foH  er  audj  ben  prtoat* 
menfdjen  ablegen  unb  ben  Diener  bes  Staats  ober  ber  Kirche 
anstehen,  er  foH  ftdj  nidjt  bloß  felber  als  ein  anberer  füllen, 
fonbem  aud}  ber  JDelt  als  foldjer  erfdjeinen.  Der  Bieter, 
ber  ben  Calar  anlegt,  tjt  —  bas  foH  ber  Catar  bebeuten  — 
nid?t  mefyr  berfelbe  Ulann,  mit  bem  bie  Parteien  nodj  fur3 
sorfyer  beim  (Slafe  lüein  3ufammen  gefeffen  unb  gefdjer3t 
I^aben:  ber  gute  23efannte,  liebensroürbige  (SefeUfdjafter, 
Du3bruber,  ber  ZTlann  iji  ein  anberer  getoorben,  an  feiner 
perfon  iji  fo3ufagen  ein  anieves  Hegifter  aufgesogen,  alte 
perfönlidjen  23e3tel|ungen  ftnb  abgejlreift,  er  ift  ber  Cräger 
unb  Vertreter  ber  jiaatlidjen  ZlTadjt,  ber  perfönltdj  ber  partet 
ebenfo  fremb  gegenüberfiel|t,  toie  ein  t>öHig  Unbefannter,  unb 
biefe  <Lat\adie  foH  bie  Cracfyt  itjr  unb  ifym  unausgefefet  gegen* 
»artig  erhalten.  Kur3,  bie  Jtmtstradjt  tjat  benfelben  gtoeef, 
toie  bas  Iraner*  unb  bas  $eftileit>:  Stimmungstoecfer  unb 
Stimmungsträger  3U  fein»  Daburd?  unterfdjeibet  ftcfy  bie 
ilmtstradtf  t>on  ber  Uniform  bes  Ulilitärs,  festere  t|at  in 
erjier  £inie  ben  gvoed,  Unterfdjeibungsmerfmal  3U  fein,  fou?oI|I 
in  be3ug  auf  ben  (Segenfafe  bes  XHilitärs  3um  gtoü,  als  in 
be3ug  auf  bie  milttärifd^en  <5rabe;  ob  bie  Uniform,  nidjt  ab* 
gefeljen  bat>on,  nodi  iljren  fyofyen  Wext  Ijat,  fteljt  tjier  nxdit 
3ur  5rage,  \d\  roerbe  bie  Srage  am  geeigneten  0rt  aufnehmen* 
5ür  ben  Siebter  unb  ben  (Seijilidjen  bebarf  [327]  es  eines 
folgen  Unterfdjeibungsmerfmals  nidjt;  ber  plafe  ifyrer  amt* 
liefen  Cätigfeit:  bie  <5erid}tsjiätte,  ber  2lltar,  bie  Kan3el 
fenn3eid]net  beibe  3ur  (Senüge  als  bas,  tx>as  jte  oorjiellen, 
für  beibe  bleibt  alfo  als  ZHotio  ber  2lmtstradjt  nur  bie  an- 
gegebene Deutung  übrig* 

<£s  iji  bies  tüieberum  ein  neuer  Seleg  für  bie  tjolje  gefeH- 
fdjaftlidje  iJebeutung  ber  5orm.  2luf  ber  Cradtf  bes  Hidjters 
unb  <5eijilidjen  beruht  ein  gutes  Seil  itjrer  IDirffamfeit  Der 


256        Kapitel  IX.   Die  feciale  lTCed?antf.   Das  Sittliche. 

(ßeiftltdje  im  ©berroefe  vor  bem  21ltare,  ber  Bidjter  in  bem* 
felben  Koftüm,  in  bem  er  foeben  bie  tt?einfcf)änfe  ober  bie 
23ierbanf  t>erlaffen,  tsürbe  bes  fiinbruefs  üerfeljlen,  er  würbe 
bie  (Erinnerungen  unb  Dorflellungen,  bie  barem  haften,  nicht 
3U  übertmnben  vermögen,  3nbem  bie  Cracht  ihn  berfelben 
entfleibet,  leiftet  fte  feiner  IDirffamfeit  Dorfchub,  förbert  fte 
ben  §voed  bes  2lmts  felber,  es  ift  alfo  toieberum  ber  <5e» 
fichtspunft  ber  fittlidi*abminifulierenben  5unftion  ber  Sitte, 
bei  bem  rotr  fchließlich  auch  J|ier  anlangen.  3)ie  Sitte  ift 
nicht  bie  ZTloral,  bie  Cracht  nicht  bas  2tmt,  aber  Sitte  unb 
Cracht  leiten  beiben  bie  erheblichften  2)ienfte. 

Unb  barum  fott  man  bie  Cracht  nicht  gering  fehlen.  <£s 
fteeft  mehr  in  ihr,  als  eine  Ijeut3utage  t>iel  verbreitete  2lnftd?t, 
bie  in  ihr  nur  ettoas  rein  äußerliches,  innerlich  völlig  (Bleich* 
gültiges  unb  Bebeutungslofes  erblicft,  annimmt.  €s  ijl  bies 
bie  2lnftcht  ber  feierten  flachen  21ufflärung,  tvelch*  ftch  ben 
Schein  gibt,  als  erfaffe  fte  bas  IDefen  ber  Sache,  bas  einmal 
mit  bloßen  2Jußerlich?eiten  nichts  [328]  gemein  ^abe,  ber 
Hochmut  unb  Dünfel  bes  5lach?opfs,  ber  von  bem  tvahren 
iDefen  ber  Sache,  bas  auf  ber  innigen  Derbinbung  von  5orm 
unb  3n^a^  beruht,  feine  2lhnung  tiat.  Unfere  Dorfahren 
tvußten  fehr  tvohl,  was  bie  5orm  bebeutete,  unb  Ijaben  fte 
ängftlich,  vielleicht  im  Übermaße  gepflegt,  unb  gerabe  burch 
ben  legten  Umftanb  mag  bie  (Dppofition  unb  Heaftion  ba« 
gegen,  welche  fich  als  bie  Strömung  ber  heutigen  geit  be« 
3eichnen  läßt,  hervorgerufen  fein*).  2lber  in  ihrer  Abneigung 


*)  IDer  ein  aufmerffames  2luge  für  bas  Heben  tjat,  bem  wixb  es 
an  belegen  für  liefen  von  mir  behaupteten  unferer  gett  3ur  ^orm* 
lofigfeit  ntdjt  fehlen.  2lus  ber  ?ur3en  Spanne  <§eit,  bie  id?  perfönltd? 
überfdjaue,  fönnte  idj  manage  anführen.  3n  Sitzungen,  3n  betten  man 
fonft  im  (frarf  erfdjten,  erfdjeint  man  jet$t  im  (Dberrotf.  IDarum  audj 
ntd?t?  Der  HXann  ift  ja  berfelbe!  XHtt  bem  (Dberrocfe  fyat  bann  fieüett^ 
t»etfe  audj  bie  gigarre  «gutrttt  erhalten;  idj  fönnte  ein  fiodjangefetjenes 


Die  Sitte*  —  Die  Umgangsformen* 


257 


gegen  bas  Übermag  iji  fte  felber  über  bas  richtige  7Xla% 
hinausgefchoffen,  unb  ich  glaube  nicht  als  falfcher  prophet 
erfunben  311  tserben,  tr>enn  ich  proph^eihe,  baß  bie  gufunft 
auf  (Srunb  ber  (Erfahrungen,  bte  fie  mit  ber  ^ormlojtgfeit 
machen  u>irb,  bas  ihr  ahliaxibm  gefommene  Derftänbnis  für 
bie  5orm  roieberum  geroinnen  unb  3ur  (Einfielt  gelangen 
[329]  u>irb,  baß  im  Kleibe  ein  Stücf  Stimmung,  eine  getoiffe 
Garantie  bes  Benehmens  fteeft  —  ber  Gimmel  im  $vad  ift 
boch  nicht  gan3  berfelbe  u>ie  ber  im  ©berroef,  er  fühlt  fich 
„geniert",  unb  gerabe  bas  foll  er» 
9)  Die  Umgangsformen. 
Überall,  bei  allen  Dölfem  unb  auf  allen  Kulturftufen, 
fmben  tx>ir  getoiffe  formen  unb  formen  in  Übung,  u>eld?e 
bas  3nbir>ibuum  in  feiner  perfönlichen  Berührung  mit  anbern 
3u  beachten  pflegt,  unb  welche  toir  mit  ber  Sprache  als 
Umgangsformen  be3eichnen.  So  üerfchtebenartig  biefelben 
auch  iwt  ein3elnen  geftaltet  finb,  fo  ift  ihnen  boch  berfelbe 
(5runb3ug  gemeinfam:  baß  bie  öffentliche  UTeinung  ihre  Be« 
achtung  erheifcht,  unb  ihre  Nichtbeachtung  als  einen  „Der* 
fto§"  gegen  bas  hergebrachte  rügt  U?ie  „Der -gehen" 
unb  Übertretung  fprachltch  bie  2tbu>eichung  r>om  pfabe 
bes  Hechts  charafterifiert ,  „Perirrung"  bie  t>on  ber 
Bahn  ber  ZHoral,  „Sünbe"  bie  t>on  bem  XDege  ber 
chriftlichen  Frömmigkeit,  fo  „2lnfto§,  Derftog,  anftößig" 


Kollegium  nennen,  bei  bem  bie  entfielen  (fragen  gemütlidj  bei  ber 
«gigarre  abgetan  merben.  IDarum  auefy  nid?t?  Das  Hauten  erleichtert 
ja  bas  Denfen!  (Es  fefylt  nur  nodj  bas  Bier  bei  ben  Sulingen,  bas, 
tpenn  aud?  nicht  bie  Denffraft,  fo  bod?  bie  Stimmung  in  rorteilfyafter 
IPeife  3U  beeinfluffen  permag.  2lls  letjter  Schritt  auf  bief er  Balm  bliebe 
bie  Verlegung  ber  Si^ungen  in  Bierlofale  übrig.  Die  frage  von  ber 
anftänbigen  form  bes  (Erf Gemens  r>or  (Serid?t  fpielte  ben  Leitungen 
3ufolge  neulich  bei  einem  bayrtfcfyen  (Sendete,  rvo  ein  2lbüofat  bei  ber 
(Seriems  fitjung  in  bunten  Beinfleibem  erfreuen  tuar;  bie  ^ofenfrage 
rvaxo  hier  (Segenftaub  gerichtlicher  (Entfcbetbung. 

v.  3 gering,  Per  §n?ec?  im  Hed?t.  II.  j[7 


258 


Kapitel  IX.   Die  foiale  Itledjanif.   Das  Sittliche* 


bie  2lhweid\ung  von  ben  t>orge3eichneten  formen  bes  perfön* 
liefen  Derfehrs. 

Der  Umftanb,  baß  toir  ben  festeren  formen  überaß  be- 
gegnen, hätte  fte,  foHte  man  meinen,  längft  3um  (Segenflanbe 
bes  tpiffenfehaftlichen  2tachbenfens  machen  müffen.  (Eine  <£r- 
fcheinung,  feie  auf  ben  niebrigften  t^ie  auf  ben  haften  Kultur- 
ftufen  fich  gleichmäßig  txneberholt  unb  3toar  gerabe  auf  erjleren 
in  einer  Schärfe  ber  2lusbilbung  unb  peinlichfeit  ber  Seob* 
achtung,  hinter  ber  bas  Hecht  [330]  unb  bie  ZHoral  tseit 
3Ürücfbleiben*),  muß  boch  tt>ohl  3toingenbe  (ßrünbe  für  fich 
I^aben.  JDorin  beftehen  biefelben?  £tach  einer  auch  nur 
einigermaßen  befriebigenben  2lntoort  barauf  fehen  roir  uns 
vergebens  um,  bei  feinem  Seil  unferes  £ebens  ift  bie  toiffen- 
fchaftliche  €rgrünbung  unb  (Erkenntnis  fo  fc^r  hinter  ber 
Satfächlidjfeit  3urücfgeblieben,  tr>ie  bei  biefem.  Die  Heifenben 
berichten  uns  über  bie  formen  unb  (gebrauche  bes  Derfehrs 
bei  unlben  Dölfern,  aber  bas  3ntereffe,  mit  bem  tt>ir  ihre 
Serichte  entgegennehmen,  erfchöpft  fich  regelmäßig  in  ber 
Perrounberung  über  bas  5rembartige,  5eltfame,  2Ibfonberliche 
biefer  formen,  ohne  uns  3U  einem  einbringenben  ZTachbenfen 
über  ben  <5runb  berfelben  an3uregem  (Es  ftnb  IDunberlich. 
feiten,  b.  h*  Dinge,  bie  u>ir  bamit  abtun,  baß  toir  uns 
ttmnbern,  tsomit  toir  bas  (Seftänbnis  ablegen,  fie  nicht  3u 
perftehen. 

Selbft  um  bas  Derftänbnis  unferer  tieutigen  Umgangs- 
formen fteht  es  mit  uns  nicht  beffer,  nur  freilich  aus  anberen 
<5rünben.  3eber  (Sebilbete  fennt  fie,  fott>eit  er  fte  praftifch 
3ur  2lnrr>enbung  3U  bringen  hat*  2lber  bamit  hat  es  auch 
fein  (Enbe.  <£r  fennt  fie  roie  bie  meifien  ZTTenfchen  ihre 
XHutterfprache,  b,  h«  ex  roenbet  fie  richtig  an,  ohne  fich  ihrer 


*)  Darüber  im  brüten  Banbe  bei  (Selegettfjeit  ber  fyftorifdjen  33e* 

tracfyttmg  ber  Umgangsformen* 


Die  Umgangsformen*  —  UTangelfjafte  tfjeorettfdje  (Erfenntnts*  259 

(ßrünbe,  ja  nur  einmal  ber  Hegel  felber  ftar  beamßt  3U  fein. 
Unfer  öetxmßtfein  erftrecft  jld?  regelmäßig  xxid\t  weiter,  als 
es  burd}  Derftöße,  bie  toir  dagegen  [331]  im  Sieben  xval(t> 
nehmen,  geu>edt  n>irb;  tote  fo  oft  wirb  audj  Ijier  bas  pojttipe 
erji  burcfy  bas  ZTegatipe  ber  <£rfenntnis  ©ermittelt  —  ber 
2Tiytl}U5  t>om  SünbenfaH.  (Bar  vieles  von  i>em,  was  einft 
auf  längft  überrounbenen  Kulturftufen  bie  Kegel  bübete,  unb 
von  bem  bie  <5efittung  ben  KTenfdjen  erfi  aHmäfyidf  fyat  be* 
freien  muffen,  ifi  Ijeut3utage  in  ber  gebilbeten  <5efetlfd}aft  fo 
gän3ltd?  unmöglich  geworben,  baß  bas  2luge  bes  (ßebilbeten 
es  faftifd)  nie  mel)r  tpafymimmt.  Daß  bie  aßmäfylidje  <£nt* 
roidlung  bes  21njtanbsgefüt}ls  basfelbe  Ijat  erji  ausrotten 
unb  abtun  muffen,  baß  alfo  audf  tyet  Kegeln  bes  21nftanbes 
vorliegen,  toeldte  uns  gegen  basfelbe  fcfyü&en,  beren  u>ir  uns 
nur  nicfyt  beumßt  finb,  fommt  uns  nur  barum  nicfyt  in  ben 
Sinn,  roetl  biefe  Sdjicfyten  ber  Sitte  3U  ben  frütjejlen  ZTieber* 
fd?lägen  bes  gefeüfdjaftlidjen  Cebens  gehören,  beren  2lblage* 
rung  fidt  vox  allem  ZHenfcfyengebenfen  Poll3og,  —  Sdjiditen, 
fo  tief  gelagert  unb  fo  gcm3lidj  pon  ben  fpäteren  23ilbungen 
überbedt,  baß  roir  gar  feine  21fynung  bavon  haben,  baß  audj 
jte  jtdj  erji  fyaben  ablagern  müffen,  b.  lj»  baß  bie  Sitte  biefes 
Stücf  erft  tjat  f Raffen  muffen* 

So  fennen  toir  eigentlich  nur  bie  jenigen  Kegeln,  bie  auf 
ber  ©berflädje  bes  heutigen  £ebens  liegen.  Unb  felbft  biefes 
Kennen,  —  roie  bürftig  ift  es  mit  bemfelben  bejleHtl  €s  tji 
bas  Kennen  ber  praftif  d?en  2lmpenbung:  bes  Könnens,  aber 
nid]t  bas  ber  tljeoretifdjen  €infid|t:  bes  IDiffens,  b.  fy.  bes 
Haren,  toiffenfdiaftlidjen  Beroußtfeins  [332]  über  ifyre  (Srünbe 
unb  i^ren  fYftematifdjen  gufammenfyang. 

5ad\e  ber  tDiffenfdjaft  tpäre  es  getpefen,  audf  l^ier  roie 
überall  bas  bloße  Kennen  3um  IDiffen  ju  ergeben.  2lber  bie 
Aufgabe  lag  für  jte  3U  tief  unter  bem  Ztipeau  bes  toiffen- 
fdjaftlidj  IDtffenstperten.    Soll  bie  £)iffenfd)aft  unterfuc^en, 

*7* 


260 


Kapitel  IX.   Die  fatale  medjanif*  Das  Sittliche, 


warum  mir  uns  grüßen,  warum  wir  uns  erheben,  wenn 
jcmanb  ins  «gimmer  tritt,  warum  wir  uns  nicht  mit  Du, 
fonbem  mit  Sie  cmreben?  2)as  finb  Jtichtigfeiten,  äußerlich* 
fetten,  um  bie  jtch  bie  wiffenfchaf titele  (Erkenntnis  nicht  3U 
befümmem  fyaL  So  ift  benn  bie  literarifche  23ehanblung  bes 
(Segenflanbes  faft  ausfcftftepch  bem  literarifchen  (Bewerbe, 
ben  Perfaffem  von  Komplimentierbüchlein  unb  Einleitungen 
3ur  guten  Cebensart  anheimgefallen,  Einleitungen,  bie  bem* 
jenigen,  ber  fte  nötig  f?at,  in  ber  Hegel  wenig  nüfeen,  unb 
bem  jenigen,  ber  fich  im  elterlichen  fjaufe  unb  in  ber  Schule 
bes  £ebens  bie  gefeßfchaftliche  23ilbung  angeeignet  hat,  über* 
flüfftg  finb.  tlur  bie  Standen,  lange  geit  für  bie  übrigen 
Dölfer  praftifch  bie  ZHeifter  unb  Ce^rer  ber  feinen  gefellfchaft« 
liehen  Sitte*),  bürfen  bas  Derbienft  beanfpruchen,  bas  Per« 
ftänbnis  berfelben  burch  manche  treffenbe  Beobachtungen  unb 
Heflefionen  geförbert  3U  h^ben,  währenb  ber  biefem  <5egen« 
fianbe  gewtbmete  gweig  ber  beutfeben  Ctteratur  bis  in  bie 
neuefte  geit  hinein,  wo  ein  [333]  gewiffer  Umfchwung  3um 
Seffern  eingetreten  ift,  ben  fiinbruef  ber  äugerften  Elrmfelig« 
feit  macht,  einer  wahren  literarischen  Sahara,  bie  höchftens 
ein  Kamel  in  Perfuchung  fommen  fann  3U  betreten,  um 
barin  feine  Nahrung  3U  fuchen,  ein  würbiges  Seitenftücf  3U 
ben  „Brief  fteHern",  Einleitungen,  um  ben  ZTTangel  beffen,  was 
bie  Bilbung  3U  befchaffen  fyat,  3U  t>erbe<fen**). 


*)  Das  IDeitere  bei  ber  gefdn'djtltcr/en  23etracr>tung  ber  Umgangs* 
formen. 

**)  3^  tiaBe  mtdj  für  ben  oorltegenben  «gtaec?  mit  btefer  Literatur 
befannt  gemalt  unb  biefelbe,  foroeit  bas  Ulaterial  ber  t)teflgen  33tblio* 
tfjef  es  mir  üerftattete,  bis  ins  fieb3ef|nte  ^afjrfyunbert  hinein  oerfolgt 
teile  meine  (Ergebniffe  fur3  mit,  fann  jebodj  bte  23emerfung  ntd>t 
unterbriiefen,  ba§  fie  tmr>ollftänbig  finb,  unb  baß  es  gemtg  ein  banfens- 
inertes  Unternehmen  fein  umrbe,  an  ber  X?anb  eines  üoflftänbigen 
Hterarif  djen  Apparats  bie  gefcr/tcr/tlidje  (Entnucflung  ber  Dorftellungen 
unb  Dorf  Triften  über  ben  feinen  Umgangston  ba^ujMen» 


Die  Umgangsformen*  —  £iterarifdje  Befjanblung*  2<o\ 


[334]  2)te  I£>iffenfd?aft  Ijat  fiel?  mit  Unrecht  biefem  (Segen- 
jlanb  abgetoanbt.  2tudj  t^icr  finbet  fte  einen  banfbaren  Stoff 


Ulan  be3eidmete  biefen  Ceti  ber  Sitte  früher  lateinifd}  als  Ethica 
complementoria,  wobei  nidjt,  tr>ie  xdf  in  ber  erjien  Auflage  ange* 
nommen,  ber  (Sebanfe  t>orfchtpebte,  ba§  bas  ändere  Benehmen  eine 
<£rgän3ung  (complementum)  bes  moralifdjen  Verhaltens  enthalte, 
fonbern,  toorauf  mid?  mein  $xennb  Un  ger  aufmerFfam  gemacht  h<*t, 
ber  ber  (Erfüllung  einer  Pflicht  (mittellat.  complere  officium) ♦  Unfer 
beutferjes  Kompliment  ift  aus  bem  (fran3öfif^en  t^inübergenommen 
(fran3*  complir.  Littre"  Dict.  de  langue  francj. :  compliment  .  .  derive 
de  l'ancien  verbe  complir,  tandisque  complement  derive  directement 
du  latin  complementum) ,  barjer  aud)  bie  entfprechenben  XPenbungen  in 
ben  übrigen  romanifd>en  Sprachen  unb  aud?  engL  comply. 

3dj  gebe  als  Beifpiel  ben  Citel  eines  biefer  VOixU  an;  Ethica 
complementoria,  bas  ift  Komplementierbüchlem,  in  meinem  enthalten 
eine  richtige  21rt,  wxz  man  fomohl  mit  offen  als  niebrigen  Stanbes* 
perfonen,  bei  (Sefellfd>aften  unb  (frauen3immern  f|od?3ierlidj  reben  unb 
umgeben  folle,  burd?  (ßeorg  (Sreff Ungern,  gekrönten  poeten  unb  Hot. 
PubL  Ittit  angefügtem  tErendjierbüd^Iein,  unb  3Üd?tigen  (Eifch*  unb 
ieberreimem  21mfterbam  <£in  anberer  Harne  bafür  tr>ar  Sitten* 
fdjule.  21ls  Beifpiel  nenne  tdj  bas  t>on  3*D*t)on  Sittemalb  batiert 
von  Sittenbad?  (alfo  offenbar  pfeubonym)  <2s  lägt  fld?  faum 

etmas  Unflätigeres  beuFen  als  biefe  „Sittenfdmle",  fte  enthält  eine 
Kolleftion  ber  fdmtut$igfien  2lneF boten,  beftimmt,  um  mittels  t^rer  bie 
Unterhaltung  3U  mürben,  Alflen  IDerFen  biefer  Kategorie  merFt  man 
es  an,  ba§  fte  r>on  ieuten  gefdjrieben  ftnb,  meldte  bie  gute  (Sefellfd?aft 
nur  r»om  ^örenfagen  fannten,  nach  2lrt  ber  Komöbianten  auf  tDtnfel* 
trjeatem,  roeldje  bie  Könige  fpielen;  fie  traben  einige  äußerlich  Feiten 
3uf ammengerafft,  orme  ben  (Seift,  ber  biefelben  befeelt,  rjerftanben  3U 
t|aben*  Das  einige  IDerF,  bas  rjon  einem  HTanne  gef  er/rieben  ijt,  ber 
fid?  felber  in  ben  höheren  (Sefellfcr/aftsF reifen  bewegt  hatte,  ift  bas  be- 
kannte bes  Jretherrn  oon  Knigge  über  ben  Umgang  mit  IHenfcfyen, 
2JufL  3,  1788,  21uff.  \2  von  Karl  (SöbeFe  *8^.  Dasfelbe  berührt  aber 
bie  Umgangsformen  nur  nebenbei  (3.  £♦  Kapitel  I,  Hr.  ^ — $8),  bas 
eigentliche  giel  besfelben  bilbet  bie  <£ntrx>erfung  einer  politif  bes  Um* 
gangs:  ber  meltFluge  IHamt.  (Hbenfo  perhält  es  ftch  mit  bem  offenbar 
burd?  bie  Kniggefche  Sdjrtft  veranlagten  breibänbigen  IDerFe  rjon  fr.  B. 
BeneFen,  IDeltFlugheit  unb  £ebensgeuu§  ober  praFtifcr/e  Beiträge  3ur 
pt|ilofophie  bes  £ebens,  ^annoper  J806,  mo  Bb*  \,  Hr.  $—8  bie  2ln* 
ftanbsregeln  be^anbelt  merben. 

2llles,  was  bie  beutfehe  Literatur  in  biefer  Hicrjtung  auf3itu>etfen 


262        Kapitel  IX.   Die  letale  med?aniF.   Das  Sittliche. 

$um  tieferen  (Einbringen ,  3 um  pfylofophtfchen  Denfen  [335] 
t>or,  auch  auf  biefem  (ßebiete  bes  Cebens  I|at  fie  (Belegen* 
heit  pdf  3U  über3eugen,  ba§  nicht  ber  <§ufaH,  bie  IDittffir, 
bie  £aune  auf  bemfelben  ihr  tx>ilbes  Spiel  treiben,  fonbern 
ba§  auch  I|ter  ber  gtr>ecf  feinen  Si§  aufgefchlagen  unb,  tote 
immer,  ©rbnung  gef Raffen  $at  Scheinbar  unb  nach  ber 
Behauptung  vieler,  bie  jtch  in  ber  eben  gefchtlberten  IDetfe 
bamit  befdjäftigt  Bjaben,  ein  roüftes  (Setoirr  t>on  lauter  äuget* 
liefen,  3ufammen^angsIofen  Befthnmungen,  fügt  ftch  bie  ZHaffe 
bei  emfier  Vertiefung  in  ben  (Segenftanb  3U  einem  einheit* 
liehen,  plam>oQ  angelegten,  folgerichtig  bur  eingeführten  unb 
innerlich  geglieberten  (Sanken  3ufammen.  Sticht  bie  lüiffen* 
fdjaft  fyat  fykt  erf!  ©rbnung  3U  [Raffen,  fonbern  biefelbe 
bloß  3U  erfennen,  ihre  Aufgabe  ift  es,  mit  ber  Ceucfyte  heran* 
3utreten  unb  basjemge,  tx>as  bas  Ceben  im  bunflen  2)range 
gefchaffen,  aus  bem  gtoielichte  bes  Unbewußten  in  bas  ließe 
£icht  bes  Serpußtfeins  3U  rücfen. 

2tuch  Iiier  E^ctt  bie  Sprache  ihr  längfi  vorgearbeitet,  unb 
bie  tDiffenfchaft  fann  ftch  einen  großen  Ceil  ber  Arbeit  er- 
fparen,  inbem  fte  basjemge,  was  jene  bereits  geleiftet  hat, 

fyat,  u>irb  burdj  basjenige,  tuas  bie  fran3Öjtfd>e  in  biefem  ptmfte  bietet, 
fott>ofyI  an  ein3elnen  geiftoollen  Bemerkungen  als  an  fpe3teü  btefem 
(Segenftanbe  geuribmeten  IDerr'en,  gä'^ltd?  in  ben  Statten  gepellt,  unb 
fo  abfdjrecfenb  bie  £e!türe  ber  bentfdjen,  fo  an3tefyenb  ift  bie  ber  fran* 
3öftfdjen  IDerfe*  Sie  geben  ntdjt  bürre  Hegeln  3um  ^voede  ber  äußeren 
2lbrtdjtung,  fonbern  fle  fudjen  in  ben  Sinn  bleiben  et^ubringen,  unb 
fte  entoncfeln  in  ber  (Tat  ben  (Seift  ber  feinen  fra^öfifdjen  f?öfltd?feti 
€ine  tfert>orragenbe  Steifung  nimmt  fyter  ber  2lbb6  be  Bellegarbe  ein,  er 
fdjeint  fid?  ben  21ufbau  einer  (Theorie  bes  Umgangs  3ur  Lebensaufgabe 
gemacht  3U  traben,  nrie  bie  Ulenge  ber  oon  ifym  fyerriifyrenben  IDerfe 
jetgt;  R£flexions  sur  ce  qui  peut  plaire  ou  d£plaire  dans  le  commerce 
du  monde,  21mfterbam  Suite  de  r£flexions  sur  ce  etc.  2Imjter* 

bam  ^699*  Les  regles  de  la  vie  civile  avec  des  traits  d'histoire.  Pour 
former  1'esprit  d'un  jeune  prince,  £}aag  \720t  Re"flexions  sur  la  poli- 
tesse  des  meeurs  avec  des  maximes  pour  la  societe*  civile.  ed.  6. 
f^aag  \72Q. 


Die  Umgangsformen*  —  23ebentmtg  bes  Umgangs.  263 


einfad}  in  Bejtfe  nimmt.  2lber  felbft  bies  ift  von  ber  IDiffen« 
fd?aft  bisher  über  (ßebüfyr  serfäumt  tsorben,  unb  barum 
beburfte  es  meiner  obigen  fpracfylidjen  Unterfudjungen  über 
bie  5itte;  biefelben  toerben  im  folgenden  nadj  manchen  Hidj, 
tungen  Ijin  eine  €rgän3ung  ftnben,  bie  toegen  ber  nötigen 
fadjlidjen  Erläuterungen  erji  an  biefer  Stelle  gegeben  u>erben 
fonnte. 


[336]  Die  Sprache  bringt  jene  ZTormen  unter  ben  (ßeftc^ts* 
punft  ber  Umgangsformen.  IDarum  nennt  fte  biefelben  Um- 
gangsformen, rx>arum  nidjt  Derfefyrsformen?  Derfefyr  ijl  ber 
roeitere,  Umgang  ber  engere  Begriff,  jener  umfaßt  gleich 
mäßig  ben  gefcfyäftlidjen  tx>ie  ben  gefelligen  Perfefyr,  biefer 
bloß  letzteren.  IDarum  alfo  roeift  bie  Sprache  mittels  jenes 
2tusbrucfs  biefe  formen  bloß  bem  Umgang,  toarum  nidjt  bem 
Derfefyre  3U?  fjaben  biefelben  für  ben  gefdjäftlidjen  Derfefjr 
ettpa  feinen  JDert? 

2)ie  Sprache  Ijat  audj  Bjier  roieberum  ooHfommen  bas 
Hidjtige  getroffen.  Sie  legt  ben  2l?3ent  auf  ben  Umgang, 
nidjt,  um  bamit  aus3ubrücfen,  baß  jene  formen  für  ben  ge- 
fdjäftlidjen  Derfeljr  toertlos  feien,  fonbern  um  3U  betonen, 
baß  ber  Sd}tr>erpun?t  ifyrer  Bebeutung  naefy  feiten  bes  Um* 
gangs  fyin  fällt,  es  betr>äfyrt  fidj  fyer  ber  Safe:  a  potiori  fit 
denominatio. 

3m  gefdjäftlicfyen  Derfefyre  bilbet  bie  perfönlicfye  Berülj- 
rung  bas  bloße  UTittel  3um  &voedf  im  gefelltgen  bagegeu 
ben  &wed  f elber.  Dort  fönnen  tr>ir  uns  vertreten  laffen,  — 
3um  groben  Kaufmann,  Qanbroerfer,  mit  bem  roir  bie  per- 
fönlicfye  Serüfyrung  freuen,  fdjicFen  toir  unfere  Dienftboten 
ober  einen  Dienßmann,  im  pro3effe  bebienen  toir  uns  eines 
2Ibpofaten,  ober  in  (Ermangelung  perfönlicfyer  Vertretung 
wählen  roir  ben  2X>eg  ber  fcfyriftlicfyen  Derfyanblung,  bie  ben 


26<k 


Kapitel  IX.   Die  feciale  rTCed?anif*  Das  Sittliche» 


Dor3ug  ber  größeren  Sidjerfteßung  gegen  ein  ungebührliches 
Benehmen  t>or  ber  münblichen  soraus  Ijat  —  bie  5eber  bes 
ungefchlachten  ZTienfchen  ift  [337]  befamttlich  weit  weniger 
3u  färbten  als  feine  §unge!  —  unb  felbft  für  ben  fchlhnmften 
$aü,  baß  bie  perfönliche  Berührung  unumgänglich  ifif  unter* 
3tefyen  roir  uns  ihr  in  ber  (Erwägung,  baß  bie  Unannehmlichkeit 
berfelben  ftch  burch  bas  <5efdjäft  felber  be^aiilt  madje,  unb 
nehmen  fie  als  leibige  Zugabe  mit  in  ben  Kauf. 

<5an3  anbers  beim  Umgang*  Ejier  ift  bie  perfönliche  Be* 
rührung  Selbfowecf,  fie  foH  ftch  nicht  burch  einen  gwedf,  ber 
außer  t^r  liegt,  fonbern  burd?  ftch  felbft  be3afylt  machen,  Der» 
tretung  burch  einen  anbern  ift  I}ier  ebenfo  ausgefdjloffen  wie 
Vertretung  beim  €ffen  unb  Crinfen.  ZTicht  minber  ber  fchrift* 
liehe  2Deg.  Die  perfon  will  im  Umgange  bie  frembe  perfon 
genießen.  Bietet  lefctere  in  ihrem  Benehmen  nicht  bie  nötigen 
(Sarantien  eines  wohltuenben  Derfehrs,  fo  leitet  man,  tx>enn 
nicht  überwiegenbe  Dorteile  ihn  gleichwohl  wünfdienswert 
machen,  auf  le&teren  lieber  gän3lich  Deicht. 

Die  Umgangsformen  tiaben  nun  bie  Beftimmung,  bies 
Benehmen  in  einer  IDeife  3U  regeln,  wie  es  ber  gweef  bes 
Umgangs  mit  ftch  bringt,  jte  ftellen  ben  Cypus  bes  gefeil* 
fchaftlich  forreften  ZHenfchen  <*uf,  wie  biefes  Dolf  unb  biefe 
geit  ftch  ihn  benft  Sie  enthalten  ben  3nbegriff  ber  an  ber 
J^anb  ber  (Erfahrung  gewonnenen  Bebingungen  bes  Um- 
gangs, wie  bas  Derfehrsrecht  ben  3nbegriff  ber  auf  gleid^e 
IDeife  gewonnenen  Bebingungen  bes  Derfehrs.  Der  Kobey 
ber  feinen  auf  ben  Umgang  be3Üglid?en  Sitte  bilbet  bas 
Seitenftücf  3um  Kobey  bes  Hechts,  [338]  nur  baß  er  nicht 
bie  5orm  ber  Schrift  an  jtch  trägt,  er  gehört,  wenn  man 
fonft  ben  2tusbrucf  jus  auf  bie  Hegeln  bes  gefelligen  Derfehrs 
anwenden  will,  wie  es  ja  bie  Sprache  in  ber  Cat  tut,  inbem 
fie  pon  (Sefefeen  bes  2lnjianbes,  ber  fjöflic^feit  nfw.  fpricht, 
nicht  3um  jus  scriptum,  fonbern  3um  jus  non  scriptum  —  er 


Die  Umgangsformen*  —  Soziale  Bebeutung  bes  Umgangs*  265 

lebt  in  berfelben  IDeife  im  Volte,  wie  bas  roirflic^e  jus  non 
scriptum:  bas  (Betx>or|nl)eitsred}t 

IDarum  aber  nimmt  fid}  überhaupt  bie  Sitte  bes  Umgangs 
an?  JDarum  überlägt  fie  bie  2lrt,  rote  er  3U  geftalten  ift, 
nicfjt  rein  bem  perfönlicrjen  Urteil?  XDarum  besormunbenbe 
Hegeln  für  etroas,  was  rein  5ad\e  bes  perfönlidjen  Beliebens 
ift?  TXiao,  jeber  felber  fefyen,  roie  er  es  treibe,  unb,  wenn 
feine  <5etr>or}nfyeiten,  formen,  UTanieren  ben  anbem  nidtf 
gefallen,  ficf?  bie  UToral  baraus  3tef}en,  fid?  änbern,  roenn  er 
ben  X?erfef?r  mit  iljnen  3U  erhalten  ttmnfd]t,  ober  bleiben, 
roie  er  ift,  rr>enn  er  barauf  t>er3id)ten  trnll,  es  Ijanbelt  ficfy 
babei  ja  lebiglidj  um  fein  eignes  inbixnbuelles  3ntereffe. 
ffleldie  ZTötigung  lag  für  bie  Sitte  t>or,  ftdj  fyer  ein3umifd?en 
unb  Hegeln  über  bas  paffenbe  Benehmen  auf3uftetlen?  IDären 
es  bloß  «groedmäßigfeitsregeln,  man  roürbe  fie  \\d\  fcfjon  ge* 
fallen  laffen,  jeber  fönnte  es  bann  ja  mit  ifynen  galten,  rote 
er  £uft  rjätte.  21ber  jene  Porfcfyriften  traben  nidjt  bie  bloße 
Sebeutung  r>on  Klugljeitsregetn,  rx>ie  es  beren  audj  für  ben 
Umgang  in  UTenge  gibt,  unb  wie  fie  felbjl  3um  (Segenftanbe 
literarifcfyer  Beljanblung  gemacht  toorben  fmb  (f.  bas  [339] 
S.  26\  Zlote  genannte  IDerf  r>on  Knigge),  fonbern  ben  t>on 
gefetlfcrjaftlicrjen  3mperatir>en,  fie  tragen  einen  obligatorif dien 
(Ellarafter  an  fiel),  tfyre  Übertretung  begrünbet  einen  Derftoß 
(S.  257),  roas  bei  bloßen  «groecfmäßigfeitsregeln  nierjt  ber 
5aU  ift,  fur3  fie  fallen  nierjt  unter  ben  (ßefid^tspuuft  ber 
politif,  fonbern  ber  €ttjif  bes  Umgangs. 

tDarum  alfo  ftellt  bie  Sitte  fie  auf?  Überall,  n>o  bie 
Sitte  fidt  einmifcf(t  unb  iljre  (Sebote  erläßt,  rjanbelt  es  fidf 
um  ein  3ntereffe  ber  (Sefellfd^aft  Weld\es  3»tereffe  fyat  bie 
<5efetlfcf}aft  am  Umgang?  Damit  berühren  toir  ben  fpringenben 
Punft  ber  gan3en  £el}re,  in  ifym  liegt  bas  Derfiänbnis  biefes 
Stüdes  unferes  £ebens  befd]loffen.  Der  Umgang  ift  eine 
fo3iale  3^ftitution,  Umgang  ift  fo3iale  pflicfjt. 


266         Kapitel  IX.  Die  fötale  ITCedjamf.   Das  Sittliche. 


Der  Umgang  iji  eine  fo3iale  3njiitution.  <£s  tji  nicht 
ein  bloß  inbisibueües  3ntereffe,  bas  in  ihm  feine  Befriebt« 
gung  finbet:  bas  Bebürfnis  nach  <5efelligfeit,  Mitteilung, 
Unterhaltung,  Anregung,  Belehrung.  2luch  biefes  3ntercffe 
^at  feine  solle  Berechtigung,  unb  es  mag  immerhin  für  bas 
Subjeft  bas  ausfchltepche  Ulotis  bilben,  roarum  es  ben 
Umgang  fucht.  Allein  bas  fubjeftire  UTotiü  fleht  auch  b{\ex 
toieberum  roie  in  fo  sielen  anberen  Derhältniffen,  tx>o  bas 
3nbit)ibuum  nur  ber  eignen  Cuft  unb  ZTeigung  folgt,  im 
Dienfte  eines  hö^ren  &weds,  bas  3nbipibuum  bient  im 
Umgange  ben  <§tr>ecfen  ber  (SefeUfchaft.  IDas  bie  Cuft* 
betoegung  in  phYfif^er,  bebeixtet  ber  Umgang  in  moralifcher 
unb  inteüeftueHer  Be3iehung:  bas  UTebium  [340]  ber  Der* 
breitung  bes  moralifchen  unb  inteHeftueHen  5Iuibums  über 
bie  UTenfchheit.  Umgang  ift  ber  3wiü\r\Qsbxüi>et  bes  Der- 
fetjrs,  beibe  3ufammen  befchaffen  bie  girfulation  ber  t>or* 
hanbenen  materiellen  unb  immateriellen  (Süter.  (Dline  Derfehr 
Stagnation  bes  öfonomifchen  Güterumlaufs,  ohne  Umgang 
Stagnation  bes  geiftigen  unb  moralifchen.  Umgang  ift  fort* 
gefefete  Ziehung  bes  UTenfdjen.  f}at  bas  ^aus  unb  bie 
Schule  ihr  U?erf  an  ihm  ©errietet,  fo  nimmt  ber  Umgang 
basfelbe  auf.  3n^m  roir  unferem  Vergnügen  nad^ugehen 
glauben,  treten  roir  in  bie  Schule  bes  £ebens,  lernen  unb 
teilen  roir,  nehmen  roir  auf  unb  teilen  roir  mit,  büben  tr>ir 
uns  felber  unb  anbere.  2tlle  JDeishett  ber  Welt,  bie  in  ben 
Büchern  auf gef dachtet  liegt,  fann  ben  lebenbigen  2lustaufch 
ber  (ßebanfen  nicht  erfefeen,  felbfi  bem jenigen  nicht,  ber  bas 
grögtmöglichfte  ZYiafa  berfelben  fich  angeeignet  h<*t,  benn  bas 
Büchertoiffen  ift  gefrornes  Venfen,  bas  erft  burch  bie  5nftion 
im  perfönlichen  Perfehr  auftaut  unb  flüfftg  toirb  unb  bie 
probe  befteht  Unb  felbji  tsenn  jemanb  fich  geifttg  refcj 
genug  bünft,  um  bes  Umgangs  entbehren  3U  fonnen,  fo  folt 
er  fich  3U  ihm  t>erftehen  ber  anberen  u>egen,  um  ihnen  von 


Vet  Umgang. 


—  (Sefeflfdjaftlxdjer  VOM. 


267 


feinem  Überflug  $ufommen  3U  laffen,  rote  ber  Heidje  bem 
2trmen.  TOev  ein  £id?t  tjat,  für  ben  gilt  ber  Safe  bes  (Evan- 
geliums: 2)u  fotlft  bein  £idjt  leuchten  laffen  —  bas  £id}t  ifi 
einmal  ba3u  ba,  baß  es  ber  Jüelt  leuchte. 

Unb  une  bas  JDiffen  bie  perfönlidje  Anregung,  fo  fann 
audj  alle  gefcfyriebene  unb  gefprodjene  TXlotal  bie  [341]  <£\n* 
tr>irfung  bes  unmittelbaren  (Einbrucfs  ber  moratifdjen  per* 
fönlidjfeit  nidjt  erfefeen  —  ein  ZlTann,  ber  bas  Sittliche  ober 
bie  Sitte  in  fonf reter  <5eftalt  burefy  fein  Seifpiel  peranfdjau- 
lidjt,  tft  meljr  tt>ert  als  Ijunbert  Sudler,  bie  es  prebigen.  Der 
eble,  tugenbfyafte,  djarafterpolle  ZTtann  voxttt,  ofyne  es  3U 
tsiffen  unb  3U  ir>otlen,  fdjon  burdj  feine  bloße  perfönlidjfett 
jtttlidj  erfyebenb,  er  ftrafylt  moralifdje  JDdrme  unb  Kraft  aus, 
bie  großen  ZHänner  ber  (ßefcfjidtfe  auf  ein  gan3es  E>olf,  auf 
bie  gan3e  ZHenfdjlieit,  bie  getDÖtjnlidjen  £eute  rx>enigjiens  auf 
ifyre  nädjfte  Umgebung,  —  Sonne  unb  (Dfen. 

3n  biefem  Sinne  Bjat  jeber  in  irgenbeiner  H)eife  tüchtige 
Xfiann  im  gefetlfdjaftlidjen  £eben  bie  £>erpflid}tung,  ftcfy  f elber, 
b.  fy.  feine  perfönlidjfett  ber  Welt  nidjt  t>or3uenti|alten,  in 
intelteftueHer  rt>ie  moralifdjer  23e3iel|ung  £efyrer  unb  prebiger 
3u  fein,  unb  barum  Ijat  bie  <5efeHfdjaft  ein  2tnredjt  barauf, 
baß  er  mit  anbeten  r>erfefyre. 

Umgang  ift  fo3iale  pflidjt  Der  <£infiebler  serfünbigt 
jtdj  gegen  bie  <5efellfd?aft,  benn  er  ent3iet|t  ifyr  bie  Dienfte, 
bie  er  imftanbe  tx>äre  iE^r  3U  leiten,  gan3  abgefeljen  bar>on, 
baß  er  ftdj  felber  fdjäbigt,  benn  niemanb  ent3tel)t  fid?  auf  bie 
Dauer  ber  (BefeUfcfyaft,  oljne  in  irgenbeiner  IDeife  Sdiaben 
3U  nehmen,  (Einfettigfeit  ifi  bie  unausbleibliche  5olge  ber  (Ein* 
famfeit.  ZHag  aud]  in  erjter  £inie  bie  Kraft  bes  ZHenfcfyen  feiner 
Serufstättgfeit  gehören,  ber  Überfluß  feiner  Kraft  unb  «geit  ge* 
büljrt  ber  <5efellfdjaft,  felbft  feine  Ejeiterfeit,  fein  Jroljfinn, 
feine  [342]  gefelligen  Calente  unb  feine  gefeQfdjaftlicfye  Sti- 
ftung.  tDären  toir  Zllenfdjen  imfianbe,  bie  <Einn>irfungen  bes 


268         Kapitel  IX.   Die  feciale  IHedjanif.   Das  Sittliche* 

einen  pon  uns  auf  ben  anbern  3U  perfolgen ,  tpir  tpürben 
oft  mit  Staunen  inne  tperben,  tpelche  nachhaltigen  XDir« 
fungen  ftch  an  bie  fdjembar  unbebeutenbften  perfönlichen  33e* 
rührungen  fnüpfen*  Der  bloße  21nblicE  ber  fremben  <5röße 
fann  bie  eigene  fcfylummembe  Kraft  tpeefen,  eine  einige 
Unterhaltung  mit  einem  bebeutenben  Vftann  für  bas  gan3e 
£eben  entfcfyeibenb  tperben,  unb  tpie  nach  bem  <5efefce  ber 
Erhaltung  ber  Kraft  fleh  IDärme  in  23eroegung,  Belegung 
in  Kraft  umfefct,  fo  fann  auch  im  H>erfe  bes  Denfers  bie 
<£rfrifchung  unb  Anregung,  bie  er  im  gefelligen  Derfehr  bem 
V0\%  unb  ber  J^eiterfeit  bes  £ebemannes,  unb  in  bem  bes 
Dichters  unb  Ulalers  biejenige,  bie  er  bem  gauber  tpeiblicher 
21nmut  unb  Schönheit  perbanft,  ftch  in  f oftbarer  IDeife  per* 
tperten  unb  für  bie  XHenfchhei*  fchönjien  Slüten  treiben, 
5d]er3  fefet  ftch  ba  in  €rnp,  Schönheit  in  poefte  um.  Der 
Same,  aus  bem  auf  fruchtbarem  23oben  bas  (ßrößte  in  ber 
Welt  hervorgeht,  iji  bem  bloßen  2tuge  ebenfotpenig  tpahr* 
nehmbar,  tpie  ber  jenige,  ben  bie  £uft  mit  ftd)  führt  —  ber 
Umgang  ift  eins  ber  tPtrff  amften  Dehifel,  bas  ihn  weiter  trägt. 

ZTEit  ber  firfmbung  ber  Suchbrucferfunft  unb  bem  2luf« 
fchtounge  ber  Citeratur  hat  bie  tote  perfon:  bas  Such  ber 
lebenbigen  eine  bebenfliche  Konfurren3  gemacht,  unb  jenes 
hat  allerbings  große  Por3Üge  por  biefer  poraus.  Die  tote 
Sprache  bes  Sudjs  rebet  3ur  gan3en  IPelt,  ber  [343]  gleich* 
3eitigen,  tpie  ber  fommenben,  bie  Iebenbige  ber  perfon  nur 
3U  ben  JDenigen,  bie  ihre  Stimme  pernehmen.  Unb  fobann 
ift  bas  Such  ein  bequemer  CßefeHe,  ben  tpir  rufen  unb  per* 
abschieben  fonnen,  gan3  tpie  es  uns  beliebt,  tpährenb  bie 
perfon  uns  gtpang  auferlegt  unb  uns  nicht  feiten  bas  iDenige, 
toas  jte  uns  bietet,  burch  läftige  ^fagaben  teuer  be3ahlen 
läßt.  3m  J}inblicf  auf  fciefe  beiben  unleugbaren  2?or3Üge 
fönnen  tpir  es  als  einen  ber  größten  5ortfchritte  ber  Kultur 
be3eichnen,  baß  tpir  für  ben  23e3ug  unferer  geizigen  ZTahruug 


Der  Umgang»  — 


Bebürfttts  für  bas  Subjeft. 


269 


nicht  ausfchließlich  mehr  auf  bie  perfon  angetoiefen  fmi>.  Die 
5orm,  in  ber  bas  Sud)  fie  uns  3ufüBjrt,  ijl  ungleich  um* 
faffenber,  reicher,  eyafter  unb  3ugleich  viel  bequemer,  billiger, 
leichter.  Hub  bochl  u>as  tsürbe  aus  bem  UTenfchen,  toenn 
er  bloß  biefe  getrocfnete  Speife  3U  ftch  nehmen  follte?  <£s 
roürbe  ihm  gehen  rt>ie  bem  Seemanne,  ber  lange  ber  frifchen 
Kofi  entbehrt  hat  unb  ben  infolge  bat>on  ber  Sforbut  heim* 
fudjt.  Sforbut  ift  bas  Kenn3eichen  bes  Süchermenfcben  unb 
bie  Strafe  für  fein  D ergehen  gegen  bas  (Srunbgefefe  ber  (Se* 
feUfdjaft,  welches  ben  lebenbigen  Elustaufch  ber  Urteile  unb 
2lnfidjten  unb  bie  fortgefefete  Selbfler3iehung  im  Derfehr  mit 
anbern  verlangt.  Der  Ulenfch  x>erfrüppelt  in  ber  €infamfeit, 
ber  richtige,  solle,  gefunbe  UTenfch  ift  nur  ber  Ulenfch  in  ber 
(BefeHfchaft,  bas  poftutat  bes  Cq>ov  noXtTixtfv  gilt  auch  für 
ben  Umgang.  Die  öffentliche  ZHeinung:  bie  guchtmetfterin 
bes  Sittlidjen  umrbe  bes  tsirffamften  Ulittels  ihrer  €imx>irfung 
auf  ihn  beraubt  fein,  [344]  u>enn  er  fich  burdj  5ernhaltung 
vom  Umgang  außer  Kontaft  mit  itjr  fe&en  vooüte.  <£v  foll 
unb  muß  bas  Urteil  ber  Welt  über  fich,  u>erm  auch  nicht 
hören,  fo  boch  merfen  —  auch  bas  Schweigen  fann  berebt 
fein,  —  unb  auch  it^r  Urteil  über  anbere  fann  ihm  als  Spiegel 
ber  Selbfterfenntnis  btenen. 

Die  bisherige  Ausführung  hatte  ben  gwed,  bie  h°he 
fo3iale  Sebeutung  bes  Umgangs  in  bas  richtige  Cicht  3U 
fefcen.  2lber  bamit  ift  ber  oben  poftulierte  23eu>eis,  baß  bie 
Sitte  genötigt  toar,  fich  bes  Umgangs  an3unehmen  unb  ihm 
fefte  Sahnen  t>or3U3eichnen,  noch  f  eines  toegs  erbracht  <£s 
tr>äre  ja  benfbar,  baß  es  beffen  gar  nicht  beburft  hätte,  JPenn 
bas  3nbipibuum  ohne  alle  Einleitung  von  felbft  bas  Sichtige 
träfe,  tt>03u  brauchte  bie  Sitte  es  ihm  erft  noch  r>or3ufchreiben? 
Die  (Sefdjichte  unb  bie  tägliche  (Erfahrung  erteilen  bie  2lnt< 
u>ort  barauf.  Der  ZTTenfch  bebarf  in  be3ug  auf  ben  Umgang 
nicht  minber  ber  <£r3iehung  unb  ber  gefellfchaftlichen  Sucht, 


270         Kapitel  IX.   Die  feciale  ttledjamf*   Das  Sittliche* 


wie  in  be3ug  auf  bas  2?edjt  unb  bie  XlToraL  <£s  gibt  fein 
angebornes  Sd^icf Iic^feitsgefüI^I,  fotsenig  une  ein  angebornes 
Sittlichfeitsgefühl,  unb  toenn  es  ein  folcfyes  gäbe,  fo  tt>äre 
bamit  bie  praftifdje  Unterordnung  bes  3nbit>ibuums  unter 
basfelbe  noch  in  feiner  IDeife  verbürgt  So  hat  bie  <5efeH* 
fchaft  bei  bem  Ijoljen  3ntereffe,  &<*s  ber  Umgang  für  fte  h<*t, 
ftd?  besfelben  annehmen  müffen,  um  it^ri  fo  3U  gehalten,  u>ie 
er  ihren  2lnforberungen  entfpridjt;  unb  fte  E^at  3U  bem  gtt>ecfe 
ftch  nicht  bamit  begnügen  fönnen,  bie  [345]  mafjgebenben 
Ztormen  aufsufteQen,  fonbern  jte  forgt  auch  bafür,  bafj  fte 
tatfädflich  beamtet  toerben*  Die  Quelle,  aus  ber  jte  erftere 
gefchöpft  h<*t,  ift  bie  (Erfahrung,  bas  Ulittel,  tr>oburch  jte  ihre 
Beachtung  entrangt,  bie  öffentliche  ZHeinung.  Beibe  23efyaup* 
tungen  roerben  bemnäcbft  beriefen  werben* 

2lus  bem  Bisherigen  ergibt  ftch,  baß  bie  Umgangsformen 
feine  bloß  äfthetifche  (5.  202),  fonbern  eine  Ijofje  prafttfeh« 
fo3iale,  b.  t.  et^ifc^e  Bebeutung  tiaben.  2lHerbings  greift  bei 
ihnen  auch  ber  äjifyettfcfye  (ßeftchtspunft  plafc  (5.  26),  allein 
er  ift  nicht  ber  entfeheibenbe.  TOOaxe  er  es,  fo  fönnte  jeber  es 
mit  ihnen  galten,  roie  er  £uft  hätte,  unb  bie  Derlefeung  bes» 
felben  txmrbe  nur  ben  Dornmrf  bes  Unfchönen,  (Sefchmacf* 
lofen,  nicht  ben  bes  Unfdjtcf liefen,  Unanftänbigen,  eines  Der» 
ftofjes  gegen  bie  Sitte  begrünben.  Die  Umgangsformen 
gehören  bemnach  3U  ben  fo3ialen  3mperatit>en,  man  muß  jte 
befolgen,  unb  3*t>ar  ber  (ßefellfchaft  roegen.  3*lr*  Ch^orie 
fällt  mithin  ber  (£ttyt  anheim,  unb  roenn  lefctere  jtch  bisher 
ber  Beachtung  berfelben  entf cfylagen  fyat,  fo  iji  jte  eben  bamit 
hinter  ihrer  Aufgabe  3urücfgeblieben. 

Die  Unterlaffungsfünbe  war  aHerbtngs  eine  gedeihliche. 
Die  ethifche  Bebeutung  ber  Umgangsformen  ifl  nur  eine 
mittelbare»  Die  Dorfchriften,  meldte  bie  Sitte  in  be3ug  auf 
fte  aufteilt,  haben  nicht  u>ie  bie  bes  Hechts  unb  ber  ZTCoral 
bas  an  jtch  <ßute  ober  Sittliche  3um  (ßegenjianbe,  fonbern 


JDert  ber  Umgangsformen* 


27\ 


nur  bte  öeftimmung,  lefeteres  3U  förbem,  b.  h*  [346]  pe 
haben,  wie  bie  Sitte  überhaupt  (5.  2^5),  nur  eine  pttlich' 
abminifulierenbe  5unftion. 

Die  Sprache  l\at  i>ie\e  tfyre  bloß  mittelbare  etljifche  33e* 
beutung  richtig  getroffen,  inbem  fxe  biefelben  als  bloße  5ormen 
beseitet  Diefen  (ßepchtspunft  h<*t  pe,  wie  feiner$eit  (S.24<ff.) 
nachgetsiefen,  in  ben  mannigfachen  IDenbungen  ausgeprägt 
(gefeßfchaftliche  Sotm,  formen,  Umgangsformen,  XtTanieren, 
dehors,  fagons,  €tifette).  Überall  tmeberholt  pch  in  ber  (Ter* 
minologie  ber  Sitte  ber  (ßegenfa^  bes  Süßeren  3um  3nneren, 
ber  5orm  3um  3nB|aIt,  überall  fchetbet  bie  Spraye  gans 
genau  bas  bem  inneren  Sittengefefe  (Entfprechenbe:  bas  ZHora* 
lifche,  Sittliche  r>on  bem  bem  äußeren  (Entfprechenben:  ber 
feinen  Sitte,  bem  guten  Con,  ber  guten  iebensaxt,  bem  itn* 
^tanbe,  bem  Sittfamen,  ber  £jöflich?eit.  5ür  biefes  f^at  fxe 
bie  2lusbrüc!e:  benehmen,  Betragen,  IDefen,  bie  fie  nie  für 
ben  inneren,  für  jenes:  C^arafter,  (ßejtnnung,  ^alt,  bie  pe 
nie  für  ben  äußeren  IHenfdjen  gebraucht  Zlid)t  3u  r>ertr>un* 
bem,  baß  bei  biefer  fcharfen  (5egenüberpeHung  t>on  innerem 
unb  Süßerem  jene  21uffaffung  über  bas  We\en  ber  gefell* 
fchaftlichen  $ovmen  pch  bilben  fonnte,  welche  in  ihnen  etwas 
rein  äußerliches,  pttlich  Bebeutungslofes  erblidft  (fprachlich 
ausgeprägt  in  bem  21usbrucfe:  fonoentioneüe  ==  auf  bloßer 
Übereinfunft  berufyenbe,  alfo  bes  innerlich  3wingenben  (Srunbes 
entbehrenbe  5ormen).  Sei  ben  (ßriechen  unb  Hörnern,  bei 
benen  pch  bie  begriffliche  Scheibung  ber  Sitte  von  ber  Ztüoral 
noch  nicht  ©otogen  h^te  [347]  (S.  ^Off.),  pnbet  pe  pch  aus 
eben  biefem  <5runbe  noch  nicht,  pe  gehört  3U  jener  eigentüm- 
lichen Klaffe  t>on  ^xxtnmexn,  welche  erft  mit  bem  5ortfd?ritte 
ber  IDahrheit  möglich  werben.  Das  fehlfame  biefer  2lnpd]t 
befteht  nicht  bloß  barin,  baß  pe  bie  oben  begrünbete  fo3iale 
Sebeutung  biefes  Stüdes  ber  Sitte  (objeftio  abminifulierenbe 
5unftion)  gänjlich  außer  acht  läßt,  fonbern,  baß  pe  auch  ben 


272         Kapitel  IX.   Die  fokale  OTe^antfc   Das  Sittliche. 

inbipibuell  fittlich  förbemben,  er3ieherifchen  (Einfluß  (fubjeftip 
abminifulierenbe  Sunttion)  nid?t  in  2infchlag  bringt.  Wäve 
bie  gute  gefellfchaftliche  form  nichts  als  ein  Hantel,  ben 
man  umfängt  unb  ablegt,  ohne  baß  bies  ben  inneren  ZTIenfchen 
berührt,  es  möchte  barum  [ein,  unb  bei  manchen  ZHenfchen: 
ben  fittlich  pöHig  un3ugcmglichen,  unbilbfamen  Naturen  mag 
in  ber  Cat  ihre  33ebeutung  ftch  barin  erfchöpfen,    2Iber  bei 
ben  fittlich  bilbfamen  Naturen,  welche  gottlob  bie  Hegel 
bilben,  ift  bas  Verhältnis  ein  anbetes,  bie  form  wirft  bei 
ihnen  auf  ben  inneren  ZlTenfchen  3urücf,  fte  übt  einen  fittlich 
perebelnben,  einen  e^e^enf dien  (Einfluß  aus,  es  ift  nicht  bas 
rein  äußerliche  Verhältnis  bes  ZHantels  3U  feinem  Cräger, 
fonbern  bas  innerliche  ftch  gegenfeitig  bebingenbe  3wifchen 
Schale  unb  Kern.   2)ie  Sucht  3ur  form,  bie  fchon  beim  Kinbe 
beginnt,  bringt  bemfelben  bas  erfie  bei,  was  ber  ZHenfd]  3U 
lernen  hat:  bas  Safein  son  (geboten  in  ber  iDelt  unb  bie 
HotwenbigFeit  ber  XInterorbnung  unter  biefelben.  £>ie  Selbff. 
beherrfdjung,  bie  es  in  biefer  Schule  bes  rein  äußerlichen 
gewonnen  hat,  fommt  il|m  für  bie  [348]  fittliche  «^te^ung 
3ugute  —  bie  Sitte  arbeitet  ber  ZHoral  vor.    Unb  fobann  iji 
es  in  ber  Cat  nicht  etwas  bloß  äußerliches,  was  ihm  bei* 
gebracht  wirb,  fonbern  in  bem  äußerlichen  fteeft  bereits  ber  l 
Kern  alles  Sittlichen:  bie  Hücf  ficht  auf  anbere.   <£s  muß  ber  « 
folgenben  Darjl ellung  porbehalten  bleiben,  biefen  Kern  heraus*! 
3ufchälen  unb  3ur  Slnfchauung  3U  bringen,  Ijtcr  antt3ipierenf 
wir  bas  bort  3U  begrünbenbe  Hefultat,  inbem  wir  fagen:  bas* 
ZHotiD  aller  Umgangsformen  ift  bie  Hücf  ficht  auf  anbere.  (Es 
fann  aber  nicht  ausbleiben,  baß  wie  bie  Selbftbeherrfd^ung, 
bie  am  rein  äußer  liehen  geübt  unb  gewonnen,  ben  inneren! 
ZlTenfchen  förbert,  fo  auch  bie  in  ber  Schule  ber  form  3url 
(5ett>ohnheit  geworbene  Hücfftcht  auf  anbere  für  bie  gefamtef 
Cebensanfchauung  bes  ZHenfdjen,  feine  ftttliche  (ßeftnnung, 
i^e  fruchte  trägt    Von  3wei  ZHenfchen  mit  r>öflig  gleicher 


XDert  ber  Umgangsformen* 


273 


natürlicher  21usjlattung  muß  derjenige ,  ber  bei  im  übrigen 
gleichen  Perhältniffen  ben  Porfprung  ber  rein  formalen  ge* 
fellfchaftlichen  Ziehung  vot  bem  anbern  poraus  l}<xt,  not- 
toenbigertpeife  ftttlich  beffer,  ebler  tperben.  €s  ift  nicht 
xoalit,  baß  biefe  Ziehung  bloß  bie  Schale  glättet;  mit  ber 
Schale  trifft  pe  3ugleich  ben  Kern,  inbem  fie  ihm  unmerHich 
Stoffe  sufütjrt,  bie  er  ftch  aneignet,  unb  aus  benen  er  ftch 
bilbet, 

5ür  bie  Bebeutung,  bie  ich  ber  guten  Sitte  für  bie  <5e- 
feUfchaft  phtbi^ere,  ift  übrigens  bie  Stellungnahme  3U  biefer 
frage  pon  bem  mbipibueH  er3ieherifchen  €inflfuffe  berfelben 
ohne  allen  Belang,  für  fte  hanbelt  es  ftch  lebtglich  [349]  barum, 
ob  bie  Beachtung  ber  Umgangsformen  objeftip  ben  Umgang 
erleichtert,  bie  Mißachtung  berfelben  ihn  erfchtoert,  unb  bie 
Jtntoort  auf  biefe  frage  fann  f omenig  3tt>etfelt>aft  fein,  baß 
ich  nicht  2lnflanb  nehme,  bie  Behauptung  auf3ujiellen:  für  ben 
gefeHfchaftlichen  üerfehr  ip  ein  gefcfjliffener  Kiefelftein,  ber  pon 
§anb  3U  fjanb  gehen  fann,  ohne  baß  jemanb  bei  feiner  (Blatte 
pefahr  läuft,  ftch  bie  ^änbe  bavan  3U  rifeen,  beffer  als  ein 
tatgefchliffener  Diamant,  an  beffen  Tanten,  €<fen,  Spifeen 
tan  jtch  bie  fjänbe  perlefet,  €s  hobelt  ftch  ja  nicht  barum, 
peibe  3U  faufen  —  bann  mürbe  lefeterer  aHerbmgs  ber  u>ert* 
bollere  fein  —  fonbern  ftch  bloß  mit  ihnen  3U  berühren,  unb 
Für  bie  bloße  Berührung  fommen  anbere  Hücfjtchten  in  Be* 
rächt  als  für  ben  Kauf.  Unb  fobann  iji  jene  2tntithefe  nur 
tuf  bas  Sußerjle  bes  an  ftch  Möglichen  gefteüt,  bie  richtige 
Stellung  berfelben  muß  lauten:  gefdjliffener  ober  ungefchliffener 
tfiefel,  gefchliffener  ober  ungefchliffener  Diamant 

Die  bisherige  Ausführung  hatte  ben  gtoed,  bie  Ch<?orie 
)er  Umgangsformen  als  ein  Problem  ber  (£ttyt  bar3utun. 
*ber  ber  ba3u  erforberliche  Betpeis  ifl  nur  erjl  3ur  Jfälfte 
^bracht  <£s  iji  nachgetpiefen,  baß  bie  Umgangsformen  ober, 
t>as  basfelbe,  bie  (ßefefee  bes  Unftanbes  ober  ber  feinen 

{     p.  3  tiering,  Der  gtoeef  im  Hed?t.  II.  to 


27^        Kapitel  IX.   Die  fatale  IKedjatttf*   Das  Sittliche. 

Sitte  für  bte  (5efeHfchaft,  welche  einmal  3U  ihrem  (Sebexen 
bes  Umgangs  bebarf,  sunt  gwede  ber  richtigen  (ßejlaltung 
besfelben  nötig  jtnb;  aber  baraus  ergibt  jtch  noch  feinestt>egs, 
ba§  jte  einen  geeigneten  (ßegenftanb  [350]  3ur  €nttt>erfung 
einer  u>iffenfc^aftlid]enS;^eorie  barbieten.  <£s  voave  ja  möglich, 
baß  jte  nur  ein  Aggregat  von  lauter  ein3elnen,  bisparaten 
23eftimmungen  enthielten,  bte  eben  bes  fehlenben  eignen 
inneren  gufammenhanges  wegen  aller  Perfuche  ber  IDiffen« 
fchaft,-  einen  ^ufammenhang  3tt>ifchen  ihnen  h^ufleQen, 
fpotteten.  3)af$  es  ftch  in  IDirfltchfeit  anbers  serhält,  iji 
bereits  oben  (S.  26\ff.)  ausgebrochen  tt>orben,  unb  ich  habe 
auch  &en  Zlacha>eis  erbracht,  wie  ber  5chein  bes  Gegenteils 
ftch  bilben  fonnte  (S.  258  ff.)*  <£in  (ßegenftanb,  t>on  bem 
nur  ein3elne  hen>orragenbe  punfte  beleuchtet  finb,  währenb 
bie  übrigen  Partien  im  Dunfel  liegen,  muß  notwenbtgerweife 
ben  (EinbrucE  bes  «gerriff  enen  machen.  Selbft  mir,  ber  ich 
ihm  feit  geraumer  &e\t  meine  angefpannte  Jlchtfamfeit  3u« 
Qttoanbt  habe,  geflieht  es  nicht  feiten,  baß  ich  itgenb  etwas 
Zleues  an  ihm  wahrnehme,  bas  mir  bisher  entgangen  tt>ar, 
unb  ich  nehme  feinen  2tnftanb,  bie  Hichtigfeit  meiner  obigen 
Behauptung  (S.  258),  baß  bei  feinem  Stücf  unferes  £ebens 
bas  fubjeftiüe  Bewußtfein  jtch  fowenig  mit  bem  (ßegenjtanbe 
f  elber  becft  als  bei  ihm,  auch  für  mich  falber  ansuerfennen. 
(ßleid^roohl  aber  reicht  bas  JTiaterial,  über  bas  ich  perfüge, 
aus,  um  bie  Stufgabe,  bie  ich  &e*  <£thif  gefteüt  habe:  bie 
(gntwerfung  einer  Ch^orie  ber  Umgangsformen,  in  Angriff 
3U  nehmen  unb  wenigftens  bie  (Srunbfä&e  berfelben  fchon 
beim  erften  Derfuche  fefoufteHen.  So  unpollfommen  unb 
ergän3ungsbebürftig  er  auch  ausfallen  mag,  was  faum  je 
einem  erften  Derfuch  erfpart  [351]  bleiben  wirb,  fo  glaube 
ich  boch  mittels  besfelben  fosiel  über  allen  Zweifel  erhoben 
3u  haben,  baß  es  fich  h^r  um  ein  einheitliches,  platwott  an» 
gelegtes,  genau  burchbachtes  unb  folgerichtig  burchgeführtes 


Die  Umgangsformen*  —  Die  (Drganifation  oes  Umgangs*  275 


<Batt3es,  um  eine  Schöpfung  aus  einem  (Suffe  fycmbelt,  furj 
ausgebrücft:  unfere  heutigen  Umgangsformen  enthalten  eine 
poHftchtbige  ©rganifation  bes  Umgangs,  ein  ebenbürtiges 
SettenftücE  3U  ber  ©rganifation  bes  üerfehrs  in  5orm  bes 
Hechts. 

(Eine  folche  Behauptung  lägt  ftch  mit  einigen  allgemeinen 
23emerfungen  unb  ein3elnen  wenigen  23eifpielen  nicht  abtun, 
fte  erforbert  einen  jiringenten  Beweis,  unb  berfelbe  iji  nur 
3u  erbringen  burch  Aufbringung  eines  reichen  Apparates. 
Auch  bei  biefer  Aufgabe  werbe  ich  bes  Stofflichen  eher  3U* 
siel  als  3uwenig  bringen,  getreu  ber  ZHajime,  bie  ich  bei 
biefem  IPerf  unausgefefct  befolgt  I^abe,  meinen  Abftraftionen 
eine  möglichft  breite  Unterlage  an  einem  reichen  detail  3U 
geben.  Wem  ich  bes  (ßuten  3usiel  3U  tun  fcheine,  ber  möge 
ftch  erinnern,  baß  ich  genötigt  bin,  bie  Sache  erft  aus  bem 
(ßroben  I|eraus3uarbeiten  —  wäre  ich  auf  biefem  (Sebiete 
mein  eigner  Zlachf  olger,  ich  würbe  mich  für3er  f äffen. 

\0)  U)iffenfchaftliche  Kritif  ber  Umgangsformen  — 
echte  unb  unechte  Anftanbsregeln. 

Alle  Umgangsformen  haben  ben  3>xqz&,  ben  Umgang  3U 
ermöglichen,  3U  fichern,  3U  förbern,  angenehm  unb  behaglich 
3U  gehalten,  —  fte  enthalten  bie  burch  bie  [352]  Sitte  be* 
fdjaffte  unb  gehanbhabte  Dis3tplin  bes  gefellfchaftlichen  öe* 
ne^mens,  wie  jte  ben  Dorftellungen  ber  maßgebenben  (Sefell* 
fdjaftsfreife  biefes  Dolfs  unb  biefer  geit  entfpricht.  <£s  finb 
bie  mafjgebenben,  b.  h*  b\t  relatit)  hoch  ober  höchftgejtetlten 
Kreife,  welche  bie  formen  bes  gefetligen  Derfehrs  ausgebilbet 
haben,  jte  geben  ebenfo  wie  bei  ber  Ulobe  (S.  \86f.)  ben 
„£on"  an  —  ben  Kammerton  ber  guten  (ßefellfchaft,  mit  bem 
jeber,  ber  feinen  „Ulipiang",  feine  „Derftimmung"  in  ber 
(Sefellfchaft  erregen  will,  fich  in  <£inflang  3U  fefeen  hat*  2)ie 
Sprache  be3eid]net  biefen  Con  als  „guten  Con",  bie  ent* 
fprechenbe  lüeife  bes  Benehmens  als  „gute  Cebensart",  bie 

\8* 


276 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IKedjanif,   Das  Sittliche. 


(Sefellfchaftsfreife,  in  benen  er  h^imifch  ift,  als  „gute  (Sefeüfchaft". 
Sie  fällt  bamit  ein  Werturteil,  tpelches  wie  jebes  Werturteil 
bie  2lugemeffenheit  bes  HTtttels  für  ben  3U  erreichenben  §>we<£ 
3ur  Htchtfchnur  nimmt,  I|ier  bie  2lngemeffenheit  jener  formen 
für  bie  gtpeefe  bes  Umgangs»  2)er  ZHaßftab,  ben  fie  babei 
anlegt,  tft  ein  relativer,  entfprechenb  ber  Kulturftufe  bes  Dolfs 
unb  ber  §eit  unb  baher  ein  toechfelnber*  Von  ben  Hoheiten, 
bie  noef)  por  nicht  langer  geit  in  ben  leeren  (Sefellfchafts* 
Greifen  unb  felbft  an  ben  J^öfen  üblich  toaren,  tpürbe  jeber 
(Sebübete  fich  heutigentags  mit  €fel  ahwenben.  Das  33e* 
trinfen  in  ber  (SefeUfchaft  gehörte  bei  uns  in  ©eutfchlanb 
einft  3um  guten  Cone;  felbft  einem  geiftlichen  Würbenträger 
persiel]  man  es  nicht  bloß,  fonbern  man  oerlangte  es  pon 
ihm,  bie  ^öflichfeit  erforberte,  ba§  er  bem  «gutrinfenben  ge* 
hörig  [353]  „Sejcheib"  tat,  unb  i*a%  er  bem  Wirte  burch  bie 
Cat  beroies,  roie  ber  Wein  ihm  munbete  —  fein  befferer 
Beroeis,  als  wenn  er  3upiel  getrunfen  Dattel  Wer  am  meiften 
trinfen  fonnte,  roar  ber  Xfieifter,  es  u>ar  ein  Hufym,  einen 
anbern  vom  Stuhle  3u  trinfen,  unb  felbft  bis  auf  ben  heutigen 
Cag  l\at  fiel}  von  bieget  altgermanifchen  Unfitte,  tpelche  bas 
Crinfen  3um  (Segenftanbe  bes  <£^rget3cs  unb  bes  gefelligen 
Wetteifers  ftempelte,  in  ben  Kreifen  ber  Stubierenben  noch 
ein  lefeter  Heft  erhalten. 

Vie\e  I^tftortfct^e  Wanbelbarfeit  bes  2TEagfiabes  für  bas 
gefeßfchaftliche  benehmen  betoährt  ftch  auch  nach  ber  ent« 
gegengef eisten  Sexte  hin.  <Sar  manches,  was  ber  unter  bem 
(Einfluß  bes  frifcheren  (ßeifies  ber  Sturm*  unb  Drangperiobe 
unjerer  beutfehen  £iteratur  freier,  3tpanglofer  unb  natürlicher 
geroorbene  Con  ber  tätigen  feinen  (SefeUfchaft  geftattet, 
hätte  in  ber  erften  ^älfte  bes  porigen  3ahrhunberts  bei  ber 
bamals  B^n:fchenben  pebantifchen  (Etifette  ben  fchtperflen  2ln 
ftoß  erregt,  ber  poöenbetfte  £|ofmann  ber  (5egentt>art  in  eine 
bamalige  (Befettfchaft  ber  bürgerlichen  Kreife  perfekt,  hätte 


Kritif  ber  Umgangsform em 


277 


jtd)  auf  ben  Dortpurf  gefaxt  machen  muffen,  bafj  er  nicht 
tpiffe,  was  ftcf^  fchicfe. 

2lIfo  heute  fo,  morgen  fo?  Vie  gute  Lebensart  ein  Spiel 
bes  <guf  aKs,  bes  reinen  Beliebens  unb  ber  ZDillfür,  ä^nlicf^ 
tpie  bie  Ulobe?  3n  ber  Cat  fcheint  bies  bie  2luffaffung  ber 
Sprache  3U  fein,  inbem  fte  bie  Umgangsformen  als  „fonpen* 
tioneHe"  formen  be3eichnet,  b.  h*  als  foldje,  [354]  3U  beren 
Hechtfertigung  ftch  tpeiter  nichts  fagen  lägt,  als  baß  fie  einmal 
burch  fiillfchtpeigenbe  Übereinftimmung  angenommen  finb. 

Unb  in  einem  getpiffen  5inne  E^at  fie  nicht  unrecht,  benn 
unter  biefen  5ormen  gibt  es  in  ber  Cat  ein3elne,  tpelche  reine 
UTobefache  finb,  nicht  bloß  in  bem  Sinne,  baß  fte  ben  flatter- 
haften <£Ijarafter  ber  UTobe  teilen,  fonbem  auch  in  bem,  bajj 
fie  gleich  ihr  it^re  2InnaI|me  lebiglich  bem  Seflreben  ber 
höheren  Stände  perbanfen,  ettoas  23efonberes  für  ftch  3U 
haben.  2tber  ber  bei  tpeitem  größere  Ceil  ber  hcut3utage 
herrfchenben  Umgangsformen  iji  anberer  2lrt,  er  ifi  imftanbe, 
bie  5euerprobe  einer  pr^ipieüen ,  ftreng  tpiffenfchaftüchen 
Kritif  3U  befielen. 

2luf  eine  folche  iji  es  im  folgenben  abgefehen.  Sie  foD 
unfere  obige  Behauptung  über  bie  23eftimmung  unb  ben 
Züert  ber  Umgangsformen  am  ein3elnen  erproben,  inbem  fie 
nichts  paffieren  lägt,  roas  nicht  feine  Legitimation  3U  erbringen 
permag.  3n  biefer  IDeife  unternommen,  tpirb  unfere  Kritif 
uns  nicht  bloß  ben  3)ienft  leijlen,  basjenige,  tpas  bie  probe 
nicht  bejteht,  aussufcheiben  unb  es  feiner  falfchen,  erfchlichenen 
Autorität  3U  entfleiben,  fonbem  ben  pielleicht  noch  roertpolleren, 
uns  über  bie  Berechtigung  besjenigen,  bas  bie  probe  befiehl 
auf3uflären  unb  an  bie  Stelle  ber  gebanfenlofen  Unterorbnung 
unter  bas  hergebrachte  bie  betpußte  €infid]t  in  feine  Hot« 
roenbigfeit  3U  fefeen  —  bas  Ergebnis  einer  jeben  echten  Kritif, 
[365]  tpelche,  inbem  fte  bie  ^errfchaft  ber  falfchen  Autorität 
ftür3t,  bie  UTacht  ber  roahren  befeftigt 


278         Kapitel  IX.   Die  fotale  HTecfjanif*  Das  Sittliche* 

ZTtein  fritifct^er  XlTaßfiab  tfi  ein  gan3  einfacher:  alle  23e* 
fdjränfungen,  toelc^e  bie  Sitte  uns  in  besug  auf  ben  Umgang 
auferlegt,  ftnb  nur  mfort>eit  berechtigt,  als  fie  ifyren  grcecf  in 
ber  fremben,  nidjt  in  unferer  eignen  perfon  ^aben,  §tx>ecf* 
fubjeft  aller  Umgangsformen  finb  nicfyt  roir  f elber,  fonbem 
bie  britten  perfonen,  mit  benen  tt>ir  serfeBjren.  Dorf  Triften, 
beren  Beachtung  für  lefetere  fein  3ntercffe  t|at,  finb  nichts 
als  ga>ecSmäf$igfeits*  ober  Klugljeitsregeln ,  tt>eldje  bie  Sitte 
mit  Unrecht  in  bie  $otm  ber  21nftanbsregeln  gebracht  l?at, 
tpä^renb  fte  btefelben  gleich  festeren  tebiglidj  bem  freien 
Belieben  bes  3nbipibuums  t|ätte  überlaffen  f ollen. 

darauf  beruht  ber  (Segenfafe  ber  eckten  unb  ber  un» 
eckten  2tnfianbsregeln.  Daß  man  nidjt  mit  ben  Ringern  in 
bie  Scfyüffel  greifen,  bas  SUtfdi,  ftatt  es  mit  bem  XlTeffer  3U 
3erfdjneiben,  nicfyt  mit  ben  gäBjnen  3errei§en  folt,  ifl  eine  edjte 
21nfianbsregel,  benn  bas  (Segenteil  erregt  bemjenigen,  ber  es 
mit  anfielt,  IDibemnllen.  2)ajj  man  bagegen,  u>ie  es  bie 
von  <£nglanb  auf  ben  Kontinent  übertragene  Sitte  »erlangt, 
beim  <£ffen  bie  (Säbel  tn  ber  linfen,  bas  UTeffer  in  ber  rechten 
£janb  führen,  beim  ^ifdj  bagegen  bie  (Säbel  in  ber  rechten 
unb  sum  gerlegen  besfelben  fiel?  bes  Brotes,  nidtf  bes  XHeffers 
hebxenen  foH,  ift  eine  unechte  21nftanbsregel,  benn  babei  l^anbelt 
es  fid?  nidjt  um  Hücfftdjten  auf  bie  tEifdjgenoffen,  [356]  fonbem 
um  eine  5rage  ber  gtsecfmäßigfeit,  roeld^e  bem  tnbit>ibuellen 
(SErmeffen  ebenfo  überlaffen  bleiben  muß,  tt>ie  bie,  ob  man  ben 
töein  unt>ermifd}t  ober  mit  U)affer  trinfen,  im  Sommer  eine 
fd)tx>erere,  imlüinter  eine  leichtere  Kleibung  tragen  tt>ill,  als  bie 
Hücf ficfyt  auf  bie  3afyres3eit  mit  ftd)  bringt  Qa%  ber  Cänser  bas 
empfinblidje  BaHfleib  feiner  Oberin  nidjt  mit  bloßen  £[änben, 
fonbem  nur  mit  Jrjanbfdjufyen  berühre,  ift  eine  edjte  2lnfianbs* 
regel,  alle  anbeten  auf  biefen  2lrttfel  ber  Toilette  besüglidjen 
Regeln  pnb  unechte,  ob  jemanb  fjanbfdjutje  tragen  tr>iH  ober 
nidft,  ift  feinem  (Sutbünfen  3U  überlaffen.   (Es  ifi  ein  Setzeis 


Krttif  ber  Umgangsformen* 


279 


ber  Kritiflojtgfeit,  toelcfye  in  biefer  23e3tefyung  fyerrfcfjt,  unb 
3ugleidj  ber  ^ei^I^eit,  mit  ber  man  jtd)  fyer  wie  bei  ber  ZtTobe 
5er  Cyrannei  ber  Sitte  fügt,  baß  biefe  unechten  2tnftanbs« 
regeln  nidjt  feiten  mit  größerer  peinlicfyfeit  beobachtet  merben 
als  bie  eckten. 

Xüie  fyaben  fid?  biefelben  bilben  unb  <5eltung  perfcfyaffen 
fönnen?  7Xad\  meiner  2lnjtcfyt  liegt  ifynen  basfelbe  XfLotw  3U* 
grunbe,  toie  ber  XlTobe:  bas  23eftreben  ber  2tbfcfyeibung  ber 
höheren  Stänbe  von  ben  nieberen:  fte  bilben  bas  fonsentionelte 
2lb3eidjen,  bas  Sdjiboletfy  ber  t>omefynen  (Sefellfdjaft,  unb 
für  jte,  aber  aucfy  nur  für  fte  ift  ber  2tusbrucf :  font>entionette 
formen  völlig  3utreffenb,  Sie  jtnb  nämlich  fo  getr>äfylt,  baß 
ber  gemeine  Ulann  fie  nicfyt  ober  nietet  oljne  große  ZHüfye 
mitmadjen  fann,  gan3  fo  toie  bei  ber  ZTCobe.  2)er  J^anb* 
tserfer,  Arbeiter  fann  feine  langen  Hagel  tragen,  jte  3erreiben 
bei  [357]  ber  Arbeit,  folglich  fein  befferes  Unterfdieibungs* 
merfmal  pon  ttjm  als  möglidjft  lange  Zlägel!  festere  bilben 
bas  Seitenftücf  3U  ben  burdj  bie  getüaltfamften  2TCittel  er« 
3toungenen  fleinen  5üßen  ber  oorneljmen  (Oiineftn  —  ein 
proteft  bes  Körpers  gegen  ben  Perbadjt,  baß  fein  Cräger 
ben  nieberen  5täni>en  angehöre*  Hur  bie  Cfyinefin,  bie  ftd? 
in  ber  Sänfte  tragen  laffen  fann,  barf  fteft  biefen  Cujus  er« 
lauben:  bei  ber  5rcm  ber  unteren  Stänbe,  bie  ifyre  XDege  3U 
5uß  machen  muß,  fcfyließt  er  fiel)  t>on  felber  aus.  Die  fleinen 
5üße  ber  <£l|inefinnen  r>erfpotten  tt>ir.  2lls  ob  bie  ilblerflauen 
an  ben  5ingem  bes  (Europäers,  bie  ifyn  als  geidjen  ber 
Pornel|m^eit  gelten  unb  ein  giel  feines  <£fyrgei3es  bilben, 
etoas  Befferes  roären! 

J)ie  (Ojinefen  Ijaben  für  eine  gettnffe  2lrt  ber  Sitte  ben 
2lusbrucf  füng,  b.  i.  tt?tnb  (S.  \8<Q.  (Er  tt>äre  roie  gemacht 
für  bies  Stücf  Sitte.  IPinbig  ift  bas  ZlTotip,  bem  fte  ent« 
flammt:  bie  bloße  Stanbeseitelfett,  toinbig  i^re  Autorität, 
unnbig  i^r  23eftanb  gug  für  gug  bie  UTobe.  3d? 


280 


Kapitel  IX.   Die  fatale  tfledjattiL  Das  Sittliche, 


be$e\dine  bte  ifyr  angefyörigen  unechten  2lnjianbsregeln  als 
Kaprt3en  ber  Umgangsfitte. 

Sie  bilben  nidtf  bie  einige  Ungefyörigfett,  auf  ber  toir 
bie  Sitte  ertappen:  bem  §m>iel  nacfy  ber  einen  Seite  jiefyt 
pielmeljr  ein  ^utoenig  nadj  ber  anbern  gegenüber.  <£s  fefylt 
md|t  an  5äHen,  in  benen  bie  Sitte  jtcfy  f elber  nntven  txnrb 
unb  in  Hacfygtebigfeit  gegen  eingetrudelte  <Setx>oI|nfyeiten, 
^errfcfyenbe  allgemeine  Steigungen,  porübergefyenbe  £aunen 
Dinge  bulbet,  bie  jte  in  Befolgung  iB^rer  [358]  fonjiigen 
(ßrunbfäfee  pertr>erfen  unb  unterlagen  müßte;  53eifpiele  toerben 
unten  folgen.  3^  be$eid^ne  biefe  5äHe  ber  3nf°nfcquen3 
ber  Sitte,  um  im  Flamen  3ugleicfy  bas  TXlotxv  berfelben  funb* 
3ugeben,  als  Konnit>enjen  ber  Sitte;  jte  bilben  bas  (Segen« 
ftücf  ber  obigen  Kappen,  beibe  3ufammen  liefern  ben  Beweis 
für  bie  2?erbefferungsfäB)igfeit  ber  fyerrjcfyenben  Umgangs- 
formen. 

2lHes  aber,  was  jtcfy  nacfy  beiben  Seiten  E^iit  an  unferer 
heutigen  Umgangsfitte  bemängeln  lägt,  erfdjeint  perf d]u>in* 
benb  flein  gegenüber  bemjenigen,  roas  jtdt  an  i^r  als  gefunb, 
ecfyt,  probeljaltig  ertoeift.  Dat>on  tx>irb  uns  ber  X>erlauf  ber 
DarjieHung  überzeugen. 

\\)  2>ie  UTaßjläbe  ber  feinen  Sitte:  #nftanb,  JEjöf- 
lidjfeit,  Ca!t. 

<£in  einiger  (Sebanfe,  fagten  roir  oben,  iji  es,  bem  fämt* 
licfye  Umgangsformen  unb  alle  Dorfcfyriften,  tDelcfje  ftdj  auf 
ben  gefelligen  Perfeljr  be3iet|en,  entftammen.  <£ntjiammen 
jte  i^m  «>ie  ber  Strom  ber  Quelle,  ober  roie  bie  5ntcfjt  bem 
Samen,  b.  tj.  iji  ber  Stoff,  ben  er  aus  jtcfj  entlägt,  eine  Viel* 
Ijeit  ein3 einer  bisparater  Hegeln  ober  eine  geglieberte  (Einheit? 

(Setoäfyrte  ber  Beicfytum  ber  fpradjlidjen  2lusbrüc!e  einen 
jtcfyeren  2tnljaltspunft,  fo  müßte  unfer  Stoff  in  ftd?  außer- 
orbentlicfy  reidj  gegliebert  fein.  2lber  bie  meiften  von  iljnen  jtnb 
nur  perfcfyiebene  2lusbrücfe  für  eine  unb  biefelbe  PorfteHung, 


Der  Katton  ber  feinen  Sitte* 


2S\ 


bie  Spraye  hat  es  Bjter  gemacht  rote  (Eltern,  bte  ihren  Kinbem 
bei  ber  Caufe  tnele  Hamen  betlegen,  [359]  unb  nirgends 
vielleicht  fyat  fte  bem  Drange  nach  Häufung  ber  Hamen  in  bem 
2TCajje  nachgegeben  roie  tjier,  tx>ofür  ich  auf  meine  früheren 
fprachlichen  Unterfuchungen  sertoeife»  Da  ift  es  benn  ge* 
goten,  fich  bie  5rage  ju  ftellen,  tseldje  Hamen  3ufammen« 
gehören,  einen  unb  benfelben  23egriff  3um  ZHittelpunft  fyaben* 

Die  von  mir  in  biefer  Hichtung  unternommene  Unter» 
fudjung  Ijat  mich  3U  bem  Hefultate  geführt,  baß  bie  Sitte 
auf  biefem  (5ebiete  nur  brei  felbjlänbtge  Segriffe  fennt,  bie 
fie  je  nach  ber  Derfchiebenheit  ber  nuancierung,  toeldje  fte 
gerabe  betonen  toiH,  mit  serfchiebenen  Hamen  belegt  Unter 
biefen  Hamen  greife  ich  biejenigen  heraus,  um  mich  berfelben 
fortan  ausfchlteßlich  3U  bebienen,  bie  meiner  2Infid}t  nach  bie 
be3eichnenbften  ftnb»  (Es  ftnb:  2lnftanb,  Ejöflichfeit,  Zatt 

JDeldje  anbere  Hamen  biefe  brei  Hamensträger  fonft  nod\ 
führen,  unb  welche  23egrtffsfchattierung  burch  fte  ausgebrüeft 
werben  foH,  toerbe  ich  feiner3eit  bei  jebem  berfeben  angeben» 

Unfere  nächfie  Aufgabe  befteht  barin,  bie  Behauptung, 
baß  bie  Sprache  mit  biefen  brei  2Iusbrücf en  in  ber  Cat  brei 
t>erfchiebene  DorjieHungen  perbinbet,  3U  rechtfertigen»  #m 
leichteften  gefchteht  bies  an  ben  Hegatipbilbungen:  unan» 
jiänbig,  unhöflich,  taftlos» 

(Ein  Kinb  greift  mit  ben  fjänben  in  bie  Schüffei»  Zfiit 
welchen  2tusbrücfen  wirb  es  ihm  pon  ben  filtern  üerwiefen? 
Hicht  mit  „unhöflich",  „taftlos",  fonbern  mit  „unanjiänbig"» 
Dasfelbe  Kinb  lägt  einen  Spielfameraben,  [360]  ber  31t  ihm 
gelaben  ijl,  fte^en,  als  ob  es  nichts  mit  bemfelben  3U  fchaffen 
habe,  ober  unterläßt  es  auf  ber  Straße,  ben  (5ru§  eines 
Dorübergeljenben  3U  erwtbern.  Wie  lautet  hier  ber  Dorwurf  ? 
Hid)t  „unanftänbig"  ober  „taftlos",  fonbern  „unhöflich"» 

JDann  3ieht  fich  bas  Kinb  ben  Dorwurf  3U,  fich  „taftlos" 
benommen  3U  liaben?    Hiemals!    Das  Kinb   fann  feine 


282        Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjantf.  Das  Sittliche. 


(Eaftloftgfeit  begehen.  Siefer  Dorourf  fann  nur  ben  <£r* 
roachf  enen  treffen.  2tnftanbs*  unb  Ejöflichfeitsregeln  laffen 
ftch  bem  Kinbe  beibringen,  aber  es  gibt  feine  „Caftregeln", 
ber  Caft  geht  über  bie  Hegel  Ijincms;  barauf  beruht,  tote 
toir  erft  fpäter  nachreifen  fönnen,  bas  tDefen  besfelben.  XDiv 
muffen  alfo  ben  (Ertoachfenen  3U  Jjilfe  nehmen.  3ch  rcähle 
ein  Beifpiel,  bas  ich  einem  Schriftfteller  entnehme,  ber  ftch 
3ulet$t  über  biefen  Segriff  h<*t  vernehmen  laffen*).  <£in  be* 
f annter  Dichter  folgt  ber  Ceidje  feines  Paters ;  von  ben  beiben 
(Seiftlichen,  toelche  ihn  geleiten,  beginnt  ber  eine,  welcher  bie 
Ceidjenprebigt  3U  galten  fyat,  nachbem  jte  eine  fur3e  «gett 
fdjtoeigenb  hinter  bem  £eichenu>agen  gegangen  finb,  ein  <Se< 
fpräch  über  IDilhelm  ZHeifter,  um  t^n  3ur  Abgabe  feines 
fritifcfyäfthetifchen  Urteils  3U  seranlaffen.  Der  Derftoß,  beffen 
er  ftch  bamit  fchulbig  machte,  fiel  u>eber  unter  ben  <5efichts* 
punft  bes  Unanftänbtgen,  noch  bes  Unhöflichen  —  es  ift 
toeber  unanftänbig  noch  unhöflich,  über  tDilhelm  [361]  ZHeifter 
3U  fprechen —  aber  er  enthielt  eine  Caftloftgfeit;  ein  folches 
(Befpräch  paßte  nicht  in  ben  «gufammenhang  ber  Umftänbe 
hinein. 

211s  3tt>eites  Beifpiel  nehme  ich  &en  5<*Q,  &aß  jemanb 
einem  anbem  einen  33efuch  macht  3U  einer  geit,  n>o  berfelbe, 
une  er  fieht,  in  groger  (£ile  ift,  3.  23.  in  eine  Sifeung,  ins 
Ködert  tt>ill.  <£r  muß  ftch  fagen,  baß  er  für  feinen  23efuch 
nicht  bie  richtige  geit  gewählt  h<*t,  baß  berfelbe  in  biefe 
5ituation  nicht  paßt;  fühlt  er  bas  nicht,  fo  ift  er  taftlos, 
obfehon  er  es  in  be3ug  auf  21nftanb  unb  ^öflichfeit  in  nichts 
hat  fehlen  laffen. 

Damit  glaube  ich  meine  Behauptung,  baß  bie  Sprache 
mit  jenen  2tusbrücfen  brei,  ich  B>tö  3unächft  noch  nicht  fagen: 
Segriffe,  fonbern  bloß  Dorftellungen  (Cypen,  ZHaßftäbe  bes 


*)  ^a^avnSf  Das  £ebert  ber  Seele,  BD.  3,  2lufT»  2,  (882,  5.2*. 


anftcmb,  ^öfitdjfett,  Haft 


283 


gefeUfdjaftlidien  Benehmens)  perbinbet,  bewiefeh  3U  traben, 
unb  bamit  ijl  bie  fprad?lid?e  Unterlage  gewonnen ,  auf  ber 
unfere  bemnädjjHge  Unterfudjung  fort3ubauen  haben  wirb. 
3ft  ber  Schlug  Pom  XTegatwen  auf  bas  pofitioe  begrünbet, 
fo  fydben  wir  bamit  bie  brei  oben  genannten  2tTaj$ftäbe  er* 
galten:  2lnjlanb,  Qöflidtfeit,  Caft. 

2lber  bamit  tfl  ber  Beweis,  baf$  bie  Sprache  nietet  nodi 
anbere  XlTaßjlcibe  bes  gefellfdjaftlidjen  Benehmens  fennt,  nod? 
feineswegs  erbracht  €r  fe&t  meintest  ben  Zladjweis  voraus, 
baß  fämtlidie  anbere  21usbrücfe,  weldje  bie  Sprache  fonft 
nodj  befifet,  einem  ber  brei  burefy  jene  2Iusbrücfe  umfdjriebenen 
Dorftellungsf  reife  anheimfallen.  3n  wirflidj  ftringenter  IDeife 
lägt  jtdj  biefer  [362]  Beweis  nur  auf  begrifflich  eliminierenbem 
IDege  erbringen,  b.  h»  inbem  wir  3unädjft  bie  Dorftellungen, 
welche  bie  Sprache  bei  jenen  brei  2lusbrü<f  en  por  21ugen  fyat, 
auf  bie  5orm  prä3tfer  Begriffe  3urücf führen  unb  fobann  bar* 
tun,  baß  für  einen  weiteren  Begriff  fein  Haum  übrig  bleibt. 
3ch  gebenfe  biefen  Beweis  auf  fprachlichem  IDege  t>or3u* 
bereiten,  inbem  ich  bie  3nt>entur  ber  Sprache  aufnehme  unb 
ben  gefamten  IDortfchafe  berfelben  nach  XHaggabe  ber  brei 
angegebenen  Dorftetlungsf  reife  3ufammenftelle. 

Dem  Dorßellungsf reife  bes  2tnftanbes  geboren  an:  2ln« 
ftanb,  Deforum,  anftänbig,  unanfiänbig,  fdjicflich, 
unf cfyicf lieh,  3iemlich,  un3iemlich. 

Dem  DorfteHungsfretfe  ber  Ejöf  lichf  eit:  t^öflid],  auf» 
merffam,  entgegenfommenb,  3UPorf ommenb,  rücf« 
fichtssoll,  artig,  t>erbinblich,  galant,  freunblich, 
liebenswürbtg  nebfi  ben  von  ihnen  gebilbeten  Sub« 
ftantwen:  ^öfltdjfeit,  2Iufmerffamfeit,  2lrtigfeit,  £reunblid)feit, 
Ciebenswürbigfeit,  bie  nicht  blo§  oon  ber  perfon,  fonbem 
aud)  von  bem  21fte  gebraust  werben  (jemanbem  eine  2lrtig- 
feit,  2tufmerffamfeit  ufw.  erweifen).  Sobann  bie  Regatta* 
bilbungen:   unhöflich,   unaufmerf f am,   un f reunblich, 


284 


Kapitel  IX.   Die  feciale  UTecfyamf.   Das  Sittliche* 


unartig,  ungalant,  unliebenstDÜrbtg  nebft  unge3ogen 
unb  grob. 

2)  em  DorfteHungsfreife  bes  (Eaftes:  taftsoll,  bisfret, 
befcfyeiben,  paffenb*),  angemeffen,  taftlos,  [363]  in« 
bisfret,  unbefcfyeiben,  läftig,  3ubringltdj,  breift,  un* 
paffenb,  unangemeffen,  ungehörig. 

3)  ie  meiften  ber  aufge3äfylten  2lbjefth>a  roerben  von  ber 
Sprache  in  boppeltem  Sinne  gebraust:  im  objeftben  3ur 
Ct|arafterijterung  bes  23eneljmens**),  im  fubjefttoen  3ur 
(E^arafterifterung  ber  perfon,  3.  23.  Ijöflidj,  grob,  taftpoH, 
artig,  einige  bloß  im  objeftben  Sinne,  3.  23.  fcfyicflicfj,  paffenb, 
unangemeffen. 

2lHerbings  fennt  bie  Sprache  auger  ben  fyer  aufge3ä^Iten 
JiusbrüdF en  noefy  eine  ZHenge  anberer,  bie  fte  3ur  (Eljarafteri« 
fterung  bes  gefetlfdjaftlicfjen  Benehmens  rerroenbet.  Hm  un- 
begrünbeten  (Einroenbungen,  bie  man  ifyten  etroa  entnehmen 
mochte,  t>or3ubeugen,  rufe  icfy  bem  £efer  in  bie  (Erinnerung 
3urücE ,  baf$  meine  Dreiteilung  ftcfy  nur  auf  bie  Umgangs* 
formen,  b.  Ij.  nur  auf  bas  äußere  23eneljmen  be3iel}t,  unb 
aud\  auf  biefes  nur  infotx>eit,  als  basfelbe  burdj  §tt>ecfe  bes 
Umgangs,  b.  lj.  burefy  Bücfftditen  auf  anbere  geboten  tji. 
21us  bem  Umfreis  unferer  Betrachtung  fcfyeiben  nidjt  bloß  bie 
moralifdien  <£igenfcfyaften  aus  (3.  23.  boshaft,  fripol,  eitel, 
$0*3),  fonbern  auefy  biejenigen,  tDeldje  $wav  ber  Sitte  ange» 
^ören,  aber  nicht  ber  frembnüfetgen,  fonbern  ber  felbjlnüfeigen 
(S.  229).  Dahin  s&fyUn  in  erjier  Cime  Sittfamfeit  bei  ber 
[364]  5rau,  IDürbe  beim  21Tanne***).    3n  be3ug  auf  beibe 

*)  paffenb  unb  unpaffenb  u>irb  ungenau  audj  vom  2Jnfianbe  ge* 
brauet,  feiner  urfpriingltdjen,  flnnlicfyen  23ebeutung  naa?  gehört  es  bem 
DorfteHungsf  reife  bes  Caftes  an  {was  in  bie  Situation  fynein  pa£t)> 
uue  bemnädjft  (Hr.  J5)  ge3etgt  werben  fotf. 

**)  Über  biefen  21usbrucf  unb  über  tPefen  (♦  &  27  ff*  äquivalente 
21usbrücfe  finb  betragen,  2Iuffül|rung. 

***)  Cicero  de  ofiic.  I,  36:  venustatem  muliebrem  ducere,  debenius, 


tfnjiaitb,  Qöfltyfett,  Caft* 


285 


gebraust  bie  Sprache  ben  ilusbrucf:  öenefynen,  Betragen, 
tDefen,  jte  toeift  biefe  <£igenfd?aften  alfo  ber  Sitte,  nidjt  ber 
XHoral  3U,  unb  fie  bringt  aud}  jte  unter  ben  (Sejtcfytspunft 
bes  Xnftanbes*  21ber  bas  TXiotxv,  u>arum  bie  Sitte  fie  t>er* 
langt,  liegt  in  ber  perfon  felber,  an  roeldje  jte  bie  2lnforbe< 
rung  rietet,  nidjt  in  ber  perfon  besjenigen,  mit  bem  jte 
perfe^rt,  m.  a.  XD.  jte  enthalten  feine  pojhxlate  bes  Umgangs, 
auf  bie  tt>ir  uns  ja  bei  ber  Cfyeorie  ber  Umgangsformen 
aHein  3U  befdjränfen  l^aben.  2>er  befte  23eu>eis  bafür  liegt 
barin,  ba§  ber  ZHangel  biefer  fiigenfdjaften  ben  Umgang 
nid|t  bloß  nidjt  erfdjioert,  fonbem  umgefefyrt,  inbem  er  eine 
Scfyranfe  ber  persönlichen  2lnnäljerung  fyimt>egräumt,  fogar 
erleichtert. 

XHan  barf  biefe  Stusfdjeibung  ber  felbffnüfeigen  t>on  ben 
frembmifeigen  21njtanbsregeln,  bie  ben  obje!tioen  gefeUfdjaft' 
liefen  §roe(f  berfelben  3ur  (Srunblage  I?at,  md?t  [365]  mit 
ber  ^rei^eit  bes  Spielraums  bemängeln,  ber  bem  fubjeftioen 
TXlotive  bei  i^nen  geöffnet  tfi,  ba§  man  nämlidj  beibe  fotoobl 
feinet*  als  ber  anbern  toegen  befolgen  fann.  21uf  biejen 
<£imr>anb  habe  idj  bereits  oben  (S.  230,  f*  audj  S*  2^0)  ge* 
antwortet,  er  beruht  auf  ber  fo  oft  betonten  Petoediflung 
bes  XITotips  mit  bem  gu>e<fe. 

Dem  im  obigen  erbrachten  23etr>eife  ber  brei  burdj  unfere 


dignitatem  virilem.  IHan  fonnte  fagem  was  Sittfamfeit  für  bie^rau, 
tft  VOütH  für  ben  Xttann,  fie  bofumentieren,  ba§  beibe  wie  bte  Sprache 
ftdj  ausbrüeft:  „ettsas  auf  fidj  galten"*  Unter  ben  (Seftd?tspunft  einer 
21nforberung  ber  felbftnüijtgen  Sitte  fällt  audj  bie  Behauptung  ber 
Fialen  Stellung;  fie  mug  vom  Subjeft  ntd/t  feiten  mit  großen  (Dpfern 
erfauft  werben*  21uf  bem  (Sebtete  ber  IHoral  entfprtd^t  ben  betben  ge* 
nannten  Begriffen  ber  Sitte  bie  (Efyre:  Behauptung  bes  eignen  IPertes 
im  ^anbeln  (cXfyarafter)  im  (Segenfatj  311  ber  burdj  bas  Benehmen 
(tDefen)*  Hur  in  öffentlichen  Stellungen  nimmt  bte  Behauptung  ber 
IDürbe,  ber  f<>3talen  Stellung,  ber  <£tjre  einen  anbern  über  bas  3"tereffe 
bes  Subjefts  hhtausgehenben  C^arafter  an,  fie  gehört  fner  3U  ben 
pflichten,  meldte  bas  21mt  mit  ftd?  bringt» 


286        Kapitel  IX.   Die  feciale  XHedjamf.   Das  Sittliche* 

Stiditoottc:  2lnftanb,  fjöflidjfeit,  tEaft  gef  enteigneten  Por* 
fteßungsfreife  ber  Sprache  nmrbe  fidj  nunmehr  ber  Derfud) 
an3ureifyen  haben,  bie  fpradjlicfye  Dorftellung  3m:  5orm  bes 
Segriffs  311  ergeben.  3m  folgenben  foH  berfelbe  jebodj  nur 
in  bc3ug  auf  ben  (Begenfafe  t>on  2tnftcmt>  unb  Ejöflidtfeit 
unternommen  u>erben,  tue  genauere  33egriffsbeftimmung  bes 
Saftes  behalten  wix  ans  (ßrünben,  bie  bemnädjfi  erhellen 
werben,  einer  fpäteren  Stelle  t>or  (Ztr.  \5). 

XTirgenbs  tnelletdjt  ift  ber  Perfudj  einer  33egriffsbejKmmung 
mit  folgen  Sdjtoierigfeiten  oerbunben  als  in  be3ug  auf  bie 
Porfteßungen  ber  Sitte,  unb  man  möchte  faft  in  ben  2tusruf 
von  Cicero  ausbrechen,  ben  er  bei  (Selegenljeit  ber  Segriffs» 
beftimmung  von  XDürbe  unb  2Inftanb  tut:  ber  Unterfcfyeb  fei 
mefyr  3U  füllen  als  3U  formulieren*). 

(Slücflidjenseife  perfyält  es  fid}  mit  unferem  (ßegenfafee 
n\d\t  fo  fdtlimm,  er  laßt  jtdj  mit  einer  Klarheit  [366]  bar« 
legen,  bie  meines  (JEradjtens  hinter  ber  ber  juriftif djen  23egriffe 
faum  3urücf  bleibt.  <£s  roirb  ftcf?  3eigen,  baß  lefetere  bei  biefer 
(ßelegen^eit  brauchbare  Dienfte  3U  ertoeifen  vermögen,  bas 
J^anbtx>erfs3eug  ber  3uriften  t|at  babet  roieber  einmal  feinen 
JDert  erprobt 

H?ir  nehmen  unfere  obigen  23eifpiele  auf  (£♦  28\).  2)as 
Ktnb  greift  mit  ben  ^änben  in  bie  Schüffei,  es  betjanbelt 
feinen  Sptelfameraben  unfreunblich*  Steden  beibe  5äüe  ftch 
gleich?  ZTeinI  3m  3ix>eiten  5aüe  richtet  jtch  ber  Derfloß 
gegen  eine  beftimmte  perfon,  im  erjien  nicht  Sinb  noch 
anbere  Spielfameraben  amsefenb,  fo  fann  bas  Kinb  gegen 
ben  einen  freunblidj,  gegen  ben  anbern  unfreunblid?  fein, 
basfelbe  ^at  es  mithin  in  feiner  J}anb,  feinem  benehmen 
eine  perfönltche  Htchtung  3U  geben*  3m  wflen  5aüe  bagegen 


*)  Cicero  de  offic.  I,  27:  qualis  autem  differentia  sit  honesti  et  de- 
cori,  facilius  intelligi  quam  explanari  potest. 


Slnjtanb  abfolut  —  ijöfltcr/Feit  relativ 


287 


fjat  es  bies  nicfyt  in  feiner  2Tiad)t,  es  fann  bie  Unfcfyicflidifeit, 
feie  es  begebt,  nicfyt  gegen  eine  ein3elne  ber  amsefenben  per* 
fönen  fefyren,  es  begebt  fie  fd}led)ti)in.  23et  allen  Jlusbrücfen, 
bie  bem  DorfieHungsfreife  ber  ^öflidjfeit  angehören,  fann 
man  fragen:  gegen  tx>en?  33ei  benen,  tseldje  bem  bes  2tn* 
jlanbes  angehören,  fann  man  biefe  5rage  nidjt  [teilen*  Zltan 
iji  Ijöfltdt,  3ut>orfommenb,  aufmerffam,  unge3ogen,  grob  ufn\ 
gegen  jemanben,  aber  man  ift  nicrjt  anftänbig  ober  unan* 
ftänbig  gegen  jemanben,  fonbern  man  ift  es  fdilecfittjin.  <£ine 
2trtigfeit,  Jlufmerf famfett,  Ejoflidtfeit,  fann  man  jemanbem 
ertx>eifen,  aber  bas  2Inftänbige,  Scfyicflicfye,  giemlictje  er* 
toeift  man  nicfyt,  fonbern  man  tut  es* 

[367]  Damit  I^aben  mix  ben  erften  unb  ti'odift  wichtigen 
Itnterfdjieb  beiber  23egriffe  fonftatiert,  es  ift  ber  bes  2tbfo* 
luten  unb  Heiatipen.  Der  3urift  roürbe  in  ber  befannten 
Cerminologie  bes  römifcfyen  Hecfyts  itjn  fo  toiebergeben  fönnen: 
bie  (ßebote,  pflügten,  Kücf fiepten  ber  fjöflid^feit  ge^en  in 
personam,  bie  bes  2tnftanbes  in  rem*)*    Die  probe  für  bie 


*)  (für  bas  Derjtänbms  bes  £aien  füge  td?  folgenbes  fjmju:  Der 
2lnfprudj  bes  Käufers  aus  bem  Kauffontrafte  trägt  bie  (form  einer 
actio  in  personam  an  fid?,  b*  fy*  er  get^t  gegen  ben  Derfäufer,  unb  nur 
gegen  ifyn,  nidjt  gegen  ben  Dritten ,  bem  jener  ettca  fontraftsaribriger- 
tretfe  bie  Sadje  gefdjenft,  r>erfauft,  nerpf änbet  rjat.  Die  prc^effualifdje 
Signatur  biefer  relattoen  Befdjränftrjeit  bes  2lnfprudjs  beraub  bei  ben 
Hörnern  in  ben  IDorten:  »dare  facere  oportere«  —  bas  oportet  im- 
pli3tert  in  ber  Sprache  bes  pro3effes  bas  OToment  einer  3um  fyaribtln 
r>erpflicr/teten  perfom  Die  Klage  3um  «gweefe  ber  Verfolgung  bes  (Eigen- 
tums bagegen  trägt  bie  (form  einer  in  rem  actio  an  fidj,  b*  fy*  fEe  gerjt 
gegen  jeben,  ber  es  üerletji  Die  pro3effualtfdje  Signatur  biefer  2Jrt  bes 
2lnfprudjs  beftanb  in  bem  ttfort  >esse«  (rem  meam  esse)  —  bas  >esse« 
brüeft  in  ber  Sprache  bes  römtfef/en  pro3effes  bas  2XbfoIute,  bas  oportere 
bas  Helatice  aus»  Dag  auefj  im  (enteren  (falle  bie  Klage  ftd)  gegen 
eine  perfon  richtet,  ijt  felbfiüerftänblid?  unb  fielet  bem  (Sefagten  nidjt 
entgegen.  Die  Verlegung  bes  Hechts  3tet^t  allerbings  audj  beim  abfo* 
luten  Hedjte  bie  perfon  bes  Derlefeenben  mit  rjmein,  allein  bem  23e* 
griffe  besfelben  ift  bie  perfon  fremb,  n>är|renb  fte  bei  ber  (Obligation 


288        Kapitel  IX.   Die  feciale  IKedjaniF*   Das  Sittliche* 

Hicfytigfeit  tiefer  23egriffsbeftimmung  befielt  barin,  ba§  jeber 
es  in  feiner  fjanb  fyrf,  in  einer  (Sefellfcfyaft  gegen  bie  eine 
perfon  Ijöflid},  3ut>orfommenb,  gegen  bie  anbere  unfyöflidt, 
unfreunblicfy  3U  fein,  u>äfyrenb  [368]  er  bies  in  be3ug  auf 
bie  23eact?tung  ber  (Sefefce  bes  Unfianbes  nidjt  in  feiner  2Tfad)t 
Ijat  IDer  betrunfen  in  einer  (SefeUfcfyaft  erfcfyeint,  t>erlefet 
bamit  bas  Slnftanbsgefüfyt  fämtlicfyer  2Inn>efenben,  er  t>ergeljt 
fiefy  »in  rem«,  er  fann  feinem  üerfloße  nidjt  bie  Bidjtung 
gegen  eine  beftimmte  ein3elne  perfon  geben.  3)a§  eine  gegen 
eine  ein3elne  perfon  serübte  <5robfyeit  alle  anbeten  2tmx>efenben 
perlenen  fann,  fte^t  bem  nicfyt  entgegen,  fyer  liegt  ber  5<*Q 
einer  Konfurren3  ber  Übertretung  3tt>eier  (ßefefee  x>or:  ber 
Ejöflic^feit  (gegen  ben  unmittelbar  Betroffenen)  unb  bes  2tn* 
ftanbes  (gegen  bie  unmittelbar  betroffenen  geugen  bes  21ftes). 
<£benfou>enig  tut  ber  Bicfytigfeit  ber  obigen  SegriffsbejHmmung 
ber  fjöflicfjfeit,  ba%  fte  fiefy  gegen  bie  perfon  rtdjte,  ber  Um* 
ftanb  2tbbrudj,  ba%  bie  burefy  bie  Unl|öflid}feit  betroffene 
perfon  nicfyt  blo§  ein  ein3elnes  3n^iü^uum/  fonbern  eine 
gan3e  (ßefeUfc^aft  fein  fann,  roie  es  3.  33.  bei  jemanbem  ber 
Soü  fein  txmrbe,  ber  als  Witt  erft  erfdjeinen  toollte,  nac^bem 
feine  fämtlicfyen  (ßäfte  fiefy  serfammelt  Ratten,  ober  ber,  toenn 
er  genug  an  iBjnen  Ijätte,  fte  gefyen  Reißen  toollte.  <£benfo 
bei  einem  Hebner,  ber  t>on  ber  Cribüne  fyerab  ber  gan3en 
Derfammlung  <5robfyeiten  fagen  toollte. 

2T£it  bem  <5egenfafc  bes  2lbfoluten  unb  Selatisen  fielet  im 
engften  gufammenfyange  ein  3tt>eiter:  ber  bes  pofitisen  unb 
2Tegatit>en.  3)ie  formen  bes  2tnftanbes  pnb  negativer, 
bie  ber  fföflicfyfeit  pojttiser  Statur.  Die  oben  3ur  Erläuterung 


nottsenbig  tfi  HTan  fann  ftd?  bas  (Eigentum  benfen  oljne  eine  perfon, 
bie  es  r>erlet$t,  bie  Obligation  nidjt  ofyne  ben  5d?ulbner. 

(Ebenfo  t>ert|ält  es  ftd?  mit  2lnfianb  unb  fjöflidjfeit  Dem  Begriffe 
bes  2lnftanbes  ift  bie  perf online  ^^iefyung  fremb,  bem  ber  fjöfüdjfeit 

tDefentlidj. 


21njtanb  negatitn  —  l^öflicfjfeit  pofltip. 


289 


bes  erften  <5egenfafees  I|erange3ogene  [369]  parallele  bes 
Hechts  bleibt  uns  audj  I|ier  3ur  Seite:  bas  abfolute  Hedjt 
bes  (Eigentums  begrünbet  lebiglidf  bie  negative  Derpflidjtung, 
es  nicf|t  3U  verleben,  bas  relative  ber  Obligation  bie  pojttive 
Derpfficfytmtg,  jte  3U  erfüllen.  So  audj  2tnftanb  unb  I}oflicfc 
feit.  ü?ie  bas  Bedjt  ben  Scr?u&  bes  (Eigentums  lebiglidt 
burd?  Derbot  vermittelt,  ebenfo  bie  Sitte  ben  bes  2lnftanbes, 
bei  beiben  reidjt  abftraft  bas  blojje  Derbot  bes  gutvtber* 
fyanbelns  unb  beim  3nbipibuum  bas  bloße  Unterlagen  aus. 
iticrjt  fo  bei  ber  Obligation  unb  ber  fföflidjfeit,  jte  forbern 
vielmehr  vom  3n&totöuum  ein  pofitives  f^anbeln  unb  baffer 
abftraft  bie  X>or3eid)nung  beffen,  tvas  gefcrjefyen  foH.  Der 
(Segenfafc  ber  Dorfdjriften  bes  Jtnftanbes  unb  ber  f}öflicfc 
feit  entfprtdjt  bem  ber  beiben  praecepta  juris  bes  römifdjen 
3uriften*):  alterum  non  laedere  unb  suum  cuique  tribuere. 
Die  Quinteffen3  alter  Hegeln  bes  2lnftanbes  ift  bas  alterum 
non  laedere,  b.  Ij.  bas  Unanftänbige  3U  unter  laffen,  bie  ber 
Kegeln  ber  £[öflidjfeit  bas  suum  cuique  tribuere,  b.  fy.  ben 
2lnfprudj  bes  anbem  auf  Beachtung  ber  üblichen  Ejöflidjfeits* 
formen  3U  erfüllen. 

Der  <5ejtcrttspunft  ertveift  ftdj  bei  rveiterer  Verfolgung  als 
äußerft  fruchtbar. 

Der  Spielraum  ber  2lbftufung  bes  rein  negativen  Begriffs 
bes  2lnftanbes  liegt  lebiglidf  nacfj  ber  negativen  Seite  fyn, 
ber  bes  pojttiven  ber  Ejöflicfjfeit  fotvofyl  nadj  [370]  ber  poft« 
tiven  tvie  nadj  ber  negativen  Seite,  b.  I).  bie  (ßrabationen  bes 
2lnftanbes  treffen  lebiglicfj  bas  Unanftänbige,  bie  ber  l^öflicrj' 
feit  gleichmäßig  bas  Ejöflicrje  rvie  bas  Unfyöflicfje.  3ft  beim 
2tnftanbe  bas  Hiveau  bes  21nftanbes  einmal  erreicht,  fo  gibt 
es  barüber  hinaus  feine  Steigerung.  Heines  IDaffer  fann 
mdjt  mefyr  als  rein  fein;  befinbet  fid)  fein  frember  Stoff  im 


*)  Ulptan  m  MO  §  J  de  J.  et  J.  (|.  \). 

x>.  31?  e  ring,  Der  ^roecf  im  Hcd>t.  II 


19 


Kapitel  IX.   Die  fatale  flTedjattif,   Das  Sittliche, 


IDaffer,  fo  ift  bie  Heinheit  erreicht,  unb  bamxi  Ijat  es  fein 
<£ube.  Ztur  bie  Unreinheit  bes  IDaffers  B|at  (Stahe,  es  fann 
meljr  ober  weniger  unrein  fein,  fchmufeig,  efelhaft,  je  nach 
ZlTenge  unb  Befchaffenheit  bes  ihm  beigemifchten  fremben 
Stoffes,  (ßans  fo  beim  2lnftanb*  2lHe  Hegeln  besfelben  l\aberx 
nur  ben  einen  gwed,  bas  Ungehörige,  Schmufeige,  €felhafte 
fern3uhalten;  Hein^eit  oon  allen  biefen  ungehörigen  53ei« 
mifchungen,  Korreftheit  in  be3ug  auf  2tnftanb  ijt  bas  äufjerfte, 
bas  fie  erftreben;  ift  biefer  ÜuHpunft  ber  2Jbtt>efenheit  bes 
Ztegatipen  erreicht,  fo  ifi  bamit  alles  gefchehen,  eine  Steige* 
rung  unbenfbar,  —  man  fann  nicht  in  f|öl}erem  (Stabe  als 
ein  anberer,  nicht  in  ausge3eichnetem  (Stabe  anftänbig  fein, 
bas  2tnftctnbige  fennt  feine  (Stabe:  feinen  Komparatio  ober 
Superlatio,  roohl  aber  bas  Unanftänbige. 

PöHig  arxbets  bei  ber  i}öflichfeit  2tls  pojitioer  Segriff 
ift  fie  ber  Steigerung  nach  3toei  Seiten  h*n  f^hi^  hirtftchtlich 
ber  pofüisen  tr>ie  ber  negatioen,  ihre  Sfala  gleicht  ber  bes 
Osmometers,  bei  ber  ber  ZtuHpunft  in  ber  ZHitte  liegt  mit 
einem  Spielraum  bes  ZHinus  unter  bemfelben  unb  eines  plus 
über  bemfelben.  Die  Sprache  h<*t  [371]  eine  große  UTenge 
pon  JDenbungen,  um  bie  2lbjhifungen  nach  beiben  Seiten  hin 
3u  d\ataf terifieren :  unliebensttmrbig,  unfreunblich,  unhöflich, 
unartig,  berb,  rücfftchtslos,  unge3ogen,  grob  —  höflich,  artig, 
aufmerffam,  3Ut>orfommenb,  entgegenfommenb,  gefällig,  per* 
binblich,  freunbltch,  liebenstoürbig,  h^lich«  2lls  ZTutlpunft 
ber  Sfala  liege  fich  bie  gemeffene,  fühle  fjöflichfcit  be3eichnen 
—  bie  gemeffene:  bie  nichts  roeiter  gibt,  als  bas  burch  bie 
üblichen  Ejöflid^feitsformen  unerläßlich  gebotene  UTajj;  bie 
fühle:  bei  ber  bas  I}er3  als  oöHig  unbeteiligt  fühl  unb  falt 
leibt,  ber  <5efrierpunft  bes  i^ens,  bem  bes  Chermometersb 
r>ergleid?bar.  Unter  biefem  Ztullpunft  hört  bie  ^öflichfeit 
auf,  fie  tr>irb  3ur  Unhöflichfeit,  Unge3ogenf)eit,  über  bemfelben 
beginnt  ber  Spielraum  bes  plus.    Den  äußerften  punft  in 


Die  fjöfltdjfett,  —  Der  Spracfjfcfyats* 


29* 


jener  Hichtung  be3eichnet  bie  Unge3ogenhett,  (Grobheit,  ben 
äußerften  in  biefer  bie  5reunblichfeit,  Üteiglichfeii. 

Die  21bftufungen  innerhalb  biefer  5fala  ber  I}öflid?feit 
haben  für  meinen  groecf  fein  3ntereffe,  mir  genügt  bie  (Tat* 
fache,  baß  ftch  bie  Stala  bes  2lnftanbe5  nur  nach  ber  nega- 
tiven, bie  ber  f^öflidtfeit  auch  nach  ber  pofttisen  Seite  fyn 
erftre<f t.  Dagegen  bieten  mir  einige  ber  obigen  für  bie  ^8f* 
lidtf eit  namhaft  gemachten  tDenbungen  ein  roertootles  XHaterial, 
um  ben  (5runb3ug  bes  poftth>en,  ber  fte  von  bem  2Inftanbe 
abgebt,  in  ein  Ijelleres  Sicht  3U  fefeen,  als  es  mir  im  bis- 
herigen möglich  tx>ar;  rr>ir  sollen  aus  ihnen  bas  fprachlidje 
23ilb  ber  höflichfeit  3ufammenfefeen. 

[372]  Die  Sprache  3eichnet  uns  in  biefen  IDenbungen  bie 
höflichfeit  nach  3tx>ei  Seiten  hm:  nach  feiten  beffen,  ber  fte 
ertoeift,  unb  nach  feiten  beffen,  bem  fte  erroiefen  u>irb. 

Xladi  ber  erften  Seite  Ijin  toirb  bas  benehmen  bes  höf- 
lichen burch  bie  Sprache  in  boppelter  IDeife  charafteripert: 
äußerlich  unb  innerlich. 

äußerlich.  Da3u  bienen  bie  JDorte:  aufmerffam,  ent- 
gegenfommenb,  3M>orfommenb. 

Der  Ejöf liehe  erroeift  uns  eine  „21ufmerffamfeit",  b.  h*  & 
„merft  auf  uns",  er  3eigt,  baß  ihm  an  uns  ettoas  liegt,  er 
„bemüht"  ftch  für  uns  (anerfannt  in  ber  befannten  höflich- 
feitsphrafe:  „bemühen  Sie  fich  nicht")*  auf  jemanben 

merft,  „beachtet"  ihn,  bas  23e*achten  aber  ift  bas  Richen  bes 
Wichtens,  ber  2ld]tung  —  u>en  man  nicht  achtet,  ben  beachtet 
man  nicht,  um  ben  „fümmert"  man  ftch  nicht,  man  ignoriert 
ihn.  Zlimmt  man  ihn  immerhin  auch  mit  bem  2luge  tx>ahr, 
roenn  er  ftch  gerabe  im  (ßeftchtsfreife  beftnbet,  fo  fteht  bas 
21uge  ftch  nicht  nach  ihm  um,  es  nimmt  auf  ihn  feine  „Hücf- 
ficht".  Jlufmerffamfeit,  Sichtung,  Hücf  ficht  fnüpfen  an  eine 
unb  biefelbe  Dorftellung  an:  ber  anbere  ift  (ßegenftanb  ber 
21bftcht,  einer  abftchtlichen  Beobachtung. 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IKecfyattif*    Das  Sittliche* 


<£in  anbetes  2?tlb,  bas  bie  Spraye  bafür  t>eru>enbet,  ifl 
„5Ui>orfommenb'J,  „entgegenfommenb"  (prdvenant),  2>asfelbe 
[priest  für  jtch  felbfl:  ber  J[öf  liehe  lägt  ben  anbern  nicht  erft  „an 
ftd?  heranfommen"  er  ift  nicht  „3urücfhaltenb,  [373]  refertnert", 
fonbem  er  fommt  ihm  auf  falbem  IDege  entgegen,  ober, 
tsenn  berfelbe  etwas  3U  h<*ben  toünfcht,  fommt  er  ihm  3ut>or 
unb  reicht  es  ihm,  er  fud^t  ettoas  für  ihn,  bas  er  ihm  biete 
(„ausgefuchte"  Qöflichfeit).  Überaß  roieber^olt  jtch  in  bie[en 
IDenbungen  bie  Dorftetlung  bes  Sichbemühens  um  ben  anbern, 

3nn erlief  tmrb  bie  Qöflidjfeit  djarafteriftert  burch  bie 
IDorte:  gefällig  (complaisant),  freunblich,  1^3^  —  <5efällig* 
feit,  £reunblichfeit,  £}er3lichfeit  (gefällig  unb  <5efäHigfeit 
gehen  auf  ben  &we<S,  bie  anbern  iüorte  auf  bie  (Sefmnung. 
2)er  (Befällige  h<*t  ben  gtseef,  bem  anbern  3U  gefallen  ba* 
burch,  baß  er  ihm  ettoas  „2Ingenehmes"  eru>eijl  (baher  bie 
Lebensart  ber  Dulgärfpradje:  „ben  Angenehmen  fpielen",  unb 
agrdable  im  5ran3§ftfchen  ==  höflich),  er  fytt  babei  ebenfofetjr 
fici7  im  2luge  als  ihn:  er  toitt  f  elber  (ßegenftanb  bes  lüo^I» 
gefallens  in  beffen  2lugen  tx>erben,  unb  3u>ar  baburd?,  baß 
er  ihm  tt>ohl*tut.  freunblich  brüeft  bie  £janblungsn?eife  bes 
5reunbes  aus,  bem  es  nicht  um  ftch,  fonbem  um  ben  anbern 
3u  tun  ift.  fje^lich,  baß  bas  £jer3  babe;  beteiligt  ift,  —  bie 
Cransparen3  bes  ^er3ens  in  ben  äußeren  formen.  2TCit  bie[er 
(ßeftnnung  geht  bie  I}öflichfeit  bereits  in  bas  ZHoralifche  über, 
toäfyrenb  fie,  folange  fie  ftch  bloß  auf  bie  Beobachtung  ber 
äußeren  hergebrachten  form  befchränft,  ftch  noch  innerhalb 
ber  Sitte  beroegt. 

itach  ber  3tt>eiten  Seite,  nach  feiten  beffen,  bem  bie  ^of« 
lichfeit  erliefen  unrb,  liebt  bie  Sprache  3tt>ei  Zftomente  [374] 
heroor,  einmal  bie  2trt  ber  pfychologifchen  <£imr>irfung  auf 
ihn  unb  fobamt  bas  ZHoment  bes  Derpjlichtenben.  <£rjteres 
burch  bie  präbifate:  frgeit>innenb,  einnehmenb,  einfchmeichelnb, 
inftnuant",  lefeteres  burch  bas  präbifat:  „t>erbinblich"  (obligeant, 


21nftcmb  —  Sdjetit  bes  pofttfoem 


293 


engageant,  entfprechenb  ber  3)anffagungsphrafe  „fehr  t>er- 
bunben'')  unb  „liebensroürbig".  Vev  £iebenstoürbige  t^at  uns 
„etoas  3uliebe  getan",  eine  £iebe  aber  iji  ber  anbern  u>ert; 
rt>ir  erf  ennen  ben  (ßegenanfpruch  auf  Siebe  an,  inbem  tx>ir 
ihn  für  „liebenstoürbig"  erflären. 

£>on  aßen  biefen  für  bie  f}öflichfeit  aufgeführten  2tus* 
brücfen  fmbet  fetner  auf  bie  öefolgung  ber  (5ebote  bes  2ln* 
ftanbes  3lnroenbung.  3)er  ZHann  bemüht  ftch  nicht  für  uns, 
er  fdjenft  uns  feine  befonbere  2lufmerffamfeit,  ermeijl  uns 
feine  (gefälligfeit,  er  tut  nur,  roas  er  muß:  er  befolgt  bie 
(ßefefce  bes  2tnftanbes,  gan3  fo  txue  ber  jenige,  ber  feinen 
(Eingriff  in  unfere  <£igentumsfphäre  oornimmt,  bie  bes  Hechts. 
Datum  ßnb  u>ir  ihm  auch  5**  feinem  Danfe  verpflichtet,  eben» 
fotoenig  roie  bem  jenigen,  ber  uns  nicht  beftiehlt. 

Die  l\\et  serfuchte  gurücfführung  bes  (ßegenfafees  von 
2lnjianb  unb  fjöflichfeit  auf  ben  bes  ZTegatfoen  unb  pofitioen 
ließe  ftch  in  folgenber  IDeife  bemängeln,  2lnch  bie  Hegeln 
bes  2lnftanbes  fchreiben  für  ein3elne  2tfte  eine  pofitise  5orm 
ihrer  Dornahme  t>or,  3.  23.  für  bas  <£ffen  ben  (gebrauch  ber 
(Säbeln  3um  Pehmen  unb  ber  HTeffer  3um  gerfchneiben  an 
Stelle  ber  Ringer  unb  gähne,  beren  fich  [375]  ber  IDilbe 
bebient.  2tlfo  boch  etwas  pojtttoes  beim  Tlnftanb,  nxdit  bloß 
bas  rein  ZTegatir>eI 

2)er  €inn>anb  erlebigt  jtch  burch  bie  Semerfung,  baß  bas 
pojttioe  l\\ev  nicht  feiner  felbft  tx>itten  ba  iji,  fonbem  um  bas 
Unanftänbige  fern3uhalten,  es  t^at  bie  5unftion  einer  Negation 
ber  ZTegation.  <£s  liegt  h^r  Verhältnis  x>or,  welches 
Schopenhauer  fälfchlich  für  bas  Hecht  annimmt,  bas  ihm 
3ufolge  feinen  Dafeinsgrunb  nicht  in  jtch  f elber  trägt,  fonbem 
feine  &>ur3el  im  Unrecht  ha*-  €s  finb  pojttise  Segriffe  aus 
negativer  Ü?ur3el,  bas  pojttive  im  Dienjie  bes  Negativen*). 

*)  £etn  2nxxftm  nenne  idj  als  ein  für  bie  Deranfdjaulidjung  bes 
(Segenfatjes  geeignetes  33eifptel  bie  Bona  fides  bei  ber  (Erjitjung*  Sie 


Kapitel  IX.  Die  foiale  medjanif*  Das  Sittliche* 


Um  bie  Jlmpenbung  auf  bas  obige  Scifpiel  3U  machen,  fo 
ftnb  2Tfeffcr  unb  (Säbel  nicht  ihrer  felbft  tpegen  ba,  fonbern 
um  uns  ben  fimbruef  bes  Unreinltdjen,  Unfaubern,  Cterifchen, 
fur3  bes  ilnftößigen,  ben  bas  €ffen  mit  ben  Ringern  unb  bas 
gerreißen  mit  ben  gähnen  auf  uns  macht,  3U  erfparen.  2ln* 
genommen,  baß  tpir  baran  feinen  2tnftoß  nehmen,  fo  tpürbe 
ber  (gebrauch  pon  Keffer  unb  (ßabel  aufhören  eine  5orbe« 
rung  bes  2tnßanbes  3U  fein  unb  eine  frage  ber  bloßen  £>n>ed* 
mäßigfeit  u>erben,  mit  bem  ^inmegfaßen  [376]  ber  2Inflö§ig* 
feit  bes  Hegatipen  tpürbe  I^ier  bas  lebiglich  3U  einer  2lb« 
toehr  beftimmte  pofttipe  feinen  Sinn  unb  feine  Berechtigung 
einbüßen. 

ZXodi  eines  anbern  <£imt>anbes  fehe  ich  mich  genötigt  3U 
gebenfen,  baß  es  nämlich  unter  Umjiänben  3tpeifelhaft  fein 
fann,  ob  eine  Perlefeung  bes  2lnftanbes  ober  ber  ^öflicfyfeit 
vorliegt.  3$  9*&*  ben  <£impanb  3U,  er  betpeift  aber  nur, 
baß  ber  <5egenfafe  flüfjtge  (Breden  h<*t,  eine  (Erfcheinung,  bie 
ftch  bei  un3ä^Iigen  2)ingen  unb  Segriffen  tpiebertjolt,  bie  uns 
aber  gleidjtpofyl  nicht  abhält,  biefelben  3U  unterfcheiben. 

3)er  begriffliche  (Segenfafe  3tpifchen  21nftanb  unb  fjoflich« 
fett  bürfte  mit  bem  Bisherigen  außer  gtpeifel  gefteüt  fein. 
Der  (ßegenfafe  aber  ift  fein  bloß  begrifflicher,  fonbern  3ugleicb 
ein  realer,  b.  h*  &  läßt  ftch  auf  empirtfehem  IDege  aus  ber 
Oerfchtebenheit  bes  Verhaltens  ber  Subjefte  Qnbipibueu  — 
PSlfer)  ihm  gegenüber  entnehmen.  Bei  Gelegenheit  unferer 
htftorifchen  Untersuchungen  über  bie  Umgangsformen  tpirb 
ber  Ztachtpeis  erbracht  werben,  baß  2lnjianb  unb  J^oflichfeit 


lägt  ftd?  benfen  als  ein  pofltto  angelegter  Begriff  ober  als  Hegattott 
ber  Hegation  ßlbn>efenf|eit  von  mala  fides).  Uadj  biefem  <5egenfat$e 
ber  Sluffaffung  etttfdjetbet  fld?  bie  Streitfrage  über  bas  (Erforbernis  einer 
objeftben  (aus  bem  Hergänge  bes  (Sefdjä'fts  unb  allen  babex  in  ^Setvad^t 
fommenben  ITComenten  3U  entneljmenben)  Begrünbung  ber  bona  fides, 
im  erfteren  falle  bebarf  es  berfelben,  im  3u>eiten  nidjt. 


Anjicmb,  *}öfltd}feit  in  pfydjologifdjer  Stellung*  295 


in  ihrer  gefchid}tlichen  <£ntoicflung  voeit  auseinanbergehen, 
bas  Cempo  beiber  ift  ein  außerorbentlich  üerfdjiebenes,  5U 
berfelben  S^it,  h>o  Jföflichfeit  bereits  erroachfen  ift,  befindet 
ftch  ber  2tnjlarxb  noch  in  ben  IDinbeln.  An  ber  gegenwärtigen 
Stelle  erbringe  ich  ben  ZTachtoeis  meiner  Behauptung  in 
anberer  ZDeife.  3>ie  Berufung  auf  bie  Derfdjiebenheit,  welche 
in  be3ug  auf  bas  Verhalten  ber  3^bipibuen  3U  biefem  (5egen< 
fafe  [377]  obwaltet  unb  von  bem  jeben  bie  eigene  Beobachtung 
über3eugen  fann,  würbe  wenig  t>erfchlagen,  man  fönnte  fie 
mit  ben  oerfcfyiebenften  <£inwenbungen  bemängeln.  IPenn  es 
mir  aber  gelingt,  benfelben  <5egenfafe  für  ganje  V'oltev  nach* 
3uweifen,  fo  glaube  ich  bamit  jebem  Zweifel  an  feiner  praf« 
tifchen  Healität  ben  IDeg  verlegt  3U  haben.  Daburch  wirb 
berfelbe  aus  ber  Sphäre  bes  fcheinbar  ^fälligen,  Begeltofen 
in  bie  bes  ZTotwenbigen,  <Sef  ermäßigen  gehoben,  es  ergibt 
fich  baraus,  ba§  ber  (Segenfafc  tiefere  pfychologifche  (Srünbe 
haben,  mit  bem  Charafter  bes  Subjefts  3ufammenhängen  mujj. 

3ch  wähle  bas  fran3Öfifche  unb  bas  englifche  Volt  Unter 
ben  mobernen  Dölfern  repräfentiert  bas  fran3Öftfche  bas  Ztlujler« 
Dolf  ber  Ejöflichfeit,  bas  englifche  bas  bes  Jtnftanbes.  Strenge 
unb  anfpruchspoH  ift  bie  englifche  Sitte  in  be3ug  auf  alles, 
was  ber  Anftanb  erforbert,  flrenger  als  ftreng,  benn  ber 
Kobef  bes  englischen  2tnftanbes  enthält  gar  manche  öeftim* 
mungen,  bie  t>or  bem  t>on  uns  oben  begrünbeten  ZtTaßftabe 
ber  wiffenfdjaftlichen  Kritif  bie  probe  nicht  beftehen,  unb  bie 
jtch  nur  als  Kappen  ber  gefeUfdjaftlichen  Sitte  be3eichnen 
laffen  —  Übertreibungen,  Ausartungen  eines  an  jtch  *>oll* 
fommen  berechtigten,  aber  fyev  3ur  franf haften  Bei3barfett 
unb  prüberie  gesteigerten  (Sefühls,  beren  allgemeine  Annahme 
unb  <5eltung  fich  nur  burch  bas  oben  r>on  uns  h^^»orge3ogene 
ZHotip  ber  beabjtchtigten  Abfcheibung  ber  h^h^n  (ßefell- 
fchaftsflaffeu  t>on  ben  nieberen  erflären  läßt.  Auch  ber  [378] 
TXianxx  ber  höchjten  (ßefeltfchaftsfreife  bes  Kontinents  ijl,  wenn 


296        Kapitel  IX.   Die  feciale  XlTecfyamf.   Das  Stttlidje* 


er  bie  eigentümlichen  (ßefe^e  bes  englifdjen  2lnftanbes  nicht 
fennt,  nicht  ficher,  burch  irgenb  etwas  noch  fo  Unbebeutenbes 
unb  völlig  Unverfängliches  2Inftojj  $u  erregen  —  er  muß 
fie  erft  förmlich  ftubieren  unb  fich  an  bie  englifche  Sitte 
erfl  ebenfo  getvöhnen,  tote  an  ben  englif  djen  ZTebel,  beibe 
erfchtveren  ihm  bas  gewohnte  freie  2ltmen.  Zfian  braucht 
nicht  2Iuslänber  3U  fein,  um  ben  beengenben  Qxnd  ber  eng* 
lifchen  Sitte  3U  empfmben,  ber  (Empfmbung  besfelben  haben 
fich  auch  bxe  (Eingeborenen  nicht  3U  entstehen  vermocht  (3.  23. 
Stuart  2TU11).  2lber  anbererfeits  bürfen  tvir  uns  bodj  ber 
(Einfielt  nicht  verfließen,  baß  bie  Übertreibung  eines  an  ftdt 
berechtigten  (Sebantens  nur  bas  Symptom  für  bie  ZHacht  ift, 
mit  ber  er  ben  gan3en  2TCenfd]en  erfüllt  unb  beherrfcht,  unb 
in  biefem  Sinne  glaube  ich  bie  Behauptung  rechtfertigen  3U 
fönnen,  baß  ber  Sinn  für  bas  Schief  liehe  unb  ilnjiänbige 
einen  höchft  anerfennenstverten  unb  hervorftechenben  <£harafter« 
3ug  bes  engltfchen  X?oIfs  bilbet,  lefcteres  lägt  ftcf?  vor  allen 
lebenben  Dölfern  gerabe3u  als  bas  eigentliche  ZHujlervolf  bes 
Jtnftanbes  be3eichnen. 

Was  ein  in  irgenbeiner  23e3iehung  befonbers  beanlagtes 
ober  tätiges  Dolf  ZDertvoQes  er3eugt,  teilt  fich  auch  ben 
anberen  mit,  basfelbe  ro'xxb  nach  biefer  Seite  hin  ber  £ehr* 
meifter  ber  übrigen.  2>ies  glaube  ich  *>on  &en  (Englänbern 
in  be3ug  auf  ben  2lnftanb  behaupten  3U  bürfen,  tvie  ich  bie* 
felbe  Behauptung  feinerseit  in  be3ug  auf  [379]  bie  höflich* 
feit  für  bie  Sxan$o\en  glaube  bartun  3U  fönnen.  3^  &w  ber 
Über3eugung,  baß  ber  gute  Con  ber  feinen  (Sefeßfdjaft  bes 
Kontinents  in  be3ug  auf  bas  Schiefliche  unb  2lnftänbige  burch 
bas  englifche  Porbilb  nicht  unerheblich  beeinflußt  tvorben  ift, 
in  ein3elnen  punften  fogar  in  unberechtigter  XDeife  (S.  278). 
3n  ber  nieberen  Sphäre  bes  fontinentalen  (Safthofslebens 
fleht  ber  vorteilhafte  er3ieherifche  (Einfluß  ber  reifenben  (Eng* 
länber  völlig  außer  «gtveifef. 


€ngitfdjer  2Inftanb*  —  £ratt3Öfifd}e  ^öfUdjfeit  297 


Wenn  ich  bem  englifchen  VolU  bas  fran3Öfifche  als  bas 
Jftujieroolf  ber  i}öflich?eit  gegenüberfteüe,  fo  barf  ich  mir 
rool^l  jebes  weitete  XDoxt  3ur  Begrünbung  biefer  Behauptung 
erfparen.  Qöflichfeit  bilbet  einmal  ben  fofort  in  bie  2lugen 
fpringenben  (Brunb3ug  bes  fran3Öjtfchen  IDefens.  Der  gefunbe 
Sinn  bes  fran3Öjtfchen  Volts  unb  fein  leicht  bewegliches  ZXaturett 
^at  ber  Ausartung  besfelben  in  jieife  fchwer  fällige  pebanterie, 
wie  fte  ben  <£fcarafter3ug  ber  beutfehen  fjöflichfeit  bis  gegen 
€nbe  bes  vorigen  3ahrhunberts  bilbete,  vorgebeugt,  bie 
fran3Öjtfd}e  i}öflichfeit  h<*t  bie  feine  (Sren3ltnie,  welche  bas 
Natürliche  oom  (Semachten,  bas  5*eie  unb  £eichte  t>om  €r* 
3wungenen  unb  Schwerfälligen,  bas  2tnmutige  t)om  (Sefchmacf« 
Iofen  unb  Steifen  f cheibet,  nie  überf dritten,  bie  Kun ji  macht 
bei  ben  5ran3ofen  ben  <£inbrucf  ber  Ztatur.  Dagegen  ift 
bie  fran3Öjtfd]e  Sitte  in  be3ug  auf  bas  Schicfliche  ungleich 
toleranter  als  bie  englifche*  Der  (Englänber,  ber  ben  5rctn* 
3ofen  mit  feinem  ZHagfiabe  meffen  wollte,  [380]  würbe  in 
biefer  Be3ieB|ung  manches  an  ihm  aus3ufefcen  liaben,  wie 
umgefehrt  ber  5^n3ofe  an  ihm  in  be3ug  auf  bie  I}5f* 
lichfeit;  beibe  Ztationaltypen  im  Sichte  bes  anbern  betrachtet 
würben  ein  Defoit  ergeben,  ein  Defoit,  bas  für  ben  Be« 
urteiler  wie  für  ben  Beurteilten  in  gleicher  XDeife  charaf* 
teriftifch  ift. 

TXlit  ber  bloßen  Konftatierung  biefes  (Segenfafces  ijl  bas 
3ntereffe,  welches  berfelbe  für  meinen  &med  barbietet,  er* 
fchöpft,  ich  ha&e  bamit  ben  mir  obliegenben  Beweis  geliefert, 
ba§  Jlnjianb  unb  i}öflichfeit  nicht  blog  begrifflich,  fonbern 
auch  tatfächlich  auseinanberfallen.  Der  Dölferpfychologie  mag 
es  überlaffen  bleiben,  ber  Anregung  3um  weiteren  feigen 
unb  Denfen,  welche  ber  hier  tietvovqeliobene  nationale  (Segen« 
fafe  in  reifem  IHaße  in  ftch  fchließt,  5olge  3U  geben.  3hr 
weife  ich  bie  Sxaqen  3U,  bie  jich  mir  bei  ihm  aufgebrängt 
haben,  benen  ich  obet  nicht  weiter  nachgehen  burfte,  wie 


298        Kapitel  IX.   Die  feciale  XHerijani?.    Das  Stttltdje, 

3.  B.  ob  nicht  bie  Ztatur  ihren  2tntetl  bavan  fyat*),  unb  ob 
nicht  ber  (Segenfafe  jener  beiben  Dölfer  fich  erweitern  läßt 
3U  i)em  ber  romanifchen  unb  germanifchen  Dölfer  überhaupt, 
n?ie  ich  meinerfeits  an3unehmen  geneigt  bin.  Sollte  nun  ein 
[381]  (ßegenfafe,  ber  in  be3ug  auf  gan3e  Dölfer  ftch  nach* 
tt>etfen  lägt,  nicht  ebenfalls  auch  für  bie  3nbit>ibuen  feine 
(Seltung  l^aben?  Ztach  meiner  (Erfahrung  glaube  ich  bie 
frage  bejahen  3U  fönnen,  unb  ich  fnüpfe  bavan  ben  Schluß, 
baß  Jlnftanb  unb  fjöflidjfeit  auf  x>erfchiebenen  pfychologifchen 
Porausfefeungen  (HatureQ,  (Semütsart)  bafieren  —  jener  ge* 
beiht  auch  auf  magerem,  fühlem  Soben  unb  im  Schatten,  es 
ift  bie  f  elbfrucht,  beren  ber  ZTCenfch  3U  feiner  Ztotburft  bebarf, 
unb  bie  er  auch  bem  minber  guten  Soben  abgewinnt,  biefer 
verlangt  einen  fruchtbaren  23oben  unb  Sonnenfchein,  es  ift 
ber  IDein,  ber  über  bie  bloße  Hotburft  hinausgeht.  Wo  bie 
ZTatur  ben  tDein  t>erfagt,  braut  ber  ZHenfch  ftch  fein  23ier 
unb  feinen  23ranntu>ein.  —  Steden  nicht  biefe  (ßetränfe  in 
einem  gettuffen  Bapport  3U  bem  Naturell  ber  23er>ölferung, 
bie  ftch  ih^  hebient,  unb  bamit  auch  3ur  ^öflichfeit?  Der 
Cypus  bes  2tltbayern  ift  ein  gä^Iich  anberer  als  ber  bes 
Bheinlänbers. 

Damit  h<*t  meine  <£nhx>i<flung  bes  <5egenfafees  t>on  2tn« 
ftanb  unb  ^Sflichfeit  ihren  2Ibfd?Iu§  erreicht.  3ch  faffe  bas 
(Sefamtrefultat  in  ben  Safe  3ufammen:  ber  (Segenfafe  betoährt 
fich  nach  brei  Seiten  lim:  ber  fprach  liehen  —  begriff  liehen  — 
pfychologifchen. 

3ch  tt>enbe  mich  nunmehr  ber  genauen  Betrachtung  t>on 

*)  Der  fomttge  Gimmel  franfreidjs,  ber  ben  HTenfdjen  ins  freie 
locft,  ttjm  ben  Wein  fytnM,  ber  bas  I}er3  ber  fröfyUd?fett  erf d? liegt 
unb  3ur  (Sefelltgfett  auff  orbert,  bie  ja  bie  Sdjule  ber  ijöfltdjf ett  iji.  Der 
ZTebel  (Englanbs  mit  feiner  (EmiPtrf ung,  auf  bie  Stimmmtg,  bie  mfnlare 
£age  mit  ber  Sdjiffafyrt,  bas  einfame  Sdjiff  auf  ber  See  mit  fetner 
3foUermt9  unb  feinen  tnoralifdjett  (Einipirfnngen  auf  ben  fllenfdjen: 
(Ernfi,  ftrenge  £>ttcM  pemlidje  (Drbnung  u.  a.  tm 


plan  bes  f  olgettbetu 


299 


Anftanb  unb  I^öfltchfeit  3U.  <£s  voixb  bem  Cefer  befrembenb 
srfcheinen,  tr>enn  ich  babei  auch  bem  Kleinften  unb  Unbe* 
beutenbften  meine  Aufmerffamfeit  ttubme,  allein  [382]  für 
meine  gtoecfe  ift  basfelbe  nicht  Hein  unb  unbebeutenb,  fonbern 
ebenjo  tt>ertt>oß  u>ie  bas  (Sroße,  ich  möchte  fagen:  noch  tt>ert* 
t>oßer,  Zltel^r  noch  als  im  großen  erprobt  fich  bie  Sriebfraft 
i>es  <5ebanfens  im  Keinen,  mehr  als  im  Zentrum  in  ber 
Peripherie«  (Serabe  in  ben  äußerften  Spifeen  unb  lefeten  Aus- 
läufern, in  benen  für  bas  ungeübte  Auge  jeber  pulsfchlag 
bes  (ßebanfens  $u  erft erben  fdjeint,  ^at  bie  tx>iffenfchaftliche 
Beobachtung  ihren  Sife  auf 3uf dalagen,  inbem  fie  ihn  auch  h*^ 
nachreift,  gerabe  bamit  erbringt  jte  ben  fdjlagenbften  23etx>eis 
feiner  <£jiften3,  gerabe  Ijier  betx>etjt  jte,  ba§  it^r  33Iicf  rpeiter 
trägt,  als  ber  bes  flüchtigen  Beobachters,  baß  jte  allein  bas 
roahre  Derftänbnis  ber  Dinge  erfchließt  —  bas  probeftücf 
ber  roa^ren  ZDiffenfdjaft  befteht  barin,  bag  jte  fich  getraut, 
mit  ben  großen  (Bejtchtspunften,  bie  jte  auffteüt,  bis  ins 
fletnjie  hw<*t>$ufteigen.  (Eben  barauf  liabe  ich  es  im  folgenben 
abgejehen,  ich  fexffe  meine  Aufgaben  als  bie  bes  Zoologen, 
ber  bas  unffenfchaftliche  3ntereffe  feiner  Unterfuchungsobjefte 
nicht  nach  (Sröjje  bemißt,  unb  ber  es  nicht  t>erfchmäht, 
ben  3nfu[orien,  Crichinen,  (EingetDeibeumrmem  biefelbe  Sorg* 
falt  3U3utr>enben,  toie  ben  (Elefanten  unb  Büffelochfen  —  in 
ben  Augen  eines  Bauern  mürben  Iefetere  allerbtngs  ein  u>ich* 
tigeres  ©bjeft  ber  Unterfuchung  bilben!  3n  biefem  Sinne 
roerbe  auch  ich  bas  fcheinbar  Unbebeutenbfte  unb  Ztidjtigfte 
in  ben  Kreis  meiner  Beobachtung  3iehen,  nicht  roeil  ich  ih™ 
an  jtch  einen  IDert  3uerfenne,  fonbern  n>eil  es  mir  ba3u  bienen 
foQ,  bie  [383]  <5runbgebanfen  in  bas  richtige  £id?t  3U  fefeen. 
(Es  iji  eine  am  Kleinfien  u>ie  am  (5rößten  ftch  erprobenbe 
u>iffenfchaftliche  Ch^orie  ber  tätigen  ©cfe%«  bes  Anjtanbes 
unb  ber  ^öflidjfeit,  bie  ich  3U  geben  gebenfe,  unb  bei  ber 
ich  mit  lüiffen  nichts  übergangen  liabe;  jebenfaös  toirb  jte 


300       Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjanif*  Das  Sittliche* 

neben  bem  reichhaltigen  2Tfateriat,  bas  jte  für  fich  heran3ieht, 
bas  sollftänbige  5achtserf  von  Kategorien  liefern,  unter 
welches  jtch  auch  dasjenige,  toas  fte  ettpa  übergangen  h<*ken 
fotlte,  leicht  toirb  unterbringen  laffen. 

3n  Befolgung  ber  im  Perlauf  meines  gan3en  Jüerfes 
ftets  beamteten  HTayime:  x>om  fieberen  3um  höheren  auf* 
3ufieigen,  beginne  ich  mit  bem  2Inftanb  (Ztr.  J2).  Vermöge 
feines  oben  nachgetoiefenen  lebiglich  negativen  Charters 
nimmt  er  bie  nieberfie  Stelle  ein.  2)en  3u>eiten  plaft  (Ztr.  \3,  \ty 
behauptet  bie  J^öflichfeit  2Hit  ihr  feigen  n>ir  x>on  ber  nega- 
tiven 3ur  pojttioen  Kegel  auf.  3)en  Schluß  bilbet  ber  Caft 
(Hr.  HTit  ihm  erheben  mit  uns  x>on  ber  Hegel,  b.  h« 
ber  abftraft  unb  fchlechthtn  formulierten  Horm  3ur  freien 
inbiüibueQen  <£rgän3ung  berfelben  burch  bas  in  ihrer  Schule 
gebilbete  fubjettioe  (Befühl.  Damit  ift  ber  (Srunb  angegeben, 
roarum  mir  bie  ZJegriffsbejlimmung  bes  Caftes  3unächjl  noch 
ausgefegt  h<*&en;  wiv  müffen  t>orher  erfahren  h<*&en,  K>te 
weit  bie  Hegel  reicht,  um  3U  a>iffen,  tx>o  fie  perfagt,  unb  wo 
aus  biefem  (Srunbe  ber  Caft  in  bie  £ücfe  eingreifen  l\at. 

2)ie  Heifyenfolge,  in  ber  ich  bie  brei  Segriffe  aufgeführt 
habe,  beanfprudjt  ben  &>ert  einer  fchlechthtn  3utreffenben  [384] 
roiffenfchaftlichen  Klaffiftfation  berfelben.  Zugleich  ßetlt  fte 
in  praftifcher  23e3tehung  ben  Kltmaf  berfelben  bar,  einmal, 
roas  ihre  JDertgrabatton  für  ben  gefelligen  Perfehr  anbetrifft, 
unb  fobann  in  päbagogifdjer  Ziehung  in  be3ug  auf  bie 
Stufenfolge  ihres  allmählichen  (Eintritts  bei  bem  3nbit>ibuum. 
2)as  erjie,  roas  bem  Kinbe  beigebracht  roerben  muß  unb 
erfahrungsgemäß  beigebracht  roirb,  pnb  bie  elementaren 
Hegeln  bes  2tnjianbes,  bas  3tpeite  bie  formen  ber  ^oflichfeit, 
bas  lefete,  3U  bem  es  mancher  niemals  bringt,  ber  Caft. 
\2)  Der  Jlnftanb. 

Sämtliche  Hegeln  bes  2lnfianbes  h^en  ben  negativen 
£we<S,  bas  2lnjiö§ige  fern3uhalten,  bie  Cheorie  bes  2lnftanbcs 


Das  2lnftö§tge*  —  tlToment  ber  IPa^metimbarfeti  Z0\ 


ift  baher  gleidjbebeutenb  mit  ber  bes  2lnftö§igen.  £efetere 
hat  brei  punfte  3um  (Segenftanbe:  ben  23cgrif f f  ben  ZlTaf}* 
ftab  unb  bie  Kategorien  bes  2lnftö§tgen. 

0  Der  Begriff  bes  2lnpö§tgem 

Die  Sprache  bebient  ftd?  ber  2lusbrücfe:  Derftoß,  2lnftoß, 
anflögig  nur  für  bie  Perlefeung  ber  (Sebote  ber  Sitte,  nicht 
für  bie  ber  ZTtoval  (S.  257).  Das  llnmoralifche  ift  als  folches 
nicht  an ßöfcicj,  aber  es  fann  es,  tx>ie  unten  ge3eigt  werben 
n>irb,  baburch  toerben,  ba§  jtch  bie  Porausfefeungen  bes  2lu« 
ftößigen  5u  ihm  hi^ugef  eilen. 

Der  Segriff  bes  2lnftö§igen  beruht  auf  3toei  ZHomenten: 
einem  inneren  unb  einem  äußeren.  <£rßeres  befteht  in  feinem 
bas  (Befühl  perlefeenben  C^arafter,  feiner  innerlichen  [385]  Qua* 
liftfatton,  biefes  in  feiner  äußeren  IDahrnehmbarfeit,  bar  auf, 
bafc  es  vor  bem  2luge  ber  H)elt,  vov  Sengen  geschieht. 

Das  erftere  Zfioment  ift  bem  2tnftögigen  mit  bem  Un« 
moralifchen  gemein,  beibes  oerlefet  uns,  nur  in  oerfdjiebener 
XDeife  bei  jenem  iji  es  bas  Benehmen,  bas  toir  tabeln,  bei 
biefem  bas  J^anbeln,  jener  Dorrourf  trifft  bas  U>efen  bes 
ZHenfchen,  biefer  ben  Cfyarafter  (S.  29).  U)ie  fich  bas  2ln- 
ftögige  t>om  Unmotalifchen  inhaltlich  bes  Genaueren  abgebt, 
muß  ber  fpäteren  Darfteilung  überlaffen  bleiben,  an  ber  gegen- 
wärtigen Stelle,  an  ber  es  uns  lebiglich  um  bie  5ejtjiellung 
feines  23egriffs  3u  tun  ijt,  fann  bas  (ßefagte  genügen.  Um 
fo  mehr  toirb  uns  tyet  aber  bas  3toeite  Moment,  bas  ber 
IPahmehmbarfeit  3U  fchaffen  machen. 

Die  (Befefee  ber  XtToral  gelten  fchlechthin,  für  jte  ift  es 
gleichgültig,  ob  ber  Zltenfch,  inbem  er  jte  übertritt,  fich  in 
(Befellfchaft  anberer  ober  allein  befinbet,  —  bas  Unmoralifche 
ftreift  feinen  (Zfyavattev  baburch  nicht  ab,  baß  es  bas  Dunfel 
auffucht.  (5an3  anbers  beim  2lnjiögigen.  Dasfelbe  tt>irb  3U 
bem,  toas  es  ijl,  erft  baburch,  ba§  es  t>or  ben  2lugen  ber 


302        Kapitel  IX.   Die  feciale  IHedjantf*   Das  Sittliche* 

Welt  gefdneBjt,  in  (Segemoart  anberer*  <Sar  vieles  von  bem* 
jenigen,  was  bie  (Sefefee  t>es  2lnjianbes  porjune^men  per« 
bieten,  ifi  an  fiefy  fotsenig  31t  beanftanben,  baß  bie  E>or* 
nafyme  besfelbeu  burdj  bas  gioangsgefefe  ber  ZTatur  ober 
nne  3.  23.  bte  Heintgung  bes  menfdjlidjen  Korpers  burdj  bie 
(Sefefee  bes  2lnjkmbes  f  elber  geboten  [386]  fein  fann.  3n 
biefem  Sinne  ift  ber  befannte,  melfacfy  fo  gän3ltdi  serfeijrt 
angewandte  Safe  n?al|r:  naturalia  non  sunt  turpia. 

Der  Portr>urf  bes  2lnftößigen  beruht  alfo  ntdjt  rote  ber 
bes  Unmoralifdjen  barauf,  baß  es  überhaupt  gefdjieljt,  fonbern 
baß  es  t>or  «geugen  gestellt,  benen  roir  ben  21nblicf  Batten 
erfparen  fönnen  unb  foHen*  Daraus,  baß  etoas  gefdjefyen 
muß,  folgt  nodj  nidjt,  baß  es  vor  ben  2tugen  ber  IPelt  ge* 
f djefyen  muß.  Der  Scfyaufpteler  perridjtet  basjenige,  tr>as  er 
3U  feinem  Stuftreten  auf  ber  23üfyne  nötig  Ijat,  im  (ßarberobe* 
3tmmer  ober  hinter  ben  Kuliffen.  <ßan3  basfelbe  gilt  audj 
für  bas  Auftreten  in  ber  (ßefellfdjaft,  bas  publifum  braucht 
unb  umnfcfyt  basjenige,  roas  3U  bem  gtoeef  nötig  tft,  nidjt 
mit  3U  fe^en.  ZTur  ben  J^ausgenoffen  gegenüber  ift  in  biefem 
punft  eine  getoiffe  5reiljeit  serftattet,  bas  2tuge  ber  (Satten, 
Kinber,  (Eltern,  Domeftifen  ftetjt  unb  barf  manches  fetten, 
was  wxv  ben  23licfen  anberer  perfonen  forgfam  servilen, 
—  es  ift  bte  Steilheit  bes  Sdjaufptelers  hinter  ben  Kuliffen. 
21ber  aud|  bie  $ve\heit  ber  Kuliffe  fyat  tfyre  (Stenge,  aud)  bas 
3nnere  bes  Kaufes  unb  bes  i^milienlebens  poftuliert  fein 
eignes  (ßefefe  bes  2lnjianbes,  unb  ein  (Einftdjttger  u>irb  es 
mit  bemfelben  eljer  3U  fhreng  als  3U  lay  nehmen,  gleichmäßig 
feinet*  rote  ber  Seintgen  toegen.  Sdjledjte  (ßea>ot|nt|eiten  bes 
Kaufes  begleiten  uns  nur  3U  leidet  über  bie  Sdiweüe  bes* 
felben  hinaus,  ber  2tnftanb  muß  unfer  Qausgenoffe  fein,  tx>enn 
tr>ir  jtdjer  fein  toollen,  baß  er  uns  audj  außer  [387]  bem* 
felben  folge,  3n  feinem  punfte  faßt  es  felbji  bem  <£rtr>adi- 
fenen  fo  \d\wev,  basjenige,  was  bie  <£r3teljung  bes  Kaufes 


Das  2lnßößta,e.  —  XHoment  ber  Watycnttynbattext  303 

verabfäumt  h<*t,  fpäter  nad^uholen,  tote  in  biefem,  bie  Kinber 
müffen  nicht  feiten  bie  fchlechten  <5ewot|nheiten  ber  €ltem 
fchwer  hixfaen  —  ber  Schlafrock  in  bem  ber  Dater  bei  Cifch 
erfdiien,  i)ie  nachläffige  Haltung  unb  faloppe  Kleibung  ber 
ZTiutter  fann  ihnen  unter  Hmftänben  im  fpäteren  £eben  teuer 
3u  flehen  fommen,  es  fann  ein  ZHinifter*  ober  präftbenten* 
poften  barüber  verloren  gehen. 

So  folgt  uns  alfo  bas  (Sefefe  bes  2tnftanbes  felbjt  bis  in 
bas  3nrierjte  bes  Kaufes  unb  bes  5<atnilienlebens  hinein»  ZTur 
wenn  wir  bie  Cür  bes  eignen  Limmers  hinter  uns  fchließen 
unb  uns  für  uns  allein  befmben,  bleibt  es  brausen  —  für 
ben  ZtTenfchen  in  ber  €infamfeit  gibt  es  nichts  2tnftö§iges 
unb  fein  (ßefefe  bes  2tnftanbes.  2ln  ber  2lufrechterhaltung 
biefer  Behauptung  fyängt  bie  Hichtigfeit  metner  gan3en  23e* 
griffsbeftimmung  bes  Slnftößigen.  Silbet  bie  IDahmehmbar* 
feit  einmal  bie  unerläßliche  Dorausfefeung  besfelben,  fo  fann 
nichts  anftößig  fein,  was  niemanb  auger  uns  erblicft.  iDiber* 
märtig,  efeltjaft  mag  es  fein,  unb  unfer  (Sefühl  wirb  uns 
bavon  abgalten,  auch  wenn  wir  für  uns  allein  jtnb,  aber, 
wenn  toir  es  bennoch  tun,  jo  beweifen  wir  bamit  nur,  baj$ 
wir  f elber  baxan  feinen  2lnftoj$  nehmen,  —  wir  begeben 
etwas  Xüiberwärtiges,  aber  nichts  2lnftößiges.  Uns  f elber 
gegenüber  gibt  es  feine  Hücffichten  unb  pflichten  bes  2ln* 
fianbes,  [388]  lefetere  ejriftieren  nur  britten  perfonen  gegen* 
über.  Qas  IDiberwärtige,  (Efelhafte,  Unfchicfliche  wirb  erft 
anftößig,  wenn  es  an  bie  £uft  tritt,  —  fowenig  im  luftleeren 
Haum  eine  flamme  möglich  ift,  fowenig  im  menfchenleeren 
Haum  etwas  JInfiöfciges.  2lm  treffenbften  ift  vielleicht  ber 
Vergleich  mit  bem  (Eon.  (Dbjeftiv  gibt  es  feinen  Con,  fonbem 
nur  Schwingungen  von  Körpern  unb  Schallwellen,  3um  Cone 
werben  biefelben  erjl  im  ©hr/  —  ^C°n  fkcft  *n  unferem 
©h^  <£benfo  verhält  es  jtch  mit  bem  ilnftöjjigen.  ©bjeftiv  gibt 
es  3war  etwas  <£felhaftes,  IDiberwärtiges,  aber  3um  Jlnftögigen 


Kapitel  IX.   Die  fötale  ttledjanif.   Das  Sittliche* 


tx>irb  basfelbe  erft  burdj  bas  Subjeft,  toelcfyes  basfelbe  walix* 
nimmt  —  bas  2tnftögige  ftecft  im  2Iuge  beffen,  ber  es  fielet, 
im  ©fyr  beffen,  ber  es  t^ört*  Sotoenig  es  einen  Con  für  uns 
gibt,  u>enn  bie  SdjaHtoeHen  nic^-t  an  unfer  (Dfy:  bringen, 
fotsenig  etwas  2tnftößtges,  bas  uns  nidjt  roa^rne^mbar  toirb 
—  XDafyrnefymbarfeit  burefy  britte  ift  bie  unerläßliche  23e* 
bingung  bes  2tnftößigen. 

2llfo  bas  2lnftößige  erforbert  bie  2tmt>efent|eit  britter  per* 
fönen  bei  Domafyne  besfelben,  es  fefct  beugen  voraus,  beugen 
nidjt  im  Sinne  bes  Hechts,  um  bie  Catfadje  bloß  tr>afyr3U* 
nehmen  (23etr>eis3eugen),  fonbern  um  ben  t>erlefcenben  (Einbruc? 
entgegen3unefymen,  nidjt  um  3U  fe^en  unb  3U  I|ören,  fonbern 
um  3U  empftnben.  3^n^n  biefen  <£inbrucf  3U  erfparen,  ift 
ber  §we&  aller  (Sefefee  bes  Jtnftanbes  *),  bie  Derlefeung  ber* 
felben  begrünbet  ba^er  [389]  ben  £>onr>urf  ber  gefeUfcfyaft« 
liefen  Bücfftdjtsloftgfeit.  2)ie  <£mpfmblicf}feit  ber  beugen 
fyntoeggebacfyt,  unb  es  gibt  fein  2lnjtößiges,  foroenig  tr>ie 
einen  Con  für  ben  Cauben,  bie  <£mpfmblidffett  ber  «geugen 
ift  mithin  bas  letzte,  tooran  bas  2lnftößige  hängt.  XDir  laffen 
biefelbe  hier  vorläufig  außer  öetradjt;  bei  <5elegenljeit  ber 
Betjanblung  bes  ZtTaßftabes  bes  2tnftoßigen  toerben  toir  auf 
fie  3urücffommen. 

2)er  Portourf,  ben  rr>ir  jemanbem  aus  ber  Oorna^me  t>on 
ettoas  Jtnftößigem  in  unferer  (Segemoart  machen,  t^at  3U  feiner 
Dorausfe&ung,  baß  er  uns  ben  2lnblicf  hätte  erfparen  fönnen, 
berfelbe  fällt  mithin  ba  hintx>eg,  u>o  es  an  biefer  Doraus- 
fefeung  gebricht,  b.  h-  wo  er  ohne  feine  Schulb  ftch  in  bie 


*)  3$  fe^e  m^  genötigt,  baran  3U  erinnern,  baß  bie  (Theorie  ber 
Umgangsformen  nur  biejenigen  (Sebote  bes  Unftaribts  3um  (Segen* 
fianbe  fyat,  tpeldje  in  ber  Hücfftdjt  auf  anbere,  nidjt  auf  uns  felbft  ifyr 
ITCotir»  rjaben,  unb  tdj  x>ern>eife  auf  ben  früher  (5.  229)  entnncfelten 
(Segenfatj  ber  felbflnü^igen  unb  frembnütjtgen  Sitte  unb  auf  bie  33e* 
tnerfung  auf  S*  28^ 


Das  2lnftößtge*  —  Hotlagetn 


305 


Cage  perfekt  fleht,  basfelbe  pomehmen  3U  muffen,  E(ier  gilt 
ber  Safe:  Zlot  fennt  fein  (Sebot*).  Tlnv  ein  falfches  Scham* 
gefügt  ober  eine  fritiflofe  Unterorbnung  unter  bie  (ßefefee  bes 
Jtnftanbes,  bie  ben  uxxfyren  Sinn  ber{elben  perfennt,  fann  fich 
hier  fträuben,  bas  nottoenbig  (gebotene  3U  tun.  3n  folgen 
£agen  tpirb  bas  2Xnftößige  nicht  ehpa  bloß  entfchulbbar, 
fonbem  es  ift  überhaupt  nicht  anftößig,  b.  h«  ber  JTfaßftab 
bes  2tnftößigen  [390]  finbet  barauf  überaß  feine  2lntpenbung, 
bie  (ßefefee  bes  2lnftanbes  i^aben  l^ier  gar  feine  (Seltung, 
ebenfotx>enig  roie  bie  bes  Hechts  im  5<*He  bes  Hotftanbes 
ober  u>ie  jte  f elber  in  bem  5aQe,  tpenn  tpir  für  uns  allein 
finb.  2)amit  fonftatieren  roir  einen  3toeiten  2tnu>enbungsfaß 
bes  obigen  Safees:  naturalia  non  sunt  turpia,  ber  tyev  alfo 
felbft  für  ben  Saü  ber  21ntpefenheit  pon  geugen  3utrifft. 

3)urch  bie  bisherige  Ausführung  glaube  ich  meine  23e* 
qauptung,  baß  K)ahrnehmbarfeit  bie  unerläßliche  Poraus* 
fefeung  bes  2lnftößigen  bilbet,  gerechtfertigt  3U  I^aben.  (2s 
erübrigt  uns  noch,  basfelbe  in  be3ug  auf  eine  anbere  Se* 
hauptung  3U  tun,  bie  toir  im  bisherigen  bloß  aufgefteHt,  noch 
nicht  ertoiefen  liaben.  20™  i\aben  ben  Segriff  bes  2lnftößigen 
ber  Sitte  im  <5egenfafee  3ur  ZHoral  3ugetoiefen  (S.  257ff.,  30J). 
Diefer  2lnjtcht  fcheint  3U  tpiberfprechen,  baß  tptr  uns  bes 
21usbrucfs  auch  com  Unmoralifchen  bebienen:  fo  reben  u>ir 
3.  23.  pon  einem  anftößigen  £ebenstpanbel,  tpomit  rt>ir  nicht 
auf  bie  Derlefeung  ber  (Sebote  bes  bloßen  'Unftanbes,  fonbem 
ber  ZTToral  3ielen.  Wie  perhält  es  fich  bamit?  Jüir  lernen 
hier  eine  Komplifation  bes  2tnftößigen  fennen,  tpelche  tpeit 
entfernt,   unfere  2luffaffung  3U  tpiberlegen,   uns  pielmehr 


*)  33etjpiele:  Die  gtpangslage  im  etngefdmetten  (Etfenba^ug  ober 
im  53oot  auf  ber  See  —  tfludjt  bes  nur  mit  bem  Qembe  Befletbeten 
aus  ber  tfeuersgefafyr  —  (Enthüllung  bes  Körpers  3um  §med  äv$U 
Hd?er  Unterfudjung  —  ^tlflofigfeit  bes  auf  frembe  Dienfte  angeuuefenen 
Kranfen* 


x>.  3b e ring,  Der  groeef  im  Hetfjt.  II. 


20 


306 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IHed?anil   Die  Sitte» 


(ßelegenfydt  bietet,  biefelbe  burch  ein  neues  Argument  311  fiüfeen 
unb  snglexdi  unffenfchaftltch  311  x>ertr>erten:  bas  «gufammen* 
treffen  bes  2lnftö§igen  mit  bem  Unmoralifchen  ober  bie  Der* 
lefeung  ber  (Sefefee  bes  2tnftanbes  unb  ber  ZIToral  burch  ein 
unb  biefelbe  fjanblung. 

[391]  3^  fnüpfe  an  einen  juriftifchen  Segriff  an:  ben 
ber  tbealen  Konfurren3  ber  Übertretung  mehrerer  Strafgefefee. 
Der  3ur*ft  perfte^t  barunter  ben  5ctQ,  baf$  eine  unb  biefelbe 
^anblung  unter  ben  Perbrechensbegriff  mehrerer  Strafgefefee 
fällt,  es  3Ünbet  3»  23,  jemanb  ein  £(aus  an,  um  bie  23ett>ohner 
3u  erfti(fen  (Sranbftiftung  unb  ZHorbr>erfuch;  ober,  um  eine 
parallele  aus  bem  römifchen  prisatftrafrechte  (prisatbelifte) 
3u  nehmen,  es  begießt  jemanb  einen  anbem  mit  einer 
fchmu&igen  5ubftan3  Qnjurie  unb  Sadjbefchäbigung  ber 
Kleiber)«  3n  berfelben  ZDeife  fönnen  burch  ein  unb  biefelbe 
£|anblung  gleid^eitig  bie  (ßefefee  ber  guten  Sitte,  ber  ZTToral 
unb  bes  Hechts  übertreten  toerben,  2>ie  Unge3ogenl|eit  bes 
J^aus^errn  gegen  einen  ber  antoefenben  <5äfte  enthält  eine 
Derlefeung  ber  (Sefefce  ber  £}öflich?eit  gegen  lefeteren,  eine 
Derlefeung  ber  (ßefefee  bes  2lnftanbes  gegen  f  ämtliche  übrigen 
(5*  288),  a>er  jemanbem  in  einer  (SefeHfchaft  eine  Ohrfeige 
gibt,  begebt  bamit  3ugleich  eine  Hechtst>erlefcung  unb  einen 
fd}tt>eren  Derftoft  gegen  bie  gute  Sitte. 

Xnacfyen  tx>ir  bason  bie  2lmx>enbung  auf  bas  obige  Sei- 
fpiel  bes  anftöjjigen  £ebensu>anbels,  fo  serftefyen  roir  unter 
biefem  2lusbrucF  nicht  einen  unmoralifchen,  fittenlofen  Cebens- 
roanbel  fchlechthin,  fonbem  einen  folgen,  ber  öffentlich  u>a^r- 
nehmbar  tr>trb  unb  baburch  öffentlichen  2lnjio§,  öffentliches 
Ärgernis  erregt  2>as  plus,  welches  tyev  bas  Unmoralifche 
3um  2lnjiößigen  macht,  fommt  nicht  auf  Hechnung  ber  ZIToral, 
fonbem  auf  Hechnung  [392]  bes  2lnjkmbes,  beffen  unter- 
fcheibenbes  2T?erfmaI  r>on  ber  Xfioral,  eben  in  ber  XPahruehm» 
barfeit  befteht    3nbem  bas  Uumoralifche,  anftatt  jtch  in 


Das  2Jnftößtae.  —  Das  Ärgernis. 


307 


richtiger  Selbfter?enntnis  ins  Dunfel  3urü<f3U3iehen,  ftd>  breiji 
unb  frech  an  bie  <£>ff entlief cit  tt>agt,  fünbigt  es  5cm  (Sefe&e 
bes  2tnftanbes,  welches  allem  btes  <5efühl  X>erlei$enbem  bas 
hervortreten  ans  £idjt  unterfagt,  ben  (ßehorfam  auf,  Die 
Sprache  rebet  in  biefem  5<*He  t>on  einer  Perlefeung  bes  öffent- 
lichen 2lnftanbes,  ein  2lusbrucf  unb  Begriff,  ben  auch  bie 
Sprache  bes  Hechts  aboptiert  ^at  (f.  3.  33.  2).  5t  <8.  33.  §  360, 
Ztr.  6).  Wenn  2Injianb  unb  2lnjiößiges,  toie  roir  behauptet 
haben,  fich  beefen,  fo  gibt  es  toie  einen  öffentlichen  2tnftonb, 
fo  auch  ein  öffentlich  Jlnjlößiges.  Zinn  tann  $wav  auch 
bie  Übertretung  ber  gewöhnlichen  2lnftanbsregeln  bes  ge* 
fettigen  Cebens,  voenn  fte  öffentlich  gefchieht,  unter  ben  <Se* 
ftchtspunft  einer  X?erlefeung  bes  öffentlichen  2lnj!anbes,  alfo 
bes  öffentlich  2tnftößigen  fallen  (3.  23.  (Erscheinen  im  TXadiU 
geroanbe  auf  ber  Straße),  aber  bei  bem  2lusbrucf  anflößtg  in 
Perbinbung  mit  £ebenstr>anbel  b{ai  bie  Sprache  nicht  bie  bloße 
Übertretung  ber  Jtnftanbsgefe^e ,  fonbern  bie  bamit  fonfur- 
rterenbe  ZHißachtung  ber  (Sefefee  ber  ZtToral  im  2luge.  Darauf 
beruht  ber  Segriff  bes  Srgerniffes,  ber  fich  hernach  als 
ibeale  Konfurren3  ber  Übertretung  ber  (5efet$e  ber  ZTToral 
unb  bes  öffentlichen  2lnfianbes  befinieren  läßt.  Der  Begriff 
ift  bisher  noch  nicht  wiffenfchaftlich  beftimmt  roorben,  obfehon 
es  ben  Ökologen  fotoenig  [393]  tme  ben  3uriften  an  ber 
Ztötigung  ba3u  gefehlt  Blatte,  ba  beibe  ihn  in  ihren  (Quellen 
porftnben*).  Ä>as  ich  bei  ihnen  gefunben  fyabe,  befchränft 
fich  <*uf  bloße  tDorterflärungen,  Umschreibungen,  n>elche  bas 
IDefen  ber  Sache  nicht  treffen  unb  nicht  treffen  fonnten,  ba  fte 


*)  Die  ftrcfyltcfyen  (Quellen  bt$t\d{mn  tfyn  als  axavSaSXov,  scandalnm 
(oy.av^aXtCetv,  scandalizare  =  Stgernts  nehmen),  bafyer  unfere  tjeuttgen 
2lusbrücfe;  ffanbalös,  fiel?  über  ettras  ffanbaltfieren,  ffanbalteren,  Sfan* 
balp^eß,  meldte  fctmtltdj  bas  ITToment  bes  öffentlichen  2lnfbßes  be* 
tonen*  Unfer^  beutfcfyes  Strafgefetjbndj  §  J83  bebtent  fid?  bes  2lusbrncfs 
^öffentliches  Ärgernis"* 

20* 


508        Kapitel  IX.   Die  fojtale  XTiedjanif.   Das  Sittliche» 


in  ihm  einen  einfachen  Begriff,  eine  bloße  Steigerung  bes  Un* 
moralifd^en  erblicfen,  tüäfyrenb  er  ein  3ufammengefei3ter  Begriff 
ift,  bei  bem  bas  2tnftößige  erft  von  ber  Seite  bes  2lnftanbes  her 
5unt  Unmoralifchen  hin3ufommt.  Bei  bem  fyofyen  3ntereffef  bas 
fiel]  an  ben  Begriff  fnüpft,  fann  ich  es  nicht  umgeben,  ihm 
noch  eine  genauere  Betrachtung  3U  ttnbmen. 

(SEtymologifch  ift  Sgernis  ber  guftanb  bes  Srgers,  aber 
ber  Sprachgebrauch  fyat  bem  2tusbrucfe  ben  engeren  Sinn 
bes  öffentlichen  Ärgers  beigelegt  T>ies  Moment  bes 
(Öffentlichen  ift  ber  2tngelpunft,  um  ben  fich  ber  gan3e  Be* 
griff  bes  Srgerniffes  unb  alles,  was  mit  ihm  in  Derbinbung 
fteht,  breht:  bie  (Öffentlichfeit  ber  Dornahme  bes  Hnfittlichen*), 
bie  barin  liegenbe  Mißachtung  bes  öffentlichen  2Inftanbes  unb 
bie  Heaftion  ber  öffentlichen  [394]  Meinung.  3n  ber  be-- 
tr>ußien  unb  gewollten  Öffentlichfeit  ber  Domahme  prägt  fid) 
bie  5*^chheit,  Schamlofigfeit  bes  Hnfittlichen  aus.  Der  öffent* 
liehen  Meinung  u>irb  ber  (ßehorfam  aufgefünbigt,  ber  5ehbe* 
hanbfehuh  I^iri^eroorf en ,  unb  es  roirb  ihr  bamxt  bie  Hilter* 
nattee  geftellt,  fich  entoeber  ungeftraft  mit  5üßen  treten  3U 
laffen  ober  fich  energifch  3u  behaupten.  Don  bem  Unmora* 
lifchen,  roelches  bas  ©unfel  auffucht,  braucht  bie  öffentliche 
Meinung  nicht  Kenntnis  3U  nehmen,  jte  fann  es,  trne  bie 
betreffenbe  IDenbung  ber  Spradje  für  alles,  was  feinen  pro* 
t>ofatorif d\en  (Eharafter  an  ftch  trägt,  lautet,  „mit  2lnftanb", 
b.  h*  0hne  f  elber  baburch  2lnftoß  3U  geben,  ignorieren,  fte 
befmbet  ftch  babei  in  ber  £age  bes  Hilters,  bei  bem  feine 
Jtnflage  erhoben  roirb.  2lber  bem  Hnfittlichen  gegenüber,  bas 
ihr  offen  unb  frech  in  IDeg  tritt,  fann  jte  es  nicht,  3u 
ihm  muß  fie  Stellung  nehmen,  es  liegt  barin  für  fte  biefelbe 
propofation,  wie  für  bas  3"bir)ibuum  in  ber  Be3eugung  ber 

*)  3fyr  fielet  gletd?  bas  fpätere  Hu  d?b  arm  erben  (=  ins  „(Sediat", 
ins  „(Serebe"  kommen,  wenn  bas  Unftitltdje  and?  bann  nod?  fortae^ 
fet$t  tpirb* 


Das  21nfiö§ta,e*  —  Das  Ärgernis* 


309 


ZHißachtung,  burch  beren  apathifch*  (Erbulbung  basfelbe  feilt 
eignes  moralifches  Cobesurteil  unter3eichnen  toürbe,  Denn 
bie  (ßefefce  bes  öffentlichen  21nftanbes  tx>erben  fyier  nicht  bloß 
im  ein3elnen  $aVL  übertreten,  fonbern  im  prin3ip,  b.  h«  in  ihrer 
gan3en  Autorität  unb  perbinbenben  Kraft  negiert  Daher 
bie  SKchtx>ere  bes  Jlnftoßes  unb  ber  fimpfmblichfett,  voeld\e 
bas  Ärgernis  charafterifiert  Das  (Setrucht  besfelben  auf  ber 
fittlichen  IDage  be3tffert  jtctj  ungleich  ^ö^er,  als  es  fein  müßte, 
roenn  es  jtch  lebiglich  um  3u?ei  gewöhnlich  geartete  5älle  [395] 
bes  Unmoralifchen  unb  2tnftößigen  h<*nbelte,  es  beträgt,  toenn 
xoxt  lefetere  als  a  unb  b  be3eichnen,  nicht  a  -f-  b,  fonbern 
a  +  b  -f-  x,  biefes  x  aber  fommt  auf  Hechnung  ber  prin* 
3ipiellen  Ztegation  bes  öffentlichen  'Unftanites.  Damit  tr>irb 
ein  Stücf  ber  objeftirxfittlichen  (Drbnung  ber  (Sefellfchaft  an* 
getaftet  —  benn  ba3u  gehört  auch  bie  Sitte,  ber  2tnftanb  unb 
bie  ZTtadjt  ber  öffentlichen  ZTTeinuug,  —  es  ift  alfo  fein  bloßer 
Derftoß  im  Sinne  ber  Sitte,  fonbern  ein  fittlidjes  Dergefjen« 
21us  biefem  (Sefictjtspunft  unb  nur  aus  itjm  erflärt  unb 
rechtfertigt  ftch  bie  Beihilfe,  welche  bie  Staatsgewalt  ber 
öffentlichen  ZHeinung  ober  bem  öffentlichen  21nftanbsgefübl  in 
fällen  eines  folchen  Attentats  gewährt  —  Ärgernis  unb 
öffentlicher  2tnftanb  finb  Bechtsbegriffe  geworben*).  Die 
2lhnbung  Übertretung  ber  formen  bes  pritmtanftanbes, 
wenn  ich  mich  biefes  21usbrucfs  im  (Segenfafee  3um  öffent* 
liehen  2tnftanb  bebienen  barf,  überläßt  jte  ber  (ßefellfchaft, 
aber  bie  IDahrung  bes  öffentlichen  ilnftanbes  nimmt  fie  felber 
in  bie  £(anb,  inbem  fie  einer  ZHißachtung  besfelben  teils  auf 
poÜ3eilichem,  teils  auf  friminellem  lüege  fteuert.  Wo  biefelbe 
lebiglich  in  einer  Derlefcung  bes  öffentlichen  2tnftanbes  befielt 
(ohne  ^in3utritt  bes  Unmoralifchen),  genügt  bas  bloße  (Ein- 


*)  Ärgernis,  Q*  St  <S.&.  §  m,  *83,  360,  Zlx.  *3,  (Öffentlicher 
2lnftanb,  2lrt  36Jt,  Hr.  6, 


Kapitel  IX.   Die  fötale  OTec^amf.   Das  Sittliche* 


fchretten  ber  poli$e\,  beten  Aufgabe  es  ift,  ben  2tnftofc  3U 
befcitigen  unb  6er  (Erneuerung  besfelben  burch  2tnbrohung 
[396]  von  poii3ei(trafen  vorzubeugen.  Wo  fich  3um  öffentlich 
2lnftößigen  in  biefem  Sinne  noch  bas  Unmoralifche  t^iri3u- 
gefellt,  b,  h*  im  5aöe  bes  Srgemiffes  fteigert  fich  bie  poli3et* 
liehe  Hepreffion,  bie  auch  in  biefem  $aüe  nicht  ausgefchloffen 
ift,  3ur  frimineüen  21hnbung,  roährenb  basfelbe  Vergehen, 
tt>enn  es  fich  ins  Dunfel  3urücf3ieht,  unbeftraft  unb  felbft 
poÜ3eilich  unbehelligt  bleibt*).  Die  (Stenge,  bis  toie  toeit  bie 
Staatsgewalt  in  beiben  Hichtungen  geht,  ift  pofttiper  2lrt,  fie 
beftimmt  fich  nach  ber  <£mpftnblichfeit  ber  öffentlichen  ZlTei* 
nung  unb  ihrem  (Einfluß  auf  bie  (Sefefcgebung;  in  ber  Ztote 
toerbe  ich  Sur  Peranfchaulichung  für  ben  £aien  eine  Zteihe 
r>on  23eifpielen  namhaft  machen**). 

*)  3$  fann  midi  enthalten,  einen  treffenben  2Iusfpruch  bes 
leiber  fo  früh  verstorbenen  paul  (Sibe,  eines  ber  tiichtigften  Vertreter 
bes  römtfdjen  Hechts,  welche  Sie  Hechtsfafultä't  in  paris  in  unferm  3afyt> 
hunbert  gehabt  hat,  unb  mit  bem  mich  ein  inniges  (fremtbf d?aftsbanb 
perfnüpfte,  311  3ttteren;  >la  societe  de  nos  jours  tolere  le  vice,  mais 
eile  ne  tolere  pas  le  scandale«. 

**)  Hep reffton  burd?  bie  po Ii  3 eü  (£inf abreiten  berfelben  bei  öffent* 
lid?er  Crunffctlligfeit,  urilber  (Hfye,  öffentlicher  Schamlofigfeit  ber  projtU 
tutton,  bei  anffcögigen  öffentlichen  Schauftellungen,  Aufführungen,  unter 
welchen  (Sefichtspunft  auch  bie  bei  uns  leiber  piel  3U  tr>enig  ftreng  ge* 
tjanbhabte  (Efyeaterpo^ei  unb  Cheater3enfur  fällt —  bie  Couplets,  welche 
man  auf  mannen  Dülmen  3U  hören  befommt,  fmb  wahre  moralifd?e 
(Siftqueöen,  welche  mehr  Unheil  anrichten,  als  bie  torjfologifdjen  (Sifte, 
bereu  Vertrieb  pon  fetten  ber  poÜ3ei  fo  ftreng  Übermacht  wirb* 

Hepreffton  burd?  bas  Strafgefet^  D*  St  (8*  23*  §183:  tper  burd? 
eine  un3Üd?tige  X?anblung  öffentlich  ein  Srgeruis  gibt  §  18$;  wer 
mt3Üd?tige  Schriften,  2ibbilbungen  ober  Darfteüungen  perfauft,  perteilt 
ober  fonft  verbreitet  ober  an  ©rten,  weidet  bem  publifum  3ugänglich 
ftnb,  ausftellt  ober  anfa^lägi  §  J66;  wer  baburch,  bag  er  öffentlich 
in  befcfyimpfenben  Sugerungen  (Sott  Iäftert,  ein  Ärgernis  gibt  ufw. 
§  167;  Störung  bes  (Sottesbienftes,  §  560,  ZTr*J3:  Tierquälerei.  §361, 
Zix.  6 :  guwiberhanbeln  einer  wegen  gewerbsmäßiger  Uit3ud?t  ber  polt* 
5etltd?eu  2lufftcht  unterteilten  ZDeibsperfon  gegen  bie  3ur  Sicherung  bes 
öffentlichen  2lnftanbes  erlaffenen  poltßeilid^en  Dorf  ehr  iften* 


Der  HTagfiab  bes  Slnftögigen* 


[397]  Das  erfte  Sind  meiner  Aufgabe:  feie  Begriffs* 
beftimmung  bes  2lnftögigen  ift  hiermit  befchloften*  3ch  fajfe 
bas  Befultat  in  folgenbe  Säfee: 

v  IDahrnehntbarfeit  bilbet  bas  eigentliche  ZTJerfmal  bes 
2lnflögigen,  bas  Unmoralifche  als  folches  iji  nicht  anftögig, 
es  tr>irb  es  erji  burch  ben  £[in3utritt  bes  2Ttoments  ber  H)ah*> 
nehmbarfeit,  b.  L  burch  ibeale  Konfurren3  ber  Perlefeung  ber 
(Sefetje  ber  ZHoral  unb  bes  2lnftanbes, 

2.  Sie  Segriffe  2lnftanb  unb  anftögig  becfen  jtch  nne 
pojttives  unb  Negatives,  bie  fcheinbare  3nfongruen3  berfelben 
im  Verhältnis  bes  Srgemiffes  fommi  auf  Hedjnung  nicht  ber 
ZHoral,  fonbern  bes  2lnjlanbes. 

3.  Dem  2lnftanbe  unb  bem  2lnftögigen  bes  Privatlebens 
ftel|t  gegenüber  ber  öffentliche  2tnftanb  unb  bas  öffentlich 
2lnftögige,  bas  3)edungst>erhältnis  beiber  roieberholt  fleh 
auch  biet. 

2)  Der  ITCafjftab  bes  2lnjlögtgen* 
Was  ift  anftögig?  <5ibt  es  innere  Kriterien  bafür,  [398] 
läßt  fich  ein  fefter,  fidlerer  XHagftab  auffteöen,  nach  bem  toir 
bas  2lnftögige  bemeffen  fönnen?  2In  biefer  $xaqe  hängt  bie 
Zfiöglichfeit  einer  rationellen  Begrünbung  unb  Kritif  ber  2tn* 
jtanbsregeln.  ZHüffen  tr>ir  biefelbe  verneinen,  fo  rebu3iert  fich 
ber  gan3e  tviffenfchaftliche  (ßeroinn  unferer  Unterfuchungen 
bes  2lnftögigen  auf  bie  im  bisherigen  gegebene  Begriffs* 
beftimmung  besfelben,  auf  ben  nadten,  fahlen  Safe:  es  gibt 
eine  Kategorie  bes  2lnftögigen,  aber  ihr  3nhalt  ift  unberechen* 
bar,  ber  Begriff  anftögig  ift  nichts  als  ein  leerer  5ad,  in  ben 
jtch  alles  Beliebige  unterbringen  lägt,  ber  l\\ev  biefen,  bort 


Unter  biefen  (Seficfytspunft  fällt  audj  bie  burdj  auf  er  <Sertd?tsDer= 
faffungsgefet3  §  173  bem  (Sendet  eingeräumte  Befugnis  ber  21usfdjlte§mtg 
ber  (ÖffetttlicfyFeit  bei  (Seridjtsüertianblungen,  wenn  fid?  baoon  „eine 
(Sefätjrbung  ber  Stttlidjfett"  beforgen  lägt 


3\2 


Kapitel  IX.   Die  fötale  mefyamt  Das  Sittliche. 


jenen  3nfyalt  in  fidt  aufnimmt  2)as  einige  3^tereffe,  bas 
fid?  an  bie  3nt>entarifterung  biefes  3nl|alt5  fnüpfen  fönnte, 
u^ürbe  in  bem  troftlofen  Hefultate  ber  Konftatierung  ber  un« 
enblidjen  ZHanntgfaltigfeit  besfelben  beftefyen  —  ber  t>oIIenbete 
pofttioismus,  bie  reine,  naefte  gufäQigfeit  unb  XDiIIfürltct)fett 
aller  2tnftanbsregelm 

3cfy  glaube,  man  brauet  bie  5rage  nur  auf3uu>erfen,  um 
fie  3U  verneinen*  Wofyv  bie  bei  allen  Dölfern  ber  IDelt  fid? 
roiebertjolenbe  I|iftorifc^e  Catfädtfidjfeit  bes  2lnflöf$igen,  roenn 
es  nid\t  inhaltlich  in  irgenbemer  IDeife  t>orge3eichnet  n>äre, 
tooher  bie  Übereinftimmung  aHer  Kulturr>ölfer,  nicht  bloß  ber 
heutigen  ^eit,  fonbem  auch  ber  Vergangenheit  in  be3ug  auf 
getoiffe  Verlegungen  bes  2tnftanbes,  roemt  ber  reine  <§ufall 
hier  fein  Spiel  triebe?  3n  bet  ZTatur  bes  Jlnftöfjigen  f elber 
mu§  ber  (ßrunb  liegen,  roarum  basfelbe  als  foldjes  empfunben 
roirb. 

[399]  Das  2tnftögige,  fagten  n>ir  oben  (5.  3049,  hängt 
an  ber  <£mpfinblichfeit  bes  geugen,  ber  es  toafyrnimmt. 
Scheinbar  ift  bamit  bas  2lnftö§ige  gan3  unb  gar  in  bie 
Sphäre  ber  unberechenbaren  Subjektivität  t|inüberge(pielt  — 
anftößig  rr>ürbe  hernach  fein,  rooran  ich,  bies  3ufällige  Sub* 
jeft,  2tnfto§  nehme,  an  einem  objeftioen  ZTJaßftabe  ttmrbe  es 
gcu^lich  fehlen,  unb  auch  bie  franf^aft  gefteigerte  <£mpfinb< 
lichfeit,  bie  3^i0fYn^raPe/  ntügte  bas  Hecht  traben,  uns  ben 
irrigen  auf3ubrängen. 

Daß  bem  nicht  fo  ift,  ergibt  jtdj  aus  bem  Däfern  von 
Hegeln  bes  2lnftanbes.  Diefelben  befunben  bie  <£f ijien3  eines 
(ßemeingefü^Is,  welches  in  ihnen  feinen  2lusbrucf  gefunben 
hat,  mithin  bie  Hlöglichfeit  unb  iDirflidjfeit  einer  gleichartigen 
©ntoirfung  bes  Slnftöjjigen  auf  eine  Vielheit  von  perf onen, 
fonft  Ratten  jte  fich  burch  bie  Sitte  nicht  bilben  fönnen.  Die 
3bee,  bag  ber  €inbrucf  bes  2tnftößigen  ein  unberechenbarer, 
roetl  gänslich  bem  gufall  ber  3nbh>ibualität  anheimfatlenber 


Der  ITCagftab  bes  Slnftögigen  ein  allgemeiner,  nidjt  abfoluter.  3^3 


fei,  ift  bamit  3urüdPgetoiefen,  unb  bas  erjie  Hefultat,  bas  toir 
gewonnen  tjaben,  toürbe  mithin  barin  befielen:  ber  XtTaßftab 
bes  2tnftänbigen,  roie  immerhin  er  im  übrigen  auefy  befefjaffen 
fein  möge,  ift  ein  allgemeiner,  es  ift  nid)t  ber  bes  3ufäQigen 
3nbh>ibuums,  fonbern  bes  Cypusmenfcrjen  biefes  gegebenen 
£>olfes,  biefer  gegebenen  §eit 

2lber  ber  Cvpusmenfdj  iji  ein  fyftorifdjes  probuft,  er 
saniert  naefj  ^cit  unb  (Drt.  TXlaq  alfo  audj  ber  ZHaßftab, 
ben  er  anlegt,  ein  allgemeiner  im  obigen  Sintis  fein,  [400] 
im  Sinne  einer  allgemeinen  (ßeltung  für  alle  Reiten  unb 
X>ölfer  ift  er  es  nicfyt,  b.  er  ift  nicfyt  abfolut,  fonbern  relatitn 
Damit  f feinen  roir  3U  bem  Subjefttoismus,  bem  roir  oben 
bereits  entronnen  3U  fein  glaubten,  roieber  3urücfr>erfcblagen 
3U  fein  —  roir  finb  3tr>ar  bie  IDiüfür  bes  3nbit)ibuums  tos* 
geworben,  traben  aber  bie  bes  (Semeingefüfyls  bafür  ein» 
getaufdjt:  I|ier  fo,  bort  ani>ctsf  abermals  ber  Unfall  unb  bas 
reine  Belieben,  bie  irjr  Spiel  treiben! 

IDenn  es  in  IDarjrljeit  gufall  unb  IDillfür  roärel  2lucfj 
im  Hechte  roieberfyolt  ftdf  biefelbe  (JErfcfjeinung  —  iji  aber 
barum  bas  Hecfyt  ein  Spielball  bes  gufaHs  unb  ber  IDiUfür? 
Die  £}eran3iel|ung  ber  parallele  bes  Hecfyts  fann  uns  aueff 
fyer  roertooDe  Dienfte  leiften.  Heben  ben  2lbroeid]ungen  in 
ein3elnen  Punften  führen  uns  bie  perfdjtebenen  Hechte  in 
anberen  eine  große  Übereinstimmung  r>or  unb  3tr>ar  gerabe 
in  ben  roef  entließen  punften:  in  ben  eigentlichen  (ßrunb- 
gebanfen  bes  Hectjts,  unb  biefe  Übereinftimmung  fteigert  fiel} 
in  bemfelben  TXlafae  roie  bie  Kultur  ber  Dölfer  3tinimmt.  Diefe 
Catfacfye  muß  bie  Über3eugung  begrünben  unb  tjat  r>om  erften 
Anfang  an,  feitbem  bas  Hecfjt  3um  (ßegenftanbe  roiffenfcfyaft* 
lictjen  Itacfjbenfens  gemacht  roorben  ift,  bie  2lnfid)t  tjert>or* 
gerufen,  ba§  es  (ßrünbe  geben  mu§,  roelcrje  jte  bebingeu, 
ZTiäcfjte  3toingenber  2trt,  toelct]e  bem  Becfyt  eine  geunffe,  roenn 
aud]  noefy  fo  weite,  aber  immerhin  bodj  umfcfjloffene  TSafyx 


Kapitel  IX.   Die  fatale  mecr?antf.   Das  Sittliche* 


vov$exdinen.  Vxe  römifdjen  3uriften  geben  biefem  <5egenfat$e 
3tr>ifcf)en  bem  IDanbelbaren,  freien  unb  [401]  bem  Konftanten, 
Hotoenbigen  ben  2fasbrudP  bes  jus  civile  unb  jus  gentium. 
Unter  lefeterem  t>erfteljen  fie  bas  allen  Kulturvollem  gemein« 
(ante  Hect}t,  b.  Ij.  ben  Stamm  ober  ben  Kern  oon  Hecfjts« 
einricfytungen,  ber  in  feinen  toef  entließen  (Srunb3ügen  ftcfy  bei 
allen  nneberfyolt:  bas  f osmopolitifdje  ober  unir>erfelle 
(Element  bes  Hecfyts,  unter  erfterem  bie  eigentümliche  <Se» 
ftaltung  bes  Hechts  beim  eht3elnen  Dolfe:  bas  nationale 
(Element  bes  Becftfs*),  Die  Übereinstimmung,  roeId)e  erfteres 
auftseift,  gilt  ifynen  nicfyf  als  &)erf  bes  gufalls,  fonbern 
3tt>ingenber  allgemeiner,  in  ben  t>erl)ältmffen  f  elber  gelegener 
(Srünbe:  ber  naturalis  ratio,  b.  I  mcf|t  ber  fubjeftioen  Vev 
nunft  ober  bes  fubjeftben  Hecfytsgefüfyls,  fonbern  ber  objef- 
ttoen  Vernunft  ber  2)inge,  b.  i,  ber  praftifet)  3tt>ingenben  Kraft 
berfelben,  bes  «gtseefgebanfens,  mit  mobernem  2lusbrucf:  ber 
ZTatur  ber  Sacfye**). 


*)  (für  ben  £ltd?tjuriften  füge  td?  bas  «gttat  ber  1.  9  de  J.  et  J.  [{.  \) 
t>on  (Sajus  fyttt31i:  Omnes  populi,  qui  legibus  et  moribus  reguntur  (bie 
KulturröIFer  im  (Segenfatse  ber  roilben),  partim  suo  proprio,  partim 
communi  omnium  homnium  jure  utuntur.  Nam  quod  quisque  populus 
ipse  sibi  jus  constituit,  id  ipsius  proprium  civitatis  est  vocaturque  jus 
civile,  quasi  jus  proprium  ipsius  civitatis.  Quod  vero  naturalis  ratio 
inter  omnes  homines  constituit,  id  apud  omnes  peraeque  custoditur 
vocaturque  jus  gentium,  quasi  quo  jure  omnes  gentes  utuntur. 

**)  Snt  vorläufigen  Bed?tferttgung  btefer  23egriffsbeftimmung  ber 
naturalis  ratio,  bie  im  3tDetten  Seil  ttjre  genauere  2Iusfürjrung  ftnbett 
n>trb,  permeife  id}  f|ier  3uerft  auf  ben  <8egenfat$  ber  naturalis  3ur  civilis 
ratio,  roelcr/e  let$tere  bodj  ntdjt  eine  anbere  2lrt  ber  fubjefttoen  Derumtft 
be3eta^nen,  fonbern  nur  auf  bie  3rxringenbe  Kraft  ber  etgentümltd?en 
Derrjä'ltniffe  btefes  Volts  unb  (Semeinroefens  l^ogen  werben  fann,  unb 
fobann  auf  bie  Catfadje,  baß  bie  römif  d?en  3urtjten  bie  Sflaoeret  als 
ein  3njtttut  bes  jus  gentium  be3etdmen,  rsärirenb  fle  anbererfetts  an«:* 
f  ernten,  bag  ber  natürltdjen  Demunft  3ufolge  alle  ITCenfdjett  frei  fem 
Wtüffen,  I.  ^  de  J.  et  J.  (JU  \)  . .  .  cum  jure  naturali  omnes  homines  liberi 
essent  .  .  .  jure  gentium  servitus  invasit,  bie  naturalis  ratio,  auf  ber  bie 
SHanerei  als  ^nftitut  bes  jus  gentium  beruht,  fann  alfo  nur  in  ben 


Das  fosmopoltttfdje  (Element  ber  Slnjtonbsgefefee*  3)(5 

[402]  (Sani  biefelbe  Setsanbtnis  ijat  es  nadj  meinem 
Dafürhalten  mit  ben  Hegeln  bes  2tnfianbes,  ja  icfy  behaupte, 
ba§  in  be3ug  auf  fie  bie  Überemftimmung  von  Dölfern  auf 
gleicher  Stufe  ber  Kultur  eine  nodj  fyötjere  ijt,  als  in  be3ug 
auf  bas  Hecfyt,  ba  bie  3U>ingenbe  Zftadit  ber  naturalis  ratio, 
auf  ber  biefelbe  bei  beiben  beruht,  bei  iBjr  ein  ungleich  be< 
gren3teres  (ßebiet  3U  ifyrer  t>era>irflicfyung  t>orftnbet  als  beim 
Hec^t,  unb  bas  2tnftögige  bei  (Sleicfyljeit  bes  Bilbungsgrabes 
ungleich  weniger  ber  Derfcfyiebenfyeit  bes  Urteils  ausgefegt 
iftf  als  bas  §u>e<fmägige  im  Hedjt.  €in  r>omefymer  Homer 
3ur  §eit  bes  21uguftus  fyätte,  ofyne  2tnfto§  3U  erregen,  am 
?jofe  £ubtr>igs  XIV.,  ein  t>omefymer  Ägypter  com  £}ofe  ber 
ptolemäer  an  bem  bes  2luguftus  auftreten  fönnen,  ein  feiner 
(ßriecfye  aus  ber  <§eit  bes  perifies  txmrbe  fyeut3utage  in  unferen 
erften  (5efellfd}aftsfreifen  eine  „falonfäfyige"  <£rfdteinung  ge< 
bilbet  Ijaben.  Die  3bee  bes  jus  gentium  !}at  für  ben  Jlnftanb 
biefelbe  &>ai|r{}eit  tr>ie  für  bas  Hecfyt,  toir  fönnen  gerabe3u 
r>on  einem  jus  gentium  bes  2inftanbes  fämtlicfyer  Kulturpölfer 
fprecfyen.  Diefe  XDafyrfyeit  aber  fann  jte  nur  fyaben,  tt>eil 
unb  infofern  jte  bie  naturalis  ratio,  b.  t.  ein  in  ber  Statur 
[403]  bes  2tnftögigen  gelegenes  3tr>ingenbes  HToment  3ur 
<5runblage  l\at 

Damit  berühre  xd\  ben  fpringenben  punft  ber  gan3en 
£efyre  r>om  2lnftanb,  ben  (Seftdjtspunft,  ber  barüber  entfcfyeiben 
muß,  ob  tx>ir  in  ben  Hegeln  bes  2tnftanbes  lebiglicfy  3ufäHige, 
fonoentioneHe  23eliebungen,  tt>illfürltcfye  Beftimmungen  ober 
rationell  3U  recfytfertigenbe  ZTormen  3U  erblicfen  Bjaben,  Sollen 
toir  uns  3U  lefcterem  entfliegen,  fo  muß  uns  ber  Zlad)weis 
erbracht  toerben,  baß  fie  in  ber  Zlatur  bes  2Inftößigen  felber 
ifyren  (ßrunb  Ijaben.    Der  oerlefeeube  Ctjarafter  muß  uns  in 


prafttfdjen  «Srünben  gefugt  werben,  meldte  biefelbe  in  ben  klugen  ber 
alten  IDelt  rechtfertigten 


5\6 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IHecfyanif.   Das  Sittliche. 


einer  VOei\e  bargelegt  tverben,  baß  tvir  es  begreifen,  tote 
unt>  tvarum  es  abftoßenb  tvirfen  mußte,  unb  tote  ber  ZHenfch 
barauf  fommen  fonnte,  fiel)  feiner  burd]  bie  2Injlanbsgefet$e 
3U  envehren.  Die  3bee  eines  ihm  von  ber  ZTatur  auf  feinen 
£ebenstveg  mitgegebenen  Kobef  bes  2lnftänbigen  (angebornes 
2tnftanbsgefüh0  tveifen  tvir  als  ber  HMberlegung  umvert  von 
vornherein  3urücf,  man  braucht  nur  bas  geringfie  Ztachben!en 
bat  an  3U  fefeen,  um  fich  von  ihrer  geglichen  Unhaltbarfeit 
3u  überseugen. 

2tIfo  bie  objeftive  Ztatur  bes  SInftößigen  iji  ber  Schlüffel 
3um  Derftänbnis  aller  2tnftanbsgefefee«  <£ine  objeftive  ITatur 
bes  2lnftößigen?  Dasfelbe  foll  ja,  tvie  tvir  oben  (S.  30^>) 
fagten,  im  2tuge  besjenigen  fteef en,  ber  es  jteht,  unb  im  (Dbre 
beffen,  ber  es  hört,  (ßetvtß!  aber  nicht  anbers  als  ber  Con. 
Wenn  ber  Con  auch  erft  im  ©I)re  fich  bilbet,  fo  tvirb  er 
boch  hervorgerufen,  in  biefem  [404]  Sinne  alfo  er3eugt  burch 
bie  außer  ihm  befmbliche,  b.  i.  objeftive  Catfacfje  ber  Schtvin* 
gungen  eines  Körpers  unb  ber  Schalltvellen.  Zlxdit  anbers 
ber  fiinbruef  bes  2lnftößigen,  er  ftedPt  im  ©t|r  unb  2luge,  in* 
fofern  er  entgegengenommen  tvirb,  aber  hervorgerufen  tvirb 
er  burch  bie  im  2tnftößigen  f  elber  gelegene  Qualiftfation, 
biefe  <£imvirfung  aus3uüben,  unb  in  biefem  Sinne  verlege  ich 
bie  Urfache  besfelben  in  berfelben  IPeife  in  bas  2lnftößige 
an  fich,  tvie  bie  bes  Cons  in  bie  Körperfchtvingungen. 

Unter  biefer  Dorausfefcung  aber  müßte,  tvie  es  fcheint, 
bas  2Jnftößige  überaE  völlig  gleich  tvirfen,  alle  3nbivibuen 
unb  alle  Dölfer,  auf  tvelcfjer  Kulturftufe  fte  ftch  auch  befäuben, 
müßten  baburch  in  gleicher  tt?eife  betroffen  werben,  tvas 
aber  nicht  ber  5<*E  ifi*  Daraus  ergibt  ftch,  baß  ber  (Erfolg 
bes  2Inftößigen  nicht  mit  ihm  felber  allein  fcfjon  gefegt,  nid)t 
von  vornherein  berechenbar  ift,  fonbern  baß  ber  fubjeftive 
5aftor  ben  2lusfcr/Iag  gibt.  <£r  bilbet  bie  variable  (Sröße, 
von  beren  XPert  bas  fchließliche  5a3it  abhängt.    2lbcv  fefrNjj 


2lbt|ängtg!ett  bes  2fnftanbes  von  Hetcfytum,  Kultur*  3^7 


Variabilität  —  unb  bies  ift  ber  entfcheibenbe  punft,  ber 
fc^Iic§Iid^  bennoch  bie  Berechenbarfeit  bes  (Einbrucfs  ermög- 
licht —  ift  feine  rein  3ufällige,  fonbern  eine  gefefemäßige,  fte 
mirb  beftimmt  burdj  ZHomente  allgemeiner  2lrt,  bie  überall 
in  gleicher  XPeife  unrfen.  2tucrj  bas  ©B^r,  obgleich  von  Zlatuv 
bei  aßen  XHenfchen  basfelbe,  ift  bilbfam,  unb  auch  für  feine 
Jlusbilbung  ftnb  geunffe  äußere  Umftänbe  maßgebenb.  Bei 
bem  3nbianer  ift  bas  feine  <5et|ör  in  einer  IDeife  entroicfelt, 
bie  bem  [405]  Kulturmenfchen  faft  als  ein  Hätfel  erfcheint. 
2tber  bas  Hätfel  löft  fich  burdj  ben  (Einfluß  ber  äußeren  Um* 
ftänbe:  bie  Stille  unb  bie  (Einfamfeit  bes  Urtoalbes  unb  ber 
prärien  unb  bie  Hotoenbigfeit  ber  2lchtfamfeit  auf  jebes 
<5>eid]en  brotjenber,  noch  \o  ferner  (Sefat^r  —  Unfidjerheit 
ber  £age,  mißtrauen  unb  2lngft  bebingen  bie  fyödtfte  2tus* 
bilbung  ber  Sinne,  fein  (Dfyv  unb  2luge  fyört  unb  fielet  fo 
fcharf,  als  bas  bes  ZlTißtrauifchen,  ängftlid>en,  5urcr?tfamen* 
Die  äußeren  Hlomente,  welche  bie  (Entoicflung  ber  (Empfinb« 
lichfeit  für  bas  Jlnftößige  beftimmen,  finb  Heichtum,  £urus, 
Kultur,  geiftige  unb  fünftlerifche  Bilbung.  Der  2Irme  barf 
nicht  an  benfelben  Dingen  2lnftoß  nehmen,  roie  ber  Heiche, 
es  fehlen  ihm  bie  mittel,  bie  biefem  serftatten,  manches  2ln* 
ftößige  r>on  fich  fem3uhalten  —  ber  2lnftanb  foftet  (Selb! 
baoon  roerben  tx>ir  uns  fpäter  über3eugen.  Selbft  in  be3ug 
auf  bie  (ßeftaltung  ber  feinen  Sitte  ber  heutigen  Kulturvölker 
ift  biefer  (Einfluß  bes  Heichtums  u>enigftens  in  einigen  fleinen 
punften  nachweisbar,  ^ür  ben  englifchen  (ßentleman  gilt 
es  als  anftößig,  Bücher  aus  ber  £eihbibIiotr|i?  3U  entlehnen 

—  roer  mag  biefelben  r>or  ihm  in  ber  £}anb  gehabt  haben! 

—  roir  Deutfchen  •  müffen  barüber  I^irxtx>e^f el^cn.  Die  Be- 
hauptung ber  fo3ialen  Stellung  bes  (Englänbers  in  3nbien 
hängt  tsefentlich  au  ber  reiben  Bebtenung,  bie  J^anblanger» 
bienjie  muß  ihm  ein  anberer  abnehmen,  unb  für  alle  befon* 
bereu  Verrichtungen  bebarf  es  nach  inbifd]er  Sitte  befonberer 


3\8         Kapitel  IX.   Die  feciale  tlledjamF.  Das  Sittliche. 


Diener  —  bei  uns  in  Deutfdtfanb  ebenfalls  [406]  rxnaus* 
führbar.  3ch  muj$  es  mir  perfagen,  ben  <£injlujj  ber  übrigen 
namhaft  gemachten  XTEomente  bes  weiteren  3a  oerfolgen,  bie 
gegebene  Anregung  toirb  genügen,  um  ben  £efer  in  ben  Staub 
3U  fefcen,  bas  5ehtenbe  3U  ergäben,  aber  ich  fann  es  boch 
nicht  unterlagen,  3ipei  punfte  ljert>or3uBieben,  €inmal  bie 
Beihilfe,  tpelche  bie  fortfcfyreitenbe  tEechnif  unb  3nbuftrie  bem 
2lnftanbe  baburch  getoäljrt  t|aben,  baf  jte  burch  bie  äußere 
orbentlich  billige  I?(erftellung  mancher  Jlrtifel,  beren  X?errx>en* 
bung  t|eut3utage  ber  guten  Sitte  3ufoIge  obligatorifch  ge< 
roorben  ift  (3.  23.  bas  Cifchgerät,  bas  Cafdjentuch,  f.  u.),  auch 
ben  minber  23emittelten  bie  2lnfchaffung  berfelben  ermöglicht 
haben,  fotpie  burch  bie  von  ihnen  befdjaffte  lünjilidje  Xladi* 
bilbung  fe^lenber  Körperglieber  (f.  u.).  Sobann  ber  <£influf$  ber 
2lusbilbung  ber  Kunji  auf  bie  forberung  bes  Schönheitsfinnes, 
ber,  roie  tpir  bemnächft  fe^en  toerben,  auch  beim  2lnftanbe 
(ßelegenhett  ftnbet,  pdf  3U  betätigen. 

Die  bisherige  Ausführung  bürfte  meine  obige  Behauptung 
ertpiefen  ^aben,  baß  bie  Derfdjiebenheit  ber  2lusbilbung  bes 
nationalen  2lnftanbsgefühls  bei  Pölfern  auf  perfchiebenen 
Kulturftufen  nicht  ettoas  rein  gufäQiges,  fonbern  etwas 
hiftorifd)  Bebingtes  ip,  i>a%  auch  ber  2lnftanb  gan3  bemfelben 
(ßefefee  ber  htftorifchen  (gnttpieflung  unterliegt,  tpie  alle  anbern 
5eiten  bes  Polf  slebens ,  bajj  auch  er  00m  fieberen  311m 
fjö^eren  t^at  aufzeigen  müffen,  bie  fyöfyere  Stufe  nietet  hat 
befreiten  fönnen,  bis  er  bie  nieberen  3urücfgelegt  hatte,  unb 
baß  biefe  €nttpic£lung  [407]  nicht  ifoliert  für  jtch,  fonbern  im 
engften  giufammenhange  mit  bem  gefamten  Kulturfortfchritt 
perlaufen  ift.  Dementfprechenb  ift  alfo  bie  Übereinjlimmung, 
bie  xoxt  bei  ben  Kultursölfem  auf  gleicher  Ejölje  ihrer  Kultur 
in  tpefentlichften  punften  bes  Jtnjianbes  tpahrnehmen,  ebenfo- 
roenig  ehpas  Zufälliges,  als  ber  flaffenbe  (Segenfafe,  n?eld?er 
in  biefer  ^inficht  3toifchen  ihnen  unb  rohen  Dölfern  obtpaltet. 


Das  jus  gentium  bes  Tlnftanbes* 


2Jn  6er  hier  beliaxxpteten  Übereinfiimmung  bctrf  uns  öie 
XDahmehmung  getpiffer  Perfchiebentjeiten  ebenfotpenig  irre 
machen,  tpie  bie  römifchen  3uriften  fiel)  burch  bie  2lbtpeichungen 
bes  jus  civile  ber  ein3elnen  Dölfer  pon  ber  2luffteHung  bes 
jus  gentiums  abgalten  liefen*  J)ie  Perfchiebenheiten  treten 
gegenüber  ben  Übereinjiimmungspunften  gcn^lich  in  ben 
fjintergrunb*  2lber  aHerbings  mit  einer  Befchränfung,  tpeldje 
mit  bem  oben  (S.  280)  bei  ber  Kritif  ber  Sitte  von  mir  ent* 
micEelten  Segriffe  ber  Konnipen3en  ber  Sitte  3ufammenhängt 

Sei  faft  allen  Dölfem  begegnen  tt>ir  getPtffen  nationalen 
Unfttten  unb  Unarten,  ipelche  mit  ben  pon  i^nen  felbft  im 
übrigen  beachteten  (Brunbprin3ipien  bes  2lnftanbes  im  fcfynei« 
benben  IDiberfpruche  fte^en,  gleichtpohl  aber  pon  ber  Sitte 
gebulbet  tperben*  (Es  jinb  5äÜ£/  in  benen  bie  finnliche  Hatur 
bes  ZHenfchen,  feine  (Benußfudjt,  feine  23equemlichfeit  uftp,  ftch 
ftärfer  ertpeifen  als  fein  2lnftanbsgefühl,  unb  ipo  letzteres  ftch 
genötigt  fteht,  Kon3ef{ionen  3U  machen  unb  bem  an  fich  2ln- 
ftanbsroibrigen  [408]  ben  Stempel  bes  2lnftänbigen  auf3U* 
prägen.  Dies  foü  burch  einige  Beifpiele  peranfdjaultcht 
werben. 

Wxv  perfefcen  uns  nach  Horn.  Zladi  altrömtfcher  Sitte 
pflegte  man  beim  ÜCaljle  3U  jtfeen,  bie  Schtpelgerei  ber  fpäteren 
geit  aboptierte  bafür  bie  orientalifche  Sitte  bes  Ciegens  bei 
Cifch-  Diefelbe  pereinigte  mit  ber  größeren  Sequemlicfjfeit 
ben  tpertpollen  Dor3ug,  ben  <5aft,  ber  3upiel  getrunteu  hatte, 
gegen  bie  <5efafyr  pom  Stuhl  3U  fallen,  3U  fiebern.  H?ie  bie 
Horner  f elber  über  jte  backten,  ergibt  fich  baraus,  baß  bas 
£iegen  bei  ©fch,  nad\i>em  es  bei  ben  ZHännem  längft  üblich 
geworben  toar,  noch  geraume  Seit  fynburdj  für  bie  ehrbare 
JUatrone  nietet  als  anftänbig  galt  unb  ben  Kmbern  niemals 
perftattet  tparb  —  es  tpar  bas  Porrecht  ber  (Ertpachfenen,  fich 
über  ben  Jlnftanb  hintpegfefeen  3U  bürfenl  Bis  3um  <£tel> 
haften  jieigerte  fich  bie  ZTachgiebigfeit  ber  römifchen  Sitte 


320        Kapitel  IX.   Die  feciale  mecfyanif*  Das  Sittliche* 

gegen  bie  Polieret  in  5er  felbjl  in  ben  haften  Kretfen  ein« 
heimifchen  (Setpohnhett,  ber  überfättigten  (Senußfucht  burdj 
fünftlidje  Entleerung  bes  XTEagens  3U  J}ilfe  fommen. 

3ch  überfpringe  bas  XHittelalter  unb  bie  ©ergangenen 
3al}rf}unberte,  tpeldje  in  be3ug  auf  bie  itachficht,  tpeldje  fie 
gegen  bie  DöHerei  übten,  hinter  ben  Hörnern  faum  3iirücf« 
blieben,  um  mich  ber  (Segentoart  3U5Utpenben,  Sie  barf  fich 
bas  Derbienft  3ufprechen,  mit  ben  «gügellojtgfeiten  unb  Un* 
fitten  ber  Vergangenheit  grünbltch  gebrochen  3U  I^aben,  unb 
insbefonbere  auch  im  Perfefyr  mit  bem  toeiblic^en  (Befcfylecfyte 
bem  3nbe3enten  ben  $te\bntf,  ben  [409]  es  einjl  befafj,  ent« 
3ogen  3U  liaben.  2tber  gan3  mafellos  ift  boch  auch  fie  nicht. 
3n  einem  punfte  tpenigftens  t|at  fie  ben  Htaßftab  bes  2tnftän« 
bigen,  ben  fie  fonft  an3ulegen  getpohnt  ift,  entfdjieben  per« 
leugnet  3h*e  2Id|tQesferfe  ift  ber  Cabaf.  3hm  gegenüber 
übt  unfere  Sitte  eine  nachficht,  bie  von  ber  Strenge,  toeldje 
fie  fonft  felbft  in  gan3  unerheblichen  punf ten  3ur  2lntoenbung 
bringt,  feltfam  abfticht,  nur  bie  englifche  Sitte  betoäfyrt  auch 
in  biefem  punfte  bie  ihr  oben  (S.  296)  nachgerühmte  5ein« 
fühligfeit.  ZDie  roürbe  tpohl  bas  Urteil  eines  alten  (Sriechen 
ober  Homers  ausgefallen  fein,  ber  bei  uns  bie  öefanntfdjaft 
ber  perfchiebenen  (Senußformen  bes  Cabafs  gemacht  hätte. 
<£s  gibt  Dölfer,  roürbe,  roenn  roir  uns  Strabo  als  Sericht* 
erftatter  benfen,  ber  Bericht  gelautet  h<*ken,  welche  ein  Kraut 
an3Ünben,  bas  fie  Cabaf  nennen,  unb  beffen  Hauch  fie  ein- 
fchlürfen.  Demjenigen,  ber  es  tut,  foll  es  <Senu§  bereiten, 
mir  er3eugte  es  ZDibertpiUen  unb  <£fel,  ich  fanb  £ofale,  in 
benen  man  por  Hauch  faum  ettpas  wahrnehmen  fonnte,  unb 
wo  mir  bie  2lugen  fchmer3ten,  alles  roch  nach  bem  Kraut, 
bie  ZDänbe,  bie  Kleiber,  felbft  bie  ZHenfchen,  unb  fogar 
bort,  roo  anbere  aßen,  ^Mieten  fich  manche  bas  Kraut  an. 
2lnbere  fteeften  bas  Kraut  in  5orm  eines  pulpers  in  bie  Ztafe, 
ohne  fich  an  bie  unfauberen  Spuren,  bie  bapon  3urücf blieben, 


Der  Xllaßftab  bes  ^nftögigen.  —  (Ergebniffe*  32{ 


311  jloßen.  <£s  finb  eben  Sarbaren,  tselche  bie  feine  Sitte, 
beren  bas  griechifche  Volt  ftch  erfreut,  nicht  fennen.  3n 
einigen  (Segenben  foö  fogar  bie  Sitte  beftehen,  bas  Kraut 
3u  fauen,  unb  3tt>ar  nicht  [410]  blog  bei  gemeinen  Ceuten 
unb  Schiffern,  toelche  lefetere  bie  Sitte  eingeführt  haben 
toerben,  um  einen  <£rfafe  für  bas  in  ihren  Derhältniffen 
minber  leidet  burchfüBjrbare  Hauchen  3U  geroinnen,  fonbern 
felbft  bei  Ceuten  ber  gebilbeten  Klaffe,  lefeteres  aber  nur  in 
bem jenigen  Celle  ber  (Erbe,  ben  man  bie  neue  Welt  nennt 
Selbft  nach  bem  Urteil  ber  23arbaren  ber  alten  IDelt  foH  bies 
bas  <£felhaftefte  fein,  tx>as  ftch  benfen  läßt*). 

3ch  fchließe  hiermit  meine  Ausführungen  über  ben  7Xla%* 
jiab  bes  2lnftö§igen  ab,  inbem  ich  nur  noch  bie  [411] 


*)  2lls  Quelle,  aus  ber  Strabo  feine  Zloti$  hätte  fdjöpfen  fönnen, 
führe  ich  £03  (Dufens)  2JmeriFa,  53b*  2,  Kap»  2  am  3<*?  ha^e  es  für 
nötig,  bie  gan3e  Stelle  abbruefen  3U  laffen,  ohne  meinerfeits  bie  Per* 
tretung  ber  r>on  ben  2Imerifanern  allerbings  heftig  angefochtenen  Hid}* 
tigfeit  bes  Berichts  t>on  £03  3U  übernehmen*  „2ln  allen  (Drten  herrfcht 
biefe  unfaubere  Sitte  bes  Cabaffauens  unb  2Iusfpuc!ens*  3n  ben  <Se* 
ridjtshöfen  t^at  fomohl  ber  Hilter  feinen  Spucfnapf,  als  ber  geuge  unb 
ber  2lngefdmlbete,  felbft  bie  (Sefcfytpomen  unb  bie  <§uh<>rer  ftnb  bamit 
rerfehen*  3n  ben  fjofpitä'lem  werben  bie  Stubenten  ber  Ifte^m  burdj 
2Jnfchläge  an  ben  VOanben  aufgeforbert,  ihre  Cabafsbrühe  in  bie  3U 
biefem  gmeefe  sorhanbenen  Ztäpfe  aus3uleeren  unb  bie  (Treppen  nicht 
3U  befchmut$en*  3n  öffentlichen  (Sebä'uben  werben  53efud}er  auf  biefelbe 
2lrt  bebeutet,  bie  <Effen3  ihrer  Cabafsrnolleu  in  bte  Hatioualfpucfnctpfe 
unb  nicht  au  bie  IHarmorfäulen  aus3ufprit5en*"  (Ein  mürbiges  Seiten* 
ftücf  ba3u,  beffen  ich  mich  noch  aus  jungen  3<*hren  erinnere,  unb  bas 
mich  bamals  mit  unausfprechltchem  (Efel  erfüllte,  hatte  bte  hoüä'nbtfche 
Hetnltchfeit  aufgebracht:  po^ellangefäge  auf  bem  (Dfche  3um  gwede 
ber  (Entleerung  bes  Speichels!  23ei  meinen  fpäteren  Befugen  in  ^ollanb 
habe  ich  fte  nicht  mehr  angetroffen*  Das  neuerbings  aufgenommene 
ilusfpülen  bes  tttunbes  nach  beeubetem  Diner  in  fpe3tell  3U  bem  <§tuecfe 
hingeftellten  Schalen  ift  in  meinen  2lugen  nicht  ütel  beffer,  es  gilt  als 
oomehm,  ift  aber  einfach  mibermcirtig*  IDas  mürbe  man  oon  jemanbem 
fagen,  ber,  abgefehen  t?on  biefem  2Inla§,  mo  eine  Sitte,  bte  fd?merlich 
langen  23eftanb  haben  mirb,  es  einmal  f  auktioniert  hat,  ftch  basfelbe 
tu  ber  guten  (Sefellfchaft  erlauben  würbe? 

».  3^ring,  Der  gweef  im  Hed^t.   Tl.  2t 


322        Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjantf*   Das  Sittlxty. 

gewonnenen  <£rgebniffe  fur3  3ufammenftelle,    <Es  ftnö  fol- 

genbe: 

^  Der  ZTTaßjiab  iji  fein  inbitnbueHer,  fonbern  ein  all* 
gemeiner* 

2.  (Er  ijt  es  barum,  weil  er  ein  objeftfoer  iji,  in  ber 
Tlatnv  bes  2Jnjiöj§igen  an  jtdj  feinen  (ßrunb  I?at. 

5,  (Er  iji,  toenn  aud?  ein  allgemeiner  unb  objefttoer,  fo 
bod?  fein  abfoluter,  fonbern  ein  relativer. 

^*  Die  (£mpftnblid}feit  gegen  bas  2tnftö§tge  iji  auf  bem 
Ejöfyepunft  ber  Kultur  bei  allen  Dölfern  im  öffentlichen 
bie  gleiche,  bie  5olge  bat>on  iji  ifyre  Übereinftimmung 
in  be3ug  auf  bie  (Srunbregeln  bes  2lnjianbes* 

Ö.  Die  sroifcfyen  iljnen  obtsaltenben  Derfcfyiebenfyeiten  treffen 
im  toefentlicfyen  nur  nnhcienUnbe  punfte,  nur  bei  ge* 
toiffen  eingetrudelten  nationalen  VLnattenf  Unjttten  übt 
bie  Sitte  eine  £lad}jtd}t,  bie  fte  mit  jtdj  felber  in  IDtber- 
fprudj  fefct 

3)  Die  Kategorien  bes  2lnftö§tgem 
Die  folgenbe  Unterfudjung  be$wedt  eine  innere  Sdjeibung 
unb  Verlegung  bes  2lnftögigen  burd?  2lufjießung  unb  2tn* 
legung  getoiffer  Kategorien,  jte  furf^t  Unterfcfyiebe  ober  Birten 
bes  2Inftö§igen  3u  gewinnen.  XDelcfyes  3n^r^  fnüpft  ftdj 
baran?  Zlxdtit  bas  praftifdje  ber  juriftifdjen  Unterfcfyiebe, 
welches  barin  gelegen  iji,  ba§  mit  benfelben  praftifdje  5olgen 
r>erbunben  jmb,  n>as  bei  ben  unfrigen  [412]  barin  befielen 
tDÜrbe,  ba%  bie  t>erfd}iebenen  21rten  bes  2lnjiö§igen  einer 
serfcfyiebenen  Beurteilung  t>on  feiten  bes  2InjianbsgefüI]ls 
unterliegen  würben.  Dies  iji  aber  nicfyt  ber  3>t*  2?eaf« 
tion  bes  letzteren  gegen  bas  Slnftößige  ftuft  fiel?  nur  grabuell 
nadj  ber  Schwere  besfelben,  nicfyt  qualitativ  nad?  ber  2lrt 
besfelben  ab.  Das  3ntateff*  unferer  Unterfd^eibnng  iji  rein 
nnffenfdiaftlicber  2lrt     §unäd?ft  nämlid)   foH   jie  uns  bto 


Die  Kategorien  oes  Slnftößtgen. 


323 


Beobachtung  erleichtern,  ffiit  3erlegen  ben  Stoff  in  einzelne 
Stüde,  um  für  bie  einbringenbe  Hnterfuchung,  tt>elche  an  bem 
(Segenjlanbe  in  feiner  (Sefamtheit  ebenfoioenig  möglich  roäre, 
rote  eine  mifroffopifdfe  Hnterfuchung  an  einem  üoluminöfen 
Körper,  ein  enger  umrahmtes  (Seftchtsfelb  3U  gewinnen* 

XDäre  unfer  2Iugenmerf  Iebiglich  darauf  gerichtet,  fo  mürbe 
unfere  Klafftftfation  bes  2tnftößigen  feinen  weiteren  XDert  be* 
anfpruchen,  als  bas  Zlet$tt>erf,  bas  bem  ZHaler  ober  Bilbhauer 
bie  eyafte  ZTachbilbung  bes  (Originals  erleichtern  foll,  es  toäre 
eine  reine  $vaQe  ber  «gtoeefmäßigfeit,  welche  ber  an  ftch  mög* 
liehen  Einteilungen  roir  toählen  wollten,  t>orausgefe&t  nur, 
baß  fte  erfchöpfenb  tt>äre.  21ber  meine  Klaffififation  h<*t  ftch 
ein  li'olietes  «giel  gefieeft,  fre  foll  nicht  bloß  3tt>ecf  mäßig  fein, 
was  fie  auch  fein  fönnte,  tr>enn  jte  noch  fo  äußerlich  wäre, 
fonbern  fie  foll  toiffenfchaftlich  förberlich  fein,  b.  u  bie  innere 
Derfchiebenheit  bes  (ßegenfkmbes  3ur  21nfchauung  bringen,  unb 
bas  tann  fte  nur,  tsenn  bie  Kategorien,  mit  benen  fie  operiert, 
an  ben  (Segenftanb  nicht  r>on  außen  hingetragen  unb  ihm 
bloß  [413]  übergelegt,  fonbern,  roenn  fte  ihm  felber  entnommen 
werben.  Daburch  unterfcheibet  fich  bie  Klaf jtftfation  im  wahren 
Sinne  bes  JDortes  von  einem  bloßen  Schema.  Um  biefen 
Hamen  3U  t>erbienen,  muß  fie  brei  ^nforberungen  entfprechen: 
bie  Klaffen,  welche  jte  auffteüt,  müffen  ben  <5egenfianb  t>oü- 
ftänbig  beefen,  fte  müffen  unter  ftch  fo  fdjarf  abgegren3t 
fein,  baß  fte  ftch  leidet  unterfcheiben  laffen  —  fte  müffen 
innerlich  in  ber  Zlatur  bes  (Segenftanbes  begrünbet  fein« 

21Hen  brei  21nforberungen  glaube  ich  mittels  ber  meinigen 
entfprochen  3U  haben.  3ch  habe  bei  unabläfftg  fortgefefeter  Prü- 
fung feinen  5aH  bes  21nftößigen  fhtben  fönnen,  ber  nicht  unter 
eine  ber  t>on  mir  aufgehellten  t>ier  Kategorien  berfelben  paßte, 
unb  bie  21nwenbung  meiner  Kategorien  auf  ein3elne  5äße  i[ai 
mir  nie  bie  minbefte  Schwierigfeit  gemacht,  unge3wungen  bat 
ftch  jeber  5aQ,  an  bem  ich  bie  probe  machte,  einer  Kategorie 

21* 


52^         Kapitel  IX.   Die  feciale  UTed^amf*   Das  Sittliche«. 


untergeordnet  2Tüancher  berfelben  aHerbings  mehreren  3ugleich, 
was  ich  hervorhebe,  um  ben  (Eintoanb  ab3utoehren,  baß  bamit 
bie  ihnen  nachgerühmte  fdjarfe  Unterfcheibbarfeit  tx>iberlegt 
tr>erbe,  es  unberfyolt  fid)  barin  nur  ber  früher  (S.  306)  be< 
rührte  Vorgang  ber  Übertretung  mehrerer  (Bebote  burch  einen 
unb  benfelben  2lft.  2>ie  Berührung  fejueQ  anftößiger  Singe 
in  (ßegentoart  anftänbiger  5tauen  fällt  unter  bie  Kategorie 
bes  feyueH  2Inftößigen  ober  bes  3nbe3enten  (Ztr.  fy;  gefeilt 
fich  noch  bie  (Bemeinheit,  pöbelhaftigfeit  bes  2lusbrucfs  htn3u, 
fo  [414]  5ugleich  unter  bie  bes  äßhetifch  2lnftößigen  (Hr.  2). 
Körperliche  Schaben,  Deformitäten  fönnen  uns  bloß  äfihetifch 
unangenehm  berühren  (Ztr.  2),  aber  auch  berartige  fein,  baß 
fie  uns  <£fel  erregen  (Ztr.  \).  3^  k<*be  feinen  5aH  gefunben, 
in  bem  ich  nicht  bie  eht3elnen  Kategorien  fdjarf  unb  mühelos 
hätte  unterfcheiben  fönnen. 

2luch  in  be3ug  auf  bie  britte  ber  aufgehellten  2tnforbe» 
rungen  glaube  ich  eine  Bemänglung  meiner  Klaffiftfation  niebt 
befürchten  3u  brauchen.  ZHeine  Kategorien  bes  2lnftößtgen 
fmb  ber  Ztatur  ber  Sache  f  elber  entnommen,  es  gibt  feine 
anbere,  unb  ich  fcheue  mich  nicht,  für  fie  abfolute  (Seltung 
in  2lnfpruch  3U  nehmen,  ich  erbreifte  mich  3u  behaupten,  baß 
jeber,  ber  nach  mir  ben  <5egenftanb  behanbeln  tturb,  fie  ein« 
fach  annehmen  muß,  ihnen  tpeber  eine  anbere  hNufügen, 
noch  von  ihnen  eine  auslaffen,  noch  mehrere  3ufammentoerfen 
fann,  bas  5achtx>erf  ber  Kategorien  glaube  ich  ein  für  allemal 
enbgültig  feftgeftellt  3U  h<*&en.  3ch  ftüfee  biefe  meine  Über* 
3eugung  barauf,  baß  ich  bie  Kategorien  nicht  äußeren  Kriterien, 
nicht  ben  XtTobalitäten  in  be3ug  auf  bie  äußere  (Erfcheinungs» 
form  ober  auf  bie  S3enerie  bes  2tnfiößigen,  fonbern  bem 
inneren  (ßrunbe  besfelben  entnommen  habe.  Beruht  bas 
innere  2TEoment  bes  2lnftößigen  auf  feinem  unfer  <5efüM 
t>erlefcenben  Charter  (S.  30\),  fo  fann  bas  Ceilungsprin3tp 
bes  2lnjiößigen  nur  im  (Befühle  gefucht  werben,  unb  bie 


Das  Schema  ber  vier  Kategorien  bes  2Jnf*ö§tqen* 


325 


Aufgabe  geht  bann  bafyn,  jtch  bie  innere  Perfchtebenhett  ber 
(Sefühlsaffeftion  3um  Betvußtfem  3U  bringen.  [415]  Durch 
biefen  (Sefichtspunft  geleitet  bin  ich  3u  folgenden  vier  Kate- 
gorien gelangt: 

{,  Das  finnlich  Jlnftößtge. 

2.  Das  äjiB|etifc^  Anflößige, 

3.  Das  pattjologifch  Anfiößige. 
^  Das  feyuell  Anftögige. 

Die  <£rflärung  unb  Hechtfertigung  ber  gebrausten  2lus« 
brüdPe  bleibt  ber  befonberen  Darfteilung  ber  ein3elnen  Kate« 
gorien  vorbehalten,  festere  befchränft  ftcfj  übrigens  nicht 
auf  ben  «gtvecf,  biefe  Kategorien  bloß  3U  begrünben  unb  burch 
ein3elne  öeifpiele  3U  iHujhrieren,  fonbern  fie  foll  ben  gan3en 
tvef  entlichen  3n^aIt,  Pe  *n  P^  bergen  3ur  2tnfd]auung 
bringen»  2ftach  biefer  Seite  I|in  foö  fie  als  <£rgän3ung  meiner 
bisherigen  Ausführung  über  ben  ZHaßjtab  bes  2lnftö£tgen 
bienen,  inbem  fie  bas  ZHaterial  3ur  Stelle  fchafft,  um  bie 
Behauptung,  ba§  berfelbe  in  ber  tlatur  bes  Anftößigen  an 
ftcf)  gelegen  fei,  am  ein3elnen  3u  ertveifen.  3n  biefem  Sinne 
lägt  fie  fich  als  Kritif  unb  rationelle  Hechtfertigung  ber 
heutigen  Anftanbsgefefee  be3eichnen. 

X*  Das  finnlid?  Anftögige» 
Sinnlich  anjfößig  ijl  alles,  was  unangenehme  Sinnes* 
emppnbungen  in  uns  erregt.  Dies  ift  in  boppelter  XDeife 
möglich:  unmittelbar  unb  mittelbar.  <£in  übler  (Seruch, 
ein  tvüfter  £ärm,  ein  grelles  Cicht  verlebt  unmittelbar  unfere 
(ßeruchs«,  (ßehörs«,  Sehnerven,  ohne  ba§  eine  [416]  innere 
DorfteHung  fich  I^iri3U3U0ef etten  brauet  Der  fiinbruef  bes- 
jenigen  bagegen,  tvas  tvir  als  efelhaft  be^eidinen,  tvirb  erft 
vermittelt  burch  bas  JE|in3utreten  ber  Dorfteilung  in  5orm 
einer  h^r  weiter  3U  unterfuchenben  3beenaffo3iation, 

Aber  auch  biefer  <£inbrucf  ifi  finnlicher  Art.    Der  Porgang 


326 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Xftecfyam?*   Das  Sittliche* 


fpielt  ftd?  nicfyt  in  unferem  (Seifte  ab,  tote  beim  äftfyetifd? 
2lnftö§igen,  ober  in  unferer  Seele,  rote  beim  fejuell  unb  beim 
patfyologifcfy  2lnftöjjigen ,  fonbern  in  unferem  Körper,  bas 
(ßefüfyl  bes  <£fels  ift  pt^Yfifc^er  2lrt,  nur  permittelt  burdj  bie 
<£intoirfung  ber  Porfteßung,  Da  letztere  es  ift,  tselcfye  ben 
£inbrucf  fyerporruft,  fo  ergibt  fid)  daraus,  baf$  es  3U  bem 
gtoeefe  nicfyt  nottoenbig  ber  2lffeftion  ber  Sinne  bebarf;  bie 
tsörtlidje  Sd>ilberung  bes  <£felfyaften  fann  gans  biefelbe  lt)ir* 
fung  er3eugen. 

Das  finnlidj  Slnftößige  nimmt  auf  ber  Stufenleiter  bes 
2lnftö§igen  bie  niebrigfte  Stufe  ein,  roir  bürfen  annehmen, 
ba§  es  audj  tjiftorifd?  bie  erfte  2trt  bes  2lnftö§tgen  getoefeu 
ift,  bereit  fiefy  bie  (ßefeßfdjaft  $u  enteren  gefugt  tjat,  u>enig< 
ftens  in  besug  auf  bie  gröbften  txubertDärtigften  formen.  Üble 
(ßerüdje  unb  ber  Slnblic!  bes  <£felfyaften  ir>irb  bas  erfte  ge* 
isefen  fein,  rr>as  ber  ZHenfd}  fid?  im  gefeflfcfyaftlidjen  Derfefyre 
mit  anbevm  perbeten  fyat 

Von  ben  beiben  genannten  Birten  bes  finnlidj  2tnftö§igeu 
ift  bie  5tt>eite:  bas  mittelbar  ftnnlidj  2lnftö§ige  ober  bas  <£teU 
Ijafte  burdj  bie  (Sefefee  bes  2tnftanbes  [417]  fcfylecfytfyn  *>er* 
boten,  bas  (Sebot  fennt  feine  2lusnaf}tnen.  Zubers  ©erhält 
es  ftdj  mit  ber  erften  21rt.  Drei  Sinne  finb  es,  bie  l|ier  in 
33etradtf  lommen:  ber  (ßerudjs*,  (Sefyörs*  unb  (Befxctjtsfmn. 

Unter  ifynen  nimmt  ber  <ßerud)sfinn  bie  erfie  Stelle  ein. 
£>aj$  er  felbft  in  unferer  heutigen  ^eit  nidjt  in  allen  Punf ten 
feine  5orberungen  burdjgefefct  ijat,  ift  oben  (5.  320)  in  be5ug 
auf  bas  Hauten  nadjgetoiefen  tsorben. 

Die  nädjftfolgenbe  Stelle  bürfte  bem  (ßeficfytsfinne  3usu< 
reifen  fein.  Der  ^nfprud},  ben  er  in  ber  (Sefeßfdjaft  ergebt, 
befdjränft  ftet^  im  tx>efentlidjen  auf  5entljaltung  bes  2lnblicfs 
bes  (Efel^af ten;  bas  äftyetifdj  Perlefeenbe  fällt  nid?t  unter  ben 
(Seficfy tspunft  bes  finnlidj,  fonbern  bes  äjttjetifdi  Jlnftoßigen 
(Ztr.  2). 


Du  Kategorie  bes  (mitlief?  Hn$Q%\$en.  32? 


Die  britte  Stelle  nimmt  bas  ©h*  ein,  fotueit  es  fich  um 
Abwehr  finnlicher  <£tnbrücfe  Ijcmbelt,  wobei  alfo  von  5er 
inneren  2lnftößigfeit  beffen,  was  bas  ©hr  vernimmt,  abge* 
fe^en  wirb,  fagen  wir:  foweit  es  fich  um  bas  2tnftö§ige  bes 
bloß  finnlichen  Schalls  h<*nbelt.  inwiefern  fann  ber  bloße 
Schall  uns  unangenehm  berühren?  3n  doppelter  ZDeife: 
einmal  an  fich  —  ein  lautes  (ßetöfe  —  unb  fobann  infofern 
er  uns  ftört,  t).  h*  uns  Fulbert,  etwas  anberes,  bas  wir  311 
^ören  wünfchen,  beutlich  3U  vernehmen.  3n  beiberlei  Hich- 
tungen  ift  bas  ©h*  ber  vornehmen  ZDelt  I|cut3utaÖe  fe*lr 
empfmblich  unb  anfpruchstjoll.  <5eräufchlos  wie  mit  (ßeiffer« 
tritt  fott  bie  Dienerfchaft  im  vornehmen  [418]  JEjaufe  fich 
belegen ,  unb  ihr  Porbilb  ift  maßgebenb  geworben  für  äße 
feineren  Rotels,  Kein  Con  von  flappernben  Cellern,  fein 
Fußtritt  fotl  erf drallen,  fein  lautes  IDort  gef prochen  werben 
—  ben  richtigen  Diener  barf  man  nur  fehen,  nid]t  hören  — 
bie  XtTafchinerie  ber  Cafel  foH  gehen  wie  ein  Uhrwerf,  prompt, 
ftdjer  unb  ohne  baß  man  bas  minbefte  von  ihr  hört.  Den 
<5äften  3eichnet  bie  feine  Sitte  gan3  basfelbe  geräufchlofe 
Verhalten  vor,  ihre  Stimme  foll  nur  benjenigen,  3U  benen 
fte  reben,  vernehmbar  fein,  jte  f ollen  fprechen  »sottovoce«, 
wie  ber  mufifalifche  2lusbrucf  lautet,  ein  wüftes,  wilbes 
Durcheinanberfchreien,  bas  vielfach  als  Kriterium  ber  wahren 
£[eiterfeit  gilt,  ift  burch  bie  feine  Sitte  ftreng  verpönt.  (Seh* 
fte  barin  3U  weit?  lüir  haben,  wie  ich  meine,  alle  Urfad^e 
ihr  bantbat  3U  fein.  3e  lauter  ber  £ärm,  befto  mehr  t^at  man 
TTtühe,  fich  feinem  Xladibat  verftänblich  3u  machen,  unb  wer 
Urfache  fyat,  feine  Stimme  3U  fchonen,  fdjweigt  lieber  gans 
[tili.  Die  5oIge  bavon  ift,  baß  ein  Ceil  bes  (ßenuffes,  ben 
er  jkh  verfprach,  unb  ben  er  felber  anberen  gewähren  tonnte, 
verloren  geht,  währenb  er  basjenige,  was  ihm  noch  verbleibt, 
nicht  feiten  mit  einem  wüften,  lärmenben  Kopfe  3U  be3ahlen 
hat  —  in  einer  (Sefellfchaft  fommt  ber  wüjle  Kopf  regelmäßig 


328         Kapitel  IX.   Die  foßtale  XTCedjamf.   Das  Sittliche* 

in  viel  fyöfjercm  (ßrabe  auf  Bechnung  bes  unIben  (Sefchreis, 
als  auf  Bechnung  ber  genoffenen  Speifen  unb  (Betränfe, 

2Juch  an  bem  lauten  Auftreten  unb  <2inherfchreiten  [419] 
in  ber  <5efellfchaft  nimmt  bie  feine  Sitte  #nfto§.  €in  alter 
Bitter  mit  flirrenben  Sporen  unb  raffelnbem  Sd^mert,  unter 
beffen  fehleren  Fußtritten  ber  23oben  erbröhnte,  tx>ürbe  B^cut« 
3utage  nicht  mehr  „falonfähig"  fein,  bie  bünnen  Sohlen  unferer 
Schuhe  unb  Stiefel  bilben  ein  Stücf  bes  mobernen  2tnftanbes. 
Center  er  t|at  feinen  t>erfeinemben  <2influf$  bis  auf  bas  £i<xnb* 
wexi  unb  bie  (Sefchtcflichfeit  bes  Schufters  hinab  erftrecftl  3ct? 
roerfe  abermals  bie  5rage  auf:  geht  unfere  Sitte  barin  $u 
tt>eit?  3<ä?  glaube,  bajj  fte  auch  I|ier  sollfommen  in  ihrem 
Heerte  tfi  3ebes  überjiüfftge  (Beräufch  ber  (ßefeüfcfyaft  ift 
pom  Übel,  es  3ieht  bie  2tufmerffamfeit  auf  fich  unb  beroirft 
eine  Unterbrechung  ber  Unterhaltung  —  u>03u  eine  Störung 
berfelben,  bie  fich  sermeiben  läßt? 

3n  gefteigertem  UTaße  3eigt  ftch  bas  (Sefellfchaftsroibrige 
bes  ftörenben  (ßeräufches  bei  (Selegenheiten,  too  ausfchließ* 
Hc^  ber  Stoec?  bes  £)örens  bie  2lntoefenben  3ufammengeführt 
hat:  im  Ködert,  Ch^ater,  bei  öffentlichen  Heben,  in  ber 
Kirche  rt>ährenb  ber  prebigt.  3^be  Störung  enthält  h*^ 
eine  HücEftchtsIofigfeit  gegen  bas  publif um:  bas  geräufchsoHe 
(Erfcheinen  unb  JDeggehen,  ein  lautes  Sprechen  mit  ben  Zlad}* 
bam,  bie  Unart  bes  leifen  ZHitfingens  ber  UTelobien*).  ZDenn 


*)  Seibp  bas  bloße  t>erfpätete  €rfdjeinen  bei  folgen  (gelegensten 
enthält,  wenn  audj  bas  genaue  £?ören  barunter  nidjt  leibet,  eine  Büd5* 
ftdjtslofigfeit,  ba  es  eine  Unterbrechung  ber  2Iufmer?fam?ett  bewirft. 
2Iuf  unferen  beutfdjen  Uni  t>  er  fi  täten  ip  es  üielfadj  Sitte,  ba§  ber 
Stubterenbe,  welcher  3U  fpät  in  ber  Dorlefuug  erfcfyeint,  ausgefdjarrt 
nrirb,  was  freilid}  ben  (Teufel  burdj  23eel3ebub  austreiben  fyeißt,  aber 
gIeidjn>ot|l  als  2Iusbrucf  ber  öffentlichen  IHigbilligung  ein  gan3  wirf* 
fames  mittel  tft,  um  bie  Störung  bes  Vortrages  burdj  3U  fpätes  Kommen 
fern3ut^alten  —  ein  23eleg  für  mein  bemttädjft  3U  entttncfelnbes  fo3taIes 
^tDangsfyfiem,  ein  proteft  ber  füge  gegen  bie  Übertretung  bes  burd? 


Das  ftnnltdj  2Xnftögtge*  —  Störungen* 


529 


bie  (Sefefee  bes  2tnftanbes  einmal  ben  [420]  <gn>ecf  I^abcn^ 
alles,  was  bas  «guf  ammenfein  mit  anbeten  erfchroeren  ober 
perleiben  fann,  fernhalten,  fo  finben  fie  auf  bas  öffentliche 
<5>uf  ammenfein  biefelbe  2lmsenbung  wie  auf  bas  private,  unb 
mir  roerben  bamit  3um  3tt>eitenmal  auf  einen  Segriff  3urücf* 
geführt,  beffen  Safein  unb  Unentbehrlichfeit  tt>ir  bereits  bei 
Gelegenheit  ber  Segriffsentnncflung  bes  ärgerniffes  fonjlatiert 
haben:  ben  bes  öffentlichen  2tnftanbes,  Dort  begegnete  uns 
berfelbe  in  feiner  Perbinbung  mit  ber  ZHoral:  X>erlet$ung  bes 
öffentlichen  2lnftanbes  burch  öffentliche  Begehung  bes  Unfüt* 
liehen,  fyet  haben  w'xx  ihn  für  jtch  allein  ohne  biefe  23e* 
3iehung  3ur  ZTioral«  Die  Störungen,  beren  rt>ir  foeben  ge* 
bachten,  fallen  nicht  unter  ben  (Sejtchtspunft  bes  Unmoralifchen, 
fonbern  unter  ben  bes  (ßefeüfchaftsrtubrigen,  b.  h*  fte  ^nt* 
halten  lebiglich  Derjlöße  gegen  ben  2lnftanb  [421]  unb  3tr>ar 
ben  öffentlichen,  fie  gehören  unter  bie  oben  (5.  507)  fon* 
ftatierte  Kategorie  bes  öffentlich  2Inftöjjigem  Unter  Umjlänben 
fann  fyet  fogar  bas  €infchreiten  ber  poÜ3ei  am  plafee  fein; 
bas  publifum  l\at  einen  2lnfpruch  barauf,  ba§  ihm  ber  «gtoeef 
bes  gufammenfeins  nicht  burch  Hücfftchtslofigfeiten  ein3 einer 
3nbir>ibuen  vereitelt  roerbe. 


ben  öffentlichen  2Inftanb,  b*  u  burd?  bie  Hücfftcht  auf  bas  gefamte 
publifum  (gebotenem  3n  einem  Komplimentierbüchlein  müßte  im  2ln* 
fchlug  an  bas  (Dbtge  nod?  bie  2lnfktnbsregel  pla£  finben,  baf  jemanb, 
ber  an  heftigem  Ruften  leibet,  rrne  von  prinatgefellfchaften,  fo  auch  üon 
folgen  öffentlichen  gufammenfiinften  fernbleiben  foll  —  er  Ruftet  in 
ber  Cat  auf  Koften  fetner  Umgebung  3n  einem  Zlrtifel  r»on  <£♦  d. 
Qartmann  in  ber  (Segenrcart  1882,  HM3,  fmbe  ich  bie  richtige  23e* 
merfung,  ba§  bas  Dorfpiel  bei  ber  (Drgel  in  ber  Kirche  nicr/t  b!o§  ba3tt 
biene,  bis  3um  beginne  bes  Kultus  <gett  3ur  Sammlung  3U  geträfyren, 
fonbern  gleich  bem  ITachfpiel  auch  ba3u,  bie  Unruhe  bes  Kommens  unb 
(Seyens  3U  rerbeefem 


Kapitel  IX.    Die  fötale  ITIedjam?*   Das  Sittliche. 


2.  Pas  äjiltetifdj  2lnji5ßig* 
Das  Schöne  bilbet  ein  u>ertx>oßes  ZTIotio  ber  roohltuenben 
(ßejialtung  bes  gefelligen  Perfekts,  aber  feinen  tauglichen 
(gegenftanb  für  bie  Einforderungen  bes  Unftanbes,  lefetere 
müffen  fo  3ugef dritten  fein  unb  finb  es  in  ber  £at,  bajj  auch 
Perfonen,  benen  ber  Schönheitsftnn  abgeht,  ober  benen  bie 
Littel  fehlen,  benfelben  in  ihrer  häuslichen  Einrichtung  ober 
perfönltchen  Erfcheinung  3U  betätigen,  am  Perfehr  teilnehmen 
fönnen.  2lber  pon  bem  blofc  Unfchönen,  an  bem  ber  ent- 
roicfelte  Schönheitsftnn  2lnfto§  nimmt,  unb  bas  {ich  in  feine 
Hegeln  bannen  läßt,  ift  u>ohl  3U  unterfcheiben  bas  äfthetifch 
2lnfiö§ige  im  Sinne  bes  2lnftanbes.  Basfelbe  iji  fo  befchaffen, 
ba§  es  fich  in  gan3  beftimmte  Hegeln  bringen  lägt,  bie  jeber, 
auch  berjenige,  bem  ber  Schönheitsftnn  abgeht,  befolgen  fann 
unb  foll.  Den  2lnblicf  bes  äfthetifch  2lnftö§igen  foll  uns  jeber 
nach  Kräften  3U  erfparen  fuctjen.  €ine  genauere  Betrachtung 
bes  ein3elnen,  was  biefe  Kategorie  in  ftd?  fchließt,  u>irb  beu 
Unterfchieb  bes  äfthetifch  2lnftö§igen  oom  äfthetifch  Unfchönen 
flar  machen. 

[4:22]  3ch  unterfcheibe  oier  (ßegenftänbe  unb  Perrichtungen, 
an  unb  bei  benen  basfelbe  3ur  <£rfcheinung  gelangen  fann: 
ben  menfchlichen  Körper  — :  bie  Kleibung  —  bie  Befriebigung 
£>er  leiblichen  Bebürfniffe  —  bie  Sprache. 
\>  Der  menfchliche  Körper. 

Die  Sehanblung  ber  (5ebote  ber  Sauberfeit,  Heinlichfeit, 
in  ber  Pflege  bes  Körpers  überlaffe  ich  ben  Perfaffem  ber 
Komplimentierbüchlein,  um  meine  2lufmerffamfeit  ausfchließ* 
lieh  einem  anbern  punfte  3U3uu>enben,  ber  ihrer  meines  €r* 
achtens  nietet  unroert  ift. 

<£s  finb  bie  Stäben,  ZTlängel,  Deformitäten  bes  menfeh- 
lichen  Körpers.  3h?  2lnblicf  berührt  uns  nicht  tsohltuenb, 
er  ftört  uns  in  unferem  Behagen.     IPoburch?  Sunächjt 


Das  ctftljettfdj  2lrtftö§tge*  —  Körperliche  Deformitäten.  33j 

baburcfj,  baß  er  unfer  öebauem,  UTitleiben  erregt;  unter 
biefer  Porausfefcung  fäHt  ber  €inbrucf  unter  bie  Kate* 
gorie  bes  patfyologifcfj  ^tnftöjjigen  (Ztr.  3).  €r  fann  aber 
audj  ein  ber  artiger  fein,  baj$  er  unfern  <£fel  erregt;  bann 
gehört  er  unter  unfere  erfte  Kategorie  bes  mittelbar  jtnn« 
lief}  2tnftö^tgen.  <£nblicfj  fann  er  aber  aucfj  lebiglicfj  unfer 
Sd]önt}eitsgefül}l  perlenen,  bann  fällt  er  unter  bie  porliegenbe 
Kategorie» 

21ucf|  bie  fjäßlidjfeit  berührt  uns  nici}t  gerabe  rpofyltuenb, 
aber  roir  „flogen^  uns  nicht  an  ihr,  jte  iji  nicht  anftöjjig.  Da- 
gegen an  förderlichen  Schäben,  ZTCängeln,  Deformitäten  jioßen 
roir  uns,  fie  ftören  uns  in  bem  (Befühle  bes  polten  öetjagens 
—  ein  ZTTann  ohne  Zlafe,  mit  einem  2lrm,  mit  safynlofem 
tflunb,  ein  Katjlfopf  ruft  einen  <£inbrucf  in  [423]  uns  tjerpor.: 
ben  roir  erft  überrpinben  muffen,  es  gehört  ein  längerer  Der* 
feljr  ba3U,  um  fich  bagegen  ab3uftumpfen*  tDoher  ber  Unter- 
fcfjieb?  3ch  möchte  ben  (ßegenfafc  pergleichen  mit  bem  eines 
Kupf erfticfjes ,  pon  bem  ein  StücE  abgeriffen  iji,  unb  eines 
fchlechten  fijemplars,  eines  ftumpfen  2lb3uges ;  lefcterer  führt 
uns  bas  gan3e  Bilb  bes  (Segenftanbes  por,  jener  nicht.  Das 
ffäpche  iji  ber  minber  gelungene  2lb3ug,  ber  mit  jenen 
ZHängeln  behaftete  ZTtann  bas  €femplar,  pon  bem  ein  Stücf 
abgeriffen  iji,  ober  bas  burch  einen  (Öl*  ober  CintenflecE  ent- 
ftellt  iji,  in  jenem  fommt  ber  Cypus  UTenfch,  rpie  bie  Ztatur 
ihn  einmal  gefchaffen  t|at,  pollftänbig  3ur  <£rfcheinung,  in 
biefem  nicht,  unb  über  biefen  <£inbrucf  permögen  rpir  uns 
einmal  nicht  ^inrpeg3ufefeen,  jeber  ZHoment  erinnert  uns  an 
ben  ZHangel. 

Unb  barum,  rpeil  er  uns  ilnjtoß  erregt,  foll  ber  Unglücf* 
liehe,  ber  mit  biefem  JHangel  behaftet  iji,  bie  menfchliche 
<5efetljchaft  meiben?  (ßerpijj  nicht  l  <fr  joH  nur  tun,  rpas 
in  feinen  Kräften  ftefyt,  um  anbereu  ben  peinlichen  2Inblicf 
3U  erfparen,  inbem  er  bie  £ücfe  bebecft  ober  bie  mangelnben 


552 


Kapitel  IX.   Die  fötale  med?antf*   Das  Sittliche« 


(ölieber  burdj  fünftlidje  erfefet  IDas  bie  Xtatur  serfagt  ober 
genommen  Ijat,  vermag  bte  Kunft,  toemt  fte  eine  geioiffe  Stufe 
erreicht  fyat,  3U  erfefeen*  Die  (ßefdjicflidjfeit  bes  5*ifeurs  be* 
beeft  bie  (ßlafee  mit  £}aaren,  bie  bes  §afytar3tes  füllt  bie 
galjnlücfen  aus,  bie  bes  Banbagiften  liefert  einen  fefylenben 
2trm,  ein  fefylenbes  Bein.  2Ittes  bas  ftnb  tr>ertr>oIIe  f}ilfs* 
leiftungen  im  Dienfte  bes  21nftanbes*  Ulan  pflegt  berartige 
ZTadjbilbungen  [424]  sielf  ad}  als  falfcfy  3U  be3eid?nen,  gleich 
als  ob  es  babei  auf  eine  €nt fiellung  ber  IDatjrfyeit,  eine 
unlautere  Cäufdjung  abgefefyen  roäre  —  man  fönnte  ebenfo* 
gut  ben  Kleibern  ben  Porumrf  ber  5aIfd?I|eit  machen,  ba  fte 
ben  menfcfylidjen  Körper  perfyütlen.  Der  richtige  TXame  ifr 
ntdjt  falf<ä?f  fonbem  fünfilidj.  2TCag  audj  bas  fubjeftioe  iTTotir», 
bas  in  berartigen  5äQen  bie  Kunft  3U  ^ilfe  ruft,  t>ielf  ad] 
nidjt  bie  HücEftd]t  auf  anbere:  bas  2InftanbsgefüfyI,  fonbern 
bie  auf  ftd?  f elber:  bie  ©telfeit  fein,  jebenfaüs  Ijaben  tt>ir 
alle  Urfadje  ber  (Eitelfeit  banfbar  3U  fein,  es  gilt  tjier  ber  Safe: 

„tDenn  bie  Hofe  felbft  fid?  fcfynücft, 

ScfymücFt  fte  audf  ben  (Sarten." 
Das  fubjeftipe  ZHotit>  arbeitet  l|ier  wie  fo  oft  im  Dienfle  bes 
objef tisen  «gtoeefs ;  freuen  tr>ir  uns,  baß  es  in  ber  ZHenf djen* 
roelt  ber  ZKotise  piele  gibt,  bie  ftdj  ben  gioecfen  ber  (gefeilt 
fdjaft  förberltd?  erroeifen  —  es  ftnb  bie  Stränge,  mittels 
benen  es  ben  giefyenben  gelingt,  ben  IDagen  aus  ber  Stelle 
$u  fdjaffen. 

2.  Die  Kleibung, 

2d\  fütjre  fte  nur  ber  DoHftänbigfeit  roegen  auf,  ofyte 
weitere  Bemerfungen,  bie  Ijier  feljr  überflüfftg  tsären,  liin^n* 
3ufügen, 

3.  Dieöefriebigung  ber  leiblidjen23ebürfniffe. 
Die  ftmtlicfy  bebürftige  Ztatur  bes  UTenfdjen  fyat  3U  einer 

ZTtenge  von  2lnftanbsregefn  21nlaß  gegeben,  tpekfye  [425] 
fämtlidj  bie  ^ernljaltung  bes  äftljetifd}  21nftögigen  3um  <§tt>ecfe 


Das  äftfjetifd?  2lnftö§tge>  —  (Effen  unb  (Ermfen* 


333 


haben.  VO'vc  fyaben  3toet  Klaffen  berfelben  3U  unterfcheiben. 
T>ie  einen  ftnb  negativer  21rt,  fie  ftnb  abfolute  pro^ibttir>* 
gefefee,  welche  bie  Sefriebigung  getoiffer  23ebürfniffe  in  <ßegen« 
tsart  anberer  ausnahmslos  unterfagen,  Die  anbeten  ftnb 
pofitiper  21rt,  fie  3eichnen  für  biejenigen  öebürfniffe,  welche 
auch  in  (ßegewoart  anberer  befriebigt  werben  bürfen  (bie 
gefeßfcfjaf Hieben  im  (Begenfafe  jener  ungefellfchaftlichen),  eine 
beftimmte  5orm  ber  23efriebigung  vov.  JEjeroor^ebung  per* 
t>ient  l|ier  nur  bie  23efriebigung  bes  Sebürfniffes  nach  leib* 
lieber  itaB|rung:  bas  €ffen  unb  Crinfen,  unb  ihm  will  ich 
im  folgenben  eine  eingetjenbe  Betrachtung  wibmen*). 

Bei  feinem  Bebürfnis  liegt  bie  5orm,  welche  bie  Sitte 
für  bie  Sefriebigung  besfelben  porge3eid?net  iiat,  fo  weit  ab 
von  ber  2lrt  unb  IDeife,  wie  fie  beim  Cier  erfolgt,  als  bei 
biefem.  3n  nichts  liebt  ftch  ber  ZHenfch  mit  feiner  [426] 
finnlich  bebürftigen  Seite  fo  fefyr  t>om  Cier  ab,  als  im  <£ffen 
unb  Crinfen,  nicht  bloß  in  bem,  was, .  fonbern  auch  in  ber 
2lrt,  wie  er  igt  unb  trinft,  Vem  Zfienfchen  ift  t>on  ber  Ztatur 
burch  feine  überlegene  3ntelligen3  bie  2TJögltchfeit  gewähr 
einen  (Trieb,  ber  3unächft  nur  bem  gweefe  ber  (Ernährung 
bient,  3U  einer  Quelle  reiben  (ßenuffes  für  ftch  3u  gehalten, 
unb  er  li<\t  bekanntlich  bas  Seinige  reblich  getan,  um  biefe 


*)  3dj  voxü  jebodj  nidjt  unterlaffen,  bie  2Iufmer?famfeit  bes  £efers 
auf  bas  (Eafcfyentudj  3U  lenfen»  Die  23ebeutung  besfelben  für  bie  fern- 
Haltung  bes  äfthettfdj  2lnftö§tgen  brauche  id?  nidjt  flar  3U  machen*  Was 
hat  bev  IHenfd?  gemacht,  bevor  bas  Cafchentua}  eingeführt  tporben  ift? 
3dj  l^abe  irgeubtso  bie  Behauptung  gefnnben,  baß  ber  gefunbe  Hlenfch, 
tnsbefonbere  in  füblia^en  (Segenben,  tpeld?e  ihn  ma?t  mit  Sdmupfen 
hetmfudjen,  bes  (Eafdjentuchs  gar  nidjt  bebürfe*  ilber  in  fübltdjen 
(Segenbett  hat  bie  Hatur  ihn  um  fo  reiflicher  mit  Sa?n>et§  bebaut  — 
ift  bas  Cafchentud?  hier  weniger  nötig?  Die  Homer  fanntett  bas  Cafd^en* 
tud?  fd?on  am  (Hube  ber  Hepubltf4,  ber  ältefte  Harne  n>ar  sudarium 
(Schmetgtuo),  sudor),  \>arxn  famen  rerfd]tebene  aubere  auf,  3*  23*  orarium, 
facitergium  ((Sefid^tstuch,  os,  facies),  mucinium  (Schleimtucb, ,  mueus),  f» 
HTarquarbt,  Das  römtfdje  Privatleben  II,  5^69»   £etp3tg  \882. 


534        Kapitel  IX.   Die  feciale  HTedjcmif.    Das  Stttltdje. 

ITCögltchfett  aus3unufcen.  Der  ZHenfch  h<**  fich  ber  5*eube, 
Sie  er  am  <£ffen  unb  Crinfen  empftnbet,  fotoenig  3U  fchämen, 
ba§  er  fich  ber  Cafelfreuben  im  (Segenteil  als  eines  eigen* 
lümttch  menfchltchen  Por^uges  t>or  Sern  Ciere  rühmen  barf. 
Don  jeher  I^aben  fie  ihm  als  2lusbru<f  unb  Verherrlichung 
aller  21nläffe  häuslicher,  genoffenfdjaftlicher  unb  öffentlicher 
^reube  gebient,  fein  ^cftf  leine  5eierlichfeit,  feine  <£fyren* 
beseugung,  fein  öffentlicher  2hisbrucE  ber  (Semeinfamfett  ohne 
ein  folennes  2TcaI^L  Selbft  ben  (ßöttem  roarb  im  (Dpfer  ein 
ZHahl  aufgerichtet,  um  auch  jte  ber  Cafelfreuben  teilhaftig 
3u  machen,  auch  fie  müffen,  um  fich  3u  freuen,  effen  unb 
trtnfen.  3n  biefem  Sinne  fann  man  bas  gemeinfame  €ffen 
unb  Crinfen  gerabe3u  als  eine  feciale  3nfiitution  he$e\dinen. 
Von  manchen  ehemals  bebeutungssollen  genoffenfchaftlid]en 
Derbänben  ift  als  Caput  mortuum  vergangener  ^errlichfeit 
oft  nichts  als  bas  gemeinfame  5efteffen  übrig  geblieben*). 

[427]  3m  folgenben  foH  ber  Xladivoeis  erbracht  roerben, 
u?ie  bie  moberne  5itte  bie  formen  bes  (Effens  unb  Crinfens 
äfthetifch  gehaltet  h<*t.  <£s  iji  ein  Stüd  ber  auf  bie  (Er^ielung 
bes  »ollen  (ßenuffes  ber  Cafelfreuben  gerichteten  Sfthetif 
bes  <£ffens  unb  Crinfens,  bas  ich  bem  Cefer  vorzuführen 
gebenfe.  freilich  ein  bürftiges  Stücf  Sfthetif,  bas  felbfi  hinter 
bem  jenigen,  bas  beim  gaftlichen  XHahle  bem  (ßefchmaef  unb 
Kunftjtnn  ber  Hausfrauen,  Koche,  Cafelbecfer  3ufäHt,  3urücf« 
bleibt,  aber  boch  bas  erfte  unb  unerläßliche  —  fein  Hetchtum 
ber  Cafel,  feine  Kunfi  ber  Jlusfchmücfung  vermag  ben  ZHangel 
besfelben  3U  erfefcen« 


*)  So  3.  bie  <§unfteffen  in  mannen  (Segenben  ber  5d?r>et3  unb 
Deutfcfylanbs*  Die  gugefyörigfeit  3U  ben  englifd?en  >Inns<  nnrb  burd? 
CCetlnafyme  am  gemeinfamen  ^efteffen  bofumentiert,  fte  gilt  als  prae- 
sumtio  juris  et  de  jure  ber  Betreibung  bes  Kedjtsjtubinms  —  eine  21rt 
ber  Beweisführung,  bie  ftcfy  and?  bei  uns  manage  Bed?tsjrubicren>e  gewiß 
gern  gefallen  Iaffen  mürben. 


Das  SjHiettfdj  2Jnftö§tge,  — 


(Effert  unb  drittfem 


335 


Unfer  Mnterfucfyungsobjeft  hüben  bte  2tnftanbsregetn, 
rt>eld?e  ben  «gtsecf  ^aben,  bas  äftljetifd?  21nftößige  beim  (Effert 
unb  Crinfen  ferrt3u^altert.  Ein  tounberltdjes  ©bjeft  für  eine 
tmffenfdjaftlidje  Untersuchung!  Der  (Erfolg  muß  barüber  ent* 
fd]eiben,  ob  es  berfelben  roürbig  wat. 

Das  Cier  frißt,  fäuft,  ber  ZHenfd?  ißt,  trinff.  XDatnm 
befonbere  21usbrücfe  für  ben  2ftenfd?en?  Bei  faß  aßen  anbeverx 
leiblichen  Verrichtungen  bebient  fiel}  bie  Sprache  für  ben 
ZlTenfd}en  berfelben  21usbrüdfe  rt>ie  für  bas  ©er:  beibe  liegen, 
fdjtafen,  rur^en,  flehen ,  gerben,  laufen,  fd]tr>tmmen,  fallen, 
atmen,  fdjtx>it$en  ufux,  toarum  alfo  tjier  befonbere  Jtusbrücfe? 
IDeil  bie  Sprache  [428]  richtig  erfannt  hat,  baß  es  pdf  hier 
um  einen  Vorgang  fyanbett,  ber  burdj  bie  21rt,  tme  er  ge* 
fcfyieljt  ober  roenigftens  gefchefyen  foH,  roie  fein  anberer  ben 
ZlTenfchen  t>om  Cier  abgebt  (Es  ifi  alfo  feine  bloße  Per* 
fchiebenfyeit  bes  21usbrucfs,  für  bie  toir  nur  bie  Courtoifte 
ber  Spraye  in  Besug  nehmen  fönnten,  tseldje  es  in  biefer 
Bestellung  an  Seifpieten  nicht  fehlen  läßt  (5.  23.  bas  „(gerufen" 
ber  Souveräne),  fonbern  es  ifi  eine  Derfdjiebenfyeit  ber  Sache 
f elber,  welche  bie  Sprache  f|ier  3um  2tusbrucf  bringt  —  mit 
jenen  beiben  2lusbrücfen  rücft  fie  bie  obigen  Vorgänge  aus 
ber  Sphäre  bes  Cierifchen  in  bie  bes  XlTenfchüchen. 

Damit  ift  ber  entfcheibenbe  (Sefichtspunft  namhaft  gemalt, 
welcher  it>ie  ber  Sprache  bei  ber  Öe3eichnung  biefer  21fte,  fo 
ber  Sitte  bei  ber  2tuffieHung  ber  21nftanbsregeln  für  bie  5orm 
ihrer  Dornahme  t>orgefd]rt?ebt  fyat,  es  ift  bie  ^ernhaltung 
alles  Cierifchen. 

tDorin  liegt  bas  ©erifcfye  bei  ihnen?  Die  23eanttt>ortung 
biefer  frage  voxvb  bie  ein3elnen  punfte  barlegen,  an  benen 
bie  ilnjlanbsgefefee  anfefeen.    Es  finb  folgenbe. 

Das  erjte  ZHerfmal  bes  Genf d\en  liegt  in  ber  (Sier  unb 
fjafl,  mit  ber  bas  hungrige  unb  burftige  Cier  ftdi  über  ben 
Stoff  Ijerfiür3t.    Diefelbe  führt  uns  in  ihm  bie  untoiberftefy 


336        Kapitel  IX.   Die  fatale  ITCecfyantL   Das  Sittliche* 

üdie  (Sewalt  bes  Naturtriebes ,  bas  rotje  Walten  ber  fmn< 
liefen  Hatur  vov  2lugen,  unb  bas  ift  ein  2lnblicf,  ber  uns 
beim  UTenfdjen  antr>ibert;  voit  »erlangen  von  ifym,  baß  er 
aud]  ba,  voo  er  ber  Natur  feinen  Cribut  entrichtet,  [429] 
feine  menfd}lid}e  IDürbe,  bie  tn  ber  Freiheit  bes  IDiHens 
gelegen  ift,  behaupte,  es  foH  ben  2lnfd?ein  gewinnen,  als  ob 
nicht  bie  Natur,  fonbern  fein  eigner  freier  IDille  ihm  ben 
2tft  biftierte,  bas  €ffen  unb  Crinfen  bei  ihm  foll  nicht  ben 
(E^arafter  eines  Naturpro3effes,  fonbern  eines  IDiHensaftes 
an  fich  tragen,  2Juf  jenes  3ielt  bas  „^reffen,  Schlingen, 
Saufen"  beim  Cier,  auf  biefes  bas  „fiffen,  Crinfen"  beim 
ZTEenfchen*  2)er  (ßrunb  biefer  5orberung  iji  aHerbings  nicht 
äfthetifcher,  fonbern  etfyfcher  2trt;  aber  bie  5orm,  in  ber  bie* 
felbe  3ur  £>  erwirf  lidjung  gelangen  foH,  fällt  als  5orm  nicht 
ber  ZHoral,  fonbern  ber  Sitte,  bem  2Inftanbe  anheim  —  wer 
gierig  unb  Ijaftig  ißt,  begebt  bamit  nichts  Unmoralifches, 
fonbern  x>erftößt  nur  gegen  ben  2lnftanb.  2tber  auch  nur  bie 
5orm  bes  (Effens  unb  Crinfens  fällt  unter  bie  £>orfd?riften 
bes  2tnfianbes,  nicht  bas  2ftaß,  bie  3nnehaltung  bes  lefcteren 
ift  ein  (Sebot  ber  Utoral.  Beibe  perhalten  fich  völlig  felb* 
ftänbig  gegeneinanber,  ber  Unmäßige,  ber  bas  (Sebot  ber 
ZHoral  übertritt,  fann  babei  bie  5orm  forgfam  beobachten, 
der  Mäßige,  ber  es  befolgt,  fann  burch  bie  2Irt,  wie  er  ißt, 
bie  $otm  fehr  »erleben. 

<£in  3toeites  ZHerfmal  ber  Cierifchen  befteht  in  ber  Kon* 
tinuität  bes  Elftes  beim  Cier  im  (Segenfafe  3U  ben  paufen, 
t>ie  ber  ZHenfch  (worunter  I|ier  ftets  ber  Ulenfch,  wie  er  ben 
(Befe&en  bes  Unftanbes  3ufoIge  fein  foll,  serftanben  wirb) 
babei  macht  Das  Cier  unterbricht  fich  nicht,  es  hört,  wenn 
es  nicht  geftört  wirb,  mit  bem  €ffen  [430]  unb  Crinfen  erfl 
bann  auf,  wenn  ber  Naturpro3eß  t>öHig  abgefpielt  f^at,  nur 
feine  (Sier  minbert  fich  allmählich*  2>er  Xflenfch  bagegen  unter* 
bricht  fich  beim  €ffen  unb  wür3t  basfelbe  burch  Unterhaltung. 


<Eierifd?es  unb  menfcfyltcfyes  €ffett  uttb  Crmfen 


337 


Damit  fonftatiert  er,  baß  es  ihm  nicht  bloß  um  Sefriebigung 
bes  tierifdjen  23ebürfniffes  311  tun  iji,  baß  vielmehr  auch  ber 
(Seift  feinen  2tnteil  bar  an  fyat  paufen  beim  <£ffen  enthalten 
baher  eins  jener  ZHittel,  woburch  ber  ZHenj'c^  bem  Dorgange 
ben  C^arafter  bes  echt  UTenfchlichen  aufprägt  Die  unfrei* 
billigen  paufen,  welche  burch  bas  fuf3efftoe  firfcheinen  ber 
Speifen  beim  reicheren  ZHahle  bebingt  pnb  ((Sänge),  fommen, 
wenn  fie  auch  nicht  burch  bas  ^ntete\\e,  bie  Unterhaltung  3U 
förbern,  fyiftorifcfy  I^erporgerufen  worben  finb,  bodf  bemfelben 
tatfächlich  3ugute  —  wären  fie  nicht  fonft  nötig,  fo  müßte  man 
jte  aus  bem  (Srunbe  einführen,  fie  bilben  ein  wertvolles  Kom« 
plement  ber  Cafelfreuben.  So  fann  man  alfo  felbft  bie  ^>eit« 
bauer,  wekhe  ber  Zfienfch  bem  ZHaf^Ie  wibmet,  ba  jte  in 
geiftigen  3ntereffen  ihren  (Srunb  {\at,  als  ein  unterfdjeibenbes 
Znerfmal  bes  menfchltchen  unb  bes  tierifdjen  (Effens  be3eichnen. 
Die  Sprache  h<*t  biefes  charafteriftifche  JHoment  treffenb  betont, 
inbem  fie  nur  bei  jenem  von  einer  Ulahl'3eit  fpridjt  (worunter 
urfprünglich  bas  gemeinfame  Ulahl  perftanben  warb,  bei  bem 
allein  eine  Unterhaltung  möglich  ift);  bas  Cier  fennt  feine 
2TCahl3eit,  b.  h«  es  beanfprucht  für  ben  2lft  feine  längere  «geit, 
als  burchaus  nötig  ift,  um  ben  junger  unb  ben  Dürft  3U 
ftillen.  Der  ZHenfch  bagegen,  wenn  er  mit  mehreren  3u* 
fammen  [431]  ißt,  „läßt  fich  <§eit"  beim  <£ffen,  wie  bie  Spraye 
wieberum  fo  treffenb  fagt,  er  will  babei  „feine  gett  h<*ben", 
b.  h-  »erlangt  mehr  bafür,  als  burch  ben  phYftf^n  Vor- 
gang geboten  wäre»  Diefes  plus  ber  3eitf  welches  eben 
ber  2lusbrucf  Utahl3eit  betont,  fommt  auf  Hechnung  feiner 
ZHenfchennatur. 

Drittens.  Das  Cier  liegt  ober  fteht  bei  bem  Jlfte,  wenig- 
stens bilbet  bies  bie  Hegel  —  ber  2lffe  bewährt  auch  barin  feine 
Übereinftimmung  mit  bem  Ulenfdjen,  baß  er  jtfeen  fann,  aber 
3um  Stuhl  unb  Cifche  l\at  auch  er  es  nid}t  gebracht — ber  Uüenfch 
fet$t  fleh  3um  ZTCahle,  bas  £iegen  gilt  für  unanftänbig  (f.  u.). 

p.  3t|«ring/  Per  ^toecf  im  Hed?t.  II.  22 


558        Kapitel  IX.   Die  fatale  HTedjamf*   Das  Sittliche. 


Viertens.  2)as  Cier  ijl  bei  ber  Verrichtung  bes  2lftcs 
auf  bie  thm  von  ber  Zlatut  verliehenen  £t>erf3euge  ange* 
liefen,  ber  XHenfch,  3a  beffen  unterfdjeibenben  ZHerfmalen 
pom  Ciere  befanntlich  bie  €rfinbung  unb  ber  (gebrauch  fünft« 
licher  2X>erf3euge  gebort,  ift  auch  B^tcr  ber  XTatur  burd?  bie 
Kunjl  3u  Ejilfe  gekommen,  Das  urfprüngliche  ZHotto,  bas 
ihn  3ur  Anfertigung  ber  3ur  Pomahme  bes  2tftes  bienlichen 
fünftlichen  IDer^euge  veranlagte,  u>ar  praftifdjer,  nicht  äfthe* 
tifcher  2lrt:  bie  Hot,  bas  Bebürfnis,  nicht  ber  2lnfianb,  bie 
Heinlicfyfeit.  Unter  ben  x>erfchiebenen  (geraten,  bie  u>ir  t^eut- 
3utage  auf  unferen  Cif chen  finben,  iji  bas  ZlTeffer  (in  ber 
Hr3eit  ber  gefchärfte  Stein  —  fo  bei  ben  älteften  ©pfern) 
bas  erfte  getoefen,  welches  bas  Sicht  ber  Welt  erblicft  hat. 
Seine  23eftimmung  war  nicht  fowohl  bie,  bas  5Ieifd]  3U  3er* 
teilen,  [432]  als  3U  r>er»teilen,  nur  ber  fyausvatex  führte  bas 
2T?effer,  nicht  bie  (ßäfte,  fie  bebienten  jtd)  berfelben  Schneibe* 
xt>erf3euge  wie  bas  ©er:  ber  §al\ne.  3n  tx>eld\ev  (Drbnung 
bie  übrigen  ihm  gefolgt  finb,  bas  3U  unterfudjen  ift  Sache 
bes  Kultur^iftorifers;  aber  lange  geit  h<*t  es  gefoftet,  bis 
ber  llppaxat,  ben  wir  i|eut3utage  als  unerläßliches  (Erforbernis 
felbft  bes  gewöhnlichen  bürgerlichen  Cifdjes  betrachten,  unb 
beffen  in  früherer  &ext  felbji  bie  Cafel  ber  Konige  unb 
(Srogen  entbehrte*),  3uf  ammengebracht  war.  3d]  werbe  ihn 
unten  3um  (Segenftanbe  einer  befonberen  Betrachtung  machen, 
ba  er  mir  Gelegenheit  gibt,  einen  gan3  intereffanten  «ßeftchts« 
punft  an  ihm  nad^uweifen.  2)as  3ntereffe,  bas  er  an  ber 
gegenwärtigen  Stelle  für  mich  ^at ,  erfchöpft  pd)  mit  ber 


*)  3n  einer  an  bie  (Dfffytere  gerichteten  ^oftafelorbtmttg,  ans  bem 
fieb3e^nten  3a  Wunbert  fftxbet  fid?  nodj  bie  BefKmmmtg,  ba§  fie  ifyre 
^änbe  ntdjt  an  ben  Kleibern  ihrer  (Ofdjnad? darinnen  abtroefnen  foüen; 
Sermetten  fannte  man  alfo  barrtals  nod?  ntdjt  Den  Hörnern  u>aren 
fie  ebenfo  tme  bie  (üfdjtücfcer  bereits  befannt,  XTCarquarbt  a.  a.  (D. 
5.  303  ff v  $69* 


Das  äftljetlfd}  2lnftößtge*  —  Schein  ber  Ittägtgfeit.  339 


Semerfung,  ba§,  tpeldje  ZlTotipe  immerhin  auch  unfere  gütige 
3tusftattung  bes  Cif  d>es  3MPege  gebracht  fyaben,  bas  Dor* 
hanbenfein  berfelben  unb  ber  jebem  3U  feinem  befonberen  (ge- 
brauch übertpiefenen  (ßeräte  ein  unumgängliches  €rforbemis 
bes  2lnftcmi>es  bilbet,  man  bebient  fich  ihrer  nicht  feiner 
felbft  tpegen,  bas  l|et§t  aus  bloßen  gtpedmäßigfeitsrücfftchten 
—  bann  fönnte  man  es  bamit  galten,  tpie  man  tpollte  — 
fonbern  ber  anbeten  *pegen,  aus  Hücfjtcfyten  bes  2tnftanbes, 
um  [433]  ihnen  einen  äfthetifch  tpibertpärtigen  2lnblidf  3U  er» 
fparen.    Der  ZHenfch  t^ebt  fleh  auch  baburch  Pom  Cier  ab. 

2lIfo  5ernhaltung  alles  beffen,  roas  beim  <£ffen  unb  Crinfen 
an  bas  ©er  erinnern  fann,  ift  ber  erfle  (Sejkhtspunft,  ben 
roir  getponnen  I^aben. 

Der  3tt>eite  (ßeftchtspunft  ijt  ber  ber  UerhüHung  bes 
Scheines  ber  Unmäßigfeit,  Des  Scheines  —  nicht  ber 
Unmäßigfeit  f elber? 

ZUenn  rpir  aufrichtig  fein  »ollen,  fo  muffen  wir  gefielen, 
ba§  bas  Übermaß  ben  erflärten  gwed  aller  Cafelfreuben 
bilbet,  fie  l|aben  bie  öeftimmung,  uns  3U  Perioden,  bas  pon 
ber  Ztatur  burch  ben  gtped  ber  (Ernährung  Porge3eidjnete 
ZHaß  3U  überfchreiten,  fie  fefeen  an  bie  Stelle  biefes  gtpetfes 
ben  bes  (Senuffes,  ber  nicht  bloß  qualitatip,  fonbern  auch 
quantitatip  höhere  2lnfprüche  ergebt,  als  jener.  Wenn  burch 
einen  gauberftab  bie  Speifen  unb  lüeine  eines  opulenten 
XÜal\Us  in  IDaffer  unb  23rot  pertpanbelt,  ober  tpenn  rpir  im 
täglichen  Ceben  auf  (Sefangenenfoft  gefefet  roürben,  tpie  tpenig 
roürben  roir  3U  uns  nehmen!  3n  biefem  5inne  entölt  bas 
ZTienü  einer  jeben  reich  befefeten  Cafel  ein  Programm  ber 
Unmäßigfeit.  2lber  bie  Sitte  hat  es  perftanben,  ber  Sache 
eine  (ßeftalt  3U  geben,  bei  ber  bas  2lnftößige  ber  Unmäßig- 
feit  permieben  toirb,  inbem  fie  biefelbe  äußerlich  mit  bem  <5e« 
tpanbe  ber  ZHäßigfeit  befleibet.  <£in  Pergleich  unferer  heutigen 
tt^eife  mit  berjeuigen  früherer  Seiten  tpirb  bies  flarftcüen. 

22* 


3^0         Kapitel  IX.   Die  fatale  ITCedjantf.   Das  Sittliche» 

[434]  2lus  unferen  mobemen  flehten  (Släfem  fönnen  voxx 
Ijeut3utage  nic^t  tsentger  trinfen,  als  unfere  JUtoorbern  aus 
iljren  mächtigen  pumpen  unb  pofalen,  facfylidj  l\at  alfo  bie 
Derbrängung  ber  leiteten  burdj  erftere  ber  Unmäßtgfeit  im 
Crinfen  nidjt  gefteuert.  2lber  ber  '5orm  nad},  alfo  in  äjii>e* 
ttfdjer  23e3iefyung  enthält  fte  einen  3tr>eifellofen  5ortfd)ritt.  Der 
pumpen  ift  bas  Symbol,  bas  Programm  ber  Unmäßigfeit, 
bas  (Sias,  bas  ber  XlTäßigfeit,  jener  ruft  fcfyon  burefy  feine 
äußere  <£rfd?einung  bie  DorfteHung  ber  XtTafJenljaftigfeit  bes 
5toffes  Ijert>or,  auf  beffen  23en>ältigung  es  abgefeljen  ift, 
biefes  burdj  feine  Kleinheit  bie  bes  befdjeibenen  Quantums, 
mit  bem  man  jtd)  su  begnügen  gebenft,  es  belägt  uns  in  ber 
3öufton  ber  2ftäßtgfeit,  es  »errät  ja  nicfyt,  tt>ie  oft  es  gefüllt 
\%  es  3äfylt,  es  plaubert  ntdjt. 

€in  ähnlicher  (Segenfafe  u>altet  3tsifcf?en  ber  früheren  unb 
ber  heutigen  IDeife  in  be3ug  auf  bas  €ffen  ob.  <£s  gab 
eine  geit,  too  bie  (Seridtfe  beim  feftlicfyen  ZlTaljle  in  einer 
ZTfaffenljaftigfeit  aufrüsten,  baß  bie  €ifd?e  3U  brechen  brotjten. 
2tudf  in  ber  bamaltgen  geit  tannte  man  allerbings  bereits 
bie  (Einrichtung  bes  fuf^effipen  (Erfdjeinens  ber  (Sericfyte 
((Sänge),  toie  fie  bei  einem  reichen  ZlTatjle  \d\on  burdj  bie 
Hücfjtd]ten  ber  Küdje  unb  bes  J^erbes  geboten  iji,  aber  t>on 
unferen  heutigen  (Sängen  unterfdjeiben  jtc^  bie  bamaligeu 
ebenfo  toie  ein  fdjtserbelabener  Caftoagen  von  einem  Ka* 
briolett,  jeber  ein3elne  (Sang  toar  roudjtig,  maffenfyaft,  bie 
Cafel  mußte  ftets  gan3  gefüllt  [435]  fein*),  tyr  bloßer  2lnblicf 


*)  q5u  &etn  5W&*  *ru3  man  (Sendete,  bie  erß  fpäter  in  Eingriff 
genommen  werben  feilten,  fdjon  beim  beginne  bes  ITCafyles  auf,  unb 
erfefcte  biejenigen,  tt>eld?e  3una'd?fl:  an  bie  Hetye  famen,  bard?  neue,  fo 
baß  bie  Cafel  flets  üoflftänbtg  befefet  u>ar*  3$  fyabe  biefe  Hofy  aus 
einem  „Crancfyierbü allein"  (S,  261  Hote)  entnommen,  in  bem  neben  ber 
Anleitung  3um  Crandjieren  auefy  bie  jnr  gehörigen  2luffteüurtg  ber 
Speifen  erteilt  xvixb. 


Das  äfifjetifdj  21nf*ößtge*  —  Schein  ber  HldgigFett  3^ 

allein  fdjon  mußte  ben  (Säften  bic  öerufygung  geroäfyren, 
baß  es  audj  bem  e^efftoften  2tppetit  an  nichts  fehlen  toerbe, 
ein  Seitenjlücf  3um  pumpen,  ber  bem  Durfte  biefelbe  21usftdit 
eröffnete!  2llfo  abermals  bas  offen  serfünbete  Programm 
ber  Unmäßigfeit. 

fiben  bas  aber  ift  es,  tt>oran  unfer  heutiges  (ßefütjl  2tn* 
floß  nimmt,  n?ir  verlangen,  baß  tsenigftens  ber  äußere  Schein 
getoafyrt  toerbe.  3)iefen  Dienft  leiftet  uns  bie  heutige  <5e- 
ftaltung  ber  (Einrichtung  ber  (ßänge  beim  ZITafyle.  Diefelben 
machen  als  fotdje  nie  ben  <£inbrucf  bes  Hlaffenfyaften,  Über* 
Iabenen,  an  ben  ftdj  einmal  untDiUfürlic^  bie  Dorfteüung  ber 
Unmäßigfeit  fnüpft,  jte  fähren  toie  bas  (Sias  bas  Quantum 
fu^effto  in  fleinen  Dofen  herbei  unb  fyinterlaffen  ebenfotr>enig 
roie  lefcteres  eine  fidjtbare  Spur,  bie  3ßufion  ber  ZlTäßigfeit 
roirb  burd}  fte  in  feinem  ZHomente  geftört,  inbem  bem  21uge 
ber  21nblicf  bes  ZHaffenfyaften  erfpart  bleibt. 

(£in  britter  punft,  an  bem  berfelbe  <5runb3ug  unferer 
heutigen  Sitte:  bie  2tbu>et|r  bes  äußeren  Scheines  ber  Un* 
mäßigfeit  fidj  tx>ieberIjolt,  ift  bas  Sifeen  beim  ZHafyle.  Dom 
äftfyetifdjen  Stanbpunft  aus  betrautet  läßt  jtdj  gegen  bas 
Ciegen  foroenig  einroenben,  baß  man  es  im  [436]  <5egenteil 
für  malerifd]  fcfyöner  erflären  muß,  ba  es  bem  menfdjlidien 
Körper  (SelegenBjeit  gibt,  feine  (Seftalt  unb  Scfyöntjeit  in  ben 
t>erfcfyiebenften  Cagen  3ur  (5eltung  3U  bringen,  roätjrenb  bas 
Sifeen  bei  Cifdje  nur  ben  ©berförper  ftdjtbar  toerben  läßt 
unb  ber  Setoegung  besfelben  eng  gemeffene  (5ren3en  fefet  — 
in  malerifdjer  23e3iel)ung  toürbe  ein  griedjifcfyes  Sympoflum 
bas  21benbmal|l  t>on  Ceonarbo  ba  Dinci  fcfylagen.  XDarum 
liegen  roir  ljeut3utage  uidjt  mefyr  bei  Cifd)  nad\  ber  IDeife 
ber  (griecfyen  unb  Horner?  Weil  bas  £iegen  3ut>iel  Haum 
roegnimmt?  2lber  aud]  u>o  uns  ber  Haum  3U  (ßebote  fielen 
toürbe,  r>erftatten  toir  es  uns  nid]t,  ber  Jlnjtanb  unterfagt  es. 
XDarum?  IPeil  bas  liegen  ben  £inbrucf  ber  33equemlid]feit 


3^2        Kapitel  IX.   Die  faiale  XlTedjaniF.   Das  Sittliche. 

madjt?  (Eine  öequemlidtfeit,  bie  uns  in  bem,  was  wir  3U 
©errichten  traben,  nicfyt  fynbert,  tji  nidjt  t>erwerflidf,  unb  bei 
Cifdje  wünfdjen  unb  wollen  totr  bie  33equemlid}feit,  benn  bas 
ZHafyl  foH  uns  nidjt  blojj  3um  <£ffen,  fonbern  3ugleidj  3um 
Jlusrutjen  unb  3ur  (Erholung  bienen,  fonft  würben  wir  es 
ftefyenb  perridjten,  unb  fdjleditljin  ift  bas  Siegen  ja  aud)  nidjt 
verpönt,  3.  23.  nidjt  im  freien  bei  einer  Canbpartie.  IDarum 
alfo  im  ^aufe?  2ludj  t^ier  gibt  bie  Spraye  uns  bie  ge* 
wünfd>te  Jlusfunft.  Sie  be3eidjnet  ein  2Tfal}l,  bas  in  DöHerei 
ausartet,  einerlei,  ob  man  babei  ftfct  ober  liegt,  als  (Belage, 
wäbrenb  fie  ben  2lusbrutf  für  bas  folenne  2Tfat|I,  bas  ftei? 
innerhalb  ber  Scfyranfen  bes  2tnftanbes  bewegt,  bem  Sifeen 
entlehnt  (Banfett  x>on  ber  Sanf,  auf  ber  man  [437]  ftfet, 
f.  u.),  bas  Siegen  gilt  ifyr  mithin  als  Jtusbrucf  ber  Unmäßig» 
feit.  Zlidtt  alfo  bie  öequemlidjfeit  als  folcfye  ift  es,  welche 
jte  mißbilligt,  fonbern  bie  ^equemlidtfeit,  welche  ben  &wed 
Ijat,  ber  Unmäßigfeit  3U  bienen.  Qat  jte  unrecht,  wenn  fie 
bem  Siegen  biefen  gweef  unterfdjiebt?  2)ie  (ßefdjidjte  erteilt 
bie  Antwort  barauf:  bie  altrömifdje  Sitte  bes  Sifeens  bei 
Cifdje  würbe  mit  ber  bes  Siegens  erft  bann  sertaufdjt,  als 
bie  Völlerei  in  Horn  überfyanbnatjm  (S.  3\9f0»  2>a5  Siegen 
ift  eine  urfprünglidj  orientalifdje  Sitte,  bie  im  (Drient  burd? 
fltmatifdje  Derljältniffe  bebingt  fein  mag*),  (ßried]en  unb 
Homer  fyaben  fie  erft  von  t^m  entlehnt.  3>ie  £)eife  bes 
2lbenblanbes  ift  bas  Stfeen  bei  £ifd}.  Der  (ßegenfafe  ift 
fd^einbar  rein  äußerlicher  2lrt,  in  IDirflidjfeit  aber  fyat  er  eine 


*)  Die  ba3u  ottnenben  Porndjtungen  fyaben  bis  auf  ben  heutigen 
(Eag  tyren  orientalifcfyen  Hamen  beibehalten:  Sofa,  Dtoan,  (Dttomane, 
Uanavee  (letzteres  fpracr/lidj  griedjifcfyen  Urfprmtgs  von  xwvcoTretov  = 
XHürfennetj  von  xdbva^,  ITCMe,  fadjlidj  ägvptifd?en  Urfprmtgs).  Die 
Übertragung  biefer  €invtd>tuugen  auf  bas  ilbenblanb  oirb  burd)  bie 
Berührung  mit  ben  Arabern  in  Spanien  unb  m  ben  Kreit33Ügen  er- 
folgt fein* 


Das  äjtfjettfdj  Slnftögige* 


—  Schein  bet  mägigfeit 


3<*3 


hohe  pfychologifche  Bebeutung*  <£in  ZHann,  ber  gelohnt  iß 
5u  ftfeen,  ift  ein  anbetet:,  als  ber  gewohnt  ift  3U  liegen,  bie 
Catfraft  jteht  ober  fifct,  bie  Faulheit  unb  Apathie  liegt,  es 
gehört  mehr  ba3u,  ben  Ciegenben  x>om  Säger  auf3ufcheuchen, 
als  ben  Stehenben  ober  Sifeenben  in  Bewegung  5U  perfefeen. 
3)as  Huhebett  ift  bas  Symbol  ber  Apathie  bes  ©dentalen, 
ber  Stuhl  bas  ber  Cebenbigfeit  unb  Hührigfeit  bes  2lbenb* 
lanbes. 

[438]  Die  mobernen  Dölfer  traben  ber  IDeife  bes  ©rients 
bei  fich  feinen  Eingang  oergönnt,  bie  gute  Sitte  Ijat  bas 
Siegen  bei  (Eifche  toeber  beim  häuslichen,  noch  beim  gaftlidjen 
ZHal^Ie  je  3ugela(fen,  unfere  Dorfahren  pflegten  beim  <£ffen 
auf  ber  Banf  3U  fifeen,  gewiffe  perfonen,  3.  B.  bie  Cehrlinge 
beim  ^anbu>erfer,  mußten  fogar  fielen.  Daß  fte  barum  nicht 
weniger  gegeffen  unb  getrunfen  I|aben,  als  bie  Kömer,  ift 
männiglich  befannt,  aber  meine  Behauptung  geht  auch  nid^t 
ba^in,  ba§  bas  Sifeen  bei  Cifche  ben  praftifchen  IDert  h<*be, 
ber  Unmäßigfeit  3U  fteuern,  fonbem  lebiglich  ben  äfthetifchen 
Schein  berfelben  fern3uhalten.  <£s  verhält  fich  bamit  ebenfo 
tote  mit  ben  Weinen  (ßläfem  unb  ber  (Einrichtung  ber  (5duge 
—  fachlich  fefeen  auch  fte  ber  Unmäßigfeit  feine  Schranfe, 
aber  fte  t{aben  einmal  ben  äfthetifchen  Por3ug,  biefelbe  3U 
verhüllen,  ©b  bies  fyftorifch  bas  TXlotxv  ihrer  Einführung 
gewefen  ift,  gilt  mir  gleich,  fur3um,  fo  wie  fte  nun  einmal 
beftehen,  gehören  fie  nach  unferen  tyutiQen  Begriffen  3ur 
Ssenerie  bes  anftänbigen  ZHahles. 

§u  ben  beiben  (Seftchtspunf ten,  welche  unfere  bisherige 
Unterfuchung  uns  für  bie  äfthetifcfye  (Seftaltung  ber  heutigen 
IDeife  bes  Iffens  unb  Crinfens  ergeben  liat:  5^nhaltung 
alles  tDerifchen  unb  5ernhaltung  bes  Scheines  ber  Unmäßig* 
feit,  gefeilt  fich  noch  ein  britter  h^u,  ber  uns  einen  höchft 
beachtenswerten  5ortfd]ritt  ber  mobernen  <§ett  gegenüber  ber 
Vergangenheit  t>or  2lugen  [439]  führt.    3^         fyn  ?ur5 


Kapitel  IX.   Dte  foiale  Ittedjanif*  Das  Sittliche. 


be3eichnen  als  (Erhebung  x>om  Kommunismus  beim  IHahle 
3um  3n^^^uaK5mu5« 

Hnfer  heutiges  Deforum  erfordert,  baß  jeber  ber  Sifd?- 
genoffen  alle  diejenigen  (Seräte,  beren  er  bebarf,  für  jich 
allein  3um  ausfchliepchen  (ßebrauch  erhält:  feinen  eignen 
Stuhl,  feinen  befonberen  Celler,  feine  (Säbel,  fein  tTCeffer, 
feinen  Söffe!,  fein  (Sias,  feine  Caffe,  feine  Sen>iette,  unb  tt>ir 
roürben  ben  größten  2lnftof$  baxan  nehmen,  toenn  uns  ftatt 
beffen  eine  (Bemeinfchaft  mit  anberen  ©fchgenoffen  sugemutet 
toürbe.  <£inft  toar  es  in  biefer  23e3iehung  anbers  beftellt, 
unb  ich  betraute  es  nicht  als  überflüfftg,  biefe  Catfache,  bie 
tooB|l  ben  rcenigften  geläufig  fein  bürfte,  3U  fonftatieren  unb 
ins  richtige  £id)t  3U  rücfen.  Der  Cef  er  fann  baxan  inne 
u>erben,  roiepiel  r>on  unferen  heutigen  Einrichtungen  u>ir  bem 
richtigen  (Sefühl  unb  ber  allmählichen  2lusbilbung  ber  Sitte 
perbanfen,  unb  toie  jte  felbji  hi^  einen  gan3  beftimmten  (Se* 
banfen  oor  2Iugen  gehabt  tiat  Was  einft  gemeinfam  tt>ar, 
hat  fte  geteilt 

Unfere  Dorfahren  faßen  roie  bei  allen  gemeiufamen  <§u» 
fammenfünften,  fo  auch  beim  gaftlichen  ZlTahle  mit  mehreren 
3ufammen  auf  einer  unb  berfelben  öanf  *),  [440]  baBjer,  tx>ie 

*)  Dafyer  bie  25anf  fprad?ltdj  ber  2lusbrucf  ber  (SemetnfamFeit. 
33etfptele;  bte  Abteilungen  bes  früheren  beutfdjen  Beidjstags  (3»  23. 
(Srafen-,  prälatenbanf),  bte  t|ötjeren  Kollegien  (%rren-  ober  abelige 
unb  gelehrte  23anf)  — -  bte  23anf  ber  (Sefd?tt>  or  enen  —  bie  Spielbanf  = 
gemetnfames  Spiel  —  bas  Banfett  =  gemetnfames  ITCal)I  —  bie  Hebe- 
n>enbung;  „burd?  bie  33an?"  —  etwas  gleichmäßig  für  mehrere  (Selten- 
bes  —  ber  Lanfert,  b*  u  ber  ntdjt  in  bem  nur  für  bte  (Ehegatten  aus- 
fdjltepd}  bejttmmten  (Ehebette,  fonbern  auf  ber  allen  3ugänglidjen  Sauf 
Geengte  (bas  lateinifcfye  vulgo  quaesitus)  —  trielleiajt  audj  bte  XDea^f el- 
bauf (bte  3an?gefd?äfte  maren  urfprünglidj  regelmäßig  Kompaguie- 
gefdjäfte),  21udj  in  Horn  mar  bte  Bau?  (subsellium  =  nieberer  Sitj  r>on 
sub  unb  sella)  bas  ,§eia>n  ber  (Semeinfamfeit,  fo  bie  Bänfe  ber  (Tri- 
bunen (nidjt,  wie  ITCommfen,  Hörn*  Staatsrecht  I,  S.  323  meint,  metl 
fle  feine  magistratus  populi  romani  maren),  ber  Senatoren  ber  (Se- 
fdjroorenem 


Pas  afttjetifd)  21nftö§tge*  —  Pie  (Eafel 


3^5 


oben  bereits  bemerft,  für  lefeteres  ber  2lusbrucf  33anfett  (ttal. 
banchetto,  fran3-  banquet).  Unfer  heutiger  Stut^l  serbanft 
feinen  Urfprung  ber  23anf,  er  ift  feiner  urfprünglidjen  (ßefialt 
nad]  nichts  ab  ein  Sind,  ein  Segment  ber  San!,  bte  ber 
größeren  23equemlicfyfeit  ober  ber  Unabfyängigfeit  bes  Steens 
tt>egen  in  ein3elne  Ceile  3ertegt  tr>arb*).  XDo^l  t>on  iljm  3U 
unterfdjeiben  ift  ber  audj  unferen  X?orfatjren  befannte  Seffel, 
b.  Ij.  ber  mit  Hücfen-  unb  21rmlel|nen  oerfefyene  unb  an  er- 
ster Stelle  aufgerichtete  Sifc:  ber  „Etodiftfc".  €r  bilbete  bas 
Dorredtf  unb  bas  Symbol  ber  ZHadjt**):  ber  (Sötter,  bes 
[441]  Königs  (Cfyrou,  Cfyronfeffel),  bes  Hilters,  bes  fjaus* 
B^errn.  Die  ZHaffe  faß  auf  ber  23anf :  bie  5amilienangel|örigen, 
bie  (Säfte,  bas  (Seftnbe.  Der  eigene  Stuljl  beim  2Tlafye  rote 
bei  anberen  (ßelegenfyeiten  tft  erft  eine  firrungenfetjaft  ber 
fpäteren  geit.  €r  lagt  jtctj  be3eidjnen  als  ber  ^ortfdjritt  t>on 
ber  (ßemeinfdjaftlidjfeit  3ur  2lusfd}liefjlidjfeit,  <Db  er  lebig* 
lidi  burd|  bas  23Totir>  ber  größeren  33equemlid}feit,  ber  23efyag* 
lidjfeit  bes  Steens  unb  ber  Unabfyängigfeit  von  Ztadjbarn 
betoirft  roorben  ift,  gilt  mir  gleidf,  tdj  Ijalte  midi  an  bie 
Catfadje:  bie  23anf  fyat  ftd]  gefpalten  in  Stühle,  jeber  (ßaft 
ertjält  bei  ©fdj  feinen  StuBjl  für  ftdf* 

*)  Per  Stufyl  ber  alten  «§eit  ift  von  £}ol3,  ungepolftert  unb  otjne 
Seitenlehnen,  gan3  urie  bie  33anf,  bie  Bücf  leiste  fanb  fidj  audj  bei  ber 
letzterem  Pas  (Entftetjen  bes  Stuhles  aus  ber  23anf  liegt  noa?  flar  r»or 
bei  ben  C^orftü^leu  ber  Pomtierren,  bie  fidj  fd?on  äufjerltd?  als  abge- 
teilte Sirje  auf  einer  unb  berfelben  23anf  Funbgeben* 

**)  (Hbenfo  bas  solium  (ber  griedjifdjc  frp6vo<;)  ber  Hömer,  ber  bem 
^ausl^errn  unb  bem  König  gebührte;  aus  ifjm  ging  fpäter  bie  sella 
curulis  ber  patri3tfd?en  ITCagiftrate  fyercor,  IHommfen  a.a.(D.  S*  316. 
Pie  Symboli?  bes  Stuhles  unb  ber  £anf  ift  alfo  bei  ben  Hörnern  gan3 
biefelbe  u?ie  bei  ben  (Sermanen:  bie  23anf  bas  geilen  ber  (gemein- 
fdjaft,  ber  Stutjl  bas  ber  <2in3elmad}t.  Pamit  mag  audj  bie  beutfcfye 
23e3eidjnung  bes  ungarifd?en  Stufylrid?ters  3ufammenrfangen,  er  tuar 
nrfprüngüd}  Hilter  ber  föniglidjen  Ptenftmanuen  (judex  servientium)  unb 
urteilte  mit  (Sefdjtüorenen  (jurati),  ba^er  ber  Stut}l*rid}ter  im  (Segcufatj 
tet  leideren  als  ^anfridjter» 


5^6        Kapitel  IX*  Die  feciale  ITCedjanif.   Das  Sittliche* 

Serfelbe  Vorgang  ttueberljolt  ftdj  bei  allen  obengenannten 
Utenfilien.  <£inft  aßen  alle  (Säfte  aus  ber  gemeinfamen  Scfyüffel, 
toie  es  nod?  I^eutsutage  auf  bem  £anbe  oorfommt,  gegenwärtig 
t]at  jeber  feinen  eignen  CeUer  für  jtdj*  Wie  bie  gemeinfame 
Bant  ben  Stufyl,  fo  Ijat  bie  gemetnfame  Sdjüffel  ben  CeUer 
aus  fidj  entlaffen- 

<£inft  tranfen  mehrere  aus  einem  unb  bemfelben  pumpen, 
fyeut3utage  fyat  jeber  fein  eignes  (Sias  für  jidj  —  ber  pumpen 
entlägt  bas  (Sias  aus  fidf,  rote  bie  23anf  ben  Stuljl,  bie 
Sdjüffel  ben  Celler*).  Derfelbe  Dorgang  toieber^olt  pdj  bei 
ber  Kanne  unb  ber  Caffe, 

[442]  <£inji  führte  nur  ber  Ejausfyerr  bas  IHeffer,  jefet  Ejat 
es  jeber  (Saft  für  fidv 

<£inft  biente  bas  Cifdtfudj  allen  (Säjien  gemeinfam  3um 
2Ibu>ifd)en  ber  I}änbe,  ljeut3utage  tt>irb  jebem  feine  eigene 
Sersiette  gereicht  üanf,  Scfyüffel,  pumpen,  Hteffer,  Cifd}* 
fudj,  alle  löfen  ftdj  in  f leine  Stüde  auf,  toie  bas  HTafyl  f elber 
in  ein3elne  (Sänge,  bie  Separationsmetfyobe  in  2lmt>enbung 
auf  bie  Cafel,  eine  (Sleidjartigfeit  ber  <£nttr>icflung,  bie,  wenn 
fie  |tdj  audj  in  ber  nieberen  Hegion  bes  täglichen  £ebens 
bewegt,  bodj  ben  Beweis  liefert,  wie  felbfi  fyer  eine  gewiffe 
(Sefefemäßigfeit  I>errfdjt  —  bie  Welt  bes  Kleinen  unb  Kleinften 
als  Cummelplafe  bes  (Sebanfens. 
%  Die  Sprache. 

3dl  unterfdjeibe  bas  2lnftS§ige  ber  Hebe  unb  bas  ber 
Sprache,  b.  beffen,  was  gejagt  (anftöjgiger  3nfyalt),  unb 
ber  2Irt,  wie  es  gefagt  wirb  (anfiöjjige  fpradjlidte  IDenbungen, 
2lusbrücfe).  Vas  2Inftöj$tge  ber  Hebe  fällt  3ufammen  mit 
ber  Kategorie  bes  feyueß  (f.  u.),  bas  ber  Sprache  mit  ber 
bes  äftfyetifdj  Jtnftögigen. 

*)  Daburdj  Ijat  fidj  bas  DortrtnFett  (5.  \97)  in  gntrinfen  vetwan* 
belt,  bas  Zlnftogen  ber  (Släfer  tymbolißert  nodj  bie  alte  (Semeinfamfett 
bes  Crmfgefä'fjes* 


Das  äfifyetifdj  2Inftö§ige.  —  Die  Sprache*  3^7 


H?te  ber  fiinbrucf  bes  (Efelljaften  nidjt  bloß  burd?  bas 
2luge,  fonbem  audf  burdj  bas  <D\\t  vermittelt  toerben  fann, 
fo  audj  ber  bes  äftfjetifd}  itnftöjjigen. 

Sefanntlidj  bietet  bie  Sprache  für  manche  Vorgänge  unb 
(Segenficmbe  2lusbrücfe  unb  Hebetvenbungen  von  einem  fet>r 
t>erfd}iebenen  gufdjnitte  bar:  rofye,  berbe,  unflätige,  u>ie  man 
fte  nur  im  HTunbe  gemeiner  Ceute  Ijört,  anftänbige,  [448] 
toie  ftdt  ber  (Bebilbete  tfyrer  bebient,  unb  patfyetifdje,  txne  fte 
ftdl  nur  für  bie  gehobene  Hebe  ge3temen.  Danadf  laffen 
ftdf  bret  verfdjiebene  3biome  unterf Reiben:  bas  bes  Dtdjters, 
bie  geioöfynlidie  Umgangsfpradje  unb  bie  Sprache  bes  pöbels. 
Der  bei  »eitern  größere  Ceil  bes  Spradjfdja&es  bilbet  bas 
(Bemetngut  bes  gefamten  Öolfs,  er  begegnet  uns  ebenfofeljr 
in  ber  gehobenen,  fdjtoungpollen  Sprache  bes  Didiers  tr>ie 
in  ber  Umgangsfpradje  ber  (ßebilbeten  unb  im  ZHunbe  bes 
pöbels.  Über  biefes  £tit>eau  ragt  aber  ein  getoiffer  Ceti 
empor,  ber  ber  bidfterifdjen  ober  patfyetifcfyen  Sprad^e  eigen« 
tümlidj  tft,  unb  beffen  Perroenbung  in  ber  ttmgangsfpradje 
(beifpielsroeife  bie  2tufforberung  feine  „<gäfyren"  3U  troefnen, 
fein  „2tntli#J  3U  ergeben)  ben  Dortourf  ber  CädjerlidjfeU 
begrünben  toürbe.  <£in  anberer  Ceil  gefy  unter  biefes 
Ztioeau  fynab,  er  bilbet  bie  Sprache  bes  pöbels,  bas 
3biom  ber  Hoheit,  (ßemeinfyeit.  IHit  ibm  Ijaben  roir  es 
fyier  3U  tun. 

Der  <5ebraud}  aller  itjm  angefyörigen  IPorte  unb  iüen- 
bungen  berührt  uns  n>ibertr>ärtig,  ber  (5ebilbete  bebient  ftdj 
ifyrer  ntdft,  er  würbe  bamit  einen  Derßoß  gegen  ben  2lnftanb 
begeben,  es  ift  eine  verrufene  Hegion  ber  Sprache,  bie  er 
nidjt  betreten  barf.  I£)arum  nic^t?  Darf  er  bie  Dinge  felber 
berühren  —  unb  bas  if%  bie  Dorausfefeung,  t>on  ber  tr>ir  fyer, 
wo  wxv  es  nodj  nidjt  mit  bem  infyaltlid)  3nbe3enten  3U  tun 
ljaben,  ausgeben  —  roas  t>erfdjlägt  bie  Derfcfyebentjeit  bes 
bloßen  2lusbru<fs?  Weil  an  bem  21usbrucf,  ben  roir  nur  in 


3^8 


Kapitel  IX.   Die  fötale  tfledjanif.  Das  SittHd?e. 


bem  ZlTunbe  bes  pöbels  3U  pernehmen  [444]  getpohnt  fmb, 
für  uns  einmal  bie  Dorfteüung  bes  pöbelhaften,  ber  Hoheit 
nnb  (ßemeinheit  Hebt  (bas  fran3Öftfche:  sent  la  halle):  tper  ftch 
feiner  bebient,  führt  uns  bas  Stfdp  unb  IPafchtPeib  por  2lugen. 
Vet  2lusbrucE  als  folcher  ift  baran  regelmäßig  pöüig  unfchulbig, 
manche  berfelben  tparen  urfprünglich  im  allgemeinen  (ßebrauch 
unb  in  ber  Schriftfprache  üblich,  bis  fte  burch  anbere  per* 
drängt  unb  in  jene  niedere  fprachlich*  Hegion  i|inabgebrüdt 
tourben,  bie  ihnen  für  uns  ben  Stempel  bes  Hohen,  (ßemeinen 
aufprägt  Sie  gleichen  2ftün3en,  toelc^e  urfprünglich  poH 
ausgeprägt,  aber  im  £aufe  ber  §eit  abgegriffen  unb  barum 
auger  Kurs  gefefet  tporben  fmb.  Dom  rein  etymologifchen 
5tanbpuntt  aus  ift  biefe  Perfcfyiebenfyeit  in  ber  (geltung  ber 
ZDorte  gar  nicht  3U  begrünben,  fte  ijl  lebiglich  bas  ZDerf 
eines  langfamen  fpradjlichen  <2nttpertungspro3effes  (linguiftifche 
3)epalpation). 

2)er  2lnftog,  ben  tpir  an  biefen  2lusbrücfen  nehmen,  ift 
nic^t  moralifcher,  fonbem  äfthetifcher  2Irt.  <£s  ift  nicht  bie 
Serü^rung  bes  (ßegenftanbes  f elber,  gegen  tpelche  unfer  <5e« 
fühl  proteft  ergebt,  fonbem  bie  2Irt,  tpie  fte  erfolgt,  unfer 
geiftiges  2luge  umnfeht  ihn  nicht  in  PoHem  grellen  lichte, 
nicht  in  feiner  abfehreefenben  Slöge  unb  ZTadftheit,  in  feiner 
berben,  bas  (Befüfyl  perlefeenben  XTatürlidtfeit  unb  Hoheit 
tt>afyr3unetjmen,  fonbem  in  gebämpfter  Beleuchtung,  in  einer 
getpiffen  Umhüllung.  Unb  an  Hlitteln  ba3u  lägt  es  bie 
Sprache  nicht  fehlen. 

Dor  allem  fmb  es  bie  5rembtPÖrter,  welche  uns  in  [445] 
biefer  23e3tehung  tpertpoHe  3)tenße  leißen,  unb  insbefonbere 
hat  bie  Umgangsfprache  ber  Cerminologie  ber  ZHebt3in  eine 
IHenge  von  2lusbrücfen  3ur  Se3iehung  förperltcher  Vorgänge, 
£eiben,  gupänbe  entlehnt.  Sie  l\aben  ben  Por3ug,  ben  (ßegen* 
ftanb  pon  ber  tpiffenfehaftlichen  Seite  3U  be3eichnen,  ihm  fo3u* 
fagen  ben  tpiffenfehaftlichen  Schleier  über3Utperfen,  unb  fte 


Das  äfUjettfdj  2Jnßö§ige*  —  Die  Sprache,  3^9 


oerbinben  bamit  ben  Porjug,  bafj  fte  nicht  ju  befürchten 
haben,  ber  Spraye  bes  pobels  anheim3ufallen. 

<£in  3n>eites  mittel  311  btefer  fprachltchen  2tbmilberung, 
insbefonbere  in  folchen  fällen,  u>o  es  ftch  um  ben  2lusbrucf 
ber  ftttlichen  üermerflichfeit  einer  perfon  hobelt,  gewähren 
bie  21bjeftioa.  Die  tmlbernbe  IDirfung  berfelben  beruht 
barauf,  bajj  fte  bie  Cigenfchaft,  welche  fte  ausfagen,  einem 
Subftantio  hw3ufügen,  bem  biefelbe  als  folgern  nicht  eigen 
ift,  bas  3n^i^^uum  alfo  bamit  für  bie  Porjlellung  auf 
eine  Cime  gefiellt  mit  aßen  anbeten,  bie  berfelben  Kategorie 
angehören:  bas  leichtfinmge ,  ftttenlofe  Zftäbdien  mit  ben 
ZTläbchen,  bas  oermorfene  XOexb  mit  ben  JDeibern  ufw., 
wätyenb  bie  perächtttche  fubftantitnfche  Öe3eichnung  berfelben 
aus  ihnen  eine  eigene  Kategorie  macht,  mit  ber  niemanb, 
ber  ihr  nicht  angehört,  etwas  gemein  h<*t,  es  wirb  baburch 
eine  Scheibewanb  3wifchen  ihnen  unb  allen  anbeten  errichtet. 
Die  Derbheit  unb  bie  Kraft  ber  Sprache  beruht  »or3ugsweife 
auf  Subftantwen,  bie  ZHilbe,  Schonung,  Slbfcfjwächung  auf 
2Ibjeftit>en.  5rembwörter  unb  2tb]eftit>a  bilben  bie  fprach* 
liehen  <5lacdh<*nbfchuhe  [446]  ber  feinen  (ßefeHfchaft  —  ber  (ße* 
brauch  ber  f}anbfchuhe  iji  einmal  für  fte  obligat 

5,  Das  patfyologifdj  ^Inflögige* 
Der  2lnblicE  fremben  £eibens  x>erfümmert  uns  bie  eigene 
5reube,  er  eignet  ftch  alfo  nid)t  für  bas  gefellfchaftliche  §u* 
f  ammenfein,  bei  bem  es  auf  (Erheiterung,  2tusfpannung,  <£r< 
holung  abgefe^en  ift.  Ä)er  leibet  unb  ftch  nicht  foweit  über* 
toinben  famt,  um  anberen  ben  2Inblicf  feines  Ceibens  3U 
erfparen,  foH  ftch  nicht  in  ben  Kreis  ber  Weiteren  mif chen,  et 
begeht  bamit  eine  HücfftchtslofigFeit,  etwas  (ßefellfchafts* 
wibriges.  Wie  ein  falter  (Segenftanb  bem  warmen,  mit  bem 
er  in  Berührung  gebracht  wirb,  Xüärme  entsteht,  fo  auch 
bas  £eib,  bas  ftch  ber  5reube  naht  —  bas  (Sefefe  ber 


350 


Kapitel  IX.   Die  fatale  IHec^amf.   Das  Sittliche» 


Ausgleichung  6er  Cemperaturbifferen3  gilt  auch  in  pfvehifch^t 
Sesiehung,  frembe  pein  berührt  peinlich,  frember  Kummer 
per  f  Ammert  ben  (Senuf},  frembes  £eib  perleibet  bie  5reube, 
frembe  Znigftimmung  perftimmt. 

Darauf  beruht  bie  obige  Kategorie  bes  pathologifch  An» 
ftößigen,  fte  hat  3um  (ßegenftanbe  fcas  £eiben,  tpelches  anberen 
in  gefetlfchaftsttnbriger  ö?eife  ben  gu>ecf  bes  gefelligen  §u* 
fammenfeins  perleibet. 

Das  £eiben  fann  eine  fehr  perfchiebene  (ßeftaltung  an» 
nehmen,  unb  ich  folge  bem  Dorbilbe  ber  Sprache,  inbem  ich 
brei  Arten  besfelben  unterfcheibe:  £eiben,  £eib,  £eiben* 
fchaft.  3$  glaube  ben  Unterfcfjteb,  ben  fte  babei  [447] 
im  Auge  ha^  m^  bxex  IDorten  roiebergeben  3U  fönnen: 
Korper,  Seele,  IDille. 

Unter  £eiben  perfleht  bie  Sprache  ben  mit  phvftf^n 
Schmer3en  vethnnbenen  guftanb  ber  Störung  bes  normalen 
23efmbens  bes  Körpers.  Unter  £eib  ben  entfpredjenben  §n* 
ftanb  ber  Seele  (Seelenleib),  bie  burch  fchtpere  Schief  [als* 
fchläge  barniebergebeugt  ift  unb  bem  (ßram,  Kummer,  Sehnte^, 
ber  Crauer  3U  unterliegen  broht  —  bas  geftörte  (Sleichgetpicht 
ber  Seele.  Unter  £eibenfchaft  perfteht  fte  ben  leibenben 
gufianb  bes  tDißens,  ber  ben  auf  ihn  einbringenben  Het3en, 
Verfügungen  feinen  IDiberftanb  entgegen3ufe£en  permag,  fei 
es  bauernb  ober  porübergehenb  (Affeft),  ben  guftanb  ber 
(Ditnmaditf  ZlTachtloftgfeit,  bas  geftörte  (ßleichgetpicht  bes 
Hillens. 

Alle  brei  giuftänbe  führen  uns  eine  Störung  bes  normalen 
Verhaltens  por  Augen,  unter  ber  bas  Subjeft  3u  leiben  hat, 
fte  finb  pathologifd^er  Art  —  tpas  bas  £eiben  für  ben  Körper, 
bebentet  bas  £eib  für  bie  Seele,  bie  £eibenfchaft  für  ben 
IDillen:  einen  franfhaften  guftanb.  Damit  glaube  ich  in  ber 
obigen  23e3eichnung  bes  pathologifch  Anflößigen  bas  Uloment 
bes  pathologifchen  gerechtfertigt  3U  haben,  bas  UToment 


Das  patfyologifcfy  2In(!ößtge* 


35H 


des  2lnftö§igen  hübet  den  (Begenfiand  der  folgenden  Tins* 
füfyrung. 

Ellies  £eiden  überträgt  ftcfy,  tote  foeben  bemerft  ward,  in 
abgefdjwädjter  JDeife  aucfy  auf  denjenigen,  der  geuge  des* 
felben  wirb,  er  f  elber  wird,  tr>enn  er  nidjt  gän$lid)  abge* 
itumpft  oder  empfindungslos  ift,  dadurdj  affoiert,  [448]  in 
2Tütleidenfd?aft  gesogen.  2lber  nadj  Perfdjiedenfyeit  der 
2trt  des  fremden  Ceidens  in  fefyr  serfdjiedener  IDeife,  dasfelbe 
fann  ifyn  fYtnpatfyifd}  oder  anttpatl^if berühren,  fein 
Bedauern,  fein  Mitleid  oder  feine  Mißbilligung,  feinen  Cadel 
fyeroorrufen;  erfteres  da,  wo  die  (ßröße  desfelben  das  ZHag 
der  beim  normalen  ZHenfdjen  t>oraus3ufefeenden  IDiUensfraft 
überfteigt,  wie  es  bei  unferen  beiden  erften  2lrten  des  £eidens: 
dem  Seiden  des  Körpers  und  dem  £eid  der  Seele  der  5all 
ift*  Die  unwillkürliche  praftifdje  Betätigung  unferes  Urteils 
darüber  ift  das  Mitleid,  das  eigene  Mitleiden  (aufura&sTv, 
condolescere,  dafyer  „Kondolen3"  =  Betleidsbe3eugung).  H>ie 
bei  der  Berührung  eines  falten  Körpers  mit  einem  warmen 
jener  an  XDärme  gewinnt,  was  diefer  abgibt,  fo  aud?  fyier; 
durdj  unfer  Mitleid  nehmen  wir  dem  leidenden  einen  Ceil 
feiner  £aft  ab  (Ceilnafyme,  Anteil  nehmen)  und  gewähren 
ifyn  felber  dadurch  (Erleichterung. 

Der  Dergleid]  mit  der  pfyvfifcfyen  XDärmeausgleidjung  trifft 
aud]  darin  3U,  daß  es  wie  in  der  Körpermelt,  fo  audj  in 
der  geiftigen  gute  und  fd}led]te  IDärmeleiter  gibt:  mitleidige 
und  fyartfye^ige  ZTaturen. 

Bei  der  fvmpat^ifc^en  <5efüfylserregung,  die,  was  uns 
fyer  nid]t  interefjtert,  auch  bei  der  5reude  ftattfinden  fann, 
ift  das  (Befühl,  das  buvd\  den  andern  in  uns  erregt  wird, 
dem  feinigen,  wenn  audj  dem  (ßrade  nad]  perfdjieden,  dodj 
der  2trt  nadj  gleich,  (5an3  anders  bei  der  antipatfyfdjen 
©efüfylserregung,  hier  berührt  uns  der  guftand  [449]  des 
andern  widerwärtig,  er  erregt  unfere  Mißbilligung.   Deis  ijl 


552 


Kapitel  IX.   Die  fatale  medjantf.   Das  Sittliche. 


ba  ber  Sali,  wo  ben  tPiUen  in  unferen  Jlugen  ber  Poriourf 
ber  Sd}tt>ädje,  5er  mangelnben  Selbjtbetjerrfdjung  trifft. 

a.  2)as  fympatljtfdj  2t n ft ö § t g e. 
ZDie  fann  basfelbe  anftöjjig  fein,  tt>enn  es,  tr>ie  oben  3U- 
gefianben  roarb,  einen  geredeten  2lnfprudj  auf  unfere  Seil* 
nannte  l^at?  2Ius  bemfelben  (Srunbe,  aus  bem  audj  basjenige, 
beffen  Dornafyme  burdj  bie  Zlatnv  geboten  ift,  anftößig  tx>irb 
(S.  30\f.),  nämlid}  barum,  u>eü  bie  HücFjtdjt  auf  anbere  ge* 
bietet,  es  nidjt  toafyrnefynbar  werben  3u  laffen.  2>er  Kranfe 
mag  bem  2Ir3t  unb  ben  Seinigen  bie  Sdjme^en  Hagen,  in 
bas  ^er3  bes  5^^unbes  mögen  tr>ir  unferen  Kummer  aus* 
f Kütten;  aber  u>as  ftcfy  tfynen  gegenüber  3iemt,  3iemt  ftdj 
barum  nod?  nidjt  brüten  perfonen  gegenüber.  Diefelbe  23e« 
fdjränfung  in  be3ug  auf  Seit  unb  ©rt,  toeldje  bas  Hed>t 
aufftellt  in  be3ug  auf  bie  (Seltenbmadjung  redjtlidjer  £orbe« 
rungen*),  gilt  aucfy  für  ben  moralifdjen  21nfprud?  auf  TXl\t< 
leib  unb  Ceilna^me.  3fyn  am  unrechten  ©rt  unb  3ur  un< 
rechten  Seit  ergeben,  ljei§t  bas  ZlTitleib  erpreffen,  unb  foldje 
(Erpreff  ungsserfudje  roeifl  bie  (SefeUfcfyaft  mit  5ug  unb  Hedjt 
3urücf.  ZTidjt  fie  ift  rücfftdjtslos,  toenn  fie  perlangt,  ba§  ber 
Kranfe,  Betrübte,  <5ebeugte  jtdj  im  Kreife  ber  ^eiteren  nidjt 
Miefen  laffe,  fonbem  er,  tx>enn  er  jtd}  einbrängt;  fann  er  itjr 
ben  Anblicf  [450]  feiner  £eiben,  Sd]mer3en,  Qualen  burd? 
Aufbietung  feiner  IDitlensfraft  nidjt  erfparen,  fo  foH  er  3u 
^aufe  bleiben.  Ztidjt  bie  (BefeQfdjaft  trifft  ber  Porumrf  bes 
€goismus,  roenn  fie  iljm  ben  Zutritt  t>erfagt.  Diefer  €gois* 
mus  iß  t>oKauf  berechtigt,  er  madjt  nur  eine  2Inforberung 
geltenb,  toeldje  im  IPefen  ber  (Sefeßfdjaft,  fotoofyl  ber  im 
juriftifdjen  als  im  gefelligen  Sinne,  begrünbet  ift,  ba§  jebes 
ZlTitglieb  ftcf^  burdj  bie  gefetlfdjaftlidjen  Hücfjidjten  leiten  laffe. 


*)  1.  32  pr.  de  usur.  (22.  JQ  .  .  .  opportuno  loco,  L  39  V.  O.  ($5.  U 
inopportuno  loco  vel  tempore. 


Das  patfyologifdj  2lnfiößtge* 


355 


Der  Voxwnxf  bes  €goismus  trifft  umgefehrt  ihn,  ber  rüc?* 
fic^tslos  genug  ift,  anbevrx  burch  ben  2lnblicf  feiner  S&imev$en 
ober  feivtes  Ceibs  bie  23ehagltchfeit,  bie  ^reube  bes  gefelligen 
«gufammenfeins  3U  perleiben,  Das  Crauerfleib  gehört  nicht 
auf  ben  Sali,  Crcinen  unb  Klagen  nicht  in  eine  heitere 
(Sefeltfchaft,  fotpenig  roie  umgefehrt  ein  Sallfleib  in  eine 
Crauerperfammlung  ober  roie  Scheie  unb  Spaße  hinter  ber 
Ceiche;  £reube  unb  fjeiterfeit  h<*ben  ebenfo  ihr  gutes  Hecht 
tt>ie  Schme^  unb  £rauer,  unb  tper  bies  Hecht  mißartet, 
begebt  bamit  etroas  2lnftößiges. 

Das  fympathifch  2lnftößige  in  biefem  Sinn  umfaßt  5tpei 
21rten:  bas  förperlich  unb  bas  feelifch  2lnftößige*  Über 
lefeteres  t^abe  ich  nichts  su  bemerken,  bagegen  mögen  über 
erfteres  einige  JDorte  plafe  finben. 

Das  gegen  alle  unangenehmen  €inbrüefe  empfmbliche 
(Sefühl  ber  feineren  (SefeUfcfyaft  tjat  bemfelben  eine  fehr  rpeite 
2lusbehnung  gegeben,  es  perlangt  nicht  bloß,  baß  ihr  bie 
XDa^rne^mung  eines  förderlichen  £eibens,  fonbern  felbfi  bie 
emes  bloßen  förperlichen  Unbehagens  vorenthalten  [451] 
bleibe.  3n  ber  guten  (Sefettfchaft  foH  jeber  ben  Schein 
erregen,  als  ob  er  fich  förperlich  u>ohl  befinbe,  er  barf  nicht 
perraten,  baß  ihn  förperlich  irgenb  ettpas  beläftige,  er  fott 
gan3  ihr  angehören,  förperliche  öefchtoerben  ober  Unbequem* 
lichfeiten  follen  feine  2lufmerffamfeit  pon  ihr  nicht  abtpenben* 
Selbft  ber  2lnbli<f  förperlicher  Schaben,  IDunben,  (Bebrechen, 
Deformitäten  fott  ihr  möglichft  erfpart  bleiben,  unb  bie  Kunft 
bietet  ja  bie  Ztlittel  ba3u  bar.  Die  2lnftanbsregeln  in  be3ug 
auf  bas  pathologisch  2lnftößige  treffen  in  biefem  punfte  mit 
benen  bes  äfthetifch  Slnftößigen  (S.  330  f.)  3ufammen. 
b.  Das  antipathifch  2lnftößige. 

Der  Unterfchieb  biefer  3tpeiten  Kategorie  pon  ber  erjien 
beruht  auf  ber  Zurechnung  bes  leibeuben  guftanbes  3ur 
eignen  Schulb.    Dem  Ceibenben  ber  erften  Kategorie  halten 

©O^erinS/        §wecf  im  Kedjt.  II.  23 


55^ 


Kapitel  IX.   Die  fatale  Itlecfjantf.   Pas  Sittltcbe* 


roix  fein  £eiben  3ugutc,  voxt  nehmen  nur  barem  2lnfto§,  baß 
er  uns  3u  unfreiwilligen  <§eugen  besfelben  macht,  bem  6er 
Stetten  Kategorie  bagegen  machen  a>ir  aus  bem  £eiben  felber 
einen  Dorrourf,  jener  perlefet  uns  baburch,  baß  er  fein  £eiben 
seigt,  biefer  baburch,  baß  er  bemfelben  nachgibt  Der  anti* 
patl|tfd]e  £h<*rafter  biefer  2lrt  bes  pattjologifch  Jlnftößigen 
beruht  auf  ber  mangelnben  Selbftbeherrfchung, 

3ch  unterfcheibe  sroci  Birten  berfelben.  Die  eine  iji  bie* 
jenige,  bereu  ich  oben  gebachte:  ber  Ausbruch  bei  £eiben< 
fdjaft,  bie  momentane  2TJac^tloftgfeit  bes  ttMHens  gegenüber 
bem  plöfelich  auf  ihn  einbringenben  2lffeft.  Die  [452]  Sprache 
bebient  fich  für  ben  Porgang  bes  Silbes  bes  „2lufbraufens, 
^luftpaQens"  (bes  JDaffers)  unb  bes  „2lufIo  b  er  ns"  (ber  flamme). 
3d]  roät^Ie  bafür  ben  2tusbrucf  ber  ^eftigf  eit.  3hr  £h<** 
rafter  liegt  befdjloffen  in  ben  beiben  gügen  bes  Momentanen 
unb  bes  (ßetoaltfamen,  es  ift  bie  plöfcliche  (Erregung  bes 
(Semüts,  bie  ftch  nach  2trt  einer  pulfanifchen  (Eruption  £uft 
macht  —  bas  (ßetoitter  bes  IDiHens.  Die  3tt>eite  2lrt  be- 
3eid?ne  ich  als  üble  £aune.  Sie  pergegenroärtigt  uns  bie 
ZHachtlofigfeit  bes  löillens  gegen  bie  unbebeutenben,  flein* 
liehen  £eiben  unb  Anfechtungen  bes  täglichen  £ebens.  Die 
^eftigf  eit  ift  ein  plöfeltcher  Blifc  unb  Donner  bei  Weiterem  £}immel, 
fte  erfchreeft,  bie  üble  £aune  ift  trüber,  bebeefter  Gimmel, 
Begentoetter,  fte  t>erftimmt;  bie  (Befeßfchaft  aber  tx>iH  ftch 
rr>eber  erfchreefen,  noch  serfiimmen  Iaffen,  ihr  Sarometer 
muß  immer  auf  gut  JDetter  fielen* 

Die  üble  £aune  enthält  bas  pfychifche  Seitenftücf  bes  fo* 
eben  erwähnten  förperlichen  Unbehagens,  u>ir  fönnen  fte  als 
ben  guftanb  bes  feelifchen  Unbehagens  befinieren.  Die  Sprache 
hat  eine  große  5üHe  t>on  2lusbrüdf  en  für  fte,  man  entnimmt 
baraus  ihre  hohe  <£tttpfinblichfeit  ihr  gegenüber:  serflimmt, 
mißgeftimmt,  mißvergnügt,  mißmutig,  fdjlecht  gelaunt,  übel  ge« 
launt,  fehlest  aufgelegt,  mürrifch,  rei3bar,  r>erbrießlich,  ärgerlich, 


Das  anttpatfjifd}  Anftößtge*  —  Die  üble  £aune,  355 


1P03U  bie  Sprach  bes  Dolfs  unb  bie  prot>in3ialbiaIefte  nodj 
viele  anbete  fyn3ufügen.  Unter  allen  Cypcn  bes  gefeüfc^afts* 
tpibrigen  XTTenfcfyen  ift  ber  Perftimmte  bei  unerträgliche  unb 
unleiblidtfte.  €r  ift  bie  Drofyte  in  i>et  (Sefeüfdjaft,  bie  fid} 
auf  Koften  ber  [453]  Arbeitsbienen  näfyrt,  benn  er  trägt  nid?t 
blog  felber  nichts  bei  3um  gemeinfamen  gtoeefe  ber  gefeilt 
fdiaftlicfyen  Anregung,  fonbem  t>erfümmert  ben  anbem  bte 
(Erreichung  besfelben,  inbem  er  lüermut  in  ben  Sedier  ber 
5reube  fluttet  —  ber  bürfttge,  fümmerlicf?e,  fläglidje,  \d)wädi* 
lidje  £goift,  ber  bie  (Sefellfdjaft  als  bequemen  Ablagerungs* 
plafc  für  eine  üble  Stimmung  betrachtet,  bie  er  felber  3U 
fjaufe  nid?t  bemeiftern  fann  ober  roill  —  ein  Heiuber  an 
frember  $venbe  unb  fjeiterfeit,  ber  t>or  bie  tEüre  gefegt  3U 
n>erben  r>erbient  unb  ber  ZTad}fid)t  untsert  ift,  voeld\e  bie 
(Sefeüfcfyaft  anbexn,  bie  fid}  gegen  fie  verfehlen,  nxd\t  feiten 
angebeifyen  lägt.  Die  <£ntfd}ulbigung,  bie  ber  heftige  für  fid} 
anführen  fann,  bag  bie  plöfelidjfeit  ber  Erregung  i^n  vorüber« 
gefyenb  ber  Selbftbefyerrfdjung  unb  Raffung  beraube,  ftefyt 
ifyit  nidjt  3U  (ßebote,  beun  er  ift  in  ber  £age,  fidt  auf  bas 
§uf ammenfein  mit  anbern  x>or3itbereiten,  \id\  im  voraus  in 
bie  richtige  Stimmung  3U  t>erfet$en  unb  alles  basjenige,  tx>as 
i^n  verbriegt,  3U  fjaufe  3U  laffen»  2)arum  trifft  ifyi  ber  Por- 
rourf  ber  mangelnben  SelbftbefyerrfdHmg  in  ungleich  ^ö^erem 
(Stabe  als  ben  fjeftigen.  £efeterer  tsirb  burdj  ben  Anlag 
3ur  £eibenfd]aftlid]feit  überrafdtf,  berfelbe  trifft  iljn  söllig 
unvorbereitet,  jener  fennt  ben  (Segner,  ben  er  3U  übertvinben 
hat,  aber  er  befifct  nid]t  bie  £uft  ober  nicht  bas  geringe  ZTCag 
bei  Kraft,  um  fiel]  feiner  3U  ertvehren,  XDir  begreifen  unb 
vet$exlien  es,  voenn  jemanb  fich  burch  tvirfliches  Seelenleib 
barnieber  brüden  lägt,  aber  was  ben  Derftimmten  [4:54] 
brüeft,  ifi  nicht  Seelenleib,  fonbern  bas  finb  bie  armfeligen 
£eiben,  Derbrieglichfeiten,  Anfechtungen  bes  meufchlichen 
£ebens,  bie  niemanbem  erfpart  bleiben,  bie  Habel-  unb  ZHücfen* 

23* 


356 


Kapitel  IX.   Die  fötale  IKedjant?*   Das  Sittliche. 


fiid?e,  benen  jeber  ausgefegt  ifi,  unb  benen  felbft  5tc  getDÖljn« 
lidje  JDillensfraft  fotoeit  geu>acfyfen  fein  foll,  um  femer 
flefyenbe  perfonen  nicfjt  unter  bem  <£inbruc!e  leiben  3U  laffen. 
Die  Stimmung,  bie  jeber,  ber  ftd?  an  einem  gefelligen  £>u- 
f ammenfein  beteiligen  uriH,  mit3ubringen  Bjat,  foH  eine  Weitere 
fein,  fein  <5eficf?t  foH  bem  unumtoölften  Gimmel  gleichen,  bei 
bem  es  jebem  tsofyl  ifi  X)as  <5eftc^t  bes  Derbriepcfjen  ba* 
gegen  r>ergegentx>ärtigt  uns  ben  umtoölften  Gimmel,  bie  Zlti§* 
fiimmung  aber,  bie  er  felber  mitbringt,  er3eugt  biefelbe  nad? 
bem  ©efefce  ber  pfycfyifcfyen  2Iusgleidjung  ber  Stimmung  auefy 
in  anbeten. 

(Einen  gefteigerten  (Srab  nimmt  bas  21nfiößige  ber  Äuße- 
rung ber  Xnißftimmung  bann  an,  toenn  ifyr  3U  allem  Über* 
fluffe  nod)  bie  2lbficfyt  3ugrunbe  liegt,  bie  CeilnaBjme  anberer 
3U  erregen,  ftcfy  als  bebauemstoertes  ®pfer  ber  Ungeredjtig- 
feit,  ^ärte,  Cücfe  bes  5<&i\ä\a\s  auf3ufpielen  —  bie  Selbß* 
glorifoierung  von  Kreu3trägem,  beren  Kreu3  aus  pappe 
befte^t,  unb  bie,  um  unter  ber  £aft  nicfyt  3U  erliegen,  frembe 
Unterftüfeung  in  2Infpruci?  nehmen,  Settier,  tseldje  bie  £janb 
naefy  bem  ebenfo  tt>ertlofen  roie  gebanfenlos  t>er abfolgten 
2llmofen  bes  fremben  Bebauems  ausjlrecfen.  VOex  fennt 
nid]t  3nbbibuen,  auf  voel&ie  biefe  Sefcfyreibung  paßt,  ^enes 
bejammenstx>erte  tseiblicfye  lüefen,  toelcfyes  ftcfy  ftets  „fyöcfyß  an- 
gegriffen" [455]  ober  „nert>ös"  füijlt,  niemals  gut  gefdjlafen 
^at  unb  boefy  feine  (Einlabung  ablehnt  t  jenen  bemitletbens- 
roürbigen  unglücfltcfyen  Kartenfpieler,  bem  ein  fcfjabenfroljer 
Dämon  ftets  fcfyledjte  Karten  in  bie  ^anb  fpielt,  ber  ftets 
über  fte  Hagt  unb  bodj  nie  eine  2fafforberung  3um  Spielen 
3urücFt»eift,  (gehören  Klagen  an  fictj  fcfyon  nidjt  in  bie  <ße- 
feüfcfyaft,  felbfi  nicfyt  bie  über  tt>irflicfyes  Ceib,  fo  nodj  toeniger 
bie  über  bie  2trmfeligfeiten  unb  ttidjtigfeiten  bes  £ebens. 

Bei  ber  3tx>eiten  2trt  bes  antipattjifd?  2tnfto§igen:  bem 
^lusbrudje  ber  fjeftigfeit  gefeilt  fiefy  3U  ben  beiben  (ßrünben 


Das  attttpattiifdj  2lttftö§tge.  —  Die  fjeftigfeih  357 


feines  antipathifchen  (Dc[axaltexs  t  bte  es  mit  ber  erften  teilt: 
ber  Störung  ber  23ehagltchfeit  unb  bem  Xttißfallen  ber  2ln* 
roefenben  über  ben  ZUangel  ber  Selbftbeherrfchung  noch  ein 
brittes:  bie  Bebrohung  bes  gefeHfchaftlichen  Sicherheitsgefühls 
^in3u.  2)ie  fchlechte  £aune  beeinträchtigt  lebiglich  bie  23e« 
haglichfeit,  2tnnehmlichfett  bes  gefelligen  Perfehrs,  fie  per* 
fümmert  uns  bloß  bie  Stimmung,  bie  fjeftigfeit  bagegen 
taftet  bie  unerläßliche  Sebingung  alles  gefelligen  Seifammen* 
feins  an:  ben  gefeHfchaftlichen  ^rieben,  bie  Sicherheit  bes 
Derfehrs.  Was  freute  biefem  gef ehielt,  fann  morgen  uns 
gef chehen,  roir  alle  fühlen  uns  in  unferer  Sicherheit  bebroht, 
roie  tr>enn  toiv  von  einem  5aHe  bes  Straßenraubes  vernehmen; 
es  ift  ein  gemeinfames  ^niexe[\e  öHcr,  ben  ^rieben  in  ber 
(ßefeßfehaft  aufrecht  311  erhalten, 

Unb  felbft  bamit  ift  bas  Sünbenregijier  ber  ßeftigfeit  [456] 
noch  nicht  3um  21bfchluß  gebracht,  Sie  fann  felbji  unfer 
Sechtsgefüfjl  x>erlefeen,  Dies  ift  ber  5aü,  wo  fie  fich  in  ihrer 
ZTlaßlofigfeit  3ur  Ungeredjtigfeit  hinreißen  lägt.  Wxt  befinben 
uns  bann  in  ber  peinlichen  £age,  entroeber  bas  Unrecht 
fd)u>eigenb  mit  anfehen  3U  müffen  ober  partet  3U  ergreifen 
unb  uns  felber  an  bem  Streite  3U  beteiligen,  bas  eine  ebenfo 
unerfreulich  u>ie  bas  anbere. 

2lus  bem  Bisherigen  ergibt  fich,  baß  wenn,  wie  früher 
(S.  30\,  32^)  gezeigt,  alles  #nftößige  auf  ber  Derlefeung 
unfer  es  <5efühts  beruht,  bas  21nftößige  bes  Ausbruchs  ber 
Ceibenfchaft  in  ber  (ßefeßfehaft  in  be3ug  auf  bie  ZHannig- 
faltigfeit  ber  (ßefühle,  bie  baburch  perlefet  roer ben,  alle 
anbeten  gefellfchaftlichen  Derftöße  toeit  hinter  fxch  läßt.  2Tcit 
ihnen  allen  teilt  biefer  Derftoß  bie  Störung  unferes  33ehaglid>< 
feitsgefühls,  mit  einigen  von  ihnen  bie  Derlefeung  unferes  jtti* 
liehen  (ßefühls  burch  bie  mangelnbe  Selbftbeherrfchung,  ihm 
eigentümlich  ift  bie  23ebrohung  unferes  Sicherheitsgefühls, 
unb,  wenn  ber  Sali  banach  angetan  ift,  bie  Derleftung  unferes 


558         Kapitel  IX.   Die  fatale  ttledjantf*  Das  Sittliche. 


Hechtsgefühls.  Unter  biefem  (Seftchtspunft  betrachtet  tft  mit» 
hin  biefer  Derfk>§  ber  fdjtoerfte  von  allen,  unb  fetner  fchliegt 
in  bem  ZTtafje  bie  (ßefahr  unheilvoller  5oIgen  in  ftch  tr>ie  er: 
perfönliche  €ntfrembung,  €nt3toeiung,  £ja§,  £einbfchaft,  bei 
bem  gemeinen  ZHanne  tool}!  gar  Schlägerei  unb  Cotfchlag. 
So  erflärt  ftch  bie  ungewöhnlich  ftrenge  Beurteilung,  ber  er 
felbft  bei  Dölfern  [457]  auf  nieberer  Kulturftufe  ausgefegt 
ift,  bte  im  übrigen  an  2)tngen,  bie  unfer  2tnftanbsgefühl  aufs 
höchfte  verleben  tr>ürben,  nicht  ben  mmbeften  2lnftoß  nehmen. 
ZTtaftvoües,  ruhiges,  umrbiges  IDefen,  Selbftbeherrfchung  in 
be3ug  auf  Unterbrücfung  aller  leibenfehaftlichen  Hegungen 
unb  2IuftoaQungen  gilt  ben  3n^^an^rn  Xtorbamerifas  als 
unerläßliche  <£igenfchaft  bes  richtigen  ZTTannes,  unb  bie 
türftfehe  Sitte  verpönt  nichts  fo  ftreng  als  £}eftigfeit,  £eiben* 
fchaftltchfeit,  Sauf  unb  Streit*).  5riebe  ift  bas  erjle  unb 
oberfte  (ßrunbgefefe  bes  gefelligen  Perfehrs,  ber  5*iebe  aber 
u>irb  burch  nichts  fo  fehr  gefährbet  toie  burch  bie  Ejeftigfeit. 

Unter  ben  £äßen  bes  Ausbruchs  ber  J^eftigfeit  tjebt  bie 
Sprache  einen  als  gan3  befonbers  gratnerenb  hervor,  ben* 
jenigen  nämlich,  voo  ber  Vorgang  fich  in  einer  IDeife  abfpielt, 
baß  er  bie  allgemeine  2lufmerffamfeit  ber  2lmx>efenben:  öffent- 
liches 2tuffehen  erregt.  Die  Sprache  h<*t  bafür  bie  2Iusbrücfe 
einer  „S3ene",  eines  „Auftritts",  f,<£Hats".  Die  beiben  erften 
2lusbrü<fe  führen  uns  bas  23ilb  bes  CEjeaters  t>or  Jlugen: 
auf  ber  23üf}ne  beftnbet  ftch  ber jenige,  ber  bie  S3ene,  ben 
Auftritt  macht,  neben  ihm  [458]  berjenige,  an  ben  er  ftch 
roenbet,  im  ^ufchauerraum  bas  publifum,  bas  ben  Vorgang 
ftumm  mit  anfleht. 


*)  €♦  IL  ptfdjon,  Der  <£mfl(u§  bes  3slam  auf  bas  häusliche, 
feciale  unb  poltttfcfye  £eben  fetner  Befemter*  £eip3tg  1881,  5»  3U  „(Ein 
heftiges  2lufbraufen,  ein  öffentliches  IPortge3änf  gilt  bei  ben  tlmliame* 
banern  für  f|öd?ft  unanftänbig  unb  fommt  bafjer  nur  bei  perfonen  ber 
mebrtgften  Klaffe  ber  23er>ölferuncj  unb  audj  ba  feiten  ror." 


Das  attttpatfyfdj  2Xnfiö§tge*  —  Die  53ene*  35g 


Das  (5rar>ierenbe  bes  Porganges,  welches  bie  Sprache 
richtig  herausgefühlt  hat,  inbem  fie  für  ihn  befonbere  2lus« 
brüefe  gef chaffen  hat,  liegt  in  3toei  Umftänben.  <£mmal  in 
ber  (Öffentlichfeit  bes  Perftoßes  —  er  fpielt  ftch  nicht  bloß 
bemjenigen  gegenüber  ab,  ber  bas  CDpfer  ber  fjeftigfeit  roirb, 
fonbem  x>or  ben  2lugen  ber  gan3en  übrigen  (Sefetlfchaft  Xlad] 
biefer  Seite  bilbet  er  bas  Seitenftücf  3um  Ärgernis,  lefeteres 
ift  bie  (Öffentlichfeit  bes  Unftttltchen,  jener  bie  bes  2Jnftößigen, 
bort  tt>irb  bie  UToral,  hier  bie  Sitte  in  einer  tPeife  über* 
treten,  baß  es  bie  allgemeine  2Iufmerffamfeit  auf  fich  3ieht, 
öffentlichen  2lnjtoß  erregt,  ein  abermaliges  öeifpiel  bes  öffent« 
lieh  2lnftößigen  (5.  307,  329).  Sobann  in  ber  eigentümlichen 
2lrt,  tr>ie  er  fich  mit  ber  <5runbibee  bes  gefelligen  gufammen- 
feins  in  IPiberfpruch  fefet,  letzteres  ift  beregnet  auf  gemein« 
fame  Ulitroirfung  aller,  jeber  fyat  bie  Holle  bes  Ulitfpielers, 
feiner  foH  3U  ber  bes  bloßen  gufchauers  ober  «guhörers  x>er* 
urteilt  werben.  Der  <§tt>ecf  eines  jeben  gefelligen  gufammen* 
feins  ift  bie  Unterhaltung,  b,  i.  bas  gemeinfame  Qerbeifdjaffen 
bes  Stoffes,  beffen  bie  (Sefeßfchaft  3U  ihrem  Unterhalt  in 
geiftiger  Ziehung  bebarf.  Keiner  foll,  tr>ie  bie  Spraye  fich 
treffenb  ausbrüeft,  „bas  große  IPort  führen,  bas  IDort  allein 
an  fich  reißen",  nach  bes  Schaufpielers  allein  reben, 
roährenb  bie  anbeten  3uhören.  Das  Seftreben,  fich  auf  Koften 
ber  übrigen  [459]  geltenb  3U  machen,  ftigmatifiert  bie  Sprache, 
mit  ber  XPenbung  „fich  auffpielen"  (ebenfo  im  5ran3Öfif  djen: 
poser  unb  la  pose),  es  ift  basfelbe  Silb,  wie  bei  ber 
„S3ene"  unb  bem  „Auftritt",  es  3eichnet  uns  ben  ZHann,  ber 
aus  ber  Heilje  ber  übrigen  hervortritt,  um  fid]  bie  Holle 
bes  Spielers  an3ueignen  unb  ihnen  bie  ber  bloßen  «gufchauer 
3u  überreifen. 

2lus  bem  richtigen  (ßefühle  pon  bem  auf  gemeinfame 
2lftion  beregneten  <§tt>ecfe  bes  gefelligen  ^ufammenfeins  er- 
flärt  fich  &ie  Scheu  fo  pieler  Ulenfchen,  in  ber  (ßefellfdjaft 


360 


Kapttel  IX.   Die  fetale  ItTedjamf*  Das  Sittliche* 


(Segenftanb  ber  allgemeinen  2lufmerffamfeit  3U  werben.  €s 
iji  nicht  bloße  Ängftlichfeit  ober  bas  (ßefühl  ber  gefeüfd^aft^ 
liefen  Unficherheit,  bas  bem  sugrunbe  liegt,  fonbem  bie  richtige 
<£mpfmbung,  baß  bie  (Erregung  ber  allgemeinen  2lufmerffam* 
fett,  auch  wo  fte  bem  EDunfche  aller  entfpric^t ,  eine  Untere 
brechung  bes  normalen  Derlaufs  ber  gefelligen  Unterhaltung, 
ein  pafftpes  Verhalten  ber  übrigen  Utitglieber  bebingt,  bas 
ftch  bamit  nicht  perträgt  Darum  berührt  uns  auch  bie  paufe 
in  ber  allgemeinen  Unterhaltung  fo  unangenehm,  bas  Häber* 
werf,  bas  im  fiänbigen  (Sang  erhalten  werben  foQte,  ftetjt 
plö&lich  ftiH,  alle  2lnwefenben  perhalten  ftch  untätig  —  eine 
porübergehenbe  geiftige  Sanfrotterflärung  ber  (Befellfchaft. 
<§u  biefem  untätigen  Verhalten,  bas  in  ben  lefeteren  beiben 
fällen  freiwillig  ift,  werben  bie  Ceilnehmer  einer  (ßefellfchaft  bei 
bem  obigen  Vorgänge  wiber  ihren  [460]  IDiHen  genötigt,  unb 
eben  barauf  beruht  ber  gefetlfchaftswibrige  <£li<xtaftet  besfelben. 

(Eine  55ene  fann  ftch  auch  in  anberer  als  ber  h^r  an* 
gegebenen  XDeife  abfpielen,  es  laffen  ftch  3**>ei  2lrten  unter« 
fcheiben:  bie  obige,  welche  mit  einer  gefellfchaftlichen  Kata* 
firophe  enbigt  —  auf  JDirfung  3ielt  ber  oben  ermähnte 
2lusbrucf :  <£flat,  es  iji  bie  Bombe,  bie  in  eine  friebliche  <S3e« 
fellfchaft  hineinplatzt  —  unb  bie  friebfertige,  I^armlofc,  welche 
bloß  baburch  Jlnjtoß  erregt,  baß  fte  einen  2lft,  ben  3tx>ei  per- 
fönen  für  ftch  allein  abmachen  fo  Ilten,  ben  231icfen  aller  preis- 
gibt, 3.  25.  eine  burch  bie  laute  2lrt  ihrer  Dornahme  bie 
allgemeine  2tufmerffamfeit  auf  ftch  3iehenbe  IPiebererfennungs* 
unb  Segrüßungsf3ene  3ix>eier  langgetrennter  5reunbe,  eine 
pathetifche  2lnrebe,  fte  gerät  leidet  in  (ßefahr,  auf  bie  <§u« 
[eherner  eine  erheiternbe  IDirfung  aus3uüben  unb  bem  51ud]e 
bes  Cächerlidjen  3U  perfallen.  Die  obige  Ausführung  wirb 
ge3eigt  hä&en,  warum  auch  fte  anftößig  iji  —  in  ber  guten 
(ßefellfchaft  foH  niemanb,  ber  nicht  burch  fte  felber  ba3u  ge» 
nötigt  wirb,  bie  allgemeine  2lufmerffamfeit  erregen. 


Das  anttpatfyfdj  2Inftögtge.  —  Die  äußere  Selbjtteljerrfcfjmtg,  Z6\ 


3>ie  Summe  ber  bisherigen  Ausführung  über  bas  axxtu 
patfyfch  2tnfiögige  faßt  ftch  in  bie  pofitioe  2Inftanbsregel  3U« 
fammen:  Unterbrücfung  aller  (Semütsftimmungen  unb  leiben- 
fchaftlichen  (Erregungen,  tr>elche  britte  perfonen  unangenehm 
berühren  fönnen;  ber  ZHamt  ber  feinen  (Sefellfchaft  foH  ber 
2tnforberung  entfprechen,  tselche  ein  römifcher  3U*#  für  ben 
Sichter  aufhellt:  fein  (Seftcht  foE  [461]  nicht  funbgeben,  roas 
im  3nnern  sorgest*).  Dasselbe  (Sebot,  roelches  bie  ZTToral 
an  ben  inneren  ZHenfchen  richtet,  richtet  bie  Sitte  an  ben 
äußeren:  Selbfibeherrfchung.  Die  Übertretung  besfelben  in 
ber  festeren  Bichtung  roirb  von  ber  feinen  (Sefellfchaft  jlrenger 
beurteilt  als  in  ber  erfieren.  ZTachfichtig  in  be3ug  auf  mora* 
lifdje  Schwächen  unb  Perirrungen,  burch  bie  fte  ftch  in  ihrem 
Belagen  nicht  geflört  fieht,  roenn  fte  in  ihren  Augen  bem 
ZTüenfchen  nicht  3ur  Unehre  gereichen,  iji  bie  (Sefellfchaft 
ftreng  in  ber  Büge  gefellfchaftlicher  Derftöße,  toelche  bem 
Rehagen  bes  gefelligen  gufammenfeins  Eintrag  tun  unb 
einen  ZTTißflang  in  bie  Stimmung  bringen.  Sie  fieht  barüber 
hinroeg,  baß  ber  ZHann  ber  Ceibenfchaft  bes  Spiels  fröhnt, 
aber  roenn  er  an  ber  Sauf  jlefyt  ober  am  Spieltifche  ftfet, 
foH  er  burch  feine  ZHiene  perraten,  ba§  ber  Derluji  ihm  nahe 
gellt  Sie  befümmert  ftch  nicht  barum,  roie  bie  5rau  ihr 
(Seftnbe  befyanbelt:  t|artl|er3ig ,  launifch,  tyrannifch.  Aber 
roenn  (Säfte  antoefenb  ftnb,  foll  fein  üortrmrf  gegen  basfelbe 
über  ihre  £ippen  fommen;  toas  auch  gefchieht,  nichts  foll  fte 
aus  ber  5affung  bringen,  nichts  ben  Schein  bes  (Sieichmuts, 
ber  ZHilbe  unb  ber  Hachftcht,  mit  ber  fie  alles  über  fich  er» 
gehen  lägt,  beeinträchtigen,  —  von  äugen  ein  (Engel,  im 
^nnevn  vielleicht  eine  5urie.  Unb  bie  Erfahrung  3eigt,  ba§ 
bas  (Sebot  burchführbar  iji.    (Es  ift  bas  [462]  Dirtuofentum 

*)  1«  \9  §  \  de  off-  praef.  [{.  \8)  neque  excandescere  .  .  *  neque  in- 
lacrymari  oportet,  id  enim  non  est  constantis  et  recti  judicis ,  cujus 
fteimi  motum  vultus  detegit. 


562         Kapitel  IX.  Die  totale  HTedjamf.   Das  Sittliche. 


ber  gefellfdiaftlidjen  Curnüre,  ber  x>omefymen  gefeQfdiaftlidjen 
<£r3iefyung,  tt>eld?e  uns  ben  ZHenfdjen  in  bicfer  tabellofen 
äußeren  PoIIenbung  t>or  klugen  füljrt  2)ie  (Sriedjen  rühmten 
an  ben  Spartanern  bie  eifeme  IDitlensfraft,  ben  Heroismus 
ber  Selbftübertxnnbung,  bie  ftdj  burefy  nichts  aus  bem  <5leid?« 
gerötet  bringen  lieg,  fte  wußten  t>on  einer  Spartanenn  3u 
er3äfylen,  ber  ber  2tnbIi<J  ber  iljr  gebrauten  Cetebe  ifyres  in 
ber  Sdjladjt  gefallenen  Sohnes  feinen  anberm  Ausruf  ent* 
locfte,  als:  icfy  wußte,  baß  er  fterblicfj  war»  2ludj  wir  Ijaben 
unfere  Spartaner  unb  Spartanerinnen,  ber  Scfyauplafc  für  bie 
Betätigung  ifyrer  Seelengröße  ift  ber  Salon,  ber  fpartantfdjen 
ZHutter  fetten  wir  als  Seitenftücf  unfere  heutige  Salonbame 
entgegen,  weldje  feine  2Hiene  per3iefyt,  wenn  ify:  fofibares 
(Sefdjtrr  in  Crümmer  getjt,  bas  IDeinglas  ober  bie  Saucen* 
fdjale  ifyren  3nl|alt  über  iijr  Kleib  ergießt,  —  bas  Salon- 
fpartanertum  ber  feinen  (Sefellfdjaft, 

3>er  Spielraum  3ur  Betätigung  biefer  Seelengröße  ijl  lebig« 
lief)  bas  äußere  bes  ZlTenfdjen,  bas  3™***  ?ann  &a3u  einen 
grellen  Kontrafi  bilben.  2lber  oerfennen  lägt  jtdj  bodj  nidjt, 
baß  bie  Selbftbefyerrfdjung,  bie  ber  ZHenfdj  in  be3ug  auf  bas 
äußere  fiel?  an3ueignen  genötigt  worben  ifi,  ifym  audj  in  be3ug 
auf  bas  3nnere  3ugute  fommt,  idj  erinnere  an  meine  frühere 
Bemerfung  über  ben  er3iel|erifdjen  <£influß  ber  feinen  5orm 
auf  ben  inneren  2Henfd?en  (S.  270/272). 

3cfy  fyabe  fdjließlidj  nod?  einer  <£rfdjeinung  3U  gebenfen, 
[463]  welche  uns  in  be3ug  auf  bas  antipat^ifd)  2lnftößige 
jene  Übertreibung  eines  an  jtcfy  rid)tigen  (Sebanfens  aufweift, 
beren  toir  oben  (S.  295)  gebadeten  unb  ber  wir  nodj  öfters 
begegnen  werben.  Der  Con  ber  Domeljmen  tDelt  £^at  mancher 
(Drten  —  in  erfter  Cinie  ift  fyier  wieberum  (Englanb  3U  nennen 
—  bas  Derbot  ber  ^eftigfeit  bis  3U  bem  ber  Cebt^aftigfeit 
gefteigert.  Der  ZHann,  wie  fie  iE^n  perlangt,  fotl  niemals 
warm  werben,  an  nidtfs  ein  lebhaftes  3^tereffe  oerraten,  nad? 


Das  antipatfyifd?  ilttjlögtge.  —  £ebhaftig?eit  erlaubt  363 

ber  2lmt>eifung,  bie  £orb  Ct^efterfielö  feinem  Sohne  gab,  barf 
er  fogar  nietet  einmal  lachen,  nur  lächeln,  ber  Con  feiner 
Stimme  foH  jlets  gebämpft  fein,  ftch  nicht  3um  t>oHen  Klange 
erheben,  fein  (ßeftcht  foH  um>eränberlich  benfelben  füllen, 
gleichgültigen,  gelangtr>eilten  JlusbrudE  behalten  —  bie  £eiben* 
fdjaftsloftgfeit  abgetötet  bis  3um  Steine  ber  (Sefühls*  unb 
(Empfmbungsloftgfeit,  ber  fieinerne  (Saft,  in  beffen  £tähe  es 
einen  IHenfchen  mit  gefunbem  (Sefüfyl  fröftelt,  eine  Karrifatur 
bes  natürlichen  Zltenfchen.  Das  TXlotiv,  bem  er  feinen  Ur* 
fprung  r>erbanft,  iji  bas  23ejireben  ber  I{5E)eren  Stänbe,  ftch 
burch  eine  2trt  bes  Benehmens,  bie  ber  gebilbete  Xltamt  ber 
ZHitteljlänbe  aus  gutem  (Srunbe  nicht  fennt,  unb  bie  er  3U 
t>erftänbig  ijl  nad^uäffen,  von  ben  übrigen  ab3uheben,  bas« 
felbe  ungefunbe  TXlotiv  ber  Stanbeseitelfeit,  bem  toir  bereits 
fo  vielfach,  3.  23.  bei  ber  ZlTobe  (S.  \S6)  unb  anberrcärts 
(S.  279)  begegnet  fmb.  <£s  jtnb  bie  flehten  5ü§e  ber  CEpnefut, 
bie  2lblerflauen  bes  vornehmen  ZTlamtes,  bie  blaffen  XDangen 
ber  pornehmen  2)ame,  b,  h»  [464]  Unnatur  als  Reichen 
ber  jtch  fprei3enben  Vornehmheit,  in  XDirflichfeit  bas  testi- 
monium  paupertatis  berfelben,  benn  bie  tx>ahre  Vornehmheit 
bebarf  folcher  fünjllicher  €rfennungs3eichen  nicht,  fte  ift  fchon 
als  fotehe  erfennbar*  groifchen  ber  Siebehifee  bes  Blutes, 
toie  fte  in  ber  £eibenfchaft,  unb  bem  (Sefrierpunft  besfelben, 
toie  er  in  biefer  fünjtlich  entrungenen  eifigen  Kälte  3ur  <2r* 
f Meinung  gelangt,  liegt  in  ber  JHitte  bie  natürliche  Blut* 
roärme  bes  Siethens,  unb  fie  ift  bie  richtige  Temperatur  bes 
gefelligen  Derfehrs.  <£ine  (SefeDfchaft,  bie  fte  nicht  ertragen 
fann,  ifi  ungefunb,  blaftert,  überrei3t,  fie  beraubt  ftch  f elber 
ber  fchönften  Blüten  bes  gefelligen  £ebens,  bie  toie  alles 
Ceben  nur  in  ber  H)ärme  gebeihen,  nicht  in  ber  (Eisregion, 
tx>o  alles  Ceben  erftarrt,  ihr  richtiger  plafe  ift  ber  Horbpol. 


36$ 


Kapitel  IX.   Die  fötale  XXie^amh  Das  Sittliche* 


Das  fe^nel!  ^Inftögtge  (bas  3n&e3ente), 
3>ie  gegenwärtige  Kategorie  bes  2lnftö§igen  ^ebt  jtch  t>on 
ben  t>orhergehenben  burch  folgenbe  brei  punfte  gari3  fd^arf 
tmb  beftimmt  ab«  gunächft  burch  ihren  (Segenftanb.  3)er 
2Ingelpunft,  um  ben  biefe  2Irt  bes  2tnftö§igen  jtch  breht,  ift 
ber  (Segenfafc  ber  (Sefchlechter,  ein  2Tfoth>  bes  2tnftö§igen, 
bas  uns  im  bisherigen  noch  nicht  begegnet  iji,  unb  bas  ich 
burch  ben  «gufafe  bes  Sexuellen  fenn3eichne.  5obann  burch 
ben  (Einfluß  ben  hier  bie  Derfchiebentjeit  ber  perfon  begrünbet, 
in  beren  (Segentoart  ber  Derfiojj  begangen  roirb :  bes  beugen 
bes  Jtnftöjpgen  (S.  30Hf.).  5ür  unfere  brei  bisher  beleuchteten 
Kategorien  bes  2tnftögigen  [465]  begrünbet  bie  Derfdjiebenheit 
bes  beugen  feinen  Unterfdjieb.  ©b  biefelben  in  <5egemr>art  oon 
ZHännern  ober  grauen,  5reunben  ober  Sefannten,  <£m>achfenen 
ober  Kinbern  gefchehen,  ift  ooHfommen  gleichgültig,  bie  ent* 
fprechenben  2faßanbsgebote  verpflichten  fchlechthin,  abfolut, 
ohne  Unterfchieb  ber  perfon.  5ür  bas  fefuell  Slnftößige  ba* 
gegen  ift  bas  perfönliche  ZlToment  pon  gan3  entfeheibenbem 
(Einfluß.  Der  IHann  barf  in  ber  Unterhaltung  mit  ZTIännern, 
bie  5rau  in  ber  mit  grauen  Dinge  besprechen,  welche  perfonen 
bes  anbetn  (Befchledjts  gegenüber  3u  berühren  eine  fehlere 
Perlefeung  bes  2Inftanbes  enthalten  tr>ürbe  —  fejrucH  innerhalb 
besfelben  (Sefchledjts  serftattet  ift  ber  (Sefprächsgegenflanb 
jenfeits  besfelben  verpönt.  Unb  felbji  bei  perfonen  besfelben 
(Sefchlechts  behauptet  es  nicht  überall  benfelben  Charafter. 
Was  ber  <£rroachfene  mit  <£ra>achfenen  behanbeln  barf,  3iemt 
ftch  nicht  für  bie  (Dtiven  bes  Kinbes,  unb  bie  ^reiEjett,  bie 
man  jtch  genauen  Gelaunten  gegenüber  oerftatten  barf,  nicht 
ferner  ftehenben  perfonen  gegenüber.  Das  2lnftößige  ber 
übrigen  Kategorien  ift,  von  ben  oben  (5.  302)  fyvvotQe* 
hobenen  XHobiftfationen  abgefehen,  jiets  anftöjjig,  bas  3n* 
be3ente  nur  unter  gett>iffen  Porausfefcungen. 


Das  fejuett  ^Infiogige* 


365 


Damit  fyängt  ber  britte  Unterfchieb  beiber  3ufammen.  Das 
2tnftößige  ber  brei  anbeten  Kategorien  tjl  ftets  nichts  anberes 
als  anfiögig,  bas  ber  gegenwärtigen  Kategorie  bagegen  fann 
je  nach  Perfchiebenheit  ber  Umjtänbe  einen  äußerft  oerfchieben« 
artigen,  nämlich  einen  fechsfadjen  [466]  Cl^arafter  annehmen, 
es  fann  fein  geboten  —  inbifferent  —  taftlos  —  anftögig 
—  unjtttlicfi  —  rechtlich  flrafbar  —  es  fdjiHert  n>ie  bas 
Chamäleon  in  allen  färben. 

Die  Sprache  Bjat  für  bas  fejueU  2tnftö§ige  t>ier  perfchtebene 
2lusbrücf  e  t>on  einer  begrifflich  etwas  t>erfchiebenenXtüan3ierung, 
welche  lefetere  aber  für  meine  gweefe  ohne  3n^r^ffe  ifc 
obf3on,  tnbe3ent,  las3it>,  fchlüpfrig;  bie  brei  erjien  ftnb  ^remb- 
wörter,  lebiglich  bas  lefctere  beutfehen  unb,  wie  es  fchetnt, 
relatio  recht  fpäten  Urfprungs*),  eine  Catfadje,  bie  mir  be* 
achtenswert  genug  erfcheint,  um  jte  B)eroor3U^eben  unb  um 
txxvan  bie  5r<*ge  3U  fnüpfen,  beren  Beantwortung  ich  bem 
Sprachforfcher  überlaffe,  ob  unfere  Porfahren  erji  fo  fpät  3um 
23ewuf$tfein  bes  3nbe3enten  gefommen  jtnb.  Unter  ben  vov* 
genannten  2tusbrücfen  greife  ich  ben  bes  3n^^3en^n  als 
meiner  Anficht  nach  paffenbjlen  heraus. 

JDorauf  beruht  bas  2tnftößige  bes  ^}ni> ernten?  Der 
(ßegenfafe  ber  (Befchlechter  ift  eine  tEatfache  ber  Ztatur,  gans 
fo  wie  jebe  anberef  wie  2llter  unb  3ugenbf  £eben  unb  Cob; 
roarum  foHen  wir  biefe  1L<xt\a<tie  nicht  ebenfo  unbefangen 
befprechen,  toie  alle  anbern?  IDeil  bas  Schamgefühl  feinen 
Sann  auf  fie  gelegt  hat?  2tber  roarum  nimmt  basfelbe  an 
biefer  Catfache  ber  ttatur  2tnfto§?  [467]  £{at  ber  tflann  jtch 
3U  fdjämen,  ba§  er  2Hann,  bie  5rau,  ba§  fte  5rau  ift?  Das 
Schamgefühl  ift  nichts  Urfprüngliches,  bem  Zfienfchen  2ln* 
geborenes,  fonbern  ber  Hteberfchlag  ber  (Sefchichte,  unb  bie 

*)  Bei  tPetganb,  Deutf djes  Wcxtetbnd),  ftttbe  td?  als  äugerfle 
(5rett3e  bas  fünf3efjnte,  be3tefyungstpetfe  bas  me^efynte  3a^rl]unb?rt 
genannt» 


366 


Kapitel  IX.   Die  fo3iale  ITCecfyanif.   Das  Sittliche* 


mofaifdje  Sdjöpfungsgefdiid}te  Ijat  sollfommen  bas  richtige 
getroffen,  rx>erm  fie  basfelbe  erft  mit  bem  SünbenfaH  ent- 
gehen lägt  —  2Ibam  unb  <£t>a  im  parabiefe,  b,  t|.  ber  Zfienfd] 
im  beginne  ber  <5efd]id]te  hat  an  bem  (Segenfafce  ber  <Se* 
fcfyledtfer  feinen  2Inftoj$  genommen. 

2)  as  ZHotip  bes  3nbe3enten  ijt  prafiifdjer  2lrt,  es  ift 
gelegen  in  ber  «JErfenntms  feiner  (Befäljrlichfeit;  bas  3n- 
be3ente  t>erhält  ftdi  3um  feyueQ  Unfittlichen  tote  bas  (ßefähr* 
liehe  5um  Sdjäblichen  (5.  206),  b.  h-  es  ift  nicht  fcfyon  als 
foldjes  unfittlid7,  aber  es  ift  banach  angetan,  bem  Unfttt* 
fidlen  Dorfdjub  3U  leiften;  bas  Derbot  bes  3nbe3enten  im 
Derfehr  beiber  (ßefchledjter  fällt  unter  ben  (Sefichtspunft  ber 
feyueHen  Sicherheitspoli3ei  (S*  207). 

3)  ie  Spraye  J^at  bies  in  ihrer  lüeife  treffenb  ausgebrücft. 
Sie  be3eid)net  basfelbe  als  „fchlüpfrig":  voo  es  fchlüpfrig  ift, 
gleitet,  a>er  nicht  pöüig  fieser  geht,  leicht  aus;  als  „locfer": 
ber  fefte  23oben  ber  fittlichen  (Srunbfäfee  txnrb  baburch  „ge* 
locfert"  —  auf  foldjem  Soben  fann  bie  Cugenb  leidet  3u 
5aHe  fommen. 

5ür  bie  richtige  2Iuffaffung  bes  3nbe3enten  ift  es  höchft 
öffentlich,  bie  beiben  angegebenen  §üge,  ben  negativen,  baß 
es  nicht  fchon  als  folches  unftttlid?  ijt,  unb  ben  pofttisen,  bafc 
es  ber  Cugenb  (Sefah*  broht,  ftreng  [468]  auseinanber  3u 
galten.  3n^3cn*e  Äußerungen  in  <ßegemt>art  t>on  perfonen 
bes  anbern  (Sefchlechts  fönnen  aus  bem  ZHunbe  eines  ZtTannes 
fommen,  ber  bamit  nicht  bie  minbejie  unftttliche  2Ibjtcht  per* 
hinbeti  ja  nicht  einmal  bas  23eu>ußtfein  ihres  anftößigen 
£h<*rafters  fyat,  er  begebt  bamit  einen  gefelifchaftlichen  Der- 
floß,  ben  man  feiner  mangelhaften  <£r3iehung  3ugute  galten 
fann,  aber  nichts  Unfittlicfyes,  er  vergeht  jtch  gegen  bie  Sitte, 
aber  nicht  gegen  bie  ZHoral  —  bas  3nbe3ente  ifi  als  folches 
nicht  unfittlich* 

2lber  bas  3nbe3ente  fann  fubjeftit)  ber  böfen  2lbftd}t  bienen, 


Das  fejuell  2Inftögtge* 


367 


in  biefem  5alle  nimmt  es  ben  <£fyarafter  bes  fubjeftto  Un* 
fittlichen  an»  £>em  Perfudjer  bient  es  als  Hiittel,  um  feinen 
Angriff  auf  bie  weibliche  Slugenb  vorbereiten,  ben  fejlen 
Boben  ber  fittlichen  (ßrunbfäfee  3U  lodern,  als  Wühler,  Cafter, 
rvie  tveit  er  bei  ber  Verfolgung  feines  «gtoedfes  vorfchreiten  barf. 
Codere,  3toeibeutige  Heben  fmb  bie  erften  2lpprochen  bes 
ieinbes,  ber  bie  5ef<ung  3U  erobern  gebenft,  ein  Angriff  aus 
weiter  $exne  vorbereitet,  ber,  tvenn  er  3urüdgefchlagen  tvirb, 
feine  weiteren  5olgen  für  ihn  I^at,  ihm  feine  Demütigung 
einträgt,  tvenn  er  gelingt,  ihn  ermutigt  weiter  3U  gehen,  3)ie 
Hegion  bes  3nbe3enten  fteOt  ^eftungsrayon  ber  weiblichen 
Keufd]f]eit  unb  tEugenb  bar,  3n  biefem  Hayon  foH  fein  ehr« 
bares  lüeib  ben  Hlann  bulben,  gleichgültig,  ob  er  ihr  ba« 
nach  angetan  erfcfyeint,  einen  Angriff  von  ihm  31t  gewärtigen 
unb,  ob  fte  [ich  ftdjer  genug  fühlt,  benfelben  [469]  ab3uwehren 
ober  nicht*  <£s  h<*nbelt  fich  babei  nicht  um  bas  3nbit>ibueIIe 
bes  ein3elnen  Calles,  bie  (ßefaBjr,  bie  biefer  5rau  von  biefem 
ZTianne,  fonbern  um  biejenige,  welche  burch  bas  3nbesente 
bem  gan3en  (gefchlechte  broBjt.  €s  fteht  fyet  ein  gemeinfames 
3ntereffe  bes  gan3en  (ßefchlechts  auf  bem  Spiele,  bas  jebes 
HTitglieb  besfelben  3U  wahren  ebenfo  berechtigt  wie  verpflichtet 
iji.  JDas  würbe  aus  ben  Schwachen  unb  (Sefährbeten,  wenn 
bie  Starfen  unb  Ungefährbeten  ftch  fytt  lebiglich  burch  it^r 
perfönliches  3ntereffe  leiten  laffen  wollten?  (Berabe  bie 
lefcteren  jtnb  in  erfter  £inie  berufen,  ben  von  ber  Sitte  mit 
weifem  Dorbebacht  errichteten  Schuferayon  ber  weiblichen 
Keufchheit  unb  Sugenb  3U  verteibigen,  unb  wenn  es  wahr 
ift,  was  ich  in  meiner  Schrift  über  ben  Kampf  ums  Hecht 
ausgeführt  l\ahet  baß  ber  ZHann  nicht  bloß  Kämpfer  fein 
foU  für  fein  Hecht,  fonbern  für  bas  Hecht  überhaupt,  fo  ift 
es  nicht  minber  wahr,  baß  bas  IDeib  nicht  bloß  Kämpferin 
fein  foü  für  ihre  Keufchh^it  unb  Cugenb,  fonbern  für 
bie  weibliche  Keufchheit  unb  Cugenb  überhaupt.  Siefelbe 


563        Kapitel  IX.   Die  feciale  Uledjamf*  Das  Sittliche* 

Aufgabe,  bie  beim  Hechte  bem  Itlamte  3ufäHt,  liegt  bei  biefem 
Stücfe  ber  Sitte  bem  IDeibe  ob,  unb  jebe  tugenbhafie  5ran 
fühlt  bies  richtig  heraus,  Der  moralifche  IDiberrciHe  unb 
<£fel,  ben  fie  gegen  bas  0bf3Öne  empfmbet,  B|at  nic^t  barin 
feinen  (5runb,  ba§  ihr  perfönlich  von  bemfelben  (ßefahr  broht, 
fie  ift  fo  u>eit  entfernt,  fich  baburch  gefährbet  3U  finben,  ba§ 
fte  ftch  im  (Gegenteile  baburch  abgeftoßen  fühlt.  Diefe  Hb* 
neigung  beruht  nicht  [470]  auf  einem  angeborenen  3n{tinft 
ober  IDibem>illen,  fonbern  auf  ber  ihr  burch  bie  €r3iehung 
3ugute  gefommenen  Übertragung  ber  (Erfahrungen  bes  gan3en 
(Sefchlechts.  Das  Schamgefühl  bes  IDeibes  ift  aner3ogen,  unb 
feine  23ebeutung  liegt  nicht  foroohl  nach  bet  pfychologifchen 
ober  fittlich  äftfjetifchen  Seite  h^,  wonach  es  als  mißfallen 
ber  reinen  Hatur  am  Schmufeigen,  (gemeinen  3U  befinieren 
märe,  als  vielmehr  nach  ber  praftifchen  —  bas  Schamgefühl 
bes  IDeibes  ift  bas  5ühlhoirn  *>et  weiblichen  Keufchh^it  gegen* 
über  ber  ihr  von  feiten  bes  VTiannts  brohenben  (Sefahr. 

ZHit  biefem  (Sefichtspunfte  ber  (5efährlich?eit  bes 
3nbe3enten  für  bie  Cugenb  bes  IDeibes  glaube  ich 
bas  ZDefen  besfelben  toiebergegeben  3U  \\abzn.  3^h  führe 
bie  ein3elnen  barin  enthaltenen  IHomente  roeiter  aus. 

<£s  ift  bas  IDeib,  um  bas  es  ftch  beim  3nbe3enten  hcmbelt. 
Ztur  bas  IDeib  ift  gefährbet,  nicht  ber  IHann,  bas  IDeib  ijl 
ber  angegriffene,  ber  IHann  ber  angreifenbe  (Eeil.  Die  5rau 
ift  es  getoefen,  welche  bas  3nbe3ente  unter  ben  Sann  getan 
hat,  inbem  fte  bem  Zfiamte  bie  2llternatit>e  fteHte:  wähle 
3tt>ifdien  mir  unb  bem  3nbe3enten;  foß  ich  in  ber  (SefeUfchaft 
ber  IHänner  erf feinen,  fo  muß  ich  ßcher  fein,  ba§  nicht  bas 
(ßemeine  mein  (Dfy  t>erlefee,  follen  bie  (Staden  bein  Utah! 
t>erfchönen,  fo  müffen  bie  5aune  ben  plafc  räumen.  <£s  h<*t 
lange  §eit  gefofiet,  bis  fte  ihre  5orberung  burchgefefct  h<*t. 
2lber  es  ifi  ihr  gelungen.  Die  Derpönung  bes  3n^5enten 
iji  bas  [471]  htftorifche  IDerf  unb  bas  Derbienjl  ber  $tau. 


Das  3nbe3mte*  —  prafttfcfje  (ßefä^rltd^feti 


369 


Unb  ber  XHann  ^at  es  nicht  3U  bereuen,  ihr  nachgegeben  3U 
^aben  —  tvas  er  ber  $taxx  getan,  l\at  er  fich  felber  getan, 
er  verbanft  feiner  5ügfamfeit  bas  Befte,  tvas  fie  ihm  3U 
bieten  vermag:  ben  ftttlidj  verebelnben  (Einfluß  bes  JDeibes 
in  ber  (ßefeUfchaft  —  bie  Keufchh^it  ber  3ungfrau  —  bie 
tEreue  ber  (ßattin. 

<£s  ift  bie  Cugenb  bes  IDeibes,  fagte  ich,  tvelche  burch 
bas  3n^e3en^e  gefährbet  tvirb.  Sie  felber  mußte  erft  ba 
fein,  bevor  t>on  einer  Schufeanftalt  für  fie  bie  Hebe  fein 
fonnte  —  folange  bie  ^eftung  noch  nicht  ejiftiert,  bebarf  es 
feiner  fdjü&enben  Dortverfe.  <£rjl  mußte  bie  ZHoral  am  IDeibe 
ihr  IDerf  verrichtet,  bie  Keufchh^it  unb  Cugenb  ins  Ceben 
gerufen  haben,  bevor  fie  bie  Sitte  3U  beren  Schuß  entbieten 
fonnte.  Der  (Segenfafc  ber  (ßefchlechter  mußte  erft  (Segen* 
^taxxb  ftttlicher  (ßeftaltung  getvorben,  alles  bas,  tvas  ber  Ur* 
3eit  bes  ZHenfchengefchlechts  angehört  (£}etärismus,  tflänner* 
unb  ^rauengemeinfehaft),  erfl  befeitigt,  bas  (Sefühl  einer  bem 
IDeibe  in  feyueller  Be3iehung  aufliegenben  Selbftbeherrfd^ung 
erft  allgemein  getvorben  fein,  bevor  bie  (Befahren,  tvelche 
bas  3"be3ente  ber  Behauptung  ber  tveiblichen  Keufd?heit, 
Creue,  Cugenb  brohte,  erfannt  tver ben  fonnten.  Sie  <Er« 
fenntnis  bes  fefuell  Unmoralifchen  ift  baher  überall  ber  bes 
fefuell  2lnftößigen  vorausgegangen  —  ber  Begriff  bes  3"* 
be3enten  ift  fpäteren  Datums  als  ber  bes  Unmoralifchen,  bie 
(ßefellfchaft  h<*t,  tvie  bie  (ßefchidtfe  [472]  lehrt,  erfteres  noch 
lange  gebulbet,  nachbem  fte  festeres  bereits  längft  unter  ben 
Bann  getan  hatte. 

Das  britte  ZHoment  meiner  obigen  Definition  tvar  bie 
praftifdje  (ßef ährlichfeit.  Was  gefährlich  ift,  lernt  ber 
ZHenfch  erft  burch  bie  (Erfahrung  —  bie  (Se*  fahren  muß  er 
erfahren,  an  ftd)  ober  an  anberu.  2Iuch  bas  Sd^äblidje  lernt 
ber  ZHenfdi  erft  in  ber  Schule  ber  (Erfahrung,  aber  in  be3ug 
auf  festeres  tvirb  ber  ZHenfd)  ungleich  früher  gervifcigt  als 

r.  3  *!**tni},        §roecf  im  Hed?t.  II.  24 


570 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ItTea^ant?*  Das  Sittliche. 


in  be$i\Q  auf  erfferes,  bes  Sdiäblidjen  fyat  jtcfy  bie  (Sefetlfdjaft 
überall  ungleich  früher  ertoeljrt  als  bes  (gefährlichen.  2luf 
bem  (Sebtete  bes  Hedits  geht  bie  Krimiualrechtspfiege,  welche 
bie  Sicherung  ber  (Sefeüfchaft  gegen  bas  Schäblidje  (bas 
Pergehen,  Perbrechen)  3um  gtoeefe  ^at,  ber  Sicherheitspolisei, 
tx>elche  bie  Tlbmefyt  bes  (gefährlichen  (bas  polt3eitt>ibrige)  3ur 
Aufgabe  hat,  lange  voraus.  £benfo  auf  bem  (Sebiete  bes 
Sexuellen*  Das  Mnmoralijche  entfpricht  bem  Hechtstmbrigen, 
bas  3n^3ente  bem  poli3eittnbrigen,  bie  fejuelle  Sicherheits* 
pou3ei  Bjat  ftch  im  Perhältnis  3ur  gefeßfchaftltchen  Hepreffion 
bes  fejueH  Unfittlichen  um  ebenfornel  fpäter  enttoicfelt  roie 
bie  ftaatlidie  Sicherheitspoli3ei  gegenüber  ber  ftaatlidjen  He- 
preffion bes  Hechtstt>ibrigen»  <§>uerft  fam  bas  fejrueüe  Per* 
gehen  unb  bas  Perbrechen  an  bie  Heihe,  bann  erft  bas 
3nbe3enfe  unb  bas  poli3eitt>ibrtge* 

Der  5ortfchriit  unferer  heutigen  <§eit  in  be3ug  auf  bie 
praftifdje  23efämpfung  ber  Perbrechen  fommt  roeit  mehr  auf 
Hechnung  ber  perbefferten  poÜ3ei  als  ber  oerbefferten  [473] 
Sirafrechtspflege.  Der  poli3ei  in  erfter  £inie  serbanfen  toir 
bie  Sicherheit  ber  £anbftra§en  unb  bamit  bie  Seltenheit  ber 
Haubanfälle  unb  ZHorbtaten,  bie  in  früherer  geit  trofe  ber 
ungleich  härteren  Strafen  an  ber  Cagesorbnung  tt>aren.  So 
fommt  meiner  2lnftcht  nach  auch  bie  gefteigerte  Sitttichfeit  bes 
tx>eiblichen  (Sefchlechts  in  unserer  heutigen  <geit  nicht  fott>ol}l 
auf  Hechnung  ber  ZHoral  als  ber  Sitte.  Unfere  heutige  &e\i 
hat,  wenn  ich  meinen  obigen  Pergleich  beibehalten  barf,  bie 
Hegion  bes  2ni>e$enten,  bie  ich  als  ben  5eftungsrayon  ber 
roeiblichen  Cugenb  be3eidjnete,  ben  fein  HTann  betreten  foü, 
im  Pergleich  3U  früheren  Seiten  außerorbentlid)  erweitert, 
man  mödjte  es  pergleichen  mit  ber  heutigen  u>eiten  fjinaus* 
fchiebung  ber  5eftungstperfe  im  Verhältnis  $u  ber  ehemaligen. 
0b  biefe  2lusbehnung  nicht  Ijicr  unb  ba  bas  richtige  HTa§ 
überfchritten  Ijat?    Die  Sprad^e  bejaht  biefe  5rage  burd? 


Das  3nbe3ente*  —  Die  prüberie« 


37^ 


ben  2Iusbrucf  unb  ben  Begriff  ber  prüberte,  b*  t*  ber  3um 
Kr anf haften  gefteigerten  £mpfmblid)feit  bes  roeibüdjen 
Schamgefühls,  ber  Übertreibung,  Karrifatur  bes  an  ftc^ 
Hiesigen. 

3d?  fdjließe  hiermit  meine  (Erörterung  bes  ^nb^enteri 
ab,  um  nunmehr  bie  Bicbtigfeit  ber  obigen  Behauptung 
(S.  36^)  bar3utun,  baß  bas  SeyueHe  je  nad}  Derfdjiebenfyeit 
ber  Umjiänbe  einen  gän3lid}  t>erfd)iebenen  C^arafter  annehmen 
fann.    Dasfelbe  fann  nämltdj  fein: 

a.  (geboten. 

T>ies  iji  ber  5<*Q,  too  roiffenfd]aftlid)e  ober  praftifdje 
3ntereffen  bie  Berührung  fefueller  Derfyältniffe  notroenbig 
[474]  machen,  roie  3.  23*  bei  ben  fragen  bes  y^tes  an  bie 
Patientin,  bes  Unterfudjungsridjters  an  bie  <5efangenen,  ober 
im  Dortrage  bes  Anatomen,  p^ypologen.  Die  lüiffenfdr,aft 
fennt  nichts  3nbe3entes,  sorausgefefet,  ba§  fte  es  iji,  bie  ben 
(ßegenftanb  befyanbelt,  unb  nidjt  etwa  bie  £üfterni?eit,  bie 
unter  bem  2)ecfmantel  ber  tDiffenfdjaft  im  5d]mufee  roü^lt 
—  eine  proftitution  ber  XDiffenfcfyaft,  bie  Ieiber  in  früherer 
«geit  auf  beutfdjen  Unioerfitäten  gar  nichts  feltenes  u?ar*). 


*)  3^?  erinnere  mtd?  nodj  ans  metner  Stubien3eit  mancher  afafce* 
mifcfyer  iefyrer,  meldje  fidj  ntdjt  entblöbeten,  ben  £etjrf*ul}l  in  btefer 
XPeife  3U  entroeitjen,  insbefotibere  eines  tfriminaliften  auf  einet  jüb* 
beutfdjen  Unioerfttät,  bem  es  3um  Bebürfms  gemorben  mar,  tägltd,  oot 
ben  klugen  ber  gutjörer  auf  bem  Kattjeber  fein  moralifdjes  Sdjlammbab 
3U  nehmen*  307  t^ätte  es  bamals  nidjt  für  möglicfy  gehalten,  ba§  oer* 
felbe  in  einem  IHanne  auf  einer  anbem  Unicerfttät,  ben  es  mit  fpäter 
befdjteben  mar  3um  Kollegen  3U  erhalten,  nodj  feinen  ITTetfter  flnben  follte. 
Die  Scfyamloffgfeit  besfelben  ging  foroeit,  feine  fdmautygfien  <8efdjta?ten  in 
feinem  eignen  £}aufe  an  IPetb  unb  (Eöd/tern  abfpielen  3U  laffen  —  es 
Farn  ber  gan3en  jfamilie  in  (Seftalt  bes  Honorars  3ugute!  Ködje  fud?en 
fabe,  gefdjmacflofe  Speifen  burdj  fdjarfe  23ei3en  unb  gepfefferte  Saucen 
fdjmautjaft  3U  machen  —  ein  Dement  fann  über  ben  lüert  beffen,  was 
er  bietet,  fein  felbf.üernidjtenberes  Urteil  abgeben,  als  menn  er  foldie 
Hei3mittel  für  nötig  tjä'lt* 

2<** 


372 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IHecbariif.   Das  Sittlidje. 


b.  (Erlaubt  ober  inbifferent. 

3fi  biefelbe  Hebe,  welche  ber  5rau  gegenüber  mbe3eut 
fein  würbe,  es  auch  bem  HTanne  gegenüber?  Der  moralifche 
Higorift  wirb  bie  5rage  bejahen,  iDas  fann  bie  perfon, 
wirb  er  fagen,  an  bem  objeftir>en  Ct^arafter  besfelben  änbern? 
3m  wirflichen  £eben  benft  man  anbevs  barüber,  unb  bas 
£eben  t^at  Hecht  IDer  fich  ben  praftifchen  [475]  (Srunb,  auf 
bem  bas  Derbot  bes  3n^^3cn^n  beruht,  flar  gemacht  ^at, 
wirb  barüber  nicht  im  gweifel  fein.  Die  öerüfjrung  fejueller 
Dinge  enthält  nicht  fchlechthm  etwas  2Inftö£iges,  (onbern 
lebiglich  im  Perhältnis  von  perfonen  serfchiebenen  (Sefctjlechts. 
Die  &arf  mit  ber  5rau,  ber  HTann  mit  bem  ZHanne 

Dinge  befprechen,  welche  feiner  von  beiben  Ceilen  einer  perfon 
bes  anbern  (Sefchlechts  gegenüber  auch  nur  3U  berühren  tragen 
würbe;  ber  (Segenfafc  ber  (Sefchlechter  iji  alfo  in  biefer  23e* 
3iehung  von  gan3  maggebenbem  (Einfluß  —  was  im  ZHunbe 
bes  Zfiannes  ber  5rau  gegenüber  inbe3ent  fein  würbe,  ift  es 
barum  noch  nicht  bem  Hlanne  gegenüber* 

Die  (SefeQfchaft  räumt  bem  ZHanne  in  biefem  Punfte  bei 
ber  Unterhaltung  mit  ZHännern  einen  weiten  Spielraum  ein, 
fie  perftattet  bem  Wx§  unb  fjumor  wie  aßen  Dingen  ber 
IDelt,  felbft  ben  ernfteften  unb  erfyabenften,  fo  auch  bem 
(Segenfafce  ber  (Befchlechter  bie  textete  Sexte  ab3ugewinnen. 
5ür  beibe  gibt  es  faum  einen  fo  ergiebigen  unb  banfbaren 
Stoff,  einen  fo  t>erlocfenben  Cummelplafc  als  bas  Chema  bes 
SeyueHen;  ihnen  basfelbe  Denselben,  $xe§e  eine  ber  uner« 
fchöpflichften  Quellen  ber  (Erweiterung  fowohl  in  ber  Citeratur 
wie  im  gefelligen  Perfehr  perfchliejjen,  ben  IDife  unb  f}umor 
an  bie  Kette  legen. 

2lber  ber  Freibrief,  ben  bie  (ßefellfchaft  ausftellt,  lautet 
auf  VOx%  unb  f}umor,  nicht  auf  Hoheit  unb  (ßemeinheit  £t>ir 
wünfehen  burch  bas  leidste  Spiel  bes  (Beiftes  erfreut  unb  er- 
heitert 3U  werben,  bie  (ßefchieflichfeit,  (ßewanbtheit,  [476]  Kunft, 


Steigerung  bes  3nbe3enten  3um  Uttfittlidjen*  373 


mit  ber  ber  JDife  auf  biefem  Cummelplafee  feine  elaftifdjen 
Salle  tt>irft  unb  fängt,  3U  betounbern,  aber  bie  Hoheit  unb 
(Semeinfyeit,  md]t  funbig  bes  leichten  Spiels,  tmrft  uns  mit 
plumper  J^anb  ben  Ball,  ftatt  mit  iljm  3U  fpielen,  in  bie 
2üigen,  fte  erregt  ftatt  IDofylgef  allen  unb  £adjen  nur  £fel 
unb  XDibertruHen. 

Damit  ift  bereits  bie  britte  5orm  genannt,  tt>eld}e  bas 
Sexuelle  annehmen  fann,  es  ift 

c.  bie  bes  äftfyetifd?  2tnftößigen. 

3dj  fann  mid),  roas  biefe  Kategorie  betrifft,  auf  meine 
früheren  Ausführungen  (S.  3^8)  besiegen. 
Die  vierte  5orm  ift  bie  bes 

d.  Caftlofen. 

21udj  unter  ZHännem  3iemt  fidj  nidjt  alles  in  gleicher 
tDeife.  Der  Con  ber  Pertraulidjfeit,  ben  toir  bei  näheren 
Befannten  anfdjlagen,  eignet  ftdj  nidjt  für  femerfteljenbe 
perfonen;  Scfye^e,  Späjje,  bie  bei  jenen  am  plafce  finb, 
fönnen  biefen  ober  Dorgef efeten  gegenüber  eine  Caftlofigfeit 
enthalten  (XTr.  unb  biefer  (Sefidjtspunft  ift  audj  für  bie 
Befyanblung  fejrueller  Dinge  maßgebenb;  unter  biefer  X?or« 
ausfefcung  finbet  barauf  nidjt  ber  Dorumrf  bes  3n^3enten, 
fonbern  bes  Caftlofen  2tnroenbung. 

e.  Unfittlid?. 

Das  3x\i>e$ente  u>irb  3um  Unfittlidjen,  u>enn  es  fubjeftip 
ber  böfen  21bfidjt  bienen  foll  (S,  366  f.).  2lber  aud}  unabhängig 
bat>on  fann  es  ben  Cfyarafter  bes  Unfittlidjen  annehmen, 
nämlich  im  XHunbe  von  perfonen,  benen  eine  [477]  €r* 
3ieljungspflid}t  obliegt:  Altern,  Cetjrer,  <£r3ietjer,  ihre  Aufgabe 
geht  gerabe  bafyn,  ben  ihnen  anvertrauten  perfonen  alles 
ftttlich  (gefährliche  fem3uhalten.  £as3ipe  Heben  in  ihrem 
ZHunbe  ftnb  gerabe3u  frevelhaft,  ein  <5ift,  bas  jte  in  bie 
Seele  bes  Kinbes  träufeln,  —  ein  moralifcher  (Siftmorb.  Das 
Recht  aetvährt  bagegen  feinen  Schüfe,  es  ift  bies  einer  jener 


374        Kapitel  IX.   Die  fotaie  iried?antf*   Das  Sittliche. 

£äCe,  wo  bas  Hectjt  bem  Söfen  gegenüber  jxd)  machtlos 
ertneijl  unb  rx>o  bas  jtttltcfye  (ßefüfyl  in  feie  £ücfe  eintreten 
nm§.  2)as  Hecfyt  fd^üfet  nur  ben  £eib*),  nicfyt  bie  Seele,  ber 
Schaben,  ber  jenem  3ugefügt  u>irb,  fällt  in  bie  finnlidje  VOa^v 
nefymung,  ber  Schaben,  ber  biefer  3ugefügt  tr>irb,  nidjt.  Darin 
mag  ber  <5runb  3U  erblicfen  fein,  trarum  bas  Hecfyt  in  ben 
obigen  Derfyältniffen  feine  Jjilfe  getx>ät|rt.  2tber  in  meinen 
2tugen  ifi  bies  ein  fdjroerer  ZHangel. 

Was  bebeixM  eine  Körperserlefeung,  bie  bloß  ben  äußeren 
tTlenfcfyen  trifft,  unb  bie  öietleidjt  in  für3efter  <§eit  rt>ieber 
Ijeilt,  ofyte  irgenbtx>elcfye  bauernbe  folgen  3U  fynterlaffen, 
gegen  bie  Vergiftung  ber  5eele,  bie  für  immer  ben  mora« 
lifcfyen  Kern  bes  HTenfcfyen  3erftört,  nrie  gering  [478]  iji  bas 
(Setoidjt  ber  Scfyulb  bei  ber  Jafyrläffigfeit  eines  tDeidjen* 
ftellers  gegen  bie  eines  £efyrers  ober  £r3ief}ers,  ber  bie  ii>m 
anvertrauten  Kinber  burefy  las3h>e  Heben  moraltfdj  sugrunbe 
richtet?  3n  bet  <£at  ein  fcfyreienbes  Xnijperfyältnis,  bem 
gegenüber  aber  bem  Hedjte,  tt>ie  es  3ur3eit  einmal  ift,  nichts 
anberes  übrig  bleibt  als  ber  ^intt>eis  auf  bie  Unpollfommeu* 
Bjeit  ber  ifjm  3U  (ßebote  fteljenben  HTtttel.  ©b  nidjt  eine 
fommenbe  §eit  Ijier  2lbi|ilfe  bringen  tr>irb?  <£s  tt>äre  ber 
5ortfdjritt  x>on  ben  mt3Üd)tigen  £janblungen  ber  in  §  [7% 
Zlt.  \  genannten  perfonen  3U  ben  als  Porbereitungsfyanb* 
lungen  berfelben  3U  qualifoierenben  mt3Üd}ttgen  Heben. 
tDarum  foHte  man  nicfyt  audj  bie  Hebe  (bas  IDort)  t>or 


*)  VOet  sorfätjUd?  einen  anbeni  förperlid?  mipanbelt  ober  an  ber 
<5efuttbtjeit  befd^äbtgt,  ttrirb  megen  Körperoerletjung  mit  (Sefängnis  bis 
ju  bret  3atjren  ober  mit  (Selbjkafe  bis  3U  eintaufenb  ITCarf  betraft 
(D*  5t.  <S.  £♦  §  225),  VOet  uorfSfelid?  einem  anbern,  um  beffen  (Sefimb* 
tjeit  3U  befdjäbigen,  (Stft  ober  anbere  Stoffe  betbringt,  n>eld?e  bie  (Se- 
funbtjeit  3U  3erftören  geeignet  ftnb,  u>irb  mit  ^ud^aus  bis  3U  3efyt 
3atjren  betraft  (§  229).  VOet  burd?  Jat^rläfftgfeit  bie  Körperrerietymg 
eines  anbern  perurfacfyt,  whb  mit  (Selbftrafe  bis  3U  neuntjunbert  Warf 
ober  mit  (ßefängnis  bis  3U  3tt>ei  3al|ren  beffraft  (§  230)* 


Becfytltcfyes  Perbot  bes  3nbe3enten* 


375 


(Script  ftcHcn?  2)ie  aufrührerifche,  gottesläfterliche,  be* 
letbigenbe  toirb  es  —  toarum  nicht  auch  bie  inbe3ente,  wenn 
bie  Umjlänbe  it^r  ben  Stempel  bes  Verbrecherifchen:  bes  be- 
tagten moralifcben  (ßiftmorbes  aufprägen?*) 

3n  einem  5aIIe  h<*t  bas  Hecht  ftch  in  ber  tEat  bereits 
fotoeit  t>erftiegen,  bas  3nbe3ente  3U  beftrafen» 
f.  Hed?tlid?  ftrafbar. 

€s  iji  ber  5aII  ber  öffentlichen  2lusftetlung  ober  Verbrei- 
tung mächtiger  Darftellungen  (D.  5t.  (5.  23-  §  [479] 
b.  i.  bas  3n^3entef  welches  bie  5orm  bes  öffentlich  2tnftöf$igen 
(5.  309)  annimmt:  bie  Verlegung  bes  öffentlichen  2lnftanbes, 

Die  bisherige  Ausführung  roirb  bie  Hichtigfeit  meiner 
obigen  Behauptung  gerechtfertigt  Reiben,  baß  bas  Sexuelle 
bas  etfyfche  Chamäleon  ift  f  bas  in  allen  färben  f chißerh 
<£s  führt  uns  fämtliche  benfbaren  (ßefialtungen  bes  £thifchen 
r>or:  bas  (ßebotene,  (Erlaubte,  Verbotene  (S.  68),  unb  in 
be3ug  auf  letzteres  bie  breifache  2Jbftufung  ber  Fialen  3m* 
peratise:  Sitte,  ZHoral,  Hecht  3n  (ich  f elber  pöllig  unbe- 
ftimmt,  geroinnt  es  feinen  £harafter  erjl  burch  bie  Umftänbe, 
unter  benen  es  auftritt  €s  gleicht  bem  5euer:  wohltätig, 
gefährlich,  t>ernichtenb. 

3ch  glaube  hiermit  meine  Erörterung  bes  3nbe3enten  ab* 
fchließen  3U  bürfen.  5ür  bie  gvoede  meiner  Unterfuchung 
fam  es  lebiglich  auf  3tt>ei  punfte  an:  bie  begriff  liehe  5eft- 
fteüung  unb  2lbgren3ung  besfelben  t>on  t>enr>anbten  (JErfchei- 
nungen  unb  bie  praftifche  Hechtfertigung  bes  Verbots  bes- 
felben.   Was  im  ein3elnen  inbe3ent  ift,  fei  es  im  äußeren 


*)  Die  Berücfftdjttgung  ber  moraüfcfyen  Beeinfluffung  ber  einen 
perfou  burdj  bie  anbere  ijt  bem  Strafrecfyte  fonft  nid?t  fremb,  3.  bei 
ber  tntclleftuellen  Ur^eberfd^aft;  im  römif d?en  Hedjte  finbet  fle  fia?  felbfl 
im  priüatredjte  bei  ber  actio  de  servo  corrupto,  bie  emefy  auf  bie  Kirtber 
erftreeft  IDarb;  quoniam  interest  nostra,  animum  liberorum  nostrorum 
non  corrumpi,  L  \%  pr.  de  servo  corr.  (\\.  3). 


576 


Kapitel  (X,    Die  finale  OTe^aniF.   Das  Sittliche, 


Auftreten  unb  Benehmen  bes  ZlTenfdjen,  fei  es  in  feinen 
Heben  unb  IDorten,  fyabe  id?  felbftserftänblidj  nicfyt  3U  unter» 
flicken.  Hur  in  be3ug  auf  einen  punft  möge  mir  eine  Be* 
merfung  perftattet  fein.  Dertraulidjfeiten,  «gärtlidf  fetten  unter 
<£^egatten,  Brautleuten  gelten  als  anftögig.  IParum?  3jl 
es  mdjt  bas  Hedjt  ber  Ciebe,  jtdj  3U  äugern?  Sidjerlid}! 
Hur  nicfyi  por  ben  klugen  ber  IDelt;  es  gilt  f^icr  bas  fr  über 
von  mir  (ßefagte:  bie  [480]  Welt  brauet  nid?t  alles  3U  fe^en, 
roas  ipir  tun,  J)ie  tpaljre  Siebe  roirb  aud?  bas  Bebürfnis 
einer  folgen  Sdjauftellung  fotoenig  empftnben,  baß  jte  barin 
umgefefyrt  pielmefyr  eine  €nttt>eifyixng  ifyrer  felbft  erblicfen 
tpirb.  ZIüv  bie  ifyrer  felber  nidtf  fiebere  £iebe,  tpeldje  (Srünbe 
3U  ber  2Inna^me  Ijat,  ba§  audj  bie  IDelt  nid]t  an  jte  glaubt, 
ober  bie  ber  Selbftbefyerrfcfyung  entbefyreube,  bes  Hamens 
ber  Siebe  umpürbige  ftnnlidje  (5lut  urirb  ben  2lnrei3  ba3u 
empftnben;  ifyr  perlegt  bie  Sitte  burefy  bas  obige  Perbot 
ben  Weg. 

\5)  Die  £}öflid]feit  Begriff,  IDefen,  pfyänomeno* 
logie  berfelben. 
2)er  Sdjufe,  ben  ber  itnftanb  ber  perfon  in  ifyrem  <gu* 
fammenfein  mit  anbern  getpäljrt,  ift,  tpie  im  bisherigen 
ge3eigt,  negativer  2trt,  er  befdjränft  fidj  barauf,  ifyr  getpiffe  un« 
angenehme  (Sefüfylsaffeftionen  fem  3U  galten.  <San3  benfelben 
C£]arafter  trägt  ber  Scfyufc  an  jtd),  ben  bas  Hedjt  ber  perfon 
als  foldjer  getpäfyrt  (Hedjt  ber  perfönlid]feit),  audj  er  ift  rein 
negativer  2lrt,  audj  er  gefyt  über  bas  blo^e  alterum  non 
laedere  nidjt  hinaus,  nur  baß  bas  laedere  tjier  anberer  2trt 
ift.  Das  laedere  im  Sinne  ber  Sitte  ift  bas  2tnftö§ige,  bas 
im  Sinne  bes  Hedjts  bie  Beleibigung.  Spracfylidi  dmrafterifiert 
fiel]  lefetere  als  gufügung  eines  Ceibs,  fie  fügt  3U  ben  brei 
früher  (S.  350)  fonftatierten  fällen  bes  Ceibs:  bem  bes  Körpers 
(Ceiben),  ber  Seele  (£eib),  bes  JDillens  (£eibenfd)aft),  bas  ber 
per|önlid]feit  [481]  im  Sinne  bes  Hechts  (Be*Ieibigung)  {pnja, 


Die  £?öflttf?feii  —  Stellung  311m  Hedjt  unb  3um  2lnftanb*  377 

genauer  gefprodjen:  itjrer  <£fyre,  einen  Segriff,  ben  tsir  an 
anberer  Stelle  (ßefegenfyeit  erhalten  roerben  ins  2tuge  3U 
faffem  3^bes  £eib  unb  £eiben  begründet  eine  Störung  bes 
normalen  «gufianbes  ber  (Sefunbljeit,  ein  Kranffein,  beim 
£eiben  franft  ber  Körper,  beim  £eib  bie  Seele,  bei  ber 
£eibenfd]aft  ber  IDille,  bei  ber  Seleibigung  bie  perfön* 
lidtfeit.  Die  Sprache  fyat  biefe  IDirfung  ber  Seleibigung 
richtig  erfannt,  inbem  fie  von  einer  Kränfung  unb  toie  beim 
Kranfen  von  einer  XDieberfyerfteHung  ber  fifyre  fpridjt.  Die 
£fyre  txulrbe  fid?  bementfprecfyenb  als  <§uftanb  ber  (ßefunb* 
fyeit  ber  perfönlicfyfeit  im  Sinne  bes  Hechts  befinieren  laffem 
Der  Scfyutj,  ben  bie  Sitte  mittels  ber  <5ebote  bes  2lnftanbes 
unb  bas  Hed]t  mittels  bes  Hedjts  ber  perfönlicfyfeit  ber 
Perfon  3U  teil  roerben  Iaffen,  erfdjöpft  jtdj  in  ber  2lbroel}r 
bes  laedere,  ber  perfon  foH  ify:  gufammenfein  mit  anbern 
nidjt  perleibet  roerben*),  bas  Derleiben  im  Sinne  ber  Sitte 
gefd?iel|t  burd)  bas  2lnftö§ige,  im  Sinne  bes  Hechts  burdj  bie 
Seleibigung, 

XDeiter  als  auf  bies  rein  ZTegatioe  ber  2lbroefyr  ber  23e» 
leibigung  erftrecft  fid}  ber  Schüfe,  ben  bas  Hedjt  ber  perfon 
als  fold]er  angebeil^en  lä§t,  nidjt,  alle  anbevn  2lnfprüdje, 
roelcfye  bas  Hecfyt  ifyr  3ugeftel)t,  Ijaben  fonfrete  [482]  unb  ba* 
fyer  im  ein3elnen  5alte  3U  erroeifenbe  Catfad}en  3ur  Doraus* 
fe^ung  (öefit},  Eigentum,  5orberung  ufto.).  Derfelbe  djarafteri* 
fiert  ftdj  ba^er  burdj  3roei  ZTtomente,  einmal,  baß  er  ber 
perfönlicfyfeit  als  foldjer  3uerfannt  ijt,  unb  3toeitens,  baß  er 
nur  negativer  2Irt  ift.  Das  Z?ed}t  erfennt  ber  perfönlidjfeit 
feinen  pofitioen  ilnfprucfy  auf  2ld}tung  3U,  fonbern  nur  ben 
negatioen  auf  Unterlaffung  ber  Betätigung  ber  Znißadjtung ; 


*)  Dem  Spracfyforfcfyer  überlaffe  idj  bie  Jrage,  ob  laed(ere)  (im 
Kompofttum  lid-ere)  unb  leibten  (altfyb*  lid-an,  mitteilt*  lid-en)  fpracfylicl] 
berfelben  VOnx^el  entflammen« 


578         Kapitel  IX.   Die  totale  med>cmif.   Das  Siitlia?e* 

was  bas  Hectjt  für  bie  perfon  tut,  befdjränft  fidt  auf  Tin* 
erfennung  unb  Sicherung  iljrer  rechtlichen  Unangefochten- 
st 

2lber  bie  Sitte  geljt  einen  Schritt  n>eiter,  inbem  jte  ber 
perfon  einen  pojtttoen  Jlnfpruch  t>erleih*.  2)arauf  beruht  ber 
(Srunbgebanfe  ber  Jjöflid) feit  unb  ber  charafterifiifche  Unter« 
fchieb  berfelben  vom  2tnftanb.  IDä^renb  lefcterer  es  bei  bem 
negativen  Schule  ber  perfon  gegen  Perlefeung  (bas  non 
laedere)  betsenben  lägt,  nimmt  bie  £}öfltchfeit  fich  ihrer  in 
pofittoer  IDeife  an,  inbem  fie  Hegeln  auffteßt,  welche  nicht 
ein  bloßes  Unterlaffen,  fonbem  ein  Cun  im  3ntereffe  ber 
Perfon  sum  3nhaft  ^aben:  pofitipe  2lnerfennung  ber  perfön« 
lichfeit.  2luf  basjenige,  was  ihren  Hegeln  3ufolge  „fich  ge* 
bütjrt,  fiel]  gehört",  erf ennt  fie  ber  perfon  einen  2lnfpruch 
5U  als  „i^r  gebührenb,  ihr  gefyörenb".  So  fommt  311  ber 
lebiglich  negativen  Dorfchrift  bes  alterum  non  laedere  bie 
pofxtipe  bes  jus  suum  cuique  tribuere  (S.  289)  fyn3U.  <£rfi 
auf  bem  (Sebiete  ber  Sitte  iji  bie  3bee  ber  perfönlicftfeit,  bie 
auf  bem  bes  Hechts  es  über  bie  21nerlennung  ihrer  [483] 
Xtnantaftbarfeit  nicht  I|at  herausbringen  fönnen,  3ur  rollen 
E>ertr>irflichung  gelangt.  UTittels  ber  I}öflichfeit  fügt  bie  Sitte 
3u  bemjenigen,  tsas  bas  Hecht  mittels  ber  Seftimmungen 
über  bie  (£^re  für  bie  perfon  getan  h<*tte,  bas  noch  ^ehlenbe 
fyn3U,  erjl  auf  bem  (5ebiete  ber  Sitte  gelangt  bie  3bee  in 
perfönlidjfeit  3ur  sollen  b.  t.  pofttipen  2tnerfennung,  unb  in 
biefem  Sinne  fann  man  fagen:  bie  fjöflidjfeit  x>err>olIfiänbigt 
auf  bem  (ßebiete  ber  Sitte  bas  Hecht  ber  perfönlichfeit  *) 

2)ie  formalen  £t|arafter3Üge,  »eiche  ben  Segriff  ber  ^öf- 
lichfeit  von  bem  bes  Jlnftanbes  abgeben,  ftnb  bie  früher 


*)  3n  biefem  »eiteren  Sinne  fpredjen  audj  bie  römifdjeu  Jurijleit 
von  einem  jus  bei  ftttlia?en  Dertjältniffen,  f.  3*&  L  \2  de  J.  et  J.  (1.  J): 
Kognation,  Affinität,  1.  22  §  de  V.  S.  (50,  freunbfdjaft. 


^öfltdjfeti  —  Begriff* 


379 


(5,  287/288)  angegebenen  beiben  ZHomente  ber  Helattoen  unb 
pofitir>ert. 

Die  JjÖflicttfeit  geht,  rt>ie  toir  uns  bamals  ausbrüeften, 
in  personam,  ber  2lnjkmb  in  rem.  Vfian  fann  ftch  anjlänbig 
benehmen  in  (Segewoart  anberer,  ohne  mit  irgenb  einem  ber 
2Inu>ef enben  in  eine  perf önliche  Berührung  3U  treten,  3.  33» 
auf  öffentlicher  Straße,  an  ber  XPirtstafel,  ber  geringfte  2tft 
ber  Jjöflichfeit  bagegen,  3.  23.  bas  (ßrüjjen  eines  Dorüber- 
gehenben  jleHt,  toenn  auch  nur  momentan,  eine  23e3tehung 
ber  perfon  3ur  perfon  t\ett  Zfian  tarxn  nur  höflich,  aufmerfc 
fam,  artig  fein  gegen  jemanben,  nicht  fchlechthin,  tsährenb 
für  ben  2tnftanb  bas  gerabe  (Segenteil  gilt.  2ftan  fann  nicht 
anfiänbtg  fein  gegen  jemanben.  [484]  Die  2lmx>efenheit  bes* 
felben  machten  3tt>ar  3um  beugen  unferes  Benehmens  (S. 286  ff.), 
aber  gjeuge  unb  gtt>ecffubjeft  einer  Efanblung  finb  3tx>eierlei. 
Der  befte  Setoets  bafür  liegt  barin,  ba§  man  ber  anfiänbigen 
ober  unanftänbigen  ^anblung  feine  ausfchließliche  23e3iehung 
3U  einer  ber  antoefenben  perfonen  geben  fann  (S.  287),  tr>ofy[ 
aber  ben  Semeifen  ber  ^öflidjfeit. 

2)as  3ir>eite  begriffliche  ZHerfmal,  roelches  X}5flichfeit  unb 
21nftanb  unterfdjeibet,  befteht  in  bem  (Segenfafee  bes  poftttoen 
unb  Ztegatipen.  3n  &e3ug  auf  ben  2tnftanb  ift  bies  oben 
bargetan,  ber  Schein  bes  (Segenteils  ift  eben  nur  Schein 
(S.  293),  in  be3ug  auf  bie  Jjöflichfeit  toirb  ber  <£intr>anb, 
ben  man  ben  fcheinbar  negativen  Perpflichtungen  ber  X}öf« 
lichfeit,  3.  23.  jemanben  im  Sprechen  nicht  3U  unterbrechen, 
ihn  bie  £angetoeile,  »eiche  er  uns  t>erurf acht,  nicht  fühlen  3U 
laffen,  entnehmen  fönnte,  unten  3urü<Jgetoiefen  toerben. 

ZlTit  ber  begrifflieben  Unterfcheibung  ber  Eföflichfeit  com  2tn« 
ftanb  ift  ettoas,  aber  nicht  alles  getan.  Über  ihr  IDefen  unb 
ihre  Sebeutung  treffen  n?ir  bamit  gerabe  fopiel  ober  fomenig, 
wie  über  IDefen  unb  Sebeutung  ber  Obligation,  wenn  fte  uns 
als  ein  gegen  bie  perfon  gerichteter  2tnfpruch  auf  £eifiung 


580        Kapitel  IX.   Die  fatale  rTCedjantf,   Das  SitiUa>. 

beflntert  wirb,  gur  öegriffsbefttmmung  reicht  es  aus,  wenn 
bie  wefentlidjen  Unterfdjeibungsmerfmale  bes  einen  Dinges 
vom  anbern  genannt  werben,  über  bas  IDefen  bes  Dinges 
erhalten  wir  bamit  nur  unter  ber  X)orausfet$ung  2luffcblu§, 
baß  basfelbe  gerabe  in  biefen  Unterfdjeibungsmerf  malen  [485] 
gelegen  ift,  was  f  eines  wegs  immer  ber  faß  ift,  lüer  fonft 
nid}t  fcfyon  weiß,  was  bie  Obligation  für  ben  menfdjlidjen 
Derfefyr  bebeutet,  gewinnt  burd)  jene  Definition,  bie  für 
ben  praftifdien  3uriften  sum  §wecfe  ber  Unterfdjeibung  ber 
Obligation  von  anicten  Kenten  pollfommen  ausreicht,  ntdjt 
bie  geringste  2lnfd}auung,  benn  fie  füE^rt  itjm  nur  bie 
äußeren  Konturen  berfelben  t>or  klugen,  bie  logifdjen  <Sren3» 
linien  (definire  =  abgren3en);  aber  was  innerhalb  berfelben 
plafc  finbet,  unb  W03U  fie  felber  bienen  foll,  barüber  erfährt 
er  bamit  nichts.  So  t>ert|ält  es  fidj  audj  mit  ber  burd)  bie 
obige  Erörterung  gewonnenen  Definition  ber  ^oflidtfeit.  Wir 
wiffen  aüerbings:  fjöflidjfeit  ift  bie  burd?  bie  Sitte  t>orge* 
3eid]nete,  in  bie  (Beftalt  einer  faialen  pflidjt  von  ber  einen, 
unb  eines  faialen  2lnfprud?s  t>on  ber  anbern  Seite  gebrachte 
pofitioe  5orm  bes  öenefymens,  unb  biefe  Definition  ift  t>oö* 
fommen  forreft  2lber  wenn  wir  ntcfyt  fonft  \d\on  aus  un< 
mittelbarer  Jlnfcfyauung  bie  J^öflid]feit  fennten,  was  wäre 
bamit  für  unfere  <£rfenntnis  gewonnen?  XDorin  beftetjt  benn 
jenes  pofitwe  im  Benehmen?  Soßen  wir  bem  anbern  aus 
ber  Hot  Reifen,  felber  ©pfer  bringen,  —  ift  es  mit  bem  rein 
äußerlichen  ber  öeobacfytung  ber  £(öflid)feitsformen  getan, 
ober  bebarf  es  ber  (ßefinnung,  unb  wenn  jenes,  was  be* 
5we<fen  benn  biefe  formen,  welker  Dorftellung  ober  3&*e 
finb  fte  entnommen?  (ßerabe  über  biefe  enfdjeibenben  fragen, 
bie  uns  erft  bas  wafyre  Derftänbnis  ber  fatalen  Sebeutung 
ber  Ejöflidtfeit  erfdjließen,  [486]  läßt  uns  jene  Definition 
o^ne  aßen  2tuffd?luß.  Der  ontologtfcfyen  23eflimmung,  mit 
ber    fte   ftd?    begnügt,    muß    bie   teleologifcfte  fubßitutert 


^öfltdjfett.  —  IDefett. 


38* 


tr>erben*),  jene  gibt  uns  ben  Begriff,  biefe  bas  IPefen  bes 
Tinges;  bas  XDefen  bes  Dinges  aber  liegt  bei  allen  praf* 
tifcfyen  Dingen  befcfyloffen  im  §tx>ecf.  Damit  iji  bie  Aufgabe 
bes  ^olgenben  namhaft  gemalt. 

Das  IDefen  ber  £}öflidjfeit. 
It?as  foll  bie  Efoflid^eit? 

Littels  biefer  5rage  fyaben  toir  in  fie  bereits  etwas  Bjinein* 
getragen,  u>as  von  vornherein  nodj  feinestsegs  feftftefyt, 
nämlid?  ben  «gtoeef,  wit  haben  fie  bamit  für  eine  menfcfylicfye 
(Einrichtung  erflärt,  roelc^e  bie  (SefeUfchaft  um  beftimmter 
gtseefe  willen  ins  £eben  gerufen  Ijat  ZlTöglich  aber  toäre 
es  ja,  baß  bie  ^öflidtfeit,  ganj  fo  toie  bie  5reube  unb  ber 
Schmers  lebiglich  ein  pfychologifches  Phänomen  in  fiefy  fchtöffe, 
bei  bem  ber  ZHenfch  nur  bem  ihm  r>on  ber  ZTatur  einge* 
pflan3ten  Drange  5olge  leitete»  XDarum  freuen  unb  betrüben 
roir  uns,  tr>arum  lachen  unb  tr>einen  toir?  Die  Ztatur  I^at 
uns  einmal  fo  eingerichtet.  IParum  finb  rt>ir  höflich?  ZDas 
hinbert  uns  I;ier,  biefelbe  2tnttx>ort  3U  erteilen?  <£s  tt>äre 
bie  natipiftifcfye  C^eorie  (S.  85),  in  befonberer  2tntoenbung 
auf  bie  £}öflichfeit,  ber  [487]  fonfequente  Zlatioift  tr>ürbe  bie 
5rage  einfach  mit  ber  Annahme  eines  befonberen  ^öflichfe-its» 
triebes  abtun. 

<£s  bebarf  feines  großen  2tuftr>anbes  t>on  Zlad\benfen, 
um  fich  von  ber  Unrichtigfeit  biefer  Einnahme  3u  über3eugen. 
lüäre  fie  richtig,  fo  müßte  bie  £(öflichfeit  gan3  fo  wie  5reube 
unb  Sd)mer3,  wie  Cachen  unb  tDeinen  bem  Drange  bes  3"s 
bipibuums  überlaffen  bleiben.  2lber  bies  iji  nicht  ber  5aII, 
bie  Ejöflichfeit  bilbet  eine  fo3ia!e  3njlitution,  fte  3eid]net  bem 


*)  Über  btefen  (Segenfa^  bei*  ontolo  gif  d?eu  unb  teleologif eben  Peft* 
mtton  in  ^Inmeubung  auf  bie  Hecfytsbegrtffe  t^abe  tef?  mtd?  ausgefprod}en 
in  meinem  CSetft  bes  röm.  Hechts.   (Teil  2,  2lbt  2,  5.  36$  (2lufl.  3). 


382         Kapitel  IX.   Die  feciale  tTCecfyatttf.   Das  Sittliche* 

einzelnen  eine  getoiffe  Wei\e  bes  23enet|mens  vox,  meldte  er 
3u  beobachten  Ijat,  felbft  voenn  es  iljm  an  ber  inneren  Stirn* 
mung  ober  (Seneigtfyeit,  jenem  fupponierten  Qöflidjfeitstriebe, 
gän3ltd?  fehlen  follte,  jte  fielet  in  biefer  33e3ieljung  auf  einer 
unb  berfelben  Cinie  mit  bem  Hedjt,  2lUe  fo3ialen,  burd] 
bestimmte  Hegeln  gebildeten  unb  gefiederten  3nfHtutionen  aber 
jtnb  <§tr>ecffd)öpfuttgen.  2Tiag  bei  ber  Bilbung  berfelben  nodj 
fooiel  auf  Hecfynung  bes  bem  IHenfdjen  angeblid]  angeborenen 
(von  mir,  toie  ber  £efer  toei§,  fdjledjtfym  geleugneten)  Criebes 
3um  ®nten  fommen,  bie  (Sefeflfdjaft  fyat  biefen  Crieb  einmal 
in  ifyre  Dienfie  genommen,  it^rt  in  bas  3ocfj  bes  gwedes 
gefpannt,  ebenfo  rt>ie  bas  pferb,  bas  ber  ZHenfdj  ja  ebenfalls 
ber  ZTatur  t>erbanft,  unb  tx>ie  tx>ir  bei  lefeterem  uns  burd? 
biefen  Umftanb  nicfyt  abgalten  Iaffen  bie  5rage  auf3Utoerfen: 
too3U  bient  es?  ebenfotoenig  fann  ber  Pertt>eis  auf  bie  ZTatur, 
felbfi  roenn  er  begrünbet  märe,  uns  Bjmbem,  biefelbe  5rage 
in  be3ug  auf  bie  Ejöflidjfeit  3U  ergeben.  Die  «gtoeeffrage 
u>äre  bei  it^r  nur  [488]  bann  ausgefdjloffen,  u>enn  bie  <Se- 
fellfdjaft  fie  gan3  bem  inbipibueüen  Drange  überlaffen  Ijätte; 
ber  Umftanb,  baß  fie  es  nicfyt  getan,  betoeijl,  baß  fie  biefelbe 
für  nötig  fyält,  unb  bamit  iji  bie  5rage  nadj  bem  JParum, 
b,  bem  fo3ialen  groede  ber  fjöflidjfett  nidjt  bloß  geredet» 
fertigt,  fonbem  unabweisbar  geworben, 

3d)  greife,  um  benfelben  burdj  ben  <5egenfafe  in  ein 
fyeHeres  £idjt  3U  rücfen,  3U  bem  2lnjlanb  3urücf.  2lnftanb 
tote  fjöflid^feit  bienen  einem  unb  bemfelben  §we<£ :  bie  ge* 
feHfdiaftlidje  Berührung  bes  2Ttenfdjen  mit  bem  ZTTenfdjen, 
welche,  wie  früher  (5.  266  f.)  nadjgewiefen,  bie  23ebingung 
aller  (Befittung  enthält,  möglidiß:  3U  förbern,  aber  ber  2tnfianb 
tut  es  nur  in  ber  negativen  IDeife,  ba§  er  basjenige,  was 
fie  x>erleiben  fönnte,  fernhält,  bie  J^öflidjfeit  bagegen  in  ber 
pofttwen  XDeife,  bajj  fie  biefelbe  wotjltuenb,  an3iefyenb  unb 
baburd)  erstrebenswert  macfyt,  jener  räumt  bie  21nftänbe  unb 


^öflidjfett.  —  Soziales  «gtuecfmoment  383 


fjinberniffe  aus  bem  IDege,  weld?e  uns  veranlagen  formten, 
bas  «gufammenfein  mit  anbem  3U  vermeiden,  öiefe  ftattet 
basjclbe  mit  einem  Hei3  aus,  ber  uns  3U  beftimmen  vermag, 
es  3U  fuchen,  jener  garantiert  uns  in  be3ug  auf  alle  <£in* 
brücfe,  bie  unfer  (Befühl  »erleben  fönnten,  unfere  perfönlidje 
Unangefochtenheit,  biefe  gewähr!  uns  bie  2lnnehmlich?eit,  23e* 
haglichfeit  bes  perfönlichen  «gujammenfeins. 

(5egen  biefe  Formulierung  fönnte  man  ben  <£inwanb  er* 
heben,  baß  auch  bie  ^öflidtfeit  ben  gwecf  fyabe,  uns  gegen 
Derlefeung  ficher3uftellen;  eine  (ßrobheit  fann  [489]  uns  un< 
gleich  empfindlicher  serlefeen  als  ein  Derftoß  gegen  ben  2ln« 
)tanb.  Cefcteres  ijt  poEfommen  richtig,  aber  baraus  ergibt 
fich  noch  nicht  bas  erjtere.  Die  f^öflichfeit  wehrt  bie  (Srob* 
heit  ab,  aber  fie  tut  es  nicht  in  ber  ZDeife,  wie  ber  2lnfianb 
beim  2Inftößigen,  mittels  bloßer  Ztegation,  fonbern  baburd], 
baß  fie  ihr  einen  pojtttoen  Cypus  bes  Benehmens  gegenüber* 
ftellt,  ber,  inbem  er  ein  ZHehreres  perlangt  als  bas  bloße 
Ztichtgrobfein,  bas  (ßebot  bes  lefeteren  als  notwenbige  Kon« 
fequen3  in  ftcf^  fdjließt.  Die  begriffliche  Funftion  bes  2lnftanbes 
erfchöpft  fich  an  ber  Ztegation  bes  2tnftÖßigen,  bie  ber  fjöf* 
lichfeit  aber  nicht  an  ber  ber  (Srobheit  So  verbleiben  wir 
bei  unferer  obigen  Formulierung:  bie  fo3iale  Funfiion  ber 
£}öflichfett  befteht  barin,  uns  bas  «gufammenfein  mit  anberen 
an3iehenb,  wohltuenb,  begehrenswert  3U  machen* 

Sehen  toir  3U,  auf  welche  ZDeife  fie  bies  erreicht.  Die 
Frage  ijt  gleichbebeutenb  mit  ber  nach  bem  Sinne  ber  oon 
ber  Sitte  porge3etchneten  Ejöflichfeitsformen. 

HMcher  (ßebanfe  liegt  benfelben  3ugrunbe?  3n  aßen 
Schriften,  welche  bie  Frage  berühren,  l\abe  ich  barauf  nur  bie 
eine  Antwort  erhalten:  bas  IDohlwoIlen,  währenb  ich  burch 
eine  genaue  gerglieberung  ber  fföflichfeitsformen  3U  bem  He» 
fultate  gelangt  bin,  baß  es  3wei  finb:  bie  Achtung  unb 
bas  XDohltPollen*   <£s  ift  in  meinen  2lugen  bas  wertpollfte, 


58^        Kapitel  IX.   Die  fatale  llled?anir\   Das  Sittliche. 


bas  meine  Unterredungen  abgeworfen  B^aben.  3<ä>  erinnere 
midi  nkfyt,  biefer  Jlnfidjt  irgenbtso  begegnet  3U  fein,  auefy 
nidit  ben  leifeften  2tnf  ät$en  ba$u,  alle  Stimmen,  [490]  toelcfye 
ftctj  öffentlich  über  bie  5rage  Ijaben  t>eme^men  Iaffen,  ftnb 
einig  darüber,  ba§  bas  IDotjltDolIen  bie  Seele  ber  Qöfltcfyfeit 
fei*).  2>a§  ber  <5ebanfe  bes  tDofyfoollens  bie  £}öflid]feits< 
formen  nicfyt  beeft,  bat>on  toirb  frcl7  ber  Cefer  leicht  überseugen 
fönnen;  laffen  roir  ifyi  bie  probe  beftefyen. 

3d]  fyabe  früher  (S.  233)  bie  23emerfung  gemalt,  [491] 
baß  manche  Säfee  unb  (Einrichtungen  ber  Sitte  bie  <5eftalt 


*)  3<*?  glaube  eine  pflidjt  ber  literarifdjen  <Seu>tff ent^afttgf ett  3n 
erfüllen,  mbem  idj  mitteile,  ba§  auf  privatem  IDege  eine  ber  memtgen 
rerroanbte  2lnftd}t  3u  metner  Kunbe  gefommen  iji  3er?  ^a^e  m^  3um 
£wede  ber  2lus?unft  über  bie  £}öflid}Feitsformen  ber  rerfdjiebenen  Dölfer 
an  einige  (Selefyrte  geroanbt,  unter  anbern  audj  an  ben  Sinologen,  ^errn 
profeffor  Baron  r>on  ber  (Sab elentj  in  £eip3tg,  unb  berfelbe  tjatte 
bie  <5üte,  ber  2Jnttr>ort  auf  meine  fragen  3ugleid?  einen  finden,  uon 
tt|m  früher  entworfenen  2Jbri§  über  bie  ^öfltd?feit  Ijin3U3ufngett,  ber 
auf  3U>et  Blätteren  mefjr  Creffenbes  unb  2lnregenbes  enthielt,  als 
td?  in  ben  meitläuftgften  Darftellungen  btstjer  gefunben  rjatte*  £?ier 
traf  td?  audj  ben  (Sebanfen  ber  gunefpältigfeit  ber  Xjöflidjfeit,  nur 
ba§  ber  Derfaffer  als  3tpettes  (SIteb  nid?t  mit  mir  bie  2Icbtung,  fon* 
bern  bie  23efa>ibenrjeit  nennt,  wobei  jebod?  aus  bem  gufatje,  ^cn 
er  biefem  IDorte  tynsufügt  („  2lner?ennung  ber  perföulidjen  XDürbe 
anberer  gegenüber  ber  eignen,  tnuofotert  2Jcr/tung  unb  nadj  Umftänben 
<£tjrerbtetung  unb  Demut''),  rterr>orgeb|t,  ba§  er  im  öffentlichen  bas* 
felbe  im  21uge  fyat,  wie  tdj*  Soweit  idj  mir  über  bie  (Surfteljung 
metner  2Xnjtd?t  flar  bin,  glaube  idj  bie  erfte  Anregung  ba3n  auf  bie 
Sprache  3urü<ffür|ren  3U  follen,  weldje  für  ben  2lusbrucf  ber  2lcr?tung 
unb  bes  tPofylwollens  t>erf  ergebene  XDenbungen  tjat  ((♦unten),  unb  id> 
möchte  faft  glauben,  ba§  ber  genannte  Spradjforfdjer  auf  bcmfelben 
iPege  3U  ber  feinigen  gelangt  ift,  bie  Spracbe  lägt  ja  einmal  bemjenigen, 
ber  Ujr  feine  2lufmer?famfeit  3uwenbet,  me  oqne  2Iuffd?Iu§,  unb  wenn 
fie  aud?  nid?t  alles  fagt,  fo  reid/t  bodj  basjenige,  was  fte  fagt,  roll* 
fommen  aus,  bas  Jerjlenbe  31t  ergäben,  3er?  benufee  biefe  (Selegenfyeit, 
um  irjm  wie  allen  (gelehrten,  meldte  mir  in  bejug  auf  bas  Sipxacblidie 
ber  ^öflid?feit  freunblidje  2Jus?unft  gegeben  tyaben,  insbefonbere  fjerrn 
profeffor  (£♦  tErfe  w  rewf  r>on  pouor  in  peft  öffentlid?  meinen  Danf 
aus3ufpred}em 


Ejöfltcbfeth  —  (Elementare  gmiefpälttgfett. 


385 


ausbrücflidjer  pofitiser  Sanftion  angenommen  fjaben.  Dies 
gilt  aud?  für  bie  £{öflidtfeit.  für  bas  PerBjältnis  ber  ftaat* 
liefen  unb  militärif  djen  Unterordnung  finb  getoiffe  formen 
bes  persönlichen  ober  fdjriftlidjen  Derfefyrs  ausbrücflidi  t>or» 
gefdjrteben;  tdj  be3eidjne  fie  als  reglementierte  £}öflidtfeit  im 
(Segenfafee  ber  freien.  Den  3nljalt  ber  reglementierten  ^of* 
Iidtfeit  bilbet  bie  2ldjtung.  Das  Salutieren  bes  Solbaten 
Ijat  nidjt  ben  StsecE,  feinem  Porgefefeten  fein  tüofyfooQen, 
fonbern  feine  Unterorbnung,  bie  2ld?tung  t>or  feiner  Stellung 
funb3ugeben.  <San3  basfelbe  gilt  son  bem  für  bie  Berichte 
untergeordneter  an  t>orgefet$te  Beworben  sorgefdjriebenen 
KurtaljW*). 

2lber  aud)  bei  ber  freien  fjöflidjfeit  ift  ber  (Segenfafe  ber 
2ld?tung  unb  bes  tDoljfooHens  nidjt  3U  serfennen.  Bei  ber 
2lnrebe  unb  Mnterfdjrift  in  Briefen  bebxerxm  toir  uns  nad? 
Perfcfyiebenfyeit  ber  perfonen  t>öQig  serfcfyiebener  [492]  Wen* 
bungen.  (Einen  f  reunb  ober  näheren  TSdannten  tituliert  man 
nidjt  mit:  fefyr  geehrter,  tjocfouserefyrenber  Ejerr,  unb  man 
unterfdjreibt  fidj  nidtfmit:  ^od^adtfungsDoH,  mitt>ollfommeufter 
^ocfyadjtung,  3fyr  ergebender  ober  gefyorfamfter  Diener  uftr>., 
roäfyrenb  man  fernerpe^enben  perfonen  gegenüber  nid)t  bie 
Xt?enbungen  3ur  2lnroenbung  bringt,  tselcfye  bort  am  plafce 


*)  (Sleidjftefyenbe  Beworben  „erfud?en"  unb  „teilen  mit"  unb  ßtpar 
„ergeben^"  (HequtfttionsjHl),  öorßetjenbe  „eröffnen",  „weifen  an" 
oline  weiteren  <§ufa^  (Heff  riptfHl),  untergeorbnete  „b'xiUxx"  unb  „be* 
richten"  unb  3war  „gefjorfamft"  unb  mit  £}in3ufiigung  bes  Det)ottons- 
ftridjs  (BericfytsjHl).  Die  frage  von  ber  Beibehaltung  ber  festeren 
form,  bie  ber  jüngeren  (Seneratiou  ber  preußifdjen  2lmtsrtd?ter  mit  itjrer 
gefetjlidjen  (Sleidtftellung  mit  ben  £anbridjtern  nidjt  redjt  oerträgltdj  er* 
fdjten,  tjt  in  jiingfter  gett  (Segenftanb  einer  3nterpellatiou  im  preußifcfyen 
2lbgeorbnetenfyaufe  geworben  unb  vom  bamaltgen  preufiifdjen  Zuftifr 
mmifter  (friebberg)  in  einer  IPeife  beantwortet  morben,  mit  ber  jeber, 
ber  bie  Bebeutung  ber  form  in  allen  Derfjältniffen  bes  Gebens  3U 
würbtgen  üerftefjt,  fidj  nur  rollfommen  etuoerftanben  evflären  faun,  id? 
be3iefye  mtdj  auf  meine  BemerFung  auf  S*  256  Hote* 

o.  3tierlng,  Der  gweef  im  Hedjt.  II.  25 


386 


Kapitel  IX.   Die  feciale  me<ban\h   Das  Sittliche« 


ftnb.  (5art3  ebenfo  DerBjält  es  fidj  mit  ben  üblichen  formen 
ber  (Einlabungen  unb  ber  2tnnafyne  berfelben,  Sei  ferner« 
ftefyenben  perfonen  bebient  man  ftcf?  bafür  bes  XDortes  c£Ijre 
(n>ir  beehren  uns  —  bitten  um  bie  (g^re  —  tx>erben  bie  €^re 
^aben  ufa>.),  bei  näfyerftefyenben  perfonen  bes  Woxtes:  ^reube, 
Vergnügen  (unr  bitten  um  bas  Pergnügen  —  bitten,  uns  bie 
5reube  3U  machen  —  voxt  toerben  bas  Vergnügen  fyaben  ujto.)- 
<£benfo  bie  pijrafen  bei  Seanttoortung  von  Anfragen,  <£r« 
tseifung  von  (ßefälligfeiten,  Sienften  n\w.  (es  gereicht  mir 
5ur  befonberen  <££jre  —  idj  rechne  es  mir  3m:  <£i|re  an  — 
ober  aber:  es  gereicht  mir  3um  Vergnügen,  3ur  5reube  ufro.). 
Die  IDenbungen:  21d}tung,  ad)tungst>oH,  feijr  geehrter,  fyod}* 
3m>erefy:enber  ^err,  bie  Sfyre  haben  uftt>.  gehören  ber  fjcf* 
lid)feitspI|rafeoIogie  ber  2Id}tung  an  (bafyer  in  ber  militärifd?en 
Sprache  ber  2Iusbrucf  bie  „^onneurs"),  bie  bes  lieben,  teerten, 
teuren  Sxennites,  ber  ^reube,  bes  Vergnügens  ufto.  ber  bes 
XPofyfooHens. 

Das  (5efagte  roirb  genügen,  um  benjenigen,  ber  ftd)  bie 
UTüfye  nehmen  n>ill,  ben  (Segenfat}  toeiter  3U  perfolgen,  [493] 
ba3u  an3uregen,  er  tüirb  fid?  über3eugen,  ba§  ber  Con,  ben 
roir  im  Derfeijr  mit  anbern  anf erlagen,  unb  bas  Senefymen, 
bas  u>ir  beachten,  nadj  X>erfd}iebenfyeit  bes  perfönlicfyen  Der« 
^ältniffes  außerorbentlid]  variiert,  unb  ba§  bafür  ber  (Segen« 
fafe  ber  2td}tung  unb  bes  2Dot|Irt>oIIens  im  großen  unb  gan3en 
ben  2üxsfd}lag  gibt  X>er  Con  ber  Untertanen  gegen  ben 
Souverän  ift  ber  ber  2ld]tung  ((Ehrerbietung,  Sepotion)  — 
„in  tieffter  Untertänigfeit  erfterbenb",  ber  bes  Souveräns  gegen 
ben  Untertanen  ber  bes  U?ot|hpoHens  (in  (ßnaben  gebogen 
—  3hr  tpofylgeneigter,  tres  affectionnd  u«  a.  m.)*  2)asfelbe 
uueberfyolt  ftd]  im  Per^ältnis  bes  Dorgefefeten  unb  Unter- 
gebenen* J^ier  tpie  bort  betpäfyrt  fid?  bie  J^öfüdifeit  bes 
minberen  Ceils  baran,  baß  er  burd?  bie  pfyrafeologie  unb 
Symbolif  ber  2ld]tung  ben  2lbftanb  fonftatiert,  ber  i^n  t>on 


^öflidjfeit.  —  Unterfdjeibung  ton  Ad/tung  unb  XDofyltD  ollem  387 

bem  anbcrn  tvennt,  feie  bes  fyöliexen  baran,  ba§  er  benfelben 
burch  bas  Wohlwollen  ausgleicht  —  bie  Ejöfltdifeit  ber 
Achtung  fonftatiert  bie  angenommene  5eme,  bie  bes  WoliU 
tooHens  bie  angenommene  ZtäB^e  ber  perfonen,  3n  2tmt>en* 
bung  auf  höh^rfiehenbe  perfonen  h<*t  bie  Sprache  für  letztere 
ben  Ausbrucf  ber  Ceutfeligfeit,  es  ift  bie  ben  Ceuten,  b.  % 
jebem  ohne  Unterfchieb  fich  3ufehrenbe,  freunbliche  (ßefinnung*) 
—  biefelbe  Anfnüpfung  an  ben  [494]  JHenfchen  als  folchen, 
bie  uns  in  Humanität  (homo)  unb  ZUenf  chlichfeit  (Zfienfch) 
begegnet«  £>on  ben  beiben  festeren  unterfcheibet  fie  fich  ba« 
burch,  ba§  fte  ftd?  bloß  auf  bas  Benehmen  besiegt,  ber  Sitte, 
nicht  tr>ie  Iefetere  ber  ZHoraf  angehört  Zlimmt  fie  ben  <£hßtf 
rafter  bes  (ßnäbigen  an,  fo  tr>irb  fie  3ur  Ejerablaffung  —  bie 
Ejerablaffung  I|äft  ben  Abftanb  aufregt,  über  ben  bie  £eut* 
feligfeit  fich  Ijhuoecjfefet,  bei  ber  fjerablaffung  fpricht  ber 
fjöherftehenbe  311m  Hieberftehenben,  bei  ber  Ceutfeligfeit  ber 
ZHenfd?  311m  JTJenfchen. 

Die  bisherige  Ausführung  toirb  ausreichen,  um  meine 
Sefyauptung,  baß  tt>ir  innerhalb  ber  fjöflichfeit  3toei  (Srunb- 
gebanfen  3U  unterfcheiben  iiahen,  3U  begrünben.  Diefe  Be* 
hauptung  aber  ift  nicht  in  bem  Sinne  gemeint,  ba%  fich  biefe 
<§u>iefpältigfeit  in  be3ug  auf  fämtliche  formen  ber  f^öflichfeii 
nachreifen  ließe,  fo  ba§  rx>ir  bie  Svftematif  ber  QSflichfeit 
auf  fie  3U  bauen  tiätten;  ein  folcher  Perfuch  ertt>eijt  fid? 
Schlechthin  als  unausführbar.  Dielmehr  ift  bas  Verhältnis 
beiber  als  bas  3toeier  Ströme  3U  be3eid]nen,  bie  fid]  3U  einem 
5Iuffe  pereinigen,  bei  bem  3tr>ar  nod)  eine  Seitlang  fid?  beibe 
unterfcheiben  laffen,  bei  bem  fie  aber  fpäter  ununterfd]eibbar 
ineinanber  übergehen.    Darum  l\at  aud]  bie  Sprache  für  fte 


*)  3n  btefem  Sinne  be3eid)net  bas  Dolf  in  einigen  (Segenben  Deutfdv 
lanbs  ben  £eutfeltgen  als  gemein,  fommnn  (=  ber  fid?  nidjt  hervortun 
unll),  felbfi  als  nieberträcfytig  (=  ber  fid?  nicfyt  fjodj  trägt,  nicht  ben 
£>ornefymen  fpielen  vo\ü). 

25* 


388        Kapitel  IX.   Die  feciale  medjamt  Das  Sittliche* 


feine  fefiftehenben  ^lusbrücfe  aufgebracht;  tr>er  fte  gleichwohl, 
wo  es  am  plafee  ift,  mit  befonberen  ZTamen  be3eichnen  tx>ill, 
fönnte  bie  ^öflichfeit  5er  Sichtung  als  2lrttgfeit,  bie  bes  Wohl- 
wollens als  5reunblichfeit  be3eichnen,  [495]  tx>enigftens  fommen 
beibe  2tusbrücfe  ber  Sache  noch  am  nächfien. 

iDir  rcenben  uns  im  folgenben  ben  beiben  genannten 
Segriffen  3U,  inbem  wir  bei  jebem  3unächft  ihn  f  elber  feji- 
1'teHen  unb  fobann  unterfuchen,  wieweit  er  fich  innerhalb  ber 
Ejöflichfeitsformen  »erfolgen  lägt.  Was  noch  bleibt,  gehört 
beiben  gemeinsam  an  unb  wirb  feiner3eit  bei  ber  Überficht 
Der  gefamten  Jjöfltchfeitsformen  (Phänomenologie  ber  ^öf* 
üchfeit)  feinen  plat$  ftnben. 

3>te  Achtung. 

Sichtung  ift  2lnerfennung  bes  Heertes  ber  perfon. 

3)er  Segriff  bes  Wertes,  b.  i.  ber  grabueHen  Cauglichfeit 
eines  2)inges  für  bie  menfehlichen  «gweefe,  finbet  auch  auf 
ben  ZHenfchen  Slnwenbung,  Slber  währenb  bie  Sache  unb, 
wo  bie  Sflaseret  galt  ober  gilt,  auch  ber  ZTtenfch  nichts  ift 
als  mittel  für  ben  menfehlichen  <§wecf,  ift  ber  ZHenfch,  wo 
er  feine  Seftimmung  auf  <£rben  erfannt  unb  praftifch  burdv 
gefefet  bat,  3ugleich  Selbfowecf ,  in  ber  Bechtsfpradje  aus« 
gebrüeft:  er  ijl  Perfom  Damit  ift  ihm  ein  fp^3tftfct?cr  ZDert 
3uerfannt,  ber  ihn  unenblich  hoc*l  übet  bie  Sache  erhebt  unb 
jebe  gufammenjlellung  mit  ber  Sache  ausfließt.  Die  Sprache 
erfennt  biefen  feinen  fpe3ififchen  IPert  an,  inbem  fte  bafür 
befonbere  2lusbrücfe  gef chaffen  ha^:  €h^e,  Sichtung,  IDürbe. 
[496]  Sluf  bie  Sache  finben  äße  brei  Segriffe*)  feine  Sin« 
wenbung;  mögen  wir  eine  Sache  auch  noch  fo  h°ch  fchäfeen, 


*)  Die  Spraye  fennt  aßerbinas  bie  XPenbuncj,  eine  Sadje  in  (Efjren 
halten,  aber  fie  gebraucht  biefelbe  nur  ba,  wo  mittelbar  m  ber  Sa<bc 
bas  Slnbenfen  an  bie  perfon,  von  ber  fte  fiammt,  geehrt  tperbeit  \o\L 


21djtung  unb  (Efyre* 


389 


nod?  fo  tsert  galten,  aber  w'vc  tonnen  fie  nicfyt  achten,  unb 
barum  enthält  es  bie  bitterjle  E>erl}öfyiung  ber  3bee  bes 
ZHenfdjen,  von  tljm  2ld}tungsberoeife  gegen  bie  Sadje  3U  per* 
langen*)  —  bas  (ßegenftücf  ber  Sflat>erei,  fyier  bie  perfon 
als  Sadje,  bort  bie  Sacfye  als  perfon  bel^anbelt 

£>on  ben  genannten  brei  Jtusbrücfen  gehört  bie  <£fyre  bem 
(ßebiete  bes  Hechts,  bie  2tdjtung  unb  lüürbe  bem  ber  Sitte  an* 
Überall,  wo  ber  juriji  fidj  bes  2tusbru<fs  <£fyre  bebient, 
fyanbelt  es  fidj  um  ben  rechtlichen  ober  ftaatlidjen  IDert  ber 
Perfon*  (Ebrlojtgfeit  (Ijeut3utage  richtiger  €fyrenminberung), 
€l}renfränfung,  Sdjufc  ber  <£fyre  führen  uns  bie  prh>atred}f« 
lidje  5eite  ber  €fyre,  €t|ren$eid]en,  (Ehrenämter,  (Efyrenpofien 
(bie  honores  ber  Homer),  (Entstehung  ber  politifdjen  (Efyren* 
rechte,  bie  militärifdien  Ejonneurs  bie  öffentlicfyreditlidje  Seite 
ber  (Efyre  sor  2lugen.  <£I?re  iji  ber  Hed>tstr>ert  ber  perfon, 
jte  Ijat  bie  redjtlidje  2lnerfennung  bes  IHenfdjen  als  perfon 
3ur  [4:97]  Porausfefcung.  Qaxum  fpracfyen  bie  Homer  ben 
Sflar>en  bie  €fyre  ab,  barum  ging  mit  bem  Derluße  ber 
5reifyeit  audj  bie  <£fyre  verloren  **)•  (Efyre  alfo  ift  ein  Hedtfs* 
begriff;  2ld?tung  bagegen  ifi  ein  fosialer  Segriff.  Vie 
2ld)tung  enthält  bas  Werturteil  ber  (SefeHfdjaft,  bas  fid)  in 
5orm  ber  öffentlichen  ZHeinung  funb  gibt,  fie  fyat  nidtf  fou>ol>I 
bie  perfon  als  xnelmefyr  ben  ZHenfcfyen  311m  (Segenfianbe* 
J)arum  fanb  fie  bei  ben  Hörnern  auefy  auf  ben  Sflar>en  2ln* 
roenbung.  2lucfy  ber  Sflat>e  fonnte  ad]tungsn?ert  unb  geartet 
fein,  unb  wenn  er  freigelaffen  warb,  übte  ber  Umftanb,  ob 
er  ftcfy  bisher  ber  2ld?tung  tr>ert  ober  unwert  erliefen  Ijatte, 


*)  Beifptele;  bas  £iebltugspferb  bes  Caltaula,  bas  er  3um  Konful 
ernannte/  unb  bem  bie  (2fyren  eines  foldjen  erliefen  werben  mußten  —  ber 
£jut  bes  (Segler  tu  ber  Cellfage  —  bie  früher  üora.efd}riebene  Abbitte 
ber  XHajeftätsbeleibigung  t)or  bem  Bilbniffe  bes  Königs  rem  53aymu 

**)  Consumtio  existimationis  im  (Segeuf  at}  3m  infamia:  ber  minutio 
existimationis,  1.  5  §  3,  $  de  extr.  cogn.  (50. 


Kapitel  IX.   Die  feciale  tTCedjanif.    Das  Sittliche* 


fogar  rec^tlict^e  tDirfungen  aus,  im  Unteren  5aQ  erhielt  er 
nur  eine  geringe  Hechtsfähtgfeit  (bie  ber  dediticii),  Zticht 
miuber  fyelt  bas  römifche  Hecht  beim  5*eien  bie  Begriffe  (Ehre 
unb  Sichtung  ftreng  auseinanber*)* 

XOürbe  ift  Betätigung  bes  eignen  JPerturteils  im  Be- 
nehmen (5*  28^>f.)f  unb  ber  Portourf,  ben  bie  Sprache  mit 
bem  IDorte  XDürbelofigfeit  perbinbet,  3eigt,  baß  bas  ftttliche 
Urteil  bes  Dolfes  biefe  Behauptung  ber  IDürbe  [498]  per* 
langt  unb  mit  gutem  (Srunbe.  Venn  ber  Wext  ber  perfon 
foll  ftch  auch  äußerlich  in  ihrer  <£rfchcmung  bofumentieren. 
3)ie  ZDürbe,  ba  fie  bloß  bie  äußere  5orm  bes  Auftretens  3um 
(Segenftanbe  fyat,  ti<xt  mit  ber  2TEoral  nichts  3U  fchaffen,  fte 
gebort  ber  Sitte  an.  XDürbeloftgfeit  trifft  bloß  ben  äußeren, 
<£htloftg?eit  ben  inneren  ZHenfchen,  jene  tut  ber  <£t[te  nicht 
ben  minbeften  2lbbruch,  tpohl  aber  ber  Sichtung.  IDer  in 
eigner  perfon  ben  JDert,  ben  bie  IDelt  ibm  beilegt,  äußerlich 
nicht  3ur  (Seltung  bringt,  barf  ftch  nicht  tpunbem,  tpenn 
letztere  fich  bies  3unufee  macht  unb  ihn  mit  feinem  eignen 
ZHaße  mißt  —  bie  iPürbelofigfett  enthält  bie  (Ermächtigung 
3ur  la^en  (£rtpeifung  ber  Sichtung* 

©er  Dortpurf  ber  IPürbelofigfeit  nimmt  einen  erfdiiperen* 
ben  (Zliavattev  an,  tpenn  jemanb  nicht  bloß  feine  persönliche 
löürbe,  fonbern  biejenige,  bie  er  als  Cräger  feiner  öffent* 
liehen  Stellung  3U  behaupten  fjat,  außer  acht  läßt;  Ijier  ^i£>t 
er  nicht  foroohl  fich  f elber,  als  vielmehr  feine  Stellung,  bie 
<£tlte  feines  2tmtes  preis,  er  pergreift,  perfünbigt  ftd?  mithin 


*)  Darauf  beruht  ber  <8egenfat$  t>on  infamia  unb  turpitudo  (nota, 
macula).  3^  *f*  e*ne  Catfacfye  bes  T&edits,  biefe  bes  £ebens  (1.  2  pr. 
de  obseq.  37»  X5l  verbis  edicti  —  opinione  hominum),  unb  bie  moberne 
23e3ei^nung  als  infamia  juris  unb  facti  baljer  gan3  3utreffenb.  2lud) 
letztere  ftnbet  red?tltd?e  Beachtung,  na'mlidj  überall  ba,  tpo  bie  ftttlidje 
IDürbigfeit  ber  perfon  für  ben  Hilter  maßgebenb  ift,  3»  B.  in  be3ua 
auf  (Slauboürbtgfeit  bes  beugen,  guüerläfftgFeit  bes  3U  befietfeubeu 
Pormunbes* 


Achtung  unb  tPürbe* 


an  etwas,  was  ihm  gar  nicf^t  3U  eigen  gehört,  fonberu  ihm 
bloß  im  öffentlichen  3ntereffe  anvertraut  ift  —  ein  getxnffen* 
Iofer  Denvalter  fremben  (Sutes.  3e  h^h^  bie  Stellung  unb 
bamit  bie  IDürbe,  befto  fehlerer  ber  Dortourf  ber  H?ürbe< 
lofigfeit  —  Bei  bem  gefrönten  Cräger  ber  IPürbe  unb  fjofyeit 
bes  Staates  reicht  fte  nafye3u  an  moralifchen  unb  politifchen 
Selbftmorb,  bas  Übermag  nach  ber  entgegettgef efeten  Seite 
t^in  toirb  von  [499]  bem  3nftinfte  bes  Dolfes,  ber  barin  soll« 
fommen  bas  richtige  trifft,  viel  tveniger  ftreng  beurteilt,  als 
bas  nach  biefer  Seite  hin. 

Vie  bisherige  Ausführung  fyaüe  3um  «gtveefe,  bie  Der* 
fchiebenheit  von  €hte  unb  Achtung  bar3ulegen,  was  meines 
IDiffens  bisher  noch  nicht  gef drehen  ift  Sie  hat  uns  ergeben: 
bie  5orm,  in  ber  bas  Hecht  ben  begriff  bes  Heertes  ber 
perfon  erfaßt  unb  3ur  (Seltung  bringt,  Ijeijjt  <£tyef  bie  5orm, 
in  ber  bies  von  feiten  ber  Sitte  geschieht,  Achtung,  von  feiten 
bes  Hechts  aber  geflieht  es  in  negativer,  von  feiten  ber 
Sitte  in  poftttver  iDeife.  Don  biefen  beiben  Behauptungen 
ift  bie  erjie  fprachlicher,  bie  3tx>eite  fachlicher  Art,  unb  lefetere 
tpürbe  felbft  bann  ihre  tDahrhett  heiianptent  wenn  etftete  ftch 
als  hinfällig  ertveifen  follte.  J)as  3ntereffe,  bas  fich  an  bie 
5rage  fnüpft,  befteht  bemnach  lebiglich  barin,  ob  ber  Sprache 
ber  Unterfchieb  3um  Serou^tfein  gefommen  ift.  §u  bem  <§ieug* 
niffe,  bas  ich  bafür  oben  (S.  388  f.)  bem  Sprachgebrauch  ent« 
lehnt  liabe,  füge  ich  im  folgenben  noch  bas  ber  (Etymologie 
hin3u,  es  belehrt  uns,  ba§  bie  Srfenntnis  biefes  Unterfchiebes 
jtch  in  bie  Kinbheits3eit  ber  Spraye  verliert,  b.  i.  3U  ben 
früheften  <£rrungenfchaften  bes  menfchlkhen  Denfens  auf  bem 
(Sebiete  bes  Sittlichen  gehört.  Dom  Stanbpunfte  bes  heutigen 
Sprachgebrauchs  trifft  allerbings  biefe  genaue  Scheibung  nicht 
mehr  3U,  w'xv  bebienen  uns  nicht  bloß  ber  Ausbrücfe  „(2hreij 
unb  „ehren"  im  Sinne  von  Achtungsbetveifeu,  fonbern  für 
Achtung  [500]  wie  tDohltvoHen  einer  ZHenge  von  Ausbrühen, 


Kapitel  IX.   Die  feciale  medjantf*   Das  Sittliche* 


bie  fämtlicfj  bem  IDertbegriff  entlehnt  finb,  3«  23»  toert,  roürbig 
(Jjodjtxmrben),  teuer,  fdjäfeen,  Ijocfigefdjäfet  (altfyodjb.  scaz, 
2T?ütt3e,  fdjafeen  =  aestimare),  preifen,  I|Ocf)preislidi,  preis* 
rsürbig  (von  pretium,  preis),  ebenfo  ital.  caro,  fran3.  eher, 
engl,  dear,  worth,  fubji.  your  worship,  fyoHänb.  uwe  wardig- 
keit,  fpan.  vuestra  merced,  portug.  vossa  mered  (merces. 
preis)  u.  a.  m. 

3<ä)  toerbe  im  folgenben  ben  X>erfucf?  machen,  burdj  €r* 
mittelung  ber  etvmologifdjen  Jlusgangspunfte  t>on  <2fyre  unb 
2tcfjtung  unb  ber  ifynen  in  anberen  Sprachen  entfpred^enben 
2tusbrücfe  mief)  ber  2lnfcf)auungen  3U  bemächtigen,  u>elcfje  bie 
Dölter  in  ber  periobe  ber  Spracfjbilbung  mit  ifyten  perbunben 
Ijaben. 

Der  etymologifcfie  2tusgangspunft  ber  £f}re. 
3d)  laffe  folgenbe  Sprachen  reben. 

3)ie  grtedjifdje:  tijat]  =  preis,  XDert  unb  3ugleidj 
(Efyre,  Tta>  =  idj  be3afyle  unb  idf  fcfyätse,  Tijxaa)  = 
idj  fdjäfee  unb  icf^  efyre,  Ti'fxv^a  =  Sdjäfeung  (census). 

2>ie  I  a  t  e  i  n  i  f  d?  e :  2)er  tecfjnifdt  römifdje  2tusbr uef 
existimatio  für  bie  (£I|re  im  pricatrecrftlicrjen  Sinne*) 
füfyrt  uns  burdf  aestimatio  (bie  [501]  ofonomifer/e 
5d]äfeung)  3urü<J  auf  aes  (bas  <5elb  als  IDert* 
meffer). 

2)ie  beutfdje:  <£fyre  nad)  (ßrimm  a.  a.  CD.  r>on  fansfnt. 
ajas  =  <£ifen  (gor.  äis,  angelf.  ar,  altnorb.  eir,  mittel* 
unb  altfyocrjb.  er),  tr>otfon  auefj  bas  lateinifdie  aes. 


*)  1.  5  §  X  de  extr.  corp.  (50.  *3).  Das  timare  in  aestimare  l\at  nad? 
(Srirnm,  IDörterbud?:  (Efyre  mit  ti^dt»  nxd^ts  3u  f Raffen,  foubern  fommt 
von  ber  Superlatbenbuitg:  aestimus,  äfyttlid}  wie  intimare,  proximare 
von  Intimus,  proximus.  Das  VQoxt  honor  gehört  ttidjt  bem  priratredjt 
an;  über  bie  (Etymologie  f.Danicef,  (SvieaVlat.  IDörterbud),  £eip$# 
*877,  3b.  \,  S.  267. 


(Etymologifdjer  2lusgattgsptm?t  ber  <£t\xe.  393 


<£fyre  unb  existimatio  fyaben  alfo,  fo  t>erfd}ieben  fie 
audj  Hingen,  bicfelbe  fpradjlicfye  Wux$el 
Die  fyebräifdje:  jekär  =  ber  preis  einer  Sadje  unb 
bie  <£fyre. 

Die  ungarifdje*):  <£l>re  ==  becsület  t>on  becs  ===  IDert, 
gleichmäßig  im  öfonomif  d?en  rote  moralifcfyen  Sinne 
gebraucht;  bar>on  abgeleitet  becsülni  =  f djäfcen  (eben* 
falls  im  doppelten  Sinne)  unb  becsület  =  €fyre  unb 
becsüles  =  IDertfdjä&ung. 
<£l]re  ift  alfo  bem  «geugniffe  biefer  fünf  gan3  perfd^iebenen 
Spradjftämmen  angefyörigen  Sprachen  3ufoIge  ber  £>ert  ber 
perfon.  Die  Übertragung  bes  XDertbegriffes  von  ber  Sadje, 
bei  ber  er,  roeil  3uerft  3ur  praftifdjen  2lmr>enbnng,  fo  aud? 
3uerft  3um  2Set»uj5tfein  gelangt,  b.  fpradtficfy  ausgeprägt 
fein  roirb,  biefe  Übertragung  von  [502]  ber  Sadje  auf  bie 
perfon  iji  fcfyroerlidj  bas  probuft  eines  unbefangenen  tfyeo« 
retifdjen  Denfens  geroefen,  idj  glaube  fte  trielmetjr  auf  eine 
praftifdje  Ztötigung  $nxM führen  3U  bürfen,  codi)*  im  Heerte 
gelegen  xvav.  Die  X>erle£ung  ber  perfon  fcfyofj  ben  <gix>ang 
in  ftd),  ben  (ßelbmafjftab  t>on  ber  Sadie  auf  bie  perfon  3U 
übertragen.  Das  römifcfye  Hedjt  hatte  für  alle  perfonen  ofyne 
Unterfdjieb  einen  unb  benfelben  iDertmajjftab  (os  fractum 
300  as,  bei  Sflat>en  \50,  bei  3njurien  25),  im  germanifdjen 
IPefyrgelbe  ftufte  fkfy  berfelbe  nad]  ber  ftaatlid^en  Stellung 
ab,  IPefyrgelb  n>ar  XDertgelb,  <£fyrgelb,  höhere  <£l]renftellung 
höheres  IDefyrgelb,  geringere  geringeres.  3n  ber  römifdjen 
<genfuseinrid]tung  er^ob  fid]  befanntlid?  bie  urfprünglid?  rein 
öfonomifcfye  IDertung  bes  Bürgers,  bei  ber  lebiglid)  bas  Der- 
mögen  in  Betracht  fam,  im  Verläufe  ber  (£Enta>icflung  3ur 
moralifdjen.   Hiemanb  ttmßte  beffer  als  ber  Homer,  baß  ber 


*)  Xiadf  einer  gütigen  Mitteilung  meines  f  reunbes  unb  ehemaligen 
guf}örers,  ^errn  profeffor  33iermaim  in  £)erm  annftabt* 


5^        Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjanif.   Das  Sittliche. 

Wext  bes  Bürgers  für  bas  <$5emeintt>efen  fid]  nidtf  bloß  nad> 
bem  besiffert,  tr>as  er  befi&t,  fonbern  audj  nadj  feiner  per« 
fönlid]en  Cätigfeit,  unb  in  btefem  Sinne  be^nte  ber  genfor, 
ber  urfprünglicfy  nur  bie  materiellen  <5üter  ins  2üige  gefaßt 
hatte,  feinen  Blic!  audj  auf  bie  ibeeKen  aus,  unb  er  wav  es, 
ber  in  Horn  3uerft  amtlidj  ben  &)ert  bes  Bürgers  für  bas 
<Semeimr>efen  3um  2iusbrucE  braute  unb  im  Salle  einer  ben 
3ntereffen  bes  (Semeimpefens  nicfyt  entfpredjenben  2tuffül?rung 
bes  Bürgers  ifyn  eine  öffentliche  Hüge  erteilte  —  bie  (£t?ren-- 
ftrafe  als  IDerturteil. 

[503]  2)ie  Bemerkung,  bie  roir  oben  (S.  389)  über  bie 
rechtliche  unb  ftaatliche  Bebeutung  ber  <£b[te  matten,  I^at  ftch 
vom  f|iftorifd?en  5tanbpnnfte  beroährt. 

3>er  etymologifche  2tusgangspunft  ber  Achtung. 
€inen  pößig  anberen  2lusgangspunft  ^at  ber  Begriff 
Achtung» 

Sichten  be3eid)net  feiner  urfprünglichen  Bebeutung  nach 
auf  etu>as  achten,  etoas  bedachten,  b.  h-  feine  Sinne  ober 
<5ebanfen  auf  etwas  richten,  bas  man  toafyrnefymen  toiE 
(animadvertere  =  animum  advertere),  es  brüeft  alfo  bie  be* 
abftchtigte  XDahrnehmung  im  (ßegenfafce  $ur  unbeabfichtigten 
aus,  bas  2ld]tgeben  im  (ßegenfafee  3um  ZTichtachtgeben.  Diefe 
'BebentnnQ  bes  £>ortes  liegt  auch  bem  Subftantip  Sichtung 
3ugrunbe,  wenn  es  im  Sinne  einer  2lufforberung  3um  Sicht* 
geben  gebraust  tpirb,  tote  3.  B*  im  IDarnungsruf  auf  ber 
Straße  ober  im  militärtfehen  Kommanbo. 

U?ie  gelangt  nun  bas  Sichten  in  biefem  Sinne  3U  bem 
ber  moralif djen  IDertfdiäfeung?  3)ie  Catfadje,  baß  ix>ir  einen 
(Segenftanb,  eine  Hachricht,  eine  perfon  nicht  ber  Beachtung 
roert  galten,  betpeijt,  baß  fte  für  uns  fein  3ntereffe,  feinen 
iDert  fyat,  uns  gleichgültig  ift*  (gleichgültig  ift,  u>as  uns 
nicht  mehr  gilt  als  alles  beliebige  anbere,  b.  i.  nid^ts.  Was 


<2tymoIo$tfd}er  ^tusgan^spunft  ber  21tf)tuttg*  355 

einen  iDert  für  uns  fy*t,  ift  uns  nidjt  gleichgültig,  es  gilt 
uns  etwas,  unb  bie  5olge  bavon  [504]  ift,  ba§  roir  es  be* 
achten  ober  feiner  achten.  3n  biefem  Sinne  bebient  pd)  bie 
Sprache  bes  XDortes  achten  pon  allem  möglichen  —  ber 
£eid]tpnn?ge  adjtet  nid]t  ber  IPamungen,  ber  XHutige  nid\t 
ber  (Befafyr,  ber  Perfdjtpenber  ntdjt  bes  <5elbes,  niemanb 
adjtet  bes  tDaffers*  nidjtbeacfytung  ift  Konftatierung  ber 
(Sleicfygültigfeit  gegen  ettpas,  ber  tDertlofigfeit  besfelben  für 
uns,  Beachtung  Konftatierung  bes  Gegenteils. 

2tuf  bie  perfon  angetoanbt  f^eigt  alfo  fie  beadtfen  fopiel 
als  geigen,  bajj  toir  ifjr  einen  IDert,  pe  nidjt  beachten,  baß 
roir  itjr  feinen  IDert  beilegen  —  be»ad|tet  unb  ge*adjtet,  nidjt 
beamtet  unb  nidjt  geachtet  tperben  ift  gleidjbebeutenb. 

2ld]tung  im  Sinne  ber  Sprache  unirbe  bemnadj  3U  befinieren 
fein  als  ber  burdj  Seadjtung  3um  21usbrucfe  gebrachte  IDert 
ber  perfon.  Die  €^re  präbi3iert  etymologifdj  ben  ZDert  ber 
perfon  an  unb  für  fid?,  als  abfolute  Catfadje  (<£ljre  =  IDert) 
(S.  392),  bie  2td)tung  fügt  bas  IHoment  fyn3u,  ipoburd?  biefer 
XPert  relatip  biefer  beftimmten  perfon  gegenüber  3ur  21ner* 
fennung  gelangt  (Achtung  =  Beachtung)  unb  biefer  fpracfy 
lid>e  <5egenfafc  bedt  pdj  mit  bem  S,  377,  389  *>on  uns  nad]* 
getpiefenen  praftifdjen  Unterfdjiebe  beiber  Begriffe:  ber  bloß 
nadj  ber  2trt  bes  (Eigentums  in  rem,  b,  i.  uegatip  tpirfenben 
Geltung  ber  <£tjre  unb  ber  nad)  21rt  ber  ©bligation  in  per- 
sonam,  b.  i.  poptip  pd}  betättgenben  2ld)tung  —  ber  praf« 
tifdje  (ßegenfafe  3tpifdjen  <£^re  unb  Zldjtuug  ift  [505]  etymo* 
logifdj  in  beiben  Xüorten  3ur  pollenbeten  Ausprägung  gebracht. 

Unfere  etymologifdie  Unterfud)ung  ber  (£fyre  fyat  uns  ge* 
3eigt,  baß  bie  2lnfnüpfung  berfelben  an  ben  IDertbegriff 
ettpas  gtpingenbes  in  pdf  tragen  mu§,  ba  pe  pdj  in  ben 
perfdjtebenften  Sprachen  toieberfyolt  <San3  basfelbe  gilt  für 
bie  Sichtung  in  be3ug  auf  bie  Jlnfnüpfung  an  ben  (Bepd]tspunft 
ber  Beaditung.  Die  Porjlelluug,  bag  bas  2ld]ten,  2lufmerfen 


396        Kapitel  IX.   Die  feciale  XUedjatttf.   Das  Stttlidje. 

auf  i>ie  perfon,  bas  ^nfdjauen,  2lnfel}en  berfelben  bas  Krite* 
rium  bes  fetalen  Wertes  ber  perfon  enthält,  uneberljolt  ftd} 
in  fo  Dielen  2Iusbrüc!en  ber  serfdjiebenfren  Sprachen,  ba§ 
über  bie  3toingenbe  Kraft  berfelben  nicfyt  ber  leifefie  gtoeifel 
befielen  fann.    3^  faff*  &ie  Sprache  reben. 

2td}ten,  2ld?tfamfeit,  2tditung  im  finnlidjen  unb  im 
moralifdjen  Sinne.  <£benfo  lat.  observare  beobachten^ 

observantia  2ldjtung. 

2tufmer?en  im  finnlidjen  Sinne  unb  2tufmer?famfeit  im 
Sinne  ber  JEjöflidtfeit  (jemanbem  eine  2lufmerffam« 
fett  erroeifen).  £at.  attendere  (aufarten),  bason 
ital.  attentione,  frans.  unb  engl,  attention  (2tufmerf* 
famfeit  im  obigen  Sinne).  £at.  notare  bemerfen, 
notabilis,  öapon  fran3.  notable  =  ber  Slngefeljene. 

2lnfefyeri  als  Vevbxxm  (jemanben  anfeilen),  baoon  bas 
Subfiantio  2lnfefyen  im  fc^ialen  Sinne  —  angefeben 
n>erben  als  Kriterium  bes  2lngefefyenfein,  [506]  wie 
beachtet  toerben  als  Kriterium  bes  <ßead)tehr>erben. 
(Ebenfo  griedf.  rcspißAsrcsiv  anfeljen  unb  irsptßAsirros 
angefe^en,  lat.  spectare,  spicere  fefyen  unb  spectatus, 
spectabilis,  conspieuus  angefefyen.  Considerare  be< 
trachten,  ital.  consideratione,  fran3.  unb  engl,  con- 
siddration  2lnfetjen  im  moralifdjen  Sinne» 

Sief?  iimfefyen  nadi  jemanbem,  3urücEblidFen  nadj  ifym, 
bason  Hücfjtdtf  im  moralif  djen  Sinne.  £at.  respicere, 
baoon  ital.  rispetto,  fran3.,  engl,  respect  Hücffidjt. 
2lItfyod)b.  aparten,  ausbauen  (ber  urfprünglidje  Sinn 
nodj  erhalten  in  XDarte,  Sternkarte),  baoon  ital. 
guardare,  fran3.  garder,  engl,  guard,  ital.  riguardo, 
fran3.  dgard,  engl,  regard  HücFftdit,  u>03U  nod?  unfer 
Jtuftoartung  im  Sinne  bes  ^öflid]feitsaftes  (jemanbem 
feine  2luftr>artung  machen)  Ijin3U3ufügen  ij*. 


(EtYttiologtfdjer  2lusgangsputtft  ber  ^Idjtung,.  397 


<2rf ernten,    IDer  jemanben  3U  ertennen  fucht,  tpenbet 
ihm  feine  2lufmerffamfeit  3U,  bapon  21nerfennung 
im  Sinne  bes  Betpeifes  ber  Dichtung,  ähnlich  nobilis 
von  noscere,  es  iji  ber  TTiann,  ber  gefannt  tpirb, 
befamtt  tft,  unb  bas  iji  nur  ber  „angefehene"  ZlTamt*). 
[507]  Überall  alfo   bie  Anlehnung  bes  Begriffs  ber 
Achtung,  bes  2lnfehens,  ber  Fialen  IDertfdiä^ung  ber  perfon 
an  bie  Catfache  bes  2lchtgebens ,  Beobachtens ,  2tufmerfens, 
Seyens,  fich  ttmfehens,  <£rfennens,  3um  bejlen  Betpeife,  baj$ 
tpir  es  Iiier  mit  einer  in  ber  Sadje  felber  gelegenen  3tt>ingenben 
DorfteHung  311  tun  traben.    <£s  iji  ein  Stücf  philofoph^  ber 
Sprache,  bas  ftch  barin  ausprägt,  unb  3ugleich  ein  htftorifcher 
Bericht  barüber,  tpie  bas  Polf  3ur  Dorftetlung  ber  Sichtung 
gekommen  ift,  in  biefer  f}injtcht  ein  Settenftücf  3U  ber  (Ety* 
mologie  ber  <£l\ve  (S.  392). 

Hun  h<*ben  aber  befanntlich  manche  Segriffe  burch  ben 
perfeinemben  unb  perebelnben  Hinflug  ber  Kultur  unb  bie 
pertiefte  Cebensauffaffung  bes  Polfes  fich  im  £aufe  ber  <gett 
pon  ihren  urfprünglichen  2tusgangspunften  bis  3U  einem  (Srabe 
entfernt  unb  losgemacht,  bajj  fich  ber  urfprüngliche  (Sebanfe 
faum  noch  in  irgenbeinem  punfte  nachtpeifen  lägt.  IDie  per« 
I^ält  es  fich  in  biefer  Be3iehung  mit  bem  obigen  Begriff? 
I}at  ber  «gufammenhang  ber  Sichtung  mit  ber  Beachtung  bloß 
hiftorifche  ober  auch  praftifche  tüahrheit?  Darauf  toerben 
rpir  im  folgenben  bie  Slnttport  erteilen,  tpir  roerben  perfudjen, 
ipietpeit  ftch  in  ber  in  ben  heutigen  Ejöflichfeitsformen  fixierten 
Sichtung,  tpir  wollen  fie  fur3  bie  fo3iale  nennen,  ber  <5ejtchts« 
punft  ber  Beachtung  ber  perfon  nachtpeifen  lägt  Pon  jenen 


*)  €tn  «gufyörer  aus  Ungarn  fyat  mir  ba^u  nodj  folgenbe  Beiträge 
aus  fcem  Ungarifd?en  gegeben.  Figuel  aufmerfen,  figuelemmel 
lenni  eine  Slufmerffamfett  eru>etfen,  tekint  anfefyen,  tekintely  eine 
Kapa3ttät,  tekintetes  als  (Eitel  (spectabilis),  tekintet  HÜcfjtdjt,  ismer 
erf  ernten,  elismer  anerPeunen. 


398 


Kapitel  IX.   Die  fatale  HTedjanif,   Das  Sittliche* 


formen  fommen  felbfti>erftcindlicfi  nur  diejenigen  in  Betracht, 
weld\e  eine  tatfäcfylidje  Betätigung  [508]  der  2ldjtung  ent* 
galten,  es  fcfyeiden  demnach  diejenigen  aus,  xoeldie  lediglich 
die  Derjtdjerung  derfelben  3 um  (Segenffand  l\ahen  (f.  unten). 

Kafuiftif  und  gurücffüfyrung  der  Sichtung  auf  d*n 
(Seficfytspunft  der  Beachtung  der  perfon. 
2lnläffe  und  (ßegenjiände  für  die  Beachtung  der  perfon 
follen  den  Kegeln  der  fjöflicfyfeit  jufolge  für  uns  fein: 

\.  Das  bloße  €rfcf]einen  der  perfon  innerhalb  unferes 
(Seftdjtsfreifes. 

JPir  fonftatieren  dasfelbe  dutd)  den  <5ruß.  £>er  <ßruß 
in  feiner  heutigen  Bedeutung*)  ift  nichts  als  die  Kundgebung, 
daß  roir  die  perfon  bemerft  I)aben,  ifyrer  anpd)tig  geworden 
find,  von  ifjrem  Porfyandenfein  3Xoti$  nebmen  — •  2Icfytung 
und  Beobachtung  fallen  fyier  gan3  $ufammen. 

3)aß  der  (Bruß  der  2Id)tung,  nxdit  dem  iDoIjfoollen  an* 
gehört,  ergibt  fidj  daraus,  dag  er  ein  StücE  der  reglemen* 
tierten  fjöflicfjfeit  bildet  (Salutieren  des  Soldaten),  tr>e!d)e 
mit  dem  iDofyfoolIen  nichts  3U  fd] äffen  l]at. 

2.  Qas  Begegnen  der  perfon  auf  der  Straße  als  2lnlaß 
3 um  2tustr>eid?em  2)ie  Straße  gehört  allen  in  gleicher  IDeife, 
von  ivoex  fiel]  Begegnenden  t^at  daljer  jeder  aus3iux>eicbcn; 
es  3U  unterlaffen  fyeißt  ftdj  gerieren,  [509]  als  gehöre  einem 
die  Straße  allein,  es  liegt  darin  eine  Übergebung,  Anmaßung, 
eine  <5eringfcf)äfeung  des  andern  Seils**),  das  (ßebot  der 
^5flid]feit  ließe  fid?  l>ier  fogar  auf  den  Hedjtsgeftdjtspunft 
3urücffül|ren.  2lnd\  fyier  getsäfyrt  die  reglementierte  ^öfltd}* 
feit  einen  5ingem>eis.    35er  Soldat  Ijat  beim  Begegnen  mit 

*)  Über  feine  mutmaßliche  iirfprünglidje  Bebeutuna,  f*  tu 
**)  3n  ber  (ßbipusfage  bildet  fie  ben  ilnlaß,  warum  (Dbipus  ben 
£aios  erfdjlägt,  „tdj  rä'cfyte",  vo\e  SopfyoHes  (Bbipns  auf  Holonos  vlufh\  <k 
ifyn  fagen  läßt,  „nur  erlittene  Krärthmß"» 


Die  Beachtung  ber  perfon  als  <Jorm  ber  2Jcfytung. 


399 


bem  Dorgefefeten  5ront  3U  madjen,  in  Horn  mußte  jeber  bem 
ZHagiftrat  anstreichen,  ber  feinerfeits  aber  tr>ie  jeber  ber 
ZHatrone  roieberum  austoid?,  in  ber  Cürfei  muß  fogar  ber 
(Ojrift  x>or  bem  pafdja  vom  pferbe  fteigen.  21Hes  bies 
jtnb  nid]t  23eu>eife  bes  iDo^footlens,  fonbern  ber  2td]tung. 
T>aß  aucfy  I|ier  für  letztere  ber  <ßeftd}tspnnft  ber  öeadtfung 
3utrifft,  liegt  auf  berfjanb;  austoeicfyen  Ijeißt  bie  begegnenbe 
Perfon  beachten,  nicfyt  ausweisen  von  ifyr  feine  ZXoti$  nehmen, 
feinen  IDeg  in  berfelben  IPeife  fortfefeen,  als  u>äre  fie  gar 
nidjt  ba. 

3.  Das  <£rfdjeinen  ber  perfon  bei  uns,  in  unferm 
eignen  Ejaufe.  Des  bloße  <5ruß  genügt  fyier  nid]t,  benn 
bie  perfon  roirb  uns  nidjt  bloß  ftcfytbar,  u>ie  auf  ber  Straße, 
fonbern  fie  fucfyt  etwas,  fei  es  uns  f elber  (33e*fudj),  fei  es 
etoas  anberes  ((5e*f  ud}),  unb  bies  fcbreibt  unferem  23enefymen 
eine  bementfpredjenbe  5orm  t>or:  xvit  ergeben  uns,  roir  laffen 
fie  nid]t  einfad)  an  uns  Ijeranfommen,  fonbern  roir  fommen 
ifyr  entgegen  (ber  [510]  urfprünglidje  Sinn  bes  „entgegen* 
fommenbenIDefens"),  toir  brücfen  bamit  aus,  baß  it^r  Kommen 
uns  genehm  ift,  unferem  iüillen  entfprid]t  (HMtWommen), 
roir  empfangen  fie.  Der  (Empfang  ift  bie  bnvd\  bie  ZTatur 
ber  Sadje  felber  t>orge3eid^nete  $ovm  ber  Beachtung  bes 
23efud]s,  bie  Hnterlaffung  besfelben  enthält  feine  bloße  iln* 
freunblid)feit,  feinen  ZHangel  an  XDofyfooDen,  fonbern  eine 
Unge3ogenfyeit,   einen  JUangel   an  2ld]tung*)*  Abermals 

*)  Selbfi  ber  grollenbe  2lcfyilleus  ergebt  fid?  vom  £agcr,  als  bie 
2Ibgefanbten  bes  Agamemnon  in  feinem  gelte  erfreuten,  unb  fyetßt  fie 
toinFornmen  (3Kas  9,  {95  ff.),  ttne  benn  Horner  biefer  ^orm  bes  (Empfanges 
nidjt  feiten  gebenft,  f.  3.  33.  3lias  23,  203;  (Dbyffee  \,  U9;  2,  *6. 
{%  $2.  Durd?  nichts  lub  Cüfar  in  bem  ITtaße  ben  l}aß  auf  fid?  als 
baburdj,  baß  er  ben  Senat,  ber  ifym  (Efyrenbefrete  überbrachte,  fitjenb 
empfing»  Die  Kaifer  ließen  fid?  bies  3ur  £efjre  bienen,  Oertus  ging 
ben  Konfuht  bis  3ur  Cüre  entgegen,  ^abrian  empfing  jeben  Senator 
ftefyenb,  {♦  ^rieblänber,  Darftellungen  aus  ber  Sittengefd}td}te  Horns, 
I.  S.  J30,  132. 


^00        Kapitel  IX.   Die  f<>3tale  HTedjamL   Das  Sittliche* 

Achtung  in  $ovm  ber  Beachtung,  txne  beim  (Brufc,  nur  ba% 
biefelbe  B^ier  nicht  bas  bloge  (£rfcheinen  ber  perfon,  fonbem 
bie  Catfache,  ba%  fte  bei  uns  etwas  fucht,  3um  (Segenflanbe 
t^at,  2lQerbings  fann  auch  bas  IDohlwoHen  in  ber  2trt,  toie 
wir  ben  öefuchenben  empfangen,  feinen  2lusbrucf  ftnben,  aber 
gan3  basfelbe  gilt  auch  für  ben  (5ruj$,  ber  Hichtigfeit  unferer 
Jtuffaffung  tut  bies  feinen  Abbruch;  es  hanbelt  fich  nicht  um 
bas jenige,  was  ftch  in  ben  Jtft  hineinlegen  lägt,  fonbem  was 
er  als  folcher  in  ftch  fchüe§t,  was  er  feiner  foialen  23e* 
ftimmung  nach  fein  foH,  unb  barüber,  baf$  ber  <£mpfang  bie 
unerläßliche  form  iji,  in  ber  totr  ber  uns  befuchenben  perfon 
unfere  [511]  Sichtung  beweifen,  wirb  nach  bem  (Sefagten  fein 
gweifel  obvoalten  fönnen. 

%  Qie  frage*  XPir  beachten  fte,  inbem  wir  eine  Ant- 
wort erteilen,  unb  bies  ift  Sache  ber  einfachen  Jtrtigfett, 
bas  (Segenteil  enthält  feine  Unfreunblichfeit,  fonbem  eine 
Hnge3ogenheitr  eine  (Srobheit,  es  gibt  faum  ein  ftärferes 
Reichen  ber  (Seringfchä&ung,  als  bem  fragenben  ben  Hücfen 
f e^ren.  3)ie  Beantwortung  ber  frage  ift  alfo  ein  2lft  ber 
Achtung,  nicht  bes  tDohlwoftens,  ber  (ßeftchtspunft  ber  Se« 
achtung  ber  perfon  trifft  auch  h*^  3**. 

5.  Sie  Hebe.  IDir  beachten  fte,  inbem  toir  bem  ^lebenben 
juhoren.  3emanben  nicht  su  lüorte  fommcn  laffen,  ihm  in 
bie  Hebe  fallen  ober  ihm  burch  äußere  Reichen  oerraten,  baß 
er  uns  langweilt,  ift  eine  Unge3ogenheit,  bie  baburdj  um 
nichts  geringer  wirb,  baß  fte  auch  bei  (ßebilbeten  nichts 
weniger  als  feiten  iji  Schon  bei  Isomer  wirb  es  als  Pflicht 
ber  2trtigfeit  be3eichnet,  einen  ^ebenben  nicht  3U  unterbrechen*). 


*)  Z^as      W t  8°/  0)0  Horner  ben  Agamemnon  fagen  läßt; 
3fyn,  ber  fielet,  anhören  ge3temt  ftd},  nidjt  in  bie  Heb1  iljm 
fallen,  benn  folcfyes  befdjtr>ert,  tDteoiel  aua?  miffe  ber  Störer, 

ein  Spnxd},  ben  man  manchem  311m  2htstpenbiglemen  empfehlen  mödjte! 

Die  Kunft,  jemartben  gebulbig  a^uljören  unb  ben  U)iberfprudj  gegen 


Die  Beachtung  ber  perfon  als  ^orrn  ber  ^Icfytung. 


[512]  6.  Das  Urteil  6er  perfon.  Wiv  Beamten  basfelbe, 
inbem  toir  unfere  eignen  abrseichenben  Behauptungen  in  bie 
formen  bes  fubjefttoen  ZHeinens  fleiben  (bie  fprachlichen 
5ormen  bafür  f.  u.).  Damit  erfennen  toir  bie  Berechtigung 
ber  abtoeichenben  2tuffaffung  bes  anbern  an,  ben  XPert  feines 
Urteils,  feiner  Urteilsfraft,  es  enthält  bie  Betätigung  ber 
Dichtung  nach  ber  intellef tuellen  Seite,  bas  (Segenteil: 
bas  2lbfprechen  über  bie  fremben  2Infichten,  inr>oh>iert  in* 
telleftuelle  (ßeringfchäfeung.  (Db  biefe  Schonung  überall  am 
platte  ift,  fteht  fyev  3ur  5^age,  ich  fomme  barauf  3urü<f 
bei  Gelegenheit  ber  Unterfuchung  über  ben  KonfliftsfaH 
3u>ifchen  Sittlichfeit  unb  Sitte.  £}ier  han&elt  fich  nur 
barum,  ba§,  too  fie  am  ptafee  iji,  tr>o  es  fich  alfo  lebiglich 
um  bie  üblichen  5ormen  ber  Höflichkeit  E^anbelt ,  bas  TXiotiv 
berfelben  in  ber  Beachtung  3u  erblicfen  ift,  welche  bie  perfon 
für  ihre  Urteilsfraft  in  2lnfpruch  3u  nehmen  berechtigt  ift  — 
bie  Sichtung  charafteriftert  fich  h^r  Beachtung  bes  in« 
telleftuellen  IDertes  ber  perfon. 

7.  Das  S  e  l  b  ft  b  e  ft  i  m  m  u  n  g  s  r  e  ch  t  ber  perfon.  Der 
3mperatit>  enthält  bie  Ztegation  ber  fremben  Selbftbeftimmung, 
er  3iemt  fich  nur  perfonen  gegenüber,  benen  tr>ir  [513]  3U 


feine  Behauptungen,  ober  bie  gufä^e,  bie  mau  ba3U  3U  machen  gebenft, 
folange  bei  ftd?  3U  behalten,  bis  er  ausgerebet  fjat,  fdjetnt  nadj  meinen 
(Erfahrungen  nod?  fdjnrieriger  3U  erlernen  3U  fein  als  bie,  ftd?  mit  2ln* 
ftanb  3U  langweilen.  Das  Denfen  mancher  £eute  ift  fo  fur3atmig,  ba§ 
fte  fürchten,  nad?  bem  Scfyluffe  ber  Hebe  bereits  üergeffen  3U  traben,  was 
fie  jagen  wollten,  ober  ttjre  Selbfibetjerrfa^ung  ift  eine  fo  geringe,  baß 
ber  IDiberfprudj  fofort  ftd?  £uft  machen  muß.  Wie  bte  (Sriea?en  barüber 
badeten,  ergibt  fldj  auger  aus  bem  obigen  geugnis  nodj  aus  (Euripibes 
Hafenber  ^erfules  V.  52$; 

Du  vergib,  (Sreis,  wenn  ia?  bir 

Das  IDort  üortpeguafym,  tpeldjes  bir  an  itm  ge3iemt 
unb  (Euripibes,  Die  Sdjurjflefyenben  V.  50$; 

.  ♦  Qalte  fUU  ben  tflunb, 

Unb  eile  nidjt  mit  beinen  Heben  mir  3ur»or. 

t>.  3bering,  Der  gtoecf  im  Sedjt.  II.  $.  Haft.  26 


402 


Kapitel  IX.   Die  fatale  riTea>ttif.   Das  Sittltdje. 


gebieten  fyaben,  die  Jjöfltdtfeit  fefet  im  gefelligen  Perfefyr  an 
Stelle  desfelben  bte  Sitte  ober  die  Aufforderung  unter  Dor* 
behalt  des  eignen  freien  (Entfdjluffes,  —  Betätigung  der 
2ld?tung  durd?  Beachtung  der  IPtllensfreiBjeit  der  perfon. 

8.  Die  §eit  des  andern.  Die  5orm,  in  der  jte  nadj 
dem  (Sebote  der  fjöflidjfeit  (ßegenftand  der  Beachtung  unferer« 
feits  tt>ird,  tjl  die  pünftlidjfett.  (Einen  andern  bei  einer  x>er» 
abredeten  ^ufammenfunft  warten  laffen,  fyeijjt  den  tDert, 
tseldjen  die  geit  für  ifyn  tjat,  geringfcl|äfcen,  pünftlid?  fein, 
denfelben  tatfädjlidj  beachten. 

2llfo  Achtung  iji  23eadjtung  der  perfon.  2tuf  diefen  <ße* 
ftdjtspunft  laffen  jtcfy  fämtlidje  f^öflidjfeitsformen,  toelcfye  den 
2lusdru<f  der  Achtung  3um  gvoed  fyaben,  3urücffüfyren,  überall 
iji  es  die  perfon:  das,  tx>as  jte  ift,  toas  fie  Ijat,  tx>as  jte  tut, 
tx>as  jte  fpridjt,  toas  jte  toünfdjt,  was  roir,  indem  u>ir  iEjr 
unfere  2td]tung  betpeifen,  beachten,  und  der  <5rund,  der  uns 
da3u  x>erpflid}tet,  iji  der  fo3iaIe  XOert,  den  die  perfon  als 
foldje  in  2lnfprud?  nehmen  fann  —  alle  ^Öflidjfeitsformen 
der  Achtung  dreien  jtdi  um  den  einen  (ßedanfen:  2lnerfennung 
des  faialen  tüertes  der  perfon.  2lber  nid?t  der  fonfreten, 
fondern  der  abftraften,  die  Ejöflicfyfeitsbetoeife  der  Achtung 
gelten  nidjt  iem  ^}ni>xvxi>nnm,  fondern  im  3"dipiduum  der 
Perfon.  2ludj  einem  t>öHig  Unbefannten  erteilen  tx>ir  am 
Scfyluffe  des  Briefes  die  X>erjtd?erung  der  tJoHfommenften, 
ausge3eid^netften  J^od]ad]tung  und  reden  [514]  iljn  in  der 
Überfdjrift  als  fjodjgeeljrten ,  fyocfouperefyreuden  ^errn  an. 
Was  txnffen  tx>ir  x>on  feiner  2ld)tungstt>ürdigfeit,  feiner  €l|rcn- 
fyaftig!eit?  Ztfdjtsl  Und  felbji  wenn  er  uns  befannt  iji,  und 
roir  ntdjts  weniger  als  das  (ßefüfyl  der  fjodjadjtung  vov  ifym 
empfinden,  bedienen  toir  uns  gleidju>oI}l  jener  p^rafen.  Se- 
geln roir  damit  nxdit  eine  roiff entließe  Untoa^r^eit?  Dann 
mü§te  ein  wahrheitsliebender  ZTTann  2lnjiand  nehmen,  ftcf? 
it^rcr  3u  bedienen.   2lber  er  braucht  es  nid?t,  denn  jte  gelten 


Die  inbhribuefle  ^tetjung  bei  ber  21djtung* 


^03 


nicht  bem  3nbii>ibuum,  fonbern  ber  perfon  —  es  ift  ber 
fo3iale  £Dert  5er  perfon  als  foldjer,  ber  in  biefen  typtfehen 
formen  3nm  2tusbrucf  gebracht  iji,  unb  auf  bejfen  2lner* 
fennung  in  feiner  eignen  perfon  jeber,  ber  benfelben  nic^t 
burch  entfdjtebene  Umsürbigfeit  tferfcher3t  h<*t,  ber  Sitte  3U* 
folge  einen  gerechtfertigten  2lnfpruch  ^at  Dies  führt  mich 
auf  tue  öebeutung  bes  inbbibueßen  Moments  in  ber  Sichtung. 

Das  inbit>ibuelle  XHoment  in  ber  Achtung, 
Dasfelbe  fommt  in  boppelter  ^mftdtf  in  öetracht,  einmal 
als  äußerer  2lnfajj  für  bie  €rrt>eifung  ber  Sichtung  unb  fobann 
als  Slusfchließungsgrunb  bes  Stnfpruchs  barauf. 

2tls  Slnlajj«  <£s  bebarf  ber  inbit>ibuellen  Berührung, 
um  ben  Slnfpruch  auf  Sichtung  3U  er3eugen.  Der  XHaffe 
gegenüber  gibt  es  feine  Verpflichtung  ber  fjöflidffeit,  ein 
Schriftfteller,  ber  mit  feinen  Cefern  in  feine  perfönlicfje  Be- 
rührung tritt,  fann  in  feiner  Schrift  feinen  Derfiojj  [515] 
gegen  bie  ^oflichfeit  begehen,  er  fann  roh,  gemein,  fripol 
fein,  burch  un3Üchtige  Dinge  unfern  Slnftofc  erregen,  aber  nie 
gegen  uns  unhöflich  fein,  es  bewährt  jtch  hierin  bie  Sichtig- 
feit  bes  von  uns  aufgehellten  <5ejtchtspunftes:  ber  Jlnftanb 
geht  in  rem,  bie  ^öflichfeit  in  personam.  2tber  ein  Hebner 
fann  es,  felbft  toenn  er  3U  einem  publifum  fpricht,  bas  nach 
Caufenben  3ählt,  benn  3tx>ifchen  ihm  unb  feinem  publifum 
efijiiert  eine  perfönliche  Be3iehung  (S.  288),  an  ber  es  beim 
SchriftjteHer  fehlt. 

Der  (ßejtchtspunft  ber  inbiüibueüen  Berührung  ober  23e- 
3tehung  iji  ein  elaftifcher,  es  lägt  fich  nicht  fchlechthin  fagen: 
hier  liegt  fie  sor,  bort  nicht,  es  fommt  babei  vielmehr  in 
manchen  5äöen  gan3  auf  bas  (ßutbeftnben ,  bas  Urteil  bes 
3nbix>ibuums  an,  ob  es  fte  als  oorhanben  annehmen  voiü 
ober  nicht  211s  Beifpiel  wähle  ich  bas  (Srüßen  t>on  Un* 
befannten.  Der  (ßroßftäbter  grüßt  niemanben,  als  benjenigen, 

26* 


^0^        Kapitel  IX.   Die  fatale  XTCedjarttf*   Das  Sittliche* 


ben  er  fennt,  ber  Kleinjiäbter  unb  ber  Zfiann  vom  £anbe 
aud?  ben  Unbefannten,  bas  will  fagen:  für  jenen  erjftiert 
3wifdjen  tfym  unb  ber  ZTlaffe,  bte  ifym  begegnet,  gar  feine 
öestetjung,  es  ift  ber  Strom,  ber  an  tbjm  t>orüberraufd)t,  für 
biefen  eriftiert  eine  foldje.  <£in  anbeves  Betfpiel  gemährt 
bas  (grüßen  ber  2TJitreif  enben  beim  (Jrinfteigen  in  ein  <£ifen* 
bafyncoupe,  rote  bas  ber  Xtadihatn  beim  <£rfdjeinen  an  ber 
XPirtstafeL  T>er  (ßebanfe,  ber  uns  babei  leitet,  ift  bie  bnvdq 
bte  (5emetnfamfeit  bes  Zlanmes  unb  bte  (ßleicfytjeit  bes 
gweefes  bewirfte  porüberget/enbe  perfönlidje  gufammen* 
get^örigf eit,  alfo  bas  [516]  Dorfyanbenfein  einer  wenn  aueb 
nod)  fo  oberflächlichen  unb  t>orübergefyenben  inbwibueHen  Be= 
rüfyrung  —  wer  biefelbe  ntcfyt  anerfennt,  grüßt  nidjt,  wer  grüßt, 
erfenut  fie  an»  <5an3  biefelbe  Dorfteltung  maltet  im  erfteu 
$aÜ  ob,  ber  (Einrietmifdje,  ber  ben  5^emben  grüßt,  fyat  bas 
(Befüfyl,  baß  berfelbe  momentan  3U  iBjm  gehört,  benn  i^nen 
betben  iji  augenblicflid}  etwas  gemeinfam,  jener  atmet  btefelbe 
£uft,  wanbert  benfelben  H?eg  tt>ie  er,  unb  biefem  <5efül>le 
ber  $wif dien  ifynen  burefj  bie  (ßemeinfamfeit  ber  tage  her* 
gepeilten  perfönlidjen  Se3iet|ung  gibt  er  burd?  feinen  (Sruß 
2lusbrucf. 

2lls  2tusfcrjließungsgrunb  bes  2lnfprucf|s  auf  2td?tung. 
Das  3nbtptbuum  fann  ben  2tnfprudj  auf  Achtung  perfdjersen. 
<£s  »erhält  ftdj  mit  ber  2tcfytung  ebenfo  wie  mit  ber  £brc. 
23eibe  fallen  ber  perfon  oB|ne  ihr  «gutun  3U,  fie  brauchen 
nicht  erft  erworben  3U  werben,  aber  fie  fönnen  son  bem 
3nbtpibuum  verwirft  werben,  unb  bies  gefchieht  burd?  eine 
fjanbtungsweife,  welche  ftd?  mit  bem  ben  ^öflichfeitsformen 
ber  Achtung  3ugrunbe  liegenben  IPerte  ber  perfon  nicht  r>er* 
trägt,  bas  3nbipibuum  entkräftet  bie  abfhrafte  präfumtiou 
feines  fo3ialen  IDertes  burch  ben  fonfreten  Gegenbeweis 
feines  Unwertes. 

2llfo  nidit  bas  3nbit>ibuum,  fonbern  bie  abftrafte  perfon 


(grabuefle  2IBftufung  bes  IPertes  ber  perfon. 


ift  es,  beten  Wext  in  ben  Ejöflichfeitsformen  ber  Sichtung  3m: 
2{nerfennung  gelangt,  bie  Sichtung  tt>irb  ertoiefen  bem  3nbt« 
sibuum,  aber  fie  gilt  ber  perfon.  Damit  fteBjt  eine  grabueQe 
Stbftufung  biefer  5ormen  nach  Ifiaßgabe  [517]  bes  abftraft 
perfdjiebenen  Heertes  ber  perfon  fotx>enig  in  IDiberfpruch, 
baß  fie  gerabe  umgefehrt  bie  Züchtigfeit  unferes  (ßefichts- 
punftes  beftätigt. 

(ßrabuelle  2Ibftufung  bes  Xüertes  ber  abfiraften 
perfon. 

Soll  bie  Sichtung  ben  JDert  ber  abftraften  perfon  sunt 
Slusbrucf  bringen,  fo  fonnen  bie  formen,  in  benen  bies  ge* 
fchieht,  nur  unter  ber  Porausfefcung  bie  gleiten  fein,  baß 
biefer  JDert  felber  ber  gleiche  ift.  Dies  ijl  aber  nicht  ber 
5aü.  £s  ift  eine  Catfache,  bie  ftch  bei  allen  Dölfern  ber 
(Erbe  txneberholt,  unb  bie  burch  ben  ohnmächtigen  proteft, 
ben  eine  abftrafte  (Sleichh^itstheorie  bagegen  ergebt,  nicht 
aus  ber  IPelt  gefchafft  rotrb,  baß  ber  perfon  nach  bem  XlTaße 
ber  Sebeutung,  bie  ihr  für  bas  (ßemeinroefen  3ufommt,  ein 
üerfchiebener  tDert  3uerfannt  toirb  —  ber  König  h<**  einmal 
einen  liotyxen  Wext  als  ber  Untertan,  ber  (ßeneral  einen 
höheren  als  ber  Solbat  —  unb  fotoenig  je  ein  Kupferpfennig 
ertoarten  barf,  ben  IDert  eines  <5olbftücfs  3U  erlangen,  fo* 
toenig  ber  Untertan  ober  ber  Solbat,  feine  (ßeltung  ber  bes 
Königs  ober  (Senerals  gleichgestellt  3u  fehen. 

<£s  ijt  übrigens  nicht  bloß  bie  flaatliche  Stellung, 
toelche  biefen  (Einfluß  ausübt,  3U  ihr  fommt  noch  kin$u  bie 
(ßeburt. 

Don  vornherein  follte  man  erwarten,  baß  lefetere  bie 
3U>eite,  jene  bie  erfte  Stelle  einnehme,  benn  bie  <5eburt  [518] 
ifi  bie  Vergangenheit,  bie  ftaatliche  ZHadjtjtellung  bie  (ßegen- 
toart,  unb  in  gefteigertem  XHaße  follte  man  bies  erwarten 
bei  allen  freien  Dölfern  unb  gan3  befonbers  in  ber  3ugenb3eit 


^06       Kapitel  IX.   Die  fatale  ITCedjatttf*  Das  Sittliche. 

betreiben.  Die  (Befdjidite  [traft  biefe  €m>artung  Oigen,  benn 
ftc  füfyrt  uns  gerabe  bei  ben  brei  fyert>orragenbjien  Kultur- 
ttölfern  ber  tPelt,  bie  ftcfj  3ugleidj  burdj  iBjren  5teiijeitsjtnn 
vot  allen  anbetn  ljen>orgetan  l^aben:  (griedjen,  Hörnern, 
(ßermanen  in  tl|rer  3ugenb3eit  bas  (Segenteil  x>or  2lugen. 
Der  ZTimbus,  ben  bie  eble  ilbfiammung  gewährte,  galt  itjnen 
Ijöijer  als  ber  23eftfe  ber  (5en>alt  Das  efyrem>ollfte  präbifat, 
bas  fjomer  feinen  gelben  3uteil  u>erben  lägt,  ift  bas  ber 
eblen  2lbftammung.  (Einer  Perfyerrlidjung  ber  Vftadit,  idf 
meine  nidjt  ben  bloßen  f}inu>ets  auf  ben  23eftt$,  fonbern  eine 
von  bem  barauf  gelegten  fyofyen  IPert  3eugenbe  2tpotfyeofe 
berfelben,  erinnere  id}  midi  nie  bei  J^omer  begegnet  3U  fein, 
eine  folcfye  Sdjilberung  Ijätte  bas  I}er3  ber  (Sriedjen  falt  ge- 
Iaffen,  aber  bie  fjeroorljebung  ber  eblen  (Seburt,  bie  Jlljnen- 
tafel,  bie  jidj  bis  3U  ben  (ßöttern  erftrectte,  ermärmte  jte, 
unb  man  füljlt  es  bem  Dichter  an,  mit  tseldjer  £uft  unb  £iebe 
er  biefen  punft  befyanbelt.  Unb  nocfy  bei  ben  griecfjifcfjen 
Cragifern  toiebetfplt  fictj  biefe  rüfymenbe  Betonung  ber  Ge- 
burt. Kur3  ben  (Sriedjen  galt  bie  <5eburt  fyöfyer  als  ber 
Beftfe  ber  jiaatlidjen  XlTac^h 

Zlidjt  anbevs  Derzeit  es  fidj  im  alten  Horn.  Der  öefife 
ber  fyöcfyften  ftaatlidjen  Zttadit  in  ben  £)änben  eines  plebejers 
toog  in  ben  2lugen  bes  römifdjen  Polfes  ben  [519]  (ßeburts- 
abel  bes  Pah^iers  mdjt  auf,  unb  aud?  nadjbem  bie  plebejer 
im  Hedfte  bie  oööige  (Bleidjfyett  mit  ben  patri3iern  erfämpft 
Ratten,  erhielt  jtdj  bie  (Erinnerung  an  ben  ehemaligen  Por- 
rang ber  lefeteren  nidjt  bloß  fpradjlidj  in  ein3elnen  Heminis- 
3en3en,  3.  23.  ber  sella  curulis,  fonbern  audj  praftifdj  in  ben 
allerbings  unbebeutenben  Porredjten  ber  patri5*fdjen  Abteilung 
bes  Senats  unb  ben  perfönlidjen  (Ehrenrechten  feiner  ZtTit* 
glieber,  ja,  unb  bas  ift  für  ben  Hei3,  welchen  bie  2lbftammung 
für  bas  römifche  (ßemüt  befaß,  x>ielleid)t  am  be3eidmenbfien, 
ber  (ßebanfe  trieb  in  bem  fpäteren  rein  Fialen  (ßegenfafe  ber 


Das  ITComent  ber  (Sefcuri  Bei  bei  2ld}tung*  ^07 

Mobilität  unb  ber  homines  novi  neue  ZVm^eln*  Den  ZTiafel, 
welcher  ber  unfreien  (Seburt  anflebte,  unb  ber  pdj  erß  in 
ber  britten  (Seneration  perlor,  fonnte  tetn  perfönliches  Der* 
bienß  tilgen,  unb  burch  nichts  djarafteriperte  bas  Kaifertum 
ben  Bruch  mit  ber  Vergangenheit  unb  ber  hergebrachten 
nationalen  2lnpdjt  in  fchrofferer  IVeife,  ab  burch  bie  (ßänji- 
lingsroirtfchaft  ber  5reigelaffenen  am  faiferlichen  ^ofe  —  ber 
§yr\\sm\xs  bes  fchamlofen  21bfolutismus,  ber  in  bem  <5ebanfen 
gipfelt:  bie  Allmacht  fann  aus  nichts  alles  machen,  aus  einem 
ehemaligen  Silasen,  rote  in  Horn,  bie  mächtigfte  perfon  im 
Staate,  aus  einem  Schweinehirten,  einem  paftetenbäcfer,  wie 
in  Hußlanb,  einen  dürften,  pe  ertennt  nichts  an  als  ihr  ipse 
fecit  Xttd^t  an  ber  Freiheit,  fonbern  an  ber  IVillfür  bepftt 
bie  (ßeburt  ihren  unt>erföhnlichen  (Segner,  ihren  gefdjwornen 
Cobfeinb,  bie  Freiheit  verträgt  pdf  mit  ber  Sichtung  vox  ber 
Vergangenheit,  [520]  bie  IVillfür  nicht,  fie  erfennt  eben  nur 
pch  felber  an.  Sie  (ßeburt  aber  ift  bie  Vergangenheit,  nicht 
bie  Vergangenheit  im  Sinne  bes  bloßen  Ablaufes  ber  geit, 
fonbern  im  Sinne  ber  (Erinnerung  an  bie  Säten  ber  Vor* 
fahren,  welche  bie  (Sefdjichte  bem  Danfe  ber  Fachwelt  auf- 
bewahrt fyat,  unb  an  bie  angefehene,  einflußreiche  Stellung, 
welche  pe  befleibet  haben.  3n  biefem  Sinne  refpeftierte  ber 
Horner  bie  vornehmen  (Sefchledjter,  ihre  ^Tarnen  waren  mit 
ber  (Sefchichte  bes  Staates  unerkennbar  t>erfnüpf>,  unb  bas 
römifche  Volf  ließ  in  feinen  (Berichten  nicht  feiten  (ßnabe  por 
Hecht  ergehen,  wenn  ber  2lngeflagte  bie  eigene  Schulb  burch 
bie  Verbienjle  feiner  Vorfahren  aussugleichen  permochte. 

Keines  ber  genannten  Völfer  h<**  bie  (ßeburt  in  ber  IVeife 
betont,  wie  bie  (ßermanen.  Sei  ben  (Sriechen  war  ber  (Ein* 
fluß,  ben  Pe  ausübte,  lebiglich  fo3ialer  2lrt,  bei  ben  Hörnern 
war  berfelbe  ursprünglich  3war  ein  rechtlicher  unb  tief  ein- 
gretfenber  (patri3ier,  plebejer),  allein  er  fnüpfte  pch  nidjt 
an  einen  (ßegenfaft  innerhalb  besfelben  Volfs^ammes,  fonbern 


408        Kapitel  IX.   Die  feciale  medjanif.   Pas  Sittliche. 

an  ben  3tr>eier,  politifch  t>erfchiebenartig  berechtigter  Dölfer« 
fchaften,  bei  ben  (ßermanen  bagegen  begrünbete  ber  Unter* 
fchteb  ber  (Seburt  einen  rechtlichen  (Segenfat*  innerhalb  ber 
(5enof(en  eines  unb  besfelben  Stammes.  Die  rechtliche  (Seftalt 
besfelben  roar  bas  germanifche  XDehrgelbfyftem,  bas  H?efy> 
gelb  bes  2lbligen  toar  ein  fyöfyeres  als  bas  bes  (Semeinfreien, 
bei  einem  ber  freieften  Stämme,  ben  Sachen,  betrug  es  bas 
Sechsfache  [521]  bes  lefeteren.  Kein  anberes  Volt  fyat  im 
;?ortfchritte  feiner  €ntoicflung  an  bem  (Segenfafee  ber  (5eburt 
folange  feftgehalten  als  bas  beutfehe,  noch  bis  in  unfer  3ahr* 
hunbert  hinein  fyat  fich  bei  manchen  höchften  Difafterien  bie 
Scheibung  in  eine  abiige  unb  gelehrte  Banf  erhalten,  unb 
bie  fo3iale  2tf3entuierung  ber  (Seburt  im  23riefftil  ijl  von 
feinem  X>olfe  ber  <£rbe  bis  3U  bem  JTlaße  ausgebilbet  toorben 
als  von  uns  Deutfchen.  Sie  Sebeutung  einer  toirflich  h^r* 
r>orragenben  (Seburt  finbet  fich  auch  bei  anbeten  Pölfern*), 
allein  toir  fuchen  vergebens  nach  einem  Seitenftücf  für  bie 
bei  uns  noch  bis  ins  t>orige  3ahrhunbert  hinein  übliche  2lb« 
ftufung  ber  (Seburt  innerhalb  bes  bloßen  Sürgerftanbes,  bereu 
Unüerftanb  noch  burch  bie  Sinnlofigfeit  ber  fprachlichen  23e« 
3eid]nung  überboten  tt>arb.  Den  vxet  nieberften  Stufen  u>arb 
bas  präbifat  bes  (Seborenfeins  t>erfagt,  jte  tr>aren,  um  ben 
befannten  2lusbrucf  3U  gebrauten,  feine  (geborene,  ihre  prä» 
bifate  lauteten  pon  unten  angefangen:  <£tt>.  <£blen  —  IDohl* 
eblen  —  J)ochu>ohteblen  —  fjocheblen.  Dann  famen  vier 
Stufen  mit  geboren:  JDohlebelgeboren  —  I}ocha>ohlebel> 
geboren  —  fjochebelgeboren  —  IDohlgeboren ,  erft  bann 
folgte  bas  fjochisohlgeboren  ber  2lbligen,  an  welches  bann 
als  3ehnte  Sproffe  bas  ursprünglich  ben  5ürfien  3uftänbige 
unb  in  bem  präbifate  ber  £joheit  ihnen  noch  bis  auf  ben 

*)  23eifptele:  bie  Prämierung  ber  eblen  (Seburt  bei  ben  alten 
(Brieden  (eüfdveia,  S*  518),  bas  TtopcpupoY^vrjToc  ber  BYSanriner,  bas 
»Maecenas  atavis  edite  regibus<  VOtl  ^Ota^  U»  a.  ttU 


Staatliche  Stellung.  —  Hang« 


heutigen  Cag  gebliebene  fjcchgeboren  ber  [522]  (Srafen  ftch 
anfchlog.  ZHit  ber  (Entlehnung  ber  präbifate  txm  ber  <5eburt 
hat  es  bei  biefer  3ehnten  Stufe  ber  (5rafen  ein  <£nbe*),  es 
beginnen  bann  bie  bem  <Slan3  unb  ber  fjö^e  ber  Stellung 
entnommenen  (Sendeten:  €rlaucht,  Durchlaucht  —  Sioty: 
Ejoheit  —  Zfiadit:  XHajeftät).  Der  Umfchtrmng,  ber  in  be3ug 
auf  biefe  Hervorhebung  bes  ZHoments  ber  (ßeburt  in3tt>ifchen 
eingetreten  ift,  bie  Hebu3ierung  bes  (ßeborenfeins  auf  bie  brei 
Kategorien:  IDohlgeboren  —  Jjochroohlgeboren  —  fjochge* 
boren,  ift  befannt,  aber  bas  (Beborenfein  läßt  fich  ber  Deutfche 
felbft  bis  auf  ben  heutigen  tEag  nid^t  nehmen. 

3tr>eites  bie  foiale  3lbftufung  bes  Heertes  ber  perfon 
beftimmenbes  ZHoment  ift  oben  bie  ftaat  liehe  Stellung 
genannt.  Das  Svfiem  ber  fiaatlichen  Über»  unb  Unterorb* 
nung  verleiht  bem  Cräger  bes  2lmtes  je  nach  bei  Stelle, 
tpelche  bas  21mt  in  biefem  Sy^m  einnimmt,  in  ben  2lugen 
ber  Staatsgewalt  unb  regelmäßig  auch  in  ben  2lugen  bes 
Polfes  ein  Ißipxts  ober  geringeres  2tnfehen  —  bie  Stelle 
beftimmt  bie  Stellung.  Der  technifche  2lusbrucf  bafür  iji 
ber  Hang.  —  Hang  ift  bie  [523]  grabueUe  2lbftufung  bes 
pom  Staate  3uerfannten  Heertes  ber  perfon,  ber  ftaatlichen 
€hte.  Die  Kangorbnung  ober  Hanglifte  enthält  alfo  bie 
offttelle  IDerttajre  bes  ZHenfchen  r>om  Stanbpunfte  ber  Staats* 
geroalt  aus.  3n  a^en  unferen  monarchifchen  Staaten  erjirecft 


*)  Die  nodj  mögliche  Stetgerung  ber  fjöcfyjt*  unb  2ltferf}ödjfrgebo* 
renen  tjabeu  mir  Deutfdje  uns  entgegen  laffen,  um  fie  ben  rufftfdjen 
Sträflingen  in  Sibirien  3U  überlaffen,  meldte  3ufoIge  einer  IToti3,  bie  idj 
ber  Schrift:  £ebensbilber  aus  einem  fibtrif  djen  (Sefängms.  Hadj  ben 
rjinterlaffenen  2luf3eidmungen  eines  3U  3ermjär)riger  ,gtt>  an  gsarbeit  r>er* 
urteilten  ruffifdjen  (Ebelmaunes.  Köln  1882,  S.$6,  75  entnehme,  ben 
Dorgefe^ten  mit  £}öd?ftgeborner  attreben,  beim  Spießrutenlaufen  fogar 
mit  2niertiöd?ftgebortter  —  eine  Situation,  bie  allerbiugs  redjt  geeignet 
fein  mag,  ber  menfd?ltdien  Sruft  bie  fcfyrillßen  Disrauttöne  ber  2ld?tuug 
3U  entlocFcu. 


^0         Kapitel  IX.   Die  fi^iale  HTecr/cmif*   Das  Sittliche. 

fte  ftd?  bei  ber  Öe3iel}ung,  toelcfye  fte  3ur  ?[ofetifette  ^at,  auefy 
auf  ben  (ßeburtsftanb,  tr>ofür  es  übrigens  auefy  in  Hepublifen 
nidjt  an  parallelen  fefylt  (Horn:  bie  pah^ier,  Denebig:  bie 
Hobili).  Qavaus  ergibt  jtcfy,  ba§  jte  nicfyt  ibentifefy  iji  mit 
bem  5vfteme  ber  <5lieberung  ber  Staatsgewalt,  ber  Über* 
orbnung  unb  Unterorbnung  ber  ein3elnen  Stellen,  fo  ba§  bie 
Hanglifte  bas  Staatelianbbndi  erfefeen  fönnte.  grotfe^en  ben 
§xv\U  unb  2Tlilitärgeu>alten  ejiftiert  etn  folcfyes  Derfyältnis  ber 
Unterorbnung  gar  nicfyt,  unb  boefy  jtnb  bie  Hangserljältniffe 
auefy  für  fte  georbnet  (bas  JDie  iji  Ijöcijji  cfyarafterifiifdi  für 
bas  offoielle  Urteil  über  ifyr  beiberfeitiges  IDertoerfjältnts!), 
*benfo  für  bie  lOürbenträger  ber  Kirdje  unb  felbft  für  bie 
abgegangenen  Staatsbiener,  benen  iljr  Hang  oerbleibt,  ob' 
fcfyon  fte  feine  ftaatlicfye  Stellung  mefyr  inne  ijaben. 

Der  (5ebanfe  bes  Hanges  iji  felbft  auf  bas  Perfyättnis 
bet  Staaten  3uemanber  übertragen  u>orben,  er  Ijat  alfo  auger 
feiner  internen  jiaatlidjen  Sebeutung  noefy  eine  internationale, 
unb  nichts  seranfcfyaulidjt  bie  eminente  Holle,  bie  er  in  unferer 
menfdjlidjen  H?elt  fpielt,  meljr,  als  bie  iDicfytigfeit,  bie  man 
ifym  im  internationalen  Perfetjre  beigelegt  fyxt,  inbem  er 
nidjt  bloß  2lnla§  erbitterter,  [524]  nicfyt  feiten  mit  IDaffen 
ausgefocfytener  Streitigfeiten,  fonbem  felbft  <5egenftanb  pölfer* 
rechtlicher  Verträge  geworben  iji.  Schon  bie  Homer  matten 
bar  aus  einen  befonberen  Dorbetjalt  bei  5riebensserträgen  (bie 
befannte  5ormel:  majestatem  populi  Romani  comiter  conser- 
vato)  *),  unb  bie  heutige  &eit  ^at  es  an  mancherlei  33eifpielen 
nicht  fehlen  laffen,  welche  beutlich  3eigen,  welchen  JDert  niebt 
blojj  bie  Cräger  ber  Staatsgewalt  perfönlich,  fonbem  auch 
bie  Oolfer  auf  ben  Hang  legen,  ber  ihnen  ober  ihrem  5taat 
im  pölf  errechtlichen  Perfehre  3ugeftanben  iji**). 

*)  Cicero  pro  Balbo  c.  \2.    Liv.  38,  U-    1.  7.  §  \  de  capt.  15). 
**)  Die  Derletfjmtg  ber  föniglicrjen  fjorteit  an  bie  £jer3Öge  ron  Saufen- 
Coburg,  bie  (Erhebung  ber  beutfdjen  Kurfiirftentiimer  3U  Königreichen, 


Soziale  Bebeutung  bes  Hanges* 


Das  3ntereffe,  welches  ber  Hang  für  meine  gwede  in 
2lnfpruch  nimmt,  befielt  nicht  in  feiner  im  bisherigen  be* 
rührten  primären,  b.  i.  ftaatlichen  unb  rechtlichen  öebeutung, 
fonbern  in  feiner  Befleytxnrfung  auf  bte  (Sefellfchaft,  b.  i.  in 
feiner  Sebeutung,  als  eines  ber  beiben  ZHotipe  für  bie  216* 
jlufung  ber  ^ialen  Sichtung.  2lus  jener  ergibt  ftch  biefe 
noch  feinestsegs  von  felbft.  Die  Staatsgewalt  fann  bie 
triftig jlen  (Srünbe  i\aben(  —  unb  fte  h<*t  fte,  unb  fein  politifch 
einjtchtiges  Dolf  l\at  fte  vextannt,  —  bie  23ebeutung,  welche 
bas  Staatsamt  hext,  auch  in  ber  perfönlichen  (Seltung  ihres 
Crägers,  b.  i.  in  feiner  €ht*njtellung  [525]  3u  af3entuieren*). 
Die  <£htte,  bie  fte  lefeterem  3ufpricht,  h<**  nicht  bie  23eftimmung, 
ihm  blofc  bas  (Befühl  ber  perfönlichen  23efriebigung  3U  ge* 
währen,  fonbem  fie  foü  in  ihm  wie  in  allen,  bie  mit  ihm  in 
Berührung  treten,  ben  (Sebanten  an  bie  23ebeutung  unb  Auf- 
gabe besamtes  wach  erhalten**)»  Daraus  folgt  aber  nicht, 
baß  bie  (SefeUfchaft  biefen  IDerttarif  bes  Staates  aboptieren, 
ba§  bie  flaatliche  Stellung  auch  für  bie  Sichtung  unb  bie 
fo3iale  Stellung  bes  ZITannes  maggebenb  fein  müßte.  Was 
hat  ber  gef eilige  Derfehr  mit  bem  2lmte  3U  fchaffen,  unb  wenn 
nicht  mit  bem  2hnte,  was  mit  ber  bamit  perfnüpf ten  (Ehre? 
IO03U  bie  flaatliche  Stellung  auf  bas  gefellige  £eben  über* 
tragen?  2luf  bem  Soben  bes  lefeteren,  möchte  man  fagen, 
ftehen  alle  perfonen  jtch  söllig  gleich,  ber  höchfte  Beamte 

ber  Königreiche  3U  Kaifertümem,  bie  ^reube  ber  Humänen  über  bas 
Königreich  Humänien*  ITCutmagha}  tpirb  bie  £ifte  ber  Königreiche  unb 
Kaifertümer  bamit  noch  ntdjt  befdjloffen  fein! 

*)  2luch  in  biefer  Be3iehung  haben  trneberum  bie  Körner  ihre  höh* 
polttifdje  (Etnficht  betpährt,  als  Betfpiele  nenne  idj  bie  Jasces  ber  £tf* 
toren  ber  bödmen  römtfdjen  ITIagijkate,  meldte  ben  £wed  fetten,  bem 
Hömer  bie  UTadjtjMung  berfelben  uuausgefefet  cor  2lugen  3U  führen 
—  bie  Derpflichtmtg ,  ihnen  auf  ber  Strage  aus3uroeid?en  —  bte  sella 
curulis  —  bte  becorrechteten  Sitje  im  (Theater. 

**)  S*  aud?  bie  Bemerfung  über  ben  <§tt>ecf  ber  2Imtstradjt  S.  255 
unb  ben  Kurialfltl  ber  Befyörben  5.  385. 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Itlecijam?.   Pas  Sittliche* 


fartn  bier  feine  Ijöljere  (ßeltung  beanfpruchen,  als  ber  ge« 
ringfte,  ber  Soben  ber  (SefeUfchaft  ift  ein  neutraler,  ber  burch  { 
bie  Unterfchiebe,  welche  ber  Staat  in  feiner  Sphäre  anerfennt, 
gar  nicht  berührt  wirb. 

Xtlan  perfuche  einmal,  biefen  (ßefichtspunft  ber  3nbifferen3 
ber  (ßefeHfchaft  gegen  bie  ftaatlichen  Unterfchiebe  bei  ber 
UTonarchie  burd^uführenl  Hiemanb  wirb  [526]  bavan  3wei* 
fein,  baß  iB|r  bamit  ber  Cobesftoß  perfekt  wäre.  <2in  König 
im  Sinne  bie[er  Anficht  würbe  bem  Cheaterfönige  gleiten, 
ber  nur  folange  König  ift,  als  er  fidj  auf  ber  23ühne  befinbet, 
unb  mit  beffen  gan3er  I}errlich?eit  es  porbei  ift,  fobalb  er  bie 
Bretter  t>erlaffen  fyat  €ine  foldje  (ßeftaltung  bes  Königtums 
ift  unbenfbar,  fie  h<*t  weber  je  ejiftiert,  noch  fann  unb  wirb 
fie  je  ejiftieren.  €ben  barum  fort  mit  bem  Königtum,  fagt 
ber  Hepublifaner,  jener  von  ber  perfon  bes  UTonarchen  un* 
trennbare  (E^arafter  besfelben,  jene  Derquicfung  feiner  fiaat* 
liehen  unb  perjonlichen  Autorität  gehört  mit  3U  ben  (Srünben, 
warum  ich  basfelbe  perhorres3iere.  2tlfo  bie  Hepublif!  g>w 
ben  macfytpoUften  Hepublifen,  welche  bie  UMt  je  erblicft  I^at, 
gehören  bie  in  Horn  unb  in  Denebig.  Waten  bie  römifchen 
Konfuln  unb  bie  Dogen  pon  Denebig  auf  ber  Straße  Beamte? 
Unb  boch  machte  ihnen  jeber  ehrfurchtspoll  plafe,  unb  wer 
es  nicht  tat,  warb  unfanft  batan  erinnert.  Ejat  bas  Cfyeater 
etwas  mit  ber  21mtstätigfeit  3U  fchaffen?  Unb  bod)  Ratten 
bie  l|öt^eren  römtfehen  XHagiftrate  ihren  bevorrechteten  Stfc 
im  Cljeater,  unb  ich  \\abe  nie  gelefen,  baß  bie  Horner  batan 
Jlnftoß  genommen  hätten.  <£in  politifd?  einstiges  Volt  ehrt 
unb  feiert  in  ben  Crägern  ber  höchften  Staatsgewalt  bie 
perfoniftfation  ber  Ejoheit  bes  Staates,  unb  es  3oIlt  iB|nen 
biefelbe  (Ehrerbietung,  wo  immer  es  ihrer  anftchtig  wirb, 
o^ne  3U  unterfcheiben,  ob  fte  in  ihrem  öffentlichen  £h<*rafter 
ober  als  pripatperfonen  auftreten,  benn  es  fühlt  [527]  richtig 
heraus,  baß  eine  foldje  Scheibung  ben  <Blan3  ber  Stellung 


(Srabattort  der  fc^ialen  Stellung.  —  Der  CtteL  4^3 

fd^äbigon  ttmrbe,  <£s  enthält  einen  Setzeis  ber  politifcfyen 
Unreife  ober  2?ern>ilberung  eines  Voltes,  wenn  es  ben  3n' 
fyabem  ber  fyöcljften  (Seroalt  bie  Sfyrfurcfyt  t>erfagt,  unb  nur 
ber  Um>erftanb  fann  barin  eine  Betätigung  bes  5*eifyeits* 
gefügte  erblicfen,  ber  richtige  Jtusbrucf  bafür  ift  politifcfye 
Cümmelei  —  ber  £ümmel  glaubt  feinen  Unabtjängigfeitsftnn 
unb  feine  <£ljarafterfeftigfeit  baburefy  betätigen  3U  fönnen,  ba§ 
er  bie  5orm  mit  Süßen  tritt 

3ft  basfelbe,  was  für  ben  Cräger  ber  fyöcfyften  Staats« 
gemalt,  auefy  bei  bem  gewöhnlichen  Beamtentum  am  plafee? 
2)ie  Staatsgewalt  tjat  tt^re  guten  (Srünbe,  audj  lefcteres  mit 
ber  entfprecfyenben  <£ljrenftellung  aus3uftatten  unb  für  bie 
amtliche  Berührung  bie  Beachtung  berfelben  t>or3U3eidjnen, 
unb  es  liegt  in  il>rem  3n^reffef  *>as  feciale  21nfefyen  bes 
Beamten  fynter  ber  i^m  3ugetoiefenen  ftaatlicfjen  <£fyrenftetlung 
nidjt  3urü(fbleibe.  2lber  er3wingen  fann  bie  Staatsgemalt 
bies  nidjt,  bie  fo3iale  (Beltung  bes  Beamtentums  ift  eine  Cat* 
fache  bes  Cebens,  Sache  ber  freien  Schädling  von  feiten  bes 
£>olfs,  unb  bie  (Erfahrung  3eigt,  baß  biefelbe  eine  recht  per* 
fchiebenartige  ift.  3m  allgemeinen  fann  man  fagen,  baß 
biefelbe  in  Monarchien  eine  I^öl^ere  ift,  als  in  Hepublifen, 
roenigftens  in  ber  heutigen  <§eit,  am  l^öd)ften  bürfte  fie  bei 
uns  in  Deutf chlanb  ftehen,  womit  ber  perhältmsmäßige  2ln- 
brang  3ur  Beamtenlaufbahn  3ufammenhängt,  ber  jtcfj  bei 
gemiffen  Schichten  ber  Beoölferung  nur  auf  [528]  bas  TXiot'w 
ber  erftrebten  €l^renjlellung  3urücffüfyren  läßt.  Bei  uns  ©er* 
leitet  bie  Staatsftellung  bem  3nh<*frer  berfelben  eine  fyöfyere 
fo3iale  Stellung,  als  er  nach  feinen  (ßeburts-  unb  fonfligen 
Derhältniffen  einnehmen  mürbe.  3"  einigen  fübbeutfehen 
Staaten  fyat  man  ben  Ztimbus  bes  Beamtentums  noch  burch 
bas  feltfame  3nftttut  bes  perfönlicfyen  2lbels  3U  erhöhen  ge- 
fügt —  ein  Beweis,  baß  man  bem  Beamtentum  als  folgern 
allein  bie  gewünfehte  tt)trfung  nicht  3utraute. 


m         Kapitel  IX.   Die  fojtale  ltTed?anif*   Das  Stttitd^ 

Das  äußere  IHerfmal,  an  bem  bie  (Eigenfchaft  ber  Beamten 
erf annt  wirb,  ift  ber  Citel.  Der  Umjianb,  baß  ber  öeamte 
nid?t  bloß  im  bienftlichen  Verhältnis,  fonbern  auch  im  ge* 
wohnlichen  £eben  mit  feinem  Citel  angerebet  wirb,  unb 
baß  lefeterer  in  mannen  Onbern  fogar  auf  bie  5*au  über* 
tragen  wirb,  3eigt,  baß  bie  baburch  funbgegebene  Seamten* 
qualität  bas  foiate  2lnfehen  bes  Crägers  bes  2lmts  in  ben 
2tugen  ber  (SefeUfchaft  erhöht»  So  erflärt  es  fich,  wie  bie 
Staatsgewalt  ba3u  fam,  ben  Citel  unabhängig  t>om  2lmte  3U 
verleihen.  Durch  Verleihung  bes  bloßen  Citels  (23rief*  ober 
Dtplomtitet  im  (Segenfafee  bes  2lmtstitels)  3ie^t  ber  Staat 
einen  IDechfel  auf  bie  <5efeUfchaft,  lautenb  auf  basjenige 
Quantum  ber  Sichtung,  bas  in  ihren  2lugen  mit  bem  2lmte 
perbunben  ift. 

IDürbe  es  an  ber  letzteren  Porausfet$ung  fehlen,  fo  würbe 
bie  Derlei^ung  bes  bloßen  Citels  söHig  jtnnlos  fein:  bei 
einem  Dolfe,  bas  bem  Seamtentum  als  folgern  feinen  Fialen 
IDert  beilegt,  ift  bie  (Einrichtung  unbenfbar,  [529]  Der  Srief* 
tttel  perbanft  feinen  gan3en  tDert  lebiglich  bem  33eamtentume, 
bas  ihm  feinen  Klang,  fein  2lnfehen,  feine  fo3iale  (Seltung 
x>erfchafft  fyatf  er  enthält  eine  guwenbung  aus  bem  5onbs 
an  fo3ialer  Dichtung,  ben  jenes  aufgefpeichert  fyat,  nach  2lrt 
ber  burch  bie  fatholifche  Kirche  bei  ber  2lbfolution  oorge« 
nommenen  Übertragung  eines  Ceiles  bes  oon  ben  ^eiligen 
angefammelten  Schates  an  guten  tDerfen  auf  ben  Sünber 
—  ohne  biefen  $ont>s  wate  beibes  nicht  möglich,  eine  2ln* 
weifung  ift  wertlos,  wenn  es  an  ben  gahlmitteln  fehlt  Darum 
fann  bie  Staatsgewalt  feine  neuen  Citel  fchaffen,  benen  es 
an  biefer  t^ifiorif d7eri  Anlehnung  an  bas  Seamtentum  fehlt, 
fie  fann  beim  Citelwefen  nur  übertragen,  nie  fchaffen  — 
ber  beftgemeinte  poütöuenbfte  Citel  ohne  biefen  h^orifd?en 
Hücfhalt  würbe  ein  bloßes  t£>ort  fein,  bas  niemanb  refpef* 
tieren,  bem  im  (ßegenteile  t>on  pornherein  bas  unoertilgbare 


<8xabat\on  ber  faialen  Stellung  —  Das  (Dtelmefen*  2^5 


Stigma  ber  Cädjerlicfjfeit  aufgeprägt  fein  mürbe*  ZTiemals, 
folange  bie  Welt  fle^t,  tx>irb  3.  B«  ber  Cttel  eines  «Ehren- 
mannes, Reiben,  Denfers  auffommen,  fo  gerechtfertigt  bie 
üerleifyung  besfelben  an  ein  fyersorragenbes  3nbit>ibuum  im 
übrigen  auch  fein  möchte,  ber  Citel  muß  mit  bem  Beamten* 
tum  entftanben  unb  t>on  ihm  erft  3U  (Eieren  gebracht  toorben 
fein,  bamit  bie  Staatsgewalt  ihn  von  bemfelben  ablöfen 
fönne,  er  muß  von  bem  Beamten  getragen  toorben  fein, 
bamit  ber  Staat  itjn  auf  ben  Hichtbeamten  übertragen 
fann*). 

[530]  Der  3toeifelhafte  Huhm,  ben  ©tel  3uerfi  vom  2tmte 
getrennt,  ben  Diplomtitel  in  bie  UMt  gefegt  unb  bamit  ben 
erfien  Stritt  3ur  (Einführung  bes  Citefoefens  unferer  heutigen 
Seit  getan  3U  ^aben,  gebührt  meines  ZDiffens  ben  erften 
römifcfyen  Kaifern.  Das  politifche  ZTtotio  iji  unfehtoer  3U  er* 
raten,  es  Ijanbelte  ftd?  um  einen  Köber  für  ben  <£fyrgei3  unb 
bie  (Eitelfeit  ber  fyöfyeren  Stänbe,  bie  baburch  von  bem  Kaifer 
in  21bhängigfeit  gebracht  unb  in  falfche  ihm  unfehäbliche 
Sahnen  gelenft  roerben  fotlten.  Der  Citel  roarf  ihnen  jtatt 
ber  voxxt liefen  TXiadit,  bie  ber  Kaifer  jtch  f elber  unb  feinen 
Beamten  (praefecti)  vorbehielt,  ben  bloßen  äußeren  Schein 
hin,  ben  <Slan3  eines  2lmtes,  beffen  effeftioe  Bebeutung  burch 
ben  Kaifer  grünblich  abgetan  xvav,  bas  aber  in  ben  2Iugen 
bes  Dolfes  feinen  I|iftorifd|en  Himbus  unb  bamit  feine  fo3iale 
Bebeutung  behauptete:  bes  Konfulats,  5tatt  ber  alten 
3roei  Konfuln  rourben  2\  ernannt  (consules  honorarii).  Der 
Ztame  bes  Konfuls  toarb  baburch  3U  einem  bloßen  Citel,  ein 


*)  Piefelbe  (Erfdjeinung,  meldte  uns  bie  tn'ftortfd/e  2lnlelmung  beim 
(Ettefoefen  an  bas  reale  21mt  barbietet,  mteberfyolt  fidj  beim  (Drbens* 
tpefen  in  be3ug  auf  bie  Hitterorben  bes  UTittelalters,  nnfere  feurigen 
(Drbensrttter  unb  Kommanbeure  otme  pferb  unb  SdjtDert  ljaben  3U 
Porgängern  bie  tDtrflidjen  mit  pferb  unb  Sdjtpert,  fle  3etjren  von  bem 
Kapitale,  bas  letztere  angefammelt  fabelt* 


Kapitel  IX.   Die  fötale  irtedjanif.   Das  Sittliche. 

Dorläufer  ber  fpäteren  burch  3)iplome  (codicilli)  serliehenen 
coäicillaris  dignitas,  b.  i.  bes  bloßen  Citels  in  unferem  heutigen 
Sinne.  <San3  basfelbe  gefchah  mit  ber  milttärifchen  tDürbe, 
bie  cErftnbung  von  ©ffoierspatenten  [531]  ohne  Dienft  ftammt 
jd]on  von  <£laubius*).  2luf  biefem  2£>ege  fchritt  öann  bas 
bY3atttinifdie  Kaifertum  rüfitg  fort,  inbem  es  3U  bem  Citel» 
rt>efen  noch  bie  (Einrichtung  befonbers  ehrenvoller  präbifate 
5nm  gtoecfe  ber  bloßen  2Inrebe  h^ufügte  (clarissinii,  specta- 
biles,  illustres),  bie  meiften  ber  noch  heut3utage  üblichen  (<£mu 
nen3,  <££3eHen3,  21Tagnift3en3,  Speftabilität)  gehören  biefer 
geit  an.  Unfer  moberner  Staat  ift  hinter  jenem  Dorbilbe 
befanntlich  nicht  3urücf geblieben,  er  ^at  fteHemt>eife  t>on  ber 
Verleihung  ber  Citel  einen  fo  ausgiebigen  (Gebrauch  gemalt, 
baß  man  glauben  möchte,  fie  würben  in  ben  2lugen  bes  Dolfes 
längft  allen  tDert  eingebüßt  fyaben>  2lber  bie  Aufnahme' 
fäl^igfeit  bes  Dolfes  fcheint  in  biefer  23e3iehung  noch  lange 
nid)t  erfchöpft  3U  fein,  unb  folange  fie  vorhält,  hat  ber  Staat 
alle  Urfadje,  fich  ihrer  3U  freuen  unb  fie  aus3unu&en  —  bie 
Verleihung  ber  Citel  fyat  für  ihn  ben  IPert  ber  Drudferpreffe 
beim  papiergelbe,  fie  ermöglicht  ihm  in  papier  ftatt  mit 
barem  (Selbe  3U  3ahlen**)  —  tvenn  bie  fo3tale  (5eltung  ber 
Citel  einmal  aufhören  follte,  fo  umrbe  bas  baburch  3U  beefenbe 
3>eft3tt  fid}  im  Subget  nach  ZHiHionen  be3iffern. 

Vxe  Verleihung  ber  Citel  ohne  2lmt  bef darauf t  fich  nicht 
bloß  auf  ben  Staat,  neben  ihm  ift  auch  bie  XDiffenfdjaft  [532] 
mit  bem  Doftortitel  3U  nennen***).    2Iuch  bei  ihr  ha*  ftd? 


*)  Suet.  Claudius  c.  25  instituit  imaginariae  militiae  genus,  quod  voca- 
retur  supra  numerum,  quo  absentes  et  titulo  tenus  fungerentur. 

**)  Der  tbeale  £ofytt,  burd?  ben  ber  Staat  bas  ircißrerfjältms  bes 
realen  ober  öFonomtfcfyen  ausö;leid?t,  f*  33b»  I,  5«  15$  ff, 

***)  Hid?t  bie  Kirche,  audj  ntd?t  bie  fatljolifdje.  Die  (Eitel,  rt>ela> 
letztere  serleifyt,  finb  ftets  mit  einem  Kirdjenamt  rerbunbeu,  unb  audj 
ber  £tfa>T  in  partibus  infidelium  madjt  batxrn  feine  2Insnaf|tne,  benn 
er  ift  tr»irHtcfc»er  23ifcfyof,  nur  ofyte  Dib^efe*    Die  Ernennung  3um 


(Srabation  ber  fo3talen  Stellung»  —  Das  £iteln>efem 


bie  foeben  nad?getr>iefene  firfdjeimmg  tr>ieberl}0lt:  bie  2tb- 
löfung  bes  Titels  vom  2Imte»  £>er  £>oftortitel  be3eicfynete 
urfprünglidj  i>ie  Derleifyung  bes  £etjramts  t>on  fetten  ber 
IDiffenfdjaft  (doctor  legens),  Ijeut3utage  ifi  er  ein  bloßer  Citel 
geworben*  3)a  nad?  ber  heutigen  (Drganifation  ber  Unit>er< 
fiiäten  bas  Hedjt  3ur  Derleifyung  biefes  Citels  auf  eine  2lutori* 
fation  bes  Staates  3urücf3ufiifyren  ijl,  fo  fcfyeibet  bie  XPiffen« 
fcfyaft  in  IDirHid]feit  aus,  unb  roir  fönnen  ben  Sa§  aufftellen: 
bie  Perleifyung  von  bloßen  Citeln  tote  bie  von  (Drben  bilbet 
ein  Beferr>atred?t  bes  Staates.  Va%  er  alle  Urfadje  fyat, 
ftd}  basfelbe  nicfyt  ent3iefyen  3U  laffen,  nnrb  nad\  bem  Bis« 
fyerigen  nicfyt  ber  [533]  23emerfung  bebürfen,  es  ftefyt  auf 
einer  Cinie  mit  bem  2T(ün3regaI. 

Sie  fostale  Sebeutung  bes  Citels  fenn3eid)net  ftcfy  baburdj, 
ba§  er  im  £eben  3um  <5tx>ecf  ber  2lnrebe  unb  3tt>ar  als  £Ijren* 
präbifat  gebraucht  tt>irb.  £in  Derein  fann  für  feine  2In* 
geseilten  bie  fyocfytönenbften  Hamen  rectalen:  präfibent,  Direftor, 
Dorftanb,  23ibliotfyefar  ufnx,  aber  bies  finb  feine  ©tel,  b.  fy. 
britte  perfonen  bebienen  fiefy  berfelben  nxd\t  im  Sinne  eines 
<£fyrenpräbifats,  fotoenig  toie  man  im  Ceben  bie  Be3eicfytung 
bes  23erufs3tr>eiges  basu  t>enr>enbet  unb  3.  23.  jemanben  „Qerr 


Prälaten  r>erleit)t  $tvav  einen  fyötjeren  Hang  unb  ein  bementfpredjenbes 
präbifat  (ITConftgnore),  allein  prälat  ift  meines  XPtffeus  fein  CtteL  3n 
^ranfretd>  rebete  man  früher  bie  2lbbes  3tr>ar  mit  biefem  itjrem  Hamen 
an,  allein  es  tr»ar  fein  (Eitel,  ben  bie  Ktrcfye  sedieren  tjatte,  es  üerfjtelt 
fiel?  bamit  ät^nltd?  une  mit  bem  proteftanttfdjen  „Kanbtbaten",  ber  ftdj 
als  Doppelgänger  bes  2lbb6s  be$e\<tinen  läßt,  ber  Harne  mirb  vom  Dolfe 
fielfad?  als  2Jnrebe  beruht,  aber  ift  fein  t»on  ber  Ktrdje  verliehener 
(Eitel.  3n  proteftantifdjen  Staaten  t^at  man  ben  Rotieren  proteftantifdjeu 
(ßeiftlicfyen,  um  ilmen  ben  Hang  ber  Fatfyoltf d?en  33ifdjöfe  311  verleiben, 
ben  23tfd?ofstttel  gegeben,  aber  tyer  ift  es  ber  Staat,  utd?t  bie  Ktrd/e, 
mekfye  ben  (Eitel  üerleifyh  —  3n  allerjüugfter  ^ett  hat  bie  Kurte  mit 
Derleugnung  t^rer  bisherigen  fo  perftänbtgen  (Srmtbfä^e  augefangen, 
ben  Citel  eines  getftlidjen  Hats  311  erteilen,  ift  babet  aber  auf  ben  IPtbcr* 
ftanb  bes  Staates  geflogen» 

v.  3  \]  e  ring,  Der  gtüecf  im  Hed?t.  II.  27 


Kapitel  IX.  Die  feciale  Xrte^antL   Pas  Sittüd?e* 


Sabxxtant,  J^err  (ßutsbefifeer"  anrebet  Xüo  ber  Citel  einmal 
bie  fo3taIc  Sebeutung  i|at,  bie  toir  I^ter  erörtern,  ift  er  im 
Sinne  ber  £[öflichfeit  obligat  —  roer  ben  Citel  Ijat,  verlangt 
it^n  auch  3U  Ijören. 

3n  biefem  Sinne  finb  Citel  nur  bie  jenigen,  ir>ekhe  ber 
Staat,  bie  Kirche,  bie  XDiffenfct^aft  verleihen,  ihr  JDert  beruht 
tr>ie  ber  ber  ©rben  barauf,  baß  fte  eine  von  ber  (ßefetlfchaft 
honorierte  21ntx>eifung  auf  ein  beftimmtes  Quantum  Achtung 
enthalten  —  von  bem  Zfioment  an,  tr>o  bie  (SefeEfdjaft  biefe 
2lntr>eifung  nicht  mehr  refpeftieren  trmrbe,  mären  fte  entwertet. 
Der  2£>ert  biefer  2lmt>eifung  beruht,  toie  ber  einer  jeben,  3U* 
nächfl  auf  bem  2Jnfehn,  bem  Krebit  bes  2lusfteüers,  fobann 
aber  auch  auf  ber  3m^haltung  bes  richtigen  ZHaßes  bei 
it^rer  Derleihmtg  —  bas  Übermaß  roirft  I^ier  ebenfo  roie 
beim  papiergelb,  ber  Kurs  flnlt;  faft  bei  allen  heutigen 
Citeln  fleht  er  u>eit  [534]  unter  bem  urfprünglictjen  <2mifjtons< 
tsert  (Det>alt>ation  ber  Citel). 

Die  einfichtige  5inan3politif  unferer  Seit  ^at  bie  Staaten 
bahin  geführt,  ben  (Befahren,  tx>elche  bem  ^nlanbe  burd;  eine 
Überflutung  mit  frembem  papiergelbe  broljen,  burch  ein  Perbot 
ber  «gtrfulation  besfelben  r>or3ubeugen.  Das  Seitenftücf  ba3u 
bilbet  bas  Perbot  ber  Einnahme  ber  x>on  fremben  ZHonarchen 
verliehenen  <£l\ven:  Citel,  0rben,  Stanbeserhöhungen  ohne 
(Senehmigung  bes  Canbesherm.  <£s  l^anbelt  fxd\  babei  nid]t 
bloß  um  bie  auftoritatiüe  Stellung  bes  Staates ,  bie  fflafy 
rung  feines  Hefertwtrecfyfs,  fonbern  um  ben  ernften  praftifdjen 
<§tt>ecf,  ber  (Entwertung  feiner  €l}ten  burch  (Einfuhr  aus- 
länbifdjer  IPare  r>or3ubeugen,  bem  Kipper*  unb  IPippertum 
auf  bem  (ßebiete  bes  Citel*  unb  ©rbenstoefeus  3U  fteuern,  — 
o^ne  bies  Perbot  tt>äre  bie  Welt  toahrfcheinlich  fdjon  mit 
(5roßfreu3en  unb  ^er3Ögen  pon  San  ZHarino  überfchu>emmt 
rüorben,  fte  jtnb  bort  befanntltch  billig  3U  haben* 

Das  3ntereffe,  bas  mich  beftimmte,  ben  Hinflug,  welchen 


Die  fötalen  präMfate*  —  Die  gufunfi 


ber  (Seburtsfianb  unb  bie  fiaatltche  Stellung  in  ber  (SefeH« 
fchaft  ausübt,  3txm  (Segenfkmbe  metner  Betrachtung  3U  machen, 
fnüpfte  jtch  an  ben  oben  (5.  ^05)  von  mir  für  bie  Achtung 
aufgehellten  (Seftchtspunft  ber  grabueüen  Abftufung  bes  IDerts 
ber  perfon.  2>er  Schwerpunkt  meiner  gan3en  Ausführung 
beruhte  auf  ber  €rfenntnis,  baß  btefe  Abflufung  abftrafter 
Art  ijl,  unb  barüber  mögen  mir  noch  einige  XDorte  erlaubt  fein. 

[535]  <2s  gibt  (ßrünbe  ber  serfchiebenften  Art,  welche  bas 
2Haß  ber  Achtung  einer  perfon  im  gefelligen  Perfehr  beein* 
fluffen:  bie  €h*enhaftigfeit  bes  <Z\\axaltex$ ,  fyxvovtaQtnbe 
geiftige  Begabung,  einflußreiche  Stellung,  €hrroürbigfeit  bes 
Alters,  felbft  Beichtum.  Aber  ber  <£injluß,  ben  fie  ausüben, 
ift  ein  freier,  er  ift  gefeöfchaftlich  nicht  geboten,  ber  €influß 
bagegen,  ben  bie  (ßefellfchaft  an  bie  beiben  obigen  ZtTomente: 
(Seburtsftanb  unb  Citel  fnüpft,  ift  ein  gebotener,  er  befteht 
in  bem  (Gebrauch  ber  präbifate,  burch  welche  fie  äußerlich 
fixiert  worben  ftnb.  ZDie  gering  man  benfelben  immerhin 
anfchlagen  möge,  er  befteht  einmal,  unb  er  gibt  jtch  äußer- 
lich barin  funb,  baß  bie  perfon  baburch  von  anbern  abge* 
hoben  wirb.  3)iefe  burch  bie  £[öflichfeit  r>orge3eichnete  Pflicht 
ber  Abhebung  biefer  beftimmten  perfon  t>on  anbern  ift  es, 
bie  ich  im  Auge  habe,  wenn  ich  behaupte:  bie  Achtung  fluft 
fich  ab  nach  bem  XDerte  ber  perfon,  fie  er!ennt  biefen  XDert 
nicht  als  einen  allen  perfonen  unterfchiebslos  gleichen  an, 
fonbem  fie  bemißt  benfelben  nach  gewiffen  abftraften  Kri* 
terien.  mittels  ber  bloßen  Anrebe:  Roheit,  ©urchlaucht, 
<55raf,  Baron,  <£j3ellen3,  mittels  ber  bloßen  ZTenming  bes 
Titels  Beichsgerichts*,  (Dberlanbesgerichts*,  Canbgerichtsrat, 
Amtsrichter,  ©briji,  ZHajor,  Hauptmann,  Leutnant,  mittels 
ber  bloßen  Auffchrift  auf  Briefen:  hochgeboren,  £jod]wohl- 
geboren,  IDohlgeboren  werben  Derfchtebenheiten  bes  fo3ialen 
IDertes  ber  perfon  präbi3iert,  Kategorien  ber  Fialen  Stellung 
ausgebrüeft. 


27* 


^20        Kapitel  IX.   Die  fo3*ale  lITecfycmi?.   Das  Sittliche. 

[536]  ©b  bie  (SefeUfchaft  tsohlgetan  ^atf  jenen  beiben 
Momenten  biefen  €influg  ein3uräumen,  unb  ob  berfelbe  2Ius* 
fid\t  auf  etoige  ober  nur  lange  Dauer  Ijabe,  barüber  mag 
man  ftreiten  unb  ich  toürbe  es  begreiflich  ftnben,  roenn  ein 
Bürger  ber  Pereinigten  Staaten  barin  nur  ein  ben  Soben 
ber  ZHonarchie  femt3eichnenbes  Unfraut  erbttefte,  von  bem 
bas  amerifanifche  republifanifche  (Semeimsefen  mit  5tol3  fi* 
rühmen  bürfe  frei  geblieben  3U  fein*  ©b  ber  lefetere  gufranb 
für  bie  gufunft  *8e\tanb  traben  tt>irb,  ober  ob  nicht  auch  für 
bie  bereinigten  Staaten,  bie  fich  3ur3eit  noch  in  ben  erften 
Anfängen  ihrer  Fialen  <£nttr>icflung  befinben,  bereinjl  bie 
Siunbe  fchlagen  toirb,  wo  jie  ben  Fialen  (Segenfafe  ber 
Stäube  unb  ben  Fialen  (Einfluß  ber  ZtTagiftratur  lernen 
werben,  toie  er  fich  bisher  bei  allen  Kulturpölfem  geltenb 
gemacht  fyat,  barüber  roürbe  es  t>ermeffen  fein  fchon  jefet  ab' 
3uurteilen. 

Damit  bin  ich  aber  feinesroegs  gefonnen,  bie  Sered?^ 
ttgung,  roelche  ich  für  ben  ^ialen  (ginfluß  bes  (Seburtsftanbes 
unb  ber  ftaatlichen  Stellung  an  fich  in  2Infpruch  nehme,  auch 
auf  bie  t>erf ehrte  (ßeftaltung  3U  übertragen,  tselche  berfelbe 
ftellentr>eife,  insbefonbere  bei  uns  in  Deutfchlanb,  angenommen 
hat  2tuch  bei  biefem  punfte  ttneberbolt  fid}  bie  firfcheinuug, 
bie  roir  fchon  mehrfad]  (S.  362  f.,  371Q  bei  ber  Sitte  fonftatiert 
haben:  bie  Ausartung  eines  an  fich  richtigen  (Sebanfens  3ur 
Karrifatur  feiner  felbft.  2Ttan  fann  fich  faum  einen  ärgeren 
2tbfaII  [537]  eines  (Sebanfens  r>on  fich  f elber  benfen,  als  bas 
23ilb,  bas  uns  bie  beutfehe  fjöflichfett  bes  vorigen  3ahr* 
hunberts  vov  2tugen  führt *).  3hrer  3bee  nach  beftimmt, 
ben  gefelligen  Perfehr  3U  förbern,  3U  r>erfd]önem,  tt>ar  ftc 
in  ihrer  bamaligen  (Seftalt  nur  banad]  angetan,  ihn  511 

*)  3n  farrifterter,  aber  bem  lUefen  nadj  3utreffenber  lUeife  ge* 
f Gilbert  von  Ko^ebue  in  feinen  „beutfdjen  ttleinftäbtern"* 


Z>te  fo3talen  präbtfatc*  —  Ausartung* 


42t 


erfcfyweren,  ifyi  möglidtft  umftänblid)  unb  fd]Ieppenb  3U  machen« 
Die  mit  minutiöfefter  (ßenauigfeit  ausgebilbeten  Hegeln  über 
bie  richtige  2trt  ber  Jlnrebe  in  ben  öriefen,  wobei  felbft  bem 
Scharfrichter  fein  ihm  gebührenbes  präbifat  3U  erteilen  war 
—  über  bie  nach  ZHaßgabe  ber  perfon  äugerft  t>ariierenbe 
richtige  Benutzung  ber  pronominalformen  (hat  man  —  Ijat 
er  —  I|at  fie  —  I|aben  Sie  * —  fyat  ber  X?jerr  —  fyaben  ber 
£>err?)  —  über  Hang,  Dortritt,  Sife  bei  Cifch,  2tbftufung  ber 
Perbeugung  —  über  bie  nötigen  „Komplimente"  —  alles 
bies  fd]ien  nur  erfunben  3U  fein,  um  ben  Ijarmlofen,  unbe* 
fangenen  Derfeh*  unmöglich  3U  machen  unb  bem  franfhaft 
gef pannten  unb  ängfilich  auf  ber  £auer  liegenben  (ßefüfyl  ber 
IDürbe,  bem  mißtrauen,  bem  Übelwollen,  ber  nach  £>or* 
wänben  fudjenben  €mpfmblichfeit  unb  Hei3barfeit  (belegen« 
bveit  3U  geben,  „etwas  übel  3U  nehmen"  —  bie  querelles  alle- 
'mandes,  wie  ber  5ran3ofe  fie  mit  beißenbem,  aber  treffenbem 
Spott  nannte.  3n  biefer  f}inficht  I^at  fich  ja  bei  uns  meles 
geänbert,  banf  ben  gewaltigen  <£reigniffen,  welche  am  <£nbe 
bes  vorigen  unb  am  Anfang  bes  gegenwärtigen  [538]  3a^r* 
hunberts  ben  Sinn  oon  nichtigen  2ftmfeligfeiten  auf  ernftere 
Dinge  Ienften,  banf  bem  (Seifte  unferer  £effing*Sd}iHer* 
(Boethefchen  £iteraturperiobe,  ber  wie  ein  frifcher  Seewinb 
bie  Stiefluft  reinigte,  banf  ftcherlich  auch  ber  burch  bie  fran* 
3Öjtfche  Heoolution  mit  ihren  (Emigranten  unb  burch  bie 
uapoleonifchen  Kriege  im  ausgebeuteten  ZHaße  ^erbetge« 
führten  Vertrautheit  mit  ben  feinen  wohltuenben  formen  ber 
fran3Öfifd)en  f}öflid]feit,  welche  burch  bas  gefunbe  HatureK 
bes  Dolfs,  bie  Hlachtftellung  ^ranfreidis  unb  bie  Slüte  ber 
Literatur  gegen  bie  (Sefahr,  ins  fleinliche  3U  verfallen,  ge* 
fichert  geblieben  war.  Sicherlich  bleibt  auch  jefet  nod]  manches 
bei  uns  3U  tun  übrig,  unb  bas  Citelwefen  wirb  mit  bem 
Seamtentum,  bem  es  entftammt,  fchwerlich  feine  bisherige 
fo3iale  (Seltung  behaupten,  feitbem  lefcterem  in  ber  Dolfs* 


422 


Kapitel  IX*  Die  fatale  IKedjanif*   Das  Sittliche* 


Vertretung  ein  titellofer,  aber  höchft  einflußreicher  Hipale  auf 
bem  (ßebiete  ber  ftaatlichen  Cätigfeit  erwachfen  ift. 

3ch  faffe  bas  Befultat  meiner  Ausführungen  über  bie 
Achtung  fur3  3ufammen. 

Qev  23egriff  ber  Sichtung  B^at  3ur  Dorausfefeung  ben  bes 
töertes,  er  enthält  bte  2lnwenbung  besfelben  auf  einen  ein* 
3elnen  5aü,  bie  Übertragung  bes  IDertbegriffs  auf  bie  perfon. 

ZDie  ber  IDert  ber  Sache  ftch  abftuft,  fo  auch  ber  ber 
perfon,  wir  achten  bie  eine  perfon  f|öl|er  als  bie  anbere, 
b.  h-  wir  erfennen  itjr  einen  ^ö^eren  fatalen  H?ert  3U. 

Der  XDert  ber  Sache  gelangt  3um  2lusbrucf  im  [539] 
öfonomifchen  Perfehr,  ber  ber  perfon  im  gefeüfchaftlichen. 
3n  ber  Berührung  mit  anbern,  an  ben  2lchtungsbeweifen, 
welche  ihr  h*er  3utetl  werben,  erfennt  jte,  welchen  IDert  mau 
ihr  beilegt,  es  ift  ber  Spiegel,  ben  bie  IDelt  ihr  vorhält,  unb 
aus  bem  fxe  entnehmen  fann,  was  jte  ihr  gilt. 

Das  iji  bie  inbisibuelle  lüürbigung  bes  Heertes  ber 
perfon.  23ebingt  burch  inbitubuelle  ZHomente  in  ber  perfon 
bes  Urteilenben:  feine  Kenntnis  ber  perfon,  ihres  CEjarafters, 
ihrer  £etftungen  unb  Derbtenfte  unb  bie  eigene  Urteilsfähig» 
feit  unb  bie  Bereitwilligkeit  ber  2tnerfennung  fremben  IDertes, 
ijl  jte  auch  in  ihren  Äugerungen  gan3  ber  3nbit>ibualität 
anheimgefteQt.  Die  2tchtungsbe  weife,  welche  aus  biefem  in« 
bit>ibuellen  IDerturteil  hervorgehen,  laffen  ftch  be3eichnen  als 
bie  freien  ober  inbiuibuellen. 

3hnen  ftehen  Skiffe  anbere  gegenüber,  welche  burch  bie 
Sitte  feft  t>orge3eichnet  finb.  Sie  gelten  nicht  bem  3nbitn 
buum,  fonbem  ber  abftraften  perfon,  bereu  IDert  für  bie 
(5efeHfchaft  baburch  3um  2Iusbruc!  gebraut  werben  foH.  £s 
finb  bie  typifchen  formen  ber  ^öflichfeit.  Jtuf  fte  erfennt 
bie  Sitte  ber  perfon,  wenn  fie  nicht  felber  ben  (Segenbeweis 
ihres  Unwertes  geliefert  ha*/  einen  2tnfpruch  an,  bie  Iiiig* 
achtung  berfelben  enthält  im  Sinne  ber  Sitte  eine  Nichtachtung 


Die  fetalen  präbtfate.  —  Ausartung» 


423 


bes  Kecfyts  ber  perfönlicfyfeit.  Das  finb  bie  obligaten  ober 
abftraften  2ld)tungsbetDeife. 

tüte  ber  JDert  ber  perfon  ftd?  mbtoibuell  abruft,  fo  [540] 
audj  abftraft  nacfy  Derfdjiebenljeit  ber  Stellung,  tselcfye  jte  in 
5er  (ßefeflfdjaft  einnimmt.  2)ementfprecf}enb  finb  aucfy  bie 
typifcfyen  formen  ber  fföflidjfeit  gejlaltet,  bie  Derfcfjiebenljeit 
bes  abftraften  JDertes  ber  perfon  fommt  aucfy  in  i^nen  3um 
Ausbrucf. 

<£rjt  in  ber  2lct?tung  finbet  bie  ^}bee  ber  perfönlidjfeit, 
bie  im  Becfyt  mit  bem  Segriff  ber  blo§  negatit*  gefcfyüfcten 
<£fyre  anfefet,  ifyren  vollen,  b.  i.  pojttipen  2lbfd)luj$.  ZTad? 
biefer  Seite  Bjin  enthält  mitbin  bie  Ejöflidjfett  bie  PoHenbung 
beffen,  was  bas  Becfyt  im  Hedjt  ber  perfönlicfyfeit  begonnen, 
bie  5ortfefeung,  Verlängerung  ber  3bee  ber  perfönlicfyfeit  in 
bas  (Sebiet  ber  Sitte  hinüber:  bas  Komplement  bes  Hecfjts 
ber  per[önlid]feit  23eibe  bilben  ein  ewiges  burdj  iljren 
gemeinfamen  &wed  3ufammengefyöriges  <5an3e.  <£s  ift  ber 
Saum,  ber  mit  feinen  IDw^eln  im  feften  <£rbreicfj  bes  Hed^ts 
fielet  unb  mit  feinem  Stamm  unb  feinen  gtoeigen  ftcfj  in  bie 
Hegion  ber  Sitte  ergebt.  Die  fjöflicfyfeit  ofyne  bas  Hecfyt  ber 
perfönlidjfeit  roäre  ber  Stamm  unb  bie  Krone  bes  33aumes 
ofyne  fefte  lümmeln,  bas  Becfyt  ber  perfönlicfyfeit  ofyte  bie 
fjöflidjfeit,  bie  Wurzeln  ofyne  ben  Stamm  unb  bie  Krone, 
beibe  gehören  3ufammen  —  n?enn  ber  perfon  wol\l  fein  fott 
in  ber  XDelt,  muß  fie  beibe  oorfinben, 

2)er  3toeite  (Sebanfe,  ber  in  ben  5ormen  ber  JE}öflicfyfeit 
eine  tvpifcfye  Ausprägung  erlangt  B^at,  ift  bas  £Dofy[tt>oIIen. 
tiefer  3it>eite  Seftanbteü  ber  £}öflid?feit  ift  [541]  bisher  fo 
toenig  oerfannt  n>orben,  ba§  man  ifyn  umgefefyrt  für  ben 
einigen  gehalten  ijat  (S.  38^)* 


Kapitel  IX.   Die  foiale  Xnedjantf.    Das  Sittliche. 


Das  IDohltPollen. 
<£in  folcher  3rrtum  tpäre  nicht  möglich  getpefen,  wenn  er 
nicht  einen  getpiffen  Schein  für  fich  gehabt  hätte.  3<h  abliefe 
ben  (Srunb  besfelben  barin,  ba|$  inbipibueH  bas  IDohltPollen 
biefe  ihm  3ugefchriebene  AHemherrfchaft  allerdings  3U  be* 
Raupten  vermag.  Das  3nbipibuum  fann  von  bemfelben  in 
einer  ZDeife  burchbrungen  fein,  baß  fein  gan3es  IDefen  unb 
Benehmen  ben  (Seift  bes  Wohlwollens  atmet,  unb  ba§  felbft 
bie  ftereotypen  fjöflichfeitspbrafen  ben  C^arafter  bes  innig 
<£mpf unbenen  unb  aufrichtiger  perfönlicher  Ceilnahme  an» 
nehmen. 

<£s  fdjlägt  bies  in  bas  Kapitel  ber  3rcbipibualifierung  ber 
£(öflid]feit  hinein,  beren  ich  am  <£nbe  meiner  Darßellung  ber* 
felben  gebenden  roerbe.  Aber  von  ber  Art,  tpie  jtch  ber  fub* 
jeftipe  <5eift  ber  £}öflichfeitsformen  bebient,  unb  pon  bem, 
rpas  er  aus  ihnen  macht,  ift  genau  3U  unterfcheiben  ber  ob* 
jeftipe  (Z^axatUt  berfelben,  roie  bie  Sitte  fich  ihn  gebacht, 
unb  toie  fte  ihn  in  biefen  5ormen  3ur  Ausprägung  gebraut 
hat.  3Tt^cm  WX1C  3ugrunbe  legten,  gelangten  rx>ir  3U  ber 
obigen  Hnterfcheibung  3tpeier  Arten  berfelben:  bie  eine  ihrer 
Seftimmung  unb  ihrem  gan3en  gufchnitt  nach  barauf  be< 
rechnet,  bie  Achtung,  bie  anbere  barauf  berechnet,  bas  IDohl* 
tpollen  3um  Ausbrucf  3U  bringen. 

[542]  Bei  ber  erften  Einführung  biefes  (5egenfafees  (5. 585) 
haben  roir,  tpas  an  jener  Stelle  genügte,  eu^elne  Sputen 
namhaft  gemacht,  toelche  bie  Überseugung  pon  bem  Vox< 
hanbenfein,  tpenn  auch  nicht  biefes,  fo  boch  eines  (Segen-- 
fa^es  innerhalb  ber  ^jöflichfeitsformen  hexvoxtn^en  müffen, 
unb  tpir  haben  fobann  ben  TXadiwexs  erbracht,  baß  bas  erfte 
(Slieb  besfelben  in  ber  Achtung  befteht,  über3eugen  tsir 
uns  nunmehr,  baß  bas  3tpeite  (Slieb  als  XDohtoolIen  311  bc* 
ftimmen  ift. 


Das  feciale  IDofjItPotfett.  —  Kriterien, 


425 


<£s  gibt  eine  gan3  einfache  probe,  5ie  jeber  mit  fiel)  felber 
anfteQen  famt.  5ür  getoiffe  Sett>eife  ber  ^öflichfeit  pflegen 
tx>ir  3U  Lanfert,  für  anbere  nicht  XDir  banfen  bemjenigen, 
ber  uns  feine  Ceilnahme  3U  ernennen  gibt,  fich  3«  23.  nach 
unferm  ober  unferer  Jlngefyörigen  Beftnben  erfunbigt,  uns  im 
Kranft|eitsfatt  gute  23efferung,  bei  Antritt  einer  Heife  eine 
glüefliche  Heife  toünfcht,  ober  ber  uns  einen  ber  flehten  Dienfte 
erioeift,  bie  ich  unten  unter  ber  Kategorie  ber  Dienftfertigfeit 
befyanbeln  tt>erbe,  uns  3.  23«  eine  Sache  reicht,  aufgebt,  uns 
beim  2ln3iehen  bes  Über3iehers  behilflich  ift.  Demjenigen, 
ber  uns  grüßt,  anrebet,  3uhört,  uns  entgegenfommt,  toenn 
roir  ihn  befugen,  banfen  roir  nicht.  JDarum  banfen  roir  in 
bem  einen  Sali,  in  bem  anbem  nicht?  JDir  banten  für  etroas, 
roorauf  roir  feinen  2lnfpruch  311  befifeen,  tr>as  roir  ber  (ßüte 
bes  anbem  3U  perbanfen  glauben,  für  ein  (Sefcfyenf,  eine 
XDo^Itat,  eine  (ßefäßigfeit,  bagegen  banten  wxv  nicht  für 
etwas,  was  uns  unferer  Anficht  nach  gebührt,  toas  [543] 
roir  uns  für  berechtigt  galten  f orbern  3U  bürfen,  eine  ber* 
artige  £eiftung  fällt  für  uns  unter  ben  (ßejtchtspunft  ber 
Abtragung  einer  Schulb.  Die  Sprache  ha*  biefe  23e3iehung 
bes  Danfes  3U  ber  uns  freiwillig  gewährten,  b.  t.  aus  bem 
XDot^tooHen  bes  anbern  hervorgegangenen  Seiftung  mit  einem 
einigen  IDorte  treffenb  toiebergegeben,  nämlich  mittels  bes 
vom  Danfen  gebilbeten  Kompofttum  Perbanfe  n.  Danfen 
unb  Perbanfen  gelten  it^r  als  forrelate  Segriffe  —  ber  Danf 
fonftatiert,  baf$  wir  jemanbem  etwas  oerbanfen,  b.  h- 
es  in  ber  freien  lebiglich  burch  bie  wohlwollenbe  (Sefinnung 
gegen  uns  h^toorgeruf enen  <§mx>enbung  feinerfeits  feinen  (Srunb 
hat.  5ür  etwas,  was  wir  bem  anbem  nidit  in  biefem  Sinne 
oerbanfen,  banfen  wir  ihm  auch  nicht.  Darum  banfen  wir, 
was  bie  2lfte  ber  fjöflichfeit  anbetrifft,  nicht  für  biejenigen, 
bie  unter  ben  (ßejtchtspunft  ber  fosialen  Achtung  fallen,  benn 
auf  bie  üblichen  2ld]tungsbeweife  haben  w'vc  ber  Sitte  3ufolgc 


^26 


Kapitel  IX.   Die  fojtale  XTCedjamf»   Da?  Sittliche, 


cittcn  2lnfprudj,  tt>ir  perbanfen  iljn  bem  Umfkmbe,  bag  wir 
perfon  finb.  3nbem  toir  für  anbere  £jöfltd)fettsbet»etfe 
banfen,  erfennen  unr  an,  ba|$  toir  barauf  feinen  2tnfprud) 
haben,  ba§  voxt  jte  im  obigen  Sinne  bem  anbern  serbanfen; 
—  eine  freie  (Sabe,  bie  er  uns  auefy  f^ätte  porentfyalten  fömten, 
unb  beren  <£fyarafter  u>ir  baburc^  anerfennen,  bajj  toir  feine 
„(ßüte,  (ßefälligfett,  2lufmerffamfeit,  5reunblid}feit,  Ciebens* 
n>ür  bigfeit"  rühmen,  unb  uns  baburdj  für  fffcl^r  serbunben, 
perpflidjtet"  erflären  —  bie  I}inübemal)me  bes  (ßebanfens 
ber  Verpflichtung  [544]  com  (Sebiete  bes  Hedjts  auf  bas  ber 
Sitte,  <£mpfangsbefenntnts  unb  Sdjulbbefenntnis. 

2lHe  2lfte,  tseldje  burdj  biefe  von  ber  Sitte  aufgehellte 
Verpflichtung  bes  2)anfens  gefemt3eidjnet  toerben,  bringe  ich 
unter  ben  gemeinfamen  (ßejtchtspunft  ber  ^öflic^feitsformen 
bes  fo3iaIen  WolilvoolUns.  5o$xal  nenne  ich  basfelbe  im 
(Segenfafee  5um  moralifchen  Wohlwollen.  3enes  betätigt  jtch 
im  ^ene^men,  biefes  im  fjanbeln  (f.  u.),  für  jenes  jieHt  bie 
Sitte,  für  biefes  bie  ZTCoral  bie  Zlormen  auf. 

XDie  fiel)  bie  fjöflichfeitsfphäre  bes  IDoB^tooHens  von  ber 
ber  Sichtung  im  5aQe  ber  Befolgung  ber  £(öflichfeitsregeln 
baburch  abgebt,  baß  man  ber  Sitte  3ufoIge  für  bie  b*r 
erfteren  anl^eimfallenben  2Ifte  $u  banten  fyat,  für  bie  ber 
[enteren  3ugehörigen  nicht,  fo  betr>äB|rt  jtd]  ber  (Segenfafe 
beiber  im  Salle  ber  Zlidjtbefolgung  jener  Hegeln  an  ber 
Verfchiebenartigfeit  ber  Beurteilung,  u>eld^e  bie  Sitte  fyer  ein* 
treten  lägt  Die  Sprache  —  unb  jte  gibt  ja  nur  bie  2iuf* 
faffung  ber  Sitte,  bas  Voli surteil  ttneber  —  rügt  bie  Vor* 
entfyaltung  ber  üblichen  H>of|lu>oHensbeu)eife  als  ZITangel  an 
Stufmerffamfeit,  als  unfreunbliches,  unliebensttmrbiges,  un* 
aufmerffames  Benehmen,  bie  ber  üblichen  2lchtungsbeu>eife 
als  Unge3ogenI|eitf  (Srobfyeit.  IDer  unfern  (Srujj  nicht  er* 
tsibert,  uns,  roenn  u>ir  ihn  anreben,  ben  Hücfen  feiert,  begebt 
feine  bloge  Unfreunblidjfeit,  Unliebensumrbigfeit  gegen  uns, 


Kriterien  bes  faiden  Wofymottens. 


\21 


fonbern  eine  (Srobljeit:  er  Beriefet  uns*  Die  Dorentijaltung 
ber  [545]  fdjulbigen  Betoeife  ber  2lcf}tung  enthält  ben  2lus* 
bru<f  ber  Zltiga^tung,  bie  perfon  tr>irb  burcfy  bie  barin 
liegenbe  2lberfennung  bes  XPertes,  ben  jte  als  foldje  bean* 
fprucfyen  fann,  in  ifyrem  innerflen  Kern  getroffen,  es  roirb 
ifyr  ein  £eib  3ugefügt  (23e*leib*igung,  Kränfung),  auf  bas  jte, 
roenn  jte  ettr>as  auf  jtcfy  fyält,  äußerlich  burcfj  ifyr  eignes  Be- 
nehmen entfprecf)enb  reagieren  wirb.  Die  Derfagung  ber 
üblichen  Beroeife  bes  Fialen  &>oB}ltr>oHens  bagegen  enthält 
niemals  eine  Kränfung,  eine  Beleibigung,  es  liegt  barin  ja 
fein  Urteil  über  ben  XDert  ber  perfon,  lefetere  tt>irb  in  iBjrem 
IDertgefüfyl  baburcfj  gar  nxd\t  getroffen,  jte  I^at  ben  (Srunb 
bapon  mcfyt  in  jtd|  felber  3U  erblicfen,  berfelbe  fällt  t>ielme^r 
auf  bie  perfon  bes  anbem,  bem  es  an  ber  tpoIjfooHenben 
(Sefinnung,  fei  es  überhaupt,  fei  es  gegen  jte,  ober  an  ber 
<£r3ie^ung  fefylt  —  er  ift  unfreunblidj,  unltebenstrmrbig,  un* 
gefällig,  unaufmerffam,  aber  er  ift  nicfjt  unge3ogen,  grob. 

Das  Hefultat  ber  pojttit>en  unb  negativen  probe  beiber 
Segriffe  in  einen  Safe  3ufammengef aßt  lautet:  auf  bie  2lcfytung 
fdjreiben  unr  uns  einen  2lnfprudj  3U,  barum  füllen  urir  uns 
bem  anbem,  toenn  er  anerfannt  tr>irb,  nicfyt  perpjficfytet,  unb 
banfen  ifym  nidjt,  tt>äljrenb  tt>ir  umgefefyrt,  wenn  er  nidjt 
anerfannt  roirb,  uns  für  Deriefet  galten,  auf  bas  IDofyfooQen 
bagegen  fcfyreiben  u>ir  uns  feinen  2lnfprudj  3U,  barum  er* 
fennen  roir  uns,  toenn  uns  basfelbe  3uteil  u>irb,  als  r>er- 
pflichtet  an  unb  banfen  bafür,  tsätjrenb  toir  im  entgegen* 
gef  efeten  5aöe  barin  3tr>ar  [546]  einen  Perftog  gegen  bie  gute 
Sitte  erblicfen,  benfelben  aber  niefit  unter  ben  (Sejtcfytspunft 
einer  uns  tüiberfafyrenen  Kränfung  bringen. 

Den  Begriff  ber  2ld)tung  fyaben  u>ir  feiner3eit  auf  einen 
fyöfyeren:  ben  bes  Heertes  3urücfgefüfyrt.  £ür  ben  bes  Wotil- 
u>ollens  ift  bies  ausgefdjloffen.  Das  IDoljltDotlen  gehört  3U 
ben  (ßrunbpljänomenen  bes  menfdjlidjen  <5emütslebens,  wie 


428 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ITIedjamf.   Das  Sittliche» 


f}a§,  23eib,  5reube,  Schmer,  bie  man  befchreiben ,  fchübern, 
aber  nicht  toeiter  3urücEr>erfoIgen  fann,  bie  man  r>ielmehr  als 
gegebene  Catfachen  ber  Statur  eben[o  entgegennehmen  muß, 
rote  bas  <5efefc  ber  Schwere  ober  bie  <£Ieftri3ität.  Die  Sprache 
charafteriftert  bas  XPofytooIlen  als  IDoIIen  bes  IDohls,  b,  i. 
ber  fubjeftis  befriebigenben  (ßeftaltung  bes  Dafeins  (IDoBjI* 
fein,  IDofylfafyrt,  tDohl),  toobei  fie  fubintelligiert  bes  fremben 
XDofyls;  bas  IDollen  bes  eignen  Wofyls,  ba  es  fchon  mit  bem 
Egoismus  gefegt  ift,  u>irb  t>on  il>r  nicht  tseiter  betont,  es 
oerftel^t  fich  r>on  felbft.  Das  JDo^toolIen  bofumentiert  bem* 
nach  eine  Verleugnung  ber  egoiftifchen  (ßejtnnung,  es  erftrebt 
basfelbe  für  anbere,  was  lefetere  für  fich« 

IDie  in  ben  Sergriff  bes  IDertes  ber  perfon  Sitte  unb 
Jled]t  (Achtung  unb  (£I|re),  fo  teilen  fich  in  ben  bes  Wol\U 
roollens  Sitte  unb  ZHoraL  Dort  l\at  bie  Sprache  bafür  3toei 
befonbere  2lusbrücfe  gefdjaffen,  fyer  läßt  fie  es  baxan  fehlen, 
benn  wenn  auch  ber  r>on  uns  früher  für  bie  fjöflid)feit  bes 
XDo^ItooIIens  t>orgefd]lagene  2tusbrucf  ^reunblidjfeit  bas  eine 
(Slieb  bes  <5egenfafees  fo  3iemlich  [547]  beeft*),  fo  fennt  bie 
Sprache  boch  für  bas  anbere  (Blieb  feinen  ihm  ausfchließ* 
liefen  2tusbrucf,  ba  „tX>ohla>ollen"  für  beibe  3utrifft,  anbere 
2lusbrücfe  aber,  bie  in  5rage  fommen  tonnten,  3.  23.  XDohl* 
tätigfeit,  Zttilbtätigfeit,  Zfienfchenfreunblichfeit,  3U  eng  ftnb. 
3n  biefer  £age  halte  ich  es  für  bas  geeignetfte,  unter  Sei» 
behaltung  bes  Subftantips  IDohfooHen  beibe  21rten  burch  öen 
abjef thnfehen  <guf afe :  fo3ial  unb  moralifdnu  unterfcheiben, 
was  noch  ben  Dorteil  fyat,  ba§  baburd]  bie  (Semeinfamfeit 
beiber  ftets  in  (Erinnerung  erhalten  tx>irb. 

Die  21rt,  roie  JTToral  unb  Sitte  fid]  in  bas  IDohftooHen 


*)  (freunMtdjfett  ift  rem  ^reunb  hergenommen,  wie  ber  entfpred?enb< 
Iateinifdje  2Iusbrucf  comitas  von  comes,  bem  Begleiter,  beibe  befebräufert 
fid?  auf  bas  benehmen,  b*  u  bas  WotyxooUen  ber  fjöflidjfeti 


Das  liefen  bes  XPofjlmolletts* 


teilen,  entfpricht  bem  allgemeinen  (ßegenfafc  beiber,  jene  macht 
baraus  ein  poftulat  für  ben  inneren,  biefe  für  ben  äußeren 
JlTenfchen  ober  toas  basfelbe:  jene  verlegt  basfelbe  in  bie 
(ßeftnnung,  biefe  in  bas  Benehmen. 

Die  ZTIoral  in  bie  (Befinnung.  Zlid\t  in  bem  Sinn  eines 
bloßen  Seelen3uftanbes,  einer  mögltcherioeife  rein  paffto  ©er- 
harrenben  Stimmung  3um  Wohlwollen,  fonbem  bes  in  Caten 
(IDohltun,  IDohltätigfeit)  fein  Dafein  unb  feine  Kraft  be» 
tt>ährenben  tDiHens.  IDie  mit  bem  echten  (Blauben  bie  H>erfe, 
fo  finb  mit  bem  eckten  IDo^tooQen  auch  bie  Caten  gefefci 

Die  Sitte  ift  bas  benehmen.  Sticht  in  bem  Sinne,  baß 
fich  mit  ihm  bie  (ßeftnnung  im  obigen  Sinne  nicht  [548] 
auch  oerbinben  fönnte  unb  foHtc,  fonbem  baß  fte  ihm  fremb 
bleiben  barf,  ohne  baß  baburch  ber  gtoeef,  ben  bie  Sitte  ftch 
bei  ben  f}öflich?eitsformen  bes  IDohItt>ollens  t>orgefefet  I^at, 
beeinträchtigt  roürbe. 

Damit  fteht  ein  3tx>eiter  Unterfdjieb  3tx>ifchen  bem  mora« 
lifchen  unb  bem  Fialen  IDo^ItooIIen  in  Derbinbung.  <£ben 
n>eil  es  bie  (ßeftnnung  tft,  welche  bie  XHoral  poftuliert,  unb 
tx>eil  in  ber  (ßeftnnung  aHes  f}anbeln  fdjon  $>oten3ieH  be- 
fchloffen  liegt,  h<*t  fte  nicht  nötig,  im  ein3elnen  r>or3U3ei<^nen, 
mann,  too  unb  wie  fte  ftch  3U  betätigen  h<*t,  bie  ZHoral  fteüt 
feinen  fpe3iell  fixierten  Kanon  bes  f(anbelns  auf.  IDohl  aber 
bte  Sitte.  Sie  gibt  eine  Summe  Don  äußeren  Hegeln,  bie 
fie  allerbings  fämtlidj  ber  3bee  bes  iDohlwotlens  entlehnt, 
bie  fie  aber,  inbem  fie  biefelbe  seräußerlicht,  eben  bamit  oon 
bem  Crforbernis  bes  fubjeftioen  XDo^tooHens  unabhängig 
macht,  —  ein  Kanon  bes  äußeren  Verhaltens  gan3  fo  wie 
ber  bes  2?edits,  ben  auch  berjenige  beachten  fann  unb  foll, 
bem  es  an  ber  entfpredjenben  (Befinnung  fehlt,  gu  bem 
obigen  (Begenfafee  bes  äußerlichen  unb  3nnerlid^en  gefeilt 
[ich  alfo  ber  bes  Semeffenen  unb  Unbemeffeuen  l]in3u. 

Das  britte  JHoment,  welches  bas  moralifche  unb  bas 


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Kapitel  IX.   Die  fokale  ITCedjamf*  Das  Sittliche, 


f03ialc  Wotiltooüen  unterfcfyeibet,  befielt  in  iljrem  Debatten 
3um  Egoismus,  3enc5  mutet  bemfelben  eine  Übertr>inbung 
feiner  felbfl,  b.  I  ©pfer  3U,  bie  er  3U  bringen  nur  bann  im- 
ftaube ift,  toenn  er  fidj  f elber  verleugnet,  ©pfer,  fei  es  an 
(Selb,  fei  es  an  Kraft  (Übernahme  von  ZtTül]en,  [5491  2In* 
ftr  engungen,  Entbehrungen,  Unannefymlicfyf  eiten) ,  fürs  bie 
Betätigung  bes  moralifcfyen  IDo^ItooIIens  tsirb  bem  XTTenfdjen 
in  irgenbeiner  IDeife  fühlbar.  2Inbers  bie  bes  fc^ialen  Wolfi* 
tr>oHens,  fie  foftet  ifyt  nichts,  roeber  <5elb  nodj  2lnftrengung. 
Enttoeber  nämlidf  ftnb  es  bloße  IDorte,  in  benen  es  ftd? 
äußert,  ober  2)ienftleifiungen  von  fo  unbebeutenber  2Irt,  baß 
jte  gar  feine  ZHüfye  t>erurfacf?en.  XDir  fonftatieren  bamit  einen 
C^arafter3ug  ber  fjöflicfyfeit  überhaupt,  ber  barin  befielt,  baß 
fie  ntdjts  foftet,  tx>eber  (Selb  noefy  VTiül\e  *)♦  2)as  einige,  toas 
bie  ^öflidjfeit  unter  Umftänben  erf orbern  fann,  tfi  bie  <§eit, 
gleichmäßig  fotool)!  für  bie  2ld]tung  (2Inftanbsbefud]e  unb 
Erttnberung  berfelben)  als  für  bas  IDol}hr>oHen  (2ln3eigepflicf]t 
bei  toicfytigen  5ctmilienereigniffen,  KonboIen3*  unb  (Sratulations* 
23efud)e  unb  Briefe),  roorauf  aber  im  Sinne  ber  2Iuffaffung 
bes  Polfs,  bie  hierfür  ja  entfcfyeibenb  ift,  ber  (ßejtcfytspunft 
eines  ©pfers  feine  2huoenbung  fmbet  Die  ^öflid^feit  ifl  fo 
eingerichtet,  baß  aud]  ber  Srmfte  i^re  (5ebote  erfüllen  fann. 

3)amit  bürfte  bas  fo3ia!e  ZDoI)ht>ollen  r>on  bem  mora» 
Uferen  ebenfo  fcf^arf  abgehoben  fein,  tr>ie  bie  2Id]tung  von 
ber  <eijre.  [550] 


*)  Don  ber  (Erfüllung  ber  2(nforberungen  ber  Sitte  im  übrigen  läßt 
fidj  bies  nicfyt  behaupten*  Der  2lnßanb  foftet  unter  Hmßänbeit  (Selb 
S*33lf*),  ebenfo  bie  23efiawptmtg  ber  fo3iaIen  Stellung,  fobann  bie 
£etftungen,  u>eldje  id?  oben  unter  ben  (Sefidjtspuuft  bes  präftations* 
$n?anges  ber  Sitte  gebracht  fjabet 


Schales  IPofyltPoflem  —  2u§ernttg  ber  Cetlnal|tne* 

Die  eigentümlichen  formen  bes  fo3ia!cn 
JDohltDollens, 
3d?  führe  biefelben  auf  brei  (Bejichtspunfte  3urücf:  Ceti* 
nähme,  3ntereffe,  Dienftfertigfeit, 

Die  feciale  {Teilnahme* 
Das  IDefen  ber  Ceilnahme  ift  t>on  ber  Sprache  in  bem 
IDorte  felber  in  einer  IDeife  ge3eichnet,  wie  es  nicht  treffenber 
hätte  gefchehen  fönnen.  Der  Ceilnehmenbe  nimmt  ober  be* 
fommt  von  demjenigen,  was  ben  anbern  in  freubiger  ober 
fdime^licher  Wex\e  beu>egt,  feinen  Ceil,  feinen  2ln*teil  (baher 
Anteil  nehmen),  bie  (ßefühlserregungen  in  beffen  5eele  pflan3en 
ftch  fort  in  ber  feinigen  nach  2lrt  ber  Sch tt>ingungen,  bie  ein 
tönenbex  Körper  auf  anbere  banach  geartete  überträgt.  Die 
Ceiluahme  [teilt  uns  auf  bem  (Bebiete  ber  pfydjologie  bas* 
felbe  Pronomen  bar,  toie  auf  bem  ber  2tfuftif  bas  ber  mufi* 
falifchen  Befonan3:  bie  Sympathie  in  ber  Körper*  unb  (Beiftes* 
tr>elt,  unb  toie  bas  lefetere  Phänomen  uns  r>on  ber  £igenfchaft 
bes  Körpers  burch  einen  fremben  fd]u>ingenben  Körper  in 
benfelben  guftanb  oerfefet  3U  roerben  Kunbe  gibt,  fo  jenes 
über  bie  entfprechenbe  (Eigenfdjaft  ber  Seele,  man  fönnte  es 
als  bas  patfyologifcfye  Hefonan3t>ermögen  ber  Seele  be3eichnen* 
IPorauf  biefe  €rfcheinung  ihrem  legten  (Srunbe  nach  beruht, 
werben  wxv  feiner3eit  (Kapitel  XII)  (Gelegenheit  finben  5U 
unterfuchen.  Qier  haben  nrir  es  nicht  mit  biefem  inneren 
pfychologifchen  Porgange  [551]  3U  tun,  fonbern  mit  ber 
Äußerung  ber  ^Teilnahme,  fotoeit  biefelbe  burch  bie  fjöflid]* 
feit  3U  einer  fo3talen  Pflicht  geftempelt  ift:  ber  äußeren  ober 
fo3ialen  im  (ßegenfafee  ber  inneren  ober  pfychologifchen* 
3ene  ift  von  biefer  ebenfo  unabhängig,  toie  bie  fo3iale  Achtung 
in  bem  oben  enttoicfelten  Sinne  r>on  ber  tDirHichen.  IDie  r>iel 
unb  toie  toenig  jemanb  immerhin  bei  frembem  Schmer  unb 
£eib  ober  bei  frember  5reube  mitempfinde,  ob  vielleicht  gar 


^32        Kapitel  IX.   Die  faiale  irtedjanif.   Das  Sittliche* 

nichts  ober  n?o^I  gar  Scfjabenfreube  ober  ZTtcib  —  fur3um 
bie  Sitte  verlangt  von  tfyn  unter  getr>iffen  Porausfe^ungen 
bie  äußere  Öe3eugung  ber  Ceilnal>me,  2)ies  tfi  insbefonbere 
bann  ber  5alt,  u>enn  ifyn  bas  (Ereignis,  tseldjes  ba3u  2tnlaß 
geben  fann,  3ur  Steige  gebracht  tmrb.  Die  2In3eige  ^at  3U 
tljrer  ftiHfdjtDeigenben  Dorausfefcung  bie  fubjeftise  2tnnal|me 
ber  unrflidien  (Teilnahme,  alfo  ein  berartiges  näheres  per« 
fönlic^es  Perfyältnis ,  tpelcfyes  biefelbe  rechtfertigt;  ferner 
ftefyenben  perfonen  eine  berartige  2ln3eige  3U  machen,  enthält 
eine  Ungeljörigfeit,  Caftlofigfeit,  Anmaßung,  es  Reifet  jtdj  als 
5reunb  ober  genaueren  33efannten  von  jemanbem  auffpielen, 
ber  feinerfeiis  ben  2lnfprucij  bar  auf  nicfyt  getoäljrt  E^at. 

3n  tt>elcfyer  ZDeife  fiefy  bie  tEeilnafyme  3U  äußern  fyat: 
ob  fdjriftlicfy  ober  burefy  perfönlidjes  £rf feinen  (Konbolen3*, 
(ßratulationsbefucfye,  bas  folgen  beim  £eidjenbegängnis*)), 
ift  für  meinen  gioecf  ofyte  3ntereffe,  [552]  fur3um  bie  Sitte 
©erlangt  bie  äußere  Betätigung  berfelben,  bie  Unterlaffung 
berfelben  enthält  einen  Z?erftoß. 


*)  Bei  btefem  2Xfte  berührt  fia?  bie  2Jcr/tung  mit  bem  tPobfo  ollen. 
<£r  fann  gemeint  fein  als  ein  Beweis  ber  {Teilnahme  für  bie  tynter* 
bitebenen,  in  biefem  falle  gehört  er  ber  fjöflidjfeit  bes  XPorjlrooIIens 
an,  er  fann  aber  aud?  gemeint  fein  als  eine  „€t}re",  bie  man  bem  Vev< 
ftorbenen  erroeift  („letjte  (Eljre"),  unb  bies  ift  ausfcr/ließlidj  ba  ber  fall, 
tpo  feine  Hinterbliebenen  r>orl)anben  finb,  ober  wo  man  biefelben  nidjt 
femtt,  tjier  fällt  er  unter  bie  Kategorie  ber  2ldjtung  (fo3tales  IDerfurtetl 
über  bie  perfon).  Der  (Sebanfe,  in  biefem  Sinne  ben  Derftorbeuen  3U 
erfreu,  feinen  IDert  beim  2lbfd?luffe  feines  £ebens  öffentlid?  311m  2lusbrucf 
3u  bringen,  ftnbet  fta?  bei  allen  Dölfern,  bei  feinem  rr>or?l  fo  beirußt 
erfaßt  unb  mit  bem  Apparat  in  S3ene  gefegt,  als  bei  ben  Hörnern  (5, 33. 
bas  funus  publicum  tjeroorragenber  ITtänner).  mittels  ber  betben  (Se* 
ftdjtspunfte:  (Teilnahme  unb  2Jcr/tung  glaube  idj  bie  fo3tale  Bebeutung 
bes  £eicfyenbegänguiffes,  fotuett  bie  Sitte  baxan  bie  ppid^t  3um  (Hrfdjemen 
fnüpft,  erfcfyöpft  3U  traben;  baß  btefelbe  aber  barm  nicfyt  aufgebt,  jetg 
bas  £eidjenbegängnis  großer  IHänner,  bei  bem  ftdj  3U  jenen  hüben 
XTCottoen  nod?  bas  ber  Abtragung  einer  Danfesfdmlb  ber  Nation  unb 
bie  Crauer  berfelben  über  ben  erlittenen  Perluft  tn'^ugefellh 


Schmies  XVotywoUen.  —  Sugeruttg  bes  ^trtereffes*  ^33 

Der  toialen  ^Teilnahme  forrefponbiert  bie  toiale  2Jn* 
seigepfltdjt  in  be$\xQ  auf  biejenigen  (greigniffe,  bei  benen 
bie  Steige  f|ergcbrac^t  tjt,  es  ftnb  bie  mistigeren  <£reigniffe 
bes  Familienlebens:  (Seburt,  »erlobung,  Vermählung,  €ob, 
Die  Sitte  verlangt,  baß  man  biefelben  benjenigen,  benen  man 
nach  ZHaßgabe  bes  perfönltchen  Perhcütniffes  eine  ^Teilnahme 
3utrauen  fann,  3ur  Kunbe  bringe,  bie  Unterlaffung  enthält 
einen  üerftofc,  eine  Mißachtung  bes  2lnfpruchs,  ben  bas  per* 
fönliche  Verhältnis  einmal  begrünbet,  eine  gurücffefcung.  Die 
€rfüHung  ber  Pflicht  fann  bei  fcfime^Iidjen  €reigniffen  eine 
überaus  [553]  große  fjärte  in  fiel?  [fliegen.  Der  von  bem 
Cobesfatt  Betroffene  foll  bie  5*ber  3ur  £janb  nehmen  unb 
forgfam  eine  Cifte  berjenigen  perfonen  entwerfen,  benen  er 
bie  2ln3eige  3U  machen  hat,  eine  Zumutung,  bie  für  benjenigen, 
ber  wenig  empfmbet,  leicht  3U  befchaffen  ift,  für  benjenigen 
bagegen,  ber  tief  empfinbet  unb  r>on  bem  Schlage  gan3  ba* 
niebergebeugt  tjl,  nat^u  eine  (Sraufamfeit  ber  Sitte  enthält, 
ein  würbiges  Seitenftücf  3U  ber  bem  weiblichen  (Befehlest 
x>on  ber  Sitte  auferlegten  fofortigen  Sorge  um  bie  Crauer* 
fleiber  (S*  2^7). 

Das  totale  3ntereffe* 
Wenn  wir  uns  nach  bem  öeftnben  jemanbes  erfnnbigen 
ober  ihm  beim  2Ibfchiebe  „Cebewohl"  fagen,  bei  Tintvitt  einer 
Heife  „glücf  liehe  Heife"  wünfehen,  fo  3eigen  wir  ihm  bamit, 
bajj  wir  uns  für  ihn  intereffieren,  ba§  uns  an  feinem  IDofyl- 
ergehen  etwas  liegt  Diefe  E(öfHchfeitsformen  fallen  mithin 
unter  bie  Kategorie  bes  totalen  IDotjIwollens.  llbev  fpracfy 
HS  laffen  fie  ftdj  nicht  unter  ben  (ßepdjtspunft  ber  Ceilnahme 
bringen,  benn  es  gibt  #er  nichts,  woran  man  „Ceti"  nehmen 
fann,  weber  Sehnte^  noch  5reube,  unb  gerabe  barauf:  auf 
ben  Anteil,  ben  wir  an  befonbers  freubigen  ober  fdjmer3- 
lichen  €reigniffen  bes  anbevn  nehmen,  hat  bie  Sprache  ben 

p.  3 gering,  Der  grcecf  im  Kcdjt.   II.  28 


$5%         Kapitel  IX.   Die  fötale  ITCedjantf.   Das  Sittliche. 

21usbrucf  ber  Ceilnaljme  3ugef  djnitten.  So  tr>irb  es  nötig, 
für  jene  ^öflidjfeitsformen  einen  befonberen  2lusbruc!  3U 
fud?en,  unb  bafür  fcfyeint  mir  ber  obige  ber  angemeffenfte 
3U  fein. 

[554]  Das  feciale  3ntereffe  unterfdjeibet  ftd)  von  ber 
fötalen  Ceilnafyme  baburdj,  baß  le&tere  nur  burd]  ungenau* 
licfye  <£reigniffe:  burefy  eine  Steigerung  ober  Verringerung 
bes  IDofylergefyens  über  bas  normale  ZlTaß  hinaus  ausgelöft 
toirb,  rx>ä^renb  jenes  ben  2tnlaß  3U  feiner  Betätigung  bem 
getoöfynlidjen  £eben  entnimmt,  tx>ir  fönnen  es  bafyer  fur3 
beftnieren  als  bas  IDo^foollen,  tt>eld}es  bas  IDofylergefyen 
bes  anbern  3um  (Segenftanbe  fyat.  Dasfelbe  betätigt  fid?  in 
einer  boppelten  5orm:  mittels  5^ge  (Srfunbigung)  unb 
mittels  IDunfdj.  Beibe  erftteefen  fid]  redjt  tt>eit,  bie  €r» 
funbigung  nidjt  bloß  auf  bas  eigene  öefmben,  fonbern  aud? 
auf  bas  ber  2Ingefyörigen,  burefy  bas  mittelbar  ja  bas  eigene 
bebingt  ift,  unb  fotsofyl  auf  bie  (Segentoart  als  auf  bie  Der* 
gangenfyeit*),  ber  H?unfcfy  je  nad)  Perfcfyebenfyeit  bes  äußeren 
SInlaffes,  an  ben  er  fid)  reiijt,  auf  tDofylergeljen,  (5efunbfyeit, 
(Slücf,  gute  Sefferung  unb  anberes,  vorauf  id?  unten  bei  ber 
Überfielt  ber  £jöfiid|feitsformen  3urüdfommen  tx>erbe. 

Die  Dienftf ertt gf eit* 
Sie  umfaßt  bie  sielen  f leinen  Sienftleijiungen,  (ßefäüig- 
feiten,  3U  benen  bas  gefellige  §uf ammenfein  mit  anbern  fo 
pielfacfye  Gelegenheit  gibt,  unb  mittels  bereu  [555]  roir  einem 
anbern  eine  xxnbebentenbe  ZHüfye,  beren  er  fidj  fonft  fetber 
unterteilen  müßte,  abnehmen**).    Sei  ber  Ceilnafyme  un 


*)  Die  befannten  fragen:  VOxe  get^t  es,  was  madjen  Sie,  nne  b 
ftnben  Sie  fid}?    Come  State,  comment  vous  portez-vous,  how  do  yo 
do?   Quid  agis,  quid  agitur?   IDie  fyaben  Sie  gefd^Iafen?   IPie  fyab 
Sie  fid?  amüftert?   VOxe  ift  es  3fynett  ergangen? 

**)  IDer  fie  fid?  t>ergegemt>ärtigen  xv'xW,  wirb  flnben,  baß  xijtz  Sak 


5o3tales  tDofjhuollen*  —  Die  ZHenftferttgfeit*  ^35 


bem  3«tereffc  äußert  ficfy  bas  IPo^ItooIIcn  bloß  burdj  Züorte, 
fyier  burdj  bie  Cat*  Darin  trifft  bie  Dienftfertigfeit  mit  bem 
moralif djen  IDo^toolIen  3ufammen.  Sie  unterfdjeibet  jtdj  t>on 
iBjm  burd?  bas  XTIoment,  roeldies  oben  (5«  ^29)  als  Kriterium 
bes  fosialen  IDoljltDollens  im  (Segenfafc  bes  moralifdjen  Ijer* 
t>orgefyoben  ift,  baß  fte  fein  ©pfer  verlangt  Die  Zltulje, 
tx>eld\e  fte  erforbert,  ift  eine  fo  unbebeutenbe,  baß  fte  nidjt  als 
2Inftrengung  ((Dpfer  an  Kraft)  in  2lnfd]lag  gebracht  werben 
fann,  ber  <5runb3ug  ber  ©pferlofigfeit  ber  fjöflidjfeit  per- 
leugnet fidj  audj  bei  ifyr  nicfyt. 

Die  Dienftfertigfeit  Ijebt  fidj  nodj  in  einem  anberen  punfte 
t>on  ber  Ceilnafyne  unb  bem  3ntereffe  ab  ober  richtiger  x>on 
fämtlid]en  £(öflidjfeitsformen,  foroeit  biefelben  n\d\t  burd?  bas 
DerBjältnis  ber  Unterorbnung  bebingt  ftnb  —  fte  3iemt  ficfy 
nicfyt  für  jebes  Derljcütnis.  (Ein  (Sefanbter  bücft  ftd?  nidji, 
um  bem  fremben  Souverän  einen  (ßegenftanb,  ben  er  Ijat 
fallen  laffen,  auf3ufyeben*),  [556]  unb  ein  Souverän  fefet 
niemanbem  einen  Stufyl  fyn*  Dienftfertigfeit  be$exd\mt  fpracfj- 
lidj  bie  Übernahme  ber  BoHe  bes  fertigen  (b.  t*  3um  Dienjl 
bereitftefyenben)  Dieners.  Sie  fyat  fjanbreidjungen  3um  (Segen* 
^iaxxbe,  roie  fie  beim  Porfyanbenfein  eines  oollftänbigen  Dienft* 
perfonals  ber  Diener  3U  leiften  Ijat  (Dienftleifiung);  u>er 
jtd]  ifyr  unter3ie^t,  erfefet  bamit  ben  fefylenben  Diener,  fpielt 
ben  Diener,  Wo  bies  bem  Derfyältnis  beiber  perfonen  md\t 
entfpricfyt,  ift  audf  bie  Dienftfertigfeit  nicfyt  am  plafce  —  in 
bem  IPorte  malt  fid}  bie  Sacfye.    Der  £(err,  ber  X>orgefe&te 


recfyt  groß  ifi.  2Us  Betfptele  nenne  tdj  bas  2luffjeben  eines  gefallenen 
(Segenftanbcs,  bas  Hetzen  ber  Sd?üffel  bei  (Eifdj,  (£infd?enfen  von  Wein, 
23eif}tlfe  beim  Umgängen  von  KleibnngsftiicFen,  Öffnen  ber  (Eure,  ^olen 
eines  Stulls  ufun 

*)  <£me  prafttfd^fyfiortfdje  3lfaffration  ba3u  gewährt  ber  befamtte 
Porfall,  ber  ftd?  3anf cfyen  IHetternid}  unb  Hapoleon  I.  abfpielte,  jener 
fjob  ben  fjanbfdjufy,  ben  biefer  abftc^tlid?  fyatte  fallen  laffen,  um  itjn 
3um  Bücfen  3U  nötigen,  nicfyt  auf* 

28* 


Kapitel  IX.   Die  fötale  lltedjanif.   Das  Stttltd>. 


mag  bem  £>iener,  bem  Untergebenen  fein  £Dol}hx>ollen  be- 
tt>eifen,  aber  er  foD  nicfyt  bie  Hollen  tauften  unb  ifyren  T>iener 
fpielen,  fou>emg  rote  er  ftdj  ifynen  gegenüber  ber  JDenbungen 
bebieuen  barf,  bie  bem  3)ienjfoerl}ciltnis  entlehnt  jtnb  (Ztr.  \6). 

Von  ben  2)ienjUeiftungen  unterfdjeibe  id?  bie  fjilfs« 
letftungen,  jene  geboren  ber  J^öflidjfeit,  biefe  ber  ZHoral 
an.  (Einen  <£rtrmf enben  3U  retten,  einen  (Befallenen  auftu« 
rieten,  einem  eingegriffenen  3U  J^ilfe  3U  fommen,  gehört  niebt 
3U  ben  pflichten  ber  ^öflicfyfeit,  es  ftnb  feine  Situationen, 
bie  ber  gefellige  Derfefyr,  ben  lefetere  allein  im  2luge  fyat, 
mit  jtdj  bringt.  3)ie  I^ilfsleiftungen  in  biefem  Sinne  ftnb 
2lfte  ber  ber  Zltoral  anfyeimfaHenben  2TJenfd}enfreunblid?fett, 
ITädjflenliebe,  t>on  ben  Dienftleiftungen  unterfdjeiben  fte  ftd] 
baburdj,  ba£  jte  eine  Selbstverleugnung,  unter  Hmjtänben 
fogar  ben  <£infafc  bes  eignen  £ebeus  perlangen.  2ludj  ityx 
äußerer  2lnlaß  rL&^7]  ift  ein  anberer,  als  ber  ber  X>ienfi< 
leiftungen.  3)erfelbe  befielt  in  ber  Ztotlage  bes  anbevn,  b.  i. 
einer  Sage,  in  ber  er  f elber  ftcfy  nidjt  Reifen  fann,  fonbern 
auf  frembe  ^ilfe  angeroiefen  ift,  toäfyrenb  bie  3)ienftletftungen 
von  ifym  felber  oljne  Sdjtoierigfeit  vorgenommen  toerben 
fönnen  unb  ifyn  von  bem  anbern  nur  erfpart  toerben.  Der 
^ilfsleiftungen  t^at  ftdj  audj  ber  Ejödjjie  unb  Dornefymfie  bem 
Hteberften  unb  (ßeringften  gegenüber  nidjt  3U  fcfyämen,  unb 
bie  <5efd?id}te  n>etj$  felbft  von  gefrönten  Ejäuptern  fcfyöne  <3üge 
berartiger  Xllenfcfyenfreunblidifeit  3U  berichten*),  festere  Ijat 
mit  ben  fo3ialen  Unterfcfyieben  ntdjt  bas  minbefte  3U  fcfjaffen, 
fte  djarafteriftert  fidj  als  Znenfdjenfreunblicfyfeit,  b.  i.  eine 
5reunblidjfeit,  roeld?e  ftdj  bem  ZlTenfdjen  als  foldien  ol?ne 
Unterfdjieb  ber  beiberfeitigen  fo3talen  Stellung  3utr>enbet  — 
bie  <£tifette  perroefyrt  bem  2Tfonard}en,  ben  2)iener  3U  fpielen, 

*)  ^3 et  bem  ttaltenifdjen  üolfe  leben  manage  berartige  <§nge  von 
Dtftor  (Emanuel  in  banfbarer  (Erinnerung  fort,  er  natjm  3.  33«  mm 
2Jnftanb,  armen  frauen  ben  Korb  auf  bie  Schulter  3U  lieben. 


So$\aks  IDofiltPotfem  —  Der  Dan?* 


aber  md}t,  ftdj  bem  ffilfsbebürftigen  gegenüber  als  ZTlenfcfi 
3U  seigen. 

Unfere  Unter  fucfyung  fcfyließt  mit  bem  Hefultat  ab:  bte 
Dienftfertigfeit  als  eine  2lrt  ber  Betätigung  bes  fojialen 
ZDofyfooHens  ijl  an  getoiffe  fo3taIe  Dorausfefcungen  gebunden, 
tseldje  für  bie  XHenfc^enfreunblidifeit  als  eine  2lrt  ber  53e« 
tätigung  bes  moralifcfyen  XDotjfoottens  feine  (Seltung  fyaben 
—  für  bas  ZHoralifcfye  ijl  bas  feciale  ZHoment  ofyne  allen 
«influß.  [558] 

Der  Danf* 

3d?  füfyre  itjn  fyier  nur  ber  Doüfiänbigfeit  liegen  auf. 
Daß  berfelbe  in  ausfdjließlicfyer  33e3ieijung  3ur  ^öflidtfeit 
bes  XDofyltoolIens  ftefyt,  ijl  oben  (S.  ^25)  bereits  nadjge- 
liefen,  3U  einem  weiteren  eingeben  bietet  berfelbe  Feinen 
Einlaß  bar. 

hiermit  [erließen  u>ir  unfere  Unterfudjung  über  bas  3tt>eite 
(Element  ber  Jjöflicfyfeit:  bas  feciale  EDofyfooHen  ab.  Sie 
Ijat  uns  ge3eigt,  rt>as  fie  follte,  baß  nämlidj  basfelbe  von 
bem  erften  Clement:  ber  ^ialen  2td)tung  t>öEig  serf Rieben 
iji.  3m  folgenben  roenben  roir  uns  bem  jenigen  3U,  tt>as 
itjnen  beiben  gemeinsam  ifi,  es  befielt  in  bem  ZHoment  ber 
äußeren  ^ifierung. 

öeibe  finb  in  be3ug  auf  bie  2trt,  roie  fie  fiefy  3U  betätigen 
^aben,  nid]t  jtdj  felber  überlaffen,  für  beibe  finb  pielmefyr 
2lnläffe,  bei  benen  fie  in  bie  <£rfdjeinung  3U  treten,  unb  bie 
formen,  n?ie  fie  fkfy  3U  äußern  fyaben,  burdj  bie  Sitte  aus- 
brücFIid?  oorge3eid)net.  (£s  ift  ber  äußerliche  gierte  Haum  ber 
£jöflid]feit. 

<§tr>ei  2luf gaben  finb  es,  bie  in  be3ug  auf  biefen  punft  an 
uns  ergeben.  Die  erfte  ift  bie  (Ermittlung  bes  Derfyältniffes 
3tt>ifd?en  bem  äußeren  unb  bem  inneren  ZTlomente  ber  f}öf* 
lidtfeit.    Die  3tseite  ift  bie  tt>iffenfd]aftlid]e  Klaffififation  unb 


438 


Kapitel  IX.   Die  fatale  mefyamt  Das  Sittliche, 


Slnalyfe  ber  eh^elnen  £(öflichfeitsformen,  bie  Phänomenologie 
6er  i}öflichfeit,  wie  ich  fte  nenne«  Die  erfte  Aufgabe  löft  ftch 
tDtcberum  in  3tt>ei  anbere  auf:  Unterfudjung  bes  ^iftorifd^en 
Verhältniffes  3tr>ifchen  bem  [559]  inneren  unb  äußeren  UToment, 
unb  ^eftfteüung  bes  praftifchen  Verhältniffes  3tt>tfchen  beiben» 
2lls  Hefultat  ber  erften  Unterfuchung  tr>irb  ftch  ergeben,  baß 
alle  £(öfltchfeitsformen  burch  bie  beiben  r>on  uns  namhaft 
gemachten  (ßebanfen  hervorgebracht  toorben  finb:  biftorifcfyes 
2lbhängtgfeitst>erhältnis  bes  äußeren  vom  inneren  2TComent; 
als  Hefultat  ber  3tr>eiten,  baß  jte  in  i^rer  2Imr>enbung  burd? 
bie  ihnen  entfprechenbe  (Befinnung  nicht  bebingt  finb:  praf* 
tifdjes  Unabhängigfeitsserhältnis  bes  äußeren  Pom  inneren 
Xrtoment. 

Varxadi  3erfäHt  bie  folgenbe  Unter  fuchung  in  brei  2tb< 
fcfynitte: 

\.  Qiftorifches  Verhältnis  3tt>ifchen  bem  inneren  unb 
bem  äußeren  ZTfoment:  ber  höflichen  <5efinnung  unb 
ben  burch  bie  Sitte  aufgehellten  typ  ifchen  formen 
ber  f^öflichfeit, 

2,  praftifches  Verhältnis  beiber. 

3.  Die  Phänomenologie  ber  Ejöflichfeit. 

\.  Qiftorifdjes  Verhältnis  3toifchen  bem  äußeren 
unb  bem  inneren  2TJoment  ber  ^öflichfeit. 

2tHe  Hegeln  unb  5ormen  ber  ^öflichfeit  enthalten  bie 
Verförperung  eines  nach  2tusbrud  ringenben  ^nnevlxdien; 
ber  (ßebanfe,  ber  (Seift,  h<*t  gefcl^affcn,  es  gibt  feine 

einige,  bie  ohne  ihn  in  bie  iüelt  gefommen  tsäre,  b.  h-  ha* 
niemals  eine  fjöflichfeitsform  gegeben,  bie  r>on  allem  Anfang 
an  bebeutungslos  geioefen  tx>äre.  [560]  €ine  5ornt  fann  im 
Caufe  ber  §eit  ihre  Sebeutung  sedieren,  inbem  ber  (Seift, 
ber  fte  geschaffen,  bie  2tnfchauungstoeife,  bie  ftd?  in  ihr  t>er* 
förpert  hat,  entweicht,  unb  nunmehr,  tt>enn  fte  gleid]tt>ohl, 


fjtftonfcfyes  Derrjcütms  bes  äußeren  unb  inneren  HToments»  ^35 

wie  es  bei  allen  Sotmen  bie  Hegel  bilbet,  burch  bie  hiftorifche 
vis  inertiae  noch  eine  Zeitlang  ihr  Dafein  friftet,  3ur  leeren, 
Mobilen,  bebeutungslofen  5orm  I^erabfinf en ,  vielleicht  in  bem 
VTia%e,  ba§  itjre  urfprüngliche  öebeutung  bem  Voltsbewnfat* 
fein  gän3lich  entfchtombet  unb  bie  5orm  3U  einem  reinen 
Hätfel  toirb,  2lber  roie  alles  2lbgeftorbene,  Cote  irgenb 
einmal  gelebt  I^at,  fo  auch  bie  tote  5orm.  Das  (Serebe  r>on 
ber  leeren  bebeutungslofen  5orm  im  5inne  ber  urfprünglichen 
Ceer^eit  unb  Sebeutungslofigfeit  berfelben  fann  nur  aus  bem 
ZHunbe  von  £euten  flammen,  roelche  über  bie  2lrt,  ttne  fach 
bie  menfchlichen  Dinge  in  ber  IDelt  machen,  nie  nachgebaut 
haben,  fonft  toürben  fie  roiffen,  ba§  ber  gufaH  nichts,  ber 
groecf  alles  gemacht  t^at  Der  groecf  mag  immerhin  ein 
feltfamer,  r>on  unferem  heutigen  Stanbpunft  aus  völlig  un* 
begreif  lieber  fein,  aber  3U  leugnen,  baß  bie  ZHenfcfjrjeit  bei 
allem,  roas  fie  eingerichtet  hat,  fieff  burch  ttjn  hat  leiten  laffen, 
heigt  bem  ZHenfchen  eine  anbere  Xtatur  anbieten,  als  er 
in  ZDirflichfeit  l\at  Die  angebliche  Sebeutungslofigfeit  ber 
formen  ^at  feine  objeftive,  fonbem  eine  bloß  fubjeftive 
XDarjrrjeit,  fie  fteeft  nicht  in  ber  Sache  felber,  fonbern  lebig« 
lieh  in  ben  Köpfen  berer,  toelcfje  bie  Sebeutung  berfelben 
nicht  3U  ftnben  vermögen,  es  ift  bas  leichtfertige  [561]  Urteil 
besjenigen,  ber  alles,  roas  er  nicht  verfteht,  für  bebeutungslos 
erHärt.  Slllerbmgs  vermögen  tvir  ja  nicht  alles  3U  erflären, 
es  gibt  auf  allen  Gebieten  ber  <5efchtchte  Hätfel,  bie  unferer 
Cöfung  fpotten,  tveil  bie  (ßefchichte  uns  bie  Materialien, 
roelche  uns  ben  Sd^Iüffel  gemäßen  tvürben,  vorenthalten  t^at, 
unb  ein  römifcher  3urift  fühlt  fich  gebrungen,  bies  fogar  für 
bas  Hecht  ein3uräumen*),  aber  ber  Schlug,  ben  roir  batan 
3U  fnüpfen  liaben,  ift  nicht  ber,  baß  ber  «gufall  hier  fein  Spiel 


*)  Non  omnium,  quae  a  majoribus  constituta  sunt,  ratio  reddi  potest 
1.  20  de  leg.  (L  3). 


4^0        Kapitel  IX.   Die  fatale  Ittedjanif.   Das  Sittlidje* 

getrieben  Ijabe,  fonbern  berfelbe,  ben  ber  römifdje  3urifi 
mad?t,  ba§  bie  Un3ulänglidifeit  unferes  IDiff  ens  uns  per* 
I^tnbcrt,  ben  roafyren  (Srunb  3U  entbeefen. 

2luctj  bie  feltfamften  fjöflidjfeitsformen  —  unb  es  gibt 
beren  ja  ijöcftft  tDunberlicfye*)  —  Ijaben  bemnadj  [562]  bei 
ifyrer  erften  <£ntfiefyung  ifyren  guten  (ßrunb  unb  Sinn  gehabt, 
fonft  Ratten  fte  ftdj  gar  mettf  bilben  fönnen.  3m  Hedjte  fann 
aud?  ber  unfinnigfte  (Einfall  eines  eht3etnen,  ber  bie  nötige 
ZHacftf  befifet,  ifyt  als  <5efefe  vox$u\ ^reiben  unb  3U  ergingen, 
(5eltung  gewinnen,  bie  £aune  unb  ZDiQfür  bes  Defpoten  bie 
Horm  biftieren.  5ür  öic  Sitte  ift  bies  unmöglich,  fte  fann 
ftd?  nur  bilben  unb  23eftanb  gewinnen,  u>enn  ber  (Einfall  bes 
einseinen,  ber  ba3u  ben  2tnfto§  bot,  — -  unb  r>on  <£inf eitlen 
ein3elner  ift  jebe  Sitte  ausgegangen  —  bem  2)enfen  unb 
5ü^len  ber  übrigen  in  einer  IDeife  entfpradj,  ba§  fte  fein 
Beifpiel  als  nacfyafymungstDÜrbig  erfannten  unb  tatfäcfylid? 
befolgten»  Der  bloße  Umftanb,  baß  eine  Seite  ftcfj  bilbete, 
enthält  ben  23etr>eis  iljrer  Berechtigung,  tx>ie  beim  Kinbe  bas 
£eben  ben  ber  £eb  ensfäfyigf  eit«  Caufenbe  unb  aber  Caufenbe 


*)  So  3»  23*  ber  Hafengruß:  bas  23ereiben  ber  beiberfeitigen 
ZTafen,  eine  Segmßungsform,  bie  ftd?  bei  ben  t>erfdn' ebenen  trüben 
Pölten  ttnebertjolt  unb  3tt?ar  audj  bei  folgen,  bei  benen  jeber  (Sebanfe 
einer  fyiftorifdjen  33erüfymng  ausgeflogen  x%  3um  befien  23ett>eife,  ba§ 
bei  ifynen  allen  berfelben  (Srunb  tpirffam  getpefen  fem  mu§,  f*  Hicfyarb 
2lnbree  im  (Slobus,  23b.  3$  (1879)  &17JU  Die  (Ethnographen  erblicfeu 
ben  (Srunb  barin,  ba§  bas  23ereiben  ben  groeef  fyabe,  burdj  ben  (Semd? 
ettpas  von  bem  anbem  in  jtd?  auf3unefymen,  ein  fomattfdjer  2Iustaufd?, 
bei  bem  bie  förperlid^e  (Einigung  bas  Symbol  ber  feeh'f  dien  ab3ugeben 
l^atte»  XTtott  fönnte  ben  Porgang  rnelleidjt  audj  attbers  beuten;  ttämltd? 
nadj  2Irt  bes  ^eriedjens  ber  £junbe.  IPie  bie  Stimme  unb  bas  Süßere, 
fo  biente  audj  ber  (Semd?  bes  IITenfcfyen  bem  Haturm enf djen  als  Kernt* 
3eid?en,  er  berod?  ifyn,  um  ifyn  nadj  biefer  Seite  fennen  3u  lernen,  wofür 
burdj  ben  ftarfen  (Semd?  fd?on  geforgt  gemefen  fein  tuirb,  ber  Hafen* 
gm§  mürbe  bemnad?  3U  beftimmen  fein  als  bie  frage  ber  Hafer  roer 
btft  bu,  unb  une  befhtbeft  bu  bidj?  Der  (Semd?  bes  anbem  erteilte  bie 
2lnta>ort! 


^tftortfcfc/es  Derfjältnis  bes  äußeren  unb  inneren  Ittoments, 


müffen  mitwirfen,  um  jte  3U  bilben,  unb  bies  tun  jte  nur, 
wenn  jte  r>on  ber  21ngemeffenheit  über3eugt  fmb,  bis  bie 
fertig  geworbene  Sitte  bie  Kritif  einfchläfert  unb  mechanifch 
ohne  weiteres  ZTachbenfen  befolgt  wirb.  Itn3ählige  21nfäfee 
mögen  in  biefer  23e3iehung  unternommen  worben  fein,  ohne 
(Erfolg  3U  traben,  b.  i.  ohne  Nachfolge  3U  ftnben  —  £r»folg 
unb  ZIach'folge  fallen  überall,  tt>o  es  jtch  um  bie  <£inwir* 
fung  bes  Beifpieles  auf  anbere  ijanbelt,  3ufammen  —  bie 
Slafen  bes  fprubelnben  JDaffers  im  XDerbepro3e§  ber  (Sc* 
fchichte.  2tnbere  mögen  ein  sorübergehenbes  Safein  gewonnen 
traben,  um  rafch  wieber  untertauchen  —  bas  <£intagsleben 
ber  ZTTobe  —  anbere  [563]  enblich  es  bis  3ur  5itte,  b.  h*  ber 
Dauer^aftigfeit  bes  Seftanbes  gebracht  haben.  2luch  r>on 
i^nen  jtnb  bann  aber  wieber  manche  bem  JDechfel  ber  J)inge 
unb  bem  Hmfchwunge  ber  2lnfchauung  erlegen  —  ber  t>er* 
gängliche  Ceti  ber  Sitte,  welcher  ber  <§eit  angehört  unb  mit 
ber  <§eit  felber  fein  £nbe  ftnbet.  3h™  fleHt  bie  (Sefchichte 
bei  allen  Kulturpölfern  noch  einen  anbexn  gegenüber:  ben 
bauernben  unwanbelbaren  Bejianbteil  ber  Sitte,  über  ben 
bie  <§eit  feine  ZHacht  ha^  t*>*tf  cr  roit  ifjr  nichts  gemein  hat, 
fonbern  jenen  abfoluten  Kern  in  ftch  fehlet,  ben  wir  früher 
als  naturalis  ratio  bezeichnet  haben:  bie  erfchloffene  ^bee  ber 
Sache  felber,  bie  oon  einem  Dolfe  nur  3U  irgenbeiner  §eit 
erfannt  3U  fein  braucht,  um  ihm  nie  wieber  abiianben  3U 
fommen,  ber  im  5euer  ber  (Sefchichte  gefchmiebete,  gehämmerte 
unb  oon  feinen  Schladen  befreite  Stahl.  <£r  bilbet  bas  (Se* 
meingut  aller  Kulturpölfer,  ben  eifernen  *8eftanb,  ber  ftch 
unter  allen  Ejtmmelsftrichen  unb  3U  allen  Reiten  gleich  bleibt. 
3ch  werbe  an  fpäterer  Stelle  (ZTr.  \6)  (Selegenheit  liaben, 
an  ben  fjöflichfeitsformen  ber  griechifchen  Ejelben  bes  ^omer 
einen  Seleg  bafür  bei3ubringen. 

IDelcher  2lrt  nun  auch  immerhin  bie  fjöflichfeitsformen  fein 
mögen,  benen  wir  bei  irgenbeinem  X?olf  unb  3U  irgenbeiner 


W2 


Kapitel  IX.  Die  feciale  UTedjcmif*  Das  Sittliche* 


«geit  begegnen,  feine  einige  r>erbanft  bem  gufall  tfyr  Däfern, 
jebe  txmßte,  als  fie  auftrat,  tr>as  fte  tooHte,  toenn  fie  es  aucb 
fynterljer  pergeffen  Ijat,  ber  (Seift,  ber  (Sebanfe  I?at  fie  alle 
gefdjaffen.  Der  (Seift  —  [564]  bas  txnll  fagen  in  be3ug  auf 
ben  3n^altf  fte  in  fiel?  f  erließen:  bie  beiben  (Sebanfen 
ber  2td?tung  unb  bes  tDoIjfoolIens;  auf  jte  laffen  fid?  fämt* 
licfye  I}öflid}feitsformen  surücffüfyren,  tr>ot>on  idj  unten  bei  ber 
Überfielt  berfelben  ben  23ett>eis  erbringen  werbe.  Der  (Seift 
—  bas  tt>iH  fagen  in  be3ug  auf  bie  $ovm  ber  Silbung:  bas 
Denfen,  5ü^len,  €mpfinben  von  un3<äfyligen  3n^^uewi  *xn 
Prozeß  sergleidjbar  bem  gafoanifcfyen  ZTieberfcfylage,  fotsoBjl 
was  bie  Unmerflic^feit  feines  Vorganges  anbetrifft,  bei  bem 
2ltom  fiel)  3U  Jttom  gefeilt,  als  bas  fdjließlicfye  probuft:  bie 
Creue  bes  2Ibbrucfs  bes  nad^ubilbenben  (Segenftanbes. 

2.  praftifdjes  öerfyältnis  bes  äußeren  311m 
inneren  ZHoment. 

(Silt  basfelbe,  tx>as  von  ber  werbenben,  aud]  t>on  ber 
geworbenen  5orm,  b.  bilbet  bas  Däfern  ber  (Sefmnung 
wie  bie  Dorausfe&ung  ifyrer  fyftorifdjen  23ilbung  fo  aud?  bie 
i^rer  praftifdjen  2lnwenbung?  (Es  ift  bie  5rage  von  ber 
Bebeutung  ber  von  ber  (Sattung  gefdjaffenen  5orm  für  bas 
3nbit>ibuum.  IDeldje  (Seltung  fann  fie  für  basfelbe  bean» 
[prüfen? 

(Sar  feine,  lautet  bie  Antwort.  Die  $ovm  fyat  ben  <§wecF 
bie  (Sefinnung  3um  2lusbrucf  3U  bringen.  (£ntweber  ift  bie 
felbe  Iebenbig  im  3n^iü^uum  vovlianben,  bann  fcfyöpft  bas 
felbe  aus  berfelben  Quelle,  aus  ber  bie  (Sattung  bie  5orm 
entnommen  tjat,  bas  3nbit>ibuum  [565]  ift  ftd)  felber  genug 
es  I>at  bie  Seifylfe  ber  (Sattung  nidjt  nötig,  ober  aber  es 
fefylt  ifyn  bie  (Sefinnung,  bann  würbe  bie  33eobad]tung  ber 
äußeren  5orm  feinerfeits  eine  innere  Unwafyrljeit  enthalten, 


pra!tif  cfyes  Pert^ältnts  bes  äußeren  unb  inneren  HToments»  ^^3 

es  nmrbe  bamit  eine  (Befinnung  funbgeben,  bie  ihm  in  IDirf* 
lichfeit  abgebt. 

Was  ift  barauf  3U  erroibem?  £a(fen  roir  bie  (5attung 
felber  bie  Elntoort  erteilen»  JTtagfi  bu  aus  berfelben  (Quelle 
fchöpfen  tme  ich,  ruft  fte  bem  3n^^^uum  5**,  bu  fchöpfeft 
feit  l|eute,  ich  feit  3ai|rtaufenben;  was  bu  gefchöpft  h<*ft 
©erhält  fich  3U  bem  jenigen,  was  ich  3uf  ammengebracht,  tr>ie 
ein  IDaffertropfen  3um  Strom  —  eigne  bir  ben  reichen  Schat$ 
ber  Erfahrungen  an,  über  ben  ich  gebiete,  inbem  bu  bei  mir 
in  bie  Schule  gehf** 

Die  23ebeutung  ber  ^öflichfettsformen  in  biefem  Sinne 
wäre  bie  einer  burch  bie  Erfahrung  erprobten  Anleitung,  unb 
je  mehr  fich  bas  3nbioibuum  tsirflich  t>on  ber  entfpredjenben 
<5eftnnung  befeelt  fühlt,  um  fo  mehr  tt>irb  es  fich  bie[elbe  3U« 
nufee  machen,  es  roiirbe  fich  felber  unberfprechen,  roenn  es 
fte  serfchmähte.  Das  Ceben  bilbet  bie  Schule  ber  fjöflichfett. 
Wie  überall,  fo  ift  auch  l\iev  ber  gefchulte  ZHann  bem  noch 
fo  begabten  £Taturaliften  überlegen.  Die  Kenntnis  unb  t>oH* 
enbete  Aneignung  ber  £[öflichfeitsformen,  wie  bas  Ceben  fie 
gewährt,  fann  basjenige,  u>as  bie  Hatur  bem  3n^t)ibuum 
vorenthalten  fyat:  bie  innere  tsohlroollenbe  (ßefinnung  erfeften, 
lefetere  nie  jene. 

<£ine  bloße  Einleitung  fann  man  befolgen  unb  serfchmähen, 
[566]  gan3  rx>ie  man  £uft  ^at,  ihre  Befolgung  ift  lebiglid? 
fafultatio.  Die  ber  fjöflichfeitsformen  bagegen  ift  obligat, 
bas  fyeißt:  fte  haben  nicht  bie  Sebeutung  einer  bloßen  Ein- 
leitung, fonbern  eines  Kanons,  eines  t>on  ber  Sitte  auf  ge- 
seilten fategorifcheu  ^mpetai'ws.  Die  (ßefellfchaft  fann  bie 
äußere  ©rbnung,  bie  fie  auf  biefem  (ßebiete  bes  Gebens  nötig 
3u  ha^^n  glaubt,  nicht  auf  ben  guten  IDitten  bes  Subjefts, 
ben  Zufall  ber  inbioibuellen  (Seftnnung  ftellen;  foll  biefelbe 
beftehen,  fo  muß  felbft  basjenige  3"^ü^uum/  barau 
fehlt,   fich  wenigftens  äußerlich  ber  ©rbnung  fügen,  gan3 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCedjanif.  Das  Stttltdje* 


fo  rote  beim  Hecht,  Damit  ift  bas  innere  Htoment  ber  (Se* 
finnung  als  unerläßliche  Dorausfefcung  ber  J}öflichfeit  elimi* 
niert,  ber  gan3e  Hachbrucf  ift  txne  beim  Hecht  auf  baß  äußere 
ZIToment  getpäl3t.  Hicht  als  ob  nicht  bie  Vereinigung  beiber 
IHomente  bas  £}öd]fte  unb  IDünfchenstperte  fei,  unb  als  ob 
nicht  bie  <£r3iehung  barauf  gerietet  fein  müßte,  fte  3U  er« 
3ielen,  aber  bas  ZDünfcfyensroerte  ifi  nicht  jiets  bas  (Erreich* 
bare.  5o  perhält  es  fich  beim  Hecht,  fo  auch  kei  ber  fjöf* 
lichfeit,  beibe  begnügen  ftch  mit  einer  2Ibfchlags3ahlung  unb 
tpeifen  bas  innere  ZHoment  ber  ZHoral  3U,  nicht  als  etwas 
für  fte  felber  IDertlofes,  (gleichgültiges,  fonbern  als  etwas, 
was  fte  mit  ihren  HTitteln  nicht  3U  er3H>ingen  permögen. 

So  geftaltet  fich  mithin  bas  praftifdje  Verhältnis  ber  beiben 
ZtTomente  gän3Üch  anbers  als  bas  fyftorifche.  Der  (Seifi,  ber 
bie  5orm  gefchaffen,  3te£^t  ftch,  nachbem  er  [567]  fein  H?erf 
pollbracht,  von  ity  3urücf,  bie  5orm  getpinnt  ein  pon  ihm  un< 
abhängiges,  felbftänbiges  Dafein  —  bie  abgeftreifte  Schlangen» 
haut  bes  (Seifles*  Der  (ßeifi  fann  im  ein3elnen  $aüe  fte 
befeelen,  aber  er  brauet  es  nicht,  bie  Sebeutung  unb  ber 
Xüert  ber  5orm  ift  bapon  unabhängig,  bie  Sitte  befchränft 
ihre  5orberung  lebiglich  auf  bie  Beobachtung  ber  äußeren 
5orm.  Das  JDefen  ber  £}öflichfeit  im  Sinne  ber  Sitte  in  ein 
£Dort  3ufammengef aßt  ifi  bemnach  basfelbe  tpie  bas  bes  Hechts: 
äußerlichfeit.  Darauf  beruht  ihr  Unterfdjieb  pon  ber 
ZHoral,  bereu  IDefen  bie  3nnerlichf  eit  ift.  Den  <5eboten 
beiber  ift  entfprochen,  tpenn  fte  äußerlich  befolgt  »erben,  bie 
innere  (ßefinmutg  unb  bas  ZHotip  fommen  für  ben  ZTfaßflab, 
nach  bem  beibe  bie  ^anblung  beurteilen,  nicht  in  Betracht. 
5ür  bie  moralifche  IDürbigung  einer  f^anblung  gilt  bas  <£nt< 
gegengefe&te. 

Die  2lußerlichfeit  ifi  jeboch  bei  ber  £(öflichfeit  eine  anbere 
als  beim  Hecht,  unb  biefer  punft  ifi  für  bie  richtige  <£rfafjung 
ihres  XDefens  pon  maßgebenber  Bebeutung. 


äußeres  XTComent  bei  ber  ^ö'fltdjfeii 


Der  gmed,  ben  bas  Bedjt  bei  ben  von  i^m  oorgefdjrie- 
benen  £janblungen  im  21uge  Jjat,  ift  lebiglidj  auf  ben  äußeren 
<£rfolg  gerichtet,  bie  fjanblung  Ijat  babei  nur  bie  23ebentung 
bes  ZTIittels  3um  groecf.  Daraus  ergibt  ftdj,  baß  es  ber 
Qanblung  nidjt  bebarf,  roenn  ber  gtoecf  bereits  auf  artbere 
IDeife  erreicht  ift*),  unb  baß  bie  2lrt,  [568]  tote  bie  $anb< 
lung  vorgenommen  toirb,  infofern  nur  ber  be3toecfte  <£rfolg 
barunter  nidjt  leibet,  poHfommen  gleichgültig  xft.  Zfiag  ber 
Sdjulbner  freitoiHig  ober  t>om  Bidtfer  ge3toungen  3al)len,  mag 
er  in  beiben  fällen  nod?  fo  fefyr  fein  IDiberftreben  an  ben 
Sag  legen,  bem  Bedjt  ift  <5enüge  geleitet,  roenn  nur  ber 
äußere  (Erfolg  befdjafft  toirb.  23ei  ben  Elften  bes  prioat* 
rechts  befielt  biefer  (Erfolg  barin,  baß  baburdj  bas  3ntereffe 
irgenbeiner  perfon,  fei  es  ber  Ijanbelnben  ober  einer  britten, 
geförbert  toirb,  ifyre &wed beftimmung  liegt  offen  t>or21ugen**), 
fie  jtnb  als  foldje  ofyne  toetteren  Kommentar  ooHfommen  oer* 
ftänblid?,  unb  bies  Ijat  barin  feinen  (5runb,  baß  fte  nidjt  bloß 
ettoas  bebeuten***),  fonbern  ettoas  finb. 


*)  Betfptele:  Der  2lft  ber  (Crabition,  beffen  es  311m  gtoecfe  ber 
(Etgentumsübertragung  bebarf,  fällt  tymmeg,  roenn  ber  23efttj  in  ber 
perfon  bes  (Empfängers  bereits  oorijanben  ift,  ber  2lft  ber  ^afylung, 
roenn  ber  (Släubtger  auf  anbere  XPetfe  3um  (Selbe  gefommen  ift;  bas 
(Erforbemts  ber  (Eigentums  üb  ertragung  beim  Darletm  rotrb  erfe^t  burdj 
Konfumtion  bes  (Selbes  r»on  feiten  bes  Sdmlbners,  beim  Kaufe  burdj 
UfuFapion  ber  gefauften  Sacfye  oon  fetten  bes  Käufers* 

**)  Betfpielsroetfe  bie  (Erabttion,  (Dffupatton,  23eftellung  einer 
(Sruttbgeredjttgrett,  eines  pfanbrecfyts* 

***)  Don  bebeuten  fpred?en  rotr  ba,  roo  bas  Üußerlidje  nidjt  feinen 
Dafeins3roerf  in  ftdj  f elber  trägt,  fonbern  in  bem  ^nnexlid^tn,  bas  es 
3ur  <£rfdjeinung  bringen  foll,  unb  es  3U  feiuer  (Ermittlung  erft  bes 
Sdjluffes  oon  jenem  auf  biefes  bebarf:  bes  Deutens  (diuten,  diutan  von 
diot  DolF  =  r>olfsr>erftäubltd?  madjen),  (ErFIärens  (=  flar  madjen),  2Ius* 
legens  (=  bas  3nnere  fyerauslegen),  —  bas  Korrelat  3ur  23ebeutung 
bes  Dinges  ift  bas  Deuten  oon  fetten  bes  Subjefts.  Die  Derriicfung 
ber  (Sren3en  3toifcr/en  Sein  unb  bebeuten  be3eicfynet  einen  ber  größten 
21broege  bes  menfd?ltcr/en  Denfens;  ber  ftumpfe  Sinn  nimmt  bas  bloße 


^(5 


Kapitel  IX.   Die  feciale  .ITCedfanif.   Das  Sittliche. 


[569]  <5an3  anbers  bei  ben  2lften  ber  fjöflichfeit.  2tller* 
bings  gibt  es  auch  unter  ihnen  einige,  bei  benen  fchon  ber 
äußere  (Erfolg  als  folcher  barüber  2tusfunft  gibt,  roarum  fie 
vorgenommen  roerben,  bie  alfo  ebenfo  tr>ie  bie  2tfte  bes  Hechts 
etwas  jtnb,  nicht  bloß  etwas  bedeuten,  nämlich  biejenigen, 
bie  ich  oben  (5.  ^3^)  unter  bie  Kategorie  ber  Dienftfertig!eit 
3ufammengefa§t  fyahe,  ich  beiexdine  fie  als  bie  effektiven 
2lfte  ber  ^jöflidjfeit,  tr>eil  fie  bem  anberen  Ceile  effeftip  3um 
Ztufeen  gereichen*  2lber  bie  meiften  finb  anberer  2trt  Der 
(5ru§  bes  öegegnenben,  bie  Sxaqe  nach  feinem  öeftnben,  bie 
J^SfIid]feitspi|rafen  bes  Briefftils  gewähren  ihm  als  folchc 
nicht  ben  minbejkn  Porteil,  ihr  Jüert  für  ihn  beruht  lebig* 
lief?  barauf,  baß  jte  ihm  bie  wirkliche  ober  angebliche  <5e* 
ftnnung  bes  anbern  ausbrüefen»  Das  äußerliche  trägt  fyer 
mithin  nicht  feinen  <gtr>ecE  in  ftch  felber,  fonbern  es  fyat  nur 
bie  Seftimmung,  etwas  3^nerlid]es  funb3ugeben.  Sei  manchen 
berfelben  liegt  basjenige,  was  fie  bebeuten  fotlen,  offen  oor, 
fie  enthalten  ben  bireften  wörtlichen  2lusbrucf  ber  <5efmnung, 
fo  ber  2Iusbrucf  ber  {Teilnahme,  bie  Staqe  [570]  nach  bem 
Sefmben,  bie  guten  IDünfche,  bie  Derfidjeruugen  ber  2tchtung, 
(Ergebenheit  ufro.  (bie  verbalen  ?jöflich?eitsformen  f.  u.).  Bei 
anbern  bagegen  ift  biefe  Sebeutung  t>on  ber  Sitte  erft  pojttit) 
mit  ihnen  t>erbunben  roor ben,  es  finb  bies  bie  fonr> ent io< 

bebeuten  für  Sein,  er  Ijält  ftd?  an  bas  2Ju§erlidje,  als  ob  es  feiner  felbft 
toegen  ba  wäre,  ber  überrei3te  franffyafte  Sinn,  ber  bas  Perftänbnis 
für  bas  bloge  Sein  verloren  Ijat,  fud?t  umgefefyrt  hinter  bemfelben  erft 
nod?  nadj  einer  Bebeutung.  Die  Cätigfeit,  u?oburdj  bas  3nnevl\<bt 
t>erä'ufjerlid?t  trnrb,  be3eid?net  bie  Sprache  als  ausbrühen  (fjeransbrücf in), 
äußern  (=  äußerlidj  madjen),  bie  auf  bas  Sein  gerichtete  CättgFett  als 
fdjaffen,  IjerDorbringen»  VOev  beim  bloßen  Sein  nidjt  £?alt  machen  trill, 
fragt  nadj  bem  (Srunbe  ober  «gtoeefe  besfelben,  nad?  bem  erfteren,  wenn 
er  es  auf  bie  HottD  enbigfeit,  nadj  bem  legieren,  wenn  er  es  auf  bie 
Jreifyett  3urücffnfyrt,  niemals  aber  naefy  ber  Bebeututtg  besfelben;  wer 
ein  Sein  annimmt,  fpricfyt  ifjm  bamit  bas  bioge  'Bleuten  ab,  unb  u^cr 
letzteres  annimmt,  negiert  bamit  bas  Sein. 


Der  äußere  Schein  ber  (Sefmnung, 


nellen  formen  im  eigentlichen  Sinne,  b.  fy.  beren  Bebeutung 
lebiglicf^  auf  Konvention  beruht,  unb  bie  ebenfogut  bas  gerabe 
(Segenteil  bebenten  fönnten,  3.  23.  bas  Abnehmen  bes  fjutes 
beim  (grüßen,  was  ebensogut  IHtßacbtung  als  21d}tung  aus* 
brücfen  fönnte.  Das  äußere  «geidjen  ift  fyier  Symbol,  b.  fy.  es 
foE  etwas  verfünben,  ofyne  bies  an  ftdj  (bireft)  3U  tun.  2tHe 
fonsentionetlen  formen  im  angegebenen  Sinne  laffen  fid}  bafyer 
aud)  als  fymboltfdje  benennen,  man  muß  erft  bie  23ebeu* 
tung  bes  Symbols  erfahren,  um  iBjren  Sinn  31t  verftefyen. 

2lber  aucb  bei  ben  effektiven  2lfien  ber  Ejöflicfyfeit  iji  bas 
äußere  ZHoment  anbers  geftaltet  als  bei  benen  bes  Hedtfs. 
£efetere  erletben,  wie  oben  bemerft,  burdj  bie  Äußerung  ber 
Unlujl  ober  bes  XDiberftrebens,  mit  bem  fie  vorgenommen 
werben,  n\d\t  ben  minbeften  Eintrag,  ein  f}öflid?feitsaft  ba* 
gegen,  3U  welcher  ber  obigen  Kategorien  er  audj  gehöre, 
verliert  baburd?  jebe  Bebeutung,  er  fann  unter  Umftänben 
in  fein  gerabes  (ßegenteil  umfdjlagen:  in  eine  (Srobfyeit.  Das 
Becfyt  perträgt  nicfyt  bloß  bie  2lbwefenfyeit,  fonbern  aud}  ben 
XDiberfprudj  ber  (ßefinnung,  bie  fjöfltdjfeit  bloß  erftere,  ber 
Sdjein  berfelben  muß  ftets  gewahrt  bleiben,  alles,  was  [571] 
ifyn  wiberfpricfyt  unb  bie  3ßufi°^  bex  vorfyanbenen  (ßefinnung 
3erftört,  entwertet  ben  2lft.  Zl\d)t  bloß  alfo  bie  unverhohlene 
XDibertoilligfeit,  mit  ber  er  vorgenommen  wirb,  fonbern  auch 
bie  in  ber  2trt  feiner  Dornahme  fich  ausprägenbe  (Bleich* 
gültigfeit,  Ceilnafymlofigfeit,  Cauheit,  XTachläffigfeit  fte^en 
mit  bem  H)efen  ber  £jöflid]feit  in  IDiberfpruch.  Kur3um:  bie 
2tfte  ber  fjöfltcbfeit  als  foldje  genügen  nicht,  fonbern  fie  follen 
ben  Stempel  bes  (Sefltff  entlichen  an  fich  tragen,  ben  Schein 
erregen,  als  ob  es  bem  Eianbelnben  wirflich  um  fie  3U  tun 
wäre*). 

*)  Vdix  btefen  (Seftcfytspunft  einer  Prüfung  unterwerfen  unll,  bem 
tptrb  es  an  Belegen  nta?t  fehlen.  3^  mad?e  betfptelstDetfe  auf  folgenbe 
aufmerffanu   IHan  foll  jemanbem  ntdjt  „über  ben  Daumen",  b.  fy*  mit 


4^8         Kapitel  IX.   Die  feciale  ITCed?antf*   Das  Sittliche» 

2TIit  ber  im  bisherigen  nachgetoiefenen  Äußerlichkeit  ber 
I^öflichfeit  ift  ein  neues  ZUoment  gewonnen  für  bie  Unter« 
fcheibung  von  2Inftanb  unb  ^öflichfeit  Süv  ben  2Inftanb  i^at 
bie  Äu&erlichfeit,  bie  fyier  in  einem  rein  negativen  Verhalten: 
bem  bloßen  Unterlaffen  bes  2tnftögigen  [572]  befteht,  gan3 
biefelbe  23ebeutung  wie  für  bas  Hecht,  b.  h*  pe  trägt  ihren 
gweef  in  ftcf?  f elber,  währenb  fie  bei  ber  Höflichkeit  bie  23e< 
ftimmung  I^at,  2lusbrucfsform  ber  (Bepnnung  3U  fein.  £>er 
Jtnftanb  fteht  baher  auf  einer  unb  berfelben  Cinie  mit  bem 
Hecht.  3^nen  beiben  pellt  pch  bie  2TforaI  gegenüber  mit  ber 
5orberung  ber  inneren  (ßejtnnung,  aus  ber  pch,  wenn  pe 
Dor^anben  ift,  bie  äußere  Bewährung  berfelben  burch  bie 
Cat  als  Konfequen3  ihrer  felber  notwenbig  ergibt.  5ür  pe 
hat  alfo  bie  Äußerlichkeit  bie  Bebeutung  ber  probe  ober  ber 
löirflichfeit  ber  (Bepnnung,  3n  ber  HTttte  3wifchen  ihnen 
fleht  bie  fjöflichfeit  mit  bem  (Sebote  bes  Scheins  ber  <Se< 
finnung,  li<xlb  nach  ber  einen,  l\alb  nach  ber  anbern  Seite 
blicfenb:  nach  feiten  ber  ZHoral,  inbem  pe  bas  ZHoment  ber 
(Sepnnung  in  Besug  nimmt,  nach  feiten  bes  Hechts  unb  bes 
Jlnftanbes,  inbem  pe  es  peräußerlicht,  —  weniger  als  jene,  ift 
pe  mehr  als  biefe.  Jüenn  ich  bie  3mperatit>e,  welche  pch  alle 
tner  an  ben  2T£enfchen  richten,  burch  je  ein  IDort  wiebergeben 


abgewehrter  innerer  I^aub  ein  (Sias  IDein  emfd?en?en.  (Eine  trmnber* 
liehe  Dorfcr/riftl  XPorauf  beruht  pe?  3<h  bin  ber  2mftd?t  begegnet, 
baß  babei  Aberglaube  im  Spiele  fei*  Der  tpafyre  (Srunb  ip  bie  bariu 
fidj  funb  gebenbe  Bequemlichkeit,  Hacblä'ffigfeti*  Ulan  xviü  bem  anbem 
einen  Dienp  enr>etfen,  aber  nimmt  pch  nicht  einmal  bie  ITIühe,  bie  f>anb 
aus  ber  bisherigen  £age  3U  bringen.  2luf  einer  £inie  t>amit  ftel]t  bas 
^infebteben  ber  Schüffei  bei  (Eifche  \tatt  bes  fjittretchens  berfelben,  bas 
Sprechen  ober  bas  hinreichen  einer  Sache  über  bie  Schulter,  mit  abge» 
tr>anbtem  (Seftcht.  Die  2Se3tehung  ber  einen  perfon  3ur  anbern  foll  auch 
in  ber  körperlichen  Haltung  ihren  2Iusbru<f  pnben,  man  foH  ftd?  bem 
anbern  3uFehren:  ben  Körper,  bas  2Iuge,  bie  ^anb;  bie  abgefeierte 
Haltung  bes  Körpers  gilt  ber  Sitte  als  Reichen  ber  abgefegten  <Se> 
finnung,  bie  Hinneigung  besfelben  als  Reichen  ber  <§u*neigung. 


Das  Sdjeimpefen  bei  ber  ^öflid^Feii 


foll,  fo  lautet  ber  bes  Hechts:  tue  unb  unterlaffe,  ber  bes 
llnftanbes:  unterlaffe,  ber  ber  fjöflicfyfett:  fcheine,  ber 
ber  ZHoral:  fei»  <£s  ift  bie  Stufenleiter,  welche  ber  ftttlidje 
(Seift  3urücflegt  in  feiner  (Erhebung  r>om  äußerlichen  3um 
3nnerlichen,  bie  fjöflichfeit  be$eid\mt  bie  Stufe,  auf  ber  er 
mit  bem  einen  5uß  auf  ber  tieferen,  mit  bem  anbern  auf  ber 
höheren  fielet,  auf  ber  er  bas  innerliche  Uloment  bereits  [573] 
in  Sicht  I^at,  aber  fich  von  bem  äußerlichen  noch  nicht  los* 
gemacht  ha^ 

Diefe  Zllittelftellung  fcheint  Halbheit  unb  3war  Halbheit 
ber  fchümmften  Sorte :  Unwahrheit  3u  fein»  Die  brei  anbem 
3mperatit>e  erf orbern  bie  IDirflichfeit,  3wei  bie  bes  rein 
äußerlichen,  ber  britte  bie  ber  (ßeftnnung,  bie  ^öflichfeit  per* 
langt  ben  Schein,  fte  mutet  bem  3nbit>ibuum  3U,  eine  <Se* 
finnung  3U  äugern,  bie  ihm  in  IDirflichfeit  fremb  ift  —  ein 
3mperatir>  alfo,  beffen  wahrer  Kern  fich  als  fchnöbe  VCixfy 
achtung  eines  ber  haften  fittlichen  (Sebote:  ber  IPahrheit 
entpuppt  —  gerietet  auf  innere  Unwahrheit,  £üge,  Heuchelei, 
Derfiellung. 

3ch  tiefte  bamit  eine  21uffaffung  ber  ^öflichfeit  wieber* 
gegeben,  ber  man  im  £eben  nicht  feiten  begegnet  3n 
IDiffenfchaft  bürfte  fte  faum  3U  IDorte  gefommen  fein,  t>iel* 
leicht  nur  barum,  weil  biefelbe,  inbem  fie  in  ber  <£thtf  ftets 
bas  ZlToment  ber  inneren  (ßeftnnung  betonte,  weites  ber 
fjöflichfeit,  wie  fte  tatfächlich  geftaltet  ift,  prin3ipieH  fremb  ift 
unb  pon  ihr  ber  UToral  überwiefen  wirb,  fich  bie  €rfenntnis 
bes  wahren  IDefens  ber  Ejöflichfeit  felber  verlegte,  ^ätte 
fte  biefelbe  mit  mir  in  ber  (Seftalt  erfaßt,  wie  fie  einmal  ift, 
unb  nicht  wie  fte  ihrer  5orberung  3ufolge  fein  foll,  fo  würbe 
fie  3U  bemfelben  Hefultate  gefommen  fein  wie  ich,  baß  bas 
XDefen  ber  Ejöflichfeit  als  Scheinwefen  3U  beftimmen  ift,  unb 
fie  hätte  i>ann  auch  ber  Nötigung  nicht  ausweichen  fönnen, 

d.  3 bering,  Der  gtoeef  im  Hedjt,  II.  29 


^50        Kapitel  IX.   Die  feciale  IHec^am?*  Das  Sittliche. 


[574]  über  bie  jtttlidje  guläfftgfeit  besfelben  Hebe  unb  21nt* 
tport  3U  ftefyen. 

Die  iDafy^eitsliebe  alfo  foQ  an  ber  f(öfiidtfeit  ftttlidjen 
2tnjio§  nehmen»  <£s  ift  bie  Berufung  bes  tpatjrljeitsliebenben 
ZTCannes  auf  feine  <£Ijrlidifeit,  Bieberfeit,  <5erabBjett  —  er  3eigt 
jlets  offen  unb  efyrlidt,  «>ie  er  benft,  er  legt  feine  ZHasfe  per, 
bie  bas  tpafyre  (Seficfyt  perfyüllt 

Unb  bod?  legt  biefer  eljrlidie  UTann,  inbem  er  ftdj  mit 
feiner  Xöafyrljeitsliebe  brüftet,  felber  eine  UTasfe  por,  benn 
bie  23ieberfeit,  <£I}rlidjfeit,  ©ffenljeit,  bie  er  3ur  Sd]au  trägt, 
ift  in  XDirflidjfeit  nidits  als  bie  Unart,  bie  ftdj  ben  unbe- 
quemen 5orberungen  ber  <5efellfd}aft  nidjt  fügen  mW,  ber 
Crot$  unb  bas  pochen  auf  bie  eigene  3ttbtpibualttät,  bie  jtd> 
nid}t  anbers  3U  geben  brause,  als  fte  nun  einmal  fei,  nid? 
feiten  perfteeft  ftdj  hinter  biefer  UTasfe  ber  Offenheit,  Sieber* 
feit  fogar  bas  fyämifcfje  Belagen,  anbern  tpelje  3U  tun  — 
bie  Bosheit  im  (Setoanbe  ber  IDafyrljeitsliebe.  €s  ij!  ber 
Derfudj  ber  fittlid]en  Hedjtfertigung  ber  betpujjten  unb  ge* 
tpollten  <5robfjeit,  bie  2lpoIogie  bes  Oimmels  unb  Riegels, 
—  fte  fpielt  bie  ZDafyrf^eitsliebe  aus  unb  meint  bie  (Brobljeit 
2)er  Oorrourf  ber  fjeudjelei,  ben  fte  ber  £}öflid}feit  madjt, 
fällt  auf  fie  felber  in  perftärftem  TXiafae  3urücf. 

Um  uns  in  biefem  punfte  PÖHige  Klarheit  3U  perfdjaffen, 
tpirb  es  geboten  fein,  bie  tpafyre  23etr>anbtnis ,  [575]  bie  es 
mit  bem  Schein  auf  fiel)  I>at,  fdjarf  ins  2luge  3U  f äffen. 

Unter  Schein  perftefyt  bie  Sprache  bas  Dorljanbenfetu 
ber  äußeren  HTerfmale  eines  3nnerlid?en,  bas  in  JDirflidjfeit 
nidit  porljanben  ifi  Hüft  ber  Schein  im  Subjefte  ben  (Slaube 
an  bas  Dafein  bes  letzteren  fyerpor,  fo  be3eid?net  fte  biefc 
irrigen  (Blauben  als  ۊufd]ung.  2)er  erfte  Jlusbrucf  be* 
3eicfynet  bas  Phänomen  pon  ber  objeftipen,  ber  3U>cite  pon 
ber  fubjeftipen  Seite. 

Sdjein  ipie  £äufd?ung  fönnen  burd)  bie  5ad)e  ofyic  gutun 


Die  litten  bes  Scherns* 


bes  XUenfchen  hervorgerufen  u>erbem  Sie  formen  aber  auch 
in  Jlbficht  ihren  (5runb  haben,  welche  ihrerseits  nneberum 
doppelter  2lrt  fein,  nämlich  entoeber  barauf  gerichtet  fein 
fann,  ben  Schein  für  bloßen  Schein,  ober  für  IDah^heit 
ausgeben  *).  Der  erfteren  2lrf  ift  bie  Cäufchung  bes  Schau* 
fpielers.  5eine  2lbficht  ift  barauf  gerichtet,  uns  3U  täufchen, 
unb  je  meB|r  er  es  serfteht,  befto  mehr  entf priest  er  feiner 
Aufgabe,  benn  lefetere  befteht  gerabe  barin,  baß  er  uns  ein 
möglichft  getreues  23ilb  einer  IDirlichfett  porgaufeln  foH.  2lber 
in  biefem  [576]  5aHe  tpiffen  roir,  baß  tt>ir  getäufcht  roerben, 
unb  wxt  tüoßen  es»  <2ine  folche  getoünfehte  unb  beabjtchtigte 
Cäufchung  nennt  bie  Sprache  3Hafion»  Sie  charafterifiert 
biefelbe  bamit  als  bie  Cäufchung  bes  Spiels  QHufion  von 
ludere  =  fpielen),  bas  h^r  roie  überall  bem  gioecfe  bient, 
ben  UTenfchen  3a  erfreuen»  Sie  bebient  per]  bes  2tusbrucfs 
übrigens  nid?t  bloß  in  biefem  5aHe,  fonbern  aud)  ba,  too 
jemanb  f elber  fich  einen  täufchenben  Schein  t>orgaufelt,  um 
eine  unbequeme  H?irflichfeit  nicht  wahrzunehmen  („fich  3Hu^ 
fionen  machen,  fleh  in  3Uufionen  toiegen").  (£r  übernimmt 
hier  felber  bie  Holle  bes  Schaufpielers ,  fpielt  mit  fich  felber 
Komöbie,  mit  ber  IDahrheit  Perftecfen,  Don  jenem  5<*He 
unterfcheibet  fich  biefer  baburch,  baß  bort  ber  Schein  nur 
Schein,  l\iex  bagegen  lüahrheit  fein  foH.  J^ier  fällt  er  mithin 
unter  ben  (ßefkhtspunft  ber  £üge,  tx>as  bie  Spraye  richtig 
erfannt  hat,  inbem  fie  r>on  einem  „fich  felbft  belügen''  fpricht 


*)  3n  Zlntoenbung  auf  ein  Subjeft,  bas  ftd?  ben  Schein  gibt  etwas 
3U  fein,  n>as  es  nidjt  ift,  be3eidmet  bie  Sprache  bies  in  beiben  fällen 
als  fpielen,  fo  fpielt  ber  Sdjaufpieler  ben  gelben,  fo  fpielt  jemanb  ben 
(Sroßmüfigen,  (2l}rlia>n,  frommen.  (Einen  anbem  ilusbrucf  für  bie 
^ercorrufung  bes  Steins  entnimmt  fte  ber  Dorßellung  bes  Stellens, 
b»  tj.  bes  abfld^tltchett  Derä'nberns  ber  natürlidjeu  £age  bes  (Segen* 
^tatibes  — ,  in  be3ug  auf  bie  perfon;  fid?  seriellen,  fia?  gellen  als  ob, 
etmas  norftellen,  etroas  barftellen,  in  besug  auf  bie  Sadje;  entftellen 
(bie  ttPaftrijeit  entftellen)» 

29* 


^52         Kapitel  IX.   Die  foßtale  IHedjant?*   Das  Sittliche- 

Damit  tjaben  roir  bereits  ben  Übergang  pon  bem  Scheine, 
5er  nichts  als  Schein  fein  will,  3U  bemjenigen,  ber  ftdj  für 
XDafyrfyeit  ausgibt  2Iuf  biefen  besiegen  ftdj  bie  2tusbrücfe: 
Unrpafyrfyeit,  3**tam,  £ug  unb  Crug,  Betrug,  lügen,  betrügen, 
fyntergeljen ;  auf  jenen  finben  biefelben  fämtlidj  feine  2In* 
roenbung.  Untpafyrijeit  betont  bie  mangelnbe  objeftipe,  3rrtum 
bie  in  ber  PorfteHung  bes  <Setciufd)ten  mangelnbe  fubjeftipe 
Übereinftimmung  3tpifcfyen  Schein  unb  ZDirflicfyfeit,  bie  übrigen 
bas  ZUoment  ber  2lbfidjt  in  ber  perfon  bes  Cäufdjenben. 

[577]  21us  ber  angegebenen  Unter f Reibung  ergibt  fid?  bie 
Derfdjiebenfyeit  bes  jttttidjen  Cfyarafters  ber  beiben  Birten  ber 
Oufdjung,  Die  erfte  ift  ftttltct^  poüfommen  inbifferent,  jte 
enthält  feinen  Derftoß  gegen  bas  (Sefefe  ber  IPafyrfyeit,  benn 
fie  gibt  fid?  gar  nidjt  für  IDafyrljeit  aus,  unb  nur  ber  Un* 
Derftanb  fann  bies  <5efe&  auf  fte  3ur  2lnrr>enbung  bringen, 
unb  tpofyl  gar,  tpie  es  von  feiten  einer  extremen  religiöfen 
2tn(td|t  gefcfyefyen  tfi,  bas  Sdjaufpiel  als  Ceufelstperf  per* 
bammen.  Der  fatfyoiifdjen  Kirche,  bie  niemals  2Jnftanb  ge* 
nommen  I^at,  felber  bas  Scfyaufpiel  für  religiöfe  <§tr>ecfe  5u 
pertpenben,  ift  meines  XDiffens  biefe  Derirrung  erfpart  ge« 
blieben,  ber  Bufyn,  in  bem  Scfyaufpiel  ben  Ceufel  getoittert 
unb  ber  fopflofen  Bigotterie  basfelbe  als  Ceufelsroerf  benun« 
3iert  3u  Ijaben,  gebührt  ben  geloten  ber  ftarren,  oben  prote« 
ftantifdjen  (Drtf|obo£ie. 

Xlnv  bie  3tx>eite  21rt  ber  Cäufdjung  jiefyt  mit  bem  <5efefce 
ber  XDafyrtjeif  in  IDiberfprud).  Das  <5efefc  ber  Walitfyit  ift 
ber  2Tforal  unb  bem  Bedjte  gemeinfam,  aber  beibe  »eichen 
in  be3ug  auf  ben  Umfang,  in  bem  fte  es  aufhellen,  erfyeblid? 
poneinanber  ab,  Das  Bedjt  bemißt  benfelben  nadj  bem  <ße* 
ftdjtspunfte  bes  burd]  bie  Cäufdjung  bem  anbern  3ugefügten 
permögensredjtlidjen  Scfyabens  unb  ber  tecfytifdjeilusbrucf  bafür 
ift  Betrug*).  [578]  Der  ZHoral  ift  biefe  Befd?ränfung  fremb, 

*)  für  ben  Betrug  bes  prtoatredjts,  ben  römifdjen  dolus  f,  L  ;  pr. 


(Efjrlidjfeit,  XDafjrljaftigfetk 


^53 


fte  [teilt  bas  (ßefefc  gan3  allgemein  auf,  aud}  ber  Cügner, 
Ejeudtfer,  (SIeisner,  bie  burd)  ifyre  <£ntftellung  ber  XDafyrljeit 
einem  anbern  nidjt  ben  minbeften  Stäben  anftiften,  t>erfünbigen 
jtd)  gegen  ifyre  (ßebote,  tpäfyrenb  bas  Hecfjt  mit  ifynen  gar 
nichts  311  fcfyaffen  fyat  unb  lebiglid?  ben  Betrüger  t>or  (ein 
5orum  forbert. 

Das  Perfyalten  bes  Subjefts  3a  bem  tüafyrfyeitsgebot  bes 
Hecfyts,  je  nadjbem  es  in  ber  Befolgung  ober  Übertretung 
besfelben  befielt,  djarafterijtere  id?  als  €fyrlidjfeit  unb 
Betrug,  fein  V erhalten  3U  bem  ber  ZHoral  als  IDaljr« 
tjaftigfeit  unb  £üge.  Xtur  in  be3ug  auf  ben  Betrug  barf 
ftcfy  biefe  Begriffsbeßimmung  ber  Übereinjiimmung  mit  bem 
bisherigen  jurtfttfcä^cn  Sprachgebrauch  rühmen,  für  bas  bem« 
felben  gegenüberftefyenbe  Debatten  fe^lt  es  bemfelben  an 
einem  feftftefyenben  2Jusbrucf,  Die  römifdien  3^if^n  brücfen 
ben  (ßegenfafe  3um  dolus  mit  bona  fides  aus*),  aber  nidjt 
gan3  3utreffenb,  ba  letztere  me^r  in  jtd]  fließt  als  eine  bloße 
Negation  bes  dolus.  3^  glaube,  baß  im  Deutzen  ber  von 
mir  t>orgefd]Iagene  2tusbrucf  (g^rlid^feit  ber  Sache  am  nächften 
fommt,  I^ödiftens  fönnte  noch  Heblichfeit  in  Betracht  3U  3ieljen 
fein.  Das  tDort  3eichnet  uns  ben  ZHann,  ber  ber  „Hebe  gleicht" 
(rebe«liche),  b.  h*  ber  h<*nbelt,  toie  er  fpricht,  unb  fpricht,  tx>ie 
er  [579]  fyanbelt.  Bei  beiben  2tusbrüden  l\at  bie  Sprache 
bie  Betätigung  ber  (Sejtnnung  burd?  bas  fjanbeln  im  2tuge. 

§u  biefer  Be3iel|ung,  bie  ich  ber  €f^rlid]feit  für  bas  Hecht 
r>inbi3iere,  ftimmt  auch  bie  (Etymologie,  tselche  bie  (£I]rlid?feit 
fprachlich  als  einen  Ausläufer  ber  €l]re  hmbgibt,  bie,  u>ie 


de  dolo  ($.3):  damnosa,  für  ben  Betrug  bes  Krtmhtalrecfyts ,  ben 
römifcfyen  stellionatus ,  £♦  St  <5.  B*  §  263:  trer  ♦  ♦  ♦  ♦  bas  Vermögen 
eines  anbern  befcfyäbtgt 

*)  1.  68  pr.  de  cont.  emt.  ({8.  X)  .  .  bonam  fidem  .  .  ut  a  te  dolus 
malus  absit.  1.  \\  Dep.  (J6.  3).  £?eut3utage  gibt  man  bie  bona  fides 
burd?  „(Ereu  unb  (Stauben''  (f.  u»)  trieben 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Vdedianxh   Das  Sittliche* 

oben  nacfygettnefen,  ein  Segriff  bes  Hechts  ift,  fi^rlidjfeit  tjl 
die  Betätigung  ber  €fyre  auf  bem  (gebiete  bes  Derfefyrs,  bie 
<£t^re  in  Bidjtung  auf  Ejanbel  unb  lüanbeL  2>te  ausbrücf* 
lidje  Perpfänbung  ber  €fyre  für  bie  guperläfjtgfeit  bes  ge* 
gebenen  IDortes  ift  bas  fifyrentoort,  bas  Seitenjlücf  3um  €ibe, 
bei  bem  bie  religiöfe  (ßefmnung  als  €in[afe  gefefet  tsirb  — 
burdj  bie  ^infäöigfeit  feines  €tnfafees  erf ennt  bas  3nbit>i« 
buum  f elber  ftdj  bie  <£fjre  ober  bie  religiöfe  (ßejinnung  ab, 

€ine  fdjlagenbe  Bestätigung  für  ben  l>ier  angenommenen 
gufammenljang  3tx>ifdjen  (Efyrlidjfeit  unb  (£^re  geroäljrt  bas 
römifcfye  Hecfyt  mittels  ber  infamierenben  JDirfung  bes  dolus. 
Die  £üge  infamiert  nadj  römifdjem  Äecfjte  nicfyt,  fte  fyat  mit 
bem  Heerte  nichts  3U  fdjaffen  unb  barum  aud>  nidjt  mit  ber 
(Efyre  —  (Eljre,  €fjrltdifeit,  Betrug,  3nfamie  gehören  bem- 
felben  Stamm  an,  es  ift  ber  bes  Hedjts. 

J)er  <£fyrlid}feit  entfpridjt  auf  bem  (ßebiete  ber  ZHor«!  bie 
Züafyrljaftigfeit.    2)a§  biefer  2lusbrucP  ber  3utreff enbe  ift, 
b«  !}♦  ba§  er  bie  5orberung,  toeldje  bie  ZHoral  in  be3ug  auf 
bie  IDabrfyeit  an  bas  Subjeft  richtet,  ebenfo  bedt,  roie  bies 
in  be3ug  auf  bas  Hedjt  r>on  feiten  [580]  ber  €Ijrlid}feit  g 
fdjieljt,  bebarf  nidjt  bes  Ztadjtseifes*    Die  <£fyrlid)feit  folg 
ber  lüafyrljeit  nur  fotpeit,  als  bas  Bedjt  fie  perlangt,  fotpei 
bie  <£fyre  auf  bem  Spiele  jlefyt,  bie  iX>aIjrI|aftigfeit  bagegen 
roeldje  ftdj  fpradjlid?  als  bas  „Ejaften"  bes  Subjefts  an  be 
XDafyrljeit  ober  ber  tDafyrfyett  an  bem  Subjeft  3U  erfennc 
gibt,  folgt  ifyr  fdjledjtfyn,  fte  fteHt  uns  bie  solle  bebingungs 
lofe  Eingabe  bes  Subjefts  an  bie  iDafyrfyeit  t>or,  roie  bi 
ZHoral  fte  einmal  perlangt 

Der  IPa^aftigfeit  fteHe  idj  bie  £üge  in  betreiben  £)eif 
gegenüber,  tpie  ber  <£fyrlidjfeit  ben  Betrug.    Damit  tue  i 
aHerbmgs  bem  heutigen  Sprachgebrauch  (Semalt  an,  ben 
er  perfteljt  unter  ber  £üge  nur  bie  (Entfteüung  ber  Watyb/x 
burd}  IDorte,  tpäfyrenb  idj  fyer  mit  ifyr  ben  tpeitereu  Sin 


Der  Betrug* 


^55 


5er  €ntftetlung  ber  IDafyrl^eit  fdjledjtfyin  oerbinbe.  Dies  toar 
aud?  feie  urfprünglicfje  öebeutung  bes  Wortes,  »liogan«  f|ie§ 
oerfyüHen,  ber  Übergang  3U  ber  heutigen  engeren  23ebeutung 
bes  PerljüHens  burcfy  XDorte  erinnert  an  ben  bes  lateinifdien 
dicere,  roelcfjes  urfprünglicrj  3eigen  (die  —  Ostxvofu  —  dicis 
causa  —  digitus)  bebeutete,  in  jagen  (=  3eigen  mit  tDorten)» 
Selbftoerftänblidj  ift  es  nidjt  meine  ZHeinung,  ben  heutigen 
Sprachgebrauch  3U  meiftern  unb  ben  früheren  an  feine  Stelle 
511  fefeen,  es  fam  mir  nur  bar  auf  an,  für  ben  groeef  ber 
folgenben  Darftellung  ein  paffenbes  SeitenftiicE  3um  öetruge 
3u  geroinnen,  unb  ba  fdjien  mir  bas  geeignetfte  bie  £üge  3U 
fein,  roeldje  ja  von  ber  Sprache  f elber  in  [581]  ber  ZDenbung 
£ug  unb  Crug  mit  it}m  3ufammengefteßt  rotrb* 

Die  bisherige  Ausführung  fjat  uns  3U  bem  (Ergebnis  ge* 
fü^rt:  bas  (Seitungsgebiet  bes  IDafyrljeitsgebots  iji  innerhalb 
bes  Hechts  unb  ber  ZHoral  ein  oerfchiebenes*  2tn  biefe  5r<*ge 
von  ber  eytenjtoen  (5eltung  bes  EDarjrfjeitsgebots  reiben  roir 
nunmehr  bie  oon  feiner  intenfioen  (Seltung.  (Silt  es  inner* 
halb  biefes  Umfreifes  abfolut?  3f*  l&et  betrug  rechtsroibrtg, 
jebe  £üge  unmoralifch? 

3ch  lege  bie  5r<*ge  3unächft  bem  Hechte  por  unb  Iaffe  bie 
2lntroort  barauf  burch  bie  römifchen  3uriften  erteilen.  Sie 
ijl  enthalten  in  ihrer  Unterfchetbung  bes  dolus  bonus  unb 
malus.  Das  (Semeinfame  beiber  roirb  r>on  ihnen  in  bie  (Er- 
regung bes  f alfdien  Scheins  gefefet*),  bas  Unterfcheibenbe  in 
ben  «groeef  ober  richtiger  in  bie  2trt,  wie  bas  Hecht  ftch  3U 
bemfelben  ©erhält.  Wo  es  bie  Behauptung  bes  eignen  Hechts 
gegen  fremben  Angriff  gilt,  ift  bie  Cäufchung  erlaubt,  fo  gegen 
ben  5einb  unb  ben  Häuber**)  —  toie  man  (Seroalt  mit  (Seroalt 

*)  Cum  aliud  simulatur,  aliud  agitur,  1.  X  §  2  de  dolo  3),  Simulare 
=  Hadjlnlbung  bes  äußeren  Scheins;  similis,  similitudo,  simulacrum: 
bas  23üb,  ber  äußere  Schein,  ber  Spiegel  („eta>as  Dorfpiegeln")* 

**)  L.  X  §  2  ibid.  tueri  vel  sua  vel  aliena  §  5  .  .  veteres  dolum 


456 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IlTedjamf*  Das  Sittliche* 


3urücftreiben  barf  (vim  vi  repellere  licet,  1.  \  §  27  de  vi  ^3.  6), 
fo  auch  mit  £ifh  (Einen  derartigen  dolus  nennen  bie  römifchen 
3uri|ien  einen  bonus.  Zlnv  ba  ift  ber  dolus  ein  malus  ober 
[582]  in  ber  Sprache  bes  neuen  Hechts  dolus  fchlechthin*), 
voo  er  nicht  auf  Behauptung  bes  <£ignen  (2Jbrt>e^r  bes 
Schabens),  fonbern  auf  <2rtangung  bes  ^remben  unb  3tt>ar 
eines  ungebührlichen  vermögensrechtlichen  Vorteils  auf  Koften 
bes  anbern  (Übervorteilung),  ober  auf  Anfügung  eines  Sd]abens 
aus  reiner  Bosheit  (malitia)  gerietet  ift**). 

JDie  bie  lateinifche  Sprache  ben  dolus  in  feiner  r>era>erf* 
liehen  Hichtung  burch  ben  gufafe  malus  charafteriftert,  fo  bie 
beutfehe  bie  £ift  burd^  ben  entfprechenben  ^ufafc  arg  als 
2irg4ifi  (auch  Qtnter4ift).  3hr  ftetlt  fie  bie  erlaubte  £ift  als 
£ift  fchled]thin  gegenüber,  mir  fönnten  fie  als  ehrliche  be* 
3eichnen,  fie  tut  ber  <£tive  bes  WTiannes  feinen  Abbruch,  tpeil 
bas  <J5efet$  ber  (Ehrlichkeit  fich  auf  fte  gar  nicht  erfireeft,  ba 
basfelbe  r>on  vornherein  feine  weitere  (Seltung  beanfprucht, 
als  foroeit  bie  Cäufchung  ben  §weden  ber  Hed)tsorbnung 


etiam  bonum  dicebant  et  pro  sollertia  hoc  nomen  accipiebn.nt,  maxime 
si  adversus  hostem  latronemve  quis  machinetur. 

*)  Derfelbe  (Eutmicf lungsgang ,  ba§  nämlid?  ein  urfprüngltd?  m- 
bifferenter  ilusbrucf  im  £aufe  ber  <gett  bie  engere  Bebeutung  bes  Becfyts* 
nribrigen  annimmt,  uneberfyolt  fid?  in  ber  römifer/en  Hed^tsfpradje  an 
ber  vis  —  bas  crimen  vis  bes  fpäteren  Hedjts  enthält  bas  fprad?lidjc 
Seitenftücf  ber  actio  doli,  b*  h*  ber  urfprünglid/  indifferente  2Iusbru(f 
hat  hier  tme  bort  bie  Bebeutung  bes  Hedjtsrrubrigen  angenommen. 
I)erfelbe  Vorgang  a>ieberr|olt  fiefy,  u>ie  bemerft,  bei  unferem  beurfd^en 
XPorte  £üge* 

**)  L.  \  pr.  de  dolo  3)  .  .  lucrosa  .  .  damnosa.  Die  2lusbrücf  e, 
beren  fidj  bie  römifer/en  fünften  für  ben  (Erfolg  bes  dolus  bebtenen: 
circumscribere,  circumvenire,  fallere,  capere,  deeipere  finb  ntef/t  fo  d>araf* 
tertfttf mie  bas  beutfd/e  übervorteilen,  fie  betonen  nur  bas  lIToment 
ber  Oufcrmng,  bas  bei  bem  dolus  bonus  ebenfo  üorrjanben  ift  nne  beim 
dolus  malus,  märjrenb  ber  letjtere  21usbru<f  bas  entfdjetbenbe  ZTlomeili 
rjeroorrjebt,  tuelcr/es  ben  Betrug  von  ber  £ijt  trennt* 


^57 


3utpiberläuft.  <£ine  2lrt  [583]  biefer  efyrlidjen  £ijl  Ijebt  bie 
Sprache  burd)  ein  befonberes  IDort  fyerpor:  bie  Kriegslift 

Zltcf?t  alfo  5er  äußere  fLatheftanb  als  foldjer  madjt  bie 
Cäufdjung  in  ben  2Iugen  bes  Hedtfs  pertperflicfy,  fonbern  ber 
<grr>ecf,  bem  fte  bienen  foH.  <£s  perfyält  fid)  mit  itjr  nid]t 
anbers  u>ie  mit  ber  (ßeroalt;  perboten  3um  gtpecf  ber  Selbft* 
fylfe,  ifi  fte  erlaubt  3um  «gtpecf  ber  Selbjlperteibigung. 

Sotpenig  tpie  tpir  nun  in  be3ug  auf  lefetere  bie  Hegel 
aufhellen  bürfen:  bie  (ßetpalt  ift  prin3ipieE  verboten,  aus* 
nafynstpeife  aber  3um  «gtpecf  ber  Selbftperteibigung  erlaubt, 
ober  bie  umgefefyrte:  fte  iji  prin3ipieQ  erlaubt,  ausnafyms* 
roeife  aber  perboten,  ebenfotpenig  in  be3ug  auf  bie  Cäufdjung. 
Beibe  jtnb  prin3ipieö  roeber  verboten,  nodj  erlaubt,  bie  richtige 
logifdje  5orm  für  bie  5ctffung  ber  Hegel,  tpeldje  bas  Der* 
galten  bes  Hechts  3U  itjnen  rsiebergeben  foll,  ift  mitbin  nicfyt 
bie  einer  eingliebrigen,  burcfy  eine  Stusnafyme  befcfyränften, 
fonbern  einer  3toeigliebrigen  Hegel,  tpeldje  beibe  (Slieber  als 
pöllig  gleidjtpertige  fidj  gegenüberftellt,  tpie  bies  t>on  feiten 
ber  römifcfyen  3uriften  in  JDirHidjfeit  au<S\  gefcfyefyen  ijt,  inbem 
fte  ben  dolus  bonus  unb  malus  auf  eine  unb  biefelbe  £inie 
rüden.  3cfy  madje  biefe  Bemerfung  im  3ntereffe  ber  folgen* 
ben  Darftellung,  roo  fte  uns  bei  ber  5rage  pon  ber  vidi* 
tigen  Raffung  bes  (Sebotes  ber  IDafyrfyaftigfeit  ifyre  Dienfte 
leiften  tPtrb. 

Das  »erhalten  bes  Hedjts  3ur  Oufdjung  läßt  ftcfj  [584] 
bem  Bisherigen  nad]  unter  bie  5ormel  bringen:  3nbifferen3 
bes  äußeren  Catbeftanbes,  ausfd]lieglid]e  Helepan3  bes  burdj 
bie  Cäufcfyung  perfolgten  (guten  ober  fdjlecfyten)  &weds. 

Wir  legen  jefet  ber  IHoral  biefelbe  5rage  por,  auf  bie 
uns  foeben  bas  Hed]t  feine  2tnhport  erteilt  fyat. 

3ft  jebe  Cüge  ftttlidj  pertperflidj?  5ie  müßte  es  fein, 
tpenn  bas  (ßebot,  bie  iDafyrfyeit  3u  reben,  ein  abfolutes  tpäre, 
u>te  bies  eine  pielperbreitete  2lnfid]t  in  ber  Cat  annimmt. 


458 


Kapitel  IX.   Die  feciale  medjantf*  Das  Sittliche* 


Daß  ftch  basfelbe  nicht  praftifch  burchfütjren  lägt,  ohne  bas 
fittliche  (Sefühl  in  ben  fchroffjien  Konflift  mit  ftch  f  elber  3U 
bringen,  ifi  3tveifellos.  Den  Kranlen  fann  bie  IDahrheit 
töten.  Soll  ber  Arst,  beffen  Kunft  angerufen  tvirb,  um  bas 
£eben  3U  retten,  f ollen  bie  Angehörigen,  5er en  Ipdiftes  Be* 
ftreben  es  fein  muß,  bem  Kranfen  alle  nachteiligen  (Einflüffe 
fernhalten,  ihm  auf  fein  Sefragen  eine  XDatixfyxt  offenbaren, 
bie  i^m  ben  Cobesftoß  perfefet?  Unb  tvemt  fte  mit  Hecht 
bavor  3urücffchredPen,  haben  fte  vor  fich  3U  erröten,  tveil  fte 
gelogen  fyahen?  XHuß  es  ber  Kranfe,  ber,  um  bie  Seinigen 
3u  fchonen,  ihnen  bie  Qualen  verheimlicht,  bie  er  leibet?  3f* 
er  ein  Heuchler?  3n  5äHen  gemeiner  (5efahr  fann  alles 
barauf  anfommen,  baß  berjenige,  ber  an  ber  Spifee  fteht  unb 
allein  bie  tvahre  höchft  bebrohliche  Sachlage  fennt,  fte  ber 
großen  ZHaffe  verheimlicht  unb  eine  guverftcht,  ein  Sicherheits« 
gefühl  heuchelt,  bas  ihm  in  IDtrflichfeit  fremb  ift,  3.  23.  ber 
Kapitän  auf  ber  See  [585]  bei  (Sefahr  ber  Stranbung,  ber 
5elbherr  in  ber  Sdila^it  bei  mißlichem  Staube,  bie  Staats* 
getvalt  bei  fehleren  politifdjen  ober  ftnan3ieöen  Kataftrophen. 
Sollen  fte  bie  iöahrheit  verfünben  unb  burch  bie  JHutloftg« 
feit  unb  ben  Schrecfen,  ben  fte  verbreitet,  bie  Kataftrophe 
herbeiführen,  ber  fte  begegnen  foHen,  heberte,  taufenbe  von 
XHenfchenleben,  vielleicht  bie  gan3e  £j tften3  bes  Staates  opfern, 
lebiglich  um  ftch  ben  moralifchen  Dortvurf  3U  erfparen,  bie 
IDahrh^it  übertreten  3U  fyahen?  <£ine  fold^e  Ejanblungstveife 
verbient  nicht  ben  Hamen  eines  ftttlidjen,  fonbern  eines  uu- 
fxttlichen  fjanbelns,  es  tväre  ber  Egoismus  bes  bornierten 
Cugenbfanatifers,  ber  bie  IDelt  preis  gibt,  um  ftch  3u  be- 
haupten, ber  Cugenbhyäne,  bie  fich  in  23lut  habet,  um  ihren 
Cugenbburft  $u  beliebigen  —  mag  bie  IDelt  in  flammen 
aufgehen,  tvenn  nur  bas  elenbe  3ch  feine  Cugeub  rettet  — 
ber  ZHolochsbienjl  ber  XDahrheitl 

<£ine  Anficht,  bie  3U  folchen  Ungeheuerlid]feiten  führt,  muß 


praftifdjer  (Srunb  bes  lPafqrfieitspritt3ips* 


459 


in  ihrem  innerften  (ßrunbe  faul,  t>erberbt  fein,  unb  bas  ein- 
fädle fittlicfye  (ßefühl  weijt  fie  mit  proteft  3urücf.  3n  6er 
Verlegenheit  ^at  man  fich  bamit  Reifen  wollen ,  bafj  man  in 
bie[en  unb  ähnlichen  fällen  ausnahmsweife  bie  Berechtigung 
ber  £üge  3ugeftanben  fyat,  wofür  man  ben  Segriff  ber 
frommen  £üge  (pia  fraus)  erfunben  fyat  21ber  biefer  2lusweg 
ift  ein  gän3lich  verfehlter,  prin3ipieE  gar  nicht  3U  begrünbenber. 
<£ntweber  nämlich  trägt  bas  (Sebot  ber  IDafyrfyeit  ben  (ßrunb 
feiner  (Seltung  [586]  in  fich  felber*)  unb  es  lautet:  bie 
iDat|r^eit  um  ber  IDa^rtjeit  willen,  bann  fommen  praftifche 
Hücfjtchten  bagegen  ebenfowenig  auf,  wie  gegenüber  ben 
(Sefefeen  bes  Denfens,  bann  mu§  vielmehr  ber  fittlichen  3bee 
alles  unb  jebes  rücffyaltlos  geopfert  werben,  ©ber  aber  jene 
Ausnahmefälle  vertragen  fich  mit  ben  fittlichen  3been,  bann 
hat  jenes  angebliche  #?ahrheitsprin3ip  bie  Safts,  auf  bie  es 
fich  3U  ftüfcen  glaubt,  felber  preisgegeben,  unb  es  ift  bann 
nicht  3U  f äffen:  bie  JDahrh^it  um  ber  lüahrheit,  fonbem  um 
bes  <gwec!es  willen. 

Unb  bas  ift  in  ber  Cat  bie  wahre  (Seftalt  bes  JDahrheits- 
gebotes  wie  überhaupt  aller  fittlichen  prin3ipien  ohne  Aus- 
nahme, gleichmäßig  bie  ber  ZHoral  wie  bes  Hechts.  Die 


*)  XPte  man  btes  behauptet  unb  mit  aßerfyanb  fetalen  Sdjehtgrnnben 
3U  rechtfertigen  serfudjt  i\at,  3.  33.  ba§  bie  perfon  burd?  bie  £iige  mit 
fidj  felber  in  ttttberfprudj  gerate*  211s  ob  batan  ttwas  läge!  IDemt 
bas  IDafyrfjeitsgebot  fein  axibetes  (funbament  t^ätte  als  btefes  angebliche 
poftulat  bes  Hidjttiriberfprudjs  bes  3nbtoibuums  mit  fid?  felber,  fo  wäte 
es  mit  bemfelben  äußerft  tpinbig  bejMt  3dj  getraute  mir  bieBeredj* 
tigung  ber  £üge  mit  einem  um  nichts  fdjledjteren  (ßeftdjtspunft  3U 
bebu3teren.  Durdj  bte  £üge  bofumentiert  bie  perfon  bie  erflnberifdje, 
fdjöpferifdje  Kraft  ihrer  pfyantafie,  ber  Dtdjter  bietet,  ber  £ügner  er* 
btdjtet,  betbe  betpätjren  bamit  bie  Xftadjt  bes  menfdjltdjen  (Seijies.  Der* 
artige  formaltftifdje  (Sefidjtspunfte,  tste  ber  obige  unb  ipie  fo  mandje, 
bereu  fid?  unfere  3urtspruben3  bebient,  finb  an  ben  Hormen,  bei  benen 
fie  (Seoatterbienfte  letften  fotten,  ebenfo  uufdmlbig,  wie  bte  paten  an 
bem  Kittbe,  bas  man  tfjtten  in  bett  2lrm  legt 


^60 


Kapitel  IX.    Die  fostale  XHedfanifc   Das  Sittliche* 


(SefeDfchaft  ift  nicht  bes  Sittlichen,  fonbem  bas  Sittliche  ber 
(Sefellfchaft  roegen  ba,  bie  entgegengefefete  2Iuffaffung,  bereu 
Sefämpfung  unb  IDiberlegung  bie  Aufgabe  biefes  meines 
XDerfes  bilbet,  [teilt  bas  a>ahre  [587]  Derhältnis  gütlich 
auf  ben  Kopf,  fie  hulbigt  jenem  ebenfo  ungefunben  rote  un* 
fruchtbaren  3bcatismus,  toelcher  bie  3&ee  folche  auf  ihr 
panier  fchreibt,  unb  bem  ich  meinerfeits  ben  ethifchen  Bealis* 
mus  entgegenfefee,  ber  ihr  feinen  weiteren  XPert  unb  feine 
weitere  (ßeltung  3uerfennt,  als  infort>eit  fie  ftch  burch  bie 
Sienfte,  weld\e  fie  ber  ZHenfchhett  leifiet,  praftifch  legitt* 
mieren  fann. 

fjaben  alle  fttttichen  prht3ipien  in  bem  3ntereffe  ber  (Se* 
feKfchaft  i^ren  (Srunb,  fo  notu>enbigert£>eife  auch  ihr  Zt!a§, 
b.  h*  feines  berfelben  fann  eine  toeitere  (ßeltung  beanfpruchen, 
als  burch  bie  <§tx>ec!e  ber  (Sefellfchaft  geboten  ift.  IPir  tr>ollen 
bies  in  einigen  23efpielen  erproben, 

<£s  h^ißt:  bu  follfi  nicht  töten.  3n  23otoehr  barf 
ich  töten,  im  Kriege  mu§  ich  esf  un&  ^cm  Perbrecher  broht 
bas  (Sefefe  bie  Cobesftrafe.  £iegt  barin  ein  EDiberfpruch 
gegen  ben  obigen  Safe?  €s  rxmrbe  ber  $aü  fein,  roenn  bas 
Derbot  ber  Cötung  um  feiner  felbft  trullen  beftänbe,  tx>enn 
bie  3^^  n>ahr  roäre,  baß  bie  fogenannte  J^eiligfeit  bes 
Zllenfchenlebens  jebes  Slutoergiegen  ausfd]löffe.  2lber  bas 
öerbot  befteht  nicht  feiner  felbjl,  fonbem  ber  (Sefellfchaft 
trullen.  Darum  ift  bie  Cötung  verboten,  oerftattet,  geboten, 
je  nachbem  ber  gefellfchaftliche  <§tx>ecf  es  mit  ftch  bringt 

Die  (Srunblage  ber  gan3en  bürgerlichen  ©rbnung  ift  bie 
Sicherheit  unb  ber  Schüfe  bes  (Eigentums.  Diefe  (Srunblage 
tx>irb  r>on  ber  Staatsgewalt  angetaftet  mittels  [588]  ber  £f  pro- 
priation  bes  Privateigentums  unb  ber  gefefelichen  Aufhebung 
Goohlertoorbener  Hechte.  Crüge  bas  Eigentum,  tvie  bie  in- 
bivibualiftifche  Ch^orie  bes  (Eigentums  uns  glauben  macheu 
ivill  (I,  ^08 ff.),  ben  (Srunb  feiner  (ßeltung  in  ftch  felber, 


praftifdjer  (Srunb  bes  IDaqrfyettsgebots. 


roomit  feine  abfolute  Unantaftbarfeit  von  felbft  gegeben  voäve, 
n>ir  würben  in  jenen  2Iften  nur  fdjnöbe  (gersaltmagregetn, 
Attentate  gegen  bie  fogenannte  fjeiligfeit  bes  Eigentums  er* 
bliefen  fönnen.  3n  XDirflidjfeit  fefeen  fte  fid?  aber  mit  ber 
3bee  bes  (Eigentums  forsenig  in  ZDiberfprud},  baß  fte  bie« 
felbe  umgefefyrt  mit  ftd)  t>erf öfyten,  inbem  fte  bas  (Eigentum 
in  bie  ifym  burdj  feine  gefeUfdjaftlicfye  Beftimmung  t>orge3eid>* 
neten  (Stenden  roeifen  unb  ber  (Sefafyr  vorbeugen,  ba§  bas* 
felbe,  anftatt  bas  gebeifylicfye  23eftef}en  ber  (Sefellfdjaft  3U 
förbern,  es  fcfyäbige*  2)ie  normale  2tnerfennung  unb  jene 
emotionelle  Nichtanerkennung  bes  (Eigentums  entftammen 
einem  unb  bemfelben  (Sebanfen:  ber  Sorge  für  bas  tsa^re 
IDol}!  ber  (Sefellfd?aft.  3n  ii>m  bejtfet  bas  (Eigentum  feinen 
(Srunb,  unb  barum  ftnbet  es  aud}  an  ifym  fein  UTa§  —  nur 
bie  falfdje  apriorifcfye  3bee  von  ber  2Tfaglofigfeit  bes  <£igen< 
tums  t>erfd?ulbet  ben  Schein,  als  ob  bas  Zfiajj  ficft  mit  ber 
«Eigentumsibee  nicfyt  »ertrüge. 

(5an3  ebenfo  »erhält  es  fidj  mit  bem  (ßebote  ber  2Dafy> 
fyeit;  es  beftefyt  nidjt  feinetunllen,  fonbern  ber  (Sefellfdjaft 
roitlen.  tDürbe  lefctere  fidj  bei  ber  £üge  monier  befmben 
als  bei  ber  JPafyrfyeit,  fo  toürben  beibe  tljren  [589]  ptafe  3U 
tauften  Ijaben,  unb  es  mürbe  bie  £üge  gef eHf djaf tlidj ,  b.  i. 
fitttid?  geboten  fein. 

Beftefyt  aber  bas  (ßebot  ber  IDafyrljeit  um  ber  (ßefell* 
feftaft  tt>illen,  fo  fann  es  aud?  feine  toeiterreidjenbe  (5eltung 
beanfprucfyen,  als  fid?  bamit  ©erträgt  —  ber  (Srunb  bes 
(ßebots  beftimmt  aud?  fyer  roieberum  bas  ZHaß  feiner  (ßeltung. 
Wo  bie  IDafyrfyeit  ben  Kranfen  töten  tsürbe,  tDäfyrenb  bie 
Unmafyrfyeit  fein  £eben  3U  erhalten  vermag,  u>ürbe  erftere 
einen  5reoel  gegen  bas  ZtTenfdjenleben  enthalten,  bie  Un* 
tsafyrfyeit  ift  fyer  nidjt  bloß  fittltd?  erlaubt,  fonbern  geboten, 
unb  ebenfo  in  allen  ben  fällen,  bie  id?  oben  (5.  ^58)  an» 
geführt  l}abe. 


$62 


Kapitel  IX.   Die  feciale  XHec^amf.   Das  Sittliche. 


IDir  l\aben  hiermit  für  bas  WatyfyitsQebct  ber  VTioxal 
(IDafyrtjaftigfeit)  basfetbe  Hefultat  gefunben  rote  oben  für 
bas  bes  Hecfyts  (<£I>rlidifeit)  unb  wir  nehmen  fyer  bie  Sc« 
merfung  wieberum  auf,  bte  mir  bort  (S.  ^57)  über  bie  richtige 
Raffung  ber  lefeteren  matten. 

Sowenig  rote  bas  (gebot  ber  (Efyrlidtfeit  abfohlt  3n  f äffen 
x%  ebensowenig  bas  ber  XDa^rBjafttgfeit  JDer  bies  tut  unb 
bettnod?  in  Satten  ber  angegebenen  2lrt  eine  2lusnafyme 
flatutert,  tote  es  allgemein  gefcfyiei|t  (f.  u.),  3tel|t  fxd\  f elber 
ben  Boben  unter  ben  5üfjen  weg  unb  befiegelt  bamit  feine 
wiffenfcfyaftlidje  23anferotterflärung.  Das  IDafyrljaftigfeits* 
gebot  ift  xnelmefy:  von  vornherein  auf  bie  ifym  gebüfyrenbe 
2lnwenbungsfpfyctre  3U  befcfyränfen,  bie  burdj  ben  gefellfdjaft* 
liefen  gweef  besfelben  gegeben  tfl.  3)ie  IDa^rljaftigfeit  unb 
bie  Unwafyrfyeit,  wo  fte  ftttlidi  [590]  erlaubt  ober  geboten 
ift,  rücfen  bamit  auf  ein  unb  biefelbe  Cinie,  unb  lefetere  fyat 
nidjt  nötig,  vor  ber  erfteren  fdjamfyaft  ben  ölief  3U  23oben 
3U  fenfen  unb  fid?  von  ifyr  in  bie  (Semeinfcfyaft  ber  £üge  ver- 
weifen  3U  laffen,  fte  barf  i^ren  öliel  ebenfo  frei  ergeben  wie 
jene,  JDte  auf  bem  (Sebiete  bes  Hechts  bie  berechtigte  £ifi 
(dolus  bonus)  von  ber  2lrglift  (dolus  malus),  fo  hebt  auf  bem 
ber  Zttorat  bte  pttlidje,  reine,  unbefcfyoltene  Unwahrheit  von 
ber  ftttlich  unreinen,  befcholtenen  ftch  ab,  fte  l\at  mit  ihr  nur 
ben  Hamen  gemein,  nicht  ben  (Zfyaxaftex.  2tber  biefe  (Semein* 
fdjaft  bes  Hamens  iji  für  fte  atlerbiugs  recht  verhängnisvoll 
geworben.  Qex  ZTfafel,  ber  im  heutigen  Sprachgebraudi 
einmal  ber  £üge  auflebt,  h<*t  ftch  im  minberen  (Srabe  auch 
auf  fie  übertragen,  es  ift  ber  5Iuch  eines  verrufenen  Familien- 
namens, unter  bem  and)  bas  achtungswerte  XTCitglieb  ber 
iamilie  3U  leiben  Ijat,  bas  Dorurteil,  welches  ber  fd]Ied?te 
£ebensvoanbel  einer  tieberlichen  Schwefter  gegen  bie  Sugenb 
ber  ehrbaren  erregt  —  ihr  Harne  ift  ihr  Derhäugnis. 

(Benötigt,  in  (Ermangelung  eines  anbern  Hamens  ben  ber 


(Segenfafe  von  £üge  unb  betrug* 


^63 


£üge  bet3ubehalten,  unterfcheibe  ich  $voex  Birten  berfelben:  bie 
bösartige  unb  bie  gutartige. 

Die  bösartige  £üge.  Das  Derbot  berfelben  I|at  feinen 
(Srunb  unb  ftnbet  feine  Hechtfertigung  in  ihren  nachteiligen 
IDirfungen  für  bie  (SefeHfchaft.  3^  unterfcheibe  innerhalb 
ihrer  3tx>cx  Birten:  bie  eine,  welche  lebiglich  bie  DorfteHung 
bes  anbern  Ceils,  bie  anbere,  welche  [591]  mittels  ber  falfchen 
ÜorfteQung  ben  iDtHen  $u  beeinfluffen  beabfichtigt,  bie  erfte  nenne 
ich  £üge  fchlechthin,  bie  anbereSetrug  im  moralifchen  Sinne. 

Seim  betrug  ift  es  bem  Oufchenben  nicht  barauf  ab* 
gefehen,  in  bem  anbern  lebiglich  eine  falfdje  DorfteHung  3U 
erregen,  fonbern  barauf,  benfelben  3U  einem  fjanbeln  ober 
Unterlaffen  $u  bejiimmen,  bie  DorfteQung  foH  bas  ZHotto  3u 
einer  IDißensaftion  abgehen.  VOit  belügen  jemanben,  wenn 
es  uns  nur  barum  3U  tun  iji,  ihm  eine  falfche  DorfteHung 
bei3ubringen  (in  ber  Oulgärfpracfye:  „etwas  auf3ubinben") ; 
wir  ^aben  unferen  «gweef  erreicht,  wenn  er  glaubt.  XOk  bc* 
trügen  jemanben,  wenn  wir  ben  obigen  gweef  babex  oer- 
folgen, unb  wir  bähen  benfelben  erreicht,  wenn  er  hobelt 
(pofitb  ober  negatw);  wenn  er  bloß  glaubt,  b[aben  wir  ihn 
verfehlt.  IDer  ftch  einer  Cat  rühmt,  bie  er  nicht  vollbracht, 
einer  €igenfchaft,  bie  er  nicht  beftfet,  lebiglich,  um  [ich  3U 
brüften,  ober  xoet  eine  unwahre  {Eatfadje  erftnbet,  berichtet, 
lebiglich  aus  5reube  am  £ügen,  belügt  ben  anbern,  wer  bamit 
bie  2lbftcht  cerbinbet,  einen  Dorteil  für  fich  3u  erreichen  (ge* 
roinnfüchtige  2Ibftcht),  ober  bem  anbern  einen  Schaben  3U3ufügen 
(böswillige  2lbficht),  betrügt  ihn,  bas  ZHittelglieb  3wtfchen 
ber  füge  unb  bem  beabfichtigten  (Erfolge  bilbet  ber  JDiHe 
bes  anbetn,  ber  ihn  erfl  Ijerbci3uführcn  biaif  währenb  es 
besfelben  in  jenem  falle,  wo  es  bloß  auf  (Erregung  bes 
f alfchen  <5laubens  abgefehen  ijl,  nicht  bebarf.  betrug  ijl 
bieu3ie  inbrenbe  ober,  um  ben  für  bie  Seeinfluffung  bes  [592] 
IDillens   burch  Drohung   üblid]en  juriftifchen  2lusbrucf  3U 


$6%         Kapitel  IX.   Die  feciale  ItTecfyanif.   Das  Stttlicfce. 


gebrauten,  bie  fompulftoe  £üge.  2Iudj  bas  ©er  betrugt, 
aber  nur  ber  2Henfd?  lägt,  benn  ber  betrug  li<xt  einen  un- 
mittelbaren praftifdjen  &we<3  im  2luge,  unb  ben  fennt  aueb 
bas  Cier,  unb  bie  Xtatur  J^at  manche  von  tfyten  mit  einem 
fynreidjenben  2TCa§e  t>on  Derftanb  ausgefiattet,  um  benfelben 
mit  Stift  3U  verfolgen;  entlegnen  a>ir  ZHenfdjen  bodj  bem 
£ud?fe  bie  perjontftfatton  ber  Derfdjlagentjeit  unb  Sd]laut}eit. 

Wo  es  an  biefem  praftifdjen  gtoeefe  fefytt,  fpredje  idj 
son  einer  £üge  im  (Segenfafce  3um  betrug  unb  id>  unter- 
fdjeibe  3tx>ei  Strien  berfelben:  bie  eine,  weid\e  bie  perfon  bes 
Cügenben  felber  sum  <5egenftanbe  t^at,  fie  für  etwas  anbetes 
ausgibt,  als  fte  ift,  bie  £üge  als  2Hasfe:  fjeitcfyelei,  (Sleisnerei, 
mit  allgemeinem  Flamen  X>erfleHung  (S.  ^50,  Simulation 
(S.  ^55  £Iote),  man  fonnte  fte  bie  gleisnerifdje,  masfierenbe 
nennen.  Die  anbere,  tseldje  Catfadjen  3um  (Segenftanbe  I^at: 
€ntftellung,  5äl[ci]ung  bes  Wallten  unb  <£rbid}tung  bes  Un« 
toaljren,  man  fonnte  fie  bie  affertorifdje  nennen.  XDarum 
^at  nun  bie  (5efellfd)aft  ben  Setrug  unb  bie  £üge  in  ben 
Sann  getan.  Ztidtf  roegen  eines  bem  2Tfenfd?en  angebornen 
inneren  ZXMberflrebens  gegen  fie,  eines  horror  falsi  —  tr>ir 
tr>erben  fefyen,  baß  er  gerabe  umgefebrt  efyer  ben  £[ang  sur 
£üge  als  3ur  IDal^rl^eit  mit  auf  bie  JDelt  bringt.  Vev  fate» 
gorifcfye  ^mpexatxv  bes  IDafyrljeitsgebots  beruht  auf  <£r* 
fdtfeidjung;  foroenig  biefer  3mperatit>  ftd)  für  bas  Sittliche 
überhaupt  [593]  bartun  lägt,  ebenfotoenig  für  bas  Waty* 
Ijeitsgebot,  er  ift  nichts  als  ein  ZTfacfytfprud?  ber  £)iffenfd]aft, 
bie  etwas,  was  fie  nicfyt  3U  beu>eifen  t>ermag,  einfad?  poftu« 
liert,  als  2ljiom  auffteHt 

3)er  (Srunb,  rt>arum  bie  <5efeHfdjaft  bie  £üge  unb  ben 
Setrug  in  ben  Sann  getan  Ijat,  tji  ein  praftifcfyer  —  fte 
fann  bei  tfynen  nicfyt  befte^en.  J)ies  foQ  im  folgenben  nady 
geunefen  werben:  bas  fittltdje  poftulat  ber  Wafyv 
ijaftigfeit  tjat  feinen  (Srunb  unb  bamit  $ugleid?  fein 


X)te  £üge  —  ftmulierenbe  unb  affertorifcfye.  ^65 


JHa§  in  ber  praftifdfen  33ebeutung  ber  IPafyrheit 
für  bie  (ßefellfcfyafk 

Die  praftifdje  öebeutung  ber  tPa^rI|eit  für  bte 
<5ef  ellfd?aft 

Das  menigfte  son  6cm,  mas  mir  für  mafyr  galten,  Fönnen 
mir  Reibet  auf  feine  XDafyrfyeit  prüfen,  mir  ftnb  genötigt,  uns 
babei  auf  anbere  3U  oerlaffen.  Don  einer  Catfadje  fönnen 
mir  nur  behaupten,  bafc  fie  mafyr  ift,  wenn  mir  felber  fie 
malgenommen,  b.  i.  mit  unferen  Sinnen  in  Beftfc  genommen 
haben*).  3n  €rmanglung  ber  eignen  XDa^rne^mung  müffen 
mir  uns  mit  ber  2lusfage  besjentgen  begnügen,  ber  fte  ge- 
macht (<§euge**),  ober  [594]  bes jenigen,  ber  fte  t>ou  ihm 
erhalten  su  haben  behauptet.  <£s  ift  bie  XDafyrljeit  aus  3meiter, 
ober  menn  man  bie  ein3elnen  Ejänbe  3ählen  moüte,  burch 
meidje  fte  fynburd?gegangen  ift,  bie  aus  hunbertfter,  taufenbfter 
^anb  im  (Segenfafce  3U  ber  aus  erfter,  mir  nehmen  bei  ihr 
etmas  als  mahr  an,  was  mir  nicht  felber  malgenommen 
traben. 

<5an3  basfelbe,  mas  i>on  ben  ftnnlichen  (natürlichen  ober 
gefdn'chtlichen)  (Eatfachen,  gilt  auch  von  unferen  <£rfenntniffen, 
auch  fte  ftnb  faft  alle  IDahrhetten  aus  3tx>etter  £}anb,  bie  oou 
anbeten  gefunben  unb  uns  überliefert  ftnb,  ohne  baß  mir 
felber  imftanbe  gemefen  mären,  ihre  IDahrheit  3U  prüfen 
(=  untersuchen).  Dem  3uriften  brängt  ftd?  babei  ber  Der- 
gleich  3mifchen  bem  originären  unb  bermatipen  <£twetb  auf, 


*)  Derfelbe  (Sebanfe  im  lai  pereipere,  franj.  percevoir,  apercevoir, 
engl*  pereeive  (capere  =  nehmen)  unb  in  anberrn  Sprachen,  3»  33.' 
unganfd?  £szre  venni  (=  3U  Derftanb  nehmen);  ebenfo  auffaffen,  er* 
f äffen  von  f äffen» 

**)  Spradblicfy:  ber  «Ausgesogene,  b»  u  llnwtfenoe,  iaU  testis  =  bev 
babei  ftanb  [von  stare). 

9,  3 gering,  Der  ^roerf  im  Hedjt.  II.  30 


466 


Kapitel  IX.  Die  feciale  Hlec^attiF.   Das  Sittliche. 


b,  t.  bem  ans  erfter  unb  bem  ans  ^weitet  ^anb,  unb  es 
lofynt  fid)  fdjon,  iljn  3U  t>ermenben. 

Wie  bie  Summe  besjenigen,  voas  xvit  auf  originärem 
IDege  ertx>erben,  t>erfd}tr>inbenb  Hein  ift  gegenüber  bemjentgen, 
was  uns  auf  bertoatit>em  IDege  3ufommt  (Crabition,  €rbgang), 
ebenfo  nnb  in  nod?  unvergleichlich  Iqöliexem  ZtTaße  in  be3ug 
auf  unfer  tViffen  bie  Summe  besjenigen,  roas  roir  felber 
wahrgenommen,  gefunden,  unterfudjt  iiaben,  gegenüber  bem* 
jenigen,  was  toit  von  anbern  als  wahr,  b,  h*  auf  Creu  unb 
(glauben  angenommen  haben.  Cl)arafteriftifd)  bafür  iji  unfer 
beutfehes  IDort  Überzeugung.  Wem  t>erbanfen  wir  unfere 
Überseugungen?  Die  Sprache  antwortet  barauf:  ben  beugen 
■ —  wahr  ifl,  voas  uns  be3eugt,  wopon  [595]  wir  burch  geugen 
überzeugt  worben  finb.  <£in  Seitenftücf  ba3U  gewährt  bie 
2fasfage  ber  Sprache  über  ben  Ursprung  bes  Vermögens. 
Das  (ßrunbeigentum  wirb  uns  t>on  anbern  fyinterlaffen  (bas 
(Erbe,  erbeigen,  lat  heredium  bas  (Erbgut  von  heres),  bas 
Vermögen  flammt  Pom  Dater  (pater,  patri-monium  Vatergut). 
Der  (Bebanfe,  ben  bie  Sprache  bamit  funb  gegeben  fjat, 
lautet:  bas  meifte,  was  wir  bas  unfere  nennen,  perban!en 
roir  nicht  uns  felber,  fonbern  anbern,  unfere  Über3eugungen 
ben  beugen,  unfer  Permögen  ben  Vorfahren,  nur  unfere 
finnlichen  IVahmehmungen  uns  felber. 

Qie  weitere  Verfolgung  bes  (Sejtcfytspunftes  bes  beripa* 
tipen  €rwerbs  bei  bem  Hecht  unb  ber  IVahrheit  Ijat  mid] 
auf  eine  I|öd]ft  int ereff ante  fprad?lid]e  IZatfadie  geführt.  3>ie 
2lusbrücfe  unb  IVenbungen,  beren  ftd]  bas  Hecht  für  bie 
bei  bem  Verhältnis  bes  beripattpen  (Erwerbs  3ur  Sprache 
fommenben  JTiomente  bebient,  wieberholen  jtd)  auch  bei  ber 
IVahrheit,  unb  ba  nachweisbar  bie  meiften  berfelben  für  bas 
Hecht  gefchaffen  f.nb,  fo  ift  fyer  eine  Übertragung  an3unehmen, 
was  m.  a.  IV.  t^eigt:  bas  Verhältnis  ifi  ^iftorifd]  bem  Volfe 
3uerjl  in  feiner  praftifchen  (Seftalt  beim  Hechte  sum  öewufjtfein 


Übertragung  ber  Hedj tstermmologte  auf  bte  XPafyrljeik  ^67 

gefommen,  erfl  fpäter  Bjat  es  erfannt,  ba§  basfelbe  audj  für 
bie  IDafyrljeit  3utrifft. 

3d}  laffe  bie  Sprache  reben» 


[596]    Das  HecH 

2Iuftor,  auetoritas.  Die  ur* 
fprünglidje  Sebeutung  ift 
3tt>etfellos  eine  juriftifdje. 
Unter  auetor  serfiaub  bas 
altrömifcfye  Hed)t  ben  Per* 
fäufer,  von  bem  ber  Käufer 
fein  Hecfyt  ableitet  unb  ber 
ifym  bafür  d^uftefyen  I^at, 
unter  auetoritas  (fd?on  in 
ben  \2  Cafein)  bie  Haftung 
besfelben. 


Die  rDafyrBjett 
Autorität,  b.  i.  ber  maßge* 
benbe  (Einfluß  einer  perfon 
auf  unfere  <£ntfd?lüffe  ober 
unfere  2lnftd}ten  (2tutoritäts* 
glauben),  bei  bent  toit  uns 
ber  eignen  prüfung  ent* 
galten.  Sei  ber  2luftoritas 
roie  bei  ber  Autorität  per* 
Iaffen  tt>ir  uns  auf  eine 
frembe  perfon* 


(SetDäfyrsmann  für  eine  Zlatti* 
xxditf  2lnftd}t,  Überzeugung. 


(Serrxäfyr,  (ßetoäfyrsmann,  (ße* 
tt>äl}rfd)aft,  <5etr>cü}rleijhing 
—  bas  beutfd3*red}tlidje 
Settenftüct  ber  römifdjen 
auetoritas.  (ßetDäfyrsm  ann  ift  berjenige,  ber  uns  etwas  gc 
tüäfyrt  (wer£n  =  fidlem)  unb  bafür  einfielt.  Don  weren 
altfrief.  ber  werand,  warent,  ital.  guar&ito,  fran3.  garant, 
garantir,  garantie  in  bemfelben  Sinne, 


Bürge,  bürgen,  «gmeifellos 
urfpünglid?  ein  juriftifcfyer 
Segriff. 


Sürgen,  fidj  verbürgen  für 
bie  Hicbtigfeit  einer  ZXaä]> 
ridtf.  äfyulid?  einftefyen  in 
betberlei  öebeutung. 


50* 


^68        Kapitel  IX.   Die  fo3tale  XTtedjamf*  Das  Stttltdje* 


[597]    J)as  Bedjt.  Die  tDaljrBjeit. 

Über»la{fen  (eine  Sad?e),  auf*  Sicfy  auf  bic  21usfage  jeman' 

lajfen  (ein  (ßrunbftücf  t>or  bes  serlaffen  —  eine  $u* 

(Sendet),  nacfylaffen  (Zladi*  perläfjtge,  un3uperläfftge 

lag  im  Sinne  ber  (Erbfctjaft),  ZTadjridjt. 

3U*la[fen  (perftatten).  21He 

btefe  2lusbrücfe  3ielen  auf  bie  Cätigfeit  bes  Tutors. 


Derftdjern,   Derfidjerung  im    Derjtdjerung  im  Sinne  ber 
Sinne  ber  Sidjerftellung  ge«       Beteuerung  ber  IDaljrljett, 
gen  eine  redjtlidje  (Sefafyr,        assurer,  assurance. 
bas  lateinifdje  cavere  (cau- 

tio)f  mittelalterlich  assecurare,  assecurantia  (von  securus) 


Crabition,  b,  i.  bie  Übergabe 
ber  Sadje.  gmeifdlos  ur< 
fprüngtidj  juriftifdje  23e* 
beutung  (transdare  =  über* 
geben). 


Crabition  im  fyiftorif  djen  Sinne  : 
3.  23.  bie  Crabition  ber  fa* 
tfyolifdjen  Kirdje. 


Überlieferung.  (Ebenfalls  ur« 
fprünglicfy  juriftifdjer  Sinn, 
ber  Derfäufer  liefert,  über« 
liefert  bie  XDare. 

Jlnnefymen  (ein  (ßefdjenf,  ein 
Perfpred|en)  im  recfytlid^en 
Sinne. 


Überlieferung  im  fyftorifdjen 
Sinne:  bie  fyjtorifdje  Über* 
lieferung. 


Jlnnaljme  im  tpiffenfdjaftlidjen 
Sinne.  [598[ 


Credere.  2)er  urfprünglid}e 
Sinn  bes  JDortes  ift  ein 
jurifttfdjer,  bas  credere  be* 
ftanb  in  bem  Anvertrauen,  b 


Credere  im  Sinne  von  glau* 
ben. 

i.  Ceifyen  von  Sachen  (res 


(Dbjeftise  unb  fnbjeftipe  VOa\\x^ext 


creditae).  Der  urfprünglictj  juriftifdje  Sinn  fyat  pdf  aus- 
fd]lie§licfy  erhalten  in:  creditum  (=  £eii)gefd)äf  t) ,  crediior 
(=5  (gläubiger). 


Das  Hedjt 
Jlnsertrauen  x>on  Sachen. 


Die  IX)aEjrt|eii 
Dertrauen  auf  bie  &)al|rl|eit 


Creue ;  aus  einer  Zürnte!  mit 
trauen,  <£in  urfprünglicfy 
juriftifdjer  Begriff  (Celans- 
treue). 


Creu,  getreu  im  5inne  ber 
XDafyrljeit,  3, 23,  ein  getreuer 
Bericht. 


(ßlauben  (.,Creu  unb  (ßlau* 
ben",  b.  i.  Creue  bes  einen, 
(ßlauben  bes  anbern  Ceils, 
bie  römifcfye  fides),  ber  (ßläubiger. 


(ßlauben  an  bie  ZDafyrfyeit,  ber 
(ßläubige. 


lütr  benufeen  biefe  Cifle,  um  baxan  folgenbe  parallele 
Sanften  bem  Hecfyt  unb  ber  ZDafyrfyeit  3U  fnüpfen, 

Bei  beiben  fyängt  bie  Sidjerfyeit  beffen,   was  uns  von 
anberen  3ufommt,  an  ber  guperläffigfeit  bes  (ßetoäfyrsmannes, 
anr  nehmen  es  entgegen  auf  Creu  unb  (ßlauben,  ofyne  es 
einer  prüfung  3U  materiellen,  unb  ofyne  in  ben  meiften  fällen 
ba3u  imftanbe  3U  fein,  nur  jtnb  ge3U>ungen,  uns  babei  auf 
anbere  3U  oerlaffen.    Der  bei  roeitem  größte  Ceil  unferes 
I  XPiffens  ift  fubjeftis  nichts  als  (ßlaube,  n>ir  [599]  fjaben  ifyn 
nidjt  felber  auf  feine  JDafyrfyeit  geprüft,  fonbern  auf  bie 
J  Autorität  von  perfonen,  u>eld]e  bie  Catfadjeu  berichtet,  bie 
i   Unterf uc^ungen  augeftellt,  bie  Scfylüffe  ge3ogen  fyaben,  als 
i   toafyr  angenommen.  2lud}  bas  ZDiffen  bes  (Belehrten  ijt,  von 
feinem  Spe3talfad)  abgefefyen,  fubjeftip  nichts  als  2lutoritäts* 
j  glaube,  unb  roenn  er  von  ber  XDafyrtjeit  besfelben  feji  über3eugt 


^70 


Kapitel  IX.   Die  fötale  me^aui?*  Das  Sittliche* 


ift,  fo  ift  er  es  nur  bar  um,  weil  er  3U  ben  d3ewät}rsmännern 
ober  <§eugen,  bie  es  il^m  3ugetragen  haben,  Pertrauen  E^egt. 
3n  ftdj  f elber  aber  t?at  er  fyier  nicht  bie  (Garantie  ber  tDafyr* 
hett,  ba3u  würbe  geboren,  ba§  er  bie  finnlichen  Catfadjen 
felber  wahrgenommen,  bie  <£rgebniffe  bes  fremben  Senfens 
felber  geprüft  t^ätte.  Was  er  tyzx  IDahrheit  nennt,  ift  mit* 
hin  fubjeftio  nichts  als  IDahrfcheinlichfeit,  allerbings  ber 
alleräu^erfte  (Srab  berfelben  unb  ihm  felber  pielletcht  ungleich 
wertvoller  als  bie  felbft  befchaffte  (ßewißheü  pon  ber  IDatjr* 
heit,  aber  gleichwohl  feine  JDafyrtjeit  im  ftrengen  Sinne  bes 
tüortes,  benn  bas  ift  nur  bie  (finnlich  ober  geiftig)  felber 
erfaunte,  erlebte,  erfahrene,  jene  tDahrhett  ift  nichts  als 
(ßlaube  an  bie  IDahrhaftigfeit,  ^uperläffigfeit  anberer,  bie 
fte  t>erbürgem 

(Es  flingt  paraboj:  unb  ift  boch  wahr:  bie  objeftwe  Xüa^r* 
heit  bilbet  nicht  ben  ZHaßftab  ber  fubjeftir>en,  fonbern  bie 
fubjeftwe  ben  ber  objeftioen.  3ebe  IDahrheit  mu§,  um  ftd? 
als  folcfye  3U  erproben,  burch  ben  menfchlichen  (Seift  hwburch, 
jebe  wirb  am  Subjeft  gemeffen,  bas  Verhältnis  iji  gan3  bas* 
felbe,  wie  bei  ber  jtnnlichen  [600]  tDafymefynung.  €s  gibt 
baher  feinen  unfinnigeren  Dorwurf  als  ber  IDahrheit  bas 
3um  fehler  an3uredjnen,  was  ihr  IDefen  ausmacht:  bie  Sub* 
jeftitrit&t.  Was  wir  objeftise  IDahrheit  nennen,  ift  ebenfalls 
nur  bie  fubjefttee,  benn  wenn  auch  Caufenbe  unb  XTTillionen 
fte  teilen,  fo  fönnen  jte  bafür  nur  basfelbe  in  bie  lüagfdjalc 
werfen  wie  ber  jenige,  ber  fte  beftreitet  unb  ber  mit  feiner 
abwddienben  2lnjtcht  gan3  allem  fteht:  ihr  fubjeftioes  Urteil, 
festeres  wirb  auch  in  millionenfacher  Dert>ielfältigung  nicht 
3u  etwas  (Dbjeftioem,  es  bleibt,  was  es  ift:  fubjeftio,  unb 
Jeber  5ortfchritt  ber  IDahrheit  hat,  folange  bie  IDelt  fteht, 
barin  beftanben,  baß  3uerft  ein  ein3elnes  3nbir>ibuum,  bas 
weiter  bjtcfte  als  ber  große  £}aufe,  ftd)  t>on  ben  21nftd]ten, 
bie  bis  bahin,  weil  allgemein  geglaubt,  für  objeftwe  It>aln'< 


(grforbernts  ber  XPafyrfyaftigfeit  im  Perfeljr* 


Reiten  galten,  losfagte  unb  nacfy  unb  nacfy  feiner  iluffaffung 
<2ingang  r>erfcf?affte. 

3ji  alfo  bie  IPafyrfyeit  ftets  fubjefttoer  2lrt,  unb  perbient 
im  ftrengen  Sinne  bes  VOottes  nur  basjenige  ben  Hamen 
berfelben,  tx>as  toir  felber  wahrgenommen,  erfahren,  erlebt, 
geprüft  haben,  fo  ergibt  ftcfy  baraus  bie  Hicfytigfeit  ber  obigen 
Sefyauptung,  baß  bie  IDafyrfyeit  3umeift  nur  (Slauben  ijt: 
XPat^rljeit  aus  3toeiter  ^anb,  bie  tr>ir  auf  bie  Autorität  anberer 
perfonen  fyn  als  toafyr  annehmen.  Dies  Derfyältnis  muß 
notmenbigertt>eife  in  bemfelben  ZHaße  3uneljmen,  als  bie 
Summe  beffen,  was  3U  roiffen  ift,  im  Caufe  ber  (Befdjicfyte 
uub  ber  Kultur  tsädjft,  ober  als  bas  3n^iD^uum  feinem 
Berufe  nacfy  einer  [601]  größeren  Summe  bes  3U  IDiffenben 
bebarf  —  bie  eigene  Prüfung  wirb  in  bemfelben  Silage 
fcfywieriger,  als  bie  ZtTaffe  größer  wirb.  Der  pfyilofoptj  muß 
metjr  als  waljr  annehmen,  als  ber  X}iftorifer,  Ztaturforfcfyer, 
3urifi,  er  würbe  nid?t  pfylofopfy  fein  fönnen,  wenn  er  bas 
gefamte  ZHaterial,  bas  er  r>on  ifynen  entgegennimmt,  felber 
prüfen  wollte.  Der  große  Kaufmann  muß  meljr  als  waljr 
annehmen  als  ber  Krämer,  er  famt  pdf  über  bie  <£rnteaus« 
fixten  in  ben  serfctyebenen  Cänbern  ober  über  bie  Solibität 
unb  Soloen3  ber  oielen  Kunben,  mit  benen  er  in  (Sefdjäfts* 
besiefyung  tritt,  nidjt  felber  ein  Urteil  bilben,  er  muß  ftdi  auf 
bie  Seitungsbericfyte  unb  bie  Berichte  feiner  Agenten  unb 
Korrefponbenten  perlaffen.  <£benfo  t>erl}ält  es  fidj  mit  bem 
ZHinifter,  er  muß  fefyen  unb  fyören  mit  ben  5lugen  unb  ©fyren 
feiner  Untergebenen,  unb  ber  Souverän  gar  muß  faft  alles 
als  waliv  annehmen;  bie  <?>ut>erläffigfeit  ber  perfonen,  benen 
er  fein  Dertrauen  fdjenft,  enthält  für  t^n  bie  einige  (Sarautte 
ber  iDafyrfyeit.  Überall  alfo  bie  Unabwetslicfyfeit  ber  <£nt* 
gegennafyme  ber  tDafyrfyeit  aus  3weiter  fjanb,  bie  Unmöglich* 
feit  ber  eignen  prüfung. 

So  beruht  mithin  unfer  gan3es  £eben  auf  tEreu  unb 


^72  Kapitel  IX.   Die  fötale  ttTecfcamf*   Das  SiitUd>e« 


(glauben  —  auf  bem  poftulat  bes  <5Iaubens  von  ber  einen, 
auf  bem  ber  Creue  pon  ber  anbern  Seite.  Unfer  gaujes 
£eben,  fage  ich.  ZTid)t  alfo  ber  (Befchäftsperfehr  allein,  an  ben 
man  regelmäßig  allein  benft,  roenn  man  r>on  Creu  unb  (Slanfan 
fpricht  (ähnlich  tpie  bie  Homer  bei  bona  [602]  fides),  fonbem 
unfer  gan3es  £eben  in  all  feiner  Dielgeftaltigfeit,  in  alten 
feinen  Per3tpeigungen  unb  Derfyältniffen,  nicht  minber  benen 
bes  öffentlichen  tpie  bes  Privatlebens.  t)ie  €ntftellung  ber 
XDal}vl\eit  tann  bas  (Sind  eines  Zllenfctjenlebens,  ben  Seftanb 
einer  5reunbfd?aft,  ben  5neben  ber  5amilie  pernichten,  an 
ber  Un3uperläfftgfeit  ber  öericfyterftatter  fann  ber  2?uin  bes 
(Sefchäftsmannes,  ber  Derluft  einer  Sd\lad\t,  ber  Sturj  einer 
Dynaftie,  bas  Sdjicffal  einer  gan3en  ZTation  hängen*),  ©b 
bas  (Bebäube,  bas  mit  brüd]igem  ZTCaterial  erbaut  rpirb, 
groß  ober  flein  ift,  ob  Bosheit,  2lbfkht  ober  Ceichtfinn,  ttw 
3ut>erläffigfeit  brühiges  ZHaterial  ftatt  faltbarem  liefern,  bas 
(ßebäube  ftür3t  3ufammen,  roenn  bas  ZHaterial  nichts  tanqt. 
Der  Saumeifter  fann  nicht  jeben  Stein,  ben  er  pertpenber, 
felber  prüfen,  er  mu§  fich  auf  feine  Cieferanten  unb  ^anb* 
langer  perlaffen,  bie  Perläßlichfeit  ber  perfonen  muß  ihm  bie 
bes  ZTIaterials  perbürgen. 

tDafyrfyafttgfeit  bilbet  alfo  bie  (ßrunbbebingung  unferes 
gan3en  menfchltchen  (Betriebes.  2ln  Stelle  ber  tDahrhaftigfeit 
bie  Hn3uperläfjtgfeit  gefefet,  unb  bie  gan3e  Sicherheit  bes 
Cebens  roirb  bebroht,  ber  Sejlanb  ber  gefellfchaftlichen  (Drb* 
nung  in  feinen  (ßrunbfeften  erfchüttert.  [603]  Darum  ift  ber 
Cügner  einer  ber  gefährlichen  5einbe  ber  (5efeHfd)aftr  piel 


*)  Das  3a^r  *870  *lat  nns  f**r  oxe  festere  Behauptung  einen 
fd?lagenben  Betueis  gegeben.  Die  fra^öfifcfye  ITation  rjat  bie  U^nner* 
läfftgfett  ber  fran3Öpfd?en  auswärtigen  biplomatifd?en  Bericbterftatter 
unb  ber  eititjeimtfcfyen  milttärif  djen  Autoritäten,  n>eld?e  ben  vom  trau* 
3<5ftfd?en  Stanbpunfre  aus  l}öd?ft  verfrühten  Tlusbvnd)  bes  Krieges  per* 
fd]ulbeten,  teuer  be3atjlen  muffen» 


Schale  <5efa(jr  ber  Unrpa^r^ti 


^73 


gefährlicher  als  ber  Dieb,  gegen  ben  man  ftch  bis  su  einem 
getx>iffen  (grabe  sorfehen  fann,  er  fielet  auf  einer  Cinie  mit 
bem  Znün3fälfd]er  ober  bem  5älfcher  von  Urfunben.  ZTTan 
fann  einmal  nicht  alle  ZHm^en  unb  Urfunben  felber  unter* 
fuchen,  man  muß  fie,  rt>o  ftc  nicht  felber  ben  Derbacht  h^r< 
sorrufen,  unbefehen  als  echt  annehmen.  2tn  biefern  Sicher* 
heitsgefühle  Ijängt  ber  gan$e  Derfefyr.  Angenommen,  bie 
^älfchung  bes  (ßelbes  unb  ber  Urfunben  u>äre  erlaubt  jiatt 
perboten,  unb  bie  XDelt  toürbe  mit  falfchem  (5elbe  unb  mit 
gefälfehten  Urfunben  überfchroemmt,  fo  tx>ürbe  bie  ganje  3h* 
jlitution  bes  (Selbes  unb  ber  Urfunben  bamit  ben  Cobesjloß 
erhalten  fyaben,  jebes  Stücf  (Selb,  jebe  Urfunbe  müßte  auf 
ihre  (Echtheit  geprüft  roerben.  <ßan3  ebenfo  perhält  es  fkh 
mit  ber  IDahrheit.  Die  (Ehrlichfeit  unb  IDahrhaftigfeit  als 
JHafimen  bes  gefetlfchaftlichen  £ebens  tjinn>eggebad]t,  unb 
feiner  fönnte  bem  anbern  trauen,  jebe  2lusfage,  Zeitteilung, 
«guficherung  müßte  auf  ibre  guserläfjigfeit  unb  IDahrheit 
geprüft  werben,  unb  felbft  biefe  prüfung  toürb*  nur  in  ben 
toenigpen  5äIIen  ben  getoünfehten  (Erfolg  fyaben,  nämlich  nur 
ba,  wo  ber  prüfenbe  ohne  Zuhilfenahme  ber  2Jusfagen  anberer, 
benen  ja  einmal  nicht  3U  trauen  n>äre,  ftch  mittels  ber  eignen 
Sinnesioahrnehmung  ober  Schlußfolgerung  bie  Übe^engung 
t>on  ber  IDahrheit  ber  behaupteten  Catfache  [604]  perfchaffen 
fonnte,  als  ipahr  tpürbe  bann  nur  gelten  fönnen,  a?as  man 
felber  tsahrgenommen  hätte. 

Das  tüäre  ber  guftanb  ber  (Befeflfdjaft,  tpenn  voix  uns 
bie  IDahrhaftigfeit  aus  ihr  hinroegbächten.  <£s  ift  bas  argu- 
mentum ad  hominem  für  ben  praftifd]en  gefellfchaftlichen 
IDert  ber  XDahrhaftigfeit.  IDer  ftch  über  ben  praftifchen 
IDert,  bie  XTottpenbigfeit  ober  Überflüffigfeit  porhanbener 
(Einrichtungen  ober  allgemein  befolgter  Ztlajimen  bes  menfd}3 
liefen  fjanbelns  belehren  tpill,  benfe  fie  fich  fynwcQ,  bie  Cücfe, 
bie  bann  entfteht,  a>irb  ihn  barüber  aufflären,  tP03U  fte  ba 


Kapitel  IX.   Die  fatale  med?anif.    Das  Sittliche* 


fmb.  £}ätte  bie  <£tfyf  beim  JDahrheitsgebot  biefen  tt)eg  ein* 
gefchlagen,  jte  hätte  nicht  fo  gänsltd?  in  bie  3rre  gehen  fönnen, 
iubem  ße  ben  (ßrunb  besfelben  anftatt  in  bie  <5efeßfchaft  in 
bas  3nbir>ibuum  perlegte,  ©hne  JDahrhaftigfeit  fann  bie 
(Sefellfdjaft  nicht  befielen  —  bamit  ift  bas  IDahrhettsgebot 
in  einer  IDeife  bargetan,  gegen  bie  fein  iDiberfpruch  cmf3u< 
fommen  permag,  unb  welche  bie  Unabweisbarfeit  besfelben 
auch  bem  blöbeften  Derftanbe  einleuchtenb  macht.  3fi  aber 
biefer  Safe  wahr,  fo  ift  bamit  auch  bie  fittliche  Derwerflichfeit 
ber  £üge  über  allen  «gweifel  erhoben:  wer  lügt,  taftet  eine  ber 
(ßrunblagen  ber  gefellfchaftlid^en  ©rbnung  an.  (Db  bie  £üge 
jemanbem  fdjabet  ober  nicht,  fommt  babei  nicht  in  öetrachh 
Das  ift  blojj  bie  nächjfe  unmittelbare  U?irfung  berfelben,  pon 
ber  u>ir  bie  entferntere  mittelbare  für  bie  (5efetlfchaft  311 
unterfchetben  fyaben.  Der  Stanbpunft  ber  Beurteilung  ber 
lefeteren  ift  nicht  [605]  ber  biefes  ei^elnen  5aDs  —  biefe 
ein5elne  £üge  wirb  bas  Dertrauen  3ur  tDahrhaftigfeit  nid?t 
erfchüttem  —  fonbern  ber  abftrafte,  fur3  ausgebrücft:  bie 
£üge  als  allgemeine  ZlTapime.  XDas  pon  bem  $aüe  gelten 
würbe,  wenn  alle  ober  t>iele  lögen,  Ijat  auch  pon  bem  3U 
gelten,  wenn  ein  etn3elner  lügt,  es  fann  etwas  in  thesi  nicht 
gefeUfdjaftswibrig  fein,  was  es  nicht  auch  in  hypothesi  ift. 
Die  Schlacht  geht  barum  noch  nicht  perloren,  ba§  ein3elnc 
fiteren,  was  würbe  aus  bem  E|eere,  wenn  ihr  Vergehen  nid]t 
betraft  würbe?  <San3  basfelbe  gilt  pon  bem  ein3elnen  £ügner 
—  was  würbe  aus  ber  (Sefeßfdjaft,  wenn  alle  ober  piele 
lägen?    Die  Antwort  tfl  oben  erteilt 

Die  bisherige  Ausführung  wirb  ben  ZTadjweis  erbracht 
haben,  wie  bie  (ßefellfchaft  ba3u  gelangen  fonnte,  bie  Un- 
wahrheit 311  perbieten.  H?äre  it^r  biefelbe  pöHig  ungefährlich, 
wäre  3. 33.  eine  Cäufdjung  wegen  lofaler  Schranfenlojtgfeit  ber 
menfchltchen  Sinnes  Wahrnehmung,  wegen  abfoluter  Untrüg« 
lid)feit  bes  menfchlichen  Denfens  fdjlechthm  unbenfbar,  ober 


Schale  (Sefatjr  ber  Unma^r^eti 


^75 


mürbe  ber  XTtenfdj  nur  basjenige  für  waty  galten  fönnen, 
was  er  felber  wahrgenommen  ober  begriffen  fyätte,  fur3  trmre 
ber  ZTfenfdj  von  ber  ZIatur  anbers  gefdjaffen,  als  er  es  tft, 
fo  würbe  fte  ebenfotoenig  Urfacfye  haben,  bas  lügen  311  t>er* 
bieten,  u>ie  bas  Sitten,  fte  n>ürbe  barin  vielmehr  nur  ein 
barmlofes  Spiel  ber  pfyantafie,  einen  Sdjer3  ober  eine  Cor» 
tjeit  erblkfen,  bie  £üge  roürbe  auf  einer  £inie  mit  ber  33e* 
fyauptung  ftefyen:  ba§  es  Cag  fei,  tüäljrenb  es  Hadjt  ift,  ober 
ba{$  3W>eimal  [606]  3tr>ei  l^unbert  fei  —  man  umrbe  über  fte 
lachen  ober  ben  ZlTenfdjen  für  r>errücft  galten,  Hur  bie  be* 
fdjränfte  ftnntidj*geiftige  £latur  bes  ZtTenfcfyen,  bie  i^n  nötigt, 
bie  IDafyrfyeit,  ftatt  fte  allein  burdj  fid?  f elber  3U  getx>innen, 
aus  3tt>eiter  Qanb  3U  be3tel|en,  perlest  ber  £üge  i^ren  ge* 
fätjrlidjen  unb  bamit  ihren  gefeHfd]aftstr>ibrtgen,  b.  i.  unfttt* 
liefen  C^arafter.  Die  Behauptung:  „bie  IDahrheit  fei  nicht 
um  bes  Ztlenfchen  teilten,  fonbem  ber  Zfienfdj  um  ber  Waliv* 
fyeit  mitten  ba"*),  enthält  einen  21usflu§  jenes  ungefunben, 
ftd)  felbft  übergipfelnben  etfyf djen  3bealismus,  ber  in  ber 
ftttlidjen  IDelt  an  bie  Stelle  ber  menfchlidjen  (SefeUfchaft  bie 
3bee  fefet,  unb  fonfequenterroeife  auch  bahin  gelangt  ijt,  ben 
fütlichen  prin3ipien  felbft  für  gebachte  fyötjere  XPefen  über 
bem  ZHenfchen  (Seltung  3U  t>inbi3ieren  (Kant).  Die  gan3e 
SittlichFeit  aber  ift  nichts  als  ber  burch  bie  (Erfahrung  er* 
mittelte  3nbegriff  ber  menfeh  liehen  £ebensbebingungen  — 
an  Stelle  ber  Zfienfchen  ein  anberes  IDefen  gefefet,  ein  fyöfyeres 
ober  ein  nieberes,  unb  bie  gan3e  Sittlichfeit  ttmrbe  eine  anbere 
werben,  benn  jebes  (Sefefe,  felbft  bas  Xtaturgefefe  ftnbet  feinen 
(ßruub  unb  fein  TXlafa  in  bem  <£ni>stoed  ber  gan3en  Schöpfung: 
ber  (Erhaltung  beffen,  u>as  fte  gefchaffen  t^at**),  —  alle  <Se< 
fefee  ohne  2lusnahme  fmb  liYPOtfyetifdj, 

*)  So  tpörtitcf?  IHar teufen,  Die  d?rtftltd?e  cEttn'f*  Spe^eller  Ceil, 
llbt  l   Die  inbtoibuelle  €ttjtf.    (Sott^a  1878.    S.  255. 

**)  Selbft  tPte  ber  Xllenfc^  jefet  einmal  tji,  l^aben  für  tfyn  bte 


476 


Kapitel  IX.   Die  fötale  ttlediaitif.   Das  Sittliche* 


[607]  Wäte  jene  Jtuffaffung  bes  IDa^eitsgebots  bie 
richtige,  fo  müßte  jebe  Übertretung  besfelben  unfittlid?  fein, 
unb  es  madtf  einen  feltfamen  Cinbrucf,  tr>enn  biejenigen, 
welche  basfelbe  in  biefer  fdjroffen  (ßeftalt  auf  [teilen,  gleicfy 
tool^l  21usnafymen  3ulaffen*),  bann  muß  man  tnelmefyr  and] 
ben  sollen  ZHut  ber  Konfequens  ljaben  unb  jebe  2lusnal}me 
t>ertr>erfen**).  <£s  gibt  nur  eine  Sllternatme:  entoeber  bie 
JDelt  ift  um  ber  tDafyrijeit  roegen,  ober  bie  IDa^r^eit  ift  um 
ber  XDelt  roegen  ba  —  alles  anbere  ift  X^albljeit,  unb  rr>er 
t>or  ben  praftifdjen  Konfequen3en  bes  erfien  [608]  Satjes 
3urüdfd)ri(ft,  muß  ifyn  felber  opfern,  ober  richtiger:  er  befennt 
pdf,  ofyne  es  5U  roiffen,  3U  bem  3tx>eiten. 

3tt>eif ellofeften  ftttlid?en  (Srunbfäfee  bann  feine  (Seltung,  wenn  ttjre  Vin&* 
füfyrbarfeit  an  ben  gegebenen  3eitlid?en  ober  örtlichen  23ebingungen  bes 
iebens  f Rettert  Angenommen,  ber  <Jlecf  £rbe,  auf  ben  eine  23eDoIfe- 
rang  311m  gmeef  i^rer  (Ernährung  angemiefen  ift,  unb  ben  fte  ntdjt  3u 
t>erlaffen  imflanbe  ift,  biete  nur  x  XlTenfd?en  Haltung,  fo  muß  ber 
Überf  dmß  über  x  befeitigt  werben,  fei  es  bie  2IIten,  mie  bies  bei  mannen 
£>öl?ern  gefdneljt,  wo  ber  Solm  bem  Dater  mit  bem  fedftigften  Jatnre 
anfünbigt,  baß  er  jetjt  genug  gelebt  Ijabe,  ober  bas  Übermaß  ber  £Teu* 
gebornem  IDürbe  ber  pro3entfatj  ber  meiblidjen  unb  männlidjen  (Sebnrt 
fidj  nadj  ber  einen  ober  anbern  Seite  fyin  in  ber  IDeife  änberu,  baß  auf 
\00  von  ber  einen  300  oon  ber  anbern  fämen,  fo  märe  bie  monoga* 
mifd?e  ^orm  ber  €fye  unmöglia?  gemorben,  ober  ber  Itlenfdj  müßte  bas 
tnißt>eri}ältms  ber  Hatur  burdj  Cötung  bes  Überfdmffes  mieter  ans* 
gleichem  2lls  infolge  bes  Dreißigjährigen  Krieges  bie  33eoolferung  außer* 
orbentlid?  gelittet  mar,  marb  in  einer  fübbeutfeben  Stabt,  bereu  Hamen 
mir  augenbltcflidj  entfallen  ift,  ben  idj  aber  bei  (Selegentjett  ber  3c* 
tjanblung  ber  monogamtf djen  $oxm  ber  <£lje  nadjtragen  merbe,  bie  poly 
gamie  erlaubt* 

*)  Wie  es  IHartenfen  (5*  259  ff.)  tut 

**j  So  tat  es  2Iuguftinus,  meiner  behauptete:  wenn  audj  bas 
gan3e  menfd)lid?e  (gefdjledjt  mit  einer  einigen  £üge  3U  retten  märe,  fo 
müßte  man  es  lieber  oerloren  getjen  laffen,  als  eine  Unmaljrfyett  fagem 
So  ^idjte,  ber  auf  bie  efrage,  mas  ber  XTtann  machen  folle,  wenn  er 
üorausfefye,  baß  bie  tobfranre  Jrau  an  ber  burd?  bie  gemüufd?te  IHtt* 
teilung  ber  XDaljrheit  ((£0b  bes  Kinbes)  bemirften  <S em üts erreg u na 
fterben  mürbe,  antwortete;  fttrbt  bie  ^Jrau  an  ber  lX>aln*l}eit,  fo  laß  fte 
fterben* 


(gefdjtdjtlidfe  €nttPt<flutt$  bes  VOa\\xke\ts$tbois.  %77 


Unb  ba3U  h<**  ftch  auch  bas  Volt  von  jeher  befannt 
Sowenig  wie  aUe  anbern  ftttlid^en  (Sebote  ift  auch  bas 
IDahrh^itsgebot  ber  Zfienfchhett  in  bie  lütege  gelegt,  fie  hat 
es  nicht  befommen  auf  bem  It)ege  einer  apriorifttfehen  Ein- 
gebung ober  ber  allmählichen  (Entfaltung  eines  in  bem 
ZTlenfchen  feimartig  befchloffenen  Criebes  $nt  IPa^r^cit,  fon* 
bem  jte  t(at  es  ftnben  muffen  unb  3war  finben  an  ber  fyanb 
ber  Erfahrung.,  welche  fte  über  bie  Nachteile,  bie  mit  ber 
Cüge  perbunben  finb,  aufflärte. 

So  ti<xt  benn  auch  bie  Entwicflung  bes  It>ahrh*itsgebots 
in  ber  IHenfchheit  Schritt  gehalten  mit  ihren  realen  guftänben, 
nicht  bie  JDahrheit  ift  bas  Urfprüngliche  gewefeu,  fonbern 
bie  Cüge.  Das  beweift  bie  Erfahrung  beim  Kinbe,  meines 
in  alter  ttaitx>tät  lügt  unb  auf  biefem  f inblichen  Stanbpunfte 
befmben  ftch  noch  h^t3utage  manche  Zlatursölfer  (3.  23.  bie 
Sübfeeinfulaner) ;  fte  erbltcfen  in  bem  Cügen  ein  unfchulbiges, 
harmlofes  Spiel  ber  phantafte,  Diäten  unb  Erbieten  fallen 
hier  noch  3ufammen.  2Ttit  ber  Cüge  läßt  auch  bie  mofaifdje 
Schöpf ungsgefchichte  ben  2tbam  beginnen,  unb  bie  E^oäter 
fefeen  bas  £ügen  munter  fort  unb  fügen  noch  bas  Betrügen 
hin3u.  Abraham  lügt,  baß  fein  JDeib  feine  Schwerer  fei 
(ZHofes  I,  \2,  \3;  20,  2),  ebenfo  3faaf  (27,  7),  3afob  betrügt 
unter  Anleitung  ber  ITCutter  feinen  »ruber  um  ben  Segen 
(27,  9— wirb  bann  feinerfeits  t>on  [609]  Caban  betrogen, 
ber  ihm  bie  falfche  Codjter  unterfd^iebt  (29,  21—25),  unb 
bem  er  feinerfeits  lieber  ben  Streich  mit  ben  Cämmern  fpielt 
(30f  37 — ^3).  Der  Verehrung  ber  3uben  x>or  ihren  Stamm* 
oätern  h<**  *>ies  feinen  Abbruch  getan,  woraus  fich  ergibt, 
bafc  fie  bas  £ügen  unb  Betrügen  mit  gän3Üch  anbexn  2lugen 
angefehen  t\aban  als  wir. 

<5an3  basfelbe  wie  t>om  jübifchen  gilt  auch  00m  grtechi- 
fdien  Altertum.    Qier  lügen  unb  betrügen  felbfi  bie  <5ötter, 
|  Ejera  betrügt  ben  (Batten  geus,  pallas  Athene  nimmt  jeglidje 


^78         Kapitel  IX.   Die  fojiale  Ittecfyantf*  Das  SittliAe* 

(Seffalt  an,  bie  ifyr  paffenb  erfdjeint,  um  bie  Sterblichen  3U 
täufdjen,  unb  an  Kermes  ftnbet  bic  £üge  fogar  ifyren  eignen 
(Sott  —  33etoeis  genug,  baß  3U  ber  als  bie  griecfyfcbe 
Jtnytfyologie  ftdj  bildete,  bas  Polf  in  bem  £ügen  unb  Seirügen 
nod]  nichts  erblicfte,  was  ftd]  mit  ber  PorfteHung  eines  (Sottes 
nidjt  pertrug.  3)en  <£r3Dätern  ber  3**beu  entfpricfyt  ber  er« 
fmbungsreidje,  b*  fy.  beutlidjer  ausgebrüeft  ber  verlogene 
©byffeus,  biefer,  um  mid)  eines  türfifcfyen  2Jusbrucfs  3U  be* 
bienen,  Pater  ber  £üge  bes  griedjif cfyen  Altertums,  unb  bei 
Horner  gereicht  iB]m  biefe  £igenfd]aft  fo  wenig  3um  Portourf, 
ba§  er  umgefefyrt  barob  Ijod]  beumnbert,  gepriefen  xtnb  ge* 
feiert  toirb,  <£rfi  bem  tn3isifd]en  fortgefdjrittenen  ftttlid]en 
33etr>u§tfein  ber  fpäteren  <5>eit  erfdjeint  er  tok  bie  gan3e  (ßötfer* 
tr>elt  in  anbexem  £id]t  (€uripibes) ,  berfelbe  Umfdjtoung  wie 
er  fpäter  bei  ben  jübifdjen  Sdjriftftellem  ftdj  aud]  in  be3ug 
auf  bie  Beurteilung  ber  jübifdjen  Ur3eit  so^iefyt  (^ofea  \2). 

[610]  Sei  ben  Hörnern  ift  ber  Betrug  in  ^anbel  unb 
XPanbel  erft  in  fefyr  fpäter  Seit  verboten  u>orben,  ber  dolus 
toar  urfprünglicfy  im  ^anbelsperfefyre  fd)led]tfyin  erlaubt,  unb 
erft  allmäfylid]  fdjieb  fid]  ber  dolus  malus  x>om  bonus  (S.  455), 
3uerft  in  ber  Sitte,  bie  jenen  in  getoiffen  Pertrauenst>erl]ält« 
niffen  mit  3nfamie  belegte,  bann  im  Hedjt,  weld\ee  ii^n  be 
ben  contractus  bonae  fidei  fdjledjtfyn  verpönte  unb  anwerbe 
nod)  eigene  Klagen  3ur  Perfolgung  besfelben  aufteilte  (3uer 
bie  fpe3teflen  2)olusflagen,  bann  bie  genenerelle  actio  de  dolo) 

©b  es  bei  ben  (ßermanen  anbers  getsefen?  2lrminiu 
perbanfte  feinen  Sieg  über  ben  Parus  bem  Perrat,  ber  grojj 
Oieoborid)  beladete  ftd]  mit  bem  ZHorbe  bes  ©boafer  gege 
bas  ifyn  gegebene  IPort,  bie  Staufen  u>aren  bas  t>erlogenjt 
Polf  ber  IPelt,  bie  Ztibelungenfage  enbet  mit  bem  Perrat  ber 
Kriemfylbe,  unter  ben  germanifdjen  (ßöttem  ftfet  aud]  £oft, 
ber  (Sott  ber  £üge,  ein  Seitenftüc!  3um  gried)ifd?en  Kermes. 

Unb  u?enn  tr>ir  neben  biefen  Seugniffen    ber  Sage, 


Die  «getten  ber  £ifl  unb  bes  Betrugs. 


V9 


(ßefcfyidjte  unb  Znytljologie  audj  bas  ber  Sprad?^  Dementen 
wollen,  fo  enthält  ber  Heidjtum  ber  IDenbungen,  mit  bem 
ftc  bie  roiffentlic^e  Ccmfcfyung  be3eid]net,  eine  2lusfage,  bie 
jebes  Kommentars  entbehren  bürfte*), 

[611]T>te£atfadje,  bie  wir  bamit  fonjlatiert  I^aben,  fyat  als 
folcfye  feinen  weiteren  lüert,  als  ba§  fie  bie  3eitlidje  <£nf* 
wicflung  bes  IDaljrfyeitsgebots  außer  Zweifel  jteflt,  womit 
ftdj  aud]  bie  von  uns  befämpfte  natipiftifd^c  ober  empirijiifd?e 
JDafyrfyeitstfyeorie  vertragen  würbe,  inbem  fie  uns  entgegen* 
fefeen  fönnte:  ber  bem  UTenfcfyen  angeborene  IDafyrljeüstrieb 
fei  erft  allmäfylidj  3ur  (Entfaltung  gefommen.  3ljrcn  lüert 
als  Argument  für  bie  Hidjtigfeit  unferer  realijlifdien  ZDafyr* 
fyeitstbeorte  gewinnt  jene  Catfadje  erft  baburd?,  baf$  wir  ben 
urfprünglicfyen  &uftani>  unb  ben  fpäter  ftdj  tJoQsiel^enben  Um* 
fdjwung  unter  bem  praftifdjen  (geftdjtspunfte  beurteilen.  Um 
ben  (ßegenfafc  einmal  redjt  fcfyroff  aus3ubrücfen,  fo  beliaupte 
id\:  es  fyat  für  alle  Dölfer  eine  gett  gegeben,  wo  bie  füge 
nidtf  bloß  praftifdj  ungefährlich,  fonbern  nötig  war  (in  ber 
erften  Sichtung  wiH  idj  fie  als  23etrug,  in  ber  3weiten  als 
£ift  be3eid^nen),  erft  als  bie  Derfyältniffe,  welche  btes  bebtngten, 
jtdj  änberten,  unb  in  bemfelben  ZHaße,  als  bies  gefdjafy  ift 
bas  lüafyrfjeitsgebot  3ur  (ßeltung  gelangt. 

Die  ZTotwenbigfeit  ber  £ijh  Wo  bas  Hedjt  bem 
3nbioibuum  nod)  nicht  bie  Sicherheit  feines  Dafeins  gewährt, 
ift  lefcteres  3um  «gweefe  feiner  Selbjterljaltung  auf  bie  (Sewalt 
angewiefen,  unb  wo  bie  (5ewalt  nicht  ausreicht,  auf  bie  £ifi. 


*)  3m  Deutfdjen:  £üge,  Betrug,  £ug  unb  (Erug,  £tfl,  £)tnterlift^ 
2Jrglifr  (falfcfyljeit,  (Eücfe,  ijetmtücre,  Derfiellung,  (Samterei,  Sdflaufyeit, 
Derfdjlagentjeit,  Derfcr/mitjtrjett,  Schelmerei,  burd?trieben,  gerieben,  fyinter- 
gelten,  täufer/en,  belügen,  betrügen,  bernefen,  anführen,  Überliften  uftr». 
Heben  ber  beutfdjen  fann  fldj  auefy  bie  lateinifcfye  feigen  laffen:  fraus, 
dolus,  astutia,  calliditas,  fallacia,  dissimulatio,  commentum.  perfidia,  frau- 
dare,  circumvenire,  deeipere,  fallere  u.  cu  m* 


^80        Kapitel  IX.   Vit  feciale  IKedjamf.   Das  Sittlid** 

Die  £ift  ifl  bie  gebotene  JDaffe  bes  Schwachen  [612]  im  Kampfe 
mit  ber  Übermacht,  unb  auch  bie  lefetere  perfchmäht  fte  nicht,  um 
leichter  5um  giele  3U  fommen.  (ßercalt  unb  £ift  ftnb  3n>ei 
^tPtßmgsfchtpeftern,  bie  überaß  nebeneinanber  auftreten,  tso 
bas  Hecht  noch  nicht  bas  Seinige  getan  hat,  ober  tr>o  es,  tx>ie  im 
Kriege,  feine  (5eltung  behauptet  Der  dolus  ift  in  foldjen  g>\\' 
ein  bonus,  weil  er  ben  mangelnben  Sdjufc  bes  Hechts 
erfefet,  unb  bie  (Erfahrung  3eigt,  baß  bie  Dolfsart  bem  entfpricht, 
ein  3u^an*rfrtak£  *ft  t>erfchmifeter  unb  t>erfchlagener  als  bie 
meijlen  (£rmad]fenen  bei  uns.  Ulan  benfe  ftd?  ben  3nbianer 
im  Urwalbe  mit  unferem  gläubigen  Dertrauen,  er  märe  Der* 
loren,  Dorjtcht,  HTigtrauen,  £ift,  Perfchlageuheit  gegenüber 
aßen  Begegnenben,  bie  er  nicht  fennt,  bilben  für  ihn  bie 
unerläßliche  Bebingung  fetner  Sicherheit.  2luf  biefem  (Sc- 
hote ber  Hot  beruht  bie  Unwahrbaftigfeit  unb  ^alfdjfyeit 
aßer  Pölfer,  bie  lange  unter  bem  Drude  bes  Defpotismus 
geflanben  ^aben  —  bie  £üge  enthält  bie  Ausgleichung  bes 
Übergewichts  ber  brutalen  (Bewalt.  Die  ein3ige  frage,  bie 
fte  auf  wirft,  ifi  bie  2his  ficht  auf  (Erfolg;  ein  jtttliches  Be* 
beuten  ift  ihr  fremb. 

Die  praftifdje  Ungefährlichfeit  bes  Betrugs. 
Den  festeren  2tusbrucf  nehme  ich  ^ier  im  Sinne  bes  Hechts, 
alfo  als  Betrug  im  fjanbel  unb  HJanbel.  Wo  ber  ^anbel 
noch  in  ber  Kinbheit  liegt,  befdjränft  er  fich  auf  eine  fleinc 
gafyl  pon  (Segenftänben,  bie  jeber  fennt,  unb  über  bie  jeber 
ein  Urteil  fyat:  Dieh,  (Setreibe,  IPaffen,  Sflaoen  unb  einiges 
wenige  mehr,  unb  bie  (ßefafyr  bes  [613]  Betrugs  wirb  hier 
burch  biefe  Kenntnis  unb  bas  eigene  Urteil  fo  gut  wie  aus* 
gefchloffen,  jeber  prüft,  beoor  er  fauft  —  es  gilt  bas  Sprüdf« 
wort:  bie  2tugen  ober  ben  Beutel  auf,  nur  bie  Dummheit 
lägt  fich  betrügen,  unb  ihr  gefd?ieht  es  recht. 

hiermit  ift  3ugleich  ber  <5ruub  angegeben,  warum  ftd? 
bies   änbern   muj$,   wenn    ber   ^anbel    fid?   erweitert  — 


Per  t$tortfcf?e  Umfdjumng  311t  XPa^r^afttgFeit. 


erweitert  fotoofyl  in  be$VLQ  auf  bie  gafy  ber  (Segenjianbe,  als 
auf  bie  perfonen,  roelcf|e  fte  feil  bieten«  H?er  fann  beibe 
nodj  in  bem  ZHage  fennen  rote  früher?  Zllan  muß  in  sielen 
Sailen  fidj  auf  lefetere  serlaffen,  bie  ZDarjrfyeit  aus  sroeiter 
Banb  muß  bie  aus  erfter  fjanb  erfefeen,  bas  X>  ertrauen  wirb 
eine  unabweisbare  5orberung  bes  Derfefyrs,  unb  Sitte  unb 
Heerdt  entfpredjen  bem,  inbem  fte  ben  Betrug  serpönen,  3U« 
erji  bie  Sitte,  bann,  wenn  fidj  ifyr  Sdjufe  als  unausreicfyenb 
erweift,  bas  8edjt.  3)as  (gefefe  ber  XDafyrljaftigf  eit  tjat  3U* 
erft  feine  praftifcfje  <5eltung  erlangt  in  fjanbel  unb  JDanbel 
((ßrunbfafe  ber  €t|rlidjfeit,  S.  ^53),  weil  basfelbe  jtdj  Bjier 
praftifefy  am  unabweisbarften  erweiji,  unb  für  Horn  laßt  ftcfy 
bie  intereffante  Catfadje  naefj  weifen,  baß  es  fpe3tell  ber  inter* 
nationale  Hedjtsperfefyr  (bas  (Sebiet  bes  jus  gentium)  ge* 
wefen  ift,  alfo  ber  jenige,  bei  bem  ber  Unbdannte  bem  Un« 
befannten  mit  ben  Waten  bes  2luslanbes,  b*  folgen,  bie 
ber  <£infyeimifcfye  minber  fannte,  als  bie  bei  ifym  gangbaren, 
gegenüberftanb,  wo  ber  (5runbfafc  ber  <£fyrlid}feit  (bona  fides) 
3uerft  praftifdj  t>erwirflid}t  worben  [614]  ift,  —  fämtltcfye 
contractus  bonae  fidei  gehören  bem  jus  gentium  an. 

So  poÜ3tet|t  ftdj  alfo  bie  fyjtorifdje  (Entwidmung  bes  IDafyr« 
fyeitsgebotes  nad?  XHaßgabe  feiner  praftifcfjen  Xtotwenbigfett 
—  unbefannt,  folange  es  entbefyrlidj  war,  fteHt  es  ftdj  ein, 
als  ber  5ortfcfjritt  bes  £ebens  es  erfyeifcrjte.  Unb  gan3  bas- 
felbe Derrjältnis  bewährt  ftet?  bis  auf  ben  heutigen  Cag  an 
ber  <£rfafyrungstatfadje,  baß  bas  weibliche  (ßefd^lecfjt  es  mit 
ber  £Dat}rt|eit  minber  ftreng  nimmt  als  bas  männliche.  IDenn 
bas  £eben,  b.  bie  €rfenntnis  son  ber  Hotwenbigfeit  ber 
EDaBjrfyeit  in  allen  Derfyältniffen  bes  Cebens  bie  praftifdje 
Scfyule  ber  IDafyrfyeit  bilbet,  fo  muß  notwenbigerwetfe  ber 
ZHann  biefer  Belehrung  in  ungleich  fyöfyerem  (ßrabe  teilhaftig 
werben  als  bas  IDetb,  benn  bie  IDelt,  in  ber  fte  ftd?  bewegt, 
iji  bie  ber  oier  JDänbe:  bas  f[aus,  bie  ZDelt  bes  JHannes 

v.  3b c ring,  Der  ga»ecf  im  Hed?t.  IL  31 


^82         Kapitel  IX.   Die  fatale  Hledjantf.   Das  Stttttcfce* 

ift  bie  gan$e  große,  weite  Welt:  Ejanbel  unb  XDanbel,  <5e* 
fdiäftst>erfefyr,  2Imt,  IDiffenfdjaft,  unb  überall  prebigt  fte  ibm 
bas  (Sefefc  ber  IDaljrljaftigfeit.  Was  bebeutet  praftifefy  bie 
Un3ux>erläfftgfeit,  Untpafyrljaftigfeit  ber  5rau  gegenüber  bem 
enormen  Unheil,  roeld^es  biefelbe  beim  ZHamte  in  öffentlichen 
DertrauensfteDungen  unb  felbft  im  <5efd?äftsleben  anftiften 
fann?  £jat  bie  <£rf  enntnis  ber  <5ememgefäljrltd}feit  ber  £üge 
bem  Xllenfdien  bas  2tuge  über  ifyre  Derroerflidifeit  geöffnet, 
fo  muß  nota>enbigeru>eife  bas  (Sefü^l  von  ber  Derpflidjtung 
jttr  lüaljrljaftigfeit  im  ZHanne  ftärfer  entroicfelt  fein  als  im 
IDeibe.  [615]  Xüat|r^aftig!eit  ift  bie  fpe3iftfd]e  Cugenb  bes 
ZTüannes,  Ciebe  bie  ber  5rau,  in  be3ug  auf  bie  erftere  fcfylägt 
ber  Ztlann  bie  5rau,  in  be3ug  auf  Iefctere  bie  5rau  ben  ZHann. 
Sei  beiben  ift  bies  bie  5olge  ber  ifyten  3ufaIIenben  eigen* 
tümlicfyen  Aufgabe,  bas  Kinb  richtet  an  bie  ZHutter  bie  2lu* 
forberung  ber  Siebe,  bas  £eben  an  ben  ZHann  bie  ber  Waty-- 
^aftigfeit  unb  guserläfftgfeit  Die  £iebe  —  xd\  meine  bie 
ed?te,  wallte,  bie  fyngebenbe,  fiel?  felbft  sergeffenbe  —  biefe 
Ciebe  ift  erft  burefy  bie  ZHutter  in  bie  Welt  gefommen  — 
unb  auefy  fte  nid\t  von  allem  Anfange  an,  fonbern  audj  fic 
liat  wie  alle  Cugenben  fid}  erft  atlmäfylid}  entoicfeln  müffen, 
aud)  fte  ift  ein  probuft  ber  <5efd|id}te,  aber  bie  Zlatur  B^at 
burdj  bas  Kinb:  bie  ffilflofigfeit  besfelben,  bie  unausgefefete 
pflege,  toeldje  es  erforbert,  bie  5orgen,  weld\e  es  ber  ZTiutter 
t>erurfad}t,  unb  burdj  bas  £ädjeln,  ben  £iebrei3,  bie  2ln^äng 
lidjfett,  mit  ber  es  iBjr  loljnt,  fur3  burd?  bas  Kinb  tjat  bie 
Hatur  bafür  geforgt,  baß  bie  £iebe  in  ber  2ftutter  3um  Da 
fein  gelange,  Don  iE^r  ftammt  alle  tsafyre  £iebe  ber  IDelt 
alle  anbere  £iebe  außer  ber  ber  ZlTutter  ift  eine  übertragene, 
t?on  ifyr  entlehnte,  an  ber  tHutter  3uerft  t^at  bie  UMt  erfahren 
tsas  toafyre  £iebe  ift  unb  tr>as  fte  permag,  —  bie  XHutter 
liebe  ift  ber  Urquell  aller  £iebe  in  ber  Welt  Vas  ift  be 
tiefe  Sinn  bes  gried]ifd>eit  Znytfyus  oon  (ßott  2lmor  — •  es  t 


Die  jtttltcfy  erlaubte  £iige* 


^83 


bas  Kinb,  bas  bie  £iebe  ent3ünbet  2tber  bei  21mor  fehlt  bie 
ZHutter  unb  bie  x>ollenbete  Symbolifterung  ber  £iebe  ^at  erft 
bie  fatholifche  Kirche  [616]  geliefert,  inbem  fie  bas  3efusfinb 
ber  ZHaria  in  ben  2lrm  legt:  bie  ZHutter  (Softes t  ber  Urquell 
aller  £iebe,  vereint  mit  bem  Kinbe  bie  perfonififation  bes 
<£x>angeliums  ber  £iebe.  (Erft  t>on  ber  XHutter  fyat  ber  ZHann 
lernen  muffen,  was  wahre  Ciebe  ift,  unb  ihrem  Urbilbe  per* 
banft  er  bie  feinige.  Vem  Urbilb  ber  £iebe,  bas  jte  ihm 
porhält,  ftellt  er  feinerfeits  bas  ber  IDafyrfyaftigfeit  gegenüber, 
jeber  perbanft  fein  Übergewicht  nach  ber  einen  Seite  £}tn  ben 
Antrieben,  £ehren,  (Erfahrungen,  welche  feine  eigenartige  £age 
ihm  entgegentrug,  unb  beibe  teilen  fich  bas  (Erworbene  mit, 
bie  $tan  lehrt  ben  2Hann  bie  Ciebe,  ber  ZHann  bie  5rcm  bie 
IDaljrliaftigfeit,  aber  ber  Schüler  erreicht  nie  ben  £ehrer,  in 
ber  ^ingebenben  £tebe  bleibt  bas  männliche  (Sefchlecht  ftets 
hinter  bem  weiblichen,  in  ber  IDahrhaftigfeit,  «guperläffigfeit 
bas  weibliche  Eintet  bem  männlichen  ftets  3urücf, 

2)ie  gutartige  £üge.  Wenn  ich  ftatt  bes  gangbaren 
Hamens  ber  Hotlüge  biefen  Hamen  wähle,  fo  geflieht  es, 
weil  ber  letztere  2Iusbrucf  pöllig  un3utreffenb  ift,  er  beeft  bie 
5rage  nicht,  um  bie  es  fiel?  hanbelt,  festere  hat  3 um  3nhal* 
bie  fittliche  S^läffigfeit  ber  £üge,  es  ift  aber  pon  vornherein 
flar,  ba§  bie  Hot  bafür  nicht  angerufen  werben  fann,  (Ein- 
mal nämlich  ift  ber  Segriff  ber  Hot  ein  fo  außerorbentttch 
elaftifcher,  baß  er  baburch  gän3lich  unbrauchbar  wirb.  2llle 
£ügen,  beren  jemanb  fich  bebient,  um  einem  brohenben  Übel 
3u  entgehen,  [617]  laffen  fich  unter  ben  (Sefichtspunft  ber 
Hot  bringen :  bie  bes  ZHörbers  in  ber  Unterfuchung,  bei  ber 
es  fich  um  ben  Kopf  han^elt,  bie  bes  Kaufmanns,  ber  3um 
Banferott  fteht,  bie  ber  5rau,  bie  ben  Porwürfen  bes  Vflannes, 
bes  Kinbes,  bas  ber  Züchtigung  ber  (Eltern  aus3uweichen 
gebenft  J)ag  bie  Hotlüge  in  biefen  fällen  erlaubt  fei,  Ijat 
noch  niemanb  behauptet,  man  müßte  biefelben  alfo  völlig 

3\* 


484         Kapitel  IX.  Die  fötale  ITCedjatttf.   Das  Sittliche. 

ausfcfyeiben,  um  ben  Begriff  aufrecht  3U  erhalten»  Was  bleibt 
bann  nodj  übrig?  (Einmal  bte  £üge,  meiere  ben  &xx>ed  fyat, 
einen  anbem  aus  ber  ZTot  3U  erretten.  Soll  fte  gemattet  fein, 
fo  barf  man  t>or  (Bericht  falfcfy  Zeugnis  reben  3ugunßen  eines 
^reunbes  —  ebenfalls  unmöglich  Sobann  bie  erlaubte  £üge 
ber  f^öfltdifett:  bie  font>entioneüe  £üge,  tt>ie  icfy  fte  nennen 
möchte,  von  ber  xdi  unten  fpredjen  rcerbe,  unb  bie  man  bei 
btefem  2lusbrucf  im  £eben  getr>öfynlidi  allein  im  2Iuge  Ijat; 
für  fle  tji  aber,  toie  bemnäcfyft  bavqetan  toerben  tsirb,  ber 
Jlusbrucf  ein  t>öHig  ungeeigneter* 

2>ie  5rage  von  ber  ftttlicfyen  guläfftgfeit  ber  £üge  enthält 
bas  (Eyempel  auf  bie  richtige  Formulierung  bes  XDaJjrbeits 
gebotes«    Bei  einer  abfoluten  faffung  besfelben  bleibt  nur 
bie  H>aJ|l,  entoeber  ber  Konfequen3  3uliebe  bie  Jlnforberunge 
bes  praftifcfyen  £ebens,  tseldje  für  bas  unbefangene  ftttlidj 
(Befüfyl  bes  Polfes  bei  biefer  frage  t>on  jefyer  ben  2lusfd?la 
gegeben  fyaben,  ober  iEjnen  3uliebe  bie  Konfequen3,  b.  i.  bas 
gan3e  prinsip  3U  opfern  —  [618]   in  beiben  fällen  eine 
Banf erotterMärung  ,  bort  naefy  ber  praftifcfyen,  l}ier  nadj  ber 
tlieoretifc^en  Seite  fyn*)* 


*)  2luf  bie  außerorbentlidj  retd^alttge  £tteratur  ber  frage  laffe  icb 
mtd?  Iner  nicfyt  weiter  ein,  id?  üertuetfe  auf  Hetntjarbt,  Syrern  ber 
d^rtftlidjen  ITCoral.  Bb*  3,  2IufL  Wittenberg  1807.  5.  \95  ff.  unb 
XTtartenfen  a*a*®*  S*  259 ff*  Sie  beginnt  mit  ben  griecfytfcfyen  philo- 
foppen  (für  bte  guläffigfeit) ,  fet$t  fld?  bann  fort  in  ben  d?rtjHidjen 
ICircfyenuätern,  bei  betten  3uerfl  bte  ftreng  rigortfitfd?e  2Jnfld?t  auftaucht, 
unter  itmen  aber  f elber  auf  IDiberftanb  flögt,  ein  gtutefpalt,  ber  ftd?  in 
ber  Befyanblung  ber  frage  burdj  bte  (Ideologen,  pfyilofopfyen  unb  felbft 
bte  ^nviften  (im  ttaturred?t)  bis  in  bie  neuefie  <§eit  hinein  behauptet 
Ijah  Die  nnglücfltdjfie  Stellung  bei  ber  frage  nehmen  fyer  btejenigett 
ein,  tuelcfye,  anftatt  wie  bie  offenen  Dertetbtger  ber  mtlberen  2lnftcbt  oon 
üornljerem  ben  bebingten  CtjaraFter  bes  IDafyrtiettsgebots  a^uerFemten, 
bie  abfolute  £latur  besfelben  behaupten  unb  oann  bod?  um  ber  „fyxsw 
1}arttgfett  ber  menfa?ltdjen  Sd?tt>ad$ett  tinllen"  bie  ftrenge  2Inforberuttg 
roieber  ermäßigen,  urie  es  3*B.  Hlartenfett  tut,  ber  bei  bem  Derfud>e, 


Die  ftttltdj  erlaubte  £iige* 


485 


Der  ZDeg,  ben  nur  eingefcfylagen  fyaben,  um  bas  ö?afy> 
Ijeitsgebot  311  begrünben,  bie  Ableitung  besfelben  aus  bem 
gefellfdjaftlidjen  groecfe,  bem  es  bienen  foQ,  überlebt  uns 
biefes  Dilemmas.  Das  g>n?ecEprin3ip  ift  von  pomfyerein  fo  ge- 
haltet, i>a%  es  bte  jtttlidie  guläffigfeit  tpie  Un3uläffigfeit  aus 
ftdj  3U  entlaffen  permag,  gan3  fo  u>ie  in  ben  obigen  5äüen 
bie  §uläfjtgfeit  unb  Un3uläffigfeit  [619]  ber  £nt3iefyung  bes 
(Eigentums  unb  bes  ZHenfdienlebens. 

Der  gute  §tpecf  iji  es,  ber  bas  2lbgefyen  von  ber  JDafyr* 
tjett  nidjt  bloß  rechtfertigt,  fonbern  3ur  Pflicht  madjt;  beibes 
gefyt  ^anb  in  Jjanb,  —  bie  £üge  ijt  fittlidj  erlaubt,  wo  fie 
pttlicf)  geboten  ift.  Der  gute  «gtpecf,  fage  icfy,  nidjt  bie  bloße 
gute  2lbfidjt  Das  (ßemeinfame  beiber  befielt  barin,  ba§ 
fie  nichts  für  ficfy  felber  fucfyen,  aber  bie  gute  21bfidjt  perträgt 
ftd)  aucfy  mit  einer  objeftip  unfittlicfyen  ober  recfytstpibrigen 
fjanblung  —  ber  etfyifdje  Crifpinismus*),  ipie  idf  ifyn 
nennen  mochte.   Sotpenig  bas  gute,  b.  i.  uneigennützige  ZTTotip 


ftd?  aus  ber  logtfdjen  Sacfgaffe,  in  bie  er  fid?  perrannt  l^at,  burd? 
allerrjanb  bialeftifd^e  Cafdjenfpielerfunftftücfe  3U  retten  (3*  23*  (Segenfat$ 
ber  nieberen  unb  rjörteren,  abftraften  unb  perfönlidjen  XPatjrfyett  S*  260 
3tr>ifdjen  bem  eisernen,  formal  rid?ttgen  unb  ber  bas  gan3e  Perrjältnis 
umfaffenben  XPa^rt^ett,  ber  XDarjrrjeit  unb  ber  XPeisfyett  S*  261  a»  mj, 
fdjlieglia?  3U  bem  Selbftroiberfprud?e  gelangt,  in  einer  f^anblung,  bie  er 
f elber  als  „unter  ben  gegebenen  Derrjältuiffen  für  beredjtigt  unb  pflia]t* 
mäßig"  anerfeunt,  „etmas  r>on  Sünbe  unb  ber  Dergebung  Bebiirfttges" 
3U  ftnben  —  bie  Strafe  ber  £}albrjeit,  bie  3tpei  Slnfidjten  geredet  roerben  rotIL 
*)  Der  fjeilige  <£rifpinus  ftatjl  £eber,  um  2lrmen  Scfyutje  baraus  31t 
madjen.  Das  römifd?e  Hedjt  l|atte  ben  Jaü  bereits  üorgefefyen,  1.  5$ 
§  X  de  furt.  ($7.  2)  .  .  et  is  furti  tenetur  qui  ideo  rem  amovet,  ut  alii 
donet.  (Eine  geroiffe  33erücfftcrjtigung  lägt  basfelbe  bem  moralifdj  aa^t- 
baren  flloi'w  bei  ber  red)ts  erübrigen  ^anblung  allerbings  angebeirjeit, 
nämlidj  bie,  ba§  es  in  bem  Jaüe  nid?t  dolus  (=  23osr|eit),  moran  fldj 
bie  3nfami*  knüpfen  trmrbe,  fonbern  bloße  culpa  (rjier  =  Sd?tr>äcr/e 
annimmt,  1.  5  pr.  de  servo  corr.  (\\.  3)  .  .  humanitate  vel  misericordia 
duetus,  1.  7  §  7  de  dolo  (%  3)  .  .  misericordia  (ftrenger  1.  7  pr.  Dep.J6.3), 
1»  U  §  3  quod  falso  (27.  6)  .  .  affectu  enim  magis  propensiore  quam  dolo, 
1.  8  §  JO  mand.  {\7.  \)  .  .  gratia,  1.  7  §  \0  de  dolo  (%  3). 


486         Kapitel  IX.   Die  fokale  HIed?aniF.   Das  Sittliche* 

bie  Übertretung  aller  fonftigen  fittlichen  (Sebote  3U  recht- 
fertigen nermag,  ebenforoenig  bte  bes  IDahrheitsgebots*  IDer 
um  eines  anbem  ttnllen  einen  dritten  belügt  ober  betrügt 
ober  falfch  geugnis  ablegt,  begebt  ettoas  objeftto  llnjtttliches 
ober  Bechtstmbriges,  bie  roo^toollenbe  2lbftcht  gegen  ben 
einen  liebt  bas  Unrecht,  bas  man  gegen  ben  anbem  [620] 
ober  gegen  ben  Staat  begeht,  nicht  auf,  fonft  toürbe  bte  gute 
2lbficht  aHe  Dergefjen  unb  Derbrechen  ^eiligen. 

Don  ber  £üge  aus  guter  2lbficht  unterfdjeibet  fict?  bie  3U 
gutem  &weäe  baburch,  bag  bas  präbifat  bes  (5uten  nicht 
bloß  für  bas  fubjeftioe  ZHoth),  fonbern  aud^  für  ben  inten« 
bierten  objeftit>en  (Erfolg  5utrifft,  unb  bies  ift  ba  ber  5all, 
tr>o  ber  Cäufchenbe  nicht  feiner  felbft  ober  eines  anbern, 
fonbern  lebiglich  bes  (ßetäufchten  toillen,  um  ein  brohenbes 
Unheil  t?on  ihm  ab3uroehren,  [ich  bie  Oufchung  erlaubt, 
üorausgefefet,  ba§  fie  ben  Umftänben  nach  bas  einige  ZTTittel 
tr>ar,  um  ben  getoünfehten  <§tr>ecf  su  erreichen,  wie  bies  in 
ben  oben  angeführten  Beifpielen  ber  5all  ift.  Die  £üge  per» 
bient  hier  ben  Hamen  ber  rettenben.  Der  ZHann  rettet  bie 
5rau,  ber  2tr3t  ben  patienten,  ber  Selbl\ext  bas  Ejeer  uftr>., 
biefe  Bettung  ift  Pflicht  unb  voo  bas  einige  3U  bem  gtoeefe 
gebotene  ZHittel  in  ber  Cüge  befteht,  tsirb  bamit  bie  £üge 
nicht  blo§  3uläffxg,  fonbern  Pflicht.  BTag  ber  ftarre  BToralijt 
in  ber  Cüge  ein  moralifches  (ßift  erblicfen  —  bas  <5ift,  bas 
bem  (Sefunben  ben  Cob  broht,  bringt  bem  Kranfen  Reifung. 
ZHag  er  bie  £üge  bie  iinjlemis  unb  bie  tDahrheit  bas  Sicht 
nennen  —  im  gimmer  bes  2lugenFranfen  nach  ber  Star» 
Operation  muft  $xr\ftevnis  iietx\d\en,  bas  £icbt  bebeutet  biet 
bie  eisige  Had^t  bes  2luges.  <San3  fo  perhält  es  ftch  mit 
ber  IPahrheit  —  wo  ihr  £icht  ben  Cob  bringt,  ift  bic  Der' 
hüllung  besfelben  pflid}t,  ba  macht  berjenige,  ber  es  enthüllt, 
ftch  bes  tflorbes  fchutbig.  Sichte  [621]  h<*t  fid?  3"  ber  feit* 
famen  Behauptung  perftiegeu,  ba§  in  ber  Derhütluug  ber 


Die  fdjonenbe  £üge* 


$87 


IDafyrtjett  in  biefen  5ällen  ein  (Eingriff  in  bte  ^rei^cit  bes 
anbem  liege.  2tls  ob  man  bann  nidjt  aud]  ben  Selbftmörber 
jtdj  ertränfen  ober  Rängen  laffen  unb  ben  ZDunfdj  bes  2lugen* 
franfen,  ber  bas  £idjt  begehrt,  erfüllen  müßte.  2)er  formale 
(ßefiditspunft  ber  5reifyeit,  wenn  er  überhaupt  fyer  angerufen 
werben  fönnte,  würbe  in  be3ug  auf  bie  H?al|r^eit  gerabe  3U 
bem  entgegengefejjten  Hefultate  führen,  benn  er  würbe  für 
ben  £ügenben  bas  Hedjt  3m:  £üge  ergeben,  ein  2lnfprudj  bes 
anbem  Ceits  auf  bie  iDafyrfyeit  lägt  fidf  ifym  ebenf owenig 
entnehmen,  wie  alle  fonftigen  2lnfprüd|e  fidj  mittels  feiner 
gewinnen  laffen.  Der  allein  entjcfyeibenbe  (Beftcfytspunft  ift 
bie  5orge  um  bas  JDofyl  bes  anbem,  bie  Derpflidjtung,  einen 
anbern  3U  retten,  ber  ofyne  uns  verloren  wäre;  bürfen  unb 
follen  wir  3U  bem  gweef  unfer  eignes  £ebeu  baxan  fefeen, 
beffen  (Erhaltung  anbererfeits  bodj  ebenfalls  jtttlicfye  pflidjt 
iji,  fo  bürfen  unb  follen  wir  aud)  bie  £)at|rfyeit  opfern,  wo 
bavan  bie  Hettung  bes  anbem  fyängt 

Don  ber  rettenben  £üge,  welche  bie  2Tforal  nidtf  blojj 
perftattet,  fonbern  erforbert,  unterfdjeibe  id}  eine  anbere,  beren 
Verantwortung  bie  Sitte  3U  übernehmen  Ijat,  idj  will  fie  bie 
f onoentionelU  ober  bie  fdjonenbe  £üge  nennen.  €in 
23eifpiel  gewährt  bas  fog.  Derleugnen  gegenüber  einem  Sefudj, 
ben  man  nicfyt  annehmen  wiH  ober  fann  (man  ift  „nicfyt  3U 
Banfe")  ober  bie  2lblefyiung  einer  <£inlabung,  ber  man  nid^t 
5olge  leifteu  will  (man  ift  „perfynbert").  [622]  <£ine  3weifellofe 
£üge  unb  ber  Cfyeorie  bes  abfoluten  IDafyrEjeitsgebots  gegen- 
über in  feiner  ZDeife  3U  rechtfertigen.  J^at  bie  Sitte  fid?  r>er« 
gangen,  inbem  fie  biefelbe  3ulie§?  ZtTan  madje  bie  probe 
mit  bemjenigen,  gegen  ben  fie  begangen  wirb,  id)  meine  ben 
normalen  (SefeUfdjaftsmenfcfyen,  nid]t  ben  etfyfdjen  Doftrinär. 
ZHan  ftelle  i^m  bie  IDafyl  3wtfdjen  ber  tDafyrfyeit  unb  ber 
£üge,  ber  IDafyrfyett,  bie  für  ifyn  mit  einer  Verlegung  oer* 
bunben  ift,  unb  ber  £üge,  weldje  ifym  biefelbe  erfpart,  er 


488 


Kapitel  IX.  Die  fo3iale  ITCedjanif.  Das  5tttltd?e» 


wirb  nicht  3tx>eifeln,  toelche  pon  beiben  er  sor3U3tehen  I^at. 
In  biefem  £idjte  betrachtet  barf  ftch  bie  fdjonenbe  £üge  ber 
rettenben  sollfommen  ebenbürtig  3ur  Seite  (teilen,  beibe  t>er* 
folgen  einen  gerechtfertigten  gwed,  unb  für  bie  Sitte  be» 
Rauptet  ber  &voe<X  ber  Schonung  gan3  benfelben  IDert  a>ie 
für  bie  ZHoral  ber  ber  Hettung* 

T>ie  fchonenbe  füge  filtert  uns  auf  bie  ^jöflidjfeit  3urücf, 
bie  tx>ir  folange  aus  ben  2tugen  verloren  l{aben.  3dj  toürbe 
mir  ben  langen  Umioeg,  ben  ich  ben  £efer  im  bisherigen 
geführt  Ijabe,  nicht  serffattet  Reiben,  wenn  es  mir  lebiglich 
barauf  abgefehen  geroefen  roäre,  ben  richtigen  XTTajsjlab  für 
bie  etBn'fche  Beurteilung  bes  roahren  IDefens  ber  Ejöflichfeit 
3u  gewinnen;  bies  toctre  leidster  3U  erreichen  getpefen.  Zluv 
ber  Umftanb,  baß  ber  2Tachtt>eis  ber  praftifdjen  Bebeutung 
bes  tDahrheitsgebots  mir  an  biefer  Stelle  bie  bequeme  <Se* 
legenheit  bot,  bas  (Ergebnis  fofort  an  ber  ^öflichfeit  3U  t>er» 
roerten,  h<*t  widj  beftimmt,  bie  obige  tiefeingehenbe  Unter« 
judjung  h^r  einschalten,  wätyenb  [623]  ich  fie,  abgefehen 
bason,  einem  anbern  gufammenhange,  ber  teleologifdjen 
Kritif  ber  ZHoralporfchriften,  t>orbehalteu  haben  toürbe.  2)aß 
jte  ein  höchft  wichtiges  (Slieb  in  meinem  Svftem  bes  gvoeds 
bilbet,  brauche  ich  bem  £efer  nicht  erft  3U  fagen,  unb  toenn 
roir  erft  bar  an  gehen,  alle  Baufteine,  bie  u>ir  auf  unferem 
langen  JDege  gefammelt  liaben,  3ufammen3utragen  unb  3um 
Bau  3U  t>em>erten,  fo  unrb  es  (tch  3eigen,  baf}  bie  fyet  von 
mir  meines  Höffens  3uerft  ins  richtige  £icht  gerüefte  gefell« 
fchaftlidje  Bebeutung  bes  tDahrheitsgebots  einen  ber  €dfteiue 
bes  Baues  abgeben  tsirb. 


Hnfere  Betrachtung  ber  ^öflid^feit  h<*t  an  ber  Stelle, 
too  nur  fie  abbrachen  (S.  ^9)/  m*t  Srfenntnis  afcge« 
fchloffen,  ba§  ihr  IDefen  im  Sdjeme  befteht;  bie  bisherige 


Das  Sd?emu>efett  bei  ber  ^öfltd^feii 


Unterfudjung  ijat  uns  ben  Zllaßflab  geliefert;  ben  Schein  3U 
beurteilen. 

3fi  tiefer  Sdjein  £üge?  IDenn  feie  5rage  3U  bejahen 
tx>äre,  fo  müßte  biefe  2lrt  ber  £üge  ^ebenfalls  von  ber  oben 
ertx>ätjnten  fonpentioneüen  £üge  unterfdjieben  werben,  lefetere 
ifi  flets  £üge,  benn  fte  befielt  in  bem  Dorfdjüfeen  falfdjer 
Catfadjen,  jene  tDürbe  ben  Ztamen  nur  ba  t>erbienen,  wo  es 
an  ber  (ßejtnnung,  beren  Schein  bie  J^öflic^feitsformen  äußer- 
lich funbgeben,  fetjlt.  Da  es  tDÜnfdjenstx>ert  ift,  bas  fadjlidj 
Derfdjiebene  mit  serfdjiebenem  Ztamen  3U  belegen,  fo  roirb 
es  rx>ot)Igetan  fein,  ben  [624]  tarnen  ber  fom>entionellen 
£üge  auf  ben  erften  5<*ß  3U  befd}rän!en,  toäbrenb  es  ber 
Unterfucfyung  vorbehalten  bleiben  muß,  ob  bie  äußere  Se* 
adjtung  ber  Ejöfltcfyfeitsformen  in  bem  angegebenen  5ctHe  mit 
bem  Ztamen  £üge  belegt  3U  roerben  perbient. 

Angenommen,  baß  bie  f}öflid}fett  bei  bem  inbisibuellen 
Zfianget  ber  inneren  (ßeftnnung,  ber  im  folgenben  ftets  sor* 
ausgefegt  roerben  foll,  als  £üge  3U  djaraftertfieren  roäre,  fo 
roürbe  fie  ^ebenfalls  auf  ben  ZTamen  ber  gutartigen  im  obigen 
Sinn  Anfprudj  Bjaben,  benn  ber  gtoecf,  ben  fte  perfolgt,  liegt 
nid)t  in  ber  perfon  besjenigen,  ber  ftdj  ifyrer  unter3ief)t,  nicfyt 
in  einem  §rx>ecf,  ben  er  bamit  für  ftdj  erreichen  unH,  fonbern 
in  ber  bes  anbetn  Ceils,  in  einem  «gtsecfe,  ber  biefem  3ugute 
fommen  foll,  in  bem  23ejtreben,  ifyn  roofyltuenb  3U  berühren. 
AHerbings  famt  bie  ^öflidjfeit  aud)  für  benjenigen,  ber  fte 
erroeift,  itjre  ^rüc^te  tragen,  inbem  fte  ifym  ben  anbern  Seil 
geneigt  madjt  unb  bies  mag  fubjeftio  felbft  bas  VTiot'w  bilben. 
21ber  toie  immer  ijf  audj  i|ier  bas  fubjeftioe  IHotip  oon  bem 
objefttoen  gtoecfe  ber  Einrichtung  genau  3U  unterfcfyeiben, 
unb  inbem  toir  bie  5rage  auf  werfen:  ob  bas  Sd}eintr>efen 
ber  £{öfltdjfeit  als  Unwahrheit  3U  beftimmen  ift,  flellen  u>ir 
uns  nicht  auf  ben  Stanbpunft  biefes  ober  jenes  3n^^^wums, 
fonbern  auf  ben  ber  £(öflichfeit  als  einer  fo3ialen  3nfHtution. 


^C)0         Kapitel  IX.   Die  feciale  Ittecfycmtt  Das  Sittliche. 

bringt  ber  «gwecf  biefer  3^fHtution  es  mit  fid),  ba§  ber  Schein 
öie  iDafyrljeit  pertritt,  fo  barf  bas  3nbtt>ibuum,  wenn  barin 
eine  öige  gefunben  [625]  werben  follte,  ben  Porwurf  von 
fid|  ablehnen  unb  ber  Sitte  3uweifen* 

2llfo  bie  Sitte  ift  anklagen,  ba£  fte  mittels  ber  fjöfltcfy 
feitsformen  ein  Sdjetnwefen  in  bie  ZDelt  gefegt  Ijat,  bas  ftdj 
mit  bem  (ßebote  ber  IDafyrljaftigfeit  nidjt  perträgt?  IDer  es 
tun  will,  ber  mag  nur  gleidj  über  unfer  gan3es  Ceben  ben 
Stab  brechen  unb  audj  ber  poefie  unb  ber  Kunft  unb  felbft 
ber  Sprache  ben  Krieg  erflären.  3)en  Schein  aus  unferem 
£eben  perbannen  wollen,  ljei§t  ber  gansen  lüelt  eine  anbere 
(Seftalt  geben,  benn  fie  ift  burd)  unb  burd)  mit  Sdjein  per- 
fekt, nicfyt  bloß  bie  ZDelt  bes  frönen  Scheines:  bes  Dieters 
unb  Künftlers,  fonbern  aud)  bie  nüchterne  ber  realen  IDirf* 
lid]feit  ZTtan  benfe  fid)  ben  JMcfyter  ober  ben  Hebner,  bei 
jebem  JDort  ängftlid?  überlegenb,  ob  aud?  ber  2lusbrucf  ber 
(Empftnbung  ober  bem  (ßebanfen  pollfommen  entfprecfye,  bas 
£ineal  ber  H?al)rl)ett  an  alles  gelegt,  was  er  fagt  unb  fpricfyt. 
<£s  fye§e  bie  poefie  unb  Serebfamfeit  an  bie  Kette  legen, 
ifynen  ein  Bleigewicht  anhängen,  jeber  <Slan$  unb  Scfymucf 
unb  Sd)wung  ber  Hebe,  jebes  patljos  wäre  unmöglich  ge« 
madjt.  Unb  tpas  wäre  felbft  bie  Sprache  bes  gewöhnlichen 
Cebens,  wenn  man  alle  ihre  JDortbilbungen  unb  IDenbungen 
auf  i^ren  XDatjrljeitsgelialt  prüfen  unb  fämtliche  ausfeheiben 
wollte,  welche  bie  Prüfung  nicht  beftänben,  fie  tpürbe  einem 
gerupften  unb  feiner  Schwungfebem  beraubten  Dogel  gleichen* 
Zllan  achte  einmal  auf  fiel},  wenn  man  f pridjt,  unb  man  wirb 
fiel)  [626]  unausgefefct  auf  IDenbungen  eüappenf  bie  ebenfo* 
wenig  wahr  ftnb  wie  bie  üblichen  ^öflid]feitspl)rafen.  IDer 
bürfte  fich  noch  ber  IDenbungen  bebienen:  was  fann  es 
Schöneres  geben  —  ich  war  auf  bem  (Sipfel  bes  (ßlücfes 
unb  un3äl)lige  anbere,  bei  benen  bie  Übertreibung  bie  5orm 
bes  lebhaften  (ßefühlsausbrucfes  abgibt?  IDer  ftd)  im  Spred?en 


Ungefäbrüdnxtt  bes  Scheins  bei  Der  ^öfücbfeit» 


in  be^ug  auf  bie  Wahl  ber  21usbrücfe  burch  bas  ffrenge  d5efet$ 
ber  iDabrheit  leiten  laffen  null,  muf}  r>on  neuem  anfangen, 
bas  Sprechen  3U  lernen  unb  ftd?  feine  eigene  Sprache  bilben. 

Wet  biefe  tolle  3bee  oon  jtd)  rr>eift  unb  ftch  ber  Sprache 
bebient,  tx>ie  fte  nun  einmal  ift,  tr>irb  auch  bie  Sitte  fyn* 
nehmen,  toie  fie  einmal  ift,  unb  ibr  bie  Derantroortlichfett 
bafür  überlaffen,  ba§  fie  für  ben  gefelligen  Derfebr  an  Stelle 
ber  nadften  IPirflichfeit  in  fällen,  wo  fie  banach  angetan  ift 
3urücf5ufto§cn,  31t  perlefeen,  3U  erfchreefen,  ben  Schein  gefegt 
bat,  ber  fie  oertjüHt,  unb  ben  unangenebmen  (£inbrucf  burch 
einen  tr>obttätigen,  an3iebenben,  beiteren  erfefet.  (£in  fünfttiches 
(Sebi§  enthält  eine  Untx>ahrbeit,  eine  Cäufdjung;  aber  tt>ie 
banfbar  ftub  roir  ber  CEäufchung,  ba  fie  uns  ben  2Inblicf  ber 
flaffenben  &aty\li\de  erfpart.  Unb  ejbenfo  erfpart  uns  bie 
ÜTasfe,  toelche  ber  ZHenfd]  bei  ber  £jöflid]feit  vorlegt,  ben 
bes  häßlichen  (Seftctjts.  frforbert  bas  (Sefefe  ber  XDa^rf]eit, 
baß  bas  £jä§lid]e  fichtbar  toerbe?  Saufen  rr>ir  ber  Sitte, 
ba^  fte  es  nicht  fotseit  ausgebcljnf  t[at,  unb  nennen  mir  nicht 
falfch,  roas  itjr  3ufoIge  nur  bie  öeftimmung  [627]  ^at,  uns 
bas  f}ä£lid>e  3U  verhüllen.  Sotoenig  biefe  Se3eid^nung  für 
bas  jenige  patft,  toas  in  biefer  Se3ie^ung  auf  Hed]nung  bes 
2ln)tanbes  fommt  (S.  352),  foroenig  für  bie  fjöflichfeit,  ber 
richtige  2lusbrucf  ift  Kunft,  fünftliche  ZTachbilbung  besjenigen, 
u>as  fehlt. 

Unfere  bisherige  Betrachtung  fd|Itc§t  mit  bem  Hefultat 
ab:  ift  bie  E|öflid>feit  als  £üge  3U  d^arafterifteren,  fo  gebührt 
letzterer  jebeufalls  bas  präbifat  ber  gutartigen,  fie  bat  nid]t 
ben  Stt>ecf,  Übles,  fonbern  (gutes  susufügen,  unb  nicht  bas 
3nbipibuum,  fonberu  bie  Sitte  bat  fie  311  vertreten.  <£s  ift 
aber  nicht  fd]toer  barsutun,  ba§  ber  Harne  £üge  auf  fte  gar 
feine  2lntr>eubung  erleibet. 

Von  einer  £üge  fann  mau  nur  ba  reben,  tr>o  bie  tEäu- 
fchung  beabfid^tigt  ift.   Dies  faßt  bei  ber  Böflid]feit  biuroeg, 


492 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Xdeö^amt   Das  Shtltdje* 


benn  bie  Jjöflichfeit  gibt  ben  Schein  nicht  für  IDahrheit, 
fonbern  für  Schein  ans.  Wct  bas  £eben  fennt,  weiß  bies 
unb  ift  gegen  bie  (Sefahr  gefiebert,  ben  Schein  für  IDahrheit 
$u  nehmen,  nur  ber  gän3lich  Unfunbige  fann  bie  üblichen 
^öflic^feitspBirafen:  ben  2Iusbrucf  ber  t>oHfommenflen  §oä\> 
adjtung,  ber  Ergebenheit,  ben  gehorfamen  Diener  ufw.  für 
bare  2Hün3e  nehmen,  er  gleist  bem  Kinbe,  bas  in  blanfen 
Hechenpfennigen  (Solbftücfe  erblicft,  unb  I[at  ftch  felber  bie 
Schulb  fetner  Cäufchung  bei3umeffen*  Dem  Kunbigen  ijl  be* 
f  annt,  baß  alle  biefe  Perjtcherungen  nicht  bem  3nbipibuum, 
fonbern  ber  abftraften  perfon  gelten  (S.  ^02),  unb  ba^er 
gegen  [628]  äße  perfonen  ohne  ttnterfdjieb,  befannte  wie 
unbefannte,  gleichmäßig  3ur  2lnwenbung  gelangen. 

Das  Scheinwefen  ber  fjöfüchfeit  tft  ba^er  nicht  als  füge, 
fonbern  als  3ßt*ft°n  (S.  3U  beftimmen,  es  gaufeit  uns 
ein  wohltuenbes  23üb  x>or,  bas  uns  ben  2lnblicf  ber  siel* 
leid}!  recht  abfehreefenben  IDahrheit  erfparen  foH.  Sowenig 
man  bem  Schaufpteler  ben  Dorwurf  machen  barf,  baß  er 
ftch  perfteüe,  heuchle,  f  owenig  bem  höflichen,  beibe  (teilen 
etwas  bar,  was  fie  nicht  finb,  aber  fte  seriellen  ftch  nicht, 
fie  fpielen  lebiglich  bie  Holle,  welche  ihnen  3ugewiefen  iji, 
unb  von  ber  jeber  weiß,  baß  es  eine  bloße  Holle  ifi,  unb  je 
r>oIIfommener  bie  3Öufton,  welche  fte  h^orrufen,  bejlo  mehr 
entfprechen  fie  ihrer  Aufgabe. 

Mm  bas  3U  fönnen,  muffen  fte  ftch  in  ihre  KoHe  hinein» 
benfen.  XDie  ber  Sdjaufpieler  ben  (Zfyavaftet,  ben  er  bar- 
5ufteHen  bat,  nur  bann  äußerlich  getreu  3ur  ^nfchauung  3U 
bringen  x>ermag,  wenn  er  ihn  vorher  innerlich  richtig  erfaßt 
hat,  ebenfo  ber  fjöf liehe;  fehlt  es  ihm  an  ber  inneren  <ße- 
ftnnung,  fo  muß  er  ftch  biefelbe  wenigfiens  intelleftuell  3U 
vergegenwärtigen  permögen,  um  ben  ZHangel  berfelben  un- 
fühlbar 3U  machen.  3n  biefem  intelleftuellen  Sinn  als  richtige 
<£rfenntnis  bes  (ßeiftes  unb  IDefens  ber  ^öflichfett  muß  bas 


(Eypen  ber  ^öfltcbfeti 


innere  JTtoment  kern  3nbu>ibuum  ebenfo  $u  eigen  fein,  tt>ie 
es  ihm  im  moralifchen  Sinn:  als  IDillensftimmung  abgeben 
fann  —  bie  (ßeftnnung  fann  fehlen,  bas  Derftänbnis  nicht. 
Daburch  [629]  unterfcheibet  ftch  öie  echte  fjöflidjfeit,  welche 
allein  biefen  ZTamen  perbient,  von  5er  bloßen  mechanifchen 
21brichtung,  ber  2)reffur  bes  £afaten.  £efetere  get^t  auf  in 
ber  rein  äußerlichen  Aneignung  unb  2tmpenbung  ber  por- 
getriebenen  Hegeln,  jene  erfaßt  biefelben  ihrem  Sinn  unb 
(Seifte  nach,  unb  ift  baher  in  ber  £age,  fte  3U  ergäben,  wo 
fte  nicht  ausreißen,  btefe  !ommt  über  bas  mechanifch  2ln* 
gelernte,  bas  Jtutomatentum  rxxdit  hinaus,  beibe  Cypen  per* 
halten  fich  3ueinanber  u>ie  ber  Künftler  3um  I^anbroerfer. 
3n  biefem  Sinn  erfaßt  unb  burchgeführt,  barf  ftch  bie  Qöf* 
lich?eit  ben  ZTamen  einer  Kunft  pinbi3ieren  —  bie  prafttfche 
Kunft  bes  Umgangs,  welche  im  £eben  ihre  Schaubühne  auf* 
gefchlagen  liat,  unb  beren  gtoed  es  ift,  basfelbe  3U  per* 
fchönern.  21uch  in  biefer  Kunft  ift  ber  gefchulte  ZHann,  ber 
in  ihren  (ßeift  eingebrungen  ift,  tpenn  ihm  auch  bie  (ßefinnung 
abgeht,  bem  bloßen  ZXaturaliften,  ber  nichts  als  festere  befifct, 
toeit  überlegen,  auch  fte  **>ill,  tüie  jebe  erlernt  (ein,  unb  auch 
fte  ift  jener  hochften  Steigerung  fähig,  bie  nnr  Dirtuofentum 
nennen. 

Diefe  ZHöglichfeit  ber  grabuellen  Steigerung  ift  feiner* 
Seit  (S.  290)  als  einer  ber  charafteriftifchften  §üge  ber  £}öf* 
lidtfeit  im  (Segenfa&e  3um  ilnftanb  namhaft  gemalt.  Bei 
lefeterem  greift  biefelbe  nur  nach  ber  negativen  Seite  hin 
plafe,  nicht  nach  ber  pofttipen:  es  gibt  (grabe  bes  2lnftößigen, 
nicht  bes  2lnftänbigen.    Der  Spielraum  ber  fjöflichfeit  ba* 
gegen  erftrecft  fich  nach  beiben  Seiten  hin,  [630]  unb  nach 
ber  pofttipen  Seite  hin  ermöglicht  er  nicht  bloß  eine  grabuelle 
t  2lbftufung,  ein  mehr  ober  minber  ber  Achtung  ober  bes  IDohl* 
[tpotlens,  bas  man  bem  anbern  äußerlich  3u  ernennen  gibt, 
jfonbern  eine  Perfchiebenheit  bes  gan3en  Cypus  ber  £jöflich* 


Kapitel  IX.   Die  fatale  IHedjantf,   Das  Sittliche* 


feit.  Weld\  r>erfd)iebenen  typifdjen  Cl^arafter  fann  nicht  ein 
unb  berfelbe  Ejöf Itd^fcttsaft  annehmen»  Der  (Srug,  ber 
(Empfang,  bte  2lnrebe  formen  fein:  fühl,  falt,  gemeffen  — 
herablaffenb,  pornehm,  gnäbig  —  bet>ot,  ehrfurchtsvoll,  unter* 
tänig  —  freunblich,  pertraulich,  h^3Üch  —  alles  innerhalb 
bes  Hammens  ber  Ejöflichfeit.  Die  ^öflid^feit  fann  inbit>i* 
bualifieren,  nuancieren,  ber  2tnftanb  nicht.  Der  (Srunb  liegt 
in  ber  nad}gett>iefenen  Derfdjiebenfyeit  beiber:  bie  £(öflichfeit 
fehrt  jich  gegen  bie  perfon,  ber  2lnjtonb  nicht,  bie  ^öflicb* 
feit  ijl  pofittt>er  2lrt,  unb  h<*t  ben  2lusbrucE  ber  (Sefmnung 
3um  groeefe,  ber  2tnftanb  ift  negativer  2Irt  unb  B^at  mit  ber 
(Sefinnung  nichts  3U  fchaffen.  Permöge  biefer  ihrer  Sigen« 
fdiaft  als  2lusbrucfsmittel  ber  (Sefinnung  fann  bie  £jöflid)feit, 
ohne  ftcf^  f elber  untreu  3U  toerben,  ebenfogut  bc3u  bienen, 
bie  Annäherung  3u  serhinbem,  als  jte  t|erbei3ufül]ren(  fte 
gleicht  ber  Buberftange,  toeld^e  bem  Bootsmann  ebenfogut 
ba3U  bient,  bas  Boot  r>om  £anbe  ab3ujto§en,  als  ans  Ufer 
heranziehen.  3m  erften  5aU  erreicht  fte  ihren  «gtoeef  ba* 
burch,  ba§  fie  bie  $etne,  im  3ix>eiten  baburch,  baß  fte  bie 
ZTäfye  ber  beiben  ftch  gegenüber  fteBjenben  perfonen  3ur  2ln* 
fchauung  bringt,  bort  burch  2lnfchlagung  eines  füllen,  [631] 
gemeffenen  Cons  ober  burd}  bas  Übermaß  ber  2lufmerffam* 
feit,  I|ier  burch  2lnfd)lagung  eines  Cons,  toeldjer  bas  Wol)h 
gefallen  an  ber  perfönlidjen  Berührung  unb  ben  IPunfdf 
ber  IDieberholung  berfelben  3u  erfennen  gibt.  2luch  im  erften 
5aQe  perleugnet  bie  Ejöflichfett  ben  gtoeef  nicht,  ben  fte  als 
faiale  3nf^tution  3U  ^füllen  Ijat:  bie  gefeüfchaftliche  23e* 
rührung  3U  ermöglichen,  benn  fie  ermöglicht  biefelbe  mit 
£euten,  benen  man  fonft  aus  bem  tDege  gehen  nmrbe. 

Den  äußerften  (Segenfafc  3U  biefer  abtsehrenben  JEjöflicf?- 
feit  t>ergegentr>ärtigt  uns  biejenige  2lrt  bes  Benehmens,  B>eld?e 
bte  Sprache  treff enb  ^er3lic^f eit  getauft  h<*t,  es  ift  bas  Ejer3  f elber, 
bas  innere,  echte  iPo^ItPollen,  welches  in  ihr  in  natürlicher, 


(Typen  ber  ^öfltd?!eti 


495 


unge3tt>ungener  IDeife  3utage  tritt,  ober,  um  einen  früher  ge* 
brausten  Ausbrucf  toieberum  auf3unel>men:  bie  Cransparen3 
bes  Siethens  im  äußeren  Benehmen.  XHit  ihr  nimmt  bie  f}öf  * 
lid)feit  benjenigen  (Ef^arafter  an,  in  bem  bie  (Etfyif  bisher  fälfeh* 
Itd?  ifyr  IDefen  ^at  erblicfen,  unb  nach  bem  fte  ausfchltepd? 
ihren  IDert  ^at  bemeffen  roollen:  ben  moralifchen,  unb  in  biefer 
(ßeftalt  barf  fte  in  IDirflichfeit  ben  Ztamen  beanfpruchen,  mit 
bem  bie  €thi?  in  Derfennung  ber  foialen  Seite  ber  Ejöfltd]* 
feit  ihre  CBjarafteriftif  hat  erlebigen  tooHen:  ben  einer  Cugenb. 

3ch  fyabe  hiermit  bie  3toeite  ber  brei  Aufgaben,  roelche 
ich  mir  oben  (S,  ^38)  geftettt  Blatte,  gelöft  unb  tr>enbe  mid] 
nunmehr  ber  britten  3U, 

3.  Die  Phänomenologie  ber  höflich?  eit 
[632]  Unfere  bisherige  Unterfuchung  hatte  bas  Allgemeine 
ber  X}öfltchfeit  311m  (ßegenftanbe:  Begriff,  <§u>e<f,  XDefen  ber 
Höflichkeit,  (ßegenfafe  berfelben  3um  Anftanb,  Verhältnis  bes 
äußeren  3um  inneren  ZHoment  uftr>.  An  biefe  allgemeine 
Ct^eorie  ber  £(öflichfeit  reiben  mir  im  folgenben  bie  <gu< 
j  f  ammenfteHung  f  ämtlicher  ein3elnen  Ejöflichfeitsformen,  unter 
welchem  Ausbrucf  roir  unter  Beibehaltung  bes  früher  (S,  2%) 
gerechtfertigten  Sprachgebrauchs  alle  (ßebote  unb  Hegeln 
oerfte^en,  roelche  bie  fjöflichfeit  für  bas  Benehmen  aufftellh 
(Einen  großen  Ceil  berfelben  haben  toir  bereits  früher  fennen 
gelernt,  es  tt>aren  biejenigen,  toeld^e  ausfchließlich  ber  Achtung, 
I^iehungsroeife  bem  £)ohltx>olIen  angehörten  (S.  398  ff., 
S.  ^3\ff.),  ein  anberer  Seil  ift  noch  rücfftänbig,  es  ftnb  bie» 
jenigen,  bie  ihnen  beiben  gemeinfam  finb. 

UTein  Augenmerf  bei  biefem  Stücf  unf erer  Aufgabe  ift 
3unächft  barauf  gerichtet,  bas  gefamte  ZHaterial,  toelches 
bie  Ejöflichfeit  in  biefer  Hid]tung  barbietet,  3ufammen3utragen. 
Auch  h*er  fteige  ich  toieberum,  um  mich  biefes  ZTTaterials  3u 
bemächtigen,  ebenfo  toie  beim  Auftanb,  bis  in  bie  tieften 


Kapitel  IX.   Die  fetale  medjamf*  Das  Sittliche. 


Xtfeberungen  bes  täglichen  Cebens  fyinab,  unb  toer  bas  Vor*  | 
urteil  fyegt,  ba§  es  für  bie  IPiffenfdiaft  eine  3)emarfations«  I 
Knie  gebe,  bie  jte  nidjt  überfcfyteiten  bürfe,  wirb  an  ber  9 
folgenben  ttnterfudjung  mdjt  geringen  SXnfiog  nehmen.  ttidjts 
tfi  für  mid|  $u  flein  unb  nrxbebenterxb  getsefen,  bem  tdj  nicfyt 
meine  [633]  2lufmerffamfeit  3ugeroanbt  \\abe,  felbft  bie  all* 
täglichen  pfyrafen  bes  Umgangs,  bie  rool^l  nodj  niemals  3um 
(Segenftanb   einer   unffenfdiaftlidien    Mnterfudjung  gemalt 
roorben  fmb,  fyabe  idj  für  meine  gtseefe  fyerange3ogen.  Vet 
(Erfolg  muß  lehren,  ob  bie  gewonnene  Ausbeute  ber  ZHüfje 
wert  war,  IHag  bas  ein3elne  als  foldjes  audj  nodj  fo  un< 
bebenterxb  unb  wertlos  fein,  auf  bie  <£rgebniffe,  bie  idj  iE>nen 
entnehme,  wirb  man,  wie  idj  fyoffe,  biefe  Se3eid]nung  nidjt  | 
anwenben. 

3dj  fyabe  midi  bei  ber  Sammlung  bes  ZHaterials  nidjt  ! 
bloß  auf  unfere  heutigen  i}oflidjfeitsformen  befdjrcinft,  fonbern, 
foweit  meine  eignen  Kenntniffe  ober  bie  freunblidje  Unter-  j 
ftüfeung  artberer  (Belehrte n  midj  ba^n  xnftanb  festen,  aud? 
bie  mancher  Pölfer  6er  Vergangenheit  unb  auger europäifdjer 
Dölfer  3ur  Pergleidjung  fyerange3ogen,  unb  biefer  £>ergleid?ung 
serbanfe  xd\  ein  Ergebnis,  bas  idj  3U  ben  toertoolljien  3äljle, 
bie  xd\  jemals  bei  allen  meinen  wiffenfdjafttidjen  Unterfudjungen  j 
gefunben  3U  haben  glaube,  unb  bas  mid?,  als  idj  es  fanb, 
im  Ijöcfjjlen  (Stabe  überrafcfyte.  (Es  war  bie  IDafyrnefymung, 
baß  formen,  welche  xd\  bis  batyn  für  rein  3ufättige,  will* 
fürlicfye,  national  bebingte  gehalten  fyatte,  ftdf  3U  ben  t>er* 
fdjiebenjien  Reiten  unb  unter  ben  entlegenften  Rimmels  jtridjen 
wieberfyolen.  3e  mefyr  idj  bie  Dergleidjung  fortfefete,  bejlo 
mefyr  jieHte  ftdj  eine  Übereinftimmung  biefer  formen  heraus 
unb  3toar  nidft  etwa  bloß  in  ben  wef entließen  punften:  in 
ben  (Brunbgebanfen  ber  £jöflid]Jeit  unb  in  [634]  benjenigen 
Sußerungsformen  berfelben,  bie  man  als  bie  natürlich  ge* 
gebenen  anfeljen  möchte,  fonbern  felbft  in  ben  fcfyeinbar  pöfltg 


rOtffenfäaftltdjes  3ntereffe  der  §öflid}?ettsform<m<  497 


tx>iHfürltchen,  font>entioneüen,  unb  fogar  für  biejenigen,  meiere 
ich  ab  Derirrungen,  2lustr>üchfe,  Öi3arrerien  ber  mobemen 
Eföflic^Jeit  3U  be3eidjnen  geneigt  voatf  fanb  ich  Parallelen  bei 
ben  alten  3uben,  bei  ben  3at)anenf  3apanern,  £t)inefen,  bei 
DSlfem  alfo,  3u>ifchen  benen  unb  ben  europäischen  Kultur* 
oölfern  jeber  (ßebanfe  einer  ursprünglichen  (ßemeinfcfjaft  ober 
Übertragung  ausgefchloffen  tr>ar.  3cfy  gelangte  3U  bem  Beful* 
tat:  auf  feinem  (gebiete  bes  burch  gefeßfchaftliche  3^perattee 
beherrfchten  Cebens,  tt>eber  auf  bem  bes  Hechts,  noch  bem 
ber  ZHoral,  noch  bem  ber  übrigen  (ßebiete  ber  Sitte  erflrecFt 
fich  bie  Übereinstimmung  fo  außerordentlich  weit  wie  auf  bem 
ber  fjöflichfeit  —  lefctere  fyat  bei  gleiten  Perbältniffen  über* 
all  nal^e3u  biefelben  Füchte  getrieben,  IDie  fie  in  be3ug  auf 
bie  5rü^eitigfeit  ihrer  (Entwidmung  bie  erfte  SteHe  einnimmt 
(Ztr.  \6),  fo  auch  in  be3ug  auf  bie  (Sleichartigfeit  berfelben» 
Zlirgenbs  fommt  ber  (Sebanfe  ber  römifchen  3ur^ßn  ÜOn 
ber  naturalis  ratio,  ben  wir  oben  bereits  an  bem  2lnjianbe 
bewahrheitet  traben,  ber  gefdjichtlichen  iDirftidjfeit  fo  nahe, 
als  bei  ber  Jjöflichfeit.  T>er  2lbjianb  3wifchen  unferem  Hecht 
unb  unferer  Zlloral  unb  bem  ber  Ojinefen  ift  ein  außerordent- 
lich weiter,  bagegen  ftimmt  bie  chinefifche  I}öflichfeit,  toie 
feiner3eit  nachgewiefen  werben  wirb,  mit  ber  beutfehen  bes 
vorigen  ^aiitl\nni>evts  in  ihren  [635]  (5runb3Ügen  überein, 
ber  £)eutfche  I)ätte  bei  bem  Cfynefen,  lefeterer  bei  jenem  in 
bie  Schule  gerben  tonnen. 

3ch  meinerfeits  barf,  um  mich  nicht  3U  weit  3U  sedieren, 
bem  (Sebanfen,  ben  ich  t^ier  ausgefprochen  Ijabe,  nicht  weiter 
naeftge^en,  ich  befchränfe  midi  barauf,  bas  XHatertal,  bem 
ich  ibn  entnommen  fyabe,  unb  mit  bem  ich  ihn  3U  beweifen 
^offe,  im  folgenben  bei  ben  ein3elnen  £)öflichfeitsformen  an- 
Sufüfyren,  aber  ich  glaube  bie  Überzeugung  ausfpredjen  3U 
bürfen,  baß  bie  IDiffenfchaft,  u>enn  fie  fich  anfdjicft,  ben 
retchen  Stoff,  ber  hier  nod?  unbenutzt  lagert,  3U  lieben  unb 

{      d.  3t?ering,  Der  ^tr>ecf  im  Hed^t.  II.  32 


493 


Kapitel  IX.   Die  feciale  XHe^anif»  Das  SMidie. 


3u  verwerten,  wobei  Sprachforfdjer,  Kulturhiflorifer,  €tbno* 
grapsen  fich  x>erbinben  müßten,  einer  reiben  Ausbeute  fidler 
fein  fann.  3n  ben  ^öflichfeitsformen  ber  Pölfer  fieeft  mehr, 
als  man  auf  ben  erjlen  23licf  vermuten  möchte.  3>afür  werbe 
ich  im  folgenden  unb  bei  ber  gefchichtlidjen  Betrachtung  ber* 
felben  bie  gewichtigften  Belege  beibringen, 

2lus  bem  Bisherigen  wirb  ber  Cefer  bereits  erfehen,  baß 
es  mir  nicht  um  eine  bloß  äußerliche  gufammentragung  bes 
mir  3ugänglichen  Materials  311  tun  ift,  obwohl  auch  fchon  bie 
bloße  3™>entarifatton  ber  Qöflichfeitsformen  ben  tDert  fyaben 
würbe,  ben  Heichtum  berfelben,  i>on  bem  wohl  bie  wenigjlen 
eine  jutreffenbe  PorfteHung  Reiben  werben,  3U  t>eranfchaulid)en. 
3ch  t\ahe  oben,  wo  ich  ber  Phänomenologie  ber  ^öflichfeit 
3uerft  gebachte,  bie  Aufgabe,  ber  jte  gewibmet  iß,  mit  ben 
IPortenKlaffiftfation  [636]  unb  2Inalvfe  ber  fföflichfeitsformen 
be3eid]net.  darüber  mögen  noch  einige  lüorte  geftattet  fein. 

J)ie  Klaffififatton,  2)iefelbe  foll  bie  <5egenfä£e  inner* 
halb  ber  Ejöflichfeitsformen  3ur  2lnfchauung  bringen,  nicht 
bie  innerlichen,  burch  ih^n  t>erfd]iebenen  (Bebanfengehalt  be< 
ftimmten  —  bies  ifi  bei  Gelegenheit  ber  Dichtung  unb  bes 
IDohtooHens  gefchehen  —  fonbern  bie  rein  äußerten, 
welche  fich  bei  ber  Betrachtung  ber  form  als  folcher  ergeben, 
bie  Derfchiebenheiten  in  bem  morphologifchen  «gufchnitt  ber 
form.  Keine  x>on  aßen  ben  t>ielen  Aufgaben,  bie  im  £aufe 
meiner  Unterfuchung  ber  ^öflid^feit  an  mich  herangetreten 
(inb,  ha*  m™  f°  siele  Schwierigfeiten  t>erurfacht  wie  biefe. 
3)er  Stoff,  ben  ich  3U  orbnen  hatte,  fchien  aller  Perfud^e,  ihn 
in  fefte  formen  3U  bringen,  3U  fpotten,  er  war  wie  eine 
flüffige,  weiche  XHaffe,  aus  ber  man  öaufteine  formen  fofl; 
faum  h<*t  mcm  fi*  geformt  unb  an  eine  bejlimmte  Stelle 
gebracht,  fo  fließen  fie  wieber  3tifammen,  feiner  hält  ftanb, 
es  i{i  biefelbe  weiche  ZHaffe  wie  sorher.  Jlber  fchließlid} 
glaube  ich  ben  Stoff  boch  be3wungen  3U  ha^en,  wenigjfens 


Klafftftfattoit  fcer  ^öfltdjfettsformen. 

hat  bie  Einteilung,  3U  5er  ich  gelangt  bin,  ftch  mir  bei  oft 
ipieberholter  Prüfung  unb  in  ber  21ntpenbung  jlets  betpährt, 
es  ifi  bie  bereits  angegebene  in  effeftipe,  fvmbolifche  unb 
perbale  Ejöflichfeitsformen. 

Es  fonnte  fcheinen,  als  ob  mit  biefer  Einteilung  noch 
eine  anbere  fyätte  perbunben  roerben  muffen:  bie  in  pojttipe 
unb  negatipe  Ejöflichfeitsformen,  b.  h*  folche,  [637]  tpelche 
auf  ein  Efanbeln,  unb  folche,  tpelche  auf  ein  Hnterlaffen  ge* 
rietet  finb»  iVäre  ber  (Segenfafc  begrünbet,  fo  roürbe  bamit 
meine  gan3e  begriffliche  Hnterf Reibung  von  JE^öflichfeit  unb 
Jlnftanb,  bie  feine^eit  auf  ben  <Segenfa£  bes  pofttipen  unb 
Hegatipen  gejietlt  rporben  ift,  hinfällig  tperben.  3ch  I^abe 
ben  Eintpanb  bereits  S.  379  *m  Vorübergehen  aufgetporfen, 
feine  Erörterung  aber  bort  noch  ausgefegt,  um  ihn  fyer,  tpo 
fie  ihre  richtige  Stelle  ftnbet,  tpieberum  auf3unehmen. 

2tls  23eifpiel  einer,  bem  äußeren  2lnfcheine  nach  negatipen 
£(öflichfeitsregel  nannte  ich  bort  bie  Verpflichtung ,  jemanben 
im  Heben  nicht  3U  unterbrechen  ober  ihm  nicht  bie  Unluft  3U 
verraten,  mit  ber  rr>ir  ihm  3uh§ren»  I}at  fie  in  IVirflichfeit 
auf  ben  ZTamen  einer  negativen  Hegel,  eines  Verbots  2ln* 
fpruch,  ober  haben  tpir  in  t^r  nur  bas  Seitenftücf  ber  fcheinbar 
pofttipen  2lnftanbsregetn  3U  erblicfen,  von  benen  tpir  feiner* 
3eit  nachgemiefen  iiaben,  baß  fie  nur  bie  ZTegation  ber  Hega* 
tion  enthalten,  b.  %  perbirgt  fich  unter  ber  negativen  Raffung 
nicht  bie  entgegengefefete  pofitipe  Hegel? 

Bekanntlich  fann  man  manche  Hegeln,  ohne  ber  natür- 
lichen <5eftalt  ber  Sache  groang  an3utun,  ebenfogut  pojttip 
als  (Sebote  n>ie  negatip  als  Verbote  faffen,  fo  3,  23.  bas  oben 
erörterte  IVahrh^itsgebot:  bu  follft  bie  IVahrheit  reben  ober: 
bu  follfi  nicht  lügen.  3"  berfelben  JVeife  rpürben  tpir  auch 
ber  obigen  negatipen  Hegel  eine  pofitipe  [638]  Raffung  geben 
fönnen,  fie  roürbe  bann  lauten:  lag  jeben  ausreben,  höre  ihm 
!  achtfam  3U. 

32* 


500 


Kapitel  IX.   Die  fatale  ITCedjattif.   Das  Sittltdje. 


3ft  nun  bie  VOaty  3U>ifd}en  biefen  beiben  möglichen  2lus» 
brucfsformen  —  td?  habe  I^ier  natürlich  nur  bie  Sprache  ber 
IDiffenfchaft,  nicht  bie  bes  £ebens  cor  2lugen  —  rein  Sache 
bes  Seitebens,  ober  ift  jte  nicht  burch  bte  innere  23ef Raffen« 
heit  ber  Hegel  t>orge3eichnet?  <£s  ift  bas  eine  5rage,  beren 
eingehenbe  prht3ipieHe  (Erörterung,  bie  nicht  leicht  fein  bürfte, 
ich  ber  £ogif  überlaffen  mu§,  bie  ich  aber  meinerfeits  feinen 
21njianb  neunte  3U  bejahen.  Sie  Raffung  ber  ein3elnen  Ge- 
bote beftimmt  jtch  meines  (Erachtens  nach  bem  pojttipen  ober 
negatipen  (Srunbcharafter  bes  prht3ips  ober  3nftituts,  beffen 
2tusflüffe,  2Intt>enbungen,  Setailbeftimmungen  jte  enthalten. 
Sementfprechenb  toürbe  bas  obige  (Sebot  pofttio  3U  faffen 
fein,  tx>etl  bte  Ejöflichfeit  pofttteer  2trt  iß,  es  fte^t  auf  einer 
Cime  mit  bem  ber  pünftlichfeit,  bei  bem  3tr>ar  bie  negative 
5ctffung,  ba|$  man  nicht  3U  fpät  fommen  foll,  möglich,  aber, 
toie  oben  (S.  ^02)  nachgetoiefen  iji,  bie  pofitise  Raffung,  ba§ 
man  $ur  rechten  geit  erfdjeine,  bie  allein  3utreffenbe  ijl. 

Unfer  Kefultat  ift:  ber  (Segenfafe  bes  pofttit>en  unb  Ztega- 
txven  ftnbet  bei  ber  I^öflicfyfeit  feinen  Haum,  alle  ^öflid]feits* 
regeln  finb  pojtttoer  2trt,  tt>ie  alle  Jlnftanbsregeln  negativer 
2trt,  bte  Raffung,  bie  man  beiben  im  Ceben  gibt,  iji  für  bie 
toiffenfchaftliche  Betrachtung  gleichgültig. 

Sagegen  gibt  es  einen  anbem  (Segenfafc,  ber  aber  für 
bte  Klaffiftfation  ber  JSöflichfeitsformen  ohne  Sebeutung  [639] 
iji,  ba  er  ftch  ber  x>on  uns  aufgejieüten  (Einteilung  berfelben 
in  effeftbe,  fvtnbolifche  unb  t>erbale  unterorbnet  unb  ftch  bei 
jebem  <5liebe  berfelben  txneberholh  <£s  ift  ber  3tt>ifchen  folgen, 
toelche  bas  Verhältnis  ber  (Sleichheit,  unb  betten,  tt>eldje  bas 
ber  Hnterorbnung  3toifchen  ben  jtch  gegenüberftehenben  per- 
fönen  3ur  Dorausfe^ung  l\ahen:  äquale  ober  gegenfeitigc 
unb  inäquale  ober  einfeitige  fjöflidjfeitsformen. 

Sie  2Inalyfe  ber  ^jöflichfettsformen.  Sie  ha*  Sur  2luf* 
gäbe,  ben  inneren  (Sebanf  engehalt  berfelben  bar3ulegen  3tt 


Die  effefttoen  ^öflidjMtsformen. 


50t 


bicfer  Hichtung  bleibt  uns  im  folgenben  nicht  r>tcl  mehr  3U 
tun  übrig,  ba  tx>ir  bereits  bei  <5elegenheit  unferer  fpracblichen 
Unterfuchungen  über  i>ie  2ld|tung,  bie  Ceilnahme,  bas  3ntereffe 
unb  bie  Dtenflfertigfeit  bas  iDefentliche  sorroeg  genommen 
haben.  <£s  roirb  jtch  alfe  nur  um  nachtrage  f|anbeln,  bie 
bort  fein  Unternommen  ftnben  fonnten,  unb  bie  bei  ber 
folgenben  Überfielt  an  geeigneter  Stelle  eingefchaltet  roerben 
foQen. 

\.  Die  effe?tit>en  i}öf  lichf  eitsf  ormen. 
5ie  finb  im  Vorübergehen  (S.  ^6)  bereits  berührt  £s 
finb  biejenigen,  meiere  für  ben  anbern  Ceil  einen,  roenn 
auch  noch  fo  unbebeutenben  praftifchen  tüert  h<*ben,  ihn  in 
irgenbeiner  JPeife  förbern.  Don  ben  beiben  anbern  2trten 
lieben  fie  fich  baburch  ab,  ba§  fie  nicht  bloß  ettt>as  bebeuten, 
bie  (Sefmnung  nicht  blojj  burch  irgenbein  Reichen  (Symbole, 
IDorte)  3ur  Kunbe  bes  anbern  [640]  Ceils  bringen,  fonbern 
baß  jte  etwas  finb,  ba§  fie  biefe  (5eftnnung  burch  einen  Dienft 
betätigen»  Der  JDert  jener  fteht  unb  fällt  mit  bem  £?erte, 
ben  ber  jenige,  bem  fie  ertotefen  werben,  auf  bie  (Sefinnung 
bes  anbern  Seils  legt,  er  ift  alfo  ibealer  2lrt.  Der  XDert 
biefer  ift  baoon  unabhängig,  bie  I^öflichfeitsafte,  welche  unter 
biefe  Kategorie  fallen,  behaupten  ihren  tt)ert  aud?  für  ben* 
jenigen,  bem  bie  (ßefinnung  bes  anbern  Ceils  söHig  gleich' 
gültig  iji,  fie  fyahen  einen  realen  XDert,  unb  wir  fönnen  pe 
baher  paffenb  mit  bem  ^Tarnen  von  Cetftungen  ber  Ejöflichfeit 
belegen. 

Die  eh^elnen  5äHe  finb  im  Verlaufe  ber  Darfteilung 
bereits  fämtlich  bis  auf  einen  genannt,  es  gehören  bahin  von 
ben  Ejöflidtfeitsformen  ber  Sichtung  (S.  398 ff.):  bas  Aus- 
weichen auf  ber  Straße  (Ztr.  2),  bie  Beantwortung  ber^rage*) 

*)  Sie  gefdjtefyt  3u>ar  mit  IDorten,  aber  bie  tPorte  fallen  fyer 
md}t  unter  ben  (ßeftcfytspunft  ber  vtxbaUn  fjöflicfyfettsformen.  Die 


502      Kapitel  IX.   Die  fostale  ITÜedjanif*  Das  Sittltdye, 

(Zlv.  4),  6ie  Sldjtfamfeit  auf  bic  Hebe  bes  anbem  (Ztr.  5),  bie 
piinftltdjfett  (Zlv.  8),  von  benen  bes  IDo^ItooHens  bte  DienfK 
fertigfett  (S.  ^3^),  Der  emsige  nodj  übrige  5all,  ben  t<äj 
3u  nennen  fy*be,  ba  bte  (Saftfreunbfdjaft  mit  ber  Bjöflidjfeit 
nichts  3U  fdjaffen  I^at  (5*  225  unb  ^30),  ift  bie  Vermittlung 
ber  perfönltdjen  Befanntfcfyaft  unbefannter  perfonen  (bas 
fog»  VorfteQen).  Sie  iß  ein  2tft  von  [641]  effeftioem  IDerte, 
ba  er  bte  Brücfe  fcfylägt  $ur  2lnfnüpfung  einer  perjonlid?en 
33e3teljung,  bte  unter  Umftänben  tjödjft  roertüoH  unb  folgen« 
retcfy  tt>erben  fann.  €tne  gefteigerte  5orm  besfelben  ift  bas 
Cmpfefylungsfdjreiben. 

2.  Die  fymbolifdjen  £}öf  licfyf  eitsformen. 

Unter  Symbol  t>erftel)t  bie  Sprache  einen  (ßegenfianb  ober 
einen  Vorgang,  ber  3ugleidj  ettoas  ift  unb  etwas  bebeutet. 
Daburdj  unterfdjeibet  ftdj  basfelbe  vom  Wort  Die  Be* 
jKmmung  bes  IVortes  erfcfyöpft  fiel?  Iebiglidj  barin,  etmas  311 
bebeuten,  Cräger  bes  (ßebanfens  3U  fein,  es  ijat  als  folcfyes 
nidjt  ben  minbejien  tVert  unb  gtoeef ,  pl^vfifd?  tfi  es  nid)ts 
als  Coner3eugung.  Der  (ßegenftanb  bes  Symbols  bagegen 
Ijat  eine  oon  bem  (ßebanfen,  bem  er  bienen  foll,  unabhängige 
€ytften3,  er  tfi  unb  er  u>ar  bereits,  beoor  ber  (Sebanfe  ifyt 
3U  feinem  Dtenjie  belieb.  Der  2lbler  bes  3upiter,  bie  €ule 
ber  Zfixnevva,  bas  £amm  unb  bas  Kreu3  ber  d]riftlidien 
Symboltf  u?aren  Iängft  ba,  bepor  man  iBjnen  bie  Beftimmung 
gab,  etu>as  3U  bebeuten,  tDäfyrenb  bas  IDort  erft  mit  unb 
um  bes  (ßebanfens  reißen  in  bie  JVelt  gefommen  ift.  IDer 
bas  IVort  fennt,  fennt  ben  (ßebanfen,  bagegen  fann  man 


Beantwortung  ber  tfrage  enthält  feine  bloße  Pfyrafe,  fottbent  ciuett 
effefttoen  Dtenft,  ben  ber  anbete  uns  leiftet,  unter  Ümftänben  einen 
fefyr  tpertooüen* 


Die  fymfcoltfd^tt  £}öfltd}fettsformett> 


503 


ben  (Segenfianb ,  ber  3um  Symbole  vevwenbet  tsorben  ijl, 
nocf?  fo  gut  fennen,  ofyne  von  ber  fymbolifcfyen  Bebeutung 
besfelben  bie  leifefte  2^nung  3U  fyabem 

Unfere  beutfdje  Sprache  t^at  bas  5rembtoort  mit  Sxnribxlb 
roiebergegeben  unb  mit  btefem  einen  J£>orte  ben  [642]  §tr>ecf 
unb  bas  IDefen  bes  Symbols  in  treffenbfter  lüeife  gefenn* 
3eidjnet*  (Es  iji  ein  23ilb,  bas  einen  Sinn  in  jtcfy  birgt,  b.  Ij. 
bas  feinen  <§tr>e<f  nicfyt  in  ftc^  felber  Ijat,  fonbern  in  bem 
(ßebanfen,  ben  es  ausbrüefen  foll.  2lucfi  bie  Sprache  hebxent 
ftdi  ber  Silber  31X  gleichem  gtseef,  Pon  biefen  fpracttlidjen 
Silbern  (ZHetapfyern)  unterfdjeiben  ftdj  bie  Symbole  baburefy, 
bag  jte  realer  2Irt  jmb,  man  fönnte  fie  plaftifdje  Zltetapljern 
nennen,  jene  roenben  fid\  an  bas  ©fyr,  biefe  an  bas  2tuge, 
bie  Symbolif  roiirbe  ftcfy  bafyer  beftnieren  laffen  als  plaftifdje 
Silberfpradje. 

2tuf  bem  angegebenen  Umftanb,  bag  bas  Symbol  3ugleii> 
ettoas  iji  unb  ehx>as  bebeutet,  beruht  bie  tfnpollfommenfyeit 
besfelben  gegenüber  bem  IDort.  Sei  festerem  ift  bas  3)e<fungs, 
t>erljältnis  3tr>ifd)en  Sinn  unb  21usbrucE  ein  üollfommenes ; 
üoUftchtbige  Kongruen3  beiber,  bei  jenem  ijt  es  ein  unpotl- 
fommenes,  es  liege  auefy  eine  anbere  Sebeutung  benfen. 
3nfofern  beruht  jebes  Symbol  auf  Konoention,  unb  in  biefem 
Sinne  Ijaben  tt>ir  oben  (S.  4^6)  bie  fymboIifd]en  fjöflicfyfeits' 
formen  als  lonoentionelle  be3etd]net  —  man  mug  ben  Sinn 
fennen,  ben  fie  Ijaben  follen,  um  jte  3U  r>erfteljen. 

2tber  toenn  audj  bas  2)ecfungst>erfyältms  bei  bem  Symbol 
fein  fo  sollftänbiges  ift  roie  beim  H)ort,  fo  fann  bodj  ber 
fymbolifdje  2IusbrucE  bem  (ßebanfen  fo  nafye  fommen,  bag 
bie  Sebeutung  besfelben  fiel?  faum  t>erfennen  lägt.  2)afür 
bieten  gerabe  bie  fymbolifcfyen  fjöflicfyfeitsformen  fpredjenbe 
Selege,  es  ftnben  ftcfy  unter  [643]  ifynen  folcfye,  tt>eldje  jtd> 
bei  ben  t>erfd]iebenften,  auger  jeber  fyjlorifdjen  Derbinbung 
ßeljenben  Dölfern  tmeberfyolen,  bie  alfo  eine  3»?ingenbe  Kraft 


50^        Kapitel  IX.   Die  feciale  XTCedjam?*   Das  Sittli&e. 


bejtfeen  müffen,  man  möchte  fagen:  burch  bie  Zlatm  (elber 
t>orge3eichnet  ftnb. 

(Eine  gan3  eigentümliche  2trt  5er  Symbole  bilben  bie* 
jenigen,  welche  urfprünglich  eine  reale,  praftifche  öebeutung 
Ratten,  biefelbe  aber  im  Caufe  ber  geit  burch  bie  veränderten 
Perhältniffe,  ben  5ortfchritt  ber  Cechm?,  ber  Kultur,  bes 
Hechts  ufw.  eingebüßt,  fich  aber  tro^bem  weiter  behauptet 
haben,  2tn  Stelle  ihres  ursprünglichen  Sinnes  unb  gweefes, 
ber  in  Dergeffenfyeit  gerät,  tauften  fie  bann  nicht  feiten  einen 
neuen  unb  $war  rein  Symbolischen  Sinn  ein*).  <£in  intereffantes 
23eifpiel  bafür,  bas  ich  unten  behanbeln  werbe,  gemährt  aus 
ber  gafjl  ber  fjöflichfettsformen  bas  (Beben  ber  JEjänbe;  ein 
anbeteSf  bas  Dortrinfen,  iji  bereits  an  früherer  Stelle  nam* 
i^aft  gemacht. 

3^nen  fommen  am  nächjlen  biejenigen,  bei  benen  ber 
praftifche  gwecE,  bem  fte  ihren  Hrfprung  t>erbanften,  ein 
befchränfter,  auf  gewiffe  Stnwenbungsfälle  berechneter  war, 
bie  aber  im  £aufe  ber  §eit  mit  bemfelben  eine  über  ifyx  weit 
htnausreidjenbe  fymbolifche  33ebeutung  erhalten  haben.  Sei* 
fpiele  gewähren  ber  Dortritt  unb  ber  (Efyrenplafe  (f.  u.). 

Symbole  unb  ZUetaphem  fmb  bas  2lusbrucEsmittel  bes 
[644]  nod|  mit  bem  (ßebanfen  ringenben,  nicht  sur  bewußten 
(Erfaffung  besfelben  gelangten  unentwicfelten  (ßeifies,  in  ber 
Kinbheitsperiobe  ber  Pölfer  finben  fie  jtch  baher  auf  allen 
(ßebieten  bes  Cebens*  ZTCit  ber  Zunahme  bes  Denfens  nehmen 
jte  mehr  unb  mehr  ab  bis  auf  einen  gewiffen  Befi,  ber  ftd} 
behauptet,  auf  bem  einen  mehr,  auf  bem  anbern  weniger. 
2tuf  bem  (Sebiete  unferes  heutigen  Hechts  ifi  faum  nod7  ein 
HüdPfianb  aus  alter  geit  übrig  geblieben,  bei  ben  fjöflich« 
feitsformen  iji  er  ein  gan3  betr ältlicher,  ein  weit  größerer, 
als  bie  meiften  wohl  annehmen  werben. 

*)  (Jür  bas  Hecbt  fyabe  tefy  btefe  (Etrfdjetnuug  in  meinem  (Seijl  bes 
II,  2*  S*  5$0  ßlufl  3)  nad?geu)tefem 


Die  fvmboltf djen  fjöfltdjfeitsformem 


505 


Vavon  I^offe  ich  ben  £efer  mittels  ber  folgenben  Dar-» 
fteHung  über3eugen  3U  fönnen*  Sie  h<*t  3ur  Aufgabe  bie 
Sammlung  unb  Deutung  f  ämtlicher  fymbolifchen  formen  ber 
heutigen  J|öflich?eit,  rx>omit  bie  entfprechenben  vergangener 
ober  aufjereuropäifcher  Dölfer  t>erbunben  werben  foHen,  fur3 
be3eichnet:  bie  Syntbolif  ber  Höflichkeit. 

3ch  glaube  bie  {amtlichen  formen  auf  3tx>ei  (ßeftchtspunfte 
3urücfführen  3U  fönnen:  bie  Symbolif  bes  menfchltchen 
Körpers  unb  bie  von  geit  unb  Haum. 

JU  Die  Symboltf  des  Tnenfdjltcfyen  Körpers* 
2)ie  förperlichen  Bewegungen,  mit  benen  ber  ZHenfch  ben 
fprachltchen  21usbrucf  feiner  (Sefühfe,  (Empfinbungen,  (Sebanfen 
begleitet,  ober  burch  bie  er  ihn  erfe&t,  ftnb  nichts  Syntbo* 
Ii(ches,  fonbem  in  bem  VKafte  Natürliches,  [645]  bafj  es  nicht 
notig  ift,  fie  bem  ZHenfchen  erjl  bei3ubrmgen,  fonbern  umge* 
feiert  ihm  manche  berfelben  erfi  burch  bie  €r3iefyuttg  ab3u- 
gewöhnen.  2Tfand)e  t>on  ihnen  jtnb  aber  burch  bie  Sitte  für 
gewiffe  Jtnläffe  aus  freien  3u  gebotenen  Elften  erhoben  worben, 
fie  traben  fyet  bie  Bebeutung  t>on  fymbolifchen  formen,  b.  u 
eines  typx\d\en,  bie  Hebe  begleitenben  ober  erf  efeenben  2lus- 
bruefs  gewiffer  (Befühle  unb  (ßebanfen  burch  bie  förperliche 
Bewegung  erlangt.  5ür  uns  \\aben  nur  biejenigen  ein 
3ntereffe,  welche  ben  gweefen  ber  Jjöflicfyfeit  bienen;  fie  laffen 
fteft  be$e\d\nen  als  bie  £|öf lieh? eitsfprache  bes  menfeh- 
liefen  Körpers. 

Seiien  rx>ir  uns  bie  Sprache  an,  bie  er  rebet. 

\>  Die  ber  perfon  3ugefehrte  Hichtung  bes 
Körpers. 

XtTan  fann  mit  jemanbem  reben  unb  ihm  etwas  reichen, 
ohne  ihm  ben  Körper  ober  bas  (Seffent  3U3uf  ehren,  praftifch 
ijl  lefeteres  nicht  geboten.    2Iber  es  ifl  bas  natürliche,  unb 


506 


Kapitel  IX.   Die  fojtale  XTCedjant?*   Das  5ttiüdje. 


biefe  natürltd^e  £age  bes  Körpers  ift  pon  ber  Sitte  3a  einem 
(Sebote  ber  £jöflich?eit  erhoben  Horben,  es  gilt  als  unfchic!* 
lieh  unb  unter  Umftänben  als  Setzeis  ber  (Seringfchäfeung, 
ZHi&achtung,  jemandem  mit  abgetpanbtem  Körper  ettpas  3a 
jagen  ober  3U  reichen,  man  erlaubt  ftch  bies  nur  Sienflboten 
ober  anberen  abhängigen  perfonen  gegenüber.  Sie  f}öflich5 
feit  perlangt,  ba§  bie  momentane  Öe3iehung,  tpelche  3tpifchen 
3tpei  perfonen  [646]  obtpaltet,  auch  fmnlich  burch  bie  Haltung 
bas  Körpers  peranfchauticht  roerbe,  21ugen  unb  ZHunb  fotlen  ftch 
ihm  3ufeB)ren,  ebenfo  bie  X}anb,  inbem  jte  ettpas  reicht  (S.  ^7 
2tote:  <£infchenfen  über  ben  Säumen)  unb  mit  ber  J^anb  ber 
gan3e  Körper,  man  foH  jemanbem  nicht  ettpas  über  bie 
Schulter  reichen. 

Sie  Konfequen3,  mit  ber  bie  Sitte  biefen  (Sebanfen  burch* 
geführt  l|at,  betpeift,  baß  fie  ftch  besfelben  fehr  beutltch  be* 
tpußt  getpefen  ifi,  unb  bafür  legt  auch  bie  Sprache  ein  voll- 
gültiges  Zeugnis  ab,  inbem  jte  eine  ZtTenge  von  21usbrücFen. 
tpelche  im  natürlichen  Sinn  auf  bie  fyaltnng  bes  Körpers 
gehen,  im  metaphorifchen  Sinn  auf  bie  (ßefinnung  übertragen 
hat.  Zfian  pergleiche  folgenbe  21usbrüc!e:  neigen  (Zteigung, 
guoteigung,  2lb*neigung)  xXi'vsiv  (irpdoxXiais  Zuneigung)  in- 
clinare  (inclinatio  Zuneigung),  propendere  (propensus  3ugetan), 
adversus  (abqetan,  feinblich),  jemanbem  ben  Hücfen  feieren 
(tourner  le  dos),  über  bie  2tchfel  anfetjen  (fchon  im  ZTibe« 
lungenliebe),  ihm  3ugetan  fein,  ftch  pon  jemanbem  abtpenben 
ftch  ihm  3uu>enben  —  eine  Cifie,  bie  jtch  ficherlich  aus  anbern 
Sprachen  noch  beträchtlich  vermehren  liege. 

2.  Sifeen  unb  Steden. 
ZHit  bem  (ßegenfafce  bes  Sifcens  unb  Stedens  ijl  pon  allen 
Dölfem  eine  fymbolifche  23ebeutung  perbunben  tporben.  Wo 
es  gilt,  ben  Jlbftanb,  in  ber  Stellung  3tpeier  perfonen  äu§er* 
lieh  3um  2lusbruc!  3U  bringen,  jtfct  bie  [647]  eine,  tpährenb  bie 


Die  fymbolif  djen  ^öfltdjfettsformen» 


507 


anbere  ftefyt;  ber  Sife  ijl  bas  Symbol  unb  bas  Dorrecht  ber 
ZHacht*).  Die  inbifchen,  ägyptischen  unb  altgriechifchen  (Sötter 
fmb  {amtlich  fifeenb  abgebilbet,  unb  auch  bie  jtnnliche  Vox* 
fteHung  bes  Cf|ripcn  benft  ftch  (Sott  jt&enb  auf  bem  Chron. 
3n  ber  Monarchie  bilbet  überall  ber  Cfyron  bas  Symbol  ber 
Zftacht,  bei  ben  tpilbeften  rote  ben  fultipterteften  Dölfern,  unb 
noch  heutigentags  figuriert  er  bei  ber  (Eröffnung  ber  parla* 
mente,  ber  ZTEonarch  perlieji  bie  Cl^ronrebe  jtfeenb,  u>äB|renb 
bie  Siänbe  flehen  (bafyer  Heichs*ftänbe),  unb  auch  bie  Homer 
gewährten  ihren  höchften  ZHagifiraten  bas  Vorrecht  bes  Sifees 
(sella  curulis),  Iefetere  faßen,  roä^renb  bas  Volf  ftanb.  (Ebenfo 
in  unferem  altbeutfchen  (Serichtsperf  ahren ;  ber  Bieter  hatte 
3u  fifeen  (baB|er  Sifeung),  bie  Parteien  unb  alle  anbern  2tn* 
tpefenben  su  fte^en  (ba^er  für  lefetere  bie  Se$eid^nung  bes 
„Umftanbes"). 

2luch  hier  finbet  bie  Symboli?  einen  natjeliegenben  unb 
pöHig  3rr>eifeIIofen  2lnfrtüpfungspunft  an  einen  praftifchen 
(Seftchtspunft.  Das  Sifeen  ift  im  Vergleich  3um  Steden  bas 
Bequemere,  es  f chliejjt  alfo  für  ben  jenigen,  ber  es  fich  per« 
\tatten  barf,  einen  Do^ug,  für  benjenigen,  bem  es  perfagt 
tpirb,  eine  gurücffefeung  in  ftch.  Der  Sjerr  fifet,  ber  Diener 
ftetjt;  ba^er  erblicJt  bie  Sprache  in  bem  Steden  ben  ^usbrucf 
bes  Dienftperhältniffes  (3U  Dienften  flehen,  bereit  ftehen, 
lateinifch  praesto  esse  pon  prae-stare). 

[648]  Damit  ift  bie  fymbolifche  23ebeutung,  tpelche  bie 
£{öflichfeit  an  biefen  (Segenfafc  fnüpft,  erflärt.  3*manben 
fteljen  3U  [äffen,  tpährenb  man  felber  jtfet,  enthält  eine  Un* 
ge3ogenfyeit,  man  behanbelt  ihn  ipie  einen  Diener  ober  als 
einen  geringen  ZHann,  gegen  ben  man  bie  Hüdffichten  ber 
fjöflid]feit  nicht  3U  beobachten  braucht  IPer  bem  anbern 
feine  Achtung  erroeifen  toitt,  erhebt  fich  Pom  Sifte,  wenn 


*)  Sdjon  oben  (5,  3^5)  im  anbern  «gufammenfjang,  berührt 


508        Kapitel  IX.   Die  f totale  ttled/cmtf.   Das  Stttlid^ 

berfelbe  3U  ifym  fommt  (S.  399)/  un&  *r  fcfet  ftdj  nidjt,  oljne 
if?m  f  elber  einen  Sife  angeboten  311  Ijaben,  £>ie  (Sefefee  bes 
Tdann  (IL  H20,  \2H)  fcfyreiben  gegenüber  perfonen,  benen 
man  2Id?tung  fcfyulbet,  beibes  ausbrücflicfy  t>or,  unb  bei  (Sriecfyen 
unb  Hörnern  erforberte  bie  Sitte  gan3  basfelbe  (S,  399  Ztote); 
bei  JEjomer  ergeben  ftd]  bie  Könige  fogar,  roenn  jte  3um  Volt 
reben  Qßas  XIX.  55 ,  77),  unb  auefy  fyeut3utage  pflegen  bie 
IHonarcfyen  bie  Jlubiensen  fteljenb  3U  erteilen,  fur3  bie  Se* 
beutung  bes  Stedens  ober  Sidjerfyebens  als  23emeis  ber 
Sldjtung  ift  son  allen  Kulturpölfern  anerfanut  roorben. 

3«  Die  Derbeugung. 

£s  gibt  feinen  un3u>eibeutigeren  21usbruc!  bafür,  bajj 
man  fiefy  moralifdj  ober  geifHg  r>or  jemanbem  neige,  beuge, 
erniebrige,  als  inbem  man  es  förperlid?  tut.  3ofepfy  fafy  im 
Craum,  ba§  feine  <5arbe  ftanb  unb  bie  feiner  Brüber  ftd? 
por  ibr  neigten,  unb  letztere  erblicf ten  barin  ben  Sinn,  baß 
ifyn  geträumt  Ijabe:  er  toerbe  ifyr  König  tperben  [649]  unb 
über  fte  Ijerrfdjen  (\.  7Xlo\.  37,  7,  8).  Die  Symbolif  bes  Sicfy 
beugens  ift  fo  alt  tpie  bie  2Ttenfd$eit. 

Sie  fyat  perfdjiebene  Stufen  burdjlaufen,  bie  icfy  fur3  als 
bie  afiatifcfye,  mittelalterliche,  mobeme  be3eicfynen  will. 

X>er  tieffte  (Srab  ber  förperlidjen  firniebrigung  por  einem 
andern  befielt  barin,  baß  man  ftcfy  3U  Soben  u>irft.  <£s  iji 
bie  Ijori3ontale  £age  bes  Körpers,  bei  ber  ber  ZHenfcfy  auf 
ben  cfyarafterijlifdjen  £>or3ug,  ber  iE^n  vom  Ciere  unterfdjeibet, 
Vex$\<tit  leijlet,  bie  umrbige  £age  bes  Sflapen,  ber  por  bem 
3)efpoten  3ittert  unb  feinen  £eib  unter  beffen  5üjje  gibt  — 
ber  IDurm,  ber  am  Boben  friert  unb  jtcfy  frümmt,  unb  ben 
ein  Fußtritt  3ertreten  fann:  „Staub  3U  beinen  5ügen,  Soljle 
beines  fußes",  tpie  eine  £jöflid}feitspl}rafe  ber  3apanen 
lautet  (f.  u.). 


Die  fytnbolifdjett  I?öflidj?eitsformen* 


509 


Z)ie  £[eimat  biefer  5orm  ifi  2tftcn  *),  fte  enthält  ben  3U* 
treffenben  2tusbrucf  ber  afiatifdjen  2luffaffung  von  ber  Hedjt* 
lofigfeit  unb  IDefyrloftgfeit  ber  perfon,  bie  Unterorbnung  bis 
3ur  tieften  (Ermebrtgung,  bis  3m:  Preisgabe  ber  eignen  per« 
fönlidjfeit  —  in  religiöfer  <£fftafe  a>irft  ftdj  ber  3n&**  fogar 
unter  ben  H?agen  ber  (Sott^eit  unb  lägt  jtdj  3ermalmen. 

[650]  Den  abenblänbifdjen  Dölfem,  benen  bie  fyjlorifdje 
Zniffton  3ufielf  bie  perfon  in  itjre  Heerte  eht3ufefcen,  ift  biefe  5orm 
ftets  fremb  geblieben.  Die  (ßriecfyen  djarafterifteren  fte  als 
eine  afiatifcfye  Sitte,  bie  bes  freien  ZHamtes  umtmrbig  fei**); 
bas  rcpooxovslv,  tr>ie  fte  es  nennen,  tjat  bei  ifyten  bie  23e* 
beutung  bes  X>eräcfytlid?en,  unb  bie  mobernen  Spraken  t>aben 
burdj  eine  XHenge  von  IDenbungen  ebenfalls  iE^r  Derbammungs* 
urteil  barfiber  ausgefprocfyen***). 

Die  3toeite  5orm  ift  bas  Knien:  bie  tjalb  Ijori3ontaIe, 
fyalb  pertifale  £age  bes  Körpers,  ijalb  liegt  ber  HIenfd?,  ^alb 
I|ält  er  ftd?  aufrecht.  Bei  ben  (Srtedjen  fommt  fte  meines 
XDiffens  nur  in  3tt>ei  2tntt>enbungen  r>or:  bei  bem  Sdjufe* 
fleljenben,  bei  bem  fte  jtdj  3ugleid?  mit  bem  Umf  äffen  ber 
Kniee  bes  anbem  vexhanb,  unb  bei  ber  (ßottesperefyrungf). 


*)  Sie  fhtbet  ftet?  fdjon  im  2Uten  (Eejtament  in  üpptgfter  Blüte.  Ulan 
tmrft  ftdj  3U  Boben  ntebt  blo§  üoruefjmen  perfonen  gegenüber  (U  IHof. 
\2,  6;  $3,  26;  t  Sam*  25,  23;  2»Sam*9,  8),  fonbern  audj  gleiten 
gegenüber  (JU  ITTof*  18,  2;  23,  7,  *2;  33,  6  «♦  cu  m,),  felbftoerftänbltdj 
beim  (Sebet  3U  (Sott,  baljer  ift  ftd?  niebertperfen  unb  beten  gletdjbebeu- 
tenb  flu  HIof*  22,  5;  2,  20,  5  u.  a.  m.). 

**)  (Euriptbes  Greftes  W97: 
pl|ryger;  König,  fyer  3U  bemen  (fügen  flelfid?  nad?  Barbarenbraudj* 
(Dreftes;  tttdjt  in  Croja  tuft  bu  biefes,  fonbern  im  2lrgeterlanb* 

***)  Die  beutfdje  Sprache;  ftd?  tpegroerfen,  ftd?  erntebngen,  frieden, 
Kriecf/erei,  Unterroürflgr'ett;  aud?  ber  5p et d?elle(f  er  füfyrt  uns  ben  XHenfcbeu 
r»or,  ber  am  33 oben  liegt*  Die  ttaltettifdje  awilirsi,  abbassarsi,  umiliarsi, 
abjetto;  bie  fran3Öftfdje;  s'abaisser,  s'humilier,  ramper,  bas,  plat,  abject. 

t)  Qomer  (Db*  XIII,  230;  rote  einem  ber  (ßötrer  ffeff  td?  btr  uttb 
umfaffe  bie  teueren  Kniee  mit  Demut;  III,  92:  Drum  umfaff  idj  fTe^enJ) 


5\0         Kapitel  IX.   Die  fo3tale  Htetfjanif.    Das  Sittliche. 

23ei  ben  Hörnern  xoavb  fte  in  fpäterer  geit  üblich  in  bem 
Hntertänigfeitsperhcütnis  bes  Klienten  [651]  3um  patron*), 
ein  unabhängiger  UTann  gab  ftch  ba3u  nicht  l\ev. 

Dem  ZlTittelalter  roar  es  vorbehalten,  fie  biefes  ZHafels 
3u  entHeiben  unb  fie  felbft  für  tue  Domehmften  3U  einer  obli« 
gaten  5orm  ber  Depotion  3U  ergeben.  Der  PafaH  hatte  bei 
ber  ^rweflxbxt  por  bem  Cehnsherm  3U  fnien,  noch  am  ^ofe 
ber  Königin  CElifabeth  mußten  es  t>or  ihr  bie  (ßroßen  bes 
Heidts,  por  bem  papfte  bei  2tubien3en  geflieht  es  noch  h^t* 
3utage.  Selbjiperftänblich  tpar  es,  baß  bie  ^orm  für  bie 
(Sottesperehrung  eingeführt  roarb,  unb  ber  fatholifche  Hitus 
hat  fie  bafür  beibehalten,  ber  Katholif  perrichtet  fein  Kirchen* 
gebet  fnienb  am  33etfchemel,  ber  proteflant  ftehenb,  ber 
ZHufelmann  liegenb**),  bie  Perfcfyebenheit  ber  brei  Kon* 
feffionen  fpiegelt  ftch  ab  in  ben  entfprechenben  brei  formen 
ber  (Sottesperehrung. 

Die  britte  5orm  tfi  unfere  heutige:  bie  Verbeugung,  bie 
pertifale  Haltung  bes  Körpers,  bei  ber  ber  ZHcnfch  flehen 
bleibt,  unb  nur  ber  Kopf  ftch  neigt  <£s  ifl  fchtperlid]  bloß 
bas  pra!tifd]e  2fiotip  ber  größeren  33equemlichfeit  getpefeu, 
bem  fie  ihren  Hrfprung  perbanft,  fonbern  gerpiß  h<**  i>abd 
auch  ber  etliche  (ßejtchtspunft  pon  ber  tDürbe  ber  perfön« 
Hchfeit  unb  ber  bemofratifche  £>ug  ber  mobemen  «geit  mit* 
getoirft  Sie  iji  eine  echt  bemofratifche  [652]  5orm  für  alle, 
ben  ^öchften  tpie  ben  (Seringflen  gleid]***),  u?ährenb  bie  beibcn 


bie  Kniee  bin  Sopfjofles  pfn'loftet  v.  $86  (Ceubner) :  £a§  btd?  erflehen, 
fniefälltg  bitf  id?> 

*)  ZTadj^rieblä'nber,  Darstellungen  aus  ber  Sittengefdn'cbte  Horns» 
23b+  \,  5.  2X7,  ber  bafür  auf  £ucian  Higrin  c.  2{  Be3ua.  nimmt 

**)  €r  muß  mit  ber  Stirn  ben  £oben  berühren  (Subjub),  f»  von 
Hoxnauw,  Das  moslemittfcfye  Hecfyt,  £etp3tg  1855,  5»  39;  es  wav  bxrs 
an&i  bie  Jorm  bes  alten  deftaments* 

***)  Der  heutigen  SHte  na cfy  Die  Hebensart:  feinen  Diener  madfett 


Die  fYmfcoltfdjen  ^öfltdjfeitsformerL 


5U 


obigen  formen  auf  bem  Hnterfcfyieb  ber  foialen  Stellung 
berufen,  unb  fte  fyat  3ugleid?  ben  Por3ug  ber  <£lafti3Üctt  — 
u>er  nnH,  fann  ben  (Srab  feiner  ^odjadtfung  ober  Perefyrung 
3oHtr>eife  in  ber  Ciefe  ber  Perbeugung  3um  21usbrucf  bringen» 
Die  Perbeugung  ift  nodj  erleichtert  roorben  burdj  bie  5itte 
bes  2tbnel}mens  bes  £[utes.  Der  f}ut  vertritt  babei  ben  Kopf, 
inbem  er  ifym  bie  ZHüfye  erfpart,  jtcfy  3U  fen!en,  ein  Symbol 
in  3tt>etter  poten3,  bas  im  Salutieren  bes  ZHilitärs  bis  3ur 
britten  erhoben  iji;  letzteres  toäre  oljne  bas  ZHittelglieb  bes 
fjutabnefymens  beim  gtpil  gar  nid)t  3U  t>erfteljen  —  was 
follte  bas  Steigen  bes  ^utes  bebeuten,  n>enn  es  nidjt  bas 
bes  Kopfes,  was  bas  bloße  23erüfyren  bes  Cdjados,  J}elms, 
wenn  es  nic^t  bas  Heigen  bes  fjutes  3u  vertreten  Ijätte? 

%  Das  (Seben  ber  fjänbe* 

Befannten,  5reunben  reichen  tr>ir  3um  (5ru§  bie  ^anb, 
nnbdannten  ober  I)öfyer  ftefyenben  perfonen  nidtf.  Daraus 
ergibt  jtdj,  ba§  bas  (Seben  ber  £[anb  3U  ben  ^jöflicfyfeits* 
formen  bes  IPoI)ltr>ollens,  nidjt  ber  2ld}tung  gehört  Die 
Caifadje,  ba§  3toei  perfonen  fid)  eins  ober  oerbunben  füllen, 
läßt  fiel)  ntdjt  beffer  peranfdjaulidjen,  als  inbem  [653]  fie 
biefe  €inigung  audj  förperlidj  barftellen.  Die  Stufenleiter 
biefer  Symbolif  ber  feelifdjen  (Einheit  ift  gegeben  burefy  bie 
£|anb  (£}anbfd?lag,  JE}änbebrud)  —  bie  2Irme  (Umarmung) 
—  bie  Cippen  (Kuß)545). 

Die  reiche  Pertr>enbung,  weld\e  bie  Sitte  aller  Pölfer  t>on 
ber  Symbolif  ber  Pereinigung  ber  £}änbe  gemacht  fyat,  liegt 
außerhalb  meiner  Aufgabe**);  für  mid)  Ijat  nur  bas  (Sehen 


oetft  barauf  ljm,  ba§  fie  urfprünglid?  als  geidjen  ber  Unterwürfig* 
fett  galt* 

*)  Bei  r»telen  xpilben  Pölfem  fommt  nodj  bie  ZTafe  t|itt3u:  bas 
Berühren  unb  Hetben  ber  betberfettigen  Hafen,  S*  W  Hote* 

**)  Die  römifdje  Sitte  t^abe  id?  befyanbelt  in  meinem  (Seift  bes  H. 


5\2 


Kapitel  IX.   Die  feciale  IHedjamrV  Das  Sittliche* 


ber  J^anb  3um  gtt>ecfe  bes  <5ru§es  ein  3ntereffe.  ZTid?t  t>om 
Stanbpunfte  ber  (Segentoart  aus  —  nach  biefer  Seite  l>m 
glaube  ich  bie  Bebeutung  besfelben  mit  ber  obigen  Bemerfung 
Doß|iänbig  erfchöpft  3U  traben  —  wolfi  aber  in  fyftorifcher 
Bestellung, 

3d]  bringe  bas  <5eben  ber  J^anb  in  Derbinbung  mit  ber 
urfprüngltchen  Bebeutung  bes  (ßrußes,  ^eut3utage  gebort 
berfelbe  $u  ben  Ejöflichfeitsformen  ber  2lditung  (5.  398),  bie 
£[anb  gefeilt  ftch  ihm  nur  fynsu,  toenn  er  mehr  als  bie  bloße 
Sichtung:  bas  IDofytooHen  ausbrüden  foö.  2)ie  ursprüngliche 
Bebeutung  bes  (Srußes,  bie  ich  in  bie  geiten  ber  Hechtloftgfeit 
ber  $vemt>en  unb  ber  [654-]  öffentlichen  Unficherheit  serlege, 
tpar  meiner  2Infidjt  nach  eine  gch^lich  anbere,  ungleid]  realere, 
ber  (grüß  bebeutete  fyer  guftcherung  ber  frieblichen  (5e- 
ftnnung  bes  jtd?  bem  anbern  ZTähernben,  fur3  ausgebrüeft 
5riebensbotfchaft.  £Der  ben  5remben,  bem  er  in  einfamer 
<Segenb  ober  im  IDalbe  begegnete,  grüßte,  t>erfünbete  ibm 
bamtt:  ich  nahe  mich  bir  nicht  in  feinblicher  21bftcht,  bu  baft 
j>on  mir  nichts  3U  beforgen*).    £>iefe  Derftdjerung  fonnte  er 


II,  X,  5.  569  ßlufL  3),  Die  (Satten  geben  ftd?  bie  §anb  bei  ber  Der- 
mäfymng,  ber  f  einb  bem  ^einbe  bei  ber  Derföfynung,  dextram  unb  fidem 
dare  tft  gletcfybebeutenb*  2lud?  bei  uns  gilt  rneler  (Drten  im  Derfefyr  bie 
Bereinigung  ber  fjänbe  als  Befteglung  bes  2Jbfd}Iuffes  bes  Vertrags, 
unb  ftellenipetfe  bas  (Hinfd/lagen  in  bie  ^anb  bes  anbern  als  Symbolt« 
fterung  ber  (Dfferte* 

*)  Hefte  btefer  urfprüngltdjen  (Srugform  in  ber  Sprad?e.  3n 
femitifdjen  Spraken;  bie  arabifcfye  ^ormel;  salem  alek  (triebe  mit  eudj), 
bie  alttefiamentlidje;  schalom,  tpeldje  in  ber  Septuaginta  mit  stp^vr) 
bph  wiedergegeben  tv'xxo.  2lllerbmgs  ^at  bie  arabifd^e  (Srugformel  fyeut* 
3utage  ben  Sinn;  ^rieben  (Softes,  mie  es  bie  d^riftlid^fir (bliebe  pax 
vobiscum  (be3*  dominus  vobiscum)  von  jefyer  tjatte,  allein  in  ber  2ltt' 
menbung  bes  jfriebens  auf  bas  Derfyältms  bes  XUenfdjen  3U  (Sott  fann 
td?  nur  eine  Übertragung  bes  (Sebanfens  bes  ^rtebens  im  Derljältms 
bes  ITTenf d?en  3um  ITCenf  djen  erblicfen,  in  bem  er  3uerft  fernem  llVrt; 
nadj  exfannt  morben  ift,  erjt  ber  ^rieben  auf  (Erben,  bann  oev  ^rt^en 
mit  bem  fjimmeL    Die  urfpninglidje  bebeutung  jener  (Srußtcrmen 


Die  fymbolifchen  *?öfIichfettsformetn 


5^3 


burcf?  bte  [655]  Cat  md]t  beffer  befunden,  als  tnbem  er 
tfym  bie  fjanb  gab  unb  3tr>ar  bie  rechte,  tt>elcf)e  bie  IPaffe 
füt>rt,  bamit  tr>ar  fte  unfd]äblid}  gemacht.  Das  (5eben  ber 
Hestert  fyatte  I^ter  alfo  nict}t  eine  bloß  fvmboüfcfye,  fonbern 
eine  praftifcfye  23ebeutung,  es  enthielt  ben  tatfädilidjen  Der* 
3id}t  auf  ben  (Sebraud?  ber  IDaffe.  3<äj  roürbe  xrielleicfyt  auf 
biefe  Deutung  gar  nicfyt  gekommen  fein,  u>enn  midi  nic^t  bte 


ift  baher  bte  rein  wörtliche  gemefen;  ^rieben  mit  euch,  bte  ich  cor 
mir  fe^e. 

Hefte  in  ben  inbogermanifchen  Spraken:  bie  römifdje  (grußformei 
salve  (salvere)  unb  bte  beutfdje  £jeil  (abjeft  fyetl  =  unoerfehrt)*  Betbe 
haben  3um  jn^alte,  ba§  ber  2lngerebete  unt>erfefyrt  fein  möge,  tpomit 
tmplt3tert  ift:  von  mir,  b*  h»  bu  fannft  in  beßug  auf  mid?  unbeforgt 
fein,  id?  tue  bir  nichts;  fte  entfprechen  unferem  heutigen  militctrif d?en 
«guruf  „gut  (Jreunb\  Diefe  Überetnftimmung  3meier  gän3lid>  t>on* 
einanber  unabhängiger  Spracbftämme  in  be3ug  auf  bte  Raffung  ber 
(Srugform  gemährt  ber  obigen  2Inftcht,  mie  ntd?t  ausgeführt  3U  merbeu 
braucht,  eine  außerorbentliche  Unter  ftüt$ung,  fie  3eigt  ben  Wext,  ben  bie 
2Infünbigung  ber  frieblichen  (Seftnnung  in  ber  U^ett  bebeutete*  Spradp 
forfdjer,  KulturhiftoriFer,  (Ethnographen  merben  u?ahrf peinlich  3U  ben 
ron  mir  gegebenen  Argumenten  nod?  manche  anbere  hin3ufiigen  fönnen. 
£rftere  werben  auch  3U  entfcbeiben  ha&en/  °k  oxe  auffallenbe  phone* 
ttf che  Übereinstimmung  ber  beiben  obigen  femitifchen  (Srugformeln  sal-em, 
schal-om  mit  lat»  sal-ve,  alth  0 d}b*  sal-ig  (feiig,  alfo  =  wohl,  glücfltch), 
altirifch  slan  (=  salvug,  (£>♦  (Eurtius,  (Srunb3Üge  ber  gried?*  (£tymv  2luf3L  i, 
S*  374),  ein  reines  Spiel  bes  «gufalls  ift. 

(Ein  fachliches  «geugnts  für  meine  Auffafftmg  glaube  id?  bei  Horner, 
(Dbyffee  XIII,  229  entbtdt  3U  fyabem  CDbyff eus  rebet  fyev  *>ie  P^üas 
Athene,  meldte  fich  ihm  in  ber  (Sefialt  eines  Unbefannten  naht,  mit  ben 
IPorten  an:  fei  mir  gegrüßt  unb  nahe  mir  ja  nicht  feinblichen 
$ex$ens.  Ulan  mu§  fich  bie  Reiten  ber  Hechtsunftcherheit  unb  ber 
SdmtsloftgFeit  ber  (fremben  r>ergegenm  artigen,  um  ben  IDert  ber  <§u* 
ftcherung  frieblicher  (Seftnnung  3U  rerftehen,  ber  Jriebensgrug  mar  tyev 
bem  söllig  Jremben  gegenüber  (unb  fo  erfcheint  bie  paüas  bei  (Dbyffeus; 
ebenfo  motiutert,  wie  nnfer  heutiger  IPohlwoüensgrug  unmotiviert*  So 
erfläre  id?  mir  auch  bie  Anrebe  Jfreunb  an  ben  gan3lich  Unbekannten 
(f.  3-2S*  €uripibes,  fjerafliben  13<*,  CyFIop  96,  3on  2*5,  Helena  U98, 
Sophofles  (Dbipus  auf  Kolonos,  v.  33),  bie  fonft  gar  feinen  Sinn  haben 
würbe. 


0.3*1*  ring,  Der  gtoecf  im  Hedjt.  II. 


33 


Kapitel  IX.   pie  fo3ta!e  Xtledjanif.   Das  Sittliche. 


abtpeidjenbe  Soxxn  ber  23ea>egung  ber  fjänbe  beim  (ßrufj 
nadj  orientalifdjer  Sitte  ftufeig  gemacht  tjätte.  2>er  Cfynefe 
ergebt  beibe  f^änbe  in  bie  fjö^e,  2lraber,  Surfen  unb  aubere 
afiatifc^e  Pölfer  freien  fie  auf  ber  Sruft.  Was  foll  bas? 
3)asfelbe,  u?as  bas  Heiden  ber  J^anb  pon  feiten  bes  2lbenb» 
länbers,  nämlidj:  tatfäcfylidj  bofumentieren,  baß  man  ftdj  ber 
fjanb  gegen  ben  anbern  nicfyt  bebtenen  u>iQ,  baß  er  jtd]  feine 
Sorge  3U  machen  braucht  2Iuf  biefe  unb  nur  auf  biefe 
XPeife  ftnben  alle  jene  brei  [656]  formen  ber  Svmbolif  ber 
£janb:  bas  <£rfyeben,  bas  Kreu3en,  bas  (Seben  berfelben  eine 
überrafcfyenbe  unb  übereinftimmenbe  <£rflärung.  Qex  gemein* 
fame  (Seftdjtspunft,  ber  it|nen  3ugrunbe  liegt,  ift  Unfdjäb» 
lidjmadjung  ber  £}anb  als  Unterpfaub  frieblicfyer  (Sefmnung. 

5,  Vex  Kuß. 

2>erfelbe  fommt  als  fjöflicfyfeitsform  in  boppelter  2In- 
roenbung  x>or. 

(JEinmal  3um  23etx>eife  ber  2td}tung  unb  3tr>ar  eines  ge« 
fteigerten  ZÜafees  berfelben:  ber  Devotion,  €I}rfurd}t,  Unter« 
rpürfigfeit  (ber  beoote  Ku§);  bei  ben  (Sriedjen  bas  Hüffen 
bes  (Seficfyts,  ber  Schulter,  ber  23ruft,  ber  I}anb,  bes  Knies 
(urfprünglidj  bei  ben  (ßöttern,  bann  aud)  bei  Doruefymeu 
perfonen),  bei  ben  römifcfyen  Kaifern  felbft  ber  5ü£e,  bei 
ben  neueren  Dölfern  bes  (ßetoanbes,  beim  papfte  bes  pan« 
toffels«  3n  gütigen  Sitte  Ijat  ftcfy  nur  nodj  erhalten  ber 
£[anbfu§,  in  Vertretung  besfelbeu  bie  tnelfadj  üblidie  pfyrafe: 
„idt  füff  bie  Ejanb". 

Sobann  als  5orm  bes  fyerablaffenben  IDofytPollens  bes 
fjocfygefteüten  gegen  ben  unter  ifym  Stetynbcn:  ber  Kuß  auf 
bie  ZDange  ober  bie  Stirn*).  [657 ] 


*)  2lm  römif  d?en  Kaiferfyofe  gehörte  er  3U  ben  obligaten  iSmift* 
beseugungen  bes  Kaifers  gegen  t|eri>orragenbe  perfouetu   Die  Unter* 


Die  fvm&oltfcfyett  ^öflid}fettsformen» 


5*5 


2*  Die  Syrnfjolif  von  Seit  unb  Hemm* 

t  Der  plafe  bes  <£rften- 

tt)er  3uerft  fommt,  h<*t,  tr>o  es  etwas  3U  nehmen  gilt, 
ben  Vov$\\Qt  et  Bjat  bie  XDahl,  bet  «guletstfommenbe  muß 
nehmen,  was  übrig  bleibt  (sero  venientibus  ossa).  Das  tji 
ber  praftifdje  Vorteil,  bet  jtd?  mit  ber  SteVLe  bes  erften  t>er« 
fnüpft,  barauf  3ielt  bas  Iateinifd)e  prineeps  (=  primus  capiens, 
ber  guerftnehmenbe),  praeeipuus  (oort  praeeipere,  sortoeg* 
nehmen)  unb  bas  beutfcfye  t>orneB)m  (=  berjenige,  bet  t>or* 
tx>eg  nimmt)*), 

2Hfo  bie  erfte  Stelle  praftifd)  bte  befte.  Damit  ijl  ein 
txnffenfchaftlicher  2tnhaltspunft  gegeben,  um  Ijiftorifd?  bie  Cat* 
fache  3U  erf leiten,  ba§  Sprache  fotooht  tt>ie  Sitte  bei  allen 
üölfern  ba3u  gefommen  jtnb,  mit  bem  Segriff  ober  ber  Stelle 
bes  erften  bie  PorfteHung  bes  23er>or3ugten,  ^erporragenben 
3U  t>erbinben,  toobei  fie  bann  atlerbings  über  ben  praftifchen 
<5ejtchtspunft  toeit  hinausgegangen  jtnb. 

[658]  ü?as  t>om  erften  im  Derhältnis  3um  3tr>eiten,  gilt 
auch  vom  3tt>eiten  im  Verhältnis  3um  britten  unb  fo  fort:  bie 
Reihenfolge  in  §eit  unb  Haum  gilt  als  2lusbrucf  ber  JDert- 


laffung  rjon  fetten  einiger  Katfer  roarb  bitter  empfunben,  f^rieblänber, 
Darftellungen  aus  ber  Sittengefcr/id?te  Horns,  23b»  \,  S.  \27—\50. 

*)  Diefem  (Sebanfen  bleiben  beibe  Spraken  treu,  inbem  fte  mit  ben 
präpoflttonen,  tuelcr/e  bte  erfte  Stelle  im  Haum  ober  in  ber  gett  aus* 
brüefen  (ante,  prae,  t?or),  bei  iljrer  Derbmbmtg  mit  Perben  ober  Sub* 
ftantipen  ftets  bte  Dorftellung  eines  Do^nges  oerbtnben,  3»  ante- 
cellere,  anteire,  antistes,  praeire  (praetor),  praeponere,  praestans,  Dor- 
teil,  Por^ug,  Dor-rang,  Dor^tritt,  Dor*jtanb,  Dor^geferjter,  rorgerjen 
u*  a*  Die  Doppelbebeutung  bes  <£rjten  im  3ettltd}en  ober  örtlichen  unb 
im  moralifcr/en  ober  metaptj  ortf  cb/en  Sinn  töieberbfolt  fid?  in  ütelen  anbent 
Spraken,  ir>r  (Srunb  fann  nur  oaxxn  etblxdt  tuerben,  ba§  bie  £age  bes 
Erften  prafttfd?  bte  befte  ift,  bas  prafttfdje  fyat  überall  ben  hiflorifd^en 
2lusgangspunFt  bes  3bealen  abgegeben* 

33* 


5 {6         Kapitel  IX.   Die  fötale  mecfyani?.   Das  Sittliche. 

abffufung  ber  perfon,  unb  in  ber  reglementierten  Ejöfltdjfeit 
ift  biefer  <Seban!e  fogar  in  ein  t>ollftänbiges  Syftem  gebracht 
(Hangorbnung,  ^ofetifette,  Hedtf  bes  Dortritts  im  inter- 
nationalen Derfeljr).  2X)eldje  (ßeltung  er  innerhalb  ber  freien 
f}öflid)feit  behauptet,  barf  id?  als  befannt  sorausfefeen,  — 
iv et  geehrt  u>erben  foH,  erhält  ben  erften  plafe  bei  Cifdje. 

Der  <5ebanfe  bes  erften  plafees  ift  felbft  auf  bie  Sprache, 
bei  ber  er  ber  praftifdjen  Bebeutung  gän3lidi  entbehrt,  in 
(3ejtolt  ber  HamB|aftmad}ung  an  erfter  Stelle  übertragen 
ti>orben,  fotr>ofyl  für  bie  münblidje  Hebe  a>ie  für  bie  Schrift. 

5ür  bie  münblidje  Hebe.  2Denn  man  t>on  ftcf?  unb 
einem  anbern  fpricfyt,  nennt  man  lefcteren  3uerft,  felbft  toenn 
er  abtsefenb  ift,  ifym  gebührt  ber  erfte  plafc.  Bei  ben  Hörnern 
bilbete  bie  Beachtung  ber  Hangorbnung  bei  2luf3äfjlung  t>on 
perfonen  fogar  ein  <£rforbernis  ber  reltgiöfen  unb  politifdjen 
(£tifette,  fo  3.  B.  bei  ber  Anrufung  ber  (Söttet,  bei  Harn* 
f?aftmadjung  ber  Beamten,  fie  folgten  fid?  nad?  iljrem 
Hang*). 

[659]  5ür  bie  Sdjrift.  3n  unferen  Briefen  fe^en  mir 
ben  Hamen  bes  2Ingerebeten  an  bie  Spifee,  unferen  eigenen 
an  bas  <£nbe.  Diefe  Einrichtung  ift  fotoenig  burdj  bie  Hatur 
ber  Sad?e  geboten,  bajj  fie  ifyr  üielmeljr  toiberfpridjt,  fte  ift 
völlig  unpraftifdj,  benn  ber  (Empfänger  bes  Briefes  mu§  erft 
\\ad\  ber  pielleidtf  toeit  r>om  Anfang  entfernten  Unterfd^rift 
fefyen,  um  3U  toiffen,  r»on  wem  er  herrührt.  J)ie  praftifd]en 
iiömer  befolgten  eine  anbere  IDeife,  fie  nannten  bie  Hamen 
beiber  perfonen  in  ber  Überfdjrift,  unb  3toar  ben  Hamen 
bes  Sdjreibenben  3uerft  (Cicero  Attico),  felbft  beim  Kaifer 
(Plinius  Trajano  Imperatori),    Unfere  heutige  IDeife  lä$t  ftd? 

*)  5.  meinen  (Seift  bes  H>  II.  {.  5.  616  (Hüft.  3)*  Bei  2Iuf5ä> 
lung  ber  Hed?tsquellen  bes  giüilredjts  befolgen  bie  Horner  bie  !}iflorifd?e 
(Drbmittg;  leges,  plebiscita,  SCa,  decreta  prineipum,  auetoritas  prüde« 
tium,  1.  7  pr.  de  J.  et  J.  ({.  {). 


X>te  fvmbolifdjen  ^öfHdjfettsformem 


5\7 


al\o  nur  auf  ben  obigen  (Sebanfen  3urücf führen:  ber  5d\teu 
benbe  [teilt  als  ber  (geringere  feinen  Itamen  unten  an.  Darum 
gefcfyiefyt  es  nicfyt  von  feiten  ber  £anbesljerm  unb  ber  23e* 
körben,  unb  ber  obigen  praftifcfyen  Hücfftdtf  liegen  muß  bei 
Eingaben  an  öefyörben  ber  Zlame  bes  (£ingebers  bereits  auf 
ber  erften  Seite  angegeben  rperben,  aber  nadj  bem  Kablet* 
ftil  mancher  £änber  unten,  nicfyt  oben  auf  ber  Seite. 

Wo  es  bie  (g^re  3U  nehmen  gilt,  gefyt  ber  Pomeljmerc 
poran.  ZTur  tpo  es  gilt,  fie  3U  ertpeifen,  roie  beim  (5ru§, 
fommt  bie  Heifye  3uerft  an  ben  Zlieberen  —  bie  (Sefefee  bes 
ZHanu  (II,  \\7)  fdjärfen  bem  5d)üler  ausbrücflid]  ein,  ba§  er 
ben  CeBjrer  3uerft  3U  grüßen  fyabe. 

2.  Der  plafc  3ur  Hechten. 
[660]  IDarum  bilbet  ber  plafe  sur  Hechten  ben  (£tjrenplafc? 
Sidjerlid?  perfteljt  ftcft  bies  nicfyt  pou  felbft,  es  liege  ftd}  ja 
ebenfogut  bas  (Segenteil  benfen.  2lud\  ljier  roeift  bie  Sym* 
bolif  auf  einen  praftifdjen  (Seftditspunft  surücf.  JParum  reitet 
ber  Heitfnedjt  linfs  von  feinem  fjerm?  Damit  ifym  bie  Heerte 
frei  bleibe,  um  ftets  3U  feiner  fjilfe  ober  feinem  Dienft  bereit  311 
fein;  ritte  er  rechts  von  ifym,  fo  tpürbe  er  ba3U  nidjt  imftanbe 
fein.  (5an3  ebenfo  perfyält  es  fid]  in  manchen  anbern  £ageu. 
Die  Pornafyme  pon  Dienftleiftungen  ber  f^öflidjfeit  im  (Seiten 
wie  im  Sifeen,  auf  ber  Straße  tx>ie  bei  ber  Cafel  erforbext 
ftets,  baß  berjenige,  tpeldjer  fte  ertpeifen  tpill,  jtd)  linfs  be- 
ftnbe. 

Diefem  praftifcfyen  ZHotip  perbanft  meiner  21nfidjt  nadj 
ber  plafe  rechts  fyftorifd?  feine  (Erhebung  3um  (gfyrenplafe. 
3n  feiner  fvmbolifdjen  Pertpenbung  im  ^ialen  Ceben  tjat 
er  fid)  pon  bemfelben  allerbings  eben  fo  frei  gemacht,  tpie 
alle  fymbolifdien  5ormen,  bie  urfprünglid]  aus  praftifcfyen 
JTtotipen  fyerporgegaugen  finb. 


5\a 


Kapitel  IX.   Die  \o$\a\e  medjantf.   Das  Stttitdje* 


3.  Syntboltf  ber  Schrift. 

3m  fchriftlichen  Derfehr  (Briefe,  Eingaben)  fommen  ge* 
tmffe  Sovmen  3ur  2Inn>enbung,  bie  im  per  jonlichen  feinen  pla§ 
finben  unb  barauf  berechnet  finb,  ben  2tbftanb  bes  Schreiben* 
5en  pon  bem  cmbem  Ceile  3U  fvmbolifteren.  Vatyn  gehört 
außer  ber  bereits  oben  namhaft  gemalten  Stellung  besZTamens 
bes  2lngerebeten  an  ben  [661]  Anfang  unb  bes  eignen  an  beu 
Schluß  bes  Briefes  ber  leere  Kaum,  ben  man  an  3tx>ei  Stellen 
bes  Briefes  ober  ber  Eingabe  3U  laffen  pflegt:  nach  ber 
Überfchrift  unb  t>or  ber  Hnterfchrift  („HeDeren3[patmm")  unb 
ber  fog.  „2)et>otionsftrich."  $ngftlich  höflich*  £eute  meffen 
beibe  nach  ZHaßgabe  bes  Fialen  2lbftanbes  ebenfo  forgfältig 
ab,  u>ie  im  perjonlichen  Derfehre  bie  Derbeugung,  pe  über* 
tragen  lefetere  auf  bas  papier  —  Heüeren3fpatium  unb 
3)et>otionsftrich  fmb  eine  fchriftliche  Perbeugung,  man  macht 
feinen  „Liener"  auf  bem  papier. 

3)ahm  gehört  ferner  bie  umnberliche,  einen  Derftoß  gegen 
äße  Sprachregeln  enthaltenbe  beutfche  Sitte,  bas  „Sie,  3hr, 
Vn"  in  ber  2lnrebe  groß  3U  fchreiben,  tr>ährenb  „ich,  mir"  aus 
Befcheibenheit  Kein  gefchrieben  tsirb —  ber  €nglänber  macht 
es  gerabe  umgefehrt.  Sobann  bie  falligraphifche  <5efchmacf* 
lojtgfeit,  bei  pomefynen  perfonen  3um  <§tt>ecf  ber  f}err>or* 
Hebung  ihrer  (Erhabenheit  über  bas  (gewöhnliche  ihre  €brem 
präbifate  (ZHajeftät,  ££3eHen3  ufu>.)  im  Kontexte  bes  Briefes 
ober  ber  (Eingabe  mit  größeren  ober  gar  mit  lateinifchen 
Cettern  3U  fchreiben,  bort  toerben  3ugunjien  ber  I}öflichfeit 
bie  Hegeln  ber  Orthographie,  l\kv  bie  ber  Kalligraphie 
hinten  angefefct 


Die  Befonbere  Spraye  ber  ^öfiic^fetl 


519 


3.  Die  serbalen  £{öf lieh? ettsformen,  —  Die 
Sprache  6er  ^öflichfeit 

Das  giel,  bas  ich  mir  gejlecft  I^atte,  als  ich  bie  [662] 
Hnterfuchungen  begann,  beren  <£rgebniffe  ich  im  folgenden 
mitteile,  bejlanb  barin,  mich  in  Befi&  bes  gefamten  ZHaterials 
3U  fet$en,  welches  bie  beutfche  Spraye  an  ftereotypen  2lus* 
brücfen  unb  &)enbungen  ber  ^öflidjfeit  (Ejöflichfeitsphrafen) 
barbietet,  um  3U  fefyen,  inwieweit  bie  (Srunbgebanfen  ber 
fföflichfeit  fich  in  ihnen  abriegeln  —  ich  fyatte  mir  meine 
Aufgabe  gebadet  als  fprachliche  SelbjkharafterifttE  ber  £jöf* 
lichfeit  3$  über3eugte  mich  aber  balb,  ba§  meine  Aufgabe 
mit  ben  ZHitteln  einer  ein3elnen  Sprache  nicht  3U  löfen  fei, 
ba§  ich  vielmehr  meine  Unterf  uchung ,  um  bie  gewonnenen 
<£rgebniffe  3U  erproben  unb  3U  rerüollftänbigen,  auf  anbere 
Sprachen  3U  erweitern  bßbe,  ltnb  ber  freunblicfjen  Sei^ilfe 
mancher  (Seiehrten  t>erbanfe  ich  in  biefer  Öe3iehung  eine 
wertvolle  Unterflüt$ung.  3e  mehr  ich  bie  Dergleichitng  fort* 
fefcte,  befto  fdjärfer  unb  flarer  traten  bie  Umriffe  t>on  3wei 
(Erscheinungen  tyvvov,  bie  chfi  mir  fchüeßltch  als  h°chft  wert* 
t>oHe  hiftorifdje  Catfachen  enthüllten.  Die  erfte  war  fultur« 
hiftorifdjer  2trt:  bas  XDteberf  ehren  berfelben  formen  bei 
Pölfern,  für  bie  jeber  (Sebanfe  einer  urfprünglichen  (Semein- 
fdjaft  ausgefchloffen  iji.  3^  *raf  k^i  ben  C^inefen  unb 
3apanen  biefelben  fprachlichen  IDenbungen  unb  eigentüm- 
lichen, ausfchließlich  ber  fjöflichfeit  angehörigen,  grammatt- 
?ali[d?en  formen,  wie  bei  ben  europäifdjen  Kulturt>ölfern. 
Die  3weite  war  fprad]gefd}id)tlid]er  2lrt:  bas  Däfern  einer 
von  ber  gewöhnlichen  abwcidjenben,  eigentümlichen  Sprache 
ber  £jöflichfeit. 

[663]  Die  folgenbe  Darfietlung  foll  ben  £efer  von  bem 
Dafein  biefer  beibeu  Catfachen  über3eugen. 


520 


Kapitel  IX.   Die  fatale  med^antf*  Das  Sittliche. 


Die  Sprache  ber  ^öflid?feii 

3d]  beginne  mit  bem  üöHig  «gtoeifellofen.  Die  Ejöflidi- 
feit  seicfjnet  uns  für  getoiffe  2lnlä(fe  ben  tsörtlidjen  2lusbrucE 
unferer  (Sefinnung  vor,  3.  23.  für  bie  Setr>iHfommnung,  ben 
2lbfdjieb,  bie  CeünaBjme  u.  a.  m.,  unb  bie  Sitte  fyat  bafür 
getoiffe  ftefyenbe  2lusbrücfe  aufgebraßt,  beren  ftdj  jeber  regel» 
mäßig  bebient  (serbale  Qöflidjfeitsformen).  X?on  ben  2ln« 
forberungen,  toeldje  ber  2lnftanb  in  be3ug  auf  bie  Sprache 
ergebt  (S.  3^6 ff.),  unterfdjeiben  fidj  bie  ber  Ejöflidjfeit  babureb, 
baß  jene  negativer,  btefe  pojttit>er  2Crt  finb. 

3nner^alb  ber  verbalen  ^öflidjfeitsformen  unterfdjeibe 
id?  3tr>ei  (Sruppen  —  jebe  berfelben  fteüt  uns  ein  befonberes 
Stücf  ber  Sprache  ber  i}öflid}feit  bar. 

Das  eine  enthält  einen  Dorrat  von  XDenbungen  unb  2tus* 
brüefen,  tseldje  bie  Sjöflidjfeit  aus  bem  großen  Spvadi\d}ai$ 
für  t^re  befonberen  gtoeefe  ausgefdjieben  tjat,  eine  2lnleii?e 
bei  ber  Dolfsfpradje,  bei  ber  bie  £}öflid}feit  ben  bereits  oor» 
lianbenen  2tusbrücfen  unb  IPenbungen  eine  r>on  tfyrer  fonftigen 
Sebeutung  abroeidjenbe  unb  3tt>ar  minbere  (ßeltung  beigelegt 
fyat.  3ß  faffe  fie  3ufammen  unter  bem  Slusbrucfe  ber  pfyra- 
feologte  ber  f}öflid}feit.  3m  ZtTunbe  ber  ^öflicfyfeit  finb 
fie  pfyrafen  geroorben,  b.  fy.  IDorte,  mit  benen  niemanb  bas* 
ienige  [664]  unrflidj  3U  fagen  gebenft,  was  fie  bebeuten,  ja 
bei  benen  mancher  |td]  oft  gar  nichts  benft,  bie  er  gebanfenlos 
Ijinplappert,  IDorte,  über  beren  t>on  ifyrem  fonftigen  Sinne 
üööig  abtseicfyenbe  Sebeutung  beibe  Ceile  einperftanben  ftnb, 
unb  bie  nur  ein  gän3lidi  Unfunbiger  für  bare  Zürnte  nehmen 
fann.  über  eben,  um  biefer  (ßefaljr  nid?t  ausgefegt  3U  fein, 
muß  er  ifyre  Bebeutung  fennen,  unb  barin  liegt,  baß  jte  in 
ber  Cat  ein  eigenartiges  Stücf  Sprache  barfteüen,  eine  Spe3ial« 
jpradje  neben  ber  allgemeinen,  bie  man  fennen  muß,  um  ftc 
3u  »erftefyen. 


Die  befonbere  Spradje  fcer  fjöflicfyfeti 


52* 


<£ine  berarttge  2lb3ioeigung  eines  befonberen  Stücfs  Sprache 
für  befonbere  «gtoecfe  l)at  nichts  Überrafchenbes.  Wenn  auf 
(Srunb  bes  (Sefefees  ber  Ceilung  ber  Arbeit  bie  perfchtebenen 
«gtoetge  unb  (Sebtete  menfchltcher  Cätigfeit  ftch  3U  befonberen 
Serufsarten  geftalten,  fo  bilbet  fid}  für  fte  auch  ein  befonberes 
StücE  Sprache  aus:  eine  Spe3ialfprache  mit  be[onberen  Kunft* 
ausbrücfen  für  bie  Singe,  (Erfahrungen,  Vorgänge,  TXlanu 
pulationen,  2lnfchauungen,  Segriffe,  bie  biefem  Serufs3roetg 
eigentümlich  ftnb  (Zlomenflatur,  Cermtnologte),  eine  Spraye, 
bie  nur  ber  jenige  3U  fennen  braucht  unb  roirflich  fennt,  ber 
auf  biefem  (Sebtete  heirmf^  l%  &te  aber  allen  übrigen  unb 
felbfl  ben  (5ebilbeten  nicht  feiten  nahesu  ebenfo  unbefannt  ift, 
wie  eine  frembe  Sprache. 

ZHit  biefen  Kunftfpracfyen  lägt  ftch  nun  3toar  im  übrigen 
bte  Sprache  ber  fjöflichfeit  nicht  auf  eine  £inie  fteHen,  benn 
jene  bilben  bas  3biom  eines  befonberen  [665]  Serufsftanbes, 
eines  flehten  Bruchteils  bes  Dolfes,  biefe  bie  Sprache  bes 
gan3en  Polfes,  unb  ihre  Uenntnxs  erftrecft  ftch  bis  in  bie 
unterften  Klaffen  besfelben  hinab,  fte  fd]lie§t  nichts  in  ftch, 
tr>as  nicht  jebem  3ugängltch  unb  serftänblich  toäre.  2lber 
barin  gleiten  fte  ftch  &och,  &a§  fte  einen  befonberen  Sprach* 
3toeig  barftellen,  ber  ftch  t)om  Ejauptjtamm  abgelöft  ha** 

§u  biefem  erften  Stücf  ber  Ejöflichfeitsfprache:  ber  phrafeo* 
Iogte,  gefeilt  ftch  <&ex  noch  ein  3tr>eites  ungleich  eigentüm* 
licheres  fynin.  Set  Jenem  erfien  Stücf  hält  fich  bie  £}öflich' 
feitsfprache  innerhalb  ber  (Sefefee  ber  Sprache,  bent  (Sramma* 
tifer  bietet  fte  nichts  Eigentümliches  bar,  nichts,  rr>as  ihn 
nötigte  r>on  ihr  Ztott3  3U  nehmen.  <San3  anbers  bei  bem 
3tt>eiten  Stücf.  £{ier  überfchreitet  fie  bie  (5ren3en,  welche  bie 
Sprachgefefee  ihr  Dor3etchnen,  fte  tut  ber  Sprache  gerabesu 
(Setoalt  an.  Was  fte  I^icr  fchafft,  ftnb  nicht  etwa  neue  XDorte, 
tote  jebe  Kunftfprache  fte  bilbet,  unb  bie  fte  bilben  fann,  ohne 
!  gegen  bie  Hegeln  ber  Sprache  3U  perfiogen,  fonbern  es  ftnb 


522         Kapitel  IX.   Die  feciale  Ittedjattt?.   Pas  Stitltdje, 


neue  fprachliche  5ormen  unb  3war  foldje,  bie  feine  Bereiche* 
rung  ber  Spraye,  feine  Fortbildung  ber  in  tB^r  gelegenen 
Keime  enthalten,  fonbem  eine  Perunßaltung  berfelben,  eine 
Perfünbigung  gegen  ben  (Senius  ber  Sprache,  eine  WX%* 
adjtung  ber  fprachlichen  £ogif,  burch  meiere  biefelbe,  fich  bei 
bem  ürfprünglichen  Sau  ber  Sprache,  bei  ber  <£ntwerfung 
ber  (ßrammatif  unb  Synta^c  hatte  leiten  laffen,  fprachliche 
Abnormitäten  unb  Deformitäten,  bie  einem  <5rammatifer, 
[666]  bem  ber  Schlüffel  3ur  £öfung  vorenthalten  würbe,  ein 
unlösbares  Hätfel  aufgeben  würben. 

Der  (Srammatifer  fa§t  bie  Abweichungen,  welche  fich  bie 
gehobene  Hebe,  insbefonbere  bie  bidjterifche  Sprache  von  ber 
gewöhnlichen  Syntay  erlaubt,  unter  bem  Ausbrucf  ber  Syn- 
taxis  ornata  3ufammen,  unb  biefer  2lusbrucf  fdjeint  mir 
gan3  geeignet  3U  fein,  um  ihn  für  biefen  3weiten  Beftanbteil 
ber  ^öflichfeitsfprache  3U  perwenben.  <£s  iji  eine  befonbere 
Syntax,  welche  jtch  bie  ^öflichfeit  gebilbet  fyat,  eine  Ab- 
weichung son  ber  fonfiigen  Zlorm  ber  Sprache,  unb  ber 
«gufafc  ornata  ift  wie  gemalt  ba3u,  um  ben  eigentümlichen 
gweef,  ber  babei  obwaltet,  aus3ubrücfen. 

Heilten  bie  ZHittel,  welche  bie  Sprache  3U  biefem  <§wecfe 
Sur  Perfügung  ftellte,  nicht  aus?  Keine  5*<*ge!  Sie  ©riechen 
unb  Horner  iiaben  nicht  bas  Bebürfnis  gefühlt,  3u  anbern 
ZHitteln  ihre  Zuflucht  3U  nehmen,  unb  wenn  bies  gleichwohl 
von  anbem  Dolfern  gefchehen  ift,  fo  lägt  fich  bies  nur  als 
eine  Perirrung  be3eidjnen.  Aber  bie  Derirrung  muß  ihre 
(ßrünbe  gehabt  fyahen,  benn  jte  wieberholt  fich  bei  DölFer« 
gruppen,  in  be3ug  auf  bie  jeber  (ßebanfe  einer  t^tfiorifet^cn 
Übertragung  ober  ZTachahmung  ausgefchloffen  ifi,  bei  ben 
Afiaten  wie  ben  mobernen  europäifdjen  Kulturt>ölfem.  Sie 
tEatfadje  nötigt  uns  nach  einer  €rflärung  3U  fuchen. 

3ch  gebe  fte  in  5orm  eines  Dergleidjs.  <£s  ift  ber  alt* 
tejiamentarifche  Bericht  vom  Sünbenfalle  bes  erften  [667] 


Der  Siittbenfall  ber  5pradje. 


523 


ZHenfcljenpaares.  2tls  2lbam  unb  €oa  vom  Saume  ber  <£r* 
fenntnis  gegeffen  Ratten,  erfannten  fie,  ba§  ftc  nacft  feien, 
unb  legten  ftcl?  ein  Feigenblatt  t>or.  Derfelbe  Dorgang  fpiegelt 
ftdj  in  ber  (ßefcfycfite  ber  fföflicfjfeit  ab.  Stiles  nneberljoli 
fid?  Ijter  §ug  für  £>ug:  ber  urfprünglicfte  guftanb  ber  Hn= 
fcftulb  unb  ZTaisetät,  bie  Schlange  bes  parabiefes,  ber  Sünben* 
faß,  bie  <£rfenntnis  ber  ZTacfttjeit,  bas  Feigenblatt.  3n  jenem 
urfprünglidjen  gufianbe  ber  Hatpetät  treffen  mir  bie  Jtöflicfy 
feit  im  flafjtfdjen  Slltertum:  f^ier  ift  nodj  alles  reine  ZTatur, 
nichts  <S5ef ünfteltes ,  (Sefucfytes,  (gemachtes,  Perfcfyrobenes, 
jeber  'rebet  ben  anbern  mit  bu  unb  bei  feinem  ZTamen  an, 
ben  König  toie  ben  Bettler,  nur  bie  Epitheta  ornantia  (f.  u.), 
bie  jebodj  ber  Sprache  nidjt  bie  minbefte  (ßeroalt  antun,  Ijat 
ber  f}od)fiefyenbe  vot  bem  fiebrigen  voraus,  im  übrigen 
aber  iji  bie  Sprache  eine  unb  biefelbe  für  alle  Stänbe,  per* 
fönen,  X?er!)ältniffe. 

Statt  jener  einen  Sprache  l^aben  tr>ir  fyeut3utage  3tr>ei: 
bie  allgemeine  unb  bie  ber  i^öflidjfeit.  3^ner  bebkmn  voiv 
uns,  tsenn  toir  von  jemanbem,  biefer,  toenn  u>ir  3U  itjm 
reben.  3"  iener  fyätte  jemanb,  ber  3U  £eb3eiten  (Soetfyes 
von  it|m  fprecfyen  wollte,  einfad)  fagen  fönnen:  <5oetfye  Ijat 
gefagt,  in  biefer  tjätte  er,  inbem  er  bies  VOott  an  iljn  felber 
richtete,  ftdj  fo  ausbrüefen  müffen:  5ie  —  ober  €f3ellen3 
fyaben  gefagt  —  bort  ber  ZXame  ber  perfon  unb  ber  Singular 
bes  Derbum,  i|ier  ber  piural  ober  eine  unperfönltcfye  3e* 
3eid?nung(  hinter  ber  fein  [668]  (Sriedje  einen  Zfienfcfjen  ge= 
untteri  tjaben  roürbe,  unb  fogar  ber  plural  bes  Derbum: 
Ijaben  in  Derbinbung  mit  bem  Singular  bes  Subftantios: 
(£f3eHen3  —  bie  oollenbete  fpradjlidje  21narcfyie. 

<£s  ift  bie  Spraye  naefy  bem  Sünbenfalle.  ZHit  bem 
Sünbenfalle  roarb  bem  Zttenfdjen  bas  Ztatürlicfye  anftöfcig. 
(5an3  fo  ijl  es  ber  perfon  mit  ber  Sprache  gegangen.  Sie 
Schlange,  bie  fte  3U  Falle  brachte,  u>ar  bie  menfdjlid]e  €itelfeit, 


52^ 


Kapitel  IX.   Die  fötale  XTCed)antf.   Das  Sittliche. 


<2t)rgct3,  prunffucht,  Schmeichelei ,  Kriecherei.  5ie  flüfterte 
5er  perfon  3m  bu  bift  mehr  als  bu  glaubft,  i§  vom  Saume 
ber  €rfenntnis  unb  bu  tr>irft  ernennen,  toas  bu  bift.  Die  <£r« 
fenntnis,  toelcfje  bie  perfon  ber  öefolgung  biefes  Hats  t>er< 
banfte,  beftanb  ebenfo  tote  im  parabiefe  in  ber  ihrer  Zladi* 
heit.  3)as  Natürliche  wavb  ihr  anftöfjig,  bas  Natürliche, 
bas  I^eigt:  fie  felber,  bas  perfönliche,  3nbirnbuelle  in  ihr, 
unb  bie  Sprache  h<*t  ihr  bas  Feigenblatt  bieten  muffen,  um 
ihre  23Iöf$e  3a  perbecfen.  «gubem  ha*  fie  bie  Sprache  wab^r* 
haft  mißhcmbelt.  Sie  Serührung  von  perfon  unb  perfon 
erfcheint  3u  vertraulich ,  bie  Sprache  muß  ihr  ba3u  bienen, 
eine  fünftltche  Kluft  aufzurichten  3tr>ifchen  bem  ^iebenben  unb 
bem  2Ingerebeten,  jener  rücft  biefen  in  bie  5^rne,  er  fprid^t 
3U  ibm,  gleich  als  ob  er  von  ihm  fprächef  in  ber  britten 
perfon,  unb  felbfi  bas  Ureigenfte  ber  perfon,  ba§  fie  perfon 
ift,  toirb  aufgegeben,  um  fie  fünftlich  su  einem  2Ibftraftum  311 
erheben  (f.  u.).  flucht  ber  perfon  r>or  fich  felber  — 
mit  biefem  einen  IDorte  glaube  ich  aöe  [689]  bie  feltfamen 
f prächtigen  Derirrungen  unb  Sünben,  beren  fich  bie  Ejöflich« 
feitsfprache  fchulbig  gemacht  ha^  Jenn3eichnen  3U  fönnen. 

Ellies  biefes  toar  urfprünglich  ausfchlieglicb  für  bie  flohen 
ber  (Erbe  beftimmt,  alle  auserlefenen  fjöflichfeitsformen,  bie 
fymbolifchen  toie  bie  verbalen,  traben  ^uf  ben  fjöhen  ber 
<5efellfchaft  3uerft  bas  £id)t  ber  IDelt  erblidt.  Slber  es  fpielt 
[ich  tiiev  basfelbe  StücF  ab,  bem  txnr  bei  ber  ZHobe  begegnet 
finb:  bie  Eje^jagb  ber  Stanbeseitelfeit  unb  Stanbeseiferfucht. 
Die  übrigen  Stäube  haben  nicht  eher  geruht,  bis  fte,  fo  tr>eit 
unb  fo  gut  fie  es  eben  vermochten,  fich  ebenfalls  in  Sefife 
beffen  gefefet  hatten,  u>as  bie  Ederen  für  fich  erfounen  hatten. 
IDie  eine  neue  2T£obe,  bie  3uerji  bei  ber  f}er3ogin  auftaucht, 
fchließlich  bis  3ur  Ejaubtoerfersfrau  h^runterfommt,  ebenfo  bie 
Jjöflichfeitsformen.  XDenbungen  unb  <£fyvenpväi>itate ,  welche 
einft  bas  Dorrecht  fürftlicher  perfonen  bilbeten  (f.  u.)  ftnb 


^Inrebeformett:  ber  (Eigenname* 


525 


heut3utage  bem  <5eringjlen  gegenüber  im  (gebrauche  —  ber 
I  bemofrattfehe  §ug  ber  geit. 

3ch  tpenbe  mich  im  folgenben  3unächft  ber  phrafeologie 
I  ber  ^öfücfyfeit  3U,  toobei  ich  ben  gan3en  Porrat  x>on  XDovten 

unb  tüenbungen,  tpelche  im  Sprachgebrauch  bie  (Seltung 
|  Don  EjöflicHeitspfyrafen  getponnen  haben,  3ufammenjiellen  unb 
|  nach  paffenben  (Sejtchtspunften  orbnen  tperbe, 

[670]       Die  phrafeologie  ber  Qöf  lichfeit. 

\.  Die  2lnrebeformen. 
IDie  traben  tpir  bie  perfon,  ber  ipir  uns  gegenüber  be* 
i  ftnben,  an3ureben?    3m  £aufe  ber  &eit  liaben  fich  bafür 
i  nicht  roeniger  als  vier  perfchiebene  formen  h^ausgebilbet 

a.  Der  (Eigenname. 

(Er  bilbet  bie  natürliche  5orm  ber  2lnrebe  an  bie  perfon, 
er  iji  ihr  eigen  tpie  fein  anberer  (baher  xupiov  ovojxa,  nomen 
proprium,  (Eigenname),  benn  er  txnrb  ihr  bereits  bei  ihrem 
erften  (Eintritt  ins  £eben  3uteil:  ber  Familienname  burch  bie 
(Seburt,  ber  Dorname  burch  ben  ZDtßen  ber  (Eltern,  unb  er 
perbleibt  ihr  für  ihr  gan3es  £eben,  w&fycenb  alle  anbern 
Se3eichnungen  fich  erft  fpäter  einftnben,  fommen  unb  gehen 
unb  ihr  3ur  Strafe  jetbft  entzogen  roerben  fönnen.  Keine 
anbere  23e3eichnungstpeife  ift  burch  bie  Natur  felber  in  bem 
TXlafae  als  2lnrebeform  porge3eid]net  tpie  ber  (Eigenname, 
benn  nur  er  fyebt  bas  3nbbibuum  burch  bas  ihm  ausfchlieg» 
lieh  eigene  ZHerfmal  von  allen  anbern  perfonen  ab. 

2Iber  eben  barin  liegt  es  begrünbet,  bag  bie  £}öflichfeit 
ihn  perfchmäht.  Das  (Einfache,  Natürliche  genügt  ihr  nicht. 
Schon  bie  (Sriechen  3U  Römers  ^eit  begnügen  [ich  nicht  mit 
bem  Namen  allein,  bei  ben  pornehrnen  perfonen  bebarf  es 
3U  bemfelben  noch  bes  Epitheton  ornans  [671]  (Hr.  2),  unb 


526        Kapitel  IX.   Die  feciale  Hle^ani?.   Das  Sittliche* 


ben  gemeinen  ZHann  foH  man  tsenigftens,  um  ihn  *u  ehren, 
beim  Flamen  bes  Daters  nennen*). 

<£benfo  bte  mobernen  Dölfer.  <£nttr>eber  traben  ftc  aus 
ber  I}öflich?eitsfprache  i>ic  Nennung  bes  Hamens  gä^lich 
verbannt,  tote  t>ie  5ran3ofen  mittels  ihres  XHonjteur,  ober, 
tt>o  jxe  ihn  nennen,  fügen  fte  noch  rote  tDtr  im  Deutfchen  ben 
Sufafe:  E}err,  5*au,  5räulein  t^iri3u.  Der  bloße  Harne  ohne 
weiteren  gufafe  tft  nur  für  bas  Derhcütnis  ber  Dertraulichfeit 
(bei  £>ertx>anbten,  freunben,  Kinbern)  unb  ber  ^bhängigfeit 
(bei  Dtenftboten,  tagelöhnern  ufu>.)  geblieben:  bie  f}öftichs 
feitsfprache  tjat  ihn  verpönt,  er  bofumentiert,  bajj  bie  perfon, 
gegen  bie  tt>ir  ihn  gebrauten,  uns  etoeber  mehr,  ober  ba§ 
fte  uns  weniger  gilt,  als  btejenigen,  gegen  toelche  tr>ir  bie 
formen  ber  fjöflicfyfeit  glauben  beobachten  3U  müffen. 

b.  Der  €hrenname. 
Sei  allen  europätfehen  Dölfem  ftnben  tDtr  h^utage 
getoiffe  2lnrebeformen  in  (gebrauch,  tr>elche  ben  [672]  €igen- 
namen  balb  begleiten,  balb  erfefeen,  unb  bie  ich,  ba  ich  ^ine 
Zeichnung  besfelben  für  meine  gtoeefe  nötig  fyahe,  unb  bie 
Sprache  eine  folche  meines  IPiffens  nicht  fennt,  (Ehren- 
namen nennen  tx>erbe,  3.  33.:  Signor,  Signora,  Zfionjteur, 


*)  Die  Slntpeifung,  roeldje  Agamemnon  in  ber  3Iias  X.  68  bem 
XTXenelaos  gibt,  als  er  ilm  ausfd?icft,  bie  Pölfer  3ur  Sa]lad>t  3U  ent- 
bieten; 

3egltd?en  ITCann  nad?  (Sefdjledjt  mit  Paternamen  benennen^ 
3eglid?em  <£f}r'  errceifenb,  unb  ntdjt  ergebe  bid?  r>ornet|m. 
Über  ben  IPert,  iDeldjen  bie  (Srie^en  auf  bie  (Ertpä'fynung  ber  2lb* 
ftamtmmg  legten,  f*  S,  $06  unb  unten  5.  536.  3n  ber  fpäteren  <§eit 
fdjetnt  hiermit  eine  Perä'nberung  vorgegangen  30  fein.  3d}  fließe 
btes  aus  plato  £>•  wo  letzterem  als  einem  £}erantr>aaV 
fenben  gefagt  mirb:  „fte  nennen  tt^n  nidjt  bei  feinem  ITamen,  fettberu 
er  tDtrb  nodj  nadj  bem  Pater  benannt",  <Db  ber  Sa}Iu§,  ben  td>  baraus 
3ietje,  begrünbet  ift,  muffen  bie  Philologen  entf Reiben* 


2lnrebeformen;  ber  €rjrenname*  527 

ZTlabame,  ZHafter,  fjerr,  5rau  ufu>.  2)en  (Svkdien  unb  ben 
Hörnern  tsaren  fte  unbefannt,  lefeteren  toenigftens  in  ifyrer  guten 
<§eii*),  bagegen  finben  fte  fich  auch  bei  ben  (Efynefen  (Sian 
seng  =  ber  (Erftgeborene,  f.  u.),  unb  fchon  bei  ben  alten 
3nbiern  (bie  2Inrebe:  gute  Schwerer  für  bie  5rau,  f.  u.,  unb 
ber  unferem  £{err  entfprechenbe  dfafafe  Ho  3um  Hamen  bes 
2lngerebeten,  (Sefefee  bes  ZTfanu  II.  \2<Q. 

XDte  finb  jte  aufgenommen?  XOas  l\at  ben  ZTlenfchen  3uerft 
peranlaßt,  ftch  3ur  2lnrebe  an  Stelle  bes  (Eigennamens  bes 
Gattungsnamens  3U  bebienen?  <£s  finb,  fotpeit  ich  fet^e, 
brei  (Srünbe  getpefen.  <§uerft  bie  Unbefanntfchaft  bes  (Eigen- 
namens. 2)en  5*emben  fann  man  nicht  beim  (Eigennamen 
nennen,  tpeil  man  ihn  nicht  fennt:  bei  £jomer,  wo  fonfl  jeber 
beim  iXamen  benannt  roirb,  totrb  ber  5*^™be  als  ^embling, 
<5aft,  <5aftfreunb  angerebet**),  5obann  bie  ZtTefyrfyeit  von 
perfonen  —  fyer  ha*  man  bie  (ßattung  por  fich,  unb  ba^er 
iji  ber  Gattungsname  [673]  unumgänglich  ***).  (Enblich  bas 
5amilienperhältnis.  Überall  in  ber  IDelt  nennen  bie  Kinber 
ihre  (Eltern  nicht  beim  (Eigennamen,  fonbern  Pater  unb  Zfiutter, 
unb  Poraus  fichtlich  tpirb  biefe  2lnrebe  in  biefem  Verhältnis 
niemals  bem  (Eigennamen  plafe  machen. 

Unter  btefen  brei  fyftorifchen  2lnläffen  bes  (Sattungsnamens 
behauptet  ber  lefetere  offenbar  bie  erfte  Stelle.  Die  Kinber 
finb  es  getpefen,  tpelche  mit  ben  erften  Cauten,  tpeld^e  fie 
ftammelten,  ben  erften  Gattungsnamen  für  bie  perfou  auf- 
gebracht haben.  2tn  ihn  haben  fid]  balb  auf  bcmfelben  23oben 

*)  <£rft  in  ber  Kaife^ett  fommt  bie  2lnrebeform  dominus  auf, 
2lugufhts  rotes  fte  nod?  3uriicF,  bie  Klienten  pflegten  ifyre  patrone  in 
ber  fpäteren  <§ett  fogar  mit  rex  an3ureben. 

**)  <San3  ftetjenb;  (Db*  I.  \2Z,  215,  IL  <*3,  III.  7{,  371,  VII.  258, 
XIII.  237,  XIV.  53,  XIX.  509. 

***)  Bei  fjomer  fommeu  aud?  hier  bei  oornetjmen  Perfonen  Epitheta 
omantia  rnn^u,  3»  bei  ben  dürften:  (Erhabene  Jfürften  unb  Pfleger, 
<D*.  VII.  \86,  VIII.  U,  26,  97,  387,  536,  3lias  VII.  385,  XL  587. 


528 


Kapitel  IX.   Die  feciale  Hieran».  Das  Sittlid^, 


ber  Familie  ober  bes  Kaufes  anbete  für  bie  übrigen  Der* 
hältniffe  ber  Pertr>anbtfchaft  unb  ber  häuslichen  2lbhängigfeit 
angefchloffen. 

So  bürfen  u>ir  bie  Familie  unb  bas  fjaus  als  ben  Urjtfc 
bes  (Sattungsnamens  für  bie  perfon  be3eichnen,  unb  an  biefen 
Anfang  fnüpft  auch  bie  weitere  (ßefchichte  besfelben  an.  Von 
ber  Familie  unb  bem  Qaufe  finb  bie  Ztamen  auf  anbere  Der« 
hältniffe  übertragen;  bie  Perhältniffe,  bie  man  t|ter  x>or  klugen 
hatte,  I^aben  bas  Porbilb  fomohl  für  bie  etfyfdje  firfaffung 
als  für  bie  fprachltche  Zeichnung  ber  ihnen  auger  bem 
£;aufe  nahe  fommenben  abgegeben,  in  berfelben  IPeife  toie 
bie  Perfaffung  bes  fjaufes  gefchichtlich  als  Prototyp  ber 
jlaatlichen  (ßemeinfehaft  gebient  Ijat.  <£in  in  biefer  Sichtung 
Don  mir  angeheilter  [674]  Pergleich,  ber  bei  ausgebehnteren 
Spradjfenntniffen  ficherlich  eine  noch  r>iel  reichhaltigere  2Ius* 
beute  abgetoorfen  liaben  würbe,  h<*t  für  mich  biefe  Catfadje 
über  allen  §u>etfel  erhoben,  es  gibt  faum  ein  Verhältnis  bes 
Kaufes  unb  ber  5<*™ilie,  für  bas  ich  nicht  biefe  analoge 
Übertragung  hätte  nachreifen  fönnen*). 


*)  Die  Pertjältniffe  ber  PertDanbtfdjaft,  Pater,  Pater* 
dien;  als  traulid?e  2lnrebe  bei  Horner  im  ITCunbe  bes  (Eelemad?  an  bie 
alten  Diener  bes  Kaufes  —  bei  ben  Hüffen  bie  2Inrebe  Pater  felbft  an 
ben  Kaifer*  3n  oer  firdjlidjen  Spraye  papa  (izdizas) ,  ^eiliger  Pater, 
samt  pere  für  ben  papp,  pater,  pere  für  ben  ITCöna>  Ittutter, 
IHütterd?en;  als  trauliche  2lnrebe  an  bie  treuen  tpeiblidjen  Dienftboteu 
bei  ^omer  —  bei  uns  im  gemeinen  Pol!  ebenfo  in  ^ranfreid?  2Inrebe 
an  alte  grauen  —  23e3eidmung  ber  Honne  als  mere.  Sorpt,  (Toaster: 
ilnrebe  ber  älteren  perfonen  an  jüngere  bei  Horner  —  audj  bei  uns  in 
Deutfcr/Ianb,  3*  23*  im  plattb eutf djen:  myn  Söön,  myne  Dod?ter,  ungarifcb 
fiam,  mein  Sofm,  meine  (Eocr/ter  —  Kinb;  bei  ^omer  —  als  Zlnrebe 
bes  £etjrers  an  ben  Sd^üler  rorge3eidmet  in  ben  (Sefefeen  bes  Ulann 
II.  J5  —  bas  fran3öftfdje  garcon.  23  ruber:  bas  itaL  fra  von  fratcr 
für  ben  IHöncf/*  Der  ältere  Bruber  (senior):  signor,  seigneur,  seiior, 
monseigneur,  sieur,  monsieur,  sir,  sire,  uttgarifd?  bätyäm  (2lnrebe  älterer 
perfonen  an  jüngere,  öcsem,  jüngerer  Bruber,  bei  perfonen  tr>etblid?en 
<5ej*d?led}ts  nemem  ältere,  hugom  jüngere  Sditrefter),  bei  ben  dtu'uefeu 


Slnvebef ormen ;  ber  (Ehrenname. 


529 


Die  meiften  ber  aus  biefer  Quelle  ftammenben  2Inrebe* 
formen  fabelt  nur  eine  partifuläre  (Seltung  erlangt,  fei  [675] 
es  für  geunffe  (ßegenben,  fei  es  für  getoiffe  Stänbe  ober 
Derhältniffe,  einige  von  ihnen  bagegen  fxnb  allgemeine  2lnrebe* 
formen  geroorben,  allgemein  fotr>ohl  in  be3ug  auf  it^r  geo< 
grapljifcfyes  mit  bem  Sprachgebiet  3ufammenfaIIenbes  (Seltungs* 
gebiet  als  in  be3ug  auf  ifyre  perfönliche  2lmt>enb  bar  feit,  tr>elche 
im  £aufe  ber  <geit  auf  alle  Klaffen  ber  (Sefellfchaft  ausge- 
beizt toorben  ift. 

Die  romanifchen  Dölfer  fabelt  ihre  (Ehrennamen  ben  Der* 
hältniffen  bes  Kaufes  entlehnt  unb  3roar  für  bas  männliche 
(Sefchlecht  ber  angefehenen  Stellung  bes  älteren  örubers: 
Senior  (fiehe  bie  obige  Ztote),  für  bas  weibliche  teils  biefer  (bie 
5emininalenbungen  3.  23.  Signora,  Senora),  teils  ber  Stellung 
ber  J^ausl>errin:  domina  (fiehe  bafelbft).  Unter  ben  germa* 
nifchen  Dölfern  bilbeten  bie  <£nglänber  oon  bem  auch  in 
anbeten  Spraken  r>iel  benutzten  lateinifchen  magister  (italienifch 
madstro,  fran3Öfifch  maltre,  maitresse,  beutfch  ZTfeifter)  ihr 
master  für  ben  Ulann,  mistress  für  bie  5*au,  miss  für  bie 
Unverheiratete.  Die  übrigen  germanifchen  Sprachen  traben 
3ur  23e3eid}nung  bes  männlichen  (ßefdjlechts  „Ejerr",  roas  nach 
ber  herrf^en^cn  Etymologie  t>on  heriro,  bem  Komparativ 
t>on  her  =  fjehr,  abftammen  foll,  alfo  ben  ^eroorragenben 


sianseng  (=  ber  <£rftgeboreue)  als  allgemeine  t^ofltd^e  2lnrebeform* 
Sdjmefier:  im  Briefftil  ber  ITtonardjen  —  soeur  für  bie  Honne  — 
gute  Scr/mefter  als  Zlnrebe  an  bie  $vau  in  ben  (Sefe^eu  bes  IfTami  EL  129. 
Detter:  Detter  unb  Bruber  im  Briefftil  ber  ITConard?en.  (Dnfel  unb 
(Tante;  im  piattbeutf dien  als  (Dtjm,  Ittöfe,  X\V6  bem  (Eigennamen  ber 
gemeinen  £eute  angehängt,  [♦  Doornfaat*Koolmamt,  IDörterbua?  ber 
0  Pf  rief.  Spraye. 

Die  Derrjä  Itniff  e  bes  Kaufes.  Don  dominus:  bie  Be3eid^ 
nung  ber  (Seiftlidjen  in  Italien  unb  fjollanb  mit  domine  —  ber  grauen 
mit  domina,  dama,  dame,  madame,  donna,  dona,  Pimiuutiü ;  damigella, 
demoiselle,  mademoiselle. 


v.  3t)ering,  Der  ^toecf  im  Hecfjr.  II 


530 


Kapitel  IX.   Die  fatale  med>amf»   Das  Sittliche* 


bebeutet  *),  3ixr  Zeichnung  [676]  bes  tveiblichen  „Srau",  a>as 
bie  (Etymologen  mit  „5roh",  »Frouwe«  (=  feie  5*ohmachenbe, 
bie  BeglücEenbe)  in  Derbinbung  bringen,  unb  für  bie  Un* 
©erheiratete  bas  Diminutipum  von  „Jräulein",  früher 

„3ung<frau",  , Jungfer".  C^arafteriftifdj  ift,  ba§  f  ämtliche 
mobeme  Sprachen  bas  Uloment  ber  €I|e  beim  männlichen 
(Befehlest  nicht  betonen,  ber  UTann  ift  ftets  „Ejerr",  ber  Der* 
heiratete  tvie  ber  unoerheiratete,  für  feine  Stellung  ift  bie 
&ie  ohne  Bebeutung,  tvährenb  beim  tveiblichen  (Sefchlechte 
bie  Verheiratete  von  ber  Unverheirateten  unterfchieben  tvirb. 
Die  €he  bilbet  bie  öeftimmung  bes  IDeibes,  barum  bie  öe* 
tonung  berfelben  bei  ber  ©erheirateten  unb  barum  bie  Sc* 
nennung  ber  Unverheirateten  nach  biefer  ihrer  Seftimmung 
als  fünftige,  tverbenbe,  lievanwadi'\enbe  (5^u:  fräuletn, 
3ungfrau,  3unöf^;  Dame:  X>emoifeße;  UTabame:  UTabe* 
moifeUe;  ZHiftrejj:  ZTTig).  IDährenb  für  fie  bas  Diminutivum, 
tvirb  für  bas  männliche  (ßefchledjt  ber  Komparativ  vertvanbt 
(Senior  für  bie  romanifchen  Sprachen,  heriro  in  ber  beutfdjen, 
magis-ter  in  ber  englifchen),  bas  (£B^rcnpräbifat  bes  Ulannes 
befteht  barin,  ba§  er  mehr  ift  als  anbere,  bas  bes  IDeibes 
barin,  baß  fie  (Ehefrau  tfi  ober  rverben  tvirb.  2Ille  biefe 
2Iusbrü<fe  lieben  bas  UToment  ber  fosialen  Stellung  lievvot, 
bie  2lusbrücEe,  tvelche  bie  natürlichen  Unterfcfyebe  bes  <8e* 
fchlechts  unb  bes  Alters  betonen  (UTann,  IDeib,  Knabe, 
ZtTäbchen)  finb  ber  f^öflidtfeitsfprache  fremb. 

Sämtliche  (Ehrennamen  bilbeten  einft  bas  Dorrecht  [677] 
hervorragenber  perfonen,  bei  uns  in  Deutfchlanb  3,  33.  fam 

*)  So  bie  VObxtexbnd^ev  von  (Srimm,  lüetganb  n.  a.  Ruberer  2Iu- 
ftcfyt  ift  £.  (Seiger,  Urfprung  uttb  (Entnntflung  ber  menfdjüdjeu  Spra*e 
unb  Dernunft,  23b.  X  (Suttgart  J868),  5. 330  ff.,  ber  es  in  gnfammen- 
fyang  bringen  null  mit  bem  Dertjältnis  bes  ä'lteren  23rubers,  beffen 
ausgebefynte  fprad}lid?e  Derroenbung  3ur  Be3eid?nung  einer  tjervorragenben 
Stellung  er  buret»  eine  große  ^ülle  oon  IDenbungen  in  ben  t>erfd?iebenf*en 
Sprachen  nad}ti>eiß* 


21nrebeformen;  ber  begriff sname* 


53* 


bie  SInrebe  f}err  unb  Fräulein  noch  bis  in  bas  brei3ehnte 
3ahrhunbert  Bjmem  nur  fürjilichen  perfonen  3U.  VOas  in* 
3*x>if  d?en  aus  ihnen  geworben  iji,  iji  befannt,  ^cut3utagc  iji 
auch  ber  (Seringjie  £}err  geworben,  unb  bas  einfüge  präbifat 
für  5ürßentöd]ter  5räulein  trifft  man  I^eut3utage  felbji  auf 
Striefen  an  Dienftmäbchen.  <£s  iji  ber  bemofratifche  gug  ber 
Seit,  beffen  oben  (S,  52^)  bereits  gebaut  roarb  —  bie  unteren 
Stäube  brängen  ftets  nach  oben.  Daburch  büßen  bie  ehe- 
maligen aus3eichnenben  €l|renpräbifate  ihren  DOett  ein,  unb 
ber  2IusfaH  muß  bann  felbjiserftänblich  in  anberer  XDeife 
gebeeft  »erben.  Die  (Befetlfchaft  l)ilft  fkh,  inbem  fte  ben 
(Ehrennamen  aus3eichnenbe  präbifate  fyi^ufügt,  5rau  unb 
Fräulein  in  ben  befferen  Stäuben  befommen  bas  Präbifat  bes 
Souveräns  „gnäbig",  jefct  bereits  „gnäbigji"  unb  es  toirb  nicht 
lange  bauem,  fo  u?irb  „atlergnäbigft"  folgen,  bis  auefy  biefe 
präbifate  roieber  entwertet  finb  unb  ber  erfmberifdje  (ßeift 
ber  Stanbeseitelfeit  neue  erfonnen  Ijatf  benen  nach  einiger 
geit  toieberum  basfelbe  £os  befchieben  fein  totrb, 

c.  Der  Staatsname  (Citel). 

Seine  Verleihung  bilbet  bas  Heferoatrecht  ber  Staats* 
geroalt*),  unb  u>enn  man,  toie  es  tDÜnfchenstoert  iji,  fämt- 
liehe  3ur  2lnrebe  ber  perfon  bienenben  Woxte  unter  ben 
gemeinsamen  itenner:  Ztamen  bringen  untt,  fo  iji  [678] 
Staatsname  für  ben  Citel  ber  3utreffenbe.  3n  welchem  2Tlage 
auch  er  feiner  eigentlichen  Sefttmmung,  3ur  23e3eichnung  bes 
2tmts  3U  bienen,  entfrembet  roorben  iji  unb  eine  barüber  tseit 
hinausgehenbe  fo3tale  Sebeutung  angenommen  h<*t,  iji  oben 
(S.  4^3  ff.)  ausgeführt. 

Die  (ßefchichte  ber  Eitel  führt  uns  biefelbe  €rfcheinung 
r>or  klugen,  ber  voxt  foeben  bei  ben  (Ehrennamen  begegnet 


*)  Über  bie  Kirche  unb  Utfffenfäaft  f.  5.  Qfi. 


552         Kapitel  IX.   Die  feciale  HIed>antf*   Das  Sittliche« 


pnb:  eine  fortfchreitenbe  (Entwertung.  Vflxt  bem  Zfiomente, 
wo  t>ev  Cttcl  vom  2lmte  getrennt  wirb,  ift  fein  SchicEfal  be< 
fiegelt.  <£ine  Zeitlang  3ehrt  et  noch  t>on  bem  Kapitale, 
welches  bas  2lmt  angefammelt  I^at,  aber  ba  er  \ elber  nichts 
ZTeues  hw3ufügt,  fo  fchmil3t  bas  Kapital  mehr  unb  mel|r 
3ufammen,  bis  er  fchltepch  nur  noch  ber  Schatten  (einer 
felbft  ift.  VOeldien  Klang  I^atte  einft  ber  ZTame  Hat,  unb 
was  ift  jefet  aus  ihm  geworben,  feitbem  bie  IDelt  mit  Häten 
aller  2trt  bis  3um  Komme^ien«  unb  Hedjnungsrat  fymah 
überfchwemmt  worben  ift,  unb  ein  Subalternbeamter  nach 
längerer  Dienfoeit  mit  aller  Sicherheit  barauf  rechnen  fann, 
einen  Hatstitel  3U  befommen.  tDas  war  einft  ber  Amtmann 
—  heut3utage  finb  Pächter  von  Domänen  (Dberamtmänner. 
2ludj  fyer  wie  bei  ben  (Ehrennamen  mußte  ber  Ausfall  auf 
anbere  ZDeife  gebeeft  werben,  unb  es  gefchah  auch  ^ier  ba* 
burch,  baß  man  ben  t>ielen  qualiföierten  Hatstiteln  (3ufti3*, 
Hegierungs*,  5taats*,  5inan3*,  Kirchen*,  Konfiftorial*,  Berg«, 
Sau*,  2TCebi3inaI*,  Sanitäts*,  Schul*  unb  anbere  Häte  (burch 
r>erfchiebene  Sufäfee,  wie  <5eheim<,  ©ber*,  IDirflicher  auf  [679] 
bie  Beine  3U  Reifen  fudjte,  bie  bei  ber  ZHöglichfeit  ihrer  vet* 
fchiebenen  Kombination  eine  außerorbentliche  ZHannigfaltigfeit 
ber  Derwenbung  unb  2lbftufung  ermöglichten,  bis  lefetere 
mit  bem  „IDirflichen  (Seheimen  (Dber"  enblich  bie  höchjte 
Sproffe  ber  £eiter  erreicht. 

d.  Der  Begriffsname  (bie  ijypoftafterenbe  Be3eich« 
nung  ber  perfon). 
Die  bisherigen  2lnrebeformen  fmb  perfönlidje,  jte  be« 
3eia?nen  bie  perfon  als  perfon,  biefe  vierte  unb  lefcte  2lnrebe* 
form  lägt  bie  PorfteHung  ber  perfon  fallen,  bie  perfon  bleibt 
bei  i^r  feine  perfon  mehr,  fonbern  fie  wirb  ein  2lbjiraftunxf 
ein  Begriff,  perfon  unb  <2igenfchaft  taufchen  ihre  Hollen, 
bie  (Eigenfchaft  wirb  in  (ßebanfen  t>on  ihr  abgelöft,  Ewpoßaftertl 


llnrebeformen:  ber  23egriffsname» 


533 


3um  Subjeft  erhoben.  Der  23egriff  ber  Roheit,  (Erhabenheit 
nimmt  in  bem  präbifate  ZHajeftät  perfönliche  (ßeftalt  ein, 
wirb  ileifch  unb  23lut,  bie  perfon  ifi  in  bem  ZHaße  von 
biefer  <£igenfchaft  erfüllt,  baj$  fie  fich  mit  ihr  r>oHftänbig 
becft:  bie  roanbelnbe  Zllajeftas  ober,  um  ben  2tusbrucf  oon 
Shctfefpeare  311  gebrauchen:  „jeber  <§oü  ein  König". 

Dichter  finb  es  getsefen,  bie  fich  3uerft  biefer  höchft  aus» 
brucfsooHen  unb  berebten  IDenbung  (UTetonvmie)  bebient 
haben,  um  ben  (Sebanfen  aus3ubrücfen,  ba§  eine  perfon  gan3 
unb  gar  von  einer  (Eigenschaft  burchbrungen  fei:  jtatt  ber 
perfon  nannten  fie  bie  <£Eigenfchaft,  beren  3n^arn^ion  fie 
ift*),  Der  (Sebanfe,  biefe  IDenbung  aus  [680]  ber  bichte* 
rifchen  Sprache  in  ben  Kurialftil  3U  übertragen,  gehört  meines 
lüiffens  ben  fpäteren  römifchen  Kaifern  am  3hr^  Vorgänger 
iiaüm  bie  IDelt  mit  bem  Citeltoefen  befchenft  (S.  %{5),  fie 
ihrerfeits  fügten  noch  biefe  <£rfinbung  hw3u  an  ber  fie  neben 
fich  auch  ih^  höchften  23eamten  teilnehmen  liegen**),  Pom 
bY3antinifchen  ^ofe  tsarb  biefelbe  auf  bie  germanifchen  x>er« 
pflan3tf  3uerfl  an  ben  bes  Cheoborich,  um  bann  bei  ben 
mobernen  Dölfem  eine  Pertoenbung  3U  finben,  welche  über 
ihren  urfprünglichen  gtoecf  unb  Bereif  toeit  hinausging, 

3ch  unterfcheibe  3tDei  2trten  berfelben:  bie  offi3ie!le  unb 


*)  3n  ber  profa  bebienen  mix  uns  bafür  ber  IDenbung  „lauter": 
„lauter  £tebe  unb  <Süte"  —  bie  perfon  geht  gan3  in  £iebe  unb  (Süte 
auf,  itjr  gan3es  lüefen  ift  £iebe  unb  (Süte.  €ine  UTetonymie  ber  juri* 
füfd/en  Kunftfpracr/e  enthält  bie  23e3eidmung  bes  (Eigentums  als  res 
corporalis  r>on  feiten  ber  römifchen  3uriften  —  Hecht  unb  Sache  becfen 
fia?  fo  üollftänbig,  ba§  ftatt  bes  erfteren  festere  genannt  wirb,  nur  baß 
hier  nidit  ftatt  bes  Sinnlichen  bas  Überfinnlicr/e,  fonbern  ftatt  bes  letz- 
teren erfteres  genannt  tt>irb. 

**)  iPenbungen  ber  Kaifer  für  ftd?  felber :  nostra  majestas,  celsitudo, 
culmen  principale,  serenitas,  mansuetudo ,  dementia,  tranquillitas  —  für 
bie  hod)ften  Beamten:  tua  eminentia,  excellentia,  magnificentia,  Provi- 
dentia, celsitudo,  spectabilitas  u*  a*  ZHe  meiften  ber  letzteren  haben  jidj 
noch  h^«t3utage  in  Staat,  Kird?e,  Uniüerfitäteu  erhalten. 


Kapitel  IX.   Die  fojtale  XKedjanirV  Das  Sittliche* 


bie  f oktale.  (Erftere  umfaßt  ben  (gebrauch,  ben  Staat,  Kirche 
unb  U?iffenfchaft  von  biefer  ^vpoftafiercnben  Öe3eichnung  ber 
perfon  gemalt  I^aben*).  SMefelbe  bübet  [681]  eine  tjöljere 
Stufe  bes  Citels»  5ür  bie  mittleren  unb  unteren  Stufen  ber 
staatlichen,  fachlichen,  a>iffenfchaftlichen  Hierarchie  ift  überall  bie 
perfönliche  23e3eichnung  beibehalten  u>orben,  für  bie  höheren 
Stellungen  bagegen  iji,  u>ie  im  bY3antinifchen  Kurialjiil,  bie 
unperfönliche  t>ertr>anbt  toorben,  toelche  bie  E(öfje  unb  <£r» 
habenheit  berfelben  femt3eichnen  foll,  2lber  gerabe  bies  er* 
regte  bie  (Eiferfucfyt  ber  biefen  I^öd)jien  Schichten  3unächji* 
jiehenben  Klaffen  ber  (SefeHfchaft.  Kann  ein  5ürft,  ein  ^o^er 
23eamter  sum  2lbftraftum  erhoben  u>erben,  u>arum  nicht  auch 
eine  angef eigene  prioatperfon?  Was  bie  Sprache  für  jene 
üermag,  fann  fie  auch  fü*  biefe.  Unb  fo  tr>arb  benn  bas 
gegebene  Beifpiel  imitiert,  alle  mobernen  Sprachen  bilbeten 
ihre  abftraften  Subftantipa  3ur  23e3eid>nung  ber  perfon:  bie 
italienifche  von  signor  vostra  signoria,  bie  fpamfdje  von  merces 
vuestra  merced**),  bie  fran3Öfifche  votre  gräce  (früher  signorie), 
bie  englifche  von  your  Lordship,  von  worth  Worship,  bie 
beutfehe  (Snaben,  f}errlichfeit,  IDoBjtoeisheit,  IDürben***), 
ja  fte  ift  felbft  por  ber  fprachlichen  Unnatur  nicht  3urücF« 

*)  Der  Staat  für  bie  ^etdjtturtg  ber  £anbesherren  unb  ber  l}öcbßen 
Staatsbiener;  UTajejiä't,  Jjotjeit,  Durcfylaudjt,  (g^eUens  (3m:  <§ett  ber 
Henaiffance  in  3talien  nodj  ilnrebeform  ber  dürften  —  bie  Deoafoatton 
ber  (gijrenprSMFate  nriebertjolt  fid?  audj  bei  biefer  SJnrebeform).  Die 
Kirdje:  Xjeiligfeit,  €minen3,  bifd?öflt<^e  (Srtaben  (früher  dominatio  vestra). 
Die  ttHffenfdjaft:  XIIagnifi3ett3  (Heftor  ober  proreftor  ber  Unioerfttät), 
Speftabilttät  (Defan  ber  tfafnltät). 

**)  Haa>  mir  pon  fadjfrmbiger  Seite  geworbener  HTtttetlmta.  flammt 
bafyerbas  mtferem  beutfdjenSie  entfpredjenbe  fpanifdje  Usted  (gefdjrtcben 
Vd):  es  enthält  pou  vuestra  bie  ^Ifangs*,  pon  merced  bie  ScfylufibuaV 
ffcabem 

***)  (für  (Seifilidje,  mit  2lbjrufungen:  (Efyrmürbett,  IDofytefjnpiirben, 
^odjtDohlefjriPÜrben,  ^odjefyrtpürben,  ^odjmürben.   Diele  2Ibjrrafta  t 
Ungarifcben,  3.       (Sröße,  (Erhabenheit,  ^InfetmlidiFett,  fjerrf d?a 
(Snabe  u*  a*  m» 


^nrebeformen;  ber  Begriffsname* 


535 


gefdjrecft,  2lbjefttoa  3U  biefem  «gtoecfe  3U  x>ertr>enben:  <£u>. 
IDofylgeboren,  £}odjtr>ofyIgeboren  [682]  ufrov  man  fönnte  eben* 
fogut  fagen:  €n>.  (5ro§,  Sdjön,  (Belehrt. 

2tudj  für  biefe  2lrt  ber  Öe3eidjnung  ber  perfon  fennt  bte 
Sprache  meines  IDiffens  feinen  befonbereu  2lusbrucf,  unb 
bodj  tut  ein  folcfyer  not  3*  Ijalte  ben  oben  t>on  mir  ge* 
brausten:  Begriff  sname  für  sutreff enb.  Die  perfon  B^ört 
für  bie  Dorftellung  auf  perfon  3U  fein,  fte  unrb  3um  Begriff 
erhoben.  3n  fpracfylidjer  Be3ieljung  oerbinben  ftdj  mit  bem 
Begriffsnamen  folgenbe  3tsei  (gigentümlidjfeiten. 

guerji  bie  3nbifferen3  besfelben  gegen  bie  Derfdjiebenfyett 
ber  (5efdjled}ter»  Das  (Sefdjledjt  fann  in  bem  Begriffsnamen, 
in  bem  bie  perfon  ftdj  f elber  aufgegeben  fyat,  nidjt  mefyr 
unterfdjieben  werben,  bie  präbifate  ZHajeftät,  <£f3eßen3  uftx>. 
fmb  bafyer  für  beibe  (Sefdjledjter  üöUig  gleich.  Die  brei  übrigen 
Stufen  ber  Hamen  bifferen3ieren  fidt  nadj  bem  <5efd)led)t, 
auf  biefer  lefeten  ift  ber  gefcfyledjtlidje  Unterfcfyieb  gän3lid? 
übertounben,  bie  5Iud}t  ber  perfon  por  fid}  felbft  Ijat  mit  ber 
2tbftreifung  bes  legten  t^r  nodj  antia^tenben  ZHoments  bes 
ZTatürlidjen  it^r  <£nb3iel  erreicht  —  nichts  errinnert  rnefy:  an 
ben  2Üenfd}en. 

Die  3toeite  fpradjlicfye  (Eigentümlicfyfeit  ift  bie  Derbinbung 
ber  Pronomina  possessiva  mit  bem  Begriffsnamen.  Damit 
berühre  icfy  einen  punft,  ben  idj  unten  bei  (Selegenfyeit  ber 
Syntaj:  ber  £}öflidjfeit  erörtern  tt>erbe. 

2.  Die  (Erhebung  ber  fremben  perfon  —  bie  epitheta 
ornantia. 

3n  ber  brieflid^en  2Inrebe  pflegen  toir  im  Deutfdjen  [683] 
bem  Hamen  bes  2lngerebeten  getr>iffe  ftereotype  präbifate 
l)in3U3ufügen  unb  3tx>ar  nad?  Perfd]iebenl)eit  bes  perfönlicfyen 
Derfyältniffes  balb  foldje,  tt>eld}e  bie  2Idjtung,  Derefyrung, 
Depotion,  balb  folcfye,  tr>eld]e  bas  IDofyfooHen,  bie  5reunblidjfeit, 


536 


Kapitel  IX.   Die  fatale  Ule^ani?.   Das  Sittltdje* 


Siebe  ausbrücfen*).  33eibe  ftnb  ber  Sitte  3ufolge  obligat**); 
bie  23efd?ränfung  ber  2tnrebe  auf  ben  ZTamen  ober  nad? 
fran3Öjtfd}er  Sitte  mit  ZHein  %rr  ttmrbe  eine  (ßrobfyeit  ent* 
galten.  Der  Deutfcfye  verlangt,  baß  ber  Scfyreibenbe  ifym 
einen  Spiegel  uorfyalte,  ber  ifym  fein  33ilb  im  porteilfyafteften 
£id]te  3urücfn>irft,  5ür  bie  IDafjI  biefer  ftereotypen  2tusbrüc!e 
(refleftterenber  fjöftidjfeitsformen)  ift  bas  perfönlidie  Der- 
^ättnis  maßgebenb.  Sid}  einer  fernftefjenben  perfon  gegen* 
über  ber  IDenbungen  bes  IDofyltDoHens  3U  bebienen,  ttmrbe 
ebenfo  ungehörig  fein,  als  einem  5reunbe  gegenüber  bie  ber 
I^odjadjtung  ober  Derefyrung  3ur  2lntr>enbung  3U  bringen,  bas 
3toifd}en  beiben  perfonen  beftefyenbe  Derfyältnis,  ob  es  ein 
näheres  ober  ferneres  ift,  foll  aus  ber  2tnrebe  erhellen. 

[684]  5ür  ben  perfönlicfyen  Derfefyr  ift  bie  ^in3ufügung 
ber  epitheta  ornantia  3U  bem  Flamen  fyeut3utage  bei  uns  nicfyt 
mefyr  üblicfy,  tDäfyrenb  fte  es  einft  tr>ar,  ebenfo  wie  bei  ben 
(Sriedjen  in  ber  ^eroen3eit  unb  nodj  Ijeut3utage  bei  ben 
Jlfiaten.  Bei  f}omer  finben  ttnr  bie  Sitte  in  ausgebilbetftcr 
(ßeftali  Kein  König  ober  J^elb  toirb  o^ne  efyrenbe  präbifate 
51;  feinem  ITamen  angerebet***),  unb  Horner  bebient  fid] 


*}  tPenbungen  ber  erften  Kategorie:  l^od?gefd?ä^t,  geehrt,  fjocb* 
geehrt,  f|odj3ur>ereljrenb,  üereljrt  —  ber  3tt>eiten:  lieb,  tpert,  teuer»  Die 
erfteren  fmb  abfoluter,  bie  legieren  relativer  21rt,  jene  fagen  aus:  was 
bie  perfon  an  fidj,  biefe;  was  fte  bem  Kebenben  ift,  barum  pa§t  nur 
3U  (enteren  bas  pronomen  possessivum  mein  (mein  lieber  ^freunb,  tttc^t 
mein  t]od?3ur>eret|renber  £?err  präfibent),  bie  Sprache  fjat  !jier  ein  großes 
f eingefültl  bemerk 

**)  21udj  in  biefem  pmtft  fjat  bie  Sitte  melfadj  bie  (Seftalt  ber 
reglementierten  Qöflidjfeit  angenommen»  23eifpiel;  bie  offiziell  rorge* 
fd>riebenen  2Inrebeformen  an  ben  £anbesljerm  bei  (Eingaben  an  ben* 
felben;  <Sro§mäa?tigjter  —  2Jllerburd}laud?tigfter  n\w.,  früher  aud?  bei 
2Jnreben  an  bie  Befyörbem 

***)  Die  befannten  23eifpiele:  €bler  £aertiabe,  erftttbungsretdjer 
(Dbyffeus  —  21treus  Sofjn,  ITCenelaos,  bu  (göttlicher,  Dölfergcbieter 
u*a*m»  Der  IDert,  ben  bie  (Sriedjen  auf  bie  21bfiammung  legten  (S.  526 


Die  pfyrafeologte  ber  £}öflid}Feit  —  epitheta  oraantia.  537 


berfelben  and>,  wenn  et  von  ifynen  reitet  Was  ben  ZHenfd^en 
gebührt,  gehört  jtd)  erjl  recfyt  für  bie  (Söttet,  audj  fie  erhalten 
iijre  epitheta  ornantia,  unb  fie  geben  fie  ftcfy  untereinander, 
nur  Pater  geus  entfdtfägt  fidj  ifyrer*).  ^^eifellos  toar 
bie  fjtn3ufügung  berfelben  Sadje  einet  ftreng  t>erpflid)tenben 
igtifette**). 

[685]  IDie  mag  bie  Sitte  ftcfy  3uerft  gebilbet  fyaben? 
XDafyrfcfyeinlid}  ift  es  ber  (Egoismus  gert>efen,  ber  ba3u  ben 
erften  2tnfto§  gegeben  Ijat.  Sdjufefleiienbe,  5remblinge,  Sflat>en, 
abhängige  Ceute  roerben  es  geroefen  fein,  toelcfje,  um  bie  (Sunft 
bes  tnäcfytigen  3U  gewinnen,  feinem  Hamen  glän3enbe  prä< 
bifate  I)in3ufügten***),  unb  bei  (Söttern  fyelt  man  es  aus 
gleichem  (ßrunbe  nid>t  anbets,  auefy  bie  <5ottfyeit  mußte  burd} 
Schmeichelei  gewonnen  tserben.  2tber  toelcfyen  Anteil  (£igen* 
nu£  unb  Beregnung  aud]  an  ber  erften  Bilbung  ber  Sitte 


Hote),  erflärt  es,  ba§  bie  epitheta  ornantia  audj  bem  Hamen  bes  Paters 
ober  ber  Dorfafyren  fyh^ugefügt  »erben,  3*  £♦  2ltreus  Sofnt  bes  feurigen 
Hoffebe3ätjmers  —  Solnt  bes  ftrafjlenben  Cybeus,  3Itas  II.  23,  IV.  338, 
V.  277,  (Eurtpibes  2llf eftts  498,  (Eleftra  868,  87$,  3ptn'genia  in  2Iulis  809* 

*)  Die  (Sötter  unter  ftd? :  0b.  V.  87,  88,  VII.  306,  II.  II.  *57,  <£un* 
pibes  Croerinnen  $9.  2lnrebe  an  <§eus:  0b.  I.  $5,  bes  <§eus  an  fie ; 
3Iias  V.  22,  29  u.  a.  m. 

**)  (Otarafterifiifdj  bafür  tjt,  ba§  fte  feibft  im  ganf  beobachtet 
n>irb,  3*  33*  II.  I.  J22:  Nitrens  Solnt,  ruf}mt>oüer,  bu  tjabbegiertgfter 
aller l  —  für  uns  fyeut3utage  non  ununberftetjltdjfter  Komi!  —  unb  aud? 
gegen  ben  ^etnb  in  ber  Sd?!acf?t  IL  V.  277,  IV.  *23,  \<{%.  (2in  anberes 
«geugnis  bafür  f.  0b.  III.  22,  wo  Celemacfy  ben  XTCentor  fragt:  „IPie 
foü  tdj  bann  gelten  unb  3iterft  aureben  ben  König?  Ungeübt  nodj  biu 
id?  in  fertigen  tPorten  ber  Klugheit".  S.  auci?  bas  oben  S.  526  Hote 
eingeführte.  Hur  bie  grauen  nehmen  es  mit  ber  2lnvebe  nidjt  fo 
genau,  0b.  IX.  336.  Die  2tnrebe  an  fie :  0b.  XVII.  J52,  XVIII.  2<*5, 
285,  XIX.  262,  336. 

***)  So  madjt  es  ber  fluge  bevedintnbz  0byffens  bei  bem  2Ilfrttoos 
unb  ber  ZIaufifaa  (0b.  VI.  J<*9,  VII.  V*6,  VIH.  382,  *o*,  W,  IX.  2, 
XI.  355,  357).  Der  Ittädjtige,  ber  um  Sd?ut$  angegangen  mirb,  bebient 
fidj  bem  Sd^fleljenbeu  gegenüber  ber  (HljrenpräbiFate  uid]t  —  er  rebet 
Silin  einfach  als  (frembling  an,  5.  527. 


538 


Kapitel  IX.   Die  feciale  HIedjamf.   Das  Sittliche* 


gehabt  haben  mögen,  es  haben  noch  anbete  TXlotive  mittoirfen 
muffen,  um  fte  über  bies  Verhältnis  hinaus  in  ben  allge* 
meinen  (Sebrauch  3U  bringen,  3ur  allgemeinen  3U  machen. 
Vex  Unabhängige  hat  nicht  nötig,  bem  andern  3U  fchmeicheln, 
unb  ber  <£haraftert>oHe  pcrfd)mäl^t  es,  felbft  tt>enn  er  es  notig 
fjätte.  Was  hat  auch  fie  ba3U  vermocht?  Das  natürliche 
£3ebürfnis  eines  neiblofen  £iex$ens,  bem  (Sefühle  ber  23e« 
tsunberung  unb  5^eube  über  frembe  (Bröjje  Jlusbrucf  3U  geben 
—  bie  gelben  Römers  toerben  als  gelben  gefeiert,  nicht  roeil 
man  ihnen  fchmeicheln  tx>oHte,  fonbem  tseil  bas  £>olf  ftol3 
auf  fte  u>ar. 

2fas  ber  Hegion  bes  <5ötter«  unb  ^eroenfultus,  in  ber 
bie  epitheta  ornantia  htftorifch  3uerft  fich  3eigen,  ftnb  fte  [686] 
bann,  rote  alles,  roas  3uerji  auf  ben  ^öhen  ftdjtbar  wirb, 
nach  unb  nach  in  bie  Ztieberungen  hircabgefunfen,  ein  Stücf 
ber  gemeinen  £}öflichfeit  getoorben.  2luf  römifchem  23obcn 
erfuhr  ber  <5ebrauch  berfelben  noch  eine  €rn?eiterung.  Die 
römifche  <£tifette  3U  <£nbe  ber  Hepublif  fcheint  es,  trenn  fonfi 
bie  HJeife  bes  Cicero  als  maßgebenb  an3ufehen  iß,  erforbert 
3tt  haben,  ba£  ber  Hebner  angefehenerer  perfonen,  moditen 
fte  amsefenb  ober  abtoefenb  fein,  nicht  gebachte,  ohne  ihrem 
Hamen  ein  ehrenvolles  präbifat  hin3u3ufügen  ober  in  <£r» 
mangelung  besfelben  fte  tsenigftens  mit  ber  phrafe:  quem 
honoris  causa  nomino  ab3ufinben.  3n  bex  fpäteren  Kaifer3eit 
ging  man  fogar  fo  tt>eit,  bas  bem  Kaifer  gebührenbe  präbifat 
sacer  auf  alles  aus3ubehnen,  u>as  mit  ihm  in  Derbinbung 
ftanb  (3.  23.  sacrum  eubiculum,  rescriptum),  unb  wix  ftnb  l^ut* 
3utage  barm  noch  ungleich  weiter  gegangen*). 


*)  lOir  rjaben  btefe  XDenbungen  nämlicr/  aus  bem  Kurialjrtl  (Beu 
fpiele:  Sltferrjöcr/fte  (Entf Reibung,  <Snabettbe3eugung  uftp.  —  ^ofyes  Ke* 
ffrtpt  ufmj  in  ben  *?öflid?feitsjtü  bes  gen>örmlid?en  Gebens  übertragen 
(Betfpiele:  bie  werten  Ungehörigen  —  bie  r>eretjrte  Jrau  (Semafylm  — 
3^re  freunbliaje  gufenbmtg,  (Emlabung  —  im  Brief  jtil:  3fyr  geehrtes 


Die  pfjrafeologte  ber  ^öfltd^Fett  —  epitheta  ornantia. 


[687]  Unfere  gütige  Sitte  tjat  bie  epitheta  ornantia,  von 
offoiellen  unb  folemten  2lnläffen  abgeben*),  auf  ben  Briefftil 
eingeengt  uni>  ifynen  audj  in  biefer  2lmx>enbung  einen  ungleich 
fnapperen  Haum  angeunefen,  als  jte  früher  einnahmen**). 


Schreiben,  im  faufmännifchen  Stil  fogar;  3h*  (geehrtes  als  Be3eich* 
nung  für  ben  Brief)*  <£in  (Segenftücf  ba$u  bietet  bie  2Jntvenbung 
bevoter  präbifate,  toeld^e  nur  für  ben  Bebenben  perfönlid?  Sinn  traben, 
3ur  Cfyarafterifterung  ber  von  ihm  ausgehoben  21fte,  3*  23*  gehorfamjtes 
(Sefud?,  fubmtffefte  Eingabe,  ergebende  Mitteilung*  H>te  f etjr  felbft  biefe 
Sonberbarfeit  im  tDefen  ber  £}ofIichfett  begrünbet  fein  mug,  ergibt  ber 
Vergleich  mit  ber  djmeftfdjen  ^öflichfeitsfprache.  Die  (Etikette  verlangt 
bei  ben  Ct^mefen,  bag  man  ffd?  nach,  bem  tverten  Hamen,  bem  fyofyen 
Hange,  ben  foftbaren  £ebensjahren  ufro.  erfunbtge,  ivährenb  ber  Hebenbe 
aöen  biefen  Dingen  in  be3ug  auf  fich  felber  fjerabfet$enbe  präbifate  !nn3u* 
fügt  (f.  ttt.  5). 

*)  3n  tiefer  J?inftd?t  nimmt  u>o^l  ber  lateinifche  Kuriatjttl  ber 
afabemifchen  Beerben  bie  erfte  Stelle  ein,  bie  Diplome  berfelben  fennen 
nur  Superlative»  3eber  Doftor  tft  vir  toctissimus,  aud?  ber  Bürgerliche 
nobilissimus  unb  felbft  praenobilissimus,  unb  bei  (S^renbiplomen  unb 
tabulae  gratulatoriae  Käufen  fid?  bie  f  ämtlich  im  Superlativ  gehaltenen 
präbifate  in  einer  tPeife,  bag  man  glauben  möchte,  bie  gan3e  latemifd^e 
Sprache  fei  3U  bem  g>wedz  geplünbert  ivorben  —  eine  Ha33ia  auf  bem 
(Sebiete  ber  Sprache!  —  unb  bie  Dorfefjung  habe  bas  gan3e  Büllhorn 
benetbenstverter  (Sahen  auf  ein  einiges  f?aupt  entleert  Die  afabe* 
mifc^e  Ijöflidjfeit  null  es  einmal  fo  —  man  mug  ihr  ben  Hu^m  laffen, 
bag  fte  bas  2lugerße  in  biefer  Be3iehung  geleiftet  hat» 

**)  (Es  tjt  3U  unterfchetben  bie  Eluffchrift  auf  bem  Briefe  unb  bie 
2Jnrebe  im  Briefe*  3n  früherer  <§eit  flehten  beibe  gleich  gelautet  3U 
haben  —  ber  21breffat  follte  auch  vor  ber  IDelt  gefeiert  tverben!  — unb 
biefe  Sitte  fd?eint  ftch  nod?  bei  einigen  Dölfern  in  einem  getviffen  Um" 
fang  behauptet  3U  \\aben  (3.  B.  in  Ungarn,  wo  man  noch  Briefe  an 
ben  „großen,  anfehnlidjen"  uftv.  f?errn  abreffiert,  ber  Pater  ben  Sohn 
als  „hoffnungsvollen"  tituliert  —  auch  in  3talien  3»  B*  »Illustrissimo«), 
mährenb  man  bei  uns  auf  ben' Briefen  nur  nod?  bas  (Seborenfetn  (tDohl^ 
geboren  ufun)  betont»  Bei  ben  <£nglänbern  ift  bie  Brief etifette  in  bieget 
Be3iehung  augerorb entlich  fompli3iert,  ich  habe  eine  £ifte  von  nicht 
tveniger  als  ad?t  Zlbftufungen  vor  mir  liegen»  Die  richtige  IDahl  ber 
nach  Derfcbjebenheit  bes  Stanbes,  ber  Berufsart  uftv.  äugerfr  mannig- 
faltigen epitheta  ornantia  bei  ber  brieflichen  2Inrebe  erforberte  früher 
bei  uns  ht  Deutfdjlanb  ein  eignes  Stubium  unb  es  gab  einige  Einlei- 
tungen ba3U,  t^eut3utage  fann  man  mit  ben  tvenigen  oben  (S.  536 


5^0        Kapitel  IX.   Die  feciale  tlledjanif.   Das  Sittliche. 


3m  bisherigen  ifi  ausfcfyliepdf  von  ben  epitheta  [688] 
ornantia  bie  Hebe  getsefen,  unb  mit  iBjnen  unb  ben  in  ber 
t>ort)ergefyenben  Hummer  bezauberten  fubftantimfcfyen  2lnrebe* 
formen  ift  basjentge,  was  bie  Jjöflicfyfeitsfpradje  ber  eure* 
päifcfyen  Pölfer  für  ben  in  ber  Überfcfyrift  ber  gegenwärtigen 
ZTummer  namhaft  gemachten  (Sefidjtspunft  ber  €rB)ebung  bes 
embem  Ceils  barbietet,  im  n>efentlicf}en  erfcfyöpft.  Die  £}öf* 
licfyfeitsfpracfje  einiger  oftaftatifdjer  üölfer  fügt  noefy  einen 
weiteren  Beitrag  fyn3U.  „Qk  3at>anen  unb  rool^l  nodj 
manche  anbere  t^nen  r>errx>anbte  Dölfer,  fotx>ie  bie  Stamefen 
Ijaben  für  Körperteile,  Jtngefyörige,  (gerate  n\w.  je  bret  2lus* 
brüefe:  einen  allgemeinen,  einen  bemüttgen  unb  einen  eljrenben, 
Iefeterer  toofyl  meiji  bem  Sansfrit  ober  päli  entlehnt,  unb  bei 
ben  3aPanem  gibt  es  für  einen  Ceti  ber  gebräuchlichen 
Perben  (effen,  trtnfen,  fommen,  ge^en,  geben,  nehmen,  fingen 
ufro.)  befcfyeibene  unb  efyrenbe  Synonyma" *).  <2s  bürfte  bas 
äußerfte  bes  Haffmements  fein,  3u  bem  es  bie  £jöflicf}feit  in 
ber  Pertoenbung  ober  richtiger  ber  ZHißhanblung  ber  Sprache 
für  iBjre  groeefe  je  gebraut  fyat  —  brei  be3ieljungstpeife  3tt?ei 
befonbere  Spraken  [689]  ftatt  ber  naturgemäßen  einen!  — 
idj  wüßte  nief^t,  was  hier  noch  übrig  bliebe. 


Hote  *)  genannten  2ldjtungspräbi?aten  bas  3ebürfnis  roflftä'nbtg  be* 
flreitem 

*)  Der  gan3e  Sa£  im  Cejt  ift  tDÖrtltd?  ben  Mitteilungen  bes  *7emt 
33aron  von  ber  (S ab Ient$  entlehnt ,  bem  id?,  nrie  id?  bereits  früher 
bemerft  fyabe,  für  meine  Unterfud^ungen  bie  toertrollfie  Unterftüt$mtg 
rerbanfe*  (Ein  vereiteltes  Seitenftücf  3U  ben  ijöflidjfeitsüerben  ber 
3apanen  gemährt  unfer  beutfdjes  tPort  gerufjen  (mittel^  genichen,  ge- 
ruochen,  r>ott  altfy.  ruocha,  ruohha  =  Überlegung,  Sorgfalt,  Sorge,  35e* 
rücfficfytigung,  beffen  fid?  ber  heutige  Spradjgebraudj  nur  für  bie  <£nt> 
fcfyließungen  ber  £anbesfyerren  bebtent,  S.  335. 


Die  pfjrafeologte  ber  i^öflidjfeit  —  Selbf%rabfet$ung,  5^ 


3.  X}erabfet$ung  pon  ftd]  unb  bem  Seimgen. 
Sie  hübet  bas  (Segenftüc?  3U  bem  PorBjergefyenben,  aber 
nidjt  bas  Korrelat  besfelben  —  man  fann  einen  anbern  noefy 
[0  fefyr  ergeben,  ofyne  ftdj  felber  fyerab3ufefeen,  bie  frembe 
(Sröße  bebarf  nicfyt  ber  eignen  (£rniebrigung  als  Sdjemel. 
So  Ijaben  audj  bie  ©riechen  unb  Homer  bie  Sacfye  angefefyen, 
in  ifyrer  J^öfltc^feitsfprad?e  finbe  icfy  auefy  nicfyt  bie  leifefte 
Spur  jener  unwahren  unb  tpibertpärtigen ,  pon  tpirf  lieber 
Befdjeibenfyeit  tpeit  entfernten  Selbfterniebrigung,  3U  ber  ftdj 
bie  oftafiatifdjen  unb  leiber  audj  bie  mobernen  europäifdjen 
Dölfer  ^aben  perleiten  laffen;  itjr  rpürbtges  Selbftgefüfyl  unb 
tfjr  5reil)eitsfmn  fdjüfcte  fte  bagegen.  läge  l|ier  lebiglidj  bie 
ferpile  IDeife  ein3elner  3nbiptbuen  por,  fo  tpürbe  bie  £jöf* 
lidjfeit  bie  Deranttportung  bafür  pon  ftdj  ablehnen  !önnen, 
aber  fte  t\at  bas  jenige,  tpas  jene  3uerft  erbaut  unb  aufge- 
braßt Ijat,  angenommen,  ifym  ben  Stempel  pon  obligaten 
f}öflid]feitsformeln  aufgeprägt  unb  bamit  bie  ZHitfcfyulb  auf 
ftd?  gelaben. 

Den  äußerffen  <5rab  fyat  biefe  Perirrung  ber  f}öflid]feit 
meines  IDiffen  bei  ben  (Diinefen  erreicht.  <£s  ift  (ßebot  ber 
cfyinefifdjen  £}öflid?feit,  alles,  roas  ben  Zlebenben  felber  betrifft, 
fyerab3ufefeen.  <£r  felber  ift  \d\led\t,  gering,  bumm,  in  Se* 
rüdficfytigung  feiner  Dummheit  bittet  er,  tpenn  er  felber  unb 
ber  anbere  ein  ftubierter  ZHaun  [690]  ift,  leftteren  um  Sc 
lefyrung.  Sein  Harne  ift  gering,  feine  fjeimat  armfelig,  feine 
Stellung  befdjeiben,  feine  Cebensjafyre  unperbientermagen 
perlebt,  feine  2lngel}örigen  flcin,  gering,  bumm,  roas  er  por* 
fefet,  ift  bes  (Saftes  nicfyt  roürbig,  wenn  er  einen  Stufyl  an* 
bietet,  entfd^ulbigt  er  fid]  rpegen  ber  Dreiftigfeit:  tpie  barf 
id?  es  tpagen?  3n  3aPan  mu§  ker  Hebenbe,  tpenn  er  pon 
ftdj,  bem  Seinen  unb  ben  Seinigen  fpricfyt,  felbft  bei  ben 
fcfymer3lid]ften  Deranlaffungen  läd^eln  —  bas  £äd]eln  ber 


5^2        Kapitel  IX.   Die  fatale  ITCedjatttf*   Das  Sittliche. 


Scham,  baß  er  genötigt  tfi,  über  ein  fo  unbebeutenbes  IDefen 
rt>ie  ftch  felber  iDorte  3U  machen. 

So  toeit  liat  es  bie  abenblänbtfche  f}öfltchfeit  aHerbtngs 
nicht  gebracht  «gunächft  perlangt  fte  nicht,  baß  man  bie 
eignen  2lngehörigen  preisgebe,  nur  bei  Kinbem  pflegt  man 
ftch  auch  bei  uns  toohl,  voo  man  ben  Con  5er  Dertraulichfeit 
anfragen  barf,  ^erabfefeenber,  nicht  ernflltch  gemeinter  33e< 
3eid)nungen  3U  bebienen.  3m  übrigen  gilt  es  bei  uns  gerabe 
umgefefyrt  als  (Sebot  ber  guten  Sitte,  mifcbiHigenbe  Urteile 
über  bte  Seinigen,  felbfl  tr>enn  fte  noch  fo  gerechtfertigt  ftnb, 
fremben  perfonen  gegenüber  3U  unterbrüefen.  2lud]  bie 
^erabfefcung  von  ftch  felber  unb  von  bem  (Eignen  betoegt 
fiel?  im  allgemeinen  in  gemeffenen  (Breden,  bie  über  bas 
Zfiaß  ber  Befcheibenheit  (Ztr.     nicht  erheblich  hinausgehen*). 

[691]  21ber  einen  punft  gibt  es  aüerbings,  too  fte  bies 
7Xla%  roeit  überfdjritten  hat,  unb  3tt>ar  meines  JPiffens  in  allen 
mobernen  Sprachen,  es  tfi,  roenn  ich  es  fur3  be3eichnen  foll, 
ein  Stücf  Sebientenf  pradje,  bas  bte  allgemeine  höflich* 
fettsfprache  in  ftch  aufgenommen  h<*t* 

IDenn  man  ftch  burch  bas  Zeugnis  ber  Sprache  leiten 
laffen  wollte,  fo  möchte  man  glauben:  bte  moberne  iDelt 
habe  feine  »ollenbetere  Pertoirflichung  bes  (ßebanfens  ber 
£(öfltchfett  gefannt  als  bie  Untertrmrftgfeit  bes  Sebienten, 

*)  Betfpiele  berarttger  Hebett>enbungen  aus  ber  bentfdjen  Spradje 
^erabfetjung  von  fid?  felber:  meine  IDenigfeit,  nadj  meinen  fdjtsad? 
Kräften,  nad?  meinem  bummen  Derjtanbe,  nad?  meiner  fdjmadjen  <E"" 
fid?t  uftt).  Don  bem  (Eignen:  formen  ber  (Einlabungen  ftu  einem  £offel 
Suppe,  3U  dee  unb  Butterbrot,  3U  einem  (ßlafe  IPein,  einem  befdjeibenett 
einfaden,  frugalen  (Effen  nftr>*)  —  Bitte  rorlieb  3U  nehmen  —  <£tt 
fcfyulbigungen,  Selbftanflagen  guter  Hausfrauen  in  be5ug  auf  bie  (Süte  b 
rorgefe^ten  Speifen  uftu*  3n  <£tnna  ftnb  Ietjtere,  bte  bei  uns  jebettfa 
tttcfyt  3um  guten  Con  geboren,  fdjlecfyttjht  obligat,  ber  (Saft  fetnerfe? 
bat  barauf  3U  erunbern:  es  fei  tnel  3U  föjHtdj,  er  trage  es  nid?t  an3 
nehmen,  er  bebauere,  ba§  ber  IPirt  fidj  um  fehtetuuüen  fo  in  Unfoße 
gefegt  Ijabe  ufu\ 


Die  pljrafeologie  bes  ^Seoxententnms. 


5^3 


bei  tfym  fyabe  fte  ficfy  in  bie  Scfyule  begeben,  um  bas  Vov* 
bilb,  bas  er  ifyr  gab,  nadtfuafynen ,  unb  fte  fyabe  baljer  für 
bie  Perfidjerung  ber  2lct)tung  feinen  prägnanteren  2lusbrucf 
gefunden  als  bie  Selbftbe3eidjnung  als  Sebienter,  Diener, 
Sflape*).  Sem  entfprecfyen  audj  bie  fonftigen  [692]  IDen* 
bungen,  fte  bleiben  ber  Dorfteltung  bes  33ebientem>erl}ältniffes 
treu**).  ZHandje  ber  nocfy  Bjeut3utage  imZHunbe  ber  mobernen 
Dölfer  üblichen  23ebientenpl}rafen  bleiben  hinter  ben  probe* 
jiücfen,  mit  benen  ber  Orient  aufwarten  fann  (3.  23.  bie  2ln* 
rebe  auf  3ar>a  an  ben  König:  Staub  beiner  5üge,  Soljle 
beines  5u§es,  an  einen  Bjofyen  Seamten:  unter  beinen  5ü§en), 
tx>enig  3urücf;  unfer  <£rfterben  in  tieffter  Untertänigfeit  fann 
es  mit  jebem  berfelben  aufnehmen  —  ber  geringfte  <5riecfye 


*)  Die  von  bem  lateinif  djen  servus  gebilbeten  2lusbrücfe  ber  roma* 
nifcfjen  Sprachen:  ital.  servo,  fran3.  serviteur,  fpcm.  servidor  mit  ent* 
fpredjenben  3ufal3en*  devoto,  devotissimo ,  ubbedientissimo,  umilissimo 
—  tres  humble  ufm.,  ber  Spanter  fügt  am  Sdjlug  bes  Briefes  3U  bem 
S.  S.  S.  (su  seguro  servidor)  nod?  tn'^u  Q.  B.  S.  M.  ( —  que  besa  sus 
manos  =  roeldjer  31ln*n  bie  £janb  fügt).  3m  Deutfdjen  ijt  an  bie 
Stelle  bes  einft  aud?  üblid?en  „Sflaue  unb  Kuedjt"  ber  „Diener"  ge* 
treten  (münblidje  (Srugform:  3*Jr  Diener,  —  in  Briefen  m  ber  Unter* 
fd?rift:  3fyr  gerjorfamfter  Diener)*  3"  Öfterreid?  ift  in  ben  Kreifen  ber 
Stubierenben  nod}  bis  auf  ben  heutigen  (tag  als  Derabfdjiebungsformel 
Serrms  üblid}. 

*)  3^  fteHe  bie  £ifte  berjenigen  3ufammen,  roeldje  fid?  in  ber  beutfdjen 
Sprache  porftnben,  ber  £efer  roirb  jtdj  barans  über3eugen,  mie  tief  bie 
Dorfteilung  bes  Bebtententums  ftdj  uuferer  Spradje  imprägniert  rjat. 
Das  IDort  Dienftferttgfeit  —  einen  Diener  rnadjen  (ben  jjut  3teben)  — 
feine  21ufroartung  madjen  (ber  2lufroärter  ift  Diener)  —  bie  fjerrfcfyaften 
)als  Be3eidmung  einer  ttTerjrrteit  angerebeter  perfonen)  —  bie  ptjrafen 
3U  bienen  —  momit  fann  idj  bienen?  —  3U  Befehl  —  roas  fterft  3U 
Befehl,  roas  befehlen  Sie?  —  ia?  lege  mid?  3f?nen  3U  füffc  bie 

^anb  ufm.  Dem  2Ibrjängtgfeitst>errjältms  bes  (ßeroerbs*  ober  (Sefdjäfts* 
treibenben,  ber  „ben  geehrten  £?errfdjaften"  in  öffentlichen  Blättern  ober 
beim  21bfdjieb  fein  (Sefdjäft  empfiehlt,  ift  entnommen  ber  ZlusbrucF  ber 
Umgangsfpradje  fidj  empfehlen  unb  (Empfehlung  im  Sinne  bes 
(Sruges. 


5^ 


Kapitel  IX.   Die  fötale  HTedjattif.   Das  Sittliche. 


unb  Horner  aus  ber  guten  §eit  umrbe  fid?  gefchämt  I^aben, 
foldie  IDorte  in  ben  ZHunb  3U  nehmen« 

BefcfyetbenJjdtsplirafen. 

a.  Bei  Äußerung  einer  Anficht.  JtusbrucE  berfelben  in 
3tr>eifelnber,  fiypotfietifdier  ober  rein  fubjeftiv  gehaltener  Sovm. 
IDenbungen  bafür  im  (ßriecfyif cfyen:  av  mit  [693]  bem  ©p< 
tativ;  im  Cateinifchen:  esse  videtur  (bei  ben  römifchen  3uriften 
gan3  ftehenb,  bei  Cicero  noch  gefteigert  3um  esse  videatur, 
eine  inbioibuelle  IDenbung  x>on  ihm,  bie  in  Horn  feinen  2tn* 
Hang  fanb),  ber  Conjunctivus  potentialis:  hoc  confirmaverim, 
vix,  paene  dixerim;  entfprechenb  im  Deutfchen:  es  möchte, 
bürfte,  fönnte  uftt>.  Die  abfchtvächenben  partifein,  bie  man 
gerabeju  als  bie  fjöflichfeitspartifeln  be3eid?nen  fönnte:  boch, 
boch  tsofyl,  ettoa,  vielleicht,  fchtoerlich,  faum.  Die  einft 
üblichen  5ormeln:  nach  meiner  unmaßgeblichen  2tnftd?t,  unt>or« 
greiflichen  Zfieinung,  mit  gütigem,  geneigtem  IDohfoollen  ufu>. 
Die  Bitte  um  €rlaubnis  3ur  Äußerung  ber  Anficht:  toenn  jte 
mir  bieBemerfung  serftatten  tx>ollen —  iialten 3U  (Snaben  u.a.m. 

b.  Bei  Stellung  einer  Bitte.  Die  birefte  Stellung  ber  Bitte 
gilt  ber  Befcheibenheit  3u  breift,  fie  bittet  erft  noch  um  bie 
€rlaubnis,  fie  (teilen  3U  bürfen  (roenn  ich  bitten  barf  —  barf 
ich  bitten?  ber  cEt^inefc:  barf  ich  tragen?),  ober  jte  fchtcft 
eine  <£ntfchulbigung  voraus  (3.  B.  bie  2lnrebe  an  jemanben, 
ben  man  auf  ber  Straße  um  ben  IDeg  fragt:  um  Vergebung 

—  um  €nt[chulbigung  uftr>.).  Stellung  ber  Bitte  auf  bas 
IDohltooHen  (wollen  Sie  roohl  fo  gut  —  fo  freunbltch  fein 

—  bie  (Sitte  —  (Setoogenheit  uftx>.  haben?)  —  E(in3ufügung 
bes  Vorbehalts,  baß  es  bem  anbem  feine  Ungelegenheit, 
feine  XHühe  mad]e,  baß  es  ihm  paffe,  —  ^erabfefeung  bes 
3nhalts  ber  Bitte  auf  ein  ZTlinimum  (ber  Quantität  nach: 
ein  wenig  tDaffer  einfdjenfen  [694]  —  ber  <?>eit  nach:  mir 
eben  bie  Sache  reichen  —  einmal  3U  mir  fommen,  —  bas 


Phrenologie  *>er  fjöflidjfett  bei  ber  (Sefättigfeit.  5^5 

fran3Öftfcfie:  venez  un  peu).  2)er  anbete  ift  x>iclletc^t  nicfyt 
geneigt  ober  ntcfyt  in  ber  £age,  bie  Bitte  3U  erfüllen,  barauf 
3telt  bie  txmnberlidje ,  nur  fo  3U  erflärenbe  negative  Raffung 
ber  Bitte  (Jjaben  Sie  nidjt  gefeiten,  ob  ufu>.  Können  Sie 
mir  nidjt  fagen?)  —  bie  Stellung  ber  Sitte  auf  fein  Können 
(Können  Sie  mir  nicfyt  fagen?)  —  bie  f}in3ufügung  ber 
§tt>eifelspartifeln  pielleicfyt,  ettoa  u.  a.  —  bie  Senuftung  bes 
Conjunctivus  potentialis  (iüürben  Sie  tr>oI)l  fo  freunblidj  fein?), 

c.  Sei  einer  2lufforberung.  Dermeibung  bes  3mperatit>s, 
Porbefyalt  bes  fremben  freien  €ntfcfyluffes,  Hömifdje  $otm: 
si  vobis  videtur  bei  ber  2lufforberung  3ur  ilbftimmung  an 
bas  X>olf,  fran3Öfifd^e:  s'il  vous  plait,  beutfdje:  toenn  es  3fynen 
gefällig  ift,  toenn  es  beliebt  unb  entfprecfyenbe  in  allen  anbern 
Sprachen.  Dertaufcfyung  bes  Sollens  mit  Können  felbft  in 
öerfyältniffen,  in  benen  man  befehlen  fann,  3.  S.  bei  IDeifungen 
an  Dienfiboten  (Sie  fönnen  einmal  ober  gar:  Sie  fönnten 
tr>oI}l  3um  Kaufmann  gefyen). 

d.  Beflej  ber  <£fyre  vom  anbevn  Ceil.  3)em  £}öflidjen 
gereicht  jebe  Berührung  mit  bem  anbern  Ceil  3ur  (JEfyre.  <£r 
t^at  bie  £fyre  gehabt,  ifyn  3U  fefyen,  er  beehrt  fid},  ifyn  ein3U< 
laben,  bittet  ftcf}  oon  ifym  bie  <£fyre  feines  Sefucfyes  aus; 
wenn  er  f elber  eingelaben  n>irb,  fyat  er  bie  <£fyre  ber  €in* 
labung  3U  folgen;  gefyt  er  t>on  bannen,  [695]  fo  fyat  er  bie 
(£fyre  ficfy  3U  empfehlen,  am  Sd^lujj  bes  Briefes  bie  <21}re  3U 
fein  ufa>.,  fur3  überall  unb  überall  bie  (£fyre.  (ßlücf  lieber« 
roeife  ift  bas  Derfyältnis  gegenfeitig,  bem  <£inlabenbeu,  ber 
um  bie  <£fyre  bittet,  ertrubert  ber  anbere,  öa§  er  bie  (JEfyre 
Ijaben  u>erbe,  bie  <£t}re  toirb  toie  ein  Ball  3tDtfcben  beiben 
fyin  unb  fyer  geworfen.  3m  Derfyältnis  ber  Dcrtraulidjfett 
tritt  bei  (£inlabungen  an  bie  Stelle  ber  <£fyre  bas  Dergnügen 
ober  bie  5reube. 


o.  3   e  rln  g,  Der  ^toeef  im  Heijt.  II. 


35 


5^6 


Kapitel  IX.   Die  fötale  ttledjattif*  Das  Sittliche» 


5.  ^öflichfeitsphrafen  der  (SefäHtgfeit. 

Die  (Befäüigfeit  tjt  eine  fehr  reichhaltig  Quelle  i>on  £|öf* 
lichfeitsphrafen,  jte  entfacht  auf  beiden  Seiten,  foroohl  deffen, 
5er  jte  empfängt,  als  deffen,  der  jte  gewährt,  einen  tx>ahren 
IPetteifer  in  ijöflichfeit,  bei  der  perfönlichen  Berührung  t>ox> 
3ugstx>eife  auf  fetten  desjenigen,  der  jte  empfängt,  im  brief* 
liehen  Perfekt  sor3ugstt>eife  auf  feiten  desjenigen,  der  fte 
ertr>eifh  Cefeterem  gereift  es  3ut  J)oI|en  Genugtuung,  Be* 
friedigung,  3um  gan3  befonderen  Vergnügen,  3ur  großen 
Freude  den  IDunfch  des  andern  erfüllen  oder  ihm  ungebetener* 
maßen  einen  Dienft  ertoeifen  3U  fönnen;  Rändelt  es  jtch  um 
Beantwortung  einer  Anfrage,  fo  verfehlt,  ermangelt  er  nicht, 
beeilt  er  fich  ufnx,  tvomit  er  feiner  Handlung  den  Stempel 
des  (ßefliffentlichen  (S.  ^7)  aufdrücft.  Die  üblichen  phrafen 
auf  der  andern  Seite  laffen  jtch  auf  vier  (5  e  jtch  tspunfte  3urücf< 
führen:  gurücftveifung  der  (SefäHigfeit  aus  Scheu,  den  andern 
3u  bemühen  (bemühen  Sie  ftch  nicht),  Einnahme  derfelben  mit 
befchönigenden  Redensarten  (mit  3h***  gütigen  [696]  <£r* 
Iaubnis  —  ftch  die  5tei^eit  nehmen,  fo  frei  fein),  2lnerfennung 
der  wohlwollenden  (Seftnmmg  des  andern  tEeils  (eine  ZtTenge 
von  phrafen:  gar  3U  gütig  —  äußerft  liebenswürdig  —  auf* 
merffam  ufw.),  2lnerfennung  der  daraus  jtch  ergebenden  Ver* 
pfftchtung  3um  Danf  (fehr  verbunden  —  verpflichtet  ufw.). 

Sei  einigen  Völfem,  3.  B*  den  Spaniern,  dehnt  die  Qöflich« 
feit  die  Verpflichtung  3ur  <5efäIIigfeit  fogar  fo  weit  aus,  daß 
man  dem  andern  die  Sachen,  an  denen  er  (SefaHen  findet,  3ur 
Verfügung  jiellen  muß,  die  er  felbftoerjländlich  aber  nicht  an* 
nehmen  darf  —  ein  fragender  Beleg  dafür,  daß  man  di 
Sprache  der  f}öflichfeit  fennen  muß,  um  fte  3U  per  flehen  (S.  52 

6,  Verftcherung  der  <5ejtnnung. 
Die  obligate  Schlußformel  der  Briefe«    Sie  entfpricht  de 

Jtnredeform,  und  der  (Segenfafe  3wifchen  Achtung  und  IVohl' 


Die  phrafeologte  ber  ^öfltdjfeti  —  Die  guten  IDünfcfye*  5^7 


wollen,  ber  bie  XDahl  jener  beftimmt,  ift  auch  fü*  fl*  nta^ 
gebenb,  ben  präbifaten:  hoch^h**/  h°ch$uperehrenb  ent* 
fprechen  bie  JDenbungen:  I|Oc^ad^tungspoII ,  mit  größter, 
ausge3eichneter  Hochachtung  —  ttefjler  Perehrung  —  £hr* 
furcht  —  2>epotion  —  Untertänigfeit,  ben  präbifaten  bes 
H)ot|tooUen5 :  lieb,  teuer  uftp.  bie  Derficherung  ber  Creue, 
2tnhängltchfeit  n\w.,  bie  Formel:  ber  3t|rige,  bei  Souveränen 
bas:  in  <5naben  gebogen,  wohlgeneigt  —  früher:  tpohl* 
affeftioniert  Die  phrafe  ber  (Ergebenheiten  fommt  in  beiben 
Perfyältniffen  por*  £ine  Steigerung  ber  Schlußformeln  ber 
erften  2trt  enthält  bie  Bitte  [697]  um  (Senehmigung  ber  Der* 
ficherung  ber  Hochachtung  (bie  ftehenbe  fran3Öfifche  5ormel: 
Agrdez,  Monsieur,  l'assurance,  l'expression  ufu\,  noch  h°f* 
licher:  veuillez  agrder). 

7.  Die  öetpiüfommnungsph*<*fen. 
2lusbrucf  ber  ^reube  über  bas  IDieberfehen  unb  <£rfun- 
btgung  nach  bem  23efmben  —  in  ber  ^öflichfeitsfprache  ber 
perfchtebenen  Dölfer  in  mannigfaltigfter  JDeife  pariiert*)« 


*)  Unfere  eignen  barauf  genuteten  ^öflidjfettspfjr afett  bebürfen 
nid^t  ber  Angabe,  bagegen  führe  idj  bie  einiger  anbetet  Pölfer  an* 
23etfpiele  bet  erften  Kategorie*  23ei  ben  C^inefen  2lusbxud  bes  Be* 
bauems,  ben  anbern  folange  nidjt  gefehen  3U  ^aben,  felbft  in  bie  ^orm 
ber  21nflage  gebraut  (Sie  haben  mir  lange  ben  Biicfen  gefe^rt),  Der* 
fidjerung,  baß*  man  fid?  fefjr  nad?  ihm  gefehnt  habe  Öd?  t\abe  oft  an  Sie 
gebadjt)  —  man  fleht  aud?  h*eraus  lieber;  ben  Chtnefen  finb  nur  in 
be3ug  auf  bie  £}öflidjfeit  lange  ntdjt  gemadjfen*  23ei  ben  Ungarn  bie 
forme! ;  (Sott  t\at  &td?  gebraut  33eifptele  ber  3meiten  Kategorie»  <£r- 
funbigungsformel  ber  (Eataten:  Steht  bein  <§elt  auf  einem  ^ügel?  33ei 
ben  alten  3noec^  n^  <Sefet$en  bes  ITCanu  (II,  [27)  nadj  Derfdjie* 
benheit  ber  Kafte  üier  rerfcfytebene  (Hrfuubtgungsformeln  obligat:  II  faut 
demander  ä  un  Brahmane  en  l'abordant,  si  sa  d£votion  prospere,  ä  un 
Kahatri  ya,  s'il  est  en  bonne  sante" ,  ä  un  Vaisya,  s'il  r£ussit  dans  son 
commerce,  ä  un  Soudra,  s'il  n'est  pas  malade,  A.  Loiseleur-Deslong- 
champs,  Lois  de  Manu,  Paris 


55* 


5^8 


Kapitel  IX.   Die  fatale  mtfyanxt.  Das  Sittliche, 


8.  2tbfditebspl}rafen. 
gtoei  Klaffen,  X3ei  ber  einen  fyat  6er  Hebenbe  ftdj  felber 
im  2Iuge,  fein  eignes  3"tereffe  (ber  tDunfdj,  ben  anbern 
roieber3ufe^en:  auf  tDieberfeljen,  ä  revoir  —  bie  Bitte  um 
<£rt|altung  bes  2tnbenfens:  cergeffen  Sie  midi  nidjt,  ober  ber 
geneigten  (ßefinnung,  ber  Sinn  ber  pljrafe:  tdf  empfehle 
midi  3fynen);  bei  ber  anbern  Klaffe  ijat  er  ben  anbern  [698] 
Ceti  im  Jluge,  unter  tseldjen  (Seftdjtspunft  tnsbefonbere  bie 
guten  IDünfdje  fallen t  mit  benen  er  ifyn  entlägt.  Sie  ge* 
fyören  ber  reichhaltigen  Kategorie  ber  guten  IDünfcfye  an,  ber 
idi  midi  im  folgenben  3utoenbe. 

9»  Die  guten  iDünfdje. 

Siefelben  enthalten  ben  2lusbrucf  bes  ü?ol}liDollens:  bes 
3ntereffes  rote  ber  Cetlnafyme  (S.  <{3\f  ^35),  nid\t  ber  2ldjtung. 
Die  2lnläffe  ba3U  ftnb  außerorbentltd}  mannigfaltiger  2lrt, 
toie  ftcfy  aus  bem  5olgenben  ergeben  tr>irb. 

<£s  ftnb  3tx>ei  iDunfcfyformen  3U  unterf djeiben:  bie  profane 
unb  bie  religiöfe»  £efetere  fdjeint  intern  Urfprunge  naefy 
bem  ©rient  an3ugeljören,  erftere  bem  <D?3ibent  —  bie  urfprüng* 
liefen  IDunf  deformen  ber  (5ried]en,  Horner,  (ßermanen  ftnb 
fämtlid]  profaner  2lrt. 

a.  Die  profane  &)unfd)form. 
Sie  djarafterifiert  ftdj  pofitip  baburd),  ba§  fte  ausfdjliejg 
Vidi  trbtfdje  (ßüter  3U  t^rem  3n^alte  hat,  was  aber  aller 
nod]  nicht  ausreicht,  ba  bie  reltgiöfe  benfelben  3nh<*K  habe 
fann,  uegatio  baburch,  —  unb  bies  ift  bas  fdjlecfytfyn  unte 
fdjetbenbe  ZHoment  —  baß  fie  bie  Verleihung  nicht  auf  (So 
5urikffüfyrt. 

(Eine  Dergleichung  ber  3U  biefer  Klaffe  gehörigen  IDunf 
formen  ber  t>erfd?iebenen  Dölfer  l|at  mir  als  3nh<*l*  bcrfclbc 


Die  pfjrafeologie  ber  fjöflidjfeih  —  Die  guten  IX>ünfd?e*  5^9 


folgenbe  (ßüter  ergeben:  XDofyfein,  (Sefunbtjeit,  Kraft,  <5lücf, 
Dergnügen,  nicfyt  aber,  toas  fyen>orgefyoben  3U  werben  oer- 
bient:  Zleicfytum  unb  IDofylftanb,  2tnfel|n  unb  <£i)re,  toobei 
ber  (ßebanfe  3ugrunbe  liegen  [699]  mag:  biefe  muß  ber 
ZHenfdj  ftdj  felber  perfdjaffeu,  jene  fteijen  außer  feiner  ZHacfyt, 
man  tut  bafyer  tool^l  baran,  fie  itjm  3U  txmnfcfyen. 

Das  IDoIjlfem,  XDoIjlbeftnben,  XDofylergefyen. 

Der  befannte  Cifcfygruß:  3*lr  iDot^lfein  —  bie  ilbfcfyiebs* 
ptjrafe:  £eben  5ie  rooE^I  *),  fran3Öftfdj:  que  bien  vous  en  arrive, 
—  bas  grtediifcfye  x°"P£**)  Setoillfornrnnungsgruß  —  bie 
^reube  als  Symptom  bes  £>ofylbefmbens. 

(ßefunbljeit  unb  förderliche  Kraft. 

(ßried).  oytaivs  (Jlbfdjiebsgrujs) ,  latein.:  salve  (23eu>iß« 
f ommnungsgrufc) ,  vale  (2lbfd]iebsgruß).  2lltbeutfd):  hails 
(öetoillfommnungsgruß),  ber  heutige  SCifcfygruß:  3ur  (Sefunb* 
I^eit,  ä  votre  santd  (baljer  bie  XDenbung:  eine  (Sefunbfyeit 
ausbringen,  porter  une  sante),  bei  Kranfen:  gute  Sefferung, 
griedjifcfy  xaXak  s'x£  —  ^er  ö?unfd?f  ™ü  man  früher 
bas  iTiefen  begleitete:  3ur  <5ene[ung,  3ur  (ßefunb^eit,  wolfi 
befomm'  es  uftr>. 

langes  £eben, 

3nbifdj:  mögeft  bu  lange  leben  ((ßefefee  bes  ZHanu  II, 
\25),  ebenfo  djinefifd}:  bie  Canglebigfeit  fegnen* 
Das  (Slücf. 

[700]  Sei  manchen  Dölfern  ber  normale  3n*!att  bes 
IDunfdjes  (3*  S.  bei  ben  Cataren:  möge  bas  (Slücf  auf  biefy 


*)  5pe3ialtfterung  bes  tDoljlergetjens  in  beßug  auf  bie  geit  (guten 
(Eag,  IHorgen,  2lbenb,  gute  XTadjt),  auf  bie  förperlicfyen  Verrichtungen 
(Schlaf  —  2lppetit  —  Perbauung)* 

**)  Ulfflas  gibt  bas  grtednfd?e  /aipe  mit  Hails  uneber.  Hails  bc* 
beutete  gefunb,  nncerfefyrt.  Diefer  urfpvü'nglicfye  Sinn  ifi  Ijeut3utage 
nodj  erhalten  in  bem  Derbum  feilen  unb  bem  ilbjeftip  Ijeil  (eine  fyeüe 
|  b.  u  unperfefjrte  Sacfye). 


550 


Kapitel  IX.   Die  feciale  HTectjamf*  Das  Sittliche* 


fallen  —  äfynltd?  bei  ben  Rinnen).    Der  Seutfdje  fpart  ftdj 
bies  (ßlüdf  für  befonbere  Peranlaffungen  auf*). 
3)as  Vergnügen. 

<£s  voivi)  bem  jenigen  mit  auf  ben  lüeg  gegeben,  ber  es 
auffudjt  (oiel  Vergnügen  —  amüfieren  Sie  ftdj  gut). 

b.  Die  religiöse  EDunfdjform. 
3^re  Efeimat  iji  ber  (Orient,  fie  enthält  ben  naturgemäßen 
2IusbrudP  ber  religiöfen  2lnfdjauung  ber  orientalifdjen,  ins« 
befonbere  ber  femitifdjen  Pölfer.  3)iefer  2lrt  jtnb  bie  (ßru§« 
formen  bes  alten  Ceftaments  (<$5ott  fei  bir  gnäbig,  \.  2T(of. 
^3,  29,  3e^ooa  fei  mit  bir,  Hidjt,  6,  \2,  3ß*!°*><*  mit  eudj, 
unb  bie  Jtntoort:  3^0£>a  fegne  bid),  Hutfy  2,  ^,  Segen 
3^or>as  fei  mit  eud?,  tt>ir  fegnen  eudj  im  Hamen  3^°*>as, 
pfalm  H29/  8  —  grüßen  unb  fegnen,  b.  t.  ben  Segen  (Sottes 
auf  jemanben  herabfielen  tft  gleidjbebeutenb).  <£benfo  bie 
arabifdje  (ßrußform:  salem  alek.  Sie  religiöfe  (Srußform  ift 
burdj  bie  djriftlidje  Kirche  auf  bas  2lbenblanb  übertragen 
toorben  —  bie  firdjlidje  (ßrußform:  deus,  pax  vobiscum,  bi 
2Ibfd]iebesformelt  k  dieu,  mit  (Sott,  (Sott  befohlen,  befyü 
(Sott,  bie  [701]  JDunfc^form:  (Sott  gebe,  ber  Gimmel  gebeufm 
in  2lntr>enbung  auf  irbifcfye  <8üter  (3.  JJ.  gute  Seffevung  bei 
Kranfen)**). 


*)  (für  Heifen:  glürfltd^e  Heife  —  für  neujafyr,  (Seburtstage,  V 
lobungen,  Beförberungem  Hur  bei  ben  Bergleuten  bübet  (Slücfauf  bi 
allgemeine  (Srugform*  —  Der  Ungar  fpe3taltfiert  bas  (Sind,  3*  3.  ein 
fcfyöne  Jrau,  einen  brannttpeinigen  UTorgen,  unb  um  IPeirjnadjten, 
bie  Scr/tpetne  gefdjlacfytet  roerben:  einen  fpeeftgen,  fleifd?igen  2Jbenb* 

**)  (Erftefyung  bes  göttlichen  Segens  felbft  für  bie  Derbauung  in  b 
bef annten  J ormel:  gefegnetelTCab^eit!  3<*?  erfläre  fie  mir  als  fprad?ltd? 
Überbleibfel  aus  ber  einft  allgemein  üblidjen  Sitte  ber  Ctfdjgebete.  2Ju 
bem  llbenbgebete  t»irb  in  berfelben  IPeife  bie  Hebensart  bes  gefegne^ 
Sdjlafes  entftanben  fein.  Den  ausgebeuteten  (Sebraud?  von  ber  Wtn 
bung:  „(Sott  gebe"  machen  bie  Ungarn,  fie  bilbet  bei  itjnen  bie  ftefyenb 
XPunfdrformel,  3*  33*  (Sott  gebe  guten  ittorgen,  2lbenb,  Sag,  gute  Had? 


Die  Sytttaj  ber  l^öflidjfeit  —  bas  pronomen*  55J 


Die  Syntax  ber  fjöf lidtf ext  —  Das  pronomen 
insbefonbere. 

Vie  5\nta}c  ber  ^öflidtfeit  ^at  sunt  <5egenftanbe  bie  2tb- 
rceidjungen  ber  f^öflidjfettsfpradie  von  ben  fonftigen  Hegeln 
unb  5ormeln  ber  Sprache.  Z)er  griecfyfdien  unb  lateinifdjen 
Sprache  iji  biefe  feltfame  Perirrung  fremb  geblieben,  bie  ber 
mobernen  Kultursölfer  unb  mancher  augereuropäifcfyer  Dölfer 
bieten  manche  Selege  bafür.  Unter  ifynen  ragen  biejenigen 
Ijeroor,  tseldje  fiel?  auf  ben  (5ebraud?  bes  pronomen  (per- 
sonale tr>ie  possessivum)  besiegen,  fie  bilben  eine  um  einen 
beftimmten  ZTiittelpunft  [702]  fldi  lagernbe,  in  fiel?  gefdjloffene 
(ßruppe,  n>ä^renb  bie  übrigen  fporabifcfyer  2trt  finb.  £efetere 
follen  am  €nbe  unferer  Darftellung  aufge3äfylt  toerben;  einen 
Stoff  für  eine  3ufammenfyängenbe  Unterfucfyung  bieten  uns 
nur  jene  bar.  Das  Ojema  bes  5olgenben  fur3  be3eid?net  ift 
bie  (Sefcfyidjte  bes  Pronomen  in  ben  mobernen  Kulturfpracfyen. 

Was  bat  gerabe  bas  pronomen  ba3u  auserfefyen?  Das 
pronomen  fyat,  une  bas  H?ort  felber  ausbrüeft,  ben  gvoed, 
bie  ZTennung  bes  Hamens  3U  erfet$en,  es  bient  bem  §n?ecEe 
ber  2lbfür3ung.  3ft  bas  Subftanth)  bereits  einmal  in  23e3ug 
genommen,  fo  wirb  ftatt  beffen  bas  pronomen  gebraucht, 
basfelbe  fyat  als  fpradjlicfy  eine  ftellsertretenbe  5unftion. 
Stellvertretung  ift  ettr>as  Künftlic^es,  nicfyt  bas  Urfprünglidje, 
unb  n>ir  toerben  annehmen  bürfen,  ba§  bie  Sprache  äfynlid? 


(Sefunbljeit,  glücflidjes  (Ermaßen  am  näd^ften  (Tage,  wenig  Schaben, 
(Sott  gebe,  bag  wir  immer  gute  Hadjridjt  t>on  3tmen  erhalten,  Sie  ein 
anberes  UTal  in  guter  (Sefunbfyett  fefyen  —  (Sott  gebe  Segen,  ^rieben 
—  (Sott  3U  bir  —  (Sott  mit  btr.  <2ntfpred]enb  ift  bie  (Srußform;  (Sott 
fyat  bidj  gebracht.  3<*?  mödjte  biefe  ungarifdje  <£tgentümlid?fett  ber  2luf^ 
merffamfeit  ungarifdjer  (Selefyrten  empfehlen,  IDann  t^at  fie  fldj  ge- 
bilbet?  Unter  bem  (Emfhiffe  bes  Cfyrtftentums  ?  ©ber  reicht  fie  weiter 
3urücf  ?  liege  fldj  ifn*  nidjt  ein  21uttaltspnnft  für  bie  Streitfrage  über 
ben  Urfprung  ber  magyaren  entnehmen? 


552 


Kapitel  IX.   Die  feciale  medjanif.   Das  Sittliche* 


wie  bas  Hecht  fich  geraume  ,§eit  hinburch  ohne  fie  beholfen 
hat,  Xt)ie  noch  h^utage  bie  Kinber  ftatt  3^h  ihren  eignen 
2Tamen  unb  jlatt  Du  ben  bes  anbern  nennen,  fo  werben  es 
urfprünglich  auch  bie  Völtex  getan  traben,  für  3<hr  €r, 
5ie  unb  bie  ZHeh^ahl  Xüiv,  3h*>  werben  fie  bie  ZTamen 
ber  perfonen  genannt  Ijaben,  bis  fie  im  pronomen  fich  eine 
Erleichterung  unb  2lbfür3ung  fchufen,  unb  3tsar  toahrfchein* 
lieh  nicht  alle  formen  mit  einem  ZHale,  fonbern  eine  nad? 
ber  anbexn,  unb  erft  recht  fpät  —  bas  pronomen  macht  mir 
ben  fiinbruef ,  eine  ber  fpäteft  aufgefommenen  Sprachformeu 
3u  fein*)* 

[703]  £e^rte  nun  bie  (Sefdjidjte  nicht  bas  (ßegenteil,  fo 
roürbe  man  es  faum  für  möglich  galten,  bafc  bie  Sprache 
ber  I}öflid}feit  an  bem  regelrechten  (Sebraudje  ber  pronomina 
2lnftoß  genommen  fyabe.  Was  tann  fie  ba3U  beftimmt  haben? 
3ch  erteile  bie  2lntoort  mittels  bes  oben  aufgehellten  <Se< 
fichtspunftes:  flucht  ber  perfon  t>or  fich  felber.  Die  perfou 
fliegt  vor  bem  eignen  3$>  k>*M  C5  3u  ctnmaßenb,  t>or  bem 
fremben  Du,  weil  es  3U  Bertraulich  ift,  3^  ^u  »erben 
cmftößig,  bas  perfönliche,  3n&tot&ueß*  WXY^  abgeftreift,  beibe 
perfonen  befommen  Ztlasfen  t>or,  fie  perfe^ren  nicht  mit 
einanber  als  biefe  bejlimmten  3nWoibuen,  fonbern  als  ab» 
ftrafte  perfonen,  bie  fie  felber  nur  bie  Aufgabe  haben  511 
repräfentieren.    Sehen  toir  uns  bas  ZTäfyere  an, 

\.  Das  3ch. 

3m  Vergleich  mit  ber  3tt>eiten  perfon  bes  pronomen  per- 
sonale hat  bie  erfte  t>on  ber  f^öflichfeit  nur  tr>enig  311  leiben 

*)  Die  fyter  angeregte  (frage  muß  tdj  ben  Spradjforfcfyeru  über* 
Iaffen.  (finben  fiefy  bie  pronomina  in  allen  Sprachen?  ZTadj  einer 
Mitteilung  pon  Gerrit  Baron  von  ber  (Sablettfe  hat  bas  3apanifcbe 
eigentliche  perfönlidje  ^ürtuörter  gar  uidjt,  es  erfe^t  fte  3un?eilen  bnrdi 
(Drtsabrerbien  ähnlich  unferm  Kurialfttl  (biesfeits,  jenfeits,  Roheren  ®rts\ 


Die  Syntaj  der  ^öflidtfeit  —  3fy 


555 


gehabt.  ffläfyvenb  bas  Du  aus  ber  fjöflichfeitsfpradje  aller 
mobernen  Pölfer  geldlich  perbannt  ift,  fyat  bas  3<^  frei  ihnen 
feine  natürliche  Stellung  behauptet,  es  barf  in  jebem  Der* 
hältnis  laut  werben,  felbft  im  ZHunbe  bes  (ßeringften  bem 
fjöchften  gegenüber.  Hur  ber  Seroiiismus  ber  2lfiaten  fyat 
t>ielf ach  bas  3d?  prolabiert,  in  feines  [704]  Xlxd\is  burch* 
bohrenbem  <Sefüf|le  fehrieft  I^ier  bas  3d?  oor  ber  Dreiftigteit 
5urücf,  fich  felber  3U  nennen,  bie  perfon  rebet  von  fich,  rote 
fie  von  einer  Sache  ober  einem  Ciere  fprechen  würbe:  in  ber 
britten  perfon  (ber  Sflape,  ber  Diener  glaubt,  bittet  uftr>4). 

2lber  gau3  ungefchoren  ift  bas  3<äj  auch  in  ber  euro* 
päifdjen  ZDelt  nicht  bapon  gefommen,  wenigftens  bei  uns 
Deutfchen.  2luch  bei  uns  mufc  basfelbe  früher  einmal  t>or* 
übergehenb  als  anftößig  gegolten  fyaben,  was  ich  aus  bem 
fleinen  Hücfftanb  fchließe,  ber  ftch  noch  bis  auf  ben  heutigen 
Cag  erhalten  h<**- 

3ch  ftellc  im  folgenben  bie  5ormen,  beren  man  fich  be* 
bient  h<*t  ober  noch  bebient,  um  bem  3$  aus3un>eich*n, 
3ufammen.    (Es  ftnb  brei. 

Die  erße  iorm  befteht  in  ber  einfachen  lüeglaffung  bes 
3ch  oor  bem  Derbum.  0b  anbere  moberne  Sprachen  ftd? 
jemals  biefer  fprad^lichen  Sünbe  fchulbig  gemacht  haben,  ift 
mir  unbefannt,  bie  beutfehe  lägt  fich  leiber  nicht  bar>on  frei* 
fprechen.  3m  faufmännifchen  Stil  heißt  es  noch  beut3utage 
nicht:  ich  h<*&e,  fonbern:  liabe  3h**n  Auftrag  erhalten,  unb 
im  porigen  3ahrhun&erte  n>ar  bies  allgemeine  (Etifette  bes 
33rief ftils  *).  Daß  biefes  tDeglaffen  bes  3^h  emeh  bei  uns  in 
ber  münblichen  Sprache  [705]  porfommt,  roürbe  ich  noch  *>or 


*)  3$  falber  habe  fie  nod?  als  Schüler  bei  einem  meiner  (Sym* 
uaftallefjrer  fennen  gelernt,  ber  allerbings  ein  HTufier  ber  pebanterie 
u>ar,  unb  ber  felbft  uns  Sdjülern  gegenüber  bas  3d?  nie  über  bie  Sippen 
bradjte  —  es  ift  bas  einige,  tpoburcfy  fldj  bie  (Erinnerung  an  ifm  in 
mir  nod?  behauptet  fyatl 


55^ 


Kapitel  IX*  Die  feciale  m*%an&.   Das  Sittliche. 


fursem  bestritten  haben,  in3tpifchen  fydbe  ich  mich  vom  <5egen« 
teil  nbet$euQt,  3um  beften  Semeife,  tpie  unachtfam  man  an 
manchen  Singen,  öie  einem  jur  (Setpohntjeit  geworben  finb, 
porübergeht,  bis  irgendein  befonberer  2inla§  bte  2lufmerfam* 
feit  darauf  lenft.  Die  33elege  für  meine  Behauptung  ent* 
galten  bie  gangbaren  i}öflichfeitsphrafen:  bitte  (auch  per» 
boppelt:  bitte,  bitte),  banfe,  bebauere  fehr,  gratuliere  beßens, 
habe  bie  <£^re  u.  a.  m.  Der  (Srunb,  tparum  man  bei  ihnen 
bas  3d]  tpegläßt,  fann  nicht  in  bem  23eftreben  nach  Kür3e, 
fonbern  nur  in  bem  obigen  <5eftchtspunfte  ber  permeintlichen 
23efdjeibenl|eit  gefunben  tperben,  benn  niemanb  fagt:  befehle, 
voiü,  ertparte,  perfidere,  beftreite  uftp.,  wie  er  es  ja,  tpenn 
jener  (Srunb  ber  richtige  toäre,  fagen  müßte,  bas  3<äj  per« 
friedet  fich  alfo  bei  jenen  phrafen  nur  ber  Sefctjeibenfyeit 
rpegen,  roir  befifeen  barin  noch  einen  Heft  aus  ber  unnatür- 
lichen ^öftichfeitsfprache  bes  porigen  3afyrfyunberts. 

Die  3tpeite  form  ber  Umgebung  bes  3<ä?  befteht  in  ber 
gegenftänblichen  23e3eichnung  besfelben,  bas  3^h  fpridjt  pon 
fich  tpie  pon  einer  britten  perfon.  Seifpiele  aus  bem  heutigen 
£eben  gerpä^ren  bie  XDenbungen  bes  Kurialftils,  mittels  beren 
ber  Derfaffer  einer  (Eingabe  fich  als  britte  perfon  einführt 
(3.  23.  ber  gefyorfamft  llnte^eichnete)  unb  bie  formen  ber 
fdjriftlidjen  (Sinlabungen  (fjerr  unb  frau  fo  unb  fo  beehren 
ftch  uftp.).  3n  bet  münblichen  Bebe  bürfte  biefe  form  bei 
uns  faum  noch  porfommen.  Der  [706]  Umftanb,  ba§  ftch 
biefelbe  auch  bei  embern  Pölfem  tpieberholt,  pon  benen  tpir 
fie  feinestpegs  entlehnt  l\aber\  fönnen,  3Ctgt,  ba§  fte  ben  ent« 
fpredjenben  2lusbrucf  ber  fich  3ur  Selbfterniebrigung  per« 
irrenben  fjöf lidjf eit  enthalten  muß.  Sei  ben  späten  ift  fte 
gan3  allgemein,  bie  fyerabfefeenbe  gegenftänbliche  33e3ei<hnung 
bes  Hebenben  lägt  ftch  gerabe3u  als  ein  (5runb3ug  ber  afia- 
tifdjen  £jöflich?eit  aufführen*). 

*}  Sie  ftnbet  fldj  fd?on  im  alten  Ceftoment,  3.     bei  U  lllof.  *2, 10, 


Die  Syntaj  ber  £}öfltd}feü  —  Wit. 


555 


<gine  brttte  form,  bas  3^  3u  umgeben,  gemährt  bas 
XPir  ber  Befcheibenheit,  ber  Pluralis  reverentialis,  vok  ich  ihn 
nennen  möchte  3um  Unterschiebe  t>on  bem  £?ir  5er  (Sröjje 
unb  (Erhabenheit,  bem  Pluralis  majestaticus.  festerer  hat 
feinen  Urfprung  auf  bem  Chton,  es  finb  meines  HHffens  bie 
fpäteren  römifchen  Kaifer  getsefen,  bie  [ich  feiner  (Erfindung 
unb  (Einführung  rühmen  bürfen*),  biefelben,  tselche  auch  &ie 
abftraften  23e3eichnungen  für  [707]  ftch  unb  bie  h^d)ften 
Beamten  (5.  533)  aufbrachten,  es  waren  bie  fprachlichen 
Hefert>atrechte  bes  Kaifertums,  ein  txmrbtges  5eitenftü<f  3U  ber 
purpurtinte,  bie  ber  Kaifer  ebenfalls  ausfchliepch  bem  eignen 
Gebrauche  vorbehielt.  IDährenb  ber  Pluralis  majestaticus  bas 
3ch  als  3U  niebrig  unb  gemein  $urücfu>eift,  entfchlägt  fich  ber 
Pluralis  reverentialis  besfelben  als  3U  anmaßenb,  <£s  ijt  bas 
£Dir  ber  Schriftßeller,  Hebner,  afabemifchen  £ehrer  in  ben 
iüenbungen:  xoxv  haben  ge3eigt,  gefunben  uftr>.  Die  2lbficht, 
bie  bem  3ugrunbe  liegt,  ift  nicht  bie,  bas  3*3?  fünjilich  auf* 
3ubaufd?en,  es  ift  nicht  bas  XDir  bes  Vertreters  ber  Preffe, 
ber  bas  beneibenstt>erte  (5efühl  fyat,  im  Ztamen  bes  gat^en 
£>olfes,  wenn  nicht  ber  ZHenfchhett  IDort  3U  führen  unb 
ein  mafjgebenbes  Urteil  ab3ugeben,  unb  bem  als  Vertreter 
ber  (Srogmacht  ber  öffentlichen  ZHeinung  felbftperftänblich  ber 
Pluralis  majestaticus  gebührt,  fonbern  bas  XOiv  ber  Befcheiben» 


tti  bein  Knecht,  Sam.  23,  2%  25;  beine  XUagb.  Sobann  bei  ben 

Siamefen  unb  ITCalaien,  melcfye  bas  3d?  regelmäßig  burd?  Knecfyt  er* 
fefeen,  bei  ben  <£fymefen,  bei  benen  felbft  bie  £ermsfürfien  in  früherer 
geit  von  fid?  als  bem  geringen  IHenfdjen  rebeten,  unb  ber  Scr/riftfrellev 
fid?  ben  Dummen  nennt  —  ein  (Entgegenfommen  gegen  ben  £efer,  bas 
man  mandjem  unferer  Sdjriftfiefler  3ur  Hacr/arjmung  empfehlen  möchte. 

*)  (Er  gehört  311m  Kurialfttl  ber  fatferltdjen  Derfiigungen,  td/  er* 
innere  ben  3urif*eu  an  oas  bekannte  sancimus  ber  Kobejftellen ;  ein 
intereffantes  33eifpiel  gewährt  bie  Raffung  ber  fpäteren  2lbfd?iebsbtplome; 
bie  an  bie  prä'tortaner  femt3eidmen  ftd?  bura?  ben  plural,  bie  an  bie 
2lu£iliarter  burd>  bie  brttte  perfon  bes  Singular  (Imperator  dedit),  fterje 
meinen  (Seift  bes  röm.  Hechts  II.  2,  5.  603  Hote  8^6  a  (2lufL  3). 


556         Kapitel  IX.   Die  feciale  Ittedjcmif.   Das  Sittlidje* 


heit.  Der  Hebenbe  enthält  fich  bes  3dj,  als  Ijabe  nicht  er 
f  elber  felbftänbig  gefunben,  ge$eigt  uftt>.,  fonbern  als  Ijabe 
der  £efer  unb  £jörer  ihm  babet  geholfen,  als  fei  es  eine 
gemeinfame  Arbeit  geioefen —  bas  IDir  räumt  bem  Cefer, 
£}örer,  einen  Anteil  am  Derbienft  ein, 

2.  Das  JDir. 

Das  XDir  unb  Unfer  ift  bie  gegebene  fprachliche  5orm 
für  jebe  (Semeinfchaft  bes  Hebenben  mit  bem  2Ingerebeten, 
unb  fein  (ßrieche  ober  Kömer  toürbe  es  begriffen  Itaben,  baß 
ber  (ßebrauch  beiber  pronomtna  in  irgenbeinem  [708]  Der« 
hältnis,  xoo  fie  an  fleh  am  plafce  finb,  beanftanbet  roerben 
fönnte.  Die  moberne  ^öflichfeit  benft  barüber  aniexs;  t^r 
3ufotge  oerträgt  fich  bie  fprachliche  Setonung  ber  (Semein* 
fchaft  nicht  mit  bem  Perhältniffe  ber  Unterorbnung  ober 
Det>otion,  fie  erbltcft  barin  eine  Anmaßung.  3m  Ulunbe  bes 
Untertanen  ift  bas  Wir  bem  Souverän  gegenüber  verpönt, 
er  barf  fidi  mit  lefcterem  nicht  auf  eine  £inie  fteüen.  wie  er 
es  burch  ben  plural  XDir,  ber  mehrere  perfonen  gleichmäßig 
erfaßt,  tun  txmrbe,  nur  ber  Souverän  barf  fich  ber  JDenbung 
bebienen:  tt>ir  haben  uns  bereits  früher  gefehen  —  bei  unferem 
legten  begegnen  uftr>.,  ber  Untertan  ihm  gegenüber  nid^t. 
<5an3  basfelbe  gilt  für  ben  Untergebenen  im  Verhältnis  3um 
Porgefefeten,  burch  IDir  trmrbe  jener  ben  2Ibftanb,  ber  fie 
beibe  trennt,  oerbeefen. 

Dag  ich  mit  biefem  <8efid|tspunfte  bas  Nichtige  getroffen 
habe,  ergibt  ein  anberer  2lnrt>enbungsfaü  besfelben.  Der 
militärifche  Dorgefefcte  mag  feine  Untergebenen  Kamerabenf 
ber  präjtbent  feine  2?äte  Kollegen,  ber  profeffor,  n>ie  es  bei 
öffentlichen  5eftltd]feiten  für  bie  2Inrebe  an  Stubierenbe  h*rs 
gebracht  ift,  Iefetere  Kommilitonen  nennen,  umgefehrt  trmrbe 
es  einen  groben  Derftoß  enthalten  —  bem  Roheren  fleht  es 
ix>ohl  an,  ben  ilbftanb,  ber  stoifchen  ihm  unb  bem  fieberen 


Die  Syntar,  ber  £jöflid?feit  —  Du*  557 


befielt ,  burch  bas  IDohtooHen  3U  überBrüden,  öer  Hiebere 
femetfeits  t^at  benfelben  an3uerfenuen  unb  5U  beachten. 

[709]     3.  Vas  X>u. 

Das  3ch  t^at  feine  Stellung  in  ber  ^öflichfettsfprache  ber 
europäifchen  Volfov  im  öffentlichen  unangefochten  behauptet, 
bas  Du  ^at  es  nicht  permocht,  alle  mobernen  Dölfer  liahen 
ihm  ben  Krieg  erflärt,  bei  einigen  ,  3.  33.  ben  €nglänbern 
unb  f}otlcinbem,  ift  es  aus  bem  £eben  fogut  tr>ie  t>erjchn>unben, 
nur  im  Kirchengebet  h<**  jtch  in  ber  2lnrebe  an  (Sott  noch 
behauptet,  bei  anbern  ha*  (Sebrauch  besfelben  er* 

halten,  aber  innerhalb  enger  (Sre^en,  bie  tpteberum  bei  t>er* 
fchiebenen  Dölfern  sanieren  *).  §ur  <§eit  ber  fran3Öjtfchen 
Heoolution  machte  man  in  5ranf reich  ben  Derfuch,  bas  als 
ariftofratifch  anftögig  gemorbene  vous  burch  bas  bemofratifche 
tu  3U  oerbrängen,  tr>ie  bie  2tnrebeform  monsieur  burch  citoyen, 
allein  ber  Derfuch  ertr>ies  [ich  als  t>öllig  erfolglos,  bie  3a^' 
biner  brachten  es  fertig,  ben  Staat  aus  ben  2lngeln  3U  h^ben, 
[710]  ber  Sitte  vermochten  fie  nichts  an3uhaben,  bie  <§eit  bes 
V\x  als  allgemeine  2lnrebeform  toar  porüber  unb  tt>irb  es 
toahrfcheinlich  für  immer  bleiben, 

*)  Diefe  pofitioe  Seite  ber  (frage  fyat  für  mtdj  fein  3ntereffe.  Pen 
metteften  Spielraum  bürfte  bas  Du  bei  uns  iit  Deutfdjlanb  einnehmen. 
(Es  fommt  itt  3tt>ei  2Inmenbungen  vor,  als  Du  ber  Stiebe,  freunbfdjaft, 
Dertraulicfyfett  —  in  btefer  Zlnmenbung  erftreeft  es  fid?  bei  uns  bis  in 
bie  aüerfyödjften  Kreife  hinauf  —  unb  als  Du  ber  miuberen  21d?tung,  fo 
in  2Jnmenbung  auf  Dtenftboten,  in  üielen  (gegenben  auf  alle  Kinber 
otnte  Unterf d}teb,  mätjrenb  in  andern  audj  bie  Kinber  mit  Sie  angerebet 
werben  unb  —  im  «gudjtfyaufe  gegen  bie  Sträflinge.  3m  allgemeinen 
fann  man  als  Hegel  aufhellen:  ber  (Sebraudj  bes  Dornameus  unb  bes 
Du  gefyen  bei  uns  £?anb  in  £?anb,  mätn-enb  ber  (Eigenname  balb  Du, 
balb  Sie  3um  Begleiter  t?at.  Bei  uns  barf  t|eut3utage  felbft  ber  gemeine 
Solbat  nia?t  mein:  mit  Du  angerebet  werben,  ebenfomemg  ber  Sdjüler 
ber  polieren  Klaffen.  3rt  Hußlanb  fyat  fid?  bas  Du  im  XlTunbe  bes  ge> 
meinen  UTannes  nod?  in  ber  21nrebe  an  ben  Kaifer  behauptet,  ebenfo 
auf  bem  £anbe  in  Hormegen  an  ben  König. 


558 


Kapitel  IX.  Die  fatale  IUedjatttf.   Das  Sittliche* 


Sclien  u>ir  jefet  an,  was  bie  Spraye  im  £aufe  ber  §eit 
für  bas  Du  an  ttjre  Stelle  gefefct  Ijat  *)• 

J.  Das  3I)i\ 

^iftorifefy  taudit  basfelbe  meines  lüiffens  3uerfi  als  €cfyo 
bes  H>ir  ber  fpäteren  römifdjen  Kaifer  auf  —  nennt  ber 
Kaifer  ftcfj  iDir,  fo  mujj  berjenige,  ber  iE^n  anrebet,  jtd}  bes 
3fyr  bebienen,  ber  Pluralis  majestaticus  ber  3toeiten  perfon  ift 
bie  etifettenmctjjige  €rtr>iberung  bes  ber  erjien  perfon.  So 
machte  es  im  vierten  3al|rl|unbert  Symmadins  in  feinen 
Briefen  an  ben  Kaifer,  tr>at|renb  plinius  benfelben  nodj  mit 
Du  anrebete.  Dom  bY3cmtinifd}en  Ejofe  ging  bas  3*1*  in  ben 
Kurialftil  ber  germanifcfyen  ^öfe  (Cfyeoborid)),  bann  ber  Kirche 
unb  enblicfy  in  bie  Umgangsfpracfye  über,  im  neunten  3a*?r' 
Bjunbert  finbet  jtd?  [711]  bas  vossitare,  tr>ie  man  es  im  Unter* 
fdjiebe  bes  tuissare,  bes  Dudens,  nannte,  bereits  im  atlge* 
meinen  (gebrauche. 

Dabei  ift  es  bei  manchen  Dölfern  geblieben.  2Inbere 
perlangten  mefyr.  Ztadjbem  bas  3^r  allgemein  geworben, 
beburfte  es,  um  jemanben  fpracfylid)  sor  bem  großen  Raufen 
aus3U3eid)nen ,  einer  anbern  £orm,  unb  biefe  fanb  man  in 
ber  fofort  3U  betjanbelnben  be3iet;ungslofen  23e3eid?nung  ber 


*)  <£\m$es  von  bem  ITCatertal,  bas  idj  im  folgenben  t>eru>enbnt 
werbe,  fyabe  id?  entnommen  aus  (SebicFe,  bermifdjte  Sdjriften,  Berlin 
\8Q\,  5.  KU  ff*;  Über  Du  unb  Sie  in  ber  beutfdjen  Spraye  (geiftoofl), 
<8.  Sauppe,  XDanberungen  auf  bem  (Sebiete  ber  Spraye  unb  £iteratur, 
1868,  5*  76ff.,  Reffte  tu,  3al]rK  für  pfyiloU  unb  päbagogif  von 
niafius,  Bbaö  (1869),  S.  *69  ff.  Dolljtänbig  ijt  bas  Ulaterial,  bas 
btefe  21brtanblungen  bieten,  aber  bei  tpeitem  nidjt,  bie  parallelen,  meiere 
bie  augereuropäifdjen  Spraken  barbieten,  finb  m  itmen  gar  nid?t  bnmtjt. 
3dj  fann  ntdjt  unterlaffen,  ben  IPunfa}  ausjufp realen,  bag  unfere  2Jfa- 
bemien  einmal  bas  Cfyema,  bas  ia?  im  folgenben  beljanble,  3um  (Segen- 
ftanbe  von  preisfdjriften  madjen  möd?ten,  rtdjttg  beljanbelt  n?ürbe  es 
eine  in  fo3ialpolitifcr/er  ((Segenfafc  ber  Stäube  —  allmSfylidje  2Jusgleid?ung 
besfelben)  unb  fpradjlia^er  B^ieljung  fjöcfyft  ruertüolle  Ausbeute  gemäßem 


Subjtonthrifdje  Umfdjretbung  bes  Slngerebetein 


559 


perfon.  2luf  europäifchem  Boben  tfi  btefe  €rjtnbung  3temlich 
jungen  Datums,  auf  aftatifchem  tpar  fte  längfi  fjdmtfdf.  Da 
eine  Übertragung  pon  bem  eine«  auf  ben  anbem  nicht  an* 
5unet|tnen  ift,  fo  ergibt  fkh  baraus,  bajj  jte,  fo  unnatürlich 
jte  auch  auf  ben  erfien  Blicf  erfcheinen  mag,  boch  eine  ge* 
tpiffe  innere  Berechtigung  unb  Hottoenbigfeit  für  fich  haben 
muß.  IDir  fennen  biefelbe  bereits:  bie  Scheu  por  ber  23e* 
rührung  bes  perfönlichen. 

Das  problem  ber  be3iehungslofen  23e3eichnung  ber  perfon 
bes  2lngerebeten  ift  pon  ber  E(öflichfeitsfprache  in  perfchiebener 
IDeife  gelöft  tporben.  2Ttan  fann  brei  formen  unterfcheiben: 
bie  fubftantipifdje,  bie  pronominale  unb  bie  unper* 
fönliche,  ich  fehlte^  biefelben  unter  fortlaufenber  ZTummer 
ber  bisherigen  erften  am 

2.  Die  fubflanttpifche  5orm. 
Sie  bilbet  bas  <5egenftücf  3ur  gegenjtänblidjen  23e3eichnung 
ber  erften  perfon.  23e3eichnet  ber  Hebenbe  fich  felber  bem 
anbern  gegenüber  als  beffen  Knecht:  bein  [712]  Knecht  (S.  5^3), 
fo  gebührt  bem  2lngerebeten  bie  2lnrebe:  mein  fjerr.  So 
gefchieht  es  3. 23.  im  2Uten  Cefiamente  (\.  ZtTof.  7;  lüarum 
rebet  mein  f}err  folche  iüorte?  <£s  fei  fern  pon  beinen 
Knechten,  folches  3U  tun),  fo  bei  ben  Siamefen  unb  ZHaleien 
unb  anbern  apatifchen  Dölfern  —  3$  ^u  roerben  3U 
britten  perfonen.  Bei  ben  ^inbus  ijt  biefe  gegenftembliche 
23e3eichnung  ber  perfon  uralt,  fte  fmbet  fich  bereits  in  ben 
ältejlen  Dramen.  Du  (twam)  unb  3hr  (Yüyam)  gilt  als 
grob,  bie  ^öflichfeitsfpracfte  erforbert  Bhavän  (=  f}err)  mit 
ber  britten  perfon  bes  Perbums,  bei  h§h^  geseilten  per* 
fönen  Srimän  (=  ber  mit  <51ü<f  Segabte),  unb  felbfi  für 
britte  Perfonen,  pon  benen  man  fpricht,  gebraucht  man  nicht 
bas  Pronomen,  fonbern  pon  anroefenben  Atrabhavän  (=  ber 
£}err  tjtcr)f  pon  abtpefenben  Tatrabhavän  (=  ber  £?err),  fm*3 


560 


Kapitel  IX.   Die  f03tale  XKedjant?.   Das  Sittliche» 


in  bem  Sanffrit  unb  ber  heutigen  £}öfItd?Fcitsfprad^e  ber 
fjinbus  ift  bas  pronomen  in  2lmr>enbung  auf  britte  perfonen 
fchlechthin  verpönt.  Ztur  ber  (Bottheit  gegenüber  u>irb  in 
ben  Heben  bas  Du  gebraust,  ein  Seitenftücf  3U  ber  obigen 
öemerfung  über  bie  Sefchränfung  bes  Du  bei  ben  (Eng* 
länbern  auf  bie  21nrebe  an  <5ott  —  bie  Kirche  allein  ^at 
bem  natürlichen  Du  bas  £eben  gefriftet. 

Den  abenblänbifdjen  Dölfern  tt>ar  btefe  gegenftänbliche 
Se3eid)nung  ber  3toeiten  perfon  meines  JDiffens  urfprünglich 
ebenfo  fremb,  roie  es  ihnen  bie  ber  erften  ftets  geblieben  ijt. 
Den  erjlen  2lnla§  ba3U  fcheinen  bie  römifchen  Kaifer  mittels 
Einführung  ber  abftraften  [713]  ^Zeichnungen  3ur  33e3etch' 
nung  ihrer  felber  gegeben  3U  ^aben*  ZTannte  ber  Kaifer 
fich  felber  nostra  majestas,  dementia  ufts.,  fo  roar  bamit  für 
il^n  als  enfprechenbe  2tnrebeform  tua  (fpäter  vestra)  majestas 
x>orge3eichnet,  in  berfelben  JDeife  roie  ber  Pluralis  majestaticus 
ber  erften  perfon  in  ihrem  ZHunbe  burch  ben  ber  3tt>eiten  3U 
ertoibem  tt>ar. 

Damit  ift  bie  5orm  namhaft  gemalt,  welche  t>on  manchen 
europäischen  Pölfern  an  bie  Stelle  bes  allmählich  3u  gemein 
geworbenen  3hr  g^fet  warb:  bie  gegenftänbliche  23e3eichnung 
ber  perfon.  Von  ber  abftraften  5orm  (23egriffsname) ,  bei 
ber  fie  3uerft  auffam,  ift  fie  auch  auf  bie  fonftigen  i^eich* 
nungen  ber  perfon  mit  bem  Ehrennamen  (womit  fann  ich 
ber  $tan  bienen?  wünfeht  ber  Eferr  fonft  nichts  mehr?)  ober 
bem  Citel  ausgebehnt  worben. 

Die  gegenftänbliche  33e3eichnung  ber  perfon  in  Derbinbung 
mit  ber  fprachlich  gegebenen  unb  urfprünglich  allein  üblichen 
britten  perfon  bes  Singulars  r>om  Perbum  bilbet  in  meinen 
klugen  bas  I^tftorifd^e  ZHittelglieb  für  bas  2luffommen  ber 
folgenben  $oxm. 


Die  britte  perfon  bes  Singular. 


56\ 


5.  Die  brüte  perfon  bes  pronomen  im  Singular. 

Sie  enthält  eine  2lbfür3ung  ber  gegenftänblichen  23e3eich* 
nung  ber  perfon,  man  umgebt  ben  unausgefefeten  (Sebrauch 
ber  öeseicfymng  JEjerr,  5rau,  5räulein  ober  £}err  Doftor  ufm., 
inbem  man  fte  mit  bem  pronomen  ber  britten  perfon  bes 
Singular  einfad]  in  Sesug  nimmt:  was  [714]  wünfeht  €r, 
was  bat  fte  mir  3U  fagen?  2lls  (Erleichterung,  öequemlich* 
fett,  bie  man  fich  bamit  erlaubt,  wiberfpridjt  fie  bem  (Seifte 
ber  Denotion,  welcher  bie  afiatifche  ?jöflichfeit  fenn3eichnet, 
unb  ben  2lfiaten  ift  ba^er  biefer  (Sebrauch  bes  pronomens 
meines  IDiffens  fremb  geblieben. 

2luch  bei  ben  europäifchen  Dölfern  ift  er  fein  allgemeiner, 
ben  £ran3ofen,  €nglänbern,  X}ollänbem  ift  er  unbefannt,  fie 
finb  bei  ber  3weiten  perfon  bes  plural  geblieben,  bie  Deutfcheu 
haben  ihn  Dorübergefyenb  aboptiert,  bann  wieber  fallen  laffen, 
währenb  bie  Italiener  unb,  wenn  man  bas  fpanifche  Usted 
(S.  53^  ZTote**)  als  pronomen  anfefyen  will,  auch  bie  Spanier 
ihn  bis  auf  ben  heutigen  Cag  beibehalten  l\aben.  Spvadp 
fenner  mögen  entfehetben,  ob  ich  mit  ber  Vermutung  redjt 
habe,  baß  wir  Seutfchen  bie  5orm  üon  ben  3talienern  ent* 
lehnt  h<*ben.  bie\e  Entlehnung  ftattgefunben,  fo  war  fie 

jebenfalls  feine  glücfliche,  weil  feine  uollftänbige.  Die  ita* 
lienifche  5orm  bes  pronomens  ift  bas  femininifche  ella,  wobei 
vostra  signoria  fuppliert  warb,  wir  Deutfchen  fubffttuierten 
ihr:  er  unb  fie*),  unb  barin  erblicfe  ich  ben  (Srunb,  warum 
biefe  5orm  bei  uns  fich  nid\t  3u  erhalten  permochte  unb 
fchlieglich  fo  anftößig  warb,  bafc  fie  als  2lusbrucf  ber  (Sering* 
fchäfeung  galt.  3)as  italienifche  ella  enthielt  bie  ftitlfchweigenbe, 
bas  fpanifche  Usted  bie  ausbrüdliche  [715]  2tnerfennung  ber 


*)  3<^?  H>^be  im  folgenben  3ur  itnterf cfyeibung  bes  „fie''  bes  Singu- 
lars  nom  „Sie"  bes  plural  erfteres  fleht,  letzteres  groß  bnxcfen  laffen. 

t>.  3!)cring,  Per  ßwed  im  Heci?t.  II.  36 


562 


Kapitel  IX.   Die  fötale  ITCecfyatti?.   Das  Sittliche. 


iDürbigfeit  ber  perfon,  bas  beutfdje  er  unb  jte  nid}t.  ,f<£r" 
pagte  ebenfogut  für  ben  ^anbtserfsburfdjen,  fjausfnedjt,  Sage* 
lohnet,  Scfyarfridtfer,  rote  für  ben  (ßeneral  unb  ZHinijler*), 
„fie"  ebenfogut  für  bie  Kammer3ofe,  bie  lieberlidje  Dirne  tote 
bie  »orncljme  Dame,  „<£r"  unb  „fie"  lie§  ber  DorjleHung  freien 
Spielraum,  fid]  babei  alles  mögliche  3U  benfen,  bas  (ßemeinfte, 
£>erädjtlid)fte  tr>ie  bas  <£fyrenx>oHfte,  es  toav  ein  tx>eiter  ZHantet, 
unter  bem  alles  plafe  fanb,  tsäfyrenb  bie  italienifdje  unb 
fpanifdje  pronominalform  nur  ber  achtungsvollen  DorfteHung 
Kaum  bot  Da3u  gefeilt  ftdj  noefy  ein  anberer  Unterfdjieb 
3roifdjen  beiben  formen,  ber  vielleicht  ebenfalls  mitgeu>irft 
l}ai,  bie  beutfdje  3U  bisfrebitteren,  nämlid)  bie  Differen3ierung 
des  pronomens  nach  X>erfd}iebenheit  ber  (ßefchlechter.  2tHe 
anbem  pronominalformen  finb  gefchledjtslos:  3ch,  Du,  IDir, 
3^r,  Sie;  (Sefdjlechtslofigfeit  aber  iß  bas  JEjöchfte,  rr>03u  ftch 
bie  Höflichkeit  bei  ber  5lud)t  t>or  bem  perfönlidjen  ergeben 
fann,  unb  in  ben  Begriffsnamen  (S,  535),  bie  für  beibe  (ße- 
fchlechter in  gleicher  IDeife  3ur  2lmr>enbung  gelangen,  I^at  fte 
biefen  höchften  (Sipfel  in  ber  Cat  erftiegen.  Die  italienifche 
unb  fpanifche  £orm  bes  pronomens  ftimmt  ba3u,  bie  beutfehe 
nicht. 

Der  ZlTifgriff,  ben  bie  beutfehe  Jjöflichfeitsfprache  bamit 
begangen  hatte,  ba§  fte  anftatt  bes  abfiraft  5U  [716]  benfenben 
eUa  bas  perfönlich  ober  mbivibuell  3U  bentenbe  unb  gefdjled?t* 
lieh  bifferen3ierenbe  er  unb  jte  bilbete,  tr>ar  ber  2tnla§  3ur 
Silbung  einer  neuen  tt^r  eigentümlichen  $oxm. 

%  Das  pronomen  ber  britten  perfon  bes  plural:  Sie. 
2lls  ber  Singular  3<äl  ber  perfon  3U  bürftig  erfd^ien,  trat 
ber  Pluralis  majestaticus  tüir  in  bie  £ücfe,  als  basfelbe  mit 


*)  33ei  ifmen  blieb  es  im  ITIunbe  ber  Souveräne  noeb  bis  in  nnfer 
3^r^unbert  ttinetm  ^friebrid?  IPilbeltn  in.  uertaufdjte  es  3uerf*  mit  Sie. 


Die  brttte  perfon  bes  plural* 


Ö63 


bem  Du  gefd]at>,  ber  Pluralis  majestaticus  3^r  /  <üs  bas  et 
unb  fte  bes  Singular  bei  uns  Deuijcfyen  anftößtg  coavb,  er- 
fefcte  man  es  burd)  ben  plural  Sie.  ZHan  fielet,  es  ift  Kon* 
fcquen3  in  ber  Sadje:  bie  perfon  sertaufdjt  überaß  ben 
Singular  mit  bem  plural.  Damit  glaube  idj  unfer  beutfdjes 
Sie  fpradjlid}  djarafteriftert  3U  fyaben;  es  ift  ber  Pluralis 
majestaticus  ber  dritten  perfon.  3d|  nenne  es  bas  beutfcfye 
Sie,  benn  meines  XtMffens  fyaben  bie  wenigen  Dölfer,  u>eld}e 
es  ebenfalls  fennen,  basfelbe  von  benDeuifcfyen  angenommen*). 

Die  Derbinbung  bes  Sie  mit  bem  plural  bes  Perbums 
führte  ba5u,  le&teren  aud?  auf  ben  Singular  bes  Subftaniir>s 
3U  übertragen  (fjaben  ZHajefiät,  l|aben  ber  E[err  uftp.?) 
—  eine  tsafjre  fpractilidje  ITJonftrofität,  bie  fid)  in  feiner 
einigen  Spraye  ber  XDelt  isieberfyolen  bürfte.  So  3iefyt  ein 
5efyltritt  ben  anbern  nad?  fid}**).  2lls  bas  Sie  audj  auf 
ben  gemeinen  ZHann  übertragen  tt>arb,  u>urbe  es  natürlich 
für  bie  fyödjftgeftellten  perfonen  anftößig,  es  beburfte  eines 
<£rfai$es,  unb  bafür  bilbete  man:  2lllerl}öd)ftbiefelben,  was 
bann  trueber  einen  2lbleger  erhielt  in  Ejocfybiefelben  unb 
fd]liepdj  in  biefelben. 

Damit  ift  bie  <Sefd}id)te  bes  Du  befdjloffen,  unb  es  iji 

*)  €s  finb  nur  fokfye,  bie  mit  ben  Deutfdjen  3ur  §ett  als  es  auf" 
fam  —  meines  Höffens  gegen  €nbe  bes  vorigen  3<*Wunberts  —  in 
enger  politifdjer  Derbinbung  ftanben,  nämlia?  bie  Dänen,  bie  es  bnrdj 
bie  Sdjlesnrig^olfteiner,  unb  bie  flfdjedjen,  n>eld?e  es  burdj  bie  Deutfa> 
öfterreidjer  be3ogen  traben  werben*  Don  ben  Dänen  erhielten  es  auf 
gleichem  IPege  bie  ZTortreger,  in  Sieben  foll  es  fid?  erft  jet$t  einbürgern. 
3n  ^öl)men  Ijat  bie  Hattonalpartei  bem  Sie  (Voni,  in  ber  Sdjriftfpradje 
Oni)  ben  Krieg  erflärt,  in  ben  fyöljeren  Kreifen  ift  es  bereits  befeitigt, 
ipäljrenb  bas  gemeine  Volt  fidj  besfelben  nod)  bebient. 

**)  (Sebtcfe  a.  a.  ®.  5.  U$  madjt  nod)  einen  anbern  namhaft* 
211s  bas  Sie  bei  perfonen  n?eiblidjen  (Sefdjledjts  anftöfpg  geworben  tuar, 
fagte  man,  um  jebem  HTigDerftänbnis  3tDtf djen  fte  unb  Sie  oo^ubeugen, 
im  2lffufatir>,  jlatt  bes  festeren  3^nen  —  id?  bitte  3fynen,  id?  fyabe 
3fynen  lange  nidjt  gefe^enl  —  unb  nodj  heutigentags  gilt  bas  3*ln*tt 
bei  gemeinen  £euten  für  üornefymer  als  Sie. 

36* 


564 


Kapitel  IX,   Die  fokale  UTedjatttf.    Das  Sittliche* 


nicht  absufefyen,  was  iefet  nodj  fommen  föunte,  ba  alle  formen 
bes  perfönlicfyen  Fürworts,  toeldje  fid?  als  (Erfafe  aufbieten 
ließen,  bereits  erfdjöpft  ftnb.  3<3?  fteüe  bie  Staaten,  toeldje 
bas  Du  burdjkutfen  l^at,  furj  3ufammen,  inbem  idj  bei  jebem 
berfelben  biejenigen  Polfer  nenne,  burdj  bie  basfelbe  reprä* 
fentiert  wirb. 

Du  3J>r         Sie  (Singular)      Sie  (Plural) 

(Sriecben,  ^ran^ofen,  3*aI^n*rf  Deutfdje  unb 
Homer»  <£nglänber,        Spanier.  ZTorb* 

ßoHänber.  germanen. 

löir  Deutfcben  fönnen  ben  3wetfell>aften  Hufym  in  2h\< 
fprud?  nehmen,  aHe  t>ier  Stufen  burdjlaufen  su  fyaben.  [718] 
Ulan  follte  fagen,  ba§  bamit  aHe  ZHöglidjfeiten  erfdjöpfi 
wären,  allein  es  finbet  fid?  nodj  eine  anbere. 

5.  Die  unperfönlidje  5orm. 

Das  Derbienft,  fie  erfunben  311  ^aben,  müffen  wir  (Europäer 
ben  2tfiaten  überlaffen,  mit  benen  wir  es  ja  einmal,  wie  aus 
bem  23isfyerigen  fdjon  flar  geworben  ift,  im  punfte  ber  rafft* 
nierten  Jjöflid>fettsfpradie  nid?t  aufnehmen  fönnen.  Die  3a' 
paner  bebienen  fid),  wenn  fie  redjt  fyöflidj  reben  wollen,  \tatt 
bes  2Iftwums  bes  Derbums  mit  Eingabe  ber  perfon  bes 
paffbums  ober  Kaufatitmms,  ftatt  3U  fagen:  Sie  effen,  trinfen, 
fd]reiben,  fagen  fie:  es  wirb  gegeffen,  getrunfen,  fdjreiben 
gelaffen!  Damit  ifl  bas  Su§erjie  in  ber  5lud?t  vor  ber  perfon 
glücf  lid}  fertig  gebracht :  bie  perfon  ift  t>ollftctnbig  eliminiert, 
was  fie  tut,  ift  3U  einem  (ßefcfyefyen  geworben,  für  bas  man 
fidj  bie  perfönlidje  Se3iel>ung  erft  fyin3ubenfen  mu§. 

3m  Deutfdjen  fennen  wir  aHerbings  ebenfalls  eine  un< 
perfönlidje  IDenbung,  es  ift  unfer  „man",  wie  es  früher  t>iel* 
fad?  üblidj  war,  iusbefonbere  auf  Sd)ulen  im  HTunbe  ber 
Cefyrer  gegen  Sdjüler  (man  faun  feine  Dofabeln  nid?t  —  l?at 


3fy*  —  bas  Pronomen  possessivum. 


565 


man  »erftauben?),  aber  es  tt>ar  fo  weit  entfernt  'eine  i}öf* 
lichfeitsform  3U  fein,  baß  es  gerabe  umgefehrt  ba3  biente, 
in  5äHen,  u>o  bas  Du  nicht  als  paffenb  erfchien,  ber  ZTötigung 
5U  bem  höflicheren  3^r  ober  <£r  ausstreichen.  23ur  eines 
oollgültigen  Seitenftücfs  su  ber  japanifchen  5orm  fönnen  auch 
mir  uns  rühmen,  es  ift  bie  im  Kurialftil  übliche  IDenbung: 
höheren  (Drts  —  an  [719]  höchfter  Stelle  —  biesfeits  — 
jenfeits*)  ufu>.  —  ber  ®rt  toirb  ^tatt  ber  Perfon  genannt! 

3m  bisherigen  h<*be  ich  bie  (Sefchichte  ber  brei  prono« 
minalformen:  3chf  #>ir,  Du  oerfolgt,  es  bleibt  mir  noch 
bie  vierte:  bas  3*!r  Jlnrebeform  für  eine  ZHehrheit  r>on 
Perfonen. 

Das  3^r  ker  ZHehrheit. 
<£s  gibt  mir  nur  su  einer  einigen  Bemerfung  2tnlaß,  bie 
ftd?  auf  ben  beutfehen  Sprachgebrauch  besieht,  aber  jte  ift 
charafteriftifch ,  toeil  jte  3eigt,  3U  welchen  ZDiberfprüchen  bie 
Sprache  gelangt,  wenn  fie  einmal  vom  richtigen  XDege  ab* 
gelenft  ift. 

Das  Du  ijt  bei  uns  als  2lnrebeform  an  unbefannte  per* 
fönen  t>erpönt,  folglich  müßte  es  auch  bas  3^r  bei  einet 
ZHehrheit  von  perfonen  fein,  unb  bies  bilbet  allerbings  bie 
Hegel.  2lber  biefelbe  erleibet  3tr>ei  Ausnahmen.  Der  pre* 
biger  rebet  oon  ber  Hansel  bie  (Semeinbe  mit  3hr  ebenfo 
ber  ©ffeier  bie  Solbaten,  unb  ich  bin  fo  tr>eit  entfernt  bapon, 
bies  3U  mißbilligen,  baß  ich  midi  freue,  baß  fich  fyievin  noch 
ein  lefcter  Heft  urfprünglicher  Ztatürlidtfeit  im  Sprachgebrauch 
erhalten  h<**»  2!&er  gleichwohl  bilbet  es  boch  einen  umnber* 
liehen  IDiberfpruch,  baß  in  ben  angegebenen  beiben  Derhält* 
niffen  ber  ein3elnen  Perfon  gegenüber  bie  3tr>eite  perfen  bes 


*)  3nt  21mtsfttl  früher  in  ben  gefdjmacflofefißit  Wcribunqen  ge- 
brauet,  3. 23*  es  ift  3U  btesfeittgen  (Dtjren  gefommen. 


566 


Kapitel  IX.   Die  fo3iale  medjemt?.   Das  Sittliche. 


pronomen  [720]  im  Singular  r>erpönt  ip,  roäfyrenb  pe  im 
Plural  der  IHcljr^eit  gegenüber  als  3uläfpg  gilt, 

5.  Das  Pronomen  possessivum. 

Die  (Sefdpdjte  besfelben  in  ber  £[öflidifeitsfprad}e  ge^t 
parallel  mit  Der  Des  Pronomen  personale.  ZKit  bem  Du  oer* 
fdjtiMnbet  Das  Dein,  mit  bem  3^r  fommt  bas  €uer,  mit  bem 
Sie  bas  Sein  ober  3fyr.  3^  biefer  XDeife  löfen  pdf  biefe 
formen  audj  bei  ben  öegriffsnamen  ab:  tua  majestas  —  bann 
vestra  majestas,  dominatio,  eminentia*)  —  <£ure  Xtlajeftät, 
(£p3eHen5  —  fdjlieglicfy  bei  uns  3^re  ZHajeftät**). 

Das  Pronomen  possessivum  ift  bie  fprad)ltcf]e  5orm,  um 
bie  Se3iel|ung  bes  2lngerebeten  3U  irgenbtpeldjen  fonftigen 
Dingen;  Sachen,  perfonen,  fyanSiünQexx,  Äußerungen  uftr>.  3U 
betonen,  2tudj  biefe  fpradjlidje  5orm  tp  t>on  ber  ^öflid^feit 
bemängelt  roorben  unb  aud?  t|ier  muj$  ber  2lnftofj,  ben  pe 
baran  nafym,  nidjt  fo  fern  gelegen  fyaben,  txne  es  auf  ben 
erften  ÖlicE  erfdjeinen  möchte,  ba  bie  europäifdje  f(öflid]Ieit  in 
btefem  punfte  [721]  ttneberum  mit  ber  apatifdjen  sufammen* 
trifft  Der  Cfyinefe  erfefet  bie  poffefftopronomina  burd?  ein 
efyrenbes  SeitDort  (alt,  f oftbar,  efyrroürbig,  befefylenb  ufa>.), 
fiatt  3u  fagen:  3^r  Dater,  3^e  5*<*u,  be3eidjnet  er  ben  Dater 
als  ben  befeljlenben  €I?nx>ürbigen,  bie  5*<*u  als  bie  befeljlenbe 
Biestige,  bie  IHutter  als  bie  befeblenbe  211te  uftx>.,  unb  biefe 

*)  2lud?  babei  tnieber  ©gentnmlidjfeiten:  in  ber  firdjlidjen  Spraye 
erhielt  ber  (Seiftlidje  r>om  papfte  tua  fraternitas,  ber  Karbmal  vestra 
dominatio. 

**)  Dabei  abermals  XDunberlid^feiten!  ITCan  fpridjt  €uere  ober  3fyre 
IHajeftat,  €£3eü*en3,  bagegen  fdjreibt  man  <2u%  Ulajeftät,  (Er^ellen^,  nie* 
mals:  (ausgefd?rieben)  (Euere;  fpradjlidj  u>äre  für  uns  Deurfcbe 

bie  ber  britten  perfon  bes  Pronomen  possessivum:  3*!re  allein 
forrefte*  lludi  in  €tr>*  IDorjIgeboren  ufun  fyat  fidj  bie  $wtite  perfon 
erhalten,  in  ber  Überfdjrift  bes  Briefes  bebtent  man  pdj  ber  3u>eiten,  um 
\>ann  fofort  mit  „3k**n  23rief,  Antrag  ups*  Ijabe  td?  erhalten*  in  bie 
brüte  überzugeben! 


—  bas  Pronomen  possessivum. 


56? 


urfprünglich  dfinefifche  Heben>eife  ift  auch  von  ben  3<*pcmen 
angenommen  toorben. 

©fyte  bei  biefen  beiben  Pölfem  in  bie  Schule  gegangen 
3U  fein,  finb  bie  europäifchen  Dölfer  bei  gan3  bemfelben  giele 
angelangt.  Unter  getsiffen  Dorausfefeungen,  ^ebenfalls  überall 
im  3>et>ottonsüerB}äItms  gilt  bte  23e3eichnung  ber  bem  2lnge* 
rebeten  naheftehenben  perfonen  mit  bem  poffeffiopronomen 
als  unpaff enb.  2)er  (Sebanfe,  bei  bem  3ugrunbe  liegt,  ift 
ber:  mein  Derhältnis  3U  biefer  perfon  fümmert  Dich  nicht,  su 
Dir  fleht  biefelbe  in  feiner  23e3iehung,  für  Dich  ift  biefelbe  nicht 
3^re  5*<*u  (ßemahlin,  3^  Et**1  Pater  ufto«,  fonbern  bie  5rau 
unb  ber  £|err  fo  unb  fo.  Das  2lnftö§ige  biefer  öeseichnungs- 
roeife  toirb  ficherlich  htftorifch  3uerft  bei  ben  höchftgeftellten 
perfonen  empfunben  toorben  fein,  bier  toirb  es  311er jl  Sache 
ber  <£tif  ette  getoorben  fein,  bie  Angehörigen  berfelben  nicht 
nach  ihrem  relativen  Derhältnis  3U  ihnen,  fonbern  abfolut 
(3hte  Utajeftät  bie  Königin,  3^re  X>urd?Iaucl)t  bie£}er3ogin  ufn>.) 
3U  be3eidjnen.  2lber  tx>ie  alles,  roas  bie  £jöflich?eit  an  aus- 
gefuchten  formen  für  bie  Spifeen  ber  (Befellfchaft  aufgebraßt 
hat,  nach  unb  nach  auf  bie  [H22]  nächftftehenben  (SefeUfchafts* 
freife  unb  bann  auf  bie  folgenben  übertragen  toorben  ift,  fo 
auch  hier»  3^  einem  Ejaufe,  in  bem  man  auf  formen  hält, 
lautet  bie  Be3eichnung  ber  Zfiitglieber  besfelben  im  HTunbe 
ber  Dienerfchaft  nicht:  3hr  £(^r  Pater,  Sohn,  (ßemahl,  3^re 
5rau  (Semafylin  ufa>.,  fonbern:  ber  fjerr  ober  bie  5rau  (Sc- 
heune Hat  ober  ber  gnäbige  Ejerr,  bie  gnäbige  5r<*u;  für 
bie  Dienerfchaft  ejiftiereu  bie  23e3iehungen  ber  Familie  nid}t 
Dagegen  eyiftieren  fie  allerbings  für  benjenigen,  ber  bem 
2tngerebeten  nahefteht.  Das  IDohfoollen,  bas  er  für  lefeteren 
hegt  ober  3U  tieqen  vorgibt,  betoährt  fich  baran,  bajj  ihm 
jene  perfonen  nicht  als  völlig  frembe,  gleichgültige  gelten, 
fonbern  baß  er  auch  ihnen  fein  3ntereffe  3uu>enbet,  unb  bies 
beroeifi  er  eben  baburch,  baj$  er  ihr  Verhältnis  3um  2lugevebeten 


568 


Kapitel  IX.   Die  feciale  ZHecljam?.   Das  Sittliche* 


in  23e3ug  nimmt,  bas  (Segenteil  roürbe  fagen:  Deine  2lnge* 
porigen  intereffieren  mich  nicht.  Wie  es  in  Derhältniffen,  t)ie 
$wi\dien  liefen  beiben:  bem  Depotions*  unb  XDo^ltooIIens» 
perhältnis  in  ber  TXiitte  liegen,  gehalten  toirb,  fümmert  mich 
nid\t,  nach  meinen  perforieren  Erfahrungen  u>etd)t  I^ier  bie 
Sitte  in  ben  serfchiebenen  £änbem  unb  felbft  in  perfchiebenen 
(Segenben  poneinanber  ab,  für  meinen  gwed  genügte  es  $u 
fonjiatieren,  baß  ber  (Sebrauch  bes  Pronomen  possessivum 
überhaupt  pon  ber  mobernen  Ejöflichfett  beanftanbet  toorben  ift. 

3d?  bin  mit  meinen  Unterfudjungen  ber  Sprache  ber  £}öf* 
lichfeit  fettig.  Der  £efer  mag  jefct  entfeheiben,  ob  [723] 
mein  obiges  Urteil  über  fie,  melches  fie  als  ben  SünbenfaH 
ber  Sprache  charafterifierte,  3U  fyart  u>ar;  ich  meine,  bafc  es 
burch  bas  Sünbenregifter,  tpelches  ich  3ufammengebracht  habe, 
in  Dollem  Umfange  gerechtfertigt  toirb.  Dasfelbe  enthält 
eine  ganse  Sammlung  pon  fprachlidjen  Ungeheuerlichfeiten: 
bas  Subftanttp  im  Singular  mit  bem  plural  bes  Derbums 
(€to.  ZHajeftät  fyaberi)  —  bas  Perbum  ohne  Subjeft  (habe 
erfahren)  —  bas  2Ibjeftip  als  Substantiv  behanbelt  (£u>. 
IPohlgeboren)  —  ella  für  bas  männliche  (Befehlest  —  ber 
plural  bes  pronomens  (U?ir,  3hr)  ^tatt  bes  Singulars  Qdj, 
Du)  —  unb  alles  bies  blo&  ber  Ejöflichfeit  toegen,  —  lauter 
Feigenblätter,  um  bie  perfon  3U  perhüllen,  bas,  was  fie  pon 
Statur  ift,  für  bie  klugen  ber  (Sefeüfchaft  3U3ubecfen,  als  ob 
bie  perfon  fich  ihrer  f elber  3U  fchämen  hätte  —  ein  fünftlicher 
2lufpufe  ber  perfon,  hinter  bem  feiner,  ber  bies  Stücf  Sprache 
nicht  fennt,  bie  perfon  f elber  ttuttem  tPÜrbe,  befchafft  burch 
eine  nirgenbs  ihresgleichen  finbenbe  UTifchmtblung  ber  Sprache 
—  ein  Kaubenr>elfch,  lebiglich  in  bie  Welt  gefefct,  um  bie 
perfon  3U  ehren. 


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