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Vertag t>on 53re(tfopf & Partei
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vozd im Becfyt
von
#ufcolpfy von 3^«n94
tHotto:
Per gtoetf tft fcer Schöpfer bes gan3en Redfts
^weiter Ban&»
6.-8. Auflage,
Drucf unb Perlag t>on SreitFopf unt> EfärteL
1923.
Me Becbte, msbefortbere bas ber Überfetjung, uorbeqaltetu
Printed in Germany
Porrebe 3ur erften Auflage*
Selten mag fich ein Schriftfteller in be3ug auf bie Sott*
fefeung eines »on ihm begonnenen IDerfes fo verrechnet haben,
toie ich in be3ug auf ben gegenwärtigen 23anb meines «§n?ec!es
im Hecht Zlxd\i bloß baß berfelbe bas IDerf nicht 3U <£nbe
bringt, tx>ie ich beabfichttgt unb bem £efer serfprochen hatte,
fonbern berfelbe fyat fogar einen gän3lich anbern 3nBjaIt be<
fommen, als ich für ihn in 21usjtcht genommen hatte. Der
ursprünglichen Anlage besfelben gemäß fyätte ber egoiftifchen
Selbftbehauptung, mit ber ber erfte Sanb abf djließt, im
neunten Kapitel bie etfyfche folgen follen, aber als ich mich
vn bie Bearbeitung besfelben machte, über3eugte ich mich
fehr balb, baß ich mich bes 21usbru<fs etfyfch nicht bebienen
fönne, ohne eine Begriffsbestimmung Boraus3ufchicfen. Die
gangbare genügte mir nicht, fte fefet bie 2tnfchauung bes
Sittlichen, welche fie in bie Soxm bes Segriffs 3u bringen
fudjt, als gegebene Catfache voraus; ohne biefe prämiffe ift
fie nicht imftanbe, ben Begriff flar3uftellen. 3df meinerfeits
war 3U bem Hefultate gelangt, baß biefe Slnfdjauung nicht
bas Urfprüngliche, fonbern nur bas Hefultat ber gefchicht*
liehen, burch praftifche «gweefe geleiteten unb e^txmngenen
gefeUfdjaftlichen <£ntwi<flung ijh Das Verhältnis ber objef*
tiven jtttlichen ©rbnung, 3U ber ich neben bem Hechte auch
bie ZTCoral unb Sitte 3ähle, unb bes fubjeftioen ftttlichen (ßc-
fühls brehte fich für mich gän3Üch um, nicht lefeteres erfchien
mir mehr als bie Quelle ber erfteren, wie bie I7errfcä7ent>e
rv
Dorrebe*
Cl^corie feiert (f, tue öelege S. 86, Xtote), fonbern öftere als
bie bes lefcteren. 2llle fittlichen formen unb Einrichtungen
tiaben nach meiner Überseugung ihren legten <5runb in ben
praftifchen «gtoeefen ber (Sefeßfchaft, leitete fmb t>on einer
fo umtnberftehlich 3toingenben (Betoalt, ba§ bie Znenfd^I^ett
nicht ber geringsten fittlichen Beanlagung beburft hätte, um
alles, tt>as fte erf orbern, h^o^ubringen, bie Vftadit bes
obje!tir> Sittlichen, b. % ber in 5orm ber brei gefellfchaftlicheu
3tnperatu>e: Hecht, ZHoral, Sitte t>ern>irf listen ©rbnung ber
(Sefellfdjaft beruht auf feiner praftifchen Unentbehrlichst,
bas fubjeftipe fittltche <5efütjl ift nicht bas l|iftorifc^e prius,
fonbern bas pofterius ber realen, burch ben praftifchen gtoed
gefchaffenen IDelt, unb erji, u>enn basfelbe auf (Srunb ber
unabhängig von ihm entftanbenen IDelt ftcfj gebilbet h<*t,
unb roenn es 3U Kräften gefommen ift, ergebt es feine
Stimme, um basjenige, was es in ber ZDelt gelernt bLatt an
ber JDelt 3U verwerten, ben ZHaßftab, ben es it^r auf bem
töege ber unbetonten 2lbjiraftion allgemeiner <5runbfäfee
entlehnt hat, auf fie felber 3ur 2lmx>enbung 311 bringen, b. h-
bie 2lnforberung 3U ftellen, baß fie bie prin3ipien, meiere fie
bisher nur unpoHfommen realifiert ha*/ t>oItfommen burch«
führe — es ift bas Kinb, bas, toenn es herattgett>achfen, bie
ZHutter nach ih^en eignen Sehren meiftert.
2)iefe 2luffaffung, ber ich für bas Hecht in bem TXiotto
meiner Schrift ben JtusbrucE gegeben fyxtte: ber §tt>ecf ift
ber Schöpfer bes gan3en Hechts, burfte ich, als ich ben 23e«
griff bes Sittlichen 3uerji in meiner Schrift beruhte, nicht
uuterlaffen auch für festeres 3U begrünben. kleinem <8eftd|ts*
punfte ber ethifchen Selbftbehauptung , ben ich im neunten
Kapitel aus3uführen gebachte, toürbe ber fefle Unter grunb
gefehlt liaben, wenn ich mich beffen hätte überheben woüen.
So erhielt benn biefes Kapitel ben 3nhalt, ben es jefet an
ftch trägt : bas Sittliche* J^ätte ich bamals, als ich basfelbe
Voxxebe.
V
in Eingriff nahm unb bas erjle fertig geworbene Stücf ZHarm*
ffript ber Drucferei übergab, sorausfeljen fönnen, rote weit
fiel} basfelbe ausbefynen mürbe, idj fyätte baraus eine eigene
Schrift gemacht, auf bie xd\ in bem JDerfe felber bloß Be3ug
genommen Ijcitte* 2Wein idj Ijatte von bem Umfange bes»
jenigen, was mir im Saufe ber Unterfudjung entgegentrat,
gar feine DorfteHung. <£ine 5rage rief bie anbere Ijeroor,
unb wenn idj meinem <Srunbfat$e treu bleiben wollte, feiner
einigen 5rage, beren Beantwortung burd? ben <§ufammen*
fjang bes (Sanken geboten war, aus3uweidjen, fo blieb mir
feine lüafyl, idj mußte meinen &)eg bis 3U <£nbe fortfefcen.
Don ber Sittlid?feit warb icfj 3urücfgeworfen auf bie Sitte,
idj mußte Hebe unb Antwort ftetjen, wie Iefetere ftdj von
ber ZHoral unterfdjeibe, unb wie fie 3U i^rem Seile bie 2luf*
gäbe, weldje bas Hedjt unb bie 2TtoraI in ber fittlidjen
XDeltorbnung 3U befdjaffen Ijaben, unterftüfee unb förbere,
unb t>on ber Sitte mußte idj erft bie vexwanbte <2rfd}einung
ber XTiobe ablieben, bie ifyrerfeits midi wieberum nötigte,
ifyren (Segenfa^ 3ur Crad]t 3U bejHmmen. So reifte jtd]
eine Aufgabe an bie anbere, unb als idj fd?ließlidf bei
ber Sitte £|alt machte, um jte einer eingetjenben Unter*
fudjung 3U unterwerfen, über3eugte idj midi balb, ba% es
Bjier in ZDafyrfyeit nodj an allem unb jebem fefyle, baß
idj bie Cljeorie berfelben von (Srunb aus felber auf3u-
bauen tjabe.
Diefer Ojeorie ber Sitte ijl ber weitaus größte Seil bes
porliegenben Zianbes (von Seite \8ty bis 3U <£nbe) gewibmet
unb fie ift mit ifym nod? nicfyt einmal abgefdjloffen, nur ber
äußere (Srunb, ben Umfang besfelben nidjt gar 3U fefyr an*
fcfyweHen 3U laffen, I^at midi beftimmt, bie nod) fefylenbe
wenig umfängliche partie bem folgenben 23anbe 3U über-
reifen.
Den bei weitem größten Seil meiner Ojeorie ber Sitte
VI
Dorrebe*
(5. 257 bis 311 <£nbe) nimmt ber 21bfdinitt über bie Umgangs»
formen in 2lnfprudi, unb idi füfyle, baß in be3ug auf bie
innere (Öfonomie bes gegenwärtigen Banbes fein punft fo
fefyr ber Bemängelung ausgefegt fein wirb unb fo fefyr eine
Hedjtfertigung meinerfeits nötig madjt, als ber weite Haum,
ben idi biefer ZHaterie pergönnt fyabe, 3dj gebenfe meine
Heditfertigung ntet^t burdi J^inweis auf ben IDert besjenigen
3u erbringen, was idi fyter geboten fyabe, idi barf ofyne
Selbftüberfyebung b&ianpten, baß xdi 3uerft liier ber XDiffen-
fdjaft ein (Sebtet erfdjloffen fyabe, bas fie bisher nie betreten
t[ait unb bas burdi bie Ausbeute, bie idi gewonnen fyabe,
ben 2tufentfyalt auf bemfelben pollauf be3aljlt gemacht I^at.
2)ie Unterfudjungen, bie idi in biefer Hidjtung angeftellr
fyabe, gehören 3U ben ergebnisreichen meines gan3en Cebens.
5reilidi audj 3U ben atlermülifamften. Efätte nicfyt ber (Se-
kante, baß idi im Dienfte ber IDiffenfdjaft eine 2trbeit aus*
fixere, bie nie befdjafft worben ift, unb bie bodi getan
werben muß, midi aufrecht erhalten, idi würbe nidit bie
Kraft befeffen fyaben, jahrelang midi einer Aufgabe 3U
wtbmen, bie midi in bie nieberften Hegionen bes täglichen
£ebens perfekte unb midi nötigte, bas Material 3ur Cöfung
berfelben, idi möchte fagen: auf ber Straße unb im Kefyrtdit
3U fudjen, unb ifym eine ebenfo emfige, unserbroffene unb
einbringenbe Beachtung 3U3uwenben, wie idi fte bis bafyn
nur bei ben tjödjften Problemen auf3ubieten gewohnt ge*
wefen war. 2)ie ZlTütjen unb 2lnftrengungen, welche idi
biefer Aufgabe gewibmet Ijabe, 3äljlen 3U ben fdiwerften
Prüfungen meines gan3en £ebens — idi bin unter bem
Drude bes Kleinen unb Kleinften, bas idj 3U unterfudjen
Ijatte, faft erlegen. 2tber idi Ijabe nidit refleftiert, ob es
Hein ober groß war, idj tjabe midi einfadi an ben (Sebanfen
gehalten: bie Jtrbeit muß getan werben, unb wer 3uerft tfp
begegnet unb in ber £age ift, fte befdiaffen 3U fönnen, muß
Porrebe.
VII
fie perrtchten — feine tnbiptbueHe ZTeigung fyat er ber tDiffen«
fd]aft sunt ©pfer 311 bringen.
©b ich nun, wenn man einmal t>ie Aufgabe felber als
in ben Hammen meiner Unterfuchung über bas Sittliche
faltenb anerfennt, bes (5uten 3U piel getan i^abe, iji eine
5rage, beren Beantwortung von Reiten urteilsfähiger Cefer
ich ol\ne Sangen entgegenfehe. 2Ttit allgemeinen (5efichts*
punften ift bei einer £efyre, bie gän3lich erft aus bem Hohen
heraus 3U geftalten ift, tpenig ausgerichtet, es bebarf ber
IDucht bes ZHaterials, um bie <5efichtspunfte 3U begrünben
unb einbringlich 3U machen. 'Darum habe ich ntein 2tugen'
merf unausgefefet barauf gerietet, an detail fopiel gerbet*
3ufd>affen, als ich nur irgenb permochte, nicht, tpeil ich
letzterem als folgern einen IDert beigelegt ^ätte, fonbern
tpeil unb infofern es Zeugnis ablegt für bie Hichtigfeit ber
von mir aufgeteilten allgemeinen (ßebanfen. Unb nicht minber
forgfam unb ängftlich bin ich perfahren in be3ug auf ben
bialeftifchen Ceil meiner Aufgabe: bie genaue ^efifteHung
unb 2lbgren3ung ber Segriffe unb ben ZTachipeis ih*^ fvftc*
matifchen (Slieberung 3U einem ^St^eren (Sanken. 3$ ha&e
meine Aufgabe gan3 fo 3U löfen gefugt, als ob fie juriftifcher
2lrt tpäre, unb ich glaube I^tert>et burch bie Cat ge3eigt 3U
haben, in toelchem VCiafae unb mit toelchem Dorteil fich bie
juriftifche 2Hethobe felbfl bei Singen nicht juriftifcher 2lrt
perroerten läßt; nur ihr glaube ich es perbanfen 3U f ollen,
rpenn es mir gelungen ift, ben pielen Begriffen, bie mir tyet
in ben lüurf famen, tpie 3. B. ^öflichfeit, Dichtung, 2tnftanb,
Ärgernis u. a. m. einen (5rab ber Klarheit unb Sicherheit
3U perleihen, bie fie ben juriftifchen Begriffen nahe bringt
— es fteeft barin bie fpe3iftfche Arbeit bes 3uriften, Ptelfad?
auch eine Dertpertung ber fpe3iftfch*]uriftifchen Begriffe. Jluch
in biefer Hichtung mu§ ich ben £efer barauf porbereiten,
baj$ bie Hefultate, bie ich ihm biete, nicht auf leichtem XOege
vm
Porrebe*
gewonnen fmb, baß ich vielmehr genötigt gewefen hin,
einen umftchtblichen Apparat auf3ubieten. €s hängt bies
mit ber ZTatur meiner Aufgabe 3ufammen. 3n einer anbern
£age befindet pdf ber ZHann, ber ein bereits urbar ge*
madites Cerrain befiellt, in einer anbern, wer es erft urbar
3u machen i[at Cefeterer muß ben Urwalb listen, bie Saum*
tDurseln befettigen, bas <5ejküpp entfernen, minber bilblich:
fehr pieles tun, beffen jener pdj überleben fann. 5ür ben
gewöhnlichen £efer, für ben bie Arbeit als folche feinen Kei3
hat, fonbern bem nur am Hefultate berfelben etwas liegt,
ift es nicht gerabe erfreulich, ben Schriftfteller mit berartigen
2)ingen fich abmühen 3U f etjen. 3ch meinerfeits l^ätte nichts
mehr gewünfeht, als baß ich mein eigner ZTachf olger ge<
tiefen wäre, ich Tratte bann meiner Untersuchung ungleich
mehr ben 2lnftrich bes (51atteu geben fonnen, als es mir
jet$t möglich geworben ift. ÜDie manche Anläufe Ijätte ich
mir erfparen fönnen, bie bloß in ber 2lbfid}t unternommen
finb, um 3U seigen, baß in biefer Sichtung nichts 3U finben
x% baß man beim Suchen eine anbere Züchtung einsufchlagen
hat, um ben nötigen Segriff 3U finben — bas <Lappen unb
Saften auf einem unbefannten Cerrain, um fich erft 3U orien*
tieren — wie manche €inwenbungen h^tte ich nicht auf3u<
werfen unb 3U wiberlegen brauchen, bie niemanb mehr er-
heben wirb, wenn bie (5runbanfchauungen unb Segriffe,
welche es erft ein3uführen gilt, einmal anerfannt, ange*
nommen unb jebem geläufig geworben finb. Kur3 bie erfte
Bearbeitung unb (Einführung einer £ehre fleht unter völlig
anberen (Sefefeen, als bie fpätere Behanblung berfelben, unb
bies bitte ich bei ber Beurteilung meiner Unterfuchungen
nicht außer acht 3U laffen — wer mit fertigen Segriffen unb
21nfchauungen operiert, fann unb foll fid? bei ber Darftellung
burch anbere Hücffichten leiten lajfen, als wer fie erfi 3U be-
grünben fyat, was bei jenem ben Vorwurf ber IDeitläufigfett,
Dorrebe.
IX
öreite, auf jtcfy laben würbe, ift für biefen, wenn er feie
richtige Dorftettung fetner Aufgabe in jtcfy trägt, unb wenn
es ifym barum 3U tun ift, fie grünbltcfy unb erfcfyöpfenb 3U
Iöfen, nicfyt 3U umgeben.
2lHes bas, was icfy bisher gesagt fyabe, besiegt fiefy nur
auf bie 2lrt, wie icfy meine Aufgabe 3U löfeu t>erfucfyt fyabe,
unb ber Sejer fann fiefy immerhin bamit völlig ehwerftanben
erflären, baß fie, wenn jte überhaupt geftellt werben burfte,
in biejer IDeife gelöft werben mußte* 2Iber wie paßte fie in
ben Hammen bes gegenwärtigen IDerfes hinein?
3cfy fyabe fcfyon oben bemerft, baß fiefy letzterer im laufe
b£r Unterfucfyung immer mefyr erweitert fyat, baß bas Hecfyt
miefy auf bas Sittliche, bas Sittliche auf bie Sitte 3urü<£*
warf, Sei festerer angelangt, fyatte icfy, angeficfyts ber
gän3lid?en Un3u[änglicfyfeit beffen, was bie bisherige €tfyif
über jte enthält, feine anbere IDafyl, als ifyr entweber üöHig
aus3uweicfyen, woburefy mein Syftem ber gejeßfcfyaftlicfyen
(Drbnung ebenjo lücfenfyaft geworben wäre, wie es bas ber
gangbaren (JEtfyif in ber Cat ift, ober aber fie oöllig er*
fcfyöpfenb 3U helianidn unb ben Hacfyweis 3U erbringen, ein
wie wichtiges (Blieb jener (Drbnung jte bilbet, Das fyabe
icfy getan. (Db icfy für meine Cfyeorie ber Umgangsformen
einen größeren Kaum beanfprucfyt fyabe, als bei ber gän3*
licfyen Zteufyeit ber Aufgabe unb bei ber außerorbentltcfyen
5üIIe bes ZHaterials unumgänglicfy war, möge ber Cefer
entjcfyeiben, icfy meiner jeits fyabe miefy naefy Kräften bejlrebt,
ben «gweef, für ben icfy letzteres aufgeboten fyabe, unser*
änbert im 2luge 3U befyalten, icfy glaube nicfyts aufgenommen
3U fyaben, was nicfyt 3U ben allgemeinen 3been, auf bie es
abgefefyen war, einen wenn auefy noefy \o wtn3igen Seitrag
jlellte, Diefelben münben fämtltcfy in ben einen (5ebanfen,
ber ben (ßrunbgebanfen biefes Xüerfes bilbet: ben <§wecf.
Überall, jelbft im 2lIIerfleinften unb XTiinutiöfeften glaube id]
X
Votrebt.
betreiben bei ben Umgangsformen nachgewiefen 3U l\abenf
unb baraus benfe ich bemnächft Kapital 511 fdjlagen für
ben Ztachweis bes «gwecfs in ber fittlichen IDeltorbnung.
IDenn bie 2IQgewalt bes gwecfs für bie (Seftaltung ber
gefeQfchaftlichen ©rbnung fleh felbft in ben nieberften He*
gionen bes Cebens bewährt, in benen nach ber lanbläuftgen
Anficht nur ber <§ufaH, bie Saune, bie lüiUfür fyerrjcfyen,
wenn ich liiev, wo es fich um bas fdjeinbar t>ötlig Beben«
tungslofe unb (geringfügige fyanbelt, ben Nachweis erbracht
liabe, ba% ber gwecf alles gemacht fyat, wie fotlte es anbers
fein in benen, wo bie Aufgaben, bie er 3U t>oflbringen fyat,
fich mehr unb mehr fteigern unb ben CBjarafter pon unab-
weisbaren £ebensbebingungen ber (Sefellfchaft annehmen, in
benen ber XlToral unb bes Hechts? ZHit biefer 5*age ent*
laffe ich ben £efer im gegenwärtigen Sanbe; ich Ijoffe, ba%
ich fie nicht umfonft aufgeworfen ^aben werbe, ■ — möge jte
ber Antwort, bie ich im folgenben barauf erteilen werbe, ben
ZDeg bereiten*
Zllit bem gegenwärtigen 23anbe ift bas neunte Kapitel,
mit bem er beginnt, noch immer nicht abgefchloffen, ber
folgenbe wirb noch ein gan3 beträchtliches Stücf besfetben
nachbringen liaben. <£in Kapitel, bas fich über 3wei Bänbe
hinsieht! Qa% ich bamit ein literarifdj » ^iflorif d?es Unifum
gefchaffen liabe, ift eine Catfache, gegen bie ich nichts ein«
wenben fann; ein folches Kapitel ift bisher fchwerlich je
bagewefen unb wirb auch wohl nie wieber gefchrieben werben.
H?äre es mir barum 3U tun gewefen, bem tEabel, bem ich
mich bamit ausgefegt liabe, aus3uweichen, ich h^tte es leicht
erreichen fönnen, inbem ich <w geeigneten Stellen neue
Kapitel gemacht unb bas erfie 231att bes 'Banbes burch
einen Karton mit x>eränberter 3nhaltsangabe bes neunten
Kapitels t^ätte erfefeen laffen. XDeun ich nid?t getan habe,
fo ha* öies feinen (Srunb in ber 2Ibftcht, bie midi bei meiner
Porrebe»
XI
Kapiteleinteilung in tiefem IDerfe geleitet Ijat, unb über
bie ich mich fchon in ber Dorrebe 3um erften öanbe (S. VII f ,)
ausgefprochen fyabe. 2T£eine Kapiteleinteilung ift nicht ber
äußeren Hücfftcht auf angemeffene 2tbrunbung entlehnt, fon*
bem fte fyat bie öeftimmung, ben bialeftifchen 5ortfchritt bes
§we<Ss in bem 2lufbau ber fittlichen HMtorbnung 3U Der«
anfehaulichen, jebes Kapitel umfaßt ein innerlich abge*
fchloff enes <San3e, unb biefer inneren Hücfficht gegenüber
habe ich bie äußere gän$Iidj surüeftreten laffen* So ift es
fchon im erften Sanbe gefchehen, innerhalb beffen bas fiebte
Kapitel ftch pon 5. bis \8\, bas achte fleh t>on 5.
bis 4^5 erftredt, unb fo ^abe ich es auch in biefem Sanbe
mit bem Kapitel über bas Sittliche gemacht Durch bie
<£inrid}tung, welche id? bei jenen beiben getroffen, unb bie
ich I|ier beibehalten fyabe: bie Hummern unb Überfdirif ten
über bie ein3elnen Unterabteilungen habe ich in anberer $oxmf
bie gewöhnlichen Kapitel erfefct, unb id? fyabe auf biefe
logifche (Slieberung bes ein3elnen bie allergrößte 5orgfaIt
serwanbt, ich glaube nirgenbs einen Sprung gemacht, ftets
sielmehr bie Übergänge t>on einem (ßebanfen 3um anbern
nicht bloß angegeben, fonbern als uotwenbig motiviert 3U
haben. 5ür bie richtige logifche Reihenfolge unb Derfettung
meiner ein3elnen Hummern ■ — ber Kapitel im gewöhnlichen
Sinn — unb bie barauf fich au^banenbe innere 21rchiteftontf
bes gan3en neunten Kapitels übernehme ich in eben bem
JTlaße bie Verantwortung, wie ich bie Benennung bes lefe*
teren als Kapitel bem billigen Cabel ber jenigen, bie an
biefer ungewöhnlichen Derwenbung bes Hamens 21nftoß
nehmen, preisgebe. 3n biefer Hichtung fcheue ich ben Der*
gleich mit Büchern, bei benen bie äußere Kapiteleinteilung
nichts 3U wünfehen übrig läßt, fo wenig, baß ich ftc fogar
herausforbere; bei manchen berfelben fyabe ich bas (5efühl
gehabt, baß biefe (Einrichtung nur ba3u bient, bie Catfache
XII
Porrebe*
3U t>erbecfen, baß ber $aben ber logifcfyen (SebanfenentoicF*
lung bem Derfaffer abgeriffen ift — er fylft fidj, inbem er
ein Kapitel madjt unb einen neuen 5<*ben anfnüpft, ofyne
baß ber £efer 2tus?unft barüber erhält, tx>ie berfelbe bas
(Sefpinjl fortfefct, bas Kapitel ijl ber Hetter in ber TXot, —
in ben 21ugen bes Kunbigen, ber bie innere, nidjt bie äußere
(Slieberung ©erlangt, gleidjbebeutenb mit ber Sanferotter*
flärung bes Senfens.
Sie bem Sucfye üorausgefdjicfte betaillierte unb mit
XTummem serfeljene 3nl?altsangabe toirb ben £efer inftanb*
fe&en ftdj über ben ftreng logifdjen (Sang meiner (Sebanfen*
enttx>icflung 3U unterrichten. Sie foH ifym nidjt als bloßer
JDegtr>eifer bienen bei bem langen (Sange, ben er mit mir
ansutreten ^at, fonbern fie foQ tfyn nadj 2lrt bes <5runb*
riffes eines (Sebäubes ben logifdjen 2lufbau bes (Sanken in
einer IDeife t>eranfd}aulidjen , baß er baburd) nicfyt bloß
inftanb gefegt roirb, bie Hidjtigfeit bes planes 3U beurteilen,
fonbern baß er, tr>enn er fidj benfelben in feinen großen
Umriffen eingeprägt fyat, als probe auf bie tfym von mir
nachgerühmte fiigenfdjaft ftreng logifdjer <£nttx>tcftung in ber
Cage fein muß, bei etwaigem fpäteren Suchen nach einem
ber fielen r>on mir berührten punfte genau bie Stelle an3u«
geben, too berfelbe fich finben muß.
Wie im porigen Sanbe, fo fyabe ich auch im gegen*
roärtigen ber Sprache eine gan3 außerorbentliche Beachtung
gefchenft. Über bie Autorität, welche fie in allen etfyfdjen
Singen beanfpruchen fann, l\ahe ich mich im Suche felber
(S* \2ff.) geäußert. 3ch glaube es nicht bebanexn 3U follen,
baß ich fiets in erfter Cinie fie um 2lusfunft angegangen
bin, jte ha* mir biefelbe faft nie perfagt, tt>ot)l aber umge*
!ehrt mir nicht feiten 2luffd)lüffe gewährt, bie mich mit tx>afyrem
Staunen über ben ©effinn ber Sprache erfüllt haben, 3ugleid?
freilich auch über bie 2tchtlofigfeit ber IPiffenfdjaft, bie an
Porrebe.
XIII
ben am IDege liegenden diamanten vorübergegangen ift, als
mären es Kief elfteine. Cerne beim Dolfe f elber, rote bas
£>olf benft unb fühlt ■ — bas ift bie XHafime, bie ich bei
biefem ZDerfe ftets unverrüeft im 2luge behalten h<*be unb
behalten tverbe; bie bamit gewonnenen Befultate tverbeu
teuren, ob ich tvohl bavan getan habe, mich von ber Autorität
ber bisherigen tviffenfdjaftlichen £ehre unb ZHethobe I0S3U»
fagen unb beim Dolfe, b. i. bei ber Spraye in bie £efyre
3u gehen.
Der Umftanb, ba§ mein IDerf fiücftveife erfcheint, verfefct
mich öer Kritif gegenüber in eine ungünfiige £age, biefelbe
fann nicht anbevs als nach ben Daten urteilen, bie ihr 3ur*
3eit vorliegen. Siefes Urteil aber ift, fotveit es fich nicht um
irrige tatf ach liehe Behauptungen von mir, fonbern um meine
(Srunbauffaffungen lianbelt, fein 3utreffenbes. (£rft tvenn
bas &>erf fertig vorliegt, iji für fie ber <§eitpunft gefommen,
um 3U ben 2tnfid?ten, bie ich in bemfelben vertrete, Stellung
3U nehmen, es tvirb fich bann 3eigen, ba§ Unterftellungen
unb <£\nwenbün$en, bie man gegen mich bereits jefet vor-
schnell erhoben h^ fich in nichts auflöfen. laffe feinen
(ßebanfen in meinem IDerfe früher auftreten, als ba, rvo er
fyftematifch feine richtige Stelle fmbet. Den Schein, ba§ ber*
felbe mir fremb fei, muß ich fo lange über mich ergehen laffen,
bis ber richtige 2Tloment gefommen ift, ihn 3U befeitigen; bis
bahin mu§ ich nur bie Belehrungen unb Berichtigungen von
feiten voreiliger unb fur3fichtiger Kritif er fchon gefallen laffen.
Diefes Cos tvirb mir gan3 befonbers blühen in be3ug auf
meine gurüefführung bes Sittlichen auf ben <5e(tchtspunft
bes gefellfchaftlichen (objeftiven) Utilitarismus. 2Tfan tvirb
ihn mit bem abgeftanbenen oben inbivibuellen Utilitarismus
vertvechfeln unb mich fchlanftveg 3um Utilitariften im lefeteren
Sinne ftempeln, bis im britten Banbe bie partie über bie
ethifche Selbftbehauptung unb ben etfyf chen 3^ltsmus 3eigen
XIV
Dorrebe*
wirb, ba§ noch ntemanb bisher bie 5ahn* bes ibeal Sittlichen
auf fo feftem (Srunbe bef eftigt ha* tsie ich. ZDorauf ber
S>fvd7ologtfd7e gtoang 3um Sittlichen beruhen foH, habe ich
auf (Srunb ber bisherigen ethifchen Debuftionen noch nie
begriffen — ich meinerfeits E^off e , benfelben in einer XDeife
begrünben 3u fönnen, toelche mit berfelben über3eugenben
Kraft aus ber realen JDelt bie praftifche Zlotroenbigfeit bes*
felben naebroeift (Celeologie bes Sittlichen), n>ie bie formen,
in benen er fich x>olt3ieht (foiales gtoangsfYftem) 3ur 2In*
fchauung bringt.
(Böttingen, ben 22. Jluguft J883«
Kubolpty von 3^ering*
TXns ber Porrebe 3ur jt^etten Auflage*
3cf? fann biefes Voxwoxt mcfyt fdjliegen, ofyne bes einen
ber beiden ZHänner 3U gebenfen, beren Hamen biefer Banb
an ber Stirn trägt*), 3ulius <5lafer ifi nidtf mefyr; am
26, T>e3ember porigen 3afyrcs fya* *n 5üIIe
ber Kraft unb in bem raftlofen unermüblicfyen Drange bes
Staffens plöfelicfy bafyingerafft. Zfixdi traf bie Ztacfyricfyt n>ie
ein Donnerfcfylag, Ztie im £eben Ijat micfy ber Cob eines
5reunbes, fo tief erfcfyüttert, es tr>ar mir, als ob mit biefem
^reunbe ein StucE meines eignen Wersens ins <5rab gefenft
fei. IDas fein Paterlanb (Öfterreicfy an ifym perloren, 3U
beffen ebelften unb begabteften Söhnen er 3äfylte, unb bem
er in feinen r>erfd)iebenen Stellungen: 3uerft als Celjrer bes
Strafrecfyts an ber ^ocfyfcfyule XDien, bann als 3ufti3m*nißer
unb {d}lie§licfy als (ßeneralprofurator am oberften (Seridjts*
fyofe unfcfyäfebare 3)ienfte geleiftet tjat, toelcfye im banfbaren
2tnbenfen ber Ztacfyioelt ftets fortleben toerben, überall ein
ZHufter ftrengfter pflichttreue unb sotlfter Eingebung an feinen
Beruf — roeldje (Einbuße bie lUiffenfdjaft bes Strafrecfyts
an ifym erlitten t^at , bie in ifyn einen ber toenigen 2lus*
ertoäfylten befaß, ber mit ifym über bas getsöfynlicfye ZTfaß
weit fynausreicfyenben <£igenfcfyaften bes Cfyeoretifers bie
*) DergL bie Semerftmg bes Herausgebers in ber Dorrebe 3U bfefer
neuen Ausgabe (Sanb I Seite III), unb bie Scfylugtporte obiger Dorrebe
unten Seite XIX.
XVI
Dorrebe,
Do^üge eines Ijerporragenben praftifers perbanb — bas
aus3ufüfyren tft lieber btefes (Drts, nodf bin id?, ber Ztidjt*
öfterreicfyer unb ber <gir>ilijl, ber berufene ba3U*). 2lber was
ber ZHenfdj war, xxrxb was 5er 5reunb bem 5reunbe geroefen,
bason glaube idj in bem Donx>ort 3U einem öucfye, bas einft
als 5reunbesgabe in feine fjanb gelegt toarb, öffentlich Zeugnis
ablegen 3U dürfen.
3d] perbanfe meine öefanntfdjaft mit (ßlafer bem erften
3urijlentage, es wav 5er berliner pon \8<50. £jier mar (Dfter*
reid} burcfy eine Heifye fyerporragenber ZTcänner oertreten, unter
ifynen (Blafer unb Unger, unb mit beiben fnüpfte jtd? t^ier
bereits ein Derfyältnis ber £>ertraulid}feit an, bas fid} auf
ben fpäteren 3uriftentagen mefyr unb mefyr befeftigte unb \xd\
fcfyließlicfy 3U einem innigen 5reunbfdjaftsperfyältnis gefaltete.
3er 3uripcnia9 in lüien führte midi \8<52 aud) in bas
(ölaferfcfye i}aus, bie pf orten tparen toeit geöffnet, unb als
idj pier 3a^e fpäter nadj ZDien gerufen umrbe, roarb biefes
£;aus mir faft u>ie bas eigene. <£s war eine Stätte bes
größten Ijäuslidjen (Slücfs. (Slafer ftanb eine 5rau 3ur Seite,
beren gan3es £eben unb Sein, Sinnen unb Denfen in bem
IHanne aufging, eine IDteberfpiegelung feiner felbft, gleid} ifym
bie Derförperung bes iDofytooüens unb ber f^e^ensgüte,
unabläffig bemüht anbern 3U Reifen unb 3U bienen, gleid)
ifym fcfylidjt, einfad], natürlich, Reiter, offen, waty, wie es
nur tpafyrljaft eble unb gute Ztaturen fein fönnen. Was
perbanfe idj biefen beiben ZHenfdienl Zfieine £r inner ung
an IDien ift für immer mit bem (Sebanfen an bas (ßlaferfcfye
*) 3n metftertjafter IPeife tfl bas 23tlb feines Staffens unb UHrfens
unb fetner perfönlid?fett auf a>emg Seiten von feinem älteften unb oer-
trauteften Jreunbe Unger in feinem Hadjruf an 3ulius (Slafer, tPien
bei (Serolb, (886 enttuorfen, einen anbern umarmen Hacbnif tyat ifym
Santa, profeffor in präg, in ber jurtftif d?en riertelja^rsfd^rtft,
(Drgan bes beutfd?en 3uriftem>ereins in präg, (886, 3* X ff^ geanbmet.
Porrebe«.
XVII
X}aus serfnüpft unb biefer rtneberum mit bem (Sefüfyle ber
größten Danfesfdiulb,
Das tüar mir ber5*eunb! 3d? fonnte ifyn n\d\t 3etd}nen,
ofyne in ifym bereits ben ZTTenfdjen 3U fd^ilbem* (Slafer
gehörte 3U ben feltenen Staturen, bie man nicfyt fennen lernen
fann, ofyte fte lieb 3U gewinnen. €ine rjersgetrnnnenbe 5reunb*
licfyfeit, eine fonnige Ejeiterfeit, erquiefenb u>ie ein ladjenber
^rüfylingsmorgen, ein 2luge, offen in bie IDelt bliefenb, flar,
burd)ftd}ttg roie bas friftaüfyelte ZDaffer in einem 211penfee,
ein geller Spiegel gleichmäßig ber Beinfyeit ber Seele, roie
ber Klarheit bes (ßeiftes, nie getrübt burefy bas 2luflobern
ber Ceibenfcfjaft, aber nidjt feiten leud]tenb im <Slan$e gut*
mütigjler, faft finblidjer Sdjalfhaftigfeit — bas roaren bie
fiigenf djaften bes äußeren ZHenfdjen, bie jebem beim erften
2tnbli<f entgegentraten, unb bie it)m fofort bas Pertrauen
gewannen unb bas ^er3 erfdtfoffen* Sein Benehmen roar
gegen alle oljne Hnterfdjieb bes 3,ar\Qcs unb Stanbes bas
gleiche, überall basfelbe root|IrooHenbef freunblidje, fdjlidjte,
einfache JDefen. Wie rnele würben tr>oBjl bie probe beftanben
traben gleich ihm, ber t>on jübifcher fjerfunft unb in f leinen
Perhältniffen aufgetoachfen, bie Ungunji ber Derhältniffe
lebiglich burch eigene Kraft befiegenb, alles allein fich felber
r>erbanfenb, als noch nicht X?ie3tgjähriger 3U ben höchjien
Staatsftellungen , 3uerft ber eines ZHinifterialbireftors im
Kultusmini jterium, bann 3U ber eines 3ufti3minifters empor*
flieg, ausge3eidjnet r>or vielen burch bas gan3 befonbere
IDot|lrDollen feines ZHonarchen. Stets blieb er ber gleid^e,
ftets behauptete er basfelbe einfache, anfprudjslofe JDefen —
ben ZHtnifter B|at man bei ihm nur gemerft an bem, roas
er leiftete. Daran allerbings aber um fo mehr. Die Straf*
pro3ejjorbnung r>om 3al|re \873, bie alle bis bahnt por>
hanbenen gefchlagen bat, ift fein IDerf, in ifyr hat er fleh
ein unvergängliches Denfmal gefegt Die 2lrt, roie er fein
XVIII
Porrebe»
Amt verwaltet hat, ift über alles £ob ergaben. £}öd?flc pflidjt*
treue, unermübliche Arbettsfraf t , überlegene Sachkenntnis,
eine feiten e Ceidtfigfeit unb Hafchhet* ber Auffaffung, Klar*
£jeit bes Denfens unb Schärfe bes praftifdjen Bticfs, §u*
gänglichfeit gegen frembe Anflehten unb Un3ugänglichfeit
gegen aGe ungehörigen Beeinfluffungen, t>oHenbete Unpar*
teilichfeit unb <5ered]figfeit, fur5 alles vereinigte ftd? in
ihm, um feine Amtsführung 3U einer wahrhaft muftergül*
tigen 5U ergeben. Die (Serechtigfeit, beren Bjöd^ftcr Der*
treter er amtlich toar, war an&i perfönlid] in ihm $lex\d\
unb Blut geworben. Der Huf, ben (Blafer, als polt*
tifche ZDanblungen feiner bisherigen Stellung ein €nbe
matten, mit in bie neue: bie eines (ßeneralprofurators am
höd]ften (Seridjtshofe übernahm, toar flecfenlos rein, vor
feiner per[önKchfeit perftummte auch bie gehäffigfte Derbädv
tigungsfucht.
Das Urteil, bas ich h^r miebergegeben habe, toar bas
ausnahmslos allgemeine: ein (Zfyaratter, ber fich in allen
Cebenslagen bewährt fyat, immer fich gleich, tourselnb im
fefien fittlichen <5runbe, ftets von ber reinften (ßefimtung
befeett, bem (Bemeinen unb Uneblen un3ugänglich, feine gan3c
Kraft bem Daterlanbe, ber XDahrh^it unb ber IDiffenfchaft
mibmenb, nie an fich benfenb, nie über fich bie 5ad?e aus
ben Augen laffenb, ohne 5alfch, ohne Citelfeit, ohne einen
anbern <£rgei3, als ben 3U toirten in ber IDelt, nie nach An«
erfennung unb €h*en ftrebenb — bie <£fyren $aben xfyx auf*
gefucht, nicht er fie.
Das war ber XHann, unb man tsirb es jefet r>erftehen,
wenn ich fagte, jeber, ber ihn fannte, mu^te ihn lieben.
3h" 3H meinen näheren 5^unben gesählt 3U liaben, be*
traute ich als eine ber tsertüollften Fügungen meines gatt3en
Cebens, feinen früh3eitigen Cob als einen ber fditoerften
Schläge, bie mich ie in meinem ^reunbesfreife betroffen
Dorrebe*
XIX
tjaben — er Ijätte mid], nidjt xd\ iB^n überleben f ollen* So*
lange biefes mein Sud) nod? gelefen toirb, f ollen biefe geilen
bem Cefer serfünben, was mir ber Ztiann, beffen Harne bas
Stoeife Blatt stert, gercefen ift
(Söttingen, am 2flär3
3ttf}altsper3£tcf}ttis
6es 5u?etten Ban&es*
Kapitel IX.
Das Sittliche,
0 Unzulänglichkeit von £ofyt unb «gmang für bte gofung bes
fogtalen Problems 3
2) poftulat anberer ITCotine 9
5) Catfächlichfett berfelben — bas Sittliche — fpradjltdjer ttfeg
3ur feftpeüung bes Begriffs 9
I. Die ^Husfagen 6er Spradje über öas Sittliche.
Die Autorität ber Sprache in Dingen bes Sittlichen \2
5) Die Sitte ber fpracfyltdje 2lusgangspunFt — bte urfprüngitcbe
IDortbebeutung t>on Sitte \ 16
6) Sprachliche 2fbgren3ung ber Sitte von ber (Setpofmhett t # m ^
Das ttloment ber allgemeinen Horm — (Srmtb ber t>erbtu*
benben Kraft ber Sitte — Sitte unb (SetDofmfyeitsrecbt
7) Sprachliche 2lbgren3ung ber Sitte vom Sittlichen 22
«Segenfat) r>on (form unb Inhalt bes ^anbelns — 2Jus*
brücfe für erftere (formen, ITCanieren, 2trt u* a.) — bas ctftlje*
tifche Ittoment ber form (2lnjtanb, decus, <Sxa$\e, ^ulb, £ieb*
rei3) — benehmen, XDefen im (Segenfatj 3u Charakter — - bas
lln^ianos* ober Schief lichfeitsgefü^l im (Segenfa^ 311m Sittlich*
MtsgefuhL
8) Steigerung bes erfteren 3um CaFt 55
ilrteilenbe unb prafttfebe $nn?tion betber (Befühle — letztere
== (Taft unb (Seariffen*
9) Die Sitte — fortfehrttt bes fprachlichen Deutens feit bem
Altertum • 53
Allmähliche fpradjliche Schetbung t>on Sitte, Sittlich feit, Hecht
3ntjaltst)er3eidjttis#
XXI
Seite
— (kriechen (St*?)), Homer (fas, jus, mores), (Sermanen (Hecht
— ITIoral — Sitte)*
{0} Das Sittliche — bie 2lusfagen ber Spraye — bas Verhältnis
bes Sittlichen 3ur Sitte $5
2Irmut ber Sprache in be3ug auf bas Sittliche — fittltch,
tnoralifd}, ethifcf? -— (Semetnfamfeit bes tlrfprnngs bes Sitt-
lichen unb ber Sitte — Perfekt eben^eit ber (Seltung; lofale
unb nationale Befdjränftheit ber Sitte (Volfs-, £anbesfitte),
Allgemeinheit bes Sittlichem
XX) Das Verhältnis bes Sittlichen 3um «gtpeefmägigen 49
Die Horm für bie gu>ecfe unb bie 3mpÜ3ierung ber mittel
burch ben groeef — Verantmortlichfeit bes IVülens für bie
XPahl ber richtigen mittel, (Einfluß bes XVillens auf bas Denfen
— bie Denffaulheit (culpa) — fittliche Veranttportlichfett bafür*
X2) Das Verhältnis bes Sittlichen 3um Egoismus 55
Das Set$en ber gwede bes 3chs — bie tienfehe Sphäre
(Selbfterhaltung) — bie menf deiche: Selbftfucht, (Eigennutz
(Egoismus ((Einheit üon Selbstbehauptung unb Selb jtbemugtf ein)*
Das hinausgehen ber §n>ecfe über bas 3^ Selbftlofigf ext,
Selbstverleugnung* — Das 3dj nicht bas §u?ecffubjeft bes
Sittlichen»
X3) (Segenfafc t?on ftttlich unb unfittlich 61
Hegatioe Jorm bes (Segenfat$es — Unter) chieb besfelben
von bem bes ftttlich Gebotenen unb Verbotenen — bas nnfifo
liehe Unterlaffen einer IVtllensaftton*
XVj Das (Erlaubte — bas groeeffubjeft bes Sittlichen 66
Das (Erlaubte ber Sprache 3ufolge bas ein3ig mögliche Xiüttel*
glieb 3U)ifchen bem Sittlichen unb Unftttltchetu — Das 3<h ber
Sprache 3ufolge nicht gtoecffubjeft bes Sittlichen — ebenforoenig
(Sott — bie (Sefellfchaft*
IL Das Sittliche als ©egenftanö ber nnffenfcfjafts
liefen Unterfudjung*
X5) Die tDiffenfdjaft — plan ber Unterfuchung — Die brei Kar*
btnalf ragen ber (Ethtf — Das gefdjichtlich'gefellfchaftliche Syftem
ber (Etljtf — Die (Ethtf ber gnfunft 74
Der (Segenfat5 bes objefttt» unb fubjeftto Sittlichen (ber fxtt^
Uelsen Hormen unb bes fittlichen XVillens) — Die txxxatx ftd?
p. 3 Ii er in g, Der gmeef im Hedjt. II.
xxn
3nhaltsr>er3eidmis,
Fnüpfenben brei Karbinalf ragen ber (Ethtf : ber Urfprung ber
XTormen, ber ,§tr>ecf berfelben, bie D er unrf lidmng berfelben
burd? ben IDillen — plan ber folgenben Unterfucbung.
Beibehaltung ber imperatioifchen f orm bes Sittlichen — Die
fUtltcfye Horm Fein inneres (Sefetj bes Subjekts fonbern ein
äußeres (Sebot ber (Sefellfchaft — Der gefellfchaftliche gmecf
bte Quelle aller ftttlicfyen Hormen — (Segenfat$ ber gefd?id?t*
liehen unb natioifttf d?en Ct^eorie — Die tjiftorifcfye Btlbung bes
fittltd?en Hillens burd? bie (Sefellfchaft — Ungefcbichtlicher
Cbarafter ber bisherigen <Ethif\ — Die brei Stanbpunfte: ber
pfycfyologifdje, ttjeologifcfye, gefd>id?tlia^e — Die (Etln! ber
gufunft,
€rficr abfcf?mtt.
Die Celeologie bes objeftio Stttlid?en*
M>) Die möglichen «gmecffubjefte bes Sittlichen
Die gtuecffrage beim Sittlichen — <Segenfat$ bes objeftioen
gtuecfs unb bes fubjeftioen ITCotios beim Sittlichen — 2Jus<»
fcheibung bes letzteren — Die <§tr>ecFfrage gelegen in ber nach
bem <5ti>ecffubjeft — (5ott? — Das Cier? (Tierquälerei) —
Der IHenfcb? — Das 3nbioibuum als <§ti>ecffubjeft QtoafyU
bie inbbibualiftifch^teleologifche Cheorie — Kritif berfelben —
gän3liche Unhaltbarst — Die (SefeHfchaft bas ein3ig mögliche
gtbecffubjeft.
47) 5)^ ^ortfchritt r>on ber inbiütbualiftifchen 3ur gefellfcbaftlichen
Cheorie ,
Die erften 2Jnfät$e (£eibni3, Kant, Bentham) — Die So3ial*
ethif r>on 21. von (Dttingen*
IS) Die gefellfchaftliche Cheorie — Begrünbung berfelben auf
bebuftbem XPege — Die gefellfchaftliche (Drbnung — Differen3
bes objeftto unb fubjeftir» Sittlichen — Der Selbfterhaltungs*
trieb ber (SefeUfchaft — - gefellfchaftlicher (Egoismus — (Euba*
monismus — Utilitarismus — Der IHagftab bes gefellfchaft*
lieh nützlichen
Debuftion ber Cheorie aus bem Begriffe bes <5an$en —
Die poftulate, bie (Drbnung, bie Hormen, ber <gn>ang — lln*
3ulänglichFeit ber Hechtsorbnung — €rgän3ung burdj bas Sitt*
liehe: bie ftttltd?e (Drbnung, bas Sittengefet}, bas fo3iale ^man^s*
fvftem — Kongruen3 bes Sitrengefet$es mit ber objeftto fttt-
3nl}altsöer3eicfyms*
XXIII
Seite
liefen (Drbnung — Der (Egoismus tm Dienfte besfelben, fjer*
Porträten bes leiteten, wo jener t>er|agt.
Debuftton ber (Theorie aus bem Begriffe ber perfott —
Die (SejeUfcfyaft als lebenbes IDefen — Die £ebensbebingungen
berfelben unb bie 2lnforberungen ber Selbfterbaltung — Das
Sittliche unter bem (Seftcfytspunfte bes (Egoismus ber (SefeU*
fcfyaft — (Einheit ber IDeltorbnung tm (5ebanfen ber (mbim*
buellen unb getellfdjaftltcfyenj Selbstbehauptung — Steigerung
bes gefeHfd}aftltd?en (Egoismus sunt (Eubämonismus — Heia*
ttoität bes IHaßftabes — Beredjttgung des Strebens naa? Woty*
fein — Die öffentlid?e jfreube (bie fefte).
Der gefellf d?aftlia> Utilttarismus als ettyf d?es Syrern —
Ittagftab bes gefellfd?aftlid? ZTüt$lid}en; bas Dauernbe tm (begen-
fat^e 3nm Doriibergefyenben unb bie Htdjtung auf bas <San3e
im (Segenfa^e 3U ber auf ben Ceil.
19) Die (Srunbbegrtffe ber ftttlicfyen 8?elt im £icfyte bes gefellfcfyaft*
lidjen Utilttarismus . . ... 168
!♦ Der <Segenfat$ von gut unb böfe,
2* Der du genb begriff,
3. Der pf(id?tbegriff,
Die (Seredjtigfett.
20) Das gtueefmoment ber ^talen ^mperattoe 180
1) Die IKobe 180
Begrtffsbefitmmung — Unterfdjieb von ber Cradjt — Das
fo3taIe XUottD ber ITCobe: bte 2lbfa^etbung ber Stäube»
2) Die Sitte 189
Die (Theorie ber Sitte*
1) Begrifflicher Unterf dn'eb ber Sitte r>on ber (Semofmljett. ... 190
2) (Erhebung ber (Serootmlieit 3ur Sitte (£eid?enfdjmäufe, (Erinf*
gelber) 192
3) Das ^erabftnFen ber Sitte 3um praftifdj bebeutungslofen Brauck
(gutrinfen) 196
Die fdjledjte Sitte ober bie Unfttte (Duell) . 197
5) Die gute Sitte 200
Un^ulänglidjfeit bes äftfyetifdjen <Seftdjtspun!tes — prafttfa>
etfyfdje Bebeutung berfelben — fyeuriftifdje Ermittlung ber*
felben — Das lüeib im Sdmt$e ber Sitte, bie SittfamFeit als
Sdnrmertn ber Sittlid^eit.
XXIV
3nl|altsüer3etd?nis»
Seite
Das IPefen ber Sitte — Die brei d?arafteriftifdjen güge ber*
felben; l) innere Derfdjiebenfyeit von ber Hloral — 2) proptjv*
laFtifd^er gmecf; bie Sitte bie Sidjert|eitspoli3ei bes Sittlidjen
— 3) Sofalifation berfelben im (Segenfafee 3nr IKoraL
Erprobung bes gewonnenen Hefultats — Der Streit unter
(Sebilbeten unb Ungebilbeten, Sicherung bes friebüdjen Derfefyrs
burd? bie Sitte — Die Sonntagsfeier; poftttoer &wed berfelben
im (Segenfatje bes bloß negatfo propl^Iaf tif d?en — guf ammen*
faffung beiber gn>ecfe unter ben (Sejidjtspunft ber ftttlia>
abminifnlierenben (funftion ber Sitte*
6) Die Syjiematif ber Sitte 2\7
(Segenfätje* 3n fo3i*g auf ifjren IPert; bie böfe, bie foial*
tnbifferente, bie fo3ial*u>ertr>ofle Sitte* — 3« fc*3ug auf \b\xen
3nt|alt; (geben unb (Eun (präftattons* unb perfona^tvang
ber Sitte)»
I. Der präflattons3»attg — Die fatalen Derpfltdj*
tun gen 22#
X* Der £iberalitätS3u>ang (bas 2lnftanbsgefd}enf, munus).
2* Der Solutions3tt>ang (Spielf Bulben, (Erinfgelber)»
3* Der gen>irtungs3tpang*
n. Der perfona^mang 22?
Das Benehmen — &tved ber SSefdjränftutgen in bt3ug auf
basfelbe: felbftnüt$iger, frembnüfeiger,
7) Die allgemeine (üolfs*) unb bie parttfulä're {Stanbts*)Sitte . . 23*
(Erftrecfung ber Sitte über alle (Sebiete bes £ebens — Der
Stoff ber Sitte in (Seftalt bes Hedjts — Die öffentlidje Sitte
(parlamentarifdje); bie frrd?lid?e; bie T>ölferred?tltdje.
Die Stanbesfttte — (Dffaiere (Duell — 2lbfdn'eb), minder
(Hücftritt), (Seiftlidje*
23efonbere Husfdjeibung breier Stücfe ber Sitte 3ur näheren
23etrad?tung; ber (Eradjt, ber Umgangsformen, ber gef eiligen
Hepräfentation*
8) Die dradjt 2*5
begriff unb 2lrten; Dolf straft — männlid/e unb tpeiblidje
Cradjt — (Erauer- unb ^ejtfleib — ^ImtsUadjt — praftijdjer
^nhaltsse^etcfmis»
XXV
Seite
9) Die Umgangsformen 257
Bebürfnis ber anffenfefy af tücfyen behanblung — Der Ilmgang
— Unterfdjieb t>om Derfefyr — Der Umgang eine feciale 3n*
fiitution unb eine feciale Pflicht — Sicherung bes Umgangs
burd? bie Sitte — praftifcfyer IPert ber Umgangsformen —
etl]tfd?er €influ§ berfelben auf ben Ittenfdjerr — (Drganifation
bes Umgangs burd? biefelben — XTCöglichfeit unb Hota?enbig?ett
einer Cfjeorie berfelben»
Die Cfyeorie ber Um gangsf ormen,
XO) n^iffenfcfyaftUdje Kritik ber Umgangsformen — echte unb un*
echte 2Xnftanbsregeln 275
Der IHagftab — Das guütel unb gutoeuig (Kappen unb
Komturen ber Sitte)»
XX) Die UTagftäbe ber feine* Sitte; Anftanb, Höflichkeit, Caft . . 280
Unterf cbeibung berfelben feitens ber Sprache — Sprachliche
Umgren3ung ber brei Dorftelhmgsfreife — begriffliche Untere
fcfyeibung berfelben — (Segenfafe bes 2Jnjfanbes unb ber I}öf=*
Itcbfeit — UToment bes Abfohlten unb Kelatit>en, bes Hegattoen
unb pofittoen — HTögltcf^feit ber (Srabation bei bem 2Jnjtanb
nad? ber negativen, bei ber I}öflich?eit nach ber negattoen unb
poftttoen Seite — pfych ologif djes 2(useinanberfaöen bes (Segen*
fat$es (^ran3ofen, (Englctnber)»
I. Der 2Inftan&.
X2) Der Anftanb . 500
Hegattoer <gu)ecf; fernhaltung bes Zlnftögigem
X* Der begriff bes Anftößigen ZOX
jnneres unb äußeres UToment — XPahrnehmbarfeit — bie
Hotlage — bas öffentlich Anftößige — 3beale Konfurren3 bes
öffentlich 2lnftögtgen mit bem Unmoralifchen unb Hechtsunbrigen
— bas Ärgernis»
2» Der Ittagjtab bes 2Jnftö§igen 5U
Mgemeingülttgfeit bei Subjeftioität unb Belattüität besfelben
— • Übereinftimmung unb Abweichung bei serfchiebeuen Dölfern
(2lnatogie bes jus gentium unb jus civile) — Coleratvj bes
nationalen Anftanbsgefühls (KonnfoenäfäHe aus alter unb neuer
2>eit — bas Hauchen)»
XXVI
Seite
5) Die Kategorien bes ^Inftögigen 322
JU Das fiunlidj 21nftö§ige 325
Das unmittelbar unb bas mittelbar finnlidj 2Jnftögtge (<EfeU
ftafie).
2. Das äftfjetifd? 2Inftö§ige 330
a) Der menfdjlicfye Körper — Die Beihilfe ber Kunft.
b) Die Kleibung*
c) 23efriebigung bes leiblichen Bebürfniffes — tierifd^e anb
menfdjliche (Jorm — Spijettf bes Iffens unb Crtnfens
— tyjlorifdje <£ntvo\d lung ber formen bes XHatjles, Über*
gang r>om Kommunismus 3um 3«°i^iöualismus,
d) Die Sprache — bte Sprache bes pöbels — bie ifrembtpörter*
3* Das patfyologifdj 2lnftö§tge
<£inurirfung bes £eibes, bes £eibens, ber £etbenfdjaft auf
anbere — (femfjaltnng ber fympatt|if djen (Sefüfylserregung
— ber antipatfn'fdjen — bie üble £aune — bie fjeftigfeit —
ber (Eflat, bie S$ene — bie 23ered}tigung ber £eb^afttgfeit*
% Das feruell 2lnjtö§ige (bas 3tibe3ente) 36$
praftifcfyes ZHotto feines Verbotes— <Sreit5en besfelben —
bas 3nbt$ente ößS etl]tfd)e Chamäleon*
IL Die ^öfiic^fctt
13) Die X}d'flid}feii begriff, tDefen, Phänomenologie berfelben . 376
pofitiper Scfyut} ber perfon burdj bie ^öflid^feit im (Segeu-
fatje 3U bem bloß negativen bes 2Injtanbes unb bes Bedjts —
bie fo3tale ga>e(fbeflimmung ber ^öflid/feit — reglementierte
^öfltd^ett — bie 3U)et (Srunbgebanfen; 2Id?tung unb IDofyl*
w ollem
Die 2ld?tung 388
Der IDertbegrtff in 2intr>enbung auf bie perfon; JPürbe,
<Efyre, 2lcr/tung — Hegattoer <£ljarafter bes rechtlichen 2lnfprud?s
auf (Hfyre, pofittoer bes fo3ia!en auf Dichtung — Die 2lnsfagen
ber Sprache über beibe — Der (Seftcfytspunft ber 23eacbtung
ber perfon — (Erprobung besfelben an ben Qöflicbfeitsformert
ber 2ldjtung — Der 2tnfprudj auf 2ldjtung — mbunbnelle Vox*
ausfet$ung besfelben; bie perfönlidje ^iefyung — Deruntfung
bnrdj Unu>ürbig!eit — Der abftrafte IDert ber perfon — (Sra*
buelle 2Jbftufuug besfelben; (Seburtsftanb, ftaatlicbe Stellung
(Hang, (Eitel)*
3Htialtsüec3etcfyms*
xxvn
Seite
Pas Wofyxvoüen $2$
Kriterien ber ^öfUcfyifettsbetpeife ber Ad]tung unb ber bes
WohlwoUtns — (gegenfaft bes moralifcfyen unb bes Fialen
IDofyltPollens — Die eigentütnlidjen formen bes letjteren; bie
fostale (Teilnahme (bte A^eigepfltdjt als Korrelat berfelben),
bas fo3taIe 3ntereffe, bie Dien jlfertig Feit — Unterfdjteb von ber
XHenf cfyenfreunblidjF eit.
Das äußere UToment ber £jöfltd?Feit*
X) ^tftorif djes Dertjältnis bes äußeren unb inneren HToments . . $38
Hrfprung bes erfieren aus bem letzteren — aHmäfylidjer Hieber-
fd?Iag f efter Formern
2) praFtifdjes Derfyältnis betber $$2
(Dbligate (Seltuttg ber äußeren formen — Außerlidjlfeit Der
^öfIid)Feit — Derfyältnis berfelben 3ur IHoral unb 3um Hedjt
(bie innere (Sejtnnnug, ber äußere (Erfolg, ber Sdjetn) — Apo-
logie ber *?öflid?Feit — boppelte Art bes Sdjeines unb ber
Cäufdutng — bas (gebot ber XDafyrfyeit im Hedjt unb in ber
HIoral (<£l?rlid?Feit, H)a^r^aftig?eit — betrug, £üge) — bte
<&ten$m biefes (Gebots — bie erlaubte £ifl — bie bösartige
unb bie gutartige £iige — praftifdjes XTTottr» bes tüafyr^eits-
gebotes — Die lOafjrfyeit aus 3treiter £?anb — pofiulat bes
(Slaubens unb ber Creue — Analogie bes Hedjts — Über-
tragung ber (Terminologie besfelben auf bie IDatjrfyett — <Se-
fäljrbung ber (Sefeftfdjaft burdj UnmafyrljafttgFeit unb Un5U"
serläfftgFeit — fyiftorifdje €ntt»icflung bes 2Daf)rt)eitsgefet$es
— periobe ber £ift unb ber £üge — bie erlaubte Unmafyrtfeit
(bie rettenbe unb bie fonr>entionelle £üge) — Unwtnbnng, auf
bie JjöfltcfyFett — bas Sdjehtmefen bei ber £}öflid?Feit — KritiF
com etilen unb praFtifcqen StanbpunFt — Sdjlußrefultat in
be3ug auf bas Derfyältnis bes inneren unb äußeren ItToments
ber £}öflid/fett; <Entbefyrlid>Feit ber (geftmtung, (Erforbemis bes
Derpnbniffes — Spielraum innerhalb ber ^öflidjFeit — €r-
Hebung berfelben in bie Hegion bes ITCoralifdjeit,
5) Die Phänomenologie ber fJöflidjFeit $95
KlaffiftFatton ber l^öfltdjFeitsformen — ausfdjließlidj poftttoer
<£ljaraFter berfelben — bie brei Arten*
X* Die ejfeFtioen fjöflidjFeitsformeu 501
XXVIII
3nljaltstter3etcfyttts*
Seite
2» Die fYmfcoltf djen 502
Die Symboli? bes menfd)lid?en Körpers 505
€utfpred?enbe Hicfytung bes Körpers — Sitten unb Steden
— üegen, Knien, Derbeugumg — (Seben ber £}änbe, urfprüng-
lid?e unb heutige 23ebeutung — ber formelle Ku§*
Die Symboli! son <§eit unb Haum . 515
Der platj ber erften — Übertragung besfelben auf Hebe unb
Sdjrift — Der <£fyrenplafe — Die Symbolif ber Sdjrtft*
5. Die r>erbalen l}öflid?feitsformen 519
Die Spraye ber ^öflicfyfeit — pfyrafeologie unb Syntax. —
Der Sünbenfatt ber Sprad?e*
Die pfyrafeologie ber £JöfIid??ett 525
Die 2lnrebeformen: ber (Eigenname — ber (Ehrenname; ge*
fä?td?tlid?e Derbrängung bes Eigennamens burd? ben (Sattungs*
ttamen; bie heutigen (Ehrennamen; allmäf}licr/e Deoabatiou
berfelben — ber Staatsname ((Eitel) — ber 2Segriffsname;
tjiftorlfdjes 2tuf!ommen; Imitation bes ftaatlidjen bnrd? ben
fo3iaIen.
Die (Erhebung ber fremben perfon (bie epitheta omantia) —
bie ^erabfefeung von fxdj unb bem Semigen (£}öflidjfeitspljrafeu
ber Bebtentenfpradje) — r 23 efdjeibenbeitsp trafen — pfyrafen ber
(Sefä'HigFeit — £erfta?ernng ber (Sefhmung — 23enuflFom?r»--
nungspbrafen — 2lbfd>iebspfjrafen — bie guten tt>üufd)e bie
profane unb bie religiöfe ^orm).
Die Syntax ber X?öflid?Feit — bas pronomen insbefonbere . . 551
23eanftanbung bes 3d? burd? bie ^öflicbfeit — IDeglaffeu
besfelben — <Erfat$ burd? bie gegenfiänblid^e 23e3eid?nung ber
Perfon — bas IPir ber Befdjeibenfyeit; 23eanjtanbung bes XVh
unb bas Unfer; bas 2lnjtögtge ber ^eroorfyebung ber (Seinem^
fd?aft im Deüotionsüerfyä'ltnis — bie Perbannung bes Du —
bie fprad?ltd>en (formen, tseldje bas Du abgelöft fyabeu; b;c
5tDeite perfon bes pronomen im plural, bie britte bes Singular,
bes plural, bie gegenftä'nblidje 23e3eid)nnng ber perfon, bie
unperfönlid^e 2lusbrucfsform — bas 3tn? ber ITIefyrfjeit — bas
Pronomen possessivum ber 3tr>eiten perfon — gufammen»
fteHung ber fprad^idjen Deformitäten ber f^öflidrfeitsfpracfje.
Kapitel IX*).
Die fojialc lHed?amf,
Das Sittliche.
UttjnWttgltdjFett von £olm unb §wan$. — poftulat unb Catfäcfylicfyfeti
bes Sittlidjen* — Die 2lusfagen ber Spraye über bas Sittliche. —
(Seroolmlieit, Sitte, gtpecfmägigfeit, Sittlidjfeih — Die <funbamental*
Probleme ber (Etfyif* — Die tnb tr> tbnaltfttf d? e Cfyeorie bes Sittlichen nnb
bas Syrern bes gefellfdjaftlicfyen Uttlitarismus. — Die (Eeleologie bes
objeftiü Sittlichem — Die gefellfdjaftlicfyen Zm^tvatwe: Hlobe, Sitte,
ITToral, Hed?t* — Die XTTobe. — Die Sitte. — tEtjeorie berfelbem —
Die Umgangsformen tnsbefonbere. — Der 2Inftonb, — Die £}öflid}feit.
Unfere <£ntn>icflung fieht t>or einem Wenbepunft: beim
Übergang aus ber Hegion bes (Egoismus in bie bes Situ
liefen. IDcnn ich bem Cefer mit tr>enig IDorten ben früher
(I. S. 73) mitgeteilten plan meiner Unterfuchung in bie €r«
innerung 3urücfrufen barf, fo be3toecfte biefelbe bie treibenben
Kräfte auf3ufuchen unb bar3ulegen, toelche bie Beilegung
ber <5efellfchaft hervorrufen unb unterhalten (Cheorie ber
)03ialen ZHechamf), unb ich unterfchieb 3u>ci Birten berfelben:
bie egotftifchen Ejebel ber Fialen Sett>egung: Cohn unb
<§t*>ang, unb bie ntchtegotftifchen [2] ober etlichen:
Pflichtgefühl unb £iebe. 3^ hatte, als ich meinen plan
entoarf, für ledere beibe Kapitel IX unb X beftimmt, inbem
jeh beab {tätigte, ben ihnen beiben gemeinfehaftlichen Segriff
bes Sittlichen als (Einleitung 3U Kapitel IX t>oraus3ufchicfen.
*) Die obige 3n^a^siib erjtdjt gibt nicfyt ben 3nfyalt bes ganzen
Kapitels an tute bie ber erfteu Auflage, fonbem fie befdjra'nft fic^ auf
btejenigen partten, welche in biefem 23anbe befyanbelt werben*
t>-3fyering, Der gtoeef im Hedjt. IL ^
2 Kapitel IX. Die feciale Vfie^amt Das SMxty.
Sei ber Ausführung l^at fich bies jeboch als völlig untunlich
erwiefen. IDährenb ber Arbeit behnte ftch bie Aufgabe immer
me{|r aus; je näher ich bem <§iel 3U fommen glaubte, bejk>
weiter entrüefte es fich meinen BlicEen, eine $rage 30g bie
anbere nach fich, unb bes Stoffes warb fchltepch fo viel, ba§
aus ber (Einleitung 3U einem Kapitel ein Wext würbe. <£s
ging mir wie bem S'x\ efter, ber ein Zle§ ausgeworfen, um
einen f leinen 5ang 3U machen, unb ber, wie er es fterauf«
3ieften will, es fo soll ftnbet, ba% bie ZHafchen 3U 3errei|en
broften — als ich bas meinige B|eraus3og, ftedte nahe3u bie
gan3e <£thif barin. 3ch fonnte mich ber eingeftenben 23e<
hanblung ber pielen fich mir aufbrängenben 5*agen nicht
ent3teften, ba manche berfelben r>on ben bisherigen Bearbeitern
ber (£tl)if teils gar nicht aufgeworfen, teils in einer IDeife
beantwortet worben waren, mit ber ich mich nicht eint>er*
ft anben erflären fonnte. 3n biefer £age ftabe ich mich ent*
fchloffen, meine urfprüngliche 2Inorbnung bes IDerfes 3U änbern
unb ein neues Kapitel ein3ufchieben, weites ausfchlieglich ber
€ntwic?lung bes Begriffs bes Sittlichen gewibmet iß: bas
gegenwärtige, wobureft fich bann bie Ziffer ber folgenben
Kapitel meinem urfprünglicften plane gegenüber um eins
x>erfcftiebt. £jätte [3] ich bei ber gegenwärtigen neuen 2tuf*
läge bes IDerfes noch freie ^anb, fo würbe ich basfelbe
gän3lid) ausgefeftieben unb als eigene Schrift veröffentlicht
unb fyev nur bie Hefultate berfelben perwertet l\aben, aber
mit ber erften Auflage fyahe i&l &ücF3ug bei ber
3weiten abgefchnitten.
Der Begriff bes Sittlichen ift uns 3ur3eit noch ein frember;
wir waren im bisherigen nicht genötigt, ihn h*ran3u3tehen,
unb wir l\aben gefliffentlich t>ermieben, es 3U tun, um ju
fehen, wieweit wir mit bem €goismus allein, b. h- wit ben
beiben Criebfebern, welche er uns 3um Aufbau ber gefell-
fchaftlichen (Drbnung in £oB|n unb ^wang 3ur Verfügung
Un3ulärtgltd}?ett von £ofjn unb groang.
3
[teilt, gelangen fonnten. €s galt uns, um es fur3 aus3u*
Brüden: bas fosiale Ceiftungspermögen bes Egoismus eyaft
bar3ulegen. Das im bisherigen gefchilberte Syftem bes Der*
Mjrs, bes 5taats unb bes Hechts hat uns bie 2Inttr>ort barauf
gegeben» Damit ift aber auch bas feciale Ceiftungspermögen
bes (Egoismus erfchöpft.
Heicht basjenige, was er für bie (ßefellfchaft befchafft
l|atf für i^re gwede aus? Darauf tpollen toir uns im
folgenben bie 2lntu>ort fyolen; bie <£rfenntnis feiner Un3u*
länglichfeit für bie poUftänbige Cöfung ber gefelifchaftlichen
Stufgabe toirb uns ben Übergang 3um Sittlichen bahnen: in
bie CücFe, bie er übriggelaffen fyat, greift bas Sittliche ein.
[4] \) Utt3ulänglich?eit pou Cohn unb «gtpang für
bie Cöfung bes gefelifchaftlichen Problems.
JDir fyahen in ben beiben r>orhergehenben Kapiteln ge3eigt,
was Cohn unb §roang oermögen, unb u>ir bürfen bie
Summe unferer Ausführungen in ben Safe 3ufammenf äffen:
fte bilben bie abfoluten poftulate ber gefelifchaftlichen
©rbnung — bie (ßefellfchaft ift unbenfbar ohne «guhilfe*
nähme von gtpang unb Cohn. ZITan fyat Pölfer gefunben,
benen bas (Sottesbetpujjtfein fehlte, feins bem bie Densen*
bung pou Cohn unb «§tr>ang für bie gtoeefe ber gefellfchaft*
liehen ©rbnung, toenn auch in xxod\ fo mtpollfommener JDeife,
pöllig fremb getpefen rpäre — ber Caufdjpertrag in feiner
roheften 5orm unb bie Selbftoerteibigung ber (ßefellfchaft gegen
ben Derbrecher mittels Strafe, b. i. bie erften 2lnfäfee bes
Derfehrs unb ber Hechtsorbnung finben ftch überall. Über*
3eugen tpir uns jefet, nachbem tpir pofitip ge3eigt, toas Cohn
unb Strafe permögen, negatip bapon, was fte nicht per*
mögen, roo fte bie (ßefellfchaft im Stiche laffen.
Die 5rage: ob Cohn unb «gtpang allein imftanbe ftnb,
eine befriebigenbe ©rbnung ber (ßefellfchaft h^3uftellen, lägt
i*
4
Kapitel IX. Die feciale IRec^atttf* Das Sittliche.
ftd? auch fo ausbrühen: fann bie (Sefeßfchaft ausfommen mit
benjenigen f^anblungen ober Unterlaffungen ihrer XHitglieber,
vodd\e fte imftanbe ift 3U be3ahlen ober 3U entrungen?
Die Verneinung fann nicht 3tt>eifelhaft fein. Die Ciebe bes
IDeibes unb ber XHutter roirb toeber be3ahlt noch er3toungen,
unb boch bilbet fie eine [5] unerläßliche Bebingung, ein
^unbamentalpoftulat bes gefeßfehaftlichen €ebcns; an ibr
hängt bas f}aus unb bamit bas <5ebeifyen ber gan3en <Sefeß<
fdjaft. Denn bas fjaus ijl für letztere, tr>as bie gelle für
ben tierifchen Körper, ber Bilbungsherb bes Cebens, bie lefete
Quelle aller Kraft, ber öfonomifchen fotoo^I tüte ber ftttlichen
— taugt bas £}aus nichts, fo taugen auch biejenigen nicht,
roelche baraus fyxvoxqelten.
Derfuchen toir bie (Breden ber Fialen Ceiftungsfähtgfeit
von Cohn unb gtoang prin3ipiefl ab3ujlecfen.
tDir unterfcheiben 3tx>ei Jtrten von Perhältniffen. Die
einen finb biejenigen, auf welche Cohn unb gvoanQ überall
feine 2tntr>enbung finben, bie jenfeits ber Sphäre bes Hechts
unb bes Derfehrs liegen, 3U fein geartet, um bie unfanfte,
rauhe Berührung bes äußeren gtoanges, 3U ebel, um bie
Verunreinigung burch fchnöben Cohn 3U ertragen. <£s finb
bie ftttlichen Derhältniffe im engeren Sinne: bie ber Ciebe
unb ber 5reunbfchaft. 3hre richtige (Sejialtung ifi ausfchlte^
lieh bem fittlichen (ßeifte überliefen, Cohn unb <§tt>ang haben
über fie feine 2T?ad)t. Die 3tt>eite 2Irt bilben biejenigen,
toelche auf Cohn unb <§tr>ang gebaut frnb; unterfuchen toir,
ob lefetere t>ermögenb finb, bei ihnen ihre Stufgabe erfchöpfenb
3U löfen.
VOiv richten biefe 5rage 3uerfi an ben Cohn. 211s fo3iale
^unftion besfelben $aben toir feine^eit erfannt bie geftchertc
Sefriebigung ber menfchlid^en Sebürfniffe. ZHit fo t>oIIenbeter
Hegelmäßigfeit unb unausbleiblicher [6] Sicherheit ber Cotm
nun auch &iefe Aufgabe in roeitejier 2tusbehnung t>oß3ieM,
Utt3ulättgIid}Feit pon £ofjn unb <§ti>ang*
5
fo haftet bod? gleiditpofyl bem ganzen £ofynfyftem (bem Vev
feljr) ein XHangel an, ber mit ifym unabtsenblidj gefegt ift.
Die feciale IDirffamfett 6es £ofyies im ein3elnen 5aH ijt
nämlid? bebingt burdj 3t#ei Porausfefeungen, bie erfte: baß
berjenige, tr>eld}er fein 23ebürfnis burefy bie £etftung eines
anbern 3U beliebigen gebenft, imfkmbe ift, bafür ben ent*
fpredjenben £ofyn 3U bieten, bie anbere: baß ber (Segenpart
geneigt ift, ben £ofyn an3uneljmen, b. i. jtcfy baburdj 3ur (Segen-
leiftung beftimmen 3U laffen. Wo es an einer biefer Poraus*
fefeungen gebridjt, serfagt ber £ofyn feine Dienfte, 2tn ber
erften fefylt es beim Firmen, ber ben £o^n nidtf l^at, an ber
3tx>eiten beim Heiden, ben er mcfyt Iocft, 23eibe perfonen,
be3iefyungstr>eife bie Klaffen ber (Sefeßfcfyaft, für toelcfye bies
3utrifft, ftefyen mithin infofern auger bem Perfefyr, auf fie
fann er nicfyt rechnen, (Säbe es nun feine anbevn gefeH«
fdjaftlidjen Criebfebem außer bem Coline, fo müßten bie
2Irmen unb Arbeitsunfähigen verhungern, unb bie Heichen
würben bie fjänbe in ben Schoß legen unb lebiglid] bas
Kapital für fich arbeiten laffen, ihre Arbeitskraft unb ihr
Calent tsürbe ber ZDelt verloren gelten, bie (Sefellfchaft toürbe
bamit eine erhebliche (Einbuße erleiben. Die (Erfahrung aber
5eigt, baß einerfeits auch bas Calent unb bie 3nteIIigen3 ber
Heiden ber IHenfchheit 3um Ztufeen gereicht, unb baß anberer*
feits bie Firmen nicht verhungern,
[7] So erroeift fich alfo ber £ofyt als Criebfeber bes Der*
fefyrs in ber boppelten Htd)tung als unzulänglich, forr>ol^I tr>as
bie Befriebigung ber Sebürfniffe auf ber einen, als bie
i}eran3ief)ung ber r>orfyanbenen Kräfte für biefen «gtseef auf
ber anbern Seite anbetrifft (Seböte ber fo3iale Körper über
feine anb^vn ZHittel, um biefen Übelftanb ab3uhelfen, fein
«guftanb roürbe ber einer mangelhaften Blut3irfulation fein:
Slutleere an biefem, Blutüberfüllung an jenem punft.
Aber felbft von biefen e^eptionellen Perhältniffen abge-
6
Kapitel IX. Die f<>3tale tHedjattif* Das Sittliche*
(etjen, alfo oorausgefefct, baß ber £ohn nach beiben Seiten
hin feine normale 5unftton t>ollftänbig ausübt, fo reicht boch
er allein in feiner VOex\e aus, bie gefeUfchaftliche Aufgabe,
feie ihm 3ugewiefen ift, erfchöpf enb 3U löfen. <2in Arbeiter,
ber nur um bes Sohnes willen arbeitet, 5er nicht feine £I>re
barein fefct, gut 311 arbeiten, arbeitet fehlest, wenn er gewiß
tji, barunter nid\t 3U leiben. Die Garantie für gute Arbeit,
welche ber £ohn gewägt, reicht nicht weiter als ber <£gois*
mus; wo letzterer nicht babei beteiligt iji (furcht t>or XTicht*
abnähme bes befteüten 2trbeitsprobuftes, Kür3ung bes £ohnes,
Schäbigung bes Hufes unb bamit bes 2lbfafees), muß bie
Arbeit notwenbigerweife fchlecht ausfallen, bie (Sefellfdjaft
aber t^at bas größte 3^tereffe baran, gute Arbeit 311 erhalten.
So poftuliert alfo ber Cofyn 3U feiner €rgän3ung noch
ein anberes 2TJotir>, bas über ihn hinausragt, es ift bas
ftttliche bes Pflicht* unb €I]rgefül>ls bes Arbeiters. Die [8]
2trbeitsfrage hängt nicht allein am technifeben unb öfono*
mifchen tHoment, fonbern gan3 wefentlich aud] am etfyfdjeu.
Der richtige Arbeiter, tote bie (SefeUfdjaft iEjn braucht (id?
perjiefye barunter nicht bloß ben £>anbwerfer, fonbern jeben,
ber um £ohn feine Dienfte erweift, alfo auch ben Staats*
unb Kirchenbiener, (Belehrten, Künftler), ift nicht ber bloß
gefdjicfte, fenntnisreiche, funbige, fonbern ber 3ugleicb gewiffen*
hafte, pflichttreue. <5ewiffenhaftigfeit, €I(rlid?feit unb <£h*'
gefühl firtb bie unentbehrlichen Begleiter ber (Sefchicflichfeit,
fie müffen biefelbe unausgefefet bewachen, ftacheln, fpornen;
ftnb fie t>orhanben, fo fteDt lefetere r>on felber fich ein, nicht
aber umgefehrt Darum l\aben fie neben ihrem ethifchett
3ugletch einen eminent öfonomifchen IDert, ihr ZHangel be*
3iffert fich für ben Perfehr eines Dolfs, fowohl ben internen
als gan3 befonbers ben auswärtigen, für feinen Anteil am
IPeltperfehr, nach ZHillionen unfere beutfehe 3nbufirie
unb unfer £}anbel wiffen bar>on traurige Dinge 3U berieten!
Utt3ulän<jltd}?eit von £ofjn unb gtrang* 7
Diefelbe (Erfahrung, tx>eldje toir in be3ug auf ben £o^n
gemacht fyaben, toieöert^olt fid? aud? beim <§tr>ange. 2tudj er
ifi für jtet} allein nicfyt imftanbe, bie itjm im Becfyt 3ugetr>iefene
Aufgabe 3U vollbringen. ®Bjne f}in3ufommen t>er fittlicfyen
(Sefinnung ift bie gan3e Hecfytsorbnung eine tjöcfyft unt>olt*
fommene, unficfyere. Sebiglicfy auf ben §tt>ang, b. fy. auf bas
egoiftifdje VTiotiv ber 5urcfyt gebaut, ftefyt unb fällt fie mit
ifym, fie ift bann nidtfs als [9] bie ©rbnung bes öagno ber
<5aleerenfträflinge: gefiebert, folange bie peitfdje in Sidjt,
aufgelöft, fotr>ie fie aus ben 2lugen ift. 3)ie politif bes
(Egoiften toürbe fid? unter biefer Dorausfefcung barauf rebu«
3ieren, fid} ben Süden bes (Sefefees möglidjft 3U ent3iefyen.
5inb toxx fidjer, baß bas 2luge bes <5efet$es uns nidjt tr>afyr*
nimmt, fo tonnen voiv alles tun, tx>as unfer Porteil, unfere
£uft, unfere £eibenfd)aft mit fiel) bringt, — bas <5efefc, baß
uns nid]t fie^t, eyiftiert für uns nidtf, fein 2lrm reicht nidji
weiter, als fein 2luge. 23in idj fidler, baß ber (Släubiger
ben Beweis ber 5d\nlb nicfyt führen fann, fo leugne idj fie
ab, treffe id? meinen ^einb an einfamer 5telle im JDalbe,
fo räume id? xfyx aus bem JDege, jebes Perbredjen, bas mir
Porteil bringt ober (ßenuß perfprtcfyt, unb r>on bem idj fidjer
bin, baß niemanb midj besfelben überführen ober befcfyulbigen
roirb, ift bann nid]t bloß möglid), fonbern t>om 5tanbpnntt$
bes (Egoismus pfvcliologtfcf^ uuabn^enblid?.
3d) fann ben legten punft nxd\t genug betonen. Sefcen
tr>ir ben (Egoismus als ein3iges ZTTotit> bes Zltenfd^en, benfeu
ipir alfo bie fittlicfye (Sefinnung gän3lid) fynroeg, fo ift bei
fjintoegfall bes einigen (Begengettncfyts, toeldjes bie 2lusfid)t
auf Strafe unb gwanq bem Egoismus entgegenfefct, bie 23e*
gefyung aller £}anblungen, toeldje fidj t>om Stanbpunfte bes
(Egoismus aus empfehlen, pfydjologifd) ebenfo notoenbig
unb unabtoenblid), wie ber 5aß bes Körpers, rr»enn ber
Stüfepunft, ber ifym bisher [10] 3ur Untertage biente,
8
Kapitel IX. Die feciale Ulecbamf. Das Sittliche*
Ijmtpeggenommen ifi* Der ZHenfdj mug bann jebes Der*
brechen, jebe Sdjanbtat perüben; jeber trägt bann ben Der*
bredjer, bie tpilbe öeftie in fiel], bie er nur fo lange im
«gaume ti<\lt, als bie 5urd}t por bem (Befefc ifyt 3tpingt, ber
er aber bie gügel fließen läßt, foune biefe Hücfftdft fyntpeg*
gefallen iji
Das toäre bie £}errfdjaft bes <Sefet$es, tpenn jte aus*
fdjliepdi auf ben gtpang gegründet ix>äre. XDirffam, roo
ber Büttel in Sidjt, toürbe bas (Sefefc unter ber entgegen«
gefegten X>orausfe&ung ftets ohnmächtig fein, unb bie gefamte
(Sefellfchaft ohne Ausnahme tpürbe su ber Hechtsorbnung
biefelbe Stellung einnehmen, rote jefet ber f leine Bruchteil
ierfelben, ber nur burch bie 5urcfyt por 5trafe im gaume
gehalten tpirb: bas Verbrechertum.
<£s ergibt fich hieraus bie gän3liche ynxgteit ber früher
allgemein perbreiteten Ce^re, tsefrhe, inbem fie ben Unterfdjieb
5ioifc^en 2lecht unb ZHoral in ben ber äußeren fjanblung unb
öer inneren (Sefinnung fefete, letztere für bas Hecht glaubte
entbehren 3U fönnen* <£s roäre ein fauberer guftanb, ber
fich baraus für bas Hecht ergeben tpürbe! S)ie Cl|eorie tsar
nach beiben Seiten l^in perfehrt Zlad) feiten ber HToral,
inbem fie bas ZHoment bes «gtpanges überfah, bas auch ibr,
urie ich fpäter nachreifen tperbe, unerläßlich ift, nur baß es
bei ify; eine anbere (ßeftalt annimmt, als beim Hecht: bie
bes gefellfchctftltchen oranges im <5egenfafc bes ftaat«
liefen* Zlad\ feiten bes Hechts, inbem jte bas aud>
ihm fo [11] roef entliche innere Hloment ber (Sefinnung
außer acht lieg* 23eibe Sphären ber jtttlichen IPeltorb*
nung ftef^en jtch unverhältnismäßig piel näher, als jte an-
nahm, bas Hecht fann ohne bie innere (ßejtnnung ebenfo*
ipenig feine ZHifftou auf €rben erfüllen, rpie bie ZTioral
ohne ben gtpang.
Wxt f daliegen unfere erfte Unterfuchung mit bem Hefultat
Das pojhiiat*
9
ab: §toar\Q unb £ofyn reichen 3ur Dollbringung beffen, xoas
fte für bie (SefeUfdjaft felbft innerhalb ber ifynen eigentüm*
lidicn Sphäre 3U bef djaffen fyaben, in fetner IDeife aus.
2) Das poftulat.
Kann bie (ßefeHfdjaft bei £ofyn unb gtoang allein nicfyt
befielen, fo muffen, roenn fie bennodj befielen foll, anbere
Criebfebern bie £ücfe ausfüllen. ZDelcfyer 2lrt biefelben finb,
ob pielletdjt audj fie fxd? auf ben (Egoismus 3urücffüi|ren
laffen, fümmert uns 3unädjft nod? nidjt. Zlux fopiel fönnen
tpir fagen, ba£ fie, tpenn fie ben Dienft, ben tpir pon tfjnen
erwarten, roirflidj leiften follen, in ifyrem 23eftanb unb iBjrer
IPirffamfeit ebenfo gefiebert fein müffen, rpie jene, öerufyt
alfo it^r Dafein lebigltcfy auf inbipibuellen Porausfefcungen,
bie tjier porijanben finb, bort fehlen, auf einem ungetpöfyn»
lid^en ZHaße ber moralif djen Kraft ober ber 3nteüigen3, fo
finb fie für ben «gtoecf ungeeignet; bie (ßefeDfdjaft muß fidjer
fein, baß fie ftets in ausreidjenbem Ztlaße porfyanben finb.
2)as Däfern biefer anbern Criebfebern gehört bemnadf 3U
ben abfoluten [12] Sebensbebingungen ber (Sefellfcfyaft. (Db
bie Ztatur es ift, rpeldje bafür forgt, baß jte porljanben finb,
ober ob bie (Sefellfdjaft bie IHacfyt befifet, fie 3U er3eugen,
bapon tpiffen tpir 3ur3eit nod} nichts, fur3, jte müffen ba fein,
jte bilben ein abfolutes poftulat bes öeftefyens ber
<ßefellfd?aft.
Unb fie finb ba»
3) Catfädjlidjfeit fo3ia!er ZlTotipe außer £ofyn
unb <§rpang.
3d] Ijebe biefen punft nur fyerpor, tpeil er ein (Slieb in
meiner (ßebanfenfette bilbet, bas an btefer Stelle ein3ureifyen
ijt, nidjt, tpeil er eines Betpeifes bebürfte, beun beffen bebarf
er nidjt; ber ßüdjttgfte Slicf auf bas £eben, tpeldjes uns
HO Kapitel IX. Die fatale ttTedjantf, Das Sittliche*
täglich fjanblungen vorführt, bie u>eber belohnt, noch er*
3ioungen werben, reicht ans, um uns von bem Va\ein von
Zfiotiven bes menf deichen f^anbelns für anbete auger €ofy\
unb «gtsang 311 über3eugen. 3ch fyahe mir einmal sorge«
nommen, jeben Schritt, ben meine Debuftion macht, äußerlich
mittels befonberer Überfchrift bemerflich 3U machen, u>ie ich
es in ben beiben sorhergehenben Kapiteln getan fyabe. Es
finb bie IDegtoeifer, bie ich bei jeber Wenbnnq bes Weges
an3ubringen gebenfe, unb bie uns fortan unausgefefct 3ur
5eite bleiben follen. Sie gewähren bem £efer bie ZtTöglich*
feit, ben 3urücf gelegten H?eg t>on Anfang bis 3U Enbe aufs
genauefte 3U überfeinen unb ben punft fefouftetlen, tt>o er bas
(Sefühl l^at, ba§ er fernerhin [13] nicht mehr mit mir gehen
fann. Permag er mir trofe ber Erleichterung, bie ich ihm
burch jene Einrichtung serfchafft fyahe, ben punft nicht 3U
be3eicfyten, fo ha* er nicht bas Hecht, bas «giel, bei bem tt>ir
fchließlich angelangt finb, als ein unrichtiges ab3ulehnen —
er muß es entoeber annehmen ober bie Stelle nahmhaft
machen, wo ich feiner 21nftcht nach vom richtigen lüege ab*
gereichen bin.
(ßibt es ^anblungen, welche tseber be3ahlt noch er3u>ungen
roerben, fo ift bamit ber Bereeis erbracht, baß Cohn unb
<§tr>ang nicht bie einigen UTotise bes menfchlidjen J^anbelns
bilben, ba% bie <5efellfchaft alfo für ihre &we$e auch
über 2Hotit>e anberer 2trt gebietet. 2luch bie Sprache erfennt
bie Catfächlichfeit berfelben an, fte fpridjt von „uneigen'
nüfcigen, felbftlofen, felbjiperleugnenben, unegoifti*
fchen" £}anblungen. 0b fte, inbem fte biefelben 3U ben
„eigennützigen, felbßfüchttgen, egoiftifchen" in (5egetv
fat$ (teilt, Hecht ha* mit ihrer Annahme ber 2lbn>efenheit
jeber 23eimifchung bes Egoismus bei ihnen, laffen wir bjer
3unächft bahm geftellt, um bie $vaqe an anberer Stelle
toieberum auf3unehmen; fyev sollen u?ir bie 2luffaffung ber
tttdjtegotftifdje ITCotroe* Das Sittliche»
u
Sprache nicht fritifteren, fonbern 3uvörberft nur !ennen
lernen.
Zleben ben angegebenen 2lusbrücfen bejtfet bie Spraye
noch einen anbern: ben bes Sittlichen, unb mit biefem
Begriff nennt fie uns bie XHacht, welche ihrer 21uffaffung
3ufolge bas burch £ot?n unb gwang nur unvoHjlänbig gelöfte
Problem ber gefellfchaftlichen ©rbnung sunt 2lbfd)lu§ [14]
bringt unb bem Syftem bes gefellfchaftlichen £ebens biejenige
Pollenbung verleiht, bie fie als „fittliche IDeltorbnung" be*
3eichnet.
IDas ift bas Sittliche? 3n biefer 5*<*ge ftecft na^eju
bie halbe philofophie, unb feit 3ahrtaufenben mül}t fie fiel]
ab, fie 3U beantworten. 3d? mürbe viel barum gegeben
haben, wenn ich ihr bei meinen Unterfuchungen hätte aus
bem IPege gehen ober mich bei ber von anbern erteilten
Antwort hätte beruhigen fönnen. 23eibes war mir nicht
möglich, unb fo liabe ich roich genötigt gefehen, felbftänbig
ben Derfuch 3U ihrer Cöfung 311 unternehmen. 3ch ha&e
babei einen anbern &)eg eingefchlagen, als ben bie bisherige
<£thi? 3U gehen gewohnt tft. H)ährenb festere nämlich bas
Problem von vornherein ber JDiffenfchaft 3uweift, fyabe ich
es für 3toedEmäßig erachtet, mich ^unächft an bie Spraye 3u
halten unb ihr bie 5**tge vo^ulegen, was fie fich bei bem
Sittlichen benft. Unb ich ha&e es nicht bereut; fie ha* m^
auch h^r wieberum, wie fo oft, wertvollere 21uffchlüffe ge*
währt, als ich i>on vornherein erwartet hätte, wichtige Ringer*
weife, welche bie £tB|if wohl getan hätte 3U beher3igen, unb
welche ihr manche ^vtwnQen hätte erfparen fönnen.
ZtTöge ber £efer fich bie Zfiühe, mir bei biefen fprachlicheu
Unterfuchungen 31t folgen, nicht verbriefen taffen. Hachbem
bie Sprache uns mitgeteilt h<*t, was fie über bas Sittliche
aus3ufagen vermag, (oll bie Xt>iffenfchaft bas IDort erhalten.
\2 Kapitel IX. Die feciale IlTedjantf. Das SittUdje*
4) Die Autorität ber Sprache in Singen bes
Sittlidjen.
Der iiolje XPert, ber bei einer auf ^eftftellung bes Begriffs
unb (Ermittlung bes IDefens bes Sittlidjen gerichteten Unter»
fudjung bem Sprachgebrauche 3ufommt, bebarf roohl nicht
erft bes Zlad)toex\es> Bei bem Sittlidjen Ijanbelt es ftdf nicht
um tpiffenfehaftliche, ber €rfenntnis unb bem Urteil bes Doifs
fern liegenbe Probleme, fonbern um pfydjologifche <£rfafy
rungstatf adjen, bie jeber unausgefefet an ftch felber täglich
erlebt, unb über bie jeber in ber £age ift, ftch fein Urteil 3U
bilben. €s gibt feinen ZlTenfcfyen, ber nicht bie Hegungen
bes Ulitleibes von benen bes fjaffes 3U unterfetjeiben per-
möchte, unb ber ftch nicht betoujjt roäre, ba§ ber 2lft ber
Selbftperleugnung, ben er pormmmt, tpenn er, um ein
ZlTenfchenleben 3U retten, ins 5euer ober JDaffer fpringt, einen
anbem XDert beanfprudjen barf, als roenn er eine 2)ienft«
leiftung pornimmt, für bie er be3ahlt tpirb,
J)ie Befultate biefer burch Zllilliarben pon ZHenfdjen be*
funbeten inneren (Erfahrung jinb in ber Sprache niebergelegt.
2)er Sprachgebrauch, ber biefen Schafe in ftch birgt, unb ber
an jebem eiu3elnen, ber ftch ber ihm pon ber Sprache 3ur
Verfügung geftellten 2lusbrü<ie bebient, jeben ZTEoment feine
probe 3U beftehen unb ftch barüber aus3uu>eifen tjat, ob bie
Ausprägung bes (Sefüfyls pon feiten ber Sprache ber eignen
(SEmpfmbung entfpridjt, biefer Sprachgebrauch [16] ift eine
Catfadje, roeldje bie XDiffenfdjaft 3U refpeftieren l\at ZTidjt
in bem Sinne, baß fte nicht bas in ihm niebergelegte
Smpfmben unb Denfen bes Dolfs einer Kritif untertperfen
unb ben Derfuch rpagen bürfte, tiefer in bas JDefen ber
Sache einbringen, als bas Polf, roohl aber in bem Sinne,
ba§ fte ben feft ausgebilbeten Sprachgebrauch ftehen laffen
foH, unb nicht, tote es pon manchen philofoptjen im 3ntereffe
Die Autorität ber Sprache in Dingen bes Sittlichen*
ber von ihnen aufgehellten {Theorien mit bem 2lusbruc!
(Egoismus gefdjehen tfi, bemfelben (Seroalt antun barf. Das
ifi eine Sprachfälfdnmg, bie in besug auf ihren gemein-
gefährlichen (Zfyatattet auf einer £inie fleh* mit ber ZfLün$<
fälfdjung, benn t»ie Iefetere bie Sicherheit bes Derfehrs im
öfonomif djen Sinn untergräbt, fo fte bie bes geiftigen, bie
Sicherheit beiber beruht auf ber feftftehenben (ßeltung ber
einmal ausgeprägten Ö?ert3eid?en, jeber mu§ ftcher fein, ba§
bie 2Hün3enf bie er empfängt unb ausgibt, echt ftnb. 5ür
feine eignen von ihm vermeintlich neu auf ben TXiaxit ge«
brachten (Sebanfen mag jeber ftd? feine eignen 2Iusbrücfe
bilben, es roirb jtd) ja 3eigen, ob ber Perfehr bie ueu aus-
geprägten Xfiün3en als nottoenbige unb tr>erh>oHe Vermehrung
bes Sprachfcbafces aufnimmt ober als roertlofe 231echmün3en
ober Rechenpfennige bem Urheber 3um ausfchließlichen prtoat«
gebrauch überlägt. 2lber ben Sprachgebrauch (bie fprach'
Iid]e ZDä Irrung) foll jeber ftefyen laffen unb anerfennen,
b. h- bie einmal feft ausgeprägten tt)ert3eichen ber Sprache
auch 3U bemjelben JPert annehmen, ben fte felber bamit [17]
oerbunben b{at Wer bie Sprache meiftern tr>iH, foH fich brei*
unb viermal t>orfefyen; nach meinen bisherigen (Erfahrungen
fällt ber Dortourf, ben er ihr macht, regelmäßig auf ihn
felber 3urücf.
3nbem ich mich burch btefen <5efichtspunft leiten laffe,
richte ich mein 2lugenmerf in erfter £inie auf bie Sprache,
um feft3uftellen, tt>as fte fid) unter bem Sittlichen benft. ZTach
ben (Erfahrungen, bie id? fonfl überall, wo ich bie Sprache
um Hat gefragt h<*be, mit ihr gemacht iiabe, unb bie mich
ftets über ben txninberbaren Treffer ber Spvad\e Reiben
ftaunen laffen, trete ich auch biefes ZtTal mit ber (Erwartung
an fie lietan, in ihr bas Richtige 3u finben unb nicht in bie
Sage fommen 3U follen, fie 3U meiftern.
<§tx>et 2Jnhaltspunfte bietet uns bie Sprache bar, um uns
\% Kapitel IX. Die feciale IHed^aniL Das Sittlid^
ber Porftelluugen, bie fte mit ihren Ausbrücfen verbindet, 3U
bemäd]tigen: bie (Etymologie unb ben Sprachgebrauch. 3ene
nennt uns ben hiftorifchen Ausgangspunkt ber Dorftellung.
Auch für bas Überftnnliche befielt er regelmäßig in einer
finnlichen Dorftellung, benn mit bem Sinnlichen tjat alles
Denken begonnen, Der Sprachgebrauch, be3iehungstr>eife bie
(Sefchichte besfelben lehrt uns, was aus ben urfprünglichen
Begriffen im Caufe ber geit geworben ift. 3n basfelbe
fprachliche (ßefäß fchüttet bie eine §eit biefen, bie anbere
jenen 3nhalt, bas <5efä§ bleibt, ber 3nfyalt änbert pdf. Die
IDorte gleichen Käufern, beren 33efifcer wechfeln, ber eine
ftirbt ober 3iefyt aus, ein anberer [18] 3ieht ein. Käme bie
Ih^eit, ber tx>ir unfere heutige Spvad\c perbanfen, 3urücf, fie
würbe ben Sinn ber meiften, auf bas Uberfinnlidje gerichteten
IDorte faum roiebererfennen — (Sott, Cugenb, IDeisheit
haben in unferem ZHunbe eine gänslid^ anbere Sebeutung als
in bem unferer Dorfahren.
Sache ber Sprachforfchung ift es, neben bem IDechfel ber
Sprachformen auch biefe innere 5ortbiIbung ber Segriffe,
bas allmähliche iDacfystum ber 3&een 3U oerfolgen. (2s ift
ein gweig ber Sprachforfchung, ber, 3ur3eit noch wenig aus-
gebilbet, erft t>on ber gufunft unb 3war mehr t>on ben philo*
foppen als r>on ben Cinguiften feine Ausbeutung 3U erwarten
I^at. <£r wirb uns auch über bie (Befchichte ber ftttlichen
3been überrafdjenbe Auffchtüffe geben. Sosiel permag id]
fchon nach ben geringen (Erfahrungen, bie ich, ber reine
Dilettant auf biefem (gebiete, gemacht liabe, mit aller Sicher-
heit poraus3ufagen. ZlTein tDiffen reicht nicht foweit, um
biefe Aufgabe für bas Sittliche 3u löfen, ich muß mich bamit
begnügen, bie beiben (Enbpunfte bes fprachlichen (Entwicflungs«
pro3effes namhaft 3U machen: ben erften Ausgangspunkt, ben
bie (Etymologie aufbewahrt hat, unb ben gegenwärtigen
Sprachgebrauch, ich felber aus bem £eben fenne — was
Die Autorität ber Sprache in Dingen bes Sittlichem
in bie XHitte fällt, ift (Segenftanb ber p^ilofop^ifcft-^tftorifd^en
Sprachforschung. 3^ beneibe jte um i>ic 2Iuffd?lüffef bie fte
hier gewinnen wirb. (Erft ber in biefem Sinne vorgehenben,
fämtliche Spraken in ben Kreis [19] ihrer Unterfuchung
3iehenben #)iffen)"chaft wirb bie (Sefdn'chte bes menfehüchen
Denfens unb bamit auch bie ber fittlichen 3^^en fich
f daließen, unb von ber £}öhe, bie fte bamit erftiegen, wirb
ftc auf bie Beftrebungen vorangegangener roiffenfcf^aftlid^er
(Epochen, bas Derftänbnis bes Sittlichen ohne bie <5efdn'chte
3U gewinnen, h^rabfehen als auf bie müßigen Spiele unreifer
Kinber.
Der IDortfchafc ber Spraye für bas Sittliche 3erfäHt in
3wei (Sruppen. Die eine umfaßt bie fpejieöen Criebe,
Cugenben, £after, welche bie Sprache als befonbere, eigen*
tümliche (Seftaltungen bes fittlichen ober unjtttlichen Der*
Raitens anerfennt tote 3» 23. ^abjucht, Hachfudjt, ZHitleib,
fiebe, (Ehrgefühl, Pflichtgefühl. Sie Reiben für uns an biefer
Stelle fein 3ntereffe; ben bret 3ulefet genannten werben wir
fpäter eine genauere Betrachtung 3utr>enben. Die 3weite (ßruppe
umfaßt bie geringe <§<*hl berjenigen 2Iusbrücf e, in welche bie
Sprache ihre allgemeine tEh^orie über bas Sittliche nieber*
gelegt h<*t: Sitte, fittlich, Sittltd^feit, Sittengefefe,
unfittlich, moralifch, XHoral, unmoralifch, eigen*
nüfeig, uneigennützig, felbftlos, felbftverleugnenb,
felbftfüchtig, egoiftifch, unegoifttfeh, W03U bie wiffen*
fchaftliche Cheorie bann noch „ethifch" h^ugefügt h^t.
Diefen Xüorten l\abex\ n>i* bie Zlnfchauung bes Sittlichen,
welche ber Sprache vorfchwebt, 3U entnehmen. (Es ift ein
Derhör mit ber Sprache, bei bem es ebenfo wichtig wirb 3U
fonftatieren, worauf biefelbe Antwort gibt, als [20] worauf
jte biefelbe verweigert; wie ber 3nquirent beim Derhör,
werben auch toix uns forgfam 3U hüten haben, etwas hinein*
Sutragen, was bie Sprache nicht ausfagt.
\(o Kapitel IX. Die \05\aU niedjantf. Das ftttltdje.
5) Kücfgriff vom Sittlichen 3ur Sitte.
Vas Wort „ftttlicfy" tseift uns fpracfylid} auf „Sitte"
3urü<f. Ztadj ben Unterteilungen ber neueren €tymologie *),
meldte bie früher übliche t>erlo<fenbe Ableitung ber Sitte von
Sifeen (sitta, sitja, sittjan, sittan) als gän3lidj unhaltbar t>ertx>orf en
^at, flammt Sitte (gotifefy sidu, sidus, altljocfybeutfd) sito, situ,
mittelfyodjbeutfcfy site) von bem altinbifc^en svadhä = (ßerool^n*
fyeit, bas man auf sva==suus unb dhä = jefeen, machen, tun,
3urücf geführt fyat, unb bas aijo: §u eigen machen, 2tneig*
nung, (Eigenheit, <£igentümlid]?eit bebeuten ttmrbe. Don bem-
felben svadhä bilbete bie latetnifcfye Sprache con — suetudo
(sveth, suescere), bie griediifcfye I&oc, föoe, (sueth, eth), alte
brei Spraken würben alfo ifyre 2lusbrü<f e für Sitte trot$ ber
für ben ZTicfytfenner gar nicfyt mefyr erkennbaren VevwanttU
fcfyaft einer unb berfelben fpracfylidjen ffiuv$el unb einer unb
berfelben Dorjteüung: ber bes <§u* eigen >madiens entlehnt
fyaben.
Das §u*eigen*mad}en ber Sitte gefcfyeBjt burdj beftänbige,
unausgefefcte IDieberfyolung berfelben £}anblung, [21] burd?
Übung, Brauck**). Die Übung mad}t bie JEjanblung immer
leichter („Übung macfyt ben XlTeiffer"), ber 3U ifjr erforberlicfye
Kraftaufroanb bes XPillens tx>irb immer geringer, fo bajj es
fcfyliejjlidj nidjt mefyr ber 2Infpannung ber iDttlensfraft, ja
nxdit einmal bes bewußten €ntfdjluffes bebarf. Der 2Tlenfd>
fyanbelt, roenn bie Situation bes fjanbelns einmal an itin
*) Z^t t>ertt>etfe auf bie «gufatjausf üfjrungen von £eo ineycr
Dorpat) in 211 e^anb er von (Sttingens ITCoralftottfUF unb d>rtffltcbe
Sittenlehre, 53b. 2, (Erlangen 1873, S. W 2lnmerfung*
**) Der usus ber £ateiner, n>eicfyer ebenfalls bas «gjueigenma eben
in ftcf^ f dj liegt; Übung eines Ked?tsfat$es = usus longaevus, in usu
esse, b. !}♦ 23egrünbmtg besfelben auf gett>ofyntjeitsted?tlid}em Weac,
eines Kecfyts = usus, usu-capio b* lj. 23egrünbung besfelben burd? <£r*
ft^ung.
Die Sprache* — Die Sitte» — Die <SetPot{nfyeti*
herangetreten ift, fo3ufagen von fclbfif mechanifch, bas J^an*
beln ift 3ur „^weiten ZXatnt" geworben (»consuetudo altera
natura est«).
Dies Phänomen, bas u>ir als bas ber <8ett>ohnheit
h^exdinerXf uneberholt {ich ebenfotoohl im £eben ber Voltev
wie in bem ber 3n^'I>^u^n* ^on bloßen <5en>ohnheit
aber ift bie Sitte xvol\l 3U unterfchetben, jene betont nichts
rpeiter als bas äußerliche ZHoment ber Konftan3, b, i. ber
fortgefefeten <5leichmäßigfeit bes Ejanbelns, 3ur Sitte fommt
aber noch ein inneres ZTtoment h™3U*
6) Sprachliche 2tbgren3ung ber Sitte t>on
ber (SerDotjnheit.
Die Sprache unterfcheibet Sitte unb (Seroohnheii f,<5e*
tt>ohnheit" liängt etymologifch mit „wohnen" 3ufammen*),
bilbüch ausgebrüeft ift es bas £janbeln, welches [22] jtch
bauemb niebergelaffen, fich gefefet, fefien IDohnftfe genommen
hat Die <Setr>ohnheit t>ergegena>ärtigt uns bie Übertragung
ber 3&ce bes Befifees auf bas ^anbeln. Der Seftfe als
folcher ift lebiglich etwas äußerliches, er fann ein recht*
mäßiger ober ein unrechtmäßiger fein, (5an3 basfelbe gilt auch
pon ber <5etr>ohnheit, es gibt gute unb f chlechte ßetoofyv
heiten. Der öegriff ber (Seroohnheit x>erhält fich ebenfo rote
ber bes 23eftfees gegen bas ZHoment ber innerlichen (Quali*
ftfation pööig inbifferent. Dem Befifee fteht gegenüber bas
(Eigentum als guftanb ber rechtmäßigen Aneignung. Derfelbe
*) Hadj tPeiganb, beutfcfyes IDörterbud? (gen> offnen) ift altbocfy-
beutfd? Kiwon, giwon, Kawon, mittel o cfyb eutfefy ; gewon = gerootjnt,
giwennan, giwenjam = getPÖfytten, dltltorbifdj; venja = Sitte, vinja =
IDeibe, wonen = tDofjrten, altl}od?beutfd?; Kiwonaheit, Kawohnaheit
altfädjftfdj; gowonohod, mitteltjodjbeutfd? ; gewonheit. tt)eiganb roxU
gewon auf ein Tticfyt mefyr ejiftierenbes tDm^efoerbum vinan (£eo ITCeyer
cu a. <D.; vunan) $uxM führen, irelcfyes „jldj freuen" bleutet habe, unb
u?ofyer aua? wunna = IPonne fommen fotU
p, 3 e r l n Der ^toeef im Hecht- IL 2
18
Kapitel IX. Die fo3taIe ITCecfyantf* Das Sittliche*
(Segenfafe roaltet ob 3tx>ifcfyen (SetDofytfyeit unb Sitte. Die
(SetDofynfyeit I^cilt ftd} an bas rein ^Uißerlicfje, fte füfyrt uns
bloß ben Körper bes fontinuierlicljen fjanbelns, bas (Sefäg
t>or klugen, oljne alles Urteil über ben 3n^alt. Die Sitte
bagegen brücft 3ugleid? ein Urteil über ben 3nljalt aus,
nämlicfy, baß er ein guter fei. „Sitte" fdjledjtfyn iji bie gute
Sitte. Die SJbtoeicfjung von ber Sitte roirb be$tid\net als
„Perjloß", als „Übertreten" ber Sitte, es liegt barin ber Dor*
nmrf, baß ettoas gefdjeljen iji, roas Blatte unterbleiben foHen.
Don ber <Setool}nt|eit bebienen tr>ir uns biefer 2fasbrücfe [23]
ntcfyt, unb bamit ift ber <5egenfafe berfelben 3ur Sitte ge*
fenn3eid?net.
2Iuf biefem inhaltlichen UToment ber Sitte, baß fte bie
gute ift, beruht bie €igenfcfyaft i^rer r>erbinbenben Kraft.
Sie ergebt ben 2lnfprucfy einer ZTorm, bie jeber befolgen foH,
beren ZTidjtadjtung mithin Cabel, beren Sefolgung 2Iner*
fennung üerbient. Da^er Unfitte = fcfylecfyte Sitte, un«
gefittet, fittenlos = ofyne gute 5xiten, fittfam, ge<
fittet, fittlicfy = ber guten Sitte entfpredjenb.
Die (öetttofyntjeit bagegen fcfyließt nid}t bas ZHoment ber
2Torm in fxcf?. Zttemanbem tsirb es 3um Dorttmrf gemacht,
anbere „<5etool}nheiten" 3U haben, als bie ZtTefyrfyeit, bie <Se*
rootjnheit 3U „übertreten", gegen fie 3U „x>erftoßen", ja roa^renb
fämtliche von Sitte gebilbeten 2lbjeftir>a ein £ob enthalten,
hat bas Don „(ßemofytfyeit" gebildete „gewöhnlich" bie 23e-
beutung bes (Seringfchäfeigen, ein „gewöhnlicher" UTenfch ijt
ein mittelmäßiger, ein „ungewöhnlicher" ein ^errorragenber
ZTTenfch-
£Die gelangte bie „Sitte" 3U biefer Ztebenbebeutung bes
(Suten unb X>erpflichtenben? Das r>ermittelnbe (Slieb iji bas
X>olf: Sitte ift urfprünglich gleich Dolfsfitte: ,§war be«
bienen wir uns h^utage bes 2tusbru<fs auch wohl für bas
3nbioibuum im pöllig gleichen Sinne mit (ßewohnheit, allein
Die Sprache* — Die Sitte* — Unterfdjteb von (Setpoljnfjeit* \ty
bies ift nietet ber urfprünglidje Sinn bes Wortes, was nidjt
bloß aus ben oben mitgeteilten bertoattoen 21bjeftir>en, fonbern
audj aus anbern 2ln3eidjen [24] fyersorgefyt *)♦ Sitte fou>ofyl
tt>ie Hedjt toeifen auf bie allgemeine ©rbnung Ijin, bie
2Jnu?enbung beiber 2tusbrücfe auf bas 3nbit>ibuum als Sitte,
als Hecfyt biefes Zfiannes beruht auf Übertragung (bert*
oattoe Bebeutung). 3)ie fran3Öfifdje unb englifdje Sprache
unterfcfyeiben genauer bie allgemeine unb bie inbit>ibuette
(Setoofyifyeit, für jene Ijaben fte bas von bem lateinifcfyen
consuetudo (im Sinne bes (ßetsofyifyeitsredtfs, f, u.) abge*
leitete coutumes unb customs, für biefe bas vom lateinifdjen
habitus (bie IDeife bes „Stdj Gabens") abgeleitete habitude.
Sitte ift alfo bie im Ceben bes Dolfs fidj bxU
benbe r>erpf ficfytenbe (Setx>ofynfyeit.
3m Ceben bes Dolfs fommt von felbft bie burdj bie 23e*
bingungen bes (Bemeinlebens poftulierte (Drbmmg 3ur (ßeltung,
unb biefe als richtig unb nottoenbig erprobte (Drb*
nung ift bie Sitte. Damit ftellt fie fid? als eine Xloxm
fyn, bie ber ein3elne 3U befolgen l}at. 2ludj bas Dolf fann
gleid] bem 3nbipibuum „böfe (Setooljniieiten" Ijaben**),
unb im plural mag man tsie pom 3n^iü^uum f° auc*f von
Dölfern ben 2tusbrucf : böfe, fcfylecfyte Sitten gebrauchen, aber
mit bem Begriffe ber Sitte (im Singular) als einer ZTorm
bes (Semeinlebens perbinbet [25] bie Sprache ftets ben Segriff
bes (Buten, bie Sitte als folcfye ift nie böfe, fotoenig toie bas
Hed]t als folcfyes es ift, es wäre eine contradictio in adjecto,
gan3 basfelbe tt>ie eine böfe Sugenb ober eine böfe (Berede
*) £eo Weyer [S.\9 Hote JQ madjt bie ITCitteilung, ba§ ifjm „tn
ber Itülctnbifcfyen Beimdjronif bas IDort site gegen fünf3igmal begegnet
fei, barunter aber ntdjt ein einiges ITCal von einet beßimmten perfön*
**) 2lxt 2\& ber peinlichen fjalsgeridjtsorbnung : Böfe unb unser*
nünftige (SetDofynfyeiten.
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Kapitel IX. Die fokale tllecfjam?* Das Sittliche*
tigfeit; bas 2lbjeftir>um „böfe" famt nid}t einem Sufcftcmtit)
I|in3ugefügt tserben, tpeldjes an ftdj fcfyon bas (Sute bebeutet,
es erübrigt bafür nur bie Negation bes $>ofttit>en Begriffs:
Umtugenb, tfn*gered]tigfeit, Un*fitte, Un*red}t»
So trägt alfo bie Sitte im Sinn ber Sprache fdjon als
foldje bas 2T(oment bes (Buten, Bidjtigen unb bamit bes
Bidjtmages, ber 23orm in ßdi. Die <Betool}nB|eit bagegen
als ettoas rein äußerliches, infyaltlidj 3n^iffercnt^ gewinnt
iljre nähere Seftimmung erji burdj ben «§ufai$: gut ober bofe«
€ben barum, u>eit bie (Setsofynljeit nichts 3nn*rlid?es
ausfagt, läßt fie fid] mit bem Segriffe bes Becbts 3ur (Ein*
fyeit eines ^usbruefes unb Segriffes perbinben (,,(5eiool|n*
fyeitsredjt'Of toäfyrenb ber Segriff ber Sitte, ba er bereits
bas ZHoment bes X>erbinblid}en unb $u>ar einer *>on ber bes
Bedjts ftcfy unterfdjeibenben 2lrt bes Derbinblidjen in jtd?
fdtfiegt, biefer Perbinbung anberjirebt: ber eine Segriff toürbe
ben anbem aufgeben. <£benfo unbenfbar tsäre bie Perbinbung
von (Betoofynfyeit unb Sitte 3U einem tDort, benn lefetere fdjließt
basjenige IHoment, tx>eld]es jene betont, bereits in jtd). 2lber
Becfyt unb <Serx>oJ|nfyeit Iaffen jtdj fombinteren, ba ber lefetere
Segriff im erfteren nidjt enthalten ift, bas gefefelidie [26]
Bedjt eftftiert fofort mit bem <£rla§ bes (ßefefees, ber>or nodj
bie Übung I)in3ugefommen ift.
2TEit bem (Befagten fcfyeint nidjt 3U jiimmen bas „Sitten*
gefefc", ba in ifym bas XHoment ber Horm, u?eld?es bereits
mit „Sitte" gegeben ift, nodj 3um 3toeitenmal burd) „(Sefek"
betont wirb« Diefelbe fpradjlidje Silbung toieberljolt ftcf?
audj im „Bedjtsgefefc", audj bas „Bedjt" fd] liegt bereits bas
ZHoment ber ZTorm, bes (Befefces in ftdj, unb gerabe biefer
<ßegenfat$ gibt uns r>ielleid}t bie (Erflärung in bie £}anb,
roeldje \d\ barin ftnben mödjte, baj$ bie Spradje mittels
„(Sefefc" beibe Segriffe unter einen gemeinfamen Ztenner 3U
bringen gefudjt l[at. Übrigens ifi es beim Sittengefefe nid]t
Die Sprache. — Die Sitte. — Unterfcr/ieb t>oit (Semorjnrjeit 2\
\oxx>oty bie Sitte, rr>etche bie Sprache babei ins 2Iugc faßt,
fonbem bas x>on ber Sitte, toie voxx bemnächft feiert toerben,
tr>oi|l 3U unterferjeibenbe „Sittliche",
Dem obigen (ßegenfafee 3tt>ifchen Sitte unb (ßetoofynfyeit
entfpricht in ber lateinifchen Sprache ber 3ioifchen mos, mores*)
unb consuetudo, aber ber <5egenfafe ift fyer minber ferjarf
ausgeprägt. Der erjiere 2lusbru<f bient nämlich 3ur 23e3eich*
nung breier x>on ber beutfehen Sprache genau auseinanber
gehaltener Segriffe: ber Sitte, bes [27] Sittlichen**) unb
bes <5ert>ohnheitsrechts, unb felbji bie römifchen 3**riften,
rselche fonjt fo eifrig auf Jtusbilbung einer feften Kunftfprache
Bebaut nahmen, tiaben fich in biefem punfte ber unbe«
ftimmten Sprachtoeife bes Volts angefchloffen, nur baf$ fte,
wo fie ben Begriff bes Sittlichen ausbrüefen rooHen, tooJ|l
noch ben Sufafc boni 3U mores hi^ufügen (insbefonbere
contra bonos mores = unjtttlich). 5üt bas (Setsohnheits-
recht l\abet\ jte es 3U feinem feftftehenben 2lusbru<fe gebracht,
fonbern fie bebienen fleh bafür einer ZTCenge t>on IPenbungen,
balb liehen jte bas entfeheibenbe Moment bes Hechts h^or
(jus, quod moribus constitutum, consuetudine induetum est),
*) Über bie Ableitung r>on mos fyerrfcfyt unter ben Etymologen
nodj Streit, ZTad? <S. Curtius, (Srunb3Üge ber griecr/ifef/en Etymologie,
21x1$.%, 5*329, bringt Corffen mos in Derbinbung mit ber SansFrit*
roru^el ma = meffen, monad} es ITCa§ bebeuten mürbe, was 3U ber
oben entmicfelten 23ebeutung gut jtimmen mürbe» Über consuetudo f,
oben 5. 16»
**) 3n biefem boppelten 5inne von Sitte unb Stttlidjfeit hatte Cicero
ifyn bei feinem bem griedjif djen ^1x6; nacf/gebilbeten moralis (de fato
c. \) r>or 2Jugen, unb in bemfelben Sinne begegnet er uns bei ber alten
morum coercitio bes <Htjerecr/ts, bei ber man mores graviores unb leviores
unrerfd/teb* Jiir ben britten Sinn (bes (Semohnrjeitsredjts) rermeife tdj
auf Gaj. IV, 26: per pignoris capionem lege agebatur de quibusdam
rebus moribus unb I, 25 ad munic. (50. \): moribus competit. £ut
23e3eidjnmig ber Sitte unb bes Sittlichen bebtenen bie ^uriften fidj bes
21usbrucfs consuetudo niemals.
22 Kapitel IX. Die feciale mefyanxt. Das Sittliche»
halb betonen fte lebiglidj bas äußere ZHoment, in ber Hegel
mit bem <§ufafc ber langen Dauer (inveterata, longa, diuturna,
tenaciter servata, perpetua consuetudo, diuturni mores, usus
longaevus), aber auch fdjlechthin consuetudo ober mores. 2Ius
biefem burch bie römifchen Hechtsquellen überlieferten Sprach«
gebrauch t>on consuetudo im Sinne bes (Setoohnhettsrechts,
ben bie mittelalterlichen (Quellen beibehalten Reiben (3. 23.
leges et consuetudines Angliae), B|aben bie fran3Öftfche [281
unb burch Vermittlung ber Zlormannen bie englifdje Sprache
bas ZVort coutumes unb customs gebilbet, tt>obei aber bie
ftrenge Scheibung 3tr>ifcf)cn Sitte unb (ßetoohnheitsrecht auf*
gegeben, unb berfelbe unbeftimmte Begriff ijerausgefommeu
iftf ben bas lateinifcfye mores ausbrüeft. <£s bewährt ftet?
auch an biefem fprachlichen Vorgänge tsieberum bie ilüfftg*
feit bes Unterfchiebes 3tt>ifchen Sitte unb <5etr>ohnheitsrecht,
bie ich unten bei (Selegenheit bes Verhältniffes oon Hecht
unb XHoral ausführen toerbe.
Raffen roir bas gewonnene Hefultat 3itfammen, fo impli-
3tert ber Begriff ber Sitte 3tr>ei Htomente: bas ber 2111*
gemeinfyeit (Sitte = Volfsfitte) unb fobann bes Sichtigen
(Sitte = ZTorm). Das erfte ZHoment ber Allgemeinheit ift
bie Quelle bes 3tr>eiten, bie t>erbinbenbe Kraft ber Sitte be«
ruht barauf, baß fie burch bas allgemeine Ejanbeln bes Dolfs
als rid^tig unb nota>enbig erprobt tr>orben ift.
7) Sprachliche 2lbgren3ung ber Sitte x>om
Sittlichen.
Die Sitte bilbet fprachlich unb fact^Itcf? ben Jlusgangspunft
bes Sittlichen, aber fte enthält nur ben 2tusgangspunft, nicht
bas Sittliche felber, lefeteres ift vielmehr fprachlich tt>ie fach-
lich t>on ber Sitte genau 31t unterfcheiben. <£ine ^anblung
fann gegen bie Sitte oerftoßen, aber fte ift barum nod} nicht
unfittlich, unmoralifch* <Db bie Spraye, inbem fte beibes
Die Sprache* — Unterfcfyetbuttg ber Sitte r>om Sittlichen* 23
genau unterfchieb, [29] bas Hichtige getroffen, werben roir
feine^eit erfahren, roenn roir bas gioecfmoment bes Sittlichen
3um <5egenftanb unferer Unterfuchung machen, an ber gegen*
roärtigen 5teIIe Ijaben toir bas ZHaterial, welches bie
Sprache uns bietet, feiner Kritif 3U unterwerfen, fonbem 3U
gewinnen.
Der (ßebanfe, welcher ber Sprache 3ugrunbe liegt, ift:
auch bie Sitte perpflichtet, aber in anberer IDeife als bie
XHoral. 5ür bie Verpflichtungen, welche lefetere auferlegt,
bebient fie fich ber 2lusbrücfe: jtttlich, moralifch, für bie Der*
pflichtungen ber Sitte J^at fie eine Heihe anberer 2lusbrücfe,
bie roir fyer 3ufammenftellen.
gunächft ben ber Sitte felber. Ztiemanb fagt von bem*
jenigen, ber lieblos gegen bie Seinigen, fyartfye^ig gegen bie
2trmen ift: er oerftoße gegen bie Sitte, noch umgefefyrt oon
bemjenigen, ber bie Sitte übertritt, 3, 23. bie üblichen Um*
gangsformen außer acht lägt, er fyanble unmoralifch, unfittltch.
3n beiben fällen fefet er ftch über (ßebote hinweg, bie er
als für fich oerbinblich anerf ernten follte, aber bie (Sebote
pnb wefentlich oerfchiebener 2trt. 2ln ber gegenwärtigen
Stelle, wo roir noch nicht in ber £age finb, bie innere IDefens*
oerfchiebenheit beiber 3U entwicfeln, was nur mit «guhilfe*
nähme bes gweefmoments gef drehen fann, mag 3ur oor*
läufigen Deranfchaulichung bes (ßegenfafees ein (5efichtspunft
genügen, ben, wie ich glaube nachweifen 3U fönnen, bie
Sprache felber babei oor klugen ha*, ift &er (Segenfafc
3wifchen [30] bem äußeren unb bem 3mxem ober ber $oxm
unb bem 3nhalt bes f^anbelns. (£s ift berfelbe (ßegenfafe
in be3ug auf bas Ejanbeln, wie er in be3ug auf bas Sprechen
3toifchen bem grammatifalifch richtigen 2tusbrud ber (Sebanfen
unb bem richtigen (ßebanfeninhalt befteht; bie Sitte bebeutet
für bas £janbeln basfelbe, was bie (ßrammatif für bas
Sprechen: bie forrefte 5orm,
2\ Kapitel IX. Die feciale UTed^anif. Das Sittliche.
<£s i# überrafcfyenb, mit toeldjer Klarheit unb Sicherheit
bie Spraye biefen (Seftchtspunft ber form bes Ejanbelns
erfaßt unb burchgeführt I|at; unb es h<*t für mich einen hohen
Hei3 gehabt, ihr babet 3U folgen, ich bin von neuem erjiaunt
getoefen über ben feinen Caftfinn, ben fie auch hier roteberum
bettfährt.
Unter ben IPenbungen, beren fie fich bebient, nimmt bie
erfle Kelle ein bie form. XDie fie r>on Sprachformen
fpricht, fo auch von Umgangsformen ober t>on formen
{d]led)tl)in. <£in ZTIann „von formen" (auch in ben romemi'
fetjen Spraken, 3. 23. im Spanifchen hombre de formas) ift
ber jenige, welcher fein äußeres SeneBjmen im DerfeB^r fo
einrichtet, roie bie Sitte es ihm Dorf einreibt, exnXÜann „ohne
formen", welcher fich barüber hinwegfegt ober fte nicht
fennt, toie ber TXiann ber unteren (SefeHfchaftsfchichten, beffen
Benehmen 3eigt, baß er nicht t>on (ßefchlecfjt (ba^er ,,un«
gefchlacht", ähnlich „ungentil" t>on gens), nicht „von familie"
iji, benn bie gute form ift bas IDerf bes bei biefer JDenbung
im 5inne von „gut" gemeinten (Sefchlechts, ber familie. form
fdjled)t^in [31] ift alfo n>ie Sitte fchlechthin (S. \S) bie gute,
es fehrt B^ier ber bei Gelegenheit ber lefeteren nachgetsiefene
(Sebanfe rsieber, baß basjenige, was fich im £eben als Hegel
herausgebilbet t|abe, bas richtige fein müffe. J)ie Über»
treibung ber form über bas richtige ZlTaß hinaus begrünbet
ben Donourf bes förmlichen, formellen, Steifen, bie
Demachläffigung berfelben ben bes formlofen. Die Dor*
fiellung, rt>eld?e bie Sprache bei ber form im 2luge h<*t, iji
bie eines äußeren (bafyer bie »Dehors« = de hors 00m
lateinifdien de foris = r>on außen), welches 3um 2nnetrx
ljin3ufommt Das 3nnere ohne bie jtch hin3ugefeltenbe form
iji „roh, unfein, ungehobelt, ungeglättet, plump,
maffiü"; fommt bie form tiin^n, fo wirb bas Benehmen
„fein, glatt, geglättet, poliert".
Die Sprache* — Sitte* Umgangsformen. £ebensari I?öflidj?eit 25
Diefelbe Porftellung toieberholt fich in ben bem mittel*
alterlichen manuarius (von manus, alfo urfprüngltch = h<*nb*
lieh) entnommenen 2lusbrücFen bes italienifchen maniera,
fran3Öjtfch mani£res, englifch manners, fpantfeh maneras,
beutfeh ZTlanier (ein Zttann von ober ohne Zllanieren,
manierlich, unmanierlich). €benfo in bem bem £atei>
nifchen facies (= äußere (Sejlalt, 5orm) entnommenen fran*
3Öjtfchen unb auch ins Deuifdje ^^übergenommenen fagon
unb bem englifchen fashion.
Zlatie t>ertx>anbt mit biefer DorfteHung ber 5orm ift bte
ber 2lrt, b. Ij. bes Cypus, ber (ich im £eben in be3ug auf
bte Umgangsformen als feftjlefyenber I^erausgebilbet hat. JX>ie
Sitte unb 5orm ohne nähren §ufafe bie richtige, [32] gute
moolsieren, fo auch 2lrt. Der XlTann, ber jte befolgt, ift
„artige, tiat „£ebensart", fefct er fich über jte hinweg,
fo h<*t fein benehmen „feine 2lrt", es ift „unartig"*).
2lls Dorbilb ber richtigen 2lrt gilt ber Sprache biejenige,
roelch^ fich Brf Ejofe ausgebtlbet h<*t: öie 2lrt bes I^ofes,
baher bie ^öfltd|fett, ttalienifch unb fpanifch cortesia,
fran3Öjtfch courtoisie, englifch courtesy (vom mittelalter-
lichen curtis == £|of, bah^r corte, cour). Darauf toeiji
auch bas JDort (Salanterte 3urücf. 2tus bem arabifchen
hhali (= Schmuc!) h<*ben bte Spanier ben 2lusbrucf gala
(= fjoffleib) gemacht unb baraus bas 2lbjeftit>um galante
unb bas Subftanthmm galant eria als 23e3eichnung für bas
benehmen bes in Qoftracfjt (in „<5alla" richtiger ,,(5ala") <£r>
fchetnenben, b. i. bes fich ber £(oft»eife 23efleif$igenben, tt>as
bann bei bem bejiimmenben €influ§ ber fpanifchen i}of*
*) Der 2Jusornc? nrirb übrigens in gemtffen IDenbungen audj com
Sittlichen gebraucht: „aus ber 2lrt f dalagen", entarten, ein „entarteter
Ittenfdj", tpätjrenb artig, unartig, Cebensart ausfdjlie§lid? fid? auf bte
Sitte be3tefyen.
26
Kapitel IX. Die fatale mecfjamt Das Sittliche.
etifette auf bie übrigen JEjöfe allgemeiner Sprachgebrauch
geworben ift.
2luch in bem bas porfchriftsmäßige Benehmen bei X}ofe
be3eid)nenben JDort (Etifette wieberholt jtch bie obige Vor*
ftellung ber $otm, welche als etwas rein äußerliches bem
3nt^alt aufgeheftet wirb: etiquette ift ber auf gef lebte gettel.
2Iußer bem £}of als Quelle ber Ejöflicfyfeit nennt uns bie
Sprache noch eine anbere, es ift bie IDeife bes [33] Hüters.
3n faft allen mobernen Sprachen erfcheint feine JDeife als
Porbilb ber feinen 5orm, baher: ritterlich, chepaleresf,
Kapalier (vom lateinifchen caballüs = pferb, bafyer cabalero,
cavalliero, cavaliere, chevalier , chevaleresque) , nur baß bie
Dorfteilung, welche bie Sprache babei im 2luge h<**, über
bie bloße 5orm bes Benehmens I^tnausgel^t unb auch bie
(ßejinnung mit umfaßt,
2luch „Hlobe" fchließt ftch biefem Dorftellungsfreife au.
2luch fie ift eine 5orm, bie ftch im Ceben ausgebilbet fyat,
nämlich bie übliche 5orm in be3ug auf bie <5egenftänbe, bereu
man ftch für fein perfönliches Bebürfnis bebient, insbefonbere
i)ie Kleibung. 2)as ZDort ftammt r>on bem lateinifchen modus
= ZHaß unb 2lrt, lefeteres pon ber Sansfritwur3el ma =
meffen, pon ber auch mos = bie Sitte , b. i. bas ZHaß bes
fjanbelns, abftammt (f. oben 5. 2\, Zlote).
2llle Schönheit beruht auf ber 5orm, unb bamit gewinnen
wir einen neuen wichtigen (Seftchtspunft für bie Sitte, es ift
ber bes äfthetifch Schonen. Die Sprache wenbet ihn nur
auf bie Sitte, nicht auf bie ZTloral an. Der 21usbrucf, mittels
beffen fte es tut, ift 2lnftanb. Hiemanb be3eichnet eine fttt-
liche €at ober tEugenb 3. B. Danfbarfeit, Selbftperleugnung,
Züahrheitsliebe als anftänbig, niemanb einen jtttlichen ZTTangel:
£ügenhaftigfeit, (Braufamf eit, Bachfncht als unanftänbig. 3)ief er
beiben 2lbjeftipa fowie bes Subftantipums 2lnftanb bedienen
wir uns nur für bie äußere, burch bie Sitte porgefchriebene
Die Sprache. Die Sitte* äftfjetifdjer (Seficfytspunft* 27
[34] 5orm bes Settel} mens. 2lnftcmb ijt bas jenige, tr>as
bem ZTTanne ff roof^I anfleht", il^rt fcfymücft, ifyt3iert, tfyn
gut fi^t tt>ie ein gut angepaßtes, angemeffenes Kleib (baBjer:
paffenbes, unpaffenbes, angemeffenes, unangemeffe*
nes Benehmen). 3)as 2lnftänbige 3tert, bas Unanftänbige
t>ermt3tert. Diefe 2)oppelbebeutung bes Sdjmucfes, ber «gierbe
unb bes Siebentens liegt audj bem lateinifcfyen decet, decus
unb bem griecfyifcrjen Tcpercov 3ugrunbe, nur ba§ beibe Spraken
babei ben (Beftcfjtspunft bes äftfyetifcfy Schönen ungleich weiter
crfirecE en als bie beutfctye (fteBje unten). Die griecfyifdje Sprache
gefyt fogar forseit, ben äftfyetifcfyen (Seficfytspunft bes Schönen
felbft auf bie Cugenb an3Utt>enben unb fte to xaXov 3U nennen.
Unfere beutfcfye Sprache fyat ben (Beftcfytspunft, fotoeit id?
fyabe ftnben tonnen, nur in 3tr>ei fällen auf bas Cugenbgebiet
übertragen. <£s ijl einmal ber fcfyöne (Sebanfe, in bem fte
fldj mit ber griedjifdien unb Iateinifcfyen begegnet, ba§ bas
IDoljtoollen einen perflärenben, äftfyetifd? fcfyönen Bei3 über
bas gan3e Xüefen bes ZHenfcfyen verbreitet. 2)as iDofylmolIen
ifi bie ZHutter ber (5ra3ien. Don yß-?1^ (= <5unft, JEjulb)
bilbet ber (Sriedje bie (Söttinnen bes £iebrei3es: bie £fyari*
tinnen (x*PtTe0f pon ^cm Pnn' un^ fpt4ad)t>eru>anbten gratia*)
ber Homer feine (Stadien (gratiae), von „Ejulb" ber [35]
Deutfcfye feine „Ejulbinnen, Efulbgöttiunen", t>on fyolb (= ge*
neigt; bas „tjolb unb geroärtig" bes Cefytseibes, (Srunbljolben)
*) Über Me jpradjlidje Dermanbtfcfyaft beiber f* <£♦ Curtius,
(Srunb3Üge ber griedjif djen (Etymologie, ilufL S*J[98; XVux$el char,
bafyer ^oupw idj freue midi, ^api; (Sunfi, u. a. m., gratus, ujotjltDollenb,
geneigt, gratia, (Smtji, tDofyltt) ollen. (2s ift bies etitmal ein redjt fdjlagenbes
Beifpiel bafür, t»ie Unrecht bie (Etymologen tun, tsemt fie, ttne t^ter
gefdjetjen (f. bariiber Curtius S* 120), bei itjren etymologtfcfyen IIb*
leitungen bas fadjlidie ITComent gar 3U gering anfdjlagem Die Über*
einftimmung ber im (Eejt nadjgennefenen 2luffaffung ber beutfcfyen
Sprache mit ber grtedjtfdjen unb Iateintfcf/en 3eigt, ba§ w'it es fyier mit
einem (Sebanfen t>on tiefer pfydjologifcfyer IDafyrfyeit 311 tun tyabm.
28
Kapitel IX. Die feciale XHed?amf. Das Sittliche*
bas Ejolbe unb fyolbfelig. €s ift alfo bie f}ulb, toeldje fdjön,
t>oIb(cIig mad\t Das 3tt>eite öeifpiel ift bte Ableitung bes
„lieblichen" unb bes f,£iebrei3es", alfo bes äfttjetifd? Schönen
von „Ciebe", bie £iebe wie bas XPofyfooIIen machen ben
Ifienfcfyen fdjön.
2tbgefeB}en t>on biefen 3tx>ei 5äHen, befdjränft aber bie
beutfdje Sprache ben (ßefidtfspunft bes äft^etifd? Schönen
ausfd?ltepd} auf bie äußere 5orm bes fjanbelns: ben 2ln*
jlanb. Der 2tnftanb gilt ifyr als 3nbegriff, als Kanon bes
burd] bie Sitte* sorgefcfyriebenen 23eneBjmens, unb fie bebknt
ftcfy 3ur 23e3eid?nung fetner perpfüdjtenben Kraft bes 2lus«
brudfs: (Sefefe ((Sefefce bes 2lnftanbes) unb Pflicht (Jtnftanbs*
pjltditen, aud? (Ehrenpflichten). 5ür bas bem 2Inftanb ober
ber Sitte entfpredjenbe Ejanbeln t^at fie 3toei 2Iusbrücfe, beren
fie fich in 2tnroenbung auf bas Sittliche ober bas Hecht nie
bebient, ba beibe lebiglich bas rein äußerliche ber (grfcheinung
3um (Segenftanbe haben: benehmen (Curnüre) unb IDefen.
Ztiemanb, ber fid} im Deutfchen forreft ausbrüefen toill, fpridit
von einem unfittlichen, egoiftifchen ober felbftoerleugnenben,
ftttlichen [36] Benehmen, 2TCit bem festeren IDorte bringt
er nur 2lbjeftit>a in Derbinbung, bei benen man bie Sitte als
IHaßftab anlegt, roie 3« 23, anftänbig, paffenb, fchicflidj, taft*
x>oü, geroanbt uftr>, unb bie entfpredjenben Negationen: un«
anflänbig, unpaffenb x\\vo. Der (SEinbrucf, ben bas (Segenteil
bes 3U beobachtenben Benehmens tyvvoxvnft, toirb mit bem
IDort: „2tnftoß, Perjioß" be3eichnet, bas roieberum niemals
für bas Sittliche gebraucht tüirb, u>ährenb „Ärgernis" bereits
auf festeres 3ielt.
2Tlit bem 2Iusbruct „IDefen" t^at es eine eigentümliche
23et£>anbtnis, er pereinigt 3tr>et gerabe entgegengefefcte Se«
beutungen in fich* Die eine serfefet uns ins 3nnere unb
3nnerfte ber Dinge« 3m (Segenfafc 3um äußeren Sd]ein, an
bem ber Süd bes minber (Beübten fyaften bleibt, feljrt biefe
Z)ie Sprache. — Die Sitte: ^ettefjmett, Vöt\tn* 29
öebeutung bie innere Subftan3, bie Seele bes Dinges Ijert>or.
3n biefem Sinne fprechen wir 00m IDefen ber Dinge, ber
menf deichen Freiheit, bes Hechts ufw., es ftnb bie Bjöd^fien
Probleme ber phtlofophie, bie mit bem IDorte IDefen nam-
haft gemalt werben» Die anbere bagegen hält ftch aus-
fchließlich an bie äußere €rf Meinung , unb $wat an bie bes
IHenfdjen, aber nicht bes ZTienfchen in abstracto, fonbem
eines gan3 beftimmten 3n^^^uums* 3n biefem Sinne
fprechen wir von einem lieblichen, anmutigen, h^nrifchen,
freuen, eefigen, linfifchen IDefen. Den (Segenfafe 3U IDefen
in biefem Sinne bilbet ber (Eharafter; wie jenes uns bas
Außere, fo 3eichnet biefer uns bas 3nnere bes ZtTenfchen.
[37] IDoher nun jener befrembenbe IDiberfpruch in ber
Doppelbebeutung bes 2tusbrucfs? <£s ijl gar fein IDiber-
fpruch, bie Sprache h<*t xnelmefy: auch ^ier wie immer bas
nichtige getroffen. 5ie fefct bas IDefen bes XHenfchen nicht
in bas rein äußerliche als folches, fonbern fte erblicft in
bemfelben ben 2lusbrucf bes 3nnern, ben IDiberfchein bes
C^arafters; es ift ber (Sebanfe, baß bas innere IDefen bes
ZHenfchen in feinem Süßeren 3ur <£rfcheinung gelangt, in
bem lieblichen, freunblichen bie Ciebe, bas IDohlwoHen, in
bem h^fchfüchtigen ^ie I^errfchfucht, in bem fcheuen bie
innere Unftcherheit. Daß bas IDefen auch etwas bloß äußer-
lich eingenommenes, eingelerntes fein fann, ein 5intiß, ben
ber Ulenfch aufgelegt h<*t, um fein „wahres IDefen" 3U ver-
bergen, fteht bem nicht entgegen, bie Sprache hält ftch bei
jebem eiusbrucf an bas normale Derhältnis, unb bas bejleht
eben barin, baß bas IDefen in bem einen Sinne ber Jtusbrucf
bes IDef ens in bem anbern Sinne b. i. bes (£hara?ters iß.
ZHit „benehmen" unb „IDefen" pflegen wir neben fonftigen
2tbjeftit>en, beren wir uns nur für fte bebienen, auch einige
anbere 3U oerbinben. <£s jtnb: „gefittet unb ftttfam" im
(Segenfafe 3U „fittlich", unb „ehrbar unb ehrfam" im
30
Kapitel IX. Die feciale HTedjamL Das Sittliche»
<5egenfaft 311 „ehrlich". 3eber, toelcher bie beutfehe Sprache
fennt, ioeiß, ba ß von liefen eiben <5egenfä&en bas erfle <5lteb
nur auf bas Benehmen unb äußere lüefen, bas $voe\te nur
auf ben €i|araftcr 21nrt>enbung fmbet. 5ittfam ift bas ZHäbchen,
tr>eld}es bereits in feiner [38] äußeren <£rfcheinung ben €in«
bruef echter 3ungfräulichfeit macht, biejenige 5arte Scheu,
gurüdi|altung, 5d\am befunbet, in ber toir bei th™ ben 2lus*
bruef jungfräulicher Heinheit erblicfen. Sittfamfeit ift bas
(Segenteil ber Dreiftigfeit, Frechheit. 3lber bie Sittfamfeit
ift nur etu>as äußerliches, fynter bem fich bie Unftttlidjfeit
unb Unfeufchheit verbergen fann, fie gehört ba^er nicht bem
(5ebiete bes Sittlichen, fonbern bem ber Sitte an. €benfo
verhält es fich mit „gefittet". <£in „gefüteter" ZHann fann
höchft unfittlich fein, es ift nur ber äußere Schliff, ben er
ber fi^iehung verbanft, roelchen roir mittels biefes präbifats
il^m suerf ennen ; ber „tf ngefittete", bem fie abgebt, fann unter
biefer mangelhaften 2lußenfeite einen ungleich höhten fttt«
liehen 5onbs in fich bergen, als ber <5efittete. „Sittlich" ba*
gegen geht ftets auf bas 3nnere bes Ifienfchen: feine <Se«
finnung, feinen Charafter, feine moralif chen (Srunbfäfce.
(San3 basfelbe gilt für ben 3toeiten (Begenfafc von „ehrbar
unb ehrfam" unb „ehrlich". 2)ie beiben erften 21usbrücfe
treffen tvieberum nur bie 2tußenfeite: bas benehmen, fte ftnb
völlig äquivalent mit ftttfam. „Ehrlich" bagegen geht auf
bie <5efmnung, es 3eichnet uns ben Zfiann, ber innerlich ettvas
auf fich hält, bem feine „<£hre" bas ift feine perfönlid^e Selbft*
achtung, höher fteht, als ber Dorteil, ben er burch Unreb«
lichfeit erlangen fönnte, tvährenb ber tf<£l\vbaveil nur äußerlich
etwas auf fich hält, tvomit fich Unehrlid^feit verträgt, tvie
umgefehrt [39] ein „unehrbares" b. i. freches JDefen mit
£hrlichfeit.
Vev Wext biefes 3)oppeIpaares von 2tusbrücfen für unfern
&xoe d erfchöpft fich nicht barin, baß fte uns einen neuen Beleg
Die Sprache. — Die Sitte» Sitte unb (Efjre*
31
geben für bte fcharfe <Sren3fcheibe, welche bie Sprache in
be$uQ auf Sitte unb Sittlichfeit beobachtet, fonbem baß fte
bemfelben Stammwort: Sitte unb €t|re $toei fo gätt3lt<ä^ vev
fchiebene Bebeutungen entlegnen. 3n meinen 2lugen t^ätte
bie Sicherheit, mit ber bie Sprache über ihre 2lnfchauung
von Sitte unb Sittlichfeit verfügt, nicht glän3enber bewährt
werben fönnen, als inbem fie bei ber Bilbung bes 2lbjef*
tipums ein unb basfelbe Subftantit) in boppeltem Sinn aus*
prägt, einmal im Sinne bes rein äußerlichen: ber Sitte,
bes 2htftanbes, ber äußeren übte, fur3 bes Benehmens, bas
anbete VCia\ im Sinne bes 3nn er liehen: ber Sittlichfeit, ber
inneren <£fyce, fur3 bes <Zl\avaftevs. Schon bei bem Stamm*
worte felber muß bie Sprache ftch biefes (5egenfat$es 3wifchen
bem 3nnern äußeren flar bewußt gewefen fein, ftch »er*
gegenwärtig! iiaben, baß bie Sitte in ihrer urfprünglichen
hiftorifchen (Seftalt als ZTieberfchlag unb <£rfcheinungsform
ber IDeife bes Dolfs ebenfowohl formen über bie moralifche
Bestimmung bes IPillens wie über bas äußere Perhalten bes
ZHenfchen in fich birgt, unb baß bie <£l\ve im fubjeftwen Sinn
als Selbftfchät$ung ftch ebenfowohl im äußeren Benehmen als
im f^anbeln bewährt. Sprachlich fichtbar wirb biefe [40]
Unterfcheibung aber erft in ben 2Ibjeftit>en, fte finb bie bir>er*
gierenben Cinien, bie an bem punfte, wo wir fte treffen,
einen weiten 2Ibftanb üoneinanber bilben, bie aber, wenn wir
jxe 3U ihrem Schnittpunfte 3urü(f oerfolgen, bereits ftch getrennt
haben müffen, um fo weit auseinanber3ugehen. Der Schnitt«
punft ift ber urfprüngliche Doppelbegriff ber Sitte unb ber
<£tye — wer ihn nicht annimmt, fteht r>or einem fprachlichen
HätfeL Daß bie „Sitte1', nachbem fte bas Sittliche aus ftch
entlaffen, im Sprachgebrauch fpäter eine engere Bebeutung
angenommen, bie Züchtung ber einen £inie eingefdjlagen hat,
fteht bem nicht im £üege, bie <5efd]ichte ber Sprache bietet un<
3ähüge Beifpiele einer folchen Verengerung bes urfprünglichen
32
Kapitel IX. Die feciale ntec^anif. Das fittltdje.
Sinnes, einer Verengerung, bie anbererfeits eine €rtoeiterung,
PerpoIIfommnung bes fpradjlidjen Denfens in ftdj fdjlteßi
gu den 21usbrü<fen, beren roir uns im T>eutfdien eben-
falls nur für bas „Benehmen" bebtenen, gehört fobann nodj
„taftt>olI unb taftlos", unb bamit berühre idj einen Be-
griff, ber uns, roenn tt>ir ber Anregung, bie er barbietet,
5olge leiften, bas inner jle (Seäber bes fpradtlidjen Denfens
enthüllt. 3d? mochte fagen: Der Segriff bes Caftes ijl ein
ZTert>, ber, roenn toir it|n 3urücf oerfolgen, in bas «gentralorgan,
ber Sprache füt^rt; man famt i^n nidjt präparieren, oI>ne
ifyn bis in feinen Urfprung 3U perfolgen unb eine Heifye
anberer ZTert>en bloßsulegen.
Unter Caft in bem Sinne, ben it>ir fyer mit i^m t>er«
b\nbmt [41] perfteljen tsir ben fieberen Creffer bes (Sefü^Is
in Dingen bes 2tnftanbes, er be3eidjnet alfo eine poten3ierung
bes Sdjidlidifeits* ober 21njlanbsgefüljls. 2lber biefes ZHo-
ment ift es nicht allein, roelc^es i^n t>on lefeterem unter-
f Reibet, fonbern bie Sprache beamtet im (5ebraudje biefes
Jtusbrucfs noch eine feine Ituancierung* Saft iji nicht bas
Schicflichfeitsgefühl in feiner fritifchen 5unftion, in ber
basfelbe ftch gleichmäßig in ber Beurteilung bes fremben toie
bes eignen Benehmens betätigt (bas Schicflichfeitsgefühl als
Urteils! raft), fonbern in feiner prafttfdjen 5unftion als
Iüegu>eifer für bas eigene ^anbelm Von einer fremben
unf endlichen Jjanblung fagen unr nicht, baß jte unfern Caft,
fonbern baß fte unfer Schicflichfeits* ober 2Inftanbsgefühl per-
lene, Bei Saft benfen u>ir alfo bloß an ben (Einfluß, ben
letzteres auf bas Benehmen ausüben foQ, felbftoerftänblich
nicht bloß auf bas unfrige, fonbern auch auf bas frembe,
unb in biefem Sinne be3eichnen tt>ir ein Benehmen, welches
bagegen rerftößt, als taftlos unb fprechen bem jenigen, ber
ss jtch ^at 3uf Bulben fommen laffen, ben £aft ab, Jlber
bies Urteil fällt nicht unfer Caft, fonbern unfer Schief lieh*
Die Sprache* — Die Sitte; Cafi
33
fettsgefüfyl. Saft aljo ift bie Bewährung bes Sdjtcflid}*
feitsgefüfys im fjanbeln.
<5an3 benfelben Unterfcfyieb macfyt öie Sprache in bejug
auf bas 5ittIid?feitsgcfü^I unb bas (Beziffert. Don
einer fremben unfittlidjen fjanblung fagen tx>ir nicfyt, bajj jte
unfer <5etoiffen, fonbem, bag fie unfer Sittlicfyf eitsgefüfyt
[42] t>ertefce. Dagegen fpred^en toir bemjenigen, ber jte
t>erübt fyat, bas „(Setxnffen" ab unb be3eidjnen [eine J^anblung
als eine „geroiffentofe". Die Sprache unterfdjeibet alfo audj
hier ttueberum 3tr>ifcfyen ber fritif djen unb prafttfdjen
^unftion bes (Sefüfyls. Das (ßeroiffen bebeutet für bas Sitt<
Iidje basfelbe, was ber Ca!t für bie Sitte»
Damit fönnten tr>ir uns begnügen, wenn es blo§ barauf
anfäme, audj an biefem punfte bie fpradilidje Unterfdjeibung
ber beiben Sphären ber Sitte unb Sittlidjfeit 3U fonftatieren.
ZITan ftct)t, bie Spraye bleibt ficfy aud] l}ier toieberum treu,
fie be3eid]net bas ber Sitte unb ber Sittlidjfeit entfpredjenbe
fubjeftit>e <5efüfyl mit 3tx>ei r>erfd]iebenen Hamen, bas eine
als 2lnftanbs* ober Scfycflidjfeits*, bas anbere als ftttltdjes
ober Sittlid]feitsgefüf}l, unb für beibe bilbet fie in be3ug auf
ifyre praftifcfye Betätigung im fyanbeln 3«?ei befonbere Hamen:
Caft unb <5eu>iffen. Die Behauptung u>irb feinen IDiber*
fprudj finben, ba§ unfere beutfcfye Sprache ben obigen Unter*
fdjieb in einer IDeife ausgeprägt Ijat, bie nichts 3u trainfdjen
übrig lägt, er gehört 3U ben am flarften erfaßten unb am
genaueren burcfygefüfyrten Unterfcfyieben ber beutfcfyen Spraye,
insbefonbere fyat fie babei bie Sitte mit gan3 befonberer Dor«
liebe befyanbelt, fie bietet für biefelbe eine eigentüm*
lieber IDenbungen auf, gegen toeldje ber iDortoorrat, ben jte
für bas Sittliche r>em>enbet, ftd} faft als 2trmut ausnimmt
| eine (2rfdjeinung, für bie tr>ir [43] unten tnelleidtf imftanbe
fein roerben bie <£rflärung 3U finben.
Dieselbe <£rfdjeinung, toelcfye roir für bas (ßebiet ber Sitte
v. 2 h e ring, Der §wed im Kcdjt. II. 3
3^ Kapitel IX. Die fötale medjantf* Das Sittliche.
im Saft, für bas bes Sittlichen im (ßeunffen nachgetoiefen
haben, tt>ieberhoIt ftch auf bem bes Schönen im <5efchmacf.
2)er (ßefchmacf perhält ftch 3um Schönheitsgefühl, roie ber
Caft 311m Schicfltchfeits*, bas (Sewiffen 3um SittltchfeitsgefüB>I,
b. h. er ^at ausfchliepch bie praftifche 5unftion bes Schön*
heitsgefühls 3um 3nhalt im (Begenfafe ber fritifchen, b. h*
bie Betätigung besfelben in ber eignen (5eftaltung bes Schönen.
Das Unfdjöne, bas toir bei anbern wahrnehmen, beriefet
nicht unfern (ßefchmaef, fowenig wie bas Unfchicflidje unfern
Caft ober bas Unfittliche unfer (Sewiffen, fonbern bas erfte
t>erlefet unfer Schönheits*, bas 3weite unfer Schief lichfeits*, bas
britte unfer Sittlichfettsgefühl — (Sefchmacf, Caft, (5ett>iffen
bewähren ftch im fyanbeln, nicht im Urteilen.
<§um vierten VTiaU wieberbolt fich bie (£rfcheinung auf bem
(Sebiete bes Hechts in (Seftalt bes jurtjlifchen Cafts.
Unter lefeterem serftehen wir ben Creffer bes juriftif dien
(Sefühls in ber (Entfcbeibung fchwieriger Hechtsfragen, alfo
bie praftifcfye 5unftion bes geläuterten Hechtsgefühls bes
3urijkn. €ine perfekte €ntfcheibung Deriefet nicht ben Caft
bes 3uriffen, fonbern fein Hechtsgefühl, für bie fritifche 5unf*
tion bes lefeteren hebknen wir uns biefes 2Iusbrucfs, nidit
bes 2Iusbrucfs Caft ZDir haben bamit folgenbes Schema
gewonnen; [44]
Das Schöne.
Sie Sitte.
Das Sittliche.
3)as Hecht.
Schönheitsgefühl.
Schicflichfeits*,
^nftanbsgefühl.
Sittlichfeitsgefühl.
Hechtsgefühl.
(ßefchmadf.
Caft.
(Sewiffen.
3urijlifcher Caft.
2lus bem Bisherigen ergibt ftch, baß toir es h^r ^it
einem wohlerwogenen, t>olIftänbtg 3U €nbe gebachten <5e*
banfen ber Spraye 3U tun h^ben. <£s mu§ einen triftigen
(ßrunb h^en, baß biefelbe Scheibung ber praftifdjen t>on
Die Sprache. — Die Sitte: Cafi
35
ber fritifcfyen 5unftion bes (SefüE^ls (b, I ber fubjefttoen 2ln«
eignung ber Hegeln in $otm bes Unbetonten) jtdj auf allen
r>ier (Sebieten toieberljolt. 21uf ben erften 23li<f Bjat es ettoas
23efrembenbes, benn roenn einmal biefelben Hegeln, burefj
roeldje xdt midi bei meinem Urteil über frembe ^anblungen
leiten laffen barf unb foH, auf mein eignes J^anbeln 2lmr>en*
bung erleiben, roarum ben teueren 5att befonbers Jjerrw
heben? 3ft bas (Sefüfyl, bas midi bei meinem I^anbeln
leitet, ein anbetes, als bas mir mein Urteil über frembe
fjanblungen biftiert, ift es nacfyfidjtiger, ober umgefe^rt
(trenger? darauf foll uns ber Caft unb 3tsar 3unädjft ber
Caft im f03ialen Sinne bie 2tnttoort geben; fpäter roirb ftd?
Seigen, baß basfelbe, toas für ifyi, aud} für ben Caft im
jurijiifdjen Sinne 3utrifft
8) Steigerung bes Scfyicflidjf eitsgef üljls
[45] 3um Caft
Das Wovt Caft roeift uns etymologisch auf bas (Sefü^l
3urücf, es ift bas lateinifdje tactus (von tangere = füllen,
berühren, treffen)« 2lber im 2)eutfd]en t>erbinben u>ir bamit
eine Zlebenbebeutung, bie in bem lateinifcfyen U)orte nicht
liegt (bie Horner bebienen fich bafür ber IDenbung: rem acu
tangere = ben Hagel auf ben Kopf treffen), nämlich bie
einer Steigerung besfelben: bes fein entoicfelten (ßefüfyls
ober Caftfinns (bes „5ühlers")- Caft ift bie Sicherheit bes
(ßefüfyls, welches in Schwierigen Cagen bas Htchtige trifft,
toir fönnen fur3 fagen: ber fidlere Creffer bes (Sefüfyls.
Diefe Sebeutung fyat bas IDort auch im muftfalif chen Sinn,
es be3eid]net fyer bie Sicherhett bes (Sefühls für bas muft*
falifche Seitmag, ben HfyYtfymus, T>er lefetere Sinn ift ber
ursprüngliche, ber objeftise (Caft = Caftart) ift ber abge-
leitete, übertragene, rx>as ich nur bestjalb bemerfe, um ben
oerlocfenben (ßebanfen, als ob ber Sprache bei ber Silbung
3*
36
Kapitel IX. Die fatale 2Hed?amt Das Sittliche.
bes Wortes Caft im fetalen Sinne bie PorfteHung bes
mufifalifcheu HhY*h™us porgefdjrpebt h<*be, fernhalten*
2)ie Steigerung bes (BefüBjls für bas Schiefliefe, toelches
ber Segriff Caft in fid] begreift, betpährt fich an ben 3tt>eifel*
haften fällen, an ben fritifchen lagen, in benen er, perlaffen
von ben Hegeln, bie ihm an bie J^anb gegeben finb, felb*
ftänbig bas nichtige, b. f. bas ihrem Sinn unb ihrer Be*
ffimmung gemäße 3U treffen fyal Caft [46] ift nicht bie
bloße mechanifdje #mpenbung ber Hegeln, bie fchablonen*
mäßige Befolgung berfelben, 3U ber es nur ber 2lbrichtung,
bes äußeren Schliffs bebarf, fonbem Caft ift bie Bewährung
ihrer perftänbnispoHen Aneignung burch <2rgän3ung, 3ort*
bilbung berfelben in gälten, wo fie ihn im Stiche laffen, ber
3urift roürbe fagen: burch analoge 2tusbehnung. Caft ift
Sipination in Singen bes 2Inftanbs, praftifches <£mpftnbungs«
permögen, ber Creffer bes (5efühls, toie ich mich ausbrüefte.
<2s ift alfo nicht bie praftifche 5unftion bes Schief lichfeits*
gefühlt alz folche getpefen, tpelche bie Sprache fich gebrungen
fühlte befonbers ^ert>or3uI^cbcn, als fie ben 2Iusbrucf Caft
fchuf, fonbem bie angegebene Steigerung besfelben, fie
bofumentierte bamit basfelbe Derftänbnis für bie (Eigenartig*
feit biefer €rfcheinung, tpie bie 3urt5Pruben3, als fie ben
Begriff ber analogen 2lntpenbung fchuf* ließen bie Hegeln
bes 2Inftanbes unb bes Hed]ts fich \o erfchöpfenb aufhellen,
baß fie für alle 5älle ausreichten, fo tpürben beibe Begriffe
auf biefen (ßebieten feinen Haum gefunben fyaben, fie per»
banfen ihre (£^iften3 lebiglich ber Un3ulänglid]feit ber Hegeln
unb ber bamit gegebenen XTottpenbigfett ihrer perftänbnis-
polten (£rgän3ung burd] bas Subjeft
(San3 basfelbe gilt für ben (ßefchmaef in be3ug auf bas
Schöne, 2üich Ijier ift es tpieberum nicht bie bloße praftifd]e
Betätigung bes Schönheitsgefühls, tpelche bie Sprache mit
biefem £>ort ausbrühen tpill, fonbern bas Vermögen besfelben
Die Sprache* — Saft, (Sefcfymacf, (Seunffett*
57
3ur eignen, felbftänbigen (Erfindung. [47] Der <ßefd}macf tt>ie
ber Caft ijl erfinberifd?, er gefyt über bie bloße ^lac^a^mung
gegebener ZHufier, über bie bloße Befolgung feftftefyenber
Hegeln hinaus, er t>erfud]t fid? felber.
Diefer (Seftcfytspunft betsäfyrt ftd? aucfy beim Caft im
juriftifcfyen Sinne« Don ifym fprecfyen rr>ir nur beim 3uriften,
nxdit beim Caien. &)arum? IPeil bie Steigerung bes <Se*
füfyls, tr>eld)e ber Caft impli3iert, fyer bes Hecfytsgefüfyls, bas
Pirtuofentum in Dingen bes Hecbts nur beim 3uriften möglidj
ift; nur in feiner perfou finben fid) bie Porausfefeungen,
bamit bas Hedjtsgefüfyl fidj 3ur fyödjften Blüte entfalte, 2TTan
toenbe mir uicfyt ein, baß es ßdj in biefem 5<*ße nidjt um
bie praftifcfye, fonbern um bie fritifdje ^unftion bes Hedjts*
gefügte Ijanble, ba ja ber 3ul'if* ben juriftifcfyen Caft nid?t
im fyanbeln, fonbern im Urteilen bewähre, benn ber
3urift, tt>elct?er urteilt, fyanbelt, barin eben beftefyt fein
praftifdjer Beruf . Pon biefem praftifcfyen <£rfmbungst>ermögen
bes 3urijien unterfdjeibet bie Sprache gan3 fein bas juriftifcfye
IPafymefymungsDermögen. Das ift ber juriftifdje Blicf, bie«
felbe <£igenfd?aft, bie toir beim 2tr3t als Diagnofe be3eid}nen.
2Hit ber bloßen €rfenntnis beffen, roas ift, ift es aber in
praftifcfyen Dingen nod) nidtf getan, es foll geholfen werben,
unb bies Vermögen, bas richtige praftifcfye Ejifsmittel auf3it*
finben, ift es eben, bas bie Sprache im Unterfcfyiebe von bem
juriftifdjen Blicf bei bem juriftifdien Caft im 2luge Fjat.
[48] <£s bleibt uns nodj bas <Setx>iffen. iPie Caft unb
(SefcfymacE ift audj bas (Betoiffen Berater in eignen 2tngc*
legenfyeiten, uicfyt Hid^ter in fremben. <§tr>eifelljaft ift nur,
ob unb inwieweit bie Sprache bamit 3ugleid), n>ie bei jenen,
bie Dorftellung einer Steigerung bes entfprecfyenben (Sefüfyls
perbinbet. (Senzig nicfyt in bem Sinne, baß jte bamit eine
nur in befonbers günftigen Sagen 3ixr Keife gebeifyenbe Blüte
bes Sittlid]feitsgefül]Is be3eid]nen sollte, IPäfyrenb Caft unb
38 Kapitel IX. Die fatale tTCedjantf* Das Sittliche.
<5efdjmacf Vorzüge bilben, meiere nicfyt jebem eignen, unb
bie 3u if^rer Slusbtlbung ber befonberen (Sunft ber Umftänbe
bewürfen, liegt ber Spraye biefe Dorfteilung beim (Seroiffen
gänslidj fern, jte betrautet basfelbe als eine (Eigenfdjaft, bie
man bei jebem in gleicher tDeife t>orausfefeen barf, als einen
Beftanbteil ber normalen 2lusftattung bes Xllenfdjen, ben
niemanb erjt befonbers 3U erwerben ober erji burefy Übung
aus3ubilben B|at, 21ber in anberem Sinne lägt ftdj boefy ber
(Sebanfe einer Steigerung bes entfprecfyenben <5efül|ls audj
beim (Settnffen aufredet erhalten, nämlich in bem, baß bas
ftttlicfye (gefügt in 21ntr>enbung auf bas eigene S^anbeln ftd>
in einer günftigeren Sage befinbet als bei ber Beurteilung
frember £}anblungem Bei lefeteren liegen uns in ber Hegel
mdjt bie r>oHftänbigen Daten 3ur Beurteilung t>or, toir fefyen
nur bie äu§ere t£at, ber €mbli<f in bie Seele bes fyanbelnben
unb in feine ZKotive iji uns t>erfd}loffen, toir fyaben nur ben
ein3elnen 2lft t>or uns, nid)t ben gufammen^ang [49] bes«
felben mit ber Vergangenheit bes XHenfcfyen, feiner <£r3iefyung
ufro., ber fo oft ben ein3ig richtigen Scfylüffel 3U ifyrer SEr*
flärung barbietet, toäfyrenb uns alle biefe inneren unb äußeren
gufammenfyänge bei ber eignen Cat befannt fmb. Darum
barf man fagen: eigene ^anblungen ift man beffer in ber
£age 3U beurteilen, als frembe, b. fy. bas (Betreffen urteilt
richtiger als bas Sittlicfjfeitsgefüfyl. freilief? gibt es fein
Urteil häufig erft ab, toenn es 3U fpät, toenn bie Qanblung
bereits gefc^el^en ift, unb fyolt in ber frttifcfyen 5unftion erft
nadj, was es bei ber praftifdjen serfäumt fyat, unb nacb
biefer Seite E^in trifft ber Dergleicfy mit bem Caft unb (5e*
fcfymacf nicfyt 3U, bie fkfy ausfcfyließlicfy im ^anbeln beroäfjreu.
2lber bas ift toteberum allen brei gemeinfam, ba§ es bie
3toeifelI|aften fragen, bie fritifdjen fälle jtnb, in benen ftc
ftdj erproben» $nv bas Sittliche be3eicfynet bie Sprache bie*
felben als „<Setx>iffensfragen" (casus conscientiae in ber
Die Sprache. — Das (Senriffen* Die 23etdjte* 39
Sprache ber theologifdjen ilToralfafuiftif bes ZTlittelalters),
nicht als „ftttliche fragen". Vamxt fagt fte uns: über pe tjat
nur ber Qanbelnbe f elber ein Urteil, ein ^Dritter foH fich bes
Urteils enthalten, roenn er nicht t>on ihm felber ins Pertrauen
unb 3U Hate exogen ift, tt>ie es bie fatfyolifcfye Kirche in ber
perfon bes Beichtvaters ermöglicht — eine (Einrichtung, ber
xdl, obfehon felber proteftant, boch ihre Berechtigung unb
ihren I)o^en IDert nid^t abfprechen fann, ba fte bem £>tt>eif*tn«
ben ftatt ber bto§ fubjeftipen eignen Autorität bie objeftise
[50] Kirche als Hücfhalt in 2lusftd|t fteHt unb ber firchlichen
Doftrin ben 21nla§ geboten fyat, bie tE^eorie bes Sittlichen
nidjt ausschließlich unter bem rein tüiffenfchaftlichen <5efichts«
punfte ber fithtf, fonbem 3ugleich unter bem praftifdjen ber
ZHoralfafuiftif 3U behanbeln. Cefctere perhält [ich 3U jener
tt>ie bie 3u^^P^ben3 3ur Bechtsphtlofophte, ^r 3we& ift ber
ber 21nroenbung auf bie fonfreten Derhältniffe bes Cebens,
es ift bas 23ebürfnis eines forum internum, bem fte gan3 fo
Stbhtlfe 3U gewähren fucht, roie bie 3urispruben3 bem bes
externum.
9) Sie Sitte — 5ortfchritt bes fprachltchen
3>enfens feit bvem Altertum.
3ch fomme 3ur Sitte noch einmal 3urücf, sticht, toeil td|
in be3ug auf ben punft, ber uns bei biefer rein fprachltchen
Unterfuchung allein intereffiert: ihre fcharfe fprachliche Unter-
treibung t>om Sittlichen, noch etroas nach3utragen hätte, ich
habe bas IHaterial, bas ich 3U biefem §>wed auf3ubieten t>er<
mochte, erfchöpft, unb ich glaube, bajj es pollfommen aus*
gereicht fyaben wirb, um biefen punft über aßen <§u>eifel 311
erheben. Was xd\ \\xev noch 3U tun gebenfe, befteht vielmehr
barin, ben IDert besfelben ins richtige Sicht 3u fefeen unb
bem Cefer bie Über3eugung 3U serfchaffen, baß er barin eine
£eiftung ber beutfehen Sprad^e t>or fich fyat, welche einen
Kapitel IX. Die feciale flTedjamf* Das Sittliche*
tr>ertt>ollen ^ortfd^ritt unb eine bauernbe Bereicherung ber
£thif enthält (Ein Pergleich mit ben [51] beiben Kultur*
fprachen bes Altertums roirb btes üerbienft unferer XHutter«
fprache bartun ; es ift ein Stücf aus ber (Sefdjichte bes Senfens
ber üölfer, ber ftch jlets fortfefeenben unb ablöfenben 2lrbeit
berfelben an ber Cöfung eines unb besfelben Problems.
Das Problem beftefyt in ber Scheibung ber brei serfchie*
benen Seiten ber gefeßfchaftlichen (Drbnung: Sitte, Zfioral,
3ed>t.
Die niebrigfte Stufe ber fittlichen €ntu>icf lung , t>on ber
alle Völhv ausgegangen ftnb, 3eigt uns biefen <5egenfa£ nod?
in feiner (Sebunbenfyeit Das ift ber Stanbpunft ber grie*
djifchen 2tuffaffung: fte ift ausgeprägt in bem griechifchen
3i'x7]*)* Die gan3e ©rbnung bes Cebens: Sitte, Sittlichfeit,
Hecht, alles ift 8(x7j. XDer fie beamtet, ift Stxaiog, tt>er fic
mißachtet, aSixos, ohne baß babei bie Porfchriften bes bürger*
Siefen <ßefet$es, ber 2Tforal unb bes 2tnftanbes unterfchiebeu
ipürben. Ai'xaios ift ber ZHann, tr>ie er fein foll, ber etwas
auf ftch ^ält, aSixos fein iDiberfpiel, gleichmäßig ber Der*
ächter bes (Sefetjes ttne ber (5ottIofe, ber ööfe, freche unb
Schamlofe. Selbftperftänblich ift bamit nicht gemeint, baß bie
(5ried]en, bie fotoenig roie ein anberes Kulturt>olf bes (Sefe&es
entbehren fonnten, nicht auch ben Segriff besfelben richtig erfaßt
hätten, fie unterfcheiben fogar bas göttliche unb [52] menfehliche
(Ö£[jli<; unb vojxo;). Sonbem tx>as ben 2lusfchlag gibt, bejieht
barin, baß fie jenen unbeftimmten allgemeinen Begriff t>ou
SfxYj bauemb beibehalten ha^n, unb baß fie ihn felbft 3ur
Be3eid>nung beffen, roas bem (ßefefe gemäß ift (tö Sfxaiov)
ober ihm rr>iberfprid]t (to aoixov), nicht entbehren fönnen.
Die Unbestimmtheit ber griedfifchen etfyfchen 2tuffaffuug
*) €s entfprtdjt unferein berufenen „2Xrt unb tDeife" unb ftammt
r>on ber XDur3eI die (= 3etgert/ grieefy* ostavuii/., lai dicere, goi zeigom;,
<S* <£urtitts, (Srunb3iige ber (jried?* (EtymoL (2IufL S*
Die Sprache.— tticfytunterfcfjet^ v. Hecfyt, Sitte, Stttlicfyf* im Altert. q<\
ftetgert jtcfy noch baburch, baß ber (ßrieche mit bem ethifchen
(Sefichtspunft, tote oben (5. 27) bereits bemerft toavb, auch
ben äfthetifchen perbinbet. Das (Bute (aya&äv) ift 3ugleich
bas Schöne (xaXov). X>as bekannte ZlTufterbilb ber (Sriechen:
ber xaXoxcfya&os faßt beibes 3m: (Einheit 3ufammen, unb fo
lägt frch behaupten, baß bas Sittliche auf griechifd^em Soben
tseber feine Spaltung in fich, noch auch feine Scheibung vom
äfthetifchen Donogen Ijat.
Dag jene mangelnbe Unterfcheibung ber perfchiebenen
5eiten bes Sittlichen nicht etwas national (ßriedjifcfyes ift,
tx>as bei bem pfylofopfyfdj fo eminent beanlagten grtechifchen
Volt am roenigften 3U glauben toäre, fonbem baß jte nur
ein ber nieberen <£nttt>ic?lungsftufe angehöriger <§ug ift, ergibt
ber Pergleich mit anbern Dölfern, 3, 3* bem jübifchen. Wie
bas griecfyfche 8(xyj, fo be^exdinet auch bas Ijebräifd^e Misch«
pat gleichmäßig Hecht, Sitte, Sittlichfeit, nur baß Mischpat
nicht ben lüillen bes Dolfes, fonbem (Sottes hinter fich Ijat
2llles ift Mischpat: bas Bitualgefefe foroohl, welches unferer
„Sitte" entfpridjt, [53] wie bie 3ehn (ßebote, in benen ZlToral
unb Hecht noch ununterf Rieben nebeneinanber liegen, (Sans
basfelbe gilt com dhärma ber ^nbev.
3n Horn bei bem Dolfe bes Hechts reißt ftd] bas Hecht
pon Sitte unb ZHoral los, unb innerhalb bes Hechts f elber
x>oD3iel|t ftch eine Scheibung, bie 3tr>ar ben (Sriechen theo«
retifch bereits befamtt, von ihnen aber nicht praftifch burch*
geführt worben war: bie 3wifchen bem göttlichen unb
menfd]lid?en Hecht (fas unb jus) mit äußerfter Klarheit unb
t>olljiänbigfter Durchführung, inbem für beibe gweige nicht
bloß eigentümliche, ftreng gefcfyebene (Srunbfäfce aufgeteilt
werben, man fann fagen: 3wei felbftänbige SYfieme bes
Hechts, fonbern befonbere öehörben eiugefefet werben, benen
bie pflege unb fjanbhabung berfelben anvertraut ift (bie
pontifoes, ^etialen, Auguren auf ber einen unb bie weltlidien
^2
Kapitel IX. Die fetale Xtlecftanif* Das Sittliche*
ZTfagiftrate auf ber anbem Seite *)♦ Dagegen bleiben Sitte
unb ZTioral fprachlich in ungetrennter (Semeinfchaft, bie latei-
nifche Spraye l\at es nicht 3U einem 2lusbrucE gebracht, ber
ausfchließlich bie eine von beiben träfe, fie ift genötigt, fxet^
für beibe 33egriffe besfelben 2lusbrucfs 3U bebienen: mos,
mores. 3a fie benufet benfelben fogar auch für bas <ße*
toohnheitsrecht. Die fprachlich mangelnbe Ausprägung bes
legten 23egriffs iji noch ber lefcte toaljmefymbare Heft ber
ur anfänglichen 2luffaffung, tseldje alle [54] Seiten bes Sitt*
liehen 3ur (Einheit bes Segriffs 3ufammenfa]3te, ein fofjtles
Stücf aus ber Ur3eit,
ttnfere beutfehe Sprache ^at bas lefete noch fehlenbe (ßüeb
aus ber (Bememfchaft ausgelöft unb basfelbe, txne oben nach*
getmefen, mit einer Klarheit unb 23efiimmtheit ausgeprägt,
bie jebe Pertsechflung ausfchliejjjt. Die Sitte ift tyev 3um
erften ZHale fprachlich nicht bloß abgehoben t>om Sittlichen,,
fonbern in ihrer (Eigenart aufs fdjärfjie inbioibualiftert unb
charafteriftert, bie Sprache ha* für fie einen Heichtum x>on
IDenbungen, ich möchte fagen eine 5üöe t>on Farben auf*
geboten, um ihr 23ilb aus3umalen, gegen toelche bie 2lrmut
ber ZHittel, welche fie für ihre beiben Schtoefiem auftx>enbet,
fchroff abfticht Die Sitte iji bas Schoßfinb ber beutfehen
Spraye»
Der Sprachfchafe bes Hechts im Deutfdjen ift ein äugerft
geringer, er fällt 3ufammen mit bem XDorte Hecht unb feinen
Derix>atir>en. Der ber Sittlichfeit ift fchon ein etwas erheb*
Iicherer, toir werben ihn fofort fennen lernen. 2Jber bor
£öu>enanteil fällt ber Sitte 3U. Sie jianb bem Volt, als es
bie Sprache bilbete, offenbar am nächjien, es ift ber tsarmc,
soHe pulsfchlag bes Iebenbigen Polfsgefühls, ber in biefem
*) Das Weitere gehört nicht fyerl|er, f* darüber meinen „(Seifi &es
röm. Hecfjts" I, § *8, {8 a.
Die Sprache* — Die Sitte* — Sprachliche lltmut bes Hechts* ^3
Stücf ber Sprache pulftert, tt>äfyrenb berfelbe immer \diwad\ev
wirb, je toeiter rotr uns von bem jenigen , was bas Volt
f elber gef Raffen, entfernen unb uns demjenigen nähern, voas
nxd\t bas Volt metjr ma<ht/ fonbem ber Staat: bas Hecht.
Wo t>ie IDiffenfchaft beginnt, B^ört ber reiche Strom ber
Sprache 3U [55] fliegen auf, bie 2Iusbrücfe toerben immer
dürftiger, ärmer, magerer. 21m reidjfyaltigfien ift er auf bem
(gebiete ber Sitte, auf bem bie tüiffenfchaft jtch bisher nicht
fyat bltcfen laffen. 2luf bem (gebiete bes Sittlichen tritt fie
3ix>ar bereits als Cfyeorie auf, aber fie entlehnt ifyren Stoff
bem (gefüfyle bes Dolfs* Sei bem Hechte bagegen befmbet
fie ftch auf einem (gebiete, auf bem bas Polf, abgefetjen pon
bem engen Haume bes (getoofynljeitsrecfjts, feinen geftaltenben
«Einfluß ausübt, ber oielmefyr ber Heflejrion bes (gefe^gebers
unb ber begriff bilbenben tEättgfeit ber IPiffenfcfyaft 3ufällt.
Diefer (Stabatxon vom Volte 3ur XDiffenfehaft, t>om Unbe*
roußten 3um Senaten entspricht bie entgegengefe&te in be3ug
auf bie 2hisbilbung unb ben Heihtum ber Sprache. 3* a*>'
ftrafter ber Denfftoff, befto fonfreter unb ärmer bie Sprache,
\tatt bes oft erbrüefenben Überfluffes an IDorten unb Wen>
bungen für (gegen jiänbe unb 21nfdjauungen, bie bem Polfe
nafye liegen, eine 2lrmut, bie nicfyt feiten ooQftänbiger ZlTangel
ift unb bie ZTötigung in ftch fcftüeßt, in manchen 5äHen einen
Segriff, fiatt 3U benennen, lebiglich 3U umschreiben ober burch
5rembroörter aus3ubrücfen. Selbft bie Synonyma, rx>el<he bie
Sprache für einen Segriff bes Hechts früher in (gebrauch
batte, jierben nad] unb nach ab, roenn berfelbe aus ben
fjänben bes Dolfs in bie ber IDiffenfchaft übergebt, wie
bies 3* S. bei bem „(gerooljnfyeitsreht" ber 5aE ift, für
welches alle anbern 2(usbrücfe, mit benen ber Dolfsmunb
basfelbe einft be3eichnete: ^erfommen, [56] Srauch, Übung,
(getoofynljeit biefem einen plafc gemacht fyaben.
3h faffe ben 3n^<^It biefer fprachgefchichtltchen 2lusfüt|rung
Kapitel IX. Die fo3taIe Ittechantf* Das Sittliche.
überfichtlich 3ufammen, inbem ich bamxt basjenige t>erbinbe,
ir>as bie votieren Sümmern uns für bie ttnterfchetbung ber
t>erfchtebenen Sphären ber gefcllfcl^aftlicf^en (Drbnung abge=
trorfen I^aberi»
JQ Die tatfäcfylidje (Drbnung bes Dolfslebens, bie (Sets ofynljett.
2) Unterfdjeibung bes perbinblicfyen mtb bes ntd?t perbmblidjen (Teils
berfelben als (SetDoljnljeit uitb alle Seiten ber ftttlicfyen (Drbnung
Utnfaffenbe Sitte (Sfouq, Mischpat, dhärma).
3) 2(usf Reibung bes Hechts in feiner pollften Selbftänbigfeit burefy bie
Homer*
Das Hecfyt* <Segenfat$: mos, mores
a) Das fas. (Sitte unb ITtoral — beibe nod? eins)*
b) Das jus.
4) Scfyeibung ber Sitte r»om Sittlichen burefy bie (Sermanen.
Das Ked?t Das Sittliche im en* Die Sitte (ftttfam,
(rechtmäßig, unrecht geren Sinne, bie ITIoral ehrbar, anjiänbig,
mäßig, rechts mibrig), (flttltd?, unftttltd?, mora=* f c^tcf lic^ , paffenb,
(Setpolntlieitsrecfyk. Iifdj, umnoralifebj* 3iemlid? uftt>*)*
5) <£ntfpred?enbe Unterf Reibung ber fubjeftipen 3mmanen3 biefer brei
Seiten ((SefübJ).
Das Hechtsgefü^U Das Sittlid?f eits* Das Schief licfyf eits*
gefü^L ober 2fn#anbs*
gef ÜI7L
<ö) 2Sefonbere fjerporfyebung ber praftifcfyen (funftion besfelben*
Der juriftifcfye Das <Sea>iffen* Der feciale Zaft
Caft.
gu ben brei gefeHfchaftlichen ^mpexativen, mit benen
biefe Cabeße fch ließt: Sitte, ZHoral, Hecht, I^at bie moberne
IDelt noch einen vierten I)in3ugefüc3t, ben toir I|ier 3unächft
noch übergangen fyaben, ba er an biefer Stelle [57] fein
3ntereffe für uns fyatte, bem tr>ir aber feiner3eit un(ere 2tuf*
merffamfeit 3uroenben tx>erben: bie 2Hobe, unb bas poflftänbige
Schema ber fo3talen ^mp^vatxve (einen Segriff, ben wir
bemnächft rechtfertigen toerben), nach ZTJaßgabe ber (ßraba*
Hon i^rer fo3ialen Sebeutung, ift:
0 ZHobe,
2) Sitte,
Die Sprctcbe* — Das Sittliche unb bie Sitte.
3) inoral,
4) Hecht
IDtrb eine fommenbe geit bie Scheibung noch weitet fort«
fefeen? 3ch I^alte es nicht für unmöglich. 3n Süte
fteefen 3tx>ei bwergente demente, bie ich f erneuert bei ihrer
fritifchen Betrachtung barlegen werbe, unb bie vielleicht eine
fommenbe geit burch bie entfpredjenben fprachlichen 2lusbrücfe
genau t>onemanber fcheiben wirb.
\0) Das Sittliche. — Die Jlusfagen ber Spraye. —
Konfrontation bes Sittlichen mit ber Sitte,
Wix fefeen unfer Perhör mit ber Sprache fort, inbem wir
es auf bas Sittliche ausbehnen. IDir wiffen, baß fie le&teres
genau r>on ber Sitte unterfcheibet, aber was fie ftch unter
bemfelben benft, ift uns 3ur3eit noch unbefannt. Wix be«
fchränfen unfer Perhör aber nicht auf bas eine IDort, an
welches fie ihre Porftellung fnüpft, fonbern wir oerbinben
bamit alle btejenigen, welche 3U bemfelben in irgenbeinem
Derfycütnis, fei es ber Derwanbtfdjaft ober bes (Segenf a&es
flehen, fur3 wir 3ieh*n [58] auch bie fprach liehe Umgebung
jenes IDortes in ben Kreis ber tfnterfuchung. iDie ber
Hichter bei feinem Derhör nicht bloß ben 2lngefchulbigten
oernimmt, fonbern alle geugen, beren er ha*>haft werben
fann, fo werben auch wir bie fprachlichen «geugen, fo3ufagen:
bie begrifflichen Nachbarn oorforbern, um von ihnen über bie
(Breden, bie ihr (5ebiet von bem ftreitigen bes Sittlichen
fcheiben, 2tusfunft 3U erhalten, €s finb bas Sittliche, bas
gweefmäßige unb ber (Egoismus.
3nbem wir 3uerft ben Sprachfchafc für bas Sittliche felber
unterfuchen, fonftatieren wir 3unächft bie überrafchenbe <£nt-
haltfamfeit, welche bie Sprache in biefer Se3iehung beob*
achtet. IDähreub fie für bie Sitte, wie oben uachgewiefen,
eine XTTenge pon fprachlid] perfchiebenen 2lusbrücfen unb
46 Kapitel IX. Die fötale IKedjami Das Sittliche.
IDenbungen 3utage gefördert fyat, entlehnt fte ihren gefamten
tDortfchafe für bas Sittliche: fittlich, unfittlich, SittltdEj*
feit, Unfittlichfeit, Sittengefefc, Sittlichfeitsgefühl
bem einen &)ort: Sitte, unb felbft bei ben ber lateinifchen
unb griechifdjen Spraye entlehnten 2tusbrücfen: moralifch*),
ITIoral (mos, mores), ethifch unb Ctljil behält fte biefe
Anlehnung an bie Sitte bei*
Diefelben finb nicht völlig fvnonym, bie Spraye beob*
achtet 3tt>ifchen ihnen vielmehr folgenben Unterfdjieb. Set
„ethifch" hat fte bie C^eorie bes Sittlichen (<EÖjif) [59]
im 2luge, ethifch t>erhält fich 3u fittlich, tr>ie juriftifch 3U reebt*
lieh, u>\t hobeln fittlich, rechtlich, nicht ethifch, juriftifch,
tx>ir urteilen ethifch, juriftifch« Sittlid] unb moralifch toirb
in ber Hegel gleichbebeutenb gebraust, iDer genau fpred^en
unH, betont mit ZTforal unb moralifch ben (Segenfafc 3U
Hecht unb rechtlich, b. h* negiert bamit bas ZIToment bes
äußeren gtoanges, roährenb er mit Sittfichfeit bloß bavon
abjirahiert <£ine moralifche Derbtnblichfeit in ber Sprache
bes 3uriften (bie naturalis obligatio ber Horner) ift bie jenige,
rselche rechtlich nicht er3toungen werben fann, fte bilbet ben
(Segenfafe 3U ben rechtlich er3u>ingbaren, ber ghnlserbinblich*
feit (obligatio civilis)« Die XHorat als Dis3tplin befchränft ftd?
auf biefe rechtlich nicht er3tr>ingbaren Dorfchriften bes Sittzw
gefefees. Das Sittliche ober bas Sittengefefc bagegen umfaßt
auch bas Hedjt mit, t>on feinem Stanbpunft aus erfcheint bas
ZlToment bes äußeren g>rt>anges als gleichgültig, bas <£nt<
fcheibenbe tft bie innere Derbinblidjfeit für bas Subjeft.
Die breimal fich uneberholenbe fprachliche Anlehnung bes
Sittlichen an bie Sitte (mos, ^&o?) bea>eift, baß tt>ir es hierbei
nicht mit einer 3ufäHigen, fonbern mit einer 3tx>ingenben £>or<
*) Das latetntfdje, bem grtedjif d?en ^txo; Ttadjgebilbete moralis
flammt r>on Cicero, ttne er felber (de fato c. X) fcemerfi
(SetnemfdjaftlgefcfyidjtLtt. solfstümLItloment in Sitte mSittlidjf eil ^7
Teilung ber Sprache 3U tun {jaben. Cefetere permag fich ben
Segriff bes Sittlichen nicht anbers 3U benfen, als tnbem fte
ben ber Sitte 3U ^ilfe nimmt Der (Bebanfe, ben fte babei
im 2tuge I|at; ijl bie Ijijlorifcfoe (Entftehung bes Sittlichen aus
5er Sitte» 23eibe entwicfeln fich aus bem Ceben bes £>olfs
als ZTormen, welche fich [60] burch bie (Erfahrung als not«
wenbig bewährt haben. Sowenig bie Sitte etwas rein
3nbh>ibueHes ift, welches bas Subjeft aus fich felber ent-
nehmen fönnte, ebenfowenig bas Sittliche; für beibe bebarf
es bes Volts unb 3war bes gefchichtlidjen Cebens bes Polfs:
ber gefeEfchaftlichen (Erfahrung, um fte ins Däfern 3U rufen.
Damit h<*t bie Spraye uns ein höchft wichtiges UToment
für bie 23egriffsbeftimmung bes Sittlichen angegeben, bas bie
IDiffenfchaft 3U ihrem größten Schaben bisher nur 3U fehr
aus ben 2tugen gelaffen h<*t, unb bas wir unfererfeits bem-
nächft perwerten werben. <£s ift bas Xttoment bes (5 efchi cht*
liehen unb bes Polfstümltchen. Sowenig wie bas 3^bim*
buum bie Sprache aus fich 3U entwicfeln permag, ebenfowenig
bas Sittliche, beibe enthalten Aufgaben, bie nur bas £>olf
in ber (5emeinfamfeit feines Cebens 3U löfen permag*).
Das hijforifche unb polfstümliche ZHoment: bie (gemein-
famfett bes Urfprungs iji bas jenige, was bie Sitte unb bie
Sittlichfeit ber Sprache 3ufolge miteinanber teilen, jte fmb
gwiüingsfchweftern, beren IDege fich aber balb trennenf
inbem fte fich 3U 3**>ei befonberen, felbftänbigen Segriffen ge*
ftalten, welche bie Sprache genau auseinanberhält. Dies ift
oben (Ztr. 7) bereits nachgewiefen: bie Sprache bebient fich
für bie Sitte eines reichen Schates pon JDenbungen, welche
*) für bie Sprache nacfygenriefen in ber fyödjfi gebanfenretcfyen
Schrift von £ubtDig iXo\x6t £ogos, Urfprung xmb IDefen ber Be-
griffe, J£etp3tg 1885. Der (Srimbgebanfe bes Buddes fur3 tpiebergegeben
lautet: Die GEntftefyung ber Sprache frtüpft an bie gemetnfame (Eätig-
feit an.
48 Kapitel IX. Die feciale medjattif. Das Sittliche.
fie für bas Sittliche nie gebraucht, unb 3tt>ar tiaben toir bort
gefehen, baß es ber <5eftchtspunft ber äußeren 5orm bes
Handelns tt>ar, burch ben fie bie Sitte oom Sittlichen abgebt
Sie bietet uns aber noch einen anbern <5efichtspunft 3ur
Hnterfcheibung beiber bar, ber für bie 2trt, tt>ie fte fich it^r
Verhältnis benft, höchft charafteriftifch ift.
Die Sprache rebet von einer „£anbes*, Stanbes*,
Dolfs*, ©rts*Sitte", nicht von einer ,,£anbes», Stanbes*,
Polfs-, ®rts*Sittlichfeit", 2TJit biefem einen guge bat
fte bas unterfcheibenbe JDefen beiber flar zeichnet, es if*
ber <5egenfafc bes bloß bebingt unb bes abfolut 23inbenben.
(Seben roir bem (Sebanfen, ben bie Sprache bamit oerbinbet,
21usbrucf, fo fagt fie baburch folgenbes aus. Die Sitte ifi
etroas lofal, national, fo3ial 23ebingtes, fie binbet nur ba,
roo fte befteht. Die Sitte laffe ich, toenn ic^ auf Heifen
gehe, in ber Ejeimat surücf unb or bne mich ber £anbesfttte
unter, felbft roenn fte pon ber meiner ^eimat noch fo [ehr
abdeicht. 21ber bie Sittlichkeit begleitet mich auf ber Heife
um bie IDett, eine unftttliche £(anblung: 23etrug, Diebftahl,
Völlerei, (Ehebruch roerbe ich felbft unter einem tr>ilben Dolfe,
bei bem jte an ber Cagesorbnung ftnb, unb bas in ihnen
nichts Jlnftößiges erblidt, nicht mit anbevn 21ugen anfehen
als bahetm. Unb roie bie Sitte mich nur ba binbet, u>o fte
befteht, fo auch nur fo lange, als fie befteht, ihre perpjKich*
tenbe [62] Kraft beruht iebiglich auf ihrer Catfädilicbfeit;
hat fte aufgehört 3u eyiftieren, fo liat fie fernerhin feine
binbenbe Kraft mehr für mich* 2tnbers bei ber Sittlichfett.
Sie behält für mich ihre t>erpflichtenbe Kraft, auch u>enn
Caufenbe fte mit 5üßen treten, ihre Autorität ift von ber
Cat[ächüchfeit völlig unabhängig, benn mein jtttliches Urteil
erfennt bie äußere JDirHichfeit nicht als XHaßftab bes Sitt<
liehen an, fonbem probiert auf fleh felber, auf feine eigene
innere IDahrheit unb füblt fich babet t>on berfelben guperftd]t
Die Sprache. — 2UIgememgülttgfett ber flttltcfyett (Sefetse* ^(J
beseelt, xok ber Denfer, toeldjer eine tPafyrfyeit gefunden Ijatf
mit ber er einfam ber gan3en &)elt gegenüberffeljt
Wir haben bamit einen für bie (Eharafterifiif bes Sitt-
lichen nad? 21uffaffung ber Spraye I^öc^fi nichtigen gug
gewonnen: ben bes allgemein (Sültigen* Das Sittliche
nach PorfteHung ber Sprache fennt feinen Unterfdjieb von
Canb, Hang, Staub, es richtet feine (Sebote gleichmäßig an
alle Klaffen ber (SefeUfdjaft unb an alle X>ölfer. Darin liegt
3ugteich, ba§, gleid?tr>ie es bem Wnterfchiebe bes £anbes unb
ber Ztationalttäf feinen (Einzug 3ugefteht, es ebenforoenig ben
Unterfchieb ber geil anerfennt. Der <5egenfa£ x>on 0rt unb
geit, t)6Hig maßgebenb für bie Sitte, iß für bas Sittliche
ohne Bebeutung, bas Sittliche t>inbi3iert ftch ben Cfyarafter
bes 2tbfoIuten. (Db biefe 2luffaffung faltbar iß ober nicht,
gilt uns fyer gleich, es fommt nur barauf an, ob fte ber
Spxadie 3ugrunbe liegt, unb biefer 53ad]tr>eis ifl bamit [63]
erbracht, baß bie Sprache bie 2TTögIichfeit eines befchränften
Geltungsgebiets, bie fte für bie Sitte ausbrüdElich betontf für
i>as Sittliche nicht anerfennt
\\) Die 2tusfagen ber Sprache. — Konfrontatton
bes Sittlichen mit bem «gtoeef mäßigem
(Eine 23orm für bas freie menfehliche ^anbeln getoährt
auch bas «gtoeefmäßige. IDorin unterf Reibet es fief? t>om
Sittlichen?
Die Sprache djarafteriftert basfelbe als basjenige, was
im „gtr>ecf" fein „2Tlaß" ftnbet, alfo als bas bem «gmeef
„yngemeffene". 5ür bas <§tr>ecfmäßige ift bemnach ber gvoed
bas ZTTaßgebenbe, er roirb als gefefet gebacht, bas <gtr>ecfmäßige
hat ihn nur 3U ©ermitteln, 3U sertsirflichen, b. h- bas richtige
ZHittel 3U fuchen. Daraus ergibt jtch ber Unterfchieb 00m
Sittlichen. Cefeteres 3eichnet bie gtoeefe t>or, bas «gioedmäßige
bie ZTTittel, bie <£thtf ift bie Cefyre t>on ben «groeden, bie
p. 3 gering, Der gmeef im Hedjt. II. ^
50
Kapitel IX. Die feciale medjantf. Das SMxty.
politif bie von ben 2TEitteln. Da§ lefetere nur in 2ln«
it>enbung auf bie <§>tr>ecfe bes 5taats, b, i. auf bie richtige
Derfolgung bes allen 2Tüt$lid)en im (Segenfat* 3U bem blo§
inbit>ibuell Zlü^lidjen, unffenfdjaftlidj ausgebildet ifl, tut
ber Weite biefes Segriffs feinen €intrag. politif mit (Eilpf
umf äffen bas gan3e (Bebiet bes menfd]Iid)en J^anbelns, einerlei
ob bie Staatsgewalt ober bie prtoatperfon als Ijanbelnb ge-
badet wirb; erftere foll ebenfotoenig unfittlid), tote letztere un*
3toedmä§ig fyanbeln. 2lu§er biefen [64] beiben ZtTajsftäben,
roelcfye bas Subftantielle bes fjanbelns betreffen, gibt es nod?
einen brüten, toelcfyer bie 5orm 3um (Segenftanbe Ijat, es ift
ber äftfyetifcfye, ben, tt>ie tr>ir oben (S. 26) gefel>en fyaben,
bie Sprache ebenfalls auf bas J^anbeln 3ur 2lmx>enbung bringt.
Die obige 2tbgren3ung bes gtoeefmäßigen gegenüber bem
Sittlichen läßt jtdj in boppelter We\\e bemängeln. Seibe
Segriffe fcfyeinen babei r>erfür3t 3U fein. <§unäd)ft bas g>voed*
mäßige. XDir beiexdixxen bod? nic^t bloß bie WabJ, unge-
eigneter ZHittel, fonbern aud] bas Setzen perfekter gtoedfe
als un3n?e<fmägig. Der €inroanb erlebigt fidj burdj bie
Helatipität bes gtoeefbegriffs. Der groect b, 3U bem a bas
JHittel enthält, fann feinerfeits toieberum nur ein ZHittel für
ben «gtoeef c fein (a = 2lrbeit, b = Vermögen, c = (Senufc),
ber §we<£ richtet por bem ZHenfdjen eine £eiter auf, auf ber
jebe Sproffe 3U ber r>ort)ergel)enben im Derfyältniffe bes
§weds, bagegen 3U ber näcfyft höheren im X>ert)ältniffe bes
ZHittels ftefyt Die Beurteilung unter bem <5eftd]tspunfte bes
gtoeefmäßigen fann jtcfy lebiglidj an bas Derfyältnis pon a
unb b galten, jte fann aber aud? bas bem fjaubelnben felber
r>ielleid]t entgetjenbe Derfyältnis uon b ju c ins Jluge f äffen;
in bem 5aHe he$e\<t\net jte bas Sefeen von b als un3mecf*
mäßig, bemängelt alfo fdjeinbar ben Str>ecf , in ZDirflidtfeit
aber bas ZlTtttel (b im Derljältnts 3u c). (Segen bie fittlidje
Xüürbigung foroo^I bes gtoeefs tt>ie bes Littels perbält jte
Die Sprache* — Das Sittliche* Per^ältnis 311m groecfmägigett* 5^
fich pollfommen indifferent; der 23randftifter, [65] ZHörder
f^at 3tpedmägig gehandelt, roenn er dafür Sorge getragen
I^at, dag feine Cat den getpünfchten (Erfolg fyatte und nicht
entbedt werben fonnte.
Dom Standpunfte des Sittltd] cn aus lägt fich jene
<ßren3fd]eibung damit bemängeln, dag das Se&en eines
«gtpedes die ZDahl der richtigen ZHittel impli3iere. Schreibt
das Sittliche getpiffe «gtpede por, 3. 23. (E^iehung der Kinder,
Unterftü^ung der hilfsbedürftigen, fo perlangt es damit auch
die entfprechenden ZHittel. Pollfommen richtig! Allein diefer
praftifche ^ufammenhcmg 3tpifchen «gtped und ZHittel fchliegt
die felbftändige Surteilung beider nach den perfchiedenen
ZHagftäben des Sittlichen und des gtpedmägigen feinestoegs
aus. tDir tperden der ZHildtätigfeit unfere fittliche 2lner-
fennung nicht perfagen, auch roenn fie fich in der VOal[{ des
ZTiittels pergriffen h<*t, tpir tpürdigen fie lediglid] nach dem
Stpecf, und gleich rpie tpir unfer Urteil über einen X>er*
brecher dahin abgeben fönnen, dag er 3tpedmägig, aber un*
fittlid], fo über den mildtätigen, dag er ftttlidj aber un3toecf*
mäßig gehandelt ^abe. Das Un3tpedmägige fommt auf
Rechnung der 3ntelligen3, das Unfittliche auf Hechnung des
lüillens. Ztur da dürfen xoxx das Ut^tpedmägige dem
ZHenfchen 3um DortPurf anrechnen, tpo rpir feinen IDillen
dafür peranttportlid] machen fönnen, und nur in diefer 33e*
gren3ung lägt fich der H?ahl eines untauglichen ZTiittels für
einen fittlid] porgefchriebenen <gtped der Dommrf der Pflicht*
rpidrigfeit machen. Diefer punft: die Deranttportlich? eit
[66] des Derftandes in fittlidjer 23e3iehung, iji für die
richtige Jluffaffung des Sittlichen und feine 2tbgren3ung gegen-
über dem «gtpedmägigen von f° eminenter 2Did]tigfeit, dag
ich demfelbeu eine genauere (Erörterung tpidmen mug.
Die (Erfenntnis der Cauglidjfeit des mittels für den «gtpecF,
ipird mau fagen, ift nicht Sache des U)ollens, fondem des
52 Kapitel IX. Die fatale irtedjanit Das Sittliche.
3)enfens, ein ZlTiggriff in biefer Ziehung : bas Derfehen
(culpa), bofumentiert feine Schwäche bes £Di Ileus, fonbern bes
3ntellefts, bes Derftanbes. ZDie lägt ftdj bem tffenfehen
bie Schtoäch* bes Derftanbes 3um Vovwuvf anrechnen? Weil
unb infofern babei ben IDillen 3ugleich eine Schulb trifft,
©b jemanb aus Bequemlichfett eine förderliche ober ob er
eine geiftige 2Inftrengung, bie ihm oblag, unterlaffen hat, ob
er feine Seine, 2tane, ober ob er feinen Derftanb nicht ge*
hörig gebraust fyat, gilt t>öHig gleich, in beiben 5äHen ift
es ber IDille, ber gefehlt l)at 2luch mangelhaftes Denfen
begrünbet für ben jenigeu, ber in ber £age rt>ar, beffer 311
benfen, wenn er feinen (Seift nur Blatte anftrengen tooHen,
ben Dortxmrf ber Schulb, es ift ber ber Senf faul*
h e i t , ber culpa ber römifcfyen 3uriften *)♦ T>ie [67]
Sprache geht von ber Annahme aus, ba§ ber ZDille ZHacht
hat über ben (Seift* Der ZHenfch fann unb foH „fich 3U-
fammennehmen", b. h* fcine (Sebanfen auf ben punft, ben
es gerabe gilt, fon3entrieren (con-agitare = cogitare = benfen),
ftatt fie ins £eere fchtoeifen 3U Iaffen; es ift bas Sammeln
ber (Sebanfen („Sammlung") im (Segenfafe 3U bem §et*
ftreuen berfelben („gerftreutheit")* Die lateinifd^e Spraye
bebient fich h^r 9an5 besfelben 23ilbes tote bie beutfehe. Don
*) >Non intelligere, quod omnes intelligunt« bei ber culpa lata, L 2(5,
§ 2 1. 223 pr. de V. S. (50* J[6)» 3ebe culpa, and? bie levis unb bte
fog. fonfrete ober inbiüibuelle enthält ben Dornmrf bes mangelhaften
Hacfybenfens, itnb ber XPille trägt bie 5d>nlb baram ®fnte biefe Per*
anttportücfyfett bes IDiflens lägt ftdj bie Haftung für culpa gar nidjt
bebu3teren ober erklären, fie n>ürbe ben Cfjarafter einer tt>iflfürlid?en,
rein pofittoen 33eftunmung an fid? tragen, rcä'fjrenb bie römifcfyen 3U*
rtften fie bod? ber Hatur ber 5ad?e entlehnt fjaben. 2iUd? bie Der*
fdjiebenfyeit ber Haftung nad? Derfa^tebenfjeit ber fontraftlidjen Vevfyält
niffe n>iirbe ofyne biefes <§ur umgreifen auf eine 5d?ulb bes IPiftens
mtt>erftänbltcfy fein, r>erftänblid} nrirb fie erft baburd?, ba§ bte Derf d?ie*
benfyeit biefer Derrjä'ltniffe bie Jorberung einer i^nen entfpredjeuben
^(nfpannung bes IDiüens rechtfertigt.
Die Sprache* — Das «gtuecfmäßige* — Die Sdmlb*
53
legere (= fammeht, bafyer lefen = bie öuctjftaben 3ufammen'
legen, fammeln) hübet fte: diligentia (= Sorgfalt), in-
tillegentia, intellectus (= Derftcmb, bas entfpredjenbe
beutfcfye lüort ift Überlegen == interlegere, intelligere) unb
bas negatise negligentia (nec-legere = bas 23id)tfammeln,
ZTid}t*über*legen); ät^nlid^ dissolutus (= 3erftreut von dis-
solvere) unb „leicfjtf ertig" (= leidet fertig werben b), ZDer
eine Aufgabe 3U löfen t^at f foH ficfj barum „flimmern", b.
ficfy Kummer macfjen, jtdi in (ßebanfen bamit 3U fcfjaffen
machen, foH „Sorge empfinben, forgen", Dafyer im
©eutfcfyen Sorfalt, forgfam, Sorglofigf eit, im Catei*
mfcrjen cura, curiosus, accuratus, incuria. Kommt er
ber 5orbernng nacfj, öffnet er fein pfyyfifcrjes unb [68] getjiiges
2{uge, fo ift er umfielt g, t>orficffttg (providens = pru-
dens, improvidens = imprudens). 3f* cr 3U träge, um
ficrj an3uftrengen, fo bleibt er fifeen (desidia von de-sedere)/
fo lägt er bie Sacfye ober fid\ fahren (5ctB)rläffigfett,
provinziell fahrig), fo lägt er nadj von ber nötigen Tin*
fpannung (2tacfyläffig!eit, latemifdj delictum von de-
linquere = los* ober nachäffen).
2luf biefer Jlnfcfjauung ber Sprache t>on ber bem lüillen
an3uredinenben £?acfiläffigfett bes Perftanbes beruht ber
Hecfftsbegriff ber römifcfyen culpa. (Es ift fpradjlicfj basfelbe
XDort mit unferem beutfcfyen Scfyulb*). Slber tttäfyrenb
unfere beutfd^e Sprache biefes lüort in boppeltem Sinne
*) (Sotfyfdj; skulan, altfyodjbeutfdj; sculan = follen, skulda, scolta
= idj foü ; bafyer cult, sculd, scult, scholt = Sdjulb. 3n culpa ifl bas
s von skulan, sculan, trie fo oft üor k ober c weggefallen, tpäfyrenb es
nodj in scelus erhalten ift* Das p in culpa, an bem id? bei ber obigen
Ableitung 3uerft 2lnfto§ nafym, ift nadj einer miinbltcfyen Mitteilung
meines rerftorbenen Kollegen, bes Spracfyforfcfyers Benfey, bas Kaufale,
roelcfyes 3um nominale; Skul, cul t]in3utritt, basfelbe brüeft alfo ben im
dejte fyerüorgetjobenen Unterfdjieb bes tranfitipen culpa (= r>erfd?ulben)
vom intranjtttoen seul (= fcfyuiben) ans«
5^ Kapitel IX. Die feciale riTedjatti?* Das Stttttcf^
gebraucht, in bem intranfitisen bes fchulbig feins (Schulb,
Schulben) unb bem tranfitisen bes serfchulbet Gabens (Per*
fchulbung), ift bie Hechtsfprache ber Homer genauer, für
erfteren vetwenbet fie debere (fchulben, debitum = bas
(Sefchulbete), für lefeteren culpa (t>erfchulben), Der (Segen-
fafc pon culpa unb dolus liegt befchloffen in bem von VTixttel
unb <gtx>ecf. Dolus enthält ben £>ortx>urf bes abftchtlichen
Sefeens eines [69] rechtsanbrigen gtoeefs, eines gtoeefs, ber
mit ben rechtlich gefegten gweden anberer perfonen in IDiber*
fpruch tritt, culpa ben ber aus mangelhafter IDillensan*
fpannung unterlaffenen Slntoenbung bes richtigen ZtTittels
in be3ug auf frembe §tr>ecfe, fei es, baß uns für biefelben
lebiglich ein negatives Perhalten: ein iTnterlaffen, ober ein
pofttipes: ein fyanbeln, rechtlich 3ur Pflicht gemalt tr>ar. Das
Vflotw ift egoiftifcher 2trt: Scheu vot ber 2tnftrengung, ber
förperlichen ober geiftigen, 23equemlichfeit, ein Sichgehenlaffen
auf frembe Hedjnung. Darin liegt ber u n f i 1 1 1 i ch e
Cfyarafter ber culpa unb bamit ift ber 2Tad}tr>eis erbracht,
ba§ bas Unstoecfmäfuge 3ugleich unfitllich fein faun.
(Es ift bies überall ba, voo ben ZHenfchen ber Dortxmrf trifft,
ben Derhältniffen, bie ihm bie Pflicht auferlegten, bie richtigen
ZHittel sum g>toed 3U rt>äfylen, 3, 23. als 23en>ahrer einer
fremben Sache, als Dormunb ober öeamter, aus Denffaul*
heit bie forgfame prüfung berfelben unterlaffen 3U haben.
So erflärt es ftch, bajj toir eine unüberlegte, übereilte ^anb*
lung, bie ftch in xiivcrx folgen als für uns nachteilig ertoies,
uns 3um Dorumrf anrechnen unb Heue barüber empfmben,
Schopenhauer nennt fie gan3 treffenb bie egoifiifche. IPir
flagen babei nicht unfere cEinf ic^t an, was gar feinen Sinn
hätte, fonbern unfere Umficht, b. h- unfern JDillen, tr>ir finb
uns babei unferer Schulb tsohl betrugt. Über etmas anberes
als bas Un3tr>ecfmä§ige fann ber (Egoismus feine Heue
empfinben. [70] (Empfmbet er fie bei einer unfittlichen ober
Die Sprache. — gwed unb mittel, (Htfy? unb polittF. 55
unfchicflichen £janblung, fo ift es nicht bas Unftttliche ober
Unfchidltche baran, tpas er bebauert, fonbern t>as für ihn
ftch baraus ergebenbe tt^tpedmägige.
3ch glaube im bisherigen bie obige Begriffsbeftimmung
gerechtfertigt 311 fyaben: bas Sittliche ^at bie «gtpede, bas
gtpedmäßige bie ZHittel 3um (Segenftanbe, bas Sittliche
fdjreibt bem ZHenfchen (ber (Sefellfchaft, ZHenfcfyfyeit) bie
gtpede por, bie er 311 ben feinigen 3U machen ^at, bie (Ethtf
ift bie £ehre pon ben «gtpeden, bie politif bie pon ben ZHttteln,
letztere t^at bie <§tpede pon jener 3U entnehmen. Daß btes
nicht blojj pon ber pripatpolitif, fonbern auch x>on ber öffent-
lichen: ber Staatspolitif gilt, tpirb feiner3eit ge3eigt tperben.
HMcher Art ftnb nun bie gtpede, tpeldje bas Sittliche
bem ZHenfchen po^eichnet? Darauf follen uns bie folgenben
Ausführungen Anhport erteilen.
\2) Die Ausfagen ber Spraye* — Konfrontation
bes Sittlichen mit bem Egoismus«
Die folgenbe Ausführung foll uns barüber Ausfunft geben,
ob bie Sprache ben gtoecf bes Sittlichen in bas eigene &es
Qanbelnben r>erlegt, ober, in meiner Cerminologie ausgebrüht:
ob ber fyanbelnbe felber «gtpedfub jef t bes Sittlichen ijl.
Die Sichtung auf bas eigene Selbft ift bie burch bie Ztatur
felbft porgefdjriebene erfte unb normale 5un!tion [71] bes
JDillens, er poll3ieht bamit bas (Srunbgefefe ber Schöpfung:
bie Selbftbehauptung.
Die Sprache t>ertt>enbet 3ur Se3eid]nung biefer &we<S*
be3iehung brei IDorte: Selbft, <£igen, (Ego. X>on bem
erften bilbet fie: Selbfterhaltung, Selbstbehauptung,
Selbftfucht, pon bem 3tr>eiten (Eigennufe, pon bem britteu
(Egoismus. Von biefeu Ausbrüden gebraucht fie nur ben
erften (Selbfterhaltung be3. Selbfterhaltungstrieb) gleichmäßig
pom ©er tpie Pom ZHenfchen, bie anbern nur pon lefeterem.
56 Kapitel IX. Die feciale Hieran». Das Sittliche.
<£s i{i offenbar, baß fie babei einen IHaßftab anlegt, ber in
ihren klugen auf bas Cier feine 2lmt>enbung erletbet.
Das ©er fennt feine Selbftfucht. ZTTit bem IPorte:
Sndit be3eid^net bie Spraye bie franf hafte Ausartung eines
an pch berechtigten Crtebes, mit Selbftfucht alfo bie 21us-
fchreitung bes auf bas eigene 5elbft gerichteten Strebens
aber bas richtige 2Tfaß hinaus.
2luch „<£igennu&" unb „etgennüfcig" gebrauten wir
ntc^t vom Cier* IPenn Schopenhauer*), ber biefe richtige
Semerfung macht, fie bamit 5U begrünben gebenft, baß (Eigen-
uufe in ber „burch bie Pemunft bebingten planmäßigen Der*
folgung bes <§>tr>ecfs'J beftehe, fo fann ich mich bamit nicht
einperftanben erflären. „planmäßig" unb mit großer Per-
fchlagenheit fann auch &as Cier perfahren, ba3u bebarf es
nicht ber „Pernunft", [72] ber bloße Perftanb reicht 3ur rich-
tigen (Erfenntnis bes „eignen ZTufeens" unb ber richtigen IPahl
ber IHittel aus. XUeiner Anficht nach Kegt ber (ßrunb, toarum
bie Sprache ben 21usbrucf auf ben ZTIenfchen befchränft, nicht
im 3ntelleftuellen, worin Schopenhauer ihn fucht, fonbem im
(Ethifch^n. 2luch h^r, toie bei ber Selbftfucht, fteht roieberum
bas Sittliche im f}intergrunb — (Eigennufc enthält einen
fittlichen Portmirf, Selbfterhaltung, Selbftbehauptung nicht.
(Egoismus ift fprachlidj bie §tr>ecfbe3tehung bes IPollens
auf bas eigene 3^h* Wäte es lebiglich bie Befangenheit im
eignen Selbft, was bie Sprache babei im Sinne hat, fo würbe
ber Jlusbrucf auch auf bas ©er paffen, unb Schopenhauer
a. a. ©. will benfelben in ber Cat auch auf bas Cier er-
jlrecfen. 2tber bas 3ch, bem bie Spraye bie Benennung bes
Egoismus entlehnt, trifft nur für ben ZTTenf chen 3U, 3 um 3d]
erhebt fich bas lebenbe IPefen erft im ZHenfchen. 3^
iji nur berjenige, ber bas iPort ausfprechen fann — bas
*) Die (Srunblagen ber lUoral § \% fämtitd?e Werft 23b* % 5. \%.
Die Sprache. — Das Sittliche. — Perfyältnis jum (Egoismus. 57
Wovt 3d? ift ber fprachüche 2)urd}brudi, bie phänomenale
Cat bes Selbftbenmgtfeins* Kinber fpredjen 3uerft im 3n*
ftnitip — bas 3^ muffen jte erft lernen, unb fie lernen es
erjl, roenn bas 3$ ftdt fühlt. 3)as Selbft gebraust bie
Sprache auch vom Cier (Selbfterhaltung), bas 3ch (Egoismus)
nur vom XHenfchen — ber XHenfch ift ber einige €goift in
ber Schöpfung, benn 3um Egoismus gebort neben bem IDiHen,
ber fich auf bas 3^ rietet, auch bas 23en?u§tfein bes [73J
3d}s. (Egoismus ift bie (Einheit von Selbftbehaup*
tung unb Selbftbetpußtfein*), er be3eichnet für ben
H?iüen basfelbe Phänomen, rote bas Selbftbetsujjtfein für
ben (Seift, festeres ift bas 3dj, bas fich benft, biefer bas
3ch, bas fich roill.
ZHit bem 3^ &em 3>enfen feiner felbft 3ieht fich ber
ZHenfch auf fich felber 3urücf unb fteHt bamit bie gan3e IDelt
3U ftch in (ßegenfafe. iolgt bas XDoßen barin bem Senfen,
3tel|t auch ber U?ille ftch auf bas eigene 3d? 3urücf, fo er»
fdjeint ihm bie gan3e ZDelt, fotoeit er ihrer fyabfyaft toerben
fann, nur als ZHittel für feine gtt>ecfe — ber (Egoismus ift
bie Ziiefenfpmne, bie in ihrem IDinfel am aufgefpannten
ZIe&e harrt, ber ®pfer lauernb, bie fich barin fangen.
£iegt barin, b. im (Egoismus, bas IDefen bes IPillens
befchloffen?
Q'xe Sprache erteilt uns barauf ilntroort mittels einer Heihe
oon 2lusbrücfen, burch bie fte bie pfychologifche ZTtöglichfeit
einer bem 3<äj fidj abfehrenben IDiüensrichtung anerfennt:
Selbft Verleugnung, Selbft lofigfeit, Selbft übern? in*
*) Die lateinifdje unb griedn'fdje Spraye fjat es 3U feinem 2lusbrucF
für (Egoismus gebracht, ber übrigens aud? für bie mobernen Sprachen
nod? von fefyr fpätem Datum ift; bas Sausfrtt t^at bafür nadj einer
lllitteilung, bie td? 3Senfey oerbanfe, Aham-kara (= Selbft*mad}en, tporiu
and? bas ITComent bes Selbft 'berougtf eins Hegt), fobann Aham-kriti
nebft bem 21bjeftio Aham-krita (= egotftifcfy).
58
Kapitel IX. Die feciale ITCedjanif«. Das Sittliche.
bung, uneigennüfcig, unegoiftifd). Vfiarx beachte bie nega-
tive $ovm, in ber bie Sprache bie [74] Abfefyr bes ÄttHens vom
eignen 3d] 3um Ausbrucf bringt*). IDas tjätte näljer gelegen,
follte man fagen, als biefe Hicfytung pojttiv als bie Hidjtung
auf einen anbem aus3ubrücfen? Mnb in ber Cat hat ein
neuerer pBjilofopfy (2luguft Comte) geglaubt, btefem 2TJangel
burefy 23ilbung bes gan3 3utreff enben 2tusbrucfs: Altruismus
abhelfen 3U muffen. Daß bie Sprache, wenn fie getvollt
fyätte, f elber einen entfprecfyenben JlusbrucE hätte fdjaffen
tonnen, ift flar, unb einen Anfafc ba3u hat fie in ber (Cat
gemacht in „Xlächftenliebe", „ITTenfchenfreunblichfeit". Aber
ber »olle (Segenfafe 3um (Egoismus ift bamit nicht erfchöpft.
für ihn fennt bie Sprache nur bie obigen negativen 23e3etch'
nungen. Wenn fie feinen entfprechenben Ausbrucf gebilbet
hat, fo fann ich ben <5runb hierfür nur barin erblicfen, baß
fie es nicht gesollt fyat, unb es betvährt ftet? für mich bei
biefer Gelegenheit tx>ieberum bie oft gemalte (Erfahrung,
baß bie Sprache in ihrem ©efjtmt ungleich philofophifcher
ift als gar manche philofophen von profeffion. ZTTit bem
JDort Altruismus fteüen tvir bem (Egoismus ein felbftänbiges
äquivalentes prht3tp bes ^anbelns gegenüber; tx>ir be3eichnen
bamit eine pojttion bes ZDillens, auf ber er bas eigene 3cb
gän3lich aus ben Augen verloren I|at, auf ber ihm nichts
mehr an feinen Ausgangspunft erinnert. Die Spraye ba«
gegen hält auch bei biefer Cosreißung bes lüillens vom 3^h
bie urfprüngliche [75] 23e3ie^ung 3um 3^ 0&2r Selbft feft,
ber urfprüngliche Ausgangspunft bes IDiHens bleibt fprachlich
in Sicht unb vergegenwärtigt bamit bie 5erne, in ber er jtch
bervegt, bie Catfadje, baß berfelbe fief? erft vom 3$ l]a* 1°5'
reißen, bie Kluft 3*vifchen ihm unb ber IDelt h<*t überfpringen
*) <2me wettere Ausführung über bie 23ebeutung ber negativer,
Ausbrucfsform ber (Segenfät^e f* u. Hr. 13.
Die Sprache. — Das Sittliche» — Vethältnxs 3um €gotsmus. 59
muffen — es ift bas ZTtuttermal bes (Egoismus, welches
bie Sprache ber Selbftlofigfeit in biefer ihrer Benennung
mit auf ben tDeg gegeben fyat.
<Db nun ber £>ille in JDirflichfeit bie ZTtadit beftfet, bei
feinem fjanbeln fich ber Ziehung 3um 3d? gä^lich 3U ent<
fchlagen, unb ob nicht pielmehr bas jenige, was bie Sprache
Selbstverleugnung unb Selbftlofigfeit nennt, nur eine anbere,
höhere 2lrt ber Selbfibehauptung ift, bie fie unter biefem
Flamen ber egoiftifchen entgegenftellt, werben wir an fpäterer
5teIIe Gelegenheit haben 3U unterfuchen, liiev genügt uns,
ba§ bie Sprache biefelbe anerfennt.
Raffen wir bas Hefultat, welches bie fprachliche öetrach«
tung bes €goismus für uns abgeworfen h<*t, 3ufammen, fo
befteht es barin: ber JTlenfch wie bas Cier entnehmen bie
<§wecfe ihres fyanbelns fich felber (Selbfterhaltung), aber
bei bem UTenfchen fonfiatiert bie Spraye außerbem noch 3wei
Phänomene: eine Ausartung biefer <§tr>ecfbe3iehung auf bas
eigene 3^ (Selbftf ucht) unb ein 5<*llenlaffen berfelben
(Selbstverleugnung, Selbftlofigfeit). 23eibe finb r>om
Stanbpunfte bes «Egoismus aus nicht 3U begreifen. 33ilbei
ber (Egoismus ben ausfchließltchen [76] ZtTafjft ab 3ur Be-
urteilung ber menfehlichen f}anblungen, fo laffen fich nicht
gewiffe als felbftfüdjtige befonbers hervorheben, bann paßt
bie Se3eichnung für alle ober feine unter ihnen. Silbet ber
€goismus bas ausschließliche XHotio bes menf glichen ^an*
belns, fo enthält bie Selbftlofigfeit eine pfychotogifche Un«
möglichfeit.
Was nun auch bie Sprache pofitio über bas Sittliche
aus3ufagen x>ermag, fopiel ift fchon oon vornherein fidler,
baß fie basfelbe nicht auf bas 3^ ftüfeen fann, wie es bie
unten 3U betrachtenbe inbmibualiftifche Cheorie bes Sittlichen
tut. Daburch würbe fie genötigt, ein boppeltes 3d? 3U unter*
fcheiben: ein nieberes unb ein höh^s, jenes waltenb in ber
60
Kapitel IX. Die feciale ITCedjantf. Das Sittliche.
Sphäre bes (Egoismus, biefes in ber bes Sittlichen. Das 3d?
aber I^at fte fprachlich bereits in ben obigen 2tusbrücf en für ben
(Egoismus t>otlftänbig ausgenufet, tDä^renb es ihr bodj, menn [ie
ein boppeltes3<h: ein egoiftifches unb ein fittliches unterfcheiben
toollte, ein leidstes geroefen tsäre, bie entfprechenben 2Ius«
brüefe bafür 3U bilben unb bie Cerminologie bes Sittlichen
ftatt an ben fprachlichen Ausgangspunkt ber Sitte an ben
biefes 3tx>eiten ^öt^eren 3<hs an3ulehnen. Das ift aber nicht
gesehen, bie Sprache fennt nur bas 3ch, bas tt>ir bisher
gefchilbert h<*&en: bas natürliche 3^ *>es (Egoiften.
Das 3^ 9tft kenn auch ber Sprache nicht als bas <gtx>ecf*
fubjeft bes Sittlichen. 2TCit biefem negativen Hefultate fehltest
nnfere Betrachtung bes (Egoismus ab, unb [77] bamit ifi ber
erjle Ceil unferer fprachlichen Untersuchungen erlebigt. <£r
hatte 3um «groeef, burch bas Abhören ber begrifflichen Zlad}>
baxn bes Sittlichen, um meinen früheren Pergletch bei3u*
behalten, Auffchluß über bas Sittliche 3u gewinnen. Durch
ihren <5egenfafe 3um Sittlichen h^ken bie Sitte, bas <§tr>edP*
mäßige unb ber (Egoismus uns über tsefentliche ZHomente bes»
felben aufgeflärt. <£s jtnb folgenbe brei: Allgemeingültig*
feit ber fittlichen formen im (ßegenfafee su ber bebingt
serbinbenben Kraft ber Sitte — bas Z?or3eichnen x>on
«§tr>ecfen im (ßegenfafee 3U bem ber ZHittel, tx>elche Sache
bes groeefmäßigen ift — bie groede bes Sittlichen jtnb
nicht bem 3^ entnommen, biejenigen, welche bas 3<h sunt
§ielpunft haben, fallen bem (Egoismus anheim.
Derfuchen roir nunmehr, ob tx>tr nicht bem Sittlichen felber
eine Antwort ab3ugeroinnen vermögen. Was bie Etymologie
barüber aus3ufagen vermag, toiffen roir bereits, es iß bie
hiftorifche Catfache, bag bas Sittliche gleich ber Sitte hervor-
geht aus bem £eben bes Polfs (S. \8); über bas IDefen bes
Sittlichen fagt fte uns nichts aus. Sehen wir 3U, ob es nid]t
bie fertige Sprache tut.
Die Sprache* — Stttltdj unb mtjtttlidj*
61
\S) Die 2lusfagen ber Sprache- — Sittlich unb
unfittlidj.
Die Spraye fennt 3um Jlusbrucfe pon <5egenfäfeen 3tpei
formen: eine pojttipe unb negatipe. 23ei ber erjteren be-
3eidjnet jte beibe (5 lieber bes (Segenfafees mit 3*oei [78] per«
fcfyiebenen ZTamen (3» 23. reidj unb arm, jung unb alt, falt
unb rparm), beibe tperben bamit als völlig felbftänbige 23e<
griffe jtdj gegenübergeftellt. Sei ber 3tpeiten beljilft jte jtd?
mit einem einigen 2lusbrucf, aus bem fie burdj Hegation
ben 3it>eiten bilbet (3. 3, perftänbig, unperftänbig; pergäng*
lidj, unpergänglictj ; mutig, mutlos)» Der pojtttpe 23egriff
mußte erft gebaut unb fpracfylidj ausgeprägt fein, um ben
negatipen 3U bilben, Iefeterer fteBjt 3U iljm in ber fyjtorifcfjen
unb logifdjen Jlb^ängigfeit. Jftandje (ßegenfäfee Ijat jte in
beiben formen ausgebrücft, neben mutlos 3. 23. Ijat jte feige,
neben unperftänbig töricht, neben unfterblicfj etPtg.
€s ift nun in meinen 2tugen eine fyöcfyft beac^tenstoerte
unb 3um näheren Stacfybenfen aufforbernbe Catfac^e, bajj
fämtlidje (ßegenfä&e auf bem jtttlicfyen <5ebiete bas (Setpanb
ber negatipen Jtusbrucfsform an jtdj tragen*). ZTlan per*
gleiche:
Hedjt — Unrecht.
<Drbnung — Unorbnung.
^rieben — Unfrieben.
*) Merbings t^at tue Sprache audj einen poflttoen (Segenfa^: gut
unb böfe ober fcfyledjt, aber er tjt fein originär^ ittltdjer 23egrtff,
fonbern auf bas Sittliche erft übertragen; es ift ber gan3 allgemeine
(Segenfafe bes Hütjltdjen unb Sdjäbltcfyen, beffen urfpriinglidjes
23eobad?timgsfelb bte ftnnüd)e IDelt war, 3U ber bann erft fpäter bte
ftitltd^c fyu^ufam* Der <Segenfat$ von gut unb böfe ffttbet mcfyt blog
auf bte perfon, fonbern auefy auf bte Sacfye 2Inmenbung, was bei feinem
originär * ftttltdjen 2lusbrucfe ber $aU ift, ba bas Sittliche fidj nur auf
bie perfon be3tef|t„
62
Kapitel IX. Die fatale IlTedjantf. Das Sittliche»
Sitte — Mnfttte.
Sittlidjfeit — Unftttßdifeit.
2tnftänbig — Unanftänbig.
Sollte btes gufall fein? Das erfdjeint mir faum glaublich
3<äf tserbe in btefer 2JnnaI)me burdj bie Catfadje beftärft,
bafc bie Sprache von ben Cugenben £?egattonen btlbet, nid]t
aber von ben Caftem unb X> ergeben. Ulan pergleidje:
3)en Cugenben fteße icfy bie £after gegenüber: (5et3, £}ab«
gier, Hadjfudjt, (Sraufamfeit, £}a§, ieigfyeit, Stol3, €itelfeit,
(Eiferfudjt — von feinem btefer IDorte bilbet bie Sprache
eine Negation.
3rre tdj mxd\, wenn xd\ barauffyin fage: ber Sprache
erfdjetnt bas £after als ZTegatton ber Cugenb, bie Cugenb
aber nietet als Negation bes £afters, bas Unfittltcfye als
ZTegatton bes Sittlichen, bas Sittliche aber nxd\t als ZXegation
bes Hnfittlidjen? 2)te 2Iusfage ber Sprache über biefen
(ßegenfafe trmrbe ftdj banaefy bafyn 3ufammenf äffen laffen:
ber Segriff bes Sittltdjen bebarf ber pofitit>en [80] (Efjaraf*
tertfttf, für ben bes Unftttltdjen reidjt bie negatipe aus.
3>apon gibt es meines IPiffens nur eine Slusnatjme. Das
religiös Unjtttltcfye; bie Sünbe ift pofitio be3eidjnet, unb ber
Cugenb
<£tye
Sanfbarfeit
23arml}er3igfeit
Creue
(Beredjttgfeit
5rtebferttgfett
Derträgltdjfeit
£iebe
Sdjam
Untugenb.
€fyrlofigfeit.
ttnbanfbarfett.
Hnbarml|er3igfeit
Creuloftgfett, Untreue,
Mngered^tigfeit.
ttnfrtebferttgfeit.
Unperträglicfyfeit,
£tebloftg!eit.
Scfyamlofigfeit, Unüerfdjämtlieit.
Die Spraye* — Sittltd? unb unfittltd?. — Die Sünbe. 63
(Segenfafe ba3u: bic Sünbloftgf eit negativ. Die Ausnahme
erflärt jtch fprachltch als 2tusbru<f ber christlichen Cetjre t>on
ber (Erbfünbe. &)ährenb bie Sprache auf bem <5ebiete bes
menfchltch Sittlichen vom Korreften ausgebt, um bavon bas
3nforrefte 3U bilben, verfährt fte auf bem bes religiös
Sittlichen im Jtnfchluß an bie £ehre bes Cfyrijientums um*
gefehrt, fie geht aus von ber Sünbe als bem ursprünglichen
^uftanbe bes Zllenfchen unb gelangt bann erft 3ur Sünblofig«
feit. Qiftorifch h<*t fich bie ItTenfcbB^ü <*uf bem 33oben bes
menfchltch Sittlichen, gan3 ebenfo tote auf bem bes religiös SitU
liehen, tatfächlich »om 3n?0r*^ten 3um Korreften erheben
muffen: x>on ber Unorbnung, ber Unfitte, bem Hnfrieben,
bem Unrecht, bem Unfittlichen 3ur ©rbnung, Sitte, 3um
^rieben, Hecht, Sittlichen, 2lber ein anbeves ift bas tatfäch«
liehe Dafein t>on guftänben, ein anberes bie begriffliche £r*
faffung unb iDiebergabe berfelben burch bie Spraye, liiev
breht fich bas obige Verhältnis t>ölltg um: ber pofttipe 33e*
griff mußte erft erfaßt unb ausgeprägt fein, beoor ber nega«
tioe gebilbet werben fonnte.
3ft biefe Behauptung begrünbet, fo tjt bamit t>om Stanb*
punfte ber Sprache aus ber (ßegenberoeis gegen bie trmnber*
Hche 3bee von Schopenhauer erbracht, welcher [81] im
Hecht nichts als eine XTegation bes Unrechts erblicft*). Jjätte
bie Sprache biefe 2tuf faffung geteilt, fo hätte fte, toie fte es
ja bei ber Sünbe in ber Cat getan h<*t, für bas Unrecht
einen pofttioen 2tusbrucf bilben unb ben Segriff bes Hechts
in 5orm ber Negation ausbrüefen muffen.
*) Die (Srunblage ber ITToral § V? (Sämmtl. Werte 23&. 5. 216);
„Der Segriff bes Unrechts ift ein poftttper unb bem bes HecMs
corgängig, als meldjer ber negative ift unb blo§ bie fjanblung be-
3eidmet, n?eld?e man ausüben rann, orme anbere 3U perlenen, b. fy. otme
Unrecht 3U tun." Hidjt ber begriff bes Unrechts tjt bem bes Bedjts
rorgängtg, fonbern bie (Tatfadje*
6%
Kapitel IX. Die fötale Hled/ani?* Das Sittliche*
Xfiit bem (Segenfafee bes Sittlichen unb Unftttlidjen ift
nid?t 3U t>ertt>edjfeln ber bes ftttlicfy (gebotenen unb Ver-
botenen, 3eber 3mperatit>, unb fo aud? ber pttlidje, fann
boppelter 2trt fein: pofitit>er Jlrt ((Sebot), inbem er uns
ein l^anbeln, negativer 2trt (P e r b o t), inbem er uns
ein Unterlagen auferlegt 22id]t bie bloße fpradjlicfye 2Ius-
bruefsform ifi babei bas <£ntfdjeibenbe, benn jeber 3mperatio
lägt ftd) in pofttiper roie negativer Raffung ausbrühen, 3. ö.
bu fotlfi nid}t lügen = bu foHft bie IPaBjrljeit reben — bu
follft nicfyt töten, fielen = bu foHft bas £eben, (Eigentum
anberer refpeftieren. Das <£ntfdjeibenbe iß tnelmeljr ber
(Segenfatj ber Sacfye, ob bie Befolgung bes 3^P^^tips burdj
bloß pafftoes, negatives Debatten möglich ift ober eine poft«
tipe Cätigfeit erforbert. Du foHft nidjt töten, fielen uftr>.
ift ein Perbot, bu foHft nidjt lügen, ift ein (Sebot, es
müßte eigentlich lauten: bu foQfi bie tDafyrljeit reben.
[82] Soroie nun bie ZTidjtbefolgung eines redjtlidjen 3™'
peratit>s, einerlei ob pofttiper ober negativer 2lrt, ben Por*
rpurf bes Hedjtstoibrigen begrünbet, ebenfo bie eines fitt-
liefen ben bes Unfittlidjen.
Unftttlidj ijl alfo nidjt bloß bie UTißadjtung ber ftttlicfyeu
Perbote, fonbern aud) bie ber ftttlidjen (ßebote. 2lHerbings
beobad|tet unfer jtttlidies Urteil in biefer 8e3iefyung einen
Unterfdjieb, Die UTißad)tung ber fittlidjen (Sebote jleljt in
unferen 2lugen nidjt auf einer £inie mit ber ber ftttlidjen
Perbote, bas Perfagen eines 2tlmofens, Unbanf barfeit, nid)t
auf berfelben £inie mit (ßraufamfeit, Bacfyfudjt. Der (ßrunb
ift barin 3U erblicfen, baß roir bort bem anbern lebiglid?
etroas vorenthalten, toorauf er glaubt einen 2lnfprucb
machen 3U fönnen, t^ier bagegen xfyx pojttit) fd?äbigen. €s
ift berfelbe (Segenfafe, ben bie römifdjen 3nrtften bei ihren
brei praeeepta juris*) mit: suum cuique tribuere unb alterum
*) I. 10, § { de J. et J. \).
Die Spraye* — (Segenfa^ oon ftttltdj, un jtttltdj, 65
non laedere toiebergeben, unb ber im großen unb gan3en
bem <5egenfafe bes gitnlrechts unb Kriminalr edjts 3ugrunbe
liegt. Das Kriminalunrecht wiegt fehlerer als bas &w\U
unrecht ähnlich serhält es fich mit ber ZTichtbefolgung bes
Sittengefefees; bas omiffto Unftttliche, wie xoiv es nennen
tonnen, toiegt tseniger fchtser als bas fommifftt) Unjtttliche.
2tber unfittlich ift beibes. <£ine anbere (£rfaffung bes Segriffs
bes Unfittlichen ift fprachlich wie logifch unbenfbar, er [83]
ttmrbe fich mit bem pofttipen Segriffe bes Sittlichen, beffen
Negation er enthält, unb ber gleichmäßig bas ftttlich (Sebotene
tsie Verbotene in ftch fchließt, nicht becfen.
§u bem ZHomente bes bloß negativen Verhaltens in be3ug
auf bie Befolgung ber ftttlidjen Perbote muß aber noch ein
anderes ZtToment hi^ufommen, um ihm ben Ctjarafter bes
ftttlichen ^anbelns 3U perleihen. Das ift bie IDillens*
beftimmung. Das Unterlaffen muß eine negative fjanb*
Iung fein, eine XDillensaftion, gerichtet auf bie Nichtvornahme
bes Unfittlichen. Der ftttliche ZPert biefer IDiHensaftion be<
flimmt fich nach bem 2tnrei3 3ur Übertretung, unb baraus
ergibt fich, baß pom Stanbpnntte bes ftttlichen Urteils aus
berjenige, tpelcher bas Derbot 3toar übertreten I|at, aber
ber Perfuchung erft nach langem, fehlerem Kampfe erlegen
iji, in ftttlicfyer Se3ie^ung ungleich mehr geleijlet ^at, als
ber jenige, ber es nur aus bem (Srunbe beo backtet h<*t,
roeil bie Derfuchung nie an ihn herangetreten ift. Die 23e*
hauptung einer 5eftung, bie nie angegriffen tporben ift, be<
grünbet fein Derbienft, erft ber Angriff erprobt ben 2Tfut
berer, benen fte anvertraut ift, unb ber Kommanbant, ber
nach tapferjter (ßegempehr fchüeßlich bie 5eflung übergibt,
hat met|r Urfache ftol3 3U fein, als berjenige, ber bie feinige,
bie nie angegriffen tparb, behauptet h<*t. (5an3 basfelbe gilt
pom Sittlichen. Die fittliche Korref theit eines ZHannes, bem feine
£ebensftellung, fein Heichtum, feine (Erziehung, Derfuchungen
d. 3f!*Hn9/ §a>eff im Hed?t. II 5
66
Kapitel IX. Die fatale UTecfyamf. Das Sittliche,
erfparen, welche bie gan3e Kraft minber günftig <5eftellter
[84] herausfordern, ift bie Hm>erfehrtheit eines 3nftruments,
das nie gebraucht toorben ift — ein ZHeffer, mit bem nie
gefchnitten ift, foE fich nicht rühmen, feine Scharten su I^aben,
erft bas Schneiden erprobt bie $efltgfeit bes Stadls*
3ch berühre bamit toieberum einen jener punfte, bei
benen bie fprachltdje Unterfudiung unsermerft in eine fachliche
unt3ufd)Iagen bxoht, unb tx>o ich genötigt bin gewaltfam ab*
5ubred]en. 3^ behalte mir r>or, ben (Sebanfen, ben ich hier
nur geftreift I|abe: bie Beurteilung bes fittlichen C^arafters
einer ^anblung nach 2Ttaßgabe ber fubjeftit) aufgebotenen
IDillensfraft bei einer anbern (Gelegenheit (CI>eorie bes
fittlichen £?iHens), wieberum auf3unehmen.
\%) Die 2tusfagen ber Sprache* — Das (Erlaubte. —
Das gtoecffubjeft bes Sittlidjen,
Sie beiben (Slieber eines (Segenfafces fönnen fo befchaffen
fein, baß fie ben Haum, ben er einnimmt, t>oüftänbig aus*
füEen, fo baß er alfo neben ben beiben Zfiöglichfeiten, welche
fie ftatuieren, für eine britte feinen plafe mehr bietet, ober
fo, baß fie 3tmfchen fich noch ein (ßebiet in ber JTtitte offen
laffen, welches burch ben <5egenfat$ nicht berührt wirb.
<gwifd?en wahr unb unwahr, fterblich unb unfterblich liegt
nichts in ber ZHitte, 3wifdjen reich unb arm, fd)ön unb häß*
lieh bagegen gibt es ein ZHittelmaß bes Vermögens unb ber
förperlichen (ßeftaltung, [85] für welches weber bie eine, noch
bie anbere Be3eichnung 3utrifft, ebenfo wie 3wifd]en ber falten
unb Reiften gone bie gemäßigte in ber ZUitte liegt. Die Cogtf
nennt ben erfien <5egenfafe einen fontrabtftorifchen, ben
3weiten einen fonträren; anfehaulicher möchte bie 23e3eicfy
nung 3weigliebriger unb breigliebriger fein. Das britte
(Slieb, welches fich bei lefeterem hn^ugefeflt, vergegenwärtigt
uns ben Segriff faufagen im guftanbe bes (ßleichgewtchfs
Die Sprache. — (Segenfatj von fittlich, unftttlich»
67
ober ber 3n^ffercn3/ bie beiben äußeren (ßlieber bie 2Xb*
lenFung besfelben nach ber einen unb anbem Seite fyn.
gu roelcher x>on beiben Klaffen gehört nun ber (Segenfafe
von fittlich unb unftttlich? IPäre er ein 3U>eigliebriger, fo
müßten alle ^anblungen enttoeber fittliche ober unfittliche
fein, Dies ift aber bekanntlich nicht ber 5aü, es gibt viel-
mehr noch eine britte Kategorie t>on fjanblungen, meldte fidj
biefem <5egenfa&e gegenüber inbifferent perhalten, über toelche
bie ftttliche Horm nichts ausfagt, es finb biejenigen, bie in
ben freien UMHen gefteHt finb: bie erlaubten* )♦ VTtit bem
Segriffe bes Erlaubten ftatuiert bie [86] Sprache 3toif chen
bem Sittlichen unb Unfittltchen noch ein ZHittelgebiet, roelches
burch biefen <5egenfafc nicht getroffen toirb: bas neutrale ober
3nbifferen3gebiet bes Sittlichen, unb im 5inne ber Sprache
fönnen roir biefe fjanblungen als fittlich inbifferente
be3eichnen. ©b fich nietet auch für fte eine 2Iuffaffung be*
grünben läßt, welche fte bem Sittlichen unterorbnet, fteht h^r
noch nicht 3ur 5?age, ich werbe barauf fpäter (Kapitel X)
5urüdfommen; fyev haben wxv es lebiglich mit ber 2luffaffung
ber Sprache 3U tun, unb in be3ug auf fte fteht bie Hichtig!eit
bes <5efagten: bie fprachlidje Dreiteilung ber menfehlichen
fjanblungen in fittliche, unfittliche unb erlaubte außer <gtt>eifel.
Die nah>e 21uffaffung bes t>olfs roirb es fich nie nehmen
laffen, baß bas (Erlaubte etwas arxbeves ift als bas Sittliche,
*) 2ludi bie römifchen ^uriften betonen für bas Hecfyt bie Kategorie
bes (Erlaubten, inbem fte als eine ber r>ier inhaltlichen Beftimmungen
bes (Sefefees bas permittere be3eidmen 1. 7 de leg. {. 3: Legis virtus est
imperare, vetare, permittere, punire. Die Klafftftf atton ift htfofem eine
verfehlte , als fte bas punire, meines nur bie praftifcfye Sicherung bes
imperare unb vetare enthält, mit beiben auf eine £iuie fiellt. Die beiben
erften (Slieber entfprechen bem foeben befyaubeltett (Segeufa^e bes fttt*
liefen (Sebotes unb Derbotes, bie Kategorie bes permittere irnrb t>on
unfern heutigen 3ur^ften rielfad? beftritten, meiner Anficht nach mit
Unrecht.
5*
68 Kapitel IX. Die feciale Ittedjani?* Das Sittliche.
ba§ ein ZHenfch, ber igt, trinft, fich vergnügt, ftch nicht
rühmen barf, eine fittltche ?janblung vorgenommen 3U Reiben.
Das Zfiotiv einer jeben erlaubten E}anblung, bie nichts
iveiter ift als bies, b. i. nicht unter bie Kategorie 6er ftttlichen
fällt, liegt im -^anbelnben felber, es ift bas eigene IDohl
ober Sebürfnis, ba£ ihn ba3u oeranlaßt, fte gehört alfo 3ur
Kategorie ber bes eignen 3chs tvegen vorgenommen, b. u
ber egoiftifchen. 2lber bei ihnen fyält ber Egoismus ftch
innerhalb ber ihm burch bas Sittengefefe gejiedEten (Breden,
tvährenb er fie bei ben unfittlichen ^anblungen überfchreitet;
bort nimmt er bie (Seftalt ber Selbstbehauptung, I)ier bie ber
Selbftfucht an.
[SU] Was ift mit biefer Dreiteilung ber Ejanblungen für
bie (Erfenntnis bes Sittlichen getvonnen? tDir Idolen einen
anbem breigliebrigen (Segenfafe ^eran, ben tvir oben bei ber
Betrachtung bes (Egoismus (S. 59) gefunben l\aben: ben
3tvifchen Selbftbehauptung, Selbftfucht, Selbftlofigfeit. £egen
tvir bie beiben (Segenfä&e übereinanber unb fügen mir 3u-
gleich bie Be3iehung bes (Egoismus 3U ihnen h™3u, (o ergibt
jtch folgenbes Schema:
Das Sittliche* Das (Erlaubte. Das Unfittliche.
Selbftverleugnung. Selbjtbehauptung. Selbftfucht.
(Egoismus.
Das Schema bietet Stoff 3um Denfen — mehr, als id?
hier betvältigen fann unb 3U betvältigen brause; mir fommt
es nur barauf an, ihm ben fprach liehen 2Inhalt 3ur öeftim«
mung bes Segriffs bes Sittlichen 311 entnehmen.
<£s leuchtet ein, ba§ bie beiben (Begenfäfee in enger Se=
3iehung 3ueinanber ftehen. Die Selbfterhaltung ober Selbft*
behauptung betvegt fich in ber Hegion bes (Erlaubten, bie
Selbfifucht in ber bes Unfittlichen, bie Selbstverleugnung ober
SelbjHoftgfeit in ber bes Sittlichen.
Die Sprache* — ^weä\ub\eft bes Sittlichen*
69
Das mittlere (Blieb führt uns bas 3& in Hichtung auf
bie eigene Selbjlbehauptung t>or unb charafterifiert bie Sphäre,
in ber biefelbe vov fich geht, als bie bes Erlaubten ober
ftttlich 3n^ifferßn^n* 2>as britte <5lieb vergegenwärtigt uns
bie Ausartung ber Selbjlerhaltung in Selbftfucht unb brüeft
ihr ben Stempel bes Unjtttlichen auf, bas erfte (ßlieb erfennt
bie ZHöglichfeit einer Verleugnung [88] bes 3^ a^ unb
erJennt ihr ben Ct|arafter bes Sittlichen 3U. Darin liegt
ausgefprochen: bas 3^h ?a"n nidit P*tn3tp ober, ba in praf*
tifchen Dingen bas prin3ip im gweef befchloffen liegt, nicht
gweeffubjeft bes Sittlichen fein, benn fonft fönnte unmög«
lieh bie <gwe<fbetätigung bes ^dis, foweit jte bie richtigen
<5ren3en innehält, für ftttlich inbifferent, foweit fie biefelben
überfchreitet, für unftttlich, noch auch ber Verzicht auf bie
Verfolgung ber eignen gweefe für ftttlich erflärt werben.
Das 3^ fann ber Spraye 3ufolge nicht gweeffub«
jeft bes Sittlichen fein.
Der Safe iji uns nicht neu, er h<*t ft^ uns bereits bei
Gelegenheit ber Betrachtung bes Egoismus (S. 60) ergeben.
2lber bem ZTegatipen, mit bem rx>ir bort abfchließen mußten,
gilt es jefet, bas pofttioe ^in3U3ufügen. <£s iji bie lefete
5rage, bie wir ber Sprache so^ulegen h^ben, fte lautet: was
benft fte ftd? als gweetfubjeft bes Sittlichen?
3nbem ich bie 5rage fo [teilte, fchltege ich »on vornherein
bie Be3iehung bes Sittlichen auf etwas anberes als ein Sub*
jeft, b. h» ein Uhenbes £Defen aus, unb bies bebarf ber
Hechtfertigung. 3^ behaupte alfo: prin3ip bes Sittlichen
fann nicht etwas Unperf önliches, fonbern nur bie perfon,
ein Ubenbes XPefen fein, beffen «gweefe burch bas Sittliche
geförbert werben f ollen («gweef f ubjef t).
2tllerbings bebienen roir uns in ber Sprache mancher [89]
lt)enbungen, welche eine Hichtung auf etwas Unperfönliches
impli3ieren. JDir fpred^en 3. 23. von einer £iebe 3ur IDahrheit,
70
Kapitel IX. Die fokale tfledjantF. Das Sittliche*
einem Cobe fürs Daterlanb, einer Aufopferung für tue XDiffen*
fdjaft. Diefe Hebetoeife foll in feiner IDeife bemängelt werben,
allein in £Dirflid]feit ift es nidjt ehr>as Unperfönlidjes, fmb
es nidjt Segriffe, toeldje roir lieben unb für bie tsir uns
opfern, fonbern IHenfdjen, welche baburdj in ifyren <§tt>ecfen
geförbert toerben folten. hinter ben fogenannten ibealen
3ntereffen, welche voiv ©erfolgen, fynter ber 3bee, für u>eld}e
voiv unfere Kräfte ober unfer £eben etnfefcen, ftecfen reale
perfönlidjfeiten, beren IDofyl, fei es, toeldjes es fei, baburcf?
geförbert werben foll, tr>ir felber, unfere Angehörigen, unfere
(Slaubensgenoffen, unfere Mitbürger, bie Armen, bie Vertreter
ber IDiffenfcfyaft uftr>., in höherer poten3 ein gan3es Volt,
in fyödjfter bie 2Tfenfd$eit — jebe 3^^e a^ praftifdjes
2Tlotit> unferes J^anbelns enbet fdjliefclid? in lebenben
IDefen.
£Tur ein lebenbes IDefen alfo fann <§tx>ecffubjeft bes Sitt*
liefen fein, bas Unlebenbige, bem bie fittlidje Cat ftcf) fdjeinbar
3Utoenbet: bie IDa^rBieit, bie tDiffenfdjaft, bas Daterlanb ufnx
ift nur ber Sdjauplafc ober ber <5egenftanb unferes Cuns,
3ugute fommt es nur einer perfon — bie perfon ift bas
gtsecffubjeft allen fittltdjen £}anbelns.
Als groeeffubjeft bes Sittlichen laffen fid} nur brei benfen:
ber £}anbelnbe felber (bas 3d)), anbere [90] 2ftenfd?en
außer i^m (bie (ßefeUfdjaft) unb (Sott «gtoifdjen biefen brei
Subjeften muß jebe Ojeorie bes Sittlidjen toäfylen, es gibt
feine anbere XDafyl, unb idj glaube bamit eine erfcfyöpfenbe
Klaffiftfation fämtltdjer etfyfcfyen Syfteme aufgeteilt 3U haben,
(ßott, bas bie (5efellfd?aft — bamit ift ber Umfreis bes
ZHöglidjen in be3ug auf bas «groeeffubjeft fftr bie £tB|if um*
fcfyrieben.
Dem (Dbigen 3ufolge fdjeibet nach ber Dorftellung ber
Sprache bas 3^ au5/ bleibt alfo nur bie XDafyl 3tt>ifd?en
(Sott unb ber (Sefellfchaft übrig.
XHe Sprache* — gtsecffubjeft bes Sittlichen*
(5ott fann nicht «gtvecffubjeft bes Sittlichen fein — bas
hieße nur unfer menf etliches I?(anbeln 3U einer Bebingung
feines Dafeins ergeben, bie (Erreichung feiner gwede ^on
unferm Ejanbeln abhängig machen. Denn jeber §tr>ecf , ben
toir bem Dafein eines anbern entnehmen, beabfichtigt, bas*
felbe 3U förbem, bem anbern burch unfere 23eiB|iIfe bie £r*
reichung feiner eignen <§tx>ecfe möglich 3U machen, ihm $u
Reifen.
XDenn n>ir, roas fchließlich an richtiger Stelle von uns
gefcfyefyen tt>irb, ben legten (Srunb bes Sittengefefces in <5ott
verlegen toerben, fo ift bamit bie 5rage: ob (5ott f elber als
<§tr>ecffubjeft bes Sittlichen an3ufehen ift, in feiner IDeife an*
gegriffen. <5ott faun Urheber bes Sittengefe&es fein, aber
baburch tsirb er nicht 3um gtvecffubjeft. 2luch ber ein3elne
fann burch Vertrag ober Ceftament, ober, tr>o er in ber Sage
ift 3U befehlen, burch Sefehl, etwas anorbnen, roas nicht bie
eignen gvoede, [91] b. i. 5örberung bes eignen Dafeins, 3um
<5egenftanbe Ijat. Der (Sh^ieher, ber bem Zöglinge Perhat*
tungsmaßregeln für fein Benehmen, ber Cehrer, ber bem
Schüler Aufgaben gibt, tut es nicht feinet*, fonbem bes lefe«
teren u>egen. (5ott 3um <§u>ecffubjeft bes Sittlichen machen,
ift ein (ßebanfe, ber mit ber Dorftellttng eines hofften IDefens
fchlechterbings unverträglich ift, es h^ße, bas Abhängigfeits*
Verhältnis (5ottes vom ZHenfchen behaupten. Da§ bie reit«
gtöfe Auffaffung bes Unfittlichen als Sünbe (S. 62/63), inbem
fte bie Hichtung besfelben gegen (Sott betont, bem nicht ent*
gegenfteht, bebarf nicht ber Ausführung.
ZÜachbem bas 3d? unb (ßott als «gtvecffubjefte bes Sitt*
liehen ausgefchteben finb, bleibt nur noch öte (SefeQfchaft
übrig, unb tvir föunen nunmehr mit aller Seftimmtheit fagen:
bie Sprache fann fein anberes Subjeft im Auge t\aben als
bie (ßefellfchaft.
Aber tvenn es uns auf biefem lüege auch gelungen iji,
72 Kapitel IX. Die feciale XTCedjcmif. Das Sittliche.
bie Sprache burch ihre eignen Stusfagen fo 3a umjleEen unb
ein3ufd)Iie§en, bag ihr nichts mehr übrig bleibt, als uns bie
(Sefeüfchaft 3U nennen, fo ift es boch eine anbere 5r<*ge, ob
jte fetber jtch beffen flar bewußt geworben iß.
Klar unb un3tpeibeutig iji ber (ßebanfe, baß bie <5efell-
fd7aft bas «gtoecffubjeft, b. t. bas praftifdje prin3tp bes Sitt-
lichen ift, jebenfaUs t>on ihr nicht sunt 2lusbrucfe gebracht
roorben. <£s fehlt aQerbings nicht an JDortbilbungen, bei
benen jte ben Schroerpunft bes Sittlichen [92] in bie frembe
perfon perlegt : ZI ä ch ft e n * liebe , 2TX e n f ch e n * f reunblichf eit,
ZRtt'Ieib; allein eine prtn3ipielle, b. h* für aüe fittlichen
üorfchrtften, pflichten, Cugenben, für bas Sittliche fchlechtbin
Sutreffenbe Ziehung auf bie (ßefeüfchaft ifi barin nicht 3U
erblicfen. Dagegen lägt fich bafür aQerbings bie breimal
jtch tpieberholenbe etymologifche Anlehnung bes Sittlichen an
bie Sitte in 23e3ug nehmen, in ber voxv oben (S. bie als
perbinblich gebadete ©rbnung bes (5emeinlebens erfanui
haben* Damit nennt uns bie -Sprache bie (ßefellfchaf t
als basjenige Subjeft, welches biefe ZTormen 3ur (ßeltung
bringt. freilich muß bann noch fuppliert werben, baß bie
(Befeüfchaft es ihretwegen tut, b. h* fie nicht blog Ur«
heberin, fonbem auch Swecffubjeft ber Sitte unb bes
Sittlichen tji, beibes aber fällt, wie wir foeben nachgewiefen
haben, nicht 3ufammen.
So fehltest unfere Unterfuchung über bie Sprache in be3ug
auf ben fpringenben punft ber gan3en fithtf mit einem
3tt>eifelhaften Hefultat ab. Die 23e3iehung bes Sittlichen 3ur
(SefeQfchaft wirb in ber Sprache wahrnehmbar, aber nicht
in poQer Klarheit, fonbem wie im ZTebel. So mu§ benn
bie XDiffenfdjaft fommen, um mit ihrer 5a<f el in fyeües, volles
£icht 3U rücPen, was wir im J^albbunfel ber Sprache nicht
3U erfdjauen permochten: es wirb ftd? 3etgen, baß jte es
permag.
Die Spraye* — Perftummen berfelben.
73
2)amit I}aben tt>ir ben Übergang 3um 5oIgenben gewonnen.
XOxx nehmen von ber Sprache Hb\d\ki> , um uns [93] ber
IDiffenfdtaft 3U3Utpenben unb erjiere nur bann noef) 3U IDorte
fommen 3U laffen, u>o fie über punfte, tpelcfye tpir bei <ße*
legenfyeit ber folgenben Unterfucfyung berühren werben, etwas
ausjufagen vermag.
ZTur eine Bemerfung fyaben tx>ir, inbem tpir unfer Derfyör
mit ber Spraye befcfyliejjen, noefj Ijm3U3ufügen.
ZDir fagten oben, ba§ es bei einem X>erB|ör nicfyt blojj
barauf anfomme, was ber 3U Derfyörenbe pofttip aus3ufagen,
fonbern auefj auf basjenige, tporauf er feine Untwovt 3U er«
teilen permöge. Keine 21nttoort erteilt uns bie Sprache auf
bie 5*ctge nad\ ber Quelle bes Sittlichen. ZDofyer nimmt
bas 3nbipibuum ober bie (Sefellfdiaft, tper immerhin pon
beiben fie audj 3utage förbern möge, bie fittlicfyen formen?
Tins bem 3nnern heraus, aus ber Dernunft, bem angeboren
ftttlidjen (Sefüfyl? Sinb bie <Srunbfät$e bes ftttlid^en ^art«
belns bem ZHenfcfyen ebenfo angeboren toie bie bes logifdjen
Denfens? ®ber iji es erjl bie (Erfahrung, tpelcfye ben
ZHenfcfyen belehrt, tpas er 3U tun unb 3U meiben habe, was
gut unb böfe, fittlicfy unb unftttlidf fei?
2)ie Sprache perfagt uns barauf jebe 2JnttPort, unb es
ift pon IDicfytigfeit, biefes negatipe (Ergebnis I|ier 3U fon-
ftatieren. Keinem ewigen ber 2tusbrücfe, bie fie für bas
Sittliche pertoenbet: Sittengefefe, Sittlictjfeitsgefüfyl, (ßetpiffen,
tpofynt bie Dorfteilung bes 21ngebornen inne, bie Sprache
gerpäljrt für biefe 3bee ntd}t ben leifeften 21nfyalt. ZTicfyt
SUtengefefc. Der Segriff bes (Sefefees, [94] ben fie babei
perroenbet, perträgt fictj ebenfotpofyl mit ber öorfteHung, baß
basfelbe 2T?enfd)entperf auf empirifdjem ober hiftorifcfyem
IDege getponnen fei, tpie mit ber, ba§ es bem ZTienfcfyen
nad\ 2trt ber Denfgefefee angeboren fei, ber Begriff ber Sitte
aber, burd? ben fie ben bes (Sefefees näfyer erläutert, pertpeift
7*
Kapitel IX. Die totale medjantf. Das Sittliche.
uns ausfchliepch auf ben erfiten IDeg. nicht Sittlich? etts*
gefühl. 3n ber t>on Sitte gebildeten Sittlichfett ift bas
ZHoment jebenfalls nicht enthalten. 5o formte es alfo nur
im (Sefüfyl liegen, 3ft bas (Befühl nottoenbigertoeife ettoas
Angeborenes? Sicherlich nicht! €s genügt, auf bas Schief*
lichfeits* unb bas Sprachgefühl 3U »enoetfen, bie beibe bie
Anlehnung an eine befitmmte Sitte unb Sprache 3ur £>or*
ausfefeung l\aben unb fich bamit als etroas ^ifiortfcfyes, unter
gegebenen Derhältniffen erft 3U (£rtr>erbenbes, nicht Angeborenes
funbgeben. sticht (Betreffen. Denn (Betreffen be3eichnet
fprachlich nur eine befonbere Art bes tt)iffens, aber toofyer
bies IDiffen ftammt, barüber fagt uns bie Sprache mittels
bes XDortes f elber nichts aus — bie 5*age, ob bas (Betreffen
angeboren fei, bleibt eine offene*
\S) Das Sittliche. — Die IPiff enfehaft. — plan ber
Unterfuchung. — Die brei Karbinalfr agen ber <£thtf-
- — Das gefchichtlichsgefellfchaftliche Syftem ber (£tt>if.
— Die (Ethtf ber gufunft.
Die bisherigen Unter fudjungen über bie Sprache fyaben
uns Ausfunft barüber gegeben, trne festere ftd] bas Sittliche
i>enft, unb uns bamit einen roertoollen 23eitrag 3ur (Erfenntnis
besfelben geliefert, allein auch nur einen Seitrag, Sache ber
IDiffenfchaft ift es, unter Derroenbung bes ihr t>on ber
Sprache (gebotenen bis 3ur sollen <£rfenntnis por3ubringen.
Seit 3(*hrtaufenben, von ben Reiten ber griechifchen Philo*
fophen an bis auf bie (Begentoart t^ab, anbmet fie ftd?
tiefer Aufgabe, unb toenn irgenbeine, fo follte man entarten,
bajj biefe längft gelöft tsorben fei. Denn bas Sittlid^e liegt
bem ZHenfdjen nicht ferne wie Sonne, ZHonb unb Sterne,
unb es bebarf 3ur €rfenntnis besfelben nicht fünftlicher fjilfs*
mittel unb ^ppavate, fonbern bie fittliche &>elt umgibt ihn
Die rDtffenfdjafk
75
wie bie JttmofpBjäre , in 5er er Übt, unb bie er täglidj ein-
atmet; er braucht, foQte man jagen, nur fein Jluge 511 off nenr
um biefes StüdP feiner VOelt 3U begreifen» 2lber 5er €r-
fafyrungsfafe, ba§ basjenige, a>as uns am nädjften liegt, nidjt
feiten am fdjtoerften unb fpäteften erfannt n>irb, betDätjrt ftdj
aud? fyer tsieber. 3)er ZHenfdj begreift eljer alle Dinge auger
jtd? als ftdj [96] felbji, — pon aHen Hätfeln, u>eldje bie
ZTatur ifym aufgegeben Ijat, ift er felbft bas fd?n>erfte.
2luf feinem (ßebiete bes menfdjlidjen IDiffens gefyen nod?
bis auf ben heutigen Cag bie (Srunbanfdjauungen fo toeit
auseinanber roie auf bem ber €tfyf, unb wenn man manche
lüerfe über biefe 3)is3iplin miteinanber t>ergleid}t, insbefonbere
bie ber Deutfc^en unb <£nglänber, 5. 23. aus früherer geit
Kant unb Sdjleiermadjer wt* 23entfyam, aus aÜerjüngfter
€. r>. Jjartmann mit fjerbert Spencer*), fo foHte man
faum glauben, baß fte auf bemfelben anffenfdjaftlidien Sobeu
getoadjfen feien*
IDäre tdj imjlanbe getsefen, mid> einer ber bisher auf-
gehellten (ßrunbanfdjauungen fdjledjtfyin an3uf daliegen, gern
mürbe xd\ es permieben I^aben, midj <*n einem Probleme
3U r>erfud}en, bas meinem 23erufsu>iffen fern liegt unb
bem id| früher, fo oft id} in feine ZTälje fam, fdjeu aus*
getx>id}en bin. <£in folcfyes Umgeben tpar aber bei bem
gegenwärtigen IDerf unmöglich, bie 5eftfteHung bes Perljätt*
niffes bes Hecfyts 3um Sittlichen, ber idj mid? nidjt ent3ie^eu
fonnte, nötigte midj, Hebe unb 2tnttoort 3U ftefyen, unb fo
rr>ar id?, ba id) mid) pon ber Hidjtigfeit ber Cöfung bes
Problems r>on feiten anberer nidjt über3eugen fonnte, ge*
3tr>ungen, mid? felbftänbig bavan 3U t>erfud?en. Subjeftio
*) €. von Qartmaun, Phänomenologie bes jtttlidjm Bettmßt*
(eins, Berlin *879, unb Herbert Spencer, Die CEatf adjen ber €tfyf.
2(utorifierte beutfdie Ausgabe von B.Detter, Stuttgart J879.
76 Kapitel IX. Die feciale Hledjantf. Das Sittliche.
bin id? [97] von ber Bidjtigfeit 5er gefundenen £öfung aufs
fefiejle über3eugt. Diefelbe B^at ftdj mir im Saufe ber 3abre
an altem, wotan td? fte erprobte: an ber €rfaljrung bes
täglichen Cebens roie an ben Catfadjen ber (Sefdjidjte unb
bei ber Kritif ber 2lnftdjten anberer flets betont, idj habe
nie (Selegenfyett gefunben, fte in gtoeifel $u 3iefyen, jte ift bei
aßen fragen, an benen fte ftdj 3U bewähren hatte, ftets ohne
Hefi aufgegangen, 3a mehr als bas: fte fyat ftch mir als
eine Ceucfyte erliefen, bie, roohin ich fte trug, ftets neues
£idjt verbreitete, mir Jtuffdjlüffe gewährte, bie ich f elber nicht
ertx>artet Ijatte, unb a>emt bie toiffenfchaftliche <£rgiebigfeit
unb 5^ud]tbarfeit eines allgemeinen (Sefichtspunftes, ba§ ihm
gleich ber lebenbigen Quelle ftets ein neuer IDahrheitsgehalt
entquillt, ohne ftch je 3U erfchöpfen, ein Kriterium ber IDafyr*
heit ift, fo barf ich glauben, bie XDahrljeit gefunben 3U traben.
3ch orientiere ben £efer über ben plan unb (Sang ber folgen*
ben Unterfudjungen.
Der (Srunbplan berfelben beruht auf ber Unterfdjeibung
3toeier Seiten bes Sittlidjen: bes objeftis unb bes fub*
jeftit> Sittlichen. Unter erfterem perftehe ich bie ftttlidjen
formen, bie objeftit>e ftttliche (Drbnung, unter lefeterem
bas praftifdje Verhalten bes Subjefts 3U berfelben: ben
fubjeftipen ftttlichen IDillen, bie ftttliche (Sefinnung.
Die anffenfehaftliche Betrachtung ber erften Seite hat 3n?ei
fragen 3um (Segenftanb: bie nach bemUrfprung [98] ober
ber Quelle ber ftttlichen Ztormen, — rooljer fommen fte?
— unb bie nach bem <3tt>ecf, — teas foHen fte? Die 3tr>eite
Seite fällt 3ufammen mit ber 5rage nach bem fubjeftit>en
ZHotit) bes ftttlidjen JPillens — tr>as befiimmt ben IDiHen,
bie ftttlichen formen 3U befolgen?
Die brei l|ier aufgeführten fragen laffen ftch als bie brei
Karbinalfragen ber (£tfyi? be3eichnen. Sie bebeuten für
bie Ctlfif basfelbe, was für bas Dreiecf bie brei gegebenen,
Die bret "Karbmalfragett ber (Etfytf*
77
basfelbe beftimmenben Stüde. £Der fxe in einer befiimmten
2lrt beantwortet Ijat, E^at bamit 3U ben (Srunbproblemen ber
<£tfyf Stellung genommen; fie bilben bie trigonometrifdje
Crias ber <£tfyif, aus ber fidj alles anbere beregnen läßt.
IDer fid? unb anbern Klarheit über fein Derfyalten 3U biefen
Problemen serfdjaffen tr>iö, muß fie beantworten; folange er
bies nidjt getan Bjat, ift bas DreiedP nodj nidjt fertig. Die
punfte, voeldie man fonft toofyl als entfcfyeibenbe an3ufefyen
pflegt, 3. 53. bie betannte Crias ber etfyfdjen <5üter, Cugenben,
pflichten (Sdjleiermadjer) reiben 3U bem «gtoeefe nxdtt ans,
fie bebeuten für bie €tfyf nxd\t mefyr, als bie brei IDinfel
für bas Dreiecf, le&teres iji bamit feinestsegs gegeben.
JDenn idj bie fittlidjen formen 3um 2iusgangspunft unb
3um 5unbament meiner gansen Hnterfudjung madje, fo bebarf
bies ber Bed]tfertigung. 3dj madje mid? bamit eines Hücf*
falls in eine angeblich t>on ber JDiffenfdjaft längji über*
tr>unbene Beljanblungsroeife fcfyulbig.
3n berfelben IPeife, voxe bie 3urispruben3 aus (ßrünben,
[99] bie nidjt Ijierfyer gehören, bie urfprünglidje $otm, in
ber bas Hedjt J|iftortfdj 3ur <£rfdjeimmg gelangt: bie impera*
tit>ifdje bes (Sebots unb Derbots mit einer anbern: ber be*
griff Udjen t>ertaufd}t Ijat*), Ijat es aud) bie <£tl\xt mit ben
ftttlicfyen 3mP^ötir>en getan. 2tn bie Stelle bes Solls ber
Horm fyat fie bas Sein bes Begriffs (bes fittlid?en (Sutes,
ber Cugenb, ber Pflicht, bes fittlidien ZHenfcfyen) gefefet, bie
formen greifen iBjre imperatitnfcfye 5orm ab unb fdjlagen
nieber 3U Begriffen. Die gan3e Darftellung nimmt auf biefe
XDeife ben £fyarafter ber Sefcfyreibung einer geiftigen IDeit
an, ber ftd) bie K)iffenfd}aft gerabe fo gegenüberjieÜt, n>ie ber
*) 2$ k^e biefe HTetfyobe unb bie (Sriinbe, tüelcfye fie ljen>or*
gerufen fyaben, weiter ausgeführt in meinem (Seift bes römtfdjen Hed>ts
Bb. 3, § 38—
78 Kapitel IX. Die feciale XKect/aiii?. Das Sittliche.
2?aturforfcher ber 23atur: fte gibt nicht an, was fein foll,
was von feiten 5er perfon gefcheh^n foll, fonbern fte ftellt
bat, was ift, fte fchilbert, befchreibt, entrt>icf elt*).
für bie <£thif ifi (ßegenftanb ber 2)arftellung ber Cypus bes
üoflenbet fittlichen ZHenfchen, fein 3bealbilb, 3hm entnimmt
fie ben 3^1* *>es Sittlichen, aber nidjt als eine Horm, bie
von außen an ihn herantritt, [100] fonbern als begrifflich
notroenbigen Ausflug feines 3nnern, als (Emanation feines
eignen toafyren ftttlichen tDefens. Das Soll ift übemmnben:
Soll unb Sein ift eins.
<£s liegt nicht in metner 21bficht, ben Döring, ben biefe
2)arfteIlungstDeife in äfthetifcher Be3iehung x>or ber impera*
titufchen in 21nfpruch nehmen fann, 5U beftreiten unb ebenfo*
roenig %e tmffenfchaftliche Berechtigung als bloße form ber
DarfteHung ; allein r>on ber Darftellung ift bie tfnterfuchung
unb forfchung toohl 3U unterf Reiben, für lefetere aber ift bie
HüdEFefyr 3U ber natürlichen unb urfprünglichen form bes
3mperattos meines (Erachtens unerläßlich. 2tls ausfehießliche
Betrachtungsform bes Sittlichen fehltest jebe begriffliche 2luf--
faffungstoetfe für bie <£tf}if eine (5efahr in ftch, bereu ich
bei ber ^nvxspvnben^ aus eigner unb frember (Erfahrung
längft inne geroorben bin: bie, über ben Begriff ben §we<£
außer acht 3U laffen. Bei bem Begriff entfehlägt man ftch
nur 3U leicht ber frage nach bem <gtr>ed\ £r tritt uns ent«
gegen in bem (getoanbe einer für ftch feienben, in fich ruhenben,
abgefchloffenen (£fiften3, er ift ba, gan3 fo gut wie bie T>inge
*) Beifpielstreife nenne ia? bas neuefte Syftem ber trjeologtf a?en
<Ett}i? von 3* von ^ofmann, ITörblingen \878, S.7[: „Be*
fd?reibung bes cfyrtftlicfyen Der Raitens ♦ Diefes ijt vov allem ein inner-
liches; bie 3nnerlid??eit, bie d?riftltd?e (Seftnnnng rjaben wir 3im8d$
3u befcfyretben, bann beren Betätigung im ^anbeln", 5. 72; „fo
tDÜrbe bas ftd? ergebenbe Bilb ein unrichtiges werben''* 5*79; „Wir
bef abreiben, rote ber Crjrift als folcr/er ft<f?r unb trie er ftdj als ben,
ber er ift, betätigt"*
Die tmperathrifcfye ^orm bes Stttengefetjes* 7()
ber 2Tatur. ID03U noch erft feine <££iften3bered)tigung in
5rage fteHen? Sie ift mit ihm felber gegeben, feine <££iften3
überlebt ihn biefes Ziad\voe\\es. Sei bem 3mperatto dagegen
fragt jeber benfenbe ZHenfch fofort nad\ bem IParum, unb
biefe 5rage füE^rt ihn 3um legten <5runb ber Sache 3urücf,
ber bei allen praftifchen Singen im <gtt>ecfe befte^t Die
begriffliche Sovm bagegen [101] lenft ihn r>on biefer 5^age
nach ber (Quelle ab unb t>erIodft ihn in bie Bahn einer
Dialeftif, toelche ihm sorfpiegelt, er fönne mit Ejilfe rein
formaler ©perationen (Konfequen3 — Konftruftion — - Spefu*
lation) bie lDa^rt)eit gereimten, fein problem erforbere fein
axxbeves Perhalten als bas bes ZTaturforfchers gegenüber ben
Dingen ber 2Tatur: reine, unbefangene Ejingabe an bas <Db*
jeft, 21mt>enbung ber naturfyiftorifcfyen JHet^obe auf bie Welt
bes (ßeiftes.
Darum nehme ich mit 2tbftd]t unb 23erou§tfein für ben
«gtoeef meiner Unterfud]ung bie 5orm bes 3mPeratit>s: bie
ber fittltcben formen uneberum auf; es n>irb fich 3eigen, ob
biefer fcheinbare Bücffall in eine angeblich ttnffenfchaftlich
überrounbene 5orm — benn als folche u>irb fte beseichnei —
ber Sache förberlich ift ober nicht.
Xlod\ in einer anbern Hichtung toirb bie folgenbe Dar*
Peilung ben Schein eines ttuffenfchaftlichen Hücffchrittes auf
fich laben. Sie finbet bie Quelle bes fittlichen 3mPera*tos
nicht im 3nkwibuum, fonbern in ber (Sefellfchaft, fte läßt
alfo benfelben t>on außen an bas Subjeft herantreten. Damit
verfällt fie bem Dorrourfe ber Ejeteronomie bes ZHoral«
prin3ips, tx>as für gleicfybebeutenb gilt mit Umtnffenfchaftlich'
feit Das roafyre 2Tk>ralprin3ip foll ber neuern <£tfyf 3ufolge*)
*) 21uf btefen (Segenftanb ber 2lutonomte unb ^etcrouomte bes
inoraIprtri3ips ift bas aait3e oben 3ttterte Wext von (£♦ von ^art-
mann gebaut.
80 Kapitel IX. Die feciale ITCedjam?* Das Sittliche.
ein autonomes fein, es [102] foQ beut 3nbu>ibuum nadj-
getsiefen toerben als (ßefefc feiner felbjl.
2Iudj idj gelange fdjließltdj 3U bem Hefultate, baß bas
3nbipibuum bas Sittliche als (Sefefe feiner felber in ftcfy
tragen foQ, unb baß es, inbem es fxttlict^ fyanbelt, nur ftd?
felber behauptet (etljifdje Selbjlbeljauptung, Kapitel XI),
aber id? gelange ba3u, xd\ ge^e nidjt bapon aus. Das
Sittliche ifi fyifiorifd} nidjt Pom 3nbbibuum, fonbern pon
ber (Sefellfdjaft aus getponnen tporben, unb audj praftifd?
befte^t bas toaBjre Perfyälinis beiber barin, baß bie <5e-
fellfdjaft es pon ifyn forbert. Die Überroinbung biefes
(Segenfafees bes Süßeren 3um 3™tem, bas pöHige (Eins*
roerben bes 3n^t>töuums m^ bem Sittengefefc, fur3 bie
Autonomie besfelben ift bie lefete, tjödjfte 5orm, in ber bas*
felbe in il}m feine IDirffamf eit entfaltet, aber bie Catfadje,
baß es als (gebot unb 3tr>ar als (ßebot ber (SefeUfdjaft pon
außen fyer ifym aufge3toungen toorben ift, tpirb babur*
ebenfotpenig ungef diesen gemalt, tpie es pon ifyn felber per*
fannt tperben barf. Das 3nbiptbuum foll unb muß tpijfen,
baß es ftdj in Jlbfyängtgfeit pon ber (ßefeUfdjaft befmber,
baß es fein (Sefefe pon tf^ r erhält; eine Ojeorie, bie ifym
bas (5egenteil porfpiegelt, ftetlt bie H)af|r^eit auf ben Kopf.
Das 3nbipibuum ift Ceil bes (5an3en, ber Ceil aber nimmt
fein (ßefefe entgegen Pom (Sanken, unb mag bas 3nbipibuum
als (Slieb ber <5efeHfdjaft fiefy audj nodj fo einig mit ibr
füllen, immer ift es bie (Befellfdjaft, voeld\e ifym bie Hormcu
[103] bes ftttlicfyen £[anbelns por3eid}net. Gegenüber bem
5irenengefang einer ungefunben Ojeorie, tpeldje bas 3n^'
pibuum mit feiner fittlidjen Autonomie 3U betören fudjt, hälfe
id] es für geboten, tfym einmal bie nüchterne XDa^rljeit ins
(D^r 3U rufen: bu bift nur <51ieb bes <5an3en unb erfyältfr
Don tfyn beine <5efefee, eigne fte bir fo an, baß bas äußere
<8efe<3 bein eignes, unb baß bamit bie äußere itottpenbigfeit
Die ^eteronomte bes Stttengefetjes* 8{
innere ^reifyeit tserbe, aber gib bid) nidtf bem tDaljne Ijin,
baß bie gügel, tseil bu fie jubjeftis nidjt fütjlft, objeftiü
nidjt efiftteren unb baß bu felber bein eigner (Sefefe*
geber feift.
So fe^re idj aljo 311 ber urfprihtglicfyen unb natürlichen
torm bes Sittlidjen: ber fittlidjen Tlovm 3urücf, um jte 3um
2tusgangspunfte meiner gan3en Untersuchung 3U machen,
unb ich greife bie beiben erften ber oben (S. 76) genannten
Karbinalfragen ber <Stt^tP tr>ieberum auf, um fur3 bie Stellung
an3ubeuten, bie ich 3U ihnen einnehme«
Die erfte voav bie Urfprungsfrage. $nt mich perfön*
lieh ift fie bie 3toeite getoefen, ich I|abe 3uerft bie 5rage r>om
<§tr>ecf ber fittlichen formen ins 2Iuge gefaßt, unb ich behalte
biefe Orbnung auch im folgenben bei, inbem ich mich 3unächft
ber le&teren 3utr>enbe.
3n be3ug auf fie bin ich 3U bem Hefultate gelangt, baß
alle fittlichen Zlormen im tseiteften Sinne bes JDortes (Hecht,
ZHoral, Sitte) lebiglidj bas £)ohl unb (Sebexen ber (ßefeH*
fdjaft 3um &wed I|aben, in meiner Cerminologie vom ,§tt>ed*
fubjeft (I, S- ^63 ff., II, S. 89/90 cmsgebrücft: baß bie [104]
(Sefellfchaft bas gtsecfjubjeft bes Sittlichen bilbet. Sittlidi
unb gefeüfchafttich ift gleidjbebeutenb, überall, roo man ftttlid)
fagt, fann man ben 2lusbrudE mit gefellfchaftlich oertaufdjen
— alle fittlichen ZTormen finb gef ellfchaf tlidje 3m*
peratise.
Der Ausführung biefes (ßebanfens iji ber erfte 2lbfd]nitt
ber folgenben Unterjochungen: bie tEeleologie bes ob*
jeftir> Sittlidjen getoibmet. ^d\ beginne benfelben mit bei-
trage nach ben möglichen <§tt>ecf fubjeften bes Sittlichen (Ztr. \<5)
unb gelange babei 3U bem Hefultat, baß nur bie (ßefellfchaft
als folches angefehen werben fann.
Daran [daließt fich bie Betrachtung ber gefellfchaft*
liehen 3mperatit>e, b. h« berjenigen Ztormen, benen bas
p. 3f)ertng, Der groecf im Hedjt. II. (5
82 Kapitel IX. Die feciale lTCed?amf* Das Sittliche*
3nbunbuum im gefellfchaftltchen £eben unterworfen ift (ZHobe,
Sitte, ZHoral, Hecht), unb 3 war ift es fyier nur bte gweef*
frage, bie id} ins 2luge faffe, wäBpenb ich bie 5rage: rt>ie
bie (ßefeßfehaft biefelben realifiert (fc^iales gmangsfyftem),
einer fpätereu Stelle ber Untersuchung vorbehalte. Die ZHobe
unb bas Hecht neunte ich dabei nur auf, um 3U prüfen, ob
fie fich innerlich (b. h* ihrem gweefe nach) von Sitte unb
ZTIoral unterfcheiben laffen* Der 2lbfchnitt über bie gefell'
fdjaftlichen 3mperatipe E^at 3um «gweefe ben Nachweis, baß
alle gefellfchaftlichen formen burch gefeUfchaftliche gweefe
ins £ebeu gerufen Horben finb*
Sinb fie es, fo müffen fie bebingt fein burch ben [105]
jebesmaligen guftanb ber (ßefetlfchaft, benn bie gweefe ftnb
bei Dölfem wie bei 3nbir>ibuen ftets fo befchaffen, wie fie felber
es ftnb. Daß biefe Konfequen3 für bie jtttlichen formen
sutrijft, werbe ich bartun, inbem ich bas Ijiftorifdje unb praf*
tifche #bhängigfeitst>erhältnis aller fittlichen Ztormen r>on ber
beseitigen (Seftaltung ber (Sefellfchaft nachweife. Das I]ifto»
rifche — inbem ich 5eige, wie bie (Entwidmung bes fittlichen
33ewu§tfeins parallel geht mit ber ber (Sefellfchaft, fowoljl
intenfit), was bie allmähliche (Erweiterung unb Vevvoti>
fommnung ber fittlichen (Erfahrung, 2tnfd]auungen, formen
anbetrifft, als ej:tenfir>, was bie Subjefte anbetrifft, benen
gegenüber man fich 3ur Beobachtung ber fittlichen (Srunbfäfee
perpflichtet fühlt, b. i. bie 2lusbehnung ber perbinbenbeu
Kraft berfelben über ben urfprüngltchen Kreis ber (Senoffeu
hinaus auf immer weitere Kreife (Stamm, X>olf, Konfeffion,
Baffe, ZHenfchheit)* IDte bas Hecht, fo fyat fid] auch bas
Sittliche in biefer e^tenfipen 23e3iehung mühfam pon einer
Stufe 3ur anbern erheben müffen. XPer nicht 3ur (Semein*
fchaft gehört, h<*t barauf feinen 2lnfpruch, unb biefe (Semem*
fchaft war urfprünglid? eine fehr enge, erft h<>chft allmählid)
hat fie fich erweitert unb bamit 3ugleich ber (Sebanfe ber
plan t>et Urtterfucfymtg*
85
rechtlichen unb jtttltchen Berechtigung unb (Sebunbenheit, Bis
er fchließlich bei bem Punft angelangt ift, ber unfere heutige
21nfchauung charafterijtert: red]tltche unb jtttliche <5emeinfchaft
ber gan3en UTenfchheü* Das serjtehe ich barunter, wenn ich
von einem ^ijlorif chen 2lbhängigfeitst>erhältnis [106] bes Sitt*
liehen von ber 2tusbehnung ber <5efeHfchaft rebe, urfprünglid?
fiel lefctere 3ujammen mit bem Vevhanbe ber (Senoffen, fyeut*
3utage umfaßt fte bie gan3e UTenfchh*tt» Siefen enblichen
2tbfd^Iu§ bes <£ntwicflungspro3effes bes Sittlichen auf €rben
hat bie Spraye treffenb wiebergegeben mit bem 2tusbruc?
UTenfchlichfett.
Unter bem praftifdjen 2lbhängigfeitsserhältms ber jttt*
liehen Hormen von ber (SefeHfchaft serftehe ich ben <£influß,
ben gefeUfchaftlidje Unterfdjiebe auf unfer ftttliches Urteil unb
Oerhalten ausüben, Dom Stanbpunfte ber abflraften ethifchen
Theorie aus fommen biefelben gar nicht in Betracht, ein
gefchlechtliches Vergehen wiegt gleich fchwer, ob ein UTäbchen
ber höhten Stäube ober ein Bauernmäbchen, ein prebiger
ober ein fjelbentenor, ein 2tft ber XHutlofigfeit, ob ein ®ffi*
3ier ober ein Schneiber, eine wiffenfdjaftliche Cetchtfertigfeit,
ob ein (Belehrter ober ein <§eitungsf Treiber jtch beffen fchulbig
gemalt h<*** IDir werben fehen, baß unfer ftttliches Urteil,
wie es nun einmal ift — unb bie Catfächlichfeit besfelben
bilbet überall bie (ßrunblage meiner Betrachtungen — fich
gan3 perfcfyeben bagegen perhält. Das f^cigt aber m, a. ffl.
unfer ftttliches Urteil reagiert gegen gefeüfchaftliche UTomente
— warum? wirb ftch feiner3eit 3eigen,
Den 2lnfchlu§ ber Celeologie bes Sittlichen bilbet ber
Xladiwexs ber 2lnwenbbarfeit bes t>on uns aufgehellten Ulaß*
ffabes bes Sittlichen als bes gefellfchaftlich ZTüfelichen auf bie
Staatsgewalt 3jl bie (SefeHfchaft bas [107] gweeffubjeft
bes Sittlichen, fo iji bie Staatsgewalt als Vertreterin ber-
felben in erfter Cinie berufen, bas Sittliche 3u t>erwirf liehen
6*
Kapitel IX. Die fokale ItTedjanif* Das Sittliche*
unb 3u fördern» Sritt fie bei ihren 2tnorbnungen mit ben
fittlidien 2tnfchauungen bes Volfs in IDiberfpruch, fo unter*
liegt auch fie bem Dorwurfe bes Unfittlichen unb 3war nid^t
bloß in be3ug auf ein3elne sorübergehenbe ZHajjregeln, fonbern
nicht minber in be3ug auf bie rechtlichen 3nftitutionen, bie fie
einführt, ober bie fie, nachbem fie ihre Berechtigung in ben
2Iugen bes Polfs verloren haben, aufrecht erhält.
2lls 3toeiter 2lbfdinitt ber Ch^orie bes objeftip Sittlichen
mü£te bie Unterjochung über bie Quelle bes Sittlichen folgen.
3ft bas fittliche (Sefühl eine ZHitgtft ber Ztatur ober ein
JDerf ber (Sefchichte, finb bie fittlichen (Srunbfä&e bem
21Tenfchen angeboren, ober bilben fie einen Jtieberfchlag ber
gefd)id]t!id)*gefeHfchaftlichen (Erfahrung? 3^ serweife biefe
5rage jeboch an eine fpätere Stelle bes IPerfes, wo fie in
etwas anberer (Seftalt, nämlich als 5*age r>om Urfprunge bes
Hechtsgefühls wieberum an uns h^antreten wirb. 23eibe
fragen laffen fich nicht soneinanber trennen, unb bei ber
Slltematwe, bie 3U einer einigen 3uf ammengefaßten 5tage
entweder fchon h*er obev *rft fpäter 3U behanbeln, entfehieb
ich mich aus 3wei (Srünben für le^teres, einmal weil bas
Hecht im plane meines IPerfes bie erfte Stelle einnimmt, unb
fobann, um mir für bie gegenwärtige, ftofflich bereits mehr
als mir lieb ift, überlabene £>arfteHung eine wünfehenswerte
[108] (Entladung 3U t>erfchaffen. 3^ fann es inbeffen nicht
umgehen, meine Anficht bereits Ipex mit3uteilen, ba id] im
Perlaufe ber folgenben (Entwidmung oft genötigt bin auf fie
23e3ug 3U nehmen.
2Iuf bie 5^age nach bem Ursprünge bes fütlidien (Sefühls
antwortet eine Sh^orie, welche fo alt ift als bas wiffenfehaft*
liehe 3)enfen, unb welche fich r>on ben Sagen ber gried)ifd^en
phüofophen bis auf bie (Segenwart behauptet hat: bas fitt«
liehe (Befühl ift bem 2Henfchen angeboren, bie tfatur ((Sott)
hat es ihm ins ^er3 gefenft 3ch be3eichne bementfprechenb
Die nattoifiifdje unb Me gef <^t<^tlt^gef eltf d?af tltd?e (Theorie. 85
btefe Cfyeorie als bte natipiftifdje. Xlnv barm roctd^en
ifyre Derteibiger soneinanber ab, baß bie einen bie an*
geblidje ZHitgift ber 2Tatur auf ein bloß formales <£r*
fenntnist> er mögen befdjränten (formaliftifdj «natisi*
ftifdje Cfyeorie). Wie ber ZlTenfdi fid? feines 2luges erft be*
Lienen muß, um bte 2lnfdjauung t>on ber 2tußemr>elt in jtdj
auf3uneljmen, fo aud> jenes <2rfenntnist>ermögens, um feine
ftttltcfyen 2lnfdjauungen 3U gewinnen* <£ine 3tx>ette 2lnftd}t
(fubftantiell*natit>ijHfdie Cfyeorte) erftrecft bie Mitgift
ber Hatur auf ben ^nl\aU biefes (Sefüfyls, fo baß ifyr 3U*
folge bem ZHenfcfyen bte funbamentalen Xtormen für fein fitt*
liebes %ani>eln ebenfo angeboren toären, wie bie logifdjen
(Sefefee für fein Denfen,
Der natit>iftif djen O>eorie fefee idj meinerfeits bie gefcfyicfyt*
lidje gegenüber. Zlid\t bie Statur, fonbern bie (Sefdiidjte ift
bie Urheberin bes Sittlichen unb 3toar nidjt [109] bloß ber
3ur 5orm bes Bettmßtfetns erhobenen (ßebanfen: ber fittlicfyen
Hormen, 3been unb bes biefelben in 5orm bes Unberoußten
in ficfy tragenben fittlidjen (Sefüfyts, fonbern audj bes fittlidjen
IDillens. Die 2lnjtcfyt pon bem fyftorifdjen Hrfprung unferer
fittlicfyen 2lnfcfyauungen ift bereits r>or nafye3u 3tt>etfyunbert
3a^ren t>on Cocfe in feiner bekannten Scfyrift über ben
menfcfylicfyen Derftanb sertetbigt toorben. 2lber feine
<2ntbecf ung — in meinen 2tugen eine ber größten Caten bes
menfd}Iid?en (Seifies im Caufe ber gan3en &)eltgefd]td}te, eine
voative Hiefenleiftung, bie jeben mit Betounberung r>or ber
(ßetoalt ber menfdilidjen Denffraft erfüllen muß — ift an
ber fpäteren <£tfyf unb Bed?tspfylofopfyie fpurlos vorüber*
gegangen. Statt bes t>erfyängnist>ollen 3U fpät traf fie ber
Dortourf: 3U früfy! Selbjl ein fo gewaltiger (Seift tr>ie Kant,
ber in be3ug auf ben Don £ocfe ebenfalls behaupteten fyifto*
rifcfyen ilrfprung aller unferer tfyeoretif d]en (£rfenutniffe
feinen (Seban!en aufnahm, t>ermod]te fid] in be3ug auf bie
86 Kapitel IX. Die fokale nTed?anir\ Das Sittliche*
praftifd?cn Waty: Reiten, meldte unfer angeblich angeborenes
fttttidjes (SefüBjI uns lehren foUf nidjt von ber ererbten E>or*
Rettung frei 3U machen, unb bie £eijre von bem angeborenen
fittlidjen (Sefüfy, fei es als 5orm bes <£rfenntnist>ermögens,
fei es als 3nk£9r*ff t^altt 3beenf fei es unter biefem ober
jenem Hamen: als <5ert>iffen, fittlidjer Crieb, Der*
nunfttrieb, Dernunft, angeborne 3been, natürliche
lüa^r^eiten, DemunfttoaBjrBjeiten, unb toeldje Flamen
man fonft für [110] eine unb biefelbe DorfteHung in Bereit«
fdjaft ^atf biefe PorfteHung ^at ftdj nod? bis auf ben heutigen
tEag behauptet*).
*) 3^? P^He einige «geugniffe aus ben legten 3afyren (1878— J880)
3ufammen. fy£o^e, 21?if rof osmus , Bb. 2, 21ufL 3 (1878) 5» 338 ff.,
insbefonbere S* 3^0 „ein unaustilgbarer Keim bes (Suten ift bem
menfcr/Itdjen (Seift im <8etr>iffen angeboren aber bas
naturroüdjfige (Semüt bes ITCenfdjen erzeugt feinestuegs bie flare
(Einfielt in alle ftttltc^en (Sebote". €. t>on artmann, Phänomene
logie bes ftttlidjen Betimgtf eins , Berlin (X879) 5. 322 ff* 3<h tjebe ben
Sat$ auf 5. 325 rjercor. „Die bem XUenfdjen innerootfnenbe Der*
nunft roirb fo 3um autonomen <Sefet$geber, inbem fie aus bes
Iftenfcr/en fittlidjem eigenften IDefen heraus ben fatego*
rtfdjen 21nfprucfy ergebt, bag audj im menfdjlicfyen fjanbeln alles vex*
nünftig 3ugelje unb bas Demunftmibrige ausgefd?loffen bleibe. Wix
tpiffen, bag bie Vernunft gan3 ebenfo ben 21nfprudj ergebt, bag aud>
im menfdjlicfyen Denfen alles cemünftig 3ugelje, unb bag biefer Tin-
fprud) feinen 21usbrucf ffnbet in ben logifdjen Denfgefetjen unb bereu
Ünmenbung auf (Erkenntnistheorie unb ITCetljobologie; bies ift ber fate*
gorifd?e 3mP^atir> ber Demunft auf ttjeoretifdjem (Sebiete, n>ie bie
rationellen (ßefefee bes ^anbelns berjeuige auf praftifd^em Ge-
biete. 3e ^ad? bet Betätigung ber freien Vernunft auf biefem
ober jenem (Sebiete unterfdjeibet man eine trjeoretif d?e unb praf*
tifdje Seite berfelben, ober aud? fiu^er ausgebrüeft eine theorettfcfye
unb praftifdje Pernunft". £icbmann, 21nalvfe ber IPirFIicfyfeit,
Strasburg (J88Q) S. 652: Das (Seariffen fei nid?t blog eine formale,
inhaltsleere Anlage ober ^unftion, bie ihren fpesiftfdjen 3nfjalt r»ou
äugen erhalte. 5. 670 „natürli d?es nid?t fünftlid] aner3ogenes
<8etr>iffen\ fjugo Sommer, Die (Et^if bes pefftmismus, in ben preug.
3at|rbüdjem, Bb.^3 S. 396 (1880); „Das (geunffen ift bie ein3ige wahre
(Sefd^tcfytltd^gefellfdjaftlidje (Efyeorie»
87
[III] 2)en (Srunb ber <£rfolglofigfeit ber <£ntbecfung £ocf es
fann idj nur barm erblicfen, baß er, n>ie er im Sinne feiner
Aufgabe (Kritif bes menfcfylicfyen (£rfemttnist>ermögens) alter*
bings burfte unb mußte, fiel] auf bie ZTegatit>e befdjränfte,
baj$ bie fittlicfyen (Srunbfäfee bem ZHenfcfyen nicfyt angeboren
feien, ofyne pofitip ben Zladimeis 3U erbringen, n>ie unb
xpo^er bie ZTTenfcf^^eit in ben Befifc i^rer fittlicfyen (Srunbfäfee
gelangt fei unb bas 3nbir>ibuum ba3u gelange. Zlad\ biefer
Seite t|in glaube id? mit fjilfe bes (Srunbgebanfens biefer
Sdjrift: bes groedes feine Untersuchung bemnädjft t>erpoH*
ftänbigen 3U fönnen.
3n fonfequenter Verfolgung biefes (Sebanfens bin idj 3U
ber Über3eugung gelangt, baß alle Beditsfäfee unb Hedjtsein*
ridjtungen ofyne 21usnal}me praftifcfyen tnotioen ifyren Urfprung
oerbanfen, lebiglid? ZTieberfdjläge ber fyftorifdjen (Erfahrung
fmb, baß fein einiger berfelben bem ZHenfdjen burd? fein
angebornes Bedjtsgefüfyl x>orge3eid)net roorben ift, felbjf nidjt
aprtorifttf d?e (Srunblage aller Sittlidjfeit", 3n be3ug auf anbere
Sdjriftftefler bin tdj mcfyt t>öllig ftc^er, ob tdj fie t^iert^er 3äfylen barf, fo
3* 3, 3* 3* Baumann, £?anbbudj ber ITCoral, £etp3ig tpeldjer
S. 7<k „ben (Sang ber HTenfdjtjeit auf bie Hatur bes XDillens unb
bie (Sefetje fetner 2lusbilbung" grünbet, S.{2% von moralifdjen (Ten-
ben3en fprtcf/t, rpelcfye bem ItTenfcfyen üon Einfang an bet3ulegen feien
Je Ii i X)atjn, Die Dermmft im Hecr/t, Berlin (1879) unb 21bfj* in ber
«geitfdjrift für vergleich enbe Hecfytsnnffenfdjaft, Bb*3, S. 5 (1880), u>o
er bie XHoral auf bie 3&ee bes (Suten unb ben Crieb ber fyarmonifdjen
(Seftaltung r»on Selbjterljaltung unb Eingebung 3urücffüfyrt. 3n bem
angebltcr/en befonberen (Triebe für bas Sittliche fann idj nur eine von
ber Hatur bem HTenfcr/en gewährte befonbere Beanlagung für bas Sitt*
üdje erblicfen* Bei ber gegenwärtigen 3tr>eiten Auflage trage idj, um
ntcfyt alle Stimmen auf3U3CÜjlen , nur nod? nadj Scfyuppe, <Srunb3Üge
ber €tfn'f unb Hecfytspfnlofoptye, £etp3tg \88[, S. 25, 26, *58 („ins §ev$
gefdjrtebene (Sefet}"), £a3arus, Das £eben ber Seele in, S. 52, 21uflf*2*
geller, Begriff unb Begrünbung ber flttltd?eu <5efet$e, Berlin J883,
S. U, J2, 28» Dagegen ift feit ber erften Auflage ber XDerfes bie von
mir vertretene tjtftorifcfye 2lnfid?t verfochten u>orben t>on paul Hee,
Die <£ntftefytmg bes (Sennffens, Berlin J885*
88 Kapitel IX. Die feciale Ittecfjamf. Das Sittliche*
bie eiuf adi\Un, fdjeinbar [112] ftcf? r>on felbft *>erjlel|enbeu
Hedjtstpafyrfyeiten* T>a§ er nidjt morben, rauben, [teilen biirfe,
t}at ber ZTTenfd^ erft auf bem IDege ber €rfafyrung lernen,
fte erfl fyat ifyn belehren muffen, ba§ babei ein (Semeinleben
nxdit befielen fann — aud) im Hechte tote in allen fingen
fyat bie ZHenfd^ett erft burdj Stäben fing tperben muffen,
bie ITatur Ijat bem XUenfdjen für bas Hecfjt feine anbere
2lusfiattung mit auf ben £ebenstr>eg gegeben, als für alle
übrigen £>tx>eige bes prafttfcfyen iDiffens: feinen Perfianb, um
fidf feine (Erfahrungen 3unufee 3U machen, unb fotsenig fte
ifyt gelehrt ^at, Sd}ul}e, Kleiber, Efäufer, Schiffe 3U machen,
ebenfotoenig fyat fte ifym eine 2tmseifung getoäfyrt, bie tljm
nötigen Hecfytsetnricfytungen l}er3uftelten. Kur3, bas Hedjt ift nid)t
minber ein fyifiorifdjes probuft, als bas I}anba>erf, bie Schiffs*
bantnnft, bie Cecfynif — fou?enig roie bie ZTatur bem 2lbam
bie Dorfteltung eines Kod]topfes, Schiffes ober einer ©ampf*
mafcfyine in bie Seele gelegt f?at, aus ber er fte im Caufe
ber <5>eit nur mühelos Ijeraussuljolen brauchte, u>ie es bei ben
Hec^tsibeen ber 5att fein foll, ebenfotsenig bie bes (£igen*
tums, ber €fye, ber btnbenben Kraft ber Verträge, bes Staats.
Unb roas von bem Bedjte, ben Hecfytseinricfytungen unb
Bedjtstpatjrfyeiten, gan3 basfelbe gilt audj t>on ben mora*
lifdjen (Srunbfäfeen unb r>on ber Sitte, fur3 von ber gefamten
fittlicfyen JDelt. 2)te gan3e ftttlidje JDeltorbnung ijl ein pro-
buft ber (Sefcfyicfyte, b. t, genauer, bes gtoedfgebanfens, ber
unausgefefeten Cätigfeit unb Arbeit bes [113] menfd}lid7eu
Derftanbes, ber mit jeber Hot, ber er abhalf, jebem öebürf*
niffe, bas er bef riebigte, nur ben 23oben fyerftetlte, auf bem
ein neues öebürfnis, ein neuer §wed ftdj ergeben tonnte.
T>er groeef Ijat in JDtrflicfyfeit bie 5äfygfeit, tt>eld]e f(egel in
feiner btaleftifdjen UTetfyobe fälfd^lid] bem Segriff beilegte:
er entlägt flets einen neuen aus fidj, er tfi bas Perpetuum
mobile ber £Deltgefd)id}te.
(Sefdjtdjtlidje Bübuttg bes flttltdjen (gefügte. 89
Zlnt ber Umftanb, baß bie <Brunbfät$e unb ZHafimen, bie
ber XHenfd} auf bem H)ege einer unenblicfy langen (Erfahrung
|td] ab jlrafyert B^at, bem ein3elnen 3n&i*>töuum in einem fo
frühen Hilter unb in einer fo unfcfyeinbaren 5orm 3ugetragen
werben, baß jebe Kontrolle feinerfeits über bie r>on außen
erfolgte 21ufnafyme ausgefd>toffen ift, fyat ben (ßlauben ^cr*
oorgerufen, baß bas Hecfytsgefüfyl angeboren fei. X>as er*
toad^enbe 23ewußtfein ftnbet fidj im Seftfe aller biefer fl?a^r*
Reiten; was ift natürlicher als bie ZHeinung, baß fie i^rem
Cräger unb fomit auefy bem menfcfylicfyen (ßeifte überhaupt
von allem 2lnfang an 3U eigen gewefen feien? Die <geit liegt
nodj nicht lange hinter uns, wo bie 2TEebi3m unb ZTatur*
wiffenfdjaft in ben perfdjiebenen <§erfefeungspro3effen bes
organifdjen Körpers: ber €iterbilbung, 5äulnis, (Särung,
bem Schimmeln, Perwefen ufw, r>on innen heraus (fpon tan)
erfolgenbe Porgänge erblicfte. 3n3wifd]en t[at bie iDiffen*
fchaft mit Jjilfe bes ZHifroffops ben ZXadiwexs erbrad]t, baß
alle jene pro3effe r>on außen burch Aufnahme ber bem un*
bewaffneten [III] 21uge nicht wahrnehmbaren in ber £uft
fcha>ebenben pÜ3e unb Sporen hervorgerufen werben»
Vas Phänomen, um bas es fich bei ber 5tage pom fitt*
liefen (Befühle Ijanbelt, ift gan3 basfelbe, 21uch bie fittlichen
H>al)rl|eiten fchtoeben gleich jenen Sporen in ber uns um*
gebenben £uft, wir atmen fie ein, ohne uns beffen bei ber
^iQmä^lid^feit unb Unmerflichfeit biefer Aufnahme unb bei
bem 3U biefer Seit noch söllig uuentwicfelten «guftanb unferes
(ßeijtes bewußt 3U werben. Wenn bie €t^i! fich entfchließen
wirb, benfelben IPeg ber ejaften Beobachtung ein3ufchlagen,
wie bie ZHebi3in unb Haturwiffenfchaft, fo wirb fie auch 3U
bemfelben Hefultate gelangen, unb ich lebe ber feften Über*
3eugung, baß eine fpätere geit über bie Anficht r>on ber
fpontanen Beugung bes fittlichen (ßefühls im ZHenfchen
ebenfo urteilen wirb wie über bie Cl]eorie r>on bem fpontanen
yo
Kapitel IX. Die totale XTCedjamt Pas Stttlidje.
Auftreten ber gefetjungsp^effe im menfd? liefen Körper: 3rr-
tümer ber Vov$eit, bie in ber Ungenauigfeit ber Beobachtung
i^ren (Srunb Ratten, unb bie nur burefy ZHangel an Kritif fo
lange i^r Ceben 5U friften vermochten. 3n ber <Sefd>id}ts*
tr>iffenfd?aft t^at man längjl erfannt, ba§ bie Kritif ber Quellen
bie erfte unb unerläpdjfte Aufgabe bes ^iftorifers ift. 3jt
es nicht an ber <§eit, ba§ bie <£tfyf fich enblich einmal ber-
felben Pflicht beimißt nnrb, bie Quelle, aus ber fie fchöpft, einer
Kritif 3U unterwerfen? Zlatnv ober (Sefchichie? (£ine €thtf
unb Hecfytspbilofopfyie, welche biefe 5r<*ge nicht [115] 3um
(Segenftanbe ber ernfteften, einbringenbften Unterfuchung macht,
erfennt fich in meinen 2lugen bas präbifat ber IDiffenf-chaft*
lichfeit ab. ZHag fie bie Staqe beantworten, rote immerhin
fie wolle, aber wenn fie bie 5*<*ge umgebt, fo ift bas ganse
(Sebäube, bas fie errichtet, auf 5anb gebaut unb aller 2luf *
put$ mit fchönen unb t|oc^flingenben phrafen, an benen es
nirgenbs weniger fehlt als in ber €thif, fann nur ba3u
Lienen, ben Kontra jt 3wtfchen ber Dernachläffigung ber erften
funbamentalen Aufgabe, ber (ßrunblegung , unb ber 23e*
fchaffung biefes 5litterwerfs nur um fo fühlbarer unb greller
3U machen.
2>er 3toeite 2lbfchnitt ber folgenben Unterteilungen I^at
ben fitt liehen 2DilIen 3um (Segenftanbe. 2tn ihm hängt
i>ie praftifebe IDirflid^feit bes Sittlichen, ohne ihn ifl basfelbe
bloß etwas (Sebachtes, PorgefteUtes , Beabfichtigtes, nichts
Xöirfliches, Heales, — ein 3bealbilb ber (SefeUfdjaft t>on
demjenigen, was fein foll, was aber nicht ift.
JDofyer nun ber fittliche JDille? Der Cljeorie t>om
angebomen ftttlichen (Sefühle macht bie 5rage nicht bie ge*
ringfte Schwierigfeit. So leicht wie es ihr fällt, bie 5**age
von bem Urfprunge bes Sittlichen auf bie Ztatur ab3ulaben,
cbenfo bie t>om ftttlichen IDiHen. 3hr 3ufoIge I>at bie Zlatux
uns mittels bes ftttlichen (Sefühls nicht bloß 3um <£rfenuen
<5 efdjidj tltcbe Silbung bes ftttitcfyett XXHÜens*
(theoretifch * natiüiftifche Cheorie), fonbem auch 3um
XPollen bes Sittlichen ausgerüftet [116] (praf tifch* natioi«
ftifche Ch^orie), Der Schufegeift, ben fie uns mitgegeben: bas
^etsiffen lehrt uns nicht bloß, was gut unb böfe ift, fonbem
nötigt uns auch, feine Mahnungen 3U befolgen — bas XüoEen
bes Sittlichen ift nur bie etoas mühfame, aber von bem fxtt*
liefen (Befühl als unabläfftg unb unerbittlich in (Erinnerung
gebrachte praftifdje Konfequen3 bes HMffens. §roei tx>iber*
ftrebenbe Criebe hat öic ZTatur bem ZHenfdjen emgepflan3t
3n bie eine £}er3fammer hat ^n Egoismus gelegt, in
bie anbere bas ftttliche (ßefühl, ber 2T£enfch ift von XXatnv
aus 3tr>iefpältig angelegt — bie Cheorie bes pfychologi«
fchen «groeif ammerfvftems.
ZTach meiner 2tuffaffung ift ber IDille bes ZHenfdjen von
ber Xlatnv t>on vornherein einheitlich angelegt Der menfdv
liehe IDiHe, roie er aus ben ^änben ber Hatur von allem
Anfang an fytvovgeQanQen ift unb täglich neu fiert>orgeftt,
hat lebiglich bie Erhaltung unb Behauptung bes eignen 3^*
3um groeef (Selbflerhaltungstrieb), es ift m. a. ZD. ber naefte,
bürre (Egoismus, ben bie ZTatur bem ZtTenfchen eingepflan3t
hat Die (Sefchichte allein ift es, tr>etche aus ihm bie ftttliche
(Sejtnnung h^orbringt 2ln bem freatürlichen IDillen gleitet
bas Sittliche ab, tt>ie bas IDaffer am harten Stein, ber 3n'
telleft wie ber IDilte bes 2Ttenfchen bringen für bas Sittliche
nicht bie minbefte (Empfänglichkeit mit; alles Sittliche: bas
XDiffen wie bas XPolten besfelben ift probuft ber (Sefchichte,
bes gefdjichtlichen Gebens, ber (Sefellfchaft. Die Umtoanblung,
[117] welche ftch mit bem freatürlichen menfehlichen JDillen
im Caufe ber gefchichtlich*gefellfchaftlichen (Entroicflung voü*
3ogen hat, um ihn 3ur Aufnahme bes Sittlichen empfänglid?
3ii machen, ift feine geringere getoefen, roie bie bes Reifens,
ber erft unter ber fortgefefcten <£imx>irfung ber 2Itmofphäre
hat senxnttem müffen, um jtch mit ZHoos, (Sras, (ßejiräuch,
92
Kapitel IX. Die fatale XTCedjanif, Das Sittliche,
Säumen 3U bebecfen. 3afyrtaufertbe haben sergeljen müffen,
um bies fertig 3U bringen. 33et>or fid] als le&te pfyafe ber
<£ntu>icflung ber VOalb auf bem $el\en t|at ergeben fönnen,
mußte bie Vegetation alle Porftufen burdjlaufen, vom fümmer*
lidiften ZHoos an bis 3 um Saum, um aHmäfjlid} ben Boben
3U bereiten. Denfelben €ntroicElungsgang I|at audj bas Sitt*
Hdje in ber Welt genommen, es Ijat mit bem Hofften be*
ginnen muffen: mit bem Verbote txm ZHorb, Haub unb
Diebftafjl, unb 3tr>ar 3unäd)ft nur mit ber JtuffteHung unb
ijanbfyabung besfelben im Kreife ber (ßenoffen, um ftdj fobann
erft aßmäfylidj 3U Ijöljeren formen unb 23ilbungen 3U ergeben
— alles, bas Kleinfte, rote bas (größte, Ijat bie <Sefd]id}te
erft bem (Egoismus abringen müffen.
2>iefe gefdjidjtlidje (Erhebung bes (Egoismus 3ur fittlidien
(ßefinnung bilbet bie Aufgabe bes 3tr>eiten Ceils ber folgenben
Unterfucfyung: ber Cljeorie bes fittlidjen Willens. <£s
iß bas größte XHeifterftücf, toeldjes bie <Sefd)id]te auf <£rben
fertiggebracht tjat, mit biefer £eijlung fann fid] feine t>on
allen anbern meffen*). 23ei [118] allen anbern Ceiftungen,
meiere ber menfdjlidje (Seift im Saufe ber 3al)rtaufenbe be*
fdjafft t|at, fällt ber €nbpunft bes <Enttt>icflungspro3effes in
bie Bidjtungslinie bes erften Anfangs, Stoff fommt 3U Stoff
I^in3u, es ift nur ein ^ortfcfyritt in quantitativer, nicfyt in
*) 2Iudj nicfyt bie ber €r3iefjung ber UTenfd^eit 3um (Sefyorfam,
auf tpelcfye tdj bei einer anbern (Selegenljeit eingeben werbe* 2Jud> fte
toar eine auger orbentlid? fdjurierige, benn bas Sdjtüierigfie unb £}öd>fte,
was bie (Sefdjicfyte mit ber ITCenfd$eit fertig 3U bringen ^atte, betpegt
fidj auf bem Soben bes IDillens, nicfyt bes 3ntellefts; nur rvev
nie über bie Scfytxrierigfetten ber (E^iefjung bes ITCenfdjengefdjledjts 3um
VOoUen nacfygebacfyt l^at unb naiü genug ift, (Sefjorfam unb ftttltd?e <Se>
finnung als ettuas Selbftüerftänblidjes 3U betrauten, fann bie £eiffunge?i
bes menfcfylidjen 3ntellefts über bie bes menfdjlicfyen Hillens fefeen — -
es Ijat tr>eit me^r ba3u gehört, ben 5inn ber (Sefe^Iid?feit unb bie fttt-
lidje (Sefinnung in bie Wtit 3U fefeen, als bie Dampfmafdime, bie
<2if enbalmcn unb ben elef triften Telegraphen.
(Sefdjtdjtlidje Btlbung bes fittlid?en VOiUens. 95
qualitative* 23e3iehung* 2lber bei ber hiftorifchen €rhebung
bes (Egoismus 3ur Sittlichfeit bilbet ber Schlugpunft bes
<£ntu>idlungspro3effes ben biametralen (Segenfafc bes 2Ius'
gangspunftes: ber (Egoismus ift in fein gerabes <Seg enteil
umgefchlagen, er I|at fich f elber negiert Die änberung,
bie t|ier t>or fich gegangen, iji qualitativer 2lrt, bie <5e*
fchichte bilbet aus bem Cone, bem Ceige, ben bie Statur ihr
geliefert Ijat: bem natürlichen ZlTenfchen, bem Ciere ein
XDefen ^ö^erer 2Jrt, welches bas gerabe ZDiberfpiel bes ur*
fprünglidjen bilbet: ben fittlichen ZHenfdjen; ber <£goijl ift
bas JDerf ber Statur, ber ftttliche ZTTenfch bas ber <5e*
fchichte.
Die 5orm, in ber fich biefer Umbilbungspro3e§ poltyeht,
[119] ift bie (Sefellfchaft Sie ift bie Quelle alles Sittlichen,
2llle ftttlichen 2lnfchauungen, (ßrunbfäfee, formen ftnb erft burch
bas gefetlfchaftliche Ceben geförbert roorben unb toerben nnans*
gefegt burch basfelbe in jebem 3n^^^uum «tgeugt. Das
ift bie tljeoretifcfye ober intelleftuelle Seite bes Sittlichen,
welche basfelbe 3um (ßegenftanbe ber mehr ober minber
Haren, betonten ober unbewußten Aneignung von feiten bes
Subjefts macht (ftttliche (Erfenntnis, ftttliches (Befühl).
3hr fteh* gegenüber bie praftifdje ober moralifche Seite,
b. i. bie Dertoirflichung ber ftttlichen (Srunbfäfee burch bas
fjanbeln, unb ba3u bebarf es ttueberum ber (ßefeüfchaft unb
ber Einleitung unb Ziehung bes UMllens 3um Sittlichen.
Das Hefultat berfelben: bie bem ZHenfchen 3um Stüde feiner
felbft geworbene IDillensrichtung auf bas Sittliche be3eichnet
bie Spradie als bie fittliche <5efinnung. IDiffen unb
IDollen bes Sittlid^en, bas ftttliche (ßefühl unb bie fittliche
<5efinnung ftnb bas JDerf ber (ßefellfchaft.
3n tx>elcher IDeife bie <8efellfchaft bie ftttliche €t'3iehung
bes XDiHens fertig bringt, welche Xfüttel unb IDege ftch ihr
barbieten, um ben (Egoismus, ber bie Kraft ift, mit ber fte
Kapitel IX. Die foiate IRedjamf. Pas Sittliche.
arbeiten mug, aus feiner befdjränften Sphäre hercws3ulocfen,
für ifyren Dienft 3U gewinnen unb imterltcfj, oljne ba§ er
felber ein Betpußtfein bapon hat, um3ugejlalten, darüber
brauche id? mid? an biefer Stelle nid?t aus3ulaffen, ba es 3um
üerftänbnis bes ^olgenben nicht nötig ift,
[120] Dem Bisherigen nad? bilbet bie (Sefeüfchaft mithin
ben 2lngelpunft ber gan3en <£thif. 2tHe brei oben genannten
Karbinalfragen berfelben führen uns auf jte 3urücf. Was
ift bie Quelle ber fittlid?en ZTormen? Sie (ßefellfchaf t.
Was ber «gtpecf betreiben? Sie <ßef ellfd?aft. Xüas bie
(E^eugerin bes jtttlichen IDillens? Sie <Sefellfd?aft.
ZHit Hücffid)t barauf be3eid?ne id? bie pon mir perteibigte
©jeorie als bie gef ellfd?af tlid?e. 3n biefer PoHflänbigfeit,
b* h* gleichmäßig auf alle brei $vaqen fid? erftrecfenb, ift
biefelbe bisher nod? nicht aufgeteilt iporben,
<gu biefem präbifat gefeßfchaftltd? ift als 3tpettes nod)
I|tn3U3ufügen: gefd?ichtlid?, ber entfpred?enbe ZTame für
meine Cl^eorie ift bafyer bie gefchid?tlid?*gefellfd?af tlid?e.
Über bie[es 3tpeite ZHoment muß id] mir perftatten, mid]
im folgenben etroas tpeiter aus3ulaffen.
Der (5runb3ug ber 3ur3eit nod) fyerrfcfyenben 23ehanbtungs*
rpeife ber €thtf (toobei id? 3unäd?jt nur bie pfylofopfyfdie
im 2luge I?abef über bie theologifd?e roerbe id? midi unten
äußern) ift iBjr ungef d?ichtlid?er £fyarafter. 3n biefem
negativen punfte treffen fämtlid?e etfyfche CI|eorien unb 2tuf<
faffungen, fotpeit fie 3U meiner Kunbe gefommen finb, überein,
id? fenne feine einige, in ber bie <ßefd?id?te auf bem (Sebiete
bes Sittlichen tpirflid? 3U ihrem Heerte gefommen tpäre. 3^nen
[121] allen nämlid? iji gemeinfam ber (Sebanfe eines ab*
foluten b, !?♦ pon §eit unb ®rt, alfo pon ber <ßefd?id?te
unabhängigen (Z^avattexs ber jtttlid?en XDal?rt?eiten*). Die
*) §u btefer 2lnfid?t von bem abfohlten Cfyarafter ber etfyfcben
<Sefd?td?tüd?e {Theorie bes Sittlichen.
95
gefchichtliche fflieoxie bes Sittlichen beruht auf ber 2lner*
fennung ber Relativität bes Sittlichen, ober, um einen
früher (I.) von mir entoicfelten (Segenf at> toieber auf3u*
nehmen, auf ber (Erkenntnis, baß nicht bie Walixlieit,
fonbern bie Bidjtigfeit b. h* ^as praftifchen «gtoeefen
bes Cebens 2lngemeffene ben ZHaßftab bes Sittlichen bilbet.
3nbem fie bie öebingtheit bes Sittlichen burch bie 3eitige
(Entoicflungsftufe ber (SefeHfchaft anerkennt, fiebert jte fich bie
Zn8glid]feit, aßen (Entroidlungsphafen öcs Sittlichen gerecht
3U tüerben unb felbft 2lnfchauungen unb (Einrichtungen einer
vergangenen Kulturperiobe, über bie unfere heutige 2tuff äff ung
bes Sittlichen bas Derbammungsurteil gefällt hat, 3. 23. bie
frühere Hechttojtgfeit ber $vemben vom 5tanbp\mft ihrer <§eit
aus ihre pollfommen fittliche, b. i. gefellfchaftlidie öerech*
tigung 3U3ugeftehen. Vie Schultern bes Kinbes tragen nicht
bie £aft, ber bie Kraft bes ^Hannes getoachfen ijt, ein Dolf
in ber Kinbheitsperiobe [122] nicht bas Sittengefet* einer
gereiften geit. (Einen abfohlten Kanon bes Sittlichen auf»
3ufteIIen ift um nichts beffer als im £eben ber pjlan3e bie
letzte <EnttDicEIungsphaf^ bie Frucht für bie aQein berechtigte
3u erf lehren. ^}ebe phafe ift gleichberechtigt, benn ohne fte
roäre auch bie folgenbe nicht ba. So auch beim Sittlichen.
IDill man bei ihm ftatt r>on Hichtigfeit r>on IDahrheit fprechen,
fo fann man nur fagen: bie lüahrheit bes Sittlichen erf daließt
fich im gefchichtlichen Qinteretnanber — bie <£nta>icf lung
ift bie XDahrheit.
rDafyrfyetten benennt fid? audj Herbert Spencer in feinem bereits
oben ermähnten IPerfe „Die (Eatfacfyen ber (Etfn'F, nur ba§ er ber ab«
f oluten (Etfytf, unter ber er biejenige rerfiet^t, bie er t>on feinem Stant>*
punfte bes fubjefttüen Utilttartsmus aus, beffen let$tes giel fubjeFttoes
XPofylbeftnben tfl, für bie rtd?ttge, aber burdj unfere heutigen fittlicfyen
Zhtfcfyauungen nodj ntd?t üerttnrfltdjte hält, bie letztere als relattoe b.fy
im ^ortfcfyritte ber «gett 3U übertpinbenbe (EtfytF gegenüberstellt, fietje
Kapitel XV ber Sdfrift.
g6 Kapitel IX. Die fatale XTCedjantf, Das Sittliche.
£>ie unabwenbliche Konfequen3 biejer 2luffaffung begebt
in bem gugeftänbnis, ba§ berfelbe 5ortfchritt in ber jtttlichen
Jlnfchauung ber Wolter, ber t>on jc^er ftattgefunben hat, auch
fernerhin jtch wieberholen wirb, baß alfo auch auf uns unb
unfere (Einrichtungen unb fittlichen 3been eine ferne geit —
benfen wir uns immerhin hunberttaujenb 3ahre — mit bem*
felben 23efremben unb 5taunen t^erabblidfen wirb, wie wir
auf frühere Kulturepochen. Uns wirb fein axxbexes Schief \al
befchieben fein als es über plato unb 2trijioteIes in be3ug
auf i^re Cehren von ber Bechtmäßigfeit ber Sfkwerei er*
gangen ifh IDir haben in be3ug auf bie (Einrichtungen, mit
benen bie (Segenwart uns umflammert heilt, unb benen unfere
2Infchauungen ftch völlig affommobiert bähen, biefelbe Sinbe
r>or ben 2tugen wie fie in be3ug auf bie ihrigen. Diefe Binbe
fäHt erfi ober lüftet ftch ein wenig, wenn auf bem IDege
einer burch bie praftifch 3wingenbe TXiadit gefeHfchaftlich
fchroer [123] empfunbener Übelftänbe bewirften gewaltigen
Umtoäl3ung bie reale IDelt eine anbere geworben ift; — um
ben ZHenfchen t>on feinen 23anben 3U befreien, mu§ bas £eiben
bem ©enfen, ber ©nficht 3U £)ilfe fommen,
3ch tiabe bie henrfchenbe 23ehanblungsweife ber <£thif als
bie ungef chichtliche charafteriftert, ich füge biefer negativen
Chcirafteriftif bie pofitipe tixrx^u, bie ich ebenfalls mit einem
einigen IDort glaube erbringen 3U fönnen, nämlich mittels
bes 2tusbrucfes pfychologifch« 3)amit glaube ich 3ugleich
bie richtige Stellung angegeben 3U liaherx, welche bie bis*
herige philofophifche (Etfyf im <Sefamt3ufammenhcmge ber
XDiffenf haften einnimmt. 3ft *>xe menfehliche Seele ber Sifc
unb bie Quelle bes Sittlichen, braudjt ber 5orfcher nur liinab*
3ufteigen in bas 3n^ere bes 2TJenfchen, um ihm ben ganzen
3nhalt bes Sittlichen 3U entnehmen, fo bilbet bie <£thif einen
g>weig ber pfychologie. Sie tritt bamit auf eine Cinie mit
ber Cogif, letztere h<*t 3U ergrünben bie bem ZlTenfchen
llttgefdjtdjtlicfyer C^arafter ber pfYodjIostfcfyen (Etfjif* 97
angebornen (Sefefee bes Denfens, jene bie ifym angebornen
(gefefee bes Ejanbelns, beibe entlegnen ifyre Kenntnis ber
Zlatur.
£>on biefer pfydjologifdien unb eben barum nottoenbiger-
tseife ungefdjid}tlid)en C^eorte ber <£tfyif ift eine embere su
unterfcfyeiben, meiere bie öebeutung ber (5efd)id)te für bie
Cfyeorie bes Sittlichen in befcfyränfter XDeife 3ugibt; es ift bie
cfyriftIid}*ti?eoloc}ifdie. §u ber ZTatur als Quelle ber fttt*
liefen <£rfenntnis, bie audj fie nidtf beffreitet, gefeilt fidt für
fie noefy bie pofttio*göttlid}e [124] Offenbarung burefy bas
<£fyriftentum fyn3u* Damit ift ber (ßefcfyidjte ber Zutritt ge*
tpäfyrt, aber nidjt ber t>oHe, freie, toie fie iljn begehren fann,
fonbem nur ein fyödjft befdiränfter* Die Cüre für fie tsirb nur
geöffnet, um jteft fofort roieber $u f erließen, mit bem einen
2Ifte ber Offenbarung fyat bie (Sefdjidjte fidj für bie tljeolo-
gifdje <2tfyf, u>enigftens bie proteftantifdje, t>oHftänbig er*
fdjöpft, nur bie fatfyolifdje Kirche Ijat fxcf? in bem göttlichen
£ei)ramt, bas fie ftd? 3ufprid)t, bie XHöglid^feit einer fyftorif cfyen
5ortbiIbung bes djrifilicfyftttlidjen Kanons getoafyrt Tibet in
be3ug auf ben entfdjeibenben punft: bie 23eanfprudjung bes
abfoluten C^arafters ber, fei es burdj einmalige ober burd>
fortgefefete göttliche Offenbarung, ber XHenfcf^eit übermittelten
fittlidien IDafyrljeiten ftimmt bie fatfyolifdje Cefjre mit ben
übrigen cfyriftlicfyen Konfeffionen überein, unb bamit ift bie
(Sefdjicfyte im prin3ip negiert Keine auf bem (Srunbe biefer
£efyre erbaute <£tfyf fann einräumen, baß eine ber JDaljr*
Reiten, bie fte als foldje lefyrt, biefen (Ojarafter jemals ein«
büßen fönne, ober baß bas <5egenteil berfelben, roenn es
aud) tatfädjlid) nodj folange unb fejt bejianben Bjabe, jemals
IDafyrljeit getoefen fei. Der ZTTaßftab ber iDatyrljeit ift einmal
ein abfoluter; roas nidjt tDafyrljeit ift, fann nur 3rr^m
fein, — um biefen Safe brefyt pdf ber gan3e (ßegenfafe ber
gefdjtd}tlid}en unb ungefd}td}tlid)en Cfyeorie bes Sittlichen»
v. 3 bering, Der £werf im Hed?t. II. 7
98
Kapitel IX. Die feciale UTedjatttf* Das Sittliche*
Die oben charafterifierte pI|i[ofopB)tfd)e 23ehcmblungstr>eife
ber <£thif macht aus ihr einen §rt>eig ber [125] pfycho*
Iogie unb eine «gtoillingsfchtsefter ber £ogif, bie christlich»
theologifche einen «gtoeig ber Ökologie unb eine ^wiüxnqs*
fch*t>efter ber Dogmatil, bie unfrige einen gtoeig ber <5efeß'
fc^aftstr>iffen[d^aft unb eine §tr>iUmgsfcha>ejier aHer berjenigen
Dis3iplinen, bie mit ifyr auf bemfelben realen 23oben ber
gefchichtlicfygefeHfchaftlichen (Erfahrung ftefyen, b. fc ber 3urts*
pruben3, Statiftif, £lationalöfonomie, politif,
Damit ift bem Vertreter biefer Sä&ev ber «gugang 5u
ihr eröffnet unb bie 2TCögIid]feit geroährt, fie nicht bloß
in ftofflicher Be3iehung burch «?ertt>oHe Seiträge aus bem
Schate feines IDiffens 3U Bereitern, fonbern fie auch burch
bie eigentümliche 2luffaffungstr>eife, bie gerabe fein fpe$ieller
H)iffens3n?eig in ihm ausgebilbet I|at, 3U förbem.
ZHein Perfuch be3tr>ec?t, bies t>on feiten ber 3urisprubens
aus 3U tun, unb roenn er fich als fruchtbar ern>eifen fotlte,
fo tr>irb bies öffentlich auf Hechnung bes Umftanbes 31t
fet$en fein, baß ich mich ber fitfyif von einer Seite Ijcr ge<
nähert iiabe, bie mir von vornherein bie Dinge unter einem
anbem (Befichtspunfte 3eigte, als ber philofoph *>on 5ach ibn
mitbringt, unter bem praftifchen bes gtoeefs. Hnd\ für
bie ZDiffenfcfyaft finb bie Zugänge nicht gleichgültig, t>on benen
aus man fich ih* naht, ber eine enthüllt mehr biefe, ber
anbere mehr jene Seite bes (Segenftanbes; — bie t>oße
Kenntnis ift erji gewonnen, wenn alte biefe Zugänge t>erfud}t
unb bamit [126] alle möglichen Stanbpunfte ber Betrachtung
erfchöpft finb.
Die §ahl ber Dis3iplinen , toelche in ber Sage finb, ber
<2tht! hilfreiche fjanb 3U bieten, ift übrigens mit ben ango*
gebenen in feiner ZDeife befdjloffen, ich felber bin bereits tu
ber £age getoefen, anbere für meine §wede h^a^^iehen.
Dahin gehört sunächft bie Sprachtoiffenfchaft, über beren
Die (Ettjif ber «gufmtft.
99
hohen IDert für bie Ermittlung ber fittlichen 21nfchauungen
ich mich bereits früher (5. }2ff,) ausgelaffen Ijabe, unb für
ben ich auger ben früher beigebrachten Seiegen noch mand]e
anbere I^offe beibringen 3U fönnen. Sobann bie ZHythologie.
Heben ber (Etymologie ift fie bie ältejle unb 3ur>erläfftgjte
geugin über bie jtttlichen ilranfdjauungen ber Pölfer; beibe
5ufammen laffen jtch als bie Paläontologie ber Ethi?
be3eichnen. 3n ben J}anblungen ber (Sötter, in bem, roas
fie ftch erlaubten unb erlauben burften, ohne in ben 2tugen
bes Dolfs ihren 2lnfpruch auf Verehrung ein3ubü§en, ifl uns
bas ältefte Urteil ber XHenfc^eit über bas ftttlich (Erlaubte
erhalten, es fpiegelt jtch barin ber jtttliche Kanon ber geit
ab, bie (Sötter jtnb bie petrifoierten Cyp^n bes jtttlichen
ZHenfdjen ber Hr3eit. 3n anberer H)eife ifl auch eine anbere
T>is3iplin: bie päbagogif berufen, ber fitfyif n>erft>oHe
Dienfte 3U em>eifen, tx>ir roer ben uns unten, bei (Selegenheit
ber 5rage r>on ber 23ilbung bes fittlichen ZDitlens, bat>on
über3eugen.
Die (£t^if ber gufunft, bie realiftifche unb gefchichtlidje
[127] Etfyf im (Segenfafce 3ur abftraften, pfvchologifdjen,
ungefchichtlichen beruht auf ber vereinten ZHittoirfung aller
biefer T>is3tplinen. Sie rt>irb jebe berfelben in ihren Dienft
Stellen, von jeber berfelben ben Beitrag entlegnen, ben jte
3U bieten permag, Den meijien roirb jte imftanbe fein,
bas (Empfangene reichlich 3urücf 3uerftatten , es u>irb jtch ein
Verhältnis gegenseitigen, für alle Ceile gleichmäßig befruch-
tcnben 2tustaufd]es herausjtellen* 3ch reichte barauf, bies
im ein3elnen tseiter aus3uführen, aber ich fann tsenigftens
ben 2tusbrucf ber Über3eugung nicht unterbrücfen, ba§ bei
allen T>is3iplinen, toeld|e eine praftifche Be3iehung 3ur Etfyf
haben, roie ber 3uri5Pru^n3, Stattftif, Hationalöfonomie,
politif, päbagogif biejenige Seite, mit ber jte ftch ber €tfy?
3uf ehren, eine t>öllig anbere lüürbigung unb 2lusbilbung
7*
\00 Kapitel IX. Die fostaie IRe^antf* Das Sittliche.
erfabren toirb, als bies bisher ber 5aH getsefen ift. Die
ZTationalöfonomie ift bereits mit gutem 33eifpiel »orange»
gangen, inbem fie ben nationalöfonomif d]eu ZDert ber ptt*
liefen Kraft unb bie pttlidje 23ebeutung nationalöfonomifdjer
Porgänge anerfannt tjat, unb audj bie Statiftif Ijat in be3ug
auf iljr pttlidjes Beobadjtungsfelb bas roije Befultat ber
H)irflid]feit: bie gafyl in Derbinbung gebracht mit ben gefeH*
fdjaftlidjen «guftänben, in betten basfelbe feinen legten (Srunb
fyat; i^re ga^Ien enthalten nicfyt bloße naefte Catfadjen,
fonbern praftifdje pttlidje Jtnforberungen an bie (Sefellfdjaft,
fie bilben bas fosiale Sdjulbbudj berfelben, aus bem bie
Ztu^antoenbung pdf von [128] f elber ergibt 2Iud? für bie
3urispruben3 ber §ufunft verfprecfye id) mir von einer innigen
Berührung mit ber <£tf}if, ber pe bisher fd?eu aus bem IDege
gegangen ift, einen neuen Jtuffd^ung, idj meine nidjt fotsofy
einen tfyeoretifcfyen, fonbern ben ungleid} Ijöfyer an3ufd?lagenben
praftifcfyen ber richtigen <£rfaffung ber tt>id]tigen Aufgabe,
toeld^e pe für bie (SefeUfcftaft 3U leiften I}at, ber €rfenntnis,
baß biefelbe nicfyt ber bes XlTattjematifers 3U vergleichen tp,
ber bie feinige löft, inbem er richtig rechnet, fonbern ber bes
(S^ieljers, bem eine Xfiadit anvertraut ift, bamit er pe 3tt>ecf-
entfpredjenb praftifdj vertvenbe,
£jat bie (£tt|iJ ber <§ufunft burdj bie vermehrte <guful?r
neuen, it^r von i^ren gmiIIingsfd)tDeftem 3U ftellenben Stoffes
unb bie 2tmr>enbung ber empirifd]*gefd}id}tlidjen ZHetfyobe,
roeldje unbeirrt burd? vorgefaßte „3been" fid? ben Catfacfyen
ber ptilidien XDelt ebenfo unbefangen gegenüberftettt, tvie ber
Statur forfd} er benen ber natürlichen, l\at pe baburd? ben
empirifcfyen Ceil ber Aufgabe gelöft, fo mag ber pfyfofoph
von $ad\ fommen unb bie Summe 3ieljen.
2tuf aßen praftifcfyen (Sebieten bes menfdjlidjen ZPiffens
ift bie €rfenntnis bes Porl^anbenen ber erpe Schritt, ben
3tveiten bilbet bie Dertvertung besfelben für bie praftifd?en
Die (Ettiif ber gufunfi
^01
«gwecfe bes £ebens. ZTadjbem bie Cfyeorie erfannt Ijat, was iftr
unb worin es feinen (ßrunb I^at, wirb jtdi ifyr bie 5rage auf*
drängen: muß es fo fein, wie [129] es ifi, unb, wenn fie glaubt,
biefe 5rage perneinen 3U foßen, wie läßt es fidj änbem. Die
richtige <£rfenntnis wirb fid? bavan bewähren, baß fie baburd?
inffanb gefefet ift, biefe beiben 5rctgen 3U beantworten.
5oIange bie €tfyf bie Autorität bes fittlidjen <5efül|ls
als abfolute 3nf*an3 cmerfennt, ift fie an beffen 2Ttacf}tfprüdje
gebunben« Die einige (Selegenfyeit, ifyr fritifdjes Urteil 3U
betätigen, bieten ifyr bie abwexd\enbm ftttlicfyen 3^een ber
Ur3eit ober t>on Pölfern auf nieberer Kulturftufe, eine 23e*
redjtigung berfelben fann fie natürlich nidjt anerfennen, fie
fann fie nur als Hnooßfommenljeiten ober Derirrungen 3urücE *
weifen. 3^ren eignen ftttltdjen Kanon bagegen fann fie
ebenfowenig ber Kritif unterwerfen, wie ben bes menfcfyltcfyen
Denfens, er enthält ja bie abfolute XPatjrfyeit, bie ftdi
ebenfowenig in 5^ge [teilen läßt, wie fie ber Begrünbung
bebärftig ober 3ugänglidj ift.
Der relative ZHaßfiab, ben bie gefd}id]tlid]e £tf|if für
bas Sittliche aufftellt, ermöglicht nidjt bloß, wie oben bereits
ge3eigt, eine richtige IDürbigung berartiger, früheren <ZnU
wicflungsftufen angefyörtger, abweidjenber (Seftaltungen bes
Sittlidjen, fonbern, was ungleich wichtiger, audj eine Kritif
unfever eigenen jtttlicfyen Dorftellungen, 3f* IDoEjl ber
(SefeUfcfyaft ber leitenbe (ßeficfytspunft aller ftttßdjen (Srunb*
fäfee, fo l|aben wir bavan ben Ulaßjtab in £}änben, biefe
unfere X>orftelIungen unb bie befkfyenben gefellfdjaftlidjen
(Einrichtungen 3U meffen unb 3U [130] prüfen, unb wie auch
unfer Urteil ausfällt, ob für ober gegen fte, in beiben hätten
ift bies oon hohem tPerte, im erften, inbem an bie Stelle
bes bloßen (ßlaubens bie €rfenntnis ihrer XTotwenbigfeit
tritt, inbem wir innerlich mit ihnen t>erföhnt werben, im
Streiten, inbem bie gewonnene innere Befreiung pon ihnen,
\02 Kapitel IX. Die feciale UTe^atttf. Das Sittliche»
bie erlangte (£inftcht in %e mangelnbe Berechtigung bie
2lufforberung an uns heranträgt, ihrer ferneren (ßeltung ein
<£nbe 3U machen. 2tn bie Stelle ber inappellablen 3nftan5
unferes fittlichen (Sefühls, bes ZHachtf prüdes einer unfern*
troQierbaren Autorität, auf bie ber IDilbe mit gan3 bemfelben
Hechte pochen fann, roie tr>ir, tritt bie objeftise praftifche
2)ebu3ierbarfeit ber fittlichen formen» So u>ir6 bie <£tfyf
3ur 2lpologetif bes Sittlichen, ber bie ban?bare Aufgabe
3ufällt, uns mit bem Sittengefefe erft wahrhaft eins 3U machen,
nicht mittels jenes erfchlichenen <S eftch tspunftes, ba§ basfelbe
bas <Sefet$ unferer felbft fei (S. 80), ber nichts als bie bem
gefchichtlich überfommenen Stoff auf geliebte €tifette iji, unb
fich bei ber Kritif bes eiit3elnen gä^lich unfruchtbar eru>eift
(Vit. \<5), jonbern mittels bes 2Tachtt>eifes, ba§ unb tt>arum
un[ere fittlichen (ßrunbfäfee für bas Seftehen unb (5ebeihen
ber (ßefelljchaft auf berjenigen Stufe ber <£nttt>icflung, auf
ber fie fich 3ur3eit t>orftnbet, notoenbig ftnb. 2lnjtatt ben*
jenigen, ber ihr bie 5rage vorlegt: roarum foll ich fittlich
hanbeln? mit bem XHachtfpruche bes fategorifchen 3mperatit>s:
bu mußt ober mit bem nur tialbmafyveri (Srunbe: beines
eignen [131] (ßlücfes, beiner Dollfommenheit unHen ab3u*
finben, tvertDeift fie ihn auf ben wahren (Srunb aller fittlichen
2Inforberungen: bie (SefeUfchaft, unb fie ermöglicht es ihm,
fich von ber Hottvenbigfeit unb Unentbehrlichfeit berfelbert
f elber 3U über3eugen. Sieh 3u, ruft fie ihm 3U, toas aus ihr
rpirb, roenn bu unftttlich J^anbelfi — bu b. h* nicht bu ein*
3elner, fonbern alle, fo wie bu — lüge, betrüge, brich bie
<£he/ t>ertx>ahrlofe beine Kinber, tue Übles benen, bie bir
(Sutes getan haben, *affe bie 2trmen verhungern, benfe ftets
nur an bich, nie an anbere, unb bann fieh 3U, was aus ber
(SefeUfchaft geworben ift. 3ebe fittliche ZTorm bilbet einen
ber (Srunbpf eiler ihrer <£yiften3, rüttle an ihm, unb bu be*
brohji bie Sicherheit bes ga^en (Sebäubes.
Die (Etljtf ber «gufunft.
\03
Die im bisherigen als Aufgabe ber <£thtf ber ^^nft
in 2tusficht genommene Kritif unb 21pologetif bes Sitt«
liehen ^atte bas objeftis Sittliche: bie richtige ttuffenfchaftliche
Setjanblung ber fittlichen formen 3um (Segenftanb. <£me
anbete für ben <£nb$wed bes Sittlichen noch ungleich belang*
reichere unb banfbarere Aufgabe eröffnet fich ber <£thtf in
be3ug auf bas fubjeftio Sittliche. E[at fie ftdi 3u ber <£in«
ficht erhoben, bag ber ftttliche Wille, ber bes ei^elnen, u>ie
ber bes gan3en Dolfs, ein gefchichtltch<gefellfchaftliches probuft
ift, ha* fi* bxe treibenben Kräfte, toelche bie Ziehung bes
XüiUens 3um Sittlichen 3utr>ege bringen, ben <£injlug aller
jener mannigfachen 5aftoren im Ceben ber (SefeUfchaft, roelche
[132] 3U bem <§tr>ecfe mittsirfen, ermittelt unb bargelegt, bann
braucht fie mit biefer ber IDirflichfeit abgelaufenen 23ilbungs*
gefliehte bes fittlichen XDißens fich nur bem £eben 3U3ufehren,
um ber 2TTenfchhctt einen Dienft 3U leiten, toie er nicht groger
gebacht roerben fann. JDie bie <£rforfchung ber Cebens*
begingungen ber Ciere unb pflan3en bie 2Diffenfchaft inftanb
fefet, in ben palmenhäufem bes Horbens bie palmen ber
Cropen unb in ben Aquarien bes 5eftlanbes bie ©ertoelt ber
ZHeere 3ur Keife 3U bringen unb fort3upfIan3en, inbem fte
fünftlich beren Cebensbebingungen h^rftellt, in berfelben IDeife
geroährt bie (Ergrünbung bes 23ilbungspro3effes bes fittlichen
Willens ber <£thi? bie OTöglidifeii bie 2T(ittel unb IDege an-
3ugeben, roie bie ftttliche IDillensfraft ber Station fich h^u
lägt. Die Kenntnis ber Quellen bes fittlichen (Seiftes auf
bem tt)ege ber theoretischen 5°rfchung erweitern, Bjcigt ber
prafis ben it)eg tr>eifen, biefen (Seift f elber mehr unb mehr
in ihre XHacht 3U bringen.
£öft bie (£thtf biefe Aufgabe, fo roirb fie aus einer blogen
HMffenfchaft eine Kunft, ein §tr>eig, unb 3tr>ar ber toichtigfte
<§tx>eig ber foialen politif: nationale päbagogif. Unb
bas ift meiner Über3eugung nach bie h^hc Aufgabe ber €thif
Kapitel IX. Die fötale medjantf. Das StitHd^
ber gufunft. Der 2Henfch, ber bas Cier unb bie pjlan3e in
feine (ßetpalt befommen unb bem fpontanen IPachstum in
ber ZTatur bie fünftliche gucht fubftituiert h<**, tpirb auch an
bem menfchltchen JOiQen feine Kunjl unb bie XHacht feines
(ßeißes in immer [133] ijöfyerem ZHaße betpähren, er totrb
es lernen, burch Denpenbung aller ber mittel, tpelche bie
CI)eorie ber gefeüfchaftlichen Sitbung besfelben ihm an bie
I^anb gibt, bie gefeHfchaftliche (£r3iehung bes IDiUens 3um
Sittlichen in einer XDeife 3U perpoHfommnen, r>on ber eine
Ǥeit roie bie heutige, bie bas 3I|nc$e reblich getan tiat, um
bie Xdad\t ber fittlich bilbenben 5aftoren, über tpelche bie
Vergangenheit gebot, ab3ufchtpächen, unb bie aus bem Zfiunbe
eines ihrer namhafteften pfylofopB^n (Schopenhauer) bie
Spröbigfett unb Unbilbfamfeit bes IDiHens als pt^ilofopE^ifd^cu
Cetjrfafe I^cxt perfünben hören, fich feine DorfteHung macht
3ch lebe ber feften guperpdjt, ba§ bie ZHenfchhei* nicht immer
fdjlechter, fonbern immer beffer tpirb* 2lber allerbings nicht
pon felbft, inbem fie nichts ba3U tut unb ftcf? bes fpontanen
ZDachstums bes fittlichen (Seiftes getröftet, fonbern inbem fie
bie (Erfahrungen, Cehren unb ZDarnungen ber (Sef dachte
forgfam beher3igt unb fie praftifch pertpertet.
Diefe praftifche X>em>enbbarfeit ber (Ethtf bar3utun, ha^^
ich mir bei meinen folgenben Unterfuchungen fiets angelegen
fein Iaffen, fie mögen als erfter 2lnlauf 3U einer Aufgabe
gelten, beren apirfliche Cöfung ber IDiffenfchaft ber gufunft
vorbehalten bleibt, unb burch welche bie €thif erft bes Heertes
unb bes Hanges teilhaftig werben wirb, ber ihr gebührt,
unb beffen nur bie bisherige falfche <3ehanblungstt>eife fie
perluftig gemacht h<*t: bes einer praftifchen IDiffenfchaft unb
$tpar ber praftifch [134] rpertpoHften, ber Königin unter ben
(ßefellfchaftstoiffenfchaften. Den erborgten 51itterjiaat ber
abfoluten XPahrheit pon fich tperfenb unb aus ber Hebel*
region ber Spefulation fich auf bie <£rbe h^^blaffenb, tpirb
gmecf unb ITCotto bes Sittlidiin.
\05
bie <£thif ben Schauplafc ihrer fünftigen Cätigfeit auffchlagen
auf bem fejlen Boben ber realen IDirflichfeit unb, inbem fie
fich bamit bas wahre, b. i. bas empirifttfehe Perftänbnis bes
Sittlichen erf fliegt, rote es entfteht unb wächft unb wirft im
£eben ber (SefeUfchaft, bem ZHenfchen ftatt eines abftraften
für alle üölfer unb Reiten gleichmäßig 3ugefchnittenen 3m*
perattos, eines Spiegels ber menschlichen DoHfommenheit, bie
hilfreiche ^anb bieten, baß er bie Schwierigkeiten bes langen,
ihm Porge3eichneten IDeges je an ber Stelle, an ber er fleh
augenblicklich befinbet, überwinbe; fie tx>irb ihm nicht bloß
ben punft 3eigen, ben er 3unächft 3U erreichen l\at — unb
es fann ftets nur ber nächfte fein, benn bie fernen ent3iehen
fich unfern Blicfen, fie fommen erft in Sicht, wenn bie ZtTenfch*
heit fich ihnen genähert h<** — fonbern ihm Reifen, ihn 3U
erreichen.
[135] <2rfier llbfänitt.
Die Celeologie &es objefito Sittlichen*
\6) Q\e möglichen gweeffubjefte bes Sittlichen. —
gweef unb TXlotiv bes Sittlichen. — 2)er IHenfch bas
einige gwecffubjef t — Kritif ber inbipibualifHfdi*
teleologifchen Cheorie.
Die 5rage com «gweef bes Sittlichen lägt fich in einem
boppelten Sinn auf werfen, ber mit bem oben (S. 76) auf*
geseilten (ßegenfafee bes objeftio unb fubjeftio Sittlichen
3ufammenfätlt. 3n bem erften Sinne bebeutet fie: was ijl
ber gweef ber fittlichen formen, was foüen fie in ber
IDelt? in bem 3weiten: welchen «gweef ha* ober foH bas
5ubjeft im 2luge iiaben, inbem es fie befolgt? 3^ bebiene
mich bes 2tusbruds gwed im folgenben nur im erften Sinne,
ben ^weef im 3weiten Sinne nenne ich ZTCotis.
\06
Kapitel IX. Die feciale irtedjant?» Das Sittlid^
Daß betbe genau 3U unterfcheiben finb, liegt auf ber
^anb. 2Tlöglich, baß unfere bemnächftige Unterfuchung bes
fubjeftit> Sittlichen ergeben wirb, baß gtoeef unb ZHotit> jtch
ber 3bee bes Sittlichen 3ufoIge [136] bedfen f ollen: 3ur3eit
wiffen wir barüber noch nichts. 21ber 3 weifellos tft, baß
beibe auseinanbergehen fönnen» Die 5ortpfIan3ung bes
ZHenfchengefchlechts tft objeftit> gweef ber Ztatur, etwas, was
fie erreichen will, aber bas fubjeftwe ZTTottx>, bas fte 3U bem
gweefe beim 2XJenfchen in Bewegung fefct, ift bie £ujl. Die
XHutter, welche bas Kinb beftimmen will, bie 21r3enei einsu«
nehmen, bebient ftch bes Stücfs «guefer, um basfelbe willig
3U machen; gweef iji, baß bas Kinb gefunb werbe, ZTTotit)
für bas Kinb bie ZHebi3in 3U nehmen, ift bas Stücf §u<ier.
So müffen wir es auch t>on vornherein beim Sittlichen als
möglich anerfennen, baß gweef unb XHotw auseinanberfaHen,
baß auch neben bem Sittlichen ein Stücf «guefer liegt, bureb
welches ber gweef besfelben erreicht werben foH, jebenfaüs
aber haben wir beibe Begriffe genau 3U unterfcheiben.
X?on bem 2Ttotir>e bes Sittlichen I^anbelt ber 3weite Ceil
unferer Unterjochung, r>om «gweef ber gegenwärtige. 3^
bisherigen Behanblung ber <£tlji? ift bie letztere 5r<*$e Sur
Ungebühr über ber erjien t>emachläffigt worben. Die wiffen*
fchafttidje Bewegung auf biefem (5ebiete breht ftch feit einem
3ahrhunbert faft nur um bas Verhalten bes Subjefts 3um
Sittengefefe, nicht um bie objeftit>e Bebeutung unb Be*
ftimmung besfelben. Die brei 5unbamentalrichtungen inner-
halb ber <2thif, welche biefe periobe uns aufweift: ber fttt«
liehe <£ubämomsmus, ber fotegorifche 3mperatio Kants
unb ber fubjeftit>e Utilitarismus [137] Benthams, ber in
neuerer geit wieberum in etwas anberer (Sefialt von fferbert
Spencer aufgenommen iji, tidben lebiglich bie $va$e 5um
(Segenft anbe: warum foH ich fittlich lianbeln? Darauf ant-
wortet bie erfte Chlorier ber ftttlichen Befriebigung, bie
gtpec? unb XTCottP bes Sittltd^en.
\0?
3tx>eite: bcr Pflicht, bie brtttc : bes 2tu&ens tt>egen. Wenn
Kant jebe <gtx>ec!be3tehung bes Sittlichen als eine Derunreint*
gung besfelben 3urüdtc>eift, fo I)at auch er babei nur bas
fubjeftipe, nicht bas objeftit>e gtsedmoment im Jluge, 2tQer«
bings taucht lefcteres fye unb ba als mttenrfenber (Seftchts*
punft auf, fo insbefonbere bei 23 entham, allein es toirb
nirgenbs 3um (Segenftanbe einer einbringenben, bas fubjeltit>e
Zfioment fchlechthin femfyaltenben Unterfuchung gemacht. 3ch
glaube batjer 3ur befferen £öfung bes etfyfcfyen Problems bet-
tragen 3U fönnen, trenn ich bie beiben Fragen fdjarf von*
einanber fonbere. 3n&£™ tdj bie Frage: was beftimmt bas
Subjekt, ober was f oll bas Subjeft beftimmen, bas Sitten^
gefefc 3U befolgen, bem 3toeiten Seile meiner Unterfuchung
vorbehalte, befchränfe ich mich im erjien Seile ftreng auf bie
Frage: tr>as be3tt>ecft, was foH bas Sittengefefc felber?
Die Por frage ift bie: ob tr>ir basfetbe überhaupt unter
bem (Sefichtspunfte bes <§n>ecfs betrachten bürfen, <£s wäve
ja möglich, baß bie Derteibiger ber natunflifchen tLfyeovie jtd>
einfach auf bie bloße Catfache 3urücf3Ögen : bas Sittengefefc
ift einmal ba, gan3 fo wie bie (Sefefee ber äußeren Statur unb
bie (Sefefee bes Denfens — u>er tmll ergrünben, rt>arum fxe
ba finb?
[138] 3^ glaube nicht nötig 3U traben, biefe bloß als
problematifch t^ingcftelltc Anficht, von ber ich nicht toeiß, ob
jte jemals ausgefprodjen ober perteibigt roorben ift, unb bie
ich nur bes ftreng logifdjen Fortganges unferer Debuftion
roegen berührt fyabe, in Betracht 3U 3iehen. Sie rt>iberlegt
ftch burch ih^ eigene Croftlojtgfeit Sie fteöt bas Sittengefefe
hin als eine rohe, nadte ZTohsenbigfeit, ber jtch ber ZHenfch
blinblings 3U unterwerfen fyabe, man fönnte jte bie Chlorte
bes brutalen ethifchen Fatalismus nennen.
Xüir unfererfeits ha^en für bas Sittliche an bem <gtr>ecfe
feft unb flellen bie Forberung, baß jebe ^eovie, wie
\0S Kapitel IX. Die feciale IHedjanif. Das Sittltd?*.
t>erfd)ieben fie auch über i>ie Quelle ober ben Urfprung bes
Sittlichen benfe, uns über bie ££n>ecffrage Hebe unb Antwort
flehe. ®b man ben Urfprung bes Stttengefet^es 3urüc!führe
auf eine unperfönliche Ztatur, auf einen persönlichen (Sott,
welche uns basfelbe ins E[er3 gefenft ^aben ober mit ber
Cefyre bes C^riftentums auf bie pofitis göttliche ©ffenbarung
ober enbltdj mit uns auf bas gefchichtliche Ceben ber (Sefeft*
fchaft, jebe biefer tE^eorien muß bie gweeffrage beantworten,
wenn fie nicht bem obigen Dorwurf bes ethifcheu 5atalismus
verfallen will.
Wh haben btefe 5rage fchon oben (3* 69 ff.) bei <ße«
legenheit ber fprachltchen Unterfuchungen über bas Sittliche
aufgeworfen, um 3U feigen, ob bie Sprache barauf eine 2tnt*
wort erteilt
ZDir nehmen bie 5*ctge likt wieberum auf, inbem wir
[139] auf ben Hefultaten, bie ich bort begrünbet 3U Reiben
glaube, weiter fortbauen. <£s waren brei:
\. 3)ie 5rage t>om ^weefe bes Sittlichen fällt 3ufammen
mit ber nach ^weeffubjefte besfelben, b. i. nach bem«
jenigen perfönlidjen tDefen, beffen Däfern burch bas Sittliche
geförbert werben foll.
2. (Sott fann es nicht fein.
3. £tur ber ZHenfch fann es fein.
2>ie beiben erften Säfee betrachte ich ctb unanfechtbar
unb füge Itter nichts weiter tflnyx. 2tber ber britte ifl einem
(Einwanbc ausgefegt, ben ich an jener Stelle, um bie fprach*
liehen Unterfuchungen nicht 3U fehr 3U unterbrechen, nicht auf*
geworfen iiahe, bem ich aber fyet nicht ausweisen fann.
€r betrifft bie Se3iehungen bes Sittlichen 3um Ciere.
J)as Sittengefefe verbietet uns Cierquälerei, folglich, fann
man fagen, erfennt basfelbe auch gegen bas Cier pflichten
an. pflichten finb aber nur möglich gegen ein Subjeft, md)t
gegen eine Sache, mithin ift auch bas Cier als 3wed\x\bieft
Das gtpedfubjefi — Das Cier, bte Sadje*
109
bes Sittlichen an3ujehen, unb mit Bücf ficht barauf taxxrx bie
2tnttt>ort auf bte 5rage oom gtoecffubjefte bes Sittlichen nicht
lauten: ber ZHenfch, fonbern bas lebenbe JDefen. Damit
Ratten nnr bie belebte Schöpfung als ben Schauplafe unb
bas Ceben (Erhaltung, tförberung) als gtsecffubjeft bes Sitt-
lichen gewonnen.
Die Debuftion fyat etwas Beftechenbes, ich halte jte aber
nicht für richtig. Xlad] meiner 2Iuffaffung ift es nur [140]
eine Beflejtxnrfung ber ausfchließltch auf bem XHenfchen als
«gtoecffubjeft be$ogenen *3bee bes Sittlichen, ber bas Cier
feinen Schüfe verbanft. Das Cier ift &wed objeft für ben
ZHenfchen, b. h* fehl echt hin feinen gtoecfen bahin gegeben,
wie fchon einer ber älteften 2lusfprüche, bie toir über bas
Verhältnis bes ZHenfchen 3um Ciere befifeen, ber jenige, ben
bie mofaifche Schöpfungsgefchichte (Sott bem Ejerrn in ben
ZTcunb legt (ZHofes I, D. 28), anerfennt: „Qerrfchet über bie
iifdje im ZHeere unb über bie Vögel unter bem f^tmmel unb
über alles Cier, bas auf €rben freucht". 2lber ber (Sebanfe
ber gtoecf beftimmung für bas menfchliche 23ebürfnis, unter
bem ber ZHenfch toie alle Dinge ber &)elt fo auch &as Cier
betrautet unb behanbelt, fefet ber §u>ectpern>enbung VTia%
unb §iel, gioecflofes 23efchäbigen, gerftöven, Vernichten
von Dingen, tx>elche bem 2T!enf chen bienen fönnen, enthält
eine Verfügung ber (ßefellfdjaft, unb rr>ie bas Hecht in beren
3ntereffe in gersiffen Verhältniffen bafür Sorge getragen hat,
ba§ bie Sache biejenige Vertt>enbung ftnbe, beren fie fähig
ift (Sebauen ber (ßrunbftücfe, ber römifche ager desertus, bie
Seftimmungen neuerer (Sefefegebungen über bie Verpflichtung
3ur Kultivierung berfelben — gebotene Senufeung von Bau*
pläfeen in ber Stabt — Jlusnufeung von Sergtoerfen —
H)albpoIi3et — Verpflichtung 3ur 2lusnufeung von Kon3efftonen,
patenten, Privilegien ufro, f. 23b. I, 5. 39^ — 397), \o hat
auch &as fittliche (Sefühl bas Anrecht ber (ßefellfd^aft auf
\{0 Kapitel IX. Dir feciale IHecfyanif* Das Stttltdje.
Bealifterung [141] ber <§tr>edEbeftimmung ber Dinge richtig
erfannt. 3n bem Dergeuben t>on Nahrungsmitteln, 5. 23.
bem tt)egtx>erfen von Brot, felbft in bem nufelofen Brennen
bes Cichts erblicft bie ZHoral bes gemeinen ZlTannes eine
Siinbe, unb bie gerftörungsluft gilt allgemein unb mit Hecht
als Setoeis ftttlicher Hoheit, ja 5äße eines frevelhaften 2tus*
laffens berfelben an ©bjeften ber Kunft unb IDiffenfchaft, toie
fie bie Cat bes fjeroftratus am Cempel 3U <£phefus, bie bes
©mar an ber 23tbltothef in 2lle£anbrien, bie (Sräuel ber
Panbalen an ben Kunftfchäfeen Horns enthielten, l\at bie
(Sef deichte für etüige <§eiten bem 2lbfcheu ber 2ncnfd]I^ett auf*
betsafyrt; bem lefetgenannten ^alle hat bie Sprache befannt*
lieh ben Hamen für eine berartige Hoheit entlehnt: E>an*
balismus. T>as fittliche Urteil nimmt alfo auch bie Sache
in Schüfe, aber es geflieht nicht th^t*, fonbern ber HTenf chen
roegen, fie ift unb bleibt nur gwedobieft, aber in bem gtoecJ*
objeft roirb 3ugleich bas §tr>ecf fubjef t getroffen.
3>iefen Schüfe teilt auch bas ©er mit ber Sache. Slber
bei ihm gefeilt ftch noch ein HToment h^3u, welches bie ©er*
quäteret in fittlicher 23e3iehung um eine Stufe tiefer fteHt als
ben Panbaltsmus: bie nufelofe gufügung üon Scbme^en an
ein empfmbenbes IDefen. XDorauf beruht unfer 2Jbfcheu gegen
bie Tierquälerei ? Zfietnem Dafürhalten nach ift es ber 2lb*
fcheu gegen bie (Sraufamfeit überhaupt, bie ftch am ©ere
nur äußert. 3m jugenblichen ©erquäler fürchten unb per*
abfeheuen roir [142] ben fünftigen ZHenfchenquäler; er beginnt
beim ©er unb enbet beim Hienfchen. 2luch fy^ iß meiner
Anficht nach tt>ieberum ein abgeleiteter Schüfe, ber bem
©ere 3uteil roirb. 3m (Eiere fchüfet ber ZHenfch ftch fetber,
bas Derbot ber (Sraufamfeit, bas er feinetu>egen auf*
ftellt, erforbert, ba§ es auch bem ©ere gegenüber beachtet
roerbe.
XDer fich mit biefer 2luffaffung nid)t eim>erftanben erflärt,
gwecffubjeft bes Sittlichen. — (Tierquälerei* \\\
bem Ciere pielmehr einen bireften 2lnfpruch auf Schufc 3U*
erfennt, gerät in ein arges (ßebränge* 3ft bas Ger «gweef*
fubjeft bes Sittlichen, was nur ein anderer 21usbrucE für bte
lefetere Jlnftcht ift, wie rechtfertigt 5er XHenfch Schmer3en unb
Qualen, bie er bem Ciere 3*ifügt, um es für feine <§wecfe
3u perwenben? 3)as Schlachten bes Haustieres, bas Cöten
bes IDilbes gilt fittlich nicht für perwerflich unb boch müßte
es als folches gelten, wenn wir bem Ciere jene (gigenfehaft
beilegen wollten, 2tber bem menfehlichen gweefe gegenüber
ift bas ©er restlos, lebiglich gweefobjeft, fchlechthin feinen
gweefen preisgegeben, unb es ift von fyol}er XDidjtigfeit,
biefen (Sefichtspunft fernhalten* Ztur mittels feiner lägt jtch
bas Kec^t ber IDiffenfchaft, bas Cier für ihre «gweefe 3U
perwenben, felbft wenn bie Verfolgung berfelben mit großen
Qualen für basfelbe perbunben ift, wie 3« 23. bie Derfuche
bes phYftoIogen am Ubenben Ciere, bie Diptfeftionen, gegen
bie Angriffe aufrecht erhalten, welche insbefonbere pon jenfeits
bes Kanals her *>°n gut meinenben, [143] aber unperftän*
bigen £euten bagegen erhoben finb, 3)as ZHitletb mit bem
Ciere, burch welches letztere fich leiten laffen, ift in ZDirflich*
feit Ztücffichtslofigfeit gegen ben ZTTenfchen, eine Perirrung
bes ftttlichen (Sefühls, bie ben ZHenfchen opfert, um bas Cier
3U fchonen, es ift jener gug einer ungefunben fittlichen
Sentimentalität, bie unfere <§eit unter anbern auch barin
befunbet, i>a% fie ftch bes Verbrechers annimmt auf Koften
bes pon ihm Sebrohten, 3)ie Qualen, bie einigen wenigen
3u Derfuchsobjeften pertpanbten Cteren 3ugefügt werben,
fönnen burch bie <£rgebnif)"e, welche fie ber praftifchen 2Tfebi3in
abwerfen, Millionen pon ZlTenfchen 3ugute fommen — um
fie jenen 3U erfparen, f ollen biefe geopfert werben! Kon«
fequent burchgeführt würbe biefe ZTlübe bahin führen, baß
fein Cier mehr gefchlachtet, fein Dogel, fein IDilb mehr erlegt,
fein 5ifch mehr gefangen, fein pferb mehr geritten, fein
\\2 Kapitel IX. Die fatale HTedjanif. Das Sittliche*
fauler (Dd\s ober <£fel gefdjlagen werben bürfte, unb bie
{Eiere würben fcf^Itegltc^ ben ZHenfcfyen, ber fief^ t>on ifyien
nid?t mefyr nähren bürfte, t>om <£rbboben serbrängen. £ine
(Einfpradje gegen bas Hedjt ber UMffenfdjaft, bie (Eiere für
ifyre gweefe $u x>erwenben, barf im Zllunbe ber jenigen laut
werben, weldje biefe Konfequen3en anerfennen* ZHeine erfte
5rage an einen 21poftel biefer ^xxUiixe würbe bafyn gelten,
ob er nodj 51eifdj effe, unb pferbe 3um Beiten ober 5c^ren
benufce* Seja^t er fie, fo E^at er fid} felber gefdtfagen, er Ijat
bamit anerfannt, baß ber ZHenfdj bas ©er für feine «gweefe
t>erwenben [144] barf, felbft wenn er ifyn Sd\mex$en ober
Unbequemlichkeiten 3ufügt. Die 21bftufung in biefen Sd}mer3en
von ber peitfdje bes Kutfdjers bis 3um Seile bes ZHefcgers
unb bem ZHeffer bes p^ypologen ift nur eine grabueüe, unb
wer letzterem basfelbe 3U entwinben gebenft, muß ftdj audj
bie peitfdje unb bas Beil ausliefern laffen, por allen aber
bie XDaffen bes Solbaten, benn letztere bereiten bem ZlTenfcfyen
ärgere Sdimex$en als bas Hleffer bes pfyvftologen bem (Eiere,
ja ber muß fonfequenterweife fiel? aud? bas Schwert ber <Se*
redtfigfeit ausbitten. IDenn ber ZHenfdj um bes Paterlanbes
willen ben (Eob unb bie furdjtbarften Qualen erleiben muß,
braucht er bann 3urücf3ufd)recfen, um ber ZDiffenfcfyaft, b. i.
bes VOo\\Us ber Znenfd)fyeit, willen bem (Eiere ein Cos 3U
bereiten, bas ifyn felber nidjt erfpart bleiben fann? 5ür bas
©er wirb bie Stunbe feiner SicfyerfteUung gegen bas <££peri<
ment bes XHebi3iners unb ZTaturforfdjers erft bann fdjlagen,
wenn bie (51ocfen ben t>oöen Sxieben auf Crben einläuten:
feine Kriege nadj außen, feine Perbredjen im ^nnexn unb
barum audj feine 5trafen im 3nnern, feine animalifcfye (Er-
nährung unb . ♦ . feine Kranffyeiten für ben 2ttenfd?en.
Dann, bei biefer XDieberfefyr bes parabiefes, in bem ©d?s
unb <£fel, Cöwe unb (Eiger mit bem 2TJenfdjen in fdjönfter
<£mtrad}t leben, ofyte jtdj etwas 3uleibe 3U tun, befeljre aud?
Der IHenfd? «gtpecffubjefi bes Sittlichen* ^3
ich mich 3U jener £ehre, bie ich 3m*3eit mich noch gebrungen
fühle 3U befämpfen,
[145] 3ch faffe bas Befultat bes bisherigen 3ufammen:
bas Cier ift nach richtiger ftttlicher 2Iuffaffung lebigltch «gtsecf-
objeft für ben ZlTenfchen, ewiges gtoecffubjeft bes Sitt*
liefen aber ift ber ZHenfd?,
Der ZHenfch. Das fann bebeuten: ber ZHenfch als
<£in3elu>efen gebacht, in feiner 3f°lierung auf ftch felbft, ober
ber ein3elne als <5lieb ber (SefeHfchaft, fagen roir bas 3n*
bir>ibuum ober bie (ßefellfchaft. £ntfcheiben roir uns für
bie erjtere 2lltematit>e, fo t^etgt bas: bas Sittengefe^ ^at nur
bas 3n&wibuum in feiner 3foKerung im 2Iuge, etroa roie ber
2U43t bei feiner Kur ben ein3elnen patienten, ber leerer bei
ber £r3iehung ben ein3elnen «gögling* ©b bie Aufgabe bes
2lr3tes unb £et>rers fich in I^unberten ober taufenben ^nbu
x>ibuen roieberholt, ift gleichgültig, für jeben ein3elnen ijl fie
mit öefchränfung auf ihn 3U löfen, unb fo umrbe auch ber
Hmftanb, baß bas Sittengefefe, tx>enn es einmal feinen §voe<S
bem 3n^ir>^uum entnehmen fott (irtbit>ibueHe DoQfommen«
heit), feine 2tnforberungen an fämtliche 3ttbit>ibuen ber ZDeti
richtet, nichts t>erfchlagen, bas <§u>ec£ftibjeft bliebe ftets bas
3nbioibuum» Sagen roir bagegen: bie (Sefellfchaft, fo richtet
bas Sittengefefe felbftoerficmblich auch tjtcr fein 2tugenmerf
auf bas 3tt&uncmum, aber in feiner (Eigenfchaft als (Slieb
bes (5an3en, ebenfo wie ber militärifcfye 3nf^u^or bei ber
militärifchen 2Uisbilbung bes Solbaten, ber nicht ben ein3elnen
als foldjen, fonbern als <5lieb bes fyöfyeren taftifcheu (Sargen,
bem er eingereiht roerben foll, im 2tuge hat
[146] 3ft ber ein3elne groeeffubjeft bes Sittlichen, fo
müffen bie fittltchen formen fo befchaffen fein, ba§ fie ihn
für bie Verfolgung feiner rein privaten £eben£3tt>ecEe taug-
licher machen, als er es ohne fie fein roürbe, tt>oburch nicht
ausgefchloffen ift, bag bie vorteilhaften HMrfuugen, tt>eld]e
r>. 3b e ring, Der ^werf im Hed?t, II. 8
Kapitel IX. Die fetale ItTecfyanif. Das Sittliche.
jtc in feiner perfon er3eugen, mittelbar auch anbem 3ugute
fommeu, rote es ja ebenfalls in be3ug auf Teilung bes pa*
tienten burch ben 2Ir3t hinfichtlich ber 5reunbe unb Ange*
porigen besfelben ber 5aH ift. Aber bies wären bann nur
bie Hefle^wirfungen, bie bloßen folgen bes Sittengefe^es, in
ihnen würbe nicht ber «gweef besfelben 3U erblicfen fein, fo*
wenig wie bei ber Kur bes Ar3tes — letzterer furiert ben pa*
tienten feiner felbffc, nicht feiner ^reunbe unb Angehörigen wegen.
3ft bagegen bie (ßefeDfcfyaft «gweeffubjeft bes Sittlichen,
fo muffen bie fittlichen Hormen fo bef Raffen fein, baß burch
i^re Befolgung bas Befte^en ober bas Wofy ber (Sefamtheit
geförbert wirb, womit bie vorteilhafte Bücf wirfung auf bas
XDohl bes hattbelnben 3nbir>ibuums nicht bloß als mögliche,
3ufällige, fonbem als notwenbige 5oIge gefegt ift, ja nicht bloß
als 5olge, fonbem implicite als <gwecf. T>as 3nbir>ibuum ift
(5 lieb ber (Sefeßfchaft, lefetere bas probuft ber 3nbit>ibuen,
nur nicht ein bloßes Aggregat, fonbem bie glieblidie (Einheit
berfelben, bas (5an3e aber fann fich nicht wohl befmben, wenn
ber Ceil leibet. Sie (ßefeüfchaft als gweeffubjeft bes Sittlichen
umfaßt auch has 3n^töuum ^ <§n>ecffubjeft, nicht aber
[147] umgefehrt — im (San^n fteeft ber Seil, im Cetle nicht
bas <5an5e.
XDir verfolgen ben (Segenfafc beiber Auffaffungen weiter,
um uns ber Konfequen3en beiber bewußt 3u werben, woburdi
wir uns inftanb fefeen werben, unfere fchlteßliche iDahl 3wifd]en
beiben 3U treffen.
3ft bas 3nbitnbuum «gweeffubjeft bes Sittlichen, fo müffen
bie fittlichen ZTormen, ba fte bem abftraften Segriffe bes
3nbit>ibuums, bem fittlichen 3^aItvpus bes ZHenfchen, wie
er feiner 2Tatur nach fein foll, entnommen werben, für alle
völlig gleichlauten, ber (Einfluß bes gefellfchafttichen ZTToments
auf bas Sittengefefe ift bamit ausgefchloffen, fowohl ber ber
(ßlieberung ber (Sefellfchaft, welche bie Pflicht für biefes (Slieb
gtpecffubjeft* — 3ttMmtom™ ober (Sefettfcfyaft? \\§
anbevs geftaltet, tote für jenes, — als ber ber t>erfd}iebenen
Cagen ber (Sefeüfdjaft (beifpielstseife Krieg unb Rieben),
5ür alle 3n^ir)^u^n un^ f^r Stellungen unb Aufgaben
berfelben innerhalb ber <Sefellfd]aft fotoie für alle Cagen, in
roelcfye le&tere möglid?eru>eife geraten fann, fyat r>ielmefyr ber
Kanon bes Sittlichen t)öHig gleid} 3n lauten* 3ft bagegen
bie (5efeHfd]aft bas «grcecffubjeft, fo ift bamit nxd\t bloß bie
guläffigfeit, fonbern bie 2Tottx>enbigfeit einer 2lffommobation
bes Sittengefet$es an bie €igentümIid)Fett ber gefeHfcfyaftlidien
Aufgaben gefefet. Xladi Perfdiiebenfyeit ber glieblicfyen 5teIIung
innerhalb ber (SefeHfcfyaft fann bas Sittengefet^ biefem 3^*
rnbuum biefe, jenem jene pjTicf}t auferlegen, im Kriege fann
es [148] gerabe bas (ßegenteil von bemjenigen r>erftatten
unb anbefehlen, toas es im ^rieben sorfdjreibt, ber gause
3nt|alt besfelben fann fid] t>erfd]teben, im Kriege unb 3ur <geit
ber Xloi fann bas Sittengefe^ eine anbere Sprache reben als
im ^rieben unb 3U gewöhnlichen «geiten*
ferner: 3f* ^as 3n^^^uum 3u>e<äfubjeft bes Sittlichen,
fo muß, tsie bie Befolgung ber ftttlichen Hörnten fich an
ber (Erhöhung, fo bie Nichtbeachtung berfelben fid] au ber
ZHinberung feines IPohlergehens bofumentieren, bie nachteilige
Bücftoirfung bes Unftttlichen auf bie <5efeHfd]aft bagegen ift
babei 3toar möglich, aber feinestsegs notoenbig. 3f* abev
bie (ßefellfchaft bas groedfubieft, fo ift bie nadjteilige lüirfung
bes Unftttlichen auf fie unausbleiblich; benn tr>enn bie
Dertoirflichung ber fittlichen Hormen bie Bebingung ihres
!Dof}lergei}ens ift, fo muß uotu>enbigerroeife bie Zlid\tvev*
mixt lichung berfelben fie fdictbigen, a>omit fid) fehr gut
verträgt, baß bas 3n^t>töuum babei immerhin noch feine
Rechnung finbe.
(gnblich ein Viertes, 3f* öas 3n^t>ibuum <§tr>ecffubjeft,
fo werben roir ihm auf bie 5rage: toarum foll ich fittlich
banbeln? antworten: beinetoegen, ift es bie (ßefellfchaft, fo:
8*
\\6
Kapitel IX. Die totale HTecfyanif* Das Sittltd^
ihrettt>egen. Wvc berühren bamit bie 5rage vom VCiotiv bes
Sittlichen, bie voiv $toav, wie oben bemerft, 3ur3eit noch aus«
fefeen, bie tr>ir jeboch hier bereits infotoeit hinet^iehen mußten,
um ben <5egenfat$ ber beiben möglichen 2luffaffungen vom
g>we<£ bes Sittlichen : ber inbtt>ibuattftifch*teleogtfchen unb
ber gefellfchaftlich'teleologifchen [149] x>ollfommen bar-
3ulegen< ü?er bie 5rage nach bem TTiotwe bes ftttlichen ^an«
belns (bas fubjeftip Sittliche) im erfteren Sinne beantwortet,
wie bies t>on feiten ber eubchnoniftifchen unb ber fubjeftir>
utilitariftifchen fLfyeoxie gefchieht, hat bamit, tpenn er fem*
fequent fein wiü, auch bie gtseeffrage (bas objeftio Sittliche)
im inbunbualiftifchen Sinne beantwortet, er gefleht bamit ein,
bas Sittengefet$ ift nur bes 3nbit)ibuum5 tt>egen ba, £ehnt er
bas ab, fo fyat er eingeräumt, baß er bas fubjeftioe ZHottp
nicht in Übereinftimmung mit bem objeftit>en gwede beflimmt
habe* <£r weift bann bem 3nbir>ibuum bie Holle bes Kinbes
in meinem an früherer Stelle benutzen Beifpiele 3U, welches
bie 2Hebi3in nimmt, nid\t um gefunb 3U werben, fonbern um
bas Stücf <§ucfer 3U bekommen, «gtoeef unb ZTlotiü beefen
fich nicht Seim Kinbe mag bas Stücfchen §udEer nötig fein,
bes VTiannes ift basfelbe umtmrbig« 3n biefem Sinne hatte
Kant t>oHfommen recht, wenn er über bie ethtfehen <§ud?er«
theorien, wie man bie eubämoniftifche unb fubjefttp utilita-
riftifcf)e nennen fann, ben Stab brach unb ihnen feinen herben
fategorif chen 3mP*r &er Pflicht: ber Pflichterfüllung um
ber Pflicht roiHen entgegenfefete, es war ber erfte Schritt, um
fich Dom Xfiotive 3um <§tx>ecf 3U erheben, bie <gurücfu>eifung
eines ber wahren 23ebeutung bes Sittlichen nicht entfprechenben
fubjeftben XHotips, 2lber 3U biefer 2Tegatit>e mußte fich bie
pofttwe hin3ugef eilen, unb biefen Schritt hat Kant noch nicht
getan. 3hm 3ufolge müßte [150] ber ZTCamt bie 2TTebi3tn ber
2Hebi3in wegen nehmen — er perlaugt fogar, baß fte ibm
bitter fehmeefe — in ZtHrflichfeit aber nimmt er jte, unb foK
Krittf ber mbimbualtftifcfyett Cfyeorie*
XU
et fte nehmen, um gefunb 311 werben, b. et fyanbelt ftttlid)
ber (SefeDfcfjaft toegen — erff bamit ift bas 2T£otit> auf bie
fjöfce bes gweds erhoben*
Wxt müffen jebod] bev ZHöglicfyfeit Haum laffen, ba§ jene
beiben Cfyeorien mit bem ZHottoe, bajj fte bem 3n^^^uum
für fein jtttlicfyes £[anbeln r>or3eidjnen, sugleid? ben «gtoeef 3U
treffen gebenden, b. I). baß fie fiefy in JDirflicfyfeit ber Tlot<
roenbtgfeit ber Übereinftimmung beiber t>öllig bemüht gerr>efen
fmb unb bemgemäß ben &wed bes Sittengefefces lebiglicfy in
bas 3nbit>ibuum fyaben »erlegen wollen.
Vev\\xd\en wxv, wofyn u>ir mittels biefer Cfyeorie, bie idj
als inbit>ibualiftifd]*teleologifd}e im (Segenfafee 3U ber
von mir serteibigten gef ellfcfyaf tlid}*teleologifcfyen be*
seicfyne, gelangen* XD'xt fe&en einen Vertreter berfelben
ooraus, ber fte uns gegenüber im sollen Umfange aufregt
erhält
Die Oiefts lautet: aHe ftttlid^en XTormen fmb bes 3nbi*
mbuums toegen ba, fie be3tt>ecfen nichts als bas IDo^lfem,
bas (Slücf bes 3rcbir>ibuums.
2lIfo bie ZTatur ober (Sott — von bev <5efeHfcfyaft als
Urheberin ber fittlicfyen formen fann B^ier felbftoerftänblid}
nxd\t bie Hebe fein — fyat bem ZHenfdien bas Sittengefet)
ins £jer3 gepflanst, lebiglid) um fein iDo^Ifein 3U [151] er-
höben? <£ine ttmnberlicfye Deranftaltung , bie fonft in ber
gart3en Ztatur nicfyt ihresgleichen ftnbet: bie £uft bloß ber
£uft roegen! Überall anbertsärts bient bie £uft in ben f^änben
ber Ztatur nur als ZHittel 3um &wed, als prämie für etwas,
bas bie Zlatnr von ihrem <5efchöpfe begehrt, — bie ZTatur
febenft nicht, fie be$a]qlt nur (I, S, 3\). 3™ Sittlichen ba*
gegen geroäfyrt bie Ztatur ein reines (ßefcfyenf. 2lber welches
<5efchenf — ein Danaergefchenf ! TXlan frage fich unbefangen,
ob bie 23efchränfung unferer natürlichen Criebe, we\d\e bas
Sittengefefc uns auferlegt, geeignet ift, unfer £uftgefül|l 3U
jj8 Kapitel IX. Die feciale HTed/anif* Das Stttltcf^
evbßfyn. (Serabe im (SegenteiL IDie müfyfam l?at ber ZHenfdj
mit ftd? 3^ fämpfen, um ben €inflang mit ftd? f elber, ben
bie Hatur il}m x>on rornfyerein in feinem finnlidjen Däfern
getränt fyat, unb ben bas Sittengefet$ ifym ftört, roieber ber*
3uftellen! Unb bodj trenn er alle 2tnftrengungen 3U bem
«gtrecfe aufgeboten fyat, tote oft trirb er fidj geftefyen muffen,
bag bas (ßltU, bas .er auf biefe IDeife triebergetronnen
bat, mit bem bes Kinbes ober bes Haturmenfdjen faum
einen Dergleid? ausmalt. ZITan täufcfye fid? nur nidjt über
bas tx>afy:e Sad)rerB)ältnis< Die $va$e lautet nid}l: ge*
Ijört, bas Däfern bes Sittengefefees rorausgefefet, bie Se*
folgung besfelben 3 um rollen (ßlücfe bes JTCenfcfyen, 3ur E;er=
ffeHung bes inneren 5riebens? fonbern: trürbe bas menfcfylidie
(Slücf burd] bas 5efylen bes Sittengefefees eine £inbu§e er«
leiben? Das IDofylbefmben eines ZHenfdien, bem ein fyofyler
gafyt heftige Sdjmer3en rerurfacfyt, trirb [152] 3treifellos
gehoben, trenn er ftdi ben <§at}n aus3iefyen lägt, aber barum
trirb man bod) einen fyoljlen «gafyt nicfyt für eine Quelle ge*
fleigerten (ßlücEes erflären. Die 3bee, ba§ bie Itatur ben
ZlTenfdjen, lebiglid? um ifyn eine 3treite Quelle bes (ßlücfes
3U erfdjliegen, mit bem Sittengefe^e ausgerüftet tjabe, ijt um
nichts beffer als biefelbe 21nnafyne beim tjofylen gafyne. 211s
ob bie Hatur, trenn es ifyre 2Ibfid}t getrefen träre, bem
2Henfdien ein möglidift l^ofyes 2Tla§ bes (ßlücPes 3U3utrenben,
bies nicfyt in riel trirffamerer unb jtdjerer IDeife fyätte be*
trerfftelligen fönnen! Sie fyätte ifym nur einen neuen Sinn
ober eine roßfommenere (Drganifation feines Körpers, (Seiftes
ober (ßemüts 3U getragen, ober ifym negatir nur Sd|mer3en
unb Sdjträcfye 3U erfparen brauchen. Statt beffen wirft fic
mittels bes Sittengefefees ben «gtriefpalt in feine Seele, bem
reinen 21fforbe berfelben fügt fte eine Diffonan3 fyn3u, bie,
trenn es il>m nicfyt gelingt, fie auf3ulöfen, ben (Etnflang ftört,
unb trenn fie aufgelöft trirb, ifyn um nichts beffer ftellt, als
Krttif ber ittbhribualifltfcfyeu (Theorie*
wenn bie zweite 5aite, t>on ber fte erflang, pon tfyr gar
nidjt aufgesogen tx>äre.
®ber träte es bodj t>ielleid}t eine pofitipe Steigerung bes
(ßlücfs, bie bem ZHenfcfyen burd? bas Sittengefefe 3iigebadjt
ift? Das <§iel, bas man ifym in be3ug auf basfelbe vov*
3eidjnet, unb bas feinen £oIjn in ftd} f daließen folt, ift feine
Pollfornmenl^eit 2lls ob ber toirfltd? fittlicfye ZHenfcfy ftdj
im (Sefüfyle feiner Dollfommenfyeit fonnte, um baraus Der*
gnügen 3U fcfyöpfen, unb als ob bies 3U errr>artenbe [153]
Dergnügen ober <5lücf ben Sporn feines ftttlidjen Jjanbelns
bilbete. <£r Ijanbelt ftttlicfy, ofyne 3U fragen, ob ii|m ein Cofyn
bafür in 2lusfid}t ftefyt. Darin fyat Kant mit feiner 2tbu>el>r
bes (£ubämonismus t>oßfommen bas Hidjtige getroffen —
bas (Slücf, roelc^es fid} an bas ftttlicfye Jjanbeln fnüpft, mag
5oIge besfelben fein, unb felbft eine entartete 5oIge, aber
felbft eine ertoartete 5oIge ift barum nod\ nicfyt <§tr>ecf, was
xdl an anberer Stelle bartun toerbe. <£in ZHenfd], ber, um
einen anbern 3U retten, jtdj f elber bem fiebern Untergang
ausfegt, txmrbe einen feltfamen 3£>eg einfcfylagen, um fid] bes
(Slücf es, toeldjes bas (Sefüfyl ber Doßfommen^eit gewährt,
teilhaftig 3U machen — in bem Momente, wo er es foften
foll, lebt er nidjt mefyr!
Se^en tr>ir 3U, ob ber Safe, ba§ bie inbiüibueHe Doli*
fommenfyeit ber «groeef bes Sittengefefees fei, an ben ein3elnen
pflichten unb Cugenben bie probe beftefyt
Sei ben pflichten bes 2Ti[enfd}en gegen fid? felber, bei
ben Cugenben, bie ifym felber ifyre 5rüd}te tragen: ZHägigfeit,.
Heinlid]feit, Sparfamfeit ufto. lägt ber (Seftd}tspunft ftcfy 3ur
230t noefy aufredet erhalten, aber auefy nur um ben preis,
baj$ man ben bes perftänbigen (Egoismus 3U JEjilfe nimmt
Das angeblid} Sittliche rebu3iert fid? fyier in ber Cat lebig«
lid] auf eine politif bes Egoismus. Dag felbft biefe pflichten
unb {Eugenben t>om 5tan^pi\ntie ber gefelIfd]aftlid)*teleolo*
\20
Kapitel IX. Die fetale Ittecfyamf. Das SittUcbe.
giften (Theorie aus eine etfytfcfye Bebeutung geroinnen (bie
bes 2Tlenfd}en, ber im 3ntereffe ber [154] (gefeKfchaft fich
felber erhält), werben wir feine^eit nachweifen, r>om inbiot*
bualifttfd] 'teleologischen Stanbpnritt aus fmb fte nichts als
2Iusfiüffe eines wohfoerftanbenen €goismus.
Set allen anbern pflichten unb Cugenben bagegen, bie
nicht bem fjanbelnben felber, fonbern anbern perfonen ober
ber (BefeHjchaft 3ugute fommen, beruht ber (Seftchtspunft ber
baburch 3U erstelenben inbbibueHeu DoQJommenheit auf einer
(Erfchleichung, Kannte man biefelben nicht, wären fie ber
C^eorie nicht burch bas gefdjichtliche Ceben ber (ßefeEfchaft
fertig überliefert worben, ich möchte wiffen, wie man fie auf
bem IDege ber Debuftion mittels biefes (Sefichtspunftes Blatte
gewinnen wollen 1 Der 3bee ber inbitubueEen X>oE!ommen«
beit I|at noch fein Pol? ber <£rbe ben realen 3nl)alt bes
Sittlichen entnommen, biefelbe hat gefchichtlich in feiner XPetfe
mitgeholfen beim Sau ber ftttlichen JDelt, fonbern ftch erft
eingefteEt, nachbem berfelbe fertig geworben ift, ba h<*t fie
jtch getnelbet, um bas fertige XDerf in Befife 3U nehmen, unb
fteßt fich, als ob fie es errichtet ober ben plan ba3u ent«
werfen fyabe. Die gefeEfchaftlich'teleologifche (Eheorte bes
Sittlichen ift imftanbe, ihren (Sefichtspunft an jeber ei^elnen
Cugenb unb Pflicht 3U erproben, jebe als notweubig nach-
3uweifen, fie 3U bebu3ieren, unb bamit erbringt fie ben
Beweis, baß fie bas genetifcfye prin3ip bes Sittlichen
enthält Die inbipibualiftifcfyteleologijche Cheorie würbe bei
einem ernftüchen in biefer Hichtung unternommenen Derfud}
[155] fläglich 5iasfo machen. Denn ihr (ßeftchtspuntt ber
inbirnbueEen DoEfommenheit ift ein pöllig pager, ein rein
formaliftifcher, aus bem ber fonfrete 3nl]alt bes Sittengefefees
an ei^elnen Hormen, pflichten unb Cugenben fich burchaus
nicht gewinnen lägt unb beffen fchablcnenhafte 2lim>enbung
auf bie ein3elnen Cugenben unb pflichten bie €rfenntms
Kritif ber inbtPtbualtfttf d? en Cfjeorie*
\2\
berfelben nid?t im minbeften förbert. <£r gehört 3U jenen
ttnffenfdjaf Hieben Kautfcfyucfübe^ügen, n>ie id\ fie früher ge*
nanni habe, bie permöge ihrer iDeite unb cEIafttsttcit fich
altem unb jebem 3nl|alt überziehen laffen. 2Tüan bLat ben
gefamten 3nI)a^ *>es Sittengefefees t>or ftch unb ift fich über
bie (Etifette: inbisibueHe DoHfommenI|eit r>on vornherein einig,
biefe <£tifette wirb bann jebem ein3elnen <5egenftanbe auf*
geflebt — bamit ift öie Arbeit getan. 2tber eine (Etifette ift
fein Hrfprung53ertiftf at — nicht alle £(üte, bie ben Stempel
paris in fich tragen, ftnb in paris gemalt!
3ch fchlie^e meine Kritif ber inbipibualiftifch'teleologtfchen
Cl)eorie mit bem Safe: r>om Stanbpunfte bes 3nkfo&uums
aus Idgt fich bas genetifche prin3tp bes Sittengefefees, welches
nur im &xved gelegen fein fann, nicht gewinnen, unb wenn
nicht bie (SefeQfchaft, fonbern (Sott ober bie ZTatur es fein
follen, auf welche ber Ursprung bes Sittengefefees 3urüd>
3ufü^ren ift, fo muffen fte babei ein anberes «giel im 2tuge
gehabt traben als bas aus bem (Sefüfyl erreichter Dollfommen»
heit für bas 3n^iD^uum fi^l ergebenbe (Slücf* Die inbtoi*
bualiftifch'teleologifche ©leorie [156] ber <£thif ift unhaltbar,
«gwecffubjeft bes Sittlichen fann nicht bas 3n^ir>ibuum als
folcfyes fein»
€s bleibt nur ber ZTCenfch als (Slieb ber (Semeinf djaf t
übrig. Damit I^aben wir bas nichtige getroffen: bie <Se*
fellfchaft ift gmecffubjeft bes Sittlichen.
\7) Der 5ortfchritt t>on ber inbipibualiftifdjen
3ur gef ellfchaftltchen C^eorie.
Die inbioibualiftifcfye CI|eorie, wie ich jte fortan ftatt
inbwibualiftifch'teleologifche nennen werbe, oerlegt ben «gweef
bes Sittlichen in bas 3n&i*>töuum/ bie gefellfchaftüche, wobei
ich ebenfalls fortan ben<§ufafe: teleologifch fortlaffen werbe,
in bie (Sefellfchaft, ober in meiner IDeife ausgebrüeft: für
\22 Kapitel IX. Die feciale XTCecfcamf. Das Sittliche*
jene ift bas ,gtr>ecffubjeft bes Sittlichen bas 3nbtpibuum, für
biefe bie (Sefellfd^aft. 3n wenig Wotte 3ufammengefaj3t
lautet bie Iefetere: bas 23eftefyen unb bie XDoIjlfafyrt ber
(Befellfcfyaft ift ber <§tr>ecf aller fittlidjen formen, €s
ift ber befamtte Safe, ben Cicero de legib. III, 3 für bie
Staatsgewalt ausfpridjt: salus populi summa lex esto.
3nbem bie gefeHfcfyaftlicfye Cfyeorie bas 3ttbhnbuum von
bem plafee, ben basfelbe fid) mit Unrecht angemaßt t^at,
Derbrängt unb bie (Sefellfcfyaft bafür an bie Stelle fefet, ift
fie fidj betonet, bem 2Infprud}, ben bas 3nkir>ibuum *n be$u$
auf feine fittlidje Beftimmung 3U ergeben berechtigt ift, fo*
wenig Slbbrucfy 3U tun, baß fie im (ßegenteil fid? rühmen
barf, bemfelben erft t>oIIfommen [157] gerecht 3U werben.
3)ie gefeltfdjaftlidje C^eorie Ijat für bas 3rcbitnbuum Baum,
bie inbhnbualiftifdje aber nid}t für bie <Sefeltfd]aft — bas
(5an3e fdjließt ben Seil in fid}, ber Seil, ber für ftcf? allein
^iftieren will, f erließt bas (5an3e aus. Sefet ber Seil jtdj
fein ifoliertes lDoI|[ergeI|en 3um giel, fo fann barüber bas
(5an3e 3ugrunbe gelten, fefet bas (San^e fidt fein IDofylergetjen
3um <§iel, fo ift bamit notwenbigerweife bie Sorge für bas
bes Ceils gegeben, benn bas (San^e fann nicht gefunb fein,
wenn ein tEeit franf ift
Vas ift bie erfte Überbilan3, bereu fid] bie gefetlfdjaftliche
Cbeorie bei ber Abrechnung mit ber inbitnbualiftifchen rühmen
barf. <£s ift ber wichtige Safe: bie (Sefellfchaft ift t>er-
p flicktet für ihre ZlTitglieber 3U forgen. 2>ie inbit>i*
bualiftifche Cfyeorie ift nicht imftanbe, biefe Verpflichtung 3U
bebu3ieren. Das 3n^)it)^uum? bas fich f elber als <§wecf*
fubjeft fefet, forgt für anbere nur infoweit, als bie Hücfftcht
auf fich f elber es erforbert, bie Verpflichtung 3ur Sorge für
anbere lägt fich r>on biefem Stanbpunfte nur bebu3teren als
Befle^wirfung ber Sorge für fich felber, fie enbet, wo lefetere
aufhört
Überlegenheit ber gefeüfd>aftltd?en Cfjeorie* — (Sefcfytefytltcfyes» ^23
3)ie 3n>eite Überbüan5 ber gefellfchaftlichen über bie
inbit>ibualiftifche Cfyeortc befielt in bem ibealen £ebens3iel,
bas ftc bem 3u&K>ibuum t>or3Ctdjnct unb bem B^o^cn JDert,
ben fie bem inbirnbuelleu £>afein suerfennt ZTach ber inbi*
üibualiftifchen C^eorie breht [ich bie ganse Aufgabe bes 3n*
bir>ibuums lebiglich um fich felbft, es ift bas [158] 2Itom,
bas für ftch allein eyiftieren 3U fönnen vermeint, beffen gan3e
IDajeinsfumme baher im glücflichften 5aHe barin aufgebt, ba£
es für fich bas jenige erreicht £>at , tr>as in biefer ^\olkvnnq
3U erretten mar, b. h- baß es fich tt>ofyIgefüE]lt ^at auf (£rben
— es ift bas Syftem ber ethifchen SelbftgenügfamFeit unb
5elbft^errlid|feit Die gefellfchaftliche Cheorie bagegen reiht
bas 3nbtbibuum ein in bas <5efamtleben, in ben <£nttmd>
lungspro3ejj ber IHenfcfyfyeit <£rft baburch befommt bas
inbimbuelle leben IDert, erft bamit gewinnt bas 3ttbisibuum
bie erhebenbe (ßeanpjeit, ba§ es nicht vergebens gelebt hat,
bajj es einen wenn auch noch fo t>erfchu>inbenben Beitrag
geliefert fyat 3um JDerfe ber ZHenfd^eit.
Daß nun eine anbere als bie gefellfchaftliche 2luffaffung
bes Sittlichen fich bauernb auf bem Boben ber IDiffenfchaft
hat behaupten fönnen, follte man faum für möglich galten,
am roenigften, roenn man bebenti, ba§ nicht blo§ bereits bie
gried)ifd]e p^ilofopB^te bie gefellfchaftliche Beftimmung bes
ZHenf djen (Cwov ttoXitixcJv) DoQfommen richtig geu>ürbigt hatte,
fonbern ba§ auch bas CB|riftentum fon>ohl theoretifch mittels
ber Cefyre vom Heiche (Sottes als praftid? mittels ber soll*
fommen neuen realen (Seftaltung ber auf bie gan3e ZTTenfch*
heit berechneten chriftlichen Kirche jenen (Sebanfen ber gefell*
fchaftlichen Derbinbung unb Beftimmung ber ZHenfchen neu
aufgenommen unb weiter fortgebilbet hatte. 2lber g!eid]toie
bie (5efellfchaft fich auf bem praftifd]en (ßebiete bes £ebens
[159] ftets 3um ewigen Kampfe mit bem 3nki*>ibuum &er<
bammt fiebt, fo hat fie auch auf bem theoretifchen ber <£thif
Kapitel IX. Die feciale Xd^anxt Pas Sittltd?e.
pon jefyer ben XDiberftanb unb bie 2luflefynung besfelben
gegen it^re ©berljo^ett 3U erbulben gehabt« 2Han möchte
fagen, es fei ber rc>iffenfd]aftltc^e Crofc bes ftdf als Selbfi*
3tpecf füfylenben 3nbipibuums , tpeldjes ftdj bem pon außen,
pon fetten ber (Sefellfcfyaft fyerantretenben (Sefe&e ntdjt fügen
roxü, ftdj pielmel^r mit bemfeiben nicfyt anbers glaubt per*
ftänbtgen unb perföfyten 3U fönnen, als inbem es basfelbe
pon jtd] aus ju gereimten unb $u bebu$teren perfucfyt — ber
X>erfud}, bas 3$ 3um 2lngelpunfte ber ftttlidjen JDeltorbnung
3u machen. JDie biefe inbtpibualifttfdje Jluffaffung ftd? an
ber Konfination bes Hechts unb Staates perfudjt Ijat, ipo fte
in ber Cfyeorte bes Zlaturrecfyts eine <§eit fur3en tpiffenfcfyaft*
liefen (Sla^es unb balbigen Banferotts erlebte, fyaben totr
im ©erlaufe unferes XDerfes oft bemerft. 2luf biefem (Sebiete,
roo es fxdi bloß um bie rpiffenfd}aftltd}e Konflruftton ber
äußeren (Drbnung fyanbelt, Ijat fte f elber fid? t>on ifyrem Un*
vermögen, biefelbe pon ifyrem Stanbpunft aus 3U befdjaffen,
längft über3eugt unb ben Hü<f3ug angetreten, auf bem (Se-
biete ber (Etfyf bagegen, wo bas rein ^nnetHdie ber (Se»
finnung in 5rage fommt, t^at fte eben aus bem (ßrunbe fid>
länger 3U b&iaxxpten permod?t, unb nod} bis auf ben heutigen
Cag ifi ber 3nbir>tbualtsmus aus biefem feinem legten Schlupf«
roinfel nidjt pertrieben. 3Dte Aufgabe ber (Segerxwatt unb
gufunft beftefyt barin, iljm [160] audj biefen feinen legten
gufludjtsort ab3ufd]neiben unb an bie Stelle ber 3n&itn&ual'
etfpf bie So5taletfyi.f 3U fefeen.
Vxe 2lnfät$e ba3u finb allerbings fo alt tx>ie bie <£tbif
überhaupt 2lber es tft tpunberbar, rpie bie inbipibualifitfdje
2inftdjt fid] ber gefellfdjaftlicfyen gegenüber ntcfjt bloß prin3tpicll
3U behaupten permod]t Ijat, fonbem tPte fte felbji 3U bem
gtpedE eine Baftarbperbinbung mit it^r ntd)t gefreut Ijat
€s ift ein Setpeis für bie unauberflefylidie ZTTadit ber Ä>afy>
Ijeit, baß felbft in ber periobe ber uaturreditlidjen 2lnftdjt bei
Das gefellfdjaftlidje Softem. — £eibni3.
J25
ber h°chften Blüte bes 3nbit>ibualismus öie gefeHfchaftliche
2Iuffaffung bie Schränken, tselche bie inbtoibualifttfche €thif
ihr j>rin3tpicE gefegt Blatte, in ein3elnen Äußerungen burch*
bricht, bie ftch mit festerer in feiner tDeife oertragen, 3ugleich
freiließ auch ein 'Beweis bafür, toas ber menschliche (Seift an
inneren XDiberfprüchen in fich 3U beherbergen vermag, unb
u>ie roenig mit ber falben #>ahrheit geroonnen ifl* 2)as
Schaufpiel, toelches uns bie tDiffenfdjaft hier auf ihrem <ße>
biete barbietet, gleicht bem ber Sonne, voeldie in ein3elnen
Straelen bas ZDolfenmeer burchbricht, bas fie umfüllt — es
finb eben nur einzelne Strahlen, bie feine Qanet Reiben.
3ch greife 3um Betoeife brei ber bei>entenb\ten Schrift-
fteller ber beiben legten ^ativlinnbexte heraus: £eibni$,
Kant, Bentham.
H?enn ich für bie gefeHfchaftliche Cheorie ein ZHotto [161]
fuchte, ich u>ü§te in ber ganzen Citeratur fein befferes als
ben prägnanten 2lusfpruch r>on £eibni3*): omne honestum
publice i. e. generi humano et mundo utile, omne turpe
damnosum. Darin ift bas Syftem bes gefellfchaftlichen
Utilitarismus, tote ich es im folgenben 3u begrünben gebenfe,
r>oHftänbig ausgeprägt, unb £eibni3 f elber hätte nichts toeiter
nötig gehabt, als biefen (Sebanfen 3U <£nbe 3U benfen, um
bas gan3e Syftem 3U begrünben**).
*) Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae § 76 (Opera
omnia et Dutens IV, p. 2{%)+
**) 3n btv gegenwärtigen (3 weiten) Auflage madje tdj 3um €e|te
einen Hadjtrag, ben tdj ber 23efprecfyung meines IDerfes im £iterartfdjen
fjanbweifer, 3imäd?ft für bas fatfyolifdje Dentfdjlanb, Iftünfter, 3afyrg.23,
Hr. 2 burdj W. X?ofjoff, Kaplan in fjäffe, r>erbanfe, ber mir audj
perfönlid} mit manchen wertvollen Derweifungen auf bie fatfjolifcfye
etfyifcfye Literatur an bie *?anb gegangen tji. Derfelbe weift mir burdj
«gttate aus Cfjomas ab 2Iqumo nadj, ba§ biefer große (Seift bas
realtfiifdj* prafttf d?e unb gefettfdjaftlidje ITComent bes Sittlichen ebertfo
rote bas fytftorifdje bereits rollFommen rid/tig erfamtt hatte. Den Dor*
trmrf ber Unfenntnis, ben er für mtdj baran Fnüpft, fann idj ntdjt oon
\26
Kapitel IX. Die feciale tfledianif. Das Sittliche.
[162] 2lber ber (Sebanfe taucht bei ifyn nur auf, tote ber
Sliö bei bunfler Ttad\t, um fofort rtneber 3U Derfcbtsinben.
<£r gehört 311 jenen phänomenalen 3ntuitionen bes (Senies,
u?eld]e bie fernen «giele ber HMffenfcfyaff , bie letztere erft
auf bem langgeftreeften unb mutanten IDege metfyobifcrier
5orfd]ung 3U erreichen permag, bereits längft im voraus
mir ablehnen, aber mit ungleich fcfywererem (Sewicfyt als mid? trifft er
bie mobemen pr?ilofopr)en unb proteftantifcr>en (Theologen, bie es »er*
fäumt r^aben, fid} bie großartigen (Sebanfen biefes IHannes 3unut$e 3U
magern 5tannenb frage id? midj, wie war es möglid?, ba§ fokbe
IP arbeiten, nadjbem fte einmal ausgef proben waren, bei unferer pro=
ieftantifcfyen IDtffenfdjaft fo gcrn^licr? in Dergeffenrjeit geraten formten?
lX>eId]e 3^tr>ege fyäite fie ftet} erfparen fönnen, wenn fie biefelben be*
I^igt tyätte! 3d? meinerfeits blatte rielletdjt mein gan3es 23ucr/ nid)t
gef ^rieben, wenn icfy fie gefannt bjatte, benn bie (Srunbgebanfen, um
bie es mir 3U tun war, finden ftdj feb/on bei jenem gewaltigen Penfei*
in üollenbeter Klarheit unb prägnanterer Raffung ausgefprodjeu. 3&
gebe bem £efer einige feiner 2lusfprücfye 3m: probe. »Firmiter nihil con-
stat per rationem practicam, nisi per ordinationem ad ultimum fmem,
qni est bonum commune. — In speculativis est eadem veritas apucl
omnes in operativis autem non est eadem veritas vel rectitudo practica
apud omnes. — Humanae rationi naturale esse videtur, ut gradatim ab
imperfecto ad perfeetnm veniat — Ratio humana mutabilis est et im-
perfecta et ideo ejus lex mutabilis est. — Finis humanae legis est utilitas
hominum.«
Die fatfyolifcfye €tt}if baut auf biefer (Srunblage weiter fort» Der
perfönlicfyeu Mitteilung bes genannten He^enfenten oerbanfe td* bie
Haml^aftmacbung eines foeben erfdjienenen WetUs r»on p* Cbjeobor
Uleyer: Institutiones juris naturalis seu Philosophiae moralis universae
secundum prineipia S. Thomae Aquinatis. Pars I. Jus naturale generale
continens Ethicam generalem et jus sociale in genere, in welchem ber
Derfaffer auefy 3U meinem IDerfe Stellung nimmt. 3<*? meinerfeits bin
leiber nicfyt mefyr imftanbe, basfelbe aud? in be3ug auf ben mittelalter*
liefen Sd?olaftt3tsmus unb bie heutige ratfyolifdje (Etbjif 3U tun unb bas
früher Perfäumte nacrßurjolen , aber wenn mein gegenwärtiges XPerF
Erfolg fyaben follte, fo wirb er fid? audj barin bewähren miiffen, baß
bie proteftantifeb/e IDiffenfcfyaft ftet/ bie ^örberung, weldje fte bureb bie
?atrfolifcfy*tfyeologifcr/e erfahren fann, 3unut$e mad>t — wer ftd> bie
Belehrungen, welcb/e er burd> feinen (Segner erhalten fann, entgehen
lägt, fdjäbigt fid? felber>
Das gefeHfdjaftltcfye Syrern. — £etbni3*
127
erfchauen — meteorartige firfcheinungen, bie aber eben barum,
weil fic ZHeteore finb, an ben «geitgenoffen unbeachtet unb
fpurlos vorübergehen, unb auf bte erft ber fpätere 5orfcher,
teenn bie JDiffenfchaft in3n>ifchen fo rseit r>orgerüft ift, um
bas giel in poHem Cageslichte x>or fich 3U haben, aufmerJfam
ttnrb. 5ür bie [163] bamalige IDiffenfchaft unb für £eibni$
felber, ber, toenn auch eins ber größten, fo boch immerhin
ein Kinb feiner <geit toar, tx>ar ber (Sebanfe, ben er aus*
fprach, noch 3U früh- <£r tritt bei ihm auf in Derbinbung
mit 3tpei anbeten (ßebanfen, bie feine solle (Entfaltung 3ur
Unmöglichfeit machten, unb ich trage jefet ben gan3en paffus
nach, bem ich jene IDorte entnommen Bjabe, unb ben ich
oben abfichtlich unterbrüeft habe, um bas Überrafchenbe bes
<5ebanfens nicht ab3ufd]toäd]en, »Deus accedens effecit,
ut quidquid publice i. e. generi humano et mundo utile est,
idem fiat etiam utile singulis, atque ita omne honestum sit
utile et omne turpe damnosum.«
Sarin liegen folgenbe brei (Sebanfen nebeneinanber.
\. Der t)olIfommen richtige ber 3bentität bes Sittlichen
mit bem gefellfchaftlich 2Tüfelichen.
2* Der unrichtige ber ^beniiiät bes gef ellfchaftlich
ober allgemein ZTüt$lichen mit bem inbit>ibuell 23üt$lichen.
öeibes fann x>öllig auseinanberfallen* Der Cob fürs Pater*
lanb ift ber (SefeQfchaft nützlich, nid]t aber bem 3nbit>ibuum,
bas ihn erleibet Ejier fpielt alfo gan3 fo tt>ie bei 23entfyam
(f. u.) ber objeftir>e unb fubjeftit>e lUilitarismus ineinanber
über.
3. Die ^urücffüfyrung bes Sittlichen auf (5ott, ber es
einmal fo eingerichtet iiahe, baß bas Sittliche für bie (Sefell*
fd]aft gleichmäßig wie für ben ein3elnen nüfclid] fei. <£s
liegt barin bereits ber erfte 2tnfat$ 3U bem fpäter r>on £eibni3
ausgebilbeten (Sebanfen ber präftabilierten [164] Harmonie
ber IDeltorbnung. Das Sittliche beruht biefer Jluffaffung
\2S
Kapitel IX. Die fatale llIedjatuF* Das Sittliche*
3ufolge nxd)t barauf, baß bie (SefeUfchaft es felber aufge-
richtet, tr>etl fte es als unerläßliche Cebensbebingung erprobt
hat, fonbern barauf, baß (ßott bie pofitit>e Peranftaltung
getroffen fyat, baß es ihr unb bem ein3elnen nüfelich fei —
es ift nicht fittlich, toeil es nüfelich, fonbern nüfelich, roeü
es fittlich iji.
3m guf ammenbange biefer (Sebanfen fonnte allerbings •
bie richtige firfenntnis ber 3^ntität bes Sittlichen mit bem
gefeltfchaftlich ZTüfelichen tx>eber für £eibni3 felber, noch für
feine geit roeitere Früchte tragen»
sticht minber überrafchenb ift bie 2Inerfenmmg ber gefeH*
fchaftlichen Sebeutung unb Beftimmung bes Sittlichen bei
Kant, toomit fich bei ihm bann noch bie ber gefeUfchaftlichen
finttoicflung besfelben serbinbet, freilich nicht ber sollen, rx>ie I
bie gerichtliche tEheorie bes Sittlid]en fte lehrt: gleichmäßig
bie ber fittlichen ZTormen, tt>ie bes fittlichen IDiHens, fonbern
bie ber äußeren fittlichen XPeltorbnung. Don feinem Stanb*
punfte bes fategorifchen 3mperath>s unb ber angebornen
Pernunft aus, roelcher ber bes 3n^^^uum5 *?/ I?ätte ihm,
follte man fagen, ebenfotr>obl bie (SefeUfchaft toie bie <Se*
fchichte unerreichbar fein müffen* 2lber mit jener unbeftech*
liehen ZDahrheitsliebe, toelche ihn fenn3eichnet, jener Selbft*
Verleugnung, toelche lieber bie eigene Ch^orie preisgibt, als
ber IDahrh^it ben gutritt t>erfagt, jenem ZTTute ber 3nf°n'
fequen3, [165] roelche fotsohl im £janbeln wie im Denfen bas
unterfdjeibenbe UTerfmal aller gefunben von ben ungefunben
Zlaturen bilbet, fet$t Kant ftch über bas JEiinbernis, bas bie
eigene {Theorie ihm entgegenfteüt, him^g. 3^ laffc ^n wiit
feinen eignen IDorten reben, ba lefctere mir nicht bloß bei
biefer Gelegenheit von Wext finb, fonbern ba ich fte noch
an fpäterer Stelle in 23e3ug 3U nehmen gebenfe*).
X>ie folaenbett <§itate b^ieljen fid? auf bie Hus^abt fein«
Das gefelffdjaftltdje Syrern* — Anläufe. — Kant
„<£s ift ein nicht blog gut gemeinter unb in praftifcher
2Ibjtd]t empf et>lenswürbiger , fonbern allen Ungläubigen 3um
Crofe auch für bte ftrenge Cfyeorie faltbarer Safe: baß bas
menfchliche (ßefchledjt im 5ortfchreiten 3um Seffern immer
gewefen fei, unb fo fernerhin fortgeben werbe, welches, wenn
man nicht bloß auf bas fielet, was in trgenb einer IDeife
gefdjehen fann, fonbern auch auf bie Verbreitung über alle
Dölfer ber <£rbe, bie nach unb nach bavan teilnehmen bürften,
bie 2lusjtcht in eine unabfehbare §ufunft eröffnet" (X, S. 350»
T>er (Ertrag, ben ber 5ortfdjritt 3um Seffern bem ZHenfchen*
gefchlecht abwerfen wirb, wirb nicht fein „ein immer wach«
fenbes Quantum ber ZHoralität in ber (Sefinnung, fonbern
Vermehrung ber probufte ihrer Cegalität in pflichtmäßigen
[166] I}anblungen, burch welche Criebfeber fie auch per-
anlagt fein mögen, b. i. in ben guten Caten ber Ztlenfchen,
bie immer 3ahlreid?er unb beffer ausfallen werben" (S. 35^).
3eber für feinen Ceil ift berufen, an ber Perwirflichung bes
Sittlichen in ber JDelt mit3uwirfen. „Die Cugenbgeftnnung
befchäfttgt ftch mit etwas IDirfltchem, was ♦ . ♦ . 3um iDelt*
beften 3ufammenftimmt. 3n ihr ben haften IDert 3U fefeen,
ift fein £)ahn, . • , , . fonbern barer 3um HMtbeften hin*
wirfenber Seitrag" (X, 5. 209). 2>iefcr 5ortfchritt 3um
Seffern „wirb ftch enbltch auch auf bie Dölfer im äußeren
Verhältnis gegeneinanber bis 3ur weltbürgerlichen (5efellfchaft
erftrecfen" (S. 355). Wir iiahen, wenn wir einen „naturplan
porausfefeen, bie tröftenbe 2lus ficht in bie «gufunft, jn j^^^
bie ZHenfchengattung in weiter 5^ne porgeftellt wirb, wie
fämtlidjen tDerfe pon Bofentran3 unb Schubert Sie flnb entnommen
fetner ilbfjanblmtg „Über ben <8emeinfprucfy; bas mag für bte (Etjeorte
richtig fem, taugt aber ntd?t für bte prajts" (8b. VII, 2lbt l, S. 176 ff»)/
feinen „3been 3U einer allgemeinen (ßefdjtdjte in n>eltbiirgerlia>r 2lb*
firf?t" (bafeibjt S. 317 ff.) unb feinem „Streit ber f aFultäten" (8b. X,
5- 25t ff.).
» 3 gering, Per §»ecf im Hed?t. II. 9
\50 Kapitel IX. Die feciale ITCedjantf. Das Sittliche*
ftc ftd? enblict? bodj 3U bem guftanbe emporarbeitet, in melcfjem
alle Keime, bie bie Statur in fte legte, völlig fönnen ent*
vo\deli, unb ifyre 23eftimmung fyer auf <£rben fann erfüllt
merben" (VII, S. 334(<). Das (ßegenteil Ijiege aus ber <5e*
fcfydtfe ein poffenfpiel machen. „<£s ift ein, tef? miß md]t
fagen einer (Sottfyeit, fonbem felbft bes gemeinften, aber
mofylbenfenben XlTenfcfyen fyöcfyft umxmrbiger Jlnblicf, bas
menfdjlidie (ßefcfyledjt t>on periobe 3U periobe 3ur Cugenb
hinauf Stritte tun unb balb barauf ebenfo tief lieber in
£after unb <£lenb 3urücffallen 3U fefyen. <£ine IDeile biefem
Crauerfptele 3U3ufd?auen, fann t>ietleid?t rü^renb unb belefyrenb
fein; aber enblicfy mu§ boefy ber Porfyang [167] fallen. Denn
auf bie Cänge toirb es 3um poffenfpiel, unb menn bie 2lfteurs
es gleich ntcfyt mübe merben, toeil fte Harren finb, fo roirb
es boefy ber gufcfyauer, ber an bem einen ober anbem 2lft
genug Ijat, toenn er baraus mit (Srunb abnehmen fann,
baß bas nie 3U <£nbe fommenbe Stücf ein eisiges (Einerlei
fei" (bafelbft S. 222).
IDoburcfy mirb biefer 5ortfctjritt betoerfftelligt? Die 2lnt«
toort, melcfye Kant barauf erteilt, ift Ijöctjft überrafdjenb.
Zlxdit burefy „ein immer toad\\erxbes Quantum ber ZHoralität
in ber (Sefinnung" (f. oben). „Der ^ortfcfyrttt mirb nid?t
fotoofyl bapon abhängen, was wir tun (3. 23. t>on ber <£r«
3tefyung, bie mir ber jungen XDelt geben merben) unb nadj
welcher ZHetfyobe mir perfaljren foßen, um es 3U bemirfen,
fonbern t>on bem, mas bie menfd)lid}e Ztatur in unb mit uns
tun mirb, um uns in ein (ßeleis 3U nötigen, in meldjes mir
uns x>on felbft \xxd\t leicht fügen mürben. Denn von ifyr ober
tnelmefyr (meil fyödjfte IDeisfyeit 3ur Dollenbung biefes §weds
erforberlidj mirb) t>on ber Dorfe^ung allein, fönnen mir einen
€rfo!g ermarten, ber aufs <ßan3e unb t>on ba auf bie Ceile
ge^t, ba im Gegenteil bie ZHenfcfyen mit iBjren (Entmürfen
nur pon ben Ceilen ausgeben, mofyl gar nur bei il^nen fte^en
Das gefellfdjaftltdje Syftem. — Anläufe. — Kant \Z{
bleiben unb aufs <San$e, als ein folches, welches für fte 3U
groß ift, 3tt>ar ihre ^been( aber nicht ihren <£influß erftreefen
fönnen" (VII, S. 324ß.
Damit l^aben tx>ir wieber ben gan3en 3nbit>ibualismus
ber fantifd?en ethifdjen 2luffaffung, bas <£ingeftänbnis, [168]
baß 5er fategorifdje ^mpevativ 5er Pflicht, ber nur auf ben
Ceil, nicht auf bas <San3e gerietet ift, nicht imftanbe ift, bie
gefellfdjaftliche <£nttt>icflung bes Sittlichen 3U befchaffen, bie
Dorfehung muß ihm 3U JEjilfe fommen. 2Iber eine gewiffe
Hnterftüfeung ftnbet lefetere boch im ZHenfchen felber. freilich
„nicht burch ben <5ang ber Dinge von unten hinauf, fonbern
von oben I|erab" (bie obige £egalität in pflichtmäßigen fjanb*
lungen). <£s ift 3U hoffen, baß, roenn bie ZDeltregierer nur
ihren eignen Porteil verfielen, „bie 2lufflärung unb mit ihr
auch ein gewiffer £(er3ensanteil, ben ber aufgeflärte ZHenfch
am <5uten, bas er Dollfommen begreift, 3U nehmen nicht vev*
meiben fann, nach unb nach bis 3U ben Coronen Ijinaufge^e
unb felbft auf ifyre Hegierungsgrunbfäfee (Einfluß ^abeiJ (VII,
S* 330» 2fach ber öffentlichen ZHeinung räumt Kant einen
erheblichen (Einzug an bem 5ortfchritt ein. Dagegen ift tfvon
ber Silbung ber ^uqenb in t|äuslid)er Untertoeifung unb
Schulen, in (Seiftes* unb moralifcher, burch Heligionslehre
perftärfter, Kultur" für bie «Ziehung 3um <5uten wenig 3u
erwarten (X, 356). Die moralifdje (5runblage im ZHenfchen*
gefchledjte toirb nicht im minbeften vergrößert werben, als
W03U eine 2Irt von neuer Schöpfung (übernatürlicher (Einfluß)
erforberlich fein würbe (bafelbft 5. ^55).
Die Äußerungen Kants follen mir an fpäterer Stelle
(Cheorie bes fittlichen IDillens) ba3u bienen, um 3U 3eigen,
wie weit er noch *>on ber vollen tDahrheit entfernt war,
[169] an ber gegenwärtigen bagegen, um bar3utun, tt>ie weit
er fich ih* bereits genähert hatte. Das enblicfye <§iel alles
Sittlichen hat er vollkommen flar vor 2lugen, aber von feinem
9*
1(32 Kapitel IX. Die fatale Itted?atti?* Das Sittliche.
2lusgangspunft ift es nicht 3U erreichen, 3ioifchen beiben fpannt
ftch eine Kluft, bie feine Debuftton 3U überbrüefen permag.
2Iber feine Über3eugung t>on ber 2totn>enbigfeit 6er Verfolgung
unb von ber IHöglicbfeit ber (Erreichung biefes giels ift eine
fo felfenfefte, baß er pon ber Dorfehung ertpartet, was bie
CI)eorie nicht 3U leiften imftanbe ift. „'Die moralifche (Srunb*
läge im IHenfchengefchlecht toirb nicht im minbeften peränbert
werben, bas Quantum ber XHoralität in ber <5efmnung nicht
rcadtfen" — bamit i|ält er an feinem 2Iusgangspunfte feft.
€s ift bie Cfjeorie pon ber gän3lid?en Unbilbfamfeit bes
Wittens, bie Schopenhauer t>on ihm übernommen unb in
fdjrofffter IDeife 3wgefpifet Ijat, ber (5runb3ug bes Ungefchicbt*
liefen, ber einmal pon ber inbipibualiftifchsnatipiftifchen (Theorie
u^ertrennbar ift (S. 9^)- 2lber im übrigen fmbet boch bie
(ßefchichte gutritt. Die Caten tperben immer beffer, ob*
fchon bie (Befmnung ftch nicht änbert, bas „IDeltbefte", bas
giel, bem bie gan3e Belegung bes ZHenfchengefchlechts nach
bem „Z?aturplan" 3uftrebt, roirb mehr unb mehr penpirflicht,
bie ZHenfchhei* befmbet ftch m beftänbigen 5ortfcbritt. Die
XTttttel, bie ba3u führen, fmb nur äußere: Staatsgetpalt,
öffentliche XHeinung, unb fomit ift auch bas enbliche Hefultat
ber <£nttPtcfIung nur ein äußeres, in objeftiper Be3iehung
bie Derpotlfommnung ber äußeren [170] (Drbnung, in fub*
jeftiper bie bloß äußerliche ber £}anb hingen.
So ift es alfo nur bie fyalbe IDahrheit, bie bei Kant
burchbricht: ha^ w be3ug auf bie (Sefchtchte, tpelche nur
über bas Süßere, nicht über bas 3nnere 2ftacht hat, halb in
be3ug auf bie <5efellfchaft, welche 3tpar pon bem ^nb\*
pibuum beffen „Beitrag 3um IDeltbeften" empfängt, aber
ohne felber als g>xx>ed\\\b\eU bes Sittlichen anerfannt tporben
3U fein — es jtnb nur bie HefJe^mirfungen bes auf bas
3nbipibuum berechneten fategorifchen 3mperatips, bie ihr
3ugute fommen.
Das gefeflfdjaftlidje Syrern* — Anläufe* — £entfjanu ^33
<£inen Ijödjjl bebeutenbert 5ortfd]ritt macfyt &ie €rfenutnis
bes gefeHfdjaftlidjen <£fyarafters bes Sittlichen mit öentfyam.
3n Deutfdjlanb unter bem <£influffe ber ber realiftifd?*praf*
tifdjen Bidjtung ber (Englänber biametral entgegengefefcten
ibeal-fpefulatipen Biegung ift berfelbe piel 311 tpenig getpürbigt
tporben, es gehört bei uns 3um guten Cone, über [eine
Cfyeorie tpie über ben perfekten Eintrag eines Jlbgeorbneteu
in ber Kammer einfad) 3ur Cagesorbnung über3uge^en. 2Hit
großem Unrecht, unb 3U unferem eignen größten 5d\aben\
Sentljam roar nxd\t bloß einer ber felbftänbigften, ortgineüfteu
Denfer, ber burdj bie 5ülle unb anregenbe Kraft feiner <Sz>
banfen unb burefy feinen gefunben praftifdjen Sinn unb rpeit*
tragenben ölief bas Stubium feiner Schriften in toeit leerem
(Srabe be3afylt macht, als basjenige ber Schriften ber meiften
feiner auf fpefulatipen 5tel3en ein^erfd]reitenben unb bie [171]
©riflamme bes 2^a^smns fdjunngenben (Segner, fonbern
er J?at auch bie (Etfyf um einen Beitrag permehrt, ber ihr
meines €rachtens nie roieber verloren gehen fann. Den
(gebanfen, ber bereits bei £eibni3 porübergehenb auftauchte:
»omne honestum publice utile, omne turpe publice damnosum«,
unb ben auch Kant bei feinem „IDeltbefien" im 2luge fyatte,
hat 23entham 3uerfi betpußt unb in poller Klarheit erfaßt
unb xfyx unter bem gan3 3utreffenben ZTamen bes Htüttaris*
mus 3U einem felbftänbigen etB)ifd)en Syftem ausgebilbet*).
2lber leiber perbinbet fich mit biefem pollfommen richtigen
(ßebanfen ber pöüig irrige, ba§ bas Sittliche biefen (Efyarafter
fubjeftip beu)ät|ren muffe. „5ür bie Anhänger bes prin3ips
ber üfelichfeit, fagt er (33 1>. I, 2ibt \, Kap. \), ift bie Cugenb
nur ein (ßut mit Bücfftdjt auf bie mit ihr perbuubeue £uft,
bas £aßer nur ein Übel in Bücfficht ber aus ihm I^erpor-
*) Das üjaupttperf tfi; (Srunbfä'fee ber §xo'\U unb Krtminalaefet}*
gebung, herausgegeben von Dumont, beutfcfye Ausgabe pou f. <H«
33enefe, 2 23äube, Berlin 1830.
Kapitel IX. Die feciale Itled|antt. Das Sittliche.
gefyenben Unluft ♦ ♦ . ♦ 5änbe ber Anhänger bes prht3ips
ber Hüfelidjfeit in bem allgemein angenommenen t>er3eid}nis
5er Cugenben eine fjanblung, toeldje meljr Unluft als £uft
3ur $ol$e fyätte, fo mürbe er fein Sebenfen tragen, biefe an*
geblidje Cugenb für ein Cafter 3U erflären." Damit roirb
bas fubjeftiü nüfctidje 3um IHaßftab unb Kriterium bes
objeftit) ober gefellfdjaftlidj itüfelidjen erhoben unb ber
richtige (Sebanfe, ber in ber Betonung bes lefeteren lag,
[172] ttneberum preisgegeben, ber Htilitarismus öentfyams
münbet in <£ubämonismus. Kein lüunber, ba§ nad) ben
toudjtigen Schlägen, tt>eldje Kant bem €ubämonismus perfekt
Ijatte, biefe Cfjeorte bes Sittlichen in Deutfdjlanb feinen
23oben finben fonnte.
2lber inbem man fid? bei uns an ben 3rrtum fyelt, ben
23entl}am ber iDafyrljeit beigemifd]t hatte, unb ber nod| in
jüngfter <geit t>on feinem Canbsmann E(erbert Spencer in
bem oben genannten IDerfe r>on neuem in einer lüeife auf*
gefrif cfyt ift, bie ihm, roie ich an einer fpäteren 5telle hoffe
bartun 3U fönnen, ben <ßnabeufto§ t>erfet$t l|at, lie§ man ftch
bie tr>ertt>ollen Anregungen 3ur €rfenntnis ber tt>a£^rl>cit,
toelche man Senttjam liätte entnehmen fönnen, entgegen.
3n3tr>ifcfyen ift bie <§>eit eine anbere geworben. £s ift
nietet mehr bie leidet perballenbe Stimme bes ZHannes ber
2t>iffenfchaft, welche um £inlaf} bittet für bie gefellfchaftliche
Ct^eorie, fonbern es ift bie bureb bie fo3taIiftifchen C^eorieu
roilb unb leibenfdjaftlich erregte ZHaffe, welche mit mächtigen
Schlägen ans Cor pocht, ba§ es weithin erfchatlt, unb bie
Schläfer aus ihren Cräumen aufgefdjeucht werben. 3$ fabe
fchon an früherer Stelle (S. $6) bie Über3eugung ausge*
fprochen, ba§ nicht bas Deuten, fonbern bas £eiben ben
wirffamften 3mpuls bes gefeHfchaftlid^en 5orfd?ritts enthält.
Vex Qxud ber bisherigen (Einrichtungen mu§ erft fühlbar
geworben fein, ber 2Tüi§brauch tief unb fchmer3haft ins
Das gefellfdjaftltdje Sutern. — Drang ber <§eit* ^35
lebenbige 5leijch [173] eingefchnitten tiaben, bamit ber ZTienjch
aufgerüttelt tperbe unb bie beftehenben «guftänbe einer Kritif
unterstehe. Der Drucf bes autoritativen unb forporatioen
prin3ips in Staat unb Kirche l|at feine^eit bie Heaftion bes
3nbipibualismus h^rporgerufen, gleichmäßig im Ceben roie
in ber IDiffenfchaft <£s wat bie <geit ber Auflehnung bes
3nbipibuums gegen bie überlieferte ©rbnung, bie 3uerft
innerhalb ber Kirche mit ber Heformation begann unb fich
bann im Staatsleben in ben Bepolutionen fortfefete unb in
ber naturrechtlichen Cheorie ihren tpiffenfehaftlichen Ausbrucf
fanb. Aber tpie ber 3nbioibuali5mus hervorgerufen tparb
burch eine porangegangene ©nfeitigfeit, fo ift auch er tpieberum
ber fiinfeitigfeit perfallen, um jobann abermals eine neue
3U er3eugen. Auch im 5o3ialismus tritt eine Übertreibung
ber anbern entgegen, unb bie (ßefeHfchaft ha* bie größte
ttrfache auf ihrer ffut 3U fein. Aber bes 3rrtums unb ber
Übertreibung, beren er fich fchulbig macht, tperben u>ir uns
nur baburch ertpehren, baß rpir bie lüahrheit, beren auch er
fich rühmen barf, anerfennen. Dies praftifch 3U tun, ift Auf«
gäbe ber politif unb ficherlich eine ber fchtpierigften, bie je
im £aufe ber <5efchichte an fie herangetreten ftnb. <£s tpiffen*
fchaftlich 3U tun, ijt Aufgabe ber (SejeHfchaftstpiffenfchaften
unb fo insbefonbere ber €thif. 3n beiben Sichtungen be«
3eichnet unfere geit bie periobe bes Umfchtpungs. Was in
ber erfteren bereits gefchehen ijt unb noch gefchieht, gehört
nicht h^rher, jebenfalls aber [174] 3eigt es, tpelch getpaltiger
5ortfchritt fich in unseren Anschauungen ponogen fyat, wenn,
wie es bei uns in Deutfchlanb augenblicflich ber 5all, bie
Staatsgemalt fich &ie Pertpirflichung ber 3&een 3um <§iele
gefefet fyat, beten bloßes Ausfprechen noch t>or einigen De*
3ennien bem Cheoretifer ben pernichtenben Portpurf eines
So3ialiften eingetragen hätte- Der große ZTTann, bem tpir
Deutschen bie polttifdje IDiebergeburt unferes Vatevlanbes
\36 Kapitel IX. Die f<>3tale Illedjamf* Das Sittlxdie.
perbanfen, l\at auch in biefer Hichtung feinen tpeittragenben
jktatsmännifchen 23lic! unb feine befannte Dorurteilslofigfeit
unb llnerfchrocfenheit betpährt; auch t^ier ift er es wiederum
getpefen, tpelcher mit eiferner 5aufi bas Cor $u öffnen ftch
anfchtcft, burch welches ber XDeg ber gufunft ^inburc^fü^rf.
£eicht ift im Vergleiche bamit bie 2trbeit, tpelcfye bie
Clieorie 3U pollbringen fyat, aber auch fte tpiU getan fein»
3nbem ich ber bloßen 2lnläufe, bie in biefer Bicfytung gc
fchehen finb, unter benen in erfter £inie bie €tfyif bes jüngeren
5id^te Ommanuel fjermann Richte, Syftem ber €tfyf,
£eip3tg, 2 öbe. \850 — \853) 3U nennen fein bürfte, gefchtpeige,
hebe ich nur basjenige XDerf h^rpor, in bem bie gefellfchaft*
liehe Cl^eorie meines JDiffens 3um erjtenmal als tpiffenfchaft*
licfyes Syftem unb unter bem entfprecfyenben ZTamen ber
5o3iaIetI|if*) ben Boben ber [175] Citeratur betritt <£s
ift bas JDerf bes Dorpater C^eologen 2llejanber pon
(Öttingen, bie Hloralftatiftif unb bie chriftliche Sittenlehre,
Derfud] einer 5o3ialett|if auf empirifcher (ßrunblage ((Erlangen,
2 Zeile, \858— 7% Z. \, 2lufL 2, (8749, ein ZDerf, gleichmäßig
herporragenb burch ben Umfang unb bie (ßebiegenfyeit bes
XDiffens, burch bie 5ülle bes 5toffs, ben ber Derfaffer pon
ben perfchiebenfien, bem Cfyeologen am tpenigjten naheliegenben
(Bebieten für feine «gtpecfe hcra^ieht, tpie burch philofopfy5
fchen (5eift, Klarheit unb Sicherheit in ber Durchführung ber
<5runbanfchauungen unb rparme, geiftpoüe Darftellung. <Dl[\\e
bem Derbienjie bes X?erfaffers, bas niemanb freubiger an«
erfennen fann als ich, im minbeften 3U nahe 3U treten, barf
*) Der Harne; So3taletfn'f ift 3tt>ar audj von anbeten gebrannt
woxben, aber nicfyt in bem Sinne ber auf bie gefeflfd?aftltd?e 2Xnfid>t
gebauten gefamten €tt|tf, fonbern er btent ifmen blog 3ur £e3etdmmtg
besjenigen Ceüs berfelben, ber bie gefellfdjaftltdje Stellung bes 3nbirt*
bnums 3um (Segenftanbe fyat, bem fie bann bie 3nbtoibualett}if gegen*
iiberftellen* So 3* in bem Syrern ber <£tf}if bes bänifdjen (Theologen
IHartenf em
Das gefeflfcfyaf tltdje Syrern* — Die (Segenmari ^37
ich bodj bie öemerfung nicht unterbrücfen, ba§ er bie 2tuf-
gäbe in bem pollen Umfange, rote ich fte faffe, fich tpeber
gejtellt ijat, noch als C^eologe fleh [teilen fonnte. 3$
glaube unfer Derhältnis fur3 fo be3eichnen 3U fönnen, ba§ er
t>on ben bret oben (5. 76) aufgehellten Karbinalfragen ber
<2thi? nur an ber 3tpeiten: 5er vom ^roecf bes Sittlichen
bie Bichtigfeit ber gefellfdjaftlichen 2luffaffung nad^utpeifen
perfucht, tpährenb bie beiben anbern bapon gcut3ltch unberührt
bleiben; unb auch in be3ug auf bie 3tpeite ^at er mir nocfy
manches 3U tun übrig gelaffen. 3^1 betone bies nicht, um mein
eignes [176] Perbienft iiewot^eben , fonbern nur um 3U
fonftatieren, ba§ mein Unternehmen burch feine Arbeit nicht
überflüfflg gemalt tporben ift, toas ber Kunbige 3tpar auch
ohne meine 23emerfung tpiffen tpirb, bem Unfunbigen aber
gefagt tperben mußte. Um jeben Schein ber Anmaßung von
mir fern3uhctlten, will ich gern geflehen, ba§ ich ntir tpohl
betpußt bin, roie gering mein perfönliches Derbienft ift 3<$
habe bie £uft meiner <geit eingeatmet, ohne imftanbe getpefeu
3U fein, über jeben 2ltem3ug Sud? 3U führen, ich B>eij$ nur,
baß ich ctHes, was ich 3U geben imftanbe bin, ber Seit pci*
banfe, in ber ich lebe, unb ich fühle mich nur als ben punft,
in bem ber (Sebanfenjfoff ber §eit porübergehenb perfönliche
(Seftalt angenommen ha*« gefchichtlich*gefeßfchaftlid]e
tLtieoxie, bie ich 3U begrünbeu gebenfe, hing reif am Saume
ber <§eit, mir erübrigte nur, bie reife 5*ucht 3« brechen,
tpomit freilich nicht gefagt fein foll, ba§ es ba3U nur bes
fjanbausftrecFens beburft hätte — ohne Ceitern unb Klettern
ift es babei nicht hergegangen.
©b nicht bie 5rud]t, bie ich biete, pon manchen als
ipurmftichige 3urücfgetpiefen rperben tsirb? Wenn ich bebenfe,
welchem IDiberftanbe ber immerhin in befchetbenen (Stenden
gehaltene Derfuch pon (Öttingen begegnet ift*), fo fann id?
*) 5* feinen Seridjt bariiber in 33b> 2, 5* 2\ ff* unb S, 36 ff*
\38 Kapitel IX. Die foiale tHedjanit Das Sittliche.
bas Schief fal, bas bem meinigen bet>orfteht, im voraus toiffen.
<£ine anbete 5rage ift, ob man [177] meine Cfyeorie toiber-
legen toirb, unb bas bürfte nicht fo leicht fein, als über jte
ben Stab 311 brechen.
\S) Die gefellfchaftliche Cljeorie. — Segrünbung ber*
felben auf bebuftipem IDege. — Die gef ellf d?af tlid> e
(Drbnung, — Differen3 bes objeftip unb fubjeftip
Sittlichen, — Der Selbfierhaltungstrieb in 2Intt>en*
bung auf bie (5efellfchaft — gefellfchaftlicher (Egois-
mus, <£ubämonismus, Utilitarismus. — Der ZlTag*
ftab bes gefellfchaftlich Ztüfclichen.
Die gefellfchaftliche C^eorie bes Sittlichen, b. h- bie Be-
hauptung, ba§ alle fittlichen Hormen bas Beßehen unb <Se<
beiden ber (ßefellfchaft 3um gtpeef l\aber\t lägt ftch auf
boppeltem IDege betpeifen, auf bem ber 3nbuftion unb bem
ber Debuftion, auf jenem, inbem toir aus bem gefchtchttichen
Dafein ber (Befellfchaft nachtpeifen, bag es fo iji, auf biefem,
inbem tpir aus ben Sebingungen ihres Dafeins bartun, bag
es fo fein muß* 2£>ir werben beibe IDege einfchlagen, ben
3tr>eiten an biefer, ben erften an fpäterer SteQe (ZTr. $ u- ff
Debuftion ift Darlegung logifchen «gtpanges. Sie
fefet einen t^ötjeren Segriff poraus, aus bem ftch ber 3U
bebu3ierenbe niebere mit 3tpingenber Hottoenbigfeit erfchliegen
lägt 3n be3ug auf bie gefellfchaftliche Cheorie lägt ftch bie
Ztottoenbigfeit bes Sittlichen für bie (ßefellfchaft aus smei
folchen li'otiexen Segriffen bebusieren: [178] aus bem eines
aus ein3elnen Beftanbteilen ober (Sliebern ftch 3ufammen*
fefcenben (Sanken unb aus bem eines Subjefts. Die bia-
leftifche Dertpenbung bes erfteren Segriffs ergibt uns bas
poftulat ber 0rbnung unb ber Sicherung berfelben burch
ZTormen, bie bes 3tpeiten ben (Sefichtspunft ber Cebens-
Debnftton ber g^fettfdjaftltdjen (Efyeorie* — Das (5an^
bebingungen ber (Sefellfcfyaft unb bamit bie 2tmr>enbbar»
feit bes SelbfterBjaltungstriebs auf lefetere.
(Eine bloße Pielfyeit t>on ein3elnen (Segenftänben ift fein
<ßan3es, fein neuer von ifyten t>erfd}iebener <5egenftanb,
fonbern biefelbe Sacfye, ftatt im Singular im plural gefefet,
eine bloße ZTlaffe, Jlber bas aus einer ZHaffe t>on Steinen
evbante J^aus ift fein bloßer plural x>om Singular Stein,
fonbern ein neuer bie fämtlicfyen ein3elnen Seftanbteile 3ur
(Einheit 3ufammenfaffenber (Segenftanb, eine (Einheit, ein
(Sanges. Der beftimmenbe (Sebanfe, ber biefe (Einheit tjer*
gerufen Ijat, ift ber groedP, bas Ejaus bient einem anbern
§wed, als ber Stein, unb bie äußere Deränberung , bie mit
ben Steinen vorgegangen ift, ift nur bie $olqe ber veränberten
5tr>ecfbeftimmung. ©er Stein fyat, inbem er 3um Ejaufe per*
u>anbt tsarb, eine fyöfyere gtoecfbeftimmung erhalten, als er
sorfyer fyatte.
So ift aud? bie (BefeUfcfyaft nicfyt bie bloße Dielfyeit ber
ein3elnen, nicfyt ber plural vom Singular Xnenfdj, fonbern
bie Dtelljeit berfelben in ifyrer burcfy bie <5emeinfamf eit
bes «gtoecfs fyergeftellten inneren unb äußeren ^ufammen*
getjörigfeit, Derbinbung, €mfyeit, b* fy. jte ift [179] ein
aus ben ein3elnen als ifyren <S liebern ftcfy 3ufammenfefcenbes
(5an3e.
Die burdf bie <£igentümlicfyfeit bes groecfs bebingte unb
Dorge3eidjnete 2lrt ber Derbinbung bes ein3elnen 3um (Sanken
be3eic^net bie Sprache als ©rbnung. Die <£jiften3 bes
f}aufes beruht barauf, allen 23ejtanbteilen besfelben bie be*
ftimmte, burdj ben §voe<S gegebene Stelle an3Mt>eifen, bie
man ifynen laffen muß, toemt bas ^aus beftefyen foll, nmrben
fte belebt unb x>eränberten ifyre £age, fo toäre es um bas
f}aus gefetteten.
2tuf ber ©rbnung beruht, tt>ie bas Dafein bes Kaufes,
fo audj bas ber (Sefellfcfyaft, jte bilbet ein abfolutes, auf
Kapitel IX. Die feciale tfledjcmtf* Das Sittliche.
bebuftipem IDege, £>♦ fy. aus bem Segriffe bes (ßa^en a priori
3U erfdjließenbes pojlulat ber (SefeHfdjaft — feine (gefellfdjaft
ofyne gefellfcfyaftlicfye ©rbnung,
(Drbnung iji 2lbfyängigfeit ber Ceile pom <Ban3en. Der
Ceti mu§ jtcfj bem (Sanken fügen, tpenn lefeteres befteljen
foö. (Drbnung ber (ßefeQfctjaft bebmtet alfo ^tb^ängtgfctts-
petfyältnis ifyrer (Slieber, 3nnefyaltung bes i^nen burdj ben
Plan bes <San3en porge3eidjneten Verhaltens,
Daraus ergibt jtdj bas poftulat einer gefellfdjaftlidjen
Horm, tpeldje ben ein3elnen (ßliebem, fotpeit biefelben niebt
\d}on it)rer felbjt tpegen basjenige tun, rx?as bie gefellfdjaft*
lid?e ©rbnung mit jxdj bringt, iljr Derfyalten Por3eid}net unb
bie ZTohpenbigfeit ber Sicherung ber Befolgung ber ZTorm
mittels «gtpanges. Die Begriffe (Sef ellfd^aft, gefelljdjaft«
lidje (Drbnung, gefellfdjaftlidie [180] ZTorm, gefellfdiaft-
lieber ^tpang Rängen bemnad) aufs engfte 3ufammen, mit
bem Begriffe ber (ßefellfcfyaft finb bie brei Iefeteren mit be-
grifflicher Hotroenbigfeit gefefet.
Sellen tt>ir uns nun, nadjbem rpir biefe brei poftulate
auf bem U?ege ber Debuftion gewonnen traben, empirifd?
banadj um, rt>ie bie XDirflic^feit ftdj 3U ifynen perfyält, fo
ipeijl uns bas gefellfcfyaftlidie Ceben 3unädjji eine Sphäre
auf, in ber jte fämtlicfy pertpirflidjt erfdjeinen, es iji bie bes
Bedjts, wir finben fte fyer penpirflidjt als Bed)tsorbnung,
Rechtsnormen, Hechts 3 tx>ang.
über bas Hecht beeft bie gefellfchaftliche (Drbnung nicht.
Der apriorifcfye Betpeis bafür liegt in ber früher (S. 6 ff.)
nachgeroiefenen Un3ulänglichfeit bes med]anifcheu gtpanges
felbft für biejenigen gtpeefe, auf bie bas Recht fich befchränft,
ber empirtfehe barin, ba§ bie Sprache neben ber Rechts*
orbnung noch eine 3tpeite fennt: bie fittlidje (Drbnung,
bei ber fie ebenfalls bie (ßejialtung bes gefellfdjaftlidien,
nid\t bie bes rein inbisibuellen Cebens im 2luge ^at Dem
Paratfeltsmus bes Hedjts unb bes Sittlichem
Sittenge fefc lagt ftch 3ur Zlot, roie es bic inbtpibualiftifche
tLtieotxe in 6er Cat tut, eine ausfchliejsliche 33e3iehung auf
bas ^nbwxbn\xm geben, ber fittlichen ©rbnung nicht; bei
bem lefeteren 2lusbrucf fann bie Sprache ebenfo rote bei ber
Hechtsorbnung nur bas £eben ber <5efamtheit im Sluge haben.
2luch bem 3toeiten obigen poftulate: ber £Torm, begegnen
toir innerhalb ber Sphäre bes Sittltdjen, es ift bas [181]
Sittengefefe, unb toenn es toahr ift, u>as roir behaupteten,
baß jebe (Drbnung in 2lntt>enbung auf eine ZHefyrfyeit r>on
tHenfchen bie 53orm poftuliert, unb n>enn ferner bas Ceben
ber (BefeHfctjaft ber Schauplafe ift, auf bem ttnr bie ftttliche
(Drbnung 3U fuchen traben, fo ift bamit auch bas Sittengefefe
als ein poftulat biefer ©rbnung bargetan, b. h* es iji bamit
auf bebuftipem JDege ber 33etr>eis ber gefeHfchaftlichen Se*
beutung bes Sittengefefees erbracht.
So timrbe uns für bie fittliche ©rbnung nur noch bas
ZHoment bes Sanges fehlen. 21uch bies britte Zftoment
mufc ftch ftnben laffen, bie fittliche IDeltorbnung böte eine
£ü<fe bar, u>enn es fehlte. 2)as (Begenteil ^iege: bie (ßefetl*
fchaft ftellt XTormen auf, bie jie im 3nte*^ff* ©rbnung
für erforberlich l^ält, ohne ihnen ben nötigen ZIachbrucf $u
»erleiden — fie phitofophiert über basjenige, n>as nötig ift,
aber jte forgt nicht bafür, baß es gefdjelje. 2tuch an biefem
ZHomente bes §tx>anges fehlt es ber fittlichen ©rbnung nicht.
UMe bem Hechtsgefefee bie mechanifche §tr>angsgett>alt bes
Staats, fo forrefponbiert bem Sittengefefe bie pfychologifche
Str>angsgetx>alt ber (Sefeüfchaft. Sie betätigt ftcf> in ber
öffentlichen ZTCeinung. <£s ift bie ZICladit, bie uns auf Schritt
unb (Tritt umgibt, ber niemanb, auch ber höchfie nicht, ftch
ent3iehen fann, unb bie auch biejenigen, toelche ber 2lrm bes
(ßefefees nicht erreichen fann, ober toelche ber Kichter frei*
gefprochen h^t, por ihren Hichterßuhl forbert. IDelcher 2Irt
bie ZlTittel ftnb, tt>oburch jte ftch Beachtung er3ix>ingt, [182]
Kapitel IX. Die feciale IHedjam?* Das Sittliche,
roerben wir feine^eit bei ber Ch^orie bes jtttlichen Willens
nachreifen (foiales &wat\Qs\tftim).
So haben von bic Dreiteilung, bie xoxx auf aprtorifchem
IDege bebu3tert haben, nicht minber beim Sittlichen als beim
Hechte ttnebergefunben:
Hec^t
Hechtsorbnung*
Hechtsgefefe.
JTlechanifcher <§tx>ang ber
Staatsgewalt
Sittlichfeit
Sittliche ©rbnung.
Sittengefefc.
pfychologifcher <§tx>ang ber
(ßefeüfchaft.
2tlfo 3roet ©rbnungen ^tatt ber von uns auf apriorifchem
IDege bebu3terten einen? 2>er (Srunb h^rson liegt barin,
baß it>eber ber Staat mit bem mechanifdjen, noch bie (ßefell*
fdjaft mit bem pfychologifchen «gtoange für ftet? allein bie
erforberliche gefellfchaftliche (Drbnung sollftänbig h**3ujiellen
unb 3U fiebern permögen. Seibe Birten bes «gisanges fmb
unvollkommen, beibe haben ihre £>or3Üge unb ihre IHängeL
2)er Por3ug bes mechamfehen Stranges ber Staatsgemalt liegt
in ber Sicherheit feiner IDirfung — wo er am plafee ijl,
erreicht er, roas er foll, 2lber er ift nicht überaß am plafee,
unb barin liegt feine UnooQfommenheit €r ift 3U fehler*
fällig, 3U unbeholfen, um f amtliche ZTormen, tseldje bie <ße*
feQfchaft als notroenbig anerfennt, 3U realijteren. Der Hechts»
3tx>ang fann aus bem IPeibe nicht bie IHutter machen, tr>ie
fte fein foH, bie £iebe 3um Kinbe läßt fich nicht burch Staats*
gefefe er3U>ingen, bie 2lrt, tt>ie fte pdf 3U äugern h<*t, nicht in
[183] Paragraph**1 bringen, unb felbft roenn es möglich rr>äre,
bie Befolgung berfelben ftd? nicht fontroüieren. Der X>or3ug
bes pfychologifchen ,§tr>anges liegt barin, baß er x>or feinem
£ebensr>erhältniffe fjalt 3U machen braucht, er bringt wie bie
£uft überall h^, in bas 3*™**^ bes Kaufes tx>ie an bie
Stufen bes Chrones, an Stellen, wo ber mechanifche §u>ang
€rftrecfmtg bes Sittengefetjes.
jebe tDirffamfeit t>erf agen nmrbe. Seine Schwäche liegt in
ber Hnjtcherhett feiner IDirfung — bem ftttlichen Urteile ber
(Sefellfchaft, ber öffentlichen ZTleinung femn man Crofe bieten,
bem 2lrme bes Staates nicht.
So muffen alfo beibe Birten bes «grtxmges $ufammentreffen,
um ftch gegenfeitig 3U ergäben, unb bamit ift bie praftifcfye
Hottoenbigfeit beiber (Drbnungen bargetan, bie ba^er auch
uberall fich tmeberholen ; es gibt fein Dolf, bas ohne bas
Hecht, unb feins, bas bloß mit bem Hecht ausgereicht hätte.
Der Dergleich ber ftttlichen mit ber rechtlichen ©rbnung
hat uns ergeben: jene reicht toeiter, als biefe* IDie u>eit?
Die 5*<*ge ift gleichbebeutenb mit ber ber <£rftrecfung bes
Sittengefefees, bat wie wiv oben ge3eigt liaben, (Befefe unb
©rbnung ftch ftets bebingen.
2tlfo txne toeit reicht bas Sittengefefe? Umfaßt es bas
gefamte menfehliche Btanbeln ober nur ein toemt auch noch
fo beträchtliches Sruchftücf besfelben?
Pom Stanbpnntt unferer apriorif djen Betrachtung aus
möchte man fagen: alles, toas an menfehlichen J^anblungen
[184] 3um Seftehen ber (Sefellfchaft nötig ift, bilbet ein Stücf
ber ftttlichen ©rbnung unb fällt eben bamit in ben Sereid)
bes Siüengefefees, ba nun aber bie (Sefellfchaft ohne bie
3nbbibuen nicht beftehen fann, fo toürbe auch basjenige,
was bas 3nbir>ibuum pornimmt, um 3U leben, felbft bas
<£ffen unb Srinfen ftch bem (Sefichtspunfte bes Sittlichen unter*
orbnen. VOit roürben auf biefem ZDege bahin gelangen, bas
gefamte menfehliche Dafein nad) alten feinen Seiten hin, nach
ber phYfifdien, geizigen, öfonomifchen, rechtlichen, bem Sitten*
gefefee 3U t)inbi3ieren unb ber <£goift, ber lebiglich feinetoegen
hanbelt, bürfte ftch rühmen, bamit eine fittliche fjanblung
vollbracht 3U iiaben — er erhält fich ber (Sefellfchaft.
Damit fcheint es, roürbe bas Sittengefefe fich felber Der*
nichtet haben, benn ein Sittengefefe, bas bem Egoismus eine
Kapitel IX. Die fötale IHed?anif. Das Sittliche.
fittlicfye 23ebeutung 3ugeftety, Ijat jtd? f elber negiert, fein
gan3C5 Dafein beruht ja flar auf ber früher (5. 55 ff.) naefy
gett>iefenen <5egenfäfelid)feit jum (Egoismus. Unb tseldjen
Sinn foUte es fyaben, bem Egoismus nodj erft burdj bas
Sittengefefe basjenige x>or3ufd?reiben, roas er fc^on r>on
felbfi tut?
Unfere fprad)Iid)en Unterfud^ungen (5. 60 ff., 65 ff.) haben
uns in be3ug auf tue fjanblungen bes 3nbit>ibuums feie Drei*
teilung ber ftttlicfyen, unftttlicfyen unb ftttlid} inbifferenten ober
erlaubten fjanblungen ergeben, Damit ift eine fdjarfe De»
marfationslinie 3unfdjen bem (Egoismus unb bem Sittengefefee
gesogen, beibe haben ihr Heid] für [185] ftch, bie Sittlichfeit
bas irrige, auf bem fie bie Unterorbnung bes (Egoismus in
2Infpruch nimmt, Iefeterer bas feinige, in bas fte jtch nicht
einmifcht, auf bem pe ihm t>ielme^r freies Spiel lägt. Die
Kategorie bes „(Erlaubten" fehltest im Sinne ber Sprache,
b. h« nad] bem Urteile bes X>oIfs, tselches ja für bie Svaqe
vom Sittlidjen in erfler £inie in 33etxad}t ge3ogen toerben
muß, bie oben x>erfudjte 2lusbehnung bes Sittengefefees über
bas gefamte menfehliche ^anbeln aus. €ffen, (Erinfen,
Schlafen, 5ortpfIan3ung mag 3ur €rt|altung bes ZTCenfchen
unb bes ZHenfchengefchlechts unb bamit ber <5efellfchaft noch
fo nottoenbig fein, aber niemanbem fällt es ein, in ihnen
ftttliche Ejanblungen 3U erblicfen.
So bliebe mithin bas Sittengefefe hinter ber jtttlidjen b. h.
ber burch ben &we<S ber (Erhaltung ber (ßefeüfdjaft gebotenen
gefeUfchaftlichen ©rbnung 3urücf, unb unfere gan3e Debuftion
t>on ber noteoenbigen Kongruen3 ber ©rbnung unb bes <Se«
fefees toürbe hinfällig, roenn tx>ir nicht etwa, um fte 3U retten,
ben (Einflang beiber babnreh ^erfteHen trollten, ba§ wir ben
Segriff ber ftttlidjen ©rbnung auf bie bloße £jerrfd?aftsfphäre
bes Sittengefefees einengten. Das ift aber fpradjlid? unmög-
lich. Unter biefem 2lusbrucf perjieht bie Sprache bie gefamte
€rftrecfmtg bes Sittengefefees*
W5
©rbnung bes menfchlichen Däferns: ^anbel unb IDanbel,
Derfehr, Arbeit, Setbfterhaltung , 5ortpfIan3ung, ohne babei
3U unterfdjetben, ob bie Ztatur burch ben (Egoismus ober ob tue
(SefeHfchaft unb ber 5taat burch bas Sitten* unb Hechtsgefefc
bas (Betriebe [186] erhält — ber Egoismus ift ein unent*
behrlicher 5aftor ber gefeHfdjaftltchen ©rbnung*
©ber follte bodj nicht pielleidjt bas Sittengefefc über bie
gan3e gefellfd^aftlid^e ©rbnung ausgebest tperben fönnen?
Dielleicht, ba§ ber (Egoismus bas (ßebiet, bas er als bas
feinige betrachtet, com Sittengefefee nur 3U £ehn trägt unb
nur fo lange frei auf bemfelben 3U galten unb 3U tpalten
ermächtigt ift, als er als DafaH feine Pflicht tut, pon bem
ZtToment an aber, u>o er ftch ihrer entfehlägt, 3ur pflückt unb
©rbnung gerufen toirb.
Unb fo ift es in ber Cat Das Sittengefefc li<xt nicht
notig, bem XHenfchen bas (Effen unb Crinfen an3ubefehlen,
niemanb erfüllt bamit eine fittliche pjlicht Unb bodjl —
wenn ber £ebensfatte ftch besfelben enthält, um feinem £eben
ein (Enbe 3U machen, fo ergebt bas Sittengefefc feine Stimme
unb macht aus (Effen unb tErinfen eine Pflicht, benn rt>er
feinem eignen Ceben ein (Enbe macht, beraubt bamit bie
(SefeQfchaft eins ihrer UTitglieber. 3" biefem 5aHe, too bie
£uft bes Cebens 3ur £aft toirb, tpirb bie £aft 3ur Pflicht
— bas Sittengefefe fommt bem Xlaturgefefce, bas h^r
feine Dienfte perfagt, 3U fjilfe.
Da tritt alfo h^ter bem fcheinbar gän3lich pch felber
überlaffenen (Egoismus plöfelich bie (ßefellfchaft mit einem
(Sebote hen>or, pon bem bisher nichts oerlautete, ein «gügel
roirb ange3ogen, pon bem ber (Egoismus, folange er ftch
in ber richtigen Sahn bewegte, nichts merfte, beu er aber
[187] 3U fühlen befommt, fotoie er ZTiiene macht, fte 3U
perlaffen.
Ztun ift es aber flar, ba§ bie Unterlaffung eines Sianbelm
o. 3 t) er in g, Der groeef im Hedjt. II. m
W6
Kapitel IX. Die fo3tale HTedjamf* Das Stttltä>,
nicht pflichtoerlefcung fein fann, wenn bas fyanbeln f elber
md\t Pflicht ift Die Pflicht muß bereits sorhanben fein,
n?enn fte übertreten toerbeu folt Qaben vok fte vorher nicht
bemerft, fo ifi bas unfere Schulb. Derjledft als latente,
tt>ar fte bereits ba, bie ungewöhnliche (ßeftaltung bes Der*
hältniffes ruft fte nicht erfl ins £eben, fonbem nur uns ins
Setougtfein.
3n biefer latenten (ßeftalt beherrfcht bas Sittengefefc
unb bie Pflicht bas gan3e (Sebiet bes menfehlichen Qanbelns,
Solange ber (Egoismus tut, was er foH, I|aben beibe feinen
2lnlaj3 fich 3U rühren, fte überlaffen ihn fcheinbar gan3 jtch
felber, gleich als ob fte an feinem Cun unb Creiben nicht
ben geringften Anteil nähmen; es ift ber ^ügel, ber fchtaff
herunterhängt, folange bas pferb in geraber Bahn fortläuft
JCber fowie ber (Egoismus in eine serfetjrte 23ahn einlenft,
wirb ber <§üget angesogen, unb von jefet an übernimmt bas
Sittengefefc feine £eitung.
IDürbe ber Crieb ber Selbfierhaltung, ben bie tlatur bem
XHenfchen eingepflan3t ^at, niemals t>erfagen, fo bebürfte es
aöerbings beffen nicht 2lber er fann t>erfagen, unb in biefem
5aüe greift bas Stttengefefc in bie £ücfe ein. €s iji bie
Sicherheitsüorricfjtung ber Xtlafchtne, ber Mechanismus, ber
beim regelmäßigen (Sange berfelben ruht, [188] aber bei
einer Störung in Cätigfeit tritt 3n biefer IDeife fieht bas
Sittengefefe überall hinter bem ZTaturgef efe ; untätig, folange
basfelbe ausreißt, ftets auf ber £auer, um ein3ugreifen, wann
es ZTot tut Daburch erlangt alfo auch bas rein Natürliche,
fcheinbar ftttlich ^nbi^etente eine objeftip ftttliche Bebeutung.
Jüenn gleichwohl bie Sprache mittels ber Kategorie bes
(Erlaubten eine Sphäre bes menf deichen ^anbelns B^tnfleHt,
für welche fte bie (Seltung bes Sittengefefees unb bie 2ln*
wenbbarfeit bes <ß ejtch tspnntts ber Pflicht 3U negieren fcheint,
fo erflärt ftch bies baraus, baß fte jtch babei auf ben
Sittltd} im objefttoett unb fubjeftioen Sinne»
Stanbpunft bes h<*nbelnben Sub jcfts verfemt, bas biefes
J^anbcln nicht um ber Pflicht, fonbern um feiner felbft toitlen
vornimmt. (Es £>eu>äfyrt fich t^ier bie XDichtigfeit bes t>on
uns betonten Unterfdjiebes 3tr>ifchen gvoed unb ZTIotip bes
Sittlichen. Die (ßefetlfchaft t^at feinen (ßrunb, bem Egoismus
ben 53ettrag, ben er, inbem er für jtch hobelt, ihr 3uführt,
fubjeftit) 3umDerbienji an3urechnen, bies ift objeftiv fittlich,
b, h* eine f}anblung, tvelche bie gtoeefe ber (ßefetlfchaft förbert,
aber es ijl nicht fubjeftts fittlich, es ift nicht hervorgegangen
aus ber 2lbfkht für bie (ßefellfchaft, fonbern für fich f elber
3U fyatxbeln, es fommt ber (ßefellfchaft Iebiglich 3ugute in
5orm ber Hefleftoirfung bes (Egoismus*
<San3 basfelbe toie vom fittlich (Erlaubten gilt auch von
bem fittlich Verbotenen, tvenn bie Hnterlaffung besfelben
fich nicht als ZDillensaftiou qualifoieren läßt [183]
(S* 65), b. h» tvenn für bas Subjeft nicht bie minbejte Per*
fuchung 3ur Dornahme besfelben beftanb. ©bjeftiv gereift
ber (ßefeUfchaft bie Hnterlaffung bes Schlechten gan3 fo 3U*
gute, ob fie aus ZTJangel an 2lnrei3 3ur Dor nähme besfelben
ober aus Selbftübenvinbung gefchieht, aber vom 5tanbpnntte
bes Ejanbelnben aus verbient fie im erfteren 5aHe nicht bas
präbif at ber jtttlichen Ejanblung, im lefeteren tvohl. Das
bloße Unterlaffen an fich ift fubjeftiv nichts Sittliches, fonft
tvürbe ber ZTCenfch am jtttlichften fein, inbem er fchliefe.
Die bisherige Ausführung h<*t bargetan, baß gan3 fo rvie
auf bem (Sebiete bes Hechts bie Hechtsorbnung unb bas
Hechtsgefefe, fo auch auf bem bes Sittlichen bie fittliche (Drb*
nung unb bas Sittengefefe fich beefen, nur baß festeres ba,
tvo ber (Egoismus aus eignem Antriebe bas (Erforberlidje
befchafft, nicht fichtbar tvirb, <£rft baburch befommt bas
menfchltche £eben feine IDethe. Das Sittengefefc breitet feinen
verflärenben Schein über alles, tvas tvir tun, felbft über bas
fcheinbar völlig Sebeutungslofe, felbft über bie £uj?, bie
10*
\%8 Kapitel IX. Die fatale ttTecfyaittf. Das Stttltdje*
(Erholung, bas Vergnügen. 2ludj fte fyaben eine tjofye ob«
jeftit> ftttlicfye Sebeutung, benn fte finb bie unentbehrlichen
Quellen unferer Kraft, lefetere aber fommt nid^t bloß uns,
fonbem ber (BefeUfcfyaft 3ugute. 2ludj bas Vergnügen, bie
^reube, bie £uft Ijaben it^re t^ot^e foiale Sebeutung, fte ftnb
bas erfrifdjenbe Sab, burdj bas wir uns, wenn wir matt
unb mübe geworben, von neuem im eignen unb im 3ntereffe
[190] anberer 3U unferer Lebensaufgabe ftärfen. Hud) ber«
jenige, welcher biefes Sab anberen reicht, unb beftänbe fein
gan3er £ebensberuf wie ber bes Künftlers in nidjts anberem,
als bie 2Hüben unb ZHatten, bie (ßebrücften unb Setrübten
burdj bas Calent, welches bie 23atur i^m serliefyen, auf3u-
richten, 3U erfreuen unb 3U erquiefen, audj er fü^rt ber <Se*
feöfcfyaft feinen Seitrag 3U i^rem (Sebexen reid}lid? ab. Unb
felbjl biejenigen, welche burefy bie (gaben ifyres (ßeiftes ober
XDifyes ober bloß burdj i^ren 5*ofyfinn unb i^re fjetterfeit
bie Stimmung anberer fyeben unb beleben, aud] fte wirfen
oljne es 3U wiffen unb 3U beabftcfytigen, mit an ber ftttltdjen
©rbnung, benn aud) fte liefern i^re Seifteuer 3ur 5tärfung
ber menfdjlidjen Kraft. <£s finb £idjt* unb Sonnenfiratjlen,
bie fte in ein £eben werfen, bas öbe unb büfter wäre, wenn
es bes Weiteren Sonnenfdjeins entbehren müßte. Wenn es
einen (ßeift gäbe, ber ben Seitrag eines jeben 3um ,f£Delt«
beften", um ben 2Iusbru<f pon Kant bei3ubeljalten, in ein
Sud) eintrüge unb nadj feinem IDert be3ifferte, es wäre bie
5rage, ob er nid)t ben leicfyt befcfywingten Crägern ber 5reube
einen ebenfo Ijotjen poften gutfdjreiben würbe, als ben fcfywer
feudjenben £aftträgem bes Hüfelidjen, im fjausfyalte ber
Znenfcfyfyeit Üann ein fdjönes £ieb ober Kunfiwerf, bas Saufen«
ben unb 2tbertaufenben eine Quelle ber <£rfrifd)ung unb
feiigen Selbftoergeffens wirb, einen gan3en Raufen von harter
Arbeit für bie Ztot bes £ebens aufwiegen.
[191] Oermittels biefer 2tuffaffung wirb aud} ber (Egoismus
€rflrecfung b*obje?tu> Stttlidjen»— perfontftfatton b*<Sefeflfd?aft* \qß
in feine richtige fittliche Beleuchtung gerücft. 2tuch er barf
ftch rühmen ber ftttlicf^cri (Drbnung an3ugehören, ein von (Sott
felber porgefehenes (ölieb berfelben 3U fein, unb er fyat, inbem
er bas JDerf perridftet, bas ihm im UMtplane 3ugebad)t ift,
feine Hrfache, ftch fcheu 3U perfriedjen, ober fich feiner felbft
3U fchämen. nicht ber (Egoismus als folcher ift unfittlich,
fonbem nur bas Übermaß besfelben. 2luch ihn alfo nehmen
xvit in bie fittliche IDeltorbnung auf, unb nicht u>ibertoiHig
als einen leibigen <£inbringling, tx>eit tt>ir ihn einmal nicht
3urücfu?eifen fönnen, fonbem tt>ir erfennen ihn an als ben
erftgebornen Sohn bes fjaufes, ber barin fein €rftgeburts>
recht beanfprucht, tx>tr fügen nur ben Vorbehalt h*n3u, ba§
er ftch ber fjausorbnung füge.
Das ift bie fittliche (Drbnung, unb bamit t|abeti n>ir ben
erften Ceti unferer Aufgabe erlebigt. €r beftanb in ber
bialeftifdjen Dertoertung bes Begriffs bes (Sanken in 2ln*
roenbung auf bie <5efeHfchaft, in bem 23achu>eife, bag ber
Begriff bes (ßa^en in biefer 2lmx>enbung ben ber (Drbnung,
biefer ben bes (Befefces, unb lefeterer uneberum ben bes
§u>anges in ftch fchließt Die empirtfche Betrachtung ber
(SefeQfchaft h<** ergeben, ba§ biefe brei pojtulate innerhalb
i^rer in boppelter (Sejtolt realifiert finb: in ber bes Hechts:
als Bechtsorbnung, Bechtsgefefe, Sechts3tx>ang — in ber
bes Sittlichen: als fittliche (Drbnung, Sittengefefe, fo3ialer
<§tx>ang.
[192] VOxv toenben uns bem 3toeiten Ceil unferer Aufgabe
3u: ber bialeftifchen Dertsertung bes auf bie <5efellfchaft
übertragenen Begriffs bes Subjefts. Wh feigem unfere
bisherige Dorfteilung eines (Sanken, tselches fich auch als
unbelebtes benfen lägt, 3U ber eines belebten, 3ur Ein-
heit ber Perfönlichfeit 3ufammengefaßten &)efens. Die brei
ZHomente unferer bisherigen Debuftion: ©rbnung, (ßefefe,
<§tx>ang nehmen bamit bie (ßeftalt an: £eben, (SErfenntnis unb
^50 Kapitel IX. Die faiale tftedjanif* Das Sittliche*
Sicherung ber Cebensbebingungen ber (BefeUfc^aft* Das
Perhältnis bes Sittlichen $ur (ßefeUfc^aft im £id?te btefer
2luffaffung ift ausgebrücft in ber Formel: bie (Sefellfdjaft
ift gtpecffubjeft bes Sittlichen.
3ch toex%, baf ber <5ebrauch, ben ich im erften Sanbe
btefer Schrift von biefer PorfteHung ber perfönlichfeit ber
(Sefellfchaft gemacht liabe, bei 3uriften 2lnjio§ erregt fyat,
unb ber 3urif* h<*t soEfommen recht, wenn er ihr bie psj«
fönlichfeit im jurifttfehen Sinne (= jurtftifche perfon) abfpricht.
2)ie (Sefellfchaft fann nicht r>or (Bericht auftreten — bamit
ift ihre perfönlichfeit für ben 3ur*fterc abgetan. Tibet auch
bie Pölfer fönnen nicht t>or (Bericht auftreten, unb boch nimmt
bie (ßefchichte feinen Stnftanb, von ben Caten unb Schicffalen,
com IPerben unb Untergang ber Pölfer 3U reben. Soll ihr
biefe perfonififation t>em>ehrt werben, toeil fte nicht über ben
Cetften ber juriftifchen perfon pa§t? Soll ber poltttfer nid?t
mehr t>on politifchen Parteien reben bürfen, ber Ökologe
nicht mehr t>on religiöfen Seften, toeil biefelben [193] im
juriftifchen Sinne feine perfonen fmb? IPeber bie IPiffen«
fchaft noch öic Polfsanfchauung fann unb roirb fich ber
Pomahme folcher im Sinne bes 3ur^ft^ völlig pager unb
unbeftimmter unb boch für bie Perhältniffe, auf toeldje fte
berechnet finb, t>oEfommen 3utreffenber perfoniftfationen je
enthalten, unb felbft aus bem Zltunbe ber 3ur*ften Pom
reinften IPaffer Reiben wi* ben Polfsgeifl als Quelle bes
<5ett>ohnheitsrechts be$e\dinen hören. 3f* bet Polfsgeift be»
ftimmter, als bie (SefeEfchaft? 3^h benfe, beibe nehmen pdf
nicht t>iel!
So greife ich benn bie PorfteEung ber perfönlichfeit
ber (SefeHfchaft, beren ich mich ittt Perlaufe meines JPerfes
in 23e3iehung auf bie 5^cige vom §rr>ecffubjeft bes 2?ed>ts
unb bes Sittlichen fdjon fo oft bebient habe, unbean-
ftanbet toieberum auf. Sie toirb uns fortan unausgefefet
perfontfifatton ber <Sefellfd>aft.
begleiten; es tt>irb fich seilen, welche Dienjle jte 3U leiften
t>ermag.
Der (gebrauch, ben tsir t>on ihr an btefer Stelle 3U machen
gebenfen, befielt barm, mittels it^rer bas (ßefefe ber Selbft*
erhaltung auf bie (ßefellfchaft 3U übertragen, (Betört letztere
3u ben lebenbigen JDefen, fo unterliegt auch jte bem (ßefefee,
bas bie Zlatur für aHes Sebenbige aufgeteilt Ijat. Der
Seibfterhctltungstrieb ift ber un3ertrennliche Segleiter alles
Cebens, ber JDächter unb ^üter, bem bie tlatur bie Sorge
für bie (Erhaltung besfelben anvertraut Ijat ZKit ber Sta*
tuierung bes £ebens auf feiten ber (SefeHfchaft tji ber Seibft-
erhctltungstrieb auf bebuftisem fl94r] U)ege auch für jte bar*
getan. Damit eröffnet jtch uns für bas Derftänbnis bes
Sittlichen ein neuer, fyödtft fruchtbarer <5ebanfe. 2lHe fttt-
liehen <5runbfäfee haben 3um <§a>ecfe bas 23eftehen unb (5e-
beiden ber (SefeHfchaft, alle jtnb um ber (SefeHfchaft willen
aufgehellt, jte [teilten uns bar ben 3nbegriff beffen, was
bie (SefeHfchaft 3U ihrem wahren (Sebexen für nötig ober
tr>ünfdjenstr>ert t^ält. Damit gewinnen wir für fie benfelben
(Sejtchtspunft wie für bie Porfchriften bes Hechts (I, S. 339 ff.):
ben ber burch jte funbgegebenen £ebensbebingungen ber
(SefeHfchaft. 3n biefem (Seftchtspunfte treffen bas Hecht
unb bie Sittlichfeit 3ufammen, nur bie (Brabation berfelben
unb bie 2lrt ihrer Z?erwirfltchung ift eine oerfdjiebene, was
uns an biefer Stelle nicht fümmert
IDenn wir mit biefem (Sejtchtspunfte bas nichtige ge-
troffen haben, fo (teilt jtch uns bas Sittliche bar als ber
(Egoismus in l\ölievev 5orm: ber (Egoismus ber (SefeH-
fchaft. Derfelbe tErieb ber Selbfterhaltung, ber auf ber
Stufe bes inbisibueHen Dafeins bie (Bejlalt bes (Egoismus
annimmt, tauf cht bafür auf ber gefeHfchaftlidjen bie 5orm
bes jtttlidjen ein. Zlur ber ZI a m e , mit bem bie Sprache
biefe höhere $oxm besfelben belegt, wirb ein anberer, bie
\52
Kapitel IX. Die feciale IHec^anif. Das Sittliche*
Sache bleibt biefelbe. Den ZTamen gebraucht fte nur für
bie Hegton bes tnbir>ibuellen menjchltchen Dafeins: was
unter btefer Hegton liegt: bie Sphäre bes tterifchen, tx>irb
von ity ebenfoa>entg mit biefem ZTamen belegt, als voas
über berfelben liegt: bie bes [195] gefellfchaftltchen
Dafeins. Der (ßrunb ift barin 3U erblicfen, ba§ fte beim
(Egoismus ben (Segenf at$ 3um Sittlichen im 21uge tjat, unb
biefer (ßegenfafe ift befchränft auf bte ZTTittelregton bes inbiot*
buellen menfchltchen Däferns; bte untere fennt benfelben nicht,
roeil bas Sittliche nicht bis 3um ©ere hinabreicht, bie obere
nicht, roeil ber (Egoismus bei ber (ßefeQfchaft bie (ßeftalt
bes Sittlichen annimmt. Allein bies hwbert un5 nicht, bas
Phänomen, bas alle brei Stufen uns roiberfpiegeln, als ein
feinem legten (ßrunbe nach gleiches 3U ernennen. Die Dorber*
füge bes Pierfüßlers nehmen beim ZHenf djen bte (Seftalt unb
ben itamen ber 2lrme an, aber ber Zoologe, ber bem (Sc*
banfen ber Zlatur in ber Schöpfung nachgeht, erblicft in ben
21rmen bes HTenfchen nur eine 5ortbilbung ber X>orberfü§e
ber Ciere. Das Verhältnis bes Sittlichen 3um (Egoismus
ijl fein anbetes — eine Hepetttion besfelben (Sebanfens auf
einer ^öt^eren Stufe bes Däferns. 5reilich eine Hepetition,
toelche mit einem HucE ber gan3en Welt eine anbere (Seftalt
gibt 2tber auch ber Hucf, ben bie Ztatur bei ber Dertsanb*
lung ber Dorberfüße in 2lrme macht, ift ein ungeheurer.
HTtt biefer gurüefführung bes Sittlichen auf ben Selbst-
erhaltungstrieb ber (Sefellfchaft l\aben &k bie Ch^orie bes«
felben oon jenem Antagonismus befreit, ben bie inbipibua*
liftifche Cheorie, tr>ie früher nachgen>iefen, an3unehmen fich
genötigt fieht. 3hr 3ufolge ftehen ber (Egoismus unb bas
Sittliche in unserföhnlichem IDiberfpruch [196] 3ueinanber,
bte Ztatur h<*t ben Zfienfchen r>on vornherein 3tt>tefpältig an-
gelegt, inbem fte ihm in bie eine f{er3fammer ben (Egoismus,
in bie anbere ben Crieb 3um Sittlichen gelegt hat, nach unfercr
Das Sittliche als gefellfdjaftlicbe ^ortbtftmna. oes (Egoismus. ^53
2iuffaffung bagegen erfcheint bas Sittliche nur als 5c*tbilbung
bes (Egoismus in ber Hegion ber (SefeUfchaft; an Stelle ber
3tt>ei Criebe, beten fte bebarf, pon benen ber eine pöllig
unerfmblich ift, reiben tt>ir mit einem einigen , über allem
<§tt>eifel erhabenen aus, um bie (Sejtolt, meldte bte menfeh*
liehe Welt an ftd? trägt, 3U perjie^en. 2Iuf bem (Sebiete bes
Sittlichen toieberholt ftch auf btefe IDeife berfelbe (Sebanfe
ber (Einheit unb ber burch ihn bedingten <£ntoicflung bes
fjöheren aus bem fieberen, ber bie gan3e Schöpfung burch-
bringt, tr>it I^aben nicht mehr nötig, ber ZTatur fyer einen
Derftog gegen ftch felber auf3ubürben, ben fte fonft nie be-
gangen Ijat, baß jte nämlich, um aus ber 2ftenfcf]E>eit bas-
jenige 3U machen, roas fie beabfichtigt I^at, 3tx>ei gän3lid>
heterogene Kräfte in Beilegung gefegt fyat. Die gan3e
ZTTenfchemselt ijl aus einem <5ebanfen 3U begreifen: Sehaup-
tung, 5örberung bes £ebens. Damit I^aben tpir für bie
jittlidje XDelt 3ugleich bie 2tnfnüpfung an bie p^pfdie ge»
sonnen. €in ewiger (Sebanfe geht burch bie gan3e Schöpfung
hinburch: Selbfterhaltung aßes (Sefchaff enen, bas 2lnf lammern
alles Dafeienben an bas Dafein. £r beginnt bei ber toten
IHaterie unb enbet mit bem Sittlichen. 2luf ber nieberften
Stufe ber Schöpfung: in ber unorganischen Welt ift er be-
fchränft auf bie 5orm bes [197] rein negativen ober pafftoen
Perhaltens im Kampfe ums Dafein, auf ben IDiberftanb ber
IHaterie, ben ber Körper bem Körper entgegenfefct, bis er
burch bie Übermacht überwältigt bem äußeren 2lnbrängen bes
fremben, ber ihm ben Saum ftreitig macht, erliegt unb feine
bisherige Dafeinsform einbüßt. 3n öer organifchen fteigert
ftch bie negatioe ober pafftpe 5orm ber Selbfterhaltung 3ur
pojttioen ober aftioen, b. h» 3ur Behauptung bes eignen Dä-
ferns auf Koften ber Umgebung, jeber Dafeinsmoment bes
©rganismus ift Aufnahme aus ber 2lußentselt, beflänbe bas
^uf3unehmenbe auch t>Io§ in ber Cuft, bie er einatmet —
Kapitel IX. Die f<>3iale tftedjantf. Das Sittlich
£eben ift gtoecf t>ertx>enbung ber 2lußentt>elt für bas
eigene D afein, Don ber pflm^e 3um ©er abermals ein
5ortfchritt. Die Umgebung, aus ber ber ©rganismus ftctj
serforgt, unb bie bei ber pjianse eine ein für allemal feji
beftimmte iji, unrb burch bie Seroegung bes ©eres eine
tsanbelbare, toechfelnbe, bas ©er fann fich feine Cebens*
bebingungen im Haume fuchen, Seim Übergänge vom ©ere
5um ZHenfchen geht mit ber phvftf^n Jlusftattung 3ur Selbft»
erhctltung feine erhebliche Peränberung sor fich. Die ZHög«
lichfeit, in allen Klimaten 3U eyijiieren unb überall feine
Cebensbebingungen 3U fuchen, ift 3tr>ar ben meiften ©eren
»erfagt, aber es gibt boch manche, bie fie mit ben XHenfchen
teilen»
Das XHittel, tsoburch bie Statur auf bie Stufe bes ZHenfchen
i>ie Selbfterhaltung bem ©ere gegenüber fteigert, ift weniger
ber menfehiiehe (Seift mit feinem 33lkfe [198] rücfrt>ärts in
bie Vergangenheit , x>ortt>ärts in bie «gufunft, u>oburch er
fähig roirb, bie (Erfahrungen ber einen für bie anbere 3U
t>ertr>erten — benn ber 2lnfafc ba3U ftnbet fich auch &ei ©eren,
33. beim £}amfter — fonbern bas (Drgan bes (ßeiftes : bie
Spraye, tooburch er bas Permögen gewinnt, feine eignen
(Erfahrungen anbern f einesgleichen mit3uteilen — bie menfeh«
liehe Selbfterhaltung operiert mit ber (Erfahrung bes gan3en
ZlTenfchengefchlechts»
Damit ift aber bas Sittliche noch nicht gegeben. Der
€goismus fann bie (Erfahrungen aller Reiten unb Pölfer,
ben (Erfahrungsnieberfchlag ber gefamten ZTienfchheit für feine
groeefe x>enr>enben, ohne im minbeften fkh f elber untreu 3U
toerben. §um Sittlichen fteigert er fich erji, wenn er bie
€mjtcht geroinnt, ba§ feine inbipibueöe Selbjierhaltung burch
feine gefellfchaftliche bebingt ift. Das iji ber entfeheibenbe
punft, too bas Sittliche burchbricht. ZTicht alfo ber Übergang
t>om ©ere 3um ZHenfchen, an ben bie inbipibualiftifche Cheorte
Selbfterfyalturtg ber (gefellfcfyaft. — prin3tp bes Sittlichem ^55
bas Auftreten besfelben fnüpft, ift ber punft, roo bas SxtU
liehe in ber Schöpfung auftritt — bamit ift basfelbe poten3ieU,
aber noch nicht aftuett gefegt — fonbem biefen punft bilbet
ber Übergang t>om 3nbipibuum 3ur (SefeUfchaft. Das Sitt-
liche ift nicht bas IDerf 5er Statur, tpelche ben natürlichen
XHenfchen in bie IDelt gefefet Ijatr fo ba§ ber ZTTenfch es
bereits fertig mit 3ur IDelt brächte, fonbem bas XDerf ber
<5efchtchte, roelc^e aus bem natürlichen ben gefchichtlichen,
b. i. gefeUfchaftlichen ober fittlichen ZTlenfchen [199] bilbet,
ber (gefliehte, welche bie Ztatur ablöft, um ihr IDerf gan3
in ihrem Sinn unb plane fort3ufe&en unb ben (ßebanfen ber
Selbfterhaltung auch in be3ug auf bie (SefeHfchaft 3U per*
tpirflichen.
So ift es ein unb berfelbe (ßebanfe: ber Crieb ber Selbft*
erhctltung, ber fich burch bie gan3e Schöpfung hinburchfchlingt
pom ZTieberften bis 3 um i}öchften* Der Dualismus, ben bie
inbipibualiftifche Ch^orie ber Statur aufbürbet, inbem fte bas
Sittliche felbftänbig neben unb unabhängig x>om (Egoismus
auftreten läßt, ift bamit befeitigt, bas Sittliche reiht fich bem
€goismus an als eine 5ortbilbung besfelben auf ber Stufe
ber (Befellfchaft
2lber um tpelchen preis, u>irb vielleicht mancher fagen,
ift bies Hefultat er3ielt! Das Sittliche ift bamit h^abge3ogen
pon feiner Jjöhe, ift auf eine £inie mit bem (Egoismus ge*
rücft, feines 2lbels, feiner Roheit entf leibet!
Der Dortpurf fann nur aus bem ZHunbe pon folgen
f ommen, toelche ben (Egoismus, beirrt burch ben gehäfftgen Sinn,
ben rpir mit ihm perbinben, inbem rpir babei an feine (Segen*
fäfelichfeit 3um Sittlichen benfen, fchlechthin für pertperflich
halten. 2lls ob er abgefehen Pom Sittlichen nicht gan3 fo berech*
tigt tpäre, rpie lefeteres felber, als ob nicht auch et von (ßottes
(5naben tpäre, unb als ob nicht gerabe auf ihn bie JDelt*
orbnung in erfter £inie gegrünbet tpäre* IDer ben (Egoismus
\56 Kapitel IX. Die feciale med?attif. Das Sittliche,
als folgen für etwas Unfittlicfjes i)ält, muß auch (ßott bes
(Egoismus 3eihen, benn auch (Sott behauptet fich felbft. Die
Konfequen3 [200] biefer 2lnftcht ttmrbe barm beftehen, baß
bie Behauptung bes Seins bas Derfehrte, bie Vernichtung
besfelben bas nichtige wate — bas Xtichts wüvbc bas §iel
bes Sittlichen fein. TXlit einer folgen Anficht, 3U ber bie
pefftmifttfehe €I|eorie Schopenhauers in ber Cat gelangt ift,
unb in ber ich nur bie Ausgeburt bes jtch felbft überfchlagenben
menf deichen (Seiftes erbltcfen fann, l\abe ich feinen Anlaß,
mich auseinanber3ufet$en* X>or bem Sein mache ich Jfalt, mit
bem Sein aber ift bie Behauptung besfelben gegeben.
Das ZHittel, welches bie Xlatnv in Anroenbung bringt,
um bas (Sefefe ber Selbfterhaltung 3U seraurf liehen, iji bie
£uft. <£s iji bie prämie, welche fie ihrem (ßefchöpfe be*
willigt, bamit es fich bie ZHühfeligfeiten bes £ebens gefallen
laffe, ber Cohn, ben fie 3ahlt unb 3at>Ien muß, um jtch feiner
in ihrem Dienfte 3U serjtchem. Von bem Augenblicfe an,
wo bie (Sefamtfumme ber mit bem £eben perbunbenen Unlujl
(nicht bie bloß momentane, welche bie Ausgleichung burch
bemnächftige £ujl in Ausjtcht h<*0 größer würbe als bie <Se*
famtfumme ber mit ihm perbunbenen £uft, würbe bie Ztatur
allein (alfo x>on ber Zllitwirfung bes Sittengefefees abgefeljen,
S. \%5) nicht mehr imftanbe fein, ihren plan 3U erreichen,
bie 2TEenfd?heit würbe bie Bühne oerlaffen unb ber Zlatnt
ihre Holle 3urücfftellen. Stach 2TCaßgabe ber bloßen Ztatur-
orbnung behauptet fich bas £eben nur burch öen Überfchuß
ber £uft über bie Unluft.
[201] Der guflanb ber befriebigten £uft iji bas ZPohlfein.
J0om einfeitigen Stanbpunfte bes Subjef ts aus iji IDohlfein
ber lefete gweef ber Behauptung bes Dafeins, bas bloße
Dafein ift nur ber leere Hahmen, beftimmt, bas IDohlfein in
fich auf3unehmen — ber ü?ert bes £ebens bemißt jtch nicht
nach bem Kähmen, fonbern nach bem, was er in jtch fchließt.
Sittlicher Vdvct bes rt)of?Ifems.
157
Pom Stanbpunfte ber Statur aus aber h<*t bas H?ohlfein
nod^ eine ungleich ^öt^ere Bebeutung als bie hervorgehobene
einer Biogen prämie für bie Behauptung bes T>afeins. 2Dohl-
fein ift bie Afme bes Cebens, ber £[öhepunft bes Dafeins,
auf bem bie Cebensfraft erft 3U itjrer vollen Entfaltung ge«
langt unb für bie gtoecfe ber Ztatur vertvenbbar tvirb. VOoty*
fein ift Befife ber sollen Kraft — gebunbene, für fünftige
gtsecfe vertvenbbare Kraft; ber Beroeis, baß bas 3n^ir)^buum
besjenigen Kapitals an Kraft teilhaftig geworben ift, welches
bie Statur ber <5attung 3ugebadjt fyat, unb beffen grr>ecf unb
XDert für ben ZHenfcheu nicht barin aufgebt, bafc es ihm
sorübergehenb bas (ßefühl ber £uft gewährt, fonbern ba§
es ihm 3ur Ausgleichung biene für bas Defoit fommenber
«geiten, wie bie in ber <£rbe unb im ZHeere gebunbene JDärme
bes Sommers für bie Kälte bes IDinters, ein Hefervefapital
an £ebensfraft unb £ebensluft, ein bisponibler 5onbs 5ur
Beftreitung ber Ausgaben ber <§ufunft — ber normale ZHenfch
muß bei ber £uft bie Anleihe machen, um bie fommenbe
Unlufi beftreiten su fönnen.
Vatin liegt bie jtttliche Berechtigung bes Strebens [202]
nach tDohlfein. (5inge letzteres auf in ber momentanen Be*
friebigung, fo fönnte von einer fittlichen Berechtigung biefes
Strebens nicht bie Hebe fein. Aber im IDohlfein wirb bie
fünftige Kraftverwenbung, im (5enuffe bie fünfttge Arbeit
vorbereitet — IDohlfetn ift für ben fittlichen 2Tlenfd)en auf-
gefpeicherte Arbeitsfraft. 3n biefem Sinne ift bas Stvebm
nach lüohlfein fittlich vollfommen berechtigt, es bewährt fich
barin bas richtige (ßefühl für bie Bebingungen ber menfeh*
liehen Kraft. 5reube unb f}eiterfeit bebeuten für bie ZHenfchen»
welt, was ber Sonnenfchein für bie Statur. 2Lnbexn 5reube
3u machen, bie Summe bes IDohlfeins in ber lüelt 3U er-
höhen, ijt baher in ftttlicher Be3tehung ein gutes IDerf (S. ^8;,
mit Kant 3U reben: ein „barer Beitrag 3um IDeltbeften".
\58
Kapitel IX. Die feciale Xlediamt Das Sittliche*
Zl\d\t bafyn gciit bie fittliche Aufgabe bes ZlTenfchen, tote eine
ungefunbe 2tsfefe uns glauben machen möchte, bas ^eitere
Sonnenlicht 3U fliegen, fonbern im tvonnigen Sonnenfdjein
ftd) bie Kraft 3U ertoerben, ihn, toenn bte ZTacht fommt, ent«
beeren 3U Tonnen, — was ber Schlaf für ben Körper, ifi
bie 5^ube für bas (ßemüt: «gufuBjr neuer Cebensfraft.
3m nötigen üerftänbniffe bavon t|at ber gefunbe Sinn
bes ZHenfchen von jeher bie $xenbe unb ben 5rohjtnn ent*
boten, um alle erhebenben ZHomente feines £ebens, fotvohl
bes privaten tvie bes öffentlichen unb felbjl bes religiöfen,
3u oer^errlic^en. Was er feiern, b. h» clIs hoch unb tvert-
voll für fein J)afein anerfennen tvoHte, [203] feiert er burch
ein 5eft*), b* i. bie Bereinigung ber (ßenoffen 3ur gemein»
famen 5reube. 3m 5eß erhebt ftch bie inbivibuetle 5reube
3ur £;öhe ber gefeßfchaftlichcn. J)te bilben eins ber
fchönften Banbe ber gefeUfdjaftlichen Derbinbung ber XHenfch«
heit, fte gehören 3U ben früheren £ebensregungeu ber ZTCenfch*
heit, bie erjien 2lnfäfee ber (Sottesverehrung tverben t>on
ihnen begleitet, bie erjien (Taten, ber jte ftch glaubte rühmen
3u lönnen, tverben überall burch fte beftegelt unb verherrlicht
— es iji ber 3nbel ber (Sefeüfchaft über bas, tvas fte fertig
gebracht ha* — un& fie werben bie ZTCenfchh^t bis an bas
<£nbe ihrer (Tage begleiten. 3^ große gefetlfchaftliche Cat
ftnbet mit berfelben ZTottvenbigfeit in einem ihren 2lus-
bruef tvie bie bes 3nbivibuums *n bev inbivibuellen Reiter»
feit; bie (Sefchtchte ber menfehlichen $efte iji bie ber toirf liehen
ober vermeintlichen Caten unb 5ortfchritte ber IHenfchheü.
^eut3utage h<** bie gemeinfame 5reube ihren Jjauptjtft im
fjaufe aufgefchlagen, bie öffentliche fleht 3U ihr im Verhältnis
ber Ausnahme 3ur Kegel. Urfprünglich tvar es umgefehrt,
*) £ehntt>ort aus lat. festus (= gläit3<mb), vom Sansfrit bhas,
flehten, leuchten {lat fes, wovon fesiae, feriae = glä^enbe, reine,
^eilige geit)* 2l*£>antcef, (Srie^lat^etvmol. IDörterbua? n, 5. 581*
Sittlicher VOett ber tfreube* — Die tfefte. ^59
bie gemeinfame 5reube toar eme öffentliche, fclbjl bei Familien-
feften, erfl im laufe ber geit B^abcn ftch bic 5efte t>on bem
ZHarftplafee, ber Straße, ben fallen ber Hathäufer ober ben
(Saftoirtfchaften in bas Ejaus 3urü<f ge3ogen, ein He£ ber [204]
alten Sitte fyat ftch noch vielfach auf bem £anbe bei Sauern*
hod^eiten erhalten , wo bas gan3e Dorf 3U (Saft eingelaben
tx>irb, alle, bie man fennt, müffen geugen unb Ceilnehmer
ber eignen 5reube fein,
Die <£tfyf be3eid|net bas Streben nach Q?ot|lfein als
<£ubämonismus. Dag ber fiubämonismus in 2Im»enbung
auf bas 3nbix>ibuum nicht ausreicht, bas IDefen bes Sittlichen
3u erfchltejjen, barüber fyahen n>ir uns fchon oben ausge-
brochen. 2lber ben €ubämonismus behalten auch wir als
prin3tp bes Sittlichen bei, nur baß toir an bie Stelle bes
3nbit>ibuums bie (ßefellfchaft fefcem 3n biefem Sinne be-
3eichnen a>ir ben gefellfchaftltchen <2ubämonismus als
giel unb treibenben (ßebanfen ber gefamten ftttlichen Welt*
orbnung, als prht3ip bes Sittlichen, etiles Sittliche, fotr>ohl
bas objeftip wie bas fubjeftio Sittliche: bie ftttlichen XTormen
toie bie ftttliche (ßefinnung i\at bas Wohlergehen ber (gefell-
fchaft 3um ^roecfe, bas Unftttliche charafteriftert ftch mithin
baburch, bajj es basfelbe bebroht ober beeinträchtigt
Das IDohl ber <5efeHfchaft? — roelch elaftifcher Segriff!
H?as gehört ba3U? Huhe, Stieben? €in friegerifches Dolf
ftnbet fein (Slücf im Kriege, ber ^rieben ift ihm unerträglich*
XDohljianb, Heichtum, Silbung? Die Sübfeeinf ulaner auf
ber nieberften Stufe ber Kultur erfchienen Coof als bas
glücflichfte Polf, bas er bei feiner Keife um bie ttMt ge-
funben fyatte. tftit ben Dolfern ©erhält es ftch nicht axxbexs
toie mit ben 3nbtt>ibuen. Sowenig man [205] für lefetere
eine allgemein gültige Formel bes lüohls ober (Slücfs auf-
3uftellen imftanbe ift, ebenforcenig für bie Dölfer. 2lber bie
unenbliche ZHannigfaltigfeit ber fonfreten <£rfaffung bes (ßlücfs
\60 Kapitel IX. Die totale IHecfyam?* Pas Sittliche.
fynbert uns nicht, bas <5lücf felber, worein immerhin es auch
gefefet werben möge, als <§iel bes Strebens, gleichmäßig ber
3nbit>ibuen unb Dölfer, fynsufteHen unb fo nehmen wir ben
Hamen unb ben Begriff bes <£ubämonismus r>on ber inbioi*
bualiftifchen C^eorie, wo er feine probe nicht beftanben t^at,
in bie gefellfchaftliche hinüber, wo er fie befielen wirb.
JDorein bas IPofyl unb (ßlücf ber <5efeHfchaft 3U fefeen
fei, bas iji, tote gefagt, eine 5tage, welche jtdj nicht son ber
C^eorie in 5orm einer abftraften gefeUfchaftlichen <5lücffelig«
feitstheorie beantworten läßt — biefelbe würbe bei jebem
berartigen Perfudje ftets nur bas etwas ibealifierte Spiegel*
bilb ihrer eignen geit wiebergeben — fonbern bas ift eine
5rage, welche bie (ßefdjichte ber UTen^^eit beantwortet,
inbem fie Blatt für 23Iatt ihres Buches entrollt. Jluf jebem
Blatte, bas pe nmvoenbet, fte^t bereits bas »Veite« für bie
folgenbe Seite, ber erreichte gwecf f ch ließt einen neuen in
ftch. 2lber beoor bie Seite nicht gan3 bis 3U <£nbe gelefen
ift, fommt fein neues Blatt an bie Heifye, jeber neue <gwecf
hat bie (Erreichung bes früheren 3ur unerläßlichen Doraus«
fefeung. Unb ba follten wir, bie wir 3ur3eit ftets nur ein
einiges Blatt im Buche ber <5efdjidjte x>or uns l^aben, uns
herausnehmen wollen, an3ugeben, was auf bem legten [206]
Blatte ber <5efd}ichte gefdjrieben fte^t? Don ber t>ollenbeten
(5eftalt bes IDohlfeins ber ZHenfchheit iiahen wir gar feine
21hrmng.
2Xlfo es bleibt bei unferm (Sejtchtspunfte bes (Blücfs ober
bes IDofyls ber (Befellfchaft, unb wir nehmen ben Vorwurf
feiner Unbestimmtheit unb lüanbelbarfeit, ber nur aus bem
ZTTunbe pon folgen fommen fann, benen es bloß barum 3U
tun ift 3U bisfutteren, — bie IDahrheit an3ubeDen — , wiEtg
entgegen, inbem wir ihn unfererfeits an bie 2lbreffe ber <5e«
fliehte weiter beförbern. Sache bes bemnächfi folgenben
inbuftioen Beweifes ber gefellfchaftlichen Ch^orie wirb es
€ubämotttsmus unb Uttlttartsmus*
fein, bie Hichtigfeit biejes <5eftchtspunftes an bem fonfreten
UTaterial, welches uns bie <5efchichte bes Sittlichen 3ur Der*
fügung jiellt, 3U erroeifen, an ber gegenwärtigen Stelle genügt
es uns, benfelben auf bebuftivem IDege begrünbet 3U haben.
2TCtt bem Dafein ber (ßefeßfchaft ift als notoenbige Kon*
fequen3 besfelben tote ber (Egoismus als praftifdjer fjebel
fo auch ber <£ubämonismus als <£nb3iel ihres Strebens
bargetan; tr>er letztere Kon[equen3 bejireiten tr>iU, mu§ bis
3um erften (Bliebe ber 53egriffsfette 3urücfgreifen unb bas
Dafein ber (Befellfcbaft in 2Ibrebe fteHen; u?er Iefeteres an*
erfennt, mu§ bie Konfequen3en 3ugeben,
Der <£ubämomsmus , von einer etwas anbern Seite aus
gefehen, ifi Utilitarismus* ZXnv ber 5tani>pxxnh ber 23e*
trachtung, nicht ber ZtTaßftab, ben man anlegt, ifi bei beiben
ein verriebener, bort ift es ber bes gweds, [207] I^ier ber
bes ZHittels. Setbes, §we& unb ZHittet, hängt aufs engfte
3ufammen. Darum ifi ber (Eubämonismus, ber ben gtsecf
in ben Dorbergrunb ftellt, ebenfofehr genötigt über bie ZTtittel
3um (ßlücf Hebe unb Jlnttoort 3U ftehen, tr>ie ber Utilitarismus,
ber in erfier £inie bie ZTTtttel ins 2luge faßt, über ben <gtx>ecf.
(Ein prut3ipieHes 2luseinanbergehen beiber in be3ug auf ben
«groecf iji bamit in feiner tDeife involviert. Der <£ubämonift
fann bas giel fehr niebrig ftecfen, 3. £3. in ben bloßen Sxxxxxexx*
genug verlegen (£(ebonismus) , ber Utilitariji umgefefyrt es
fehr hoch ftecfen, rvie ber Dater bes Utilitarismus: Bentham
es in ber Cat getan I^at.
So eyiftiert alfo tviffenfchaftlich 3tvifchen beiben fein Unter*
fchieb, es ftnb nur 3tvet verfchiebene XTamen für eine unb
biefelbe Sache. 3n IDirflichfeit aber ^aben ftch beibe 3U
3tvei, 3toar nicht in ihrem (ßrunbgebanf en , aber in ber 2trt
feiner Durchführung erheblich voneinanber abtveichenben
Syftemen gehaltet. Der €ubämonismus fyat fleh im tvefent*
liehen babei begnügt, bas Stxebexx nach <5lücf als prin3ip 3U
v. 3 gering , Ser §mtd im Hecfyt. II.
\62 Kapitel IX. Die fatale XUedjamf. Das Sittliche*
proffamieren, ohne ftch bie ZHühe 3U nehmen, im eit^elnen
ben Itachweis 3U führen, bag unb wie bas (Sind burch bas
Dotlbringen bes Sittlichen gefördert werbe, <Es ift bie iüolfen«
region ber Spefulation, in ber er feinen Sifc aufgefchlagen
liat, unb t>on ber er es t>erfchmäht 3ur (Erbe ^era£>3ujiei^en —
bie entfeheibenben fragen werben in ber fjöt^e ahqetan; finb
jte es bort, fo fmb fie es auch für bie (Erbe* J)er Utilitaris*
mus [208] bagegen verlegt ben Schauplafc ber Untersuchung
auf bie (Erbe, er perfekt [ich auf ben realen Boben ber empi*
rif djen IDirflichfeit, inbem er ben mühfamen IDeg bes inbuf*
tioen Beweifes einfehlägt unb für jebes ein3elne Stücf ber
fittlichen ZDelt bie 5rage, wiefo es bem (5Iü<ie bes ZHenfchen
btenen, feine gufriebenheit mit ftch unb ber ZDelt förbern
fönne, auf wirft unb 3U beantworten fucht. (Es ift ber IDeg
ber praftifchen Unterfuchung im (ßegenfa^e ber fpefnlatwen.
Darum ift es nid}t 3ufäHig, ba§ berfelbe 3uerft von ber bem
praftifchen 3ugefehrten englifchen IDiffenfchaft eingefchfagen
ift, währenb wir Deutfche unferm ZtatureH 3ufolge ben fpefu*
latioen £>eg t?orge3ogen Reiben. 5ür bie richtigen Deutfcben
hat bie nüchterne «gerglieberung bes praftifchen Jflufeens bes
Sittlichen etwas IDiberßrebenbes, ber richtige 3beolog auf
beutfdjer <£rbe erblicft in ber 2tnwenbung praftifcher <5eftchts«
punfte auf 2)inge, bie ihm als hoch unb heilig gelten, eine
Derfünbigung, bie y$ee mu§ *m Gimmel wohnen, ihrer felbji
wegen, nicht irbifcher gweefe wegen ba fein, wenn jte ihre
JDeihe in feinen 2lugen behalten fotl*) — vielleicht weil er
bas bunfle (Sefüfjl h<*t, ba§ jte bie unfanfte Berührung
mit bem harten, fteinigen Boben ber (Erbe nicht immer t>er«
tragen würbe. 3<^ erinnere mich eines gläubigen Kanbibaten
ber Ökologie, ber mit einem minber gläubigen 23ef annten
*) 3d? toexoe ben Pornwrf im brüten Banbe an einer Betye von
Beifptelen begrünben*
Segriffsbefttmmung bes tTütjltdjeTU
\63
einen Streit über feie €rfcheinung bes ^eiligen [209] (Seiftes
in (ßeftalt t>er Caube führte, <£r gab bie Caube preis unb
nicht tninber jeben anbern Dogel, ber ihm pon feinem (Segnet
genannt tpurbe — mit ber finnlich-anfchaulichen PorfieHung
permochte er fid} ben (Sebanfen nicht 3U pereinigen — aber
ftete fam er barauf 3urücf : ein Dogel müffe es boch getpefen
fein! Den abjiraften Dogel permochte ftch fein (Blaube 3U
benfen, por bem fonfreten fyielt er nicht ftanb» Der
<£ubämonismus ifl ber abftrafte, ber Utilitarismus ber fon*
frete Pogel. lt>er tpirflich <£rnft machen tpill mit ber 23e*
hauptung, baß bas Sittliche bie Sebingung bes (ßlücfes fei,
fei es bes 3nbipibuums, fei es ber (SefeUfchaft, unternehme
es, am ein3elnen it>re Hichtigfeit bar3utun — bie unerfchrocfene
2)urd)fü^rung eines <5ebanfens bis in alle feine Konfequen3en
hinein ift, ipie objeftip bie probe feiner IDahrheit, fo fub*
jeftip ber jtctjerfte öetpeis ber Pollen guperficht 3U berfelben
— tper jkh ih^ entfchlägt, berpeift bamtt, baß es ihm an
ber lefeteren fehlt, bie tpiffenfchaftliche bona fides bewährt
ftch baran, fraß man feine 2tnjtchten por ben 2tugen bes
Cefers bie Senevpvobe aller in ihnen gelegenen Konfequensen
beftehen lägt Wxv unfererfeits gebenfen, biefen Betpeis für
bie Hichtigfeit ber gefellfchaftlichen Ch^orie an3Utreten, inbem
tpir ben gefamten 3nhalt ber <£thi?, foipohl ih** abftraften
(Srunbbegriffe: ben (ßegenfafe pon gut unb böfe, ben Segriff
ber Cugenb, (Serechtigfeit uftP, als bie fittlichen ZTormen im
eh^elnen biefer Feuerprobe unter3iehen tperben.
[210] Dorher tPtrb es notig fein, uns über ben Segriff
bes Utilitarismus 3U perftänbigen.
H?ir fagen pon einem Ding ober (Ereignis, ba§ es uns
nüfce, rpenn tpir ber Anficht finb, baß es uns in unferen
«gtpecfen förbere, uns aus ber Stelle („fürber", „portpärts")
b. i. bem <gtele näher bringe. Hufeen ift betpirfte Annähe-
rung an bas geftecfte «giel. 3nfou>eit nun bas Dafein auch
U*
Kapitel IX. Die fatale tfTed?amf\ Das Stttltd^e*
bas iDohlfein in fich begreift , toenben wir ben Jtusbruc!
nü&en, 5er im engeren Sinne fich nur auf erfteres besiegt
unb bann t>on „angenehm" unterfchieben toirb, auch auf
lefeteres an*) unb in biefem toeiteren Sinne ift ber t>on uns
gebrauchte 2Iusbruc! Utilitarismus im folgenben 3U serftehen.
®b nun etwas in biefem Sinne nüfelich fei, beftimmt fich
nic^t bloß nach ben fofortigen, unmittelbaren, fonbem 3ugleich
nach ben fpäteren, mittelbaren folgen, nur bas (5efamtrefultat
fämtlicher IDirfungen fotoo^l in ber (Segenroart toie in ber
gufunft entfeheibet barüber, ob ettr>as nüfelich ober fchäblich
ift. Dom Stanbpunfte bes UToments aus betrachtet ifi es
für ben Kaufmann nüfelich, feine Kunben 3u übervorteilen,
aber ber ZTufeen bes 2T£oments unrb von ihm burch ben Der*
luft ber Kunben teuer erfauft, im <£nbrefultat bringt ihm
feine Hnreblichfeit nicht ZTufeen, fonbem Schaben.
[211] tiefer ZHagftab bes bauernb im (ßegenfatje bes
t>orübergehenb ZTüfelichen gilt wie für bas 3nbbibuum fo
auch für bie (ßefeöfchaft. Ztüfelich für ben 2Tfoment ift es,
wenn bie Staatsgewalt burch Konfisfationen, Ztieberfchlagung
ber Staatsfchulben, ^erabfefcung bes vertragsmäßig ftipu*
Herten Zinsfußes, übermäßige <£miffton von papiergelb fid?
aus einer (Selbt>erlegenheit befreit, aber bem vorübergehenben
<5eu>inne [teilen [ich Nachteile gegenüber, bie ungleich fd]tx>erer
tr>iegen: (Sefährbung ber Hechtsficherheit, Zerrüttung ber Der*
fehrsoerhältniffe, Schäbigung bes Staatsfrebits. 3n tDixh
lid|feit ift alfo bie Ulagregel nicht nüfelich, fonbem fchäblich.
Sei ber 2lmr>enbung bes Hüfelichfeitsmaßftabes auf bie
(Befellfchaft gefeilt fid) außerbem noch ein (5eftd]tspunft
hin3u: ber ihr eigentümlich ift. <£s ift bie Hücfftcht auf bas
*) 3n biefem weiteren Sinne gebrauten auch bie romif eben 3"rif*en
ben Begriff bes utile. HXit bem (Erforbernis, ba§ bie »servitus fundo
atilis esse debet« perträgt pdf audj; »ut amoenitatis causa aqua duci
possit, 1. 3 pr. de aqua ($3. 20).
Der IHagftab bes gefeflfdjaftitdj Zlü#idjen* \<55
<San3e. (SefeHfchaftlich nüfeltch ijt nur dasjenige, was bem
(Sanken frommt , bie Beförderung bes IDohtfeins bes Ceüs
auf Kojien ber (Sefamtheit ftetlt uns benfelben IHißgriff in
be3ug auf 6te fjanbhabung bes 23üt$lichfeitsbegriffs bar, tote
5er eben befprochene ber €rfirebung bes Hubens bes Mo-
ments auf Kojten r>on bem ber Dauer. Die Beuo^ugung
eines ein3elnen Bruchteils ber 23et>ölferung, eines ein3elnen
Stanbes ober einer Beruf sflaffe ift bafyer com gefellfchaft*
liehen Stanbpunft aus nur bann suläffig, wann fie bem
3ntereffe ber (ßefamtheit entfpricht; bann aber ift fie nicht
blo§ 3uläfjtg, fonbern geboten. Privilegien (teilen baher mit
ber gefeüfchaftlichen [212] Ct|eorie fo tx>enig in IDiberfpruch,
baft biefelben im (Segenteil fich nur von ihrem 5tanb?nntt
aus rechtfertigen laffen. Die inbiinbualiftifche Clieorie, welche
bas abjlrafte 3n^^^uum ö*5 ^tr»e<Jf ubjef t unb bamit bie
(Sleidjfyeit aller 3nbipibuen als prin3ip proflamiert, ift nicht
imjianbe, bie Statthaftigfeit ber Privilegien 3u bebu3ieren,
fie fann in ihnen nur einen völlig ungerechtfertigten ZDillfüraft
ber Staatsgewalt erblicfen. Schon bamit allein fonftatiert fie
ihre praftifdje Unbrauchbarfeit unb politifdje Perrverflichfeit;
benn bie (SefeQfdjaft fann es jtch nicht nehmen laffen, ben ein-
3elnen Ceilen bes gefellfchaftlichen Korpers biejenige Stellung
unb (Sejialtung 3U geben, tvelche burch ihre Bejlimmung unb
<£inglieberung in bas <San^ geboten ifl.
Der l^ier entroicfelte Sinn bes ZTüfelichen ift es, ben tx>ir
bei bem 3ur Beseichnung unferer Cl^eorie bes Sittlichen ge-
rodelten 2lusbrucf bes gefellfchaftlichen Utilitarismus im 21uge
haben. Das Hüfelidje in biefem Sinne beeft fich mit bem
obigen (Sefichtspunfte ber Cebensbebingungen ber (ßefeUfc^aft.
Hur roas ber gan3en (BefeHfchaft unb nur tvas ihr bauernb
mißlich ifi, fann fich rühmen, ihr roahrhaft förberlich, nüfclich
3u fein, b. h ihrcn Cebensbebingungen 3U entfprechen unb ben
2lnfpruch ergeben, in bie £orm ber rechtlichen ober gefeHfchaft«
\66 Kapitel IX. Die f totale ItTedjantf. Das Stttltd^e.
liehen Horm gebracht 3u werben. Xlnv voas fich als folches
ausreifen fann, t>erbient bas präbif at bes Sittlichen, b. i.
bes gejellfchaftlich Hüfelichen in biefem Sinne. Damit ift
nic^t bloß [213] bte lefete Quelle unb ber §wed bes Sitt*
liefen namhaft gemalt, fonbern 3ugleich ein XHaßftab ge«
n>onnen, um bie üorübergehenben 2lfte ber Staatsgewalt
fotsohl toie bie von ihr als bauernb aufgehellten Ztormen
((Sefefee) unb bie gefellfchaftlichen (Einrichtungen 3U beurteilen.
Was bem wahren IDohle ber (5efeH[chaft (auf biefer ihrer
Seitlichen (Entuncflungsftufe) nicht entfpricht, ift unfittlich. Das
fittliche Urteil macht alfo t>or bem (Segebenen nicht I}alt, es
erfennt 3tr>ar einfach praftifch bie Derpjlichtung an, fich ber
Staatsgewalt 3U fügen unb bie geltenben (ßefe&e 3U befolgen,
aber innerlich weiß es fich frei unb fühlt fich in feinem Hecht,
tnbem es bie (ßefefee unb (Einrichtungen prüft, ob fie auch
bie probe bes ZTfaßftabes bes Sittlichen beftehen, ben es in
fich trägt. Dtefer XTlaßftab ift aber, f elbft wenn bas yxbu
t>ibuum fich beffen nicht bewußt ift unb benfelben noch fo
weit 3urücfweift, ftets ber x>on uns angegebene bes gefetl*
fchaftlich nützlichen im obigen Sinne. <£s gibt feinen anbern,
er ift ber ein3ig objeftiue, ber in ber ZTatur ber Singe f elber
gelegene, unb ber jenige, ben tatfäehlich f elbft biejenigen 3ur
2Inwenbung bringen, bie ihn burch Berufung auf ihr fittliches
(Befühl ablehnen 3u fönnen glauben. Das ftttliche (5efühl ift
nicht bie lefete, fonbern bie erfte 3nftan3 Sittlichen, fte
gibt feine <£ntfcheibungsgrünbe an, aber fie trifft regelmäßig
bas nichtige. Die 3weite unb lefcte 3nftan3 ift bie ber
IDiffenfchaft, fie wirb bie Urteile ber erften 3nftan5 regel«
mäßig betätigen, aber fte foH auch, was erftere [214] t>er*
fäumt fyat, bie (Entfcheibungsgrünbe angeben, unb wirf lieh
haltbare fann fie nur bem von uns aufgehellten (ßeftchtspunft
entnehmen»
3ch wenbe mich nunmehr ber Aufgabe 3U, bie Hidjtigfeit
„Stttltdj tj* b* gefeöfd?aftl Hiifeltdje"* plan b, Begrfinbg. biefer Cljefe* J67
bes lefeteren (ßejtchtspunfts bar3utun. Sie wirb uns lange,
lange in 2lnfpruch nehmen, wir ^aben bas gefamte (Bebtet
ber <£thi? 3U burchwanbern, es barf uns auf bemfelben nichts
aufftoßen, bei bem unfer (5ejtchtspunft : fittlich ift bas gefell*
fdjaftlich ZTü&liche ober JXotwenbige, feine Dienfte serfagt,
erft bann ift ber beweis besfelben auf inbuttipem IDege in
pollftänbiger, unwiberfprechlicher IDoife erbracht. Das I^öchfte
wie bas Kleinfte foö uns Hebe unb Antwort ftehen, unb wir
werben es nicht serfchmähen, bei ber Ojeorie ber Sitte bis
in Ztieberungen bes förperlidjen Cebens h^rab3ufteigen, meldte
ber 5u§ ber IDiffenfchaft bisher noch nie betreten fyat (C^eorie
ber Umgangsformen), (gerabe bas Kleinfte unb fetjeinbar
geldlich Sebeutungslofe ift für uns t>on äußerftem IDert, benn
welchen fchlagenberen Beweis fann es für bie behauptete
IDal|rI|eit unb Allgewalt eines (ßebanfens geben, als wenn
berfelbe fich felbft an ihm nicht verleugnet? J)ie Sehaup*
tung, welche wir biefem IDerf als ZHotto r>orgefe§t haben:
ber &we<£ ift ber Schöpfer bes gan3eu Hechts, wirb ^ier
bahin erweitert: er ift ber Schöpfer ber gan3en fitttichen
©rbnung — Sitte, ZTToral, Hecht, bie brei Ceile, aus benen
fie ftch 3ufammenfefet, serbanfen gleichmäßig ihm ihren ttr*
fprung, es gibt nichts im gan3en Umfange ber fittlichen [215]
&>elt, bas fich nicht auf ihn 3urücfführen ließe — wer mir
etwas (gegenteiliges nachweifen fann, tjat mich gefchlagen.
3ch orientiere ben £efer über ben plan bes 5olgenben*
3ch wenbe mich 3uerft ben fittlichen (ßrunbbegriffen unb
fobann ben angegebenen brei teilen ober 2lbftufungen bes
Sittlichen 3U, bie ich in ber ihrer praftifdjen IDichtigfeit ent-
gegengefefeten ©rbnung flaf fixiere: Sitte, ZTCoral, Hecht.
Kapitel IX. Die foiale XKedjattif* Das Sittliche,
\9) Die (5runbbegriffe ber fittlidjen Welt
im £id}te bes gef ellf dt^af tltd?en ober objeftipen
Militarismus»
3d? laffe bie utilitariftifdje 2luffaffung an ben (Srunb*
begriffen ber <£tfyt! bie probe beftefyen unb roenbe midj 3U*
näcfyfi bem 5unbamentalgegenfafee 3U, ber mit bem pon fittlid?
unb unftttlidj 3ufammenfäHt, bem von gut unb böfe.
X) Der (Segenfafe von gut unb böfe*
Sie Ijerrfdjenbe 2lnfidjt, bie icfy im <5egenfafee 3ur utili*
tarifHfdjen als ibealiftifdf be3etdjnen n>iH, lägt ftdj in 3toei
Säfee 3ufammenf äffen, €rfter Safe: ber obige (Segenfafe ift
ein objeftiper, b. Bj. in ben Dingen felber gelegen. IDas
ber (Segenfafe bes (ßefdjlecfyts für bie Ciertoelt, bas bebeutet
er für bie ftttlicfje tt)elt: bie pon aHem Anfang an bualifttfd?
gejlaltete €yiften3form berfelben. [216] gtpeiter Safe: biefem
objeftipen (ßegenfafe entfpridjt ein ifyn fonformes, bem
ZHenfdjen angebornes fubjeftipes Unterfdjetbungsper*
mögen. (ßleidjtpie bas leibliche 2luge pon ber Ztatur sur
IDafyrnefymung ber 2tu§enrpelt präbisponiert, auf jte einge*
rietet unb geflimmt iji, fo bas geijtige auf ben Unterfcfyeb
3tpifdjen gut unb böfe.
Der 3tpeite Safe Ijat für uns an biefer Stelle fein 3ntereffe,
idj tpenbe midf fyier ausfdjließlidj bem erften 3U. 3d) fefee
it|m bie 23efyauptung entgegen: ber Unterfdjieb pon gut unb
böfe liegt nidjt in ben Dingen an jtdj, fonbern er ergibt fid)
erji aus ber Öe3iefyung ber Dinge unb ^anblungen auf bie
<§tpecfe bes ZHenfcfyen, er enthält ein «gtpecfurteil. <8ut pom
Stanbpunfte bes 3n&ir>&uum5 ift, was feinen «groecfen ent*
fpridjt, gut im gefeßfdjaftlidjen, b. i. fittlidjen Sinne, was
ftdj burd? bie (Erfahrung als ben gvoeden ber (ßefeQfdiaft
förberlidj, fcfylecfyt ober böfe bagegen, u>as jtd? üjnen als
y
Vet (Segmfatj von gut unb böfe.
hinberlich ober fchäblich ertoiefen hat. nicht bie Dinge (beim
Sittlichen: bie X^aublungen ber ZHenfchen) finb an fich gut
ober böfe, fonbern bie Dertsenbbarfeit für unfere «gtsecfe
bilbet ben ZtTaßftab, nach bem toir biefe ihre <£igenfchaft be*
ftimmen. 3nbem tx>ir bie Dinge ober ^anblungen gut ober
fchlecht nennen, probieren toir etwas, was in uns feinen
(Srunb h<*t, in jte als <£igenfcbaft h^in, gleich als ob es
ettoas ihnen immanentes wäre. <£s verhält fich bamit nicht
anbers, als tsenn tx>ir bie 5<*rbe in bie Sache hinein verlegen.
Der Saum ift nicht an fich grün, bie [217] <£rbe nicht \d\wax$t
fonbern bas (Srüne unb Sdiwav$e ftedt in unferen 2lugen, es
ift ber <£inbrucf bes <5egenftanbes auf unfer einmal in einer
gan$ beftimmten H>eife eingerichtetes 2Juge — unfer 2tuge
anbevs geftaltet, unb bie 5<*rbe ber Dinge toäre eine anbere,
roie es ja beim 5arbenblinben in ber Cat ber 5aII ift, ber
ZtTenfch anbers gefchaffen als er es ift, mit anbern (Sahen
bes Körpers unb (5eiftes unb anbern Sebürfniffeu, unb gut
unb böfe roäre ebenfalls etwas anberes.
So fiecft- gut unb böfe nur in bem Subjefte, roelches bie
Dinge t>om Stanbpunfte feiner <gtx>ecfe, b. i. nach ZTIaßgabe
feiner perfönlichfeit — benn lefctere 3eichnet ihm biefelben
vor — beurteilt. Zlnv inbem tx>ir bie gewöhnliche (Beftaltung
ber menfchlichen öebürfniffe unb &wede 3ugrunbe legen, ge*
langen wir ba3u, geroiffe Dinge fchledtfhin als gut, anbere
fchlechthin oXs fehlest 3U be3eichnen. 2lber ba§ auch h*^ öer
XHaßftab ein rein fubjef tiper ift, erhellt baraus, baj$ ber
(ßegenfafe burch eine eigentümliche Derfchiebung ber fubjef-
tipen Derhältniffe fich völlig umf ehren fann: rr>as gut ift,
fann böfe, tr>as böfe, fann gut toerben, — ein feuriger XDein
für ben (ßefunben ein Cabfal, ift für ben Kranfen (5ift, (5ift
für jenen, eine 2lr3net für biefen, — mit bem öebürfniffe
tsechfelt ber IHajjjtab für gut unb böfe.
Das gilt auch für bas fittlich <5ute unb Söfe. €s gibt
\70 Kapitel IX. Die feciale irtedjantf* Das Sittliche.
feine £}anblung, bie an fid} böfe tr>äre* Htcfyt bie Cötung
bes 2Tfenfd?en — im Kriege ift fie pflid>t, im [218] 23otftanbe
erlaubt. Xl'xdit bie Untoafyrfyeit, Cäufdjung, Perftellung —
im Kriege gilt von ifyr basfelbe u>te t>on ber Cötung, hier
rr>irb fie als Kriegslift erlaubt unb geboten, Xlxd\t bie «ger*
ftörung fremben (Eigentums — im ZTotftanbe, 3. bei einer
feuersbrunft ift fie erlaubt, ebenfo toteberum im Kriege, fofern
bas 3n^reffß bes Kriegfüfyrenben fie erfyeifdtf.
Wo bleibt nun bie t>ermeintlidje objeftit>e 3^^^nen3 bes
(5uten unb Böfen, toenn ber (Segenfafe ftdj t>erfdjiebt nad?
ben Sagen unb gtoecfen bes ZHenfdjen? £tur ber Umftanb,
ba& man bie regelmäßige unb normale (Seftaltung ber menfd}*
Iidjen £agen unb §wede t>or 2lugen Ijat unb banad? fein
Urteil über gut unb böfe 3ufd}neibet, fonnte bie Oufdjung
beroirfen, als ob ber (Segenfafe x>on gut unb böfe in ben
Dingen jiecfe. Den menfcfjlidjen &wed IjintDeggebad?t, unb
bie Dinge finb webet gut nodj böfe, fott>enig ttne es rot,
blau, fd}u>ar3, roeiß gibt ofyxe bas menfdjlidje 2luge, unb
füg, fauer, bitter ofyne bie menfd?lidje <§unge — ber (Segen*
fafc pou gut unb böfe entfpringt lebiglidj bem g>we<S.
Daraus ergibt fidj, ba§ gut unb böfe ober fdjlecfyt im
P^yftfdien unb im fittlidjen 5inne auf einer unb berfelben
£inie ftefyen. (Sut im plivjif^cn Sinne nennen mir, tt>as
unferem Körper ober unferer <£mpfinbung u>ol}l tut, böfe ober
fcfytedjt, u>as uns fdjabet ober unangenehm berührt. (Sani
in berfelben JDeife nennt bie (Sefellfcfyaft oon ifyrem Staub«
punft aus in be3ug auf bas menfcfylidje [219] fjanbeln gut
im fittlidjen 5inne bas jenige, was ifyr Dafein förbert ober
tljr IDo^lfein erljöfyt, fdtfedjt, böfe bas jenige, was bemfelben
2lbbrudj tut 3n beiben Bidftungen fonnte nur bie <£rfafy*
rung ben ZHenfcfyen belehren, was gut unb böfe fei — es ift
ber Saum ber Crfenntnis bes alten Cefiaments, t>on beffen
^rüdjten ber XHenfd) erft effen mußte, um bes Unterfcfyiebs
Per (Segenfa^ von gut unb böfe.
3totfd7en gut unb böfe inne 5U roerben. 3X>enn nicfyt jebes
3nbh>ibuum unb im Ceben ber Dölfer nicfyt jebe (Seneration
erft felber bie (Erfahrung 3U machen braucht, fo fyat bas nur
barin feinen (ßrunb, ba§ beiben bie Erfahrungen anberer
5ugute fommen. 2tber bajj ber ZHenfd) feinen Ringer nicfyt
ins £id]t, bie glüfyenbe Kofyle nicfyt in ben ZtTunb ftecfen barf,
baß er oBjne £uft nidjt e^iftieren unb im IDaffer nic^t fielen
fann, tjat er ebenfogut erft lernen muffen, roie bie (ßefeUfcfmft,
ba§ fie bei ZlTorb, Haub, 2)iebftal}l nicfyt befielen fann.
J)arum ift es nicfjt 3ufällig, ba§ bie Sprache aller Kultur*
x>ölfer fid? 3ur 23e3eicrmung bes fittlicfy (Suten unb Schlechten
berfelben 2Iusbrüc!e bebient wie 3U ber bes phvfH^ <5nten
ober Schlechten. Die 3toeite Bebeutung ift bie urfprüngliche,
bie erfte bie übertragene*). Wo ein JPort eine ftnnliche unb
*) Die grtedjtfcfye Sprache: dfaftov auch y.aXovxdY'*$6v. Die
latetntfd?e: bonum, malum, bavon entlehnt in ben romantf djen
Sprachen 3* 33* itaL buono, bene, il bene, bontä, male, il male, IP03U
no&i cattivo fommt, frau3* bon, bien, bonte , mal, mauvais. Die
beutfdje: gut, bas (Sute, (Süte, bie (Süter, fehlest (IDetter, Iftenfch),
böfe (Sturm, XUenfdj), bas Böfe, arg (£ärm, (Seftnmmg, 2XrgItft) , übel
((Semd?), bas Übel, fd?limm (Had^rid^t, (Semormhett). Die englifd^e;
good, goods, goodness, bonty, bad, badness, male in feinen Kompofttis*
3u ben fetnitifdjen Sprachen gelten nach einer Mitteilung, bie ich ber
(Süte r>on profeffor Delttjfch in £eip3tg üerbanfe, „bie Be3etch*
nungen bes ftttlich (Suten unb Böfen ebenfalls von fimtlidjen (Srunb*
begriffen aus. (Sut in feiner urfprün glichen Bebeutung ift, mas einen
angenehmen ftmtltdjen (Einbrucf macht. Dem3ufolge perbinbet ftd? auch
mit bem Begriffe bes ftttlich (Suten ber Begriff bes IDorjltuenben unb
Betlfamen, bas es in fid> fernliegt unb aus fid? heransfetjt. <£benfo
fallen bie Begriffe bes Böfen uub Sdjltmmen 3ufammen. Statt: Baum
ber (Erkenntnis bes (Suten unb Böfen lägt ftd? nicht minber richtig über=
fetten; bes (Suten unb Schlimmen. Die gewöhnlichen arabifd^eu IPorter
für „gut" be3eidinen bas (Sute als bas Schöne unb Dor3Ügliche"*
3d? habe mich augerbem noch teils mittelbar teils unmittelbar an
einige aubere (Seiehrte qewanbt uub id? glaube ber IPtffenfd^aft einen
Dienft 3U enpeifen, wenn ich bie mir geworbenen Antworten (wörtlich)
mitteile.
\72 Kapitel IX. Die fatale IlTecbamL Pas Sittliche.
eine überfumlidie Sebeutung ijat, [220] ift jene 6ie ältere,
öiefe fcie fpätere; im sorliecjenben 5aüe ergibt fief? fctes fdicm
profeffor H. Hoth in (Tübingen* Die (Segenfefeung pon gut unb
böfe fo verallgemeinert urie im heutigen Dentfdj ftammt mer/t aus ber
älteften «geit ber Sprache* Unb man barf in feiner jugenblichen Sprache
biefe 2lbnut$ung ober Dermifd^ung ber Bebeutung erwarten. Das alte
Sansfrit (im Deba) tjat voofy ein Dutjenb IDörter, bie man ettva mit
gut, ebenfopiele anberf, bie man mit bös überfeinen fann, aber allen
fommt ein näher umfehriebener (Srunbbegriff 3U, 3» 53. päpa (nicht 3U
etymologifieren) bös b* h* fchlimm, übel, ungünftig; aber auch arm,
elenb. (Segenfat$ bhadra (tpohl pertpanbt mit ba§, beffer) eigentlich
erfreulich, löblich, glüeflid?; ober punja eigentlich rein. Satja (j ift ber
beutfehe £aut) gut, eigentlich tpahr, tpirflid} (gehört 3ur Wnx^el as =
effe, fein), (Segenfat$ asatja (a privativum). Sakrt gut = gut^anbelnb,
(Segenfaß dushkrt = böshanbelnb* Das finb bie „(Suten unb Böfen" im
engeren moralifdj religiöfen Sinn, bie d^a%o\ %al ttovyjpoi, bie n>ir aus bem
neuen (Eeftament traben* Ulfilas fennt aber bas 3£>ort bös gar nidrt,
fonbern h<*t bafür ubils ober ursels (unfeltg) unb bös ift urfprünglicb
= gering, umperr, nrie gut = paffenb, fügfam, brauchbar.
profeffor Cl^eipreip? in peft* (Sut ungarifch jö. 3n *>en
ugrif djen Sprachen ift ber Begriff gut t>on IDohlftanb, Heia^tum, (Slücf
ausgegangen. Der tfcheremtfftch jumo, ftnnifd? jumala, efthifd? jumal,
lipifch jumal, lappifdj jubmel ober ibmel als Be3eichnung für (Sott
im (Segenfat$e 311m „armen" ITCenfdjen* Diefe pon Buben3 anfge*
ftellte (Erklärung ipirb burd? bie Analogie im 3nbogermanifa^en gefd?ü^t*
5lau>ifdj bog = (Sott, bogatu = reich, ubogu = arm; pergletche fansfr.
bhaga = (Sind, XDohlftanb, altperfifd? baga = (Sott Böfe ungarifch
rossz. 3n oer £Dar3el Kegt ber Begriff Pon caedere, frangere, rossz ift
alfo eigentlich, was feine 3ntegritctt Perloren fyat, corruptus, inutilis.
(Sin anöexes VOoxt für böfe ift gonosz, flanrifdjen Urfpnngs, flanufch
gnüs = eigentlich fdjmutjig, garftig.
Uber ben heutigen ungarifch en Sprachgebrauch füge ich noc*? «ne
IHtttetlung pon meinem (freunb unb ehemaligen «gutjorer, profeffor
Biermann in £?ermamtftabt, t\in$vL.
(Sut im technifchen, öfonomif d?en, moraltfcr/en Sinne be3eid>nen mir
mit jö; unfere nationalen Philologen permeifen auf bie Dertpanbtfchaft
mit e5, eus, bem beutfdjen gut, bem türfifchen ejü, bem chineftfehen
jü (bene). $üt bie ein3elnen Zluancen bes (Suten gibt es fobann eine
große IHaffe pon Spe3ialausbrüc?en. Pon jö jösäg — bie (Süte unb
jöszag bas (Sut im Sinne pon £anbgut. Böfe unb fehlest ift rossz.
fehlest fou)ohI im öFonomtfchen Sinne, feinem gwede nicht entfpred?enb,
rafd? perberbenb, als im fittlichen.
Der (Segenfarj von gut unb böfe.
\73
daraus, ba§ bie inbitnbueHe (Erfahrung [221] notoenbiger*
tseife ber gefeKfchaftlichen I^at porausgehen muffen.
Von fittltch unb unf itt lief? unterfdjeibet fich gut unb
böfe im fittlichen Sinne baburch, ba§ jener (ßegenfafc [222]
bas innere 2T£oment ber fjanblung, bie fubjeftioe (Sefinnung,
aus ber fie hervorgegangen ift, biefe bas äußere ober ob*
jeftioe 2Ttoment: bie IDirfung, welche fie hervorgebracht r^at,
betont. Vavmn gebraucht bie Sprache überall, wo fie bas
IDiHensmoment betonen roill, ben 2Iusbrui jtttlich, 3. 23* bas
Sittengefefe, fittliche ZTormen, nicht <Sefet$ ober Hormen bes
(Suten, ftttliches <5efüt?l, fittliche (ßefinnung, nicht <8efüfyl,
(Sefinnung bes (Suten, tsährenb fie fich, tx>o fie bie fflivf fam-
feit ober ben £)ert bes Sittlichen für bas (Semeiwsefen aus*
brüden roill, bes 2Iusbruds gut bebient: ein guter ZHenfch,
eine gute £at, gute (Sefet^e, (Einrichtungen, b. h- folche, welche
ber (SefeUfchaft, ZHenfchheit 3um f}eile, 5egen, biefelben Sub*
ftantir>a mit bem präbifat böfe, fchledjt = biejenigen, toekhe
ihr 3um Unheil, Unfegen gereichen.
3)en religiöfen ZHagftab legen an bie IDorte: fromm,
gottlos, auch böfe, bas alfo in boppeltem: in gefeit*
fchaftlichem unb religiöfem Sinne gebraucht wirb, fie t>er*
halten fich 3U gut unb böfe, fittlich, unftttlich, wie bie IPorte
profeffor ^retrjerr von (Sabelent$ in £etp3tg über bas <£fyme(tfcbe.
Haö ift gut (fittltdj unb pfyYfifdj, \a foaar gelegentltd? äftt^etifd? 3»
haö niü, tjiibfd?e Ttt&bdien), täi fdjtedjt, übel, c£n gut, namentlich ber
XDtrfung nad), tüchtig ober gefdjtcft, etroas ^u tun, cüng aufrichtig,
loyal, offenbar üon cüng ITCitte. £et$teres fptelt in ber cfyineftfdjen (HtrjiF
eine bebeutenbe Holle: ein pofttto Böfes gibt es nicr/t, nur ein gurnel
ober «gutpeutg, bas (Sute liegt in ber IHitte*
§u ber 3n>eiten Auflage trage tdj nod? bas «gttat von (Seiger,
Urfprung ber Spraye 33b. 2, 5. 173 nadj, ber wie irgenb jemanb in
ber Sage mar, ein maßgebenbes Urteil ab3ugeben; itjm ^ufolge ift bte
fittltcrje Bebeutung r»on gut unb böfe eine relatto fpä'tere £3ilbung, bie
urfprüngltdje n?ar überall bie fmnhdje*
Kapitel IX. Die feciale riTed/cmi?* Das Sittliche.
Sünbe unb Sünblofigfeit 3U Unftttlidjfeit unb Sittlichfeit
(S. 62/63, 70*
Wir h<*ben barmt erliefen, baß i>er (Segenfafe von gut
unb böfe im ftttlichen Sinne
\. fein abfoluter ift, fonbern ein relativer,
2. t>a% ber flla^ftab, nach bem er fich befttmmt, ber bes
§n?ecfs ijl, b* i. ber utilitariftifche,
3, baß ber (Segenfafe fyftorifcf? erft vom plftjtfdien [223]
auf bas Sittliche übertragen, ber ZHenfd^eit alfo nicht
angeboren ifi.
Damit fönnen tr>ir uns i|ier begnügen. (Db ber Stanb*
punft, von bem aus bas §toed urteil gefällt nnrb, ber bes
3nbit)ibuums ober ber ber (SefeUfchaft ift, toerben toir bei
ber Kritif ber Xfiorafoorfchriften ins 2tuge faffen.
2) Der ÜCugenbbegriff*
Cugenb ijl fprachlich toie fachlich urfprünglich nichts als
Cüchtigfeit, Cauglichfeit für einen gettnffen <§a>ecf*), alfo
abermals ein ^toecfbegrtff. Derfelbe finbet ebenfo toie gut
unb fdjlecht foa>oI|I auf Sachen u>ie auf perfonen 2Imx>enbung.
Der 2Iusgangspunft bes Begriffs ber Cugenb im ftttlichen
Sinne ift auch fyev mieberum ber im natürlichen Sinne, b. h»
bie Cauglicfyfett eines Dinges 3ur (Erreichung eines gen>iffen
£xve<£ s. Unfere heutige DorjleHung ber Cugenb als eines an
jtch toertpollen unb ohne alle Hücfftcht auf ihre Dertoertbar«
feit 3U erftrebenben (Sutes umrbe t>on ben Dölfern ber It^eit
unb felbft t>orgerücfter Kulturftufen gar nicht oerfianben
toorben fein. 3n ihr*n 2lugen beftanb ber XDert ber Cugenb
in bem, was fich mit ihr im £eben ausrichten ließ. Cugenb
*) Tugan == taugen, tüdyitg fein, alttj. tugundi, mittel^, tugent =
dugenb* Spultet} grtedj* dpenf) t>on ber tDur3eI ar, wovov. dpexao) td>
tauge, apiaxo? ber 23ejte. <S* Curtius, (Srm^üge ber griedj* <£ty*
mologte, 21ufL S. 3<*2*
Der (Eugenbbegriff*
*75
ber alten Normannen wat Tftnt unb E>ertr>egenr)ett im See-
raub, Cugenb ber alten (Brieden förperlidje (Seroanbtfyeit [224]
unb (Sefd^idFItdffcit in ben olympischen Spielen unb felbft ber
Perfdjlagenfyeit eines (Dbyffeus räumte man ben Cugenbpreis
ein» Das roar bie Cugenb, roeldje bas Volt anerfannte
unb efyrte, unb meldte bie Sänger feierten. (JErfdjienen biefe
Cugenbfyelben in ber heutigen IDelt, um itjren Cugenbpreis
3u forbern, tx>ir roürben einige r>on ifynen mutmapdj jofort
bingfeft madjen, anbere mit ifyren Künften in ben girfus 3U ben
Seiltän3ern roeifen. Bei Horner bebeutet apetY] rxodi blojj Dor-
3Üge bes Körpers ober bes (ßlücfs, einige 3at|rfjunberte fpäter
Ijat jtcfj ber Segriff bem £ortf dritte ber Kultur fonform auf
bie Dor3Üge bes (Beijtes unb $ev$er\s erweitert. Der Cugenb*
begriff bes alten Homers (virtus) ift auf bie frtegerifcrje Od}*
tigfeit geftetlt, virtus ift bie <£igenfd?aft bes Kriegers*) (vir,
Sansfrit wira, ber Krieger, £}elb), in ber fpäteren <§eit Ijat
ber Cugenbbegriff fid? auf alle <£igenfdjaften erweitert, roeldje
ben ZHann (nicfjt bie £rau) 3ieren**). Denfelben Ausgangs*
punft t|at bas tjebräifcbe chajil, es bebentet urfprünglid?
pt|Yfifcr|e Kraft, bann Cugenb.
Könnten tt>ir bie fpracfjlicfje <£nttoicflung bes Cugenb*
begriff s bei allen Dölfem ber €rbe ©erfolgen, idj mödjte
[225] glauben, baß fie uns folgenbe 3tr>ei Säfee erroeifen
roürbe***). S&v bie Urseit: ba§ bie fprad}lid]e 23e3eidjnung
*) Cic. Tusc. Disp. II, \8, ^3. Apellata est enim ex viro virtus, viri
autem propria est maxime fortitudo.
**) Cic. de off. I, $6. his virtutibus: modestia, temperantia,
justitia; pro Murena c. \0. virtutibus continentiae, gravitatis, justitiae,
fidei. Tusc. Disp. II, J8, %5 omnes rectae animi affectiones.
***) 3<$ Fanrt ntcfyt umfjht, fyier bem bringenden IDunfcfye, ben id?
fo oft fdjon empfunben fjabe, IDorte 311 leiten, ba§ bocfy bie pergleicfyenbe
Sprad?ti>iffenfd?aft in be3ug auf biefe unb ätmltcfye jragen ber (Etl|tf
einmal 3U tylfe fäme.. VOk anßerorbentlidj wertooüe Dienfte fönnte
fie it|r leiften, wenn fie mit itjven Ittitteln bie urfprüngltcfyen Ausgangs*
\76 Kapitel IX. Die foiale IHedjamf. Das Sittlicbe*
der Cugend bei vielen Dölfern derjenigen €igenfchaft ober
demjenigen Berufe entlehnt worden ift, der für jte auf tfyrer
damaligen Kulturftufe in erfter £inie fiand, alfo 3. B. bei
einem J^trtenpolfe dem Beichtum an Ejerden oder der pflege
des Dietjs, bei einem 2lcEerbau treibenden Dolfe dem 5lei§e
des £andmanns, bei einem £}andelsx>olfe der gefchäftlichen
(Seioandtheit oder Derfchlagenheit, bei einem friegerifchen
Dolfe dem friegerifchen ZHute. 211s 5n>eiten Safe: da§ der
Cugendbegriff bei unveränderter Beibehaltung des urfprüng*
liefen 21usdrucfs im £aufe der <£ntttncflung in eben dem ZRafce
fich erweitert li<xt, als die (Erfahrung über dasjenige, roas
der (ßefellfchaft dienlich und förderlich ift, 3ugenommen, und
als der gefeüfchaftiiche guftand felber [226] ftch percoU«
fommnet h<*t. Die Weite des Cugendbegriffs wird mit der
gefeHfchaftlichen (gnttoicflung ftets gleichen Schritt gehalten
haben*).
punfte ber ftttltcr/en Begriffe unb itjr aHmäl}Itcfc1es t£>ad?srnm barlegte.
Bei jeber berarttgen (frage ift mir ftets ber Langel btefer Unterftütjung
r>on fetten ber Spradjariffenfcfyaft fühlbar geroorben, unb bod? reiben bie
Hefultate, bie id? mit meinen geringen ITCitteln geroonnen fyabe, bereits
aus, um 3U setgen, melier Sdjat$ in ber Sprache perborgen liegt, unb
ba§ es, u>ie £id?tenberg fagt, nur bes DenFens bebarf, „um in ber
Sprache r>iele XDetshett eingetragen 3U ftnben"* IDie perbient fönuten
ftd? unfere 21?abemien unb pfylofoptjifcfyen Jafultäten mad?en, u>enn
fte einmal berartige (fragen ftellten unb bamit bie Spradjanffenfdjaft 3U
bem Dienfie entböten, ben fte ber (Etfyf letften fann unb foÜ*
*) 3<$ teile audj l|ier bie fprad?lid?en Angaben mit, bie id? auf
mein 2Infud?en von r>erfdn' ebenen (gelehrten erhalten fyabe*
Hotfy in (Tübingen* 3m <Sortfd?en fefylt bas tDort (Zugenb, dper/j
tpirb burdj godei, (gute ausgebrücfh (Eugenb ift aud? bei £utfyer ntdjt
ba'uftg* Das alte Sansfrtt fyat feinen unmittelbar entfprea?enben 2Ius*
brurf, aber fefyr triele nafjeliegenbe. 3n &er fpäteren Spraye tuäre 3U
nennen sddhutva (aus abj. sädhu mit bem 2lbftraftsfuffir, tva, etma =
tun) ein Heutrum* Das Zlbjeftir» bebeutet; gerabe 3um £iele füfjrenb,
unrffam, gut» (Ebenfo in ber fpSteren Spradje guna (masf*) (Eüdjtig-
fett, (Eugenb; tseiter rücf tuärts »erfolgt: gute (Eigenfdjaft, bamt (Eigen*
fdjaft überhaupt* Der abftrafte Begriff <£i$m\diaft l?at aber einen
Der pfUcr/tbegriff.
\77
3ch fernliege hiermit meine Setrachtung bes Cugenbbegriffs,
[227] um biefelbe bei ben ein3elnen Cugenben roieberum auf*
3unehmen unb an ihnen im ein3elnen bie Hichtigfeit ber
utilitartftifchen 2Juffaffung bar3utun, bie ^ier nur prin3ipiell
begrünbet toerben foHte.
3) Per pfiichtbegrtff*
Xüir jinb bemfelben bereits in anberem gufammenhange
begegnet (I, 5. 50, 372) unb toerben an fpäterer Stelle bei
(Selegenheit bes Pflichtgefühls (Kapitel XI) noch einmal auf
il^n 3urücEgeführt toerben, bafyer hier nur tt>enig IDorte, um
bie Kichtigfeit unferes (ßeftchtspunftes auch an ihm bar3utun.
JDir nehmen unfere frühere Definition nneberum auf:
Pflicht ift bas Seftimmungsperhältnis ber perfon für bie
gwede ber (ßefellfchaft, inbem tt>tr uns porbehalten, bie
fonberbaren Urfprung* Guna bebeutet nämlich 3uerft bett et^elnen
(Jaben, ber ben 33eftanbtetl einer Schnur ober eines Strtcf es ausmalt,
aisbann allgemein; Beftanbteil, (Element unb baljer <£tgenfd?aft, prä*
btfat So fommt ber trmnberlicfye Übergang von Jaben — aber nur
als Ceti eines <8an$en — 3U guter (Eigenfd^aft ober Cugertb auf logifd^em
XPege 3uftanbe*
(Eheroretof in peft. (Eugenb ungarifch er£ny. XHan l^at virtus
r»on vis abgeleitet unb auf (Srunb biefer Ableitung cor etroa tmnbert
3afycen er6ny aus erö = Kraft gebilbet. 3m 211tungartf djen mürbe
bie (Eugeub burd} jösägos ober jöszägos eselekedet (= „gut — fyett —
liehe" (Tat), ausgebrüeft (Eugenb ff nntfeh hyvä, IDort ber Schrtftfprache
(eigentlich aptus, commodus, utilis). Sonft: Kunto ober jalons = (Eiicr)*-
tigfeit ober hyvä avu= gute (Etgenfchaften* 21ucfy im «gürjenifchen tjeigt
bas für (Eugenb oerroanbte Wovt einfach (Eüchtigfeth
3. IDinbifd? in £etp3tg über bas 21lttrifche, Der abftrafte Begriff
ber (Eugenb ift in ber älteren Sprache nict/t r>orhanben, bafür finben ftdj
bie eitt3elnen (Eugenben rote (Eapf erfett, (Sefcr/icflict/feit, Jreunbltchf eit,
Keufchhett u» a. m. Der neuere 21usbrucf für bie chriftlidje (Eugenb im
allgemeinen ift im Katechismus so-bailce, su-bhailce. So-su- ift fansf.
su-, grieeh* — (roohl, gut) >bailce« ift 21bfrraftum ron balc ftarf,
fo ba§ alfo aud? im chriftlicheu 3riW °i* (Eugenb „bie gute Kraft-
Stärfe" ift
t>. 3 t? e ritt Der gmetf Im Hed)t. II. \2
\78
Kapitel IX. Die feciale Itledjanif. Das Sittliche.
Sichtigfeit berfelben an ben einzelnen (ftttlichen unb recht*
liefen) pflichten feine^eit nadftuweifen.
3n ber Pflicht liegt bie 23eftimmung für etwas außer ihr,
jte weift über ftch hinaus auf ben (Erfolg, ber burch ihre
€rfüHung erreicht werben fott. €s gibt feine Pflicht ber
Pflicht wegen. XDürbe mit ber (Erfüllung ber Pflicht nichts
in ber IDelt erreicht, fo wäre es finnlos, jte Dor3uf chreiben,
bie praftifcfye Hechtfertigung bes Pflichtbegriffs vom Stank*
punfte ber (Ethtf aus fann nur in bem (Suten gefunben
werben, bas er vermitteln foD. Dem 3nbit>ibuum fann man
mit Kant 3urufen: erfülle bie Pflicht [228] um ber Pflicht
willen, b. t. jebes anbere TXlotxv, als bas, beine Pflicht 3U
tun, fei bir fremb, lebiglich bas Pflichtgefühl foll bich leiten,
2tber ber Stanbpunft bes Sittengefefees, inbem es bie Pflicht
sorfchreibt, ift ein anberer als ber bes Subjefts, inbem es
jte erfüllt, bas Sittengefefc 3eichnet bie Pflicht nur vot wegen
bes praftifchen (Erfolgs, ben es baburch 3U er3ielen gebenft,
pon feinem Stanbpnnft ift ber pflichtbegriff ein §u>ecf begriff.
Sief er praftifcfje (Erfolg äußert ftch regelmäßig in anbern
perfonen als bem J^anbelnben Qnbhnbuum, Familie, <Se*
meinbe, Staat), aber er fann fleh auch ih™ felber 3ufehren,
unb baraufhin h<*t man *>on Pflichten gegen ftch felber ge«
f proben. IPir werben feiner3eit nach weifen, baß bies eine
contradictio in adjecto enthält, baß vielmehr auch bei biefen
angeblichen pflichten gegen fich felbft bas 3ntereffe ber <Se<
feßfehaft im ^intergrunbe fleht. JDenn bas Sittengefefc uns
gebietet, uns felbft 3U erhalten, fo ift es nicht unfertwegen,
fonbern ber (SefeHfchaft wegen, unb gan3 basfelbe gilt von
allen pflichten gegen fleh felbft, jte haben ihren <5runb nicht
im 3nbipibuum, fonbern in ber (SefeUfcfjaft, mit bem 5cheine
bes (ßegenteils h<*t es biefelbe 13ewanbtrixs wie mit bem
ZHonblicht: es ift nur ber Befle£ bes Sonnenlichts.
Die (Seredjttgfett.
fj Die (geredjttgfett*
3n be3ug auf fie fabelt mit ben utilitartfitfchen (Beftchts*
punft bereits früher (I, S. 285 ff.) 3*r <5eltung [229] gebraut.
Die (ßeredjtigfeit i^at nicht als folche Wext unb Berechtigung,
roie eine ungefunbe tbealiftifdje Betrachtung, bie in bem Safee
gipfelt: fiat justitia, pereat mundus uns glauben machen möchte,
fonbern nur roeil unb infofern fte bte Bebingung bes Wolfis
ber (ßefeüfchaft ifi. ZDürbe jte basfelbe fdjäbigen ftatt förbern,
fo müßte ber Safe lauten: pereat justitia, vivat mundus.
Was von ber (Berechtigfeit, gilt ebenfo auch von ber
Strafe. Bebürfte es berfelben nicht mehr, es wäre unver-
antwortlich, roenn bte (BefeUfchaft fich berfelben fernerhin
bebienen wollte. Damit iji ber fog, abfoluten Strafrechts-
theorie bas Urteil gefprodjen. 3n meinen 21ugen enthält
biefelbe eine ber größten Perirrungen, 3U benen eine ber Be-
achtung ber praftifchen Beftimmung aller menfehlichen Ein-
richtungen fich entfdjlagenbe ungefunbe phüofophifche Spefu-
lation fich nur jemals ^at perleiten laffen, eine UTifjachtung
ber (Befchtchte bes Strafrechts, bie uns überall bie Cefyre
prebigt, ba§ bie Strafen um praftifcher gtoeefe willen ein-
geführt jtnb. Den praftifchen «gweef ber Strafe, b. t. bie
Sicherung ber (BefeHfchaft gegen bas Derbrechen, burch ben
fategorifchen abfoluten Strafimperatiü erfefeen wollen, ifl um
nichts beffer als 3U behaupten, eine XTTühle fei nicht ba,
um ZHehl 3u mahlen, fonbem ihrer felbft ober ber ^}bee einer
Ztlühle wegen — fie perwirfltche nur bie ^bee ober ben
fategorifchen 3mperatio bes ZTTahlens. IDenn nicht ber Efunger
bie Bühlen, nicht bte Xlot bas Strafrecht in bie [230] XPelt
gefefet h^tte, wir hätten lange warten fönnen, bis bie ^}bee
fie aus jtch lievansqeivieben hätte! Unb als ob bie Aufgabe,
bie beibe löfen, nicht ibeal genug fei! 211s ob es ibealer
fei, einen logifdjen pro3eß (bie begriff liehe Hegation bes
12*
\S0 Kapitel IX. Die feciale ITCedjamf* Das Sittliche*
Derbrechens burch bie Strafe) bar3uftellen , als prafttfeh eine
ber erften unb höchjten 2tuf gaben ber 2TJenfd}E|eit: bie Aufrecht*
erhaltung unb Sicherung ber gefellfchaftlichen ©rbnung gegen
bas Verbrechertum 3U löfen»
<£s erübrigt mir noch ein (Srunbbegriff ber €thif: bie
<£f?re; ich toerbe ihn an fpäterer Stelle in einem anbern
«Sufammenfyange behanbeln.
lüir tt>enben uns im folgenben bem 3tr>eiten (Segenftanbe
unferer Unterfuchung 3U: ber inhaltlichen Kritif ber foialen
3mperatbe vom Stanbpunfte bes foialen Militarismus aus.
20) Das «gtoeefmoment ber [o3ta!en 3mPera*t*>e.
X) Die XlTobe*)*
Unfere fprachlichen Unterfuchungen (S. ^) Reiben uns tner
2lrten von foialen ^}mpevativen ergeben, b. h- ^on formen,
tselche bie (Sefeüfchaft ihren ZHitgliebem ©o^eichnet, [231]
bie IHobe, bie Sitte, bie ZHoral, bas Hecht Wie unb
tsoburch bie <5efeIIfchaft bie Beachtung berfelben e^toingt,
hat für uns in biefem «gufammenhange !ein 3ntereffe, tiiet
fümmert uns nur ber <?Jtt>ecf, ben fie bei 2Iufftellung berfelben
im 2Iuge ha^ unb tr>ir tiaben 3U unterfuchen, einmal: ob es
roirfIid> ein gefellfchaftlicher <§tx>ecf ift, ber baburch erreicht
werben foH, unb fobann: ob berfelbe bei ben t>ier Birten ein
eigentümlicher ift, ob bie Sprache alfo in ihrem Hedite gctr>efen
ift, roenn fie biefelben t>oneinanber gefchieben fyat; unfere
*) (Segen bie im folgenben eutttucfelte 2lnftd?t ift mefyrfad?er tDtber*
fprud? erhoben trorben, 3* B. r>on 3. von ^alfe tu ber „ (Segen mart",
Berlin JL882, <*8, $van$ ^rötjlid?, Die ITCobe im alten Horn,
Bafel, Sdnpeigfyäufer J88$ (öffentlia^e Dorträge, gehalten in ber S&meij,
herausgegeben von Bruno Scfymabe, Bb* 8, fjeft [), ber mta? \ebod}
ntdjt irre gemadjt tyat, ba er ben entfd?eibenben punft metner 21n-
fid?t nid?t trifft; eine Perteibigung berfelben an biefer Stelle ift aus*
gefdjloffen.
Die ITTobe.
Unterfucfyung nimmt bamit 3ugleid? ben (£l}arafter einer Kritif
5er Sprache an.
XDenn tsir bie IHobe in ben Kreis unferer Uuterfudiung
aufnehmen, fo gefdjiefyt es nidjt ber pofitioen Sebeutung
roegen, bie fie für bas gefeHfcfyaftlidje £eben beanfprudjen fann
— unr werben 3U bem Hefultate gelangen, baß ifyr ein gefeit*
fcfyaftlicfyer IDert überall nicfyt 3ufommt — fonbern bes nega*
tioen 3ntere(fes toegen, um fie r>on ber Sitte aus3ufdjeiben
unb bas (ßebiet ber lefeteren, t&eldjes fiel) 3tt>ifcfyen Ztlobe unb
ZTToral in bie 2TJitte fdjiebt, u>ie nad) feiten ber (enteren fo
auefy nad\ feiten jener fcfyarf ab3ugren3en»
Die ZTTobe ftimmt barin mit ber Sitte überein, baft fie
für biejenigen Kreife, für tselcfye fie überhaupt in Betracht
fommt, eine 3tr>ingenbe (Setoalt ausübt, fie ift alfo mcfyt
ber (ßetpofynljeit 3U3U3äfylen (S, i(7ff*)* (Db jemanb bie in
einer (ßegenb allgemein perbreitete 2lrt ber Ijäuslidjen <£in*
ridjtung unb bes fyäuslicfyen Cebens befolgen [282] will, ijl
gan3 feinem inbioibueßen Belieben überlaffen; bas öffentliche
Urteil nimmt an einer 2lbtr>eid}ung von biefer IDeife feinen
2Jnflo§, es refpeftiert innerhalb bes Kaufes bie inbbibuelle
5reit|eit, inbem es biefe Dinge als d5efd}macfsfad)en be3eidjnet,
über bie nief^t 3U redeten fei (de gustibus non est disputan-
dum). (Sani basfelbe, follte man fagen, müßte audj gelten
in be3ug auf bie 2lrt tr>ie jemanb fid? fleibet*); benn n>er
Ijat ein 3ntcreffe baran, fofern nur nieftt bie Hücffidjten bes
2lnftanbes außer adjt gelaffen roerben? Befanntlidj gilt aber
bas (ßegenteil; aud) bie Kleibung bilbet einen (Segenftanb
*) 3^? befdjränfe mta? bei ber folgenben Unterfudjung auf ben
l^auptgegenftanb ber HTobe; bie Kleibung, obfdjon bie ITCobe fid^ be*
fanntlidj aud? auf anbere (Segenftanb e erftreefh <£s t^at für nüd? nia?t
bas geringfte 3ntereffe, ben Umfang ber UTobe fefoufteüen, es genügt
mir, an ber Ejauptart berfelbeu bas eigentümlidje IHotit? berfelben flar*
3ufteflen>
\S2
Kapitel IX. Die fatale Hlea^attif. Das Stttltdje*
ber gefeflfc^aftlid^cn 2lnf orberungen , unb niemanb, ber ben
Kreifen angehört, für welche bas „(ßefefc ber ZITobe" über*
haupt eyifiiert, fann ftch bemfelben ent3iehen, ohne an3ufio§en,
bie öffentliche XTCeinung 3wtngt ihn, ben jeweiligen Cypus,
ben bie Zfiobe für bie Kleibung aufgeteilt h<*t, 311 befolgen;
bie Utobe gehört alfo, fotoeit ihr (Seitungsgebiet reicht, 311
ben gefellf chaftlidjen 3mperattt>en (S.
Don ber UTobe ifi too^I 3U unterfdjeiben bie £ r a dj t.
Beibe jtnb obligatortfcher 2lrt. 2lber bas 2Tüotit> beiber
ifi ein gcm3 perfchtebenes: bei ber Cradjt ifi es ein gefunbes,
[233] fo5iaI berechtigtes, fte gehört ber Sitte an, bei ber
ZHobe ein ungefunbes, faial unberechtigtes, fte gebort nicht
3ur Sitte in bem fpäter (Tit. 2\) von mir 3U entwicfelnben
Sinne. Damit hängt als 3weiter Unterfdjieb bie Derfchieben-
heit ihrer DauerBjaftigfeit 3ufammen: bie Cradjt tfi bleibenb,
bie 2ftobe vorübergehen b. Unb als britter, ba§ bie bracht
nicht bloß burch bie Sitte, fonbern auch burch (Sefefe oor-
gefdjrieben fein fann (2lmtstracht, Uniform).
Das (ßemetnfame beiber befielt barin, ba§ fte ber perfon
burch bas Kleib einen Stempel aufprägen, welcher bie Kate-
gorie von perfonen, 3U ber fte gehört, äußerlich jtdjtbar
macht, ähnlich rote bas (Bepräge ber ZTlü^en ben UletaH*
gehalt berfelben. Die Unterfdjtebe, welche bie (Eracht a?3en-
tuiert, ftnb berechtigter, bie ber UTobe unberechtigter 2lrt.
Der widjtigfte Unterfchieb, ben bie Cradjt ftgnaliftert, tfi
ber bes (ßefdjlechts. Die Kunbgebung besfelben burch bie
Derfchiebenheit ber männlichen unb weiblichen Cracht gehört
3U ben überall ftch wieberholenben <£rf cheinungen , unb tt>ir
werben uns unten (Ztr. 2\) über3eugen, ba§ fte eins ber mv
erläglichften firforbemiffe ber ftttlichen ©rbnung bilbet.
(Ein 3tt>eiter Unterfchieb, ben bie (Eracht 3um 2lusbrucf
bringt, ifl ber ber ftaatlichen DienfifieHung : bie 2lmts*
t rächt ber Seamten, (ßeifilichen unb bie Uniform [234]
Die irtobe* — Die Cradjt.
bes Vdxlxtäts, aber fte gehört nidjt ber Sitte f fonbern bem
(ßefefc an.
<gine britte 2trt tfi bie Po If stracH 3fc (Bebtet Ijat
ftdj im £aufe ber &e\t meljr unb mefyr verringert , unb bei
ben mobernen Kultursölfem ift fte für bie fyöBjeren Kreife
vollflänbig burdj bie UTobe perbrängt toorben. Wo fte nodj
beftefyt, I^ebt audj fte ftdj, tt>ie bie beiben vorfyergenannten
beutlidj von ber ZTtobe ab. (Einmal burdj itjr Ztlotto. Sie
ijat 3um gtsecfe bie Kunbgebung ber Volts* ober Stammes«
gemeinfdiaft*) unb bilbet eins ber äußeren Banbe, toeldje
btefelbe aufredet erhält f einen Cräger ber fyiftorifdjen Konti*
nuität bes Dolfslebens. 3)er 2lngefyörige eines Polfsftammes,
bei welchem eine Polf stradjt 3ur3eit nodj befielt, umrbe
burdi Cosfagen von berfelben eine ZTlißaditung bes Potfs*
tümlidjen, eine (ßeringfdjä&ung ber IPeife feiner Päter bofu«
mentieren, bie er bem JDiberftanbe ber öffentlichen XHeinung
gegenüber fdjtDer würbe aufredet erhalten fönnen. Das 3tr>eite
ZTToment, tseldjes bie Polfstradjt r>on ber ZTTobe unterfdjeibet,
ift tljre Dauerfyafttgfett. 2Tfandje Polfs tradjten fyaben
jtd? burdj viele 3afyrfyunberte Bjtnburdj behauptet, tväljrenb
bie ZHoben oft faum nadf 3a^ren 3<$fylen; bie Polf stradjten
ber ZHontenegriner, 2tlbanefen u* a. haben un3äfylige ZHoben
ber 3ir>ilifterten Pölfer überlebt.
[23B] 3" biefem ZHomente ber Dauerfyaftigfett ifl bas
große Übergetoicfyt gelegen, tx>eldjes ber Polfstradjt in äflfye-
tifdjer Be3iet|ung ber XHobe gegenüber 3ufommt. ^Sene Ijat
geit, einen geroiffen Cypus ber Kleibung voHftänbig aus3u*
bilben unb ettoas unrflidj Schönes unb (Efyaraftertftifdjes 3U
fdjaffen, tvätjrenb bie ZTCobe, bie aus einem <5runbe, ben
*) Darum toar bei ben Hörnern ber (Sebraud? ber römifdjen Polfs*
tradjt: ber (Eoga ben ^remben unb SFlauen mtterfagt, unb felbfl: ber
gitterte, ba er aufgehört tjatte, römifdjer Bürger 3U fein, mugte fie
fofort ablegen.
Kapitel IX. Die foiale XTTedjanit Das Sittliche.
rpir unten fennen lernen tperben, ftets ifyr eignes IDerf rafdj
tpieber 3erftört unb von einem (gftrem ins anbete fpringt,
bie ettpaigen 21nfäfee 3um Schönen nie weiter perfolgen fann,
fonbem faum erfaßt, tpieber fallen läßt
Wit ge^en 3ur näheren Betrachtung ber 2T?obe über.
XDäfyrenb bie Cracfyt bauernb ift, irrt bie ZHobe ruhelos un*
ausgefegt untrer, um jtets Zteues auf3ufudjen. 2lber rx\d\i
etwa ein folcfyes, tpeldjes gefdjmacfpoQer tpäre als bas Bis*
fyerige, fonbem ifyr ift es nur um bas Zteue als folcfyes 3U
tun, fte fdjricft felbji bapor nicfyt 3uriicf, bas gefunbene Sdjöne
unb (ßefcfymacfpoHe mit bem £}äßlid}en unb (Sefdjmacflofen
3u pertaufdjen unb formen ber Kleibung 3U erfmben, bie mit
ben pon ber Hatur burcfy bie (Seftalt bes menfdjlidjen Körpers
porge3eicfyneten (5runblinien ber 23efleibung im fdjroffften
tDiberfprudje ftefyen. IDäfyrenb fonft jebe Kultur auf ber
Kontinuität ber €nttpicflung beruht, auf bem ^eft^altcn unb
ber forgfamen pflege unb 5ortbilbung bes einmal (Setponnenen,
fagt fidj allein bie ZHobe bapon los, um im regellofen &id$adf
im rpilben Caumel, fyn unb tje^ufpringen, jebe eben [236]
getponnene pofttion fofort lieber opfernb unb felbftmörberifdj
i^r faum gefcfyaffenes Wext 3erftörenb. Die £t)inefeu be«
3eid?nen eine getpiffe 21rt ber Sitte, bie tpir burdj „Cages*
ftrömung" tpiebergeben fönnen, als XDinb (füng)*), bie 23e«
3eid]nung rpäre rpie gemacht für bie ZHobe.
#>orin Bjat biefe feltfame Derirrung iE|ren (Srunb? ©ffen*
bar muß berfelbe 3tpingenber 2trt fein. 3f* 5*eube
*) Hadj einer Ittittetlung, bie idj ber (Siite bes Sinologen f retfjerru
von (Sab eleu tj rerbanfe, „Die Cfyinefen fennen bret 2Iusbriicfe für
bie Sitte* Li = gute Sitte, 2Jnftanb, (Ettfette unb religiöfer Kultus
i»irb burdj (bas gleichlautende, aber völlig anbers gefdjriebene) Ii Der*
nunft, (Drbnung erflärt; suk Sitte, mefyr im Sinne bes Dulgä'ren,
lanbesublidjen im (Segenfat$ 3um (Sepflegten, (Sebilbeten; fung eigentlich
IPinb = Sitte, tpofyl metjr im Sinne bes <§ett* ober Hatiottalgeiftes."
Die Tttobe. — HIotitu
\S5
an ber Deränberung, ber Hei3 ber ZTeuheit? (£5 ijl ja richtig,
baf$ ber ZHenfch bie Deränberung liebt, baß er von Seit 311
<§eit ettoas XTeues fehen unb erleben muß, toenn er frifch
bleiben foll, fotpie ferner, baß biefer Crieb fich mit fort*
fchreitenber Kultur fieigert, Der (Sebilbete ift unfiäter, per*
änberungsbebürftiger als ber Ungebilbete, er perlangt unaus*
gefefet neue Anregung, neue €inbrücfe, toenn ihm bas Ceben
nicht fchal roerben foH, unb biefer C^araftersug betpährt ftch
toie bei 3n^)il>^uen/ \° auc*? bei Dölfern. So fönnte man
es ja tnelleicfjt erklären, baß bie Polfstracht bei ungebilbeten,
bie JHobe bei gebilbeten Dölfern ihren Sife auffchlägt 2tHein
roenn bies ber richtige (Srunb tpäre, fo müßte fich bie UTobe
bei allen Pölfern auf einer getruffen Kulturftufe tpieberholen,
unb boch [237] ljaben bie Homer, felbft auf ber tjöcfyften
Stufe ihrer Kultur, bie ZHobe in unferem heutigen Sinne
• nicht gefannt. 2Tfan l|at 3tpar auch bei innert pon einer ZHobe
gefprochen*), allein meines <£rachtens mit Unrecht. ZHan
pertpechfelt babei bas allmähliche 2Iuffommen bes XTeuen,
bas <£rfmben unb bas Nachahmen frember Crachten, pon
bem uns allerbings bie römifchen SchriftfteUer 3U berichten
roiffen, mit ber ZHobe. 3^ fenne fein einiges Zeugnis,
meines uns bie beiben charafteriftifchen güge berfelben: bie
Kur3lebigfeit unb bie 3toingenbe ZHacht berfelben für bie ent*
fprechenben römifchen <5efellfchaftsfreife namhaft machte. Keine
römifche ZTTatrone toar, roie es unfere gütige ^rauenroelt ber
gebilbeten Kreife in ber Cat ift, genötigt, bie ZHobe mit3u«
machen: nicht biejenigen 5^uen fielen in Horn auf, tpelche
an ber hergebrachten bracht fefthielten, fonbern biejenigen,
roeldje fie per liegen, unb baß erftere bies permochten, 3eigt,
baß es eine 2T?obe in unferem Sinne nicht gab, h^^utage
*) IHarquarbt, Hömtfcfye prinataltertiimer, Tibi. 2. £etp3tg
1867. S.XTi.
\S6 Kapitel IX. Die fatale ITCedjamf. Das Stttliä>,
tr>äre bies unmöglich Damit oerträgt jtch pollfommen, ba§
auch bas Zteue in Horn feinen 2$et3 ausübte, ba% ber (Se*
fehmaef, ber Schönheitsjtmt unb bie (Erftnbungsfraft bes weih*
liefen (Befchlechts in Schmucf unb Kleibung jtch aufs er*
giebigjte betätigte, unb bajj felbfl bie althergebrachte Cracbt
im £aufe ber geit aHertjanb XDanblungen erfuhr. 2llles bies
hat mit ber XlTobe in unferem heutigen Sinne nichts 3U
fdjaffen.
[238] Um bas IDefen ber heutigen ZTCobe 3U begreifen,
barf man nicht auf 2TIotit>e inbitnbueller 21rt 3urücf greifen,
u>ie es bie bisher aufgeführten pnb: Deränberungsluft, Schön-
heitsjtmt, pufefucht, Nachahmungstrieb. <£s ijt 3u>eifellos,
baß biefe 2Tiottt>e jtch 3U ben perfchiebenjien Reiten in ejtra-
t>agaritefter IDeife an ber (ßeftaltung ber Kleibung, unb 3«?ar
in erjler £inie ber toeiblichen serfucht liaben, fte haben ben
Satirifern aller Kulturüölfer von jeher ben reichten Stoff
bargeboten. 2lber bie ZlTobe in unferem heutigen Sinne h<*t
feine inbhnbueHen 2TJotix>e, fonbem ein fo3iales ZHotto, unb
auf ber richtigen dErfenninis besfelben beruht meines <£r*
achtens bas Derjlänbnis ihres gan3en IDefens. (Es ijt bas
Seftreben ber 2lbfcheibung ber höheren (SefeHfchaftsflaffen
von ben nieberen ober richtiger ben mittleren; benn bie
unteren fommen babei nicht in Betracht, ba bie (5efahr einer
Derroechflung mit ihnen jtch fchon t>on felbft ausfeh ließt. Sie
ZHobe ift bie unausgefefct son neuem aufgeführte, toeil fiets
oon neuem niebergeriffene Schranfe, burch welche jtch bie
Dornehme lüelt i>on ber mittleren Jtegion ber (ßefellfchaft
ab3ufperren fucht, es ift bie ^efejagb ber Stanbeseitel-
feit, bei ber jtch ein unb basfelbe Phänomen unausgefefet
toieberholt: bas 23eftreben bes einen (Teils, einen u>enn auch
noch fo Keinen Oorfprung 3U gewinnen, ber ihn t>on feinem
Verfolger trennt, unb bas bes anberen, burch fofortige Auf-
nahme ber neuen ZHobe benfelben uneberum aus3ugleichen.
So3tales UTotfo ber ITCobe*
\S7
[239] Daraus erflären jtcfy bie cfyarafteriflifcfyen §üge ber
heutigen fllobe. gnevft litte <£ntflel}ung in ben Bieren
(ßefetlfdjaftsfreifen unb iB^rc ZTacfjafymung in ben mittleren.
Die ZlTobe ge^t t>on oben nact^ unten, nidjt von unten naefy
oben. Die ^ö^eren Kreife ftnb bie „tonangebenben", toie es
t|ei§t* (Ein Derfudf ber mittleren Klaffen, eine neue HTobe
auf5ubringen, toürbe felbft mit i}ilfe uoefy fo toirf famer äftBje*
tifc^er XKottoe niemals gelingen, ben Rotieren würbe nichts
ertDÜnfct^ter fein, als toenn jene ttjre eigene HTobe für ftcfy
Ratten *).
5obann ber unausgefefete &?ecf?fel ber ITCobe, Qaben
bie mittleren Klaffen bie neuaufgebradjte ZHobe aboptiert, fo
Ijat fte aus bem angegebenen <5runb i^ren Ü?ert für bie
Ijöfyeren verloren, bas Unterfdjeibungsmerfmal Ijat aufgehört
es 3U fein, roie bas 5elbgefdjrei, bas bem 5*inbe befannt
geworben iji, unb es bebarf ba^er eines neuen. Darum ift
ZTeuBjeit bie unerläßliche 2Jebingung ber HTobe, wenn fte
i^ren §voed erreichen foQ, Selbji bas ^äßlictje unb <5e-
fdjmacflofe fhtbet um biefen preis Zutritt, wenn bas Schone
ftdj erfdjöpft unb ben Vorzug ber Zteuljeit verloren tjat. Die
Cebensbauer ber Hlobe beftimmt [240] ftcfy im entgegen*
gefefeten Verhältnis 3ur Hafd^eit i^rer Verbreitung; i^re
Kur3lebigfeit hat ftdf in unferer geit in bemfelben Hlaße ge»
fteigert, als bie ZTlittel 3U ihrer Verbreitung burch unfere
pert>ollfommneten Kommunifationsmittel gewachfen ftnb. gur
<§eit als es noch feine <£ifenbahnen gab, welche täglich taufenbe
*) Was fte aber gleidjtDofyl nic^t abhält, in ber Kloafe bes parifer
Demtmonbetums nadj neuen Alupent 3U fudjen unb IHoben auf3ubringen,
roeldje ben Stempel it^res un3tidjtigen Urfprungs beutlidj an ber Stirn
tragen, rote ^r. Vifdjer in feinem wegen ber uns erfüllten 2Xrt, u>ie er
bie Sadje beim regten Hamen nennt, melgetabelten, meines <£xad)Uns
aber eben barum fjödjfl üerbienjHidjett 2Iuffat$ über bie UTobe in Horb
trnb Süb |878, 8b. % S. 365 ff* fdjlagenb nad?geu>iefen fjat.
Kapitel IX. Die feciale Xftecfyanif. Das Sittliche*
t>ou Kleinftäbtem in bie großen Stäbte bringen unb bie neuen
Xfloben in (ßeftalt von ZHobejoumalen unb Hluftern fofort
über bie gan3e Welt verbreiten, roar bas Cempo ber ZHobe
ein ungleich langfameres als h^utage, wo basfelbe eine
rapibe (Sefctjroinbigfeit angenommen l\atf welche fich 3U
ber früheren verhält wie bie heutige <£ifenbahn 3ur alten
Beichspoft.
21ns bem angegebenen foialen Xfiotiv erflärt fich enblich
auch ber britte charafteriftifche <gug unferer heutigen ZTTobe:
ihre t>ielgefcholtene unb bodj willig ertragene ^Tyrannei,
Die JTfobe enthält bas äußere Kriterium, baß man, rt>ie ber
2lusbrucE lautet, „mit 3ur (ßefeßfehaft gehört". IDer barauf
nicht reichten will, muß fie mitmachen, felbft wenn er aus
äftfyetifcfyen ober gweefmäßigfeitsgrünben eine neu aufge*
fommene (5eftaltung berfelben noch fo fetjr perwirft. <£ben
barauf, ba§ bie ZHobe bie Unterorbnung ber eignen befferen
Über3eugung unter bas als verfemt <£xtannte erforbert —
bas sacrificium intellectus in SaA\en bes (ßefchmaefs unb ber
<§wec!mä§igfeit — beruht es, ba§ ber Sprachgebrauch ihre
fjerrfchaft gan3 3utreffenb als „^Tyrannei" unb biejenigen, bie
fich ihr willenlos unterorbnen, als „Silasen" ber ZHobe [241]
be^exdinet, fie ift nicht eine bloße J^errin, wie es bie Schön-
heit unb bie IDaijrfyeit ift, ber man fich unterorbnet, weil
il^re fjerrjehaft eine berechtigte ift unb als folche anerfannt
wirb, fonbem fie ift eine tEyrannin, beren ZHacht man als
unberechtigt erfennt, unb bie man bennoch fchwach genug
ift 5U ertragen»
Damit ift ber ZHobe ihr Urteil gesprochen. Die Zfladit
ber Sitte teilenb, bie ber ITtoral vielfach weit überbietenb,
üerbanft fie bie fjerrfchaft, welche fie ausübt, nicht gleich
ihnen gefeUfchaftlich berechtigten Motiven, fonbem bem uu*
lautern <§uge ber Stanbeseitelfeit. (Belangten bie Stäube,
welche fchtr>ach unb töricht genug finb, fte nadftuahmen, 3um
Schales ZTCotto ber XTlobe. — Die Sitte»
189
(Sefüfyl itjrer IDürbe unb Selbfiadjtung, toeldjes fid? bavan
bemätivt, ba§ man nidjts anderes porftellen tt>iH, als was
man ift, [o toäre es um bie ZHobe gefdjefyen, unb bie Sd?ön<
B^cit fönnte uneberum ifyren Sit$ auffdjlagen, txne fxe ifyn bei
allen Dölfem behauptet hat, meiere bie ZHobe in unferem
heutigen Sinne nicfyt fannten, tr>eil fie entoeber md\t bas
öebürfnis füllten, bie Stanbesunterfdjiebe burefy bie Kleibung
3U af^entuieren ober, too es gefcfyafy, perftänbig genug u>aren,
fte 3U refpeftieren»
2) Die Sitte.
<£s ift bas 3tx>eitemal, baf$ unfere Unterfucfyung bie Sitte
berührt; bas erftemal (S. \6ff.) gefcfyafy es, um bie 2Iusfage
ber Sprache über fte 3U t>ernefymen, gegenwärtig, um bie
tDiffenfcfyaft 3U IDorte fommen 3U laffen. Unb [242] beffen
bebarf es in fyofyem (grabe* <£s gibt im gan3en Umfreife
ber <£tfyf fein 5elb, bas in bem ZHage im argen liegt, bei
bem es nod? fefyr an allem unb jebem gebricht, was roiffen*
fcfyaftlid} 3U tun ift, als bie Sitte; fie gleicht einem toilben
21<fer, ber erft urbar 3U machen ift. 3^ ^5 nid?tf um
mein Derbienft ins £id}t 3U fefeen, fonbern um ben Cef er
barauf por3ubereiten, ba§ es fyer fd]u>ere 2lrbeit 3U tun gibt,
unb ba§ er ftcfy bie ZHüfye unb ben langen 21ufentfyalt auf
biefem 5led unangebauter (Erbe nidjt r>erbrie§eu laffen barf.
21uf urbarem 23oben ift leid?t pflügen, bie 2X>ilbms muß man
erft roben, beoor man ben Pflug 3ur Ejanb nehmen fann.
gugleid] fage \<i\ es, um bamit bas (ßeftänbnis 3U t>erbinben,
baß tdj trofe langer barauf oermanbter müfyfamer Arbeit
nicfyt imftanbe geroefen bin, mir f elber Polles (ßenüge 3U
leiften, idf fyabe bas (ßefüfyt, ba§ nod? manches 3u tun übrig
geblieben ift, bas id} trofe aller 2lnftreugung nid?t l?abe be*
wältigen fönnen, unb bas einer frifcfyen Kraft vorbehalten
bleiben muß.
$0 Kapitel IX. Die feciale nTedjanif. Das Stttltdje.
Die erfte Arbeit, bie es ju tun gibt, iji, bas 5elb, auf
bem ftcf? unfere Itnterfucfjung betpegen foH, genau ab3ujiecfen.
(£5 toirb begren3t burdj $wex henadfiatte (Bebiete: bas ber
(ßetpohnfyeit unb bas ber ZTforal. Die Sprache B^at $xoat bie
<5ren3pfät}le bereits gefegt, aber roarum jte es getan, unb
ob fte babei bas Hidjtige getroffen, bleibt uns 3U ermitteln
übrig» 3n be3ug auf bie 2lbgren3ung ber Sitte pon ber
(Setpofytljeit foH bies I|ier [243] gefdjeBjen, in be3ug auf bie
ZTToral oermögen tpir es erft fpäter, nacfybem rr>ir uns burdj
eine längere Hnterfudjung ben IDeg ba3u gebahnt I^aben.
3cfy behalte meine JDeife ber betaillierten 2Iuf3äfylung ber
ein3elnen Unterfudjungspunfte bei.
0 Begrifflicher Unterfdjieb ber Sitte pon ber (ße-
tpofyntjeit.
Die fpradjlicfye Catfadje biefer Hnterfcfjeibung ijl uns
bereits pon unferen fpracfylidjen Unterfudjungen I^er befannt
(S. \7 ff.). (Setpoljnfyeit, worunter tpir hier nicht bie inbipi*
bueHe, fonbern bie allgemeine perftehen, ift bie bloße Cat*
fächltchfeit bes fortgefefeten allgemeinen J^anbelns, Sitte, bie
fich 3U i^r l^in3ugefellenbe gefetlfchaftlich perbinbenbe <5eltung
berfelben. Ztur in bem le&teren Sinne gebrauten tpir fortan
biefen 2Iusbrucf*)f unb toir befinben uns barin in Überein»
ftimmung mit ber Sprache, toelche pon (ßeboten ber Sitte,
nic^t ber (ßetpofynfyeit rebet. 3n be3ug auf ben plural: bie
*) (Segenüber £efern, t»eld?e bie Sacfye nidjt vom Wort unter*
fdjeiben fönnen, fjatte idj bie BemerFmtg nidjt für verloren, bag alles,
was idj im Perlaufe meiner Unterfndjung über bie Sitte entoicfeln
n>erbe, feine »olle (Seltung behält, audj tuenn ber von mir 3ugrmtbe
gelegte Begriff fidj mit bem, tpeldjen bie Sprad?e mit bem XDorte vev*
fnüpft, nidjt t?oüftänbtg beefen follte, es trmrbe btes nur bartnn, bag
es 3um 2lusbruc£ besfelben eines befonberen IDortes bebarf, ben Begriff
f elber fjoffe idj in einer IDeife begrünben 3U fönnen, bag bie Selb*
flänbigfett unb ltnentbefyrlid?Fett oon jebem 3ugegeben merben mug, aber
audj an ber fprad?lid?en Decfung bürfte es üjm nidjt fehlen.
Die Sitte.
Sitten roirb btcfc flrenge Unterfcheibung vom Sprachgebrauch
nietet beobachtet, unter [244] ben „Sitten" ber perfchtebenen
Dölfer, von benen bie Heifebefchreiber 3U berichten rpiflen,
perfleden fleh neben ben Obligatorien auch piele nicht*
obligatorifche: bloße Gebräuche, mit benen es jeber halten
fann, toie er £uft fyat, b. h* nach unferer Spradjtpeife
nicht 2lmpenbungsfäHe ber Sitte, fonbern ber (ßetpohnhett
enthalten.
XDorauf beruht nun biefer (ßegenfafc 3tpifchen (ßetpohn*
heit, Brauch, (gebrauch einerfetts unb ber Sitte anbererfeits?
3fl es Zufall, baß ber eine Brauch perpflichtet, ber anbere
nicht?
Der (Srunb liegt in ber Oerfdjiebenheit bes 3ntereffes.
3ft es bloß bas eigene 3ntereffe bes JE^anbelnben, bas ihn
3um f^anbeln per anlagt, unb bas roegen feines gleichmäßigen
Dorfommens in pielen Caufenben ein gleichmäßiges, allge-
meines fjanbeln tyxvoxtnft, fo fyaben wxx lebiglich eine <ße<
rpohnheit, einen Brauch« (ßeroohnheit, Brauch ift es, baß
in einer (ßegenb, reo bas I}ol3 billig, ^013, unb roo Corf
ober Steinfohle billig finb, lefetere gebrannt, baß in biefer
(gegenb Bier ober IDein, bort Schnaps getrunfen tpirb, baß
hier 3U Befleibung IDolle, bort BaumrooHe ober gar bloß
ein Schu^fetl pertoanbt, baß fyet um biefe Stunbe, bort um
jene 3U mittag gegeben, fyet 3ur Bebauung Siegel, bort
£}ol3fchtnbeln pertoanbt tperben. 21ber bas ifl feine Sitte im
tpiffenfchaftlidjen Sinne, wenn auch ein Heifebefchreiber ben
21usbrud barauf anvoenben mag; benn bei allen biefen Dingen
tut jeber bas, was er tut, nur im eignen 3ntere((e, [245]
bas 3n*ereffe anberer perfonen iji babei nicht beteiligt
(San3 ani>exs bei ber Sitte. Bei ihr fleht nicht bloß
bas eigene 3nterefle bes Qanbelnben, fonbern auch ober aus-
fchließlich bas britter perfonen ober bes gan3en publifums
auf bem Spiel. <£s t^ctribclt fleh babei um jene 3ntereffen-
Kapitel IX. Die feciale ITtecfyantF. Das Sittliche*
t>erfettung, voeld\e ben (Srunb3ug bes gefellfchaftlichen £ebens
bilbet unb ber bie (SefeUfchaft bie 2Inforberung entnimmt,
baß ber f}anbelnbe auf fte Hücfficht nehmen foHe. Diefe t>on
ber öffentlichen IHeinung geforberte Hücf ficht auf bie 3ntereffen
anberer, fagen toir fur3: bas poftulat bes gefellfchaftlichen
£(anbelns ift es, tr>elcfye bas IDefen ber Sitte im (Segenfafe
ber (Setoohnheit ausmacht
Daraus erflärt ftch bie nachteilige 5olge, toelche bie XTicht*
achtung ber Sitte im (ßegenjafee 3U ber bloßen <5etr>ohnheit
für ben ^anbelnben nach ftch stellt: ber Cabel, bie Büge,
ZHtßbilligung feiner f}anblungsu>eife von feiten bes publifums.
3n lefcterer fpricht fich nicht ettx>a ein bloß theoretifches
Urteil aus toie über einen falfchen Schluß, ein irriges Bechen*
eyempel, ein mißlungenes Kunfttoerf, fonbem bie 2Xbftcfyt einer
praftifchen Behauptung ber Sitte als einer tt>ertDollen
fo3ialen 3nftitution gegen ben Derfuch ihrer BTißachtung. 3n
bemfelben BTaße, in bem jemanb ben XPert ber Sitte für
bas <öemeimr>efen mehr ober minber lebhaft empfmbet, toirb
er biefem (ßefühle nicht bloß ba, wo fein eignes 3n^t<cffe
auf bem [246] Spiele fteht, fonbem auch ba, voo er felber
gar nicht beteiligt ift, burch fein Urteil 2üisbrucf geben.
So fcharf bem Bisherigen nach <Sett>ohnheit unb Sitte
fich begrifflich unterfcheiben, fo fonnen fte boch in einem unb
bemfelben Derhältnis fich fu^effto einanber ablöfen: bie <ße<
roohnh^it fann ftch 3ur Sitte erheben.
2) (Erhebung ber (ßetoohnheit 3ur Sitte.
Das allgemeine J^anbeln fann t>erfchiebene Stabien burch*
laufen. 5inbet bie Ejanblungsrueife bes ein3elnen allgemeine
Ztachahmung, fo tpirb fte (Bemohnheit, gefeilt ftch 3ur <Se*
toohnheit aus bem angegebenen <5runbe bas ZHoment bes
fo3ial Derpflichtenben h^u, fo toirb fte Sitte; t>erbichtet ftch
bie in lefcterer pulfierenbe 3^ öer fo3ialen Verpflichtung
3ur restlichen, fo roirb bie Sitte <$5en>ohnheitsrecht.
Die Sitte» — Dertpanblun<$ ber (SetDotintjeit in Sitte» ^3
3jl es bloß bie £änge ber §eit, welch* biefe Umwanb-
lung bewirft? Sicherlich nicf^t! Sowenig ein Ding burch
feie £änge ber geit fich in ein anberes serwanbelt, fo wenig
t>erwanbelt fich baburch allem t>ie Gewohnheit in Sitte ober
Gewohnheitsrecht. XDo in ber ZTatur eine foldje Vetwanb*
lung t>or3ugefyen fcheint, wie 3. 23. beim ^oI$e bie in 23raun-
fohle ober Steinfohle, wirfen anbere Umftänbe mit, als ber
bloge 2tblauf ber §eit; ebenfo »erhält es ftch auch bei ben
menfdjlidien (Einrichtungen *).
[247] Der Übergang ber Sitte in Gewohnheitsrecht hat
für uns l|ier fein 3"tereffe, nur fo x>iel fei Ijier bemerft, ba§
auch für ihn ber eben aufgehellte Safe, ba§ bie <§eit allein
feinen (Einfluß ausübt, solle Geltung h<*t. Die Sitte, bei
gewiffen Gelegenheiten Gefchenfe 3U geben, befteht feit un*
benflicher §eit, aber fte ift gleichwohl fein Gewohnheitsrecht
geworben unb wirb es nie werben — ber Stoff eignet fich
nic^t ba3U.
(Eine Gewohnheit wirb bann 3ur Sitte, wenn fte, obfehon
i^rem urfprünglichen HTotioe nach lebiglich bem 3ntereffe ber
Ejanbelnben bienftbar, ben Kriftatlifationspunft abgibt, an
ben fich nach unb nach 3ntereffen anberer Perfonen anfefeen,
welche bie Gewohnheit 3ur Dorausfefeung ihres Seftanbes
nehmen, fte parafitenartig umflammernb unb umf pannenb,
fo baft fich baraus ein einheitlicher, fich gegenfeitig bebingenber
3ntereffenfompley bilbet. 3^ Mte es für ange3eigt, biefe
fefunbäre <£ntftehungsweife ber Sitte, wie ich jte 3um Unter*
fchiebe oon ber primären, wo fte ohne Durchgang burch
bas Stabium ber Gewohnheit, t>on Anfang an als Sitte
auftritt, nennen möchte, burch einige 23etfpiele 3U oeranfd?au*
*) (Sait3 fo bie £efyre ber römifdjen 3urtften: ber bloße Ablauf ber
§eit als foldjer ift einflußlos, quod inito vitiosum, non potest tractu
temporis convalescere, 1. 29 de R. J. (50. 17).
». 3 gering, Der groeef im Hedjt. IL ^3
jgq, Kapitel IX. Die feciale IHedjantf* Das Sittliche*
lidjen, bie, abgeben von bem «gtoeefe, für ben idj fte I^tcr
aufbiete, mir bemnädjji nodj iljre Dtenjle leijlen foHen,
(Eine ber anftößigften 5ittenf bie es B>oIjl überhaupt gibt,
bilben bie £eidienfd}mäufe, bie fxdi bei uns [248] tnelfadj
auf bem £anbe finben*)! Zladt 33eftattung ber £eidje oer-
fügt jtcfy bas <5efolge in bas Crauerljaus, voo Speifen unb
(5etränfe aufgetragen ftefyen, unb ein gedjgelage bie Crauer-
feierltdtfeit abf daließt Der Braucfj ift Sitte, nidjt (ßetDofyt*
ljeit, b* fy. er ift t>erpflid}tenber 2lrt, bie Hinterbliebenen müffen
jtdj, toenn aud} mit blutenbem fersen unb im 5aUe ber mittel«
tojtgfeit, felbjl mit (Entblößung t>om ZTotroenbigften, bemfelben
fügen.
Wie tonnte ftdf eine foldje alles menfd?lid?e (Sefütjl oer*
lefeenbe Sitte btlben? ZlTeiner Über3eugung nadj urfprünglicfj
nidjt als Sitte, fonbern als (Semofynfyeit 3n fyobeven
Kreifen B^at man nidjt nötig, bas (Befolge 3ur £eidje burdj
Prämien tjeran3ulocfen, aber ber gemeine Zfiann, ber feine
Arbeit im Stiche laffen, unb ber auf bem £anbe gar rt>o^l
aus roeiter (Entfernung unb bei fdjledjtem IDetter $ur £eidje
fommen foH, entfdjließt fiefy nidjt fo leicht 3U biefem ©pfer
an geit unb ZHüfye, Darum ein Hei3mittel, bas ifyn Ijerbei*
fdjafft, inbem es ifyt für bie Seitoerfäumnis unb ben roeiten
XDeg entfdjäbtgt Das ZHittel tx>ar von bemjenigen, ber 3uerjl
barauf oerfiel, unb bem es barum 3U tun tx>ar, bie £eid)e
mit (Slan3 3ur (Erbe beftattet 3U fe^en, getieft gett>ä!)lt unb
er toußte audj fefyr gut, toarum er bie (Erqutcfung erfl nad?
Seftattung ber £eicfye t>erabreid}te, unb ntdjt, toas bod) bas
Hatürlidtfte getoefen tx>äre, fdjon oorfyer. Das ZHittel be-
toäl?rte [249] jtdj, anbete folgten bem Beispiele. So roarb
es „öraudt", IDie fdjlug nun ber 23raudj in Sitte um?
Daburdt, ba§ bie beiberfeitigen 3ntereffen ftdj foufagen
*) Und) bei ben alten (Striefen, f. 3. $omer Zitas XXm, 9— U-
Die Sitte* — £eidjenfd?m8ufe, (Erntfcjelber* $5
hteinanber serft^ten unb ein eitriges <San$e gegenfettiger
Verrichtungen bilbeten* 2)ie £eute muffen 3ur £eiche
fommen, aber bte Hinterbliebenen ntüffen ihnen bas TXlafy
anrieten, b* h* ber £eidjenfchmaus unb bas $olqen 3ur £eiche
iß aus beiberfeittger freier <5eu>ohttheit eine beibe 3ur (Ein-
heit oerbinbenbe Sitte geworben.
€in 3u?eites 33eifpiel gewährt bie Sitte bes Crinfgelb-
gebens*), ttrfprünglich eine freie <5abe einzelner, warb
bas Crinfgelb allmählich allgemeine (ßetpotjnfyeih Sitte warb
es baburd], baß biejenigen, welche es erhielten, ftch nach
unb nach baran gewöhnten, bas Crinfgelb bei Berechnung
ihres mutmaßlichen (Einfommens mit in 21nfchlag 3U bringen,
unb baß felbß bie 2)ien(il|erren jte bei Bemeffung bes £ohnes
barauf oerwtefen. So warb bas Crinfgelb 3U einem (Ele-
mente bes Dienftoerhältniffes, einer eigentümlichen 21rt bes
£ohnes, ben niemanb fortan vorenthalten fann, ohne ein
barauf bajtertes £ebenst>erhältnis 3U läbieren* 2luch Ijtet
djarafterifiert jtch bie Sitte wieberum als bie burd) bas
3ntereffe [250] bes anbern Ceils in 23anben gefchlagene
(Bewohnhett bes einen»
3d) Ijabe fymmt ben Hergang seranfehaulicht, rote er
meiner 2lnjtcht nach bei ber 23ilbung ber Sitte aus ber (Be-
wohntet ftattgefunben fyat Vamxt l\at aber feineswegs
behauptet werben foHen, baß biefer Übergang überaß erfolgt,
wo 3U einer bejtehenben (Bewohnheit bas 3ntereffe jtch h*n-
3ugefetlt; fonji müßte aus berfelben auch in fällen, wo bie
hergebrachte ZDeife ber Kleibung, Ernährung, E[ei3ung ufw,
*) Das (Ojema ift von mir h^mifdjen fett bem (Erfahrnen ber erften
Auflage biefes Raubes in einem befonberen, aus ben obtaen Unter*
fndpmgen über bte Sitte tjerüorgegangenen Zlnffa^e befyaubelt roorben,
ber urfprünghdj in Wettermanns HIonatst]eften 1882, Zlprilfyeft oer-
3ff enthalt morben unb oann als befonbere Sd?rtft erf dienen iß; Das
Erinfgelb, 8raunfd?meig, 2* ZluflL, 1882, 5. 2lu$., {902.
13*
Kapitel IX. Die (totale tITed>antf. Das Sittliche.
2lnla§ geboten Ijat 3ur 33egrünbung geunffer 3nbujh:te3tt>etge,
ebenfalls eine Sitte, b. h» eine Verpflichtung 3ur Beibehaltung
ber (Setpofynfyeit im 3ntereffe bes andern Ceils h^orgeheu.
ZTteine Behauptung geht nicht bahin, ba§ überaß, tr>o sur
<J3etx>ohnheit bes einen Ceils ein 3ntereffe bes anbern ftch
fyn3iigefellt, bie Sitte baraus h^sorgehe, fonbern ba§, u>o
bie bloße (ßewohnheit fiel? in Sitte t>ertt>anbelt, bies auf
bie angegebene XVeife 3U erflären fei, woraus ftch bann von
felbft ergibt, baj$ nicht jebes 3ntereffe fchledfthin ba3ii aus-
reicht, fonbern, ba§ es einer befonberen (Seftaltung besfelben
bebarf, über bie fiel} im allgemeine^ nichts fagen lägt.
€in gewiffes (Segenftücf 3U bem bisher erörterten phä«
nomen bietet bas 5olgenbe bar.
3) Das ^erabfinfen ber Sitte 3um praftifch'bebeutungs-
lofen Brauche.
3ft ber §toe<f hntweggefallen, bem bie Sitte 3U bienen
[251] hat, fo h<*t fte ihre Bebeutung perloren, unb fte foHte
jefet bas 5elb räumen. 2lber bie (ßefchichte führt uns in
be3ug auf bie Sitte biefelbe firfcheinung x>or, ber wir auf
allen (ßebieten bes £ebens, sornehmlich im Hecht unb in
ber Hechtsfymbolif begegnen*): 5ortbeftehen bes einmal <5e*
worbenen nach IVegfall feiner Berechtigung oermöge ber
blogen h'ftorifchen vis inertiae. Das einft Bebeutungsoolle
erhält fich noch als ein fofftles Stücf Vergangenheit, bas
oft wunberlich in bie (ßegenwart hineinragt, als wertgehaltene
Heliquie, in ber man bas Jlnbenfen ber X>or3eit ehrt, als
U)ahr3eichen ber Vergangenheit, es ift bas (Snabenbrot ber
<5efchichte nach beenbetem Dienfte.
2lls Beifpiel einer folchen urfprünglich bebeutungsooöen,
fpäter bebeutungslos geworbenen Sitte aus heutiger <§eit
*) S. barüber meinen (Seift bes H. H* II. I, 5. b{% wo bie fultur*
fyftorifcfye 23ebeutung biefer (Erfdjemmtg gemürbtejt tfl»
Die Sitte* — Der 33rcwdj (bas gutrtnfen)* — Die Unfttte. $7
nenne ich bas gutrinf en beim gaftlichen ZHahle. Don bem
urfprünglichen I)öd)ft praftifchen gweefe biefes Braucks t?at
heut3utage faum jemanb eine Ahnung mehr, man erblicft
barin nichts als einen freundlichen <ßru§. 3n UMrflichfeit
hatte aber ber 23rauch einftmals eine gar ernjte öebeutung:
bas gutrinfen war Dortrinfen aus bemfelben Sedier, unb
es gefchah, um feinen (5aft gegen t>ie Seforgnis, baß ber
Cranf vergiftet fei, jtcher3ußetlen. <ßan3 basfelbe gefchieht
noch bis auf ben heutigen Sag bei mannen apatifdjen unb
afrifanifchen Pölferfchaften burch ben ZTlunbfchenf unb ben
£eibar3t, ber bem dürften [252] ben Sedier IDein ober 2lr3nei
freben3t, unb wer bie Sinnesart unferer Altporbern nicht
bloß aus <5ebidjten ober Homanen, fonbern aus ber (5e*
fdjichte fennt, wirb begreifen, baß unb warum biefe Dorfichts*
maßregel auch bei ihnen ihren triftigen (5runb hatte.
IDie bie Sitte ihren urfprünglicheu <§wed? gän3lich per-
lieren fann, fo muß es auch <*fe möglich anerfannt werben,
baß fte benfelben wechfett; äußerlich bleibt alles beim Alten,
aber bie innere Sebeutung ber Sitte ijl göttlich peränbert.
Als öeifpiel biene bie Deränberung, welche mit bem (Bruße
vorgegangen ift, ber urfprünglid), wie bemnächjt bei ben
Umgangsformen nachgewiefen werben wirb, ben Sinn ber
^uftcherung ber Annäherung in frieblidjer (ßefinnung 3um
5wecf hatte, fpäter aber bie einer fonpentionellen Artigfett
bagegen eintaufchte.
4ß Die fchlechte Sitte.
Die Sitte als 3nftitution iji gut, ebenfo wie bas Hecht.
Aber bies fchließt nicht aus, baß bies für ben 3nh<*lt ein»
3 ein er Einrichtungen ber Sitte wie bes Hechts nicht 3utrifft.
Dasjenige, was einjt gut war, fann burch eine Deränberung
ber Derhältniffe fchlecht geworben fein, unb felbft pon allem
Anfang an fönnen unberechtigte, aber übermächtige Cinjlüffe
bem Schlechten Eingang perfdjafft haben.
$8 Kapitel IX. Die fokale ITCedjattt?* Das Sittliche*
IDonach bemeffen voxx, uoas bei beiben gut ober fchlecht
fei? Wiv fennen ben XHaßfiab, er iji 5er bes gefellfchaftlich
ttüfclichen* sticht ber abftrafte, ber alle [253] Reiten unb
Pölfer mit berfelben <£He mißt, fonbem ber relattoe, ber
bas gtseefmäßige nach ben gegebenen fyftorifdjen Perhält*
niffen bemigt Um ihn an3ulegen, muß man alfo biefe Der»
hältniffe genau fennen* (Sar ©ieles, tx>as im Hecht unb in
ber Sitte vergangener Seiten auf ben erften Slicf höchfi an*
ftößig unb nahe3u unbegreiflich erfcheint, u>irb bei näherem
itachbenfen unb mit ^ilfe ber (Sef dachte serftänbltch*
21uch für bie Sitte unferer heutigen geit gilt bie obige
Semerfung, fie bietet uns einzelne <5eftaltungen bar, roelche
mit bem ber Sitte als 3nftitution nachgerühmten (Zliavaftev
3uge bes gefellfchaftlich Hüfelichen in fchreienbem IDiberfpruch
fte^en. 2lls Jjauptbeifpiel nenne ich &<ts Duell <£in Über»
reft aus ben Reiten bes 5auftrechts unb bes Htttertums, balb
tote bei ben €ru>achfenen, §u>eifampf auf Cob unb £eben,
balb toie in Stubentenf reifen, ein auf SchaufteHung ber <5e«
fehieflichfeit unb bes ZHutes berechnetes vov §ufchauern auf«
geführtes, nicht immer ungefährliches Schaufpiel, fyat es jtch
trofc bes £>erbammungsurteils ber öffentlichen Zlteinung unb
trofe aller bagegen gerichteten Bemühungen ber XtToraliften
toie ber (Sefefegebung bis auf ben heutigen (Eag behauptet,
unb stoar toohlgemerft nicht ettoa als ettoas bloß (Eatfäch-
liches, fonbem als eine 3nftüution ber Sitte, b. h* cxls
5tt>ingenbe XHacht, ber ftch felbft ber jenige nicht 3u ent3iehen
tr>agt, ber x>on ihrer XJertoerflichfeit über3eugt iji, unb bie
ber ZTlacht bes (ßefefees fpottet. (Eacitus rühmt von ben alten
(Sermanen: [254] plus valent ibi boni mores quam alibi bonae
leges; im ^inblicf auf bas Duell möchte man fagen: plus
valent ibi maJi mores quam bonae leges.
Die Sprache be3etchnet eine Sitte, bie fie mißbilligt, als
Unfitte (Unfug), Wit fönnen 3u>ei Jtrten unterfcheiben: bie
Die Sitte* — Kriterium ber Unfttte*
lape Sitte, roeldje etwas bulbet, perftattet, xoas fte nicht
bulben follte, bte alfo für bie öffentliche UTeinung ben Dor-
tpurf ber 3U tpeit getriebenen CEoleran3 in fich f chliegt, unb
bie 3tpingenbe Unfttte, tpelche etwas perlangt, gebietet,
was fich mit bem tpohlperftanbenen 3ntereffe ber (ßefellfchaft
nicht perträgt* Die lefetere 2trt ift öie bebenf lichfte; bemx
bie erftere brauet niemanb mit3umachen, ber nicht £uft h<*t,
fie läßt bie inbipibuelle 5reihett neben fich befielen, bie
anbere nicht
2>as von ber Sprache anerfannte Dafein ber fdjlechten
Sitte als Unfttte 3tpingt uns, unfere Behauptung, ba§ bie
Sitte bas gefeUfchaftltch Hüfelictje 3um 3nhal* 3U mobi*
feieren, toir muffen einräumen, baf$ ber Safe Ausnahmen
erleibet, unb neben ber Sitte im engeren Sinne: ber guten
auch eine fchledjte ober Unfttte anerfennen*
Der <5eftchtspunft, nach bem toir beftimmen, ob eine Sitte
als gute ober fchlechte 3U qualifeieren fei, ift ber von uns
aufgeteilte UTaßftab bes gefeHfchaftlich XTüfclichen, €ine Sitte,
meiere biefe prüfung nicht befteht, gilt uns als gefellfchaft«
lieh unberechtigt, als Unfraut unter bem £Dei3en. Das
Unfraut enthält feine 2tnflage gegen ben 23oben, ber es
trägt, tpohl aber gegen ben XHenfdjen, [255] ber es fte^en
läßt; ber Boben ber Sitte hört barum nicht auf ein guter 3U
fein, toeil ftch unter bem It)ei3en auch ein3elnes Unfraut fmbet.
2tn folgern Unfraut fehlt es auf bem 23oben unferer
heutigen Sitte nicht. 2tu§er bem Duell nenne id] beifpiels«
tpeife bie oben berührten £eichenfchmäufe unb bas (Erinf«
gelbertpefen. (Erftere finb bem Derbammungsurteil bes fttt-
liefen (Sefüfyls root^l in ben meiften (ßegenben Deutfchlanbs
bereits erlegen, tpäljrenb bas Crinfgelberumpefen eher im
Wad\\en als im Abnehmen begriffen ift. IDenn ich lefeteres
für eine Unfttte erfläre, ber bie <5efetlfchaft allen (Srunb
hätte ftch je eher je lieber 3U ertpehren, fo h<*be ich wich
200 Kapitel IX. Die foßtale ZlTedjamf. Vas Sittliche.
barnber fdjon an ber oben (S. $5) genannten Stelle aus*
gefprochen.
Das Unfraut enthält eine 21nflage für ben (ßärtner, ber
es fielen lägt, bie Unjttte eine 2tnflage für bie <ßefeüfd^aftf
welche jte bulbet. 3*ber ein3elne fann unb foU für feinen
Ceti 5a3u bettragen, ihr ein (Enbe 3U machen, unb was ber
etn3elne nicht permag, permögen Jlffoiattonen. 3n biefer
33e3iel|ung herrfdjt freiließ bei uns eine große Stumpfheit unb
3nbolen3. Klan fann täglich Klagen pernehmen über 2Tli§*
jlänbe unb Ausartungen bes gefellfchaftlichen £ebens, in ber
Der bammung berfelben iji jeber einher ftanben, aber faum
einem fommt ber (ßebanfe, baß er bamit jtch f elber anflagt,
unb baß es ja nur pon ihm abginge, fich praftifch ihnen 3U
tpiberfefcen, es ijl bas befannte 23eifpiel pom Stein im ZDege,
an bem [256] jeber ftch ftößt, ben jeber pertpünfeht, ben aber
niemanb jtch bie ZHühe nimmt aus bem IDege 3U räumen.
3ft ber Stein für ben eht3elnen 3U fchtper, um ihn aus ber
Stelle 3U fdjaffen, tparum pereinigen jtch nicht mehrere ba3u?
Reinigung ber Sitte pon berartigen 2lusu>üchfen toäre in
meinen 2tugen eine ber banfbarften Aufgaben, tpelche bie
2lffo3iationen jtch jieHen fönnten, unb, bie Sache beim richtigen
€nbe angefaßt, toürbe ber €rfolg nicht ausbleiben*
5) Sie gute Sitte.
Xlad\ Ausfcheibung ber fchlechten Sitte ober ber Unjttte
roenbe ich mich im folgenben ausschließlich ber guten Sitte
ober ber Sitte fchledtfhin 3u. <£s fommt barauf an, bie
5rage 3U beantworten, ob bie Sprache recht getan Ijat, jte
pon ber ZHoral 3U unterfcheiben (S. 22), b. h» nicht bloß: ob
ber (Segenfafe, ben jte 3tpifdjen beiben annimmt, toirftich
ejijliert, fonbern ob er ein innerlich berechtigter iji — es
tpäre ja möglich, baß er ein rein äußerlicher, gän3lidj be*
beutungslofer tpäre, bem bie IDiffenfchaft bie Anerfennung
perjagen müßte — unb tpenn tpir uns bapon über3eugt haben,
Die Sitte» — Uit3ulättgUd}feit bes äjtyetifdjeu (ßeficrftspunftes. 20\
ob bie Sitte ben 2tnfpruch erheben fann, neben Hecht unb
JTloral als drittes (Blieb bem Sittlichen 3uge3ät|It 3U werben,
ober ob fte von bem (Sebiete bes Sittlichen 3urücfgewtefen
werben mujj. Kur3 ausgebrüht lautet bie Aufgabe: €rmttt*
lung ber eigentümlichen fo3ialen 23eftimmung unb Berech*
tigung ber Sitte.
Dtefelbe iji 3ur3eit noch eine ungelöjte. Kein Segriff
[257] ber €tt|i? liegt, wie früher bereits bemerft warb, fo
im argen tote ber ber Sitte. Der Itmjlanb, bajj bie Gilten
ihn noch nicht fannten (S. ^Off.), fdjeint es verfchulbet 3u
haben, ba§ auch bie moberne tPiffenfchaft von ihm fo gut
wie gar feine Ztoti3 genommen ha*/ — bie Sitte bilbet nicht
bloß bas iüngfte, nachgeborene Kinb ber €thif, fonbern bas
verwahrlose, bas Stieff inb ; ihren beiben älteren Schweftern :
ber UToral unb bem Hechte gegenüber ift ihr bisher bas Cos
bes 2lfchenbröbels 3uteü geworben. Der tDiffenfdjaft lägt
ftch ber Porwurf nicht erfparen, ba§ jte hinter ber Spraye
weit 3urücf geblieben ijl; ber 2lnpo§, ben lefctere ihr mittels
ber fo fcharf burchgeführten Scheibung ber Sitte von ber
ZHoral 3ur einbringenben Unterfuchung fyätte bieten fönnen,
ip an th* fpurlos vorübergegangen. 3n manchen Dar*
Teilungen wirb bie Sitte von ber XtToral nicht einmal unter»
fdjieben, beibe 2lusbrücfe werben, wie es gerabe pagt, als
völlig gletdjbebeutenb gebraud]t *), in anbeten wirb 3war bie
Perfchiebenheit beiber anerfannt, aber an ber <£rfenntnis ber
wahren Sebeutung ber Sitte fehlt fo viel, baß lefetere balb als
etwas völlig Bebeutungslofes von ber Betrachtung ber €thi?
gän3lich ausgefchloffen**), balb nur mit bem ^ugeftänbnis
*) So 3.53. von £a3arus in feiner Heuten Schrift über ben lh>
fprung ber Sitten. Berlin, 2lufif. 2, 1867.
**) So 3. B. üon <£ty\ oort Qofmann in feiner tfyeologtf djen <Ettyf*
tlörblingen 1878, S. 80. „Die <2tt}if voxxo aud? nidjt foldjes mit ein*
f daliegen, tpas nur äugere lebensform unb Sitte ijV'
202 Kapitel IX. Die feciale tttedjattif. Das Sittliche*
ihres äfthetifchen IDertes, eines rein beforatioen 2Iufpufces
[258] abgefangen n>irb*). Daß bte Sitte eine eminente
praftifdj'etfyifcfye 23ebeutung bat, unb txne pdf biefelbe von
t>ev ber ZTCoral unterfcheibet, ift bis auf ben heutigen Cag
meines IDiffens noch t>on niemanbem nachgetr>iefen, ja nicht
einmal angebeutet; ein abermaliger Beleg für ben von mir
ber mobernen <£ttjif gemachten Oorrourf ihrer geringen 23e«
obachtungsgabe für bie Catfachen bes £ebens unb ber ihr
mangolnben praftifchen 2luffaffungsroeife.
Die Sprache fyat ben Unterfdjieb 3tt>ifchen XHoral unb
Sitte richtig herausgefühlt, aber ber <5ejtchtspunft ber bloßen
5orm ober ber 2trt bes Benehmens, ben jte t>ertr>enbet, bält
bie probe nicht aus. <£r trifft roeber überall 3U, noch trifft
er, u>o bies ber 5atl, bas XDefen ber Sache. Die $orm iji
nur bas Süßere, aber unter bem Süßeren serfteeft ftch ein
realer, praftifdjer gtoeef , ben bie Sprache nicht funb gegeben
hat. Wex bloß, tt>ie u>ir es oben bei unferen fprachltchen
Unterfuchungen über bie Sitte getan kaben unb tun mußten,
bie 21usfage ber Sprache übet jte regiftriert, gelangt über
ben (Beftchtspunft ber roohltuenben, paffenben, anmutigen,
fchönen 5orm, fürs über bie äfthetifche 23ebeutung ber Sitte
nicht kinans, bie fittlidje Bebeutung berfelben bleibt ihm
babei gänslich serfdjloffen. Daß aber biefes äfthetifche [259]
ZHotip ber Sitte in feiner IDetfe ausreicht, bas tt>ahre tPefen
berfelben 3U erfchließen, tt>irb burch bie folgenbe pofttipe
Darlegung ihrer u>ahren 23ebeutung in bem 2Tlaße außer
aßen §tt>eifel gefteHt werben, baß ich es für überflüfftg
halte, biefelbe, rote es ber Strenge nach kälte gefchehen
*) So 3» von Ittartettfen (Bifdjof von Seelanb)» Die
d?riftüd?e (Etfytf, 2luft 2, (Sotlja 1873, 33b. *, S. 537, welket bas
2lnftänbige als f,bie äfttjettfcfye Seite ber fittttdjen perföuitcfyfeit, bett
äußeren tPtberfdjein in bem gan3en tt)efen, Auftreten ber perförtltdjfeit"
befmiert»
Die Sitte* — praftifdjer gtpetf.
203
muffen, burch ben negativen beweis ber Un3ulänglichfeit
jener Jluffaffungstoeife t>or3itbereiten, nur beifptelstoeife toerbe
ich biefelbe, mo ftch mir bte (Selegenheit ba$\x bietet, an ein-
selnen 5äßen peranfdjaulichen.
Perfuchen toxx uns bes praftifdjen &voe<£es, ben bie Sitte
im 2luge h<*t, su bemächtigen» 3^ fdjlage babei ben fyeuri*
ftifchen tt)eg ein, b. h* ich tserbe bem Cef er nicht bie 2ln jtcht,
bie ich felber mir über ben &we<S unb bas eigentümliche
IDefen ber Sitte gebilbet fertig vorführen, fonbern er
felber fott fte fmben. 3ch führe ihm einige Perhältmffe t>or,
bie il|n basu inflanb fefeen werben.
Die feinere Sitte ber liötyten Stäube unterfagt bem
JHäbchen unb ber 5*au bes 2lbenbs ohne Segleitung aus3u*
gehen, Hlänner auf ihrem Limmer 3U befuchen, unb manches
bem ähnliche. ZDarum? 5)as äfthetifche TXlotiv ber fdjönen
5orm reicht h^r in feiner XDeife aus, benn unfehön ift es
nicht, roenn 3. 23. ein 2Tläbchen, um fortan ber Kür3e roegen
beffen allem 3U gebenfen, in fchöner ZHonbnacht an einfamer
Stelle im H?albe ftch lagert, um ber Nachtigall 3U lauften
ober ftch om ZlTonbfcheine 3U erfreuen. Um ber üblen Ztach«
rebe 3U entgehen? 2)ie Hücf ficht [260] bar auf mag fub-
jeftb ein 2Tlotit> für bas ZHäbdjen bilben, aber bas fubjef«
tipe ZHotio unb ber objeftise §tr>ecf einer (Einrichtung betfen
fich nicht (S. \05f.). 3m porliegenben 5aU ift ber gmeef
nicht fdjtoer 3U entbeefen. J)ie Sefchränfungen, tselche bie
Sitte auferlegt, f ollen ben Perfuchungen vorbeugen, meldte
in jenen lagen an bas tlläbchen herantreten fönnen, fte ftnb
gebacht als Sicherungsmittel ber weiblichen tEugenb — bie
Sittfamfeit, tr>ie bie Sprache in ^inftcht auf bies Stücf
Sitte fagt, foH bie ^üterin ber Sittlichfeit fein. 2>a§ jene
Sefdjränfungen ihren gtoeef nicht fchlechthin erreichen, tji
freilich ebenfo jtoeifellos, n>ie baß fte nicht fchledtfhtn nötig
ftnb — bie ihrer felbft DöHig fichere Cugenb fann ihrer
20^ Kapitel IX. Die feciale ttTecbanif. Das Sittliche.
entbehren — aber auch Schlöffer unb Siegel gewähren feine
abfolute Sicherhett gegen Diebe, unb boch machen jte ftch im
Ceben t>oHauf 6c3aB?It*
TXladien auch jene 23efchränfungen fict? besagt? Darauf
folt uns bas ZlTäbchen ber bienenben Klaffe 2Intwort erteilen.
Dasfelbe befmbet fich nicht in ber Cage, biefelbeu beachten
5U fönnen, ihr Dienjfoerhältnis notigt fte, sieles von bem«
jenigen 3U tun, was bie Sitte bem ZHäbchen ber t|öl|eren
Stänbe unterfagt. Damit aber befdjwört basfelbe Verfügungen
für fich herauf, meldte, wie bie (Erfahrung 3eigt, ihm nur
3U oft perB|ängnispott werben , unb toir werben nicht fehl*
greifen, wenn wir einen großen (Teil ber Fehltritte ber
bienenben weiblichen 23er>ölferung auf bie Ungunji biefer
äußeren Derhältmffe [261] 3urüdführen. Die Seltenheit ber
Fehltritte bei Uläbcfjen ber höheren Stänbe fommt feineswegs
bloß auf Rechnung ber größeren fittlichen &>iberfianbsfraft,
fonbern wef entlich mit auf Bechnung ber Sitte, welche ihre
fchirmenbe Qanb über fte ausbreitet, ihr bie (Befahren, Per»
lodungen fernhält, bie jenen broljen, unb wenn wir gerecht
fein wollen, müffen wir fagen: ber Schüfe unb ber IHangel
ber fchtrmenben Sitte bilben einen wefentlichen Faftor 3ur
€rflärung bes fo äußerjl perfdjtebenen pro3entfafees ber Per-
irrungen ber XHäbdjen ber fyöljeren unb ber nieberen Stänb
— eine Behauptung, für welche bie unten folgenbe Dar
ftellung uns noch ein weiteres Argument geben wirb.
<£in Seitenftüd 3U biefer unferer Sitte gewährt ber Sdtfeie
ber Orientalin. Die Sitte bes (Orients gebietet ber anfttht
bigen 5rau öffentlich nicht ohne Schleier 3u erfcheinen: ein
5rau, bie btes wagen würbe, hätte fich baburch allein fdjo
ben 2Infpruch auf jene Zeichnung aberfannt. Der äfth*
tifche (5ejtd]tspunft fdjließt fich l\kv von felbfi aus, ber Schleier
bient fyev fowenig ber Schönheit, baß er gerabe bie J3e»
jtimmung fy**, bie Schönheit bes JDeibes ben Süden ber
Die Sitte. — prafttfdjer groecf*
205
Welt 3U entstehen. Der Schleier tfi foufagen ber Derfdilufc
bes Biatems in portativer (ßeftalt, er oerfolgt benfelben §wed
wie jener: bas H?etb vot ber Zfictnnertx>elt ab3ufperren. £tadj
ber Jluffaffung bes Orientalen hängt an ber 23ett>afy:ung bes
Schleiers bie Sittlidtfeit, Keufcfyljeit, Cugenb ber £rau, bie
Cüftung besfelben [262] von ifyet Seite ober Don feiten eines
ZHannes gilt in feinen 2lugen als fcfytoerer 5rer>el, ben er mit
231ute fütjnt, unb nach ben Sendeten ber Kenner bes Orients
fteeft tatfädjlich im Schleier bie halbe £ugenb ber Orientalin.
2Ln ber ftrengen 23eu>ahrung biefer Sitte Ijat bas gan3e tr>eib*
liehe (Sefchledjt bas lebhaftefte ^ntete^e, benn an fte fnüpft
fidj bas fpärliche Stüc! ber ihm r>erftatteten 5reiheit: bie €r*
laubnis, bas Qaus ober ben ^arem perlaffen 3U bürfen —
eine Kon3effton, 3U ber fidj bie <£iferfudjt bes Orientalen
nimmer perftel^en txmrbe, toenn er ber 23ett>ahmng bes <Se*
heimniffes nicht ftcf?er n>äre.
Die 33efchränfungen, roelche bie Sitte in ben beiben obigen
Derhältniffen ber „fittfamen, 3Üchtigen, anftänbtgen"
5rau — bas ftnb bie ilusbrücf e, mit benen fte bie Stau, meldte
bie Sitte beamtet, be3eichnet — auferlegt, f ollen uns ba3U
bienen, um uns bes eigentlichen tDefens ber Sitte betonet
3U n>erben.
Drei charafteriflifch* §üge jtnb es, bie ich ihnen glaube
entnehmen 3U fönnen.
Der erfte §ug: bie innere Derfdjiebentjeit ber Sitte
oon ber ZHoral.
3ft bie Sprache in ihrem Hechte , wenn jte in ber Der-
lefeung ber oben angegebenen Hegeln bes 21nftanbes nichts
Unftttliches ober Unmoraltfches, fonbem lebiglich ettx>as Un«
fehiefliches erblicft? IDäre beibes ibentifch, fo toürben bie
JTIäbchen ber bienenben Klaffe fetjon burch ihre Dienststellung
allein 3um Unmoralifchen perbammt [263] fein, unb ein
ZTläbdten ber teeren Stänbe, bas bei plöfelicher <£rfranfung
206 Kapitel IX. Die feciale UTecfyantf. Das Sittliche*
eines ber irrigen in (Ermangelung eines bienjlbaren <5eifies
f elber genötigt tx>äre, in ber Hadjt ä^tlidje I}ilfe 3U Idolen,
mürbe ftdj eine unftttlidje J^anblung 3U fcfyulben fommen
laffen, n?äl)renb basfelbe ja gerabe umgefeljrt ftttlidt tjanbelt,
inbem es t|ier ben pflichten ber TXloxal t>or ben Hücfjtdjten
ber Sitte ben Dorrang einräumt*),
tt)orin liegt ber (Brunb, toatnm bie Spraye bas Unfttt«
Itdje unb Unmoralifdje unterfdjeibet? 3n ber inneren Der-
fdjiebenljeit beiber* Seibe verhalten pdf 3ueinanber toie bas
Hedjtstmbrige 3U bem poli3ein>ibrigen ober bas Sd?äblid?e
3u bem bloß <5efäfyrlid}en* Die 23ranbjiiftung enthält etoas
an jtdj Sd}äblidjes, bas Betreten von Scheunen, Ställen,
Söben mit um>ertoafyrtem 5euer ober £idjt bloß etwas (ge-
fährliches; bas Derbot ber erjieren bilbet ben (Segenjianb
einer Hechts-, bas ber lefeteren einer poli3eit>orfdjrift**). Die
23ranbftiftung ift nicht möglich, ohne baß ein tt>irflicher Schaben
gefdjieht, bie Übertretung ber genannten polt3eit>orfchrift fann
ohne nachteilige 5olgen »erlaufen; aber bie poÜ3ei voe\$f
roarum [264] jte bie Porfdjrift erlägt, jte oerbietet bas (ge-
fährliche, bamit nicht bas Sdjäbliche baraus entflehe.
So verhält es fich in bem obigen Verhältnis mit ber
Sitte unb ber XHoraL Diefe ©erbietet bas an ftch Schäblidje,
jene bloß bas (gefährliche* Die geschlechtliche Derirrung bes
ZDeibes ijl an jtch {djäblich, bie Behauptung ihrer Keufchheü
unb Cugenb bilbet ein unerläßliches pofiulat ber ftttlichen
©rbnung, unb bie UToral serftattet bason Jeine 2lusnahme,
*) Dies Vtxl\%\tnxs ber ttnterorbnung ber (Öebote ber Sitte unter
bie ber XTCoral im Konfiftsfalle tpirb feine^eit am <£nbe ber (Djeorie
ber Sitte von uns befprodjen werben*
**) Dag letztere, wie es bei nnferem bentfdjen 5trafgefe$bna>e
ber $ all iji (§ 368, 5), in bas Strafgefefcbudj aufgenommen ift, aiteriert
ben inneren (Ojarafter berfelben nidjt, — fle gehört ber Siajertjeits*
polt3ei an, beren Aufgabe barin befielt, bem Oefä^rltc^ett uorjnbeuaen*
Die brei djaraftertjüfdjeit §ücje ber Sttte*
207
bas (Sebot iji ein ebenfo abfolutes, ausnaBjmslofes, toie bas
Perbot ber Sranbjiiftung* 2lber bie Übertretung ber obigen
(5ebote ber Sitte iji nidjt an jtdj fd)äblicf^f jte iji gleich bem
Betreten von Sdjeunen, Ställen mit offenem £idjte möglich,
otjne baj$ baraus ber minbejie 5<ti<xben ljert>orgel)t.
gtoeiter §ug: bie ptopliYlatttfdie Bejiimmung
ber Sitte.
Sie ergibt fidj aus bem Bisherigen von felbji: bie Sitte
oerbietet bas (gefährliche, bamit bas Schäbliche nicht baraus
hervorgehe, jte roe^rt bem unoorfichtigen (gebrauche t>on
5euer unb ficht, bamit fein 5euer baraus entjiehe* 2>ie Oor-
fdjrift iji nicht auf biejenigen berechnet, toelche mit bem £icht
um3ugel|en roiffen: auf bie ihrer Cugenb oöllig fieberen per«
fonen weiblichen (Sefchledjts — jte gelten burch alle (Befahren
unb Derlocfungen oöQig unangefochten fynburcfy — fonbern
auf biejenigen, toeldje biefer ooüenbeten Sicherheit entbehren
— nicht auf bie Starfen, fonbern auf bie Schwachen. 2lber
[265] bamit biefelbe bei letzteren ihren «gtoeef erreiche, muß
jie pon allen befolgt toerben, toie bie poli3eit>orfcfyrift gleich«
mäßig beachtet toerben muß pon ben Dorjtchtigen tote oon
ben Unoorfichtigen* J)arum begrünbet bie Nichtachtung ber
Sitte auch für biejenigen einen Dorrourf, benen baoon per*
jonlich nicht ber minbejie XTachteil broht, benn jte fyanbeln
rücf jtchtslos gegen ihr (Sefdjlecht, inbem fte bas Beftehen ber
Sitte gefäfyrben, bie Starfen l^aben jtch ihr 3U unterwerfen,
bamit jte in ber Perfon ber Schwachen ihre I^eilfamen IDir-
fungen ausübe — bie 2lufrechterhaltung ber auf bas IDeib
berechneten Sitte iji ein gemeinjames 3"tereffe bes gan3en
weiblichen <5ejchlechts.
XüoHen wir bie t|ier entwicfelte 2luffaffung ber gefetl-
fdjaftlichen Seftimmung ber Sitte in ein einiges U)ort 3u-
fammenbrängen, fo jagen wir: bie Sitte iji bie Sicher*
l|eitspoli3ei bes Sittlid^ert.
208 Kapitel IX. Die f totale IKedjattif. Das Sittliche*
Dritter gug: bie £ofalifation ber Sitte.
Die nieberen Stäube jtnb nicht in ber £age, bie obige«
Dorfchriften ber Sitte 3U befolgen, für fte I|aben biefelben
feine (Seltung. Darin liegt ein abermaliger Unterfdjieb ber
Sitte von ber ZTforal. festere rietet bie ^>orfchriften gleich
mäßig an alle Klaffen ber (ßefeßfehaft — es gibt feinen
JTioralfobey für gewiffe Stänbe — aber bie Sitte ift genötigt,
ftch ben äußeren Derhältniffen 3U affomobieren, fte fefct einen
günfttgen 23oben voraus, ben fie nur in ben Ijöfyeren unb mitt-
leren Hegionen ber <5efeflfcf)aft ftnbet, nicht in ben nieberen.
Die Sprache [266] t^at biefe €igentümlid)feit ber Sitte im
(Segenfafee ber 21Toral richtig erfannt, fte rebet t>on einer
„£anbes*t Stanbes*, ©rts« Sitte", nicht von einer r,£anbes*,
Stanbes*, ©rtS'HToral" (S. ^8), biefe früher bloß fonftatierte
fpradflicfye (Eatfache ftnb tt>ir hier in ber £age 3U begreifen,
fte ergibt ftch aus ben eigentümlichen 33ebingungen ber Sitte
ebenfo von felbft, als baß bie alpine 5lora nur in alpinen
Legionen, nicht in ber <£bene gebeizt,
3n biefer £ofalifation ber Sitte liegt es begrünbet, baß
biejenigen Klaffen ber (Sefeflfdjaft, beren ungünftige Derhält*
niffe ihr in ber t)ier angegebenen Bichtung feinen Haum
t>erjlatten, bes eigentümlichen Schuftes, ben fte ber weiblichen
feyueßen Sittlichfeit gewährt, entbehren, unb t>on welchem
(Einfluß auf bie Sittlichfett ber unteren weiblichen 23et>ölferung
bies ift, hä&e ich bereits herDorgehoben. Die unteren Klaffen
finb in bejug auf bie Sütlichfeit ungünftiger geftellt als bie
oberen, fte entbehren ber Schufeanftalt ber Sitte, lefctere bilbet
eins ber Dielen Dorrechte, welche bie höheren 5tänbe vov
ben nieberen voraus liahen.
Das ftnb bie brei charafterifiifchen 8)&Qe ber Sitte, bie
ich bem obigen Verhältnis glaube entnehmen 3U tonnen.
2tber möglich, baß fte bemfelben eigentümlich ftnb, baß fte
mit ber Stellung bes IDeibes 3ufammenhängen unb ftch baher
Die Sitte* — Der Streit unter (Sebilbeten.
209
nidjt von ber Sitte fd)lecf|trjin, fonbern nur von biefem be*
ftimmten Stücfe berfelben aussagen laffen.
[267] Xjolen roir ben ZHann 3um Dergleidje tjeran. Das
Derfyältnis, an bem voxv bie Sebeutung ber Sitte erproben
n>oQen, fott ber Streit 3tr>if djen ZHännem fein. 2tud? fyier
jtellen roir txneberum ben ZHann ber rjötjeren unb nieberen
Stäube ftdj gegenüber.
Sie feine Sitte 3eicrjnet bem XHanne ber tjörjeren Stänbe
gett>iffe 5ormen unb (Svenen r>or, bie er nid)t mißachten
ober überfctjreiten barf, otjne fcfjtr>eren 2lnfto§ 3U erregen unb
ben Hüdffcfylag bat>on auf feine gefetlfd)aftlidje Stellung in
empfmblicfyer tDeife 3U r>erfpüren. Sie pertjinbert ifyn uicrjt,
rocnn ber 2tnla§ banacfj angetan ift, jtdj gegen feinen (5egner
ber fcfjärfften IDaffen 3U bebienen, er barf iljm mit IDorten
ben Qoldi ins J[er3 bohren, ifyn forbern 3um 3we\tamp\ auf
£eben unb Cob, aber er barf ftd} nierjt ber Keule im figür-
lichen Sinne bebienen, nicfyt plump t>erfafyren, ifyn nidjt
fcfyimpfen, nicfyt fdjlagen — eine prügelet ift in ber guten
(Sefellfdjaft fdjledjtrjin unerhört, unb felbft eine Saigerei mit
IDorten: ganfen, Schelten, Schimpfen ift von ber feinen Sitte
aufs ftrengfte verpönt
Was ift ber <5runb biefer 23efcfyränfung? Der äjtfyetifdje
(Beftdjtspunft? Derfelbe fyat tjier allerbings großen Schern,
es iji nichts fieserer, als ba§ bas äftrjetifdje (Sefüfyl ftd? oon
berartigen S3enen eines rotten Streits mit UnroiHen ab«
roenbet. 2lber aud? fyier getjt ber Xüert ber feinen 5orm
n\<t\t auf im 2lftr}etifcr|en, hinter lefeterem fteeft auefy tjier bas
praftifdie.
[268] Dapon foH uns bie IPeife bes gemeinen TXlannes
über3eugen. Bei it|m artet ber Streit leidet in ganten,
Schelten, Schimpfen aus (für bas IDeib tjat bie Spvadte ben
befonberen 2tusbrucf Keifen), er bleibt ntcfjt bei bem urfprüng-
liefen Streitgegenftanbe ftefyen, fonbern 3tet}t bie perfönlicfyfeit
v. 3t}ertng, Der gtoeef im Hedjt. II. ^
2\0
Kapitel IX. Die fatale IKecfyatti?* Das Sittliche*
bes (Segners mit ins Spiel, inbem er ihn befchtmpft, unb hat
bie <§unge ihren Porrat an Schtmpftoorten erfchöpft, fo fommen
öie Raufte an bte HeiBje, fdjliepch bas ZHeffer, unb nicht feiten
enbet ber anfänglich geringfügige IDortftreit mit Cotfchlag.
IDürbe man ben UTann fragen, ob benn ber urfprüng-
liehe 21nlaj$ bes Streites einer folgen Art ber Ausfechtung
toürbig gemefen fei, er mürbe es verneinen. Was h<*t bie
Ausfchreitung hervorgerufen? £ebiglich bie ZDetfe bes Streites.
Vet Streit fyat ben Streit genährt; jebes folgenbe Woxt tjat
neuen «günbftoff hinzugefügt, bis bie £eibenfcf)aft 3um Siebe*
punft gebieten mar unb ber <Sexe\$te in ber 23ejiimmungs<
Iofigfeit 3 um Xfteffer griff. Aber bas ITIeffer 3ucfte bereits in
ber Scheibe, als bie Hebe 3uerft bie <Sren3linien , toeldje bie
feine 5orm ben teeren (SefeHfchaftsHaffen t>or3eichnet, über*
fdiritt unb bie erften Schimpfmorte fielen. Vaxan eben he»
mährt jtch ber praftifche Wext ber feinen 5orm, ba§ fte ben
(ßebilbeten von ber Überfchreitung biefer (Stenden abhält,
unb barauf beruht ber unfehäfebare IDert ber guten (ßefell*
fdjaft, ba§ fte es ihren ZHitgliebern ermöglicht, trofe perfön*
lieber Abneigungen unb Antipathien unb trofe bes fdjroffften
[269] (Segenfafees ber Anflehten unb 3ntereffen miteinanber
3U perfe^ren. €s ift ber größte {Triumph, beffen ftd? bie
gebilbete (SefeUfchaft in besug auf bie burch fte befchaffte
(ßeftaltung bes gefelligen Derfehrs rühmen fann, ba§ auf
ihrem Soben felbft Cobfeinbe fich begegnen fönnen, barin
liegt eine ungleich mertooQere £ei(iung als in allem bem, tt>as
<5eift, tüife, Kunji, Cujus bei3ujieuem permögen, um ben*
felben 3U fdjmücfen. Die feine Sitte gemährt jebem, ber tt?n
betritt, bas poHe (Sefühl ber Sicherheit, auch h^r ol\o be*
mährt bie Sitte bie 5unftion, bie mir ihr in bem obigen
Verhältnis bei ber 5*au nachgerühmt iiaben: bie Sidjerheits*
poÜ3ei bes Sittlichen.
Wo jte biefes ihres Amtes nicht maltet, fehlt es an ber
Die Sitte* —Der Streit uni<8ebilbetett*— Berüfyrg* im b*nieb* Klaffen* 2\\
ooEen Sid^ertjeit, unb an folcfjer Stelle muß aucfy ber 5rieb*
fertige roie auf unfreierer £anbftraße geroärtigen, baß er
angefallen roirb. Darum ift es nierjt Ejocfjmut, roenn ber
(ßebilbete eine 23erürjrung mit rotten Ceuten meibet, toeldje
i^n folgen (gefahren ausfegen fann, fonbem roorjlangebracfyte
Porftcfyt* 3n 3apan rt>ar ben ZHitgliebem ber einft rjerr*
fcfyenben Kriegerfafte (5amurai) ber öefucfj Don Dergnügungs*
lofalen bes Dolfs: Sweatern, Baberjäufem ufio* ftreng unter*
fagt, unb tr>er an folgen ©rten mit jemanbem aus bem Poll
in Streit geriet, büßte es mit bem Cobe. So ©erlangte es
bas politifcfte 3n^reffe bes tjerrfcfyenben 5tanbesf bas jeben
2lnlaß 5U einem Konflikte mit bem X>oIP, aus bem eine 2Iuf*
lefynung gegen feine bevorrechtete Stellung fyemorgetjen fonnte,
forgfam meiben [270] fyeß — aus bem 5unfen fonnte ein
Branb roerben! Dtefelbe Sefcfjränfung legt aus gutem (Srunbe
bie Stanbes^itte audj bei uns bem (Dfföier unb bem Beamten
auf — fte foUen bie (ßelegentjeit 3U ^cmbeln meiben, benn
fte exponieren bei benfelben nicfyt bloß ftcfy f elber, fonbem
ifyre Stellung, tfyren Staub* Der (Dfftier Ijat noch ben be*
fonbem (ßrunb ba3u, baß er eta>aige Cätlicrjfeiten fofort mit
blanfer ZDaffe 3U beantworten Ijat* Darum tjat bie Sitte,
rr>elcf}e fte nötigt, bie gefeUfcfjaftticfie 23erüfyrung mit ber
nteberen Klaffe 3U meiben (Befucfy x>on Pergnügungslofalen,
pläfeen im Cfyeater, in ben (£ifenbal}nen, roo fie gewärtigen
fönnen mit ifynen 3ufammen3utreffen) itjren gan3 r>erfiänbigen
praftifcfyen (5runb, es fyanbelt ftcfj babei nicfyt bloß um ^en«
tuterung ifyrer gefellfcrfaftlicrjen Stellung, fonbem um Der*
meibung r>on Konflikten, es ift nierjt ber vornehme ZTCann,
ber bem nieberen, fonbem ber geftttete, friebliebenbe, ber bem
rofyen, fyänbelfücfytigen aus bem ZDege gel^t.
So beroätjrt bie feine Sitte in unferem 3tr>eifen ZTTufier*
falle gan3 benfelben proprjylaftifcfjen Cfyarafter wie in bem
erften, unb ifyr praftifcfyer lüert läßt jtcfj auefj t^ier roie bort
«*
2\2 Kayitü IX. Die fo3tale iKedjattif* Das SMity*
fiattfHfch in «galjlen ausbrücfen, bie Ziffer ber Schlägereien,
Körperverlefeungen, Cotfdjläge bes männlichen (Befchledjts
btlbet bas Seitenfiücf 3U ben Pertrrungen bes weiblichen.
Zftögen toir auch bitten getoiffen pro3entfafe bavon auf Hech«
nung ber geringeren Sittlichfeit 3U fefeen Reiben t ftdjer tfi,
ba§ ein gan3 beträchtlicher [271] Ceil bason auf Rechnung
ber mangelnben Sdjufeanftalt ber Sitte fommt Tin ben ab»
fchüfftgen Stellen bes IDeges, bie in bie Ctefe führen, fdjlägt
bie feine Sitte für ben TXlann ber gebilbeten Klaffe, ben bie
<£r3iehung gewöhnt liat, fie unverbrüchlich 3u beachten, eine
Sarriere, bie ihn vor ber (Befahr, in bie Ciefe 3U ftü^en,
bewahrt, währenb ber gemeine ZHann, ber benfelben entbehrt,
ber (ßefahr ausgefegt ift, wenn einmal fein 5u§ jirauchelt,
haltlos von einem 2lbfa& 3um anbern in ben 2lbgrunb 3U
rollen» Sein Verhängnis war ber in ben Kreifen, in benen
er aufgewachfen ift, unb in benen er fich bewegt, tytxffienbe
Umgangs ton, — er warb bas (Dpfer ber bort fehlenben
feinen gefeüfchaftlichen 5orm.
2)as alfo iji ber h°he Zinsen ber feinen 5orm, ba§ fte
ben Streit auf ben Streitftoff befchränft unb ber (ßefahr vor*
beugt, bafj nicht ber Streit ben Streit nähre, ba§ nicht nufelos
(Öl ins 5euer gegoffen, nicht bie flamme 3um Branbe ent*
facht werbe, unb fte bewirft bies baburch, bafc jte eine (Drb*
nung bes Streits vor3eichnet, wie ber pro3e§ es für bas
Hechtsverfahren, toie bie Hegeln bes 2)uells es für lefcteres
tun, fur3 gefagt: fie bewirft eine 3)is3iplinierung bes
Streits unter ben (Sebilbeten* 3hren kodiften Wext beweifi
fie im völf errechtlichen DerfeBjr, benn wenn irgenbwo, fo gilt
es hi*rf &i* vorhanbenen wirf liehen Differen3en nid]t burch
nufelofe Untaten 3U fteigem, unb bie fprichwörtlich geworbene
(ßlätte bes Diplomaten, bem es 3ufommt, ben völferred]tltchen
Derfehr [272] 3U vermitteln, leiftet ben Dölfem unter Umftänben
wichtigere Dienfte als bas Schwert bes Solbaten, benn fte
Die Sitte* — Sebeuttmg ber feinen Perfefyrsformen*
forgt bafür, baß es nur bann 3um Kriege fomme, roenn er
unpermeiblich geworben ift — ein plumper Diplomat u>äre
ein (ßrobfchmieb, bem man eine Ufyr 3ur Hegulierung über-
geben tt>ollte, feine grobe fjanb amrbe bas IDerf erji recht
in Dertsirrung bringen»
<£s liegt aber auf ber fjanb, baß fich bie 23ebeutung ber
feinen 5orm an biefer rein negativen ober prophylaftifchen
^unftion berfelben (Derhinberung ber Slusfchreitung bes Streits)
feinestsegs erfchöpft. 3nbem uns vorbehalten, an fpä*
terer Stelle itjre poftttoe 23ebeutung für bas gefeHfdjaftliche
Ceben ins 2tuge 3U f äffen, befchränfen voxx uns hier barauf,
bie Pergleichung unferes 3tt>eiten ZTlufterfaßes mit bem erjien
3um 2lbfchluß 3U bringen.
Die brei charafteriftifchen güge ber Sitte, welche u>ir bem
erjien entnommen l\abet\f toieberholen fich auch bei ihm* Der
erjie roar: bie Derfchiebenheit ber Sitte t>on ber TXloxaU Die
Unfenntnis ober Nichtbeachtung ber feinen 5orm begrünbet
im 3toeiten 5all ebenfotsenig wie im erften ben Porumrf bes
ttnmoralifchen, fonft müßten tsir ben gemeinen ZHann, ber
fte nicht beamtet, u>eil er fte gar nicht fennt, als unmoralifch
be3eichnen. Der 3n>eite toar: bie prophYlafttfd)e 5unftion
berfelben, Diefelbe fteigert fich h*^ noch baburch, baß
jte nicht bem bloß Unmoralifchen, fonbern bem Hechts»
anbrtgen vorbeugt. [273] Der britte tt>ar: ihre gefellfchaft*
liehe Cofalifterung* Diefelbe ift tixev nicht u>ie im erjien ^alle
burch bie äußeren X>erhältniffe nottoenbig bebingt — bas
ZTTäbchen ber nieberen Stänbe fann bie obigen Dorfchriften
ber feinen Sitte nicht befolgen, felbji wenn es sollte, ber
gemeine ZHann fönnte fich bie gefellfchaftlichen formen ber
höheren Kreife aneignen, unb bie (Erfahrung 3eigt, baß bies
bei einigen Dölfem, insbefonbere ben romanifchen, in h^h^m
(ßrabe ber 5aII ift, toähreub bei ben meiften allerbings bas
<5egenteil bie Kegel bilbet.
2W
Kapitel IX. Die feciale ITCedjattif* Das Sittliche*
3d? füge noch einen britten 5att h*n3u( ber uns ba3u
bienen foH, unfere 21nfchauung über bie praftifche öebeutung
ber Sitte 3U t>en>oHftchtbigen, es ift bie Sonntagsfeier.
3)te Sonntagsfeier ift fein 3nftitut ber Sitte als folcher,
benn fte führt ihren Hrfprung auf eine religiöfe Dorfchrtft
bes alten Ceftaments 3urücf, bie von ber weltlichen (Sefefe*
gebung vielfach in bie 5orm einer poli3eit>erorbnung gebracht
toorben ift, aber in Cänbern, wo fie, tote in €nglanb unb
2tmerifa, tatf Schlich in poller Strenge geübt wirb, ift es boch
bie Sitte, welche fie erft 311 bemjenigen gemacht fyat, was fte
in IDirflichfeit ift. VTixt Hücfftcht barauf wirb es t>erftattet
fein, fte ber Sitte 3U3uweifen.
Segen wir an fte unferen bisher gewonnenen 2TCaßftab
an, fo ift 3unäcfyft flar, ba§ ber Unterfchteb ber Sitte t>on
ber ZlToral fich auch bei ihr wieberholt. Z>ie [274] 3nne*
Haltung ber Sonntagsfeier ift feine moralifche ^anblung, bie
Übertretung berfelben feine unmoralifche; fonft müßte ber
2tr3t, ber am Sonntage bem Kranfett ältliche I}ilfe bringt,
unb ber 2lpotfyefer, ber ihm bie 2tr3nei bereitet, unmoralifch
hanbeln, unb unfere öffentlichen Derfehrsanftalten: bie poften,
<£ifenbahnen müßten bes Sonntags feiern. J)ie Sonntags*
feier gehört nicht ber XHoral, fonbern ber Sitte an. Sellen
wir 3u, was bie Sitte mit ihr be3wecft. J)er ^weef liegt
ntef^t in bem bloß 23egatit>en bes itichtarbeitens, fonbern in
bemjenigen, was baburch pofitit) erreicht werben foll: 2lus-
fpannung x>on Körper unb (5eift, Sammlung bes (ßemüts,
€infehr in fich felbft, Erhebung 3U (Sott, 23efuch bes (ßottes-
bienftes, Stärfung 3ur Arbeit ber neuen IDoche, fur3, bie
Sonntagsfeier ift nicht Selbfowecf, fonbern 2Tftttel 3um gweef.
Qamit aber traben wir für bie Sitte auch an biefem 5aüe
biefelbe 5unftion fonfiatiert, wie an ben beiben obigen fallen,
nämlic^, etwas gefeHfchaftlich IDertooQes herbei3uführen, inbem
fte bie Sebingungen besfelben h^rftellt, unb baß basfelbe hier
Die Sitte.
— praftifdje jfunftion.
2\5
nicht negativer, fonbem pofitioer 2trt ift. Die Sonntagsfeter
foH nicht bas gcfellfd^aftlicf) Schäbliche abroehren, tote in ben
beiden obigen fällen, fonbem bas gefeüfchaftlich Vorteilhafte
ermöglichen, erleichtern. Dasjenige, tr>as fte x>or3etchnet, ift
ebenfotoemg tote bas jenige, toas bie Sitte in ben beiben
obigen Verhältmffen erforbert, an ftch gut, aber basfelbe
fann unb foll als IHittel bienen, baß bas (Sute baraus
entftehe — [275] bie Sonntagsfeier, richtig r>eru>anbt, enthält
eine H?ohltat, einen Segen für bie (SefeHfchaft. Die Per*
toenbung berfelben 3ur Erholung unb 3um Vergnügen ift
burch biefen ihren §toecf fotoenig ausgefchloffen, bajj fte bem*
felben im (Segenteil ooQfommen entfpricht, benn bie €rhoIung
unb 2tusfpannung , bie $vmbt unb bas Vergnügen tft ein*
mal bas erfrifchenbe Sab, beffen ber 2TJenfch 3ur (Erhaltung
feiner Kraft bebarf (S. \%8( \57), unb ber gefunbe Sinn ber
meiften Völfer ha* barin fotoenig einen IDiberfpruch gegen
bie 5etertagsbeftimmung erblicft, bajj fte gerabe bie Sonn*
unb Vertage ber toeltlichen 5^ube getoibmet liaben, unb
felbji bas Volf (Sottes fcheute ftch nicht, ben Sabbatli ber
erlaubten Cuftbarfeit unb felbft ber (Safterei off einhalten*).
Suchen toir für bie lixet gefunbene pofitioe unb bie früher
nachgetoiefene negatioe ober ptopliylatttfdie 5unftion ber Sitte
bie entfprechenbe gemeinfame 23e3eichnung, fo bürfte es bie
ber fittlich-abmtnifulierenben 23eftimmung ber Sitte
fein. Die Sitte fteHt ftch bar als bie Dienerin ber Itloral,
*) midjaeits, Itlofatfc^es Hedjt V, §2*9 (S. *5*), § m (S. X2\).
„IDemt mand?er 3sraelite fid? am Sabbat mit Ca^en ermübet haben
mag, fo toar bies ntdjt allein bem mofaifcfyett Hedjte nidjt 3umtber,
fonbem etgentltd? feinem (£nb3tt>ecfe gemäß. €rft bie Calmubtften haben
aus bem Sabbat jenen büftern (Tag gemadjt, an bem man, ^tatt (Er*
holung 3U gewinnen, eher tiypodjonbrtfd? werben unb von bem man
nur oünfdjen möd?te, ba§ er 3U (Hube wäre — einen wahren pö'nite^»
tag", Hur bie (Englänber unb 2htgloamertfaner traben biefen talmu*
btfa?en Sabbat abopttert*
2\6 Kapitel IX. Die feciale mtfyamh Das Sittliche*
lefetere 3eidjnet il\v bie ^tele t>or, [276] für bie ftc in Cätig*
feit 3U treten, unb beren Verfolgung unb (Erreichung fte in
iljrer lüeife 3U jtdjem unb förbem Ijat, jte empfängt une
bie Dienerin ifyre 3ttftoiftionen von ber X}errin. 3)arum ftnb
bie (5ebote, roelc^e bie Sitte auffteHt, nur (ßebote 3u>eiter,
bie ber ZTioral (be3te!jungstDeife bes Hedjts) erjier ©rbnung,
unb too ausna^mstoeife ein Konjlift 3tr>ifd}en betben entfielt,
fyaben jene biefen 3U meieren. 2Die bas anjlänbigfte ZHäbdjen,
tx>enn eine tjötjere Pflicht ruft, unb bie Hot brängt, bes Ztadjts
allein bas l}aus perlaffen barf unb muß, fo barf unb mu§
im gleiten 5aH audj bie Sonntagsfeier fyntangefefet toerben.
Der 2lr3t barf unb mu§ feine patienten befugen, ber 2lpo*
tiefer bie 2lr3nei bereiten, ber 5eemann bie Segel raffen
unb bas Steuerruber führen, ber Sauer bas Diefy füttern,
bie £öfdfmannfd}aft ben 23ranb löfdjen, ber Solbat in ben
Kampf 3ie^en — bas £eben t>on ZHenfdjen unb Viel), bie
Sicherung ber <5efeHfcrjaft gegen 5euersgefa^r unb gegen
ben 5einb wiegen fdjtserer als bas (Sebot ber Sonntags-
orbnung, unb ber gefunbe Caft ber Dölfer l\at bies (Sraba*
ttonsperljältnis ftets richtig erfannt*)* <£ine 5olge bat>on
i% baj$ geunffe Berufsarten [277] praftifefy fo gut toie außer
ßanb jtnb, bie Sonntagsorbnung inne3ufyalten, unb bamit
urieberfyolt ftdj audt für biefes Stü<f ber Sitte ber obige gug
ifyrer gefeQfdjaftlidien £ofalijterung, — bie £eute, roeldje am
Sonntag arbeiten müffen, bilben ein Seitenßücf 3U ben ZHäbdjen
*) Die praftifdjen Hö'mer Ratten genau beftimmt, roeldje (Sefdjä'fte
unb Derridjtungen aucr/ an Feiertagen 3uläfflg feien, nur bas Volt
(Softes tueift uns bas in ber (Sefcbidjte t>ielleia}t ein3ig bajterjenbe Sei-
fptel auf, ba§ an taufenb 3uben ftdj an einem Sabbat, um bie
Sabbatsorbming nicr/t 3U übertreten, tDtberftanbslos von ben Syrern
abfcfylad?ten liegen, \. Ifta? fab. 2 r>*36— 38 — ein SriicF reltgtö'fer Per*
irrung, bei bem man fidj bes (Sefüljls bes Sdjaubems nidjt ermerjren
unb bem man boefy feine t^öd^fte 23ertmnbermtg ntdjt oerfagen fann —
fer/aurig^errtaben*
Die Sitte* — Syliemati? berfelben*
2(7
ber bienenben Klaffe, bie im Dunfeln allem ausgeben müffen
(S. 203 f.).
2TUt ben brei ZlTufierfäßen, bie ich im bisherigen vorgeführt
unb analvfiert t^abe, ifi ber gwecf, ben ich babei im 2luge
hatte, erteilt, fie foßten bem £efer bie charafterifiifchen §üge,
in welche ich bas IPefen ber Sitte fefee, an befonbers ba3u
geeigneten unb mit biefer Hücfficht abftchtlich ausgezahlten
Seifpielen peranfchaulichen, in ber anfchaultchen Sovm bes
fonfreten 5aßes foßten ihm bie 3been, welche ich ihm x>or*
3uführen gebenfe, 3uerft pertraut unb geläufig werben. XHeine
gan3e bisherige Ausführung t^atte bemnach nur einen x>or*
bereitenben £h<*rafter, es war ein 3um &we<£t bes He*
fognos3ierens unternommener 5treif3ug in ein bisher gän3lich
unbefanntes Cerrain, Iebiglich bar auf beregnet, bie punfte
fefoujleflen, welche bemnächft ins 2luge 3U faffen fein werben.
23ei einem von ber IDiffenfchaft bereits in Sefife genommenen
(gebiete würbe bies eine überflüfftge unb tabelnswerte IDeit*
läufigfeit fein, im oorliegenben 5afle war es nicht 3U um*
gehen*
[278] 6) Sie Svftematif ber Sitte.
3m bisherigen iiabm wir aus ber reichen 5üfle bes
Stoffes, ben uns bie Sitte 3ur Verfügung fießt, ein3elne 5äße
herausgegriffen. XHögltch, ba§ biefelben fo eigentümlich ge*
artet waren, bag basjenige, was wir an ihnen wahrgenommen
haben, feine aßgemeine (Seltung beanfpruchen fann; unter
biefer Dorausfefeung wäre basfelbe für unferen &wed, ber
ben Sinn unb bie Bebeutung, tr>elche ber Sitte als 3nfHtu*
tion für bas gefeflfchaftliche Ceben 3ufommt, 3um (Segen*
jianbe hat, wertlos. ZTTit ein3elnen 5äßen ift für biefen «gwecf
nichts ausgerichtet, — exempla illustrant, non probant. ZDoßen
wir (ßewißheit erlangen, fo müffen wir bas gefamte ItTaterial,
bas uns bie Sitte barbietet, einer Prüfung unterwerfen.
3ji bies burchführbar? <£s ift ein unenblich ausgebehntes
2\& Kapitel IX. Die fo3iaIe ITCedjanif. Das Sittliche*
(öebiet, welkes bte Sitte bebedft, es erftrecft jtcfy faft über
bas gan3e £eben. VOk laffen fidj aber alle <£rfdjeinungen,
bie es in ftdj faßt, ein3eln aufführen unb artatvfieren? IDir
toürben (ßefafyr laufen unter 5er ZHaffe bes ein3elnen 3U er*
liegen, im Strome 3U ertrinfen. 2lber beffen bebarf es aud?
nidjt, es gibt einen anbern IDeg, ber ebenfalls 3um Siele
fü^rt, es ift berfelbe, ber uns auf beut nidjt minber aus*
gebefynten (ßebiete bes 23edjts bie Sicfyerljeit geroäfyrt, ba§
uns vom ein3elnen nichts entgeht: ber fyftematifdje, <£in
richtig angelegtes Syftem nimmt alles ein3elne in jtd) auf.
[279] So iji es alfo bie SYftematif ber Sitte, auf bie
uufer 2lbfel}en gerichtet fein muß, tt>enn toir unfer &kl er*
reichen tPoQen, unb 3toar ift es bie Sitte unferes heutigen
Cebens, bie idj 3ugrunbe lege« Diefelbe ift jebem befannt
unb geläufig, es bebarf für fte nidjt erft ber itadjtoeife, um
if^r 3)afein fe^ufteüen, nidjt weitläufiger Erläuterungen, um
ifyr Perftänbnis 3U »ermitteln, id] fann t>ielmel|r bei allen
pütxften ftets auf bie unmittelbare 2lnfd?auung unb bas Urteil
ber £efer Be3ug nehmen. 3nbem unfere SYftematif ber heutigen
Sitte bas ein3elne unter getoiffe Kategorien bringt, beren
(Sefamtfumme felbftoerftänblidj bas gefamte ZHaterial er-
fdjöpfen muß, ermöglicht fte es, bie entfdjeibenben 5ragen
aus ber nieberen Sphäre bes ein3elnen in bie fyöfyere ber
Kategorie 3U ergeben unb fategorientoeife 3U beantworten.
3n biefem Sinne ift ber folgenbe Derfud? unternommen.
€r fott uns burdj bie (Beunßljeit ber eytenftoen Dedung
unferer Unterfucfyung mit ber Sitte bie Sicherheit gewähren,
baß tr>ir nichts öffentliches, was 3ur Sitte gehört, übergeben.
2lber ber gtoedf, ben roir babei im 2luge ^aben, ift nicht
bie Kenntnis ber Sitte als folcher, es ift nicht bas etfjno*
grapl^ifd^e 3ntereffe, biefes Stüd £eben bes Polfs 3ur Dollen
2lnfchauung 3u bringen, bem tt>ir 3U entfprechen gebenfen,
fonbern unfer Jlugenmerf ifl lebiglich gerichtet auf bie
Die Sitte* — Svftematif berfelbetu
219
Bebeutung 5er Sitte für bas Befteljen unb Wohlergehen ber
<5efellfd}aft: bie Sitte in ihrer nachweisbaren [280] Fialen
5unftion, als feciale 3#^u^on neben Hecht unb XHoral.
3nbem u>ir biefen 2TCaßftab an bie Sitte anlegen, ge-
langen roir 3u bem Hefultate, ba|$ nicht alle Ceile berfelben
biefelbe Bebeutung in 2lnfpruch nehmen fömten, baf$ siel«
mehr brei 2trten berfelben 3U unterfcheiben finb. <£s ftnb
folgenbe:
\. Die böfe Sitte ober bie Hnfitte, welche bereits oben
(S. \ty7) charafterifiert roorben ifh
2. Die [03tal*inbifferente Sitte. Sie charafterifiert
fich baburch, bajj fte für bie <5efeßfchaft tx>eber nüfelich noch
fdjäblich ift, fte fönnte mithin fehlen ober fywoegfaHen, ohne
baß festere baburch bie minbejie (Einbuße erlitte. Die <Se<
fellfdjaft liat fein 3ntereffe, ihr entgegentreten, fte lägt fie
beftehen, toleriert fie, — nicht wie hex ber Hnfitte, weil fie
ftch ihrer nicht erwehren fann, fonbern weil fie fich ihrer nicht
3U erwehren braucht
3. Die gute ober fo3ial*wertt>olle Sitte. 3^ liefen
befteht barin, baß fte bie gweefe ber (ßefeßfehaft förbert,
bafc fie alfo nicht fehlen ober hwwegf allen fönnte, ohne eine
Cücfe 3u fynterlaffen, fte bilbet mithin ein (Blieb bes gefett*
fchaftlidjen Organismus gan3 fo wie bas Hecht unb bie
ZTloral. Diefen Hlafjftab bes fo3ialen IDerts werben wir bei
unferer DarfteHung unb Betrachtung ber Sitte bes heutigen
Cebens ftets 3ur 2lnwenbung bringen, jebes Stücf berfelben
foll uns Hebe unb Antwort barüber fielen, ob ber Beitrag,
ben es 3u unferer gefellfchaftlidjen [281] (Drbnung ftellt, ein
guter, wertlofer ober gar fd}led]ter ijt, fur3 wir wollen mit
ber Sitte abred?nen.
2lls oberften Ceilungsgrunb bei ber Syftematif ber Sitte
benufee ich ben (Segenfafe, ob ber 3n^a^ öcr Verpflichtung,
welche bie Sitte auferlegt, öfonomtfdjer ober nicht
220 Kapitel IX. Die fötale HIed?aitif. Das Sittliche.
öfonomifc^cr 2trt x% Unter bcn (geboten ber Sitte gibt es
nämlidj geunffe, toelcfye einen öfonomifdjen Jluftsanb, ein
(Seben, anbere, toeldje bloß ein Cun ober ttnterlaffen er*
lieifdien, Diefe erjie 2lrt fönnte man als bie Sitte bes
(Bebens, bie 3toeite als bie bes Cebens djarafterifteren,
alfo fur3 als (Bebe* unb Cebefttte, icfy tr>äl)le jebodj jiatt
biefer beiben 2lusbrüde, bie fdjtperlidj 2hisftd}t auf 2Jnnafyme
Bjaben, 3u>ei anbere, bei benen idj bas 3tmngenbe ZHoment
ber Sitte mit in bas tDort aufnehme, nämltdi präflations*
unb perfonal3toang ber Sitte; ber erftere 21usbrucf fdjeint
mir angemeffener, als ber fonfi burdj ben fpradilidjen (Segen*
fafe gebotene, aber 3tx>eibeutige Heal3tr>ang.
I. Der präftattons3u?an^
Die Perpfüdjtung 3U ber öfonomifdjen Ceifiung ober prä«
fiation, u>eldje bie Sitte für gennffe Derljältniffe auferlegt,
geftaltet ftdj nad) Perfdjiebenfyeit berfelben in breifad] per«
fdjiebener ZDeife. 3df bebiene mid? 3ur Unterfdjeibung biefer
brei Hidtfungen ber Jlusbrücfe: £iberalitäts*, Solutions*,
Seu>irtungs3U>ang.
[282] l Der £iberalitäts3tx>ang.
Die Sitte forbert, bajj man bei gett>iffen (Selegenljeiten
(Sefdjenfe madje. Die f^odfteitsgäfte geben ein ^ocfoeits*
gefdjenf, ber (Besatter ein patengefdjenf, roer ein J}aus baut,
Ijat beim Sichten ben 2lrbeitsleuten, unb, toenn er es be3ie^t,
in manchen (5egenben bem (Befinbe ber ZTadjbarfdjaft ei
ZtTatjl an3urid)ten, unb vieles bem ätjnlidje* So u>ill e
einmal bie Sitte, unb niemanb fann ftdj ifjr ofyne empftnb
liefen Hadjtetl ent3ietjen. <£s ift bies ein punft, u>o pe au
leidet erjtdjtlidjen (Srünben am unerbittlid]fien ift, unb vo
barum ifyre (Bebote am unr>erbrüd}lid?fien befolgt tserben
felbfl ber <Bei3l}ats, beffen f}anb jtdj fonfi jlets frampf^a
x>erfd}lie§t, ifl fyer genötigt, ben 23eutel 3U 3iefyen,
Die Sfonomifdje Sitte. — Der Eiberalitä^toang. 22\
2)er Umjianb, baft bie Sitte derartige Ceijiungen 3ur Pflicht
macfyt, fdjemt bie 2lntoenbbarfeit bes (Sejtcfytspunfts ber £ibe*
ralität auf jte aus3ufcfylief$en, unb bie Perbinbung ber beiben
ZHomente £iberalttät unb gwang 3U einem IDorte fcfjemt eine
contradictio in adjecto 3U enthalten , benn entoeber iji ber
21ft eine £iberalttät, bann fann er nicfyt er3wungen werben,
ober er fann er3tx>ungen werben, bann iji er feine £iberalität.
3)er Schein bes IDiberfprudjs löft jtcfy auf buref) bie Bemer*
fung, ba§ ber 2tusbrucf £iberalität ein Becfytsbegriff iji, ber
nur forMel ausfagt, bajj ein Hed}ts$n>ang nidjt plafe greift,
tooburd) aber bie XHöglidjfeit eines burdj bie Sitte ausge-
übten [283] gtx>anges in feiner £)eife ausgefdjloffen iji, <£in
£iberalitäts3tx>ang im Iefeteren Sinne wirb audj von ben
römif d]en 3^rtjien anerfannt*).
Die Derpjitd?tung 3U biefen (Sahen iji nieftf moralifcfyer
2lrt. ZTiemanb fagt von bem jenigen, ber jtdj iljr ent3ietjt,
bajj er unmoralifdj, unfxttlicf? getjanbelt Ijabe. Diefelbe iji
t>ielmet|r fötaler 2trt, bie Sitte, nidjt bie Zltoral erforbert
*) Sie unterfdjetben bas burd? bie Sitte geforberte (Sefdjenf : munus
(womit bas ItToment bes 23elaftenben betont nrirb roie bei munus im
Sinne non (Semeinbeamt), von bem oölltg freien; donum 1. 2V* de V.
S. (50* J6), unb fle nehmen öfter Deranlaffung in Derfya'ltniffett, u?o
bie 23eacf?tung ber Sitte geboten ift, biefelbe in be3ug auf bas munus
eht3ufdjärfen, fo 3» 33, bem Dormunbe in be3ug auf bie bem puptüen
obliegenbert munera, 1. \2 § 3 de admin. (26. 7) solennia munera paren-
tibus cognatisque mittet, fie unterfudjen fogar, ob bie Sitte fd?led}tt}tn
ober nur bebingt gebtetenb iji, fo 3. 23* I. \ § 5 de tut. rat. (27. 3): nec
perquam necessaria est ista muneratio, unb bei (Ehegatten nehmen fte bas
übliche munus fogar 00m Sd}enfungst>erbot aus, 1. 31 § 8 de don. i. V
(2^ \). IHein Jrennb 3ofepfy Unger in Wien tjat in einer brieflichen
Mitteilung an mtd? für munus pfltcr/tgefd^enf in Dorfd?lag gebraut unb
midj auf Jretgefcr/enf bei (Soettje ^auft II. 2lh 3 aufmerffam ge*
madjt. Der römifet/e 2lusbrucf liberalitas, bem unfere $ r etgebtgPctt
nadjgebilbet 3U fein fdjeint, betont nidjt bas ITToment ber freien <ßabe
(libera datio), fonbern bas ber liberalen (Sefinnung bes freien
ITtannes*
222 Kapitel IX. Die fatale XtTedjanif* Das Sittliche.
fte, tote bies von ber Sprache in mefyrf adjen iDenbungen
beutlidj ausgebrücft tft Ce&tere fprtdjt fyer pon fetalen
pflichten unb bringt auf fte benfelben 2tusbrucf 2tnftanb 3ur
Stwpenbung, mit bem fte audj fonft bie Sitte im (Segenfafee
3ur ZlToral fem^etdjnet: (2tnftanbspf listen, 2lnjianbs*
gefcfyenfe); audj ben Jlusbrucf (£E^re (£I|rengefd?enf e,
(Ehrenpflichten),
[284] 3^ bringe biefe burdj bte Sitte perlangten (Sahen
unter ben (Sefidjtspunft bes £iberalttäts3toanges ber Sitte.
Einen gefellfdjaftlidjen gtoeef fann idj bei iljnen nid)t ent*
beefen; tdj tpüßte nicht, was an bem Seftefyen unb bem
(Sebexen ber (gefeHfdjaft ftdj änbern toürbe, tpenn fte ber
freien Liberalität überlaffen roürben* Sie bienen aüerbtngs
3ur Perfcfyönerung, Erweiterung bes £ebens, unb als 2tfte
völlig freien IDohltooIIens toürben fte jelbft einen moralischen
lüert in 2lnfpruch nehmen fönnen, gan3 fo rote bas freie
(ßefchenf ober bas 2tlmofen, aber in ber 5orm eines aus
Scheu t>or ber öffentlichen XHeinung*) ober vor ber VTi\%
jiimmung, ber Empftnblichfeit bes in feinen Erwartungen
getäufchten anberen Cetls erfüllten bitteren, fetalen ZHujs
fann ich ihnen rpeber einen fubjeftip (inbipibuell) noch ob
jeftip (gefeUfchaftlich) ftttltchen C^arafter 3ugeftehen, ich toürbe
btefes Sind ber Sitte 3ur Kategorie ber faial inbifferenten
rechnen«
2, 3)er Soluttons3tpang.
3)te Sitte perlangt, ba§ man bas im Spiel Perlorene
3ahle, auch roenn bas Hecht einen 2tnfpruch barauf nicht 3U
gefteht ober tpotjl gar bas Spiel perboten fyat (51eid]tPot)l
erfennt bie Sprache l|ier bas J)afetu einer Schulb an unb
*) Dies HToment tPtrb r>on bem römtfdjen ^urtfien bei ber 33e*
artffsbefttmmmtg bes munus in I. 2V* de V. S. (50* *6) ausbriicfltcf?
fjercor gel} oben; quae si non praestentur, reprehensio est.
Die öfoitomtfdje Sitte* — Der SoluttottS3tt>cmg* 223
be$exd\net btefe „Spielfchulben" als „(gh^nfchulben", [285]
Die (Entrichtung betreiben fällt bemnach im Sinne ber Sprache
unb Sitte nicht unter ben obigen (Sejtchtspunft ber Ciberalität,
fonbern ben einer Zahlung; toer feine Spielfchulben entrichtet,
fchenft nicht, fonbern be3ahlt fte, toir traben mithin, u>ie fiel)
hieraus ergibt, ben Solutions3tt>ang ber Sitte von bem £ibe-
ralitäts3u>ang 3U unterfcheiben,
2luch lihv liegt ber Sitte fotoenig ein gefeQfchaftliches
3ntereffe 3ugrunbe, baß fie ftch h*^ umgefefyrt in mannen
fallen fogar mit Hecht toie ZHoral im offenen IDiberfpruche
befinbet. <£in Spieler, ber, um feine Spielfchulben 3u be«
3at|Ien, bie Seinigen vom Hottoenbigften entblößt, hobelt
nicht moralifch, fonbern unmoralifch, benn er fefet feine per-
fönliche Spielehre unb bas 3ntereffe ber Erhaltung feines
Spielfrebits über bie pflichten gegen bie Seinigen. €ben
aus biefem (ßrunbe h<*t bas Hecht biefe Schulben in getoiffen
5äöen nicht bloß für unserbinblich erflärt, fonbern bie ge*
fährlichpen Arten bes Spiels fogar bei Strafe perboten* ZPir
haben h^* alfo roieberum einen 5aH ber Auflehnung ber
Sitte gegen bas Hecht unb bie HToral, b, t, einen £all ber
Unfitte vov uns, ein toürbiges Seitenftücf 3um Duell, fchlagenbe
€f emplififationen für bie HTachtlofigfeit bes <5efefces gegen*
über ber Sitte. 3n beiben $äüen ijt es bas (5efühl ber
€hre, welches ben Anforberungen ber HToral unb bes <5e*
fefees h^^tnäefigen XDiberftanb entgegenfefet, pch 3U fchlagen
unb feine Spielfchulben 3U be3ahlen, auch toenn fte bas gan3e
Permögen [286] perfchlingen, gilt einmal in getroffen Kreifen
als €h^nfache, unb folange eine folche Auffaffung befteht,
ftnb alle Derfuche ber <5efefcgebung, bas Übel aus3urotten,
vergebens, ber Wixx^l tann fie nicht beifommen. Das 2Tltß-
liche bei ben Spielfchulben befteht barin, baß bas <5efühl
ber Derpflichtung 3ur <§<*hfang berfelben innerhalb getoiffer
<5ren3en ein pollfommen berechtigtes ift. Auch bas Spiel
22% Kapitel IX. Die feciale ITCedjanif* Das Sittliche*
l}<xt feine feciale 23ered]tigung, es gilt von ttjm, was toir
oben über ben fötalen IDert ber (Erholung, 2lusfpannung,
5reube gefagt fy*ben, tüte ber Schlaf ber Xlad^t bie Arbeit
bes Cages ablöft, um bie Kraft neu 3U er3eugen, fo bas
Spiel ben (Ernft, unb felbft gegen bas Spielen um (ßelb lägt
fiel) nidjts ehwenben, tr>emt es ftdj innerhalb ber richtigen
(5ren3en fyätt. Siefelben ftnb gegeben burdj ben (Sejtdjts*
punft bes gtt>edEes, bem bas Spiel bienen fotl: bas Ver-
gnügen, bas Spielen um (Selb bilbet einen pojien bes Der*
gnügungsetats , ber fiefy nadf bem (Emfommen 3U bemeffen
fyat*). ^ält es fidj innerhalb btefer (Sre^en, fo toirb audj
ber ftrengfte ZKoralift nichts batan bemängeln fönnen, ba
bie 2Irt, u>ie jeber bie Summe, bie er naefy feinen X>erl|ält-
niffen für fein Vergnügen ausgeben fann, x>ertr>enben vom
feiner Steigung überlaffen bleiben mufj, unb mit biefem X>or*
behalt toürbe ftdj felbft gegen bie <51ücfsfpiele nichts ein«
toenben laffen. [287] 2tber bas 23ebenfltd?e bei ber Sacfye
befielt barin, baj$ biefe (5ren3en nur 3U leidet überfdjritten
u>erben, insbefonbere bei ben (Blücfsfpielen, unb bas iß ber
punft, tx>o basjenige, toas bisher bloß Spiel u>ar, 3um t>er-
fycmgnist>oHen (Ernfie toirb, unb bas (ßefüljl ber binbenben
Kraft bes Spiels, bas, folange basfelbe fidj innerhalb ber
richtigen (Svenen fyelt, pollfommen am plafce a>ar, nidjt
mefyr 3urücf fann unb ftdj genötigt fte^t, aud] bie Überfdjrei-
tungen berfelben an3uerfennen, ftdj in feiner eignen Konfequen3
3U fangen.
(Eine 3toeite 2trt bes Solutions3toanges ber Sitte bilben
bie oben (S. $5) bereits berührten Crinfgelber, biefer
nmnberlicfye 23aftarb t>on 5reigebig!eit unb £ofyn. 3)ie Spraye
*) Durd? biefen (Sefidjtsnunft fyat 3ujtintan tfd? in ber L 3 Cod.
de aleat. (3* $3) leiten laffetti in his non ultra unum solidum, si multum
dives sit, ut si quem vinci contigerit, casum gravem non sustineat.
Die öfonomifdje Sitte. — Der SeiPtrtmtgssmang.
bebient fid? aud} bei ifjnen bes 2lusbrucfs 3aBjlen, fie bringt
fte alfo unter ben <Seftd?tspunft 6er (Erfüllung einer Per-
binblidtfeit Ztadj ber pon mir an ber oben (5. $5) mit*
geteilten Stelle entoicfelten Jluffaffung enthält ber Crtnl-
gelberjmang einen 5aH ber Hnfttie, einen Unfug, von bem
bie <5efellfcr>aft ftd? je e^er je lieber befreien foltte*), 3dj
leugne aüerbings nicr?t, ba§ es Porausfefeungen geben fann,
wo bie SiHigfeit bas (Beben eines Crinfgelbes erBjeifdtf,
allein abgeferjen von biefen feltenen fällen unb bie regel*
mäßige <5eftalt ber Sadje ins 2luge gefaßt, !ann [288] id?
ben Crinf gelbern fort>enig eine feciale Berechtigung 3ugefteb,en,
baß id) fie melmetfr für eine foial t>öHig r>ent>erflid}e «in*
ricfjtung fyalte, eine plage für benjenigen, ber fie 3U geben
tiat, unb ein Danaergefcfjen! für benjenigen, ber fie empfängt
(Seförberungsmittel einer bettetyaften (Sefinnung Der-
rücfung bes richtigen ZHaßftabes bes (Selbroertes, Derlocfung
3ur Perfdircenbung). 21udi berjenige, meiner biefe ftrenge
2lnftd?t nid\t teilt, wirb bies Stücf Sitte, roenn aud? nidjt
mit mir 3ur Unfitte, fo boef} !einenfaUs 3ur fo3ial toertoollen,
fonbern 3ur fo3ial inbifferenten Sitte [teilen.
3. Der 23eroirtungs3u>ang.
53ef anntlid) fnüpft unfere heutige Sitte an geu>iffe »er-
fyältniffe unb (5elegenB)eiten bie Derpflidtfung 3ur (Saftlidtfeit:
$ur Seroirtung von (5äften, unb felbft bie Staatsgewalt t?at
nidjt umfyn gefonnt von biefem <3a>angsgebot ber Sitte
Vlotii 3u nehmen, inbem fie ben teeren Staatsbienern, an
weld\e bie öffentliche Meinung einmal bie 2Inforberung rietet
*) «rmcttitmng einer fokben Derbmbung von JretgebtgFeit unb
tof?n in ben römifdjen Quellen in 1. 27 de donat. (29. 5) . . . . non
neram donationem esse, verum officium magistri quadam mercede
emuneratum.
o. 31] «ring, Der gtpeef im «ed?t. II 1R
226
Kapitel IX. Die fötale ITCedjaniF. Das Sittliche.
I9ein J(aus 311 mad\enil (in btcfcr ZDenfeung liegt, feag feas
richtige fjaus ein gafUidjes ift), feie ZHittel 3ur (Erfüllung feer
Perbinfelicfyfeit gewährt (Hepräfentations*, Cafelgelfeer).
Über feen (Efyarafter feiefer DerpfHcfytung als einer ntc^t
moralifcfyen, fonfeem rein fötalen fann md]t feer minfeefte
gtr>eifel obumlten. Die Sprache be^eidinet fte als „fötale
üerpjlidjtungen", feie „föiale Stellung" bringt [289] fte mit
fid), unfe gar mancher, feem es fcfyroer fällt, fte 3U erfüllen,
unfe feer frehx>iHig es nimmer tun trmrfee, tut es „anfianfes*,
eljreu*, wolfi audj fdjanfeenljalber", fe. Ij. er fdjeut feas (Serefee,
feie »reprehensio« (S. 222 2Tote), toenn er es unterläßt. Da
es ftd] bei Erfüllung feiefer pflichten um pefuniären 2luftt>anfe
Ijanfeelt, fo ift feas Dertjältnis unter unfern (Seftdjtspunft fees
präftattons3tt>anges 3U bringen. Da§ idj feasfelbe nidjt unter
feen £tberalitäts3tr>ang fubfumiere, tr>irfe tüofyl n\d\t feer Hedjt*
ferttgung befeürfen. Die 23en>irtung von (ßäjlen bilfeet feinen
(ßegenjianfe eines (Sefdjenfs, feer richtige Witt glaubt fo*
toenig feinen (Säften etroas 3U fcfjenfen, feafc er umgefe^rt
ifyien feanft, feaß fte ifyn feas „Vergnügen" oöer feie „(Etjre"
ifyres öefudjs „gefcfyenft" Ijaben, als IDtrt muß er ifynen
feanfen, nicfyt fie ifym — er fyat fte „gebeten", fe. I?. eine Bitte
an fte gerichtet, unfe fie Ijaben feiefelbe erfüllt.
3n be3ug auf feen gefeHfdjaftlidjen Cljarafter feiefer feritten
2trt fees präftations3ioanges ftefyt feie Sadje nidjt fo einfad?,
toie bei feen beifeen erften. 3<^ 3toeifle nicfyt, feafc alle örei
an ftdf möglichen Jluffaffungen Vertreter ftnfeen roerfeen. Der
eine roirfe öarin eine Unfitte erblicf en, feer anfeere fte mit feem
präfeif at einer föial infeifferenten 5itte abftnfeen, tt>äl}ren&
idj meinerfeits ifyr feen Ctjarafter einer föial tx>ertpollen Sitte
glaube abgewinnen 3U fönnen. 3^ fann b\e\e 2luffaffung
erft unten begrünfeen, nadjfeem id? porfyer feie ftttlidje Se*
feeutung fees Umgangs entoicfelt Ijabe, fyer, wo es mir nur
um [290] (Betpinnung feer Überfielt über feas (Sebiet feer Sitte
Die Sitte* —
Der perfona^roang»
227
unb bie Jtusfdjeibung ber jenigen 23ejlanbteile berfelben 3U
tun ift, bie feine foiate Sebeutung beanfprudjen tonnen, ifi
ba3u nod? nidjt ber (Drt.
ZHit ben brei angegebenen <5ejialtnngen bes präflations-
$toanges ber Sitte ifi, foroeit tdf n>eif$, ber Umfang besfelben
erfdjopft, €s tjl bas Uerbienjl bes mobernen fpradtlidjen
Dentens, bei ifyn ben (Segenfafc ber Sitte 3ur Xtloral in
ooller Klarheit 3ur 2tnfdjauung gebracht 3U Ijaben, fo3tal
fenn3eid}net bie eine, moralifdj bie anbere* 2)ie Perpflicfy
tung, einem Firmen ein 2Umofen 3u geben, ift moralifdjer,
bie, ein (ßelegenfyeitsgefdtenf 3U machen, fo3iaIer 2Irt, bie
t?erpfiid}tung, feine Spielfcfyulben 3u be3at|len ober Crinfgelber
\n geben, ifi fc^iafer, bie, feine mit ber 3n^n^ion ber 23e*
^ränbung einer Hed?tst>erbinblidjfeit abgelegten Perfpredjen
Dber fontrafyterten Sdjulben 3U be3afylen in einem 5<*H? tx>o
Sas Hedjt aus irgenb einem (ßrunbe (3. 23« roegen Zfiangel
)er sorgefdjriebenen $oxm ober toegen Derjätjrung) bie Klage
:>erfagt, moralifdjer 2lri
n. Der perfonal3U>ang ber Sxttt.
(Er Bjat bas Benehmen, bas perfönlidje Auftreten, bie ge*
ellfdiaftlidie 2Iuffüfyrung, bie formen bes gefellfdiaftlidjen
Gebens 3um (Segenftanb. ZHit iljm berühren toir basjenige
ßebiet ber Sitte, auf bem fie ifyre größte £Dirffam!eit ent*
altet, unb n>o fte ftdj nadj unferer freiließ erfi auf müfyfamem
mb langem tDege 3U begrünbenben [291] 2tnftdjt 3um Hange
wer britten fo3ialen 3nP^u^on neben ober richtiger tjinter
Sedjt unb ZHoral ergebt 2lttes, toas bie Sitte in biefer
Sichtung t>orfd?reibt, ljebt jtdj oon ben Dorfcfyriften ber ZlToral
n fdjärffter IDeife ab, es ift n\d\t bas gefeüfdiaftlid) (ßute
m ftdt, bas bie Sitte t>era>irflid]t, unb nidjt bas an jtd?
3d]Iedjte, bas fte t>ert|inbert, fonbem fie arbeitet bem <5uten
tur in bie Ejänbe, inbem fte ifym bie pf abe ebnet unb bem
*5*
228 Kapitel IX. Die fatale ITCecfjatttf* Das Sittliche*
Schlechten £}inberniffe in ben £)eg ftetlt Darum toirb es
fo oft als etwas (gleichgültiges, rein äußerliches angefehen,
was ben inneren IDert bes ZHenfchen nicht berühre, u>ie es
benn ja tr>ahr ift, baß eine rauhe 5<t\aU einen eblen Kern,
unb eine glatte Schale einen fchlechten Kern in fich [erließen
fann, obfehon, n?ie tsir feinest fehen werben, Schale unb
Kern boch in innigerer Derbinbung 3ueinanber [teilen, als
man gemeinhin annimmt 2tber fo äußerlich auch bie (Sebote
ber Sitte im Dergleicfy 3U benen ber XHoral erf ehernen mögen,
fte haben boch ihren guten Sinn, fte oerhalten fich 3u ben
letzteren u>ie bie ber poli3ei 3U benen bes Hechts, — bie
Sitte tjl bie poli3ei im Dienfte ber ZHoral (S. 207).
Der Perfuch, uns biefes Ceils ber Sitte burch Jlufftellung
erfchöpfenber Kategorien 3U bemächtigen, ließe fich 3unächft
in ber IDeife ausführen, baß tt>ir bas £eben in allen feinen
mannigfaltigen typifchen (ßeftaltungen unb £agen t>on ber
(Seburt bis 3um Cobe 3ugrunbe legten unb überall ben
punft be3eid]neten, wo bie Sitte eingreift. [292] Diefe, ich
möchte fagen: biologifche KlafjtfiJation ber Sitte, bie bei ben
(Ethnographen *>\e übliche unb für fte völlig 3utreffenb ift,
wäve nicht ohne 3ntereffe, fte ttmrbe uns bie Über3eugung
gewähren, wie bie Sitte uns auf Schritt unb {Tritt begleitet
5ür meine <gu>ec!e ift fte untunlich, nicht bloß, weil fte 3U
weitläufig, fonbern auch, weil jte 3U äußerlich iji.
Das natürliche Klaffiftfationsprin3ip bei allen praftifchen
Dingen ift ber gweef, unb tx>enn wir einmal uns über3eugen
tx>ollen, inwieweit bie Sitte ben ,§we<fen ber (ßefellfchaft btent,
fo ift ber gegebene XDeg ba3u bie 2tuf3ählung ber ein3elnen
«gtoeefe unb ber Nachweis, wie bie Sitte biefelben förbert.
21ber er wäre es nur unter ber Porausfefeung , baß bie ein-
3elnen gweefe bei ben r>erfchiebenen (ßeftaltungen ber Sitte
rein unb mwermifcht 3ur 21usroirfung gelangten. Das ijt
aber feinesroegs ber 5<*ö. Diefelbeu freu3en, r>ermi|d]en,
Die Sitte. — Selbftttüfeige uttb fretnbnüfcige. 229
oerbinben ftch mit anbeten in einem unb bemjelben punft,
unb 5er Derfuch einer 2Juslöfung desjenigen 33eftanbteils, ber
babet auf ben ein3elnen beftimmten &med faßt, würbe bie
(Einheit ber natürlichen öilbungen ber Sitte 3erreißen, 311
einer gerjiücflung führen, wie wir umgefehrt basjenige. was
bie Sitte für irgenb einen bejiimmten §wec! getan hat, aus
ben t>erfcfyiebenften lüinfeln unb <£cf en 3ufammenfuchen müßten*
3ch nehme 3. B. ben <§wecf ber Sicherung ber weiblichen
Keufchheit. §um erften ZHale ift uns berfelbe oben (S. 203fj\)
entgegengetreten bei bem bort befprodjenen (ßebote ber feinen
[293] Sitte, 3um 3wettert XHale toiri> er uns begegnen unten
(Xlv. 8) bei ber weiblichen Cracht, 3um britten JHale bei ben
Umgangsformen (Kategorie bes fejuett 2lnftö§igen).
3ch i^abe für mich ben Perfuch unternommen, ben (ße*
ftchtspunft bes «gwecffubjefts (I, S. 360) für bie Sitte 3U ver-
werten, allein auch er hat mich im Stiche gelaffen. J)ie einige
Ausbeute, bie er abgeworfen h<*t, befteht in ber Konftatierung
einer DerfchiebenBjeit, bie für ben porliegenben §wecf ohne
XDert ift, bie ich aber boch mitteile, roeil jte bie 2lnfd]auung
üon ber foialen 5unftion ber Sitte förbert. Die Sefchrän*
fungen, welche bie Sitte auferlegt, fönnen in erjler £inie bas
eigene JDohl unb Befte besjenigen 3um (ßegenftanbe h<*ben,
ben jte treffen*); beifpielsweife nenne ich bie oben genannten
in be3ug auf bie IHäbd^en unb grauen ber Iqöfyven Stäube
unb bie Sonntagsfeier (5.2^). Xfian tonnte fie als felbft-
nüfeige ober bepormunbenbe Säfee ber Sitte be$eidinen.
3hn^tt ftehen gegenüber biejenigen, welche bas 3ntereffe
britter perfonen be3wecfen, 3. bie (ßefefce bes 2tnfianbes
unb ber £}öflichfeit; man fönnte ftch für jle bes Samens ber
frembnüfeigen bebienen. <£nblid) gibt es nod} eine britte
*) Daß babet bas ^tereffe ber (Sefellfdjaft im Qttttera,ntttbe ftefyt,
ift 5. J$5ff« bemerkt morbem
230 Kapitel IX. Die fötale ttledjantf* Das Sittliche.
Klaffe, toeldje gleichmäßig bas eigene unb bas f rembe 3ntereffe
be3n>eden, vofc $♦ 23* bie Cradjt (Hr. 8). <£s ift berfelbe
(Segenfafc, tx>ie auf bem (ßebiete bes Hechts. Don ben 23e*
fdjränfungen, u>eldje bas Hedjt [294] auferlegt, haben geunffe
bas eigene 3ntereffe bes 23efdjränften im 2tuge (5. 23. bas
SC. Vellejanum, welches bie Derbürgung ber 5rauen3immer
ber leiteten toegen für nichtig erflärt), anbere bas einer
britten perfon (3. 23, bas an ben 2TIann gerichtete Peräuße«
rungsoerbot in be3ug auf bas 3>otalgrunbftüd bas 3ntereffe
ber 5rau), eine britte 21rt enblid? bas 3ntereffe beiber Ceüe
(3. 23. bas SC. Macedonianum, toeldjes bas (ßelbbarle^n bes
^ausfofynes für ungültig erflärt, bas ^ntete\\e bes Sohnes
unb bes Paters). 2>aß bei aßen biefen 3mperatit>en bie
(ßefeHfdjaft als letztes, enblidjes ^toedfubjeft im Qintergrunbe
fteht, tut ber JUSglidtfeit, bei ihnen bas nächftbeteiligte, un«
mittelbare auf3ufudjen feinen Abbruch, unb ebenfotoemg lägt
fich ber (Eintoanb ergeben, baß man bie (Sebote ber 5itte
um feiner felbft unHen befolge, er beruht auf ber £>ertr>echs=
lung bes 2JTotir>s mit bem gu>edEe (S. 1(05 f,)- 2>as ZTCotip,
toarum ich bie Kegeln bes 2lnftanbes befolge, mag ich ber
Äücfficht auf midi fd&ft entnehmen, ber gtt>ecf , um beffent«
toillen fte aufgehellt finb, liegt in ber Hüdftcht auf biejenigen
perfonen, mit benen ich perfehre.
2tber u>enn bemnach auch bie Hidjtigfeit biefer (Einteilung
fich nicht bemängeln läßt, als oberftes Klaffiftfationsprinstp
für bie Syftematit ber Sitte ift fte ohne allen ZPert. 3n
biefer £age fyahe ich es für bas 2lngemeffenfte gehalten, auf
eine prin3ipielle Klaf fiftf ation , toelche, wie immer fte auch
ausfallen roürbe, ftets ben <£inbrucf bes geriffenen machen
toürbe, gän3lidj Per3icht [295] 3U leiften. 3^ k&be t>ielmehr
einen anbern IDeg eingeschlagen, bei bem bie Hüdftcht auf
bie 2lnfchaulichfeit unb innere 2lbrunbung ber DarfteHung bie
maßgebenbe getoefen ift. 3^ u>erbe nämlich 3u>ei Stüde
Sitte* — ungemeine unb parttfuläre.
23*
I biefes Cetls ber Sitte in ihrer gan3en Weite unb Breite
I Uum (Begenftanb einer eingehenben Sdjilberung unb prüfung
i machen: bie Cracht unb bie Umgangsformen, 311 benen
noch ber oben 3ur bemnächfttgen Behanblung 3urücFgeIegte
Ii 2Jewtrtungs3wang ^in3ufommen wirb. 2tn biefen brei
! Stücfen foll meine Cfyeorie t>on ber fo3talen 5unftion ber
i Sitte Ope probe beftehen* Porter gebenfe ich aber noch
J bem 3ntere(fe ber äußeren DoKftänbigfeit ber Überfielt über
bie Sitte baburch 3U entfprechen, baß ich einen (Segenfa^ ber
Sitte vorführe, ber ftd7 in formaler Be3iehung als oberjier
(Einteilungsgrunb he$eidinen lägt, unb ber uns Gelegenheit
bieten foll, außer bem Gefamtüberblicf über bas (Seltungs-
gebiet ber Sitte noch bie Slnfchauung von einem gan3 be-
fonberen Stücf berfelben 3U gewinnen, bas uns fonft ent-
gegen würbe.
7) Die allgemeine unb bie partifuläre Sitte.
Der 3Hrift perftefyt unter allgemeinem Hechte bas im
gan3en £anbe, unter partifulärem bas bloß in einem ein*
3elnen Ceife besfelben geltenbe Hecht. 3n biefem Sinn ift
ber obige (ßegenfafe nicht gemeint, für bie Sitte würbe biefe
ttnterfcheibung feinen IDert haben. Der Sinn, ben ich bamit
perfnüpfe, ift bie allgemeine Geltung ber Sitte [296] für
alle Klaffen ber Bet>ölferung unb bie partifuläre für gewiffe
Klaffen, insbefonbere für gewiffe Beruf sarten.
Der Gegenfafc foll uns 3unächft bie IDeite bes äußeren
2lusbehnungsgebietes ber Sitte t>eranfchaulichen, bei Gelegen-
heit ber partifulären Sitte werben wir fobann noch bas
innere ober gweefmoment berfelben ins 2luge faffen, toeil
uns fonft feine Gelegenheit ba3u geboten werben wirb.
3ch fagte oben, baß bie Sitte unfer gan3es £eben burch-
bringt. <£s gibt feinen punft besfelben, wo fte ftdj nicht
angefiebelt fyätte, unb wenn wir bie parallele bes Hechts
3ur Pergleichung heranziehen, fo ftnben wir, baß bie Sitte
232
Kapitel IX. Die foßtale ItTedjattif. Das Sittliche*
bemfelben immer 3m: Seite bleibt. Von ber breiten Safts
bes täglichen Gebens, wo fte bas Seitenftücf 3um prisatrecht
abgibt unb bas reichfte ^clb ihrer Betätigung fmbet, ergebt
jte fich, ftets bem Hed]te 3ur Seite bleibenb, in bie Hegtonen
bes firchltdjen unb bes öffentlichen Cebens, unb fchließlich bes
Pölferr>erfefyrs. Sie u>ürbe in biefen oberen Hegtonen noch
einen breiteren Haum einnehmen, roenn nicht manches x>on
bem, tt>as innerlich eigentlich ihr gehört, unb roas 3um großen
Ceil auch äußerlich 3uerft in ber (ßeftalt ber Sitte ins £eben
getreten ift, fpäterhin r>om Hecht in bie 5orm pofttmer Safeung
gebracht toorben tr>äre.
Die letztere 23emerfung fchließt eine Anficht über bie
innerliche Perfdjiebenheit t>on Hecht unb Sitte in fich, bie ber
Hechtfertigung bebarf* Wenn man in früherer geit, [297]
bet>or ich ber Sitte ein einbringenbes Stubium 3ugeu>anbt
hatte, mir bie 5rage vorgelegt Rätter roorin ber Hnterfchieb
3toifd)en Hecht unb Sitte gelegen fei, fo toürbe ich geantwortet
haben: lebiglich in ber X>erfchiebenheit ihrer perbinblichen
Kraft, bas Hecht ftüfee bie feinige auf bie mechanifche Strangs*
getoalt bes Staats, bie Sitte bie ihrige auf bie pfychologifche
ber <5efellfchaft, inhaltlich roalte 3toifchen beiben feine Per-
fd]iebenh^it ob, ein unb berfelbe 3^h^It eigne fich ebenfogut,
bie 5orm bes Hechts unb bie ber Sitte an3unehmen. Hieinen
Unterfuchungen über bie Sitte x>erbanfe ich eine anbere 2ln«
fdjauung, ich bin 3U ber Über3eugung gelangt, baß jenem
äußeren (Segenfafc ein innerlicher entfpridjt, baß es einen
3nhalt gibt, ber feiner ZTatur, b. i. feiner ^ialen gtr>ed-
beftimmung nach bem Hecht, einen anbern, ber aus bemfelben
<5runbe ber Sitte angehört, tsomit fich bie HTögltd)feit Der*
trägt, baß jener fyftorifch bie 5orm ber Sitte, biefer bie bes
Hechts annimmt. Die <£nta>tcflungsgefchichte bes römifchen
Ziedits führte mir ein Seifpiel ber erften 2trt por 2tugen:
einen feiner Viatnv nach redlichen 3nhalt in 5orm ber Sitte,
Sitte unb Hedji — Die Cratfji
233
es waten bie bonae fidei negotia ber Homer 3m: g>eit, als bic-
felben noch nicht ftagbar geworben waren unb nur ben Schufc
ber Sitte genoffen. 3h* 3rchaft toar in ber Cat rechtlicher
2trt, wenn ihm auch bie 5orm bes Hechts fehlte, benn biefe
Derträge bienten ben «gweefen bes J^anbelsserfehrs, ber feiner
Hatur unb Beftimmung nach rechtlicher 2Irt ift unb bie 5orm
bes Hedits poftuliert. [298] Die Sitte beefte fyer bas Defoit
bes Hechts, fie f prang in bie £ücfen ein, bie bas Hecht offen
ließ, bis biefes fie fpäter felbft ausfüllte.
Die entgegengefefete <£rf Meinung ift es, bie roir B|ier su
betrachten traben: 3nfyalt ber Sitte in 5orm bes Hechts. 3^
©eranfehauliche bies an bem Beifpiele ber Cradjt.
Die Cracht ift 3wetfellos eine 3nftttution Sitte, aber
bie Staatsgewalt ^at für ITülitär unb Beamte bie Cracht
ansbrücflid} sorgefchrieben (Uniform, 2lmtstrad}t), bamit alfo
biefem StücE Sitte einen rechtlichen Ci|arafter üerliehen. ZDirb
fie baburch innerlich etwas anbeves? eingenommen ber
(ßegenfafe ber männlichen unb weiblichen Cradjt, beffen Be«
adjtung unb 2tufred>terhaltung bei uns ber Sitte überliefen
ijt, würbe ron ber (Sefefegebung als t>erbinblich für beibe
(Sefdjlechter t>orge3eidjnet, wie bies in ber Cat im mofaifchen
Hecht gefdjehen ift (f. u.), würbe bie Cradjt bamit eine anbere
fo3ia!e Bebeutung gewinnen? Sicherlich nicht l 3$ würbe
barum gleichwohl nicht aufhören, bie Cracht als ein 3nftttut
3u diarafterifieren, bas feiner Ztatur, b. h* ber (Eigentümltd]*
feit feiner gwedb eftimmung nach ber Sitte angehört, unb
nur ben <§ufafc ^in3ufügen, baß es in biefem 5alle rechtlidje
5orm angenommen h<*be. 2tuch bie Ejoftracht ift burdj bie
ffofetifette ausbrüeflich Dorgefcbrieben, fie bilbet gleich ber
Uniform bes Solbaten unb ber 2lmtstracht ber Beamten unb
(ßeiftlichen ein StücE ber reglementierten Sitte, aber [299]
innerlich 3<ühlen fie boch alle 3U einer 3nftitutton, wekhe
fyftorifch wie ihrer Hatur nach bet Sitte angehört
23^ Kapitel IX. Die foiale ITCedjanif* Das Sittitdje.
Xlxdit anbevs verhält es ftct| mit ben Umgangsformen»
Die bes gewöhnlichen £ebens fallen ausfchlteßlich ber Sitte
anheim, bei fjofe eytftiert für fte ein eignes I}of3eremomell,
bem Solbaten ift bie $oxm bes (Srüfjens (Sahitterens) burch
feine Dtenftinjiruftion ausbrüeflich sorgeseicfynet, für ben Kurial*
ftil ber Beworben finb im Perfehr berfelben untereinanber ge*
tr>iffe tDenbungen obligat. 3n allen biefen fällen ift ber
(Segenftanb biefer Bestimmungen nicht an ftch rechtlicher Art,
fonbern nur in bie 5orm bes Beglements gebracht <£nbltch
noch bas J}och3etts3eremoniell. Überaß ift es bie Sitte,
welche basfelbe ausgebilbet hat unb aufrecht erhält. Ange-
nommen, basfelbe würbe burch <5efefe 3ur 23ebingung ber
(Eingehung ber <£lje erhoben, würb* fein innerer Cfyarafter
ftch baburch änbern? 3^ meinerfeits würbe es nach wie
por als ein urfprüngliches Stücf Sitte charafterifieren, bas
nur bie 5orm bes Hechts angenommen hätte. Selbft ba, wo
bas Hecht eine beftimmte $oxm für gewiffe feierliche Afte
bes Cebens t>orge3eichnet hat, fügt bie Sitte im 2)range nach
reiferer SYtnbolifterung , poetifdjerer (Seftaltung bes X>or*
ganges nicht feiten noch anbere ^üge hw3u, wie bies 3. 23. in
Horn bei ber ©ngehung ber <£fye burch confarreatio ber 5all
war, wo bas Hitual unb Zeremoniell ber Sitte über bas bes
Hechts weit hinausging.
Die bisherige Ausführung hat ge3eigt, bafj, wenn wir
[300] biefen Hlaßftab ber inneren, inhaltlichen «gugehörigfeit
3ur Sitte anlegen, gar vieles auf ihr Konto 3U fefeen ift, was
nicht bie 5orm berfelben, fonbern bie bes Hechts (jus scriptum)
an ftch trägt: 3nh<*lt ber Sitte in 5orm bes Hechts, unb bamit
wirb bie obige Behauptung (S. 23\ f.), welche uns 3U biefer
Ausführung Anlaß bot, gerechtfertigt fein. 3^h fa9te oben,
ba% bie Sitte ftch ü&er alle Seiten unb gweige unferes £ebens
erftreeft, auch üfor bas öffentliche unb firchltche Ceben, unb
bies foll nunmehr burch einige öeifpiele Deranfchaulidjt werben.
parttfttläre Sitte* — Die parlamentarifdje Sitte» 235
2lls 53eifpiel auf bem (gebiete bes öffentlichen £ebens
aus lieuttger geit*) nenne ich bie parlamentarif che Sitte,
u>eld?e bie äußere ©rbnung ber Derhanblung unb bie 23eob*
adjtung ber anjtänbtgen $otmen ber Debatte in öffentlichen
Perfammlungen 3um (Segenftanbe l|at**). «guerft [301] aus*
gebilbet auf beut 23oben <£nglanbs als 2Tieberfchlag ber <£r*
fahrungen bes englifdjen Parlaments, ift fte bann auf bie
entfprechenben Körperfchaften bes Kontinents unb felbft auf
öffentliche Derfammlungen aller 2lrt übertragen tporben. Sie
bebautet für bas öffentliche £eben basfelbe, toas bie Umgangs*
formen für bas tägliche. Die (ßarantie ihrer 23eachtung
beruht ebenfo tpie bie ber festeren vielfach lebiglich auf bem
2lnftanbsgefüt|l unb ber Scheu vov ber öffentlichen ZHeinung,
be3iehungsu>eife bem (Drbnungsrufe bes präfibenten. <£s
tPtrb fich 3eigen, ob man auf bie Sauer bamit aus3ufommen
permag, ober ob man nicht, u>ie ich glaube, burch abfehredfenbe
(Erfahrungen getoifeigt, fich genötigt fehen toirb, bem (ßebote
bes parlamentarifchen 2lnftanbes burch geeignete gef etliche
Maßregeln 3U J^ilfe 3U !ommen. <£s ift ein mit bem h^h^n
2lnfehen einer parlamentarifchen Körperfcfjaft fchtoer perträg*
*) Über bie Sitte im römif cfyett Staatsleben h<*be idj ausführlich
gehanbelt in meinem (Seift bes römifer/en Hechts II, \* S* 27$ (ZlufU
**) lUit bem polittfc^en Syftem bes Parlamentarismus l\ai ffe
nichts 3U f djaffen- letzteres beruht auf bem (8runbfat$e, ba§ bie in ber
IttajorUat befhtbliche partei ber Dolfspertretung bie eigentliche Per*
treterin bes Polfsnrillens unb bie (Trägerin feines Pertrauens ift, unb
ba§ bat^er ein iTCmtfterium, bas biefe ITCajorität nicht mehr für fta? hat,
ab3Utreten h<*k Wenn man auch biefen Sat} ber politifchen Sitte <£ng*
lanbs, ber bort in ber trabittonellen IPeife ber politifchen partetbilbuug
feinen (Srunb unb bie 23ebmgungen feiner Durcfc>führbar?ett fanb unb
fhtbet, auf bem Kontinent ha* übertragen wollen, roo es an bett 33e*
bingungen feiner Durchführbarfeit meiftens gän3Üch fehlt, fo ift bies
nicht Ptel beffer, als wenn ein Kinb, bas einen (Ermachf enen h<*t retteu
fehen, auch ein pferb haben möchte; ein Pater, ber biefen tPunfd} er*
füllen roollte, müßte ebenfo einftchtslos fein als bas Kinb felber, bfe
(Erfüllung besfelben mürbe balb mit bem Stur3 t>om pferbe enbem
256
Kapitel IX. Die feciale med?anif* Pas Sittliche,
lid]es Schaufpiel, bie Cümmelhaftigfeit auf ber Cribüue fich
ungehindert unb ungeftraft breit machen 3U fehen — 2tus«
fd)ließung eines unnmrbigen Zllitgliebes ift überall bas ZTIittef,
rooburch feie (SefeHfchaft fich gegen eine Schäbigung ihres
2lnfehens ficherffeHt.
2lus ber Sitte bes firchlt djen Cebens nenne ich bas beim
proteftantifchen (ßottesbienft übliche ilufffeh^n ber (ßemeinbe
bei bem Derlefen bes (Evangeliums unb bem Empfange bes
Segens, forme bas im fatholifchen (Sottesbienjl übliche Knien,
bas Befprengen mit ZDeifyroaffer, bas Schlagen bes Kreu3es*
[802] 3m t>ölf errechtlichen Dertehre ftnbet bie Sitte
mannigfache 2Ina>enbung. gunächft im f rieb liefen bie
burch bie (Etifette erforberte 2trt ber persönlichen Begrüßung
ber 2ftonar djen (Anlegung ber wechfelfeitig erteilten (Drben,
bei Verleihung eines Regiments Anlegung ber Uniform bes«
felben, fofortige 2lbftattung bes (Segenbefuchs), bes (Empfangs
ber (Sefanbten, ber 2Iustaufchung r>on ©rben an bie Bet>oU«
mächtigten u. a. m. Die Sitte ifi tiiev in bem ZTfaße obligat,
baß bie fjintanfe&ung berfelben ben <£h<*rafter einer Be«
leibigung an ftch trägt — eine fehlere Mißachtung berfelben
(bas befannte „Brüsfieren" Benebettis gegenüber Kaifer
Xüilhelm) enthält einen casus belli. 2lus bem feinbfeligen
Pölferoerfehre liebe id) lietvcv bas 2luf3iehen ber »eigen
flagge in ber 5eftung als geidjen ber Übergabe, bas H?eg*
werfen bes <Setr>ehrs als Reichen ber (Ergebung, bie Unter«
laffung x>on 5ewbfeligfetten unter Porpoflen.
Die bisherige T)arfteHung liatte lebiglid] ben <§toecf, bie
äußere 2lusbehnung ber Sitte über bas gan3e (ßebiet bes
Cebens 3U t>eranfch<*ulichen.
2lber mit biefer 2tnfchauung von ber äußerlichen 2lus-
behnung ber Sitte ift bie (Einficht in bas innere XDefen ber«
felben noch nicht gewonnen, bie entfeheibenbe 5rage pon ihrem
fo3ialen lüert, ihrer Fialen Berechtigung unb X?ottt>enbigfeit
parttfuläre Sitte* —
Die mtlitärtfdje Sitte*
237
ifi babet noch nicht berührt. 5ür bie allgemeine Sitte roirb
es im folgenden 2lbfchnitte [303] gefcheh^n, für bie partt-
fuläre fyer, inbem ich einige befonbers lehrreiche Beifptele
herausgreife.
(Eine außerordentlich tr>ertpotle Ausbeute gewährt in biefer
Se3tet|ung bie militärifche Sitte in ben Jlnforberungen,
bie fie bei uns in 2)eutfchlanb an ben ©ffcier ftellt*). 2tn
feinen Staub ergebt bie Sitte fo ftrenge 2lnforberungen toie
an ben beutfehen (Df foierftanb , unb bei feinem fann man
ihrer unverbrüchlichen Beachtung fo fidler fein als bei ihm.
Das (Dffoierforps ift eine gegenfeitige (£r3iehungs« unb Über*
u>achungsanftalt, welche bie Crabitionen ber militärifchen Sitte
unb ben ihr entfpredjenben militärifchen (ßeift in jebem ZTlit*
gliebe ^egtf pflegt, lebenbig erhält, ja im 3^tereffe ber fo3ialen
Stellung bes gan3en Stanbes felbft bas gefellfdjaftliche Be-
nehmen bes etn3elnen 3um <5egenftanbe ber forporatisen 0b«
hut macht. €s gibt feinen 5tanb, ber über feine ZHitglieber
eine folche 2lufftcht führt, roie er, unb ber baher auch fo
feiten in bie £age fommt, bie Stellung, bie er in ber öffent-
lichen ZHeinung einnimmt, burch eines feiner ZHitglieber fom-
promittiert 3U fehen, — ber Untoürbige oerfchtüinbet fofort
aus feinen Heilen, u>ährenb er im gimlftaatsbienft unb im
Kirchenbienjl, fotoeit ber 5<*H fich nicht 3ur 2lbfefeung eignet,
fein 2lmt beibehält. 3)tefe [304] ITCöglichfeit, fich bes «n-
umrbigen fofort 3U entlebigen, bilbet überall neben ber for-
poratioen fi^iehung bas txnrffamfte ZHittel 3ur Behauptung
ber Stanbesfitte.
Das 3«terejfe, welches bie militärifche Stanbesfitte für
*) 3<*? betone; Deutfdjlanb , metl bei fremben Armeen 3um (Eeil
anbete <Srunbf.ä't$e gelten 3. 23. in be3ug auf bie Derpfüd?tung, im ^all
ber Übergebung beim 2loancement ben 2Jbfdjieb 31t nehmen, bie ba, wo
bie unteren ©ffaiersfteflen mit Uuteroffoieren befetjt werben, für letztere
nidit ejtftiert unb ntdjt nötig \%
238 Kapitel IX. Die feciale Ittedjaittf. Das Sittliche*
mich in 21nfpruch nimmt, beftet^t in bem Nachweis, ba§ unb
wie bie eigentümliche Stanbesaufgabe burch fte geförbert
wirb, fur3 in ber Darlegung ber oben (S. 2$) behaupteten
loyalen 5unftion ber Sitte in befonberer Jlnwenbung auf bie
partifuläre Sitte» 3ch hebe folgenbe punfte tjeroor*
IDä^renb bas Hecht bie Selbfttjüfe unterfagt, macht bie
militärifche Sitte fie bem ©ffoier 3ur Pflicht €r foß [eine
angegriffene (Efyre f elber behaupten, fei es fofort auf frifdjer
Cat mittels blanfer lüaffe, fei es hinterher burd] gufenbung
einer 5orberung. ZDas lägt ftd) für bie Sitte, bie fyer mit
ber XHoral unb bem Hecht in offenen IDtberfprudf tritt, an»
führen? Die €mpfmblichfeit bes militärifchen €l)rgefüt|ls?
XDarum ift bas militärifche (E^rgefü^l fopiel empfmblicher als
bas ber anbeten Stäube? £ür ben gioilftaatsbiener befielt
bas (ßebot nicht. Die größere €mpfmblid)feit bes €t|rgefü^fs
ift nicht ber (ßrunb, fonbern nur ein Symptom, eine 5olge
bes (ßrunbes, letzterer felbft ift in ber eigentümlichen Serufs*
ftellung bes ZHilitärs gelegen. Diefelbe befteht in ber Rührung
ber U?affe, unb ZTÜut ift bie fpe3ififche Cugenb bes Solbaten.
2lllerbings foß es nur ber 5einb, ber äuger e ober ber innere,
fein, gegen ben er fich ber IDaffe bebienen unb ben ZTiut
3etgen foll, [305] aber bie bewaffnete (Sewalt als eine 3nfti*
tution bes Staates muß gefürchtet fein, jeber foH tx>iffen, ba§
er nicht mit ihr fpielen unb ber Klinge bes Solbaten ebenfo-
wenig 3U nahe fommen barf tote ben Ztäbem unb Uleffem
einer ZHafchine. Die Selbjiwehr bes ©ffoters ijl bas argu-
mentum ad hominem für biefe Unnahbarfeit ber bewaffneten
(Sewalt, ber perfönlidje imperativ , bas noli me tangere
berfelben. sticht minber fdjwer fällt bie Hücfftcht auf bie
Stellung bes Dorgef efcten 3U feinen Untergebenen ins (gewicht.
<£s gibt !eine anbere öffentliche Dienftßeöung, bie wegen ber
einmal gebotenen unbebingtejien Unterorbnung bes Unter-
gebenen bie unnachjtchtige 2lufrechterhaltung ber Autorität
Die militärifdje Sitte* — Der QueU$voatiQ+ 239
bes Porgefefcten in bem Zttaße erforderte wie fte» So tote
bie ZHenfchen nun einmal finb, toürbe i>te Autorität des CDfft*
3iers in ben 2tugen bes gemeinen TXlannes, bem bie ent*
fchloffene perfönltchfeit mehr imponiert als bas <5efefc, ge*
fätjrbet fein, roenn ber (Dffoier im 5aH einer öefchimpfung,
anpatt felber ben Segen 3U sieben, bie Behauptung feiner
<£tjre ber 5eber eines 2tboofaten überlaffen toollte. 3n *>et
Schlacht beruht ber militärifche (Behorfam nicht mehr auf ber
Zftadtt bes (Sefefees, — bas <ßefet$ ift I|ier toeit entfernt l —
fonbern auf ber unmittelbaren perfönlichen Autorität bes Dor<
gefegten, unb ber 5oIbat muß toiffen, baß ihm, toenn er ben
Kugeln bes 5einbes entrinnen toill, ber Degen feines (Dfföiers
broht — incidit in Scyllamj qui vult vitare Charybdim —
einen Segen aber, ber im ^rieben in ber Scheibe fteefen
blieb, [306] too er feiner Anficht nach heraus mußte, fürchtet
er auch in ber Schlacht nicht, — fein Cräger ift ja ein
gar frommer ZHann, er tut niemanbem ettoas 3uleibel Ser
Hefpeft t>or bem Segen feines Porgefe&ten muß bem Solbaten
$um fiüangelium roerben, unb ein Stücf von biefem €t>an*
gelium ift bas SueH bes ©ffoiers* <£m trauriges <£r>angelium
geroißl Jtber iji ber Krieg, auf ben bie gan3e Stellung bes
ZHilitärs einmal 3ugef dritten fein muß, ein freubiges? Bei
beiben bleibt bemjenigen, ber bie XDelt 3U x>erftehen fucht,
txrie jte einmal ift, nichts übrig als ber Ausruf: dira neces-
sitas, — man fchafft lefctere nicht aus ber XDelt, inbem man
jte oertüünfcht ober feine 2tugen üerfchließh
ZHit bem burdj bie militärifche Sitte über ben (Dffoier
©erhängten gtt>ang 3ur perfönlichen H)al|rung feiner €I|re
fleht im engften gufammenhang bie ihm gleichfalls burch
bie Stanbesjttte auferlegte Derpflichtung, (Drte unb (Belegen*
Reiten, n>elche bie <5efahr eines Konflifts an ihn herantragen
fönnen, 3U permeiben (S. 2\\). 2luch hier ift es nicht bie
bloße Hücfficht auf feine fo3iale Stellung, ber bies (ßebot
2^0 Kapitel IX. Die feciale IKedjattif. Das Sittliche.
entflammt t fonbern auch h^r perjlecEt fich hinter bem, tt>as
f diembar bie Stanbesetjre mit fich bringt, ein ernfier praf«
tifcher groeef — bie Befchränfung nach biefer Seite ijt bas
nottoenbige Komplement unb Cemperament ber Jlusnahms«
ftellung nach ber anbern Seite.
(Ein emberes Stücf ber militärifchen Stanbesfttte iji [307]
bie Derpflichtung bes ©fföiers, im SaVi ber gurüeffefeung
beim 21x>ancement feinen 2lbfd}ieb 3U nehmen. 2tud? fyer foll
tmeberum bie ungewöhnliche Hei3bar?eit bes militärifchen
Ehrgefühls ben (5runb ber Sitte abgeben. 2tber meiner
Anficht nach serhält es fich auch B|ier nicht anbers, n>ie im
obigen b. h- hinter ber Hücf ficht auf bie <£fyre, bie
fubjeftit) bas UToth> abgeben mag, ftecEt objeftio als §wed
ber Einrichtung bie Äücfficht auf Erhaltung ber Autorität
bes Dorgefefeten in ben 2lugen ber Untergebenen. Über*
fpringung beim 2lt>ancement bedeutet Hnfäfygfeitserflärung
3ur 23efleibung eines Ijöfyeren (Stabes, unb biefes t>on ber
höchften 23ehörbe ausgefprodjene Urteil ift maßgebenb für
bas ber Untergebenen unb untergräbt bamit bie unerläßliche
Sebingung bes ftrengen militärifchen (Sehorfams: bie Autorität
bes Dorgefefeten. Ulan voenbe nicht ein, baß ber (ßrunb 3U
viel beroeife, inbem biefelbe 5olge in gleichem 5all and] bei
bem gipilbeamten eintreten muffe, tsährenb boch für ihn
jenes (Sebot nicht beftehe. <£ben biefer <5egenfafe ifi gan3
geeignet, bie Eigentümlichfeit ber Stellung bes militärifchen
Porgefefeten im (Segenfafe 3U ber bes Staatsbeamten ins
richtige Cidjt 3U fefcen. gur Sicherung ber lefeteren reid]t
bas (ßefefc allein aus, fte fennt feine fritifchen Cagen, in
benen voxe in ber Schlacht bie Scheu por ber perfönlichfeit
bie Sichtung Dor bem <5efefe erfeften muß, bie ZHacht belegt
fich h^r *n geregelten Bahnen, unb ein IDiberftanb ber Unter»
gebenen gegen ben Dorgefefcten läßt fich [308] bei ihr auf
ben U)eg bes Hechts (Dis3iplinarunterfuchung) pertpeifeu.
ParttMäre Sitte.
— Kiicftrttt ber IKintper*
2<W
Die Aufgabe bes &w\lbeamten unb bes milttärifdjen X?or-
gefegten cerfyalten ftdj 3ueinanber tx>ie bie Aufgabe eines
Cofomotit>füI|rers unb eines Heiters, ber ein toilbes pferb
3u reiten ljat — tt>enn Iefeteres nidjt bie ftarfe £}anb bes
Heiters füfylt, tüirft es ifyn ab» 2lHe Stellungen im öffent*
liefen £eben, toeldje auf bie perfönlicfjfeit im (ßegenfafe $um
(Sefefc geftellt finb (tt>ie 3. 23. audj bie abfolute ZTfonarcfyie
unb ber Defpottsmus im (Segenfaij 3ur fonftituttonellen
Hlonardjie) bebürfen ber ^urdjt x>or ber perfönlidtfeit, unb
in biefen Derfyältmffen enthält alles, n>as letztere abfcfytpäcfyen
fann, eine Sebrofyung ber HTadit, — 2lufred}terfyaltung bes
21nfeljens ber perfon ift fyer bie unerläßliche 23ebingung ber
2T(ad]tfteHung.
€ine Hlacfjtftellung gibt es aüerbings auch im ^toil«
ftaatsbienft, bei ber bie Sitte ifyrem Cräger unter geroiffen
Dorausfefeungen gan3 biefelbe Verpflichtung tüie bem (Dffoier
auferlegt, feine <£ntlaffung 3U nehmen, unb biefer 2lusnahms<
fall beftätigt bie Hidjtigfeit bes von uns geltenb gemachten
(Bejtchtspunftes, €s ift bie Stellung ber Ijödjften Häte ber
Krone: ber HTinifter. 3m Syftem bes Parlamentarismus
(S. 235 Hote) ift biefe Verpflichtung an bie Vorausfefcung
gefnüpft, baß fie bie Majorität im J^aufe ber Volfst>ertreter
verloren I|abenf außerhalb besfelben liegt ber 5all bann vov,
wenn ber 2ftonarch, ber ben Hlinifter offoiell 3U bem Cräger
feines Vertrauens beftellt t^at, ihn bei Dingen feines Hefforts
umgebt (3. S. (Erteilung [309] t>on 3nftruftionen an (Sefanbte
ohne Kenntnis bes ZlTmifters bes 2lusn>ärtigen) , itjm alfo
bamit ben Seroets liefert, baß er fein Vertrauen in IVirflich*
feit nicht mehr beftfet. <2ine folche f(anblungsn>eife enthält
eine perfönlidje Kränfung, tr>eil eine Zfiißachtung ber mit bem
2lmt gewährten 2lnfprüche, unb bie (Sefefee ber <£fyre unb bes
Unfianbes erf orbern, fte burch bas <£ntlaffungsgefuch 3U be*
antworten, toie ein (Saft bas £}aus perläßt, in bem ber IVirt
o-3 bering, Der gwerf im Ked?t. IL iß
2^2
Kapitel IX. Die fö3tale riTedjantf. Das Sittliche.
ftch gegen ihn eine Bücfjtchtsloftgfeit t^at 3ufchulben fommen
Iaffen. Slber hinter bem (gebot ber £^re, bas fubjeftiü als
TXlotiv t>oHfommen ausreicht, um biefen Schritt 3U motivieren,
jieett auch lixet une bei bem ©ffeter ein anberer (ßrunb, ber
unabhängig von aller perfönlicfjen €mpfmbung benfelben 3ur
Stottoenbigfeit macht: bas objeftit>e 3^tereffe ber bienjilichen
5teHung. Wo bas Vertrauen bes Monarchen bie Sebingung
3ur €rreichung bes §xoeds bilbet, iji mit bem Vertrauen auch
bie €rreichbarfeit bes gvoeds t|intt>eggefalten, unb toemt bie
<£fy;e I|ier fubjeftit) als ZHotis bas <£ntlaffungsgefuch biftiert,
fo tut fte es objeftb nur im 3ntereffe bes S^cfs.
2luch an ben (Seift liefen richtet bie Sitte manche 2ln-
forberungen, toelche an 3nbit>ibuen anberer Beruf sf Iaffen
nicht ergeben* 3n manchen (Segenben geht jte barin fotreit,
baf$ fte ihm gettnffe Vergnügungen fchlechthin unterfagt, er
foD nicht Karten fpielen, nicht Ojeater, Säße, felbfi nicht
Köderte befugen. 2luch t^ier hebt ftch bie Sitte toieberum
gan3 fcharf t>on ber ZlToral ab. dasjenige, [310] n>as fte
ihm unter(agtf iji nicht unmoraltfch, aber es paßt ihrer 2luf-
faffung nach nicht 3U ben eigentümlichen persönlichen 23e«
bingungen ber IVirffamfeit bes Slmts, es iji geeignet , ben
Cräger besfelben in ben 2tugen roenn auch ntd^t aller, fo
boch mancher (Semeinbeglieber her<*b3ufefcen unb bamit feine
ooHe IVirffamfeit 3U beeinträchtigen. 2lus bemfelben (Srunbe,
aus bem jte beim (Dffoier bie Behauptung fetner <£litef vev
langt jte beim (Seijilichen bie feiner tVürbe, nicht feiner felbfi
toegen, fonbem im 3ntereffe ber er f auf bie er unrfen foH,
bamit es ihm an beren Sichtung, welche einmal bie Sc*
bingung fetner sollen IVirffamfeit bilbet, nicht fehle. 2luch
hier mag man bas (Element, in bem biefe Sichtung umreit,
als Porurteil be3eichnen; aber folange biefes Vorurteil einmal
bejieht, ©erlangt bie volle IVirffamfeit bes Slmts, ba§ es ge*
fchont tverbe.
patttfuläre Sitte* — Die dradjh
2^3
dürfen voxv basjenige, was bie Betrachtung biefer 5äQe
uns abgemorfen t^at, generalifieren, fo formen unr fagen: bte
partifuläre Sitte h<*t 3U intern 3«^ölt unb SroecE bie <£in*
fchärfung ber eigentümlichen Bebingungen, von benen inner*
halb einer getxnffen Berufsart bie Stellung ber perfon (2tn*
fe^en, €hrcf IDürbe) unb bamit beren <£rfolg für bie <5e*
feHfchaft abfängt, unb fte serfchmäht es babei nicht, felbft
befietjenbe Dorurteile 3U berücf fichtigen; ihr 3nh^K ift nicht
bas an fich (Sute, fonbern basjenige, roas geeignet ift, teueres
3U ermöglichen, 3U f orbern, ihre fo3iale Bebeutung lägt fich
alfo unter benfelben (Seftchtspunft [311] bringen, ber uns
oben (S. 2\S) 3uerft aufjHeß, unb ben roir nunmehr für bie
allgemeine Sitte im folgenben genauer begrünben roerben:
ben ber ftttlich'abminifulierenben 5 u n f t i o n ber
Sitte.
8) Die Cracht-
Der Begriff ber Cradjt ift bereits (S* \82ff>) angegeben«
JTlit ber Zfiobe teilt fie bas ZHoment bes <§tr>ingenben, beibe
fteßen obligate Cypen ber Kleibung auf, nur ba§ bie Cracht
auch burch (Sefefe sorgefchrieben fein fann (2tmtstracht, Uni*
form). Don ber ZlTobe unterfdjeibet fich bie Cracht burch
bas ZHoment bes Dauerhaften: ber Cypus, ben bie ZHobe
auf jleHt, ifi ein ftets tr>echfelnber, ber ber Cracht ein bleibenber.
Die äfthetifche Seite ber Cracht fteht für uns außer Betracht,
roir halten uns ausfchließlich an bie praftifdje Seite, b* i. bie
gefellfchaftliche Bebeutung unb Beftimmung berfelben.
Die Sitte Jennt brei Birten ber Cracht. Die erjle ift bie
Dolfstracht, über bie bereits oben (S. J(38) bas <£rforber-
liche gefagt ift. Die 3tt>eite fnüpft ftch an ben (Segenfafe
bes (ßefdjlechts (männliche unb weibliche Cracht); bie
britte an getoiffe t>orübergehenbe 2lnläffe bes meufdjlichen
Cebens, nämlich Sehnte^ unb 5reube (bas Cr au er* unb bas
5eftlleib).
*6*
2^ Kapitel IX. Die feciale XTCedjanif* Das Sittliche.
Bei allen Kulturvölkern wirb ber Unterfdjieb bes <5e*
fdjlechts äußerlich burch eine DerfchiebenBjeit ber Kleibung
funbgegeben, unb bies ift nietet etwa bloßer Brauch, (Sewohn*
heit, fonbern Sitte, b. h- eine (Einrichtung [312] 3wingenber
2Irt. <£in ZHann barf öffentlich nicht in IDeibertracht, ein
XDeib nicht in ZHännertracht erf djeinen. IDarum? ber äfthe*
tifdjen Hückjtcht wegen? (Es ift richtig, baß bie Uerfdjieben*
heit ber anatomif djen Struktur beiber (Sefchledjter eine Der*
fdjiebenheit ber (ßewanbung bebtngt, unb ber äfthetifdje <5e<
ftdjtspunft mag ausreißen, um bie Catfädjlidjfeit biefev
Derfchiebenheit 3U erklären, aber bas 3wingenbe (5ebot ber
Sitte erklärt er uns nicht. Das VTiotxv ber Sitte ifi nicht
äfthetifdjer, fonbern praktifdjer ober etfyifdjer 2lrt. Wenn ich
oon mir, bem basfelbe erft bei Gelegenheit ber gegenwärtigen
Unterfuchung klar geworben iji, auf anbere fchließen barf, fo
glaube ich behaupten 3U bürfen, ba§ bie wenigften bat>on
eine klare PorfteHung haben, unb biefer 5att enthält wieberum
einen fchlagenben Beweis bafür, wie wenig wir über ben
gweef ber allereinfachften (Einrichtungen bes £ebens, weil wir
einmal an jte gewöhnt finb, nadßubenten pflegen. 2Tfan male
jtch einmal einen §txftanb ber (Sefellfchaft aus, in bem bie
(ßefchlechter an ber Cracht nicht 3U unterbleiben wären unb
man wirb über ben Sinn einer (Einrichtung nicht im «gweifel
fein, welche ben <5egenfat$ bes (Sefdjlechts fofort äußerlich
erkennbar macht. Die Derfdjiebenfyeit ber männlichen unb
weiblichen Cradjt gehört 3U ben funbamentalften unb uner*
läpehften (Einrichtungen ber fittlichen (Drbnung ber <Sefell«
fdfaft, benn fie erinnert nicht bloß bas ein3elne 3n^ü^uum
unausgefefet an bie Bücffichten, bie es im Derkehr mit bem
anbem (Sefchlechte 3U beobachten [313] h<*t, an bie Schranken,
bie ihm gefefet finb in H?ort unb Hebe unb Benehmen, fonbern
jte gewährt 3ugleich ber (Sefellfchaft bas ficherfte unb leidste jie
2T?ittel ber öffentlichen Überwachung bes Verkehrs ber beiben
Die Sitte» — (Eraefyt, männliche, metblid)e. 2^5
(Sefchlecbter. Wir traben barm alfo abermals ein Stücf
5idievtie\tspolx$e\ bes Sittlichen t>or uns, bie Sitte in
ifyrer \xttlxdi*pvopliylatt\\dien 5unftion. £}ätte nicht bie
Sitte felber in nötiger <£rfenntnis von beten Unerläßlichfeit
biefe 3uchtpolt3eiliche Sidjerungsmaßregel getroffen, bie ftaat*
liehe poÜ3ei müßte es tun. unb verlöre jemals bie Sitte bie
TXladttf fie aufrecht 3U erhalten, letztere müßte an ihrer 5tatt
bie Sache in bie ^anb nehmen*).
Sei Kinbern in ben erften Cebensjatjren pflegt bas <Se»
fehlest burch bie Cracht noch nicht unterfcfjieben 3U roerben,
aber faum fyaben fie bie Kinberfdjuhe ausgetreten, fo beginnt
bereits ber (Begenfafe ber Cracht. IDarum? Von einer
fejuellen (ßefa^r fann B^ier noch feine Hebe fein. 2tber bie
lüeisfyeit ber Sitte t|at auch h**r abermals bas Hichtige ge<
troffen. Die (Einrichtung hat einen ernften [314] päbago*
gifchen gwedt. Der (ßegenfafe ber (Sefcfjlechter gehört 3U ben
früheften C^atfachen, bie bas Kinb erfahren muß, um fie
pon allen Anfang an beim erften <£vmadien feines Unter«
fcheibungspermögens refpeftieren 3U lernen. Schon ber Knabe
muß roiffen, baß er Knabe, bas 2T?äbchen, baß es Znäbcfyen
ift, benn ber fünftige ^ünglinQ un& 2Tfann, bie fünftige
3ungfrau unb 5rau müffen fchon im Knaben unb UTäbchen
porgebilbet roerben; es ift päbagogtfch von äußerfter IDichtig*
feit, baß fie ben (Segenfafe bes (Sefchlechts fennen, bevor fie
ihn merfen, tr>ie auch ber Solbat bie Dorfteüung ber <5efahren
*) VO'xt bies von fetten ber mofatf d?en (Sefetjgebung ausbriicflidj
gefcf?ehen ift, 5» ITCof. 22, 5: „(Hin IPeib foll nid?t ITTamtes (Serät tragen,
unb ein Vdann foü nid?t IPeiberfleiber antun, beim wet foldjes tut, ift
bem £?errn, Deinem (Sott, ein (Sräuel". IHid^aelis, ITTofaifdjes
Ivedjt IV, § 222, nermeift bei 33efpred?ung biefer Bejttmmitng auf einen
^all in £onbon, „tpo eine ITCannsperfon ftd? als Dienftmäbdjen in eine
Boarbingfdjool, barin junge Jraucn3immer er3ogen mürben, oermietet
tjat, wovon bie folgen nadj einigen IHonaten fichtbar mürben". Die-
felbe Bestimmung ift in ben legten De3ennien in 3apan getroffen.
Kapitel IX. Die fatale med?anif* Das Sittliche.
ber Schlacht h<*ben foH, besor bie Jt)trflich?ett fic an ihn
heranträgt — bie ttnaben* unb IHäbchentracht ift ber erfte
Anfang ber fe^uellen gucht*)»
21us bem Bisherigen ergibt fich, in welchem Sinne mir
t>om ftttlichen Stanbpunft aus bte Begebungen 5U beurteilen
traben, ben (Segenfafe ber männlichen unb weiblichen Cracht
3U einer 2lrt von fjermaphrobttentum in ber {Tracht ab3u*
fchn>ächen, Don feiten bes männlichen (ßefchlechts finb fte
nicht 3U befürchten, bie 2lmtäherungst>erfuche [315] gehen
ftets nur t>om toeiblichen aus, unb in ber heutigen Seit
haben fie einen (Srab erreicht, ba§ man beim 2lnblicf mancher
tseiblichen XDefen glauben möchte, fie hätten eine Herren*
garberobe geplünbert 2Tur ein töeib, bas bas IDeib in jtch
uergifjt ober pergeffen machen möchte: bie feile Dirne ober
bas eman3ipierte 5rauen3immer femn auf ben (ßebanfen ge«
raten, bie Schränken, tselche bie Sitte mit tpeifem Dorbebacht
3tsifchen 21Tann unb JDeib errietet h<*t, niebet43ur eigen, unb
nur bie Dummheit unb Urteilsloftgfeit fann jtch perleiten
laffen, ein folches Beifpiel nadföuäffen, 3n Sobom unb
<5omorra mag auch bas Xfiobe getpefen fein; in einem <5e-
meintpefen, roo noch Sucht unb Sitte herrfcht, foHte man
jebes folches beginnen mit Verachtung [trafen — einem
5rauen3immer gegenüber, bas äußerlich ben ZTTann imitiert,
feilte fich jeber ber Hücffichten, bie er bem IDeibe fchulbet,
*) 21uf berfelben feruell'propfyylaftifdjen ^ürforge beruht aueb bie
Trennung ber (gefriedeter in ben Spulen, felbft folange bie Ünterridjts*
gegenftänbe für beibe nodj biefelben finb, wo alfo biefe Trennung burdj
rein bibaftifdje gmeefe md?t geboten wäre* 2luf bem £anbe ift biefelbe
tiid?t burdrfüfyrbar, fte bilbet ehten Po^ug bes Stäbttts, ben er alle
Urfadje t^at f}odj3ufd?ctt$en — abermals ein Beleg für ben oben (5* 208)
r»on mir hervorgehobenen britten <Srunb3ug ber Sitte: ifjre gefellfdjaft-
ltdie £ofaltfterung, treibe gemiffe Klaffen ber (Sefellfdjaft son ihren
Dortetlen ausfließt*
Die Sitte. — Die Cradjt. — Crcmertrad/t. 2^7
entfdjlagen — nur bas anftänbige IDeib perbient pom 2TCanne
anftänbig behanbelt 3U tperben.
3nnerhalb bes Hammens ber männlichen unb weiblichen
Cracht t^at bie Sitte mancher Dölfer pielfach noch burch
befonbere 2lb3eichen (3. 23* bas Scheren bes I^aares bei ber
5rcm, bie ^aube) ben ttnterfchteb 3tpifchen Verheirateten unb
Unverheirateten betont, bei ben mobernen Kulturpölfem i|i
als einiger Keft berfelben ber (Trauring übrig geblieben.
Das praftifche TXlotw für bie Betonung biefes ttnterfchtebes
liegt fo fehr auf ber ^anb, bag ich wich jeber 23emerfung
barüber enthalte.
[316] Die 3toeite 2lrt ber burd} bie 5itte porgefdjriebenen
Cracht tft bas Crauerfleib. JDorin ha* basfelbe feinen
(ßrunb? 3n bem Bebürfnis bes <5emüts, ber Stimmung
bes Schmedes äußeren 2lusbrucf 3U geben? So fcheint es.
Was ift natürlicher, möchte man fagen, als baf$ bie büfiere
Stimmung 3ur büfteren 5arbe greift? IDenn ber Sonnen*
fchein bes Cebens ber ZTadjt gewichen tft, f leibet jtch bas
Ceben in bie 5arbe ber Ztacht: in 5d\wax$.
Die 2tuffaffung li<xt etwas Bejledjenbes, aber jte ertpeifl
ftch bei näherer Betrachtung nicht als ftichhaltig. 3^ 1*9*
fein <5etoicht baranf, ba§ manche Dölfer an Stelle ber
fchtt>ar3en 5arbe eine anbere (3. B. blau, roeig) als (Erauer*
färbe geroählt liaben, ba§ alfo ber permeintlidfe gufammen«
hang 3tpifchen ber büjieren 5<**be unb ber büfteren Stimmung
fein fo 3toingenber fein mujj, tpie roir unter bem <£mfluffe
ber (Setpohnhett an3unehmen geneigt fmb; bei bem TXianne
bilbet bas Schwaß: ber fcha>ar3e 5radC bas (5efellfchafts*
unb 5*ftfleib. 2tber immerhin 3ugegeben, ba§ bie \d\wax$e
Saxbe ber (Trauer am abäqnateften fei, ifl es benn wahr,
ba§ bas pom tiefften Schmer erfüllte (ßemüt ein Bebürfms
empftnbet, ber Stimmung burch bas Kleib 2lusbrucE 3U geben?
3ch foHte meinen, ba§ einer 5rau, bie h^nberingenb an ber
2^S Kapitel IX* Die feciale IHedjantf, Das Sittliche*
'Ballte bes Kinbes ober bes (Satten fniet, jeber anbete (5c*
baute näher läge als ber, ftch Crauerfleiber anmeff en 3U
laffen ober f elber bie Habel 3ur f}anb ju neuntem 3n VOxtt*
lidtfeit entfpricht bies fowenig ihrer Stimmung, baß [317]
fte berfelben im (Segentetie bie größte (Sewalt antun muß,
um ftch bem gwangsgebote ber Sitte 3U fügen. 5ie tut es
nicht, weil fte will, fonbern weil fte muß. (Dhne bas 3wingenbe
(Sebot ber Sitte würben gerabe biejenigen, welche ben Sd\met$
am tiefften empfmben, am wenigften auf folche äußerlichfeiten
perfallen. 23eftänbe bas Zltotio ber Anlegung ber Crauer*
itad\t in bem eignen Bebürfnis bes (Semüts nach äußerlicher
Svmbolifierung ber Stimmung, warum überläßt bie Sitte es
nicht jebem felber, ob er biefes Bebürfnis empftnbet? Unb
warum äußert ftch bies Bebürfnis, inbem es fich 3U befrie«
bigen fucht, bloß in ber Kleibung, warum nicht auch in ber
häuslichen (Einrichtung, warum machen nicht auch h^r bie
hellen 5<*rben ben bunflen plafe: bie Vorhänge, (Sarbinen,
Über3üge ber XHöbel, bas Cifd^eug, Bett3eug? ££>er einmal
ben Heffey feiner Stimmung in ber Außenwelt wahrnehmen
will, bem fteht boch bie häusliche ^Einrichtung, bie er jeben
ZHoment por 2tugen fyat, ebenfo nahe ober richtiger näher
als bas Kleib unb ber ^ut, mit bem er außer bem £}aufe
erfcheint. <£in Ceinwanbfabrifant perfuche einmal, baraufhin
\d\wat^e £einwanb 3U fabri3ieren, er wirb balb inne werben,
baß er fich perrechnet hat.
lüarum alfo fucht bie fd]war3e 5<*rbe fkf| bloß bas Kleib
unb ben Qut aus, warum 3ieht fte ftch pon allen anbem
(Segenftänben, bie man um fich hat, 3urücC?
Zfiit biefer 5rage treffen wir ben entfeheibenben punft:
bas Schwaß ift nicht bes Crauernben, fonbern ber britten
[318] perfonen wegen ba, mit benen er in Berührung tritt,
fte finbet ihre Beftimmung nicht in, fonbern außer bem Crauer*
häufe, barum wieberholt fte ftch außer an bem Kleibe unb
Die Sitte* —
Die Cradjt. —
CCrauertradjt*
249
bem i}ute (beim männlichen (Befehlest als 5lor) auch art
bem fd^toarsen Hanbe ber örieffut>erts, bes papiers, am
Siegellacf, fur3 bie \diwav$e 5a*be fehrt ihr 2tntlit$ nicht bem
(Erauernben, fonbern ber Stußenwelt 3U, jte ift eine unabläffig
in Erinnerung gebrachte Cobesan3eige.
gu welchem <§wecf? <£r liegt offen vov. Das Schwaß
foll eine Scheibewanb 3iehen 3wifchen bem Schmer unb bem
Sd?er3, bem Kummer unb ber 5reube, es foll ben Crauemben
jkhern gegen bie Qeiterfeit ber Welt unb bie ^eiterfeit ber
IDelt gegen ihn.
3hn gegen bie Ejeiterfeit ber IDelt. Das fchwar3e <Be*
voanb ift bie fymbolifche Bitte um Schonung für ein wunbes
(ßemüt. ZHan fann barauf ben befannten Safe anwenden:
hic niger est, hunc tu, Romane, caveto, frei überfefet: f ehrsame
bracht, ^Jung' in acht. Der biege 2tnblicf ber Crauerfleibung
bewirft in jebem Reitern, ber nicht gcu^lich roh un& gefühllos
ift, einen fofortigen IDechfel ber Stimmung unb eine ihr ent*
fprechenbe änberung bes Unterhaltungstons, ben Übergang
ber Conart aus Dur in VCioVL — ber Scher5 oerftummt, bie
Fjeiterfeit entflieht, bas Cachen erftirbt auf ber £ippe, man
rernimmt ben fernen Klang ber Cotenglocfe.
Die £i eiterfeit ber IDelt gegen ihn. Das Cauergewanb
[319] foll feinen Cräger fernhalten t>on ben ©rten, wo bie
5reube, bie Fjeiterfeit, ber Scher3 ihren Sife aufgefchlagen höben.
3nbem es ihm unausgefefet fein Ceib in Erinnerung bringt,
foll es ihm ftets bie ZlTahnung gegenwärtig erhalten, ba§ er
nicht hinein gehört in eine (Sefellfchaft, in ber man fcherst,
lacht, fingt, 3ed]t, tan3t, fm*3 bie Crauerfleibung foll wie ben
Scher3 unb ben 5rohpnn t>on ihm, fo auch ihn t>on ihnen
fernhalten.
Die Crauerfleibung wirb beim ZVüaune regelmäßig burch
einen bloßen 5Ior erfefet. JDarum? 5ühlt ber Zfiann ben
Schmer3 weniger? IDäre bie oben 3urücfgewiefene pfycho»
250 Kapitel IX. Die feciale ITCedjantf* Das Sittliche»
Iogifdje Deutung ber CrauerHeibung, bie fie auf bas ?3e*
bürfnis nadj äußerer Svmbolifterung ber Seelenftimmung
3urücffül)rt, bie richtige, fo müßten toir bie 5rage bejahen.
Die Trauer bes 2Hamtes a>ürbe ftdj bann $u ber bes IDeibes
r>ert|alten tote ber 5lor 3um Crauerfleib! IDarum entbinbet
bie Sitte ben Xfiann von lefeterem? Weil fein Beruf bie
Anlegung besfelben t>ielf adj unmöglich macfyt. Dem Solbaten
unb Beamten ift bie beftimmte Cracfyt oorgefdjrieben, bie er
nxdit mit bem Crauerfleibe »ertaufdjen barf. <£benfou>enig
fönnen 21rbeitsleute, Cagelöfyter, J}anbtr>erfer bei ber Arbeit
tfyr 21rbeitsfoftüm ablegen, unb fo Ijat benn bie Sitte aus
praftifdj 3u>ingenben ZSücfftdjten jte unb ben 2ftann überhaupt
mit bem bloßen 5lor abgefunben. XOenn letzterer aud? feinem
finnlidfen <£mbru<Je nadj hinter bem fd}tt>ar3en Kleibe ber
5rau toeit 3urücfbleibt, fo reicht er bodj [320] als <§eid?en
ber Crauer für ben gtoeef »oEfommen aus, — ein aber*
maliges 2lrgument für bie pon mir »erteibigte 2luffaffung.
Das (ßegenftüdP bes Crauerfleibes bilbet bas 5eftfletb.
äußerlich unterf Reiben fidf beibe baburefy baß erfteres abfolut
erfennbar ift, lefeteres nidjt — ben Crauernben erfennt man
fofort an feinem Kleibe, bas ^eftfleib bes 2trmen tfl faum
fo gut als bas 21Htagsfleib bes Heidjen. (£s gibt tr>eber
eine beftimmte 5<**&e, nodi einen bestimmten Schnitt, ber bas
5efifleib t>on bem geioöljnlidien (21tttagsfleib) unterfcfyebe,
basfelbe Ijebt fid) t>on lefcterem bloß relatio ab, nämlidj
baburd?, baß es nadj ben Perfyältniffen bes Crägers beffer,
gewählter ift als bas 2lHtagsfleib, oft lebiglidj baburdj, baß
es neu tji, Der Bauernburfcfye unb ber I}anbtr>erfer trägt
am Sonntaq einen befferen Hocf als alltags, r>ielleidrt einen
fdjledjteren, als in bem anbere getpöljnlidj erfdjeinen. Die
Firmelung unb bie Konfirmation bringt ben Kinbern neue
21n3üge, bie £}odfteit ber Braut ein neues, bisher nod? nidjt
getragenes Kleib, in beiben fällen tnelleidjt faum fo gut als
Die Sitte* — Die Cradji — Das feftfietb, 25\
bas 2lQtagsfleib bes Pomehmen Kinbes ober ber Pornehmen
5rau; bas einige 2lb$exdien, an bem man I^ter bie öraut
erfennt, ift ber Krans! Zluv ber ZlTann ber Ijöfyeren Stäube
barf fich rühmen, eine $ovm bes Kleibes 3U befifcen, bie fchon
als folche bie Ungetpöhnlichfett ber Peranlaffung ober Sage,
bie ben Cräger 3um einlegen besfelben beftimmt, funbgibt:
ben fchtDar3en 5racf , aber ein [321] ausfchließliches 5eftfleib
bilbet auch er nicht — bie Sitte fennt feine eigentümliche
Se\ttxad[t Das 5eftfleib bleibt alfo hinter bem Crauerfleib
in be3ug auf feine €rfennbarfeit 3urücf, bei lefcterem ift bie-
felbe abfoluter, bei biefem bloß relativer 2lrt.
<£in anberer Unterfchieb 3tpifchen beiben befteht barin,
ba§ bas Crauerfleib bauernber, bas ^efifleib porübergehenber
2trt ift. £efcteres macht fofort mit feiner Peranlaffung ber
2tntagstracfyt plafe, bie Crauerfleibung toirb längere «§>eit
hinburch beibehalten — bie 5reube fliegt, ber Sehnte^ bleibt.
(Ein britter Unterfchieb 3tpifchen beiben befielt barin, bafc
bas 5eft?leib ben 2lnläffen gemeinfamer 5reube vorbehalten ift
Dies brücft fchon ber Ztame 5^ftHeib aus. <£in 5eji (ebenfo
bie dies festi ber Homer, pon benen ber ZTame entlehnt ift)
bebeutet ein gemeinfames 5*te*n (€ntt)altung pon ber 2lrbeit),
Pereinigung 3ur gemeinfamen tfreube (S. H58). <£in ^eft fann
niemanb allein begeben, 3um ^efte gehören bie 5eftgenoffen;
bie Sitte aber perlangt, ba§ alle 5eftgenoffen bas 5eftfleib
anlegen. Das Crauerfleib bagegen erfcheint gleichmäßig bei
gemeinfamer toie bei inbiptbueller Crauer; man trauert nicht
bloß um ben Derluft ber Seinigen, fonbern auch bei fehleren
Schlägen, bie bas Daterlanb getroffen Reiben (£anbestrauer).
Den Einlaß 3ur Anlegung bes 5^ftfleibes bieten teils bie
trächtigen 5cimilienereigniffe (Kmbtaufe, Konfirmation, [322]
Firmelung, fjodtfeit), teils bie firchlichen unb öffentlichen 5ejie
unb 5^i^lichfeiten, für bie nieberen Klaffen unb bie Kinber
felbft ber Sonntag (ber Sonntagsrocf), teils bie gefelligen
252
Kapitel IX. Die feciale Illecijantf* Das Stttlidje.
gufammenfünfte. Der §roecf ift überaß berfelbe: Anregung
unb (Erhaltung ber freubigen Stimmung burd? Dergegen*
ftänblidjung ber 5?eube in ber äußeren firfdjeinung ber ge*
pufeten 5^P9^no(fen. 3eber foß fdjon burd] ben Jlnblicf an
ben <gtx>ecf bes gufammenfeins erinnert toerben; mit bem
2Ißtagsrocf foß er audj bie 2tßtagsftimmung aus», mit bem
5eftfleib bie ^eftfiimmung an3iefyen, Das ift bie 2tbjtd?t,
tseldje bie 5itte babei im 21uge fyat. 3*1* Wtotw ifi alfo
it>ieberum ein fo3ia!es, gan3 fo roie bei bem Crauerfleibe.
2Iud? bas 5eftfleib ifi eine 2Irt ber Cracfyt, b. ber burd?
bie Sitte erforberten Kleibung; man legt es nicfyt bloß
feinetoegen an, voeil unb infofern man f elber bie freubige
Stimmung empfmbet, ber es 2tusbrucE geben foll, fonbern
man tut es ber anbern roegen, um ben eignen Anteil an ber
gemeinsamen 5*eube 3U befunben, es ifi ber Seitrag jebes
ein3elnen 3ur ^eftftimmung. 2üxdj beim 5eftfleib ijl mithin
bas IHotio nxdit inbir>ibueßer 2lrt, nid]t bas äfttjetifdje ober
pfYC^oIogtfd]e 23ebürfnis, ber eignen Stimmung 2(usbrucf 311
geben — toäre bies ber 5aß, fo fönnte man es bamit galten,
n>ie man troßte, unb man nmrbe and\ bei 2lnläffen 3U rein
inbipibueßer 5^^ube (3. ö. bei einer 23eförberung, beim (Setxunn
bes großen Cofes) ben 5eftrocf an3ietjen, u>as [323] befannt»
lief] nicfyt gefcfyefit — fonbern bas ZHotis ift fo3taI»praftifd?er
2lrt, es ift bie Sitte, bie ettoas bamit für bie <5efeflfd?aft
erreichen tt>iß, unb bie man mit3umad}en fyat, es mag einem
ums £}er3 fein tt>ie es tr>iß — iB?re 23id}tbead]tung enthält
einen gefeflfcfyaftlicfyen Derfloß, eine Bücfficfytslofigfeit gegen
f amtliche übrige Ceilnefymer.
Daß bie Sitte ben §tt>ecf, ben fie babei im 2Iuge l?at,
baß bas Kleib nidjt bloß äußerlid) Stimmungsträger, fonbern
audj innerlich Stimmungstoecfer fei, n\d\t burd)tt>eg erreicht,
ftefyt bem nidjt im &)ege. 5ür ben blajterten 2Tfenfd]en ifi
ber SocF, ben er ansieht, üößig einflußlos, feine Stimmung
Die Sitte. —
Die (Eradjt. — Das feftfleib.
253
ift immer biefelbe gleichmäßig gelangweilte — bas ^eftfleib
hat über ihn feine Xfiadit 2lber er ift es ja auch nicht, ber
bas 5eftffei& erfunben i|at, fonbern bas ift gewefen ber natür-
liche, geifttg gefunbe ZHenfch, ber bas Sebürfnis empfmbet,
bie fparfam 3ugemeffenen 2lnläffe 3U erhebenber 5*eube burch
Ceilnahme anberer 3U ftetgem, ber fich noch voll freuen
fannf unb, um es 3U fönnen, ftch mit anbeten freuen muß.
5ür ihn ftecft in ber Cat im Hocfe bie 5reube felber, er 3ieht
mit bem 5eft* ober Sonntagsrocf einen anbern als ben 21H»
tagsmenfchen an, unb gan3 basfelbe »erlangt er auch von
feinen (ßenoffen. <£in Bauemburfdje, bem am 5onntag ber
Sonntagsrocf, ein Kinb, bem bei ber Konfirmation ber neue
2ln3ug, eine 33raut, ber bei ber Crauung bas bloß für biefen
Hnla% gefertigte Efod^eitsfleib fehlte , [324] würben ben
ZTTangel beffen, was, wie bie Sprache ftch ausbrücft, „einmal
mit ba3u gehört'' bitterlich empfinben, benn wenn fie, toas
in biefen brei fällen faum an3unefymen fein würbe, auch
felber für fich über bie Sitte ergaben wären unb in ihr nur
eine wert» unb bebeutungslofe Sußerlichfeit erblicfen würben,
fo würben fte boch bas Urteil ber anbern fdjeuen unb berent-
wegeu es so^iehen ftch ber Sitte 3U fügen. Die TXiadtt,
welche bie Sitte in biefer lefeteren Hichtung ausübt, ift,
wie bie (Erfahrung 3eigt, eine unwiberftehliche, fie erinnert
an bie Cyrannei ber ZtTobe. Selbft ber 2Irme erträgt lieber
alle Ztot unb €ntbe!jrung, als baf$ er bei folgen (Belegen*
Reiten burch ben UTangel bes 5eftfleibes bas öffentliche <ße*
ftänbnis feiner 2lrmut ablegt — bas £eii$aus wirb nie mehr
belagert, als bei <5elegenheit t>on öffentlichen 5ejien unb
5eierltch?eiten, bas £e&te geht barauf, um 3U bofumentieren,
ba§ man „mit ba3u gehört" unb l[\ntet ben anbern nid^t
3urürf3ubleiben braucht. <£in wahres Kabinettftücf für biefe
tyrannifche gwangsgewalt ber Sitte über bas gemeine Dolf
hat 3ean paul in feiner Cenette im Stebenfäs geliefert; fie
25^
Kapitel IX. Dt* fatale ITCedjantf. Das Sittliche*
erträgt voiüiQ unb ohne 3U murren bie fchtoerften (Entbehrungen,
aber in ihrem grillierten Kattunfleibe, mit bem fte Sonntags
öffentlich erfcheint, unb in ihrem ^eftfuchen flecft für fie ber
lefete Hefl ihrer faialen Stellung, ber SttolfaoLlm, an bem
ftch i^re Selbftachtung anflammert.
3ch faffe bas (ßefamtrefultat ber gan3en bisherigen [325]
Ausführung über bie Cracht in ben Safe 3ufammen: bie
Cracht h<*t ein foiales unb $wav praftifches Zfiotb. Damit
haben toir für fte basfelbe Zfiotxv gewonnen txne für bie
ZlTobe (S, \80ff.), nur freilich mit bem öffentlichen Unter*
fchiebe, ba§ bie 2lf3entuterung ber gefeUfchaftlichen Stellung,
welche ben gtoeef ber tltobe bilbet, im eignen 3ntereffe, bie
Befolgung ber burch bie Sitte sorgefchriebenen Cracht ba*
gegen in bem ber (SefeHfchaft gefdjieht; aber l^tcr wie bort
muß bie (ßefeßfdjaft in 23e3ug genommen werben, um beibe
begreiflich 3u machen, bas bloße 3n^i°i^uum ™i* feinen
inbixnbuellen Steigungen, Sebürfniffen, Stimmungen reicht
ba3u nicht aus.
Die hie* entwicfelte 2tnfid?t über bas fo3ial«praftifche
ZHotir> ber Cracht finbet eine gan3 erhebliche Unterftüfeung in
ber fiaatlich r>orgefchriebenen Cracht: ber Amtstracht, in ber
wir unferer obigen Ausführung 3ufolge (S. 233) ein Stücf mit
ber 5orm bes Hechts befleibeter Sitte erblicfen. Die gurücf*
führung berfelben auf ein äftljetif djes ZHotro, welche bei ber
burch bie Sitte t>orge3eichneten Cracht wenigfiens noch einen
gewiffen Schein für ftch h<*t, f chließt ftch hier x>on felbfl aus,
bie Abftcht, bie ben Staat babei leitet — unb basfelbe gilt
r>on ber Kirche in be3ug auf ihre Diener — ift 3weifellos
nicht barauf gerichtet, bem Schönheitsfinn ihrer Cräger ober
bes publifums Ztahrung 3U gewähren, ben Hichter unb ben
<5eiftlichen heraus3upufeen, bamit fte (Segenflanb bes eignen
unb fremben finnlichen tPohlgefattens feien, [326] fonbern
bie Cracht h<*t einen ernften, praftifchen §wecf, fte foD ihren
Die Sitte* — Die Cradji — Die 2Imtstrad)t* 255
Cräger unb bie Welt an bas erinnern, was ber UTann vov
ftellt, bebeutet UTit ber prfoattradtf foH er audj ben prtoat*
menfdjen ablegen unb ben Diener bes Staats ober ber Kirche
anstehen, er foH ftdj nidjt bloß felber als ein anberer füllen,
fonbem aud} ber JDelt als foldjer erfdjeinen. Der Bieter,
ber ben Calar anlegt, tjt — bas foH ber Catar bebeuten —
nid?t mefyr berfelbe Ulann, mit bem bie Parteien nodj fur3
sorfyer beim (Slafe lüein 3ufammen gefeffen unb gefdjer3t
I^aben: ber gute 23efannte, liebensroürbige (SefeUfdjafter,
Du3bruber, ber ZTlann iji ein anberer getoorben, an feiner
perfon iji fo3ufagen ein anieves Hegifter aufgesogen, alte
perfönlidjen 23e3tel|ungen ftnb abgejlreift, er ift ber Cräger
unb Vertreter ber jiaatlidjen ZlTadjt, ber perfönltdj ber partet
ebenfo fremb gegenüberfiel|t, toie ein t>öHig Unbefannter, unb
biefe <Lat\adie foH bie Cracfyt itjr unb ifym unausgefefet gegen*
»artig erhalten. Kur3, bie Jtmtstradjt tjat benfelben gtoeef,
toie bas Iraner* unb bas $eftileit>: Stimmungstoecfer unb
Stimmungsträger 3U fein» Daburd? unterfdjeibet ftcfy bie
ilmtstradtf t>on ber Uniform bes Ulilitärs, festere t|at in
erjier £inie ben gvoed, Unterfdjeibungsmerfmal 3U fein, fou?oI|I
in be3ug auf ben (Segenfafe bes XHilitärs 3um gtoü, als in
be3ug auf bie milttärifd^en <5rabe; ob bie Uniform, nidjt ab*
gefeljen bat>on, nodi iljren fyofyen Wext Ijat, fteljt tjier nxdit
3ur 5rage, \d\ roerbe bie Srage am geeigneten 0rt aufnehmen*
5ür ben Siebter unb ben (Seijilidjen bebarf [327] es eines
folgen Unterfdjeibungsmerfmals nidjt; ber plafe ifyrer amt*
liefen Cätigfeit: bie <5erid}tsjiätte, ber 2lltar, bie Kan3el
fenn3eid]net beibe 3ur (Senüge als bas, tx>as jte oorjiellen,
für beibe bleibt alfo als ZHotio ber 2lmtstradjt nur bie an-
gegebene Deutung übrig*
<£s iji bies tüieberum ein neuer Seleg für bie tjolje gefeH-
fdjaftlidje iJebeutung ber 5orm. 2luf ber Cradtf bes Hidjters
unb <5eijilidjen beruht ein gutes Seil itjrer IDirffamfeit Der
256 Kapitel IX. Die feciale lTCed?antf. Das Sittliche.
(ßeiftltdje im ©berroefe vor bem 21ltare, ber Bidjter in bem*
felben Koftüm, in bem er foeben bie tt?einfcf)änfe ober bie
23ierbanf t>erlaffen, tsürbe bes fiinbruefs üerfeljlen, er würbe
bie (Erinnerungen unb Dorflellungen, bie barem haften, nicht
3U übertmnben vermögen, 3nbem bie Cracht ihn berfelben
entfleibet, leiftet fte feiner IDirffamfeit Dorfchub, förbert fte
ben §voed bes 2lmts felber, es ift alfo toieberum ber <5e»
fichtspunft ber fittlidi*abminifulierenben 5unftion ber Sitte,
bei bem rotr fchließlich auch J|ier anlangen. 3)ie Sitte ift
nicht bie ZTloral, bie Cracht nicht bas 2tmt, aber Sitte unb
Cracht leiten beiben bie erheblichften 2)ienfte.
Unb barum fott man bie Cracht nicht gering fehlen. <£s
fteeft mehr in ihr, als eine Ijeut3utage t>iel verbreitete 2lnftd?t,
bie in ihr nur ettoas rein äußerliches, innerlich völlig (Bleich*
gültiges unb Bebeutungslofes erblicft, annimmt. €s ijl bies
bie 2lnftcht ber feierten flachen 21ufflärung, tvelch* ftch ben
Schein gibt, als erfaffe fte bas IDefen ber Sache, bas einmal
mit bloßen 2Jußerlich?eiten nichts [328] gemein ^abe, ber
Hochmut unb Dünfel bes 5lach?opfs, ber von bem tvahren
iDefen ber Sache, bas auf ber innigen Derbinbung von 5orm
unb 3n^a^ beruht, feine 2lhnung tiat. Unfere Dorfahren
tvußten fehr tvohl, was bie 5orm bebeutete, unb Ijaben fte
ängftlich, vielleicht im Übermaße gepflegt, unb gerabe burch
ben legten Umftanb mag bie (Dppofition unb Heaftion ba«
gegen, welche fich als bie Strömung ber heutigen geit be«
3eichnen läßt, hervorgerufen fein*). 2lber in ihrer Abneigung
*) IDer ein aufmerffames 2luge für bas Heben tjat, bem wixb es
an belegen für liefen von mir behaupteten unferer gett 3ur ^orm*
lofigfeit ntdjt fehlen. 2lus ber ?ur3en Spanne <§eit, bie id? perfönltd?
überfdjaue, fönnte idj manage anführen. 3n Sitzungen, 3n betten man
fonft im (frarf erfdjten, erfdjeint man jet$t im (Dberrotf. IDarum audj
ntd?t? Der HXann ift ja berfelbe! XHtt bem (Dberrocfe fyat bann fieüett^
t»etfe audj bie gigarre «gutrttt erhalten; idj fönnte ein fiodjangefetjenes
Die Sitte* — Die Umgangsformen*
257
gegen bas Übermag iji fte felber über bas richtige 7Xla%
hinausgefchoffen, unb ich glaube nicht als falfcher prophet
erfunben 311 tserben, tr>enn ich proph^eihe, baß bie gufunft
auf (Srunb ber (Erfahrungen, bte fie mit ber ^ormlojtgfeit
machen u>irb, bas ihr ahliaxibm gefommene Derftänbnis für
bie 5orm roieberum geroinnen unb 3ur (Einfielt gelangen
[329] u>irb, baß im Kleibe ein Stücf Stimmung, eine getoiffe
Garantie bes Benehmens fteeft — ber Gimmel im $vad ift
boch nicht gan3 berfelbe u>ie ber im ©berroef, er fühlt fich
„geniert", unb gerabe bas foll er»
9) Die Umgangsformen.
Überall, bei allen Dölfem unb auf allen Kulturftufen,
fmben tx>ir getoiffe formen unb formen in Übung, u>eld?e
bas 3nbir>ibuum in feiner perfönlichen Berührung mit anbern
3u beachten pflegt, unb welche toir mit ber Sprache als
Umgangsformen be3eichnen. So üerfchtebenartig biefelben
auch iwt ein3elnen geftaltet finb, fo ift ihnen boch berfelbe
(5runb3ug gemeinfam: baß bie öffentliche UTeinung ihre Be«
achtung erheifcht, unb ihre Nichtbeachtung als einen „Der*
fto§" gegen bas hergebrachte rügt U?ie „Der -gehen"
unb Übertretung fprachltch bie 2tbu>eichung r>om pfabe
bes Hechts charafterifiert , „Perirrung" bie t>on ber
Bahn ber ZHoral, „Sünbe" bie t>on bem XDege ber
chriftlichen Frömmigkeit, fo „2lnfto§, Derftog, anftößig"
Kollegium nennen, bei bem bie entfielen (fragen gemütlidj bei ber
«gigarre abgetan merben. IDarum auefy nid?t? Das Hauten erleichtert
ja bas Denfen! (Es fefylt nur nodj bas Bier bei ben Sulingen, bas,
tpenn aud? nicht bie Denffraft, fo bod? bie Stimmung in rorteilfyafter
IPeife 3U beeinfluffen permag. 2lls letjter Schritt auf bief er Balm bliebe
bie Verlegung ber Si^ungen in Bierlofale übrig. Die frage von ber
anftänbigen form bes (Erf Gemens r>or (Serid?t fpielte ben Leitungen
3ufolge neulich bei einem bayrtfcfyen (Sendete, rvo ein 2lbüofat bei ber
(Seriems fitjung in bunten Beinfleibem erfreuen tuar; bie ^ofenfrage
rvaxo hier (Segenftaub gerichtlicher (Entfcbetbung.
v. 3 gering, Per §n?ec? im Hed?t. II. j[7
258
Kapitel IX. Die foiale Itledjanif. Das Sittliche*
bie 2lhweid\ung von ben t>orge3eichneten formen bes perfön*
liefen Derfehrs.
Der Umftanb, baß toir ben festeren formen überaß be-
gegnen, hätte fte, foHte man meinen, längft 3um (Segenflanbe
bes tpiffenfehaftlichen 2tachbenfens machen müffen. (Eine <£r-
fcheinung, feie auf ben niebrigften t^ie auf ben haften Kultur-
ftufen fich gleichmäßig txneberholt unb 3toar gerabe auf erjleren
in einer Schärfe ber 2lusbilbung unb peinlichfeit ber Seob*
achtung, hinter ber bas Hecht [330] unb bie ZHoral tseit
3Ürücfbleiben*), muß boch tt>ohl 3toingenbe (ßrünbe für fich
I^aben. JDorin beftehen biefelben? £tach einer auch nur
einigermaßen befriebigenben 2lntoort barauf fehen roir uns
vergebens um, bei feinem Seil unferes £ebens ift bie toiffen-
fchaftliche €rgrünbung unb (Erkenntnis fo fc^r hinter ber
Satfächlidjfeit 3urücfgeblieben, tr>ie bei biefem. Die Heifenben
berichten uns über bie formen unb (gebrauche bes Derfehrs
bei unlben Dölfern, aber bas 3ntereffe, mit bem tt>ir ihre
Serichte entgegennehmen, erfchöpft fich regelmäßig in ber
Perrounberung über bas 5rembartige, 5eltfame, 2Ibfonberliche
biefer formen, ohne uns 3U einem einbringenben ZTachbenfen
über ben <5runb berfelben an3uregem (Es ftnb IDunberlich.
feiten, b. h* Dinge, bie u>ir bamit abtun, baß toir uns
ttmnbern, tsomit toir bas (Seftänbnis ablegen, fie nicht 3u
perftehen.
Selbft um bas Derftänbnis unferer tieutigen Umgangs-
formen fteht es mit uns nicht beffer, nur freilich aus anberen
<5rünben. 3eber (Sebilbete fennt fie, fott>eit er fte praftifch
3ur 2lnrr>enbung 3U bringen hat* 2lber bamit hat es auch
fein (Enbe. <£r fennt fie roie bie meifien ZTTenfchen ihre
XHutterfprache, b, h« ex roenbet fie richtig an, ohne fich ihrer
*) Darüber im brüten Banbe bei (Selegettfjeit ber fyftorifdjen 33e*
tracfyttmg ber Umgangsformen*
Die Umgangsformen* — UTangelfjafte tfjeorettfdje (Erfenntnts* 259
(ßrünbe, ja nur einmal ber Hegel felber ftar beamßt 3U fein.
Unfer öetxmßtfein erftrecft jld? regelmäßig xxid\t weiter, als
es burd} Derftöße, bie toir dagegen [331] im Sieben xval(t>
nehmen, geu>edt n>irb; tote fo oft wirb audj Ijier bas pojttipe
erji burcfy bas ZTegatipe ber <£rfenntnis ©ermittelt — ber
2Tiytl}U5 t>om SünbenfaH. (Bar vieles von i>em, was einft
auf längft überrounbenen Kulturftufen bie Kegel bübete, unb
von bem bie <5efittung ben KTenfdjen erfi aHmäfyidf fyat be*
freien muffen, ifi Ijeut3utage in ber gebilbeten <5efetlfd}aft fo
gän3ltd? unmöglich geworben, baß bas 2luge bes (ßebilbeten
es faftifd) nie mel)r tpafymimmt. Daß bie aßmäfylidje <£nt*
roidlung bes 21njtanbsgefüt}ls basfelbe Ijat erji ausrotten
unb abtun muffen, baß alfo audf tyet Kegeln bes 21nftanbes
vorliegen, toeldte uns gegen basfelbe fcfyü&en, beren u>ir uns
nur nicfyt beumßt finb, fommt uns nur barum nicfyt in ben
Sinn, roetl biefe Sdjicfyten ber Sitte 3U ben frütjejlen ZTieber*
fd?lägen bes gefeüfdjaftlidjen Cebens gehören, beren 2lblage*
rung fidt vox allem ZHenfcfyengebenfen Poll3og, — Sdjiditen,
fo tief gelagert unb fo gcm3lidj pon ben fpäteren 23ilbungen
überbedt, baß roir gar feine 21fynung bavon haben, baß audj
jte jtdj erji fyaben ablagern müffen, b. lj» baß bie Sitte biefes
Stücf erft tjat f Raffen muffen*
So fennen toir eigentlich nur bie jenigen Kegeln, bie auf
ber ©berflädje bes heutigen £ebens liegen. Unb felbft biefes
Kennen, — roie bürftig ift es mit bemfelben bejleHtl €s tji
bas Kennen ber praftif d?en 2lmpenbung: bes Könnens, aber
nid]t bas ber tljeoretifdjen €infid|t: bes IDiffens, b. fy. bes
Haren, toiffenfdiaftlidjen Beroußtfeins [332] über ifyre (Srünbe
unb i^ren fYftematifdjen gufammenfyang.
5ad\e ber tDiffenfdjaft tpäre es getpefen, audf l^ier roie
überall bas bloße Kennen 3um IDiffen ju ergeben. 2lber bie
Aufgabe lag für jte 3U tief unter bem Ztipeau bes toiffen-
fdjaftlidj IDtffenstperten. Soll bie £)iffenfd)aft unterfuc^en,
*7*
260
Kapitel IX. Die fatale medjanif* Das Sittliche,
warum mir uns grüßen, warum wir uns erheben, wenn
jcmanb ins «gimmer tritt, warum wir uns nicht mit Du,
fonbem mit Sie cmreben? 2)as finb Jtichtigfeiten, äußerlich*
fetten, um bie jtch bie wiffenfchaf titele (Erkenntnis nicht 3U
befümmem fyaL So ift benn bie literarifche 23ehanblung bes
(Segenflanbes faft ausfcftftepch bem literarifchen (Bewerbe,
ben Perfaffem von Komplimentierbüchlein unb Einleitungen
3ur guten Cebensart anheimgefallen, Einleitungen, bie bem*
jenigen, ber fte nötig f?at, in ber Hegel wenig nüfeen, unb
bem jenigen, ber fich im elterlichen fjaufe unb in ber Schule
bes £ebens bie gefeßfchaftliche 23ilbung angeeignet hat, über*
flüfftg finb. tlur bie Standen, lange geit für bie übrigen
Dölfer praftifch bie ZHeifter unb Ce^rer ber feinen gefellfchaft«
liehen Sitte*), bürfen bas Derbienft beanfpruchen, bas Per«
ftänbnis berfelben burch manche treffenbe Beobachtungen unb
Heflefionen geförbert 3U h^ben, währenb ber biefem <5egen«
fianbe gewtbmete gweig ber beutfeben Ctteratur bis in bie
neuefte geit hinein, wo ein [333] gewiffer Umfchwung 3um
Seffern eingetreten ift, ben fiinbruef ber äugerften Elrmfelig«
feit macht, einer wahren literarischen Sahara, bie höchftens
ein Kamel in Perfuchung fommen fann 3U betreten, um
barin feine Nahrung 3U fuchen, ein würbiges Seitenftücf 3U
ben „Brief fteHern", Einleitungen, um ben ZTTangel beffen, was
bie Bilbung 3U befchaffen fyat, 3U t>erbe<fen**).
*) Das IDeitere bei ber gefdn'djtltcr/en 23etracr>tung ber Umgangs*
formen.
**) 3^ tiaBe mtdj für ben oorltegenben «gtaec? mit btefer Literatur
befannt gemalt unb biefelbe, foroeit bas Ulaterial ber t)teflgen 33tblio*
tfjef es mir üerftattete, bis ins fieb3ef|nte ^afjrfyunbert hinein oerfolgt
teile meine (Ergebniffe fur3 mit, fann jebodj bte 23emerfung ntd>t
unterbriiefen, ba§ fie tmr>ollftänbig finb, unb baß es gemtg ein banfens-
inertes Unternehmen fein umrbe, an ber X?anb eines üoflftänbigen
Hterarif djen Apparats bie gefcr/tcr/tlidje (Entnucflung ber Dorftellungen
unb Dorf Triften über ben feinen Umgangston ba^ujMen»
Die Umgangsformen* — £iterarifdje Befjanblung* 2<o\
[334] 2)te I£>iffenfd?aft Ijat fiel? mit Unrecht biefem (Segen-
jlanb abgetoanbt. 2tudj t^icr finbet fte einen banfbaren Stoff
Ulan be3eidmete biefen Ceti ber Sitte früher lateinifd} als Ethica
complementoria, wobei nidjt, tr>ie xdf in ber erjien Auflage ange*
nommen, ber (Sebanfe t>orfchtpebte, ba§ bas ändere Benehmen eine
<£rgän3ung (complementum) bes moralifdjen Verhaltens enthalte,
fonbern, toorauf mid? mein $xennb Un ger aufmerFfam gemacht h<*t,
ber ber (Erfüllung einer Pflicht (mittellat. complere officium) ♦ Unfer
beutferjes Kompliment ift aus bem (fran3öfif^en t^inübergenommen
(fran3* complir. Littre" Dict. de langue francj. : compliment . . derive
de l'ancien verbe complir, tandisque complement derive directement
du latin complementum) , barjer aud) bie entfprechenben XPenbungen in
ben übrigen romanifd>en Sprachen unb aud? engL comply.
3dj gebe als Beifpiel ben Citel eines biefer VOixU an; Ethica
complementoria, bas ift Komplementierbüchlem, in meinem enthalten
eine richtige 21rt, wxz man fomohl mit offen als niebrigen Stanbes*
perfonen, bei (Sefellfd>aften unb (frauen3immern f|od?3ierlidj reben unb
umgeben folle, burd? (ßeorg (Sreff Ungern, gekrönten poeten unb Hot.
PubL Ittit angefügtem tErendjierbüd^Iein, unb 3Üd?tigen (Eifch* unb
ieberreimem 21mfterbam <£in anberer Harne bafür tr>ar Sitten*
fdjule. 21ls Beifpiel nenne tdj bas t>on 3*D*t)on Sittemalb batiert
von Sittenbad? (alfo offenbar pfeubonym) <2s lägt fld? faum
etmas Unflätigeres beuFen als biefe „Sittenfdmle", fte enthält eine
Kolleftion ber fdmtut$igfien 2lneF boten, beftimmt, um mittels t^rer bie
Unterhaltung 3U mürben, Alflen IDerFen biefer Kategorie merFt man
es an, ba§ fte r>on ieuten gefdjrieben ftnb, meldte bie gute (Sefellfd?aft
nur r»om ^örenfagen fannten, nach 2lrt ber Komöbianten auf tDtnfel*
trjeatem, roeldje bie Könige fpielen; fie traben einige äußerlich Feiten
3uf ammengerafft, orme ben (Seift, ber biefelben befeelt, rjerftanben 3U
t|aben* Das einige IDerF, bas rjon einem HTanne gef er/rieben ijt, ber
fid? felber in ben höheren (Sefellfcr/aftsF reifen bewegt hatte, ift bas be-
kannte bes Jretherrn oon Knigge über ben Umgang mit IHenfcfyen,
2JufL 3, 1788, 21uff. \2 von Karl (SöbeFe *8^. Dasfelbe berührt aber
bie Umgangsformen nur nebenbei (3. £♦ Kapitel I, Hr. ^ — $8), bas
eigentliche giel besfelben bilbet bie <£ntrx>erfung einer politif bes Um*
gangs: ber meltFluge IHamt. (Hbenfo perhält es ftch mit bem offenbar
burd? bie Kniggefche Sdjrtft veranlagten breibänbigen IDerFe rjon fr. B.
BeneFen, IDeltFlugheit unb £ebensgeuu§ ober praFtifcr/e Beiträge 3ur
pt|ilofophie bes £ebens, ^annoper J806, mo Bb* \, Hr. $—8 bie 2ln*
ftanbsregeln be^anbelt merben.
2llles, was bie beutfehe Literatur in biefer Hicrjtung auf3itu>etfen
262 Kapitel IX. Die letale med?aniF. Das Sittliche.
$um tieferen (Einbringen , 3 um pfylofophtfchen Denfen [335]
t>or, auch auf biefem (ßebiete bes Cebens I|at fie (Belegen*
heit pdf 3U über3eugen, ba§ nicht ber <§ufaH, bie IDittffir,
bie £aune auf bemfelben ihr tx>ilbes Spiel treiben, fonbern
ba§ auch I|ter ber gtr>ecf feinen Si§ aufgefchlagen unb, tote
immer, ©rbnung gef Raffen $at Scheinbar unb nach ber
Behauptung vieler, bie jtch in ber eben gefchtlberten IDetfe
bamit befdjäftigt Bjaben, ein roüftes (Setoirr t>on lauter äuget*
liefen, 3ufammen^angsIofen Befthnmungen, fügt ftch bie ZHaffe
bei emfier Vertiefung in ben (Segenftanb 3U einem einheit*
liehen, plam>oQ angelegten, folgerichtig bur eingeführten unb
innerlich geglieberten (Sanken 3ufammen. Sticht bie lüiffen*
fdjaft fyat fykt erf! ©rbnung 3U [Raffen, fonbern biefelbe
bloß 3U erfennen, ihre Aufgabe ift es, mit ber Ceucfyte heran*
3utreten unb basjemge, tx>as bas Ceben im bunflen 2)range
gefchaffen, aus bem gtoielichte bes Unbewußten in bas ließe
£icht bes Serpußtfeins 3U rücfen.
2tuch Iiier E^ctt bie Sprache ihr längfi vorgearbeitet, unb
bie tDiffenfchaft fann ftch einen großen Ceil ber Arbeit er-
fparen, inbem fte basjemge, was jene bereits geleiftet hat,
fyat, u>irb burdj basjenige, tuas bie fran3Öjtfd>e in biefem ptmfte bietet,
fott>ofyI an ein3elnen geiftoollen Bemerkungen als an fpe3teü btefem
(Segenftanbe geuribmeten IDerr'en, gä'^ltd? in ben Statten gepellt, unb
fo abfdjrecfenb bie £e!türe ber bentfdjen, fo an3tefyenb ift bie ber fran*
3öftfdjen IDerfe* Sie geben ntdjt bürre Hegeln 3um ^voede ber äußeren
2lbrtdjtung, fonbern fle fudjen in ben Sinn bleiben et^ubringen, unb
fte entoncfeln in ber (Tat ben (Seift ber feinen fra^öfifdjen f?öfltd?feti
€ine tfert>orragenbe Steifung nimmt fyter ber 2lbb6 be Bellegarbe ein, er
fdjeint fid? ben 21ufbau einer (Theorie bes Umgangs 3ur Lebensaufgabe
gemacht 3U traben, nrie bie Ulenge ber oon ifym fyerriifyrenben IDerfe
jetgt; R£flexions sur ce qui peut plaire ou d£plaire dans le commerce
du monde, 21mfterbam Suite de r£flexions sur ce etc. 2Imjter*
bam ^699* Les regles de la vie civile avec des traits d'histoire. Pour
former 1'esprit d'un jeune prince, £}aag \720t Re"flexions sur la poli-
tesse des meeurs avec des maximes pour la societe* civile. ed. 6.
f^aag \72Q.
Die Umgangsformen* — 23ebentmtg bes Umgangs. 263
einfad} in Bejtfe nimmt. 2lber felbft bies ift von ber IDiffen«
fd?aft bisher über (ßebüfyr serfäumt tsorben, unb barum
beburfte es meiner obigen fpracfylidjen Unterfudjungen über
bie 5itte; biefelben toerben im folgenden nadj manchen Hidj,
tungen Ijin eine €rgän3ung ftnben, bie toegen ber nötigen
fadjlidjen Erläuterungen erji an biefer Stelle gegeben u>erben
fonnte.
[336] Die Sprache bringt jene ZTormen unter ben (ßeftc^ts*
punft ber Umgangsformen. IDarum nennt fte biefelben Um-
gangsformen, rx>arum nidjt Derfefyrsformen? Derfefyr ijl ber
roeitere, Umgang ber engere Begriff, jener umfaßt gleich
mäßig ben gefcfyäftlidjen tx>ie ben gefelligen Perfefyr, biefer
bloß letzteren. IDarum alfo roeift bie Sprache mittels jenes
2tusbrucfs biefe formen bloß bem Umgang, toarum nidjt bem
Derfefyre 3U? fjaben biefelben für ben gefdjäftlidjen Derfefjr
ettpa feinen JDert?
2)ie Sprache Ijat audj Bjier roieberum ooHfommen bas
Hidjtige getroffen. Sie legt ben 2l?3ent auf ben Umgang,
nidjt, um bamit aus3ubrücfen, baß jene formen für ben ge-
fdjäftlidjen Derfeljr toertlos feien, fonbern um 3U betonen,
baß ber Sd}tr>erpun?t ifyrer Bebeutung naefy feiten bes Um*
gangs fyin fällt, es betr>äfyrt fidj fyer ber Safe: a potiori fit
denominatio.
3m gefdjäftlicfyen Derfefyre bilbet bie perfönlicfye Berülj-
rung bas bloße UTittel 3um &voedf im gefelltgen bagegeu
ben &wed f elber. Dort fönnen tr>ir uns vertreten laffen, —
3um groben Kaufmann, Qanbroerfer, mit bem roir bie per-
fönlicfye Serüfyrung freuen, fdjicFen toir unfere Dienftboten
ober einen Dienßmann, im pro3effe bebienen toir uns eines
2Ibpofaten, ober in (Ermangelung perfönlicfyer Vertretung
wählen roir ben 2X>eg ber fcfyriftlicfyen Derfyanblung, bie ben
26<k
Kapitel IX. Die feciale rTCed?anif* Das Sittliche»
Dor3ug ber größeren Sidjerfteßung gegen ein ungebührliches
Benehmen t>or ber münblichen soraus Ijat — bie 5eber bes
ungefchlachten ZTienfchen ift [337] befamttlich weit weniger
3u färbten als feine §unge! — unb felbft für ben fchlhnmften
$aü, baß bie perfönliche Berührung unumgänglich ifif unter*
3tefyen roir uns ihr in ber (Erwägung, baß bie Unannehmlichkeit
berfelben ftch burch bas <5efdjäft felber be^aiilt madje, unb
nehmen fie als leibige Zugabe mit in ben Kauf.
<5an3 anbers beim Umgang* Ejier ift bie perfönliche Be*
rührung Selbfowecf, fie foH ftch nicht burch einen gwedf, ber
außer t^r liegt, fonbern burd? ftch felbft be3afylt machen, Der»
tretung burch einen anbern ift I}ier ebenfo ausgefdjloffen wie
Vertretung beim €ffen unb Crinfen. ZTicht minber ber fchrift*
liehe 2Deg. Die perfon will im Umgange bie frembe perfon
genießen. Bietet lefctere in ihrem Benehmen nicht bie nötigen
(Sarantien eines wohltuenben Derfehrs, fo leitet man, tx>enn
nicht überwiegenbe Dorteile ihn gleichwohl wünfdienswert
machen, auf le&teren lieber gän3lich Deicht.
Die Umgangsformen tiaben nun bie Beftimmung, bies
Benehmen in einer IDeife 3U regeln, wie es ber gweef bes
Umgangs mit ftch bringt, jte ftellen ben Cypus bes gefeil*
fchaftlich forreften ZHenfchen <*uf, wie biefes Dolf unb biefe
geit ftch ihn benft Sie enthalten ben 3nbegriff ber an ber
J^anb ber (Erfahrung gewonnenen Bebingungen bes Um-
gangs, wie bas Derfehrsrecht ben 3nbegriff ber auf gleid^e
IDeife gewonnenen Bebingungen bes Derfehrs. Der Kobey
ber feinen auf ben Umgang be3Üglid?en Sitte bilbet bas
Seitenftücf 3um Kobey bes Hechts, [338] nur baß er nicht
bie 5orm ber Schrift an jtch trägt, er gehört, wenn man
fonft ben 2tusbrucf jus auf bie Hegeln bes gefelligen Derfehrs
anwenden will, wie es ja bie Sprache in ber Cat tut, inbem
fie pon (Sefefeen bes 2lnjianbes, ber fjöflic^feit nfw. fpricht,
nicht 3um jus scriptum, fonbern 3um jus non scriptum — er
Die Umgangsformen* — Soziale Bebeutung bes Umgangs* 265
lebt in berfelben IDeife im Volte, wie bas roirflic^e jus non
scriptum: bas (Betx>or|nl)eitsred}t
IDarum aber nimmt fid} überhaupt bie Sitte bes Umgangs
an? JDarum überlägt fie bie 2lrt, rote er 3U geftalten ift,
nicfjt rein bem perfönlicrjen Urteil? XDarum besormunbenbe
Hegeln für etroas, was rein 5ad\e bes perfönlidjen Beliebens
ift? TXiao, jeber felber fefyen, roie er es treibe, unb, wenn
feine <5etr>or}nfyeiten, formen, UTanieren ben anbem nidtf
gefallen, ficf? bie UToral baraus 3tef}en, fid? änbern, roenn er
ben X?erfef?r mit iljnen 3U erhalten ttmnfd]t, ober bleiben,
roie er ift, rr>enn er barauf t>er3id)ten trnll, es Ijanbelt ficfy
babei ja lebiglidj um fein eignes inbixnbuelles 3ntereffe.
ffleldie ZTötigung lag für bie Sitte t>or, ftdj fyer ein3umifd?en
unb Hegeln über bas paffenbe Benehmen auf3uftetlen? IDären
es bloß «groedmäßigfeitsregeln, man roürbe fie \\d\ fcfjon ge*
fallen laffen, jeber fönnte es bann ja mit ifynen galten, rote
er £uft rjätte. 21ber jene Porfcfyriften traben nidjt bie bloße
Sebeutung r>on Klugljeitsregetn, rx>ie es beren audj für ben
Umgang in UTenge gibt, unb wie fie felbjl 3um (Segenftanbe
literarifcfyer Beljanblung gemacht toorben fmb (f. bas [339]
S. 26\ Zlote genannte IDerf r>on Knigge), fonbern ben t>on
gefetlfcrjaftlicrjen 3mperatir>en, fie tragen einen obligatorif dien
(Ellarafter an fiel), tfyre Übertretung begrünbet einen Derftoß
(S. 257), roas bei bloßen «groecfmäßigfeitsregeln nierjt ber
5aU ift, fur3 fie fallen nierjt unter ben (ßefid^tspuuft ber
politif, fonbern ber €ttjif bes Umgangs.
tDarum alfo ftellt bie Sitte fie auf? Überall, n>o bie
Sitte fidt einmifcf(t unb iljre (Sebote erläßt, rjanbelt es fidf
um ein 3ntereffe ber (Sefellfd^aft Weld\es 3»tereffe fyat bie
<5efetlfcf}aft am Umgang? Damit berühren toir ben fpringenben
Punft ber gan3en £el}re, in ifym liegt bas Derfiänbnis biefes
Stüdes unferes £ebens befd]loffen. Der Umgang ift eine
fo3iale 3^ftitution, Umgang ift fo3iale pflicfjt.
266 Kapitel IX. Die fötale ITCedjamf. Das Sittliche.
Der Umgang iji eine fo3iale 3njiitution. <£s tji nicht
ein bloß inbisibueües 3ntereffe, bas in ihm feine Befriebt«
gung finbet: bas Bebürfnis nach <5efelligfeit, Mitteilung,
Unterhaltung, Anregung, Belehrung. 2luch biefes 3ntercffe
^at feine solle Berechtigung, unb es mag immerhin für bas
Subjeft bas ausfchltepche Ulotis bilben, roarum es ben
Umgang fucht. Allein bas fubjeftire UTotiü fleht auch b{\ex
toieberum roie in fo sielen anberen Derhältniffen, tx>o bas
3nbit)ibuum nur ber eignen Cuft unb ZTeigung folgt, im
Dienfte eines hö^ren &weds, bas 3nbipibuum bient im
Umgange ben <§tr>ecfen ber (SefeUfchaft. IDas bie Cuft*
betoegung in phYfif^er, bebeixtet ber Umgang in moralifcher
unb inteüeftueHer Be3iehung: bas UTebium [340] ber Der*
breitung bes moralifchen unb inteHeftueHen 5Iuibums über
bie UTenfchheit. Umgang ift ber 3wiü\r\Qsbxüi>et bes Der-
fetjrs, beibe 3ufammen befchaffen bie girfulation ber t>or*
hanbenen materiellen unb immateriellen (Süter. (Dline Derfehr
Stagnation bes öfonomifchen Güterumlaufs, ohne Umgang
Stagnation bes geiftigen unb moralifchen. Umgang ift fort*
gefefete Ziehung bes UTenfdjen. f}at bas ^aus unb bie
Schule ihr U?erf an ihm ©errietet, fo nimmt ber Umgang
basfelbe auf. 3n^m roir unferem Vergnügen nad^ugehen
glauben, treten roir in bie Schule bes £ebens, lernen unb
teilen roir, nehmen roir auf unb teilen roir mit, büben tr>ir
uns felber unb anbere. 2tlle JDeishett ber Welt, bie in ben
Büchern auf gef dachtet liegt, fann ben lebenbigen 2lustaufch
ber (ßebanfen nicht erfefeen, felbfi bem jenigen nicht, ber bas
grögtmöglichfte ZYiafa berfelben fich angeeignet h<*t, benn bas
Büchertoiffen ift gefrornes Venfen, bas erft burch bie 5nftion
im perfönlichen Perfehr auftaut unb flüfftg toirb unb bie
probe befteht Unb felbji tsenn jemanb fich geifttg refcj
genug bünft, um bes Umgangs entbehren 3U fonnen, fo folt
er fich 3U ihm t>erftehen ber anberen u>egen, um ihnen von
Vet Umgang.
— (Sefeflfdjaftlxdjer VOM.
267
feinem Überflug $ufommen 3U laffen, rote ber Heidje bem
2trmen. TOev ein £id?t tjat, für ben gilt ber Safe bes (Evan-
geliums: 2)u fotlft bein £idjt leuchten laffen — bas £id}t ifi
einmal ba3u ba, baß es ber Jüelt leuchte.
Unb une bas JDiffen bie perfönlidje Anregung, fo fann
audj alle gefcfyriebene unb gefprodjene TXlotal bie [341] <£\n*
tr>irfung bes unmittelbaren (Einbrucfs ber moratifdjen per*
fönlidjfeit nidjt erfefeen — ein ZlTann, ber bas Sittliche ober
bie Sitte in fonf reter <5eftalt burefy fein Seifpiel peranfdjau-
lidjt, tft meljr tt>ert als Ijunbert Sudler, bie es prebigen. Der
eble, tugenbfyafte, djarafterpolle ZTtann voxttt, ofyne es 3U
tsiffen unb 3U ir>otlen, fdjon burdj feine bloße perfönlidjfett
jtttlidj erfyebenb, er ftrafylt moralifdje JDdrme unb Kraft aus,
bie großen ZHänner ber (ßefcfjidtfe auf ein gan3es E>olf, auf
bie gan3e ZHenfdjlieit, bie getDÖtjnlidjen £eute rx>enigjiens auf
ifyre nädjfte Umgebung, — Sonne unb (Dfen.
3n biefem Sinne Bjat jeber in irgenbeiner H)eife tüchtige
Xfiann im gefetlfdjaftlidjen £eben bie £>erpflid}tung, ftcfy f elber,
b. fy. feine perfönlidjfett ber Welt nidjt t>or3uenti|alten, in
intelteftueHer rt>ie moralifdjer 23e3iel|ung £efyrer unb prebiger
3u fein, unb barum Ijat bie <5efeHfdjaft ein 2tnredjt barauf,
baß er mit anbeten r>erfefyre.
Umgang ift fo3iale pflidjt Der <£infiebler serfünbigt
jtdj gegen bie <5efellfd?aft, benn er ent3iet|t ifyr bie Dienfte,
bie er imftanbe tx>äre iE^r 3U leiten, gan3 abgefeljen bar>on,
baß er ftdj felber fdjäbigt, benn niemanb ent3tel)t fid? auf bie
Dauer ber (BefeUfcfyaft, oljne in irgenbeiner IDeife Sdiaben
3U nehmen, (Einfettigfeit ifi bie unausbleibliche 5olge ber (Ein*
famfeit. ZHag aud] in erjter £inie bie Kraft bes ZHenfcfyen feiner
Serufstättgfeit gehören, ber Überfluß feiner Kraft unb «geit ge*
büljrt ber <5efellfdjaft, felbft feine Ejeiterfeit, fein Jroljfinn,
feine [342] gefelligen Calente unb feine gefeQfdjaftlicfye Sti-
ftung. tDären toir Zllenfdjen imfianbe, bie <Einn>irfungen bes
268 Kapitel IX. Die feciale IHedjanif. Das Sittliche*
einen pon uns auf ben anbern 3U perfolgen , tpir tpürben
oft mit Staunen inne tperben, tpelche nachhaltigen XDir«
fungen ftch an bie fdjembar unbebeutenbften perfönlichen 33e*
rührungen fnüpfen* Der bloße 21nblicE ber fremben <5röße
fann bie eigene fcfylummembe Kraft tpeefen, eine einige
Unterhaltung mit einem bebeutenben Vftann für bas gan3e
£eben entfcfyeibenb tperben, unb tpie nach bem <5efefce ber
Erhaltung ber Kraft fleh IDärme in 23eroegung, Belegung
in Kraft umfefct, fo fann auch im H>erfe bes Denfers bie
<£rfrifchung unb Anregung, bie er im gefelligen Derfehr bem
V0\% unb ber J^eiterfeit bes £ebemannes, unb in bem bes
Dichters unb Ulalers biejenige, bie er bem gauber tpeiblicher
21nmut unb Schönheit perbanft, ftch in f oftbarer IDeife per*
tperten unb für bie XHenfchhei* fchönjien Slüten treiben,
5d]er3 fefet ftch ba in €rnp, Schönheit in poefte um. Der
Same, aus bem auf fruchtbarem 23oben bas (ßrößte in ber
Welt hervorgeht, iji bem bloßen 2tuge ebenfotpenig tpahr*
nehmbar, tpie ber jenige, ben bie £uft mit ftd) führt — ber
Umgang ift eins ber tPtrff amften Dehifel, bas ihn weiter trägt.
ZTEit ber firfmbung ber Suchbrucferfunft unb bem 2luf«
fchtounge ber Citeratur hat bie tote perfon: bas Such ber
lebenbigen eine bebenfliche Konfurren3 gemacht, unb jenes
hat allerbings große Por3Üge por biefer poraus. Die tote
Sprache bes Sudjs rebet 3ur gan3en IPelt, ber [343] gleich*
3eitigen, tpie ber fommenben, bie Iebenbige ber perfon nur
3U ben JDenigen, bie ihre Stimme pernehmen. Unb fobann
ift bas Such ein bequemer CßefeHe, ben tpir rufen unb per*
abschieben fonnen, gan3 tpie es uns beliebt, tpährenb bie
perfon uns gtpang auferlegt unb uns nicht feiten bas iDenige,
toas jte uns bietet, burch läftige ^fagaben teuer be3ahlen
läßt. 3m J}inblicf auf fciefe beiben unleugbaren 2?or3Üge
fönnen tpir es als einen ber größten 5ortfchritte ber Kultur
be3eichnen, baß tpir für ben 23e3ug unferer geizigen ZTahruug
Der Umgang» —
Bebürfttts für bas Subjeft.
269
nicht ausfchließlich mehr auf bie perfon angetoiefen fmi>. Die
5orm, in ber bas Sud) fie uns 3ufüBjrt, ijl ungleich um*
faffenber, reicher, eyafter unb 3ugleich viel bequemer, billiger,
leichter. Hub bochl u>as tsürbe aus bem UTenfchen, toenn
er bloß biefe getrocfnete Speife 3U ftch nehmen follte? <£s
roürbe ihm gehen rt>ie bem Seemanne, ber lange ber frifchen
Kofi entbehrt hat unb ben infolge bat>on ber Sforbut heim*
fudjt. Sforbut ift bas Kenn3eichen bes Süchermenfcben unb
bie Strafe für fein D ergehen gegen bas (Srunbgefefe ber (Se*
feUfdjaft, welches ben lebenbigen Elustaufch ber Urteile unb
2lnfidjten unb bie fortgefefete Selbfler3iehung im Derfehr mit
anbern verlangt. Der Ulenfch x>erfrüppelt in ber €infamfeit,
ber richtige, solle, gefunbe UTenfch ift nur ber Ulenfch in ber
(BefeHfchaft, bas poftutat bes Cq>ov noXtTixtfv gilt auch für
ben Umgang. Die öffentliche ZHeinung: bie guchtmetfterin
bes Sittlidjen umrbe bes tsirffamften Ulittels ihrer €imx>irfung
auf ihn beraubt fein, [344] u>enn er fich burdj 5ernhaltung
vom Umgang außer Kontaft mit itjr fe&en vooüte. <£v foll
unb muß bas Urteil ber Welt über fich, u>erm auch nicht
hören, fo boch merfen — auch bas Schweigen fann berebt
fein, — unb auch it^r Urteil über anbere fann ihm als Spiegel
ber Selbfterfenntnis btenen.
Die bisherige Ausführung hatte ben gwed, bie h°he
fo3iale Sebeutung bes Umgangs in bas richtige Cicht 3U
fefcen. 2lber bamit ift ber oben poftulierte 23eu>eis, baß bie
Sitte genötigt toar, fich bes Umgangs an3unehmen unb ihm
fefte Sahnen t>or3U3eichnen, noch f eines toegs erbracht <£s
tr>äre ja benfbar, baß es beffen gar nicht beburft hätte, JPenn
bas 3nbipibuum ohne alle Einleitung von felbft bas Sichtige
träfe, tt>03u brauchte bie Sitte es ihm erft noch r>or3ufchreiben?
Die (Sefdjichte unb bie tägliche (Erfahrung erteilen bie 2lnt<
u>ort barauf. Der ZTTenfch bebarf in be3ug auf ben Umgang
nicht minber ber <£r3iehung unb ber gefellfchaftlichen Sucht,
270 Kapitel IX. Die feciale ttledjamf* Das Sittliche*
wie in be3ug auf bas 2?edjt unb bie XlToraL <£s gibt fein
angebornes Sd^icf Iic^feitsgefüI^I, fotsenig une ein angebornes
Sittlichfeitsgefühl, unb toenn es ein folcfyes gäbe, fo tt>äre
bamit bie praftifdje Unterordnung bes 3nbit>ibuums unter
basfelbe noch in feiner IDeife verbürgt So hat bie <5efeH*
fchaft bei bem Ijoljen 3ntereffe, &<*s ber Umgang für fte h<*t,
ftd? besfelben annehmen müffen, um it^ri fo 3U gehalten, u>ie
er ihren 2lnforberungen entfpridjt; unb fte E^at 3U bem gtt>ecfe
ftch nicht bamit begnügen fönnen, bie [345] mafjgebenben
Ztormen aufsufteQen, fonbern jte forgt auch bafür, bafj fte
tatfädflich beamtet toerben* Die Quelle, aus ber jte erftere
gefchöpft h<*t, ift bie (Erfahrung, bas Ulittel, tr>oburch jte ihre
Beachtung entrangt, bie öffentliche ZHeinung. Beibe 23efyaup*
tungen roerben bemnäcbft beriefen werben*
2lus bem Bisherigen ergibt ftch, baß bie Umgangsformen
feine bloß äfthetifche (5. 202), fonbern eine Ijofje prafttfeh«
fo3iale, b. t. et^ifc^e Bebeutung tiaben. 2lHerbings greift bei
ihnen auch ber äjifyettfcfye (ßeftchtspunft plafc (5. 26), allein
er ift nicht ber entfeheibenbe. TOOaxe er es, fo fönnte jeber es
mit ihnen galten, roie er £uft hätte, unb bie Derlefeung bes»
felben txmrbe nur ben Dornmrf bes Unfchönen, (Sefchmacf*
lofen, nicht ben bes Unfdjtcf liefen, Unanftänbigen, eines Der»
ftofjes gegen bie Sitte begrünben. Die Umgangsformen
gehören bemnach 3U ben fo3ialen 3mperatit>en, man muß jte
befolgen, unb 3*t>ar ber (ßefellfchaft roegen. 3*lr* Ch^orie
fällt mithin ber (£ttyt anheim, unb roenn lefctere jtch bisher
ber Beachtung berfelben entf cfylagen fyat, fo iji jte eben bamit
hinter ihrer Aufgabe 3urücfgeblieben.
Die Unterlaffungsfünbe war aHerbtngs eine gedeihliche.
Die ethifche Bebeutung ber Umgangsformen ifl nur eine
mittelbare» Die Dorfchriften, meldte bie Sitte in be3ug auf
fte aufteilt, haben nicht u>ie bie bes Hechts unb ber ZTCoral
bas an jtch <ßute ober Sittliche 3um (ßegenjianbe, fonbern
JDert ber Umgangsformen*
27\
nur bte öeftimmung, lefeteres 3U förbem, b. h* [346] pe
haben, wie bie Sitte überhaupt (5. 2^5), nur eine pttlich'
abminifulierenbe 5unftion.
Die Sprache l\at i>ie\e tfyre bloß mittelbare etljifche 33e*
beutung richtig getroffen, inbem fxe biefelben als bloße 5ormen
beseitet Diefen (ßepchtspunft h<*t pe, wie feiner$eit (S.24<ff.)
nachgetsiefen, in ben mannigfachen IDenbungen ausgeprägt
(gefeßfchaftliche Sotm, formen, Umgangsformen, XtTanieren,
dehors, fagons, €tifette). Überall tmeberholt pch in ber (Ter*
minologie ber Sitte ber (ßegenfa^ bes Süßeren 3um 3nneren,
ber 5orm 3um 3nB|aIt, überall fchetbet bie Spraye gans
genau bas bem inneren Sittengefefe (Entfprechenbe: bas ZHora*
lifche, Sittliche r>on bem bem äußeren (Entfprechenben: ber
feinen Sitte, bem guten Con, ber guten iebensaxt, bem itn*
^tanbe, bem Sittfamen, ber £jöflich?eit. 5ür biefes f^at fxe
bie 2lusbrüc!e: benehmen, Betragen, IDefen, bie fie nie für
ben inneren, für jenes: C^arafter, (ßejtnnung, ^alt, bie pe
nie für ben äußeren IHenfdjen gebraucht Zlid)t 3u r>ertr>un*
bem, baß bei biefer fcharfen (5egenüberpeHung t>on innerem
unb Süßerem jene 21uffaffung über bas We\en ber gefell*
fchaftlichen $ovmen pch bilben fonnte, welche in ihnen etwas
rein äußerliches, pttlich Bebeutungslofes erblidft (fprachlich
ausgeprägt in bem 21usbrucfe: fonoentioneüe == auf bloßer
Übereinfunft berufyenbe, alfo bes innerlich 3wingenben (Srunbes
entbehrenbe 5ormen). Sei ben (ßriechen unb Hörnern, bei
benen pch bie begriffliche Scheibung ber Sitte von ber Ztüoral
noch nicht ©otogen h^te [347] (S. ^Off.), pnbet pe pch aus
eben biefem <5runbe noch nicht, pe gehört 3U jener eigentüm-
lichen Klaffe t>on ^xxtnmexn, welche erft mit bem 5ortfd?ritte
ber IDahrheit möglich werben. Das fehlfame biefer 2lnpd]t
befteht nicht bloß barin, baß pe bie oben begrünbete fo3iale
Sebeutung biefes Stüdes ber Sitte (objeftio abminifulierenbe
5unftion) gänjlich außer acht läßt, fonbern, baß pe auch ben
272 Kapitel IX. Die fokale OTe^antfc Das Sittliche.
inbipibuell fittlich förbemben, er3ieherifchen (Einfluß (fubjeftip
abminifulierenbe Sunttion) nid?t in 2infchlag bringt. Wäve
bie gute gefellfchaftliche form nichts als ein Hantel, ben
man umfängt unb ablegt, ohne baß bies ben inneren ZTIenfchen
berührt, es möchte barum [ein, unb bei manchen ZHenfchen:
ben fittlich pöHig un3ugcmglichen, unbilbfamen Naturen mag
in ber Cat ihre 33ebeutung ftch barin erfchöpfen, 2Iber bei
ben fittlich bilbfamen Naturen, welche gottlob bie Hegel
bilben, ift bas Verhältnis ein anbetes, bie form wirft bei
ihnen auf ben inneren ZlTenfchen 3urücf, fte übt einen fittlich
perebelnben, einen e^e^enf dien (Einfluß aus, es ift nicht bas
rein äußerliche Verhältnis bes ZHantels 3U feinem Cräger,
fonbern bas innerliche ftch gegenfeitig bebingenbe 3wifchen
Schale unb Kern. 2)ie Sucht 3ur form, bie fchon beim Kinbe
beginnt, bringt bemfelben bas erfie bei, was ber ZHenfd] 3U
lernen hat: bas Safein son (geboten in ber iDelt unb bie
HotwenbigFeit ber XInterorbnung unter biefelben. £>ie Selbff.
beherrfdjung, bie es in biefer Schule bes rein äußerlichen
gewonnen hat, fommt il|m für bie [348] fittliche «^te^ung
3ugute — bie Sitte arbeitet ber ZHoral vor. Unb fobann iji
es in ber Cat nicht etwas bloß äußerliches, was ihm bei*
gebracht wirb, fonbern in bem äußerlichen fteeft bereits ber l
Kern alles Sittlichen: bie Hücf ficht auf anbere. <£s muß ber «
folgenben Darjl ellung porbehalten bleiben, biefen Kern heraus*!
3ufchälen unb 3ur Slnfchauung 3U bringen, Ijtcr antt3ipierenf
wir bas bort 3U begrünbenbe Hefultat, inbem wir fagen: bas*
ZHotiD aller Umgangsformen ift bie Hücf ficht auf anbere. (Es
fann aber nicht ausbleiben, baß wie bie Selbftbeherrfd^ung,
bie am rein äußer liehen geübt unb gewonnen, ben inneren!
ZlTenfchen förbert, fo auch bie in ber Schule ber form 3url
(5ett>ohnheit geworbene Hücfftcht auf anbere für bie gefamtef
Cebensanfchauung bes ZHenfdjen, feine ftttliche (ßeftnnung,
i^e fruchte trägt Von 3wei ZHenfchen mit r>öflig gleicher
XDert ber Umgangsformen*
273
natürlicher 21usjlattung muß derjenige , ber bei im übrigen
gleichen Perhältniffen ben Porfprung ber rein formalen ge*
fellfchaftlichen Ziehung vot bem anbern poraus l}<xt, not-
toenbigertpeife ftttlich beffer, ebler tperben. €s ift nicht
xoalit, baß biefe Ziehung bloß bie Schale glättet; mit ber
Schale trifft pe 3ugleich ben Kern, inbem fie ihm unmerHich
Stoffe sufütjrt, bie er ftch aneignet, unb aus benen er ftch
bilbet,
5ür bie Bebeutung, bie ich ber guten Sitte für bie <5e-
feUfchaft phtbi^ere, ift übrigens bie Stellungnahme 3U biefer
frage pon bem mbipibueH er3ieherifchen €inflfuffe berfelben
ohne allen Belang, für fte hanbelt es ftch lebtglich [349] barum,
ob bie Beachtung ber Umgangsformen objeftip ben Umgang
erleichtert, bie Mißachtung berfelben ihn erfchtoert, unb bie
Jtntoort auf biefe frage fann f omenig 3tt>etfelt>aft fein, baß
ich nicht 2lnflanb nehme, bie Behauptung auf3ujiellen: für ben
gefeHfchaftlichen üerfehr ip ein gefcfjliffener Kiefelftein, ber pon
§anb 3U fjanb gehen fann, ohne baß jemanb bei feiner (Blatte
pefahr läuft, ftch bie ^änbe bavan 3U rifeen, beffer als ein
tatgefchliffener Diamant, an beffen Tanten, €<fen, Spifeen
tan jtch bie fjänbe perlefet, €s hobelt ftch ja nicht barum,
peibe 3U faufen — bann mürbe lefeterer aHerbmgs ber u>ert*
bollere fein — fonbern ftch bloß mit ihnen 3U berühren, unb
Für bie bloße Berührung fommen anbere Hücfjtchten in Be*
rächt als für ben Kauf. Unb fobann iji jene 2tntithefe nur
tuf bas Sußerjle bes an ftch Möglichen gefteüt, bie richtige
Stellung berfelben muß lauten: gefdjliffener ober ungefchliffener
tfiefel, gefchliffener ober ungefchliffener Diamant
Die bisherige Ausführung hatte ben gtoed, bie Ch<?orie
)er Umgangsformen als ein Problem ber (£ttyt bar3utun.
*ber ber ba3u erforberliche Betpeis ifl nur erjl 3ur Jfälfte
^bracht <£s iji nachgetpiefen, baß bie Umgangsformen ober,
t>as basfelbe, bie (ßefefee bes Unftanbes ober ber feinen
{ p. 3 tiering, Der gtoeef im Hed?t. II. to
27^ Kapitel IX. Die fatale IKedjatttf* Das Sittliche.
Sitte für bte (5efeHfchaft, welche einmal 3U ihrem (Sebexen
bes Umgangs bebarf, sunt gwede ber richtigen (ßejlaltung
besfelben nötig jtnb; aber baraus ergibt jtch noch feinestt>egs,
ba§ jte einen geeigneten (ßegenftanb [350] 3ur €nttt>erfung
einer u>iffenfc^aftlid]enS;^eorie barbieten. <£s voave ja möglich,
baß jte nur ein Aggregat von lauter ein3elnen, bisparaten
23eftimmungen enthielten, bte eben bes fehlenben eignen
inneren gufammenhanges wegen aller Perfuche ber IDiffen«
fchaft,- einen ^ufammenhang 3tt>ifchen ihnen h^ufleQen,
fpotteten. 3)af$ es ftch in IDirfltchfeit anbers serhält, iji
bereits oben (S. 26\ff.) ausgebrochen tt>orben, unb ich habe
auch &en Zlacha>eis erbracht, wie ber 5chein bes Gegenteils
ftch bilben fonnte (S. 258 ff.)* <£in (ßegenftanb, t>on bem
nur ein3elne hen>orragenbe punfte beleuchtet finb, währenb
bie übrigen Partien im Dunfel liegen, muß notwenbtgerweife
ben (EinbrucE bes «gerriff enen machen. Selbft mir, ber ich
ihm feit geraumer &e\t meine angefpannte Jlchtfamfeit 3u«
Qttoanbt habe, geflieht es nicht feiten, baß ich itgenb etwas
Zleues an ihm wahrnehme, bas mir bisher entgangen tt>ar,
unb ich nehme feinen 2tnftanb, bie Hichtigfeit meiner obigen
Behauptung (S. 258), baß bei feinem Stücf unferes £ebens
bas fubjeftiüe Bewußtfein jtch fowenig mit bem (ßegenjtanbe
f elber becft als bei ihm, auch für mich falber ansuerfennen.
(ßleid^roohl aber reicht bas JTiaterial, über bas ich perfüge,
aus, um bie Stufgabe, bie ich &e* <£thif gefteüt habe: bie
(gntwerfung einer Ch^orie ber Umgangsformen, in Angriff
3U nehmen unb wenigftens bie (Srunbfä&e berfelben fchon
beim erften Derfuche fefoufteHen. So unpollfommen unb
ergän3ungsbebürftig er auch ausfallen mag, was faum je
einem erften Derfuch erfpart [351] bleiben wirb, fo glaube
ich boch mittels besfelben fosiel über allen Zweifel erhoben
3u haben, baß es fich h^r um ein einheitliches, platwott an»
gelegtes, genau burchbachtes unb folgerichtig burchgeführtes
Die Umgangsformen* — Die (Drganifation oes Umgangs* 275
<Batt3es, um eine Schöpfung aus einem (Suffe fycmbelt, furj
ausgebrücft: unfere heutigen Umgangsformen enthalten eine
poHftchtbige ©rganifation bes Umgangs, ein ebenbürtiges
SettenftücE 3U ber ©rganifation bes üerfehrs in 5orm bes
Hechts.
(Eine folche Behauptung lägt ftch mit einigen allgemeinen
23emerfungen unb ein3elnen wenigen 23eifpielen nicht abtun,
fte erforbert einen jiringenten Beweis, unb berfelbe iji nur
3u erbringen burch Aufbringung eines reichen Apparates.
Auch bei biefer Aufgabe werbe ich bes Stofflichen eher 3U*
siel als 3uwenig bringen, getreu ber ZHajime, bie ich bei
biefem IPerf unausgefefct befolgt I^abe, meinen Abftraftionen
eine möglichft breite Unterlage an einem reichen detail 3U
geben. Wem ich bes (ßuten 3usiel 3U tun fcheine, ber möge
ftch erinnern, baß ich genötigt bin, bie Sache erft aus bem
(ßroben I|eraus3uarbeiten — wäre ich auf biefem (Sebiete
mein eigner Zlachf olger, ich würbe mich für3er f äffen.
\0) U)iffenfchaftliche Kritif ber Umgangsformen —
echte unb unechte Anftanbsregeln.
Alle Umgangsformen haben ben 3>xqz&, ben Umgang 3U
ermöglichen, 3U fichern, 3U förbern, angenehm unb behaglich
3U gehalten, — fte enthalten bie burch bie [352] Sitte be*
fdjaffte unb gehanbhabte Dis3tplin bes gefellfchaftlichen öe*
ne^mens, wie jte ben Dorftellungen ber maßgebenben (Sefell*
fdjaftsfreife biefes Dolfs unb biefer geit entfpricht. <£s finb
bie mafjgebenben, b. h* b\t relatit) hoch ober höchftgejtetlten
Kreife, welche bie formen bes gefetligen Derfehrs ausgebilbet
haben, jte geben ebenfo wie bei ber Ulobe (S. \86f.) ben
„£on" an — ben Kammerton ber guten (ßefellfchaft, mit bem
jeber, ber feinen „Ulipiang", feine „Derftimmung" in ber
(Sefellfchaft erregen will, fich in <£inflang 3U fefeen hat* 2)ie
Sprache be3eid]net biefen Con als „guten Con", bie ent*
fprechenbe lüeife bes Benehmens als „gute Cebensart", bie
\8*
276
Kapitel IX. Die feciale IKedjanif, Das Sittliche.
(Sefellfchaftsfreife, in benen er h^imifch ift, als „gute (Sefeüfchaft".
Sie fällt bamit ein Werturteil, tpelches wie jebes Werturteil
bie 2lugemeffenheit bes HTtttels für ben 3U erreichenben §>we<£
3ur Htchtfchnur nimmt, I|ier bie 2lngemeffenheit jener formen
für bie gtpeefe bes Umgangs» 2)er ZHaßftab, ben fie babei
anlegt, tft ein relativer, entfprechenb ber Kulturftufe bes Dolfs
unb ber §eit unb baher ein toechfelnber* Von ben Hoheiten,
bie noef) por nicht langer geit in ben leeren (Sefellfchafts*
Greifen unb felbft an ben J^öfen üblich toaren, tpürbe jeber
(Sebübete fich heutigentags mit €fel ahwenben. Das 33e*
trinfen in ber (SefeUfchaft gehörte bei uns in ©eutfchlanb
einft 3um guten Cone; felbft einem geiftlichen Würbenträger
persiel] man es nicht bloß, fonbern man oerlangte es pon
ihm, bie ^öflichfeit erforberte, ba§ er bem «gutrinfenben ge*
hörig [353] „Sejcheib" tat, unb i*a% er bem Wirte burch bie
Cat beroies, roie ber Wein ihm munbete — fein befferer
Beroeis, als wenn er 3upiel getrunfen Dattel Wer am meiften
trinfen fonnte, roar ber Xfieifter, es u>ar ein Hufym, einen
anbern vom Stuhle 3u trinfen, unb felbft bis auf ben heutigen
Cag l\at fiel} von bieget altgermanifchen Unfitte, tpelche bas
Crinfen 3um (Segenftanbe bes <£^rget3cs unb bes gefelligen
Wetteifers ftempelte, in ben Kreifen ber Stubierenben noch
ein lefeter Heft erhalten.
Vie\e I^tftortfct^e Wanbelbarfeit bes 2TEagfiabes für bas
gefeßfchaftliche benehmen betoährt ftch auch nach ber ent«
gegengef eisten Sexte hin. <Sar manches, was ber unter bem
(Einfluß bes frifcheren (ßeifies ber Sturm* unb Drangperiobe
unjerer beutfehen £iteratur freier, 3tpanglofer unb natürlicher
geroorbene Con ber tätigen feinen (SefeUfchaft geftattet,
hätte in ber erften ^älfte bes porigen 3ahrhunberts bei ber
bamals B^n:fchenben pebantifchen (Etifette ben fchtperflen 2ln
ftoß erregt, ber poöenbetfte £|ofmann ber (5egentt>art in eine
bamalige (Befettfchaft ber bürgerlichen Kreife perfekt, hätte
Kritif ber Umgangsform em
277
jtd) auf ben Dortpurf gefaxt machen muffen, bafj er nicht
tpiffe, was ftcf^ fchicfe.
2lIfo heute fo, morgen fo? Vie gute Lebensart ein Spiel
bes <guf aKs, bes reinen Beliebens unb ber ZDillfür, ä^nlicf^
tpie bie Ulobe? 3n ber Cat fcheint bies bie 2luffaffung ber
Sprache 3U fein, inbem fte bie Umgangsformen als „fonpen*
tioneHe" formen be3eichnet, b. h* als foldje, [354] 3U beren
Hechtfertigung ftch tpeiter nichts fagen lägt, als baß fie einmal
burch fiillfchtpeigenbe Übereinftimmung angenommen finb.
Unb in einem getpiffen 5inne E^at fie nicht unrecht, benn
unter biefen 5ormen gibt es in ber Cat ein3elne, tpelche reine
UTobefache finb, nicht bloß in bem Sinne, baß fte ben flatter-
haften <£Ijarafter ber UTobe teilen, fonbem auch in bem, bajj
fie gleich ihr it^re 2InnaI|me lebiglich bem Seflreben ber
höheren Stände perbanfen, ettoas 23efonberes für ftch 3U
haben. 2tber ber bei tpeitem größere Ceil ber hcut3utage
herrfchenben Umgangsformen iji anberer 2lrt, er ifi imftanbe,
bie 5euerprobe einer pr^ipieüen , ftreng tpiffenfchaftüchen
Kritif 3U befielen.
2luf eine folche iji es im folgenben abgefehen. Sie foD
unfere obige Behauptung über bie 23eftimmung unb ben
Züert ber Umgangsformen am ein3elnen erproben, inbem fie
nichts paffieren lägt, roas nicht feine Legitimation 3U erbringen
permag. 3n biefer IDeife unternommen, tpirb unfere Kritif
uns nicht bloß ben 3)ienft leijlen, basjenige, tpas bie probe
nicht bejteht, aussufcheiben unb es feiner falfchen, erfchlichenen
Autorität 3U entfleiben, fonbem ben pielleicht noch roertpolleren,
uns über bie Berechtigung besjenigen, bas bie probe befiehl
auf3uflären unb an bie Stelle ber gebanfenlofen Unterorbnung
unter bas hergebrachte bie betpußte €infid]t in feine Hot«
roenbigfeit 3U fefeen — bas Ergebnis einer jeben echten Kritif,
[365] tpelche, inbem fte bie ^errfchaft ber falfchen Autorität
ftür3t, bie UTacht ber roahren befeftigt
278 Kapitel IX. Die fotale HTecfjanif* Das Sittliche*
ZTtein fritifct^er XlTaßfiab tfi ein gan3 einfacher: alle 23e*
fdjränfungen, toelc^e bie Sitte uns in besug auf ben Umgang
auferlegt, ftnb nur mfort>eit berechtigt, als fie ifyren grcecf in
ber fremben, nidjt in unferer eignen perfon ^aben, §tx>ecf*
fubjeft aller Umgangsformen finb nicfyt roir f elber, fonbem
bie britten perfonen, mit benen tt>ir serfeBjren. Dorf Triften,
beren Beachtung für lefetere fein 3ntercffe t|at, finb nichts
als ga>ecSmäf$igfeits* ober Klugljeitsregeln , tt>eldje bie Sitte
mit Unrecht in bie $otm ber 21nftanbsregeln gebracht l?at,
tpä^renb fte btefelben gleich festeren tebiglidj bem freien
Belieben bes 3nbipibuums t|ätte überlaffen f ollen.
darauf beruht ber (Segenfafe ber eckten unb ber un»
eckten 2tnfianbsregeln. Daß man nidjt mit ben Ringern in
bie Scfyüffel greifen, bas SUtfdi, ftatt es mit bem XlTeffer 3U
3erfdjneiben, nicfyt mit ben gäBjnen 3errei§en folt, ifl eine edjte
21nfianbsregel, benn bas (Segenteil erregt bemjenigen, ber es
mit anfielt, IDibemnllen. 2)ajj man bagegen, u>ie es bie
von <£nglanb auf ben Kontinent übertragene Sitte »erlangt,
beim <£ffen bie (Säbel tn ber linfen, bas UTeffer in ber rechten
£janb führen, beim ^ifdj bagegen bie (Säbel in ber rechten
unb sum gerlegen besfelben fiel? bes Brotes, nidtf bes XHeffers
hebxenen foH, ift eine unechte 21nftanbsregel, benn babei l^anbelt
es fid? nidjt um Hücfftdjten auf bie tEifdjgenoffen, [356] fonbem
um eine 5rage ber gtsecfmäßigfeit, roeld^e bem tnbit>ibuellen
(SErmeffen ebenfo überlaffen bleiben muß, tt>ie bie, ob man ben
töein unt>ermifd}t ober mit U)affer trinfen, im Sommer eine
fd)tx>erere, imlüinter eine leichtere Kleibung tragen tt>ill, als bie
Hücf ficfyt auf bie 3afyres3eit mit ftd) bringt Qa% ber Cänser bas
empfinblidje BaHfleib feiner Oberin nidjt mit bloßen £[änben,
fonbem nur mit Jrjanbfdjufyen berühre, ift eine edjte 2lnfianbs*
regel, alle anbeten auf biefen 2lrttfel ber Toilette besüglidjen
Regeln pnb unechte, ob jemanb fjanbfdjutje tragen tr>iH ober
nidft, ift feinem (Sutbünfen 3U überlaffen. (Es ifi ein Setzeis
Krttif ber Umgangsformen*
279
ber Kritiflojtgfeit, toelcfye in biefer 23e3tefyung fyerrfcfjt, unb
3ugleidj ber ^ei^I^eit, mit ber man jtd) fyer wie bei ber ZtTobe
5er Cyrannei ber Sitte fügt, baß biefe unechten 2tnftanbs«
regeln nidjt feiten mit größerer peinlicfyfeit beobachtet merben
als bie eckten.
Xüie fyaben fid? biefelben bilben unb <5eltung perfcfyaffen
fönnen? 7Xad\ meiner 2lnjtcfyt liegt ifynen basfelbe XfLotw 3U*
grunbe, toie ber XlTobe: bas 23eftreben ber 2tbfcfyeibung ber
höheren Stänbe von ben nieberen: fte bilben bas fonsentionelte
2lb3eidjen, bas Sdjiboletfy ber t>omefynen (Sefellfdjaft, unb
für jte, aber aucfy nur für fte ift ber 2tusbrucf : font>entionette
formen völlig 3utreffenb, Sie jtnb nämlich fo getr>äfylt, baß
ber gemeine Ulann fie nicfyt ober nietet oljne große ZHüfye
mitmadjen fann, gan3 fo toie bei ber ZTCobe. 2)er J^anb*
tserfer, Arbeiter fann feine langen Hagel tragen, jte 3erreiben
bei [357] ber Arbeit, folglich fein befferes Unterfdieibungs*
merfmal pon ttjm als möglidjft lange Zlägel! festere bilben
bas Seitenftücf 3U ben burdj bie getüaltfamften 2TCittel er«
3toungenen fleinen 5üßen ber oorneljmen (Oiineftn — ein
proteft bes Körpers gegen ben Perbadjt, baß fein Cräger
ben nieberen 5täni>en angehöre* Hur bie Cfyinefin, bie ftd?
in ber Sänfte tragen laffen fann, barf fteft biefen Cujus er«
lauben: bei ber 5rcm ber unteren Stänbe, bie ifyre XDege 3U
5uß machen muß, fcfyließt er fiel) t>on felber aus. Die fleinen
5üße ber <£l|inefinnen r>erfpotten tt>ir. 2lls ob bie ilblerflauen
an ben 5ingem bes (Europäers, bie ifyn als geidjen ber
Pornel|m^eit gelten unb ein giel feines <£fyrgei3es bilben,
etoas Befferes roären!
J)ie (Ojinefen Ijaben für eine gettnffe 2lrt ber Sitte ben
2lusbrucf füng, b. i. tt?tnb (S. \8<Q. (Er tt>äre roie gemacht
für bies Stücf Sitte. IPinbig ift bas ZlTotip, bem fte ent«
flammt: bie bloße Stanbeseitelfett, toinbig i^re Autorität,
unnbig i^r 23eftanb gug für gug bie UTobe. 3d?
280
Kapitel IX. Die fatale tfledjattiL Das Sittliche,
be$e\dine bte ifyr angefyörigen unechten 2lnjianbsregeln als
Kaprt3en ber Umgangsfitte.
Sie bilben nidtf bie einige Ungefyörigfett, auf ber toir
bie Sitte ertappen: bem §m>iel nacfy ber einen Seite jiefyt
pielmeljr ein ^utoenig nadj ber anbern gegenüber. <£s fefylt
md|t an 5äHen, in benen bie Sitte jtcfy f elber nntven txnrb
unb in Hacfygtebigfeit gegen eingetrudelte <Setx>oI|nfyeiten,
^errfcfyenbe allgemeine Steigungen, porübergefyenbe £aunen
Dinge bulbet, bie jte in Befolgung iB^rer [358] fonjiigen
(ßrunbfäfee pertr>erfen unb unterlagen müßte; 53eifpiele toerben
unten folgen. 3^ be$eid^ne biefe 5äHe ber 3nf°nfcquen3
ber Sitte, um im Flamen 3ugleicfy bas TXlotxv berfelben funb*
3ugeben, als Konnit>enjen ber Sitte; jte bilben bas (Segen«
ftücf ber obigen Kappen, beibe 3ufammen liefern ben Beweis
für bie 2?erbefferungsfäB)igfeit ber fyerrjcfyenben Umgangs-
formen.
2lHes aber, was jtcfy nacfy beiben Seiten E^iit an unferer
heutigen Umgangsfitte bemängeln lägt, erfdjeint perf d]u>in*
benb flein gegenüber bemjenigen, roas jtdt an i^r als gefunb,
ecfyt, probeljaltig ertoeift. Dat>on tx>irb uns ber X>erlauf ber
DarjieHung überzeugen.
\\) 2>ie UTaßjläbe ber feinen Sitte: #nftanb, JEjöf-
lidjfeit, Ca!t.
<£in einiger (Sebanfe, fagten roir oben, iji es, bem fämt*
licfye Umgangsformen unb alle Dorfcfyriften, tDelcfje ftdj auf
ben gefelligen Perfeljr be3iet|en, entftammen. <£ntjiammen
jte i^m «>ie ber Strom ber Quelle, ober roie bie 5ntcfjt bem
Samen, b. tj. iji ber Stoff, ben er aus jtcfj entlägt, eine Viel*
Ijeit ein3 einer bisparater Hegeln ober eine geglieberte (Einheit?
(Setoäfyrte ber Beicfytum ber fpradjlidjen 2lusbrüc!e einen
jtcfyeren 2tnljaltspunft, fo müßte unfer Stoff in ftd? außer-
orbentlicfy reidj gegliebert fein. 2lber bie meiften von iljnen jtnb
nur perfcfyiebene 2lusbrücfe für eine unb biefelbe PorfteHung,
Der Katton ber feinen Sitte*
2S\
bie Spraye hat es Bjter gemacht rote (Eltern, bte ihren Kinbem
bei ber Caufe tnele Hamen betlegen, [359] unb nirgends
vielleicht fyat fte bem Drange nach Häufung ber Hamen in bem
2TCajje nachgegeben roie tjier, tx>ofür ich auf meine früheren
fprachlichen Unterfuchungen sertoeife» Da ift es benn ge*
goten, fich bie 5rage ju ftellen, tseldje Hamen 3ufammen«
gehören, einen unb benfelben 23egriff 3um ZHittelpunft fyaben*
Die von mir in biefer Hichtung unternommene Unter»
fudjung Ijat mich 3U bem Hefultate geführt, baß bie Sitte
auf biefem (5ebiete nur brei felbjlänbtge Segriffe fennt, bie
fie je nach ber Derfchiebenheit ber nuancierung, toeldje fte
gerabe betonen toiH, mit serfchiebenen Hamen belegt Unter
biefen Hamen greife ich biejenigen heraus, um mich berfelben
fortan ausfchlteßlich 3U bebienen, bie meiner 2Infid}t nach bie
be3eichnenbften ftnb» (Es ftnb: 2lnftanb, Ejöflichfeit, Zatt
JDeldje anbere Hamen biefe brei Hamensträger fonft nod\
führen, unb welche 23egrtffsfchattierung burch fte ausgebrüeft
werben foH, toerbe ich feiner3eit bei jebem berfeben angeben»
Unfere nächfie Aufgabe befteht barin, bie Behauptung,
baß bie Sprache mit biefen brei 2Iusbrücf en in ber Cat brei
t>erfchiebene DorjieHungen perbinbet, 3U rechtfertigen» #m
leichteften gefchteht bies an ben Hegatipbilbungen: unan»
jiänbig, unhöflich, taftlos»
(Ein Kinb greift mit ben fjänben in bie Schüffei» Zfiit
welchen 2tusbrücfen wirb es ihm pon ben filtern üerwiefen?
Hicht mit „unhöflich", „taftlos", fonbern mit „unanjiänbig"»
Dasfelbe Kinb lägt einen Spielfameraben, [360] ber 31t ihm
gelaben ijl, fte^en, als ob es nichts mit bemfelben 3U fchaffen
habe, ober unterläßt es auf ber Straße, ben (5ru§ eines
Dorübergeljenben 3U erwtbern. Wie lautet hier ber Dorwurf ?
Hid)t „unanftänbig" ober „taftlos", fonbern „unhöflich"»
JDann 3ieht fich bas Kinb ben Dorwurf 3U, fich „taftlos"
benommen 3U liaben? Hiemals! Das Kinb fann feine
282 Kapitel IX. Die feciale ITCedjantf. Das Sittliche.
(Eaftloftgfeit begehen. Siefer Dorourf fann nur ben <£r*
roachf enen treffen. 2tnftanbs* unb Ejöflichfeitsregeln laffen
ftch bem Kinbe beibringen, aber es gibt feine „Caftregeln",
ber Caft geht über bie Hegel Ijincms; barauf beruht, tote
toir erft fpäter nachreifen fönnen, bas tDefen besfelben. XDiv
muffen alfo ben (Ertoachfenen 3U Jjilfe nehmen. 3ch rcähle
ein Beifpiel, bas ich einem Schriftfteller entnehme, ber ftch
3ulet$t über biefen Segriff h<*t vernehmen laffen*). <£in be*
f annter Dichter folgt ber Ceidje feines Paters ; von ben beiben
(Seiftlichen, toelche ihn geleiten, beginnt ber eine, welcher bie
Ceidjenprebigt 3U galten fyat, nachbem jte eine fur3e «gett
fdjtoeigenb hinter bem £eichenu>agen gegangen finb, ein <Se<
fpräch über IDilhelm ZHeifter, um t^n 3ur Abgabe feines
fritifcfyäfthetifchen Urteils 3U seranlaffen. Der Derftoß, beffen
er ftch bamit fchulbig machte, fiel u>eber unter ben <5efichts*
punft bes Unanftänbtgen, noch bes Unhöflichen — es ift
toeber unanftänbig noch unhöflich, über tDilhelm [361] ZHeifter
3U fprechen — aber er enthielt eine Caftloftgfeit; ein folches
(Befpräch paßte nicht in ben «gufammenhang ber Umftänbe
hinein.
211s 3tt>eites Beifpiel nehme ich &en 5<*Q, &aß jemanb
einem anbem einen 33efuch macht 3U einer geit, n>o berfelbe,
une er fieht, in groger (£ile ift, 3. 23. in eine Sifeung, ins
Ködert tt>ill. <£r muß ftch fagen, baß er für feinen 23efuch
nicht bie richtige geit gewählt h<*t, baß berfelbe in biefe
5ituation nicht paßt; fühlt er bas nicht, fo ift er taftlos,
obfehon er es in be3ug auf 21nftanb unb ^öflichfeit in nichts
hat fehlen laffen.
Damit glaube ich meine Behauptung, baß bie Sprache
mit jenen 2tusbrücfen brei, ich B>tö 3unächft noch nicht fagen:
Segriffe, fonbern bloß Dorftellungen (Cypen, ZHaßftäbe bes
*) ^a^avnSf Das £ebert ber Seele, BD. 3, 2lufT» 2, (882, 5.2*.
anftcmb, ^öfitdjfett, Haft
283
gefeUfdjaftlidien Benehmens) perbinbet, bewiefeh 3U traben,
unb bamit ijl bie fprad?lid?e Unterlage gewonnen , auf ber
unfere bemnädjjHge Unterfudjung fort3ubauen haben wirb.
3ft ber Schlug Pom XTegatwen auf bas pofitioe begrünbet,
fo fydben wir bamit bie brei oben genannten 2tTaj$ftäbe er*
galten: 2lnjlanb, Qöflidtfeit, Caft.
2lber bamit tfl ber Beweis, baf$ bie Sprache nietet nodi
anbere XlTaßjlcibe bes gefellfdjaftlidjen Benehmens fennt, nod?
feineswegs erbracht €r fe&t meintest ben Zladjweis voraus,
baß fämtlidie anbere 21usbrücfe, weldje bie Sprache fonft
nodj befifet, einem ber brei burefy jene 2Iusbrücfe umfdjriebenen
Dorftellungsf reife anheimfallen. 3n wirflidj ftringenter IDeife
lägt jtdj biefer [362] Beweis nur auf begrifflich eliminierenbem
IDege erbringen, b. h» inbem wir 3unädjft bie Dorftellungen,
welche bie Sprache bei jenen brei 2lusbrü<f en por 21ugen fyat,
auf bie 5orm prä3tfer Begriffe 3urücf führen unb fobann bar*
tun, baß für einen weiteren Begriff fein Haum übrig bleibt.
3ch gebenfe biefen Beweis auf fprachlichem IDege t>or3u*
bereiten, inbem ich bie 3nt>entur ber Sprache aufnehme unb
ben gefamten IDortfchafe berfelben nach XHaggabe ber brei
angegebenen Dorftetlungsf reife 3ufammenftelle.
Dem Dorßellungsf reife bes 2tnftanbes geboren an: 2ln«
ftanb, Deforum, anftänbig, unanfiänbig, fdjicflich,
unf cfyicf lieh, 3iemlich, un3iemlich.
Dem DorfteHungsfretfe ber Ejöf lichf eit: t^öflid], auf»
merffam, entgegenfommenb, 3UPorf ommenb, rücf«
fichtssoll, artig, t>erbinblich, galant, freunblich,
liebenswürbtg nebfi ben von ihnen gebilbeten Sub«
ftantwen: ^öfltdjfeit, 2Iufmerffamfeit, 2lrtigfeit, £reunblid)feit,
Ciebenswürbigfeit, bie nicht blo§ oon ber perfon, fonbem
aud) von bem 21fte gebraust werben (jemanbem eine 2lrtig-
feit, 2tufmerffamfeit ufw. erweifen). Sobann bie Regatta*
bilbungen: unhöflich, unaufmerf f am, un f reunblich,
284
Kapitel IX. Die feciale UTecfyamf. Das Sittliche*
unartig, ungalant, unliebenstDÜrbtg nebft unge3ogen
unb grob.
2) em DorfteHungsfreife bes (Eaftes: taftsoll, bisfret,
befcfyeiben, paffenb*), angemeffen, taftlos, [363] in«
bisfret, unbefcfyeiben, läftig, 3ubringltdj, breift, un*
paffenb, unangemeffen, ungehörig.
3) ie meiften ber aufge3äfylten 2lbjefth>a roerben von ber
Sprache in boppeltem Sinne gebraust: im objeftben 3ur
Ct|arafterijterung bes 23eneljmens**), im fubjefttoen 3ur
(E^arafterifterung ber perfon, 3. 23. Ijöflidj, grob, taftpoH,
artig, einige bloß im objeftben Sinne, 3. 23. fcfyicflicfj, paffenb,
unangemeffen.
2lHerbings fennt bie Sprache auger ben fyer aufge3ä^Iten
JiusbrüdF en noefy eine ZHenge anberer, bie fte 3ur (Eljarafteri«
fterung bes gefetlfdjaftlicfjen Benehmens rerroenbet. Hm un-
begrünbeten (Einroenbungen, bie man ifyten etroa entnehmen
mochte, t>or3ubeugen, rufe icfy bem £efer in bie (Erinnerung
3urücE , baf$ meine Dreiteilung ftcfy nur auf bie Umgangs*
formen, b. Ij. nur auf bas äußere 23eneljmen be3iel}t, unb
aud\ auf biefes nur infotx>eit, als basfelbe burdj §tt>ecfe bes
Umgangs, b. lj. burefy Bücfftditen auf anbere geboten tji.
21us bem Umfreis unferer Betrachtung fcfyeiben nidjt bloß bie
moralifdien <£igenfcfyaften aus (3. 23. boshaft, fripol, eitel,
$0*3), fonbern auefy biejenigen, tDeldje $wav ber Sitte ange»
^ören, aber nicht ber frembnüfetgen, fonbern ber felbjlnüfeigen
(S. 229). Dahin s&fyUn in erjier Cime Sittfamfeit bei ber
[364] 5rau, IDürbe beim 21Tanne***). 3n be3ug auf beibe
*) paffenb unb unpaffenb u>irb ungenau audj vom 2Jnfianbe ge*
brauet, feiner urfpriingltdjen, flnnlicfyen 23ebeutung naa? gehört es bem
DorfteHungsf reife bes Caftes an {was in bie Situation fynein pa£t)>
uue bemnädjft (Hr. J5) ge3etgt werben fotf.
**) Über biefen 21usbrucf unb über tPefen (♦ & 27 ff* äquivalente
21usbrücfe finb betragen, 2Iuffül|rung.
***) Cicero de ofiic. I, 36: venustatem muliebrem ducere, debenius,
tfnjiaitb, Qöfltyfett, Caft*
285
gebraust bie Sprache ben ilusbrucf: öenefynen, Betragen,
tDefen, jte toeift biefe <£igenfd?aften alfo ber Sitte, nidjt ber
XHoral 3U, unb fie bringt aud} jte unter ben (Sejtcfytspunft
bes Xnftanbes* 21ber bas TXiotxv, u>arum bie Sitte fie t>er*
langt, liegt in ber perfon felber, an roeldje jte bie 2lnforbe<
rung rietet, nidjt in ber perfon besjenigen, mit bem jte
perfe^rt, m. a. XD. jte enthalten feine pojhxlate bes Umgangs,
auf bie tt>ir uns ja bei ber Cfyeorie ber Umgangsformen
aHein 3U befdjränfen l^aben. 2>er befte 23eu>eis bafür liegt
barin, ba§ ber ZHangel biefer fiigenfdjaften ben Umgang
nid|t bloß nidjt erfdjioert, fonbem umgefefyrt, inbem er eine
Scfyranfe ber persönlichen 2lnnäljerung fyimt>egräumt, fogar
erleichtert.
XHan barf biefe Stusfdjeibung ber felbffnüfeigen t>on ben
frembmifeigen 21njtanbsregeln, bie ben obje!tioen gefeUfdjaft'
liefen §roe(f berfelben 3ur (Srunblage I?at, md?t [365] mit
ber ^rei^eit bes Spielraums bemängeln, ber bem fubjeftioen
TXlotive bei i^nen geöffnet tfi, ba§ man nämlidj beibe fotoobl
feinet* als ber anbern toegen befolgen fann. 21uf biejen
<£imr>anb habe idj bereits oben (S. 230, f* audj S* 2^0) ge*
antwortet, er beruht auf ber fo oft betonten Petoediflung
bes XITotips mit bem gu>e<fe.
Dem im obigen erbrachten 23etr>eife ber brei burdj unfere
dignitatem virilem. IHan fonnte fagem was Sittfamfeit für bie^rau,
tft VOütH für ben Xttann, fie bofumentieren, ba§ beibe wie bte Sprache
ftdj ausbrüeft: „ettsas auf fidj galten"* Unter ben (Seftd?tspunft einer
21nforberung ber felbftnüijtgen Sitte fällt audj bie Behauptung ber
Fialen Stellung; fie mug vom Subjeft ntd/t feiten mit großen (Dpfern
erfauft werben* 21uf bem (Sebtete ber IHoral entfprtd^t ben betben ge*
nannten Begriffen ber Sitte bie (Efyre: Behauptung bes eignen IPertes
im ^anbeln (cXfyarafter) im (Segenfatj 311 ber burdj bas Benehmen
(tDefen)* Hur in öffentlichen Stellungen nimmt bte Behauptung ber
IDürbe, ber f<>3talen Stellung, ber <£tjre einen anbern über bas 3"tereffe
bes Subjefts hhtausgehenben C^arafter an, fie gehört fner 3U ben
pflichten, meldte bas 21mt mit ftd? bringt»
286 Kapitel IX. Die feciale XHedjamf. Das Sittliche*
Stiditoottc: 2lnftanb, fjöflidjfeit, tEaft gef enteigneten Por*
fteßungsfreife ber Sprache nmrbe fidj nunmehr ber Derfud)
an3ureifyen haben, bie fpradjlicfye Dorftellung 3m: 5orm bes
Segriffs 311 ergeben. 3m folgenben foH berfelbe jebodj nur
in bc3ug auf ben (Begenfafe t>on 2tnftcmt> unb Ejöflidtfeit
unternommen u>erben, tue genauere 33egriffsbeftimmung bes
Saftes behalten wix ans (ßrünben, bie bemnädjfi erhellen
werben, einer fpäteren Stelle t>or (Ztr. \5).
XTirgenbs tnelletdjt ift ber Perfudj einer 33egriffsbejKmmung
mit folgen Sdjtoierigfeiten oerbunben als in be3ug auf bie
Porfteßungen ber Sitte, unb man möchte faft in ben 2tusruf
von Cicero ausbrechen, ben er bei (Selegenljeit ber Segriffs»
beftimmung von XDürbe unb 2Inftanb tut: ber Unterfcfyeb fei
mefyr 3U füllen als 3U formulieren*).
(Slücflidjenseife perfyält es fid} mit unferem (ßegenfafee
n\d\t fo fdtlimm, er laßt jtdj mit einer Klarheit [366] bar«
legen, bie meines (JEradjtens hinter ber ber juriftif djen 23egriffe
faum 3urücf bleibt. <£s roirb ftcf? 3eigen, baß lefetere bei biefer
(ßelegen^eit brauchbare Dienfte 3U ertoeifen vermögen, bas
J^anbtx>erfs3eug ber 3uriften t|at babet roieber einmal feinen
JDert erprobt
H?ir nehmen unfere obigen 23eifpiele auf (£♦ 28\). 2)as
Ktnb greift mit ben ^änben in bie Schüffei, es betjanbelt
feinen Sptelfameraben unfreunblich* Steden beibe 5äüe ftch
gleich? ZTeinI 3m 3ix>eiten 5aüe richtet jtch ber Derfloß
gegen eine beftimmte perfon, im erjien nicht Sinb noch
anbere Spielfameraben amsefenb, fo fann bas Kinb gegen
ben einen freunblidj, gegen ben anbern unfreunblid? fein,
basfelbe ^at es mithin in feiner J}anb, feinem benehmen
eine perfönltche Htchtung 3U geben* 3m wflen 5aüe bagegen
*) Cicero de offic. I, 27: qualis autem differentia sit honesti et de-
cori, facilius intelligi quam explanari potest.
Slnjtanb abfolut — ijöfltcr/Feit relativ
287
fjat es bies nicfyt in feiner 2Tiad)t, es fann bie Unfcfyicflidifeit,
feie es begebt, nicfyt gegen eine ein3elne ber amsefenben per*
fönen fefyren, es begebt fie fd}led)ti)in. 23et allen Jlusbrücfen,
bie bem DorfieHungsfreife ber ^öflidjfeit angehören, fann
man fragen: gegen tx>en? 33ei benen, tseldje bem bes 2tn*
jlanbes angehören, fann man biefe 5rage nidjt [teilen* Zltan
iji Ijöfltdt, 3ut>orfommenb, aufmerffam, unge3ogen, grob ufn\
gegen jemanben, aber man ift nicrjt anftänbig ober unan*
ftänbig gegen jemanben, fonbern man ift es fdilecfittjin. <£ine
2trtigfeit, Jlufmerf famfett, Ejoflidtfeit, fann man jemanbem
ertx>eifen, aber bas 2Inftänbige, Scfyicflicfye, giemlictje er*
toeift man nicfyt, fonbern man tut es*
[367] Damit I^aben mix ben erften unb ti'odift wichtigen
Itnterfdjieb beiber 23egriffe fonftatiert, es ift ber bes 2tbfo*
luten unb Heiatipen. Der 3urift roürbe in ber befannten
Cerminologie bes römifcfyen Hecfyts itjn fo toiebergeben fönnen:
bie (ßebote, pflügten, Kücf fiepten ber fjöflid^feit ge^en in
personam, bie bes 2tnftanbes in rem*)* Die probe für bie
*) (für bas Derjtänbms bes £aien füge td? folgenbes fjmju: Der
2lnfprudj bes Käufers aus bem Kauffontrafte trägt bie (form einer
actio in personam an fid?, b* fy* er get^t gegen ben Derfäufer, unb nur
gegen ifyn, nidjt gegen ben Dritten , bem jener ettca fontraftsaribriger-
tretfe bie Sadje gefdjenft, r>erfauft, nerpf änbet rjat. Die prc^effualifdje
Signatur biefer relattoen Befdjränftrjeit bes 2lnfprudjs beraub bei ben
Hörnern in ben IDorten: »dare facere oportere« — bas oportet im-
pli3tert in ber Sprache bes pro3effes bas OToment einer 3um fyaribtln
r>erpflicr/teten perfom Die Klage 3um «gweefe ber Verfolgung bes (Eigen-
tums bagegen trägt bie (form einer in rem actio an fidj, b* fy* fEe gerjt
gegen jeben, ber es üerletji Die pro3effualtfdje Signatur biefer 2Jrt bes
2lnfprudjs beftanb in bem ttfort >esse« (rem meam esse) — bas >esse«
brüeft in ber Sprache bes römtfef/en pro3effes bas 2XbfoIute, bas oportere
bas Helatice aus» Dag auefj im (enteren (falle bie Klage ftd) gegen
eine perfon richtet, ijt felbfiüerftänblid? unb fielet bem (Sefagten nidjt
entgegen. Die Verlegung bes Hechts 3tet^t allerbings audj beim abfo*
luten Hedjte bie perfon bes Derlefeenben mit rjmein, allein bem 23e*
griffe besfelben ift bie perfon fremb, n>är|renb fte bei ber (Obligation
288 Kapitel IX. Die feciale IKedjaniF* Das Sittliche*
Hicfytigfeit tiefer 23egriffsbeftimmung befielt barin, ba§ jeber
es in feiner fjanb fyrf, in einer (Sefellfcfyaft gegen bie eine
perfon Ijöflid}, 3ut>orfommenb, gegen bie anbere unfyöflidt,
unfreunblicfy 3U fein, u>äfyrenb [368] er bies in be3ug auf
bie 23eact?tung ber (Sefefce bes Unfianbes nidjt in feiner 2Tfad)t
Ijat IDer betrunfen in einer (SefeUfcfyaft erfcfyeint, t>erlefet
bamit bas Slnftanbsgefüfyt fämtlicfyer 2Inn>efenben, er t>ergeljt
fiefy »in rem«, er fann feinem üerfloße nidjt bie Bidjtung
gegen eine beftimmte ein3elne perfon geben. 3)a§ eine gegen
eine ein3elne perfon serübte <5robfyeit alle anbeten 2tmx>efenben
perlenen fann, fte^t bem nicfyt entgegen, fyer liegt ber 5<*Q
einer Konfurren3 ber Übertretung 3tt>eier (ßefefee x>or: ber
Ejöflic^feit (gegen ben unmittelbar Betroffenen) unb bes 2tn*
ftanbes (gegen bie unmittelbar betroffenen geugen bes 21ftes).
<£benfou>enig tut ber Bicfytigfeit ber obigen SegriffsbejHmmung
ber fjöflicfjfeit, ba% fte fiefy gegen bie perfon rtdjte, ber Um*
ftanb 2tbbrudj, ba% bie burefy bie Unl|öflid}feit betroffene
perfon nicfyt blo§ ein ein3elnes 3n^iü^uum/ fonbern eine
gan3e (ßefeUfc^aft fein fann, roie es 3. 33. bei jemanbem ber
Soü fein txmrbe, ber als Witt erft erfdjeinen toollte, nac^bem
feine fämtlicfyen (ßäfte fiefy serfammelt Ratten, ober ber, toenn
er genug an iBjnen Ijätte, fte gefyen Reißen toollte. <£benfo
bei einem Hebner, ber t>on ber Cribüne fyerab ber gan3en
Derfammlung <5robfyeiten fagen toollte.
2T£it bem <5egenfafc bes 2lbfoluten unb Selatisen fielet im
engften gufammenfyange ein 3tt>eiter: ber bes pofitisen unb
2Tegatit>en. 3)ie formen bes 2tnftanbes pnb negativer,
bie ber fföflicfyfeit pojttiser Statur. Die oben 3ur Erläuterung
nottsenbig tfi HTan fann ftd? bas (Eigentum benfen oljne eine perfon,
bie es r>erlet$t, bie Obligation nidjt ofyne ben 5d?ulbner.
(Ebenfo t>ert|ält es ftd? mit 2lnfianb unb fjöflidjfeit Dem Begriffe
bes 2lnftanbes ift bie perf online ^^iefyung fremb, bem ber fjöfüdjfeit
tDefentlidj.
21njtanb negatitn — l^öflicfjfeit pofltip.
289
bes erften <5egenfafees I|erange3ogene [369] parallele bes
Hechts bleibt uns audj I|ier 3ur Seite: bas abfolute Hedjt
bes (Eigentums begrünbet lebiglidf bie negative Derpflidjtung,
es nicf|t 3U verleben, bas relative ber Obligation bie pojttive
Derpfficfytmtg, jte 3U erfüllen. So audj 2tnftanb unb I}oflicfc
feit. ü?ie bas Bedjt ben Scr?u& bes (Eigentums lebiglidt
burd? Derbot vermittelt, ebenfo bie Sitte ben bes 2lnftanbes,
bei beiben reidjt abftraft bas blojje Derbot bes gutvtber*
fyanbelns unb beim 3nbipibuum bas bloße Unterlagen aus.
iticrjt fo bei ber Obligation unb ber fföflidjfeit, jte forbern
vielmehr vom 3n&totöuum ein pofitives f^anbeln unb baffer
abftraft bie X>or3eid)nung beffen, tvas gefcrjefyen foH. Der
(Segenfafc ber Dorfdjriften bes Jtnftanbes unb ber f}öflicfc
feit entfprtdjt bem ber beiben praecepta juris bes römifdjen
3uriften*): alterum non laedere unb suum cuique tribuere.
Die Quinteffen3 alter Hegeln bes 2lnftanbes ift bas alterum
non laedere, b. Ij. bas Unanftänbige 3U unter laffen, bie ber
Kegeln ber £[öflidjfeit bas suum cuique tribuere, b. fy. ben
2lnfprudj bes anbem auf Beachtung ber üblichen Ejöflidjfeits*
formen 3U erfüllen.
Der <5ejtcrttspunft ertveift ftdj bei rveiterer Verfolgung als
äußerft fruchtbar.
Der Spielraum ber 2lbftufung bes rein negativen Begriffs
bes 2lnftanbes liegt lebiglidf nacfj ber negativen Seite fyn,
ber bes pojttiven ber Ejöflicfjfeit fotvofyl nadj [370] ber poft«
tiven tvie nadj ber negativen Seite, b. I). bie (ßrabationen bes
2lnftanbes treffen lebiglicfj bas Unanftänbige, bie ber l^öflicrj'
feit gleichmäßig bas Ejöflicrje rvie bas Unfyöflicfje. 3ft beim
2tnftanbe bas Hiveau bes 21nftanbes einmal erreicht, fo gibt
es barüber hinaus feine Steigerung. Heines IDaffer fann
mdjt mefyr als rein fein; befinbet fid) fein frember Stoff im
*) Ulptan m MO § J de J. et J. (|. \).
x>. 31? e ring, Der ^roecf im Hcd>t. II
19
Kapitel IX. Die fatale flTedjattif, Das Sittliche,
IDaffer, fo ift bie Heinheit erreicht, unb bamxi Ijat es fein
<£ube. Ztur bie Unreinheit bes IDaffers B|at (Stahe, es fann
meljr ober weniger unrein fein, fchmufeig, efelhaft, je nach
ZlTenge unb Befchaffenheit bes ihm beigemifchten fremben
Stoffes, (ßans fo beim 2lnftanb* 2lHe Hegeln besfelben l\aberx
nur ben einen gwed, bas Ungehörige, Schmufeige, €felhafte
fern3uhalten; Hein^eit oon allen biefen ungehörigen 53ei«
mifchungen, Korreftheit in be3ug auf 2tnftanb ijt bas äufjerfte,
bas fie erftreben; ift biefer ÜuHpunft ber 2Jbtt>efenheit bes
Ztegatipen erreicht, fo ifi bamit alles gefchehen, eine Steige*
rung unbenfbar, — man fann nicht in f|öl}erem (Stabe als
ein anberer, nicht in ausge3eichnetem (Stabe anftänbig fein,
bas 2tnftctnbige fennt feine (Stabe: feinen Komparatio ober
Superlatio, roohl aber bas Unanftänbige.
PöHig arxbets bei ber i}öflichfeit 2tls pojitioer Segriff
ift fie ber Steigerung nach 3toei Seiten h*n f^hi^ hirtftchtlich
ber pofüisen tr>ie ber negatioen, ihre Sfala gleicht ber bes
Osmometers, bei ber ber ZtuHpunft in ber ZHitte liegt mit
einem Spielraum bes ZHinus unter bemfelben unb eines plus
über bemfelben. Die Sprache h<*t [371] eine große UTenge
pon JDenbungen, um bie 2lbjhifungen nach beiben Seiten hin
3u d\ataf terifieren : unliebensttmrbig, unfreunblich, unhöflich,
unartig, berb, rücfftchtslos, unge3ogen, grob — höflich, artig,
aufmerffam, 3Ut>orfommenb, entgegenfommenb, gefällig, per*
binblich, freunbltch, liebenstoürbig, h^lich« 2lls ZTutlpunft
ber Sfala liege fich bie gemeffene, fühle fjöflichfcit be3eichnen
— bie gemeffene: bie nichts roeiter gibt, als bas burch bie
üblichen Ejöflid^feitsformen unerläßlich gebotene UTajj; bie
fühle: bei ber bas I}er3 als oöHig unbeteiligt fühl unb falt
leibt, ber <5efrierpunft bes i^ens, bem bes Chermometersb
r>ergleid?bar. Unter biefem Ztullpunft hört bie ^öflichfeit
auf, fie tr>irb 3ur Unhöflichfeit, Unge3ogenf)eit, über bemfelben
beginnt ber Spielraum bes plus. Den äußerften punft in
Die fjöfltdjfett, — Der Spracfjfcfyats*
29*
jener Hichtung be3eichnet bie Unge3ogenhett, (Grobheit, ben
äußerften in biefer bie 5reunblichfeit, Üteiglichfeii.
Die 21bftufungen innerhalb biefer 5fala ber I}öflid?feit
haben für meinen groecf fein 3ntereffe, mir genügt bie (Tat*
fache, baß ftch bie Stala bes 2lnftanbe5 nur nach ber nega-
tiven, bie ber f^öflidtfeit auch nach ber pofttisen Seite fyn
erftre<f t. Dagegen bieten mir einige ber obigen für bie ^8f*
lidtf eit namhaft gemachten tDenbungen ein roertootles XHaterial,
um ben (5runb3ug bes poftth>en, ber fte von bem 2Inftanbe
abgebt, in ein Ijelleres Sicht 3U fefeen, als es mir im bis-
herigen möglich tx>ar; rr>ir sollen aus ihnen bas fprachlidje
23ilb ber höflichfeit 3ufammenfefeen.
[372] Die Sprache 3eichnet uns in biefen IDenbungen bie
höflichfeit nach 3tx>ei Seiten hm: nach feiten beffen, ber fte
ertoeift, unb nach feiten beffen, bem fte erroiefen u>irb.
Xladi ber erften Seite Ijin toirb bas benehmen bes höf-
lichen burch bie Sprache in boppelter IDeife charafteripert:
äußerlich unb innerlich.
äußerlich. Da3u bienen bie JDorte: aufmerffam, ent-
gegenfommenb, 3M>orfommenb.
Der Ejöf liehe erroeift uns eine „21ufmerffamfeit", b. h* &
„merft auf uns", er 3eigt, baß ihm an uns ettoas liegt, er
„bemüht" ftch für uns (anerfannt in ber befannten höflich-
feitsphrafe: „bemühen Sie fich nicht")* auf jemanben
merft, „beachtet" ihn, bas 23e*achten aber ift bas Richen bes
Wichtens, ber 2ld]tung — u>en man nicht achtet, ben beachtet
man nicht, um ben „fümmert" man ftch nicht, man ignoriert
ihn. Zlimmt man ihn immerhin auch mit bem 2luge tx>ahr,
roenn er ftch gerabe im (ßeftchtsfreife beftnbet, fo fteht bas
21uge ftch nicht nach ihm um, es nimmt auf ihn feine „Hücf-
ficht". Jlufmerffamfeit, Sichtung, Hücf ficht fnüpfen an eine
unb biefelbe Dorftellung an: ber anbere ift (ßegenftanb ber
21bftcht, einer abftchtlichen Beobachtung.
Kapitel IX. Die feciale IKecfyattif* Das Sittliche*
<£in anbetes 2?tlb, bas bie Spraye bafür t>eru>enbet, ifl
„5Ui>orfommenb'J, „entgegenfommenb" (prdvenant), 2>asfelbe
[priest für jtch felbfl: ber J[öf liehe lägt ben anbern nicht erft „an
ftd? heranfommen" er ift nicht „3urücfhaltenb, [373] refertnert",
fonbem er fommt ihm auf falbem IDege entgegen, ober,
tsenn berfelbe etwas 3U h<*ben toünfcht, fommt er ihm 3ut>or
unb reicht es ihm, er fud^t ettoas für ihn, bas er ihm biete
(„ausgefuchte" Qöflichfeit). Überaß roieber^olt jtch in bie[en
IDenbungen bie Dorftetlung bes Sichbemühens um ben anbern,
3nn erlief tmrb bie Qöflidjfeit djarafteriftert burch bie
IDorte: gefällig (complaisant), freunblich, 1^3^ — <5efällig*
feit, £reunblichfeit, £}er3lichfeit (gefällig unb <5efäHigfeit
gehen auf ben &we<S, bie anbern iüorte auf bie (Sefmnung.
2)er (Befällige h<*t ben gtseef, bem anbern 3U gefallen ba*
burch, baß er ihm ettoas „2Ingenehmes" eru>eijl (baher bie
Lebensart ber Dulgärfpradje: „ben Angenehmen fpielen", unb
agrdable im 5ran3§ftfchen == höflich), er fytt babei ebenfofetjr
fici7 im 2luge als ihn: er toitt f elber (ßegenftanb bes lüo^I»
gefallens in beffen 2lugen tx>erben, unb 3u>ar baburd?, baß
er ihm tt>ohl*tut. freunblich brüeft bie £janblungsn?eife bes
5reunbes aus, bem es nicht um ftch, fonbem um ben anbern
3u tun ift. fje^lich, baß bas £jer3 babe; beteiligt ift, — bie
Cransparen3 bes ^er3ens in ben äußeren formen. 2TCit bie[er
(ßeftnnung geht bie I}öflichfeit bereits in bas ZHoralifche über,
toäfyrenb fie, folange fie ftch bloß auf bie Beobachtung ber
äußeren hergebrachten form befchränft, ftch noch innerhalb
ber Sitte beroegt.
itach ber 3tt>eiten Seite, nach feiten beffen, bem bie ^of«
lichfeit erliefen unrb, liebt bie Sprache 3tt>ei Zftomente [374]
heroor, einmal bie 2trt ber pfychologifchen <£imr>irfung auf
ihn unb fobamt bas ZHoment bes Derpjlichtenben. <£rjteres
burch bie präbifate: frgeit>innenb, einnehmenb, einfchmeichelnb,
inftnuant", lefeteres burch bas präbifat: „t>erbinblich" (obligeant,
21nftcmb — Sdjetit bes pofttfoem
293
engageant, entfprechenb ber 3)anffagungsphrafe „fehr t>er-
bunben'') unb „liebensroürbig". Vev £iebenstoürbige t^at uns
„etoas 3uliebe getan", eine £iebe aber iji ber anbern u>ert;
rt>ir erf ennen ben (ßegenanfpruch auf Siebe an, inbem tx>ir
ihn für „liebenstoürbig" erflären.
£>on aßen biefen für bie f}öflichfeit aufgeführten 2tus*
brücfen fmbet fetner auf bie öefolgung ber (5ebote bes 2ln*
ftanbes 3lnroenbung. 3)er ZHann bemüht ftch nicht für uns,
er fdjenft uns feine befonbere 2lufmerffamfeit, ermeijl uns
feine (gefälligfeit, er tut nur, roas er muß: er befolgt bie
(ßefefce bes 2tnftanbes, gan3 fo txue ber jenige, ber feinen
(Eingriff in unfere <£igentumsfphäre oornimmt, bie bes Hechts.
Datum ßnb u>ir ihm auch 5** feinem Danfe verpflichtet, eben»
fotoenig roie bem jenigen, ber uns nicht beftiehlt.
Die l\\et serfuchte gurücfführung bes (ßegenfafees von
2lnjianb unb fjöflichfeit auf ben bes ZTegatfoen unb pofitioen
ließe ftch in folgenber IDeife bemängeln, 2lnch bie Hegeln
bes 2lnftanbes fchreiben für ein3elne 2tfte eine pofitise 5orm
ihrer Dornahme t>or, 3. 23. für bas <£ffen ben (gebrauch ber
(Säbeln 3um Pehmen unb ber HTeffer 3um gerfchneiben an
Stelle ber Ringer unb gähne, beren fich [375] ber IDilbe
bebient. 2tlfo boch etwas pojtttoes beim Tlnftanb, nxdit bloß
bas rein ZTegatir>eI
2)er €inn>anb erlebigt jtch burch bie Semerfung, baß bas
pojttioe l\\ev nicht feiner felbft tx>itten ba iji, fonbem um bas
Unanftänbige fern3uhalten, es t^at bie 5unftion einer Negation
ber ZTegation. <£s liegt h^r Verhältnis x>or, welches
Schopenhauer fälfchlich für bas Hecht annimmt, bas ihm
3ufolge feinen Dafeinsgrunb nicht in jtch f elber trägt, fonbem
feine &>ur3el im Unrecht ha*- €s finb pojttise Segriffe aus
negativer Ü?ur3el, bas pojttive im Dienjie bes Negativen*).
*) £etn 2nxxftm nenne idj als ein für bie Deranfdjaulidjung bes
(Segenfatjes geeignetes 33eifptel bie Bona fides bei ber (Erjitjung* Sie
Kapitel IX. Die foiale medjanif* Das Sittliche*
Um bie Jlmpenbung auf bas obige Scifpiel 3U machen, fo
ftnb 2Tfeffcr unb (Säbel nicht ihrer felbft tpegen ba, fonbern
um uns ben fimbruef bes Unreinltdjen, Unfaubern, Cterifchen,
fur3 bes ilnftößigen, ben bas €ffen mit ben Ringern unb bas
gerreißen mit ben gähnen auf uns macht, 3U erfparen. 2ln*
genommen, baß tpir baran feinen 2tnftoß nehmen, fo tpürbe
ber (gebrauch pon Keffer unb (ßabel aufhören eine 5orbe«
rung bes 2tnßanbes 3U fein unb eine frage ber bloßen £>n>ed*
mäßigfeit u>erben, mit bem ^inmegfaßen [376] ber 2Inflö§ig*
feit bes Hegatipen tpürbe I^ier bas lebiglich 3U einer 2lb«
toehr beftimmte pofttipe feinen Sinn unb feine Berechtigung
einbüßen.
ZXodi eines anbern <£imt>anbes fehe ich mich genötigt 3U
gebenfen, baß es nämlich unter Umjiänben 3tpeifelhaft fein
fann, ob eine Perlefeung bes 2lnftanbes ober ber ^öflicfyfeit
vorliegt. 3$ 9*&* ben <£impanb 3U, er betpeift aber nur,
baß ber <5egenfafe flüfjtge (Breden h<*t, eine (Erfcheinung, bie
ftch bei un3ä^Iigen 2)ingen unb Segriffen tpiebertjolt, bie uns
aber gleidjtpofyl nicht abhält, biefelben 3U unterfcheiben.
3)er begriffliche (Segenfafe 3tpifchen 21nftanb unb fjoflich«
fett bürfte mit bem Bisherigen außer gtpeifel gefteüt fein.
Der (ßegenfafe aber ift fein bloß begrifflicher, fonbern 3ugleicb
ein realer, b. h* & läßt ftch auf empirtfehem IDege aus ber
Oerfchtebenheit bes Verhaltens ber Subjefte Qnbipibueu —
PSlfer) ihm gegenüber entnehmen. Bei Gelegenheit unferer
htftorifchen Untersuchungen über bie Umgangsformen tpirb
ber Ztachtpeis erbracht werben, baß 2lnjianb unb J^oflichfeit
lägt ftd? benfen als ein pofltto angelegter Begriff ober als Hegattott
ber Hegation ßlbn>efenf|eit von mala fides). Uadj biefem <5egenfat$e
ber Sluffaffung etttfdjetbet fld? bie Streitfrage über bas (Erforbernis einer
objeftben (aus bem Hergänge bes (Sefdjä'fts unb allen babex in ^Setvad^t
fommenben ITComenten 3U entneljmenben) Begrünbung ber bona fides,
im erfteren falle bebarf es berfelben, im 3u>eiten nidjt.
Anjicmb, *}öfltd}feit in pfydjologifdjer Stellung* 295
in ihrer gefchid}tlichen <£ntoicflung voeit auseinanbergehen,
bas Cempo beiber ift ein außerorbentlich üerfdjiebenes, 5U
berfelben S^it, h>o Jföflichfeit bereits erroachfen ift, befindet
ftch ber 2tnjlarxb noch in ben IDinbeln. An ber gegenwärtigen
Stelle erbringe ich ben ZTachtoeis meiner Behauptung in
anberer ZDeife. 3>ie Berufung auf bie Derfdjiebenheit, welche
in be3ug auf bas Verhalten ber 3^bipibuen 3U biefem (5egen<
fafe [377] obwaltet unb von bem jeben bie eigene Beobachtung
über3eugen fann, würbe wenig t>erfchlagen, man fönnte fie
mit ben oerfcfyiebenften <£inwenbungen bemängeln. IPenn es
mir aber gelingt, benfelben <5egenfafe für ganje V'oltev nach*
3uweifen, fo glaube ich bamit jebem Zweifel an feiner praf«
tifchen Healität ben IDeg verlegt 3U haben. Daburch wirb
berfelbe aus ber Sphäre bes fcheinbar ^fälligen, Begeltofen
in bie bes ZTotwenbigen, <Sef ermäßigen gehoben, es ergibt
fich baraus, ba§ ber (Segenfafc tiefere pfychologifche (Srünbe
haben, mit bem Charafter bes Subjefts 3ufammenhängen mujj.
3ch wähle bas fran3Öfifche unb bas englifche Volt Unter
ben mobernen Dölfern repräfentiert bas fran3Öftfche bas Ztlujler«
Dolf ber Ejöflichfeit, bas englifche bas bes Jtnftanbes. Strenge
unb anfpruchspoH ift bie englifche Sitte in be3ug auf alles,
was ber Anftanb erforbert, flrenger als ftreng, benn ber
Kobef bes englischen 2tnftanbes enthält gar manche öeftim*
mungen, bie t>or bem t>on uns oben begrünbeten ZtTaßftabe
ber wiffenfdjaftlichen Kritif bie probe nicht beftehen, unb bie
jtch nur als Kappen ber gefeUfdjaftlichen Sitte be3eichnen
laffen — Übertreibungen, Ausartungen eines an jtch *>oll*
fommen berechtigten, aber fyev 3ur franf haften Bei3barfett
unb prüberie gesteigerten (Sefühls, beren allgemeine Annahme
unb <5eltung fich nur burch bas oben r>on uns h^^»orge3ogene
ZHotip ber beabjtchtigten Abfcheibung ber h^h^n (ßefell-
fchaftsflaffeu t>on ben nieberen erflären läßt. Auch ber [378]
TXianxx ber höchjten (ßefeltfchaftsfreife bes Kontinents ijl, wenn
296 Kapitel IX. Die feciale XlTecfyamf. Das Stttlidje*
er bie eigentümlichen (ßefe^e bes englifdjen 2lnftanbes nicht
fennt, nicht ficher, burch irgenb etwas noch fo Unbebeutenbes
unb völlig Unverfängliches 2Inftojj $u erregen — er muß
fie erft förmlich ftubieren unb fich an bie englifche Sitte
erfl ebenfo getvöhnen, tote an ben englif djen ZTebel, beibe
erfchtveren ihm bas gewohnte freie 2ltmen. Zfian braucht
nicht 2Iuslänber 3U fein, um ben beengenben Qxnd ber eng*
lifchen Sitte 3U empfmben, ber (Empfmbung besfelben haben
fich auch bxe (Eingeborenen nicht 3U entstehen vermocht (3. 23.
Stuart 2TU11). 2lber anbererfeits bürfen tvir uns bodj ber
(Einfielt nicht verfließen, baß bie Übertreibung eines an ftdt
berechtigten (Sebantens nur bas Symptom für bie ZHacht ift,
mit ber er ben gan3en 2TCenfd]en erfüllt unb beherrfcht, unb
in biefem Sinne glaube ich bie Behauptung rechtfertigen 3U
fönnen, baß ber Sinn für bas Schief liehe unb ilnjiänbige
einen höchft anerfennenstverten unb hervorftechenben <£harafter«
3ug bes engltfchen X?oIfs bilbet, lefcteres lägt ftcf? vor allen
lebenben Dölfern gerabe3u als bas eigentliche ZHujlervolf bes
Jtnftanbes be3eichnen.
Was ein in irgenbeiner 23e3iehung befonbers beanlagtes
ober tätiges Dolf ZDertvoQes er3eugt, teilt fich auch ben
anberen mit, basfelbe ro'xxb nach biefer Seite hin ber £ehr*
meifter ber übrigen. 2>ies glaube ich *>on &en (Englänbern
in be3ug auf ben 2lnftanb behaupten 3U bürfen, tvie ich bie*
felbe Behauptung feinerseit in be3ug auf [379] bie höflich*
feit für bie Sxan$o\en glaube bartun 3U fönnen. 3^ &w ber
Über3eugung, baß ber gute Con ber feinen (Sefeßfdjaft bes
Kontinents in be3ug auf bas Schiefliche unb 2lnftänbige burch
bas englifche Porbilb nicht unerheblich beeinflußt tvorben ift,
in ein3elnen punften fogar in unberechtigter XDeife (S. 278).
3n ber nieberen Sphäre bes fontinentalen (Safthofslebens
fleht ber vorteilhafte er3ieherifche (Einfluß ber reifenben (Eng*
länber völlig außer «gtveifef.
€ngitfdjer 2Inftanb* — £ratt3Öfifd}e ^öfUdjfeit 297
Wenn ich bem englifchen VolU bas fran3Öfifche als bas
Jftujieroolf ber i}öflich?eit gegenüberfteüe, fo barf ich mir
rool^l jebes weitete XDoxt 3ur Begrünbung biefer Behauptung
erfparen. Qöflichfeit bilbet einmal ben fofort in bie 2lugen
fpringenben (Brunb3ug bes fran3Öjtfchen IDefens. Der gefunbe
Sinn bes fran3Öjtfchen Volts unb fein leicht bewegliches ZXaturett
^at ber Ausartung besfelben in jieife fchwer fällige pebanterie,
wie fte ben <£fcarafter3ug ber beutfehen fjöflichfeit bis gegen
€nbe bes vorigen 3ahrhunberts bilbete, vorgebeugt, bie
fran3Öjtfd}e i}öflichfeit h<*t bie feine (Sren3ltnie, welche bas
Natürliche oom (Semachten, bas 5*eie unb £eichte t>om €r*
3wungenen unb Schwerfälligen, bas 2tnmutige t)om (Sefchmacf«
Iofen unb Steifen f cheibet, nie überf dritten, bie Kun ji macht
bei ben 5ran3ofen ben <£inbrucf ber Ztatur. Dagegen ift
bie fran3Öjtfd]e Sitte in be3ug auf bas Schicfliche ungleich
toleranter als bie englifche* Der (Englänber, ber ben 5rctn*
3ofen mit feinem ZHagfiabe meffen wollte, [380] würbe in
biefer Be3ieB|ung manches an ihm aus3ufefcen liaben, wie
umgefehrt ber 5^n3ofe an ihm in be3ug auf bie I}5f*
lichfeit; beibe Ztationaltypen im Sichte bes anbern betrachtet
würben ein Defoit ergeben, ein Defoit, bas für ben Be«
urteiler wie für ben Beurteilten in gleicher XDeife charaf*
teriftifch ift.
TXlit ber bloßen Konftatierung biefes (Segenfafces ijl bas
3ntereffe, welches berfelbe für meinen &med barbietet, er*
fchöpft, ich ha&e bamit ben mir obliegenben Beweis geliefert,
ba§ Jlnjianb unb i}öflichfeit nicht blog begrifflich, fonbern
auch tatfächlich auseinanberfallen. Der Dölferpfychologie mag
es überlaffen bleiben, ber Anregung 3um weiteren feigen
unb Denfen, welche ber hier tietvovqeliobene nationale (Segen«
fafe in reifem IHaße in ftch fchließt, 5olge 3U geben. 3hr
weife ich bie Sxaqen 3U, bie jich mir bei ihm aufgebrängt
haben, benen ich obet nicht weiter nachgehen burfte, wie
298 Kapitel IX. Die feciale XHerijani?. Das Stttltdje,
3. B. ob nicht bie Ztatur ihren 2tntetl bavan fyat*), unb ob
nicht ber (Segenfafe jener beiben Dölfer fich erweitern läßt
3U i)em ber romanifchen unb germanifchen Dölfer überhaupt,
n?ie ich meinerfeits an3unehmen geneigt bin. Sollte nun ein
[381] (ßegenfafe, ber in be3ug auf gan3e Dölfer ftch nach*
tt>etfen lägt, nicht ebenfalls auch für bie 3nbit>ibuen feine
(Seltung l^aben? Ztach meiner (Erfahrung glaube ich bie
frage bejahen 3U fönnen, unb ich fnüpfe bavan ben Schluß,
baß Jlnftanb unb fjöflidjfeit auf x>erfchiebenen pfychologifchen
Porausfefeungen (HatureQ, (Semütsart) bafieren — jener ge*
beiht auch auf magerem, fühlem Soben unb im Schatten, es
ift bie f elbfrucht, beren ber ZTCenfch 3U feiner Ztotburft bebarf,
unb bie er auch bem minber guten Soben abgewinnt, biefer
verlangt einen fruchtbaren 23oben unb Sonnenfchein, es ift
ber IDein, ber über bie bloße Hotburft hinausgeht. Wo bie
ZTatur ben tDein t>erfagt, braut ber ZHenfch ftch fein 23ier
unb feinen 23ranntu>ein. — Steden nicht biefe (ßetränfe in
einem gettuffen Bapport 3U bem Naturell ber 23er>ölferung,
bie ftch ih^ hebient, unb bamit auch 3ur ^öflichfeit? Der
Cypus bes 2tltbayern ift ein gä^Iich anberer als ber bes
Bheinlänbers.
Damit h<*t meine <£nhx>i<flung bes <5egenfafees t>on 2tn«
ftanb unb ^Sflichfeit ihren 2Ibfd?Iu§ erreicht. 3ch faffe bas
(Sefamtrefultat in ben Safe 3ufammen: ber (Segenfafe betoährt
fich nach brei Seiten lim: ber fprach liehen — begriff liehen —
pfychologifchen.
3ch tt>enbe mich nunmehr ber genauen Betrachtung t>on
*) Der fomttge Gimmel franfreidjs, ber ben HTenfdjen ins freie
locft, ttjm ben Wein fytnM, ber bas I}er3 ber fröfyUd?fett erf d? liegt
unb 3ur (Sefelltgfett auff orbert, bie ja bie Sdjule ber ijöfltdjf ett iji. Der
ZTebel (Englanbs mit feiner (EmiPtrf ung, auf bie Stimmmtg, bie mfnlare
£age mit ber Sdjiffafyrt, bas einfame Sdjiff auf ber See mit fetner
3foUermt9 unb feinen tnoralifdjett (Einipirfnngen auf ben fllenfdjen:
(Ernfi, ftrenge £>ttcM pemlidje (Drbnung u. a. tm
plan bes f olgettbetu
299
Anftanb unb I^öfltchfeit 3U. <£s voixb bem Cefer befrembenb
srfcheinen, tr>enn ich babei auch bem Kleinften unb Unbe*
beutenbften meine Aufmerffamfeit ttubme, allein [382] für
meine gtoecfe ift basfelbe nicht Hein unb unbebeutenb, fonbern
ebenjo tt>ertt>oß u>ie bas (Sroße, ich möchte fagen: noch tt>ert*
t>oßer, Zltel^r noch als im großen erprobt fich bie Sriebfraft
i>es <5ebanfens im Keinen, mehr als im Zentrum in ber
Peripherie« (Serabe in ben äußerften Spifeen unb lefeten Aus-
läufern, in benen für bas ungeübte Auge jeber pulsfchlag
bes (ßebanfens $u erft erben fdjeint, ^at bie tx>iffenfchaftliche
Beobachtung ihren Sife auf 3uf dalagen, inbem fie ihn auch h*^
nachreift, gerabe bamit erbringt jte ben fdjlagenbften 23etx>eis
feiner <£jiften3, gerabe Ijier betx>etjt jte, ba§ it^r 33Iicf rpeiter
trägt, als ber bes flüchtigen Beobachters, baß jte allein bas
roahre Derftänbnis ber Dinge erfchließt — bas probeftücf
ber roa^ren ZDiffenfdjaft befteht barin, bag jte fich getraut,
mit ben großen (Bejtchtspunften, bie jte auffteüt, bis ins
fletnjie hw<*t>$ufteigen. (Eben barauf liabe ich es im folgenben
abgejehen, ich fexffe meine Aufgaben als bie bes Zoologen,
ber bas unffenfchaftliche 3ntereffe feiner Unterfuchungsobjefte
nicht nach (Sröjje bemißt, unb ber es nicht t>erfchmäht,
ben 3nfu[orien, Crichinen, (EingetDeibeumrmem biefelbe Sorg*
falt 3U3utr>enben, toie ben (Elefanten unb Büffelochfen — in
ben Augen eines Bauern mürben Iefetere allerbtngs ein u>ich*
tigeres ©bjeft ber Unterfuchung bilben! 3n biefem Sinne
roerbe auch ich bas fcheinbar Unbebeutenbfte unb Ztidjtigfte
in ben Kreis meiner Beobachtung 3iehen, nicht roeil ich ih™
an jtch einen IDert 3uerfenne, fonbern n>eil es mir ba3u bienen
foQ, bie [383] <5runbgebanfen in bas richtige £id?t 3U fefeen.
(Es iji eine am Kleinfien u>ie am (5rößten ftch erprobenbe
u>iffenfchaftliche Ch^orie ber tätigen ©cfe%« bes Anjtanbes
unb ber ^öflidjfeit, bie ich 3U geben gebenfe, unb bei ber
ich mit lüiffen nichts übergangen liabe; jebenfaös toirb jte
300 Kapitel IX. Die feciale ITCedjanif* Das Sittliche*
neben bem reichhaltigen 2Tfateriat, bas jte für fich heran3ieht,
bas sollftänbige 5achtserf von Kategorien liefern, unter
welches jtch auch dasjenige, toas fte ettpa übergangen h<*ken
fotlte, leicht toirb unterbringen laffen.
3n Befolgung ber im Perlauf meines gan3en Jüerfes
ftets beamteten HTayime: x>om fieberen 3um höheren auf*
3ufieigen, beginne ich mit bem 2Inftanb (Ztr. J2). Vermöge
feines oben nachgetoiefenen lebiglich negativen Charters
nimmt er bie nieberfie Stelle ein. 2)en 3u>eiten plaft (Ztr. \3, \ty
behauptet bie J^öflichfeit 2Hit ihr feigen n>ir x>on ber nega-
tiven 3ur pojttioen Kegel auf. 3)en Schluß bilbet ber Caft
(Hr. HTit ihm erheben mit uns x>on ber Hegel, b. h«
ber abftraft unb fchlechthtn formulierten Horm 3ur freien
inbiüibueQen <£rgän3ung berfelben burch bas in ihrer Schule
gebilbete fubjettioe (Befühl. Damit ift ber (Srunb angegeben,
roarum mir bie ZJegriffsbejlimmung bes Caftes 3unächjl noch
ausgefegt h<*&en; wiv müffen t>orher erfahren h<*&en, K>te
weit bie Hegel reicht, um 3U a>iffen, tx>o fie perfagt, unb wo
aus biefem (Srunbe ber Caft in bie £ücfe eingreifen l\at.
2)ie Heifyenfolge, in ber ich bie brei Segriffe aufgeführt
habe, beanfprudjt ben &>ert einer fchlechthtn 3utreffenben [384]
roiffenfchaftlichen Klaffiftfation berfelben. Zugleich ßetlt fte
in praftifcher 23e3tehung ben Kltmaf berfelben bar, einmal,
roas ihre JDertgrabatton für ben gefelligen Perfehr anbetrifft,
unb fobann in päbagogifdjer Ziehung in be3ug auf bie
Stufenfolge ihres allmählichen (Eintritts bei bem 3nbit>ibuum.
2)as erjie, roas bem Kinbe beigebracht roerben muß unb
erfahrungsgemäß beigebracht roirb, pnb bie elementaren
Hegeln bes 2tnjianbes, bas 3tpeite bie formen ber ^oflichfeit,
bas lefete, 3U bem es mancher niemals bringt, ber Caft.
\2) Der Jlnftanb.
Sämtliche Hegeln bes 2lnfianbes h^en ben negativen
£we<S, bas 2lnjiö§ige fern3uhalten, bie Cheorie bes 2lnftanbcs
Das 2lnftö§tge* — tlToment ber IPa^metimbarfeti Z0\
ift baher gleidjbebeutenb mit ber bes 2lnftö§igen. £efetere
hat brei punfte 3um (Segenftanbe: ben 23cgrif f f ben ZlTaf}*
ftab unb bie Kategorien bes 2lnftö§tgen.
0 Der Begriff bes 2lnpö§tgem
Die Sprache bebient ftd? ber 2lusbrücfe: Derftoß, 2lnftoß,
anflögig nur für bie Perlefeung ber (Sebote ber Sitte, nicht
für bie ber ZTtoval (S. 257). Das llnmoralifche ift als folches
nicht an ßöfcicj, aber es fann es, tx>ie unten ge3eigt werben
n>irb, baburch toerben, ba§ jtch bie Porausfefeungen bes 2lu«
ftößigen 5u ihm hi^ugef eilen.
Der Segriff bes 2lnftö§igen beruht auf 3toei ZHomenten:
einem inneren unb einem äußeren. <£rßeres befteht in feinem
bas (Befühl perlefeenben C^arafter, feiner innerlichen [385] Qua*
liftfatton, biefes in feiner äußeren IDahrnehmbarfeit, bar auf,
bafc es vor bem 2luge ber H)elt, vov Sengen geschieht.
Das erftere Zfioment ift bem 2tnftögigen mit bem Un«
moralifchen gemein, beibes oerlefet uns, nur in oerfdjiebener
XDeife bei jenem iji es bas Benehmen, bas toir tabeln, bei
biefem bas J^anbeln, jener Dorrourf trifft bas U>efen bes
ZHenfchen, biefer ben Cfyarafter (S. 29). U)ie fich bas 2ln-
ftögige t>om Unmotalifchen inhaltlich bes Genaueren abgebt,
muß ber fpäteren Darfteilung überlaffen bleiben, an ber gegen-
wärtigen Stelle, an ber es uns lebiglich um bie 5ejtjiellung
feines 23egriffs 3u tun ijt, fann bas (ßefagte genügen. Um
fo mehr toirb uns tyet aber bas 3toeite Moment, bas ber
IPahmehmbarfeit 3U fchaffen machen.
Die (Befefee ber XtToral gelten fchlechthin, für jte ift es
gleichgültig, ob ber Zltenfch, inbem er jte übertritt, fich in
(Befellfchaft anberer ober allein befinbet, — bas Unmoralifche
ftreift feinen (Zfyavattev baburch nicht ab, baß es bas Dunfel
auffucht. (5an3 anbers beim 2lnjiögigen. Dasfelbe tt>irb 3U
bem, toas es ijl, erft baburch, ba§ es t>or ben 2lugen ber
302 Kapitel IX. Die feciale IHedjantf* Das Sittliche*
Welt gefdneBjt, in (Segemoart anberer* <Sar vieles von bem*
jenigen, was bie (Sefefee t>es 2lnjianbes porjune^men per«
bieten, ifi an fiefy fotsenig 31t beanftanben, baß bie E>or*
nafyme besfelbeu burdj bas gioangsgefefe ber ZTatur ober
nne 3. 23. bte Heintgung bes menfdjlidjen Korpers burdj bie
(Sefefee bes 2lnjkmbes f elber geboten [386] fein fann. 3n
biefem Sinne ift ber befannte, melfacfy fo gän3ltdi serfeijrt
angewandte Safe n?al|r: naturalia non sunt turpia.
Der Portr>urf bes 2lnftößigen beruht alfo ntdjt rote ber
bes Unmoralifdjen barauf, baß es überhaupt gefdjieljt, fonbern
baß es t>or «geugen gestellt, benen roir ben 21nblicf Batten
erfparen fönnen unb foHen* Daraus, baß etoas gefdjefyen
muß, folgt nodj nidjt, baß es vor ben 2tugen ber IPelt ge*
f djefyen muß. Der Scfyaufpteler perridjtet basjenige, tr>as er
3U feinem Stuftreten auf ber 23üfyne nötig Ijat, im (ßarberobe*
3tmmer ober hinter ben Kuliffen. <ßan3 basfelbe gilt audj
für bas Auftreten in ber (ßefellfdjaft, bas publifum braucht
unb umnfcfyt basjenige, roas 3U bem gtoeef nötig tft, nidjt
mit 3U fe^en. ZTur ben J^ausgenoffen gegenüber ift in biefem
punft eine getoiffe 5reiljeit serftattet, bas 2tuge ber (Satten,
Kinber, (Eltern, Domeftifen ftetjt unb barf manches fetten,
was wxv ben 23licfen anberer perfonen forgfam servilen,
— es ift bte Steilheit bes Sdjaufptelers hinter ben Kuliffen.
21ber aud| bie $ve\heit ber Kuliffe fyat tfyre (Stenge, aud) bas
3nnere bes Kaufes unb bes i^milienlebens poftuliert fein
eignes (ßefefe bes 2lnjianbes, unb ein (Einftdjttger u>irb es
mit bemfelben eljer 3U fhreng als 3U lay nehmen, gleichmäßig
feinet* rote ber Seintgen toegen. Sdjledjte (ßea>ot|nt|eiten bes
Kaufes begleiten uns nur 3U leidet über bie Sdiweüe bes*
felben hinaus, ber 2tnftanb muß unfer Qausgenoffe fein, tx>enn
tr>ir jtdjer fein toollen, baß er uns audj außer [387] bem*
felben folge, 3n feinem punfte faßt es felbji bem <£rtr>adi-
fenen fo \d\wev, basjenige, was bie <£r3teljung bes Kaufes
Das 2lnßößta,e. — XHoment ber Watycnttynbattext 303
verabfäumt h<*t, fpäter nad^uholen, tote in biefem, bie Kinber
müffen nicht feiten bie fchlechten <5ewot|nheiten ber €ltem
fchwer hixfaen — ber Schlafrock in bem ber Dater bei Cifch
erfdiien, i)ie nachläffige Haltung unb faloppe Kleibung ber
ZTiutter fann ihnen unter Hmftänben im fpäteren £eben teuer
3u flehen fommen, es fann ein ZHinifter* ober präftbenten*
poften barüber verloren gehen.
So folgt uns alfo bas (Sefefe bes 2tnftanbes felbjt bis in
bas 3nrierjte bes Kaufes unb bes 5<atnilienlebens hinein» ZTur
wenn wir bie Cür bes eignen Limmers hinter uns fchließen
unb uns für uns allein befmben, bleibt es brausen — für
ben ZtTenfchen in ber €infamfeit gibt es nichts 2tnftö§iges
unb fein (ßefefe bes 2tnftanbes. 2ln ber 2lufrechterhaltung
biefer Behauptung fyängt bie Hichtigfeit metner gan3en 23e*
griffsbeftimmung bes Slnftößigen. Silbet bie IDahmehmbar*
feit einmal bie unerläßliche Dorausfefeung besfelben, fo fann
nichts anftößig fein, was niemanb auger uns erblicft. iDiber*
märtig, efeltjaft mag es fein, unb unfer (Sefühl wirb uns
bavon abgalten, auch wenn wir für uns allein jtnb, aber,
wenn toir es bennoch tun, jo beweifen wir bamit nur, baj$
wir f elber baxan feinen 2lnftoj$ nehmen, — wir begeben
etwas Xüiberwärtiges, aber nichts 2lnftößiges. Uns f elber
gegenüber gibt es feine Hücffichten unb pflichten bes 2ln*
fianbes, [388] lefetere ejriftieren nur britten perfonen gegen*
über. Qas IDiberwärtige, (Efelhafte, Unfchicfliche wirb erft
anftößig, wenn es an bie £uft tritt, — fowenig im luftleeren
Haum eine flamme möglich ift, fowenig im menfchenleeren
Haum etwas JInfiöfciges. 2lm treffenbften ift vielleicht ber
Vergleich mit bem (Eon. (Dbjeftiv gibt es feinen Con, fonbem
nur Schwingungen von Körpern unb Schallwellen, 3um Cone
werben biefelben erjl im ©hr/ — ^C°n fkcft *n unferem
©h^ <£benfo verhält es jtch mit bem ilnftöjjigen. ©bjeftiv gibt
es 3war etwas <£felhaftes, IDiberwärtiges, aber 3um Jlnftögigen
Kapitel IX. Die fötale ttledjanif. Das Sittliche*
tx>irb basfelbe erft burdj bas Subjeft, toelcfyes basfelbe walix*
nimmt — bas 2tnftögige ftecft im 2Iuge beffen, ber es fielet,
im ©fyr beffen, ber es t^ört* Sotoenig es einen Con für uns
gibt, u>enn bie SdjaHtoeHen nic^-t an unfer (Dfy: bringen,
fotsenig etwas 2tnftößtges, bas uns nidjt roa^rne^mbar toirb
— XDafyrnefymbarfeit burefy britte ift bie unerläßliche 23e*
bingung bes 2tnftößigen.
2llfo bas 2lnftößige erforbert bie 2tmt>efent|eit britter per*
fönen bei Domafyne besfelben, es fefct beugen voraus, beugen
nidjt im Sinne bes Hechts, um bie Catfadje bloß tr>afyr3U*
nehmen (23etr>eis3eugen), fonbern um ben t>erlefcenben (Einbruc?
entgegen3unefymen, nidjt um 3U fe^en unb 3U I|ören, fonbern
um 3U empftnben. 3^n^n biefen <£inbrucf 3U erfparen, ift
ber §we& aller (Sefefee bes Jtnftanbes *), bie Derlefeung ber*
felben begrünbet ba^er [389] ben £>onr>urf ber gefeUfcfyaft«
liefen Bücfftdjtsloftgfeit. 2)ie <£mpfmblicf}feit ber beugen
fyntoeggebacfyt, unb es gibt fein 2lnjtößiges, foroenig tr>ie
einen Con für ben Cauben, bie <£mpfmblidffett ber «geugen
ift mithin bas letzte, tooran bas 2lnftößige hängt. XDir laffen
biefelbe hier vorläufig außer öetradjt; bei <5elegenljeit ber
Betjanblung bes ZtTaßftabes bes 2tnftoßigen toerben toir auf
fie 3urücffommen.
2)er Portourf, ben rr>ir jemanbem aus ber Oorna^me t>on
ettoas Jtnftößigem in unferer (Segemoart machen, t^at 3U feiner
Dorausfe&ung, baß er uns ben 2lnblicf hätte erfparen fönnen,
berfelbe fällt mithin ba hintx>eg, u>o es an biefer Doraus-
fefeung gebricht, b. h- wo er ohne feine Schulb ftch in bie
*) 3$ fe^e m^ genötigt, baran 3U erinnern, baß bie (Theorie ber
Umgangsformen nur biejenigen (Sebote bes Unftaribts 3um (Segen*
fianbe fyat, tpeldje in ber Hücfftdjt auf anbere, nidjt auf uns felbft ifyr
ITCotir» rjaben, unb tdj x>ern>eife auf ben früher (5. 229) entnncfelten
(Segenfatj ber felbflnü^igen unb frembnütjtgen Sitte unb auf bie 33e*
tnerfung auf S* 28^
Das 2lnftößtge* — Hotlagetn
305
Cage perfekt fleht, basfelbe pomehmen 3U muffen, E(ier gilt
ber Safe: Zlot fennt fein (Sebot*). Tlnv ein falfches Scham*
gefügt ober eine fritiflofe Unterorbnung unter bie (ßefefee bes
Jtnftanbes, bie ben uxxfyren Sinn ber{elben perfennt, fann fich
hier fträuben, bas nottoenbig (gebotene 3U tun. 3n folgen
£agen tpirb bas 2Xnftößige nicht ehpa bloß entfchulbbar,
fonbem es ift überhaupt nicht anftößig, b. h« ber JTfaßftab
bes 2tnftößigen [390] finbet barauf überaß feine 2lntpenbung,
bie (ßefefee bes 2lnftanbes i^aben l^ier gar feine (Seltung,
ebenfotx>enig roie bie bes Hechts im 5<*He bes Hotftanbes
ober u>ie jte f elber in bem 5aQe, tpenn tpir für uns allein
finb. 2)amit fonftatieren roir einen 3toeiten 2tnu>enbungsfaß
bes obigen Safees: naturalia non sunt turpia, ber tyev alfo
felbft für ben Saü ber 21ntpefenheit pon geugen 3utrifft.
3)urch bie bisherige Ausführung glaube ich meine 23e*
qauptung, baß K)ahrnehmbarfeit bie unerläßliche Poraus*
fefeung bes 2lnftößigen bilbet, gerechtfertigt 3U I^aben. (2s
erübrigt uns noch, basfelbe in be3ug auf eine anbere Se*
hauptung 3U tun, bie toir im bisherigen bloß aufgefteHt, noch
nicht ertoiefen liaben. 20™ i\aben ben Segriff bes 2lnftößigen
ber Sitte im <5egenfafee 3ur ZHoral 3ugetoiefen (S. 257ff., 30J).
Diefer 2lnjtcht fcheint 3U tpiberfprechen, baß tptr uns bes
21usbrucfs auch com Unmoralifchen bebienen: fo reben u>ir
3. 23. pon einem anftößigen £ebenstpanbel, tpomit rt>ir nicht
auf bie Derlefeung ber (Sebote bes bloßen 'Unftanbes, fonbem
ber ZTToral 3ielen. Wie perhält es fich bamit? Jüir lernen
hier eine Komplifation bes 2tnftößigen fennen, tpelche tpeit
entfernt, unfere 2luffaffung 3U tpiberlegen, uns pielmehr
*) 33etjpiele: Die gtpangslage im etngefdmetten (Etfenba^ug ober
im 53oot auf ber See — tfludjt bes nur mit bem Qembe Befletbeten
aus ber tfeuersgefafyr — (Enthüllung bes Körpers 3um §med äv$U
Hd?er Unterfudjung — ^tlflofigfeit bes auf frembe Dienfte angeuuefenen
Kranfen*
x>. 3b e ring, Der groeef im Hetfjt. II.
20
306
Kapitel IX. Die feciale IHed?anil Die Sitte»
(ßelegenfydt bietet, biefelbe burch ein neues Argument 311 fiüfeen
unb snglexdi unffenfchaftltch 311 x>ertr>erten: bas «gufammen*
treffen bes 2lnftö§igen mit bem Unmoralifchen ober bie Der*
lefeung ber (Sefefee bes 2tnftanbes unb ber ZIToral burch ein
unb biefelbe fjanblung.
[391] 3^ fnüpfe an einen juriftifchen Segriff an: ben
ber tbealen Konfurren3 ber Übertretung mehrerer Strafgefefee.
Der 3ur*ft perfte^t barunter ben 5ctQ, baf$ eine unb biefelbe
^anblung unter ben Perbrechensbegriff mehrerer Strafgefefee
fällt, es 3Ünbet 3» 23, jemanb ein £(aus an, um bie 23ett>ohner
3u erfti(fen (Sranbftiftung unb ZHorbr>erfuch; ober, um eine
parallele aus bem römifchen prisatftrafrechte (prisatbelifte)
3u nehmen, es begießt jemanb einen anbem mit einer
fchmu&igen 5ubftan3 Qnjurie unb Sadjbefchäbigung ber
Kleiber)« 3n berfelben ZDeife fönnen burch ein unb biefelbe
£|anblung gleid^eitig bie (ßefefee ber guten Sitte, ber ZTToral
unb bes Hechts übertreten toerben, 2>ie Unge3ogenl|eit bes
J^aus^errn gegen einen ber antoefenben <5äfte enthält eine
Derlefeung ber (Sefefce ber £}öflich?eit gegen lefeteren, eine
Derlefeung ber (ßefefee bes 2lnftanbes gegen f ämtliche übrigen
(5* 288), a>er jemanbem in einer (SefeHfchaft eine Ohrfeige
gibt, begebt bamit 3ugleich eine Hechtst>erlefcung unb einen
fd}tt>eren Derftoft gegen bie gute Sitte.
Xnacfyen tx>ir bason bie 2lmx>enbung auf bas obige Sei-
fpiel bes anftöjjigen £ebensu>anbels, fo serftefyen roir unter
biefem 2lusbrucF nicht einen unmoralifchen, fittenlofen Cebens-
roanbel fchlechthin, fonbem einen folgen, ber öffentlich u>a^r-
nehmbar tr>trb unb baburch öffentlichen 2lnjio§, öffentliches
Ärgernis erregt 2>as plus, welches tyev bas Unmoralifche
3um 2lnjiößigen macht, fommt nicht auf Hechnung ber ZIToral,
fonbem auf Hechnung [392] bes 2lnjkmbes, beffen unter-
fcheibenbes 2T?erfmaI r>on ber Xfioral, eben in ber XPahruehm»
barfeit befteht 3nbem bas Uumoralifche, anftatt jtch in
Das 2Jnftößtae. — Das Ärgernis.
307
richtiger Selbfter?enntnis ins Dunfel 3urü<f3U3iehen, ftd> breiji
unb frech an bie <£>ff entlief cit tt>agt, fünbigt es 5cm (Sefe&e
bes 2tnftanbes, welches allem btes <5efühl X>erlei$enbem bas
hervortreten ans £idjt unterfagt, ben (ßehorfam auf, Die
Sprache rebet in biefem 5<*He t>on einer Perlefeung bes öffent-
lichen 2lnftanbes, ein 2lusbrucf unb Begriff, ben auch bie
Sprache bes Hechts aboptiert ^at (f. 3. 33. 2). 5t <8. 33. § 360,
Ztr. 6). Wenn 2Injianb unb 2lnjiößiges, toie roir behauptet
haben, fich beefen, fo gibt es toie einen öffentlichen 2tnftonb,
fo auch ein öffentlich Jlnjlößiges. Zinn tann $wav auch
bie Übertretung ber gewöhnlichen 2lnftanbsregeln bes ge*
fettigen Cebens, voenn fte öffentlich gefchieht, unter ben <Se*
ftchtspunft einer X?erlefeung bes öffentlichen 2lnj!anbes, alfo
bes öffentlich 2tnftößigen fallen (3. 23. (Erscheinen im TXadiU
geroanbe auf ber Straße), aber bei bem 2lusbrucf anflößtg in
Perbinbung mit £ebenstr>anbel b{ai bie Sprache nicht bie bloße
Übertretung ber Jtnftanbsgefe^e , fonbern bie bamit fonfur-
rterenbe ZHißachtung ber (Sefefee ber ZtToral im 2luge. Darauf
beruht ber Segriff bes Srgerniffes, ber fich hernach als
ibeale Konfurren3 ber Übertretung ber (5efet$e ber ZTToral
unb bes öffentlichen 2lnfianbes befinieren läßt. Der Begriff
ift bisher noch nicht wiffenfchaftlich beftimmt roorben, obfehon
es ben Ökologen fotoenig [393] tme ben 3uriften an ber
Ztötigung ba3u gefehlt Blatte, ba beibe ihn in ihren (Quellen
porftnben*). Ä>as ich bei ihnen gefunben fyabe, befchränft
fich <*uf bloße tDorterflärungen, Umschreibungen, n>elche bas
IDefen ber Sache nicht treffen unb nicht treffen fonnten, ba fte
*) Die ftrcfyltcfyen (Quellen bt$t\d{mn tfyn als axavSaSXov, scandalnm
(oy.av^aXtCetv, scandalizare = Stgernts nehmen), bafyer unfere tjeuttgen
2lusbrücfe; ffanbalös, fiel? über ettras ffanbaltfieren, ffanbalteren, Sfan*
balp^eß, meldte fctmtltdj bas ITToment bes öffentlichen 2lnfbßes be*
tonen* Unfer^ beutfcfyes Strafgefetjbndj § J83 bebtent fid? bes 2lusbrncfs
^öffentliches Ärgernis"*
20*
508 Kapitel IX. Die fojtale XTiedjanif. Das Sittliche»
in ihm einen einfachen Begriff, eine bloße Steigerung bes Un*
moralifd^en erblicfen, tüäfyrenb er ein 3ufammengefei3ter Begriff
ift, bei bem bas 2tnftößige erft von ber Seite bes 2lnftanbes her
5unt Unmoralifchen hin3ufommt. Bei bem fyofyen 3ntereffef bas
fiel] an ben Begriff fnüpft, fann ich es nicht umgeben, ihm
noch eine genauere Betrachtung 3U ttnbmen.
(SEtymologifch ift Sgernis ber guftanb bes Srgers, aber
ber Sprachgebrauch fyat bem 2tusbrucfe ben engeren Sinn
bes öffentlichen Ärgers beigelegt T>ies Moment bes
(Öffentlichen ift ber 2tngelpunft, um ben fich ber gan3e Be*
griff bes Srgerniffes unb alles, was mit ihm in Derbinbung
fteht, breht: bie (Öffentlichfeit ber Dornahme bes Hnfittlichen*),
bie barin liegenbe Mißachtung bes öffentlichen 2Inftanbes unb
bie Heaftion ber öffentlichen [394] Meinung. 3n ber be--
tr>ußien unb gewollten Öffentlichfeit ber Domahme prägt fid)
bie 5*^chheit, Schamlofigfeit bes Hnfittlichen aus. Der öffent*
liehen Meinung u>irb ber (ßehorfam aufgefünbigt, ber 5ehbe*
hanbfehuh I^iri^eroorf en , unb es roirb ihr bamxt bie Hilter*
nattee geftellt, fich entoeber ungeftraft mit 5üßen treten 3U
laffen ober fich energifch 3u behaupten. Don bem Unmora*
lifchen, roelches bas ©unfel auffucht, braucht bie öffentliche
Meinung nicht Kenntnis 3U nehmen, jte fann es, trne bie
betreffenbe IDenbung ber Spradje für alles, was feinen pro*
t>ofatorif d\en (Eharafter an ftch trägt, lautet, „mit 2lnftanb",
b. h* 0hne f elber baburch 2lnftoß 3U geben, ignorieren, fte
befmbet ftch babei in ber £age bes Hilters, bei bem feine
Jtnflage erhoben roirb. 2lber bem Hnfittlichen gegenüber, bas
ihr offen unb frech in IDeg tritt, fann jte es nicht, 3u
ihm muß fie Stellung nehmen, es liegt barin für fte biefelbe
propofation, wie für bas 3"bir)ibuum in ber Be3eugung ber
*) 3fyr fielet gletd? bas fpätere Hu d?b arm erben (= ins „(Sediat",
ins „(Serebe" kommen, wenn bas Unftitltdje and? bann nod? fortae^
fet$t tpirb*
Das 21nfiö§ta,e* — Das Ärgernis*
309
ZHißachtung, burch beren apathifch* (Erbulbung basfelbe feilt
eignes moralifches Cobesurteil unter3eichnen toürbe, Denn
bie (ßefefce bes öffentlichen 21nftanbes tx>erben fyier nicht bloß
im ein3elnen $aVL übertreten, fonbern im prin3ip, b. h« in ihrer
gan3en Autorität unb perbinbenben Kraft negiert Daher
bie SKchtx>ere bes Jlnftoßes unb ber fimpfmblichfett, voeld\e
bas Ärgernis charafterifiert Das (Setrucht besfelben auf ber
fittlichen IDage be3tffert jtctj ungleich ^ö^er, als es fein müßte,
roenn es jtch lebiglich um 3u?ei gewöhnlich geartete 5älle [395]
bes Unmoralifchen unb 2tnftößigen h<*nbelte, es beträgt, toenn
xoxt lefetere als a unb b be3eichnen, nicht a -f- b, fonbern
a + b -f- x, biefes x aber fommt auf Hechnung ber prin*
3ipiellen Ztegation bes öffentlichen 'Unftanites. Damit tr>irb
ein Stücf ber objeftirxfittlichen (Drbnung ber (Sefellfchaft an*
getaftet — benn ba3u gehört auch bie Sitte, ber 2tnftanb unb
bie ZTtadjt ber öffentlichen ZTTeinuug, — es ift alfo fein bloßer
Derftoß im Sinne ber Sitte, fonbern ein fittlidjes Dergefjen«
21us biefem (Sefictjtspunft unb nur aus itjm erflärt unb
rechtfertigt ftch bie Beihilfe, welche bie Staatsgewalt ber
öffentlichen ZHeinung ober bem öffentlichen 21nftanbsgefübl in
fällen eines folchen Attentats gewährt — Ärgernis unb
öffentlicher 2tnftanb finb Bechtsbegriffe geworben*). Die
2lhnbung Übertretung ber formen bes pritmtanftanbes,
wenn ich mich biefes 21usbrucfs im (Segenfafee 3um öffent*
liehen 2tnftanb bebienen barf, überläßt jte ber (ßefellfchaft,
aber bie IDahrung bes öffentlichen ilnftanbes nimmt fie felber
in bie £(anb, inbem fie einer ZHißachtung besfelben teils auf
poÜ3eilichem, teils auf friminellem lüege fteuert. Wo biefelbe
lebiglich in einer Derlefcung bes öffentlichen 2tnftanbes befielt
(ohne ^in3utritt bes Unmoralifchen), genügt bas bloße (Ein-
*) Ärgernis, Q* St <S.&. § m, *83, 360, Zlx. *3, (Öffentlicher
2lnftanb, 2lrt 36Jt, Hr. 6,
Kapitel IX. Die fötale OTec^amf. Das Sittliche*
fchretten ber poli$e\, beten Aufgabe es ift, ben 2tnftofc 3U
befcitigen unb 6er (Erneuerung besfelben burch 2tnbrohung
[396] von poii3ei(trafen vorzubeugen. Wo fich 3um öffentlich
2lnftößigen in biefem Sinne noch bas Unmoralifche t^iri3u-
gefellt, b, h* im 5aöe bes Srgemiffes fteigert fich bie poli3et*
liehe Hepreffion, bie auch in biefem $aüe nicht ausgefchloffen
ift, 3ur frimineüen 21hnbung, roährenb basfelbe Vergehen,
tt>enn es fich ins Dunfel 3urücf3ieht, unbeftraft unb felbft
poÜ3eilich unbehelligt bleibt*). Die (Stenge, bis toie toeit bie
Staatsgewalt in beiben Hichtungen geht, ift pofttiper 2lrt, fie
beftimmt fich nach ber <£mpftnblichfeit ber öffentlichen ZlTei*
nung unb ihrem (Einfluß auf bie (Sefefcgebung; in ber Ztote
toerbe ich Sur Peranfchaulichung für ben £aien eine Zteihe
r>on 23eifpielen namhaft machen**).
*) 3$ fann midi enthalten, einen treffenben 2Iusfpruch bes
leiber fo früh verstorbenen paul (Sibe, eines ber tiichtigften Vertreter
bes römtfdjen Hechts, welche Sie Hechtsfafultä't in paris in unferm 3afyt>
hunbert gehabt hat, unb mit bem mich ein inniges (fremtbf d?aftsbanb
perfnüpfte, 311 3ttteren; >la societe de nos jours tolere le vice, mais
eile ne tolere pas le scandale«.
**) Hep reffton burd? bie po Ii 3 eü (£inf abreiten berfelben bei öffent*
lid?er Crunffctlligfeit, urilber (Hfye, öffentlicher Schamlofigfeit ber projtU
tutton, bei anffcögigen öffentlichen Schauftellungen, Aufführungen, unter
welchen (Sefichtspunft auch bie bei uns leiber piel 3U tr>enig ftreng ge*
tjanbhabte (Efyeaterpo^ei unb Cheater3enfur fällt — bie Couplets, welche
man auf mannen Dülmen 3U hören befommt, fmb wahre moralifd?e
(Siftqueöen, welche mehr Unheil anrichten, als bie torjfologifdjen (Sifte,
bereu Vertrieb pon fetten ber poÜ3ei fo ftreng Übermacht wirb*
Hepreffton burd? bas Strafgefet^ D* St (8* 23* §183: tper burd?
eine un3Üd?tige X?anblung öffentlich ein Srgeruis gibt § 18$; wer
mt3Üd?tige Schriften, 2ibbilbungen ober Darfteüungen perfauft, perteilt
ober fonft verbreitet ober an ©rten, weidet bem publifum 3ugänglich
ftnb, ausftellt ober anfa^lägi § J66; wer baburch, bag er öffentlich
in befcfyimpfenben Sugerungen (Sott Iäftert, ein Ärgernis gibt ufw.
§ 167; Störung bes (Sottesbienftes, § 560, ZTr*J3: Tierquälerei. §361,
Zix. 6 : guwiberhanbeln einer wegen gewerbsmäßiger Uit3ud?t ber polt*
5etltd?eu 2lufftcht unterteilten ZDeibsperfon gegen bie 3ur Sicherung bes
öffentlichen 2lnftanbes erlaffenen poltßeilid^en Dorf ehr iften*
Der HTagfiab bes Slnftögigen*
[397] Das erfte Sind meiner Aufgabe: feie Begriffs*
beftimmung bes 2lnftögigen ift hiermit befchloften* 3ch fajfe
bas Befultat in folgenbe Säfee:
v IDahrnehntbarfeit bilbet bas eigentliche ZTJerfmal bes
2lnflögigen, bas Unmoralifche als folches iji nicht anftögig,
es tr>irb es erji burch ben £[in3utritt bes 2Ttoments ber H)ah*>
nehmbarfeit, b. L burch ibeale Konfurren3 ber Perlefeung ber
(Sefetje ber ZHoral unb bes 2lnftanbes,
2. Sie Segriffe 2lnftanb unb anftögig becfen jtch nne
pojttives unb Negatives, bie fcheinbare 3nfongruen3 berfelben
im Verhältnis bes Srgemiffes fommi auf Hedjnung nicht ber
ZHoral, fonbern bes 2lnjlanbes.
3. Dem 2lnftanbe unb bem 2lnftögigen bes Privatlebens
ftel|t gegenüber ber öffentliche 2tnftanb unb bas öffentlich
2lnftögige, bas 3)edungst>erhältnis beiber roieberholt fleh
auch biet.
2) Der ITCafjftab bes 2lnjlögtgen*
Was ift anftögig? <5ibt es innere Kriterien bafür, [398]
läßt fich ein fefter, fidlerer XHagftab auffteöen, nach bem toir
bas 2lnftögige bemeffen fönnen? 2In biefer $xaqe hängt bie
Zfiöglichfeit einer rationellen Begrünbung unb Kritif ber 2tn*
jtanbsregeln. ZHüffen tr>ir biefelbe verneinen, fo rebu3iert fich
ber gan3e tviffenfchaftliche (ßeroinn unferer Unterfuchungen
bes 2lnftögigen auf bie im bisherigen gegebene Begriffs*
beftimmung besfelben, auf ben nadten, fahlen Safe: es gibt
eine Kategorie bes 2lnftögigen, aber ihr 3nhalt ift unberechen*
bar, ber Begriff anftögig ift nichts als ein leerer 5ad, in ben
jtch alles Beliebige unterbringen lägt, ber l\\ev biefen, bort
Unter biefen (Seficfytspunft fällt audj bie burdj auf er <Sertd?tsDer=
faffungsgefet3 § 173 bem (Sendet eingeräumte Befugnis ber 21usfdjlte§mtg
ber (ÖffetttlicfyFeit bei (Seridjtsüertianblungen, wenn fid? baoon „eine
(Sefätjrbung ber Stttlidjfett" beforgen lägt
3\2
Kapitel IX. Die fötale mefyamt Das Sittliche.
jenen 3nfyalt in fidt aufnimmt 2)as einige 3^tereffe, bas
fid? an bie 3nt>entarifterung biefes 3nl|alt5 fnüpfen fönnte,
u^ürbe in bem troftlofen Hefultate ber Konftatierung ber un«
enblidjen ZHanntgfaltigfeit besfelben beftefyen — ber t>oIIenbete
pofttioismus, bie reine, naefte gufäQigfeit unb XDiIIfürltct)fett
aller 2tnftanbsregelm
3cfy glaube, man brauet bie 5rage nur auf3uu>erfen, um
fie 3U verneinen* Wofyv bie bei allen Dölfern ber IDelt fid?
roiebertjolenbe I|iftorifc^e Catfädtfidjfeit bes 2lnflöf$igen, roenn
es nid\t inhaltlich in irgenbemer IDeife t>orge3eichnet n>äre,
tooher bie Übereinftimmung aHer Kulturr>ölfer, nicht bloß ber
heutigen ^eit, fonbem auch ber Vergangenheit in be3ug auf
getoiffe Verlegungen bes 2tnftanbes, roemt ber reine <§ufall
hier fein Spiel triebe? 3n bet ZTatur bes Jlnftöfjigen f elber
mu§ ber (ßrunb liegen, roarum basfelbe als foldjes empfunben
roirb.
[399] Das 2tnftögige, fagten n>ir oben (5. 3049, hängt
an ber <£mpfinblichfeit bes geugen, ber es toafyrnimmt.
Scheinbar ift bamit bas 2lnftö§ige gan3 unb gar in bie
Sphäre ber unberechenbaren Subjektivität t|inüberge(pielt —
anftößig rr>ürbe hernach fein, rooran ich, bies 3ufällige Sub*
jeft, 2tnfto§ nehme, an einem objeftioen ZTJaßftabe ttmrbe es
gcu^lich fehlen, unb auch bie franf^aft gefteigerte <£mpfinb<
lichfeit, bie 3^i0fYn^raPe/ ntügte bas Hecht traben, uns ben
irrigen auf3ubrängen.
Daß bem nicht fo ift, ergibt jtdj aus bem Däfern von
Hegeln bes 2lnftanbes. Diefelben befunben bie <£f ijien3 eines
(ßemeingefü^Is, welches in ihnen feinen 2lusbrucf gefunben
hat, mithin bie Hlöglichfeit unb iDirflidjfeit einer gleichartigen
©ntoirfung bes Slnftöjjigen auf eine Vielheit von perf onen,
fonft Ratten jte fich burch bie Sitte nicht bilben fönnen. Die
3bee, bag ber €inbrucf bes 2tnftößigen ein unberechenbarer,
roetl gänslich bem gufall ber 3nbh>ibualität anheimfatlenber
Der ITCagftab bes Slnftögigen ein allgemeiner, nidjt abfoluter. 3^3
fei, ift bamit 3urüdPgetoiefen, unb bas erjie Hefultat, bas toir
gewonnen tjaben, toürbe mithin barin befielen: ber XtTaßftab
bes 2tnftänbigen, roie immerhin er im übrigen auefy befefjaffen
fein möge, ift ein allgemeiner, es ift nid)t ber bes 3ufäQigen
3nbh>ibuums, fonbern bes Cypusmenfcrjen biefes gegebenen
£>olfes, biefer gegebenen §eit
2lber ber Cvpusmenfdj iji ein fyftorifdjes probuft, er
saniert naefj ^cit unb (Drt. TXlaq alfo audj ber ZHaßftab,
ben er anlegt, ein allgemeiner im obigen Sintis fein, [400]
im Sinne einer allgemeinen (ßeltung für alle Reiten unb
X>ölfer ift er es nicfyt, b. er ift nicfyt abfolut, fonbern relatitn
Damit f feinen roir 3U bem Subjefttoismus, bem roir oben
bereits entronnen 3U fein glaubten, roieber 3urücfr>erfcblagen
3U fein — roir finb 3tr>ar bie IDiüfür bes 3nbit)ibuums tos*
geworben, traben aber bie bes (Semeingefüfyls bafür ein»
getaufdjt: I|ier fo, bort ani>ctsf abermals ber Unfall unb bas
reine Belieben, bie irjr Spiel treiben!
IDenn es in IDarjrljeit gufall unb IDillfür roärel 2lucfj
im Hechte roieberfyolt ftdf biefelbe (JErfcfjeinung — iji aber
barum bas Hecfyt ein Spielball bes gufaHs unb ber IDiUfür?
Die £}eran3iel|ung ber parallele bes Hecfyts fann uns aueff
fyer roertooDe Dienfte leiften. Heben ben 2lbroeid]ungen in
ein3elnen Punften führen uns bie perfdjtebenen Hechte in
anberen eine große Übereinstimmung r>or unb 3tr>ar gerabe
in ben roef entließen punften: in ben eigentlichen (ßrunb-
gebanfen bes Hectjts, unb biefe Übereinftimmung fteigert fiel}
in bemfelben TXlafae roie bie Kultur ber Dölfer 3tinimmt. Diefe
Catfacfye muß bie Über3eugung begrünben unb tjat r>om erften
Anfang an, feitbem bas Hecfjt 3um (ßegenftanbe roiffenfcfyaft*
lictjen Itacfjbenfens gemacht roorben ift, bie 2lnfid)t tjert>or*
gerufen, ba§ es (ßrünbe geben mu§, roelcrje jte bebingeu,
ZTiäcfjte 3toingenber 2trt, toelct]e bem Becfyt eine geunffe, roenn
aud] noefy fo weite, aber immerhin bodj umfcfjloffene TSafyx
Kapitel IX. Die fatale mecr?antf. Das Sittliche*
vov$exdinen. Vxe römifdjen 3uriften geben biefem <5egenfat$e
3tr>ifcf)en bem IDanbelbaren, freien unb [401] bem Konftanten,
Hotoenbigen ben 2fasbrudP bes jus civile unb jus gentium.
Unter lefeterem t>erfteljen fie bas allen Kulturvollem gemein«
(ante Hect}t, b. Ij. ben Stamm ober ben Kern oon Hecfjts«
einricfytungen, ber in feinen toef entließen (Srunb3ügen ftcfy bei
allen nneberfyolt: bas f osmopolitifdje ober unir>erfelle
(Element bes Hecfyts, unter erfterem bie eigentümliche <Se»
ftaltung bes Hechts beim eht3elnen Dolfe: bas nationale
(Element bes Becftfs*), Die Übereinstimmung, roeId)e erfteres
auftseift, gilt ifynen nicfyf als &)erf bes gufalls, fonbern
3tt>ingenber allgemeiner, in ben t>erl)ältmffen f elber gelegener
(Srünbe: ber naturalis ratio, b. I mcf|t ber fubjeftioen Vev
nunft ober bes fubjeftben Hecfytsgefüfyls, fonbern ber objef-
ttoen Vernunft ber 2)inge, b. i, ber praftifet) 3tt>ingenben Kraft
berfelben, bes «gtseefgebanfens, mit mobernem 2lusbrucf: ber
ZTatur ber Sacfye**).
*) (für ben £ltd?tjuriften füge td? bas «gttat ber 1. 9 de J. et J. [{. \)
t>on (Sajus fyttt31i: Omnes populi, qui legibus et moribus reguntur (bie
KulturröIFer im (Segenfatse ber roilben), partim suo proprio, partim
communi omnium homnium jure utuntur. Nam quod quisque populus
ipse sibi jus constituit, id ipsius proprium civitatis est vocaturque jus
civile, quasi jus proprium ipsius civitatis. Quod vero naturalis ratio
inter omnes homines constituit, id apud omnes peraeque custoditur
vocaturque jus gentium, quasi quo jure omnes gentes utuntur.
**) Snt vorläufigen Bed?tferttgung btefer 23egriffsbeftimmung ber
naturalis ratio, bie im 3tDetten Seil ttjre genauere 2Iusfürjrung ftnbett
n>trb, permeife id} f|ier 3uerft auf ben <8egenfat$ ber naturalis 3ur civilis
ratio, roelcr/e let$tere bodj ntdjt eine anbere 2lrt ber fubjefttoen Derumtft
be3eta^nen, fonbern nur auf bie 3rxringenbe Kraft ber etgentümltd?en
Derrjä'ltniffe btefes Volts unb (Semeinroefens l^ogen werben fann, unb
fobann auf bie Catfadje, baß bie römif d?en 3urtjten bie Sflaoeret als
ein 3njtttut bes jus gentium be3etdmen, rsärirenb fle anbererfetts an«:*
f ernten, bag ber natürltdjen Demunft 3ufolge alle ITCenfdjett frei fem
Wtüffen, I. ^ de J. et J. (JU \) . . . cum jure naturali omnes homines liberi
essent . . . jure gentium servitus invasit, bie naturalis ratio, auf ber bie
SHanerei als ^nftitut bes jus gentium beruht, fann alfo nur in ben
Das fosmopoltttfdje (Element ber Slnjtonbsgefefee* 3)(5
[402] (Sani biefelbe Setsanbtnis ijat es nadj meinem
Dafürhalten mit ben Hegeln bes 2tnfianbes, ja icfy behaupte,
ba§ in be3ug auf fie bie Überemftimmung von Dölfern auf
gleicher Stufe ber Kultur eine nodj fyötjere ijt, als in be3ug
auf bas Hecfyt, ba bie 3U>ingenbe Zftadit ber naturalis ratio,
auf ber biefelbe bei beiben beruht, bei iBjr ein ungleich be<
gren3teres (ßebiet 3U ifyrer t>era>irflicfyung t>orftnbet als beim
Hec^t, unb bas 2tnftögige bei (Sleicfyljeit bes Bilbungsgrabes
ungleich weniger ber Derfcfyiebenfyeit bes Urteils ausgefegt
iftf als bas §u>e<fmägige im Hedjt. €in r>omefymer Homer
3ur §eit bes 21uguftus fyätte, ofyne 2tnfto§ 3U erregen, am
?jofe £ubtr>igs XIV., ein t>omefymer Ägypter com £}ofe ber
ptolemäer an bem bes 2luguftus auftreten fönnen, ein feiner
(ßriecfye aus ber <§eit bes perifies txmrbe fyeut3utage in unferen
erften (5efellfd}aftsfreifen eine „falonfäfyige" <£rfdteinung ge<
bilbet Ijaben. Die 3bee bes jus gentium !}at für ben Jlnftanb
biefelbe &>ai|r{}eit tr>ie für bas Hecfyt, toir fönnen gerabe3u
r>on einem jus gentium bes 2inftanbes fämtlicfyer Kulturpölfer
fprecfyen. Diefe XDafyrfyeit aber fann jte nur fyaben, tt>eil
unb infofern jte bie naturalis ratio, b. t. ein in ber Statur
[403] bes 2tnftögigen gelegenes 3tr>ingenbes HToment 3ur
<5runblage l\at
Damit berühre xd\ ben fpringenben punft ber gan3en
£efyre r>om 2lnftanb, ben (Seftdjtspunft, ber barüber entfcfyeiben
muß, ob tx>ir in ben Hegeln bes 2tnftanbes lebiglicfy 3ufäHige,
fonoentioneHe 23eliebungen, tt>illfürltcfye Beftimmungen ober
rationell 3U recfytfertigenbe ZTormen 3U erblicfen Bjaben, Sollen
toir uns 3U lefcterem entfliegen, fo muß uns ber Zlad)weis
erbracht toerben, baß fie in ber Zlatur bes 2Inftößigen felber
ifyren (ßrunb Ijaben. Der oerlefeeube Ctjarafter muß uns in
prafttfdjen «Srünben gefugt werben, meldte biefelbe in ben klugen ber
alten IDelt rechtfertigten
5\6
Kapitel IX. Die feciale IHecfyanif. Das Sittliche.
einer VOei\e bargelegt tverben, baß tvir es begreifen, tote
unt> tvarum es abftoßenb tvirfen mußte, unb tote ber ZHenfch
barauf fommen fonnte, fiel) feiner burd] bie 2Injlanbsgefet$e
3U envehren. Die 3bee eines ihm von ber ZTatur auf feinen
£ebenstveg mitgegebenen Kobef bes 2lnftänbigen (angebornes
2tnftanbsgefüh0 tveifen tvir als ber HMberlegung umvert von
vornherein 3urücf, man braucht nur bas geringfie Ztachben!en
bat an 3U fefeen, um fich von ihrer geglichen Unhaltbarfeit
3u überseugen.
2tIfo bie objeftive Ztatur bes SInftößigen iji ber Schlüffel
3um Derftänbnis aller 2tnftanbsgefefee« <£ine objeftive ITatur
bes 2lnftößigen? Dasfelbe foll ja, tvie tvir oben (S. 30^>)
fagten, im 2tuge besjenigen fteef en, ber es jteht, unb im (Dbre
beffen, ber es hört, (ßetvtß! aber nicht anbers als ber Con.
Wenn ber Con auch erft im ©I)re fich bilbet, fo tvirb er
boch hervorgerufen, in biefem [404] Sinne alfo er3eugt burch
bie außer ihm befmbliche, b. i. objeftive Catfacfje ber Schtvin*
gungen eines Körpers unb ber Schalltvellen. Zlxdit anbers
ber fiinbruef bes 2lnftößigen, er ftedPt im ©t|r unb 2luge, in*
fofern er entgegengenommen tvirb, aber hervorgerufen tvirb
er burch bie im 2tnftößigen f elber gelegene Qualiftfation,
biefe <£imvirfung aus3uüben, unb in biefem Sinne verlege ich
bie Urfache besfelben in berfelben IPeife in bas 2lnftößige
an fich, tvie bie bes Cons in bie Körperfchtvingungen.
Unter biefer Dorausfefcung aber müßte, tvie es fcheint,
bas 2Jnftößige überaE völlig gleich tvirfen, alle 3nbivibuen
unb alle Dölfer, auf tvelcfjer Kulturftufe fte ftch auch befäuben,
müßten baburch in gleicher tt?eife betroffen werben, tvas
aber nicht ber 5<*E ifi* Daraus ergibt ftch, baß ber (Erfolg
bes 2Inftößigen nicht mit ihm felber allein fcfjon gefegt, nid)t
von vornherein berechenbar ift, fonbern baß ber fubjeftive
5aftor ben 2lusfcr/Iag gibt. <£r bilbet bie variable (Sröße,
von beren XPert bas fchließliche 5a3it abhängt. 2lbcv fefrNjj
2lbt|ängtg!ett bes 2fnftanbes von Hetcfytum, Kultur* 3^7
Variabilität — unb bies ift ber entfcheibenbe punft, ber
fc^Iic§Iid^ bennoch bie Berechenbarfeit bes (Einbrucfs ermög-
licht — ift feine rein 3ufällige, fonbern eine gefefemäßige, fte
mirb beftimmt burdj ZHomente allgemeiner 2lrt, bie überall
in gleicher XPeife unrfen. 2tucrj bas ©B^r, obgleich von Zlatuv
bei aßen XHenfchen basfelbe, ift bilbfam, unb auch für feine
Jlusbilbung ftnb geunffe äußere Umftänbe maßgebenb. Bei
bem 3nbianer ift bas feine <5et|ör in einer IDeife entroicfelt,
bie bem [405] Kulturmenfchen faft als ein Hätfel erfcheint.
2tber bas Hätfel löft fich burdj ben (Einfluß ber äußeren Um*
ftänbe: bie Stille unb bie (Einfamfeit bes Urtoalbes unb ber
prärien unb bie Hotoenbigfeit ber 2lchtfamfeit auf jebes
<5>eid]en brotjenber, noch \o ferner (Sefat^r — Unfidjerheit
ber £age, mißtrauen unb 2lngft bebingen bie fyödtfte 2tus*
bilbung ber Sinne, fein (Dfyv unb 2luge fyört unb fielet fo
fcharf, als bas bes ZlTißtrauifchen, ängftlid>en, 5urcr?tfamen*
Die äußeren Hlomente, welche bie (Entoicflung ber (Empfinb«
lichfeit für bas Jlnftößige beftimmen, finb Heichtum, £urus,
Kultur, geiftige unb fünftlerifche Bilbung. Der 2Irme barf
nicht an benfelben Dingen 2lnftoß nehmen, roie ber Heiche,
es fehlen ihm bie mittel, bie biefem serftatten, manches 2ln*
ftößige r>on fich fem3uhalten — ber 2lnftanb foftet (Selb!
baoon roerben tx>ir uns fpäter über3eugen. Selbft in be3ug
auf bie (ßeftaltung ber feinen Sitte ber heutigen Kulturvölker
ift biefer (Einfluß bes Heichtums u>enigftens in einigen fleinen
punften nachweisbar, ^ür ben englifchen (ßentleman gilt
es als anftößig, Bücher aus ber £eihbibIiotr|i? 3U entlehnen
— roer mag biefelben r>or ihm in ber £}anb gehabt haben!
— roir Deutfchen • müffen barüber I^irxtx>e^f el^cn. Die Be-
hauptung ber fo3ialen Stellung bes (Englänbers in 3nbien
hängt tsefentlich au ber reiben Bebtenung, bie J^anblanger»
bienjie muß ihm ein anberer abnehmen, unb für alle befon*
bereu Verrichtungen bebarf es nach inbifd]er Sitte befonberer
3\8 Kapitel IX. Die feciale tlledjamF. Das Sittliche.
Diener — bei uns in Deutfdtfanb ebenfalls [406] rxnaus*
führbar. 3ch muj$ es mir perfagen, ben <£injlujj ber übrigen
namhaft gemachten XTEomente bes weiteren 3a oerfolgen, bie
gegebene Anregung toirb genügen, um ben £efer in ben Staub
3U fefcen, bas 5ehtenbe 3U ergäben, aber ich fann es boch
nicht unterlagen, 3ipei punfte ljert>or3uBieben, €inmal bie
Beihilfe, tpelche bie fortfcfyreitenbe tEechnif unb 3nbuftrie bem
2lnftanbe baburch getoäljrt t|aben, baf jte burch bie äußere
orbentlich billige I?(erftellung mancher Jlrtifel, beren X?errx>en*
bung t|eut3utage ber guten Sitte 3ufoIge obligatorifch ge<
roorben ift (3. 23. bas Cifchgerät, bas Cafdjentuch, f. u.), auch
ben minber 23emittelten bie 2lnfchaffung berfelben ermöglicht
haben, fotpie burch bie von ihnen befdjaffte lünjilidje Xladi*
bilbung fe^lenber Körperglieber (f. u.). Sobann ber <£influf$ ber
2lusbilbung ber Kunji auf bie forberung bes Schönheitsfinnes,
ber, roie tpir bemnächft fe^en toerben, auch beim 2lnftanbe
(ßelegenhett ftnbet, pdf 3U betätigen.
Die bisherige Ausführung bürfte meine obige Behauptung
ertpiefen ^aben, baß bie Derfdjiebenheit ber 2lusbilbung bes
nationalen 2lnftanbsgefühls bei Pölfern auf perfchiebenen
Kulturftufen nicht ettoas rein gufäQiges, fonbern etwas
hiftorifd) Bebingtes ip, i>a% auch ber 2lnftanb gan3 bemfelben
(ßefefee ber htftorifchen (gnttpieflung unterliegt, tpie alle anbern
5eiten bes Polf slebens , bajj auch er 00m fieberen 311m
fjö^eren t^at aufzeigen müffen, bie fyöfyere Stufe nietet hat
befreiten fönnen, bis er bie nieberen 3urücfgelegt hatte, unb
baß biefe €nttpic£lung [407] nicht ifoliert für jtch, fonbern im
engften giufammenhange mit bem gefamten Kulturfortfchritt
perlaufen ift. Dementfprechenb ift alfo bie Übereinjlimmung,
bie xoxt bei ben Kultursölfem auf gleicher Ejölje ihrer Kultur
in tpefentlichften punften bes Jtnjianbes tpahrnehmen, ebenfo-
roenig ehpas Zufälliges, als ber flaffenbe (Segenfafe, n?eld?er
in biefer ^inficht 3toifchen ihnen unb rohen Dölfern obtpaltet.
Das jus gentium bes Tlnftanbes*
2Jn 6er hier beliaxxpteten Übereinfiimmung bctrf uns öie
XDahmehmung getpiffer Perfchiebentjeiten ebenfotpenig irre
machen, tpie bie römifchen 3uriften fiel) burch bie 2lbtpeichungen
bes jus civile ber ein3elnen Dölfer pon ber 2luffteHung bes
jus gentiums abgalten liefen* J)ie Perfchiebenheiten treten
gegenüber ben Übereinjiimmungspunften gcn^lich in ben
fjintergrunb* 2lber aHerbings mit einer Befchränfung, tpeldje
mit bem oben (S. 280) bei ber Kritif ber Sitte von mir ent*
micEelten Segriffe ber Konnipen3en ber Sitte 3ufammenhängt
Sei faft allen Dölfem begegnen tt>ir getPtffen nationalen
Unfttten unb Unarten, ipelche mit ben pon i^nen felbft im
übrigen beachteten (Brunbprin3ipien bes 2lnftanbes im fcfynei«
benben IDiberfpruche fte^en, gleichtpohl aber pon ber Sitte
gebulbet tperben* (Es jinb 5äÜ£/ in benen bie finnliche Hatur
bes ZHenfchen, feine (Benußfudjt, feine 23equemlichfeit uftp, ftch
ftärfer ertpeifen als fein 2lnftanbsgefühl, unb ipo letzteres ftch
genötigt fteht, Kon3ef{ionen 3U machen unb bem an fich 2ln-
ftanbsroibrigen [408] ben Stempel bes 2lnftänbigen auf3U*
prägen. Dies foü burch einige Beifpiele peranfdjaultcht
werben.
Wxv perfefcen uns nach Horn. Zladi altrömtfcher Sitte
pflegte man beim ÜCaljle 3U jtfeen, bie Schtpelgerei ber fpäteren
geit aboptierte bafür bie orientalifche Sitte bes Ciegens bei
Cifch- Diefelbe pereinigte mit ber größeren Sequemlicfjfeit
ben tpertpollen Dor3ug, ben <5aft, ber 3upiel getrunteu hatte,
gegen bie <5efafyr pom Stuhl 3U fallen, 3U fiebern. H?ie bie
Horner f elber über jte backten, ergibt fich baraus, baß bas
£iegen bei ©fch, nad\i>em es bei ben ZHännem längft üblich
geworben toar, noch geraume Seit fynburdj für bie ehrbare
JUatrone nietet als anftänbig galt unb ben Kmbern niemals
perftattet tparb — es tpar bas Porrecht ber (Ertpachfenen, fich
über ben Jlnftanb hintpegfefeen 3U bürfenl Bis 3um <£tel>
haften jieigerte fich bie ZTachgiebigfeit ber römifchen Sitte
320 Kapitel IX. Die feciale mecfyanif* Das Sittliche*
gegen bie Polieret in 5er felbjl in ben haften Kretfen ein«
heimifchen (Setpohnhett, ber überfättigten (Senußfucht burdj
fünftlidje Entleerung bes XTEagens 3U J}ilfe fommen.
3ch überfpringe bas XHittelalter unb bie ©ergangenen
3al}rf}unberte, tpeldje in be3ug auf bie itachficht, tpeldje fie
gegen bie DöHerei übten, hinter ben Hörnern faum 3iirücf«
blieben, um mich ber (Segentoart 3U5Utpenben, Sie barf fich
bas Derbienft 3ufprechen, mit ben «gügellojtgfeiten unb Un*
fitten ber Vergangenheit grünbltch gebrochen 3U I^aben, unb
insbefonbere auch im Perfefyr mit bem toeiblic^en (Befcfylecfyte
bem 3nbe3enten ben $te\bntf, ben [409] es einjl befafj, ent«
3ogen 3U liaben. 2tber gan3 mafellos ift boch auch fie nicht.
3n einem punfte tpenigftens t|at fie ben Htaßftab bes 2tnftän«
bigen, ben fie fonft an3ulegen getpohnt ift, entfdjieben per«
leugnet 3h*e 2Id|tQesferfe ift ber Cabaf. 3hm gegenüber
übt unfere Sitte eine nachficht, bie von ber Strenge, toeldje
fie fonft felbft in gan3 unerheblichen punf ten 3ur 2lntoenbung
bringt, feltfam abfticht, nur bie englifche Sitte betoäfyrt auch
in biefem punfte bie ihr oben (S. 296) nachgerühmte 5ein«
fühligfeit. ZDie roürbe tpohl bas Urteil eines alten (Sriechen
ober Homers ausgefallen fein, ber bei uns bie öefanntfdjaft
ber perfchiebenen (Senußformen bes Cabafs gemacht hätte.
<£s gibt Dölfer, roürbe, roenn roir uns Strabo als Sericht*
erftatter benfen, ber Bericht gelautet h<*ken, welche ein Kraut
an3Ünben, bas fie Cabaf nennen, unb beffen Hauch fie ein-
fchlürfen. Demjenigen, ber es tut, foll es <Senu§ bereiten,
mir er3eugte es ZDibertpiUen unb <£fel, ich fanb £ofale, in
benen man por Hauch faum ettpas wahrnehmen fonnte, unb
wo mir bie 2lugen fchmer3ten, alles roch nach bem Kraut,
bie ZDänbe, bie Kleiber, felbft bie ZHenfchen, unb fogar
bort, roo anbere aßen, ^Mieten fich manche bas Kraut an.
2lnbere fteeften bas Kraut in 5orm eines pulpers in bie Ztafe,
ohne fich an bie unfauberen Spuren, bie bapon 3urücf blieben,
Der Xllaßftab bes ^nftögigen. — (Ergebniffe* 32{
311 jloßen. <£s finb eben Sarbaren, tselche bie feine Sitte,
beren bas griechifche Volt ftch erfreut, nicht fennen. 3n
einigen (Segenben foö fogar bie Sitte beftehen, bas Kraut
3u fauen, unb 3tt>ar nicht [410] blog bei gemeinen Ceuten
unb Schiffern, toelche lefetere bie Sitte eingeführt haben
toerben, um einen <£rfafe für bas in ihren Derhältniffen
minber leidet burchfüBjrbare Hauchen 3U geroinnen, fonbern
felbft bei Ceuten ber gebilbeten Klaffe, lefeteres aber nur in
bem jenigen Celle ber (Erbe, ben man bie neue Welt nennt
Selbft nach bem Urteil ber 23arbaren ber alten IDelt foH bies
bas <£felhaftefte fein, tx>as ftch benfen läßt*).
3ch fchließe hiermit meine Ausführungen über ben 7Xla%*
jiab bes 2lnftö§igen ab, inbem ich nur noch bie [411]
*) 2lls Quelle, aus ber Strabo feine Zloti$ hätte fdjöpfen fönnen,
führe ich £03 (Dufens) 2JmeriFa, 53b* 2, Kap» 2 am 3<*? ha^e es für
nötig, bie gan3e Stelle abbruefen 3U laffen, ohne meinerfeits bie Per*
tretung ber r>on ben 2Imerifanern allerbings heftig angefochtenen Hid}*
tigfeit bes Berichts t>on £03 3U übernehmen* „2ln allen (Drten herrfcht
biefe unfaubere Sitte bes Cabaffauens unb 2Iusfpuc!ens* 3n ben <Se*
ridjtshöfen t^at fomohl ber Hilter feinen Spucfnapf, als ber geuge unb
ber 2lngefdmlbete, felbft bie (Sefcfytpomen unb bie <§uh<>rer ftnb bamit
rerfehen* 3n ben fjofpitä'lem werben bie Stubenten ber Ifte^m burdj
2Jnfchläge an ben VOanben aufgeforbert, ihre Cabafsbrühe in bie 3U
biefem gmeefe sorhanbenen Ztäpfe aus3uleeren unb bie (Treppen nicht
3U befchmut$en* 3n öffentlichen (Sebä'uben werben 53efud}er auf biefelbe
2lrt bebeutet, bie <Effen3 ihrer Cabafsrnolleu in bte Hatioualfpucfnctpfe
unb nicht au bie IHarmorfäulen aus3ufprit5en*" (Ein mürbiges Seiten*
ftücf ba3u, beffen ich mich noch aus jungen 3<*hren erinnere, unb bas
mich bamals mit unausfprechltchem (Efel erfüllte, hatte bte hoüä'nbtfche
Hetnltchfeit aufgebracht: po^ellangefäge auf bem (Dfche 3um gwede
ber (Entleerung bes Speichels! 23ei meinen fpäteren Befugen in ^ollanb
habe ich fte nicht mehr angetroffen* Das neuerbings aufgenommene
ilusfpülen bes tttunbes nach beeubetem Diner in fpe3tell 3U bem <§tuecfe
hingeftellten Schalen ift in meinen 2lugen nicht ütel beffer, es gilt als
oomehm, ift aber einfach mibermcirtig* IDas mürbe man oon jemanbem
fagen, ber, abgefehen t?on biefem 2Inla§, mo eine Sitte, bte fd?merlich
langen 23eftanb haben mirb, es einmal f auktioniert hat, ftch basfelbe
tu ber guten (Sefellfchaft erlauben würbe?
». 3^ring, Der gweef im Hed^t. Tl. 2t
322 Kapitel IX. Die feciale ITCedjantf* Das Sittlxty.
gewonnenen <£rgebniffe fur3 3ufammenftelle, <Es ftnö fol-
genbe:
^ Der ZTTaßjiab iji fein inbitnbueHer, fonbern ein all*
gemeiner*
2. (Er ijt es barum, weil er ein objeftfoer iji, in ber
Tlatnv bes 2Jnjiöj§igen an jtdj feinen (ßrunb I?at.
5, (Er iji, toenn aud? ein allgemeiner unb objefttoer, fo
bod? fein abfoluter, fonbern ein relativer.
^* Die (£mpftnblid}feit gegen bas 2tnftö§tge iji auf bem
Ejöfyepunft ber Kultur bei allen Dölfern im öffentlichen
bie gleiche, bie 5olge bat>on iji ifyre Übereinftimmung
in be3ug auf bie (Srunbregeln bes 2lnjianbes*
Ö. Die sroifcfyen iljnen obtsaltenben Derfcfyiebenfyeiten treffen
im toefentlicfyen nur nnhcienUnbe punfte, nur bei ge*
toiffen eingetrudelten nationalen VLnattenf Unjttten übt
bie Sitte eine £lad}jtd}t, bie fte mit jtdj felber in IDtber-
fprudj fefct
3) Die Kategorien bes 2lnftö§tgem
Die folgenbe Unterfudjung be$wedt eine innere Sdjeibung
unb Verlegung bes 2lnftögigen burd? 2lufjießung unb 2tn*
legung getoiffer Kategorien, jte furf^t Unterfcfyiebe ober Birten
bes 2Inftö§igen 3u gewinnen. XDelcfyes 3n^r^ fnüpft ftdj
baran? Zlxdtit bas praftifdje ber juriftifdjen Unterfcfyiebe,
welches barin gelegen iji, ba§ mit benfelben praftifdje 5olgen
r>erbunben jmb, n>as bei ben unfrigen [412] barin befielen
tDÜrbe, ba% bie t>erfd}iebenen 21rten bes 2lnjiö§igen einer
serfcfyiebenen Beurteilung t>on feiten bes 2InjianbsgefüI]ls
unterliegen würben. Dies iji aber nicfyt ber 3>t* 2?eaf«
tion bes letzteren gegen bas Slnftößige ftuft fiel? nur grabuell
nadj ber Schwere besfelben, nicfyt qualitativ nad? ber 2lrt
besfelben ab. Das 3ntateff* unferer Unterfd^eibnng iji rein
nnffenfdiaftlicber 2lrt §unäd?ft nämlid) foH jie uns bto
Die Kategorien oes Slnftößtgen.
323
Beobachtung erleichtern, ffiit 3erlegen ben Stoff in einzelne
Stüde, um für bie einbringenbe Hnterfuchung, tt>elche an bem
(Segenjlanbe in feiner (Sefamtheit ebenfoioenig möglich roäre,
rote eine mifroffopifdfe Hnterfuchung an einem üoluminöfen
Körper, ein enger umrahmtes (Seftchtsfelb 3U gewinnen*
XDäre unfer 2Iugenmerf Iebiglich darauf gerichtet, fo mürbe
unfere Klafftftfation bes 2tnftößigen feinen weiteren XDert be*
anfpruchen, als bas Zlet$tt>erf, bas bem ZHaler ober Bilbhauer
bie eyafte ZTachbilbung bes (Originals erleichtern foll, es toäre
eine reine $vaQe ber «gtoeefmäßigfeit, welche ber an ftch mög*
liehen Einteilungen roir toählen wollten, t>orausgefe&t nur,
baß fte erfchöpfenb tt>äre. 21ber meine Klaffififation h<*t ftch
ein li'olietes «giel gefieeft, fre foll nicht bloß 3tt>ecf mäßig fein,
was fie auch fein fönnte, tr>enn jte noch fo äußerlich wäre,
fonbern fie foll toiffenfchaftlich förberlich fein, b. u bie innere
Derfchiebenheit bes (ßegenfkmbes 3ur 21nfchauung bringen, unb
bas tann fte nur, tsenn bie Kategorien, mit benen fie operiert,
an ben (Segenftanb nicht r>on außen hingetragen unb ihm
bloß [413] übergelegt, fonbern, roenn fte ihm felber entnommen
werben. Daburch unterfcheibet fich bie Klaf jtftfation im wahren
Sinne bes JDortes von einem bloßen Schema. Um biefen
Hamen 3U t>erbienen, muß fie brei ^nforberungen entfprechen:
bie Klaffen, welche jte auffteüt, müffen ben <5egenfianb t>oü-
ftänbig beefen, fte müffen unter ftch fo fdjarf abgegren3t
fein, baß fte ftch leidet unterfcheiben laffen — fte müffen
innerlich in ber Zlatur bes (Segenftanbes begrünbet fein«
21Hen brei 21nforberungen glaube ich mittels ber meinigen
entfprochen 3U haben. 3ch habe bei unabläfftg fortgefefeter Prü-
fung feinen 5aH bes 21nftößigen fhtben fönnen, ber nicht unter
eine ber t>on mir aufgehellten t>ier Kategorien berfelben paßte,
unb bie 21nwenbung meiner Kategorien auf ein3elne 5äße i[ai
mir nie bie minbefte Schwierigfeit gemacht, unge3wungen bat
ftch jeber 5aQ, an bem ich bie probe machte, einer Kategorie
21*
52^ Kapitel IX. Die feciale UTed^amf* Das Sittliche«.
untergeordnet 2Tüancher berfelben aHerbings mehreren 3ugleich,
was ich hervorhebe, um ben (Eintoanb ab3utoehren, baß bamit
bie ihnen nachgerühmte fdjarfe Unterfcheibbarfeit tx>iberlegt
tr>erbe, es unberfyolt fid) barin nur ber früher (S. 306) be<
rührte Vorgang ber Übertretung mehrerer (Bebote burch einen
unb benfelben 2lft. 2>ie Berührung fejueQ anftößiger Singe
in (ßegentoart anftänbiger 5tauen fällt unter bie Kategorie
bes feyueH 2Inftößigen ober bes 3nbe3enten (Ztr. fy; gefeilt
fich noch bie (Bemeinheit, pöbelhaftigfeit bes 2lusbrucfs htn3u,
fo [414] 5ugleich unter bie bes äßhetifch 2lnftößigen (Hr. 2).
Körperliche Schaben, Deformitäten fönnen uns bloß äfihetifch
unangenehm berühren (Ztr. 2), aber auch berartige fein, baß
fie uns <£fel erregen (Ztr. \). 3^ k<*be feinen 5aH gefunben,
in bem ich nicht bie eht3elnen Kategorien fdjarf unb mühelos
hätte unterfcheiben fönnen.
2luch in be3ug auf bie britte ber aufgehellten 2tnforbe»
rungen glaube ich eine Bemänglung meiner Klaffiftfation niebt
befürchten 3u brauchen. ZHeine Kategorien bes 2lnftößtgen
fmb ber Ztatur ber Sache f elber entnommen, es gibt feine
anbere, unb ich fcheue mich nicht, für fie abfolute (Seltung
in 2lnfpruch 3U nehmen, ich erbreifte mich 3u behaupten, baß
jeber, ber nach mir ben <5egenftanb behanbeln tturb, fie ein«
fach annehmen muß, ihnen tpeber eine anbere hNufügen,
noch von ihnen eine auslaffen, noch mehrere 3ufammentoerfen
fann, bas 5achtx>erf ber Kategorien glaube ich ein für allemal
enbgültig feftgeftellt 3U h<*&en. 3ch ftüfee biefe meine Über*
3eugung barauf, baß ich bie Kategorien nicht äußeren Kriterien,
nicht ben XtTobalitäten in be3ug auf bie äußere (Erfcheinungs»
form ober auf bie S3enerie bes 2tnfiößigen, fonbern bem
inneren (ßrunbe besfelben entnommen habe. Beruht bas
innere 2TEoment bes 2lnftößigen auf feinem unfer <5efüM
t>erlefcenben Charter (S. 30\), fo fann bas Ceilungsprin3tp
bes 2lnjiößigen nur im (Befühle gefucht werben, unb bie
Das Schema ber vier Kategorien bes 2Jnf*ö§tqen*
325
Aufgabe geht bann bafyn, jtch bie innere Perfchtebenhett ber
(Sefühlsaffeftion 3um Betvußtfem 3U bringen. [415] Durch
biefen (Sefichtspunft geleitet bin ich 3u folgenden vier Kate-
gorien gelangt:
{, Das finnlich Jlnftößtge.
2. Das äjiB|etifc^ Anflößige,
3. Das pattjologifch Anfiößige.
^ Das feyuell Anftögige.
Die <£rflärung unb Hechtfertigung ber gebrausten 2lus«
brüdPe bleibt ber befonberen Darfteilung ber ein3elnen Kate«
gorien vorbehalten, festere befchränft ftcfj übrigens nicht
auf ben «gtvecf, biefe Kategorien bloß 3U begrünben unb burch
ein3elne öeifpiele 3U iHujhrieren, fonbern fie foll ben gan3en
tvef entlichen 3n^aIt, Pe *n P^ bergen 3ur 2tnfd]auung
bringen» 2ftach biefer Seite I|in foö fie als <£rgän3ung meiner
bisherigen Ausführung über ben ZHaßjtab bes 2lnftö£tgen
bienen, inbem fie bas ZHaterial 3ur Stelle fchafft, um bie
Behauptung, ba§ berfelbe in ber tlatur bes Anftößigen an
ftcf) gelegen fei, am ein3elnen 3u ertveifen. 3n biefem Sinne
lägt fie fich als Kritif unb rationelle Hechtfertigung ber
heutigen Anftanbsgefefee be3eichnen.
X* Das finnlid? Anftögige»
Sinnlich anjfößig ijl alles, was unangenehme Sinnes*
emppnbungen in uns erregt. Dies ift in boppelter XDeife
möglich: unmittelbar unb mittelbar. <£in übler (Seruch,
ein tvüfter £ärm, ein grelles Cicht verlebt unmittelbar unfere
(ßeruchs«, (ßehörs«, Sehnerven, ohne ba§ eine [416] innere
DorfteHung fich I^iri3U3U0ef etten brauet Der fiinbruef bes-
jenigen bagegen, tvas tvir als efelhaft be^eidinen, tvirb erft
vermittelt burch bas JE|in3utreten ber Dorfteilung in 5orm
einer h^r weiter 3U unterfuchenben 3beenaffo3iation,
Aber auch biefer <£inbrucf ifi finnlicher Art. Der Porgang
326
Kapitel IX. Die feciale Xftecfyam?* Das Sittliche*
fpielt ftd? nicfyt in unferem (Seifte ab, tote beim äftfyetifd?
2lnftö§igen, ober in unferer Seele, rote beim fejuell unb beim
patfyologifcfy 2lnftöjjigen , fonbern in unferem Körper, bas
(ßefüfyl bes <£fels ift pt^Yfifc^er 2lrt, nur permittelt burdj bie
<£intoirfung ber Porfteßung, Da letztere es ift, tselcfye ben
£inbrucf fyerporruft, fo ergibt fid) daraus, baf$ es 3U bem
gtoeefe nicfyt nottoenbig ber 2lffeftion ber Sinne bebarf; bie
tsörtlidje Sd>ilberung bes <£felfyaften fann gans biefelbe lt)ir*
fung er3eugen.
Das finnlidj Slnftößige nimmt auf ber Stufenleiter bes
2lnftö§igen bie niebrigfte Stufe ein, roir bürfen annehmen,
ba§ es audj tjiftorifd? bie erfte 2trt bes 2lnftö§tgen getoefeu
ift, bereit fiefy bie (ßefeßfdjaft $u enteren gefugt tjat, u>enig<
ftens in besug auf bie gröbften txubertDärtigften formen. Üble
(ßerüdje unb ber Slnblic! bes <£felfyaften ir>irb bas erfte ge*
isefen fein, rr>as ber ZHenfd} fid? im gefeflfcfyaftlidjen Derfefyre
mit anbevm perbeten fyat
Von ben beiben genannten Birten bes finnlidj 2tnftö§igeu
ift bie 5tt>eite: bas mittelbar ftnnlidj 2lnftö§ige ober bas <£teU
Ijafte burdj bie (Sefefee bes 2tnftanbes [417] fcfylecfytfyn *>er*
boten, bas (Sebot fennt feine 2lusnaf}tnen. Zubers ©erhält
es ftdj mit ber erften 21rt. Drei Sinne finb es, bie l|ier in
33etradtf lommen: ber (ßerudjs*, (Sefyörs* unb (Befxctjtsfmn.
Unter ifynen nimmt ber <ßerud)sfinn bie erfie Stelle ein.
£>aj$ er felbft in unferer heutigen ^eit nidjt in allen Punf ten
feine 5orberungen burdjgefefct ijat, ift oben (5. 320) in be5ug
auf bas Hauten nadjgetoiefen tsorben.
Die nädjftfolgenbe Stelle bürfte bem (ßeficfytsfinne 3usu<
reifen fein. Der ^nfprud}, ben er in ber (Sefeßfdjaft ergebt,
befdjränft ftet^ im tx>efentlidjen auf 5entljaltung bes 2lnblicfs
bes (Efel^af ten; bas äftyetifdj Perlefeenbe fällt nid?t unter ben
(Seficfy tspunft bes finnlidj, fonbern bes äjttjetifdi Jlnftoßigen
(Ztr. 2).
Du Kategorie bes (mitlief? Hn$Q%\$en. 32?
Die britte Stelle nimmt bas ©h* ein, fotueit es fich um
Abwehr finnlicher <£tnbrücfe Ijcmbelt, wobei alfo von 5er
inneren 2lnftößigfeit beffen, was bas ©hr vernimmt, abge*
fe^en wirb, fagen wir: foweit es fich um bas 2tnftö§ige bes
bloß finnlichen Schalls h<*nbelt. inwiefern fann ber bloße
Schall uns unangenehm berühren? 3n doppelter ZDeife:
einmal an fich — ein lautes (ßetöfe — unb fobann infofern
er uns ftört, t). h* uns Fulbert, etwas anberes, bas wir 311
^ören wünfchen, beutlich 3U vernehmen. 3n beiberlei Hich-
tungen ift bas ©h* ber vornehmen ZDelt I|cut3utaÖe fe*lr
empfmblich unb anfpruchstjoll. <5eräufchlos wie mit (ßeiffer«
tritt fott bie Dienerfchaft im vornehmen [418] JEjaufe fich
belegen , unb ihr Porbilb ift maßgebenb geworben für äße
feineren Rotels, Kein Con von flappernben Cellern, fein
Fußtritt fotl erf drallen, fein lautes IDort gef prochen werben
— ben richtigen Diener barf man nur fehen, nid]t hören —
bie XtTafchinerie ber Cafel foH gehen wie ein Uhrwerf, prompt,
ftdjer unb ohne baß man bas minbefte von ihr hört. Den
<5äften 3eichnet bie feine Sitte gan3 basfelbe geräufchlofe
Verhalten vor, ihre Stimme foll nur benjenigen, 3U benen
fte reben, vernehmbar fein, jte f ollen fprechen »sottovoce«,
wie ber mufifalifche 2lusbrucf lautet, ein wüftes, wilbes
Durcheinanberfchreien, bas vielfach als Kriterium ber wahren
£[eiterfeit gilt, ift burch bie feine Sitte ftreng verpönt. (Seh*
fte barin 3U weit? lüir haben, wie ich meine, alle Urfad^e
ihr bantbat 3U fein. 3e lauter ber £ärm, befto mehr t^at man
TTtühe, fich feinem Xladibat verftänblich 3u machen, unb wer
Urfache fyat, feine Stimme 3U fchonen, fdjweigt lieber gans
[tili. Die 5oIge bavon ift, baß ein Ceil bes (ßenuffes, ben
er jkh verfprach, unb ben er felber anberen gewähren tonnte,
verloren geht, währenb er basjenige, was ihm noch verbleibt,
nicht feiten mit einem wüften, lärmenben Kopfe 3U be3ahlen
hat — in einer (Sefellfchaft fommt ber wüjle Kopf regelmäßig
328 Kapitel IX. Die foßtale XTCedjamf. Das Sittliche*
in viel fyöfjercm (ßrabe auf Bechnung bes unIben (Sefchreis,
als auf Bechnung ber genoffenen Speifen unb (Betränfe,
2Juch an bem lauten Auftreten unb <2inherfchreiten [419]
in ber <5efellfchaft nimmt bie feine Sitte #nfto§. €in alter
Bitter mit flirrenben Sporen unb raffelnbem Sd^mert, unter
beffen fehleren Fußtritten ber 23oben erbröhnte, tx>ürbe B^cut«
3utage nicht mehr „falonfähig" fein, bie bünnen Sohlen unferer
Schuhe unb Stiefel bilben ein Stücf bes mobernen 2tnftanbes.
Center er t|at feinen t>erfeinemben <2influf$ bis auf bas £i<xnb*
wexi unb bie (Sefchtcflichfeit bes Schufters hinab erftrecftl 3ct?
roerfe abermals bie 5rage auf: geht unfere Sitte barin $u
tt>eit? 3<ä? glaube, bajj fte auch I|ier sollfommen in ihrem
Heerte tfi 3ebes überjiüfftge (Beräufch ber (ßefeüfcfyaft ift
pom Übel, es 3ieht bie 2tufmerffamfeit auf fich unb beroirft
eine Unterbrechung ber Unterhaltung — u>03u eine Störung
berfelben, bie fich sermeiben läßt?
3n gefteigertem UTaße 3eigt ftch bas (Sefellfchaftsroibrige
bes ftörenben (ßeräufches bei (Selegenheiten, too ausfchließ*
Hc^ ber Stoec? bes £)örens bie 2lntoefenben 3ufammengeführt
hat: im Ködert, Ch^ater, bei öffentlichen Heben, in ber
Kirche rt>ährenb ber prebigt. 3^be Störung enthält h*^
eine HücEftchtsIofigfeit gegen bas publif um: bas geräufchsoHe
(Erfcheinen unb JDeggehen, ein lautes Sprechen mit ben Zlad}*
bam, bie Unart bes leifen ZHitfingens ber UTelobien*). ZDenn
*) Seibp bas bloße t>erfpätete €rfdjeinen bei folgen (gelegensten
enthält, wenn audj bas genaue £?ören barunter nidjt leibet, eine Büd5*
ftdjtslofigfeit, ba es eine Unterbrechung ber 2Iufmer?fam?ett bewirft.
2Iuf unferen beutfdjen Uni t> er fi täten ip es üielfadj Sitte, ba§ ber
Stubterenbe, welcher 3U fpät in ber Dorlefuug erfcfyeint, ausgefdjarrt
nrirb, was freilid} ben (Teufel burdj 23eel3ebub austreiben fyeißt, aber
gIeidjn>ot|l als 2Iusbrucf ber öffentlichen IHigbilligung ein gan3 wirf*
fames mittel tft, um bie Störung bes Vortrages burdj 3U fpätes Kommen
fern3ut^alten — ein 23eleg für mein bemttädjft 3U entttncfelnbes fo3taIes
^tDangsfyfiem, ein proteft ber füge gegen bie Übertretung bes burd?
Das ftnnltdj 2Xnftögtge* — Störungen*
529
bie (Sefefee bes 2tnftanbes einmal ben [420] <gn>ecf I^abcn^
alles, was bas «guf ammenfein mit anbeten erfchroeren ober
perleiben fann, fernhalten, fo finben fie auf bas öffentliche
<5>uf ammenfein biefelbe 2lmsenbung wie auf bas private, unb
mir roerben bamit 3um 3tt>eitenmal auf einen Segriff 3urücf*
geführt, beffen Safein unb Unentbehrlichfeit tt>ir bereits bei
Gelegenheit ber Segriffsentnncflung bes ärgerniffes fonjlatiert
haben: ben bes öffentlichen 2tnftanbes, Dort begegnete uns
berfelbe in feiner Perbinbung mit ber ZHoral: X>erlet$ung bes
öffentlichen 2lnftanbes burch öffentliche Begehung bes Unfüt*
liehen, fyet haben w'xx ihn für jtch allein ohne biefe 23e*
3iehung 3ur ZTioral« Die Störungen, beren rt>ir foeben ge*
bachten, fallen nicht unter ben (Sejtchtspunft bes Unmoralifchen,
fonbern unter ben bes (ßefeüfchaftsrtubrigen, b. h* fte ^nt*
halten lebiglich Derjlöße gegen ben 2lnftanb [421] unb 3tr>ar
ben öffentlichen, fie gehören unter bie oben (5. 507) fon*
ftatierte Kategorie bes öffentlich 2Inftöjjigem Unter Umjlänben
fann fyet fogar bas €infchreiten ber poÜ3ei am plafee fein;
bas publifum l\at einen 2lnfpruch barauf, ba§ ihm ber «gtoeef
bes gufammenfeins nicht burch Hücfftchtslofigfeiten ein3 einer
3nbir>ibuen vereitelt roerbe.
ben öffentlichen 2Inftanb, b* u burd? bie Hücfftcht auf bas gefamte
publifum (gebotenem 3n einem Komplimentierbüchlein müßte im 2ln*
fchlug an bas (Dbtge nod? bie 2lnfktnbsregel pla£ finben, baf jemanb,
ber an heftigem Ruften leibet, rrne von prinatgefellfchaften, fo auch üon
folgen öffentlichen gufammenfiinften fernbleiben foll — er Ruftet in
ber Cat auf Koften fetner Umgebung 3n einem Zlrtifel r»on <£♦ d.
Qartmann in ber (Segenrcart 1882, HM3, fmbe ich bie richtige 23e*
merfung, ba§ bas Dorfpiel bei ber (Drgel in ber Kirche nicr/t b!o§ ba3tt
biene, bis 3um beginne bes Kultus <gett 3ur Sammlung 3U geträfyren,
fonbern gleich bem ITachfpiel auch ba3u, bie Unruhe bes Kommens unb
(Seyens 3U rerbeefem
Kapitel IX. Die fötale ITIedjam?* Das Sittliche.
2. Pas äjiltetifdj 2lnji5ßig*
Das Schöne bilbet ein u>ertx>oßes ZTIotio ber roohltuenben
(ßejialtung bes gefelligen Perfekts, aber feinen tauglichen
(gegenftanb für bie Einforderungen bes Unftanbes, lefetere
müffen fo 3ugef dritten fein unb finb es in ber £at, bajj auch
Perfonen, benen ber Schönheitsftnn abgeht, ober benen bie
Littel fehlen, benfelben in ihrer häuslichen Einrichtung ober
perfönltchen Erfcheinung 3U betätigen, am Perfehr teilnehmen
fönnen. 2lber pon bem blofc Unfchönen, an bem ber ent-
roicfelte Schönheitsftnn 2lnfto§ nimmt, unb bas {ich in feine
Hegeln bannen läßt, ift u>ohl 3U unterfcheiben bas äfthetifch
2lnfiö§ige im Sinne bes 2lnftanbes. Basfelbe iji fo befchaffen,
ba§ es fich in gan3 beftimmte Hegeln bringen lägt, bie jeber,
auch berjenige, bem ber Schönheitsftnn abgeht, befolgen fann
unb foll. Den 2lnblicf bes äfthetifch 2lnftö§igen foll uns jeber
nach Kräften 3U erfparen fuctjen. €ine genauere Betrachtung
bes ein3elnen, was biefe Kategorie in ftd? fchließt, u>irb beu
Unterfchieb bes äfthetifch 2lnftö§igen oom äfthetifch Unfchönen
flar machen.
[4:22] 3ch unterfcheibe oier (ßegenftänbe unb Perrichtungen,
an unb bei benen basfelbe 3ur <£rfcheinung gelangen fann:
ben menfchlichen Körper — : bie Kleibung — bie Befriebigung
£>er leiblichen Bebürfniffe — bie Sprache.
\> Der menfchliche Körper.
Die Sehanblung ber (5ebote ber Sauberfeit, Heinlichfeit,
in ber Pflege bes Körpers überlaffe ich ben Perfaffem ber
Komplimentierbüchlein, um meine 2lufmerffamfeit ausfchließ*
lieh einem anbern punfte 3U3uu>enben, ber ihrer meines €r*
achtens nietet unroert ift.
<£s finb bie Stäben, ZTlängel, Deformitäten bes menfeh-
lichen Körpers. 3h? 2lnblicf berührt uns nicht tsohltuenb,
er ftört uns in unferem Behagen. IPoburch? Sunächjt
Das ctftljettfdj 2lrtftö§tge* — Körperliche Deformitäten. 33j
baburcfj, baß er unfer öebauem, UTitleiben erregt; unter
biefer Porausfefcung fäHt ber €inbrucf unter bie Kate*
gorie bes patfyologifcfj ^tnftöjjigen (Ztr. 3). €r fann aber
audj ein ber artiger fein, baj$ er unfern <£fel erregt; bann
gehört er unter unfere erfte Kategorie bes mittelbar jtnn«
lief} 2tnftö^tgen. <£nblicfj fann er aber aucfj lebiglicfj unfer
Sd]önt}eitsgefül}l perlenen, bann fällt er unter bie porliegenbe
Kategorie»
21ucf| bie fjäßlidjfeit berührt uns nici}t gerabe rpofyltuenb,
aber roir „flogen^ uns nicht an ihr, jte iji nicht anftöjjig. Da-
gegen an förderlichen Schäben, ZTCängeln, Deformitäten jioßen
roir uns, fie ftören uns in bem (Befühle bes polten öetjagens
— ein ZTTann ohne Zlafe, mit einem 2lrm, mit safynlofem
tflunb, ein Katjlfopf ruft einen <£inbrucf in [423] uns tjerpor.:
ben roir erft überrpinben muffen, es gehört ein längerer Der*
feljr ba3U, um fich bagegen ab3uftumpfen* tDoher ber Unter-
fcfjieb? 3ch möchte ben (ßegenfafc pergleichen mit bem eines
Kupf erfticfjes , pon bem ein StücE abgeriffen iji, unb eines
fchlechten fijemplars, eines ftumpfen 2lb3uges ; lefcterer führt
uns bas gan3e Bilb bes (Segenftanbes por, jener nicht. Das
ffäpche iji ber minber gelungene 2lb3ug, ber mit jenen
ZHängeln behaftete ZTtann bas €femplar, pon bem ein Stücf
abgeriffen iji, ober bas burch einen (Öl* ober CintenflecE ent-
ftellt iji, in jenem fommt ber Cypus UTenfch, rpie bie Ztatur
ihn einmal gefchaffen t|at, pollftänbig 3ur <£rfcheinung, in
biefem nicht, unb über biefen <£inbrucf permögen rpir uns
einmal nicht ^inrpeg3ufefeen, jeber ZHoment erinnert uns an
ben ZHangel.
Unb barum, rpeil er uns ilnjtoß erregt, foll ber Unglücf*
liehe, ber mit biefem JHangel behaftet iji, bie menfchliche
<5efetljchaft meiben? (ßerpijj nicht l <fr joH nur tun, rpas
in feinen Kräften ftefyt, um anbereu ben peinlichen 2Inblicf
3U erfparen, inbem er bie £ücfe bebecft ober bie mangelnben
552
Kapitel IX. Die fötale med?antf* Das Sittliche«
(ölieber burdj fünftlidje erfefet IDas bie Xtatur serfagt ober
genommen Ijat, vermag bte Kunft, toemt fte eine geioiffe Stufe
erreicht fyat, 3U erfefeen* Die (ßefdjicflidjfeit bes 5*ifeurs be*
beeft bie (ßlafee mit £}aaren, bie bes §afytar3tes füllt bie
galjnlücfen aus, bie bes Banbagiften liefert einen fefylenben
2trm, ein fefylenbes Bein. 2Ittes bas ftnb tr>ertr>oIIe f}ilfs*
leiftungen im Dienfte bes 21nftanbes* Ulan pflegt berartige
ZTadjbilbungen [424] sielf ad} als falfcfy 3U be3eid?nen, gleich
als ob es babei auf eine €nt fiellung ber IDatjrfyeit, eine
unlautere Cäufdjung abgefefyen roäre — man fönnte ebenfo*
gut ben Kleibern ben Porumrf ber 5aIfd?I|eit machen, ba fte
ben menfcfylidjen Körper perfyütlen. Der richtige TXame ifr
ntdjt falf<ä?f fonbem fünfilidj. 2TCag audj bas fubjeftioe iTTotir»,
bas in berartigen 5äQen bie Kunft 3U ^ilfe ruft, t>ielf ad]
nidjt bie HücEftd]t auf anbere: bas 2InftanbsgefüfyI, fonbern
bie auf ftd? f elber: bie ©telfeit fein, jebenfaüs Ijaben tt>ir
alle Urfadje ber (Eitelfeit banfbar 3U fein, es gilt tjier ber Safe:
„tDenn bie Hofe felbft fid? fcfynücft,
ScfymücFt fte audf ben (Sarten."
Das fubjeftipe ZHotit> arbeitet l|ier wie fo oft im Dienfle bes
objef tisen «gtoeefs ; freuen tr>ir uns, baß es in ber ZHenf djen*
roelt ber ZKotise piele gibt, bie ftdj ben gioecfen ber (gefeilt
fdjaft förberltd? erroeifen — es ftnb bie Stränge, mittels
benen es ben giefyenben gelingt, ben IDagen aus ber Stelle
$u fdjaffen.
2. Die Kleibung,
2d\ fütjre fte nur ber DoHftänbigfeit roegen auf, ofyte
weitere Bemerfungen, bie Ijier feljr überflüfftg tsären, liin^n*
3ufügen,
3. Dieöefriebigung ber leiblidjen23ebürfniffe.
Die ftmtlicfy bebürftige Ztatur bes UTenfdjen fyat 3U einer
ZTtenge von 2lnftanbsregefn 21nlaß gegeben, tpekfye [425]
fämtlidj bie ^ernljaltung bes äftljetifd} 21nftögigen 3um <§tt>ecfe
Das äftfjetifd? 2lnftö§tge> — (Effen unb (Ermfen*
333
haben. VO'vc fyaben 3toet Klaffen berfelben 3U unterfcheiben.
T>ie einen ftnb negativer 21rt, fie ftnb abfolute pro^ibttir>*
gefefee, welche bie Sefriebigung getoiffer 23ebürfniffe in <ßegen«
tsart anberer ausnahmslos unterfagen, Die anbeten ftnb
pofitiper 21rt, fie 3eichnen für biejenigen öebürfniffe, welche
auch in (ßegewoart anberer befriebigt werben bürfen (bie
gefeßfcfjaf Hieben im (Begenfafe jener ungefellfchaftlichen), eine
beftimmte 5orm ber 23efriebigung vov. JEjeroor^ebung per*
t>ient l|ier nur bie 23efriebigung bes Sebürfniffes nach leib*
lieber itaB|rung: bas €ffen unb Crinfen, unb ihm will ich
im folgenben eine eingetjenbe Betrachtung wibmen*).
Bei feinem Bebürfnis liegt bie 5orm, welche bie Sitte
für bie Sefriebigung besfelben porge3eid?net iiat, fo weit ab
von ber 2lrt unb IDeife, wie fie beim Cier erfolgt, als bei
biefem. 3n nichts liebt ftch ber ZHenfch mit feiner [426]
finnlich bebürftigen Seite fo fefyr t>om Cier ab, als im <£ffen
unb Crinfen, nicht bloß in bem, was, . fonbern auch in ber
2lrt, wie er igt unb trinft, Vem Zfienfchen ift t>on ber Ztatur
burch feine überlegene 3ntelligen3 bie 2TJögltchfeit gewähr
einen (Trieb, ber 3unächft nur bem gweefe ber (Ernährung
bient, 3U einer Quelle reiben (ßenuffes für ftch 3u gehalten,
unb er li<\t bekanntlich bas Seinige reblich getan, um biefe
*) 3dj voxü jebodj nidjt unterlaffen, bie 2Iufmer?famfeit bes £efers
auf bas (Eafcfyentudj 3U lenfen» Die 23ebeutung besfelben für bie fern-
Haltung bes äfthettfdj 2lnftö§tgen brauche id? nidjt flar 3U machen* Was
hat bev IHenfd? gemacht, bevor bas Cafchentua} eingeführt tporben ift?
3dj l^abe irgeubtso bie Behauptung gefnnben, baß ber gefunbe Hlenfch,
tnsbefonbere in füblia^en (Segenben, tpeld?e ihn ma?t mit Sdmupfen
hetmfudjen, bes (Eafdjentuchs gar nidjt bebürfe* ilber in fübltdjen
(Segenbett hat bie Hatur ihn um fo reiflicher mit Sa?n>et§ bebaut —
ift bas Cafchentud? hier weniger nötig? Die Homer fanntett bas Cafd^en*
tud? fd?on am (Hube ber Hepubltf4, ber ältefte Harne n>ar sudarium
(Schmetgtuo), sudor), \>arxn famen rerfd]tebene aubere auf, 3* 23* orarium,
facitergium ((Sefid^tstuch, os, facies), mucinium (Schleimtucb, , mueus), f»
HTarquarbt, Das römtfdje Privatleben II, 5^69» £etp3tg \882.
534 Kapitel IX. Die feciale HTedjcmif. Das Stttltdje.
ITCögltchfett aus3unufcen. Der ZHenfch h<** fich ber 5*eube,
Sie er am <£ffen unb Crinfen empftnbet, fotoenig 3U fchämen,
ba§ er fich ber Cafelfreuben im (Segenteil als eines eigen*
lümttch menfchltchen Por^uges t>or Sern Ciere rühmen barf.
Don jeher I^aben fie ihm als 2lusbru<f unb Verherrlichung
aller 21nläffe häuslicher, genoffenfdjaftlicher unb öffentlicher
^reube gebient, fein ^cftf leine 5eierlichfeit, feine <£fyren*
beseugung, fein öffentlicher 2hisbrucE ber (Semeinfamfett ohne
ein folennes 2TcaI^L Selbft ben (ßöttem roarb im (Dpfer ein
ZHahl aufgerichtet, um auch jte ber Cafelfreuben teilhaftig
3u machen, auch fie müffen, um fich 3u freuen, effen unb
trtnfen. 3n biefem Sinne fann man bas gemeinfame €ffen
unb Crinfen gerabe3u als eine feciale 3nfiitution he$e\dinen.
Von manchen ehemals bebeutungssollen genoffenfchaftlid]en
Derbänben ift als Caput mortuum vergangener ^errlichfeit
oft nichts als bas gemeinfame 5efteffen übrig geblieben*).
[427] 3m folgenben foH ber Xladivoeis erbracht roerben,
u?ie bie moberne 5itte bie formen bes (Effens unb Crinfens
äfthetifch gehaltet h<*t. <£s iji ein Stüd ber auf bie (Er^ielung
bes »ollen (ßenuffes ber Cafelfreuben gerichteten Sfthetif
bes <£ffens unb Crinfens, bas ich bem Cefer vorzuführen
gebenfe. freilich ein bürftiges Stücf Sfthetif, bas felbfi hinter
bem jenigen, bas beim gaftlichen XHahle bem (ßefchmaef unb
Kunftjtnn ber Hausfrauen, Koche, Cafelbecfer 3ufäHt, 3urücf«
bleibt, aber boch bas erfte unb unerläßliche — fein Hetchtum
ber Cafel, feine Kunfi ber Jlusfchmücfung vermag ben ZHangel
besfelben 3U erfefcen«
*) So 3. bie <§unfteffen in mannen (Segenben ber 5d?r>et3 unb
Deutfcfylanbs* Die gugefyörigfeit 3U ben englifd?en >Inns< nnrb burd?
CCetlnafyme am gemeinfamen ^efteffen bofumentiert, fte gilt als prae-
sumtio juris et de jure ber Betreibung bes Kedjtsjtubinms — eine 21rt
ber Beweisführung, bie ftcfy and? bei uns manage Bed?tsjrubicren>e gewiß
gern gefallen Iaffen mürben.
Das SjHiettfdj 2Jnftö§tge, —
(Effert unb drittfem
335
Unfer Mnterfucfyungsobjeft hüben bte 2tnftanbsregetn,
rt>eld?e ben «gtsecf ^aben, bas äftljetifd? 21nftößige beim (Effert
unb Crinfen ferrt3u^altert. Ein tounberltdjes ©bjeft für eine
tmffenfdjaftlidje Untersuchung! Der (Erfolg muß barüber ent*
fd]eiben, ob es berfelben roürbig wat.
Das Cier frißt, fäuft, ber ZHenfd? ißt, trinff. XDatnm
befonbere 21usbrücfe für ben 2ftenfd?en? Bei faß aßen anbeverx
leiblichen Verrichtungen bebient fiel} bie Sprache für ben
ZlTenfd}en berfelben 21usbrüdfe rt>ie für bas ©er: beibe liegen,
fdjtafen, rur^en, flehen , gerben, laufen, fd]tr>tmmen, fallen,
atmen, fdjtx>it$en ufux, toarum alfo tjier befonbere Jtusbrücfe?
IDeil bie Sprache [428] richtig erfannt hat, baß es pdf hier
um einen Vorgang fyanbett, ber burdj bie 21rt, tme er ge*
fcfyieljt ober roenigftens gefchefyen foH, roie fein anberer ben
ZlTenfchen t>om Cier abgebt (Es ifi alfo feine bloße Per*
fchiebenfyeit bes 21usbrucfs, für bie toir nur bie Courtoifte
ber Spraye in Besug nehmen fönnten, tseldje es in biefer
Bestellung an Seifpieten nicht fehlen läßt (5. 23. bas „(gerufen"
ber Souveräne), fonbern es ifi eine Derfdjiebenfyeit ber Sache
f elber, welche bie Sprache f|ier 3um 2tusbrucf bringt — mit
jenen beiben 2lusbrücfen rücft fie bie obigen Vorgänge aus
ber Sphäre bes Cierifchen in bie bes XlTenfchüchen.
Damit ift ber entfcheibenbe (Sefichtspunft namhaft gemalt,
welcher it>ie ber Sprache bei ber Öe3eichnung biefer 21fte, fo
ber Sitte bei ber 2tuffieHung ber 21nftanbsregeln für bie 5orm
ihrer Dornahme t>orgefd]rt?ebt fyat, es ift bie ^ernhaltung
alles Cierifchen.
tDorin liegt bas ©erifcfye bei ihnen? Die 23eanttt>ortung
biefer frage voxvb bie ein3elnen punfte barlegen, an benen
bie ilnjlanbsgefefee anfefeen. Es finb folgenbe.
Das erjte ZHerfmal bes Genf d\en liegt in ber (Sier unb
fjafl, mit ber bas hungrige unb burftige Cier ftdi über ben
Stoff Ijerfiür3t. Diefelbe führt uns in ihm bie untoiberftefy
336 Kapitel IX. Die fatale ITCecfyantL Das Sittliche*
üdie (Sewalt bes Naturtriebes , bas rotje Walten ber fmn<
liefen Hatur vov 2lugen, unb bas ift ein 2lnblicf, ber uns
beim UTenfdjen antr>ibert; voit »erlangen von ifym, baß er
aud] ba, voo er ber Natur feinen Cribut entrichtet, [429]
feine menfd}lid}e IDürbe, bie tn ber Freiheit bes IDiHens
gelegen ift, behaupte, es foH ben 2lnfd?ein gewinnen, als ob
nicht bie Natur, fonbern fein eigner freier IDille ihm ben
2tft biftierte, bas €ffen unb Crinfen bei ihm foll nicht ben
(E^arafter eines Naturpro3effes, fonbern eines IDiHensaftes
an fich tragen, 2Juf jenes 3ielt bas „^reffen, Schlingen,
Saufen" beim Cier, auf biefes bas „fiffen, Crinfen" beim
ZTEenfchen* 2)er (ßrunb biefer 5orberung iji aHerbings nicht
äfthetifcher, fonbern etfyfcher 2trt; aber bie 5orm, in ber bie*
felbe 3ur £> erwirf lidjung gelangen foH, fällt als 5orm nicht
ber ZHoral, fonbern ber Sitte, bem 2Inftanbe anheim — wer
gierig unb Ijaftig ißt, begebt bamit nichts Unmoralifches,
fonbern x>erftößt nur gegen ben 2lnftanb. 2tber auch nur bie
5orm bes (Effens unb Crinfens fällt unter bie £>orfd?riften
bes 2tnfianbes, nicht bas 2ftaß, bie 3nnehaltung bes lefcteren
ift ein (Sebot ber Utoral. Beibe perhalten fich völlig felb*
ftänbig gegeneinanber, ber Unmäßige, ber bas (Sebot ber
ZHoral übertritt, fann babei bie 5orm forgfam beobachten,
der Mäßige, ber es befolgt, fann burch bie 2Irt, wie er ißt,
bie $otm fehr »erleben.
<£in 3toeites ZHerfmal ber Cierifchen befteht in ber Kon*
tinuität bes Elftes beim Cier im (Segenfafe 3U ben paufen,
t>ie ber ZHenfch (worunter I|ier ftets ber Ulenfch, wie er ben
(Befe&en bes Unftanbes 3ufoIge fein foll, serftanben wirb)
babei macht Das Cier unterbricht fich nicht, es hört, wenn
es nicht geftört wirb, mit bem €ffen [430] unb Crinfen erfl
bann auf, wenn ber Naturpro3eß t>öHig abgefpielt f^at, nur
feine (Sier minbert fich allmählich* 2>er Xflenfch bagegen unter*
bricht fich beim €ffen unb wür3t basfelbe burch Unterhaltung.
<Eierifd?es unb menfcfyltcfyes €ffett uttb Crmfen
337
Damit fonftatiert er, baß es ihm nicht bloß um Sefriebigung
bes tierifdjen 23ebürfniffes 311 tun iji, baß vielmehr auch ber
(Seift feinen 2tnteil bar an fyat paufen beim <£ffen enthalten
baher eins jener ZHittel, woburch ber ZHenj'c^ bem Dorgange
ben C^arafter bes echt UTenfchlichen aufprägt Die unfrei*
billigen paufen, welche burch bas fuf3efftoe firfcheinen ber
Speifen beim reicheren ZHahle bebingt pnb ((Sänge), fommen,
wenn fie auch nicht burch bas ^ntete\\e, bie Unterhaltung 3U
förbern, fyiftorifcfy I^erporgerufen worben finb, bodf bemfelben
tatfächlich 3ugute — wären fie nicht fonft nötig, fo müßte man
jte aus bem (Srunbe einführen, fie bilben ein wertvolles Kom«
plement ber Cafelfreuben. So fann man alfo felbft bie ^>eit«
bauer, wekhe ber Zfienfch bem ZHaf^Ie wibmet, ba jte in
geiftigen 3ntereffen ihren (Srunb {\at, als ein unterfdjeibenbes
Znerfmal bes menfchltchen unb bes tierifdjen (Effens be3eichnen.
Die Sprache h<*t biefes charafteriftifche JHoment treffenb betont,
inbem fie nur bei jenem von einer Ulahl'3eit fpridjt (worunter
urfprünglich bas gemeinfame Ulahl perftanben warb, bei bem
allein eine Unterhaltung möglich ift); bas Cier fennt feine
2TCahl3eit, b. h« es beanfprucht für ben 2lft feine längere «geit,
als burchaus nötig ift, um ben junger unb ben Dürft 3U
ftillen. Der ZHenfch bagegen, wenn er mit mehreren 3u*
fammen [431] ißt, „läßt fich <§eit" beim <£ffen, wie bie Spraye
wieberum fo treffenb fagt, er will babei „feine gett h<*ben",
b. h- »erlangt mehr bafür, als burch ben phYftf^n Vor-
gang geboten wäre» Diefes plus ber 3eitf welches eben
ber 2lusbrucf Utahl3eit betont, fommt auf Hechnung feiner
ZHenfchennatur.
Drittens. Das Cier liegt ober fteht bei bem Jlfte, wenig-
stens bilbet bies bie Hegel — ber 2lffe bewährt auch barin feine
Übereinftimmung mit bem Ulenfdjen, baß er jtfeen fann, aber
3um Stuhl unb Cifche l\at auch er es nid}t gebracht — ber Uüenfch
fet$t fleh 3um ZTCahle, bas £iegen gilt für unanftänbig (f. u.).
p. 3t|«ring/ Per ^toecf im Hed?t. II. 22
558 Kapitel IX. Die fatale HTedjamf* Das Sittliche.
Viertens. 2)as Cier ijl bei ber Verrichtung bes 2lftcs
auf bie thm von ber Zlatut verliehenen £t>erf3euge ange*
liefen, ber XHenfch, 3a beffen unterfdjeibenben ZHerfmalen
pom Ciere befanntlich bie €rfinbung unb ber (gebrauch fünft«
licher 2X>erf3euge gebort, ift auch B^tcr ber XTatur burd? bie
Kunjl 3u Ejilfe gekommen, Das urfprüngliche ZHotto, bas
ihn 3ur Anfertigung ber 3ur Pomahme bes 2tftes bienlichen
fünftlichen IDer^euge veranlagte, u>ar praftifdjer, nicht äfthe*
tifcher 2lrt: bie Hot, bas Bebürfnis, nicht ber 2lnfianb, bie
Heinlicfyfeit. Unter ben x>erfchiebenen (geraten, bie u>ir t^eut-
3utage auf unferen Cif chen finben, iji bas ZlTeffer (in ber
Hr3eit ber gefchärfte Stein — fo bei ben älteften ©pfern)
bas erfte getoefen, welches bas Sicht ber Welt erblicft hat.
Seine 23eftimmung war nicht fowohl bie, bas 5Ieifd] 3U 3er*
teilen, [432] als 3U r>er»teilen, nur ber fyausvatex führte bas
2T?effer, nicht bie (ßäfte, fie bebienten jtd) berfelben Schneibe*
xt>erf3euge wie bas ©er: ber §al\ne. 3n tx>eld\ev (Drbnung
bie übrigen ihm gefolgt finb, bas 3U unterfudjen ift Sache
bes Kultur^iftorifers; aber lange geit h<*t es gefoftet, bis
ber llppaxat, ben wir i|eut3utage als unerläßliches (Erforbernis
felbft bes gewöhnlichen bürgerlichen Cifdjes betrachten, unb
beffen in früherer &ext felbji bie Cafel ber Konige unb
(Srogen entbehrte*), 3uf ammengebracht war. 3d] werbe ihn
unten 3um (Segenftanbe einer befonberen Betrachtung machen,
ba er mir Gelegenheit gibt, einen gan3 intereffanten «ßeftchts«
punft an ihm nad^uweifen. 2)as 3ntereffe, bas er an ber
gegenwärtigen Stelle für mich ^at , erfchöpft pd) mit ber
*) 3n einer an bie (Dfffytere gerichteten ^oftafelorbtmttg, ans bem
fieb3e^nten 3a Wunbert fftxbet fid? nodj bie BefKmmmtg, ba§ fie ifyre
^änbe ntdjt an ben Kleibern ihrer (Ofdjnad? darinnen abtroefnen foüen;
Sermetten fannte man alfo barrtals nod? ntdjt Den Hörnern u>aren
fie ebenfo tme bie (üfdjtücfcer bereits befannt, XTCarquarbt a. a. (D.
5. 303 ff v $69*
Das äftljetlfd} 2lnftößtge* — Schein ber Ittägtgfeit. 339
Semerfung, ba§, tpeldje ZlTotipe immerhin auch unfere gütige
3tusftattung bes Cif d>es 3MPege gebracht fyaben, bas Dor*
hanbenfein berfelben unb ber jebem 3U feinem befonberen (ge-
brauch übertpiefenen (ßeräte ein unumgängliches €rforbemis
bes 2lnftcmi>es bilbet, man bebient fich ihrer nicht feiner
felbft tpegen, bas l|et§t aus bloßen gtpedmäßigfeitsrücfftchten
— bann fönnte man es bamit galten, tpie man tpollte —
fonbern ber anbeten *pegen, aus Hücfjtcfyten bes 2tnftanbes,
um [433] ihnen einen äfthetifch tpibertpärtigen 2lnblidf 3U er»
fparen. Der ZHenfch t^ebt fleh auch baburch Pom Cier ab.
2lIfo 5ernhaltung alles beffen, roas beim <£ffen unb Crinfen
an bas ©er erinnern fann, ift ber erfle (Sejkhtspunft, ben
roir getponnen I^aben.
Der 3tt>eite (ßeftchtspunft ijt ber ber UerhüHung bes
Scheines ber Unmäßigfeit, Des Scheines — nicht ber
Unmäßigfeit f elber?
ZUenn rpir aufrichtig fein »ollen, fo muffen wir gefielen,
ba§ bas Übermaß ben erflärten gwed aller Cafelfreuben
bilbet, fie l|aben bie öeftimmung, uns 3U Perioden, bas pon
ber Ztatur burch ben gtped ber (Ernährung Porge3eidjnete
ZHaß 3U überfchreiten, fie fefeen an bie Stelle biefes gtpetfes
ben bes (Senuffes, ber nicht bloß qualitatip, fonbern auch
quantitatip höhere 2lnfprüche ergebt, als jener. Wenn burch
einen gauberftab bie Speifen unb lüeine eines opulenten
XÜal\Us in IDaffer unb 23rot pertpanbelt, ober tpenn rpir im
täglichen Ceben auf (Sefangenenfoft gefefet roürben, tpie tpenig
roürben roir 3U uns nehmen! 3n biefem 5inne entölt bas
ZTienü einer jeben reich befefeten Cafel ein Programm ber
Unmäßigfeit. 2lber bie Sitte hat es perftanben, ber Sache
eine (ßeftalt 3U geben, bei ber bas 2lnftößige ber Unmäßig-
feit permieben toirb, inbem fie biefelbe äußerlich mit bem <5e«
tpanbe ber ZHäßigfeit befleibet. <£in Pergleich unferer heutigen
tt^eife mit berjeuigen früherer Seiten tpirb bies flarftcüen.
22*
3^0 Kapitel IX. Die fatale ITCedjantf. Das Sittliche»
[434] 2lus unferen mobemen flehten (Släfem fönnen voxx
Ijeut3utage nic^t tsentger trinfen, als unfere JUtoorbern aus
iljren mächtigen pumpen unb pofalen, facfylidj l\at alfo bie
Derbrängung ber leiteten burdj erftere ber Unmäßtgfeit im
Crinfen nidjt gefteuert. 2lber ber '5orm nad}, alfo in äjii>e*
ttfdjer 23e3iefyung enthält fte einen 3tr>eifellofen 5ortfd)ritt. Der
pumpen ift bas Symbol, bas Programm ber Unmäßigfeit,
bas (Sias, bas ber XlTäßigfeit, jener ruft fcfyon burefy feine
äußere <£rfd?einung bie DorfteHung ber XtTafJenljaftigfeit bes
5toffes Ijert>or, auf beffen 23en>ältigung es abgefeljen ift,
biefes burdj feine Kleinheit bie bes befdjeibenen Quantums,
mit bem man jtd) su begnügen gebenft, es belägt uns in ber
3öufton ber 2ftäßtgfeit, es »errät ja nicfyt, tt>ie oft es gefüllt
\% es 3äfylt, es plaubert ntdjt.
€in ähnlicher (Segenfafe u>altet 3tsifcf?en ber früheren unb
ber heutigen IDeife in be3ug auf bas €ffen ob. <£s gab
eine geit, too bie (Seridtfe beim feftlicfyen ZlTaljle in einer
ZTfaffenljaftigfeit aufrüsten, baß bie €ifd?e 3U brechen brotjten.
2tudf in ber bamaltgen geit tannte man allerbings bereits
bie (Einrichtung bes fuf^effipen (Erfdjeinens ber (Sericfyte
((Sänge), toie fie bei einem reichen ZlTatjle \d\on burdj bie
Hücfjtd]ten ber Küdje unb bes J^erbes geboten iji, aber t>on
unferen heutigen (Sängen unterfdjeiben jtc^ bie bamaligeu
ebenfo toie ein fdjtserbelabener Caftoagen von einem Ka*
briolett, jeber ein3elne (Sang toar roudjtig, maffenfyaft, bie
Cafel mußte ftets gan3 gefüllt [435] fein*), tyr bloßer 2lnblicf
*) q5u &etn 5W&* *ru3 man (Sendete, bie erß fpäter in Eingriff
genommen werben feilten, fdjon beim beginne bes ITCafyles auf, unb
erfefcte biejenigen, tt>eld?e 3una'd?fl: an bie Hetye famen, bard? neue, fo
baß bie Cafel flets üoflftänbtg befefet u>ar* 3$ fyabe biefe Hofy aus
einem „Crancfyierbü allein" (S, 261 Hote) entnommen, in bem neben ber
Anleitung 3um Crandjieren auefy bie jnr gehörigen 2luffteüurtg ber
Speifen erteilt xvixb.
Das äfifjetifdj 21nf*ößtge* — Schein ber HldgigFett 3^
allein fdjon mußte ben (Säften bic öerufygung geroäfyren,
baß es audj bem e^efftoften 2tppetit an nichts fehlen toerbe,
ein Seitenjlücf 3um pumpen, ber bem Durfte biefelbe 21usftdit
eröffnete! 2llfo abermals bas offen serfünbete Programm
ber Unmäßigfeit.
fiben bas aber ift es, tt>oran unfer heutiges (ßefütjl 2tn*
floß nimmt, n?ir verlangen, baß tsenigftens ber äußere Schein
getoafyrt toerbe. 3)iefen Dienft leiftet uns bie heutige <5e-
ftaltung ber (Einrichtung ber (ßänge beim ZITafyle. Diefelben
machen als fotdje nie ben <£inbrucf bes Hlaffenfyaften, Über*
Iabenen, an ben ftdj einmal untDiUfürlic^ bie Dorfteüung ber
Unmäßigfeit fnüpft, jte fähren toie bas (Sias bas Quantum
fu^effto in fleinen Dofen herbei unb fyinterlaffen ebenfotr>enig
roie lefcteres eine fidjtbare Spur, bie 3ßufion ber ZlTäßigfeit
roirb burd} fte in feinem ZHomente geftört, inbem bem 21uge
ber 21nblicf bes ZHaffenfyaften erfpart bleibt.
(£in britter punft, an bem berfelbe <5runb3ug unferer
heutigen Sitte: bie 2tbu>et|r bes äußeren Scheines ber Un*
mäßigfeit fidj tx>ieberIjolt, ift bas Sifeen beim ZHafyle. Dom
äftfyetifdjen Stanbpunft aus betrautet läßt jtdj gegen bas
Ciegen foroenig einroenben, baß man es im [436] <5egenteil
für malerifd] fcfyöner erflären muß, ba es bem menfdjlidien
Körper (SelegenBjeit gibt, feine (Seftalt unb Scfyöntjeit in ben
t>erfcfyiebenften Cagen 3ur (5eltung 3U bringen, roätjrenb bas
Sifeen bei Cifdje nur ben ©berförper ftdjtbar toerben läßt
unb ber Setoegung besfelben eng gemeffene (5ren3en fefet —
in malerifdjer 23e3iel)ung toürbe ein griedjifcfyes Sympoflum
bas 21benbmal|l t>on Ceonarbo ba Dinci fcfylagen. XDarum
liegen roir ljeut3utage uidjt mefyr bei Cifd) nad\ ber IDeife
ber (griecfyen unb Horner? Weil bas £iegen 3ut>iel Haum
roegnimmt? 2lber aud] u>o uns ber Haum 3U (ßebote fielen
toürbe, r>erftatten toir es uns nid]t, ber Jlnjtanb unterfagt es.
XDarum? IPeil bas liegen ben £inbrucf ber 33equemlid]feit
3^2 Kapitel IX. Die faiale XlTedjaniF. Das Sittliche.
madjt? (Eine öequemlidtfeit, bie uns in bem, was wir 3U
©errichten traben, nicfyt fynbert, tji nidjt t>erwerflidf, unb bei
Cifdje wünfdjen unb wollen totr bie 33equemlid}feit, benn bas
ZHafyl foH uns nidjt blojj 3um <£ffen, fonbern 3ugleidj 3um
Jlusrutjen unb 3ur (Erholung bienen, fonft würben wir es
ftefyenb perridjten, unb fdjleditljin ift bas Siegen ja aud) nidjt
verpönt, 3. 23. nidjt im freien bei einer Canbpartie. IDarum
alfo im ^aufe? 2ludj t^ier gibt bie Spraye uns bie ge*
wünfd>te Jlusfunft. Sie be3eidjnet ein 2Tfal}l, bas in DöHerei
ausartet, einerlei, ob man babei ftfct ober liegt, als (Belage,
wäbrenb fie ben 2lusbrutf für bas folenne 2Tfat|I, bas ftei?
innerhalb ber Scfyranfen bes 2tnftanbes bewegt, bem Sifeen
entlehnt (Banfett x>on ber Sanf, auf ber man [437] ftfet,
f. u.), bas Siegen gilt ifyr mithin als Jtusbrucf ber Unmäßig»
feit. Zlidtt alfo bie öequemlidjfeit als folcfye ift es, welche
jte mißbilligt, fonbern bie ^equemlidtfeit, welche ben &wed
Ijat, ber Unmäßigfeit 3U bienen. Qat jte unrecht, wenn fie
bem Siegen biefen gweef unterfdjiebt? 2)ie (ßefdjidjte erteilt
bie Antwort barauf: bie altrömifdje Sitte bes Sifeens bei
Cifdje würbe mit ber bes Siegens erft bann sertaufdjt, als
bie Völlerei in Horn überfyanbnatjm (S. 3\9f0» 2>a5 Siegen
ift eine urfprünglidj orientalifdje Sitte, bie im (Drient burd?
fltmatifdje Derljältniffe bebingt fein mag*), (ßried]en unb
Homer fyaben fie erft von t^m entlehnt. 3>ie £)eife bes
2lbenblanbes ift bas Stfeen bei £ifd}. Der (ßegenfafe ift
fd^einbar rein äußerlicher 2lrt, in IDirflidjfeit aber fyat er eine
*) Die ba3u ottnenben Porndjtungen fyaben bis auf ben heutigen
(Eag tyren orientalifcfyen Hamen beibehalten: Sofa, Dtoan, (Dttomane,
Uanavee (letzteres fpracr/lidj griedjifcfyen Urfprmtgs von xwvcoTretov =
XHürfennetj von xdbva^, ITCMe, fadjlidj ägvptifd?en Urfprmtgs). Die
Übertragung biefer €invtd>tuugen auf bas ilbenblanb oirb burd) bie
Berührung mit ben Arabern in Spanien unb m ben Kreit33Ügen er-
folgt fein*
Das äjtfjettfdj Slnftögige*
— Schein bet mägigfeit
3<*3
hohe pfychologifche Bebeutung* <£in ZHann, ber gelohnt iß
5u ftfeen, ift ein anbetet:, als ber gewohnt ift 3U liegen, bie
Catfraft jteht ober fifct, bie Faulheit unb Apathie liegt, es
gehört mehr ba3u, ben Ciegenben x>om Säger auf3ufcheuchen,
als ben Stehenben ober Sifeenben in Bewegung 5U perfefeen.
3)as Huhebett ift bas Symbol ber Apathie bes ©dentalen,
ber Stuhl bas ber Cebenbigfeit unb Hührigfeit bes 2lbenb*
lanbes.
[438] Die mobernen Dölfer traben ber IDeife bes ©rients
bei fich feinen Eingang oergönnt, bie gute Sitte Ijat bas
Siegen bei (Eifche toeber beim häuslichen, noch beim gaftlidjen
ZHal^Ie je 3ugela(fen, unfere Dorfahren pflegten beim <£ffen
auf ber Banf 3U fifeen, gewiffe perfonen, 3. B. bie Cehrlinge
beim ^anbu>erfer, mußten fogar fielen. Daß fte barum nicht
weniger gegeffen unb getrunfen I|aben, als bie Kömer, ift
männiglich befannt, aber meine Behauptung geht auch nid^t
ba^in, ba§ bas Sifeen bei Cifche ben praftifchen IDert h<*be,
ber Unmäßigfeit 3U fteuern, fonbem lebiglich ben äfthetifchen
Schein berfelben fern3uhalten. <£s verhält fich bamit ebenfo
tote mit ben Weinen (ßläfem unb ber (Einrichtung ber (5duge
— fachlich fefeen auch fte ber Unmäßigfeit feine Schranfe,
aber fte t{aben einmal ben äfthetifchen Por3ug, biefelbe 3U
verhüllen, ©b bies fyftorifch bas TXlotxv ihrer Einführung
gewefen ift, gilt mir gleich, fur3um, fo wie fte nun einmal
beftehen, gehören fie nach unferen tyutiQen Begriffen 3ur
Ssenerie bes anftänbigen ZHahles.
§u ben beiben (Seftchtspunf ten, welche unfere bisherige
Unterfuchung uns für bie äfthetifcfye (Seftaltung ber heutigen
IDeife bes Iffens unb Crinfens ergeben liat: 5^nhaltung
alles tDerifchen unb 5ernhaltung bes Scheines ber Unmäßig*
feit, gefeilt fich noch ein britter h^u, ber uns einen höchft
beachtenswerten 5ortfd]ritt ber mobernen <§ett gegenüber ber
Vergangenheit t>or 2lugen [439] führt. 3^ fyn ?ur5
Kapitel IX. Dte foiale Ittedjanif* Das Sittliche.
be3eichnen als (Erhebung x>om Kommunismus beim IHahle
3um 3n^^^uaK5mu5«
Hnfer heutiges Deforum erfordert, baß jeber ber Sifd?-
genoffen alle diejenigen (Seräte, beren er bebarf, für jich
allein 3um ausfchliepchen (ßebrauch erhält: feinen eignen
Stuhl, feinen befonberen Celler, feine (Säbel, fein tTCeffer,
feinen Söffe!, fein (Sias, feine Caffe, feine Sen>iette, unb tt>ir
roürben ben größten 2lnftof$ baxan nehmen, toenn uns ftatt
beffen eine (Bemeinfchaft mit anberen ©fchgenoffen sugemutet
toürbe. <£inft toar es in biefer 23e3iehung anbers beftellt,
unb ich betraute es nicht als überflüfftg, biefe Catfache, bie
tooB|l ben rcenigften geläufig fein bürfte, 3U fonftatieren unb
ins richtige £id)t 3U rücfen. Der Cef er fann baxan inne
u>erben, roiepiel r>on unferen heutigen Einrichtungen u>ir bem
richtigen (Sefühl unb ber allmählichen 2lusbilbung ber Sitte
perbanfen, unb toie jte felbji hi^ einen gan3 beftimmten (Se*
banfen oor 2Iugen gehabt tiat Was einft gemeinfam tt>ar,
hat fte geteilt
Unfere Dorfahren faßen roie bei allen gemeiufamen <§u»
fammenfünften, fo auch beim gaftlichen ZlTahle mit mehreren
3ufammen auf einer unb berfelben öanf *), [440] baBjer, tx>ie
*) Dafyer bie 25anf fprad?ltdj ber 2lusbrucf ber (SemetnfamFeit.
33etfptele; bte Abteilungen bes früheren beutfdjen Beidjstags (3» 23.
(Srafen-, prälatenbanf), bte t|ötjeren Kollegien (%rren- ober abelige
unb gelehrte 23anf) — - bte 23anf ber (Sefd?tt> or enen — bie Spielbanf =
gemetnfames Spiel — bas Banfett = gemetnfames ITCal)I — bie Hebe-
n>enbung; „burd? bie 33an?" — etwas gleichmäßig für mehrere (Selten-
bes — ber Lanfert, b* u ber ntdjt in bem nur für bte (Ehegatten aus-
fdjltepd} bejttmmten (Ehebette, fonbern auf ber allen 3ugänglidjen Sauf
Geengte (bas lateinifcfye vulgo quaesitus) — trielleiajt audj bte XDea^f el-
bauf (bte 3an?gefd?äfte maren urfprünglidj regelmäßig Kompaguie-
gefdjäfte), 21udj in Horn mar bte Bau? (subsellium = nieberer Sitj r>on
sub unb sella) bas ,§eia>n ber (Semeinfamfeit, fo bie Bänfe ber (Tri-
bunen (nidjt, wie ITCommfen, Hörn* Staatsrecht I, S. 323 meint, metl
fle feine magistratus populi romani maren), ber Senatoren ber (Se-
fdjroorenem
Pas afttjetifd) 21nftö§tge* — Pie (Eafel
3^5
oben bereits bemerft, für lefeteres ber 2lusbrucf 33anfett (ttal.
banchetto, fran3- banquet). Unfer heutiger Stut^l serbanft
feinen Urfprung ber 23anf, er ift feiner urfprünglidjen (ßefialt
nad] nichts ab ein Sind, ein Segment ber San!, bte ber
größeren 23equemlicfyfeit ober ber Unabfyängigfeit bes Steens
tt>egen in ein3elne Ceile 3ertegt tr>arb*). XDo^l t>on iljm 3U
unterfdjeiben ift ber audj unferen X?orfatjren befannte Seffel,
b. Ij. ber mit Hücfen- unb 21rmlel|nen oerfefyene unb an er-
ster Stelle aufgerichtete Sifc: ber „Etodiftfc". €r bilbete bas
Dorredtf unb bas Symbol ber ZHadjt**): ber (Sötter, bes
[441] Königs (Cfyrou, Cfyronfeffel), bes Hilters, bes fjaus*
B^errn. Die ZHaffe faß auf ber 23anf : bie 5amilienangel|örigen,
bie (Säfte, bas (Seftnbe. Der eigene Stuljl beim 2Tlafye rote
bei anberen (ßelegenfyeiten tft erft eine firrungenfetjaft ber
fpäteren geit. €r lagt jtctj be3eidjnen als ber ^ortfdjritt t>on
ber (ßemeinfdjaftlidjfeit 3ur 2lusfd}liefjlidjfeit, <Db er lebig*
lidi burd| bas 23Totir> ber größeren 33equemlid}feit, ber 23efyag*
lidjfeit bes Steens unb ber Unabfyängigfeit von Ztadjbarn
betoirft roorben ift, gilt mir gleidf, tdj Ijalte midi an bie
Catfadje: bie 23anf fyat ftd] gefpalten in Stühle, jeber (ßaft
ertjält bei ©fdj feinen StuBjl für ftdf*
*) Per Stufyl ber alten «§eit ift von £}ol3, ungepolftert unb otjne
Seitenlehnen, gan3 urie bie 33anf, bie Bücf leiste fanb fidj audj bei ber
letzterem Pas (Entftetjen bes Stuhles aus ber 23anf liegt noa? flar r»or
bei ben C^orftü^leu ber Pomtierren, bie fidj fd?on äufjerltd? als abge-
teilte Sirje auf einer unb berfelben 23anf Funbgeben*
**) (Hbenfo bas solium (ber griedjifdjc frp6vo<;) ber Hömer, ber bem
^ausl^errn unb bem König gebührte; aus ifjm ging fpäter bie sella
curulis ber patri3tfd?en ITCagiftrate fyercor, IHommfen a.a.(D. S* 316.
Pie Symboli? bes Stuhles unb ber £anf ift alfo bei ben Hörnern gan3
biefelbe u?ie bei ben (Sermanen: bie 23anf bas geilen ber (gemein-
fdjaft, ber Stutjl bas ber <2in3elmad}t. Pamit mag audj bie beutfcfye
23e3eidjnung bes ungarifd?en Stufylrid?ters 3ufammenrfangen, er tuar
nrfprüngüd} Hilter ber föniglidjen Ptenftmanuen (judex servientium) unb
urteilte mit (Sefdjtüorenen (jurati), ba^er ber Stut}l*rid}ter im (Segcufatj
tet leideren als ^anfridjter»
5^6 Kapitel IX* Die feciale ITCedjanif. Das Sittliche*
Serfelbe Vorgang ttueberljolt ftdj bei allen obengenannten
Utenfilien. <£inft aßen alle (Säfte aus ber gemeinfamen Scfyüffel,
toie es nod? I^eutsutage auf bem £anbe oorfommt, gegenwärtig
t]at jeber feinen eignen CeUer für jtdj* Wie bie gemeinfame
Bant ben Stufyl, fo Ijat bie gemetnfame Sdjüffel ben CeUer
aus fidj entlaffen-
<£inft tranfen mehrere aus einem unb bemfelben pumpen,
fyeut3utage fyat jeber fein eignes (Sias für jidj — ber pumpen
entlägt bas (Sias aus fidf, rote bie 23anf ben Stuljl, bie
Sdjüffel ben Celler*). Derfelbe Dorgang toieber^olt pdj bei
ber Kanne unb ber Caffe,
[442] <£inji führte nur ber Ejausfyerr bas IHeffer, jefet Ejat
es jeber (Saft für fidv
<£inft biente bas Cifdtfudj allen (Säjien gemeinfam 3um
2Ibu>ifd)en ber I}änbe, ljeut3utage tt>irb jebem feine eigene
Sersiette gereicht üanf, Scfyüffel, pumpen, Hteffer, Cifd}*
fudj, alle löfen ftdj in f leine Stüde auf, toie bas HTafyl f elber
in ein3elne (Sänge, bie Separationsmetfyobe in 2lmt>enbung
auf bie Cafel, eine (Sleidjartigfeit ber <£nttr>icflung, bie, wenn
fie |tdj audj in ber nieberen Hegion bes täglichen £ebens
bewegt, bodj ben Beweis liefert, wie felbfi fyer eine gewiffe
(Sefefemäßigfeit I>errfdjt — bie Welt bes Kleinen unb Kleinften
als Cummelplafe bes (Sebanfens.
% Die Sprache.
3dl unterfdjeibe bas 2lnftS§ige ber Hebe unb bas ber
Sprache, b. beffen, was gejagt (anftöjgiger 3nfyalt), unb
ber 2Irt, wie es gefagt wirb (anfiöjjige fpradjlidte IDenbungen,
2lusbrücfe). Vas 2Inftöj$tge ber Hebe fällt 3ufammen mit
ber Kategorie bes feyueß (f. u.), bas ber Sprache mit ber
bes äftfyetifdj Jtnftögigen.
*) Daburdj Ijat fidj bas DortrtnFett (5. \97) in gntrinfen vetwan*
belt, bas Zlnftogen ber (Släfer tymbolißert nodj bie alte (Semeinfamfett
bes Crmfgefä'fjes*
Das äfifyetifdj 2Inftö§ige. — Die Sprache* 3^7
H?te ber fiinbrucf bes (Efelljaften nidjt bloß burd? bas
2luge, fonbem audf burdj bas <D\\t vermittelt toerben fann,
fo audj ber bes äftfjetifd} itnftöjjigen.
Sefanntlidj bietet bie Sprache für manche Vorgänge unb
(Segenficmbe 2lusbrücfe unb Hebetvenbungen von einem fet>r
t>erfd}iebenen gufdjnitte bar: rofye, berbe, unflätige, u>ie man
fte nur im HTunbe gemeiner Ceute Ijört, anftänbige, [448]
toie ftdt ber (Bebilbete tfyrer bebient, unb patfyetifdje, txne fte
ftdl nur für bie gehobene Hebe ge3temen. Danadf laffen
ftdf bret verfdjiebene 3biome unterf Reiben: bas bes Dtdjters,
bie geioöfynlidie Umgangsfpradje unb bie Sprache bes pöbels.
Der bei »eitern größere Ceil bes Spradjfdja&es bilbet bas
(Bemetngut bes gefamten Öolfs, er begegnet uns ebenfofeljr
in ber gehobenen, fdjtoungpollen Sprache bes Didiers tr>ie
in ber Umgangsfpradje ber (ßebilbeten unb im ZHunbe bes
pöbels. Über biefes £tit>eau ragt aber ein getoiffer Ceti
empor, ber ber bidfterifdjen ober patfyetifcfyen Sprad^e eigen«
tümlidj tft, unb beffen Perroenbung in ber ttmgangsfpradje
(beifpielsroeife bie 2tufforberung feine „<gäfyren" 3U troefnen,
fein „2tntli#J 3U ergeben) ben Dortourf ber CädjerlidjfeU
begrünben toürbe. <£in anberer Ceil gefy unter biefes
Ztioeau fynab, er bilbet bie Sprache bes pöbels, bas
3biom ber Hoheit, (ßemeinfyeit. IHit ibm Ijaben roir es
fyier 3U tun.
Der <5ebraud} aller itjm angefyörigen IPorte unb iüen-
bungen berührt uns n>ibertr>ärtig, ber (5ebilbete bebient ftdj
ifyrer ntdft, er würbe bamit einen Derßoß gegen ben 2lnftanb
begeben, es ift eine verrufene Hegion ber Sprache, bie er
nidjt betreten barf. I£)arum nic^t? Darf er bie Dinge felber
berühren — unb bas if% bie Dorausfefeung, t>on ber tr>ir fyer,
wo wxv es nodj nidjt mit bem infyaltlid) 3nbe3enten 3U tun
ljaben, ausgeben — roas t>erfdjlägt bie Derfcfyebentjeit bes
bloßen 2lusbru<fs? Weil an bem 21usbrucf, ben roir nur in
3^8
Kapitel IX. Die fötale tfledjanif. Das SittHd?e.
bem ZlTunbe bes pöbels 3U pernehmen [444] getpohnt fmb,
für uns einmal bie Dorfteüung bes pöbelhaften, ber Hoheit
nnb (ßemeinheit Hebt (bas fran3Öftfche: sent la halle): tper ftch
feiner bebient, führt uns bas Stfdp unb IPafchtPeib por 2lugen.
Vet 2lusbrucE als folcher ift baran regelmäßig pöüig unfchulbig,
manche berfelben tparen urfprünglich im allgemeinen (ßebrauch
unb in ber Schriftfprache üblich, bis fte burch anbere per*
drängt unb in jene niedere fprachlich* Hegion i|inabgebrüdt
tourben, bie ihnen für uns ben Stempel bes Hohen, (ßemeinen
aufprägt Sie gleichen 2ftün3en, toelc^e urfprünglich poH
ausgeprägt, aber im £aufe ber §eit abgegriffen unb barum
auger Kurs gefefet tporben fmb. Dom rein etymologifchen
5tanbpuntt aus ift biefe Perfcfyiebenfyeit in ber (geltung ber
ZDorte gar nicht 3U begrünben, fte ijl lebiglich bas ZDerf
eines langfamen fpradjlichen <2nttpertungspro3effes (linguiftifche
3)epalpation).
2)er 2lnftog, ben tpir an biefen 2lusbrücfen nehmen, ift
nic^t moralifcher, fonbem äfthetifcher 2Irt. <£s ift nicht bie
Serü^rung bes (ßegenftanbes f elber, gegen tpelche unfer <5e«
fühl proteft ergebt, fonbem bie 2Irt, tpie fte erfolgt, unfer
geiftiges 2luge umnfeht ihn nicht in PoHem grellen lichte,
nicht in feiner abfehreefenben Slöge unb ZTadftheit, in feiner
berben, bas (Befüfyl perlefeenben XTatürlidtfeit unb Hoheit
tt>afyr3unetjmen, fonbem in gebämpfter Beleuchtung, in einer
getpiffen Umhüllung. Unb an Hlitteln ba3u lägt es bie
Sprache nicht fehlen.
Dor allem fmb es bie 5rembtPÖrter, welche uns in [445]
biefer 23e3tehung tpertpoHe 3)tenße leißen, unb insbefonbere
hat bie Umgangsfprache ber Cerminologie ber ZHebt3in eine
IHenge von 2lusbrücfen 3ur Se3iehung förperltcher Vorgänge,
£eiben, gupänbe entlehnt. Sie l\aben ben Por3ug, ben (ßegen*
ftanb pon ber tpiffenfehaftlichen Seite 3U be3eichnen, ihm fo3u*
fagen ben tpiffenfehaftlichen Schleier über3Utperfen, unb fte
Das äfUjettfdj 2Jnßö§ige* — Die Sprache, 3^9
oerbinben bamit ben Porjug, bafj fte nicht ju befürchten
haben, ber Spraye bes pobels anheim3ufallen.
<£in 3n>eites mittel 311 btefer fprachltchen 2tbmilberung,
insbefonbere in folchen fällen, u>o es ftch um ben 2lusbrucf
ber ftttlichen üermerflichfeit einer perfon hobelt, gewähren
bie 21bjeftioa. Die tmlbernbe IDirfung berfelben beruht
barauf, bajj fte bie Cigenfchaft, welche fte ausfagen, einem
Subftantio hw3ufügen, bem biefelbe als folgern nicht eigen
ift, bas 3n^i^^uum alfo bamit für bie Porjlellung auf
eine Cime gefiellt mit aßen anbeten, bie berfelben Kategorie
angehören: bas leichtfinmge , ftttenlofe Zftäbdien mit ben
ZTläbchen, bas oermorfene XOexb mit ben JDeibern ufw.,
wätyenb bie perächtttche fubftantitnfche Öe3eichnung berfelben
aus ihnen eine eigene Kategorie macht, mit ber niemanb,
ber ihr nicht angehört, etwas gemein h<*t, es wirb baburch
eine Scheibewanb 3wifchen ihnen unb allen anbeten errichtet.
Die Derbheit unb bie Kraft ber Sprache beruht »or3ugsweife
auf Subftantwen, bie ZHilbe, Schonung, Slbfcfjwächung auf
2Ibjeftit>en. 5rembwörter unb 2tb]eftit>a bilben bie fprach*
liehen <5lacdh<*nbfchuhe [446] ber feinen (ßefeHfchaft — ber (ße*
brauch ber f}anbfchuhe iji einmal für fte obligat
5, Das patfyologifdj ^Inflögige*
Der 2lnblicE fremben £eibens x>erfümmert uns bie eigene
5reube, er eignet ftch alfo nid)t für bas gefellfchaftliche §u*
f ammenfein, bei bem es auf (Erheiterung, 2tusfpannung, <£r<
holung abgefe^en ift. Ä)er leibet unb ftch nicht foweit über*
toinben famt, um anberen ben 2Inblicf feines Ceibens 3U
erfparen, foH ftch nicht in ben Kreis ber Weiteren mif chen, et
begeht bamit eine HücfftchtslofigFeit, etwas (ßefellfchafts*
wibriges. Wie ein falter (Segenftanb bem warmen, mit bem
er in Berührung gebracht wirb, Xüärme entsteht, fo auch
bas £eib, bas ftch ber 5reube naht — bas (Sefefe ber
350
Kapitel IX. Die fatale IHec^amf. Das Sittliche»
Ausgleichung 6er Cemperaturbifferen3 gilt auch in pfvehifch^t
Sesiehung, frembe pein berührt peinlich, frember Kummer
per f Ammert ben (Senuf}, frembes £eib perleibet bie 5reube,
frembe Znigftimmung perftimmt.
Darauf beruht bie obige Kategorie bes pathologifch An»
ftößigen, fte hat 3um (ßegenftanbe fcas £eiben, tpelches anberen
in gefetlfchaftsttnbriger ö?eife ben gu>ecf bes gefelligen §u*
fammenfeins perleibet.
Das £eiben fann eine fehr perfchiebene (ßeftaltung an»
nehmen, unb ich folge bem Dorbilbe ber Sprache, inbem ich
brei Arten besfelben unterfcheibe: £eiben, £eib, £eiben*
fchaft. 3$ glaube ben Unterfcfjteb, ben fte babei [447]
im Auge ha^ m^ bxex IDorten roiebergeben 3U fönnen:
Korper, Seele, IDille.
Unter £eiben perfleht bie Sprache ben mit phvftf^n
Schmer3en vethnnbenen guftanb ber Störung bes normalen
23efmbens bes Körpers. Unter £eib ben entfpredjenben §n*
ftanb ber Seele (Seelenleib), bie burch fchtpere Schief [als*
fchläge barniebergebeugt ift unb bem (ßram, Kummer, Sehnte^,
ber Crauer 3U unterliegen broht — bas geftörte (Sleichgetpicht
ber Seele. Unter £eibenfchaft perfteht fte ben leibenben
gufianb bes tDißens, ber ben auf ihn einbringenben Het3en,
Verfügungen feinen IDiberftanb entgegen3ufe£en permag, fei
es bauernb ober porübergehenb (Affeft), ben guftanb ber
(Ditnmaditf ZlTachtloftgfeit, bas geftörte (ßleichgetpicht bes
Hillens.
Alle brei giuftänbe führen uns eine Störung bes normalen
Verhaltens por Augen, unter ber bas Subjeft 3u leiben hat,
fte finb pathologifd^er Art — tpas bas £eiben für ben Körper,
bebentet bas £eib für bie Seele, bie £eibenfchaft für ben
IDillen: einen franfhaften guftanb. Damit glaube ich in ber
obigen 23e3eichnung bes pathologifch Anflößigen bas Uloment
bes pathologifchen gerechtfertigt 3U haben, bas UToment
Das patfyologifcfy 2In(!ößtge*
35H
des 2lnftö§igen hübet den (Begenfiand der folgenden Tins*
füfyrung.
Ellies £eiden überträgt ftcfy, tote foeben bemerft ward, in
abgefdjwädjter JDeife aucfy auf denjenigen, der geuge des*
felben wirb, er f elber wird, tr>enn er nidjt gän$lid) abge*
itumpft oder empfindungslos ift, dadurdj affoiert, [448] in
2Tütleidenfd?aft gesogen. 2lber nadj Perfdjiedenfyeit der
2trt des fremden Ceidens in fefyr serfdjiedener IDeife, dasfelbe
fann ifyn fYtnpatfyifd} oder anttpatl^if berühren, fein
Bedauern, fein Mitleid oder feine Mißbilligung, feinen Cadel
fyeroorrufen; erfteres da, wo die (ßröße desfelben das ZHag
der beim normalen ZHenfdjen t>oraus3ufefeenden IDiUensfraft
überfteigt, wie es bei unferen beiden erften 2lrten des £eidens:
dem Seiden des Körpers und dem £eid der Seele der 5all
ift* Die unwillkürliche praftifdje Betätigung unferes Urteils
darüber ift das Mitleid, das eigene Mitleiden (aufura&sTv,
condolescere, dafyer „Kondolen3" = Betleidsbe3eugung). H>ie
bei der Berührung eines falten Körpers mit einem warmen
jener an XDärme gewinnt, was diefer abgibt, fo aud? fyier;
durdj unfer Mitleid nehmen wir dem leidenden einen Ceil
feiner £aft ab (Ceilnafyme, Anteil nehmen) und gewähren
ifyn felber dadurch (Erleichterung.
Der Dergleid] mit der pfyvfifcfyen XDärmeausgleidjung trifft
aud] darin 3U, daß es wie in der Körpermelt, fo audj in
der geiftigen gute und fd}led]te IDärmeleiter gibt: mitleidige
und fyartfye^ige ZTaturen.
Bei der fvmpat^ifc^en <5efüfylserregung, die, was uns
fyer nid]t interefjtert, auch bei der 5reude ftattfinden fann,
ift das (Befühl, das buvd\ den andern in uns erregt wird,
dem feinigen, wenn audj dem (ßrade nad] perfdjieden, dodj
der 2trt nadj gleich, (5an3 anders bei der antipatfyfdjen
©efüfylserregung, hier berührt uns der guftand [449] des
andern widerwärtig, er erregt unfere Mißbilligung. Deis ijl
552
Kapitel IX. Die fatale medjantf. Das Sittliche.
ba ber Sali, wo ben tPiUen in unferen Jlugen ber Poriourf
ber Sd}tt>ädje, 5er mangelnben Selbjtbetjerrfdjung trifft.
a. 2)as fympatljtfdj 2t n ft ö § t g e.
ZDie fann basfelbe anftöjjig fein, tt>enn es, tr>ie oben 3U-
gefianben roarb, einen geredeten 2lnfprudj auf unfere Seil*
nannte l^at? 2Ius bemfelben (Srunbe, aus bem audj basjenige,
beffen Dornafyme burdj bie Zlatnv geboten ift, anftößig tx>irb
(S. 30\f.), nämlid} barum, u>eü bie HücFjtdjt auf anbere ge*
bietet, es nidjt toafyrnefynbar werben 3u laffen. 2>er Kranfe
mag bem 2Ir3t unb ben Seinigen bie Sdjme^en Hagen, in
bas ^er3 bes 5^^unbes mögen tr>ir unferen Kummer aus*
f Kütten; aber u>as ftcfy tfynen gegenüber 3iemt, 3iemt ftdj
barum nod? nidjt brüten perfonen gegenüber. Diefelbe 23e«
fdjränfung in be3ug auf Seit unb ©rt, toeldje bas Hed>t
aufftellt in be3ug auf bie (Seltenbmadjung redjtlidjer £orbe«
rungen*), gilt aucfy für ben moralifdjen 21nfprud? auf TXl\t<
leib unb Ceilna^me. 3fyn am unrechten ©rt unb 3ur un<
rechten Seit ergeben, ljei§t bas ZlTitleib erpreffen, unb foldje
(Erpreff ungsserfudje roeifl bie (SefeUfcfyaft mit 5ug unb Hedjt
3urücf. ZTidjt fie ift rücfftdjtslos, toenn fie perlangt, ba§ ber
Kranfe, Betrübte, <5ebeugte jtdj im Kreife ber ^eiteren nidjt
Miefen laffe, fonbem er, tx>enn er jtd} einbrängt; fann er itjr
ben Anblicf [450] feiner £eiben, Sd]mer3en, Qualen burd?
Aufbietung feiner IDitlensfraft nidjt erfparen, fo foH er 3u
^aufe bleiben. Ztidjt bie (BefeQfdjaft trifft ber Porumrf bes
€goismus, roenn fie iljm ben Zutritt t>erfagt. Diefer €gois*
mus iß t>oKauf berechtigt, er madjt nur eine 2Inforberung
geltenb, toeldje im IPefen ber (Sefeßfdjaft, fotoofyl ber im
juriftifdjen als im gefelligen Sinne, begrünbet ift, ba§ jebes
ZlTitglieb ftcf^ burdj bie gefetlfdjaftlidjen Hücfjidjten leiten laffe.
*) 1. 32 pr. de usur. (22. JQ . . . opportuno loco, L 39 V. O. ($5. U
inopportuno loco vel tempore.
Das patfyologifdj 2lnfiößtge*
355
Der Voxwnxf bes €goismus trifft umgefehrt ihn, ber rüc?*
fic^tslos genug ift, anbevrx burch ben 2lnblicf feiner S&imev$en
ober feivtes Ceibs bie 23ehagltchfeit, bie ^reube bes gefelligen
«gufammenfeins 3U perleiben, Das Crauerfleib gehört nicht
auf ben Sali, Crcinen unb Klagen nicht in eine heitere
(Sefeltfchaft, fotpenig roie umgefehrt ein Sallfleib in eine
Crauerperfammlung ober roie Scheie unb Spaße hinter ber
Ceiche; £reube unb fjeiterfeit h<*ben ebenfo ihr gutes Hecht
tt>ie Schme^ unb £rauer, unb tper bies Hecht mißartet,
begebt bamit etroas 2lnftößiges.
Das fympathifch 2lnftößige in biefem Sinn umfaßt 5tpei
21rten: bas förperlich unb bas feelifch 2lnftößige* Über
lefeteres t^abe ich nichts su bemerken, bagegen mögen über
erfteres einige JDorte plafe finben.
Das gegen alle unangenehmen €inbrüefe empfmbliche
(Sefühl ber feineren (SefeUfcfyaft tjat bemfelben eine fehr rpeite
2lusbehnung gegeben, es perlangt nicht bloß, baß ihr bie
XDa^rne^mung eines förderlichen £eibens, fonbern felbfi bie
emes bloßen förperlichen Unbehagens vorenthalten [451]
bleibe. 3n ber guten (Sefettfchaft foH jeber ben Schein
erregen, als ob er fich förperlich u>ohl befinbe, er barf nicht
perraten, baß ihn förperlich irgenb ettpas beläftige, er fott
gan3 ihr angehören, förperliche öefchtoerben ober Unbequem*
lichfeiten follen feine 2lufmerffamfeit pon ihr nicht abtpenben*
Selbft ber 2lnbli<f förperlicher Schaben, IDunben, (Bebrechen,
Deformitäten fott ihr möglichft erfpart bleiben, unb bie Kunft
bietet ja bie Ztlittel ba3u bar. Die 2lnftanbsregeln in be3ug
auf bas pathologisch 2lnftößige treffen in biefem punfte mit
benen bes äfthetifch Slnftößigen (S. 330 f.) 3ufammen.
b. Das antipathifch 2lnftößige.
Der Unterfchieb biefer 3tpeiten Kategorie pon ber erjien
beruht auf ber Zurechnung bes leibeuben guftanbes 3ur
eignen Schulb. Dem Ceibenben ber erften Kategorie halten
©O^erinS/ §wecf im Kedjt. II. 23
55^
Kapitel IX. Die fatale Itlecfjantf. Pas Sittltcbe*
roix fein £eiben 3ugutc, voxt nehmen nur barem 2lnfto§, baß
er uns 3u unfreiwilligen <§eugen besfelben macht, bem 6er
Stetten Kategorie bagegen machen a>ir aus bem £eiben felber
einen Dorrourf, jener perlefet uns baburch, baß er fein £eiben
seigt, biefer baburch, baß er bemfelben nachgibt Der anti*
patl|tfd]e £h<*rafter biefer 2lrt bes pattjologifch Jlnftößigen
beruht auf ber mangelnben Selbftbeherrfchung,
3ch unterfcheibe sroci Birten berfelben. Die eine iji bie*
jenige, bereu ich oben gebachte: ber Ausbruch bei £eiben<
fdjaft, bie momentane 2TJac^tloftgfeit bes ttMHens gegenüber
bem plöfelich auf ihn einbringenben 2lffeft. Die [452] Sprache
bebient fich für ben Porgang bes Silbes bes „2lufbraufens,
^luftpaQens" (bes JDaffers) unb bes „2lufIo b er ns" (ber flamme).
3d] roät^Ie bafür ben 2tusbrucf ber ^eftigf eit. 3hr £h<**
rafter liegt befdjloffen in ben beiben gügen bes Momentanen
unb bes (ßetoaltfamen, es ift bie plöfcliche (Erregung bes
(Semüts, bie ftch nach 2trt einer pulfanifchen (Eruption £uft
macht — bas (ßetoitter bes IDiHens. Die 3tt>eite 2lrt be-
3eid?ne ich als üble £aune. Sie pergegenroärtigt uns bie
ZHachtlofigfeit bes löillens gegen bie unbebeutenben, flein*
liehen £eiben unb Anfechtungen bes täglichen £ebens. Die
^eftigf eit ift ein plöfeltcher Blifc unb Donner bei Weiterem £}immel,
fte erfchreeft, bie üble £aune ift trüber, bebeefter Gimmel,
Begentoetter, fte t>erftimmt; bie (Befeßfchaft aber tx>iH ftch
rr>eber erfchreefen, noch serfiimmen Iaffen, ihr Sarometer
muß immer auf gut JDetter fielen*
Die üble £aune enthält bas pfychifche Seitenftücf bes fo*
eben erwähnten förperlichen Unbehagens, u>ir fönnen fte als
ben guftanb bes feelifchen Unbehagens befinieren. Die Sprache
hat eine große 5üHe t>on 2lusbrüdf en für fte, man entnimmt
baraus ihre hohe <£tttpfinblichfeit ihr gegenüber: serflimmt,
mißgeftimmt, mißvergnügt, mißmutig, fdjlecht gelaunt, übel ge«
launt, fehlest aufgelegt, mürrifch, rei3bar, r>erbrießlich, ärgerlich,
Das anttpatfjifd} Anftößtge* — Die üble £aune, 355
1P03U bie Sprach bes Dolfs unb bie prot>in3ialbiaIefte nodj
viele anbete fyn3ufügen. Unter allen Cypcn bes gefeüfc^afts*
tpibrigen XTTenfcfyen ift ber Perftimmte bei unerträgliche unb
unleiblidtfte. €r ift bie Drofyte in i>et (Sefeüfdjaft, bie fid}
auf Koften ber [453] Arbeitsbienen näfyrt, benn er trägt nid?t
blog felber nichts bei 3um gemeinfamen gtoeefe ber gefeilt
fdiaftlicfyen Anregung, fonbem t>erfümmert ben anbem bte
(Erreichung besfelben, inbem er lüermut in ben Sedier ber
5reube fluttet — ber bürfttge, fümmerlicf?e, fläglidje, \d)wädi*
lidje £goift, ber bie (Sefellfdjaft als bequemen Ablagerungs*
plafc für eine üble Stimmung betrachtet, bie er felber 3U
fjaufe nid?t bemeiftern fann ober roill — ein Heiuber an
frember $venbe unb fjeiterfeit, ber t>or bie tEüre gefegt 3U
n>erben r>erbient unb ber ZTad}fid)t untsert ift, voeld\e bie
(Sefeüfcfyaft anbexn, bie fid} gegen fie verfehlen, nxd\t feiten
angebeifyen lägt. Die <£ntfd}ulbigung, bie ber heftige für fid}
anführen fann, bag bie plöfelidjfeit ber Erregung i^n vorüber«
gefyenb ber Selbftbefyerrfdjung unb Raffung beraube, ftefyt
ifyit nidjt 3U (ßebote, beun er ift in ber £age, fidt auf bas
§uf ammenfein mit anbern x>or3itbereiten, \id\ im voraus in
bie richtige Stimmung 3U t>erfet$en unb alles basjenige, tx>as
i^n verbriegt, 3U fjaufe 3U laffen» 2)arum trifft ifyi ber Por-
rourf ber mangelnben SelbftbefyerrfdHmg in ungleich ^ö^erem
(Stabe als ben fjeftigen. £efeterer tsirb burdj ben Anlag
3ur £eibenfd]aftlid]feit überrafdtf, berfelbe trifft iljn söllig
unvorbereitet, jener fennt ben (Segner, ben er 3U übertvinben
hat, aber er befifct nid]t bie £uft ober nicht bas geringe ZTCag
bei Kraft, um fiel] feiner 3U ertvehren, XDir begreifen unb
vet$exlien es, voenn jemanb fich burch tvirfliches Seelenleib
barnieber brüden lägt, aber was ben Derftimmten [4:54]
brüeft, ifi nicht Seelenleib, fonbern bas finb bie armfeligen
£eiben, Derbrieglichfeiten, Anfechtungen bes meufchlichen
£ebens, bie niemanbem erfpart bleiben, bie Habel- unb ZHücfen*
23*
356
Kapitel IX. Die fötale IKedjant?* Das Sittliche.
fiid?e, benen jeber ausgefegt ifi, unb benen felbft 5tc getDÖljn«
lidje JDillensfraft fotoeit geu>acfyfen fein foll, um femer
flefyenbe perfonen nicfjt unter bem <£inbruc!e leiben 3U laffen.
Die Stimmung, bie jeber, ber ftd? an einem gefelligen £>u-
f ammenfein beteiligen uriH, mit3ubringen Bjat, foH eine Weitere
fein, fein <5eficf?t foH bem unumtoölften Gimmel gleichen, bei
bem es jebem tsofyl ifi X)as <5eftc^t bes Derbriepcfjen ba*
gegen r>ergegentx>ärtigt uns ben umtoölften Gimmel, bie Zlti§*
fiimmung aber, bie er felber mitbringt, er3eugt biefelbe nad?
bem ©efefce ber pfycfyifcfyen 2Iusgleidjung ber Stimmung auefy
in anbeten.
(Einen gefteigerten (Srab nimmt bas 21nfiößige ber Äuße-
rung ber Xnißftimmung bann an, toenn ifyr 3U allem Über*
fluffe nod) bie 2lbficfyt 3ugrunbe liegt, bie CeilnaBjme anberer
3U erregen, ftcfy als bebauemstoertes ®pfer ber Ungeredjtig-
feit, ^ärte, Cücfe bes 5<&i\ä\a\s auf3ufpielen — bie Selbß*
glorifoierung von Kreu3trägem, beren Kreu3 aus pappe
befte^t, unb bie, um unter ber £aft nicfyt 3U erliegen, frembe
Unterftüfeung in 2Infpruci? nehmen, Settier, tseldje bie £janb
naefy bem ebenfo tt>ertlofen roie gebanfenlos t>er abfolgten
2llmofen bes fremben Bebauems ausjlrecfen. VOex fennt
nid]t 3nbbibuen, auf voel&ie biefe Sefcfyreibung paßt, ^enes
bejammenstx>erte tseiblicfye lüefen, toelcfyes ftcfy ftets „fyöcfyß an-
gegriffen" [455] ober „nert>ös" füijlt, niemals gut gefdjlafen
^at unb boefy feine (Einlabung ablehnt t jenen bemitletbens-
roürbigen unglücfltcfyen Kartenfpieler, bem ein fcfjabenfroljer
Dämon ftets fcfyledjte Karten in bie ^anb fpielt, ber ftets
über fte Hagt unb bodj nie eine 2fafforberung 3um Spielen
3urücFt»eift, (gehören Klagen an fictj fcfyon nidjt in bie <ße-
feüfcfyaft, felbfi nicfyt bie über tt>irflicfyes Ceib, fo nodj toeniger
bie über bie 2trmfeligfeiten unb ttidjtigfeiten bes £ebens.
Bei ber 3tx>eiten 2trt bes antipattjifd? 2tnfto§igen: bem
^lusbrudje ber fjeftigfeit gefeilt fiefy 3U ben beiben (ßrünben
Das attttpattiifdj 2lttftö§tge. — Die fjeftigfeih 357
feines antipathifchen (Dc[axaltexs t bte es mit ber erften teilt:
ber Störung ber 23ehagltchfeit unb bem Xttißfallen ber 2ln*
roefenben über ben ZUangel ber Selbftbeherrfchung noch ein
brittes: bie Bebrohung bes gefeHfchaftlichen Sicherheitsgefühls
^in3u. 2)ie fchlechte £aune beeinträchtigt lebiglich bie 23e«
haglichfeit, 2tnnehmlichfett bes gefelligen Perfehrs, fie per*
fümmert uns bloß bie Stimmung, bie fjeftigfeit bagegen
taftet bie unerläßliche Sebingung alles gefelligen Seifammen*
feins an: ben gefeHfchaftlichen ^rieben, bie Sicherheit bes
Derfehrs. Was freute biefem gef ehielt, fann morgen uns
gef chehen, roir alle fühlen uns in unferer Sicherheit bebroht,
roie tr>enn toiv von einem 5aHe bes Straßenraubes vernehmen;
es ift ein gemeinfames ^niexe[\e öHcr, ben ^rieben in ber
(ßefeßfehaft aufrecht 311 erhalten,
Unb felbft bamit ift bas Sünbenregijier ber ßeftigfeit [456]
noch nicht 3um 21bfchluß gebracht, Sie fann felbji unfer
Sechtsgefüfjl x>erlefeen, Dies ift ber 5aü, wo fie fich in ihrer
ZTlaßlofigfeit 3ur Ungeredjtigfeit hinreißen lägt. Wxt befinben
uns bann in ber peinlichen £age, entroeber bas Unrecht
fd)u>eigenb mit anfehen 3U müffen ober partet 3U ergreifen
unb uns felber an bem Streite 3U beteiligen, bas eine ebenfo
unerfreulich u>ie bas anbere.
2lus bem Bisherigen ergibt fich, baß wenn, wie früher
(S. 30\, 32^) gezeigt, alles #nftößige auf ber Derlefeung
unfer es <5efühts beruht, bas 21nftößige bes Ausbruchs ber
Ceibenfchaft in ber (ßefeßfehaft in be3ug auf bie ZHannig-
faltigfeit ber (ßefühle, bie baburch perlefet roer ben, alle
anbeten gefellfchaftlichen Derftöße toeit hinter fxch läßt. 2Tcit
ihnen allen teilt biefer Derftoß bie Störung unferes 33ehaglid><
feitsgefühls, mit einigen von ihnen bie Derlefeung unferes jtti*
liehen (ßefühls burch bie mangelnbe Selbftbeherrfchung, ihm
eigentümlich ift bie 23ebrohung unferes Sicherheitsgefühls,
unb, wenn ber Sali banach angetan ift, bie Derleftung unferes
558 Kapitel IX. Die fatale ttledjantf* Das Sittliche.
Hechtsgefühls. Unter biefem (Seftchtspunft betrachtet tft mit»
hin biefer Derfk>§ ber fdjtoerfte von allen, unb fetner fchliegt
in bem ZTtafje bie (ßefahr unheilvoller 5oIgen in ftch tr>ie er:
perfönliche €ntfrembung, €nt3toeiung, £ja§, £einbfchaft, bei
bem gemeinen ZHanne tool}! gar Schlägerei unb Cotfchlag.
So erflärt ftch bie ungewöhnlich ftrenge Beurteilung, ber er
felbft bei Dölfern [457] auf nieberer Kulturftufe ausgefegt
ift, bte im übrigen an 2)tngen, bie unfer 2tnftanbsgefühl aufs
höchfte verleben tr>ürben, nicht ben mmbeften 2lnftoß nehmen.
ZTtaftvoües, ruhiges, umrbiges IDefen, Selbftbeherrfchung in
be3ug auf Unterbrücfung aller leibenfehaftlichen Hegungen
unb 2IuftoaQungen gilt ben 3n^^an^rn Xtorbamerifas als
unerläßliche <£igenfchaft bes richtigen ZTTannes, unb bie
türftfehe Sitte verpönt nichts fo ftreng als £}eftigfeit, £eiben*
fchaftltchfeit, Sauf unb Streit*). 5riebe ift bas erjle unb
oberfte (ßrunbgefefe bes gefelligen Perfehrs, ber 5*iebe aber
u>irb burch nichts fo fehr gefährbet toie burch bie Ejeftigfeit.
Unter ben £äßen bes Ausbruchs ber J^eftigfeit tjebt bie
Sprache einen als gan3 befonbers gratnerenb hervor, ben*
jenigen nämlich, voo ber Vorgang fich in einer IDeife abfpielt,
baß er bie allgemeine 2lufmerffamfeit ber 2lmx>efenben: öffent-
liches 2tuffehen erregt. Die Sprache h<*t bafür bie 2Iusbrücfe
einer „S3ene", eines „Auftritts", f,<£Hats". Die beiben erften
2lusbrü<fe führen uns bas 23ilb bes CEjeaters t>or Jlugen:
auf ber 23üf}ne beftnbet ftch ber jenige, ber bie S3ene, ben
Auftritt macht, neben ihm [458] berjenige, an ben er ftch
roenbet, im ^ufchauerraum bas publifum, bas ben Vorgang
ftumm mit anfleht.
*) €♦ IL ptfdjon, Der <£mfl(u§ bes 3slam auf bas häusliche,
feciale unb poltttfcfye £eben fetner Befemter* £eip3tg 1881, 5» 3U „(Ein
heftiges 2lufbraufen, ein öffentliches IPortge3änf gilt bei ben tlmliame*
banern für f|öd?ft unanftänbig unb fommt bafjer nur bei perfonen ber
mebrtgften Klaffe ber 23er>ölferuncj unb audj ba feiten ror."
Das attttpatfyfdj 2Xnfiö§tge* — Die 53ene* 35g
Das (5rar>ierenbe bes Porganges, welches bie Sprache
richtig herausgefühlt hat, inbem fie für ihn befonbere 2lus«
brüefe gef chaffen hat, liegt in 3toei Umftänben. <£mmal in
ber (Öffentlichfeit bes Perftoßes — er fpielt ftch nicht bloß
bemjenigen gegenüber ab, ber bas CDpfer ber fjeftigfeit roirb,
fonbem x>or ben 2lugen ber gan3en übrigen (Sefetlfchaft Xlad]
biefer Seite bilbet er bas Seitenftücf 3um Ärgernis, lefeteres
ift bie (Öffentlichfeit bes Unftttltchen, jener bie bes 2Jnftößigen,
bort tt>irb bie UToral, hier bie Sitte in einer tPeife über*
treten, baß es bie allgemeine 2Iufmerffamfeit auf fich 3ieht,
öffentlichen 2lnjtoß erregt, ein abermaliges öeifpiel bes öffent«
lieh 2lnftößigen (5. 307, 329). Sobann in ber eigentümlichen
2lrt, tr>ie er fich mit ber <5runbibee bes gefelligen gufammen-
feins in IPiberfpruch fefet, letzteres ift beregnet auf gemein«
fame Ulitroirfung aller, jeber fyat bie Holle bes Ulitfpielers,
feiner foH 3U ber bes bloßen gufchauers ober «guhörers x>er*
urteilt werben. Der <§tt>ecf eines jeben gefelligen gufammen*
feins ift bie Unterhaltung, b, i. bas gemeinfame Qerbeifdjaffen
bes Stoffes, beffen bie (Sefeßfchaft 3U ihrem Unterhalt in
geiftiger Ziehung bebarf. Keiner foll, tr>ie bie Spraye fich
treffenb ausbrüeft, „bas große IPort führen, bas IDort allein
an fich reißen", nach bes Schaufpielers allein reben,
roährenb bie anbeten 3uhören. Das Seftreben, fich auf Koften
ber übrigen [459] geltenb 3U machen, ftigmatifiert bie Sprache,
mit ber XPenbung „fich auffpielen" (ebenfo im 5ran3Öfif djen:
poser unb la pose), es ift basfelbe Silb, wie bei ber
„S3ene" unb bem „Auftritt", es 3eichnet uns ben ZHann, ber
aus ber Heilje ber übrigen hervortritt, um fid] bie Holle
bes Spielers an3ueignen unb ihnen bie ber bloßen «gufchauer
3u überreifen.
2lus bem richtigen (ßefühle pon bem auf gemeinfame
2lftion beregneten <§tt>ecfe bes gefelligen ^ufammenfeins er-
flärt fich &ie Scheu fo pieler Ulenfchen, in ber (ßefellfdjaft
360
Kapttel IX. Die fetale ItTedjamf* Das Sittliche*
(Segenftanb ber allgemeinen 2lufmerffamfeit 3U werben. €s
iji nicht bloße Ängftlichfeit ober bas (ßefühl ber gefeüfd^aft^
liefen Unficherheit, bas bem sugrunbe liegt, fonbem bie richtige
<£mpfmbung, baß bie (Erregung ber allgemeinen 2lufmerffam*
fett, auch wo fte bem EDunfche aller entfpric^t , eine Untere
brechung bes normalen Derlaufs ber gefelligen Unterhaltung,
ein pafftpes Verhalten ber übrigen Utitglieber bebingt, bas
ftch bamit nicht perträgt Darum berührt uns auch bie paufe
in ber allgemeinen Unterhaltung fo unangenehm, bas Häber*
werf, bas im fiänbigen (Sang erhalten werben foQte, ftetjt
plö&lich ftiH, alle 2lnwefenben perhalten ftch untätig — eine
porübergehenbe geiftige Sanfrotterflärung ber (Befellfchaft.
<§u biefem untätigen Verhalten, bas in ben lefeteren beiben
fällen freiwillig ift, werben bie Ceilnehmer einer (ßefellfchaft bei
bem obigen Vorgänge wiber ihren [460] IDiHen genötigt, unb
eben barauf beruht ber gefetlfchaftswibrige <£li<xtaftet besfelben.
(Eine 55ene fann ftch auch in anberer als ber h^r an*
gegebenen XDeife abfpielen, es laffen ftch 3**>ei 2lrten unter«
fcheiben: bie obige, welche mit einer gefellfchaftlichen Kata*
firophe enbigt — auf JDirfung 3ielt ber oben ermähnte
2lusbrucf : <£flat, es iji bie Bombe, bie in eine friebliche <S3e«
fellfchaft hineinplatzt — unb bie friebfertige, I^armlofc, welche
bloß baburch Jlnjtoß erregt, baß fte einen 2lft, ben 3tx>ei per-
fönen für ftch allein abmachen fo Ilten, ben 231icfen aller preis-
gibt, 3. 25. eine burch bie laute 2lrt ihrer Dornahme bie
allgemeine 2tufmerffamfeit auf ftch 3iehenbe IPiebererfennungs*
unb Segrüßungsf3ene 3ix>eier langgetrennter 5reunbe, eine
pathetifche 2lnrebe, fte gerät leidet in (ßefahr, auf bie <§u«
[eherner eine erheiternbe IDirfung aus3uüben unb bem 51ud]e
bes Cächerlidjen 3U perfallen. Die obige Ausführung wirb
ge3eigt hä&en, warum auch fte anftößig iji — in ber guten
(ßefellfchaft foH niemanb, ber nicht burch fte felber ba3u ge»
nötigt wirb, bie allgemeine 2lufmerffamfeit erregen.
Das anttpatfyfdj 2Inftögtge. — Die äußere Selbjtteljerrfcfjmtg, Z6\
3>ie Summe ber bisherigen Ausführung über bas axxtu
patfyfch 2tnfiögige faßt ftch in bie pofitioe 2Inftanbsregel 3U«
fammen: Unterbrücfung aller (Semütsftimmungen unb leiben-
fchaftlichen (Erregungen, tr>elche britte perfonen unangenehm
berühren fönnen; ber ZHamt ber feinen (Sefellfchaft foH ber
2tnforberung entfprechen, tselche ein römifcher 3U*# für ben
Sichter aufhellt: fein (Seftcht foE [461] nicht funbgeben, roas
im 3nnern sorgest*). Dasselbe (Sebot, roelches bie ZTToral
an ben inneren ZHenfchen richtet, richtet bie Sitte an ben
äußeren: Selbfibeherrfchung. Die Übertretung besfelben in
ber festeren Bichtung roirb von ber feinen (Sefellfchaft jlrenger
beurteilt als in ber erfieren. ZTachfichtig in be3ug auf mora*
lifdje Schwächen unb Perirrungen, burch bie fte ftch in ihrem
Belagen nicht geflört fieht, roenn fte in ihren Augen bem
ZTüenfchen nicht 3ur Unehre gereichen, iji bie (Sefellfchaft
ftreng in ber Büge gefellfchaftlicher Derftöße, toelche bem
Rehagen bes gefelligen gufammenfeins Eintrag tun unb
einen ZTTißflang in bie Stimmung bringen. Sie fieht barüber
hinroeg, baß ber ZHann ber Ceibenfchaft bes Spiels fröhnt,
aber roenn er an ber Sauf jlefyt ober am Spieltifche ftfet,
foH er burch feine ZHiene perraten, ba§ ber Derluji ihm nahe
gellt Sie befümmert ftch nicht barum, roie bie 5rau ihr
(Seftnbe befyanbelt: t|artl|er3ig , launifch, tyrannifch. Aber
roenn (Säfte antoefenb ftnb, foll fein üortrmrf gegen basfelbe
über ihre £ippen fommen; toas auch gefchieht, nichts foll fte
aus ber 5affung bringen, nichts ben Schein bes (Sieichmuts,
ber ZHilbe unb ber Hachftcht, mit ber fie alles über fich er»
gehen lägt, beeinträchtigen, — von äugen ein (Engel, im
^nnevn vielleicht eine 5urie. Unb bie Erfahrung 3eigt, ba§
bas (Sebot burchführbar iji. (Es ift bas [462] Dirtuofentum
*) 1« \9 § \ de off- praef. [{. \8) neque excandescere . . * neque in-
lacrymari oportet, id enim non est constantis et recti judicis , cujus
fteimi motum vultus detegit.
562 Kapitel IX. Die totale HTedjamf. Das Sittliche.
ber gefellfdiaftlidjen Curnüre, ber x>omefymen gefeQfdiaftlidjen
<£r3iefyung, tt>eld?e uns ben ZHenfdjen in bicfer tabellofen
äußeren PoIIenbung t>or klugen füljrt 2)ie (Sriedjen rühmten
an ben Spartanern bie eifeme IDitlensfraft, ben Heroismus
ber Selbftübertxnnbung, bie ftdj burefy nichts aus bem <5leid?«
gerötet bringen lieg, fte wußten t>on einer Spartanenn 3u
er3äfylen, ber ber 2tnbIi<J ber iljr gebrauten Cetebe ifyres in
ber Sdjladjt gefallenen Sohnes feinen anberm Ausruf ent*
locfte, als: icfy wußte, baß er fterblicfj war» 2ludj wir Ijaben
unfere Spartaner unb Spartanerinnen, ber Scfyauplafc für bie
Betätigung ifyrer Seelengröße ift ber Salon, ber fpartantfdjen
ZHutter fetten wir als Seitenftücf unfere heutige Salonbame
entgegen, weldje feine 2Hiene per3iefyt, wenn ify: fofibares
(Sefdjtrr in Crümmer getjt, bas IDeinglas ober bie Saucen*
fdjale ifyren 3nl|alt über iijr Kleib ergießt, — bas Salon-
fpartanertum ber feinen (Sefellfdjaft,
3>er Spielraum 3ur Betätigung biefer Seelengröße ijl lebig«
lief) bas äußere bes ZlTenfdjen, bas 3™*** ?ann &a3u einen
grellen Kontrafi bilben. 2lber oerfennen lägt jtdj bodj nidjt,
baß bie Selbftbefyerrfdjung, bie ber ZHenfdj in be3ug auf bas
äußere fiel? an3ueignen genötigt worben ifi, ifym audj in be3ug
auf bas 3nnere 3ugute fommt, idj erinnere an meine frühere
Bemerfung über ben er3iel|erifdjen <£influß ber feinen 5orm
auf ben inneren 2Henfd?en (S. 270/272).
3cfy fyabe fdjließlidj nod? einer <£rfdjeinung 3U gebenfen,
[463] welche uns in be3ug auf bas antipat^ifd) 2lnftößige
jene Übertreibung eines an jtcfy rid)tigen (Sebanfens aufweift,
beren toir oben (S. 295) gebadeten unb ber wir nodj öfters
begegnen werben. Der Con ber Domeljmen tDelt £^at mancher
(Drten — in erfter Cinie ift fyier wieberum (Englanb 3U nennen
— bas Derbot ber ^eftigfeit bis 3U bem ber Cebt^aftigfeit
gefteigert. Der ZHann, wie fie iE^n perlangt, fotl niemals
warm werben, an nidtfs ein lebhaftes 3^tereffe oerraten, nad?
Das antipatfyifd? ilttjlögtge. — £ebhaftig?eit erlaubt 363
ber 2lmt>eifung, bie £orb Ct^efterfielö feinem Sohne gab, barf
er fogar nietet einmal lachen, nur lächeln, ber Con feiner
Stimme foH jlets gebämpft fein, ftch nicht 3um t>oHen Klange
erheben, fein (ßeftcht foH um>eränberlich benfelben füllen,
gleichgültigen, gelangtr>eilten JlusbrudE behalten — bie £eiben*
fdjaftsloftgfeit abgetötet bis 3um Steine ber (Sefühls* unb
(Empfmbungsloftgfeit, ber fieinerne (Saft, in beffen £tähe es
einen IHenfchen mit gefunbem (Sefüfyl fröftelt, eine Karrifatur
bes natürlichen Zltenfchen. Das TXlotiv, bem er feinen Ur*
fprung r>erbanft, iji bas 23ejireben ber I{5E)eren Stänbe, ftch
burch eine 2trt bes Benehmens, bie ber gebilbete Xltamt ber
ZHitteljlänbe aus gutem (Srunbe nicht fennt, unb bie er 3U
t>erftänbig ijl nad^uäffen, von ben übrigen ab3uheben, bas«
felbe ungefunbe TXlotiv ber Stanbeseitelfeit, bem toir bereits
fo vielfach, 3. 23. bei ber ZlTobe (S. \S6) unb anberrcärts
(S. 279) begegnet fmb. <£s jtnb bie flehten 5ü§e ber CEpnefut,
bie 2lblerflauen bes vornehmen ZTlamtes, bie blaffen XDangen
ber pornehmen 2)ame, b, h» [464] Unnatur als Reichen
ber jtch fprei3enben Vornehmheit, in XDirflichfeit bas testi-
monium paupertatis berfelben, benn bie tx>ahre Vornehmheit
bebarf folcher fünjllicher €rfennungs3eichen nicht, fte ift fchon
als fotehe erfennbar* groifchen ber Siebehifee bes Blutes,
toie fte in ber £eibenfchaft, unb bem (Sefrierpunft besfelben,
toie er in biefer fünjtlich entrungenen eifigen Kälte 3ur <2r*
f Meinung gelangt, liegt in ber JHitte bie natürliche Blut*
roärme bes Siethens, unb fie ift bie richtige Temperatur bes
gefelligen Derfehrs. <£ine (SefeDfchaft, bie fte nicht ertragen
fann, ifi ungefunb, blaftert, überrei3t, fie beraubt ftch f elber
ber fchönften Blüten bes gefelligen £ebens, bie toie alles
Ceben nur in ber H)ärme gebeihen, nicht in ber (Eisregion,
tx>o alles Ceben erftarrt, ihr richtiger plafe ift ber Horbpol.
36$
Kapitel IX. Die fötale XXie^amh Das Sittliche*
Das fe^nel! ^Inftögtge (bas 3n&e3ente),
3>ie gegenwärtige Kategorie bes 2lnftö§igen ^ebt jtch t>on
ben t>orhergehenben burch folgenbe brei punfte gari3 fd^arf
tmb beftimmt ab« gunächft burch ihren (Segenftanb. 3)er
2Ingelpunft, um ben biefe 2Irt bes 2tnftö§igen jtch breht, ift
ber (Segenfafc ber (Sefchlechter, ein 2Tfoth> bes 2tnftö§igen,
bas uns im bisherigen noch nicht begegnet iji, unb bas ich
burch ben «gufafe bes Sexuellen fenn3eichne. 5obann burch
ben (Einfluß ben hier bie Derfchiebentjeit ber perfon begrünbet,
in beren (Segentoart ber Derfiojj begangen roirb : bes beugen
bes Jtnftöjpgen (S. 30Hf.). 5ür unfere brei bisher beleuchteten
Kategorien bes 2tnftögigen [465] begrünbet bie Derfdjiebenheit
bes beugen feinen Unterfdjieb. ©b biefelben in <5egemr>art oon
ZHännern ober grauen, 5reunben ober Sefannten, <£m>achfenen
ober Kinbern gefchehen, ift ooHfommen gleichgültig, bie ent*
fprechenben 2faßanbsgebote verpflichten fchlechthin, abfolut,
ohne Unterfchieb ber perfon. 5ür bas fefuell Slnftößige ba*
gegen ift bas perfönliche ZlToment pon gan3 entfeheibenbem
(Einfluß. Der IHann barf in ber Unterhaltung mit ZTIännern,
bie 5rau in ber mit grauen Dinge besprechen, welche perfonen
bes anbetn (Befchledjts gegenüber 3u berühren eine fehlere
Perlefeung bes 2Inftanbes enthalten tr>ürbe — fejrucH innerhalb
besfelben (Sefchledjts serftattet ift ber (Sefprächsgegenflanb
jenfeits besfelben verpönt. Unb felbji bei perfonen besfelben
(Sefchlechts behauptet es nicht überall benfelben Charafter.
Was ber <£rroachfene mit <£ra>achfenen behanbeln barf, 3iemt
ftch nicht für bie (Dtiven bes Kinbes, unb bie ^reiEjett, bie
man jtch genauen Gelaunten gegenüber oerftatten barf, nicht
ferner ftehenben perfonen gegenüber. Das 2lnftößige ber
übrigen Kategorien ift, von ben oben (5. 302) fyvvotQe*
hobenen XHobiftfationen abgefehen, jiets anftöjjig, bas 3n*
be3ente nur unter gett>iffen Porausfefcungen.
Das fejuett ^Infiogige*
365
Damit fyängt ber britte Unterfchieb beiber 3ufammen. Das
2tnftößige ber brei anbeten Kategorien tjl ftets nichts anberes
als anfiögig, bas ber gegenwärtigen Kategorie bagegen fann
je nach Perfchiebenheit ber Umjtänbe einen äußerft oerfchieben«
artigen, nämlich einen fechsfadjen [466] Cl^arafter annehmen,
es fann fein geboten — inbifferent — taftlos — anftögig
— unjtttlicfi — rechtlich flrafbar — es fdjiHert n>ie bas
Chamäleon in allen färben.
Die Sprache Bjat für bas fejueU 2tnftö§ige t>ier perfchtebene
2lusbrücf e t>on einer begrifflich etwas t>erfchiebenenXtüan3ierung,
welche lefetere aber für meine gweefe ohne 3n^r^ffe ifc
obf3on, tnbe3ent, las3it>, fchlüpfrig; bie brei erjien ftnb ^remb-
wörter, lebiglich bas lefctere beutfehen unb, wie es fchetnt,
relatio recht fpäten Urfprungs*), eine Catfadje, bie mir be*
achtenswert genug erfcheint, um jte B)eroor3U^eben unb um
txxvan bie 5r<*ge 3U fnüpfen, beren Beantwortung ich bem
Sprachforfcher überlaffe, ob unfere Porfahren erji fo fpät 3um
23ewuf$tfein bes 3nbe3enten gefommen jtnb. Unter ben vov*
genannten 2tusbrücfen greife ich ben bes 3n^^3en^n als
meiner Anficht nach paffenbjlen heraus.
JDorauf beruht bas 2tnftößige bes ^}ni> ernten? Der
(ßegenfafe ber (Befchlechter ift eine tEatfache ber Ztatur, gans
fo wie jebe anberef wie 2llter unb 3ugenbf £eben unb Cob;
roarum foHen wir biefe 1L<xt\a<tie nicht ebenfo unbefangen
befprechen, toie alle anbern? IDeil bas Schamgefühl feinen
Sann auf fie gelegt hat? 2tber roarum nimmt basfelbe an
biefer Catfache ber ttatur 2tnfto§? [467] £{at ber tflann jtch
3U fdjämen, ba§ er 2Hann, bie 5rau, ba§ fte 5rau ift? Das
Schamgefühl ift nichts Urfprüngliches, bem Zfienfchen 2ln*
geborenes, fonbern ber Hteberfchlag ber (Sefchichte, unb bie
*) Bei tPetganb, Deutf djes Wcxtetbnd), ftttbe td? als äugerfle
(5rett3e bas fünf3efjnte, be3tefyungstpetfe bas me^efynte 3a^rl]unb?rt
genannt»
366
Kapitel IX. Die fo3iale ITCecfyanif. Das Sittliche*
mofaifdje Sdjöpfungsgefdiid}te Ijat sollfommen bas richtige
getroffen, rx>erm fie basfelbe erft mit bem SünbenfaH ent-
gehen lägt — 2Ibam unb <£t>a im parabiefe, b, t|. ber Zfienfd]
im beginne ber <5efd]id]te hat an bem (Segenfafce ber <Se*
fcfyledtfer feinen 2Inftoj$ genommen.
2) as ZHotip bes 3nbe3enten ijt prafiifdjer 2lrt, es ift
gelegen in ber «JErfenntms feiner (Befäljrlichfeit; bas 3n-
be3ente t>erhält ftdi 3um feyueQ Unfittlichen tote bas (ßefähr*
liehe 5um Sdjäblichen (5. 206), b. h- es ift nicht fcfyon als
foldjes unfittlid7, aber es ift banach angetan, bem Unfttt*
fidlen Dorfdjub 3U leiften; bas Derbot bes 3nbe3enten im
Derfehr beiber (ßefchledjter fällt unter ben (Sefichtspunft ber
feyueHen Sicherheitspoli3ei (S* 207).
3) ie Spraye J^at bies in ihrer lüeife treffenb ausgebrücft.
Sie be3eid)net basfelbe als „fchlüpfrig": voo es fchlüpfrig ift,
gleitet, a>er nicht pöüig fieser geht, leicht aus; als „locfer":
ber fefte 23oben ber fittlichen (Srunbfäfee txnrb baburch „ge*
locfert" — auf foldjem Soben fann bie Cugenb leidet 3u
5aHe fommen.
5ür bie richtige 2Iuffaffung bes 3nbe3enten ift es höchft
öffentlich, bie beiben angegebenen §üge, ben negativen, baß
es nicht fchon als folches unftttlid? ijt, unb ben pofttisen, bafc
es ber Cugenb (Sefah* broht, ftreng [468] auseinanber 3u
galten. 3n^3cn*e Äußerungen in <ßegemt>art t>on perfonen
bes anbern (Sefchlechts fönnen aus bem ZHunbe eines ZtTannes
fommen, ber bamit nicht bie minbejie unftttliche 2Ibjtcht per*
hinbeti ja nicht einmal bas 23eu>ußtfein ihres anftößigen
£h<*rafters fyat, er begebt bamit einen gefelifchaftlichen Der-
floß, ben man feiner mangelhaften <£r3iehung 3ugute galten
fann, aber nichts Unfittlicfyes, er vergeht jtch gegen bie Sitte,
aber nicht gegen bie ZHoral — bas 3nbe3ente ifi als folches
nicht unfittlich*
2lber bas 3nbe3ente fann fubjeftit) ber böfen 2lbftd}t bienen,
Das fejuell 2Inftögtge*
367
in biefem 5alle nimmt es ben <£fyarafter bes fubjeftto Un*
fittlichen an» £>em Perfudjer bient es als Hiittel, um feinen
Angriff auf bie weibliche Slugenb vorbereiten, ben fejlen
Boben ber fittlichen (ßrunbfäfee 3U lodern, als Wühler, Cafter,
rvie tveit er bei ber Verfolgung feines «gtoedfes vorfchreiten barf.
Codere, 3toeibeutige Heben fmb bie erften 2lpprochen bes
ieinbes, ber bie 5ef<ung 3U erobern gebenft, ein Angriff aus
weiter $exne vorbereitet, ber, tvenn er 3urüdgefchlagen tvirb,
feine weiteren 5olgen für ihn I^at, ihm feine Demütigung
einträgt, tvenn er gelingt, ihn ermutigt weiter 3U gehen, 3)ie
Hegion bes 3nbe3enten fteOt ^eftungsrayon ber weiblichen
Keufd]f]eit unb tEugenb bar, 3n biefem Hayon foH fein ehr«
bares lüeib ben Hlann bulben, gleichgültig, ob er ihr ba«
nach angetan erfcfyeint, einen Angriff von ihm 31t gewärtigen
unb, ob fte [ich ftdjer genug fühlt, benfelben [469] ab3uwehren
ober nicht* <£s h<*nbelt fich babei nicht um bas 3nbit>ibueIIe
bes ein3elnen Calles, bie (ßefaBjr, bie biefer 5rau von biefem
ZTianne, fonbern um biejenige, welche burch bas 3nbesente
bem gan3en (gefchlechte broBjt. €s fteht fyet ein gemeinfames
3ntereffe bes gan3en (ßefchlechts auf bem Spiele, bas jebes
HTitglieb besfelben 3U wahren ebenfo berechtigt wie verpflichtet
iji. JDas würbe aus ben Schwachen unb (Sefährbeten, wenn
bie Starfen unb Ungefährbeten ftch fytt lebiglich burch it^r
perfönliches 3ntereffe leiten laffen wollten? (Berabe bie
lefcteren jtnb in erfter £inie berufen, ben von ber Sitte mit
weifem Dorbebacht errichteten Schuferayon ber weiblichen
Keufchheit unb Sugenb 3U verteibigen, unb wenn es wahr
ift, was ich in meiner Schrift über ben Kampf ums Hecht
ausgeführt l\ahet baß ber ZHann nicht bloß Kämpfer fein
foU für fein Hecht, fonbern für bas Hecht überhaupt, fo ift
es nicht minber wahr, baß bas IDeib nicht bloß Kämpferin
fein foü für ihre Keufchh^it unb Cugenb, fonbern für
bie weibliche Keufchheit unb Cugenb überhaupt. Siefelbe
563 Kapitel IX. Die feciale Uledjamf* Das Sittliche*
Aufgabe, bie beim Hechte bem Itlamte 3ufäHt, liegt bei biefem
Stücfe ber Sitte bem IDeibe ob, unb jebe tugenbhafie 5ran
fühlt bies richtig heraus, Der moralifche IDiberrciHe unb
<£fel, ben fie gegen bas 0bf3Öne empfmbet, B|at nic^t barin
feinen (5runb, ba§ ihr perfönlich von bemfelben (ßefahr broht,
fie ift fo u>eit entfernt, fich baburch gefährbet 3U finben, ba§
fte ftch im (Gegenteile baburch abgeftoßen fühlt. Diefe Hb*
neigung beruht nicht [470] auf einem angeborenen 3n{tinft
ober IDibem>illen, fonbern auf ber ihr burch bie €r3iehung
3ugute gefommenen Übertragung ber (Erfahrungen bes gan3en
(Sefchlechts. Das Schamgefühl bes IDeibes ift aner3ogen, unb
feine 23ebeutung liegt nicht foroohl nach bet pfychologifchen
ober fittlich äftfjetifchen Seite h^, wonach es als mißfallen
ber reinen Hatur am Schmufeigen, (gemeinen 3U befinieren
märe, als vielmehr nach ber praftifchen — bas Schamgefühl
bes IDeibes ift bas 5ühlhoirn *>et weiblichen Keufchh^it gegen*
über ber ihr von feiten bes VTiannts brohenben (Sefahr.
ZHit biefem (Sefichtspunfte ber (5efährlich?eit bes
3nbe3enten für bie Cugenb bes IDeibes glaube ich
bas ZDefen besfelben toiebergegeben 3U \\abzn. 3^h führe
bie ein3elnen barin enthaltenen IHomente roeiter aus.
<£s ift bas IDeib, um bas es ftch beim 3nbe3enten hcmbelt.
Ztur bas IDeib ift gefährbet, nicht ber IHann, bas IDeib ijl
ber angegriffene, ber IHann ber angreifenbe (Eeil. Die 5rau
ift es getoefen, welche bas 3nbe3ente unter ben Sann getan
hat, inbem fte bem Zfiamte bie 2llternatit>e fteHte: wähle
3tt>ifdien mir unb bem 3nbe3enten; foß ich in ber (SefeUfchaft
ber IHänner erf feinen, fo muß ich ßcher fein, ba§ nicht bas
(ßemeine mein (Dfy t>erlefee, follen bie (Staden bein Utah!
t>erfchönen, fo müffen bie 5aune ben plafc räumen. <£s h<*t
lange §eit gefofiet, bis fte ihre 5orberung burchgefefct h<*t.
2lber es ifi ihr gelungen. Die Derpönung bes 3n^5enten
iji bas [471] htftorifche IDerf unb bas Derbienjl ber $tau.
Das 3nbe3mte* — prafttfcfje (ßefä^rltd^feti
369
Unb ber XHann ^at es nicht 3U bereuen, ihr nachgegeben 3U
^aben — tvas er ber $taxx getan, l\at er fich felber getan,
er verbanft feiner 5ügfamfeit bas Befte, tvas fie ihm 3U
bieten vermag: ben ftttlidj verebelnben (Einfluß bes JDeibes
in ber (ßefeUfchaft — bie Keufchh^it ber 3ungfrau — bie
tEreue ber (ßattin.
<£s ift bie Cugenb bes IDeibes, fagte ich, tvelche burch
bas 3n^e3en^e gefährbet tvirb. Sie felber mußte erft ba
fein, bevor t>on einer Schufeanftalt für fie bie Hebe fein
fonnte — folange bie ^eftung noch nicht ejiftiert, bebarf es
feiner fdjü&enben Dortverfe. <£rjl mußte bie ZHoral am IDeibe
ihr IDerf verrichtet, bie Keufchh^it unb Cugenb ins Ceben
gerufen haben, bevor fie bie Sitte 3U beren Schuß entbieten
fonnte. Der (Segenfafc ber (ßefchlechter mußte erft (Segen*
^taxxb ftttlicher (ßeftaltung getvorben, alles bas, tvas ber Ur*
3eit bes ZHenfchengefchlechts angehört (£}etärismus, tflänner*
unb ^rauengemeinfehaft), erfl befeitigt, bas (Sefühl einer bem
IDeibe in feyueller Be3iehung aufliegenben Selbftbeherrfd^ung
erft allgemein getvorben fein, bevor bie (Befahren, tvelche
bas 3"be3ente ber Behauptung ber tveiblichen Keufd?heit,
Creue, Cugenb brohte, erfannt tver ben fonnten. Sie <Er«
fenntnis bes fefuell Unmoralifchen ift baher überall ber bes
fefuell 2lnftößigen vorausgegangen — ber Begriff bes 3"*
be3enten ift fpäteren Datums als ber bes Unmoralifchen, bie
(ßefellfchaft h<*t, tvie bie (ßefchidtfe [472] lehrt, erfteres noch
lange gebulbet, nachbem fte festeres bereits längft unter ben
Bann getan hatte.
Das britte ZHoment meiner obigen Definition tvar bie
praftifdje (ßef ährlichfeit. Was gefährlich ift, lernt ber
ZHenfch erft burch bie (Erfahrung — bie (Se* fahren muß er
erfahren, an ftd) ober an anberu. 2Iuch bas Sd^äblidje lernt
ber ZHenfdi erft in ber Schule ber (Erfahrung, aber in be3ug
auf festeres tvirb ber ZHenfd) ungleich früher gervifcigt als
r. 3 *!**tni}, §roecf im Hed?t. II. 24
570
Kapitel IX. Die feciale ItTea^ant?* Das Sittliche.
in be$i\Q auf erfferes, bes Sdiäblidjen fyat jtcfy bie (Sefetlfdjaft
überall ungleich früher ertoeljrt als bes (gefährlichen. 2luf
bem (Sebtete bes Hedits geht bie Krimiualrechtspfiege, welche
bie Sicherung ber (Sefeüfchaft gegen bas Schäblidje (bas
Pergehen, Perbrechen) 3um gtoeefe ^at, ber Sicherheitspolisei,
tx>elche bie Tlbmefyt bes (gefährlichen (bas polt3eitt>ibrige) 3ur
Aufgabe hat, lange voraus. £benfo auf bem (Sebiete bes
Sexuellen* Das Mnmoralijche entfpricht bem Hechtstmbrigen,
bas 3n^3ente bem poli3eittnbrigen, bie fejuelle Sicherheits*
pou3ei Bjat ftch im Perhältnis 3ur gefeßfchaftltchen Hepreffion
bes fejueH Unfittlichen um ebenfornel fpäter enttoicfelt roie
bie ftaatlidie Sicherheitspoli3ei gegenüber ber ftaatlidjen He-
preffion bes Hechtstt>ibrigen» <§>uerft fam bas fejrueüe Per*
gehen unb bas Perbrechen an bie Heihe, bann erft bas
3nbe3enfe unb bas poli3eitt>ibrtge*
Der 5ortfchriit unferer heutigen <§eit in be3ug auf bie
praftifdje 23efämpfung ber Perbrechen fommt roeit mehr auf
Hechnung ber perbefferten poÜ3ei als ber oerbefferten [473]
Sirafrechtspflege. Der poli3ei in erfter £inie serbanfen toir
bie Sicherheit ber £anbftra§en unb bamit bie Seltenheit ber
Haubanfälle unb ZHorbtaten, bie in früherer geit trofe ber
ungleich härteren Strafen an ber Cagesorbnung tt>aren. So
fommt meiner 2lnftcht nach auch bie gefteigerte Sitttichfeit bes
tx>eiblichen (Sefchlechts in unserer heutigen <geit nicht fott>ol}l
auf Hechnung ber ZHoral als ber Sitte. Unfere heutige &e\i
hat, wenn ich meinen obigen Pergleich beibehalten barf, bie
Hegion bes 2ni>e$enten, bie ich als ben 5eftungsrayon ber
roeiblichen Cugenb be3eidjnete, ben fein HTann betreten foü,
im Pergleich 3U früheren Seiten außerorbentlid) erweitert,
man mödjte es pergleichen mit ber heutigen u>eiten fjinaus*
fchiebung ber 5eftungstperfe im Verhältnis $u ber ehemaligen.
0b biefe 2lusbehnung nicht Ijicr unb ba bas richtige HTa§
überfchritten Ijat? Die Sprad^e bejaht biefe 5rage burd?
Das 3nbe3ente* — Die prüberie«
37^
ben 2Iusbrucf unb ben Begriff ber prüberte, b* t* ber 3um
Kr anf haften gefteigerten £mpfmblid)feit bes roeibüdjen
Schamgefühls, ber Übertreibung, Karrifatur bes an ftc^
Hiesigen.
3d? fdjließe hiermit meine (Erörterung bes ^nb^enteri
ab, um nunmehr bie Bicbtigfeit ber obigen Behauptung
(S. 36^) bar3utun, baß bas SeyueHe je nad} Derfdjiebenfyeit
ber Umjiänbe einen gän3lid} t>erfd)iebenen C^arafter annehmen
fann. Dasfelbe fann nämltdj fein:
a. (geboten.
T>ies iji ber 5<*Q, too roiffenfd]aftlid)e ober praftifdje
3ntereffen bie Berührung fefueller Derfyältniffe notroenbig
[474] machen, roie 3. 23* bei ben fragen bes y^tes an bie
Patientin, bes Unterfudjungsridjters an bie <5efangenen, ober
im Dortrage bes Anatomen, p^ypologen. Die lüiffenfdr,aft
fennt nichts 3nbe3entes, sorausgefefet, ba§ fte es iji, bie ben
(ßegenftanb befyanbelt, unb nidjt etwa bie £üfterni?eit, bie
unter bem 2)ecfmantel ber tDiffenfdjaft im 5d]mufee roü^lt
— eine proftitution ber XDiffenfcfyaft, bie Ieiber in früherer
«geit auf beutfdjen Unioerfitäten gar nichts feltenes u?ar*).
*) 3^? erinnere mtd? nodj ans metner Stubien3eit mancher afafce*
mifcfyer iefyrer, meldje fidj ntdjt entblöbeten, ben £etjrf*ul}l in btefer
XPeife 3U entroeitjen, insbefotibere eines tfriminaliften auf einet jüb*
beutfdjen Unioerfttät, bem es 3um Bebürfms gemorben mar, tägltd, oot
ben klugen ber gutjörer auf bem Kattjeber fein moralifdjes Sdjlammbab
3U nehmen* 307 t^ätte es bamals nidjt für möglicfy gehalten, ba§ oer*
felbe in einem IHanne auf einer anbem Unicerfttät, ben es mit fpäter
befdjteben mar 3um Kollegen 3U erhalten, nodj feinen ITTetfter flnben follte.
Die Scfyamloffgfeit besfelben ging foroeit, feine fdmautygfien <8efdjta?ten in
feinem eignen £}aufe an IPetb unb (Eöd/tern abfpielen 3U laffen — es
Farn ber gan3en jfamilie in (Seftalt bes Honorars 3ugute! Ködje fud?en
fabe, gefdjmacflofe Speifen burdj fdjarfe 23ei3en unb gepfefferte Saucen
fdjmautjaft 3U machen — ein Dement fann über ben lüert beffen, was
er bietet, fein felbf.üernidjtenberes Urteil abgeben, als menn er foldie
Hei3mittel für nötig tjä'lt*
2<**
372
Kapitel IX. Die feciale IHecbariif. Das Sittlidje.
b. (Erlaubt ober inbifferent.
3fi biefelbe Hebe, welche ber 5rau gegenüber mbe3eut
fein würbe, es auch bem HTanne gegenüber? Der moralifche
Higorift wirb bie 5rage bejahen, iDas fann bie perfon,
wirb er fagen, an bem objeftir>en Ct^arafter besfelben änbern?
3m wirflichen £eben benft man anbevs barüber, unb bas
£eben t^at Hecht IDer fich ben praftifchen [475] (Srunb, auf
bem bas Derbot bes 3n^^3cn^n beruht, flar gemacht ^at,
wirb barüber nicht im gweifel fein. Die öerüfjrung fejueller
Dinge enthält nicht fchlechthm etwas 2Inftö£iges, (onbern
lebiglich im Perhältnis von perfonen serfchiebenen (Sefctjlechts.
Die &arf mit ber 5rau, ber HTann mit bem ZHanne
Dinge befprechen, welche feiner von beiben Ceilen einer perfon
bes anbern (Sefchlechts gegenüber auch nur 3U berühren tragen
würbe; ber (Segenfafc ber (Sefchlechter iji alfo in biefer 23e*
3iehung von gan3 maggebenbem (Einfluß — was im ZHunbe
bes Zfiannes ber 5rau gegenüber inbe3ent fein würbe, ift es
barum noch nicht bem Hlanne gegenüber*
Die (SefeQfchaft räumt bem ZHanne in biefem Punfte bei
ber Unterhaltung mit ZHännern einen weiten Spielraum ein,
fie perftattet bem Wx§ unb fjumor wie aßen Dingen ber
IDelt, felbft ben ernfteften unb erfyabenften, fo auch bem
(Segenfafce ber (Befchlechter bie textete Sexte ab3ugewinnen.
5ür beibe gibt es faum einen fo ergiebigen unb banfbaren
Stoff, einen fo t>erlocfenben Cummelplafc als bas Chema bes
SeyueHen; ihnen basfelbe Denselben, $xe§e eine ber uner«
fchöpflichften Quellen ber (Erweiterung fowohl in ber Citeratur
wie im gefelligen Perfehr perfchliejjen, ben IDife unb f}umor
an bie Kette legen.
2lber ber Freibrief, ben bie (ßefellfchaft ausftellt, lautet
auf VOx% unb f}umor, nicht auf Hoheit unb (ßemeinheit £t>ir
wünfehen burch bas leidste Spiel bes (Beiftes erfreut unb er-
heitert 3U werben, bie (ßefchieflichfeit, (ßewanbtheit, [476] Kunft,
Steigerung bes 3nbe3enten 3um Uttfittlidjen* 373
mit ber ber JDife auf biefem Cummelplafee feine elaftifdjen
Salle tt>irft unb fängt, 3U betounbern, aber bie Hoheit unb
(Semeinfyeit, md]t funbig bes leichten Spiels, tmrft uns mit
plumper J^anb ben Ball, ftatt mit iljm 3U fpielen, in bie
2üigen, fte erregt ftatt IDofylgef allen unb £adjen nur £fel
unb XDibertruHen.
Damit ift bereits bie britte 5orm genannt, tt>eld}e bas
Sexuelle annehmen fann, es ift
c. bie bes äftfyetifd? 2tnftößigen.
3dj fann mid), roas biefe Kategorie betrifft, auf meine
früheren Ausführungen (S. 3^8) besiegen.
Die vierte 5orm ift bie bes
d. Caftlofen.
21udj unter ZHännem 3iemt fidj nidjt alles in gleicher
tDeife. Der Con ber Pertraulidjfeit, ben toir bei näheren
Befannten anfdjlagen, eignet ftdj nidjt für femerfteljenbe
perfonen; Scfye^e, Späjje, bie bei jenen am plafce finb,
fönnen biefen ober Dorgef efeten gegenüber eine Caftlofigfeit
enthalten (XTr. unb biefer (Sefidjtspunft ift audj für bie
Befyanblung fejrueller Dinge maßgebenb; unter biefer X?or«
ausfefcung finbet barauf nidjt ber Dorumrf bes 3n^3enten,
fonbern bes Caftlofen 2tnroenbung.
e. Unfittlid?.
Das 3x\i>e$ente u>irb 3um Unfittlidjen, u>enn es fubjeftip
ber böfen 21bfidjt bienen foll (S, 366 f.). 2lber aud} unabhängig
bat>on fann es ben Cfyarafter bes Unfittlidjen annehmen,
nämlich im XHunbe von perfonen, benen eine [477] €r*
3ieljungspflid}t obliegt: Altern, Cetjrer, <£r3ietjer, ihre Aufgabe
geht gerabe bafyn, ben ihnen anvertrauten perfonen alles
ftttlich (gefährliche fem3uhalten. £as3ipe Heben in ihrem
ZHunbe ftnb gerabe3u frevelhaft, ein <5ift, bas jte in bie
Seele bes Kinbes träufeln, — ein moralifcher (Siftmorb. Das
Recht aetvährt bagegen feinen Schüfe, es ift bies einer jener
374 Kapitel IX. Die fotaie iried?antf* Das Sittliche.
£äCe, wo bas Hectjt bem Söfen gegenüber jxd) machtlos
ertneijl unb rx>o bas jtttltcfye (ßefüfyl in feie £ücfe eintreten
nm§. 2)as Hecfyt fd^üfet nur ben £eib*), nicfyt bie Seele, ber
Schaben, ber jenem 3ugefügt u>irb, fällt in bie finnlidje VOa^v
nefymung, ber Schaben, ber biefer 3ugefügt tr>irb, nidjt. Darin
mag ber <5runb 3U erblicfen fein, trarum bas Hecfyt in ben
obigen Derfyältniffen feine Jjilfe getx>ät|rt. 2tber in meinen
2tugen ifi bies ein fdjroerer ZHangel.
Was bebeixM eine Körperserlefeung, bie bloß ben äußeren
tTlenfcfyen trifft, unb bie öietleidjt in für3efter <§eit rt>ieber
Ijeilt, ofyte irgenbtx>elcfye bauernbe folgen 3U fynterlaffen,
gegen bie Vergiftung ber 5eele, bie für immer ben mora«
lifcfyen Kern bes HTenfcfyen 3erftört, nrie gering [478] iji bas
(Setoidjt ber Scfyulb bei ber Jafyrläffigfeit eines tDeidjen*
ftellers gegen bie eines £efyrers ober £r3ief}ers, ber bie ii>m
anvertrauten Kinber burefy las3h>e Heben moraltfdj sugrunbe
richtet? 3n bet <£at ein fcfyreienbes Xnijperfyältnis, bem
gegenüber aber bem Hedjte, tt>ie es 3ur3eit einmal ift, nichts
anberes übrig bleibt als ber ^intt>eis auf bie Unpollfommeu*
Bjeit ber ifjm 3U (ßebote fteljenben HTtttel. ©b nidjt eine
fommenbe §eit Ijier 2lbi|ilfe bringen tr>irb? <£s tt>äre ber
5ortfdjritt x>on ben mt3Üd)tigen £janblungen ber in § [7%
Zlt. \ genannten perfonen 3U ben als Porbereitungsfyanb*
lungen berfelben 3U qualifoierenben mt3Üd}ttgen Heben.
tDarum foHte man nicfyt audj bie Hebe (bas IDort) t>or
*) VOet sorfätjUd? einen anbeni förperlid? mipanbelt ober an ber
<5efuttbtjeit befd^äbtgt, ttrirb megen Körperoerletjung mit (Sefängnis bis
ju bret 3atjren ober mit (Selbjkafe bis 3U eintaufenb ITCarf betraft
(D* 5t. <S. £♦ § 225), VOet uorfSfelid? einem anbern, um beffen (Sefimb*
tjeit 3U befdjäbigen, (Stft ober anbere Stoffe betbringt, n>eld?e bie (Se-
funbtjeit 3U 3erftören geeignet ftnb, u>irb mit ^ud^aus bis 3U 3efyt
3atjren betraft (§ 229). VOet burd? Jat^rläfftgfeit bie Körperrerietymg
eines anbern perurfacfyt, whb mit (Selbftrafe bis 3U neuntjunbert Warf
ober mit (ßefängnis bis 3U 3tt>ei 3al|ren beffraft (§ 230)*
Becfytltcfyes Perbot bes 3nbe3enten*
375
(Script ftcHcn? 2)ie aufrührerifche, gottesläfterliche, be*
letbigenbe toirb es — toarum nicht auch bie inbe3ente, wenn
bie Umjlänbe it^r ben Stempel bes Verbrecherifchen: bes be-
tagten moralifcben (ßiftmorbes aufprägen?*)
3n einem 5aIIe h<*t bas Hecht ftch in ber tEat bereits
fotoeit t>erftiegen, bas 3nbe3ente 3U beftrafen»
f. Hed?tlid? ftrafbar.
€s iji ber 5aII ber öffentlichen 2lusftetlung ober Verbrei-
tung mächtiger Darftellungen (D. 5t. (5. 23- § [479]
b. i. bas 3n^3entef welches bie 5orm bes öffentlich 2tnftöf$igen
(5. 309) annimmt: bie Verlegung bes öffentlichen 2lnftanbes,
Die bisherige Ausführung roirb bie Hichtigfeit meiner
obigen Behauptung gerechtfertigt Reiben, baß bas Sexuelle
bas etfyfche Chamäleon ift f bas in allen färben f chißerh
<£s führt uns fämtliche benfbaren (ßefialtungen bes £thifchen
r>or: bas (ßebotene, (Erlaubte, Verbotene (S. 68), unb in
be3ug auf letzteres bie breifache 2Jbftufung ber Fialen 3m*
peratise: Sitte, ZHoral, Hecht 3n (ich f elber pöllig unbe-
ftimmt, geroinnt es feinen £harafter erjl burch bie Umftänbe,
unter benen es auftritt €s gleicht bem 5euer: wohltätig,
gefährlich, t>ernichtenb.
3ch glaube hiermit meine Erörterung bes 3nbe3enten ab*
fchließen 3U bürfen. 5ür bie gvoede meiner Unterfuchung
fam es lebiglich auf 3tt>ei punfte an: bie begriff liehe 5eft-
fteüung unb 2lbgren3ung besfelben t>on t>enr>anbten (JErfchei-
nungen unb bie praftifche Hechtfertigung bes Verbots bes-
felben. Was im ein3elnen inbe3ent ift, fei es im äußeren
*) Die Berücfftdjttgung ber moraüfcfyen Beeinfluffung ber einen
perfou burdj bie anbere ijt bem Strafrecfyte fonft nid?t fremb, 3. bei
ber tntclleftuellen Ur^eberfd^aft; im römif d?en Hedjte finbet fle fia? felbfl
im priüatredjte bei ber actio de servo corrupto, bie emefy auf bie Kirtber
erftreeft IDarb; quoniam interest nostra, animum liberorum nostrorum
non corrumpi, L \% pr. de servo corr. (\\. 3).
576
Kapitel (X, Die finale OTe^aniF. Das Sittliche,
Auftreten unb Benehmen bes ZlTenfdjen, fei es in feinen
Heben unb IDorten, fyabe id? felbftserftänblidj nicfyt 3U unter»
flicken. Hur in be3ug auf einen punft möge mir eine Be*
merfung perftattet fein. Dertraulidjfeiten, «gärtlidf fetten unter
<£^egatten, Brautleuten gelten als anftögig. IParum? 3jl
es mdjt bas Hedjt ber Ciebe, jtdj 3U äugern? Sidjerlid}!
Hur nicfyi por ben klugen ber IDelt; es gilt f^icr bas fr über
von mir (ßefagte: bie [480] Welt brauet nid?t alles 3U fe^en,
roas ipir tun, J)ie tpaljre Siebe roirb aud? bas Bebürfnis
einer folgen Sdjauftellung fotoenig empftnben, baß jte barin
umgefefyrt pielmefyr eine €nttt>eifyixng ifyrer felbft erblicfen
tpirb. ZIüv bie ifyrer felber nidtf fiebere £iebe, tpeldje (Srünbe
3U ber 2Inna^me Ijat, ba§ audj bie IDelt nid]t an jte glaubt,
ober bie ber Selbftbefyerrfcfyung entbefyreube, bes Hamens
ber Siebe umpürbige ftnnlidje (5lut urirb ben 2lnrei3 ba3u
empftnben; ifyr perlegt bie Sitte burefy bas obige Perbot
ben Weg.
\5) Die £}öflid]feit Begriff, IDefen, pfyänomeno*
logie berfelben.
2)er Sdjufe, ben ber itnftanb ber perfon in ifyrem <gu*
fammenfein mit anbern getpäljrt, ift, tpie im bisherigen
ge3eigt, negativer 2trt, er befdjränft fidj barauf, ifyr getpiffe un«
angenehme (Sefüfylsaffeftionen fem 3U galten. <San3 benfelben
C£]arafter trägt ber Scfyufc an jtd), ben bas Hedjt ber perfon
als foldjer getpäfyrt (Hedjt ber perfönlid]feit), audj er ift rein
negativer 2lrt, audj er gefyt über bas blo^e alterum non
laedere nidjt hinaus, nur baß bas laedere tjier anberer 2trt
ift. Das laedere im Sinne ber Sitte ift bas 2tnftö§ige, bas
im Sinne bes Hedjts bie Beleibigung. Spracfylidi dmrafterifiert
fiel] lefetere als gufügung eines Ceibs, fie fügt 3U ben brei
früher (S. 350) fonftatierten fällen bes Ceibs: bem bes Körpers
(Ceiben), ber Seele (£eib), bes JDillens (£eibenfd)aft), bas ber
per|önlid]feit [481] im Sinne bes Hechts (Be*Ieibigung) {pnja,
Die £?öflttf?feii — Stellung 311m Hedjt unb 3um 2lnftanb* 377
genauer gefprodjen: itjrer <£fyre, einen Segriff, ben tsir an
anberer Stelle (ßefegenfyeit erhalten roerben ins 2tuge 3U
faffem 3^bes £eib unb £eiben begründet eine Störung bes
normalen «gufianbes ber (Sefunbljeit, ein Kranffein, beim
£eiben franft ber Körper, beim £eib bie Seele, bei ber
£eibenfd]aft ber IDille, bei ber Seleibigung bie perfön*
lidtfeit. Die Sprache fyat biefe IDirfung ber Seleibigung
richtig erfannt, inbem fie von einer Kränfung unb toie beim
Kranfen von einer XDieberfyerfteHung ber fifyre fpridjt. Die
£fyre txulrbe fid? bementfprecfyenb als <§uftanb ber (ßefunb*
fyeit ber perfönlicfyfeit im Sinne bes Hechts befinieren laffem
Der Scfyutj, ben bie Sitte mittels ber <5ebote bes 2lnftanbes
unb bas Hed]t mittels bes Hedjts ber perfönlicfyfeit ber
Perfon 3U teil roerben Iaffen, erfdjöpft jtdj in ber 2lbroel}r
bes laedere, ber perfon foH ify: gufammenfein mit anbern
nidjt perleibet roerben*), bas Derleiben im Sinne ber Sitte
gefd?iel|t burd) bas 2lnftö§ige, im Sinne bes Hechts burdj bie
Seleibigung,
XDeiter als auf bies rein ZTegatioe ber 2lbroefyr ber 23e»
leibigung erftrecft fid} ber Schüfe, ben bas Hedjt ber perfon
als fold]er angebeil^en lä§t, nidjt, alle anbevn 2lnfprüdje,
roelcfye bas Hecfyt ifyr 3ugeftel)t, Ijaben fonfrete [482] unb ba*
fyer im ein3elnen 5alte 3U erroeifenbe Catfad}en 3ur Doraus*
fe^ung (öefit}, Eigentum, 5orberung ufto.). Derfelbe djarafteri*
fiert ftdj ba^er burdj 3roei ZTtomente, einmal, baß er ber
perfönlicfyfeit als foldjer 3uerfannt ijt, unb 3toeitens, baß er
nur negativer 2Irt ift. Das Z?ed}t erfennt ber perfönlidjfeit
feinen pofitioen ilnfprucfy auf 2ld}tung 3U, fonbern nur ben
negatioen auf Unterlaffung ber Betätigung ber Znißadjtung ;
*) Dem Spracfyforfcfyer überlaffe idj bie Jrage, ob laed(ere) (im
Kompofttum lid-ere) unb leibten (altfyb* lid-an, mitteilt* lid-en) fpracfylicl]
berfelben VOnx^el entflammen«
578 Kapitel IX. Die totale med>cmif. Das Siitlia?e*
was bas Hectjt für bie perfon tut, befdjränft fidt auf Tin*
erfennung unb Sicherung iljrer rechtlichen Unangefochten-
st
2lber bie Sitte geljt einen Schritt n>eiter, inbem jte ber
perfon einen pojtttoen Jlnfpruch t>erleih*. 2)arauf beruht ber
(Srunbgebanfe ber Jjöflid) feit unb ber charafterifiifche Unter«
fchieb berfelben vom 2tnftanb. IDä^renb lefcterer es bei bem
negativen Schule ber perfon gegen Perlefeung (bas non
laedere) betsenben lägt, nimmt bie £}öfltchfeit fich ihrer in
pofittoer IDeife an, inbem fie Hegeln auffteßt, welche nicht
ein bloßes Unterlaffen, fonbem ein Cun im 3ntereffe ber
Perfon sum 3nhaft ^aben: pofitipe 2lnerfennung ber perfön«
lichfeit. 2luf basjenige, was ihren Hegeln 3ufolge „fich ge*
bütjrt, fiel] gehört", erf ennt fie ber perfon einen 2lnfpruch
5U als „i^r gebührenb, ihr gefyörenb". So fommt 311 ber
lebiglich negativen Dorfchrift bes alterum non laedere bie
pofxtipe bes jus suum cuique tribuere (S. 289) fyn3U. <£rfi
auf bem (Sebiete ber Sitte iji bie 3bee ber perfönlicftfeit, bie
auf bem bes Hechts es über bie 21nerlennung ihrer [483]
Xtnantaftbarfeit nicht I|at herausbringen fönnen, 3ur rollen
E>ertr>irflichung gelangt. UTittels ber I}öflichfeit fügt bie Sitte
3u bemjenigen, tsas bas Hecht mittels ber Seftimmungen
über bie (£^re für bie perfon getan h<*tte, bas noch ^ehlenbe
fyn3U, erjl auf bem (5ebiete ber Sitte gelangt bie 3bee in
perfönlidjfeit 3ur sollen b. t. pofttipen 2tnerfennung, unb in
biefem Sinne fann man fagen: bie fjöflidjfeit x>err>olIfiänbigt
auf bem (ßebiete ber Sitte bas Hecht ber perfönlichfeit *)
2)ie formalen £t|arafter3Üge, »eiche ben Segriff ber ^öf-
lichfeit von bem bes Jlnftanbes abgeben, ftnb bie früher
*) 3n biefem »eiteren Sinne fpredjen audj bie römifdjeu Jurijleit
von einem jus bei ftttlia?en Dertjältniffen, f. 3*& L \2 de J. et J. (1. J):
Kognation, Affinität, 1. 22 § de V. S. (50, freunbfdjaft.
^öfltdjfeti — Begriff*
379
(5, 287/288) angegebenen beiben ZHomente ber Helattoen unb
pofitir>ert.
Die JjÖflicttfeit geht, rt>ie toir uns bamals ausbrüeften,
in personam, ber 2lnjkmb in rem. Vfian fann ftch anjlänbig
benehmen in (Segewoart anberer, ohne mit irgenb einem ber
2Inu>ef enben in eine perf önliche Berührung 3U treten, 3. 33»
auf öffentlicher Straße, an ber XPirtstafel, ber geringfte 2tft
ber Jjöflichfeit bagegen, 3. 23. bas (ßrüjjen eines Dorüber-
gehenben jleHt, toenn auch nur momentan, eine 23e3tehung
ber perfon 3ur perfon t\ett Zfian tarxn nur höflich, aufmerfc
fam, artig fein gegen jemanben, nicht fchlechthin, tsährenb
für ben 2tnftanb bas gerabe (Segenteil gilt. 2ftan fann nicht
anfiänbtg fein gegen jemanben. [484] Die 2lmx>efenheit bes*
felben machten 3tt>ar 3um beugen unferes Benehmens (S. 286 ff.),
aber gjeuge unb gtt>ecffubjeft einer Efanblung finb 3tx>eierlei.
Der befte Setoets bafür liegt barin, ba§ man ber anfiänbigen
ober unanftänbigen ^anblung feine ausfchließliche 23e3iehung
3U einer ber antoefenben perfonen geben fann (S. 287), tr>ofy[
aber ben Semeifen ber ^öflidjfeit.
2)as 3ir>eite begriffliche ZHerfmal, roelches X}5flichfeit unb
21nftanb unterfdjeibet, befteht in bem (Segenfafee bes poftttoen
unb Ztegatipen. 3n &e3ug auf ben 2tnftanb ift bies oben
bargetan, ber Schein bes (Segenteils ift eben nur Schein
(S. 293), in be3ug auf bie Jjöflichfeit toirb ber <£intr>anb,
ben man ben fcheinbar negativen Perpflichtungen ber X}öf«
lichfeit, 3. 23. jemanben im Sprechen nicht 3U unterbrechen,
ihn bie £angetoeile, »eiche er uns t>erurf acht, nicht fühlen 3U
laffen, entnehmen fönnte, unten 3urü<Jgetoiefen toerben.
ZlTit ber begrifflieben Unterfcheibung ber Eföflichfeit com 2tn«
ftanb ift ettoas, aber nicht alles getan. Über ihr IDefen unb
ihre Sebeutung treffen n?ir bamit gerabe fopiel ober fomenig,
wie über IDefen unb Sebeutung ber Obligation, wenn fte uns
als ein gegen bie perfon gerichteter 2tnfpruch auf £eifiung
580 Kapitel IX. Die fatale rTCedjantf, Das SitiUa>.
beflntert wirb, gur öegriffsbefttmmung reicht es aus, wenn
bie wefentlidjen Unterfdjeibungsmerfmale bes einen Dinges
vom anbern genannt werben, über bas IDefen bes Dinges
erhalten wir bamit nur unter ber X)orausfet$ung 2luffcblu§,
baß basfelbe gerabe in biefen Unterfdjeibungsmerf malen [485]
gelegen ift, was f eines wegs immer ber faß ift, lüer fonft
nid}t fcfyon weiß, was bie Obligation für ben menfdjlidjen
Derfefyr bebeutet, gewinnt burd) jene Definition, bie für
ben praftifdien 3uriften sum §wecfe ber Unterfdjeibung ber
Obligation von anicten Kenten pollfommen ausreicht, ntdjt
bie geringste 2lnfd}auung, benn fie füE^rt itjm nur bie
äußeren Konturen berfelben t>or klugen, bie logifdjen <Sren3»
linien (definire = abgren3en); aber was innerhalb berfelben
plafc finbet, unb W03U fie felber bienen foll, barüber erfährt
er bamit nichts. So t>ert|ält es fidj audj mit ber burd) bie
obige Erörterung gewonnenen Definition ber ^oflidtfeit. Wir
wiffen aüerbings: fjöflidjfeit ift bie burd? bie Sitte t>orge*
3eid]nete, in bie (Beftalt einer faialen pflidjt von ber einen,
unb eines faialen 2lnfprud?s t>on ber anbern Seite gebrachte
pofitioe 5orm bes öenefymens, unb biefe Definition ift t>oö*
fommen forreft 2lber wenn wir ntcfyt fonft \d\on aus un<
mittelbarer Jlnfcfyauung bie J^öflid]feit fennten, was wäre
bamit für unfere <£rfenntnis gewonnen? XDorin beftetjt benn
jenes pofitwe im Benehmen? Soßen wir bem anbern aus
ber Hot Reifen, felber ©pfer bringen, — ift es mit bem rein
äußerlichen ber öeobacfytung ber £(öflid)feitsformen getan,
ober bebarf es ber (ßefinnung, unb wenn jenes, was be*
5we<fen benn biefe formen, welker Dorftellung ober 3&*e
finb fte entnommen? (ßerabe über biefe enfdjeibenben fragen,
bie uns erft bas wafyre Derftänbnis ber fatalen Sebeutung
ber Ejöflidtfeit erfdjließen, [486] läßt uns jene Definition
o^ne aßen 2tuffd?luß. Der ontologtfcfyen 23eflimmung, mit
ber fte ftd? begnügt, muß bie teleologifcfte fubßitutert
^öfltdjfett. — IDefett.
38*
tr>erben*), jene gibt uns ben Begriff, biefe bas IPefen bes
Tinges; bas XDefen bes Dinges aber liegt bei allen praf*
tifcfyen Dingen befcfyloffen im §tx>ecf. Damit iji bie Aufgabe
bes ^olgenben namhaft gemalt.
Das IDefen ber £}öflidjfeit.
It?as foll bie Efoflid^eit?
Littels biefer 5rage fyaben toir in fie bereits etwas Bjinein*
getragen, u>as von vornherein nodj feinestsegs feftftefyt,
nämlid? ben «gtoeef, wit haben fie bamit für eine menfcfylicfye
(Einrichtung erflärt, roelc^e bie (SefeUfchaft um beftimmter
gtseefe willen ins £eben gerufen Ijat ZlTöglich aber toäre
es ja, baß bie ^öflidtfeit, ganj fo toie bie 5reube unb ber
Schmers lebiglich ein pfychologifches Phänomen in fiefy fchtöffe,
bei bem ber ZHenfch nur bem ihm r>on ber ZTatur einge*
pflan3ten Drange 5olge leitete» XDarum freuen unb betrüben
roir uns, tr>arum lachen unb tr>einen toir? Die Ztatur I^at
uns einmal fo eingerichtet. IParum finb rt>ir höflich? ZDas
hinbert uns I;ier, biefelbe 2tnttx>ort 3U erteilen? <£s tt>äre
bie natipiftifcfye C^eorie (S. 85), in befonberer 2tntoenbung
auf bie £}öflichfeit, ber [487] fonfequente Zlatioift tr>ürbe bie
5rage einfach mit ber Annahme eines befonberen ^öflichfe-its»
triebes abtun.
<£s bebarf feines großen 2tuftr>anbes t>on Zlad\benfen,
um fich von ber Unrichtigfeit biefer Einnahme 3u über3eugen.
lüäre fie richtig, fo müßte bie £(öflichfeit gan3 fo wie 5reube
unb Sd)mer3, wie Cachen unb tDeinen bem Drange bes 3"s
bipibuums überlaffen bleiben. 2lber bies iji nicht ber 5aII,
bie Ejöflichfeit bilbet eine fo3ia!e 3njlitution, fte 3eid]net bem
*) Über btefen (Segenfa^ bei* ontolo gif d?eu unb teleologif eben Peft*
mtton in ^Inmeubung auf bie Hecfytsbegrtffe t^abe tef? mtd? ausgefprod}en
in meinem CSetft bes röm. Hechts. (Teil 2, 2lbt 2, 5. 36$ (2lufl. 3).
382 Kapitel IX. Die feciale tTCecfyatttf. Das Sittliche*
einzelnen eine getoiffe Wei\e bes 23enet|mens vox, meldte er
3u beobachten Ijat, felbft voenn es iljm an ber inneren Stirn*
mung ober (Seneigtfyeit, jenem fupponierten Qöflidjfeitstriebe,
gän3ltd? fehlen follte, jte fielet in biefer 33e3ieljung auf einer
unb berfelben Cinie mit bem Hedjt, 2lUe fo3ialen, burd]
bestimmte Hegeln gebildeten unb gefiederten 3nfHtutionen aber
jtnb <§tr>ecffd)öpfuttgen. 2Tiag bei ber Bilbung berfelben nodj
fooiel auf Hecfynung bes bem IHenfdjen angeblid] angeborenen
(von mir, toie ber £efer toei§, fdjledjtfym geleugneten) Criebes
3um ®nten fommen, bie (Sefeflfdjaft fyat biefen Crieb einmal
in ifyre Dienfie genommen, it^rt in bas 3ocfj bes gwedes
gefpannt, ebenfo rt>ie bas pferb, bas ber ZHenfdj ja ebenfalls
ber ZTatur t>erbanft, unb tx>ie tx>ir bei lefeterem uns burd?
biefen Umftanb nicfyt abgalten Iaffen bie 5rage auf3Utoerfen:
too3U bient es? ebenfotoenig fann ber Pertt>eis auf bie ZTatur,
felbfi roenn er begrünbet märe, uns Bjmbem, biefelbe 5rage
in be3ug auf bie Ejöflidjfeit 3U ergeben. Die «gtoeeffrage
u>äre bei it^r nur [488] bann ausgefdjloffen, u>enn bie <Se-
fellfdjaft fie gan3 bem inbipibueüen Drange überlaffen Ijätte;
ber Umftanb, baß fie es nicfyt getan, betoeijl, baß fie biefelbe
für nötig fyält, unb bamit iji bie 5rage nadj bem JParum,
b, bem fo3ialen groede ber fjöflidjfett nidjt bloß geredet»
fertigt, fonbem unabweisbar geworben,
3d) greife, um benfelben burdj ben <5egenfafe in ein
fyeHeres £idjt 3U rücfen, 3U bem 2lnjlanb 3urücf. 2lnftanb
tote fjöflid^feit bienen einem unb bemfelben §we<£ : bie ge*
feHfdiaftlidje Berührung bes 2Ttenfdjen mit bem ZTTenfdjen,
welche, wie früher (5. 266 f.) nadjgewiefen, bie 23ebingung
aller (Befittung enthält, möglidiß: 3U förbern, aber ber 2tnfianb
tut es nur in ber negativen IDeife, ba§ er basjenige, was
fie x>erleiben fönnte, fernhält, bie J^öflidjfeit bagegen in ber
pofttwen XDeife, bajj fie biefelbe wotjltuenb, an3iefyenb unb
baburd) erstrebenswert macfyt, jener räumt bie 21nftänbe unb
^öflidjfett. — Soziales «gtuecfmoment 383
fjinberniffe aus bem IDege, weld?e uns veranlagen formten,
bas «gufammenfein mit anbem 3U vermeiden, öiefe ftattet
basjclbe mit einem Hei3 aus, ber uns 3U beftimmen vermag,
es 3U fuchen, jener garantiert uns in be3ug auf alle <£in*
brücfe, bie unfer (Befühl »erleben fönnten, unfere perfönlidje
Unangefochtenheit, biefe gewähr! uns bie 2lnnehmlich?eit, 23e*
haglichfeit bes perfönlichen «gujammenfeins.
(5egen biefe Formulierung fönnte man ben <£inwanb er*
heben, baß auch bie ^öflidtfeit ben gwecf fyabe, uns gegen
Derlefeung ficher3uftellen; eine (ßrobheit fann [489] uns un<
gleich empfindlicher serlefeen als ein Derftoß gegen ben 2ln«
)tanb. Cefcteres ijt poEfommen richtig, aber baraus ergibt
fich noch nicht bas erjtere. Die f^öflichfeit wehrt bie (Srob*
heit ab, aber fie tut es nicht in ber ZDeife, wie ber 2lnfianb
beim 2Inftößigen, mittels bloßer Ztegation, fonbern baburd],
baß fie ihr einen pojtttoen Cypus bes Benehmens gegenüber*
ftellt, ber, inbem er ein ZHehreres perlangt als bas bloße
Ztichtgrobfein, bas (ßebot bes lefeteren als notwenbige Kon«
fequen3 in ftcf^ fdjließt. Die begriffliche Funftion bes 2lnftanbes
erfchöpft fich an ber Ztegation bes 2tnftÖßigen, bie ber fjöf*
lichfeit aber nicht an ber ber (Srobheit So verbleiben wir
bei unferer obigen Formulierung: bie fo3iale Funfiion ber
£}öflichfett befteht barin, uns bas «gufammenfein mit anberen
an3iehenb, wohltuenb, begehrenswert 3U machen*
Sehen toir 3U, auf welche ZDeife fie bies erreicht. Die
Frage ijt gleichbebeutenb mit ber nach bem Sinne ber oon
ber Sitte porge3etchneten Ejöflichfeitsformen.
HMcher (ßebanfe liegt benfelben 3ugrunbe? 3n aßen
Schriften, welche bie Frage berühren, l\abe ich barauf nur bie
eine Antwort erhalten: bas IDohlwoIlen, währenb ich burch
eine genaue gerglieberung ber fföflichfeitsformen 3U bem He»
fultate gelangt bin, baß es 3wei finb: bie Achtung unb
bas XDohltPollen* <£s ift in meinen 2lugen bas wertpollfte,
58^ Kapitel IX. Die fatale llled?anir\ Das Sittliche.
bas meine Unterredungen abgeworfen B^aben. 3<ä> erinnere
midi nkfyt, biefer Jlnfidjt irgenbtso begegnet 3U fein, auefy
nidit ben leifeften 2tnf ät$en ba$u, alle Stimmen, [490] toelcfye
ftctj öffentlich über bie 5rage Ijaben t>eme^men Iaffen, ftnb
einig darüber, ba§ bas IDotjltDolIen bie Seele ber Qöfltcfyfeit
fei*). 2>a§ ber <5ebanfe bes tDofyfoollens bie £}öflid]feits<
formen nicfyt beeft, bat>on toirb frcl7 ber Cefer leicht überseugen
fönnen; laffen roir ifyi bie probe beftefyen.
3d] fyabe früher (S. 233) bie 23emerfung gemalt, [491]
baß manche Säfee unb (Einrichtungen ber Sitte bie <5eftalt
*) 3<*? glaube eine pflidjt ber literarifdjen <Seu>tff ent^afttgf ett 3n
erfüllen, mbem idj mitteile, ba§ auf privatem IDege eine ber memtgen
rerroanbte 2lnftd}t 3u metner Kunbe gefommen iji 3er? ^a^e m^ 3um
£wede ber 2lus?unft über bie £}öflid}Feitsformen ber rerfdjiebenen Dölfer
an einige (Selefyrte geroanbt, unter anbern audj an ben Sinologen, ^errn
profeffor Baron r>on ber (Sab elentj in £eip3tg, unb berfelbe tjatte
bie <5üte, ber 2Jnttr>ort auf meine fragen 3ugleid? einen finden, uon
tt|m früher entworfenen 2Jbri§ über bie ^öfltd?feit Ijin3U3ufngett, ber
auf 3U>et Blätteren mefjr Creffenbes unb 2lnregenbes enthielt, als
td? in ben meitläuftgften Darftellungen btstjer gefunben rjatte* £?ier
traf td? audj ben (Sebanfen ber gunefpältigfeit ber Xjöflidjfeit, nur
ba§ ber Derfaffer als 3tpettes (SIteb nid?t mit mir bie 2Icbtung, fon*
bern bie 23efa>ibenrjeit nennt, wobei jebod? aus bem gufatje, ^cn
er biefem IDorte tynsufügt („ 2lner?ennung ber perföulidjen XDürbe
anberer gegenüber ber eignen, tnuofotert 2Jcr/tung unb nadj Umftänben
<£tjrerbtetung unb Demut''), rterr>orgeb|t, ba§ er im öffentlichen bas*
felbe im 21uge fyat, wie tdj* Soweit idj mir über bie (Surfteljung
metner 2Xnjtd?t flar bin, glaube idj bie erfte Anregung ba3n auf bie
Sprache 3urü<ffür|ren 3U follen, weldje für ben 2lusbrucf ber 2lcr?tung
unb bes tPofylwollens t>erf ergebene XDenbungen tjat ((♦unten), unb id>
möchte faft glauben, ba§ ber genannte Spradjforfdjer auf bcmfelben
iPege 3U ber feinigen gelangt ift, bie Spracbe lägt ja einmal bemjenigen,
ber Ujr feine 2lufmer?famfeit 3uwenbet, me oqne 2Iuffd?Iu§, unb wenn
fie aud? nid?t alles fagt, fo reid/t bodj basjenige, was fte fagt, roll*
fommen aus, bas Jerjlenbe 31t ergäben, 3er? benufee biefe (Selegenfyeit,
um irjm wie allen (gelehrten, meldte mir in bejug auf bas Sipxacblidie
ber ^öflid?feit freunblidje 2Jus?unft gegeben tyaben, insbefonbere fjerrn
profeffor (£♦ tErfe w rewf r>on pouor in peft öffentlid? meinen Danf
aus3ufpred}em
Ejöfltcbfeth — (Elementare gmiefpälttgfett.
385
ausbrücflidjer pofitiser Sanftion angenommen fjaben. Dies
gilt aud? für bie £{öflidtfeit. für bas PerBjältnis ber ftaat*
liefen unb militärif djen Unterordnung finb getoiffe formen
bes persönlichen ober fdjriftlidjen Derfefyrs ausbrücflidi t>or»
gefdjrteben; tdj be3eidjne fie als reglementierte £}öflidtfeit im
(Segenfafee ber freien. Den 3nljalt ber reglementierten ^of*
Iidtfeit bilbet bie 2ldjtung. Das Salutieren bes Solbaten
Ijat nidjt ben StsecE, feinem Porgefefeten fein tüofyfooQen,
fonbern feine Unterorbnung, bie 2ld?tung t>or feiner Stellung
funb3ugeben. <San3 basfelbe gilt son bem für bie Berichte
untergeordneter an t>orgefet$te Beworben sorgefdjriebenen
KurtaljW*).
2lber aud) bei ber freien fjöflidjfeit ift ber (Segenfafe ber
2ld?tung unb bes tDoljfooHens nidjt 3U serfennen. Bei ber
2lnrebe unb Mnterfdjrift in Briefen bebxerxm toir uns nad?
Perfcfyiebenfyeit ber perfonen t>öQig serfcfyiebener [492] Wen*
bungen. (Einen f reunb ober näheren TSdannten tituliert man
nidjt mit: fefyr geehrter, tjocfouserefyrenber Ejerr, unb man
unterfdjreibt fidj nidtfmit: ^od^adtfungsDoH, mitt>ollfommeufter
^ocfyadjtung, 3fyr ergebender ober gefyorfamfter Diener uftr>.,
roäfyrenb man fernerpe^enben perfonen gegenüber nid)t bie
Xt?enbungen 3ur 2lnroenbung bringt, tselcfye bort am plafce
*) (Sleidjftefyenbe Beworben „erfud?en" unb „teilen mit" unb ßtpar
„ergeben^" (HequtfttionsjHl), öorßetjenbe „eröffnen", „weifen an"
oline weiteren <§ufa^ (Heff riptfHl), untergeorbnete „b'xiUxx" unb „be*
richten" unb 3war „gefjorfamft" unb mit £}in3ufiigung bes Det)ottons-
ftridjs (BericfytsjHl). Die frage von ber Beibehaltung ber festeren
form, bie ber jüngeren (Seneratiou ber preußifdjen 2lmtsrtd?ter mit itjrer
gefetjlidjen (Sleidtftellung mit ben £anbridjtern nidjt redjt oerträgltdj er*
fdjten, tjt in jiingfter gett (Segenftanb einer 3nterpellatiou im preußifcfyen
2lbgeorbnetenfyaufe geworben unb vom bamaltgen preufiifdjen Zuftifr
mmifter (friebberg) in einer IPeife beantwortet morben, mit ber jeber,
ber bie Bebeutung ber form in allen Derfjältniffen bes Gebens 3U
würbtgen üerftefjt, fidj nur rollfommen etuoerftanben evflären faun, id?
be3iefye mtdj auf meine BemerFung auf S* 256 Hote*
o. 3tierlng, Der gweef im Hedjt. II. 25
386
Kapitel IX. Die feciale me<ban\h Das Sittliche«
ftnb. (5art3 ebenfo DerBjält es fidj mit ben üblichen formen
ber (Einlabungen unb ber 2tnnafyne berfelben, Sei ferner«
ftefyenben perfonen bebient man ftcf? bafür bes XDortes c£Ijre
(n>ir beehren uns — bitten um bie (g^re — tx>erben bie €^re
^aben ufa>.), bei näfyerftefyenben perfonen bes Woxtes: ^reube,
Vergnügen (unr bitten um bas Pergnügen — bitten, uns bie
5reube 3U machen — voxt toerben bas Vergnügen fyaben ujto.)-
<£benfo bie pijrafen bei Seanttoortung von Anfragen, <£r«
tseifung von (ßefälligfeiten, Sienften n\w. (es gereicht mir
5ur befonberen <££jre — idj rechne es mir 3m: <£i|re an —
ober aber: es gereicht mir 3um Vergnügen, 3ur 5reube ufro.).
Die IDenbungen: 21d}tung, ad)tungst>oH, feijr geehrter, fyod}*
3m>erefy:enber ^err, bie Sfyre haben uftt>. gehören ber fjcf*
lid)feitspI|rafeoIogie ber 2Id}tung an (bafyer in ber militärifd?en
Sprache ber 2Iusbrucf bie „^onneurs"), bie bes lieben, teerten,
teuren Sxennites, ber ^reube, bes Vergnügens ufto. ber bes
XPofyfooHens.
Das (5efagte roirb genügen, um benjenigen, ber ftd) bie
UTüfye nehmen n>ill, ben (Segenfat} toeiter 3U perfolgen, [493]
ba3u an3uregen, er tüirb fid? über3eugen, ba§ ber Con, ben
roir im Derfeijr mit anbern anf erlagen, unb bas Senefymen,
bas u>ir beachten, nadj X>erfd}iebenfyeit bes perfönlicfyen Der«
^ältniffes außerorbentlid] variiert, unb ba§ bafür ber (Segen«
fafe ber 2td}tung unb bes 2Dot|Irt>oIIens im großen unb gan3en
ben 2üxsfd}lag gibt X>er Con ber Untertanen gegen ben
Souverän ift ber ber 2ld]tung ((Ehrerbietung, Sepotion) —
„in tieffter Untertänigfeit erfterbenb", ber bes Souveräns gegen
ben Untertanen ber bes U?ot|hpoHens (in (ßnaben gebogen
— 3hr tpofylgeneigter, tres affectionnd u« a. m.)* 2)asfelbe
uueberfyolt ftd] im Per^ältnis bes Dorgefefeten unb Unter-
gebenen* J^ier tpie bort betpäfyrt fid? bie J^öfüdifeit bes
minberen Ceils baran, baß er burd? bie pfyrafeologie unb
Symbolif ber 2ld]tung ben 2lbftanb fonftatiert, ber i^n t>on
^öflidjfeit. — Unterfdjeibung ton Ad/tung unb XDofyltD ollem 387
bem anbcrn tvennt, feie bes fyöliexen baran, ba§ er benfelben
burch bas Wohlwollen ausgleicht — bie Ejöfltdifeit ber
Achtung fonftatiert bie angenommene 5eme, bie bes WoliU
tooHens bie angenommene ZtäB^e ber perfonen, 3n 2tmt>en*
bung auf höh^rfiehenbe perfonen h<*t bie Sprache für letztere
ben Ausbrucf ber Ceutfeligfeit, es ift bie ben Ceuten, b. %
jebem ohne Unterfchieb fich 3ufehrenbe, freunbliche (ßefinnung*)
— biefelbe Anfnüpfung an ben [494] JHenfchen als folchen,
bie uns in Humanität (homo) unb ZUenf chlichfeit (Zfienfch)
begegnet« £>on ben beiben festeren unterfcheibet fie fich ba«
burch, ba§ fte ftd? bloß auf bas Benehmen besiegt, ber Sitte,
nicht tr>ie Iefetere ber ZHoraf angehört Zlimmt fie ben <£hßtf
rafter bes (ßnäbigen an, fo tr>irb fie 3ur Ejerablaffung — bie
Ejerablaffung I|äft ben Abftanb aufregt, über ben bie £eut*
feligfeit fich Ijhuoecjfefet, bei ber fjerablaffung fpricht ber
fjöherftehenbe 311m Hieberftehenben, bei ber Ceutfeligfeit ber
ZHenfd? 311m JTJenfchen.
Die bisherige Ausführung toirb ausreichen, um meine
Sefyauptung, baß tt>ir innerhalb ber fjöflichfeit 3toei (Srunb-
gebanfen 3U unterfcheiben iiahen, 3U begrünben. Diefe Be*
hauptung aber ift nicht in bem Sinne gemeint, ba% fich biefe
<§u>iefpältigfeit in be3ug auf fämtliche formen ber f^öflichfeii
nachreifen ließe, fo ba§ rx>ir bie Svftematif ber QSflichfeit
auf fie 3U bauen tiätten; ein folcher Perfuch ertt>eijt fid?
Schlechthin als unausführbar. Dielmehr ift bas Verhältnis
beiber als bas 3toeier Ströme 3U be3eid]nen, bie fid] 3U einem
5Iuffe pereinigen, bei bem 3tr>ar nod) eine Seitlang fid? beibe
unterfcheiben laffen, bei bem fie aber fpäter ununterfd]eibbar
ineinanber übergehen. Darum l\at aud] bie Sprache für fte
*) 3n btefem Sinne be3eid)net bas Dolf in einigen (Segenben Deutfdv
lanbs ben £eutfeltgen als gemein, fommnn (= ber fid? nidjt hervortun
unll), felbfi als nieberträcfytig (= ber fid? nicfyt fjodj trägt, nicht ben
£>ornefymen fpielen vo\ü).
25*
388 Kapitel IX. Die feciale medjamt Das Sittliche*
feine fefiftehenben ^lusbrücfe aufgebracht; tr>er fte gleichwohl,
wo es am plafee ift, mit befonberen ZTamen be3eichnen tx>ill,
fönnte bie ^öflichfeit 5er Sichtung als 2lrttgfeit, bie bes Wohl-
wollens als 5reunblichfeit be3eichnen, [495] tx>enigftens fommen
beibe 2tusbrücfe ber Sache noch am nächfien.
iDir rcenben uns im folgenben ben beiben genannten
Segriffen 3U, inbem wir bei jebem 3unächft ihn f elber feji-
1'teHen unb fobann unterfuchen, wieweit er fich innerhalb ber
Ejöflichfeitsformen »erfolgen lägt. Was noch bleibt, gehört
beiben gemeinsam an unb wirb feiner3eit bei ber Überficht
Der gefamten Jjöfltchfeitsformen (Phänomenologie ber ^öf*
üchfeit) feinen plat$ ftnben.
3>te Achtung.
Sichtung ift 2lnerfennung bes Heertes ber perfon.
3)er Segriff bes Wertes, b. i. ber grabueHen Cauglichfeit
eines 2)inges für bie menfehlichen «gweefe, finbet auch auf
ben ZHenfchen Slnwenbung, Slber währenb bie Sache unb,
wo bie Sflaseret galt ober gilt, auch ber ZTtenfch nichts ift
als mittel für ben menfehlichen <§wecf, ift ber ZHenfch, wo
er feine Seftimmung auf <£rben erfannt unb praftifch burdv
gefefet bat, 3ugleich Selbfowecf , in ber Bechtsfpradje aus«
gebrüeft: er ijl Perfom Damit ift ihm ein fp^3tftfct?cr ZDert
3uerfannt, ber ihn unenblich hoc*l übet bie Sache erhebt unb
jebe gufammenjlellung mit ber Sache ausfließt. Die Sprache
erfennt biefen feinen fpe3ififchen IPert an, inbem fte bafür
befonbere 2lusbrücfe gef chaffen ha^: €h^e, Sichtung, IDürbe.
[496] Sluf bie Sache finben äße brei Segriffe*) feine Sin«
wenbung; mögen wir eine Sache auch noch fo h°ch fchäfeen,
*) Die Spraye fennt aßerbinas bie XPenbuncj, eine Sadje in (Efjren
halten, aber fie gebraucht biefelbe nur ba, wo mittelbar m ber Sa<bc
bas Slnbenfen an bie perfon, von ber fte fiammt, geehrt tperbeit \o\L
21djtung unb (Efyre*
389
nod? fo tsert galten, aber w'vc tonnen fie nicfyt achten, unb
barum enthält es bie bitterjle E>erl}öfyiung ber 3bee bes
ZHenfdjen, von tljm 2ld}tungsberoeife gegen bie Sadje 3U per*
langen*) — bas (ßegenftücf ber Sflat>erei, fyier bie perfon
als Sadje, bort bie Sacfye als perfon bel^anbelt
£>on ben genannten brei Jtusbrücfen gehört bie <£fyre bem
(ßebiete bes Hechts, bie 2tdjtung unb lüürbe bem ber Sitte an*
Überall, wo ber juriji fidj bes 2tusbru<fs <£fyre bebient,
fyanbelt es fidj um ben rechtlichen ober ftaatlidjen IDert ber
Perfon* (Ebrlojtgfeit (Ijeut3utage richtiger €fyrenminberung),
€l}renfränfung, Sdjufc ber <£fyre führen uns bie prh>atred}f«
lidje 5eite ber €fyre, €t|ren$eid]en, (Ehrenämter, (Efyrenpofien
(bie honores ber Homer), (Entstehung ber politifdjen (Efyren*
rechte, bie militärifdien Ejonneurs bie öffentlicfyreditlidje Seite
ber (Efyre sor 2lugen. <£I?re iji ber Hed>tstr>ert ber perfon,
jte Ijat bie redjtlidje 2lnerfennung bes IHenfdjen als perfon
3ur [4:97] Porausfefcung. Qaxum fpracfyen bie Homer ben
Sflar>en bie €fyre ab, barum ging mit bem Derluße ber
5reifyeit audj bie <£fyre verloren **)• (Efyre alfo ift ein Hedtfs*
begriff; 2ld?tung bagegen ifi ein fosialer Segriff. Vie
2ld)tung enthält bas Werturteil ber (SefeHfdjaft, bas fid) in
5orm ber öffentlichen ZHeinung funb gibt, fie fyat nidtf fou>ol>I
bie perfon als xnelmefyr ben ZHenfcfyen 311m (Segenfianbe*
J)arum fanb fie bei ben Hörnern auefy auf ben Sflar>en 2ln*
roenbung. 2lucfy ber Sflat>e fonnte ad]tungsn?ert unb geartet
fein, unb wenn er freigelaffen warb, übte ber Umftanb, ob
er ftcfy bisher ber 2ld?tung tr>ert ober unwert erliefen Ijatte,
*) Beifptele; bas £iebltugspferb bes Caltaula, bas er 3um Konful
ernannte/ unb bem bie (2fyren eines foldjen erliefen werben mußten — ber
£jut bes (Segler tu ber Cellfage — bie früher üora.efd}riebene Abbitte
ber XHajeftätsbeleibigung t)or bem Bilbniffe bes Königs rem 53aymu
**) Consumtio existimationis im (Segeuf at} 3m infamia: ber minutio
existimationis, 1. 5 § 3, $ de extr. cogn. (50.
Kapitel IX. Die feciale tTCedjanif. Das Sittliche*
fogar rec^tlict^e tDirfungen aus, im Unteren 5aQ erhielt er
nur eine geringe Hechtsfähtgfeit (bie ber dediticii), Zticht
miuber fyelt bas römifche Hecht beim 5*eien bie Begriffe (Ehre
unb Sichtung ftreng auseinanber*)*
XOürbe ift Betätigung bes eignen JPerturteils im Be-
nehmen (5* 28^>f.)f unb ber Portourf, ben bie Sprache mit
bem IDorte XDürbelofigfeit perbinbet, 3eigt, baß bas ftttliche
Urteil bes Dolfes biefe Behauptung ber IDürbe [498] per*
langt unb mit gutem (Srunbe. Venn ber Wext ber perfon
foll ftch auch äußerlich in ihrer <£rfchcmung bofumentieren.
3)ie ZDürbe, ba fie bloß bie äußere 5orm bes Auftretens 3um
(Segenftanbe fyat, ti<xt mit ber 2TEoral nichts 3U fchaffen, fte
gebort ber Sitte an. XDürbeloftgfeit trifft bloß ben äußeren,
<£htloftg?eit ben inneren ZHenfchen, jene tut ber <£t[te nicht
ben minbeften 2lbbruch, tpohl aber ber Sichtung. IDer in
eigner perfon ben JDert, ben bie IDelt ibm beilegt, äußerlich
nicht 3ur (Seltung bringt, barf ftch nicht tpunbem, tpenn
letztere fich bies 3unufee macht unb ihn mit feinem eignen
ZHaße mißt — bie iPürbelofigfett enthält bie (Ermächtigung
3ur la^en (£rtpeifung ber Sichtung*
©er Dortpurf ber IPürbelofigfeit nimmt einen erfdiiperen*
ben (Zliavattev an, tpenn jemanb nicht bloß feine persönliche
löürbe, fonbern biejenige, bie er als Cräger feiner öffent*
liehen Stellung 3U behaupten fjat, außer acht läßt; Ijier ^i£>t
er nicht foroohl fich f elber, als vielmehr feine Stellung, bie
<£tlte feines 2tmtes preis, er pergreift, perfünbigt ftd? mithin
*) Darauf beruht ber <8egenfat$ t>on infamia unb turpitudo (nota,
macula). 3^ *f* e*ne Catfacfye bes T&edits, biefe bes £ebens (1. 2 pr.
de obseq. 37» X5l verbis edicti — opinione hominum), unb bie moberne
23e3ei^nung als infamia juris unb facti baljer gan3 3utreffenb. 2lud)
letztere ftnbet red?tltd?e Beachtung, na'mlidj überall ba, tpo bie ftttlidje
IDürbigfeit ber perfon für ben Hilter maßgebenb ift, 3» B. in be3ua
auf (Slauboürbtgfeit bes beugen, guüerläfftgFeit bes 3U befietfeubeu
Pormunbes*
Achtung unb tPürbe*
an etwas, was ihm gar nicf^t 3U eigen gehört, fonberu ihm
bloß im öffentlichen 3ntereffe anvertraut ift — ein getxnffen*
Iofer Denvalter fremben (Sutes. 3e h^h^ bie Stellung unb
bamit bie IDürbe, befto fehlerer ber Dortourf ber H?ürbe<
lofigfeit — Bei bem gefrönten Cräger ber IPürbe unb fjofyeit
bes Staates reicht fte nafye3u an moralifchen unb politifchen
Selbftmorb, bas Übermag nach ber entgegettgef efeten Seite
t^in toirb von [499] bem 3nftinfte bes Dolfes, ber barin soll«
fommen bas richtige trifft, viel tveniger ftreng beurteilt, als
bas nach biefer Seite hin.
Vie bisherige Ausführung fyaüe 3um «gtveefe, bie Der*
fchiebenheit von €hte unb Achtung bar3ulegen, was meines
IDiffens bisher noch nicht gef drehen ift Sie hat uns ergeben:
bie 5orm, in ber bas Hecht ben begriff bes Heertes ber
perfon erfaßt unb 3ur (Seltung bringt, Ijeijjt <£tyef bie 5orm,
in ber bies von feiten ber Sitte geschieht, Achtung, von feiten
bes Hechts aber geflieht es in negativer, von feiten ber
Sitte in poftttver iDeife. Don biefen beiben Behauptungen
ift bie erjie fprachlicher, bie 3tx>eite fachlicher Art, unb lefetere
tpürbe felbft bann ihre tDahrhett heiianptent wenn etftete ftch
als hinfällig ertveifen follte. J)as 3ntereffe, bas fich an bie
5rage fnüpft, befteht bemnach lebiglich barin, ob ber Sprache
ber Unterfchieb 3um Serou^tfein gefommen ift. §u bem <§ieug*
niffe, bas ich bafür oben (S. 388 f.) bem Sprachgebrauch ent«
lehnt liabe, füge ich im folgenben noch bas ber (Etymologie
hin3u, es belehrt uns, ba§ bie Srfenntnis biefes Unterfchiebes
jtch in bie Kinbheits3eit ber Spraye verliert, b. i. 3U ben
früheften <£rrungenfchaften bes menfchlkhen Denfens auf bem
(Sebiete bes Sittlichen gehört. Dom Stanbpunfte bes heutigen
Sprachgebrauchs trifft allerbings biefe genaue Scheibung nicht
mehr 3U, w'xv bebienen uns nicht bloß ber Ausbrücfe „(2hreij
unb „ehren" im Sinne von Achtungsbetveifeu, fonbern für
Achtung [500] wie tDohltvoHen einer ZHenge von Ausbrühen,
Kapitel IX. Die feciale medjantf* Das Sittliche*
bie fämtlicfj bem IDertbegriff entlehnt finb, 3« 23» toert, roürbig
(Jjodjtxmrben), teuer, fdjäfeen, Ijocfigefdjäfet (altfyodjb. scaz,
2T?ütt3e, fdjafeen = aestimare), preifen, I|Ocf)preislidi, preis*
rsürbig (von pretium, preis), ebenfo ital. caro, fran3. eher,
engl, dear, worth, fubji. your worship, fyoHänb. uwe wardig-
keit, fpan. vuestra merced, portug. vossa mered (merces.
preis) u. a. m.
3<ä) toerbe im folgenben ben X>erfucf? machen, burdj €r*
mittelung ber etvmologifdjen Jlusgangspunfte t>on <2fyre unb
2tcfjtung unb ber ifynen in anberen Sprachen entfpred^enben
2tusbrücfe mief) ber 2lnfcf)auungen 3U bemächtigen, u>elcfje bie
Dölter in ber periobe ber Spracfjbilbung mit ifyten perbunben
Ijaben.
Der etymologifcfie 2tusgangspunft ber £f}re.
3d) laffe folgenbe Sprachen reben.
3)ie grtedjifdje: tijat] = preis, XDert unb 3ugleidj
(Efyre, Tta> = idj be3afyle unb idf fcfyätse, Tijxaa) =
idj fdjäfee unb icf^ efyre, Ti'fxv^a = Sdjäfeung (census).
2>ie I a t e i n i f d? e : 2)er tecfjnifdt römifdje 2tusbr uef
existimatio für bie (£I|re im pricatrecrftlicrjen Sinne*)
füfyrt uns burdf aestimatio (bie [501] ofonomifer/e
5d]äfeung) 3urü<J auf aes (bas <5elb als IDert*
meffer).
2)ie beutfdje: <£fyre nad) (ßrimm a. a. CD. r>on fansfnt.
ajas = <£ifen (gor. äis, angelf. ar, altnorb. eir, mittel*
unb altfyocrjb. er), tr>otfon auefj bas lateinifdie aes.
*) 1. 5 § X de extr. corp. (50. *3). Das timare in aestimare l\at nad?
(Srirnm, IDörterbud?: (Efyre mit ti^dt» nxd^ts 3u f Raffen, foubern fommt
von ber Superlatbenbuitg: aestimus, äfyttlid} wie intimare, proximare
von Intimus, proximus. Das VQoxt honor gehört ttidjt bem priratredjt
an; über bie (Etymologie f.Danicef, (SvieaVlat. IDörterbud), £eip$#
*877, 3b. \, S. 267.
(Etymologifdjer 2lusgattgsptm?t ber <£t\xe. 393
<£fyre unb existimatio fyaben alfo, fo t>erfd}ieben fie
audj Hingen, bicfelbe fpradjlicfye Wux$el
Die fyebräifdje: jekär = ber preis einer Sadje unb
bie <£fyre.
Die ungarifdje*): <£l>re == becsület t>on becs === IDert,
gleichmäßig im öfonomif d?en rote moralifcfyen Sinne
gebraucht; bar>on abgeleitet becsülni = f djäfcen (eben*
falls im doppelten Sinne) unb becsület = €fyre unb
becsüles = IDertfdjä&ung.
<£l]re ift alfo bem «geugniffe biefer fünf gan3 perfd^iebenen
Spradjftämmen angefyörigen Sprachen 3ufoIge ber £>ert ber
perfon. Die Übertragung bes XDertbegriffes von ber Sadje,
bei ber er, roeil 3uerft 3ur praftifdjen 2lmr>enbnng, fo aud?
3uerft 3um 2Set»uj5tfein gelangt, b. fpradtficfy ausgeprägt
fein roirb, biefe Übertragung von [502] ber Sadje auf bie
perfon iji fcfyroerlidj bas probuft eines unbefangenen tfyeo«
retifdjen Denfens geroefen, idj glaube fte trielmetjr auf eine
praftifdje Ztötigung $nxM führen 3U bürfen, codi)* im Heerte
gelegen xvav. Die X>erle£ung ber perfon fcfyofj ben <gix>ang
in ftd), ben (ßelbmafjftab t>on ber Sadie auf bie perfon 3U
übertragen. Das römifcfye Hedjt hatte für alle perfonen ofyne
Unterfdjieb einen unb benfelben iDertmajjftab (os fractum
300 as, bei Sflat>en \50, bei 3njurien 25), im germanifdjen
IPefyrgelbe ftufte fkfy berfelbe nad] ber ftaatlid^en Stellung
ab, IPefyrgelb n>ar XDertgelb, <£fyrgelb, höhere <£l]renftellung
höheres IDefyrgelb, geringere geringeres. 3n ber römifdjen
<genfuseinrid]tung er^ob fid] befanntlid? bie urfprünglid? rein
öfonomifcfye IDertung bes Bürgers, bei ber lebiglid) bas Der-
mögen in Betracht fam, im Verläufe ber (£Enta>icflung 3ur
moralifdjen. Hiemanb ttmßte beffer als ber Homer, baß ber
*) Xiadf einer gütigen Mitteilung meines f reunbes unb ehemaligen
guf}örers, ^errn profeffor 33iermaim in £)erm annftabt*
5^ Kapitel IX. Die feciale ITCedjanif. Das Sittliche.
Wext bes Bürgers für bas <$5emeintt>efen fid] nidtf bloß nad>
bem besiffert, tr>as er befi&t, fonbern audj nadj feiner per«
fönlid]en Cätigfeit, unb in btefem Sinne be^nte ber genfor,
ber urfprünglicfy nur bie materiellen <5üter ins 2üige gefaßt
hatte, feinen Blic! audj auf bie ibeeKen aus, unb er wav es,
ber in Horn 3uerft amtlidj ben &)ert bes Bürgers für bas
<Semeimr>efen 3um 2iusbrucE braute unb im Salle einer ben
3ntereffen bes (Semeimpefens nicfyt entfpredjenben 2tuffül?rung
bes Bürgers ifyn eine öffentliche Hüge erteilte — bie (£t?ren--
ftrafe als IDerturteil.
[503] 2)ie Bemerkung, bie roir oben (S. 389) über bie
rechtliche unb ftaatliche Bebeutung ber <£b[te matten, I^at ftch
vom f|iftorifd?en 5tanbpnnfte beroährt.
3>er etymologifche 2tusgangspunft ber Achtung.
€inen pößig anberen 2lusgangspunft ^at ber Begriff
Achtung»
Sichten be3eid)net feiner urfprünglichen Bebeutung nach
auf etu>as achten, etoas bedachten, b. h- feine Sinne ober
<5ebanfen auf etwas richten, bas man toafyrnefymen toiE
(animadvertere = animum advertere), es brüeft alfo bie be*
abftchtigte XDahrnehmung im (ßegenfafce $ur unbeabfichtigten
aus, bas 2ld]tgeben im (ßegenfafee 3um ZTichtachtgeben. Diefe
'BebentnnQ bes £>ortes liegt auch bem Subftantip Sichtung
3ugrunbe, wenn es im Sinne einer 2lufforberung 3um Sicht*
geben gebraust tpirb, tote 3. B* im IDarnungsruf auf ber
Straße ober im militärtfehen Kommanbo.
U?ie gelangt nun bas Sichten in biefem Sinne 3U bem
ber moralif djen IDertfdiäfeung? 3)ie Catfadje, baß ix>ir einen
(Segenftanb, eine Hachricht, eine perfon nicht ber Beachtung
roert galten, betpeijt, baß fte für uns fein 3ntereffe, feinen
iDert fyat, uns gleichgültig ift* (gleichgültig ift, u>as uns
nicht mehr gilt als alles beliebige anbere, b. i. nid^ts. Was
<2tymoIo$tfd}er ^tusgan^spunft ber 21tf)tuttg* 355
einen iDert für uns fy*t, ift uns nidjt gleichgültig, es gilt
uns etwas, unb bie 5olge bavon [504] ift, ba§ roir es be*
achten ober feiner achten. 3n biefem Sinne bebient pd) bie
Sprache bes XDortes achten pon allem möglichen — ber
£eid]tpnn?ge adjtet nid]t ber IPamungen, ber XHutige nid\t
ber (Befafyr, ber Perfdjtpenber ntdjt bes <5elbes, niemanb
adjtet bes tDaffers* nidjtbeacfytung ift Konftatierung ber
(Sleicfygültigfeit gegen ettpas, ber tDertlofigfeit besfelben für
uns, Beachtung Konftatierung bes Gegenteils.
2tuf bie perfon angetoanbt f^eigt alfo fie beadtfen fopiel
als geigen, bajj toir ifjr einen IDert, pe nidjt beachten, baß
roir itjr feinen IDert beilegen — be»ad|tet unb ge*adjtet, nidjt
beamtet unb nidjt geachtet tperben ift gleidjbebeutenb.
2ld]tung im Sinne ber Sprache unirbe bemnadj 3U befinieren
fein als ber burdj Seadjtung 3um 21usbrucfe gebrachte IDert
ber perfon. Die €^re präbi3iert etymologifdj ben ZDert ber
perfon an unb für fid?, als abfolute Catfadje (<£ljre = IDert)
(S. 392), bie 2td)tung fügt bas IHoment fyn3u, ipoburd? biefer
XPert relatip biefer beftimmten perfon gegenüber 3ur 21ner*
fennung gelangt (Achtung = Beachtung) unb biefer fpracfy
lid>e <5egenfafc bedt pdj mit bem S, 377, 389 *>on uns nad]*
getpiefenen praftifdjen Unterfdjiebe beiber Begriffe: ber bloß
nadj ber 2trt bes (Eigentums in rem, b, i. uegatip tpirfenben
Geltung ber <£tjre unb ber nad) 21rt ber ©bligation in per-
sonam, b. i. poptip pd} betättgenben 2ld)tung — ber praf«
tifdje (ßegenfafe 3tpifdjen <£^re unb Zldjtuug ift [505] etymo*
logifdj in beiben Xüorten 3ur pollenbeten Ausprägung gebracht.
Unfere etymologifdie Unterfud)ung ber (£fyre fyat uns ge*
3eigt, baß bie 2lnfnüpfung berfelben an ben IDertbegriff
ettpas gtpingenbes in pdf tragen mu§, ba pe pdj in ben
perfdjtebenften Sprachen toieberfyolt <San3 basfelbe gilt für
bie Sichtung in be3ug auf bie Jlnfnüpfung an ben (Bepd]tspunft
ber Beaditung. Die Porjlelluug, bag bas 2ld]ten, 2lufmerfen
396 Kapitel IX. Die feciale XUedjatttf. Das Stttlidje.
auf i>ie perfon, bas ^nfdjauen, 2lnfel}en berfelben bas Krite*
rium bes fetalen Wertes ber perfon enthält, uneberljolt ftd}
in fo Dielen 2Iusbrüc!en ber serfdjiebenfren Sprachen, ba§
über bie 3toingenbe Kraft berfelben nicfyt ber leifefie gtoeifel
befielen fann. 3^ faff* &ie Sprache reben.
2td}ten, 2ld?tfamfeit, 2tditung im finnlidjen unb im
moralifdjen Sinne. <£benfo lat. observare beobachten^
observantia 2ldjtung.
2tufmer?en im finnlidjen Sinne unb 2tufmer?famfeit im
Sinne ber JEjöflidtfeit (jemanbem eine 2lufmerffam«
fett erroeifen). £at. attendere (aufarten), bason
ital. attentione, frans. unb engl, attention (2tufmerf*
famfeit im obigen Sinne). £at. notare bemerfen,
notabilis, öapon fran3. notable = ber Slngefeljene.
2lnfefyeri als Vevbxxm (jemanben anfeilen), baoon bas
Subfiantio 2lnfefyen im fc^ialen Sinne — angefeben
n>erben als Kriterium bes 2lngefefyenfein, [506] wie
beachtet toerben als Kriterium bes <ßead)tehr>erben.
(Ebenfo griedf. rcspißAsrcsiv anfeljen unb irsptßAsirros
angefe^en, lat. spectare, spicere fefyen unb spectatus,
spectabilis, conspieuus angefefyen. Considerare be<
trachten, ital. consideratione, fran3. unb engl, con-
siddration 2lnfetjen im moralifdjen Sinne»
Sief? iimfefyen nadi jemanbem, 3urücEblidFen nadj ifym,
bason Hücfjtdtf im moralif djen Sinne. £at. respicere,
baoon ital. rispetto, fran3., engl, respect Hücffidjt.
2lItfyod)b. aparten, ausbauen (ber urfprünglidje Sinn
nodj erhalten in XDarte, Sternkarte), baoon ital.
guardare, fran3. garder, engl, guard, ital. riguardo,
fran3. dgard, engl, regard HücFftdit, u>03U nod? unfer
Jtuftoartung im Sinne bes ^öflid]feitsaftes (jemanbem
feine 2luftr>artung machen) Ijin3U3ufügen ij*.
(EtYttiologtfdjer 2lusgangsputtft ber ^Idjtung,. 397
<2rf ernten, IDer jemanben 3U ertennen fucht, tpenbet
ihm feine 2lufmerffamfeit 3U, bapon 21nerfennung
im Sinne bes Betpeifes ber Dichtung, ähnlich nobilis
von noscere, es iji ber TTiann, ber gefannt tpirb,
befamtt tft, unb bas iji nur ber „angefehene" ZlTamt*).
[507] Überall alfo bie Anlehnung bes Begriffs ber
Achtung, bes 2lnfehens, ber Fialen IDertfdiä^ung ber perfon
an bie Catfache bes 2lchtgebens , Beobachtens , 2tufmerfens,
Seyens, fich ttmfehens, <£rfennens, 3um bejlen Betpeife, baj$
tpir es Iiier mit einer in ber Sadje felber gelegenen 3tt>ingenben
DorfteHung 311 tun traben. <£s iji ein Stücf philofoph^ ber
Sprache, bas ftch barin ausprägt, unb 3ugleich ein htftorifcher
Bericht barüber, tpie bas Polf 3ur Dorftetlung ber Sichtung
gekommen ift, in biefer f}injtcht ein Settenftücf 3U ber (Ety*
mologie ber <£l\ve (S. 392).
Hun h<*ben aber befanntlich manche Segriffe burch ben
perfeinemben unb perebelnben Hinflug ber Kultur unb bie
pertiefte Cebensauffaffung bes Polfes fich im £aufe ber <gett
pon ihren urfprünglichen 2tusgangspunften bis 3U einem (Srabe
entfernt unb losgemacht, bajj fich ber urfprüngliche (Sebanfe
faum noch in irgenbeinem punfte nachtpeifen lägt. IDie per«
I^ält es fich in biefer Be3iehung mit bem obigen Begriff?
I}at ber «gufammenhang ber Sichtung mit ber Beachtung bloß
hiftorifche ober auch praftifche tüahrheit? Darauf toerben
rpir im folgenben bie Slnttport erteilen, tpir roerben perfudjen,
ipietpeit ftch in ber in ben heutigen Ejöflichfeitsformen fixierten
Sichtung, tpir wollen fie fur3 bie fo3iale nennen, ber <5ejtchts«
punft ber Beachtung ber perfon nachtpeifen lägt Pon jenen
*) €tn «gufyörer aus Ungarn fyat mir ba^u nodj folgenbe Beiträge
aus fcem Ungarifd?en gegeben. Figuel aufmerfen, figuelemmel
lenni eine Slufmerffamfett eru>etfen, tekint anfefyen, tekintely eine
Kapa3ttät, tekintetes als (Eitel (spectabilis), tekintet HÜcfjtdjt, ismer
erf ernten, elismer anerPeunen.
398
Kapitel IX. Die fatale HTedjanif, Das Sittliche*
formen fommen felbfti>erftcindlicfi nur diejenigen in Betracht,
weld\e eine tatfäcfylidje Betätigung [508] der 2ldjtung ent*
galten, es fcfyeiden demnach diejenigen aus, xoeldie lediglich
die Derjtdjerung derfelben 3 um (Segenffand l\ahen (f. unten).
Kafuiftif und gurücffüfyrung der Sichtung auf d*n
(Seficfytspunft der Beachtung der perfon.
2lnläffe und (ßegenjiände für die Beachtung der perfon
follen den Kegeln der fjöflicfyfeit jufolge für uns fein:
\. Das bloße €rfcf]einen der perfon innerhalb unferes
(Seftdjtsfreifes.
JPir fonftatieren dasfelbe dutd) den <5ruß. £>er <ßruß
in feiner heutigen Bedeutung*) ift nichts als die Kundgebung,
daß roir die perfon bemerft I)aben, ifyrer anpd)tig geworden
find, von ifjrem Porfyandenfein 3Xoti$ nebmen — • 2Icfytung
und Beobachtung fallen fyier gan3 $ufammen.
3)aß der (Bruß der 2Id)tung, nxdit dem iDoIjfoollen an*
gehört, ergibt fidj daraus, dag er ein StücE der reglemen*
tierten fjöflicfjfeit bildet (Salutieren des Soldaten), tr>e!d)e
mit dem iDofyfoolIen nichts 3U fd] äffen l]at.
2. Qas Begegnen der perfon auf der Straße als 2lnlaß
3 um 2tustr>eid?em 2)ie Straße gehört allen in gleicher IDeife,
von ivoex fiel] Begegnenden t^at daljer jeder aus3iux>eicbcn;
es 3U unterlaffen fyeißt ftdj gerieren, [509] als gehöre einem
die Straße allein, es liegt darin eine Übergebung, Anmaßung,
eine <5eringfcf)äfeung des andern Seils**), das (ßebot der
^5flid]feit ließe fid? l>ier fogar auf den Hedjtsgeftdjtspunft
3urücffül|ren. 2lnd\ fyier getsäfyrt die reglementierte ^öfltd}*
feit einen 5ingem>eis. 35er Soldat Ijat beim Begegnen mit
*) Über feine mutmaßliche iirfprünglidje Bebeutuna, f* tu
**) 3n ber (ßbipusfage bildet fie ben ilnlaß, warum (Dbipus ben
£aios erfdjlägt, „tdj rä'cfyte", vo\e SopfyoHes (Bbipns auf Holonos vlufh\ <k
ifyn fagen läßt, „nur erlittene Krärthmß"»
Die Beachtung ber perfon als <Jorm ber 2Jcfytung.
399
bem Dorgefefeten 5ront 3U madjen, in Horn mußte jeber bem
ZHagiftrat anstreichen, ber feinerfeits aber tr>ie jeber ber
ZHatrone roieberum austoid?, in ber Cürfei muß fogar ber
(Ojrift x>or bem pafdja vom pferbe fteigen. 21Hes bies
jtnb nid]t 23eu>eife bes iDo^footlens, fonbern ber 2td]tung.
T>aß aucfy I|ier für letztere ber <ßeftd}tspnnft ber öeadtfung
3utrifft, liegt auf berfjanb; austoeicfyen Ijeißt bie begegnenbe
Perfon beachten, nicfyt ausweisen von ifyr feine ZXoti$ nehmen,
feinen IDeg in berfelben IPeife fortfefeen, als u>äre fie gar
nidjt ba.
3. Das <£rfdjeinen ber perfon bei uns, in unferm
eignen Ejaufe. Des bloße <5ruß genügt fyier nid]t, benn
bie perfon roirb uns nidjt bloß ftcfytbar, u>ie auf ber Straße,
fonbern fie fucfyt etwas, fei es uns f elber (33e*fudj), fei es
etoas anberes ((5e*f ud}), unb bies fcbreibt unferem 23enefymen
eine bementfpredjenbe 5orm t>or: xvit ergeben uns, roir laffen
fie nid]t einfad) an uns Ijeranfommen, fonbern roir fommen
ifyr entgegen (ber [510] urfprünglidje Sinn bes „entgegen*
fommenbenIDefens"), toir brücfen bamit aus, baß it^r Kommen
uns genehm ift, unferem iüillen entfprid]t (HMtWommen),
roir empfangen fie. Der (Empfang ift bie bnvd\ bie ZTatur
ber Sadje felber t>orge3eid^nete $ovm ber Beachtung bes
23efud]s, bie Hnterlaffung besfelben enthält feine bloße iln*
freunblid)feit, feinen ZHangel an XDofyfooDen, fonbern eine
Unge3ogenfyeit, einen JUangel an 2ld]tung*)* Abermals
*) Selbfi ber grollenbe 2lcfyilleus ergebt fid? vom £agcr, als bie
2Ibgefanbten bes Agamemnon in feinem gelte erfreuten, unb fyetßt fie
toinFornmen (3Kas 9, {95 ff.), ttne benn Horner biefer ^orm bes (Empfanges
nidjt feiten gebenft, f. 3. 33. 3lias 23, 203; (Dbyffee \, U9; 2, *6.
{% $2. Durd? nichts lub Cüfar in bem ITtaße ben l}aß auf fid? als
baburdj, baß er ben Senat, ber ifym (Efyrenbefrete überbrachte, fitjenb
empfing» Die Kaifer ließen fid? bies 3ur £efjre bienen, Oertus ging
ben Konfuht bis 3ur Cüre entgegen, ^abrian empfing jeben Senator
ftefyenb, {♦ ^rieblänber, Darftellungen aus ber Sittengefd}td}te Horns,
I. S. J30, 132.
^00 Kapitel IX. Die f<>3tale HTedjamL Das Sittliche*
Achtung in $ovm ber Beachtung, txne beim (Brufc, nur ba%
biefelbe B^ier nicht bas bloge (£rfcheinen ber perfon, fonbem
bie Catfache, ba% fte bei uns etwas fucht, 3um (Segenflanbe
t^at, 2lQerbings fann auch bas IDohlwoHen in ber 2trt, toie
wir ben öefuchenben empfangen, feinen 2lusbrucf ftnben, aber
gan3 basfelbe gilt auch für ben (5ruj$, ber Hichtigfeit unferer
Jtuffaffung tut bies feinen Abbruch; es hanbelt fich nicht um
bas jenige, was ftch in ben Jtft hineinlegen lägt, fonbem was
er als folcher in ftch fchüe§t, was er feiner foialen 23e*
ftimmung nach fein foH, unb barüber, baf$ ber <£mpfang bie
unerläßliche form iji, in ber totr ber uns befuchenben perfon
unfere [511] Sichtung beweifen, wirb nach bem (Sefagten fein
gweifel obvoalten fönnen.
% Qie frage* XPir beachten fte, inbem wir eine Ant-
wort erteilen, unb bies ift Sache ber einfachen Jtrtigfett,
bas (Segenteil enthält feine Unfreunblichfeit, fonbem eine
Hnge3ogenheitr eine (Srobheit, es gibt faum ein ftärferes
Reichen ber (Seringfchä&ung, als bem fragenben ben Hücfen
f e^ren. 3)ie Beantwortung ber frage ift alfo ein 2lft ber
Achtung, nicht bes tDohlwoftens, ber (ßeftchtspunft ber Se«
achtung ber perfon trifft auch h*^ 3**.
5. Sie Hebe. IDir beachten fte, inbem toir bem ^lebenben
juhoren. 3emanben nicht su lüorte fommcn laffen, ihm in
bie Hebe fallen ober ihm burch äußere Reichen oerraten, baß
er uns langweilt, ift eine Unge3ogenheit, bie baburdj um
nichts geringer wirb, baß fte auch bei (ßebilbeten nichts
weniger als feiten iji Schon bei Isomer wirb es als Pflicht
ber 2trtigfeit be3eichnet, einen ^ebenben nicht 3U unterbrechen*).
*) Z^as W t 8°/ 0)0 Horner ben Agamemnon fagen läßt;
3fyn, ber fielet, anhören ge3temt ftd}, nidjt in bie Heb1 iljm
fallen, benn folcfyes befdjtr>ert, tDteoiel aua? miffe ber Störer,
ein Spnxd}, ben man manchem 311m 2htstpenbiglemen empfehlen mödjte!
Die Kunft, jemartben gebulbig a^uljören unb ben U)iberfprudj gegen
Die Beachtung ber perfon als ^orrn ber ^Icfytung.
[512] 6. Das Urteil 6er perfon. Wiv Beamten basfelbe,
inbem toir unfere eignen abrseichenben Behauptungen in bie
formen bes fubjefttoen ZHeinens fleiben (bie fprachlichen
5ormen bafür f. u.). Damit erfennen toir bie Berechtigung
ber abtoeichenben 2tuffaffung bes anbern an, ben XPert feines
Urteils, feiner Urteilsfraft, es enthält bie Betätigung ber
Dichtung nach ber intellef tuellen Seite, bas (Segenteil:
bas 2lbfprechen über bie fremben 2Infichten, inr>oh>iert in*
telleftuelle (ßeringfchäfeung. (Db biefe Schonung überall am
platte ift, fteht fyev 3ur 5^age, ich fomme barauf 3urü<f
bei Gelegenheit ber Unterfuchung über ben KonfliftsfaH
3u>ifchen Sittlichfeit unb Sitte. £}ier han&elt fich nur
barum, ba§, too fie am ptafee iji, tr>o es fich alfo lebiglich
um bie üblichen 5ormen ber Höflichkeit E^anbelt , bas TXiotiv
berfelben in ber Beachtung 3u erblicfen ift, welche bie perfon
für ihre Urteilsfraft in 2lnfpruch 3u nehmen berechtigt ift —
bie Sichtung charafteriftert fich h^r Beachtung bes in«
telleftuellen IDertes ber perfon.
7. Das S e l b ft b e ft i m m u n g s r e ch t ber perfon. Der
3mperatit> enthält bie Ztegation ber fremben Selbftbeftimmung,
er 3iemt fich nur perfonen gegenüber, benen tr>ir [513] 3U
feine Behauptungen, ober bie gufä^e, bie mau ba3U 3U machen gebenft,
folange bei ftd? 3U behalten, bis er ausgerebet fjat, fdjetnt nadj meinen
(Erfahrungen nod? fdjnrieriger 3U erlernen 3U fein als bie, ftd? mit 2ln*
ftanb 3U langweilen. Das Denfen mancher £eute ift fo fur3atmig, ba§
fte fürchten, nad? bem Scfyluffe ber Hebe bereits üergeffen 3U traben, was
fie jagen wollten, ober ttjre Selbfibetjerrfa^ung ift eine fo geringe, baß
ber IDiberfprudj fofort ftd? £uft machen muß. Wie bte (Sriea?en barüber
badeten, ergibt fldj auger aus bem obigen geugnis nodj aus (Euripibes
Hafenber ^erfules V. 52$;
Du vergib, (Sreis, wenn ia? bir
Das IDort üortpeguafym, tpeldjes bir an itm ge3iemt
unb (Euripibes, Die Sdjurjflefyenben V. 50$;
. ♦ Qalte fUU ben tflunb,
Unb eile nidjt mit beinen Heben mir 3ur»or.
t>. 3bering, Der gtoecf im Sedjt. II. $. Haft. 26
402
Kapitel IX. Die fatale riTea>ttif. Das Sittltdje.
gebieten fyaben, die Jjöfltdtfeit fefet im gefelligen Perfefyr an
Stelle desfelben bte Sitte ober die Aufforderung unter Dor*
behalt des eignen freien (Entfdjluffes, — Betätigung der
2ld?tung durd? Beachtung der IPtllensfreiBjeit der perfon.
8. Die §eit des andern. Die 5orm, in der jte nadj
dem (Sebote der fjöflidjfeit (ßegenftand der Beachtung unferer«
feits tt>ird, tjl die pünftlidjfett. (Einen andern bei einer x>er»
abredeten ^ufammenfunft warten laffen, fyeijjt den tDert,
tseldjen die geit für ifyn tjat, geringfcl|äfcen, pünftlid? fein,
denfelben tatfädjlidj beachten.
2llfo Achtung iji 23eadjtung der perfon. 2tuf diefen <ße*
ftdjtspunft laffen jtcfy fämtlidje f^öflidjfeitsformen, toelcfye den
2lusdru<f der Achtung 3um gvoed fyaben, 3urücffüfyren, überall
iji es die perfon: das, tx>as jte ift, toas fie Ijat, tx>as jte tut,
tx>as jte fpridjt, toas jte toünfdjt, was roir, indem u>ir iEjr
unfere 2td]tung betpeifen, beachten, und der <5rund, der uns
da3u x>erpflid}tet, iji der fo3iaIe XOert, den die perfon als
foldje in 2lnfprud? nehmen fann — alle ^Öflidjfeitsformen
der Achtung dreien jtdi um den einen (ßedanfen: 2lnerfennung
des faialen tüertes der perfon. 2lber nid?t der fonfreten,
fondern der abftraften, die Ejöflicfyfeitsbetoeife der Achtung
gelten nidjt iem ^}ni>xvxi>nnm, fondern im 3"dipiduum der
Perfon. 2ludj einem t>öHig Unbefannten erteilen tx>ir am
Scfyluffe des Briefes die X>erjtd?erung der tJoHfommenften,
ausge3eid^netften J^od]ad]tung und reden [514] iljn in der
Überfdjrift als fjodjgeeljrten , fyocfouperefyreuden ^errn an.
Was txnffen tx>ir x>on feiner 2ld)tungstt>ürdigfeit, feiner €l|rcn-
fyaftig!eit? Ztfdjtsl Und felbji wenn er uns befannt iji, und
roir ntdjts weniger als das (ßefüfyl der fjodjadjtung vov ifym
empfinden, bedienen toir uns gleidju>oI}l jener p^rafen. Se-
geln roir damit nxdit eine roiff entließe Untoa^r^eit? Dann
mü§te ein wahrheitsliebender ZTTann 2lnjiand nehmen, ftcf?
it^rcr 3u bedienen. 2lber er braucht es nid?t, denn jte gelten
Die inbhribuefle ^tetjung bei ber 21djtung*
^03
nicht bem 3nbii>ibuum, fonbern ber perfon — es ift ber
fo3iale £Dert 5er perfon als foldjer, ber in biefen typtfehen
formen 3nm 2tusbrucf gebracht iji, unb auf bejfen 2lner*
fennung in feiner eignen perfon jeber, ber benfelben nic^t
burch entfdjtebene Umsürbigfeit tferfcher3t h<*t, ber Sitte 3U*
folge einen gerechtfertigten 2lnfpruch ^at Dies führt mich
auf tue öebeutung bes inbbibueßen Moments in ber Sichtung.
Das inbit>ibuelle XHoment in ber Achtung,
Dasfelbe fommt in boppelter ^mftdtf in öetracht, einmal
als äußerer 2lnfajj für bie €rrt>eifung ber Sichtung unb fobann
als Slusfchließungsgrunb bes Stnfpruchs barauf.
2tls Slnlajj« <£s bebarf ber inbit>ibuellen Berührung,
um ben Slnfpruch auf Sichtung 3U er3eugen. Der XHaffe
gegenüber gibt es feine Verpflichtung ber fjöflidffeit, ein
Schriftfteller, ber mit feinen Cefern in feine perfönlicfje Be-
rührung tritt, fann in feiner Schrift feinen Derfiojj [515]
gegen bie ^oflichfeit begehen, er fann roh, gemein, fripol
fein, burch un3Üchtige Dinge unfern Slnftofc erregen, aber nie
gegen uns unhöflich fein, es bewährt jtch hierin bie Sichtig-
feit bes von uns aufgehellten <5ejtchtspunftes: ber Jlnftanb
geht in rem, bie ^öflichfeit in personam. 2tber ein Hebner
fann es, felbft toenn er 3U einem publifum fpricht, bas nach
Caufenben 3ählt, benn 3tx>ifchen ihm unb feinem publifum
efijiiert eine perfönliche Be3iehung (S. 288), an ber es beim
SchriftjteHer fehlt.
Der (ßejtchtspunft ber inbiüibueüen Berührung ober 23e-
3tehung iji ein elaftifcher, es lägt fich nicht fchlechthin fagen:
hier liegt fie sor, bort nicht, es fommt babei vielmehr in
manchen 5äöen gan3 auf bas (ßutbeftnben , bas Urteil bes
3nbix>ibuums an, ob es fte als oorhanben annehmen voiü
ober nicht 211s Beifpiel wähle ich bas (Srüßen t>on Un*
befannten. Der (ßroßftäbter grüßt niemanben, als benjenigen,
26*
^0^ Kapitel IX. Die fatale XTCedjarttf* Das Sittliche*
ben er fennt, ber Kleinjiäbter unb ber Zfiann vom £anbe
aud? ben Unbefannten, bas will fagen: für jenen erjftiert
3wifdjen tfym unb ber ZTlaffe, bte ifym begegnet, gar feine
öestetjung, es ift ber Strom, ber an tbjm t>orüberraufd)t, für
biefen eriftiert eine foldje. <£in anbeves Betfpiel gemährt
bas (grüßen ber 2TJitreif enben beim (Jrinfteigen in ein <£ifen*
bafyncoupe, rote bas ber Xtadihatn beim <£rfdjeinen an ber
XPirtstafeL T>er (ßebanfe, ber uns babei leitet, ift bie bnvdq
bte (5emetnfamfeit bes Zlanmes unb bte (ßleicfytjeit bes
gweefes bewirfte porüberget/enbe perfönlidje gufammen*
get^örigf eit, alfo bas [516] Dorfyanbenfein einer wenn aueb
nod) fo oberflächlichen unb t>orübergefyenben inbwibueHen Be=
rüfyrung — wer biefelbe ntcfyt anerfennt, grüßt nidjt, wer grüßt,
erfenut fie an» <5an3 biefelbe Dorfteltung maltet im erfteu
$aÜ ob, ber (Einrietmifdje, ber ben 5^emben grüßt, fyat bas
(Befüfyl, baß berfelbe momentan 3U iBjm gehört, benn i^nen
betben iji augenblicflid} etwas gemeinfam, jener atmet btefelbe
£uft, wanbert benfelben H?eg tt>ie er, unb biefem <5efül>le
ber $wif dien ifynen burefj bie (ßemeinfamfeit ber tage her*
gepeilten perfönlidjen Se3iet|ung gibt er burd? feinen (Sruß
2lusbrucf.
2lls 2tusfcrjließungsgrunb bes 2lnfprucf|s auf 2td?tung.
Das 3nbtptbuum fann ben 2tnfprudj auf Achtung perfdjersen.
<£s »erhält ftdj mit ber 2tcfytung ebenfo wie mit ber £brc.
23eibe fallen ber perfon oB|ne ihr «gutun 3U, fie brauchen
nicht erft erworben 3U werben, aber fie fönnen son bem
3nbtpibuum verwirft werben, unb bies gefchieht burd? eine
fjanbtungsweife, welche ftd? mit bem ben ^öflichfeitsformen
ber Achtung 3ugrunbe liegenben IPerte ber perfon nicht r>er*
trägt, bas 3nbipibuum entkräftet bie abfhrafte präfumtiou
feines fo3ialen IDertes burch ben fonfreten Gegenbeweis
feines Unwertes.
2llfo nidit bas 3nbit>ibuum, fonbern bie abftrafte perfon
(grabuefle 2IBftufung bes IPertes ber perfon.
ift es, beten Wext in ben Ejöflichfeitsformen ber Sichtung 3m:
2{nerfennung gelangt, bie Sichtung tt>irb ertoiefen bem 3nbt«
sibuum, aber fie gilt ber perfon. Damit fteBjt eine grabueQe
Stbftufung biefer 5ormen nach Ifiaßgabe [517] bes abftraft
perfdjiebenen Heertes ber perfon fotx>enig in IDiberfpruch,
baß fie gerabe umgefehrt bie Züchtigfeit unferes (ßefichts-
punftes beftätigt.
(ßrabuelle 2Ibftufung bes Xüertes ber abfiraften
perfon.
Soll bie Sichtung ben JDert ber abftraften perfon sunt
Slusbrucf bringen, fo fonnen bie formen, in benen bies ge*
fchieht, nur unter ber Porausfefcung bie gleiten fein, baß
biefer JDert felber ber gleiche ift. Dies ijl aber nicht ber
5aü. £s ift eine Catfache, bie ftch bei allen Dölfern ber
(Erbe txneberholt, unb bie burch ben ohnmächtigen proteft,
ben eine abftrafte (Sleichh^itstheorie bagegen ergebt, nicht
aus ber IPelt gefchafft rotrb, baß ber perfon nach bem XlTaße
ber Sebeutung, bie ihr für bas (ßemeinroefen 3ufommt, ein
üerfchiebener tDert 3uerfannt toirb — ber König h<** einmal
einen liotyxen Wext als ber Untertan, ber (ßeneral einen
höheren als ber Solbat — unb fotoenig je ein Kupferpfennig
ertoarten barf, ben IDert eines <5olbftücfs 3U erlangen, fo*
toenig ber Untertan ober ber Solbat, feine (ßeltung ber bes
Königs ober (Senerals gleichgestellt 3u fehen.
<£s ijt übrigens nicht bloß bie flaatliche Stellung,
toelche biefen (Einfluß ausübt, 3U ihr fommt noch kin$u bie
(ßeburt.
Don vornherein follte man erwarten, baß lefetere bie
3U>eite, jene bie erfte Stelle einnehme, benn bie <5eburt [518]
ifi bie Vergangenheit, bie ftaatliche ZHadjtjtellung bie (ßegen-
toart, unb in gefteigertem XHaße follte man bies erwarten
bei allen freien Dölfern unb gan3 befonbers in ber 3ugenb3eit
^06 Kapitel IX. Die fatale ITCedjatttf* Das Sittliche.
betreiben. Die (Befdjidite [traft biefe €m>artung Oigen, benn
ftc füfyrt uns gerabe bei ben brei fyert>orragenbjien Kultur-
ttölfern ber tPelt, bie ftcfj 3ugleidj burdj iBjren 5teiijeitsjtnn
vot allen anbetn ljen>orgetan l^aben: (griedjen, Hörnern,
(ßermanen in tl|rer 3ugenb3eit bas (Segenteil x>or 2lugen.
Der ZTimbus, ben bie eble ilbfiammung gewährte, galt itjnen
Ijöijer als ber 23eftfe ber (5en>alt Das efyrem>ollfte präbifat,
bas fjomer feinen gelben 3uteil u>erben lägt, ift bas ber
eblen 2lbftammung. (Einer Perfyerrlidjung ber Vftadit, idf
meine nidjt ben bloßen f}inu>ets auf ben 23eftt$, fonbern eine
von bem barauf gelegten fyofyen IPert 3eugenbe 2tpotfyeofe
berfelben, erinnere id} midi nie bei J^omer begegnet 3U fein,
eine folcfye Sdjilberung Ijätte bas I}er3 ber (Sriedjen falt ge-
Iaffen, aber bie fjeroorljebung ber eblen (Seburt, bie Jlljnen-
tafel, bie jidj bis 3U ben (ßöttern erftrectte, ermärmte jte,
unb man füljlt es bem Dichter an, mit tseldjer £uft unb £iebe
er biefen punft befyanbelt. Unb nocfy bei ben griecfjifcfjen
Cragifern toiebetfplt fictj biefe rüfymenbe Betonung ber Ge-
burt. Kur3 ben (Sriedjen galt bie <5eburt fyöfyer als ber
Beftfe ber jiaatlidjen XlTac^h
Zlidjt anbevs Derzeit es fidj im alten Horn. Der öefife
ber fyöcfyften ftaatlidjen Zttadit in ben £)änben eines plebejers
toog in ben 2lugen bes römifdjen Polfes ben [519] (ßeburts-
abel bes Pah^iers mdjt auf, unb aud? nadjbem bie plebejer
im Hedfte bie oööige (Bleidjfyett mit ben patri3iern erfämpft
Ratten, erhielt jtdj bie (Erinnerung an ben ehemaligen Por-
rang ber lefeteren nidjt bloß fpradjlidj in ein3elnen Heminis-
3en3en, 3. 23. ber sella curulis, fonbern audj praftifdj in ben
allerbings unbebeutenben Porredjten ber patri5*fdjen Abteilung
bes Senats unb ben perfönlidjen (Ehrenrechten feiner ZtTit*
glieber, ja, unb bas ift für ben Hei3, welchen bie 2lbftammung
für bas römifche (ßemüt befaß, x>ielleid)t am be3eidmenbfien,
ber (ßebanfe trieb in bem fpäteren rein Fialen (ßegenfafe ber
Das ITComent ber (Sefcuri Bei bei 2ld}tung* ^07
Mobilität unb ber homines novi neue ZVm^eln* Den ZTiafel,
welcher ber unfreien (Seburt anflebte, unb ber pdj erß in
ber britten (Seneration perlor, fonnte tetn perfönliches Der*
bienß tilgen, unb burch nichts djarafteriperte bas Kaifertum
ben Bruch mit ber Vergangenheit unb ber hergebrachten
nationalen 2lnpdjt in fchrofferer IVeife, ab burch bie (ßänji-
lingsroirtfchaft ber 5reigelaffenen am faiferlichen ^ofe — ber
§yr\\sm\xs bes fchamlofen 21bfolutismus, ber in bem <5ebanfen
gipfelt: bie Allmacht fann aus nichts alles machen, aus einem
ehemaligen Silasen, rote in Horn, bie mächtigfte perfon im
Staate, aus einem Schweinehirten, einem paftetenbäcfer, wie
in Hußlanb, einen dürften, pe ertennt nichts an als ihr ipse
fecit Xttd^t an ber Freiheit, fonbern an ber IVillfür bepftt
bie (ßeburt ihren unt>erföhnlichen (Segner, ihren gefdjwornen
Cobfeinb, bie Freiheit verträgt pdf mit ber Sichtung vox ber
Vergangenheit, [520] bie IVillfür nicht, fie erfennt eben nur
pch felber an. Sie (ßeburt aber ift bie Vergangenheit, nicht
bie Vergangenheit im Sinne bes bloßen Ablaufes ber geit,
fonbern im Sinne ber (Erinnerung an bie Säten ber Vor*
fahren, welche bie (Sefdjichte bem Danfe ber Fachwelt auf-
bewahrt fyat, unb an bie angefehene, einflußreiche Stellung,
welche pe befleibet haben. 3n biefem Sinne refpeftierte ber
Horner bie vornehmen (Sefchledjter, ihre ^Tarnen waren mit
ber (Sefchichte bes Staates unerkennbar t>erfnüpf>, unb bas
römifche Volf ließ in feinen (Berichten nicht feiten (ßnabe por
Hecht ergehen, wenn ber 2lngeflagte bie eigene Schulb burch
bie Verbienjle feiner Vorfahren aussugleichen permochte.
Keines ber genannten Völfer h<** bie (ßeburt in ber IVeife
betont, wie bie (ßermanen. Sei ben (Sriechen war ber (Ein*
fluß, ben Pe ausübte, lebiglich fo3ialer 2lrt, bei ben Hörnern
war berfelbe ursprünglich 3war ein rechtlicher unb tief ein-
gretfenber (patri3ier, plebejer), allein er fnüpfte pch nidjt
an einen (ßegenfaft innerhalb besfelben Volfs^ammes, fonbern
408 Kapitel IX. Die feciale medjanif. Pas Sittliche.
an ben 3tr>eier, politifch t>erfchiebenartig berechtigter Dölfer«
fchaften, bei ben (ßermanen bagegen begrünbete ber Unter*
fchteb ber (Seburt einen rechtlichen (Segenfat* innerhalb ber
(5enof(en eines unb besfelben Stammes. Die rechtliche (Seftalt
besfelben roar bas germanifche XDehrgelbfyftem, bas H?efy>
gelb bes 2lbligen toar ein fyöfyeres als bas bes (Semeinfreien,
bei einem ber freieften Stämme, ben Sachen, betrug es bas
Sechsfache [521] bes lefeteren. Kein anberes Volt fyat im
;?ortfchritte feiner €ntoicflung an bem (Segenfafee ber (5eburt
folange feftgehalten als bas beutfehe, noch bis in unfer 3ahr*
hunbert hinein fyat fich bei manchen höchften Difafterien bie
Scheibung in eine abiige unb gelehrte Banf erhalten, unb
bie fo3iale 2tf3entuierung ber (Seburt im 23riefftil ijl von
feinem X>olfe ber <£rbe bis 3U bem JTlaße ausgebilbet toorben
als von uns Deutfchen. Sie Sebeutung einer toirflich h^r*
r>orragenben (Seburt finbet fich auch bei anbeten Pölfern*),
allein toir fuchen vergebens nach einem Seitenftücf für bie
bei uns noch bis ins t>orige 3ahrhunbert hinein übliche 2lb«
ftufung ber (Seburt innerhalb bes bloßen Sürgerftanbes, bereu
Unüerftanb noch burch bie Sinnlofigfeit ber fprachlichen 23e«
3eid]nung überboten tt>arb. Den vxet nieberften Stufen u>arb
bas präbifat bes (Seborenfeins t>erfagt, jte tr>aren, um ben
befannten 2lusbrucf 3U gebrauten, feine (geborene, ihre prä»
bifate lauteten pon unten angefangen: <£tt>. <£blen — IDohl*
eblen — J)ochu>ohteblen — fjocheblen. Dann famen vier
Stufen mit geboren: JDohlebelgeboren — I}ocha>ohlebel>
geboren — fjochebelgeboren — IDohlgeboren , erft bann
folgte bas fjochisohlgeboren ber 2lbligen, an welches bann
als 3ehnte Sproffe bas ursprünglich ben 5ürfien 3uftänbige
unb in bem präbifate ber £joheit ihnen noch bis auf ben
*) 23eifptele: bie Prämierung ber eblen (Seburt bei ben alten
(Brieden (eüfdveia, S* 518), bas TtopcpupoY^vrjToc ber BYSanriner, bas
»Maecenas atavis edite regibus< VOtl ^Ota^ U» a. ttU
Staatliche Stellung. — Hang«
heutigen Cag gebliebene fjcchgeboren ber [522] (Srafen ftch
anfchlog. ZHit ber (Entlehnung ber präbifate txm ber <5eburt
hat es bei biefer 3ehnten Stufe ber (5rafen ein <£nbe*), es
beginnen bann bie bem <Slan3 unb ber fjö^e ber Stellung
entnommenen (Sendeten: €rlaucht, Durchlaucht — Sioty:
Ejoheit — Zfiadit: XHajeftät). Der Umfchtrmng, ber in be3ug
auf biefe Hervorhebung bes ZHoments ber (ßeburt in3tt>ifchen
eingetreten ift, bie Hebu3ierung bes (ßeborenfeins auf bie brei
Kategorien: IDohlgeboren — Jjochroohlgeboren — fjochge*
boren, ift befannt, aber bas (Beborenfein läßt fich ber Deutfche
felbft bis auf ben heutigen tEag nid^t nehmen.
3tr>eites bie foiale 3lbftufung bes Heertes ber perfon
beftimmenbes ZHoment ift oben bie ftaat liehe Stellung
genannt. Das Svfiem ber fiaatlichen Über» unb Unterorb*
nung verleiht bem Cräger bes 2lmtes je nach bei Stelle,
tpelche bas 21mt in biefem Sy^m einnimmt, in ben 2lugen
ber Staatsgewalt unb regelmäßig auch in ben 2lugen bes
Polfes ein Ißipxts ober geringeres 2tnfehen — bie Stelle
beftimmt bie Stellung. Der technifche 2lusbrucf bafür iji
ber Hang. — Hang ift bie [523] grabueUe 2lbftufung bes
pom Staate 3uerfannten Heertes ber perfon, ber ftaatlichen
€hte. Die Kangorbnung ober Hanglifte enthält alfo bie
offttelle IDerttajre bes ZHenfchen r>om Stanbpunfte ber Staats*
geroalt aus. 3n a^en unferen monarchifchen Staaten erjirecft
*) Die nodj mögliche Stetgerung ber fjöcfyjt* unb 2ltferf}ödjfrgebo*
renen tjabeu mir Deutfdje uns entgegen laffen, um fie ben rufftfdjen
Sträflingen in Sibirien 3U überlaffen, meldte 3ufoIge einer IToti3, bie idj
ber Schrift: £ebensbilber aus einem fibtrif djen (Sefängms. Hadj ben
rjinterlaffenen 2luf3eidmungen eines 3U 3ermjär)riger ,gtt> an gsarbeit r>er*
urteilten ruffifdjen (Ebelmaunes. Köln 1882, S.$6, 75 entnehme, ben
Dorgefe^ten mit £}öd?ftgeborner attreben, beim Spießrutenlaufen fogar
mit 2niertiöd?ftgebortter — eine Situation, bie allerbiugs redjt geeignet
fein mag, ber menfd?ltdien Sruft bie fcfyrillßen Disrauttöne ber 2ld?tuug
3U entlocFcu.
^0 Kapitel IX. Die fi^iale HTecr/cmif* Das Sittliche.
fte ftd? bei ber Öe3iel}ung, toelcfye fte 3ur ?[ofetifette ^at, auefy
auf ben (ßeburtsftanb, tr>ofür es übrigens auefy in Hepublifen
nidjt an parallelen fefylt (Horn: bie pah^ier, Denebig: bie
Hobili). Qavaus ergibt jtcfy, ba§ jte nicfyt ibentifefy iji mit
bem 5vfteme ber <5lieberung ber Staatsgewalt, ber Über*
orbnung unb Unterorbnung ber ein3elnen Stellen, fo ba§ bie
Hanglifte bas Staatelianbbndi erfefeen fönnte. grotfe^en ben
§xv\U unb 2Tlilitärgeu>alten ejiftiert etn folcfyes Derfyältnis ber
Unterorbnung gar nicfyt, unb boefy jtnb bie Hangserljältniffe
auefy für fte georbnet (bas JDie iji Ijöcijji cfyarafterifiifdi für
bas offoielle Urteil über ifyr beiberfeitiges IDertoerfjältnts!),
*benfo für bie lOürbenträger ber Kirdje unb felbft für bie
abgegangenen Staatsbiener, benen iljr Hang oerbleibt, ob'
fcfyon fte feine ftaatlicfye Stellung mefyr inne ijaben.
Der (5ebanfe bes Hanges iji felbft auf bas Perfyättnis
bet Staaten 3uemanber übertragen u>orben, er Ijat alfo auger
feiner internen jiaatlidjen Sebeutung noefy eine internationale,
unb nichts seranfcfyaulidjt bie eminente Holle, bie er in unferer
menfdjlidjen H?elt fpielt, meljr, als bie iDicfytigfeit, bie man
ifym im internationalen Perfetjre beigelegt fyxt, inbem er
nidjt bloß 2lnla§ erbitterter, [524] nicfyt feiten mit IDaffen
ausgefocfytener Streitigfeiten, fonbem felbft <5egenftanb pölfer*
rechtlicher Verträge geworben iji. Schon bie Homer matten
bar aus einen befonberen Dorbetjalt bei 5riebensserträgen (bie
befannte 5ormel: majestatem populi Romani comiter conser-
vato) *), unb bie heutige &eit ^at es an mancherlei 33eifpielen
nicht fehlen laffen, welche beutlich 3eigen, welchen JDert niebt
blojj bie Cräger ber Staatsgewalt perfönlich, fonbem auch
bie Oolfer auf ben Hang legen, ber ihnen ober ihrem 5taat
im pölf errechtlichen Perfehre 3ugeftanben iji**).
*) Cicero pro Balbo c. \2. Liv. 38, U- 1. 7. § \ de capt. 15).
**) Die Derletfjmtg ber föniglicrjen fjorteit an bie £jer3Öge ron Saufen-
Coburg, bie (Erhebung ber beutfdjen Kurfiirftentiimer 3U Königreichen,
Soziale Bebeutung bes Hanges*
Das 3ntereffe, welches ber Hang für meine gwede in
2lnfpruch nimmt, befielt nicht in feiner im bisherigen be*
rührten primären, b. i. ftaatlichen unb rechtlichen öebeutung,
fonbern in feiner Befleytxnrfung auf bte (Sefellfchaft, b. i. in
feiner Sebeutung, als eines ber beiben ZHotipe für bie 216*
jlufung ber ^ialen Sichtung. 2lus jener ergibt ftch biefe
noch feinestsegs von felbft. Die Staatsgewalt fann bie
triftig jlen (Srünbe i\aben( — unb fte h<*t fte, unb fein politifch
einjtchtiges Dolf l\at fte vextannt, — bie 23ebeutung, welche
bas Staatsamt hext, auch in ber perfönlichen (Seltung ihres
Crägers, b. i. in feiner €ht*njtellung [525] 3u af3entuieren*).
Die <£htte, bie fte lefeterem 3ufpricht, h<** nicht bie 23eftimmung,
ihm blofc bas (Befühl ber perfönlichen 23efriebigung 3U ge*
währen, fonbem fie foü in ihm wie in allen, bie mit ihm in
Berührung treten, ben (Sebanten an bie 23ebeutung unb Auf-
gabe besamtes wach erhalten**)» Daraus folgt aber nicht,
baß bie (SefeUfchaft biefen IDerttarif bes Staates aboptieren,
ba§ bie flaatliche Stellung auch für bie Sichtung unb bie
fo3iale Stellung bes ZITannes maggebenb fein müßte. Was
hat ber gef eilige Derfehr mit bem 2lmte 3U fchaffen, unb wenn
nicht mit bem 2hnte, was mit ber bamit perfnüpf ten (Ehre?
IO03U bie flaatliche Stellung auf bas gefellige £eben über*
tragen? 2luf bem Soben bes lefeteren, möchte man fagen,
ftehen alle perfonen jtch söllig gleich, ber höchfte Beamte
ber Königreiche 3U Kaifertümem, bie ^reube ber Humänen über bas
Königreich Humänien* ITCutmagha} tpirb bie £ifte ber Königreiche unb
Kaifertümer bamit noch ntdjt befdjloffen fein!
*) 2luch in biefer Be3iehung haben trneberum bie Körner ihre höh*
polttifdje (Etnficht betpährt, als Betfpiele nenne idj bie Jasces ber £tf*
toren ber bödmen römtfdjen ITIagijkate, meldte ben £wed fetten, bem
Hömer bie UTadjtjMung berfelben uuausgefefet cor 2lugen 3U führen
— bie Derpflichtmtg , ihnen auf ber Strage aus3uroeid?en — bte sella
curulis — bte becorrechteten Sitje im (Theater.
**) S* aud? bie Bemerfung über ben <§tt>ecf ber 2Imtstradjt S. 255
unb ben Kurialfltl ber Befyörben 5. 385.
Kapitel IX. Die feciale Itlecijam?. Pas Sittliche*
fartn bier feine Ijöljere (ßeltung beanfpruchen, als ber ge«
ringfte, ber Soben ber (SefeUfchaft ift ein neutraler, ber burch {
bie Unterfchiebe, welche ber Staat in feiner Sphäre anerfennt,
gar nicht berührt wirb.
Xtlan perfuche einmal, biefen (ßefichtspunft ber 3nbifferen3
ber (ßefeHfchaft gegen bie ftaatlichen Unterfchiebe bei ber
UTonarchie burd^uführenl Hiemanb wirb [526] bavan 3wei*
fein, baß iB|r bamit ber Cobesftoß perfekt wäre. <2in König
im Sinne bie[er Anficht würbe bem Cheaterfönige gleiten,
ber nur folange König ift, als er fidj auf ber 23ühne befinbet,
unb mit beffen gan3er I}errlich?eit es porbei ift, fobalb er bie
Bretter t>erlaffen fyat €ine foldje (ßeftaltung bes Königtums
ift unbenfbar, fie h<*t weber je ejiftiert, noch fann unb wirb
fie je ejiftieren. €ben barum fort mit bem Königtum, fagt
ber Hepublifaner, jener von ber perfon bes UTonarchen un*
trennbare (E^arafter besfelben, jene Derquicfung feiner fiaat*
liehen unb perjonlichen Autorität gehört mit 3U ben (Srünben,
warum ich basfelbe perhorres3iere. 2tlfo bie Hepublif! g>w
ben macfytpoUften Hepublifen, welche bie UMt je erblicft I^at,
gehören bie in Horn unb in Denebig. Waten bie römifchen
Konfuln unb bie Dogen pon Denebig auf ber Straße Beamte?
Unb boch machte ihnen jeber ehrfurchtspoll plafe, unb wer
es nicht tat, warb unfanft batan erinnert. Ejat bas Cfyeater
etwas mit ber 21mtstätigfeit 3U fchaffen? Unb bod) Ratten
bie l|öt^eren römtfehen XHagiftrate ihren bevorrechteten Stfc
im Cljeater, unb ich \\abe nie gelefen, baß bie Horner batan
Jlnftoß genommen hätten. <£in politifd? einstiges Volt ehrt
unb feiert in ben Crägern ber höchften Staatsgewalt bie
perfoniftfation ber Ejoheit bes Staates, unb es 3oIlt iB|nen
biefelbe (Ehrerbietung, wo immer es ihrer anftchtig wirb,
o^ne 3U unterfcheiben, ob fte in ihrem öffentlichen £h<*rafter
ober als pripatperfonen auftreten, benn es fühlt [527] richtig
heraus, baß eine foldje Scheibung ben <Blan3 ber Stellung
(Srabattort der fc^ialen Stellung. — Der CtteL 4^3
fd^äbigon ttmrbe, <£s enthält einen Setzeis ber politifcfyen
Unreife ober 2?ern>ilberung eines Voltes, wenn es ben 3n'
fyabem ber fyöcljften (Seroalt bie Sfyrfurcfyt t>erfagt, unb nur
ber Um>erftanb fann barin eine Betätigung bes 5*eifyeits*
gefügte erblicfen, ber richtige Jtusbrucf bafür ift politifcfye
Cümmelei — ber £ümmel glaubt feinen Unabtjängigfeitsftnn
unb feine <£ljarafterfeftigfeit baburefy betätigen 3U fönnen, ba§
er bie 5orm mit Süßen tritt
3ft basfelbe, was für ben Cräger ber fyöcfyften Staats«
gemalt, auefy bei bem gewöhnlichen Beamtentum am plafee?
2)ie Staatsgewalt tjat tt^re guten (Srünbe, audj lefcteres mit
ber entfprecfyenben <£ljrenftellung aus3uftatten unb für bie
amtliche Berührung bie Beachtung berfelben t>or3U3eidjnen,
unb es liegt in il>rem 3n^reffef *>as feciale 21nfefyen bes
Beamten fynter ber i^m 3ugetoiefenen ftaatlicfjen <£fyrenftetlung
nidjt 3urü(fbleibe. 2lber er3wingen fann bie Staatsgemalt
bies nidjt, bie fo3iale (Beltung bes Beamtentums ift eine Cat*
fache bes Cebens, Sache ber freien Schädling von feiten bes
£>olfs, unb bie (Erfahrung 3eigt, baß biefelbe eine recht per*
fchiebenartige ift. 3m allgemeinen fann man fagen, baß
biefelbe in Monarchien eine I^öl^ere ift, als in Hepublifen,
roenigftens in ber heutigen <§eit, am l^öd)ften bürfte fie bei
uns in Deutf chlanb ftehen, womit ber perhältmsmäßige 2ln-
brang 3ur Beamtenlaufbahn 3ufammenhängt, ber jtcfj bei
gemiffen Schichten ber Beoölferung nur auf [528] bas TXiot'w
ber erftrebten €l^renjlellung 3urücffüfyren läßt. Bei uns ©er*
leitet bie Staatsftellung bem 3nh<*frer berfelben eine fyöfyere
fo3iale Stellung, als er nach feinen (ßeburts- unb fonfligen
Derhältniffen einnehmen mürbe. 3" einigen fübbeutfehen
Staaten fyat man ben Ztimbus bes Beamtentums noch burch
bas feltfame 3nftttut bes perfönlicfyen 2lbels 3U erhöhen ge-
fügt — ein Beweis, baß man bem Beamtentum als folgern
allein bie gewünfehte tt)trfung nicht 3utraute.
m Kapitel IX. Die fojtale ltTed?anif* Das Stttitd^
Das äußere IHerfmal, an bem bie (Eigenfchaft ber Beamten
erf annt wirb, ift ber Citel. Der Umjianb, baß ber öeamte
nid?t bloß im bienftlichen Verhältnis, fonbern auch im ge*
wohnlichen £eben mit feinem Citel angerebet wirb, unb
baß lefeterer in mannen Onbern fogar auf bie 5*au über*
tragen wirb, 3eigt, baß bie baburch funbgegebene Seamten*
qualität bas foiate 2lnfehen bes Crägers bes 2lmts in ben
2tugen ber (SefeUfchaft erhöht» So erflärt es fich, wie bie
Staatsgewalt ba3u fam, ben Citel unabhängig t>om 2lmte 3U
verleihen. Durch Verleihung bes bloßen Citels (23rief* ober
Dtplomtitet im (Segenfafee bes 2lmtstitels) 3ie^t ber Staat
einen IDechfel auf bie <5efeUfchaft, lautenb auf basjenige
Quantum ber Sichtung, bas in ihren 2lugen mit bem 2lmte
perbunben ift.
IDürbe es an ber letzteren Porausfet$ung fehlen, fo würbe
bie Derlei^ung bes bloßen Citels söHig jtnnlos fein: bei
einem Dolfe, bas bem Seamtentum als folgern feinen Fialen
IDert beilegt, ift bie (Einrichtung unbenfbar, [529] Der Srief*
tttel perbanft feinen gan3en tDert lebiglich bem 33eamtentume,
bas ihm feinen Klang, fein 2lnfehen, feine fo3iale (Seltung
x>erfchafft fyatf er enthält eine guwenbung aus bem 5onbs
an fo3ialer Dichtung, ben jenes aufgefpeichert fyat, nach 2lrt
ber burch bie fatholifche Kirche bei ber 2lbfolution oorge«
nommenen Übertragung eines Ceiles bes oon ben ^eiligen
angefammelten Schates an guten tDerfen auf ben Sünber
— ohne biefen $ont>s wate beibes nicht möglich, eine 2ln*
weifung ift wertlos, wenn es an ben gahlmitteln fehlt Darum
fann bie Staatsgewalt feine neuen Citel fchaffen, benen es
an biefer t^ifiorif d7eri Anlehnung an bas Seamtentum fehlt,
fie fann beim Citelwefen nur übertragen, nie fchaffen —
ber beftgemeinte poütöuenbfte Citel ohne biefen h^orifd?en
Hücfhalt würbe ein bloßes t£>ort fein, bas niemanb refpef*
tieren, bem im (ßegenteile t>on pornherein bas unoertilgbare
<8xabat\on ber faialen Stellung — Das (Dtelmefen* 2^5
Stigma ber Cädjerlicfjfeit aufgeprägt fein mürbe* ZTiemals,
folange bie Welt fle^t, tx>irb 3. B« ber Cttel eines «Ehren-
mannes, Reiben, Denfers auffommen, fo gerechtfertigt bie
üerleifyung besfelben an ein fyersorragenbes 3nbit>ibuum im
übrigen auch fein möchte, ber Citel muß mit bem Beamten*
tum entftanben unb t>on ihm erft 3U (Eieren gebracht toorben
fein, bamit bie Staatsgewalt ihn von bemfelben ablöfen
fönne, er muß von bem Beamten getragen toorben fein,
bamit ber Staat itjn auf ben Hichtbeamten übertragen
fann*).
[530] Der 3toeifelhafte Huhm, ben ©tel 3uerfi vom 2tmte
getrennt, ben Diplomtitel in bie UMt gefegt unb bamit ben
erfien Stritt 3ur (Einführung bes Citefoefens unferer heutigen
Seit getan 3U ^aben, gebührt meines ZDiffens ben erften
römifcfyen Kaifern. Das politifche ZTtotio iji unfehtoer 3U er*
raten, es Ijanbelte ftd? um einen Köber für ben <£fyrgei3 unb
bie (Eitelfeit ber fyöfyeren Stänbe, bie baburch von bem Kaifer
in 21bhängigfeit gebracht unb in falfche ihm unfehäbliche
Sahnen gelenft roerben fotlten. Der Citel roarf ihnen jtatt
ber voxxt liefen TXiadit, bie ber Kaifer jtch f elber unb feinen
Beamten (praefecti) vorbehielt, ben bloßen äußeren Schein
hin, ben <Slan3 eines 2lmtes, beffen effeftioe Bebeutung burch
ben Kaifer grünblich abgetan xvav, bas aber in ben 2Iugen
bes Dolfes feinen I|iftorifd|en Himbus unb bamit feine fo3iale
Bebeutung behauptete: bes Konfulats, 5tatt ber alten
3roei Konfuln rourben 2\ ernannt (consules honorarii). Der
Ztame bes Konfuls toarb baburch 3U einem bloßen Citel, ein
*) Piefelbe (Erfdjeinung, meldte uns bie tn'ftortfd/e 2lnlelmung beim
(Ettefoefen an bas reale 21mt barbietet, mteberfyolt fidj beim (Drbens*
tpefen in be3ug auf bie Hitterorben bes UTittelalters, nnfere feurigen
(Drbensrttter unb Kommanbeure otme pferb unb SdjtDert ljaben 3U
Porgängern bie tDtrflidjen mit pferb unb Sdjtpert, fle 3etjren von bem
Kapitale, bas letztere angefammelt fabelt*
Kapitel IX. Die fötale irtedjanif. Das Sittliche.
Dorläufer ber fpäteren burch 3)iplome (codicilli) serliehenen
coäicillaris dignitas, b. i. bes bloßen Citels in unferem heutigen
Sinne. <San3 basfelbe gefchah mit ber milttärifchen tDürbe,
bie cErftnbung von ©ffoierspatenten [531] ohne Dienft ftammt
jd]on von <£laubius*). 2luf biefem 2£>ege fchritt öann bas
bY3atttinifdie Kaifertum rüfitg fort, inbem es 3U bem Citel»
rt>efen noch bie (Einrichtung befonbers ehrenvoller präbifate
5nm gtoecfe ber bloßen 2Inrebe h^ufügte (clarissinii, specta-
biles, illustres), bie meiften ber noch heut3utage üblichen (<£mu
nen3, <££3eHen3, 21Tagnift3en3, Speftabilität) gehören biefer
geit an. Unfer moberner Staat ift hinter jenem Dorbilbe
befanntlich nicht 3urücf geblieben, er ^at fteHemt>eife t>on ber
Verleihung ber Citel einen fo ausgiebigen (Gebrauch gemalt,
baß man glauben möchte, fie würben in ben 2lugen bes Dolfes
längft allen tDert eingebüßt fyaben> 2lber bie Aufnahme'
fäl^igfeit bes Dolfes fcheint in biefer 23e3iehung noch lange
nid)t erfchöpft 3U fein, unb folange fie vorhält, hat ber Staat
alle Urfadje, fich ihrer 3U freuen unb fie aus3unu&en — bie
Verleihung ber Citel fyat für ihn ben IPert ber Drudferpreffe
beim papiergelbe, fie ermöglicht ihm in papier ftatt mit
barem (Selbe 3U 3ahlen**) — tvenn bie fo3tale (5eltung ber
Citel einmal aufhören follte, fo umrbe bas baburch 3U beefenbe
3>eft3tt fid} im Subget nach ZHiHionen be3iffern.
Vxe Verleihung ber Citel ohne 2lmt bef darauf t fich nicht
bloß auf ben Staat, neben ihm ift auch bie XDiffenfdjaft [532]
mit bem Doftortitel 3U nennen***). 2Iuch bei ihr ha* ftd?
*) Suet. Claudius c. 25 instituit imaginariae militiae genus, quod voca-
retur supra numerum, quo absentes et titulo tenus fungerentur.
**) Der tbeale £ofytt, burd? ben ber Staat bas ircißrerfjältms bes
realen ober öFonomtfcfyen ausö;leid?t, f* 33b» I, 5« 15$ ff,
***) Hid?t bie Kirche, audj ntd?t bie fatljolifdje. Die (Eitel, rt>ela>
letztere serleifyt, finb ftets mit einem Kirdjenamt rerbunbeu, unb audj
ber £tfa>T in partibus infidelium madjt batxrn feine 2Insnaf|tne, benn
er ift tr»irHtcfc»er 23ifcfyof, nur ofyte Dib^efe* Die Ernennung 3um
(Srabation ber fo3talen Stellung» — Das £iteln>efem
bie foeben nad?getr>iefene firfdjeimmg tr>ieberl}0lt: bie 2tb-
löfung bes Titels vom 2Imte» £>er £>oftortitel be3eicfynete
urfprünglidj i>ie Derleifyung bes £etjramts t>on fetten ber
IDiffenfdjaft (doctor legens), Ijeut3utage ifi er ein bloßer Citel
geworben* 3)a nad? ber heutigen (Drganifation ber Unit>er<
fiiäten bas Hedjt 3ur Derleifyung biefes Citels auf eine 2lutori*
fation bes Staates 3urücf3ufiifyren ijl, fo fcfyeibet bie XPiffen«
fcfyaft in IDirHid]feit aus, unb roir fönnen ben Sa§ aufftellen:
bie Perleifyung von bloßen Citeln tote bie von (Drben bilbet
ein Beferr>atred?t bes Staates. Va% er alle Urfadje fyat,
ftd} basfelbe nicfyt ent3iefyen 3U laffen, nnrb nad\ bem Bis«
fyerigen nicfyt ber [533] 23emerfung bebürfen, es ftefyt auf
einer Cinie mit bem 2T(ün3regaI.
Sie fostale Sebeutung bes Citels fenn3eid)net ftcfy baburdj,
ba§ er im £eben 3um <5tx>ecf ber 2lnrebe unb 3tt>ar als £Ijren*
präbifat gebraucht tt>irb. £in Derein fann für feine 2In*
geseilten bie fyocfytönenbften Hamen rectalen: präfibent, Direftor,
Dorftanb, 23ibliotfyefar ufnx, aber bies finb feine ©tel, b. fy.
britte perfonen bebienen fiefy berfelben nxd\t im Sinne eines
<£fyrenpräbifats, fotoenig toie man im Ceben bie Be3eicfytung
bes 23erufs3tr>eiges basu t>enr>enbet unb 3. 23. jemanben „Qerr
Prälaten r>erleit)t $tvav einen fyötjeren Hang unb ein bementfpredjenbes
präbifat (ITConftgnore), allein prälat ift meines XPtffeus fein CtteL 3n
^ranfretd> rebete man früher bie 2lbbes 3tr>ar mit biefem itjrem Hamen
an, allein es tr»ar fein (Eitel, ben bie Ktrcfye sedieren tjatte, es üerfjtelt
fiel? bamit ät^nltd? une mit bem proteftanttfdjen „Kanbtbaten", ber ftdj
als Doppelgänger bes 2lbb6s be$e\<tinen läßt, ber Harne mirb vom Dolfe
fielfad? als 2Jnrebe beruht, aber ift fein t»on ber Ktrdje verliehener
(Eitel. 3n proteftantifdjen Staaten t^at man ben Rotieren proteftantifdjeu
(ßeiftlicfyen, um ilmen ben Hang ber Fatfyoltf d?en 33ifdjöfe 311 verleiben,
ben 23tfd?ofstttel gegeben, aber tyer ift es ber Staat, utd?t bie Ktrd/e,
mekfye ben (Eitel üerleifyh — 3n allerjüugfter ^ett hat bie Kurte mit
Derleugnung t^rer bisherigen fo perftänbtgen (Srmtbfä^e augefangen,
ben Citel eines getftlidjen Hats 311 erteilen, ift babet aber auf ben IPtbcr*
ftanb bes Staates geflogen»
v. 3 \] e ring, Der gtüecf im Hed?t. II. 27
Kapitel IX. Die feciale Xrte^antL Pas Sittüd?e*
Sabxxtant, J^err (ßutsbefifeer" anrebet Xüo ber Citel einmal
bie fo3taIc Sebeutung i|at, bie toir I^ter erörtern, ift er im
Sinne ber £[öflichfeit obligat — roer ben Citel Ijat, verlangt
it^n auch 3U Ijören.
3n biefem Sinne finb Citel nur bie jenigen, ir>ekhe ber
Staat, bie Kirche, bie XDiffenfct^aft verleihen, ihr JDert beruht
tr>ie ber ber ©rben barauf, baß fte eine von ber (ßefetlfchaft
honorierte 21ntx>eifung auf ein beftimmtes Quantum Achtung
enthalten — von bem Zfioment an, tr>o bie (SefeEfdjaft biefe
2lntr>eifung nicht mehr refpeftieren trmrbe, mären fte entwertet.
Der 2£>ert biefer 2lmt>eifung beruht, toie ber einer jeben, 3U*
nächfl auf bem 2Jnfehn, bem Krebit bes 2lusfteüers, fobann
aber auch auf ber 3m^haltung bes richtigen ZHaßes bei
it^rer Derleihmtg — bas Übermaß roirft I^ier ebenfo roie
beim papiergelb, ber Kurs flnlt; faft bei allen heutigen
Citeln fleht er u>eit [534] unter bem urfprünglictjen <2mifjtons<
tsert (Det>alt>ation ber Citel).
Die einfichtige 5inan3politif unferer Seit ^at bie Staaten
bahin geführt, ben (Befahren, tx>elche bem ^nlanbe burd; eine
Überflutung mit frembem papiergelbe broljen, burch ein Perbot
ber «gtrfulation besfelben r>or3ubeugen. Das Seitenftücf ba3u
bilbet bas Perbot ber Einnahme ber x>on fremben ZHonarchen
verliehenen <£l\ven: Citel, 0rben, Stanbeserhöhungen ohne
(Senehmigung bes Canbesherm. <£s l^anbelt fxd\ babei nid]t
bloß um bie auftoritatiüe Stellung bes Staates , bie fflafy
rung feines Hefertwtrecfyfs, fonbern um ben ernften praftifdjen
<§tt>ecf, ber (Entwertung feiner €l}ten burch (Einfuhr aus-
länbifdjer IPare r>or3ubeugen, bem Kipper* unb IPippertum
auf bem (ßebiete bes Citel* unb ©rbenstoefeus 3U fteuern, —
o^ne bies Perbot tt>äre bie Welt toahrfcheinlich fdjon mit
(5roßfreu3en unb ^er3Ögen pon San ZHarino überfchu>emmt
rüorben, fte jtnb bort befanntltch billig 3U haben*
Das 3ntereffe, bas mich beftimmte, ben Hinflug, welchen
Die fötalen präMfate* — Die gufunfi
ber (Seburtsfianb unb bie fiaatltche Stellung in ber (SefeH«
fchaft ausübt, 3txm (Segenfkmbe metner Betrachtung 3U machen,
fnüpfte jtch an ben oben (5. ^05) von mir für bie Achtung
aufgehellten (Seftchtspunft ber grabueüen Abftufung bes IDerts
ber perfon. 2>er Schwerpunkt meiner gan3en Ausführung
beruhte auf ber €rfenntnis, baß btefe Abflufung abftrafter
Art ijl, unb barüber mögen mir noch einige XDorte erlaubt fein.
[535] <2s gibt (ßrünbe ber serfchiebenften Art, welche bas
2Haß ber Achtung einer perfon im gefelligen Perfehr beein*
fluffen: bie €h*enhaftigfeit bes <Z\\axaltex$ , fyxvovtaQtnbe
geiftige Begabung, einflußreiche Stellung, €hrroürbigfeit bes
Alters, felbft Beichtum. Aber ber <£injluß, ben fie ausüben,
ift ein freier, er ift gefeöfchaftlich nicht geboten, ber €influß
bagegen, ben bie (ßefellfchaft an bie beiben obigen ZtTomente:
(Seburtsftanb unb Citel fnüpft, ift ein gebotener, er befteht
in bem (Gebrauch ber präbifate, burch welche fie äußerlich
fixiert worben ftnb. ZDie gering man benfelben immerhin
anfchlagen möge, er befteht einmal, unb er gibt jtch äußer-
lich barin funb, baß bie perfon baburch von anbern abge*
hoben wirb. 3)iefe burch bie £[öflichfeit r>orge3eichnete Pflicht
ber Abhebung biefer beftimmten perfon t>on anbern ift es,
bie ich im Auge habe, wenn ich behaupte: bie Achtung fluft
fich ab nach bem XDerte ber perfon, fie er!ennt biefen XDert
nicht als einen allen perfonen unterfchiebslos gleichen an,
fonbem fie bemißt benfelben nach gewiffen abftraften Kri*
terien. mittels ber bloßen Anrebe: Roheit, ©urchlaucht,
<55raf, Baron, <£j3ellen3, mittels ber bloßen ZTenming bes
Titels Beichsgerichts*, (Dberlanbesgerichts*, Canbgerichtsrat,
Amtsrichter, ©briji, ZHajor, Hauptmann, Leutnant, mittels
ber bloßen Auffchrift auf Briefen: hochgeboren, £jod]wohl-
geboren, IDohlgeboren werben Derfchtebenheiten bes fo3ialen
IDertes ber perfon präbi3iert, Kategorien ber Fialen Stellung
ausgebrüeft.
27*
^20 Kapitel IX. Die fo3*ale lITecfycmi?. Das Sittliche.
[536] ©b bie (SefeUfchaft tsohlgetan ^atf jenen beiben
Momenten biefen €influg ein3uräumen, unb ob berfelbe 2Ius*
fid\t auf etoige ober nur lange Dauer Ijabe, barüber mag
man ftreiten unb ich toürbe es begreiflich ftnben, roenn ein
Bürger ber Pereinigten Staaten barin nur ein ben Soben
ber ZHonarchie femt3eichnenbes Unfraut erbttefte, von bem
bas amerifanifche republifanifche (Semeimsefen mit 5tol3 fi*
rühmen bürfe frei geblieben 3U fein* ©b ber lefetere gufranb
für bie gufunft *8e\tanb traben tt>irb, ober ob nicht auch für
bie bereinigten Staaten, bie fich 3ur3eit noch in ben erften
Anfängen ihrer Fialen <£nttr>icflung befinben, bereinjl bie
Siunbe fchlagen toirb, wo jie ben Fialen (Segenfafe ber
Stäube unb ben Fialen (Einfluß ber ZtTagiftratur lernen
werben, toie er fich bisher bei allen Kulturpölfem geltenb
gemacht fyat, barüber roürbe es t>ermeffen fein fchon jefet ab'
3uurteilen.
Damit bin ich aber feinesroegs gefonnen, bie Sered?^
ttgung, roelche ich für ben ^ialen (ginfluß bes (Seburtsftanbes
unb ber ftaatlichen Stellung an fich in 2Infpruch nehme, auch
auf bie t>erf ehrte (ßeftaltung 3U übertragen, tselche berfelbe
ftellentr>eife, insbefonbere bei uns in Deutfchlanb, angenommen
hat 2tuch bei biefem punfte ttneberbolt fid} bie firfcheinuug,
bie roir fchon mehrfad] (S. 362 f., 371Q bei ber Sitte fonftatiert
haben: bie Ausartung eines an fich richtigen (Sebanfens 3ur
Karrifatur feiner felbft. 2Ttan fann fich faum einen ärgeren
2tbfaII [537] eines (Sebanfens r>on fich f elber benfen, als bas
23ilb, bas uns bie beutfehe fjöflichfett bes vorigen 3ahr*
hunberts vov 2tugen führt *). 3hrer 3bee nach beftimmt,
ben gefelligen Perfehr 3U förbern, 3U r>erfd]önem, tt>ar ftc
in ihrer bamaligen (Seftalt nur banad] angetan, ihn 511
*) 3n farrifterter, aber bem lUefen nadj 3utreffenber lUeife ge*
f Gilbert von Ko^ebue in feinen „beutfdjen ttleinftäbtern"*
Z>te fo3talen präbtfatc* — Ausartung*
42t
erfcfyweren, ifyi möglidtft umftänblid) unb fd]Ieppenb 3U machen«
Die mit minutiöfefter (ßenauigfeit ausgebilbeten Hegeln über
bie richtige 2trt ber Jlnrebe in ben öriefen, wobei felbft bem
Scharfrichter fein ihm gebührenbes präbifat 3U erteilen war
— über bie nach ZHaßgabe ber perfon äugerft t>ariierenbe
richtige Benutzung ber pronominalformen (hat man — Ijat
er — I|at fie — I|aben Sie * — fyat ber X?jerr — fyaben ber
£>err?) — über Hang, Dortritt, Sife bei Cifch, 2tbftufung ber
Perbeugung — über bie nötigen „Komplimente" — alles
bies fd]ien nur erfunben 3U fein, um ben Ijarmlofen, unbe*
fangenen Derfeh* unmöglich 3U machen unb bem franfhaft
gef pannten unb ängfilich auf ber £auer liegenben (ßefüfyl ber
IDürbe, bem mißtrauen, bem Übelwollen, ber nach £>or*
wänben fudjenben €mpfmblichfeit unb Hei3barfeit (belegen«
bveit 3U geben, „etwas übel 3U nehmen" — bie querelles alle-
'mandes, wie ber 5ran3ofe fie mit beißenbem, aber treffenbem
Spott nannte. 3n biefer f}inficht I^at fich ja bei uns meles
geänbert, banf ben gewaltigen <£reigniffen, welche am <£nbe
bes vorigen unb am Anfang bes gegenwärtigen [538] 3a^r*
hunberts ben Sinn oon nichtigen 2ftmfeligfeiten auf ernftere
Dinge Ienften, banf bem (Seifte unferer £effing*Sd}iHer*
(Boethefchen £iteraturperiobe, ber wie ein frifcher Seewinb
bie Stiefluft reinigte, banf ftcherlich auch ber burch bie fran*
3Öjtfche Heoolution mit ihren (Emigranten unb burch bie
uapoleonifchen Kriege im ausgebeuteten ZHaße ^erbetge«
führten Vertrautheit mit ben feinen wohltuenben formen ber
fran3Öfifd)en f}öflid]feit, welche burch bas gefunbe HatureK
bes Dolfs, bie Hlachtftellung ^ranfreidis unb bie Slüte ber
Literatur gegen bie (Sefahr, ins fleinliche 3U verfallen, ge*
fichert geblieben war. Sicherlich bleibt auch jefet nod] manches
bei uns 3U tun übrig, unb bas Citelwefen wirb mit bem
Seamtentum, bem es entftammt, fchwerlich feine bisherige
fo3iale (Seltung behaupten, feitbem lefcterem in ber Dolfs*
422
Kapitel IX* Die fatale IKedjanif* Das Sittliche*
Vertretung ein titellofer, aber höchft einflußreicher Hipale auf
bem (ßebiete ber ftaatlichen Cätigfeit erwachfen ift.
3ch faffe bas Befultat meiner Ausführungen über bie
Achtung fur3 3ufammen.
Qev 23egriff ber Sichtung B^at 3ur Dorausfefeung ben bes
töertes, er enthält bte 2lnwenbung besfelben auf einen ein*
3elnen 5aü, bie Übertragung bes IDertbegriffs auf bie perfon.
ZDie ber IDert ber Sache ftch abftuft, fo auch ber ber
perfon, wir achten bie eine perfon f|öl|er als bie anbere,
b. h- wir erfennen itjr einen ^ö^eren fatalen H?ert 3U.
Der XDert ber Sache gelangt 3um 2lusbrucf im [539]
öfonomifchen Perfehr, ber ber perfon im gefeüfchaftlichen.
3n ber Berührung mit anbern, an ben 2lchtungsbeweifen,
welche ihr h*er 3utetl werben, erfennt jte, welchen IDert mau
ihr beilegt, es ift ber Spiegel, ben bie IDelt ihr vorhält, unb
aus bem fxe entnehmen fann, was jte ihr gilt.
Das iji bie inbisibuelle lüürbigung bes Heertes ber
perfon. 23ebingt burch inbitubuelle ZHomente in ber perfon
bes Urteilenben: feine Kenntnis ber perfon, ihres CEjarafters,
ihrer £etftungen unb Derbtenfte unb bie eigene Urteilsfähig»
feit unb bie Bereitwilligkeit ber 2tnerfennung fremben IDertes,
ijl jte auch in ihren Äugerungen gan3 ber 3nbit>ibualität
anheimgefteQt. Die 2tchtungsbe weife, welche aus biefem in«
bit>ibuellen IDerturteil hervorgehen, laffen ftch be3eichnen als
bie freien ober inbiuibuellen.
3hnen ftehen Skiffe anbere gegenüber, welche burch bie
Sitte feft t>orge3eichnet finb. Sie gelten nicht bem 3nbitn
buum, fonbem ber abftraften perfon, bereu IDert für bie
(5efeHfchaft baburch 3um 2Iusbruc! gebraut werben foH. £s
finb bie typifchen formen ber ^öflichfeit. Jtuf fte erfennt
bie Sitte ber perfon, wenn fie nicht felber ben (Segenbeweis
ihres Unwertes geliefert ha*/ einen 2tnfpruch an, bie Iiiig*
achtung berfelben enthält im Sinne ber Sitte eine Nichtachtung
Die fetalen präbtfate. — Ausartung»
423
bes Kecfyts ber perfönlicfyfeit. Das finb bie obligaten ober
abftraften 2ld)tungsbetDeife.
tüte ber JDert ber perfon ftd? mbtoibuell abruft, fo [540]
audj abftraft nacfy Derfdjiebenljeit ber Stellung, tselcfye jte in
5er (ßefeflfdjaft einnimmt. 2)ementfprecf}enb finb aucfy bie
typifcfyen formen ber fföflidjfeit gejlaltet, bie Derfcfjiebenljeit
bes abftraften JDertes ber perfon fommt aucfy in i^nen 3um
Ausbrucf.
<£rjt in ber 2lct?tung finbet bie ^}bee ber perfönlidjfeit,
bie im Becfyt mit bem Segriff ber blo§ negatit* gefcfyüfcten
<£fyre anfefet, ifyren vollen, b. i. pojttipen 2lbfd)luj$. ZTad?
biefer Seite Bjin enthält mitbin bie Ejöflidjfett bie PoHenbung
beffen, was bas Becfyt im Hedjt ber perfönlicfyfeit begonnen,
bie 5ortfefeung, Verlängerung ber 3bee ber perfönlicfyfeit in
bas (Sebiet ber Sitte hinüber: bas Komplement bes Hecfjts
ber per[önlid]feit 23eibe bilben ein ewiges burdj iljren
gemeinfamen &wed 3ufammengefyöriges <5an3e. <£s ift ber
Saum, ber mit feinen IDw^eln im feften <£rbreicfj bes Hed^ts
fielet unb mit feinem Stamm unb feinen gtoeigen ftcfj in bie
Hegion ber Sitte ergebt. Die fjöflicfyfeit ofyne bas Hecfyt ber
perfönlidjfeit roäre ber Stamm unb bie Krone bes 33aumes
ofyne fefte lümmeln, bas Becfyt ber perfönlicfyfeit ofyte bie
fjöflidjfeit, bie Wurzeln ofyne ben Stamm unb bie Krone,
beibe gehören 3ufammen — n?enn ber perfon wol\l fein fott
in ber XDelt, muß fie beibe oorfinben,
2)er 3toeite (Sebanfe, ber in ben 5ormen ber JE}öflicfyfeit
eine tvpifcfye Ausprägung erlangt B^at, ift bas £Dofy[tt>oIIen.
tiefer 3it>eite Seftanbteü ber £}öflid?feit ift [541] bisher fo
toenig oerfannt n>orben, ba§ man ifyn umgefefyrt für ben
einigen gehalten ijat (S. 38^)*
Kapitel IX. Die foiale Xnedjantf. Das Sittliche.
Das IDohltPollen.
<£in folcher 3rrtum tpäre nicht möglich getpefen, wenn er
nicht einen getpiffen Schein für fich gehabt hätte. 3<h abliefe
ben (Srunb besfelben barin, ba|$ inbipibueH bas IDohltPollen
biefe ihm 3ugefchriebene AHemherrfchaft allerdings 3U be*
Raupten vermag. Das 3nbipibuum fann von bemfelben in
einer ZDeife burchbrungen fein, baß fein gan3es IDefen unb
Benehmen ben (Seift bes Wohlwollens atmet, unb ba§ felbft
bie ftereotypen fjöflichfeitspbrafen ben C^arafter bes innig
<£mpf unbenen unb aufrichtiger perfönlicher Ceilnahme an»
nehmen.
<£s fdjlägt bies in bas Kapitel ber 3rcbipibualifierung ber
£(öflid]feit hinein, beren ich am <£nbe meiner Darßellung ber*
felben gebenden roerbe. Aber von ber Art, tpie jtch ber fub*
jeftipe <5eift ber £}öflichfeitsformen bebient, unb pon bem,
rpas er aus ihnen macht, ift genau 3U unterfcheiben ber ob*
jeftipe (Z^axatUt berfelben, roie bie Sitte fich ihn gebacht,
unb toie fte ihn in biefen 5ormen 3ur Ausprägung gebraut
hat. 3Tt^cm WX1C 3ugrunbe legten, gelangten rx>ir 3U ber
obigen Hnterfcheibung 3tpeier Arten berfelben: bie eine ihrer
Seftimmung unb ihrem gan3en gufchnitt nach barauf be<
rechnet, bie Achtung, bie anbere barauf berechnet, bas IDohl*
tpollen 3um Ausbrucf 3U bringen.
[542] Bei ber erften Einführung biefes (5egenfafees (5. 585)
haben roir, tpas an jener Stelle genügte, eu^elne Sputen
namhaft gemacht, toelche bie Überseugung pon bem Vox<
hanbenfein, tpenn auch nicht biefes, fo boch eines (Segen--
fa^es innerhalb ber ^jöflichfeitsformen hexvoxtn^en müffen,
unb tpir haben fobann ben TXadiwexs erbracht, baß bas erfte
(Slieb besfelben in ber Achtung befteht, über3eugen tsir
uns nunmehr, baß bas 3tpeite (Slieb als XDohtoolIen 311 bc*
ftimmen ift.
Das feciale IDofjItPotfett. — Kriterien,
425
<£s gibt eine gan3 einfache probe, 5ie jeber mit fiel) felber
anfteQen famt. 5ür getoiffe Sett>eife ber ^öflichfeit pflegen
tx>ir 3U Lanfert, für anbere nicht XDir banfen bemjenigen,
ber uns feine Ceilnahme 3U ernennen gibt, fich 3« 23. nach
unferm ober unferer Jlngefyörigen Beftnben erfunbigt, uns im
Kranft|eitsfatt gute 23efferung, bei Antritt einer Heife eine
glüefliche Heife toünfcht, ober ber uns einen ber flehten Dienfte
erioeift, bie ich unten unter ber Kategorie ber Dienftfertigfeit
befyanbeln tt>erbe, uns 3. 23« eine Sache reicht, aufgebt, uns
beim 2ln3iehen bes Über3iehers behilflich ift. Demjenigen,
ber uns grüßt, anrebet, 3uhört, uns entgegenfommt, toenn
roir ihn befugen, banfen roir nicht. JDarum banfen roir in
bem einen Sali, in bem anbem nicht? JDir banten für etroas,
roorauf roir feinen 2lnfpruch 311 befifeen, tr>as roir ber (ßüte
bes anbem 3U perbanfen glauben, für ein (Sefcfyenf, eine
XDo^Itat, eine (ßefäßigfeit, bagegen banten wxv nicht für
etwas, was uns unferer Anficht nach gebührt, toas [543]
roir uns für berechtigt galten f orbern 3U bürfen, eine ber*
artige £eiftung fällt für uns unter ben (ßejtchtspunft ber
Abtragung einer Schulb. Die Sprache ha* biefe 23e3iehung
bes Danfes 3U ber uns freiwillig gewährten, b. t. aus bem
XDot^tooHen bes anbern hervorgegangenen Seiftung mit einem
einigen IDorte treffenb toiebergegeben, nämlich mittels bes
vom Danfen gebilbeten Kompofttum Perbanfe n. Danfen
unb Perbanfen gelten it^r als forrelate Segriffe — ber Danf
fonftatiert, baf$ wir jemanbem etwas oerbanfen, b. h-
es in ber freien lebiglich burch bie wohlwollenbe (Sefinnung
gegen uns h^toorgeruf enen <§mx>enbung feinerfeits feinen (Srunb
hat. 5ür etwas, was wir bem anbem nidit in biefem Sinne
oerbanfen, banfen wir ihm auch nicht. Darum banfen wir,
was bie 2lfte ber fjöflichfeit anbetrifft, nicht für biejenigen,
bie unter ben (ßejtchtspunft ber fosialen Achtung fallen, benn
auf bie üblichen 2ld]tungsbeweife haben w'vc ber Sitte 3ufolgc
^26
Kapitel IX. Die fojtale XTCedjamf» Da? Sittliche,
cittcn 2lnfprudj, tt>ir perbanfen iljn bem Umfkmbe, bag wir
perfon finb. 3nbem toir für anbere £jöfltd)fettsbet»etfe
banfen, erfennen unr an, ba|$ toir barauf feinen 2tnfprud)
haben, ba§ voxt jte im obigen Sinne bem anbern serbanfen;
— eine freie (Sabe, bie er uns auefy f^ätte porentfyalten fömten,
unb beren <£fyarafter u>ir baburc^ anerfennen, bajj toir feine
„(ßüte, (ßefälligfett, 2lufmerffamfeit, 5reunblid}feit, Ciebens*
n>ür bigfeit" rühmen, unb uns baburdj für fffcl^r serbunben,
perpflidjtet" erflären — bie I}inübemal)me bes (ßebanfens
ber Verpflichtung [544] com (Sebiete bes Hedjts auf bas ber
Sitte, <£mpfangsbefenntnts unb Sdjulbbefenntnis.
2lHe 2lfte, tseldje burdj biefe von ber Sitte aufgehellte
Verpflichtung bes 2)anfens gefemt3eidjnet toerben, bringe ich
unter ben gemeinfamen (ßejtchtspunft ber ^öflic^feitsformen
bes fo3iaIen WolilvoolUns. 5o$xal nenne ich basfelbe im
(Segenfafee 5um moralifchen Wohlwollen. 3enes betätigt jtch
im ^ene^men, biefes im fjanbeln (f. u.), für jenes jieHt bie
Sitte, für biefes bie ZTCoral bie Zlormen auf.
XDie fiel) bie fjöflichfeitsfphäre bes IDoB^tooHens von ber
ber Sichtung im 5aQe ber Befolgung ber £(öflichfeitsregeln
baburch abgebt, baß man ber Sitte 3ufoIge für bie b*r
erfteren anl^eimfallenben 2Ifte $u banten fyat, für bie ber
[enteren 3ugehörigen nicht, fo betr>äB|rt jtd] ber (Segenfafe
beiber im Salle ber Zlidjtbefolgung jener Hegeln an ber
Verfchiebenartigfeit ber Beurteilung, u>eld^e bie Sitte fyer ein*
treten lägt Die Sprache — unb jte gibt ja nur bie 2iuf*
faffung ber Sitte, bas Voli surteil ttneber — rügt bie Vor*
entfyaltung ber üblichen H>of|lu>oHensbeu)eife als ZITangel an
Stufmerffamfeit, als unfreunbliches, unliebensttmrbiges, un*
aufmerffames Benehmen, bie ber üblichen 2lchtungsbeu>eife
als Unge3ogenI|eitf (Srobfyeit. IDer unfern (Srujj nicht er*
tsibert, uns, roenn u>ir ihn anreben, ben Hücfen feiert, begebt
feine bloge Unfreunblidjfeit, Unliebensumrbigfeit gegen uns,
Kriterien bes faiden Wofymottens.
\21
fonbern eine (Srobljeit: er Beriefet uns* Die Dorentijaltung
ber [545] fdjulbigen Betoeife ber 2lcf}tung enthält ben 2lus*
bru<f ber Zltiga^tung, bie perfon tr>irb burcfy bie barin
liegenbe 2lberfennung bes XPertes, ben jte als foldje bean*
fprucfyen fann, in ifyrem innerflen Kern getroffen, es roirb
ifyr ein £eib 3ugefügt (23e*leib*igung, Kränfung), auf bas jte,
roenn jte ettr>as auf jtcfy fyält, äußerlich burcfj ifyr eignes Be-
nehmen entfprecf)enb reagieren wirb. Die Derfagung ber
üblichen Beroeife bes Fialen &>oB}ltr>oHens bagegen enthält
niemals eine Kränfung, eine Beleibigung, es liegt barin ja
fein Urteil über ben XDert ber perfon, lefetere tt>irb in iBjrem
IDertgefüfyl baburcfj gar nxd\t getroffen, jte I^at ben (Srunb
bapon mcfyt in jtd| felber 3U erblicfen, berfelbe fällt t>ielme^r
auf bie perfon bes anbem, bem es an ber tpoIjfooHenben
(Sefinnung, fei es überhaupt, fei es gegen jte, ober an ber
<£r3ie^ung fefylt — er ift unfreunblidj, unltebenstrmrbig, un*
gefällig, unaufmerffam, aber er ift nicfjt unge3ogen, grob.
Das Hefultat ber pojttit>en unb negativen probe beiber
Segriffe in einen Safe 3ufammengef aßt lautet: auf bie 2lcfytung
fdjreiben unr uns einen 2lnfprudj 3U, barum füllen urir uns
bem anbem, toenn er anerfannt tr>irb, nicfyt perpjficfytet, unb
banfen ifym nidjt, tt>äljrenb tt>ir umgefefyrt, wenn er nidjt
anerfannt roirb, uns für Deriefet galten, auf bas IDofyfooQen
bagegen fcfyreiben u>ir uns feinen 2lnfprudj 3U, barum er*
fennen roir uns, toenn uns basfelbe 3uteil u>irb, als r>er-
pflichtet an unb banfen bafür, tsätjrenb toir im entgegen*
gef efeten 5aöe barin 3tr>ar [546] einen Perftog gegen bie gute
Sitte erblicfen, benfelben aber niefit unter ben (Sejtcfytspunft
einer uns tüiberfafyrenen Kränfung bringen.
Den Begriff ber 2ld)tung fyaben u>ir feiner3eit auf einen
fyöfyeren: ben bes Heertes 3urücfgefüfyrt. £ür ben bes Wotil-
u>ollens ift bies ausgefdjloffen. Das IDoljltDotlen gehört 3U
ben (ßrunbpljänomenen bes menfdjlidjen <5emütslebens, wie
428
Kapitel IX. Die feciale ITIedjamf. Das Sittliche»
f}a§, 23eib, 5reube, Schmer, bie man befchreiben , fchübern,
aber nicht toeiter 3urücEr>erfoIgen fann, bie man r>ielmehr als
gegebene Catfachen ber Statur eben[o entgegennehmen muß,
rote bas <5efefc ber Schwere ober bie <£Ieftri3ität. Die Sprache
charafteriftert bas XPofytooIlen als IDoIIen bes IDohls, b, i.
ber fubjeftis befriebigenben (ßeftaltung bes Dafeins (IDoBjI*
fein, IDofylfafyrt, tDohl), toobei fie fubintelligiert bes fremben
XDofyls; bas IDollen bes eignen Wofyls, ba es fchon mit bem
Egoismus gefegt ift, u>irb t>on il>r nicht tseiter betont, es
oerftel^t fich r>on felbft. Das JDo^toolIen bofumentiert bem*
nach eine Verleugnung ber egoiftifchen (ßejtnnung, es erftrebt
basfelbe für anbere, was lefetere für fich«
IDie in ben Sergriff bes IDertes ber perfon Sitte unb
Jled]t (Achtung unb (£I|re), fo teilen fich in ben bes Wol\U
roollens Sitte unb ZHoraL Dort l\at bie Sprache bafür 3toei
befonbere 2lusbrücfe gefdjaffen, fyer läßt fie es baxan fehlen,
benn wenn auch ber r>on uns früher für bie fjöflid)feit bes
XDo^ItooIIens t>orgefd]lagene 2tusbrucf ^reunblidjfeit bas eine
(Slieb bes <5egenfafees fo 3iemlich [547] beeft*), fo fennt bie
Sprache boch für bas anbere (Blieb feinen ihm ausfchließ*
liefen 2tusbrucf, ba „tX>ohla>ollen" für beibe 3utrifft, anbere
2lusbrücfe aber, bie in 5rage fommen tonnten, 3. 23. XDohl*
tätigfeit, Zttilbtätigfeit, Zfienfchenfreunblichfeit, 3U eng ftnb.
3n biefer £age halte ich es für bas geeignetfte, unter Sei»
behaltung bes Subftantips IDohfooHen beibe 21rten burch öen
abjef thnfehen <guf afe : fo3ial unb moralifdnu unterfcheiben,
was noch ben Dorteil fyat, ba§ baburd] bie (Semeinfamfeit
beiber ftets in (Erinnerung erhalten tx>irb.
Die 21rt, roie JTToral unb Sitte fid] in bas IDohftooHen
*) (freunMtdjfett ift rem ^reunb hergenommen, wie ber entfpred?enb<
Iateinifdje 2Iusbrucf comitas von comes, bem Begleiter, beibe befebräufert
fid? auf bas benehmen, b* u bas WotyxooUen ber fjöflidjfeti
Das liefen bes XPofjlmolletts*
teilen, entfpricht bem allgemeinen (ßegenfafc beiber, jene macht
baraus ein poftulat für ben inneren, biefe für ben äußeren
JlTenfchen ober toas basfelbe: jene verlegt basfelbe in bie
(ßeftnnung, biefe in bas Benehmen.
Die ZTIoral in bie (Befinnung. Zlid\t in bem Sinn eines
bloßen Seelen3uftanbes, einer mögltcherioeife rein paffto ©er-
harrenben Stimmung 3um Wohlwollen, fonbem bes in Caten
(IDohltun, IDohltätigfeit) fein Dafein unb feine Kraft be»
tt>ährenben tDiHens. IDie mit bem echten (Blauben bie H>erfe,
fo finb mit bem eckten IDo^tooQen auch bie Caten gefefci
Die Sitte ift bas benehmen. Sticht in bem Sinne, baß
fich mit ihm bie (ßeftnnung im obigen Sinne nicht [548]
auch oerbinben fönnte unb foHtc, fonbem baß fte ihm fremb
bleiben barf, ohne baß baburch ber gtoeef, ben bie Sitte ftch
bei ben f}öflich?eitsformen bes IDohItt>ollens t>orgefefet I^at,
beeinträchtigt roürbe.
Damit fteht ein 3tx>eiter Unterfdjieb 3tx>ifchen bem mora«
lifchen unb bem Fialen IDo^ItooIIen in Derbinbung. <£ben
n>eil es bie (ßeftnnung tft, welche bie XHoral poftuliert, unb
tx>eil in ber (ßeftnnung aHes f}anbeln fdjon $>oten3ieH be-
fchloffen liegt, h<*t fte nicht nötig, im ein3elnen r>or3U3ei<^nen,
mann, too unb wie fte ftch 3U betätigen h<*t, bie ZHoral fteüt
feinen fpe3iell fixierten Kanon bes f(anbelns auf. IDohl aber
bte Sitte. Sie gibt eine Summe Don äußeren Hegeln, bie
fie allerbings fämtlidj ber 3bee bes iDohlwotlens entlehnt,
bie fie aber, inbem fie biefelbe seräußerlicht, eben bamit oon
bem Crforbernis bes fubjeftioen XDo^tooHens unabhängig
macht, — ein Kanon bes äußeren Verhaltens gan3 fo wie
ber bes 2?edits, ben auch berjenige beachten fann unb foll,
bem es an ber entfpredjenben (Befinnung fehlt, gu bem
obigen (Begenfafee bes äußerlichen unb 3nnerlid^en gefeilt
[ich alfo ber bes Semeffenen unb Unbemeffeuen l]in3u.
Das britte JHoment, welches bas moralifche unb bas
450
Kapitel IX. Die fokale ITCedjamf* Das Sittliche,
f03ialc Wotiltooüen unterfcfyeibet, befielt in iljrem Debatten
3um Egoismus, 3enc5 mutet bemfelben eine Übertr>inbung
feiner felbfl, b. I ©pfer 3U, bie er 3U bringen nur bann im-
ftaube ift, toenn er fidj f elber verleugnet, ©pfer, fei es an
(Selb, fei es an Kraft (Übernahme von ZtTül]en, [5491 2In*
ftr engungen, Entbehrungen, Unannefymlicfyf eiten) , fürs bie
Betätigung bes moralifcfyen IDo^ItooIIens tsirb bem XTTenfdjen
in irgenbeiner IDeife fühlbar. 2Inbers bie bes fc^ialen Wolfi*
tr>oHens, fie foftet ifyt nichts, roeber <5elb nodj 2lnftrengung.
Enttoeber nämlidf ftnb es bloße IDorte, in benen es ftd?
äußert, ober 2)ienftleifiungen von fo unbebeutenber 2Irt, baß
jte gar feine ZHüfye t>erurfacf?en. XDir fonftatieren bamit einen
C^arafter3ug ber fjöflicfyfeit überhaupt, ber barin befielt, baß
fie ntdjts foftet, tx>eber (Selb noefy VTiül\e *)♦ 2)as einige, toas
bie ^öflidjfeit unter Umftänben erf orbern fann, tfi bie <§eit,
gleichmäßig fotool)! für bie 2ld]tung (2Inftanbsbefud]e unb
Erttnberung berfelben) als für bas IDol}hr>oHen (2ln3eigepflicf]t
bei toicfytigen 5ctmilienereigniffen, KonboIen3* unb (Sratulations*
23efud)e unb Briefe), roorauf aber im Sinne ber 2Iuffaffung
bes Polfs, bie hierfür ja entfcfyeibenb ift, ber (ßejtcfytspunft
eines ©pfers feine 2huoenbung fmbet Die ^öflid^feit ifl fo
eingerichtet, baß aud] ber Srmfte i^re (5ebote erfüllen fann.
3)amit bürfte bas fo3ia!e ZDoI)ht>ollen r>on bem mora»
Uferen ebenfo fcf^arf abgehoben fein, tr>ie bie 2Id]tung von
ber <eijre. [550]
*) Don ber (Erfüllung ber 2(nforberungen ber Sitte im übrigen läßt
fidj bies nicfyt behaupten* Der 2lnßanb foftet unter Hmßänbeit (Selb
S*33lf*), ebenfo bie 23efiawptmtg ber fo3iaIen Stellung, fobann bie
£etftungen, u>eldje id? oben unter ben (Sefidjtspuuft bes präftations*
$n?anges ber Sitte gebracht fjabet
Schales IPofyltPoflem — 2u§ernttg ber Cetlnal|tne*
Die eigentümlichen formen bes fo3ia!cn
JDohltDollens,
3d? führe biefelben auf brei (Bejichtspunfte 3urücf: Ceti*
nähme, 3ntereffe, Dienftfertigfeit,
Die feciale {Teilnahme*
Das IDefen ber Ceilnahme ift t>on ber Sprache in bem
IDorte felber in einer IDeife ge3eichnet, wie es nicht treffenber
hätte gefchehen fönnen. Der Ceilnehmenbe nimmt ober be*
fommt von demjenigen, was ben anbern in freubiger ober
fdime^licher Wex\e beu>egt, feinen Ceil, feinen 2ln*teil (baher
Anteil nehmen), bie (ßefühlserregungen in beffen 5eele pflan3en
ftch fort in ber feinigen nach 2lrt ber Sch tt>ingungen, bie ein
tönenbex Körper auf anbere banach geartete überträgt. Die
Ceiluahme [teilt uns auf bem (Bebiete ber pfydjologie bas*
felbe Pronomen bar, toie auf bem ber 2tfuftif bas ber mufi*
falifchen Befonan3: bie Sympathie in ber Körper* unb (Beiftes*
tr>elt, unb toie bas lefetere Phänomen uns r>on ber £igenfchaft
bes Körpers burch einen fremben fd]u>ingenben Körper in
benfelben guftanb oerfefet 3U roerben Kunbe gibt, fo jenes
über bie entfprechenbe (Eigenfdjaft ber Seele, man fönnte es
als bas patfyologifcfye Hefonan3t>ermögen ber Seele be3eichnen*
IPorauf biefe €rfcheinung ihrem legten (Srunbe nach beruht,
werben wxv feiner3eit (Kapitel XII) (Gelegenheit finben 5U
unterfuchen. Qier haben nrir es nicht mit biefem inneren
pfychologifchen Porgange [551] 3U tun, fonbern mit ber
Äußerung ber ^Teilnahme, fotoeit biefelbe burch bie fjöflid]*
feit 3U einer fo3talen Pflicht geftempelt ift: ber äußeren ober
fo3ialen im (ßegenfafee ber inneren ober pfychologifchen*
3ene ift von biefer ebenfo unabhängig, toie bie fo3iale Achtung
in bem oben enttoicfelten Sinne r>on ber tDirHichen. IDie r>iel
unb toie toenig jemanb immerhin bei frembem Schmer unb
£eib ober bei frember 5reube mitempfinde, ob vielleicht gar
^32 Kapitel IX. Die faiale irtedjanif. Das Sittliche*
nichts ober n?o^I gar Scfjabenfreube ober ZTtcib — fur3um
bie Sitte verlangt von tfyn unter getr>iffen Porausfe^ungen
bie äußere Öe3eugung ber Ceilnal>me, 2)ies tfi insbefonbere
bann ber 5alt, u>enn ifyn bas (Ereignis, tseldjes ba3u 2tnlaß
geben fann, 3ur Steige gebracht tmrb. Die 2In3eige ^at 3U
tljrer ftiHfdjtDeigenben Dorausfefcung bie fubjeftise 2tnnal|me
ber unrflidien (Teilnahme, alfo ein berartiges näheres per«
fönlic^es Perfyältnis , tpelcfyes biefelbe rechtfertigt; ferner
ftefyenben perfonen eine berartige 2ln3eige 3U machen, enthält
eine Ungeljörigfeit, Caftlofigfeit, Anmaßung, es Reifet jtdj als
5reunb ober genaueren 33efannten von jemanbem auffpielen,
ber feinerfeiis ben 2lnfprucij bar auf nicfyt getoäljrt E^at.
3n tt>elcfyer ZDeife fiefy bie tEeilnafyme 3U äußern fyat:
ob fdjriftlicfy ober burefy perfönlidjes £rf feinen (Konbolen3*,
(ßratulationsbefucfye, bas folgen beim £eidjenbegängnis*)),
ift für meinen gioecf ofyte 3ntereffe, [552] fur3um bie Sitte
©erlangt bie äußere Betätigung berfelben, bie Unterlaffung
berfelben enthält einen Z?erftoß.
*) Bei btefem 2Xfte berührt fia? bie 2Jcr/tung mit bem tPobfo ollen.
<£r fann gemeint fein als ein Beweis ber {Teilnahme für bie tynter*
bitebenen, in biefem falle gehört er ber fjöflidjfeit bes XPorjlrooIIens
an, er fann aber aud? gemeint fein als eine „€t}re", bie man bem Vev<
ftorbenen erroeift („letjte (Eljre"), unb bies ift ausfcr/ließlidj ba ber fall,
tpo feine Hinterbliebenen r>orl)anben finb, ober wo man biefelben nidjt
femtt, tjier fällt er unter bie Kategorie ber 2ldjtung (fo3tales IDerfurtetl
über bie perfon). Der (Sebanfe, in biefem Sinne ben Derftorbeuen 3U
erfreu, feinen IDert beim 2lbfd?luffe feines £ebens öffentlid? 311m 2lusbrucf
3u bringen, ftnbet fta? bei allen Dölfern, bei feinem rr>or?l fo beirußt
erfaßt unb mit bem Apparat in S3ene gefegt, als bei ben Hörnern (5, 33.
bas funus publicum tjeroorragenber ITtänner). mittels ber betben (Se*
ftdjtspunfte: (Teilnahme unb 2Jcr/tung glaube idj bie fo3tale Bebeutung
bes £eicfyenbegänguiffes, fotuett bie Sitte baxan bie ppid^t 3um (Hrfdjemen
fnüpft, erfcfyöpft 3U traben; baß btefelbe aber barm nicfyt aufgebt, jetg
bas £eidjenbegängnis großer IHänner, bei bem ftdj 3U jenen hüben
XTCottoen nod? bas ber Abtragung einer Danfesfdmlb ber Nation unb
bie Crauer berfelben über ben erlittenen Perluft tn'^ugefellh
Schmies XVotywoUen. — Sugeruttg bes ^trtereffes* ^33
Der toialen ^Teilnahme forrefponbiert bie toiale 2Jn*
seigepfltdjt in be$\xQ auf biejenigen (greigniffe, bei benen
bie Steige f|ergcbrac^t tjt, es ftnb bie mistigeren <£reigniffe
bes Familienlebens: (Seburt, »erlobung, Vermählung, €ob,
Die Sitte verlangt, baß man biefelben benjenigen, benen man
nach ZHaßgabe bes perfönltchen Perhcütniffes eine ^Teilnahme
3utrauen fann, 3ur Kunbe bringe, bie Unterlaffung enthält
einen üerftofc, eine Mißachtung bes 2lnfpruchs, ben bas per*
fönliche Verhältnis einmal begrünbet, eine gurücffefcung. Die
€rfüHung ber Pflicht fann bei fcfime^Iidjen €reigniffen eine
überaus [553] große fjärte in fiel? [fliegen. Der von bem
Cobesfatt Betroffene foll bie 5*ber 3ur £janb nehmen unb
forgfam eine Cifte berjenigen perfonen entwerfen, benen er
bie 2ln3eige 3U machen hat, eine Zumutung, bie für benjenigen,
ber wenig empfmbet, leicht 3U befchaffen ift, für benjenigen
bagegen, ber tief empfinbet unb r>on bem Schlage gan3 ba*
niebergebeugt tjl, nat^u eine (Sraufamfeit ber Sitte enthält,
ein würbiges Seitenftücf 3U ber bem weiblichen (Befehlest
x>on ber Sitte auferlegten fofortigen Sorge um bie Crauer*
fleiber (S* 2^7).
Das totale 3ntereffe*
Wenn wir uns nach bem öeftnben jemanbes erfnnbigen
ober ihm beim 2Ibfchiebe „Cebewohl" fagen, bei Tintvitt einer
Heife „glücf liehe Heife" wünfehen, fo 3eigen wir ihm bamit,
bajj wir uns für ihn intereffieren, ba§ uns an feinem IDofyl-
ergehen etwas liegt Diefe E(öfHchfeitsformen fallen mithin
unter bie Kategorie bes totalen IDotjIwollens. llbev fpracfy
HS laffen fie ftdj nicht unter ben (ßepdjtspunft ber Ceilnahme
bringen, benn es gibt #er nichts, woran man „Ceti" nehmen
fann, weber Sehnte^ noch 5reube, unb gerabe barauf: auf
ben Anteil, ben wir an befonbers freubigen ober fdjmer3-
lichen €reigniffen bes anbevn nehmen, hat bie Sprache ben
p. 3 gering, Der grcecf im Kcdjt. II. 28
$5% Kapitel IX. Die fötale ITCedjantf. Das Sittliche.
21usbrucf ber Ceilnaljme 3ugef djnitten. So tr>irb es nötig,
für jene ^öflidjfeitsformen einen befonberen 2lusbruc! 3U
fud?en, unb bafür fcfyeint mir ber obige ber angemeffenfte
3U fein.
[554] Das feciale 3ntereffe unterfdjeibet ftd) von ber
fötalen Ceilnafyme baburdj, baß le&tere nur burd] ungenau*
licfye <£reigniffe: burefy eine Steigerung ober Verringerung
bes IDofylergefyens über bas normale ZlTaß hinaus ausgelöft
toirb, rx>ä^renb jenes ben 2tnlaß 3U feiner Betätigung bem
getoöfynlidjen £eben entnimmt, tx>ir fönnen es bafyer fur3
beftnieren als bas IDo^foollen, tt>eld}es bas IDofylergefyen
bes anbern 3um (Segenftanbe fyat. Dasfelbe betätigt fid? in
einer boppelten 5orm: mittels 5^ge (Srfunbigung) unb
mittels IDunfdj. Beibe erftteefen fid] redjt tt>eit, bie €r»
funbigung nidjt bloß auf bas eigene öefmben, fonbern aud?
auf bas ber 2Ingefyörigen, burefy bas mittelbar ja bas eigene
bebingt ift, unb fotsofyl auf bie (Segentoart als auf bie Der*
gangenfyeit*), ber H?unfcfy je nad) Perfcfyebenfyeit bes äußeren
SInlaffes, an ben er fid) reiijt, auf tDofylergeljen, (5efunbfyeit,
(Slücf, gute Sefferung unb anberes, vorauf id? unten bei ber
Überfielt ber £jöfiid|feitsformen 3urüdfommen tx>erbe.
Die Dienftf ertt gf eit*
Sie umfaßt bie sielen f leinen Sienftleijiungen, (ßefäüig-
feiten, 3U benen bas gefellige §uf ammenfein mit anbern fo
pielfacfye Gelegenheit gibt, unb mittels bereu [555] roir einem
anbern eine xxnbebentenbe ZHüfye, beren er fidj fonft fetber
unterteilen müßte, abnehmen**). Sei ber Ceilnafyme un
*) Die befannten fragen: VOxe get^t es, was madjen Sie, nne b
ftnben Sie fid}? Come State, comment vous portez-vous, how do yo
do? Quid agis, quid agitur? IDie fyaben Sie gefd^Iafen? IPie fyab
Sie fid? amüftert? VOxe ift es 3fynett ergangen?
**) IDer fie fid? t>ergegemt>ärtigen xv'xW, wirb flnben, baß xijtz Sak
5o3tales tDofjhuollen* — Die ZHenftferttgfeit* ^35
bem 3«tereffc äußert ficfy bas IPo^ItooIIcn bloß burdj Züorte,
fyier burdj bie Cat* Darin trifft bie Dienftfertigfeit mit bem
moralif djen IDo^toolIen 3ufammen. Sie unterfdjeibet jtdj t>on
iBjm burd? bas XTIoment, roeldies oben (5« ^29) als Kriterium
bes fosialen IDoljltDollens im (Segenfafc bes moralifdjen Ijer*
t>orgefyoben ift, baß fte fein ©pfer verlangt Die Zltulje,
tx>eld\e fte erforbert, ift eine fo unbebeutenbe, baß fte nidjt als
2Inftrengung ((Dpfer an Kraft) in 2lnfd]lag gebracht werben
fann, ber <5runb3ug ber ©pferlofigfeit ber fjöflidjfeit per-
leugnet fidj audj bei ifyr nicfyt.
Die Dienftfertigfeit Ijebt fidj nodj in einem anberen punfte
t>on ber Ceilnafyne unb bem 3ntereffe ab ober richtiger x>on
fämtlid]en £(öflidjfeitsformen, foroeit biefelben n\d\t burd? bas
DerBjältnis ber Unterorbnung bebingt ftnb — fte 3iemt ficfy
nicfyt für jebes Derljcütnis. (Ein (Sefanbter bücft ftd? nidji,
um bem fremben Souverän einen (ßegenftanb, ben er Ijat
fallen laffen, auf3ufyeben*), [556] unb ein Souverän fefet
niemanbem einen Stufyl fyn* Dienftfertigfeit be$exd\mt fpracfj-
lidj bie Übernahme ber BoHe bes fertigen (b. t* 3um Dienjl
bereitftefyenben) Dieners. Sie fyat fjanbreidjungen 3um (Segen*
^iaxxbe, roie fie beim Porfyanbenfein eines oollftänbigen Dienft*
perfonals ber Diener 3U leiften Ijat (Dienftleifiung); u>er
jtd] ifyr unter3ie^t, erfefet bamit ben fefylenben Diener, fpielt
ben Diener, Wo bies bem Derfyältnis beiber perfonen md\t
entfpricfyt, ift audf bie Dienftfertigfeit nicfyt am plafce — in
bem IPorte malt fid} bie Sacfye. Der £(err, ber X>orgefe&te
recfyt groß ifi. 2Us Betfptele nenne tdj bas 2luffjeben eines gefallenen
(Segenftanbcs, bas Hetzen ber Sd?üffel bei (Eifdj, (£infd?enfen von Wein,
23eif}tlfe beim Umgängen von KleibnngsftiicFen, Öffnen ber (Eure, ^olen
eines Stulls ufun
*) <£me prafttfd^fyfiortfdje 3lfaffration ba3u gewährt ber befamtte
Porfall, ber ftd? 3anf cfyen IHetternid} unb Hapoleon I. abfpielte, jener
fjob ben fjanbfdjufy, ben biefer abftc^tlid? fyatte fallen laffen, um itjn
3um Bücfen 3U nötigen, nicfyt auf*
28*
Kapitel IX. Die fötale lltedjanif. Das Stttltd>.
mag bem £>iener, bem Untergebenen fein £Dol}hx>ollen be-
tt>eifen, aber er foD nicfyt bie Hollen tauften unb ifyren T>iener
fpielen, fou>emg rote er ftdj ifynen gegenüber ber JDenbungen
bebieuen barf, bie bem 3)ienjfoerl}ciltnis entlehnt jtnb (Ztr. \6).
Von ben 2)ienjUeiftungen unterfdjeibe id? bie fjilfs«
letftungen, jene geboren ber J^öflidjfeit, biefe ber ZHoral
an. (Einen <£rtrmf enben 3U retten, einen (Befallenen auftu«
rieten, einem eingegriffenen 3U J^ilfe 3U fommen, gehört niebt
3U ben pflichten ber ^öflicfyfeit, es ftnb feine Situationen,
bie ber gefellige Derfefyr, ben lefetere allein im 2luge fyat,
mit jtdj bringt. 3)ie I^ilfsleiftungen in biefem Sinne ftnb
2lfte ber ber Zltoral anfyeimfaHenben 2TJenfd}enfreunblid?fett,
ITädjflenliebe, t>on ben Dienftleiftungen unterfdjeiben fte ftd]
baburdj, ba£ jte eine Selbstverleugnung, unter Hmjtänben
fogar ben <£infafc bes eignen £ebeus perlangen. 2ludj ityx
äußerer 2lnlaß rL&^7] ift ein anberer, als ber ber X>ienfi<
leiftungen. 3)erfelbe befielt in ber Ztotlage bes anbevn, b. i.
einer Sage, in ber er f elber ftcfy nidjt Reifen fann, fonbern
auf frembe ^ilfe angeroiefen ift, toäfyrenb bie 3)ienftletftungen
von ifym felber oljne Sdjtoierigfeit vorgenommen toerben
fönnen unb ifyn von bem anbern nur erfpart toerben. Der
^ilfsleiftungen t^at ftdj audj ber Ejödjjie unb Dornefymfie bem
Hteberften unb (ßeringften gegenüber nidjt 3U fcfyämen, unb
bie <5efd?id}te n>etj$ felbft von gefrönten Ejäuptern fcfyöne <3üge
berartiger Xllenfcfyenfreunblidifeit 3U berichten*), festere Ijat
mit ben fo3ialen Unterfcfyieben ntdjt bas minbefte 3U fcfjaffen,
fte djarafteriftert fidj als Znenfdjenfreunblicfyfeit, b. i. eine
5reunblidjfeit, roeld?e ftdj bem ZlTenfdjen als foldien ol?ne
Unterfdjieb ber beiberfeitigen fo3talen Stellung 3utr>enbet —
bie <£tifette perroefyrt bem 2Tfonard}en, ben 2)iener 3U fpielen,
*) ^3 et bem ttaltenifdjen üolfe leben manage berartige <§nge von
Dtftor (Emanuel in banfbarer (Erinnerung fort, er natjm 3. 33« mm
2Jnftanb, armen frauen ben Korb auf bie Schulter 3U lieben.
So$\aks IDofiltPotfem — Der Dan?*
aber md}t, ftdj bem ffilfsbebürftigen gegenüber als ZTlenfcfi
3U seigen.
Unfere Unter fucfyung fcfyließt mit bem Hefultat ab: bte
Dienftfertigfeit als eine 2lrt ber Betätigung bes fojialen
ZDofyfooHens ijl an getoiffe fo3taIe Dorausfefcungen gebunden,
tseldje für bie XHenfc^enfreunblidifeit als eine 2lrt ber 53e«
tätigung bes moralifcfyen XDotjfoottens feine (Seltung fyaben
— für bas ZHoralifcfye ijl bas feciale ZHoment ofyne allen
«influß. [558]
Der Danf*
3d? füfyre itjn fyier nur ber Doüfiänbigfeit liegen auf.
Daß berfelbe in ausfdjließlicfyer 33e3ieijung 3ur ^öflidtfeit
bes XDofyltoolIens ftefyt, ijl oben (S. ^25) bereits nadjge-
liefen, 3U einem weiteren eingeben bietet berfelbe Feinen
Einlaß bar.
hiermit [erließen u>ir unfere Unterfudjung über bas 3tt>eite
(Element ber Jjöflicfyfeit: bas feciale EDofyfooHen ab. Sie
Ijat uns ge3eigt, rt>as fie follte, baß nämlidj basfelbe von
bem erften Clement: ber ^ialen 2td)tung t>öEig serf Rieben
iji. 3m folgenben roenben roir uns bem jenigen 3U, tt>as
itjnen beiben gemeinsam ifi, es befielt in bem ZHoment ber
äußeren ^ifierung.
öeibe finb in be3ug auf bie 2trt, roie fie fiefy 3U betätigen
^aben, nid]t jtdj felber überlaffen, für beibe finb pielmefyr
2lnläffe, bei benen fie in bie <£rfdjeinung 3U treten, unb bie
formen, n?ie fie fkfy 3U äußern fyaben, burdj bie Sitte aus-
brücFIid? oorge3eid)net. (£s ift ber äußerliche gierte Haum ber
£jöflid]feit.
<§tr>ei 2luf gaben finb es, bie in be3ug auf biefen punft an
uns ergeben. Die erfte ift bie (Ermittlung bes Derfyältniffes
3tt>ifd?en bem äußeren unb bem inneren ZTlomente ber f}öf*
lidtfeit. Die 3tseite ift bie tt>iffenfd]aftlid]e Klaffififation unb
438
Kapitel IX. Die fatale mefyamt Das Sittliche,
Slnalyfe ber eh^elnen £(öflichfeitsformen, bie Phänomenologie
6er i}öflichfeit, wie ich fte nenne« Die erfte Aufgabe löft ftch
tDtcberum in 3tt>ei anbere auf: Unterfudjung bes ^iftorifd^en
Verhältniffes 3tr>ifchen bem [559] inneren unb äußeren UToment,
unb ^eftfteüung bes praftifchen Verhältniffes 3tt>tfchen beiben»
2lls Hefultat ber erften Unterfuchung tr>irb ftch ergeben, baß
alle £(öfltchfeitsformen burch bie beiben r>on uns namhaft
gemachten (ßebanfen hervorgebracht toorben finb: biftorifcfyes
2lbhängtgfeitst>erhältnis bes äußeren vom inneren 2TComent;
als Hefultat ber 3tr>eiten, baß jte in i^rer 2Imr>enbung burd?
bie ihnen entfprechenbe (Befinnung nicht bebingt finb: praf*
tifdjes Unabhängigfeitsserhältnis bes äußeren Pom inneren
Xrtoment.
Varxadi 3erfäHt bie folgenbe Unter fuchung in brei 2tb<
fcfynitte:
\. Qiftorifches Verhältnis 3tt>ifchen bem inneren unb
bem äußeren ZTfoment: ber höflichen <5efinnung unb
ben burch bie Sitte aufgehellten typ ifchen formen
ber f^öflichfeit,
2, praftifches Verhältnis beiber.
3. Die Phänomenologie ber Ejöflichfeit.
\. Qiftorifdjes Verhältnis 3toifchen bem äußeren
unb bem inneren 2TJoment ber ^öflichfeit.
2tHe Hegeln unb 5ormen ber ^öflichfeit enthalten bie
Verförperung eines nach 2tusbrud ringenben ^nnevlxdien;
ber (ßebanfe, ber (Seift, h<*t gefcl^affcn, es gibt feine
einige, bie ohne ihn in bie iüelt gefommen tsäre, b. h- ha*
niemals eine fjöflichfeitsform gegeben, bie r>on allem Anfang
an bebeutungslos geioefen tx>äre. [560] €ine 5ornt fann im
Caufe ber §eit ihre Sebeutung sedieren, inbem ber (Seift,
ber fte geschaffen, bie 2tnfchauungstoeife, bie ftd? in ihr t>er*
förpert hat, entweicht, unb nunmehr, tt>enn fte gleid]tt>ohl,
fjtftonfcfyes Derrjcütms bes äußeren unb inneren HToments» ^35
wie es bei allen Sotmen bie Hegel bilbet, burch bie hiftorifche
vis inertiae noch eine Zeitlang ihr Dafein friftet, 3ur leeren,
Mobilen, bebeutungslofen 5orm I^erabfinf en , vielleicht in bem
VTia%e, ba§ itjre urfprüngliche öebeutung bem Voltsbewnfat*
fein gän3lich entfchtombet unb bie 5orm 3U einem reinen
Hätfel toirb, 2lber roie alles 2lbgeftorbene, Cote irgenb
einmal gelebt I^at, fo auch bie tote 5orm. Das (Serebe r>on
ber leeren bebeutungslofen 5orm im 5inne ber urfprünglichen
Ceer^eit unb Sebeutungslofigfeit berfelben fann nur aus bem
ZHunbe von £euten flammen, roelche über bie 2lrt, ttne fach
bie menfchlichen Dinge in ber IDelt machen, nie nachgebaut
haben, fonft toürben fie roiffen, ba§ ber gufaH nichts, ber
groecf alles gemacht t^at Der groecf mag immerhin ein
feltfamer, r>on unferem heutigen Stanbpunft aus völlig un*
begreif lieber fein, aber 3U leugnen, baß bie ZHenfcfjrjeit bei
allem, roas fie eingerichtet hat, fieff burch ttjn hat leiten laffen,
heigt bem ZHenfchen eine anbere Xtatur anbieten, als er
in ZDirflichfeit l\at Die angebliche Sebeutungslofigfeit ber
formen ^at feine objeftive, fonbem eine bloß fubjeftive
XDarjrrjeit, fie fteeft nicht in ber Sache felber, fonbern lebig«
lieh in ben Köpfen berer, toelcfje bie Sebeutung berfelben
nicht 3U ftnben vermögen, es ift bas leichtfertige [561] Urteil
besjenigen, ber alles, roas er nicht verfteht, für bebeutungslos
erHärt. Slllerbmgs vermögen tvir ja nicht alles 3U erflären,
es gibt auf allen Gebieten ber <5efchtchte Hätfel, bie unferer
Cöfung fpotten, tveil bie (ßefchichte uns bie Materialien,
roelche uns ben Sd^Iüffel gemäßen tvürben, vorenthalten t^at,
unb ein römifcher 3urift fühlt fich gebrungen, bies fogar für
bas Hecht ein3uräumen*), aber ber Schlug, ben roir batan
3U fnüpfen liaben, ift nicht ber, baß ber «gufall hier fein Spiel
*) Non omnium, quae a majoribus constituta sunt, ratio reddi potest
1. 20 de leg. (L 3).
4^0 Kapitel IX. Die fatale Ittedjanif. Das Sittlidje*
getrieben Ijabe, fonbern berfelbe, ben ber römifdje 3urifi
mad?t, ba§ bie Un3ulänglidifeit unferes IDiff ens uns per*
I^tnbcrt, ben roafyren (Srunb 3U entbeefen.
2luctj bie feltfamften fjöflidjfeitsformen — unb es gibt
beren ja ijöcftft tDunberlicfye*) — Ijaben bemnadj [562] bei
ifyrer erften <£ntfiefyung ifyren guten (ßrunb unb Sinn gehabt,
fonft Ratten fte ftdj gar mettf bilben fönnen. 3m Hedjte fann
aud? ber unfinnigfte (Einfall eines eht3etnen, ber bie nötige
ZHacftf befifet, ifyt als <5efefe vox$u\ ^reiben unb 3U ergingen,
(5eltung gewinnen, bie £aune unb ZDiQfür bes Defpoten bie
Horm biftieren. 5ür öic Sitte ift bies unmöglich, fte fann
ftd? nur bilben unb 23eftanb gewinnen, u>enn ber (Einfall bes
einseinen, ber ba3u ben 2tnfto§ bot, — - unb r>on <£inf eitlen
ein3elner ift jebe Sitte ausgegangen — bem 2)enfen unb
5ü^len ber übrigen in einer IDeife entfpradj, ba§ fte fein
Beifpiel als nacfyafymungstDÜrbig erfannten unb tatfäcfylid?
befolgten» Der bloße Umftanb, baß eine Seite ftcfj bilbete,
enthält ben 23etr>eis iljrer Berechtigung, tx>ie beim Kinbe bas
£eben ben ber £eb ensfäfyigf eit« Caufenbe unb aber Caufenbe
*) So 3» 23* ber Hafengruß: bas 23ereiben ber beiberfeitigen
ZTafen, eine Segmßungsform, bie ftd? bei ben t>erfdn' ebenen trüben
Pölten ttnebertjolt unb 3tt?ar audj bei folgen, bei benen jeber (Sebanfe
einer fyiftorifdjen 33erüfymng ausgeflogen x% 3um befien 23ett>eife, ba§
bei ifynen allen berfelben (Srunb tpirffam getpefen fem mu§, f* Hicfyarb
2lnbree im (Slobus, 23b. 3$ (1879) &17JU Die (Ethnographen erblicfeu
ben (Srunb barin, ba§ bas 23ereiben ben groeef fyabe, burdj ben (Semd?
ettpas von bem anbem in jtd? auf3unefymen, ein fomattfdjer 2Iustaufd?,
bei bem bie förperlid^e (Einigung bas Symbol ber feeh'f dien ab3ugeben
l^atte» XTtott fönnte ben Porgang rnelleidjt audj attbers beuten; ttämltd?
nadj 2Irt bes ^eriedjens ber £junbe. IPie bie Stimme unb bas Süßere,
fo biente audj ber (Semd? bes IITenfcfyen bem Haturm enf djen als Kernt*
3eid?en, er berod? ifyn, um ifyn nadj biefer Seite fennen 3u lernen, wofür
burdj ben ftarfen (Semd? fd?on geforgt gemefen fein tuirb, ber Hafen*
gm§ mürbe bemnad? 3U beftimmen fein als bie frage ber Hafer roer
btft bu, unb une befhtbeft bu bidj? Der (Semd? bes anbem erteilte bie
2lnta>ort!
^tftortfcfc/es Derfjältnis bes äußeren unb inneren Ittoments,
müffen mitwirfen, um jte 3U bilben, unb bies tun jte nur,
wenn jte r>on ber 21ngemeffenheit über3eugt fmb, bis bie
fertig geworbene Sitte bie Kritif einfchläfert unb mechanifch
ohne weiteres ZTachbenfen befolgt wirb. Itn3ählige 21nfäfee
mögen in biefer 23e3iehung unternommen worben fein, ohne
(Erfolg 3U traben, b. i. ohne Nachfolge 3U ftnben — £r»folg
unb ZIach'folge fallen überall, tt>o es jtch um bie <£inwir*
fung bes Beifpieles auf anbere ijanbelt, 3ufammen — bie
Slafen bes fprubelnben JDaffers im XDerbepro3e§ ber (Sc*
fchichte. 2tnbere mögen ein sorübergehenbes Safein gewonnen
traben, um rafch wieber untertauchen — bas <£intagsleben
ber ZTTobe — anbere [563] enblich es bis 3ur 5itte, b. h* ber
Dauer^aftigfeit bes Seftanbes gebracht haben. 2luch r>on
i^nen jtnb bann aber wieber manche bem JDechfel ber J)inge
unb bem Hmfchwunge ber 2lnfchauung erlegen — ber t>er*
gängliche Ceti ber Sitte, welcher ber <§eit angehört unb mit
ber <§eit felber fein £nbe ftnbet. 3h™ fleHt bie (Sefchichte
bei allen Kulturpölfern noch einen anbexn gegenüber: ben
bauernben unwanbelbaren Bejianbteil ber Sitte, über ben
bie <§eit feine ZHacht ha^ t*>*tf cr roit ifjr nichts gemein hat,
fonbern jenen abfoluten Kern in ftch fehlet, ben wir früher
als naturalis ratio bezeichnet haben: bie erfchloffene ^bee ber
Sache felber, bie oon einem Dolfe nur 3U irgenbeiner §eit
erfannt 3U fein braucht, um ihm nie wieber abiianben 3U
fommen, ber im 5euer ber (Sefchichte gefchmiebete, gehämmerte
unb oon feinen Schladen befreite Stahl. <£r bilbet bas (Se*
meingut aller Kulturpölfer, ben eifernen *8eftanb, ber ftch
unter allen Ejtmmelsftrichen unb 3U allen Reiten gleich bleibt.
3ch werbe an fpäterer Stelle (ZTr. \6) (Selegenheit liaben,
an ben fjöflichfeitsformen ber griechifchen Ejelben bes ^omer
einen Seleg bafür bei3ubringen.
IDelcher 2lrt nun auch immerhin bie fjöflichfeitsformen fein
mögen, benen wir bei irgenbeinem X?olf unb 3U irgenbeiner
W2
Kapitel IX. Die feciale UTedjcmif* Das Sittliche*
«geit begegnen, feine einige r>erbanft bem gufall tfyr Däfern,
jebe txmßte, als fie auftrat, tr>as fte tooHte, toenn fie es aucb
fynterljer pergeffen Ijat, ber (Seift, ber (Sebanfe I?at fie alle
gefdjaffen. Der (Seift — [564] bas txnll fagen in be3ug auf
ben 3n^altf fte in fiel? f erließen: bie beiben (Sebanfen
ber 2td?tung unb bes tDoIjfoolIens; auf jte laffen fid? fämt*
licfye I}öflid}feitsformen surücffüfyren, tr>ot>on idj unten bei ber
Überfielt berfelben ben 23ett>eis erbringen werbe. Der (Seift
— bas tt>iH fagen in be3ug auf bie $ovm ber Silbung: bas
Denfen, 5ü^len, €mpfinben von un3<äfyligen 3n^^uewi *xn
Prozeß sergleidjbar bem gafoanifcfyen ZTieberfcfylage, fotsoBjl
was bie Unmerflic^feit feines Vorganges anbetrifft, bei bem
2ltom fiel) 3U Jttom gefeilt, als bas fdjließlicfye probuft: bie
Creue bes 2Ibbrucfs bes nad^ubilbenben (Segenftanbes.
2. praftifdjes öerfyältnis bes äußeren 311m
inneren ZHoment.
(Silt basfelbe, tx>as von ber werbenben, aud] t>on ber
geworbenen 5orm, b. bilbet bas Däfern ber (Sefmnung
wie bie Dorausfe&ung ifyrer fyftorifdjen 23ilbung fo aud? bie
i^rer praftifdjen 2lnwenbung? (Es ift bie 5rage von ber
Bebeutung ber von ber (Sattung gefdjaffenen 5orm für bas
3nbit>ibuum. IDeldje (Seltung fann fie für basfelbe bean»
[prüfen?
(Sar feine, lautet bie Antwort. Die $ovm fyat ben <§wecF
bie (Sefinnung 3um 2lusbrucf 3U bringen. (£ntweber ift bie
felbe Iebenbig im 3n^iü^uum vovlianben, bann fcfyöpft bas
felbe aus berfelben Quelle, aus ber bie (Sattung bie 5orm
entnommen tjat, bas 3nbit>ibuum [565] ift ftd) felber genug
es I>at bie Seifylfe ber (Sattung nidjt nötig, ober aber es
fefylt ifyn bie (Sefinnung, bann würbe bie 33eobad]tung ber
äußeren 5orm feinerfeits eine innere Unwafyrljeit enthalten,
pra!tif cfyes Pert^ältnts bes äußeren unb inneren HToments» ^^3
es nmrbe bamit eine (Befinnung funbgeben, bie ihm in IDirf*
lichfeit abgebt.
Was ift barauf 3U erroibem? £a(fen roir bie (5attung
felber bie Elntoort erteilen» JTtagfi bu aus berfelben (Quelle
fchöpfen tme ich, ruft fte bem 3n^^^uum 5**, bu fchöpfeft
feit l|eute, ich feit 3ai|rtaufenben; was bu gefchöpft h<*ft
©erhält fich 3U bem jenigen, was ich 3uf ammengebracht, tr>ie
ein IDaffertropfen 3um Strom — eigne bir ben reichen Schat$
ber Erfahrungen an, über ben ich gebiete, inbem bu bei mir
in bie Schule gehf**
Die 23ebeutung ber ^öflichfettsformen in biefem Sinne
wäre bie einer burch bie Erfahrung erprobten Anleitung, unb
je mehr fich bas 3nbioibuum tsirflich t>on ber entfpredjenben
<5eftnnung befeelt fühlt, um fo mehr tt>irb es fich bie[elbe 3U«
nufee machen, es roiirbe fich felber unberfprechen, roenn es
fte serfchmähte. Das Ceben bilbet bie Schule ber fjöflichfett.
Wie überall, fo ift auch l\iev ber gefchulte ZHann bem noch
fo begabten £Taturaliften überlegen. Die Kenntnis unb t>oH*
enbete Aneignung ber £[öflichfeitsformen, wie bas Ceben fie
gewährt, fann basjenige, u>as bie Hatur bem 3n^t)ibuum
vorenthalten fyat: bie innere tsohlroollenbe (ßefinnung erfeften,
lefetere nie jene.
<£ine bloße Einleitung fann man befolgen unb serfchmähen,
[566] gan3 rx>ie man £uft ^at, ihre Befolgung ift lebiglid?
fafultatio. Die ber fjöflichfeitsformen bagegen ift obligat,
bas fyeißt: fte haben nicht bie Sebeutung einer bloßen Ein-
leitung, fonbern eines Kanons, eines t>on ber Sitte auf ge-
seilten fategorifcheu ^mpetai'ws. Die (ßefellfchaft fann bie
äußere ©rbnung, bie fie auf biefem (ßebiete bes Gebens nötig
3u ha^^n glaubt, nicht auf ben guten IDitten bes Subjefts,
ben Zufall ber inbioibuellen (Seftnnung ftellen; foll biefelbe
beftehen, fo muß felbft basjenige 3"^ü^uum/ barau
fehlt, fich wenigftens äußerlich ber ©rbnung fügen, gan3
Kapitel IX. Die feciale ITCedjanif. Das Stttltdje*
fo rote beim Hecht, Damit ift bas innere Htoment ber (Se*
finnung als unerläßliche Dorausfefcung ber J}öflichfeit elimi*
niert, ber gan3e Hachbrucf ift txne beim Hecht auf baß äußere
ZIToment getpäl3t. Hicht als ob nicht bie Vereinigung beiber
IHomente bas £}öd]fte unb IDünfchenstperte fei, unb als ob
nicht bie <£r3iehung barauf gerietet fein müßte, fte 3U er«
3ielen, aber bas ZDünfcfyensroerte ifi nicht jiets bas (Erreich*
bare. 5o perhält es fich beim Hecht, fo auch kei ber fjöf*
lichfeit, beibe begnügen ftch mit einer 2Ibfchlags3ahlung unb
tpeifen bas innere ZHoment ber ZHoral 3U, nicht als etwas
für fte felber IDertlofes, (gleichgültiges, fonbern als etwas,
was fte mit ihren HTitteln nicht 3U er3H>ingen permögen.
So geftaltet fich mithin bas praftifdje Verhältnis ber beiben
ZtTomente gän3Üch anbers als bas fyftorifche. Der (Seifi, ber
bie 5orm gefchaffen, 3te£^t ftch, nachbem er [567] fein H?erf
pollbracht, von ity 3urücf, bie 5orm getpinnt ein pon ihm un<
abhängiges, felbftänbiges Dafein — bie abgeftreifte Schlangen»
haut bes (Seifles* Der (ßeifi fann im ein3elnen $aüe fte
befeelen, aber er brauet es nicht, bie Sebeutung unb ber
Xüert ber 5orm ift bapon unabhängig, bie Sitte befchränft
ihre 5orberung lebiglich auf bie Beobachtung ber äußeren
5orm. Das JDefen ber £}öflichfeit im Sinne ber Sitte in ein
£Dort 3ufammengef aßt ifi bemnach basfelbe tpie bas bes Hechts:
äußerlichfeit. Darauf beruht ihr Unterfdjieb pon ber
ZHoral, bereu IDefen bie 3nnerlichf eit ift. Den <5eboten
beiber ift entfprochen, tpenn fte äußerlich befolgt »erben, bie
innere (ßefinmutg unb bas ZHotip fommen für ben ZTfaßflab,
nach bem beibe bie ^anblung beurteilen, nicht in Betracht.
5ür bie moralifche IDürbigung einer f^anblung gilt bas <£nt<
gegengefe&te.
Die 2lußerlichfeit ifi jeboch bei ber £(öflichfeit eine anbere
als beim Hecht, unb biefer punft ifi für bie richtige <£rfafjung
ihres XDefens pon maßgebenber Bebeutung.
äußeres XTComent bei ber ^ö'fltdjfeii
Der gmed, ben bas Bedjt bei ben von i^m oorgefdjrie-
benen £janblungen im 21uge Jjat, ift lebiglidj auf ben äußeren
<£rfolg gerichtet, bie fjanblung Ijat babei nur bie 23ebentung
bes ZTIittels 3um groecf. Daraus ergibt ftdj, baß es ber
Qanblung nidjt bebarf, roenn ber gtoecf bereits auf artbere
IDeife erreicht ift*), unb baß bie 2lrt, [568] tote bie $anb<
lung vorgenommen toirb, infofern nur ber be3toecfte <£rfolg
barunter nidjt leibet, poHfommen gleichgültig xft. Zfiag ber
Sdjulbner freitoiHig ober t>om Bidtfer ge3toungen 3al)len, mag
er in beiben fällen nod? fo fefyr fein IDiberftreben an ben
Sag legen, bem Bedjt ift <5enüge geleitet, roenn nur ber
äußere (Erfolg befdjafft toirb. 23ei ben Elften bes prioat*
rechts befielt biefer (Erfolg barin, baß baburdj bas 3ntereffe
irgenbeiner perfon, fei es ber Ijanbelnben ober einer britten,
geförbert toirb, ifyre &wed beftimmung liegt offen t>or21ugen**),
fie jtnb als foldje ofyne toetteren Kommentar ooHfommen oer*
ftänblid?, unb bies Ijat barin feinen (5runb, baß fte nidjt bloß
ettoas bebeuten***), fonbern ettoas finb.
*) Betfptele: Der 2lft ber (Crabition, beffen es 311m gtoecfe ber
(Etgentumsübertragung bebarf, fällt tymmeg, roenn ber 23efttj in ber
perfon bes (Empfängers bereits oorijanben ift, ber 2lft ber ^afylung,
roenn ber (Släubtger auf anbere XPetfe 3um (Selbe gefommen ift; bas
(Erforbemts ber (Eigentums üb ertragung beim Darletm rotrb erfe^t burdj
Konfumtion bes (Selbes r»on feiten bes Sdmlbners, beim Kaufe burdj
UfuFapion ber gefauften Sacfye oon fetten bes Käufers*
**) Betfpielsroetfe bie (Erabttion, (Dffupatton, 23eftellung einer
(Sruttbgeredjttgrett, eines pfanbrecfyts*
***) Don bebeuten fpred?en rotr ba, roo bas Üußerlidje nidjt feinen
Dafeins3roerf in ftdj f elber trägt, fonbern in bem ^nnexlid^tn, bas es
3ur <£rfdjeinung bringen foll, unb es 3U feiuer (Ermittlung erft bes
Sdjluffes oon jenem auf biefes bebarf: bes Deutens (diuten, diutan von
diot DolF = r>olfsr>erftäubltd? madjen), (ErFIärens (= flar madjen), 2Ius*
legens (= bas 3nnere fyerauslegen), — bas Korrelat 3ur 23ebeutung
bes Dinges ift bas Deuten oon fetten bes Subjefts. Die Derriicfung
ber (Sren3en 3toifcr/en Sein unb bebeuten be3eicfynet einen ber größten
21broege bes menfd?ltcr/en Denfens; ber ftumpfe Sinn nimmt bas bloße
^(5
Kapitel IX. Die feciale .ITCedfanif. Das Sittliche.
[569] <5an3 anbers bei ben 2lften ber fjöflichfeit. 2tller*
bings gibt es auch unter ihnen einige, bei benen fchon ber
äußere (Erfolg als folcher barüber 2tusfunft gibt, roarum fie
vorgenommen roerben, bie alfo ebenfo tr>ie bie 2tfte bes Hechts
etwas jtnb, nicht bloß etwas bedeuten, nämlich biejenigen,
bie ich oben (5. ^3^) unter bie Kategorie ber Dienftfertig!eit
3ufammengefa§t fyahe, ich beiexdine fie als bie effektiven
2lfte ber ^jöflidjfeit, tr>eil fie bem anberen Ceile effeftip 3um
Ztufeen gereichen* 2lber bie meiften finb anberer 2trt Der
(5ru§ bes öegegnenben, bie Sxaqe nach feinem öeftnben, bie
J^SfIid]feitspi|rafen bes Briefftils gewähren ihm als folchc
nicht ben minbejkn Porteil, ihr Jüert für ihn beruht lebig*
lief? barauf, baß jte ihm bie wirkliche ober angebliche <5e*
ftnnung bes anbern ausbrüefen» Das äußerliche trägt fyer
mithin nicht feinen <gtr>ecE in ftch felber, fonbern es fyat nur
bie Seftimmung, etwas 3^nerlid]es funb3ugeben. Sei manchen
berfelben liegt basjenige, was fie bebeuten fotlen, offen oor,
fie enthalten ben bireften wörtlichen 2lusbrucf ber <5efmnung,
fo ber 2Iusbrucf ber {Teilnahme, bie Staqe [570] nach bem
Sefmben, bie guten IDünfche, bie Derfidjeruugen ber 2tchtung,
(Ergebenheit ufro. (bie verbalen ?jöflich?eitsformen f. u.). Bei
anbern bagegen ift biefe Sebeutung t>on ber Sitte erft pojttit)
mit ihnen t>erbunben roor ben, es finb bies bie fonr> ent io<
bebeuten für Sein, er Ijält ftd? an bas 2Ju§erlidje, als ob es feiner felbft
toegen ba wäre, ber überrei3te franffyafte Sinn, ber bas Perftänbnis
für bas bloge Sein verloren Ijat, fud?t umgefefyrt hinter bemfelben erft
nod? nadj einer Bebeutung. Die Cätigfeit, u?oburdj bas 3nnevl\<bt
t>erä'ufjerlid?t trnrb, be3eid?net bie Sprache als ausbrühen (fjeransbrücf in),
äußern (= äußerlidj madjen), bie auf bas Sein gerichtete CättgFett als
fdjaffen, IjerDorbringen» VOev beim bloßen Sein nidjt £?alt machen trill,
fragt nadj bem (Srunbe ober «gtoeefe besfelben, nad? bem erfteren, wenn
er es auf bie HottD enbigfeit, nadj bem legieren, wenn er es auf bie
Jreifyett 3urücffnfyrt, niemals aber naefy ber Bebeututtg besfelben; wer
ein Sein annimmt, fpricfyt ifjm bamit bas bioge 'Bleuten ab, unb u^cr
letzteres annimmt, negiert bamit bas Sein.
Der äußere Schein ber (Sefmnung,
nellen formen im eigentlichen Sinne, b. fy. beren Bebeutung
lebiglicf^ auf Konvention beruht, unb bie ebenfogut bas gerabe
(Segenteil bebenten fönnten, 3. 23. bas Abnehmen bes fjutes
beim (grüßen, was ebensogut IHtßacbtung als 21d}tung aus*
brücfen fönnte. Das äußere «geidjen ift fyier Symbol, b. fy. es
foE etwas verfünben, ofyne bies an ftdj (bireft) 3U tun. 2tHe
fonsentionetlen formen im angegebenen Sinne laffen fid} bafyer
aud) als fymboltfdje benennen, man muß erft bie 23ebeu*
tung bes Symbols erfahren, um iBjren Sinn 31t verftefyen.
2lber aucb bei ben effektiven 2lfien ber Ejöflicfyfeit iji bas
äußere ZHoment anbers geftaltet als bei benen bes Hedtfs.
£efetere erletben, wie oben bemerft, burdj bie Äußerung ber
Unlujl ober bes XDiberftrebens, mit bem fie vorgenommen
werben, n\d\t ben minbeften Eintrag, ein f}öflid?feitsaft ba*
gegen, 3U welcher ber obigen Kategorien er audj gehöre,
verliert baburd? jebe Bebeutung, er fann unter Umftänben
in fein gerabes (ßegenteil umfdjlagen: in eine (Srobfyeit. Das
Becfyt perträgt nicfyt bloß bie 2lbwefenfyeit, fonbern aud} ben
XDiberfprudj ber (ßefinnung, bie fjöfltdjfeit bloß erftere, ber
Sdjein berfelben muß ftets gewahrt bleiben, alles, was [571]
ifyn wiberfpricfyt unb bie 3ßufi°^ bex vorfyanbenen (ßefinnung
3erftört, entwertet ben 2lft. Zl\d)t bloß alfo bie unverhohlene
XDibertoilligfeit, mit ber er vorgenommen wirb, fonbern auch
bie in ber 2trt feiner Dornahme fich ausprägenbe (Bleich*
gültigfeit, Ceilnafymlofigfeit, Cauheit, XTachläffigfeit fte^en
mit bem H)efen ber £jöflid]feit in IDiberfpruch. Kur3um: bie
2tfte ber fjöfltcbfeit als foldje genügen nicht, fonbern fie follen
ben Stempel bes (Sefltff entlichen an fich tragen, ben Schein
erregen, als ob es bem Eianbelnben wirflich um fie 3U tun
wäre*).
*) Vdix btefen (Seftcfytspunft einer Prüfung unterwerfen unll, bem
tptrb es an Belegen nta?t fehlen. 3^ mad?e betfptelstDetfe auf folgenbe
aufmerffanu IHan foll jemanbem ntdjt „über ben Daumen", b. fy* mit
4^8 Kapitel IX. Die feciale ITCed?antf* Das Sittliche»
2TIit ber im bisherigen nachgetoiefenen Äußerlichkeit ber
I^öflichfeit ift ein neues ZUoment gewonnen für bie Unter«
fcheibung von 2Inftanb unb ^öflichfeit Süv ben 2Inftanb i^at
bie Äu&erlichfeit, bie fyier in einem rein negativen Verhalten:
bem bloßen Unterlaffen bes 2tnftögigen [572] befteht, gan3
biefelbe 23ebeutung wie für bas Hecht, b. h* pe trägt ihren
gweef in ftcf? f elber, währenb fie bei ber Höflichkeit bie 23e<
ftimmung I^at, 2lusbrucfsform ber (Bepnnung 3U fein. £>er
Jtnftanb fteht baher auf einer unb berfelben Cinie mit bem
Hecht. 3^nen beiben pellt pch bie 2TforaI gegenüber mit ber
5orberung ber inneren (ßejtnnung, aus ber pch, wenn pe
Dor^anben ift, bie äußere Bewährung berfelben burch bie
Cat als Konfequen3 ihrer felber notwenbig ergibt. 5ür pe
hat alfo bie Äußerlichkeit bie Bebeutung ber probe ober ber
löirflichfeit ber (Bepnnung, 3n ber HTttte 3wifchen ihnen
fleht bie fjöflichfeit mit bem (Sebote bes Scheins ber <Se<
finnung, li<xlb nach ber einen, l\alb nach ber anbern Seite
blicfenb: nach feiten ber ZHoral, inbem pe bas ZHoment ber
(Sepnnung in Besug nimmt, nach feiten bes Hechts unb bes
Jlnftanbes, inbem pe es peräußerlicht, — weniger als jene, ift
pe mehr als biefe. Jüenn ich bie 3mperatit>e, welche pch alle
tner an ben 2T£enfchen richten, burch je ein IDort wiebergeben
abgewehrter innerer I^aub ein (Sias IDein emfd?en?en. (Eine trmnber*
liehe Dorfcr/riftl XPorauf beruht pe? 3<h bin ber 2mftd?t begegnet,
baß babei Aberglaube im Spiele fei* Der tpafyre (Srunb ip bie bariu
fidj funb gebenbe Bequemlichkeit, Hacblä'ffigfeti* Ulan xviü bem anbem
einen Dienp enr>etfen, aber nimmt pch nicht einmal bie ITIühe, bie f>anb
aus ber bisherigen £age 3U bringen. 2luf einer £inie t>amit ftel]t bas
^infebteben ber Schüffei bei (Eifche \tatt bes fjittretchens berfelben, bas
Sprechen ober bas hinreichen einer Sache über bie Schulter, mit abge»
tr>anbtem (Seftcht. Die 2Se3tehung ber einen perfon 3ur anbern foll auch
in ber körperlichen Haltung ihren 2Iusbru<f pnben, man foH ftd? bem
anbern 3uFehren: ben Körper, bas 2Iuge, bie ^anb; bie abgefeierte
Haltung bes Körpers gilt ber Sitte als Reichen ber abgefegten <Se>
finnung, bie Hinneigung besfelben als Reichen ber <§u*neigung.
Das Sdjeimpefen bei ber ^öflid^Feii
foll, fo lautet ber bes Hechts: tue unb unterlaffe, ber bes
llnftanbes: unterlaffe, ber ber fjöflicfyfett: fcheine, ber
ber ZHoral: fei» <£s ift bie Stufenleiter, welche ber ftttlidje
(Seift 3urücflegt in feiner (Erhebung r>om äußerlichen 3um
3nnerlichen, bie fjöflichfeit be$eid\mt bie Stufe, auf ber er
mit bem einen 5uß auf ber tieferen, mit bem anbern auf ber
höheren fielet, auf ber er bas innerliche Uloment bereits [573]
in Sicht I^at, aber fich von bem äußerlichen noch nicht los*
gemacht ha^
Diefe Zllittelftellung fcheint Halbheit unb 3war Halbheit
ber fchümmften Sorte : Unwahrheit 3u fein» Die brei anbem
3mperatit>e erf orbern bie IDirflichfeit, 3wei bie bes rein
äußerlichen, ber britte bie ber (ßeftnnung, bie ^öflichfeit per*
langt ben Schein, fte mutet bem 3nbit>ibuum 3U, eine <Se*
finnung 3U äugern, bie ihm in IDirflichfeit fremb ift — ein
3mperatir> alfo, beffen wahrer Kern fich als fchnöbe VCixfy
achtung eines ber haften fittlichen (Sebote: ber IPahrheit
entpuppt — gerietet auf innere Unwahrheit, £üge, Heuchelei,
Derfiellung.
3ch tiefte bamit eine 21uffaffung ber ^öflichfeit wieber*
gegeben, ber man im £eben nicht feiten begegnet 3n
IDiffenfchaft bürfte fte faum 3U IDorte gefommen fein, t>iel*
leicht nur barum, weil biefelbe, inbem fie in ber <£thtf ftets
bas ZlToment ber inneren (ßeftnnung betonte, weites ber
fjöflichfeit, wie fte tatfächlich geftaltet ift, prin3ipieH fremb ift
unb pon ihr ber UToral überwiefen wirb, fich bie €rfenntnis
bes wahren IDefens ber Ejöflichfeit felber verlegte, ^ätte
fte biefelbe mit mir in ber (Seftalt erfaßt, wie fie einmal ift,
unb nicht wie fte ihrer 5orberung 3ufolge fein foll, fo würbe
fie 3U bemfelben Hefultate gefommen fein wie ich, baß bas
XDefen ber Ejöflichfeit als Scheinwefen 3U beftimmen ift, unb
fie hätte i>ann auch ber Nötigung nicht ausweichen fönnen,
d. 3 bering, Der gtoeef im Hedjt, II. 29
^50 Kapitel IX. Die feciale IHec^am?* Das Sittliche.
[574] über bie jtttlidje guläfftgfeit besfelben Hebe unb 21nt*
tport 3U ftefyen.
Die iDafy^eitsliebe alfo foQ an ber f(öfiidtfeit ftttlidjen
2tnjio§ nehmen» <£s ift bie Berufung bes tpatjrljeitsliebenben
ZTCannes auf feine <£Ijrlidifeit, Bieberfeit, <5erabBjett — er 3eigt
jlets offen unb efyrlidt, «>ie er benft, er legt feine ZHasfe per,
bie bas tpafyre (Seficfyt perfyüllt
Unb bod? legt biefer eljrlidie UTann, inbem er ftdj mit
feiner Xöafyrljeitsliebe brüftet, felber eine UTasfe por, benn
bie 23ieberfeit, <£I}rlidjfeit, ©ffenljeit, bie er 3ur Sd]au trägt,
ift in XDirflidjfeit nidits als bie Unart, bie ftdj ben unbe-
quemen 5orberungen ber <5efellfd}aft nidjt fügen mW, ber
Crot$ unb bas pochen auf bie eigene 3ttbtpibualttät, bie jtd>
nid}t anbers 3U geben brause, als fte nun einmal fei, nid?
feiten perfteeft ftdj hinter biefer UTasfe ber Offenheit, Sieber*
feit fogar bas fyämifcfje Belagen, anbern tpelje 3U tun —
bie Bosheit im (Setoanbe ber IDafyrljeitsliebe. €s ij! ber
Derfudj ber fittlid]en Hedjtfertigung ber betpujjten unb ge*
tpollten <5robfjeit, bie 2lpoIogie bes Oimmels unb Riegels,
— fte fpielt bie ZDafyrf^eitsliebe aus unb meint bie (Brobljeit
2)er Oorrourf ber fjeudjelei, ben fte ber £}öflid}feit madjt,
fällt auf fie felber in perftärftem TXiafae 3urücf.
Um uns in biefem punfte PÖHige Klarheit 3U perfdjaffen,
tpirb es geboten fein, bie tpafyre 23etr>anbtnis , [575] bie es
mit bem Schein auf fiel) I>at, fdjarf ins 2luge 3U f äffen.
Unter Schein perftefyt bie Sprache bas Dorljanbenfetu
ber äußeren HTerfmale eines 3nnerlid?en, bas in JDirflidjfeit
nidit porljanben ifi Hüft ber Schein im Subjefte ben (Slaube
an bas Dafein bes letzteren fyerpor, fo be3eid?net fte biefc
irrigen (Blauben als ۊufd]ung. 2)er erfte Jlusbrucf be*
3eicfynet bas Phänomen pon ber objeftipen, ber 3U>cite pon
ber fubjeftipen Seite.
Sdjein ipie £äufd?ung fönnen burd) bie 5ad)e ofyic gutun
Die litten bes Scherns*
bes XUenfchen hervorgerufen u>erbem Sie formen aber auch
in Jlbficht ihren (5runb haben, welche ihrerseits nneberum
doppelter 2lrt fein, nämlich entoeber barauf gerichtet fein
fann, ben Schein für bloßen Schein, ober für IDah^heit
ausgeben *). Der erfteren 2lrf ift bie Cäufchung bes Schau*
fpielers. 5eine 2lbficht ift barauf gerichtet, uns 3U täufchen,
unb je meB|r er es serfteht, befto mehr entf priest er feiner
Aufgabe, benn lefetere befteht gerabe barin, baß er uns ein
möglichft getreues 23ilb einer IDirlichfett porgaufeln foH. 2lber
in biefem [576] 5aHe tpiffen roir, baß tt>ir getäufcht roerben,
unb wxt tüoßen es» <2ine folche getoünfehte unb beabjtchtigte
Cäufchung nennt bie Sprache 3Hafion» Sie charafterifiert
biefelbe bamit als bie Cäufchung bes Spiels QHufion von
ludere = fpielen), bas h^r roie überall bem gioecfe bient,
ben UTenfchen 3a erfreuen» Sie bebient per] bes 2tusbrucfs
übrigens nid?t bloß in biefem 5aHe, fonbern aud) ba, too
jemanb f elber fich einen täufchenben Schein t>orgaufelt, um
eine unbequeme H?irflichfeit nicht wahrzunehmen („fich 3Hu^
fionen machen, fleh in 3Uufionen toiegen"). (£r übernimmt
hier felber bie Holle bes Schaufpielers , fpielt mit fich felber
Komöbie, mit ber IDahrheit Perftecfen, Don jenem 5<*He
unterfcheibet fich biefer baburch, baß bort ber Schein nur
Schein, l\iex bagegen lüahrheit fein foH. J^ier fällt er mithin
unter ben (ßefkhtspunft ber £üge, tx>as bie Spraye richtig
erfannt hat, inbem fie r>on einem „fich felbft belügen'' fpricht
*) 3n Zlntoenbung auf ein Subjeft, bas ftd? ben Schein gibt etwas
3U fein, n>as es nidjt ift, be3eidmet bie Sprache bies in beiben fällen
als fpielen, fo fpielt ber Sdjaufpieler ben gelben, fo fpielt jemanb ben
(Sroßmüfigen, (2l}rlia>n, frommen. (Einen anbem ilusbrucf für bie
^ercorrufung bes Steins entnimmt fte ber Dorßellung bes Stellens,
b» tj. bes abfld^tltchett Derä'nberns ber natürlidjeu £age bes (Segen*
^tatibes — , in be3ug auf bie perfon; fid? seriellen, fia? gellen als ob,
etmas norftellen, etroas barftellen, in besug auf bie Sadje; entftellen
(bie ttPaftrijeit entftellen)»
29*
^52 Kapitel IX. Die foßtale IHedjant?* Das Sittliche-
Damit tjaben roir bereits ben Übergang pon bem Scheine,
5er nichts als Schein fein will, 3U bemjenigen, ber ftdj für
XDafyrfyeit ausgibt 2Iuf biefen besiegen ftdj bie 2tusbrücfe:
Unrpafyrfyeit, 3**tam, £ug unb Crug, Betrug, lügen, betrügen,
fyntergeljen ; auf jenen finben biefelben fämtlidj feine 2In*
roenbung. Untpafyrijeit betont bie mangelnbe objeftipe, 3rrtum
bie in ber PorfteHung bes <Setciufd)ten mangelnbe fubjeftipe
Übereinftimmung 3tpifcfyen Schein unb ZDirflicfyfeit, bie übrigen
bas ZUoment ber 2lbfidjt in ber perfon bes Cäufdjenben.
[577] 21us ber angegebenen Unter f Reibung ergibt fid? bie
Derfdjiebenfyeit bes jttttidjen Cfyarafters ber beiben Birten ber
Oufdjung, Die erfte ift ftttltct^ poüfommen inbifferent, jte
enthält feinen Derftoß gegen bas (Sefefe ber IPafyrfyeit, benn
fie gibt fid? gar nidjt für IDafyrljeit aus, unb nur ber Un*
Derftanb fann bies <5efe& auf fte 3ur 2lnrr>enbung bringen,
unb tpofyl gar, tpie es von feiten einer extremen religiöfen
2tn(td|t gefcfyefyen tfi, bas Sdjaufpiel als Ceufelstperf per*
bammen. Der fatfyoiifdjen Kirche, bie niemals 2Jnftanb ge*
nommen I^at, felber bas Scfyaufpiel für religiöfe <§tr>ecfe 5u
pertpenben, ift meines XDiffens biefe Derirrung erfpart ge«
blieben, ber Bufyn, in bem Scfyaufpiel ben Ceufel getoittert
unb ber fopflofen Bigotterie basfelbe als Ceufelsroerf benun«
3iert 3u Ijaben, gebührt ben geloten ber ftarren, oben prote«
ftantifdjen (Drtf|obo£ie.
Xlnv bie 3tx>eite 21rt ber Cäufdjung jiefyt mit bem <5efefce
ber XDafyrtjeif in IDiberfprud). Das <5efefc ber Walitfyit ift
ber 2Tforal unb bem Bedjte gemeinfam, aber beibe »eichen
in be3ug auf ben Umfang, in bem fte es aufhellen, erfyeblid?
poneinanber ab, Das Bedjt bemißt benfelben nadj bem <ße*
ftdjtspunfte bes burd] bie Cäufdjung bem anbern 3ugefügten
permögensredjtlidjen Scfyabens unb ber tecfytifdjeilusbrucf bafür
ift Betrug*). [578] Der ZHoral ift biefe Befd?ränfung fremb,
*) für ben Betrug bes prtoatredjts, ben römifdjen dolus f, L ; pr.
(Efjrlidjfeit, XDafjrljaftigfetk
^53
fte [teilt bas (ßefefc gan3 allgemein auf, aud} ber Cügner,
Ejeudtfer, (SIeisner, bie burd) ifyre <£ntftellung ber XDafyrljeit
einem anbern nidjt ben minbeften Stäben anftiften, t>erfünbigen
jtd) gegen ifyre (ßebote, tpäfyrenb bas Hecfjt mit ifynen gar
nichts 311 fcfyaffen fyat unb lebiglid? ben Betrüger t>or (ein
5orum forbert.
Das Perfyalten bes Subjefts 3a bem tüafyrfyeitsgebot bes
Hecfyts, je nadjbem es in ber Befolgung ober Übertretung
besfelben befielt, djarafterijtere id? als €fyrlidjfeit unb
Betrug, fein V erhalten 3U bem ber ZHoral als IDaljr«
tjaftigfeit unb £üge. Xtur in be3ug auf ben Betrug barf
ftcfy biefe Begriffsbeßimmung ber Übereinjiimmung mit bem
bisherigen jurtfttfcä^cn Sprachgebrauch rühmen, für bas bem«
felben gegenüberftefyenbe Debatten fe^lt es bemfelben an
einem feftftefyenben 2Jusbrucf, Die römifdien 3^if^n brücfen
ben (ßegenfafe 3um dolus mit bona fides aus*), aber nidjt
gan3 3utreffenb, ba letztere me^r in jtd] fließt als eine bloße
Negation bes dolus. 3^ glaube, baß im Deutzen ber von
mir t>orgefd]Iagene 2tusbrucf (g^rlid^feit ber Sache am nächften
fommt, I^ödiftens fönnte noch Heblichfeit in Betracht 3U 3ieljen
fein. Das tDort 3eichnet uns ben ZHann, ber ber „Hebe gleicht"
(rebe«liche), b. h* ber h<*nbelt, toie er fpricht, unb fpricht, tx>ie
er [579] fyanbelt. Bei beiben 2tusbrüden l\at bie Sprache
bie Betätigung ber (Sejtnnung burd? bas fjanbeln im 2tuge.
§u biefer Be3iel|ung, bie ich ber €f^rlid]feit für bas Hecht
r>inbi3iere, ftimmt auch bie (Etymologie, tselche bie (£I]rlid?feit
fprachlich als einen Ausläufer ber €l]re hmbgibt, bie, u>ie
de dolo ($.3): damnosa, für ben Betrug bes Krtmhtalrecfyts , ben
römifcfyen stellionatus , £♦ St <5. B* § 263: trer ♦ ♦ ♦ ♦ bas Vermögen
eines anbern befcfyäbtgt
*) 1. 68 pr. de cont. emt. ({8. X) . . bonam fidem . . ut a te dolus
malus absit. 1. \\ Dep. (J6. 3). £?eut3utage gibt man bie bona fides
burd? „(Ereu unb (Stauben'' (f. u») trieben
Kapitel IX. Die feciale Vdedianxh Das Sittliche*
oben nacfygettnefen, ein Segriff bes Hechts ift, fi^rlidjfeit tjl
die Betätigung ber €fyre auf bem (gebiete bes Derfefyrs, bie
<£t^re in Bidjtung auf Ejanbel unb lüanbeL 2>te ausbrücf*
lidje Perpfänbung ber €fyre für bie guperläfjtgfeit bes ge*
gebenen IDortes ift bas fifyrentoort, bas Seitenjlücf 3um €ibe,
bei bem bie religiöfe (ßefmnung als €in[afe gefefet tsirb —
burdj bie ^infäöigfeit feines €tnfafees erf ennt bas 3nbit>i«
buum f elber ftdj bie <£fjre ober bie religiöfe (ßejinnung ab,
€ine fdjlagenbe Bestätigung für ben l>ier angenommenen
gufammenljang 3tx>ifdjen (Efyrlidjfeit unb (£^re geroäljrt bas
römifcfye Hecfyt mittels ber infamierenben JDirfung bes dolus.
Die £üge infamiert nadj römifdjem Äecfjte nicfyt, fte fyat mit
bem Heerte nichts 3U fdjaffen unb barum aud> nidjt mit ber
(Efyre — (Eljre, €fjrltdifeit, Betrug, 3nfamie gehören bem-
felben Stamm an, es ift ber bes Hedjts.
J)er <£fyrlid}feit entfpridjt auf bem (ßebiete ber ZHor«! bie
Züafyrljaftigfeit. 2)a§ biefer 2lusbrucP ber 3utreff enbe ift,
b« !}♦ ba§ er bie 5orberung, toeldje bie ZHoral in be3ug auf
bie IDabrfyeit an bas Subjeft richtet, ebenfo bedt, roie bies
in be3ug auf bas Hedjt r>on feiten [580] ber €Ijrlid}feit g
fdjieljt, bebarf nidjt bes Ztadjtseifes* Die <£fyrlid)feit folg
ber lüafyrljeit nur fotpeit, als bas Bedjt fie perlangt, fotpei
bie <£fyre auf bem Spiele jlefyt, bie iX>aIjrI|aftigfeit bagegen
roeldje ftdj fpradjlid? als bas „Ejaften" bes Subjefts an be
XDafyrljeit ober ber tDafyrfyett an bem Subjeft 3U erfennc
gibt, folgt ifyr fdjledjtfyn, fte fteHt uns bie solle bebingungs
lofe Eingabe bes Subjefts an bie iDafyrfyeit t>or, roie bi
ZHoral fte einmal perlangt
Der IPa^aftigfeit fteHe idj bie £üge in betreiben £)eif
gegenüber, tpie ber <£fyrlidjfeit ben Betrug. Damit tue i
aHerbmgs bem heutigen Sprachgebrauch (Semalt an, ben
er perfteljt unter ber £üge nur bie (Entfteüung ber Watyb/x
burd} IDorte, tpäfyrenb idj fyer mit ifyr ben tpeitereu Sin
Der Betrug*
^55
5er €ntftetlung ber IDafyrl^eit fdjledjtfyin oerbinbe. Dies toar
aud? feie urfprünglicfje öebeutung bes Wortes, »liogan« f|ie§
oerfyüHen, ber Übergang 3U ber heutigen engeren 23ebeutung
bes PerljüHens burcfy XDorte erinnert an ben bes lateinifdien
dicere, roelcfjes urfprünglicrj 3eigen (die — Ostxvofu — dicis
causa — digitus) bebeutete, in jagen (= 3eigen mit tDorten)»
Selbftoerftänblidj ift es nidjt meine ZHeinung, ben heutigen
Sprachgebrauch 3U meiftern unb ben früheren an feine Stelle
511 fefeen, es fam mir nur bar auf an, für ben groeef ber
folgenben Darftellung ein paffenbes SeitenftiicE 3um öetruge
3u geroinnen, unb ba fdjien mir bas geeignetfte bie £üge 3U
fein, roeldje ja von ber Sprache f elber in [581] ber ZDenbung
£ug unb Crug mit it}m 3ufammengefteßt rotrb*
Die bisherige Ausführung fjat uns 3U bem (Ergebnis ge*
fü^rt: bas (Seitungsgebiet bes IDafyrljeitsgebots iji innerhalb
bes Hechts unb ber ZHoral ein oerfchiebenes* 2tn biefe 5r<*ge
von ber eytenjtoen (5eltung bes EDarjrfjeitsgebots reiben roir
nunmehr bie oon feiner intenfioen (Seltung. (Silt es inner*
halb biefes Umfreifes abfolut? 3f* l&et betrug rechtsroibrtg,
jebe £üge unmoralifch?
3ch lege bie 5r<*ge 3unächft bem Hechte por unb Iaffe bie
2lntroort barauf burch bie römifchen 3uriften erteilen. Sie
ijl enthalten in ihrer Unterfchetbung bes dolus bonus unb
malus. Das (Semeinfame beiber roirb r>on ihnen in bie (Er-
regung bes f alfdien Scheins gefefet*), bas Unterfcheibenbe in
ben «groeef ober richtiger in bie 2trt, wie bas Hecht ftch 3U
bemfelben ©erhält. Wo es bie Behauptung bes eignen Hechts
gegen fremben Angriff gilt, ift bie Cäufchung erlaubt, fo gegen
ben 5einb unb ben Häuber**) — toie man (Seroalt mit (Seroalt
*) Cum aliud simulatur, aliud agitur, 1. X § 2 de dolo 3), Simulare
= Hadjlnlbung bes äußeren Scheins; similis, similitudo, simulacrum:
bas 23üb, ber äußere Schein, ber Spiegel („eta>as Dorfpiegeln")*
**) L. X § 2 ibid. tueri vel sua vel aliena § 5 . . veteres dolum
456
Kapitel IX. Die feciale IlTedjamf* Das Sittliche*
3urücftreiben barf (vim vi repellere licet, 1. \ § 27 de vi ^3. 6),
fo auch mit £ifh (Einen derartigen dolus nennen bie römifchen
3uri|ien einen bonus. Zlnv ba ift ber dolus ein malus ober
[582] in ber Sprache bes neuen Hechts dolus fchlechthin*),
voo er nicht auf Behauptung bes <£ignen (2Jbrt>e^r bes
Schabens), fonbern auf <2rtangung bes ^remben unb 3tt>ar
eines ungebührlichen vermögensrechtlichen Vorteils auf Koften
bes anbern (Übervorteilung), ober auf Anfügung eines Sd]abens
aus reiner Bosheit (malitia) gerietet ift**).
JDie bie lateinifche Sprache ben dolus in feiner r>era>erf*
liehen Hichtung burch ben gufafe malus charafteriftert, fo bie
beutfehe bie £ift burd^ ben entfprechenben ^ufafc arg als
2irg4ifi (auch Qtnter4ift). 3hr ftetlt fie bie erlaubte £ift als
£ift fchled]thin gegenüber, mir fönnten fie als ehrliche be*
3eichnen, fie tut ber <£tive bes WTiannes feinen Abbruch, tpeil
bas <J5efet$ ber (Ehrlichkeit fich auf fte gar nicht erfireeft, ba
basfelbe r>on vornherein feine weitere (Seltung beanfprucht,
als foroeit bie Cäufchung ben §weden ber Hed)tsorbnung
etiam bonum dicebant et pro sollertia hoc nomen accipiebn.nt, maxime
si adversus hostem latronemve quis machinetur.
*) Derfelbe (Eutmicf lungsgang , ba§ nämlid? ein urfprüngltd? m-
bifferenter ilusbrucf im £aufe ber <gett bie engere Bebeutung bes Becfyts*
nribrigen annimmt, uneberfyolt fid? in ber römifer/en Hed^tsfpradje an
ber vis — bas crimen vis bes fpäteren Hedjts enthält bas fprad?lidjc
Seitenftücf ber actio doli, b* h* ber urfprünglid/ indifferente 2Iusbru(f
hat hier tme bort bie Bebeutung bes Hedjtsrrubrigen angenommen.
I)erfelbe Vorgang a>ieberr|olt fiefy, u>ie bemerft, bei unferem beurfd^en
XPorte £üge*
**) L. \ pr. de dolo 3) . . lucrosa . . damnosa. Die 2lusbrücf e,
beren fidj bie römifer/en fünften für ben (Erfolg bes dolus bebtenen:
circumscribere, circumvenire, fallere, capere, deeipere finb ntef/t fo d>araf*
tertfttf mie bas beutfd/e übervorteilen, fie betonen nur bas lIToment
ber Oufcrmng, bas bei bem dolus bonus ebenfo üorrjanben ift nne beim
dolus malus, märjrenb ber letjtere 21usbru<f bas entfdjetbenbe ZTlomeili
rjeroorrjebt, tuelcr/es ben Betrug von ber £ijt trennt*
^57
3utpiberläuft. <£ine 2lrt [583] biefer efyrlidjen £ijl Ijebt bie
Sprache burd) ein befonberes IDort fyerpor: bie Kriegslift
Zltcf?t alfo 5er äußere fLatheftanb als foldjer madjt bie
Cäufdjung in ben 2Iugen bes Hedtfs pertperflicfy, fonbern ber
<grr>ecf, bem fte bienen foH. <£s perfyält fid) mit itjr nid]t
anbers u>ie mit ber (ßeroalt; perboten 3um gtpecf ber Selbft*
fylfe, ifi fte erlaubt 3um «gtpecf ber Selbjlperteibigung.
Sotpenig tpie tpir nun in be3ug auf lefetere bie Hegel
aufhellen bürfen: bie (ßetpalt ift prin3ipieE verboten, aus*
nafynstpeife aber 3um «gtpecf ber Selbftperteibigung erlaubt,
ober bie umgefefyrte: fte iji prin3ipieQ erlaubt, ausnafyms*
roeife aber perboten, ebenfotpenig in be3ug auf bie Cäufdjung.
Beibe jtnb prin3ipieö roeber verboten, nodj erlaubt, bie richtige
logifdje 5orm für bie 5ctffung ber Hegel, tpeldje bas Der*
galten bes Hechts 3U itjnen rsiebergeben foll, ift mitbin nicfyt
bie einer eingliebrigen, burcfy eine Stusnafyme befcfyränften,
fonbern einer 3toeigliebrigen Hegel, tpeldje beibe (Slieber als
pöllig gleidjtpertige fidj gegenüberftellt, tpie bies t>on feiten
ber römifcfyen 3uriften in JDirHidjfeit au<S\ gefcfyefyen ijt, inbem
fte ben dolus bonus unb malus auf eine unb biefelbe £inie
rüden. 3cfy madje biefe Bemerfung im 3ntereffe ber folgen*
ben Darftellung, roo fte uns bei ber 5rage pon ber vidi*
tigen Raffung bes (Sebotes ber IDafyrfyaftigfeit ifyre Dienfte
leiften tPtrb.
Das »erhalten bes Hedjts 3ur Oufdjung läßt ftcfj [584]
bem Bisherigen nad] unter bie 5ormel bringen: 3nbifferen3
bes äußeren Catbeftanbes, ausfd]lieglid]e Helepan3 bes burdj
bie Cäufcfyung perfolgten (guten ober fdjlecfyten) &weds.
Wir legen jefet ber IHoral biefelbe 5rage por, auf bie
uns foeben bas Hed]t feine 2tnhport erteilt fyat.
3ft jebe Cüge ftttlidj pertperflidj? 5ie müßte es fein,
tpenn bas (ßebot, bie iDafyrfyeit 3u reben, ein abfolutes tpäre,
u>te bies eine pielperbreitete 2lnfid]t in ber Cat annimmt.
458
Kapitel IX. Die feciale medjantf* Das Sittliche*
Daß ftch basfelbe nicht praftifch burchfütjren lägt, ohne bas
fittliche (Sefühl in ben fchroffjien Konflift mit ftch f elber 3U
bringen, ifi 3tveifellos. Den Kranlen fann bie IDahrheit
töten. Soll ber Arst, beffen Kunft angerufen tvirb, um bas
£eben 3U retten, f ollen bie Angehörigen, 5er en Ipdiftes Be*
ftreben es fein muß, bem Kranfen alle nachteiligen (Einflüffe
fernhalten, ihm auf fein Sefragen eine XDatixfyxt offenbaren,
bie i^m ben Cobesftoß perfefet? Unb tvemt fte mit Hecht
bavor 3urücffchredPen, haben fte vor fich 3U erröten, tveil fte
gelogen fyahen? XHuß es ber Kranfe, ber, um bie Seinigen
3u fchonen, ihnen bie Qualen verheimlicht, bie er leibet? 3f*
er ein Heuchler? 3n 5äHen gemeiner (5efahr fann alles
barauf anfommen, baß berjenige, ber an ber Spifee fteht unb
allein bie tvahre höchft bebrohliche Sachlage fennt, fte ber
großen ZHaffe verheimlicht unb eine guverftcht, ein Sicherheits«
gefühl heuchelt, bas ihm in IDtrflichfeit fremb ift, 3. 23. ber
Kapitän auf ber See [585] bei (Sefahr ber Stranbung, ber
5elbherr in ber Sdila^it bei mißlichem Staube, bie Staats*
getvalt bei fehleren politifdjen ober ftnan3ieöen Kataftrophen.
Sollen fte bie iöahrheit verfünben unb burch bie JHutloftg«
feit unb ben Schrecfen, ben fte verbreitet, bie Kataftrophe
herbeiführen, ber fte begegnen foHen, heberte, taufenbe von
XHenfchenleben, vielleicht bie gan3e £j tften3 bes Staates opfern,
lebiglich um ftch ben moralifchen Dortvurf 3U erfparen, bie
IDahrh^it übertreten 3U fyahen? <£ine fold^e Ejanblungstveife
verbient nicht ben Hamen eines ftttlidjen, fonbern eines uu-
fxttlichen fjanbelns, es tväre ber Egoismus bes bornierten
Cugenbfanatifers, ber bie IDelt preis gibt, um ftch 3u be-
haupten, ber Cugenbhyäne, bie fich in 23lut habet, um ihren
Cugenbburft $u beliebigen — mag bie IDelt in flammen
aufgehen, tvenn nur bas elenbe 3ch feine Cugeub rettet —
ber ZHolochsbienjl ber XDahrheitl
<£ine Anficht, bie 3U folchen Ungeheuerlid]feiten führt, muß
praftifdjer (Srunb bes lPafqrfieitspritt3ips*
459
in ihrem innerften (ßrunbe faul, t>erberbt fein, unb bas ein-
fädle fittlicfye (ßefühl weijt fie mit proteft 3urücf. 3n 6er
Verlegenheit ^at man fich bamit Reifen wollen , bafj man in
bie[en unb ähnlichen fällen ausnahmsweife bie Berechtigung
ber £üge 3ugeftanben fyat, wofür man ben Segriff ber
frommen £üge (pia fraus) erfunben fyat 21ber biefer 2lusweg
ift ein gän3lich verfehlter, prin3ipieE gar nicht 3U begrünbenber.
<£ntweber nämlich trägt bas (Sebot ber IDafyrfyeit ben (ßrunb
feiner (Seltung [586] in fich felber*) unb es lautet: bie
iDat|r^eit um ber IDa^rtjeit willen, bann fommen praftifche
Hücfjtchten bagegen ebenfowenig auf, wie gegenüber ben
(Sefefeen bes Denfens, bann mu§ vielmehr ber fittlichen 3bee
alles unb jebes rücffyaltlos geopfert werben, ©ber aber jene
Ausnahmefälle vertragen fich mit ben fittlichen 3been, bann
hat jenes angebliche #?ahrheitsprin3ip bie Safts, auf bie es
fich 3U ftüfcen glaubt, felber preisgegeben, unb es ift bann
nicht 3U f äffen: bie JDahrh^it um ber lüahrheit, fonbem um
bes <gwec!es willen.
Unb bas ift in ber Cat bie wahre (Seftalt bes JDahrheits-
gebotes wie überhaupt aller fittlichen prin3ipien ohne Aus-
nahme, gleichmäßig bie ber ZHoral wie bes Hechts. Die
*) XPte man btes behauptet unb mit aßerfyanb fetalen Sdjehtgrnnben
3U rechtfertigen serfudjt i\at, 3. 33. ba§ bie perfon burd? bie £iige mit
fidj felber in ttttberfprudj gerate* 211s ob batan ttwas läge! IDemt
bas IDafyrfjeitsgebot fein axibetes (funbament t^ätte als btefes angebliche
poftulat bes Hidjttiriberfprudjs bes 3nbtoibuums mit fid? felber, fo wäte
es mit bemfelben äußerft tpinbig bejMt 3dj getraute mir bieBeredj*
tigung ber £üge mit einem um nichts fdjledjteren (ßeftdjtspunft 3U
bebu3teren. Durdj bte £üge bofumentiert bie perfon bie erflnberifdje,
fdjöpferifdje Kraft ihrer pfyantafie, ber Dtdjter bietet, ber £ügner er*
btdjtet, betbe betpätjren bamit bie Xftadjt bes menfdjltdjen (Seijies. Der*
artige formaltftifdje (Sefidjtspunfte, tste ber obige unb ipie fo mandje,
bereu fid? unfere 3urtspruben3 bebient, finb an ben Hormen, bei benen
fie (Seoatterbienfte letften fotten, ebenfo uufdmlbig, wie bte paten an
bem Kittbe, bas man tfjtten in bett 2lrm legt
^60
Kapitel IX. Die fostale XHedfanifc Das Sittliche*
(SefeDfchaft ift nicht bes Sittlichen, fonbem bas Sittliche ber
(Sefellfchaft roegen ba, bie entgegengefefete 2Iuffaffung, bereu
Sefämpfung unb IDiberlegung bie Aufgabe biefes meines
XDerfes bilbet, [teilt bas a>ahre [587] Derhältnis gütlich
auf ben Kopf, fie hulbigt jenem ebenfo ungefunben rote un*
fruchtbaren 3bcatismus, toelcher bie 3&ee folche auf ihr
panier fchreibt, unb bem ich meinerfeits ben ethifchen Bealis*
mus entgegenfefee, ber ihr feinen weiteren XPert unb feine
weitere (ßeltung 3uerfennt, als infort>eit fie ftch burch bie
Sienfte, weld\e fie ber ZHenfchhett leifiet, praftifch legitt*
mieren fann.
fjaben alle fttttichen prht3ipien in bem 3ntereffe ber (Se*
feKfchaft i^ren (Srunb, fo notu>enbigert£>eife auch ihr Zt!a§,
b. h* feines berfelben fann eine toeitere (ßeltung beanfpruchen,
als burch bie <§tx>ec!e ber (Sefellfchaft geboten ift. IPir tr>ollen
bies in einigen 23efpielen erproben,
<£s h^ißt: bu follfi nicht töten. 3n 23otoehr barf
ich töten, im Kriege mu§ ich esf un& ^cm Perbrecher broht
bas (Sefefe bie Cobesftrafe. £iegt barin ein EDiberfpruch
gegen ben obigen Safe? €s rxmrbe ber $aü fein, roenn bas
Derbot ber Cötung um feiner felbft trullen beftänbe, tx>enn
bie 3^^ n>ahr roäre, baß bie fogenannte J^eiligfeit bes
Zllenfchenlebens jebes Slutoergiegen ausfd]löffe. 2lber bas
öerbot befteht nicht feiner felbjl, fonbem ber (Sefellfchaft
trullen. Darum ift bie Cötung verboten, oerftattet, geboten,
je nachbem ber gefellfchaftliche <§tx>ecf es mit ftch bringt
Die (Srunblage ber gan3en bürgerlichen ©rbnung ift bie
Sicherheit unb ber Schüfe bes (Eigentums. Diefe (Srunblage
tx>irb r>on ber Staatsgewalt angetaftet mittels [588] ber £f pro-
priation bes Privateigentums unb ber gefefelichen Aufhebung
Goohlertoorbener Hechte. Crüge bas Eigentum, tvie bie in-
bivibualiftifche Ch^orie bes (Eigentums uns glauben macheu
ivill (I, ^08 ff.), ben (Srunb feiner (ßeltung in ftch felber,
praftifdjer (Srunb bes IDaqrfyettsgebots.
roomit feine abfolute Unantaftbarfeit von felbft gegeben voäve,
n>ir würben in jenen 2Iften nur fdjnöbe (gersaltmagregetn,
Attentate gegen bie fogenannte fjeiligfeit bes Eigentums er*
bliefen fönnen. 3n XDirflidjfeit fefeen fte fid? aber mit ber
3bee bes (Eigentums forsenig in ZDiberfprud}, baß fte bie«
felbe umgefefyrt mit ftd) t>erf öfyten, inbem fte bas (Eigentum
in bie ifym burdj feine gefeUfdjaftlicfye Beftimmung t>orge3eid>*
neten (Stenden roeifen unb ber (Sefafyr vorbeugen, ba§ bas*
felbe, anftatt bas gebeifylicfye 23eftef}en ber (Sefellfdjaft 3U
förbern, es fcfyäbige* 2)ie normale 2tnerfennung unb jene
emotionelle Nichtanerkennung bes (Eigentums entftammen
einem unb bemfelben (Sebanfen: ber Sorge für bas tsa^re
IDol}! ber (Sefellfd?aft. 3n ii>m bejtfet bas (Eigentum feinen
(Srunb, unb barum ftnbet es aud} an ifym fein UTa§ — nur
bie falfdje apriorifcfye 3bee von ber 2Tfaglofigfeit bes <£igen<
tums t>erfd?ulbet ben Schein, als ob bas Zfiajj ficft mit ber
«Eigentumsibee nicfyt »ertrüge.
(5an3 ebenfo »erhält es fidj mit bem (ßebote ber 2Dafy>
fyeit; es beftefyt nidjt feinetunllen, fonbern ber (Sefellfdjaft
roitlen. tDürbe lefctere fidj bei ber £üge monier befmben
als bei ber JPafyrfyeit, fo toürben beibe tljren [589] ptafe 3U
tauften Ijaben, unb es mürbe bie £üge gef eHf djaf tlidj , b. i.
fitttid? geboten fein.
Beftefyt aber bas (ßebot ber IDafyrljeit um ber (ßefell*
feftaft tt>illen, fo fann es aud? feine toeiterreidjenbe (5eltung
beanfprucfyen, als fid? bamit ©erträgt — ber (Srunb bes
(ßebots beftimmt aud? fyer roieberum bas ZHaß feiner (ßeltung.
Wo bie IDafyrfyeit ben Kranfen töten tsürbe, tDäfyrenb bie
Unmafyrfyeit fein £eben 3U erhalten vermag, u>ürbe erftere
einen 5reoel gegen bas ZtTenfdjenleben enthalten, bie Un*
tsafyrfyeit ift fyer nidjt bloß fittltd? erlaubt, fonbern geboten,
unb ebenfo in allen ben fällen, bie id? oben (5. ^58) an»
geführt l}abe.
$62
Kapitel IX. Die feciale XHec^amf. Das Sittliche.
IDir l\aben hiermit für bas WatyfyitsQebct ber VTioxal
(IDafyrtjaftigfeit) basfetbe Hefultat gefunben rote oben für
bas bes Hecfyts (<£I>rlidifeit) unb wir nehmen fyer bie Sc«
merfung wieberum auf, bte mir bort (S. ^57) über bie richtige
Raffung ber lefeteren matten.
Sowenig rote bas (gebot ber (Efyrlidtfeit abfohlt 3n f äffen
x% ebensowenig bas ber XDa^rBjafttgfeit JDer bies tut unb
bettnod? in Satten ber angegebenen 2lrt eine 2lusnafyme
flatutert, tote es allgemein gefcfyiei|t (f. u.), 3tel|t fxd\ f elber
ben Boben unter ben 5üfjen weg unb befiegelt bamit feine
wiffenfcfyaftlidje 23anferotterflärung. Das IDafyrljaftigfeits*
gebot ift xnelmefy: von vornherein auf bie ifym gebüfyrenbe
2lnwenbungsfpfyctre 3U befcfyränfen, bie burdj ben gefellfdjaft*
liefen gweef besfelben gegeben tfl. 3)ie IDa^rljaftigfeit unb
bie Unwafyrfyeit, wo fte ftttlidi [590] erlaubt ober geboten
ift, rücfen bamit auf ein unb biefelbe Cinie, unb lefetere fyat
nidjt nötig, vor ber erfteren fdjamfyaft ben ölief 3U 23oben
3U fenfen unb fid? von ifyr in bie (Semeinfcfyaft ber £üge ver-
weifen 3U laffen, fte barf i^ren öliel ebenfo frei ergeben wie
jene, JDte auf bem (Sebiete bes Hechts bie berechtigte £ifi
(dolus bonus) von ber 2lrglift (dolus malus), fo hebt auf bem
ber Zttorat bte pttlidje, reine, unbefcfyoltene Unwahrheit von
ber ftttlich unreinen, befcholtenen ftch ab, fte l\at mit ihr nur
ben Hamen gemein, nicht ben (Zfyaxaftex. 2tber biefe (Semein*
fdjaft bes Hamens iji für fte atlerbiugs recht verhängnisvoll
geworben. Qex ZTfafel, ber im heutigen Sprachgebraudi
einmal ber £üge auflebt, h<*t ftch im minberen (Srabe auch
auf fie übertragen, es ift ber 5Iuch eines verrufenen Familien-
namens, unter bem and) bas achtungswerte XTCitglieb ber
iamilie 3U leiben Ijat, bas Dorurteil, welches ber fd]Ied?te
£ebensvoanbel einer tieberlichen Schwefter gegen bie Sugenb
ber ehrbaren erregt — ihr Harne ift ihr Derhäugnis.
(Benötigt, in (Ermangelung eines anbern Hamens ben ber
(Segenfafe von £üge unb betrug*
^63
£üge bet3ubehalten, unterfcheibe ich $voex Birten berfelben: bie
bösartige unb bie gutartige.
Die bösartige £üge. Das Derbot berfelben I|at feinen
(Srunb unb ftnbet feine Hechtfertigung in ihren nachteiligen
IDirfungen für bie (SefeHfchaft. 3^ unterfcheibe innerhalb
ihrer 3tx>cx Birten: bie eine, welche lebiglich bie DorfteHung
bes anbern Ceils, bie anbere, welche [591] mittels ber falfchen
ÜorfteQung ben iDtHen $u beeinfluffen beabfichtigt, bie erfte nenne
ich £üge fchlechthin, bie anbereSetrug im moralifchen Sinne.
Seim betrug ift es bem Oufchenben nicht barauf ab*
gefehen, in bem anbern lebiglich eine falfdje DorfteHung 3U
erregen, fonbern barauf, benfelben 3U einem fjanbeln ober
Unterlaffen $u bejiimmen, bie DorfteQung foH bas ZHotto 3u
einer IDißensaftion abgehen. VOit belügen jemanben, wenn
es uns nur barum 3U tun iji, ihm eine falfche DorfteHung
bei3ubringen (in ber Oulgärfpracfye: „etwas auf3ubinben") ;
wir ^aben unferen «gweef erreicht, wenn er glaubt. XOk bc*
trügen jemanben, wenn wir ben obigen gweef babex oer-
folgen, unb wir bähen benfelben erreicht, wenn er hobelt
(pofitb ober negatw); wenn er bloß glaubt, b[aben wir ihn
verfehlt. IDer ftch einer Cat rühmt, bie er nicht vollbracht,
einer €igenfchaft, bie er nicht beftfet, lebiglich, um [ich 3U
brüften, ober xoet eine unwahre {Eatfadje erftnbet, berichtet,
lebiglich aus 5reube am £ügen, belügt ben anbern, wer bamit
bie 2lbftcht cerbinbet, einen Dorteil für fich 3u erreichen (ge*
roinnfüchtige 2Ibftcht), ober bem anbern einen Schaben 3U3ufügen
(böswillige 2lbficht), betrügt ihn, bas ZHittelglieb 3wtfchen
ber füge unb bem beabfichtigten (Erfolge bilbet ber JDiHe
bes anbetn, ber ihn erfl Ijerbci3uführcn biaif währenb es
besfelben in jenem falle, wo es bloß auf (Erregung bes
f alfchen <5laubens abgefehen ijl, nicht bebarf. betrug ijl
bieu3ie inbrenbe ober, um ben für bie Seeinfluffung bes [592]
IDillens burch Drohung üblid]en juriftifchen 2lusbrucf 3U
$6% Kapitel IX. Die feciale ItTecfyanif. Das Stttlicfce.
gebrauten, bie fompulftoe £üge. 2Iudj bas ©er betrugt,
aber nur ber 2Henfd? lägt, benn ber betrug li<xt einen un-
mittelbaren praftifdjen &we<3 im 2luge, unb ben fennt aueb
bas Cier, unb bie Xtatur J^at manche von tfyten mit einem
fynreidjenben 2TCa§e t>on Derftanb ausgefiattet, um benfelben
mit Stift 3U verfolgen; entlegnen a>ir ZHenfdjen bodj bem
£ud?fe bie perjontftfatton ber Derfdjlagentjeit unb Sd]laut}eit.
Wo es an biefem praftifdjen gtoeefe fefytt, fpredje idj
son einer £üge im (Segenfafce 3um betrug unb id> unter-
fdjeibe 3tx>ei Strien berfelben: bie eine, weid\e bie perfon bes
Cügenben felber sum <5egenftanbe t^at, fie für etwas anbetes
ausgibt, als fte ift, bie £üge als 2Hasfe: fjeitcfyelei, (Sleisnerei,
mit allgemeinem Flamen X>erfleHung (S. ^50, Simulation
(S. ^55 £Iote), man fonnte fte bie gleisnerifdje, masfierenbe
nennen. Die anbere, tseldje Catfadjen 3um (Segenftanbe I^at:
€ntftellung, 5äl[ci]ung bes Wallten unb <£rbid}tung bes Un«
toaljren, man fonnte fie bie affertorifdje nennen. XDarum
^at nun bie (5efellfd)aft ben Setrug unb bie £üge in ben
Sann getan. Ztidtf roegen eines bem 2Tfenfd?en angebornen
inneren ZXMberflrebens gegen fie, eines horror falsi — tr>ir
tr>erben fefyen, baß er gerabe umgefebrt efyer ben £[ang sur
£üge als 3ur IDal^rl^eit mit auf bie JDelt bringt. Vev fate»
gorifcfye ^mpexatxv bes IDafyrljeitsgebots beruht auf <£r*
fdtfeidjung; foroenig biefer 3mperatit> ftd) für bas Sittliche
überhaupt [593] bartun lägt, ebenfotoenig für bas Waty*
Ijeitsgebot, er ift nichts als ein ZTfacfytfprud? ber £)iffenfd]aft,
bie etwas, was fie nicfyt 3U beu>eifen t>ermag, einfad? poftu«
liert, als 2ljiom auffteHt
3)er (Srunb, rt>arum bie <5efeHfdjaft bie £üge unb ben
Setrug in ben Sann getan Ijat, tji ein praftifcfyer — fte
fann bei tfynen nicfyt befte^en. J)ies foQ im folgenben nady
geunefen werben: bas fittltdje poftulat ber Wafyv
ijaftigfeit tjat feinen (Srunb unb bamit $ugleid? fein
X)te £üge — ftmulierenbe unb affertorifcfye. ^65
JHa§ in ber praftifdfen 33ebeutung ber IPafyrheit
für bie (ßefellfcfyafk
Die praftifdje öebeutung ber tPa^rI|eit für bte
<5ef ellfd?aft
Das menigfte son 6cm, mas mir für mafyr galten, Fönnen
mir Reibet auf feine XDafyrfyeit prüfen, mir ftnb genötigt, uns
babei auf anbere 3U oerlaffen. Don einer Catfadje fönnen
mir nur behaupten, bafc fie mafyr ift, wenn mir felber fie
malgenommen, b. i. mit unferen Sinnen in Beftfc genommen
haben*). 3n €rmanglung ber eignen XDa^rne^mung müffen
mir uns mit ber 2lusfage besjentgen begnügen, ber fte ge-
macht (<§euge**), ober [594] bes jenigen, ber fte t>ou ihm
erhalten su haben behauptet. <£s ift bie XDafyrljeit aus 3meiter,
ober menn man bie ein3elnen Ejänbe 3ählen moüte, burch
meidje fte fynburd?gegangen ift, bie aus hunbertfter, taufenbfter
^anb im (Segenfafce 3U ber aus erfter, mir nehmen bei ihr
etmas als mahr an, was mir nicht felber malgenommen
traben.
<5an3 basfelbe, mas i>on ben ftnnlichen (natürlichen ober
gefdn'chtlichen) (Eatfachen, gilt auch von unferen <£rfenntniffen,
auch fte ftnb faft alle IDahrhetten aus 3tx>etter £}anb, bie oou
anbeten gefunben unb uns überliefert ftnb, ohne baß mir
felber imftanbe gemefen mären, ihre IDahrheit 3U prüfen
(= untersuchen). Dem 3uriften brängt ftd? babei ber Der-
gleich 3mifchen bem originären unb bermatipen <£twetb auf,
*) Derfelbe (Sebanfe im lai pereipere, franj. percevoir, apercevoir,
engl* pereeive (capere = nehmen) unb in anberrn Sprachen, 3» 33.'
unganfd? £szre venni (= 3U Derftanb nehmen); ebenfo auffaffen, er*
f äffen von f äffen»
**) Spradblicfy: ber «Ausgesogene, b» u llnwtfenoe, iaU testis = bev
babei ftanb [von stare).
9, 3 gering, Der ^roerf im Hedjt. II. 30
466
Kapitel IX. Die feciale Hlec^attiF. Das Sittliche.
b, t. bem ans erfter unb bem ans ^weitet ^anb, unb es
lofynt fid) fdjon, iljn 3U t>ermenben.
Wie bie Summe besjenigen, voas xvit auf originärem
IDege ertx>erben, t>erfd}tr>inbenb Hein ift gegenüber bemjentgen,
was uns auf bertoatit>em IDege 3ufommt (Crabition, €rbgang),
ebenfo nnb in nod? unvergleichlich Iqöliexem ZtTaße in be3ug
auf unfer tViffen bie Summe besjenigen, roas roir felber
wahrgenommen, gefunden, unterfudjt iiaben, gegenüber bem*
jenigen, was toit von anbern als wahr, b, h* auf Creu unb
(glauben angenommen haben. Cl)arafteriftifd) bafür iji unfer
beutfehes IDort Überzeugung. Wem t>erbanfen wir unfere
Überseugungen? Die Sprache antwortet barauf: ben beugen
■ — wahr ifl, voas uns be3eugt, wopon [595] wir burch geugen
überzeugt worben finb. <£in Seitenftücf ba3U gewährt bie
2fasfage ber Sprache über ben Ursprung bes Vermögens.
Das (ßrunbeigentum wirb uns t>on anbern fyinterlaffen (bas
(Erbe, erbeigen, lat heredium bas (Erbgut von heres), bas
Vermögen flammt Pom Dater (pater, patri-monium Vatergut).
Der (Bebanfe, ben bie Sprache bamit funb gegeben fjat,
lautet: bas meifte, was wir bas unfere nennen, perban!en
roir nicht uns felber, fonbern anbern, unfere Über3eugungen
ben beugen, unfer Permögen ben Vorfahren, nur unfere
finnlichen IVahmehmungen uns felber.
Qie weitere Verfolgung bes (Sejtcfytspunftes bes beripa*
tipen €rwerbs bei bem Hecht unb ber IVahrheit Ijat mid]
auf eine I|öd]ft int ereff ante fprad?lid]e IZatfadie geführt. 3>ie
2lusbrücfe unb IVenbungen, beren ftd] bas Hecht für bie
bei bem Verhältnis bes beripattpen (Erwerbs 3ur Sprache
fommenben JTiomente bebient, wieberholen jtd) auch bei ber
IVahrheit, unb ba nachweisbar bie meiften berfelben für bas
Hecht gefchaffen f.nb, fo ift fyer eine Übertragung an3unehmen,
was m. a. IV. t^eigt: bas Verhältnis ifi ^iftorifd] bem Volfe
3uerjl in feiner praftifchen (Seftalt beim Hechte sum öewufjtfein
Übertragung ber Hedj tstermmologte auf bte XPafyrljeik ^67
gefommen, erfl fpäter Bjat es erfannt, ba§ basfelbe audj für
bie IDafyrljeit 3utrifft.
3d} laffe bie Sprache reben»
[596] Das HecH
2Iuftor, auetoritas. Die ur*
fprünglidje Sebeutung ift
3tt>etfellos eine juriftifdje.
Unter auetor serfiaub bas
altrömifcfye Hed)t ben Per*
fäufer, von bem ber Käufer
fein Hecfyt ableitet unb ber
ifym bafür d^uftefyen I^at,
unter auetoritas (fd?on in
ben \2 Cafein) bie Haftung
besfelben.
Die rDafyrBjett
Autorität, b. i. ber maßge*
benbe (Einfluß einer perfon
auf unfere <£ntfd?lüffe ober
unfere 2lnftd}ten (2tutoritäts*
glauben), bei bent toit uns
ber eignen prüfung ent*
galten. Sei ber 2luftoritas
roie bei ber Autorität per*
Iaffen tt>ir uns auf eine
frembe perfon*
(SetDäfyrsmann für eine Zlatti*
xxditf 2lnftd}t, Überzeugung.
(Serrxäfyr, (ßetoäfyrsmann, (ße*
tt>äl}rfd)aft, <5etr>cü}rleijhing
— bas beutfd3*red}tlidje
Settenftüct ber römifdjen
auetoritas. (ßetDäfyrsm ann ift berjenige, ber uns etwas gc
tüäfyrt (wer£n = fidlem) unb bafür einfielt. Don weren
altfrief. ber werand, warent, ital. guar&ito, fran3. garant,
garantir, garantie in bemfelben Sinne,
Bürge, bürgen, «gmeifellos
urfpünglid? ein juriftifcfyer
Segriff.
Sürgen, fidj verbürgen für
bie Hicbtigfeit einer ZXaä]>
ridtf. äfyulid? einftefyen in
betberlei öebeutung.
50*
^68 Kapitel IX. Die fo3tale XTtedjamf* Das Stttltdje*
[597] J)as Bedjt. Die tDaljrBjeit.
Über»la{fen (eine Sad?e), auf* Sicfy auf bic 21usfage jeman'
lajfen (ein (ßrunbftücf t>or bes serlaffen — eine $u*
(Sendet), nacfylaffen (Zladi* perläfjtge, un3uperläfftge
lag im Sinne ber (Erbfctjaft), ZTadjridjt.
3U*la[fen (perftatten). 21He
btefe 2lusbrücfe 3ielen auf bie Cätigfeit bes Tutors.
Derftdjern, Derfidjerung im Derjtdjerung im Sinne ber
Sinne ber Sidjerftellung ge« Beteuerung ber IDaljrljett,
gen eine redjtlidje (Sefafyr, assurer, assurance.
bas lateinifdje cavere (cau-
tio)f mittelalterlich assecurare, assecurantia (von securus)
Crabition, b, i. bie Übergabe
ber Sadje. gmeifdlos ur<
fprüngtidj juriftifdje 23e*
beutung (transdare = über*
geben).
Crabition im fyiftorif djen Sinne :
3. 23. bie Crabition ber fa*
tfyolifdjen Kirdje.
Überlieferung. (Ebenfalls ur«
fprünglicfy juriftifdjer Sinn,
ber Derfäufer liefert, über«
liefert bie XDare.
Jlnnefymen (ein (ßefdjenf, ein
Perfpred|en) im recfytlid^en
Sinne.
Überlieferung im fyftorifdjen
Sinne: bie fyjtorifdje Über*
lieferung.
Jlnnaljme im tpiffenfdjaftlidjen
Sinne. [598[
Credere. 2)er urfprünglid}e
Sinn bes JDortes ift ein
jurifttfdjer, bas credere be*
ftanb in bem Anvertrauen, b
Credere im Sinne von glau*
ben.
i. Ceifyen von Sachen (res
(Dbjeftise unb fnbjeftipe VOa\\x^ext
creditae). Der urfprünglictj juriftifdje Sinn fyat pdf aus-
fd]lie§licfy erhalten in: creditum (= £eii)gefd)äf t) , crediior
(=5 (gläubiger).
Das Hedjt
Jlnsertrauen x>on Sachen.
Die IX)aEjrt|eii
Dertrauen auf bie &)al|rl|eit
Creue ; aus einer Zürnte! mit
trauen, <£in urfprünglicfy
juriftifdjer Begriff (Celans-
treue).
Creu, getreu im 5inne ber
XDafyrljeit, 3, 23, ein getreuer
Bericht.
(ßlauben (.,Creu unb (ßlau*
ben", b. i. Creue bes einen,
(ßlauben bes anbern Ceils,
bie römifcfye fides), ber (ßläubiger.
(ßlauben an bie ZDafyrfyeit, ber
(ßläubige.
lütr benufeen biefe Cifle, um baxan folgenbe parallele
Sanften bem Hecfyt unb ber ZDafyrfyeit 3U fnüpfen,
Bei beiben fyängt bie Sidjerfyeit beffen, was uns von
anberen 3ufommt, an ber guperläffigfeit bes (ßetoäfyrsmannes,
anr nehmen es entgegen auf Creu unb (ßlauben, ofyne es
einer prüfung 3U materiellen, unb ofyne in ben meiften fällen
ba3u imftanbe 3U fein, nur jtnb ge3U>ungen, uns babei auf
anbere 3U oerlaffen. Der bei roeitem größte Ceil unferes
I XPiffens ift fubjeftis nichts als (ßlaube, n>ir [599] fjaben ifyn
nidjt felber auf feine JDafyrfyeit geprüft, fonbern auf bie
J Autorität von perfonen, u>eld]e bie Catfadjeu berichtet, bie
i Unterf uc^ungen augeftellt, bie Scfylüffe ge3ogen fyaben, als
i toafyr angenommen. 2lud} bas ZDiffen bes (Belehrten ijt, von
feinem Spe3talfad) abgefefyen, fubjeftip nichts als 2lutoritäts*
j glaube, unb roenn er von ber XDafyrtjeit besfelben feji über3eugt
^70
Kapitel IX. Die fötale me^aui?* Das Sittliche*
ift, fo ift er es nur bar um, weil er 3U ben d3ewät}rsmännern
ober <§eugen, bie es il^m 3ugetragen haben, Pertrauen E^egt.
3n ftdj f elber aber t?at er fyier nicht bie (Garantie ber tDafyr*
hett, ba3u würbe geboren, ba§ er bie finnlichen Catfadjen
felber wahrgenommen, bie <£rgebniffe bes fremben Senfens
felber geprüft t^ätte. Was er tyzx IDahrheit nennt, ift mit*
hin fubjeftio nichts als IDahrfcheinlichfeit, allerbings ber
alleräu^erfte (Srab berfelben unb ihm felber pielletcht ungleich
wertvoller als bie felbft befchaffte (ßewißheü pon ber IDatjr*
heit, aber gleichwohl feine JDafyrtjeit im ftrengen Sinne bes
tüortes, benn bas ift nur bie (finnlich ober geiftig) felber
erfaunte, erlebte, erfahrene, jene tDahrhett ift nichts als
(ßlaube an bie IDahrhaftigfeit, ^uperläffigfeit anberer, bie
fte t>erbürgem
(Es flingt paraboj: unb ift boch wahr: bie objeftwe Xüa^r*
heit bilbet nicht ben ZHaßftab ber fubjeftir>en, fonbern bie
fubjeftwe ben ber objeftioen. 3ebe IDahrheit mu§, um ftd?
als folcfye 3U erproben, burch ben menfchlichen (Seift hwburch,
jebe wirb am Subjeft gemeffen, bas Verhältnis iji gan3 bas*
felbe, wie bei ber jtnnlichen [600] tDafymefynung. €s gibt
baher feinen unfinnigeren Dorwurf als ber IDahrheit bas
3um fehler an3uredjnen, was ihr IDefen ausmacht: bie Sub*
jeftitrit&t. Was wir objeftise IDahrheit nennen, ift ebenfalls
nur bie fubjefttee, benn wenn auch Caufenbe unb XTTillionen
fte teilen, fo fönnen jte bafür nur basfelbe in bie lüagfdjalc
werfen wie ber jenige, ber fte beftreitet unb ber mit feiner
abwddienben 2lnjtcht gan3 allem fteht: ihr fubjeftioes Urteil,
festeres wirb auch in millionenfacher Dert>ielfältigung nicht
3u etwas (Dbjeftioem, es bleibt, was es ift: fubjeftio, unb
Jeber 5ortfchritt ber IDahrheit hat, folange bie IDelt fteht,
barin beftanben, baß 3uerft ein ein3elnes 3nbir>ibuum, bas
weiter bjtcfte als ber große £}aufe, ftd) t>on ben 21nftd]ten,
bie bis bahin, weil allgemein geglaubt, für objeftwe It>aln'<
(grforbernts ber XPafyrfyaftigfeit im Perfeljr*
Reiten galten, losfagte unb nacfy unb nacfy feiner iluffaffung
<2ingang r>erfcf?affte.
3ji alfo bie IPafyrfyeit ftets fubjefttoer 2lrt, unb perbient
im ftrengen Sinne bes VOottes nur basjenige ben Hamen
berfelben, tx>as toir felber wahrgenommen, erfahren, erlebt,
geprüft haben, fo ergibt ftcfy baraus bie Hicfytigfeit ber obigen
Sefyauptung, baß bie IDafyrfyeit 3umeift nur (Slauben ijt:
XPat^rljeit aus 3toeiter ^anb, bie tr>ir auf bie Autorität anberer
perfonen fyn als toafyr annehmen. Dies Derfyältnis muß
notmenbigertt>eife in bemfelben ZHaße 3uneljmen, als bie
Summe beffen, was 3U roiffen ift, im Caufe ber (Befdjicfyte
uub ber Kultur tsädjft, ober als bas 3n^iD^uum feinem
Berufe nacfy einer [601] größeren Summe bes 3U IDiffenben
bebarf — bie eigene Prüfung wirb in bemfelben Silage
fcfywieriger, als bie ZtTaffe größer wirb. Der pfyilofoptj muß
metjr als waljr annehmen, als ber X}iftorifer, Ztaturforfcfyer,
3urifi, er würbe nid?t pfylofopfy fein fönnen, wenn er bas
gefamte ZHaterial, bas er r>on ifynen entgegennimmt, felber
prüfen wollte. Der große Kaufmann muß meljr als waljr
annehmen als ber Krämer, er famt pdf über bie <£rnteaus«
fixten in ben serfctyebenen Cänbern ober über bie Solibität
unb Soloen3 ber oielen Kunben, mit benen er in (Sefdjäfts*
besiefyung tritt, nidjt felber ein Urteil bilben, er muß ftdi auf
bie Seitungsbericfyte unb bie Berichte feiner Agenten unb
Korrefponbenten perlaffen. <£benfo t>erl}ält es fidj mit bem
ZHinifter, er muß fefyen unb fyören mit ben 5lugen unb ©fyren
feiner Untergebenen, unb ber Souverän gar muß faft alles
als waliv annehmen; bie <?>ut>erläffigfeit ber perfonen, benen
er fein Dertrauen fdjenft, enthält für t^n bie einige (Sarautte
ber iDafyrfyeit. Überall alfo bie Unabwetslicfyfeit ber <£nt*
gegennafyme ber tDafyrfyeit aus 3weiter fjanb, bie Unmöglich*
feit ber eignen prüfung.
So beruht mithin unfer gan3es £eben auf tEreu unb
^72 Kapitel IX. Die fötale ttTecfcamf* Das SiitUd>e«
(glauben — auf bem poftulat bes <5Iaubens von ber einen,
auf bem ber Creue pon ber anbern Seite. Unfer gaujes
£eben, fage ich. ZTid)t alfo ber (Befchäftsperfehr allein, an ben
man regelmäßig allein benft, roenn man r>on Creu unb (Slanfan
fpricht (ähnlich tpie bie Homer bei bona [602] fides), fonbem
unfer gan3es £eben in all feiner Dielgeftaltigfeit, in alten
feinen Per3tpeigungen unb Derfyältniffen, nicht minber benen
bes öffentlichen tpie bes Privatlebens. t)ie €ntftellung ber
XDal}vl\eit tann bas (Sind eines Zllenfctjenlebens, ben Seftanb
einer 5reunbfd?aft, ben 5neben ber 5amilie pernichten, an
ber Un3uperläfftgfeit ber öericfyterftatter fann ber 2?uin bes
(Sefchäftsmannes, ber Derluft einer Sd\lad\t, ber Sturj einer
Dynaftie, bas Sdjicffal einer gan3en ZTation hängen*), ©b
bas (Bebäube, bas mit brüd]igem ZTCaterial erbaut rpirb,
groß ober flein ift, ob Bosheit, 2lbfkht ober Ceichtfinn, ttw
3ut>erläffigfeit brühiges ZHaterial ftatt faltbarem liefern, bas
(ßebäube ftür3t 3ufammen, roenn bas ZHaterial nichts tanqt.
Der Saumeifter fann nicht jeben Stein, ben er pertpenber,
felber prüfen, er mu§ fich auf feine Cieferanten unb ^anb*
langer perlaffen, bie Perläßlichfeit ber perfonen muß ihm bie
bes ZTIaterials perbürgen.
tDafyrfyafttgfeit bilbet alfo bie (ßrunbbebingung unferes
gan3en menfchltchen (Betriebes. 2ln Stelle ber tDahrhaftigfeit
bie Hn3uperläfjtgfeit gefefet, unb bie gan3e Sicherheit bes
Cebens roirb bebroht, ber Sejlanb ber gefellfchaftlichen (Drb*
nung in feinen (ßrunbfeften erfchüttert. [603] Darum ift ber
Cügner einer ber gefährlichen 5einbe ber (5efeHfd)aftr piel
*) Das 3a^r *870 *lat nns f**r oxe festere Behauptung einen
fd?lagenben Betueis gegeben. Die fra^öfifcfye ITation rjat bie U^nner*
läfftgfett ber fran3Öpfd?en auswärtigen biplomatifd?en Bericbterftatter
unb ber eititjeimtfcfyen milttärif djen Autoritäten, n>eld?e ben vom trau*
3<5ftfd?en Stanbpunfre aus l}öd?ft verfrühten Tlusbvnd) bes Krieges per*
fd]ulbeten, teuer be3atjlen muffen»
Schale <5efa(jr ber Unrpa^r^ti
^73
gefährlicher als ber Dieb, gegen ben man ftch bis su einem
getx>iffen (grabe sorfehen fann, er fielet auf einer Cinie mit
bem Znün3fälfd]er ober bem 5älfcher von Urfunben. ZTTan
fann einmal nicht alle ZHm^en unb Urfunben felber unter*
fuchen, man muß fie, rt>o ftc nicht felber ben Derbacht h^r<
sorrufen, unbefehen als echt annehmen. 2tn biefern Sicher*
heitsgefühle Ijängt ber gan$e Derfefyr. Angenommen, bie
^älfchung bes (ßelbes unb ber Urfunben u>äre erlaubt jiatt
perboten, unb bie XDelt toürbe mit falfchem (5elbe unb mit
gefälfehten Urfunben überfchroemmt, fo tx>ürbe bie ganje 3h*
jlitution bes (Selbes unb ber Urfunben bamit ben Cobesjloß
erhalten fyaben, jebes Stücf (Selb, jebe Urfunbe müßte auf
ihre (Echtheit geprüft roerben. <ßan3 ebenfo perhält es fkh
mit ber IDahrheit. Die (Ehrlichfeit unb IDahrhaftigfeit als
JHafimen bes gefetlfchaftlichen £ebens tjinn>eggebad]t, unb
feiner fönnte bem anbern trauen, jebe 2lusfage, Zeitteilung,
«guficherung müßte auf ibre guserläfjigfeit unb IDahrheit
geprüft werben, unb felbft biefe prüfung toürb* nur in ben
toenigpen 5äIIen ben getoünfehten (Erfolg fyaben, nämlich nur
ba, wo ber prüfenbe ohne Zuhilfenahme ber 2Jusfagen anberer,
benen ja einmal nicht 3U trauen n>äre, ftch mittels ber eignen
Sinnesioahrnehmung ober Schlußfolgerung bie Übe^engung
t>on ber IDahrheit ber behaupteten Catfache [604] perfchaffen
fonnte, als ipahr tpürbe bann nur gelten fönnen, a?as man
felber tsahrgenommen hätte.
Das tüäre ber guftanb ber (Befeflfdjaft, tpenn voix uns
bie IDahrhaftigfeit aus ihr hinroegbächten. <£s ift bas argu-
mentum ad hominem für ben praftifd]en gefellfchaftlichen
IDert ber XDahrhaftigfeit. IDer ftch über ben praftifchen
IDert, bie XTottpenbigfeit ober Überflüffigfeit porhanbener
(Einrichtungen ober allgemein befolgter Ztlajimen bes menfd}3
liefen fjanbelns belehren tpill, benfe fie fich fynwcQ, bie Cücfe,
bie bann entfteht, a>irb ihn barüber aufflären, tP03U fte ba
Kapitel IX. Die fatale med?anif. Das Sittliche*
fmb. £}ätte bie <£tfyf beim JDahrheitsgebot biefen tt)eg ein*
gefchlagen, jte hätte nicht fo gänsltd? in bie 3rre gehen fönnen,
iubem ße ben (ßrunb besfelben anftatt in bie <5efeßfchaft in
bas 3nbir>ibuum perlegte, ©hne JDahrhaftigfeit fann bie
(Sefellfdjaft nicht befielen — bamit ift bas IDahrhettsgebot
in einer IDeife bargetan, gegen bie fein iDiberfpruch cmf3u<
fommen permag, unb welche bie Unabweisbarfeit besfelben
auch bem blöbeften Derftanbe einleuchtenb macht. 3fi aber
biefer Safe wahr, fo ift bamit auch bie fittliche Derwerflichfeit
ber £üge über allen «gweifel erhoben: wer lügt, taftet eine ber
(ßrunblagen ber gefellfchaftlid^en ©rbnung an. (Db bie £üge
jemanbem fdjabet ober nicht, fommt babei nicht in öetrachh
Das ift blojj bie nächjfe unmittelbare U?irfung berfelben, pon
ber u>ir bie entferntere mittelbare für bie (5efetlfchaft 311
unterfchetben fyaben. Der Stanbpunft ber Beurteilung ber
lefeteren ift nicht [605] ber biefes ei^elnen 5aDs — biefe
ein5elne £üge wirb bas Dertrauen 3ur tDahrhaftigfeit nid?t
erfchüttem — fonbern ber abftrafte, fur3 ausgebrücft: bie
£üge als allgemeine ZlTapime. XDas pon bem $aüe gelten
würbe, wenn alle ober t>iele lögen, Ijat auch pon bem 3U
gelten, wenn ein etn3elner lügt, es fann etwas in thesi nicht
gefeUfdjaftswibrig fein, was es nicht auch in hypothesi ift.
Die Schlacht geht barum noch nicht perloren, ba§ ein3elnc
fiteren, was würbe aus bem E|eere, wenn ihr Vergehen nid]t
betraft würbe? <San3 basfelbe gilt pon bem ein3elnen £ügner
— was würbe aus ber (Sefeßfdjaft, wenn alle ober piele
lägen? Die Antwort tfl oben erteilt
Die bisherige Ausführung wirb ben ZTadjweis erbracht
haben, wie bie (ßefellfchaft ba3u gelangen fonnte, bie Un-
wahrheit 311 perbieten. H?äre it^r biefelbe pöHig ungefährlich,
wäre 3. 33. eine Cäufdjung wegen lofaler Schranfenlojtgfeit ber
menfchltchen Sinnes Wahrnehmung, wegen abfoluter Untrüg«
lid)feit bes menfchlichen Denfens fdjlechthm unbenfbar, ober
Schale (Sefatjr ber Unma^r^eti
^75
mürbe ber XTtenfdj nur basjenige für waty galten fönnen,
was er felber wahrgenommen ober begriffen fyätte, fur3 trmre
ber ZTfenfdj von ber ZIatur anbers gefdjaffen, als er es tft,
fo würbe fte ebenfotoenig Urfacfye haben, bas lügen 311 t>er*
bieten, u>ie bas Sitten, fte n>ürbe barin vielmehr nur ein
barmlofes Spiel ber pfyantafie, einen Sdjer3 ober eine Cor»
tjeit erblkfen, bie £üge roürbe auf einer £inie mit ber 33e*
fyauptung ftefyen: ba§ es Cag fei, tüäljrenb es Hadjt ift, ober
ba{$ 3W>eimal [606] 3tr>ei l^unbert fei — man umrbe über fte
lachen ober ben ZlTenfdjen für r>errücft galten, Hur bie be*
fdjränfte ftnntidj*geiftige £latur bes ZtTenfcfyen, bie i^n nötigt,
bie IDafyrfyeit, ftatt fte allein burdj fid? f elber 3U getx>innen,
aus 3tt>eiter Qanb 3U be3tel|en, perlest ber £üge i^ren ge*
fätjrlidjen unb bamit ihren gefeHfd]aftstr>ibrtgen, b. i. unfttt*
liefen C^arafter. Die Behauptung: „bie IDahrheit fei nicht
um bes Ztlenfchen teilten, fonbem ber Zfienfdj um ber Waliv*
fyeit mitten ba"*), enthält einen 21usflu§ jenes ungefunben,
ftd) felbft übergipfelnben etfyf djen 3bealismus, ber in ber
ftttlidjen IDelt an bie Stelle ber menfchlidjen (SefeUfchaft bie
3bee fefet, unb fonfequenterroeife auch bahin gelangt ijt, ben
fütlichen prin3ipien felbft für gebachte fyötjere XPefen über
bem ZHenfchen (Seltung 3U t>inbi3ieren (Kant). Die gan3e
SittlichFeit aber ift nichts als ber burch bie (Erfahrung er*
mittelte 3nbegriff ber menfeh liehen £ebensbebingungen —
an Stelle ber Zfienfchen ein anberes IDefen gefefet, ein fyöfyeres
ober ein nieberes, unb bie gan3e Sittlichfeit ttmrbe eine anbere
werben, benn jebes (Sefefe, felbft bas Xtaturgefefe ftnbet feinen
(ßruub unb fein TXlafa in bem <£ni>stoed ber gan3en Schöpfung:
ber (Erhaltung beffen, u>as fte gefchaffen t^at**), — alle <Se<
fefee ohne 2lusnahme fmb liYPOtfyetifdj,
*) So tpörtitcf? IHar teufen, Die d?rtftltd?e cEttn'f* Spe^eller Ceil,
llbt l Die inbtoibuelle €ttjtf. (Sott^a 1878. S. 255.
**) Selbft tPte ber Xllenfc^ jefet einmal tji, l^aben für tfyn bte
476
Kapitel IX. Die fötale ttlediaitif. Das Sittliche*
[607] Wäte jene Jtuffaffung bes IDa^eitsgebots bie
richtige, fo müßte jebe Übertretung besfelben unfittlid? fein,
unb es madtf einen feltfamen Cinbrucf, tr>enn biejenigen,
welche basfelbe in biefer fdjroffen (ßeftalt auf [teilen, gleicfy
tool^l 21usnafymen 3ulaffen*), bann muß man tnelmefyr and]
ben sollen ZHut ber Konfequens ljaben unb jebe 2lusnal}me
t>ertr>erfen**). <£s gibt nur eine Sllternatme: entoeber bie
JDelt ift um ber tDafyrijeit roegen, ober bie IDa^r^eit ift um
ber XDelt roegen ba — alles anbere ift X^albljeit, unb rr>er
t>or ben praftifdjen Konfequen3en bes erfien [608] Satjes
3urüdfd)ri(ft, muß ifyn felber opfern, ober richtiger: er befennt
pdf, ofyne es 5U roiffen, 3U bem 3tx>eiten.
3tt>eif ellofeften ftttlid?en (Srunbfäfee bann feine (Seltung, wenn ttjre Vin&*
füfyrbarfeit an ben gegebenen 3eitlid?en ober örtlichen 23ebingungen bes
iebens f Rettert Angenommen, ber <Jlecf £rbe, auf ben eine 23eDoIfe-
rang 311m gmeef i^rer (Ernährung angemiefen ift, unb ben fte ntdjt 3u
t>erlaffen imflanbe ift, biete nur x XlTenfd?en Haltung, fo muß ber
Überf dmß über x befeitigt werben, fei es bie 2IIten, mie bies bei mannen
£>öl?ern gefdneljt, wo ber Solm bem Dater mit bem fedftigften Jatnre
anfünbigt, baß er jetjt genug gelebt Ijabe, ober bas Übermaß ber £Teu*
gebornem IDürbe ber pro3entfatj ber meiblidjen unb männlidjen (Sebnrt
fidj nadj ber einen ober anbern Seite fyin in ber IDeife änberu, baß auf
\00 von ber einen 300 oon ber anbern fämen, fo märe bie monoga*
mifd?e ^orm ber €fye unmöglia? gemorben, ober ber Itlenfdj müßte bas
tnißt>eri}ältms ber Hatur burdj Cötung bes Überfdmffes mieter ans*
gleichem 2lls infolge bes Dreißigjährigen Krieges bie 33eoolferung außer*
orbentlid? gelittet mar, marb in einer fübbeutfeben Stabt, bereu Hamen
mir augenbltcflidj entfallen ift, ben idj aber bei (Selegentjett ber 3c*
tjanblung ber monogamtf djen $oxm ber <£lje nadjtragen merbe, bie poly
gamie erlaubt*
*) Wie es IHartenfen (5* 259 ff.) tut
**j So tat es 2Iuguftinus, meiner behauptete: wenn audj bas
gan3e menfd)lid?e (gefdjledjt mit einer einigen £üge 3U retten märe, fo
müßte man es lieber oerloren getjen laffen, als eine Unmaljrfyett fagem
So ^idjte, ber auf bie efrage, mas ber XTtann machen folle, wenn er
üorausfefye, baß bie tobfranre Jrau an ber burd? bie gemüufd?te IHtt*
teilung ber XDaljrheit ((£0b bes Kinbes) bemirften <S em üts erreg u na
fterben mürbe, antwortete; fttrbt bie ^Jrau an ber lX>aln*l}eit, fo laß fte
fterben*
(gefdjtdjtlidfe €nttPt<flutt$ bes VOa\\xke\ts$tbois. %77
Unb ba3U h<** ftch auch bas Volt von jeher befannt
Sowenig wie aUe anbern ftttlid^en (Sebote ift auch bas
IDahrh^itsgebot ber Zfienfchhett in bie lütege gelegt, fie hat
es nicht befommen auf bem It)ege einer apriorifttfehen Ein-
gebung ober ber allmählichen (Entfaltung eines in bem
ZTlenfchen feimartig befchloffenen Criebes $nt IPa^r^cit, fon*
bem jte t(at es ftnben muffen unb 3war finben an ber fyanb
ber Erfahrung., welche fte über bie Nachteile, bie mit ber
Cüge perbunben finb, aufflärte.
So ti<xt benn auch bie Entwicflung bes It>ahrh*itsgebots
in ber IHenfchheit Schritt gehalten mit ihren realen guftänben,
nicht bie JDahrheit ift bas Urfprüngliche gewefeu, fonbern
bie Cüge. Das beweift bie Erfahrung beim Kinbe, meines
in alter ttaitx>tät lügt unb auf biefem f inblichen Stanbpunfte
befmben ftch noch h^t3utage manche Zlatursölfer (3. 23. bie
Sübfeeinfulaner) ; fte erbltcfen in bem Cügen ein unfchulbiges,
harmlofes Spiel ber phantafte, Diäten unb Erbieten fallen
hier noch 3ufammen. 2Ttit ber Cüge läßt auch bie mofaifdje
Schöpf ungsgefchichte ben 2tbam beginnen, unb bie E^oäter
fefeen bas £ügen munter fort unb fügen noch bas Betrügen
hin3u. Abraham lügt, baß fein JDeib feine Schwerer fei
(ZHofes I, \2, \3; 20, 2), ebenfo 3faaf (27, 7), 3afob betrügt
unter Anleitung ber ITCutter feinen »ruber um ben Segen
(27, 9— wirb bann feinerfeits t>on [609] Caban betrogen,
ber ihm bie falfche Codjter unterfd^iebt (29, 21—25), unb
bem er feinerfeits lieber ben Streich mit ben Cämmern fpielt
(30f 37 — ^3). Der Verehrung ber 3uben x>or ihren Stamm*
oätern h<** *>ies feinen Abbruch getan, woraus fich ergibt,
bafc fie bas £ügen unb Betrügen mit gän3Üch anbexn 2lugen
angefehen t\aban als wir.
<5an3 basfelbe wie t>om jübifchen gilt auch 00m grtechi-
fdien Altertum. Qier lügen unb betrügen felbfi bie <5ötter,
| Ejera betrügt ben (Batten geus, pallas Athene nimmt jeglidje
^78 Kapitel IX. Die fojiale Ittecfyantf* Das SittliAe*
(Seffalt an, bie ifyr paffenb erfdjeint, um bie Sterblichen 3U
täufdjen, unb an Kermes ftnbet bic £üge fogar ifyren eignen
(Sott — 33etoeis genug, baß 3U ber als bie griecfyfcbe
Jtnytfyologie ftdj bildete, bas Polf in bem £ügen unb Seirügen
nod] nichts erblicfte, was ftd] mit ber PorfteHung eines (Sottes
nidjt pertrug. 3)en <£r3Dätern ber 3**beu entfpricfyt ber er«
fmbungsreidje, b* fy. beutlidjer ausgebrüeft ber verlogene
©byffeus, biefer, um mid) eines türfifcfyen 2Jusbrucfs 3U be*
bienen, Pater ber £üge bes griedjif cfyen Altertums, unb bei
Horner gereicht iB]m biefe £igenfd]aft fo wenig 3um Portourf,
ba§ er umgefefyrt barob Ijod] beumnbert, gepriefen xtnb ge*
feiert toirb, <£rfi bem tn3isifd]en fortgefdjrittenen ftttlid]en
33etr>u§tfein ber fpäteren <5>eit erfdjeint er tok bie gan3e (ßötfer*
tr>elt in anbexem £id]t (€uripibes) , berfelbe Umfdjtoung wie
er fpäter bei ben jübifdjen Sdjriftftellem ftdj aud] in be3ug
auf bie Beurteilung ber jübifdjen Ur3eit so^iefyt (^ofea \2).
[610] Sei ben Hörnern ift ber Betrug in ^anbel unb
XPanbel erft in fefyr fpäter Seit verboten u>orben, ber dolus
toar urfprünglicfy im ^anbelsperfefyre fd)led]tfyin erlaubt, unb
erft allmäfylid] fdjieb fid] ber dolus malus x>om bonus (S. 455),
3uerft in ber Sitte, bie jenen in getoiffen Pertrauenst>erl]ält«
niffen mit 3nfamie belegte, bann im Hedjt, weld\ee ii^n be
ben contractus bonae fidei fdjledjtfyn verpönte unb anwerbe
nod) eigene Klagen 3ur Perfolgung besfelben aufteilte (3uer
bie fpe3teflen 2)olusflagen, bann bie genenerelle actio de dolo)
©b es bei ben (ßermanen anbers getsefen? 2lrminiu
perbanfte feinen Sieg über ben Parus bem Perrat, ber grojj
Oieoborid) beladete ftd] mit bem ZHorbe bes ©boafer gege
bas ifyn gegebene IPort, bie Staufen u>aren bas t>erlogenjt
Polf ber IPelt, bie Ztibelungenfage enbet mit bem Perrat ber
Kriemfylbe, unter ben germanifdjen (ßöttem ftfet aud] £oft,
ber (Sott ber £üge, ein Seitenftüc! 3um gried)ifd?en Kermes.
Unb u?enn tr>ir neben biefen Seugniffen ber Sage,
Die «getten ber £ifl unb bes Betrugs.
V9
(ßefcfyidjte unb Znytljologie audj bas ber Sprad?^ Dementen
wollen, fo enthält ber Heidjtum ber IDenbungen, mit bem
ftc bie roiffentlic^e Ccmfcfyung be3eid]net, eine 2lusfage, bie
jebes Kommentars entbehren bürfte*),
[611]T>te£atfadje, bie wir bamit fonjlatiert I^aben, fyat als
folcfye feinen weiteren lüert, als ba§ fie bie 3eitlidje <£nf*
wicflung bes IDaljrfyeitsgebots außer Zweifel jteflt, womit
ftdj aud] bie von uns befämpfte natipiftifd^c ober empirijiifd?e
JDafyrfyeitstfyeorie vertragen würbe, inbem fie uns entgegen*
fefeen fönnte: ber bem UTenfcfyen angeborene IDafyrljeüstrieb
fei erft allmäfylidj 3ur (Entfaltung gefommen. 3ljrcn lüert
als Argument für bie Hidjtigfeit unferer realijlifdien ZDafyr*
fyeitstbeorte gewinnt jene Catfadje erft baburd?, baf$ wir ben
urfprünglicfyen &uftani> unb ben fpäter ftdj tJoQsiel^enben Um*
fdjwung unter bem praftifdjen (geftdjtspunfte beurteilen. Um
ben (ßegenfafc einmal redjt fcfyroff aus3ubrücfen, fo beliaupte
id\: es fyat für alle Dölfer eine gett gegeben, wo bie füge
nidtf bloß praftifdj ungefährlich, fonbern nötig war (in ber
erften Sichtung wiH idj fie als 23etrug, in ber 3weiten als
£ift be3eid^nen), erft als bie Derfyältniffe, welche btes bebtngten,
jtdj änberten, unb in bemfelben ZHaße, als bies gefdjafy ift
bas lüafyrfjeitsgebot 3ur (ßeltung gelangt.
Die ZTotwenbigfeit ber £ijh Wo bas Hedjt bem
3nbioibuum nod) nicht bie Sicherheit feines Dafeins gewährt,
ift lefcteres 3um «gweefe feiner Selbjterljaltung auf bie (Sewalt
angewiefen, unb wo bie (5ewalt nicht ausreicht, auf bie £ifi.
*) 3m Deutfdjen: £üge, Betrug, £ug unb (Erug, £tfl, £)tnterlift^
2Jrglifr (falfcfyljeit, (Eücfe, ijetmtücre, Derfiellung, (Samterei, Sdflaufyeit,
Derfdjlagentjeit, Derfcr/mitjtrjett, Schelmerei, burd?trieben, gerieben, fyinter-
gelten, täufer/en, belügen, betrügen, bernefen, anführen, Überliften uftr».
Heben ber beutfdjen fann fldj auefy bie lateinifcfye feigen laffen: fraus,
dolus, astutia, calliditas, fallacia, dissimulatio, commentum. perfidia, frau-
dare, circumvenire, deeipere, fallere u. cu m*
^80 Kapitel IX. Vit feciale IKedjamf. Das Sittlid**
Die £ift ifl bie gebotene JDaffe bes Schwachen [612] im Kampfe
mit ber Übermacht, unb auch bie lefetere perfchmäht fte nicht, um
leichter 5um giele 3U fommen. (ßercalt unb £ift ftnb 3n>ei
^tPtßmgsfchtpeftern, bie überaß nebeneinanber auftreten, tso
bas Hecht noch nicht bas Seinige getan hat, ober tr>o es, tx>ie im
Kriege, feine (5eltung behauptet Der dolus ift in foldjen g>\\'
ein bonus, weil er ben mangelnben Sdjufc bes Hechts
erfefet, unb bie (Erfahrung 3eigt, baß bie Dolfsart bem entfpricht,
ein 3u^an*rfrtak£ *ft t>erfchmifeter unb t>erfchlagener als bie
meijlen (£rmad]fenen bei uns. Ulan benfe ftd? ben 3nbianer
im Urwalbe mit unferem gläubigen Dertrauen, er märe Der*
loren, Dorjtcht, HTigtrauen, £ift, Perfchlageuheit gegenüber
aßen Begegnenben, bie er nicht fennt, bilben für ihn bie
unerläßliche Bebingung fetner Sicherheit. 2luf biefem (Sc-
hote ber Hot beruht bie Unwahrbaftigfeit unb ^alfdjfyeit
aßer Pölfer, bie lange unter bem Drude bes Defpotismus
geflanben ^aben — bie £üge enthält bie Ausgleichung bes
Übergewichts ber brutalen (Bewalt. Die ein3ige frage, bie
fte auf wirft, ifi bie 2his ficht auf (Erfolg; ein jtttliches Be*
beuten ift ihr fremb.
Die praftifdje Ungefährlichfeit bes Betrugs.
Den festeren 2tusbrucf nehme ich ^ier im Sinne bes Hechts,
alfo als Betrug im fjanbel unb HJanbel. Wo ber ^anbel
noch in ber Kinbheit liegt, befdjränft er fich auf eine fleinc
gafyl pon (Segenftänben, bie jeber fennt, unb über bie jeber
ein Urteil fyat: Dieh, (Setreibe, IPaffen, Sflaoen unb einiges
wenige mehr, unb bie (ßefafyr bes [613] Betrugs wirb hier
burch biefe Kenntnis unb bas eigene Urteil fo gut wie aus*
gefchloffen, jeber prüft, beoor er fauft — es gilt bas Sprüdf«
wort: bie 2tugen ober ben Beutel auf, nur bie Dummheit
lägt fich betrügen, unb ihr gefd?ieht es recht.
hiermit ift 3ugleich ber <5ruub angegeben, warum ftd?
bies änbern muj$, wenn ber ^anbel fid? erweitert —
Per t$tortfcf?e Umfdjumng 311t XPa^r^afttgFeit.
erweitert fotoofyl in be$VLQ auf bie gafy ber (Segenjianbe, als
auf bie perfonen, roelcf|e fte feil bieten« H?er fann beibe
nodj in bem ZHage fennen rote früher? Zllan muß in sielen
Sailen fidj auf lefetere serlaffen, bie ZDarjrfyeit aus sroeiter
Banb muß bie aus erfter fjanb erfefeen, bas X> ertrauen wirb
eine unabweisbare 5orberung bes Derfefyrs, unb Sitte unb
Heerdt entfpredjen bem, inbem fte ben Betrug serpönen, 3U«
erji bie Sitte, bann, wenn fidj ifyr Sdjufe als unausreicfyenb
erweift, bas 8edjt. 3)as (gefefe ber XDafyrljaftigf eit tjat 3U*
erft feine praftifcfje <5eltung erlangt in fjanbel unb JDanbel
((ßrunbfafe ber €t|rlidjfeit, S. ^53), weil basfelbe jtdj Bjier
praftifefy am unabweisbarften erweiji, unb für Horn laßt ftcfy
bie intereffante Catfadje naefj weifen, baß es fpe3tell ber inter*
nationale Hedjtsperfefyr (bas (Sebiet bes jus gentium) ge*
wefen ift, alfo ber jenige, bei bem ber Unbdannte bem Un«
befannten mit ben Waten bes 2luslanbes, b* folgen, bie
ber <£infyeimifcfye minber fannte, als bie bei ifym gangbaren,
gegenüberftanb, wo ber (5runbfafc ber <£fyrlid}feit (bona fides)
3uerft praftifdj t>erwirflid}t worben [614] ift, — fämtltcfye
contractus bonae fidei gehören bem jus gentium an.
So poÜ3tet|t ftdj alfo bie fyjtorifdje (Entwidmung bes IDafyr«
fyeitsgebotes nad? XHaßgabe feiner praftifcfjen Xtotwenbigfett
— unbefannt, folange es entbefyrlidj war, fteHt es ftdj ein,
als ber 5ortfcfjritt bes £ebens es erfyeifcrjte. Unb gan3 bas-
felbe Derrjältnis bewährt ftet? bis auf ben heutigen Cag an
ber <£rfafyrungstatfadje, baß bas weibliche (ßefd^lecfjt es mit
ber £Dat}rt|eit minber ftreng nimmt als bas männliche. IDenn
bas £eben, b. bie €rfenntnis son ber Hotwenbigfeit ber
EDaBjrfyeit in allen Derfyältniffen bes Cebens bie praftifdje
Scfyule ber IDafyrfyeit bilbet, fo muß notwenbigerwetfe ber
ZHann biefer Belehrung in ungleich fyöfyerem (ßrabe teilhaftig
werben als bas IDetb, benn bie IDelt, in ber fte ftd? bewegt,
iji bie ber oier JDänbe: bas f[aus, bie ZDelt bes JHannes
v. 3b c ring, Der ga»ecf im Hed?t. IL 31
^82 Kapitel IX. Die fatale Hledjantf. Das Stttttcfce*
ift bie gan$e große, weite Welt: Ejanbel unb XDanbel, <5e*
fdiäftst>erfefyr, 2Imt, IDiffenfdjaft, unb überall prebigt fte ibm
bas (Sefefc ber IDaljrljaftigfeit. Was bebeutet praftifefy bie
Un3ux>erläfftgfeit, Untpafyrljaftigfeit ber 5rau gegenüber bem
enormen Unheil, roeld^es biefelbe beim ZHamte in öffentlichen
DertrauensfteDungen unb felbft im <5efd?äftsleben anftiften
fann? £jat bie <£rf enntnis ber <5ememgefäljrltd}feit ber £üge
bem Xllenfdien bas 2tuge über ifyre Derroerflidifeit geöffnet,
fo muß nota>enbigeru>eife bas (Sefü^l von ber Derpflidjtung
jttr lüaljrljaftigfeit im ZHanne ftärfer entroicfelt fein als im
IDeibe. [615] Xüat|r^aftig!eit ift bie fpe3iftfd]e Cugenb bes
ZTüannes, Ciebe bie ber 5rau, in be3ug auf bie erftere fcfylägt
ber Ztlann bie 5rau, in be3ug auf Iefctere bie 5rau ben ZHann.
Sei beiben ift bies bie 5olge ber ifyten 3ufaIIenben eigen*
tümlicfyen Aufgabe, bas Kinb richtet an bie ZHutter bie 2lu*
forberung ber Siebe, bas £eben an ben ZHann bie ber Waty--
^aftigfeit unb guserläfftgfeit Die £iebe — xd\ meine bie
ed?te, wallte, bie fyngebenbe, fiel? felbft sergeffenbe — biefe
Ciebe ift erft burefy bie ZHutter in bie Welt gefommen —
unb auefy fte nid\t von allem Anfange an, fonbern audj fic
liat wie alle Cugenben fid} erft atlmäfylid} entoicfeln müffen,
aud) fte ift ein probuft ber <5efd|id}te, aber bie Zlatur B^at
burdj bas Kinb: bie ffilflofigfeit besfelben, bie unausgefefete
pflege, toeldje es erforbert, bie 5orgen, weld\e es ber ZTiutter
t>erurfad}t, unb burdj bas £ädjeln, ben £iebrei3, bie 2ln^äng
lidjfett, mit ber es iBjr loljnt, fur3 burd? bas Kinb tjat bie
Hatur bafür geforgt, baß bie £iebe in ber 2ftutter 3um Da
fein gelange, Don iE^r ftammt alle tsafyre £iebe ber IDelt
alle anbere £iebe außer ber ber ZlTutter ift eine übertragene,
t?on ifyr entlehnte, an ber tHutter 3uerft t^at bie UMt erfahren
tsas toafyre £iebe ift unb tr>as fte permag, — bie XHutter
liebe ift ber Urquell aller £iebe in ber Welt Vas ift be
tiefe Sinn bes gried]ifd>eit Znytfyus oon (ßott 2lmor — • es t
Die jtttltcfy erlaubte £iige*
^83
bas Kinb, bas bie £iebe ent3ünbet 2tber bei 21mor fehlt bie
ZHutter unb bie x>ollenbete Symbolifterung ber £iebe ^at erft
bie fatholifche Kirche [616] geliefert, inbem fie bas 3efusfinb
ber ZHaria in ben 2lrm legt: bie ZHutter (Softes t ber Urquell
aller £iebe, vereint mit bem Kinbe bie perfonififation bes
<£x>angeliums ber £iebe. (Erft t>on ber XHutter fyat ber ZHann
lernen muffen, was wahre Ciebe ift, unb ihrem Urbilbe per*
banft er bie feinige. Vem Urbilb ber £iebe, bas jte ihm
porhält, ftellt er feinerfeits bas ber IDafyrfyaftigfeit gegenüber,
jeber perbanft fein Übergewicht nach ber einen Seite £}tn ben
Antrieben, £ehren, (Erfahrungen, welche feine eigenartige £age
ihm entgegentrug, unb beibe teilen fich bas (Erworbene mit,
bie $tan lehrt ben 2Hann bie Ciebe, ber ZHann bie 5rcm bie
IDaljrliaftigfeit, aber ber Schüler erreicht nie ben £ehrer, in
ber ^ingebenben £tebe bleibt bas männliche (Sefchlecht ftets
hinter bem weiblichen, in ber IDahrhaftigfeit, «guperläffigfeit
bas weibliche Eintet bem männlichen ftets 3urücf,
2)ie gutartige £üge. Wenn ich ftatt bes gangbaren
Hamens ber Hotlüge biefen Hamen wähle, fo geflieht es,
weil ber letztere 2Iusbrucf pöllig un3utreffenb ift, er beeft bie
5rage nicht, um bie es fiel? hanbelt, festere hat 3 um 3nhal*
bie fittliche S^läffigfeit ber £üge, es ift aber pon vornherein
flar, ba§ bie Hot bafür nicht angerufen werben fann, (Ein-
mal nämlich ift ber Segriff ber Hot ein fo außerorbentttch
elaftifcher, baß er baburch gän3lich unbrauchbar wirb. 2llle
£ügen, beren jemanb fich bebient, um einem brohenben Übel
3u entgehen, [617] laffen fich unter ben (Sefichtspunft ber
Hot bringen : bie bes ZHörbers in ber Unterfuchung, bei ber
es fich um ben Kopf han^elt, bie bes Kaufmanns, ber 3um
Banferott fteht, bie ber 5rau, bie ben Porwürfen bes Vflannes,
bes Kinbes, bas ber Züchtigung ber (Eltern aus3uweichen
gebenft J)ag bie Hotlüge in biefen fällen erlaubt fei, Ijat
noch niemanb behauptet, man müßte biefelben alfo völlig
3\*
484 Kapitel IX. Die fötale ITCedjatttf. Das Sittliche.
ausfcfyeiben, um ben Begriff aufrecht 3U erhalten» Was bleibt
bann nodj übrig? (Einmal bte £üge, meiere ben &xx>ed fyat,
einen anbem aus ber ZTot 3U erretten. Soll fte gemattet fein,
fo barf man t>or (Bericht falfcfy Zeugnis reben 3ugunßen eines
^reunbes — ebenfalls unmöglich Sobann bie erlaubte £üge
ber f^öfltdifett: bie font>entioneüe £üge, tt>ie icfy fte nennen
möchte, von ber xdi unten fpredjen rcerbe, unb bie man bei
btefem 2lusbrucf im £eben getr>öfynlidi allein im 2Iuge Ijat;
für fle tji aber, toie bemnäcfyft bavqetan toerben tsirb, ber
Jlusbrucf ein t>öHig ungeeigneter*
2>ie 5rage von ber ftttlicfyen guläfftgfeit ber £üge enthält
bas (Eyempel auf bie richtige Formulierung bes XDaJjrbeits
gebotes« Bei einer abfoluten faffung besfelben bleibt nur
bie H>aJ|l, entoeber ber Konfequen3 3uliebe bie Jlnforberunge
bes praftifcfyen £ebens, tseldje für bas unbefangene ftttlidj
(Befüfyl bes Polfes bei biefer frage t>on jefyer ben 2lusfd?la
gegeben fyaben, ober iEjnen 3uliebe bie Konfequen3, b. i. bas
gan3e prinsip 3U opfern — [618] in beiben fällen eine
Banf erotterMärung , bort naefy ber praftifcfyen, l}ier nadj ber
tlieoretifc^en Seite fyn*)*
*) 2luf bie außerorbentlidj retd^alttge £tteratur ber frage laffe icb
mtd? Iner nicfyt weiter ein, id? üertuetfe auf Hetntjarbt, Syrern ber
d^rtftlidjen ITCoral. Bb* 3, 2IufL Wittenberg 1807. 5. \95 ff. unb
XTtartenfen a*a*®* S* 259 ff* Sie beginnt mit ben griecfytfcfyen philo-
foppen (für bte guläffigfeit) , fet$t fld? bann fort in ben d?rtjHidjen
ICircfyenuätern, bei betten 3uerfl bte ftreng rigortfitfd?e 2Jnfld?t auftaucht,
unter itmen aber f elber auf IDiberftanb flögt, ein gtutefpalt, ber ftd? in
ber Befyanblung ber frage burdj bte (Ideologen, pfyilofopfyen unb felbft
bte ^nviften (im ttaturred?t) bis in bie neuefie <§eit hinein behauptet
Ijah Die nnglücfltdjfie Stellung bei ber frage nehmen fyer btejenigett
ein, tuelcfye, anftatt wie bie offenen Dertetbtger ber mtlberen 2lnftcbt oon
üornljerem ben bebingten CtjaraFter bes IDafyrtiettsgebots a^uerFemten,
bie abfolute £latur besfelben behaupten unb oann bod? um ber „fyxsw
1}arttgfett ber menfa?ltdjen Sd?tt>ad$ett tinllen" bie ftrenge 2Inforberuttg
roieber ermäßigen, urie es 3*B. Hlartenfett tut, ber bei bem Derfud>e,
Die ftttltdj erlaubte £iige*
485
Der ZDeg, ben nur eingefcfylagen fyaben, um bas ö?afy>
Ijeitsgebot 311 begrünben, bie Ableitung besfelben aus bem
gefellfdjaftlidjen groecfe, bem es bienen foQ, überlebt uns
biefes Dilemmas. Das g>n?ecEprin3ip ift von pomfyerein fo ge-
haltet, i>a% es bte jtttlidie guläffigfeit tpie Un3uläffigfeit aus
ftdj 3U entlaffen permag, gan3 fo u>ie in ben obigen 5äüen
bie §uläfjtgfeit unb Un3uläffigfeit [619] ber £nt3iefyung bes
(Eigentums unb bes ZHenfdienlebens.
Der gute §tpecf iji es, ber bas 2lbgefyen von ber JDafyr*
tjett nidjt bloß rechtfertigt, fonbern 3ur Pflicht madjt; beibes
gefyt ^anb in Jjanb, — bie £üge ijt fittlidj erlaubt, wo fie
pttlicf) geboten ift. Der gute «gtpecf, fage icfy, nidjt bie bloße
gute 2lbfidjt Das (ßemeinfame beiber befielt barin, ba§
fie nichts für ficfy felber fucfyen, aber bie gute 21bfidjt perträgt
ftd) aucfy mit einer objeftip unfittlicfyen ober recfytstpibrigen
fjanblung — ber etfyifdje Crifpinismus*), ipie idf ifyn
nennen mochte. Sotpenig bas gute, b. i. uneigennützige ZTTotip
ftd? aus ber logtfdjen Sacfgaffe, in bie er fid? perrannt l^at, burd?
allerrjanb bialeftifd^e Cafdjenfpielerfunftftücfe 3U retten (3* 23* (Segenfat$
ber nieberen unb rjörteren, abftraften unb perfönlidjen XPatjrfyett S* 260
3tr>ifdjen bem eisernen, formal rid?ttgen unb ber bas gan3e Perrjältnis
umfaffenben XPa^rt^ett, ber XDarjrrjeit unb ber XPeisfyett S* 261 a» mj,
fdjlieglia? 3U bem Selbftroiberfprud?e gelangt, in einer f^anblung, bie er
f elber als „unter ben gegebenen Derrjältuiffen für beredjtigt unb pflia]t*
mäßig" anerfeunt, „etmas r>on Sünbe unb ber Dergebung Bebiirfttges"
3U ftnben — bie Strafe ber £}albrjeit, bie 3tpei Slnfidjten geredet roerben rotIL
*) Der fjeilige <£rifpinus ftatjl £eber, um 2lrmen Scfyutje baraus 31t
madjen. Das römifd?e Hedjt l|atte ben Jaü bereits üorgefefyen, 1. 5$
§ X de furt. ($7. 2) . . et is furti tenetur qui ideo rem amovet, ut alii
donet. (Eine geroiffe 33erücfftcrjtigung lägt basfelbe bem moralifdj aa^t-
baren flloi'w bei ber red)ts erübrigen ^anblung allerbings angebeirjeit,
nämlidj bie, ba§ es in bem Jaüe nid?t dolus (= 23osr|eit), moran fldj
bie 3nfami* knüpfen trmrbe, fonbern bloße culpa (rjier = Sd?tr>äcr/e
annimmt, 1. 5 pr. de servo corr. (\\. 3) . . humanitate vel misericordia
duetus, 1. 7 § 7 de dolo (% 3) . . misericordia (ftrenger 1. 7 pr. Dep.J6.3),
1» U § 3 quod falso (27. 6) . . affectu enim magis propensiore quam dolo,
1. 8 § JO mand. {\7. \) . . gratia, 1. 7 § \0 de dolo (% 3).
486 Kapitel IX. Die fokale HIed?aniF. Das Sittliche*
bie Übertretung aller fonftigen fittlichen (Sebote 3U recht-
fertigen nermag, ebenforoenig bte bes IDahrheitsgebots* IDer
um eines anbem ttnllen einen dritten belügt ober betrügt
ober falfch geugnis ablegt, begebt ettoas objeftto llnjtttliches
ober Bechtstmbriges, bie roo^toollenbe 2lbftcht gegen ben
einen liebt bas Unrecht, bas man gegen ben anbem [620]
ober gegen ben Staat begeht, nicht auf, fonft toürbe bte gute
2lbficht aHe Dergefjen unb Derbrechen ^eiligen.
Don ber £üge aus guter 2lbficht unterfdjeibet fict? bie 3U
gutem &weäe baburch, bag bas präbifat bes (5uten nicht
bloß für bas fubjeftioe ZHoth), fonbern aud^ für ben inten«
bierten objeftit>en (Erfolg 5utrifft, unb bies ift ba ber 5all,
tr>o ber Cäufchenbe nicht feiner felbft ober eines anbern,
fonbern lebiglich bes (ßetäufchten toillen, um ein brohenbes
Unheil t?on ihm ab3uroehren, [ich bie Oufchung erlaubt,
üorausgefefet, ba§ fie ben Umftänben nach bas einige ZTTittel
tr>ar, um ben getoünfehten <§tr>ecf su erreichen, wie bies in
ben oben angeführten Beifpielen ber 5all ift. Die £üge per»
bient hier ben Hamen ber rettenben. Der ZHann rettet bie
5rau, ber 2tr3t ben patienten, ber Selbl\ext bas Ejeer uftr>.,
biefe Bettung ift Pflicht unb voo bas einige 3U bem gtoeefe
gebotene ZHittel in ber Cüge befteht, tsirb bamit bie £üge
nicht blo§ 3uläffxg, fonbern Pflicht. BTag ber ftarre BToralijt
in ber Cüge ein moralifches (ßift erblicfen — bas <5ift, bas
bem (Sefunben ben Cob broht, bringt bem Kranfen Reifung.
ZHag er bie £üge bie iinjlemis unb bie tDahrheit bas Sicht
nennen — im gimmer bes 2lugenFranfen nach ber Star»
Operation muft $xr\ftevnis iietx\d\en, bas £icbt bebeutet biet
bie eisige Had^t bes 2luges. <San3 fo perhält es ftch mit
ber IPahrheit — wo ihr £icht ben Cob bringt, ift bic Der'
hüllung besfelben pflid}t, ba macht berjenige, ber es enthüllt,
ftch bes tflorbes fchutbig. Sichte [621] h<*t fid? 3" ber feit*
famen Behauptung perftiegeu, ba§ in ber Derhütluug ber
Die fdjonenbe £üge*
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IDafyrtjett in biefen 5ällen ein (Eingriff in bte ^rei^cit bes
anbem liege. 2tls ob man bann nidjt aud] ben Selbftmörber
jtdj ertränfen ober Rängen laffen unb ben ZDunfdj bes 2lugen*
franfen, ber bas £idjt begehrt, erfüllen müßte. 2)er formale
(ßefiditspunft ber 5reifyeit, wenn er überhaupt fyer angerufen
werben fönnte, würbe in be3ug auf bie H?al|r^eit gerabe 3U
bem entgegengefejjten Hefultate führen, benn er würbe für
ben £ügenben bas Hedjt 3m: £üge ergeben, ein 2lnfprudj bes
anbem Ceits auf bie iDafyrfyeit lägt fidf ifym ebenf owenig
entnehmen, wie alle fonftigen 2lnfprüd|e fidj mittels feiner
gewinnen laffen. Der allein entjcfyeibenbe (Beftcfytspunft ift
bie 5orge um bas JDofyl bes anbem, bie Derpflidjtung, einen
anbern 3U retten, ber ofyne uns verloren wäre; bürfen unb
follen wir 3U bem gweef unfer eignes £ebeu baxan fefeen,
beffen (Erhaltung anbererfeits bodj ebenfalls jtttlicfye pflidjt
iji, fo bürfen unb follen wir aud) bie £)at|rfyeit opfern, wo
bavan bie Hettung bes anbem fyängt
Don ber rettenben £üge, welche bie 2Tforal nidtf blojj
perftattet, fonbern erforbert, unterfdjeibe id} eine anbere, beren
Verantwortung bie Sitte 3U übernehmen Ijat, idj will fie bie
f onoentionelU ober bie fdjonenbe £üge nennen. €in
23eifpiel gewährt bas fog. Derleugnen gegenüber einem Sefudj,
ben man nicfyt annehmen wiH ober fann (man ift „nicfyt 3U
Banfe") ober bie 2lblefyiung einer <£inlabung, ber man nid^t
5olge leifteu will (man ift „perfynbert"). [622] <£ine 3weifellofe
£üge unb ber Cfyeorie bes abfoluten IDafyrEjeitsgebots gegen-
über in feiner ZDeife 3U rechtfertigen. J^at bie Sitte fid? r>er«
gangen, inbem fie biefelbe 3ulie§? ZtTan madje bie probe
mit bemjenigen, gegen ben fie begangen wirb, id) meine ben
normalen (SefeUfdjaftsmenfcfyen, nid]t ben etfyfdjen Doftrinär.
ZHan ftelle i^m bie IDafyl 3wtfdjen ber tDafyrfyeit unb ber
£üge, ber IDafyrfyett, bie für ifyn mit einer Verlegung oer*
bunben ift, unb ber £üge, weldje ifym biefelbe erfpart, er
488
Kapitel IX. Die fo3iale ITCedjanif. Das 5tttltd?e»
wirb nicht 3tx>eifeln, toelche pon beiben er sor3U3tehen I^at.
In biefem £idjte betrachtet barf ftch bie fdjonenbe £üge ber
rettenben sollfommen ebenbürtig 3ur Seite (teilen, beibe t>er*
folgen einen gerechtfertigten gwed, unb für bie Sitte be»
Rauptet ber &voe<X ber Schonung gan3 benfelben IDert a>ie
für bie ZHoral ber ber Hettung*
T>ie fchonenbe füge filtert uns auf bie ^jöflidjfeit 3urücf,
bie tx>ir folange aus ben 2tugen verloren l{aben. 3dj toürbe
mir ben langen Umioeg, ben ich ben £efer im bisherigen
geführt Ijabe, nicht serffattet Reiben, wenn es mir lebiglich
barauf abgefehen geroefen roäre, ben richtigen XTTajsjlab für
bie etBn'fche Beurteilung bes roahren IDefens ber Ejöflichfeit
3u gewinnen; bies toctre leidster 3U erreichen getpefen. Zluv
ber Umftanb, baß ber 2Tachtt>eis ber praftifdjen Bebeutung
bes tDahrheitsgebots mir an biefer Stelle bie bequeme <Se*
legenheit bot, bas (Ergebnis fofort an ber ^öflichfeit 3U t>er»
roerten, h<*t widj beftimmt, bie obige tiefeingehenbe Unter«
judjung h^r einschalten, wätyenb [623] ich fie, abgefehen
bason, einem anbern gufammenhange, ber teleologifdjen
Kritif ber ZHoralporfchriften, t>orbehalteu haben toürbe. 2)aß
jte ein höchft wichtiges (Slieb in meinem Svftem bes gvoeds
bilbet, brauche ich bem £efer nicht erft 3U fagen, unb toenn
roir erft bar an gehen, alle Baufteine, bie u>ir auf unferem
langen JDege gefammelt liaben, 3ufammen3utragen unb 3um
Bau 3U t>em>erten, fo unrb es (tch 3eigen, baf} bie fyet von
mir meines Höffens 3uerft ins richtige £icht gerüefte gefell«
fchaftlidje Bebeutung bes tDahrheitsgebots einen ber €dfteiue
bes Baues abgeben tsirb.
Hnfere Betrachtung ber ^öflid^feit h<*t an ber Stelle,
too nur fie abbrachen (S. ^9)/ m*t Srfenntnis afcge«
fchloffen, ba§ ihr IDefen im Sdjeme befteht; bie bisherige
Das Sd?emu>efett bei ber ^öfltd^feii
Unterfudjung ijat uns ben Zllaßflab geliefert; ben Schein 3U
beurteilen.
3fi tiefer Sdjein £üge? IDenn feie 5rage 3U bejahen
tx>äre, fo müßte biefe 2lrt ber £üge ^ebenfalls von ber oben
ertx>ätjnten fonpentioneüen £üge unterfdjieben werben, lefetere
ifi flets £üge, benn fte befielt in bem Dorfdjüfeen falfdjer
Catfadjen, jene tDürbe ben Ztamen nur ba t>erbienen, wo es
an ber (ßejtnnung, beren Schein bie J^öflic^feitsformen äußer-
lich funbgeben, fetjlt. Da es tDÜnfdjenstx>ert ift, bas fadjlidj
Derfdjiebene mit serfdjiebenem Ztamen 3U belegen, fo roirb
es rx>ot)Igetan fein, ben [624] tarnen ber fom>entionellen
£üge auf ben erften 5<*ß 3U befd}rän!en, toäbrenb es ber
Unterfucfyung vorbehalten bleiben muß, ob bie äußere Se*
adjtung ber Ejöfltcfyfeitsformen in bem angegebenen 5ctHe mit
bem Ztamen £üge belegt 3U roerben perbient.
Angenommen, baß bie f}öflid}fett bei bem inbisibuellen
Zfianget ber inneren (ßeftnnung, ber im folgenben ftets sor*
ausgefegt roerben foll, als £üge 3U djaraftertfieren roäre, fo
roürbe fie ^ebenfalls auf ben ZTamen ber gutartigen im obigen
Sinn Anfprudj Bjaben, benn ber gtoecf, ben fte perfolgt, liegt
nid)t in ber perfon besjenigen, ber ftdj ifyrer unter3ief)t, nicfyt
in einem §rx>ecf, ben er bamit für ftdj erreichen unH, fonbern
in ber bes anbetn Ceils, in einem «gtsecfe, ber biefem 3ugute
fommen foll, in bem 23ejtreben, ifyn roofyltuenb 3U berühren.
AHerbings famt bie ^öflidjfeit aud) für benjenigen, ber fte
erroeift, itjre ^rüc^te tragen, inbem fte ifym ben anbern Seil
geneigt madjt unb bies mag fubjeftio felbft bas VTiot'w bilben.
21ber toie immer ijf audj i|ier bas fubjeftioe IHotip oon bem
objefttoen gtoecfe ber Einrichtung genau 3U unterfcfyeiben,
unb inbem toir bie 5rage auf werfen: ob bas Sd}eintr>efen
ber £{öfltdjfeit als Unwahrheit 3U beftimmen ift, flellen u>ir
uns nicht auf ben Stanbpunft biefes ober jenes 3n^^^wums,
fonbern auf ben ber £(öflichfeit als einer fo3ialen 3nfHtution.
^C)0 Kapitel IX. Die feciale Ittecfycmtt Das Sittliche.
bringt ber «gwecf biefer 3^fHtution es mit fid), ba§ ber Schein
öie iDafyrljeit pertritt, fo barf bas 3nbtt>ibuum, wenn barin
eine öige gefunben [625] werben follte, ben Porwurf von
fid| ablehnen unb ber Sitte 3uweifen*
2llfo bie Sitte ift anklagen, ba£ fte mittels ber fjöfltcfy
feitsformen ein Sdjetnwefen in bie ZDelt gefegt Ijat, bas ftdj
mit bem (ßebote ber IDafyrljaftigfeit nidjt perträgt? IDer es
tun will, ber mag nur gleidj über unfer gan3es Ceben ben
Stab brechen unb audj ber poefie unb ber Kunft unb felbft
ber Sprache ben Krieg erflären. 3)en Schein aus unferem
£eben perbannen wollen, ljei§t ber gansen lüelt eine anbere
(Seftalt geben, benn fie ift burd) unb burd) mit Sdjein per-
fekt, nicfyt bloß bie ZDelt bes frönen Scheines: bes Dieters
unb Künftlers, fonbern aud) bie nüchterne ber realen IDirf*
lid]feit ZTtan benfe fid) ben JMcfyter ober ben Hebner, bei
jebem JDort ängftlid? überlegenb, ob aud? ber 2lusbrucf ber
(Empftnbung ober bem (ßebanfen pollfommen entfprecfye, bas
£ineal ber H?al)rl)ett an alles gelegt, was er fagt unb fpricfyt.
<£s fye§e bie poefie unb Serebfamfeit an bie Kette legen,
ifynen ein Bleigewicht anhängen, jeber <Slan$ unb Scfymucf
unb Sd)wung ber Hebe, jebes patljos wäre unmöglich ge«
madjt. Unb tpas wäre felbft bie Sprache bes gewöhnlichen
Cebens, wenn man alle ihre JDortbilbungen unb IDenbungen
auf i^ren XDatjrljeitsgelialt prüfen unb fämtliche ausfeheiben
wollte, welche bie Prüfung nicht beftänben, fie tpürbe einem
gerupften unb feiner Schwungfebem beraubten Dogel gleichen*
Zllan achte einmal auf fiel}, wenn man f pridjt, unb man wirb
fiel) [626] unausgefefct auf IDenbungen eüappenf bie ebenfo*
wenig wahr ftnb wie bie üblichen ^öflid]feitspl)rafen. IDer
bürfte fich noch ber IDenbungen bebienen: was fann es
Schöneres geben — ich war auf bem (Sipfel bes (ßlücfes
unb un3äl)lige anbere, bei benen bie Übertreibung bie 5orm
bes lebhaften (ßefühlsausbrucfes abgibt? IDer ftd) im Spred?en
Ungefäbrüdnxtt bes Scheins bei Der ^öfücbfeit»
in be^ug auf bie Wahl ber 21usbrücfe burch bas ffrenge d5efet$
ber iDabrheit leiten laffen null, muf} r>on neuem anfangen,
bas Sprechen 3U lernen unb ftd? feine eigene Sprache bilben.
Wet biefe tolle 3bee oon jtd) rr>eift unb ftch ber Sprache
bebient, tx>ie fte nun einmal ift, tr>irb auch bie Sitte fyn*
nehmen, toie fie einmal ift, unb ibr bie Derantroortlichfett
bafür überlaffen, ba§ fie für ben gefelligen Derfebr an Stelle
ber nadften IPirflichfeit in fällen, wo fie banach angetan ift
3urücf5ufto§cn, 31t perlefeen, 3U erfchreefen, ben Schein gefegt
bat, ber fie oertjüHt, unb ben unangenebmen (£inbrucf burch
einen tr>obttätigen, an3iebenben, beiteren erfefet. (£in fünfttiches
(Sebi§ enthält eine Untx>ahrbeit, eine Cäufdjung; aber tt>ie
banfbar ftub roir ber CEäufchung, ba fie uns ben 2Inblicf ber
flaffenben &aty\li\de erfpart. Unb ejbenfo erfpart uns bie
ÜTasfe, toelche ber ZHenfd] bei ber £jöflid]feit vorlegt, ben
bes häßlichen (Seftctjts. frforbert bas (Sefefe ber XDa^rf]eit,
baß bas £jä§lid]e fichtbar toerbe? Saufen rr>ir ber Sitte,
ba^ fte es nicht fotseit ausgebcljnf t[at, unb nennen mir nicht
falfch, roas itjr 3ufoIge nur bie öeftimmung [627] ^at, uns
bas f}ä£lid>e 3U verhüllen. Sotoenig biefe Se3eid^nung für
bas jenige patft, toas in biefer Se3ie^ung auf Hed]nung bes
2ln)tanbes fommt (S. 352), foroenig für bie fjöflichfeit, ber
richtige 2lusbrucf ift Kunft, fünftliche ZTachbilbung besjenigen,
u>as fehlt.
Unfere bisherige Betrachtung fd|Itc§t mit bem Hefultat
ab: ift bie E|öflid>feit als £üge 3U d^arafterifteren, fo gebührt
letzterer jebeufalls bas präbifat ber gutartigen, fie bat nid]t
ben Stt>ecf, Übles, fonbern (gutes susufügen, unb nicht bas
3nbipibuum, fonberu bie Sitte bat fie 311 vertreten. <£s ift
aber nicht fd]toer barsutun, ba§ ber Harne £üge auf fte gar
feine 2lntr>eubung erleibet.
Von einer £üge fann mau nur ba reben, tr>o bie tEäu-
fchung beabfid^tigt ift. Dies faßt bei ber Böflid]feit biuroeg,
492
Kapitel IX. Die feciale Xdeö^amt Das Shtltdje*
benn bie Jjöflichfeit gibt ben Schein nicht für IDahrheit,
fonbern für Schein ans. Wct bas £eben fennt, weiß bies
unb ift gegen bie (Sefahr gefiebert, ben Schein für IDahrheit
$u nehmen, nur ber gän3lich Unfunbige fann bie üblichen
^öflic^feitspBirafen: ben 2Iusbrucf ber t>oHfommenflen §oä\>
adjtung, ber Ergebenheit, ben gehorfamen Diener ufw. für
bare 2Hün3e nehmen, er gleist bem Kinbe, bas in blanfen
Hechenpfennigen (Solbftücfe erblicft, unb I[at ftch felber bie
Schulb fetner Cäufchung bei3umeffen* Dem Kunbigen ijl be*
f annt, baß alle biefe Perjtcherungen nicht bem 3nbipibuum,
fonbern ber abftraften perfon gelten (S. ^02), unb ba^er
gegen [628] äße perfonen ohne ttnterfdjieb, befannte wie
unbefannte, gleichmäßig 3ur 2lnwenbung gelangen.
Das Scheinwefen ber fjöfüchfeit tft ba^er nicht als füge,
fonbern als 3ßt*ft°n (S. 3U beftimmen, es gaufeit uns
ein wohltuenbes 23üb x>or, bas uns ben 2lnblicf ber siel*
leid}! recht abfehreefenben IDahrheit erfparen foH. Sowenig
man bem Schaufpteler ben Dorwurf machen barf, baß er
ftch perfteüe, heuchle, f owenig bem höflichen, beibe (teilen
etwas bar, was fie nicht finb, aber fte seriellen ftch nicht,
fie fpielen lebiglich bie Holle, welche ihnen 3ugewiefen iji,
unb von ber jeber weiß, baß es eine bloße Holle ifi, unb je
r>oIIfommener bie 3Öufton, welche fte h^orrufen, bejlo mehr
entfprechen fie ihrer Aufgabe.
Mm bas 3U fönnen, muffen fte ftch in ihre KoHe hinein»
benfen. XDie ber Sdjaufpieler ben (Zfyavaftet, ben er bar-
5ufteHen bat, nur bann äußerlich getreu 3ur ^nfchauung 3U
bringen x>ermag, wenn er ihn vorher innerlich richtig erfaßt
hat, ebenfo ber fjöf liehe; fehlt es ihm an ber inneren <ße-
ftnnung, fo muß er ftch biefelbe wenigfiens intelleftuell 3U
vergegenwärtigen permögen, um ben ZHangel berfelben un-
fühlbar 3U machen. 3n biefem intelleftuellen Sinn als richtige
<£rfenntnis bes (ßeiftes unb IDefens ber ^öflichfett muß bas
(Eypen ber ^öfltcbfeti
innere JTtoment kern 3nbu>ibuum ebenfo $u eigen fein, tt>ie
es ihm im moralifchen Sinn: als IDillensftimmung abgeben
fann — bie (ßeftnnung fann fehlen, bas Derftänbnis nicht.
Daburch [629] unterfcheibet ftch öie echte fjöflidjfeit, welche
allein biefen ZTamen perbient, von 5er bloßen mechanifchen
21brichtung, ber 2)reffur bes £afaten. £efetere get^t auf in
ber rein äußerlichen Aneignung unb 2tmpenbung ber por-
getriebenen Hegeln, jene erfaßt biefelben ihrem Sinn unb
(Seifte nach, unb ift baher in ber £age, fte 3U ergäben, wo
fte nicht ausreißen, btefe !ommt über bas mechanifch 2ln*
gelernte, bas Jtutomatentum rxxdit hinaus, beibe Cypen per*
halten fich 3ueinanber u>ie ber Künftler 3um I^anbroerfer.
3n biefem Sinn erfaßt unb burchgeführt, barf ftch bie Qöf*
lich?eit ben ZTamen einer Kunft pinbi3ieren — bie prafttfche
Kunft bes Umgangs, welche im £eben ihre Schaubühne auf*
gefchlagen liat, unb beren gtoed es ift, basfelbe 3U per*
fchönern. 21uch in biefer Kunft ift ber gefchulte ZHann, ber
in ihren (ßeift eingebrungen ift, tpenn ihm auch bie (ßefinnung
abgeht, bem bloßen ZXaturaliften, ber nichts als festere befifct,
toeit überlegen, auch fte **>ill, tüie jebe erlernt (ein, unb auch
fte ift jener hochften Steigerung fähig, bie nnr Dirtuofentum
nennen.
Diefe ZHöglichfeit ber grabuellen Steigerung ift feiner*
Seit (S. 290) als einer ber charafteriftifchften §üge ber £}öf*
lidtfeit im (Segenfa&e 3um ilnftanb namhaft gemalt. Bei
lefeterem greift biefelbe nur nach ber negativen Seite hin
plafe, nicht nach ber pofttipen: es gibt (grabe bes 2lnftößigen,
nicht bes 2lnftänbigen. Der Spielraum ber fjöflichfeit ba*
gegen erftrecft fich nach beiben Seiten hin, [630] unb nach
ber pofttipen Seite hin ermöglicht er nicht bloß eine grabuelle
t 2lbftufung, ein mehr ober minber ber Achtung ober bes IDohl*
[tpotlens, bas man bem anbern äußerlich 3u ernennen gibt,
jfonbern eine Perfchiebenheit bes gan3en Cypus ber £jöflich*
Kapitel IX. Die fatale IHedjantf, Das Sittliche*
feit. Weld\ r>erfd)iebenen typifdjen Cl^arafter fann nicht ein
unb berfelbe Ejöf Itd^fcttsaft annehmen» Der (Srug, ber
(Empfang, bte 2lnrebe formen fein: fühl, falt, gemeffen —
herablaffenb, pornehm, gnäbig — bet>ot, ehrfurchtsvoll, unter*
tänig — freunblich, pertraulich, h^3Üch — alles innerhalb
bes Hammens ber Ejöflichfeit. Die ^öflid^feit fann inbit>i*
bualifieren, nuancieren, ber 2tnftanb nicht. Der (Srunb liegt
in ber nad}gett>iefenen Derfdjiebenfyeit beiber: bie £(öflichfeit
fehrt jich gegen bie perfon, ber 2lnjtonb nicht, bie ^öflicb*
feit ijl pofittt>er 2lrt, unb h<*t ben 2lusbrucE ber (Sefmnung
3um groeefe, ber 2tnftanb ift negativer 2Irt unb B^at mit ber
(Sefinnung nichts 3U fchaffen. Permöge biefer ihrer Sigen«
fdiaft als 2lusbrucfsmittel ber (Sefinnung fann bie £jöflid)feit,
ohne ftcf^ f elber untreu 3U toerben, ebenfogut bc3u bienen,
bie Annäherung 3u serhinbem, als jte t|erbei3ufül]ren( fte
gleicht ber Buberftange, toeld^e bem Bootsmann ebenfogut
ba3U bient, bas Boot r>om £anbe ab3ujto§en, als ans Ufer
heranziehen. 3m erften 5aU erreicht fte ihren «gtoeef ba*
burch, ba§ fie bie $etne, im 3ix>eiten baburch, baß fte bie
ZTäfye ber beiben ftch gegenüber fteBjenben perfonen 3ur 2ln*
fchauung bringt, bort burch 2lnfchlagung eines füllen, [631]
gemeffenen Cons ober burd} bas Übermaß ber 2lufmerffam*
feit, I|ier burch 2lnfd)lagung eines Cons, toeldjer bas Wol)h
gefallen an ber perfönlidjen Berührung unb ben IPunfdf
ber IDieberholung berfelben 3u erfennen gibt. 2luch im erften
5aQe perleugnet bie Ejöflichfett ben gtoeef nicht, ben fte als
faiale 3nf^tution 3U ^füllen Ijat: bie gefeüfchaftliche 23e*
rührung 3U ermöglichen, benn fie ermöglicht biefelbe mit
£euten, benen man fonft aus bem tDege gehen nmrbe.
Den äußerften (Segenfafc 3U biefer abtsehrenben JEjöflicf?-
feit t>ergegentr>ärtigt uns biejenige 2lrt bes Benehmens, B>eld?e
bte Sprache treff enb ^er3lic^f eit getauft h<*t, es ift bas Ejer3 f elber,
bas innere, echte iPo^ItPollen, welches in ihr in natürlicher,
(Typen ber ^öfltd?!eti
495
unge3tt>ungener IDeife 3utage tritt, ober, um einen früher ge*
brausten Ausbrucf toieberum auf3unel>men: bie Cransparen3
bes Siethens im äußeren Benehmen. XHit ihr nimmt bie f}öf *
lid)feit benjenigen (Ef^arafter an, in bem bie (Etfyif bisher fälfeh*
Itd? ifyr IDefen ^at erblicfen, unb nach bem fte ausfchltepd?
ihren IDert ^at bemeffen roollen: ben moralifchen, unb in biefer
(ßeftalt barf fte in IDirflichfeit ben Ztamen beanfpruchen, mit
bem bie €thi? in Derfennung ber foialen Seite ber Ejöfltd]*
feit ihre CBjarafteriftif hat erlebigen tooHen: ben einer Cugenb.
3ch fyabe hiermit bie 3toeite ber brei Aufgaben, roelche
ich mir oben (S, ^38) geftettt Blatte, gelöft unb tr>enbe mid]
nunmehr ber britten 3U,
3. Die Phänomenologie ber höflich? eit
[632] Unfere bisherige Unterfuchung hatte bas Allgemeine
ber X}öfltchfeit 311m (ßegenftanbe: Begriff, <§u>e<f, XDefen ber
Höflichkeit, (ßegenfafe berfelben 3um Anftanb, Verhältnis bes
äußeren 3um inneren ZHoment uftr>. An biefe allgemeine
Ct^eorie ber £(öflichfeit reiben mir im folgenben bie <gu<
j f ammenfteHung f ämtlicher ein3elnen Ejöflichfeitsformen, unter
welchem Ausbrucf roir unter Beibehaltung bes früher (S, 2%)
gerechtfertigten Sprachgebrauchs alle (ßebote unb Hegeln
oerfte^en, roelche bie fjöflichfeit für bas Benehmen aufftellh
(Einen großen Ceil berfelben haben toir bereits früher fennen
gelernt, es tt>aren biejenigen, toeld^e ausfchließlich ber Achtung,
I^iehungsroeife bem £)ohltx>olIen angehörten (S. 398 ff.,
S. ^3\ff.), ein anberer Seil ift noch rücfftänbig, es ftnb bie»
jenigen, bie ihnen beiben gemeinfam finb.
UTein Augenmerf bei biefem Stücf unf erer Aufgabe ift
3unächft barauf gerichtet, bas gefamte ZHaterial, toelches
bie Ejöflichfeit in biefer Hid]tung barbietet, 3ufammen3utragen.
Auch h*er fteige ich toieberum, um mich biefes ZTTaterials 3u
bemächtigen, ebenfo toie beim Auftanb, bis in bie tieften
Kapitel IX. Die fetale medjamf* Das Sittliche.
Xtfeberungen bes täglichen Cebens fyinab, unb toer bas Vor* |
urteil fyegt, ba§ es für bie IPiffenfdiaft eine 3)emarfations« I
Knie gebe, bie jte nidjt überfcfyteiten bürfe, wirb an ber 9
folgenben ttnterfudjung mdjt geringen SXnfiog nehmen. ttidjts
tfi für mid| $u flein unb nrxbebenterxb getsefen, bem tdj nicfyt
meine [633] 2lufmerffamfeit 3ugeroanbt \\abe, felbft bie all*
täglichen pfyrafen bes Umgangs, bie rool^l nodj niemals 3um
(Segenftanb einer unffenfdiaftlidien Mnterfudjung gemalt
roorben fmb, fyabe idj für meine gtseefe fyerange3ogen. Vet
(Erfolg muß lehren, ob bie gewonnene Ausbeute ber ZHüfje
wert war, IHag bas ein3elne als foldjes audj nodj fo un<
bebenterxb unb wertlos fein, auf bie <£rgebniffe, bie idj iE>nen
entnehme, wirb man, wie idj fyoffe, biefe Se3eid]nung nidjt |
anwenben.
3dj fyabe midi bei ber Sammlung bes ZHaterials nidjt !
bloß auf unfere heutigen i}oflidjfeitsformen befdjrcinft, fonbern,
foweit meine eignen Kenntniffe ober bie freunblidje Unter- j
ftüfeung artberer (Belehrte n midj ba^n xnftanb festen, aud?
bie mancher Pölfer 6er Vergangenheit unb auger europäifdjer
Dölfer 3ur Pergleidjung fyerange3ogen, unb biefer £>ergleid?ung
serbanfe xd\ ein Ergebnis, bas idj 3U ben toertoolljien 3äljle,
bie xd\ jemals bei allen meinen wiffenfdjafttidjen Unterfudjungen j
gefunben 3U haben glaube, unb bas mid?, als idj es fanb,
im Ijöcfjjlen (Stabe überrafcfyte. (Es war bie IDafyrnefymung,
baß formen, welche xd\ bis batyn für rein 3ufättige, will*
fürlicfye, national bebingte gehalten fyatte, ftdf 3U ben t>er*
fdjiebenjien Reiten unb unter ben entlegenften Rimmels jtridjen
wieberfyolen. 3e mefyr idj bie Dergleidjung fortfefete, bejlo
mefyr jieHte ftdj eine Übereinftimmung biefer formen heraus
unb 3toar nidft etwa bloß in ben wef entließen punften: in
ben (Brunbgebanfen ber £jöflid]Jeit unb in [634] benjenigen
Sußerungsformen berfelben, bie man als bie natürlich ge*
gebenen anfeljen möchte, fonbern felbft in ben fcfyeinbar pöfltg
rOtffenfäaftltdjes 3ntereffe der §öflid}?ettsform<m< 497
tx>iHfürltchen, font>entioneüen, unb fogar für biejenigen, meiere
ich ab Derirrungen, 2lustr>üchfe, Öi3arrerien ber mobemen
Eföflic^Jeit 3U be3eidjnen geneigt voatf fanb ich Parallelen bei
ben alten 3uben, bei ben 3at)anenf 3apanern, £t)inefen, bei
DSlfem alfo, 3u>ifchen benen unb ben europäischen Kultur*
oölfern jeber (ßebanfe einer ursprünglichen (ßemeinfcfjaft ober
Übertragung ausgefchloffen tr>ar. 3cfy gelangte 3U bem Beful*
tat: auf feinem (gebiete bes burch gefeßfchaftliche 3^perattee
beherrfchten Cebens, tt>eber auf bem bes Hechts, noch bem
ber ZHoral, noch bem ber übrigen (ßebiete ber Sitte erflrecFt
fich bie Übereinstimmung fo außerordentlich weit wie auf bem
ber fjöflichfeit — lefctere fyat bei gleiten Perbältniffen über*
all nal^e3u biefelben Füchte getrieben, IDie fie in be3ug auf
bie 5rü^eitigfeit ihrer (Entwidmung bie erfte SteHe einnimmt
(Ztr. \6), fo auch in be3ug auf bie (Sleichartigfeit berfelben»
Zlirgenbs fommt ber (Sebanfe ber römifchen 3ur^ßn ÜOn
ber naturalis ratio, ben wir oben bereits an bem 2lnjianbe
bewahrheitet traben, ber gefdjichtlichen iDirftidjfeit fo nahe,
als bei ber Jjöflichfeit. T>er 2lbjianb 3wifchen unferem Hecht
unb unferer Zlloral unb bem ber Ojinefen ift ein außerordent-
lich weiter, bagegen ftimmt bie chinefifche I}öflichfeit, toie
feiner3eit nachgewiefen werben wirb, mit ber beutfehen bes
vorigen ^aiitl\nni>evts in ihren [635] (5runb3Ügen überein,
ber £)eutfche I)ätte bei bem Cfynefen, lefeterer bei jenem in
bie Schule gerben tonnen.
3ch meinerfeits barf, um mich nicht 3U weit 3U sedieren,
bem (Sebanfen, ben ich t^ier ausgefprochen Ijabe, nicht weiter
naeftge^en, ich befchränfe midi barauf, bas XHatertal, bem
ich ibn entnommen fyabe, unb mit bem ich ihn 3U beweifen
^offe, im folgenben bei ben ein3elnen £)öflichfeitsformen an-
Sufüfyren, aber ich glaube bie Überzeugung ausfpredjen 3U
bürfen, baß bie IDiffenfchaft, u>enn fie fich anfdjicft, ben
retchen Stoff, ber hier nod? unbenutzt lagert, 3U lieben unb
{ d. 3t?ering, Der ^tr>ecf im Hed^t. II. 32
493
Kapitel IX. Die feciale XHe^anif» Das SMidie.
3u verwerten, wobei Sprachforfdjer, Kulturhiflorifer, €tbno*
grapsen fich x>erbinben müßten, einer reiben Ausbeute fidler
fein fann. 3n ben ^öflichfeitsformen ber Pölfer fieeft mehr,
als man auf ben erjlen 23licf vermuten möchte. 3>afür werbe
ich im folgenden unb bei ber gefchichtlidjen Betrachtung ber*
felben bie gewichtigften Belege beibringen,
2lus bem Bisherigen wirb ber Cefer bereits erfehen, baß
es mir nicht um eine bloß äußerliche gufammentragung bes
mir 3ugänglichen Materials 311 tun ift, obwohl auch fchon bie
bloße 3™>entarifatton ber Qöflichfeitsformen ben tDert fyaben
würbe, ben Heichtum berfelben, i>on bem wohl bie wenigjlen
eine jutreffenbe PorfteHung Reiben werben, 3U t>eranfchaulid)en.
3ch t\ahe oben, wo ich ber Phänomenologie ber ^öflichfeit
3uerft gebachte, bie Aufgabe, ber jte gewibmet iß, mit ben
IPortenKlaffiftfation [636] unb 2Inalvfe ber fföflichfeitsformen
be3eid]net. darüber mögen noch einige lüorte geftattet fein.
J)ie Klaffififatton, 2)iefelbe foll bie <5egenfä£e inner*
halb ber Ejöflichfeitsformen 3ur 2lnfchauung bringen, nicht
bie innerlichen, burch ih^n t>erfd]iebenen (Bebanfengehalt be<
ftimmten — bies ifi bei Gelegenheit ber Dichtung unb bes
IDohtooHens gefchehen — fonbern bie rein äußerten,
welche fich bei ber Betrachtung ber form als folcher ergeben,
bie Derfchiebenheiten in bem morphologifchen «gufchnitt ber
form. Keine x>on aßen ben t>ielen Aufgaben, bie im £aufe
meiner Unterfuchung ber ^öflid^feit an mich herangetreten
(inb, ha* m™ f° siele Schwierigfeiten t>erurfacht wie biefe.
3)er Stoff, ben ich 3U orbnen hatte, fchien aller Perfud^e, ihn
in fefte formen 3U bringen, 3U fpotten, er war wie eine
flüffige, weiche XHaffe, aus ber man öaufteine formen fofl;
faum h<*t mcm fi* geformt unb an eine bejlimmte Stelle
gebracht, fo fließen fie wieber 3tifammen, feiner hält ftanb,
es i{i biefelbe weiche ZHaffe wie sorher. Jlber fchließlid}
glaube ich ben Stoff boch be3wungen 3U ha^en, wenigjfens
Klafftftfattoit fcer ^öfltdjfettsformen.
hat bie Einteilung, 3U 5er ich gelangt bin, ftch mir bei oft
ipieberholter Prüfung unb in ber 21ntpenbung jlets betpährt,
es ifi bie bereits angegebene in effeftipe, fvmbolifche unb
perbale Ejöflichfeitsformen.
Es fonnte fcheinen, als ob mit biefer Einteilung noch
eine anbere fyätte perbunben roerben muffen: bie in pojttipe
unb negatipe Ejöflichfeitsformen, b. h* folche, [637] tpelche
auf ein Efanbeln, unb folche, tpelche auf ein Hnterlaffen ge*
rietet finb» iVäre ber (Segenfafc begrünbet, fo roürbe bamit
meine gan3e begriffliche Hnterf Reibung von JE^öflichfeit unb
Jlnftanb, bie feine^eit auf ben <Segenfa£ bes pofttipen unb
Hegatipen gejietlt rporben ift, hinfällig tperben. 3ch I^abe
ben Eintpanb bereits S. 379 *m Vorübergehen aufgetporfen,
feine Erörterung aber bort noch ausgefegt, um ihn fyer, tpo
fie ihre richtige Stelle ftnbet, tpieberum auf3unehmen.
2tls 23eifpiel einer, bem äußeren 2lnfcheine nach negatipen
£(öflichfeitsregel nannte ich bort bie Verpflichtung , jemanben
im Heben nicht 3U unterbrechen ober ihm nicht bie Unluft 3U
verraten, mit ber rr>ir ihm 3uh§ren» I}at fie in IVirflichfeit
auf ben ZTamen einer negativen Hegel, eines Verbots 2ln*
fpruch, ober haben tpir in t^r nur bas Seitenftücf ber fcheinbar
pofttipen 2lnftanbsregetn 3U erblicfen, von benen tpir feiner*
3eit nachgemiefen iiaben, baß fie nur bie ZTegation ber Hega*
tion enthalten, b. % perbirgt fich unter ber negativen Raffung
nicht bie entgegengefefete pofitipe Hegel?
Bekanntlich fann man manche Hegeln, ohne ber natür-
lichen <5eftalt ber Sache groang an3utun, ebenfogut pojttip
als (Sebote n>ie negatip als Verbote faffen, fo 3, 23. bas oben
erörterte IVahrh^itsgebot: bu follft bie IVahrheit reben ober:
bu follfi nicht lügen. 3" berfelben JVeife rpürben tpir auch
ber obigen negatipen Hegel eine pofitipe [638] Raffung geben
fönnen, fie roürbe bann lauten: lag jeben ausreben, höre ihm
! achtfam 3U.
32*
500
Kapitel IX. Die fatale ITCedjattif. Das Sittltdje.
3ft nun bie VOaty 3U>ifd}en biefen beiben möglichen 2lus»
brucfsformen — td? habe I^ier natürlich nur bie Sprache ber
IDiffenfchaft, nicht bie bes £ebens cor 2lugen — rein Sache
bes Seitebens, ober ift jte nicht burch bte innere 23ef Raffen«
heit ber Hegel t>orge3eichnet? <£s ift bas eine 5rage, beren
eingehenbe prht3ipieHe (Erörterung, bie nicht leicht fein bürfte,
ich ber £ogif überlaffen mu§, bie ich aber meinerfeits feinen
21njianb neunte 3U bejahen. Sie Raffung ber ein3elnen Ge-
bote beftimmt jtch meines (Erachtens nach bem pojttipen ober
negatipen (Srunbcharafter bes prht3ips ober 3nftituts, beffen
2tusflüffe, 2Intt>enbungen, Setailbeftimmungen jte enthalten.
Sementfprechenb toürbe bas obige (Sebot pofttio 3U faffen
fein, tx>etl bte Ejöflichfeit pofttteer 2trt iß, es fte^t auf einer
Cime mit bem ber pünftlichfeit, bei bem 3tr>ar bie negative
5ctffung, ba|$ man nicht 3U fpät fommen foll, möglich, aber,
toie oben (S. ^02) nachgetoiefen iji, bie pofitise Raffung, ba§
man $ur rechten geit erfdjeine, bie allein 3utreffenbe ijl.
Unfer Kefultat ift: ber (Segenfafe bes pofttit>en unb Ztega-
txven ftnbet bei ber I^öflicfyfeit feinen Haum, alle ^öflid]feits*
regeln finb pojtttoer 2trt, tt>ie alle Jlnftanbsregeln negativer
2trt, bte Raffung, bie man beiben im Ceben gibt, iji für bie
toiffenfchaftliche Betrachtung gleichgültig.
Sagegen gibt es einen anbem (Segenfafc, ber aber für
bte Klaffiftfation ber JSöflichfeitsformen ohne Sebeutung [639]
iji, ba er ftch ber x>on uns aufgejieüten (Einteilung berfelben
in effeftbe, fvtnbolifche unb t>erbale unterorbnet unb ftch bei
jebem <5liebe berfelben txneberholh <£s ift ber 3tt>ifchen folgen,
toelche bas Verhältnis ber (Sleichheit, unb betten, tt>eldje bas
ber Hnterorbnung 3toifchen ben jtch gegenüberftehenben per-
fönen 3ur Dorausfe^ung l\ahen: äquale ober gegenfeitigc
unb inäquale ober einfeitige fjöflidjfeitsformen.
Sie 2Inalyfe ber ^jöflichfettsformen. Sie ha* Sur 2luf*
gäbe, ben inneren (Sebanf engehalt berfelben bar3ulegen 3tt
Die effefttoen ^öflidjMtsformen.
50t
bicfer Hichtung bleibt uns im folgenben nicht r>tcl mehr 3U
tun übrig, ba tx>ir bereits bei <5elegenheit unferer fpracblichen
Unterfuchungen über i>ie 2ld|tung, bie Ceilnahme, bas 3ntereffe
unb bie Dtenflfertigfeit bas iDefentliche sorroeg genommen
haben. <£s roirb jtch alfe nur um nachtrage f|anbeln, bie
bort fein Unternommen ftnben fonnten, unb bie bei ber
folgenben Überfielt an geeigneter Stelle eingefchaltet roerben
foQen.
\. Die effe?tit>en i}öf lichf eitsf ormen.
5ie finb im Vorübergehen (S. ^6) bereits berührt £s
finb biejenigen, meiere für ben anbern Ceil einen, roenn
auch noch fo unbebeutenben praftifchen tüert h<*ben, ihn in
irgenbeiner JPeife förbern. Don ben beiben anbern 2trten
lieben fie fich baburch ab, ba§ fie nicht bloß ettt>as bebeuten,
bie (Sefmnung nicht blojj burch irgenbein Reichen (Symbole,
IDorte) 3ur Kunbe bes anbern [640] Ceils bringen, fonbern
baß jte etwas finb, ba§ fie biefe (5eftnnung burch einen Dienft
betätigen» Der JDert jener fteht unb fällt mit bem £?erte,
ben ber jenige, bem fie ertotefen werben, auf bie (Sefinnung
bes anbern Seils legt, er ift alfo ibealer 2lrt. Der XDert
biefer ift baoon unabhängig, bie I^öflichfeitsafte, welche unter
biefe Kategorie fallen, behaupten ihren tt)ert aud? für ben*
jenigen, bem bie (ßefinnung bes anbern Ceils söHig gleich'
gültig iji, fie fyahen einen realen XDert, unb wir fönnen pe
baher paffenb mit bem ^Tarnen von Cetftungen ber Ejöflichfeit
belegen.
Die eh^elnen 5äHe finb im Verlaufe ber Darfteilung
bereits fämtlich bis auf einen genannt, es gehören bahin von
ben Ejöflidtfeitsformen ber Sichtung (S. 398 ff.): bas Aus-
weichen auf ber Straße (Ztr. 2), bie Beantwortung ber^rage*)
*) Sie gefdjtefyt 3u>ar mit IDorten, aber bie tPorte fallen fyer
md}t unter ben (ßeftcfytspunft ber vtxbaUn fjöflicfyfettsformen. Die
502 Kapitel IX. Die fostale ITÜedjanif* Das Sittltdye,
(Zlv. 4), 6ie Sldjtfamfeit auf bic Hebe bes anbem (Ztr. 5), bie
piinftltdjfett (Zlv. 8), von benen bes IDo^ItooHens bte DienfK
fertigfett (S. ^3^), Der emsige nodj übrige 5all, ben t<äj
3u nennen fy*be, ba bte (Saftfreunbfdjaft mit ber Bjöflidjfeit
nichts 3U fdjaffen I^at (5* 225 unb ^30), ift bie Vermittlung
ber perfönltdjen Befanntfcfyaft unbefannter perfonen (bas
fog» VorfteQen). Sie iß ein 2tft von [641] effeftioem IDerte,
ba er bte Brücfe fcfylägt $ur 2lnfnüpfung einer perjonlid?en
33e3teljung, bte unter Umftänben tjödjft roertüoH unb folgen«
retcfy tt>erben fann. €tne gefteigerte 5orm besfelben ift bas
Cmpfefylungsfdjreiben.
2. Die fymbolifdjen £}öf licfyf eitsformen.
Unter Symbol t>erftel)t bie Sprache einen (ßegenfianb ober
einen Vorgang, ber 3ugleidj ettoas ift unb etwas bebeutet.
Daburdj unterfdjeibet ftdj basfelbe vom Wort Die Be*
jKmmung bes IVortes erfcfyöpft fiel? Iebiglidj barin, etmas 311
bebeuten, Cräger bes (ßebanfens 3U fein, es ijat als folcfyes
nidjt ben minbejien tVert unb gtoeef , pl^vfifd? tfi es nid)ts
als Coner3eugung. Der (ßegenftanb bes Symbols bagegen
Ijat eine oon bem (ßebanfen, bem er bienen foll, unabhängige
€ytften3, er tfi unb er u>ar bereits, beoor ber (Sebanfe ifyt
3U feinem Dtenjie belieb. Der 2lbler bes 3upiter, bie €ule
ber Zfixnevva, bas £amm unb bas Kreu3 ber d]riftlidien
Symboltf u?aren Iängft ba, bepor man iBjnen bie Beftimmung
gab, etu>as 3U bebeuten, tDäfyrenb bas IDort erft mit unb
um bes (ßebanfens reißen in bie JVelt gefommen ift. IDer
bas IVort fennt, fennt ben (ßebanfen, bagegen fann man
Beantwortung ber tfrage enthält feine bloße Pfyrafe, fottbent ciuett
effefttoen Dtenft, ben ber anbete uns leiftet, unter Ümftänben einen
fefyr tpertooüen*
Die fymfcoltfd^tt £}öfltd}fettsformett>
503
ben (Segenfianb , ber 3um Symbole vevwenbet tsorben ijl,
nocf? fo gut fennen, ofyne von ber fymbolifcfyen Bebeutung
besfelben bie leifefte 2^nung 3U fyabem
Unfere beutfdje Sprache t^at bas 5rembtoort mit Sxnribxlb
roiebergegeben unb mit btefem einen J£>orte ben [642] §tr>ecf
unb bas IDefen bes Symbols in treffenbfter lüeife gefenn*
3eidjnet* (Es iji ein 23ilb, bas einen Sinn in jtcfy birgt, b. Ij.
bas feinen <§tr>e<f nicfyt in ftc^ felber Ijat, fonbern in bem
(ßebanfen, ben es ausbrüefen foll. 2lucfi bie Sprache hebxent
ftdi ber Silber 31X gleichem gtseef, Pon biefen fpracttlidjen
Silbern (ZHetapfyern) unterfdjeiben ftdj bie Symbole baburefy,
bag jte realer 2Irt jmb, man fönnte fie plaftifdje Zltetapljern
nennen, jene roenben fid\ an bas ©fyr, biefe an bas 2tuge,
bie Symbolif roiirbe ftcfy bafyer beftnieren laffen als plaftifdje
Silberfpradje.
2tuf bem angegebenen Umftanb, bag bas Symbol 3ugleii>
ettoas iji unb ehx>as bebeutet, beruht bie tfnpollfommenfyeit
besfelben gegenüber bem IDort. Sei festerem ift bas 3)e<fungs,
t>erljältnis 3tr>ifd)en Sinn unb 21usbrucE ein üollfommenes ;
üoUftchtbige Kongruen3 beiber, bei jenem ijt es ein unpotl-
fommenes, es liege auefy eine anbere Sebeutung benfen.
3nfofern beruht jebes Symbol auf Konoention, unb in biefem
Sinne Ijaben tt>ir oben (S. 4^6) bie fymboIifd]en fjöflicfyfeits'
formen als lonoentionelle be3etd]net — man mug ben Sinn
fennen, ben fie Ijaben follen, um jte 3U r>erfteljen.
2tber toenn audj bas 2)ecfungst>erfyältms bei bem Symbol
fein fo sollftänbiges ift roie beim H)ort, fo fann bodj ber
fymbolifdje 2IusbrucE bem (ßebanfen fo nafye fommen, bag
bie Sebeutung besfelben fiel? faum t>erfennen lägt. 2)afür
bieten gerabe bie fymbolifcfyen fjöflicfyfeitsformen fpredjenbe
Selege, es ftnben ftcfy unter [643] ifynen folcfye, tt>eldje jtd>
bei ben t>erfd]iebenften, auger jeber fyjlorifdjen Derbinbung
ßeljenben Dölfern tmeberfyolen, bie alfo eine 3»?ingenbe Kraft
50^ Kapitel IX. Die feciale XTCedjam?* Das Sittli&e.
bejtfeen müffen, man möchte fagen: burch bie Zlatm (elber
t>orge3eichnet ftnb.
(Eine gan3 eigentümliche 2trt 5er Symbole bilben bie*
jenigen, welche urfprünglich eine reale, praftifche öebeutung
Ratten, biefelbe aber im Caufe ber geit burch bie veränderten
Perhältniffe, ben 5ortfchritt ber Cechm?, ber Kultur, bes
Hechts ufw. eingebüßt, fich aber tro^bem weiter behauptet
haben, 2tn Stelle ihres ursprünglichen Sinnes unb gweefes,
ber in Dergeffenfyeit gerät, tauften fie bann nicht feiten einen
neuen unb $war rein Symbolischen Sinn ein*). <£in intereffantes
23eifpiel bafür, bas ich unten behanbeln werbe, gemährt aus
ber gafjl ber fjöflichfettsformen bas (Beben ber JEjänbe; ein
anbeteSf bas Dortrinfen, iji bereits an früherer Stelle nam*
i^aft gemacht.
3^nen fommen am nächjlen biejenigen, bei benen ber
praftifche gwecE, bem fte ihren Hrfprung t>erbanften, ein
befchränfter, auf gewiffe Stnwenbungsfälle berechneter war,
bie aber im £aufe ber §eit mit bemfelben eine über ifyx weit
htnausreidjenbe fymbolifche 33ebeutung erhalten haben. Sei*
fpiele gewähren ber Dortritt unb ber (Efyrenplafe (f. u.).
Symbole unb ZUetaphem fmb bas 2lusbrucEsmittel bes
[644] nod| mit bem (ßebanfen ringenben, nicht sur bewußten
(Erfaffung besfelben gelangten unentwicfelten (ßeifies, in ber
Kinbheitsperiobe ber Pölfer finben fie jtch baher auf allen
(ßebieten bes Cebens* ZTCit ber Zunahme bes Denfens nehmen
jte mehr unb mehr ab bis auf einen gewiffen Befi, ber ftd}
behauptet, auf bem einen mehr, auf bem anbern weniger.
2tuf bem (Sebiete unferes heutigen Hechts ifi faum nod7 ein
HüdPfianb aus alter geit übrig geblieben, bei ben fjöflich«
feitsformen iji er ein gan3 betr ältlicher, ein weit größerer,
als bie meiften wohl annehmen werben.
*) (Jür bas Hecbt fyabe tefy btefe (Etrfdjetnuug in meinem (Seijl bes
II, 2* S* 5$0 ßlufl 3) nad?geu)tefem
Die fvmboltf djen fjöfltdjfeitsformem
505
Vavon I^offe ich ben £efer mittels ber folgenben Dar-»
fteHung über3eugen 3U fönnen* Sie h<*t 3ur Aufgabe bie
Sammlung unb Deutung f ämtlicher fymbolifchen formen ber
heutigen J|öflich?eit, rx>omit bie entfprechenben vergangener
ober aufjereuropäifcher Dölfer t>erbunben werben foHen, fur3
be3eichnet: bie Syntbolif ber Höflichkeit.
3ch glaube bie {amtlichen formen auf 3tx>ei (ßeftchtspunfte
3urücfführen 3U fönnen: bie Symbolif bes menfchltchen
Körpers unb bie von geit unb Haum.
JU Die Symboltf des Tnenfdjltcfyen Körpers*
2)ie förperlichen Bewegungen, mit benen ber ZHenfch ben
fprachltchen 21usbrucf feiner (Sefühfe, (Empfinbungen, (Sebanfen
begleitet, ober burch bie er ihn erfe&t, ftnb nichts Syntbo*
Ii(ches, fonbem in bem VKafte Natürliches, [645] bafj es nicht
notig ift, fie bem ZHenfchen erjl bei3ubrmgen, fonbern umge*
feiert ihm manche berfelben erfi burch bie €r3iefyuttg ab3u-
gewöhnen. 2Tfand)e t>on ihnen jtnb aber burch bie Sitte für
gewiffe Jtnläffe aus freien 3u gebotenen Elften erhoben worben,
fie traben fyet bie Bebeutung t>on fymbolifchen formen, b. u
eines typx\d\en, bie Hebe begleitenben ober erf efeenben 2lus-
bruefs gewiffer (Befühle unb (ßebanfen burch bie förperliche
Bewegung erlangt. 5ür uns \\aben nur biejenigen ein
3ntereffe, welche ben gweefen ber Jjöflicfyfeit bienen; fie laffen
fteft be$e\d\nen als bie £|öf lieh? eitsfprache bes menfeh-
liefen Körpers.
Seiien rx>ir uns bie Sprache an, bie er rebet.
\> Die ber perfon 3ugefehrte Hichtung bes
Körpers.
XtTan fann mit jemanbem reben unb ihm etwas reichen,
ohne ihm ben Körper ober bas (Seffent 3U3uf ehren, praftifch
ijl lefeteres nicht geboten. 2Iber es ifl bas natürliche, unb
506
Kapitel IX. Die fojtale XTCedjant?* Das 5ttiüdje.
biefe natürltd^e £age bes Körpers ift pon ber Sitte 3a einem
(Sebote ber £jöflich?eit erhoben Horben, es gilt als unfchic!*
lieh unb unter Umftänben als Setzeis ber (Seringfchäfeung,
ZHi&achtung, jemandem mit abgetpanbtem Körper ettpas 3a
jagen ober 3U reichen, man erlaubt ftch bies nur Sienflboten
ober anberen abhängigen perfonen gegenüber. Sie f}öflich5
feit perlangt, ba§ bie momentane Öe3iehung, tpelche 3tpifchen
3tpei perfonen [646] obtpaltet, auch fmnlich burch bie Haltung
bas Körpers peranfchauticht roerbe, 21ugen unb ZHunb fotlen ftch
ihm 3ufeB)ren, ebenfo bie X}anb, inbem jte ettpas reicht (S. ^7
2tote: <£infchenfen über ben Säumen) unb mit ber J^anb ber
gan3e Körper, man foH jemanbem nicht ettpas über bie
Schulter reichen.
Sie Konfequen3, mit ber bie Sitte biefen (Sebanfen burch*
geführt l|at, betpeift, baß fie ftch besfelben fehr beutltch be*
tpußt getpefen ifi, unb bafür legt auch bie Sprache ein voll-
gültiges Zeugnis ab, inbem jte eine ZtTenge von 21usbrücFen.
tpelche im natürlichen Sinn auf bie fyaltnng bes Körpers
gehen, im metaphorifchen Sinn auf bie (ßefinnung übertragen
hat. Zfian pergleiche folgenbe 21usbrüc!e: neigen (Zteigung,
guoteigung, 2lb*neigung) xXi'vsiv (irpdoxXiais Zuneigung) in-
clinare (inclinatio Zuneigung), propendere (propensus 3ugetan),
adversus (abqetan, feinblich), jemanbem ben Hücfen feieren
(tourner le dos), über bie 2tchfel anfetjen (fchon im ZTibe«
lungenliebe), ihm 3ugetan fein, ftch pon jemanbem abtpenben
ftch ihm 3uu>enben — eine Cifie, bie jtch ficherlich aus anbern
Sprachen noch beträchtlich vermehren liege.
2. Sifeen unb Steden.
ZHit bem (ßegenfafce bes Sifcens unb Stedens ijl pon allen
Dölfem eine fymbolifche 23ebeutung perbunben tporben. Wo
es gilt, ben Jlbftanb, in ber Stellung 3tpeier perfonen äu§er*
lieh 3um 2lusbruc! 3U bringen, jtfct bie [647] eine, tpährenb bie
Die fymbolif djen ^öfltdjfettsformen»
507
anbere ftefyt; ber Sife ijl bas Symbol unb bas Dorrecht ber
ZHacht*). Die inbifchen, ägyptischen unb altgriechifchen (Sötter
fmb {amtlich fifeenb abgebilbet, unb auch bie jtnnliche Vox*
fteHung bes Cf|ripcn benft ftch (Sott jt&enb auf bem Chron.
3n ber Monarchie bilbet überall ber Cfyron bas Symbol ber
Zftacht, bei ben tpilbeften rote ben fultipterteften Dölfern, unb
noch heutigentags figuriert er bei ber (Eröffnung ber parla*
mente, ber ZTEonarch perlieji bie Cl^ronrebe jtfeenb, u>äB|renb
bie Siänbe flehen (bafyer Heichs*ftänbe), unb auch bie Homer
gewährten ihren höchften ZHagifiraten bas Vorrecht bes Sifees
(sella curulis), Iefetere faßen, roä^renb bas Volf ftanb. (Ebenfo
in unferem altbeutfchen (Serichtsperf ahren ; ber Bieter hatte
3u fifeen (baB|er Sifeung), bie Parteien unb alle anbern 2tn*
tpefenben su fte^en (ba^er für lefetere bie Se$eid^nung bes
„Umftanbes").
2luch hier finbet bie Symboli? einen natjeliegenben unb
pöHig 3rr>eifeIIofen 2lnfrtüpfungspunft an einen praftifchen
(Seftchtspunft. Das Sifeen ift im Vergleich 3um Steden bas
Bequemere, es f chliejjt alfo für ben jenigen, ber es fich per«
\tatten barf, einen Do^ug, für benjenigen, bem es perfagt
tpirb, eine gurücffefeung in ftch. Der Sjerr fifet, ber Diener
ftetjt; ba^er erblicJt bie Sprache in bem Steden ben ^usbrucf
bes Dienftperhältniffes (3U Dienften flehen, bereit ftehen,
lateinifch praesto esse pon prae-stare).
[648] Damit ift bie fymbolifche 23ebeutung, tpelche bie
£{öflichfeit an biefen (Segenfafc fnüpft, erflärt. 3*manben
fteljen 3U [äffen, tpährenb man felber jtfet, enthält eine Un*
ge3ogenfyeit, man behanbelt ihn ipie einen Diener ober als
einen geringen ZHann, gegen ben man bie Hüdffichten ber
fjöflid]feit nicht 3U beobachten braucht IPer bem anbern
feine Achtung erroeifen toitt, erhebt fich Pom Sifte, wenn
*) Sdjon oben (5, 3^5) im anbern «gufammenfjang, berührt
508 Kapitel IX. Die f totale ttled/cmtf. Das Stttlid^
berfelbe 3U ifym fommt (S. 399)/ un& *r fcfet ftdj nidjt, oljne
if?m f elber einen Sife angeboten 311 Ijaben, £>ie (Sefefee bes
Tdann (IL H20, \2H) fcfyreiben gegenüber perfonen, benen
man 2Id?tung fcfyulbet, beibes ausbrücflicfy t>or, unb bei (Sriecfyen
unb Hörnern erforberte bie Sitte gan3 basfelbe (S, 399 Ztote);
bei JEjomer ergeben ftd] bie Könige fogar, roenn jte 3um Volt
reben Qßas XIX. 55 , 77), unb auefy fyeut3utage pflegen bie
IHonarcfyen bie Jlubiensen fteljenb 3U erteilen, fur3 bie Se*
beutung bes Stedens ober Sidjerfyebens als 23emeis ber
Sldjtung ift son allen Kulturpölfern anerfanut roorben.
3« Die Derbeugung.
£s gibt feinen un3u>eibeutigeren 21usbruc! bafür, bajj
man fiefy moralifdj ober geifHg r>or jemanbem neige, beuge,
erniebrige, als inbem man es förperlid? tut. 3ofepfy fafy im
Craum, ba§ feine <5arbe ftanb unb bie feiner Brüber ftd?
por ibr neigten, unb letztere erblicf ten barin ben Sinn, baß
ifyn geträumt Ijabe: er toerbe ifyr König tperben [649] unb
über fte Ijerrfdjen (\. 7Xlo\. 37, 7, 8). Die Symbolif bes Sicfy
beugens ift fo alt tpie bie 2Ttenfd$eit.
Sie fyat perfdjiebene Stufen burdjlaufen, bie icfy fur3 als
bie afiatifcfye, mittelalterliche, mobeme be3eicfynen will.
X>er tieffte (Srab ber förperlidjen firniebrigung por einem
andern befielt barin, baß man ftcfy 3U Soben u>irft. <£s iji
bie Ijori3ontale £age bes Körpers, bei ber ber ZHenfcfy auf
ben cfyarafterijlifdjen £>or3ug, ber iE^n vom Ciere unterfdjeibet,
Vex$\<tit leijlet, bie umrbige £age bes Sflapen, ber por bem
3)efpoten 3ittert unb feinen £eib unter beffen 5üjje gibt —
ber IDurm, ber am Boben friert unb jtcfy frümmt, unb ben
ein Fußtritt 3ertreten fann: „Staub 3U beinen 5ügen, Soljle
beines fußes", tpie eine £jöflid}feitspl}rafe ber 3apanen
lautet (f. u.).
Die fytnbolifdjett I?öflidj?eitsformen*
509
Z)ie £[eimat biefer 5orm ifi 2tftcn *), fte enthält ben 3U*
treffenben 2tusbrucf ber afiatifdjen 2luffaffung von ber Hedjt*
lofigfeit unb IDefyrloftgfeit ber perfon, bie Unterorbnung bis
3ur tieften (Ermebrtgung, bis 3m: Preisgabe ber eignen per«
fönlidjfeit — in religiöfer <£fftafe a>irft ftdj ber 3n&** fogar
unter ben H?agen ber (Sott^eit unb lägt jtdj 3ermalmen.
[650] Den abenblänbifdjen Dölfem, benen bie fyjlorifdje
Zniffton 3ufielf bie perfon in itjre Heerte eht3ufefcen, ift biefe 5orm
ftets fremb geblieben. Die (ßriecfyen djarafterifteren fte als
eine afiatifcfye Sitte, bie bes freien ZHamtes umtmrbig fei**);
bas rcpooxovslv, tr>ie fte es nennen, tjat bei ifyten bie 23e*
beutung bes X>eräcfytlid?en, unb bie mobernen Spraken t>aben
burdj eine XHenge von IDenbungen ebenfalls iE^r Derbammungs*
urteil barfiber ausgefprocfyen***).
Die 3toeite 5orm ift bas Knien: bie tjalb Ijori3ontaIe,
fyalb pertifale £age bes Körpers, ijalb liegt ber HIenfd?, ^alb
I|ält er ftd? aufrecht. Bei ben (Srtedjen fommt fte meines
XDiffens nur in 3tt>ei 2tntt>enbungen r>or: bei bem Sdjufe*
fleljenben, bei bem fte jtdj 3ugleid? mit bem Umf äffen ber
Kniee bes anbem vexhanb, unb bei ber (ßottesperefyrungf).
*) Sie fhtbet ftet? fdjon im 2Uten (Eejtament in üpptgfter Blüte. Ulan
tmrft ftdj 3U Boben ntebt blo§ üoruefjmen perfonen gegenüber (U IHof.
\2, 6; $3, 26; t Sam* 25, 23; 2»Sam*9, 8), fonbern audj gleiten
gegenüber (JU ITTof* 18, 2; 23, 7, *2; 33, 6 «♦ cu m,), felbftoerftänbltdj
beim (Sebet 3U (Sott, baljer ift ftd? niebertperfen unb beten gletdjbebeu-
tenb flu HIof* 22, 5; 2, 20, 5 u. a. m.).
**) (Euriptbes Greftes W97:
pl|ryger; König, fyer 3U bemen (fügen flelfid? nad? Barbarenbraudj*
(Dreftes; tttdjt in Croja tuft bu biefes, fonbern im 2lrgeterlanb*
***) Die beutfdje Sprache; ftd? tpegroerfen, ftd? erntebngen, frieden,
Kriecf/erei, Unterroürflgr'ett; aud? ber 5p et d?elle(f er füfyrt uns ben XHenfcbeu
r»or, ber am 33 oben liegt* Die ttaltettifdje awilirsi, abbassarsi, umiliarsi,
abjetto; bie fran3Öftfdje; s'abaisser, s'humilier, ramper, bas, plat, abject.
t) Qomer (Db* XIII, 230; rote einem ber (ßötrer ffeff td? btr uttb
umfaffe bie teueren Kniee mit Demut; III, 92: Drum umfaff idj fTe^enJ)
5\0 Kapitel IX. Die fo3tale Htetfjanif. Das Sittliche.
23ei ben Hörnern xoavb fte in fpäterer geit üblich in bem
Hntertänigfeitsperhcütnis bes Klienten [651] 3um patron*),
ein unabhängiger UTann gab ftch ba3u nicht l\ev.
Dem ZlTittelalter roar es vorbehalten, fie biefes ZHafels
3u entHeiben unb fie felbft für tue Domehmften 3U einer obli«
gaten 5orm ber Depotion 3U ergeben. Der PafaH hatte bei
ber ^rweflxbxt por bem Cehnsherm 3U fnien, noch am ^ofe
ber Königin CElifabeth mußten es t>or ihr bie (ßroßen bes
Heidts, por bem papfte bei 2tubien3en geflieht es noch h^t*
3utage. Selbjiperftänblich tpar es, baß bie ^orm für bie
(Sottesperehrung eingeführt roarb, unb ber fatholifche Hitus
hat fie bafür beibehalten, ber Katholif perrichtet fein Kirchen*
gebet fnienb am 33etfchemel, ber proteflant ftehenb, ber
ZHufelmann liegenb**), bie Perfcfyebenheit ber brei Kon*
feffionen fpiegelt ftch ab in ben entfprechenben brei formen
ber (Sottesperehrung.
Die britte 5orm tfi unfere heutige: bie Verbeugung, bie
pertifale Haltung bes Körpers, bei ber ber ZHcnfch flehen
bleibt, unb nur ber Kopf ftch neigt <£s ifl fchtperlid] bloß
bas pra!tifd]e 2fiotip ber größeren 33equemlichfeit getpefeu,
bem fie ihren Hrfprung perbanft, fonbern gerpiß h<** i>abd
auch ber etliche (ßejtchtspunft pon ber tDürbe ber perfön«
Hchfeit unb ber bemofratifche £>ug ber mobemen «geit mit*
getoirft Sie iji eine echt bemofratifche [652] 5orm für alle,
ben ^öchften tpie ben (Seringflen gleid]***), u?ährenb bie beibcn
bie Kniee bin Sopfjofles pfn'loftet v. $86 (Ceubner) : £a§ btd? erflehen,
fniefälltg bitf id?>
*) ZTadj^rieblä'nber, Darstellungen aus ber Sittengefdn'cbte Horns»
23b+ \, 5. 2X7, ber bafür auf £ucian Higrin c. 2{ Be3ua. nimmt
**) €r muß mit ber Stirn ben £oben berühren (Subjub), f» von
Hoxnauw, Das moslemittfcfye Hecfyt, £etp3tg 1855, 5» 39; es wav bxrs
an&i bie Jorm bes alten deftaments*
***) Der heutigen SHte na cfy Die Hebensart: feinen Diener madfett
Die fYmfcoltfdjen ^öfltdjfeitsformerL
5U
obigen formen auf bem Hnterfcfyieb ber foialen Stellung
berufen, unb fte fyat 3ugleid? ben Por3ug ber <£lafti3Üctt —
u>er nnH, fann ben (Srab feiner ^odjadtfung ober Perefyrung
3oHtr>eife in ber Ciefe ber Perbeugung 3um 21usbrucf bringen»
Die Perbeugung ift nodj erleichtert roorben burdj bie 5itte
bes 2tbnel}mens bes £[utes. Der f}ut vertritt babei ben Kopf,
inbem er ifym bie ZHüfye erfpart, jtcfy 3U fen!en, ein Symbol
in 3tt>etter poten3, bas im Salutieren bes ZHilitärs bis 3ur
britten erhoben iji; letzteres toäre oljne bas ZHittelglieb bes
fjutabnefymens beim gtpil gar nid)t 3U t>erfteljen — was
follte bas Steigen bes ^utes bebeuten, n>enn es nidjt bas
bes Kopfes, was bas bloße 23erüfyren bes Cdjados, J}elms,
wenn es nic^t bas Heigen bes fjutes 3u vertreten Ijätte?
% Das (Seben ber fjänbe*
Befannten, 5reunben reichen tr>ir 3um (5ru§ bie ^anb,
nnbdannten ober I)öfyer ftefyenben perfonen nidtf. Daraus
ergibt jtdj, ba§ bas (Seben ber £[anb 3U ben ^jöflicfyfeits*
formen bes IPoI)ltr>ollens, nidjt ber 2ld}tung gehört Die
Caifadje, ba§ 3toei perfonen fid) eins ober oerbunben füllen,
läßt fiel) ntdjt beffer peranfdjaulidjen, als inbem [653] fie
biefe €inigung audj förperlidj barftellen. Die Stufenleiter
biefer Symbolif ber feelifdjen (Einheit ift gegeben burefy bie
£|anb (£}anbfd?lag, JE}änbebrud) — bie 2Irme (Umarmung)
— bie Cippen (Kuß)545).
Die reiche Pertr>enbung, weld\e bie Sitte aller Pölfer t>on
ber Symbolif ber Pereinigung ber £}änbe gemacht fyat, liegt
außerhalb meiner Aufgabe**); für mid) Ijat nur bas (Sehen
oetft barauf ljm, ba§ fie urfprünglid? als geidjen ber Unterwürfig*
fett galt*
*) Bei r»telen xpilben Pölfem fommt nodj bie ZTafe t|itt3u: bas
Berühren unb Hetben ber betberfettigen Hafen, S* W Hote*
**) Die römifdje Sitte t^abe id? befyanbelt in meinem (Seift bes H.
5\2
Kapitel IX. Die feciale IHedjamrV Das Sittliche*
ber J^anb 3um gtt>ecfe bes <5ru§es ein 3ntereffe. ZTid?t t>om
Stanbpunfte ber (Segentoart aus — nach biefer Seite l>m
glaube ich bie Bebeutung besfelben mit ber obigen Bemerfung
Doß|iänbig erfchöpft 3U traben — wolfi aber in fyftorifcher
Bestellung,
3d] bringe bas <5eben ber J^anb in Derbinbung mit ber
urfprüngltchen Bebeutung bes (ßrußes, ^eut3utage gebort
berfelbe $u ben Ejöflichfeitsformen ber 2lditung (5. 398), bie
£[anb gefeilt ftch ihm nur fynsu, toenn er mehr als bie bloße
Sichtung: bas IDofytooHen ausbrüden foö. 2)ie ursprüngliche
Bebeutung bes (Srußes, bie ich in bie geiten ber Hechtloftgfeit
ber $vemt>en unb ber [654-] öffentlichen Unficherheit serlege,
tpar meiner 2Infidjt nach eine gch^lich anbere, ungleid] realere,
ber (grüß bebeutete fyer guftcherung ber frieblichen (5e-
ftnnung bes jtd? bem anbern ZTähernben, fur3 ausgebrüeft
5riebensbotfchaft. £Der ben 5remben, bem er in einfamer
<Segenb ober im IDalbe begegnete, grüßte, t>erfünbete ibm
bamtt: ich nahe mich bir nicht in feinblicher 21bftcht, bu baft
j>on mir nichts 3U beforgen*). £>iefe Derftdjerung fonnte er
II, X, 5. 569 ßlufL 3), Die (Satten geben ftd? bie §anb bei ber Der-
mäfymng, ber f einb bem ^einbe bei ber Derföfynung, dextram unb fidem
dare tft gletcfybebeutenb* 2lud? bei uns gilt rneler (Drten im Derfefyr bie
Bereinigung ber fjänbe als Befteglung bes 2Jbfd}Iuffes bes Vertrags,
unb ftellenipetfe bas (Hinfd/lagen in bie ^anb bes anbern als Symbolt«
fterung ber (Dfferte*
*) Hefte btefer urfprüngltdjen (Srugform in ber Sprad?e. 3n
femitifdjen Spraken; bie arabifcfye ^ormel; salem alek (triebe mit eudj),
bie alttefiamentlidje; schalom, tpeldje in ber Septuaginta mit stp^vr)
bph wiedergegeben tv'xxo. 2lllerbmgs ^at bie arabifd^e (Srugformel fyeut*
3utage ben Sinn; ^rieben (Softes, mie es bie d^riftlid^fir (bliebe pax
vobiscum (be3* dominus vobiscum) von jefyer tjatte, allein in ber 2ltt'
menbung bes jfriebens auf bas Derfyältms bes XUenfdjen 3U (Sott fann
td? nur eine Übertragung bes (Sebanfens bes ^rtebens im Derljältms
bes ITTenf d?en 3um ITCenf djen erblicfen, in bem er 3uerft fernem llVrt;
nadj exfannt morben ift, erjt ber ^rieben auf (Erben, bann oev ^rt^en
mit bem fjimmeL Die urfpninglidje bebeutung jener (Srußtcrmen
Die fymbolifchen *?öfIichfettsformetn
5^3
burcf? bte [655] Cat md]t beffer befunden, als tnbem er
tfym bie fjanb gab unb 3tr>ar bie rechte, tt>elcf)e bie IPaffe
füt>rt, bamit tr>ar fte unfd]äblid} gemacht. Das (5eben ber
Hestert fyatte I^ter alfo nict}t eine bloß fvmboüfcfye, fonbern
eine praftifcfye 23ebeutung, es enthielt ben tatfädilidjen Der*
3id}t auf ben (Sebraud? ber IDaffe. 3<äj roürbe xrielleicfyt auf
biefe Deutung gar nicfyt gekommen fein, u>enn midi nic^t bte
ift baher bte rein wörtliche gemefen; ^rieben mit euch, bte ich cor
mir fe^e.
Hefte in ben inbogermanifchen Spraken: bie römifdje (grußformei
salve (salvere) unb bte beutfdje £jeil (abjeft fyetl = unoerfehrt)* Betbe
haben 3um jn^alte, ba§ ber 2lngerebete unt>erfefyrt fein möge, tpomit
tmplt3tert ift: von mir, b* h» bu fannft in beßug auf mid? unbeforgt
fein, id? tue bir nichts; fte entfprechen unferem heutigen militctrif d?en
«guruf „gut (Jreunb\ Diefe Überetnftimmung 3meier gän3lid> t>on*
einanber unabhängiger Spracbftämme in be3ug auf bte Raffung ber
(Srugform gemährt ber obigen 2Inftcht, mie ntd?t ausgeführt 3U merbeu
braucht, eine außerorbentliche Unter ftüt$ung, fie 3eigt ben Wext, ben bie
2Infünbigung ber frieblichen (Seftnnung in ber U^ett bebeutete* Spradp
forfdjer, KulturhiftoriFer, (Ethnographen merben u?ahrf peinlich 3U ben
ron mir gegebenen Argumenten nod? manche anbere hin3ufiigen fönnen.
£rftere werben auch 3U entfcbeiben ha&en/ °k oxe auffallenbe phone*
ttf che Übereinstimmung ber beiben obigen femitifchen (Srugformeln sal-em,
schal-om mit lat» sal-ve, alth 0 d}b* sal-ig (feiig, alfo = wohl, glücfltch),
altirifch slan (= salvug, (£>♦ (Eurtius, (Srunb3Üge ber gried?* (£tymv 2luf3L i,
S* 374), ein reines Spiel bes «gufalls ift.
(Ein fachliches «geugnts für meine Auffafftmg glaube id? bei Horner,
(Dbyffee XIII, 229 entbtdt 3U fyabem CDbyff eus rebet fyev *>ie P^üas
Athene, meldte fich ihm in ber (Sefialt eines Unbefannten naht, mit ben
IPorten an: fei mir gegrüßt unb nahe mir ja nicht feinblichen
$ex$ens. Ulan mu§ fich bie Reiten ber Hechtsunftcherheit unb ber
SdmtsloftgFeit ber (fremben r>ergegenm artigen, um ben IDert ber <§u*
ftcherung frieblicher (Seftnnung 3U rerftehen, ber Jriebensgrug mar tyev
bem söllig Jremben gegenüber (unb fo erfcheint bie paüas bei (Dbyffeus;
ebenfo motiutert, wie nnfer heutiger IPohlwoüensgrug unmotiviert* So
erfläre id? mir auch bie Anrebe Jfreunb an ben gan3lich Unbekannten
(f. 3-2S* €uripibes, fjerafliben 13<*, CyFIop 96, 3on 2*5, Helena U98,
Sophofles (Dbipus auf Kolonos, v. 33), bie fonft gar feinen Sinn haben
würbe.
0.3*1* ring, Der gtoecf im Hedjt. II.
33
Kapitel IX. pie fo3ta!e Xtledjanif. Das Sittliche.
abtpeidjenbe Soxxn ber 23ea>egung ber fjänbe beim (ßrufj
nadj orientalifdjer Sitte ftufeig gemacht tjätte. 2>er Cfynefe
ergebt beibe f^änbe in bie fjö^e, 2lraber, Surfen unb aubere
afiatifc^e Pölfer freien fie auf ber Sruft. Was foll bas?
3)asfelbe, u?as bas Heiden ber J^anb pon feiten bes 2lbenb»
länbers, nämlidj: tatfäcfylidj bofumentieren, baß man ftdj ber
fjanb gegen ben anbern nicfyt bebtenen u>iQ, baß er jtd] feine
Sorge 3U machen braucht 2Iuf biefe unb nur auf biefe
XPeife ftnben alle jene brei [656] formen ber Svmbolif ber
£janb: bas <£rfyeben, bas Kreu3en, bas (Seben berfelben eine
überrafcfyenbe unb übereinftimmenbe <£rflärung. Qex gemein*
fame (Seftdjtspunft, ber it|nen 3ugrunbe liegt, ift Unfdjäb»
lidjmadjung ber £}anb als Unterpfaub frieblicfyer (Sefmnung.
5, Vex Kuß.
2>erfelbe fommt als fjöflicfyfeitsform in boppelter 2In-
roenbung x>or.
(JEinmal 3um 23etx>eife ber 2td}tung unb 3tr>ar eines ge«
fteigerten ZÜafees berfelben: ber Devotion, €I}rfurd}t, Unter«
rpürfigfeit (ber beoote Ku§); bei ben (Sriedjen bas Hüffen
bes (Seficfyts, ber Schulter, ber 23ruft, ber I}anb, bes Knies
(urfprünglidj bei ben (ßöttern, bann aud) bei Doruefymeu
perfonen), bei ben römifcfyen Kaifern felbft ber 5ü£e, bei
ben neueren Dölfern bes (ßetoanbes, beim papfte bes pan«
toffels« 3n gütigen Sitte Ijat ftcfy nur nodj erhalten ber
£[anbfu§, in Vertretung besfelbeu bie tnelfadj üblidie pfyrafe:
„idt füff bie Ejanb".
Sobann als 5orm bes fyerablaffenben IDofytPollens bes
fjocfygefteüten gegen ben unter ifym Stetynbcn: ber Kuß auf
bie ZDange ober bie Stirn*). [657 ]
*) 2lm römif d?en Kaiferfyofe gehörte er 3U ben obligaten iSmift*
beseugungen bes Kaifers gegen t|eri>orragenbe perfouetu Die Unter*
Die fvm&oltfcfyett ^öflid}fettsformen»
5*5
2* Die Syrnfjolif von Seit unb Hemm*
t Der plafe bes <£rften-
tt)er 3uerft fommt, h<*t, tr>o es etwas 3U nehmen gilt,
ben Vov$\\Qt et Bjat bie XDahl, bet «guletstfommenbe muß
nehmen, was übrig bleibt (sero venientibus ossa). Das tji
ber praftifdje Vorteil, bet jtd? mit ber SteVLe bes erften t>er«
fnüpft, barauf 3ielt bas Iateinifd)e prineeps (= primus capiens,
ber guerftnehmenbe), praeeipuus (oort praeeipere, sortoeg*
nehmen) unb bas beutfcfye t>orneB)m (= berjenige, bet t>or*
tx>eg nimmt)*),
2Hfo bie erfte Stelle praftifd) bte befte. Damit ijl ein
txnffenfchaftlicher 2tnhaltspunft gegeben, um Ijiftorifd? bie Cat*
fache 3U erf leiten, ba§ Sprache fotooht tt>ie Sitte bei allen
üölfern ba3u gefommen jtnb, mit bem Segriff ober ber Stelle
bes erften bie PorfteHung bes 23er>or3ugten, ^erporragenben
3U t>erbinben, toobei fie bann atlerbings über ben praftifchen
<5ejtchtspunft toeit hinausgegangen jtnb.
[658] ü?as t>om erften im Derhältnis 3um 3tr>eiten, gilt
auch vom 3tt>eiten im Verhältnis 3um britten unb fo fort: bie
Reihenfolge in §eit unb Haum gilt als 2lusbrucf ber JDert-
laffung rjon fetten einiger Katfer roarb bitter empfunben, f^rieblänber,
Darftellungen aus ber Sittengefcr/id?te Horns, 23b» \, S. \27—\50.
*) Diefem (Sebanfen bleiben beibe Spraken treu, inbem fte mit ben
präpoflttonen, tuelcr/e bte erfte Stelle im Haum ober in ber gett aus*
brüefen (ante, prae, t?or), bei iljrer Derbmbmtg mit Perben ober Sub*
ftantipen ftets bte Dorftellung eines Do^nges oerbtnben, 3» ante-
cellere, anteire, antistes, praeire (praetor), praeponere, praestans, Dor-
teil, Por^ug, Dor-rang, Dor^tritt, Dor*jtanb, Dor^geferjter, rorgerjen
u* a* Die Doppelbebeutung bes <£rjten im 3ettltd}en ober örtlichen unb
im moralifcr/en ober metaptj ortf cb/en Sinn töieberbfolt fid? in ütelen anbent
Spraken, ir>r (Srunb fann nur oaxxn etblxdt tuerben, ba§ bie £age bes
Erften prafttfd? bte befte ift, bas prafttfdje fyat überall ben hiflorifd^en
2lusgangspunFt bes 3bealen abgegeben*
33*
5 {6 Kapitel IX. Die fötale mecfyani?. Das Sittliche.
abffufung ber perfon, unb in ber reglementierten Ejöfltdjfeit
ift biefer <Seban!e fogar in ein t>ollftänbiges Syftem gebracht
(Hangorbnung, ^ofetifette, Hedtf bes Dortritts im inter-
nationalen Derfeljr). 2X)eldje (ßeltung er innerhalb ber freien
f}öflid)feit behauptet, barf id? als befannt sorausfefeen, —
iv et geehrt u>erben foH, erhält ben erften plafe bei Cifdje.
Der <5ebanfe bes erften plafees ift felbft auf bie Sprache,
bei ber er ber praftifdjen Bebeutung gän3lidi entbehrt, in
(3ejtolt ber HamB|aftmad}ung an erfter Stelle übertragen
ti>orben, fotr>ofyl für bie münblidje Hebe a>ie für bie Schrift.
5ür bie münblidje Hebe. 2Denn man t>on ftcf? unb
einem anbern fpricfyt, nennt man lefcteren 3uerft, felbft toenn
er abtsefenb ift, ifym gebührt ber erfte plafc. Bei ben Hörnern
bilbete bie Beachtung ber Hangorbnung bei 2luf3äfjlung t>on
perfonen fogar ein <£rforbernis ber reltgiöfen unb politifdjen
(£tifette, fo 3. B. bei ber Anrufung ber (Söttet, bei Harn*
f?aftmadjung ber Beamten, fie folgten fid? nad? iljrem
Hang*).
[659] 5ür bie Sdjrift. 3n unferen Briefen fe^en mir
ben Hamen bes 2Ingerebeten an bie Spifee, unferen eigenen
an bas <£nbe. Diefe Einrichtung ift fotoenig burdj bie Hatur
ber Sad?e geboten, bajj fie ifyr üielmeljr toiberfpridjt, fte ift
völlig unpraftifdj, benn ber (Empfänger bes Briefes mu§ erft
\\ad\ ber pielleidtf toeit r>om Anfang entfernten Unterfd^rift
fefyen, um 3U toiffen, r»on wem er herrührt. J)ie praftifd]en
iiömer befolgten eine anbere IDeife, fie nannten bie Hamen
beiber perfonen in ber Überfdjrift, unb 3toar ben Hamen
bes Sdjreibenben 3uerft (Cicero Attico), felbft beim Kaifer
(Plinius Trajano Imperatori), Unfere heutige IDeife lä$t ftd?
*) 5. meinen (Seift bes H> II. {. 5. 616 (Hüft. 3)* Bei 2Iuf5ä>
lung ber Hed?tsquellen bes giüilredjts befolgen bie Horner bie !}iflorifd?e
(Drbmittg; leges, plebiscita, SCa, decreta prineipum, auetoritas prüde«
tium, 1. 7 pr. de J. et J. ({. {).
X>te fvmbolifdjen ^öfHdjfettsformem
5\7
al\o nur auf ben obigen (Sebanfen 3urücf führen: ber 5d\teu
benbe [teilt als ber (geringere feinen Itamen unten an. Darum
gefcfyiefyt es nicfyt von feiten ber £anbesljerm unb ber 23e*
körben, unb ber obigen praftifcfyen Hücfftdtf liegen muß bei
Eingaben an öefyörben ber Zlame bes (£ingebers bereits auf
ber erften Seite angegeben rperben, aber nadj bem Kablet*
ftil mancher £änber unten, nicfyt oben auf ber Seite.
Wo es bie (g^re 3U nehmen gilt, gefyt ber Pomeljmerc
poran. ZTur tpo es gilt, fie 3U ertpeifen, roie beim (5ru§,
fommt bie Heifye 3uerft an ben Zlieberen — bie (Sefefee bes
ZHanu (II, \\7) fdjärfen bem 5d)üler ausbrücflid] ein, ba§ er
ben CeBjrer 3uerft 3U grüßen fyabe.
2. Der plafc 3ur Hechten.
[660] IDarum bilbet ber plafe sur Hechten ben (£tjrenplafc?
Sidjerlid? perfteljt ftcft bies nicfyt pou felbft, es liege ftd} ja
ebenfogut bas (Segenteil benfen. 2lud\ ljier roeift bie Sym*
bolif auf einen praftifdjen (Seftditspunft surücf. JParum reitet
ber Heitfnedjt linfs von feinem fjerm? Damit ifym bie Heerte
frei bleibe, um ftets 3U feiner fjilfe ober feinem Dienft bereit 311
fein; ritte er rechts von ifym, fo tpürbe er ba3U nidjt imftanbe
fein. (5an3 ebenfo perfyält es fid] in manchen anbern £ageu.
Die Pornafyme pon Dienftleiftungen ber f^öflidjfeit im (Seiten
wie im Sifeen, auf ber Straße tx>ie bei ber Cafel erforbext
ftets, baß berjenige, tpeldjer fte ertpeifen tpill, jtd) linfs be-
ftnbe.
Diefem praftifcfyen ZHotip perbanft meiner 21nfidjt nadj
ber plafe rechts fyftorifd? feine (Erhebung 3um (gfyrenplafe.
3n feiner fvmbolifdjen Pertpenbung im ^ialen Ceben tjat
er fid) pon bemfelben allerbings eben fo frei gemacht, tpie
alle fymbolifdien 5ormen, bie urfprünglid] aus praftifcfyen
JTtotipen fyerporgegaugen finb.
5\a
Kapitel IX. Die \o$\a\e medjantf. Das Stttitdje*
3. Syntboltf ber Schrift.
3m fchriftlichen Derfehr (Briefe, Eingaben) fommen ge*
tmffe Sovmen 3ur 2Inn>enbung, bie im per jonlichen feinen pla§
finben unb barauf berechnet finb, ben 2tbftanb bes Schreiben*
5en pon bem cmbem Ceile 3U fvmbolifteren. Vatyn gehört
außer ber bereits oben namhaft gemalten Stellung besZTamens
bes 2lngerebeten an ben [661] Anfang unb bes eignen an beu
Schluß bes Briefes ber leere Kaum, ben man an 3tx>ei Stellen
bes Briefes ober ber Eingabe 3U laffen pflegt: nach ber
Überfchrift unb t>or ber Hnterfchrift („HeDeren3[patmm") unb
ber fog. „2)et>otionsftrich." $ngftlich höflich* £eute meffen
beibe nach ZHaßgabe bes Fialen 2lbftanbes ebenfo forgfältig
ab, u>ie im perjonlichen Derfehre bie Derbeugung, pe über*
tragen lefetere auf bas papier — Heüeren3fpatium unb
3)et>otionsftrich fmb eine fchriftliche Perbeugung, man macht
feinen „Liener" auf bem papier.
3)ahm gehört ferner bie umnberliche, einen Derftoß gegen
äße Sprachregeln enthaltenbe beutfche Sitte, bas „Sie, 3hr,
Vn" in ber 2lnrebe groß 3U fchreiben, tr>ährenb „ich, mir" aus
Befcheibenheit Kein gefchrieben tsirb — ber €nglänber macht
es gerabe umgefehrt. Sobann bie falligraphifche <5efchmacf*
lojtgfeit, bei pomefynen perfonen 3um <§tt>ecf ber f}err>or*
Hebung ihrer (Erhabenheit über bas (gewöhnliche ihre €brem
präbifate (ZHajeftät, ££3eHen3 ufu>.) im Kontexte bes Briefes
ober ber (Eingabe mit größeren ober gar mit lateinifchen
Cettern 3U fchreiben, bort toerben 3ugunjien ber I}öflichfeit
bie Hegeln ber Orthographie, l\kv bie ber Kalligraphie
hinten angefefct
Die Befonbere Spraye ber ^öfiic^fetl
519
3. Die serbalen £{öf lieh? ettsformen, — Die
Sprache 6er ^öflichfeit
Das giel, bas ich mir gejlecft I^atte, als ich bie [662]
Hnterfuchungen begann, beren <£rgebniffe ich im folgenden
mitteile, bejlanb barin, mich in Befi& bes gefamten ZHaterials
3U fet$en, welches bie beutfche Spraye an ftereotypen 2lus*
brücfen unb &)enbungen ber ^öflidjfeit (Ejöflichfeitsphrafen)
barbietet, um 3U fefyen, inwieweit bie (Srunbgebanfen ber
fföflichfeit fich in ihnen abriegeln — ich fyatte mir meine
Aufgabe gebadet als fprachliche SelbjkharafterifttE ber £jöf*
lichfeit 3$ über3eugte mich aber balb, ba§ meine Aufgabe
mit ben ZHitteln einer ein3elnen Sprache nicht 3U löfen fei,
ba§ ich vielmehr meine Unterf uchung , um bie gewonnenen
<£rgebniffe 3U erproben unb 3U rerüollftänbigen, auf anbere
Sprachen 3U erweitern bßbe, ltnb ber freunblicfjen Sei^ilfe
mancher (Seiehrten t>erbanfe ich in biefer Öe3iehung eine
wertvolle Unterflüt$ung. 3e mehr ich bie Dergleichitng fort*
fefcte, befto fdjärfer unb flarer traten bie Umriffe t>on 3wei
(Erscheinungen tyvvov, bie chfi mir fchüeßltch als h°chft wert*
t>oHe hiftorifdje Catfachen enthüllten. Die erfte war fultur«
hiftorifdjer 2trt: bas XDteberf ehren berfelben formen bei
Pölfern, für bie jeber (Sebanfe einer urfprünglichen (Semein-
fdjaft ausgefchloffen iji. 3^ *raf k^i ben C^inefen unb
3apanen biefelben fprachlichen IDenbungen unb eigentüm-
lichen, ausfchließlich ber fjöflichfeit angehörigen, grammatt-
?ali[d?en formen, wie bei ben europäifdjen Kulturt>ölfern.
Die 3weite war fprad]gefd}id)tlid]er 2lrt: bas Däfern einer
von ber gewöhnlichen abwcidjenben, eigentümlichen Sprache
ber £jöflichfeit.
[663] Die folgenbe Darfietlung foll ben £efer von bem
Dafein biefer beibeu Catfachen über3eugen.
520
Kapitel IX. Die fatale med^antf* Das Sittliche.
Die Sprache ber ^öflid?feii
3d] beginne mit bem üöHig «gtoeifellofen. Die Ejöflidi-
feit seicfjnet uns für getoiffe 2lnlä(fe ben tsörtlidjen 2lusbrucE
unferer (Sefinnung vor, 3. 23. für bie Setr>iHfommnung, ben
2lbfdjieb, bie CeünaBjme u. a. m., unb bie Sitte fyat bafür
getoiffe ftefyenbe 2lusbrücfe aufgebraßt, beren ftdj jeber regel»
mäßig bebient (serbale Qöflidjfeitsformen). X?on ben 2ln«
forberungen, toeldje ber 2lnftanb in be3ug auf bie Sprache
ergebt (S. 3^6 ff.), unterfdjeiben fidj bie ber Ejöflidjfeit babureb,
baß jene negativer, btefe pojttit>er 2Crt finb.
3nner^alb ber verbalen ^öflidjfeitsformen unterfdjeibe
id? 3tr>ei (Sruppen — jebe berfelben fteüt uns ein befonberes
Stücf ber Sprache ber i}öflid}feit bar.
Das eine enthält einen Dorrat von XDenbungen unb 2tus*
brüefen, tseldje bie Sjöflidjfeit aus bem großen Spvadi\d}ai$
für t^re befonberen gtoeefe ausgefdjieben tjat, eine 2lnleii?e
bei ber Dolfsfpradje, bei ber bie £}öflid}feit ben bereits oor»
lianbenen 2tusbrücfen unb IPenbungen eine r>on tfyrer fonftigen
Sebeutung abroeidjenbe unb 3tt>ar minbere (ßeltung beigelegt
fyat. 3ß faffe fie 3ufammen unter bem Slusbrucfe ber pfyra-
feologte ber f}öflid}feit. 3m ZtTunbe ber ^öflicfyfeit finb
fie pfyrafen geroorben, b. fy. IDorte, mit benen niemanb bas*
ienige [664] unrflidj 3U fagen gebenft, was fie bebeuten, ja
bei benen mancher |td] oft gar nichts benft, bie er gebanfenlos
Ijinplappert, IDorte, über beren t>on ifyrem fonftigen Sinne
üööig abtseicfyenbe Sebeutung beibe Ceile einperftanben ftnb,
unb bie nur ein gän3lidi Unfunbiger für bare Zürnte nehmen
fann. über eben, um biefer (ßefaljr nid?t ausgefegt 3U fein,
muß er ifyre Bebeutung fennen, unb barin liegt, baß jte in
ber Cat ein eigenartiges Stücf Sprache barfteüen, eine Spe3ial«
jpradje neben ber allgemeinen, bie man fennen muß, um ftc
3u »erftefyen.
Die befonbere Spradje fcer fjöflicfyfeti
52*
<£ine berarttge 2lb3ioeigung eines befonberen Stücfs Sprache
für befonbere «gtoecfe l)at nichts Überrafchenbes. Wenn auf
(Srunb bes (Sefefees ber Ceilung ber Arbeit bie perfchtebenen
«gtoetge unb (Sebtete menfchltcher Cätigfeit ftch 3U befonberen
Serufsarten geftalten, fo bilbet fid} für fte auch ein befonberes
StücE Sprache aus: eine Spe3ialfprache mit be[onberen Kunft*
ausbrücfen für bie Singe, (Erfahrungen, Vorgänge, TXlanu
pulationen, 2lnfchauungen, Segriffe, bie biefem Serufs3roetg
eigentümlich ftnb (Zlomenflatur, Cermtnologte), eine Spraye,
bie nur ber jenige 3U fennen braucht unb roirflich fennt, ber
auf biefem (Sebtete heirmf^ l% &te aber allen übrigen unb
felbfl ben (5ebilbeten nicht feiten nahesu ebenfo unbefannt ift,
wie eine frembe Sprache.
ZHit biefen Kunftfpracfyen lägt ftch nun 3toar im übrigen
bte Sprache ber fjöflichfeit nicht auf eine £inie fteHen, benn
jene bilben bas 3biom eines befonberen [665] Serufsftanbes,
eines flehten Bruchteils bes Dolfes, biefe bie Sprache bes
gan3en Polfes, unb ihre Uenntnxs erftrecft ftch bis in bie
unterften Klaffen besfelben hinab, fte fd]lie§t nichts in ftch,
tr>as nicht jebem 3ugängltch unb serftänblich toäre. 2lber
barin gleiten fte ftch &och, &a§ fte einen befonberen Sprach*
3toeig barftellen, ber ftch t)om Ejauptjtamm abgelöft ha**
§u biefem erften Stücf ber Ejöflichfeitsfprache: ber phrafeo*
Iogte, gefeilt ftch <&ex noch ein 3tr>eites ungleich eigentüm*
licheres fynin. Set Jenem erfien Stücf hält fich bie £}öflich'
feitsfprache innerhalb ber (Sefefee ber Sprache, bent (Sramma*
tifer bietet fte nichts Eigentümliches bar, nichts, rr>as ihn
nötigte r>on ihr Ztott3 3U nehmen. <San3 anbers bei bem
3tt>eiten Stücf. £{ier überfchreitet fie bie (5ren3en, welche bie
Sprachgefefee ihr Dor3etchnen, fte tut ber Sprache gerabesu
(Setoalt an. Was fte I^icr fchafft, ftnb nicht etwa neue XDorte,
tote jebe Kunftfprache fte bilbet, unb bie fte bilben fann, ohne
! gegen bie Hegeln ber Sprache 3U perfiogen, fonbern es ftnb
522 Kapitel IX. Die feciale Ittedjattt?. Pas Stitltdje,
neue fprachliche 5ormen unb 3war foldje, bie feine Bereiche*
rung ber Spraye, feine Fortbildung ber in tB^r gelegenen
Keime enthalten, fonbem eine Perunßaltung berfelben, eine
Perfünbigung gegen ben (Senius ber Sprache, eine WX%*
adjtung ber fprachlichen £ogif, burch meiere biefelbe, fich bei
bem ürfprünglichen Sau ber Sprache, bei ber <£ntwerfung
ber (ßrammatif unb Synta^c hatte leiten laffen, fprachliche
Abnormitäten unb Deformitäten, bie einem <5rammatifer,
[666] bem ber Schlüffel 3ur £öfung vorenthalten würbe, ein
unlösbares Hätfel aufgeben würben.
Der (Srammatifer fa§t bie Abweichungen, welche fich bie
gehobene Hebe, insbefonbere bie bidjterifche Sprache von ber
gewöhnlichen Syntay erlaubt, unter bem Ausbrucf ber Syn-
taxis ornata 3ufammen, unb biefer 2lusbrucf fdjeint mir
gan3 geeignet 3U fein, um ihn für biefen 3weiten Beftanbteil
ber ^öflichfeitsfprache 3U perwenben. <£s iji eine befonbere
Syntax, welche jtch bie ^öflichfeit gebilbet fyat, eine Ab-
weichung son ber fonfiigen Zlorm ber Sprache, unb ber
«gufafc ornata ift wie gemalt ba3u, um ben eigentümlichen
gweef, ber babei obwaltet, aus3ubrücfen.
Heilten bie ZHittel, welche bie Sprache 3U biefem <§wecfe
Sur Perfügung ftellte, nicht aus? Keine 5*<*ge! Sie ©riechen
unb Horner iiaben nicht bas Bebürfnis gefühlt, 3u anbern
ZHitteln ihre Zuflucht 3U nehmen, unb wenn bies gleichwohl
von anbem Dolfern gefchehen ift, fo lägt fich bies nur als
eine Perirrung be3eidjnen. Aber bie Derirrung muß ihre
(ßrünbe gehabt fyahen, benn jte wieberholt fich bei DölFer«
gruppen, in be3ug auf bie jeber (ßebanfe einer t^tfiorifet^cn
Übertragung ober ZTachahmung ausgefchloffen ifi, bei ben
Afiaten wie ben mobernen europäifdjen Kulturt>ölfem. Sie
tEatfadje nötigt uns nach einer €rflärung 3U fuchen.
3ch gebe fte in 5orm eines Dergleidjs. <£s ift ber alt*
tejiamentarifche Bericht vom Sünbenfalle bes erften [667]
Der Siittbenfall ber 5pradje.
523
ZHenfcljenpaares. 2tls 2lbam unb €oa vom Saume ber <£r*
fenntnis gegeffen Ratten, erfannten fie, ba§ ftc nacft feien,
unb legten ftcl? ein Feigenblatt t>or. Derfelbe Dorgang fpiegelt
ftdj in ber (ßefcfycfite ber fföflicfjfeit ab. Stiles nneberljoli
fid? Ijter §ug für £>ug: ber urfprünglicfte guftanb ber Hn=
fcftulb unb ZTaisetät, bie Schlange bes parabiefes, ber Sünben*
faß, bie <£rfenntnis ber ZTacfttjeit, bas Feigenblatt. 3n jenem
urfprünglidjen gufianbe ber Hatpetät treffen mir bie Jtöflicfy
feit im flafjtfdjen Slltertum: f^ier ift nodj alles reine ZTatur,
nichts <S5ef ünfteltes , (Sefucfytes, (gemachtes, Perfcfyrobenes,
jeber 'rebet ben anbern mit bu unb bei feinem ZTamen an,
ben König toie ben Bettler, nur bie Epitheta ornantia (f. u.),
bie jebodj ber Sprache nidjt bie minbefte (ßeroalt antun, Ijat
ber f}od)fiefyenbe vot bem fiebrigen voraus, im übrigen
aber iji bie Sprache eine unb biefelbe für alle Stänbe, per*
fönen, X?er!)ältniffe.
Statt jener einen Sprache l^aben tr>ir fyeut3utage 3tr>ei:
bie allgemeine unb bie ber i^öflidjfeit. 3^ner bebkmn voiv
uns, tsenn toir von jemanbem, biefer, toenn u>ir 3U itjm
reben. 3" iener fyätte jemanb, ber 3U £eb3eiten (Soetfyes
von it|m fprecfyen wollte, einfad) fagen fönnen: <5oetfye Ijat
gefagt, in biefer tjätte er, inbem er bies VOott an iljn felber
richtete, ftdj fo ausbrüefen müffen: 5ie — ober €f3ellen3
fyaben gefagt — bort ber ZXame ber perfon unb ber Singular
bes Derbum, i|ier ber piural ober eine unperfönltcfye 3e*
3eid?nung( hinter ber fein [668] (Sriedje einen Zfienfcfjen ge=
untteri tjaben roürbe, unb fogar ber plural bes Derbum:
Ijaben in Derbinbung mit bem Singular bes Subftantios:
(£f3eHen3 — bie oollenbete fpradjlidje 21narcfyie.
<£s ift bie Spraye naefy bem Sünbenfalle. ZHit bem
Sünbenfalle roarb bem Zttenfdjen bas Ztatürlicfye anftöfcig.
(5an3 fo ijl es ber perfon mit ber Sprache gegangen. Sie
Schlange, bie fte 3U Falle brachte, u>ar bie menfdjlid]e €itelfeit,
52^
Kapitel IX. Die fötale XTCed)antf. Das Sittliche.
<2t)rgct3, prunffucht, Schmeichelei , Kriecherei. 5ie flüfterte
5er perfon 3m bu bift mehr als bu glaubft, i§ vom Saume
ber €rfenntnis unb bu tr>irft ernennen, toas bu bift. Die <£r«
fenntnis, toelcfje bie perfon ber öefolgung biefes Hats t>er<
banfte, beftanb ebenfo tote im parabiefe in ber ihrer Zladi*
heit. 3)as Natürliche wavb ihr anftöfjig, bas Natürliche,
bas I^eigt: fie felber, bas perfönliche, 3nbirnbuelle in ihr,
unb bie Sprache h<*t ihr bas Feigenblatt bieten muffen, um
ihre 23Iöf$e 3a perbecfen. «gubem ha* fie bie Sprache wab^r*
haft mißhcmbelt. Sie Serührung von perfon unb perfon
erfcheint 3u vertraulich , bie Sprache muß ihr ba3u bienen,
eine fünftltche Kluft aufzurichten 3tr>ifchen bem ^iebenben unb
bem 2Ingerebeten, jener rücft biefen in bie 5^rne, er fprid^t
3U ibm, gleich als ob er von ihm fprächef in ber britten
perfon, unb felbfi bas Ureigenfte ber perfon, ba§ fie perfon
ift, toirb aufgegeben, um fie fünftlich su einem 2Ibftraftum 311
erheben (f. u.). flucht ber perfon r>or fich felber —
mit biefem einen IDorte glaube ich aöe [689] bie feltfamen
f prächtigen Derirrungen unb Sünben, beren fich bie Ejöflich«
feitsfprache fchulbig gemacht ha^ Jenn3eichnen 3U fönnen.
Ellies biefes toar urfprünglich ausfchlieglicb für bie flohen
ber (Erbe beftimmt, alle auserlefenen fjöflichfeitsformen, bie
fymbolifchen toie bie verbalen, traben ^uf ben fjöhen ber
<5efellfchaft 3uerft bas £id)t ber IDelt erblidt. Slber es fpielt
[ich tiiev basfelbe StücF ab, bem txnr bei ber ZHobe begegnet
finb: bie Eje^jagb ber Stanbeseitelfeit unb Stanbeseiferfucht.
Die übrigen Stäube haben nicht eher geruht, bis fte, fo tr>eit
unb fo gut fie es eben vermochten, fich ebenfalls in Sefife
beffen gefefet hatten, u>as bie Ederen für fich erfounen hatten.
IDie eine neue 2T£obe, bie 3uerji bei ber f}er3ogin auftaucht,
fchließlich bis 3ur Ejaubtoerfersfrau h^runterfommt, ebenfo bie
Jjöflichfeitsformen. XDenbungen unb <£fyvenpväi>itate , welche
einft bas Dorrecht fürftlicher perfonen bilbeten (f. u.) ftnb
^Inrebeformett: ber (Eigenname*
525
heut3utage bem <5eringjlen gegenüber im (gebrauche — ber
I bemofrattfehe §ug ber geit.
3ch tpenbe mich im folgenben 3unächft ber phrafeologie
I ber ^öfücfyfeit 3U, toobei ich ben gan3en Porrat x>on XDovten
unb tüenbungen, tpelche im Sprachgebrauch bie (Seltung
| Don EjöflicHeitspfyrafen getponnen haben, 3ufammenjiellen unb
| nach paffenben (Sejtchtspunften orbnen tperbe,
[670] Die phrafeologie ber Qöf lichfeit.
\. Die 2lnrebeformen.
IDie traben tpir bie perfon, ber ipir uns gegenüber be*
i ftnben, an3ureben? 3m £aufe ber &eit liaben fich bafür
i nicht roeniger als vier perfchiebene formen h^ausgebilbet
a. Der (Eigenname.
(Er bilbet bie natürliche 5orm ber 2lnrebe an bie perfon,
er iji ihr eigen tpie fein anberer (baher xupiov ovojxa, nomen
proprium, (Eigenname), benn er txnrb ihr bereits bei ihrem
erften (Eintritt ins £eben 3uteil: ber Familienname burch bie
(Seburt, ber Dorname burch ben ZDtßen ber (Eltern, unb er
perbleibt ihr für ihr gan3es £eben, w&fycenb alle anbern
Se3eichnungen fich erft fpäter einftnben, fommen unb gehen
unb ihr 3ur Strafe jetbft entzogen roerben fönnen. Keine
anbere 23e3eichnungstpeife ift burch bie Natur felber in bem
TXlafae als 2lnrebeform porge3eid]net tpie ber (Eigenname,
benn nur er fyebt bas 3nbbibuum burch bas ihm ausfchlieg»
lieh eigene ZHerfmal von allen anbern perfonen ab.
2Iber eben barin liegt es begrünbet, bag bie £}öflichfeit
ihn perfchmäht. Das (Einfache, Natürliche genügt ihr nicht.
Schon bie (Sriechen 3U Römers ^eit begnügen [ich nicht mit
bem Namen allein, bei ben pornehrnen perfonen bebarf es
3U bemfelben noch bes Epitheton ornans [671] (Hr. 2), unb
526 Kapitel IX. Die feciale Hle^ani?. Das Sittliche*
ben gemeinen ZHann foH man tsenigftens, um ihn *u ehren,
beim Flamen bes Daters nennen*).
<£benfo bte mobernen Dölfer. <£nttr>eber traben ftc aus
ber I}öflich?eitsfprache i>ic Nennung bes Hamens gä^lich
verbannt, tote t>ie 5ran3ofen mittels ihres XHonjteur, ober,
tt>o jxe ihn nennen, fügen fte noch rote tDtr im Deutfchen ben
Sufafe: E}err, 5*au, 5räulein t^iri3u. Der bloße Harne ohne
weiteren gufafe tft nur für bas Derhcütnis ber Dertraulichfeit
(bei £>ertx>anbten, freunben, Kinbern) unb ber ^bhängigfeit
(bei Dtenftboten, tagelöhnern ufu>.) geblieben: bie f}öftichs
feitsfprache tjat ihn verpönt, er bofumentiert, bajj bie perfon,
gegen bie tt>ir ihn gebrauten, uns etoeber mehr, ober ba§
fte uns weniger gilt, als btejenigen, gegen toelche tr>ir bie
formen ber fjöflicfyfeit glauben beobachten 3U müffen.
b. Der €hrenname.
Sei allen europätfehen Dölfem ftnben tDtr h^utage
getoiffe 2lnrebeformen in (gebrauch, tr>elche ben [672] €igen-
namen balb begleiten, balb erfefeen, unb bie ich, ba ich ^ine
Zeichnung besfelben für meine gtoeefe nötig fyahe, unb bie
Sprache eine folche meines IPiffens nicht fennt, (Ehren-
namen nennen tx>erbe, 3. 33.: Signor, Signora, Zfionjteur,
*) Die Slntpeifung, roeldje Agamemnon in ber 3Iias X. 68 bem
XTXenelaos gibt, als er ilm ausfd?icft, bie Pölfer 3ur Sa]lad>t 3U ent-
bieten;
3egltd?en ITCann nad? (Sefdjledjt mit Paternamen benennen^
3eglid?em <£f}r' errceifenb, unb ntdjt ergebe bid? r>ornet|m.
Über ben IPert, iDeldjen bie (Srie^en auf bie (Ertpä'fynung ber 2lb*
ftamtmmg legten, f* S, $06 unb unten 5. 536. 3n ber fpäteren <§eit
fdjetnt hiermit eine Perä'nberung vorgegangen 30 fein. 3d} fließe
btes aus plato £>• wo letzterem als einem £}erantr>aaV
fenben gefagt mirb: „fte nennen tt^n nidjt bei feinem ITamen, fettberu
er tDtrb nodj nadj bem Pater benannt", <Db ber Sa}Iu§, ben td> baraus
3ietje, begrünbet ift, muffen bie Philologen entf Reiben*
2lnrebeformen; ber €rjrenname* 527
ZTlabame, ZHafter, fjerr, 5rau ufu>. 2)en (Svkdien unb ben
Hörnern tsaren fte unbefannt, lefeteren toenigftens in ifyrer guten
<§eii*), bagegen finben fte fich auch bei ben (Efynefen (Sian
seng = ber (Erftgeborene, f. u.), unb fchon bei ben alten
3nbiern (bie 2Inrebe: gute Schwerer für bie 5rau, f. u., unb
ber unferem £{err entfprechenbe dfafafe Ho 3um Hamen bes
2lngerebeten, (Sefefee bes ZTfanu II. \2<Q.
XDte finb jte aufgenommen? XOas l\at ben ZTlenfchen 3uerft
peranlaßt, ftch 3ur 2lnrebe an Stelle bes (Eigennamens bes
Gattungsnamens 3U bebienen? <£s finb, fotpeit ich fet^e,
brei (Srünbe getpefen. <§uerft bie Unbefanntfchaft bes (Eigen-
namens. 2)en 5*emben fann man nicht beim (Eigennamen
nennen, tpeil man ihn nicht fennt: bei £jomer, wo fonfl jeber
beim iXamen benannt roirb, totrb ber 5*^™be als ^embling,
<5aft, <5aftfreunb angerebet**), 5obann bie ZtTefyrfyeit von
perfonen — fyer ha* man bie (ßattung por fich, unb ba^er
iji ber Gattungsname [673] unumgänglich ***). (Enblich bas
5amilienperhältnis. Überall in ber IDelt nennen bie Kinber
ihre (Eltern nicht beim (Eigennamen, fonbern Pater unb Zfiutter,
unb Poraus fichtlich tpirb biefe 2lnrebe in biefem Verhältnis
niemals bem (Eigennamen plafe machen.
Unter btefen brei fyftorifchen 2lnläffen bes (Sattungsnamens
behauptet ber lefetere offenbar bie erfte Stelle. Die Kinber
finb es getpefen, tpelche mit ben erften Cauten, tpeld^e fie
ftammelten, ben erften Gattungsnamen für bie perfou auf-
gebracht haben. 2tn ihn haben fid] balb auf bcmfelben 23oben
*) <£rft in ber Kaife^ett fommt bie 2lnrebeform dominus auf,
2lugufhts rotes fte nod? 3uriicF, bie Klienten pflegten ifyre patrone in
ber fpäteren <§ett fogar mit rex an3ureben.
**) <San3 ftetjenb; (Db* I. \2Z, 215, IL <*3, III. 7{, 371, VII. 258,
XIII. 237, XIV. 53, XIX. 509.
***) Bei fjomer fommeu aud? hier bei oornetjmen Perfonen Epitheta
omantia rnn^u, 3» bei ben dürften: (Erhabene Jfürften unb Pfleger,
<D*. VII. \86, VIII. U, 26, 97, 387, 536, 3lias VII. 385, XL 587.
528
Kapitel IX. Die feciale Hieran». Das Sittlid^,
ber Familie ober bes Kaufes anbete für bie übrigen Der*
hältniffe ber Pertr>anbtfchaft unb ber häuslichen 2lbhängigfeit
angefchloffen.
So bürfen u>ir bie Familie unb bas fjaus als ben Urjtfc
bes (Sattungsnamens für bie perfon be3eichnen, unb an biefen
Anfang fnüpft auch bie weitere (ßefchichte besfelben an. Von
ber Familie unb bem Qaufe finb bie Ztamen auf anbere Der«
hältniffe übertragen; bie Perhältniffe, bie man t|ter x>or klugen
hatte, I^aben bas Porbilb fomohl für bie etfyfdje firfaffung
als für bie fprachltche Zeichnung ber ihnen auger bem
£;aufe nahe fommenben abgegeben, in berfelben IPeife toie
bie Perfaffung bes fjaufes gefchichtlich als Prototyp ber
jlaatlichen (ßemeinfehaft gebient Ijat. <£in in biefer Sichtung
Don mir angeheilter [674] Pergleich, ber bei ausgebehnteren
Spradjfenntniffen ficherlich eine noch r>iel reichhaltigere 2Ius*
beute abgetoorfen liaben würbe, h<*t für mich biefe Catfadje
über allen §u>etfel erhoben, es gibt faum ein Verhältnis bes
Kaufes unb ber 5<*™ilie, für bas ich nicht biefe analoge
Übertragung hätte nachreifen fönnen*).
*) Die Pertjältniffe ber PertDanbtfdjaft, Pater, Pater*
dien; als traulid?e 2lnrebe bei Horner im ITCunbe bes (Eelemad? an bie
alten Diener bes Kaufes — bei ben Hüffen bie 2Inrebe Pater felbft an
ben Kaifer* 3n oer firdjlidjen Spraye papa (izdizas) , ^eiliger Pater,
samt pere für ben papp, pater, pere für ben ITCöna> Ittutter,
IHütterd?en; als trauliche 2lnrebe an bie treuen tpeiblidjen Dienftboteu
bei ^omer — bei uns im gemeinen Pol! ebenfo in ^ranfreid? 2Inrebe
an alte grauen — 23e3eidmung ber Honne als mere. Sorpt, (Toaster:
ilnrebe ber älteren perfonen an jüngere bei Horner — audj bei uns in
Deutfcr/Ianb, 3* 23* im plattb eutf djen: myn Söön, myne Dod?ter, ungarifcb
fiam, mein Sofm, meine (Eocr/ter — Kinb; bei ^omer — als Zlnrebe
bes £etjrers an ben Sd^üler rorge3eidmet in ben (Sefefeen bes Ulann
II. J5 — bas fran3öftfdje garcon. 23 ruber: bas itaL fra von fratcr
für ben IHöncf/* Der ältere Bruber (senior): signor, seigneur, seiior,
monseigneur, sieur, monsieur, sir, sire, uttgarifd? bätyäm (2lnrebe älterer
perfonen an jüngere, öcsem, jüngerer Bruber, bei perfonen tr>etblid?en
<5ej*d?led}ts nemem ältere, hugom jüngere Sditrefter), bei ben dtu'uefeu
Slnvebef ormen ; ber (Ehrenname.
529
Die meiften ber aus biefer Quelle ftammenben 2Inrebe*
formen fabelt nur eine partifuläre (Seltung erlangt, fei [675]
es für geunffe (ßegenben, fei es für getoiffe Stänbe ober
Derhältniffe, einige von ihnen bagegen fxnb allgemeine 2lnrebe*
formen geroorben, allgemein fotr>ohl in be3ug auf it^r geo<
grapljifcfyes mit bem Sprachgebiet 3ufammenfaIIenbes (Seltungs*
gebiet als in be3ug auf ifyre perfönliche 2lmt>enb bar feit, tr>elche
im £aufe ber <geit auf alle Klaffen ber (Sefellfchaft ausge-
beizt toorben ift.
Die romanifchen Dölfer fabelt ihre (Ehrennamen ben Der*
hältniffen bes Kaufes entlehnt unb 3roar für bas männliche
(Sefchlecht ber angefehenen Stellung bes älteren örubers:
Senior (fiehe bie obige Ztote), für bas weibliche teils biefer (bie
5emininalenbungen 3. 23. Signora, Senora), teils ber Stellung
ber J^ausl>errin: domina (fiehe bafelbft). Unter ben germa*
nifchen Dölfern bilbeten bie <£nglänber oon bem auch in
anbeten Spraken r>iel benutzten lateinifchen magister (italienifch
madstro, fran3Öfifch maltre, maitresse, beutfch ZTfeifter) ihr
master für ben Ulann, mistress für bie 5*au, miss für bie
Unverheiratete. Die übrigen germanifchen Sprachen traben
3ur 23e3eid}nung bes männlichen (ßefdjlechts „Ejerr", roas nach
ber herrf^en^cn Etymologie t>on heriro, bem Komparativ
t>on her = fjehr, abftammen foll, alfo ben ^eroorragenben
sianseng (= ber <£rftgeboreue) als allgemeine t^ofltd^e 2lnrebeform*
Sdjmefier: im Briefftil ber ITtonardjen — soeur für bie Honne —
gute Scr/mefter als Zlnrebe an bie $vau in ben (Sefe^eu bes IfTami EL 129.
Detter: Detter unb Bruber im Briefftil ber ITConard?en. (Dnfel unb
(Tante; im piattbeutf dien als (Dtjm, Ittöfe, X\V6 bem (Eigennamen ber
gemeinen £eute angehängt, [♦ Doornfaat*Koolmamt, IDörterbua? ber
0 Pf rief. Spraye.
Die Derrjä Itniff e bes Kaufes. Don dominus: bie Be3eid^
nung ber (Seiftlidjen in Italien unb fjollanb mit domine — ber grauen
mit domina, dama, dame, madame, donna, dona, Pimiuutiü ; damigella,
demoiselle, mademoiselle.
v. 3t)ering, Der ^toecf im Hecfjr. II
530
Kapitel IX. Die fatale med>amf» Das Sittliche*
bebeutet *), 3ixr Zeichnung [676] bes tveiblichen „Srau", a>as
bie (Etymologen mit „5roh", »Frouwe« (= feie 5*ohmachenbe,
bie BeglücEenbe) in Derbinbung bringen, unb für bie Un*
©erheiratete bas Diminutipum von „Jräulein", früher
„3ung<frau", , Jungfer". C^arafteriftifdj ift, ba§ f ämtliche
mobeme Sprachen bas Uloment ber €I|e beim männlichen
(Befehlest nicht betonen, ber UTann ift ftets „Ejerr", ber Der*
heiratete tvie ber unoerheiratete, für feine Stellung ift bie
&ie ohne Bebeutung, tvährenb beim tveiblichen (Sefchlechte
bie Verheiratete von ber Unverheirateten unterfchieben tvirb.
Die €he bilbet bie öeftimmung bes IDeibes, barum bie öe*
tonung berfelben bei ber ©erheirateten unb barum bie Sc*
nennung ber Unverheirateten nach biefer ihrer Seftimmung
als fünftige, tverbenbe, lievanwadi'\enbe (5^u: fräuletn,
3ungfrau, 3unöf^; Dame: X>emoifeße; UTabame: UTabe*
moifeUe; ZHiftrejj: ZTTig). IDährenb für fie bas Diminutivum,
tvirb für bas männliche (ßefchledjt ber Komparativ vertvanbt
(Senior für bie romanifchen Sprachen, heriro in ber beutfdjen,
magis-ter in ber englifchen), bas (£B^rcnpräbifat bes Ulannes
befteht barin, ba§ er mehr ift als anbere, bas bes IDeibes
barin, baß fie (Ehefrau tfi ober rverben tvirb. 2Ille biefe
2Iusbrü<fe lieben bas UToment ber fosialen Stellung lievvot,
bie 2lusbrücEe, tvelche bie natürlichen Unterfcfyebe bes <8e*
fchlechts unb bes Alters betonen (UTann, IDeib, Knabe,
ZtTäbchen) finb ber f^öflidtfeitsfprache fremb.
Sämtliche (Ehrennamen bilbeten einft bas Dorrecht [677]
hervorragenber perfonen, bei uns in Deutfchlanb 3, 33. fam
*) So bie VObxtexbnd^ev von (Srimm, lüetganb n. a. Ruberer 2Iu-
ftcfyt ift £. (Seiger, Urfprung uttb (Entnntflung ber menfdjüdjeu Spra*e
unb Dernunft, 23b. X (Suttgart J868), 5. 330 ff., ber es in gnfammen-
fyang bringen null mit bem Dertjältnis bes ä'lteren 23rubers, beffen
ausgebefynte fprad}lid?e Derroenbung 3ur Be3eid?nung einer tjervorragenben
Stellung er buret» eine große ^ülle oon IDenbungen in ben t>erfd?iebenf*en
Sprachen nad}ti>eiß*
21nrebeformen; ber begriff sname*
53*
bie SInrebe f}err unb Fräulein noch bis in bas brei3ehnte
3ahrhunbert Bjmem nur fürjilichen perfonen 3U. VOas in*
3*x>if d?en aus ihnen geworben iji, iji befannt, ^cut3utagc iji
auch ber (Seringjie £}err geworben, unb bas einfüge präbifat
für 5ürßentöd]ter 5räulein trifft man I^eut3utage felbji auf
Striefen an Dienftmäbchen. <£s iji ber bemofratifche gug ber
Seit, beffen oben (S, 52^) bereits gebaut roarb — bie unteren
Stäube brängen ftets nach oben. Daburch büßen bie ehe-
maligen aus3eichnenben €l|renpräbifate ihren DOett ein, unb
ber 2IusfaH muß bann felbjiserftänblich in anberer XDeife
gebeeft »erben. Die (Befetlfchaft l)ilft fkh, inbem fte ben
(Ehrennamen aus3eichnenbe präbifate fyi^ufügt, 5rau unb
Fräulein in ben befferen Stäuben befommen bas Präbifat bes
Souveräns „gnäbig", jefct bereits „gnäbigji" unb es toirb nicht
lange bauem, fo u?irb „atlergnäbigft" folgen, bis auefy biefe
präbifate roieber entwertet finb unb ber erfmberifdje (ßeift
ber Stanbeseitelfeit neue erfonnen Ijatf benen nach einiger
geit toieberum basfelbe £os befchieben fein totrb,
c. Der Staatsname (Citel).
Seine Verleihung bilbet bas Heferoatrecht ber Staats*
geroalt*), unb u>enn man, toie es tDÜnfchenstoert iji, fämt-
liehe 3ur 2lnrebe ber perfon bienenben Woxte unter ben
gemeinsamen itenner: Ztamen bringen untt, fo iji [678]
Staatsname für ben Citel ber 3utreffenbe. 3n welchem 2Tlage
auch er feiner eigentlichen Sefttmmung, 3ur 23e3eichnung bes
2tmts 3U bienen, entfrembet roorben iji unb eine barüber tseit
hinausgehenbe fo3tale Sebeutung angenommen h<*t, iji oben
(S. 4^3 ff.) ausgeführt.
Die (ßefchichte ber Eitel führt uns biefelbe €rfcheinung
r>or klugen, ber voxt foeben bei ben (Ehrennamen begegnet
*) Über bie Kirche unb Utfffenfäaft f. 5. Qfi.
552 Kapitel IX. Die feciale HIed>antf* Das Sittliche«
pnb: eine fortfchreitenbe (Entwertung. Vflxt bem Zfiomente,
wo t>ev Cttcl vom 2lmte getrennt wirb, ift fein SchicEfal be<
fiegelt. <£ine Zeitlang 3ehrt et noch t>on bem Kapitale,
welches bas 2lmt angefammelt I^at, aber ba er \ elber nichts
ZTeues hw3ufügt, fo fchmil3t bas Kapital mehr unb mel|r
3ufammen, bis er fchltepch nur noch ber Schatten (einer
felbft ift. VOeldien Klang I^atte einft ber ZTame Hat, unb
was ift jefet aus ihm geworben, feitbem bie IDelt mit Häten
aller 2trt bis 3um Komme^ien« unb Hedjnungsrat fymah
überfchwemmt worben ift, unb ein Subalternbeamter nach
längerer Dienfoeit mit aller Sicherheit barauf rechnen fann,
einen Hatstitel 3U befommen. tDas war einft ber Amtmann
— heut3utage finb Pächter von Domänen (Dberamtmänner.
2ludj fyer wie bei ben (Ehrennamen mußte ber Ausfall auf
anbere ZDeife gebeeft werben, unb es gefchah auch ^ier ba*
burch, baß man ben t>ielen qualiföierten Hatstiteln (3ufti3*,
Hegierungs*, 5taats*, 5inan3*, Kirchen*, Konfiftorial*, Berg«,
Sau*, 2TCebi3inaI*, Sanitäts*, Schul* unb anbere Häte (burch
r>erfchiebene Sufäfee, wie <5eheim<, ©ber*, IDirflicher auf [679]
bie Beine 3U Reifen fudjte, bie bei ber ZHöglichfeit ihrer vet*
fchiebenen Kombination eine außerorbentliche ZHannigfaltigfeit
ber Derwenbung unb 2lbftufung ermöglichten, bis lefetere
mit bem „IDirflichen (Seheimen (Dber" enblich bie höchjte
Sproffe ber £eiter erreicht.
d. Der Begriffsname (bie ijypoftafterenbe Be3eich«
nung ber perfon).
Die bisherigen 2lnrebeformen fmb perfönlidje, jte be«
3eia?nen bie perfon als perfon, biefe vierte unb lefcte 2lnrebe*
form lägt bie PorfteHung ber perfon fallen, bie perfon bleibt
bei i^r feine perfon mehr, fonbern fie wirb ein 2lbjiraftunxf
ein Begriff, perfon unb <2igenfchaft taufchen ihre Hollen,
bie (Eigenfchaft wirb in (ßebanfen t>on ihr abgelöft, Ewpoßaftertl
llnrebeformen: ber 23egriffsname»
533
3um Subjeft erhoben. Der 23egriff ber Roheit, (Erhabenheit
nimmt in bem präbifate ZHajeftät perfönliche (ßeftalt ein,
wirb ileifch unb 23lut, bie perfon ifi in bem ZHaße von
biefer <£igenfchaft erfüllt, baj$ fie fich mit ihr r>oHftänbig
becft: bie roanbelnbe Zllajeftas ober, um ben 2tusbrucf oon
Shctfefpeare 311 gebrauchen: „jeber <§oü ein König".
Dichter finb es getsefen, bie fich 3uerft biefer höchft aus»
brucfsooHen unb berebten IDenbung (UTetonvmie) bebient
haben, um ben (Sebanfen aus3ubrücfen, ba§ eine perfon gan3
unb gar von einer (Eigenschaft burchbrungen fei: jtatt ber
perfon nannten fie bie <£Eigenfchaft, beren 3n^arn^ion fie
ift*), Der (Sebanfe, biefe IDenbung aus [680] ber bichte*
rifchen Sprache in ben Kurialftil 3U übertragen, gehört meines
lüiffens ben fpäteren römifchen Kaifern am 3hr^ Vorgänger
iiaüm bie IDelt mit bem Citeltoefen befchenft (S. %{5), fie
ihrerfeits fügten noch biefe <£rfinbung hw3u an ber fie neben
fich auch ih^ höchften 23eamten teilnehmen liegen**), Pom
bY3antinifchen ^ofe tsarb biefelbe auf bie germanifchen x>er«
pflan3tf 3uerfl an ben bes Cheoborich, um bann bei ben
mobernen Dölfem eine Pertoenbung 3U finben, welche über
ihren urfprünglichen gtoecf unb Bereif toeit hinausging,
3ch unterfcheibe 3tDei 2trten berfelben: bie offi3ie!le unb
*) 3n ber profa bebienen mix uns bafür ber IDenbung „lauter":
„lauter £tebe unb <Süte" — bie perfon geht gan3 in £iebe unb (Süte
auf, itjr gan3es lüefen ift £iebe unb (Süte. €ine UTetonymie ber juri*
füfd/en Kunftfpracr/e enthält bie 23e3eidmung bes (Eigentums als res
corporalis r>on feiten ber römifchen 3uriften — Hecht unb Sache becfen
fia? fo üollftänbig, ba§ ftatt bes erfteren festere genannt wirb, nur baß
hier nidit ftatt bes Sinnlichen bas Überfinnlicr/e, fonbern ftatt bes letz-
teren erfteres genannt tt>irb.
**) iPenbungen ber Kaifer für ftd? felber : nostra majestas, celsitudo,
culmen principale, serenitas, mansuetudo , dementia, tranquillitas — für
bie hod)ften Beamten: tua eminentia, excellentia, magnificentia, Provi-
dentia, celsitudo, spectabilitas u* a* ZHe meiften ber letzteren haben jidj
noch h^«t3utage in Staat, Kird?e, Uniüerfitäteu erhalten.
Kapitel IX. Die fojtale XKedjanirV Das Sittliche*
bie f oktale. (Erftere umfaßt ben (gebrauch, ben Staat, Kirche
unb U?iffenfchaft von biefer ^vpoftafiercnben Öe3eichnung ber
perfon gemalt I^aben*). SMefelbe bübet [681] eine tjöljere
Stufe bes Citels» 5ür bie mittleren unb unteren Stufen ber
staatlichen, fachlichen, a>iffenfchaftlichen Hierarchie ift überall bie
perfönliche 23e3eichnung beibehalten u>orben, für bie höheren
Stellungen bagegen iji, u>ie im bY3antinifchen Kurialjiil, bie
unperfönliche t>ertr>anbt toorben, toelche bie E(öfje unb <£r»
habenheit berfelben femt3eichnen foll, 2lber gerabe bies er*
regte bie (Eiferfucfyt ber biefen I^öd)jien Schichten 3unächji*
jiehenben Klaffen ber (SefeHfchaft. Kann ein 5ürft, ein ^o^er
23eamter sum 2lbftraftum erhoben u>erben, u>arum nicht auch
eine angef eigene prioatperfon? Was bie Sprache für jene
üermag, fann fie auch fü* biefe. Unb fo tr>arb benn bas
gegebene Beifpiel imitiert, alle mobernen Sprachen bilbeten
ihre abftraften Subftantipa 3ur 23e3eid>nung ber perfon: bie
italienifche von signor vostra signoria, bie fpamfdje von merces
vuestra merced**), bie fran3Öfifche votre gräce (früher signorie),
bie englifche von your Lordship, von worth Worship, bie
beutfehe (Snaben, f}errlichfeit, IDoBjtoeisheit, IDürben***),
ja fte ift felbft por ber fprachlichen Unnatur nicht 3urücF«
*) Der Staat für bie ^etdjtturtg ber £anbesherren unb ber l}öcbßen
Staatsbiener; UTajejiä't, Jjotjeit, Durcfylaudjt, (g^eUens (3m: <§ett ber
Henaiffance in 3talien nodj ilnrebeform ber dürften — bie Deoafoatton
ber (gijrenprSMFate nriebertjolt fid? audj bei biefer SJnrebeform). Die
Kirdje: Xjeiligfeit, €minen3, bifd?öflt<^e (Srtaben (früher dominatio vestra).
Die ttHffenfdjaft: XIIagnifi3ett3 (Heftor ober proreftor ber Unioerfttät),
Speftabilttät (Defan ber tfafnltät).
**) Haa> mir pon fadjfrmbiger Seite geworbener HTtttetlmta. flammt
bafyerbas mtferem beutfdjenSie entfpredjenbe fpanifdje Usted (gefdjrtcben
Vd): es enthält pou vuestra bie ^Ifangs*, pon merced bie ScfylufibuaV
ffcabem
***) (für (Seifilidje, mit 2lbjrufungen: (Efyrmürbett, IDofytefjnpiirben,
^odjtDohlefjriPÜrben, ^odjefyrtpürben, ^odjmürben. Diele 2Ibjrrafta t
Ungarifcben, 3. (Sröße, (Erhabenheit, ^InfetmlidiFett, fjerrf d?a
(Snabe u* a* m»
^nrebeformen; ber Begriffsname*
535
gefdjrecft, 2lbjefttoa 3U biefem «gtoecfe 3U x>ertr>enben: <£u>.
IDofylgeboren, £}odjtr>ofyIgeboren [682] ufrov man fönnte eben*
fogut fagen: €n>. (5ro§, Sdjön, (Belehrt.
2tudj für biefe 2lrt ber Öe3eidjnung ber perfon fennt bte
Sprache meines IDiffens feinen befonbereu 2lusbrucf, unb
bodj tut ein folcfyer not 3* Ijalte ben oben t>on mir ge*
brausten: Begriff sname für sutreff enb. Die perfon B^ört
für bie Dorftellung auf perfon 3U fein, fte unrb 3um Begriff
erhoben. 3n fpracfylidjer Be3ieljung oerbinben ftdj mit bem
Begriffsnamen folgenbe 3tsei (gigentümlidjfeiten.
guerji bie 3nbifferen3 besfelben gegen bie Derfdjiebenfyett
ber (5efdjled}ter» Das (Sefdjledjt fann in bem Begriffsnamen,
in bem bie perfon ftdj f elber aufgegeben fyat, nidjt mefyr
unterfdjieben werben, bie präbifate ZHajeftät, <£f3eßen3 uftx>.
fmb bafyer für beibe (Sefdjledjter üöUig gleich. Die brei übrigen
Stufen ber Hamen bifferen3ieren fidt nadj bem <5efd)led)t,
auf biefer lefeten ift ber gefcfyledjtlidje Unterfcfyieb gän3lid?
übertounben, bie 5Iud}t ber perfon por fid} felbft Ijat mit ber
2tbftreifung bes legten t^r nodj antia^tenben ZHoments bes
ZTatürlidjen it^r <£nb3iel erreicht — nichts errinnert rnefy: an
ben 2Üenfd}en.
Die 3toeite fpradjlicfye (Eigentümlicfyfeit ift bie Derbinbung
ber Pronomina possessiva mit bem Begriffsnamen. Damit
berühre icfy einen punft, ben idj unten bei (Selegenfyeit ber
Syntaj: ber £}öflidjfeit erörtern tt>erbe.
2. Die (Erhebung ber fremben perfon — bie epitheta
ornantia.
3n ber brieflid^en 2Inrebe pflegen toir im Deutfdjen [683]
bem Hamen bes 2lngerebeten getr>iffe ftereotype präbifate
l)in3U3ufügen unb 3tx>ar nad? Perfd]iebenl)eit bes perfönlicfyen
Derfyältniffes balb foldje, tt>eld}e bie 2Idjtung, Derefyrung,
Depotion, balb folcfye, tr>eld]e bas IDofyfooHen, bie 5reunblidjfeit,
536
Kapitel IX. Die fatale Ule^ani?. Das Sittltdje*
Siebe ausbrücfen*). 33eibe ftnb ber Sitte 3ufolge obligat**);
bie 23efd?ränfung ber 2tnrebe auf ben ZTamen ober nad?
fran3Öjtfd}er Sitte mit ZHein %rr ttmrbe eine (ßrobfyeit ent*
galten. Der Deutfcfye verlangt, baß ber Scfyreibenbe ifym
einen Spiegel uorfyalte, ber ifym fein 33ilb im porteilfyafteften
£id]te 3urücfn>irft, 5ür bie IDafjI biefer ftereotypen 2tusbrüc!e
(refleftterenber fjöftidjfeitsformen) ift bas perfönlidie Der-
^ättnis maßgebenb. Sid} einer fernftefjenben perfon gegen*
über ber IDenbungen bes IDofyltDoHens 3U bebienen, ttmrbe
ebenfo ungehörig fein, als einem 5reunbe gegenüber bie ber
I^odjadjtung ober Derefyrung 3ur 2lntr>enbung 3U bringen, bas
3toifd}en beiben perfonen beftefyenbe Derfyältnis, ob es ein
näheres ober ferneres ift, foll aus ber 2tnrebe erhellen.
[684] 5ür ben perfönlicfyen Derfefyr ift bie ^in3ufügung
ber epitheta ornantia 3U bem Flamen fyeut3utage bei uns nicfyt
mefyr üblicfy, tDäfyrenb fte es einft tr>ar, ebenfo wie bei ben
(Sriedjen in ber ^eroen3eit unb nodj Ijeut3utage bei ben
Jlfiaten. Bei f}omer finben ttnr bie Sitte in ausgebilbetftcr
(ßeftali Kein König ober J^elb toirb o^ne efyrenbe präbifate
51; feinem ITamen angerebet***), unb Horner bebient fid]
*} tPenbungen ber erften Kategorie: l^od?gefd?ä^t, geehrt, fjocb*
geehrt, f|odj3ur>ereljrenb, üereljrt — ber 3tt>eiten: lieb, tpert, teuer» Die
erfteren fmb abfoluter, bie legieren relativer 21rt, jene fagen aus: was
bie perfon an fidj, biefe; was fte bem Kebenben ift, barum pa§t nur
3U (enteren bas pronomen possessivum mein (mein lieber ^freunb, tttc^t
mein t]od?3ur>eret|renber £?err präfibent), bie Sprache fjat !jier ein großes
f eingefültl bemerk
**) 21udj in biefem pmtft fjat bie Sitte melfadj bie (Seftalt ber
reglementierten Qöflidjfeit angenommen» 23eifpiel; bie offiziell rorge*
fd>riebenen 2Inrebeformen an ben £anbesljerm bei (Eingaben an ben*
felben; <Sro§mäa?tigjter — 2Jllerburd}laud?tigfter n\w., früher aud? bei
2Jnreben an bie Befyörbem
***) Die befannten 23eifpiele: €bler £aertiabe, erftttbungsretdjer
(Dbyffeus — 21treus Sofjn, ITCenelaos, bu (göttlicher, Dölfergcbieter
u*a*m» Der IDert, ben bie (Sriedjen auf bie 21bfiammung legten (S. 526
Die pfyrafeologte ber £}öflid}Feit — epitheta oraantia. 537
berfelben and>, wenn et von ifynen reitet Was ben ZHenfd^en
gebührt, gehört jtd) erjl recfyt für bie (Söttet, audj fie erhalten
iijre epitheta ornantia, unb fie geben fie ftcfy untereinander,
nur Pater geus entfdtfägt fidj ifyrer*). ^^eifellos toar
bie fjtn3ufügung berfelben Sadje einet ftreng t>erpflid)tenben
igtifette**).
[685] IDie mag bie Sitte ftcfy 3uerft gebilbet fyaben?
XDafyrfcfyeinlid} ift es ber (Egoismus gert>efen, ber ba3u ben
erften 2tnfto§ gegeben Ijat. Sdjufefleiienbe, 5remblinge, Sflat>en,
abhängige Ceute roerben es geroefen fein, toelcfje, um bie (Sunft
bes tnäcfytigen 3U gewinnen, feinem Hamen glän3enbe prä<
bifate I)in3ufügten***), unb bei (Söttern fyelt man es aus
gleichem (ßrunbe nid>t anbets, auefy bie <5ottfyeit mußte burd}
Schmeichelei gewonnen tserben. 2tber toelcfyen Anteil (£igen*
nu£ unb Beregnung aud] an ber erften Bilbung ber Sitte
Hote), erflärt es, ba§ bie epitheta ornantia audj bem Hamen bes Paters
ober ber Dorfafyren fyh^ugefügt »erben, 3* £♦ 2ltreus Sofnt bes feurigen
Hoffebe3ätjmers — Solnt bes ftrafjlenben Cybeus, 3Itas II. 23, IV. 338,
V. 277, (Eurtpibes 2llf eftts 498, (Eleftra 868, 87$, 3ptn'genia in 2Iulis 809*
*) Die (Sötter unter ftd? : 0b. V. 87, 88, VII. 306, II. II. *57, <£un*
pibes Croerinnen $9. 2lnrebe an <§eus: 0b. I. $5, bes <§eus an fie ;
3Iias V. 22, 29 u. a. m.
**) (Otarafterifiifdj bafür tjt, ba§ fte feibft im ganf beobachtet
n>irb, 3* 33* II. I. J22: Nitrens Solnt, ruf}mt>oüer, bu tjabbegiertgfter
aller l — für uns fyeut3utage non ununberftetjltdjfter Komi! — unb aud?
gegen ben ^etnb in ber Sd?!acf?t IL V. 277, IV. *23, \<{%. (2in anberes
«geugnis bafür f. 0b. III. 22, wo Celemacfy ben XTCentor fragt: „IPie
foü tdj bann gelten unb 3iterft aureben ben König? Ungeübt nodj biu
id? in fertigen tPorten ber Klugheit". S. auci? bas oben S. 526 Hote
eingeführte. Hur bie grauen nehmen es mit ber 2lnvebe nidjt fo
genau, 0b. IX. 336. Die 2tnrebe an fie : 0b. XVII. J52, XVIII. 2<*5,
285, XIX. 262, 336.
***) So madjt es ber fluge bevedintnbz 0byffens bei bem 2Ilfrttoos
unb ber ZIaufifaa (0b. VI. J<*9, VII. V*6, VIH. 382, *o*, W, IX. 2,
XI. 355, 357). Der Ittädjtige, ber um Sd?ut$ angegangen mirb, bebient
fidj bem Sd^fleljenbeu gegenüber ber (HljrenpräbiFate uid]t — er rebet
Silin einfach als (frembling an, 5. 527.
538
Kapitel IX. Die feciale HIedjamf. Das Sittliche*
gehabt haben mögen, es haben noch anbete TXlotive mittoirfen
muffen, um fte über bies Verhältnis hinaus in ben allge*
meinen (Sebrauch 3U bringen, 3ur allgemeinen 3U machen.
Vex Unabhängige hat nicht nötig, bem andern 3U fchmeicheln,
unb ber <£haraftert>oHe pcrfd)mäl^t es, felbft tt>enn er es notig
fjätte. Was hat auch fie ba3U vermocht? Das natürliche
£3ebürfnis eines neiblofen £iex$ens, bem (Sefühle ber 23e«
tsunberung unb 5^eube über frembe (Bröjje Jlusbrucf 3U geben
— bie gelben Römers toerben als gelben gefeiert, nicht roeil
man ihnen fchmeicheln tx>oHte, fonbem tseil bas £>olf ftol3
auf fte u>ar.
2fas ber Hegion bes <5ötter« unb ^eroenfultus, in ber
bie epitheta ornantia htftorifch 3uerft fich 3eigen, ftnb fte [686]
bann, rote alles, roas 3uerji auf ben ^öhen ftdjtbar wirb,
nach unb nach in bie Ztieberungen hircabgefunfen, ein Stücf
ber gemeinen £}öflichfeit getoorben. 2luf römifchem 23obcn
erfuhr ber <5ebrauch berfelben noch eine €rn?eiterung. Die
römifche <£tifette 3U <£nbe ber Hepublif fcheint es, trenn fonfi
bie HJeife bes Cicero als maßgebenb an3ufehen iß, erforbert
3tt haben, ba£ ber Hebner angefehenerer perfonen, moditen
fte amsefenb ober abtoefenb fein, nicht gebachte, ohne ihrem
Hamen ein ehrenvolles präbifat hin3u3ufügen ober in <£r»
mangelung besfelben fte tsenigftens mit ber phrafe: quem
honoris causa nomino ab3ufinben. 3n bex fpäteren Kaifer3eit
ging man fogar fo tt>eit, bas bem Kaifer gebührenbe präbifat
sacer auf alles aus3ubehnen, u>as mit ihm in Derbinbung
ftanb (3. 23. sacrum eubiculum, rescriptum), unb wix ftnb l^ut*
3utage barm noch ungleich weiter gegangen*).
*) lOir rjaben btefe XDenbungen nämlicr/ aus bem Kurialjrtl (Beu
fpiele: Sltferrjöcr/fte (Entf Reibung, <Snabettbe3eugung uftp. — ^ofyes Ke*
ffrtpt ufmj in ben *?öflid?feitsjtü bes gen>örmlid?en Gebens übertragen
(Betfpiele: bie werten Ungehörigen — bie r>eretjrte Jrau (Semafylm —
3^re freunbliaje gufenbmtg, (Emlabung — im Brief jtil: 3fyr geehrtes
Die pfjrafeologte ber ^öfltd^Fett — epitheta ornantia.
[687] Unfere gütige Sitte tjat bie epitheta ornantia, von
offoiellen unb folemten 2lnläffen abgeben*), auf ben Briefftil
eingeengt uni> ifynen audj in biefer 2lmx>enbung einen ungleich
fnapperen Haum angeunefen, als jte früher einnahmen**).
Schreiben, im faufmännifchen Stil fogar; 3h* (geehrtes als Be3eich*
nung für ben Brief)* <£in (Segenftücf ba$u bietet bie 2Jntvenbung
bevoter präbifate, toeld^e nur für ben Bebenben perfönlid? Sinn traben,
3ur Cfyarafterifterung ber von ihm ausgehoben 21fte, 3* 23* gehorfamjtes
(Sefud?, fubmtffefte Eingabe, ergebende Mitteilung* H>te f etjr felbft biefe
Sonberbarfeit im tDefen ber £}ofIichfett begrünbet fein mug, ergibt ber
Vergleich mit ber djmeftfdjen ^öflichfeitsfprache. Die (Etikette verlangt
bei ben Ct^mefen, bag man ffd? nach, bem tverten Hamen, bem fyofyen
Hange, ben foftbaren £ebensjahren ufro. erfunbtge, ivährenb ber Hebenbe
aöen biefen Dingen in be3ug auf fich felber fjerabfet$enbe präbifate !nn3u*
fügt (f. ttt. 5).
*) 3n tiefer J?inftd?t nimmt u>o^l ber lateinifche Kuriatjttl ber
afabemifchen Beerben bie erfte Stelle ein, bie Diplome berfelben fennen
nur Superlative» 3eber Doftor tft vir toctissimus, aud? ber Bürgerliche
nobilissimus unb felbft praenobilissimus, unb bei (S^renbiplomen unb
tabulae gratulatoriae Käufen fid? bie f ämtlich im Superlativ gehaltenen
präbifate in einer tPeife, bag man glauben möchte, bie gan3e latemifd^e
Sprache fei 3U bem g>wedz geplünbert ivorben — eine Ha33ia auf bem
(Sebiete ber Sprache! — unb bie Dorfefjung habe bas gan3e Büllhorn
benetbenstverter (Sahen auf ein einiges f?aupt entleert Die afabe*
mifc^e Ijöflidjfeit null es einmal fo — man mug ihr ben Hu^m laffen,
bag fte bas 2lugerße in biefer Be3iehung geleiftet hat»
**) (Es tjt 3U unterfchetben bie Eluffchrift auf bem Briefe unb bie
2Jnrebe im Briefe* 3n früherer <§eit flehten beibe gleich gelautet 3U
haben — ber 21breffat follte auch vor ber IDelt gefeiert tverben! — unb
biefe Sitte fd?eint ftch nod? bei einigen Dölfern in einem getviffen Um"
fang behauptet 3U \\aben (3. B. in Ungarn, wo man noch Briefe an
ben „großen, anfehnlidjen" uftv. f?errn abreffiert, ber Pater ben Sohn
als „hoffnungsvollen" tituliert — auch in 3talien 3» B* »Illustrissimo«),
mährenb man bei uns auf ben' Briefen nur nod? bas (Seborenfetn (tDohl^
geboren ufun) betont» Bei ben <£nglänbern ift bie Brief etifette in bieget
Be3iehung augerorb entlich fompli3iert, ich habe eine £ifte von nicht
tveniger als ad?t Zlbftufungen vor mir liegen» Die richtige IDahl ber
nach Derfcbjebenheit bes Stanbes, ber Berufsart uftv. äugerfr mannig-
faltigen epitheta ornantia bei ber brieflichen 2Inrebe erforberte früher
bei uns ht Deutfdjlanb ein eignes Stubium unb es gab einige Einlei-
tungen ba3U, t^eut3utage fann man mit ben tvenigen oben (S. 536
5^0 Kapitel IX. Die feciale tlledjanif. Das Sittliche.
3m bisherigen ifi ausfcfyliepdf von ben epitheta [688]
ornantia bie Hebe getsefen, unb mit iBjnen unb ben in ber
t>ort)ergefyenben Hummer bezauberten fubftantimfcfyen 2lnrebe*
formen ift basjentge, was bie Jjöflicfyfeitsfpradje ber eure*
päifcfyen Pölfer für ben in ber Überfcfyrift ber gegenwärtigen
ZTummer namhaft gemachten (Sefidjtspunft ber €rB)ebung bes
embem Ceils barbietet, im n>efentlicf}en erfcfyöpft. Die £}öf*
licfyfeitsfpracfje einiger oftaftatifdjer üölfer fügt noefy einen
weiteren Beitrag fyn3U. „Qk 3at>anen unb rool^l nodj
manche anbere t^nen r>errx>anbte Dölfer, fotx>ie bie Stamefen
Ijaben für Körperteile, Jtngefyörige, (gerate n\w. je bret 2lus*
brüefe: einen allgemeinen, einen bemüttgen unb einen eljrenben,
Iefeterer toofyl meiji bem Sansfrit ober päli entlehnt, unb bei
ben 3aPanem gibt es für einen Ceti ber gebräuchlichen
Perben (effen, trtnfen, fommen, ge^en, geben, nehmen, fingen
ufro.) befcfyeibene unb efyrenbe Synonyma" *). <2s bürfte bas
äußerfte bes Haffmements fein, 3u bem es bie £jöflicf}feit in
ber Pertoenbung ober richtiger ber ZHißhanblung ber Sprache
für iBjre groeefe je gebraut fyat — brei be3ieljungstpeife 3tt?ei
befonbere Spraken [689] ftatt ber naturgemäßen einen! —
idj wüßte nief^t, was hier noch übrig bliebe.
Hote *) genannten 2ldjtungspräbi?aten bas 3ebürfnis roflftä'nbtg be*
flreitem
*) Der gan3e Sa£ im Cejt ift tDÖrtltd? ben Mitteilungen bes *7emt
33aron von ber (S ab Ient$ entlehnt , bem id?, nrie id? bereits früher
bemerft fyabe, für meine Unterfud^ungen bie toertrollfie Unterftüt$mtg
rerbanfe* (Ein vereiteltes Seitenftücf 3U ben ijöflidjfeitsüerben ber
3apanen gemährt unfer beutfdjes tPort gerufjen (mittel^ genichen, ge-
ruochen, r>ott altfy. ruocha, ruohha = Überlegung, Sorgfalt, Sorge, 35e*
rücfficfytigung, beffen fid? ber heutige Spradjgebraudj nur für bie <£nt>
fcfyließungen ber £anbesfyerren bebtent, S. 335.
Die pfjrafeologte ber i^öflidjfeit — Selbf%rabfet$ung, 5^
3. X}erabfet$ung pon ftd] unb bem Seimgen.
Sie hübet bas (Segenftüc? 3U bem PorBjergefyenben, aber
nidjt bas Korrelat besfelben — man fann einen anbern noefy
[0 fefyr ergeben, ofyne ftdj felber fyerab3ufefeen, bie frembe
(Sröße bebarf nicfyt ber eignen (£rniebrigung als Sdjemel.
So Ijaben audj bie ©riechen unb Homer bie Sacfye angefefyen,
in ifyrer J^öfltc^feitsfprad?e finbe icfy auefy nicfyt bie leifefte
Spur jener unwahren unb tpibertpärtigen , pon tpirf lieber
Befdjeibenfyeit tpeit entfernten Selbfterniebrigung, 3U ber ftdj
bie oftafiatifdjen unb leiber audj bie mobernen europäifdjen
Dölfer ^aben perleiten laffen; itjr rpürbtges Selbftgefüfyl unb
tfjr 5reil)eitsfmn fdjüfcte fte bagegen. läge l|ier lebiglidj bie
ferpile IDeife ein3elner 3nbiptbuen por, fo tpürbe bie £jöf*
lidjfeit bie Deranttportung bafür pon ftdj ablehnen !önnen,
aber fte t\at bas jenige, tpas jene 3uerft erbaut unb aufge-
braßt Ijat, angenommen, ifym ben Stempel pon obligaten
f}öflid]feitsformeln aufgeprägt unb bamit bie ZHitfcfyulb auf
ftd? gelaben.
Den äußerffen <5rab fyat biefe Perirrung ber f}öflid]feit
meines IDiffen bei ben (Diinefen erreicht. <£s ift (ßebot ber
cfyinefifdjen £}öflid?feit, alles, roas ben Zlebenben felber betrifft,
fyerab3ufefeen. <£r felber ift \d\led\t, gering, bumm, in Se*
rüdficfytigung feiner Dummheit bittet er, tpenn er felber unb
ber anbere ein ftubierter ZHaun [690] ift, leftteren um Sc
lefyrung. Sein Harne ift gering, feine fjeimat armfelig, feine
Stellung befdjeiben, feine Cebensjafyre unperbientermagen
perlebt, feine 2lngel}örigen flcin, gering, bumm, roas er por*
fefet, ift bes (Saftes nicfyt roürbig, wenn er einen Stufyl an*
bietet, entfd^ulbigt er fid] rpegen ber Dreiftigfeit: tpie barf
id? es tpagen? 3n 3aPan mu§ ker Hebenbe, tpenn er pon
ftdj, bem Seinen unb ben Seinigen fpricfyt, felbft bei ben
fcfymer3lid]ften Deranlaffungen läd^eln — bas £äd]eln ber
5^2 Kapitel IX. Die fatale ITCedjatttf* Das Sittliche.
Scham, baß er genötigt tfi, über ein fo unbebeutenbes IDefen
rt>ie ftch felber iDorte 3U machen.
So toeit liat es bie abenblänbtfche f}öfltchfeit aHerbtngs
nicht gebracht «gunächft perlangt fte nicht, baß man bie
eignen 2lngehörigen preisgebe, nur bei Kinbem pflegt man
ftch auch bei uns toohl, voo man ben Con 5er Dertraulichfeit
anfragen barf, ^erabfefeenber, nicht ernflltch gemeinter 33e<
3eid)nungen 3U bebienen. 3m übrigen gilt es bei uns gerabe
umgefefyrt als (Sebot ber guten Sitte, mifcbiHigenbe Urteile
über bte Seinigen, felbfl tr>enn fte noch fo gerechtfertigt ftnb,
fremben perfonen gegenüber 3U unterbrüefen. 2lud] bie
^erabfefcung von ftch felber unb von bem (Eignen betoegt
fiel? im allgemeinen in gemeffenen (Breden, bie über bas
Zfiaß ber Befcheibenheit (Ztr. nicht erheblich hinausgehen*).
[691] 21ber einen punft gibt es aüerbings, too fte bies
7Xla% roeit überfdjritten hat, unb 3tt>ar meines JPiffens in allen
mobernen Sprachen, es tfi, roenn ich es fur3 be3eichnen foll,
ein Stücf Sebientenf pradje, bas bte allgemeine höflich*
fettsfprache in ftch aufgenommen h<*t*
IDenn man ftch burch bas Zeugnis ber Sprache leiten
laffen wollte, fo möchte man glauben: bte moberne iDelt
habe feine »ollenbetere Pertoirflichung bes (ßebanfens ber
£(öfltchfett gefannt als bie Untertrmrftgfeit bes Sebienten,
*) Betfpiele berarttger Hebett>enbungen aus ber bentfdjen Spradje
^erabfetjung von fid? felber: meine IDenigfeit, nadj meinen fdjtsad?
Kräften, nad? meinem bummen Derjtanbe, nad? meiner fdjmadjen <E""
fid?t uftt). Don bem (Eignen: formen ber (Einlabungen ftu einem £offel
Suppe, 3U dee unb Butterbrot, 3U einem (ßlafe IPein, einem befdjeibenett
einfaden, frugalen (Effen nftr>*) — Bitte rorlieb 3U nehmen — <£tt
fcfyulbigungen, Selbftanflagen guter Hausfrauen in be5ug auf bie (Süte b
rorgefe^ten Speifen uftu* 3n <£tnna ftnb Ietjtere, bte bei uns jebettfa
tttcfyt 3um guten Con geboren, fdjlecfyttjht obligat, ber (Saft fetnerfe?
bat barauf 3U erunbern: es fei tnel 3U föjHtdj, er trage es nid?t an3
nehmen, er bebauere, ba§ ber IPirt fidj um fehtetuuüen fo in Unfoße
gefegt Ijabe ufu\
Die pljrafeologie bes ^Seoxententnms.
5^3
bei tfym fyabe fte ficfy in bie Scfyule begeben, um bas Vov*
bilb, bas er ifyr gab, nadtfuafynen , unb fte fyabe baljer für
bie Perfidjerung ber 2lct)tung feinen prägnanteren 2lusbrucf
gefunden als bie Selbftbe3eidjnung als Sebienter, Diener,
Sflape*). Sem entfprecfyen audj bie fonftigen [692] IDen*
bungen, fte bleiben ber Dorfteltung bes 33ebientem>erl}ältniffes
treu**). ZHandje ber nocfy Bjeut3utage imZHunbe ber mobernen
Dölfer üblichen 23ebientenpl}rafen bleiben hinter ben probe*
jiücfen, mit benen ber Orient aufwarten fann (3. 23. bie 2ln*
rebe auf 3ar>a an ben König: Staub beiner 5üge, Soljle
beines 5u§es, an einen Bjofyen Seamten: unter beinen 5ü§en),
tx>enig 3urücf; unfer <£rfterben in tieffter Untertänigfeit fann
es mit jebem berfelben aufnehmen — ber geringfte <5riecfye
*) Die von bem lateinif djen servus gebilbeten 2lusbrücfe ber roma*
nifcfjen Sprachen: ital. servo, fran3. serviteur, fpcm. servidor mit ent*
fpredjenben 3ufal3en* devoto, devotissimo , ubbedientissimo, umilissimo
— tres humble ufm., ber Spanter fügt am Sdjlug bes Briefes 3U bem
S. S. S. (su seguro servidor) nod? tn'^u Q. B. S. M. ( — que besa sus
manos = roeldjer 31ln*n bie £janb fügt). 3m Deutfdjen ijt an bie
Stelle bes einft aud? üblid?en „Sflaue unb Kuedjt" ber „Diener" ge*
treten (münblidje (Srugform: 3*Jr Diener, — in Briefen m ber Unter*
fd?rift: 3fyr gerjorfamfter Diener)* 3" Öfterreid? ift in ben Kreifen ber
Stubierenben nod} bis auf ben heutigen (tag als Derabfdjiebungsformel
Serrms üblid}.
*) 3^ fteHe bie £ifte berjenigen 3ufammen, roeldje fid? in ber beutfdjen
Sprache porftnben, ber £efer roirb jtdj barans über3eugen, mie tief bie
Dorfteilung bes Bebtententums ftdj uuferer Spradje imprägniert rjat.
Das IDort Dienftferttgfeit — einen Diener rnadjen (ben jjut 3teben) —
feine 21ufroartung madjen (ber 2lufroärter ift Diener) — bie fjerrfcfyaften
)als Be3eidmung einer ttTerjrrteit angerebeter perfonen) — bie ptjrafen
3U bienen — momit fann idj bienen? — 3U Befehl — roas fterft 3U
Befehl, roas befehlen Sie? — ia? lege mid? 3f?nen 3U füffc bie
^anb ufm. Dem 2Ibrjängtgfeitst>errjältms bes (ßeroerbs* ober (Sefdjäfts*
treibenben, ber „ben geehrten £?errfdjaften" in öffentlichen Blättern ober
beim 21bfdjieb fein (Sefdjäft empfiehlt, ift entnommen ber ZlusbrucF ber
Umgangsfpradje fidj empfehlen unb (Empfehlung im Sinne bes
(Sruges.
5^
Kapitel IX. Die fötale HTedjattif. Das Sittliche.
unb Horner aus ber guten §eit umrbe fid? gefchämt I^aben,
foldie IDorte in ben ZHunb 3U nehmen«
BefcfyetbenJjdtsplirafen.
a. Bei Äußerung einer Anficht. JtusbrucE berfelben in
3tr>eifelnber, fiypotfietifdier ober rein fubjeftiv gehaltener Sovm.
IDenbungen bafür im (ßriecfyif cfyen: av mit [693] bem ©p<
tativ; im Cateinifchen: esse videtur (bei ben römifchen 3uriften
gan3 ftehenb, bei Cicero noch gefteigert 3um esse videatur,
eine inbioibuelle IDenbung x>on ihm, bie in Horn feinen 2tn*
Hang fanb), ber Conjunctivus potentialis: hoc confirmaverim,
vix, paene dixerim; entfprechenb im Deutfchen: es möchte,
bürfte, fönnte uftt>. Die abfchtvächenben partifein, bie man
gerabeju als bie fjöflichfeitspartifeln be3eid?nen fönnte: boch,
boch tsofyl, ettoa, vielleicht, fchtoerlich, faum. Die einft
üblichen 5ormeln: nach meiner unmaßgeblichen 2tnftd?t, unt>or«
greiflichen Zfieinung, mit gütigem, geneigtem IDohfoollen ufu>.
Die Bitte um €rlaubnis 3ur Äußerung ber Anficht: toenn jte
mir bieBemerfung serftatten tx>ollen — iialten 3U (Snaben u.a.m.
b. Bei Stellung einer Bitte. Die birefte Stellung ber Bitte
gilt ber Befcheibenheit 3u breift, fie bittet erft noch um bie
€rlaubnis, fie (teilen 3U bürfen (roenn ich bitten barf — barf
ich bitten? ber cEt^inefc: barf ich tragen?), ober jte fchtcft
eine <£ntfchulbigung voraus (3. B. bie 2lnrebe an jemanben,
ben man auf ber Straße um ben IDeg fragt: um Vergebung
— um €nt[chulbigung uftr>.). Stellung ber Bitte auf bas
IDohltooHen (wollen Sie roohl fo gut — fo freunbltch fein
— bie (Sitte — (Setoogenheit uftx>. haben?) — E(in3ufügung
bes Vorbehalts, baß es bem anbem feine Ungelegenheit,
feine XHühe mad]e, baß es ihm paffe, — ^erabfefeung bes
3nhalts ber Bitte auf ein ZTlinimum (ber Quantität nach:
ein wenig tDaffer einfdjenfen [694] — ber <?>eit nach: mir
eben bie Sache reichen — einmal 3U mir fommen, — bas
Phrenologie *>er fjöflidjfett bei ber (Sefättigfeit. 5^5
fran3Öftfcfie: venez un peu). 2)er anbete ift x>iclletc^t nicfyt
geneigt ober ntcfyt in ber £age, bie Bitte 3U erfüllen, barauf
3telt bie txmnberlidje , nur fo 3U erflärenbe negative Raffung
ber Bitte (Jjaben Sie nidjt gefeiten, ob ufu>. Können Sie
mir nidjt fagen?) — bie Stellung ber Sitte auf fein Können
(Können Sie mir nicfyt fagen?) — bie f}in3ufügung ber
§tt>eifelspartifeln pielleicfyt, ettoa u. a. — bie Senuftung bes
Conjunctivus potentialis (iüürben Sie tr>oI)l fo freunblidj fein?),
c. Sei einer 2lufforberung. Dermeibung bes 3mperatit>s,
Porbefyalt bes fremben freien €ntfcfyluffes, Hömifdje $otm:
si vobis videtur bei ber 2lufforberung 3ur ilbftimmung an
bas X>olf, fran3Öfifd^e: s'il vous plait, beutfdje: toenn es 3fynen
gefällig ift, toenn es beliebt unb entfprecfyenbe in allen anbern
Sprachen. Dertaufcfyung bes Sollens mit Können felbft in
öerfyältniffen, in benen man befehlen fann, 3. S. bei IDeifungen
an Dienfiboten (Sie fönnen einmal ober gar: Sie fönnten
tr>oI}l 3um Kaufmann gefyen).
d. Beflej ber <£fyre vom anbevn Ceil. 3)em £}öflidjen
gereicht jebe Berührung mit bem anbern Ceil 3ur (JEfyre. <£r
t^at bie £fyre gehabt, ifyn 3U fefyen, er beehrt fid}, ifyn ein3U<
laben, bittet ftcf} oon ifym bie <£fyre feines Sefucfyes aus;
wenn er f elber eingelaben n>irb, fyat er bie <£fyre ber €in*
labung 3U folgen; gefyt er t>on bannen, [695] fo fyat er bie
(£fyre ficfy 3U empfehlen, am Sd^lujj bes Briefes bie <21}re 3U
fein ufa>., fur3 überall unb überall bie (£fyre. (ßlücf lieber«
roeife ift bas Derfyältnis gegenfeitig, bem <£inlabenbeu, ber
um bie <£fyre bittet, ertrubert ber anbere, öa§ er bie (JEfyre
Ijaben u>erbe, bie <£t}re toirb toie ein Ball 3tDtfcben beiben
fyin unb fyer geworfen. 3m Derfyältnis ber Dcrtraulidjfett
tritt bei (£inlabungen an bie Stelle ber <£fyre bas Dergnügen
ober bie 5reube.
o. 3 e rln g, Der ^toeef im Heijt. II.
35
5^6
Kapitel IX. Die fötale ttledjattif* Das Sittliche»
5. ^öflichfeitsphrafen der (SefäHtgfeit.
Die (Befäüigfeit tjt eine fehr reichhaltig Quelle i>on £|öf*
lichfeitsphrafen, jte entfacht auf beiden Seiten, foroohl deffen,
5er jte empfängt, als deffen, der jte gewährt, einen tx>ahren
IPetteifer in ijöflichfeit, bei der perfönlichen Berührung t>ox>
3ugstx>eife auf fetten desjenigen, der jte empfängt, im brief*
liehen Perfekt sor3ugstt>eife auf feiten desjenigen, der fte
ertr>eifh Cefeterem gereift es 3ut J)oI|en Genugtuung, Be*
friedigung, 3um gan3 befonderen Vergnügen, 3ur großen
Freude den IDunfch des andern erfüllen oder ihm ungebetener*
maßen einen Dienft ertoeifen 3U fönnen; Rändelt es jtch um
Beantwortung einer Anfrage, fo verfehlt, ermangelt er nicht,
beeilt er fich ufnx, tvomit er feiner Handlung den Stempel
des (ßefliffentlichen (S. ^7) aufdrücft. Die üblichen phrafen
auf der andern Seite laffen jtch auf vier (5 e jtch tspunfte 3urücf<
führen: gurücftveifung der (SefäHigfeit aus Scheu, den andern
3u bemühen (bemühen Sie ftch nicht), Einnahme derfelben mit
befchönigenden Redensarten (mit 3h*** gütigen [696] <£r*
Iaubnis — ftch die 5tei^eit nehmen, fo frei fein), 2lnerfennung
der wohlwollenden (Seftnmmg des andern tEeils (eine ZtTenge
von phrafen: gar 3U gütig — äußerft liebenswürdig — auf*
merffam ufw.), 2lnerfennung der daraus jtch ergebenden Ver*
pfftchtung 3um Danf (fehr verbunden — verpflichtet ufw.).
Sei einigen Völfem, 3. B* den Spaniern, dehnt die Qöflich«
feit die Verpflichtung 3ur <5efäIIigfeit fogar fo weit aus, daß
man dem andern die Sachen, an denen er (SefaHen findet, 3ur
Verfügung jiellen muß, die er felbftoerjländlich aber nicht an*
nehmen darf — ein fragender Beleg dafür, daß man di
Sprache der f}öflichfeit fennen muß, um fte 3U per flehen (S. 52
6, Verftcherung der <5ejtnnung.
Die obligate Schlußformel der Briefe« Sie entfpricht de
Jtnredeform, und der (Segenfafe 3wifchen Achtung und IVohl'
Die phrafeologte ber ^öfltdjfeti — Die guten IDünfcfye* 5^7
wollen, ber bie XDahl jener beftimmt, ift auch fü* fl* nta^
gebenb, ben präbifaten: hoch^h**/ h°ch$uperehrenb ent*
fprechen bie JDenbungen: I|Oc^ad^tungspoII , mit größter,
ausge3eichneter Hochachtung — ttefjler Perehrung — £hr*
furcht — 2>epotion — Untertänigfeit, ben präbifaten bes
H)ot|tooUen5 : lieb, teuer uftp. bie Derficherung ber Creue,
2tnhängltchfeit n\w., bie Formel: ber 3t|rige, bei Souveränen
bas: in <5naben gebogen, wohlgeneigt — früher: tpohl*
affeftioniert Die phrafe ber (Ergebenheiten fommt in beiben
Perfyältniffen por* £ine Steigerung ber Schlußformeln ber
erften 2trt enthält bie Bitte [697] um (Senehmigung ber Der*
ficherung ber Hochachtung (bie ftehenbe fran3Öfifche 5ormel:
Agrdez, Monsieur, l'assurance, l'expression ufu\, noch h°f*
licher: veuillez agrder).
7. Die öetpiüfommnungsph*<*fen.
2lusbrucf ber ^reube über bas IDieberfehen unb <£rfun-
btgung nach bem 23efmben — in ber ^öflichfeitsfprache ber
perfchtebenen Dölfer in mannigfaltigfter JDeife pariiert*)«
*) Unfere eignen barauf genuteten ^öflidjfettspfjr afett bebürfen
nid^t ber Angabe, bagegen führe idj bie einiger anbetet Pölfer an*
23etfpiele bet erften Kategorie* 23ei ben C^inefen 2lusbxud bes Be*
bauems, ben anbern folange nidjt gefehen 3U ^aben, felbft in bie ^orm
ber 21nflage gebraut (Sie haben mir lange ben Biicfen gefe^rt), Der*
fidjerung, baß* man fid? fefjr nad? ihm gefehnt habe Öd? t\abe oft an Sie
gebadjt) — man fleht aud? h*eraus lieber; ben Chtnefen finb nur in
be3ug auf bie £}öflidjfeit lange ntdjt gemadjfen* 23ei ben Ungarn bie
forme! ; (Sott t\at &td? gebraut 33eifptele ber 3meiten Kategorie» <£r-
funbigungsformel ber (Eataten: Steht bein <§elt auf einem ^ügel? 33ei
ben alten 3noec^ n^ <Sefet$en bes ITCanu (II, [27) nadj Derfdjie*
benheit ber Kafte üier rerfcfytebene (Hrfuubtgungsformeln obligat: II faut
demander ä un Brahmane en l'abordant, si sa d£votion prospere, ä un
Kahatri ya, s'il est en bonne sante" , ä un Vaisya, s'il r£ussit dans son
commerce, ä un Soudra, s'il n'est pas malade, A. Loiseleur-Deslong-
champs, Lois de Manu, Paris
55*
5^8
Kapitel IX. Die fatale mtfyanxt. Das Sittliche,
8. 2tbfditebspl}rafen.
gtoei Klaffen, X3ei ber einen fyat 6er Hebenbe ftdj felber
im 2Iuge, fein eignes 3"tereffe (ber tDunfdj, ben anbern
roieber3ufe^en: auf tDieberfeljen, ä revoir — bie Bitte um
<£rt|altung bes 2tnbenfens: cergeffen Sie midi nidjt, ober ber
geneigten (ßefinnung, ber Sinn ber pljrafe: tdf empfehle
midi 3fynen); bei ber anbern Klaffe ijat er ben anbern [698]
Ceti im Jluge, unter tseldjen (Seftdjtspunft tnsbefonbere bie
guten IDünfdje fallen t mit benen er ifyn entlägt. Sie ge*
fyören ber reichhaltigen Kategorie ber guten IDünfcfye an, ber
idi midi im folgenben 3utoenbe.
9» Die guten iDünfdje.
Siefelben enthalten ben 2lusbrucf bes ü?ol}liDollens: bes
3ntereffes rote ber Cetlnafyme (S. <{3\f ^35), nid\t ber 2ldjtung.
Die 2lnläffe ba3U ftnb außerorbentltd} mannigfaltiger 2lrt,
toie ftcfy aus bem 5olgenben ergeben tr>irb.
<£s ftnb 3tx>ei iDunfcfyformen 3U unterf djeiben: bie profane
unb bie religiöfe» £efetere fdjeint intern Urfprunge naefy
bem ©rient an3ugeljören, erftere bem <D?3ibent — bie urfprüng*
liefen IDunf deformen ber (5ried]en, Horner, (ßermanen ftnb
fämtlid] profaner 2lrt.
a. Die profane &)unfd)form.
Sie djarafterifiert ftdj pofitip baburd), ba§ fte ausfdjliejg
Vidi trbtfdje (ßüter 3U t^rem 3n^alte hat, was aber aller
nod] nicht ausreicht, ba bie reltgiöfe benfelben 3nh<*K habe
fann, uegatio baburch, — unb bies ift bas fdjlecfytfyn unte
fdjetbenbe ZHoment — baß fie bie Verleihung nicht auf (So
5urikffüfyrt.
(Eine Dergleichung ber 3U biefer Klaffe gehörigen IDunf
formen ber t>erfd?iebenen Dölfer l|at mir als 3nh<*l* bcrfclbc
Die pfjrafeologie ber fjöflidjfeih — Die guten IX>ünfd?e* 5^9
folgenbe (ßüter ergeben: XDofyfein, (Sefunbtjeit, Kraft, <5lücf,
Dergnügen, nicfyt aber, toas fyen>orgefyoben 3U werben oer-
bient: Zleicfytum unb IDofylftanb, 2tnfel|n unb <£i)re, toobei
ber (ßebanfe 3ugrunbe liegen [699] mag: biefe muß ber
ZHenfdj ftdj felber perfdjaffeu, jene fteijen außer feiner ZHacfyt,
man tut bafyer tool^l baran, fie itjm 3U txmnfcfyen.
Das IDoIjlfem, XDoIjlbeftnben, XDofylergefyen.
Der befannte Cifcfygruß: 3*lr iDot^lfein — bie ilbfcfyiebs*
ptjrafe: £eben 5ie rooE^I *), fran3Öftfdj: que bien vous en arrive,
— bas grtediifcfye x°"P£**) Setoillfornrnnungsgruß — bie
^reube als Symptom bes £>ofylbefmbens.
(ßefunbljeit unb förderliche Kraft.
(ßried). oytaivs (Jlbfdjiebsgrujs) , latein.: salve (23eu>iß«
f ommnungsgrufc) , vale (2lbfd]iebsgruß). 2lltbeutfd): hails
(öetoillfommnungsgruß), ber heutige SCifcfygruß: 3ur (Sefunb*
I^eit, ä votre santd (baljer bie XDenbung: eine (Sefunbfyeit
ausbringen, porter une sante), bei Kranfen: gute Sefferung,
griedjifcfy xaXak s'x£ — ^er ö?unfd?f ™ü man früher
bas iTiefen begleitete: 3ur <5ene[ung, 3ur (ßefunb^eit, wolfi
befomm' es uftr>.
langes £eben,
3nbifdj: mögeft bu lange leben ((ßefefee bes ZHanu II,
\25), ebenfo djinefifd}: bie Canglebigfeit fegnen*
Das (Slücf.
[700] Sei manchen Dölfern ber normale 3n*!att bes
IDunfdjes (3* S. bei ben Cataren: möge bas (Slücf auf biefy
*) 5pe3ialtfterung bes tDoljlergetjens in beßug auf bie geit (guten
(Eag, IHorgen, 2lbenb, gute XTadjt), auf bie förperlicfyen Verrichtungen
(Schlaf — 2lppetit — Perbauung)*
**) Ulfflas gibt bas grtednfd?e /aipe mit Hails uneber. Hails bc*
beutete gefunb, nncerfefyrt. Diefer urfpvü'nglicfye Sinn ifi Ijeut3utage
nodj erhalten in bem Derbum feilen unb bem ilbjeftip Ijeil (eine fyeüe
| b. u unperfefjrte Sacfye).
550
Kapitel IX. Die feciale HTectjamf* Das Sittliche*
fallen — äfynltd? bei ben Rinnen). Der Seutfdje fpart ftdj
bies (ßlüdf für befonbere Peranlaffungen auf*).
3)as Vergnügen.
<£s voivi) bem jenigen mit auf ben lüeg gegeben, ber es
auffudjt (oiel Vergnügen — amüfieren Sie ftdj gut).
b. Die religiöse EDunfdjform.
3^re Efeimat iji ber (Orient, fie enthält ben naturgemäßen
2IusbrudP ber religiöfen 2lnfdjauung ber orientalifdjen, ins«
befonbere ber femitifdjen Pölfer. 3)iefer 2lrt jtnb bie (ßru§«
formen bes alten Ceftaments (<$5ott fei bir gnäbig, \. 2T(of.
^3, 29, 3e^ooa fei mit bir, Hidjt, 6, \2, 3ß*!°*><* mit eudj,
unb bie Jtntoort: 3^0£>a fegne bid), Hutfy 2, ^, Segen
3^or>as fei mit eud?, tt>ir fegnen eudj im Hamen 3^°*>as,
pfalm H29/ 8 — grüßen unb fegnen, b. t. ben Segen (Sottes
auf jemanben herabfielen tft gleidjbebeutenb). <£benfo bie
arabifdje (ßrußform: salem alek. Sie religiöfe (Srußform ift
burdj bie djriftlidje Kirche auf bas 2lbenblanb übertragen
toorben — bie firdjlidje (ßrußform: deus, pax vobiscum, bi
2Ibfd]iebesformelt k dieu, mit (Sott, (Sott befohlen, befyü
(Sott, bie [701] JDunfc^form: (Sott gebe, ber Gimmel gebeufm
in 2lntr>enbung auf irbifcfye <8üter (3. JJ. gute Seffevung bei
Kranfen)**).
*) (für Heifen: glürfltd^e Heife — für neujafyr, (Seburtstage, V
lobungen, Beförberungem Hur bei ben Bergleuten bübet (Slücfauf bi
allgemeine (Srugform* — Der Ungar fpe3taltfiert bas (Sind, 3* 3. ein
fcfyöne Jrau, einen brannttpeinigen UTorgen, unb um IPeirjnadjten,
bie Scr/tpetne gefdjlacfytet roerben: einen fpeeftgen, fleifd?igen 2Jbenb*
**) (Erftefyung bes göttlichen Segens felbft für bie Derbauung in b
bef annten J ormel: gefegnetelTCab^eit! 3<*? erfläre fie mir als fprad?ltd?
Überbleibfel aus ber einft allgemein üblidjen Sitte ber Ctfdjgebete. 2Ju
bem llbenbgebete t»irb in berfelben IPeife bie Hebensart bes gefegne^
Sdjlafes entftanben fein. Den ausgebeuteten (Sebraud? von ber Wtn
bung: „(Sott gebe" machen bie Ungarn, fie bilbet bei itjnen bie ftefyenb
XPunfdrformel, 3* 33* (Sott gebe guten ittorgen, 2lbenb, Sag, gute Had?
Die Sytttaj ber l^öflidjfeit — bas pronomen* 55J
Die Syntax ber fjöf lidtf ext — Das pronomen
insbefonbere.
Vie 5\nta}c ber ^öflidtfeit ^at sunt <5egenftanbe bie 2tb-
rceidjungen ber f^öflidjfettsfpradie von ben fonftigen Hegeln
unb 5ormeln ber Sprache. Z)er griecfyfdien unb lateinifdjen
Sprache iji biefe feltfame Perirrung fremb geblieben, bie ber
mobernen Kultursölfer unb mancher augereuropäifcfyer Dölfer
bieten manche Selege bafür. Unter ifynen ragen biejenigen
Ijeroor, tseldje fiel? auf ben (5ebraud? bes pronomen (per-
sonale tr>ie possessivum) besiegen, fie bilben eine um einen
beftimmten ZTiittelpunft [702] fldi lagernbe, in fiel? gefdjloffene
(ßruppe, n>ä^renb bie übrigen fporabifcfyer 2trt finb. £efetere
follen am €nbe unferer Darftellung aufge3äfylt toerben; einen
Stoff für eine 3ufammenfyängenbe Unterfucfyung bieten uns
nur jene bar. Das Ojema bes 5olgenben fur3 be3eid?net ift
bie (Sefcfyidjte bes Pronomen in ben mobernen Kulturfpracfyen.
Was bat gerabe bas pronomen ba3u auserfefyen? Das
pronomen fyat, une bas H?ort felber ausbrüeft, ben gvoed,
bie ZTennung bes Hamens 3U erfet$en, es bient bem §n?ecEe
ber 2lbfür3ung. 3ft bas Subftanth) bereits einmal in 23e3ug
genommen, fo wirb ftatt beffen bas pronomen gebraucht,
basfelbe fyat als fpradjlicfy eine ftellsertretenbe 5unftion.
Stellvertretung ift ettr>as Künftlic^es, nicfyt bas Urfprünglidje,
unb n>ir toerben annehmen bürfen, ba§ bie Sprache äfynlid?
(Sefunbljeit, glücflidjes (Ermaßen am näd^ften (Tage, wenig Schaben,
(Sott gebe, bag wir immer gute Hadjridjt t>on 3tmen erhalten, Sie ein
anberes UTal in guter (Sefunbfyett fefyen — (Sott gebe Segen, ^rieben
— (Sott 3U bir — (Sott mit btr. <2ntfpred]enb ift bie (Srußform; (Sott
fyat bidj gebracht. 3<*? mödjte biefe ungarifdje <£tgentümlid?fett ber 2luf^
merffamfeit ungarifdjer (Selefyrten empfehlen, IDann t^at fie fldj ge-
bilbet? Unter bem (Emfhiffe bes Cfyrtftentums ? ©ber reicht fie weiter
3urücf ? liege fldj ifn* nidjt ein 21uttaltspnnft für bie Streitfrage über
ben Urfprung ber magyaren entnehmen?
552
Kapitel IX. Die feciale medjanif. Das Sittliche*
wie bas Hecht fich geraume ,§eit hinburch ohne fie beholfen
hat, Xt)ie noch h^utage bie Kinber ftatt 3^h ihren eignen
2Tamen unb jlatt Du ben bes anbern nennen, fo werben es
urfprünglich auch bie Völtex getan traben, für 3<hr €r,
5ie unb bie ZHeh^ahl Xüiv, 3h*> werben fie bie ZTamen
ber perfonen genannt Ijaben, bis fie im pronomen fich eine
Erleichterung unb 2lbfür3ung fchufen, unb 3tsar toahrfchein*
lieh nicht alle formen mit einem ZHale, fonbern eine nad?
ber anbexn, unb erft recht fpät — bas pronomen macht mir
ben fiinbruef , eine ber fpäteft aufgefommenen Sprachformeu
3u fein*)*
[703] £e^rte nun bie (Sefdjidjte nicht bas (ßegenteil, fo
roürbe man es faum für möglich galten, bafc bie Sprache
ber I}öflid}feit an bem regelrechten (Sebraudje ber pronomina
2lnftoß genommen fyabe. Was tann fie ba3U beftimmt haben?
3ch erteile bie 2lntoort mittels bes oben aufgehellten <Se<
fichtspunftes: flucht ber perfon t>or fich felber. Die perfou
fliegt vor bem eignen 3$> k>*M C5 3u ctnmaßenb, t>or bem
fremben Du, weil es 3U Bertraulich ift, 3^ ^u »erben
cmftößig, bas perfönliche, 3n&tot&ueß* WXY^ abgeftreift, beibe
perfonen befommen Ztlasfen t>or, fie perfe^ren nicht mit
einanber als biefe bejlimmten 3nWoibuen, fonbern als ab»
ftrafte perfonen, bie fie felber nur bie Aufgabe haben 511
repräfentieren. Sehen toir uns bas ZTäfyere an,
\. Das 3ch.
3m Vergleich mit ber 3tt>eiten perfon bes pronomen per-
sonale hat bie erfte t>on ber f^öflichfeit nur tr>enig 311 leiben
*) Die fyter angeregte (frage muß tdj ben Spradjforfcfyeru über*
Iaffen. (finben fiefy bie pronomina in allen Sprachen? ZTadj einer
Mitteilung pon Gerrit Baron von ber (Sablettfe hat bas 3apanifcbe
eigentliche perfönlidje ^ürtuörter gar uidjt, es erfe^t fte 3un?eilen bnrdi
(Drtsabrerbien ähnlich unferm Kurialfttl (biesfeits, jenfeits, Roheren ®rts\
Die Syntaj der ^öflidtfeit — 3fy
555
gehabt. ffläfyvenb bas Du aus ber fjöflichfeitsfpradje aller
mobernen Pölfer geldlich perbannt ift, fyat bas 3<^ frei ihnen
feine natürliche Stellung behauptet, es barf in jebem Der*
hältnis laut werben, felbft im ZHunbe bes (ßeringften bem
fjöchften gegenüber. Hur ber Seroiiismus ber 2lfiaten fyat
t>ielf ach bas 3d? prolabiert, in feines [704] Xlxd\is burch*
bohrenbem <Sefüf|le fehrieft I^ier bas 3d? oor ber Dreiftigteit
5urücf, fich felber 3U nennen, bie perfon rebet von fich, rote
fie von einer Sache ober einem Ciere fprechen würbe: in ber
britten perfon (ber Sflape, ber Diener glaubt, bittet uftr>4).
2lber gau3 ungefchoren ift bas 3<äj auch in ber euro*
päifdjen ZDelt nicht bapon gefommen, wenigftens bei uns
Deutfchen. 2luch bei uns mufc basfelbe früher einmal t>or*
übergehenb als anftößig gegolten fyaben, was ich aus bem
fleinen Hücfftanb fchließe, ber ftch noch bis auf ben heutigen
Cag erhalten h<**-
3ch ftellc im folgenben bie 5ormen, beren man fich be*
bient h<*t ober noch bebient, um bem 3$ aus3un>eich*n,
3ufammen. (Es ftnb brei.
Die erße iorm befteht in ber einfachen lüeglaffung bes
3ch oor bem Derbum. 0b anbere moberne Sprachen ftd?
jemals biefer fprad^lichen Sünbe fchulbig gemacht haben, ift
mir unbefannt, bie beutfehe lägt fich leiber nicht bar>on frei*
fprechen. 3m faufmännifchen Stil heißt es noch beut3utage
nicht: ich h<*&e, fonbern: liabe 3h**n Auftrag erhalten, unb
im porigen 3ahrhun&erte n>ar bies allgemeine (Etifette bes
33rief ftils *). Daß biefes tDeglaffen bes 3^h emeh bei uns in
ber münblichen Sprache [705] porfommt, roürbe ich noch *>or
*) 3$ falber habe fie nod? als Schüler bei einem meiner (Sym*
uaftallefjrer fennen gelernt, ber allerbings ein HTufier ber pebanterie
u>ar, unb ber felbft uns Sdjülern gegenüber bas 3d? nie über bie Sippen
bradjte — es ift bas einige, tpoburcfy fldj bie (Erinnerung an ifm in
mir nod? behauptet fyatl
55^
Kapitel IX* Die feciale m*%an&. Das Sittliche.
fursem bestritten haben, in3tpifchen fydbe ich mich vom <5egen«
teil nbet$euQt, 3um beften Semeife, tpie unachtfam man an
manchen Singen, öie einem jur (Setpohntjeit geworben finb,
porübergeht, bis irgendein befonberer 2inla§ bte 2lufmerfam*
feit darauf lenft. Die 33elege für meine Behauptung ent*
galten bie gangbaren i}öflichfeitsphrafen: bitte (auch per»
boppelt: bitte, bitte), banfe, bebauere fehr, gratuliere beßens,
habe bie <£^re u. a. m. Der (Srunb, tparum man bei ihnen
bas 3d] tpegläßt, fann nicht in bem 23eftreben nach Kür3e,
fonbern nur in bem obigen <5eftchtspunfte ber permeintlichen
23efdjeibenl|eit gefunben tperben, benn niemanb fagt: befehle,
voiü, ertparte, perfidere, beftreite uftp., wie er es ja, tpenn
jener (Srunb ber richtige toäre, fagen müßte, bas 3<äj per«
friedet fich alfo bei jenen phrafen nur ber Sefctjeibenfyeit
rpegen, roir befifeen barin noch einen Heft aus ber unnatür-
lichen ^öftichfeitsfprache bes porigen 3afyrfyunberts.
Die 3tpeite form ber Umgebung bes 3<ä? befteht in ber
gegenftänblichen 23e3eichnung besfelben, bas 3^h fpridjt pon
fich tpie pon einer britten perfon. Seifpiele aus bem heutigen
£eben gerpä^ren bie XDenbungen bes Kurialftils, mittels beren
ber Derfaffer einer (Eingabe fich als britte perfon einführt
(3. 23. ber gefyorfamft llnte^eichnete) unb bie formen ber
fdjriftlidjen (Sinlabungen (fjerr unb frau fo unb fo beehren
ftch uftp.). 3n bet münblichen Bebe bürfte biefe form bei
uns faum noch porfommen. Der [706] Umftanb, ba§ ftch
biefelbe auch bei embern Pölfem tpieberholt, pon benen tpir
fie feinestpegs entlehnt l\aber\ fönnen, 3Ctgt, ba§ fte ben ent«
fpredjenben 2lusbrucf ber fich 3ur Selbfterniebrigung per«
irrenben fjöf lidjf eit enthalten muß. Sei ben späten ift fte
gan3 allgemein, bie fyerabfefeenbe gegenftänbliche 33e3ei<hnung
bes Hebenben lägt ftch gerabe3u als ein (5runb3ug ber afia-
tifdjen £jöflich?eit aufführen*).
*} Sie ftnbet fldj fd?on im alten Ceftoment, 3. bei U lllof. *2, 10,
Die Syntaj ber £}öfltd}feü — Wit.
555
<gine brttte form, bas 3^ 3u umgeben, gemährt bas
XPir ber Befcheibenheit, ber Pluralis reverentialis, vok ich ihn
nennen möchte 3um Unterschiebe t>on bem £?ir 5er (Sröjje
unb (Erhabenheit, bem Pluralis majestaticus. festerer hat
feinen Urfprung auf bem Chton, es finb meines HHffens bie
fpäteren römifchen Kaifer getsefen, bie [ich feiner (Erfindung
unb (Einführung rühmen bürfen*), biefelben, tselche auch &ie
abftraften 23e3eichnungen für [707] ftch unb bie h^d)ften
Beamten (5. 533) aufbrachten, es waren bie fprachlichen
Hefert>atrechte bes Kaifertums, ein txmrbtges 5eitenftü<f 3U ber
purpurtinte, bie ber Kaifer ebenfalls ausfchliepch bem eignen
Gebrauche vorbehielt. IDährenb ber Pluralis majestaticus bas
3ch als 3U niebrig unb gemein $urücfu>eift, entfchlägt fich ber
Pluralis reverentialis besfelben als 3U anmaßenb, <£s ijt bas
£Dir ber Schriftßeller, Hebner, afabemifchen £ehrer in ben
iüenbungen: xoxv haben ge3eigt, gefunben uftr>. Die 2lbficht,
bie bem 3ugrunbe liegt, ift nicht bie, bas 3*3? fünjilich auf*
3ubaufd?en, es ift nicht bas XDir bes Vertreters ber Preffe,
ber bas beneibenstt>erte (5efühl fyat, im Ztamen bes gat^en
£>olfes, wenn nicht ber ZHenfchhett IDort 3U führen unb
ein mafjgebenbes Urteil ab3ugeben, unb bem als Vertreter
ber (Srogmacht ber öffentlichen ZHeinung felbftperftänblich ber
Pluralis majestaticus gebührt, fonbern bas XOiv ber Befcheiben»
tti bein Knecht, Sam. 23, 2% 25; beine XUagb. Sobann bei ben
Siamefen unb ITCalaien, melcfye bas 3d? regelmäßig burd? Knecfyt er*
fefeen, bei ben <£fymefen, bei benen felbft bie £ermsfürfien in früherer
geit von fid? als bem geringen IHenfdjen rebeten, unb ber Scr/riftfrellev
fid? ben Dummen nennt — ein (Entgegenfommen gegen ben £efer, bas
man mandjem unferer Sdjriftfiefler 3ur Hacr/arjmung empfehlen möchte.
*) (Er gehört 311m Kurialfttl ber fatferltdjen Derfiigungen, td/ er*
innere ben 3urif*eu an oas bekannte sancimus ber Kobejftellen ; ein
intereffantes 33eifpiel gewährt bie Raffung ber fpäteren 2lbfd?iebsbtplome;
bie an bie prä'tortaner femt3eidmen ftd? bura? ben plural, bie an bie
2lu£iliarter burd> bie brttte perfon bes Singular (Imperator dedit), fterje
meinen (Seift bes röm. Hechts II. 2, 5. 603 Hote 8^6 a (2lufL 3).
556 Kapitel IX. Die feciale Ittedjcmif. Das Sittlidje*
heit. Der Hebenbe enthält fich bes 3dj, als Ijabe nicht er
f elber felbftänbig gefunben, ge$eigt uftt>., fonbern als Ijabe
der £efer unb £jörer ihm babet geholfen, als fei es eine
gemeinfame Arbeit geioefen — bas IDir räumt bem Cefer,
£}örer, einen Anteil am Derbienft ein,
2. Das JDir.
Das XDir unb Unfer ift bie gegebene fprachliche 5orm
für jebe (Semeinfchaft bes Hebenben mit bem 2Ingerebeten,
unb fein (ßrieche ober Kömer toürbe es begriffen Itaben, baß
ber (ßebrauch beiber pronomtna in irgenbeinem [708] Der«
hältnis, xoo fie an fleh am plafce finb, beanftanbet roerben
fönnte. Die moberne ^öflichfeit benft barüber aniexs; t^r
3ufotge oerträgt fich bie fprachliche Setonung ber (Semein*
fchaft nicht mit bem Perhältniffe ber Unterorbnung ober
Det>otion, fie erbltcft barin eine Anmaßung. 3m Ulunbe bes
Untertanen ift bas Wir bem Souverän gegenüber verpönt,
er barf fidi mit lefcterem nicht auf eine £inie fteüen. wie er
es burch ben plural XDir, ber mehrere perfonen gleichmäßig
erfaßt, tun txmrbe, nur ber Souverän barf fich ber JDenbung
bebienen: tt>ir haben uns bereits früher gefehen — bei unferem
legten begegnen uftr>., ber Untertan ihm gegenüber nid^t.
<5an3 basfelbe gilt für ben Untergebenen im Verhältnis 3um
Porgefefeten, burch IDir trmrbe jener ben 2Ibftanb, ber fie
beibe trennt, oerbeefen.
Dag ich mit biefem <8efid|tspunfte bas Nichtige getroffen
habe, ergibt ein anberer 2lnrt>enbungsfaü besfelben. Der
militärifche Dorgefefcte mag feine Untergebenen Kamerabenf
ber präjtbent feine 2?äte Kollegen, ber profeffor, n>ie es bei
öffentlichen 5eftltd]feiten für bie 2Inrebe an Stubierenbe h*rs
gebracht ift, Iefetere Kommilitonen nennen, umgefehrt trmrbe
es einen groben Derftoß enthalten — bem Roheren fleht es
ix>ohl an, ben ilbftanb, ber stoifchen ihm unb bem fieberen
Die Syntar, ber £jöflid?feit — Du* 557
befielt , burch bas IDohtooHen 3U überBrüden, öer Hiebere
femetfeits t^at benfelben an3uerfenuen unb 5U beachten.
[709] 3. Vas X>u.
Das 3ch t^at feine Stellung in ber ^öflichfettsfprache ber
europäifchen Volfov im öffentlichen unangefochten behauptet,
bas Du ^at es nicht permocht, alle mobernen Dölfer liahen
ihm ben Krieg erflärt, bei einigen , 3. 33. ben €nglänbern
unb f}otlcinbem, ift es aus bem £eben fogut tr>ie t>erjchn>unben,
nur im Kirchengebet h<** jtch in ber 2lnrebe an (Sott noch
behauptet, bei anbern ha* (Sebrauch besfelben er*
halten, aber innerhalb enger (Sre^en, bie tpteberum bei t>er*
fchiebenen Dölfern sanieren *). §ur <§eit ber fran3Öjtfchen
Heoolution machte man in 5ranf reich ben Derfuch, bas als
ariftofratifch anftögig gemorbene vous burch bas bemofratifche
tu 3U oerbrängen, tr>ie bie 2tnrebeform monsieur burch citoyen,
allein ber Derfuch ertr>ies [ich als t>öllig erfolglos, bie 3a^'
biner brachten es fertig, ben Staat aus ben 2lngeln 3U h^ben,
[710] ber Sitte vermochten fie nichts an3uhaben, bie <§eit bes
V\x als allgemeine 2lnrebeform toar porüber unb tt>irb es
toahrfcheinlich für immer bleiben,
*) Diefe pofitioe Seite ber (frage fyat für mtdj fein 3ntereffe. Pen
metteften Spielraum bürfte bas Du bei uns iit Deutfdjlanb einnehmen.
(Es fommt itt 3tt>ei 2Inmenbungen vor, als Du ber Stiebe, freunbfdjaft,
Dertraulicfyfett — in btefer Zlnmenbung erftreeft es fid? bei uns bis in
bie aüerfyödjften Kreife hinauf — unb als Du ber miuberen 21d?tung, fo
in 2Jnmenbung auf Dtenftboten, in üielen (gegenben auf alle Kinber
otnte Unterf d}teb, mätjrenb in andern audj bie Kinber mit Sie angerebet
werben unb — im «gudjtfyaufe gegen bie Sträflinge. 3m allgemeinen
fann man als Hegel aufhellen: ber (Sebraudj bes Dornameus unb bes
Du gefyen bei uns £?anb in £?anb, mätn-enb ber (Eigenname balb Du,
balb Sie 3um Begleiter t?at. Bei uns barf t|eut3utage felbft ber gemeine
Solbat nia?t mein: mit Du angerebet werben, ebenfomemg ber Sdjüler
ber polieren Klaffen. 3rt Hußlanb fyat fid? bas Du im XlTunbe bes ge>
meinen UTannes nod? in ber 21nrebe an ben Kaifer behauptet, ebenfo
auf bem £anbe in Hormegen an ben König.
558
Kapitel IX. Die fatale IUedjatttf. Das Sittliche*
Sclien u>ir jefet an, was bie Spraye im £aufe ber §eit
für bas Du an ttjre Stelle gefefct Ijat *)•
J. Das 3I)i\
^iftorifefy taudit basfelbe meines lüiffens 3uerfi als €cfyo
bes H>ir ber fpäteren römifdjen Kaifer auf — nennt ber
Kaifer ftcfj iDir, fo mujj berjenige, ber iE^n anrebet, jtd} bes
3fyr bebienen, ber Pluralis majestaticus ber 3toeiten perfon ift
bie etifettenmctjjige €rtr>iberung bes ber erjien perfon. So
machte es im vierten 3al|rl|unbert Symmadins in feinen
Briefen an ben Kaifer, tr>at|renb plinius benfelben nodj mit
Du anrebete. Dom bY3cmtinifd}en Ejofe ging bas 3*1* in ben
Kurialftil ber germanifcfyen ^öfe (Cfyeoborid)), bann ber Kirche
unb enblicfy in bie Umgangsfpracfye über, im neunten 3a*?r'
Bjunbert finbet jtd? [711] bas vossitare, tr>ie man es im Unter*
fdjiebe bes tuissare, bes Dudens, nannte, bereits im atlge*
meinen (gebrauche.
Dabei ift es bei manchen Dölfern geblieben. 2Inbere
perlangten mefyr. Ztadjbem bas 3^r allgemein geworben,
beburfte es, um jemanben fpracfylid) sor bem großen Raufen
aus3U3eid)nen , einer anbern £orm, unb biefe fanb man in
ber fofort 3U betjanbelnben be3iet;ungslofen 23e3eid?nung ber
*) <£\m$es von bem ITCatertal, bas idj im folgenben t>eru>enbnt
werbe, fyabe id? entnommen aus (SebicFe, bermifdjte Sdjriften, Berlin
\8Q\, 5. KU ff*; Über Du unb Sie in ber beutfdjen Spraye (geiftoofl),
<8. Sauppe, XDanberungen auf bem (Sebiete ber Spraye unb £iteratur,
1868, 5* 76ff., Reffte tu, 3al]rK für pfyiloU unb päbagogif von
niafius, Bbaö (1869), S. *69 ff. Dolljtänbig ijt bas Ulaterial, bas
btefe 21brtanblungen bieten, aber bei tpeitem nidjt, bie parallelen, meiere
bie augereuropäifdjen Spraken barbieten, finb m itmen gar nid?t bnmtjt.
3dj fann ntdjt unterlaffen, ben IPunfa} ausjufp realen, bag unfere 2Jfa-
bemien einmal bas Cfyema, bas ia? im folgenben beljanble, 3um (Segen-
ftanbe von preisfdjriften madjen möd?ten, rtdjttg beljanbelt n?ürbe es
eine in fo3ialpolitifcr/er ((Segenfafc ber Stäube — allmSfylidje 2Jusgleid?ung
besfelben) unb fpradjlia^er B^ieljung fjöcfyft ruertüolle Ausbeute gemäßem
Subjtonthrifdje Umfdjretbung bes Slngerebetein
559
perfon. 2luf europäifchem Boben tfi btefe €rjtnbung 3temlich
jungen Datums, auf aftatifchem tpar fte längfi fjdmtfdf. Da
eine Übertragung pon bem eine« auf ben anbem nicht an*
5unet|tnen ift, fo ergibt fkh baraus, bajj jte, fo unnatürlich
jte auch auf ben erfien Blicf erfcheinen mag, boch eine ge*
tpiffe innere Berechtigung unb Hottoenbigfeit für fich haben
muß. IDir fennen biefelbe bereits: bie Scheu por ber 23e*
rührung bes perfönlichen.
Das problem ber be3iehungslofen 23e3eichnung ber perfon
bes 2lngerebeten ift pon ber E(öflichfeitsfprache in perfchiebener
IDeife gelöft tporben. 2Ttan fann brei formen unterfcheiben:
bie fubftantipifdje, bie pronominale unb bie unper*
fönliche, ich fehlte^ biefelben unter fortlaufenber ZTummer
ber bisherigen erften am
2. Die fubflanttpifche 5orm.
Sie bilbet bas <5egenftücf 3ur gegenjtänblidjen 23e3eichnung
ber erften perfon. 23e3eichnet ber Hebenbe fich felber bem
anbern gegenüber als beffen Knecht: bein [712] Knecht (S. 5^3),
fo gebührt bem 2lngerebeten bie 2lnrebe: mein fjerr. So
gefchieht es 3. 23. im 2Uten Cefiamente (\. ZtTof. 7; lüarum
rebet mein f}err folche iüorte? <£s fei fern pon beinen
Knechten, folches 3U tun), fo bei ben Siamefen unb ZHaleien
unb anbern apatifchen Dölfern — 3$ ^u roerben 3U
britten perfonen. Bei ben ^inbus ijt biefe gegenftembliche
23e3eichnung ber perfon uralt, fte fmbet fich bereits in ben
ältejlen Dramen. Du (twam) unb 3hr (Yüyam) gilt als
grob, bie ^öflichfeitsfpracfte erforbert Bhavän (= f}err) mit
ber britten perfon bes Perbums, bei h§h^ geseilten per*
fönen Srimän (= ber mit <51ü<f Segabte), unb felbfi für
britte Perfonen, pon benen man fpricht, gebraucht man nicht
bas Pronomen, fonbern pon anroefenben Atrabhavän (= ber
£}err tjtcr)f pon abtpefenben Tatrabhavän (= ber £?err), fm*3
560
Kapitel IX. Die f03tale XKedjant?. Das Sittliche»
in bem Sanffrit unb ber heutigen £}öfItd?Fcitsfprad^e ber
fjinbus ift bas pronomen in 2lmr>enbung auf britte perfonen
fchlechthin verpönt. Ztur ber (Bottheit gegenüber u>irb in
ben Heben bas Du gebraust, ein Seitenftücf 3U ber obigen
öemerfung über bie Sefchränfung bes Du bei ben (Eng*
länbern auf bie 21nrebe an <5ott — bie Kirche allein ^at
bem natürlichen Du bas £eben gefriftet.
Den abenblänbifdjen Dölfern tt>ar btefe gegenftänbliche
Se3eid)nung ber 3toeiten perfon meines JDiffens urfprünglich
ebenfo fremb, roie es ihnen bie ber erften ftets geblieben ijt.
Den erjlen 2lnla§ ba3U fcheinen bie römifchen Kaifer mittels
Einführung ber abftraften [713] ^Zeichnungen 3ur 33e3etch'
nung ihrer felber gegeben 3U ^aben* ZTannte ber Kaifer
fich felber nostra majestas, dementia ufts., fo roar bamit für
il^n als enfprechenbe 2tnrebeform tua (fpäter vestra) majestas
x>orge3eichnet, in berfelben JDeife roie ber Pluralis majestaticus
ber erften perfon in ihrem ZHunbe burch ben ber 3tt>eiten 3U
ertoibem tt>ar.
Damit ift bie 5orm namhaft gemalt, welche t>on manchen
europäischen Pölfern an bie Stelle bes allmählich 3u gemein
geworbenen 3hr g^fet warb: bie gegenftänbliche 23e3eichnung
ber perfon. Von ber abftraften 5orm (23egriffsname) , bei
ber fie 3uerft auffam, ift fie auch auf bie fonftigen i^eich*
nungen ber perfon mit bem Ehrennamen (womit fann ich
ber $tan bienen? wünfeht ber Eferr fonft nichts mehr?) ober
bem Citel ausgebehnt worben.
Die gegenftänbliche 33e3eichnung ber perfon in Derbinbung
mit ber fprachlich gegebenen unb urfprünglich allein üblichen
britten perfon bes Singulars r>om Perbum bilbet in meinen
klugen bas I^tftorifd^e ZHittelglieb für bas 2luffommen ber
folgenben $oxm.
Die britte perfon bes Singular.
56\
5. Die brüte perfon bes pronomen im Singular.
Sie enthält eine 2lbfür3ung ber gegenftänblichen 23e3eich*
nung ber perfon, man umgebt ben unausgefefeten (Sebrauch
ber öeseicfymng JEjerr, 5rau, 5räulein ober £}err Doftor ufm.,
inbem man fte mit bem pronomen ber britten perfon bes
Singular einfad] in Sesug nimmt: was [714] wünfeht €r,
was bat fte mir 3U fagen? 2lls (Erleichterung, öequemlich*
fett, bie man fich bamit erlaubt, wiberfpridjt fie bem (Seifte
ber Denotion, welcher bie afiatifche ?jöflichfeit fenn3eichnet,
unb ben 2lfiaten ift ba^er biefer (Sebrauch bes pronomens
meines IDiffens fremb geblieben.
2luch bei ben europäifchen Dölfern ift er fein allgemeiner,
ben £ran3ofen, €nglänbern, X}ollänbem ift er unbefannt, fie
finb bei ber 3weiten perfon bes plural geblieben, bie Deutfcheu
haben ihn Dorübergefyenb aboptiert, bann wieber fallen laffen,
währenb bie Italiener unb, wenn man bas fpanifche Usted
(S. 53^ ZTote**) als pronomen anfefyen will, auch bie Spanier
ihn bis auf ben heutigen Cag beibehalten l\aben. Spvadp
fenner mögen entfehetben, ob ich mit ber Vermutung redjt
habe, baß wir Seutfchen bie 5orm üon ben 3talienern ent*
lehnt h<*ben. bie\e Entlehnung ftattgefunben, fo war fie
jebenfalls feine glücfliche, weil feine uollftänbige. Die ita*
lienifche 5orm bes pronomens ift bas femininifche ella, wobei
vostra signoria fuppliert warb, wir Deutfchen fubffttuierten
ihr: er unb fie*), unb barin erblicfe ich ben (Srunb, warum
biefe 5orm bei uns fich nid\t 3u erhalten permochte unb
fchlieglich fo anftößig warb, bafc fie als 2lusbrucf ber (Sering*
fchäfeung galt. 3)as italienifche ella enthielt bie ftitlfchweigenbe,
bas fpanifche Usted bie ausbrüdliche [715] 2tnerfennung ber
*) 3<^? H>^be im folgenben 3ur itnterf cfyeibung bes „fie'' bes Singu-
lars nom „Sie" bes plural erfteres fleht, letzteres groß bnxcfen laffen.
t>. 3!)cring, Per ßwed im Heci?t. II. 36
562
Kapitel IX. Die fötale ITCecfyatti?. Das Sittliche.
iDürbigfeit ber perfon, bas beutfdje er unb jte nid}t. ,f<£r"
pagte ebenfogut für ben ^anbtserfsburfdjen, fjausfnedjt, Sage*
lohnet, Scfyarfridtfer, rote für ben (ßeneral unb ZHinijler*),
„fie" ebenfogut für bie Kammer3ofe, bie lieberlidje Dirne tote
bie »orncljme Dame, „<£r" unb „fie" lie§ ber DorjleHung freien
Spielraum, fid] babei alles mögliche 3U benfen, bas (ßemeinfte,
£>erädjtlid)fte tr>ie bas <£fyrenx>oHfte, es toav ein tx>eiter ZHantet,
unter bem alles plafe fanb, tsäfyrenb bie italienifdje unb
fpanifdje pronominalform nur ber achtungsvollen DorfteHung
Kaum bot Da3u gefeilt ftdj noefy ein anberer Unterfdjieb
3roifdjen beiben formen, ber vielleicht ebenfalls mitgeu>irft
l}ai, bie beutfdje 3U bisfrebitteren, nämlid) bie Differen3ierung
des pronomens nach X>erfd}iebenheit ber (ßefchlechter. 2tHe
anbem pronominalformen finb gefchledjtslos: 3ch, Du, IDir,
3^r, Sie; (Sefdjlechtslofigfeit aber iß bas JEjöchfte, rr>03u ftch
bie Höflichkeit bei ber 5lud)t t>or bem perfönlidjen ergeben
fann, unb in ben Begriffsnamen (S, 535), bie für beibe (ße-
fchlechter in gleicher IDeife 3ur 2lmr>enbung gelangen, I^at fte
biefen höchften (Sipfel in ber Cat erftiegen. Die italienifche
unb fpanifche £orm bes pronomens ftimmt ba3u, bie beutfehe
nicht.
Der ZlTifgriff, ben bie beutfehe Jjöflichfeitsfprache bamit
begangen hatte, ba§ fte anftatt bes abfiraft 5U [716] benfenben
eUa bas perfönlich ober mbivibuell 3U bentenbe unb gefdjled?t*
lieh bifferen3ierenbe er unb jte bilbete, tr>ar ber 2tnla§ 3ur
Silbung einer neuen tt^r eigentümlichen $oxm.
% Das pronomen ber britten perfon bes plural: Sie.
2lls ber Singular 3<äl ber perfon 3U bürftig erfd^ien, trat
ber Pluralis majestaticus tüir in bie £ücfe, als basfelbe mit
*) 33ei ifmen blieb es im ITIunbe ber Souveräne noeb bis in nnfer
3^r^unbert ttinetm ^friebrid? IPilbeltn in. uertaufdjte es 3uerf* mit Sie.
Die brttte perfon bes plural*
Ö63
bem Du gefd]at>, ber Pluralis majestaticus 3^r / <üs bas et
unb fte bes Singular bei uns Deuijcfyen anftößtg coavb, er-
fefcte man es burd) ben plural Sie. ZHan fielet, es ift Kon*
fcquen3 in ber Sadje: bie perfon sertaufdjt überaß ben
Singular mit bem plural. Damit glaube idj unfer beutfdjes
Sie fpradjlid} djarafteriftert 3U fyaben; es ift ber Pluralis
majestaticus ber dritten perfon. 3d| nenne es bas beutfcfye
Sie, benn meines XtMffens fyaben bie wenigen Dölfer, u>eld}e
es ebenfalls fennen, basfelbe von benDeuifcfyen angenommen*).
Die Derbinbung bes Sie mit bem plural bes Perbums
führte ba5u, le&teren aud? auf ben Singular bes Subftaniir>s
3U übertragen (fjaben ZHajefiät, l|aben ber E[err uftp.?)
— eine tsafjre fpractilidje ITJonftrofität, bie fid) in feiner
einigen Spraye ber XDelt isieberfyolen bürfte. So 3iefyt ein
5efyltritt ben anbern nad? fid}**). 2lls bas Sie audj auf
ben gemeinen ZHann übertragen tt>arb, u>urbe es natürlich
für bie fyödjftgeftellten perfonen anftößig, es beburfte eines
<£rfai$es, unb bafür bilbete man: 2lllerl}öd)ftbiefelben, was
bann trueber einen 2lbleger erhielt in Ejocfybiefelben unb
fd]liepdj in biefelben.
Damit ift bie <Sefd}id)te bes Du befdjloffen, unb es iji
*) €s finb nur fokfye, bie mit ben Deutfdjen 3ur §ett als es auf"
fam — meines Höffens gegen €nbe bes vorigen 3<*Wunberts — in
enger politifdjer Derbinbung ftanben, nämlia? bie Dänen, bie es bnrdj
bie Sdjlesnrig^olfteiner, unb bie flfdjedjen, n>eld?e es burdj bie Deutfa>
öfterreidjer be3ogen traben werben* Don ben Dänen erhielten es auf
gleichem IPege bie ZTortreger, in Sieben foll es fid? erft jet$t einbürgern.
3n ^öl)men Ijat bie Hattonalpartei bem Sie (Voni, in ber Sdjriftfpradje
Oni) ben Krieg erflärt, in ben fyöljeren Kreifen ift es bereits befeitigt,
ipäljrenb bas gemeine Volt fidj besfelben nod) bebient.
**) (Sebtcfe a. a. ®. 5. U$ madjt nod) einen anbern namhaft*
211s bas Sie bei perfonen n?eiblidjen (Sefdjledjts anftöfpg geworben tuar,
fagte man, um jebem HTigDerftänbnis 3tDtf djen fte unb Sie oo^ubeugen,
im 2lffufatir>, jlatt bes festeren 3^nen — id? bitte 3fynen, id? fyabe
3fynen lange nidjt gefe^enl — unb nodj heutigentags gilt bas 3*ln*tt
bei gemeinen £euten für üornefymer als Sie.
36*
564
Kapitel IX, Die fokale UTedjatttf. Das Sittliche*
nicht absufefyen, was iefet nodj fommen föunte, ba alle formen
bes perfönlicfyen Fürworts, toeldje fid? als (Erfafe aufbieten
ließen, bereits erfdjöpft ftnb. 3<3? fteüe bie Staaten, toeldje
bas Du burdjkutfen l^at, furj 3ufammen, inbem idj bei jebem
berfelben biejenigen Polfer nenne, burdj bie basfelbe reprä*
fentiert wirb.
Du 3J>r Sie (Singular) Sie (Plural)
(Sriecben, ^ran^ofen, 3*aI^n*rf Deutfdje unb
Homer» <£nglänber, Spanier. ZTorb*
ßoHänber. germanen.
löir Deutfcben fönnen ben 3wetfell>aften Hufym in 2h\<
fprud? nehmen, aHe t>ier Stufen burdjlaufen su fyaben. [718]
Ulan follte fagen, ba§ bamit aHe ZHöglidjfeiten erfdjöpfi
wären, allein es finbet fid? nodj eine anbere.
5. Die unperfönlidje 5orm.
Das Derbienft, fie erfunben 311 ^aben, müffen wir (Europäer
ben 2tfiaten überlaffen, mit benen wir es ja einmal, wie aus
bem 23isfyerigen fdjon flar geworben ift, im punfte ber rafft*
nierten Jjöflid>fettsfpradie nid?t aufnehmen fönnen. Die 3a'
paner bebienen fid), wenn fie redjt fyöflidj reben wollen, \tatt
bes 2Iftwums bes Derbums mit Eingabe ber perfon bes
paffbums ober Kaufatitmms, ftatt 3U fagen: Sie effen, trinfen,
fd]reiben, fagen fie: es wirb gegeffen, getrunfen, fdjreiben
gelaffen! Damit ifl bas Su§erjie in ber 5lud?t vor ber perfon
glücf lid} fertig gebracht : bie perfon ift t>ollftctnbig eliminiert,
was fie tut, ift 3U einem (ßefcfyefyen geworben, für bas man
fidj bie perfönlidje Se3iel>ung erft fyin3ubenfen mu§.
3m Deutfdjen fennen wir aHerbings ebenfalls eine un<
perfönlidje IDenbung, es ift unfer „man", wie es früher t>iel*
fad? üblidj war, iusbefonbere auf Sd)ulen im HTunbe ber
Cefyrer gegen Sdjüler (man faun feine Dofabeln nid?t — l?at
3fy* — bas Pronomen possessivum.
565
man »erftauben?), aber es tt>ar fo weit entfernt 'eine i}öf*
lichfeitsform 3U fein, baß es gerabe umgefehrt ba3 biente,
in 5äHen, u>o bas Du nicht als paffenb erfchien, ber ZTötigung
5U bem höflicheren 3^r ober <£r ausstreichen. 23ur eines
oollgültigen Seitenftücfs su ber japanifchen 5orm fönnen auch
mir uns rühmen, es ift bie im Kurialftil übliche IDenbung:
höheren (Drts — an [719] höchfter Stelle — biesfeits —
jenfeits*) ufu>. — ber ®rt toirb ^tatt ber Perfon genannt!
3m bisherigen h<*be ich bie (Sefchichte ber brei prono«
minalformen: 3chf #>ir, Du oerfolgt, es bleibt mir noch
bie vierte: bas 3*!r Jlnrebeform für eine ZHehrheit r>on
Perfonen.
Das 3^r ker ZHehrheit.
<£s gibt mir nur su einer einigen Bemerfung 2tnlaß, bie
ftd? auf ben beutfehen Sprachgebrauch besieht, aber jte ift
charafteriftifch , toeil jte 3eigt, 3U welchen ZDiberfprüchen bie
Sprache gelangt, wenn fie einmal vom richtigen XDege ab*
gelenft ift.
Das Du ijt bei uns als 2lnrebeform an unbefannte per*
fönen t>erpönt, folglich müßte es auch bas 3^r bei einet
ZHehrheit von perfonen fein, unb bies bilbet allerbings bie
Hegel. 2lber biefelbe erleibet 3tr>ei Ausnahmen. Der pre*
biger rebet oon ber Hansel bie (Semeinbe mit 3hr ebenfo
ber ©ffeier bie Solbaten, unb ich bin fo tr>eit entfernt bapon,
bies 3U mißbilligen, baß ich midi freue, baß fich fyievin noch
ein lefcter Heft urfprünglicher Ztatürlidtfeit im Sprachgebrauch
erhalten h<**» 2!&er gleichwohl bilbet es boch einen umnber*
liehen IDiberfpruch, baß in ben angegebenen beiben Derhält*
niffen ber ein3elnen Perfon gegenüber bie 3tr>eite perfen bes
*) 3nt 21mtsfttl früher in ben gefdjmacflofefißit Wcribunqen ge-
brauet, 3. 23* es ift 3U btesfeittgen (Dtjren gefommen.
566
Kapitel IX. Die fo3iale medjemt?. Das Sittliche.
pronomen [720] im Singular r>erpönt ip, roäfyrenb pe im
Plural der IHcljr^eit gegenüber als 3uläfpg gilt,
5. Das Pronomen possessivum.
Die (Sefdpdjte besfelben in ber £[öflidifeitsfprad}e ge^t
parallel mit Der Des Pronomen personale. ZKit bem Du oer*
fdjtiMnbet Das Dein, mit bem 3^r fommt bas €uer, mit bem
Sie bas Sein ober 3fyr. 3^ biefer XDeife löfen pdf biefe
formen audj bei ben öegriffsnamen ab: tua majestas — bann
vestra majestas, dominatio, eminentia*) — <£ure Xtlajeftät,
(£p3eHen5 — fdjlieglicfy bei uns 3^re ZHajeftät**).
Das Pronomen possessivum ift bie fprad)ltcf]e 5orm, um
bie Se3iel|ung bes 2lngerebeten 3U irgenbtpeldjen fonftigen
Dingen; Sachen, perfonen, fyanSiünQexx, Äußerungen uftr>. 3U
betonen, 2tudj biefe fpradjlidje 5orm tp t>on ber ^öflid^feit
bemängelt roorben unb aud? t|ier muj$ ber 2lnftofj, ben pe
baran nafym, nidjt fo fern gelegen fyaben, txne es auf ben
erften ÖlicE erfdjeinen möchte, ba bie europäifdje f(öflid]Ieit in
btefem punfte [721] ttneberum mit ber apatifdjen sufammen*
trifft Der Cfyinefe erfefet bie poffefftopronomina burd? ein
efyrenbes SeitDort (alt, f oftbar, efyrroürbig, befefylenb ufa>.),
fiatt 3u fagen: 3^r Dater, 3^e 5*<*u, be3eidjnet er ben Dater
als ben befeljlenben €I?nx>ürbigen, bie 5*<*u als bie befeljlenbe
Biestige, bie IHutter als bie befeblenbe 211te uftx>., unb biefe
*) 2lud? babei tnieber ©gentnmlidjfeiten: in ber firdjlidjen Spraye
erhielt ber (Seiftlidje r>om papfte tua fraternitas, ber Karbmal vestra
dominatio.
**) Dabei abermals XDunberlid^feiten! ITCan fpridjt €uere ober 3fyre
IHajeftat, €£3eü*en3, bagegen fdjreibt man <2u% Ulajeftät, (Er^ellen^, nie*
mals: (ausgefd?rieben) (Euere; fpradjlidj u>äre für uns Deurfcbe
bie ber britten perfon bes Pronomen possessivum: 3*!re allein
forrefte* lludi in €tr>* IDorjIgeboren ufun fyat fidj bie $wtite perfon
erhalten, in ber Überfdjrift bes Briefes bebtent man pdj ber 3u>eiten, um
\>ann fofort mit „3k**n 23rief, Antrag ups* Ijabe td? erhalten* in bie
brüte überzugeben!
— bas Pronomen possessivum.
56?
urfprünglich dfinefifche Heben>eife ift auch von ben 3<*pcmen
angenommen toorben.
©fyte bei biefen beiben Pölfem in bie Schule gegangen
3U fein, finb bie europäifchen Dölfer bei gan3 bemfelben giele
angelangt. Unter getsiffen Dorausfefeungen, ^ebenfalls überall
im 3>et>ottonsüerB}äItms gilt bte 23e3eichnung ber bem 2lnge*
rebeten naheftehenben perfonen mit bem poffeffiopronomen
als unpaff enb. 2)er (Sebanfe, bei bem 3ugrunbe liegt, ift
ber: mein Derhältnis 3U biefer perfon fümmert Dich nicht, su
Dir fleht biefelbe in feiner 23e3iehung, für Dich ift biefelbe nicht
3^re 5*<*u (ßemahlin, 3^ Et**1 Pater ufto«, fonbern bie 5rau
unb ber £|err fo unb fo. Das 2lnftö§ige biefer öeseichnungs-
roeife toirb ficherlich htftorifch 3uerft bei ben höchftgeftellten
perfonen empfunben toorben fein, bier toirb es 311er jl Sache
ber <£tif ette getoorben fein, bie Angehörigen berfelben nicht
nach ihrem relativen Derhältnis 3U ihnen, fonbern abfolut
(3hte Utajeftät bie Königin, 3^re X>urd?Iaucl)t bie£}er3ogin ufn>.)
3U be3eidjnen. 2lber tx>ie alles, roas bie £jöflich?eit an aus-
gefuchten formen für bie Spifeen ber (Befellfchaft aufgebraßt
hat, nach unb nach auf bie [H22] nächftftehenben (SefeUfchafts*
freife unb bann auf bie folgenben übertragen toorben ift, fo
auch hier» 3^ einem Ejaufe, in bem man auf formen hält,
lautet bie Be3eichnung ber Zfiitglieber besfelben im HTunbe
ber Dienerfchaft nicht: 3hr £(^r Pater, Sohn, (ßemahl, 3^re
5rau (Semafylin ufa>., fonbern: ber fjerr ober bie 5rau (Sc-
heune Hat ober ber gnäbige Ejerr, bie gnäbige 5r<*u; für
bie Dienerfchaft ejiftiereu bie 23e3iehungen ber Familie nid}t
Dagegen eyiftieren fie allerbings für benjenigen, ber bem
2tngerebeten nahefteht. Das IDohfoollen, bas er für lefeteren
hegt ober 3U tieqen vorgibt, betoährt fich baran, bajj ihm
jene perfonen nicht als völlig frembe, gleichgültige gelten,
fonbern baß er auch ihnen fein 3ntereffe 3uu>enbet, unb bies
beroeifi er eben baburch, baj$ er ihr Verhältnis 3um 2lugevebeten
568
Kapitel IX. Die feciale ZHecljam?. Das Sittliche*
in 23e3ug nimmt, bas (Segenteil roürbe fagen: Deine 2lnge*
porigen intereffieren mich nicht. Wie es in Derhältniffen, t)ie
$wi\dien liefen beiben: bem Depotions* unb XDo^ltooIIens»
perhältnis in ber TXiitte liegen, gehalten toirb, fümmert mich
nid\t, nach meinen perforieren Erfahrungen u>etd)t I^ier bie
Sitte in ben serfchiebenen £änbem unb felbft in perfchiebenen
(Segenben poneinanber ab, für meinen gwed genügte es $u
fonjiatieren, baß ber (Sebrauch bes Pronomen possessivum
überhaupt pon ber mobernen Ejöflichfett beanftanbet toorben ift.
3d? bin mit meinen Unterfudjungen ber Sprache ber £}öf*
lichfeit fettig. Der £efer mag jefct entfeheiben, ob [723]
mein obiges Urteil über fie, melches fie als ben SünbenfaH
ber Sprache charafterifierte, 3U fyart u>ar; ich meine, bafc es
burch bas Sünbenregifter, tpelches ich 3ufammengebracht habe,
in Dollem Umfange gerechtfertigt toirb. Dasfelbe enthält
eine ganse Sammlung pon fprachlidjen Ungeheuerlichfeiten:
bas Subftanttp im Singular mit bem plural bes Derbums
(€to. ZHajeftät fyaberi) — bas Perbum ohne Subjeft (habe
erfahren) — bas 2Ibjeftip als Substantiv behanbelt (£u>.
IPohlgeboren) — ella für bas männliche (Befehlest — ber
plural bes pronomens (U?ir, 3hr) ^tatt bes Singulars Qdj,
Du) — unb alles bies blo& ber Ejöflichfeit toegen, — lauter
Feigenblätter, um bie perfon 3U perhüllen, bas, was fie pon
Statur ift, für bie klugen ber (Sefeüfchaft 3U3ubecfen, als ob
bie perfon fich ihrer f elber 3U fchämen hätte — ein fünftlicher
2lufpufe ber perfon, hinter bem feiner, ber bies Stücf Sprache
nicht fennt, bie perfon f elber ttuttem tPÜrbe, befchafft burch
eine nirgenbs ihresgleichen finbenbe UTifchmtblung ber Sprache
— ein Kaubenr>elfch, lebiglich in bie Welt gefefct, um bie
perfon 3U ehren.
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