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OF
PROFESSOR GEORGE S. MORRIS,
Professor in the University,
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DE8CENDENZLEHRE
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i r. ( :
DARWINISMUS.
VON I
^OSCAR\JCHMIDT, ,s^^ ~ '*»*
PBOFESSOB AK DBB UNIVEB8ITAT ZU STBASSBITROl
MIT 26 ABBILDUNGEN IN HOLZSCHNITT.
LEIPZIG:
F. A. BROCKE AUS.
1873.
Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.
VORWORT.
i
^ Den wichtigen Schlussabschnitt dieses Werkes hAte
ich in einem öffentlichen , auf der diesjährigen Versammlung
der deutschen Naturforscher und Aerzte in Wiesbaden ge-
haltenen Vortrage zusammengefasst, um, wie ich gern
gestehe, in Erfahrung zu bringen, ob ich für einen
nicht in Vorurtheil befangenen Kreis von Zuhörern und
Lesern den richtigen Ton in diesem bedeutsamen Thema
angeschlagen.
Nach der Aufnahme, die das Bruchstück, welches
ich übrigens auch in einem Separatabdruck unter dem
Titel „Die Anwendung der Descendenzlehre auf den
Menschen" erscheinen liess, gefunden, wage ich auf
einen glücklichen Erfolg des Gesammtbildes zu hoffen.
Abgesehen von der kirchenpolitischen Frage bewegt
kein Gedankenkreis die gebildeten Zeitgenossen so , wie
derjenige der Abstammungslehre. In beiden Angelegen-
heiten heisst es: Farbe bekennen! Und so haben wir
VI VOBWORT.
unsern Standpunkt in der Einleitung scharf hervor-
gehoben und im ganzen streng durchzuführen gesucht.
„Es gilt in der That hier ein fundamentales Entweder,
oder." Für diesen eben von einem Altmeister der phi-
losophischen Naturbetrachtung, Theodor Fechner, ge-
sprochenen Satz möge unsere Darstellung ein durch-
sichtiges Zeugniss ablegen.
Strassburg, den 18. October 1873.
OSCAR SCHMIDT.
INHALT.
Seite
Vorwort
I. Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der
Sprachforschung. Positive Vorkenntnisse für
die Descendenzlehre. Wunderglaube. Die
Grenzen der Naturforschung 1
II. Die Thierwelt in ihrem gegenwärtigen Bestände 21
III. Die Erscheinungen der Fortpflanzung in der
Thierwelt 34
IV. Die Thierwelt in ihrer geschichtlichen, paläon-
tologischen Entwickelung 53
V. Nochmals der Wunderstandpunkt und die Natur-
forschung. Schöpfung oder natürliche Ent-
wickelung. Linne. Cuvier. Agassiz. Unter-
suchung des ArtbegrifFes 73
VI. Die Naturphilosophie. Goethe. Prädestinirte
Umbildung nach Richard Owen. Lamark . . 94
VII. Lyell und die neuere Geologie. Darwin's Se-
lectionstheorie. Anfang des Lebens 115
VIII. Vererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. An-
passung. Folgen des Gebrauchs und Nicht-
gebrauchs der Organe. DifFerenzirung führt
zur Vervollkommnung 151
VIII INHALT.
Seite
IX. Die Entwickelung des Individuums (Ontogenie)
ist eine Wiederholung der historischen Ent-
wickelung des Stammes (Phylogenie) .... 179
X. Die geographische Verbreitung der Thiere im
Lichte der Abstammungslehre 205
XI. Der Stammbaum der Wirbelthiere 229
XII. Der Mensch 2G2
Belege und Citate r 291
I
I.
Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der Sprach-^
forschung. Positive Vorkenntnisse für die Descen-
denzlehre. Wunderglaube. Die Grenzen der
Naturforschung.
1/urch die Menschheit und das Leben jedes sei-
ner selbst sich bewussten Individuums zieht ein Ringen
nach dem Verständniss des Daseins. Alle philosophi-
schen Systeme haben in die Natur der Dinge zu dringen
versucht, sind aus dem Streben nach der Erkenntniss
des Zusammenhanges hervorgegangen, des Zusammen-
hanges der grossen Reihen körperlicher und geistiger
Erscheinungen, deren Mittelpunkt oder Endpunkt zu
sein der Mensch sich schmeichelt. Die Einen beruhigen
sich mit der Hervorhebung des Gegensatzes zwischen
Geist und Körper, Idee und Erscheinung, die Andern
mit dem Schlagwort der Identität, die Einen haben
sich und die Welt in schönster Harmonie gefunden,
die Andern, von den Buddhisten an seit dem 6. Jahr-
hundert vor unserer Zeitrechnung bis zu den wunder-
lichen Heiligen der Gegenwart, den Anhängern und
Verbesserern Schopenhauer's , sehen in der irdischen
Welt nur eine Anhäufung von Unbehagen und Conflict,
welchem der Weise durch ein gänzliches Zurückziehen
auf sich selbst und eine vom eisernen Willen erzwun-
gene Rückkehr in die Bedürfnisslosigkeit und das Nichts
entfliehen könne.
Bei allen diesen Versuchen, sich mit der Welt zu
»teilen und abzufinden, hat das allgemeine Bewusstsein
Schmidt, Descendenzlehre. X
2 Einleitung.
nicht gerade bedeutende Fortschritte gemacht. So
sehr man nämlich auf der einen Seite staunen muss
über die Errungenschaften unsers Zeitalters, sei es
auf den einzelnen wissenschaftlichen Gebieten, sei es
auf dem Felde des Verkehrs und der Industrie, so
wenig sicher und vorgeschritten ist das Urtheil der
Menge bei jenen allgemeinen Fragen, so sehr lässt
sich noch heute, wie zu Aristophanes' Zeiten, die
Menge , auch ein grosser Theil der „Gebildeten", durch
Schwindel und Phrase imponiren. Wir verbrennen
keine Hexen mehr, aber noch immer blühen die Ketzer-
gerichte. Unsere Experimental-Physiologie als Grund-
lage einer wissenschaftlichen Medicin erfreut sich einer
staatlichen Förderung und allgemeinen instinctiven
Anerkennung, wie nie, was nicht hindert, dass in
allen Kreisen der Gesellschaft der verwegensten Cur-
pfuscherei die Thüre geöffnet bleibt. Man halte Rund-
schau über die Spiritisten und Geistercitirer, welche
jetzt eigene Sekten und Gesellschaften bilden, über die
Anhänger der sy inpathetischen und Besprechungs-
curen u. s. w., und man muss erstaunen über die Aus-
dehnung der Herrschaft eines Aberglaubens, welcher
dem Fetischdienst der von uns verschiedenen Menschen-
art der Neger kaum etwas nachgibt. Es sind das nur
specielle Fälle der sehr verbreiteten Urtheilslosigkeit,
wenn es sich um das vermeintliche Räthsel des Men-
schendaseins handelt. Millionen und abei; Millionen,
welche mit Entrüstung sich abwenden würden, wenn
sie glauben sollten, in der complicirtesten Maschine,
in den verwickeltsten Erzeugnissen der chemischen
Retorte, den sonderbarsten Resultaten des physikalisehen
Experimentes ginge irgend etwas nicht völlig natürlich
zu, diese Millionen sind geneigt, hinter den Lebens-
vorgängen einen Dualismus zu suchen und überall, wo
es sich um die, Erklärung des Lebens, die Zurück^
führung der Lebenserscheinungen auf die wahren natür-
lichen Ursachen handelt, die Möglickeit einer solchen
Erklärung und Erkenntniss geradeweg zu leugnen und
Ergebnisse der Sprachforschung. 3
*
das Leben in das Gebiet des Unnahbaren und Mysti-
schen zu verweisen. Oder, wenn man auch die Lösung
der Lebensfrage im . allgemeinen zulässt, so will man
wenigstens für das liebe Ich etwas besonderes und ein
anderes Mass, als das, womit die übrigen Lebewesen
gemessen werden.
Sehen wir so auf der einen Seite den einen grossen
Theil unserer Zeitgenossen entweder in völliger Rath-
und Resultatlosigkeit der wichtigsten Frage gegen-
überstehen, oder dieselbe mit Vier Offenbarungs-Theologie
abmachen, so dürfen wir glücklicherweise auf der an-
dern Seite auf die stattliche Schar derer hinweisen,
welche, seit die Entwickelung der Wissenschaften es
überhaupt zuliess, der Untersuchung über die Stellung
des Menschen in der Natur eipe aufrichtige Theil-
nahme entgegenbrachten und das Problem mit Ver-
ständniss erwogen. Das Bedürfniss nach dieser philo-
sophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntniss bricht etwa
vor einem Jahrhundert durch und fällt mit den An-
fängen der Sprachwissenschaft zusammen, worauf hier
hinzuweisen um so passender ist , als die Theorien von
dem Ursprung der Sprache von den Ansichten über
den Ursprung des Menschen, und umgekehrt, innig
berührt und beeinflusst werden. Nachdem im Jahre
1580 das Resultat einer Untersuchung über die Sprache
des Paradieses war, dass Gott dänisch, Adam schwe-
disch und die Schlange französisch gesprochen, war
es Leibniz, der in Briefen an Newton die Methode
der Sprachforschung zu regeln suchte, indem er von
dem Studium der neuern und bekannten Sprachen
auszugehen anempfahl. Und als in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts die Ansichten, ob die Sprache
erfunden oder geoffenbart sei, sich schroff gegenüber-
standen, und Süssmilch (1764) gegen Maupertuis
und Jean J. Rousseau geltend gemacht hatte, dass
Erfinden ohne Denken, Denken aber ohne Sprache
nicht möglich, folglich ein Erfinden der Sprache ein
"Widerspruch in sich sei , trat gelegentlich dieses Strei-
1*
4 Ergebnisse der Sprachforschung.
tes Herder, 1770, mit seiner epochemachenden Schrift
über die Sprache hervor. Sie beginnt nach ihm mit
anfänglich fast unbewusster Schallnachahmung, als dem
Kennzeichen, wie er sich ausdrückt, bei welchem die
Seele sich einer Idee deutlich besinnt. Er lässt die
Sprache sich aus den rohesten Anfängen in dem stei-
genden Bedürfniss nach solchen Wortzeichen entwickeln ;
und mit der Entwickelung der Menschheit habe auch
der Sprachschatz von selbst, d. h. unbewusst und in-
stinctiv zugenommen. . Die Mannichfaltigkeit der Spra-
chen sei durch das Auseinandergehen der Völker be-
dingt, deren Eigenart sich in den verschiedenen
Sprachen abspiegele. Schon Herder also hebt die
Wichtigkeit einer Völkerspsychologie hervor. An ihn
schloss sich Wilhelm von Humboldt an , dessen
Ansichten die Grundlage der heutigen Sprachwissen-
schaft bilden. Die Schallnachahmungen, lehrt er, fixiren
sich instinctiv zu Worten, und mit dieser Wort- und
Sprachbildung beginnt das Denken. Es geht aus der
Natur dieser Anfänge hervor, dass die Sprache der
natürliche Ausdruck des Yolksgeistes ist, dass sie nicht
stillsteht, sondern in steter Wandlung begriffen ist.
Die Sprachwissenschaft mit ihren grossen Erfolgen
setzt die wichtigste Seite des menschlichen Wesens
ins Licht; sie zeigt uns aber doch nur diese eine Seite,
den Menschen in seiner allmählich errungenen Er-
hebung über die übrige Lebewelt. Obgleich schon
Jene oben erwähnten Begründer der Sprachforschung,
halb unbewusst, halb bewusst den Menschen erst mit
der aus primitiven Anfängen hervorgehenden Sprache
zur Vernunft kommen und zum Menschen werden
Hessen, hat man sich allgemein doch damit begnügt,
die privilegirte Stellung des Menschen als eine schlecht-
hin gegebene oder sich von selbst verstehende anzu-
nehmen, und dies so lange, als die Naturwissenschaft
ihre Befriedigung in dem blossen oberflächlichen Ordnen
der Organismen fand. Der Mensch, als aus Fleisch
und Blut bestehend, erschien freilich als ein Ver-
Was ist Verwandtschaft? 5
wandter der höhern Thiere; allein so lange die Her-
kunft dieser, ihre eigene Blutsverwandtschaft nicht
erörtert war, und man sich mit ihrer Nebeneinander-
stellung nach der Uebereinstimmung ihrer Kennzeichen
begnügte, ohne die tiefere Ursache der Abweichung
oder Gleichheit zu discutiren, nahm der Mensch im
System der lebenden Wesen ohne Widerspruch die
höchste Stufe ein. Linne stellt in der Ordnung der
Primaten mit den Gattungen Fledermaus, Halb-
affe und Affe den Menschen zusammen, ohne deshalb
von Kanzeln und Kathedern eines Attentats auf die
Würde der Menschheit angeklagt zu werden , wie denn
auch Buffon ungestraft die Laune haben konnte,
gerade bei Beschreibung des Esels sehr speciell unser
Geschlecht zu besprechen. Erst als in der neuesten
Zeit die Welt hörte, dass jenes bisher mit grosser
Gleichgültigkeit ausgesprochene Wort „Verwandtschaft"
ernstlich und wörtlich genommen werden solle, indem,
was verwandt, auch die Frucht eines und desselben
Baumes sei, durchzuckte diejenigen, denen der Mensch
als ein durchaus innerhalb der Natur stehendes Wesen
erschien, ein Strahl der Erkenntnissfreude. Die übrigen
aber, welche sich den Menschen nur als absolut vor
seiner natürlichen Umgebung privilegirt vorstellen
können, mussten in der Deduction, den eine allum-
fassende Theorie in unabwendbarer Consequenz auf
den Menschen machte, eine Art von Verbrechen er-
blicken.
Die Theilnahme, welche man der neuern Verwandt-
schafts - und Abstammungstheorie entgegengebracht,
geht daher nicht blos von Freunden, sondern ebenso
sehr von Gegnern aus, denen mehr oder minder klar
die Gefährlichkeit der neuen Lehre für ihren Wunder-
Standpunkt vorschwebt. Obschon auch in England die
Opposition gegen den grossen Landsmann, an dessen
Namen sich die Umwälzung knüpft, sehr bedeutend,
besonders seit es offenbar, dass er, sich getreu blei-
bend, auch den Menschen in das Bereich seiner Unter-
Q Hinweis auf Darwin.
suchungen gezogen und alle Folgen seiner Lehre auf
ihn angewendet wissen will, scheint mir doch diesseit
des Kanals der Streit und die Aufregung noch leben-
diger, wo der Darwinismus das tägliche Brot der
Tagesblätter, der philosophischen und theologischen
Zeitschriften. Nun, diese Erscheinung liegt vor aller
Augen, und wir sind von der einschneidenden Wich-
tigkeit des Gegenstandes überzeugt, der, je nachdem
man für oder wider ihn gewonnen wird, unsere ganze
Lebensanschauung beeinflusst. Und dabei begegnet es
vielen, wie so häufig bei Fragen, deren Schwierigkeit
durch eine scheinbar allgemeine Vertrautheit mit der
Sache verdeckt wird: über das Leben meint jeder ur-
theilen zu können; und da für den Laien das Alpha
und Omega der Abstammungslehre die berüchtigte
Affenverwandtschaft ist, und oft gerade die unklarsten
Köpfe am unfehlbarsten von ihrer eigenen Höhe über-
zeugt sind, so hört man über keine Angelegenheit so
häufig oberflächliche, von der gröbsten Unwissenheit
zeugende Urtheile, meist verdammende, als über die
vorliegende.
Ich wünsche nun den Leser in den Stand zu setzen,
das ganze verzweigte und verwickelte Problem der
Abstammungslehre und ihre Begründung durch Dar-
win zu übersehen und die Cardinalpunkte desselben
zu verstehen. Dabei ist zuerst eine Vorfrage von all-
gemeiner Wichtigkeit und besonderer Bedeutung zu
erledigen, welche so oft von den philosophischen und
theologischen Gegnern hingeworfen wird, die Frage
nach den Grenzen der Naturforschung überhaupt. Denn
wenn es principiell feststände, dass das Geheimniss des
Lebendigen ein anderes sei, als das des Nicht-Leben-
digen, dass dieses enthüllbar, jenes mit einem nie zu
hebenden Schleier verdeckt, wie man das jetzt noch
so oft behaupten hört, dann wäre auch die auf die
Ergründung des Lebens gerichtete Forschung von vorn
herein eitel und aussichtslos. Sollte sich aber der
Erforschlichkeit des Lebens und Werdens kein aprio-
Systematik. 7
ristisches Bedenken entgegenstellen, sollten vielmehr
die jedenfalls vorhandenen Grenzen der Forschung und
Erkenntniss für die belebte Natur keine andern sein,
als für die unbelebt^ Körperwelt, so dürfen wir un-
serer Aufgabe näher treten. Ich meine, dass dies am
zweckmässigsten damit geschieht, dass wir uns mit
dem Object der Abstammungslehre etwas vertraut
machen , wobei wir uns auf die Thierwelt beschränken.
Wenn ich also sage, dass wir eine Unterlage für die
Abstammungs- oder Descendenztheorie , für die Lehre
von der allmählichen directen Entwickelung der höhern
und jetzt existir enden Organismen aus niedrigem Stamm-
formen, die Lehre von der Continuität des Lebens
gewinnen müssen, so handelt es sich zuerst um einen
Ueberblick über die jetzt über die Erde verbreiteten
Thierformen. Wie die Himmelskunde mit der blossen
Fixirung der Gestirne und Sternbilder und der Kennt-
niss ihrer scheinbaren Bewegungen beginnt, so fixiren
auch wir in grossen Zügen das Material und zwar in
der Weise , wie sie durch die historische Entwickelung
der Wissenschaft geboten ist.
Was dem Beobachter der Thierwelt unmittelbar in
die Augen fällt, ist ihr Bestand an scheinbar un-
zähligen Formen. Das erste Bedürfniss ist das dqs
Unters cheidens und Ordnens. Die Zoologie mit Bo-
tanik und Mineralogie musste im ersten Stadium ihrer
Entwickelung blosse Beschreibung sein, ein Kennen-
lernen der fertigen Objecte, während Physik und Che-
mie es mit der Untersuchung von Erscheinungen zu
thun haben, deren Bestand unmittelbar auf das Ent-
stehen hinweist, das heisst mit Reihen von Erschei-
Bungen, die als« Ursachen und Wirkungen miteinander
verbunden sind, deren Kenntniss also zugleich zu einer
den Geist befriedigenden und beruhigenden Erkennt-
niss führt. Diese anfänglich blos auf das Aeussere
sich beschränkende Beschreibung zog nach und nach
auch das Innere heran, wurde zur Zootomie* und ver-
gleichenden Anatomie, und hatte es in der Anhäufung
8 Vergleichende Anatomie und Entwickelungsgescliiclite.
unendlichen Details schon vor fünfzig Jahren so weit
gebracht , daös Cuvier damals sich die Aufstellung
des natürlichen Systems zutraute.
Diese Thierbeschreibung ist abßr nach zwei Seiten
hin zu ergänzen und im Laufe der Ausbildung der
Wissenschaft fast gleichzeitig ergänzt worden. Zur
Kenntniss des Seins eines Thieres gehört auch die
Beschreibung seines Werdens. Ich sage ausdrücklich
„die Beschreibung", denn die thierische Entwickelungs-
geschichte ist an sich noch keine Naturwissenschaft im
Sinne der mathematisch-physikalischen Disciplinen; sie
ist blosse Naturbeschreibung . Sie gibt aber eine weit
genauere Kenntniss , sie eiathüllt in tausend Fällen
erst die Bedeutung der Organe und gibt der verglei-
chenden Anatomie die Sicherheit, oft überhaupt die
Möglichkeit der Auslegung. Den Flügel des Vogels
kann man ohne Schwierigkeit, so wie er ist, in seinen
einzelnen Theilen auf die vordere Extremität eines
Reptils oder eines Säugethieres zurückführen. Das
Bein des Vogels dagegen stimmt als fertiges Organ
nicht mit dem Bein der übrigen Wirbelthiere überein,
bis die Entwickelung des Vogels im Ei zeigt, dass
die Anlage der Stücke und Glieder genau dieselbe ist
hier wie dort, und nur einige spätere Verwachsungen
sonst getrennt bleibender Knochen die scheinbare Ano-
malie hervorrufen. Das fertige Vogelbein (Ä) zeigt
uns in a den Ober-, in b den Unterschenkel, aber
statt der Knochen der Fusswurzel und des die Zehen
tragenden Mittelfusses finden wir nur den langen Kno-
chen c und an seinem untern Ende einen kleinen Trä-
ger der vierten Zehe. Die frühere Beschreibung
begnügte sich, zu sagen, dass der Lauf (c) Fusswurzel
und Mittelfuss ersetzt. Dem ist aber nicht so, sondern
der Vogel im Ei zeigt (J5), dass das Vogelbein aus
dem Oberschenkel (a), dem Unterschenkel (ft), zwei
Fusswurzelknochen (m n), drei oder vier Mittelfuss-
knochen (c) und den Zehen besteht, dass der obere
Fusswurzelknochen mit dem Unterschenkel und der
Werth der Entwickelungsgeschichte.
untere mit den unter sich verschmelzenden Mittelfuss-^
theilen verwächst. Erst damit ist die richtige Auf-
fassung des Thatbestandes von A^ wenn auch noch
nicht die Ursache des Thatbestandes gegeben. Fol-
gendes Beispiel ist etwas
schwieriger. Die ver- ^ -^
gleichende Anatomie ver-
mag ohne die Entwicke-
lungsgeschichte nicht zu
erklären , warum der
Mensch drei Gehörknö-
chelchen, der Vogel nur
einen besitzt. Die Entwik-
kelungsgeschichte zeigt,
dass aus dem Material,
welches beim Menschen
zu Hammer und Amboss
verwendet wird , beim
Vogel ein paar andere
Schädeltheile hervor-
gehen, die mit dem
Gehörapparate wenig
oder nichts zu thun haben.
Kurz, die Entwickelungs-
geschichte, welche den
Aufbau des Organismus
beschreibt, ist Schritt
für Schritt eine Leuchte
für die vergleichende Ana-
tomie. Auch sie bleibt
für sich auf dem Range
einer blos beschreibenden
Disciplin stehen. Wenn
wir nun aber wahrneh-
men , wie die Entwickelungsstufen der Individuen ähn-
liche Reihen vom Niedern zum Höhern darstellen, wie
die nebeneinander existirenden Glieder der betreffenden
Thiergruppen , wie z. B. das Säugethier in seiner
Fig. 1.
10 Stellung der Paläontologie.
Entwickelung Zustände durchläuft, welche in den aus-
gewachsenen Formen der niedrigen Wirbelthiere fixirt
bleiben, so werden wir damit auf einen vor der Hand
geheimnissvollen Zusammenhang der Entwickelung des
Individuums mit dem Gesammtbestand der Thierwelt
hingewiesen, der eine wissenschaftliche Lösung, eine
Zurückführung auf Ursachen verlai^gt, und dies um
so dringender , als- eine dritte Reihe von Erscheinungen,
deren erste Bewältigung ebenfalls der Naturbeschrei-
bung angehört, diese noch unenthüllten Beziehungen
noch wahrscheinlicher macht. Das ist der Befund der
Yorwelt.
Zur unerlässlichen Grundlage, auf der wir operiren,
gehört also auch Kenntniss der paläontologischen That-
sachen. Die Geologie . ist vor vierzig Jahren in das
richtige Fahrwasser gebracht worden. Wir wissen jetzt,
dass die Erde nicht ruckweise, sondern in ganz all-
mählicher Aus- und Umbildung entstanden; wir dür-
fen, ja wir müssen schliessen, dass das Leben zu
einem gewissen Zeitpunkte der Abkühlung auf natür-
lichem Wege, d. h. ohne einen unbegreiflichen Schöpfungs-
act erschien, und wir sehen während jener langsamen
Veränderung der Erdrinde auch die Lebewesen allmäh-
lich anwachsen, sich specificiren und vervollkommnen.
Noch mehr! Wie zuerst einer der eifrigsten Gegner
der Descendenztheorie, Agassiz, im einzelnen über-
zeugend nachgewiesen: wir erblicken die paläontolo-
gischen oder historischen Reihen der Organismen in
ähnlicher Aufeinanderfolge, wie die Entwickelungs-
phasen des Individuums. Noch sind hier ungeheuere
Lücken durch spätere Beobachtung auszufüllen, wenn
nicht überhaupt an vielen Enden an diesem Gelingen
zu verzweifeln ist. Dass der paläontologische Ent-
wickelungsgang aber im allgemeinen der bezeichnete
ist, suchen nur solche Naturforscher zu bestreiten,
welche, wie Barrande, seit Jahrzehnten in uner-
schütterlichen Ueberzeugungen wie im Glauben an
Dogmen sich festgefahren haben.
Wesen der Descendenzlehre. 11
Biese aufeinander hindeutenden Gruppen von That-
sachen muss natürlich derjenige einigermassen über-
sehen, der sie verstehen will. Mit andern Worten,
wir müssen erst eine Umschau über dieses ungeheuere
Material halten, ehe wir uns mit der Zauberformel
beschäftigen können, welche dasselbe sichtet und zum
Verständniss bringt. Gross ist das Mühen, aber auch
herrlich der Lohn! Denn das dem menschlichen Geiste
inne wohnende Verlangen nach der Erk^nntniss der
Ursachen, das Causalitätsbedürfniss, wird bezüglich der
Welt der Organismen einzig und allein durch die
Descendenzlehre gestillt. Wir halten sie noch nicht
für vollkommen, sie bleibt uns in vielen speciellen
Fällen noch die Antwort schuldig, sie erfüllt aber im
ganzeil, was irgend eine geniale Theorie gethan: sie
erklärt aus einem Princip jene grossen Erscheinungs-
reihen, welche ohne sie Anhäufungen von unbegriffenen
Wundern bleiben. Sie macht überhaupt erst die or-
ganischen Naturwissenschaften zur Wissenschaft. Gar
vieles nennt sich noch. heute Wissenschaft, was nur
handwerksmässig erworbenes Wissen ist. Indem aber
die Descendenzlehre das Leben umfasst, kann sie vor
dem Menschen nicht stehen bleiben. Selbst wenn man
über den Ursprung der Sprache unklar wäre oder so-
gar die gänzliche Unwissenheit über diesen Punkt zu-
gestehen müsste, so dürfte man aus dem Vorhandensein
der Sprache nicht die Unanwendbarkeit der Abstam-
mungslehre auf den Menschen herleiten, ohne, wie uns
scheint , die Kette der Verstandesoperationen willkür-
lich abzubrechen.
Hier nun kehren wir zu der oben bezeichneten Vor-
frage nach den Grenzen der Naturforschung zurück.
Sie ist um so wichtiger , als der Naturforschung oft
von unbefugter Seite der Vorwurf der Grenzüber-
schreitung gemacht wird. Der Leichtsinn der Logik,
mit welcher diese Vorwürfe der grossen Menge plau-
sibel gemacht werden, übersteigt alles Erlaubte. Wir
Schlagen z. B. die „Apologetischen Vorträge über die
12 Naturforschung und Wunder.
Grundwahrheiten des Christenthums " von Luthart
auf und sehen, wie dieser Mann die Wirklichkeit der
Wunder verficht. „Die Wunder", sagt er, „seien nicht
einmal Wunder! Es ist nicht einmal an dem, dass
das Wunder die Naturgesetze selbst aufhebt, sondern
es entnimmt nur einzelne Vorgänge jenen Gesetzen
und stellt sie unter das Gesetz eines höhern Willens
und einer höhern Kraft. Wir haben im niedern Ge-
biete viele Analogien dafür. Wenn mein Arm einen
Stein in die Luft schleudert, so ist das wider die
Natur des Steins und nicht eine Wirkung des Gesetzes
der Anziehung, sondern es tritt eine höhere Kraft und
ein höherer Wille ein, der Wirkungen hervorbringt,
welche nicht Wirkungen der niedrigen Kräfte sind.
Damit werden diese Kräfte und Gesetze nicht aufge-
hoben, sondern bleiben bestehen." Verweilen wir hier
einen Augenblick. Zu sagen, es sei wider die Natur
des Steins, dass die Muskelthätigkeit für einige Mo-
mente scheinbar die Schwere überwindet, ist ein phy-
sikalischer Unsinn. Der Stein .bleibt eben schwer und
durchaus innerhalb seiner Natur, auch während er in
der Wurfbewegung sich befindet, und es ist völlig un-
gerechtfertigt und sophistisch, von der Muskelkraft
als einer höhern Kraft der Schwere gegenüber zu
faseln. Wenn der Stein zwei Centner wiegt, wo bleibt
denn da die höhere Kraft? Nachdem aber der Ver-
treter des Uebernatürlichen seine Hörer durch diese
ganz verwerfliche Analogie irre geführt und vorbereitet
hat, fährt er fort: „So tritt beim Wunder eine höhere
Causalität wirkend ein und ruft eine Wirkung hervor,
welche nicht Wirkung des Zusammenhangs jener nie-
drigem Causalitäten ist, wohl aber nachher diesem
Zusammenhange sich fügt. Diese höhere Causalität
aber fällt im letzten Grunde zusammen mit den höch-
sten sittlichen Zwecken des Daseins. Ihnen zu dienen
ist der höchte und schönste Lauf der Natur. Steht
also das Wunder hiermit im Zusammenhange, ist es
sittlich bedingt und nicht willkürlich, so ist es nicht
Wahrheit und Wirren. 13
wider die Natur und ihre Bestimmung, sondern im
hohem Sinne derselben gemäss." Sobald also die
Wundergläubigkeit mit der Naturforschung in Conflict
geräth, sagt sie: „Du übersehreitest dfeine Grenzen
und hast dein Urtheil hier zu suspendiren. Es han-
delt sich um einen höhern sittlichen Zweck, das Ge-
biet der Ethik ist höher als das der Physik, und des-
halb hat eine höhere Causalität, deren Beurtheilung
nicht Sache der Physiken, die euch Naturforschern
geläufige Verkettung von Ursache und Wirkung auf-
gehoben." Jene Stelle^, worin einer der gelehrtesten
und verehrtesten Vertheidiger des Wunderglaubens trotz
einem Sophisten die Natur forschung über ihre Grenzen
belehrt, gehört noch zum Glimpflichsten, was in die-
ser Art geleistet wird. Unsere Anschauungsweise und
Logik ist aber darin fundamental von derjenigen der
Gegner dieses Schlages verschieden, dass uns der
Gegensatz zum Wissen das Nichtwissen ist, während
jene das Wissen durch ein sogenanntes höheres Wissen
und durch den Glauben ergänzen.
Indem man sich an den Ausspruch eines Picus von
Mirandola hält: „die [Philosophie sucht, die Theologie
findet, die Religion besitzt die Wahrheit"^, vergisst
man, dass Wahrheit und Wahrheit sehr verschiedene
Dinge sind. Die subjectiven Gesichte und Tonempfin-
dungen, von denen Geisteskranke erregt und geängstigt
werden, sind für sie Realität, und doch eine ganz
andere, als die Bilder und Töne, die man mit gesun-
den Sinneswerkzeugen aufnimmt. Philosophie und
Wissenschaft suchen die Wahrheit, welche sich aus
dem erfassbaren Zusammenhange der Dinge ergibt.
Die andern Wahrheiten, welche die erste so oft negi-
ren, pflegen aber unfassbar zu sein und sind zu den
wissenschaftlichen Wahrheiten incommensurabel. Wir
lassen es daher bei Goethe 's Worten:
Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion.
/
.'.^ /
/
;
J4 Grenzen der Forschung.
Und nun, nachdem wir unberufene Einwendung und
Gefecht mit zweideutigen Begriffen vorläufig abgewie-
sen, können wir uns die Gr^izen der Naturwissen-
schaft ruhig ansehen. Halten wir uns dabei einmal an
den mit grossem Beifall aufgenommenen Vortrag,
welchen der Physiolog - Dubois-Reymond bei der
50. Versammlung der deutschen Naturforscher und
Aerzte hielt. Es wurde darin auf eine Stelle aus einem
der classischen Werke von Laplace in der Einleitung
zur Theorie der Wissenschaft hingewiesen, die wir uns
nicht versagen können vollinhaltlich mitzutheilen. Der
Verfasser der Mechanik des Himmels sagt: „Die gegen-
wärtigen Ereignisse sind mit den vergangenen durch
ein Band verknüpft, welches auf dem augenschein-
lichen Princip beruht, dass ein Ding nicht anfangen
kann zu sein, ohne eine Ursache, welche es hervor-
bringt. Dieser unter dem Namen des Principes von
der ausreichenden Ursache bekannte Grundsatz dehnt
sich auch auf solche Ereignisse aus, die man für nicht
davon berührt hält. Auch nicht der freieste Wille
kann ohne ein bestimmendes Motiv sie hervorrufen."
„Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Welt-
alls als die Folge seines frühern Zustandes und als die
Ursache des folgenden betrachten. Ein Geist, der für
einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche
die Natur beleben, und das gegenseitige Verhältniss
der dieselben zusammensetzenden Wesen, ein Geist,
der ausserdem eine hinreichende Fassungskraft besässe,
um alle jene Thatsachen der Analyse zu unterziehen,
würde die Bewegungen der grössten Weltkörper und
die des leichtesten Atomes unter eine Formel bringen
können: nichts wäre für ihn ungewiss, und die Zu-
kunft wie die Vergangenheit läge offen vor seinen
Augen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung,
welche er der Astronomie zu geben verstanden hat,
ein schwaches Abbild jenes Geistes dar." „Alle An-
strengungen des menschlichen Geistes in dem Suchen
nach Wahrheit gehen darauf hin, sich jenem soeben
Naturwissenschaftliches Erkennen. 15
von uns dargestellten Geiste zu nähern; er wird aber
immer unendlich von ihm entfernt bleiben." Der ber-
liner Physiolog citirt hierzu das Faustische: „du gleichst
dem Geist, den du begreifst", und meint, dass dem
menschlichen Geiste also nicht principiell die Einsicht
in die Weltformel verschlossen sei. Wir gestehen aber,
dass uns an einer principiellen Vollkommenheit, die
nie in die Erscheinung tritt, herzlich wenig gelegen
ist , und sehen jedenfalls in der Unerreichbarkeit jener
nebelhaften Weltformel eine leicht zu verschmerzende
Grenze der menschlichen Forschung. Aber abgesehen
von dem zweifelhaften Tröste mit der Weltformel wer-
den wir Dubois - Reymond beistimmen müssen, wenn
er die Grenzen, vor welchen jene höchste denkbare
Intelligenz Halt machen muss, auch für den mensch-
lichen Geist als unübersteiglich hält.
In Uebereinstimmung mit den jetzt herrschenden
Ansichten der Physiker und Biologen hat Dubois-
Reymond diese eine der Naturforschung gezogene
Grenze dahin formulirt': „Das oben näher bestimmte
naturwissenschaftliche Erkennen ist kein wahres Er-
kennen. Beim Versuche, das Constante, worauf die
Veränderungen in der Körperwelt zurückgeführt sind,
zu begreifen, stösst man auf unlösliche Widersprüche.
Ein Atom, als kleine, untheilbare, wirkungslose Masse
gedacht, von der Kräfte ausgehen, ist ein Unding.
In der Unmöglichkeit, das Wesen von Materie und
Kraft zu begreifen, liegt also die eine Grenze des
naturwissenschaftlichen Erkennens." Diese Sätze be-
dürfen einiger Erläuterungen. Ueber die mögliche f
mechanische Theilung hinaus muss man sich den Stoff, ;
die Materie, aus letzten nicht mehr theilbare Partikel-/
eben bestehend denken. Dieser Atome hat man nachj
dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaft so viele
verschiedene Arten anzunehmen, als chemisch nicht
weiter zerlegbare einfache Stoffe bekannt sisä' Es!
ist nun kein Zweifel, dass diese Atome im^ ei^ntlich-.
fiten Sinne de» Worteir iiwagniwre, hypothetische Grössen,
16 Begreiflichkeit des Organischen.
sind, wie denn die Theorie darauf zu leiten scheint,
dass aller Materie in den verschiedensten Erscheinungs-
weisen der Körperwelt nur eine einzige Atomenart zu
Grunde läge. Man kann sich in einem jeden Lehr-
buch der Physik oder Physiologie überzeugen, dass,
um die Eigenschaften dieser Atome und ihrer Verbin-
dungen zu Bestandtheilen zusammengesetzter und che-
misch zerlegbarer Körper sich klar zu machen und
zu berechnen, man sie unter verschiedenen körper-
lichen Gestalten, kugelig, kubisch u. s. w. bildlich
darstellt, ferner, dass man sie in ihrem Zusammen-
treten und Zusammenwirken als Körper umgeben den-
ken muss von einer minimalen Atmosphäre eines all-
verbreiteten AetherstoflPes. Allein das Atom an sich
und damit das Wesen der Materie ist etwas unvor-
stellbares, unerreichbares. Es inhäriren diesen Atomen
Kräfte, welche sich in Anziehungen und Abstossungen,
überhaupt in Bewegung äussern. Wa s abg r-jdifi_tiefete
„Ursache^ dieser Bewegungen und inwiefern diese Be-
Wegungen mit der Existenz der Atome gleichsam Eins
43ind, gehört mit zur Unbegreiflichkeit des Stoffes.
„Setzen wir uns darüber fort", sagt Dubois-Rey-
mond weiter, „so ist das Weltall zunächst begreiflich.
Auch durch das Auftreten von Leben an sich auf
Erden wird es noch nicht unbegreiflich. Denn Leben
an sich ist vom Standpunkte der theoretischen Natur-
forschung betrachtet nichts als Anordnung von Mole-
keln in mehr oder minder festen Gleichgewichtslagen,
und Einleitung eines Stoffwechsels theils durch, deren
Spannkräfte^ theils durch von aussen übertragene Be-
wegung. Es ist ein Misverständniss , hier etwas Super-
naturalistisches zu sehen." Dieser Punkt pflegt am
heftigsten bestritten zu werden. Wenn man alle Be-
wegungen und Ruhezustände der unbelebten Welt der
Erklärung preisgibt: mit des Lebens Grunde soll das
Unerklärliche beginnen. Was man mit dieser Annahme
d6r Urtheilskraft zumuthet, lässt sich mit den Worten
eines andern -gödiegehen und besonnenen Physiologen,
Vitalismus. Mechanische Auffassung. 17
A. Fick *, zu folgender Frage formuliren: „Ist die
Charakteristik eines solchen Theilchens, wie sie vorhin
erklärt wurde, für dasselbe auch während der Zeit
noch gültig und zureichend, während welcher es in einem
Organismus verweilt? Wird also z. B. die Bewegung
eines Sauerstofffcheilchens durch ein benachbartes Wasser-
stofFtheilchen noch nach denselben Gesetzen beeinflusst
und verändert, wenn beide oder eins davon Theil
eines Organismus ist, wie ausserhalb?" Wenn man
dies verneint, bekennt man sich zur vitalistischen
Lebensauffassung , das heisst , man nimmt seine Zuflucht
zu unbekannten, ganz ausserhalb der Materie liegenden
Kräften, man gibt zu, dass ein und dasselbe Theilchen,
je nachdem es innerhalb oder ausserhalb des Organis-
mus sich befindet, seine Natur ändern könne, mit an-
dern Worten: msm statuirt ein Wunder. Wägt man
diese Ansicht gegen die "physikalische ab, „welche in
ihrer Yollendung jeden organischen Process zu einem
Problem der reinen Mechanik macht", so kann man
dies mit den gewiss unparteiischen Worten des eben
citirten Naturforschers thun: „Ich glaube, die mecha-
nische Ansicht vom organischen Leben ist erst dann
bewiesen, wenn alle Bewegungen im Organismus wirk-
lich aufgezeigt sind als Wirkungen der den Atomen
auch sonst inne wohnenden Kräfte. Ebenso würde ich
aber auch dann die vitalistische Ansicht für erwiesen
halten, wenn in irgendeinem Falle die mechanische
Unmöglichkeit einer bestimmten, im Organismus als wirk-
lich beobachteten Bewegung gezeigt wäre. Weder an
das eine noch an das andere ist vor der Hand zu
denken. Gleichwol bekenne ich mich, wenn einmal
ohne vollständigen Beweis entschieden werden muss,
ganz unbedenklich einstweilen zur mechanischen An-
sicht. Sie empfiehlt sich nicht blos durch ihre grössere
Wahrscheinlichkeit und Einfachheit a priori^ sie wird
vielmehr durch den Entwickelungsgang der Wissen-
schaft fast zur Gewissheit. Wenn lüan sieht, wie ge-
wisse Erscheinungen — man denke nur z. B. an die
Schmidt, Descendenzlehre. 2
18 Wärme und Bewegung.
Bildung der thierischen Wärme, die man früher nicht
ohne die Lehenskraft erklären zu können glaubte, jetzt
selbst von solchen, die im allgemeinen eine eigen-
thümliche Lebenskraft annehmen, den überall wirk-
samen Kräften der materiellen Theilchen zugeschrieben
werden, so sieht man sich fast zur Ueberzeu-
gung gedrängt, dass nach und nach alle Er-
scheinungen des Lebens einer mechanischen
Erklärung zugänglich werden müssen." Fügen
wir zur Erläuterung des eben gegebenen Beispiels von
der thierischen Wärme hinzu, dass die neuere Physik
die Wärme als eine besondere Art der Bewegung
kennen gelernt hat. Die Bewegung des auf den Am-
boss fallenden Hammers geht nicht verloren, sondern
wird in die zwar unsichtbare, aber als Wärme fühl-
bare Atomenbewegung der getroffenen« Stellen umgesetzt.
Aber auch die Vereinigung der Theilchen des in der
Athmung des Thierleibes eingeführten Sauerstoffes mit
gewissen sauerstoffarmen Blutbestandtheilen ist eine
der Berechnung unterliegende Bewegung, welche als
Oxydation, Verbrennung oder als Entwickelung der
thierischen Wärme sich äussert. Dieser chemisch-
mechanische Act der Verbrennung unterhält die thie-
rische Dampfmaschine in Bewegung. Auf diesem Wege
der Anwendung der mechanischen Principien hat also
die neuere Physiologie eine grosse Anzahl von Vor-
gängen im Organismus auf ihre Ursachen zurückgeführt;
und das Gespenst Lebenskraft, welches sonst den ganzen
Darmkanal beherrschte, die Drüsenzellen und Muskel-
fasern zu ihrer Thätigkeit antrieb und an den Nerven
hinglitt, weiss kaum noch, wo es sein Unwesen trei-
ben soll.
Die Naturforschung scheut also nicht zurück vor
der Einreihung des Lebens und der Lebensprocesse in
die Welt des Begreiflichen. Wir scheitern erst am
Begriff der Materie und der Kraft überhaupt. Wir
sind aber viel weiter als Schopenhauer und seine
Anhänger, die für den Begriff der Kraft den des
Bewusstsein. 19
Willens substituiren , weil wir eine Menge von Vor-
gängen, die das an sich unverständliche Wort „Wille"
in ihrer Ganzheit erklären soll, in ihre einzelneu sich
bedingenden Momente aufgelöst haben, und auch viel
weiter als der Modephilosoph von heute, v. Hartmann,
der auf dem Gebiete der organischen Welt mit den
Wirkungen des „Unbewussten" uns abspeist.
„Und doch", so formulirt Dubois - Beymond , eine
abermalige Grenze , „tritt ein neues Unbegreifliches ein
in Gestalt des Bewusstseins , auch schon in seiner nie-
dersten Form, der Empfindung von Lust und Unlust.
Es ist ein für allemal unbegreiflich, wie es einem
Haufen Molekeln, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff,
Kohlenstoff, Phosphor u. s. w. nicht gleichgültig sein
kann, wie sie liegen und sich bewegen; hier ist also
die andere Grenze naturwissenschaftlichen Erkennens.
Selbst der von Laplace gedachte Geist kann nicht
darüber hinaus, geschweige der unserige. Ob übrigens
die beiden, dem naturwissenschaftlichen Erkennen ge-
zogenen Schranken vielleicht nur eine und dieselbe
sind, lässt sich nicht entscheiden." Mit diesen letzten
Worten wird die Möglichkeit angedeutet, dass das
Bewusstsein ein Attribut der Materie sei oder zur
Wesenheit der Atome gehöre. Und da dürfen wir
denn hinzufügen, dass der Versuch, den Empfindungs-
process zu verallgemeinern und als eine allgemeine
Eigenschaft der Materie darzulegen, in neuester Zeit
wiederholt gemacht ist, so von Zöllner in seinem, so
gerechtes Aufsehen erregenden Werke über die Natur
der Kometen. Derselbe meint, wenn man vermöge
feiner ausgebildeten Sinnesorgane die Molecularbewe-
gungen in einem Krystalle beobachten könnte, wenn
derselbe an irgend einer Stelle mechanisch verletzt wird,
so würde man nicht unbedingt verneinen können, dass
die hierdurch erregten Bewegungen absolut ohne gleich-
zeitige Erregung von Empfindungen stattfinden. Man
müsse entweder verzichten auf die Begreiflichkeit der
Empfindungsphänomenes in den Organismen, oder „die
2*
20 Empfindung ein Attribut der Materie.
allgemeinen Eigenschaften der Natur hypothetisch um
eine solche vermehren, welche die einfachsten und
elementarsten Vorgänge der Natur unter einen gleich-
massig damit verbundenen Empfindungsprocess stellt."
Man könnte meinen, dass man mit derartigen Be-
trachtungen an die trügerischen Abgründe der Specu-
lation geleitet würde; wenn wir aber, um bei den
Organismen zu bleiben, von den durch die Lust- oder
Unlustempfindungen geleiteten Aeusserungen des höhern
Bewusstseins des Menschen und dei hohem Thiere
immer tiefer hinabgehen, bis wir bei den einfachsten
Protoplasmageschöpfen alle Eeaction auf äussere Beize
sich in kaum wahrnehmbare Bewegung verlieren sehen,
so ist klar, dass hier weder von einem Bewusstsein,
noch von einem Willen die Bede sein kann. Wir
können da den Begriff der zu den Bewegungen an-
regenden Lust- oder Unlustempfindungen nicht loslösen
von den Elementareigenschaften der Materie, wie wir
dies im Gebiete der höhern Thiere zu thun gewohnt
sind '.
Ganz in diesem Sinne hat schon vor mehreren Jah-
ren einer der genialsten Sprachforscher , der leider
schon dahingegangene Lazarus Geiger gesagt*): „Aber
wie , wenn weiter hinab , wenn jenseit der Ner-
venwelt eine Empfindung vorhanden wäre, die wir
nicht mehr verstehen? Und es muss wol so sein.
Denn so wenig wie ein Körper möglich wäre, den wir
fühlen, ohne dass er aus Atomen bestände, die wir
nicht fühlen; und so wenig wir eine Bewegung sehen
könnten, wenn sie nicht von Lichtwellen begleitet wäre,
die wir nicht sehen: ebenso wenig würde in einem
complicirten lebendigen Wesen eine Empfindung zu
Stande kommen, so stark, dass wir sie infolge der
Bewegung, durch die sich äussert, mitempfinden, wenn
nicht in den Elementen, in den Atomen etwas Aehn-
liches , nur weit Schwächeres vor sich ginge , , was sich
uns entzieht. Man bedenke nur, dass wir ebenso wenig
wissen können, dass der fallende Stein nichts empfindet,
• Die heutige Thierwelt. 21
als dass er empfindet: es steht uns also die Entschei-
dung nach der Seite der grössern Wahrscheinlichkeit,
der Erklärlichkeit des Weltganzen, völlig offen."
Wir haben die Grenzen, welche sich die Natur-
forschung zieht, begangen. Weit gefehlt, dass das
Organische sich als ein unbegreifliches Etwas vor uns
aufrichtete, ladet es vielmehr zur Ergründung seines
Wesens ein und verspricht noch Licht zurückzustrahlen
auf die Welt des Unlebendigen. Wir dürfen nun den
Kundgang durch einen grossen Theil der lebendigen
Natur antreten, bei dessen Beendigung wir zu dem-
selben Kesultate gelangt sein werden, welches sich
auch dem Sprachforscher — wir citiren nochmals seine
Worte — mit unumstösslicher Gewissheit aus histori-
schen Betrachtungen ergeben: dass der Mensch aus
einer niedrigem, thierischen Stufe emporgestiegen sei.
IL
Die Thierwelt in ihrem gegenwärtigen Bestände.
Um der Descendenzlehre näher zu treten und das
Bedürfniss nach derselben vorzubereiten, haben wir
uns vorgenommen, zunächst einen Haupttheil ihres Ob-
jectes, den gegenwärtigen Bestand der Thierwelt in
allgemeinen Zügen uns vorzuführen. Die Organismen
unterscheiden sich von den belebten Körpern , wie jedem
Auge auffällt, durch eine gewisse Veränderlichkeit des
Daseins , eine Aufeinanderfolge und einen Wechsel von
Erscheinungen, welche an die ununterbrochene Auf-
nahme und Abgabe von Stoffen gebunden sind. Die
Theilchen, an welchen die Umwandlungen, in letzter
Instanz Molecularbewegungen , daher berechenbar, be-
stimmbar, der Untersuchung zugänglich, ablaufen, be-
finden sich im Zustande der Quellung, das heisst, sind
durchtränkt mit Wasser und wasserhaltigen Flüssig-
keiten, und dieser, obwol eigenthümliche, doch rein
22 Organismus. Niedere Lebewesen. •
mechanische Zustand reicht aus, um die Nothwendig-
ksit einer Reihe von Erscheinungen des Lebens zu
erklären und zu verstehen. Die Erfahrung lehrt, dass
diese Quellbarkeit und Beweglichkeit wesentlich an
den Verbindungen des Kohlenstoffs haftet, und eben
die Summe jener Bewegungen und Umsetzungen, von
denen ein grosser Theil schon der mathematisch sichern
Erforschung zugänglich gewesen, wird Leben genannt.
Man kann sich nun des Eindruckes gar nicht erwehren,'
dass es einfache und zusammengesetzte, niedere und
höhere Lebewesen gibt; auch fühlt man mehr, als
dass man ihn in Worte fassen kann, einen gewissen
Gegensatz zwischen Pflanze und Thier. Poetisch auf-
gefasst ist die Pflanze der passive Organismus, wie
ihn Rückert schildert:
Ich bin die Blum' im Garten
Und muss in Demuth warten,
Wann und auf welche Weise
Du trittst in meine Kreise.
Der Gegensatz der duldenden, in sich gekehrten
Pflanze zu dem seiner Haut sich wehrenden, handeln-
den Thiere verliert aber an Schärfe, je tiefer wir die
Stufenleiter beider Reiche hinabsteigen. Das höher
entwickelte Thier bekundet seine Thierheit durch die
Lebhaftigkeit, mit welcher es gegen äussere Einwir-
kungen und Reize reagirt. Die Lebenserscheinungen
niederer Thiere werden mehr vegetativen Charakters, und
bei vielen Gruppen niederer Wesen, welche Haeckel
neuerlich unter dem Namen Protisten zusammen-
gefasst hat, sehen wir zwar die Processe des Stoff"-
wechsels, der Ernährung und Fortpflanzung ablaufen,
aber in so einfacher und indifferenter Weise , dass wir
diesen Wesen auch eine indifferente Stellung zwischen
Pflanzen und Thieren anweisen müssen. Wir gewinnen
die Ueberzeugung, dass die Wurzeln von Pflanzen-
und Thierreich nicht voneinander völlig gesondert sind,
sondern, um im Vergleich zu bleiben, durch Ver-
Protisten. 23
mittelung eines Zwischengeflechtes unverkennbar inein-
ander übergehen. In diesem Mittelreiche ist der viel-
verspottete „Urschleim" der Naturphilosophen wieder
ZM Ehren gekommen. Viele tausend Kubikmeilen
Meeresboden bestehen aus einem seifig anzufühlenden
Schlamm oder Schlick, zusammengesetzt theils aus
offenbar erdigen, unorganischen Theilen, theils aus
«igenthümlich geformten, ihrem Wesen nach vielleicht
noch zweifelhaften Kalkkörperchen (den Coccolithen
und Rhabdolithen), endlich, was die Hauptsache, aus
•einer eiweissartigen Substanz, welche lebt. Dieser
lebende Schleim, der sogenannte • Bathybius, zeigt
nicht einmal Individualität oder Abgeschlossenheit des
Einzelwesens, er gleicht den formlosen Mineralsub-
^tanzen, von denen jedes Partikelchen die Merkmale
der Gesammtmasse an sich trägt.
Der Begriff des Organismus, als des aus verschie-
denen Theilen mit verschiedenen Leistungen oder
Functionen zusammengesetzten, unter bestimmter sich
entwickelnder Form erscheinenden Wesens, ist unserm
Zeitalter noch so anerzogen und inhärent, dass wir
uns nur mit grosser Anstrengung in die Vorstellung
der 'absolut formlosen und unbegrenzten oder zufällig
und willkürlich begrenzten lebendigen Masse hinein-
versetzen können. Wer dies nicht kann und will,
halte sich an ein anderes einfaches Lebewesen, z. B.
Haeckel's „ Protamoeba ". Ein Eiweissklümpchen
wächst durch Nahrungsaufnahme und Stoffaneignung
jj'is zu einem gewissen Umfange; dann pflanzt es sich
fort, indem es sich in zwei Hälften durchschnürt. Für
unsere Beobachtungsmittel sind diese und ähnliche
Wesen die einfachsten Organismen ohne Organe. Wir
lassen jedoch , indem wir die Grenzen der Untersuchung,
bedingt durch die unzulänglichen Beobachtungsmittel,
betonen , Rollet's Einwurf gelten ^ , dass unser Ver-
stand solche homogene Organismen, welche nur verr
möge ihrer atomistischen Constitution sämmtliche
Lebensfunctionen vollziehen, eigentlich nicht zugeben
24 Protisten.
kann, dass es sich um den noch gänzlich unbekannten
Bau der aus dem Zusammentritt der Atome hervor-
gehenden Molecüle handle , und dass wir , wenn Brücke
sagt: „Wir müssen den lebenden Zellen, abgesehen
von der Molecularstructur noch eine in anderer Weise
complicirte Structur zuschreiben, und diese ist es,
welche wir mit dem Namen Organisation bezeichnen",
dass wir diese uns noch unbekannte Zusammensetzung^
auch den Haeckel'schen Moneren zuschreiben müssen.
Aber diese Complication der Molecularstructur bei-
seite ist es für die Erforschung der belebten Natur
von höchster Wichtigkeit, solche für das bewaffnete
Auge und die anatomischen Hülfsmittel einfachste Kör-
per kennen gelernt zu haben. Die Substanz, welche
ihnen ihr Gepräge verleiht, findet sich sowol in den
Pflanzen als in den Thieren wieder, und Pflanzen und
Thiere sind uns nun zwei Klassen von Organismen, in
denen die Vorgänge der Selbsterhaltung und der Fort-
pflanzung durch die Sonderung der ursprünglich homo-
genen Substanz in verschiedene Formgebilde und Or-
gane nach verschiedenen Seiten hin den Charakter
einer höhern Zusammensetzung und Ausbildung an-
genommen haben.
Da wir noch Gelegenheit haben, uns über die An-
fänge des thierischen Lebens und seine Berührungs-
punkte mit den Protisten und Pflanzen auszusprechen^
wollen wir uns aus dem Felde der Grenzstreitigkeiten
gleich mitten in die Fülle der Thierwelt versetzen, um
sie sichtend und ordnend zu bewältigen. Dem ersten
Eindruck der unendlichen Mannichfaltigkeit folgt ein
anderer , dass es niedrige und höhere Thiere gibt. Es
herrscht darüber voller Einklang. Denn wenn man
auch in , für uns ungültiger , teleologischer Betrachtung
der Natur jedes Geschöpf an sich vollkommen, d. h.
seinem Zweck oder seiner Idee entsprechend, nennen
wollte, so nimmt jedermann es als etwas Gegebenes
und Selbstverständliches hin, dass eine Werthscala
besteht, ohne sich über das Mass, wonach dieselbe
Niedere und höhere Thiere. 25
steigt und sinkt, Rechenschaft zu geben. Indessen
wird dieser Masstab sich bei einer Vergleichung eines
niedem mit einem höhern Thiere bald herausstellen.
Greifen wir den Süsswasserpolypen und die Biene
heraus.
Das einige Linien lange Thierchen, welches in un»
Sern Gewässern gewöhnlich an ^ Pflanzen angeheftet
lebt, ist ein Schlauch, dessen Wandungen aus zwei
Zellenlägen, einer ]$[uskellage und einem sogenannten
Stützblatt bestehen, welches letztere dem Ganzen Zu-
sammenhalt gibt und einem Skelet vergleichbar ist.
Vier bis sechs ebenso gebaute Arme umstehen den
Mund. In der Oberflächenschicht des Körpers befin-
den sich zahlreiche nesselnde Bläschen, durch deren
Berührung die in das Bereich des Polypen g^rathenden
kleinern Thierchen betäubt werden, sodass er sie leicht
als Beute bewältigen kann. Das ist in kurzem der
Bau dieses Thieres. Es hat kein Adersystem, keine
besondern Athmungswerkzeuge , die Rolle der Nerven
und Sinnesorgane wird durch die einzelnen Theile der
Oberfläche übernommen. Seine Fortpflanzung bewerk-
stelligt sich gewöhnlich durch das Hervorsprossen von
Knospen, welche gereift abfallen; zeitweise auch durch
die Producte sehr einfacher Geschlechtsorgane.
Hiergegen reichen Stunden nicht aus, den Bau einer
Biene zu beschreiben. Schon von aussen verspricht
ihr vielgegliederter Körper eine reiche Entfaltung des
Innern. Ihre Fresswerkzeuge können erst durch Ver-
gleichung mit den Mundtheilen der gesammten In-
sektenwelt verständlich gemacht werden. Die ver-
schiedenen Abtheilungen des Ernährungskanales wer-
den je von besondern Drüsen begleitet. Das reiche
Seelenleben aber, all das von Auffassung der äussern
Situation, Verständniss und Berechnung zeugende Trei-
ben wird durch ein höchst entwickeltes Nervensystem
und die damit verbundenen, bewundernswerth com-
plicirten Sinnesorgane, namentlich die Augen, ermög-
licht. Abgesehen endlich von den aus vielerlei Haupt-
26 Systematischer Rang.
und Nebentheilen bestehenden Fortpflanzungsorganen
erfordert die Vermehrungs- und Entwickelungsgeschichte
der Biene ein Studium für sich.
£s erscheint uns die Leistung und damit der Rang
und Werth des Bienenkörpers um so viel höher, als
diejenige des Polypen, als jener zusammengesetzter ist.
Die grössere Complitation und Mannichfaltigkeit der
Theile iliegt anatomisch vor, ebenso die höhere Ge-
staltung des tjebens. Die höhere Energie des Daseins,
die Leistungsfähigkeit und die Vollkommenheit der
Biene im Gegensatz zur Aermlichkeit des Polypen ist
ganz offenbar eine Folge oder richtiger ein Ausdruck
der grössern mechanischen und physiologischen Ar-
beitstheilung. Bei dem einen und dem andern Thiere
verläuft das Leben in den Functionen der Selbst-
erhaltung und der Erhaltung der Art oder der Fort-
pflanzung, bei beiden ist der Kreis der Erscheinungen
ein geschlossener, ein Ganzes, allein die Mittel der
Ausführung sind sehr verschieden und darum auch der
Gesammteffect. Wir haben aber in der Mannichfaltig-
keit und Correlation der für die verschiedenen Lebens-
äusserungen bestimmten Organe einen Masstab für
den Rang der Thiere. Dieser Rang hat einen zwei-
fachen Charakter, einen allgemeinen und einen spe-
ciellen. Mit andern Worten: der Platz eines Thieres
im System wird einmal bestimmt durch die allgemei-
nen Eigenschaften, welche es mit den in den Grund-
zügen der Organisation übereinstimmenden Formen
gemein hat, und zweitens durch die speciellern Kenn-
zeichen, welche das Thier innerhalb seiner Stammes-
verwandtschaft in Reihe und Glied stellen. Eine
Einsicht in diese Gliederung des Thierreiches ist natür-
lich unerlässlich, wenn man die Ursachen derselben
prüfen und erkennen will; eine Darlegung davon ge-
hört ganz eigentlich zu unserer Aufgabe.
Seit dem Ausbau der Zoologie durch Cuvier im
ersten Drittheil unsers Jahrhunderts hat sich> unsere
Wissenschaft mit dem schon weit früher von Buffon
8l«^*-
28 I^ie Stämme.
meisten andern Thieren als Leibeshöhle bezeichnet,
z. B. beim Menschen der Raum zwischen Darmwand
und Leibeswand, mangelt ihnen, dagegen gehen in der
Regel vom Magen aus allerlei Kanäle und Fächer, die
in gewisser Weise die Leibeshöhle ersetzen. Fig. 2.
Eine Qualle, Tiaropsis diadema nach Agassiz. Die
dunkel schattirten Organe bilden den sogenannten
cölenterischen Apparat.
Von den Stachelhäutern sind dem Leser gewiss
wenigstens die Seesterne und Seeigel bekannt, deren
Gestalt im allgemeinen auch eine strahlige zu sein
pflegt. Ausser einer eigenthümlichen Kalkablagerung oder
geringern oder stärkern Verkalkung der Hautbedeckun-
gen kommt ihnen als Stammescharakter ein System
von Wasserkanälen zu. Von diesen aus werden die
Reihen von Bläschen gespeist, welche vorgestreckt und
sich ansaugend, als Bewegungsorgane dienen. Cuvier
glaubte wegen des vorherrschenden strahligen Baues
Stachelhäuter, Quallen und Polypen näher verwandt,
und hat sie alle zusammen unter dem Namen Strahl-
thiere eingeführt; allein diese Aehnlichkeit ist eine
nebensächliche, und wenn schon die Anatomie die
grosse Verschiedenheit der Cölenteraten und Stachel-
häuter aufdeckt, so verweist noch viel entschiedener
die Entwickelungsgeschichte unsere Stachelhäuter aus
jener Nähe und setzt sie in engere Beziehung zur
folgenden Abtheilung.
Mit dieser, den Würmern, hat der Systematiker
der alten Schule sein wahres Kreuz, so verschieden-
artig gehen sie auseinander, so gross ist der Abstand
zwischen niedrigen und höhern Formen , so wenig bleibt
nach Abzug der Ordnungs- und Klassenkennzeichen
als gemeinsamer Charakter übrig, so buntscheckig end-
lich ist die Schar vereinzelter kleinerer Thiergruppen
und sogar einzelner Arten, welche Einlass begehren
in das System der Würmer. Wenn wir ihr typisches
Wesen in wenigen Worten auszudrücken versuchen, so
kann es etwa damit sein: die Würmer sind mehr oder
Die Stämme. 29
weniger gestreckte symmetrische Thiere, welche keine
wirklichen Beine besitzen, sondern ihre Ortsbewegun-
gen vermittelst einer mit den Hautbedeckungen eng
verbundenen Muskulatur, die oft zu einem wahren
Muskelschlauch wird, ausführen. Wir wollen hinzu-
fügen, dass die systematischen Wirrnisse und Schwie-
rigkeiten sich für den Anhänger der Descendenzlehre
in Quellen der Erkenntniss verwandeln.
Die Beziehungen des vorigen Stammes zum Typus
der Glieder thiere liegen so auf der Hand, dass die
„Verwandtschaft" dieser beiden auch von den altern
Zoologen nie angezweifelt worden ist. Schon der Name
der einen , höchsten Abtheilung der Würmer , der Glie-
derwürmer, hat dies Verhältniss bezeichnet. Das Ge-
präge der Krebse , Spinnen , Tausendfüsse , Insekten
besteht darin, dass ihr Körper sich aus scharf vonein-
ander« abgesetzten Eingen oder Gliedern aufbaut, an
welcher Gliederung die Beine, Fühlhörner und Mund-
werkzeuge theilnehmen. Ein getreuer Ausdruck dieser
äussern Segmentirung ist die Form des Nervensystems,
welches strickleiterartig am Bauche, d. h. unter dem
Darmkanal liegt, und nur mit seiner vordersten Schlinge
den Schlund umfasst. Das Hervortreten der Gliederung
wird dadurch begünstigt, dass durch Ablagerung einer
hornigen Substanz die Hautbedeckungen skeletartig er-
starren.
Ganz das Gegentheil zeigen die Hautbedeckungen
der Weichthiere, unserer Muscheln und Schnecken
und der Tintenschnecken. Denn so viele ihrer auch
mit schützenden Schalen und Gehäusen versehen sind,
diese letztern sind doch nur blosse Absonderungen der
eigentlichen Haut, welche weich bleibt, eigenthümlich
nass und schleimig infolge der Ausscheidungen zahl-
reicher darin enthaltener Drüsen, und die Neigung hat,
sich in Falten zu legen und eine mantelartige Hülle
um den Eumpf zu bilden. Dabei bleibt der Körper
mehr oder weniger klumpenhaft, die Eleganz des Glie-
derthieres, besonders des Insektes ist ihm fremd, es
«
30 Gliederung in den Stämmen.
fehlt ihm eben die Gliederung, und dieser Mangel
kommt auch im Nervensystem zum Ausdruck. Es re-
ducirt sich auf einen Schlundring und einzelne klei-
ner Nervenmassen.
Am leichtesten verständigen wir uns über die Wir-
belthiere, den Stamm, dem der Mensch sich
untrennbar anschliesst. Wesentlich ist der Theil des
innern, knöchernen oder knorpelig bleibenden Skelets,^
die Wirbelsäule, in welcher der Haupttheil^ des Ner-
vensystems enthalten.
Es steht also fest, dass die Grundlage der syste-
matischen Eintheilung des Thierreichs durch gewisse
hervorstechende Eigenthümlichkeiten der Gestaltung
und des innern Baues gegeben wird, und es ist sehr
leicht, aus jedem Typus Formen herauszugreifen, um
an ihnen die in der systematischen Diagnose zusammen-
gefassten Kennzeichen in aller Vollkommenheit vor
Augen zu legen. Hieran reiht sich aber unmittelbar
eine weitere Beobachtung, diejenige der Gliederung
innerhalb der Typen. Wenn wir oben Polyp und
Biene miteinander verglichen und ihnen einen sehr
verschiedenen Rang anweisen mussten, so kommt ein
Theil dieses Stufenunterschiedes allerdings auf die
Stammesverschiedenheit; allein auch die durch die
Stammeseigenthümlichkeiten zusammengehaltenen For-
men gehen weit auseinander , und die Systematik spricht
von niedrigen und höhern Klassen innerhalb der ein-
zelnen Typen , von niedrigen und höhern Ordnungen-
innerhalb jeder Klasse. Das Urtheil wird hierzu durch
dieselben Betrachtungen gezwungen, welche sich uns
beim Vergleich von Polyp und Biene aufdrängten.
Warum steht die Muschel niedriger als die Schnecke?
Weil sie noch keinen Kopf hat , weil ihr Nervensystem
nicht so concentrirt und voluminös ist, weil ihre
Sinnesorgane mangelhafter sind. Das Baumaterial ist
bis zu einem für die Ausbildung des Typus ausrei-<-
chenden Masse da wie dort vorhanden, in der Schnecke
ist es aber mehr entfaltet, und schon der einzige Um-
Baumförmige Gruppirung. 31
stand des Aneinanderrückens verschiedener Theile zum
Kopf verleiht der Schnecke ein höheres Ansehen. Es
ist unnöthig, diese Abstufung innerhalb der Stämme
mit mehr Beispielen zu erläutern; der oberflächlichste
Vergleich eines Fisches mit einem Vogel oder Säuge-
thiere, eines Schmarotzerkrebses mit dem Flusskrebs
oder einem Insekt zeigt, dass, wie die ältere Zoologie
sich ausdrückte, die Grundpläne oder „idealen Typen"
in sehr ungleicher Weise in den realen Formen zum
Ausdruck kommen.
Ein weiteres Ergebniss dieser beschreibenden For-
schung ist die baumförmige Gruppirung der
Stammesgenossen. Auch das Verhältniss der Stämme
zueinander kann man nicht in einer einfachen Linie
schematisiren , indessen kam es hier früher mehr auf
allgemeine Andeutungen über den Werth des einen
zu den andern Typen an. Dagegen war die beschrei-
bende Zoologie schon lange genöthigt, Verwandtschafts-
tabellen für die systematischen Unterabtheilungen bis
auf die Arten hinab nach dem Kriterium der anatomi-
schen Vollkommenheit zu entwerfen, und diese fanden
nur in dem Bilde vielverzweigter Bäume ihren Aus-
druck. Es traten Aeste hervor, welche nach kurzer
Erstreckung endigen, andere sind langgezogen mit
zahlreichen Nebenästen, in jedem Ast kommen gewisse
eigenthümliche Erscheinungen und Eeihen zur Geltung.
Man versuche es beispielsweise mit den Wirbelthieren.
Schon mit den Fischen kommen wir in grosse Ver-
legenheit: welche von ihnen sollen wir als die höchsten
ans Ende setzen? Wir mögen aber nehmen, welche
wir wollen, die Haie oder unsere Knochenfische, die
Amphibien schliessen sich nicht linear an, auch geht die
verlängerte Astlinie der letztern nicht, wie man den-
ken könnte, in die Reptilien über. Die Vögel ihrer-
seits setzen scharf gegen die Säugethiere ab; und
dieses Spalten und Auseinandergehen erstreckt sich
auf alle Unterabtheilungen. Wir haben schematisch
darzustellen Familienzweige, Gattungsbündel, Arten-
3 2 Wandelbarkeit der Charaktere.
büschel, und die letztern zerfasern sich in den Unter-
arten und Varietäten. Mit diesem Bilde der bäum-
förmigen Gliederung des Systems wird man gern noch
einmal zur Vergleichung von Gliedern verschiedener
Typen hinsichtlich ihres Leistungswerthes zurückkehren.
Die Biene an sich ist offenbar ein viel complicirterer
Organismus als das niedrigste nschartige Thier, der
Lanzettfisch, und wir vergleichen in diesen beiden
eine niedere Form eines höhern Typus mit einer höhern
Form eines niedern. Variirt und combinirt man diese
Art von Vergleichungen und berücksichtigt man die
Anknüpfungspunkte der verschiedenen Typen unter-
einander, auf die wir sogleich hinzuweisen haben, so
vervollständigt sich das Bild der systematischen Bäume
zu einem grossen Baume, als dessen Hauptäste die
Typen hervortreten.
Wären die Systematiker der alten Schule mit der
Erschaffung der Pflanzen und Thiere betraut gewesen,
sie würden erst die Diagnosen und Kennzeichen fest-
gestellt und dann die Typen und ihre Arten ins Leben
gerufen haben; denn ihre grösste Qual ist immer ge-
wesen, dass die Diagnosen so viele Ausnahmen erlei-
den und dass zunächst die Charaktere der Grund-
formen ohne absolute Geltung sind. Im grossen
und ganzen sind die Polypen strahlförmig; es gibt
aber nicht wenige bilaterale oder nach zwei Seiten
symmetrische. Die meisten Schnecken besitzen aus-
gesprochene Mantelfalten, aber von einem Mantel
mancher geradezu wurmförmigen Nacktschnecken zu
reden, ist mislich. Kopf und Schädel scheint uns doch
ein unveräusserliches Merkmal der Wirbelthiere zu
sein, aber der Lanzettfisch hat keinen solchen Kopf,
sondern nur ein Vorderende. Indessen, kann man
einwerfen, er hat eine Wirbelsäule; aber diese, das
eigentliche Adelszeichen der Wirbelthiere, ist nebst
Gehör und Bückenmark ein, wenn, auch nur vorüber-
gehendes Eigenthum der Ascidien, einer Klasse von
Thieren, die im ausgewachsenen Zustande auch nicht
Zwischenfonnen. 33
im entferntesten an die Wirbelthiere erinnern. Indem
wir diese Abweichungen von scheinbar fest fundirten
sogenannten Form- und Baugesetzen wahrnehmen, sind
wir auf eine offenbare Durchlöcherung des Systems
vorbereitet, auf die Verbindungsformen und
die Formen von unsicherer systematischer
Stellung.
"Wenn das Resultat der systematischen Sichtung und
Ordnung innerhalb der einzelnen Typen in dem Bilde
von Bäumen zusammengefasst werden kann, so ver-
stehen sich die Zwischenformen für die in Baumgestalt
angeordneten Glieder der Typen, Klassen, Ordnun-
gen u. s. w. von selbst. Denn wenn das Bild richtig,
so müssen in allen Astachseln Arten enthalten sein,
von denen sich die in den sich abzweigenden Aesten
zu Unterst stehenden Arten nur sehr wenig entfernen.
Und so kam denn in der That alles Systematisiren
darauf hinaus, zwischen je zwei in höherm Grade von-
einander abweichende Formen die richtigen Zwischen-
formen einzuschieben, ja man wurde in manchen
Fällen veranlasst, Zwischenformen zu suchen, wo keine
sind. Die ältere Zoologie hat immer das Schnabel-
thier als das den Vögeln am nächsten stehende Säuge-
thier aufgefasst, während der Grund der Vogelähnlich-
keit der niedrigsten bekannten Säuger durchaus nicht
in der unmittelbaren Verwandtschaft zu suchen ist,
sondern in einer entfernten Vetterschaft. Aber nicht
auf jene von der Naturgeschichte als ganz selbstver-
ständlich vorausgesetzten Verbindungsformen haben wir
hinzuweisen, sondern auf dienigen, welche der syste-
matischen Beschreibung, so zu sagen, unbequem sind
und die mit Mühe gewonnenen Grundlagen illusorisch
zu machen drohen. Es gibt einige fischartige Thiere,
die Doppelathmer (Lepidosiren und Genossen), mit
Charakteren der Amphibien. Die Infusorien haben
manche Eigenthümlichkeiten der sogenannten Urthiere ;
andererseits entfernen sie sich von ihnen und weisen
auf die niedrigsten Strudelwürmer hin. Ein in un-r
Schmidt, Descendenzlehre. 3
34 I^iö Fortpflanzung.
zähliger Menge in unsern Meeren lebendes Thierchen,
die Sagitta, ist weder ein rechter Wurm noch ein
gut legitimirtes Weichthier. Die Klasse der Räderthiere
passt weder in das Schema der eigentlichen Würmer,
noch in das der wahren Gliederthiere , will aber doch
im System untergebracht werden, und wer die Typen
als die idealen unveränderlichen Grundformen fest-
hält, kommt in grosse Verlegenheit, wohin er mit sei-
nen Räderthieren soll.
So Hessen sich Beispiele über Beispiele dafür an-
häufen, dass die strengen Scheidewände des Systems,
kaum aufgeführt, auch schon allerorten durchlöchert
werden , und zwar im geraden Verhältniss des Anwach-
sens der Specialkenntnisse. Wie gesagt, musste die
beschreibende Naturgeschichte diese Wahrnehmung
machen. Sie sprach dann von Ausnahmen und Ab-
weichungen, ohne einen Grund angeben zu können,
wie denn die Klassen und Typen ihre Grenzen durch-
brechen könnten, ja meist ohne das Bedürfniss, sich
von der Hinfälligkeit des strengen Systems Rechenschaft
zu legen.
III.
Die Erscheinungen der Portpflanzung in der Thierwelt.
Zur Signatur des Lebendigen gehört die Fähigkeit,
neuem Leben Dasein zu verleihen. Ein Krystall pflanzt
sich nicht fort; er kann nur in seine Elementarbestand-
theile aufgelöst werden, und diese können im natür-
lichen Verlaufe der Dinge oder auf künstlichem Wege
einer andern krystallinischen Vereinigung zugeführt
werden. Das ist aber nicht jene Continuität der Fort-
pflanzung, welche Individuum an Individuum kettet,'
nicht die mit dem Nebel des Geheimnisses verdeckte
Zeugung. So, scheint es, besteht ein starrer Gegen-
satz. - Allein wenn man den Unterschied zwischen der
Einfachste Zeugung. 35
belebten und unbelebten Natur als überhaupt nicht
absolut erkannt hat, namentlich wenn man die Mög-,
lichkeit , ja Nothwendigkeit der Urzeugung oder ältern-
losen Entstehung der niedrigsten organischen Wesen
aus der unorganischen Materie eingesehen, wovon später,
wenn man das Wesen der Ernährung und des Wachs-
thums als lediglich bedingt durch die Quellbarkeit der
Materie erfasst, so schwindet auch das Räthselhafte der
Fortpflanzung. Die Zeugung ist dann nicht mehr ein
mystisches Ereigniss, und die Entstehung eines Orga-
nismus in einem oder von einem Organismus, das Ab-
lösen und die Entwickelung der zahllosen Keime lässt
sich ebenso, als das Werden eines neuen Krystalls, zer-
gliedern bis auf die nur noch dem geistigen Auge
zugänglichen Bewegungen der Elemente. Wir wollen
damit sagen, dass die Grenzen der Forschung im Ge-
biete der Fortpflanzung keine engern und besondem
sind. Wir gehen also an die Schilderung des That-
sächlichen der Fortpflanzung und Entwickelung im
Thierreich.
Wenn, wie man allgemein zugeben muss, dem höch-
sten wie dem niedrigsten Leben das wesentlich Cha-
rakteristische gemeinsam ist, und nur die Complication
der Lebensvorgänge nebst der Mannichfaltigkeit der die-
selben bewerkstelligenden Theile die gradweise Ver-
schiedenheit bedingen, so erkennen wir natürlich das
Wesen der Lebensprocesse am leichtesten an den ein-
fachsten Organismen. Die einfachsten, von Haeckel
entdeckten Wesen , wie Protamoeba, jene eiweissartigen
Schleimklümpchen , wachsen bis zu einem gewissen
Umfange. Warum derselbe sich in bestimmten engen "
Grenzen bewegt, und warum bei einem gewissen Um-
fange des Körpers die Molekeln zu zwei Hälften gra-
vitiren, wissen wir nicht; jedenfalls handelt es sich
um Cohäsionsverhältnisse , welche der Berechnung prin-
cipiell zugänglich sind. Qenug, bei einer gewissen
Grösse wird der Zusammenhang der Theile in einer
mittlem Zone gelockert, das bisherige Individuum wird
3*
36 Theilung. Knospung.
seinem Namen untreu und theilt sich in zwei Hälften,
deren jede vom Moment der Trennung an ein indivi-
duelles Leben beginnt, während vom Anfang der
Theilung an ihre Selbständigkeit sich mehr und mehr
vorbereitete. Dies ist der einfachste Fall der Fort-
pflanzung, eine Vermehrung durch Theilung.
Dieselbe bleibt aber häufig nicht bei der Halbirung
stehen; die die Theilung verursachende Bewegung der
kleinsten Bestandtheile setzt sich in der Art fort, dass
die Hälften wiederum und die Viertel abermals, und
so das Ganze in eine grössere Anzahl von Portionen
getheilt wird, und das Mutterwesen sich in einen
Schwärm von Sprösslingen auflöst.
Diese Vermehrung durch blosse Theilung der Masse
setzt voraus, dass der sich so fortpflanzende Organis-
mus keine hohe Complication an sich trage. Eine
Halbirung eines Käfers oder Vogels ist als Mittel der
Fortpflanzung nicht wohl denkbar. Jedoch haben uns
Stein's vorzügliche Beobachtungen über den Fort-
pflanzungsprocess der Infusorien Organismen kennen
gelehrt, welche weit über jenen einfachen sogenannten
Moneren stehen, und deren Theilhälften eine Reihe
tief eingreifender Neubildungen durchmachen, ehe sie
sich als selbständige Individuen voneinander trennen.
Diese mit der Theilung verbundene Umbildung führt
zur Fortpflanzung durch Knospung. Wie die Thei-
lung jener niedrigen Organismen von der Erreichung
einer gewissen, durch hinlängliche Nahrung bedingte
Wachsthumsgrenze abhängt, so tritt nun häufiger der
Fall ein , dass das Individuum den Ueberschuss an ge-
wonnenem Stoff an einer bestimmten Stelle des Körpers
absetzt und einen Spross oder eine Knospe bildet.
"Wir kennen Fortpflanzung durch Knospung schon bei
den einfachsten Organismen, den Zellen, wie denn
überhaupt jede Heilung und Vernarbung höherer We-
sen, bis auf die Ergänzung verstümmelter Glieder bei
Amphibien, nur durch die auf Theilung und Knospung
beruhende Fortpflanzung der elementaren Formbestand-
Generationswechsel. 37
theile ermöglicht ist. Es liegt aber in der Natur des
Knospungsvorganges , dass er in der Stufenleiter der
Organismen weit höher als die Theilung hinaufragt;
es ist eben die Entstehung eines neuen Wesens an
einem schon vorhandenen, wobei das letztere seine
Individualität ganz oder zum grössten Theile bewahrt
und doch seine Eigenthümlichkeit in vollem Masse auf
den Nachkommen übertragen kann.
Der einfachste Fall der Knospung ist der, wenn ein
Mutterthier eine oder mehrere Knospen treibt, die
jenem gleich sind und auch ihrerseits gleichartige
Knospen zeugen. Jede Korallensammlung gibt eine
Menge von Beispielen hierfür, und wJfe das verschie-
denartige Aussehen der einzelnen Korallengattungen
auf blossen kleinern Modificationen dieser Fortpflan-
zungsweise beruht. Es gibt aber schon einzelne Ko-
rallen, bei welchen man bei aufmerksamer Vergleichung
nicht blos zufällige Abweichungen, sondern regelmässig
wiederkehrende Verschiedenheiten zwischen Mutter und
Spross entdeckt, wie das neulich Semper an Fächer-
und Pilzkorallen gezeigt hat. Wir werden damit zu
der höchst wichtigen Erscheinung des Generations-
wechsels geführt, den wir an einigen Beispielen er-
läutern müssen, noch ehe wir auf das Wesen der ge-
schlechtlichen Fortpflanzung eingehen.
Unser Bild Fig, 3 zeigt unter Ä ein polypenförmiges
Wesen mit gekreuzten Fangarmen, das von seinem
Entdecker Duj ardin mit dem Gattungsnamen Kreuz-
polyp (Stauridium) belegt wurde. Dieses nach Art der
Polypen auf einem Stiel festwachsende Thier bildet
oberhalb seines untern Armkreuzes Knospen, welche
als rundliche Ballen hervortreten, nach und nach
Glockenform annehmen und sich ablösen, nachdem sie
den Bau und die Form einer Qualle erhalten haben.
Die Cladonema radiatum genannte Qualle (Fig. 3 B)
ist also die Tochter der ihr ganz unähnlichen Mutter
Stauridium; sie pflanzt sich auf geschlechtlichem Wege
fort und aus ihren Eiern gehen die Stauridien hervor.
f.
miteinander
'ation in der
aus dem Ei
tration selbst
[*Tnkanal der
einzelne
•^ ausaerordent-
ak blosse
der Ent-
id ihren Be-
in Saug- und
jt^er trotz ihrer
"" an Organen
oder , nach
Geschlechtliche Fortpflanzung. 39
Haeckers Bezeichnung, Personen haben. Verhielte
sich nun der Bandwurm wie die meisten Thiere, so
würden aus seinen Eiern unmittelbar die Gliederindi-
viduen sich entwickeln. Zu diesen aber ist ein weiter
Umweg. Ist ein Bandwurmei durch Glück und Zufall
in einen ihm zusagenden Magen, z. B. das Ei des
Menschenbandwurms, Taenia solium, in das Schwein
gerathen, so wandert der Embryo aus dem Magen,
wo er das Ei verlassen hat, aus und in die Muskeln
ein und schwillt hier zu einer Art von Blase an.
Diese Blase ist die erste Zwischengeneration. Sie zeugt ^
eine zapfenförmige Knospe, die jedoch ihren Zweck
solange verfehlt, als der „Blasenwurm" oder die „Finne"
in dem Schweinefleische bleibt. Erst wenn dasselbe
roh oder unvollständig zubereitet in den menschlichen
Magen kommt, schlägt die Stunde der Erlösung für
jenen Zapfen. Er tritt aus seiner Mutter, der Blase,
hervor, letztere geht zu Grunde und der Zapfen, ili
welchem wir nun den Kapf sammt Hals des Band-
wurmgebildes erkennen, stellt eine zweite Zwischen-
generation vor. Seine Productivität äussert sich auch
alsbald; er verlängert sich und je weiter er band-
förmig auswächst, desto deutlicher markiren sich in
diesem aus dem Hintertheile des Halses hervorsprossen-
den Theile Querstreifen und „Bandwurmglieder", also
die Individuen der dritten oder Geschlechtsgeneration.
In den besprochenen Entwickelungskreisen lösen sich
also ungeschlechtliche und geschlechtliche Fortpflan-
zung einander ab, und wir haben uns, ehe wir noch
einige andere Fälle der ungeschlechtlichen Vermehrung
besprechen, zuvor mit den Thatsachen der geschlecht-
lichen Fortpflanzung bekannt zu machen.
Sie ist dadurch charakteristisch, dass es zur Er-
zeugung des neuen Individuums der Vereinigung zweier
verschiedener Producte oder Formelemente, des Eies
und des Samens bedarf. Das Ei ist ursprünglich im-
mer eine einfache Zelle (Fig. 4, o), deren Kern Keim-
bläschen, deren Kernkörperchen Keimfleck heisst, und
40 Ei und Samen.
welche bei vielen Thieren mit einer eigenen Hülle oder
Membran versehen ist, bei andern nackt bleibt und
dann häufig die wunderlichen Bewegungen des Proto-
plasma zeigt. Die Eizellen der verschiedenen Thier-
klassen weichen zwar in ihren mikroskopischen Dimen-
sionen ziemlich voneinander ab, dennoch sind sie für
das ganze Thierreich von den Schwämmen und Polypen
bis zu den Säugern sammt dem Menschen wesentlich
gleich. Erst wenn die primitive Eizelle reichlicher mit
Dotter und Eiweis versehen, sich mit besonders dicker
^ und durchlöcherter Schale , wie bei Insekten und Fi-
schen, oder mit einer ganz eigenthümlich geformten
Hülle, z. B. bei manchen Strudelwürmern von Gestalt
einer doppelt concaven Linse, umgeben hat, treten
unwesentliche Unterschiede auf.
In der Regel bilden sich die
Eizellen in besondern Organen,
den Eierstöcken. Der andere
Geschlechtsstoff, der Same, ent-
hält als die eigentlich wirksamen
Bestandtheile die sogenann-
p. ^ ten Samenkörperchen {Fig, 4 s),
welche aus einem punktförmigen
oder elliptischen, auch wol hakenförmigen Köpfchen
und einem fadenförmigen Körper bestehen. Der Faden-
anhang vollführt, solange der Same befruchtungsfähig,
schlängelnde Bewegungen, und die Entwickelung der
Samenkörperchen aus Zellen, sowie die Vergleichung
ihrer Bewegungen mit den schwingenden Bewegungen
der Flimmer- und Geisselzellen lässt sie uns gleich-
falls als modificirte Zellengebilde erkennen.
Der im vorigen Jahrhundert äusserst erregte Streit
zwischen den Evolutionisten und den Epigenesisten hat
nur noch ein historisches Interesse. Jene behaupteten,
dass entweder im Ei oder im Samenkörperchen schon
der ganze künftige Organismus in allen seinen Theilen
vorgebildet sei und es also nur einer Ausbildung der
unendlich fein vorhandenen Organe bedürfe. Die andern,
Befruchtung. Keimbildung. 41
welche den Sieg davon trugen, sahen im Ei das noch
nicht differenzirte Material, welches infolge der Be-
fruchtung sich in die verschiedenen Formelemente und
Organe umzuwandeln habe. Es sind aber kaum zwan-
zig Jahre her, seit der Vorgang der Befruchtung ent-
deckt und nachgewiesen wurde, dass mindestens ein
Samenkörperchen , in der Regel mehrere oder viele in
das Innere des Eies eindringen und sich materiell mit
dem EistofF vereinigen müssen, um eine wirksame
Befruchtung herbeizuführen.
Wir wurden durch den Gang unserer Darstellung
veranlasst, der ungeschlechtlichen die geschlechtliche
Fortpflanzung scharf gegenüberzustellen. Allein auch
hier hat die neuere Zeit eine Reihe ausgleichender und*
vermittelnder Beobachtungen gemacht, welche wir bei
unserer Absicht, die Vorbereitungen zur Abstammungs-
lehre zu treffen und den in der organischen Natur
überall vorhandenen Uebergang nachzuweisen, nicht
ausser Acht lassen dürfen. Es wurden oben solche
Fälle des Generationswechsels gewählt, wo die nicht
Eier und Samen bereitenden Generationen durch äussere
Knospenbildung sich fortpflanzten. Nun ist offenbar
psysiologisch kein grosser Unterschied hiervon, wenn
die Ablagerung des Materials der Nachkommenschaft
nicht nach aussen, sondern in und an bestimmten in-
nern Organen geschieht. Der häufigste Fall dieser
ungeschlechtlichen im Innern des Mutterthieres sich
vollziehenden Vermehrung ist die Keimbildung.
Eins der geläufigsten Beispiele findet im Entwicke-
lungskreise oder dem Generationswechsel der Gattung
Doppelloch (Distomum) der Saugwürmer statt. In der
Leibeshöhle der einen Larvengeneration entstehen Zel-
lenballen, die Keime, die sich zur zweiten Generation,
den Cercarien, entwickeln. Grosses Aufsehen erregte
auch die Entdeckung der Keimbildung der Larven
einiger zweiflügeligen Insekten (Cecidomyia, Miastor).
In der Leibeshöhle der Maden dieser Fliegen entsteht
nämlich eine zweite Generation von Maden, deren
42 Entwickelung unbefruchteter Eier.
Ursprung man anfanglich auf eine reine Keimbil-
dung zurückführte, bis sich ergab, dass diese Keime
aus der, bei vielen Insekten schon sehr früh vorhan-
denen Anlage der Geschlechtsdrüse hervorgingen, also
als unbefruchtete Eier betrachtet werden müssten. Die
zweite Madengeneration lebt auf Kosten ihrer Mutter,
zehrt von deren Fettkörper, vertilgt dann auch die
andern Organe und vom mütterlichen Pelikan bleibt
schliesslich nur die Haut als schützende Hülle der
dann bald durchbrechenden Töchter übrig. Ohne an-
dere Fälle zu erwähnen, bei denen es zweifelhaft sein
kann, ob Keime oder unbefruchtete Eier zur Ent-
wickelung gelangen, wollen wir nur einige von denen
• hervorheben , wo die Entwickelung ohne Befruchtung
völlig sicher gestellt ist. Die Bienenkönigin legt theils
im natürlichen Verlauf ihres Lebens regelmässig eine
Anzahl nicht befruchteter Eier, aus denen die Drohnen,
die männlichen Individuen auskriechen, theils infolge
verschiedener Zufälle, wo die Befruchtung nicht statt-
finden konnte ; und wenn ausnahmsweise Arbeitsbienen,
unvollständig entwickelte weibliche Bienen, welche
nicht befruchtet werden konnten, Eier legen, so geben
diese ebenfalls nur Drohnen. Die höchst interessanten
Versuche v. Siebold's über die Fortpflanzung einer
Wespe, Polistes gallica, haben gezeigt, dass die über-
winterten befruchteten Weibchen, .welche im Frühjahr
eine neue Colonie gründen, Eier absetzen, ausweichen
weibliche Individuen auskriechen, ausnahmsweise Männ-
chen. Diese jungfräuliche Generation erzeugt dann
die Eier, aus denen sich die Männchen entwickeln.
Bei verschiedenen Schmetterlingen kommen umgekelirt
aus den unbefruchteten Eiern nur Weibchen hervor,
ebenso bei verschiedenen niedern Krustenthieren.
Kehren wir nun zur Betrachtung der Entwickelungs-
vorgänge zurück, welche bei der geschlechtlichen Fort-
pflanzung nach stattgehabter Befruchtung sich zeigen.
Allgemein beginnt die Entwickelung mit einem Zellen-
bildungsprocess, der Furchung oder Keimhautbildung,
Furchung. Entwickelung. 43
•
nach dessen Beendigung statt der einen primitiven
Eizelle eine meist grosse Menge von Zellen als das
Material zu Anlage und Aufbau des Embryo vorhan-
den sind. Auch die ohne Befruchtung parthenogene-
tisch sich entwickelnden Eier beginnen die Entwickelung
mit jener Zellenvermehrung, und selbst die Eier der
Thiere, bei denen die Entwickelung nie anders als
nach vorhergegangener Befruchtung stattfindet, zeigen,
wenn sie in einem gewissen Stadium der Reife nicht
zur Befruchtung gelangen, eine unvollkommene Fur-
chung. Bisjetzt ist dieses Verhalten allerdings nur
von den Eiern des Frosches und Huhnes nachgewiesen,
allein diese Fälle sind hinreichend, um die Furchung
des Charakters einer ausschliesslich innerhalb der ge-
schlechtlichen Fortpflanzung auftretenden unvermittelten
Erscheinung zu entkleiden.
Schon ehe die wahrhaft classische und grundlegende
Arbeit C. E.v. Bär'süber die Entwickelungsgeschichte der
Thiere erschien ®, hatte sich , auf unvollständige Beobach-
tungen gestützt , die Ansicht festgesetzt, dass die höhern
Thiere in ihren Entwickelungsstufen die Formen der nie-
drigem durchliefen. Die Naturphilosophie beschränkte
sich dabei nicht blos auf die Grenzen der Typen, blieb
also nicht bei der Annahme stehen, dass der Säuge-
thierembryo hintereinander Fisch, Amphibium und in
gewissem Sinne und nach bestimmter stufenweiser Aus-
bildung der Organe auch Vogel sei, sondern Hess den
Embryo auch die niedrigem Type» wiederholen und
übersteigen. Dieser sich in vagen Analogien bewe-
genden falschen Richtung gebot der oben genannte
grosse Naturforscher ein Halt. Er zeigte, dass aller-
dings eine Menge Uebereinstimmungen zwischen dem
Embryo der höhern Thiere und der bleibenden Form
niederer Thiere sich nachweisen Hessen , dass aber diese >
Aehnlichkeit wesentlich darauf beruhe, dass die Son-
derung der allgemeinen Grundmasse im Embryo der
höhern Thiere noch nicht eingetreten sei und sich im
Fortgange der Entwickelung auf Stufen befinde , w^elche
44 Entwickelungstypen.
für die Reihe der niedern Thiere bleibende seien. Da-
gegen wies er die Behauptung, dass die Embryone
höherer Typen die bleibenden Formen niederer Typen
wirklich durchmachten, entschieden zurück. Er sagte,
der Typus jedes Thieres scheine sich gleich anfangs
im Embryo zu fixiren und die ganze Entwickelung zu
beherrschen. Was im besondern dann die Wirbelthiere
betreffe, so finde man, je weiter man in ihrer Ent-
wickelungsgeschichte zurückgeht, die Embryonen desto
ähnlicher im Ganzen und in den einzelnen Theilen.
„Erst allmählich treten die Charaktere hervor, welche
die grössern, und dann die, welche die kleinern Ab-
theilungen der Wirbelthiere bezeichnen. Aus einem
allgemeinen Typus bildet sich also der specielle hervor."
Bär fand also das Gleichartige nur in den embryo-
nalen Zuständen der verschiedenen Thierformen, musste
aber über die Kreise der Typen hinausgehen, und es
schien ihm wahrscheinlich , dass unter allen Embryonen,
sowol der Wirbelthiere, als der wirbellosen Thiere,
die sich aus einen wahren Eie entwickeln, im eigent-
lichen Keimzustande Uebereinstimmung besteht, zu
einer Zeit, wo der Typus noch nicht aufgetreten. Er
wurde hierdurch zu der Frage geführt: „Ob nicht im
Beginne der Entwickelung alle Thiere im wesentlichen
sich gleich sind, und ob nicht für alle eine gemein-
schaftliche Urform besteht." * „Es Hesse sich", meint
er schliesslich, „nicht ohne Grund behaupten, dass die
einfache Blasen fotm die gemeinschaftliche Grundform
sei , aus der sich alle Thiere nicht nur der Idee nach,
sondern historisch entwickeln."
Nachdem die Schranke , welche man früher zwischen
der ungeschlechtlichen und der durch die Befruchtung
eingeleiteten Vermehrung aufrichten zu müssen glaubte,
als ganz unwesentlich erkannt worden, und alle Ent-
wickelung auf Vermehrung und Umwandlung der pri-
mitiven Keim- oder Eizelle hinausläuft, musste man
im Sinne der altem Forscher die Zelle als die gemein-
schaftliche Grundform betrachten. Wenn aber die
bgtScKS' B mM. die
46 I^ie Gastrula- Larve.
Stufe, welche Haeckel als Gastrulastadium bezeichnet
hat. Unsere Abbildung gibt den Durchschnitt einer
solchen Larve, welche zur Zeit noch nichts andere»
ist als ein mit einer Mundöffnung (Fig. 5. o) versehener
Magen, dessen Wandung aus zwei Schichten oder
Lagen von Zellen besteht. Die äussere Schicht der
Zellen ist von der innern durch die langgestreckte
Form und durch den Besitz der als Bewegungsorgane
dienenden Geissein verschieden. Alle spätere, aller-»
dings hier bei den Schwämmen nicht sehr bedeutende
Ausbildung und Differenzirung lässt sich auf Umände-
rungen dieser beiden Blätter, des Aussenblattes (Ecto-
derm oder Exoderm) und des Innenblattes (Entpderm)
zurückführen. Und dieses Stadium der bewimperten,
zweischichtigen, mit der primitiven Magenhöhle und
dem Munde versehenen Larve findet sich bei den
Cölenteraten , mit geringer Abänderung bei den Stachel-
häutern, bei verschiedenen Würmern, der Sagitta, den
Ascidien und dem Lanzettfisch. Aus der Ueberein-
stimmung aller dieser Thiere und besonders der letztern
werden wir später wichtige Folgerungen machen können.
Legt man aber auf das Vorhandensein der Geissein
der äussern Zellenlage kein Gewicht, wie dies auch
nach dem Verhältniss der Geissei zur Zelle gestattet
ist, und erkennt man als die wesentliche Bedeutung
der Larvenanlage die an , dass aus ihren zwei Blättern
die gesammten Organe ihren Ursprung nehmen, so
schliessen sich den oben genannten Thieren nicht nur
fast die gesammten Gliederthiere , sondern auch die
übrigen Wirbelthiere an, indem bei ihnen unmittelbar
nach Anlage des Eeimstreifens die Spaltung desselben
in zwei Zellenlagen oder Blätter erfolgt. Ueber die
Entstehung des dritten, mittlem Keimblattes und die
Betheiligung der beiden primitiven Blätter an der
Bildung desselben sind die Beobachter nicht einig.
Erst von hier an nimmt die Entwickelung der grossen
' TJiiergruppen eine verschiedene Richtung, und es ist
das unsterbliche Verdienst v. Bär's, diese Entwicke«
48 ' Andere Entwickelungstypen.
•
Im weitern Verlauf der Entwickelung wachsen die
Seitentheile nach dem Rücken zu, in dessen Mitte sie
schliesslich zusammentreffen. Man kann daher mit
Rücksicht auf die Wirhelthiere sagen, dass die Glie-
derthiere den Nahel am Rücken hahen. Umgekehrt
also ist der Entwickelungstypus der Wirhelthiere da-
durch charakterisirt , dass die Keimanlage der Rücken-
seite des Thiers entspricht. Der Anlage der Rücken-
furche, welche sich später zum Rückenmarkskanale
schliesst, indem sie nach und nach von einer sie von
unten her umwachsenden Scheide umgehen wird, folgt
die Anlage querer Platten, der Urwirbelplatten. Die
nach aussen von diesen gelegenen Seitenplatten wach-
sen nach der Bauchseite zu und verwachsen endlich
im Nabel. An der Stelle der aus gesonderten Wir-
beln bestehenden eigentlichen Wirbelsäule befindet sich
ursprünglich immer ein knorpelartiger Strang, die
Rückensaite (chorda dorsalis), und da von dieser Axe
aus die Keimanlage sowol nach oben als nach unten
sich zu Röhren, dem Rückenmark nebst Scheide und
der Bauchhöle mit dem Darmkanale umgestaltet,
so nannte v. Bär diese Entwickelung die doppelt
symmetrische. Die Gliederentwickelung war ihm eine
einfach symmetrische, und. die Entwickelung der Weich-
thiere bezeichnete er als eine massige. Die Berech-
tigung liegt darin, dass den Weichthieren jene durch
die Gliederung hervorgerufene Streckung und über-
haupt die in der Gliederung enthaltene Wiederholung
gleicher Theile und Leibesabschnitte, die Metameren-
bildung nach Haeckel, ganz fremd ist.
Wir müssen nun nochmals darauf zurückkommen,
dass schon die ersten etwas ausgedehnten Beobach-
tungen der E]]ft;wickelungsformen verschiedener Thiere
zu der Wahrnehmung führen, dass die Embryone und
Entwickelungsstufen höherer Thiere vorübergehend in
einer engem Beziehung zu den fertigen und definiti-
ven Zuständen der niedern Thierformen wenigstens
desselben Stammes ständen, woraus sich die bestimmte
Embryonale und systematische Entwickelung. 49
Vorstellung entwickelte , dass der Embryo der hohem
Thiere die bleibenden Formen der niedern Thiere
durchlaufe. Nachdem besonders die deutsche Natur-
philosophie diese Lehre ziemlich phantastisch aus-
gebildet und den Menschen als die Summe aller Thiere
sowol nach Bau als nach Entwickelung proclamirt
hatte, „musste", sagt Bär, „die Lehre von der Ueber-
einstimmung der individuellen Metamorphose mit der
unklaren Metamorphose des ganzen Thierreichs ein be-
sonderes Gewicht erhalten, als durch Rathke's glän-
zende Entdeckung Kiemenspalten in den Embryonen
der Säugethiere und Vögel nachgewiesen und bald
darauf sogar die Gefasse dazu aufgefunden wurden."
Die Uebertreibungen und falschen Schlussfolgen, die
man aus den beobachteten allgemeinen Analogien zog,
bei den unklaren Vorstellungen der über dem Ganzen
schwebenden und die individuelle Entwickelung beherr-
schenden Typen, hat Bär in geistreicher Weise ge-
geisselt. „Um sich zu überz'eugen, dass ein solcher
Zweifel an dieser Lehre nicht ganz ohne Gewicht ist,
denke man sich nur, die Vögel hätten ihre Entwicke-
lungsgeschichte studirt, und sie wären es, welche nun
den Bau des ausgewachsenen Säugethiers und des
Menschen untersuchten. Würden nicht die physiologi-
schen Lehrbücher Folgendes lehren können? 'Jene
vier- und zweibeinigen Thiere haben viele Embryonen-
ähnlichkeit, denn ihre Schädelknochen sind getrennt,
sie haben keinen Schnabel, wie wir in den fünf oder
sechs ersten Tagen der Bebrütung; ihre Extremitäten
sind ziemlich gleich unter sich, wie die unserigen un-
gefähr ebenso lange; nicht eine einzige wahre Feder
sitzt auf ihrem Leibe, sondern nur dünne Federschafte,
sodass wir schon im Neste weiter sind, als sie jemals
kommen; ihre Knochen sind wenig spröde und ent-
halten, wie die unserigen iii der Jugend, gar keine
Luft, überhaupt fehlen ihnen die Luftsäcke und die
Lungen sind nicht angewachsen, wie die unserigen in
frühester Zeit; ein Kropf fehlt ihnen ganz; Vormagen
ScHKiDT, Descendenzlehre. 4
)Lchen köi
wollen höher
IftfälleliEmus der
latischen Reihe,
■ einige leicht
aos den Tau-
..„.System immer
^^ Entwickeluug
*" iebt sich ein
,„— ^.n Mittelmeere
'ffa^idaSm aaBgewach-
^: •^^-
systematische Entwickelung. 51
senen Zustande frei beweglich. Dieser definitiven Aus-
bildung geht eine Stufe der Sesshaftigkeit {Fig. 7)
voraus, während welcher der Körper auf einem Stiele
festsitzt. Das Thier gleicht während der Larvenzeit
den zeitlebens festsitzenden Gattungen, welche nach
allen Regeln der Systematik und nach ihrem geologi-
schen Auftreten einen niedern Bang in der Reihe der
Echinodermen einnehmen. Die Krabben oder kurz-
schwänzigen Krebse erheben sich durch mehrere Kenn-
zeichen über die langschwänzigen , zu welchen der
Flusskrebs gehört. In ihrer Entwickelung gehen sie
durch das Stadium der Langschwänzigkeit, wie die
Larve (Fig, 8) zeigt. Sie werden gerade durch die
Verkümmerung des bei den Langschwänzen als Schwimm-
organ benutzten Schwanzes ^r das Laufen, und einige
unter ihnen für das Leben auf dem Lande geschickter,
indem sie sich gewissermass6n einer Bürde entledigen.
Eine der systematischen Beihen innerhalb der Wirbel-
thiere führt durch die Beptilien zu den Vögeln. Wenn
nun auch die Vögel, wie sich später ergeben wird, in
den ihnen von Bär in den Schnabel gelegten physio-
logischen Betrachtungen mit Unrecht sich ihres Feder-
kleides dem Säugethier und Menschen gegenüber rüh-
men, so haben sie es damit doch weiter gebracht als
die Reptilien, denn die embryonale Anlage der Feder
ist die der Schuppe. Auch das Fussgelenk des Vogel-
embryo, das wir schon oben (S. 9) kennen lernten,
und das sich darin vom Knöchelgelenk der Säuger
und des Menschen unterscheidet, dass es nicht zwischen
Unterschenkel und Fusswurzel, sondern in die Fuss-
wurzel hinein gelegt ist, findet sich in dem embryo-
nalen Zustande, den es beim Vogel schnell durchläuft,
in einem definitiven Zustande beim Reptil. Ob-
wol die Säugethiere nie wirkliche Fische sind, so ist
doch in den embryonalen Stufen ihrer Organe viel
Fischähnliches; die Embryonalspalten am Halse ent-
sprechen den Kiemenspalten; die Anlage des Gehirns
4*
52 Embryonale und systematische Entwickelung.
ist auf das fertige Gehirn der Neunaugen und Haie
zurückzuführen u. s. w. Bär begnügte sich seinerzeit,
um die Lehre, dass der Embryo die ganzen Thierreiche
durchlaufe, zu widerlegen, darauf hinzuweisen, dass er
nie aus einem Typus in den , andern übergehe. Den
andern und wahrscheinlichem Theil der Ansicht, dass
wenigstens innerhalb der Typen die höhern Gruppen
in ihren embryonalen Stadien die bleibenden Formen
der niedern wiederholten, wies er damit zurück, dass
es sich um blosse Analogien handle. Es müsse der
Embryo, da er allmählich durch, fortgehende histo-
logische und morphologische Sonderung sich ausbilde,
in dieser Hinsicht mit weniger entwickelten Thieren
um so mehr übereinstimmen, je jünger er ist. „Sehr
natürlich also, dass der ]^mbryo der Säugethiere dem
der Fische ähnlicher ist, als der Embryo des Fisches
dem Säugethiere. Wenn man nun im Fische nichts
erkennt, als das wenig ausgebildete Säugethier (und
das ist eine unbegründete Annahme), so muss man das
Säugethier für einen höher ausgebildeten Fisch halten,
und dann ist es ganz consequent, zu sagen, der Em-
bryo des Wirbelthieres sei anfangs ein Fisch." ^<^
Wir sind unserm Vorsatz, in diesem Abschnitte nur
Thatsachen beizubringen , etwas untreu geworden. Die
Thatsachen sind zu sehr danach angethan, um Re-
flexionen zu veranlassen ; auch haben wir ja die obigen
Reflexionen nur als geschichtliche Thatsachen wieder-
holt, und wir müssen nun fragen, ob sie uns wirklich
befriedigen können. Ich glaube nicht. Es ist bei
weitem nicht blos allgemeine histologische und mor-
phologische Sonderung, welche die Aehnlichkeit der
höhern unfertigen mit den niedrigem fertigen Formen
hervorruft. Um nur bei dem einen Beispiel stehen
zu bleiben: es ist ganz unbegreiflich, warum die Ge-
hörknochen der Säuger auf dem Umwege der Kiemen-
spalt enbildung ' sich entwickeln, wenn es sich um blosse
histologische und morphologische Sonderung handelte.
Bei der ganzen Klasse der Erscheinungen der unzweck-
Die Vorwelt. 53
massigen und verkümmerten (abortiven) Organe lässt
uns die Erklärung im Stich, und endlich bleibt ja
der „Entwickelungstypus" selbst, wie er die Gruppen
beherrscht, die individuelle Entwickelung leitet, sie
dort mangelhafter, hier vollkommen ausbildet, etwas
Unerklärtes.
IV.
Die Thierwelt in ihrer geschichtlichen, paläontolo-
gischen Entwickelung.
Die Beobachtung, dass die Erdrinde von den tief-
sten Thälern bis auf die höchsten Gipfel der Gebirge
unzählige Thierreste birgt, ist so leicht zu machen,
dass schon das Alterthum darauf kommen musste.
Aber ein paar Jahrtausende vergingen, ehe man zur
richtigen Erkenntniss des Verhältnisses dieser Ueber-
bleibsel zur Jetztwelt kam. Dass es Naturspiele seien,
Producte einer schöpferischen Kraft, die zu keinem
eigentlichen Ziele geführt, sondern gewissermassen als
Vorübungen für die wirkliche Lebensschöpfung anzu-
sehen seien, meinten die einen; die andern hielten die
Versteinerungen zwar für Ueberreste von lebenden
Geschöpfen, aber von solchen, welche noch existirten,
und welche bei Ueberflutungen und nachmaligem Zu-
rückziehen der Meere ihren Untergang gefunden.
Namentlich die Sage von der allgemeinen Sündflut
fand in dieser zweiten Meinung eine mächtige Nahrung.
Erst als zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Schich-
tung der Erdrinde sich der wissenschaftlichen Erkennt-
niss öffnete, nachdem durch Kant und Laplace die
Grundzüge einer Geschichte des^ Sonnensystems und
einer speciellen Erdgeschichte oder Geologie vorge-
zeichnet waren, erst damit trat die Möglichkeit und
Nothwendigkeit einer wirklichen Paläontologie oder
Kunde der vorweltlichen Lebewesen ein. Im Anfang
54 Geologische Formationen.
dieses Jahrhunderts wurde die Entdeckung gemacht,
dass die Versteinerungen, entsprechend der Schichtung
der Erdrinde, in regelmässiger Folge einander ab-
lösen, und dass sie in dieser Folge sowol von der
heutigen Schöpfung als unter einander specifisch ver-
schieden seien.
Wir müssen uns mit der Reihenfolge jener, die Erd-
rinde zusammensetzenden, Blätter bekannt machen. Sie
sind die Fächer, in welchen die Pflanzen und Thier-
reste aufbewahrt lief]fen. Sie zu ordnen war allerdinnjs
nur möglich, indem man sich durch die in ihnen ent-
haltenen Organismen als Merkzeichen (oder Leitmuscheln)
leiten liess. Wir aber nehmen diese Ordnung als etwas
Gegebenes und berücksichtigen für unsere Zwecke
natürlich nur die Schichten und Gesteine, in welchen
Versteinerungen — dieses Wort im allgemeinsten Sinne
gebraucht — enthalten sind oder sein könnten, die-
jenigen nämlich, welche sich als sedimentär, d. h. als
Absatz aus Gewässern erwiesen haben. Unsere Kennt-
niss beschränkt sich auf einen grossen Theil von Eu-
ropa, zahlreiche Districte von Amerika und vereinzelte
Punkte der übrigen Erde.
Die folgende Tabelle gibt, von oben nach unten,
die Gliederung der sedimentären Schichtenreihe:
1) Alluvium.
2) Diluvium.
3) Tertiärformation:
Pliocän,
Miocän,
Eocän.
4) Kreideformation.
Senon,
Turon ,
Kenoman,
Gault ,
Neocom (Wealden).
Alluvium. Diluvium. 55
5) Juraformation:
Oberer, weisser Jura (Malm),
Mittlerer, brauner Jura (Dogger),
Unterer, schwarzer Jura (Lias).
€) Triasformation:
Keuper ,
Muschelkalk ,
Buntsandstein.
7) Permische Formation oder Dyas:
Zechsteingruppe ,
Rothliegendes.
S) Steinkohlenformation:
Eigentliche Steinkohlen ,
Flötzleerer Sandstein,
Kohlenkalk.
9) Devonische Formation.
10) Silurische Formation.
11) Huronische Schieferformation.
12) Laurentische Gneisformation.
Obgleich wir keine Geologie schreiben, wird doch
«ine kurze Erläuterung dieser Schichten nothwendig
sein, da die Art ihrer Entstehung und ihr gegen-
seitiges Verhältniss auch die Beschaffenheit und Ver-
theilung der gleichzeitigen Organismen ins Licht setzt.
Alle Erdverschiebungen, welche wir jetzt durch Regen,
Flüsse und Meer und durch andere Naturgewalten vor
sich gehen sehen, und die seit geschichtlichen Zeiten,
kurz, in der sogenannten Gegenwart stattgefunden
haben, also z. B. die grossen Deltabildungen, die
Moränenablagerungen unserer Gletscher, werden dem
Alluvium zugerechnet. Man glaubte es früher durch
das Auftreten des Menschen gegen das Diluvium
abgrenzen zu können; allein da man weder einst noch
jetzt über diesen Zeitpunkt etwas gewisses sagen konnte
und kann, und da von den Organismen, deren Reste
in den Diluvialschichten vorkommen, ein Theil zwar
56 Tertiärformation. Kreide.
ausgestorben ist, ein grosser Theil aber noch lebt, so
greifen diese beiden Formationen untrennbar inein-
ander. Dem Diluvium gehören die mächtigen Schot-
terablagerungen der grossen Ströme an , die mit Sand-
bänken wechseln, die Lehm- und Lössbildungen als
die Schlammabfuhr der einst periodisch kolossal anwach-
senden fliessenden Gewässer und der Gletscherabflüsse ►
Es fällt nämlich in Europa und Amerika in die Dilu-
vialperiode auch eine, wie es scheint, wiederholte
Yergletscherung von Ländern und halben Welttheilen,
wovon heutzutage Grönland eine Anschauung gibt.
Die Zeit der als Tertiärformation zusammen-
gefassten Schichtenreihe darf als die angesehen werden,
während welcher wenigstens die Skelete der heutigen
Continente ihren wesentlichen Bildungsabschluss er-
reichten. In sie fällt nämlich die Aufrichtung und
Erhebung der grossen Gebirge, der Cordilleren, Alpen,
des Himalaya u. a.; dabei waren die Umrisse der
Ländermassen in fortwährender Bewegung. Doch diese
letztere Erscheinung geht ja doch durch alle Forma-
mationen, und als geologisches Merkmal für die Ter-
tiärformation verdient vielmehr der Beginn der
Sonderung der Erdoberfläche in klimatische Zonen
hervorgehoben zu werden , die sich den jetzigen Zonen
nähern. Die Namen der Unterabtheilungen sollen das
Verhältniss der damals lebenden Thiere zur Jetztwelt
andeuten, indem im Eocän die ersten mit den heutigen
identischen Arten sich finden sollten, mehr im Miocän
und noch mehr im Pliocän. Zur Kreideformation
gehören sehr verschiedenartige Gesteine, die nur nach
ihren Einschlüssen in eine grosse geologische Periode
zu bringen sind. Wenn der Quadersandstein der Säch-
sischen Schweiz für das Centrum von Deutschland die
Formation repräsentirt, so gab ihr die weisse Kreide
von England und Nordfrankreich den Namen. In
Amerika ist der Sandstein vielfach zu losem Sande
zerrieben, und anderwärts sind die Schichten rein
kalkig oder mergelig. "Wie mislich aber die Abgren-
Jura. Trias. • 57
zung der Schichten nach Kaum und besonders n^ch
Zeit ist, mag man danach ermessen, dass wir mit allem
Rechte von der noch immer vor sich gehenden Kreide-
bildung sprechen können, wie die Untersuchungen von
Carpenter und.W. Thompson über die BeschafPenheit
des atlantischen Tiefseebodens gezeigt haben. Der
frühen Kreidezeit gehört eine grössere Süsswasserab-
lagerung , auch durch Hebungen verursachte Brak- und
Sumpfbildung an, die Wealdenformation , welche ein&
Menge Reste von Süsswasser- und Landthieren nebst
eigenthümlicher Kohle enthält.
In sich abgeschlossener erscheinen die Juraschich-
ten, meist regelmässig in deutlichen Absätzen über-
einander gelagert, seltener, wie an den Alpen, durch
spätere Durchbrechungen aufgerichtet. Schon die Ge-
steine an sich verrathen, dass der Absatz in weiten,,
meist ruhigen oder tiefen Meeren stattgefunden, und
diese wird durch die wenigen Pflanzenreste und durch
die Mehrzahl der in kolossalen Mengen sich findenden
Thierreste zur Gewissheit. An der scheinbar sehr
scharfen Abgrenzung der Juraformation nach oben und
unten fand die ältere Geologie mit ihrer Behauptung,
dass verhältnissmässig ruhige längere Perioden mit
alles umstürzenden und neu schaffenden Katastrophen
abgewechselt, eine Hauptstütze. Uebrigens müssen wir,
um einem etwaigen Misverständniss des eben gesagten
vorzubeugen, hinzufügen, dass auch die Juraperiode
schon grössere , reichgegliederte Continente kannte, wie
sich denn auch zeigen wird, dass mit ihr die höhern
Landthiere in die Erscheinung traten.
Einen sehr verschiedenen Charakter untereinander
zeigen die drei grossen Glieder der Trias form ati,on,
wie sie namentlich in Deutschland zur Entwickelung^
gekommen sind. Der deutsche Theil des Keupers muss
nach seinen Einflüssen als eine Strand- und Buchten-
bildung angesehen werden, sein mehrliederiges Aequi-
valent in den Alpen aber als eine mächtige Ablagerung
des hohen Meeres. Auch der in England fehlende
58 I^yas. Kohle.
Muschelkalk mit seinen Steinsalzlagern und reichen
Ueberresten meerbewohnender Organismen ist eine Meer-
bildung. Von der Entstehung des von seiner wech-
selnden Färbung benannten, geschichteten Buntsandsteins
mit den zu ihm gehörigen Thonen, Mergeln und oft
mächtigen Gipseinschlüssen gewinnt man eine Vor-
stellung durch unsere gegenwärtigen sandigen Strand-
und Dünenbildungen. Wie bei diesen hat sich auch
bei der Ablagerung des Buntsandseins sehr spärlich
die Gelegenheit gegeben zum Einschluss thierischer und
pflanzlicher Reste, aber sehr merkwürdige Fussfahrten
haben sich erhalten, wie sie noch heute entstehen und
bewahrt werden können, wenn die in den feuchten '
Sand eingedrückten Formen durch feine thonige Bestand-
theile ausgefüllt werden, welche von einer benachbar-
ten Uferstelle her von einem Sturme aufgewühlt sich
im Wasser vertheilt haben.
Da das verschiedene Aussehen der aufeinander fol-
genden Horizonte der vorweltlichen Pflanzen und Thiere
natürlich ganz wesentlich von der Beschaffenheit ihrer
einstigen Wohnsitze abhängt, wie auch die Beschaffen-
heit der einzelnen Regionen eines jeden Horizontes,
sowie jetzt, bestimmend auf den Charakter der in ihnen
lebenden Organismen wirken musste , so ist der ge-
legentliche Hinweis auf solche das Leben in seiner
Gestaltung und Mannifaltigkeit bedingende Ursachen
hier am Orte. Wir lassen einen Vertreter der Geo-
logie, Credner^^, uns die Verhältnisse der Dyas und
der Kohlenformation schildern, um unsem Einblick
in das Werden der Erdrinde und in die Abhängigkeit
des Organischen von den Gestaltungen des Unorgani-
schen zu vervollständigen: „In Gegenden, wo die
carbonische (Kohlen-) Formation typisch entwickelt ist,
besteht dieselbe aus einem untern kalkigen (Kohlen-
kalk), einem mittlem, conglomeratartigen oder sandigen
{flötzleerer Sandstein) und einem obern, kohlenführen-
den Schichtencomplex , also aus einer marinen, einer
Strand- und einer Sumpf- und Süsswasserbildung. Die
Dyas. Kohle. 59
Ursache dieser Erscheinung kann man sich leicht ver-
gegenwärtigen ; sie beruht auf der säcularen Hebung des
ursprünglichen Meeresgrundes , auf welchem sich anfäng-
lich der marine Kohlenkalk, später , als dieser an den
Meeresspiegel gehoben wurde , das Geröll und der grobe
Sand des Strandes und bei fortgesetzter Hebung die
Producte der Sümpfe, Lagunen und Aestuarien ab-
lagerten. Ereignete es sich nun, dass einzelne von
letztern, also von der productiven Kohlenschichtenreihe
bedeckte Partien des jungen Festlandes von der ent-
gegengesetzten Bewegung ergriffen wurden, also sich
senkten, so mussten sich auf dem allmählich von neuem
zum Meeresgrunde werdenden Boden ganz ähnliche
Gebilde, nur gerade in umgekehrter Reihenfolge ab-
lagern, wie bei dem Emportauchen derselben. Und
in der That zeigen die Theile der Erdoberfläche, wel-
che kurz nach Bildung der productiven Kohlenforma-
tion wieder unter den Meeresspiegel sanken, diese
Erscheinung. In Deutschland und England folgt auf
die productive Kohlengruppe eine Sandstein- und
Conglomerat-, also Strandformation, ganz ähnlich wie
der flötzleere Sandstein und Millstone-grit, welcher
sie unterlagert, und darauf eine Kalkstein-, Dolomit-,
Oipsformation , entsprechend dem untersten Gliede des
carbonischen Systems, dem Kohlenkalke. Dieser Zwei-
theilung wegen, die sich in durchgreifenden paläonto-
logischen und petrographischen Unterschieden äussert,
l)ezeichnet man die derartig entwickelte und geglie-
derte Formation als Dyas. Die einzelnen Stadien die-
ses Cyclus von Vorgängen, aus denen die carbonische
imd dyassische Formation hervorging, sind demnach
(von oben nach unten gelesen) :
60
üebergangs- und Urgebirge.
5) Tiefsee
Marine
Gebilde
Kallcstein
Meeres-
tbiere
ZecbsteiA
1
4) Senkung
Strand-
Conglo-
RotUiegendes
unter das
Meer
gebilde
merate und
Sandstein
' KohlenfAIireii-
des
y Dyas
3;StillstaBd
Sttsswasser-
Kohlen-
TittTttl-
Bothliegendes ,
■
und Sumpf-
fübrende
JJH 11 U-
pflanzen
und
gebilde
Schichten
) ProdnctiTe .
Kohlen-
' formation j
2) Hebung
Strand-
Conglo-
FlStzleerer )
> Carhon.
über das
gebilde
merate und
Sandstein i
Formation.
Meer
Sandstein
Knlm \
1) Tiefsee
Marine
GebUde
Kalkstein
Meeres-
thiere
Kohlenkalk ^
Es wird aus dieser Darstellung auch klar, dass bei
unvollständiger Hebung, wie sie in Nordamerika statt-
gefunden, die Bildung der Mittelperiode gestört wird
oder ganz in Wegfall kommt, und dass es von localen
Ursachen und der Dauer der Oscillationen abhängen
kann, wenn, wie in der der deutschen Dyas entspre-
chenden russischen Permformation die Grenzen der
Unterabtheilungen mehr oder weniger verwischt sind.
Die beiden , über 3000 und 6000 Meter Mächtigkeit
erreichenden Schichtenreihen unter der Steinkohlen-
formation, die devonische und die silurische
Formation, sind die untersten, also die ersten, welche
das Gepräge ihrer Entstehung als Absätze aus dem
Meere deutlich an sich tragen. Man fasste früher beide
Gruppen auch unter dem Namen Uebergangsgebirge
oder Grauwackenformation zusammen. Auch in
ihnen wechseln sandige, thonige und kalkige Gesteine
miteinander ab unter Abänderungserscheinungen schon
localer Natur, aus denen gegen die Periode der Kohlen-
formation hin die ersten Anfange continentaler He-
bungen hervortraten.
Auch die Granite, Gneise und Schiefer, welche als
„Urgebirge" und „primitive Formationen" vor
dem Silur entstanden, sind in ihrer Hauptmasse Sedi-
'Igt«
1
1^ nnr Seethiere,
^k^li und Formeii-
j Vorhandensein
Bc^Histricteu , eine
--'•vr^ssvxx-^mmmm^tis--~~- ^ Ifiliessen müssei),
.Q%iS'iPw^6a'^*"t^8lf'Miüi3':llliDd Tracht der
-■•■'=*='•»*-* -.^.■Äig|«^«en abhängig
itiÄ Neben zahl-
■uai» Formen von
i(gjpn, welche sich
'JM'Cftm noch lebende
■-^^ anachlieaseji,
die ganz ei-
liche Gruppe
ptolitheii
^ welche zwar
S/'MhBB>:i gentlichen Po-
^{g^ind, sich aber
tenannteii Qual-
pen .», nid,-
rSKiireihen dürften
mit den Scblusa
dass damals
>3cbon die £r-
P^ng der höhern
der Cöleu-
der Quallen,
l^rbereitete. Die
ii-tbiere werden
die Trilobi-
•SXFigi.iO. Trilo-
" emipes) reprä-
, eine Krebs-
sr Blattkiemer
fgf näher hat be-
"^ielen Tau sende
dem Silur und
Deine er-
Weichthiere der Uebergangsformation. 63^
halten waren. An diesen Dreilappenkrebsen treten
Kopf, Rumpf und Schwanz, sowie die Dreitheilung in
der Quere deutlich hervor. Die beiden zusammen-
gesetzten Augen weisen auf eine schon hohe Stufe der
Organisation. Die Fähigkeit, sich einzukugeln , welche
sie mit mehreren heutigen im seichten Wasser und am
Strande lebenden Krebsen gemein haben, und ihr gan-
zer Habitus lässt schliessen, dass auch sie Küsten-
bewohner waren. Die Weichthiere waren hauptsächlich
durch Armfüsser und Kopffüsser vertreten. Da
jedoch auch Zweischaler und Gasteropoden da sind,.
so ist das Aussehen jener ältesten bekannten Weich-
thierfauna nur durch das Zahlenverhältniss von der
heutigen verschieden, und durch den allerdings sehr
wesentlichen Umstand , dass von Cephalopoden sich nur
Nautileen fanden. Die Brachiopoden schwellen sehr
bald zu ihrer höchsten Blüte an und haben sich dann
in sehr vermindertem Umfange bis in die Gegenwart
hineingezogen. Von den Muscheln nehmen im Verlaufe
der spätem Periode die Dimyarier die Führung, und
über die Bauchfüsser machen wir nur die Bemerkung,
dass sie in innerer Gliederung und Mannichfaltigkeit
gegen die neuere Periode stetig zunehmen, wie denn
auch die Land- und Süsswasserbewohner unter ihnen
zwar schon vereinzelt aus der Steinkohle genannt wer-
den, aber in Menge und Mannichfaltigkeit erst den
Tertiärzeiten angehören. Den Cephalopoden müssen
wir uns noch wiederholt zuwenden. Von Wirbelthie-
ren aus dem Silur sind nur Reste eigenthümlicher
Fische bekannt, deren Verwandte in den Haien und
Rochen zu suchen.
Im Devon oder dem Zeitalter des obern Ueber-
gangsgebirges hatte die Oberfläche der Erde ein freund-
licheres Aussehen angenommen, wenigstens stellenweise.
Denn von hier sind die ersten Landpflanzen zu ver-
zeichnen. Für den Charakter der Fauna ist die
schnelle Abnahme der Trilobiten bemerkenswerth , das
Auftreten der wichtigen Cephalopodengattung Clymenia,
rücken , vor
Fische, die
der Wirbel-
J'S'i^a Haiea sind
lyyjjy Fisch, des-
'** 'Id talaeoniscus),
ilipQ an; allein
'^erkmale der
■■T«[»«««s — Silurmeere
:iif|jlMlitif"nt'
■lA^Iv • •Aiflj^VHMHi wpBhr günstigen
1 schiefen
in das obere
.ffallend
die verglei-
it, eine Fort-
nicht gerade
!^|«noiden haben
Namen der
.nhäufung der
Calamiten,
'0
Thierwelt der Kohle und Dyas. 65
besonders aber der zwischen den Gefässkryptogamen
xmd Nadelhölzern stehenden Sigillarien und Lepido-
dendren. Sie bildeten tropische Sumpfwaldungen, wie
sie Franz Unger schon vor einigen Jahrzehnten in
einer genialen Composition zu restauriren versucht
hat. In diesen durch Ausdehnung und Ueppigkeit vor
den Anfangen der vorangegangenen Perioden ausge-
zeichneten heissfeuchten Urwäldern treten auch neue
Erscheinungen der Thierwelt auf, Skorpione, Tau-
sendfüsse und Insekten, also luftathmende
Gliederthiere, auch die ersten luftathmenden
Wirbelthiere. Die letztern, die Froschsaurier oder
Labyrinthodonten, haben vornehmlich Amphibien-
charaktere, zeigen z. B. mehrere wichtige Eigenthüm-
lichkeiten des Froschschädels, ihre Hautbedeckung aber
erinnert an den Schuppenpanzer der Echsen: wir fin-
den Charaktere combinirt, die später an verschiedene
Gruppen vertheilt sind. Auch Spuren grosser See-
eidechsen sind da. Diese amphibienartigen Thiere
treten aber hier und auch in der Zechsteinformation
noch sehr zurück gegen den Reichthum an Ganoiden,
der ganz besonders einige Schichten der Zechstein-
formation, z. B. den Kupferschiefer charakterisirt.
Man lässt der Uebersicht halber nicht unpassend mit
dem Zechstein eine grosse Periode der organischen
Entwickelung abschliessen , nennt die Formationsreihe
vom Silur bis einschliesslich Zechstein die paläozoi-
sche und fasst die folgenden, Trias, Jura und Kreide
als mesozoische zusammen.
Verschwunden sind nun die Trilobiten, die Panzer-
ganoiden u. a., und die mächtige Entfaltung der Rep-
tilienwelt gibt dieser mittlem Hauptperiode ihr
Gepräge. Die Trias besitzt noch keine echten Kno-
•chenfische. Noch herrschen die Labyrinthodonten vor,
woneben die schon in der Dyas aufgetretenen Archäo-
saurus und Proterosaurus durch zahlreichere , sich
den echten Reptilien nähernde Formen ersetzt werden.
Ein einziger Fund aus dem Keuper hat uns die
ScBmoT, Detcendenzlehre. 5
%Q Fauna der Jurazeit.
ältesten Spuren eines Säugetliieres, die Zähne
eines raubtbierartigen Beutlers geliefert. Schon aus
dem petrographi^chen Charakter der Juraschichten Hess
sich abnehmen, dass im allgemeinen ihre Zeit der
Entfaltung der Thierwelt bedeutend günstiger gewesen
sein müsse, als die viel unruhigere Triasperiode, oder
dass wenigstens auf eine reichlichere Erhaltung der
organischen Reste gerechnet werden könne, denn die
Juraschichten sind meist ungestört verlaufene Ablage-
rungen. Und so ist es auch. Die bisher fast ohne
Feinde die Meere beherrschenden Haie und Ganoiden
fanden die ihnen überlegenen Gegner in den echten
Meerechsen oder Enaliosauriern, namentlich den
Ichthyosauren und Plesiosauren. Der Kopf ist
eidechsen- und krokodilartig, die Wirbel fischähnlich,
und ihre Extremitäten erinnern ebenfalls, wie Gegen-
baur gezeigt , an die einfachere Klasse der Haie. Auch
lassen ihre versteinerten Kothballen auf eine sehr eigen-
thümliche Beschaffenheit des mittlem Theil es des Darmka-
nals mit völliger Sicherheit schliessen. Sie besassen einen
Spiraldarm , gleich den Haien und verwandten Fischen.
Diese Thiere sind also nicht blos wegen ihrer auf-
fallenden äussern Erscheinung und der ihnen zufallen-
den Rolle im Haushalte der Natur merkwürdig, son-
dern, wie die Froschsaurier, als Mischformen und als
Verbindungsformen der Reptilien und Fische. Ausser
ihnen sind aus der Meeresfauna die massenhaft auf-
tretenden Ammoniten hervorzuheben, neben den^
Nautiliten die zweite Hauptform der ehemaligen Ce-
phalopoden, deren Studium in neuester Zeit zur Ent-
scheidung der wichtigsten Punkte unserer Wissenschaft
sehr wesentlich beitragen zu sollen scheint. Aber
neben ihnen wuchert auch schon die Artenmenge der
aus der Trias stammenden Belemniten auf. Sie sind
die erwiesenen Vorläufer der jetzt das Uebergewicht
habenden zweikiemigen Cephalopoden. Auf den dem
weissen Jura angehörigen Kalkplatten von Eichstädt
und Solnhofen sind auch, die wie Zeichnungen aus-
Fauna der Jurazeit und Kreide. 67
sehenden Abdrücke von Medusen erhalten, welche
zeigen, dass diese Klasse schon damals die noch be-
stehende Ausbildung erreicht hatte.
Auch die Landfauna der Jurazeit ist um neue Ge-
stalten und' Gruppen reicher geworden. Wir finden
die ersten wahren Krokodile, Schildkröten und
die auffallendste Variation des Eidechsentypus, die
Flugechsen oder Pterodaktylen. Man kann aus ihren
wohlerhaltenen Skeleten entnehmen, dass ihre Flughaut
zwischen der vordem und hintern Extremität ausge-
spannt war, hinten ähnlich wie bei Fledermäusen sich
bis zum Fuss erstreckte, vorn aber durch die Verlän-
gerung des kleinen Fingers eine entsprechende Ansatz-
linie erhielt. Auch ein erster und einziger Vogel ist
in den berühmten Lagerstätten der Flugechsen, in den
lithographischen Schilfern von Solnhofen in Baiern
gefunden (Archaeopteiyx lithographica). Die auf-
fallendste Eigenthümlichkeit dieses an den genauesten
Feder ab drücken erkennbaren Vogels ist der lange mit
zwei Reihen steifer Federn besetzte Schwanz. Leider
ist ;der Kopf zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Auch
die oben schon signalisirte niedere Ordnung der Säu-
ger, die Beutelthiere , war da, wie die Funde aus dem
mittlem Jura Englands und dem obern Jura der
Purbekschichten zeigen.
Merkwürdigere Zwischenformen als Archaeopteryx
sind die vogelartigen Thiere der Kreide, welche
durch sanduhrförmige Wirbelkörper sich direct an die
Seesaurier des Jura anschliessen , auch Zähne besitzen,
welche übrigens vielleicht auch dem Archaeopteryx
zukommen. Später mehr von diesen Wesen, welche
eine bisjetzt sehr empfindliche Lücke ausfüllen. Es
fällt in diese neue Periode die grösste Blüte und das
Aussterben der Ammoniten mit vorausgehendem Sta-
dium von Krüppelformen, als welche man die Turri-
lites, Scaphites; Baculites u. a. ansieht. Auch die
Blüte der grossen Seeeidechsen ist vorüber, aber die
Sümpfe der Wealdenzeit beherbergten neue Formen von
5*
68 Historische Entwickelung der Seeigel.
von mächtigen Landeidechsen. Zu den langschwän-
zigen Krebsen treten die Krabben, die am höchsten
entwickelten Formen der Klasse. Auch fällt in Jura
und Kreide die Hauptblüte der seeigelartigen
Echinodermen. Wir haben die Klasse der Stachel-
häuter bisher noch gar nicht erwähnt, um hier im
Zusammenhange einige wichtigere Phasen ihres geolo-
gischen Erscheinens hervorzuheben. Ein ausgezeich-
neter Kenner dieser Klasse, Desor*), hat kürzlich
untersucht, wie in jener grössern Gruppe der Seeigel
sich allmählich der Fortschritt der Organisation geltend
macht, bei welcher Gelegenheit er einige allgemeine
Betrachtungen über das Princip der Vervollkommnung
der in ihren Repräsentanten als Seesterne und Seeigel
unsern Lesern wol allgemein bekannten Stachelhäuter
anzustellen veranlasst war. Wenn sowol das Glieder-
thier, als das Wirbelthier mit dem Ungleichwerden
der hintereinander liegenden Leibesabschnitte eine
höhere Stufe erreichen, so tritt die grössere Einheit
und damit Vervollkommnung des Echinodermenkörpers
ein, indem die Stacheln oder die sogenannten Anti-
meren zurücktreten unter die Einheit des Ganzen.
Je deutlicher diese Elemente,' d. h. je selbständiger
sie bleiben, desto niedriger ist, wie das Gliederthier,
so auch das Echinoderm. Danach nehmen die See-
sterne , theilweise auch die Haarsterne oder Crinoideen,
den untersten Rang ein. Es verlässt uns jedoch auch
leider hier die paläontologische Ueberlieferung. Nur steht
so viel im allgemeinen fest, dass in den altern ver-
steinerungführenden Schichten beide Abtheilungen reich
vertreten sind. Auch eine höchst merkwürdige und
wichtige Zwischenform aus dem obern Silur von Dudley
ist bekannt (Eucladia Johnsoni), um so wichtiger, als
bisher nur wenige üebergangsformen der Ordnungen
ineinander aufgefunden sind. Das Verhältniss der
*) Bulletin de la societe des sciences naturelles de Neuf-
chatel. IX. 2.
Historische Entwickelung der Seeigel. 69
Seesterne zu den Seeigeln ist noch unklar. Dagegen
liegt die Brücke von den Haarsternen zu den Seeigeln
ziemlich deutlich vor. Die eigentlichen Crinoideen sind
festsitzend, und ihnen schliessen sich in der Steinkohlen-
formation die nicht mehr festsitzenden Cystideen und
Blastoideen an, wozu sich die mehr den Seeigeln glei-
chenden Tesselleen gesellen. Nun sind Dyas und Trias
noch arm an echten Seeigeln, sehr reich dagegen der
Jura, und in dieser grossen Periode vollzieht sich
langsam und Schritt für Schritt zu verfolgen vom älte-
sten Juragebilde an, dem Lias, bis zum Korallenkalk
die Umgestaltung der Seeigel zu einer ausserordent-
lichen Mannichfaltigkeit. Anfänglich herrschen die
Cidariden vor; zu ihnen treten im Oolith die Echino-
coniden und Cassiduliden. In den spätem Stufen des
obern Jura ist die schärfere Trennung der Arten das
Charakteristische. Desor weist nach, wie diese Ent-
faltung mit zeitweiligem Stillstande mit der jeweiligen
BeschaflPenheit des Meeresbodens zusammenhängt. „Das
Gesetz des Fortschrittes", sagt er, „zeigt sich in dem
Umstände, dass es die niedrigsten unter den Echini-
den sind, die Regularien und Endocycliken , welche
sich zuerst zeigen, anfangs unter der Gestalt der
Tesselleen , dann unter derjenigen der Cidarideen, wäh-
rend die vollkommensten der Spatangiden, mit am
deutlichsten ausgeprägter zweiseitiger Form, zuletzt
erscheinen. Zwischen diesen Extremen finden wir eine
Menge von Gattungen und Gruppen, die sich vonein-
ander nur durch Nuancen unterscheiden, sodass bei
zwei zusammenhängenden Gattungen es oft schwer, ja
anmöglich ist, anzugeben, welche die vollkommnere.
Die Vervollkommnung zeigt sich erst in der Gesammt-
heit, aber im concreten Falle ist sie meist nicht nach-
zuweisen." Auch noch in der Kreide dominiren die
Seeigel. Einige neuere Entdeckungen seeigelartiger
Thiere mit weich und biegsam bleibenden Hautbildun-
gen bestätigen, was theoretisch höchst wahrscheinlich
war, dass aus ihnen in den neuern Perioden die am
70 Thierwelt der Tertiärzeit.
höchsten stehende Ordnung der Holothurien oder See-
gurken hervorgegangen, und somit fügt sich auch die
Abtheilung der Stachelhäuter der allgemeinen Erfah-
fahrung des Aufsteigens von den niedrigem und in-
differenten zu den höhern Formen.
Mit der Tertiärzeit bricht die noch gegenwärtige
Gestaltung der Dinge hervor. Palmen und Laubhölzer
kennzeichnen die Vegetation. Auch die Thierwelt ist
von den altern Abschnitten der Tertiärperiode an bis
zur Gegenwart im wesentlichen dieselbe geblieben, wie
im Kapitel über die geographische Verbreitung näher
auseinander gesetzt werden soll. Waren es in der
ältesten Formationsreihe die Fische, in der mittlem
die Reptilien, welche aus der Lebewelt als Repräsen-
tanten der höchsten Entwickelung hervortreten, so
überwältigt nun, wo die Continente, freilich noch un-
ter mannichfachen localen Schwankungen, sich der
jetzigen Configuration nähern, der Eindruck der Säuge-
thiere. Unter dem Einfluss von Hebungen und Sen-
kungen, mehreren Eisperioden, dem immer scharfem
Hervortreten der klimatischen Zonen fanden öftere
Dislocirungen innerhalb der Pflanzen- und Thierwelt
statt und Specialisirung und Weiterentwickelung. Wie
erwähnt, wird der Verlauf der Untersuchungen liierauf
zurückführen. Zu der Zeit der Geologie, wo man an
die strenge Trennung der Entwickelungsperioden der
Erde und die scharf geschiedene Aufeinanderfolge
ihrer Zeugen, der Schichtensysteme glß-ubte, stellte man
den Begriff des Fossilen dahin fest, dass, was vor dem
Erscheinen des Menschen an der Sphwelle der Alluvial-
zeit gelebt habe, fossil sei. Es hat sich ergeben, dass
das Dasein des Menschen ein weit älteres, dass Arten
und Geschlechter, welche die Wiege der Menschheit
umgaben, ausgestorben, dass sie also, wie z. B. der
Mammuth, nur für uns, nicht für unsere diluvialen
Vorfahren, fossil sind, während andere zahlreiche
Thierformen, die schon vor dem Menschen existirten,
sich bis in die Gegenwart erhalten haben. Im ganzen
Allgemeiner Charakter der Vorwelt. 71
gehen von der Tertiärperiode an die pflanzenfressenden
•Säugethiere den Fleischfressern voran. Die AiFen er-
scheinen erst kurz vor dem Menschen.
Trotz vieler Lücken des paläontologischen Befundes
ist der Fortschritt in der Entwickelung des Organi-
schen, die Pflanzenwelt eingerechnet, offenbar. Kein
fossiles Thier steht im Widerspruch mit dem System.
Im Gegentheil finden durch die vorweltlichen Thiere
die mannichfachsten Ausgleiche undVermittelungen statt.
Wenn z. B. die heutigen Dickhäuter sich von den
Wiederkäuern scharf abheben, so wird zwischen ihnen
durch die ausgestorbenen Formen eine ununterbrochene
Brücke hergestellt. Wenn uns die Gegenwart nur ein-
zelne zerstreute Gattungen der Zahnlosen zeigt, weist
die Diluvialzeit deren eine ziemliche Fülle in weit
grösserer Formenmannichfaltigkeit auf. Sowol in den
Typen, wie in den Klassenabtheilungen schreitet also
das System von den altern zu den neuern Perioden
fort, wobei die altern Gruppen allmählich anschwellen
und dann abnehmen, indem neuere vollkommnere oder
«pecifischer ausgebildete Formen sich einschieben. Jene
verschwinden entweder ganz oder überdauern die
neuern Perioden bis in die Gegenwart hinein in spär-
lichen Resten. Die Formationen haben zwar meist
ilire charakteristischen Organismen, aber fast überall
sind schon die verbindenden Glieder nachgewiesen.
Alles zeigt darauf hin, dass es sich um Evolution,
nicht um Revolution handelt. Wo scheinbar ein plötz-
licher Abschnitt, Verhaltes sich doch, wie bei den Re-
volutionen der Menschengeschichte, in welchen auch
nur längst vorbereitete, pragmatisch nothwendige Re-
formen zum beschleunigten Durchbruch kommen.
Fasst man das Ergebniss der Yergleichung der fos-
silen Thierwelt mit der lebenden zusammen, so stellt
sich erstens eine Ueb er einst immung zwischen den zeit-
lich aufeinander folgenden Stufen und den jetzt neben-
einander , befindlichen Gliedern des Systems heraus.
Zweitens aber, wenn jenes constatirt ist, folgt von
72 I^ie sogenannten embryonischen
selbst der Parallelismus zwischen der geologischen Auf-
einanderfolge der Thiere und den Stufen der indivi-
duellen Entwickelung der heutigen Thiere. Schon
Agassiz hat in seinem grossen AjTerke über die fossilen
Fische diese Thatsache schlagend hervorgehoben und
sie in seinen spätem Schriften bis zu den Untersuchun-
gen über Entwickelung und Wachsthum der Korallen
durch neuere werthvoUe und überzeugende Beobach-
tungen bestätigt. Dieselben Beispiele, welche im vorher-
gehenden Abschnitt zur Erläuterung des Parallelismuß
der individuellen Entwickelung mit der systematischen
Stufe dienten, können hier wiederholt werden, viele
neuere höchst frappirende haben die speciellen Unter-
suchungen des letzten Jahrzehnts zu Tage gefördert.
Agassiz hat für dieses Verhältniss den Ausdruck
„embryonische Typen" oder „embryonische Repräsen-
tanten" eingeführt. So sind also die gestielten Haar-
sterne embryonische Typen der heutigen Gattung
Comatula, die ältesten Seeigel die embryonischen Ke-
präsentanten der höhern Familien der Clypeastriden
und Spatangoiden , das Mastodon seiner bleibenden
Backzähne halber der embryonische Typus des vor-
übergehend solche Zähne besitzenden Elefanten.
Verbindet man mit dem Worte weiter nichts, als die
unklare Vorstellung „der Thätigkeit eines und dessel-
ben schöpferischen Geistes durch alle Zeiten und über
die ganze Erdoberfläche"^^, so ist damit kaum etwas,
für das Verständniss gewonnen. Lassen wir uns lie-
ber mit Rütimeyer in seinen schönen Untersuchungen
über die fossilen Pferde ^^ durch solche und ähnliche
Thatsachen „auf einen engen Zusammenhang der Ent-
wickelungsstadien des Individuums mit denjenigen der
Species aufmerksam machen", d. h. auf einen natür-
lichen Zusammenhang. Alle, welche durchaus des per-
sönlichen Gottes in der fortlaufenden Schöpfungs-
geschichte bedürfen, ziehen aus jenen Thatsachen
keinen andern Schluss, als dass ihr Gott die Laune
gehabt, anfänglich unvollkommene, später immer voll-
und die prophetischen Typen. 7S
kommnere Organismen hervorzubringen und in der
Entwickelung der letztern Erinnerungen an die vor-
hergehenden anzubringen.
So werthld6 wie die Formel der embryonischen
Typen ist eine andere, welche Agassiz für solche Bil-
dungen erfunden, wo bei einzelnen fossilen Gruppen
mechanische und physiologische Effecte in unvollkomm-
nerer Weise erreicht werden, wofür bei später
auftretenden Organismen durch andere ausreichendere
und vollkommene Einrichtungen gesorgt ist. Es sind
Beine „prophetischen Typen*'. In diesem Verhältnis»
soll z. B. die Flugeidechse (Pterodactylus) zum Vogel
stehen. Dient dieses Wortspiel aber etwa zum Ver-
Btändniss des einen oder des andern? Gibt es über-
haupt irgendeine Aufklärung? Kann man sich irgend
etwas Vernünftiges dabei denken, wenn man im An-
Bchluss an die Prophetie der Flugeidechse, das ihr
geologisch vorangehende Insekt zu ihrem Propheten,
oder den Vogel zum Johannes der Fledermaus macht?
Sinn kommt nur hinein, wo der Prophet zum Stamm-
vater wird, woran in diesen Fällen nicht zu denken.
Nochmals der Wunderstandpunkt und die Natur-
forschung. Schöpfung oder natürliche Entwickelung.
Linn^. Cuvier. Agassiz. Untersuchung des
Artbegriffes.
Das Wunder hör' ich wol, allein mir fehlt der Glaube.
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Mit diesen Worten Faust's wollen wir uns nochmals
ohne Umschweif den Standpunkt des Naturforschers
zu einem Gebiet klar machen, in welchem nicht der
helle Verstand, sondern die durch farbige Gläser
blickende Phantasie, nicht die Logik, sondern die
74 Nochmals das Wunder.
Oedankenwillkür das Scepter führt, worin die Gesetze
der Causalität auf den Kopf gestellt werden, ein Ge-
biet, auf welchem sich zwar noch recht viele unzwei-
felhaft ehrenwerthe Menschen heimisch fühlen, das aber
im besten Falle zur frommen Selbsttäuschung führt
und sehr häufig der Denkträgheit ein Euhekissen be-
reitet. Wir müssen mit aller Schneidigkeit und Rück-
sichtslosigkeit Stellung nehmen, da nach Erörterung
des thatsächlichen Befundes der Thierwelt in den drei
Beziehungen, des jetzigen Bestandes an fertigen For-
men, der Entwickelung der Individuen und der histo-
rischen Aufeinanderfolge während der jungem Perioden
der Erdbildung, nunmehr nach jener an der Oberfläche
bleibenden Arbeit des Registrirens und Referirens die
eigentliche Durchdringung unseres Stoffes beginnen
soll. Dieser Fall tritt aber nur für diejenigen ein,
für welche das Wunder der Schöpfung schlechthin
nicht existirt, wogegen ein Beobachter, welcher auch
nur den Schatten eines Wunders, irgendwelche Yer-
rückung des natürlichen Verlaufes der Dinge für mög-
lich hält, seine Wissenschaft der Biologie mit dem
früher dargelegten und durch unzählige Specialkennt-
nisse erweiterten Wissenswerk als abgethan betrachten
muss. Wir können also nicht anders, als den Spruch
Goethe's: „Der Glaube ist nicht der Anfang, sondern
das Ende alles Wissens" so auslegen, dass der Glaube
sich mit dem Wissen nicht verträgt, und dass mithin
auch der Glaube an eine Schöpfung des Lebendigen
mit der Forschung unverträglich ist.
Wenn aber das Leben nicht auf unbegreifliche Weise
entstanden sein soll, so muss es sich entwickelt haben.
Es. hat lange Jahrzehnte gedauert, ehe dieser Gedanke
mit seinen F^gen durchbrechen konnte, und um die
Hartnäckigkeit zu begreifen, mit der man am Gegen-
theil festhielt und einen Kreis von Anschauungen ein-
wurzeln Hess, deren Bekämpfung erst die moderne
Biologie mit Erfolg unternommen, ist es nöthig, an
einige Hauptmomente der Geschichte der Geologie und
tinne. 75
ihrer Trä§er zu erinnern. Wir werden damit ganz
von selbst an den Punkt geleitet, von wo aus der
Schacht der Erkenntniss geschlagen worden ist.
Die vergleichende Anatomie hat nach der Mitte des
vorigen Jahrhunderts fast unabhängig vom Auslande
der systematischen Zoologie einen sehr glücklichen An-
lauf genommen und war weit ideenreicher, als jene
beschreibende Naturgeschichte. Nur einen Satz der
letztern nahm sie unbesehen hin, den von der Festig-
keit und UnVeränderlichkeit der Art, und dieser Satz
bildet den Mittelpunkt der Anschauungen Linne's. Die
Autorität und lange dauernde Herrschaft dieses grossen
Naturbeschreibers wird uns nur verständlich durch die
Zuversicht und den Lapidarstil, sowie die Handlichkeit
seiner Diagnosen, wodurch er der völligen Zerfahren-
heit der Naturgeschichte mit einem Schlage ein Ende
machte und der Mit- und Nachwelt als ein Gesetzgeber
erschien. Das Hervorheben der Art als der Grund-
lage alles systematischen Verständnisses war noch nie
so nachdrücklich geschehen. Seine Ansicht gipfelt in
dem Satze ^*: „Die Vernunft lehrt, dass bei Beginn
der Dinge von jeder besondern Art ein Paar geschaffen
sei." Mit dieser Vernunft sieht es jedoch bei Linne
sehr eigenthümlich aus, indem sie dem strengsten
Bibelglauben unterworfen ist, und mit diesem Stand-
punkt sucht er seine geologischen Vorstellungen in
üebereinstimmung zu bringen. Ihm war besonders ein
wirkungsvolles geologisches Phänomen auffallend, die
Hebung eines grossen Theils der skandinavischen Kü-
sten. Sie geht schneller vor sich, als die Senkung
eines andern Theiles, ihre Erscheinungen sind viel
mächtiger, und so konnte sich die Vorstellung bilden,
als ob das Festland in regelmässiger Zunahme nach
und nach aus dem Meere gestiegen sei. „Ich glaube
nicht sehr von der Wahrheit abzuirren", sagt er, „wenn
ich behaupte, dass alles Festland während der Kind-
heit der Erde unter Wasser getaucht und von einem
ungeheuren Ocean bedeckt war, ausser einer einzigen
76 Linne. Cuvier.
Insel in diesem unermesslichen Meere, worauf alle
Thiere wohnten und die Pflanzen freudig sprossten." ^*
Dass auch alle Pflanzenärten in diesem liehlichen Gar-
ten sich befunden haben müssen, gehe daraus hervor,
dass ausdrücklich gesagt sei, Adam habe alle Thiere
benannt; folglich müssten auch alle Insekten im Para-
diese versammelt gewesen sein, die Insekten aber ohne
die Pflanzen seien gar nicht zn denken. Linne macht
dann den ersten thier-geographischen Versuch, indem
er von diesem Mittelpunkt aus die Thiere sich ver-
breiten lässt. Die Summe seiner Ansicht über den
Artbegriff ist aber immer: „Wir zählen so viele Arten,
als das unendliche Wesen im Anfang der Dinge er-
schuf*^'; und seine Autorität war so gewaltig, das»
das Zeitalter Voltaire's und Diderot's dieses offenbare
Dogma gläubig hinnahm und als einen Satz, der über-
haupt gar nicht bezweifelt werden könnte, den Nach-
kommen überlieferte.
Indessen war Linne so wenig Anatom, däss es nach
dieser Seite einer völligen Neubegründung der Zoolo-
gie bedurfte, und als ein ßolcher zweiter Linne trat
Cuvier auf.*' Seine Schule nennt sich die Schule der
Thatsachen, doch war er keineswegs ohne philosophi-
schen Anstrich. Im Gegentheil musste die bestimmte
und einfache Art seiner Principien und Abstractionen
imponiren. Die Summe seiner Beobachtungen fasste
er als „Gesetze der Organisation" zusammen, und er
wendete die teleologische Betrachtungsweise, dsks prin-
cipe des causes finales , höchst fruchtbar auf die Er-
kenntniss und Wiederherstellung vorweltlicher Thiere
an. Die Frage nach der Beständigkeit oder Verän-
derlichkeit der Arten klopfte sehr vornehmlich an
seine Thüre. Eine äussere Veranlassung dazu gab die
ägyptische Expedition und die Untersuchung der mu-
mificirten Thiere. Etienne Geoffroy Saint Hilaire und
Lamark griffen die Artbeständigkeit an und meinten,
dass die ägyptische Periode viel zu kurz sei , um aus
der Gleichheit der Mumien mit den jetzt lebenden
Cuvier. 77
Arten, zumal bei der Stabilität der äussern Verhält-
nisse, auf die Gültigkeit des Satzes von der Unverän-
derlichkeit der Art schliessen zu können, allein die
Frage ward von der Cuvier'schen herrschenden Schule
barsch abgethan und todtgeschwiegen. Indessen ver-
mehrte Cuvier nicht blos den Haufen der Thatsachen,
sondern, wie wir oben angedeutet, gruppirte sie mit
philosophischem Geschick so glücklich, dass er aller-
dings seinem bewussten Ziele, dem natürlichen Systeme,
sich näherte. Er lieferte den ersten sichern Nachweis
untergegangener Thierarten. Hinsichtlich der Ent-
stehung der in den nachfolgenden Perioden an ihre
Stelle getretenen war er nicht unbedingt, wie man
gewöhnlich annimmt, für Neuschöpfung, sondern er
enthielt sich einer bestimmten Ansicht. „Ich will
nicht gerade behaupten", sagt er^^ „dass es zur Her-
vorbringung der heutigen Thiere einer Neuschöpfung
bedurft habe, ich sage nur, sie lebten nicht an der-
selben Stelle und mussten anderswoher kommen."
Geoffroy dagegen zweifelt nicht, dass die jetzt leben-
den Thiere in einer ununterbrochenen Reihenfolge von
Generationen von den untergegangenen Geschlechtern
der Vorwelt herstammen.
In der Art Cuvier's lag die Gefahr eines natur-
wissenschaftlichen Dogmatismus, und darum wird es
gerechtfertigt sein, hier auf einen noch lebenden un-
mittelbaren Schüler Guvier^s hinzuweisen, auf Louis
Agassiz, der in der starrsten lehrhaften Weise an den
systematischen Kategorien festhält und sie als „ver-
körperte Schöpfungsgedanken" in schön klingende De-
finitionen kleidet. ^' Nach ihm gehören die Arten
einer gegebenen Periode der Erdgeschichte an und
haben bestimmte Beziehungen zu den während dieser
Zeit vorherrschenden physikalischen Verhältnissen, sowie
zu den gleichzeitigen Pflanzen und Thieren. Die Spe-
cies sind begründet auf wohl bestimmte Beziehungen
von Individuen zur umgebenden Natur und zu ihrer
Verwandtschaft, auf die Proportionen und Beziehungen
78 Agassiz' systematische Formeln.
ihrer Theile zueinander und auf ihre Ornamentation.
Die Individuen, als die Repräsentanten der Arten^
stehen in den engsten Verhältnissen zueinander. Sie
zeigen bestimmte Verhältnisse zu den umgebenden
Elementen und ihr Sein ist innerhalb einer gewissen
Periode begrenzt. Von der Gattung heisst es: „Gat-
tungen sind« aufs engste miteinander verbundene Grup-
pen von Thieren, welche weder in der Form noch in
der Zusammensetzung ihres Baues voneinander ab-
weichen, sondern einfach in den letzten Structureigen-
thümlichkeiten einzelner ihrer Theile." yj)ie Individuen
als Repräsentanten von Gattungen haben einen be-
stimmten und specifischen feinsten Bau, identisch mit
dem der Repräsentanten anderer Arten." Wir können
diese Definitionen nur für Phrasen erklären und fragen
mit Haeckel: „Welcher Art sind denn diese «letzten
Structureigenthümlichkeiten einiger ihrer Theile», wel-
che allein das Genus als solches bestimmen sollen,
und welche jedem Genus ausschliesslich eigenthümlich
sein sollen? Wir fragen jeden Systematiker, ob er
nicht ganz ebenso gut diese Bestimmung auf Species,
Varietäten u. s. w. wird anwenden wollen, ob es
schliesslich nicht auch «letzte Structureigenthümlich-
keiten einzelner Theile» sind, welche die für die Spe-
cies, für die Varietät u. s. w. charakteristische Forni
hervorbringen." Vergeblich suchen wir in dem Essay
on Classification nach einem einzigen Beispiele, wie
etwa die Ochsen- und die Antilopengattung, das Hunde-
und das Hyänengeschlecht, die beiden grossen Gattun-
gen unserer Süsswassermuscheln , Unio und Anodonta^
sich in the ulUmate structural pecularities of some
of ihdr parts denn eigentlich unterscheiden. Mehrere
dieser von Agassiz gegebenen Definitionen kann man
geradezu miteinander vertauschen, so allgemein ge-
halten und nichtssagend sind sie. Die Klassen charak-
terisirt er „durch die Art, wie der Plan des Typus
ausgeführt ist, so weit man dabei Wege und Mittel
berücksichtigt", die Ordnungen „durch den Grad der
Agassiz' systematische Formeln. 79
Zusammengesetztheit der Structur der Typen." Diese
Phrasen lassen sich ohne weiteres eine durch die an-
dere ersetzen, sie machen aber, wie die ganze Dog-
matik, grossen Eindruck bei denen, welche wegen
Unkenntniss der Thatsachen nicht selbst Kritik üben
können, und werden daher mit Vorliebe citirt, um
die ungläubige Naturforschung mit der gläubigen zu
widerlegen.
Man sollte meinen, wenn die Sache so einfach läge,
und die systematischen Begriffe so fest ständen , das»
nichts leichter wäre, als das System aufzustellen. Und
das behauptet auch Agassiz. Er sagt, wenn von einer
grossen Thiergruppe auch nur eine einzige Art vor-
handen und der Untersuchung zugänglich sei, so könnte
man danach die Typus-, Klassen-, Familien-, Gattungs-
und Speciescharaktere bestimmen, nur die Ordnung
Hesse sich nicht ableiten. Die Hinfälligkeit dieser und
ähnlicher Behauptungen lässt sich am besten nach-
weisen durch Untersuchung des Fundaments aller dog-
matischen Systematik, der „Art". Ist dieser Begriff
ein wandelbarer, ist die jirt nicht etwas ein für alle-
mal Gegebenes, sondern nach Zeit und Umständen
Wechselndes, so richtet sich auch der Inhalt der hohem,,
allgemeinern Begriffe von Gattung, Familien u. s. w.
hiernach. Die schärfste und consequenteste Kritik über
den eingewurzelten Schulbegriff der „Art" ist von
Haeckel geübt worden^®, nachdem schon Darwin in
seinem classischen Werke über die Entstehung der
Artön die alte Lehre und Praxis der Zoologie und
Botanik in ihrer ganzen Blosse gezeigt. Im Folgenden
halten wir uns an Haeckel.
Wir haben oben gesehen, dass Linne die Schöpfung
als biblische unumstössliche Lehre hinnahm, und es ist
geradezu komisch, wenn heute noch eine Menge Natur-
forscher auf dieses Dogma schwören, welche über alle
andern Dogmen längst hinaus sind. Da also in der
Bibel von der Schöpfung der Arten die Rede, so
wurde diese Sage zum Fundament der Wissenschaft
90 Der Artbegriff.
gemacht. Heute ist die ~ Zähl derer allerdings klein,
welche sich auf die biblische Aussage berufen. Viel-
mehr meinen diejenigen, welche die Stabilität der Art
verfechten, mit Cuvier die Thatsachen zu ihren Gun-
sten deuten zu dürfen, wobei sie theils unbewusst in
dem ererbten Vorurtheil befangen bleiben, theils mit
allerlei Kniffen das klare Gegentheil der ünveränder-
lichkeit nicht sehen wollen. Indem Linne auf die
Schöpfung zurückwies, rechnete er die Individuen zu
einer Art, deren Stammbaum in directer Linie auf
das aus der Hand des Schöpfers hervorgegangene Paar
zurückführe. Eine Untersuchung dieses Stammbaums
war seinerzeit einmal nach dem ganzen Stande der
wissenschaftlichen Mittel nicht möglich, aber bei dem
strengen Anlehnen an die heilige üeberlieferung auch
kaum nothwendig. Cuvier, obgleich ein sehr unbe-
fangener und kühler Beobachter, nahm doch im Grunde
die Linne^sche Definition der Art an. Nach ihm ist
die Art „die Vereinigung der voneinander und von
gemeinschaftlichen Aeltern abstammenden Individuen,
und derjenigen, die ihnen ebenso ähnlich sind, als sie
sich untereinander gleichen."*^ „In dieser Bestim-
mung", sagt Haeckel, an welche sich die meisten spä-
tem mehr oder minder eng anschliessen , wird offenbar
'zweierlei für die zu einer Species gehörigen Individuen
verlangt: erstens nämlich ein gewisser Grad von Aehn-
lichkeit oder annähernde Gleichheit der Charaktere,
und zweitens ein verwandtschaftlicher Zusammenhang
durch das Band gemeinsamer Abstammung. Von den
spätem Autoren ist bei den zahlreichen Versuchen,
die Definition zu vervollkommnen, bald mehr auf die
genealogische Blutsverwandtschaft aller Individuen einer
Art, bald mehr auf ihre morphologische Uebereinstim-
mung in allen wesentlichen Charakteren Rücksicht ge-
nommen werden. Im allgemeinen kann man aber
behaupten, dass bei der praktischen Anwendung des
Artbegriffes, bei der Unterscheidung und Benennung
•der einzelnen Species, fast immer nur das letztere
Der Artbegriff. 81
Moment zur Geltung gelangte, das erstere dagegen
ganz vernachlässigt wurde. Späterhin wurde zwar die
genealogische Vorstellung von der gemeinsamen Ab-
stammung aller Individuen einer Art noch durch
die physiologische Bestimmung ergänzt, dass alle In-
dividuen einer Art miteinander fruchtbare Nachkom-
menschaft erzeugen könnten, während die sexuelle
Yermischung von Individuen verschiedener Arten gar
keine oder nur eine unfruchtbare Nachkommenschaft
lieferte. Indessen war man in der systematischen Praxis
allgemein vollkommen zufrieden, wenn man bei einer
untersuchten Anzahl höchst ähnlicher Individuen die
Uebereinstimmung in allen wesentlichen Charakteren
festgestellt hatte, und frug nicht weiter danach, ob
diese zu einer Art gerechneten Individuen in der That
gemeinsamen Ursprungs und fähig seien , bei der Be-
gattung miteinander eine fruchtbare Nachkommenschaft
zu erzeugen. Vielmehr kam die physiologische Be-
stimmung natürlicherweise bei der praktischen Unter-
scheidung der Thier- und Pflanzenarten ebenso wenig
in Anwendung, als die vorausgesetzte gemeinsame Ab-
stammung von eineiti und demselben Aelternpaare.
Andererseits unterschied man ohne Bedenken zwei
nächstverwandte Formen als zwei verschiedene 'gute
Arten', sobald man bei einer untersuchten Anzahl von
ähnlichen Individuen eine constante Differenz, wenn
auch nur in einem verhältnissmässig untergeordneten
Charakter nachgewiesen hatte. Auch hier kümmerte
man sich nicht darum, ob die beiden verschiedenen
Beihen wirklich nicht von gemeinsamen Vorältern ab-
stammten und wirklich miteinander keine oder doch
nur unfruchtbare Bastarde zeugen könnten."
• Dass diese gründliche Verurtheilung der nachlinnei-
schen Speciesmacherei nicht zu hart, geht daraus un-
ter anderm hervor, dass innerhalb der Zunft die
allergrösste Uneinigkeit über die Begrenzung der Spe-
cies herrschte und bis heute herrscht , däss man sich
über das Fundament der Speciesbeschreibung , die
ScHKiDT, Desoendenzlehre. Q
82 I^er Artbegriff.
„wesentlichen Merkmale" durchaus nicht verständigen
kann. Wenn auch Agassiz das Recept für die Speciea
aufstellt, so ist doch in jedem einzelnen Falle über
die Verhältnisse der Theile, die Omamentation u. a.
zu entscheiden. Da man, ohne Vogelbälge, Schnecken-
häuser, Schmetterlinge u. s. w. vor sich zu haben,
nicht von vornherein angeben kann, was die „wesent-
lichen Merkmale" der daraus zu machenden Arten seien,
so ist, wenn es an die Aufstellung der Arten gehen
soll, der subjectiven Ansicht und der reinen Willkür
der grösste Spielraum gelassen, und es gibt nicht
zwei Autoritäten unter den Systematikern innerhalb
eines gewissen, nach seinen Formen wohlbekannten
Gebietes, die über die Zahl der Arten, in welche sie
das vorliegende Material eintheilen sollen, einig wären.
Die völligste Zügellosigkeit in der Artmacherei hat
aber einige Jahrzehnte hindurch bei den Paläontologen
geherrscht, wo aus dem Bestreben, die Unter ab thei-
lungen der geologischen Schichten durch ihre organi-
schen Einschlüsse möglichst sicher zu stellen, die Art-
spaltung nach den kleinlichsten, oft nur individuellen
Abweichungen bis in das Unglaubliche gegangen. Eine
gewisse Veränderlichkeit der Arten musste sich zwar
auch dem blödesten Auge aufdringen; man zweigte
Unterarten und Spielarten , Varietäten ab , welche man
nach „minder wesentlichen", durch Klima und Züch-
tung erworbenen Merkmalen charakterisirte , mit dem
Vorbehalt, dass ihre Kreuzungen untereinander und
mit der Hauptart fruchtbare Nachkommenschaft her-
vorbrächten, während sie gegen andere Arten sich wie
die Hauptart verhielten. Natürlich war das subjective
Urtheil bei dieser Trennung der Art in die Unterarten
noch weniger als bei der Artbeschreibung an Tradi-
tion und Gesetz gebunden. Die ornithologische Lite-
ratur der lezten vierzig Jahre dürfte von der hiermit
eingerissenen babylonischen Verwirrung die geeignetsten
Tausende von Beispielen geben.
Es soll nun durchaus nicht in Abrede gestellt werden.
Der Artbegriff. 83^
dass ein grosser, vielleicht der grösste Theil der jetzt
existirenden Organismen für die Naturbeschreibung
sich in einem Zustande befindet, wonach sie als so-
genannte Arten in ihren äussern und innern Verhält-
nissen charakterisirt werden können und behufs der
Wiedererkennung und überhaupt der wissenschaftlichen
Behandlung gekennzeichnet werden müssen. Diese
Stabilität ist aber, wie sich theils direct, theils nach
Analogien zeigen lässt, unter allen Umständen nur
eine zeitliche, und wir haben ganze Klassen von Or-
ganismen, auf welche der alte Artbegriff mit seiner
Constanz der wesentlichen Merkmale sich auch mit
dem weitesten Vorbehalte nicht anwenden lässt. Kön-
nen wir den Beweis unwiderleglich führen, dass solche
artlose Gruppen existiren, so ist mit der alten Syste-
matik und dem Speciesdogma ein für allemal auf-
geräumt und das positive Fundament einer neuen Lehre
gewonnen. Dieser Beweis ist geführt in zwei
Richtungen. Einige Klassen von Organismen befinden
sich in ihrem gegenwärtigen Zustande in einem solchen
Schwanken und Fliessen der Formen, dass „Artkenn-
zeichen" und „Gattungskennzeichen" überhaupt nicht
festzuhalten sind. Sie befinden sich in einem extre-
men Grade der Veränderlichkeit, welche bei andern
einer scheinbaren Ruhe gewichen ist. Andere Reihen
von Thatsachen der offenbarsten Artveränderlichkeit
zeigen gewisse vorweltliche Gruppen in der Aufein-
anderfolge der „Arten" genannten Formen.
Schon vor dem Erscheinen von Darwin's Werk über
die Entstehung der Arten war der Physiolog und Zoo-
log Carpenter in London durch seine Untersuchungen
der Foraiainiferen zu dem im Einzelnen nachge-
wiesenen Resultate gekommen, dass in dieser Gruppe
niedriger Organismen, welche äusserst zierliche Kalk-
gehäuse absondern, nicht von „Arten", sondern nur
von „Formenreihen" die Rede sein könne. Formen,
welche die Systematiker in verschiedene Gattungen
und Familien gebracht, sah er sich auseinander ent-
6*
84 Fennenreihen.
wickeln. Indessen sind diese Foraminiferen voü so
einfachem Bau, man kennt ihre individuelle Entwicko-
lungsgeschichte oder Ontogenie noch so wenig, sie bieten
so wenig mikroskopisches Detail zur Controle der Art-
Umwandlung, dass den Vertheidigern der Artconstanz
allenfalls die Ausflucht geblieben wäre, die Formen-
reihen von Carpenter seien Varietäten und bewiesen
nur, dass man die wahren „Arten" noch nicht gefun-
den. Da ist denn nun die Klasse der Schwämme oder
Spongien hülfreich eingetreten, auf deren Wichtig-
keit in der Artfrage zuerst ich hingewiesen habe. *^
Es handelt sich bei ihnen, so fasste ich meine Unter-
suchungen zusammen, nicht blos, wie bei den Fora-
miniferen, um den allgemeinen Habitus der Form, um
die variable Gruppirung der Kammersysteme, sondern
die Variabilität ist an dem mikroskopischen Detail
ebenso und noch specieller vorhanden, als an den
gröbern Bestandtheilen. Bei den Foraminiferen kann
man wol von mikroskopischen Formen, aber nicht
eigentlich von mikroskopischen Bestandtheilen sprechen.
In den Spongien aber belatischen wir die Umbildung
der feinern Formbestandtheile , der Elementarorgane,
und dadurch wird die Wandelbarkeit des Ganzen so
durchsichtig. Es verhalten sich in dieser Beziehung
die Kalkschwämme etwas anders, als die übrigen, und
besonders die Kieselschwämme. Bei jenen ist die Va-
riabilität der mikroskopischen Theile auf einen klei-
nern Formenkreis beschränkt, dafür aber der Habitus
der Individuenreihen von einer ganz unglaublichen
Biegsamkeit. Wir vermissen nun zwar diese Biegsam-
keit des Gesammtkörpers auch nicht bei den Kiesel-
spongien, wir sehen z. B. bei der Gattung Tedania,
von Gray zusammengestellt aus einigen meiner frühern
Renieren, wie deren eigensinnig zusammenhaltende
Nadelformen von Triest bis Florida und Island unter
den verschiedenartigsten Verkleidungen auftreten. Die
eine dieser Nadeln neigt aber in einigen Varietäten
schon zu Abschweifungen. Und gerade dieser Punkt,
Formenreihen der Spongien. 85
die bis ins Einzelne zu verfolgenden Umwandlungen
derjenigen Organe, welche als vermeintlich stabil der
Systematik die wesentlichste Grundlage zur Aufstellung
der Gattungen und Arten zu bieten schienen, macht
die Untersuchung besonders anziehend. Schon in den
algierischen Spongien habe ich frappante Beispiele
gebracht. Diese häufen sich in dem Masse, als der
Gesichtskreis sich erweitert. Schritt für Schritt machen
wir die Wahrnehmung, dass auf kein „Merkmal" ein
leidlicher Verlass ist, dass bei einiger Constanz der
mikroskopischen Bestandtheile die äussere Körperform
mit ihren groben Kennzeichen weit über die Grenzen
der sogenannten Arten und Gattungen hinaus abändert,
bei gleichem äussern Habitus aber die , wie wir glaub-
ten, specifischen innern Theilchen uns gleichsam unter
der Hand zu andern werden. „Wer bei den Spongien",
so schliesst jener Abschnitt aus meinem Werk über
die atlantische Spongienfauna , „sein Hauptgeschäftt
auf die Species- und Gattungsmacherei verlegt, wird
ad absurdum geführt, wie Haeckel in seinem Prodro-
mus zur Monographie der Kalkschwämme mit köstlicher
Ironie gezeigt.
Während ich mich in meinen speciellen Untersuchun-
gen im wesentlichen auf die Kieselschwämme beschränkte
und den, bisher von den sonst so lauten Gegnern der
Artconstanz unangetasteten Beweis durch Tausende von
mikroskopischen Beobachtungeij , durch Messungen,
Zeichnungen, durch Thatsachen und Schlüsse geführt,
dass bei ihnen Arten und Gattungen, mithin feste
systematische Einheiten überhaupt nicht existiren, hat
Haeckel mit unerreichter Meisterschaft die andere Ab-
theilung der Klasse, die Kalkschwämme, monogra-
phisch bearbeitet. ^^ Er konnte nicht nur meine Aus-
führungen bestätigen, sondern bei dem geringern Umfange
und der grössern Uebersichtlichkeit der zum Studium
gewählten Gruppe mit grösserer Consequenz und Lücken-
losigkeit von der Detailbeobachtung zum Ganzen
fortschreiten, Morphologie, Physiologie und Entwicke-
86 Artveränderung in der Zeit.
lungsgeschichte in möglichster Vollendung darstellen
und den Männern des Stillstandes den Handschuh hin-
' werfen, dass man je nach subjectiver Ansicht eine oder
591 Species der Kalkschwämme annehmen könne, „dass
eine absolute Species überhaupt nicht existirt, und
dass Species und Varietät nicht scharf zu trennen sind."
Wer nach diesen Darlegungen auf dem Hirngespinst
der Species beharrt, ohne entweder zu beweisen, dass
die Thatsachen falsch beobachtet sind, oder dass sie
anders und zu Gunsten der Stabilität der Art aus-
gelegt werden müssen, wer, wie Agassiz in neuester
Zeit, ohne von solchen Untersuchungen Notiz zu neh-
men, öffentlich versichert, man habe noch in keinem
einzigen Falle die Veränderlichkeit einer Art gezeigt,
hat kaum noch das Recht, an dem grossen, die Natur-
wissenschaft bewegenden Streite sich zu betheiligen.
Nun gibt es aber, wie oben erwähnt, noch eine
zweite Richtung, in welcher die Beweglichkeit der
„Art" nachgewiesen werden muss, nicht die Richtung
in die Breite, sondern in die Höhe und Tiefe. Jene
Veränderlichkeit der Schwämme liefert den höchst
wichtigen Nachweiss, dass, um mich so auszudrücken,
eine ganze Klasse gegenwärtig eine verhältnissmässige
Ruhe noch nicht gefunden hat. Man verlangt aber
mit Recht zur Constatirung der Artveränderlichkeit
den Nachweis der Veränderlichkeit im Laufe der Zeit,
des Ueberganges der sich in den Erdschichten histo-
risch folgenden Formen. Ein höchst lehrreiches Bei-
spiel der im Verlaufe der Zeit eintretenden Artver-
änderung, welche man allenfalls in die Grenzen der
Varietäten bannen kann, bietet die in dem Süsswasser-
kalk von Steinheim in Würtemberg vorkommende
Tellerschnecke (Planorbis multiformis). Die Ablage-
rung, aus der Tertiärzeit stammend, enthält die Ueber-
reste eines kleinen Landsees und kann in etwa 40
petrographisch zu unterscheidende Schichten getheilt
werden. „In der gesammten Schichtenfolge", sagt
Hilgendorf^*, „vertheilen sich die Varietäten des Pia-
ArtveränderuDg in der Zeit. 87
norbis multiformis in der Weise, dass einzelne Schich-
ten als Schichtenfolgen durch das ausschliessliche Vor-
kommen oder durch Vorherrschen einzelner oder mehrerer
Varietäten charakterisirt werden, welche sich innerhalb
der Schicht constant oder wenig variirend verhalten,
zur Grenze gegen die folgende Schicht aber durch
Uebergänge zu den nachfolgenden Formen herüber-
führen. — Die Zwischenschichten liefern den Beweis,
dass die andern Formen durch allmähliche Umbildung
aus den frühern entstanden sind; sie machen es ferner
möglich. Form an Form zu reihen und die Entwicke-
lung nach abwärts zu verfolgen; dort zeigt sich
denn, dass, was oben deutlich getrennt er-
schien, unten zusammenf liesst. So entsteht
ein Stammbaum, der mit Haupt- und Neben-
ästen reichlich ausgestattet ist." Die Formen
gehen so auseinander und sind in den, die Zeiten der
Ruhe verrathenden Hauptzonen so constant, dass man
nach alter conchyliologischer Praxis sie unbedingt als
Arten in Anspruch nehmen würde, wenn nicht eben
die verbindenden Glieder zu deutlich und das Terrain'
zu beschränkt wäre, und wenn man nicht den geolo-
gischen, jedenfalls doch nach Jahrtausenden zu berech-
nenden Zeitraum für zu gering ansähe.
Was aber der Steinheimer Fall im Kleinen zeigt, ist
während der grossen geologischen Periode im Grossen
vor sich gegangen, und der Eifer einiger Paläontolo-
gen, wie Waagen, Zittel, Neumayr^ Würtenberger ^*,
hat den Erfolg gehabt, dass wenigstens für die so
wichtige Abtheilung der Ammoniten die Unmöglichkeit,
sie in „Arten" zu trennen, bewiesen ist. Die Studien
über Ammoniten haben gezeigt, dass aus den fossilen
Resten wichtige Schlüsse auf die gesammte Organisa-
tion gemacht werden können, und dass mit den zu
controlirenden Veränderungen der Schale gleichzeitige
eingreifende Umwandlungen gewisser bestimmender
Weichtheile vor sich gegangen sein müssen. Wenn
man nun nachweist, wie es von jenen Forschern ge-
gg Veränderlichkeit der Anunoniten.
schehen, dass die sogenannten „Arten", welche die
Unterabtheilungen der grossen Jura- und Kreidefor-
mationen charakterisiren , in derselben Weise zusam-
menhängen, wie die Varietäten der Steinheimer Schnecke,,
als blosse Formenreihen von wechselnder Constanz und
Zeitdauer, so gleichen die, welche sich auch hierdurch,
nicht aus der angeborenen Arttraumseligkeit aufscheu-
chen lassen, dem Strausse, der die Gefahr lieber gar
nicht sehen mag. Neumayr ist ein so kühler und vor-
sichtiger Beobachter, dass er nur das absolut Sichere
gelten lässt. Er hält zwar für „ausserordentlich wahr,-
scheinlich", dass bei allen Formen die allmählichen.
Uebergänge existirt haben, verlangt jedoch nur in.
einem einzigen Falle die unbedingte Anerkennung,
nämlich nachgewiesen zu haben, „dass Perisphinctes:
aurigerus Opp. aus den Bathonien und Perisphincte»
curvirostrus aus der Zone des Cosmoceras Jason Rein,
durch dazwischenliegende Vorkommnisse in einer Weise
verknüpft werden, dass die Ziehung einer Grenze un-
möglich wird." L. Würtenberger stellte seine Unter-
suchungen an Tausenden von Exemplaren an aus den
Gruppen der Planulaten-Ammoniten mit berippten
Schalen und der Armaten-Ammoniten mit bestachelten
Schalen. Indem er seine Ergebnisse zusammenfasst,,
sagt er unter anderm: „Wie man bei den Ammoniten
der Planulaten- und Armatengruppe die Species gegen-
einander abzuzweigen habe , darüber möchte und könnte
ich keinerlei Anweisung geben, indem mir diese Frage
als eine ganz verfehlte erscheint. Denn bei Gruppen
fossiler Organismen, wo man, wie in diesem Falle,,
zwischen den extremsten Formen so zahlreiche Ver-
bindungsglieder wirklich vor sich liegen sieht, das»
der Uebergang ganz stetig vermittelt wird, lässt sich
der Species noch viel weniger ein Begriff unterschie-
ben, als bei den organischen Formen aus der Jetzt-
welt, welche letztere doch wenigstens die heutigen
Grenzen der Zweige des grossen Stammbaumes der
organischen Welt bezeichnen. Bei jenen fossilen
Arten und Bastarde. 89*
Formen jedoch ist es im Grunde vollständige
einerlei, ob man ein ganz kurzes oder ein län-
geres Stück irgendeines Zweiges mit einem
besondern Namen beehrt und als Species be-
trachtet. — Die stacheltragenden Ammoniten, wel-
che man unter den Armaten zusammenfasst, reihen sich
so innig aneinander, dass es zur Unmöglichkeit wird,
die hier angenommenen Arten scharf voneinander zu
trennen. Ganz dasselbe gilt auch von jener Gruppe,
deren vielerlei Formen sich durch ihre berippten Scha-
len auszeichnen und die man als Planulaten aufführt."
— Es hat sich ferner ergeben , dass die Armaten aus den
Planulaten entstehen.
Wir kommen später wieder^ auf Würtenberger's vor-
läufige Mittheilungen zurück. Hier war es uns darum
zu thun, unsern Lesern an die Hand zu geben, wie
und wo die neuere Naturforschung mit dem Artgespenst
aufräumt, wie sie in Stand zu setzen, selbst zu be-
urtheilen, welche Beobachtungsreihen den Versiche-
rungen, dass noch in keinem einzigen Falle der Ueber-
gang einer Art in eine andere Art nachgewiesen sei^
entgegenstehen. Die alte Schule kommt nämlich nach
und nach in die Verlegenheit, ganze Ordnungen und
Klassen als „Arten" zu proclamiren und die früher sa
schön gekennzeichneten Arten als Varietäten.
Die Unhaltbarkeit des physiologischen Theiles der
Artdefinition ist von Darwin und dann von Haeckel
überzeugend dargethan. Dass gute „Arten" auch im
freien Zustande sich nicht selten vermischen, und das&
gezähmte Arteli, wie Pferd und Esel seit Jahrtausenden
gekreuzt worden, ist bekannt. Aber die Producte
dieser Mischungen, die Bastarde, sollten nur aus-
nahmsweise selbst fruchtbar sein und jedenfalls nur
auf wenige Generationen eine fruchtbare Nachkommen-
schaft haben. Dagegen sollte es fest stehen, dass die
Producte der Kreuzungen von Varietäten in ununter-
brochener Folge fruchtbar seien. Der Lehrsatz von
der Unfruchtbarkeit der Bastarde hatte sich zuerst
90 Bastarde.
ohne alle experimentelle und allgemeinere Beobachtung
ausgebildet, und wurde unglücklicherweise durch eine
der ältesten und bekanntesten Bastardirungen das
Maulthier und den Maulesel, scheinbar bestätigt. Diesem
landläufigen Beispiele, wo die Fruchtbarkeit der Bastarde
fehlschlägt, setzen wir nur eins der neuern Zeit gegen-
über, die durch viele Generationen geglückte Fort-
pflanzung von Hasen und Kaninchen, zweier noch nie
für blosse Varietäten erklärten „guten Arten". Die
so zahlreichen und voneinander abweichenden Formen
des Haushundes hat die Schule für Varietäten einer
Art erklärt, weil sie sich fruchtbar miteinander ver-
mischen. Liest man aber die sorgfaltige Zusammen-
stellung der Nachricht«! über das Verhältniss von
gewissen Wolfsarten zu den Hunden wilder Völker-
schaften und des europäischen Wolfes zum ungarischen
Hunde bei Darwin*®, so wird man mit Darwin es als
höchst wahrscheinlich annehmen müssen, dass an ver-
schiedenen Punkten der Erde zu verschiedenen Zeiten
wilde Arten der Gattung Canis gezähmt wurden, die
in fast unbeschränkter Weise miteinander fruchtbare
Nachkommenschaft erzeugen. Aehnliches gilt von der
Hauskatze. Für die Formen der europäischen Haus-
katze steht die Sache so, dass ihre Herkunft theils
von einer nubischen Art, theils von der europäischen
Wildkatze kaum bezweifelt werden kann. Man drehte
sich also mit den Schlüssen im Kreise: die Formen
gehören zu einer Art, weil sie sich fruchtbar kreuzen,
und weil sie zu einer Art gehören, kreuzen sie sich
fruchtbar; und auf der andern Seite : weil die und die
Formen bei Kreuzungen keine fruchtbare Nachkom-
menschaft hervorbringen, bilden sie verschiedene Ar-
ten, und weil sie verschiedene Arten sind, zeugen sie
keine fruchtbare Nachkommenschaft. Die Fälle der
nachhaltigen Fruchtbarkeit der Bastarde sind zwar
eben nicht häufig, aber doch so weit constatirt, dass
die Behauptung des Gegentheils den Thatsachen offen
widerspricht. Aber auch umgekehrt hat der Satz, dass
Blendlinge. Forster gegen den Artbegriff. 91
die Blendlinge, die Kreuzungspro ducte der Varietäten,
fruchtbar seien, so allgemein hingestellt keine Gültig-
keit. Die Varietät, welche sich in Paraguay aus un-
serer Hauskatze abgesondert, paart sich mit ihrer
Stammart nicht mehr; ebenso wenig das zahme euro-
päische Meerschweinchen mit der brasilianischen wil-
den Stammart. Wenn aber auch im allgemeinen
Kreuzungen von Varietäten sich leichter vollziehen
und häufiger fruchtbare Producte geben als die immer-
hin seltenem Kreuzungen von Arten , so ist überhaupt
das öftere Fehlschlagen der Artkreuzungen in völligem
Einklang mit der oben dargelegten Artveränderung im
Laufe der Zeit. Für uns soll vorläufig nur feststehen,
dass Blendlinge und Bastarde hinsichtlich ihrer Frucht-
barkeit und der Fähigkeit zu constanter Fortpflanzung
im wesentlichen sich gleich und nur gradweise ver-
schieden verhalten, und dass auf diese Eigenschaften
eine nähere Bestimmung und Eingrenzung des Species-
begriffes nicht begründet werden kann.
Wenn die altern Definitionen des Artbegriffes auf
das Paradies zurückgehen und 'die heute lebenden Or-
ganismen in directer Linie von den anfänglich auf
wunderbare Weise geschaffenen und nie abgeänderten
Stammältern herleiten , so wurde das , wie aus den naiven
Aeusserungeu Linne's hervorgeht, als etwas Selbstver-
ständliches angenommen ^und an den , überhaupt un-
möglichen, Beweis nie gedacht. Dass übrigens schon
im vorigen Jahrhundert gegen diese oberflächliche Be-
handlung des Speciesbegriffes sich die Stimmen tiefer
blickender Naturforscher erhoben, geht unter anderm
aus einem Briefe Georg Forster's an Peter Camper
hervor, vom 7. Mai 1787. Man gründe Systeme auf
diesen Begriff, und doch sei alles schwankend, solange
dieser Ausdruck nicht unverrückbar festgestellt sei.
Aber alle bisherigen Definitionen dieses Wortes seien
hypothetisch und nichts weniger als an sich selbst
klar. Wolle man nun so viele Species annehmen, als
geschaffen worden, wie solle man dann eine erschaffene
92 „Gute" und „schlechte" Arten.
Art von einer, aus der Vermischung einiger anderer
hervorgegangenen unterscheiden? Auf die Schöpfung
zurückgreifen, heisse sich in das Unendliche und Un-
f assbare verlieren. „Wir werden damit nie etwas be-
greifen, und die Definitionen, welche sich auf eine
unerklärbare Grundlage stützen, auf ein Mysterium,
sollten auf immer aus der Wissenschüft verbannt sein."
Ohne dass man irgendeiner Theorie zu huldigen
braucht, wird man zur Anerkennung der Thatsache
genöthigt, dass noch gegenwärtig in verschiedenen
Gruppen der Organismen eine solche Unstetigkeit der
Formen, ein solcher Grad von Variabilität obwaltet^
dass die Gezwungenheit und Künstlichkeit des syste-
matischen Scheidens auf der Hand liegt. In vielen
andern Gruppen, z. B. den meisten Ordnungen der
Säugethiere, ist an die Stelle dieses Stadiums der Be-
weglichkeit eine gewisse Ruhe getreten und erscheinen
die zur Beobachtung und Vergleichung vorhandenen
Formen so gegeneinander abgegrenzt, dass sie ohne
Schwierigkeit sich dem System als „gute Arten" ein-
fügen. Beurtheilt man aber die guten Arten mit den
bei den „schlechten" gemachten Erfahrungen, und will
man nicht zu der widersinnigen und den gesunden
Menschenverstand verleugnenden Annahme greifen^
dass die „guten Arten" auf eine wunderbare, unserer
Erkenntnis unzugängliche Weise entstanden seien, die
Entstehung der „schlechten Arten" sich aber analysireu
lasse, so ist nur der andere Fall möglich und denk-
bar, dass, wie Haeckei sagt: „alle Species ohne Aus-
nahme ^schlechte Arten' im Sinne der Speciesfabrikan-
ten sein würden, wenn wir sie vollständig kennen
würden." Wir kennen also schon genug, schlechte Ar-
ten, um mit Gewissheit auf das allgemeine Gesetz
schliessen zu können. Allein dennoch ist jede weitere
Bestätigung und Auffindung „schlechter Arten" will-
kommen. Früher von den Systematikern nur als Un-
bequemlichkeiten betrachtet und als unbrauchbare
Berechtigung der Arten. 93
Steine von den Bauleuten verworfen, sind sie jetzt die
Ecksteine der Wissenschaft geworden.
Soll man nun vielleicht , fragen wir nochmals , die •
Species ganz aufgeben? Aus mehrern Gründen nicht.
Selbst vorausgesetzt, dass sogenannte „gute Species"
im Sinne der Systematiker gar nicht existirten, würde
der menschliche Verstand in dem Bemühen nach üeber-
sicht genöthigt sein, die Formen zu benennen, wenn
nicht alle wissenschaftlice Behandlung unmöglich ge-
macht werden sollte. Ausserdem aber ist die Bei-
behaltung der Species wissenschaftlich berechtigt und
nothwendig, sobald man nur die bestimmenden Mo-
mente berücksichtigt und die Definition mit der Wirk-
lichkeit in Einklang bringt. Die Species wird nicht
blos gebildet von ähnlichen Individuen, da ja schon
die Geschlechter selbst im Falle der Entwickelung ohne
Verwandlung erheblich voneinander abweichen. Er-
innern wir uns aber an die stufenweise eintretenden
Gestaltveränderungen der einer Metamorphose unter-
worfenen Organismen und an die in regelmässiger
Folge im Generationswechsel einander ablösenden For-
men, so werden wir, statt von Individuen, von den
die verschiedenen Phasen und Reihen der Individuen
umfassenden Zeugungskreisen reden müssen. Diese
bleiben sich gleich , solange sie unter gleichen äussern
Verhältnissen existiren. Inwieweit die Zeit an sich
auf das Bestehen und Vergehen Einfluss übt, ist dun-
kel. Jedenfalls ist die Zeit ebenso wol wie die äussern
Verhältnisse in der Zeit ein Factor der Artverände-
rung. Indem wir die Art als absolut veränderlich
und nur relativ ständig betrachten, nennen wir sie
mit Haeckel „die Gesammtheit aller Zeugungskreise,
welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche
Formen zeigen".
94 Die Naturphilosophie.
VI.
. Die Natui3)hilosophie. Ctoethe. Prädestinirte üm-
bildnng nach Sichard Owen. Lamark.
Wir haben uns bisher wesentlich mit der Betrach-
tung der Erscheinungsweisen der Thierwelt als gege-
bener Thatsachen beschäftigt, ein Eingehen auf den
Zusammenhang der Thatsachen und eine Kritik der
Erklärungsversuche möglichst vermeidend. Dennoch
war es nothwendig, einzelne Momente aus der Ge-
schichte unserer Wissenschaft hervorzuheben, deren
Nachwirkungen bis in die Gegenwart reichen und deren
Kenntniss zum Verständniss herrschender Anschauungen,
Richtungen und Vorurtheile verhilft. Aus diesem
Grunde greifen wir nochmals in die Entwickelungs-
geschichte der Biologie und vergleichenden Anatomie
zurück, um die Strömungen der Gegenwart an ihren
Quellen aufzusuchen. Es hat seit der Mitte des vori-
gen Jahrhunderts durchaus nicht an leitenden Ideen
in den organischen Naturwissenschaften gefehlt, wie
solche z. B. in BuflFon's grossartigem Entwurf eines
Weltgemäldes enthalten sind. Wenn aber von einer
einheitlichen, umfassenden Durchdringung der organi-
schen Welt die Rede ist, so wird man zunächst immer
an die Naturphilosophie denken, wie sie in den ersten
zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts das Verdienst
für sich in Anspruch nahm, das Weltganze aus einem
Princip zu verstehen, nicht nur die Materie an sich,
sondern auch Sein und Werden der organischen Kör-
per aus dem Ganzen abzuleiten. Nachdem die Identitäts-
philoBophie die Gesetze des Geistes ohne das Studium
der Leiblichkeit zu begründen begann, und die Iden-
tität der Körperwelt mit der Geisteswelt an den Im-
ponderabilien und den anorganischen Körpern nach
ihrer Weise geprüft hatte, mujsste sie ihre Constructio-
nen auf den Organismus ausdehnen. Dieser Versuch
der Verallgemeinerung der Schelling'schen Principien
Oken. 95
ist von Oken gemacht worden 2^, indem er in seinem
System die gesammte Natur als einen Process der
Entwickelung auffasst. Die Naturwissenschaft ist ihm
die Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes,
das heisst des Geistes, in die Welt, ist also im um-
fassendsten Sinne Kosmogenie. Jedes Bing im gene-
tischen Process des Ganzen gedacht, enthält neben
dem Begriff des Seins auch den des Nichtseins, oder
Position und Negation, indem es in einem höhern
aufgeht. In diesen Gegensätzen ist die Kategorie der
Polarität enthalten, die sich in der Bewegung, dem
Leben der Dinge offenbart. Die einfachem elemen-
tarischen Körper treten zu höhern Gestalten zusammen,,
welche nur potenzirte Wiederholungen jener, als ihrer
Ursachen sind. Daher stellen die verschiedenen Gat-
tungen von Körpern parallele, sich entsprechende und
in ihrer Gliederung sich bedingende Reihen vor, deren
vernünftige Anordnung sich mit innerer Nothwendig-
keit aus ihrem genetischen Zusammenhange ergibt. In
den Individuen aber kommen jene niedrigem Reihen
abermals während ihrer Entwickelung zur Erscheinung.
Die Gegensätze im Sonnensystem, des Planetaren und
Solaren, wiederholen sich in Pflanze und Thier, und
da das Licht das Prinzip der Bewegung y so hat da»
Thier die selbständige Bewegung vor dem vorzugsweise
der Erde angehörigen Pflanzenorganismus voraus. Der
Embryologie wird in einem allgemeinen Satze ihr Recht
gegeben: „Die Thiere vervollkommnen sich nach und
nach, indem sie Organ .an Organ setzen, ganz so, wie
sich der einzelne Thierleib vervollkommnet." Im Men-
schen aber, als dem höchsten Thiere, ist die ganze
Thierwelt enthalten, er ist der eigentliche Mikro-
kosmus.
Wir können heute das abgerundete, in 3562 Sätzen
niedergelegte System Oken's mit den consequenten
Phantastereien vom Position, Negation und Polari-
tät, den absolut inhaltslosen Formeln des -j- — , ohne
irgendeine wirkliche Durchdringung des Thatsächlichen
-96 Goethe.
gewiss keine Naturphilosophie mehr nennen, sofern
diese der Ausdruck und die logische Verknüpfung aller
gut beobachteten Thatsachen sein soll. Es sind da-
durch, aber mannichfache und wichtige Anregungen
zur Forschung gegeben, und wir haben hier um so
mehr auf dieses System aufmerksam machen wollen,
als es mindestens ebenso viel besagt, wie die vagen
Formeln und Begriffe von „innerer Entwickelung",
„Vervollkommnungsprincip" , „Umprägung des Niedern
zum Höhern", und die ganze Litanei der Halbheit
und Unklarheit, die sich in unsern Tagen breit macht.
Wir halten in diesem Abschnitt nicht die chrono-
logische Reihenfolge ein, sondern charakterisiren ver-
schiedene Auffassungen der organischen Natur, und
dürfen deshalb nunmehr zurückgreifen zu Goethe,
welcher nach Haeckel's Auffassung in der grossen, uns
in dieser Schrift beschäftigenden Frage seiner Zeit vor-
auseilte und als der selbständige Begründer der De-
scendenztheorie in Deutschland zu feiern sei. ^® Wir
vermögen nicht, Goethe diese Bedeutung beizulegen,
denn eben der Hauptpunkt, worauf Haeckel das grösste
Oewicht legt, dass Goethe die Arten nicht blos als
die veränderten Erscheinungen des beweglichen Gat-
tungsbegriffes, sondern als die in ihrer Realität ver-
änderlichen Summen von Körpern ansieht, müssen wir
verneinen. Was uns vornehmlich bewegt, Goethe's
hier ausführlich zu gedenken, ist seine Durchdringung
der Typusidee, welche von Buffon an ein paar Men-
schenalter hindurch der Leitstern einer höhern, den
reinen Systematiken! fremden Forschung war. Goethe
verarbeitete dieselbe in sich auf Grund einer aller-
dings etwas vornehmen Specialkenntniss des organi-
schen Materials und stand jedenfalls an der Schwelle
der Lösung. Wie seine naturwissenschaftliche Thätig-
keit ein nothwendiger Ausfluss seines Wesens war,
babe ich in den citirten Abhandlungen auseinderge-
Äetzt. Andere Nachweise haben Helmholtz und Virchow
gegeben.
Goethe. 97
Goethe's Aufzeichnungen über seine Stellung zur
Natur und seine Forschungen umfassen einen Zeitraum
von mehr als fünfzig Jahren. Um das Jahr 1780 fällt
unter der Aufschrift: „Die Natur" eine Art Hymnus
an dieselbe, der mit den schönen Worten endigt, die
ihn als reinen Pantheisten erscheinen lassen: „Sie hat
mich hereingestellt, sie wird mich auch hinausführen.
Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten.
Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht
von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles
hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist
ihr Verdienst." Und kurze Zeit vor seinem Tode,
im März 1832, ist er mit ganzer Seele dem wissen-
schaftlichen Streit über die verschiedenen Methoden
der Naturforschung und die Grundprincipien der An-
schauung beschäftigt, welcher im Schose der franzö-
sischen Akademie zwischen den beiden berühmten
Vertretern der in das Einzelne gehenden und der aus
dem Ganzen urtheilenden Richtung : Cuvier und Geoffroy
St. Hilaire, hell emporschlug. Was Goethe hier am
Spätabend seines Lebens niedergelegt, ist eine Art
von wissenschaftlichem Glaubensbekenntniss, und es
erfüllt mit der grössten Bewunderung, wie der drei-
undachtzigj ährige Greis mit denjenigen Grundsätzen
auf der Höhe der Zeit und über den Parteien steht,
die er in der Blüte des Mannesalters fünfzig und vier-
zig Jahre früher aus eigenen Kräften sich bildete.
In den genialen siebziger und achtziger Jahren, wo
Goethe, im Mittelpunkte des weimarischen Lebens
stehend, sich oft aus dem Geräusch der Stadt und des
Hofes in die einsame Natur zurückzog, empfing er die
Anregungen zur „Metamorphose der Pflanzen". Es
fesselte ihn die wechselvolle Erscheinung des Pflanzen-
lebens^ und er musste über die vorausgesetzte, diesem
Wechsel zu Grunde liegende Einheit und Regel nach-
sinnen. Das war ihm eine neue Quelle der Unruhe,
die ihn verfolgte, als er 1737 sich gewaltsam den
weimarischen Einflüssen entriss und nach Italien floh.
Schmidt, Bescendenzlehre. 7
98 Goethe.
Dort, in Sicilien, fand er die Lösung des Räthsels:
das Blatt schien ihm das Grundorgan der pflanzlichen
Bildung zu sein. Und als ihm nach der Rückkehr in
Christiane Vulpius ein neuer Stern aufgegangen, legte
er die Quintessenz seiner Ideen über die Metamorphose
der Pflanzen in jenem vorzüglichen Gedichte nieder,
dessen Zeilen
Alle Gestalten sind ähnlich , und keine gleichet der andern ,
Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz,
Auf ein heiliges Käthsel —
allen gegenwäi*tig sind, welche sich je mit Goethe^scher
Muse bekannt gemacht haben. Er sah nun, als er
mit geistigem Auge, wie er vom Naturforscher ver-
langt, sehen gelernt hatte, in den verschiedenen Thei-
len der Pflanze das einigende Princip. „Einerlei
Organ kann als zusammengesetztes Blatt ausgebildet
Lnd als Stipula (Nebenblatt) in die grösste Einfalt
zurückgezogen werden. Ebendasselbe Organ kann sich
nach verschiedenen Umständen zu einer Tragknospe
oder zu einem unfruchtbaren Zweige entwickeln. Der
Kelch, indem er sich übereilt, kann zur Krone werden,
und die Krone kann sich rückwärts dem Kelche nähern.
Dadurch werden die mannichfaltigsten Bil-
dungen der Pflanzen möglich, und derjenige^
der bei seinen Beobachtungen diese Gesetze immer
vor Augen hat, wird davon grosse Erleichterung und
Vortheil ziehen." In diesen wenigen Zeilen ist der
Kern der bis in die Zwanzigerjahre unseres Jahrhun-
derts hinein die Zeitgenossen höchst anregenden Lehre
von der Metamorphose der Pflanzen. Bei der Viel-
seitigkeit seiner Beobachtung musste aber der einmal
gefasste Gedanke sich auch auf die übrige organische
Welt ausdehnen. Vor Goethe hatte kein Naturforscher
die Insekten anders betrachtet, als wie eine gegebene
Summe durch bestimmte Merkmale zu unterscheidender
Einzelbildungen. Ihr Inneres war allerdings von ein-/
zelnen grossen Männern, wie Malpighi, Swammerdam
Goethe. 99
und Lyonet aufgeschlossen worden, aber weder an eine
wahrhaftige Vergleichung der Arten und Gattungen
hatte man gedacht und noch weniger an eine Erklä-
rung des Insektenkörpers aus seinen Theilen. Das
that Goethe und zwar in der geistreichsten Weise,
indem, wie es vollkommen richtig, in seiner Anschauung
die Einge, die im Insekt vom Kopf bis zur Leibes-
spitze sich aneinander reihen, sich ebenfalls wie die
Pflanzenorgane als blosse Modificationen eines und des-
selben Grundorgans darstellten. Dort das abstracte
Blatt, das ürblatt oder die Urpflanze, hier der Bing.
Dabei sprach er — es war 1796 in den Vorträgen
über den Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die
vergleicheilde Anatomie — eine Wahrheit aus, welche
erst mehr als vierzig Jahre später von einem der aus-
gezeichnetsten Zoologen, Milne Edwards, wieder er-
kannt und für die Erkenntniss der Thierwelt verwerthet
worden ist. Es ist die Idee von der Vervoll-
kommnung der organischen Wesen durch die
Verschiedenartigkeit der Ausbildung ihrer im
Grunde gleichen Theile. Raupe und Schmetterling
dienen hierfür als Beispiel. „So ein unvollkommenes und
vergängliches Geschöpf ein Schmetterling in seiner Art,
verglichen mit den Säugethieren, auch sein mag, so
zeigt er uns doch durch seine Verwandlung, die er
vor unsern Augen vornimmt, den Vorzug eines voll-
kommenem Thieres vor einem unvollkommenem. Die
Entschiedenheit ist es seiner Theile, die Sicherheit,
dass keiner für den andern gesetzt noch genommen
werden kann, jeder vielmehr zu seiner Function be-
stimmt und bei derselben auf immer festgehalten bleibt."
Nun trat aber auch bei den vollkommensten Geschöpfen,
den Wirbelthieren , ein solöhes innerhalb des Indivi-
duums sich metamorphorisirendes Grundorgan ihm vor
Augen: der Wirbel. Er verfolgte ihn in seinen Um-
wandlungen im Verlauf der Wirbelsäule. So unmög-
lich es sei, aus der Nebeneinanderstellung des ersten
Halsknochens mit dem letzten Schwanzknochen auf die
7*
100 Goethe.
Identität derselben zu schliessen, so leicht trete die-
selbe in dem allmählichen Uebergange hervor. Was
liegt aber vor dem ersten Halswirbel? Ist der Schä-
del etwas absolut anderes, ein Neues, mit der Wirbel-
säule nicht Identisches? Das war wieder ein so be-
unruhigender Gedanke, der Goethe auf Schritt und
Tritt verfolgte. Er sann und verglich, es konnte nicht
anders sein, der Schädel musste zur Wirbelsäule ge-
hören, nichts als ein Theil der Wirbelsäule sein. Er
war durch das Schwanken im Wahren, wie er sich
später einmal bei einer andern Gelegenheit ausdrückt,
als „redlicher Beschauer in eine Art von Wahnsinn
versetzt". Da, als er 1790 auf dem Jud«nkirchhof in
Venedig einen gebleichten Schafschädel aufhob, „offen-
barte sich ihm der Ursprung des Schädels aus Wirbel-
knochen". Die speciellere Geschichte der vergleichen-
den Anatomie hat nachgewiesen, wie ungemein fruchtbar
diese vermeintliche Entdeckung gewesen, obschon die
Sache viel complicirter ist, als Goethe und seine Nach-
folger sie sich dachten.
Noch einer wahrhaftigen Entdeckung Goethe's müs-
sen wir gedenken, welche seine eigenste Weise offen-
bart. Es gilt den Zwischenkiefer des Menschen. Goethe
arbeitete im Anfang der Achtzigerjahre in Jena unter
Loder's, eines namhaften Anatomen, Anleitung über
Knochenlehre. Dass alle höhern Thiere einen die obern
Schneidezähne haltenden Knochen als den sogenalinten
Zwischenkiefer besitzen, ist überaus deutlich. „Hier
trat nun der seltsame Fall ein", erzählt Goethe, „dass
man den Unterschied zwischen Affen und Menschen
darin finden wollte, dass man jenem ein os inter-
maxillare (Zwischenkiefer), diesem aber keins zuschrieb ;
da nun aber genannter * Theil darum hauptsächlich
merkwürdig ist, weil die obern Schneidezähne darin
gefasst sind , so war nicht begreiflich , wie der Mensch
Schneidezähne haben und doch des Knochens ermangeln
sollte, worin sie eingefügt stehen." Es war ihm darum
nicht begreiflich, weil sich ihm aus der Vergleichung
Goethe. 101
in der Natur die Idee gebildet hatte, „dass alle Ab-
theilungen des Geschöpfes, im einzelnen wie im ganzen,
bei allen Thieren aufzufinden sein möchten^^ Den
Menschen als eine Ausnahme nicht nach diesem Schema
zu bemessen , wollte ihm nicht in den Sinn , der Mensch
musste einen Zwischenkiefer haben, und entgegen den
Ansichten der grössten Anatomen der damaligen Zeit,
wie Peter Camper, wies Goethe nach, wie dieser Zwi-
schenkiefer beim Menschen zwar später fast spurlos
mit dem eigentlichen Oberkiefer verwächst, während
der Entwickelung und in den ersten Lebensjahren
aber vollkommen deutlich als eigener Theil vorhan-
den ist.
Wir haben aus der bisherigen Darstellung schon
mancherlei gewonnen. Goethe fand an der Betrach-
tung des Einzelnen und den Einzelnheiten gar kein
Gefallen. Die Natur und die Naturobjecte als Gewor-
denes, Fertiges machten auf ihn nur den !E^indruck,
also gleich das Werden und damit den Grund zu un-
tersuchen. Die Dinge nach den Endursachen, nach
einem vorausgesetzten, von der Vorsehung voraus-
bestimmten Zwecke zu beurtheilen, erschien ihm als
„ein trauriger Behelf^ der völlig beseitigt werden
müsse. So gibt er der „genetischen Denkweise" die
volle Ehre, deren sich der Deutsche nun einmal nicht
entschlagen könne. Er schuf für diese von ihm be-
folgte Naturbetrachtung, wonach alles Lebendige im
innern Zusammenhange, die äussere Gestalt als Andeu-
tung des Innern aufzufassen sei, den Namen der Mor-
phologie, der Gestaltungslehre. Er erforschte, „wie
die Natur im Schaffen lebt", und aus dem Erstaunen über
das ewige Gestalten und Umgestalten, auQ der Ver-
wirrung, in welche ihn die Mannichfaltigkeit der Ge-
staltungen versetzte, haben wir ihn herauskommen
sehen durch das Suchen und Finden von Urgestalten.
Schon vor der Verwirklichung der Metamorphose der
Pflanzen, als er von Knochen und ganzen Skeleten in
seinem wissenschaftlichen Beinhause in Jena umgeben
102 Goethe.
war, erscliiem ihm als ein Leitstern die Aufstellung
eines anatomischen Typus, eines allgemeinen Bildes,
„worin die Gestalten sämmtlicher (Wirbel-) Thiere , der
Möglichkeit nach, enthalten wären, und wonach man
jedes Thier nach einer gewissen Ordnung beschreibe".
„Die Erfahrung muss uns vorerst die Theile lehren,
die allen Thieren gemein sind und worin diese Theile
verschieden sind. Die Idee muss über dem Ganzen
walten und auf eine genetische Weise das allgemeine
Bild abziehen." Man soll also, von dem Einzelnen
abstrahirend , sich in Besitz eines gewissen Urbildes
setzen. Da weder der Mensch zum Masstab für die
Thiere genommen werden könne, noch umgekehrt die
unendliche Complication des Menschen völlig durch
die thierische Organisation erklärt würde, so müsse
ein über beiden Schwebendes zu Hülfe kommen. An
dieses an sich undarstellbare Urbild, dieses Abstractum,
und nur an dieses hat sich nach Goethe die Natur
in ihrem Schaffen zu halten, „ohne dass sie im min-
desten fähig wäre, den Kreis zu durchbrechen oder
ihn zu überspringen".
Wenn man Goethe zu einem offenen Verkündiger
oder auch nur zu einem gewissermassen poetisch in-
spiririrten Propheten der Descendenzlehre machen will,
so legt man auf seine Aeusserungen über „unaufhalt-
sam fortschreitende Umbildung" und ähnliche zu viel
Werth, oder geht nicht in den Sinn ein, den er damit
verbindet. Nehmen wir einmal die folgende Stelle,
die unserm Freunde Haeckel als eine entscheidende
gilt: „Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut be-
haupten zu dürfen, dass alle vollkommneren organi-
schen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel,
Säugethiere und an der Spitze der letztern den Men-
schen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien,
das nur in seinen sehr beständigen Theilen mehr oder
weniger hin und her weicht und sich 'noch täglich
durch Fortpflanzung aus- und umbildet." Ist hier
Goethe. 103
etwa gemeint, dass die beständigen den unbeständigen
Theilen gegenüberzustellen seien? Durchaus nicht.
Goethe hat schon vor Geoffroy St. Hilaire von einem
Gesetz gesprochen, was aber kein Gesetz ist und auch
nicht ein Ausdruck von Thatsachen, dass die Natur
in ihren Bildungen njit einem gewissen Budget schalte,
mit dessen Posten sie ausgleichend verfahre. Er scheint
nicht gewusst zu haben, dass Aristoteles genau dasselbe
behauptet hat, dass die Natur nämlich, wenn sie ein
Organ vergrössere, es nur auf Kosten eines andern
thäte. Auch ein zweites der vermeintlichen, von dem
Franzosen entdeckten Grundgesetze, dass ein Organ
eher zu Grunde ginge, als es seinen Platz aufgebe,
hat Goethe damals aufgestellt. Die Natur wirthschaf-
tet also nach Goethe immer mit denselben Theilen.
Die Natur ist ihm unerschöpflich in der Modificirung
und Kealisirung des Urbildes, dem aber, „was ein-
mal zur Wirklichkeit gekommen", klebt das zähe Be-
harrlichkeitsvermögen an, eine vis centripeta, welcher
in ihrem tiefsten Grunde keine Aeusserlichkeit etwas
anhaben kann. Wenn er also von der täglichen Aus-
und Umbildung durch die Fortpflanzung redet, so
versteht er in Betreff der schon zur Wirklichkeit ge-
kommenen Geschöpfe nur jenen Verlauf der Entwicke-
lung und Metamorphose, welche ein Bild der uner-
schöpflich erscheinenden Natur ist. Die Einflüsse,
welche die Natur auf die Theile ausgeübt hat, stellt
er sich noch gegenwärtig vor, aber von einem eigent-
lichen Umwandeln bestehender Arten in neue, wie es
die heutige darwinistische Descendenzlehre verlangt,
ist bei Goethe ganz und gar keine Bede.
Was sollte denn auch nach Goethe's Anschauung
umgewandelt werden? Das Urbild doch wol nicht.
Er sagt freilich: „So bildete sich der Adler durch die
Luft zur Luft, durch die Berghöhe zur Berghöhe. Der
Maulwurf bildet sich zum lockern Erdboden , die Phoke
zum Wasser , die Fledermaus zur Luft", und im allge-
meinen: „Das Thier wird durch Umstände zu Umständen
104 Goethe.
gebildet." Aber die Erläuterungen, welche er in dem
Entwürfe vom Jahre 1796 hierzu gibt, zeigen ganz
evident, dass an ein Umbilden vorhandener Arten nicht
gedacht wird, sondern an blosse Erscheinungs-
weisen des Typus und Urbildes, wie sie in
den gegebenen Arten vorliegen. Da heisst es:
„Die Schlange steht in der Organisation weit oben.
Sie hat ein entschiedenes Haupt mit einem vollkomme-
nen Hülfsorgane, einer vom verbundenen untern Kinn-
lade. Allein ihr Körper ist gleichsam unendlich, und
er kann es deswegen sein , weil er weder Materie noch
Kraft auf Hülfsorgane zu verwenden hat. Sobald nun
diese in einer andern Bildung hervortreten, wie z. B.
bei der Eidechse nur kurze Arme und Füsse hervor-
gebracht werden, so muss die unbedingte Länge so-
gleich sich zusammenziehen und ein kürzerer Körper
stattfinden. Die langen Beine des Frosches nöthigen
den Körper dieser Creatur in eine sehr kurze Form,,
und die ungestaltete Kröte ist nach diesem Gesetze
in die Breite gezogen." Es ist gut, sich diese etwa»
triviale Stelle gegenwärtig zu halten, um in die poe-
tische Verherrlichung der Metamorphose der Thiere
nicht mehr zu legen, als wirklich darin enthalten ist.
Wenn Goethe in diesem prächtigen Gedicht sagt:
Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres,
Und die Weise des Lebens, sie wirkt auf alle Gestalten
Mächtig zurück —
so klingt das allerdings, wir geberi es zu, höchst ver-
führerisch. Man wird aber ernüchtert oder vielmehr
auf den richtigen Standpunkt geleitet, wenn man die
höchst anziehenden Bemerkungen Goethe's über d'Alton's
Skelete der Nagethiere (1824) liest. Da zeigt es sich,,
dass Goethe auch nicht im entferntesten an eine that-
sächliche Umwandlung eines Nagethieres in ein andere»
durch die Nöthigung der äussern Einflüsse denkt. Der
Leser mag selbst urtheilen. „Suchen wir das Geschöpf
in der Region des Wassers, so zeigt es sich schwein-
Goethe. 105
artig im Ufersumpfe (das sogenannte Wasserschwein),
als Biber sich an frischen Gewässern anbauend; als-
dann immer noch einiger Feuchtigkeit bedürfend, gräbt
sichs in die Erde und liebt wenigstens das Verborgene,
furchtsam-neckisch vor der Gegenwart des Menschen
und anderer Geschöpfe sich versteckend. Gelangt end-
lich das Geschöpf auf die Oberfläche, so ist es hüpf-
und springlustig, sodass es aufgerichtet sein Wesen
treibt und sogar zweifüssig mit wunderbarer Schnelle
sich hin- und herbewegt. Ins völlig Trockene gebracht,
finden wir zuletzt den Einfluss der Lufthöhe und des:
alles belebenden Lichtes ganz entscheidend. Die leich-
teste Beweglichkeit wird ihnen zutheil, sie handeln
und wirken auf das behendeste, bis sogar ein vogel-
artiger Schwung in einen scheinbaren Flug übergeht. **^
So belegt Goethe den Einfluss der Umgebungen und
äussern Verhältnisse auf die Gestaltveränderungen;
man sucht ganz vergeblich nach den realen Gestalten,
welche verändert werden. Nicht der Biber wird zum
mauseartigen Erdgräber; nicht die Maus zur Spring-
maus; nicht die Springmaus zum Eichhörnchen, diese»
nicht zum Flughömchen , sondern „ die unaufhaltsam
fortschreitende Umbildung" stellt sich nur dem gei-
stigen Auge dar. In der Wirklichkeit findet auch
Goethe nur Angepasstes. So sehr er geneigt ist, Mo-
dificationen auf Rechnung der äussern Verhältnisse zu
stellen, ebenso entschieden spricht er auf der andern
Seite: „Die Theile des Thieres, ihre Gestalt unterein-
ander, ihre Verhältnisse, ihre besondern Eigenschaften,
bestimmen die Lebensbedürfnisse des Geschöpfes", und
wenn wir innerhalb des eingeschränkten Bildungskrei-
ses dennoch die Veränderungen der Gestalt ins Un-
endliche möglich werden sehen (Entwurf 1796), so
abstrahiren wir dies mit den einzelnen durch die ewig
eine und schöpferische Natur zur Erscheinung gebrach-
ten Arten als den Variationen des Urbildes.
Mit dem Worte Art sind wir bei dem wichtigsten
Punkt unserer Darstellung der Goethe'schen Natur-
106 Goethe.
anschauung angelangt ^ wenn nicht etwa schon aus dem
Bisherigen sich zweifellos ergeben haben sollte, dass
Goethe durchaus nicht als ein wahrer Vorgänger Dar-
win^s angesehen werden könne. Darwin und seine
Anhänger behaupten die Veränderlichkeit der sogenann-
ten Pflanzen- und Thierarten. Die Frage ist einfach,
ob Goethe auch schon, gleich seinem Zeitgenossen La-
mark, von dieser Veränderlichkeit überzeugt war.
Wenn er einmal sagt, dass „aus dem Samen immer
abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zueinander
verändert bestimmende Pflanzen sich entwickelnd^ so
' ist das an und für sich zweideutig; es kann auf die
Entstehung neuer Arten und auch auf die Variabilität
der ihrem Wesen nach unveränderlichen Art bezogen
• werden. Ein andermal spricht er von der „Natur-
bestimmung' ^ des Pferdes. Ich kann nur eine einzige
Stelle in Goethe's Schriften finden, wo von einer wirk-
lichen Umwandlung eines Geschöpfes, wenn nicht zu
einer neuen Art, so doch zu einer sehr ausgeprägten
Constanten Varietät die Rede ist. Ein Dr. Körte lie-
ferte 1820 die Beschreibung eines im Halberstädtischen
gefundenen Urstieres und stellte Vergleichungen und
Betrachtungen an, wie nach und nach unter dem £in-
fluss der Zähmung unser vielfach abweichendes Haus-
rind aus jenem hervorgegangen sei. Dieser Fund und
ein anderer in Thüringen (1821), welches letztere
Exemplar von Goethe für das Jenaische Museum ge-
wonnen worden, gaben ihm Veranlassung, Körte bei-
zustimmen und die Möglichkeit dieser immerhin leich-
ten Umwandlung mit einem wirklichen Vorkommniss
zn illustriren.
Von hier bis zur Anerkennung der Umbildung der
Art ist aber immer noch ein weiter Weg, und Goethe
hat ihn nicht zurückgelegt. Wir haben eben gesehen,
dass der Gedanke , einzelne gegenwärtig lebende Thiere
von untergegangenen „Stammrassen" abzuleiten, ihm
nicht fremd war. Auch würde die Bemerkung, welche
er macht — „haben wir doch von organischen Ge-
Goethe. 107
schöpfen, die sich in lebendiger Fortpflanzung nicht
verewigen konnten, die entschiedensten Reste" — diese
Bemerkung würde nicht ausschliessen, dass er im all-
gemeinen den unmittelbaren , auf directer Fortpflanzung
beruhenden Zusammenhang der heutigen Thierwelt mit
ganz anders gestalteten fossilen Geschlechtern ange-
nommen häjbte. Denn es ist ja ganz richtig, dass viele
Arten, Gattungen und Gruppen nicht nur die Blüte-
zeit, sondern auch ihren Verfall und gänzlichen Un-
tergang vor der gegenwärtigen Periode bestanden.
Noch mehr. In aphoristischen Aufzeichnungen, die er
Probleme nennt, geschrieben vor dem Jahre 1823,
spricht er von „charakterlosen Geschlechtern, denen
man vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie
sich in grenzenlose Varietäten verlieren", und stellt
sie den Geschlechtern gegenüber, „welche einen Cha-
rakter haben, den sie in allen ihren Species wieder
darstellen, sodass man ihnen auf einem rationellen
Wege beikommen kann". Goethe hält sich an dieses
Factum, um seine von uns schon oben gewürdigte Idee
der Metamorphose zu erläutern, und wir haben nicht
das Recht, die charakterlosen oder „liederlichen" Ge-
schlechter im Sinne unseres Darwinismus zu erklären,
dass sie solche seien, deren Formen sich nicht be-
festigt hätten, während die charaktervollen deshalb in
wohl unterscheidbare Arten zerfallen, weil eine Menge
von Zwischenformen im Verlaufe der Zeit im Kampfe
um das Dasein unterlegen sind. Goethe gab diese
Probleme seinem kunstsinnigen jungen Freunde Ernst
Meyer, um sie zu verarbeiten und seine Betrachtungen
dem Altmeister mitzutheilen. Meyer sagt nun: „Je
leichter jene (die charaktervollen Gattungen) sich fügen,
desto schwerer ist mit diesen (den charakterlosen) fer-
tig zu werden. Wer sie aber mit Ernst und mit an-
haltendem Eifer beobachtet und des angeborenen, durch
Hebung ausgebildeten Taktes nicht ganz ermangelt,
der wird sicherlich, weit entfernt an ihnen sich zu
verwirren, die wahrhaften Arten und deren
108 Goethe.
Charakter aus aller Mannichfaltigkeit der
Formen gar bald herausfinden. Sollte wirklich
in irgendeiner formenreichen Gattung durchaus keine
Grenze, welche die Natur selbst achtet, zu. finden sein,
was hindert uns dann, sie als eine einzige Art, alle
ihre Formen als ebenso viele Abarten zu behandeln?
So lange der Beweis fehlt, der schwerlich je zu füh-
ren, dass überhaupt in der Natur keine Art bestehe,
sondern dass. jede, auch die entfernteste Form durch
Mittelglieder aus der andern hervorgehen könne: so
lange muss man uns jenes Verfahren schon
gelten lassen. — Mag nun der Meister den Schüler
belehren oder nach alter Sitte ihn vertreten." Und
er vertritt ihn, da er das, was der Schaler über die
Probleme vermeldet, „als ein Zeugniss reiner Sinn-
und Geistesgemeinschaft" in seine morphologischen
Schriften aufnimmt.
Es kann keine Frage sein, dass Goethe tiefere Ge-
danken über die organische Natur hegte, als seine
Zeitgenossen. Vergessen wir aber doch auch nicht, dass
die Hauptidee von dem sich umwandelnden Urbilde
schon vor Goethe und mit Goethe die hervorragenden
Geister beherrschte, wie das in meiner kleinen, den
Fachgenossen bekannten Schrift: „Die Entwickelung
der vergleichenden Anatomie" (1855) zu finden ist.
Wenn Peter Camper in seinen populären Vorträgen
seine Zuhörer damit amüsirte, dass er auf der Tafel
aus einem Pferde eine schöne Frauengestalt hervorgehen
Hess, wenn er sagt, dass er so in die Studien über
Wale vertieft sei und in die Vergleichung derselben
mit der menschlichen Bildung, dass ihm alle Mädchen,
hübsche wie hässliche, nur als Delphine und Cachelots
erschienen, so geschah dies, weil er von einem Ur-
bilde, einer Grundgestalt ausging. Goethe war nur
consequenter und verlangte trotz der „peinlichen Ueber-
legungen", wie am Affen so auch am Menschen den
Zwischenkiefer. Goethe sagt 1807: „Wenn man Pflan-
zen und Thiere in ihrem unvollkommensten Zustande
Goethe. 109
betrachtet, so sind sie kaum zu unterscheiden. So viel
aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu
sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Thiere
nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei
entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, sodass
die Pflanze sich zuletzt im Baume dauernd und starr,
das Thier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit
und Freiheit sich verherrlicht. Aber das ist ja nichts
anderes, als eine nach Goethe *s „Art zu forschen, zu
wissen und zu gemessen" symbolisch verbrämte Wie-
derholung eines schon fast fünfzig Jahre früher von
Buffon aufgestellten und vielfach variirten Satzes.
Nicht erst Goethe in seinem Entwurf von 1796 dringt
auf die höchst fruchtbare Vergleichung identischer
Organe eines und desselben Körpers, das thut schon
der geistreiche Vicq-d'Azyr 1786. Mit einem Worte,
die Idee des Typus, Urbildes, Grundplanes {dessein
primitif) war eine Errungenschaft des Goethe'schen
Zeitalters, die nur in Goethe einen prägnantem und
vielseitigem Ausdruck fand und uns deshalb bestechen-
der erscheint, weil er damit den Begriff der Bewe-
gung und Beweglichkeit verband, dies aber, in seinem
ausgesprochenen Bedürfniss nach Symbolen, im figür-
lichen Sinne.
Wenn Goethe „Gesetze" gefunden zu haben meint,
80 ist er in derselben Täuschung befangen, in welcher
sich die Naturforscher vom vorigen Jahrhundert an
bis in die neuesten Zeiten gewiegt haben, indem sie
eine blosse Constatirung von Thatsachen für die Er-
klärung der Thatsachen, die Zurückführung derselben
auf ihren Grund hinnehmen. Goethe weiss von einer
„Spiraltendenz" und einer „Verticaltendenz" der Pflanze,
und gleich werden sie ihm zu „Grundgesetzen des
Lebens". Nun sehen wir allerdings das verticale Stre-
ben ab- und aufwärts in Wurzel und Stamm, — wir
sehen Windungen und Blattspiralen, wir haben diese
Thatsachen auch schon in einfachere physikalische und
physiologische Phänomene zerlegen können, ohne dass
110 Richard Owen.
wir auf den innersten Grund, das wahre Gesetz ge-
kommen wären.
Goethe's Ansicht über die Stellung des Menschen
in der Natur ist im Obigen schon mit enthalten. Dass
er, ein Geschöpf und Product der Natur, eine Aus-
nahme von dem ihm offenbar so ähnlichen Thiere
machen solle, konnte Goethe nicht zugeben. Er bleibt
ihm also unbedingt innerhalb des Typus , „dessen Theile
durch alle Thiergeschlechter und Arten immerfort ver-
ändert werden". Nun haben wir aber, glaube ich,
genügend bewiesen, dass der eben angeführte und
ähnliche Aussprüche nur von der in den Geschlechtern
und Arten zum Ausdruck gekommenen potenziellen
Veränderlicheit des Urbildes zu gelten haben. Also
ist ihm auch der Mensch ein in der Idee des Typus
und nicht durch die factische Fortpflanzung und Ab-
stammung . mit dem Thier verwandtes Product. Dies
ist der von ihm gesuchte Aufschluss über die „schönste
Organisation". Goethe war hiermit beruhigt. ^®
Von Goethe zu unserm Zeitgenossen Richard Owen
ist scheinbar ein weiter Sprung. Allein wenn es uns
daran lag, in Goethe eine Stufe der Naturanschauung
vorzuführen , welche mit einer zwar blendenden, schliess-
lich aber doch nur unklaren Formel sich über den
Zusammenhang des Lebendigen beruhigt, so wird uns
der berühmte englische vergleichende Anatom zeigen,
wi,e man zwar den letzten Schritt thun und sich über-
zeugen kann, dass die Aehnlichkeit der Arten einzig
und allein durch die Blutsverwandtschaft ihre Lösung
findet, und wie man dennoch durch Festhalten am
Wunder und Dualismus die Frucht der eben erkann-
ten Wahrheit sich aus den Händen gleiten lässt. ^*
Unter der persönlichen Anregung Cuvier's, dessen Schü-
ler R. Owen im Jahre 1830 war, suchte er sich Klar-
heit zu verschaffen über den Grund der Homologien.
Hatte Cuvier die Uebereinstimmung der Organe aus
dem Zweckbegriff abgeleitet, indem er sagte, Organe
seien gleich, weil und wenn sie gleiche Functionen zu
Owen's prädestinirte Abstammung. Hl
erfüllen hätten, so griff Owen in Goethe's Weise nach
einem Urtypus (archetype), um die Einheit in der
Mannichfaltigkeit und Verschiedenheit der Ausbildung^
zu erklären. Die sich im Organismus wiederholenden
Reihen, wie die Wirbel, die Aufeinanderfolge der Or-
ganismen schienen ihm nicht verständlich durch wun-
derbare Schöpfungen, sondern durch natürliche Gesetze
und wirkende Ursachen, welche die Species in ordent-
licher Reihenfolge und allmählicher Vervollkommnung^
hervorbringen; diese Gesetze und Ursachen sind aber
nur Ausführungen eines vorausbestimmenden vernünf-
tigen höchsten Willens. ^^ Als einem ausgezeichneten
Kenner der fossilen Thierwelt konnte dem englischen
Forscher nicht verborgen bleiben, dass, je weiter die
geologischen Perioden entlegen , um so allgemeiner und
weniger specialisirt die Organisation der Arten sei^
Er konnte dies besonders an der Bezahnung der
Säugethiere, auch speciell an dem Verhältniss derjeni-
gen Hausthiere durchführen, welche mit den altern
Tertiärzeiten beginnen und nach und nach den Cha-
rakter des Einhufers annehmen. Er beantwortet also-
die Frage, ob die Species durch Wunder oder Gesetz,
entstehen, damit, dass er das letztere in ununterbro-
chener Wirkung annehme. Dieses „Gesetz" ist aber
etwas ganz anderes, als was die Wissenschaft mit mit
diesem Namen zu bezeichnen pflegt. Warum ist da»
Pferd geworden? Weil es für den Menschen durch
die Gottheit vorausbestimmt und vorbereitet war. ^^
Dies soll durch das Ableitungsgesetz (derivative lawy
geschehen. Das ist aber wieder einmal ein inhalts-
loses Wort, eine Phrase, welche besagt, das Pferd
ißt nach und nach zum Pferde geworden, weil es nicht
anders hat sein sollen. Die Vorgänger des Pferdes
ändern sich für Zwecke des noch nicht existirenden,
aber von dem intelligenten Willen schon in Aussicht
genommenen Menschen. Jene Vorfahren des Pferde»
könnten wir also mit den Naturspielen vergleichen;^
die Umwandlung geschieht nicht, weil sie aus innern
112 Lamark.
Ortinden geschehen muss, sondern weil es dem intelli-
genten Willen beliebt. Derartige „Naturgesetze" müs-
sen wir «ns verbitten. Owen sagt: „Ich nehme an,
dass eine angeborene, angemessene Zeitperioden hin-
durch wirkende Neigung zur Abweichung vom älterlichen
Typus die wahrscheinlichste Art und Weise der Arbeit
des natürlichen Gesetzes gewesen, wodurch die Arten
sich auseinander entwickelt haben." '* Er sieht vom
Ichthyosaurus bis zum Menschen den Zusammenhang
der Abstammung, er verwirft den Einfluss der Um-
gebung als entscheidend, er verwirft zehnmal alles
Wunder, klammert sich aber im nächsten Augenblick
an das Wunder, nämlich das der angeborenen Neigung
zu einer nicht durch die Umstände gebotenen und von
ihnen abhängigen, sondern einem gewissen Künftigen,
einem Zwecke dienenden Entwickelung.
So handeln die Halben, welche, die Consequenzen
scheuend, durch ein Wort sich mit dem wissenschaft-
lichen Gewissen abfinden.
Wir sind aber nun zu einem ganzen Manne ge-
kommen, dessen Hauptwerk, Philosophie zoologique^^,
«in halbes Jahrhundert übersehen und fast vergessen
war, bis es durch Darwin, vorzüglich aber durch
Haeckel, und in Frankreich in neuester Zeit durch
Ch. Martins wieder zu verdienten Ehren gebracht
wurde. Das ist J. B. Lamark, der die Abstammungs-
lehre zuerst formulirte und 1804 eigentlich schon alle
jene Sätze aufwarf, welche Darwin neu und besser
begründete. Lamark sprach es aus, dass nur die un-
serm Fassungsvermögen gezogenen Grenzen die Auf-
stellung von Systemen verlangen, während alle syste-
matischen Definitionen und Abstufungen künstlicher
Natur seien. Man könne überzeugt sein, dass die
Natur weder Klassen noch Ordnungen, Familien, Gat-
tungen oder unveränderliche Arten hervorgebracht
habe, sondern nur Individuen, welche aufeinander
folgen und denjenigen gleichen, von welchen sie ab-
stammen. Diese Individuen gehören aber unendlich
Lamark. 113
auseinandergehenden Rassen an, welche nur so lange
sich erhalten , als keine Ursache zur Veränderung auf
sie einwirkt. Ausgehend von den Species constatirt
er, was wir gethan, ihre Unbeständigkeit. Aus der
Vergleichung der Thatsachen der Bastardirung und
Yarietätenbildung ergab sich ihm, „dass alle organi-
sirten Körper wahre Hervorbringungen der Natur sind,
nach und nach in einer langen Zeitfolge zu Stande
gekommen; dass die Natur in ihrem Fortgange an-
gefangen hat und noch immer wieder anfängt mit der
Bildung der einfachsten organischen Körper, und dass
sie direct eben nur diese bildet, nämlich jene nie-
drigsten Lebewesen, welche man mit dem Namen der
freiwilligen Zeugungen bezeichnet hat".
Ab- und Umänderungen treten nach Lamark ein
durch äussere Einflüsse; sie werden im Verlaufe der
Zeiten zu wesentlichen Verschiedenheiten, sodass nach
vielen aufeinander folgenden Generationen die Indivi-
duen, welche ursprünglich einer andern Species an-
gehörten, sich schliesslich in eine neue umgewandelt
finden. Unsere eigene beschränkte Lebenszeit habe
uns an ein so kurzes Zeitmass gewöhnt, dass daraus
die vulgäre falsche Annahme der Stetigkeit und Un-
veränderlichkeit hervorgegangen sei. Die Umwandlung
vollzieht sich in der Nöthigung der Individuen, den
veränderten Lebensverhältnissen sich zu accommodiren.
Neue Umstände rufen neue Bedürfnisse wach und neue
Thätigkeiten , diese aber neue Gewohnheiten und Nei-
gungen. Ein grosses Gewicht ist auf den Gebrauch
oder Nichtgebrauch der Organe zu legen. „In jedem
THere, welches noch in der Entwickelung begriffen
ist, kräftigt der häufigere und nachhaltigere Gebrauch
«ines Organs nach und nach dasselbe, entwickelt, ver-
grössert es und gibt ihm eine im Verhältniss zur Dauer
dieses Gebrauches stehende Kraft; während der nach-
haltige Nichtgebrauch eines Organs dasselbe unmerklich
schwächt, verschlechtert, in zunehmendem Masse seine
Leistungfähigkeit vermindert und es schliesslich ver-
ScHMiDT, BescendeDzlehre. 3
114 Lamark.
kommen läset." „Und so zeigt uns", sagt er, „die
Natur die lebenden Wesen nur als Individuen, welche
sich in Generationen aufeinander folgen; aber die Ar-
ten haben nur eine relative Beständigkeit und sind
nur zeitlich unveränderlich."
Lamark berührt den Kampf aller gegen alle (1, 99 u. a.),
findet aber nicht das Wort der natürlichen Züchtung.
Er ist sich der beiden Factoren der Vererbung und
Anpassung vollkommen bewusst, es fehlt aber seinen
Anschauungen und Ueberzeugungen der Nachdruck der
detaillirten Beweise. Wie fein er aber das Leben auf-
gefasst, möge aus seiner Erklärung der Instincte her-
vorgehen. Alle Acte des Instinctes werden nach ihm
vollzogen unter Anregung, welche erworbene Neigun-
gen (penchans acquis) auf das Nervensystem ausüben;
und indem diese Acte kein Product einer Ueberlegung,
Wahl oder eines Urtheiles sind, befriedigen sie immer
sicher und fehlerlos die gefühlten Bedürfnisse und die
aus der Angewöhnung hervorgegangenen Neigungen.
Wenn aber diese Neigungen zur Erhaltung der Ge-
wohnheiten und zur Erneuerung der darauf bezüg-
lichen Handlungen einmal erworben sind, so vererben
sie sich alsdann in den Individuen mittels der Fort-
pflanzung, welche den Bau und die Disposition der
Theile in dem erlangten Zustande erhält, sodass die-
selbe Neigung schon in den jungen Individuen sich
vorfindet, ehe sie dieselbe ausüben. Allerdings reicht,
wie Darwin gezeigt, diese Erklärung nicht für alle
Thatsachen des Instincts aus, steht aber doch hoch
über der heutigen „Philosophie des Unbewussten",
welche den die Instincte ausführenden Organismus durch
ein ausserhalb desselben befindliches metaphysisches
Wesen zweckmässig regiert werden lässt. ''
Neue Periode der Wissenschaft. 115
VII.
Lyell und die nenere Geologie. Darwin's Selections-
flieorie. Anfang des Lebens.
Solange die Menschheit auf dem geistigen Gebiete
mit Bewusstsein arbeitet, hat es hervorragende Männer
gegeben, welche, schneller combinirend als ihre Zeit-
genossen, diesen im Begreifen grosser Wahrheiten, im
Erkennen wichtiger Gesetze vorauseilten. Man ist
aber leicht versucht, ein solches Vorgreifen einzelner
zu hoch anzuschlagen, und wird in allen Fällen, wo
es sich um dergleichen geistige Grossthaten handelt, her-
ausfinden, dass sie, sozusagen, in der Luft schwebten
und dass nur die grössere Spürkraft und eine soge-
nannte , auf unbewussten Schlüssen beruhende Intuition
den Bevorzugten über die minder scharfsichtige Um-
gebung erhebt.
Grosse wissenschaftliche Wendepunkte , Revolutionen
auf geistigem Gebiete bereiten sich langsam vor; selten
wird das Losungswort frühreif und den Zeitgenossen
unverständlich ausgesprochen; in der Regel, wenn der
Umschwung überhaupt nicht ein allmählicher, fast un-
vermerkter gewesen, sondern wenn durch einen jener
erlesenen Geister der Vorhang plötzlich weggezogen
wird, fällt es Mitarbeitern und Zuschauern wie Schup-
pen von den Augen , und es liegt in der Schnelligkeit,
mit welcher die neue Anschauung sich Bahn bricht,
der beste Beweis, dass sie zur rechten Zeit Gestalt
annahm und verkündet ward.
Dass auch die Descendenzlehre nicht als eine ganz
überraschende Erscheinung, wenn auch als eine ge-
wappnete Minerva, aus dem Haupte ihres grössten
Vertreters, Darwin, hervorsprang, dafür haben wir
wenigstens einige der zahlreichen Belege angeführt.
Bass ihre Zeit wirklich gekommen war, ja dass es die
höchste Zeit war, sollte die Lehre von den Lebewesen,
8*
116 Lyell und die
die allgemeine Biologie, nicht in ganz unwürdiger
Weise zurückbleiben, erhellt aus der Ent^ickelung der
Geologie, welche dreissig Jahre vor Darwin nach
mancherlei guten Anzeichen den richtigen ^Weg der
Erkenntnis» der Ursachen einschlug. Die Lehre von
der Bildung und Entwickelung der Erde, namentlich
in ihren Jüngern Phasen, während welcher es auf un-
serm Planeten in dem Sinne lebendig wurde und blieb,
den wir gewöhnlich mit dem Worte verbinden, diese
Wissenschaft der Geologie hängt innig mit unserm
grossen Thema zusammen. Die neuere Geologie , wie
sie sich besonders an den Namen von Charles Lyell
knüpft, musste über kurz oder lang auch zu ähnlicher
Behandlung der Pflanzen- und Thierkunde zwingen,
und man kann sich nur darüber wundem, dass der
Durchbruch so lange auf sich warten Hess. Das Ver-
standniss der Descendenzlehre wird daher nothwendiger-
weise eingeleitet und eröffnet durch einen, wenn auch
nur kurzen Hinweis auf die neuere Geologie.
Die erste Auflage von LyelFs Principles of Geology
erschien 1830. In der zehnten von 1866 war ihm Ge-
legenheit gegeben, sich den Darwin'schen Lehren, zu
deren Entfaltung er so grossen Anstoss gegeben, voll-
inhaltlich anzuschliessen. Vom Jahre 1872 liegt die
elfte Auflage des Meisterwerkes vor. Es handelt sich
um die Untersuchung fortdauernder Effecte jetzt wir-
kender Ursachen, um daraus auf die Vorzeit zu schliessen.
Lyell nannte diese Effecte eine Autobiographie der
Erde. „Die jetzt auf und in der Erde wirkenden
Kräfte", heisst es , „sind nach Art und Mass dieselben,
wie die, welche in den entlegensten Zeiten geologische
Veränderungen herbeigeführt haben."
Schon sehr früh hat sich, wol infolge verheerender
partieller Fluten und Erdbeben, der Glaube an grosse
allgemeine Katastrophen gebildet, und Lyell knüpft
an die indischen und ägyptischen hierauf bezüglichen
Sagen die Bemerkung , dass der Zusammenhang der
Ueberlieferung von solchen Katastrophen mit dem
neuere Geologie. 117
Glauben an wiederholte allgemeine Sittenverderbniss
sich leicht erklären lasse.
Am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde vereinzelt
die Ansicht ausgesprochen, dass das Untertauchen
grosser Landstrecken, wie das Auftauchen anderer,
langsam geschehen sei , und es bereitete sich die Lehre
vor, dass die Mineralmassen in verschiedene Gruppen
zerfielen, welche in bestimmter Ordnung aufeinander-
folgten. Da trat Werner auf und gründete eine be-
sondere Wissenschaft: „Geognosie." Er war nicht der
erste, der die gesetzmässige Aufeinanderfolge der Ge-
steine sah und lehrte, aber seine Anregung war eine
allgemeine. Von da an datirt der heftige Streit der
Vulcanisten und Neptunisten, und in diesen Streit
hinein fielen die grossen Entdeckungen Cuvier's über
die Thiere der Tertiärformation der Umgebung von
Paris. Durch Cuvier's und Lamark^s Arbeiten über
fossile Thiere stellten sich die Unterschiede der ehemaligen
von den heutigen Organismen heraus, und Cuvier's An-
sichten, sowol die zoologischen wie die geologischen,
errangen den Sieg: es befestigte sich allmählich die
Ueberzeugung , dass auf der Erde lange Perioden der
Ruhe und des Stillstandes mit kürzern allgemeinen
Katastrophen und Revolutionen abgewechselt hätten.'*
Die Katastrophenhypothese erhielt noch nach dem
Erscheinen der Lyell'schen Grundzüge der Geologie
ihre specielle Ausbildung durch Elie de Beaumont's
Theorie über den Bau und die Entstehung der Ge-
birgsketten. Doch gleich anfangs trat Lyell dazwi-
schen und zog folgendes Resultat aus einer Vergleichung
der zwar laligsamen, aber stetigen und bemerkbaren
Hebungen und Senkungen, die in der geschichtlichen
Zeit vor sich gehen, mit den allfälligen Veränderun-
gen, welche die Organismen unterdessen erlitten:
„Mit einem Worte, die Bewegung der unorganischen
Welt liegt vor und ist greifbar, und kann dem Minu-
tenzeigei" einer Uhr verglichen werden, dessen Vor-
rücken man sieht und hört, während die Fluctuationen
118 Die neuere Geologie.
der lebenden Schöpfung kaum sichtbar sind und der
Bewegung des Stundenzeigers gleichen. Nur wenn
man ihn aufmerksam einige Zeit beobachtet und das
Verhältniss seiner Stellung nach Verlauf einiger Zeit
vergleicht, vermögen wir uns von der Wirklichkeit
seiner Bewegung zu überzeugen."'^
Es hatte sich also der sorgi^ltigen Beobachtung und
logischen Deduction gerade das Gegentheil ergeben von
dem, wasCuvier behauptete, welcher grossentheils aus der
ihm auffallenden Verschiedenheit der aufeinander fol-
genden Organismen die geologischen Katastrophen ab-
leitete. Während die Botaniker und Zoologen in
Cuvier's Sinne fortarbeiteten, gestaltete sich unter
Lyell's und seiner Anhänger Händen die Greologie um.
£r ging aus von dem zunächst Greifbaren. Dass es
zur Zeit der Kohlenformation geregnet, wie heute^
sah man aus den Eindrücken von Regentropfen auf
Platten jener Formation. Es wurde die bisher ver-
nachlässigte Wirkung der Flüsse , die Absätze der Del-
tas studirt, die kolossalen Schlammablagerungen, wie
sie Nil und Amazonas zeigen, ferner die zerstörende
Arbeit der unregelmässigen Bewegungen des Meeres
und die theils zerstörende, theils aufbauende Arbeit
seiner regelmässigen Strömungen. Es ward gemessen,
wie die Gletscher pflügen, reiben und zermalmen, was
die Mineralquellen auflösen und absetzen, welche Ma-
terialverschiebungen durch die gegenwärtige Thätigkeit
ausgeführt wird, wie die Umrisse von Land und Meer
durch Hebung und Senkung umgeändert werden. Auch
ergab die Vergleichung ehemaliger und heutiger Ko-
rallenriffe und Austernbänke,- dass diese stillen Bau-
leute ihre Manieren nicht geändert hatten. Kurz, es
erschien die Annahme ausserordentlicher, in der Gegen-
wart unerhörter Ereignisse und Kräfte durchaus nicht
nöthig, nur Zeit, und die stetige Entwickelung der
Erdrinde war erwiesen.
So war die Bühne für die sich wiederholen-
den Acte der Neuschöpfungen der Organismen
Dan^'^in. 119
nach und nach zusammengefallen^ und die
Annahme solcher wunderbarer Neuschöpfun-
gen wurde ein Anachronismus, dem durch Bar-
win's Auftreten ein wohlverdientes Ende bereitet
werden musste. Die Descendenzlehre mit dem Dar-
winismus ist eine geschichtliche Nothwendigkeit.
Charles Darwin ist 1809 geboren und hatte als
Naturforscher der Weltumseglung des „Beagle" unter
Kapitän Fitzroy von 1831 — 37 Gelegenheit, reiche
Erfahrungen zu sammeln. Seine wichtige Arbeit über
die Bildung der Korallenriffe gab die erste genügende
Erklärung dieser aus dem Zusammenwirken geologi-
scher Bewegungen und der organischen Thätigkeit der
Eorallenthiere resultirenden Erscheinung; seine Mono-
graphie der Cirripedien zeigt, mit welcher muster-
haften Sorgfalt er die minutiösesten Detailverhältnisse
zu beobachten und systematisch zu bearbeiten versteht,
welche Bemerkung wir uns deshalb zu machen erlau-
ben, weil noch immer die Gegner des grossen Natur-
forschers sein Verdienst und seine Autorität damit
herabzudrücken suchen, dass sie angeben, er sei eigent-
lich ein mehr in allgemeinen Abstractionen sich be-
wegender Dilettant'^, der scharfen, den Thatsachen
vollständig Rechnung tragenden Beobachtung fremd.
Wie Darwin zu seinem epochemachenden Gedanken
gekommen, hat er in der Einleitung zu dem ersten
sich mit der Descendenzlehre beschäftigenden Werke
„lieber die Entstehung der Arten"'* mitgetheilt, etwas
ausführlicher auch in einem Briefe an Haeckel, welchen
letzterer in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte*'
veröffentlicht hat." Er lautet: „In Südamerika traten
mir besonders drei Klassen von Erscheinungen
sehr lebhaft vor die Seele; erstens die Art und Weise,
in welcher nahe verwandte Species einander vertreten
und ersetzen , wenn man von Norden nach Süden geht ;
— zweitens die nahe Verwandtschaft derjenigen Spe-
cies, welche die Südamerika nahe gelegenen Inseln
bewohnen, und derjenigen Species, welche diesem Fest-
120 Darwin.
lande eigenthümlich sind; dies setzte mich in tiefes
Erstaunen, biBSonders die Verschiedenheit derjenigen
Species, welche die nahe gelegenen Inseln des Gala-
pagos- Archipels bewohnen; — drittens die nahe Be-
ziehung der zahnlosen Säuge- und Nagethiere zu den
ausgestorbenen Arten. Ich werde niemals mein Er-
staunen vergessen, als ich ein riesengrosses Panzer-
stück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden
Gürtelthieres.
„Als ich über diese Thatsachen nachdachte und
einige ähnliche Erscheinungen damit verglich-, schien
es mir wahrscheinlich, dass nahe verwandte Species
von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten.
Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen,
wie eine jede Form so ausgezeichnet ihren besondem
Lebensverhältnissen angepasst werden konnte. Ich
begann darauf systematisch die Hausthiere und die
Gartenpflanzen zu studiren, und sah nach einiger Zeit
deutlich ein, dass die wichtigste umbildende Kraft in
des Menschen Zucbtwahlvermögen liege, in seiner Be-
nutzung auserlesener Individuen zur Nachzucht. Da-
durch, dass ich vielfach die Lebensweise und Sitten
der Thiere studirt hatte, war ich darauf vorbereitet,
den Kampf ums Dasein richtig zu würdigen; und meine
geologischen Arbeiten gaben mir Vorstellung von der
Ungeheuern Länge der verflossenen Zeiträume. Als
ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von
Malthus: *Ueber die Bevölkerung' las***, tauchte der
Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf. Unter
allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den
ich schätzen lernte, di^ Bedeutung und Ursache des
Divergenzprincips."
Dass die Organismen nicht in starre Formen ge-
bannt, sondern variabel sind, ist eine so allgemeine
Erscheinung, dass die Variabilität als eine selbstver-
ständliche Eigenschaft des Organischen gilt. Wir wer-
den im nächsten Abschnitt untersuchen, inwiefern wirk-
lich alles Organische der Veränderlichkeit unterworfen
Künstliche Züchtung. 121
sein muss. Anf der Thatsache dieser Eigenschaft be>
ruht die seit den ersten Anfangen der Jagd und de»
Ackerbaues unbewusst und bewusst geübte künst-
liche Züchtung oder Zuchtwahl des Menschen,
deren Bedeutung, wie Darwin sagt, „hauptsächlich in
dem Vermögen liegt , kaum merkbare Verschiedenheiten
auszuwählen, welche nichtsdestoweniger sich als der
Ueberlieferung föhig herausstellen , und welche sich häu-
fen lassen, bis das Resultat für das Auge eines jeden
Beschauers offenbar wird". Darwin hat in der „Ent-
stehung der Arten" als Beispiel für die methodische
Zuchtwahl bei der Rassenerzeugung die Taube gewählt,,
mit deren Zucht er sich jahrelang auf das eifrigste
beschäftigte. Die Taube eignet sich zum Zweck der
wissenschaftlichen Beobachtung der Zuchterscheinungeu
ganz besonders, weil sie wegen ihrer monogamischen
Lebensweise sich leicht controliren lässt , weil sie in
kurzer Zeit zu auffallenden Abänderungen gebracht
werden kann, die Nachrichten über ihre Zucht ziem-
lich vollständig sind, und weil sie endlich eins der
wenigen Hausthiere ist, über deren Stammart kaum
ein Zweifel obwaltet. Die Hauptformen der von den
Liebhabern hervorgebrachten Rassen lassen sich in
folgender Weise gruppiren. Die Kropftauben haben
einen massigen Schnabel, verlängerte Beine und Kör-
per, ihre Speiseröhre ist vom Kropf kaum getrennt
und kann aufgeblasen werden. Eine zweite Gruppe
umfasst die Boten-, Runt- und Barbtauben, welche im
allgemeinen einen langen Schnabel, mit Hautanschwel-
lungen über den Nasenlöchern und nackter oder auch
mit Carunkeln versehener Haut um die Augen haben.
In eine andere Gruppe mit verkürztem Schnabel und
nur gering entwickeltem nackten Augenumkreis gehört
die Pfauentaube, bei welcher die normale Zahl von
12 Schwanzfedern bis auf 42 steigen kann, bei ver-
kümmerter Oeldrüse; ferner die Burzeltaube, in wel-
cher der Schnabel eine extreme Kürze eiTeicht und
bei der eine krankhafte , durch Zuchtwahl hervorgerufene
122 Künstliche Züchtung.
und gesteigerte Disposition des Gehirnes, die sich im
Ueberschlagen äussert, seit mehr als zwei und ein halb
Jahrhunderten sich vererbt und zur Rasseneigenthümlich-
keit befestigt hat. In der \derten Gruppe nimmt die
Trommeltaube wegen ihrer eigenthümlichen Stimme eine
bevorzugte Stelle ein, auch die Lachtaube, an welche
sich noch mehrere Unterklassen anschliessen , die sich
nur sehr wenig von der wilden Felstaube (der Columba
livia) unterscheiden. Die letztere findet sich, in einige
geographische Rassen zerspalten, von den faröerschen und
schottischen Küsten bis zu den Mittelmeergestaden
und bis nach Indien, und die subtilste Untersuchung,
ob jene so fabelhaft voneinander abweichenden Kassen
der zahmen Tauben etwa auf acht bis neun wilde Arten
oder einzig auf die weitverbreitete Felstaube zurückzu-
führen seien, schlägt entschieden zu Gunsten des letz-
tem Falles aus. Grössenverhältniss , Färbung und
andere Skelettheile, welche in den verschiedenen Ras-
sen viel weiter voneinander differiren, als dieselben
Charaktere und Eigenschaften bei wohlgeschiedenen
wilden Arten derselben Gattung oder auch Familie,
sie verändern sich unter der Hand und nach dem
Willen des Menschen, und ganz ausgezeichnet lässt
sich gerade auch bei der Taube die Erscheinung ver-
folgen, welche Correlation des Wachsthums ge-
nannt worden ist und darin besteht, dass bei der
durch Zuchtwahl beabsichtigten Veränderung eines
Organes ein anderes oder mehrere andere in Mitleiden-
schaft gezogen werden und sich zu unbeabsichtigten
Rasseneigenthümlichkeiten umformen.
Darwin's minutiöse Forschungen über die Rassen-
bildung der Tauben ist in seinem zweiten, die Descen-
denzlehre behandelnden Werke über das Vafiiren der
Pflanzen und der Thiere im Zustande der Zähmung ent-
halten, wo sich auch die eingehendsten Untersuchungen
über die übrigen Hausthiere finden. Wer Gelegenheit
gehabt hat, eine der neuern Hühnerausstellungen zu
besichtigen, wird über die Verschiedenheit der Rassen-
Künstliche Züchtung. * 123
formen und über die Reinheit und Gleichförmigkeit
innerhalb derselben erstaunt gewesen sein. Nicht mit
derselben fast absoluten Sicherheit, wie bei den Tau-
ben, aber doch annähernd gewiss ergibt sich auch für
die Hühner eine einzige Stammart, der indische Gallus
bankiva. Die von den englischen Landwirthen seit
dem vorigen Jahrhundert aus der Mischung des hei-
mischen Schweines mit dem indischen gezogenen
Schweinerassen, ausgezeichnet verschieden in ihrer
ganzen Erscheinung, Färbung, Grösse der Ohren, Länge
der Beine, zum Theil auch Fruchtbarkeit, bewähren
ebenfalls das cumulative Zuchtvermögen des Menschen,
noch anziehender dürften aber die beiden Rassen des
Schafes und des Rindes sein, welche mit den hervor-
ragendsten jener Schweinerassen seit mehr als einem
Jahrzehnt auf dem Continent besonders beliebt ge-
worden sind, das Southdown-Schaf und das Shorthorn-
Rind. Sie und so viele andere Hausthierrassen sind
zu bestimmten Zwecken und für gewisse Vortheile der
Wirthschaft und des Verkehrs erzogen und bewähren
insgesammt die Plasticität der Art. Die Zuchtwahl
arbeitet durch Befestigung anfanglich veränderlicher
Merkmale, die in der Regel bei ihrem ersten zufälligen
Auftreten nur von dem sorgsamen Kennerauge bemerkt
werden. Aber auch nicht wenige Fälle sind consta-
tirt, wo eine zufällige Difformität und eine nur bei
einem Individuum plötzlich hervortretende neue Eigen-
schaft zur schnellen Gründung neuer Rassen sich be-
nutzen liessen. „So wurde", theilt Darwin mit*^
„1791 in Massachusetts ein Widderlamm mit krummen
Beinen und einem langen Rücken, wie ein Dachshund,
geboren. Von diesem einen Lamme wurde die halb-
monströse Otter- oder Anconrasse gezüchtet. Da diese
Schafe nicht über die Hürden springen konnten, so
glaubte man, sie würden werthvoU sein, sie sind aber
von Merinos ersetzt worden und auf diese Weise aus-
gestorben. Diese Schafe sind merkwürdig, weil sie
ihren Charakter so tein fortpflanzten, dass Oberst
124 Künstliche Züchtang.
Humphreys nur von einem einzigen zweifelhaften Fall
hörte , wo ein Anconwidder und ein Mutterschaf nicht
einen Anconwurf erzeugt hätten." — „Einen noch in-
teressantem Fall findet man in den Keports der Jury
des grossen Ausstellung von 1851, nämlich die Geburt
eines Merinowidderlammes auf der Mauchamp-Farm im
Jahre 1828, welches durch seine lange, glatte, schlichte
und seidenartige Wolle merkwürdig war. Bis zunl
Jahre 1833 hatte Mr. Graux Widder genug erzogen,
um seiner ganzen Heerde dienen zu können, und wenige
Jahre später war er im Stande, von seiner neuen
Zuchtrasse zu verkaufen. Die Wolle ist so eigenthüm-
lich und werthvoll, dass sie 25 Proc. höhere Preise
erhielt, als die beste Merinowolle. Selbst die Vliese
von Halbzuchtthieren sind werthvoll und in Frankreich
unter dem Namen Mauchamp- Merino bekannt. Als
einen Beweis dafür, wie allgemein jede scharf gezeich-
nete Abweichung in der Structur von andern Abwei-
chungen begleitet wird, ist dieser Fall dadurch in-
teressant, dass der erste Widder und seine unmittelbaren
Nachkommen von geringer Grösse waren, mit grossen
Köpfen, langen Hälsen, schmaler Brust und langen
Seiten. Dieser Fehler wurde aber durch sorgfaltige
Kreuzungen und Zuchtwahl beseitigt. Die lange, glatte
Wolle tritt in Verbindung mit glatten Hörnern auf,
und da Hörner und Haare homologe Bildungen sind,
so lässt sich die Bedeutung der Correlation wohl ver-
stehen. Läge der Ursprung der Mauchamp- und An-
conrassen ein oder zwei Jahrhunderte zurück, so
würden wir keinen Nachweis über deren Geburt haben,
und viele Naturforscher würden ohne Zweifel, beson-
ders bei der Mauchamprasse, behaupten , dass jede von
einer unbekannten Stammform abstammte oder mit ihr
gekreuzt worden sei."
Vergleicht man die Obsorge für die Hausthiere in
kleinen, vom aufmunternden Weltverkehr abgelegenen
Bauernwirthschaften mit der raffinirten Rassenzucht
auf den grossen Gütern, und steigt man von jenen
ünbewusste Zuchtwahl. Rückfall. 125
abwärts zur Behandlung der wenigen Hausthiere oder
des einen zahmen Thieres, des Hundes, bei wilden
Völkern , so verschwindet die bewusste künstliche Zucht-
wahl mehr und mehr , wird aber überall , wo der Mensch
Pflanze und Thier an seinen Wohnsitz fesselt, wenig-
stens unbewusst ausgeübt. Das starke Thier, die reich-
licher Nahrung gebenden Pflanzenindividuen werden
ohne besondere Ueberlegung zur Fortpflanzung ver-
wendet, und so ist die ünbewusste Zuchtwahl von der
methodisch geübten nicht zu trennen. Die Einleitung
und Fortführung der Kassenbildung wird natürlich er-
leichtert durch die Möglichkeit, die zur Zucht aus-
erlesenen Thiere in neue Umgebungen und Lebens-
bedingungen zu bringen, und es wird die Bildung
neuer Rassen begünstigt durch die Leichtigkeit, mit
welcher die Züchtung die Kreuzung der in der Bil-
dung begriffenen Formen mit schon vorhandenen Ras-
sen verhindern kann.
Ohne Zweifel sind eine Menge von Hausthierrassen
nicht in dem Zustande, dass man sie als neue Arten
bezeichnen kann, das will sagen, sie befinden sich mit
ihren angezüchteten neuen Eigenschaften nur in einem
Zustande künstlicher Stetigkeit und fallen, der zu-
fälligen und regellosen Vermischung mit andern Rassen
und der Stammrasse preisgegeben, nach und nach in
dieselbe zurück. Dass aber überhaupt alle unbewusst
oder bewusst gezüchteten Rassen keine neue Arten
seien und, dem Naturzustande wieder überlassen, rück-
schlägig würden, ist eine willkürliche und unrichtige
Behauptung. Gesetzt, man überliesse sämmtliche Hühner-
rassen sich selbst, so muss zwar die Möglichkeit zu-
gegeben werden, dass in Indien einzelne Formen sich
rückwärts in das Bankivahuhn verwandelten, dass aber
in Europa und Amerika nimmer aus unsem verwilder-
ten Hühnerrassen die indische Stammrasse zum Vor-
schein kommen, sondern sich höchstens einzelne neue
allgemeiner verbreitete und nach geographischen Be-
zirken constant bleibende Mischformen bilden würden,
126 Zuchtwahl bildet Arten.
liegt auf der Hand. Noch niemand hat behaupten
können, dass die verwilderten und von der Obsorge
des Menschen gänzlich verlassenen Hunde des Orientes
zu Wölfen oder Schakalen, ihren muthmasslichen Vor-
fahren, geworden seien. Sie werden „schakalähnlich'',
womit jedermann ausdrückt, dass der vor Jahrtausen-
den zum Hausthier gewordene und gezüchtete Hund
seine erworbenen Arteigenthümlichkeiten auch
unter den zu der Entäusserung günstigsten Umständen
bewahrt. Jene Versicherung, die Hausthiere seien
keine neuen Arten, ist um so hinfälliger, als von man-
chen Hausthieren die Stammarten gänzlich unbekannt
sind, so wie Schaf und Ziege, über deren Vorfahren
man nur vage Vermuthungen aufstellen kann. Auch
die älteste uns bekannte Schafrasse, das ziegenhörnige
Schaf aus den schweizerischen Pfahlbauten, gibt keine
Auskunft, und auf dem Wege des Experimentes den
Rückfall der heutigen Schafe zur Stammform zu beob-
achten, ist völlig unmöglich. Dass das Pferd von
einer gestreiften Stammart abzuleiten sei, ist wahr-
scheinlich , eine solche ist aber trotz der vielen Genera-
tionen, in welchen sich die grossen Heerden verwilder-
ter Pferde in Südamerika ungestört fortpflanzten, nicht
zum Vorschein gekommen. Die feinen Untersuchungen
Rütimeyer's über das Hausrind haben gezeigt, dass
zu seiner Bildung in Europa mindestens drei, als Ar-
ten wohl unterschiedene Formen der Diluvialzeit, Bos
primigenius, longifrons und frontosus beitrugen. Diese
Arten lebten einst geographisch getrennt, aber gleich-
zeitig, und sie sind mit ihren specifischen Eigenthüm-
lichkeiten untergegangen und aufgegangen in unsern
zahmen Rassen. Diese Rassen vermischen sich un-
bedingt fruchtbar miteinander, erinnern in Schädel-
und Hornbildung an die eine oder andere der aus-
gestorbenen Arten, bilden aber in ihrer Gesammtheit
eine neue Hauptart. Dass aus ihren Rassen einmal
wieder die drei oder eine der Stammarten im reinen
Natürliche Zuchtwahl. 127
ursprünglichen Zustande hervorgehen könnten , wäre
eine ganz lächerliche Behauptung.
Bei allen diesen zuletzt genannten Hausthieren,
Hund, Schaf, Ziege, Pferd, Rind, ist nun die Um-
änderung zu einer Periode der menschlichen Cultur
eingetreten, wo man an eine künstliche Züchtung im
heutigen Sinne nicht entfernt dachte, und wo der
Hauptfactor der Umbildung, abgesehen von der un-
willkürlichen und unbewussten Zuchtwahl, einfach in
der veränderten Lebensweise lag. Hiermit werden wir
zu den Abänderungen im Naturzustände und zur
natürlichen Zuchtwahl geführt. Beide, die natür-
liche wie die künstliche Zuchtwahl, beruhen auf der
unbestrittenen Thatsache der individuellen Verschieden-
heiten der nächst verwandten Pflanzen- und Thier-
individuen; auch das hat sich uns schon oben heraus-
gestellt, dass zweifelhafte Arten nicht, wie die alte
Schule wollte, Ausnahmen sind, sondern dass nur die
mangelhafte Kenntniss des Artenmaterials daran schuld
ist, dass nicht alle Arten als zweifelhaft und künst-
lich betrachtet werden. Erinnern wir uns hier noch-
mals daran, dass auch die strengsten Speciessystema-
tiker in vielen Tausenden von Fällen nicht anzugeben
wissen, wo ihre Arten anfangen und aufhören, wie
da beispielsweise Darwin eine Mittheilung von H. C. Wat-
8on anführt, dass 182 britische Pflanzen, welche
gewöhnlich als Varietäten betrachtet werden , alle auch
schon von einzelnen Botanikern als selbständige Arten
in Anspruch genommen wurden. ^^ Darwin's unsterb-
liches Verdienst besteht nun darin, gezeigt zu haben,
welche Macht auf die als veränderlich vorliegenden
Individuen und Arten einwirkt, und welche Resultate
aus dieser Einwirkung hervorgehen müssen. Er hat
die Schlüssel in dem zu einem Wahrzeichen und Ge-
meingut unserer Zeit gewordenen Worte ,,Kampf
ums Dasein" {struggle for life*) gefunden und damit
* Wallace's Antheil an diesem Ruhm am Schlüsse dieses
Kapitels.
128 ^ci* Kampf ums Dasein.
die Begründung und Theorie einer Lehre gegeben,
deren Wahrheit schon lange vor ihm einem Geiste wie
Lamark klar geworden war. Er hat die Abstammungs-
lehre durch die Selectionstheorie begründet, indem er
nachwies, dass in der Natur durch den Kampf um das
Dasein eine der künstlichen Zuchtwahl vergleichbare
Auslese des Bessern nnd Passendem vor sich gehe,
welche neue Rassen und neue Arten erzeugt.
Auch der Kampf um das Dasein, dieses bellum
omnium contra omnes, ist eine unbestrittene und un-
abweisliche Thatsache, welche wir hier in ihren wei-
testen Beziehungen nehmen. Nicht blos das Raubthier
kämpft gegen die Pflanzenfresser, welche wiederum
durch stärkere Vermehrung, Schnelligkeit und List
«ich im Gleichgewicht zu halten suchen; auch das
allmähliche Vordrängen einer Pflanze ist ein Ringen
mit natürlichen Hindernissen, bei dessen Siege in der
Regel andere Pflanzen in ihren Lebensbedingungen
geschädigt werden. Könnte die Vermehrungsfahigkeit
eines beliebigen Organismus schlechthin und unein-
geschränkt wirken, so würde jedes Wesen für sich in
einer kurzen Reihe von Jahren die Erdoberfläche oder
die Gewässer in Anspruch nehmen. Aber eines hält
das andere im Zaum, und zu den lebendigen Feinden
eines jeden Geschöpfes gesellen sich Klima und alle
Einwirkungen der Umgebung, der Wechsel der Jahres-
zeiten, mit denen der Körper sich abfinden muss. Die
Organismen leben nur auf Kosten anderer und für
andere, und der Friede und die Stille der Natur, die
von dem Dichter besungen werden, lösen sich vor dem
prüfenden Auge in eine unendliche Unruhe und Hast
auf, das Dasein zu behaupten und zu befestigen, in
welchen nur der Gedanke der sichtbaren und noth-
wendigen Vervollkommnung den Beobachter vor einer
pessimistischen Weltanschauung retten kann. Die ein-
fachsten Beispiele für das Abhängigkeitsverhältniss der
Lebewesen untereinander sind zwar die besten und am
meisten überzeugenden, welche grosse Folgen aber von
Der Kampf ums Dasein. 129
scheinbar geringfügigen Umständen und Verknüpfungen
abhängen, und wie höchst zusammengesetzt das Ge«
triebe zur Erhaltung des Gleichgewichts, hat Darwin
mit einigen Beispielen belegt, welche wir, obschon sie
seitdem tausendmal wiederholt sind, uns auch vor-
zubringen erlauben. Während im Süden und Norden
von Paraguay verwilderte Rinder, Pferde und Hunde
in Menge vorkommen, fehlen sie in Paraguay. „Azara
und Rengger haben gezeigt, dass die Ursache dieser
Erscheinung in Paraguay in dem häufigem Vorkommen
einer gewissen Fliege zu finden ist, welche ihre Eier
in den Nabel der neugeborenen Jungen dieser Thier-
arten legt. Die Vermehrung dieser so zahlreich auf-
tretenden Fliegen muss regelmässig durch irgendein
Gegengewicht und vermuthlich durch andere parasi-
tische Insekten gehindert werden. Wenn daher ge-
wisse insektenfiressende Vögel in Paraguay abnähmen,
so würden die parasitischen Insekten wahrscheinlich
zimehmen, und dies würde die Zahl der den Nabel
aufsuchenden Fliegen vermindern; dann würden Rind
und Pferd verwildern, was dann wieder (wie ich in
einigen Theilen Südamerikas wirklich beobachtet habe)
eine bedeutende Veränderung in der Pflanzenwelt ver-
anlassen würde. Dies müsste nun femer in hohem
Grade auf die Insekten und hierdurch auf die insekten-
fressenden Vögel wirken, und so fort in immer ver-
wickeltem Kreisen." Ein anderes Beispiel aus Darwin's
Schatze ist vielleicht noch anregender. „Ich habe",
sagt er*^, „durch Versuche ermittelt, dass Hummeln
zur Befruchtung des Stiefmütterchens oder Pensees
(Viola tricolor) fast unentbehrlich sind, indem andere
Bienen sich nie auf dieser Blume einfinden. Ebenso
habe ich gefunden, dass der Besuch der Bienen zur
Befruchtung ' von mehrern unserer Kleearten nothwen-
dig ist. So lieferten z. B. mir 20 Köpfe weissen Klees
(Trifolium repens) 2290 Samen, während 20 andere
Köpfe dieser Art, welche den Bienen unzugänglich
gemacht waren, nicht einen Samen zur Entwickelung
Schmidt, Descendenzlehre. 9
130 ^6^ Kampf ums Dasein.
brachten. Ebenso ergaben 100 Köpfe rothen Klees
(Trifolium pratense) 2700 Samen, und die gleiche An-
zahl gegen Hummeln geschützter Stücke nicht einen 1
Hummeln allein besuchen diesen rothen Klee, indem
andere Bienen den Nektar dieser Blume nicht errei-
chen können. Auch von Motten hat man vermuthet^
dass sie zur Befruchtung des Klees beitragen; ich
zweifle aber wenigstens daran, dass dies mit dem
rothen Kl«e der Fall ist, indem sie nicht schwer genug
sind, die Seitenblätter der Blumenkrone niederzu-
drücken. Man darf daher wol als sehr wahrscheinlich
annehmen , dass, wenn die ganze Gattung der Hummeln
in England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch
Stiefmütterchen und rother Klee sehr selten werden
oder ganz verschwinden würden. Die Zahl der Hum-
meln hängt in einem beträchtlichen Masse von der
Zahl der Feldmäuse ab, welche deren Waben und
Nester zerstören. Oberst Newman , welcher die Lebens-
weise der Hummeln lange beobachtet hat, glaubt, dass
durch ganz England über zwei Drittel derselben auf
diese Weise zerstört werden. Nun hängt aber, wie
jedermann weiss, die Zahl der Mäuse in grossem Masse
von der Zahl der Katzen ab, sodass Newman sagt, in
der Nähe von Dörfern und Flecken habe er die Zahl
der Hummelnester grösser als irgendwo anders gefun-
den, was er der reichlichem Zerstörung der Mäuse ^
durch die Katzen zuschreibe. Daher ist es denn völlig
glaublich, dass die Anwesenheit eines katzenartigen
Thieres in grösserer Anzahl in irgendeinem Bezirk
durch Vermittelung zunächst von Mäusen und dann von
Bienen auf die Menge gewisser Pflanzen daselbst von
Einfluss sein kann.^^
Der Kampf ums Dasein entbrennt um so heftiger,
je verwandtschaftlich näher einander die Mitbewerber
stehen; denn je verschiedenartiger die Bedürfnisse nahe
beieinander wohnender Organismen sind, um so weniger
sind diese einander im Wege, um so mehr kann jeder
für sich seine Umgebung ausnutzen. Hiergegen scheinen
Der Kampf ums Dasein. 131
zwar gleich die grossen Eeihen der geselligen Pflanzen
und Thiere zu sprechen, allein auch sie machen bei
näherer Betrachtung keine Ausnahme, indem sie oft
gerade durch ihre Menge einander gegenseitig die Exi-
stenz ermöglichen und erleichtern und gerade auch
nur in dem Grade sich vermehren, als die Nahrungs-
masse es zulässt. Tritt bei den geselligen Pflanzen
und den Heerdenthieren eine Ueberproduction ein, so
beginnt augenblicklich die Concurrenz und der Kampf,
und überhaupt wird ganz unbedingt das Leben ebenso
geregelt, wie bei den an Individuenzahl minder auf-
fallenden Arten. Unser Satz, dass die Heftigkeit des
Kampfes mit der Nähe der Verwandtschaft steigt, gilt
also allgemein. Selten wird ein so rasch verlaufender
Vernichtungskrieg geführt, wie zwischen der Hausratte
(Mus rattus) und der Wanderratte (Mus decumanus),
und viel häufiger haben wir den Eindruck, dass die
einen Wohnbezirk theilenden Glieder einer Art, z. B.
Hasen und Hirsche , einträchtig miteinander verkehren,
als dass sie sich das Dasein verkümmern sollten. Und
doch ist dem so. Die beiden mächtigen Triebfedern
der Erhaltung des Individuums und der Erhaltung der
Art spornen unausgesetzt zum Kampfe an, und unter
ihrem Einfluss tritt jedes Lebewesen, die Pflanzen ein-
geschlossen, in den Kampf mit den Artgenossen der
nächsten Umgebung ein. In dieser Concurrenz um die
Nahrung, verbunden mit der Abwehr gegen alle mög-
lichen Feinde und andere Mitbewerber um die übrigen
Vortheile der Existenz, behält der Stärkere Recht, der
Listigere, der Geschicktere, kurz der mit irgendeinem
Vortheil ausgerüstet mit seinen Nebenbuhlern sich
messen kann. Nicht nur beim Kampf um die Weib-
chen, bei jeder Gelegenheit der Concurrenz werden
die schwachem Individuen abgeschlagen und findet
eine Auslese der stärkern und beaaern statt. Aber die
anfänglich geringen, oft kaum bemerkbaren Vortheile,
geistige wie körperliche, welche jenen Individuen zum
Siege und zum Ueberleben der die zufälligen Vortheile
9*
132 Geschlechtliche Zuchtwahl.
entbehrenden oder schwachem ArtmitgUedem yerhal-
fen, haben Aussicht, fortgepflanzt zu werden, in den
nächsten Generationen sich zu befestigen und zu stei-
gern in wiederholter Auslese. Diese Auslese ist also
ein natürlicher und noth wendiger Verlauf der Dinge,
und es ist klar, dass sie nicht nur in ganz allgemei-
ner und vager Bedeutung Anwendung findet etwa auf
den äussern Habitus, Grösse und Starke der Indivi-
duen, sondern dass bei der thatsächUchen Yariabilität
und Plasticität der organischen Formelemente, auch
einzelne Theile und Organe in bestimmter vortheil-
hafter Richtung abgeändert und vervollkommnet wer-
den können, um der Basse und Art eine höhere Stel-
lung in der umgebenden Welt zu verschaffen.
Ausser dem allgemeinen Resultate des Rechtes des
Starkem, wo es sich um den Fortpflanzungstrieb han-
delt, kommt in diesem Gebiete noch eine andere sehr
einflussreiche Erscheinung zur Geltung, welche von
Darwin als geschlechtliche Zuchtwahl bezeichnet
und sehr ausführlich in dem Werke über die Abstam-
mung des Menschen bearbeitet worden ist. Hier gilt
es in erster Linie um die Bildung von Geschlechts-
eigenthümlichkeiten der Männchen , um secundäre
Eigenschaften, durch welche sie in den Bewerbungen
um die Weibchen unterstützt werden, in zweiter erst
um die Rückwirkungen dieser Eigenthümlichkeiten auf
die Umänderung und Vervollkommnung der Art über-
haupt.
Der Grundgedanke der Selectionstheorie Darwin's
ist also, dass in der Natur die Rolle des cumulativen
Wahlvermögens des Rassen züchtenden Menschen durch
den Kampf ums Dasein ersetzt wird, und dass durch
die mit der Zeit eintretende Cumulirung anfanglich
geringer, dann immer mehr hervortretender Vortheile
die niedrigem Organismen in höhere verwandelt wer-
den. Die Wirkung ist eine unausgesetzte. „Man kann
figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich
und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine
Schwierigkeiten der Theorie. 133
jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie
zu verwerfen , wenn sie schlecht , und sie zu erhalten
und zu vermehren, wenn sie gut ist. Still und un-
merkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Ge-
legenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines
jeden Wesens in Beziehung auf dessen organische und
unorganische Lebensbedinguilgen beschäftigt." **
Die folgenden Abschnitte werden uns näher in die
Theorie, ihre Wahrheit, Möglichkeit, Anwendung und
Bestätigung einführen, während wir schon jetzt uns
mit einigen Einwendungen gegen dieselbe, und zwar
entweder speciell gegen die Selectionstheorie, oder gegen
sie sanunt der Umwandlungslehre als Ganzes, bekannt
machen wollen, deren wichtigste schon Darwin selbst
sich vorgelegt und beantwortet hat.
Wenn, so sagt man, alle Lebewesen in einem di-
recten, ununterbrochenen Zusammenhange miteinander
stehen sollen, wo sind die unendlich vielen Zwischen-
formen geblieben, welche nothwendig existirt haben
müssen? Unser Blick richtet sich zuerst auf die jetzt
lebenden Organismen, und da sie nach der Theorie
die Endspitzen eines unendlich verzweigten Baumes
sein sollen, welche offenbar sich dicht drängen und
jede für sich nach allen Seiten in Varietäten ausein-
ander gehen müssen, so verlangen wir die Zwischen-
formen zu den jetzt nebeneinander bestehenden Arten.
Wir können uns nun auf die früher (Seite 83 fg.)
gegebenen Nachweise berufen, dass wirklich in ganzen
grossen Gruppen von Organismen die neuere wissen-
schaftliche Forschung nichts anderes als Zwischenfor-
men hat entdecken können. Auch wird die Reise,
welche Kerner in seinem Büchelchen über „Gute und
schlechte Arten" mit dem Botaniker Simplicius aus
dem europäischen Westen nach dem Osten unternimmt,
dem nach weitern Material begierigen Leser eine er-
götzliche Menge liefern. Die Verbreitung der Cytisus-
arten, welche derselbe Naturforscher eingehend unter-
sucht hat, zeigt gleichfalls das lückenloseVorhandensein
134 Mangel an Zwischenformen.
von Verbindungsformen auf den Grenzgebieten von
Arten, deren Verbreitungamittelpunkte mehr oder
weniger weit auseinander liegen. Es geht aus allein
diesen Beispielen, welche nach Tausenden zählen,
hervor, dass ein grosser Theil sich im Stadium der
relativen Stetigkeit befindet. Bass aus diesem Grunde
ihre Zwischenformen nut in der Vergangenheit ge-
sucht werden können, ist ebenso wenig wunderbar,
spricht nicht im geringsten gegen die Richtigkeit der
Descendenzlehre, und die Forderung nach Zwischen-
formen zu diesen local und zeitweilig formbeständigen
Arten zeigt nur, wie wenig diesenigen, welche sie
stellen, das Wesen der Descendenz begriffen haben.
Es handelt sich aber bei dem Einwurf hauptsächlich
um solche Zwischenformen, welche die Arten mit den
zeitlich vor ihnen liegenden Stammarten verbinden.
Nach der Theorie waren die jetzt lebenden Arten
durch Formen von der Qualität der Varietäten, der
„werdenden Arten", mit ihrer Stammart verbunden,
die Stammarten wieder mit altern u. s. w. , sodass
eine unendliche Anzahl von Formenvarietäten existirt
haben muss. Wir haben zwar früher (S. 88) ebenfalls
den Beweis geliefert, dass der Uebereifer der Paläon-
tologen Arten, auch nach Tausenden zählend, aufge-
stellt, wo blosse Umwandlungsformen und Varietäten
vorhanden; wir haben erwähnt, dass eine Reihe aus-
gezeichneter Paläontologen der Gegenwart die Fehler
ihrer Vorgänger gut zu machen bemüht sind und die
ununterbrochenen Uebergangsreihen aus den tiefem in
die neuem Schichten klar legen, wo jene mit grossem
Aufwände von Scharfsinn Artcharaktere ausgespürt zu
haben meinten. Dennoch muss man zugeben, dass die
Anzahl von Uebergangsformen ^ welche bisher wirklich
gefunden sind, verschwindend klein ist gegen die un-
zählbare Menge, welche existirt haben müssen. Die-
ser Mangel lässt sich aber vollkommen befriedigend
erklären. Wir kennen von den versteinerungführenden
Schichten einen sehr geringen Theil, und mit demselben
Mangel an Zwischenformen. 135
Hechte, wie Lamark am Anfang dieses Jahrhunderts^
können wir nach heute auf die Armuth der Samm-
lungen hinweisen. Wo immer der Palaontolog heute
zugreift, findet er Zwischenformen, und das Material
häuft sich von Tag zu Tag in dem Masse, als man
es braucht. Man verlangt jedoch zu viel und verkennt
die Bedingungen der Erhaltung , wefnn man meint, alle
Zwischenformen, welche je existirt haben und nach
ihrer Leibesbeschaffenheit sich ganz oder theilweise
zur Erhaltung eigneten, müssten auch wirklich er-
halten worden sein. Im Gegentheil, die grösste An-
zahl derselben ist sicher spurlos verschwunden. Min-
destens die Hälfte aller geologischen Ablagerungen
wurde während langsamer Hebungen wieder zerstört.
Denn von dem Zeitpunkt an , wo ein früher in grösserer
Tiefe liegender Meeresboden mit seinen wohlconser-
virten Einschlüssen wieder bis in das Bereich der
Oberflächenbewegung emporgehoben ist, kann er zer-
bröckelt und zernagt werden, und die in ihm ent-
haltenen Versteinerungen haben nun dasselbe Schicksal,
wie gewöhnlich die Reste der Bewohner seichter Ufer:
sie werden vom Geröll zerrieben. Dazu kommt noch
die sehr wichtige Erwägung, dass die die Uebergänge
vermittelnden Formen meist eine kürzere Lebensdauer,
nicht als Individuum, sondern als Form, gehabt haben
werden, als die uns als Arten erscheinenden ständigen
Varietäten, wie unter anderm auch der so lehrreiche
Steinheimer Fund zeigt. Die Uebergangszeiten von
einem geologischen Horizont zum nächstfolgenden glei-
chen hierin den Grenzgebieten zweier geographischen
Bezirk«. Die Strecke des Uebergangs vom einen zum
andern ist besonders geeignet, die Veranlassung zur
Umformung der sie passirenden Organismen zu geben.
Diese Umformung vollzieht und befestigt sich aber erst
auf dem neuen Bezirk. So sind die Uebergangszeiten
in der geologischen Reihe die Perioden der verhält-
nissmässigen Unruhe. "Während derselben war die
Nöthigung zur Anpassung und Umformung für die
136 Plötzliclies Erscheinen neuer Gruppen.
Pflanzen- und Thierwelt am grössten, die Existenz-
bedingungen aber zugleich am ungünstigsten; die In-
dividuenzahl der zur Umbildung gelangenden Arten
musste sich nothwendig verringern und konnte erst
wieder in den darauf folgenden Ruheperioden steigen.
Es ist daher nicht zu verwundern, dass der Katalog
der ZwischenformeA so sehr lückenhaft ist; ihr Mangel
wird aber auch nur von denjenigen bemerkt, welche
sie durchaus vermissen wollen. Zur Herstellung des
wissenschaftlichen Beweises der Descendenzlehre haben
wir eine Ueberfülle von ihnen.
Mit dem vermeintlichen Mangel an Uebergängen
hängt ein anderer oft gehörter Einwurf zusammen:
dass nämlich zu wiederholten malen ganze Gruppen
verwandter Arten plötzlich aufgetreten seien. Wenn
man auch sonst die morphologischen und anatomischen
Zwischenstufen sähe, so fehle bei diesen Gruppen, den
Flugeidechsen, Vögeln u. a. aller Zusammenhang und
jede Verknüpfung mit etwaigen vor oder mit ihnen
lebenden Stammarten. Diese Ausstellung ist eine der
schwächsten und gedankenlosesten , wenn ' sie erhoben
wird, nachdem man sich überhaupt einmal über die
Ursache des Fehlens von Zwischenformen Rechenschaft
zu geben versucht hat. Sie ist nur ein specieller Fall
in der Alternative, dass entweder alle Arten auf dem
natürlichen Wege entstanden sind, den die in so aus-
reichendem Masse vorhandenen Uebergangsformen be-
zeichnen, oder alle durch Wunder. In den Fällen,
weiche man hier als grobes Geschütz spielen lässt, ist
die Lücke bis zu den Stammarten allerdings grösser
als da, wo es sich blos um den Sprung von Art zu
Art oder Gattung handelt. Die für die minder auf-
fallenden leeren Stellen gegebenen Erklärungen bedür-
fen aber kaum einer Erweiterung, um auch hier zu
genügen. Das Dunkel über die Herkunft der Vögel
beginnt sich eben jetzt zu erhellen; warum soll nicht
im nächsten Jahre der Ursprung der Flugeidechsen
klarer werden?
Vollkommene Organe. 137
Eine besondere Schwierigkeit scheinen der Theorie
die sehr vollkommenen Organe zu bereiten, nament-
lich die Sinneswerkzeuge mit ihren so complicirten
Apparaten. In der That, nimmt man z. B. das Auge
der Wirbelthiere , wir dürfen nicht einmal sagen, nur
der hohem Wirbelthiere, so ist der wunderbare Bau
desselben wohl geeignet, die lebhaftesten Zweifel an
der Descendenz und Selection zu erregen. Factisch
liegt Ulis in den Reihen der Wirbelthiere auch nicht
die Eeihe von niedrigsten Anfangen vor, welche wir
nothwendig als einst vorhanden voraussetzen müssen.
Denn das Fischauge steht an Complicirtheit nur Wenig
gegen das Sehorgan der Säugethiere zurück, und der
Lanzettfisch ist völlig augenlos, gibt also auch keinen
Fingerzeig. In andern Thierstämmen aber sehen wir
in der systematischen Reihe der Jetztwelt noch alle
möglichen Abstufungen, welche uns ein Bild davon
geben, wie in der paläontologischen Reihe allmählich
das vollkommene Organ aus den einfachsten Anfängen
hervorgegangen. Die niedern Krebse bieten die denk-
bar einfachsten lichtempfindenden Werkzeuge dar, an-
dere zu höherer Ausbildung gelangte Krebse besitzen
etwas vollkommenere , nicht blos lichtempfindende , son-
dern auch bilderzeugende Augen, zwischen welchen
und den in ihrer Art höchst vollendeten Augen der
zehnfüssigen Krebse noch eine ganze Anzahl von Augen-
bildungen vertreten sind, welche es deutlich machen,
wie auch diese Organe unter das Gesetz der langsamen
. Anhäufung und Befestigung kleiner Vortheile fallen.
In Betreff der Gehör- und Geruchs Werkzeuge kann
man sich in jedem Lehrbuch der vergleichenden Ana-
tomie überzeugen, dass schon die jetzt noch lebenden
Wirbelthiere Entwickelungsreihen darbieten, welche
die plötzliche und unbegreifliche Entstehung dieser
Organe gleich im vollendeten Zustande abweisen. Wie
dieselben in noch niedrigem Stufen, als sie jetzt die
eigentlichen Fische zeigen, ausgesehen haben, darüber
belehrt uns theils der Lanzettfisch, theils können wir
138 Convergenz.
es uns nach den betreffenden Sinneswerkzeugen der
niedrigen Weichthiere, Gliederthiere und Würmer
vorstellen. Darwin hat das aus den Einrichtungen der
vollkommensten Organe sich etwa ergebende Bedenken
gegen seine Lehre so formulirt, dass er sagt, er würde
seine ganze Theorie preisgeben, wenn man ihm nach-
weisen könne, dass irgendeins dieser Organe sich un-
möglich aus nie dem Stufen durch allmähliche errun-
gene Verbesserung habe bilden können. Diesqp Nach-
weis hat noch niemand unternommen, er wird auch
nie mit Erfolg unternommen werden, da jedes tiefere
Eindringen in die vergleichende Anatomie der Sinnes-
werkzeuge das Gegentheil zeigt. Von höchster Be-
deutung für das Verständniss der vermeintlich untadel-
haft vollkommenen Sinnesor^ne und ihrer Ableitung
aus niederer Stufe, ist der gewöhnlich ganz übersehene
Umstand, dass sie neben einer Menge von Vollkommen-
heiten auch eine Reihe von UnvoUkommenheiten und
unzweckmässigen oder hinderlichen Einrichtungen be-
sitzen, wie vor allen Helmholtz am Auge gezeigt hat.
Wir haben aber noch einen Punkt zu prüfen,
welcher Bedenken gegen die Zulässigkeit der Descen-
denzlehre erwecken kann, merkwürdigerweise noch
sehr wenig von ihren' Gregnern ausgebeutet und von
Darwin auch nur im * Vorübergehen berührt worden
ist. Darwin theilt in der „Entstehung der Arten"
mit, dass H. C. Watton, wir wissen nicht wo, der
Divergenz des Charakters, also der Neigung der Va-
rietäten und Arten, sich voneinander zu entfernen,
eine „Convergenz des Charakters" entgegengestellt
habe. Es sei denkbar, dass von verschiedenen Grat-
tungen abstammende Arten sich unter Umständen so
einander näherten, dass sie schliesslich unter eine
Gattung zusammenfielen. Der Begründer der Selections-
theorie hat sich begnügt, auf die grosse Unwahrschein-
lichkeit eines solchen Vorganges hinzuweisen, der in
dieser Einfachheit übrigens kaum das Wesen und
die Wahrheit der Theorie beeinträchtigen wird. Er
Convergenz. 139
sagt: „Es ist unglaablich , dass die Nachkommen
zweier Organismen, welche ursprünglich in einer auf-
fallenden Art und Weise voneinander abwichen, später
je so nahe convergiren sollten, dass sie sich einer
Identität durch ihre gesammte Organisation näherten.
Wäre dies eingetreten , so würden wir, unabhängig von
einem genetischen Zusammenhang, derselben Form
wiederholt in weit voneinander entfernt liegenden geo-
logischen Formationen begegnen; und hier widerspricht
der Ausschlag des thatsächlichen Beweismaterials jeder
derartigen Annahme."*' Wir sehen, ein theoretischer
Einwurf wird theoretisch widerlegt. Aber obgleich
die Wahrscheinlichkeit einer bis zum Gleichwerden
ausgedehnten Convergenz eine äusserst geringe ist, und
sie durch den paläontologischen Befand nicht unter-
stützt wird, so lässt sich doch ihre absolute Unmög-
lichkeit von vorn herein nicht behaupten, und ich
sMbst habe in meinen Untersuchungen über die atlan-
tischen Spongien auf solche sich bis zum Verwechseln
nähernde Artengruppen hingewiesen. Chalina und
Reniera sind zwei wohl unterschiedene , sogar verschie-
denen Familien angehörige Gattungen. Höchst wahr-
scheinlich hat sich von Chalina die Gattung Chalinula
mit ihren höchst unbeständigen Arten abgezweigt,
nicht umgekehrt, und die Formen von Eeniera gehen
ebenfalls in solche in keinem Charakter fest zu halten-
den Arten über, die von den Chalinula-Arten auch
von dem scrupulösesten Beschreiber nicht zu trennen
sind. Wenn also die Convergenz oder die Annäherung
von Zweigen verschiedenen Ursprungs nicht principiell
ausgeschlossen werden kann, so bleibt der günstigste
Fall der Uebereinstimmung aber doch noch im Bereiche
der Analogienbildung, wo unter gleichen Anpassungs-
verhältnissen verschiedene Stämme zu denselben, die
vollkommene Aehnlichkeit herbeiführenden Auskunfts-
mitteln und Differenzirungen gedrängt worden sind.
Auch lehrt uns ein Ueberblick über die Welt der Or-
ganismen, dass in den höhern Regionen eine solche
140 Convergenz.
Deckung der Enden ungleicher Ursprünge immer un-
denkbarer wird, und dass sie, wie meine Spongien-
studien lehren, nur da allenfalls eintreten können, wo
die Organismen aus sehr einfachen, nach wenigen Kich-
tungen hin sehr veränderlichen und von den äussern
Verhältnissen sehr leicht beeinflussten Factore-n be-
stehen. Von einer ernstlichen Gefahrdung der prin-
cipiell allgemein gültigen Divergenz durch den Aus-
nahmsfall der Convergenz kann keine Bede sein.
Wenn wir oben von der Möglichkeit eines nicht
leichten Bedenkens gegen die Descendenzlehre sprachen,
so haben wir damit auch einen andern Fall von Con-
vergenz im Sinne gehabt. Wir meinen nämlich solche
ähnliche Endresultate bei divergenten Beihen, welche
darin bestehen, dass in hoch organisirten Thiergruppen,
welche nur in einem Zusammenhang durch niedrige
Stammformen gebracht werden können, gewisse wich-
tige Organe in ihren Einrichtungen und Vollkommefi-
heiten die grösste Uebereinstimmung zeigen. Es ist
zur Zeit völlig unentschieden , wo und wann die wahren
Insekten von den wasserathmenden Krebsthieren sich
abgetrennt haben; ja einige Naturforscher neigen sich
der Ansicht zu, dass diese beiden Klassen von einem
tiefer liegenden gemeinsamen Stamme entsprungen
seien. So viel ist im höchsten Grade wahrscheinlich,
dass die Trennung in Krebse und Insekten stattfand,
als die Ausbildung ihrer Sehwerkzeuge noch nicht
jenen Grad der Vollkommenheit erreicht hatte, den
wir heute bei den stieläugigen Krebsen und den In-
sekten antreffen. Gleichwol stimmen sie nicht blos in
den gröbern Verhältnissen überein, sondern, wie Max
Schnitze nachgewiesen, bis in das feinste mikroskopi-
sche iDetail. Wenn auch hier, wie unten näher er-
örtert wird und sich für unsern Standpunkt von selbst
versteht, der Zweckbegriff als Erklärungsprincip aus-
geschlossen ist, auch die einfache Vererbung in beiden
Beihen, so haben wir einen andern befriedigenden
Ausgang zu suchen. Der oben mitgetheilte Fall der
Convergenz. 141
convergirenden Spongienarten mag ein, wenn auch
nur spärliches Licht werfen auf die dunkeln Pfade der
organischen "Werkstatt. Erinnern wir uns hier einmal
an Goethe's von uns schon citirtes Wort: „Das Thier
wird durch Umstände zu Umständen gebildet." Viel-
leicht lässt sich in der Zukunft etwas damit anfangen,
denn es handelt sich wirklich darum, zu erforschen,
wie die Umstände, nämlich gerade die im Bereich der
Sinneswerkzeuge wirkenden und bestimmenden Agentien
anf einfaches Material einen solchen Einfluss ausüben,
dass die sonst weit auseinander gehenden Nachkommen
der verschiedenen Besitzer jenes einfachen Materials
oder unvollkommener Organe nicht nur Gleiches lei-
stende, sondern nahezu gleichgebaute voUkommneere
Organe erlangt haben. Noch nie hat der Darwinismus
behauptet, schon alles erklärt zu haben; aber auch
an diesem Punkte wird er nicht scheitern, im- Gegen-
theil, die Anregung zu tiefem Untersuchungen mit
schönen Erfolgen gegeben haben. Ein anderes Bei-
spiel von Annäherung in divergenten Eeihen geben die
Augen der höchsten Weichthiere, der Cephalopoden,
verglichen mit denen der Wirbelthiere; allein hier
bleibt es doch bei einer, wenn auch auffallenden Ana-
logie. Nur der mikroskopische Bau der Nervenhaut
ist in beiden Abtheilungen, mit Ausnahme der umge-
kehrten Reihenfolge ihrer Schichten von innen nach
aussen, höchst übereinstimmend. Der Fall erscheint,
an sich betrachtet, sehr verwickelt und ohne Aussicht
auf Lösung; er vereinfacht sich aber ausserordentlich,
wie oben angedeutet, wenn man die Frage verallge-
meinert, etwa so: In welcher Weise werden die noch
indifferenten Nervenendigungen von der specifischen
Einwirkung der Licht- und Schallwellen u. s. w. affi-
cirt, um die Form und Beschaffenheit specifischer End-
organe anzunehmen? Die Ergründung dieser Verhält-
nisse mag noch fern liegen; uns musste nur darauf
ankommen, den Vorwurf der Unzulänglichkeit der
142 Typus gleich Stamm.
Theorie zu heseitigen, indem wir die Möglichkeit der
Untersuchung nach unsem Gesichtspunkten zeigten.
Indem von Darwin die Wirkungen der Naturzucht-
wahl bei der Fortpflanzung und Abstammung ins Licht
gesetzt und dieses Princip auf alle Erscheinungen der
organischen Welt angewendet wurde, ist durch die
so befestigte und begründete Descendenzlehre die
Systematik der Umwandlung thatsächlich unterworfen
worden, welche Lamark vergeblich anstrebte. Die
Systematik stellte die Organismen nach äussern und
innem Aehnlichkeiten zusammen. Woher diese grössere
oder geringere Uebereinstimmung , die Abstufung, die
Mannichfaltigkeit, wusste sie nicht zu beantworten.
Man meinte Grosses erreicht zu haben, indem man
von Grundformen der TypeQ sprach, ohne dass man.
sich über das innerste Wesen dieser gleich den Ideen
über den Erscheinungen schwebenden Typen Rechnung^
ablegen konnte. Nun ist der Typus zum Stamm ge-
worden, und die Systematik hat die durchaus klare
Aufgabe, die Stammbäume der verschiedenen Gruppen
der Lebewesen wiederzugeben und untereinander zu
verbinden. Die Kenntniss der Stammbäume hat nun-
mehr ecst einen wahrhaft wissenschaftUchen Inhalt im
Vergleich zur alten Typensystematik; denn die Stamm-
bäume lassen sich nicht construiren ohne die Erkennt-
niss ihres Wachsthums und der Ursachen, aus welchen
die Aeste , Zweige und Sprossen getrieben sind. Jeder
Stamm begreift also alle Formen, welche von einer
einfachen Stammform abstammen. Die alte Systema-
tik musste zufrieden sein, die Gliederung der einzel-
nen Typen auszuarbeiten und ihre Grenzen abzustecken,
dann die Typen nach allgemeinen morphologischen und
physiologischen Principien gegeneinander, abzuschätzen,
um ihren relativen Werth festzustellen, alles ohne Be-
wusstsein der natürlichen Ursachen dieser tbatsäch-
lichen Verhältnisse. Die Descendenzlehre verknüpft
die Stammformen der Typen abermals unter dem Ge-
sichtspunkt der Blutsverwandtschaft und schreitet tiefer
"Unzulänglichkeit der Selectionstheorie. 143
und tiefer bis zu den einfachsten Organismen und dem
Anfang des LebaiuL
Ehe wir uns jedoch über den Ursprung de» Lebens,
eine der Säulen der Descendenzlehre, zu verständigen
suchen, erscheint es zweckmässig, die Frage zu be-
rühren, ob die i]|;^ ihren Mitteln und Wirkungen in
den folgenden Kapiteln noch näher zu erläuternde
natürliche Zuchtwahl alle Abänderungen der organi-
schen Wesen erklärt, ob zur Erklärung dieser Um-
wandlungen immer die Zuchtwahl zu Hülfe gerufen
werden muss? Mit andern Worten, ob die Selections-
theorie allen Anforderungen zur Begründung der De-
scendenzlehre entspricht oder der Verbesserung fähig
und bedürftig ist? Wir können dies um so unbefan-
gener thun, als, wie neuerdings wieder der scharfe
sinnige Verfasser des Buches „Das Unbewusste vom
Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie"
bemerkt hat^*, die Wahrheit der Descendenzlehre un-
abhängig ist von der Tragweite und Zulänglichkeit der
Darwin'schen Theorie. „Dieses Verhältniss", heisst es,
„wird von den meisten Gegnern Darwin's verkannt; in-
dem dieselben Gründe für die Unzulänglichkeit der
natürlichen Auslese im Kampf ums Dasein vorbringen,
glauben sie in der Kegel ebenso viele Gründe gegen
die Stichhaltigkeit der Descendenztheorie vorgebracht
zu haben. Beides hat aber direct gar nichts mitein-
ander zu thun; es wäre ja möglich, dass Darwin^s
Theorie der natürlichen Zuchtwahl absolut falsch und
unbrauchbar und dennoch die Abstammungslehre rich-
tig wäre, dass nur die causale Vermittelung der Ab-
stammung einer Art von der andern eine andere als
die von Darwin behauptete wäre. Ebenso wäre es
möglich , dass zwar theilweise die von Darwin entdeck-
ten Vermittelungsursachen des Uebergangs statthätten,
zum andern Theil aber Uebergangserscheinungen vor-
lägen, welche bisjetzt nicht durch diese Annahme er-
klärt werden konnten, und daher entweder eine ergän-
zende Hülfshypothese zu der Darwin'schen verlangten,
144 Wagner^s Migrationsgesetz.
oder gar ein coordinirtes Erklärungsprincip erforder-
ten, das bis heute ebenso wenig entdeckt wäre, wie
das Darwin'sche es vor 20 Jahren war. jEine solche
theilweise Unkenntniss in den wirkenden Ursachen des
Ueberganges aus einer Form in die andere kann die
allgemeine Wahrheit der Descendenztheorie ebenso
wenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser Zwi-
schenformen, oder die in manchen Fällen noch be-
stehende Unsicherheit, von welcher gegebenen Form
eine gegebene andere abstamme. Wenn selbst früher,
wo noch jede Eenntniss über die den Uebergang ver-
mittelnden Ursachen fehlte, die Abstammungslehre
den bedeutendsten Köpfen aus allgemeinen naturphilo-
sophischen und apriorischen Gründen gesichert erschien,
so kann jetzt, wo durch Darwin und Wallace die un-
zweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende
Ursache des Uebergangs als überall wirksam und als
für zahlreiche Fälle ausreichend klar und schlagend
nachgewiesen ist, um so weniger mehr ein Zweifel an
der Descendenztheorie bestehen."
Wir haben diese Worte eines geistreichen Philoso-
phen allen denjenigen vorhalten wollen, welche so
barock sind, das Kind mit dem Bade auszuschütten,
und die Descendenzlehre ins Herz getroffen zu haben
meinen, wenn sie so glücklich gewesen sind, an Dar-
win's Selectionstheorie einige Austellungen machen zu
können. Leistet also die Selectionstheorie alles? Sie
leistet Vieles und Grosses, reicht aber in manchen
Fällen, wie es scheint, nicht aus, und in andern Fäl-
len bedarf man ihrer nicht, sondern findet die Lösung
der Artbildung in anderweitigen natürlichen Bedin-
gungen.
Ein entschiedener Anhänger der Umwandlung und
begeisterter Verehrer Darwin's, Moritz Wagner, glaubte
ein sogenanntes „Migrationsgesetz" aufstellen zu kön-
nen, nämlich das Gesetz, dass „die Migration der Or-
ganismen und deren Coloniebildung die nothwendige
Bedingung der natürlichen Zuchtwahl" sei.^' Nach
Wirkung der Isolirung. 145
seiner Meinung entständen nur dann neue Arten, wenn
in der Varietätenbildung begriffene kleinere Mengen
von Individuen geographisch isolirt würden, da nur
auf djese Weise die Kreuzung mit den zurückbleiben-
den und von der Umwandlung nicht ergriffenen Art-
genossen unmöglich gemacht, also der Eückschlag und
das Verschwinden der noch nicht befestigten Charaktere
verhindert würde. Dass Isolirung oft sehr vortheilhaft
auf die Artbildung einwirkt, ist eine ganz allgemein
anerkannte, namentlich an den Inselfaunen leicht zu
constatirende Thatsache, dass aber die Artenbildung
nur unter Mitwirkung der Isolirung vor sich gehen
könne, ist von Weismann gründlich widerlegt worden.**
Er hat gezeigt, dass „eine Kreuzung der beginnenden
Varietät mit der Stammform durch Isolirung nicht
vermieden wird", und unter anderm in dem so gün-
stigen Beispiel des Steinheimer Sees die Bildung der
neuen Arten inmitten der alten nachgewiesen. Schon
früher hatte Wagner auf den Einwand Haeckel's, dass
bei ungeschlechtlicher Fortpflanzung der niedrigen We-
sen der Einfluss der Kreuzung gar nicht zu befürchten
sei, die Nothwendigkeit der Isolirung auf die höhern
Organismen mit getrennten Geschlechtern beschränkt.
Allein Weismann macht mit vollem Rechte geltend,
dass die Thatsache der Trennung der Geschlechter,
über deren Hervorgehen aus einstigen hermaphrodi-
tischen Arten man wol einig ist (die Schöpfungs-
Gläubigen natürlich ausgenommen), als eines der aus-
gezeichnetsten Beispiele der Varietätenbildung auf
demselben Terrain dem Wagnerischen „Migrationsgesetz"
den Boden entzieht.
Wie wir schon oben erwähnt, scheint es, dass wenn
einmal der Anstoss zur Varietätenbildung da ist, diese
Tendenz sich schnell ausbreitet. Gerade Steinheim mit
seinem Planorbis multiformis ist für den Nachweis sol-
cher Variationsperioden sehr günstig. Fällt in eine
solche Periode Isolirung, so bewirkt sie die Befesti-
gung neuer Varietäten zu Arten ohne natür-
ScHKiDT, Descendenzlehre. 10
146 Morphologische Arten.
liehe Züchtung. Wie Darwin in seiner Schrift über
die Entstehung des Menschen anerkennt, hat er dieser
Bildung sogenannter morphologischer Arten früher
zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir verstehen
darunter Arten, welche von ihren Stammarten sich
nicht durch irgendwelche physiologische Vortheile un-
terscheiden, sich also nicht über sie erheben, auf
welche also das Princip der Zuchtwahl im strengen
Darwin'schen Sinne keine Anwendung findet. Zwei
Schmetterlingsarten, welche nur in einigen Tupfen und
Zeichnungen, in einigen Zacken der Flügel vonein-
ander abweichen, sind nach unserm Ermessen von voll-
kommen gleichem physiologischen Werthe; es sind
morphologische Arten. Weismann begründet den Satz,
„dass die Färbung und Zeichnung der obern Flügel-
fläche bei Tagschmetterlingen, mit Ausnahme der Fälle
von Mimicry und von schützender Totalfärbung als
rein morphologische Charaktere der Art aufzufassen
sind^', und führt an andern Beispielen aus, „dass neue,
wie morphologische Charaktere unter gewissen Um-
ständen und innerhalb eines ziemlich kleinen Spiel-
raums blos durch die Wirkung der Isolirung fixirt
werden können". Auf die Nichtanwendbarkeit der
natürlichen Züchtung auf die Hervorbringung der rein
morphologischen Abänderungen hatte zuerst Nägeli
hingewiesen. ^* Mit Bezug hierauf sagt der in seiner
Bescheidenheit so grosse Darwin: „Ich gebe jetzt,
nachdem ich die Abhandlung von Nägeli über die
Pflanzen und die Bemerkungen verschiedener Schrift-
steller, besonders die neuerdings vom Professor Broca '*
in Bezug auf die Thiere geäusserten gelesen habe, zu,
dass ich in den frühern Ausgaben meiner Entstehung
der Arten wahrscheinlich; der Wirkung der natürlichen
Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu
viel zugeschrieben habe. Ich habe die fünfte Ausgabe
der «Entstehung» dahin abgeändert, dass ich meine
Bemerkungen nur auf die adaptiven (d. h. die für die
nöthigen Anpassungen sich vortheilhaft erweisenden)
Anfang des Lebens. 147
Veränderungen des Körperbaues beschränkte. Ich
hatte früher die Existenz vieler Structurverhältnisse
nicht hinreichend betrachtet, welche, soweit wir
es beurtheilen können, weder wohlthätig noch schäd-
lich zu sein scheinen, und ich glaube, dies ist eins
der grössten Versehen, welche ich bisjetzt in meinem
Werke entdeckt habe." "^
Wir möchten meinen, dass das Versehen, dessen
sich Darwin anklagt, so gross nicht ist, indem es sich
hier um die mehr gleichgültigen, für die grosse Er-
scheinung der fortschreitenden Entwickelung indifferen-
ten Arten handelt, deren Entstehung aus der blossen
Veränderlichkeit und allenfalls, wie wir oben gesehen,
der Mitwirkung der Isolirung vollkommen verständlich
ist. Dem Werthe der natürlichen Züchtung geschieht
durch die Entbehrlichkeit der Theorie für die Erklä-
rung der rein morphologischen Arten nicht der ge-
ringste Abbruch. Für gewisse Fälle der Mimicry oder
der Bildung der natürlichen schützenden Masken und
Nachahmungen, für das Verständniss der organischen
Schönheit scheint die natürliche Züchtung nicht aus-
zureichen. Was beweist es weiter, als dass, wie wir
alle wissen, die künftigen Geschlechter den Bau wei-
ter zu führen haben? Die Zuthaten, welche die Gegen-
wart der Selectionstheorie hat bringen können, sind
kaum nennenswerth.
Indem der Typus zum Stamm geworden, und das
System als der kürzeste Ausdruck oder die Zusammen-
fassung der verwandtschaftlichen Beziehungen der Or-
ganismen an der Wurzel des Stammbaums eine Anzahl
niedrigster und einfachster Organismen, vielleicht nur
eine einzige Urform unserer Vorstellung aufnöthigt,
müssen wir uns mit dem Problem des Anfangs des
Lebens auseinandersetzen. Noch in neuester Zeit, im
März 1873, hat Max Müller in Uebereinstimmung mit
vielen Meinungsgenossen wieder proclamirt, dass die
Darwin'sche Theorie in Anfang und Ende verwundbar
sei"* — „the Darwinian theory vulnerable at the heginning
10*
148 Anfang des Lebens.
and at the end". Ob das Ende des Darwinismus, näm-
lich die Anwendung der natürlichen Zuchtwahl auf
die Entstehung des Menschen und seiner einzigen
charakteristischen Eigenthümlichkeit, der Sprache, er-
hebliche Angriffspunkte bieten, haben wir noch Ge-
legenheit zu untersuchen. Was aber der berühmte
Sprachforscher den verwundbaren Anfang des Darwi-
nismus, die Entstehung des Lebens, nennt, hat mit
dem eigentlichen Darwinismus, der natürlichen Züch-
tung, eigentlich gar nichts zu thun, es sei denn, dass
man das Princip der Zuchtwahl auch auf die unorga-
nische Körperwelt ausdehnt. Wir verstehen aber natür-
li<5h den Einwurf, welcher der Descendenzlehre , nicht
der Selectionstheorie die Basis entziehen will und den
Anfang des Lebens als unbegreiflich und übernatürlich
darstellt, um für die UebernatürUchkeit der Sprach-
schöpfung einen Präcedenzfall zu haben. Zwischen
Anfang und Ende dürfen wir Naturforscher walten
nach Belieben. Es ist aber merkwürdig, dass gerade
von der Seite , welche uns gern Mangel an philoso-
phischer Methode und Schlussfolgerung vorwirft, hier,
wo das materielle Substrat nicht vorhanden, der Natur-
forschung die Berechtigung der Consequenz des Ge-
dankens streitig macht. Auf der letzten Seite der
„Entstehung der Arten" sagt Darwin: „Es ist wahr-
lich eine grossartige Ansicht, dass der Schöpfer den
Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder
nur einer einzigen Lebensform eingehaucht hat, und
dass, während unser Planet den strengen Gesetzen
der Schwerkraft folgend, sich im Kreise schwingt, aus
so einfachem Anfange sich eine endlose Eeihe der
schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat
und noch immer entwickelt." Mit diesem Zugeständ-
niss ist sich Darwin allerdings untreu geworden, und
es befriedigt weder diejenigen, welche an das fort-
dauernde Schöpfungswerk eines persönlichen Gottes
glauben , noch die Anhänger der natürlichen Entwicke-
lung. Es ist geradezu unverträglich mit der Descen-
Anfang des Lebens. 149
denzlehre, oder, wie Zöllner*' sagt: „Die Annahme
eines Schöpfungsactes (für den Beginn des Lebens)
wäre keine logische, sondern nur eine willkürliche
Begrenzung der Causalreihe, gegen welchen sich unser
Verstand auf Grund des ihm innewohnenden Causa-
litätsbedürfnisses sträubt." Wer dieses Bedürfhiss nicht
hat, dem ist nicht zu helfen, und er ist nicht zu über-
zeugen. Man bricht eben mit der gesammten Erkennt-
nisstheorie, wenn man den Anfang des Lebens inmitten
einer sonst ununterbrochenen Entwickelung als einen
willkürlichen Schöpfungsact setzen will.
Man pflegt die Entscheidung über den Beginn des
Lebens von dem Standpunkt abhängig zu machen, den
man zur Frage über die Möglichkeit der Urzeugung
oder freiwilligen Zeugung (Generatio aequivoca), in der
gegenwärtigen Zeit einnimmt. Ein solches Verfahren
ist nach unserer Meinung nur halb richtig. Die sub-
tilsten Versuche über die freiwillige Entstehung, sei es
aus organischem Stoffe, sei es aus Elementen, welche
noch nicht zu Moleculen organischer Stoffe zusammen-
getreten waren, sind nach keiner Seite hin entschei-
dend gewesen. Weder die Unmöglichkeit noch die
Möglichkeit ist experimental zu beweisen; immer bleibt
für den Zweifler die Ausflucht, zu sagen, wenn nichts
wird, dass eben die Umstände des Experimentes an
dem Mislingen der Urzeugung schuld sind, und, wenn
etwas zum Vorschein kommt, dass trotz aller Vor-
sichtsmassregeln doch die Keime ihren Weg in die
Infusion gefunden hätten. Die Ansicht über noch jetzt
fortdauernde Urzeugung ist also schliesslich nur ein
Ausfluss der gesammten Naturanschauung des Einzelnen.
Wer die Möglichkeit offen hält, dass noch heute Le-
bendiges sich aus dem Unlebendigen ohne Vermittelung
von Vorfahren erzeugt, für den ist die Ueberzeugung
der ersten Entstehung des Lebens auf diesem natür-
lichen Wege ohne weiteres selbstverständlich. Aber
selbst wenn der Beweis geführt würde, der nie geführt
150 Wallace.
werden kann, dass in der Jetztwelt Urzeugung nicht
stattfindet, so würde der Schluss falsch sein, dass sie
nie stattgehaht habe. Als unser Planet bei jener Stufe
der Entwickelung angelangt war, wo der Wärmegrad
der Oberfläche die Bildung von Wasser und das Be-
stehen eiweissartiger Substanzen zuliess, waren die
Mengen und Mischungsverhältnisse der Bestandtheile
der Atmosphäre andere als jetzt. Tausend Umstände,
die wir heute nicht in unserer Gewalt haben , und über
deren mögliche Beschaffenheit nachzugrübeln überflüssig
ist, konnten die Bildung des Protoplasma, dieses Ur-
organismus, aus den Atomen seiner Bestandtheile her-
beiführen.
Der einstige Anfang des Lebens ist also ebenfalls
factisch nicht zu demonstriren ; die Annahme des Ein-
trittes des Lebendigen zu einer bestimmten Zeit der
Entwickelung auf natürlichem Wege ist aber eine logi-
sche Nothwendigkeit, und nicht im entferntesten ein
verwundbarer Punkt der Descendenzlehre. '*
Wir haben oben nur im Vorübergehen einen Mann
erwähnt, der zwar nicht auf der Höhe Darwin's steht,
aber den Ruhm hat, unabhängig von jenem ebenfalls
das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl entdeckt und,
nachdem Darwin mit seiner grundlegenden Arbeit her-
vorgetreten war, die Selectionstheorie durch eine Fülle
selbständiger Beobachtungen gestützt zu haben. Das
ist Alfred Rüssel Wallace. '* Er wies in einem 1855
veröffentlichten Aufsatz die Abhängigkeit der Flora
und Fauna von der geographischen Lage und geolo-
gischen Beschaffenheit des Verbreitungsbezirkes nach,
und den engsten Zusammenhang der Arten nach Zeit
und Raum mit früher vorhandenen verwandten Arten;
und in einer zweiten Arbeit über die Neigung der
Varietäten, vom Urtypus unbegrenzt abzuweichen, aus
dem Jahre 1858, finden wir die Bedeutung des Kam-
pfes ums Dasein (the struggle for existence) erörtert,
die Folgen der Anpassung, die Auslese des Nützlichen
Vererbung. 151
und den Ersatz der frühern Arten durch die befestig-
ten werthvoUern Varietäten. Wir werden wiederholt
Gelegenheit haben, aus dem reichen Brunnen seiner
Untersuchungen zu schöpfen.
VIII.
Tererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. Anpassung.
Polgen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Or-
gane. Differenzirung führt zur Vervollkommnung.
Die beiden Eigenschaften der organischen Wesen,
welche das Verhältniss der Nachkommen zu den Er-
zeugern bestimmen und regeln und den Individuen
ihre Stellung in der umgebenden Welt anweisen und
erringen helfen , sind die Fähigkeiten der Vererbung
und Anpassung.
Die Vererbung ist das conservative Princip, die An-
passung das fortschrittliche. Doch ist nicht alle Ver-
erbung auf die Unveränderlichkeit gerichtet, und zahl-
reiche Fälle I der Anpassung ziehen morphologischen
und physiologischen Eückschritt nach sich. In der
Klarlegung der vererbten Eigenthümlichkeiten der Or-
ganismen reconstruiren wir ihren Stammbaum; an den
durch die Anpassung erworbenen Eigenschaften er-
proben wir die Biegsamkeit des Organismus im Laufe
der Zeit und verfolgen die Verzweigungen des Stamm-
baums. Organismengruppen mit vorherrschend conser-
vativem Princip legen damit allerdings für ihre Wider-
standskraft im Kampfe ums Dasein Zeugniss ab, kommen
aber in ihrem physiologischen Werthe nicht weiter
und werden von den progressivem, sich in die Hin-
dernisse der Welt einlassenden und aus ihnen Vortheil
ziehenden Gruppen überflügelt, wofür ja auch das
menschliche Leben so viele Belege liefert.
152 Vererbung.
Da die Erscheinungen der Vererbung greller her-
vorzutreten pflegen, als die Folgen der Anpassung, sa
hat die frühere Naturforschung die letztere fast gänz-
lich vernachlässigt. In der That, welche Vergleichung
in der organischen Natur kann man wol häufiger und
allgemeiner anstellen, als dass die Nachkommen den
Aeltem ähnlich sind? Zwar hat ein Anatom in einem
eigenen Buche den Satz durchführen wollen, dass die
Aehnlichkeit der Kinder nicht auf der Vererbung be-
ruhe , sondern ein Eesultat der gleichen und ähnlichen,,
in den Familien vorherrschenden Einflüsse, Sitten und
Gewohnheiten sei. Allein diese paradoxe Lehre bedarf
keiner besondern Widerlegung. Es ist ganz richtig,
dass gleiche Gewohnheiten und gleiche äussere Ver-
anlassungen eine gewisse Gleichförmigkeit in Haltung
und Miene hervorrufen; wenn aber der kleine Sohn
des gravitätisch einherschreitenden Geldmannes seinen
Vater copirt, so kann es uns doch nicht einfallen zu
behaupten, er habe ihm auch die grosse oder kleine
Nase u. s. w. abgeguckt oder aus dem gleichen An-
passungsbedürfniss erhalten. Wir haben jene, dem
allgemeinen Bewusstsein zuwiderlaufende Spitzfindigkeit
nur erwähnen wollen, und constatiren in Uebereinstim-
mung mit demselben die Uebertragung der älterlichen
Eigenthümlichkeiten auf die Nachkommen. Die Thier-
zucht insbesondere hat Gelegenheit gehabt, diese Ueber-
tragungen speciell zu beobachten und aus der Com-
bination und Beeinflussung der verschiedenen Formen
und Grade der Vererbung ihre so staunenswerthen
Fortschritte herzuleiten.
Bekanntlich werden nicht blos die normalen Zu-
stände vererbt; auch Monstrositäten pflanzen sich durch
mehrere Generationen fort oder können sich sogar,
wie uns oben das Beispiel der krummbeinigen Schafe
in Massachusetts zeigte, zu Kassencharakteren be-
festigen. Es bedarf auch nur des Hinweises auf die
Erblichkeit von Krankheitsanlagen, körperlichen wie
geistigen, um uns diese innigste Verknüpfung der
Vererbung. 153
Nachkommen mit den Vorfahren zu vergegenwärtigen.
Erst seitdem die Selectionstheorie die Modalitäten der
Vererbung körperlicher Eigenschaften zum Gegenstande
tiefem Studiums gemacht hat, konnte die allgemeine
und die Völkerpsychologie die Anregung empfangen,
auch auf dem geistigen Gebiete den Einfluss der Ver-
erbung zu würdigen und nachzuweisen, wie mit den
molecularen Besonderheiten des Gehirns auch die An-
lage des Charakters und der Intelligenz der Indivi-
duen und ganze Vorstellungsreihen nach Stärke und
Inhalt bei den verschiedenen Volksstämmen und Völker-
familien sich nach den Gesetzen der Vererbung
richten.
Es liegt auf der Hand, dass der Schlüssel für die
Erscheinungen der Vererbung im Vorgang der Fort-
pflanzung zu suchen ist. Die molecularen Bewegungen
und Anregungen, welche dabei stattfinden, die über
alle Vorstellung minimalen mechanischen Ueb ertra-
gungen lassen sich freilich nicht beobachten, sie sind
jedoch nicht „dunkler" oder „räthselhafter" , wie man
sie gern nennt, als die unsichtbaren und doch nicht
übernatürlichen Bewegungen, auf deren Controle und
Berechnung das stolze Gebäude der theoretischen Che-
mie und Physik sicher ruht. Mit dem Fortschritt von
der ungeschlechtlichen zur geschlechtlichen Fortpflan-
zung und von den einfachen zu den vollkommnern
Organismen wächst die Schwierigkeit des Vorstellens,
aber nicht des abstracten Begreifens. "Wenn ein nie-
driges Wesen, eine Monade, sich theilt, so weichen
die Theilindividuen nur durch die geringere Körper-
masse von dem Mutterindividuum ab, und der Unter-
schied, wie sie jetzt functioniren, von dem, was sie
als Theile des Ganzen leisteten, ist der Qualität nach
Null. Auch wo sich Knospen und Keime von einem
mütterlichen Organismus loslösen, ist die materielle
Mitgift der Sprösslinge so gross, dass die Gleichheit
der Form und Function von Erzeuger und Erzeugtem
als selbstverständlich und natürlich erscheint. Aber
154 Hypothese der Pangenesis.
auch hei der geschlechtlichen Fortpflanzung der zu-
sammengesetztesten Organismen handelt es sich unter
allen Umständen, wie wir seit Widerlegung der alten
Lehre von der aura seminalis wissen, um di« Ablösung
materieller Theile der älterlichen Organismen. Es
bleibt ein mechanischer Vorgang, der nicht unbegreif-
lich und nur dann unerklärlich erscheint, wenn wir
den natürlich vergeblichen Versuch machen, das
Unendlichkleine , welches dabei mechanisch und che-
misch thätig ist, uns sinnlich vorstellen zu wollen.
Darwin hat im „Variiren der Pflanzen und Thiere"
eine provisorische Hypothese der Pangenesis auf-
gestellt. Er sagt, dass alle Erscheinungen der Ver-
erbung und des Rückschlags dadurch möglich würden,
dass in jedem Elementartheile des Organismus fast
unendlich viele Keime producirt würden, welche sich
in den Fortpflanzungsstoffen, also in jedem Ei, jedem
Samenkörperchen aufspeicherten, durch Hunderte von
Generationen latent bleiben und dann erst im Rück-
schlag sich geltend machen könnten. ''^ Diese Hypo-
these hat, wie uns scheint, keinen lebhaften Beifall
gefunden, wir meinen deshalb, weil beim Versuch,
über dieselbe nachzudenken, alsbald die sinnliche Vor-
stellung sich hervordrängt, um sich als unzulänglich
zu erweisen. Hält man aber den Gedanken fest, dass
auch die complicirtesten Erscheinungsformen des Lebens
im Protoplasma, wie Rollet es treffend nennf , einen
beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges mit den
einfachsten besitzen, so folgt die Gültigkeit der für
die einfachsten Organismen als wahr bewiesenen oder
wahrscheinlich gemachten allgemeinen Gesetze auch
für die vollkommensten von selbst. Das gilt auch für
die Fortpflanzung, die in ihren untersten Erscheinun-
gen nichts bietet, was nicht durch die auf die imbi-
bitionsfähige , zähflüssige lebende Substanz angewendete
Molecular - Physik begründet und des vitalistischen
Dualismus entkleidet werden könnte.
Je zusammengesetzter ein Organismus, d. h. je grösser
Rückschlag. 155
die DifFerenzirung in der Entwickelung vom Proto-
plasma der Eizelle bis zur Eörperreife, um so ver-
schiedenartiger äussert sich die Vererbung. Diese
Yererbungsarten sind von Darwin, und noch systema-
tischer von Haeckel als „Vererbungsgesetze" formulirt
und in den betreffenden Werken mit einer Fülle von
Beispielen belegt werden. Wenn man die Vererbung
überhaupt das Conservative im Leben der Arten nen-
nen kann, so darf man doch noch im besondern von
einer conservativen Vererbung sprechen, durch
welche die alten, längst befestigten Merkmale und
Eigenthümlichkeiten übertragen werden. Je hartnäcki-
ger ein Charakter überliefert wird, oder, was auf
dasselbe hinauskommt, über eine je grössere Anzahl
von Familien, Gattungen, Arten ein Charakter sich
verbreitet, als desto älter muss er angesehen werden,
desto früher ist er im Stamm aufgetreten. In den
allermeisten Fällen Endet diese conservative Vererbung
in ununterbrochener Beihenfolge der Generationen statt,
über welche von jedermann täglich zu machende Beob-
achtung keine Worte zu verlieren sind. Die conser-
vative Vererbung kann aber auch sprungweise zur
Erscheinung kommen, indem entweder blos einzelne
Eigenschaften der Vorfahren, nachdem sie eine, meh-
rere oder viele Generationen hindurch latent geblieben
sind, wieder zum Vorschein kommen — was wir Ata-
vismus oder Kückschlag nennen; oder indem die
Art sich aus verschieden gebildeten und regelmässig
sich einander ablösenden Zeugungsformen und Indivi-
duen zusammensetzt. Diese besondere Art des Bück-
schlags heisst Generationswechsel.
Niemand wundert sich darüber, wenn Kinder kör-
perliche oder geistige Züge der Grossältern an sich
tragen, die in den Aeltem paiisirt haben. Am häu-
figsten und auffallendsten ist aber der Atavismus der
Hausthiere und Nutzpflanzen, ein zäher Gegner der
Züchter. lieber kein Hausthier hat man hinsichtlich
ihrer Stammart eine ähnliche Gewissheit, als über die
156 Rückschlag.
Taube. Nun gibt es Taubenrassen, welche seit meh-
rern Jahrhunderten rein gezüchtet und in Färbung
und Form zu neuen Wesen umgewandelt worden sind,
gleichwol aber von Zeit zu Zeit entweder aus sich
heraus oder in Kreuzung mit andern auffallenden
Rassen Thiere hervorbringen, welche in Färbung und
charakteristischer Zeichnung von schwarzen Binden
auf Flügeln und Schwanz der wilden Felstaube glei-
chen. „Ich paarte", erzählt Darwin*^, „einen weiblichen
Barb-Pfauentauben-Bastard mit einem männlichen Bar-
ben-Blässtauben-Bastard. Keiner von beiden hatte auch
nur das geringste Blau an sich. Man muss sich erinnern,
dass blaue Tauben äusserst selten sind, dass Bläss-
tauben schon im Jahre 1676 vollständig als solche
charakterisirt waren und völlig rein züchten; und dies
ist in gleicher Weise bei weissen Pfauentauben der
Fall, und zwar so sehr, dass ich nie von weissen
Pfauentauben gehört habe, die irgendeine andere
Farbe hervorgebracht hätten; — nichtsdestoweniger
'waren die Nachkommen der beiden obigen Bastarde
von genau derselben blauen Färbung über den ganzen
Rücken und die Flügel, als die wilden Felstauben von
den Shetland- Inseln. Die doppelten schwarzen Flü-
gelbinden waren in gleicher Weise deutlich ; der Schwanz
war in allen seinen Merkmalen genau jenen gleich,
und das Hintertheil war rein weiss." Ein anderer oft
zu beobachtender Rückschlag ,ist die Streifung der
verwilderten europäischen Hauskatze, womit sie sich
bis zum Verwechseln der Wildkatze nähert. Darwin
hat die Gründe zusammengestellt, aus denen man auf
eine gestreifte wilde Stammart des Pferdes schliessen
darf; dahin gehört das Auftreten von gestreiften In-
dividuen. Aber noch ein anderes seltsames Vorkommen
bei Pferden findet seine Deutung im Atavismus. Es
werden mitunter Fohlen mit überzähligen Zehen ge-
boren. Diese „Monstrosität" kann nur erklärt werden
durch Rückschlag auf die dreizehigen historischen Vor-
fahren der jetzigen Gattung. Diese Belege mögen genügen.
Progressive Vererbung. 157
Die gesammten Erscheinungen der künstlichen Züch-
tungen, sowie die natürliche Zuchtwahl zeigen, dass
nicht blos die von alters her überkommenen, sondern
auch die neuerlich und jüngst erworbenen Eigenschaf-
ten auf die Nachkommen übertragen werden können.
Das ist die progressive Vererbung. Ohne sie
wäre die Veredlung und der Fortschritt unmöglich,
und ihre eigene Möglichkeit ergibt sich unmittelbar
aus dem Wesen der Fortpflanzung. Je neuer eine
nützliche Abänderung, desto weniger hat sie sich noch
in Correlation mit dem gesammten Organismus setzen
können, desto weniger ist noch das Fortpflanzungs-
system von ^hr berührt, desto ungewisser und schwan-
kender ist also auch die Uebertragung durch die Fort-
pflanzung, und es bedarf der Züchtung oder der Auslese
durch die Natur, um die Möglichkeit des Fortschrittes
durch wiederholte Vererbung zur Thatsache zu machen
und diese Thatsache nach und nach in die conserva-
tiven Vererbungen einzureihen. Die progressive Ver-
erbung complicirt sich natürlich bei Trennung der
Geschlechter, wo die sexuelle Zuchtwahl in ihre Kechte
tritt und die Vorzüge des einen Geschlechts durch
den Geschmack des andern gezüchtet werden, dann
aber entweder nur auf das durch die secundären Cha-
raktere bevorzugte Geschlecht übertragen werden oder
der Art als Ganzes zugute kommen. In der Kegel
sind die Männchen mit diesen Vorzügen begabt und
haben dieselben in einem unvollkommenen Zustande
auf die Weibchen vererbt. Wir wollen uns nur durch
ein einziges Beispiel orientiren, In der Insektenord-
nung der Geradflügler (Orthoptera) sind die Männchen
im Stande , durch Beiben der Flügeldecken aneinander,
oder indem sie mit den Schenkeln der Hinterbeine an
die Flügeldecken streichen, eine die Weibchen anlockende
Musik zu machen. V. Graber, ein ausgezeichneter jün-
gerer Entomolog, hat nachgewiesen"*, dass die Zahn-
leisten an den Streichinstrumenten dieser Thiere nur
modificirte Haare sind, dass sich ihre Beschaff'enheit
158 Vererbung in entsprechenden Lebensperioden.
aus dem Gebrauche erklärt, und dass sie höchst wahr-
scheinlich durch die sexuelle Zuchtwahl sich vervoll-
kommneten, indem die besten und lautesten Musikanten
die begünstigtsten Liebhaber waren. Die Weibchen
der Geradflügler sind, mit einer einzigen Ausnahme,
stumm; viele besitzen aber Spuren solcher den Männ-
chen eigenthümlichen Zirpwerkzeuge. Entgegen der
frühem Meinung, dass nur eine von den Männchen
ausgehende Vererbung vorläge, hat Graber es „mehr
als wahrscheinlich gemacht, dass sich die Tonadern
der Weibchen — der musicirenden Ephippigera Vi-
tium — ganz unabhängig von denen der Männchen^
doch auf die gleiche Weise, wie bei di^en, schritt-
weise entwickelt haben". In andern Fällen dagegen
scheinen die schwach entwickelten und zum vernehm-
baren Musiciren nicht geeigneten Tonadern der Weib-
chen ein Erbstück von den Männchen her zu sein.
Eine allgemein bekannte Erscheinung ist die Ver-
erbung zu entsprechenden Lebensperioden.
Die Anlage zu Krankheiten geht von Vater oder
Mutter auf das Kind über, um in den Jahren, wo jene
litten, durchzubrechen. Das Milchgebiss macht von
Generation zu Generation zur selben Zeit der defini-
tiven Bezahnung Platz. Alle speciellen Fälle sind
aber nur Ausflüsse des allgemeinen Gesetzes der Ent-
wickelung, wo im Individuum die Charaktere in der
Reihenfolge auftreten, wie sie historisch erworben wur-
den und vererbt werden konnten. Die Vererbung im.
bestimmten Lebensalter , nach der Zeit, wo wir die eigent-
liche Entwickelung für abgeschlossen ansehen, ist doch,
nur eine Fortsetzung der mit Theilung, Keim und Ei
beginnenden embryonalen Entwickelung, deren Bedeu-
tung uns das neunte Kapitel kennen lehrt. Bei die-
ser Entwickelung des Individuums, der Ontogenie,
werden, wie unten ebenfalls näher zu beleuchten, oft
Vorgänge zusammengedrängt, oder fallen ganz aus^
welche einst, als sie erworben wurden und nachdem
sie sich befestigt hatten, grössere Zeit in Anspruch.
r
Veränderlichkeit. 159
nahmen, im Verlaufe der Zuchtwahl aber von gerin-
gerer Bedeutung für das Individuum wurden oder
einen physiologischen Werth nur als Durchgangspunkte
behielten.
Die zweite grosse Klasse von Charakteren, nämlich
derjenigen, welche neu erworben wurden und auf der
Anpassung beruhen, setzt die Veränderlichkeit
des Organismus voraus. Dieselbe ist eine Grunderschei-
nung der organischen Körper. Sie inhärirt den klein-
sten Formbestandtheilen , dem Protoplasma und den
Zellen und den aus ihnen hervorgehenden Formelemen-
ten, aus deren sich durchdringenden und bedingenden
Einzelleben das Gesammtleben des Individuums resul-
tirt. Das organische Formelement befindet sich im
Zustande der Quellung, es imbibirt fortwährend und
scheidet ab, ist also in seinem Bestände unausgesetzt
von der Zufuhr des Materials für seine Thätigkeiten
abhängig. Was im grossen und ganzen das Aussehen
und die Bescha£fenheit der Individuen bedingt, die
Ernährung, vollzieht sich ja nur an den unzähligen
Zellen und ihren Derivaten. Jede Schwankung der
Zufuhr in jedem Theile des Organismus, ja an jeder
Stelle der Oberfläche eines mikroskopischen Bausteines,
muss mit Nothwendigkeit eine Veränderung von Ge-
webstheilen oder zu Organen vereinigten Gewebs-
gruppen nach sieh ziehen. So ist die Veränderlichkeit
eine aus der eigensten Natur des Organischen sich
von selbst ergebende Eigenschaft, abhängig von den
äussern Verhältnissen, von welchen Fülle und Form,
Ausbildung und Umbildung der Elementartheile , oder
Verkümmerung und Rückbildung derselben bedingt
wird. Man kann sich von diesen Wirkungen durch
die Betrachtung eines Polypenstockes ein Bild machen,
der als Ganzes dem Individuum, in seinen einzelnen
Polypen den Zellen und Formelementen gleicht. Die
Einzelindividuen sind der Anlage nach gleichwerthig,
aber gewöhnlich sehr verschieden stark und entwickelt,
selbst bei den Arten, wo die unstreitig durch Selection
160 Veränderlichkeit.
hervorgerufene DifFerenzirung nicht zur Trennung in
verschieden functionirende Personengruppen , zum
Polymorphismus gefuhrt hat. Das Wohl und Wehe
der Polypen unsers Stockes ist gar sehr von der
Stellung abhängig, welche sie auf demselben einnehmen;
der Zufluss von Nahrung, auf welche in erster Linie
die Einzelindividuen angewiesen sind, vertheilt sich
ungleich und wechselnd, je nach Strömung und Bran-
dung. Es gibt daher an jedem Polypenstock Regionen,
wo die Personen besonders gut gedeihen, andere, wo
sie sich eben noch erhalten , andere , wo sie ihre Beeb-
nung nicht mehr finden. Da aber der Polypenstock
von einem die einzelnen Zellen verbindenden Kanal-
System für die Emährungsflüssigkeit durchzogen ist,
so kommt der Ueberschuss der gut situirten Zellen
denen zugute, welchen durch ihre zufällige Stellung
ein schlechteres Los bereitet ist, und umgekehrt. Aus
diesen sehr complicirten , aber für unsern Vergleich
noch sehr einfachen Verhältnissen summirt sich Gestalt
und Aussehen des Polypenstockes. Unter Hunderttau-
senden von Stöcken wird man nicht zwei einander ab-
solut gleiche finden. Selbst wenn zwei Individuen
derselben Art, um auf die Veränderlichkeit der Orga-
nismen zurückzukehren, unter den denkbar gleich-
förmigsten Verhältnissen erzogen werden, hat noch
nie die absolute Gleichheit derselben behauptet wer-
den können. Dass die Veränderlichkeit bei den nie-
dern Organismen geringer sei als bei den hohem, ist
ein oft wiederholtes, durch das alte Artdogma be-
festigtes Vorurtheil. Es stände schlimm um die Ab-
stammungslehre und Auslese, wenn es so wäre. Wie
aber der Hirt die Physiognomien seiner Schafe sicher
unterscheidet, wo ein städtischer Spaziergänger nur
ein allgemeines Hammelgesicht sieht, so löst sich auch
dem aufoierksamen Naturforscher der Arttypus bei den
meisten niedern Organismen in ebenso viele Variationen
als Individuen auf, ganz abgesehen von allen den
Anpassung. 16 1
Fällen, wo die Fesstellung des Arttypus in gar keiner
Weise gelingt.
Die Anpassung als Yeränderung unter gegebenen
Verhältnissen ist also sowenig wie die Vererbung
eine unbekannte Grösse, sondern eine Function der
mechanischen Eigenschaft der Veränderlichkeit, oder,
im weitesten Sinne des Wortes, der Ernährung. Die
Anpassung geht vor sich, indem der Organismus oder
Theile desselben sich unter den verschiedenen äussern
Einflüssen biegsam und bildsam zeigt, sie überwindet,
sich zu Nutze macht. Klima, Licht, Feuchtigkeit,
Nahrung, alle Hindernisse und Fördernisse, welche
direct oder indirect auf den Organismus einwirken,
sind dabei thätig. Von Organismen umgeben, sehen
wir sie ohne Ausnahme sich den Umständen anpassen,
und wenn es uns um nichts anderes zu thun ist, als
uns überhaupt von dem gestaltenden Einfluss der Le-
bensweise zu überzeugen, so geschieht dies am leich-
testen bei den Hausthieren. In seinen Studien über
das Schwein hat der vielleicht wissenschaftlichste unter
den berühmten Thierzüchtern , H. v. Nathusius'^, ge-
zeigt, wie der Schädel des Hausschweines selbst in
dem einfachsten Falle, wo ihm nur der durch die
Cultur mehr gelockerte Boden die Arbeit des Wühlens
erleichtert, durch die weichern Formen des Schädels
auf der Jugendform des Wildschweines stehen bleibt,
und wie jene extremen Eopfbildungen der Culturras-
sen, welche durch Knickung und Verkürzung des Ge-
sichts, sowie die Unmöglichkeit, das Gebiss vorn zu
schliessen, charakterisirt sind, lediglich eine Folge der
veränderten Lebensweise sind. Es ist bekannt, dass
Menschen, Thiere und Pflanzen, in eine weit von
ihrem bisherigen Wohnort entfernte neue, fremdartige
Umgebung versetzt, entweder nach längerm oder kür-
zerm Bestreben des Organismus, sich heimisch zu
machen, absterben, oder in die neuen Verhältnisse
sich finden und sich acclimatisiren. Jede Acclimati-
sation ist also Anpassung, begleitet von sichtbaren.
ScHioDT, Descendenslehre. W
162 Anpassung.
oder auch weniger bemerkbaren Aenderungen. So
gehen infolge der verschiedenen Lebensbedingungen
Yolksstänune weit auseinander, die nach der Verwandt-
schaft ihrer Sprachen eines Ursprunges sind, um von
denen hier nicht zu reden, über deren Beziehungen
die Sprachforschung noch nicht entschieden hat. Wie
abweichend ist das Gepräge der Engländer von dem
der Hindus; sie stellen somatisch und psychisch zwei
ausgezeichnete Unterrassen dar, deren Eigenthümlich-
keiten der Anpassung zuzuschreiben sind, hier an ein
Klima, welches Pflanzennahrung verlangt, die körper-
liche und geistige Energie nicht herausfordert, eine
träumerische Sinnlichkeit begünstigt, dort an ein Land^
welches in allen Richtungen das Gegentheil der indi-
schen Urheimat ist. Auch der jährliche Wechsel in
den Lebenserscheinungen so vieler Organismen, wel-
chen wir als Mauser bezeichnen, ist Anpassung. Sie
wird sogleich modiflcirt, wenn der Organismus einem
veränderten Klima ausgesetzt wird, oder vielmehr ist
die Acclimatisation im wesentlichen die Accomodirung
der Mauser an das neue Klima.
In allen diesen Beispielen haben wir die Besultate
directer Anpassung, wobei die Widerstandsfähig-
keit der Individuen in Eechnung kommt, sowie die
cumulative Anpassung bei der künstlichen Zuchtwahl
und die Auslese des Bessern durch die Naturzüchtung.
Ueberall, wo es sich um Anpassung handelt, werden
ein oder einige Organe in erster Linie activ oder
passiv betheiligt sein, und erst infolge der hieraus
ableitbaren Umänderungen werden andere Organe in
Mitleidenschaft gezogen. Dies ist correlative An-
passung zu nennen. Man könnte vielleicht meinen,
die parasitischen Thiere gäben hierfür die anschaulich-
sten Beispiele, wo mit der Veränderung der Nahrung
und der Nahrungswerkzeuge, namentlich der Mund-
theile, eine oft bis zum gänzlichen Schwund gehende
Um- und Rückbildung der Bewegungsorgane und der
ganzen Körpergliederung verbunden zu sein pflegt.
Anpassung. 163
Allein obscbon hier die Grenze schwer zu ziehen, liegt
die Ursache dieser Hand in Hand gehenden Abände-
rungen der Emährungs- und Bewegungswerkzeuge
weniger in der sympathischen Beeinflussung der einen
durch die andern, als im gleichzeitigen Nichtgebrauch.
Correlativ ist aber z. B. die Anpassung, dass bei den
kurzschnäbeligen Taubenrassen auch Mittelzehe und
Lauf verkürzt ist, und bei den langschnäbeligen Kas-
sen jene Organe an der Verlängerung theilgenommen
haben. In dem Falle jedoch, wo kurze Schnäbel mit
kurzen Füssen verbunden sind, hat an der Verkürzung
der Füsse auch der Nichtgebrauch gewiss einen An-
theil, während da, wo der Taubenliebhaber seine
Freude an der Verlängerung des Schnabels durch ge-
häufte Zuchtwahl fand, die correlative Verlängerung
des Fusses trotz des Nichtgebrauches eintrat. Die wich-
tigste Gruppe von correlativen Veränderungen oder
Anpassungen, dies Wort immer in allgemeinster Be-
deutung gebraucht, betrifft die Geschlechtssphäre.
Directe Eingriffe auf die Generationsorgane äussern
ihre Wirkung auf den gesammten übrigen Organismus,
wie die zum Zweck der Mästung und der Arbeit
castrirten Thiere beiderlei Geschlechts am besten zeigen.
Wir haben früher gesehen , dass der Grad der Voll-
kommenheit, welche in den Stämmen der Gliederthiere,
Würmer und Wirbelthiere , zum Theil auch der strah-
Hg gebauten Klassen erreicht wird, von der verschie-
denen Ausbildung der ursprünglich gleichartigen, hinter-
oder nebeneinander liegenden Theile abhängt, also
von der Theilung der Arbeit. Dies hat Haeckel die
divergente Anpassung genannt. Auf ihr beruht
der merkwürdige Polymorphismus, wie er besonders
in den wunderbaren Gestalten der Röhrenquallen her-
vortritt, und weiterhin die Gliederung der Thierstaaten
der Termiten, Bienen u. a.
Insofern Abänderung mit Anpassung übereinstimmt,
lassen sich den bisher besprochenen directen Anpas-
sungen eine Eeihe sogenannter indirecter Anpas-
11*
164 Anpassmig.
sungen gegenüberstellen. Man kann darunter eine
Reihe von Erscheinungen zusammenfassen, deren Ur-
sachen nicht in das I^ben dieser Individuen fallen,
sondern in Einwirkungen zu suchen sind, von welchen
die Aeltern betroffen wurden. Wie man sieht, han-
delt es sich um eine Berührung mit dem Gebiete der
Vererbung, welche dem Thierzüchter sehr bekannt ist.
So sagt H. V. Nathusius in seinen Studien über die
Schädelbildung des Schweines '^i „Es ist aus den hier
zusammengestellten Thatsachen klar, dass eine Ver-
erbung, eine Uebertragung der Kopfform der Aeltem
auf die Kinder nicht unbedingt erfolgt. Wenn die
Form des Schädels, welche wir kurz die Culturform
nennen wollen, ein Product der Ernährung und der
Lebensart, also äusserer Einflüsse ist, wenn sich die-
selbe an demselben Individuum verschieden gestalten
kann, also nicht conStant ist, dann kann von einer
Vererbung dieser Form nur in beschränktem Mass die
Rede sein. Die Form selbst wird nicht auf die Kin-
der übertragen, wohl aber die Anlage zu dieser
Form. Wir dürfen dies schliessen aus dem Umstände,
dass sich die Form von Generation zu Generation, bis
auf einen bestimmten Grad, in ihrer Eigenthümlichkeit
steigert. Wenn wir ein gemeines Schwein neben einem
veredelten erziehen , und wenn wir auf beide ganz die-
selben Einflüsse der Ernährung und Haltung und in
gleichem Masse einwirken lassen, dann erhalten wir
nicht dieselbe Kopfform an beiden Thieren. Die Aus-
bildung der Kopfform muss also unterstützt werden
durch dazu vorhandene Anlage , diese müssen wir des-
halb für erblich halten." Haeckel formulirt auch ein
Gesetz der individuellen Anpassung, womit die
Thatsache ausgedrückt wird, dass trotz nächster Ver-
wandtschaft die Individuen in allerlei Abweichungen
auseinandergehen. Die Ursache dieser Verschiedenheit,
die am augenfälligsten bei den Individuen eines und
desselben Wurfes oder Satzes, ist, soweit sie nicht
auf directe Anpassung zurückzuführen, in den Keimen
Mimicry. 165
enthalten und auf diese durch uns meist ganz unzu-
gängliche Schwankungen und Differenzen .der Ernäh-
rungsverhältnisse der Aeltern übertragen. Andere
Erscheinungen der indirecten Abänderung sind das
Auftreten von Misbildungen , deren Ursachen nur in
Ernährungsstörungen der älterlichen Organismen ge-
sucht werden können, ohne dass die Erzeuger selbst
merklich afficirt worden sind. Auch der Fall gehört
hierher, dass Einwirkungen, welche das eine Geschlecht
betroffen haben, sich nur in den Nachkommen des-
selben Geschlechts äussern. Wie man sieht, sind diese
in ihren Anfängen der Beobachtung gänzlich entzoge-
nen Vorgänge eng mit dem dunkelsten Gebiete der Ver-
erbung verknüpft.
Eine höchst interessante und wichtige Form der
Anpassung ist die sogenannte Mimicry (Nachäffung,
Nachahmung, Maskirung) oder der Schutz durch An-
passung der Färbung und Form. Die ersten Ent-
deckungen 'darüber wurden von dem bekannten „Natur-
forscher am Amazonenstrom", Bates, gemacht; das
meiste hat dann Wallace hinzugefügt. In Südamerika
ist die Schmetterlingsfamilie der Helikoniden ausser-
ordentlich verbreitet, ausgezeichnet durch verlängerte
Flügel, Leib und Fühlhörner und durch schöne Far-
ben. Man sollte meinen, sie wären den Verfolgungen
insektenfressender Vögel und anderer Thiere ausgesetzt.
Aber dies ist nicht der Fall, denn sie haben einen
unangenehmen Geruch, der sie höchst wahrscheinlich
jenen verleidet. Ihr Geruch und Geschmack ist also
für sie ein Schutz, indem die Vögel und Eidechsen,
welche einigemal sich an ihnen vergriffen haben,
sicher sie später unangefochten lassen. Würden nun
andere Schmetterlinge den Helikoniden ähnlich sein,
aber ohne den Übeln Geruch zu besitzen, so würden
diese, da die Insektenfresser nicht den einzelnen Fall
prüfen, sondern sich einen Widerwillen gegen den
Habitus der Helikoniden überhaupt angeeignet haben,
an der Lebensversicherung der Helikoniden um so mehr
166 Mimiory.
theilhaben , als sie sich ihnen in der äussern Erschei-
nung nähern. Dieser Fall ist nun wirklich eingetret^,
indem Bates eine Eeihe von Arten der von den Hell-
koniden sonst sehr abweichenden Gattung Leptalifi
entdeckte, von denen jede einer Helikonide bis zum
Verwechseln an Form und Farbe ähnelt. Die Lepta-
liden haben auch die Flugweise der Helikoniden aa>-
genommen, theilen mit ihnen die Standorte und flie-
gen , obschon sie den abstossenden Geruch nicht haben,
ungestraft umher. Das Verhältniss würde nicht mög-
lich sein, wenn die Leptaliden nicht bedeutend in der
Minderzahl wären, sodass sie gewissermassen sich un-
ter den Helikoniden versteckten, Wallace hat gezeigt,
dass die durch Mimicry anderer Thiere geschützten
Arten immer in der Minderzahl und oft sehr selten
sind im Vergleich zu den nachgeahmten Arten. Weder
die Erklärung, dass gleiche Lebensbedingungen die-
selben Eesultate hervorgerufen, noch die Annahme,
dass wenigstens in einigen Fällen in dör Mimicry
Bückschlag zur gemeinschaftlichen Stammart vorliege,
sind irgendwie befriedigend, und nur die natürUche
Auslese lässt sich zum Verständniss vieler Fälle an-
wenden, derjenigen nämlich, wo schon vor dem Be-
ginn der Nachahmung von vornherein eine solche
Aehnlichkeit zwischen nachahmender und nachgeahmter
Form stattfand, dass eine Verwechselung möglich war,
wo also die Aehnlichkeit durch die Zuchtwahl, die
sich hier so ausserordentlich nützlich für die Erhal-
tung der Aehnlichern erwies , nui^ gesteigert zu werden
brauchte. Auch Darwin *^ meint, „dass der Process
wahrscheinlich niemals bei Formen seinen Anfang
nahm , welche in der Färbung einander sehr unähnlich
waren".
Eine besondere, einfachere und längst bekannte Mi-
micry ist diejenige, wenn Thiere in ihren Färbungen
sich so dem Aufenthaltsorte accommodirt haben, dass
sie die Aufmerksamkeit ihrer Feinde schwerer auf sich
ziehen, oder auch ihre Beute täuschen. Wer hat nicht
r
I
Mimicry. 167
in der Zeit, wo man den Schmetterlingen nachjagte,
erfahren, wie schwierig es ist, gewisse Abend- und
Nachtschwärmer auf der Rinde der Bäume zu erkennen,
wenn sie mit dachförmig niedergelegten bräunlichen
oder schwärzlich und grau gebänderten oder gespren-
kelten Flügeln ruhig sitzen? Die Laub- und Gespenst-
heuschrecken können so täuschend Blättern oder Zwei-
gen ähnlich sehen, dass man sich erst durch Berührung
Yon ihrer Wesenheit überzeugt. Wallace erzählt, dass
eine der Phasmiden (Ceroxylus laceratus), die er in
Bomeo erhielt, so mit blattförmigen hell olivengrünen
Auswüchsen bedeckt war, dass sie einem mit Moos
bedeckten Stabe glich. Der Dayak , der ihm das Thier
brachte , versicherte , es sei , obschon lebend , doch mit
Moos bewachsen, und der Naturforscher selbst konnte
sich nur durch die genaueste Untersuchung vom Gegen-
theil überzeugen. Ein vielen unserer Leser zugäng-
liches ausgezeichnetes Beispiel von vortheilhafter Fär-
bung geben die meisten Arten der jetzt so oft in
den Aquarien gehaltenen Seitenschwimmer oder Schollen
(Pleuronectides). Man beobachte die grauen oder bräun-
lich gesprenkelten Thiere, wie sie durch einige Be-
wegungen der Flossen ihre Oberseite zum Theil mit
Sand bedecken. Ganz brauchen sie sich nicht einzu-
wühlen, denn die nackte Haut ist nur bei schärferer
Betrachtung vom Sandboden zu unterscheiden; und
unter dieser theils künstlichen, theils natürlichen
Hülle und Maske wartet das Thier auf seine Beute.
Bei vielen mit Farbenschutz versehenen Thieren ist
die Erscheinung complicirter und die Erklärung durch
die natürliche Auslese weit schwieriger, indem sie
willkürlich ihre Färbung den Umständen anpassen
können, oder auch die Färbung durch unwillkürliche
Beflexe sich ändert. Verany's unübertreffliche Beobachtun-
gen über die Cephalopoden haben uns mit der Farben-
scala bekannt gemacht, über welche diese Weichthiere
verfügen; Brehm's Beschreibung des Farbenspieles des
Chamäleons reiht sich an. Auf diese äusserst ver-
168 Veränderungen durch Gebrauch
wickelten Fälle wird vorderhand durch die ein-
fachem einiges Licht geworfen, wo der ganz offenbare
Farbenschutz sich in Haut und Gefieder fixirt hat und
das Zusammentreffen mit andern Umständen kaum eine
andere Erklärung als durch Zuchtwahl zulässt. Hier-
für ist die anziehende Untersuchung von Wallace über
die Vogelnester besonders lehrreich. Die grosse Mehr-
zahl der weiblichen Vögel, welche in offenen Nestern
brüten, haben ein bräunliches, grauliches, kurz nicht
auffallendes Gefieder. Die Erklärung wird keineu
Widerspruch finden, dass vorkommende Abänderungen
des Gefieders, welche den auf dem Neste sitzenden
Vogel seinen Feinden leichter verrathen, keine Aus-
sicht haben, constant zu werden. Das Umgekehrte bei
der den Vogel mit der Umgebung in Uebereinstimmung-
bringenden Färbung folgt von selbst, und eine wich-
tige Stütze für die Eichtigkeit der Auslegung der
Thatsachen ist die andere Beobachtung, dass die mei-
sten Vogelweibchen mit lebhaft gefärbtem und gefleck-
tem Gefieder in bedeckten und verborgenen Nestern
brüten. Es kommt dazu, dass der Nestbau nicht nach
absoluten Kegeln eines blinden Instinctes sich richtet^
sondern von der Erfahrung der Thiere modificirt wird,
einer Erfahrung, welche wir zwar fast nur mit dem
Alter des Individuums sich entwickeln sehen, die aber
wenigstens in mehrern Fällen auch als Fortschritt
der Art nachgewiesen ist.
Eine grosse Beihülfe findet die natürliche Zucht-
wahl in den Veränderungen, welche durch den Ge-
brauch oder Nichtgebrauch der Organe her-
vorgebracht werden. Die Nöthigung zum fleissigern
Gebrauch, die Veranlassungen zum Nichtgebrauch lie-
gen in den sich umgestaltenden Lebensbedingungen.
Es handelt sich also in beiden Fällen um Anpassung.
Durchgreifende Veränderungen sind am leichtesten als
Folge vom Nichtgebrauch nachzuweisen, wenn wir
uns in der Natur umschauen, von beiden Arten aber
gibt die künstliche Zuchtwahl zahlreiche Beispiele»
oder Nichtgebrauch der Organe. 169
namentlich wo sie sich mit einseitiger Uebung ge-
wisser Organe bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer
verbindet. Solche Producte der Auslese mit einseitiger
Uebung sind Kennpferd und das schwere Zugpferd.
Die Blindheit der Höhlenthiere erklärt sich nur da-
durch, dass mit der allmählichen Entbehrlichkeit der
Augen während der Accommodirung an das Höhlen-
leben nach und nach der Stoffwechsel in den weniger
fungirenden Organen sank und die Verkümmerung
eintrat. Bestärkt wird die Eichtigkeit [dieser theore-
tischen Betrachtungen durch die Wahrnehmung, dass
viele blinde Höhlenthiere, namentlich Insekten und
Spinnen, ihre nächsten Verwandten in der Nach-
barschaft der Höhlen haben, und dass die in
den noch nicht ganz dunkeln Strecken wohnenden
Höhlenthiere minder verkümmerte Gesichtswerkzeuge
besitzen. Auch unter den wühlenden Säugethieren
findet eine ähnliche Abstufung statt, und Darwin theilt
ein Beispiel mit**, welches das Erblinden infolge der
Lebensweise sehr schön verdeutlicht: „Ein südameri-
kanischer Nager, der Tuco-Tuco oder Ctenomys, hat
eine noch mehr unterirdische Lebensweise als der Maul-
wurf, und ein Spanier, welcher oft dergleichen ge-
fangen hat, versicherte mir, dass derselbe oft ganz
blind sei; einer, den ich lebend bekommen, war es
gewiss, und zwar , wie die Section ergab , infolge einer
Entzündung der Nickhaut. Da häufige Augenentzün-
dungen einem jeden Thiere nachtheilig werden müssen,
und da für Thiere mit unterirdischer Lebensweise die
Augen gewiss nicht nothwendig sind, so wird eine
Verminderung ihrer Grösse, die Adhäsion der Augen-
lider und das Wachsthum des Felles über dieselben
in solchem Falle für sie von Nutzen sein; und wenn
dies der Fall, so wird natürliche Zuchtwahl die Wir-
kung des Nichtgebrauches beständig unterstützen."
Aus den Klassen der fliegenden Thiere hat eine
grosse Anzahl das Fliegen aufgegeben, und wir finden
nun ihre Flugwerkzeuge in einem Zustande der Ver-
170 Yeränderangen durch Gebrauch
ktimmerung und UnvoUkommenheit, der nur bei einer
ganz schiefen Beurtheilung und Combination als ein
Zustand der Fortentwickelung aus noch einfachem An-
föngen aufgefasst werden kann. Wenn überall aus der
grossen Familie der Laufkäfer einzelne Gattungen und
Arten mit unvollkommenen Flug Werkzeugen, verwach-
senen Flügeldecken u. s. w. angetroffen werden; wenn
die ganze Familie der Staphylinen die Flugföhigkeit
nicht besitzt, so denkt niemand daran, diese Käfer
als stehen gebliebene Formen aufzufassen, sondern es
wird begreiflich, dass die Lebensweise, in der sie von
ihren Ordnungs- und Klassengenossen abweichen, allmäh-
lich bei ihren fliegenden Vorfahren die Angewöhnung
des Nichtfiiegens und damit die Reducirung der Flug-
organe nach sich zog, womit, wie gerade die ange-
führten Käfer beweisen, keineswegs überhaupt eine
Erniedrigung der Organisation, sondern im Gegentheü
äusserst nützliche Vervollkommnungen anderer Organe,
der Fress- und Gehwerkzeuge, verbunden waren. Eine
sozusagen summarische Reducirung des Flugvermögens
ist in der Käferfauna mancher Inseln nachgewiesen.
So können von 550 Arten Madeiras über 200 nicht
oder nur unvollkommen fliegen, und es gibt keine an-
dere Erklärung dafür, als die natürliche Zuchtwahl.
Hier waren die minder guten und kühnen Flieger die
Bevorzugten, während die andern durch die Winde
ins Meer getrieben und eliminirt wurden. Die Nicht-
anwendung einer früher erlangten speciellen Vollkom-
menheit ist im ^^struggle for eomtenc&^ von Nutzen. In
mehrem Familien der Eidechsen finden sich Gattun-
gen, schlangenartig, wie man sie nennt, die bei ver-
längertem Körper entweder blos Vorderbeine (Chirotes)
oder blosse Stummel der Hinterbeine (Pseudopus) oder
gar keine Spur der Beine (Anguis) besitzen. Sie stehen
in demselben Verhältniss zu der grossen Klasse der
regelmässig vierbeinigen Eidechsen, wie die nicht flie-
genden Insekten zu ihrer Klasse : sie sind nicht in der
Entwickelung stehen geblieben oder in der Entwickelung
oder Nichtgebrauch der Organe. 171
zur Vierbeinigkeit begriffene Thiere, sondern, wie
Fürbringer aus der Entwickelungsgeschichte und ver-
gleichenden Anatomie nachgewiesen, ihre Gliedmassen
und, wenn diese ganz fehlen, die Beste des Schulter-
und Beckengürtels und des Brustbeines, tragen die
unzweifelhaften Zeichen der Yerkümmerung eines einst
vollkommenen Apparates an sich. Die weitere Ver-
gleichung lehrt, dass diese Yerkümmerung bei den
Schlangen den höchsten Grad erreicht, dass sie aber
dadurch ausgeglichen ist, dass Bippen und Bippen-
muskulatur die Bolle der Gliedmassen übernommen.
Auch hier fallen Nichtgebrauch und Anpassung sowie
Differenzirung zusammen.
In der Klasse der Vögel wiederholt sich dasselbe
Schauspiel, was uns eben die Käfer und Beptilien ge-
währten: aus einzelnen Familien und kleinern Grup-
pen sind einzelne Arten des Flugvermögens beraubt,
und eine ganze grössere systematische Gruppe ist
ebenfalls durch die Unfähigkeit zum Fliegen charak-
terisirt. Bei der Dronte und den wenigen Anver-
wandten, welche nach der Entdeckung ihrer einsamen,
von ihnen wahrscheinlich viele Jahrtausende ungestört
bewohnten Inseln ihrer Hülflosigkeit so schnell zum
Opfer fielen, verknüpfen* sich Veranlassung zum Nicht-
gebrauch und Folgen in unserm Urtheil unmittelbar.
Auf keinem andern "Wege wird der nordische Pinguin
(Alca impennis) einst zur Verkürzung seiner Flügel ge-
kommen sein, und die sparsamen, aber weit zerstreu-
ten Beste der Ordnung der Laufvögel deuten auf eine
Zeit, wo ihre weit zahlreichem flügellosen Vorfahren
in friedlicherer Umgebm^ von ihren Schwingen weni-
ger Gebrauch machten und die natürliche Auslese ihren
Beinen zu grösserer Stärke und Behendigkeit verhalf.
Auch für die Wirkungen des Nichtgebrauches der Be-
wegungsorgane liefert wiederum die künstliche Züch-
tung den directen Nachweis.
Gebrauch und Nichtgebrauch in Verbindung mit
Auslese erläutern die Trennung der Geschlechter und
172 Trennung der Geschlechter.
das auf anderm Wege völlig unbegreifliche Vorhan-
densein der rudimentären Geschlechtsorgane. Beson-
ders bei den Wirbelthieren hat * jedes Geschlecht so
auffallende Spuren von den das andere charakterisi-
renden Fortpflanzungswerkzeugen, dass schon das
Alterthum den Hermaphrodismus als einen natürüchen
Urzustand des Menschen annahm. Die Lehrbücher der
vergleichenden Anatomie geben den speciellen Nach-
weis über diese theils so offenbaren, theils innere,
versteckte Verhältnisse betreffenden Homologien. Wir
können uns auf die Andeutung beschränken, wie die
Selectionstheorie sich auch hier bewährt. Dass in
hermaphroditischen Thieren Schwankungen in der Ge-
schlechtssphäre vorkommen müssen, wobei die eine
oder andere Hälfte prävalirt, versteht sich von selbst.
Sind dieselben so stark, dass sich die natürliche Zucht-
wahl ihrer bemächtigt, so wird die Productionskraft
des zurückbleibenden Theiles mehr und mehr sinken,
und es werden sich schliesslich, mit dem Erlöschen
der physiologischen Eigenschaften, der Function, nur
die morphologischen Reste als ein die Zweckmässig-
keitslehre oder Teleologie verhöhnender Ballast ver-
erben. Nur dann und wann kommt ein mehr oder
minder auffallender Bückschlag, der sich aber fast
nur auf die Nebenorgane und die secundären (wir
meinen nicht die von dem einen Geschlechte erwor-
benen, sondern ursprünglich gemeinschaftlichen) Ge-
schlechtscharaktere bezieht. Die Zähigkeit, mit
welcher diese Budimente der Geschlechtsorgane ver-
erbt worden, ist eine ganz enorme. In der Klasse der
Säugethiere ist wirklicher H^rmophrodismus unerhört;
durch ihre ganze Entwickelungsperiode hindurch schlep-
pen sich die schon von ihren unbekannten Stammfor-
men, wer weiss wie lange, getragenen Ueberbleibsel.
Wenn man nicht die Schmarotzerthiere zugleich mit
ihren Wirthen, den Menschen mit seinen Bandwür-
mern und andern unangenehmen Gästen aus dem Er-
denkloss erschaffen sein lässt und damit die Discussion
Schmarotzer. 173
abschneidet, so ist auch dieses gesammte Gebiet aus
der Descendenz unter vorzüglicher Mitwirkung des
Nichtgebrauches zu erklären. Der im nächsten Eapi*
tei auszuführende Sat«, dass die Entwickelungsgeschichte
des Individuums die Geschichte der Art vergegenwär-
tige, wird den Einfluss des Nichtgebrauches gewisser
Organe auf die Gestaltung der verschiedenen Parasiten
zeigen. Am lehrreichsten sind wol die parasitischen
Krebse, weil bei ihnen die vollständigste systematische
Reihe vorliegt, die uns den allmählichen Schwund der
Organe bei immer engerer Verbindung des Parasiten
mit dem Wirthe vergegenwärtigt. Auch für mehrere
Ordnungen der Eingeweidewürmer ist der Darmkanal
völlig entbehrlich geworden, aber weder Zwischenfor-
men noch Entwickelungsstufen lassen sehen, wie. An-
ders bei den Sphmarotzerkrebsen, wo das junge be-
wegliche und wohlgegliederte Wesen in beweglich
bleibenden definitiven Gattungsformen sein Abbild hat,
von wo es nach der Anheftung zu einem unbeweg-
lichen Sack herabsinkt. Alle diese Thiere mit Ein-
schluss der Eingeweidewürmer haben, und das ist die
wahre Bedeutung des Schmarotzerlebens, gerade durch
die scheinbare Erniedrigung ihrer Organisation sich
ihren Platz und ihren Bestand errungen. Sie zeichnen
sich fast ausnahmslos durch ihre grosse Reproductions-
kraft aus, und auf diese konnte, bei der Leichtigkeit
der Nahrungszufuhr, ohne Anstrengung der übrigen
Organsysteme, die Leibesthätigkeit sich concentriren.
Wir haben bisher dargelegt, dass die Organismen
im unausgesetzten Kampfe um das Dasein zu fort-
währender Differenzirung gedrängt werden. Daneben
bemächtigt sich die natürliche Züchtung auch solcher
aus der blossen Variabilität des Organismus entsprin-
genden Veränderungen, welche keinen physiologischen
Fortschritt in sich schliessen, zur Erziehung rein mor-
phologischen Arten. Aber auch diese werden unfehl-
bar früher oder später in den Strudel der Concurrenz
hineingerissen. Das ist nach dem Bisherigen so selbst-
174 Yervollkommnung.
verständlich, dass es keines weitem Beweises bedarf.
Auch wenn wir die Mannichfaltigkeit der Organismen
nicht vor Augen hätten, so würde a priori aus dem
Vorhandensein des einfachen Einförmigen und der
Nothigung, den veränderten äussern Verhältnissen sich
anzupassen, ein Auseinandergehen in Neues geschlossen
werden müssen. Mit der Ausbildung in verschiedener
Bichtung unter der Führung der naturlichen Zucht-
wähl ist aber nothwendig die Vervollkommnung
verbunden. Es ist eins der grossten Verdienste der
Selectionstheorie , mit dem Zweckmässigkeitsbegriff,
welcher bisher dem Organischen die Vollkommenheit
von aussen aufnöthigte, ein für allemal gebrochen und
selbst auf dem Gebiete der Intelligenz und Moral, wo
man mit Schiller sagt:
Es wächst der Mensch mit seinen grössern Zwecken —
der einheitlichen naturwissenschaftlichen Methode Ein-
gang verschafft zu haben. Es ist überhaupt höchst
merkwürdig, wie die theologische Naturbetrachtung
so lange hat festgehalten werden können und zum Theil
unter theologischem Einfluss noch festgehalten wird,
obgleich wir in der gesammten organischen Welt nur
eine relative Vollkonmienheit wahrnehmen und die so
offenbaren tausendfaltigen zweckwidrigen Einrichtungen
in den Organismen aller Grade der ausserhalb stehen-
den dirigirenden Macht ein sehr schlechtes Zeugniss
ausstellen. Die aus der anatomischen Vergleichung
und der Abwägung der physiologischen Leistungen
«ich ergebende Vollkommenheit ist unter allen Um-
ständen das Resultat der Anpassung und Zuchtwahl.
Im Kampfe Aller gegen Alle gewinnen die Individuen,
welche in der Arbeitstheilung ihre Genossen um etwas
überflügeln, wobei sie oft genöthigt sind, wenn die
Richtung der Thätigkeit sich ändert, Organe ausser
Thätigkeit zu setzen, welche einst von Nutzen waren,
in den neuen Verhältnissen aber unnütz und, mau
darf dies allgemein behaupten, schädlich geworden
Vervollkommnung und Zweckbegriff. 175
sind. Die künstliche Züchtung erzeugt — und hier
können wir vom Zweck reden — Yollkommenes , in-
dem sie bestimmte Theile , welche yervollkommnet wer-
den sollen, durch m'echanische und physiologische
Arbeit, das letztere vornehmlich in zweckmässiger
Ernährung, übt und die erzielten Yortheile der Fort-
pflanzung übergibt. Was wir natürliche Züchtung
nennen, ist Zusammenfassung der Vervollkommnungen,
die auf dem Wege der Specification in der Anpassung
gewonnen werden. Das getreueste Abbild der allmäh-
Uch errungenen Speciflcation haben wir in der Ent-
wickelung des Individuums, wo aus dem Indifferenten
durch immer weiter greifende Differenzirung das reife,
auf der Höhe seiner physiologischen Leistung stehende
Thier hervorgeht. Dass in den verschiedenen Thier-
gruppen gewisse Grade der Vollkommenheit erreicht
sind, ist eine unbestrittene Thatsache, bei jeder nähern
Untersuchung aber zerbricht der Götze des Zweck-
begriffes. Der Organismus des Vogels erscheint höchst
geeignet, um ihn abstract nach dem Zweck des Flie-
gens modiflcirt zu denken. Wer jedoch den Zweck
über den guten Fliegern walten lässt, muss den Zweck-
begriff bei den nicht fliegenden Vögeln aufgeben und,
wenn er überhaupt sich etwas denken will, der An-
passung ihr Becht geben. Damit ist die ganze An-
schauungsweise durchlöchert, und ähnlich in allen
übrigen Fällen. Wie die organische VoUkonunenheit
sich zum Zweckbegriff stellt, hat der Verfasser des
„Unbewussten" (S. 28) sehr scharf und klar aus-
gedrückt: „Die Descendenztheorie lehrt, dass eine
Unabhängigkeit der bei einer organischen Erscheinung
cooperirenden Bedingungen nicht existirt, dass viel-
mehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten aus ge-
gemeinsamem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben
Ursachen war, und die Theorie der natürlichen Zucht-
wahl lehrt uns eine von diesen Ursachen, und wol
unzweifelhaft die wichtigste, als eine solche kennen,
welche durch rein mechanische Compensationsphänomene
176 Vervollkommnung und Entwickelung.
zweckmässige Eesultate hervorbringt. Die Descendenz-
theorie stellt das teleologische Princip nur in Frage,
indem es ihm den Boden für einen positiven Beweis
entzieht, die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl
aber beseitigt dasselbe ganz direct, soweit als sie
selbst mit ihrer Erklärung reicht. Denn die natür-
liche Auslese im Kampf ums Dasein, das Zugrunde-
gehen des minder Zweckmässigen und das Ueberleben
und Sichweitervererben des Passendsten und Zweck-
massigsten ist ein Vorgang von mechanischer Gausa-
lität, in dessen gleichmässige Gesetzlichkeit nirgends
ein teleologisch bestimmendes metaphysisches Princip
eingreift, und doch geht aus ihm ein Resultat hervor,
das wesentlich der Zweckmässigkeit entspricht, d. h.
diejenige Beschaffenheit besitzt, welche den Organismen
unter den gegebenen Umständen die höchste Lebens-
fähigkeit verleiht. Die natürliche Zuchtwahl löst
das scheinbar unlösliche Problem, die Zweck-
mässigkeit als Resultat zu erklären, ohne sie
dabei als Princip zu Hülfe zu nehmen."
In jedem Stamm — was die Zoologie einst Typus
nannte, ist, wie wir gesehen, in der Descendenzlehre
zum Stamm geworden — in jedem steckt die Möglich-
keit zu einer gewissen Höhe der Vervollkommnung,
und wir sehen in ihm, nachdem der Stammescharakter
in seinen Grundzügen sich festgestellt hat, eine Ent-
wickelung vor sich gehen, deren Möglichkeit in der
Anlage des Charakters, deren Verwirklichung und
Nothwendigkeit in den äussern Verhältnissen liegt.
Auch uns ist daher die Vervollkommnung eine Ent-
wickelung, aber nicht zu einer prädestinirten und
prästabilirten Harmonie. Karl Ernst v. Bär **, wel-
cher den Zweck , oder wenigstens das „Ziel" , kurz das
Vorherbestimmte in den Entwickelungsreihen der Natur
retten will, sagt: „Jeder Grund erzeugt einen Vor-
gang, der wiederum weiter auf ein anderes Ziel hin-
wirkt." Warum denn Ziel? Muss es nicht vielmehr
heissen: Jeder Grund erzeugt einen Vorgang, der
Fortbestehen der niedrigen Organismen. 177
wiederum weiter als Grund auf einen andern Vorgang
hinwirkt? Je weiter wir zurückgehen, um so tiefer
und allgemeiner ist die Stufe, und die verschiedenen
Abzweigungen sind in ihren Endgliedern auf sehr ver-
schiedenen Stufen stehen geblieben oder angelangt.
Ein oft gehörter Einwurf gegen diese Folge d^r De-
ficendenzlehre ist, wenn alles zur Vervollkommnung
dränge , wie es denn geschehe , dass neben den höhern
Gliedern der Stämme so viele niedrige, und überhaupt
neben den höhern Stämmen die niedrigen sich im
Kampfe um das Dasein hätten erhalten können. Gegen-
über den unabweisbaren Thatsachen der Vervollkomm-
nung kann man sich begnügen, darauf hinzuweisen,
dass die niedrigen Formen überall fortbestehen konnte»
und können, wo mit den übrigen Existenzbedingungen
Raum für sie war. Während sie hier nur geringere
Modificationen erlitten, führte dort nothwendige Zucht-
üvahl zu tieferer Umgestaltung, und die neugezogenen
Wesen, an andere Existenzbedingungen gewöhnt, konn-
ten bei späterer geographischer Verschiebung mit den
zurückgebliebenen Arten wieder Meer und Land thei-
len. Denn sowie die Verschiedenartigkeit durch die
Zuchtwahl hergestellt ist und auch die Ansprüche an
die Nahrung und die andern Bedürfnisse sich getheilt
haben , muss nothwendig ein partieller Nachlass im
Kampf eintreten.
Sehr vielen niedern Organismen kommt für ihre Er-
haltung augenscheinlich der Umstand zugute, dass,
eben weil sie einfacher sind, ihre Fortpflanzung sich
um so leichter bewerkstelligt. Wenn also auch un-
zählbare Arten namentlich in beschränktem Verbrei-
tungsbezirken bei starker Concurrenz bevorzugter Va-
rietäten der Ausrottung verfallen mussten, so schliesst
der Kampf ums Dasein und die Vervollkommnung das
Bestehen niederer Formen nicht aus. Was aber die
Selectionstheorie erklärt, davon bleibt, wie uns scheint,
die Teleologie die Erklärung schuldig. Das Zurück-
bleiben der niedern Organismen trotz des Innern
Schmidt, Descendenzlehre. 22
178 Zufall.
Dranges und des vorgesteckten Zieles ist unbe-
greiflich.
Soll aber, so hört man oft fragen, wenn ihr von
einem den Organismen innewohnenden „Principe der
Vervollkommnung" (Nägeli), von dem „göttlichen Odern
als innere Triebkraft in der Entwickelungsgeschichte
des Naturlebens" (Braun), von der vom Schöpfer ein-
gepflanzten „Tendenz zum Fortschritt" (R. Owen),
sogar von der „Zielstrebigkeit" (v. Bär) nichts wissen
wollt, soll der Zufall jene wunderbaren hohem Or-
ganisationen zu Stande gebracht haben? Darauf lässt
sich mit völliger Klarheit antworten, dass derjenige
Zufall, dem die menschliche Beschränktheit eine so
grosse Rolle anweist, wo sie nicht das persönliche
Eingreifen eines höhern Wesens oder das allgemeine
;,schaffende und treibende Princip" zur Hand hat, in
der Natur gar nicht existirt, und dass uns die Ueber-
zeugung von der Wahrheit der Abstammungslehre da-
durch wurde , dass die Erscheinungsreihen vermittelt
sind als Ursachen und Wirkungen. Erinnern wir uns
an die Weltformel von Laplace, in deren Besitz wir
uns denken können, und mit welcher auch die künf-
tigen Entwickelungen sich würden vorausberechnen
lassen. In unserer Beschränkung freilich können wir
uns nur einiger Sicherheit in der Berechnung und
Klarlegung der Reihen nach rückwärts nähern. Dabei
müssen wir das Wort Zufall streichen, da die Causa-
lität, die wir begreifen, dasselbe vollkommen entbehr-
lich macht. Wer sich an den Anfang einer Entwicke-
lung versetzt, sich z. B. gegenwärtig denkt bei der
Entstehung der Reptilien, dem mag von dieser vor-.
weltlichen Umschau aus die Ausbildung des Reptils
zum Vogel ein „Zufall" sein, wenn er sie nicht etwa
prädestinirt denkt. Uns, die wir den Vogel rückwärts
zu seinem Ursprung verfolgen, erscheint er als eine
Folge von mechanischen Ursachen.
Fassen wir noch einmal zusammen, was vir mit der
durch die Selectionstheorie begründeten Descendenz-
Ontogenie und Phylogenie. 179
lehre gewinnen, so ist es die Erkenntniss des Zu-
sammenhangs der Organismen als blutsverwandter We-
sen. Je grösser die Uebereinstimmung der innern und
äussern Kennzeichen, um so näher ist die§e Verwandt-
schaft. Je weiter wir den Stammbaum nach seinem
Ursprung hin verfolgen, um so sparsamer werden die
bis zu diesen Wurzeln stichhaltigen Charaktere , um
so mehr dieser Charaktere stellen sich heraus als Er-
werbe im Laufe der Zeit. Indem wir diesen Erwerb
eliminiren und die vererbten Eigenschaften, je weiter
wir rückwärts tasten, immer mehr beschränken, re-
construiren wir die Stammbäume der verschiedenen
Gruppen. ^'. ^
Wir thun genau dasselbe, was man bei der Sprach-
forschung höchst natürlich und wissenschaftlich findet.
Die Begriffe und Worte, welche den Individuen einer
SprachfamiliQ gemeinsam , sind die Mitgift aus dem
geistigen und sprachlichen Besitzthum des Urvolkes,
von welchem aus sich der Stammbaum der Familie
verzweigt hat. Nicht mehr und nicht weniger hat der
sogenannte „Zufall" in der Gestaltung der abgeleiteten
Sprachen geherrscht , als in der Entwickelung der Or-
ganismen aus den Stammformen.
IX.
I ■
-* ...
Die Entwickelung des Individuums (Ontogenie) ist
eine Wiederholung der historischen Entwickelung
des Stammes (Phylogenie).
Obschon die paläontologische Ueberlieferung voller
Lücken, ist es doch, was selbst die meisten Gegner
der Descendenzlehre zugestehen, ganz unverkennbar,
dass von den altern zu den neuern Perioden hin ein
Fortschritt von niedrigem zu höhern Organisationsstüfen
stattfindet, wie er sich auch im System der heutigen
12*
180 Gleiche typische Entwickelung
Pflanzen- und Thierwelt ausspricht; und dass vielseitig
die embryonale Entwickelung, sowie Metamorphose und
Generationswechsel, kurz die individuelle Entwickelung
(„Ontogenie", Haeckel) zur Vergleichung mit jenen
paläontologischen Reihen, sowie mit der systematischen
Aufeinanderfolge einladet. Der Parallelismus der pa-
läontologischen mit der systematischen Reihe ist ent-
weder ein .Wunder, oder wird vermittels der Descen-
denzlehre verstanden. Ein Drittes gibt es nicht. Und
die Descendenzlehre hält die Probe vollständig aus;
sie zeigt uns, wie die Abstammung der heutigen Or-
ganismen von den ehemals existirenden auf der Ver-
erbung der Eigenschaften der Vorfahren auf die Nach-
kommen und dem Erwerb der Individuen beruht. Die
Erscheinungen der individuellen Entwickelung, oder
Ontogenie lassen keine andere Wahl: entweder sie
bleiben unbegrijffen, oder sie halten den Prüfstein der
Descendenzlehre aus und ordnen sich dem grossen all-
gemeinen Princip unter.
Wenn man die unzähligen Thatsachen der Fort-
pflanzung und Entwickelung mustert, so theilen sie
sich allerdings ein, sie ordnen sich zu analogen und
homologen Gruppen, es ergeben sich Entwickelungs-
typen, man spricht von Entwickelung ohne Metamor-
phose , von Verwandlung und Generationswechsel. Welche
nothwendige Beziehung aber die in der Verwandlung
sich ablösenden Formen, die Gestalten des Generations-
wechsels zmn fertigen Thiere oder dem geschlechtlich
entwickelten Hauptrepräsentanten der Art haben,
warum so viele Thiere keine Verwandlungen bestehen,
sondern „fertig" aus dem Ei kriechen, warum die zu
einer Klasse oder einem „Typus" gehörigen Arten einen
und denselben Entwickelungstypus und Gang der Bil-
dung besitzen, diese und ähnliche Fragen nach dem
Verständniss dieser krausen Menge von Thatsachen
drängen sich auf. Und auch sie sind Prüfsteine für
unsere Theorie der Abstammung. Die Lehre leistet
hierin soviel, wie je von einer grossen Hypothese in
bedingt durch gleiche Abstammung. 181
ihrer speciellen Anwendung geleistet worden ist; und
wenn sie auf alle oder wenigstens nahezu alle hier
einschlägigen Fragen eine befriedigende Antwort gibt,
so sind das ebenso viele Zeugnisse und Beweise für
ihre Wahrheit, welche nach allem wissenschaftlichen
Brauch und Recht und philosophischer Methode solange
Geltung haben, bis nicht die Unwahrheit der Herlei-
tungen und Schlüsse nachgewiesen und eine bessere
Hypothese an Stelle der beseitigten gesetzt worden ist.
Der erste Satz, welcher aus der Descendenzlehre
für die Erklärung der Thatsachen der Entwickelung
der Individuen hergeleitet wird, kann lauten: die
Uebereinstimmung in den Grundzügen der Entwickelung
beruht auf gleicher Abstammung, oder, etwas anders
gefasst, die Uebereinstimmung in den Grund-
zügen der individuellen Entwickelung findet
ihre Erklärung in der gleichen Abstammung.
Wie uns schon bekannt, wies zuerst C. E. v. Bär nach,
dass die in den Grundzügen ihrer Organisation über-
einstimmenden Mitglieder der grossen Abtheilungen des
Thierreiches auch durch je einen besondern „Typus
der Entwickelung" ihre Zusammengehörigkeit bekun-
den. Man hat diese Thatsache immer als selbstver-
ständlich betrachtet, obgleich sie das grösste Wunder
wäre, wenn man sie nicht aus der Descendenz ablei-
ten könnte. Es ist daher hier der Ort, uns einige
der zum Theil schon im dritten Abschnitt betrachteten
Entwickelungsgrundformen vorzuführen, zugleich aber
auch die Bedeutung dieser Typen mit Hülfe der Ab-
stammungslehre zu erläutern. Wir nehmen als erstes
Beispiel die Stachelhäuter. Obgleich aus der ana-
tomischen Vergleichung eines Haarsternes, eines See-
sternes, Seeigels und einer Seegurke oder Holothurie
sich die innige Verwandtschaft dieser Repräsentanten
der verschiedenen Abtheilungen der Stachelhäuter leicht
ergibt, weichen dieselben doch in ihrer Körperform
und der Gestaltung des Skelets ausserordentlich von-
einander ab. Der relative Werth der Verschiedenheit
182 Entwickelung der Stachelhäuter.
einer Holothurie von einem Seestem, des Seeigels von
der Comatel lässt sich etwa mit der Verschiedenheit
des Säugethieres vom Yogel, des Amphibiums vom
Fisch vergleichen. Dennoch verlassen, einige Aus-
nahmen abgerechnet, welche eine specielle Bedeutung
haben, diese verschiedenen Stachelhäuter das Ei in
fast vollkommen gleicher Larvenform. Die Larve {Fig. 12)
gleicht einem Boote mit ausgeschweiften und an bei-
den Enden verdeckartig übergeklappten Rändern. Die-
ser Bord ist mit einem ununterbrochenen Saume von
schwingenden Härchen besetzt, durch deren Thätigkeit
das kleine Boot sich bewegt. Ein kurzer, mit einer
Magenerweiterung versehener Verdauungskanal ist das
erste wesentliche Organ dieses Körpers. Wir beschrei-
ben nicht die höchst complicirten Verwandlungen der
Larve hier in einen Schlangenstem , dort in einen
Schildigel, dort wieder in eine See-
gurke, sondern fragen nur, welches
wol die Ursache dieser Ueberein-
stimmung in den frühesten Stadien
der individuellen Entwickelung sein
könne. Es gibt hierauf keine an-
dere vernünftige Antwort als: die
S-Efhi/oÄ^iST Abstammung aller uns bekannten
Echinodermen von einer altern
/Form, in deren Entwickelung unsere Larve ebenfalls
auftrat und von wo aus diese gemeinsame Stufe der
Entwickelung auf den ganzen Stamm vererbt wurde.
Es muss aber gestattet sein , noch weiter zu fragen,
wie man sich erklären könne, dass aus einer bilate-
ralen, d. h. nach rechts und links symmetrischen Larve
ein strahlig gebautes Thier, wie die ausgewachsenen
Echinodermen meist sind, hervorgeht. Hierauf hat
Haeckel eine Vermuthung aufgestellt, über welche an-
fangs die Systematiker der alten Schule ausser sich
geriethen, welche aber mehr und mehr Boden und
durch die neuesten vergleichenden Untersuchungen,
z. B. Hoffmann's: „Ueber die feinere Anatomie der See-
JEntwickelung der Weich thiere. 183
Sterne", an Hält gewinnt. Die bootförmige Larve der
Echinodermen, namentlich in einer bei den Seesternen
vorkommenden Modification, gleicht ganz auffallend
einem gewissen Larventypus der Borstenwürmer des
Meeres. Und da im Bau und in der Lagerung der
Theile der Strahlen der Echinodermen, namentlich der
Seesteme eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den
Lagerungsverhältnissen und der Folge der Theile der
Gliederwürmer bemerkbar ist, so betrachtet Haeckel
unsere Thierklasse als einen Seitenstamm der Glieder-
würmer. Er meint, dass die ältesten, uns nicht be-
kannten Echinodermen als Gliederwurmstöcke entstan-
den seien, in der Weise, dass am Kopfende des
bilateralen, wurmartigen Mutterthieres Knospen in
strahliger Anordnung gesprosst seien. Noch jetzt
kommt diese Knospen- und, wenn man will, Stock-
bildung bei den Echinoderm^ vor, indem einige See-
sternarten eine solche Reproductionskraft besitzen, dass
ein einzelner abgerissener Arm oder Strahl sich zu
einem vollständigen Thiere ergänzt. Ja, die Beobach-
tungen von Kowalewsky machen es höchst wahrschein-
lich, dass die Ablösung der Strahlen und die Wieder-
ergänzung durch Knospung bei einzelnen Species ein
regelmässiger Vorgang ist. Ueber Haeckers Hypothese
lachen daher nur die, welche das Denken und Com-
biniren scheuen.
Im Stalnme der Weichthiere ist die sogenannte
Segellarve ein Zeuge vom verwandtschaftlichen Zu-
sammenhange wenigstens zweier der grossen Klassen.
Die dritte , am weitesten vorgeschrittene Klasse , die
der Tintenschnecken, hatte ihr Wahrzeichen vielleicht
schon zu jenen Urzeiten verloren, wo sie uns zum er-
sten male, wenn auch unter den etwas niedrigem For-
men der Vierkiemer ihre Schalen in den silurischen
Schichten zurückliess. Aber die Muscheln oder Blatt-
kiemer und die Schnecken, welche in der anato-
mischen Entwickelung weit auseinander treten und
zwei natürliche Klassen ausmachen, haben eine gemein-
184
Entwickelung der Weichthiere.
same Larvenform oder, wenn die Larven verschiedene
Gestalten zeigen, ein sehr bezeichnendes gemeinsame»
Larvenorgan, das Segel. Die beistehende Abbildung
gibt rechts die Segellarve einer Herzmuschel vom
Rücken aus gesehen. Am Vorderende haben sich zwei
fleischige Lappen ausgebildet, welche mit Wimpern
besetzt sind, durch deren Schwingungen das junge
Thierchen schon im Ei seine spiraligen, drehenden
Bewegungen ausführt, und zwischen welchen sich ein
kleiner mit einer längern Wimper versehener Hügel
erhebt. Dieselben ineinander übergehenden Wimper-
lappen oder Wimpersegel trägt links die Larve einer
Fig. 13,
Seeschnecke (Pterotrachea) , die wir halb im Profil
sehen, und zwar schon in dem Stadium, wo ihre
Augen und die Gehörwerkzeuge, der Fuss mit Deckel
und ein zartes Gehäuse zum Vorschein gekommen sind.
Auch bei ihr tritt aus der Ebene des Segels ein klei-
ner Fleischkegel hervor, der übrigens keine besondere
Bedeutung hat. Die Anlage des Segels, der Zeitpunkt
des Erscheinens dieses Larvenorgans, seine Lage zum
Mantel, Kopf, Mund und Fuss, die spätere Rück-
bildung, alles stimmt in beiden Klassen genau über-
ein. Wir kennen zwar bisher nur von einer verhält-
nissmässig geringen Anzahl der im Meere lebenden
Muscheln und Schnecken die Entwickelungsgeschichte ;
Die übrigen Entwickelungstypen. 185
danach aber dürfen wir schliessen, dass bei diesen,
in ihrer ursprünglichen Heimat gebliebenen Thieren
dieses Erbstück allgemein sich erhalten hat. Selbst
Gattungen, die in ihrem ausgewachsenen Zustande
kaum noch an den Weichthiertypus erinnern, der Ele-
fantenzahn und der Bohrwürm (Dentalium, Teredo)
haben das Stadium der Segellarve conservirt. Dagegen
finden wir bei den kiemenathmenden Süsswasser-
schnecken (Paludina) das Segel wenig entfaltet, und
bei den von ihren seebewohnenden Verwandten am
weitesten abweichenden Landsclyiecken ist die Segel-
bildung gänzlich verwischt, desgleichen auch bei den
Süsswassermuscheln. Hat bei diesen Thieren die An-
passung und Wanderung nach dem Lande jene Folge
für die embryonale und nachembryonale EnWickelung
gehabt, so haben wir uns vorzustellen, dass für die
Cephalopoden trotz ihres Verbleibens im salzigen Was-
ser andere Ursachen den Verlust der Segelstufe und
den ihnen eigenthümlichen Verlauf der Entwickelung
nach sich zogen.
Hinsichtlich der übrigen Entwickelungsgrundformen
können wir auf den dritten Abschnitt verweisen. Die
Anlage der höhern Gliederthiere deutet auf wurm-
artige , etwa den heutigen Gliederwürmern entsprechende
Vorfahren, und wiederum die allmählige Vermehrung
der Leibessegmente der Gliederwurmlarven, welche
sich einer Knospenbildung vergleichen lässt, führt von
diesen höhern Würmern auf die niedrigen mit un-
gegliedertem Leibe. Alle Wirbelthiere , den Menschen
eingeschlossen, wenn sie nicht auf einem Zustande mit
ungegliederter, noch nicht in einzelne Wirbelringe
zerfallender Wirbelsäule verharren, erheben sich als
Embryone aus diesem Stadium in das höhere defini-
tive; und dass sie diesen gemeinsamen embryonären
Zustand durchmachen, dies schliesst alle andern mecha-
nischen Ursachen aus, ausser derjenigen der gemein-
samen Abstammung von Urformen , welche eine
ungegliederte Wirbelsäule, keinen oder einen unvoll-
186 Generationswechsel und Metamorphose
kommenen Schädel und kein oder ein vom Rücken-
mark nur wenig unterschiedenes Gehirn besassen.
Karl Ernst v. Bär, welcher, während wir diese Blätter
schreiben, seine Stimme gegen die Descendenzlehre er-
hoben, hat die Thatsache der Entwickelungstypen und
den Gang innerhalb der Typen Jvon dem Indifferenten
zum Speciellen festgestellt; die Thatsache wird aber
durch das Wort „Entwickelungstypus" nur umschrie-
ben, nicht erklärt, und wir ziehen es, es kann nicht
oft genug gesagt werden, wir ziehen es vor, unter der
klaren Vorstellung der Abstammung uns etwas zu den-
ken, als die unbekannte höhere Macht sich in den
Entwickelungstypen auf eine unbegreifliche Weise
manifestiren zu lassen. Schliesst man die Verkettung der
Reihen durch directe Abstammung und Vererbung aus,
so ist absolut nicht einzusehen, wie die höchste schö-
pferische Macht, die Natur oder der persönliche Gott,
indem er sämmtliche höhere Thiere an gemeinsame
niedrigste Entwickelungsstufen knüpfte, sie damit so
vielfachen unzweckmässigen Einrichtungen und grossen
Gefahren aussetzte. Von den Milliarden junger Au-
stern, welche jährlich aus dem Ei schlüpfen, gehen die
allermeisten unter der Ungunst der äussern Verhält-
nisse zu Grunde, weil die Auster das alte Erbtheil
der schwärmenden Segellarve nicht abgelegt hat. Sie
hat den Kampf um die Existenz mit Glück aufnehmen
können , da sie gleich den meisten ihrer Klassengenos-
sinnen sich der höchsten Fruchtbarkeit erfreute. Das
lässt sich einsehen; dass aber ein persönlicher Schöpfer
aus blossem Princip, um die Auster innerhalb des
Entwickelungstypus zu halten, auch ihr das für sie
höchst unpraktische Stadium der Segellarve gegeben,
kann man, wie so vieles Unsinnige, nur glauben.
Haben sich ganz im allgemeinen die Uebereinstim-
mungen in den Grundzügen der Entwicklung aus der
Gleichartigkeit der Abstammung ableiten lassen, so
kann man weiter schreiten zur Erklärung derjenigen
Entwickelungserscheinungen , welche uns als Genera-
1
'O^^^ ab-
r^6i.S?«rück.
I*
•s-=S
188
Ontogenie und Phylogenie der
Das Verständnis« dieses Generationswechsels wird uns,
wenn wir von den einfachsten Quallenpolypen ausgehen.
Ein solcher ist die beistehende Hydractinia carnea,
und zwar ein weibliches Individuum. Verglichen mit
der Zwischenform Stauridium, als einer auf ungeschlecht-
lichem Wege sich fortpflanzenden Vorstufe zu Clado-
nema, erscheint Hydractinia höher, insofern als sie
selbst Geschlechtsform ist. Die Zone von kugeligen
Körpern in der Mitte des Leibes sind die Eierstöcke
oder Eikapseln, welchen bei den männlichen Indivi-
duen Samenkapseln entsprechen. Ein Generations-
wechsel findet bei unserer Hydrac-
*^=^>^{^f0ij^ tinia nicht statt, wol aber, wie
^Aj^^ auch in der Entwickelung des Cla-
donemaeies zum Stauridium , eine
Verwandlung einer flimmernden Larve
zum festsitzenden Polypen. Es ist
aber ersichtlich, däss die Rolle,
welche bei der Hydractinia durch
die männlichen und weiblichen Ge-
schlechtsorgane versehen wird, im
Zeugungskreise des Cladonema von
den Geschlechts t h i e r e n übernom-
men wird. Und in der Verfolgung
dieses Ueberganges eines unselbstän-
digen Organes in das selbständige
Thier finden wir die Lösung und das Verständniss des
als Generationswechsel bezeichneten Vorganges. Zwi-
schen den Gattungen, welche gleich Hydractinia, und
denen, welche gleich Cladonema sich fortpflanzen, fin-
den sich zahlreiche Gattungen, deren Fortpflanzung
uns den allmähligen Uebergang des anfänglichen Ge-
schlechtsorganes in das Geschlechtsthier vor Augen
stellt. Wir können die Gattungen der „Quallenpoly-
pen" so aneinander reihen, dass sich herausstellt, wie
die Theile, welche bei Hydractinia blos die Eier er-
zeugenden und umschliessenden Kapseln sind, immer
vollkommener werden. Sie erhalten eine besondere
Fig. 15.
Quallen und Eingeweidewürmer. 189
Abzweigung des Nahrungskanales und Blutgefässe, wer-
den glockenförmig und versehen sich mit den für die
Quallen charakteristischen „Kandbläschen", eigenthüm-
lichen Sinnesorganen. Kurz, was an einem gewissen
Gliede der systematischen Reihe allenfalls noch als
Organ bezeichnet werden kann, ist an dem nächsten
die sich ablösende und zur neuen Generation werdende
Qualle: das Geschlechtsorgan ist zum Ge-
ßchlechtsthier geworden. Wie nun die indivi-
duelle Entwickelung von Cladonema und den andern
ßich gleich ihm vermehrenden Quallen mit der syste-
matischen Reihe der Quallenpolypen correspondirt , so
ist die einzig vernünftige und denkbare Erklärung der
Ontogenie der den Generationswechsel zeigenden Qual-
len die, dass in ihm die historische Entwickelung der
Gattung fixirt ist. Weder das Ei, noch das Huhn
wurde geschaffen. Ehe die zartfarbigen Quallen in
einsamer Pracht das Urmeer bevölkerten, waren die
Quallenpolypen an den in stetem Wechsel begriffenen
Küsten die einzigen Repräsentanten der noch in der
Kindheit liegenden Klasse. Warum einzelne Gattun-
gen, nach Art der Hydractinia, streng conservativ
geblieben, die andern in geringerm oder höherm Grade
dem Fortschritt gehuldigt, ob und wie Kampf ums
Dasein und Auslese des Bessern hierbei wirksam ge-
wesen, lässt sich allerdings für die einzelnen Arten
nicht nachweisen. Entscheidend ist der Gesammtein-
druck und der Umstand, dass die Theorie sich mit
den Thatsachen deckt.
Zu gleichen Betrachtungen und Resultaten führt die
Entwickelungsgeschichte der Eingeweidewürmer.
Diese in ihrem Bau weit auseinander gehenden Thiere
sind entweder in und mit ihren Wirthen zugleich ge-
schaffen, oder später ihnen anerschaffen, oder sie haben
ßich auf natürlichem, rechtem Wege an sie gewöhnt.
Dass sie dabei von einem eingepflanzten „dunkeln
Drange" geleitet wurden, von dieser Modification des
dritten Falles dürfen wir w^ol absehen. Nach unserer
190 Ontogenie und Phylogenie
Lehre stammen also die jetzt ihr ganzes Leben oder
einen Theil ihres Lebens als Schmarotzer auf oder
in andern Organismen verweilenden Würmer von frei
lebenjden Thieren ab , und die in ihrer Entwickelung
auftretenden Perioden, während welcher das Schma-
rotzerthum mit freien Stadien vertauscht ist, bedeutet
den in allen Individuen sich regelmässig einstellenden
Rückfall in den einst bleibenden Zustand der Vor-
fahren. Von den zur Klasse der Plattwürmer gehö-
renden Saugwürmem und Bandwürmern sind die letz-
tem am weitesten von ihrem einstigen Ausgangspunkt
entfernt; ihre Anpassung an das Leben in andern
Thieren hat den Nahrungskanal entbehrlich gemacht,
und so zeigen ihre Generationen und Verwandlungs-
zustände weniger auf die Vorfahren hin, als dies bei
einer andern Anzahl von Saugwürmern der Fall ist,
mit denen jene durch eine Reihe anatomischer Cha-
raktere als eng verwandt legitimirt werden. Beide
wiederum theilen die Klassencharaktere mit den frei
lebenden Turbellarien oder Strudelwürmern. Von sol-
chen, d. h. von Formen, welche den jetzigen Strudel-
würmern nahe standen, müssen Trematoden und Ce-
stoden abstammen, und hiermit stimmt das freie
Schwärmstadium, welches die Larve des Doppelloches
(Distomum) als sogenannte Cercarie und vorher als
rundlicher über und übier flimmernder Körper durch-
macht. Auch viele Fadenwjirmer — die Abtheilung,
zu welcher unter andern der Spulwurm gehört —
haben in ihrer Jugend eine Stufe freien Lebens, auf
welcher sie von den Jugendformen der zahlreichen, nie
zum Schmarotzerleben übergehenden Verwandten, die
sich vorzugsweise im Meere finden, nicht unterschieden
werden können. Der Uebergang zum Parasitenthum,
den uns die Ontogenie recapitulirt, war nichts anderes
als eine Ausbreitung auf neues, der Ernährung Vor-
theile bietendes Terrain , und mit Bezug hierauf ist es
höchst lehrreich, neben den Fadenwürraern die syste-
matische Reihe der von van Beneden so ausgezeichnet
der Eingeweidewürmer und Krebse.
191
beschriebenen egelartigen Saugwürmer zu vergleichen.
Wir finden in ihr alle Uebergänge von ganz frei leben-
den, räuberischen Gattungen zu gelegentlich schma-
rotzenden, und von diesen zu solchen , welche unmittel-»
bar nach dem Auskriechen aus dem Ei sich für ihre
ganze Lebenszeit fixiren. Der Parasitismus erscheint
hier, wie überall, als eine Anpassung an neue Wohn-
plätze, welche die Lebensgeschichte des Individuums
aufbe wählt mit der Erinnerung au die einstige Gestalt.
Die Verhältnisse der parasitischen Würmer finden
ihre Wiederholung in den parasitischen Krebsen, wie
denn überhaupt eine höchst wahrscheinliche Urform
des Krebsstammes in der
Metamorphose mehrerer
Ordnungen dieser grossen,
vielfach variirten und
doch so zusammenhängen-
den Klasse aufbewahrt
ist. Die Larve, welcher,
wie man mit grosser Si-
cherheit annehmen darf,
die Urform der Krebs-
klasse sehr nahe stand,
wurde einst für eine selb-
ständige Gattung gehal-
ten und empfing den
Namen Nauplius. Man spricht also von einem Nauplius-
stadium, welches sich namentlich bei den niedern
Krebsen, den Copepoden, Parasiten, Rankenfüssern
und den sich diesen anschliessenden merkwürdigen
Wurzelfüssern erhalten hat, jedoch auch in der höch-
sten Ordnung, den zehnfüssigen stieläugigen Krebsen
nicht fehlt. Wir werden unten uns mit der sogenann-
ten verkürzten Entwickelung bekannt zu machen haben,
welche sich unter den Krebsen die Zehnfüsser ange-
eignet haben, wie man früher glaubte, alle. Wäre
dies wirklich der Fall, so würden wir zwar auch noch,
gestützt auf die Analogie, für sie den directen Zu-
Fig. 10. Nauplius.
192 Ontogenie und Phylogenie
sammenhang mit den übrigen noch die Naupliusstufe
in der Entwickelung wiederholenden Ordnungen er-
Bcliliessen, allein es war doch eine hochwillkommene
Entdeckung Fritz MüUer's, dass eine Garnele (ein Pe-
neus) noch heute ihre Entwickelung als Nauplius be-
ginnt, während alle andern Ordnungsgenossen, soviel
bekannt, im höhern Zoestadium (vgl. S. 50) das Ei
verlassen. Da bisjetzt von Hunderten der stieläugigen
Krebse kaum ein Dutzend nach ihrer Entwickelung
untersucht sind, so kann man nicht zweifeln, dass
hinsichtlich des Naupliusstadiums noch andere Arten
sich jenem Peneus von der brasilianischen Küste an-
schliessen werden. Aber selbst wenn dieser Fall ein
Unicum in der Ordnung bliebe, würde er als leben-
diges Zeugniss des Zusammenhanges der Gegenwart
der Zehnfüsser mit den Urkrebsen ausreichen. Oder
gibt es etwa eine andere Auffassung? Nein. Die
Naupliusentwickelung des Peneus ist entweder ein
glänzender Beleg für die Abstammungslehre, oder ein
sinnloses Paradoxon.
Nach dem Vorangegangenen erläutert sich die Ver-
wandlung der Amphibien von selbst. Ihre Vorgänger
waren Wasser athmer, deren Gestalt und Lebensweise
die langschwänzigen Amphibien, also die Tritonen
und Molche, getreuer bewahren als die Frösche. Bei
unsern Tritonen tritt die Geschlechtsreife nicht selten
schon im Larvenzustande ein, das ist also auf einer
Stufe, welche bei den Vorfahren der heutigen Gattun-
gen die definitive war. Es gibt sogar noch eine Art,
den mexicanischen Acholotl, der regelmässig auf die-
ser Larvenstufe sich fortpflanzt. Höchst interessant
ist Aug. Dumeril's Beobachtung, dass von den Tau-
senden von Acholotls, welche er in Paris zog, einzelne
über das bisher bekannte Stadium ihrer Entwickelung
hinausgingen , nämlich ihre Kiemen verloren , ihre Kör-
pergestalt nicht unwesentlich veränderten und aus
Kiemenathmern und Wasserthieren zu Lungenathmern
und Landthieren wurden. Es bqfiarf der weitern
»93
m
i
I
194 Directe oder verkürzte
Forschung, ob nicht etwa, was jedoch unwahrscheinlich,
in ihrer Heimat alle Acholotls , nachdem sie sich schon
im Larvenzustande fortgepflanzt, die Metamorphose
zu molchartigen Thieren (Amblystoma) durchmachen,
oder ob die Versetzung nach Europa und die damit
verbundene gänzliche Veränderung der Lebensverhält-
nisse den Anstoss zu einer fortschreitenden Umwand-
lung jener einzelnen Individuen gegeben, welche unter
Andauer dieser Bedingungen in spätem Generationen
auf immer mehr Individuen sich ausdehnen und schliess-
lich der Art, als einer neuen, eigen thümlich werden
würde.
Die bisher betrachteten Beispiele der Ontogenie oder
individuellen Entwickelung hatten das Eigenthümliche,
dass das geschlechtsreif e Thier sich nicht unmittelbar
aus seinem Ei gleich dem Phönix aus der Asche
verjüngte, sondern verschiedene Gestalten und Wesen-
heiten durchzumachen hatte, in welcher die Vorfahren
der Art wieder greifbar und lebendig werden. Es
fragt sich nun, wie zu dieser wahrhaft epischen, er-
zählenden Entwickelung sich die Form der Fortpflan-
zung stellt, welche die Systematik lediglich nach der
Thatsache, ohne sich dabei etwas denken zu können,
„directe Entwickelung" oder „Entwickelung ohne Ge-
nerationswechsel und Verwandlung" genannt hat. Die
flimmerhaarigen Embryone vieler Quallen werden nicht
zu polypenförmigen Zwischenformen, sondern gehen
unmittelbar in die Qualle über. Die meisten höhern
Krebse verlassen nicht als Nauplius das Ei, sondern
schon mehr oder weniger vollkommen als Zehnfüsser
ausgebildet. Der Vogel, das Säugethier, der Mensch,
sie alle sind , wenn sie geboren werden, „ihren Aeltern
ähnlich". Erwägt man, dass. die Vorgänge des Gene-
rationswechsels an sich durchaus nicht v'ortheilhaft
oder „zweckmässig" sind — man denke nur an die
Schicksale der Eier des Bandwurms — , dass durch
den Larvenzustand die Zeit der Kindheit und Schwäche
verlängert, die Zeit der Reife und der erfolgreichen
Entwickelung. 195
Obsorge für den Artbestand hinausgeschoben wird, so
folgt, dass Abkürzungen und Keductionen dieser Ent-
wickelungsformeli , welche infolge von Anpassungen
eintreten, als vortheilhafte Aenderungen Aussicht auf
Befestigung haben. Wie die Verlängerung des Larven-
stadiums der Amphibien durch natürliche Umstände
und künstliche Versuche herbeigeführt werden kann,
so ist in gleicher Weise eine Zusammendrängung der
Stadien der Verwandlung und überhaupt eine Ver-
kürzung der Verwandlung denkbar, und es liegen
gerade aus der Klasse der Amphibien mehrere Bei-
spiele der verkürzten und modificirten Metamorphose
vor, welche die scheinbare Kluft zwischen der Ent-
wickelung mit und der ohne Verwandlung überbrücken
und die directe Entwickelung als allmählich er-
worben begreiflich machen. Amphibien werden sich
überall hin auszubreiten suchen, wohin sie genügende
Insektennahrung einladet, und der schwarze Salamander
des Hochgebirges (Salamandra atra) hat selbst das
Hinderniss überwunden, welches man für ein unüber-
steigliches halten sollte, den Mangel von Gewässern
für seine Larven. Er legt seine Eier nicht, gleich
seinen Verwandten, sondern nur zwei werden in die
Eileiter aufgenommen, und die von deren Wandungen
ausgeschiedene Flüssigkeit ersetzt ihnen und den hier
auskriechenden Larven den Sumpf. Hier, nicht ausser-
halb der Mutter, kommen die Kiemen zum Vorschein,
während die allmählich nachrückenden übrigen Eier
von den nahrungsbedürftigen Larven gefressen werden.
Die Verwandlung des schwarzen Molches , über welche
leider neuere Untersuchungen vermisst werden, geht
also im Mutterleibe vor sich, und es macht keine
Schwierigkeit, die Erwerbung dieser Eigenthümlichkeit
durch die Nöthigung der Anpassung an aussergewöhn-
liche Lebensverhältnisse sich vorzustellen. Wenn uns
die Lebensweise des Beutelfrosches, dessen Junge in
einer Hautfalte des Rückens ausgetragen werden, der
surinamischen Kröte, deren Larven einzeln in waben-»
13*
196 Directe Entwickelung.
artigen Fächern des Rückens leben, bekannter wären,
als sie es sind, würden wir gewiss zu ähnlichen Re-
sultaten, wie beim schwarzen Salamander kommen.
In . Ermangelung dessen ist eine erst 1873 veröffent-
lichte Beobachtung des Herrn Bavey, Marine-Pharmaceut
in Guadeloupe, höchst wichtig.®^ Ein dortiger Frosch
(Hylodes martinicensis) macht seine ganze Verwand-
lung im Ei durch. Er hat im Ei die Kiemen und den
Schwanz, und aus der kurzen Notiz, dass auf der In-
sel nur schnell verrinnende Giessbäche, nirgends stehende
Gewässer und Sümpfe sich finden, geht hervor, dass
es sich auch in diesem Falle um eine die Entwicke-
lung modificirende und verkürzende Anpassung handelt.
. Sehen wir nun nach dieser Hinüberleitung die so-
genannte directe Entwickelung näher an, so lässt sie
sich durchaus der Metamorphose des Hylodes von
Guadeloupe vergleichen. Die directe Entwicke-
lung ist eine Verwandlung im Ei, und auch wo
sie stattfindet, sind die embryonalen Entwicke-
lungsstufen mehr oder weniger deutliche
Wiederholungen der historischen Entwicke-
lung des Stammes. Wir wollen nur an den der
Metamorphose nicht unterworfenen Wirbelthieren einige
Phasen des embryonalen Lebens hervorheben, welche
Stufen einer verkürzten Verwandlung sind und stabile
Zustände der Vorfahren recapituliren. Dass bei allen
Wirbelthieren die Wirbelsäule als ein ungegliederter
Strangund eine ungegliederte Scheide für das Rückenmark
sich anlegt, ist wiederholt erwähnt. Es ist der blei-
bende Zustand niedrigster Fische. Auch bei den
höhern Wirbelthieren besteht das Gehirn anfangs aus
einigen hintereinander liegenden Blasen, der definitiven
Form der niedrigen Gruppen. Das embryonale Herz
der Säuger und Vögel beginnt mit der Schlauchform
und besitzt später die Communication der Kammern,
welche bei den Reptilien sich nie schliessen. Die Kie-
menbogen sind bei den Amphibien während der Lar-
venperiode wirklich Kiemen tragend. Sie fehlen den
f||)<||r«a i»fmm,mr'<''"
&mg t&A^ I CS. JV^CB n^mer
198 Individuelle und historische
.theilungen über die Entdeckungen, welche an Tausen-
den von Exemplaren gewonnen sind und wol erst in
einigen Jahren mit allen Belegen veröfifentlicht werden.
„Es war für mich eine besondere Freude", sagt Wür-
tenberger, „als ich endlich nach mancherlei sorgfältig
vergleichenden Studien eine interessante einfache Ge-
setzmässigkeit in dem Yariiren der Ammoniten auf-
fand. Wenn nämlich eine Veränderung, welche
später für eine ganze Gruppe eine wesentliche
Bedeutung erlangt, zum ersten mal auftritt,
so ist dieselbe nur auf einem Theil der^letzten
Windungen ganz leicht angedeutet. Gegen
jüngere Ablagerungen hin tritt diese Ver-
änderung immer deutlicher hervor und schrei-
tet dann, dem spiralen Verlaufe der Schale
folgend, nach und nach immer weiter gegen
das Centrum der Ammonitenscheibe fort; d, h.
sie ergreift allmählich immer mehr auch die
innern Windungen, je höher man die betref-
fenden Formen in jüngere Schichten hinauf
verfolgt. Diese Fortpflanzung der in vorgeschritte-
nem Lebensalter auftretenden Aenderungen auf immer
jüngere Lebensstufen geht indessen nur langsam vor-
wärts, sodass wir an den innern Windungen mit grosser
Beharrlichkeit die altern Formen wiederholt sehen.
Oft hat sich dann eine solche Aenderung erst eines
kleinern Theiles der Windungen bemächtigt, bis aussen
schon wieder eine neue hinzutritt, welche der erstem
nachfolgt. So sehen wir, die Schichten von unten
nach oben durchsuchend, Veränderung um Veränderung
auf dem äussern Theile der Ammoniten beginnen und
nach dem Centrum der Scheiben hin fortschreiten.
Die innersten Windungen widerstehen indessen oft mit
grosser Beharrlichkeit diesen Neuerungen, sodass man
auf denselben gewöhnlich mehrere solcher Entwicke-
lungszustände nahe zusammengedrängt findet, indem
die Schale eines Ammonitenindividuums mit
einem altern Formentypus beginnt und dann
Entwickelung der Ammoniten. 199
jene Veränderungen in derselben Weise nach-
einander aufnimmt, wie dieselben bei der
geologischen Entwickelung der betreffenden
Gruppe in langen Zeiträumen aufeinander
folgen."
„Die Ammoniten erhalten also", heisst es später, „in
einem vorgeschrittenem und reifern Lebensalter — erst
wenn sie den von ihren Aeltern ererbten Entwicke-
lungsgang möglichst in derselben Weise, wie diese,
durchgemacht haben — die Fähigkeit, sich nach einer
neuen Richtung abzuändern, d. h. sich neuen Verhält-
nissen anzupassen; jedoch kann sich dann eine solche
Veränderung in der Weise auf die Nachkommen fort-
erben, dass sie bei jeder der folgenden Generationen
ein klein wenig früher auftritt , bis diese letzte Ent-
wickelungsstufe selbst wieder den grössten Theil der
Wachsthumsperiode charakterisirt. Eine solche letzte
und längste Entwickelungsstufe lässt sich dann aber
durch neuere , sich auf gleiche Weise ausbildende kaum
jemals wieder ganz verdrängen: die Vererbung wirkt
so mächtig, dass eine solche einmal vorherrschende
Periode der Entwickelung sich im jugendlichen Alter
der Ammoniten, wenn auch oft kaum angedeutet,
wiederholt. An einem Ammonitenindividuum aus einer
Jüngern Schicht müssen dann also die zurück- und
zusammengedrängten Entwickelungsperioden auf den
innersten Umgängen in derselben Reihenfolge auftreten,
wie sie einander die Herrschaft abrangen. Es ist
äusserst interessant, an Inflaten des obern weissen
Jura, die sich zu Ammonites liparus, der auf den
sichtbaren äussern Windungen nur eine Stachelreihe
zeigt, stellen, Windung für Windung behutsam abzu-
sprengen und so den Entwickelungsgang zu studiren:
gegen innen zu sind auf einer Strecke immer zwei
Stachelreihen vorhanden, weiter gegen das Centrum
verschwindet die innere, sehr bald darauf auch die
äussere , und der Kern von einigen Millimetern Durch-
messer erscheint dann auf etwa einem halben Umgange
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202 Gemeinsame Entwickelungszustände
barkeit, Bewegung und Fortpflanzung versieht, mit
Haeckel deshalb als ein Mittelreich abscheidet, weil
ihnen die geschlechtliche Fortpflanzung mangelt, so
muss man wol weiter dem Genannten zustimmen,
wenn er die sonst an jene Protisten sich anschliessen-
den Spongien oder Schwämme wegen ihrer ge-
schlechtlichen Vermehrung und der Art ihrer embryo-
nalen Entwickelung und der ersten Larvenstadien
Thiere nennt. Haeckel hat eine Larvenstufe der Kalk-
schwämme mit dem Namen Gastrula belegt, wo das
Thier einen Sack, oder, wenn man will, einen mit
einer Mundöffnung versehenen Magen vorstellt. Die
Wandung wird gebildet aus zwei Schichten von Zellen;
die äussere besteht aus Geiselzellen, d. h. jede Zelle
ißt mit einer langem Wimper versehen. An der Sack-
öffnung geht die äussere Schicht in die innere über,
und aus diesen beiden Blättern baut sich der Spon-
gienleib in ganz bestimmter Weise auf. Wenn nun
diese Gastrulalarve zunächst bei den Cölenteraten,
den Polypen und Quallen, wiederkehrt, wo man schon
seit langer Zeit die allmähliche Entwickelung aus den
beiden, Entoderm und Ektoderm genannten Blättern
zu den complicirtesten Gestalten kennt, und wenn,
wie Haeckel weiter gezeigt hat, der Vergleich des
Osculums oder der grössern Oeffnung des Schwamm-
individuums mit dem Munde des Polypen und der
Qualle, der grossen Centralhöhle des Schwammes mit
dem Magen jener, des Kanalsystems mit den Kanälen
und Höhlungen der Cölenteraten sich genau durch-
führen lässt , so ist im Zusammenhange der Tausende
von andern die Descendenzlehre bedingenden und
stützenden Thatsachen der Schluss unausbleiblich, dass
in der Gastrula ein Zeuge der Blutsverwandtschaft der
Spongien und Cölenteraten vorliege. Nun kehrt diese
Gastrula aber wieder bei den Holothurien, also Echi-
nodermen, bei Sagitta, bei den, unten im Stamm-
baum der Wirbelthiere noch näher zu berücksichtigen-
den Ascidien, endlich im Lanzettfisch, und wir
verschiedener Stämme. 203
halten uns daher berechtigt, dieses Zusammen-
treffen der frühesten Entwickelungszustände
verschiedener Stämme als das Ueberbleibsel
der gemeinsamen Wurzel zu betrachten, wel-
ches in andern Stämmen, z. B. den Gliederthieren, in
der Verkürzung der Entwickelung verloren gegangen
ist. Die Bedeutung der „Keimblätter" für das Wir-
belthier war schon von Pander und in den bahn-
brechenden Arbeiten von Bär ; erkannt worden; die
Ausdehnung und Yerwerthung dieser Beobachtung über
das ganze Thierreich, wie man sie besonders Kowa-
lewsky verdankt, bezeichnet einea der grössten Fort-
schritte der vergleichenden Entwickelungslehre.
Wir mussten früher den ausserhalb der Detailfor-
schung unserer Wissenschaft stehenden Leser darauf
aufmerksam machen, dass es Gegner der Selections-
theorie gibt, wie Owen, welche gleichwol die Descen-
denz als unbestreitbar annehmen. Auch der Paralle-
lismus der Ontogenie mit der Phylogenie kann mit
Zurückweisung der natürlichen Züchtung in den von
uns verfochtenen natürlichen Zusammenhang gebracht
werden unter der Voraussetzung einer unnatürlichen,
will sagen übernatürlichen Leitung, welche jene schein-
bar natürliche Einheit zum Wunder macht. Erst jüngst
hat AI. Braun die Uebereinstimmung des botanischen
Systems und damit der paläontologischen Folge mit
der Entwickelung des Pflanzenindividuums hervor-
gehoben, indem er sagt *^: „In der weitern Ausbildung
des natürlichen Systems tritt der Stufenbau des Pflan-
zenreichs und damit zugleich die Beziehung des Systems
zur Entwickelungsge schichte immer deutlicher, un-
gesucht und unabweisbar hervor. Die Acotyledonen
werden als blütenlose Pflanzen , wofür sie schon die
alten Botaniker der vorlinne'schen Zeit hielten, con-
statirt und dadurch ihr Verhältniss zu den Blüten-
pflanzen klarer ausgesprochen; die Blütenlosen werden
in zwei wesentlich verschiedene Abtheilüngen, in denen
sich gleichfalls Stufenfolge bestimmt ausspricht (Zellen-
204 Gleichheit in den Anfangen
kryptogamen und Gefösskryptogamen = Thallophyten
und Kormophyten) zerlegt; zwischen den vollkommenen
Blütenpflanzen und den Blütenlosen wird eine Mittel-
stufe, die der nacktsamigen Pflanzen nachgewiesen,
das Wichtigste aber ist der Umstand, dass
die gewonnenen vier Hauptstufen des Pflan-
zenreiches, aufs genaueste den allen höhern
Pflanzen zukommenden individuellen Ent-
wickelungsstufen entsprechen, dem Keime, dem
vegetativen Stock, der Blüte und der Frucht."
Warum aber dieser Parallelismus das Wichtigste sein
soll, wenn wir damit nicht zur Erkenntniss der wahren
Causalität geführt werden, ist uns nicht begreiflich.
Wir können uns wol denken, dass man sich mit den
„innern Ursachen" und dem „Princip der Vervoll-
kommnung" als dem refugium ignorantiae abfindet,
nicht aber, dass sich die Forschung damit wirklich
beruhigt. Unserm Standpunkte muss daher die Ein-
stimmung der Resultate der botanischen Forschung
auch höchst wichtig sein, aber aus dem sagbaren
Grunde, weil damit die Theorie abermals durch eine
grosse Reihe von Thatsachen gestützt und befestigt
wird.
Hat man einmal die Uebereinstimmung der Ent-
wickelung der Stämme bis zur Gastrula verfolgt, so
wird man dabei nicht stehen bleiben, sondern auch
die Gleichheit der San^enkörperchen und Eizellen von
den Spongien bis zu den Wirbelthieren als uraltes
Gemeingut auffassen, welches die Thier- und die Pflan-
zenwelt verbindet, und vor dessen Erwerb nur solche
Weisen der Fortpflanzung stattfanden, wie sie bei den
Protisten und im Generationswechsel erhalten sind.
Wie nun schon die Gemeinsamkeit der Grundlagen
der geschlechtlichen Fortpflanzung der verschiedenen
Stämme auf gemeinsamen Ursprung drängt, so führt
die, wie wir gesehen, mit der geschlechtlichen Ver-
mehrung in unmittelbarem Zusammenhange stehende
ungeschlechtliche Fortpflanzung durch unbefruchtete
und Elementen der Entwickelung. 205
Eizellen und Keimkörper immer tiefer zurück in die
Anfänge des Lebens. Die mit Kern und Hülle ver-
sehene Zelle ist aber unablöslich von den kern- und
hüllenlosen Protoplasmakörperchen , auf deren Wachs-
thum und Theilung die Fortpflanzung der niedersten
Lebewesen beruht.
Ihre Entstehung aus der unorganischen Materie ist,
wie wir oben auseinandergesetzt, ein Postulat des ge-
sunden Menschenverstandes. An diesen Anfang dös
Lebens leitet uns, nicht, wie die Gegner der Descen-
denzlehre sagen, eine dogmatisirende Afterphilosophie,
sondern die aufmerksame und vorurtheilsfreie Betrach-
tung und Combination der Thatsachen der Entstehungs-
geschichte des Individuums.*^^
X.
Die geographische Verbreitung der Thiere im Lichte
der Abstammungslehre.
Obwol schon seit dem Jahrhundert der grossen
geographischen Entdeckungen das Material für Pflan-
zen- und Thiergeographie sich anhäufte, ist di^ Grund-
lage einer wissenschaftlichen Pflanzengeographie doch
erst, abgesehen von Georg Forster's Beobachtungen,
in Humboldt's berühmten „Ideen zu einer Physiognomik
der Gewächse" enthalten. Es ist die erste, das ge-
sammte Areal der Erde umfassende Schilderung von
Pflanzenformen, wie sie theils einzeln, theils combinirt
ihren Yerbreitungsbezirken ein eigenthümliches land-
schaftliches Gepräge geben, und wiederum ihrerseits
sich in Harmonie mit den andern landschaftlichen
Factoren befinden. Der berühmte Begründer der Kli-
matologie , welcher den Erdball mit den Linien gleicher
Temperatur, der gleichen Inclination und Declination
der Magnetnadel umspann, in trockene und regenreiche
206 Vicarirende oder
Zonen sonderte, wusste besser als irgendeiner seiner
Zeitgenossen, dass Thier- und Pflanzenwelt von allen
diesen Factoren abhängig seien. Allein weder er noch
seine Nachfolger bis auf Darwin sind über ,die Stufe
der Naturschilderung hinausgekommen, die schon Buffon
in seinem grandiosen Naturgemälde, den „Epoques de
la Natur e^^j eingehalten.
Eine selbstverständliche Folge der ausserordentlichen
Erweiterung des geographischen Horizontes und der
Vertiefung in die Specialuntersuchung war die immer
sorgfältigere Feststellung der Verbreitungsbezirke der
Thier- und Pflanzenfamilien und ihrer hervorragenden
Arten, wobei man, wie gesagt, entweder gar nicht
nach den Ursachen der Verbreitung fragte, oder es
sich so leicht machte, wie Louis Agassiz, der die Ar-
ten nicht, wie Linne, von je einem Paare herleitete,
sondern sie in beliebigen Mengen von Individuen über
ihre Verbreitungsbezirke erschaffen werden liess. Dass
damit keine der sich jetzt uns aufdrängenden Fragen,
z. B.: warum nicht unter gleichen natürlichen Ver-
hältnissen immer die gleichen Arten sich finden, oder
umgekehrt? warum einander sehr nahe stehende Arten
oft unter ganz ungleichen äussern Bedingen auftreten?
wie man sich das Verhältniss der sogenannten vica-
rirenden Formen zueinander zu denken habe u. dgl.,
gelöst wird, ist zu erwarten. Wie neuerdings Rüti-
meyer in seiner ausgezeichneten Abhandlung: „lieber
die Herkunft der schweizerischen Thierwelt" ®^, bemerkt
hat, hob schon Buffon jene Wiederholung der afrika-
nischen in der amerikanischen Fauna hervor, wie z. B.
hier das Lama ein verjüngtes und schwächeres Abbild
des Kamels sei, der Puma der Neuen Welt den Löwen
der Alten repräsentire. Allein mit dem Wort „Reprä-
sentativform" oder „vicarirende Form" ist an sich
nichts gewonnen, und ein Verständniss kommt in diese
Thatsachen einzig und allein, wenn wir mit der An-
nahme an die Untersuchung gehen, Kamel und Lama,
Puma und Löwe seien gemeinschaftlicher Abstammung,
analoge Arten. 207
und ihre Sonderentwickelung sei im Laufe der Zeiten
durch Trennung der Wohnsitze ihrer Vorfahren be-
günstigt und bedingt worden.
Ein anderes, der Schlussfolgerung zugänglicheres
Beispiel für die sogenannten vicarirenden oder „ana-
logen" Arten gibt die Vergleichung der südeuropäischen,
namentlich spanischen Schnecken mit den nordafrika-
nischen, worüber wir Bourguignat ausgezeichnete
Beobachtungen verdanken. Derselbe hat in Ueber-
einstimmung mit den übrigen faunistischen und flori-
stischen Thatsachen festgestellt, dass die spanische
und die nordafrikanische Molluskenfauna ein Ganzes
bilden, sodass die algierische Schneckenwelt als ein
blosser Anhang der südeuropäischen erscheint trotz
der Trennung durch die Meerenge von Gibraltar. Nun
ist es erwiesen, dass in jüngerer geologischer Zeit
diese Strecke von Nordafrika in der That eine Halb-
insel von Spanien war, und dass ihre Vereinigung mit
Afrika im Norden bewirkt wurde durch den Durch-
bruch der Strasse von Gibraltar, im Süden und Osten
durch eine Hebung, welcher die Sahara ihr Dasein
verdankt. Noch jetzt werden die Ufer des einstigen
Saharameeres gekennzeichnet durch die Gehäuse der-
selben Schnecken, die am Mittelmeerufer leben. Aber
nicht alle nordafrikanischen Schneckenarten sind iden-
tisch mit den spanischen, zu zahlreichen Afrikanern
finden sich auf unserer Seite nur „analoge" Arten.
Wenn nun also gewisse spanische Arten zwar nicht
selbst in Afrika vorkommen, aber doch durch sehr
ähnliche Formen vertreten sind, so verbindet sich mit
dem sonst bedeutungslosen Wort „analoge" Arten für
unsern Standpunkt zugleich der Begriff der gemein-
schaftlichen Abstammung der einander ersetzenden
Formen und der durch die Isolirung und die verän-
derten Verhältnisse hervorgebrachten localen Umwand-
lungen. Wer an die Sonderschöpfung der Arten glaubt,
wird gerade bei den Land- und Lungenschnecken auf
eine harte Probe gestellt, indem es sich zeigt) dass
208 Analoge Arten. .
auf ißolirten Inseln und Inselgruppen diese schwer
wandelnden und bodenständigen Thiere eine ganz ausser-
ordentliche Mannichfaltigkeit erreicht haben. Auf der
Mädeiragruppe zählte man vor etwa zehn Jahren
134 Arten Lungenschnecken, von denen nur 21 Arten
sich auch in der afrikanisch-europäischen Fauna fanden.
Sie und die andern 113 Arten sind meist an enge
Districte und einzelne Thäler gebannt. Sollen wir
annehmen, dass die 113 Arten für Madeira und die
21 Arten für Madeira und Afrika -Europa einzeln ge-
schaffen wurden ? Müssen wir nicht vielmehr schliessen,
dass einst ein Zusammenhang zwischen Europa und
der heutigen Inselgruppe von Madeira stattfand, und
dass jene 21 Arten blieben, was sie vor der Trennung
waren , während aus den übrigen uns unbekannten , nur
noch in analogen Formen auf dem Festlande vorhan-
denen Arten die merkwürdige Fülle von neuen Arten
hervorging? Ihnen und ihren Genossen auf andern
isolirten Inseln war vielseitiger Kampf erspart, und
ohne Zweifel geben sie ein günstiges Beispiel ab für
das Wagner'sche Migrationsgesetz, indem bei der Schwie-
rigkeit der Wanderung dieser Thiere und der Unwahr-
scheinlichkeit eines reichlichen Nachschubes die sich
absondernden Individuen auch unter geringen neuen
Einwirkungen Aussicht auf Abweichung von der Stamm-
art hatten.
Die unwissenschaftliche Meinung, dass unter gleichen
oder fast gleichen äussern Verhältnissen gleiche oder
ähnliche Organismen in grosser Anzahl geschaffen wor-
den seien, erhält einen argen Stoss durch die Wahr-
nehmung, dass oft das gerade Gegentheil eingetreten
ist. Wir werden weiter unten mehr Thatsachen hier-
für beibringen und wollen hier nur auf ein schlagendes
Beispiel hinweisen. Warum hat Amerika in der heu-
tigen Periode keine Pferde, obschon, wie sich gezeigt,
die 'eingeführten Pferde vortreflFlich gedeihen? Die
Sache steht nicht so , dass wir erklären müssten, warum
die fossilen Pferde, welche in Amerika so gut wie auf
Ursachen der Verbreitung. 209
der östlichen Halbkugel existirten, erloschen sind, ohne
Nachkommen zu hinterlassen — wir wissen die Ur-
sache nicht, ergründen sie aber vielleicht noch —
sondern dass die Anhänger der Schöpfungslehre hier
und in allen ähnlichen Fällen die Unzulänglichkeit
ihrer Glaubenstheorie zu bekennen haben.
Unsere bisherige Darstellung hat uns die jetzt leben-
den Arten als Nachkommen früher lebender Organis-
men gezeigt; die heutige Vertheilung über die Erde
ist daher eine Folge der Verbreitung der Vorfahren der
heutigen Organismen und der vielfachen Verschiebun-
gen von Land und Wasser, von welchen jene unmittelbar
oder mittelbar betroffen wurden. Wir können nicht
hoffen, je ein getreues Bild von den fortlaufenden
Umgestaltungen der Erdoberfläche uns zu bilden. Erst
wenn dies gelänge und wenn wir zugleich von den
jedesmaligen Bewohnern der einstigen Inseln, Fest-
länder und Meere genaue Verzeichnisse hätten, würde
die Verbreitung der jetzigen Organismen vollkommen
ergründet und begründet sein. Wir haben aber mit
dieser Erkenntniss der Unvollkommenheit unserer sta-
tistischen Hülfsmittel so viel gewonnen, dass wir mit
Sicherheit den Weg der Untersuchung vorzeichnen
können. Wir haben erstens in der Weise der altern
Pflanzen- und Thiergeographie fortzufahren in der
Constatirung der natürlichen Grenzen oder der Ver-
breitungsbezirke, und zweitens diese Thatsachen mit
den Thatsachen der durch die jeweiligen geologischen
Verhältnisse bedingten Verbreitung der einstigen Vor-
fahren der heutigen Lebewelt zu combiniren. Es ver-
steht sich von selbst, dass auch für diese Arbeit
Darwin die Grundzüge gegeben hat. Unter seinen Nach-
folgern verdienen aber besonders zwei hervorgehoben
zu werden, Wallace mit seinen, an feinen Beobach-
tungen überreichen Untersuchungen über den Malai-
ischen Archipel ^*^, und Rütimeyer in der schon citirten
Abhandlung. Wir können uns im Folgenden wesentlich
an letztern anschliessen.
Schmidt, Descendenslehre. 14
210 Unzulänglichkeit der Beobachtungen.
Unsere Kenntniss der Verbreitung»bezirke der Thier-
welt ist noch ausserordentlich mangelhaft. Was wissen
wir z. B. von dem Vorkommen der Seethiere? Sind
doch erst wenige Jahre verflossen, seit überhaupt die
Tiefen des Meeres der Erforschung zugänglich gemacht
wurden, dieses allerdings mit einem Erfolg, dass un-
sere frühern Anschauungen über die geologische Be-
deutung des Meeresbodens und seine Bewohnbarkeit
nahezu ganz umgestossen wurden. Nach der mächtigen
Anregung, welche Maury für die Erforschung der
physikalischen Beschaffenheit des Meeres gegeben, sind
wir jetzt dabei, die unterseeischen Temperaturen und
Strömungen, Beschaffenheit des Meeresbodens, Yor-
kommen und Lebensbedingungen der Tiefseeorganismen
festzustellen. Wir fangen also eben an, das Material
für eine künftige Geographie der Meeresorganismen zu
sammeln. Von Landthieren sind gewisse Gruppen,
deren Verbreitung an sich bestimmt werden kann, für
unsere allgemeinen Zwecke unbrauchbar. So die
Schmetterlinge. Eine leichte Beute der Luftströmungen
spotten sie der geologischen Barrieren, vor allen jener
wichtigen Scheidewand, welche seit den tertiären Zei-
ten zwischen Australien und Indien aufgerichtet oder
vielmehr in den Meeresgrund eingeschnitten ist. '^
Aehnlich verhalten sich die Fledermäuse, auch die
Wander-, Eaub- und Wasservögel, während die an-
dern Ordnungen dieser Klasse, wie Wallace zeigt,
in den heissen JErdstrichen sehr zuverlässige und sta-
bile Bewohner ihrer oft begrenzten und zur Auswan-
derung scheinbar einladenden Bezirke sind. So bleiben
ausser ihnen fast nur die Säugethiere übrig, auf deren
Herkunft mit dem Vergleich ihrer gegenwärtigen Can-
tonirung — ein Ausdruck, den wir Rütimeyer ent-
lehnen — mit den Lagerstätten ihrer einstigen Ver-
wandten mit Sicherheit geschlossen werden darf, woneben
sich zugleich allgemeine Gesichtspunkte für die Ur-
sachen der heutigen geographischen Vertheilung der
Organismen ergeben.
Verbreitungsbezirke der Säuger. 211
Beschränkt man sich also in der vorbereitenden Fest-
stellung des Thatsächlichen auf die Säugethiere, mit
Ausschluss der Wale und Fledermäuse, so ergibt sich
schon bei oberflächlicher Musterung nicht nur für
die einzelnen Arten, sondern meist auch für die Fa-
milien, dass jede derselben einen gewissen Bezirk der
grössten Dichtigkeit des Vorkommens , ein Verbreitungs-
centrum hat, und dass von da aus Ausstrahlungen
je nach der Bequemlichkeit und Eignung des Terrains
stattgefunden haben. Löwe und Tiger, Elefanten und
Kamele sind über bestimmtes Areal verbreitet; die
Affen der Neuen "Welt unterscheiden sich nicht blos
geographisch, sondern durch Familienkennzeichen von
den altweltlichen. Die Beutelthiere sind zum grössten
Theil auf Australien concentrirt , die Faulthiere und
Gürtelthiere auf Südamerika. Und diese leicht zu ver-
mehrenden Beispiele weisen darauf hin, wie die Indi-
viduen weit zerstreuter Arten und die Arten selbst
aus einzelnen Punkten der Erdoberfläche hervorgequollen
und über das jetzt eingenommene Verbreitungsgebiet
ausgeströmt sind. Wenn nun aber zu dieser Beobach-
tung die andere hinzukommt, dass auch in vergangenen
Erdperioden dieselben Gruppen dieselben Verbreitungs-
mittelpunkte hatten, wie denn z. B. Brasilien nicht
blos jetzt die Faul- und Gürtelthiere beherbergt, son-
dern einst von zahlreichern, zum Theil kolossalen Ar-
ten dieser Familien bevölkert war, und Australien die
zahlreichsten und ansehnlichsten fossilen Reste von
Beutelthieren geliefert hat, so wird uns die Wahr-
nehmung dieser dauernden Localisirung sehr bedeu-
tungsvoll, und wir erklären die „Wiederholung" dieser
Formen aus der Abstammung.
Gelingt es nun , die auf den ersten Anblick äusserst
zahlreichen Verbreitungscentren in nähere Verbindung
zu bringen, der Zahl nach möglichst zu reduciren, da
ja nach unserer Theorie die Säuger nur einen Aus-
gangspunkt gehabt haben, gelingt es, hiermit auch
die geologische Aufeinanderfolge der untersuchten
14*
212 I^ie Bevölkerung der Inseln.
Organismen in Einklang zu bringen, also mit andern
Worten die horizontale Verbreitung mit der verticalen
oder historischen Folge, so tritt die Thiergeographie
der Lösung ihrer Aufgabe nahe. Daher liegt in Wal-
lace^s und Rütimeyer's Arbeiten ein höchst wichtiger
Fortschritt, indem von jenem der detaillirte Nachweis
gegeben wurde, dass die Fauna der complicirten und
ausgedehnten australisch -indischen Inselwelt durchaus
unselbständig sei und nur aus Ablegern der Fest-
länder bestehe, und von diesem in grossartigem
Ueberblick über die gesammte Erdoberfläche die Ver-
breitungscentren auf das einfachste bisjetzt mögliche
Mass zurückgeführt wurden.
Von hohem Interesse ist natürlich zunächst die Ver-
gleichung der Inselfaunen mit den Festlandsfaunen.
Denn sollte sich herausstellen, dass sämmtliche Inseln
in ihrer Thierwelt blosse Anhängsel der Festländer, so
würde das Problem schon ausserordentlich vereinfacht
sein. Folgen wir Peschl's lichtvoller Auseinandersetzung
über den Ursprung der Inseln^*, so handelt es sich
zuerst um die Bruchstücke von Festlanden. Eine grosse
Anzahl von Inseln geben sich ohne weiteres als Bruch-
stücke noch bestehender Continente zu erkennen, so
Britannien und die grossen asiatischen Inseln. Dagegen
ist Madagascar mit den Seychellen nicht, wie man ver-
muthen sollte, ein Glied von Afrika, sondern der
Ueberrest eines ehemaligen, in Flora und Fauna sehr
eigenartigen Festlandes. Die übrigen Inseln rühren
entweder von unterseeischen Vulkanen her oder von
Korallen, und im letztem Falle geschieht der Aufbau
von untersinkendem Lande aus. Es folgt nun von
selbst, dass auf den vulkanischen und den Korallen-
eilanden nur solche Thiere angetrofiFen werden, welche
sie schwimmend oder fliegend erreichten. Die An-
wesenheit von Säugern setzt daher Menschenhand oder
ausserordentliche Zufälle voraus. Alle solche Inseln
werden, je älter, desto reicher an Organismen sein.
Umgekehrt werden die von Festländern losgelösten
Der Malaiische Archipel. 213
Inseln im allgemeinen um so reicher sein, je jünger
sie sind, wofür Britannien Zeugniss ablegt. Je mehr
ihre Fauna abweicht, eine desto längere Zeit muss seit
ihrer Ablösung verflossen sein. So z. B. lässt sich
das Verhältniss von Tasmanien und Australien auf-
fassen; und wenn Neuseeland überhaupt je mit dem
alten australischen Continent zusammengehangen, so
ist die Losreissung in einer so frühen Zeit erfolgt,
dass auf die heutige Physiognomie der neuseeländischen
Thierwelt daraus gar kein Licht geworfen wird und
umgekehrt.
Ein Muster thiergeographischer Untersuchung hat
Wallace in der Beschreibung seiner Reisen im Ma-
laiischen Archipel gegeben. Schon vor Jahren hatte
G. Windsor darauf hingewiesen, dass die grossen In-
seln Sumatra, Borneo, Java durch ein seichteres Meer
mit dem asiatischen Continent in Verbindung gebracht
sind, während ein ähnlich seichtes Meer Neuguinea
und einige benachbarte Inseln an Australien weisen,
mit welchem sie durch die Beutelthiere charakterisirt
werden. Wallace hat diese Scheide näher bestimmt
in einer Linie, welche eine tiefere Einsenkung des
Meeresbodens bezeichnet. Sie zieht sich unterhalb der
Philippinen hin, geht, Celebes südlich lassend, durch
die Strasse von Macassar und trennt die beiden klei-
nen Eilande Bali und Lombok. Wir folgen nun Wal-
lace's Schilderung (a. a. 0., S. 10 fg.) mit verschie-
denen Auslassungen.
„Man gibt jetzt allgemein zu, dass die gegenwärtige
Vertheilung der lebenden Wesen über die Erdober-
fläche hauptsächlich das Resultat der jüngsten Reihe
von Veränderungen ist, welche dieselbe erlitten hat.
Die Geologie lehrt uns, dass die Oberfläche des Lan-
des und die Vertheilung von Land und Wasser immer
einer leichten Veränderung unterliegt, und dass auch
die Lebensformen im Verlaufe der Perioden, von denen
wir Zeugnisse besitzen, an dieser allmählichen Um-
änderung theilnehmen. Was den Malaiischen Archipel
214 Die Thierwelt des
. anbetrifft, so finden wir, dass die weite Seestrecke,
welche Java , Sumatra und Borneo voneinander und von
Malakka und Siam trennt, so seicht ist, dass überall
auf ihr Schiffe ankern ' können , indem die Tiefe selten
über 40 Faden beträgt; und wenn wir bis zur
Linie von 100 Faden vorgehen, so können wir die
Philippinen und Bali östlich von Java mit einschliessen.
Wenn daher diese Inseln voneinander und vom Fest-
lande durch das Sinken dazwischenliegender Land-
Strecken getrennt worden sind , so dürfen wir schliessen,
dass die Trennung eine verhältnissmässig junge ist, da
die Tiefe, bis zu welcher das Land gesunken, so
gering. — Wenn wir nun die Zoologie dieser Länder
betrachten, so finden wir eine Bestätigung dessen, was
wir suchen, nämlich einen sehr überzeugenden Beweis,
dass diese grossen Inseln einst dem grossen Continent
angehört haben müssen und erst in einer sehr jungen
geologischen Epoche von ihm getrennt sein können.
Der Elefant und Tapir von Sumatra und Borneo, das
Nashorn von Sumatra und die ähnliche javanische Art,
das wilde Rind von Borneo und die javanische Form,
die man so lange für eigenthümlich hielt, von allen
weiss man jetzt, dass sie da oder dort auf dem Fest-
lande von Südasien vorkommen. Es ist unmöglich,
dass einst diese grossen Thiere die Meerengen über-
schritten, welche jetzt diese Länder trennen, und ihre
Anwesenheit beweist klar, dass, als die Arten ent-
standen, eine Landverbindung existirt haben muss.
Eine beträchtliche Anzahl der kleinern Säuger sind
allen Inseln und dem Festlande gemeinsam; aber die
grossen physikalischen Veränderungen, die vor sich
gegangen sein müssen seit der Ablösung und dem
Untersinken so grosser Strecken, haben den Untergang
einiger auf verschiedenen Inseln herbeigeführt, und in
einigen Fällen scheint Zeit genug zu Artumwandlungen
gewesen zu sein. Vögel und Insekten bestätigen diese
Ansicht; denn jede Familie und fast jede Gattung
dieser Gruppen, welche man auf einigen Inseln findet,
malaiischen Archipels. 215
gehören auch dem asiatischen Festlande an, und in
einer grossem Anzahl von Fällen sind die Arten völlig
gleich. Die Vögel bieten uns eins der besten Mittel
dar zur Bestimmung des Gesetzes der Vertheilung;
denn obwol es auf den ersten Blick scheinen könnte,
dass die Wassergrenzen, welche die Landvierfüsser ab-
trennen, von den Vögeln leicht überschritten werden
könnten, ist es in Wirklichkeit doch nicht so. Nehmen
wir nämlich die Wasservögel als ausgezeichnete Wan-
derer aus, so findet es sich, dass die andern, und be-
sonders die Sperlingsvögel oder die wahren Hocker,
welche die grosse Mehrzahl bilden, im allgemeinen
durch Meerengen und Meeresarme ebenso streng ab-
gegrenzt werden als die Vierfüsser. Beispielsweise ist
es eine merkwürdige Thatsache, dass Java zahlreiche
Vögel besitzt, welche nicht nach Sumatra hinüber-
gehen, obschon diese Inseln nur durch eine 15 eng-
lische Meilen breite Strasse getrennt sind und Inseln
in der Mitte liegen. In der That besitzt Java mehr
eigenthümliche Vögel und Insekten als Sumatra und
Borneo , ein Zeichen , dass es am frühesten vom Fest-
lande abgetrennt wurde. Es folgt dann, was die
Eigenthümlichkeit der Organismen angeht, Borneo,
während Sumatra in allen Thierformen fast so voll-
kommen mit der Halbinsel Malakka übereinstimmt,
dass wir mit Sicherheit schliessen können, es sei die
zuletzt losgelöste Insel.
„Die Philippinen stimmen in vieler Hinsicht mit
Asien und seinen Inseln überein, bieten aber einige
Abweichungen, welche anzuzeig^en scheinen, dass sie
in einer frühern Periode abgetrennt wurden und seit-
dem einer Reihe von Umwälzungen in ihren physika-
lischen Verhältnissen unterworfen waren.
„Wenden wir uns nun zum übrigen Theil des
Archipels, so finden wir, das alle Inseln östlich von
Celebes und Lombok zumeist eine ebenso auffallende
Aehnlichkeit mit Australien und Neuguinea zeigen, als
die westlichen zu Asien. Es ist bekannt, *dass die
216 Die Thierwelt des
Naturerzeugnisse Australiens von denen Asiens mehr
abweichen, als die der vier altem Erdtheile vonedn-
ander. Wirklich steht Australien für sich. Es hat
keine AflFen, Katzen, Wölfe, Bären oder Hyänen; keine
Hirsche oder Antilopen, Schaf oder Bind; weder Ele-
fant noch Pferd, Eichhörnchen oder Kaninchen: kurz
nichts von jenen Familientypen der Vierfüsser, die
man .in jedem andern Theile der Erde findet. Statt
dieser besitzt es nur Beutler, Kängurus und Opossums
und das Schnabelthier. Auch seine Vogelwelt ist fast
ganz eigenthümlich. Es besitzt weder Spechte noch
Fasane, Familien, die überall sonst vorkommen. Statt
derselben hat es die erdhügelbauenden Fusshühner, die
Honigsauger, Kakadus und pinselzungigen Lories, die
sonst nirgends leben. Alle diese auffallenden Eigen-
thümlichkeiten finden sich auch auf den Inseln, welche
die südmalaiische Abtheilung des Archipels bilden.
„Der grosse Gegensatz zwischen den zwei Abthei-
lungen des Archipels tritt nirgends so plötzlich in die
Augen , als wenn man von der Insel Bali nach Lombok
übersetzt, wo die beiden Eegionen sich am engsten
berühren. In Bali haben wir Bartvögel, Frucht-
drosseln und Spechte; in Lombok sieht man diese nicht
mehr, aber eine Menge von Kakadus, Honigsaugern und
Fusshühnern, die ihrerseits wieder in Bali und allen
westlichem Inseln unbekannt sind. Die Meerenge ist
hier 15 englische Meilen breit, sodass man in zwei
Stunden von einem dieser beiden grossen Districte
zum andern gelangen kann, die hinsichtlich ihrer Thier*
bevölkerung so tief voneinander abweichen , als Europa
von Amerika.* Reisen wir von Java oder Borneo
nach Celebes oder den Molukken, sq ist der Unter-
schied noch auffallender. Dort sind die Waldungen
reich an Affen, Katzen, Hirschen, Zibethkatzen und
Ottern, und man begegnet zahlreichen Formen von
* Das ist zu unbestimmt gesagt. Es würde annähernd
treffen, wenn es hiesse: als Europa von Südamerika. (CS.)
Malaiischen Archipele. 217
Eichhörnchen. Hier — keines dieser Thiere ; aber der
Enskus mit dem Greifschwanz ist fast das einzige
Landsäugethier, ausgenommen die wilden Schweine,
die auf allen diesen Inseln vorkommen und — wahrschein-
lich in neuerer Zeit eingeführte — Hirsche auf Celebes
und den Molukken. Die auf den westlichen Inseln
zahlreich vorkommenden Vögel sind Spechte, Bartvögel,
Fruchtdrosseln und Laubdrosseln; man findet sie täg-
lich und sie geben dem Lande die eigenthümliche
ornithologische Physiognomie. Sie sind auf den öst-
lichen Inseln ganz unbekannt, wo Honigsauger und
kleine Lories die gemeinsten Vögel sind, sodass der
Naturforscher sich wie in einer neuen Welt fühlt und
schwer sich vorzustellen vermag, dass er in wenigen
Tagen, ohne das Land aus Sicht zu verlieren, aus
einer Kegion in die andere übergegangen ist.
„Unzweifelhaft müssen wir aus diesen Thatsachen
den Schluss ziehen, dass die östlich von Java und
Borneo gelegenen Inseln im wesentlichen einen Theil
eines frühern australischen oder pacifischen Continentes
bilden, obschon einige von ihnen vielleicht nie mit
ihm im wirklichen Zusammenhange gestanden. Dieser
Continent muss schon zertrümmert worden sein, nicht
nur ehe die westlichen Inseln sich von Asien trennten,
sondern wahrscheinlich schon bevor die Südostspitze
von Asien aus dem Ocean aufgetaucht war. Denn
man weiss, dass ein grosser Theil von Borneo und
Java einer ganz jungen geologischen Formation an-
gehört, während diese grosse Verschiedenheit der Ar-
ten, in vielen Fällen auch der Gattungen, von den
Erzeugnissen der östlichen malaiischen Inseln und Au-
straliens, sowie die grosse Tiefe der See, welche sie
jetzt trennt, auf eine verhältnissmässig lange Periode
der Isolirung schliessen lässt.
„Bezüglich des Verhältnisses der Inseln unterein-
ander ist es interessant zu bemerken, wie ein seichtes
Meer immer auf eine neuere Landverbindung deutet.
Die Aru-Inseln, Mysol und Waigiu, sowie auch Jobie
218 Inselfaunen unselbständig.
stimmen mit Neuguinea in ihren Säugethier- und Vögel-
arten überein, und wir finden, dass sie alle mit Neu-
guinea durch ein seichtes Meer verbunden sind. In der
That bezeichnet die Hundert-Faden-Linie von Neuguinea
genau die Verbreitung der wahren Paradiesvögel.
„Man muss femer bemerken — und das ist ein sehr
interessanter Punkt in Verbindung mit der Theorie
über die Abhängigkeit der specifischen Lebensformen
von den äussern Bedingungen — dass diese Einthei-
lung des Archipels in zwei durch eine auffallende Ver-
schiedenheit ihrer Naturproducte charakterisirte Re-
gionen durchaus nicht in Uebereinstimmung steht mit
den wesentlichen physikalischen oder klimatischen Ab-
theilungen der Oberfläche." Wir führen nur Folgendes
an: Borneo und Neuguinea, welche in ihrer physika-
lischen Beschaffenheit einander so ähnlich sind, als
zwei bestimmte Länder nur sein können, sind in zoo-
logischer Beziehung polar entgegengesetzt; während
Australien mit seinen trockenen Winden, seinen offenen
Ebenen, seinen steinigen Wüsten und seinem gemässigten
Klima dennoch Vögel und Vierfüsser besitzt, die den-
jenigen eng verwandt sind, welche die heissfeuchten,
überall die Ebenen und Gebirge Neuguineas bedecken-
den Waldungen bewohnen.
Wallace gibt die speciellsten Nachweise, dass, wie
die Theile dieser Inselwelt als die losgelösten End-
glieder zweier Continente sich einander nähern, so auch
mit ihnen zwei völlig verschiedene Faunen. Ebenso
sind der Mittelländische und der Westindische Archipel
ohne eigenthümlichen Charakter, sondern in Thier-
und Pflanzenwelt lediglich von den benachbarten Fest-
ländern abhängig. Von Madeira und seinen Land-
schnecken war oben die Rede. Die Inselfaunen er-
fordern also nicht die Annahme von mehr
Schöpfungsmittelpunkten als die Continente
darbieten, und Rütimeyer hat den Versuch gemacht,
das Herkommen der Vögel und Säugethiere auf zwei
Ausgangscentren zurückzuführen. Eine grosse Reihe
Hypothetischer Südcontinent. 219
thiergeographischer Thatsachen kann nur durch die
Annahme des einstigen Bestehens eines südlichen Con-
tinents erklärt werden, von welchem das australische
Festland ein Ueberbleibsel ist. In Australien concen-
triren sich die heutigen Beutelthiere. Ihr Vorkommen
auf dem südwestlichen Theile des Malaiischen Archi-
pels, Neuguinea eingerechnet, erscheint als eine Aus-
strahlung von dort. Kein einziges Zeichen spricht
dafür, dass Nachkommen der in frühern Perioden vom
Jura an auf der nördlichen Halbkugel existirenden
Beutler den vom Südcontinente aus gegen den Aequa-
tor vordringenden entgegengewandert wären. Nur über
die in Südamerika so verbreitete Beutelratte könnte
man in Zweifel sein, der gehoben wird durch Betrach-
tung einer Anzahl von Genossen, welche sämmtlich
der vorherrschenden amerikanischen Bevölkerung fremd
sind und auf Import, wahrscheinlich in tertiärer Zeit,
deuten, wenn man nicht mit Rütimeyer meint, dass
ihr Vorkommen vielmehr darauf hinweise, „dass pla-
centalose Säugethiere auch ausserhalb Australien ge-
schaffen wurden". Da sind vor allen zu nennen die
flügellosen* Vögel, diejenigen nämlich, welche anato-
misch und systematisch zusammengehören und welche
wir heute über die Continente und einige grosse In-
seln zerstreut finden. Der neuholländische und der
amerikanische Casuar, die ausgestorbenen Riesenvögel
von Madagascar und Neuseeland, der vom Süden nach
dem Norden vorgedrungene afrikanische Strauss, sie
können nicht in ihrer heutigen Isolirung entstanden
sein. Zu gleicher Erwägung drängen die von Linne
Bruta, von den Neuern wegen ilires unvollständigen
Gebisses Zahnlose genannten Säugethiere, wozu, wenn
man die letztere Bezeichnung annimmt, die tasmani-
schen Schnabelthiere einzubeziehen sind. Diese Schna-
belthiere nehmen unter den jetzt lebenden Säugern
unstreitig die niedrigste Stufe ein; nicht minder fremd-
artig aber verhalten sich die andern eigentlichen Zahn-
armen zu den höhern Ordnungen, und ihr Vorkommen
220 Herkunft der Süsswasser- und
I
einerseits in Südamerika, andererseits in Südafirika
und Südasien, sowie die Unmöglichkeit, sie aus einem
einstigen gemeinsamen Centrum aus der nördlichen
Halbkugel herzuleiten, weisen auf das verschwundene
Südland, wo auch die Heimat der Vorfahren der Makis
von Madagascar zu suchen sein mag. „Oder sollte",
sagt Rütimeyer, „die Annahme eines theilweise vom
Ocean, theilweise von einer Eisdecke verhüllten Folar-
landes mit einst reichlicher Thierwelt als eine boden-
lose Hpothese erscheinen für uns, die wir gewisser-
massen uns soeben des Auftauchens aus einer ähn-
lichen Eisdecke der nördlichen Hemisphäre erfreuen
und in unsern Alpen von noch fortbestehenden, in un-
serer Gletscherdrift von kaum entschwundenen Scenen
arktischen Lebens umgeben sind!? Oder sollte die
Vermuthung, dass die fast ausschliesslich vegetivoren
und insectivoren Beutelthiere , Faulthiere, Gürtel- und
Schuppenthiere , Ameisenfresser, Strausse einst in der
südlichen Hemisphäre einen wirklichen Sammelpunkt
fanden, von welchem die heutige Flora von Feuerland,
des Caplandes und Australiens die Ueberreste sein
müssten , auf Schwierigkeiten stossen in einem Moment,
wo Heer die frühern Wälder von Smithsund und Spitz-
bergen aus ihren fossilen Ueberresten uns wieder vor
Augen führt?"
Nachdem Rütimeyer den südlichen Continent mit
einem Theile seiner fremdartigen, in seinen Ueber-
resten versprengten Thierwelt zu reconstruiren sich
getraut hat, sieht er sich nach speciellern Belegen
für die aus dem Gange der Erdbildung allgemein sich
ergebende Annahme um, dass die Thiere des süssen
Wassers und mit ihnen die Landthiere dem
Meere entstiegen seien. Da kann man denn nicht
daran denken, die merkwürdige kleine Abtheiking der
sirenoiden Fische (Lepidosiren, Protopterus), welche
in der trockenen Jahreszeit Luft athmen, für Repti-
lien zu halten, die sich dem Wasserleben anpassen,
sondern umgekehrt. Das Organ, was bei den Fischen
Landthiere aus dem Meere. 221
als hydrostatischer Apparat diente, die Schwimmblase,
wird bei ihnen zur Lunge. Da muss man von den
Landschildkröten zurück auf die Wasserschildkröten,
und von diesen zurück zu solchen Meerbewohnern, die
den im Jura so verbreiteten Enaliosauriern sich an-
geschlossen haben. Da zeigt uns die Entwickelungs-
und Lebensgeschichte der Landkrabben auf das deut-
lichste, wie der Meerbewohner zum Landthier wird,
eine specielle Aufgabe, welche, wie schon erwähnt,
Fritz Müller vollständig gelöst und „für Darwin" ver-
werthet hat. Von den gewöhnlich, aber fälschlich
den Walen zugerechneten Sirenen, von denen die Mehr-
zahl sich am liebsten vor den grossen Flussmündungen
aufhalten, ist die eine Art gänzlich in die afrikani-
schen Binnengewässer gedrungen, und gewisse Lachs-
arten, sowie die Störe, welche periodisch zwischen
Meer und Süsswasser wechseln, sind in dem Stadium,
sich das Meerleben abzugewöhnen. Ich füge aus mei-
nen speciellen Erfahrungen hinzu, dass die Brak-
wasserspongien eine sichere Dependenz mariner Fami-
lien sind und dass die Süsswasserschwämme unver-
kennbar auf jene brakischen Formen hinweisen.
Hat man es in allen diesen Fällen mit allmählicher
Umgestaltung und mehr oder minder freiwilliger An-
passung zu thun, so fehlt es nicht an ausgezeichneten
Beispielen gewaltsamer und fast plötzlicher Absperrung,
d. h. von Landhebungen, wodurch einstige Abschnitte
des Meeres zu Binnenseen wurden. Welche Verände-
rungen die mitabgesporrten Fische und Krebse er-
litten, zeigen die schönen Beobachtungen von Loven
über die Thiere dös Wenem und Wettern, und von
Malmgren über die des Ladoga. Letzterer Forscher
liefert den Beweis, dass der Alpen-Sälbling (Salmo
salvelinus) dem Polarmeere entsprungen ist und seinen
leiblichen Bruder in dem skandinavischen Salmo alpi-
nus besitzt.
Bütimeyer spricht die Ansicht aus, dass aus der
speciellern Verfolgung der Verhältnisse der Thierwelt
222 I>ie arktische Thierwelt. .
des süssen Wassers zu denen der Bevölkerung des
Meeres die Thatsache des Kosmopolitismus der Süss-
wassergeschöpfe ihre Erklärung finden werde, sowie
auch das Verhältniss der antarktischen zur ar ku-
schen Thierwelt. Einstweilen jedoch stehen diese
beiden grössten Thierprovinzen , in Beschränkung auf
die höhern warmblütigen Klassen, in ziemlich scharfem
Gegensatze sich gegenüber. Wir wissen nur aus spär-
lichen Ueberresten, dass schon zur Jurazeit die nörd-
liche Halbkugel mit Beutlern bevölkert war, offenbar
nicht dicht. Wir müssen annehmen, dass, während
auf dem Südcontinente die Beutelthiere mit Festhal-'
tung ihres Charakters ihre Anpassungsfähigkeit zu prü-
fen hatten und sie bewährten , aus ihnen auf der andern
Seite des Aequators eine Säugethierwelt von ganz
anderer Physiognomie hervorging. Es ist diejenige,
welche noch heute für die ganze Erdoberfläche vom
Norden an bis zur Begegnung mit den antarktischen,
mehr stabil gebliebenen Lebensüberresten charakteri-
stisch ist. Während wir aber über ihren Ursprung
nur auf Combination und Schlüsse angewiesen sind,
liegt der historische Zusammenhang der heute die
Alte Welt und den grössten Theil der Neuen Welt
bevölkernden Säugethiere mit ihren Vorgängern bis in
die altem Tertiärzeiten äusserst klar vor Augen.
Die Reste der frühesten hier in Betracht kommen-
den Säugethiere finden sich in den eocänen Ablage-
rungen der Schweiz und in entsprechenden Schichten
Frankreichs und Südenglands. Vom Südrande des
Juraplateau waren weder Alpen noch überhaupt Land
zu sehen, und das denselben bespulende Meer hat sich
bis nach China hin verfolgen lassen. Die bekannt ge-
wordenen Säuger dieser Periode belaufen sich, nach
Rütimeyer's Zusammenstellung im Jahre 1867, auf
mindestens 70 Arten. Die Mehrzahl sind Hufthiere,
also Pflanzenfresser, und unter diesen wieder bei wei-
tem die grosse Hälfte Dickhäuter. Dies Verhältniss
ist heute, wo kaum die gesammte Erde so viele Dick-
Ihre Vorfahren. 223
häuter nährt, völlig verschoben. Nur das Schwein
repräsentirt auf dem Schauplatze von Europa diese
Abtheilung, und die Wiederkäuer sind überall vorherr-
schend. Annähernd kann Afrika in seiner heutigen
Thierbevölkerung mit dem eocänen Europa verglichen
werden. Da aber zu jenen Hufthieren noch eine Anzahl
viverren- und hyänenartiger Fleischfresser kommen, und
es jetzt sowol in Afrika wie in Asien Yiverren gibt,
da ferner die in jener frühesten Fauna vertretenen
moschusartigen Wiederkäuer jetzt ebenfalls asiatisch
und afrikanisch sind, da endlich die damaligen fran-
zösischen Beutelratten in Central- und Südamerika
fortleben, „erhalten wir den Eindruck, als ob die
älteste tertiäre Fauna Europas die Mutterlg,uge einer
heutzutage auf dem Tropengürtel beider Welten, allein
am entschiedensten in dem massiven Afrika vertrete-
nen, echt continentalen Thiergesellschaft tilde" (R.)*
Weit mannichfaltiger ist das Bild des höhern Thier-
lebens der mittlem und neuern tertiären Zeiten, das
wir uns aus zahlreichen und zum Theil äusserst
reichhaltigen Lagerstätten der Ueberreste reconstruiren.
Innerhalb dieser Perioden engere Grenzen ziehen zu
wollen, ist ganz unthunlich, von Localität zu Locali-
tät, von Schicht zu Schicht findet sich Zusammenhang,
nirgends tritt eine Art auf, die nicht von einer an-
dern abgeleitet werden könnte, und unser Gewährs*
mann sagt, dass Anatomie, Morphologie, Paläontolo-
gie, geographische Verbreitung ihm keine Lehre mit
grösserer Energie und Consequenz vorzuführen schie-
nen, als die, „dass getrennte Species eines Ge-
nus, d. h. wirklich ohne allen historischen
und daher auch einst localen Verband mit
einem Urstamm, nicht existiren". Der be-
rühmteste Fundort der tertiären Säugethiere ist Pi-
kermi, einige Stunden von Athen, eine Anhäufung von
ganzen Skeleten und Skelettheilen, welche eine Thier-
füUe voraussetzt, von welcher uns allenfalls die am
224 Eocäne und miocäne Säuger.
dichtesten belebten Gegenden Afrikas nach Living-
stone's Schilderungen eine Vorstellung geben können.
Wiederum treten die reissenden Thiere gegen die
Pflanzenfresser zurück, doch thun sich schon die katzen-
artigen Raubthiere hervor, und unter den grossen
tertiären Raubthieren finden sich Beispiele von ebenso
grosser Ausbreitung, wie sie jetzt der Tiger hat. Da-
mals erstreckte sich das Gebiet des Schwertzahnes
(Machairodus) über einen grossen Theil von Amerika
und Europa. Gleich hier sei erwähnt, dass die hunde-
artigen Thiere etwas später auftreten, und noch spä-
tem Ursprungs die Bären sind. Das reichhaltigste
Material steht auch in dieser Periode wieder für die
Hufthiere zu Gebote. Noch immer überwiegen die
Vielhufer. Am constantesten bleiben die Schweine und
Moschusthiere. Allein zu dem an die alten Formen
sich anschliessenden Tapir treten Nashorn, die eigent-
lichen Pferde und die Elefanten. Ist schon das Nas-
horn ziemlich unvermittelt, so ist die Herkunft der
Mastodonten, als der altem Elefantenform, bisjetzt ganz
unaufgeklärt.^' Und dennoch, wenn wir uns auch in
der bekannten eocänen Säugethierfauna vergeblich nach
ihren nächsten Stammformen umsehen, dennoch sind
selbst für Europa und Asien eine Eeihe Anzeichen
vorhanden, dass „die meisten eocänen Genera als wahre
"Wurzelformen der miocänen zu betrachten" (R.) sind.
Dies ergibt sich aus den Funden von Nebrasca in
Nordamerika, wo wichtige Gattungen, die in der
Alten Welt mit der eocänen Periode auslebten, wie
Palaeotherium, sich in die Gesellschaft der neuern
Gattungen hineinretteten. Wir finden dort auch Mittel-
formen zwischen Lama und Kamel, wodurch das einst
bedeutungslose Wort der vicarirenden Gattungen für
diesen Fall ebenfalls seine reelle Bedeutung erhält.
Wir finden in Nebrasca ferner die dreihufigen Pferde
(Anchitherium) und wissen damit den Ursprung der
einhufigen Pferde in der Alten und in der Neuen
Welt.
Thierverbreitung in Amerika. 225
Was in der Alten Welt seitdem geschehen, beschränkt
sich auf das Erlöschen vieler Dickhäuter, eine Ver-
schiebung der Nashorne, Elefanten, Tapire, Fluss-
pferde , und auf eine ausserordentlich reiche Entfaltung
der eigentlichen Wiederkäuer und der aus ihnen zu
einem Extrem in der Kopfbildung hervorgehenden
Rinder. Bären und Hunde nehmen das Terrain ein,
wo einst die Viverren und Hyänen herrschten, aber es
„bleibt eine starke Anzahl, unter der kleinen Fauna
sogar die grosse Mehrzahl miocäner Geschlechter in
zahlreichen local und historisch begrenzten Species im
B^itz des alten, wahrscheinlich ohne Unterbrechung
an Umfang zunehmenden Wohnplatzes" (R.). „Niemand
wird in diesem allmählichen Wechsel der Dinge etwas
arideres erblicken können, als Erscheinungen derselben
Ordnung, deren Zeugen wir noch sind" (R.)«
Wie die Verhältnisse in Amerika sich gestaltet
haben, ist von Rütimeyer meisterhaft in folgenden
Worten geschildert worden: „Amerika bietet schon
vornherein in seinem Bau eine von der Alten Welt
völlig verschiedene Grundlage für Thierverbreitung.
Hier nur stellen weis durchbrochene Kämme, welche in
der Richtung von Breitengraden das ganze Festland
in gebirgige Zonen theilen, welche der Vertheilung
der Temperatur entsprechen und so in doppelter Weise
der Ausdehnung der Thiere bestimmte Bahnen von
Ost nach West vorschreiben, während sie für die mei-
sten Thiere eine Wanderung von Nord nach Süd
weniger durch ihre Hohe als dadurch hindern, dass
an ihnen der Norden fast unmittelbar an den grellen
Süden grenzt. Und hinter dieser Mauer überdies in
der Ausdehnung vom Kaspischen Meer bis nach China
eine Steppen- und Wüstenzoüe, welche die Thiere des
Waldes noch wirksamer einzäunt als das Gebirge. In
Amerika können nicht nur Raubthiere, sondern auch
Pflanzenfresser ohne Hemmniss von den Flechtenzonen
am Makenzie durch die Tannenwälder des Obersees
nach den Magnoliengebieten von Mexico fortschreiten;
Schmidt, Descendenzlehre. X5
226 Thierverbreitupg
40 — 50 Breitengrade trennen die Extreme , welche sich
am Himalaya berühren, und die grossen Ebenen und
weiten Flusssysteme scheinen zu Wanderungen fast
einzuladen. Die Uebereinstimmung des gesammten
Thierlebens in Mexico und Guyana zeigt überdies, wie
wenig der Isthmus von Panama ein Ueberschreiten
nach Südamerika hemmt, wo von neuem ein mächtiges
Flussgebiet ohne hohe Schranken an das andere stösst;
auch keine vegetationslose Wüste auf der ganzen
Strecke von den canadischen Seen bis nach Patagonien.
„Man wird wol nicht irren, wenn man diesem Um-
stände die auffallige 'Verbreitung der fossilen und
heutigen Säugethiere Amerikas zu einem guten Theile
zuschreibt. Wie wir sahen, ist schon die miocäne
Fauna von Nebrasca eine Tochter der eocänen der
Alten Welt. Die pliocäne Thierwelt von Niobrara,
welche auf demselben Boden wie Nebrasca, nur in
Jüngern Sandsteinschichten, begraben liegt, belegt dies
noch in höherm Masse; Elefanten, Tapire und reich-
liche Arten von Pferden sind kaum von den altwelt-
lichen verschieden, die Schweine sind, nach ihrem Ge-
biss zu urtheilen, Abkömmlinge europäisch miocäner
Palaeochoeriden. Auch die Wiederkäuer sind in den
gleichen Genera und theilweise in denselben Species
vertreten, wie in den gleichartigen Schichten von Eu-
ropa, als Hirsche, Schafe, Auerochsen; und die fleisch-
fressende, sowie die ganze kleine Thierwelt macht
davon keine Ausnahme. Viele Genera von exquisit
altweltlichem Gepräge sind mit der Zeit selbst weit
nach Südamerika vorgedrungen und erloschen daselbst
nur kurz vor der Ankunft, oder vielleicht sogar unter
Mitwirkung des Menschen, so die zwei Mammutharten
der Cordilleren und die südamerikanischen Pferde,
deren heutige Nachfolger dann auf weit kürzerm Wege
diesen insularen Continent erreichten. Sogar eine An-
tilopenart und zwei fernere horntragende Wiederkäuer
(Leptotherium) fanden ihren Weg bis Brasilien. Heut-
zutage sind noch zwei Tapirarten, im Gebiss selbst
in Amerika. 227
für Cuvier's Auge kaum von dem indischen unterscheid-
bar, zwei Arten von Schweinen, welche den Charakter
ihrer Stammform im Milchgebiss noch erkennbar an
sich tragen, und eine Anzahl von Hirschen nebst den
Lamas, einem erst in Amerika geborenen und spätem
Sprössling der eocänen Anoplotherien ,lebendeUeber-
reste dieser alten und auf so langem Wege
nicht ohne reichliche Verluste an ihren der-
maligen Wohnort gelangten Colonie des
Ostens. Man darf kaum zweifeln, dass ein guter
Theil der Raubthiere, welche im Diluvium von Süd-
amerika noch mehr als gegenwärtig altweltliche Stamm-
verwandtschaft behalten haben, auf demselben Wege
hierher gelangten. Erinnern wir uns jetzt, dass selbst
der eocäne Caenopithecus von Egerkingen schon ver-
nehmlich nach heutigen amerikanischen Affen hinwies,
und Didelphen (Beutelratten) in denselben Terrains
von Europa begraben liegen, so sollte man fast glau-
ben, dass die auf den Aufenthalt auf Bäumen an-
gewiesene Abtheilung der Vierhänder sowie der Beutel-
ratten es vorzüglich waren ,^ welche dann in den
Ungeheuern Waldungen der neuen Heimat sich heimisch
fanden und mit neuem Aufschwünge eine grosse Menge
von speciellen Formen zeugten, ohne indess bis heute
die Höhe der Entwickelung ihrer in der Alten Welt
zurückgebliebenen Vettern erreicht zu haben.
„Hier ist es auch am Platze, auf die frühere Be-
merkung zurückzukommen, dass eine solche Wan-
derung der Thiere den Süden der Neuen Welt nicht
leer an Säugethieren, sondern vielmehr schon reichlich
mit den zahnlosen Vertretern einer antarktischen oder
doch mindestens südweltlichen Thierwelt besetzt fanden.
Die diluviale Fauna von Südamerika, welche von Lund,
von Castelnau und Weddell aus den Höhlen von Bra-
silien und dem Alluvium der Pampas gesammelt wor-
den ist, enthielt in der That unter den 118 aufgeführten
Arten, neben den eben erwähnten von wahrscheinlich
altweltlichem Stammbaum , nicht weniger als 35 Species
15*
228 Thierverbreitung in Amerika.
^on Edentaten , und zwar alles Thiere von bedeutender
Körpergrösse. Sehen wir von 36 Nagern und Fleder-
mäusen, überhaupt von der kleinern Fauna ab, so
bilden sie fast die Hälfte der grössern diluvialen Thiere
von Südamerika überhaupt. Die vermuthlich früher
hier ansässig gewordene Gesellschaft der Zahnlosen
hielt daher der Invasion aus Norden so ziemlich das
Gleichgewicht.
„Es^ ist begreiflich, dass die gleichen äussern Hülfs-
mittel, welche den Zug der Kinder der nördlichen
Hemisphäre stets weiter leiteten, auch die Glieder der
antarktischen Fauna zur Ausdehnung nach Norden ein-
laden konnten. Wie wir noch heute die fremdartige
Form des Faulthiers, des Gürtelthiers und des Ameisen-
fressers in Guatemala und Mexico mitten in einer
Thiergesellschaft antreffen, die guten Theils aus noch
jetzt in Europa vertretenen Geschlechtern besteht,
finden wir daher auch schon in der Diluvialzeit riesige
Faulthiere und Gürtelthiere bis * weit hinauf nach Nor-
den verbreitet. Megalonyx Jeffersoni und Mylodon
Harlemi, bis nach Kentucky und Missouri vorgescho-
bene Posten südamerikanischen Ursprungs, sind in dem
Lande der Bisonten und Hirsche eine gleich fremd-
artige Erscheinung, wie die Mastodonten in den Anden
von Neugranada und Boli via. Mischung und Durch-
dringung zweier vollkommen stammverschie-
dener Säugethiergruppen fast auf der ganzen
Ungeheuern Erstreckung beider Hälften des
neuen Continents bildet überhaupt den her-
vorstechendsten Charakterzug seiner Thier-
welt, und es ist bezeichnend, dass jede Gruppe an
Reichthum der Vertretung und an Originalität ihrer
Erscheinung in gleichem Masse zunimmt, als wir uns
ihrem Ausgangspunkte nähern."
Wir stehön also diesseit und jenseit des Oceans,
nördlich von jener vielfach gekrümmten Grenze der
antarktischen oder südlichen Fauna, noch mitten in der
diluvialen Thierwelt, die von den alten Continenten
Stammbaum der Wirbelthiere. - 229
über eine dem Nordpol sich nähernde Brücke sich nach
dem amerikanischen Festlande erstreckte und dort in
den Mastodonten und Pferden länger ihr älteres Aus-
sehen bewahrte.
Drüben und hier ist die gegenwärtige Ordnung der
Dinge, ist die Cantonirung der Thiere vielfach be-
stimmt und modificirt worden durch mächtige Ver-
gletscherungen und lange Eiszeiten. Von daher die
Uebereinstimmung so vieler hochnordischer Pflanzen mit
Alpenpflanzen, nachdem die europäische Pflanzenwelt
von Osten her ihren Einzug gehalten. Seit jener Zeit
die Verschiebung des Renthieres nach unserm Norden, die
Verdrängung des Moschusochsen und seine Vertilgung
in der Alten Welt. Die vor dem Eise flüchtenden
Elefantenarten sind nicht zurückgekehrt, auch das nach
der Eiszeit mit einem Nashorn aus dem Nordosten
einwandernde Mammuth hat nebst seinem Gefährten den
Untergang gefunden. Andere seiner Genossen, wie der
Urstier, sind kaum vor einigen hundert Jahren als
. wilde Thiere erloschen, andere, der Auerochse, der
Biber, sind als Bewohner von Europa dem Aussterben
nahe, und noch andere, Hirsch und Reh, werden mit
den Wäldern und Jagdvorrechten sterben. Aber fast
für alle Arten, nach deren näherer Herkunft wir uns
umschauen, liefert uns die Vorzeit ihre Geschichte und
erklärt uns die Abstammung, und in der Abstammung
finden wir mit lichten Zügen die Ursachen des geogra-
phischen Vorkommens verzeichnet.
XI.
Der Stammbaum der Wirbelthiere.
Das Endergebniss , nach welchem die Descendenz-
lehre strebt, ist die Darstellung des Stammbaumes der
Organismen. Um ihn auszuarbeiten ist die ganze, fast
unübersehbare Fülle von Thatsachen zusammenzufassen,
230 - Berechtigung der
welche die beschreibende Botanik und Zoologie, ein-
schliesslich der Anatomie und Entwickelungsgeschichte,
im Laufe ungefähr eines Jahrhunderts angehäuft haben,
und ist das Detail an der Hand von Specialhypothesen
einer Sichtung und erneuten Prüfung zu unterwerfen.
Wir haben daher für die Abstammungslehre dasselbe
Recht in Anspruch genommen, auf welches sich der
Fortschritt der Wissenschaft überhaupt stützt, das
nämlich, nach bestimmten Gesichtspunkten zu unter-
suchen und das Wahrscheinliche als Wahrheit im Ge-
wände der wissenschaftlichen Vermuthung oder Hypo-
these zu anticipiren. Es ist klar, dass, als die De-
scendenzlehre mit ihrer durch Darwin versuchten Be-
gründung ans Licht trat, nur die allgemeinsten Umrisse
jenes grossen Stammbaumes angedeutet werden konnten,
den in seinen Einzelheiten darzulegen eben die Auf-
gabe der neuen Richtung der Wissenschaft sein sollte.
Sowie und wo man aber an die Detailforschung ging,
musste man entweder am Abschluss der Untersuchun-
gen dem Resultate die Form eines Theiles des grossen
Stammbaumes geben, oder man hatte von vornherein
Grund, gewisse Verwandtschaften vorauszusetzen und
prüfte diese Vermuthung. Je weiter ein Forscher es
in der Uebersicht über die Organisationsverhältnisse
einer grössern Gruppe gebracht hat , desto weniger wird
er sich der Stammbaumideen bei allem seinen Thun
und Denken entschlagen können.
Das alles ist so selbstverständlich, dass, sollte man
meinen, aus der Handhabung dieser Methode der De-
scendenzlehre kein Vorwurf gemacht werden könnte.
Dennoch geschieht es oft, dennoch verargt man es den
Vertretern der Descendenzlehre , häufig von blosser
Wahrscheinlichkeit zu sprechen, wobei man vergisst,
dass selbst in den Fällen, wo das Wahrscheinliche
schliesslich als unwahr sich herausstellt, die widerlegte
Hypothese zum Fortschritt geführt hat. Soeben gibt
uns die Sprachwissenschaft einen Beleg hierfür. Es
ist bekannt, dass die Sprachvergleichung innerhalb des
Aufstellung der Stammbäume. 231
indo-germanischen Sprachstammes an die Reconstruction
•der allen zu Grunde liegenden Ursprache dachte.
Johannes Schmidt^* zeigt nun, dass die Grundformen,
welche erschlossen werden, in sehr verschiedenen Zei-
ten entstanden sein können, und dass demnach die
Ursprache, als Ganzes betrachtet, eine wissenschaft-
liche Fiction sei. Nichtsdestoweniger wurde die For-
schung durch diese Fiction wesentlich erleichtert, und
hiermit hing die Aufstellung eines Stammbaximes der
indo-germanischen Sprachfamilie eng zusammen als eine
durch viele Anzeichen gestützte Hypothese. Man nahm
-eine Gabelung in eine südeuropäische Sprache, mit
«den Abzweigungen des Griechischen, Italischen und
€eltischen, und in die Sprache an, aus deren aber-
maliger Zweitheilung die nordeuropäische Grundsprache
und die arische Grundsprache hervorgingen. Obgleich
Johannes Schmidt nachgewiesen, dass dieser Stamm-
baum falsch, da die Beschaffenheit des Slavolettischen
die vorausgesetzte erste Zweitheilung als unmöglich
erscheinen lässt, wird der Werth jener Stammbaum-
hypothese deshalb doch nicht verkleinert. Sie war
der Weg zur Wahrheit.
In unserer Wissenschaft hat von dem Rechte,
hypothetische Stammbäume als Wegweiser für den
Gang der Forschung zu entwerfen, Haeckel den aus-
gedehntesten Gebrauch gemacht. Es kommt gar nicht
darauf an, dass er selbst sich wiederholt hat ver-
bessern müssen, oder dass andere ihn oft verbessert
haben : der Einfluss dieser Stammbäume auf den Fort-
schritt der Descendenz-Zoologie ist für den, welcher
das Feld überblickt, ein ganz offenbarer, abgesehen
davon, dass eine Reihe von Untersuchungen des letz-
ten Jahrzehntes ihre Resultate in gute Stammbäume
endgültig fixirt haben. Da wir blos eine Einführung
in die Descendenzlehre beabsichtigen, so begnügen
wir uns damit, darzulegen, wie in ihrer Anwendung
auf die eine Gruppe der Wirbelthiere sich das System
232 Verknüpfung der Wirbelthiere
Säugethiere
Vögel
I
Reptilien
(Amnioten)
I
(?) Enaliosaurier Amphibien
I
Fische
Amphioxus
Mantelthiere
(ürwirbelthiere)
Würmer.
oder der Stammbaum derselben gestaltet. Zu diesem
Zweck halten wir uns an das vorstehende Schema.
Wie wir oben gesehen, sind in der Entwickelungs-
geschichte der Individuen die wichtigsten Fingerzeige
für den Stammbaum der Arten enthalten. Allein wenn
auch alle Wirbelthiere hinsichtlich der Anlage des
Keimes, sowie der fundamental wichtigen Organe, des
Rückenmarkes und der Wirbelsäule, unter sich eine
ihren verwandtschaftlichen Zusammenhang erweisende
Uebereinstimmung zeigten, so schien jedes Kennzeichen
ihrer Abstammung von niedrigem Thieren, wie die
Theorie unbedingt fordert, zu fehlen. Es schien, mit
andern Worten, bei sämmtlichen Wirbelthieren daa
Andenken an ihre erste Abstammung in der abgekürz-
ten Entwickelung (vgl. S. 195) verwischt worden zu
sein. So stand es bis Kowalewsky vor einigen Jahren
die Entwickelung des niedrigsten bekannten Wirbel-
thieres, des Lanzettfisches (Amphioxus) studirte und
nachwies, dass bei diesem Thiere den typischen Er-
'S-
Üfllilti!
HM-tmg des ruasi-
die , dasB eine
b ...af-S!- -"fiSj^kCgJii^&i^S. i# . ^^^Äb theüung der
»^•;^i:|^ j^Wigf^; vorübergehend
ir
mit den Wirbellosen. 235
ein Rückenmark und die Anlage der Wirbelsäule besitzen.
Kowalewsky's Untersuchungen sind in allen wesentlichen
Stücken von Kupfer bestätigt und vielfach erweitert
worden, und das Thatsächliche , was uns interessirt,
lässt sich an der Abbildung 23, den Vordertheil einer
ziemlich vorgeschrittenen Ascidienlarve darstellend , er-
läutern. Der Körper der Ascidienlarven besteht aus
einem Rumpftheil, den unsere Figur ganz zeigt, und
einem Ruderschwanze. Die vom Rumpfe nach rechts
vorstehenden Anhänge sind Haftorgane , mit denen die
Larve sich behufs ihrer definitiven Umgestaltung festsetzt;
bei entsteht die MundöflFnung, aus d entwickelt sich
Kiemenhöhle und Darmkanal, wobei wir beiläufig her-
vorheben, dass auch beim Lanzettfisch der Vordertheil
des primitiven Darmes zur Kiemenhöhle wird. Die
für die Beziehung zu den Wirbelthieren wichtigsten
Theile der Ascidienlarven sind aber folgende. Sie be-
sitzt ein wirkliches Rückenmark mit einem blasig auf-
getriebenen Gehirn (r a). Anlage und Lage dieses
Organs stimmt genau mit den entsprechenden Theilen
des Wirbelthieres überein, und Kupfer hat sogar den
Ursprung von Nerven entdeckt (s s s), welche die
Gleichheit des fraglichen Organs, mit dem Rückenmark
und den paarigen daraus entspringenden Nerven der
Wirbelthiere noch unwiderleglicher machen würden,
wenn die Beobachtung sich bestätigte. Wir wissen
aber, dass nicht das Rückenmark für sich, sondern
seine Verbindung mit der Wirbelsäule den Charakter
des Wirbelthieres ausmacht. Auch diese Wirbelsäule
als Rückensaite besitzt die Ascidienlarve (c), und wie
beim Wirbelthiere schiebt sich diese embryonale Wir-
belsäule zwischen Darm , und Rückenmark ein. Bis
hierher geht die Uebereinstimmung , dann aber wird
die Entwickelung dieser für das Wirbelthier wichtig-
sten Theile bei der Ascidie eine rückgängige. Der
Ruderschwanz mit dem in ihm enthaltenen Rücken-
marke und der Saite wird, indem das Thier sich fest-
fj^'<ilt|[7^^ipn:^|gt Larvengehirn
^ ^^venknoten zu-
le Ahnung
aufkommen,
leobachtungen,
dingte Eigen-
^äule besitzen,
'ledrigern Or-
pfiugen. So-
Menschen
ll*l¥c«&^ia»Äfiiclten, ebenso
54IW*|l>l?S^t>=*en mitgetheil.
mm
Stammbaum der Fische. 237
wird. Sein Skelet beschränkt sich auf die Chorda
und feine Knorpelstäbchen an Mund und Kiemen. Er
hat kein Gehirn, ausser einer vielleicht als Geruchs-
organ zu deutenden wimpernden Grube kein Sinnes-
werkzeug, sein Herz ist schlauchförmig. Und so be-
steht zwischen ihm und den übrigen eigentlichen
Fischen ein so weiter Abstand, dass die Möglichkeit
offen bleibt, dass die Fische einen andern Entwicke-
lungsgang als durch amphioxusartige Stadien zurück-
gelegt haben.
Unsere Kenntnisse über die Yerwandtschaftsverhält-
nisse der Fische lassen sich in folgendem Stammbaum
niederlegen :
Doppelathmer
Knochenfische
Ganoiden
Elasmobranchier
Beutelkiemer.
Zwar zeigen auch die Beutelkiemer oder Rund-
mäuler (Cyclostomi) so erhebliche Eigenthümlichkei-
ten, wie Mangel der Extremitäten, gänzliche Abwesen-
heit von Knochenplatten und Schuppen in der Haut,
aber Gehirn, Herz und die weit über den Amphioxus
sich erhebende, wenn auch durchaus knorpelig blei-
bende Wirbelsäule vermitteln ihren unmittelbaren An-
schluss an die Fische. Fossile Reste dieser, in der
Gattung Pricke (Petromyzon) allbekannten Thiere'sind
nicht vorhanden, wie denn überhaupt höchstens ihre
Hornzähne sich hätten erhalten können.
238 Stammbaum der Fische.
Nach diesen offenbaren Lücken unserer Kenntnis»
bieten die folgenden Ordnungen der Fische sich in
desto übersichtlicherm Zusammenhange dar. Den Aus-
gangspunkt bilden die Elasmobranchier, zu wel-
chen die eigenthümlichen Chimären, die Haie und
Rochen gehören. Gehirn und Kiemen zeigen die Ver-
wandtschaft mit den Rundmäulern. In der Beschaffen-
heit des Schädels und des Gresichtsskeletes , des Schul-
tergürtels und der vordem Extremitäten, des Herzens und
Darmes zeigen sie solche Bildungen, zu denen sich die
gleichen Theile der Ganoiden entweder als Fortent-
wickelungen oder als Reductionen verhalten, wie
Gegenbaur in seinen classischen Untersuchungen nach-
gewiesen. Auch Huxley hat zur richtigen Auffassung
dieser Verhältnisse die Bahn gebrochen. Um hiervon
vollständig sich zu überzeugen, ist allerdings ein De-
tailstudium nothwendig; denn ohne solches kann man
sich doch keine Vorstellung machen, wie bei den
Elasmobranchiern noch der eigentliche Kieferapparat
fehlt, und der Knorpelbogen, der bei ihnen die Kiefer
vertritt, bei den Ganoiden theils als Gaumen, theils
als Aufhängestil des wirklichen Unterkiefers verwendet
wird, wie die innern Kiemen jener zu den äussern
dieser werden, und wie im Skelet der vordem Extre-
mitäten sich Schritt für Schritt von den Haien und
Rochen zu den Ganoiden , namentlich den dazu ge-
hörigen Stören, die allmähliche Vereinfachung nach-
weisen lässt\ die einerseits in den Knochenfischen,
andererseits in den hohem Wirbelthieren ihre Extreme
erreicht, bei letztern unter der vielgestaltigen Ver-
vollkommnung des Armes und der Hand. Es leben
von den Ganoiden nur noch einzelne Ueberreste, die
Familie der Störe und einzelne amerikanische und
afrikanische Gattungen, für welche, wie Rütimeyer
sagt , die Flucht ins süsse Wasser ein Act der Rettung
war. Sie reichen eben hin, um das Verhältniss der
einst ungemein ausgebreiteten Gruppe sowol zu den Elas-
mobranchiern als den Knochenfischen zu erklären.
Uebergang zu den Amphibien. 239
In diesen, den Knochenfischen, ist die bei den
Ganoiden eingeleitete Umbildung der Organisation
der Elasraobranchier weiter geführt. Sie sind nur sehr
bedingt „höher entwickelt" zu nennen, etwa im Ske-
let, worauf die ehemalige Zoologie zu viel Gewicht
legte. Hirn, Herz, die Bildung der Extremitäten, das
Fortpflanzungssystem sind zwar Sonderentwickelungen,
die in Verbindung mit der äussern Form und deii
Hautbedeckungen eine sehr grosse Anpassungsfähigkeit
bewährt haben, einer Weiterentwickelung aber nicht
fähig gewesen sind. Die vergleichende Anatomie hat
viele Mühe vergeblich darauf gewendet, aus der spe-
ciellen Organisation der Knochenfische die Verhältnisse
der höhern Thiere abzuleiten, oder die Eigenthümlich-
keiten der Knochenfische von oben her zu erklären.
Es war verlorene Mühe, weil nur der eben bezeich-
nete Weg, die Abstammung der Knochenfische durch
die Ganoiden von den haiartigen Fischen, zur Lösung^
führt.
Mit den Knochenfischen schliesst also in der heutigen
Periode eine Entwickelung ab, und wir haben una
nach einer andern Uebergangsstufe von den Fischen
zu den Amphibien umzusehen. Eine solche ist in der
spärlich durch nur einige Arten (Lepidosiren, Pro-
topterus) vertretene Ordnung der Doppelathmer
(Dipnoi) vorhanden. Diese fischartigen, in einigen in
der heissen Jahreszeit austrocknenden Flüssen Afrikas
und Amerikas lebenden Thiere sind nach Skelet und
Beschuppung und in einigen andern Merkmalen Fi-
sche; der Schädel ist jedoch fast amphibienartig, auch
gebrauchen sie ihre Schwimmblase zeitweilig als Lunge
und veranschaulichen in diesem Wechsel der Wasser-
und Luftathmung den Uebergang der kiemenathmenden
Larven der Amphibien in das Stadium der Luftathmung.
Sie nähern sich unter den eigentlichen Fischen am
meisten der in der Gegenwart durch den afrikanischen
Polypterus vertretenen Familie der Crossopterygier, und
durch die neuere Entdeckung eines sehr merkwürdigen
240 Stammbaum der Amphibien.
australischen Fisches, des Ceratodus, wird diese Ver-
wandtschaft befestigt.
Durch solche den Doppelathmern ähnliche Formen
hat sich also wahrscheinlich der Fortgang von den
Fischen zu den Amphibien vollzogen; es ist jedoch
auch möglich, wie mich ein wissenschaftlicher, in der
Entwickelungsgeschichte sehr bewanderter Freund, ge-
stützt auf die Vergleichung der Athemorgane der
Kundmäuler mit denen der Amphibien, aufmerksam
macht, dass Frösche und Salamander direct von Wesen
abstammen, welche der Myxinoiden genannten Ab-
theilung der Cyclostomen am nächsten standen. Es
ist zu hoffen, dass diese sehr interessanten Beobach-
tungen demnächst in die Oeffentlichkeit treten. Im
allgemeinen sehen wir in der Ontogenie der Amphi-
bien, dass geschwänzte Formen die altern sind.
So verhalten sich denn auch die ältesten amphibien-
artigen Thiere, die Labyrinthodonten. Wir haben
aus ihren, namentlich in der Kohlenformation ent-
haltenen Resten (Archegosaurus u. a.) erfahren, dass
sie unvollständige oder keine Gliedmassen hatten, ihre
Bauchseite theilweise mit knöchernen Panzerstücken
versehen, die Wirbel fischartig waren, und dass ihr
Schädel mit Chairakteren der heutigen Amphibien andere
verbindet, welche theils an gewisse' Knochengan oiden,
theils an die später auftretenden Reptilien erinnern.
Wenn nun auch am Schädel der eigenthümlich schlan-
genähnlich verlängerten Schleichlurche oder Cöci-
lien, welche jedoch schwanzlos sind und ohne
Gliedmassen, einige Besonderheiten des Labyrintho-
dontenschädels wieder zum Vorschein kommen, so
müssen wir doch sowol für diese Ordnung, wie für
die beiden andern jetzt lebenden Ordnungen der
Schwanzlurche und der Frösche unsere völlige
Unkenntniss ihrer eigentlichen Vorfahren eingestehen.
Wir sind also, wie gesagt, hier lediglich an die Ent-
wickelungsgeschichte der Individuen gewiesen. Mit
welchem Rechte wir uns aus dieser ein der Wirklichkeit
Stammbaum der Reptilien. 241
mit grosser Wahrscheinlichkeit nahe kommendes Bild
der Stammesentwickelung entwerfen können, wird der
Leser aus den frühern Abschnitten entnommen haben.
Wir sehen unter den geschwänzten Amphibien nicht
blos in der Ontogenie den Uebergang von der Kiemen-
zur Lungenathmung, auch die systematische Reihe von
Proteus zu Triton und Salamander vergegenwärtigt
uns diese, an verschiedene morphologische Umwand-
lungen gebundene physiologische Steigerung, welche
sich zwischen den jungen und alten Exemplaren der
Labyrinthodonten ebenfalls nachweisen lässt. Die Frö-
sche gehen zwar in ihrer Entwickelung höher als die
Schwanzlurche, sie schliesen sich aber, wie der oben
schon erwähnte Freund mich belehrt, in der Beschaffen-
heit der innern Kiemen ihrer Larven näher an die
Myxinoiden an. Den Ueberblick über die Reptilien
verschaffen wir uns zunächt durch die umstehende
Tabelle (S. 242), wobei wir uns aller nähern syste-
matischen Bezeichnungen enthalten \^ollen.
Die Klasse bietet ein sehr reichhaltiges Bild dar,
obschon in der Gegenwart nur vier Ordnungen existi-
ren, von denen noch dazu zwei, Sie Eidechsen und
Schlangen, kaum voneinander zu trennen sind. Dass
die Schlangen, welche erst mit der Tertiärzeit auf-
treten, ein unmittelbarer Ableger der Eidechsen sind,
wird durch die vergleichende Anatomie und Entwicke-
lungsgeschichte zur Gewissheit. Wir sehen innerhalb
verschiedener Familien der Eidechsen mit der Streckung
des Körpers und der Vermehrung der Wirbel die Fuss-
losigkeit eintreten, und auch die Aenderungen, welche
dem Schädel der „echten" Schlangen eigenthümlich sind,
werden in ganz allmählichen Abstufungen vom echten
Eidechsenschädel an in der systematischen Reihe re-
präsentirt. Wir können nicht die fossilen Gattungen
angeben , mit denen die Umwandlung beginnt , ein Zwei-
fel in diesem Falle würde aber nur eine eigensinnige
Verneinung sein. Anders steht es mit den übrigen
Ordnungen, welche in ihren uns bisher zugänglich
Schmidt, Desoendenzlehre. IQ
242
Stammbanm
Gegenwart
Diluvium
Tertiärzeit
Kreide . .
Jura . . .
Trias
Dyas
Kohle . .
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gewordenen Anfangen schon so bestimmt ausgeprägte
Verschiedenheiten zeigen, dass eine directe Ableitung
auch nur einiger aus bekannteij Gliedern anderer nicht
möglich ist. Ein sehr guter Kenner der Anatomie
dieser Thiere, Huxley, lässt sich folgendermassen hier-
über aus^^: „Wenn wir fragen, wie die frühesten Re-
präsentanten dieser Ordnungen sich von den jetzt
lebenden oder den spätest bekannten Gliedern der-
der Reptilien. 243
selben unterscheiden, so werden wir in allen Fällen
finden, dass die Grösse des Unterschiedes an und für
sich und im Vergleich mit den dazwischen liegenden
Zeiträumen merkwürdig gering ist. Meines Wissens
gibt es keine Thatsache, von der man sagen könnte,
dass sie einen Fortschritt der spätem Pterosaurier oder
Ichthyosaurier über die jüngsten (ältesten?) repräsen-
tire. Es ist nicht klar, dass die Dinosaurier der
Wealden- und Kreideformation höher organisirt sind
als die der Trias; wo aber ein Fortschritt in der
Differentiation des Baues zu beobachten ist, wie bei
den Lacertiliern oder Krokodiliern, geht derselbe nicht
weiter als ' bis zur Veränderung der Wirbelgelenk-
flächen oder des Grades, bis zu welchem die innern
Nasenöffnungen von Knochen umgeben werden. Die
osteologischen Unterschiede, welche uns die Fossilreste
allein zu überliefern vermögen, sind ohne Zweifel von
manchen Veränderungen in der Organisation hinfälliger
Körpertheile begleitet gewesen, aber die Gesammtheit
der vorliegenden Thatsachen beweist doch, dass der
^Grad von Veränderung in der Organisation der Rep-
tilien seit ihrem ersten bekannten Auftreten auf der
Erde an und für sich nicht gross ist und ganz unbe-
deutend erscheint, wenn wir die seitdem verflossenen
Zeiträume , sowie die Veränderungen der äussern • Um-
stände in Betracht ziehen, welche durch die meso-
zoischen und tertiären Formationen repräsentirt sind.
„Aus dem Gesichtspunkt der Entwickelungshypothese»
ist die Annahme geboten, dass die Reptilien von einem-,
gemeinsamen Stamme ausgegangen sind, und ich sehe^
keine Berechtigung für die Ansicht, dass diese Diver-
genz vor der Trias bedeutender* gewesen sei, als sie-
zu irgendeiner spätem Zeit gewesen ist. Folglich
müssen, wenn die Annäherung der ältestbekannten Ver-
treter der verschiedenen Ordnungen aneinander sehr
gering ist, Reptilien schon vor der Trias eine Zeit
* Muss wol heissen unbedeutender?
16*
244 Stammbaum
hindurch gelebt haben, mit welcher verglichen der
von der Trias bis heute verflossene Zeitraum gering
ist — die Reptilien müssen, mit andern Worten, weit
zurück in der paläozoischen Periode aufgetreten sein."
Die Vergleichung weist uns also in Zeiten zurück,
aus denen keine Kunde zu sicherer Ableitung jener
Klasse vorliegt. Selbst die Ichthyosaurier und
Plesiosaurier, welche so oft zusammen genannt wer-
den, gehen in sehr wesentlichen, ihren etwaigen ge-
meinsamen Ursprung weit hinausrückenden Charakteren
auseinander. Wir erwähnen nur die ganz flossenarti-
gen Extremitäten der erstem, welche in der Hand
noch den Fischtypus an sich tragen. Wir werden also
nur im allgemeinen auf solche Mischformen zurück-
gewiesen, welche sich ähnlich wie die Labyrinthodon-
ten verhalten haben mögen, ja es muss sogar die
Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Ichthyosaurier
allein, oder auch mit ihnen die Plesiosaurier unab-
hängig von den übrigen Aesten des Eeptilstammes
sich selbständig von Fischformen abgezweigt haben,
welcher Eventualität in dem Stammbaum auf S. 232
Rechnung getragen ist. Eine gewisse Aehnlichkeit mit
dem Schädel der Schildkröten zeigt derjenige der
Dicynodonten. Auch bei ihnen waren die Kiefer,
wie sich aus ihrer Gestalt ergibt, offenbar mit Horn-
scheiden überzogen; zugleich aber enthält der Ober-
kiefer zwei mächtige Hauzähne, und an einen directen
Uebergang der in der Trias erscheinenden Dicynodon-
ten in die spätere Schildkröte ist kaum zu denken.
Die altern Formen der Krokodile zeigen in einigen
Punkten des Schädels sowie der Stellung der hintern
Nasenöffhungen einen Anschluss an die Eidechsen, aus
deren altern unbekannten Formen sie sich wahrschein-
lich abgezweigt haben. Auch die Flugeidechsen
oder Pterosaurier dürften eine Abzweigung der Eidech-
sen sein. Sie haben durch Anpassung einige Eigen-
schaften erlangt, Gestalt und Leichtigkeit des Kopfes,
Schlankheit und Pneumaticität der Röhrenknochen, die
der Reptilien. 245
sie mit den Vögeln theilen. Aber nicht in ihnen, äon-
dern in der Abtheilung, welche Huxley, unter Zu-
sammenfassung mehrerer Familien , Ornithosceliden,
d. i. Eeptilien mit Vogelbeinen, nennt, sind die eigent-
lichen Vorfahren der Vögel zu suchen. Denn in ihnen
bereitet sich einer der wichtigsten Charaktere der
Vögel theils vor, sodass seine Entstehung auch noch
im ausgewachsenen Thier erkennbar bleibt, theils voll-
zieht sie sich, wie in der Gattung Campsognathus.
Es ist jene von uns schon auf Seite 9 betrachtete
Eigenthümlichkeit, dass der obere Theil der Fuss-
wurzel mit dem Unterschenkel, der untere mit dem
Mittelfusse verschmilzt, und dass mithin das Fersen-
gelenk in die Fusswurzel hineingelegt wird.
Alle lebenden Reptilien unterscheiden sich durch
einige, ihre Entwickelung begleitenden Erscheinungen
scharf von den Amphibien und Fischen; sie besitzen
zwei den Embryo umhüllende Organe, das Amnion,
welches wesentlich eine Schutzhülle des sich ent-
wickelnden Wesens ist, und die Allantois, wodurch
der fötale Kreislauf, Ernährung und Athmung geregelt
und vermittelt wird. Wir finden bei den Fröschen
Andeutungen wenigstens der Allantois und müssen vor-
aussetzen, dass der grösste Theil der fossilen Reptilien
sich schon diesen Fortschritt der Gesammtorganisation
angeeignet hatte. Ein Fortschritt nämlich liegt darin,
dass die mit Amnion und Allantois sich entwickelnden
Thiere während des embryonalen Stadiums weiter
kommen als die niedrigen Wirbelthiere , dass sie mit-
hin widerstandsfähiger das Ei verlassen. Wir müssen
auch deshalb die Aneignung des Amnion und der
Allantois in die entlegenen Perioden der Amphibien-
und Reptilienentwickelung versetzen, weil sowol die
Vögel, welche von echten Reptilien abstammen, als die
Säugethiere, welche von wahren Reptilien nicht ab-
stammen können, mit ihnen im Besitz jener embryo-
nalen Hüllen und Organe sind.
Die Vögel schliessen sich anatomisch so eng an die
246 Stammbaum
Reptilien an, dass Huxley, welcher die Vergleichung
am schärfsten durchgeführt hat, beide Klassen zu einer
grössern systematischen Einheit unter dem Namen
Sauropsida, d. i.- eidechsenähnliche Thiere, zusam-
menfasste. Eine Eidechsenschuppe und eine Feder
scheinen zwei gänzlich verschiedene Dinge zu sein;
sie sind aber in ihrer ersten Anlage völlig gleich, und
die Feder hat eine weit grössere Uebereinstimmung
mit der Schuppe als mit dem Haar. Die Befiederung,
welche dem Vogel einen specifischen Charakter auf-
zudrücken scheint, ist also aus der Schuppenbildung
abzuleiten. Von den innem weichen Organen wollen
wir nur Herz und Lungen hervorheben. Alle altern
Zoologen stellten das Vogelherz dem Säugethier- und
Menschenherzen gleich; es ist jedoch in seinen spe-
ciellen Einrichtungen nur aus dem Reptilienherzen zu
verstehen, und die Luftröhre verästelt sich .nicht
gabelig-baumförmig wie beim Säugethier. Dass in den
Reptilien ein allmählicher Uebergang zum Vogelbein
vorliegt, ist wiederholt hervorgehoben. Auch das
Becken des Vogels, welches durch die Länge der
Scham- und Sitzbeine auffällt und vorn offen ist, stellt
nur eine geringe Weiterentwickelung der Beckenbildung
vor, welche schon verschiedene Omithosceliden zeigen.
So sagt Huxley vom Sitzbein des Hypsilophodon, dass
„die bemerkenswerthe Schmalheit und Verlängerung
diesem Knochen einen ganz wunderbar vogelartigen
Charakter gebe". Am Schädel endlich sind die Eigen-
thümlichkeiten , welche der Vogel im Gegensatz zum
Säugethier besitzt, wie der einfache Gelenkhöcker am
Hinterhaupt, das Quadratbein, die besondere Form
des Schneckentheiles des Gehörlabyrinthes, die Zu-
sammensetzung des Unterkiefers und seine Einlenkung
am Schädel durch Vermittelung des Quadratbeines u. s.w.,
nicht specielle Vogel-, sondern allgemeine Reptilien-
charaktere. Diese Gleichheit des Reptilien- und Vogel-
typus wird schon vollkommen klar aus der Vergleichung
lebender Vögel mit lebenden Reptilien. Der Beweis
f|ä|i!if,if°ch
*-*-
248 Stammbaum der Vögel
altern vorweltlichen Vögel befanden, ist durch eine
Entdeckung des amerikanischen Naturforschers Marsh^^
ein Ende gemacht. Er fand in der obem Kreide von
Kansas die Reste zweier Gattungen von Vögeln, die
einmal durch ihre biconcaven Wirbel an die Merkmale
der altern Keptilien erinnern und schon damit als
höchst werthvoUe Zwischenstufen sich darstellen, die
aber auch ferner in beiden Kiefern Zähne trugen. Die-
selben sind klein und spitz, und waren so zahlreich,,
dass im Unterkiefer des Ichthyornis dispar genannten
Thieres jederseits zwanzig gezählt werden konnten.
Somit sind wir heute über die Verwandtschaft der
Vögel nach aussen vollständig im Reinen. Der Vogel
ist ein dem Luftleben angepasstes Reptil, und die-
jenigen Vögel, die wir dem Fluge mehr entfremdet
sehen, haben die mit der geringern oder grossem
Flugunfahigkeit verbundenen Eigenschaften erst im
Wege der Rückbildung erworben. Desto schlimmer
sieht es mit der innern Ordnung dieser Thierklasse
aus. Mit einer gewissen Sicherheit lässt sich theils
aus der geographischen Verbreitung, theils aus ana-
tomischen Merkmalen , namentlich des Schädels, folgern^
dass die straussenartigen Vögel nicht etwa wegen ihrer
Schenkelstärke und Geschicklichkeit im Laufen die
jüngsten, wol gar den Säugethieren am nächsten
stehenden Mitglieder ihrer Klasse, sondern dass sie
die ältesten der jetzt lebenden sind. Die Art der
UnvoUkommenheit ihrer Flügel weist, wie gesagt^
darauf hin, dass dieselben sich im Zustande der Ver-
kümmerung und Rückbildung befinden. Ueber diese
allgemeine Erfahrung kommt man nicht hinaus. Hat
man den Vogel als ein Flugthier im Auge, so sind
natürlich von diesem Gesichtspunkt aus diejenigen die
höchsten im Range, welche am besten fliegen gelernt
haben. Diese Palme kommt bekanntlich im allgemei-
nen den Raubvögeln zu, obschon auch andere Ord-
nungen an hervorragenden Fliegern nicht arm sind.
Brehm und andere halten die Papagaien wegen ihrer
und Säugethiere. 249
Gelehrigkeit für die höchsten Vögel. Aber das alles
ist Willkür und kann nur zufällig in einzelnen Thei-
len der wahren, noch unbekannten Verzweigung des
Vogelastes am Stammbaum der Wirbelthiere ent-
sprechen.
Die ältesten Keste von Säugethieren sind aus der
Trias bekannt; etwas häufiger kommen sie in den
mittlem mesozoischen Schichten vor, und sie alle ge-
hören B^utelthieren an. Da nun die Beutler im Ver-
gleich zk den niedern Wirbelthierklassen, von denen
sie abgeleitet werden müssen, sehr hoch entwickelt
sind und wir in den Monotremen (Schnabelthier und
Schnabeligel) Säugethiere besitzen, welche offenbar weit
unter den Beutlern stehen, so sind wir hinsichtlich
des Ursprunges der Säuger lediglich auf Vermuthungen
und Schlüsse angewiesen. Diese führen auf amphibien-
artige Wesen, in denen gewisse Eigenthümlichkeiten
des Schädels der Säugethiere, z. B. der doppelte Ge-
lenkknopf am Hinterhaupte, vorgebildet waren, und
welche durch Amnios- und AUantoisbildung sich den
eigentlichen Keptilien näherten. Diese Vorfahren der
Säugethiere sind jedoch in keiner der jetzt existiren-
den Ordnungen der Eeptilien oder Amphibien noch
repräsentirt. Auch der Stammbaum (S. 250), in welchem
wir die genauer bekannten fossilen und die jetzt leben-
den Säuger gruppiren, enthält erhebliche Lücken und
beruht zu einem guten Theile auf Hypothese, gibt
aber doch ein annähernd wahrscheinlich richtiges Bild
über die Blutsverwandtschaft der Ordnungen und muss,
verglichen mit dem System, wie es vor dem Wieder-
aufleben der Descendenzlehre in den Lehrbüchern auf-
gebaut wurde, als ein grosser, gedankenvoller Fort-
schritt gelten.
Die auf Australien mit Tasmanien beschränkten
Monotremen (Ornithorhynchus, Echidna) sind in An-
betracht ihres Schädelbaues, der Beschaffenheit des
Schulter gürteis und der auf dem embryonalen Stadium
der übrigen Säugethiere verharrenden Einmündung der
250
Stammbaum
OQ
O
o
B
9
S
der Säugethiere. 251
Darm-, Harn- und Geschlechtswege in eine Kloake
die niedrigsten Glieder ihrer Klasse, und müssen als
-ein Rest einer aus unbestimmbaren Zeiten in die Gegen-
-wart hineinragenden Abtheilung angesehen werden.
Cs ist zu vermuthen, dass sich aus einer ähnlichen
Stufe die Beutel thiere entwickelt haben. Die An-
passungsfähigkeit dieser letztem hat sich hauptsächlich
in Australien bewährt, wo die Unterabtheilungen der
Ordnung, welche gewöhnlich als Familien bezeichnet
-werden, nach Zahnbildung und Lebensweise sich analog
zu verschiedenen derjenigen Ordnungen entwickelt
haben, die auf dem zweiten grossen Schauplatze der
Säugethierentwickelung, auf der nördlichen Halbkugel,
auftreten.
Im Skelet weit vorgeschritten vor den Monotremen
bleiben sie im Fortpflanzungssystem auf einer niedrigen
Stufe und theilen mit den Monotremen die Placenta-
losigkeit. Die embryonalen Blutgefässe treten nämlich
nicht in jene enge Beziehung zu den Blutgefässen des
mütterlichen Fruchthalters, wodurch die vollständigere
Ausbildung der übrigen Säuger im Mutterschose er-
möglicht ist. Durch diesen Charakter und die damit
verbundene Beutelbildung behufs des Austragens der
unreif geborenen Jungen werden die, wie erwähnt,
gleich den übrigen Ordnungen auseinander gehenden
Familien der Beutler zusammengehalten.
Abgesehen also von den beiden obengenannten
Ordnungen ist bei den übrigen Säugethieren der Em-
bryo durch die sogenannte Placenta mit dem mütter-
lichen Organismus verbunden. Die vermittels der
AUantois an die Wandung des Uterus gelangenden
Blutgefässe des sich entwickelnden Jungen bilden Zotten
und Schlingen, zwischen welche ähnliche Auswüchse
und Anhänge der Blutgefässe des Fruchthalters hinein-
wachsen, sodass durch die Wandungen der sich be-
rührenden Blutgefässe hindurch ein reichlicher Aus-
tausch der beiderseitigen Flüssigkeiten und damit eine
1 längere Ernährung und eine weitere, vollkommenere
252 ' Stammbaum
Ausbildung des Fötus stattfindet. Der höhere, in den
anatomischen Verhältnissen schon meist klar ausgespro-
chene Charakter der placentalen Säugethiere
findet also seine Begründung in dem Vorhandensein
des Fruchtkuchens. Indessen fehlen alle Zwischen-
stufen , die auf den directen üebergang von placenta-
losen zu placentalen Säugern mit Sicherheit schliessen
liessen. Die offenbar niedrigsten unter den placen-
talen Säugethieren , die Zahnlosen (Edentaten, Bruta)
stehen zu den Beutlern so ausser aller nähern mor-
phologischen Beziehung, dass wir nur ganz allgemein
mit dem Hinweis und der durch die geographische
Verbreitung und Geologie unterstützten Wahrschein-
lichkeit uns begnügen müssen, dass die Edentaten
einen sehr alten Ast der Placentalien repräsentiren.
Es sind, wie wir schon im zehnten Abschnitt gesehen,
versprengte Ueberreste, die nur gezwungen sich in
eine Ordnung fügen. Faulthier, Gürtelthier, Ameisen-
fresser sind unter sich mindestens so verschieden, wie
Nager, Insektenfresser und Fledermäuse. Die Descen-
denzlehre bethätigt, indem sie mit diesen Bruchstücken
einer untergegangenen Thierwelt nichts anzufangen
weiss, nicht ihre Unfähigkeit, sondern steht wegen
Mangels an Material gegenwärtig vor einer Unmög-
lichkeit.
Um den Verwandtschaftsverhältnissen der übrigen
Ordnungen auf den Grund zu kommen, hat die neuere
Systematik, auch die Descendenzsystematik , grosses
Gewicht auf die An- oder Abwesenheit der sogenann-
ten Decidua legen zu müssen geglaubt. Dies bedarf
einer kurzen Erörterung. Bei zahlreichen Ordnungen
der Säuger wachsen die gefässreichen Wucherungen
und Zotten der Wandung des Fruchthalters so fest in
den fötalen Theil der Placenta hinein, dass bei der
Geburt diese gesammte Hautschicht des Fruchthalters
sich ablöst und mit ausgestossen wird. Bei den an-
dern legen sich die beiderseitigen Gefässzotten nicht
so eng aneinander, sie weichen bei der Geburt ohne
der Säugethiere. 253
grössere Zerreissungen, und es wird mithin keine ab-
fallende Haut (Membrana decidua) ausgestossen. Nun
sind, wie mir scheint, die speciellen Verhältnisse der
Deciduabildung noch viel zu wenig verglichen, als dass
man von der blossen Thatsache, dass Theile der Wan-
dung des Fruchthalters bei dem Geburtsacte verloren
gehen, auf nähere Verwandtschaft schliessen müsste.
Vielmehr muss von vornherein zugegeben werden, dass ab-
hängig von Nebenumständen der verschiedensten Art, und
daher bei entfernt verwandten oder überhaupt nur als
placentale Säuger verwandten Ordnungen, eine Deci-
dnalbildung auftreten könne. Wir halten daher die
Decidua für ein untergeordnetes systematisches Moment,
wo anatomische und morphologische widersprechen.
Wir gehen noch weiter. Die neuere Systematik be-
nutzt auch die Form der Placenta zur Gruppirung
der Ordnungen. Wenn man nun unter den Deciduaten
als Ordnungen mit scheibenförmiger Placenta die Halb-
affen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen
zusammenstellt, so wird diese Vereinigung allerdings
durch eine Reihe anderer Gründe gestützt, und es ist
alle Wahrscheinlichkeit, dass die Form der Placenta
innerhalb dieser Ordnungsgruppe auf Homologie, d. i.
auf Abstammung beruht. Wenn aber ferner als Ord-
nungen mit gürtelförmiger Placenta aufgeführt werden
die B-aubthiere, Elefanten und die Klippschliefer (Hyrax),
so befinden wir uns in derselben Lage, wie da, wo
die Decidua über die nähere Zusammengehörigkeit
entacheiden sollte , und meinen , dass die untergeordnete
Form der Placenta auf verschiedenem Wege in analoger
Weise zu Stande kommen konnte, gleich wie sie inner-
halb der sicher begründeten Abtheilung der Hufthiere
zu verschiedenem Aussehen sich entwickelt hat. Wir
können, um unsere Ansicht mit einigen Beispielen zu
belegen, allerdings über die Abstammung der Rüssel-
träger nichts Sicheres angeben. Dass jedoch durch
die übliche Zusammenstellung wegen der gürtelförmigen
Placenta absolut nichts gesagt ist, ist ebenso sicher.
254
Stammbaum
Man wird aber der Wahrheit näher kommen, wenn
man den Zweig unbekannten Ursprunges schematisch
demjenigen der Hufthiere näher bringt, als demjenigen
der Raubthiere. Wenn man nun ferner die Wale als deci-
dualose Säuger den Hufthieren näher verwandt hält als
die Carnivoren, welche eine Decidua haben, so entscheidet
dieser Umstand in unsem Augen nicht, da gewichtigere
Gründe dafür sprechen , dass von rftubthierähnlichen Gat-
tungen aus die Entwickelung der Wale begonnen hat*
Schon in der Darlegung der geographischen Ver-
breitung der Thiere hatten wir Gelegenheit, uns von
Rütimeyer über die Verwandtschaftsverhältnisse, nament-
lich der Hufthiere, unterrichten zu lassen. Für keine
r
Nashome Tapire
Pferde
Hipparion
Macraucheni&
Anchitherium
Paläotheriden
andere Abtheilung liegt ein so reiches fossiles Material
vor. Wir treffen in den altem Tertiärschichten die
Reste zweier Hufthierfamilien an, der Paläotheriden
und Anoplotheriden, welche wesentlich in der Be-
zahnung sich unterscheiden und der Ausgangspunkt der
heute zum Theil sehr isölirt erscheinenden Gruppen
der Hufthiere gewesen sind. Die Wurzel, aufweiche
jene beiden Familien zurückführen, ist unbekannt, da-
gegen erhellt theils aus der directen Vergleichung der
betreffenden Gattungen mit den heutigen Hufthieren,
theils durch zahlreiche Mittelglieder aus dem Miocän,
aber
l^ferde
256
Stammbaum
Die Tapire sind in der Beschaffenheit der Backzähne
dem Stammtypus am treuesten geblieben. Der Um-
stand, dass der Tapir vom vier Zehen hat, während
die uns bekannten Paläotherien drei besitzen, beweist
jedoch, dass nicht die Gattung Paläotherium selbst
der Stammvater der Tapire sein kann. Denn die An-
nahme , dass der Tapir die vierte Zehe erworben habe,
widerspricht aller Erfahrung über die Extremitäten-
bildung. Auch die Rhinocerote sind vorn vierzehig,
und es wird ihre nähere Verwandtschaft mit den Ta-
piren durch den Zehenbau und eine Reihe von Einzel-
heiten des Skelets bewiesen.
Plnsspferde Schweine Tragaliden Hirsche Antilopen Binder
Anoplotheriden
Eine isolirte Abzweigung der Paläotheriden scheint
die fossile Gattung Macrauchenia zu sein, welche
Merkmale der Pferde und der Rhinocerote mit denen
der Kamele verbindet. Inwiefern die letztem als
Wiederkäuer etwa direct mit den Macrauchenien zu-
sammenhängen, oder ihre den Pferden sich nähernde
Schädelbildung auf wahre Homologien hinweist, lässt
sich zur Zeit nicht sagen.
Auch die Anoplotheriden zeichnen sich durch eine
gewisse Indifferenz des Zahnbaues aus, von wo eine
Reihe von Specialbildungen nach verschiedenen Rich-
tungen ausgehen konnten. In gerader Linie stammen
der Säugethiere. 257
von ihnen die Traguli den ab, eine kleine Gruppe,
welche den Moschusthieren ähnelt und auf Südafrika
und Südasien beschränkt ist. Als Wiederkäuer schliessen
sie sich enger an die übrigen bekannten typischen
Ruminantien an, auf der andern Seite nehmen sie 6ine
Vermittelnde Stellung zu den übrigen nicht wieder-
käuenden und in der Vorwelt mit jenen durch die
Anoplotheridön vereinigten Mitgliedern der ganzen Ab-
theilung ein. Die Suiden oder Schweine artigen
Thiere waren in der Eocän- und' Miocänzeit sehr
reich vertreten. Einem Seitenast dieser zu den Ano-
plotheriden hinablangenden Vorgänger entstammen die
Flusspferde oder Hippopotamiden. Die Function
des Wiederkauens ist bekanntlich an eine complicirte
Structur des Magens gebunden, sowie an besondere
Vorrichtungen der Schlundrinne% Es lässt sich natür-
lich nicht bestimmen, bei welchen fossilen Thieren
diese Einrichtungen begonnen haben ,^ doch scheint es
sehr früh geschehen zu sein, indem möglicherweise der
zusammengesetztere Bau einiger nicht wiederkäuenden
Crattungen, wie von Hippopotamus und dem Nabel-
schwein, von den Zeiten der Anoplotheriden her ererbt
sind, und die so augenfällige Uebereinstimmung der
wiederkäuenden Traguliden mit den Anoplotherien
letztere mit ziemlicher Sicherheit zu Wiederkäuern
stempelt.
Sehen wir von den schon oben erwähnten, ihrer
Stellung nach unsichem Kamelen .ab, so zerfallen die
typischen Wiederkäuer in die hirschartigen und in
die hörnertragenden. Durch die ungehörnten Moschus-
thiere sind die Hirsche mit den Traguliden und den
altern Gattungen verbunden. Einen Seitenzweig bil-
den die Giraffen. Wenn aber auch in dem der
Giraffe nahe stehenden, einst auf athenischem Boden
heerdenweise lebenden Helladotherium und in dem in
den Vorbergen des Himalaya gefundenen kolossalen
Sivatherium die in der Jetztwelt ganz unvermittelte
Schmidt, Descendenzlehre. 17
258 Staminbaum
Stellung der Giraffe etwas ausgeglichen wird, bleibt
das Nähere ihrer Abstammung doch noch sehr unklar*
Von den Antilopen zu den sich eng an sie an-
schliessenden, voneinander kaum zu trennenden Gat-
tungen Ziege und Schaf, sowie zu den Bindern
bieten sowol die systelmatische als die paläontologische
Reihe, als auch die ontogenetischen Stufen diejenigen
Uebergänge dar, aus denen die Stammverwandtschaft
unwiderleglich hervorgeht. Höchst interessant ist, ausser
den auch hier von Kütimeyer im Detail verfolgten
Beziehungen des Milchgebisses der Tochtergattungen zu
den Stammgattungen , die allmähliche Umgestaltung des
Schädels, welche in den Rindern ihF Extrem erreicht,
und von Antilope und Schaf durch Ovibos, Bubalus
(Büffel), Bison (Auer), zu Bos (Ochs) fortschreitet. Im
letztern erreicht die steile Stellung der Scheitelbeine
ihren äussersten Grad, und diese Umgestaltung des
Antilopenschädels wiederholt sich individuell im Kalbe.
Die gewöhnliche Zusammenstellung der Sirenen
oder Seekühe mit den Walen war entschieden ein
systematischer Misgriff, hervorgegangen aus der ein-,
seitigen und dazu nur oberflächlichen Berücksichtigung
der Bewegungsorgane. Alle übrigen charakteristischen
Merkmale, vor allen Dingen der Bau des Schädels
und die Beschaffenheit der Zähne entfernen sie ebenso
von den Walen, als sie dieselben den Hufthieren nähern.
Wir haben schon im Flusspferd ein fast zum Wasser-
thier gewordenes Mitglied dieser Ordnung. Von an-
dern unbekannten und wahrscheinlich sehr früh ab-
gezweigten Gattungen ausgehend, haben wir uns die
Entstehung der Sirenen zu denken.
Eine sehr ungewisse Stellung nehmen die Hyra-
coiden ein, gegenwärtig nur durch einige Arten der
Gattung Klippdachs (Hyrax) repräsentirt. Wenn man
sagt , dass ihre Merkmale theils an die Hufthiere , theils
an die Nager, theils an die Insektenfresser erinnern,
so ist damit keine Aufklärung gegeben. Bei der
grossen Wichtigkeit, welche die Backzähne für die
der Säugethiere. 259
Entscheidung der Abstammung haben, ist wol der
grösste Nachdruck auf die Aehnlickeit derselben bei
Hyrax mit denen des Nash<»rns zu legen , und wir be-
trachten mithin die Klippdachse als einen Ableger eines
alten Hufthierstammes.
Hinsichtlich der Vorfahren der Rüsselträger ent-
halten wir uns jeder Vermuthung.
Später als die Pflanzenfresser scheinen die Fleisch-
fresser und insonderheit die Kaubthiere auf dem
Schauplatz der arktischen Thierwelt erschienen zu sein.
Gibt man die Möglichkeit zu, wie man wol nicht
anders kann, dass Placentabildungen auf verschiedenem
Wege entstanden sind, so liegt auch die Möglichkeit
vor, dass' die Fleischfresser, und freilich auch andere
Ordnungen, wie namentlich die Nager, directe Ab-
kommen fleischfressender Beutler sind. Die ältesten
bekannten Raubthiere sind katzenähnlich oder gleichen
den Viverren und Hyänen. Dann kommen die Hunde,
und am spätesten die Bärenartigen. Ein Seitenast
sind die Seehunde nach Schädel, Q^biss und Ex-
tremitäten. Ohne dass an eine speciellere Verwandt-
schaft der Ottern mit den Robben gedacht werden
kann, erleichtert doch die Vergleichung dieser bei-
den miteinander die Vorstellung, wie aus wahren
Raubthieren und Landthieren die seltsame Gestalt der
Seehunde hervorgehen musste.
Wenn sich unsere oben ausgesprochene Vermuthung,
dass die Zerreissungen und Abstossungen im Bereiche
der Placenta, welche die Erscheinung der Decidua
bilden, in stammverwandten Gruppen sehr verschieden-
artig ausfallen und in nicht näher verwandten ähnlich
werden können, bestätigen sollte, so würden in un-
serm Stammbaume die Wale in der Nähe der Raub-
thiere ihren Platz finden. Zwischen einem Löwen und
einem Bartenwal liegt freilich in Winkelform eine un-
übersehbare Anzahl von Zwischenformen. Wir haben
uns aber immer gegenwärtig zu halten, dass es sich
nicht um die Ueberbrückung der Lücken zwischen den
17*
260 Stammbaum
heutigen, die Enden der Entwickelungsreihen vor-
stellenden extremen Formen handelt , sondern um daa
Auffinden der Ausgangs- und Knotenpunkte.. Fossile
walartige Thiere kennt man aus der Tertiärzeit, so
Zeuglodon und Squalodon. Die vorzüglich erhaltenen
Reste der erstem kolossalen Gattung werden in Berlin
aufbewahrt, wo Johannes Müller ihre Beziehungen
theils zu den Bobben, theils zu den Walen entdeckte.
Die Bezahnung ist robbeuartig, im Skelet manches :wie
bei den Walen, und obgleich den Zeuglodonten einö^.
grosse Reihe von Arten vorangegangen, und eine, wenn
auch weniger lange, doch immer noch ansehnlichQ-
Reihe gefolgt sein muss, ehe die heutigen Wale daraus
hervorgingen, so erscheint eine solche Entwickelung
doch höchst wahrscheinlich und natürlich. Die altern
Glieder der eigentlichen Wale sind, wegen der noch'
vollständigen Bezahnung und der noch verhältniss-
massigen Dimensionen des Schädels,, die Delphine.
Ihnen haben sich die Potwale oder Physeteren an-
geschlossen, und das späteste Glied sind die Barten-
wale. Das geht daraus hervor, weil die Barten sich
erst dann entwickeln, nachdem in den Kiefern des
Embryo hinfällige Zähne zum Vorschein gekommea
waren, ein Erbtheil von den reichlich und zeitlebens
bezahnten Vorfahren.
In den sogenannten Halbaffen oder Lemuriden
vereinigt das System die heterogenen Reste einer Thier-
gesellschaft,' welche man wegen der greifenden, mit
einem opponirbaren Daumen versehenen Hinterfüsse für
Ordnungsgenossen der „eigentlichen^' Affen hielt. Das
sie zusammenhaltende Band ist nicht ihre anatomische
Beschaffenheit — sie gehen in Schädelform und Be-
zahnung weit auseinander — , sondern mehr ihr geogra-
phisches , auf Madagascar und einige vorgeschobene
Posten Asiens beschränktes Vorkommen; auch hat man
sich, was allerdings sehr unwissenschaftlich, durch einen
gewissen besonders fremdartigen Eindruck, den sie auf
den Beobachter machen, leiten lassen., Ihre Gehirn-
der Säuge thiere. 261
beschaffenlieit weiöt' ihnen auf der Leiter der Säuge-
thiere eine sehr tiefe Stufe an. Da sie nun nicht in
ihrer Gesammtheit Beziehungen zu einer bestimmten
Ordnung der Säuger zeigen, sondern nach deii ein-
zelnen Gattungen auf diejenigen Ordnungen weisen,
welche allesammt mit ihnen eine kreisförmige Placenta
besitzen, so sprechen die meisten Gründe für die An-
nahme, dass die jetzt lebenden Lemuriden die letzten
wenig veränderten. Ausläufer einer einst viel reicher
entfalteten Abtheilung der Säugethierwelt, und dass
Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen Zweige
dieses Astes sind.
Die Nager sind darum besonders interessant, weil
sie mit zäher Festhaltung der höchst charakteristisch
ausgebildeten und von mehrern Eigenthümlichkeiten
des Schädels begleiteten Bezahnung die ausserordent-
lichste Anpassungsfähigkeit an Baum und Steppen-
boden, Land und "Wasser zeigen. Die Insekten-
fresser, obwol nicht entfernt so reich an Arten;
bieten ein ähnliches Bild der Anpassungen dar, wodurch
ihre Gattungen gleichsam zu Wiederholungen von Na-
gern geworden sind; und die Fledermäuse können
in ihrer am zahlreichsten vertretenen Abtheilung als
ein Seitenzweig der Insektenfresser angesehen werden,
wenn sie nicht direct aus halbaffenähnlichen Thieren
hervorgegangen sind.
Zu welcher geologischen Periode die Herausbildung
von Affen aus lemuridenartigen Formen geschehen,
wissen wir nicht. Die wenigen bekannt gewordenen
fossilen Affen gehören höhern Affenfamilien an und setzen
eine lange Reihe von Ahnen voraus. Zu derselben
Voraussetzung nöthigt die geographische Isolirung der
amerikanischen von den altweltlichen Affen, welche
mit erheblichen anatomischen Differenzen verbunden
ist, ohne dass es dem Zoologen und vergleichenden
Anatomen einfallen könnte, ihre engste systematische
Zusammengehörigkeit zu leugnen.
262 I>er Mensch als Object
Das Yerhältmss der niedrigem Affen zii den hohem
bedarf noch weiterer Erörterungen, welche wir mit
der Besprechung des Verhältnisses des Menschen zu
den Affen verbinden.
XII.
Der Mensch.
Wenn Goethe einmal äussert: „Wir tasten ewig <an
Problemen. Der Mensch ist ein dunkles Wesen; er
weiss wenig von der Welt und am wenigsten von sich
selbst" '*, so wiederholt er ungeföhr, was J. J Rousseau
im Emil sagt^': „Wir haben keinen Massstab für diese
ungeheuere Maschine (der Welt); wir können die Be-
ziehungen derselben nicht der Rechnung unterwerfen;
wir kennen weder ihre Grundgesetze noch ihren End^
zweck; wir kennen uns selbst nicht; wir kennen weder
unsere Natur, noch das in uns thätige Princip."
Solche und ähnliche Citate hält man uns gern ent-
gegen, um damit die Behauptungen über die Beschränkt-
heit unsers Erkenntnissvermögens und die Grenzen
der Wissenschaft mundgerecht zu machen und zu be-
kräftigen. Allein dem vortrefflichen J. J. Rousseau
können wir in der Anthropologie unmöglich eine grössere
Autorität als einem Kirchenvater beimessen, und dem
Goethe, dessen gelegentlich hingeworfene Worte Ecker-
mann der Nachwelt überliefert, stellen wir den andern
Goethe entgegen, welcher im Vollgefühl der Jugend-
kraft ausruft:
Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich
fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich
aufschwang.
Nachzudenken — so
und welcher die schönste Organisation, wie er den
Menschen nennt , in völliger Harmonie mit jenem höch-
sten Gedanken begreift.
der Abstammungslehre. 263
Unsem bisherigen Betrachtangen nnd Ausführungeü
mrürde der Abschluss mangeln, sollte der Mensöh aus-
;^e8ohlo8sen sein, sollte nicht alles, was über Werden
und Zusammenhang der Thierheit gesagt ist, auch für
•die Erkenntniss seines Wesens unmittelbar verwandt
^werden können und müssen. Alles Unbehagen an der
Abstammungslehre , der Zweifel an derselben , der Zorn
über sie concentrirt sich auf ihre Anwendbarkeit und
-vollzogene Anwendung auf den Menschen. Und wenn
man uns auch nothgedrungen die Leiblichkeit preisgibt,
«o soll wenigstens die geistige Sphäre des Menschen
•ein Unerforschliches, ein Noli tangere für die Natur-
forschung sein. Vor einigen Jahren noch hatten die
Oegner der Descendenzlehre den Trost, dass Darwin
selbst über den Mensehen sich nicht direct ausgespro-
chen. Man eiferte über seine Anhänger, welche Dar-
win überdarwint hätten. Dazu kam das unglückselige
Misverstftndniss, als ob die Yertheidiger der Descen-
•denzlehre das Menschengeschlecht aus d^ Veredlung
vom Orang, Schimpanse oder Gorilla, kurz, von noch
lebenden Affetf hervorgehen Hessen.
Aber jeder einigermassen logische Denker musste
vom ersten Auftauchen der darwinistischen Lehre an
•den Menschen ebenfalls als veränderlich und aus der
Veränderlichkeit der Arten hervorgegangen ansehen;
und nun hat uns auch Darwin in seinem Werke „Ueber
•die Abstammung des Menschen^^ gesagt, warum er
■diesen selbstverständlichen Schluss nicht schon in sei-
ner ersten Schrift ausgesprochen habe: er wollte da-
durch nicht die Vorurtheile gegen seine Ansicht ver-
stärken und herausfordern; er verschwieg den Schluss
Als ein Kenner der menschlichen Schwachheit. „Es
schien mir hinreichend'^, sagt er, „in der ersten Aus-
gabe meiner «Entstehung der Arten» darauf hinzuwei-
sen, dass durch dies Buch Licht auf den Ursprung des
Menschen und seine Geschichte geworfen werden würde,
und dies schliesst doch den Gedanken ein, dass der
Mensch mit andern organischen Wesen bei jedem all-
264 Vorläufige », . .
gemeinen Schlüsse in Bezug auf die Art seiner Erscbei»
nui^g auf der Erde inbegriffen sein müsse."
Ja, noch weiter ist nun Darwin selbst gegangen; er-
bat zum Entsetzen aller, die sich den Menschen kauipk
anders ^,ls rasirt und mit dem Complimentirbuch er-
schaffen denken können^ ein allerdings nicht schmeichel-
haftes und in manchen Stücken vielleicht auch nicht
zutreffendes Pori^ät unserer muthmasslichen Vorfahren
entworfeii, auf der Stufe, wo die Menschwerdung erst
im Zuge.
Ehe wir das ernste Thema ernst behandeln, ge-
statten wir uns , ein leichteres Urtheil eines geistreichen
Feuilletonisten voranzustellen.^^ „Nehmen wir, blo»
zu^ Scherz., an, die Natur, welche wir immer und
überall vpm Einfachsten bis zum Zusammengesetzten,,
vom Niedrigen zum Höhern schreiten sehen, hätte die-
sem Gesetze nicht angesichts des Menschen plötzlich
.entsagt; sie hätte seinetwegen nicht ihre Entwicklung
plötzlich aufgegeben; sie hätte in ihm nicht plötzlich
eine neue Schöpfung begonnen, sondern sie wäre
hierbei wie bei allem übrigen hübsch sachte, allmäh-
lich, natürlich vorgegangen, und der Mensch wäre
demnach nichts als das letzte Glied der endlosen Reihe
von Thieren, nichts als ein «entwickelter Affe». Da&
Erste, was sich uns dann aufdränge, würde die Be-
merkung sein, dass in den Thatsachen dadurch nicht
das Geringste geändert sei, dass der Mensch ganz der-
selbe bliebe, der er ist, mit derselben Gestalt, demr
selben Gesicht, demselben Gang; denselben Geberden,
denselben Anlagen, Kräften, Gefühlen, Gedanken, und
mit derselben Herrschaft über den Affen, wie bisher.
Di^s ist sehr einfach, sehr selbstverständlich, aber auch
sehr wichtig. Denn es gibt ihm, dem Menschen, die
starke Empfindung davon, dass er, sowie er jetzt ist,
ein ganz eigen geartetes, auch von den verwandtesten
Geschöpfen sehr verschiedenes Wesen, und dasö diese
Eigenart zugleich sein eigenstes Eigenthum ist, er
mag es nun als ein fertiges Geschenk empfangen oder
FolgfetuBgen. '■ 265
168 aus einem niedem Zustande mühsam in Jahrzehn-
tausenden herausgearbeitet haben. Ist nun aber seine
gegenwärtige Beschaffenheit durch seinen (vorausgesetz-
ten) thierischen Ursprung nicht im geringsten beein*
trächtigt, so können auch seine Ziele und Aufgaben,
«eine Bestrebungen und Berufsarten, kurz seine ganze
Zukunft keine andere sein, als er sie sich seinem gan-
zen Wesen nach vorstellen und denken muss. Oder
sollte der gebildete Theil der Menschheit durch den
Gedanken, vom Affen abzustammen, wirklieh so tief
entmuthigt werden können, dass er, an der Möglich-
keit verzagend, seine Bildung, welche ihm keineswegs
als reife Frucht in den Schos fiel, sondern die er sich
schwer errungen hat, aufrecht zu erhalten und fort-
zuführen, seinen Handel und Wandel, seine Hechts-
und Staatsformen, seine Kunst und Wissenschaft auf-
gäbe und sich zu dem Austral- Neger herabsinken
liesse? Dass er das, wodurch er sich über den Affen
so hoch erhoben hat und immer höher erhebt, fahren
liesse, weil es ihm einst schwer geworden, sich auch
nur um eines Haares Breite über jenen zu erheben?
Aber welcher von der Natur zum Herrscher bestimmte
Mann hätte deshalb nach der Krone nicht gegriffen,
weil sein Vater ein Knecht gewesen? Oder welcher
geborene Bafael hätte deshalb Pinsel und Palette weg-
gelegt, weil sein Erzeuger das Handwerk eines An-
streichers ausgeübt? Die Menschheit wird, wie jeder
einzelne, ihre Kräfte üben und ausbilden, weil sie sie
hat, nicht weil sie sie von da oder dort her hat/^
Wir geben solchem flüchtigen Sprühfeuer sein Recht,
verlangen aber eingehendere Begründung, um das End-
urtheil schöpfen zu können. Denjenigen, welche sich
in die Descendenzlehre vertiefen, ist die Anwendung
derselben auf den Mensehen ein einfacher Deductions-
fall aus einem allgemeinen, durch die Methode der
Induction gewonnenen Gesetze. Wie Goethe den Zwi-
schenkiefer für den Menschen postulirte, noch ehe er
ihn gesehen und nachgewiesen, so muss die Descendenz-
1
266 Weaen der Menschheit.
lehre alle ihre Resultate und mehr oder weniger sohon
klar gelegten Gesetze auf den Menschen übertragen.
Die Deduction wurde durch die gehäuften, sich decken-
den, coniarolirenden und bestätigenden Beobachtungen
der vergleichenden Anatomie, der Entwickelungsge-
schichte und Paläontologie bewerkstelligt. £^ bleibt
((daher für alle, welche der Wunderglaube und die
Unterwerfung unter die Annahme einer 0£Penbarung
nicht beledigt, nichts übrig, als die Abstammungs-
lehre. Dieselbe auf den Menschen anzuwenden, ist
nicht gewagter, ist vielmehr ebenso innerlich noth-
wendig, als wenn wir Zoologen danach irgendeinen
bisher unbekannten Polypen, einen Seestern, eine Maus
beurtheüen. Unsere Gegner verneinen das. Der Mensch
habe Eigenschaften, welche ihn absolut vom Thier
trennen und die Anwendbarkeit der Descendenzlehre,
dieselbe überhaupt vorausgesetzt , in diesem einen Falle
ausschliessen. Dieser sehr oft zu hörenden Behaup-
tung setzen wir zunächst eine allgemeine Bemerkung,
die Auffassung des menschlichen Wesens betreffend,
entgegen.
Man pflegt zu übersehen, dass man, ganz abgesehen
von der Gültigkeit der Abstammungslehre oder von deren
Existenz überhaupt, einer merkwürdigen Inconsequenz
hinsichtlich des Begriffes der Menschheit sich schuldig ge-
macht hat. Die Philosophie der Geschichte hat das Wesen
der Menschheit in die Veränderlichkeit, nämlich in
das Vermögen zum Fortschritt gesetzt. Wenn man
aber irgendwelche untrennbare Abhängigkeit des Gei-
stigen vom Körperlichen zugab, wie es, eine extreme
spiritualistische Bichtung ausgenommen, geschah, so
war doch die Vervollkommnung des Geistesvermögens
des Mensclxengeschl echtes nicht denkbar ohne eine ge-
wisse damit parallel laufenden Umbildung des körper-
lichen Substrates, welche über die Grenzen der blossen
Variabilität hinausging. Selbst unter der Voraussetzung,
dass der Geist sein Organ, das Gehirn, sich selbst
bilde , hätte man den speciflschen Begriff des Menschen
Der Leib des Menschen. 267
in die Fähigkeit auch zur körperlichen Yervollkomm-
nung gegenüber der vermeintlichen Starrheit des thie-
rischen Organismus setzen müssen. Denn im Princip
ist es ja einerlei, ob Arme und Beine sichtbar, oder
ob die Moleculen der Gehimsubstanz für das Auge un-
sichtbar sich verändern. Wir holen also nur eine
Yersäumniss der Philosophie nach, wenn wir der kör-
perliclien Veränderlichkeit des Menschen diejenige Aus-
dehnung zuerkennen, welche ihr aus der Anwendbar-
keit der Bescendenzl^hre auf den besondem Fall
zukommt.
Die leibliche Uebereinstimmung zwischen
Mensch und Thier lässt für die Abstammungslehre
wenig zu wünschen übrig, sodass die Befürchtung des
Mephistopheles , es möchte dem grübelnden Menschen
am Ende noch vor seiner Gottähnlichkeit bange wer-
den, viel eher auf die Thierähnlichkeit angewendet
werden könnte. Der menschliche Leib , wie der jeden
Thieres, weist in seiner Ausbildung auf ein Heraus-
arbeiten aus der indifferenten zur specificirten Form.
Und wenn die Gesammtanlage des Körpers, die £nt-
wickelung der einzelnen Organe dem Menschen mit
allen Säugern, und in den frühern Stadien des embryo-
nalen Zustandes mit allen Wirbelthieren gemein ist
und auf diese allgemeine Verwandtschaft fährt, so stellt
uns das Vorhandensein einer kreisförmigen Placenta,
insofern wir nicht eine besondere wiederholte Neu-
schöpfung dieses Entwickelungsorganes belieben, wobei
der Schöpfer sich an das Muster der Placenta der
Halbaffen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und
Affen gehalten hätte, vor die Alternative, dass ent-
weder bei der natürlichen, uns unbekannten Fntwicke*
lung des Menschen der Zufall oder eine ganz andere
Kette von Ursachen zur kreisförmigen Placenta, wie
dort, geführt habe, oder dass die Uebereinstimmung
in der Blutsverwandtschaft mit den discoplacentalen
Säugern ihren Grund habe. Wir haben oben (S. 253)
unsere Bedenken ausgesprochen dagegen, dass man aus
268 . Anatomischer Vergleich
der oberflächlichen TJebereinstimmung der Placenta auf
die Verwandtschaft von Säugethierordnungen mit Sicher-
heit schliessen könne, haben nns daher hier, wo wir
auf die TJebereinstimmung der menschlichen mit der
Affenplacenta Gewicht legen, zu rechtfertigißn. Die
obengenannten Ordnungen besitzen sämmtlich eine
Placenta von geringerer Ausdehnung und scheibenför-
miger Gestalt. In der Form dieser Scheibe und in der
Vertheilung und Anzahl der Blutgefässe im Nabel-
strange, wodurch die fötale Athmung und Ernährung
vermittelt wird, kommen mancherlei Varietäten vor.
So zerfallt in der Familie der pithecoiden Affen die
Placenta in zwei Scheiben, während die Nabelstrang-
:gefö.sse mit denen des Menschen übereinstimmen; bei
den amerikanischen Affen dagegen ist die Placenta
einfach und die Gefasse verhalten sich abweichend,
lieber diese Organe beim Orang und Gorilla wissen
wir nichts; aber der Schimpanse stimmt darin mit dem
Menschen überein, dass er eine einfache scheibenför-
mige Placenta hat mit zwei zuführenden Gefassen
(2 arteriae umbilicales) und einem zurückführenden
(vena umbilicalis).
Bei allgemeiner Gleichförmigkeit der menschlichen
Placenta mit derjenigen der discoplacentalen Säuger
steht der Mensch speciell wenigstens einem der so-
genannten anthropomorphen Affen näher, als dieser
den übrigen Affen. Und so ist allerdings die Beschaffen-
heit der Placenta von grosser Bedeutung für die Bex
urtheilung der systematischen Stellung des Menschen.
So ungeheuer unwahrscheinlich jener oben in Betracht
gezogene Zufall, so wahrscheinlich, so einzig annehm-
bar ist die Blutsverwandtschaft, und mit Berücksich-
tigung der gesammten Organisation muss bei einer
speciellen Vergleichung des Menschen mit den Säuge-
thieren der Affe in den Vordergrund treten.
Diese Vergleichung ist ausgezeichnet durchgeführt
worden von Huxley und Broca.^^ Der letztere hat
sich die Aufgabe gestellt, abgesehen von allem Prinr
des Menschen mit dem Affen. 269.
cipienstreit und unbekümmert um die Abstamiiiungs^
lehre, als rein beschreibender Anatom und Zoolog ?i\x
untersuchen, ob die anatomische Beschaffenheit de£^
Menschen, verglichen mit derjenigen der Affen, nacl^
allgemeinen zoologiBchen Grundsätzen die Vereinigung,
beider zu einer Ordnung — Primaten — rechtfertige,
Huxley zeigt, dass dieanthropomorphen Affen (Gibbon,
Schimpanse, Drang, Gorilla) von den niedrigen Affeu
yiel mehr abweichen als vom Menschen, und dass,
wenn man sich zur Annahme der Blutsverwandtschaft^
sämmtlicher Affen unter sich genöthigt sieht, die ge*
meinsame Abstammung der anthropomorphen Affen und.
des Menschen mindestens ebenso natürlich sei.
Zwischen den Endgliedern der systematischen Affen-
gruppen, z. B. zwischen den amerikanischen Sahuia
und den altweltlichen Pavianen und den Anthropo-
morphen, bestehen höchst erhebliche Differenzen, sowol
in der Beschaffenheit der Gliedmassen und der andern
Theilie des Skelets sammt der dazu gehörigen. Weich*,
tfheile, namefntlich der Muskulatur, als in der Bezah*
nung und Gehirnbildung. Es ist falsch, die Affen
Yierhänder zu nennen, vielmehr tritt innerhalb der
Ordnung der Affen der Gegensatz zwischen Hand und.
Fuss in ihren wesentlichen anatomischen Attributen
hervor, und hat bei den anthropomdrphen Affen, am
entschiedensten beim Gorilla, fast dieselbe Ausprägung,
wie beim Menschen.
Der durch seine sorgfaltigen Schädelmessungen be-
kannte Anatom Lucä will in der Stellung der Schädel-
achse eine höchst wichtige Marke zwischen Menschen
und Affen sehen. Bei den Affen nämlich liefen die
drei, die Schädelachse bildenden Knochen, unteres Hin-
terhauptsbein und die beiden Keilbeine, fast in einer
Linie gestreckt, während beim Menschen eine doppelte
Knickung dieser Achse eintritt; und zwar vergrössern
sich mit dem Alter bei den Affen die Winkel, welche
beim Menschen kleiner werden, und umgekehrt. Auch
stellt sich das Hinterhauptsloch beim Menschen .mit
270 Anatomischer Vergleich
dem Alter horizontaler, beim Affen steiler. Allein
das alles zeigt nur, was die Descendenzlehre behaup-
tet, dass beide Reihen, Affe und Mensch, auseinander*
gehen und die jugendlichen Individuen sich mehr
gleichen als die alten, dass der Affe, indem er wächst,
thierischer, der Mensch, wie schon das Rathsel der
Sphinx andeutet, mensehlidier wird. Die Knickung des
Grundbeineg und die horizontale Stellung des Hinter-
hauptsloches hat den aufrechten Gang im Gefolge,
womit die völlige Scheidung von Hand und Fuss sich
vollzieht. Jene Knickung der Schädelachse mag daher
immerhin als menschlicher Charakter den Affen gegen-
über hervorgehoben, ein besonderer Ordnungscharakter
kann daraus schwerlich abgeleitet werden, und zumal
für die Abstammungsfrage scheint uns dieser Umstand
nicht im geringsten entscheidend zu sein.
Die anthropomorphen Affen stehen nicht nur in Be-
ziehung auf Hand und Fuss, sondern auch auf G^biss
und Gehimbildung dem Menschen viel näher als jenen
niedrigen, den breitnasigen neuweltlichen Affen. Diese
nämlich haben sechs Backzähne und ihr Gehirn zeigt
die UnvoUkommenheiten des Gehirns der Halbaffen
und der Nagethiere. Mit den Affen der Alten Welt
haben dagegen die anthropomorphen Affen fünf Back-
zähne, und jeder Theil des menschlichen Gehirns, bis
auf den kleinen Pferdefuss, ist bei ihnen auch vor-
handen. Der Streit um diesen unbedeutenden Hirn-
theil , welchen B. Owen als ein ausschliesslich mensch-
liches Merkmal ansprach, hat nur noch ein historisches
Interesse, nachdem es mit dem hintern Home der
seitlichen Himhöhlen durch eineBeihe der ausgezeich-
netsten Anatomen bei Orang und Schimpanse nach-
gewiesen ist. Und so bleiben für denjenigen, welcher
von der Hoffnung auf specifische Unterschiede zwischen
Menschen- und Affenhirn nicht lassen will, nur die
an der Oberfläche des grossen Gehirnes befindlichen
Furchen und Erhebungen, die sogenannten Gehirn-
windungen übrig. Aber auch hier sucht man vergeblich
des Menschen mit dem Affen. 271
nach fundamentalen Unterschieden, wofern man niebt
darauf das Hauptgewicht legen will, dass beim mensch-
lichen Embryo die Faltung des Gehirns mid den Stirn-
lappen, beim Affen mit den Schläfudappen beginnt*
Die Constanten, allen menschlichei^ Gehirnen gemein-
samen Hauptwindungen zeige» sich auch bei Drang
und Schimpanse. Diese WiflAmgen verlieren sich, oder
vielmehr sind unvoUkomiiMtier vorhaBden bei den, den
Anthropomorphen nätt^ stehenden Affen, sie fehlen
ganz bei den OuivCttis. So gross aber ist die Aehn-
liebkeit der G^Ülimoberfläche der beiden genannten
Affen mit dev des Menschen, dass es, wie Broca sagt,
„des Auges eines geübten Anatomen bedarf, um nach
Zeichnungen, welche auf dieselbe Ghrösse reducirt sind,
ihr Hirn von meiMchlie)ien Hirnen zu unterscheiden —
besonders wenn man zu Vergleichsobjecten Hirne von
Negern oder Hottentotten nimmt, die einfacher sind
als die der Weissen". Einen äussersten Versuch zur
Bettung specifischer menschlicher Himcharakter machte
der zu früh verstorbene pariser Anatom Gratiolet.
Der Mensch sollte sich durch eine der sogenannten
Uebergangsfalten unterscheiden. Diese Uebergangs-
falten sind Windungen, durch welche d^r hintere Lap-
pen des grossen Gehirns mit den vordem und seit-
Hohen Theilen verbunden wird. Allein Broca hat sehr
lichtvoll ausseinandergesetzt, dass es sich mit diesem
wie mit den andern Merkmalen verhält-, und dass
z. B. das Verhalten der Uebergangsfalten des Orang
vielmehr denen des Menschen, als denen des Schimpanse
gleicht, und dass überhaupt die vorhandenen Unter-
schiede höchstens den Werth von Art- und Gattungs-
charakterea haben können.
Der Abstand zwischen den niedem und den höhern
Affen ist weit grösser als zwischen letztern und dem
Menschen, und wenn über die Blutsverwandtschaft der
gesammten Affenheit nach darwinistischer Anschauung
entschieden ist , so kann um so weniger über den ver-
wandtschaftlichen Zusammenhang der altweltlichen Affen
272 Anatomischer Vergleich
mit dem Mensehen ein Zweifel sein. Die Form defit
fertigen Schädels und des Gebisses, um diese Organe
hervorzuheben, lassen aber den Gedanken gar nicht
aufkommen , dass der Mensch seine unmittelbaren Ahn«n
unter den jetzt lebenden Affen hätte. Der wohlfeile,
mit vielem Behagen vorgebrachte Witz, warum man
denn nicht das interessante Schauspiel der Umwand^
lung des Schimpanse in einen Menschen, oder des
Menschen rückwärts durch Verkümmerung in einen
Orang vor sich gehen sähe, zeugt von nidhts als der
gröbsten Unwissenheit in Angelegenheit der Descen*
dienzlehre. Sowenig als einer dieser Affen zum Zu-
stande seiner Urvorfahren zurückkehrt, weil er sich
seiner erworbenen und durch die Vererbung fixirten
Eigenschaften nicht entäussem kann, es sei denn auf
dem Wege der Verkümmerung — womit nichts weniger
äIs ein Urzustand erlangt wird — : ebensowenig kann
er über sich hinaus zum Menschen werden; denn der
Mensch liegt eben nicht in gerader Entwickelungs-
xichtung vor ihm. Die Entwickelung der menschen-
ähnlichen Affen hat einen Gang genommen abseits von
den nächsten menschlichen Vorfahren, und der Mensch
kann ebenso wenig sich in einen Gorilla umformen,
als ein Eichhörnchen sich in eine Ratte verwandeln
wird. Der Affenverwandtschaft des Menschen wird
daher kein Eintrat^ crethan durch die bestialische Stärke
des Gebisses des ausgewaehsenen männlichen Orangs-
oder Gorillas, durch die Leisten und Auftreibungen
an den Schädeln dieser Thiere. Ein namhafter Zoo-
log, einer der wenigen, welche beim alten Glauben
geblieben, hat sich die unnütze Mühe gegeben, nach-
zuweisen, dass der Orangschädel sich unmöglich in
das Menschenhaupt umwandeln könne. Als ob je die
Descendenzlehre solchen Unsinn behauptet hätte! Der
knöcherne Schädel jener A«fen ist bei einem Extrem
angelangt, vergleichbar dem des Hausrindes. Dieses
Extrem tritt aber erst nach und nach im Verlaufe
des Wachsthums hervor, und das Kalb weiss davon
des Menschen mit dem Affen. 273
noch wenig, sondern besitzt, wie wir schon oben er-
wähnt, die Schädelgestalt der antilopenartigen Vor-
fahren. In den heutigen Antilopen, auch noch bei den
Ziegen und Schafen ist jene beim Kalbe vorübergehende
Form stabil geblieben. Indem nun der jugendliche
Schädel der anthropomorphen Affen unwiderleglich
deutlich die Abkunft von Vorfahren mit einem wohl-
geformtern, noch bildsamen Schädel und einem, dem
menschlichen ganz nahe stehenden Gebiss zeigt, so
hat bei ihnen die Umformung dieser Theile mit dem
Gehirn, letzteres wegen des stabil gebliebenen geringen
Volumens , einen sozusagen verhängnissvollen Weg
eingeschlagen, während in dem menschlichen Zweige
die Selection in der grössern Conservirung jener Schä-
deleigenschaften wirkte.
Hiermit fällt auch der noch jüngst von dem ehr-
würdigen Karl Ernst v. Bär erhobene Einwurf, dass
man sich nicht vorstellen könne, wie aus dem zum
Klettern und Umfassen eingerichteten Fusse des Affen
der zum platten Auftreten und Gange geschickte Men-
8chenfus8 sich im Kampfe ums Basein habe entwickeln
sollen, in sich zusammen. Die Anlage, die grosse
Zehe den übrigen entgegenzusetzen, also zum Greif-
fuss, ist bekanntlich auch dem Menschen eigen, und
diese Anlage ist jedenfalls ererbt. Wie weit aber die
Fähigkeit zum Klettern bei den Urahnen ausgebildet
sein mochte, ist ebenso unbekannt, als diese Urahnen
selbst. Es steht demnach die Geschicklichkeit der mei-
sten heutigen Affen im Klettern mit dem Ungeschick
des Menschen hierzu nur im entfernten Zusammen-
hange, und kommen diese Eigenschaften bei der Be-
urtheäung der Blutsverwandtschaft kaum in Betracht.
Indem die Descendenzlehre einen gemeinschaftlichen
Ursprung des Menschen und der menschenähnlichen
Affen in logischer Schlussfolge fordert, weist sie, wie
nochmals hervorzuheben eigentlich überflüssig , die un-
verständige Forderung nach Zwischenformen zwischen
Mensch und Gorilla zurück. Was künftige Zeiten
Schmidt, Descendenzlehre. lg
274 Wie der Mangel an fossilen
yielleiclit noch entdecken, sind Zwischenformen, welche
zu der gemeinschaftlichen Ausgangsform der heutigen
Affen und des Menschen zurückgehen. Und so besteht-
trotz der intimsten bisher besprochenen Beziehungen
die Kluft, welche etwa in dem Yerhältniss des Ge-
wichtes des niedrigsten bisher gemessenen Menschen-
gehirnes zu dem des Gorillagehimes ihren Ausdruck
findet. Das Gewicht eines, nach ihrer Stammesweise
noch normal fungirenden Buschmannweibes betrugt
872 Gramm (Cuvier's Gehirn wog 1629 Gramm), das
eines Gorilla lässt sich nach der Capacität des Schä-
dels - auf etwa 563 Gramm schätzen; das ergibt
das ungeföhre Verhältniss von 3:2. Allein wie
erhaben der Mensch in seiner Leiblichkeit sich
über dem Thiere fühlen mag, auch hierin macht er
für sich keine Ausnahme, insofern ja zahlreiche Thier-
formen zu ihren unverkennbar nächsten Verwandten
eine ebenso isolirte Stellung einnehmen.
Werden wir an eine doppelte Schöpfung der Wir-
belthiere denken, weil der Lanzettüsch jetzt um eine
ganze Stufenleiter nicht mehr vorhandener Zwischen-
formen von den Fischen absteht? Sehr lehrreich für
unsem Fall ist unter anderm das Beispiel des Pferdes.
Yergegenwärtigen wir uns^ dass diese Gattung sich in
der Beschaffenheit der Gliedmassen und des Gebisses
von allen jetzt lebenden Pflanzenfressern viel bedeu-
tender unterscheidet, als der Mensch vom Affen. Hätte
man die fossilen Hufthiere, welche den gemeinsamen
Ursprung des Pferdes mit den Zwei- und Mehrhufern
klarlegen, nicht gefunden, so würden wir gleichwol
das Pferd für keine besondere Wunderschöpfung hal-
ten, sondern seine wirkliche Verwandtschaft mit den
übrigen Hufthieren unanfechtbar deduciren. Diese
reine Deduction ist aber «deshalb nicht nöthig, weil
die Vorfahren des Pferdes in ausgezeichneten Ueber-
resten da sind und, wie wir früher sahen, schon vor
einem halben Jahrhundert in R. Owen die Ueberzeu-
gung von einer directen Verwandlung der dreizehigen
Zwischenformen aufzufassen. 275
Gattungen in die einzehige hervorriefen. Das Be-
kanntwerden der dreizehigen Pferde ist ein Glücks-
fall; sie waren in Theilen Europas heimisch, welche
am fleissigsten für die Paläontologie blossgelegt und
durchwühlt wuBden.
Dass uns aber die fossilen Vorfahren des Menschen
in den Museen noch fehlen, ist nicht auffallender als
der bisherige Mangel der Zwischenformen, welche z. B.
die Stellung des Dinotherium im System endgültig
entscheiden würden. Auch auf den Elefanten weisen
wir nochmals hin, der mit den ihm nächstverwandten
Mastodon eine viel isolirtere, durch keine Fossile er-
läuterte Stellung zu den andern Dickhäutern ein-
nimmt, als der Mensch zu den Affen. Wir wollen damit
erörtert haben, dass der Einwurf, der Mensch ver-
rathe durch unüberbrückte Eigenthümlichkeiten -*■ auf-
rechten Gang, relative Haarlosigkeit, Kinn, Ueber-
gewicht des Gehirns u. a. — eine absolute Sonderstellung,
für die vergleichende Anatomie und Paläontologie nicht
besteht, und dass das Verlangen, die Anhänger der
Descendenzlehre möchten doch die nothwendig einst
vorhanden gewesenen Zwischenformen vorzeigen, nur
von solchen Dilettanten erhoben werden kann, denen
das Eeich des Lebendigen in seiner Ganzheit ein ver-
schlossenes Buch geblieben.
"Wie wir nun oben bemerkten, lässt man sich wol
herbei, wie man sagt, die Leiblichkeit des Menschen
der Naturforschung preiszugeben , um die andere Seite
des Dualismus desto gewisser zu retten. Aber auch
hierin lassen wir uns das Wort und eigenes Urtheil
nicht nehmen. Die geistigen Kräfte des Menschen sind
in ihrem Entstehen, Wachsen und Wirken der Natur-
forschung auch zugänglich, und nur zu lange meinte
die Psychologie der Physiologie entrathen zu können.
Gehen wir also getrost an eine kurze Prüfung.
Man gibt allgemein zu , dass eine gewisse Verwandt-
schaft oder Analogie des seelischen Vermögens der
höhern Thiere mit dem Menschen bestehe. Nur die
18*
276 Entwickelung der Vernunft.
Vernunft', sagt man, der Inbegriff der Seelenthätig-
keiten, womit der Mensch zum Selbstbewusstsein ge-
langt und sich zum Abstracten erhebt, Begriffe com-
binirt , namentlich religiöse , in Kunst und Wissenschaft
lebt, diese Vernunft besitze das Thi^r nicht. Wir
erwidern, dass allerdings diesen Grad der geistigen
Entwickelung die Thiere nicht besitzen , ab«r auch der
Mensch nicht auf niedern Entwickelungsstufen.
Die Seele des neugeborenen Kindes ist in
ihren Aeusserungen von der des jungen Thie-
res gar nicht verschieden; ihre Aeusserungen sind
Functionen des kindlichen Nervensystems; mit diesem
wachsen sie und entwickeln sich zugleich mit der
Sprache. Die Stufe, bis wohin im allgemeinen diese
Entwickelung steigt, ist von den vorausgegangenen
Generationen abhängig. Die Seelenfähigkeiten jedes
Individuums tragen den Stammestypus an sich und
sind durch die Gesetze der Vererbung bestimmt. Demi
es ist einfach nicht wahr, dass unabhängig von Farbe
und Abstammung jeder Mensch unter übrigens gleichen
Bedingungen eine gleiche Höhe der geistigen Entwicke-
lung erreichen könne. Man hält uns, um diese priu-
cipielle Gleichheit der Menschheit zu beweisen, ein-
zelne Beispiele begabter Neger und Indianer vor.
Allein diese haben ungezählte Generationen, geübt in
vielfacher Industrie, gewandt in einem, wenn auch
einseitigen Menschenverkehr, hinter sich; und wenn
man diese seltenen Phänomene gründlich untersucht,
80 bleiben sie doch hinter den Durclischnittsindividueti
d!er vorgeschrittenen Kassen zurück. Nun macht aller-
dings in jeder Rasse jedes Individuum die untern Stu-
fen der Leiter geistiger Entwickelung durch, welche,
durchaus analog den anatomischen Entwickelungä-
gesetzen, allgemeine Geltung haben, während nach
oben die psychologischen Sonderheiten der Rasse zur
Geltung kommen. In der Menschheit aber ist es wie
im Individuum: sie hat sich im Verlaufe der Zeit die
Geistiger Fortschritt, 277
hohem Geistesfähigkeiten eiTungen, die wir in der
Vernunft zusammenfassen.
Die Geschichte zeigt, wie niemand leugnet, einen
geistigen Fortschritt, aber nur bei Völkern,
welch« an der Geschichte selbst sich betheiligt haben,
und nur so lange, als diese Betheiligung und die Uebung
der Geistesorgane stattfand. Es "gibt aber auch nie-
drige Menschenrassen, wir können sie auch Menschen-
arten nennen, die sich zu den andern ähnlich ver-
halten, wie niedrige Thiere zu höhern. Man könnte
sogar die Menschengattung damit charakterisiren, dass
ihre Arten so ganz ausserordentlich verschiedene Stufen
des Geisteszustandes einnehmen. Wir lassen uns durch
die gegentheiligen Behauptungen von Missionaren und
andern Menschenfreunden, durch das Reden von Men-
schenwürde und Gottähnlichkeit nicht irremachen,
auch nicht auf die noch zu erwartende Entwickelung
aller bisjetzt zurückgebliebenen Völker vertrösten.
Selbstverständlich ist es zwar aus der Descendenz-
und Selectionstheorie , dass viele der gegenwärtig in
geistiger Hinsicht tief zurückstehenden Stämme es
künftig viel weiter gebracht haben werden. Für an-
dere aber, wenn wir die Ethnographie und Anthropo-
logie der Naturvölker nicht vom Standpunkt des Phi-
lanthropen und Missionars, sondern des kühlen und
nüchternen Naturforschers betrachten , ist infolge ihres,
von den allgemeinen Entwickelungsverhältnissen ge-
regelten Zurückbleibens das Unterliegen im Kampfe
um das Dasein der natürliche Verlauf der Dinge.
Wenn wir den geistigen Zustand der Menschheit
untersuchen und mit den Seelenfähigkeiten der Thiere
vergleichen , so dürfen wir nicht den europäischen oder
indischen Durchschnittsmenschen zum Massstab nehmen,
sondern jene Austral- und Papuastämme, die zum
Theil auch körperlich auf einer Stufe zurückgeblieben
sind, welcher die übrigen begünstigten längst in vor-
historischen Zeiten entwuchsen. Allerdings machen viele
es sich leicht, indem sie, von einer egalisirenden
278 Geistiger Fortschritt.
Menschenwürde, wie von einem nicht weiter zu be-
gründenden Dogma überzeugt, für alle jene tief unten
gebliebenen Rassen die Redensart bereit haben, man
könne nicht zweifeln, dass sie aus einer einst reichern
Geistesentwickelung zurückgebildet und zur Barbarei
herabgesunken seien. Allein, wenn man diese Mög-
lichkeit für einzelne Stämme, wie die Feuerländer,
zugeben könnte, für die andern, z. B. die Australier,
mangelt jeder wirkliche Beweis dieses ehemaligen men-
schenwürdigem Zustandes.
Die höhern geistigen Vorzüge, welche den Menschen
vom Thiere trennen sollen, ^ehen sich um etwa fol-
gende Punkte.
Der Mensch allein, heisst es, sei entwickelungsfähig
oder fortschrittsfahig. Specifisch menschlich ist aller
durch die menschliche .Sprache — denn auch viele
Thiere besitzen die Gabe der Mittheilung — bedingte
und vermittelte Fortschritt. Wenn wir uns aber den
Menschen nicht als von Ewigkeit her fortschreitend
denken wollen, so fragt es sich, wie der Anfang die-
ses Fortschrittes beschaffen war, und so reducirt sich
die ganze fundamentale Angelegenheit auf die Frage
nach dem Ursprung der Sprache. Wir kommen darauf
zurück. Fortschritt im allgemeinen ist aber auch dem
Thiere nicht abzusprechen. Wer kann in Abrede stel-
len, dass einzelne Hunderassen, deren Abstammung
von stupiden Schakalen und Wölfen so gut wie sicher,
sich geistig hoch über diese Vorfahren erhoben haben?
Wer kann zweifeln, nachdem er die reichhaltigen Un-
tersuchungen von H. Müller, dem Bruder unsers Fritz
Müller, gelesen, dass die Honigbiene, indem sie all-
mählich ihre körperlichen Vorzüge und Eigenthümlich-
keiten erreichte, auch die ihrem feiner und detaillirter
organisirten Gehirn entsprechenden hohem Geisteskräfte
entwickelte. Der Mensch, das ist unser, vorbehalt-
lich der Sprachfrage, aufzustellender Satz, ist nur
durch den Grad und das Mittel des Fort-
schrittes von vielen Thieren verschieden. Es
Freier Wille. Gewissen. 279
ist nämlich unwissenschaftlich, hierhei abstract Mensch-
iieit und Thierheit gegenüberzustellen.
Der Mensch allein, wird weiter behauptet, hat
freien Willen. Insofern der höher entwickelte Mensch
nach philosophischen, sittlichen und religiösen Grund-
sätzen handelt, welche er der Erziehung und Unter-
weisung verdankt, insofern er Ideale fassen und ihnen
nachstreben kann bei geistiger und körperlicher indi-
vidueller Befähigung, mag man dieses Gebiet des
Willens gern zugeben, obschon wir wissen, dass auch
diese „Freiheit" das Gesammtresultat natürlicher Ur-
sachen ist. Je einfacher und einförmiger aber die
Lebensbedingungen, desto mehr verlieren die Hand-
lungen des Menschen den Anschein und den Charakter
der Freibeit, und desto mehr handelt das Individuum
nur im Stammeswillen , ich möchte sagen , im Heerden-
willen, das heisst instinctiv. Es handelt alsdann nicht
einmal mit der staunenswerthen Ueberlegung, mit wel-
scher einzelne glücklich organisirte Thierindividuen oder
alle Individuen einzelner Arten sich in scheinbar ganz
freiem Willen die Umstände zu Nutze machen. Der
freie Wille des ethisch erhobenen Menschen
ist kein Gemeingut aller Menschen.
Der Mensch allein, und alle Menschen sollen ein
■Gewissen haben. Wir meinen dagegen, dass das Ge-
wissen, welches bekanntlich auch in den civilisirtesten
Staaten vielen Individuen total abhanden kommt, über-
haupt gleich dem sittlichen Willen ein Erziehungs-
resultat einzelner Eassen und Stämme sei.
Furcht, nach schlechter That ertappt zu werden, ist
kein Gewissen; und dass wohlerzogene Hunde Regun-
gen der Gewissensscham haben, welche hoch über der
thierischen Furcht wilder Kannibalen nach vollbrachter
Tödtung ihrer Mitmenschen stehen, kann unmöglich
geleugnet werden. Die Belege hierzu sind überreich
in dem anthropologischen Sammelwerke von Waitz
Aufgespeichert.
Auch dass ein Gottesbewusstsein Grund-
280 I>er Gottesbegriff
eigenthum aller Menschen, stellen wir in Ab-
rede. Es ist eben wiederum eine feststehende Phrase,
dass auch die rohesten Völkerschaften von einem, wenn
auch dunkeln Gefühle und Drange nach dem unbekann-
ten Gotte geleitet würden. Diese Annahme ist so alt,
als der bekannte Versuch des Beweises vom Dasein
Gottes: „De quo omnium natura consentit, id verum
esse necesse est." (Worin alle in angeborener Weise
übereinstimmen, das muss wahr sein.) Wie oft ist
diese ciceronische Sentenz gedankenlos nachgesagt wor-
den! Es ist aber dieser Gottesbegriff ebenso wenig
angeboren, als die Unterscheidung von gut und böse
durch das Gewissen. Andere behaupten das Gegen-
theil. So sagt Gerland von den Australiern®': „Nir-
gends zeigt sich die Behauptung, dass der adstralische
Bildungszustand auf eine höhere Stufe hinweist, klarer
wie hier (im religiösen Gebiet), wo alles einzelne wie
verhallende Stimmen aus früherer reicherer Zeit her-
überschallt, wir aber keineswegs den Eindruck er-
halten , als hätten wir es mit Halbentwickeltem , Stehen-
gebliebenem zu thun. Daher ist denn diese Ansicht,
die Australier hätten keine Spur von Religion oder
Mythologie, eine durchaus falsche. Aber freilich ist
diese Beligion ganz ausgeartet, ganz zu Grunde ge-
gangen in wilder, zusammenhangsloser, oft unglaublich
abgeschmackter Dämonologie, in abergläubischer Ge-
spensterfurcht."
Wenn aber wenige Zeilen später in dem citirten
Werke mitgetheilt wird, dass die Eingeborenen west-
lich der Liverpoolkette alles in der Natur, was sie
sich nicht selber erklären können, auf „Devil-Devil"
zurückführen, und dass dies offenbar nur ein aus dem
Englischen devil (Teufel) abgeleiteter Name einer Gott-
heit sei, welche allerdings nicht mehr deutlich vor-
gestellt würde, so dürfen wir wol von der Seichtigkeit
dieses Beweises für die Annahme eines ehemaligen,
nun aber in Vergessenheit gerathenen hohem Stande
Punktes auf die übrigen Fälle schliessen. Wir haben
ist nicht allgemein. 281
weit mehr Veranlassung, diesen niedrigen Stand der
geistigen Entwickelung mit der körperlichen in Ein-
klang zu finden, wenn wir hören, dass die Eingebo-
renen des Vincentgolfes und der Umgebung von Adelaide
eine sehr starke Behaarung haben, und dass selbst
das braun gefärbte Flaumhaar der Kinder so reichlich
und lang ist, dass die Haut fünf bis sechsjähriger Jun-
gen ein fellartiges Aussehen annimmt. Aller Erfah-
rung und Geschichte entgegen sollen wir aber glauben ^*,
dass die Bewohner des australischen Nordens die ur-
sprünglichsten seien, denn — „sie sind, wie die ge-
bildetsten, so auch körperlich und geistig am besten
entwickelt, sie die allein sesshaften; und jedenfalls ist
die Annahme leichter und naturgemässer , dass die
übrigen Eingeborenen bei ihren ewigen Wanderzügen
verkommen sind, als dass jene, durch das bequemere
Land fixirt, sich gehoben hätten".
Das heisst das, was man bisher Anthropologie ge-
nannt, auf den Kopf stellen. Uebrigens gibt es sogar
recht vorgeschrittene Völkerschaften ohne Gottesbewusst-
sein. Schweinfurt erzählt, dass die Niam-Niam, jenes
höchst interessante innerafrikanische Zwergvolk, ein
Wort für Gott nicht haben , also wol auch den Begriff
nicht; und Moritz Wagner hat eine ganze Auswahl
von Nachrichten über den Mangel religiösen Bewusst-
eeins niedriger Völker gegeben. ^' Wenn trotzdem
allen diesen Bekräftigungen immer wieder entgegen-
gesetzt wird, dass sich doch auch bei den niedrigsten
Wilden irgendweich dunkles Gefühl von höhern Mäch-
ten manifestire, so kommt der Streit schliesslich auf
eine Silbenstecherei hinaus, welche für die Descendenz-
lehre weiter kein Interesse hat.
Und doch können wir diesen Gegenstand nicht ver-
lassen, ohne noch eine zwar allbekannte, aber in die-«
sem Zusammenhange auffallenderweise noch nicht be-
i)utzte Thatsache zu berühren, welche, wie es scheint,
allein hinreicht, um die Behauptung 2u entkräften,
dass der Gottesbegriff der menschlichen Natur immanent
282 I>ie Sprache
«ei. Wir meinen die Thatsache, dase viele Millionen
aus den gebildetsten Völkern, und darunter die aus-
gezeichnetsten, klarsten Denker, den persönlichen Grott
nicht in ihrem Bewusstsein finden, die Millionen, als deren
Sprecher der heldenmüthige David Strauss aufgetreten,
indem er Ulrich's von Hütten, seines Lieblings, Devise
zur seinigen machte : Ich hab^s gewagt — Jacta est alea!
Aber die Sprache?! Alle Sprachforscher der neuern
Zeit stimmen darin überein, dass die Sprachen sich
entwickeln, und dass höchst wahrscheinlich alle Sprach-
familien drei Stufen durchmachen. Auf derjenigen der
isolirenden Sprachen sind alle Wörter Wurzeln, und
diese werden blos nebeneinander gestellt. Auf der
zweiten Stufe, der der agglutinirenden Sprachen, de-
finirt eine Wurzel die andere, und es wird die defi-
nirende Wurzel schliesslich blos determinirendes Ele-
ment. Endlich in den flectirenden Sprachen wird das
determinirende Element, dessen determinirende Bedeu-
tung längst aus dem Volksbewusstsein geschwunden,
mit dem formellen zu einem Ganzen vereinigt. Wie
gesagt, diese Entwicklung, in welcher auch die Rück-
bildung ausgedehnt sich geltend macht, wird allgemein
zugegeben. Allein über die Entstehung des Sprach-
materials, welches als „Wurzeln" den Scharfsinn der
Forscher herausfordert, weichen die Ansichten ab.
Eine grosse Autorität, Max Müller^*, sieht in dem
Vorhandensein der Wurzeln den Beweis der absoluten
Trennung des Menschen vom Thier. Während Locke
sagt, der Mensch unterscheide sich vom Thier dadurch,
dass er allgemeine Begriffe bilden könne, müsse der
Sprachforscher sagen, die menschliche Sprache unter-
scheide sich von der thierischen Fähigkeit zu Mitthei-
lungen dadurch, dass sie Wurzeln bilde. Alle Wörter
auf Nachahmungs - und Ausrufungslaute zurückzuführen,
sei unzulässig, da man vielmehr am häufigsten auf
Wurzeln von fester Form und allgemeiner Bedeutung
komme, die an sich unerklärbar seien. In dem Vor-
handensein dieser fertigen Wurzeln, vor welchen die
entwickelt sich. 283
Sprachforschung rathlos stehen bleibe, sei ein unüber-
steigliches Hinderniss, den Menschen als Glied in der
allgemeinen Entwickelung der Organismen aufzufassen.
Abgesehen von diesem Punkte gibt der berühmte
Gelehrte natürlich alle jene Erscheinungen der Ver-
erbung, der Erwerbung, der Verkümmerung zu, die
in den Sprachgesetzen sich aussprechen und ihre voll-
kommensten Analogien in unserer Descendenzlehre fin-
den. Wenn wir z. B. das Zend mit dem Sanskrit
vergleichen, gewisse Worte desselben erklären hören,
8o werden wir durchaus an die rudimentären Organe
und ihre Deutung erinnert. Eine Menge von Anoma-
lien sind gleich den in der Gegenwart isolirt stehenden
Organismen uralte, ganz eigens normale Ueberbleibsel
und Zeugen vergangener Sprachperioden. Kurz, bis
ins einzelnste hinein stösst man in der Sprachforschung
auf Uebereinstimmung und Analogie mit der Lehre der
Abstammung der Organismen. Und da sollen wir vor
dem Ursprung der Sprache als vor einem Unbegreif-
lichen, Unerforschlichen halt machen?!
Das thun denn auch die meisten Sprachvergleicher
der Gegenwart nicht. Wenn Max Müller die Wurzeln
„phonetische Grundtypen" nennt, „die durch eine der
menschlichen Natur innewohnende Kraft hervorgebracht
werden", wenn nach ihm der Mensch „in einem voll-
kommenem Zustande das Vermögen besessen haben
soll, den vernünftigen Conceptionen seines Geistes einen
bessern, feiner articulirten Ausdruck zu geben", so
bezeichnet der geniale Lazarus Geiger®^ die Annahme
eines jetzt erloschenen Vermögens zur Sprachbildung
und die damit zusammenhängende von einem vollkom-
menem Urzustände als eine Zuflucht zum Unbegreif-
lichen und eine Eückkehr auf einen mystischen Stand-
punkt. Denn das Unbegriffene ist nicht das Unbegreif-
liche. Es ist nicht unsere Sache, Partei zu nehmen
für Geiger, der die Gesichtswahrnehmungen beim Her*
vorrufen der Worte wesentlich betheiligt sein lässt,
oder für Bleek, G. Curtius, Schleicher, Steinthal und
284 Mit der Sprachentwickelung
so viele andere, welche der Schalhiachahmung den
ersten Platz in der Spracherweckung einräumen. So-
viel steht jedoch fest, dass der Standpunkt Max
MüUer's zwar sehr vielen, welche nicht selbst Kritik
üben, ein sehr bequemer zum Nachbeten ist, aber
ein vereinsamter innerhalb der Wissenschaft, und dass
die Ueberzahl der Autoritäten auf diesem der Natur-
forschung so innig verwachsenen Gebiete sich aus
sprachvergleichenden und sprachphilosophischen Grün-
den zu dem Schlüsse genöthigt sah, dass aus dem
vernunftlosen Urzlistande menschenähnliche
Wesen allmählich zu Menschen wurden, indem
mit der Sprache, einem Werke von vielen
Jahrtausenden, die Vernunft sich einfand.
Schon 1851, als es von der Descendenzlehre noch
ganz still war, sagt Steinthal ^®: „Indem Sprache wird,
entsteht Geist." Zehn Jahre nach Darwin's Auftreten
schreibt Geiger: „Die Sprache hat die Vernunft ge-
schafiFen; vor ihr war der Mensch vernunftlos." Ihm
und allen, welche den mystischen Standpunkt über-
wunden, ist die Menschheit „eine in der Entstehung
und Enfaltung ihres Sonderwesens aus der - Thierheit
heraustretende Gattung". Und dieser Schluss ist
nicht entlehnt, wie die Orthodoxie und Reaction gern
der Menge aufbinden, ist nicht entlehnt dem Dar-
winismus, sondern von der Sprachforschung
auf ihrem eigenen Wege, aber mit naturwis-
senschaftlicher Methode deduoirt. Es sei nur
angedeutet, wie Geiger an vielen Beispielen historisch
nachweist, dass „langsame Entwickelung , der Hervor-
tritt des Gegensatzes aus unmerklichen Abweichungen
die Ursache ist, dass dasselbe Wort verschiedene Be-
deutung erlangt", dass also Sprachschöpfung auf die-
sem Process beruht, nirgends katastrophisch eintritt;
dass die sogenannten Lautgesetze Läutgewohnheiten
sind, dass die Sonderbedeutung, die ein Ijaut im 'Laufe
der Zeiten schliesslich erlangt hat, immer ein Resultat
wird die Vernunft entwickelt. 285
des blossen Zufalles, oder mit anderm Worte der Ent-
wickelung ist, »
Diese Sclilussfolgerung der Sprachforschung
bestätigt mithin in vollkommenster Weise
das Resultat der Naturforschung. Und wer sich
die Mühe gibt, den Gang der Sprachwissenschaft zu
verfolgen, wird sich, wie gesagt, überzeugen, wie ihre
Vertreter, etwa Bleek, Schleicher und Friedrich Müller
ausgenommen, den Einfluss der Descendenzlehre eher
abzuschwächen als anzuerkennen bestrebt sind. Um
so höher schlagen wir es an, und der mächtigste Ein-
wurf gegen die Einbeziehung des Menschen in das grosse
Entwickelungsgesetz ist damit beseitigt.
Das übrige ist Nebensache und Ausführung. Die
oft ventilirte, jetzt eigentlich abgeschmackte Frag«,
^b die Menschheit von ein«m oder mehrern Paaren
abstamme, erledigt sich damit, dass aus den tliieri'
sehen Vorfahren der Stamm, in welchem später die
Sprache zum Durchbruch kam, sich natürlich allmäh-
lich absonderte, und dass die zur Sprache und Vet-
Hunft führende Zuchtwahl in grössern Individuen-
gemeinschaften vor sich gehen musste. Näher an den
Begriff der biblischen Einheit des Menschengeschlechts
würde man gelangen , wenn alle Sprachstämme auf eine
Quelle zurückwiesen, Liesse sich aber zeigen, dass
gewisse "Sprachstämme auf unbedingt unvereinbare Wur-
zeln führten, so würde die Natur forschung ihr Jawort
zu der nothwendigen Folgerung geben können, dass
an verschiedenen Stellen der Erde Sprachen entstan-
den, mit andern Worten, dass das Auseinandergehen
in Arten früher stattfand, als die Zuchtwahl auf dem
Punkt der Sprachbildung angekommen. Der letztere
Fall ist der bei weitem wahrscheinlichere, wird sogar
von den nieisten mit dieser Frage beschäftigten Sprach-
forschern als der einzig mögliche angenommen und
am nachdrücklichsten von Friedrich Müller vertreten. ®^
„Der Mensch", sagt er, „war damals, als es nur Ras-
sen und keine Völker gab , ein sprachloses , der geistigen,
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Stammbaam der Menschenrassen. 287
auf der Sprachthätigkeit beruhenden Entwickelung noch
völlig ermangelndes Wesen. Zu dieser Annahme wer-
den wir, abgesehen von den entwickelten naturhisto-
rischen Voraussetzungen, durch die Betrachtung der
Sprachen selbst gedrängt. Die verschiedenen Sprach-
stämme nämlich, auf welche die Wissenschaft die*
Sprachen zurückzuführen im. Stande ist, setzen nicht
nur bei den verschiedenen Rassen vermöge ihrer tota-
len Verschiedenheit in Form und Stoff mehrere von-
einander unabhängige . Ursprünge voraus, sondern sie
weisen selbst innerhalb einer und derselben Rasse auf
mehrere voneinander unabhängige Ursprungspunkte hin."
Wir theilen den nebenstehenden Stammbaum, in wel-
chem sich Friedrich Müller eng an den Entwurf HaeckeFs.
anschliesst, mit, um dem Leser eine Vorstellung zu
geben, wie man sich allenfalls den Zusammenhang der
Völkerfamilien zu denken habe. Es ist in demselben
von Menschenarten und Menschenrassen die
Rede, wobei die Arten als nicht mehr existirend be-
trachtet und die gegenwärtigen Menschenformen blos
als Rassen unterschieden werden. Wir wollen hierüber
nicht viele Worte machen, da es sich, bei Licht be-
sehen , nur um Worte h'andelt. Der Mensch bildet in
der Ordnung der Primaten Eine Familie und reprä-
sentirt sie jedenfalls nur durch Eine Gattung. Ob man
nun die Neger, Kaukasier, Papuas, Amerikaner u. s. w.
Arten oder Rassen nennt, ist fast gleichgültig. Die
Leichtigkeit der Kreuzungen der verschiedenen Men-
schen würde für den Rassencharakter sprechen; d&
aber die Kreuzung der Arten durchaus nicht principiell
von der Rassenkreuzung verschieden, und da zu den
körperlichen, in Farbe, Haar^ Schädel, Extremitäten
und andern Merkmalen sich aussprechenden Verschie-
denheiten auch die so tief gehenden Sprachunterschiede
kommen, so erscheint uns die Zertheilung der Men-
schengattung in Arten, welche in viele Rassen ausein-
andergehen, doch mehr naturgemäss. Es ist aber
schliesslich, wie bei der Artfrage überhaupt, das in-
288 Sprachen innerhalb der Rasse.
dividuelle Gefühl des einzelnen entscheidend. Ob es
ein glücklicher Griff gewesen, die Stellung der Haare,
in einzelnen Büscheln oder gleichmässig über die Kopf-
haut vertheilt , sowie weiterhin ihre auf dem Querschnitt
mehr platte und ovale oder kreisrunde Form, endlich
die Neigung sich zu locken oder straff und schlicht zu
bleiben, der Eintheilung des Menschengeschlechtes z\l
Grunde zu legen, muss die Zukunft lehren.
Die zwölf in der obigen Stammtafel aufgeführten
Kassen sind nach naturhistorischen Merkmalen zu kenn-
zeichnen, und da innerhalb der am besten bekannten
Kassen sich Sprachen und Sprachfamilien ünden, welche
einen gemeinschaftlichen Ursprung ausschliessen , so
folgt daraus, dass die Sprachbildimg erst begonnen,
nachdem der noch sprachlose Urmensch in Kassen aus-
einander gegangen war. Alle Zeitrechnung für geolo-
gische Perioden und Urgeschichte sind zwar höchst
trügerisch, dennoch wollen wir uns eine Schätzung
gefallen lassen, welche Friedrich Müller für die Ent-
wickelung der Sprachen innerhalb der mittelländischen
Kasse angestellt hat. Die Sprachstämme innerhalb der,
vorzugsweise das Becken des Mittelmeeres umwohnen-
den Völker sind : Baskisch , ' kaukasische Sprachen,
hamito-semitische Sprachen, indo-germanische Sprachen.
„Die Sprachen aller dieser vier Stämme", sagt Müller,
„sind, wie von den competentesten Sprachforschern
allgemein angenommen wird, miteinander nicht ver-
wandt. Wenn wir nun sehen, dass die mittelländische
Rasse vier miteinander in keinem verwandtschaftlichen
Verhältnisse stehende Volksstamme umfasst, so liegt
der Schluss nahe, dass, nachdem man jede Sprache
auf eine Gesellschaft zurückführen muss, die eine
Rasse nach und nach in vier Gesellschaften zerfiel,
deren jede selbständig ihre Sprache sich schuf. Eine
weitere Folgerung ist die, dass der Kasse als solcher
keine Sprache zukommt, indem ja, wenn dies der Fall
wäre, Rasse und Sprache sich gegenwärtig decken
müssten, was nicht der Fall ist.
Alter der Menschheit. 289
,,Wir müssen also annehmen, dass dem Menschen
damals, als die verschiedenen Völker der mittelländi-
schen Rasse eine Einheit bildeten, damals, wo der
Mensch keinem Volke, sondern nur einer Rasse an-
gehörte, die Sprache noch gänzlich gefehlt habe."
Müller hält annähernd 3000 Jahre für hinreichend für
den Zeitraum von dein Auseinandergehen der Rasse in
noch sprachlose Gesellschaften bis zu dem Zeitpunkt,
wo sie durch Sprachen geschiedene und charakterisirte
Völker bildeten, eine Zahl, welche manchem als
viel zu gering geschätzt scheinen dürfte. Wenn man
nun ferner an das alte Culturvolk der Aegypter an-
knüpft und die Zeit seiner muthmasslichen Wanderung
aus Asien veranschlagt, so „erscheint wenigstens das
Jahr 6500 vor Beginn unserer Zeitrechnung als jener
Zeitpunkt, wo wir von einem hamito-semitischen Ur-
volk im Norden Europas reden können". Es bestand
also'bereits vor 12000 Jahren eine mittelländische Rasse,
Welche Zeit aber nöthig war, den Urmenschen in die
Rassen sich scheiden zu lassen, liegt völlig ausser Be-
rechnung, und dies um so mehr, als nicht die ge«
ringsten Spuren von ihm bisjetzt gefunden worden
sind.
Mit dem allgemeinen Nachweis der Geologie, dass
die Perioden der Erdschichte unmerklich ineinander
übergingen, und dass insbesondere von den Tertiär-
zeiten durch die Diluvialperiode in die Gegenwart die
Continuität nur local unterbrochen wurde, hat die
ehemals für cardinal geltende Frage nach dem „fossi-
len Menschen" ein anderes Aussehen erhalten. In
Europa hat der Mensch mit dem für uns, weil sie
ausgestorben, „fossilen" Mammuth und dem Rhinoce-
ros mit knöcherner Nasenscheidewand (Elephas primi-
genius, Rhinoceros tichorhinus) zusammen gelebt. Es
ist behauptet worden, schon in der obertertiären Zeit,
habe der europäische Mensch existirt, allein die Be-
weise dafür sind anfechtbar. Was man von üeber-
ScHmDT, Descend^nzlehre. |9
290 Alter der Menschheit.
Pesten jener ältesten, uns bekannt gewordenen Men-
schen hat, zeigt eine hohe Entwickelung und gehört
unbedingt der Periode an, wo der Mensch schon in
der Sprache das Werkzeug gefunden hatte , die Schlacken
seiner niedrigen Herkunft allmählich abzustreifen. Mag
der Urmensch einst noch gefunden werden oder nicht,
über diese Herkunft ist entschieden.
X
Belege und Citate.
1 Luthardt, Apologetische Vorträge, 7. Vortrag, S. 129.
2 Philosophia qu aerit, theologia invenit , religio possidet
veritaiein^
» l'agefelatt der Naturforscher - Versammlung in Leipzig,
1872, S. 12. Die Rede ist auch im Sonderdruck erschienen.
* A. Fick, Physiologie, 1860.
* Wer «ich tiefer über das Problem der Empfindung aus,
einer allgemeinen Ureigenschaft der constituirenden Elementer
der Materie unterrichten will, ist auf das höchst klare und
interessante Werk zu verweisen: „Das ünbewusste vom
Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie" (Berlin
1872). Anonym erschienen.
* L. Geiger, Ueber den Ursprung der Sprache (Stuttgart
1869), S. 207.
^ Rollet, Ueber Elementartheile und Gewebe und deren
Unterscheidung. Rollet, Untersuchungen etc., 1871.
« Karl Ernst v. Bär, Ueber Entwickelungsge schichte der
Thiere. Beobachtung und Reflexion, 1828.
» A. a. 0., I, 223.
10 A. a. 0., I, 230 fg.
11 Credner, Elemente der Geologie, 1872, S. 353.
12 Agassiz, Essay on Classification, 1858. „It exhibits every-
where the working of the same creative Mind through all
times änd upon the whole surface of the globe."
1^ Rütimeyer, Beiträge zur Kenntniss der fossilen Pferde.
Verhandlung der naturforschenden Gesellschaft in Ba^el,
1868, m, 642.
1* Die Stellen sind aus einer Gelegenheitsrede: Oratio de
tellure habitabili, welche in den Amoenitates academicae
enthalten ist. „Initio rerum ex omni specie viventium uni-
cum sexus par fuisse creatum, suadet ratio."
19*
292 Belege und Citato.
* ' A. a; 0. : „Non multam a veritate me aberraturum con-
iido, si dixerim, omnem continentem terram fuisse in infan-
tia mundi aquis submersam et vaeto oceano obtectam , prae-
ter unicam in immensö hoc pelago insulain , in qua commode
habitaverint animalia omnia etvegetabilialaete germinaverint."
1* „Tot numeramus species, quot ab initio creavit infini-
tum ens."
1^ E. GeoflProy St.-Hilaire schrieb an Cuvier: „Venez
jouer parmi nous le role de Linne, d'un autre legislateur de
l'histoire naturelle."
18 Ossements fossiles.
1^ L. Agassiz, An Essay on classiiication, 1859, S. 253.:
„Äs representatives ofSpecieSf individual animals bear the
dosest relations to one another; they exhibit definite rela-
tions also to the surrounding element and their existence
is limited within a definite period.
„Ä8 representatives of Genera, these same individuals have
a definite and specific ultimate structure , identical with that
of the representatives of other species etc. — Dazu S. 261 :
„Branches or tffpes, are characterized by the plan of their
structure ;
„Classes, by the manner in which that plan is executed,
as far as ways and means are concered;
„ Orders, by the degrees of complication of that structure ;
„FamüieSf by their form, as far as determined by structure ;
„Genera, by the details of the execution in special parts; and
,j Species, by the relations of individuals to one anotber
and to the world in which they live, as well as by the pro-
portions of their parts, their ornamentation etc."
^® Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen (Ber-
lin 1866), II, 323 fg. ,
*i L^espece est — „la reunion des individues descendant
Tun de rautre et des parents conununs, et de ceux qui
leur ressemblent autant qu'ils se ressemblent entr'eux".
Cuvier, Le regne animal.
*2 0. Schmidt, Die Spongien der Küste von Algier, 1868,
und Versuch einer Spongienfauna des atlantischen Gebietes,
1870.
^* Haeckel, Die Kalkschwämme. Eine Monographie in
zwei Bänden Text und einem Atlas mit 60 Tafeln Abbil-
dungen (Berlin 1872).
** Hilgendorf , lieber Planorbis multiformis im Steinheimer
Süsswasserkalk. Monatsbericht der Berliner Akademie aus
dem Jahre 1866, S- 474 fg-
*5 Waagen, Die Formenreihe des Ammonites «lubradiatus^
Beneke's Beiträge, 1869, Bd. 2.
Belege und Citate. 293
Zittel, Die Fauna der altern Oephalopoden führenden
Tithonbildungen. Paläontologische Mittheilungen, 1870.
Neumayr, Jurastudien. Jahrbuch der geologischen Reichs-
anstalt 1871.
L. Würtenberger , Neuer Beitrag zum geologischen Be-
weise der Darwin'schen Theorie („Ausland", 1873).
** Darwin, Das Variiren der Pflanzen ulid Thiere im Zu-
stande der Domestication. Uebersetzt von Carus (Stuttgart
1868). — Unsere Citate beziehen sich auf diese Ausgabe.
** L. Oken, Die Zeugung, 1805. Lehrbuch der Natur-
philosophie, 1809—11, 3 Thle.
** Ich entlehne die folgende Darstellung meinem Essay:
„"War Goethe ein DaTwinianer?" Gratz, Leuschner und Lu-
binsky, 1871.
Dazu ein anderes Schriftchen von mir: „Goethe's Verhält-
niss zu den organischen Naturwissenschaften'* (Berlin
1852).
Zu den im Text mitgetheilten Stellen, welche Goethe als
Darwinianer erscheinen lassen könnten, sei noch folgende
aus Eckermann's „Gespräche mit Goethe" mitgetheilt (3. Aufl.,
S. 191): „So hat der Mensch in seinem Schädel zwei un-
ausgefüllte hohle Stellen. Die Frage warum? würde hier
nicht weit reichen, wogegen aber die Frage wie? mich be-
lehrt, dass diese Höhlen Reste des thierischen
Schädels sind, die sich bei solchen geringern Or-
ganisationen in stärkerm Masse befinden, und die
öich beim Menschen, trotz seiner Höhe, noch nicht
ganz verloren haben."
'® Ein etwas abschätziges Urtheil über Goethe's Bedeutung
auf iinserm Felde fallt V. Carus in seiner „Geschichte der
Zoologie" (München 1872). Der Leser möge vergleichen:
„Wie wenig ihm trotz seiner wiederholten Beschäftigung mit
Anatomie ein wirklicher Einblick in den gesetzmässigen Bau
der Thiere gelungen war, beweist seine Einleitung in die
vergleichende Anatomie. Er findet hier keinen andern Weg,
zwischen dem trockenen Detail der beschreibenden Anato-
mie und der ihm unbestimmt vorschwebenden Morphologie
zu vermitteln, als die Idee eines Urtypus för die Thiere
anzudeuten, welchen er aber weder detiniren, noch durch
allgemeinere Andeutungen einigermassen anschaulich machen
kann. Seiner ganzen Eigenheit nach war ihm ein solcher
Typus Bedürfniss , aber nicht wissenschaftliches , sondern
ästhetisches u. s. w." S. 590.
'* R. Owen hat sich über seine Stellung zur Descendenz-
lehre im Schlussheft seines „Lehrbuches der vergleichenden
Anatomie der Wirbelthiere" ausgesprochen. Dasselbe ist
294 Belege und Citate.
separatim ausgegeben u. d. T.: ,,Deri7ative hypothesis of
life and species", 1868.
•^ A. a. 0. „ — such cause being the seryant of predeter-
mining intelligent will.''
** )^o one can enter the saddling ground at £p8om be-
fore the start for the Derby, without feeling, that the
glossy-coated, proudly-stepping creatnres led out before him
are the most perfect and beautiful of quadrupeds. As such,
I believe the Horse to have been predestined and prepared
for Man." A. a. 0., S. 11.
'' „I deem an innate tendency to derivate from parental
type, operating throi^h periods of adequate duration, to
be the most probable nature or way «oi Operation of the
secondary law, whereby species have been derived one from
the other." A. a. 0., S. 22.
3* Lamark, Philosophie zoologique (Paris 1809). Im Text
sind folgende Stellen berücksichtigt:
„Aussi l'on peut assurer que, parmi ses productions la
nature n'a reellement forme ni classes, ni ordres, ni £amille8,
ni especes constantes, mais seulement des individus qui se
suocedent les uns aux autres, et qui ressemblent ä ceux qui
les ont produits. Or, ces individus appartiennent a des
raoes innniment diversifiees, qui se nuancent sous toutes
les formes et dans tous les degres d'organisation, et qui
chacune se conservent sans mutation, tant qu^aucune cause
de changement n'agit sur eUes." I, 22.
„La supposition presque generalement admise, que les corps
vivans constituent des especes constamment distinctes par
des caracteres invariables, et que Fexistence de ces especes
est aussi ancienne que celle de la nature mSme, fai etablie
dans un temps, oü Ton n'avait pas suffisamment observe, et
oü les Sciences naturelles etaient a peu pres nulles. £lle
est tous les jours dementie aux yeux de ceux, qui ont beau-
coup vu et qui ont lonff-temps suivi la nature." I, 54.
,,Le8 especes n'ont reellement qu'une constance relative ä
la duree des circonstances dans lesquelles se sont trouves
tous les individus qui les representent." I, 5ö.
„ — les considerations etc.. nous fönt voir:
„1) Que tous les corps organises de notre globe sont de
veritables productions de la nature , qu'elle a successivement
executees a la suite de beaucoup de temps;
„2) Que dans sa marche la nature a commence, et recom-
mence encore tous les jours, par former les corps organises
les plus simples et qu'elle ne forme directement que ceux-
lä, c'est ä-dire que ces premieres ebauches de Torganisation^
qu'on a designees par Texpression de generations spontanees i
Belege und Citate. 295
„3) Que les premieres ebauches de l'animal et du vegetal
«tant formöes dans les lieux et les oirconstances convenables,
lea fticult^s d'une vie coinmen§anie et d'un mouvement or*
^anique etabli ont necesöairemönt developpe peu ä peu les
organes, et qu'avec le temps elles les ont diversifies ainsi
que les parties ;
„4) Que la faculte d'accroissement dans chaque portion du
Corps organise etant ittherente aux premiers effets de la vie,
eile a donne Heu aux diff^rens modes de multiplication et
de regenerations des individus ; et que par lä les progres
acquis dans la composition de l'organisation et dans la forme
-et la diversite des parties , ont ete conserves ;
„5) Qu'ä l'aide d*un temps süffisant, des circonstances, qui
ont ete necessairement favorables, des changemens que tous
les point» de la öurface du globe ont successivement subis
dans lettr 6tat, en un mot, du pouroif qu'ont les nouyelles
situations et les nouvelles habitudes pour modifier les or-
ganes des Corps doues de la vie, tous ceux qui existent
maintenant ont ete insensiblement formes tels que nous les
voyons ;
„6) Enfin, que d'apres un ordre semblable de choses, les
Corps vivants ayant eprouve chacun des changemens plus
on moins grands dans l'etat de leur Organisation et de leurs
parties, ce qu'on nomme espece parmi eux a ete insensible-
ment et successivement ainsi forme, n'a qu'une constance
relative dans son etat, et ne peut ^tre aussi ancien que la
nature.*' I, 65 fg.
„La Progression dans la composition de Porganisation subit,
^ä et lä, dans la serie generale des animaux des anomalies
operees par Tinfluence des circonstances d'habitation, et par
Celle des habitudes contractees." I, 135.
„i)ans tout animal qui n'a point depasse le terme de ses
developpemens , l'emploi plus frequent ei routine d'utt Or-
gane quelconque, fortifie peu ä peu cet organe, le deve-
loppe, l'agrandit, et lui donne une puissance proportionnee
ä la duree de cet emploi; tandis que le defaut constant
d'uÄrtg'c de tel organe l'affaiblit insensiblement, le d^eriore,
diminue progreftaivement ses facultes et finit par le fai-re
disparaitre.
,^Tout ce que' la nature a fait acquerir ou perdre aux in-
dividus par Finfluence des circonstances oü leur race se
trouve depuis long-temps exposee, et, par conseqüent, par
Tinfluence de l'emploi predominant de tel organe ou par
Celle d'un defaut constant d'usage de teile partie, eile le
conserve par getieration aux nouveaux indi\adus, qui en
^oriennent." I, 285.
296 Belege und Citate.
„La volonte dependant toujours d'un jugement quelcon-
que, n'est Jamals veritablement libre; car le jugement qui y
donne lieu, est, comme le quotient d'une Operation arith-
metique, un resultat necessaire de l'ensemble des elemen»
qui Tont forme." I, 342.
„Les animaux contractent, pour satisfaire a cea besoins^
diverses sortes d'habitudes, qui se transforment en eux en
autant de penchans, auxquels ils ne peuvent resister et
quHls ne peuvent changer eux-memes. De lä l'origine de
leurs actions habituelles et de leurs inclinations particulieres,
auxquelles on a donne le nom dUnstinct. Ce penchant des ani-
maux ä la conservation des habitudes et au renouvellement
des actions qui en proviennent, etant une fois acquis, se
propage ensuite dans les individus, par la voie de la repro-
duction ou de la generation, qui conserve l'organisation et
la disposition des parties dans leur etat obtenu; en sorte
que ce meme penchant existe deja dans les nouveaux indir
vidus, avant meme qu'ils l'aient exerce." I, 325.
Zu der 1873 in Paris bei Savy erschienenen zweiten Auflage
der „Philosophie zoologique" hat der ausgezeichnete Pro-
fessor in Montpellier , Charles Martins , eine vorzügliche
Lebensbeschreibung und Würdigung Lamark's als Einleitung
gegeben.
'* Der scharfsinnige Verfasser des Werkes: „Das ünbe-
wusste" (s. Note 3), definirt im wesentlichen den Instinct
nicht anders als'Lamark: „In diesem Sinne kann man sagen,
jeder Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter In-
stanz ererbte Gewohnheit, und das Sprichwort: Gewohn-
heit ist die zweite Natur — erhält dadurch die unerwartet©
Ergänzung, dass die Gewohnheit zugleich auch das Prius und
der Ursprung der ersten Natur, d. h. des Instincts ist»
Denn immer ist es die Gewohnheit, d. h. die häufige Wie-
derholung der nämlichen Function, was die gleichviel wie
hervorgerufene Handlungsweise den Centralorganen des Ner*
vensystems so fest eingräbt , dass die so entstandene Prädis-
position vererbungsfahig wird. A. a. 0., S. 182.
®* Die wichtigste Lehre, welche Lyell mit seiner reichen
Erfahrung begründet, ist ebenfalls von Lamark in der „Phi-
losophie zoologique" klar und bündig ausgesprochen: „Si
Von considere, d'une part, que dans tout ce que la nature
opere, eile ne fait rien brusquement, et que partout eile
agit avec lenteur et par degres successifs, et de l'autre part,.
que les causes particulieres ou locales des desordres, dea
bouleversemens , des deplacemens etc. peuvent rendre rai-
son de tout ce que l'on observe ä la surface de notre globe,
et sont neanmoins assujetties ä ses lois et ä sa marphi^
Belege und Citate. 297
generale, on reconnaitra, qu'il n'est nuUement necessaire de
supposer qu'une catastropne universelle est venue culbuter
et detruire une grande partie des Operations memes de la
nature." I, 80.
2^ Principles of Geologie.
88 Sowol im Jahre 1870 als 1872 stellte die Majorität der
iranzösischen Akademie Darwin dieses Zeugniss aus. Der
wiederholte Vorschlag, ihn zum Mitglied zu wählen, fiel
durch, allerdings nicht ohne dass Männer wie Lacaze -Duthiers,
Milne - Edwards und Quatrefages den wissenschaftlichen
Richtern den Standpunkt klar machten.
^® Wir citiren folgende Uebersetzungon und Auflagen von
V. Carus: üeber die Entstehung der Arten durch natür-
liche Zu<;htwahl, oder die Erhaltung der begünstigten Ras-
aen im Kampfe ums Dasein (5. Aufl., 1872).
Die übrigen hierher gehörigen Werke sind:
Das Yariiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der
Domestication (oben Note 26).
Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche
Zuchtwahl (2, Aufl., 1871).
Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem
Menschen imd den Thieren, 1872.
*® Malthus (1798) untersucht die Bedingungen der Zu- und
Abnahme und des Gedeihens der menschlichen Bevölkerung.
Er findet, dass die Zunahme der Bevölkerung nothwendiger-
weise beschränkt ist durch die Subsistenzmittel , und dass das
Wachsthum im Verhältniss zu den Subsistenzmitteln zu-
nimmt, abgesehen von einigen besondem und leicht zu ent-
deckenden Hindernissen. Diese Hindemisse, welche die
Bevölkerung noch immer unter dem von den Subsistenz-
mitteln gewährten Masse zurückhalten, sind der moralische
Zwang, das Laster und das U^lück. Malthus schildert den
Kampf ums Dasein, ohne das Wort auszusprechen; er weist
nach, dass die Träume von zukünftiger seliger Gleichheit
der gesammten Menschheit auf der zu einem grossen Garten
umgestalteten Erde auf Täuschungen beruhen. Jedes Indi-
viduum muss vielmehr in unermüdlicher Thätigkeit sein, um
seine Lage zu verbessern. Aus den Erfahrungen der Thier-
züchter und Gärtner weiss er, dass Thiere und Pflanzen
verbessert und veredelt werden können, und zwar durch
Zuchtwahl. Von einer organischen Veredlung des Men-
schengeschlechts im ganzen sei nichts zu merken, auch
könnte das Menschengeschlecht nicht anders veredelt wer-
den, ale indem man die weniger vollkommenen Individuen
zur Ehelosigkeit verdammte.
Es sind wol diese und ähnliche Gedanken des Werkes
298 Belege und Citate.
von Malthus, durch welche Darwin, wie er angibt, zu seiner
Theorie angeregt wurde.
*i Das Variiren, II, 252.
** Sehr lehrreich in Bezug auf die Artfrage sind auch die
Abhandlungen von A. Kemer: „Gute und schlechte Arten"
(Innsbruck 1866), und „Die Abhängigkeit der Pflanzenwelt
von Klima und Boden. Ein Beitrag zur Lehre von der Ent-
stehung und Verbreitung der Arten, gestützt auf die Ver-
wandtschaftsverhältnisse, geographische Verbreitung und
Geschichte der Cytisusarten aus dem Stamme Tubocytisus
D. C", 1869. Eine vorzügliche Untersuchung über Ver-
änderlichkeit, Anpassung und Artbildung ist endlich Kemer's
neueste Schrift: „Die öchutJttttittel des Pollens" (Innsbruck
1873).
*' Die Mittheilung in der „Entst^ung der Arten" (5. Aufl.,
Kap. 3; nach der 6. engl. Aufl.).
** Ebend., S. 96.
** Ebend., S. 141.
** S. 7. Die folgenden Seiten enthalten eine Zusammen-
fassung der Einwürfe über die Unzulänglichkeit derSelections-
theorie.
*^ Moritz Wagner, Die Darwin'sche Theorie und das Mi-
grationsgesetz der Organismen, 1868. Hierzu 48 u. 49.
** August Weismann, Ueber den Einfluss der Isolirung
auf die Artbildung, 1872.
** Nägeli, Entstehung und Begriff der naturhistorischen
Art (Sitzungsberichte der bairischen Akademie der Wissen-
schaften), 1865. Die neuem Untersuchungen Nägeli's (Sitzungs^
berichte der mathematisch-physikalischen Klasse der Münchner
Akademie, 1872, S. 305) bestätigen die Descendenzlehre. Er
weist nach, dass die Geselligkeit nahe verwandter Arten und
ihrer Varietäten für die Speoiesbildung sich förderlicher er-
weisen als die Isolirung. „Die in Gesellschaft beisaniitien-
lebenden Formen — gewisser Alpenpflanzen — haben sich
mit Rücksicht auf ihre Merkmale gleichsam gegenseitig ge-*
modelt, sie zeigen, um mieh so auszudrücken, einen tipe-
cifischen Gesellschaftstypus, der für jede Gesell-
schaft, somit für jede Gegend ein anderer ist.
Diese Thatsache zeigt unwiderleglich, dass die Formen,
seit sie beisammenwohnen, sich verändert haben.
„Ihr speciflscher Gresellschaftstypus besteht darin , dass sie
in gewissen Merkmalen eine bemerkcnswerthe Uebereinstim-
mung zeigen, während sie in andern Merkmalen Extreme
darsteilen und darin zuweilen über alle in andei*n Gegenden
vorkommende Verwandte hinausgehen.
„Aus ^diesen Thatsachen ergibt sich unzweifelhaft, dass
Belege und Citate. 29 &
die Bewegung in den coenob^tischen (d. i. gesellschaftlich
lebenden) Formen eine divergirende ist. Denn in ihnen
sind extreme Merkmale entwickelt, während die eremitischen
Formen in ihren Merkmalen ihre mittlem Bildungen dar-
stellen/^
Nägeli weist nach, dass und in welcher Weise bei Alpen-
pflanzen seit der Eiszeit eine Veränderung stattgefunden hat.
^^' J. Broca, L'ordre des primates. Parallele anatomique
de rhomme et des singes, 1870.
^^ Abstammung des Menschen, S. 132.
*2 Der Inhalt von Professor Max MüUer's: „Three lectures
■ou Mr. Darwin^s Philosophy on language" liegt uns im Mo-
ment, wo wir dies schreiben, leider nur in unvollständigen
Referaten der Tagesblätter und dem Programm mit Inhalts-
ang^abe vor.
^3 Zöllner, Ueber die Natur der Kometen (1. Aufl., S. 305).
^* Zur weitern Information des Lesers wollen wir über
die vor unserm Verstände sich sehr einfach erledigende
Angelegenheit des Uranfanges des Lebens noch einen Phi-
losophen und einen Naturforscher reden lassen. Es handelt
sich um Hypothesen über das Werden. In der kritischen
Beleuchtung der Philosophie des Unbewussten (7) heisst
es S. 22: „Die Philosophie des Unbewussten sagt S. 558:
Es ist wahrscheinlich, dass vor der Entstehung der ersten
Organismen schon organische Verbindungen niederer Stufen
vorhanden gewesen seien, welche sich (S. 556) unter dem
Einflüsse einer feuchten und sehr kohlensäurereichen Atmo-
sphäre, sowie der höhern Wärme, des Lichtes und starker
elektrischer Einflüsse gebildet hatten. Eignet man sich
diese Voraussetzungen an und fugt die Betrachtung hinzu,
dass, wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen ein-
mal, wie doch nothwendig, stattfanden, sie wol auch durch
ansehnliche geologische Zeiträume hindurch bestanden, so
ist in der That die Folgerung nicht zu umgehen, dass im
Laufe der Zeit und im Wechsel der Umstände diese organi-
schen Stoffe in zahllose Combinationen zueinander treten.
Unter diesen zahllosen Anordnungsweisen, Gruppirungen und
Verbindungen musste der bei weitem grösste Theil auf der
Stufe der unorganischen Form stehenbleiben, weil er nicht
die zu einer solchen nothwendige chemische Zusammen-
setzung und physikalischen Eigenschaften erlangte; ein sehr
viel kleinerer Theil der aus diesen Combinationen organi-
scher Materie hervorgegangenen Resultate mochte vielleicht
vorübergehend sich der organischen Form nähern, oder
auch wirklich in dieselbe eintreten, dabei aber nicht die
zur langem Behauptung derselben erforderliche Beschaffen-
300 Belege und Citate.
heit besitzen; ein dritter noeh kleinerer Theil vermochte
etwa für sich selbst diese Form im Wechsel des Stofifes so
lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die ungefähre Lebens-
dauer der primitivsten Protistenarten beträgt, entbehrte aber
derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und Fort-
pflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben
des Individuums erhalten; ein vierter Theil mochte sowoi
die zur Selbsterhaltung als die zur Gattungserhaltung nothwen-
digen Eigenschaften besitzen, entbehrte aber jener eigen«
thümlichen Tendenz, abzuändern («Philosophie des Unbewuss-
ten», S. 591) oder doch jener Tendenz, in der bestimmten
Richtung abzuändern, welche allein zur Entwickelung in
höhere Formen führen konnte; ein fünfter Theil endlich ber
sass auch diese Eigenschaft zu den übrigen. Die Nachkom-
inen der vierten und fünften Klasse unserer Unterscheidung
sind es, welche noch heute Meer und Erde bevölkern * : von
welcher Art von Moneren die Fortentwickelung zu Infusorien
ausgegangen ist, ob von einer der jetzt noch lebenden, oder
von einer untergegangenen Art, davon wissen wir noch
nichts; das aber schon können wir als sicher annehmen,
dass die Mehrzahl der Protisten, die wir heute noch kennen,
zu jener entwickelungsunfahigen vierten Klasse gehören.
Die ephemeren Schöpfungen unserer zweiten und dritten
Klasse konnten natürlich nur so lange ihren Bestand als
Arten gesichert sehen, als die günstigen Bedingungen ihrer
stets erneuten Urzeugung fortdauerten; die erste Klasse aber
würde vom teleologischen Standpunkt aus als die der gänz-
lich mislungenen Schöpfungsversuche zu bezeichnen sein.^^
Diese und ähnliche mehr oder minder ansprechende Phan-
tasien, auf die wir gar kein besonderes Gewicht legen, schö-
pfen insgesammt aus HaeckePs Hypothese der Autogonie
(„Generelle Morphologie der Organismen", I, 179 fg.), die
er nach seinen schönen Entdeckungen über die jetzt existi^
renden einfachsten Organismen, die Moneren und andere
Protisten, aufstellte. Wir heben daraus folgende Stelle her-
vor: „Zweifelsohne haben wir uns den Act der Autogonie,
der ersten spontanen Entstehung einfachster Organismen,
ganz ähnlich zu denken, wie den Act der Krystallisation.
In einer Flüssigkeit, welche die den Organismus zusammen-
setzenden chemischen Elemente gelöst enthält, bilden sich
infolge bestimmter Bewegungen der verschiedenen Moleculen
gegeneinander bestimmte Anziehungsmittelpunkte, in denen
* Einfacher und wahrscheinlicher ist wol die Erklärung, dass diese
niedrigen Organismen deshalb noch existiren, weil Platz für sie ist. Sie
hleiben übrig trotz der Differenzirung und infolge der Differenzirung.
Belege und Citate. 301
Atome der organogenen Elemente (Kohlenstoff, Sauerstoff,
Wasserstoff, Stickstoff) in so innige Berührung miteinander
treten, dass sie sich zur Bildung complexer ternärer und
quateruärer Moleculen vereinigen. Diese erste organische
Atomgruppe, vielleicht ein Eiweissmolecule, wirkt nun, gleich
dem analogen Kemkrystall, anziehend auf die gleichartigen
Atome, welche in der umgebenden Mutterlauge gelöst sind,
und welche nun gleichfalls zur Bildung gleicher Moleculen
zusammentreten. Hierdurch wächst das Eiweisskörnchen und
gestaltet sich zu einem homogenen organischen Individuum,
einem structurfosen Moner oder Plasmaklumpen, gleich
einer Protamoebe u. s. w. Dieses Moner neigt, vermöge der
leichten Zerlegbarkeit seiner Substanz, beständig zur Auf-
lösung seiner eben erst consolidirten Individualität hin, ver-
mag aber, indem die beständig überwiegende Aufnahme
neuer Substanz vermöge der Imbibition (Ernährung) das
Uebergewicht über die Zersetzungsneigung gewinnt, durch
Stoffwechsel sich am Leben zu erhalten. Das homogene or-
f panische Individuum oder Moner wächst nur so lange durch
utussusception , bis die Attractionskraft des Centrums nicht
mehr ausreicht, die ganze Masse zusammenzuhalten. Es
bilden sich, infolge der überwiegenden Divergenzbewegungen
der Moleculen nach verschiedenen Richtungen hin , nun in dem
homogenen Plasma zwei oder mehrere neue Anziehungsmit-
telpunkte, die nun ihrerseits anziehend auf die individuelle
Substanz des einfachen Moners wirken und dadurch seine
Theilung, seinen Zerfall in zwei oder mehrere Stücke her-
beiführen (Fortpflanzung). Jedes Theilstück rundet sich
alsbald wieder zu einem selbständigen Eiweissindividuum
oder Plasmaklumpen ab, und es beginnt nun das ewige Spiel
der Anziehung und Abstossung der Moleculen von neuem,
welches die Erscheinungen des Stoffwechsels oder der Er-
nährung und der Fortpflanzung vermittelt.*'
Haeckel hat ferner, gestützt auf die bekannten Eigenthüm-
lichkeiten der chemischen Verbindungen des Kohlenstoffes,
diesem in seinen Vorstellungen über die erste Entwicklung
des Lebens und der physiologischen Erscheinungen der nie-
drigsten Organismen die wichtigste Rolle angewiesen. Dies
ist die bei seinen Gegnern so berüchtigte „Kohlenstofftheorie."
Die Geister würden sich weniger darüber erhitzen, wenn man
aich gegenwärtig halten wollte , dass durch eine Widerlegung
dieses, wie Haeckel sagt, „gewagten Versuches", der Vorstellung
des Geschehens zu Hülfe zu kommen, an der zwingenden logi-
schen Nothwendigkeit der Anerkennung der Erweckung des
Lebens auf natürlichem "Wege nicht ein Haar geändert wird.
Die Gründe gegen die „Kohlenstofftheorie" sind unter anderm
302 Belege und Citate.
entwickelt von Preyer: „üeher die Erforschung des Lebens'^
JJena 1873). Es wird geltend gemacht, dass der Kohlenstoff
in seinen jetzigen terrestrischen Zuständen fast ausschliess-
lich auf organischen Ursprung führe und bisjetzt keine ge-
nügende Kohlenstoft'quelle für die erste Bildung lebender
Körper auf der Erde nachgewiesen sei.
** A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed.. London
1872), und
Contributions to the theory of natural selection (2d ed., 1871).
*® „Die Hypothese der Pangenesis, wie sie auf die ver-
schiedenen grossen Klassen von Thatsachen, wie sie jetzt
erörtert wurden, angewendet wird, ist ohne Zweifel äusserst
complicirt. Aber sicher sind es auch die Thatsachen. Die
Annahme indessen, auf deiiien die Hypothese ruht, kann man
nicht als in irgendeinem extremen Grad complicirt ansehen^
nämlich dass alle organischen Einheiten ausser dem Yer-
mögen, was allgemein zugegeben wird, durch Selbsttheilung
zu wachsen, noch die Fähigkeit haben, zahlreiche äusserst
kleine Atome ihres Inhalts, d. h. Keimohen abzuwerfen.
Diese vervielfältigen und verbinden sich zu Knospen und
den Sexualelementen. Ihre Entwickelung hängt von der
Vereinigung mit andern in der Entstehung begriffenen Zellen
oder Einheiten ab; und sie sind einer üeberlieferung im
schlummernden Zustande auf später folgende Generationen
fähig. In einem hoch organisirten und complicirten Thiere
müssen die von jeder verschiedenen Zelle oder Einheit durch
den ganzen Körper abgeworfenen Keimchen unbegreiflich
zahlreich und klein sein. Jede Einheit eines jeden Theiles
muss, wie er sich während der Entwickelung verändert (und
wir wissen, dass manche Insekten mindesten zwanzig Meta-
morphosen erleiden), ihre Keimchen abgeben. Üebei3ies er-
halten alle organischen Wesen viele von ihren Grossältern
und noch entferntem Vorfahren, aber nicht von allen ihren
Vorfahren herrührende schlummernde Keimchen. Diese fast
unendlich zahlreichen und kleinen Keimchen müssen in jeder
Knospe, in jedem Ei, Spermatozoon und Pollenkom einge-
schlossen sein. Eine solche Annahme wird für unmöglich
erklärt werden, aber Zahl und Grösse sind nur relative
Schwierigkeiten, und die von gewissen Thieren und Pflanzen
producirten Eier oder Samen sind so zahlreich, dass sie
vom Verstand nicht erfasst werden können." — Darwin, Das
Variiren, H, 526.
^^ A. Rollet, lieber die Erscheinungsformen des Lebens
und den beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges. Ahna-
ziach der kais. Akademie der Wissenschaften (Wien 1B72).
*8 Darwin, Das Variiren, I, 247.
Belege und Citate.
303^
^ V. Graber, Ueber den Tonapparat der Locustiden, ein
Beitrag zum Darwinismus, Zeitschrift fwr wissenschaftliefae
Zoologie, Bd. 22.
*o Hermann v. Nathusius, Vorstudien für öechiohte und
Zucht der Hausthiere, zunächst am Schweineschädel,, 1^64.
«' Ebendaselbst, S. 108.
®2 Abstammung des Menschen, S. 367.
*3 Entstehung der Arten, S. 153.
^^ Lamark hat am Schluss seiner „Philosophie Zoologiqne^^
auch schon einen Stammbaum construirt, in dem er die
Mehrzahl der Klassen unterbringt, während er dem Best einen,
andern Ausgangspunkt anweist. Er nimmt daher zwei durch
Urzeugung entstandene Urformen für das Thierreich an. Er
entwirft also folgendes
TaMeftm
servant ä montrer l'origine des difiPerents animaux.:
Vers Infusoires
" * * ^ Polypes
* * * Badiaires
Annelides
Cirripedes
Mollusques
Insectes
Arachnides
Crustacees
Poissons
Beptiles
« «
« «
^ «
Oiseaux
Monotremes
Mammales amphibiens.
«
* *
M, cetaces
Mammales onguicules
M. ongules
304 Belege und Citate.
Eine Vei^leichung dieses Stammbaums mit dem, welchen
wir heute aufstellen, ist höchst interessant und zeigt den
Fortschritt unserer Kenntnisse.
** „Zum Streit über den Dan^'inismus. " Augsburger
Allgemeine Zeitung, 1873, Nr. 130.
•• Die vorläufige, kurze Mittheilung in : „Revue scienti-
fique" (Paris 1873), Nr- 37.
•' Braun, lieber die Bedeutung der Entwickelung m der
Naturgeschichte (Berlin 1872).
„Das Pflanzenreich zeigt uns:
„I. Gewächse, welche in ihrer vegetativen Entwickelung der
Stufe des Pflanzenkeimes die erste ungeschlechtliche Gene«
ration in meist thallusartiger Ausbildung darstellen (Keim-
pflanzen, Bryophyten, wozu die Thallophyten der Autoren;
nebst den Characeen und Moosen);
„II. Gewächse, bei welchen die erste Generation transito-
risch ist und erst die zweite sich zum vegetativen, blatt-
bildenden Pflanzenstock entwickelt, jedoch ohne bis zur
Blütenpflanze fortzuschreiten (Stockpflanzen, Cormophyten,
wozu die Farm u. s. w.);
„III. Gewächse, bei welchen die Metamorphose bis zur Bil-
dung einer Blüte fortschreitet, jedoch ohne die letzte For-
mation, die der Fruchtblattbildung zu erreichen (Blüten-
pflanzen ohne wahre Früchte, gymnospermischeAnthophyten);
„IV. Gewächse , welche in einer wahren Fruchtbildung den
letzten und höchsten Abschluss vegetabilischer Entwickelung
erreichen (angiospermische Anthophyten, wozu Monocoty-
ledonen und Dicotyledonen als untergeordnete Abstufungen)."
*^ Da wir in diesem Abschnitte die individuelle Entwicke-
lung in Beziehung auf die allgemeine historische Entwicke-
lung besprochen, müssen wir hier wol auch der sonderbaren
Oeffnerschaft gedenken, welche der Descendenzlehre in
KöTliker erwachsen ist. Derselbe hat seine Ansichten in sei-
ner „Monographie der Pennatuliden" und in einem Separat-
abdruck niedergelegt, welcher den Titel fiihrt: „Morphologie
und Entwickelungsgeschichte des Pennatulidenstammes, nebst
allgemeinen Betrachtungen zur Descendenzlehre" (Frankfurt
1872). Während der Darwinismus die Continuität und Ein-
heit der organischen Welt aus der Variabilität, der natür-
lichen Züchtung, der Vererbung und Anpassung, kurz aus
greifbaren, sichtlich wirkenden Ursachen ableitet, ist KöUi-
ker dör Meinung, „dass dieselben allgemeinen Bildungsg^setze,
die in der anorganischen Natur walten, auch im Reiche des
■Organischen sich geltend machen,. und dass es somit durch-
aus nicht nothwendig eines gemeinsamen Stammbaumes und
■einer langsamen Umbildung der Formen ineinander hedarf,
Belege und Citate. 305
um die Uebereinstimmungen der Formen und Formenreihen
der belebten Weit zu erklären und zu begreifen" (a. a. 0.,
S. 3). Es erhebt wol niemand, ausser den ausgesprochenen
Dualisten, Einspruch gegen den ersten Theil des KöUiker'-
schen Satzes. Allein die Identificirung der Entwickelung
der organischen Individuen unter Ausschliessung der Gesetze
der Vererbung mit dem reinen Krystallisationsprocess oder
irgendeinem unter gegebenen Verhältnissen sich wiederholenden
chemischen Verbindungsvorgange ist eine doch kaum der
eingehenden Widerlegung bedürftige Aufstellung. Kölliker
sagt und sucht zu beweisen, dass die sogenannte monophy-
letische Hypothese, wonach die verschiedenen Stämme der
Organismen von einer einzigen Urform abzuleiten seien, mit
unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Grössere
Wahrscheinlichkeit besitze die vielstämmige (polyphyletische)
Descendenzhypothese. Gebe man dies aber zu, so — und
nun kommt ein kühner Gedankensprung — „sieht sich der
Anhänger einer polyphyletischen Descendenzhypothese in der
Lage, nicht nur den hohem Abtheilungen, sondern selbst
den Gattungen verschiedene Stammbäume und Urformen
anweisen und eine selbständige Entstehung derselben an-
nehmen zu können. Ja, es erscheint sogar gedenkbar, dass
eineund dieselbe Art in verschiedenen Stammbäu-
men auftritt, da bei der unabweisbaren Annahme allge-
meiner Bildungsgesetze nicht abzusehen ist, warum gleiche
Anfangsgestalten nicht auch unter Umständen zu gleichen
Endformen sollten führen Ifönnen" (a. a. 0., S. 21). Ja,
noch viel mehr leistet diese Hypothese, da „auch wenn In-
dividuen Einer Art an weiter entfernten Locali täten sich
finden, wie z. B. Pennatula phosphorea, Funiculina quadran-
gularis, Renilla reniformis u. s. w., es wol passender ist, eine
selbständige Entstehung derselben anzunehmen." Die Kölli-
ker'sche polyphyletische Hypothese macht allen Schwierig-
keiten ein Ende, so unter anderm erklärt sie die sogenann-
ten in unserm zehnten Abschnitte zu erwähnenden Repräsen-
tativformen, denn es sei von jenem „Standpunkte aus auch
gedenkbar , dass diese Formen genetisch gar nicht zusammen-
hängen, sondern besondem Stammbäumen angehören" (S. 23).
Und alles dieses und noch vieles andere soll begreiflich sein,
weil die Welt der Organismen in ihrer successiven Entwicke-
lung innern Ursachen oder bestimmten Bildungs-
gesetzen folge, „Gesetze, welche die Organismen in ganz
bestimmter Weise zu immer höherer Entwickelung treiben".
Dabei erwägt Kölliker (S. 38) , „ob nicht ebenso wie hier
Keime und Knospen, so auch frei lebende Jugendformen von
Thieren die Fähigkeit besassen, eine andere Entwickelung
Schmidt, Descendenzlehre. 20
306 Belege und Citate.
als die typische einzuschfagen" , bei welcher Freiheit das
Entwickelungsgesetz, das an entgegengesetzten Polen Indivi-
duen derselben Art schaffen kann und schaffen muss, arg in
die Brüche kommen müsste. Kölliker fasst (8. 44) seine-
Grundansckauung dahin zusammen, ,,dass bei und mit der
erBten Entstehung der organischen Materie und der Orga-
nismen auch der ganze Entwickelungsplan , die gesammte
Reihe der Möglichkeiten potentia mitgegeben wurde, dass
aber auf die Entwiükelung im einzelnen verschiedene äussere
Momente bestimmend ein-wirkten und derselben ein bestimjB-
tes Gepräge aufdrückten'*. Damit ist trotz der wissenschaft-
lichen Einkleidung der Dualismus fertig. Während die Phy-
sik und Chemie ihre für die unorganische wie für die orga-
nische Natur gültigen Gesetze nach Form, Inhalt und Wir-
kung verständlich machen, weiss Kölliker von der Beschaffen-
heit seiner Gesetze auch nicht ein Wort. Die iiehre der
natürlichen Züchtung lässt uns Ursachen und Wirkungen
der Vererbung und Anpassung erkennen und stellt die Er-
scheinungsreihen unter der Form von Gesetzen auf. Gesetze
aber, w^elche sich blos auf einen künftig zur Ausführung
kommen sollenden Plan gründen, im Dienste dieser Mitgift
der unvollkommenen Organismen stehen, kennt die Natur-
wissenschaft nicht.
*^ üeber die Herkunft unserer Tliierwelt. Eine zoo-
geographische Skizze von L. Rütimeyer (Basel 1867).
Wir benutzten im Text vielfach dieses höchst inhaltreiche
Schriftchen.
'^ A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed., London
1870). Die von uns im Text weiter unten mitgetheilten
Stellen finden sich S. 10 fg.
"^ G. Koch, Die indo-australische Lepidopteren-Fauna in
ihrem Zusammenhange mit den drei Hauptfaunen der Erde
(2. Aufl., Berlin 1873).
'2 Peschl, Neue Probleme der vergleichenden Erdkunde,
1870.
"^ Desto klarer ist die Zusammengehörigkeit von Masto-
(lon und Elefant. Zwischen dem pliocänen Mastodon Borsoni
und Elephas primigenius schieben sich 20 Arten ein, zu
denen unsere noch lebenden, die indische und afrikanische Art
gehören. Es wird damit die Grenze der beiden Grattungen
völlig verwischt. Elephas primigenius, der' Mammuth, selbst
zerfallt nach andern Angaben in mindestens vier geographi-
sche Spielarten, denen «ich amerikanische Arten anreihen.
Eine Zwergart des Elefanten ist in Höhlen auf Malta ge-
funden, welche dem Zahnbau nach sich an den afrikanischen
anschliesst.
Belege und Citate. 307
'* Job. Sohmidt, Die«Verwaudtsehattsvei;hältuisse der indo-
gerniaiiischen Sprachen, 1872.
^^ iVers^hiedene Gegner der Descendenzlehre haben ihrer
niumlischen Entrüstung, dass man den Stammbaum der
Wirbel thiere und damit den des Manschen sogar über die
Wirbelthiere hinaus bis zu so gemeinen Wesen wie die
Ascidien verfolgte, in den soliärfsten , eine wissenschaftliche
Erörterung ausschliessenden Ausdrücken Luft gemacht. 'Ein
anderes ist es mit solchen Kritikern der Beobachtungen Ko-
walewsky's und Kupifer's, welche das Thatsächliche iiner-
kennen, in der-Auslegung.aber abweichen zu müssen glauben.
Dahin zählt A. Giard in einer Arbeit über „Emybrogauie
des Ascidiens" („Archives de Zoologie experimentale", Paris
1872). Der Schüler von Laeaze-Duthiers sagt: „La chorde
et l'appendice caudal sont chez la larve Ascidienne des or-
ganes de locomotion d'une importance asscz secondaire
malgre leur generalite pour qu'on les voie disparaitre pres-
que entierement dans le genre Molgula oü ils sont devenus
inutiles par suite des moeurs de l'animal adulte; l'homologie
cntre cette chorde dorsale et celle des vertebres n'est donc
qu'une Jioniologie d^adaptation determinee ä remplir l'iden-
tite des fonctions , et n'indique i)as de rapports de parente
inimediate entre les vertebres et les Ascidiens." Der Ver-
fasser leugnet also die Blutsverwandtschaft der Wirbelthiere
und Ascidien und führt die der Gleichheit nahe kommende Aehn-
lichkeit der beiderseitigen, Organe auf die Anpassung zurück.
Die Folgerungen in jenen wenigen Sätzen scheinen uns voll-
ständig verfehlt zu sein. An der Wichtigkeit der Thatsachen
wird durch den Umstand, dass die Entwickelung bei Mol-
gula und so vielen andern Mantelthieren einen engem Gang
genommen, ebenso wenig etwas geändert, als etwa der Be-
deutung der Naupliusentwickelung des von Fritz Müller
beobachteten Peneus, sowie der der Segellarveu der Weich -
thiere dadurch Eintrag geschieht, dass die übrigen Decapo-
den das Naupliusstadium, oder die Landschnecken das Segcl-
larvenstadium eingebüsst haben. Worin aber die Gleichheit
der Functionen bestehen soll, welche bei den Wirbelthieren
die Chorda, notabene mit dem Rückenmark! (was Herr
Giard ganz vergisst), dort aber die homologie ä'adaptation
hervorzubringen im Staude wäre, ist uns geradezu unver-
ständlich. Wir sehen im Gegentheil diese Organe in den
beiden Gruppen schon deshalb ganz verschieden functioniren,
weil sie in der einen für das ganze Leben fundamental wich-
tig bleiben, bei der andern nicht. Wir legen daher um-
gekehrt auf die morphologische Gleichheit bei functioneller
'
,308 Belege und Citate.
Verschiedenheit den Nachdruck. Thatsächliches hat Herr
Giard nichts vorgebracht.
^® T. H. Huxley, Handbuch der Anatomie der Wirbel-
thiere. Uebersetzt von Ratzel, 1873, S. 230.
"^ March, American Journal of sciences and arts, Februar
1873.
'® Eckermann, Gespräche mit Goethe, H, 132.
'^ Rousseau, Emile (Oeuvres, Paris 1820, IX, 17). „Nous
n'avons point la mesure de cette machipe immense, nous
n'en pouvons calculer les rapports; nous n'en connaissona ni
les premieres lois ni la cause finale; nous nous ignorons
nous memes; nous ne connaissons ni notre nature ni notro^
principe actif."
®^ Metamorphose der Thiere.
81 R. Valdek in der „Presse", 1865, Nr. 327,
82 Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der
Natur, 1863. Uebersetzt von Carus.
Derselbe, Handbuch der Anatomie der Wirbelthiere, 1873^
Uebersetzt von Ratzel.
Broca , L'ordre des Primates. Parallele anatomique de
l'homme et des singes (Paris 1870).
83 Waitz, Anthropologie der Naturvölker, 6. Tbl., S. 796
(bearbeitet von Gerland).
8* Ebend., S. 708.
8* Augsburger Allgemeine Zeitung, 1873, Nr. 92 — 94, Beilage.
8^^ Die Vorlesungen, welche dieser Gelehrte in Strassburg
„Ueber die Resultate der Sprachwissenschaft" gehalten, habe
ich mit grossem Interesse und Nutzen gehört.
87 L. Geiger, Der Ursprung der Sprache, 1869, S. 37.
88 Steinthal, Der Ursprung der Sprache, 1851.
8» Fr. Müller, Allgemeine Ethnographie (Wien 1873).
Berichtigungen.
Seite 13, Seitenüberschrift, statt: Wirren, lies: Wissen
» 19, Zeile 2 v. u., st.: der, 1.: des
» 75, » f) V. o., st.: Aaslande, 1.: Atisbaue
76, » 7 V. u., St.: vornehmlich, 1.: vernehmlich
» 148, » 19 V. o., ist vor gerade einzuschalten: man
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
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INTi;pATlONAli;
WISSHNSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK.
II. BAND.
DESCENDENZLEHRE
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UNI)
DAßWINISMUS.
VON
OSCAR SCHMIDT,
PnuFESSOR AN DKR INI Vt'.RSFTÄT Zir MTRASSBURö.
MIT 2d ABBILDUN(JEX IN HOLZSCHNITT.
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LEIPZIG:
F, A. R R()(^K IIA ns.
1873.
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Vorlag von F. A. Brockliaus in Leipzig.
INTHRNATIONAI,!;
WISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK.
Unter diesem Gesammttitcl erscheint eine Reihe von Werken aus
dorn Gebiete der Social- und Naturwissenschaften, mit beson-
derer Berücksichtigung- der neuesten Fortschritte in denselben, von
]}ewährten Fachgelehrten mit wissenschaftliclier Schärfe, doch in an-
sprechender, allen Gebildeten verstündh'cher Darstellung verfasst. Ein
Kreis von Gch'hrten Englands, Deutschlands, Frankreiclis
und Amerikas hat sich auf Anregung hervorragender englischer
Autoren dazu vereinigt, dieses Untcrnelimen ins Leben zu rufen und
mit gemeinsamen Kräften zu fordern. Die Werke werden mr)orIichRt
gleichzeitig in autorisirten Ausgaben in. deutsclier, englischer
und französischer Sprache veröffentlicht.
Der Umfang der Bände ist auf 15—25 Bogen berechnet; wo es
der Gegenstand erfordert w^erden zur Erläuterung d('s Textes auch
Abbildungen in Holzschnitt, Tafeln, Pläne, Ivarten u. s. w. beigegeben.
Als erster Band der ., Inte maliona Jen irisscnschn/tlic/icn Bih/iofhek^'
erschien :
Tyndall, J. ^i)as AYasscr in seineu Formen als Wolken und
Flüsse. Eis inul Gletscher. Mit 20 Aldnklungen in Holz-
schnitt. Autorisirte deutsclie Ansi»:al)e. 8. Geheftet
IVa Thlr. (iel)un(len 1% Tlilr.
An der Iland des berühmten Verfassers die Alpenwclt durch- .
wandernd, cmpfiingt der Leser hier Belehrungen über die Natur der-
Wolken, des Regens und Schnees, der Gletscher und Eisberge, wie
sie so anschaulich noch in keinem Werke geboten wurden.
Demnächst werden erscheinen:
3. Hand. Bain, A. (ieist und Körper. Die Theorien über
ilir ü,egenseiti.t^es Verliältniss. Autorisirte Aus-
gahe. Mit 4 Abbildungen in Holzschnitt.
4. » Bagehot, W. Der Ursprung der Nationen. Be-
trachtungen über den Einfluss der natürlichen
Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung
politischer Genieimvesen. Autorisirte Ausgabe,
f). » Vogel, H. Die chemischen Wirkungen des Lichts
und die riiotograpliie. Mit zahlreichen Abbil-
dungen in Holzschnitt und rhotographien.
Weitere Blinde sind in Vorbereitung.
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Ein ausführlicher Prospect über die „ Infcntationale icissenfii'ha/t'
durch alle Buchhandlungen zu i
Druck von J'\ A. Brockliaus in Leipzig.
liehe Jiihliothck'' ist durch alle Buchhandlungen zu erhalten.
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