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Full text of "Descendenzlehre und Darwinismus"

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PROFESSOR GEORGE S. MORRIS, 

Professor in the University, 

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DARWINISMUS. 



VON I 

^OSCAR\JCHMIDT, ,s^^ ~ '*»* 

PBOFESSOB AK DBB UNIVEB8ITAT ZU STBASSBITROl 



MIT 26 ABBILDUNGEN IN HOLZSCHNITT. 




LEIPZIG: 
F. A. BROCKE AUS. 

1873. 



Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten. 



VORWORT. 






i 



^ Den wichtigen Schlussabschnitt dieses Werkes hAte 

ich in einem öffentlichen , auf der diesjährigen Versammlung 
der deutschen Naturforscher und Aerzte in Wiesbaden ge- 
haltenen Vortrage zusammengefasst, um, wie ich gern 
gestehe, in Erfahrung zu bringen, ob ich für einen 
nicht in Vorurtheil befangenen Kreis von Zuhörern und 
Lesern den richtigen Ton in diesem bedeutsamen Thema 
angeschlagen. 

Nach der Aufnahme, die das Bruchstück, welches 
ich übrigens auch in einem Separatabdruck unter dem 
Titel „Die Anwendung der Descendenzlehre auf den 
Menschen" erscheinen liess, gefunden, wage ich auf 
einen glücklichen Erfolg des Gesammtbildes zu hoffen. 

Abgesehen von der kirchenpolitischen Frage bewegt 
kein Gedankenkreis die gebildeten Zeitgenossen so , wie 
derjenige der Abstammungslehre. In beiden Angelegen- 
heiten heisst es: Farbe bekennen! Und so haben wir 



VI VOBWORT. 

unsern Standpunkt in der Einleitung scharf hervor- 
gehoben und im ganzen streng durchzuführen gesucht. 
„Es gilt in der That hier ein fundamentales Entweder, 
oder." Für diesen eben von einem Altmeister der phi- 
losophischen Naturbetrachtung, Theodor Fechner, ge- 
sprochenen Satz möge unsere Darstellung ein durch- 
sichtiges Zeugniss ablegen. 

Strassburg, den 18. October 1873. 



OSCAR SCHMIDT. 



INHALT. 



Seite 



Vorwort 



I. Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der 
Sprachforschung. Positive Vorkenntnisse für 
die Descendenzlehre. Wunderglaube. Die 

Grenzen der Naturforschung 1 

II. Die Thierwelt in ihrem gegenwärtigen Bestände 21 

III. Die Erscheinungen der Fortpflanzung in der 

Thierwelt 34 

IV. Die Thierwelt in ihrer geschichtlichen, paläon- 

tologischen Entwickelung 53 

V. Nochmals der Wunderstandpunkt und die Natur- 
forschung. Schöpfung oder natürliche Ent- 
wickelung. Linne. Cuvier. Agassiz. Unter- 
suchung des ArtbegrifFes 73 

VI. Die Naturphilosophie. Goethe. Prädestinirte 

Umbildung nach Richard Owen. Lamark . . 94 
VII. Lyell und die neuere Geologie. Darwin's Se- 

lectionstheorie. Anfang des Lebens 115 

VIII. Vererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. An- 
passung. Folgen des Gebrauchs und Nicht- 
gebrauchs der Organe. DifFerenzirung führt 
zur Vervollkommnung 151 



VIII INHALT. 

Seite 
IX. Die Entwickelung des Individuums (Ontogenie) 
ist eine Wiederholung der historischen Ent- 
wickelung des Stammes (Phylogenie) .... 179 
X. Die geographische Verbreitung der Thiere im 

Lichte der Abstammungslehre 205 

XI. Der Stammbaum der Wirbelthiere 229 

XII. Der Mensch 2G2 

Belege und Citate r 291 



I 



I. 

Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der Sprach-^ 

forschung. Positive Vorkenntnisse für die Descen- 

denzlehre. Wunderglaube. Die Grenzen der 

Naturforschung. 

1/urch die Menschheit und das Leben jedes sei- 
ner selbst sich bewussten Individuums zieht ein Ringen 
nach dem Verständniss des Daseins. Alle philosophi- 
schen Systeme haben in die Natur der Dinge zu dringen 
versucht, sind aus dem Streben nach der Erkenntniss 
des Zusammenhanges hervorgegangen, des Zusammen- 
hanges der grossen Reihen körperlicher und geistiger 
Erscheinungen, deren Mittelpunkt oder Endpunkt zu 
sein der Mensch sich schmeichelt. Die Einen beruhigen 
sich mit der Hervorhebung des Gegensatzes zwischen 
Geist und Körper, Idee und Erscheinung, die Andern 
mit dem Schlagwort der Identität, die Einen haben 
sich und die Welt in schönster Harmonie gefunden, 
die Andern, von den Buddhisten an seit dem 6. Jahr- 
hundert vor unserer Zeitrechnung bis zu den wunder- 
lichen Heiligen der Gegenwart, den Anhängern und 
Verbesserern Schopenhauer's , sehen in der irdischen 
Welt nur eine Anhäufung von Unbehagen und Conflict, 
welchem der Weise durch ein gänzliches Zurückziehen 
auf sich selbst und eine vom eisernen Willen erzwun- 
gene Rückkehr in die Bedürfnisslosigkeit und das Nichts 
entfliehen könne. 

Bei allen diesen Versuchen, sich mit der Welt zu 
»teilen und abzufinden, hat das allgemeine Bewusstsein 

Schmidt, Descendenzlehre. X 



2 Einleitung. 

nicht gerade bedeutende Fortschritte gemacht. So 
sehr man nämlich auf der einen Seite staunen muss 
über die Errungenschaften unsers Zeitalters, sei es 
auf den einzelnen wissenschaftlichen Gebieten, sei es 
auf dem Felde des Verkehrs und der Industrie, so 
wenig sicher und vorgeschritten ist das Urtheil der 
Menge bei jenen allgemeinen Fragen, so sehr lässt 
sich noch heute, wie zu Aristophanes' Zeiten, die 
Menge , auch ein grosser Theil der „Gebildeten", durch 
Schwindel und Phrase imponiren. Wir verbrennen 
keine Hexen mehr, aber noch immer blühen die Ketzer- 
gerichte. Unsere Experimental-Physiologie als Grund- 
lage einer wissenschaftlichen Medicin erfreut sich einer 
staatlichen Förderung und allgemeinen instinctiven 
Anerkennung, wie nie, was nicht hindert, dass in 
allen Kreisen der Gesellschaft der verwegensten Cur- 
pfuscherei die Thüre geöffnet bleibt. Man halte Rund- 
schau über die Spiritisten und Geistercitirer, welche 
jetzt eigene Sekten und Gesellschaften bilden, über die 
Anhänger der sy inpathetischen und Besprechungs- 
curen u. s. w., und man muss erstaunen über die Aus- 
dehnung der Herrschaft eines Aberglaubens, welcher 
dem Fetischdienst der von uns verschiedenen Menschen- 
art der Neger kaum etwas nachgibt. Es sind das nur 
specielle Fälle der sehr verbreiteten Urtheilslosigkeit, 
wenn es sich um das vermeintliche Räthsel des Men- 
schendaseins handelt. Millionen und abei; Millionen, 
welche mit Entrüstung sich abwenden würden, wenn 
sie glauben sollten, in der complicirtesten Maschine, 
in den verwickeltsten Erzeugnissen der chemischen 
Retorte, den sonderbarsten Resultaten des physikalisehen 
Experimentes ginge irgend etwas nicht völlig natürlich 
zu, diese Millionen sind geneigt, hinter den Lebens- 
vorgängen einen Dualismus zu suchen und überall, wo 
es sich um die, Erklärung des Lebens, die Zurück^ 
führung der Lebenserscheinungen auf die wahren natür- 
lichen Ursachen handelt, die Möglickeit einer solchen 
Erklärung und Erkenntniss geradeweg zu leugnen und 



Ergebnisse der Sprachforschung. 3 

* 

das Leben in das Gebiet des Unnahbaren und Mysti- 
schen zu verweisen. Oder, wenn man auch die Lösung 
der Lebensfrage im . allgemeinen zulässt, so will man 
wenigstens für das liebe Ich etwas besonderes und ein 
anderes Mass, als das, womit die übrigen Lebewesen 
gemessen werden. 

Sehen wir so auf der einen Seite den einen grossen 
Theil unserer Zeitgenossen entweder in völliger Rath- 
und Resultatlosigkeit der wichtigsten Frage gegen- 
überstehen, oder dieselbe mit Vier Offenbarungs-Theologie 
abmachen, so dürfen wir glücklicherweise auf der an- 
dern Seite auf die stattliche Schar derer hinweisen, 
welche, seit die Entwickelung der Wissenschaften es 
überhaupt zuliess, der Untersuchung über die Stellung 
des Menschen in der Natur eipe aufrichtige Theil- 
nahme entgegenbrachten und das Problem mit Ver- 
ständniss erwogen. Das Bedürfniss nach dieser philo- 
sophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntniss bricht etwa 
vor einem Jahrhundert durch und fällt mit den An- 
fängen der Sprachwissenschaft zusammen, worauf hier 
hinzuweisen um so passender ist , als die Theorien von 
dem Ursprung der Sprache von den Ansichten über 
den Ursprung des Menschen, und umgekehrt, innig 
berührt und beeinflusst werden. Nachdem im Jahre 
1580 das Resultat einer Untersuchung über die Sprache 
des Paradieses war, dass Gott dänisch, Adam schwe- 
disch und die Schlange französisch gesprochen, war 
es Leibniz, der in Briefen an Newton die Methode 
der Sprachforschung zu regeln suchte, indem er von 
dem Studium der neuern und bekannten Sprachen 
auszugehen anempfahl. Und als in der Mitte des 
vorigen Jahrhunderts die Ansichten, ob die Sprache 
erfunden oder geoffenbart sei, sich schroff gegenüber- 
standen, und Süssmilch (1764) gegen Maupertuis 
und Jean J. Rousseau geltend gemacht hatte, dass 
Erfinden ohne Denken, Denken aber ohne Sprache 
nicht möglich, folglich ein Erfinden der Sprache ein 
"Widerspruch in sich sei , trat gelegentlich dieses Strei- 

1* 



4 Ergebnisse der Sprachforschung. 

tes Herder, 1770, mit seiner epochemachenden Schrift 
über die Sprache hervor. Sie beginnt nach ihm mit 
anfänglich fast unbewusster Schallnachahmung, als dem 
Kennzeichen, wie er sich ausdrückt, bei welchem die 
Seele sich einer Idee deutlich besinnt. Er lässt die 
Sprache sich aus den rohesten Anfängen in dem stei- 
genden Bedürfniss nach solchen Wortzeichen entwickeln ; 
und mit der Entwickelung der Menschheit habe auch 
der Sprachschatz von selbst, d. h. unbewusst und in- 
stinctiv zugenommen. . Die Mannichfaltigkeit der Spra- 
chen sei durch das Auseinandergehen der Völker be- 
dingt, deren Eigenart sich in den verschiedenen 
Sprachen abspiegele. Schon Herder also hebt die 
Wichtigkeit einer Völkerspsychologie hervor. An ihn 
schloss sich Wilhelm von Humboldt an , dessen 
Ansichten die Grundlage der heutigen Sprachwissen- 
schaft bilden. Die Schallnachahmungen, lehrt er, fixiren 
sich instinctiv zu Worten, und mit dieser Wort- und 
Sprachbildung beginnt das Denken. Es geht aus der 
Natur dieser Anfänge hervor, dass die Sprache der 
natürliche Ausdruck des Yolksgeistes ist, dass sie nicht 
stillsteht, sondern in steter Wandlung begriffen ist. 

Die Sprachwissenschaft mit ihren grossen Erfolgen 
setzt die wichtigste Seite des menschlichen Wesens 
ins Licht; sie zeigt uns aber doch nur diese eine Seite, 
den Menschen in seiner allmählich errungenen Er- 
hebung über die übrige Lebewelt. Obgleich schon 
Jene oben erwähnten Begründer der Sprachforschung, 
halb unbewusst, halb bewusst den Menschen erst mit 
der aus primitiven Anfängen hervorgehenden Sprache 
zur Vernunft kommen und zum Menschen werden 
Hessen, hat man sich allgemein doch damit begnügt, 
die privilegirte Stellung des Menschen als eine schlecht- 
hin gegebene oder sich von selbst verstehende anzu- 
nehmen, und dies so lange, als die Naturwissenschaft 
ihre Befriedigung in dem blossen oberflächlichen Ordnen 
der Organismen fand. Der Mensch, als aus Fleisch 
und Blut bestehend, erschien freilich als ein Ver- 



Was ist Verwandtschaft? 5 

wandter der höhern Thiere; allein so lange die Her- 
kunft dieser, ihre eigene Blutsverwandtschaft nicht 
erörtert war, und man sich mit ihrer Nebeneinander- 
stellung nach der Uebereinstimmung ihrer Kennzeichen 
begnügte, ohne die tiefere Ursache der Abweichung 
oder Gleichheit zu discutiren, nahm der Mensch im 
System der lebenden Wesen ohne Widerspruch die 
höchste Stufe ein. Linne stellt in der Ordnung der 
Primaten mit den Gattungen Fledermaus, Halb- 
affe und Affe den Menschen zusammen, ohne deshalb 
von Kanzeln und Kathedern eines Attentats auf die 
Würde der Menschheit angeklagt zu werden , wie denn 
auch Buffon ungestraft die Laune haben konnte, 
gerade bei Beschreibung des Esels sehr speciell unser 
Geschlecht zu besprechen. Erst als in der neuesten 
Zeit die Welt hörte, dass jenes bisher mit grosser 
Gleichgültigkeit ausgesprochene Wort „Verwandtschaft" 
ernstlich und wörtlich genommen werden solle, indem, 
was verwandt, auch die Frucht eines und desselben 
Baumes sei, durchzuckte diejenigen, denen der Mensch 
als ein durchaus innerhalb der Natur stehendes Wesen 
erschien, ein Strahl der Erkenntnissfreude. Die übrigen 
aber, welche sich den Menschen nur als absolut vor 
seiner natürlichen Umgebung privilegirt vorstellen 
können, mussten in der Deduction, den eine allum- 
fassende Theorie in unabwendbarer Consequenz auf 
den Menschen machte, eine Art von Verbrechen er- 
blicken. 

Die Theilnahme, welche man der neuern Verwandt- 
schafts - und Abstammungstheorie entgegengebracht, 
geht daher nicht blos von Freunden, sondern ebenso 
sehr von Gegnern aus, denen mehr oder minder klar 
die Gefährlichkeit der neuen Lehre für ihren Wunder- 
Standpunkt vorschwebt. Obschon auch in England die 
Opposition gegen den grossen Landsmann, an dessen 
Namen sich die Umwälzung knüpft, sehr bedeutend, 
besonders seit es offenbar, dass er, sich getreu blei- 
bend, auch den Menschen in das Bereich seiner Unter- 



Q Hinweis auf Darwin. 

suchungen gezogen und alle Folgen seiner Lehre auf 
ihn angewendet wissen will, scheint mir doch diesseit 
des Kanals der Streit und die Aufregung noch leben- 
diger, wo der Darwinismus das tägliche Brot der 
Tagesblätter, der philosophischen und theologischen 
Zeitschriften. Nun, diese Erscheinung liegt vor aller 
Augen, und wir sind von der einschneidenden Wich- 
tigkeit des Gegenstandes überzeugt, der, je nachdem 
man für oder wider ihn gewonnen wird, unsere ganze 
Lebensanschauung beeinflusst. Und dabei begegnet es 
vielen, wie so häufig bei Fragen, deren Schwierigkeit 
durch eine scheinbar allgemeine Vertrautheit mit der 
Sache verdeckt wird: über das Leben meint jeder ur- 
theilen zu können; und da für den Laien das Alpha 
und Omega der Abstammungslehre die berüchtigte 
Affenverwandtschaft ist, und oft gerade die unklarsten 
Köpfe am unfehlbarsten von ihrer eigenen Höhe über- 
zeugt sind, so hört man über keine Angelegenheit so 
häufig oberflächliche, von der gröbsten Unwissenheit 
zeugende Urtheile, meist verdammende, als über die 
vorliegende. 

Ich wünsche nun den Leser in den Stand zu setzen, 
das ganze verzweigte und verwickelte Problem der 
Abstammungslehre und ihre Begründung durch Dar- 
win zu übersehen und die Cardinalpunkte desselben 
zu verstehen. Dabei ist zuerst eine Vorfrage von all- 
gemeiner Wichtigkeit und besonderer Bedeutung zu 
erledigen, welche so oft von den philosophischen und 
theologischen Gegnern hingeworfen wird, die Frage 
nach den Grenzen der Naturforschung überhaupt. Denn 
wenn es principiell feststände, dass das Geheimniss des 
Lebendigen ein anderes sei, als das des Nicht-Leben- 
digen, dass dieses enthüllbar, jenes mit einem nie zu 
hebenden Schleier verdeckt, wie man das jetzt noch 
so oft behaupten hört, dann wäre auch die auf die 
Ergründung des Lebens gerichtete Forschung von vorn 
herein eitel und aussichtslos. Sollte sich aber der 
Erforschlichkeit des Lebens und Werdens kein aprio- 



Systematik. 7 

ristisches Bedenken entgegenstellen, sollten vielmehr 
die jedenfalls vorhandenen Grenzen der Forschung und 
Erkenntniss für die belebte Natur keine andern sein, 
als für die unbelebt^ Körperwelt, so dürfen wir un- 
serer Aufgabe näher treten. Ich meine, dass dies am 
zweckmässigsten damit geschieht, dass wir uns mit 
dem Object der Abstammungslehre etwas vertraut 
machen , wobei wir uns auf die Thierwelt beschränken. 
Wenn ich also sage, dass wir eine Unterlage für die 
Abstammungs- oder Descendenztheorie , für die Lehre 
von der allmählichen directen Entwickelung der höhern 
und jetzt existir enden Organismen aus niedrigem Stamm- 
formen, die Lehre von der Continuität des Lebens 
gewinnen müssen, so handelt es sich zuerst um einen 
Ueberblick über die jetzt über die Erde verbreiteten 
Thierformen. Wie die Himmelskunde mit der blossen 
Fixirung der Gestirne und Sternbilder und der Kennt- 
niss ihrer scheinbaren Bewegungen beginnt, so fixiren 
auch wir in grossen Zügen das Material und zwar in 
der Weise , wie sie durch die historische Entwickelung 
der Wissenschaft geboten ist. 

Was dem Beobachter der Thierwelt unmittelbar in 
die Augen fällt, ist ihr Bestand an scheinbar un- 
zähligen Formen. Das erste Bedürfniss ist das dqs 
Unters cheidens und Ordnens. Die Zoologie mit Bo- 
tanik und Mineralogie musste im ersten Stadium ihrer 
Entwickelung blosse Beschreibung sein, ein Kennen- 
lernen der fertigen Objecte, während Physik und Che- 
mie es mit der Untersuchung von Erscheinungen zu 
thun haben, deren Bestand unmittelbar auf das Ent- 
stehen hinweist, das heisst mit Reihen von Erschei- 
Bungen, die als« Ursachen und Wirkungen miteinander 
verbunden sind, deren Kenntniss also zugleich zu einer 
den Geist befriedigenden und beruhigenden Erkennt- 
niss führt. Diese anfänglich blos auf das Aeussere 
sich beschränkende Beschreibung zog nach und nach 
auch das Innere heran, wurde zur Zootomie* und ver- 
gleichenden Anatomie, und hatte es in der Anhäufung 



8 Vergleichende Anatomie und Entwickelungsgescliiclite. 

unendlichen Details schon vor fünfzig Jahren so weit 
gebracht , daös Cuvier damals sich die Aufstellung 
des natürlichen Systems zutraute. 

Diese Thierbeschreibung ist abßr nach zwei Seiten 
hin zu ergänzen und im Laufe der Ausbildung der 
Wissenschaft fast gleichzeitig ergänzt worden. Zur 
Kenntniss des Seins eines Thieres gehört auch die 
Beschreibung seines Werdens. Ich sage ausdrücklich 
„die Beschreibung", denn die thierische Entwickelungs- 
geschichte ist an sich noch keine Naturwissenschaft im 
Sinne der mathematisch-physikalischen Disciplinen; sie 
ist blosse Naturbeschreibung . Sie gibt aber eine weit 
genauere Kenntniss , sie eiathüllt in tausend Fällen 
erst die Bedeutung der Organe und gibt der verglei- 
chenden Anatomie die Sicherheit, oft überhaupt die 
Möglichkeit der Auslegung. Den Flügel des Vogels 
kann man ohne Schwierigkeit, so wie er ist, in seinen 
einzelnen Theilen auf die vordere Extremität eines 
Reptils oder eines Säugethieres zurückführen. Das 
Bein des Vogels dagegen stimmt als fertiges Organ 
nicht mit dem Bein der übrigen Wirbelthiere überein, 
bis die Entwickelung des Vogels im Ei zeigt, dass 
die Anlage der Stücke und Glieder genau dieselbe ist 
hier wie dort, und nur einige spätere Verwachsungen 
sonst getrennt bleibender Knochen die scheinbare Ano- 
malie hervorrufen. Das fertige Vogelbein (Ä) zeigt 
uns in a den Ober-, in b den Unterschenkel, aber 
statt der Knochen der Fusswurzel und des die Zehen 
tragenden Mittelfusses finden wir nur den langen Kno- 
chen c und an seinem untern Ende einen kleinen Trä- 
ger der vierten Zehe. Die frühere Beschreibung 
begnügte sich, zu sagen, dass der Lauf (c) Fusswurzel 
und Mittelfuss ersetzt. Dem ist aber nicht so, sondern 
der Vogel im Ei zeigt (J5), dass das Vogelbein aus 
dem Oberschenkel (a), dem Unterschenkel (ft), zwei 
Fusswurzelknochen (m n), drei oder vier Mittelfuss- 
knochen (c) und den Zehen besteht, dass der obere 
Fusswurzelknochen mit dem Unterschenkel und der 



Werth der Entwickelungsgeschichte. 



untere mit den unter sich verschmelzenden Mittelfuss-^ 
theilen verwächst. Erst damit ist die richtige Auf- 
fassung des Thatbestandes von A^ wenn auch noch 
nicht die Ursache des Thatbestandes gegeben. Fol- 
gendes Beispiel ist etwas 

schwieriger. Die ver- ^ -^ 

gleichende Anatomie ver- 
mag ohne die Entwicke- 
lungsgeschichte nicht zu 
erklären , warum der 
Mensch drei Gehörknö- 
chelchen, der Vogel nur 
einen besitzt. Die Entwik- 
kelungsgeschichte zeigt, 
dass aus dem Material, 
welches beim Menschen 
zu Hammer und Amboss 
verwendet wird , beim 
Vogel ein paar andere 
Schädeltheile hervor- 
gehen, die mit dem 
Gehörapparate wenig 
oder nichts zu thun haben. 
Kurz, die Entwickelungs- 
geschichte, welche den 
Aufbau des Organismus 
beschreibt, ist Schritt 
für Schritt eine Leuchte 
für die vergleichende Ana- 
tomie. Auch sie bleibt 
für sich auf dem Range 
einer blos beschreibenden 
Disciplin stehen. Wenn 
wir nun aber wahrneh- 
men , wie die Entwickelungsstufen der Individuen ähn- 
liche Reihen vom Niedern zum Höhern darstellen, wie 
die nebeneinander existirenden Glieder der betreffenden 
Thiergruppen , wie z. B. das Säugethier in seiner 




Fig. 1. 



10 Stellung der Paläontologie. 

Entwickelung Zustände durchläuft, welche in den aus- 
gewachsenen Formen der niedrigen Wirbelthiere fixirt 
bleiben, so werden wir damit auf einen vor der Hand 
geheimnissvollen Zusammenhang der Entwickelung des 
Individuums mit dem Gesammtbestand der Thierwelt 
hingewiesen, der eine wissenschaftliche Lösung, eine 
Zurückführung auf Ursachen verlai^gt, und dies um 
so dringender , als- eine dritte Reihe von Erscheinungen, 
deren erste Bewältigung ebenfalls der Naturbeschrei- 
bung angehört, diese noch unenthüllten Beziehungen 
noch wahrscheinlicher macht. Das ist der Befund der 
Yorwelt. 

Zur unerlässlichen Grundlage, auf der wir operiren, 
gehört also auch Kenntniss der paläontologischen That- 
sachen. Die Geologie . ist vor vierzig Jahren in das 
richtige Fahrwasser gebracht worden. Wir wissen jetzt, 
dass die Erde nicht ruckweise, sondern in ganz all- 
mählicher Aus- und Umbildung entstanden; wir dür- 
fen, ja wir müssen schliessen, dass das Leben zu 
einem gewissen Zeitpunkte der Abkühlung auf natür- 
lichem Wege, d. h. ohne einen unbegreiflichen Schöpfungs- 
act erschien, und wir sehen während jener langsamen 
Veränderung der Erdrinde auch die Lebewesen allmäh- 
lich anwachsen, sich specificiren und vervollkommnen. 
Noch mehr! Wie zuerst einer der eifrigsten Gegner 
der Descendenztheorie, Agassiz, im einzelnen über- 
zeugend nachgewiesen: wir erblicken die paläontolo- 
gischen oder historischen Reihen der Organismen in 
ähnlicher Aufeinanderfolge, wie die Entwickelungs- 
phasen des Individuums. Noch sind hier ungeheuere 
Lücken durch spätere Beobachtung auszufüllen, wenn 
nicht überhaupt an vielen Enden an diesem Gelingen 
zu verzweifeln ist. Dass der paläontologische Ent- 
wickelungsgang aber im allgemeinen der bezeichnete 
ist, suchen nur solche Naturforscher zu bestreiten, 
welche, wie Barrande, seit Jahrzehnten in uner- 
schütterlichen Ueberzeugungen wie im Glauben an 
Dogmen sich festgefahren haben. 



Wesen der Descendenzlehre. 11 

Biese aufeinander hindeutenden Gruppen von That- 
sachen muss natürlich derjenige einigermassen über- 
sehen, der sie verstehen will. Mit andern Worten, 
wir müssen erst eine Umschau über dieses ungeheuere 
Material halten, ehe wir uns mit der Zauberformel 
beschäftigen können, welche dasselbe sichtet und zum 
Verständniss bringt. Gross ist das Mühen, aber auch 
herrlich der Lohn! Denn das dem menschlichen Geiste 
inne wohnende Verlangen nach der Erk^nntniss der 
Ursachen, das Causalitätsbedürfniss, wird bezüglich der 
Welt der Organismen einzig und allein durch die 
Descendenzlehre gestillt. Wir halten sie noch nicht 
für vollkommen, sie bleibt uns in vielen speciellen 
Fällen noch die Antwort schuldig, sie erfüllt aber im 
ganzeil, was irgend eine geniale Theorie gethan: sie 
erklärt aus einem Princip jene grossen Erscheinungs- 
reihen, welche ohne sie Anhäufungen von unbegriffenen 
Wundern bleiben. Sie macht überhaupt erst die or- 
ganischen Naturwissenschaften zur Wissenschaft. Gar 
vieles nennt sich noch. heute Wissenschaft, was nur 
handwerksmässig erworbenes Wissen ist. Indem aber 
die Descendenzlehre das Leben umfasst, kann sie vor 
dem Menschen nicht stehen bleiben. Selbst wenn man 
über den Ursprung der Sprache unklar wäre oder so- 
gar die gänzliche Unwissenheit über diesen Punkt zu- 
gestehen müsste, so dürfte man aus dem Vorhandensein 
der Sprache nicht die Unanwendbarkeit der Abstam- 
mungslehre auf den Menschen herleiten, ohne, wie uns 
scheint , die Kette der Verstandesoperationen willkür- 
lich abzubrechen. 

Hier nun kehren wir zu der oben bezeichneten Vor- 
frage nach den Grenzen der Naturforschung zurück. 
Sie ist um so wichtiger , als der Naturforschung oft 
von unbefugter Seite der Vorwurf der Grenzüber- 
schreitung gemacht wird. Der Leichtsinn der Logik, 
mit welcher diese Vorwürfe der grossen Menge plau- 
sibel gemacht werden, übersteigt alles Erlaubte. Wir 
Schlagen z. B. die „Apologetischen Vorträge über die 



12 Naturforschung und Wunder. 

Grundwahrheiten des Christenthums " von Luthart 
auf und sehen, wie dieser Mann die Wirklichkeit der 
Wunder verficht. „Die Wunder", sagt er, „seien nicht 
einmal Wunder! Es ist nicht einmal an dem, dass 
das Wunder die Naturgesetze selbst aufhebt, sondern 
es entnimmt nur einzelne Vorgänge jenen Gesetzen 
und stellt sie unter das Gesetz eines höhern Willens 
und einer höhern Kraft. Wir haben im niedern Ge- 
biete viele Analogien dafür. Wenn mein Arm einen 
Stein in die Luft schleudert, so ist das wider die 
Natur des Steins und nicht eine Wirkung des Gesetzes 
der Anziehung, sondern es tritt eine höhere Kraft und 
ein höherer Wille ein, der Wirkungen hervorbringt, 
welche nicht Wirkungen der niedrigen Kräfte sind. 
Damit werden diese Kräfte und Gesetze nicht aufge- 
hoben, sondern bleiben bestehen." Verweilen wir hier 
einen Augenblick. Zu sagen, es sei wider die Natur 
des Steins, dass die Muskelthätigkeit für einige Mo- 
mente scheinbar die Schwere überwindet, ist ein phy- 
sikalischer Unsinn. Der Stein .bleibt eben schwer und 
durchaus innerhalb seiner Natur, auch während er in 
der Wurfbewegung sich befindet, und es ist völlig un- 
gerechtfertigt und sophistisch, von der Muskelkraft 
als einer höhern Kraft der Schwere gegenüber zu 
faseln. Wenn der Stein zwei Centner wiegt, wo bleibt 
denn da die höhere Kraft? Nachdem aber der Ver- 
treter des Uebernatürlichen seine Hörer durch diese 
ganz verwerfliche Analogie irre geführt und vorbereitet 
hat, fährt er fort: „So tritt beim Wunder eine höhere 
Causalität wirkend ein und ruft eine Wirkung hervor, 
welche nicht Wirkung des Zusammenhangs jener nie- 
drigem Causalitäten ist, wohl aber nachher diesem 
Zusammenhange sich fügt. Diese höhere Causalität 
aber fällt im letzten Grunde zusammen mit den höch- 
sten sittlichen Zwecken des Daseins. Ihnen zu dienen 
ist der höchte und schönste Lauf der Natur. Steht 
also das Wunder hiermit im Zusammenhange, ist es 
sittlich bedingt und nicht willkürlich, so ist es nicht 



Wahrheit und Wirren. 13 

wider die Natur und ihre Bestimmung, sondern im 
hohem Sinne derselben gemäss." Sobald also die 
Wundergläubigkeit mit der Naturforschung in Conflict 
geräth, sagt sie: „Du übersehreitest dfeine Grenzen 
und hast dein Urtheil hier zu suspendiren. Es han- 
delt sich um einen höhern sittlichen Zweck, das Ge- 
biet der Ethik ist höher als das der Physik, und des- 
halb hat eine höhere Causalität, deren Beurtheilung 
nicht Sache der Physiken, die euch Naturforschern 
geläufige Verkettung von Ursache und Wirkung auf- 
gehoben." Jene Stelle^, worin einer der gelehrtesten 
und verehrtesten Vertheidiger des Wunderglaubens trotz 
einem Sophisten die Natur forschung über ihre Grenzen 
belehrt, gehört noch zum Glimpflichsten, was in die- 
ser Art geleistet wird. Unsere Anschauungsweise und 
Logik ist aber darin fundamental von derjenigen der 
Gegner dieses Schlages verschieden, dass uns der 
Gegensatz zum Wissen das Nichtwissen ist, während 
jene das Wissen durch ein sogenanntes höheres Wissen 
und durch den Glauben ergänzen. 

Indem man sich an den Ausspruch eines Picus von 
Mirandola hält: „die [Philosophie sucht, die Theologie 
findet, die Religion besitzt die Wahrheit"^, vergisst 
man, dass Wahrheit und Wahrheit sehr verschiedene 
Dinge sind. Die subjectiven Gesichte und Tonempfin- 
dungen, von denen Geisteskranke erregt und geängstigt 
werden, sind für sie Realität, und doch eine ganz 
andere, als die Bilder und Töne, die man mit gesun- 
den Sinneswerkzeugen aufnimmt. Philosophie und 
Wissenschaft suchen die Wahrheit, welche sich aus 
dem erfassbaren Zusammenhange der Dinge ergibt. 
Die andern Wahrheiten, welche die erste so oft negi- 
ren, pflegen aber unfassbar zu sein und sind zu den 
wissenschaftlichen Wahrheiten incommensurabel. Wir 
lassen es daher bei Goethe 's Worten: 

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, 
Hat auch Religion; 
Wer jene beiden nicht besitzt, 
Der habe Religion. 



/ 






.'.^ / 



/ 



; 



J4 Grenzen der Forschung. 

Und nun, nachdem wir unberufene Einwendung und 
Gefecht mit zweideutigen Begriffen vorläufig abgewie- 
sen, können wir uns die Gr^izen der Naturwissen- 
schaft ruhig ansehen. Halten wir uns dabei einmal an 
den mit grossem Beifall aufgenommenen Vortrag, 
welchen der Physiolog - Dubois-Reymond bei der 
50. Versammlung der deutschen Naturforscher und 
Aerzte hielt. Es wurde darin auf eine Stelle aus einem 
der classischen Werke von Laplace in der Einleitung 
zur Theorie der Wissenschaft hingewiesen, die wir uns 
nicht versagen können vollinhaltlich mitzutheilen. Der 
Verfasser der Mechanik des Himmels sagt: „Die gegen- 
wärtigen Ereignisse sind mit den vergangenen durch 
ein Band verknüpft, welches auf dem augenschein- 
lichen Princip beruht, dass ein Ding nicht anfangen 
kann zu sein, ohne eine Ursache, welche es hervor- 
bringt. Dieser unter dem Namen des Principes von 
der ausreichenden Ursache bekannte Grundsatz dehnt 
sich auch auf solche Ereignisse aus, die man für nicht 
davon berührt hält. Auch nicht der freieste Wille 
kann ohne ein bestimmendes Motiv sie hervorrufen." 
„Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Welt- 
alls als die Folge seines frühern Zustandes und als die 
Ursache des folgenden betrachten. Ein Geist, der für 
einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche 
die Natur beleben, und das gegenseitige Verhältniss 
der dieselben zusammensetzenden Wesen, ein Geist, 
der ausserdem eine hinreichende Fassungskraft besässe, 
um alle jene Thatsachen der Analyse zu unterziehen, 
würde die Bewegungen der grössten Weltkörper und 
die des leichtesten Atomes unter eine Formel bringen 
können: nichts wäre für ihn ungewiss, und die Zu- 
kunft wie die Vergangenheit läge offen vor seinen 
Augen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, 
welche er der Astronomie zu geben verstanden hat, 
ein schwaches Abbild jenes Geistes dar." „Alle An- 
strengungen des menschlichen Geistes in dem Suchen 
nach Wahrheit gehen darauf hin, sich jenem soeben 



Naturwissenschaftliches Erkennen. 15 

von uns dargestellten Geiste zu nähern; er wird aber 
immer unendlich von ihm entfernt bleiben." Der ber- 
liner Physiolog citirt hierzu das Faustische: „du gleichst 
dem Geist, den du begreifst", und meint, dass dem 
menschlichen Geiste also nicht principiell die Einsicht 
in die Weltformel verschlossen sei. Wir gestehen aber, 
dass uns an einer principiellen Vollkommenheit, die 
nie in die Erscheinung tritt, herzlich wenig gelegen 
ist , und sehen jedenfalls in der Unerreichbarkeit jener 
nebelhaften Weltformel eine leicht zu verschmerzende 
Grenze der menschlichen Forschung. Aber abgesehen 
von dem zweifelhaften Tröste mit der Weltformel wer- 
den wir Dubois - Reymond beistimmen müssen, wenn 
er die Grenzen, vor welchen jene höchste denkbare 
Intelligenz Halt machen muss, auch für den mensch- 
lichen Geist als unübersteiglich hält. 

In Uebereinstimmung mit den jetzt herrschenden 
Ansichten der Physiker und Biologen hat Dubois- 
Reymond diese eine der Naturforschung gezogene 
Grenze dahin formulirt': „Das oben näher bestimmte 
naturwissenschaftliche Erkennen ist kein wahres Er- 
kennen. Beim Versuche, das Constante, worauf die 
Veränderungen in der Körperwelt zurückgeführt sind, 
zu begreifen, stösst man auf unlösliche Widersprüche. 
Ein Atom, als kleine, untheilbare, wirkungslose Masse 
gedacht, von der Kräfte ausgehen, ist ein Unding. 
In der Unmöglichkeit, das Wesen von Materie und 
Kraft zu begreifen, liegt also die eine Grenze des 
naturwissenschaftlichen Erkennens." Diese Sätze be- 
dürfen einiger Erläuterungen. Ueber die mögliche f 
mechanische Theilung hinaus muss man sich den Stoff, ; 
die Materie, aus letzten nicht mehr theilbare Partikel-/ 
eben bestehend denken. Dieser Atome hat man nachj 
dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaft so viele 
verschiedene Arten anzunehmen, als chemisch nicht 
weiter zerlegbare einfache Stoffe bekannt sisä' Es! 
ist nun kein Zweifel, dass diese Atome im^ ei^ntlich-. 
fiten Sinne de» Worteir iiwagniwre, hypothetische Grössen, 



16 Begreiflichkeit des Organischen. 

sind, wie denn die Theorie darauf zu leiten scheint, 
dass aller Materie in den verschiedensten Erscheinungs- 
weisen der Körperwelt nur eine einzige Atomenart zu 
Grunde läge. Man kann sich in einem jeden Lehr- 
buch der Physik oder Physiologie überzeugen, dass, 
um die Eigenschaften dieser Atome und ihrer Verbin- 
dungen zu Bestandtheilen zusammengesetzter und che- 
misch zerlegbarer Körper sich klar zu machen und 
zu berechnen, man sie unter verschiedenen körper- 
lichen Gestalten, kugelig, kubisch u. s. w. bildlich 
darstellt, ferner, dass man sie in ihrem Zusammen- 
treten und Zusammenwirken als Körper umgeben den- 
ken muss von einer minimalen Atmosphäre eines all- 
verbreiteten AetherstoflPes. Allein das Atom an sich 
und damit das Wesen der Materie ist etwas unvor- 
stellbares, unerreichbares. Es inhäriren diesen Atomen 
Kräfte, welche sich in Anziehungen und Abstossungen, 
überhaupt in Bewegung äussern. Wa s abg r-jdifi_tiefete 
„Ursache^ dieser Bewegungen und inwiefern diese Be- 
Wegungen mit der Existenz der Atome gleichsam Eins 
43ind, gehört mit zur Unbegreiflichkeit des Stoffes. 

„Setzen wir uns darüber fort", sagt Dubois-Rey- 
mond weiter, „so ist das Weltall zunächst begreiflich. 
Auch durch das Auftreten von Leben an sich auf 
Erden wird es noch nicht unbegreiflich. Denn Leben 
an sich ist vom Standpunkte der theoretischen Natur- 
forschung betrachtet nichts als Anordnung von Mole- 
keln in mehr oder minder festen Gleichgewichtslagen, 
und Einleitung eines Stoffwechsels theils durch, deren 
Spannkräfte^ theils durch von aussen übertragene Be- 
wegung. Es ist ein Misverständniss , hier etwas Super- 
naturalistisches zu sehen." Dieser Punkt pflegt am 
heftigsten bestritten zu werden. Wenn man alle Be- 
wegungen und Ruhezustände der unbelebten Welt der 
Erklärung preisgibt: mit des Lebens Grunde soll das 
Unerklärliche beginnen. Was man mit dieser Annahme 
d6r Urtheilskraft zumuthet, lässt sich mit den Worten 
eines andern -gödiegehen und besonnenen Physiologen, 



Vitalismus. Mechanische Auffassung. 17 

A. Fick *, zu folgender Frage formuliren: „Ist die 
Charakteristik eines solchen Theilchens, wie sie vorhin 
erklärt wurde, für dasselbe auch während der Zeit 
noch gültig und zureichend, während welcher es in einem 
Organismus verweilt? Wird also z. B. die Bewegung 
eines Sauerstofffcheilchens durch ein benachbartes Wasser- 
stofFtheilchen noch nach denselben Gesetzen beeinflusst 
und verändert, wenn beide oder eins davon Theil 
eines Organismus ist, wie ausserhalb?" Wenn man 
dies verneint, bekennt man sich zur vitalistischen 
Lebensauffassung , das heisst , man nimmt seine Zuflucht 
zu unbekannten, ganz ausserhalb der Materie liegenden 
Kräften, man gibt zu, dass ein und dasselbe Theilchen, 
je nachdem es innerhalb oder ausserhalb des Organis- 
mus sich befindet, seine Natur ändern könne, mit an- 
dern Worten: msm statuirt ein Wunder. Wägt man 
diese Ansicht gegen die "physikalische ab, „welche in 
ihrer Yollendung jeden organischen Process zu einem 
Problem der reinen Mechanik macht", so kann man 
dies mit den gewiss unparteiischen Worten des eben 
citirten Naturforschers thun: „Ich glaube, die mecha- 
nische Ansicht vom organischen Leben ist erst dann 
bewiesen, wenn alle Bewegungen im Organismus wirk- 
lich aufgezeigt sind als Wirkungen der den Atomen 
auch sonst inne wohnenden Kräfte. Ebenso würde ich 
aber auch dann die vitalistische Ansicht für erwiesen 
halten, wenn in irgendeinem Falle die mechanische 
Unmöglichkeit einer bestimmten, im Organismus als wirk- 
lich beobachteten Bewegung gezeigt wäre. Weder an 
das eine noch an das andere ist vor der Hand zu 
denken. Gleichwol bekenne ich mich, wenn einmal 
ohne vollständigen Beweis entschieden werden muss, 
ganz unbedenklich einstweilen zur mechanischen An- 
sicht. Sie empfiehlt sich nicht blos durch ihre grössere 
Wahrscheinlichkeit und Einfachheit a priori^ sie wird 
vielmehr durch den Entwickelungsgang der Wissen- 
schaft fast zur Gewissheit. Wenn lüan sieht, wie ge- 
wisse Erscheinungen — man denke nur z. B. an die 

Schmidt, Descendenzlehre. 2 



18 Wärme und Bewegung. 

Bildung der thierischen Wärme, die man früher nicht 
ohne die Lehenskraft erklären zu können glaubte, jetzt 
selbst von solchen, die im allgemeinen eine eigen- 
thümliche Lebenskraft annehmen, den überall wirk- 
samen Kräften der materiellen Theilchen zugeschrieben 
werden, so sieht man sich fast zur Ueberzeu- 
gung gedrängt, dass nach und nach alle Er- 
scheinungen des Lebens einer mechanischen 
Erklärung zugänglich werden müssen." Fügen 
wir zur Erläuterung des eben gegebenen Beispiels von 
der thierischen Wärme hinzu, dass die neuere Physik 
die Wärme als eine besondere Art der Bewegung 
kennen gelernt hat. Die Bewegung des auf den Am- 
boss fallenden Hammers geht nicht verloren, sondern 
wird in die zwar unsichtbare, aber als Wärme fühl- 
bare Atomenbewegung der getroffenen« Stellen umgesetzt. 
Aber auch die Vereinigung der Theilchen des in der 
Athmung des Thierleibes eingeführten Sauerstoffes mit 
gewissen sauerstoffarmen Blutbestandtheilen ist eine 
der Berechnung unterliegende Bewegung, welche als 
Oxydation, Verbrennung oder als Entwickelung der 
thierischen Wärme sich äussert. Dieser chemisch- 
mechanische Act der Verbrennung unterhält die thie- 
rische Dampfmaschine in Bewegung. Auf diesem Wege 
der Anwendung der mechanischen Principien hat also 
die neuere Physiologie eine grosse Anzahl von Vor- 
gängen im Organismus auf ihre Ursachen zurückgeführt; 
und das Gespenst Lebenskraft, welches sonst den ganzen 
Darmkanal beherrschte, die Drüsenzellen und Muskel- 
fasern zu ihrer Thätigkeit antrieb und an den Nerven 
hinglitt, weiss kaum noch, wo es sein Unwesen trei- 
ben soll. 

Die Naturforschung scheut also nicht zurück vor 
der Einreihung des Lebens und der Lebensprocesse in 
die Welt des Begreiflichen. Wir scheitern erst am 
Begriff der Materie und der Kraft überhaupt. Wir 
sind aber viel weiter als Schopenhauer und seine 
Anhänger, die für den Begriff der Kraft den des 



Bewusstsein. 19 

Willens substituiren , weil wir eine Menge von Vor- 
gängen, die das an sich unverständliche Wort „Wille" 
in ihrer Ganzheit erklären soll, in ihre einzelneu sich 
bedingenden Momente aufgelöst haben, und auch viel 
weiter als der Modephilosoph von heute, v. Hartmann, 
der auf dem Gebiete der organischen Welt mit den 
Wirkungen des „Unbewussten" uns abspeist. 

„Und doch", so formulirt Dubois - Beymond , eine 
abermalige Grenze , „tritt ein neues Unbegreifliches ein 
in Gestalt des Bewusstseins , auch schon in seiner nie- 
dersten Form, der Empfindung von Lust und Unlust. 
Es ist ein für allemal unbegreiflich, wie es einem 
Haufen Molekeln, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, 
Kohlenstoff, Phosphor u. s. w. nicht gleichgültig sein 
kann, wie sie liegen und sich bewegen; hier ist also 
die andere Grenze naturwissenschaftlichen Erkennens. 
Selbst der von Laplace gedachte Geist kann nicht 
darüber hinaus, geschweige der unserige. Ob übrigens 
die beiden, dem naturwissenschaftlichen Erkennen ge- 
zogenen Schranken vielleicht nur eine und dieselbe 
sind, lässt sich nicht entscheiden." Mit diesen letzten 
Worten wird die Möglichkeit angedeutet, dass das 
Bewusstsein ein Attribut der Materie sei oder zur 
Wesenheit der Atome gehöre. Und da dürfen wir 
denn hinzufügen, dass der Versuch, den Empfindungs- 
process zu verallgemeinern und als eine allgemeine 
Eigenschaft der Materie darzulegen, in neuester Zeit 
wiederholt gemacht ist, so von Zöllner in seinem, so 
gerechtes Aufsehen erregenden Werke über die Natur 
der Kometen. Derselbe meint, wenn man vermöge 
feiner ausgebildeten Sinnesorgane die Molecularbewe- 
gungen in einem Krystalle beobachten könnte, wenn 
derselbe an irgend einer Stelle mechanisch verletzt wird, 
so würde man nicht unbedingt verneinen können, dass 
die hierdurch erregten Bewegungen absolut ohne gleich- 
zeitige Erregung von Empfindungen stattfinden. Man 
müsse entweder verzichten auf die Begreiflichkeit der 
Empfindungsphänomenes in den Organismen, oder „die 

2* 



20 Empfindung ein Attribut der Materie. 

allgemeinen Eigenschaften der Natur hypothetisch um 
eine solche vermehren, welche die einfachsten und 
elementarsten Vorgänge der Natur unter einen gleich- 
massig damit verbundenen Empfindungsprocess stellt." 
Man könnte meinen, dass man mit derartigen Be- 
trachtungen an die trügerischen Abgründe der Specu- 
lation geleitet würde; wenn wir aber, um bei den 
Organismen zu bleiben, von den durch die Lust- oder 
Unlustempfindungen geleiteten Aeusserungen des höhern 
Bewusstseins des Menschen und dei hohem Thiere 
immer tiefer hinabgehen, bis wir bei den einfachsten 
Protoplasmageschöpfen alle Eeaction auf äussere Beize 
sich in kaum wahrnehmbare Bewegung verlieren sehen, 
so ist klar, dass hier weder von einem Bewusstsein, 
noch von einem Willen die Bede sein kann. Wir 
können da den Begriff der zu den Bewegungen an- 
regenden Lust- oder Unlustempfindungen nicht loslösen 
von den Elementareigenschaften der Materie, wie wir 
dies im Gebiete der höhern Thiere zu thun gewohnt 
sind '. 

Ganz in diesem Sinne hat schon vor mehreren Jah- 
ren einer der genialsten Sprachforscher , der leider 
schon dahingegangene Lazarus Geiger gesagt*): „Aber 
wie , wenn weiter hinab , wenn jenseit der Ner- 
venwelt eine Empfindung vorhanden wäre, die wir 
nicht mehr verstehen? Und es muss wol so sein. 
Denn so wenig wie ein Körper möglich wäre, den wir 
fühlen, ohne dass er aus Atomen bestände, die wir 
nicht fühlen; und so wenig wir eine Bewegung sehen 
könnten, wenn sie nicht von Lichtwellen begleitet wäre, 
die wir nicht sehen: ebenso wenig würde in einem 
complicirten lebendigen Wesen eine Empfindung zu 
Stande kommen, so stark, dass wir sie infolge der 
Bewegung, durch die sich äussert, mitempfinden, wenn 
nicht in den Elementen, in den Atomen etwas Aehn- 
liches , nur weit Schwächeres vor sich ginge , , was sich 
uns entzieht. Man bedenke nur, dass wir ebenso wenig 
wissen können, dass der fallende Stein nichts empfindet, 



• Die heutige Thierwelt. 21 

als dass er empfindet: es steht uns also die Entschei- 
dung nach der Seite der grössern Wahrscheinlichkeit, 
der Erklärlichkeit des Weltganzen, völlig offen." 

Wir haben die Grenzen, welche sich die Natur- 
forschung zieht, begangen. Weit gefehlt, dass das 
Organische sich als ein unbegreifliches Etwas vor uns 
aufrichtete, ladet es vielmehr zur Ergründung seines 
Wesens ein und verspricht noch Licht zurückzustrahlen 
auf die Welt des Unlebendigen. Wir dürfen nun den 
Kundgang durch einen grossen Theil der lebendigen 
Natur antreten, bei dessen Beendigung wir zu dem- 
selben Kesultate gelangt sein werden, welches sich 
auch dem Sprachforscher — wir citiren nochmals seine 
Worte — mit unumstösslicher Gewissheit aus histori- 
schen Betrachtungen ergeben: dass der Mensch aus 
einer niedrigem, thierischen Stufe emporgestiegen sei. 



IL 

Die Thierwelt in ihrem gegenwärtigen Bestände. 

Um der Descendenzlehre näher zu treten und das 
Bedürfniss nach derselben vorzubereiten, haben wir 
uns vorgenommen, zunächst einen Haupttheil ihres Ob- 
jectes, den gegenwärtigen Bestand der Thierwelt in 
allgemeinen Zügen uns vorzuführen. Die Organismen 
unterscheiden sich von den belebten Körpern , wie jedem 
Auge auffällt, durch eine gewisse Veränderlichkeit des 
Daseins , eine Aufeinanderfolge und einen Wechsel von 
Erscheinungen, welche an die ununterbrochene Auf- 
nahme und Abgabe von Stoffen gebunden sind. Die 
Theilchen, an welchen die Umwandlungen, in letzter 
Instanz Molecularbewegungen , daher berechenbar, be- 
stimmbar, der Untersuchung zugänglich, ablaufen, be- 
finden sich im Zustande der Quellung, das heisst, sind 
durchtränkt mit Wasser und wasserhaltigen Flüssig- 
keiten, und dieser, obwol eigenthümliche, doch rein 



22 Organismus. Niedere Lebewesen. • 

mechanische Zustand reicht aus, um die Nothwendig- 
ksit einer Reihe von Erscheinungen des Lebens zu 
erklären und zu verstehen. Die Erfahrung lehrt, dass 
diese Quellbarkeit und Beweglichkeit wesentlich an 
den Verbindungen des Kohlenstoffs haftet, und eben 
die Summe jener Bewegungen und Umsetzungen, von 
denen ein grosser Theil schon der mathematisch sichern 
Erforschung zugänglich gewesen, wird Leben genannt. 
Man kann sich nun des Eindruckes gar nicht erwehren,' 
dass es einfache und zusammengesetzte, niedere und 
höhere Lebewesen gibt; auch fühlt man mehr, als 
dass man ihn in Worte fassen kann, einen gewissen 
Gegensatz zwischen Pflanze und Thier. Poetisch auf- 
gefasst ist die Pflanze der passive Organismus, wie 
ihn Rückert schildert: 

Ich bin die Blum' im Garten 
Und muss in Demuth warten, 
Wann und auf welche Weise 
Du trittst in meine Kreise. 

Der Gegensatz der duldenden, in sich gekehrten 
Pflanze zu dem seiner Haut sich wehrenden, handeln- 
den Thiere verliert aber an Schärfe, je tiefer wir die 
Stufenleiter beider Reiche hinabsteigen. Das höher 
entwickelte Thier bekundet seine Thierheit durch die 
Lebhaftigkeit, mit welcher es gegen äussere Einwir- 
kungen und Reize reagirt. Die Lebenserscheinungen 
niederer Thiere werden mehr vegetativen Charakters, und 
bei vielen Gruppen niederer Wesen, welche Haeckel 
neuerlich unter dem Namen Protisten zusammen- 
gefasst hat, sehen wir zwar die Processe des Stoff"- 
wechsels, der Ernährung und Fortpflanzung ablaufen, 
aber in so einfacher und indifferenter Weise , dass wir 
diesen Wesen auch eine indifferente Stellung zwischen 
Pflanzen und Thieren anweisen müssen. Wir gewinnen 
die Ueberzeugung, dass die Wurzeln von Pflanzen- 
und Thierreich nicht voneinander völlig gesondert sind, 
sondern, um im Vergleich zu bleiben, durch Ver- 



Protisten. 23 

mittelung eines Zwischengeflechtes unverkennbar inein- 
ander übergehen. In diesem Mittelreiche ist der viel- 
verspottete „Urschleim" der Naturphilosophen wieder 
ZM Ehren gekommen. Viele tausend Kubikmeilen 
Meeresboden bestehen aus einem seifig anzufühlenden 
Schlamm oder Schlick, zusammengesetzt theils aus 
offenbar erdigen, unorganischen Theilen, theils aus 
«igenthümlich geformten, ihrem Wesen nach vielleicht 
noch zweifelhaften Kalkkörperchen (den Coccolithen 
und Rhabdolithen), endlich, was die Hauptsache, aus 
•einer eiweissartigen Substanz, welche lebt. Dieser 
lebende Schleim, der sogenannte • Bathybius, zeigt 
nicht einmal Individualität oder Abgeschlossenheit des 
Einzelwesens, er gleicht den formlosen Mineralsub- 
^tanzen, von denen jedes Partikelchen die Merkmale 
der Gesammtmasse an sich trägt. 

Der Begriff des Organismus, als des aus verschie- 
denen Theilen mit verschiedenen Leistungen oder 
Functionen zusammengesetzten, unter bestimmter sich 
entwickelnder Form erscheinenden Wesens, ist unserm 
Zeitalter noch so anerzogen und inhärent, dass wir 
uns nur mit grosser Anstrengung in die Vorstellung 
der 'absolut formlosen und unbegrenzten oder zufällig 
und willkürlich begrenzten lebendigen Masse hinein- 
versetzen können. Wer dies nicht kann und will, 
halte sich an ein anderes einfaches Lebewesen, z. B. 
Haeckel's „ Protamoeba ". Ein Eiweissklümpchen 
wächst durch Nahrungsaufnahme und Stoffaneignung 
jj'is zu einem gewissen Umfange; dann pflanzt es sich 
fort, indem es sich in zwei Hälften durchschnürt. Für 
unsere Beobachtungsmittel sind diese und ähnliche 
Wesen die einfachsten Organismen ohne Organe. Wir 
lassen jedoch , indem wir die Grenzen der Untersuchung, 
bedingt durch die unzulänglichen Beobachtungsmittel, 
betonen , Rollet's Einwurf gelten ^ , dass unser Ver- 
stand solche homogene Organismen, welche nur verr 
möge ihrer atomistischen Constitution sämmtliche 
Lebensfunctionen vollziehen, eigentlich nicht zugeben 



24 Protisten. 

kann, dass es sich um den noch gänzlich unbekannten 
Bau der aus dem Zusammentritt der Atome hervor- 
gehenden Molecüle handle , und dass wir , wenn Brücke 
sagt: „Wir müssen den lebenden Zellen, abgesehen 
von der Molecularstructur noch eine in anderer Weise 
complicirte Structur zuschreiben, und diese ist es, 
welche wir mit dem Namen Organisation bezeichnen", 
dass wir diese uns noch unbekannte Zusammensetzung^ 
auch den Haeckel'schen Moneren zuschreiben müssen. 

Aber diese Complication der Molecularstructur bei- 
seite ist es für die Erforschung der belebten Natur 
von höchster Wichtigkeit, solche für das bewaffnete 
Auge und die anatomischen Hülfsmittel einfachste Kör- 
per kennen gelernt zu haben. Die Substanz, welche 
ihnen ihr Gepräge verleiht, findet sich sowol in den 
Pflanzen als in den Thieren wieder, und Pflanzen und 
Thiere sind uns nun zwei Klassen von Organismen, in 
denen die Vorgänge der Selbsterhaltung und der Fort- 
pflanzung durch die Sonderung der ursprünglich homo- 
genen Substanz in verschiedene Formgebilde und Or- 
gane nach verschiedenen Seiten hin den Charakter 
einer höhern Zusammensetzung und Ausbildung an- 
genommen haben. 

Da wir noch Gelegenheit haben, uns über die An- 
fänge des thierischen Lebens und seine Berührungs- 
punkte mit den Protisten und Pflanzen auszusprechen^ 
wollen wir uns aus dem Felde der Grenzstreitigkeiten 
gleich mitten in die Fülle der Thierwelt versetzen, um 
sie sichtend und ordnend zu bewältigen. Dem ersten 
Eindruck der unendlichen Mannichfaltigkeit folgt ein 
anderer , dass es niedrige und höhere Thiere gibt. Es 
herrscht darüber voller Einklang. Denn wenn man 
auch in , für uns ungültiger , teleologischer Betrachtung 
der Natur jedes Geschöpf an sich vollkommen, d. h. 
seinem Zweck oder seiner Idee entsprechend, nennen 
wollte, so nimmt jedermann es als etwas Gegebenes 
und Selbstverständliches hin, dass eine Werthscala 
besteht, ohne sich über das Mass, wonach dieselbe 



Niedere und höhere Thiere. 25 

steigt und sinkt, Rechenschaft zu geben. Indessen 
wird dieser Masstab sich bei einer Vergleichung eines 
niedem mit einem höhern Thiere bald herausstellen. 
Greifen wir den Süsswasserpolypen und die Biene 
heraus. 

Das einige Linien lange Thierchen, welches in un» 
Sern Gewässern gewöhnlich an ^ Pflanzen angeheftet 
lebt, ist ein Schlauch, dessen Wandungen aus zwei 
Zellenlägen, einer ]$[uskellage und einem sogenannten 
Stützblatt bestehen, welches letztere dem Ganzen Zu- 
sammenhalt gibt und einem Skelet vergleichbar ist. 
Vier bis sechs ebenso gebaute Arme umstehen den 
Mund. In der Oberflächenschicht des Körpers befin- 
den sich zahlreiche nesselnde Bläschen, durch deren 
Berührung die in das Bereich des Polypen g^rathenden 
kleinern Thierchen betäubt werden, sodass er sie leicht 
als Beute bewältigen kann. Das ist in kurzem der 
Bau dieses Thieres. Es hat kein Adersystem, keine 
besondern Athmungswerkzeuge , die Rolle der Nerven 
und Sinnesorgane wird durch die einzelnen Theile der 
Oberfläche übernommen. Seine Fortpflanzung bewerk- 
stelligt sich gewöhnlich durch das Hervorsprossen von 
Knospen, welche gereift abfallen; zeitweise auch durch 
die Producte sehr einfacher Geschlechtsorgane. 

Hiergegen reichen Stunden nicht aus, den Bau einer 
Biene zu beschreiben. Schon von aussen verspricht 
ihr vielgegliederter Körper eine reiche Entfaltung des 
Innern. Ihre Fresswerkzeuge können erst durch Ver- 
gleichung mit den Mundtheilen der gesammten In- 
sektenwelt verständlich gemacht werden. Die ver- 
schiedenen Abtheilungen des Ernährungskanales wer- 
den je von besondern Drüsen begleitet. Das reiche 
Seelenleben aber, all das von Auffassung der äussern 
Situation, Verständniss und Berechnung zeugende Trei- 
ben wird durch ein höchst entwickeltes Nervensystem 
und die damit verbundenen, bewundernswerth com- 
plicirten Sinnesorgane, namentlich die Augen, ermög- 
licht. Abgesehen endlich von den aus vielerlei Haupt- 



26 Systematischer Rang. 

und Nebentheilen bestehenden Fortpflanzungsorganen 
erfordert die Vermehrungs- und Entwickelungsgeschichte 
der Biene ein Studium für sich. 

£s erscheint uns die Leistung und damit der Rang 
und Werth des Bienenkörpers um so viel höher, als 
diejenige des Polypen, als jener zusammengesetzter ist. 
Die grössere Complitation und Mannichfaltigkeit der 
Theile iliegt anatomisch vor, ebenso die höhere Ge- 
staltung des tjebens. Die höhere Energie des Daseins, 
die Leistungsfähigkeit und die Vollkommenheit der 
Biene im Gegensatz zur Aermlichkeit des Polypen ist 
ganz offenbar eine Folge oder richtiger ein Ausdruck 
der grössern mechanischen und physiologischen Ar- 
beitstheilung. Bei dem einen und dem andern Thiere 
verläuft das Leben in den Functionen der Selbst- 
erhaltung und der Erhaltung der Art oder der Fort- 
pflanzung, bei beiden ist der Kreis der Erscheinungen 
ein geschlossener, ein Ganzes, allein die Mittel der 
Ausführung sind sehr verschieden und darum auch der 
Gesammteffect. Wir haben aber in der Mannichfaltig- 
keit und Correlation der für die verschiedenen Lebens- 
äusserungen bestimmten Organe einen Masstab für 
den Rang der Thiere. Dieser Rang hat einen zwei- 
fachen Charakter, einen allgemeinen und einen spe- 
ciellen. Mit andern Worten: der Platz eines Thieres 
im System wird einmal bestimmt durch die allgemei- 
nen Eigenschaften, welche es mit den in den Grund- 
zügen der Organisation übereinstimmenden Formen 
gemein hat, und zweitens durch die speciellern Kenn- 
zeichen, welche das Thier innerhalb seiner Stammes- 
verwandtschaft in Reihe und Glied stellen. Eine 
Einsicht in diese Gliederung des Thierreiches ist natür- 
lich unerlässlich, wenn man die Ursachen derselben 
prüfen und erkennen will; eine Darlegung davon ge- 
hört ganz eigentlich zu unserer Aufgabe. 

Seit dem Ausbau der Zoologie durch Cuvier im 
ersten Drittheil unsers Jahrhunderts hat sich> unsere 
Wissenschaft mit dem schon weit früher von Buffon 




8l«^*- 



28 I^ie Stämme. 

meisten andern Thieren als Leibeshöhle bezeichnet, 
z. B. beim Menschen der Raum zwischen Darmwand 
und Leibeswand, mangelt ihnen, dagegen gehen in der 
Regel vom Magen aus allerlei Kanäle und Fächer, die 
in gewisser Weise die Leibeshöhle ersetzen. Fig. 2. 
Eine Qualle, Tiaropsis diadema nach Agassiz. Die 
dunkel schattirten Organe bilden den sogenannten 
cölenterischen Apparat. 

Von den Stachelhäutern sind dem Leser gewiss 
wenigstens die Seesterne und Seeigel bekannt, deren 
Gestalt im allgemeinen auch eine strahlige zu sein 
pflegt. Ausser einer eigenthümlichen Kalkablagerung oder 
geringern oder stärkern Verkalkung der Hautbedeckun- 
gen kommt ihnen als Stammescharakter ein System 
von Wasserkanälen zu. Von diesen aus werden die 
Reihen von Bläschen gespeist, welche vorgestreckt und 
sich ansaugend, als Bewegungsorgane dienen. Cuvier 
glaubte wegen des vorherrschenden strahligen Baues 
Stachelhäuter, Quallen und Polypen näher verwandt, 
und hat sie alle zusammen unter dem Namen Strahl- 
thiere eingeführt; allein diese Aehnlichkeit ist eine 
nebensächliche, und wenn schon die Anatomie die 
grosse Verschiedenheit der Cölenteraten und Stachel- 
häuter aufdeckt, so verweist noch viel entschiedener 
die Entwickelungsgeschichte unsere Stachelhäuter aus 
jener Nähe und setzt sie in engere Beziehung zur 
folgenden Abtheilung. 

Mit dieser, den Würmern, hat der Systematiker 
der alten Schule sein wahres Kreuz, so verschieden- 
artig gehen sie auseinander, so gross ist der Abstand 
zwischen niedrigen und höhern Formen , so wenig bleibt 
nach Abzug der Ordnungs- und Klassenkennzeichen 
als gemeinsamer Charakter übrig, so buntscheckig end- 
lich ist die Schar vereinzelter kleinerer Thiergruppen 
und sogar einzelner Arten, welche Einlass begehren 
in das System der Würmer. Wenn wir ihr typisches 
Wesen in wenigen Worten auszudrücken versuchen, so 
kann es etwa damit sein: die Würmer sind mehr oder 



Die Stämme. 29 

weniger gestreckte symmetrische Thiere, welche keine 
wirklichen Beine besitzen, sondern ihre Ortsbewegun- 
gen vermittelst einer mit den Hautbedeckungen eng 
verbundenen Muskulatur, die oft zu einem wahren 
Muskelschlauch wird, ausführen. Wir wollen hinzu- 
fügen, dass die systematischen Wirrnisse und Schwie- 
rigkeiten sich für den Anhänger der Descendenzlehre 
in Quellen der Erkenntniss verwandeln. 

Die Beziehungen des vorigen Stammes zum Typus 
der Glieder thiere liegen so auf der Hand, dass die 
„Verwandtschaft" dieser beiden auch von den altern 
Zoologen nie angezweifelt worden ist. Schon der Name 
der einen , höchsten Abtheilung der Würmer , der Glie- 
derwürmer, hat dies Verhältniss bezeichnet. Das Ge- 
präge der Krebse , Spinnen , Tausendfüsse , Insekten 
besteht darin, dass ihr Körper sich aus scharf vonein- 
ander« abgesetzten Eingen oder Gliedern aufbaut, an 
welcher Gliederung die Beine, Fühlhörner und Mund- 
werkzeuge theilnehmen. Ein getreuer Ausdruck dieser 
äussern Segmentirung ist die Form des Nervensystems, 
welches strickleiterartig am Bauche, d. h. unter dem 
Darmkanal liegt, und nur mit seiner vordersten Schlinge 
den Schlund umfasst. Das Hervortreten der Gliederung 
wird dadurch begünstigt, dass durch Ablagerung einer 
hornigen Substanz die Hautbedeckungen skeletartig er- 
starren. 

Ganz das Gegentheil zeigen die Hautbedeckungen 
der Weichthiere, unserer Muscheln und Schnecken 
und der Tintenschnecken. Denn so viele ihrer auch 
mit schützenden Schalen und Gehäusen versehen sind, 
diese letztern sind doch nur blosse Absonderungen der 
eigentlichen Haut, welche weich bleibt, eigenthümlich 
nass und schleimig infolge der Ausscheidungen zahl- 
reicher darin enthaltener Drüsen, und die Neigung hat, 
sich in Falten zu legen und eine mantelartige Hülle 
um den Eumpf zu bilden. Dabei bleibt der Körper 
mehr oder weniger klumpenhaft, die Eleganz des Glie- 
derthieres, besonders des Insektes ist ihm fremd, es 



« 



30 Gliederung in den Stämmen. 

fehlt ihm eben die Gliederung, und dieser Mangel 
kommt auch im Nervensystem zum Ausdruck. Es re- 
ducirt sich auf einen Schlundring und einzelne klei- 
ner Nervenmassen. 

Am leichtesten verständigen wir uns über die Wir- 
belthiere, den Stamm, dem der Mensch sich 
untrennbar anschliesst. Wesentlich ist der Theil des 
innern, knöchernen oder knorpelig bleibenden Skelets,^ 
die Wirbelsäule, in welcher der Haupttheil^ des Ner- 
vensystems enthalten. 

Es steht also fest, dass die Grundlage der syste- 
matischen Eintheilung des Thierreichs durch gewisse 
hervorstechende Eigenthümlichkeiten der Gestaltung 
und des innern Baues gegeben wird, und es ist sehr 
leicht, aus jedem Typus Formen herauszugreifen, um 
an ihnen die in der systematischen Diagnose zusammen- 
gefassten Kennzeichen in aller Vollkommenheit vor 
Augen zu legen. Hieran reiht sich aber unmittelbar 
eine weitere Beobachtung, diejenige der Gliederung 
innerhalb der Typen. Wenn wir oben Polyp und 
Biene miteinander verglichen und ihnen einen sehr 
verschiedenen Rang anweisen mussten, so kommt ein 
Theil dieses Stufenunterschiedes allerdings auf die 
Stammesverschiedenheit; allein auch die durch die 
Stammeseigenthümlichkeiten zusammengehaltenen For- 
men gehen weit auseinander , und die Systematik spricht 
von niedrigen und höhern Klassen innerhalb der ein- 
zelnen Typen , von niedrigen und höhern Ordnungen- 
innerhalb jeder Klasse. Das Urtheil wird hierzu durch 
dieselben Betrachtungen gezwungen, welche sich uns 
beim Vergleich von Polyp und Biene aufdrängten. 
Warum steht die Muschel niedriger als die Schnecke? 
Weil sie noch keinen Kopf hat , weil ihr Nervensystem 
nicht so concentrirt und voluminös ist, weil ihre 
Sinnesorgane mangelhafter sind. Das Baumaterial ist 
bis zu einem für die Ausbildung des Typus ausrei-<- 
chenden Masse da wie dort vorhanden, in der Schnecke 
ist es aber mehr entfaltet, und schon der einzige Um- 



Baumförmige Gruppirung. 31 

stand des Aneinanderrückens verschiedener Theile zum 
Kopf verleiht der Schnecke ein höheres Ansehen. Es 
ist unnöthig, diese Abstufung innerhalb der Stämme 
mit mehr Beispielen zu erläutern; der oberflächlichste 
Vergleich eines Fisches mit einem Vogel oder Säuge- 
thiere, eines Schmarotzerkrebses mit dem Flusskrebs 
oder einem Insekt zeigt, dass, wie die ältere Zoologie 
sich ausdrückte, die Grundpläne oder „idealen Typen" 
in sehr ungleicher Weise in den realen Formen zum 
Ausdruck kommen. 

Ein weiteres Ergebniss dieser beschreibenden For- 
schung ist die baumförmige Gruppirung der 
Stammesgenossen. Auch das Verhältniss der Stämme 
zueinander kann man nicht in einer einfachen Linie 
schematisiren , indessen kam es hier früher mehr auf 
allgemeine Andeutungen über den Werth des einen 
zu den andern Typen an. Dagegen war die beschrei- 
bende Zoologie schon lange genöthigt, Verwandtschafts- 
tabellen für die systematischen Unterabtheilungen bis 
auf die Arten hinab nach dem Kriterium der anatomi- 
schen Vollkommenheit zu entwerfen, und diese fanden 
nur in dem Bilde vielverzweigter Bäume ihren Aus- 
druck. Es traten Aeste hervor, welche nach kurzer 
Erstreckung endigen, andere sind langgezogen mit 
zahlreichen Nebenästen, in jedem Ast kommen gewisse 
eigenthümliche Erscheinungen und Eeihen zur Geltung. 
Man versuche es beispielsweise mit den Wirbelthieren. 
Schon mit den Fischen kommen wir in grosse Ver- 
legenheit: welche von ihnen sollen wir als die höchsten 
ans Ende setzen? Wir mögen aber nehmen, welche 
wir wollen, die Haie oder unsere Knochenfische, die 
Amphibien schliessen sich nicht linear an, auch geht die 
verlängerte Astlinie der letztern nicht, wie man den- 
ken könnte, in die Reptilien über. Die Vögel ihrer- 
seits setzen scharf gegen die Säugethiere ab; und 
dieses Spalten und Auseinandergehen erstreckt sich 
auf alle Unterabtheilungen. Wir haben schematisch 
darzustellen Familienzweige, Gattungsbündel, Arten- 



3 2 Wandelbarkeit der Charaktere. 

büschel, und die letztern zerfasern sich in den Unter- 
arten und Varietäten. Mit diesem Bilde der bäum- 
förmigen Gliederung des Systems wird man gern noch 
einmal zur Vergleichung von Gliedern verschiedener 
Typen hinsichtlich ihres Leistungswerthes zurückkehren. 
Die Biene an sich ist offenbar ein viel complicirterer 
Organismus als das niedrigste nschartige Thier, der 
Lanzettfisch, und wir vergleichen in diesen beiden 
eine niedere Form eines höhern Typus mit einer höhern 
Form eines niedern. Variirt und combinirt man diese 
Art von Vergleichungen und berücksichtigt man die 
Anknüpfungspunkte der verschiedenen Typen unter- 
einander, auf die wir sogleich hinzuweisen haben, so 
vervollständigt sich das Bild der systematischen Bäume 
zu einem grossen Baume, als dessen Hauptäste die 
Typen hervortreten. 

Wären die Systematiker der alten Schule mit der 
Erschaffung der Pflanzen und Thiere betraut gewesen, 
sie würden erst die Diagnosen und Kennzeichen fest- 
gestellt und dann die Typen und ihre Arten ins Leben 
gerufen haben; denn ihre grösste Qual ist immer ge- 
wesen, dass die Diagnosen so viele Ausnahmen erlei- 
den und dass zunächst die Charaktere der Grund- 
formen ohne absolute Geltung sind. Im grossen 
und ganzen sind die Polypen strahlförmig; es gibt 
aber nicht wenige bilaterale oder nach zwei Seiten 
symmetrische. Die meisten Schnecken besitzen aus- 
gesprochene Mantelfalten, aber von einem Mantel 
mancher geradezu wurmförmigen Nacktschnecken zu 
reden, ist mislich. Kopf und Schädel scheint uns doch 
ein unveräusserliches Merkmal der Wirbelthiere zu 
sein, aber der Lanzettfisch hat keinen solchen Kopf, 
sondern nur ein Vorderende. Indessen, kann man 
einwerfen, er hat eine Wirbelsäule; aber diese, das 
eigentliche Adelszeichen der Wirbelthiere, ist nebst 
Gehör und Bückenmark ein, wenn, auch nur vorüber- 
gehendes Eigenthum der Ascidien, einer Klasse von 
Thieren, die im ausgewachsenen Zustande auch nicht 



Zwischenfonnen. 33 

im entferntesten an die Wirbelthiere erinnern. Indem 
wir diese Abweichungen von scheinbar fest fundirten 
sogenannten Form- und Baugesetzen wahrnehmen, sind 
wir auf eine offenbare Durchlöcherung des Systems 
vorbereitet, auf die Verbindungsformen und 
die Formen von unsicherer systematischer 
Stellung. 

"Wenn das Resultat der systematischen Sichtung und 
Ordnung innerhalb der einzelnen Typen in dem Bilde 
von Bäumen zusammengefasst werden kann, so ver- 
stehen sich die Zwischenformen für die in Baumgestalt 
angeordneten Glieder der Typen, Klassen, Ordnun- 
gen u. s. w. von selbst. Denn wenn das Bild richtig, 
so müssen in allen Astachseln Arten enthalten sein, 
von denen sich die in den sich abzweigenden Aesten 
zu Unterst stehenden Arten nur sehr wenig entfernen. 
Und so kam denn in der That alles Systematisiren 
darauf hinaus, zwischen je zwei in höherm Grade von- 
einander abweichende Formen die richtigen Zwischen- 
formen einzuschieben, ja man wurde in manchen 
Fällen veranlasst, Zwischenformen zu suchen, wo keine 
sind. Die ältere Zoologie hat immer das Schnabel- 
thier als das den Vögeln am nächsten stehende Säuge- 
thier aufgefasst, während der Grund der Vogelähnlich- 
keit der niedrigsten bekannten Säuger durchaus nicht 
in der unmittelbaren Verwandtschaft zu suchen ist, 
sondern in einer entfernten Vetterschaft. Aber nicht 
auf jene von der Naturgeschichte als ganz selbstver- 
ständlich vorausgesetzten Verbindungsformen haben wir 
hinzuweisen, sondern auf dienigen, welche der syste- 
matischen Beschreibung, so zu sagen, unbequem sind 
und die mit Mühe gewonnenen Grundlagen illusorisch 
zu machen drohen. Es gibt einige fischartige Thiere, 
die Doppelathmer (Lepidosiren und Genossen), mit 
Charakteren der Amphibien. Die Infusorien haben 
manche Eigenthümlichkeiten der sogenannten Urthiere ; 
andererseits entfernen sie sich von ihnen und weisen 
auf die niedrigsten Strudelwürmer hin. Ein in un-r 

Schmidt, Descendenzlehre. 3 



34 I^iö Fortpflanzung. 

zähliger Menge in unsern Meeren lebendes Thierchen, 
die Sagitta, ist weder ein rechter Wurm noch ein 
gut legitimirtes Weichthier. Die Klasse der Räderthiere 
passt weder in das Schema der eigentlichen Würmer, 
noch in das der wahren Gliederthiere , will aber doch 
im System untergebracht werden, und wer die Typen 
als die idealen unveränderlichen Grundformen fest- 
hält, kommt in grosse Verlegenheit, wohin er mit sei- 
nen Räderthieren soll. 

So Hessen sich Beispiele über Beispiele dafür an- 
häufen, dass die strengen Scheidewände des Systems, 
kaum aufgeführt, auch schon allerorten durchlöchert 
werden , und zwar im geraden Verhältniss des Anwach- 
sens der Specialkenntnisse. Wie gesagt, musste die 
beschreibende Naturgeschichte diese Wahrnehmung 
machen. Sie sprach dann von Ausnahmen und Ab- 
weichungen, ohne einen Grund angeben zu können, 
wie denn die Klassen und Typen ihre Grenzen durch- 
brechen könnten, ja meist ohne das Bedürfniss, sich 
von der Hinfälligkeit des strengen Systems Rechenschaft 
zu legen. 



III. 

Die Erscheinungen der Portpflanzung in der Thierwelt. 

Zur Signatur des Lebendigen gehört die Fähigkeit, 
neuem Leben Dasein zu verleihen. Ein Krystall pflanzt 
sich nicht fort; er kann nur in seine Elementarbestand- 
theile aufgelöst werden, und diese können im natür- 
lichen Verlaufe der Dinge oder auf künstlichem Wege 
einer andern krystallinischen Vereinigung zugeführt 
werden. Das ist aber nicht jene Continuität der Fort- 
pflanzung, welche Individuum an Individuum kettet,' 
nicht die mit dem Nebel des Geheimnisses verdeckte 
Zeugung. So, scheint es, besteht ein starrer Gegen- 
satz. - Allein wenn man den Unterschied zwischen der 



Einfachste Zeugung. 35 

belebten und unbelebten Natur als überhaupt nicht 
absolut erkannt hat, namentlich wenn man die Mög-, 
lichkeit , ja Nothwendigkeit der Urzeugung oder ältern- 
losen Entstehung der niedrigsten organischen Wesen 
aus der unorganischen Materie eingesehen, wovon später, 
wenn man das Wesen der Ernährung und des Wachs- 
thums als lediglich bedingt durch die Quellbarkeit der 
Materie erfasst, so schwindet auch das Räthselhafte der 
Fortpflanzung. Die Zeugung ist dann nicht mehr ein 
mystisches Ereigniss, und die Entstehung eines Orga- 
nismus in einem oder von einem Organismus, das Ab- 
lösen und die Entwickelung der zahllosen Keime lässt 
sich ebenso, als das Werden eines neuen Krystalls, zer- 
gliedern bis auf die nur noch dem geistigen Auge 
zugänglichen Bewegungen der Elemente. Wir wollen 
damit sagen, dass die Grenzen der Forschung im Ge- 
biete der Fortpflanzung keine engern und besondem 
sind. Wir gehen also an die Schilderung des That- 
sächlichen der Fortpflanzung und Entwickelung im 
Thierreich. 

Wenn, wie man allgemein zugeben muss, dem höch- 
sten wie dem niedrigsten Leben das wesentlich Cha- 
rakteristische gemeinsam ist, und nur die Complication 
der Lebensvorgänge nebst der Mannichfaltigkeit der die- 
selben bewerkstelligenden Theile die gradweise Ver- 
schiedenheit bedingen, so erkennen wir natürlich das 
Wesen der Lebensprocesse am leichtesten an den ein- 
fachsten Organismen. Die einfachsten, von Haeckel 
entdeckten Wesen , wie Protamoeba, jene eiweissartigen 
Schleimklümpchen , wachsen bis zu einem gewissen 
Umfange. Warum derselbe sich in bestimmten engen " 
Grenzen bewegt, und warum bei einem gewissen Um- 
fange des Körpers die Molekeln zu zwei Hälften gra- 
vitiren, wissen wir nicht; jedenfalls handelt es sich 
um Cohäsionsverhältnisse , welche der Berechnung prin- 
cipiell zugänglich sind. Qenug, bei einer gewissen 
Grösse wird der Zusammenhang der Theile in einer 
mittlem Zone gelockert, das bisherige Individuum wird 

3* 



36 Theilung. Knospung. 

seinem Namen untreu und theilt sich in zwei Hälften, 
deren jede vom Moment der Trennung an ein indivi- 
duelles Leben beginnt, während vom Anfang der 
Theilung an ihre Selbständigkeit sich mehr und mehr 
vorbereitete. Dies ist der einfachste Fall der Fort- 
pflanzung, eine Vermehrung durch Theilung. 
Dieselbe bleibt aber häufig nicht bei der Halbirung 
stehen; die die Theilung verursachende Bewegung der 
kleinsten Bestandtheile setzt sich in der Art fort, dass 
die Hälften wiederum und die Viertel abermals, und 
so das Ganze in eine grössere Anzahl von Portionen 
getheilt wird, und das Mutterwesen sich in einen 
Schwärm von Sprösslingen auflöst. 

Diese Vermehrung durch blosse Theilung der Masse 
setzt voraus, dass der sich so fortpflanzende Organis- 
mus keine hohe Complication an sich trage. Eine 
Halbirung eines Käfers oder Vogels ist als Mittel der 
Fortpflanzung nicht wohl denkbar. Jedoch haben uns 
Stein's vorzügliche Beobachtungen über den Fort- 
pflanzungsprocess der Infusorien Organismen kennen 
gelehrt, welche weit über jenen einfachen sogenannten 
Moneren stehen, und deren Theilhälften eine Reihe 
tief eingreifender Neubildungen durchmachen, ehe sie 
sich als selbständige Individuen voneinander trennen. 
Diese mit der Theilung verbundene Umbildung führt 
zur Fortpflanzung durch Knospung. Wie die Thei- 
lung jener niedrigen Organismen von der Erreichung 
einer gewissen, durch hinlängliche Nahrung bedingte 
Wachsthumsgrenze abhängt, so tritt nun häufiger der 
Fall ein , dass das Individuum den Ueberschuss an ge- 
wonnenem Stoff an einer bestimmten Stelle des Körpers 
absetzt und einen Spross oder eine Knospe bildet. 
"Wir kennen Fortpflanzung durch Knospung schon bei 
den einfachsten Organismen, den Zellen, wie denn 
überhaupt jede Heilung und Vernarbung höherer We- 
sen, bis auf die Ergänzung verstümmelter Glieder bei 
Amphibien, nur durch die auf Theilung und Knospung 
beruhende Fortpflanzung der elementaren Formbestand- 



Generationswechsel. 37 

theile ermöglicht ist. Es liegt aber in der Natur des 
Knospungsvorganges , dass er in der Stufenleiter der 
Organismen weit höher als die Theilung hinaufragt; 
es ist eben die Entstehung eines neuen Wesens an 
einem schon vorhandenen, wobei das letztere seine 
Individualität ganz oder zum grössten Theile bewahrt 
und doch seine Eigenthümlichkeit in vollem Masse auf 
den Nachkommen übertragen kann. 

Der einfachste Fall der Knospung ist der, wenn ein 
Mutterthier eine oder mehrere Knospen treibt, die 
jenem gleich sind und auch ihrerseits gleichartige 
Knospen zeugen. Jede Korallensammlung gibt eine 
Menge von Beispielen hierfür, und wJfe das verschie- 
denartige Aussehen der einzelnen Korallengattungen 
auf blossen kleinern Modificationen dieser Fortpflan- 
zungsweise beruht. Es gibt aber schon einzelne Ko- 
rallen, bei welchen man bei aufmerksamer Vergleichung 
nicht blos zufällige Abweichungen, sondern regelmässig 
wiederkehrende Verschiedenheiten zwischen Mutter und 
Spross entdeckt, wie das neulich Semper an Fächer- 
und Pilzkorallen gezeigt hat. Wir werden damit zu 
der höchst wichtigen Erscheinung des Generations- 
wechsels geführt, den wir an einigen Beispielen er- 
läutern müssen, noch ehe wir auf das Wesen der ge- 
schlechtlichen Fortpflanzung eingehen. 

Unser Bild Fig, 3 zeigt unter Ä ein polypenförmiges 
Wesen mit gekreuzten Fangarmen, das von seinem 
Entdecker Duj ardin mit dem Gattungsnamen Kreuz- 
polyp (Stauridium) belegt wurde. Dieses nach Art der 
Polypen auf einem Stiel festwachsende Thier bildet 
oberhalb seines untern Armkreuzes Knospen, welche 
als rundliche Ballen hervortreten, nach und nach 
Glockenform annehmen und sich ablösen, nachdem sie 
den Bau und die Form einer Qualle erhalten haben. 
Die Cladonema radiatum genannte Qualle (Fig. 3 B) 
ist also die Tochter der ihr ganz unähnlichen Mutter 
Stauridium; sie pflanzt sich auf geschlechtlichem Wege 
fort und aus ihren Eiern gehen die Stauridien hervor. 



f. 









miteinander 
'ation in der 

aus dem Ei 
tration selbst 

[*Tnkanal der 
einzelne 







•^ ausaerordent- 
ak blosse 
der Ent- 
id ihren Be- 
in Saug- und 
jt^er trotz ihrer 
"" an Organen 
oder , nach 



Geschlechtliche Fortpflanzung. 39 

Haeckers Bezeichnung, Personen haben. Verhielte 
sich nun der Bandwurm wie die meisten Thiere, so 
würden aus seinen Eiern unmittelbar die Gliederindi- 
viduen sich entwickeln. Zu diesen aber ist ein weiter 
Umweg. Ist ein Bandwurmei durch Glück und Zufall 
in einen ihm zusagenden Magen, z. B. das Ei des 
Menschenbandwurms, Taenia solium, in das Schwein 
gerathen, so wandert der Embryo aus dem Magen, 
wo er das Ei verlassen hat, aus und in die Muskeln 
ein und schwillt hier zu einer Art von Blase an. 
Diese Blase ist die erste Zwischengeneration. Sie zeugt ^ 
eine zapfenförmige Knospe, die jedoch ihren Zweck 
solange verfehlt, als der „Blasenwurm" oder die „Finne" 
in dem Schweinefleische bleibt. Erst wenn dasselbe 
roh oder unvollständig zubereitet in den menschlichen 
Magen kommt, schlägt die Stunde der Erlösung für 
jenen Zapfen. Er tritt aus seiner Mutter, der Blase, 
hervor, letztere geht zu Grunde und der Zapfen, ili 
welchem wir nun den Kapf sammt Hals des Band- 
wurmgebildes erkennen, stellt eine zweite Zwischen- 
generation vor. Seine Productivität äussert sich auch 
alsbald; er verlängert sich und je weiter er band- 
förmig auswächst, desto deutlicher markiren sich in 
diesem aus dem Hintertheile des Halses hervorsprossen- 
den Theile Querstreifen und „Bandwurmglieder", also 
die Individuen der dritten oder Geschlechtsgeneration. 

In den besprochenen Entwickelungskreisen lösen sich 
also ungeschlechtliche und geschlechtliche Fortpflan- 
zung einander ab, und wir haben uns, ehe wir noch 
einige andere Fälle der ungeschlechtlichen Vermehrung 
besprechen, zuvor mit den Thatsachen der geschlecht- 
lichen Fortpflanzung bekannt zu machen. 

Sie ist dadurch charakteristisch, dass es zur Er- 
zeugung des neuen Individuums der Vereinigung zweier 
verschiedener Producte oder Formelemente, des Eies 
und des Samens bedarf. Das Ei ist ursprünglich im- 
mer eine einfache Zelle (Fig. 4, o), deren Kern Keim- 
bläschen, deren Kernkörperchen Keimfleck heisst, und 



40 Ei und Samen. 

welche bei vielen Thieren mit einer eigenen Hülle oder 
Membran versehen ist, bei andern nackt bleibt und 
dann häufig die wunderlichen Bewegungen des Proto- 
plasma zeigt. Die Eizellen der verschiedenen Thier- 
klassen weichen zwar in ihren mikroskopischen Dimen- 
sionen ziemlich voneinander ab, dennoch sind sie für 
das ganze Thierreich von den Schwämmen und Polypen 
bis zu den Säugern sammt dem Menschen wesentlich 
gleich. Erst wenn die primitive Eizelle reichlicher mit 
Dotter und Eiweis versehen, sich mit besonders dicker 
^ und durchlöcherter Schale , wie bei Insekten und Fi- 
schen, oder mit einer ganz eigenthümlich geformten 
Hülle, z. B. bei manchen Strudelwürmern von Gestalt 
einer doppelt concaven Linse, umgeben hat, treten 

unwesentliche Unterschiede auf. 
In der Regel bilden sich die 
Eizellen in besondern Organen, 
den Eierstöcken. Der andere 
Geschlechtsstoff, der Same, ent- 
hält als die eigentlich wirksamen 
Bestandtheile die sogenann- 
p. ^ ten Samenkörperchen {Fig, 4 s), 

welche aus einem punktförmigen 
oder elliptischen, auch wol hakenförmigen Köpfchen 
und einem fadenförmigen Körper bestehen. Der Faden- 
anhang vollführt, solange der Same befruchtungsfähig, 
schlängelnde Bewegungen, und die Entwickelung der 
Samenkörperchen aus Zellen, sowie die Vergleichung 
ihrer Bewegungen mit den schwingenden Bewegungen 
der Flimmer- und Geisselzellen lässt sie uns gleich- 
falls als modificirte Zellengebilde erkennen. 

Der im vorigen Jahrhundert äusserst erregte Streit 
zwischen den Evolutionisten und den Epigenesisten hat 
nur noch ein historisches Interesse. Jene behaupteten, 
dass entweder im Ei oder im Samenkörperchen schon 
der ganze künftige Organismus in allen seinen Theilen 
vorgebildet sei und es also nur einer Ausbildung der 
unendlich fein vorhandenen Organe bedürfe. Die andern, 




Befruchtung. Keimbildung. 41 

welche den Sieg davon trugen, sahen im Ei das noch 
nicht differenzirte Material, welches infolge der Be- 
fruchtung sich in die verschiedenen Formelemente und 
Organe umzuwandeln habe. Es sind aber kaum zwan- 
zig Jahre her, seit der Vorgang der Befruchtung ent- 
deckt und nachgewiesen wurde, dass mindestens ein 
Samenkörperchen , in der Regel mehrere oder viele in 
das Innere des Eies eindringen und sich materiell mit 
dem EistofF vereinigen müssen, um eine wirksame 
Befruchtung herbeizuführen. 

Wir wurden durch den Gang unserer Darstellung 
veranlasst, der ungeschlechtlichen die geschlechtliche 
Fortpflanzung scharf gegenüberzustellen. Allein auch 
hier hat die neuere Zeit eine Reihe ausgleichender und* 
vermittelnder Beobachtungen gemacht, welche wir bei 
unserer Absicht, die Vorbereitungen zur Abstammungs- 
lehre zu treffen und den in der organischen Natur 
überall vorhandenen Uebergang nachzuweisen, nicht 
ausser Acht lassen dürfen. Es wurden oben solche 
Fälle des Generationswechsels gewählt, wo die nicht 
Eier und Samen bereitenden Generationen durch äussere 
Knospenbildung sich fortpflanzten. Nun ist offenbar 
psysiologisch kein grosser Unterschied hiervon, wenn 
die Ablagerung des Materials der Nachkommenschaft 
nicht nach aussen, sondern in und an bestimmten in- 
nern Organen geschieht. Der häufigste Fall dieser 
ungeschlechtlichen im Innern des Mutterthieres sich 
vollziehenden Vermehrung ist die Keimbildung. 
Eins der geläufigsten Beispiele findet im Entwicke- 
lungskreise oder dem Generationswechsel der Gattung 
Doppelloch (Distomum) der Saugwürmer statt. In der 
Leibeshöhle der einen Larvengeneration entstehen Zel- 
lenballen, die Keime, die sich zur zweiten Generation, 
den Cercarien, entwickeln. Grosses Aufsehen erregte 
auch die Entdeckung der Keimbildung der Larven 
einiger zweiflügeligen Insekten (Cecidomyia, Miastor). 
In der Leibeshöhle der Maden dieser Fliegen entsteht 
nämlich eine zweite Generation von Maden, deren 



42 Entwickelung unbefruchteter Eier. 

Ursprung man anfanglich auf eine reine Keimbil- 
dung zurückführte, bis sich ergab, dass diese Keime 
aus der, bei vielen Insekten schon sehr früh vorhan- 
denen Anlage der Geschlechtsdrüse hervorgingen, also 
als unbefruchtete Eier betrachtet werden müssten. Die 
zweite Madengeneration lebt auf Kosten ihrer Mutter, 
zehrt von deren Fettkörper, vertilgt dann auch die 
andern Organe und vom mütterlichen Pelikan bleibt 
schliesslich nur die Haut als schützende Hülle der 
dann bald durchbrechenden Töchter übrig. Ohne an- 
dere Fälle zu erwähnen, bei denen es zweifelhaft sein 
kann, ob Keime oder unbefruchtete Eier zur Ent- 
wickelung gelangen, wollen wir nur einige von denen 
• hervorheben , wo die Entwickelung ohne Befruchtung 
völlig sicher gestellt ist. Die Bienenkönigin legt theils 
im natürlichen Verlauf ihres Lebens regelmässig eine 
Anzahl nicht befruchteter Eier, aus denen die Drohnen, 
die männlichen Individuen auskriechen, theils infolge 
verschiedener Zufälle, wo die Befruchtung nicht statt- 
finden konnte ; und wenn ausnahmsweise Arbeitsbienen, 
unvollständig entwickelte weibliche Bienen, welche 
nicht befruchtet werden konnten, Eier legen, so geben 
diese ebenfalls nur Drohnen. Die höchst interessanten 
Versuche v. Siebold's über die Fortpflanzung einer 
Wespe, Polistes gallica, haben gezeigt, dass die über- 
winterten befruchteten Weibchen, .welche im Frühjahr 
eine neue Colonie gründen, Eier absetzen, ausweichen 
weibliche Individuen auskriechen, ausnahmsweise Männ- 
chen. Diese jungfräuliche Generation erzeugt dann 
die Eier, aus denen sich die Männchen entwickeln. 
Bei verschiedenen Schmetterlingen kommen umgekelirt 
aus den unbefruchteten Eiern nur Weibchen hervor, 
ebenso bei verschiedenen niedern Krustenthieren. 

Kehren wir nun zur Betrachtung der Entwickelungs- 
vorgänge zurück, welche bei der geschlechtlichen Fort- 
pflanzung nach stattgehabter Befruchtung sich zeigen. 
Allgemein beginnt die Entwickelung mit einem Zellen- 
bildungsprocess, der Furchung oder Keimhautbildung, 



Furchung. Entwickelung. 43 

• 

nach dessen Beendigung statt der einen primitiven 
Eizelle eine meist grosse Menge von Zellen als das 
Material zu Anlage und Aufbau des Embryo vorhan- 
den sind. Auch die ohne Befruchtung parthenogene- 
tisch sich entwickelnden Eier beginnen die Entwickelung 
mit jener Zellenvermehrung, und selbst die Eier der 
Thiere, bei denen die Entwickelung nie anders als 
nach vorhergegangener Befruchtung stattfindet, zeigen, 
wenn sie in einem gewissen Stadium der Reife nicht 
zur Befruchtung gelangen, eine unvollkommene Fur- 
chung. Bisjetzt ist dieses Verhalten allerdings nur 
von den Eiern des Frosches und Huhnes nachgewiesen, 
allein diese Fälle sind hinreichend, um die Furchung 
des Charakters einer ausschliesslich innerhalb der ge- 
schlechtlichen Fortpflanzung auftretenden unvermittelten 
Erscheinung zu entkleiden. 

Schon ehe die wahrhaft classische und grundlegende 
Arbeit C. E.v. Bär'süber die Entwickelungsgeschichte der 
Thiere erschien ®, hatte sich , auf unvollständige Beobach- 
tungen gestützt , die Ansicht festgesetzt, dass die höhern 
Thiere in ihren Entwickelungsstufen die Formen der nie- 
drigem durchliefen. Die Naturphilosophie beschränkte 
sich dabei nicht blos auf die Grenzen der Typen, blieb 
also nicht bei der Annahme stehen, dass der Säuge- 
thierembryo hintereinander Fisch, Amphibium und in 
gewissem Sinne und nach bestimmter stufenweiser Aus- 
bildung der Organe auch Vogel sei, sondern Hess den 
Embryo auch die niedrigem Type» wiederholen und 
übersteigen. Dieser sich in vagen Analogien bewe- 
genden falschen Richtung gebot der oben genannte 
grosse Naturforscher ein Halt. Er zeigte, dass aller- 
dings eine Menge Uebereinstimmungen zwischen dem 
Embryo der höhern Thiere und der bleibenden Form 
niederer Thiere sich nachweisen Hessen , dass aber diese > 
Aehnlichkeit wesentlich darauf beruhe, dass die Son- 
derung der allgemeinen Grundmasse im Embryo der 
höhern Thiere noch nicht eingetreten sei und sich im 
Fortgange der Entwickelung auf Stufen befinde , w^elche 



44 Entwickelungstypen. 

für die Reihe der niedern Thiere bleibende seien. Da- 
gegen wies er die Behauptung, dass die Embryone 
höherer Typen die bleibenden Formen niederer Typen 
wirklich durchmachten, entschieden zurück. Er sagte, 
der Typus jedes Thieres scheine sich gleich anfangs 
im Embryo zu fixiren und die ganze Entwickelung zu 
beherrschen. Was im besondern dann die Wirbelthiere 
betreffe, so finde man, je weiter man in ihrer Ent- 
wickelungsgeschichte zurückgeht, die Embryonen desto 
ähnlicher im Ganzen und in den einzelnen Theilen. 
„Erst allmählich treten die Charaktere hervor, welche 
die grössern, und dann die, welche die kleinern Ab- 
theilungen der Wirbelthiere bezeichnen. Aus einem 
allgemeinen Typus bildet sich also der specielle hervor." 

Bär fand also das Gleichartige nur in den embryo- 
nalen Zuständen der verschiedenen Thierformen, musste 
aber über die Kreise der Typen hinausgehen, und es 
schien ihm wahrscheinlich , dass unter allen Embryonen, 
sowol der Wirbelthiere, als der wirbellosen Thiere, 
die sich aus einen wahren Eie entwickeln, im eigent- 
lichen Keimzustande Uebereinstimmung besteht, zu 
einer Zeit, wo der Typus noch nicht aufgetreten. Er 
wurde hierdurch zu der Frage geführt: „Ob nicht im 
Beginne der Entwickelung alle Thiere im wesentlichen 
sich gleich sind, und ob nicht für alle eine gemein- 
schaftliche Urform besteht." * „Es Hesse sich", meint 
er schliesslich, „nicht ohne Grund behaupten, dass die 
einfache Blasen fotm die gemeinschaftliche Grundform 
sei , aus der sich alle Thiere nicht nur der Idee nach, 
sondern historisch entwickeln." 

Nachdem die Schranke , welche man früher zwischen 
der ungeschlechtlichen und der durch die Befruchtung 
eingeleiteten Vermehrung aufrichten zu müssen glaubte, 
als ganz unwesentlich erkannt worden, und alle Ent- 
wickelung auf Vermehrung und Umwandlung der pri- 
mitiven Keim- oder Eizelle hinausläuft, musste man 
im Sinne der altem Forscher die Zelle als die gemein- 
schaftliche Grundform betrachten. Wenn aber die 



bgtScKS' B mM. die 





46 I^ie Gastrula- Larve. 

Stufe, welche Haeckel als Gastrulastadium bezeichnet 
hat. Unsere Abbildung gibt den Durchschnitt einer 
solchen Larve, welche zur Zeit noch nichts andere» 
ist als ein mit einer Mundöffnung (Fig. 5. o) versehener 
Magen, dessen Wandung aus zwei Schichten oder 
Lagen von Zellen besteht. Die äussere Schicht der 
Zellen ist von der innern durch die langgestreckte 
Form und durch den Besitz der als Bewegungsorgane 
dienenden Geissein verschieden. Alle spätere, aller-» 
dings hier bei den Schwämmen nicht sehr bedeutende 
Ausbildung und Differenzirung lässt sich auf Umände- 
rungen dieser beiden Blätter, des Aussenblattes (Ecto- 
derm oder Exoderm) und des Innenblattes (Entpderm) 
zurückführen. Und dieses Stadium der bewimperten, 
zweischichtigen, mit der primitiven Magenhöhle und 
dem Munde versehenen Larve findet sich bei den 
Cölenteraten , mit geringer Abänderung bei den Stachel- 
häutern, bei verschiedenen Würmern, der Sagitta, den 
Ascidien und dem Lanzettfisch. Aus der Ueberein- 
stimmung aller dieser Thiere und besonders der letztern 
werden wir später wichtige Folgerungen machen können. 
Legt man aber auf das Vorhandensein der Geissein 
der äussern Zellenlage kein Gewicht, wie dies auch 
nach dem Verhältniss der Geissei zur Zelle gestattet 
ist, und erkennt man als die wesentliche Bedeutung 
der Larvenanlage die an , dass aus ihren zwei Blättern 
die gesammten Organe ihren Ursprung nehmen, so 
schliessen sich den oben genannten Thieren nicht nur 
fast die gesammten Gliederthiere , sondern auch die 
übrigen Wirbelthiere an, indem bei ihnen unmittelbar 
nach Anlage des Eeimstreifens die Spaltung desselben 
in zwei Zellenlagen oder Blätter erfolgt. Ueber die 
Entstehung des dritten, mittlem Keimblattes und die 
Betheiligung der beiden primitiven Blätter an der 
Bildung desselben sind die Beobachter nicht einig. 

Erst von hier an nimmt die Entwickelung der grossen 

' TJiiergruppen eine verschiedene Richtung, und es ist 

das unsterbliche Verdienst v. Bär's, diese Entwicke« 



48 ' Andere Entwickelungstypen. 

• 

Im weitern Verlauf der Entwickelung wachsen die 

Seitentheile nach dem Rücken zu, in dessen Mitte sie 
schliesslich zusammentreffen. Man kann daher mit 
Rücksicht auf die Wirhelthiere sagen, dass die Glie- 
derthiere den Nahel am Rücken hahen. Umgekehrt 
also ist der Entwickelungstypus der Wirhelthiere da- 
durch charakterisirt , dass die Keimanlage der Rücken- 
seite des Thiers entspricht. Der Anlage der Rücken- 
furche, welche sich später zum Rückenmarkskanale 
schliesst, indem sie nach und nach von einer sie von 
unten her umwachsenden Scheide umgehen wird, folgt 
die Anlage querer Platten, der Urwirbelplatten. Die 
nach aussen von diesen gelegenen Seitenplatten wach- 
sen nach der Bauchseite zu und verwachsen endlich 
im Nabel. An der Stelle der aus gesonderten Wir- 
beln bestehenden eigentlichen Wirbelsäule befindet sich 
ursprünglich immer ein knorpelartiger Strang, die 
Rückensaite (chorda dorsalis), und da von dieser Axe 
aus die Keimanlage sowol nach oben als nach unten 
sich zu Röhren, dem Rückenmark nebst Scheide und 
der Bauchhöle mit dem Darmkanale umgestaltet, 
so nannte v. Bär diese Entwickelung die doppelt 
symmetrische. Die Gliederentwickelung war ihm eine 
einfach symmetrische, und. die Entwickelung der Weich- 
thiere bezeichnete er als eine massige. Die Berech- 
tigung liegt darin, dass den Weichthieren jene durch 
die Gliederung hervorgerufene Streckung und über- 
haupt die in der Gliederung enthaltene Wiederholung 
gleicher Theile und Leibesabschnitte, die Metameren- 
bildung nach Haeckel, ganz fremd ist. 

Wir müssen nun nochmals darauf zurückkommen, 
dass schon die ersten etwas ausgedehnten Beobach- 
tungen der E]]ft;wickelungsformen verschiedener Thiere 
zu der Wahrnehmung führen, dass die Embryone und 
Entwickelungsstufen höherer Thiere vorübergehend in 
einer engem Beziehung zu den fertigen und definiti- 
ven Zuständen der niedern Thierformen wenigstens 
desselben Stammes ständen, woraus sich die bestimmte 



Embryonale und systematische Entwickelung. 49 

Vorstellung entwickelte , dass der Embryo der hohem 
Thiere die bleibenden Formen der niedern Thiere 
durchlaufe. Nachdem besonders die deutsche Natur- 
philosophie diese Lehre ziemlich phantastisch aus- 
gebildet und den Menschen als die Summe aller Thiere 
sowol nach Bau als nach Entwickelung proclamirt 
hatte, „musste", sagt Bär, „die Lehre von der Ueber- 
einstimmung der individuellen Metamorphose mit der 
unklaren Metamorphose des ganzen Thierreichs ein be- 
sonderes Gewicht erhalten, als durch Rathke's glän- 
zende Entdeckung Kiemenspalten in den Embryonen 
der Säugethiere und Vögel nachgewiesen und bald 
darauf sogar die Gefasse dazu aufgefunden wurden." 
Die Uebertreibungen und falschen Schlussfolgen, die 
man aus den beobachteten allgemeinen Analogien zog, 
bei den unklaren Vorstellungen der über dem Ganzen 
schwebenden und die individuelle Entwickelung beherr- 
schenden Typen, hat Bär in geistreicher Weise ge- 
geisselt. „Um sich zu überz'eugen, dass ein solcher 
Zweifel an dieser Lehre nicht ganz ohne Gewicht ist, 
denke man sich nur, die Vögel hätten ihre Entwicke- 
lungsgeschichte studirt, und sie wären es, welche nun 
den Bau des ausgewachsenen Säugethiers und des 
Menschen untersuchten. Würden nicht die physiologi- 
schen Lehrbücher Folgendes lehren können? 'Jene 
vier- und zweibeinigen Thiere haben viele Embryonen- 
ähnlichkeit, denn ihre Schädelknochen sind getrennt, 
sie haben keinen Schnabel, wie wir in den fünf oder 
sechs ersten Tagen der Bebrütung; ihre Extremitäten 
sind ziemlich gleich unter sich, wie die unserigen un- 
gefähr ebenso lange; nicht eine einzige wahre Feder 
sitzt auf ihrem Leibe, sondern nur dünne Federschafte, 
sodass wir schon im Neste weiter sind, als sie jemals 
kommen; ihre Knochen sind wenig spröde und ent- 
halten, wie die unserigen iii der Jugend, gar keine 
Luft, überhaupt fehlen ihnen die Luftsäcke und die 
Lungen sind nicht angewachsen, wie die unserigen in 
frühester Zeit; ein Kropf fehlt ihnen ganz; Vormagen 

ScHKiDT, Descendenzlehre. 4 











)Lchen köi 
wollen höher 




IftfälleliEmus der 

latischen Reihe, 

■ einige leicht 

aos den Tau- 

..„.System immer 

^^ Entwickeluug 

*" iebt sich ein 

,„— ^.n Mittelmeere 

'ffa^idaSm aaBgewach- 



^: •^^- 



systematische Entwickelung. 51 

senen Zustande frei beweglich. Dieser definitiven Aus- 
bildung geht eine Stufe der Sesshaftigkeit {Fig. 7) 
voraus, während welcher der Körper auf einem Stiele 
festsitzt. Das Thier gleicht während der Larvenzeit 
den zeitlebens festsitzenden Gattungen, welche nach 
allen Regeln der Systematik und nach ihrem geologi- 
schen Auftreten einen niedern Bang in der Reihe der 
Echinodermen einnehmen. Die Krabben oder kurz- 
schwänzigen Krebse erheben sich durch mehrere Kenn- 
zeichen über die langschwänzigen , zu welchen der 
Flusskrebs gehört. In ihrer Entwickelung gehen sie 
durch das Stadium der Langschwänzigkeit, wie die 
Larve (Fig, 8) zeigt. Sie werden gerade durch die 
Verkümmerung des bei den Langschwänzen als Schwimm- 
organ benutzten Schwanzes ^r das Laufen, und einige 
unter ihnen für das Leben auf dem Lande geschickter, 
indem sie sich gewissermass6n einer Bürde entledigen. 
Eine der systematischen Beihen innerhalb der Wirbel- 
thiere führt durch die Beptilien zu den Vögeln. Wenn 
nun auch die Vögel, wie sich später ergeben wird, in 
den ihnen von Bär in den Schnabel gelegten physio- 
logischen Betrachtungen mit Unrecht sich ihres Feder- 
kleides dem Säugethier und Menschen gegenüber rüh- 
men, so haben sie es damit doch weiter gebracht als 
die Reptilien, denn die embryonale Anlage der Feder 
ist die der Schuppe. Auch das Fussgelenk des Vogel- 
embryo, das wir schon oben (S. 9) kennen lernten, 
und das sich darin vom Knöchelgelenk der Säuger 
und des Menschen unterscheidet, dass es nicht zwischen 
Unterschenkel und Fusswurzel, sondern in die Fuss- 
wurzel hinein gelegt ist, findet sich in dem embryo- 
nalen Zustande, den es beim Vogel schnell durchläuft, 
in einem definitiven Zustande beim Reptil. Ob- 
wol die Säugethiere nie wirkliche Fische sind, so ist 
doch in den embryonalen Stufen ihrer Organe viel 
Fischähnliches; die Embryonalspalten am Halse ent- 
sprechen den Kiemenspalten; die Anlage des Gehirns 

4* 



52 Embryonale und systematische Entwickelung. 

ist auf das fertige Gehirn der Neunaugen und Haie 
zurückzuführen u. s. w. Bär begnügte sich seinerzeit, 
um die Lehre, dass der Embryo die ganzen Thierreiche 
durchlaufe, zu widerlegen, darauf hinzuweisen, dass er 
nie aus einem Typus in den , andern übergehe. Den 
andern und wahrscheinlichem Theil der Ansicht, dass 
wenigstens innerhalb der Typen die höhern Gruppen 
in ihren embryonalen Stadien die bleibenden Formen 
der niedern wiederholten, wies er damit zurück, dass 
es sich um blosse Analogien handle. Es müsse der 
Embryo, da er allmählich durch, fortgehende histo- 
logische und morphologische Sonderung sich ausbilde, 
in dieser Hinsicht mit weniger entwickelten Thieren 
um so mehr übereinstimmen, je jünger er ist. „Sehr 
natürlich also, dass der ]^mbryo der Säugethiere dem 
der Fische ähnlicher ist, als der Embryo des Fisches 
dem Säugethiere. Wenn man nun im Fische nichts 
erkennt, als das wenig ausgebildete Säugethier (und 
das ist eine unbegründete Annahme), so muss man das 
Säugethier für einen höher ausgebildeten Fisch halten, 
und dann ist es ganz consequent, zu sagen, der Em- 
bryo des Wirbelthieres sei anfangs ein Fisch." ^<^ 

Wir sind unserm Vorsatz, in diesem Abschnitte nur 
Thatsachen beizubringen , etwas untreu geworden. Die 
Thatsachen sind zu sehr danach angethan, um Re- 
flexionen zu veranlassen ; auch haben wir ja die obigen 
Reflexionen nur als geschichtliche Thatsachen wieder- 
holt, und wir müssen nun fragen, ob sie uns wirklich 
befriedigen können. Ich glaube nicht. Es ist bei 
weitem nicht blos allgemeine histologische und mor- 
phologische Sonderung, welche die Aehnlichkeit der 
höhern unfertigen mit den niedrigem fertigen Formen 
hervorruft. Um nur bei dem einen Beispiel stehen 
zu bleiben: es ist ganz unbegreiflich, warum die Ge- 
hörknochen der Säuger auf dem Umwege der Kiemen- 
spalt enbildung ' sich entwickeln, wenn es sich um blosse 
histologische und morphologische Sonderung handelte. 
Bei der ganzen Klasse der Erscheinungen der unzweck- 



Die Vorwelt. 53 

massigen und verkümmerten (abortiven) Organe lässt 
uns die Erklärung im Stich, und endlich bleibt ja 
der „Entwickelungstypus" selbst, wie er die Gruppen 
beherrscht, die individuelle Entwickelung leitet, sie 
dort mangelhafter, hier vollkommen ausbildet, etwas 
Unerklärtes. 



IV. 

Die Thierwelt in ihrer geschichtlichen, paläontolo- 
gischen Entwickelung. 

Die Beobachtung, dass die Erdrinde von den tief- 
sten Thälern bis auf die höchsten Gipfel der Gebirge 
unzählige Thierreste birgt, ist so leicht zu machen, 
dass schon das Alterthum darauf kommen musste. 
Aber ein paar Jahrtausende vergingen, ehe man zur 
richtigen Erkenntniss des Verhältnisses dieser Ueber- 
bleibsel zur Jetztwelt kam. Dass es Naturspiele seien, 
Producte einer schöpferischen Kraft, die zu keinem 
eigentlichen Ziele geführt, sondern gewissermassen als 
Vorübungen für die wirkliche Lebensschöpfung anzu- 
sehen seien, meinten die einen; die andern hielten die 
Versteinerungen zwar für Ueberreste von lebenden 
Geschöpfen, aber von solchen, welche noch existirten, 
und welche bei Ueberflutungen und nachmaligem Zu- 
rückziehen der Meere ihren Untergang gefunden. 
Namentlich die Sage von der allgemeinen Sündflut 
fand in dieser zweiten Meinung eine mächtige Nahrung. 
Erst als zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Schich- 
tung der Erdrinde sich der wissenschaftlichen Erkennt- 
niss öffnete, nachdem durch Kant und Laplace die 
Grundzüge einer Geschichte des^ Sonnensystems und 
einer speciellen Erdgeschichte oder Geologie vorge- 
zeichnet waren, erst damit trat die Möglichkeit und 
Nothwendigkeit einer wirklichen Paläontologie oder 
Kunde der vorweltlichen Lebewesen ein. Im Anfang 



54 Geologische Formationen. 

dieses Jahrhunderts wurde die Entdeckung gemacht, 
dass die Versteinerungen, entsprechend der Schichtung 
der Erdrinde, in regelmässiger Folge einander ab- 
lösen, und dass sie in dieser Folge sowol von der 
heutigen Schöpfung als unter einander specifisch ver- 
schieden seien. 

Wir müssen uns mit der Reihenfolge jener, die Erd- 
rinde zusammensetzenden, Blätter bekannt machen. Sie 
sind die Fächer, in welchen die Pflanzen und Thier- 
reste aufbewahrt lief]fen. Sie zu ordnen war allerdinnjs 
nur möglich, indem man sich durch die in ihnen ent- 
haltenen Organismen als Merkzeichen (oder Leitmuscheln) 
leiten liess. Wir aber nehmen diese Ordnung als etwas 
Gegebenes und berücksichtigen für unsere Zwecke 
natürlich nur die Schichten und Gesteine, in welchen 
Versteinerungen — dieses Wort im allgemeinsten Sinne 
gebraucht — enthalten sind oder sein könnten, die- 
jenigen nämlich, welche sich als sedimentär, d. h. als 
Absatz aus Gewässern erwiesen haben. Unsere Kennt- 
niss beschränkt sich auf einen grossen Theil von Eu- 
ropa, zahlreiche Districte von Amerika und vereinzelte 
Punkte der übrigen Erde. 

Die folgende Tabelle gibt, von oben nach unten, 
die Gliederung der sedimentären Schichtenreihe: 

1) Alluvium. 

2) Diluvium. 

3) Tertiärformation: 

Pliocän, 
Miocän, 
Eocän. 

4) Kreideformation. 

Senon, 

Turon , 

Kenoman, 

Gault , 

Neocom (Wealden). 



Alluvium. Diluvium. 55 

5) Juraformation: 

Oberer, weisser Jura (Malm), 
Mittlerer, brauner Jura (Dogger), 
Unterer, schwarzer Jura (Lias). 

€) Triasformation: 
Keuper , 
Muschelkalk , 
Buntsandstein. 

7) Permische Formation oder Dyas: 
Zechsteingruppe , 
Rothliegendes. 

S) Steinkohlenformation: 
Eigentliche Steinkohlen , 
Flötzleerer Sandstein, 
Kohlenkalk. 

9) Devonische Formation. 

10) Silurische Formation. 

11) Huronische Schieferformation. 

12) Laurentische Gneisformation. 

Obgleich wir keine Geologie schreiben, wird doch 
«ine kurze Erläuterung dieser Schichten nothwendig 
sein, da die Art ihrer Entstehung und ihr gegen- 
seitiges Verhältniss auch die Beschaffenheit und Ver- 
theilung der gleichzeitigen Organismen ins Licht setzt. 
Alle Erdverschiebungen, welche wir jetzt durch Regen, 
Flüsse und Meer und durch andere Naturgewalten vor 
sich gehen sehen, und die seit geschichtlichen Zeiten, 
kurz, in der sogenannten Gegenwart stattgefunden 
haben, also z. B. die grossen Deltabildungen, die 
Moränenablagerungen unserer Gletscher, werden dem 
Alluvium zugerechnet. Man glaubte es früher durch 
das Auftreten des Menschen gegen das Diluvium 
abgrenzen zu können; allein da man weder einst noch 
jetzt über diesen Zeitpunkt etwas gewisses sagen konnte 
und kann, und da von den Organismen, deren Reste 
in den Diluvialschichten vorkommen, ein Theil zwar 



56 Tertiärformation. Kreide. 

ausgestorben ist, ein grosser Theil aber noch lebt, so 
greifen diese beiden Formationen untrennbar inein- 
ander. Dem Diluvium gehören die mächtigen Schot- 
terablagerungen der grossen Ströme an , die mit Sand- 
bänken wechseln, die Lehm- und Lössbildungen als 
die Schlammabfuhr der einst periodisch kolossal anwach- 
senden fliessenden Gewässer und der Gletscherabflüsse ► 
Es fällt nämlich in Europa und Amerika in die Dilu- 
vialperiode auch eine, wie es scheint, wiederholte 
Yergletscherung von Ländern und halben Welttheilen, 
wovon heutzutage Grönland eine Anschauung gibt. 

Die Zeit der als Tertiärformation zusammen- 
gefassten Schichtenreihe darf als die angesehen werden, 
während welcher wenigstens die Skelete der heutigen 
Continente ihren wesentlichen Bildungsabschluss er- 
reichten. In sie fällt nämlich die Aufrichtung und 
Erhebung der grossen Gebirge, der Cordilleren, Alpen, 
des Himalaya u. a.; dabei waren die Umrisse der 
Ländermassen in fortwährender Bewegung. Doch diese 
letztere Erscheinung geht ja doch durch alle Forma- 
mationen, und als geologisches Merkmal für die Ter- 
tiärformation verdient vielmehr der Beginn der 
Sonderung der Erdoberfläche in klimatische Zonen 
hervorgehoben zu werden , die sich den jetzigen Zonen 
nähern. Die Namen der Unterabtheilungen sollen das 
Verhältniss der damals lebenden Thiere zur Jetztwelt 
andeuten, indem im Eocän die ersten mit den heutigen 
identischen Arten sich finden sollten, mehr im Miocän 
und noch mehr im Pliocän. Zur Kreideformation 
gehören sehr verschiedenartige Gesteine, die nur nach 
ihren Einschlüssen in eine grosse geologische Periode 
zu bringen sind. Wenn der Quadersandstein der Säch- 
sischen Schweiz für das Centrum von Deutschland die 
Formation repräsentirt, so gab ihr die weisse Kreide 
von England und Nordfrankreich den Namen. In 
Amerika ist der Sandstein vielfach zu losem Sande 
zerrieben, und anderwärts sind die Schichten rein 
kalkig oder mergelig. "Wie mislich aber die Abgren- 



Jura. Trias. • 57 

zung der Schichten nach Kaum und besonders n^ch 
Zeit ist, mag man danach ermessen, dass wir mit allem 
Rechte von der noch immer vor sich gehenden Kreide- 
bildung sprechen können, wie die Untersuchungen von 
Carpenter und.W. Thompson über die BeschafPenheit 
des atlantischen Tiefseebodens gezeigt haben. Der 
frühen Kreidezeit gehört eine grössere Süsswasserab- 
lagerung , auch durch Hebungen verursachte Brak- und 
Sumpfbildung an, die Wealdenformation , welche ein& 
Menge Reste von Süsswasser- und Landthieren nebst 
eigenthümlicher Kohle enthält. 

In sich abgeschlossener erscheinen die Juraschich- 
ten, meist regelmässig in deutlichen Absätzen über- 
einander gelagert, seltener, wie an den Alpen, durch 
spätere Durchbrechungen aufgerichtet. Schon die Ge- 
steine an sich verrathen, dass der Absatz in weiten,, 
meist ruhigen oder tiefen Meeren stattgefunden, und 
diese wird durch die wenigen Pflanzenreste und durch 
die Mehrzahl der in kolossalen Mengen sich findenden 
Thierreste zur Gewissheit. An der scheinbar sehr 
scharfen Abgrenzung der Juraformation nach oben und 
unten fand die ältere Geologie mit ihrer Behauptung, 
dass verhältnissmässig ruhige längere Perioden mit 
alles umstürzenden und neu schaffenden Katastrophen 
abgewechselt, eine Hauptstütze. Uebrigens müssen wir, 
um einem etwaigen Misverständniss des eben gesagten 
vorzubeugen, hinzufügen, dass auch die Juraperiode 
schon grössere , reichgegliederte Continente kannte, wie 
sich denn auch zeigen wird, dass mit ihr die höhern 
Landthiere in die Erscheinung traten. 

Einen sehr verschiedenen Charakter untereinander 
zeigen die drei grossen Glieder der Trias form ati,on, 
wie sie namentlich in Deutschland zur Entwickelung^ 
gekommen sind. Der deutsche Theil des Keupers muss 
nach seinen Einflüssen als eine Strand- und Buchten- 
bildung angesehen werden, sein mehrliederiges Aequi- 
valent in den Alpen aber als eine mächtige Ablagerung 
des hohen Meeres. Auch der in England fehlende 



58 I^yas. Kohle. 

Muschelkalk mit seinen Steinsalzlagern und reichen 
Ueberresten meerbewohnender Organismen ist eine Meer- 
bildung. Von der Entstehung des von seiner wech- 
selnden Färbung benannten, geschichteten Buntsandsteins 
mit den zu ihm gehörigen Thonen, Mergeln und oft 
mächtigen Gipseinschlüssen gewinnt man eine Vor- 
stellung durch unsere gegenwärtigen sandigen Strand- 
und Dünenbildungen. Wie bei diesen hat sich auch 
bei der Ablagerung des Buntsandseins sehr spärlich 
die Gelegenheit gegeben zum Einschluss thierischer und 
pflanzlicher Reste, aber sehr merkwürdige Fussfahrten 
haben sich erhalten, wie sie noch heute entstehen und 
bewahrt werden können, wenn die in den feuchten ' 
Sand eingedrückten Formen durch feine thonige Bestand- 
theile ausgefüllt werden, welche von einer benachbar- 
ten Uferstelle her von einem Sturme aufgewühlt sich 
im Wasser vertheilt haben. 

Da das verschiedene Aussehen der aufeinander fol- 
genden Horizonte der vorweltlichen Pflanzen und Thiere 
natürlich ganz wesentlich von der Beschaffenheit ihrer 
einstigen Wohnsitze abhängt, wie auch die Beschaffen- 
heit der einzelnen Regionen eines jeden Horizontes, 
sowie jetzt, bestimmend auf den Charakter der in ihnen 
lebenden Organismen wirken musste , so ist der ge- 
legentliche Hinweis auf solche das Leben in seiner 
Gestaltung und Mannifaltigkeit bedingende Ursachen 
hier am Orte. Wir lassen einen Vertreter der Geo- 
logie, Credner^^, uns die Verhältnisse der Dyas und 
der Kohlenformation schildern, um unsem Einblick 
in das Werden der Erdrinde und in die Abhängigkeit 
des Organischen von den Gestaltungen des Unorgani- 
schen zu vervollständigen: „In Gegenden, wo die 
carbonische (Kohlen-) Formation typisch entwickelt ist, 
besteht dieselbe aus einem untern kalkigen (Kohlen- 
kalk), einem mittlem, conglomeratartigen oder sandigen 
{flötzleerer Sandstein) und einem obern, kohlenführen- 
den Schichtencomplex , also aus einer marinen, einer 
Strand- und einer Sumpf- und Süsswasserbildung. Die 



Dyas. Kohle. 59 

Ursache dieser Erscheinung kann man sich leicht ver- 
gegenwärtigen ; sie beruht auf der säcularen Hebung des 
ursprünglichen Meeresgrundes , auf welchem sich anfäng- 
lich der marine Kohlenkalk, später , als dieser an den 
Meeresspiegel gehoben wurde , das Geröll und der grobe 
Sand des Strandes und bei fortgesetzter Hebung die 
Producte der Sümpfe, Lagunen und Aestuarien ab- 
lagerten. Ereignete es sich nun, dass einzelne von 
letztern, also von der productiven Kohlenschichtenreihe 
bedeckte Partien des jungen Festlandes von der ent- 
gegengesetzten Bewegung ergriffen wurden, also sich 
senkten, so mussten sich auf dem allmählich von neuem 
zum Meeresgrunde werdenden Boden ganz ähnliche 
Gebilde, nur gerade in umgekehrter Reihenfolge ab- 
lagern, wie bei dem Emportauchen derselben. Und 
in der That zeigen die Theile der Erdoberfläche, wel- 
che kurz nach Bildung der productiven Kohlenforma- 
tion wieder unter den Meeresspiegel sanken, diese 
Erscheinung. In Deutschland und England folgt auf 
die productive Kohlengruppe eine Sandstein- und 
Conglomerat-, also Strandformation, ganz ähnlich wie 
der flötzleere Sandstein und Millstone-grit, welcher 
sie unterlagert, und darauf eine Kalkstein-, Dolomit-, 
Oipsformation , entsprechend dem untersten Gliede des 
carbonischen Systems, dem Kohlenkalke. Dieser Zwei- 
theilung wegen, die sich in durchgreifenden paläonto- 
logischen und petrographischen Unterschieden äussert, 
l)ezeichnet man die derartig entwickelte und geglie- 
derte Formation als Dyas. Die einzelnen Stadien die- 
ses Cyclus von Vorgängen, aus denen die carbonische 
imd dyassische Formation hervorging, sind demnach 
(von oben nach unten gelesen) : 



60 



üebergangs- und Urgebirge. 



5) Tiefsee 


Marine 
Gebilde 


Kallcstein 


Meeres- 
tbiere 


ZecbsteiA 


1 


4) Senkung 


Strand- 


Conglo- 




RotUiegendes 




unter das 
Meer 


gebilde 


merate und 
Sandstein 




' KohlenfAIireii- 
des 


y Dyas 


3;StillstaBd 


Sttsswasser- 


Kohlen- 


TittTttl- 


Bothliegendes , 


■ 




und Sumpf- 


fübrende 


JJH 11 U- 

pflanzen 


und 






gebilde 


Schichten 


) ProdnctiTe . 












Kohlen- 












' formation j 




2) Hebung 


Strand- 


Conglo- 




FlStzleerer ) 


> Carhon. 


über das 


gebilde 


merate und 




Sandstein i 


Formation. 


Meer 




Sandstein 




Knlm \ 




1) Tiefsee 


Marine 
GebUde 


Kalkstein 


Meeres- 
thiere 


Kohlenkalk ^ 





Es wird aus dieser Darstellung auch klar, dass bei 
unvollständiger Hebung, wie sie in Nordamerika statt- 
gefunden, die Bildung der Mittelperiode gestört wird 
oder ganz in Wegfall kommt, und dass es von localen 
Ursachen und der Dauer der Oscillationen abhängen 
kann, wenn, wie in der der deutschen Dyas entspre- 
chenden russischen Permformation die Grenzen der 
Unterabtheilungen mehr oder weniger verwischt sind. 

Die beiden , über 3000 und 6000 Meter Mächtigkeit 
erreichenden Schichtenreihen unter der Steinkohlen- 
formation, die devonische und die silurische 
Formation, sind die untersten, also die ersten, welche 
das Gepräge ihrer Entstehung als Absätze aus dem 
Meere deutlich an sich tragen. Man fasste früher beide 
Gruppen auch unter dem Namen Uebergangsgebirge 
oder Grauwackenformation zusammen. Auch in 
ihnen wechseln sandige, thonige und kalkige Gesteine 
miteinander ab unter Abänderungserscheinungen schon 
localer Natur, aus denen gegen die Periode der Kohlen- 
formation hin die ersten Anfange continentaler He- 
bungen hervortraten. 

Auch die Granite, Gneise und Schiefer, welche als 
„Urgebirge" und „primitive Formationen" vor 
dem Silur entstanden, sind in ihrer Hauptmasse Sedi- 







'Igt« 

1 





1^ nnr Seethiere, 

^k^li und Formeii- 

j Vorhandensein 

Bc^Histricteu , eine 

--'•vr^ssvxx-^mmmm^tis--~~- ^ Ifiliessen müssei), 

.Q%iS'iPw^6a'^*"t^8lf'Miüi3':llliDd Tracht der 
-■•■'=*='•»*-* -.^.■Äig|«^«en abhängig 
itiÄ Neben zahl- 
■uai» Formen von 

i(gjpn, welche sich 

'JM'Cftm noch lebende 

■-^^ anachlieaseji, 

die ganz ei- 

liche Gruppe 

ptolitheii 

^ welche zwar 

S/'MhBB>:i gentlichen Po- 
^{g^ind, sich aber 
tenannteii Qual- 
pen .», nid,- 
rSKiireihen dürften 
mit den Scblusa 
dass damals 
>3cbon die £r- 
P^ng der höhern 
der Cöleu- 
der Quallen, 
l^rbereitete. Die 
ii-tbiere werden 
die Trilobi- 
•SXFigi.iO. Trilo- 
" emipes) reprä- 
, eine Krebs- 
sr Blattkiemer 
fgf näher hat be- 
"^ielen Tau sende 
dem Silur und 
Deine er- 




Weichthiere der Uebergangsformation. 63^ 

halten waren. An diesen Dreilappenkrebsen treten 
Kopf, Rumpf und Schwanz, sowie die Dreitheilung in 
der Quere deutlich hervor. Die beiden zusammen- 
gesetzten Augen weisen auf eine schon hohe Stufe der 
Organisation. Die Fähigkeit, sich einzukugeln , welche 
sie mit mehreren heutigen im seichten Wasser und am 
Strande lebenden Krebsen gemein haben, und ihr gan- 
zer Habitus lässt schliessen, dass auch sie Küsten- 
bewohner waren. Die Weichthiere waren hauptsächlich 
durch Armfüsser und Kopffüsser vertreten. Da 
jedoch auch Zweischaler und Gasteropoden da sind,. 
so ist das Aussehen jener ältesten bekannten Weich- 
thierfauna nur durch das Zahlenverhältniss von der 
heutigen verschieden, und durch den allerdings sehr 
wesentlichen Umstand , dass von Cephalopoden sich nur 
Nautileen fanden. Die Brachiopoden schwellen sehr 
bald zu ihrer höchsten Blüte an und haben sich dann 
in sehr vermindertem Umfange bis in die Gegenwart 
hineingezogen. Von den Muscheln nehmen im Verlaufe 
der spätem Periode die Dimyarier die Führung, und 
über die Bauchfüsser machen wir nur die Bemerkung, 
dass sie in innerer Gliederung und Mannichfaltigkeit 
gegen die neuere Periode stetig zunehmen, wie denn 
auch die Land- und Süsswasserbewohner unter ihnen 
zwar schon vereinzelt aus der Steinkohle genannt wer- 
den, aber in Menge und Mannichfaltigkeit erst den 
Tertiärzeiten angehören. Den Cephalopoden müssen 
wir uns noch wiederholt zuwenden. Von Wirbelthie- 
ren aus dem Silur sind nur Reste eigenthümlicher 
Fische bekannt, deren Verwandte in den Haien und 
Rochen zu suchen. 

Im Devon oder dem Zeitalter des obern Ueber- 
gangsgebirges hatte die Oberfläche der Erde ein freund- 
licheres Aussehen angenommen, wenigstens stellenweise. 
Denn von hier sind die ersten Landpflanzen zu ver- 
zeichnen. Für den Charakter der Fauna ist die 
schnelle Abnahme der Trilobiten bemerkenswerth , das 
Auftreten der wichtigen Cephalopodengattung Clymenia, 







rücken , vor 

Fische, die 
der Wirbel- 

J'S'i^a Haiea sind 

lyyjjy Fisch, des- 

'** 'Id talaeoniscus), 

ilipQ an; allein 

'^erkmale der 

■■T«[»«««s — Silurmeere 

:iif|jlMlitif"nt' 

■lA^Iv • •Aiflj^VHMHi wpBhr günstigen 




1 schiefen 

in das obere 

.ffallend 

die verglei- 

it, eine Fort- 

nicht gerade 

!^|«noiden haben 

Namen der 

.nhäufung der 

Calamiten, 



'0 



Thierwelt der Kohle und Dyas. 65 

besonders aber der zwischen den Gefässkryptogamen 
xmd Nadelhölzern stehenden Sigillarien und Lepido- 
dendren. Sie bildeten tropische Sumpfwaldungen, wie 
sie Franz Unger schon vor einigen Jahrzehnten in 
einer genialen Composition zu restauriren versucht 
hat. In diesen durch Ausdehnung und Ueppigkeit vor 
den Anfangen der vorangegangenen Perioden ausge- 
zeichneten heissfeuchten Urwäldern treten auch neue 
Erscheinungen der Thierwelt auf, Skorpione, Tau- 
sendfüsse und Insekten, also luftathmende 
Gliederthiere, auch die ersten luftathmenden 
Wirbelthiere. Die letztern, die Froschsaurier oder 
Labyrinthodonten, haben vornehmlich Amphibien- 
charaktere, zeigen z. B. mehrere wichtige Eigenthüm- 
lichkeiten des Froschschädels, ihre Hautbedeckung aber 
erinnert an den Schuppenpanzer der Echsen: wir fin- 
den Charaktere combinirt, die später an verschiedene 
Gruppen vertheilt sind. Auch Spuren grosser See- 
eidechsen sind da. Diese amphibienartigen Thiere 
treten aber hier und auch in der Zechsteinformation 
noch sehr zurück gegen den Reichthum an Ganoiden, 
der ganz besonders einige Schichten der Zechstein- 
formation, z. B. den Kupferschiefer charakterisirt. 
Man lässt der Uebersicht halber nicht unpassend mit 
dem Zechstein eine grosse Periode der organischen 
Entwickelung abschliessen , nennt die Formationsreihe 
vom Silur bis einschliesslich Zechstein die paläozoi- 
sche und fasst die folgenden, Trias, Jura und Kreide 
als mesozoische zusammen. 

Verschwunden sind nun die Trilobiten, die Panzer- 
ganoiden u. a., und die mächtige Entfaltung der Rep- 
tilienwelt gibt dieser mittlem Hauptperiode ihr 
Gepräge. Die Trias besitzt noch keine echten Kno- 
•chenfische. Noch herrschen die Labyrinthodonten vor, 
woneben die schon in der Dyas aufgetretenen Archäo- 
saurus und Proterosaurus durch zahlreichere , sich 
den echten Reptilien nähernde Formen ersetzt werden. 
Ein einziger Fund aus dem Keuper hat uns die 

ScBmoT, Detcendenzlehre. 5 



%Q Fauna der Jurazeit. 

ältesten Spuren eines Säugetliieres, die Zähne 
eines raubtbierartigen Beutlers geliefert. Schon aus 
dem petrographi^chen Charakter der Juraschichten Hess 
sich abnehmen, dass im allgemeinen ihre Zeit der 
Entfaltung der Thierwelt bedeutend günstiger gewesen 
sein müsse, als die viel unruhigere Triasperiode, oder 
dass wenigstens auf eine reichlichere Erhaltung der 
organischen Reste gerechnet werden könne, denn die 
Juraschichten sind meist ungestört verlaufene Ablage- 
rungen. Und so ist es auch. Die bisher fast ohne 
Feinde die Meere beherrschenden Haie und Ganoiden 
fanden die ihnen überlegenen Gegner in den echten 
Meerechsen oder Enaliosauriern, namentlich den 
Ichthyosauren und Plesiosauren. Der Kopf ist 
eidechsen- und krokodilartig, die Wirbel fischähnlich, 
und ihre Extremitäten erinnern ebenfalls, wie Gegen- 
baur gezeigt , an die einfachere Klasse der Haie. Auch 
lassen ihre versteinerten Kothballen auf eine sehr eigen- 
thümliche Beschaffenheit des mittlem Theil es des Darmka- 
nals mit völliger Sicherheit schliessen. Sie besassen einen 
Spiraldarm , gleich den Haien und verwandten Fischen. 
Diese Thiere sind also nicht blos wegen ihrer auf- 
fallenden äussern Erscheinung und der ihnen zufallen- 
den Rolle im Haushalte der Natur merkwürdig, son- 
dern, wie die Froschsaurier, als Mischformen und als 
Verbindungsformen der Reptilien und Fische. Ausser 
ihnen sind aus der Meeresfauna die massenhaft auf- 
tretenden Ammoniten hervorzuheben, neben den^ 
Nautiliten die zweite Hauptform der ehemaligen Ce- 
phalopoden, deren Studium in neuester Zeit zur Ent- 
scheidung der wichtigsten Punkte unserer Wissenschaft 
sehr wesentlich beitragen zu sollen scheint. Aber 
neben ihnen wuchert auch schon die Artenmenge der 
aus der Trias stammenden Belemniten auf. Sie sind 
die erwiesenen Vorläufer der jetzt das Uebergewicht 
habenden zweikiemigen Cephalopoden. Auf den dem 
weissen Jura angehörigen Kalkplatten von Eichstädt 
und Solnhofen sind auch, die wie Zeichnungen aus- 



Fauna der Jurazeit und Kreide. 67 

sehenden Abdrücke von Medusen erhalten, welche 
zeigen, dass diese Klasse schon damals die noch be- 
stehende Ausbildung erreicht hatte. 

Auch die Landfauna der Jurazeit ist um neue Ge- 
stalten und' Gruppen reicher geworden. Wir finden 
die ersten wahren Krokodile, Schildkröten und 
die auffallendste Variation des Eidechsentypus, die 
Flugechsen oder Pterodaktylen. Man kann aus ihren 
wohlerhaltenen Skeleten entnehmen, dass ihre Flughaut 
zwischen der vordem und hintern Extremität ausge- 
spannt war, hinten ähnlich wie bei Fledermäusen sich 
bis zum Fuss erstreckte, vorn aber durch die Verlän- 
gerung des kleinen Fingers eine entsprechende Ansatz- 
linie erhielt. Auch ein erster und einziger Vogel ist 
in den berühmten Lagerstätten der Flugechsen, in den 
lithographischen Schilfern von Solnhofen in Baiern 
gefunden (Archaeopteiyx lithographica). Die auf- 
fallendste Eigenthümlichkeit dieses an den genauesten 
Feder ab drücken erkennbaren Vogels ist der lange mit 
zwei Reihen steifer Federn besetzte Schwanz. Leider 
ist ;der Kopf zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Auch 
die oben schon signalisirte niedere Ordnung der Säu- 
ger, die Beutelthiere , war da, wie die Funde aus dem 
mittlem Jura Englands und dem obern Jura der 
Purbekschichten zeigen. 

Merkwürdigere Zwischenformen als Archaeopteryx 
sind die vogelartigen Thiere der Kreide, welche 
durch sanduhrförmige Wirbelkörper sich direct an die 
Seesaurier des Jura anschliessen , auch Zähne besitzen, 
welche übrigens vielleicht auch dem Archaeopteryx 
zukommen. Später mehr von diesen Wesen, welche 
eine bisjetzt sehr empfindliche Lücke ausfüllen. Es 
fällt in diese neue Periode die grösste Blüte und das 
Aussterben der Ammoniten mit vorausgehendem Sta- 
dium von Krüppelformen, als welche man die Turri- 
lites, Scaphites; Baculites u. a. ansieht. Auch die 
Blüte der grossen Seeeidechsen ist vorüber, aber die 
Sümpfe der Wealdenzeit beherbergten neue Formen von 

5* 



68 Historische Entwickelung der Seeigel. 

von mächtigen Landeidechsen. Zu den langschwän- 
zigen Krebsen treten die Krabben, die am höchsten 
entwickelten Formen der Klasse. Auch fällt in Jura 
und Kreide die Hauptblüte der seeigelartigen 
Echinodermen. Wir haben die Klasse der Stachel- 
häuter bisher noch gar nicht erwähnt, um hier im 
Zusammenhange einige wichtigere Phasen ihres geolo- 
gischen Erscheinens hervorzuheben. Ein ausgezeich- 
neter Kenner dieser Klasse, Desor*), hat kürzlich 
untersucht, wie in jener grössern Gruppe der Seeigel 
sich allmählich der Fortschritt der Organisation geltend 
macht, bei welcher Gelegenheit er einige allgemeine 
Betrachtungen über das Princip der Vervollkommnung 
der in ihren Repräsentanten als Seesterne und Seeigel 
unsern Lesern wol allgemein bekannten Stachelhäuter 
anzustellen veranlasst war. Wenn sowol das Glieder- 
thier, als das Wirbelthier mit dem Ungleichwerden 
der hintereinander liegenden Leibesabschnitte eine 
höhere Stufe erreichen, so tritt die grössere Einheit 
und damit Vervollkommnung des Echinodermenkörpers 
ein, indem die Stacheln oder die sogenannten Anti- 
meren zurücktreten unter die Einheit des Ganzen. 
Je deutlicher diese Elemente,' d. h. je selbständiger 
sie bleiben, desto niedriger ist, wie das Gliederthier, 
so auch das Echinoderm. Danach nehmen die See- 
sterne , theilweise auch die Haarsterne oder Crinoideen, 
den untersten Rang ein. Es verlässt uns jedoch auch 
leider hier die paläontologische Ueberlieferung. Nur steht 
so viel im allgemeinen fest, dass in den altern ver- 
steinerungführenden Schichten beide Abtheilungen reich 
vertreten sind. Auch eine höchst merkwürdige und 
wichtige Zwischenform aus dem obern Silur von Dudley 
ist bekannt (Eucladia Johnsoni), um so wichtiger, als 
bisher nur wenige üebergangsformen der Ordnungen 
ineinander aufgefunden sind. Das Verhältniss der 



*) Bulletin de la societe des sciences naturelles de Neuf- 
chatel. IX. 2. 



Historische Entwickelung der Seeigel. 69 

Seesterne zu den Seeigeln ist noch unklar. Dagegen 
liegt die Brücke von den Haarsternen zu den Seeigeln 
ziemlich deutlich vor. Die eigentlichen Crinoideen sind 
festsitzend, und ihnen schliessen sich in der Steinkohlen- 
formation die nicht mehr festsitzenden Cystideen und 
Blastoideen an, wozu sich die mehr den Seeigeln glei- 
chenden Tesselleen gesellen. Nun sind Dyas und Trias 
noch arm an echten Seeigeln, sehr reich dagegen der 
Jura, und in dieser grossen Periode vollzieht sich 
langsam und Schritt für Schritt zu verfolgen vom älte- 
sten Juragebilde an, dem Lias, bis zum Korallenkalk 
die Umgestaltung der Seeigel zu einer ausserordent- 
lichen Mannichfaltigkeit. Anfänglich herrschen die 
Cidariden vor; zu ihnen treten im Oolith die Echino- 
coniden und Cassiduliden. In den spätem Stufen des 
obern Jura ist die schärfere Trennung der Arten das 
Charakteristische. Desor weist nach, wie diese Ent- 
faltung mit zeitweiligem Stillstande mit der jeweiligen 
BeschaflPenheit des Meeresbodens zusammenhängt. „Das 
Gesetz des Fortschrittes", sagt er, „zeigt sich in dem 
Umstände, dass es die niedrigsten unter den Echini- 
den sind, die Regularien und Endocycliken , welche 
sich zuerst zeigen, anfangs unter der Gestalt der 
Tesselleen , dann unter derjenigen der Cidarideen, wäh- 
rend die vollkommensten der Spatangiden, mit am 
deutlichsten ausgeprägter zweiseitiger Form, zuletzt 
erscheinen. Zwischen diesen Extremen finden wir eine 
Menge von Gattungen und Gruppen, die sich vonein- 
ander nur durch Nuancen unterscheiden, sodass bei 
zwei zusammenhängenden Gattungen es oft schwer, ja 
anmöglich ist, anzugeben, welche die vollkommnere. 
Die Vervollkommnung zeigt sich erst in der Gesammt- 
heit, aber im concreten Falle ist sie meist nicht nach- 
zuweisen." Auch noch in der Kreide dominiren die 
Seeigel. Einige neuere Entdeckungen seeigelartiger 
Thiere mit weich und biegsam bleibenden Hautbildun- 
gen bestätigen, was theoretisch höchst wahrscheinlich 
war, dass aus ihnen in den neuern Perioden die am 



70 Thierwelt der Tertiärzeit. 

höchsten stehende Ordnung der Holothurien oder See- 
gurken hervorgegangen, und somit fügt sich auch die 
Abtheilung der Stachelhäuter der allgemeinen Erfah- 
fahrung des Aufsteigens von den niedrigem und in- 
differenten zu den höhern Formen. 

Mit der Tertiärzeit bricht die noch gegenwärtige 
Gestaltung der Dinge hervor. Palmen und Laubhölzer 
kennzeichnen die Vegetation. Auch die Thierwelt ist 
von den altern Abschnitten der Tertiärperiode an bis 
zur Gegenwart im wesentlichen dieselbe geblieben, wie 
im Kapitel über die geographische Verbreitung näher 
auseinander gesetzt werden soll. Waren es in der 
ältesten Formationsreihe die Fische, in der mittlem 
die Reptilien, welche aus der Lebewelt als Repräsen- 
tanten der höchsten Entwickelung hervortreten, so 
überwältigt nun, wo die Continente, freilich noch un- 
ter mannichfachen localen Schwankungen, sich der 
jetzigen Configuration nähern, der Eindruck der Säuge- 
thiere. Unter dem Einfluss von Hebungen und Sen- 
kungen, mehreren Eisperioden, dem immer scharfem 
Hervortreten der klimatischen Zonen fanden öftere 
Dislocirungen innerhalb der Pflanzen- und Thierwelt 
statt und Specialisirung und Weiterentwickelung. Wie 
erwähnt, wird der Verlauf der Untersuchungen liierauf 
zurückführen. Zu der Zeit der Geologie, wo man an 
die strenge Trennung der Entwickelungsperioden der 
Erde und die scharf geschiedene Aufeinanderfolge 
ihrer Zeugen, der Schichtensysteme glß-ubte, stellte man 
den Begriff des Fossilen dahin fest, dass, was vor dem 
Erscheinen des Menschen an der Sphwelle der Alluvial- 
zeit gelebt habe, fossil sei. Es hat sich ergeben, dass 
das Dasein des Menschen ein weit älteres, dass Arten 
und Geschlechter, welche die Wiege der Menschheit 
umgaben, ausgestorben, dass sie also, wie z. B. der 
Mammuth, nur für uns, nicht für unsere diluvialen 
Vorfahren, fossil sind, während andere zahlreiche 
Thierformen, die schon vor dem Menschen existirten, 
sich bis in die Gegenwart erhalten haben. Im ganzen 



Allgemeiner Charakter der Vorwelt. 71 

gehen von der Tertiärperiode an die pflanzenfressenden 
•Säugethiere den Fleischfressern voran. Die AiFen er- 
scheinen erst kurz vor dem Menschen. 

Trotz vieler Lücken des paläontologischen Befundes 
ist der Fortschritt in der Entwickelung des Organi- 
schen, die Pflanzenwelt eingerechnet, offenbar. Kein 
fossiles Thier steht im Widerspruch mit dem System. 
Im Gegentheil finden durch die vorweltlichen Thiere 
die mannichfachsten Ausgleiche undVermittelungen statt. 
Wenn z. B. die heutigen Dickhäuter sich von den 
Wiederkäuern scharf abheben, so wird zwischen ihnen 
durch die ausgestorbenen Formen eine ununterbrochene 
Brücke hergestellt. Wenn uns die Gegenwart nur ein- 
zelne zerstreute Gattungen der Zahnlosen zeigt, weist 
die Diluvialzeit deren eine ziemliche Fülle in weit 
grösserer Formenmannichfaltigkeit auf. Sowol in den 
Typen, wie in den Klassenabtheilungen schreitet also 
das System von den altern zu den neuern Perioden 
fort, wobei die altern Gruppen allmählich anschwellen 
und dann abnehmen, indem neuere vollkommnere oder 
«pecifischer ausgebildete Formen sich einschieben. Jene 
verschwinden entweder ganz oder überdauern die 
neuern Perioden bis in die Gegenwart hinein in spär- 
lichen Resten. Die Formationen haben zwar meist 
ilire charakteristischen Organismen, aber fast überall 
sind schon die verbindenden Glieder nachgewiesen. 
Alles zeigt darauf hin, dass es sich um Evolution, 
nicht um Revolution handelt. Wo scheinbar ein plötz- 
licher Abschnitt, Verhaltes sich doch, wie bei den Re- 
volutionen der Menschengeschichte, in welchen auch 
nur längst vorbereitete, pragmatisch nothwendige Re- 
formen zum beschleunigten Durchbruch kommen. 

Fasst man das Ergebniss der Yergleichung der fos- 
silen Thierwelt mit der lebenden zusammen, so stellt 
sich erstens eine Ueb er einst immung zwischen den zeit- 
lich aufeinander folgenden Stufen und den jetzt neben- 
einander , befindlichen Gliedern des Systems heraus. 
Zweitens aber, wenn jenes constatirt ist, folgt von 



72 I^ie sogenannten embryonischen 

selbst der Parallelismus zwischen der geologischen Auf- 
einanderfolge der Thiere und den Stufen der indivi- 
duellen Entwickelung der heutigen Thiere. Schon 
Agassiz hat in seinem grossen AjTerke über die fossilen 
Fische diese Thatsache schlagend hervorgehoben und 
sie in seinen spätem Schriften bis zu den Untersuchun- 
gen über Entwickelung und Wachsthum der Korallen 
durch neuere werthvoUe und überzeugende Beobach- 
tungen bestätigt. Dieselben Beispiele, welche im vorher- 
gehenden Abschnitt zur Erläuterung des Parallelismuß 
der individuellen Entwickelung mit der systematischen 
Stufe dienten, können hier wiederholt werden, viele 
neuere höchst frappirende haben die speciellen Unter- 
suchungen des letzten Jahrzehnts zu Tage gefördert. 
Agassiz hat für dieses Verhältniss den Ausdruck 
„embryonische Typen" oder „embryonische Repräsen- 
tanten" eingeführt. So sind also die gestielten Haar- 
sterne embryonische Typen der heutigen Gattung 
Comatula, die ältesten Seeigel die embryonischen Ke- 
präsentanten der höhern Familien der Clypeastriden 
und Spatangoiden , das Mastodon seiner bleibenden 
Backzähne halber der embryonische Typus des vor- 
übergehend solche Zähne besitzenden Elefanten. 
Verbindet man mit dem Worte weiter nichts, als die 
unklare Vorstellung „der Thätigkeit eines und dessel- 
ben schöpferischen Geistes durch alle Zeiten und über 
die ganze Erdoberfläche"^^, so ist damit kaum etwas, 
für das Verständniss gewonnen. Lassen wir uns lie- 
ber mit Rütimeyer in seinen schönen Untersuchungen 
über die fossilen Pferde ^^ durch solche und ähnliche 
Thatsachen „auf einen engen Zusammenhang der Ent- 
wickelungsstadien des Individuums mit denjenigen der 
Species aufmerksam machen", d. h. auf einen natür- 
lichen Zusammenhang. Alle, welche durchaus des per- 
sönlichen Gottes in der fortlaufenden Schöpfungs- 
geschichte bedürfen, ziehen aus jenen Thatsachen 
keinen andern Schluss, als dass ihr Gott die Laune 
gehabt, anfänglich unvollkommene, später immer voll- 



und die prophetischen Typen. 7S 

kommnere Organismen hervorzubringen und in der 
Entwickelung der letztern Erinnerungen an die vor- 
hergehenden anzubringen. 

So werthld6 wie die Formel der embryonischen 
Typen ist eine andere, welche Agassiz für solche Bil- 
dungen erfunden, wo bei einzelnen fossilen Gruppen 
mechanische und physiologische Effecte in unvollkomm- 
nerer Weise erreicht werden, wofür bei später 
auftretenden Organismen durch andere ausreichendere 
und vollkommene Einrichtungen gesorgt ist. Es sind 
Beine „prophetischen Typen*'. In diesem Verhältnis» 
soll z. B. die Flugeidechse (Pterodactylus) zum Vogel 
stehen. Dient dieses Wortspiel aber etwa zum Ver- 
Btändniss des einen oder des andern? Gibt es über- 
haupt irgendeine Aufklärung? Kann man sich irgend 
etwas Vernünftiges dabei denken, wenn man im An- 
Bchluss an die Prophetie der Flugeidechse, das ihr 
geologisch vorangehende Insekt zu ihrem Propheten, 
oder den Vogel zum Johannes der Fledermaus macht? 
Sinn kommt nur hinein, wo der Prophet zum Stamm- 
vater wird, woran in diesen Fällen nicht zu denken. 



Nochmals der Wunderstandpunkt und die Natur- 

forschung. Schöpfung oder natürliche Entwickelung. 

Linn^. Cuvier. Agassiz. Untersuchung des 

Artbegriffes. 

Das Wunder hör' ich wol, allein mir fehlt der Glaube. 
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. 

Mit diesen Worten Faust's wollen wir uns nochmals 
ohne Umschweif den Standpunkt des Naturforschers 
zu einem Gebiet klar machen, in welchem nicht der 
helle Verstand, sondern die durch farbige Gläser 
blickende Phantasie, nicht die Logik, sondern die 



74 Nochmals das Wunder. 

Oedankenwillkür das Scepter führt, worin die Gesetze 
der Causalität auf den Kopf gestellt werden, ein Ge- 
biet, auf welchem sich zwar noch recht viele unzwei- 
felhaft ehrenwerthe Menschen heimisch fühlen, das aber 
im besten Falle zur frommen Selbsttäuschung führt 
und sehr häufig der Denkträgheit ein Euhekissen be- 
reitet. Wir müssen mit aller Schneidigkeit und Rück- 
sichtslosigkeit Stellung nehmen, da nach Erörterung 
des thatsächlichen Befundes der Thierwelt in den drei 
Beziehungen, des jetzigen Bestandes an fertigen For- 
men, der Entwickelung der Individuen und der histo- 
rischen Aufeinanderfolge während der jungem Perioden 
der Erdbildung, nunmehr nach jener an der Oberfläche 
bleibenden Arbeit des Registrirens und Referirens die 
eigentliche Durchdringung unseres Stoffes beginnen 
soll. Dieser Fall tritt aber nur für diejenigen ein, 
für welche das Wunder der Schöpfung schlechthin 
nicht existirt, wogegen ein Beobachter, welcher auch 
nur den Schatten eines Wunders, irgendwelche Yer- 
rückung des natürlichen Verlaufes der Dinge für mög- 
lich hält, seine Wissenschaft der Biologie mit dem 
früher dargelegten und durch unzählige Specialkennt- 
nisse erweiterten Wissenswerk als abgethan betrachten 
muss. Wir können also nicht anders, als den Spruch 
Goethe's: „Der Glaube ist nicht der Anfang, sondern 
das Ende alles Wissens" so auslegen, dass der Glaube 
sich mit dem Wissen nicht verträgt, und dass mithin 
auch der Glaube an eine Schöpfung des Lebendigen 
mit der Forschung unverträglich ist. 

Wenn aber das Leben nicht auf unbegreifliche Weise 
entstanden sein soll, so muss es sich entwickelt haben. 
Es. hat lange Jahrzehnte gedauert, ehe dieser Gedanke 
mit seinen F^gen durchbrechen konnte, und um die 
Hartnäckigkeit zu begreifen, mit der man am Gegen- 
theil festhielt und einen Kreis von Anschauungen ein- 
wurzeln Hess, deren Bekämpfung erst die moderne 
Biologie mit Erfolg unternommen, ist es nöthig, an 
einige Hauptmomente der Geschichte der Geologie und 



tinne. 75 

ihrer Trä§er zu erinnern. Wir werden damit ganz 
von selbst an den Punkt geleitet, von wo aus der 
Schacht der Erkenntniss geschlagen worden ist. 

Die vergleichende Anatomie hat nach der Mitte des 
vorigen Jahrhunderts fast unabhängig vom Auslande 
der systematischen Zoologie einen sehr glücklichen An- 
lauf genommen und war weit ideenreicher, als jene 
beschreibende Naturgeschichte. Nur einen Satz der 
letztern nahm sie unbesehen hin, den von der Festig- 
keit und UnVeränderlichkeit der Art, und dieser Satz 
bildet den Mittelpunkt der Anschauungen Linne's. Die 
Autorität und lange dauernde Herrschaft dieses grossen 
Naturbeschreibers wird uns nur verständlich durch die 
Zuversicht und den Lapidarstil, sowie die Handlichkeit 
seiner Diagnosen, wodurch er der völligen Zerfahren- 
heit der Naturgeschichte mit einem Schlage ein Ende 
machte und der Mit- und Nachwelt als ein Gesetzgeber 
erschien. Das Hervorheben der Art als der Grund- 
lage alles systematischen Verständnisses war noch nie 
so nachdrücklich geschehen. Seine Ansicht gipfelt in 
dem Satze ^*: „Die Vernunft lehrt, dass bei Beginn 
der Dinge von jeder besondern Art ein Paar geschaffen 
sei." Mit dieser Vernunft sieht es jedoch bei Linne 
sehr eigenthümlich aus, indem sie dem strengsten 
Bibelglauben unterworfen ist, und mit diesem Stand- 
punkt sucht er seine geologischen Vorstellungen in 
üebereinstimmung zu bringen. Ihm war besonders ein 
wirkungsvolles geologisches Phänomen auffallend, die 
Hebung eines grossen Theils der skandinavischen Kü- 
sten. Sie geht schneller vor sich, als die Senkung 
eines andern Theiles, ihre Erscheinungen sind viel 
mächtiger, und so konnte sich die Vorstellung bilden, 
als ob das Festland in regelmässiger Zunahme nach 
und nach aus dem Meere gestiegen sei. „Ich glaube 
nicht sehr von der Wahrheit abzuirren", sagt er, „wenn 
ich behaupte, dass alles Festland während der Kind- 
heit der Erde unter Wasser getaucht und von einem 
ungeheuren Ocean bedeckt war, ausser einer einzigen 



76 Linne. Cuvier. 

Insel in diesem unermesslichen Meere, worauf alle 
Thiere wohnten und die Pflanzen freudig sprossten." ^* 
Dass auch alle Pflanzenärten in diesem liehlichen Gar- 
ten sich befunden haben müssen, gehe daraus hervor, 
dass ausdrücklich gesagt sei, Adam habe alle Thiere 
benannt; folglich müssten auch alle Insekten im Para- 
diese versammelt gewesen sein, die Insekten aber ohne 
die Pflanzen seien gar nicht zn denken. Linne macht 
dann den ersten thier-geographischen Versuch, indem 
er von diesem Mittelpunkt aus die Thiere sich ver- 
breiten lässt. Die Summe seiner Ansicht über den 
Artbegriff ist aber immer: „Wir zählen so viele Arten, 
als das unendliche Wesen im Anfang der Dinge er- 
schuf*^'; und seine Autorität war so gewaltig, das» 
das Zeitalter Voltaire's und Diderot's dieses offenbare 
Dogma gläubig hinnahm und als einen Satz, der über- 
haupt gar nicht bezweifelt werden könnte, den Nach- 
kommen überlieferte. 

Indessen war Linne so wenig Anatom, däss es nach 
dieser Seite einer völligen Neubegründung der Zoolo- 
gie bedurfte, und als ein ßolcher zweiter Linne trat 
Cuvier auf.*' Seine Schule nennt sich die Schule der 
Thatsachen, doch war er keineswegs ohne philosophi- 
schen Anstrich. Im Gegentheil musste die bestimmte 
und einfache Art seiner Principien und Abstractionen 
imponiren. Die Summe seiner Beobachtungen fasste 
er als „Gesetze der Organisation" zusammen, und er 
wendete die teleologische Betrachtungsweise, dsks prin- 
cipe des causes finales , höchst fruchtbar auf die Er- 
kenntniss und Wiederherstellung vorweltlicher Thiere 
an. Die Frage nach der Beständigkeit oder Verän- 
derlichkeit der Arten klopfte sehr vornehmlich an 
seine Thüre. Eine äussere Veranlassung dazu gab die 
ägyptische Expedition und die Untersuchung der mu- 
mificirten Thiere. Etienne Geoffroy Saint Hilaire und 
Lamark griffen die Artbeständigkeit an und meinten, 
dass die ägyptische Periode viel zu kurz sei , um aus 
der Gleichheit der Mumien mit den jetzt lebenden 



Cuvier. 77 

Arten, zumal bei der Stabilität der äussern Verhält- 
nisse, auf die Gültigkeit des Satzes von der Unverän- 
derlichkeit der Art schliessen zu können, allein die 
Frage ward von der Cuvier'schen herrschenden Schule 
barsch abgethan und todtgeschwiegen. Indessen ver- 
mehrte Cuvier nicht blos den Haufen der Thatsachen, 
sondern, wie wir oben angedeutet, gruppirte sie mit 
philosophischem Geschick so glücklich, dass er aller- 
dings seinem bewussten Ziele, dem natürlichen Systeme, 
sich näherte. Er lieferte den ersten sichern Nachweis 
untergegangener Thierarten. Hinsichtlich der Ent- 
stehung der in den nachfolgenden Perioden an ihre 
Stelle getretenen war er nicht unbedingt, wie man 
gewöhnlich annimmt, für Neuschöpfung, sondern er 
enthielt sich einer bestimmten Ansicht. „Ich will 
nicht gerade behaupten", sagt er^^ „dass es zur Her- 
vorbringung der heutigen Thiere einer Neuschöpfung 
bedurft habe, ich sage nur, sie lebten nicht an der- 
selben Stelle und mussten anderswoher kommen." 
Geoffroy dagegen zweifelt nicht, dass die jetzt leben- 
den Thiere in einer ununterbrochenen Reihenfolge von 
Generationen von den untergegangenen Geschlechtern 
der Vorwelt herstammen. 

In der Art Cuvier's lag die Gefahr eines natur- 
wissenschaftlichen Dogmatismus, und darum wird es 
gerechtfertigt sein, hier auf einen noch lebenden un- 
mittelbaren Schüler Guvier^s hinzuweisen, auf Louis 
Agassiz, der in der starrsten lehrhaften Weise an den 
systematischen Kategorien festhält und sie als „ver- 
körperte Schöpfungsgedanken" in schön klingende De- 
finitionen kleidet. ^' Nach ihm gehören die Arten 
einer gegebenen Periode der Erdgeschichte an und 
haben bestimmte Beziehungen zu den während dieser 
Zeit vorherrschenden physikalischen Verhältnissen, sowie 
zu den gleichzeitigen Pflanzen und Thieren. Die Spe- 
cies sind begründet auf wohl bestimmte Beziehungen 
von Individuen zur umgebenden Natur und zu ihrer 
Verwandtschaft, auf die Proportionen und Beziehungen 



78 Agassiz' systematische Formeln. 

ihrer Theile zueinander und auf ihre Ornamentation. 
Die Individuen, als die Repräsentanten der Arten^ 
stehen in den engsten Verhältnissen zueinander. Sie 
zeigen bestimmte Verhältnisse zu den umgebenden 
Elementen und ihr Sein ist innerhalb einer gewissen 
Periode begrenzt. Von der Gattung heisst es: „Gat- 
tungen sind« aufs engste miteinander verbundene Grup- 
pen von Thieren, welche weder in der Form noch in 
der Zusammensetzung ihres Baues voneinander ab- 
weichen, sondern einfach in den letzten Structureigen- 
thümlichkeiten einzelner ihrer Theile." yj)ie Individuen 
als Repräsentanten von Gattungen haben einen be- 
stimmten und specifischen feinsten Bau, identisch mit 
dem der Repräsentanten anderer Arten." Wir können 
diese Definitionen nur für Phrasen erklären und fragen 
mit Haeckel: „Welcher Art sind denn diese «letzten 
Structureigenthümlichkeiten einiger ihrer Theile», wel- 
che allein das Genus als solches bestimmen sollen, 
und welche jedem Genus ausschliesslich eigenthümlich 
sein sollen? Wir fragen jeden Systematiker, ob er 
nicht ganz ebenso gut diese Bestimmung auf Species, 
Varietäten u. s. w. wird anwenden wollen, ob es 
schliesslich nicht auch «letzte Structureigenthümlich- 
keiten einzelner Theile» sind, welche die für die Spe- 
cies, für die Varietät u. s. w. charakteristische Forni 
hervorbringen." Vergeblich suchen wir in dem Essay 
on Classification nach einem einzigen Beispiele, wie 
etwa die Ochsen- und die Antilopengattung, das Hunde- 
und das Hyänengeschlecht, die beiden grossen Gattun- 
gen unserer Süsswassermuscheln , Unio und Anodonta^ 
sich in the ulUmate structural pecularities of some 
of ihdr parts denn eigentlich unterscheiden. Mehrere 
dieser von Agassiz gegebenen Definitionen kann man 
geradezu miteinander vertauschen, so allgemein ge- 
halten und nichtssagend sind sie. Die Klassen charak- 
terisirt er „durch die Art, wie der Plan des Typus 
ausgeführt ist, so weit man dabei Wege und Mittel 
berücksichtigt", die Ordnungen „durch den Grad der 



Agassiz' systematische Formeln. 79 

Zusammengesetztheit der Structur der Typen." Diese 
Phrasen lassen sich ohne weiteres eine durch die an- 
dere ersetzen, sie machen aber, wie die ganze Dog- 
matik, grossen Eindruck bei denen, welche wegen 
Unkenntniss der Thatsachen nicht selbst Kritik üben 
können, und werden daher mit Vorliebe citirt, um 
die ungläubige Naturforschung mit der gläubigen zu 
widerlegen. 

Man sollte meinen, wenn die Sache so einfach läge, 
und die systematischen Begriffe so fest ständen , das» 
nichts leichter wäre, als das System aufzustellen. Und 
das behauptet auch Agassiz. Er sagt, wenn von einer 
grossen Thiergruppe auch nur eine einzige Art vor- 
handen und der Untersuchung zugänglich sei, so könnte 
man danach die Typus-, Klassen-, Familien-, Gattungs- 
und Speciescharaktere bestimmen, nur die Ordnung 
Hesse sich nicht ableiten. Die Hinfälligkeit dieser und 
ähnlicher Behauptungen lässt sich am besten nach- 
weisen durch Untersuchung des Fundaments aller dog- 
matischen Systematik, der „Art". Ist dieser Begriff 
ein wandelbarer, ist die jirt nicht etwas ein für alle- 
mal Gegebenes, sondern nach Zeit und Umständen 
Wechselndes, so richtet sich auch der Inhalt der hohem,, 
allgemeinern Begriffe von Gattung, Familien u. s. w. 
hiernach. Die schärfste und consequenteste Kritik über 
den eingewurzelten Schulbegriff der „Art" ist von 
Haeckel geübt worden^®, nachdem schon Darwin in 
seinem classischen Werke über die Entstehung der 
Artön die alte Lehre und Praxis der Zoologie und 
Botanik in ihrer ganzen Blosse gezeigt. Im Folgenden 
halten wir uns an Haeckel. 

Wir haben oben gesehen, dass Linne die Schöpfung 
als biblische unumstössliche Lehre hinnahm, und es ist 
geradezu komisch, wenn heute noch eine Menge Natur- 
forscher auf dieses Dogma schwören, welche über alle 
andern Dogmen längst hinaus sind. Da also in der 
Bibel von der Schöpfung der Arten die Rede, so 
wurde diese Sage zum Fundament der Wissenschaft 



90 Der Artbegriff. 

gemacht. Heute ist die ~ Zähl derer allerdings klein, 
welche sich auf die biblische Aussage berufen. Viel- 
mehr meinen diejenigen, welche die Stabilität der Art 
verfechten, mit Cuvier die Thatsachen zu ihren Gun- 
sten deuten zu dürfen, wobei sie theils unbewusst in 
dem ererbten Vorurtheil befangen bleiben, theils mit 
allerlei Kniffen das klare Gegentheil der ünveränder- 
lichkeit nicht sehen wollen. Indem Linne auf die 
Schöpfung zurückwies, rechnete er die Individuen zu 
einer Art, deren Stammbaum in directer Linie auf 
das aus der Hand des Schöpfers hervorgegangene Paar 
zurückführe. Eine Untersuchung dieses Stammbaums 
war seinerzeit einmal nach dem ganzen Stande der 
wissenschaftlichen Mittel nicht möglich, aber bei dem 
strengen Anlehnen an die heilige üeberlieferung auch 
kaum nothwendig. Cuvier, obgleich ein sehr unbe- 
fangener und kühler Beobachter, nahm doch im Grunde 
die Linne^sche Definition der Art an. Nach ihm ist 
die Art „die Vereinigung der voneinander und von 
gemeinschaftlichen Aeltern abstammenden Individuen, 
und derjenigen, die ihnen ebenso ähnlich sind, als sie 
sich untereinander gleichen."*^ „In dieser Bestim- 
mung", sagt Haeckel, an welche sich die meisten spä- 
tem mehr oder minder eng anschliessen , wird offenbar 
'zweierlei für die zu einer Species gehörigen Individuen 
verlangt: erstens nämlich ein gewisser Grad von Aehn- 
lichkeit oder annähernde Gleichheit der Charaktere, 
und zweitens ein verwandtschaftlicher Zusammenhang 
durch das Band gemeinsamer Abstammung. Von den 
spätem Autoren ist bei den zahlreichen Versuchen, 
die Definition zu vervollkommnen, bald mehr auf die 
genealogische Blutsverwandtschaft aller Individuen einer 
Art, bald mehr auf ihre morphologische Uebereinstim- 
mung in allen wesentlichen Charakteren Rücksicht ge- 
nommen werden. Im allgemeinen kann man aber 
behaupten, dass bei der praktischen Anwendung des 
Artbegriffes, bei der Unterscheidung und Benennung 
•der einzelnen Species, fast immer nur das letztere 



Der Artbegriff. 81 

Moment zur Geltung gelangte, das erstere dagegen 
ganz vernachlässigt wurde. Späterhin wurde zwar die 
genealogische Vorstellung von der gemeinsamen Ab- 
stammung aller Individuen einer Art noch durch 
die physiologische Bestimmung ergänzt, dass alle In- 
dividuen einer Art miteinander fruchtbare Nachkom- 
menschaft erzeugen könnten, während die sexuelle 
Yermischung von Individuen verschiedener Arten gar 
keine oder nur eine unfruchtbare Nachkommenschaft 
lieferte. Indessen war man in der systematischen Praxis 
allgemein vollkommen zufrieden, wenn man bei einer 
untersuchten Anzahl höchst ähnlicher Individuen die 
Uebereinstimmung in allen wesentlichen Charakteren 
festgestellt hatte, und frug nicht weiter danach, ob 
diese zu einer Art gerechneten Individuen in der That 
gemeinsamen Ursprungs und fähig seien , bei der Be- 
gattung miteinander eine fruchtbare Nachkommenschaft 
zu erzeugen. Vielmehr kam die physiologische Be- 
stimmung natürlicherweise bei der praktischen Unter- 
scheidung der Thier- und Pflanzenarten ebenso wenig 
in Anwendung, als die vorausgesetzte gemeinsame Ab- 
stammung von eineiti und demselben Aelternpaare. 
Andererseits unterschied man ohne Bedenken zwei 
nächstverwandte Formen als zwei verschiedene 'gute 
Arten', sobald man bei einer untersuchten Anzahl von 
ähnlichen Individuen eine constante Differenz, wenn 
auch nur in einem verhältnissmässig untergeordneten 
Charakter nachgewiesen hatte. Auch hier kümmerte 
man sich nicht darum, ob die beiden verschiedenen 
Beihen wirklich nicht von gemeinsamen Vorältern ab- 
stammten und wirklich miteinander keine oder doch 
nur unfruchtbare Bastarde zeugen könnten." 

• Dass diese gründliche Verurtheilung der nachlinnei- 
schen Speciesmacherei nicht zu hart, geht daraus un- 
ter anderm hervor, dass innerhalb der Zunft die 
allergrösste Uneinigkeit über die Begrenzung der Spe- 
cies herrschte und bis heute herrscht , däss man sich 
über das Fundament der Speciesbeschreibung , die 

ScHKiDT, Desoendenzlehre. Q 



82 I^er Artbegriff. 

„wesentlichen Merkmale" durchaus nicht verständigen 
kann. Wenn auch Agassiz das Recept für die Speciea 
aufstellt, so ist doch in jedem einzelnen Falle über 
die Verhältnisse der Theile, die Omamentation u. a. 
zu entscheiden. Da man, ohne Vogelbälge, Schnecken- 
häuser, Schmetterlinge u. s. w. vor sich zu haben, 
nicht von vornherein angeben kann, was die „wesent- 
lichen Merkmale" der daraus zu machenden Arten seien, 
so ist, wenn es an die Aufstellung der Arten gehen 
soll, der subjectiven Ansicht und der reinen Willkür 
der grösste Spielraum gelassen, und es gibt nicht 
zwei Autoritäten unter den Systematikern innerhalb 
eines gewissen, nach seinen Formen wohlbekannten 
Gebietes, die über die Zahl der Arten, in welche sie 
das vorliegende Material eintheilen sollen, einig wären. 
Die völligste Zügellosigkeit in der Artmacherei hat 
aber einige Jahrzehnte hindurch bei den Paläontologen 
geherrscht, wo aus dem Bestreben, die Unter ab thei- 
lungen der geologischen Schichten durch ihre organi- 
schen Einschlüsse möglichst sicher zu stellen, die Art- 
spaltung nach den kleinlichsten, oft nur individuellen 
Abweichungen bis in das Unglaubliche gegangen. Eine 
gewisse Veränderlichkeit der Arten musste sich zwar 
auch dem blödesten Auge aufdringen; man zweigte 
Unterarten und Spielarten , Varietäten ab , welche man 
nach „minder wesentlichen", durch Klima und Züch- 
tung erworbenen Merkmalen charakterisirte , mit dem 
Vorbehalt, dass ihre Kreuzungen untereinander und 
mit der Hauptart fruchtbare Nachkommenschaft her- 
vorbrächten, während sie gegen andere Arten sich wie 
die Hauptart verhielten. Natürlich war das subjective 
Urtheil bei dieser Trennung der Art in die Unterarten 
noch weniger als bei der Artbeschreibung an Tradi- 
tion und Gesetz gebunden. Die ornithologische Lite- 
ratur der lezten vierzig Jahre dürfte von der hiermit 
eingerissenen babylonischen Verwirrung die geeignetsten 
Tausende von Beispielen geben. 

Es soll nun durchaus nicht in Abrede gestellt werden. 



Der Artbegriff. 83^ 

dass ein grosser, vielleicht der grösste Theil der jetzt 
existirenden Organismen für die Naturbeschreibung 
sich in einem Zustande befindet, wonach sie als so- 
genannte Arten in ihren äussern und innern Verhält- 
nissen charakterisirt werden können und behufs der 
Wiedererkennung und überhaupt der wissenschaftlichen 
Behandlung gekennzeichnet werden müssen. Diese 
Stabilität ist aber, wie sich theils direct, theils nach 
Analogien zeigen lässt, unter allen Umständen nur 
eine zeitliche, und wir haben ganze Klassen von Or- 
ganismen, auf welche der alte Artbegriff mit seiner 
Constanz der wesentlichen Merkmale sich auch mit 
dem weitesten Vorbehalte nicht anwenden lässt. Kön- 
nen wir den Beweis unwiderleglich führen, dass solche 
artlose Gruppen existiren, so ist mit der alten Syste- 
matik und dem Speciesdogma ein für allemal auf- 
geräumt und das positive Fundament einer neuen Lehre 
gewonnen. Dieser Beweis ist geführt in zwei 
Richtungen. Einige Klassen von Organismen befinden 
sich in ihrem gegenwärtigen Zustande in einem solchen 
Schwanken und Fliessen der Formen, dass „Artkenn- 
zeichen" und „Gattungskennzeichen" überhaupt nicht 
festzuhalten sind. Sie befinden sich in einem extre- 
men Grade der Veränderlichkeit, welche bei andern 
einer scheinbaren Ruhe gewichen ist. Andere Reihen 
von Thatsachen der offenbarsten Artveränderlichkeit 
zeigen gewisse vorweltliche Gruppen in der Aufein- 
anderfolge der „Arten" genannten Formen. 

Schon vor dem Erscheinen von Darwin's Werk über 
die Entstehung der Arten war der Physiolog und Zoo- 
log Carpenter in London durch seine Untersuchungen 
der Foraiainiferen zu dem im Einzelnen nachge- 
wiesenen Resultate gekommen, dass in dieser Gruppe 
niedriger Organismen, welche äusserst zierliche Kalk- 
gehäuse absondern, nicht von „Arten", sondern nur 
von „Formenreihen" die Rede sein könne. Formen, 
welche die Systematiker in verschiedene Gattungen 
und Familien gebracht, sah er sich auseinander ent- 

6* 



84 Fennenreihen. 

wickeln. Indessen sind diese Foraminiferen voü so 
einfachem Bau, man kennt ihre individuelle Entwicko- 
lungsgeschichte oder Ontogenie noch so wenig, sie bieten 
so wenig mikroskopisches Detail zur Controle der Art- 
Umwandlung, dass den Vertheidigern der Artconstanz 
allenfalls die Ausflucht geblieben wäre, die Formen- 
reihen von Carpenter seien Varietäten und bewiesen 
nur, dass man die wahren „Arten" noch nicht gefun- 
den. Da ist denn nun die Klasse der Schwämme oder 
Spongien hülfreich eingetreten, auf deren Wichtig- 
keit in der Artfrage zuerst ich hingewiesen habe. *^ 
Es handelt sich bei ihnen, so fasste ich meine Unter- 
suchungen zusammen, nicht blos, wie bei den Fora- 
miniferen, um den allgemeinen Habitus der Form, um 
die variable Gruppirung der Kammersysteme, sondern 
die Variabilität ist an dem mikroskopischen Detail 
ebenso und noch specieller vorhanden, als an den 
gröbern Bestandtheilen. Bei den Foraminiferen kann 
man wol von mikroskopischen Formen, aber nicht 
eigentlich von mikroskopischen Bestandtheilen sprechen. 
In den Spongien aber belatischen wir die Umbildung 
der feinern Formbestandtheile , der Elementarorgane, 
und dadurch wird die Wandelbarkeit des Ganzen so 
durchsichtig. Es verhalten sich in dieser Beziehung 
die Kalkschwämme etwas anders, als die übrigen, und 
besonders die Kieselschwämme. Bei jenen ist die Va- 
riabilität der mikroskopischen Theile auf einen klei- 
nern Formenkreis beschränkt, dafür aber der Habitus 
der Individuenreihen von einer ganz unglaublichen 
Biegsamkeit. Wir vermissen nun zwar diese Biegsam- 
keit des Gesammtkörpers auch nicht bei den Kiesel- 
spongien, wir sehen z. B. bei der Gattung Tedania, 
von Gray zusammengestellt aus einigen meiner frühern 
Renieren, wie deren eigensinnig zusammenhaltende 
Nadelformen von Triest bis Florida und Island unter 
den verschiedenartigsten Verkleidungen auftreten. Die 
eine dieser Nadeln neigt aber in einigen Varietäten 
schon zu Abschweifungen. Und gerade dieser Punkt, 



Formenreihen der Spongien. 85 

die bis ins Einzelne zu verfolgenden Umwandlungen 
derjenigen Organe, welche als vermeintlich stabil der 
Systematik die wesentlichste Grundlage zur Aufstellung 
der Gattungen und Arten zu bieten schienen, macht 
die Untersuchung besonders anziehend. Schon in den 
algierischen Spongien habe ich frappante Beispiele 
gebracht. Diese häufen sich in dem Masse, als der 
Gesichtskreis sich erweitert. Schritt für Schritt machen 
wir die Wahrnehmung, dass auf kein „Merkmal" ein 
leidlicher Verlass ist, dass bei einiger Constanz der 
mikroskopischen Bestandtheile die äussere Körperform 
mit ihren groben Kennzeichen weit über die Grenzen 
der sogenannten Arten und Gattungen hinaus abändert, 
bei gleichem äussern Habitus aber die , wie wir glaub- 
ten, specifischen innern Theilchen uns gleichsam unter 
der Hand zu andern werden. „Wer bei den Spongien", 
so schliesst jener Abschnitt aus meinem Werk über 
die atlantische Spongienfauna , „sein Hauptgeschäftt 
auf die Species- und Gattungsmacherei verlegt, wird 
ad absurdum geführt, wie Haeckel in seinem Prodro- 
mus zur Monographie der Kalkschwämme mit köstlicher 
Ironie gezeigt. 

Während ich mich in meinen speciellen Untersuchun- 
gen im wesentlichen auf die Kieselschwämme beschränkte 
und den, bisher von den sonst so lauten Gegnern der 
Artconstanz unangetasteten Beweis durch Tausende von 
mikroskopischen Beobachtungeij , durch Messungen, 
Zeichnungen, durch Thatsachen und Schlüsse geführt, 
dass bei ihnen Arten und Gattungen, mithin feste 
systematische Einheiten überhaupt nicht existiren, hat 
Haeckel mit unerreichter Meisterschaft die andere Ab- 
theilung der Klasse, die Kalkschwämme, monogra- 
phisch bearbeitet. ^^ Er konnte nicht nur meine Aus- 
führungen bestätigen, sondern bei dem geringern Umfange 
und der grössern Uebersichtlichkeit der zum Studium 
gewählten Gruppe mit grösserer Consequenz und Lücken- 
losigkeit von der Detailbeobachtung zum Ganzen 
fortschreiten, Morphologie, Physiologie und Entwicke- 



86 Artveränderung in der Zeit. 

lungsgeschichte in möglichster Vollendung darstellen 
und den Männern des Stillstandes den Handschuh hin- 
' werfen, dass man je nach subjectiver Ansicht eine oder 
591 Species der Kalkschwämme annehmen könne, „dass 
eine absolute Species überhaupt nicht existirt, und 
dass Species und Varietät nicht scharf zu trennen sind." 
Wer nach diesen Darlegungen auf dem Hirngespinst 
der Species beharrt, ohne entweder zu beweisen, dass 
die Thatsachen falsch beobachtet sind, oder dass sie 
anders und zu Gunsten der Stabilität der Art aus- 
gelegt werden müssen, wer, wie Agassiz in neuester 
Zeit, ohne von solchen Untersuchungen Notiz zu neh- 
men, öffentlich versichert, man habe noch in keinem 
einzigen Falle die Veränderlichkeit einer Art gezeigt, 
hat kaum noch das Recht, an dem grossen, die Natur- 
wissenschaft bewegenden Streite sich zu betheiligen. 

Nun gibt es aber, wie oben erwähnt, noch eine 
zweite Richtung, in welcher die Beweglichkeit der 
„Art" nachgewiesen werden muss, nicht die Richtung 
in die Breite, sondern in die Höhe und Tiefe. Jene 
Veränderlichkeit der Schwämme liefert den höchst 
wichtigen Nachweiss, dass, um mich so auszudrücken, 
eine ganze Klasse gegenwärtig eine verhältnissmässige 
Ruhe noch nicht gefunden hat. Man verlangt aber 
mit Recht zur Constatirung der Artveränderlichkeit 
den Nachweis der Veränderlichkeit im Laufe der Zeit, 
des Ueberganges der sich in den Erdschichten histo- 
risch folgenden Formen. Ein höchst lehrreiches Bei- 
spiel der im Verlaufe der Zeit eintretenden Artver- 
änderung, welche man allenfalls in die Grenzen der 
Varietäten bannen kann, bietet die in dem Süsswasser- 
kalk von Steinheim in Würtemberg vorkommende 
Tellerschnecke (Planorbis multiformis). Die Ablage- 
rung, aus der Tertiärzeit stammend, enthält die Ueber- 
reste eines kleinen Landsees und kann in etwa 40 
petrographisch zu unterscheidende Schichten getheilt 
werden. „In der gesammten Schichtenfolge", sagt 
Hilgendorf^*, „vertheilen sich die Varietäten des Pia- 



ArtveränderuDg in der Zeit. 87 

norbis multiformis in der Weise, dass einzelne Schich- 
ten als Schichtenfolgen durch das ausschliessliche Vor- 
kommen oder durch Vorherrschen einzelner oder mehrerer 
Varietäten charakterisirt werden, welche sich innerhalb 
der Schicht constant oder wenig variirend verhalten, 
zur Grenze gegen die folgende Schicht aber durch 
Uebergänge zu den nachfolgenden Formen herüber- 
führen. — Die Zwischenschichten liefern den Beweis, 
dass die andern Formen durch allmähliche Umbildung 
aus den frühern entstanden sind; sie machen es ferner 
möglich. Form an Form zu reihen und die Entwicke- 
lung nach abwärts zu verfolgen; dort zeigt sich 
denn, dass, was oben deutlich getrennt er- 
schien, unten zusammenf liesst. So entsteht 
ein Stammbaum, der mit Haupt- und Neben- 
ästen reichlich ausgestattet ist." Die Formen 
gehen so auseinander und sind in den, die Zeiten der 
Ruhe verrathenden Hauptzonen so constant, dass man 
nach alter conchyliologischer Praxis sie unbedingt als 
Arten in Anspruch nehmen würde, wenn nicht eben 
die verbindenden Glieder zu deutlich und das Terrain' 
zu beschränkt wäre, und wenn man nicht den geolo- 
gischen, jedenfalls doch nach Jahrtausenden zu berech- 
nenden Zeitraum für zu gering ansähe. 

Was aber der Steinheimer Fall im Kleinen zeigt, ist 
während der grossen geologischen Periode im Grossen 
vor sich gegangen, und der Eifer einiger Paläontolo- 
gen, wie Waagen, Zittel, Neumayr^ Würtenberger ^*, 
hat den Erfolg gehabt, dass wenigstens für die so 
wichtige Abtheilung der Ammoniten die Unmöglichkeit, 
sie in „Arten" zu trennen, bewiesen ist. Die Studien 
über Ammoniten haben gezeigt, dass aus den fossilen 
Resten wichtige Schlüsse auf die gesammte Organisa- 
tion gemacht werden können, und dass mit den zu 
controlirenden Veränderungen der Schale gleichzeitige 
eingreifende Umwandlungen gewisser bestimmender 
Weichtheile vor sich gegangen sein müssen. Wenn 
man nun nachweist, wie es von jenen Forschern ge- 



gg Veränderlichkeit der Anunoniten. 

schehen, dass die sogenannten „Arten", welche die 
Unterabtheilungen der grossen Jura- und Kreidefor- 
mationen charakterisiren , in derselben Weise zusam- 
menhängen, wie die Varietäten der Steinheimer Schnecke,, 
als blosse Formenreihen von wechselnder Constanz und 
Zeitdauer, so gleichen die, welche sich auch hierdurch, 
nicht aus der angeborenen Arttraumseligkeit aufscheu- 
chen lassen, dem Strausse, der die Gefahr lieber gar 
nicht sehen mag. Neumayr ist ein so kühler und vor- 
sichtiger Beobachter, dass er nur das absolut Sichere 
gelten lässt. Er hält zwar für „ausserordentlich wahr,- 
scheinlich", dass bei allen Formen die allmählichen. 
Uebergänge existirt haben, verlangt jedoch nur in. 
einem einzigen Falle die unbedingte Anerkennung, 
nämlich nachgewiesen zu haben, „dass Perisphinctes: 
aurigerus Opp. aus den Bathonien und Perisphincte» 
curvirostrus aus der Zone des Cosmoceras Jason Rein, 
durch dazwischenliegende Vorkommnisse in einer Weise 
verknüpft werden, dass die Ziehung einer Grenze un- 
möglich wird." L. Würtenberger stellte seine Unter- 
suchungen an Tausenden von Exemplaren an aus den 
Gruppen der Planulaten-Ammoniten mit berippten 
Schalen und der Armaten-Ammoniten mit bestachelten 
Schalen. Indem er seine Ergebnisse zusammenfasst,, 
sagt er unter anderm: „Wie man bei den Ammoniten 
der Planulaten- und Armatengruppe die Species gegen- 
einander abzuzweigen habe , darüber möchte und könnte 
ich keinerlei Anweisung geben, indem mir diese Frage 
als eine ganz verfehlte erscheint. Denn bei Gruppen 
fossiler Organismen, wo man, wie in diesem Falle,, 
zwischen den extremsten Formen so zahlreiche Ver- 
bindungsglieder wirklich vor sich liegen sieht, das» 
der Uebergang ganz stetig vermittelt wird, lässt sich 
der Species noch viel weniger ein Begriff unterschie- 
ben, als bei den organischen Formen aus der Jetzt- 
welt, welche letztere doch wenigstens die heutigen 
Grenzen der Zweige des grossen Stammbaumes der 
organischen Welt bezeichnen. Bei jenen fossilen 



Arten und Bastarde. 89* 

Formen jedoch ist es im Grunde vollständige 
einerlei, ob man ein ganz kurzes oder ein län- 
geres Stück irgendeines Zweiges mit einem 
besondern Namen beehrt und als Species be- 
trachtet. — Die stacheltragenden Ammoniten, wel- 
che man unter den Armaten zusammenfasst, reihen sich 
so innig aneinander, dass es zur Unmöglichkeit wird, 
die hier angenommenen Arten scharf voneinander zu 
trennen. Ganz dasselbe gilt auch von jener Gruppe, 
deren vielerlei Formen sich durch ihre berippten Scha- 
len auszeichnen und die man als Planulaten aufführt." 
— Es hat sich ferner ergeben , dass die Armaten aus den 
Planulaten entstehen. 

Wir kommen später wieder^ auf Würtenberger's vor- 
läufige Mittheilungen zurück. Hier war es uns darum 
zu thun, unsern Lesern an die Hand zu geben, wie 
und wo die neuere Naturforschung mit dem Artgespenst 
aufräumt, wie sie in Stand zu setzen, selbst zu be- 
urtheilen, welche Beobachtungsreihen den Versiche- 
rungen, dass noch in keinem einzigen Falle der Ueber- 
gang einer Art in eine andere Art nachgewiesen sei^ 
entgegenstehen. Die alte Schule kommt nämlich nach 
und nach in die Verlegenheit, ganze Ordnungen und 
Klassen als „Arten" zu proclamiren und die früher sa 
schön gekennzeichneten Arten als Varietäten. 

Die Unhaltbarkeit des physiologischen Theiles der 
Artdefinition ist von Darwin und dann von Haeckel 
überzeugend dargethan. Dass gute „Arten" auch im 
freien Zustande sich nicht selten vermischen, und das& 
gezähmte Arteli, wie Pferd und Esel seit Jahrtausenden 
gekreuzt worden, ist bekannt. Aber die Producte 
dieser Mischungen, die Bastarde, sollten nur aus- 
nahmsweise selbst fruchtbar sein und jedenfalls nur 
auf wenige Generationen eine fruchtbare Nachkommen- 
schaft haben. Dagegen sollte es fest stehen, dass die 
Producte der Kreuzungen von Varietäten in ununter- 
brochener Folge fruchtbar seien. Der Lehrsatz von 
der Unfruchtbarkeit der Bastarde hatte sich zuerst 



90 Bastarde. 

ohne alle experimentelle und allgemeinere Beobachtung 
ausgebildet, und wurde unglücklicherweise durch eine 
der ältesten und bekanntesten Bastardirungen das 
Maulthier und den Maulesel, scheinbar bestätigt. Diesem 
landläufigen Beispiele, wo die Fruchtbarkeit der Bastarde 
fehlschlägt, setzen wir nur eins der neuern Zeit gegen- 
über, die durch viele Generationen geglückte Fort- 
pflanzung von Hasen und Kaninchen, zweier noch nie 
für blosse Varietäten erklärten „guten Arten". Die 
so zahlreichen und voneinander abweichenden Formen 
des Haushundes hat die Schule für Varietäten einer 
Art erklärt, weil sie sich fruchtbar miteinander ver- 
mischen. Liest man aber die sorgfaltige Zusammen- 
stellung der Nachricht«! über das Verhältniss von 
gewissen Wolfsarten zu den Hunden wilder Völker- 
schaften und des europäischen Wolfes zum ungarischen 
Hunde bei Darwin*®, so wird man mit Darwin es als 
höchst wahrscheinlich annehmen müssen, dass an ver- 
schiedenen Punkten der Erde zu verschiedenen Zeiten 
wilde Arten der Gattung Canis gezähmt wurden, die 
in fast unbeschränkter Weise miteinander fruchtbare 
Nachkommenschaft erzeugen. Aehnliches gilt von der 
Hauskatze. Für die Formen der europäischen Haus- 
katze steht die Sache so, dass ihre Herkunft theils 
von einer nubischen Art, theils von der europäischen 
Wildkatze kaum bezweifelt werden kann. Man drehte 
sich also mit den Schlüssen im Kreise: die Formen 
gehören zu einer Art, weil sie sich fruchtbar kreuzen, 
und weil sie zu einer Art gehören, kreuzen sie sich 
fruchtbar; und auf der andern Seite : weil die und die 
Formen bei Kreuzungen keine fruchtbare Nachkom- 
menschaft hervorbringen, bilden sie verschiedene Ar- 
ten, und weil sie verschiedene Arten sind, zeugen sie 
keine fruchtbare Nachkommenschaft. Die Fälle der 
nachhaltigen Fruchtbarkeit der Bastarde sind zwar 
eben nicht häufig, aber doch so weit constatirt, dass 
die Behauptung des Gegentheils den Thatsachen offen 
widerspricht. Aber auch umgekehrt hat der Satz, dass 



Blendlinge. Forster gegen den Artbegriff. 91 

die Blendlinge, die Kreuzungspro ducte der Varietäten, 
fruchtbar seien, so allgemein hingestellt keine Gültig- 
keit. Die Varietät, welche sich in Paraguay aus un- 
serer Hauskatze abgesondert, paart sich mit ihrer 
Stammart nicht mehr; ebenso wenig das zahme euro- 
päische Meerschweinchen mit der brasilianischen wil- 
den Stammart. Wenn aber auch im allgemeinen 
Kreuzungen von Varietäten sich leichter vollziehen 
und häufiger fruchtbare Producte geben als die immer- 
hin seltenem Kreuzungen von Arten , so ist überhaupt 
das öftere Fehlschlagen der Artkreuzungen in völligem 
Einklang mit der oben dargelegten Artveränderung im 
Laufe der Zeit. Für uns soll vorläufig nur feststehen, 
dass Blendlinge und Bastarde hinsichtlich ihrer Frucht- 
barkeit und der Fähigkeit zu constanter Fortpflanzung 
im wesentlichen sich gleich und nur gradweise ver- 
schieden verhalten, und dass auf diese Eigenschaften 
eine nähere Bestimmung und Eingrenzung des Species- 
begriffes nicht begründet werden kann. 

Wenn die altern Definitionen des Artbegriffes auf 
das Paradies zurückgehen und 'die heute lebenden Or- 
ganismen in directer Linie von den anfänglich auf 
wunderbare Weise geschaffenen und nie abgeänderten 
Stammältern herleiten , so wurde das , wie aus den naiven 
Aeusserungeu Linne's hervorgeht, als etwas Selbstver- 
ständliches angenommen ^und an den , überhaupt un- 
möglichen, Beweis nie gedacht. Dass übrigens schon 
im vorigen Jahrhundert gegen diese oberflächliche Be- 
handlung des Speciesbegriffes sich die Stimmen tiefer 
blickender Naturforscher erhoben, geht unter anderm 
aus einem Briefe Georg Forster's an Peter Camper 
hervor, vom 7. Mai 1787. Man gründe Systeme auf 
diesen Begriff, und doch sei alles schwankend, solange 
dieser Ausdruck nicht unverrückbar festgestellt sei. 
Aber alle bisherigen Definitionen dieses Wortes seien 
hypothetisch und nichts weniger als an sich selbst 
klar. Wolle man nun so viele Species annehmen, als 
geschaffen worden, wie solle man dann eine erschaffene 



92 „Gute" und „schlechte" Arten. 

Art von einer, aus der Vermischung einiger anderer 
hervorgegangenen unterscheiden? Auf die Schöpfung 
zurückgreifen, heisse sich in das Unendliche und Un- 
f assbare verlieren. „Wir werden damit nie etwas be- 
greifen, und die Definitionen, welche sich auf eine 
unerklärbare Grundlage stützen, auf ein Mysterium, 
sollten auf immer aus der Wissenschüft verbannt sein." 
Ohne dass man irgendeiner Theorie zu huldigen 
braucht, wird man zur Anerkennung der Thatsache 
genöthigt, dass noch gegenwärtig in verschiedenen 
Gruppen der Organismen eine solche Unstetigkeit der 
Formen, ein solcher Grad von Variabilität obwaltet^ 
dass die Gezwungenheit und Künstlichkeit des syste- 
matischen Scheidens auf der Hand liegt. In vielen 
andern Gruppen, z. B. den meisten Ordnungen der 
Säugethiere, ist an die Stelle dieses Stadiums der Be- 
weglichkeit eine gewisse Ruhe getreten und erscheinen 
die zur Beobachtung und Vergleichung vorhandenen 
Formen so gegeneinander abgegrenzt, dass sie ohne 
Schwierigkeit sich dem System als „gute Arten" ein- 
fügen. Beurtheilt man aber die guten Arten mit den 
bei den „schlechten" gemachten Erfahrungen, und will 
man nicht zu der widersinnigen und den gesunden 
Menschenverstand verleugnenden Annahme greifen^ 
dass die „guten Arten" auf eine wunderbare, unserer 
Erkenntnis unzugängliche Weise entstanden seien, die 
Entstehung der „schlechten Arten" sich aber analysireu 
lasse, so ist nur der andere Fall möglich und denk- 
bar, dass, wie Haeckei sagt: „alle Species ohne Aus- 
nahme ^schlechte Arten' im Sinne der Speciesfabrikan- 
ten sein würden, wenn wir sie vollständig kennen 
würden." Wir kennen also schon genug, schlechte Ar- 
ten, um mit Gewissheit auf das allgemeine Gesetz 
schliessen zu können. Allein dennoch ist jede weitere 
Bestätigung und Auffindung „schlechter Arten" will- 
kommen. Früher von den Systematikern nur als Un- 
bequemlichkeiten betrachtet und als unbrauchbare 



Berechtigung der Arten. 93 

Steine von den Bauleuten verworfen, sind sie jetzt die 
Ecksteine der Wissenschaft geworden. 

Soll man nun vielleicht , fragen wir nochmals , die • 
Species ganz aufgeben? Aus mehrern Gründen nicht. 
Selbst vorausgesetzt, dass sogenannte „gute Species" 
im Sinne der Systematiker gar nicht existirten, würde 
der menschliche Verstand in dem Bemühen nach üeber- 
sicht genöthigt sein, die Formen zu benennen, wenn 
nicht alle wissenschaftlice Behandlung unmöglich ge- 
macht werden sollte. Ausserdem aber ist die Bei- 
behaltung der Species wissenschaftlich berechtigt und 
nothwendig, sobald man nur die bestimmenden Mo- 
mente berücksichtigt und die Definition mit der Wirk- 
lichkeit in Einklang bringt. Die Species wird nicht 
blos gebildet von ähnlichen Individuen, da ja schon 
die Geschlechter selbst im Falle der Entwickelung ohne 
Verwandlung erheblich voneinander abweichen. Er- 
innern wir uns aber an die stufenweise eintretenden 
Gestaltveränderungen der einer Metamorphose unter- 
worfenen Organismen und an die in regelmässiger 
Folge im Generationswechsel einander ablösenden For- 
men, so werden wir, statt von Individuen, von den 
die verschiedenen Phasen und Reihen der Individuen 
umfassenden Zeugungskreisen reden müssen. Diese 
bleiben sich gleich , solange sie unter gleichen äussern 
Verhältnissen existiren. Inwieweit die Zeit an sich 
auf das Bestehen und Vergehen Einfluss übt, ist dun- 
kel. Jedenfalls ist die Zeit ebenso wol wie die äussern 
Verhältnisse in der Zeit ein Factor der Artverände- 
rung. Indem wir die Art als absolut veränderlich 
und nur relativ ständig betrachten, nennen wir sie 
mit Haeckel „die Gesammtheit aller Zeugungskreise, 
welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche 
Formen zeigen". 



94 Die Naturphilosophie. 



VI. 



. Die Natui3)hilosophie. Ctoethe. Prädestinirte üm- 
bildnng nach Sichard Owen. Lamark. 

Wir haben uns bisher wesentlich mit der Betrach- 
tung der Erscheinungsweisen der Thierwelt als gege- 
bener Thatsachen beschäftigt, ein Eingehen auf den 
Zusammenhang der Thatsachen und eine Kritik der 
Erklärungsversuche möglichst vermeidend. Dennoch 
war es nothwendig, einzelne Momente aus der Ge- 
schichte unserer Wissenschaft hervorzuheben, deren 
Nachwirkungen bis in die Gegenwart reichen und deren 
Kenntniss zum Verständniss herrschender Anschauungen, 
Richtungen und Vorurtheile verhilft. Aus diesem 
Grunde greifen wir nochmals in die Entwickelungs- 
geschichte der Biologie und vergleichenden Anatomie 
zurück, um die Strömungen der Gegenwart an ihren 
Quellen aufzusuchen. Es hat seit der Mitte des vori- 
gen Jahrhunderts durchaus nicht an leitenden Ideen 
in den organischen Naturwissenschaften gefehlt, wie 
solche z. B. in BuflFon's grossartigem Entwurf eines 
Weltgemäldes enthalten sind. Wenn aber von einer 
einheitlichen, umfassenden Durchdringung der organi- 
schen Welt die Rede ist, so wird man zunächst immer 
an die Naturphilosophie denken, wie sie in den ersten 
zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts das Verdienst 
für sich in Anspruch nahm, das Weltganze aus einem 
Princip zu verstehen, nicht nur die Materie an sich, 
sondern auch Sein und Werden der organischen Kör- 
per aus dem Ganzen abzuleiten. Nachdem die Identitäts- 
philoBophie die Gesetze des Geistes ohne das Studium 
der Leiblichkeit zu begründen begann, und die Iden- 
tität der Körperwelt mit der Geisteswelt an den Im- 
ponderabilien und den anorganischen Körpern nach 
ihrer Weise geprüft hatte, mujsste sie ihre Constructio- 
nen auf den Organismus ausdehnen. Dieser Versuch 
der Verallgemeinerung der Schelling'schen Principien 



Oken. 95 

ist von Oken gemacht worden 2^, indem er in seinem 
System die gesammte Natur als einen Process der 
Entwickelung auffasst. Die Naturwissenschaft ist ihm 
die Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes, 
das heisst des Geistes, in die Welt, ist also im um- 
fassendsten Sinne Kosmogenie. Jedes Bing im gene- 
tischen Process des Ganzen gedacht, enthält neben 
dem Begriff des Seins auch den des Nichtseins, oder 
Position und Negation, indem es in einem höhern 
aufgeht. In diesen Gegensätzen ist die Kategorie der 
Polarität enthalten, die sich in der Bewegung, dem 
Leben der Dinge offenbart. Die einfachem elemen- 
tarischen Körper treten zu höhern Gestalten zusammen,, 
welche nur potenzirte Wiederholungen jener, als ihrer 
Ursachen sind. Daher stellen die verschiedenen Gat- 
tungen von Körpern parallele, sich entsprechende und 
in ihrer Gliederung sich bedingende Reihen vor, deren 
vernünftige Anordnung sich mit innerer Nothwendig- 
keit aus ihrem genetischen Zusammenhange ergibt. In 
den Individuen aber kommen jene niedrigem Reihen 
abermals während ihrer Entwickelung zur Erscheinung. 
Die Gegensätze im Sonnensystem, des Planetaren und 
Solaren, wiederholen sich in Pflanze und Thier, und 
da das Licht das Prinzip der Bewegung y so hat da» 
Thier die selbständige Bewegung vor dem vorzugsweise 
der Erde angehörigen Pflanzenorganismus voraus. Der 
Embryologie wird in einem allgemeinen Satze ihr Recht 
gegeben: „Die Thiere vervollkommnen sich nach und 
nach, indem sie Organ .an Organ setzen, ganz so, wie 
sich der einzelne Thierleib vervollkommnet." Im Men- 
schen aber, als dem höchsten Thiere, ist die ganze 
Thierwelt enthalten, er ist der eigentliche Mikro- 
kosmus. 

Wir können heute das abgerundete, in 3562 Sätzen 
niedergelegte System Oken's mit den consequenten 
Phantastereien vom Position, Negation und Polari- 
tät, den absolut inhaltslosen Formeln des -j- — , ohne 
irgendeine wirkliche Durchdringung des Thatsächlichen 



-96 Goethe. 

gewiss keine Naturphilosophie mehr nennen, sofern 
diese der Ausdruck und die logische Verknüpfung aller 
gut beobachteten Thatsachen sein soll. Es sind da- 
durch, aber mannichfache und wichtige Anregungen 
zur Forschung gegeben, und wir haben hier um so 
mehr auf dieses System aufmerksam machen wollen, 
als es mindestens ebenso viel besagt, wie die vagen 
Formeln und Begriffe von „innerer Entwickelung", 
„Vervollkommnungsprincip" , „Umprägung des Niedern 
zum Höhern", und die ganze Litanei der Halbheit 
und Unklarheit, die sich in unsern Tagen breit macht. 
Wir halten in diesem Abschnitt nicht die chrono- 
logische Reihenfolge ein, sondern charakterisiren ver- 
schiedene Auffassungen der organischen Natur, und 
dürfen deshalb nunmehr zurückgreifen zu Goethe, 
welcher nach Haeckel's Auffassung in der grossen, uns 
in dieser Schrift beschäftigenden Frage seiner Zeit vor- 
auseilte und als der selbständige Begründer der De- 
scendenztheorie in Deutschland zu feiern sei. ^® Wir 
vermögen nicht, Goethe diese Bedeutung beizulegen, 
denn eben der Hauptpunkt, worauf Haeckel das grösste 
Oewicht legt, dass Goethe die Arten nicht blos als 
die veränderten Erscheinungen des beweglichen Gat- 
tungsbegriffes, sondern als die in ihrer Realität ver- 
änderlichen Summen von Körpern ansieht, müssen wir 
verneinen. Was uns vornehmlich bewegt, Goethe's 
hier ausführlich zu gedenken, ist seine Durchdringung 
der Typusidee, welche von Buffon an ein paar Men- 
schenalter hindurch der Leitstern einer höhern, den 
reinen Systematiken! fremden Forschung war. Goethe 
verarbeitete dieselbe in sich auf Grund einer aller- 
dings etwas vornehmen Specialkenntniss des organi- 
schen Materials und stand jedenfalls an der Schwelle 
der Lösung. Wie seine naturwissenschaftliche Thätig- 
keit ein nothwendiger Ausfluss seines Wesens war, 
babe ich in den citirten Abhandlungen auseinderge- 
Äetzt. Andere Nachweise haben Helmholtz und Virchow 
gegeben. 



Goethe. 97 

Goethe's Aufzeichnungen über seine Stellung zur 
Natur und seine Forschungen umfassen einen Zeitraum 
von mehr als fünfzig Jahren. Um das Jahr 1780 fällt 
unter der Aufschrift: „Die Natur" eine Art Hymnus 
an dieselbe, der mit den schönen Worten endigt, die 
ihn als reinen Pantheisten erscheinen lassen: „Sie hat 
mich hereingestellt, sie wird mich auch hinausführen. 
Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. 
Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht 
von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles 
hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist 
ihr Verdienst." Und kurze Zeit vor seinem Tode, 
im März 1832, ist er mit ganzer Seele dem wissen- 
schaftlichen Streit über die verschiedenen Methoden 
der Naturforschung und die Grundprincipien der An- 
schauung beschäftigt, welcher im Schose der franzö- 
sischen Akademie zwischen den beiden berühmten 
Vertretern der in das Einzelne gehenden und der aus 
dem Ganzen urtheilenden Richtung : Cuvier und Geoffroy 
St. Hilaire, hell emporschlug. Was Goethe hier am 
Spätabend seines Lebens niedergelegt, ist eine Art 
von wissenschaftlichem Glaubensbekenntniss, und es 
erfüllt mit der grössten Bewunderung, wie der drei- 
undachtzigj ährige Greis mit denjenigen Grundsätzen 
auf der Höhe der Zeit und über den Parteien steht, 
die er in der Blüte des Mannesalters fünfzig und vier- 
zig Jahre früher aus eigenen Kräften sich bildete. 

In den genialen siebziger und achtziger Jahren, wo 
Goethe, im Mittelpunkte des weimarischen Lebens 
stehend, sich oft aus dem Geräusch der Stadt und des 
Hofes in die einsame Natur zurückzog, empfing er die 
Anregungen zur „Metamorphose der Pflanzen". Es 
fesselte ihn die wechselvolle Erscheinung des Pflanzen- 
lebens^ und er musste über die vorausgesetzte, diesem 
Wechsel zu Grunde liegende Einheit und Regel nach- 
sinnen. Das war ihm eine neue Quelle der Unruhe, 
die ihn verfolgte, als er 1737 sich gewaltsam den 
weimarischen Einflüssen entriss und nach Italien floh. 

Schmidt, Bescendenzlehre. 7 



98 Goethe. 

Dort, in Sicilien, fand er die Lösung des Räthsels: 
das Blatt schien ihm das Grundorgan der pflanzlichen 
Bildung zu sein. Und als ihm nach der Rückkehr in 
Christiane Vulpius ein neuer Stern aufgegangen, legte 
er die Quintessenz seiner Ideen über die Metamorphose 
der Pflanzen in jenem vorzüglichen Gedichte nieder, 
dessen Zeilen 

Alle Gestalten sind ähnlich , und keine gleichet der andern , 
Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz, 
Auf ein heiliges Käthsel — 

allen gegenwäi*tig sind, welche sich je mit Goethe^scher 
Muse bekannt gemacht haben. Er sah nun, als er 
mit geistigem Auge, wie er vom Naturforscher ver- 
langt, sehen gelernt hatte, in den verschiedenen Thei- 
len der Pflanze das einigende Princip. „Einerlei 
Organ kann als zusammengesetztes Blatt ausgebildet 
Lnd als Stipula (Nebenblatt) in die grösste Einfalt 
zurückgezogen werden. Ebendasselbe Organ kann sich 
nach verschiedenen Umständen zu einer Tragknospe 
oder zu einem unfruchtbaren Zweige entwickeln. Der 
Kelch, indem er sich übereilt, kann zur Krone werden, 
und die Krone kann sich rückwärts dem Kelche nähern. 
Dadurch werden die mannichfaltigsten Bil- 
dungen der Pflanzen möglich, und derjenige^ 
der bei seinen Beobachtungen diese Gesetze immer 
vor Augen hat, wird davon grosse Erleichterung und 
Vortheil ziehen." In diesen wenigen Zeilen ist der 
Kern der bis in die Zwanzigerjahre unseres Jahrhun- 
derts hinein die Zeitgenossen höchst anregenden Lehre 
von der Metamorphose der Pflanzen. Bei der Viel- 
seitigkeit seiner Beobachtung musste aber der einmal 
gefasste Gedanke sich auch auf die übrige organische 
Welt ausdehnen. Vor Goethe hatte kein Naturforscher 
die Insekten anders betrachtet, als wie eine gegebene 
Summe durch bestimmte Merkmale zu unterscheidender 
Einzelbildungen. Ihr Inneres war allerdings von ein-/ 
zelnen grossen Männern, wie Malpighi, Swammerdam 



Goethe. 99 

und Lyonet aufgeschlossen worden, aber weder an eine 
wahrhaftige Vergleichung der Arten und Gattungen 
hatte man gedacht und noch weniger an eine Erklä- 
rung des Insektenkörpers aus seinen Theilen. Das 
that Goethe und zwar in der geistreichsten Weise, 
indem, wie es vollkommen richtig, in seiner Anschauung 
die Einge, die im Insekt vom Kopf bis zur Leibes- 
spitze sich aneinander reihen, sich ebenfalls wie die 
Pflanzenorgane als blosse Modificationen eines und des- 
selben Grundorgans darstellten. Dort das abstracte 
Blatt, das ürblatt oder die Urpflanze, hier der Bing. 
Dabei sprach er — es war 1796 in den Vorträgen 
über den Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die 
vergleicheilde Anatomie — eine Wahrheit aus, welche 
erst mehr als vierzig Jahre später von einem der aus- 
gezeichnetsten Zoologen, Milne Edwards, wieder er- 
kannt und für die Erkenntniss der Thierwelt verwerthet 
worden ist. Es ist die Idee von der Vervoll- 
kommnung der organischen Wesen durch die 
Verschiedenartigkeit der Ausbildung ihrer im 
Grunde gleichen Theile. Raupe und Schmetterling 
dienen hierfür als Beispiel. „So ein unvollkommenes und 
vergängliches Geschöpf ein Schmetterling in seiner Art, 
verglichen mit den Säugethieren, auch sein mag, so 
zeigt er uns doch durch seine Verwandlung, die er 
vor unsern Augen vornimmt, den Vorzug eines voll- 
kommenem Thieres vor einem unvollkommenem. Die 
Entschiedenheit ist es seiner Theile, die Sicherheit, 
dass keiner für den andern gesetzt noch genommen 
werden kann, jeder vielmehr zu seiner Function be- 
stimmt und bei derselben auf immer festgehalten bleibt." 
Nun trat aber auch bei den vollkommensten Geschöpfen, 
den Wirbelthieren , ein solöhes innerhalb des Indivi- 
duums sich metamorphorisirendes Grundorgan ihm vor 
Augen: der Wirbel. Er verfolgte ihn in seinen Um- 
wandlungen im Verlauf der Wirbelsäule. So unmög- 
lich es sei, aus der Nebeneinanderstellung des ersten 
Halsknochens mit dem letzten Schwanzknochen auf die 

7* 



100 Goethe. 

Identität derselben zu schliessen, so leicht trete die- 
selbe in dem allmählichen Uebergange hervor. Was 
liegt aber vor dem ersten Halswirbel? Ist der Schä- 
del etwas absolut anderes, ein Neues, mit der Wirbel- 
säule nicht Identisches? Das war wieder ein so be- 
unruhigender Gedanke, der Goethe auf Schritt und 
Tritt verfolgte. Er sann und verglich, es konnte nicht 
anders sein, der Schädel musste zur Wirbelsäule ge- 
hören, nichts als ein Theil der Wirbelsäule sein. Er 
war durch das Schwanken im Wahren, wie er sich 
später einmal bei einer andern Gelegenheit ausdrückt, 
als „redlicher Beschauer in eine Art von Wahnsinn 
versetzt". Da, als er 1790 auf dem Jud«nkirchhof in 
Venedig einen gebleichten Schafschädel aufhob, „offen- 
barte sich ihm der Ursprung des Schädels aus Wirbel- 
knochen". Die speciellere Geschichte der vergleichen- 
den Anatomie hat nachgewiesen, wie ungemein fruchtbar 
diese vermeintliche Entdeckung gewesen, obschon die 
Sache viel complicirter ist, als Goethe und seine Nach- 
folger sie sich dachten. 

Noch einer wahrhaftigen Entdeckung Goethe's müs- 
sen wir gedenken, welche seine eigenste Weise offen- 
bart. Es gilt den Zwischenkiefer des Menschen. Goethe 
arbeitete im Anfang der Achtzigerjahre in Jena unter 
Loder's, eines namhaften Anatomen, Anleitung über 
Knochenlehre. Dass alle höhern Thiere einen die obern 
Schneidezähne haltenden Knochen als den sogenalinten 
Zwischenkiefer besitzen, ist überaus deutlich. „Hier 
trat nun der seltsame Fall ein", erzählt Goethe, „dass 
man den Unterschied zwischen Affen und Menschen 
darin finden wollte, dass man jenem ein os inter- 
maxillare (Zwischenkiefer), diesem aber keins zuschrieb ; 
da nun aber genannter * Theil darum hauptsächlich 
merkwürdig ist, weil die obern Schneidezähne darin 
gefasst sind , so war nicht begreiflich , wie der Mensch 
Schneidezähne haben und doch des Knochens ermangeln 
sollte, worin sie eingefügt stehen." Es war ihm darum 
nicht begreiflich, weil sich ihm aus der Vergleichung 



Goethe. 101 

in der Natur die Idee gebildet hatte, „dass alle Ab- 
theilungen des Geschöpfes, im einzelnen wie im ganzen, 
bei allen Thieren aufzufinden sein möchten^^ Den 
Menschen als eine Ausnahme nicht nach diesem Schema 
zu bemessen , wollte ihm nicht in den Sinn , der Mensch 
musste einen Zwischenkiefer haben, und entgegen den 
Ansichten der grössten Anatomen der damaligen Zeit, 
wie Peter Camper, wies Goethe nach, wie dieser Zwi- 
schenkiefer beim Menschen zwar später fast spurlos 
mit dem eigentlichen Oberkiefer verwächst, während 
der Entwickelung und in den ersten Lebensjahren 
aber vollkommen deutlich als eigener Theil vorhan- 
den ist. 

Wir haben aus der bisherigen Darstellung schon 
mancherlei gewonnen. Goethe fand an der Betrach- 
tung des Einzelnen und den Einzelnheiten gar kein 
Gefallen. Die Natur und die Naturobjecte als Gewor- 
denes, Fertiges machten auf ihn nur den !E^indruck, 
also gleich das Werden und damit den Grund zu un- 
tersuchen. Die Dinge nach den Endursachen, nach 
einem vorausgesetzten, von der Vorsehung voraus- 
bestimmten Zwecke zu beurtheilen, erschien ihm als 
„ein trauriger Behelf^ der völlig beseitigt werden 
müsse. So gibt er der „genetischen Denkweise" die 
volle Ehre, deren sich der Deutsche nun einmal nicht 
entschlagen könne. Er schuf für diese von ihm be- 
folgte Naturbetrachtung, wonach alles Lebendige im 
innern Zusammenhange, die äussere Gestalt als Andeu- 
tung des Innern aufzufassen sei, den Namen der Mor- 
phologie, der Gestaltungslehre. Er erforschte, „wie 
die Natur im Schaffen lebt", und aus dem Erstaunen über 
das ewige Gestalten und Umgestalten, auQ der Ver- 
wirrung, in welche ihn die Mannichfaltigkeit der Ge- 
staltungen versetzte, haben wir ihn herauskommen 
sehen durch das Suchen und Finden von Urgestalten. 
Schon vor der Verwirklichung der Metamorphose der 
Pflanzen, als er von Knochen und ganzen Skeleten in 
seinem wissenschaftlichen Beinhause in Jena umgeben 



102 Goethe. 

war, erscliiem ihm als ein Leitstern die Aufstellung 
eines anatomischen Typus, eines allgemeinen Bildes, 
„worin die Gestalten sämmtlicher (Wirbel-) Thiere , der 
Möglichkeit nach, enthalten wären, und wonach man 
jedes Thier nach einer gewissen Ordnung beschreibe". 
„Die Erfahrung muss uns vorerst die Theile lehren, 
die allen Thieren gemein sind und worin diese Theile 
verschieden sind. Die Idee muss über dem Ganzen 
walten und auf eine genetische Weise das allgemeine 
Bild abziehen." Man soll also, von dem Einzelnen 
abstrahirend , sich in Besitz eines gewissen Urbildes 
setzen. Da weder der Mensch zum Masstab für die 
Thiere genommen werden könne, noch umgekehrt die 
unendliche Complication des Menschen völlig durch 
die thierische Organisation erklärt würde, so müsse 
ein über beiden Schwebendes zu Hülfe kommen. An 
dieses an sich undarstellbare Urbild, dieses Abstractum, 
und nur an dieses hat sich nach Goethe die Natur 
in ihrem Schaffen zu halten, „ohne dass sie im min- 
desten fähig wäre, den Kreis zu durchbrechen oder 
ihn zu überspringen". 

Wenn man Goethe zu einem offenen Verkündiger 
oder auch nur zu einem gewissermassen poetisch in- 
spiririrten Propheten der Descendenzlehre machen will, 
so legt man auf seine Aeusserungen über „unaufhalt- 
sam fortschreitende Umbildung" und ähnliche zu viel 
Werth, oder geht nicht in den Sinn ein, den er damit 
verbindet. Nehmen wir einmal die folgende Stelle, 
die unserm Freunde Haeckel als eine entscheidende 
gilt: „Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut be- 
haupten zu dürfen, dass alle vollkommneren organi- 
schen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, 
Säugethiere und an der Spitze der letztern den Men- 
schen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, 
das nur in seinen sehr beständigen Theilen mehr oder 
weniger hin und her weicht und sich 'noch täglich 
durch Fortpflanzung aus- und umbildet." Ist hier 



Goethe. 103 

etwa gemeint, dass die beständigen den unbeständigen 
Theilen gegenüberzustellen seien? Durchaus nicht. 

Goethe hat schon vor Geoffroy St. Hilaire von einem 
Gesetz gesprochen, was aber kein Gesetz ist und auch 
nicht ein Ausdruck von Thatsachen, dass die Natur 
in ihren Bildungen njit einem gewissen Budget schalte, 
mit dessen Posten sie ausgleichend verfahre. Er scheint 
nicht gewusst zu haben, dass Aristoteles genau dasselbe 
behauptet hat, dass die Natur nämlich, wenn sie ein 
Organ vergrössere, es nur auf Kosten eines andern 
thäte. Auch ein zweites der vermeintlichen, von dem 
Franzosen entdeckten Grundgesetze, dass ein Organ 
eher zu Grunde ginge, als es seinen Platz aufgebe, 
hat Goethe damals aufgestellt. Die Natur wirthschaf- 
tet also nach Goethe immer mit denselben Theilen. 
Die Natur ist ihm unerschöpflich in der Modificirung 
und Kealisirung des Urbildes, dem aber, „was ein- 
mal zur Wirklichkeit gekommen", klebt das zähe Be- 
harrlichkeitsvermögen an, eine vis centripeta, welcher 
in ihrem tiefsten Grunde keine Aeusserlichkeit etwas 
anhaben kann. Wenn er also von der täglichen Aus- 
und Umbildung durch die Fortpflanzung redet, so 
versteht er in Betreff der schon zur Wirklichkeit ge- 
kommenen Geschöpfe nur jenen Verlauf der Entwicke- 
lung und Metamorphose, welche ein Bild der uner- 
schöpflich erscheinenden Natur ist. Die Einflüsse, 
welche die Natur auf die Theile ausgeübt hat, stellt 
er sich noch gegenwärtig vor, aber von einem eigent- 
lichen Umwandeln bestehender Arten in neue, wie es 
die heutige darwinistische Descendenzlehre verlangt, 
ist bei Goethe ganz und gar keine Bede. 

Was sollte denn auch nach Goethe's Anschauung 
umgewandelt werden? Das Urbild doch wol nicht. 
Er sagt freilich: „So bildete sich der Adler durch die 
Luft zur Luft, durch die Berghöhe zur Berghöhe. Der 
Maulwurf bildet sich zum lockern Erdboden , die Phoke 
zum Wasser , die Fledermaus zur Luft", und im allge- 
meinen: „Das Thier wird durch Umstände zu Umständen 



104 Goethe. 

gebildet." Aber die Erläuterungen, welche er in dem 
Entwürfe vom Jahre 1796 hierzu gibt, zeigen ganz 
evident, dass an ein Umbilden vorhandener Arten nicht 
gedacht wird, sondern an blosse Erscheinungs- 
weisen des Typus und Urbildes, wie sie in 
den gegebenen Arten vorliegen. Da heisst es: 
„Die Schlange steht in der Organisation weit oben. 
Sie hat ein entschiedenes Haupt mit einem vollkomme- 
nen Hülfsorgane, einer vom verbundenen untern Kinn- 
lade. Allein ihr Körper ist gleichsam unendlich, und 
er kann es deswegen sein , weil er weder Materie noch 
Kraft auf Hülfsorgane zu verwenden hat. Sobald nun 
diese in einer andern Bildung hervortreten, wie z. B. 
bei der Eidechse nur kurze Arme und Füsse hervor- 
gebracht werden, so muss die unbedingte Länge so- 
gleich sich zusammenziehen und ein kürzerer Körper 
stattfinden. Die langen Beine des Frosches nöthigen 
den Körper dieser Creatur in eine sehr kurze Form,, 
und die ungestaltete Kröte ist nach diesem Gesetze 
in die Breite gezogen." Es ist gut, sich diese etwa» 
triviale Stelle gegenwärtig zu halten, um in die poe- 
tische Verherrlichung der Metamorphose der Thiere 
nicht mehr zu legen, als wirklich darin enthalten ist. 
Wenn Goethe in diesem prächtigen Gedicht sagt: 

Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres, 
Und die Weise des Lebens, sie wirkt auf alle Gestalten 
Mächtig zurück — 

so klingt das allerdings, wir geberi es zu, höchst ver- 
führerisch. Man wird aber ernüchtert oder vielmehr 
auf den richtigen Standpunkt geleitet, wenn man die 
höchst anziehenden Bemerkungen Goethe's über d'Alton's 
Skelete der Nagethiere (1824) liest. Da zeigt es sich,, 
dass Goethe auch nicht im entferntesten an eine that- 
sächliche Umwandlung eines Nagethieres in ein andere» 
durch die Nöthigung der äussern Einflüsse denkt. Der 
Leser mag selbst urtheilen. „Suchen wir das Geschöpf 
in der Region des Wassers, so zeigt es sich schwein- 



Goethe. 105 

artig im Ufersumpfe (das sogenannte Wasserschwein), 
als Biber sich an frischen Gewässern anbauend; als- 
dann immer noch einiger Feuchtigkeit bedürfend, gräbt 
sichs in die Erde und liebt wenigstens das Verborgene, 
furchtsam-neckisch vor der Gegenwart des Menschen 
und anderer Geschöpfe sich versteckend. Gelangt end- 
lich das Geschöpf auf die Oberfläche, so ist es hüpf- 
und springlustig, sodass es aufgerichtet sein Wesen 
treibt und sogar zweifüssig mit wunderbarer Schnelle 
sich hin- und herbewegt. Ins völlig Trockene gebracht, 
finden wir zuletzt den Einfluss der Lufthöhe und des: 
alles belebenden Lichtes ganz entscheidend. Die leich- 
teste Beweglichkeit wird ihnen zutheil, sie handeln 
und wirken auf das behendeste, bis sogar ein vogel- 
artiger Schwung in einen scheinbaren Flug übergeht. **^ 
So belegt Goethe den Einfluss der Umgebungen und 
äussern Verhältnisse auf die Gestaltveränderungen; 
man sucht ganz vergeblich nach den realen Gestalten, 
welche verändert werden. Nicht der Biber wird zum 
mauseartigen Erdgräber; nicht die Maus zur Spring- 
maus; nicht die Springmaus zum Eichhörnchen, diese» 
nicht zum Flughömchen , sondern „ die unaufhaltsam 
fortschreitende Umbildung" stellt sich nur dem gei- 
stigen Auge dar. In der Wirklichkeit findet auch 
Goethe nur Angepasstes. So sehr er geneigt ist, Mo- 
dificationen auf Rechnung der äussern Verhältnisse zu 
stellen, ebenso entschieden spricht er auf der andern 
Seite: „Die Theile des Thieres, ihre Gestalt unterein- 
ander, ihre Verhältnisse, ihre besondern Eigenschaften, 
bestimmen die Lebensbedürfnisse des Geschöpfes", und 
wenn wir innerhalb des eingeschränkten Bildungskrei- 
ses dennoch die Veränderungen der Gestalt ins Un- 
endliche möglich werden sehen (Entwurf 1796), so 
abstrahiren wir dies mit den einzelnen durch die ewig 
eine und schöpferische Natur zur Erscheinung gebrach- 
ten Arten als den Variationen des Urbildes. 

Mit dem Worte Art sind wir bei dem wichtigsten 
Punkt unserer Darstellung der Goethe'schen Natur- 



106 Goethe. 

anschauung angelangt ^ wenn nicht etwa schon aus dem 
Bisherigen sich zweifellos ergeben haben sollte, dass 
Goethe durchaus nicht als ein wahrer Vorgänger Dar- 
win^s angesehen werden könne. Darwin und seine 
Anhänger behaupten die Veränderlichkeit der sogenann- 
ten Pflanzen- und Thierarten. Die Frage ist einfach, 
ob Goethe auch schon, gleich seinem Zeitgenossen La- 
mark, von dieser Veränderlichkeit überzeugt war. 
Wenn er einmal sagt, dass „aus dem Samen immer 
abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zueinander 
verändert bestimmende Pflanzen sich entwickelnd^ so 

' ist das an und für sich zweideutig; es kann auf die 
Entstehung neuer Arten und auch auf die Variabilität 
der ihrem Wesen nach unveränderlichen Art bezogen 

• werden. Ein andermal spricht er von der „Natur- 
bestimmung' ^ des Pferdes. Ich kann nur eine einzige 
Stelle in Goethe's Schriften finden, wo von einer wirk- 
lichen Umwandlung eines Geschöpfes, wenn nicht zu 
einer neuen Art, so doch zu einer sehr ausgeprägten 
Constanten Varietät die Rede ist. Ein Dr. Körte lie- 
ferte 1820 die Beschreibung eines im Halberstädtischen 
gefundenen Urstieres und stellte Vergleichungen und 
Betrachtungen an, wie nach und nach unter dem £in- 
fluss der Zähmung unser vielfach abweichendes Haus- 
rind aus jenem hervorgegangen sei. Dieser Fund und 
ein anderer in Thüringen (1821), welches letztere 
Exemplar von Goethe für das Jenaische Museum ge- 
wonnen worden, gaben ihm Veranlassung, Körte bei- 
zustimmen und die Möglichkeit dieser immerhin leich- 
ten Umwandlung mit einem wirklichen Vorkommniss 
zn illustriren. 

Von hier bis zur Anerkennung der Umbildung der 
Art ist aber immer noch ein weiter Weg, und Goethe 
hat ihn nicht zurückgelegt. Wir haben eben gesehen, 
dass der Gedanke , einzelne gegenwärtig lebende Thiere 
von untergegangenen „Stammrassen" abzuleiten, ihm 
nicht fremd war. Auch würde die Bemerkung, welche 
er macht — „haben wir doch von organischen Ge- 



Goethe. 107 

schöpfen, die sich in lebendiger Fortpflanzung nicht 
verewigen konnten, die entschiedensten Reste" — diese 
Bemerkung würde nicht ausschliessen, dass er im all- 
gemeinen den unmittelbaren , auf directer Fortpflanzung 
beruhenden Zusammenhang der heutigen Thierwelt mit 
ganz anders gestalteten fossilen Geschlechtern ange- 
nommen häjbte. Denn es ist ja ganz richtig, dass viele 
Arten, Gattungen und Gruppen nicht nur die Blüte- 
zeit, sondern auch ihren Verfall und gänzlichen Un- 
tergang vor der gegenwärtigen Periode bestanden. 
Noch mehr. In aphoristischen Aufzeichnungen, die er 
Probleme nennt, geschrieben vor dem Jahre 1823, 
spricht er von „charakterlosen Geschlechtern, denen 
man vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie 
sich in grenzenlose Varietäten verlieren", und stellt 
sie den Geschlechtern gegenüber, „welche einen Cha- 
rakter haben, den sie in allen ihren Species wieder 
darstellen, sodass man ihnen auf einem rationellen 
Wege beikommen kann". Goethe hält sich an dieses 
Factum, um seine von uns schon oben gewürdigte Idee 
der Metamorphose zu erläutern, und wir haben nicht 
das Recht, die charakterlosen oder „liederlichen" Ge- 
schlechter im Sinne unseres Darwinismus zu erklären, 
dass sie solche seien, deren Formen sich nicht be- 
festigt hätten, während die charaktervollen deshalb in 
wohl unterscheidbare Arten zerfallen, weil eine Menge 
von Zwischenformen im Verlaufe der Zeit im Kampfe 
um das Dasein unterlegen sind. Goethe gab diese 
Probleme seinem kunstsinnigen jungen Freunde Ernst 
Meyer, um sie zu verarbeiten und seine Betrachtungen 
dem Altmeister mitzutheilen. Meyer sagt nun: „Je 
leichter jene (die charaktervollen Gattungen) sich fügen, 
desto schwerer ist mit diesen (den charakterlosen) fer- 
tig zu werden. Wer sie aber mit Ernst und mit an- 
haltendem Eifer beobachtet und des angeborenen, durch 
Hebung ausgebildeten Taktes nicht ganz ermangelt, 
der wird sicherlich, weit entfernt an ihnen sich zu 
verwirren, die wahrhaften Arten und deren 



108 Goethe. 

Charakter aus aller Mannichfaltigkeit der 
Formen gar bald herausfinden. Sollte wirklich 
in irgendeiner formenreichen Gattung durchaus keine 
Grenze, welche die Natur selbst achtet, zu. finden sein, 
was hindert uns dann, sie als eine einzige Art, alle 
ihre Formen als ebenso viele Abarten zu behandeln? 
So lange der Beweis fehlt, der schwerlich je zu füh- 
ren, dass überhaupt in der Natur keine Art bestehe, 
sondern dass. jede, auch die entfernteste Form durch 
Mittelglieder aus der andern hervorgehen könne: so 
lange muss man uns jenes Verfahren schon 
gelten lassen. — Mag nun der Meister den Schüler 
belehren oder nach alter Sitte ihn vertreten." Und 
er vertritt ihn, da er das, was der Schaler über die 
Probleme vermeldet, „als ein Zeugniss reiner Sinn- 
und Geistesgemeinschaft" in seine morphologischen 
Schriften aufnimmt. 

Es kann keine Frage sein, dass Goethe tiefere Ge- 
danken über die organische Natur hegte, als seine 
Zeitgenossen. Vergessen wir aber doch auch nicht, dass 
die Hauptidee von dem sich umwandelnden Urbilde 
schon vor Goethe und mit Goethe die hervorragenden 
Geister beherrschte, wie das in meiner kleinen, den 
Fachgenossen bekannten Schrift: „Die Entwickelung 
der vergleichenden Anatomie" (1855) zu finden ist. 
Wenn Peter Camper in seinen populären Vorträgen 
seine Zuhörer damit amüsirte, dass er auf der Tafel 
aus einem Pferde eine schöne Frauengestalt hervorgehen 
Hess, wenn er sagt, dass er so in die Studien über 
Wale vertieft sei und in die Vergleichung derselben 
mit der menschlichen Bildung, dass ihm alle Mädchen, 
hübsche wie hässliche, nur als Delphine und Cachelots 
erschienen, so geschah dies, weil er von einem Ur- 
bilde, einer Grundgestalt ausging. Goethe war nur 
consequenter und verlangte trotz der „peinlichen Ueber- 
legungen", wie am Affen so auch am Menschen den 
Zwischenkiefer. Goethe sagt 1807: „Wenn man Pflan- 
zen und Thiere in ihrem unvollkommensten Zustande 



Goethe. 109 

betrachtet, so sind sie kaum zu unterscheiden. So viel 
aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu 
sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Thiere 
nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei 
entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, sodass 
die Pflanze sich zuletzt im Baume dauernd und starr, 
das Thier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit 
und Freiheit sich verherrlicht. Aber das ist ja nichts 
anderes, als eine nach Goethe *s „Art zu forschen, zu 
wissen und zu gemessen" symbolisch verbrämte Wie- 
derholung eines schon fast fünfzig Jahre früher von 
Buffon aufgestellten und vielfach variirten Satzes. 

Nicht erst Goethe in seinem Entwurf von 1796 dringt 
auf die höchst fruchtbare Vergleichung identischer 
Organe eines und desselben Körpers, das thut schon 
der geistreiche Vicq-d'Azyr 1786. Mit einem Worte, 
die Idee des Typus, Urbildes, Grundplanes {dessein 
primitif) war eine Errungenschaft des Goethe'schen 
Zeitalters, die nur in Goethe einen prägnantem und 
vielseitigem Ausdruck fand und uns deshalb bestechen- 
der erscheint, weil er damit den Begriff der Bewe- 
gung und Beweglichkeit verband, dies aber, in seinem 
ausgesprochenen Bedürfniss nach Symbolen, im figür- 
lichen Sinne. 

Wenn Goethe „Gesetze" gefunden zu haben meint, 
80 ist er in derselben Täuschung befangen, in welcher 
sich die Naturforscher vom vorigen Jahrhundert an 
bis in die neuesten Zeiten gewiegt haben, indem sie 
eine blosse Constatirung von Thatsachen für die Er- 
klärung der Thatsachen, die Zurückführung derselben 
auf ihren Grund hinnehmen. Goethe weiss von einer 
„Spiraltendenz" und einer „Verticaltendenz" der Pflanze, 
und gleich werden sie ihm zu „Grundgesetzen des 
Lebens". Nun sehen wir allerdings das verticale Stre- 
ben ab- und aufwärts in Wurzel und Stamm, — wir 
sehen Windungen und Blattspiralen, wir haben diese 
Thatsachen auch schon in einfachere physikalische und 
physiologische Phänomene zerlegen können, ohne dass 



110 Richard Owen. 

wir auf den innersten Grund, das wahre Gesetz ge- 
kommen wären. 

Goethe's Ansicht über die Stellung des Menschen 
in der Natur ist im Obigen schon mit enthalten. Dass 
er, ein Geschöpf und Product der Natur, eine Aus- 
nahme von dem ihm offenbar so ähnlichen Thiere 
machen solle, konnte Goethe nicht zugeben. Er bleibt 
ihm also unbedingt innerhalb des Typus , „dessen Theile 
durch alle Thiergeschlechter und Arten immerfort ver- 
ändert werden". Nun haben wir aber, glaube ich, 
genügend bewiesen, dass der eben angeführte und 
ähnliche Aussprüche nur von der in den Geschlechtern 
und Arten zum Ausdruck gekommenen potenziellen 
Veränderlicheit des Urbildes zu gelten haben. Also 
ist ihm auch der Mensch ein in der Idee des Typus 
und nicht durch die factische Fortpflanzung und Ab- 
stammung . mit dem Thier verwandtes Product. Dies 
ist der von ihm gesuchte Aufschluss über die „schönste 
Organisation". Goethe war hiermit beruhigt. ^® 

Von Goethe zu unserm Zeitgenossen Richard Owen 
ist scheinbar ein weiter Sprung. Allein wenn es uns 
daran lag, in Goethe eine Stufe der Naturanschauung 
vorzuführen , welche mit einer zwar blendenden, schliess- 
lich aber doch nur unklaren Formel sich über den 
Zusammenhang des Lebendigen beruhigt, so wird uns 
der berühmte englische vergleichende Anatom zeigen, 
wi,e man zwar den letzten Schritt thun und sich über- 
zeugen kann, dass die Aehnlichkeit der Arten einzig 
und allein durch die Blutsverwandtschaft ihre Lösung 
findet, und wie man dennoch durch Festhalten am 
Wunder und Dualismus die Frucht der eben erkann- 
ten Wahrheit sich aus den Händen gleiten lässt. ^* 
Unter der persönlichen Anregung Cuvier's, dessen Schü- 
ler R. Owen im Jahre 1830 war, suchte er sich Klar- 
heit zu verschaffen über den Grund der Homologien. 
Hatte Cuvier die Uebereinstimmung der Organe aus 
dem Zweckbegriff abgeleitet, indem er sagte, Organe 
seien gleich, weil und wenn sie gleiche Functionen zu 



Owen's prädestinirte Abstammung. Hl 

erfüllen hätten, so griff Owen in Goethe's Weise nach 
einem Urtypus (archetype), um die Einheit in der 
Mannichfaltigkeit und Verschiedenheit der Ausbildung^ 
zu erklären. Die sich im Organismus wiederholenden 
Reihen, wie die Wirbel, die Aufeinanderfolge der Or- 
ganismen schienen ihm nicht verständlich durch wun- 
derbare Schöpfungen, sondern durch natürliche Gesetze 
und wirkende Ursachen, welche die Species in ordent- 
licher Reihenfolge und allmählicher Vervollkommnung^ 
hervorbringen; diese Gesetze und Ursachen sind aber 
nur Ausführungen eines vorausbestimmenden vernünf- 
tigen höchsten Willens. ^^ Als einem ausgezeichneten 
Kenner der fossilen Thierwelt konnte dem englischen 
Forscher nicht verborgen bleiben, dass, je weiter die 
geologischen Perioden entlegen , um so allgemeiner und 
weniger specialisirt die Organisation der Arten sei^ 
Er konnte dies besonders an der Bezahnung der 
Säugethiere, auch speciell an dem Verhältniss derjeni- 
gen Hausthiere durchführen, welche mit den altern 
Tertiärzeiten beginnen und nach und nach den Cha- 
rakter des Einhufers annehmen. Er beantwortet also- 
die Frage, ob die Species durch Wunder oder Gesetz, 
entstehen, damit, dass er das letztere in ununterbro- 
chener Wirkung annehme. Dieses „Gesetz" ist aber 
etwas ganz anderes, als was die Wissenschaft mit mit 
diesem Namen zu bezeichnen pflegt. Warum ist da» 
Pferd geworden? Weil es für den Menschen durch 
die Gottheit vorausbestimmt und vorbereitet war. ^^ 
Dies soll durch das Ableitungsgesetz (derivative lawy 
geschehen. Das ist aber wieder einmal ein inhalts- 
loses Wort, eine Phrase, welche besagt, das Pferd 
ißt nach und nach zum Pferde geworden, weil es nicht 
anders hat sein sollen. Die Vorgänger des Pferdes 
ändern sich für Zwecke des noch nicht existirenden, 
aber von dem intelligenten Willen schon in Aussicht 
genommenen Menschen. Jene Vorfahren des Pferde» 
könnten wir also mit den Naturspielen vergleichen;^ 
die Umwandlung geschieht nicht, weil sie aus innern 



112 Lamark. 

Ortinden geschehen muss, sondern weil es dem intelli- 
genten Willen beliebt. Derartige „Naturgesetze" müs- 
sen wir «ns verbitten. Owen sagt: „Ich nehme an, 
dass eine angeborene, angemessene Zeitperioden hin- 
durch wirkende Neigung zur Abweichung vom älterlichen 
Typus die wahrscheinlichste Art und Weise der Arbeit 
des natürlichen Gesetzes gewesen, wodurch die Arten 
sich auseinander entwickelt haben." '* Er sieht vom 
Ichthyosaurus bis zum Menschen den Zusammenhang 
der Abstammung, er verwirft den Einfluss der Um- 
gebung als entscheidend, er verwirft zehnmal alles 
Wunder, klammert sich aber im nächsten Augenblick 
an das Wunder, nämlich das der angeborenen Neigung 
zu einer nicht durch die Umstände gebotenen und von 
ihnen abhängigen, sondern einem gewissen Künftigen, 
einem Zwecke dienenden Entwickelung. 

So handeln die Halben, welche, die Consequenzen 
scheuend, durch ein Wort sich mit dem wissenschaft- 
lichen Gewissen abfinden. 

Wir sind aber nun zu einem ganzen Manne ge- 
kommen, dessen Hauptwerk, Philosophie zoologique^^, 
«in halbes Jahrhundert übersehen und fast vergessen 
war, bis es durch Darwin, vorzüglich aber durch 
Haeckel, und in Frankreich in neuester Zeit durch 
Ch. Martins wieder zu verdienten Ehren gebracht 
wurde. Das ist J. B. Lamark, der die Abstammungs- 
lehre zuerst formulirte und 1804 eigentlich schon alle 
jene Sätze aufwarf, welche Darwin neu und besser 
begründete. Lamark sprach es aus, dass nur die un- 
serm Fassungsvermögen gezogenen Grenzen die Auf- 
stellung von Systemen verlangen, während alle syste- 
matischen Definitionen und Abstufungen künstlicher 
Natur seien. Man könne überzeugt sein, dass die 
Natur weder Klassen noch Ordnungen, Familien, Gat- 
tungen oder unveränderliche Arten hervorgebracht 
habe, sondern nur Individuen, welche aufeinander 
folgen und denjenigen gleichen, von welchen sie ab- 
stammen. Diese Individuen gehören aber unendlich 



Lamark. 113 

auseinandergehenden Rassen an, welche nur so lange 
sich erhalten , als keine Ursache zur Veränderung auf 
sie einwirkt. Ausgehend von den Species constatirt 
er, was wir gethan, ihre Unbeständigkeit. Aus der 
Vergleichung der Thatsachen der Bastardirung und 
Yarietätenbildung ergab sich ihm, „dass alle organi- 
sirten Körper wahre Hervorbringungen der Natur sind, 
nach und nach in einer langen Zeitfolge zu Stande 
gekommen; dass die Natur in ihrem Fortgange an- 
gefangen hat und noch immer wieder anfängt mit der 
Bildung der einfachsten organischen Körper, und dass 
sie direct eben nur diese bildet, nämlich jene nie- 
drigsten Lebewesen, welche man mit dem Namen der 
freiwilligen Zeugungen bezeichnet hat". 

Ab- und Umänderungen treten nach Lamark ein 
durch äussere Einflüsse; sie werden im Verlaufe der 
Zeiten zu wesentlichen Verschiedenheiten, sodass nach 
vielen aufeinander folgenden Generationen die Indivi- 
duen, welche ursprünglich einer andern Species an- 
gehörten, sich schliesslich in eine neue umgewandelt 
finden. Unsere eigene beschränkte Lebenszeit habe 
uns an ein so kurzes Zeitmass gewöhnt, dass daraus 
die vulgäre falsche Annahme der Stetigkeit und Un- 
veränderlichkeit hervorgegangen sei. Die Umwandlung 
vollzieht sich in der Nöthigung der Individuen, den 
veränderten Lebensverhältnissen sich zu accommodiren. 
Neue Umstände rufen neue Bedürfnisse wach und neue 
Thätigkeiten , diese aber neue Gewohnheiten und Nei- 
gungen. Ein grosses Gewicht ist auf den Gebrauch 
oder Nichtgebrauch der Organe zu legen. „In jedem 
THere, welches noch in der Entwickelung begriffen 
ist, kräftigt der häufigere und nachhaltigere Gebrauch 
«ines Organs nach und nach dasselbe, entwickelt, ver- 
grössert es und gibt ihm eine im Verhältniss zur Dauer 
dieses Gebrauches stehende Kraft; während der nach- 
haltige Nichtgebrauch eines Organs dasselbe unmerklich 
schwächt, verschlechtert, in zunehmendem Masse seine 
Leistungfähigkeit vermindert und es schliesslich ver- 

ScHMiDT, BescendeDzlehre. 3 



114 Lamark. 

kommen läset." „Und so zeigt uns", sagt er, „die 
Natur die lebenden Wesen nur als Individuen, welche 
sich in Generationen aufeinander folgen; aber die Ar- 
ten haben nur eine relative Beständigkeit und sind 
nur zeitlich unveränderlich." 

Lamark berührt den Kampf aller gegen alle (1, 99 u. a.), 
findet aber nicht das Wort der natürlichen Züchtung. 
Er ist sich der beiden Factoren der Vererbung und 
Anpassung vollkommen bewusst, es fehlt aber seinen 
Anschauungen und Ueberzeugungen der Nachdruck der 
detaillirten Beweise. Wie fein er aber das Leben auf- 
gefasst, möge aus seiner Erklärung der Instincte her- 
vorgehen. Alle Acte des Instinctes werden nach ihm 
vollzogen unter Anregung, welche erworbene Neigun- 
gen (penchans acquis) auf das Nervensystem ausüben; 
und indem diese Acte kein Product einer Ueberlegung, 
Wahl oder eines Urtheiles sind, befriedigen sie immer 
sicher und fehlerlos die gefühlten Bedürfnisse und die 
aus der Angewöhnung hervorgegangenen Neigungen. 
Wenn aber diese Neigungen zur Erhaltung der Ge- 
wohnheiten und zur Erneuerung der darauf bezüg- 
lichen Handlungen einmal erworben sind, so vererben 
sie sich alsdann in den Individuen mittels der Fort- 
pflanzung, welche den Bau und die Disposition der 
Theile in dem erlangten Zustande erhält, sodass die- 
selbe Neigung schon in den jungen Individuen sich 
vorfindet, ehe sie dieselbe ausüben. Allerdings reicht, 
wie Darwin gezeigt, diese Erklärung nicht für alle 
Thatsachen des Instincts aus, steht aber doch hoch 
über der heutigen „Philosophie des Unbewussten", 
welche den die Instincte ausführenden Organismus durch 
ein ausserhalb desselben befindliches metaphysisches 
Wesen zweckmässig regiert werden lässt. '' 



Neue Periode der Wissenschaft. 115 



VII. 

Lyell und die nenere Geologie. Darwin's Selections- 
flieorie. Anfang des Lebens. 

Solange die Menschheit auf dem geistigen Gebiete 
mit Bewusstsein arbeitet, hat es hervorragende Männer 
gegeben, welche, schneller combinirend als ihre Zeit- 
genossen, diesen im Begreifen grosser Wahrheiten, im 
Erkennen wichtiger Gesetze vorauseilten. Man ist 
aber leicht versucht, ein solches Vorgreifen einzelner 
zu hoch anzuschlagen, und wird in allen Fällen, wo 
es sich um dergleichen geistige Grossthaten handelt, her- 
ausfinden, dass sie, sozusagen, in der Luft schwebten 
und dass nur die grössere Spürkraft und eine soge- 
nannte , auf unbewussten Schlüssen beruhende Intuition 
den Bevorzugten über die minder scharfsichtige Um- 
gebung erhebt. 

Grosse wissenschaftliche Wendepunkte , Revolutionen 
auf geistigem Gebiete bereiten sich langsam vor; selten 
wird das Losungswort frühreif und den Zeitgenossen 
unverständlich ausgesprochen; in der Regel, wenn der 
Umschwung überhaupt nicht ein allmählicher, fast un- 
vermerkter gewesen, sondern wenn durch einen jener 
erlesenen Geister der Vorhang plötzlich weggezogen 
wird, fällt es Mitarbeitern und Zuschauern wie Schup- 
pen von den Augen , und es liegt in der Schnelligkeit, 
mit welcher die neue Anschauung sich Bahn bricht, 
der beste Beweis, dass sie zur rechten Zeit Gestalt 
annahm und verkündet ward. 

Dass auch die Descendenzlehre nicht als eine ganz 
überraschende Erscheinung, wenn auch als eine ge- 
wappnete Minerva, aus dem Haupte ihres grössten 
Vertreters, Darwin, hervorsprang, dafür haben wir 
wenigstens einige der zahlreichen Belege angeführt. 
Bass ihre Zeit wirklich gekommen war, ja dass es die 
höchste Zeit war, sollte die Lehre von den Lebewesen, 

8* 



116 Lyell und die 

die allgemeine Biologie, nicht in ganz unwürdiger 
Weise zurückbleiben, erhellt aus der Ent^ickelung der 
Geologie, welche dreissig Jahre vor Darwin nach 
mancherlei guten Anzeichen den richtigen ^Weg der 
Erkenntnis» der Ursachen einschlug. Die Lehre von 
der Bildung und Entwickelung der Erde, namentlich 
in ihren Jüngern Phasen, während welcher es auf un- 
serm Planeten in dem Sinne lebendig wurde und blieb, 
den wir gewöhnlich mit dem Worte verbinden, diese 
Wissenschaft der Geologie hängt innig mit unserm 
grossen Thema zusammen. Die neuere Geologie , wie 
sie sich besonders an den Namen von Charles Lyell 
knüpft, musste über kurz oder lang auch zu ähnlicher 
Behandlung der Pflanzen- und Thierkunde zwingen, 
und man kann sich nur darüber wundem, dass der 
Durchbruch so lange auf sich warten Hess. Das Ver- 
standniss der Descendenzlehre wird daher nothwendiger- 
weise eingeleitet und eröffnet durch einen, wenn auch 
nur kurzen Hinweis auf die neuere Geologie. 

Die erste Auflage von LyelFs Principles of Geology 
erschien 1830. In der zehnten von 1866 war ihm Ge- 
legenheit gegeben, sich den Darwin'schen Lehren, zu 
deren Entfaltung er so grossen Anstoss gegeben, voll- 
inhaltlich anzuschliessen. Vom Jahre 1872 liegt die 
elfte Auflage des Meisterwerkes vor. Es handelt sich 
um die Untersuchung fortdauernder Effecte jetzt wir- 
kender Ursachen, um daraus auf die Vorzeit zu schliessen. 
Lyell nannte diese Effecte eine Autobiographie der 
Erde. „Die jetzt auf und in der Erde wirkenden 
Kräfte", heisst es , „sind nach Art und Mass dieselben, 
wie die, welche in den entlegensten Zeiten geologische 
Veränderungen herbeigeführt haben." 

Schon sehr früh hat sich, wol infolge verheerender 
partieller Fluten und Erdbeben, der Glaube an grosse 
allgemeine Katastrophen gebildet, und Lyell knüpft 
an die indischen und ägyptischen hierauf bezüglichen 
Sagen die Bemerkung , dass der Zusammenhang der 
Ueberlieferung von solchen Katastrophen mit dem 



neuere Geologie. 117 

Glauben an wiederholte allgemeine Sittenverderbniss 
sich leicht erklären lasse. 

Am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde vereinzelt 
die Ansicht ausgesprochen, dass das Untertauchen 
grosser Landstrecken, wie das Auftauchen anderer, 
langsam geschehen sei , und es bereitete sich die Lehre 
vor, dass die Mineralmassen in verschiedene Gruppen 
zerfielen, welche in bestimmter Ordnung aufeinander- 
folgten. Da trat Werner auf und gründete eine be- 
sondere Wissenschaft: „Geognosie." Er war nicht der 
erste, der die gesetzmässige Aufeinanderfolge der Ge- 
steine sah und lehrte, aber seine Anregung war eine 
allgemeine. Von da an datirt der heftige Streit der 
Vulcanisten und Neptunisten, und in diesen Streit 
hinein fielen die grossen Entdeckungen Cuvier's über 
die Thiere der Tertiärformation der Umgebung von 
Paris. Durch Cuvier's und Lamark^s Arbeiten über 
fossile Thiere stellten sich die Unterschiede der ehemaligen 
von den heutigen Organismen heraus, und Cuvier's An- 
sichten, sowol die zoologischen wie die geologischen, 
errangen den Sieg: es befestigte sich allmählich die 
Ueberzeugung , dass auf der Erde lange Perioden der 
Ruhe und des Stillstandes mit kürzern allgemeinen 
Katastrophen und Revolutionen abgewechselt hätten.'* 

Die Katastrophenhypothese erhielt noch nach dem 
Erscheinen der Lyell'schen Grundzüge der Geologie 
ihre specielle Ausbildung durch Elie de Beaumont's 
Theorie über den Bau und die Entstehung der Ge- 
birgsketten. Doch gleich anfangs trat Lyell dazwi- 
schen und zog folgendes Resultat aus einer Vergleichung 
der zwar laligsamen, aber stetigen und bemerkbaren 
Hebungen und Senkungen, die in der geschichtlichen 
Zeit vor sich gehen, mit den allfälligen Veränderun- 
gen, welche die Organismen unterdessen erlitten: 
„Mit einem Worte, die Bewegung der unorganischen 
Welt liegt vor und ist greifbar, und kann dem Minu- 
tenzeigei" einer Uhr verglichen werden, dessen Vor- 
rücken man sieht und hört, während die Fluctuationen 



118 Die neuere Geologie. 

der lebenden Schöpfung kaum sichtbar sind und der 
Bewegung des Stundenzeigers gleichen. Nur wenn 
man ihn aufmerksam einige Zeit beobachtet und das 
Verhältniss seiner Stellung nach Verlauf einiger Zeit 
vergleicht, vermögen wir uns von der Wirklichkeit 
seiner Bewegung zu überzeugen."'^ 

Es hatte sich also der sorgi^ltigen Beobachtung und 
logischen Deduction gerade das Gegentheil ergeben von 
dem, wasCuvier behauptete, welcher grossentheils aus der 
ihm auffallenden Verschiedenheit der aufeinander fol- 
genden Organismen die geologischen Katastrophen ab- 
leitete. Während die Botaniker und Zoologen in 
Cuvier's Sinne fortarbeiteten, gestaltete sich unter 
Lyell's und seiner Anhänger Händen die Greologie um. 
£r ging aus von dem zunächst Greifbaren. Dass es 
zur Zeit der Kohlenformation geregnet, wie heute^ 
sah man aus den Eindrücken von Regentropfen auf 
Platten jener Formation. Es wurde die bisher ver- 
nachlässigte Wirkung der Flüsse , die Absätze der Del- 
tas studirt, die kolossalen Schlammablagerungen, wie 
sie Nil und Amazonas zeigen, ferner die zerstörende 
Arbeit der unregelmässigen Bewegungen des Meeres 
und die theils zerstörende, theils aufbauende Arbeit 
seiner regelmässigen Strömungen. Es ward gemessen, 
wie die Gletscher pflügen, reiben und zermalmen, was 
die Mineralquellen auflösen und absetzen, welche Ma- 
terialverschiebungen durch die gegenwärtige Thätigkeit 
ausgeführt wird, wie die Umrisse von Land und Meer 
durch Hebung und Senkung umgeändert werden. Auch 
ergab die Vergleichung ehemaliger und heutiger Ko- 
rallenriffe und Austernbänke,- dass diese stillen Bau- 
leute ihre Manieren nicht geändert hatten. Kurz, es 
erschien die Annahme ausserordentlicher, in der Gegen- 
wart unerhörter Ereignisse und Kräfte durchaus nicht 
nöthig, nur Zeit, und die stetige Entwickelung der 
Erdrinde war erwiesen. 

So war die Bühne für die sich wiederholen- 
den Acte der Neuschöpfungen der Organismen 



Dan^'^in. 119 

nach und nach zusammengefallen^ und die 
Annahme solcher wunderbarer Neuschöpfun- 
gen wurde ein Anachronismus, dem durch Bar- 
win's Auftreten ein wohlverdientes Ende bereitet 
werden musste. Die Descendenzlehre mit dem Dar- 
winismus ist eine geschichtliche Nothwendigkeit. 

Charles Darwin ist 1809 geboren und hatte als 
Naturforscher der Weltumseglung des „Beagle" unter 
Kapitän Fitzroy von 1831 — 37 Gelegenheit, reiche 
Erfahrungen zu sammeln. Seine wichtige Arbeit über 
die Bildung der Korallenriffe gab die erste genügende 
Erklärung dieser aus dem Zusammenwirken geologi- 
scher Bewegungen und der organischen Thätigkeit der 
Eorallenthiere resultirenden Erscheinung; seine Mono- 
graphie der Cirripedien zeigt, mit welcher muster- 
haften Sorgfalt er die minutiösesten Detailverhältnisse 
zu beobachten und systematisch zu bearbeiten versteht, 
welche Bemerkung wir uns deshalb zu machen erlau- 
ben, weil noch immer die Gegner des grossen Natur- 
forschers sein Verdienst und seine Autorität damit 
herabzudrücken suchen, dass sie angeben, er sei eigent- 
lich ein mehr in allgemeinen Abstractionen sich be- 
wegender Dilettant'^, der scharfen, den Thatsachen 
vollständig Rechnung tragenden Beobachtung fremd. 
Wie Darwin zu seinem epochemachenden Gedanken 
gekommen, hat er in der Einleitung zu dem ersten 
sich mit der Descendenzlehre beschäftigenden Werke 
„lieber die Entstehung der Arten"'* mitgetheilt, etwas 
ausführlicher auch in einem Briefe an Haeckel, welchen 
letzterer in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte*' 
veröffentlicht hat." Er lautet: „In Südamerika traten 
mir besonders drei Klassen von Erscheinungen 
sehr lebhaft vor die Seele; erstens die Art und Weise, 
in welcher nahe verwandte Species einander vertreten 
und ersetzen , wenn man von Norden nach Süden geht ; 
— zweitens die nahe Verwandtschaft derjenigen Spe- 
cies, welche die Südamerika nahe gelegenen Inseln 
bewohnen, und derjenigen Species, welche diesem Fest- 



120 Darwin. 

lande eigenthümlich sind; dies setzte mich in tiefes 
Erstaunen, biBSonders die Verschiedenheit derjenigen 
Species, welche die nahe gelegenen Inseln des Gala- 
pagos- Archipels bewohnen; — drittens die nahe Be- 
ziehung der zahnlosen Säuge- und Nagethiere zu den 
ausgestorbenen Arten. Ich werde niemals mein Er- 
staunen vergessen, als ich ein riesengrosses Panzer- 
stück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden 
Gürtelthieres. 

„Als ich über diese Thatsachen nachdachte und 
einige ähnliche Erscheinungen damit verglich-, schien 
es mir wahrscheinlich, dass nahe verwandte Species 
von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten. 
Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, 
wie eine jede Form so ausgezeichnet ihren besondem 
Lebensverhältnissen angepasst werden konnte. Ich 
begann darauf systematisch die Hausthiere und die 
Gartenpflanzen zu studiren, und sah nach einiger Zeit 
deutlich ein, dass die wichtigste umbildende Kraft in 
des Menschen Zucbtwahlvermögen liege, in seiner Be- 
nutzung auserlesener Individuen zur Nachzucht. Da- 
durch, dass ich vielfach die Lebensweise und Sitten 
der Thiere studirt hatte, war ich darauf vorbereitet, 
den Kampf ums Dasein richtig zu würdigen; und meine 
geologischen Arbeiten gaben mir Vorstellung von der 
Ungeheuern Länge der verflossenen Zeiträume. Als 
ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von 
Malthus: *Ueber die Bevölkerung' las***, tauchte der 
Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf. Unter 
allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den 
ich schätzen lernte, di^ Bedeutung und Ursache des 
Divergenzprincips." 

Dass die Organismen nicht in starre Formen ge- 
bannt, sondern variabel sind, ist eine so allgemeine 
Erscheinung, dass die Variabilität als eine selbstver- 
ständliche Eigenschaft des Organischen gilt. Wir wer- 
den im nächsten Abschnitt untersuchen, inwiefern wirk- 
lich alles Organische der Veränderlichkeit unterworfen 



Künstliche Züchtung. 121 

sein muss. Anf der Thatsache dieser Eigenschaft be> 
ruht die seit den ersten Anfangen der Jagd und de» 
Ackerbaues unbewusst und bewusst geübte künst- 
liche Züchtung oder Zuchtwahl des Menschen, 
deren Bedeutung, wie Darwin sagt, „hauptsächlich in 
dem Vermögen liegt , kaum merkbare Verschiedenheiten 
auszuwählen, welche nichtsdestoweniger sich als der 
Ueberlieferung föhig herausstellen , und welche sich häu- 
fen lassen, bis das Resultat für das Auge eines jeden 
Beschauers offenbar wird". Darwin hat in der „Ent- 
stehung der Arten" als Beispiel für die methodische 
Zuchtwahl bei der Rassenerzeugung die Taube gewählt,, 
mit deren Zucht er sich jahrelang auf das eifrigste 
beschäftigte. Die Taube eignet sich zum Zweck der 
wissenschaftlichen Beobachtung der Zuchterscheinungeu 
ganz besonders, weil sie wegen ihrer monogamischen 
Lebensweise sich leicht controliren lässt , weil sie in 
kurzer Zeit zu auffallenden Abänderungen gebracht 
werden kann, die Nachrichten über ihre Zucht ziem- 
lich vollständig sind, und weil sie endlich eins der 
wenigen Hausthiere ist, über deren Stammart kaum 
ein Zweifel obwaltet. Die Hauptformen der von den 
Liebhabern hervorgebrachten Rassen lassen sich in 
folgender Weise gruppiren. Die Kropftauben haben 
einen massigen Schnabel, verlängerte Beine und Kör- 
per, ihre Speiseröhre ist vom Kropf kaum getrennt 
und kann aufgeblasen werden. Eine zweite Gruppe 
umfasst die Boten-, Runt- und Barbtauben, welche im 
allgemeinen einen langen Schnabel, mit Hautanschwel- 
lungen über den Nasenlöchern und nackter oder auch 
mit Carunkeln versehener Haut um die Augen haben. 
In eine andere Gruppe mit verkürztem Schnabel und 
nur gering entwickeltem nackten Augenumkreis gehört 
die Pfauentaube, bei welcher die normale Zahl von 
12 Schwanzfedern bis auf 42 steigen kann, bei ver- 
kümmerter Oeldrüse; ferner die Burzeltaube, in wel- 
cher der Schnabel eine extreme Kürze eiTeicht und 
bei der eine krankhafte , durch Zuchtwahl hervorgerufene 



122 Künstliche Züchtung. 

und gesteigerte Disposition des Gehirnes, die sich im 
Ueberschlagen äussert, seit mehr als zwei und ein halb 
Jahrhunderten sich vererbt und zur Rasseneigenthümlich- 
keit befestigt hat. In der \derten Gruppe nimmt die 
Trommeltaube wegen ihrer eigenthümlichen Stimme eine 
bevorzugte Stelle ein, auch die Lachtaube, an welche 
sich noch mehrere Unterklassen anschliessen , die sich 
nur sehr wenig von der wilden Felstaube (der Columba 
livia) unterscheiden. Die letztere findet sich, in einige 
geographische Rassen zerspalten, von den faröerschen und 
schottischen Küsten bis zu den Mittelmeergestaden 
und bis nach Indien, und die subtilste Untersuchung, 
ob jene so fabelhaft voneinander abweichenden Kassen 
der zahmen Tauben etwa auf acht bis neun wilde Arten 
oder einzig auf die weitverbreitete Felstaube zurückzu- 
führen seien, schlägt entschieden zu Gunsten des letz- 
tem Falles aus. Grössenverhältniss , Färbung und 
andere Skelettheile, welche in den verschiedenen Ras- 
sen viel weiter voneinander differiren, als dieselben 
Charaktere und Eigenschaften bei wohlgeschiedenen 
wilden Arten derselben Gattung oder auch Familie, 
sie verändern sich unter der Hand und nach dem 
Willen des Menschen, und ganz ausgezeichnet lässt 
sich gerade auch bei der Taube die Erscheinung ver- 
folgen, welche Correlation des Wachsthums ge- 
nannt worden ist und darin besteht, dass bei der 
durch Zuchtwahl beabsichtigten Veränderung eines 
Organes ein anderes oder mehrere andere in Mitleiden- 
schaft gezogen werden und sich zu unbeabsichtigten 
Rasseneigenthümlichkeiten umformen. 

Darwin's minutiöse Forschungen über die Rassen- 
bildung der Tauben ist in seinem zweiten, die Descen- 
denzlehre behandelnden Werke über das Vafiiren der 
Pflanzen und der Thiere im Zustande der Zähmung ent- 
halten, wo sich auch die eingehendsten Untersuchungen 
über die übrigen Hausthiere finden. Wer Gelegenheit 
gehabt hat, eine der neuern Hühnerausstellungen zu 
besichtigen, wird über die Verschiedenheit der Rassen- 



Künstliche Züchtung. * 123 

formen und über die Reinheit und Gleichförmigkeit 
innerhalb derselben erstaunt gewesen sein. Nicht mit 
derselben fast absoluten Sicherheit, wie bei den Tau- 
ben, aber doch annähernd gewiss ergibt sich auch für 
die Hühner eine einzige Stammart, der indische Gallus 
bankiva. Die von den englischen Landwirthen seit 
dem vorigen Jahrhundert aus der Mischung des hei- 
mischen Schweines mit dem indischen gezogenen 
Schweinerassen, ausgezeichnet verschieden in ihrer 
ganzen Erscheinung, Färbung, Grösse der Ohren, Länge 
der Beine, zum Theil auch Fruchtbarkeit, bewähren 
ebenfalls das cumulative Zuchtvermögen des Menschen, 
noch anziehender dürften aber die beiden Rassen des 
Schafes und des Rindes sein, welche mit den hervor- 
ragendsten jener Schweinerassen seit mehr als einem 
Jahrzehnt auf dem Continent besonders beliebt ge- 
worden sind, das Southdown-Schaf und das Shorthorn- 
Rind. Sie und so viele andere Hausthierrassen sind 
zu bestimmten Zwecken und für gewisse Vortheile der 
Wirthschaft und des Verkehrs erzogen und bewähren 
insgesammt die Plasticität der Art. Die Zuchtwahl 
arbeitet durch Befestigung anfanglich veränderlicher 
Merkmale, die in der Regel bei ihrem ersten zufälligen 
Auftreten nur von dem sorgsamen Kennerauge bemerkt 
werden. Aber auch nicht wenige Fälle sind consta- 
tirt, wo eine zufällige Difformität und eine nur bei 
einem Individuum plötzlich hervortretende neue Eigen- 
schaft zur schnellen Gründung neuer Rassen sich be- 
nutzen liessen. „So wurde", theilt Darwin mit*^ 
„1791 in Massachusetts ein Widderlamm mit krummen 
Beinen und einem langen Rücken, wie ein Dachshund, 
geboren. Von diesem einen Lamme wurde die halb- 
monströse Otter- oder Anconrasse gezüchtet. Da diese 
Schafe nicht über die Hürden springen konnten, so 
glaubte man, sie würden werthvoU sein, sie sind aber 
von Merinos ersetzt worden und auf diese Weise aus- 
gestorben. Diese Schafe sind merkwürdig, weil sie 
ihren Charakter so tein fortpflanzten, dass Oberst 



124 Künstliche Züchtang. 

Humphreys nur von einem einzigen zweifelhaften Fall 
hörte , wo ein Anconwidder und ein Mutterschaf nicht 
einen Anconwurf erzeugt hätten." — „Einen noch in- 
teressantem Fall findet man in den Keports der Jury 
des grossen Ausstellung von 1851, nämlich die Geburt 
eines Merinowidderlammes auf der Mauchamp-Farm im 
Jahre 1828, welches durch seine lange, glatte, schlichte 
und seidenartige Wolle merkwürdig war. Bis zunl 
Jahre 1833 hatte Mr. Graux Widder genug erzogen, 
um seiner ganzen Heerde dienen zu können, und wenige 
Jahre später war er im Stande, von seiner neuen 
Zuchtrasse zu verkaufen. Die Wolle ist so eigenthüm- 
lich und werthvoll, dass sie 25 Proc. höhere Preise 
erhielt, als die beste Merinowolle. Selbst die Vliese 
von Halbzuchtthieren sind werthvoll und in Frankreich 
unter dem Namen Mauchamp- Merino bekannt. Als 
einen Beweis dafür, wie allgemein jede scharf gezeich- 
nete Abweichung in der Structur von andern Abwei- 
chungen begleitet wird, ist dieser Fall dadurch in- 
teressant, dass der erste Widder und seine unmittelbaren 
Nachkommen von geringer Grösse waren, mit grossen 
Köpfen, langen Hälsen, schmaler Brust und langen 
Seiten. Dieser Fehler wurde aber durch sorgfaltige 
Kreuzungen und Zuchtwahl beseitigt. Die lange, glatte 
Wolle tritt in Verbindung mit glatten Hörnern auf, 
und da Hörner und Haare homologe Bildungen sind, 
so lässt sich die Bedeutung der Correlation wohl ver- 
stehen. Läge der Ursprung der Mauchamp- und An- 
conrassen ein oder zwei Jahrhunderte zurück, so 
würden wir keinen Nachweis über deren Geburt haben, 
und viele Naturforscher würden ohne Zweifel, beson- 
ders bei der Mauchamprasse, behaupten , dass jede von 
einer unbekannten Stammform abstammte oder mit ihr 
gekreuzt worden sei." 

Vergleicht man die Obsorge für die Hausthiere in 
kleinen, vom aufmunternden Weltverkehr abgelegenen 
Bauernwirthschaften mit der raffinirten Rassenzucht 
auf den grossen Gütern, und steigt man von jenen 



ünbewusste Zuchtwahl. Rückfall. 125 

abwärts zur Behandlung der wenigen Hausthiere oder 
des einen zahmen Thieres, des Hundes, bei wilden 
Völkern , so verschwindet die bewusste künstliche Zucht- 
wahl mehr und mehr , wird aber überall , wo der Mensch 
Pflanze und Thier an seinen Wohnsitz fesselt, wenig- 
stens unbewusst ausgeübt. Das starke Thier, die reich- 
licher Nahrung gebenden Pflanzenindividuen werden 
ohne besondere Ueberlegung zur Fortpflanzung ver- 
wendet, und so ist die ünbewusste Zuchtwahl von der 
methodisch geübten nicht zu trennen. Die Einleitung 
und Fortführung der Kassenbildung wird natürlich er- 
leichtert durch die Möglichkeit, die zur Zucht aus- 
erlesenen Thiere in neue Umgebungen und Lebens- 
bedingungen zu bringen, und es wird die Bildung 
neuer Rassen begünstigt durch die Leichtigkeit, mit 
welcher die Züchtung die Kreuzung der in der Bil- 
dung begriffenen Formen mit schon vorhandenen Ras- 
sen verhindern kann. 

Ohne Zweifel sind eine Menge von Hausthierrassen 
nicht in dem Zustande, dass man sie als neue Arten 
bezeichnen kann, das will sagen, sie befinden sich mit 
ihren angezüchteten neuen Eigenschaften nur in einem 
Zustande künstlicher Stetigkeit und fallen, der zu- 
fälligen und regellosen Vermischung mit andern Rassen 
und der Stammrasse preisgegeben, nach und nach in 
dieselbe zurück. Dass aber überhaupt alle unbewusst 
oder bewusst gezüchteten Rassen keine neue Arten 
seien und, dem Naturzustande wieder überlassen, rück- 
schlägig würden, ist eine willkürliche und unrichtige 
Behauptung. Gesetzt, man überliesse sämmtliche Hühner- 
rassen sich selbst, so muss zwar die Möglichkeit zu- 
gegeben werden, dass in Indien einzelne Formen sich 
rückwärts in das Bankivahuhn verwandelten, dass aber 
in Europa und Amerika nimmer aus unsem verwilder- 
ten Hühnerrassen die indische Stammrasse zum Vor- 
schein kommen, sondern sich höchstens einzelne neue 
allgemeiner verbreitete und nach geographischen Be- 
zirken constant bleibende Mischformen bilden würden, 



126 Zuchtwahl bildet Arten. 

liegt auf der Hand. Noch niemand hat behaupten 
können, dass die verwilderten und von der Obsorge 
des Menschen gänzlich verlassenen Hunde des Orientes 
zu Wölfen oder Schakalen, ihren muthmasslichen Vor- 
fahren, geworden seien. Sie werden „schakalähnlich'', 
womit jedermann ausdrückt, dass der vor Jahrtausen- 
den zum Hausthier gewordene und gezüchtete Hund 
seine erworbenen Arteigenthümlichkeiten auch 
unter den zu der Entäusserung günstigsten Umständen 
bewahrt. Jene Versicherung, die Hausthiere seien 
keine neuen Arten, ist um so hinfälliger, als von man- 
chen Hausthieren die Stammarten gänzlich unbekannt 
sind, so wie Schaf und Ziege, über deren Vorfahren 
man nur vage Vermuthungen aufstellen kann. Auch 
die älteste uns bekannte Schafrasse, das ziegenhörnige 
Schaf aus den schweizerischen Pfahlbauten, gibt keine 
Auskunft, und auf dem Wege des Experimentes den 
Rückfall der heutigen Schafe zur Stammform zu beob- 
achten, ist völlig unmöglich. Dass das Pferd von 
einer gestreiften Stammart abzuleiten sei, ist wahr- 
scheinlich , eine solche ist aber trotz der vielen Genera- 
tionen, in welchen sich die grossen Heerden verwilder- 
ter Pferde in Südamerika ungestört fortpflanzten, nicht 
zum Vorschein gekommen. Die feinen Untersuchungen 
Rütimeyer's über das Hausrind haben gezeigt, dass 
zu seiner Bildung in Europa mindestens drei, als Ar- 
ten wohl unterschiedene Formen der Diluvialzeit, Bos 
primigenius, longifrons und frontosus beitrugen. Diese 
Arten lebten einst geographisch getrennt, aber gleich- 
zeitig, und sie sind mit ihren specifischen Eigenthüm- 
lichkeiten untergegangen und aufgegangen in unsern 
zahmen Rassen. Diese Rassen vermischen sich un- 
bedingt fruchtbar miteinander, erinnern in Schädel- 
und Hornbildung an die eine oder andere der aus- 
gestorbenen Arten, bilden aber in ihrer Gesammtheit 
eine neue Hauptart. Dass aus ihren Rassen einmal 
wieder die drei oder eine der Stammarten im reinen 



Natürliche Zuchtwahl. 127 

ursprünglichen Zustande hervorgehen könnten , wäre 
eine ganz lächerliche Behauptung. 

Bei allen diesen zuletzt genannten Hausthieren, 
Hund, Schaf, Ziege, Pferd, Rind, ist nun die Um- 
änderung zu einer Periode der menschlichen Cultur 
eingetreten, wo man an eine künstliche Züchtung im 
heutigen Sinne nicht entfernt dachte, und wo der 
Hauptfactor der Umbildung, abgesehen von der un- 
willkürlichen und unbewussten Zuchtwahl, einfach in 
der veränderten Lebensweise lag. Hiermit werden wir 
zu den Abänderungen im Naturzustände und zur 
natürlichen Zuchtwahl geführt. Beide, die natür- 
liche wie die künstliche Zuchtwahl, beruhen auf der 
unbestrittenen Thatsache der individuellen Verschieden- 
heiten der nächst verwandten Pflanzen- und Thier- 
individuen; auch das hat sich uns schon oben heraus- 
gestellt, dass zweifelhafte Arten nicht, wie die alte 
Schule wollte, Ausnahmen sind, sondern dass nur die 
mangelhafte Kenntniss des Artenmaterials daran schuld 
ist, dass nicht alle Arten als zweifelhaft und künst- 
lich betrachtet werden. Erinnern wir uns hier noch- 
mals daran, dass auch die strengsten Speciessystema- 
tiker in vielen Tausenden von Fällen nicht anzugeben 
wissen, wo ihre Arten anfangen und aufhören, wie 
da beispielsweise Darwin eine Mittheilung von H. C. Wat- 
8on anführt, dass 182 britische Pflanzen, welche 
gewöhnlich als Varietäten betrachtet werden , alle auch 
schon von einzelnen Botanikern als selbständige Arten 
in Anspruch genommen wurden. ^^ Darwin's unsterb- 
liches Verdienst besteht nun darin, gezeigt zu haben, 
welche Macht auf die als veränderlich vorliegenden 
Individuen und Arten einwirkt, und welche Resultate 
aus dieser Einwirkung hervorgehen müssen. Er hat 
die Schlüssel in dem zu einem Wahrzeichen und Ge- 
meingut unserer Zeit gewordenen Worte ,,Kampf 
ums Dasein" {struggle for life*) gefunden und damit 

* Wallace's Antheil an diesem Ruhm am Schlüsse dieses 
Kapitels. 



128 ^ci* Kampf ums Dasein. 

die Begründung und Theorie einer Lehre gegeben, 
deren Wahrheit schon lange vor ihm einem Geiste wie 
Lamark klar geworden war. Er hat die Abstammungs- 
lehre durch die Selectionstheorie begründet, indem er 
nachwies, dass in der Natur durch den Kampf um das 
Dasein eine der künstlichen Zuchtwahl vergleichbare 
Auslese des Bessern nnd Passendem vor sich gehe, 
welche neue Rassen und neue Arten erzeugt. 

Auch der Kampf um das Dasein, dieses bellum 
omnium contra omnes, ist eine unbestrittene und un- 
abweisliche Thatsache, welche wir hier in ihren wei- 
testen Beziehungen nehmen. Nicht blos das Raubthier 
kämpft gegen die Pflanzenfresser, welche wiederum 
durch stärkere Vermehrung, Schnelligkeit und List 
«ich im Gleichgewicht zu halten suchen; auch das 
allmähliche Vordrängen einer Pflanze ist ein Ringen 
mit natürlichen Hindernissen, bei dessen Siege in der 
Regel andere Pflanzen in ihren Lebensbedingungen 
geschädigt werden. Könnte die Vermehrungsfahigkeit 
eines beliebigen Organismus schlechthin und unein- 
geschränkt wirken, so würde jedes Wesen für sich in 
einer kurzen Reihe von Jahren die Erdoberfläche oder 
die Gewässer in Anspruch nehmen. Aber eines hält 
das andere im Zaum, und zu den lebendigen Feinden 
eines jeden Geschöpfes gesellen sich Klima und alle 
Einwirkungen der Umgebung, der Wechsel der Jahres- 
zeiten, mit denen der Körper sich abfinden muss. Die 
Organismen leben nur auf Kosten anderer und für 
andere, und der Friede und die Stille der Natur, die 
von dem Dichter besungen werden, lösen sich vor dem 
prüfenden Auge in eine unendliche Unruhe und Hast 
auf, das Dasein zu behaupten und zu befestigen, in 
welchen nur der Gedanke der sichtbaren und noth- 
wendigen Vervollkommnung den Beobachter vor einer 
pessimistischen Weltanschauung retten kann. Die ein- 
fachsten Beispiele für das Abhängigkeitsverhältniss der 
Lebewesen untereinander sind zwar die besten und am 
meisten überzeugenden, welche grosse Folgen aber von 



Der Kampf ums Dasein. 129 

scheinbar geringfügigen Umständen und Verknüpfungen 
abhängen, und wie höchst zusammengesetzt das Ge« 
triebe zur Erhaltung des Gleichgewichts, hat Darwin 
mit einigen Beispielen belegt, welche wir, obschon sie 
seitdem tausendmal wiederholt sind, uns auch vor- 
zubringen erlauben. Während im Süden und Norden 
von Paraguay verwilderte Rinder, Pferde und Hunde 
in Menge vorkommen, fehlen sie in Paraguay. „Azara 
und Rengger haben gezeigt, dass die Ursache dieser 
Erscheinung in Paraguay in dem häufigem Vorkommen 
einer gewissen Fliege zu finden ist, welche ihre Eier 
in den Nabel der neugeborenen Jungen dieser Thier- 
arten legt. Die Vermehrung dieser so zahlreich auf- 
tretenden Fliegen muss regelmässig durch irgendein 
Gegengewicht und vermuthlich durch andere parasi- 
tische Insekten gehindert werden. Wenn daher ge- 
wisse insektenfiressende Vögel in Paraguay abnähmen, 
so würden die parasitischen Insekten wahrscheinlich 
zimehmen, und dies würde die Zahl der den Nabel 
aufsuchenden Fliegen vermindern; dann würden Rind 
und Pferd verwildern, was dann wieder (wie ich in 
einigen Theilen Südamerikas wirklich beobachtet habe) 
eine bedeutende Veränderung in der Pflanzenwelt ver- 
anlassen würde. Dies müsste nun femer in hohem 
Grade auf die Insekten und hierdurch auf die insekten- 
fressenden Vögel wirken, und so fort in immer ver- 
wickeltem Kreisen." Ein anderes Beispiel aus Darwin's 
Schatze ist vielleicht noch anregender. „Ich habe", 
sagt er*^, „durch Versuche ermittelt, dass Hummeln 
zur Befruchtung des Stiefmütterchens oder Pensees 
(Viola tricolor) fast unentbehrlich sind, indem andere 
Bienen sich nie auf dieser Blume einfinden. Ebenso 
habe ich gefunden, dass der Besuch der Bienen zur 
Befruchtung ' von mehrern unserer Kleearten nothwen- 
dig ist. So lieferten z. B. mir 20 Köpfe weissen Klees 
(Trifolium repens) 2290 Samen, während 20 andere 
Köpfe dieser Art, welche den Bienen unzugänglich 
gemacht waren, nicht einen Samen zur Entwickelung 

Schmidt, Descendenzlehre. 9 



130 ^6^ Kampf ums Dasein. 

brachten. Ebenso ergaben 100 Köpfe rothen Klees 
(Trifolium pratense) 2700 Samen, und die gleiche An- 
zahl gegen Hummeln geschützter Stücke nicht einen 1 
Hummeln allein besuchen diesen rothen Klee, indem 
andere Bienen den Nektar dieser Blume nicht errei- 
chen können. Auch von Motten hat man vermuthet^ 
dass sie zur Befruchtung des Klees beitragen; ich 
zweifle aber wenigstens daran, dass dies mit dem 
rothen Kl«e der Fall ist, indem sie nicht schwer genug 
sind, die Seitenblätter der Blumenkrone niederzu- 
drücken. Man darf daher wol als sehr wahrscheinlich 
annehmen , dass, wenn die ganze Gattung der Hummeln 
in England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch 
Stiefmütterchen und rother Klee sehr selten werden 
oder ganz verschwinden würden. Die Zahl der Hum- 
meln hängt in einem beträchtlichen Masse von der 
Zahl der Feldmäuse ab, welche deren Waben und 
Nester zerstören. Oberst Newman , welcher die Lebens- 
weise der Hummeln lange beobachtet hat, glaubt, dass 
durch ganz England über zwei Drittel derselben auf 
diese Weise zerstört werden. Nun hängt aber, wie 
jedermann weiss, die Zahl der Mäuse in grossem Masse 
von der Zahl der Katzen ab, sodass Newman sagt, in 
der Nähe von Dörfern und Flecken habe er die Zahl 
der Hummelnester grösser als irgendwo anders gefun- 
den, was er der reichlichem Zerstörung der Mäuse ^ 
durch die Katzen zuschreibe. Daher ist es denn völlig 
glaublich, dass die Anwesenheit eines katzenartigen 
Thieres in grösserer Anzahl in irgendeinem Bezirk 
durch Vermittelung zunächst von Mäusen und dann von 
Bienen auf die Menge gewisser Pflanzen daselbst von 
Einfluss sein kann.^^ 

Der Kampf ums Dasein entbrennt um so heftiger, 
je verwandtschaftlich näher einander die Mitbewerber 
stehen; denn je verschiedenartiger die Bedürfnisse nahe 
beieinander wohnender Organismen sind, um so weniger 
sind diese einander im Wege, um so mehr kann jeder 
für sich seine Umgebung ausnutzen. Hiergegen scheinen 



Der Kampf ums Dasein. 131 

zwar gleich die grossen Eeihen der geselligen Pflanzen 
und Thiere zu sprechen, allein auch sie machen bei 
näherer Betrachtung keine Ausnahme, indem sie oft 
gerade durch ihre Menge einander gegenseitig die Exi- 
stenz ermöglichen und erleichtern und gerade auch 
nur in dem Grade sich vermehren, als die Nahrungs- 
masse es zulässt. Tritt bei den geselligen Pflanzen 
und den Heerdenthieren eine Ueberproduction ein, so 
beginnt augenblicklich die Concurrenz und der Kampf, 
und überhaupt wird ganz unbedingt das Leben ebenso 
geregelt, wie bei den an Individuenzahl minder auf- 
fallenden Arten. Unser Satz, dass die Heftigkeit des 
Kampfes mit der Nähe der Verwandtschaft steigt, gilt 
also allgemein. Selten wird ein so rasch verlaufender 
Vernichtungskrieg geführt, wie zwischen der Hausratte 
(Mus rattus) und der Wanderratte (Mus decumanus), 
und viel häufiger haben wir den Eindruck, dass die 
einen Wohnbezirk theilenden Glieder einer Art, z. B. 
Hasen und Hirsche , einträchtig miteinander verkehren, 
als dass sie sich das Dasein verkümmern sollten. Und 
doch ist dem so. Die beiden mächtigen Triebfedern 
der Erhaltung des Individuums und der Erhaltung der 
Art spornen unausgesetzt zum Kampfe an, und unter 
ihrem Einfluss tritt jedes Lebewesen, die Pflanzen ein- 
geschlossen, in den Kampf mit den Artgenossen der 
nächsten Umgebung ein. In dieser Concurrenz um die 
Nahrung, verbunden mit der Abwehr gegen alle mög- 
lichen Feinde und andere Mitbewerber um die übrigen 
Vortheile der Existenz, behält der Stärkere Recht, der 
Listigere, der Geschicktere, kurz der mit irgendeinem 
Vortheil ausgerüstet mit seinen Nebenbuhlern sich 
messen kann. Nicht nur beim Kampf um die Weib- 
chen, bei jeder Gelegenheit der Concurrenz werden 
die schwachem Individuen abgeschlagen und findet 
eine Auslese der stärkern und beaaern statt. Aber die 
anfänglich geringen, oft kaum bemerkbaren Vortheile, 
geistige wie körperliche, welche jenen Individuen zum 
Siege und zum Ueberleben der die zufälligen Vortheile 

9* 



132 Geschlechtliche Zuchtwahl. 

entbehrenden oder schwachem ArtmitgUedem yerhal- 
fen, haben Aussicht, fortgepflanzt zu werden, in den 
nächsten Generationen sich zu befestigen und zu stei- 
gern in wiederholter Auslese. Diese Auslese ist also 
ein natürlicher und noth wendiger Verlauf der Dinge, 
und es ist klar, dass sie nicht nur in ganz allgemei- 
ner und vager Bedeutung Anwendung findet etwa auf 
den äussern Habitus, Grösse und Starke der Indivi- 
duen, sondern dass bei der thatsächUchen Yariabilität 
und Plasticität der organischen Formelemente, auch 
einzelne Theile und Organe in bestimmter vortheil- 
hafter Richtung abgeändert und vervollkommnet wer- 
den können, um der Basse und Art eine höhere Stel- 
lung in der umgebenden Welt zu verschaffen. 

Ausser dem allgemeinen Resultate des Rechtes des 
Starkem, wo es sich um den Fortpflanzungstrieb han- 
delt, kommt in diesem Gebiete noch eine andere sehr 
einflussreiche Erscheinung zur Geltung, welche von 
Darwin als geschlechtliche Zuchtwahl bezeichnet 
und sehr ausführlich in dem Werke über die Abstam- 
mung des Menschen bearbeitet worden ist. Hier gilt 
es in erster Linie um die Bildung von Geschlechts- 
eigenthümlichkeiten der Männchen , um secundäre 
Eigenschaften, durch welche sie in den Bewerbungen 
um die Weibchen unterstützt werden, in zweiter erst 
um die Rückwirkungen dieser Eigenthümlichkeiten auf 
die Umänderung und Vervollkommnung der Art über- 
haupt. 

Der Grundgedanke der Selectionstheorie Darwin's 
ist also, dass in der Natur die Rolle des cumulativen 
Wahlvermögens des Rassen züchtenden Menschen durch 
den Kampf ums Dasein ersetzt wird, und dass durch 
die mit der Zeit eintretende Cumulirung anfanglich 
geringer, dann immer mehr hervortretender Vortheile 
die niedrigem Organismen in höhere verwandelt wer- 
den. Die Wirkung ist eine unausgesetzte. „Man kann 
figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich 
und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine 



Schwierigkeiten der Theorie. 133 

jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie 
zu verwerfen , wenn sie schlecht , und sie zu erhalten 
und zu vermehren, wenn sie gut ist. Still und un- 
merkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Ge- 
legenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines 
jeden Wesens in Beziehung auf dessen organische und 
unorganische Lebensbedinguilgen beschäftigt." ** 

Die folgenden Abschnitte werden uns näher in die 
Theorie, ihre Wahrheit, Möglichkeit, Anwendung und 
Bestätigung einführen, während wir schon jetzt uns 
mit einigen Einwendungen gegen dieselbe, und zwar 
entweder speciell gegen die Selectionstheorie, oder gegen 
sie sanunt der Umwandlungslehre als Ganzes, bekannt 
machen wollen, deren wichtigste schon Darwin selbst 
sich vorgelegt und beantwortet hat. 

Wenn, so sagt man, alle Lebewesen in einem di- 
recten, ununterbrochenen Zusammenhange miteinander 
stehen sollen, wo sind die unendlich vielen Zwischen- 
formen geblieben, welche nothwendig existirt haben 
müssen? Unser Blick richtet sich zuerst auf die jetzt 
lebenden Organismen, und da sie nach der Theorie 
die Endspitzen eines unendlich verzweigten Baumes 
sein sollen, welche offenbar sich dicht drängen und 
jede für sich nach allen Seiten in Varietäten ausein- 
ander gehen müssen, so verlangen wir die Zwischen- 
formen zu den jetzt nebeneinander bestehenden Arten. 
Wir können uns nun auf die früher (Seite 83 fg.) 
gegebenen Nachweise berufen, dass wirklich in ganzen 
grossen Gruppen von Organismen die neuere wissen- 
schaftliche Forschung nichts anderes als Zwischenfor- 
men hat entdecken können. Auch wird die Reise, 
welche Kerner in seinem Büchelchen über „Gute und 
schlechte Arten" mit dem Botaniker Simplicius aus 
dem europäischen Westen nach dem Osten unternimmt, 
dem nach weitern Material begierigen Leser eine er- 
götzliche Menge liefern. Die Verbreitung der Cytisus- 
arten, welche derselbe Naturforscher eingehend unter- 
sucht hat, zeigt gleichfalls das lückenloseVorhandensein 



134 Mangel an Zwischenformen. 

von Verbindungsformen auf den Grenzgebieten von 
Arten, deren Verbreitungamittelpunkte mehr oder 
weniger weit auseinander liegen. Es geht aus allein 
diesen Beispielen, welche nach Tausenden zählen, 
hervor, dass ein grosser Theil sich im Stadium der 
relativen Stetigkeit befindet. Bass aus diesem Grunde 
ihre Zwischenformen nut in der Vergangenheit ge- 
sucht werden können, ist ebenso wenig wunderbar, 
spricht nicht im geringsten gegen die Richtigkeit der 
Descendenzlehre, und die Forderung nach Zwischen- 
formen zu diesen local und zeitweilig formbeständigen 
Arten zeigt nur, wie wenig diesenigen, welche sie 
stellen, das Wesen der Descendenz begriffen haben. 
Es handelt sich aber bei dem Einwurf hauptsächlich 
um solche Zwischenformen, welche die Arten mit den 
zeitlich vor ihnen liegenden Stammarten verbinden. 
Nach der Theorie waren die jetzt lebenden Arten 
durch Formen von der Qualität der Varietäten, der 
„werdenden Arten", mit ihrer Stammart verbunden, 
die Stammarten wieder mit altern u. s. w. , sodass 
eine unendliche Anzahl von Formenvarietäten existirt 
haben muss. Wir haben zwar früher (S. 88) ebenfalls 
den Beweis geliefert, dass der Uebereifer der Paläon- 
tologen Arten, auch nach Tausenden zählend, aufge- 
stellt, wo blosse Umwandlungsformen und Varietäten 
vorhanden; wir haben erwähnt, dass eine Reihe aus- 
gezeichneter Paläontologen der Gegenwart die Fehler 
ihrer Vorgänger gut zu machen bemüht sind und die 
ununterbrochenen Uebergangsreihen aus den tiefem in 
die neuem Schichten klar legen, wo jene mit grossem 
Aufwände von Scharfsinn Artcharaktere ausgespürt zu 
haben meinten. Dennoch muss man zugeben, dass die 
Anzahl von Uebergangsformen ^ welche bisher wirklich 
gefunden sind, verschwindend klein ist gegen die un- 
zählbare Menge, welche existirt haben müssen. Die- 
ser Mangel lässt sich aber vollkommen befriedigend 
erklären. Wir kennen von den versteinerungführenden 
Schichten einen sehr geringen Theil, und mit demselben 



Mangel an Zwischenformen. 135 

Hechte, wie Lamark am Anfang dieses Jahrhunderts^ 
können wir nach heute auf die Armuth der Samm- 
lungen hinweisen. Wo immer der Palaontolog heute 
zugreift, findet er Zwischenformen, und das Material 
häuft sich von Tag zu Tag in dem Masse, als man 
es braucht. Man verlangt jedoch zu viel und verkennt 
die Bedingungen der Erhaltung , wefnn man meint, alle 
Zwischenformen, welche je existirt haben und nach 
ihrer Leibesbeschaffenheit sich ganz oder theilweise 
zur Erhaltung eigneten, müssten auch wirklich er- 
halten worden sein. Im Gegentheil, die grösste An- 
zahl derselben ist sicher spurlos verschwunden. Min- 
destens die Hälfte aller geologischen Ablagerungen 
wurde während langsamer Hebungen wieder zerstört. 
Denn von dem Zeitpunkt an , wo ein früher in grösserer 
Tiefe liegender Meeresboden mit seinen wohlconser- 
virten Einschlüssen wieder bis in das Bereich der 
Oberflächenbewegung emporgehoben ist, kann er zer- 
bröckelt und zernagt werden, und die in ihm ent- 
haltenen Versteinerungen haben nun dasselbe Schicksal, 
wie gewöhnlich die Reste der Bewohner seichter Ufer: 
sie werden vom Geröll zerrieben. Dazu kommt noch 
die sehr wichtige Erwägung, dass die die Uebergänge 
vermittelnden Formen meist eine kürzere Lebensdauer, 
nicht als Individuum, sondern als Form, gehabt haben 
werden, als die uns als Arten erscheinenden ständigen 
Varietäten, wie unter anderm auch der so lehrreiche 
Steinheimer Fund zeigt. Die Uebergangszeiten von 
einem geologischen Horizont zum nächstfolgenden glei- 
chen hierin den Grenzgebieten zweier geographischen 
Bezirk«. Die Strecke des Uebergangs vom einen zum 
andern ist besonders geeignet, die Veranlassung zur 
Umformung der sie passirenden Organismen zu geben. 
Diese Umformung vollzieht und befestigt sich aber erst 
auf dem neuen Bezirk. So sind die Uebergangszeiten 
in der geologischen Reihe die Perioden der verhält- 
nissmässigen Unruhe. "Während derselben war die 
Nöthigung zur Anpassung und Umformung für die 



136 Plötzliclies Erscheinen neuer Gruppen. 

Pflanzen- und Thierwelt am grössten, die Existenz- 
bedingungen aber zugleich am ungünstigsten; die In- 
dividuenzahl der zur Umbildung gelangenden Arten 
musste sich nothwendig verringern und konnte erst 
wieder in den darauf folgenden Ruheperioden steigen. 
Es ist daher nicht zu verwundern, dass der Katalog 
der ZwischenformeA so sehr lückenhaft ist; ihr Mangel 
wird aber auch nur von denjenigen bemerkt, welche 
sie durchaus vermissen wollen. Zur Herstellung des 
wissenschaftlichen Beweises der Descendenzlehre haben 
wir eine Ueberfülle von ihnen. 

Mit dem vermeintlichen Mangel an Uebergängen 
hängt ein anderer oft gehörter Einwurf zusammen: 
dass nämlich zu wiederholten malen ganze Gruppen 
verwandter Arten plötzlich aufgetreten seien. Wenn 
man auch sonst die morphologischen und anatomischen 
Zwischenstufen sähe, so fehle bei diesen Gruppen, den 
Flugeidechsen, Vögeln u. a. aller Zusammenhang und 
jede Verknüpfung mit etwaigen vor oder mit ihnen 
lebenden Stammarten. Diese Ausstellung ist eine der 
schwächsten und gedankenlosesten , wenn ' sie erhoben 
wird, nachdem man sich überhaupt einmal über die 
Ursache des Fehlens von Zwischenformen Rechenschaft 
zu geben versucht hat. Sie ist nur ein specieller Fall 
in der Alternative, dass entweder alle Arten auf dem 
natürlichen Wege entstanden sind, den die in so aus- 
reichendem Masse vorhandenen Uebergangsformen be- 
zeichnen, oder alle durch Wunder. In den Fällen, 
weiche man hier als grobes Geschütz spielen lässt, ist 
die Lücke bis zu den Stammarten allerdings grösser 
als da, wo es sich blos um den Sprung von Art zu 
Art oder Gattung handelt. Die für die minder auf- 
fallenden leeren Stellen gegebenen Erklärungen bedür- 
fen aber kaum einer Erweiterung, um auch hier zu 
genügen. Das Dunkel über die Herkunft der Vögel 
beginnt sich eben jetzt zu erhellen; warum soll nicht 
im nächsten Jahre der Ursprung der Flugeidechsen 
klarer werden? 



Vollkommene Organe. 137 

Eine besondere Schwierigkeit scheinen der Theorie 
die sehr vollkommenen Organe zu bereiten, nament- 
lich die Sinneswerkzeuge mit ihren so complicirten 
Apparaten. In der That, nimmt man z. B. das Auge 
der Wirbelthiere , wir dürfen nicht einmal sagen, nur 
der hohem Wirbelthiere, so ist der wunderbare Bau 
desselben wohl geeignet, die lebhaftesten Zweifel an 
der Descendenz und Selection zu erregen. Factisch 
liegt Ulis in den Reihen der Wirbelthiere auch nicht 
die Eeihe von niedrigsten Anfangen vor, welche wir 
nothwendig als einst vorhanden voraussetzen müssen. 
Denn das Fischauge steht an Complicirtheit nur Wenig 
gegen das Sehorgan der Säugethiere zurück, und der 
Lanzettfisch ist völlig augenlos, gibt also auch keinen 
Fingerzeig. In andern Thierstämmen aber sehen wir 
in der systematischen Reihe der Jetztwelt noch alle 
möglichen Abstufungen, welche uns ein Bild davon 
geben, wie in der paläontologischen Reihe allmählich 
das vollkommene Organ aus den einfachsten Anfängen 
hervorgegangen. Die niedern Krebse bieten die denk- 
bar einfachsten lichtempfindenden Werkzeuge dar, an- 
dere zu höherer Ausbildung gelangte Krebse besitzen 
etwas vollkommenere , nicht blos lichtempfindende , son- 
dern auch bilderzeugende Augen, zwischen welchen 
und den in ihrer Art höchst vollendeten Augen der 
zehnfüssigen Krebse noch eine ganze Anzahl von Augen- 
bildungen vertreten sind, welche es deutlich machen, 
wie auch diese Organe unter das Gesetz der langsamen 
. Anhäufung und Befestigung kleiner Vortheile fallen. 
In Betreff der Gehör- und Geruchs Werkzeuge kann 
man sich in jedem Lehrbuch der vergleichenden Ana- 
tomie überzeugen, dass schon die jetzt noch lebenden 
Wirbelthiere Entwickelungsreihen darbieten, welche 
die plötzliche und unbegreifliche Entstehung dieser 
Organe gleich im vollendeten Zustande abweisen. Wie 
dieselben in noch niedrigem Stufen, als sie jetzt die 
eigentlichen Fische zeigen, ausgesehen haben, darüber 
belehrt uns theils der Lanzettfisch, theils können wir 



138 Convergenz. 

es uns nach den betreffenden Sinneswerkzeugen der 
niedrigen Weichthiere, Gliederthiere und Würmer 
vorstellen. Darwin hat das aus den Einrichtungen der 
vollkommensten Organe sich etwa ergebende Bedenken 
gegen seine Lehre so formulirt, dass er sagt, er würde 
seine ganze Theorie preisgeben, wenn man ihm nach- 
weisen könne, dass irgendeins dieser Organe sich un- 
möglich aus nie dem Stufen durch allmähliche errun- 
gene Verbesserung habe bilden können. Diesqp Nach- 
weis hat noch niemand unternommen, er wird auch 
nie mit Erfolg unternommen werden, da jedes tiefere 
Eindringen in die vergleichende Anatomie der Sinnes- 
werkzeuge das Gegentheil zeigt. Von höchster Be- 
deutung für das Verständniss der vermeintlich untadel- 
haft vollkommenen Sinnesor^ne und ihrer Ableitung 
aus niederer Stufe, ist der gewöhnlich ganz übersehene 
Umstand, dass sie neben einer Menge von Vollkommen- 
heiten auch eine Reihe von UnvoUkommenheiten und 
unzweckmässigen oder hinderlichen Einrichtungen be- 
sitzen, wie vor allen Helmholtz am Auge gezeigt hat. 
Wir haben aber noch einen Punkt zu prüfen, 
welcher Bedenken gegen die Zulässigkeit der Descen- 
denzlehre erwecken kann, merkwürdigerweise noch 
sehr wenig von ihren' Gregnern ausgebeutet und von 
Darwin auch nur im * Vorübergehen berührt worden 
ist. Darwin theilt in der „Entstehung der Arten" 
mit, dass H. C. Watton, wir wissen nicht wo, der 
Divergenz des Charakters, also der Neigung der Va- 
rietäten und Arten, sich voneinander zu entfernen, 
eine „Convergenz des Charakters" entgegengestellt 
habe. Es sei denkbar, dass von verschiedenen Grat- 
tungen abstammende Arten sich unter Umständen so 
einander näherten, dass sie schliesslich unter eine 
Gattung zusammenfielen. Der Begründer der Selections- 
theorie hat sich begnügt, auf die grosse Unwahrschein- 
lichkeit eines solchen Vorganges hinzuweisen, der in 
dieser Einfachheit übrigens kaum das Wesen und 
die Wahrheit der Theorie beeinträchtigen wird. Er 



Convergenz. 139 

sagt: „Es ist unglaablich , dass die Nachkommen 
zweier Organismen, welche ursprünglich in einer auf- 
fallenden Art und Weise voneinander abwichen, später 
je so nahe convergiren sollten, dass sie sich einer 
Identität durch ihre gesammte Organisation näherten. 
Wäre dies eingetreten , so würden wir, unabhängig von 
einem genetischen Zusammenhang, derselben Form 
wiederholt in weit voneinander entfernt liegenden geo- 
logischen Formationen begegnen; und hier widerspricht 
der Ausschlag des thatsächlichen Beweismaterials jeder 
derartigen Annahme."*' Wir sehen, ein theoretischer 
Einwurf wird theoretisch widerlegt. Aber obgleich 
die Wahrscheinlichkeit einer bis zum Gleichwerden 
ausgedehnten Convergenz eine äusserst geringe ist, und 
sie durch den paläontologischen Befand nicht unter- 
stützt wird, so lässt sich doch ihre absolute Unmög- 
lichkeit von vorn herein nicht behaupten, und ich 
sMbst habe in meinen Untersuchungen über die atlan- 
tischen Spongien auf solche sich bis zum Verwechseln 
nähernde Artengruppen hingewiesen. Chalina und 
Reniera sind zwei wohl unterschiedene , sogar verschie- 
denen Familien angehörige Gattungen. Höchst wahr- 
scheinlich hat sich von Chalina die Gattung Chalinula 
mit ihren höchst unbeständigen Arten abgezweigt, 
nicht umgekehrt, und die Formen von Eeniera gehen 
ebenfalls in solche in keinem Charakter fest zu halten- 
den Arten über, die von den Chalinula-Arten auch 
von dem scrupulösesten Beschreiber nicht zu trennen 
sind. Wenn also die Convergenz oder die Annäherung 
von Zweigen verschiedenen Ursprungs nicht principiell 
ausgeschlossen werden kann, so bleibt der günstigste 
Fall der Uebereinstimmung aber doch noch im Bereiche 
der Analogienbildung, wo unter gleichen Anpassungs- 
verhältnissen verschiedene Stämme zu denselben, die 
vollkommene Aehnlichkeit herbeiführenden Auskunfts- 
mitteln und Differenzirungen gedrängt worden sind. 
Auch lehrt uns ein Ueberblick über die Welt der Or- 
ganismen, dass in den höhern Regionen eine solche 



140 Convergenz. 

Deckung der Enden ungleicher Ursprünge immer un- 
denkbarer wird, und dass sie, wie meine Spongien- 
studien lehren, nur da allenfalls eintreten können, wo 
die Organismen aus sehr einfachen, nach wenigen Kich- 
tungen hin sehr veränderlichen und von den äussern 
Verhältnissen sehr leicht beeinflussten Factore-n be- 
stehen. Von einer ernstlichen Gefahrdung der prin- 
cipiell allgemein gültigen Divergenz durch den Aus- 
nahmsfall der Convergenz kann keine Bede sein. 

Wenn wir oben von der Möglichkeit eines nicht 
leichten Bedenkens gegen die Descendenzlehre sprachen, 
so haben wir damit auch einen andern Fall von Con- 
vergenz im Sinne gehabt. Wir meinen nämlich solche 
ähnliche Endresultate bei divergenten Beihen, welche 
darin bestehen, dass in hoch organisirten Thiergruppen, 
welche nur in einem Zusammenhang durch niedrige 
Stammformen gebracht werden können, gewisse wich- 
tige Organe in ihren Einrichtungen und Vollkommefi- 
heiten die grösste Uebereinstimmung zeigen. Es ist 
zur Zeit völlig unentschieden , wo und wann die wahren 
Insekten von den wasserathmenden Krebsthieren sich 
abgetrennt haben; ja einige Naturforscher neigen sich 
der Ansicht zu, dass diese beiden Klassen von einem 
tiefer liegenden gemeinsamen Stamme entsprungen 
seien. So viel ist im höchsten Grade wahrscheinlich, 
dass die Trennung in Krebse und Insekten stattfand, 
als die Ausbildung ihrer Sehwerkzeuge noch nicht 
jenen Grad der Vollkommenheit erreicht hatte, den 
wir heute bei den stieläugigen Krebsen und den In- 
sekten antreffen. Gleichwol stimmen sie nicht blos in 
den gröbern Verhältnissen überein, sondern, wie Max 
Schnitze nachgewiesen, bis in das feinste mikroskopi- 
sche iDetail. Wenn auch hier, wie unten näher er- 
örtert wird und sich für unsern Standpunkt von selbst 
versteht, der Zweckbegriff als Erklärungsprincip aus- 
geschlossen ist, auch die einfache Vererbung in beiden 
Beihen, so haben wir einen andern befriedigenden 
Ausgang zu suchen. Der oben mitgetheilte Fall der 



Convergenz. 141 

convergirenden Spongienarten mag ein, wenn auch 
nur spärliches Licht werfen auf die dunkeln Pfade der 
organischen "Werkstatt. Erinnern wir uns hier einmal 
an Goethe's von uns schon citirtes Wort: „Das Thier 
wird durch Umstände zu Umständen gebildet." Viel- 
leicht lässt sich in der Zukunft etwas damit anfangen, 
denn es handelt sich wirklich darum, zu erforschen, 
wie die Umstände, nämlich gerade die im Bereich der 
Sinneswerkzeuge wirkenden und bestimmenden Agentien 
anf einfaches Material einen solchen Einfluss ausüben, 
dass die sonst weit auseinander gehenden Nachkommen 
der verschiedenen Besitzer jenes einfachen Materials 
oder unvollkommener Organe nicht nur Gleiches lei- 
stende, sondern nahezu gleichgebaute voUkommneere 
Organe erlangt haben. Noch nie hat der Darwinismus 
behauptet, schon alles erklärt zu haben; aber auch 
an diesem Punkte wird er nicht scheitern, im- Gegen- 
theil, die Anregung zu tiefem Untersuchungen mit 
schönen Erfolgen gegeben haben. Ein anderes Bei- 
spiel von Annäherung in divergenten Eeihen geben die 
Augen der höchsten Weichthiere, der Cephalopoden, 
verglichen mit denen der Wirbelthiere; allein hier 
bleibt es doch bei einer, wenn auch auffallenden Ana- 
logie. Nur der mikroskopische Bau der Nervenhaut 
ist in beiden Abtheilungen, mit Ausnahme der umge- 
kehrten Reihenfolge ihrer Schichten von innen nach 
aussen, höchst übereinstimmend. Der Fall erscheint, 
an sich betrachtet, sehr verwickelt und ohne Aussicht 
auf Lösung; er vereinfacht sich aber ausserordentlich, 
wie oben angedeutet, wenn man die Frage verallge- 
meinert, etwa so: In welcher Weise werden die noch 
indifferenten Nervenendigungen von der specifischen 
Einwirkung der Licht- und Schallwellen u. s. w. affi- 
cirt, um die Form und Beschaffenheit specifischer End- 
organe anzunehmen? Die Ergründung dieser Verhält- 
nisse mag noch fern liegen; uns musste nur darauf 
ankommen, den Vorwurf der Unzulänglichkeit der 



142 Typus gleich Stamm. 

Theorie zu heseitigen, indem wir die Möglichkeit der 
Untersuchung nach unsem Gesichtspunkten zeigten. 

Indem von Darwin die Wirkungen der Naturzucht- 
wahl bei der Fortpflanzung und Abstammung ins Licht 
gesetzt und dieses Princip auf alle Erscheinungen der 
organischen Welt angewendet wurde, ist durch die 
so befestigte und begründete Descendenzlehre die 
Systematik der Umwandlung thatsächlich unterworfen 
worden, welche Lamark vergeblich anstrebte. Die 
Systematik stellte die Organismen nach äussern und 
innem Aehnlichkeiten zusammen. Woher diese grössere 
oder geringere Uebereinstimmung , die Abstufung, die 
Mannichfaltigkeit, wusste sie nicht zu beantworten. 
Man meinte Grosses erreicht zu haben, indem man 
von Grundformen der TypeQ sprach, ohne dass man. 
sich über das innerste Wesen dieser gleich den Ideen 
über den Erscheinungen schwebenden Typen Rechnung^ 
ablegen konnte. Nun ist der Typus zum Stamm ge- 
worden, und die Systematik hat die durchaus klare 
Aufgabe, die Stammbäume der verschiedenen Gruppen 
der Lebewesen wiederzugeben und untereinander zu 
verbinden. Die Kenntniss der Stammbäume hat nun- 
mehr ecst einen wahrhaft wissenschaftUchen Inhalt im 
Vergleich zur alten Typensystematik; denn die Stamm- 
bäume lassen sich nicht construiren ohne die Erkennt- 
niss ihres Wachsthums und der Ursachen, aus welchen 
die Aeste , Zweige und Sprossen getrieben sind. Jeder 
Stamm begreift also alle Formen, welche von einer 
einfachen Stammform abstammen. Die alte Systema- 
tik musste zufrieden sein, die Gliederung der einzel- 
nen Typen auszuarbeiten und ihre Grenzen abzustecken, 
dann die Typen nach allgemeinen morphologischen und 
physiologischen Principien gegeneinander, abzuschätzen, 
um ihren relativen Werth festzustellen, alles ohne Be- 
wusstsein der natürlichen Ursachen dieser tbatsäch- 
lichen Verhältnisse. Die Descendenzlehre verknüpft 
die Stammformen der Typen abermals unter dem Ge- 
sichtspunkt der Blutsverwandtschaft und schreitet tiefer 



"Unzulänglichkeit der Selectionstheorie. 143 

und tiefer bis zu den einfachsten Organismen und dem 
Anfang des LebaiuL 

Ehe wir uns jedoch über den Ursprung de» Lebens, 
eine der Säulen der Descendenzlehre, zu verständigen 
suchen, erscheint es zweckmässig, die Frage zu be- 
rühren, ob die i]|;^ ihren Mitteln und Wirkungen in 
den folgenden Kapiteln noch näher zu erläuternde 
natürliche Zuchtwahl alle Abänderungen der organi- 
schen Wesen erklärt, ob zur Erklärung dieser Um- 
wandlungen immer die Zuchtwahl zu Hülfe gerufen 
werden muss? Mit andern Worten, ob die Selections- 
theorie allen Anforderungen zur Begründung der De- 
scendenzlehre entspricht oder der Verbesserung fähig 
und bedürftig ist? Wir können dies um so unbefan- 
gener thun, als, wie neuerdings wieder der scharfe 
sinnige Verfasser des Buches „Das Unbewusste vom 
Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie" 
bemerkt hat^*, die Wahrheit der Descendenzlehre un- 
abhängig ist von der Tragweite und Zulänglichkeit der 
Darwin'schen Theorie. „Dieses Verhältniss", heisst es, 
„wird von den meisten Gegnern Darwin's verkannt; in- 
dem dieselben Gründe für die Unzulänglichkeit der 
natürlichen Auslese im Kampf ums Dasein vorbringen, 
glauben sie in der Kegel ebenso viele Gründe gegen 
die Stichhaltigkeit der Descendenztheorie vorgebracht 
zu haben. Beides hat aber direct gar nichts mitein- 
ander zu thun; es wäre ja möglich, dass Darwin^s 
Theorie der natürlichen Zuchtwahl absolut falsch und 
unbrauchbar und dennoch die Abstammungslehre rich- 
tig wäre, dass nur die causale Vermittelung der Ab- 
stammung einer Art von der andern eine andere als 
die von Darwin behauptete wäre. Ebenso wäre es 
möglich , dass zwar theilweise die von Darwin entdeck- 
ten Vermittelungsursachen des Uebergangs statthätten, 
zum andern Theil aber Uebergangserscheinungen vor- 
lägen, welche bisjetzt nicht durch diese Annahme er- 
klärt werden konnten, und daher entweder eine ergän- 
zende Hülfshypothese zu der Darwin'schen verlangten, 



144 Wagner^s Migrationsgesetz. 

oder gar ein coordinirtes Erklärungsprincip erforder- 
ten, das bis heute ebenso wenig entdeckt wäre, wie 
das Darwin'sche es vor 20 Jahren war. jEine solche 
theilweise Unkenntniss in den wirkenden Ursachen des 
Ueberganges aus einer Form in die andere kann die 
allgemeine Wahrheit der Descendenztheorie ebenso 
wenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser Zwi- 
schenformen, oder die in manchen Fällen noch be- 
stehende Unsicherheit, von welcher gegebenen Form 
eine gegebene andere abstamme. Wenn selbst früher, 
wo noch jede Eenntniss über die den Uebergang ver- 
mittelnden Ursachen fehlte, die Abstammungslehre 
den bedeutendsten Köpfen aus allgemeinen naturphilo- 
sophischen und apriorischen Gründen gesichert erschien, 
so kann jetzt, wo durch Darwin und Wallace die un- 
zweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende 
Ursache des Uebergangs als überall wirksam und als 
für zahlreiche Fälle ausreichend klar und schlagend 
nachgewiesen ist, um so weniger mehr ein Zweifel an 
der Descendenztheorie bestehen." 

Wir haben diese Worte eines geistreichen Philoso- 
phen allen denjenigen vorhalten wollen, welche so 
barock sind, das Kind mit dem Bade auszuschütten, 
und die Descendenzlehre ins Herz getroffen zu haben 
meinen, wenn sie so glücklich gewesen sind, an Dar- 
win's Selectionstheorie einige Austellungen machen zu 
können. Leistet also die Selectionstheorie alles? Sie 
leistet Vieles und Grosses, reicht aber in manchen 
Fällen, wie es scheint, nicht aus, und in andern Fäl- 
len bedarf man ihrer nicht, sondern findet die Lösung 
der Artbildung in anderweitigen natürlichen Bedin- 
gungen. 

Ein entschiedener Anhänger der Umwandlung und 
begeisterter Verehrer Darwin's, Moritz Wagner, glaubte 
ein sogenanntes „Migrationsgesetz" aufstellen zu kön- 
nen, nämlich das Gesetz, dass „die Migration der Or- 
ganismen und deren Coloniebildung die nothwendige 
Bedingung der natürlichen Zuchtwahl" sei.^' Nach 



Wirkung der Isolirung. 145 

seiner Meinung entständen nur dann neue Arten, wenn 
in der Varietätenbildung begriffene kleinere Mengen 
von Individuen geographisch isolirt würden, da nur 
auf djese Weise die Kreuzung mit den zurückbleiben- 
den und von der Umwandlung nicht ergriffenen Art- 
genossen unmöglich gemacht, also der Eückschlag und 
das Verschwinden der noch nicht befestigten Charaktere 
verhindert würde. Dass Isolirung oft sehr vortheilhaft 
auf die Artbildung einwirkt, ist eine ganz allgemein 
anerkannte, namentlich an den Inselfaunen leicht zu 
constatirende Thatsache, dass aber die Artenbildung 
nur unter Mitwirkung der Isolirung vor sich gehen 
könne, ist von Weismann gründlich widerlegt worden.** 
Er hat gezeigt, dass „eine Kreuzung der beginnenden 
Varietät mit der Stammform durch Isolirung nicht 
vermieden wird", und unter anderm in dem so gün- 
stigen Beispiel des Steinheimer Sees die Bildung der 
neuen Arten inmitten der alten nachgewiesen. Schon 
früher hatte Wagner auf den Einwand Haeckel's, dass 
bei ungeschlechtlicher Fortpflanzung der niedrigen We- 
sen der Einfluss der Kreuzung gar nicht zu befürchten 
sei, die Nothwendigkeit der Isolirung auf die höhern 
Organismen mit getrennten Geschlechtern beschränkt. 
Allein Weismann macht mit vollem Rechte geltend, 
dass die Thatsache der Trennung der Geschlechter, 
über deren Hervorgehen aus einstigen hermaphrodi- 
tischen Arten man wol einig ist (die Schöpfungs- 
Gläubigen natürlich ausgenommen), als eines der aus- 
gezeichnetsten Beispiele der Varietätenbildung auf 
demselben Terrain dem Wagnerischen „Migrationsgesetz" 
den Boden entzieht. 

Wie wir schon oben erwähnt, scheint es, dass wenn 
einmal der Anstoss zur Varietätenbildung da ist, diese 
Tendenz sich schnell ausbreitet. Gerade Steinheim mit 
seinem Planorbis multiformis ist für den Nachweis sol- 
cher Variationsperioden sehr günstig. Fällt in eine 
solche Periode Isolirung, so bewirkt sie die Befesti- 
gung neuer Varietäten zu Arten ohne natür- 

ScHKiDT, Descendenzlehre. 10 



146 Morphologische Arten. 

liehe Züchtung. Wie Darwin in seiner Schrift über 
die Entstehung des Menschen anerkennt, hat er dieser 
Bildung sogenannter morphologischer Arten früher 
zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir verstehen 
darunter Arten, welche von ihren Stammarten sich 
nicht durch irgendwelche physiologische Vortheile un- 
terscheiden, sich also nicht über sie erheben, auf 
welche also das Princip der Zuchtwahl im strengen 
Darwin'schen Sinne keine Anwendung findet. Zwei 
Schmetterlingsarten, welche nur in einigen Tupfen und 
Zeichnungen, in einigen Zacken der Flügel vonein- 
ander abweichen, sind nach unserm Ermessen von voll- 
kommen gleichem physiologischen Werthe; es sind 
morphologische Arten. Weismann begründet den Satz, 
„dass die Färbung und Zeichnung der obern Flügel- 
fläche bei Tagschmetterlingen, mit Ausnahme der Fälle 
von Mimicry und von schützender Totalfärbung als 
rein morphologische Charaktere der Art aufzufassen 
sind^', und führt an andern Beispielen aus, „dass neue, 
wie morphologische Charaktere unter gewissen Um- 
ständen und innerhalb eines ziemlich kleinen Spiel- 
raums blos durch die Wirkung der Isolirung fixirt 
werden können". Auf die Nichtanwendbarkeit der 
natürlichen Züchtung auf die Hervorbringung der rein 
morphologischen Abänderungen hatte zuerst Nägeli 
hingewiesen. ^* Mit Bezug hierauf sagt der in seiner 
Bescheidenheit so grosse Darwin: „Ich gebe jetzt, 
nachdem ich die Abhandlung von Nägeli über die 
Pflanzen und die Bemerkungen verschiedener Schrift- 
steller, besonders die neuerdings vom Professor Broca '* 
in Bezug auf die Thiere geäusserten gelesen habe, zu, 
dass ich in den frühern Ausgaben meiner Entstehung 
der Arten wahrscheinlich; der Wirkung der natürlichen 
Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu 
viel zugeschrieben habe. Ich habe die fünfte Ausgabe 
der «Entstehung» dahin abgeändert, dass ich meine 
Bemerkungen nur auf die adaptiven (d. h. die für die 
nöthigen Anpassungen sich vortheilhaft erweisenden) 



Anfang des Lebens. 147 

Veränderungen des Körperbaues beschränkte. Ich 
hatte früher die Existenz vieler Structurverhältnisse 
nicht hinreichend betrachtet, welche, soweit wir 
es beurtheilen können, weder wohlthätig noch schäd- 
lich zu sein scheinen, und ich glaube, dies ist eins 
der grössten Versehen, welche ich bisjetzt in meinem 
Werke entdeckt habe." "^ 

Wir möchten meinen, dass das Versehen, dessen 
sich Darwin anklagt, so gross nicht ist, indem es sich 
hier um die mehr gleichgültigen, für die grosse Er- 
scheinung der fortschreitenden Entwickelung indifferen- 
ten Arten handelt, deren Entstehung aus der blossen 
Veränderlichkeit und allenfalls, wie wir oben gesehen, 
der Mitwirkung der Isolirung vollkommen verständlich 
ist. Dem Werthe der natürlichen Züchtung geschieht 
durch die Entbehrlichkeit der Theorie für die Erklä- 
rung der rein morphologischen Arten nicht der ge- 
ringste Abbruch. Für gewisse Fälle der Mimicry oder 
der Bildung der natürlichen schützenden Masken und 
Nachahmungen, für das Verständniss der organischen 
Schönheit scheint die natürliche Züchtung nicht aus- 
zureichen. Was beweist es weiter, als dass, wie wir 
alle wissen, die künftigen Geschlechter den Bau wei- 
ter zu führen haben? Die Zuthaten, welche die Gegen- 
wart der Selectionstheorie hat bringen können, sind 
kaum nennenswerth. 

Indem der Typus zum Stamm geworden, und das 
System als der kürzeste Ausdruck oder die Zusammen- 
fassung der verwandtschaftlichen Beziehungen der Or- 
ganismen an der Wurzel des Stammbaums eine Anzahl 
niedrigster und einfachster Organismen, vielleicht nur 
eine einzige Urform unserer Vorstellung aufnöthigt, 
müssen wir uns mit dem Problem des Anfangs des 
Lebens auseinandersetzen. Noch in neuester Zeit, im 
März 1873, hat Max Müller in Uebereinstimmung mit 
vielen Meinungsgenossen wieder proclamirt, dass die 
Darwin'sche Theorie in Anfang und Ende verwundbar 
sei"* — „the Darwinian theory vulnerable at the heginning 

10* 



148 Anfang des Lebens. 

and at the end". Ob das Ende des Darwinismus, näm- 
lich die Anwendung der natürlichen Zuchtwahl auf 
die Entstehung des Menschen und seiner einzigen 
charakteristischen Eigenthümlichkeit, der Sprache, er- 
hebliche Angriffspunkte bieten, haben wir noch Ge- 
legenheit zu untersuchen. Was aber der berühmte 
Sprachforscher den verwundbaren Anfang des Darwi- 
nismus, die Entstehung des Lebens, nennt, hat mit 
dem eigentlichen Darwinismus, der natürlichen Züch- 
tung, eigentlich gar nichts zu thun, es sei denn, dass 
man das Princip der Zuchtwahl auch auf die unorga- 
nische Körperwelt ausdehnt. Wir verstehen aber natür- 
li<5h den Einwurf, welcher der Descendenzlehre , nicht 
der Selectionstheorie die Basis entziehen will und den 
Anfang des Lebens als unbegreiflich und übernatürlich 
darstellt, um für die UebernatürUchkeit der Sprach- 
schöpfung einen Präcedenzfall zu haben. Zwischen 
Anfang und Ende dürfen wir Naturforscher walten 
nach Belieben. Es ist aber merkwürdig, dass gerade 
von der Seite , welche uns gern Mangel an philoso- 
phischer Methode und Schlussfolgerung vorwirft, hier, 
wo das materielle Substrat nicht vorhanden, der Natur- 
forschung die Berechtigung der Consequenz des Ge- 
dankens streitig macht. Auf der letzten Seite der 
„Entstehung der Arten" sagt Darwin: „Es ist wahr- 
lich eine grossartige Ansicht, dass der Schöpfer den 
Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder 
nur einer einzigen Lebensform eingehaucht hat, und 
dass, während unser Planet den strengen Gesetzen 
der Schwerkraft folgend, sich im Kreise schwingt, aus 
so einfachem Anfange sich eine endlose Eeihe der 
schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat 
und noch immer entwickelt." Mit diesem Zugeständ- 
niss ist sich Darwin allerdings untreu geworden, und 
es befriedigt weder diejenigen, welche an das fort- 
dauernde Schöpfungswerk eines persönlichen Gottes 
glauben , noch die Anhänger der natürlichen Entwicke- 
lung. Es ist geradezu unverträglich mit der Descen- 



Anfang des Lebens. 149 

denzlehre, oder, wie Zöllner*' sagt: „Die Annahme 
eines Schöpfungsactes (für den Beginn des Lebens) 
wäre keine logische, sondern nur eine willkürliche 
Begrenzung der Causalreihe, gegen welchen sich unser 
Verstand auf Grund des ihm innewohnenden Causa- 
litätsbedürfnisses sträubt." Wer dieses Bedürfhiss nicht 
hat, dem ist nicht zu helfen, und er ist nicht zu über- 
zeugen. Man bricht eben mit der gesammten Erkennt- 
nisstheorie, wenn man den Anfang des Lebens inmitten 
einer sonst ununterbrochenen Entwickelung als einen 
willkürlichen Schöpfungsact setzen will. 

Man pflegt die Entscheidung über den Beginn des 
Lebens von dem Standpunkt abhängig zu machen, den 
man zur Frage über die Möglichkeit der Urzeugung 
oder freiwilligen Zeugung (Generatio aequivoca), in der 
gegenwärtigen Zeit einnimmt. Ein solches Verfahren 
ist nach unserer Meinung nur halb richtig. Die sub- 
tilsten Versuche über die freiwillige Entstehung, sei es 
aus organischem Stoffe, sei es aus Elementen, welche 
noch nicht zu Moleculen organischer Stoffe zusammen- 
getreten waren, sind nach keiner Seite hin entschei- 
dend gewesen. Weder die Unmöglichkeit noch die 
Möglichkeit ist experimental zu beweisen; immer bleibt 
für den Zweifler die Ausflucht, zu sagen, wenn nichts 
wird, dass eben die Umstände des Experimentes an 
dem Mislingen der Urzeugung schuld sind, und, wenn 
etwas zum Vorschein kommt, dass trotz aller Vor- 
sichtsmassregeln doch die Keime ihren Weg in die 
Infusion gefunden hätten. Die Ansicht über noch jetzt 
fortdauernde Urzeugung ist also schliesslich nur ein 
Ausfluss der gesammten Naturanschauung des Einzelnen. 
Wer die Möglichkeit offen hält, dass noch heute Le- 
bendiges sich aus dem Unlebendigen ohne Vermittelung 
von Vorfahren erzeugt, für den ist die Ueberzeugung 
der ersten Entstehung des Lebens auf diesem natür- 
lichen Wege ohne weiteres selbstverständlich. Aber 
selbst wenn der Beweis geführt würde, der nie geführt 



150 Wallace. 

werden kann, dass in der Jetztwelt Urzeugung nicht 
stattfindet, so würde der Schluss falsch sein, dass sie 
nie stattgehaht habe. Als unser Planet bei jener Stufe 
der Entwickelung angelangt war, wo der Wärmegrad 
der Oberfläche die Bildung von Wasser und das Be- 
stehen eiweissartiger Substanzen zuliess, waren die 
Mengen und Mischungsverhältnisse der Bestandtheile 
der Atmosphäre andere als jetzt. Tausend Umstände, 
die wir heute nicht in unserer Gewalt haben , und über 
deren mögliche Beschaffenheit nachzugrübeln überflüssig 
ist, konnten die Bildung des Protoplasma, dieses Ur- 
organismus, aus den Atomen seiner Bestandtheile her- 
beiführen. 

Der einstige Anfang des Lebens ist also ebenfalls 
factisch nicht zu demonstriren ; die Annahme des Ein- 
trittes des Lebendigen zu einer bestimmten Zeit der 
Entwickelung auf natürlichem Wege ist aber eine logi- 
sche Nothwendigkeit, und nicht im entferntesten ein 
verwundbarer Punkt der Descendenzlehre. '* 

Wir haben oben nur im Vorübergehen einen Mann 
erwähnt, der zwar nicht auf der Höhe Darwin's steht, 
aber den Ruhm hat, unabhängig von jenem ebenfalls 
das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl entdeckt und, 
nachdem Darwin mit seiner grundlegenden Arbeit her- 
vorgetreten war, die Selectionstheorie durch eine Fülle 
selbständiger Beobachtungen gestützt zu haben. Das 
ist Alfred Rüssel Wallace. '* Er wies in einem 1855 
veröffentlichten Aufsatz die Abhängigkeit der Flora 
und Fauna von der geographischen Lage und geolo- 
gischen Beschaffenheit des Verbreitungsbezirkes nach, 
und den engsten Zusammenhang der Arten nach Zeit 
und Raum mit früher vorhandenen verwandten Arten; 
und in einer zweiten Arbeit über die Neigung der 
Varietäten, vom Urtypus unbegrenzt abzuweichen, aus 
dem Jahre 1858, finden wir die Bedeutung des Kam- 
pfes ums Dasein (the struggle for existence) erörtert, 
die Folgen der Anpassung, die Auslese des Nützlichen 



Vererbung. 151 

und den Ersatz der frühern Arten durch die befestig- 
ten werthvoUern Varietäten. Wir werden wiederholt 
Gelegenheit haben, aus dem reichen Brunnen seiner 
Untersuchungen zu schöpfen. 



VIII. 

Tererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. Anpassung. 
Polgen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Or- 
gane. Differenzirung führt zur Vervollkommnung. 

Die beiden Eigenschaften der organischen Wesen, 
welche das Verhältniss der Nachkommen zu den Er- 
zeugern bestimmen und regeln und den Individuen 
ihre Stellung in der umgebenden Welt anweisen und 
erringen helfen , sind die Fähigkeiten der Vererbung 
und Anpassung. 

Die Vererbung ist das conservative Princip, die An- 
passung das fortschrittliche. Doch ist nicht alle Ver- 
erbung auf die Unveränderlichkeit gerichtet, und zahl- 
reiche Fälle I der Anpassung ziehen morphologischen 
und physiologischen Eückschritt nach sich. In der 
Klarlegung der vererbten Eigenthümlichkeiten der Or- 
ganismen reconstruiren wir ihren Stammbaum; an den 
durch die Anpassung erworbenen Eigenschaften er- 
proben wir die Biegsamkeit des Organismus im Laufe 
der Zeit und verfolgen die Verzweigungen des Stamm- 
baums. Organismengruppen mit vorherrschend conser- 
vativem Princip legen damit allerdings für ihre Wider- 
standskraft im Kampfe ums Dasein Zeugniss ab, kommen 
aber in ihrem physiologischen Werthe nicht weiter 
und werden von den progressivem, sich in die Hin- 
dernisse der Welt einlassenden und aus ihnen Vortheil 
ziehenden Gruppen überflügelt, wofür ja auch das 
menschliche Leben so viele Belege liefert. 



152 Vererbung. 

Da die Erscheinungen der Vererbung greller her- 
vorzutreten pflegen, als die Folgen der Anpassung, sa 
hat die frühere Naturforschung die letztere fast gänz- 
lich vernachlässigt. In der That, welche Vergleichung 
in der organischen Natur kann man wol häufiger und 
allgemeiner anstellen, als dass die Nachkommen den 
Aeltem ähnlich sind? Zwar hat ein Anatom in einem 
eigenen Buche den Satz durchführen wollen, dass die 
Aehnlichkeit der Kinder nicht auf der Vererbung be- 
ruhe , sondern ein Eesultat der gleichen und ähnlichen,, 
in den Familien vorherrschenden Einflüsse, Sitten und 
Gewohnheiten sei. Allein diese paradoxe Lehre bedarf 
keiner besondern Widerlegung. Es ist ganz richtig, 
dass gleiche Gewohnheiten und gleiche äussere Ver- 
anlassungen eine gewisse Gleichförmigkeit in Haltung 
und Miene hervorrufen; wenn aber der kleine Sohn 
des gravitätisch einherschreitenden Geldmannes seinen 
Vater copirt, so kann es uns doch nicht einfallen zu 
behaupten, er habe ihm auch die grosse oder kleine 
Nase u. s. w. abgeguckt oder aus dem gleichen An- 
passungsbedürfniss erhalten. Wir haben jene, dem 
allgemeinen Bewusstsein zuwiderlaufende Spitzfindigkeit 
nur erwähnen wollen, und constatiren in Uebereinstim- 
mung mit demselben die Uebertragung der älterlichen 
Eigenthümlichkeiten auf die Nachkommen. Die Thier- 
zucht insbesondere hat Gelegenheit gehabt, diese Ueber- 
tragungen speciell zu beobachten und aus der Com- 
bination und Beeinflussung der verschiedenen Formen 
und Grade der Vererbung ihre so staunenswerthen 
Fortschritte herzuleiten. 

Bekanntlich werden nicht blos die normalen Zu- 
stände vererbt; auch Monstrositäten pflanzen sich durch 
mehrere Generationen fort oder können sich sogar, 
wie uns oben das Beispiel der krummbeinigen Schafe 
in Massachusetts zeigte, zu Kassencharakteren be- 
festigen. Es bedarf auch nur des Hinweises auf die 
Erblichkeit von Krankheitsanlagen, körperlichen wie 
geistigen, um uns diese innigste Verknüpfung der 



Vererbung. 153 

Nachkommen mit den Vorfahren zu vergegenwärtigen. 
Erst seitdem die Selectionstheorie die Modalitäten der 
Vererbung körperlicher Eigenschaften zum Gegenstande 
tiefem Studiums gemacht hat, konnte die allgemeine 
und die Völkerpsychologie die Anregung empfangen, 
auch auf dem geistigen Gebiete den Einfluss der Ver- 
erbung zu würdigen und nachzuweisen, wie mit den 
molecularen Besonderheiten des Gehirns auch die An- 
lage des Charakters und der Intelligenz der Indivi- 
duen und ganze Vorstellungsreihen nach Stärke und 
Inhalt bei den verschiedenen Volksstämmen und Völker- 
familien sich nach den Gesetzen der Vererbung 
richten. 

Es liegt auf der Hand, dass der Schlüssel für die 
Erscheinungen der Vererbung im Vorgang der Fort- 
pflanzung zu suchen ist. Die molecularen Bewegungen 
und Anregungen, welche dabei stattfinden, die über 
alle Vorstellung minimalen mechanischen Ueb ertra- 
gungen lassen sich freilich nicht beobachten, sie sind 
jedoch nicht „dunkler" oder „räthselhafter" , wie man 
sie gern nennt, als die unsichtbaren und doch nicht 
übernatürlichen Bewegungen, auf deren Controle und 
Berechnung das stolze Gebäude der theoretischen Che- 
mie und Physik sicher ruht. Mit dem Fortschritt von 
der ungeschlechtlichen zur geschlechtlichen Fortpflan- 
zung und von den einfachen zu den vollkommnern 
Organismen wächst die Schwierigkeit des Vorstellens, 
aber nicht des abstracten Begreifens. "Wenn ein nie- 
driges Wesen, eine Monade, sich theilt, so weichen 
die Theilindividuen nur durch die geringere Körper- 
masse von dem Mutterindividuum ab, und der Unter- 
schied, wie sie jetzt functioniren, von dem, was sie 
als Theile des Ganzen leisteten, ist der Qualität nach 
Null. Auch wo sich Knospen und Keime von einem 
mütterlichen Organismus loslösen, ist die materielle 
Mitgift der Sprösslinge so gross, dass die Gleichheit 
der Form und Function von Erzeuger und Erzeugtem 
als selbstverständlich und natürlich erscheint. Aber 



154 Hypothese der Pangenesis. 

auch hei der geschlechtlichen Fortpflanzung der zu- 
sammengesetztesten Organismen handelt es sich unter 
allen Umständen, wie wir seit Widerlegung der alten 
Lehre von der aura seminalis wissen, um di« Ablösung 
materieller Theile der älterlichen Organismen. Es 
bleibt ein mechanischer Vorgang, der nicht unbegreif- 
lich und nur dann unerklärlich erscheint, wenn wir 
den natürlich vergeblichen Versuch machen, das 
Unendlichkleine , welches dabei mechanisch und che- 
misch thätig ist, uns sinnlich vorstellen zu wollen. 
Darwin hat im „Variiren der Pflanzen und Thiere" 
eine provisorische Hypothese der Pangenesis auf- 
gestellt. Er sagt, dass alle Erscheinungen der Ver- 
erbung und des Rückschlags dadurch möglich würden, 
dass in jedem Elementartheile des Organismus fast 
unendlich viele Keime producirt würden, welche sich 
in den Fortpflanzungsstoffen, also in jedem Ei, jedem 
Samenkörperchen aufspeicherten, durch Hunderte von 
Generationen latent bleiben und dann erst im Rück- 
schlag sich geltend machen könnten. ''^ Diese Hypo- 
these hat, wie uns scheint, keinen lebhaften Beifall 
gefunden, wir meinen deshalb, weil beim Versuch, 
über dieselbe nachzudenken, alsbald die sinnliche Vor- 
stellung sich hervordrängt, um sich als unzulänglich 
zu erweisen. Hält man aber den Gedanken fest, dass 
auch die complicirtesten Erscheinungsformen des Lebens 
im Protoplasma, wie Rollet es treffend nennf , einen 
beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges mit den 
einfachsten besitzen, so folgt die Gültigkeit der für 
die einfachsten Organismen als wahr bewiesenen oder 
wahrscheinlich gemachten allgemeinen Gesetze auch 
für die vollkommensten von selbst. Das gilt auch für 
die Fortpflanzung, die in ihren untersten Erscheinun- 
gen nichts bietet, was nicht durch die auf die imbi- 
bitionsfähige , zähflüssige lebende Substanz angewendete 
Molecular - Physik begründet und des vitalistischen 
Dualismus entkleidet werden könnte. 

Je zusammengesetzter ein Organismus, d. h. je grösser 



Rückschlag. 155 

die DifFerenzirung in der Entwickelung vom Proto- 
plasma der Eizelle bis zur Eörperreife, um so ver- 
schiedenartiger äussert sich die Vererbung. Diese 
Yererbungsarten sind von Darwin, und noch systema- 
tischer von Haeckel als „Vererbungsgesetze" formulirt 
und in den betreffenden Werken mit einer Fülle von 
Beispielen belegt werden. Wenn man die Vererbung 
überhaupt das Conservative im Leben der Arten nen- 
nen kann, so darf man doch noch im besondern von 
einer conservativen Vererbung sprechen, durch 
welche die alten, längst befestigten Merkmale und 
Eigenthümlichkeiten übertragen werden. Je hartnäcki- 
ger ein Charakter überliefert wird, oder, was auf 
dasselbe hinauskommt, über eine je grössere Anzahl 
von Familien, Gattungen, Arten ein Charakter sich 
verbreitet, als desto älter muss er angesehen werden, 
desto früher ist er im Stamm aufgetreten. In den 
allermeisten Fällen Endet diese conservative Vererbung 
in ununterbrochener Beihenfolge der Generationen statt, 
über welche von jedermann täglich zu machende Beob- 
achtung keine Worte zu verlieren sind. Die conser- 
vative Vererbung kann aber auch sprungweise zur 
Erscheinung kommen, indem entweder blos einzelne 
Eigenschaften der Vorfahren, nachdem sie eine, meh- 
rere oder viele Generationen hindurch latent geblieben 
sind, wieder zum Vorschein kommen — was wir Ata- 
vismus oder Kückschlag nennen; oder indem die 
Art sich aus verschieden gebildeten und regelmässig 
sich einander ablösenden Zeugungsformen und Indivi- 
duen zusammensetzt. Diese besondere Art des Bück- 
schlags heisst Generationswechsel. 

Niemand wundert sich darüber, wenn Kinder kör- 
perliche oder geistige Züge der Grossältern an sich 
tragen, die in den Aeltem paiisirt haben. Am häu- 
figsten und auffallendsten ist aber der Atavismus der 
Hausthiere und Nutzpflanzen, ein zäher Gegner der 
Züchter. lieber kein Hausthier hat man hinsichtlich 
ihrer Stammart eine ähnliche Gewissheit, als über die 



156 Rückschlag. 

Taube. Nun gibt es Taubenrassen, welche seit meh- 
rern Jahrhunderten rein gezüchtet und in Färbung 
und Form zu neuen Wesen umgewandelt worden sind, 
gleichwol aber von Zeit zu Zeit entweder aus sich 
heraus oder in Kreuzung mit andern auffallenden 
Rassen Thiere hervorbringen, welche in Färbung und 
charakteristischer Zeichnung von schwarzen Binden 
auf Flügeln und Schwanz der wilden Felstaube glei- 
chen. „Ich paarte", erzählt Darwin*^, „einen weiblichen 
Barb-Pfauentauben-Bastard mit einem männlichen Bar- 
ben-Blässtauben-Bastard. Keiner von beiden hatte auch 
nur das geringste Blau an sich. Man muss sich erinnern, 
dass blaue Tauben äusserst selten sind, dass Bläss- 
tauben schon im Jahre 1676 vollständig als solche 
charakterisirt waren und völlig rein züchten; und dies 
ist in gleicher Weise bei weissen Pfauentauben der 
Fall, und zwar so sehr, dass ich nie von weissen 
Pfauentauben gehört habe, die irgendeine andere 
Farbe hervorgebracht hätten; — nichtsdestoweniger 
'waren die Nachkommen der beiden obigen Bastarde 
von genau derselben blauen Färbung über den ganzen 
Rücken und die Flügel, als die wilden Felstauben von 
den Shetland- Inseln. Die doppelten schwarzen Flü- 
gelbinden waren in gleicher Weise deutlich ; der Schwanz 
war in allen seinen Merkmalen genau jenen gleich, 
und das Hintertheil war rein weiss." Ein anderer oft 
zu beobachtender Rückschlag ,ist die Streifung der 
verwilderten europäischen Hauskatze, womit sie sich 
bis zum Verwechseln der Wildkatze nähert. Darwin 
hat die Gründe zusammengestellt, aus denen man auf 
eine gestreifte wilde Stammart des Pferdes schliessen 
darf; dahin gehört das Auftreten von gestreiften In- 
dividuen. Aber noch ein anderes seltsames Vorkommen 
bei Pferden findet seine Deutung im Atavismus. Es 
werden mitunter Fohlen mit überzähligen Zehen ge- 
boren. Diese „Monstrosität" kann nur erklärt werden 
durch Rückschlag auf die dreizehigen historischen Vor- 
fahren der jetzigen Gattung. Diese Belege mögen genügen. 



Progressive Vererbung. 157 

Die gesammten Erscheinungen der künstlichen Züch- 
tungen, sowie die natürliche Zuchtwahl zeigen, dass 
nicht blos die von alters her überkommenen, sondern 
auch die neuerlich und jüngst erworbenen Eigenschaf- 
ten auf die Nachkommen übertragen werden können. 
Das ist die progressive Vererbung. Ohne sie 
wäre die Veredlung und der Fortschritt unmöglich, 
und ihre eigene Möglichkeit ergibt sich unmittelbar 
aus dem Wesen der Fortpflanzung. Je neuer eine 
nützliche Abänderung, desto weniger hat sie sich noch 
in Correlation mit dem gesammten Organismus setzen 
können, desto weniger ist noch das Fortpflanzungs- 
system von ^hr berührt, desto ungewisser und schwan- 
kender ist also auch die Uebertragung durch die Fort- 
pflanzung, und es bedarf der Züchtung oder der Auslese 
durch die Natur, um die Möglichkeit des Fortschrittes 
durch wiederholte Vererbung zur Thatsache zu machen 
und diese Thatsache nach und nach in die conserva- 
tiven Vererbungen einzureihen. Die progressive Ver- 
erbung complicirt sich natürlich bei Trennung der 
Geschlechter, wo die sexuelle Zuchtwahl in ihre Kechte 
tritt und die Vorzüge des einen Geschlechts durch 
den Geschmack des andern gezüchtet werden, dann 
aber entweder nur auf das durch die secundären Cha- 
raktere bevorzugte Geschlecht übertragen werden oder 
der Art als Ganzes zugute kommen. In der Kegel 
sind die Männchen mit diesen Vorzügen begabt und 
haben dieselben in einem unvollkommenen Zustande 
auf die Weibchen vererbt. Wir wollen uns nur durch 
ein einziges Beispiel orientiren, In der Insektenord- 
nung der Geradflügler (Orthoptera) sind die Männchen 
im Stande , durch Beiben der Flügeldecken aneinander, 
oder indem sie mit den Schenkeln der Hinterbeine an 
die Flügeldecken streichen, eine die Weibchen anlockende 
Musik zu machen. V. Graber, ein ausgezeichneter jün- 
gerer Entomolog, hat nachgewiesen"*, dass die Zahn- 
leisten an den Streichinstrumenten dieser Thiere nur 
modificirte Haare sind, dass sich ihre Beschaff'enheit 



158 Vererbung in entsprechenden Lebensperioden. 

aus dem Gebrauche erklärt, und dass sie höchst wahr- 
scheinlich durch die sexuelle Zuchtwahl sich vervoll- 
kommneten, indem die besten und lautesten Musikanten 
die begünstigtsten Liebhaber waren. Die Weibchen 
der Geradflügler sind, mit einer einzigen Ausnahme, 
stumm; viele besitzen aber Spuren solcher den Männ- 
chen eigenthümlichen Zirpwerkzeuge. Entgegen der 
frühem Meinung, dass nur eine von den Männchen 
ausgehende Vererbung vorläge, hat Graber es „mehr 
als wahrscheinlich gemacht, dass sich die Tonadern 
der Weibchen — der musicirenden Ephippigera Vi- 
tium — ganz unabhängig von denen der Männchen^ 
doch auf die gleiche Weise, wie bei di^en, schritt- 
weise entwickelt haben". In andern Fällen dagegen 
scheinen die schwach entwickelten und zum vernehm- 
baren Musiciren nicht geeigneten Tonadern der Weib- 
chen ein Erbstück von den Männchen her zu sein. 

Eine allgemein bekannte Erscheinung ist die Ver- 
erbung zu entsprechenden Lebensperioden. 
Die Anlage zu Krankheiten geht von Vater oder 
Mutter auf das Kind über, um in den Jahren, wo jene 
litten, durchzubrechen. Das Milchgebiss macht von 
Generation zu Generation zur selben Zeit der defini- 
tiven Bezahnung Platz. Alle speciellen Fälle sind 
aber nur Ausflüsse des allgemeinen Gesetzes der Ent- 
wickelung, wo im Individuum die Charaktere in der 
Reihenfolge auftreten, wie sie historisch erworben wur- 
den und vererbt werden konnten. Die Vererbung im. 
bestimmten Lebensalter , nach der Zeit, wo wir die eigent- 
liche Entwickelung für abgeschlossen ansehen, ist doch, 
nur eine Fortsetzung der mit Theilung, Keim und Ei 
beginnenden embryonalen Entwickelung, deren Bedeu- 
tung uns das neunte Kapitel kennen lehrt. Bei die- 
ser Entwickelung des Individuums, der Ontogenie, 
werden, wie unten ebenfalls näher zu beleuchten, oft 
Vorgänge zusammengedrängt, oder fallen ganz aus^ 
welche einst, als sie erworben wurden und nachdem 
sie sich befestigt hatten, grössere Zeit in Anspruch. 



r 



Veränderlichkeit. 159 

nahmen, im Verlaufe der Zuchtwahl aber von gerin- 
gerer Bedeutung für das Individuum wurden oder 
einen physiologischen Werth nur als Durchgangspunkte 
behielten. 

Die zweite grosse Klasse von Charakteren, nämlich 
derjenigen, welche neu erworben wurden und auf der 
Anpassung beruhen, setzt die Veränderlichkeit 
des Organismus voraus. Dieselbe ist eine Grunderschei- 
nung der organischen Körper. Sie inhärirt den klein- 
sten Formbestandtheilen , dem Protoplasma und den 
Zellen und den aus ihnen hervorgehenden Formelemen- 
ten, aus deren sich durchdringenden und bedingenden 
Einzelleben das Gesammtleben des Individuums resul- 
tirt. Das organische Formelement befindet sich im 
Zustande der Quellung, es imbibirt fortwährend und 
scheidet ab, ist also in seinem Bestände unausgesetzt 
von der Zufuhr des Materials für seine Thätigkeiten 
abhängig. Was im grossen und ganzen das Aussehen 
und die Bescha£fenheit der Individuen bedingt, die 
Ernährung, vollzieht sich ja nur an den unzähligen 
Zellen und ihren Derivaten. Jede Schwankung der 
Zufuhr in jedem Theile des Organismus, ja an jeder 
Stelle der Oberfläche eines mikroskopischen Bausteines, 
muss mit Nothwendigkeit eine Veränderung von Ge- 
webstheilen oder zu Organen vereinigten Gewebs- 
gruppen nach sieh ziehen. So ist die Veränderlichkeit 
eine aus der eigensten Natur des Organischen sich 
von selbst ergebende Eigenschaft, abhängig von den 
äussern Verhältnissen, von welchen Fülle und Form, 
Ausbildung und Umbildung der Elementartheile , oder 
Verkümmerung und Rückbildung derselben bedingt 
wird. Man kann sich von diesen Wirkungen durch 
die Betrachtung eines Polypenstockes ein Bild machen, 
der als Ganzes dem Individuum, in seinen einzelnen 
Polypen den Zellen und Formelementen gleicht. Die 
Einzelindividuen sind der Anlage nach gleichwerthig, 
aber gewöhnlich sehr verschieden stark und entwickelt, 
selbst bei den Arten, wo die unstreitig durch Selection 



160 Veränderlichkeit. 

hervorgerufene DifFerenzirung nicht zur Trennung in 
verschieden functionirende Personengruppen , zum 
Polymorphismus gefuhrt hat. Das Wohl und Wehe 
der Polypen unsers Stockes ist gar sehr von der 
Stellung abhängig, welche sie auf demselben einnehmen; 
der Zufluss von Nahrung, auf welche in erster Linie 
die Einzelindividuen angewiesen sind, vertheilt sich 
ungleich und wechselnd, je nach Strömung und Bran- 
dung. Es gibt daher an jedem Polypenstock Regionen, 
wo die Personen besonders gut gedeihen, andere, wo 
sie sich eben noch erhalten , andere , wo sie ihre Beeb- 
nung nicht mehr finden. Da aber der Polypenstock 
von einem die einzelnen Zellen verbindenden Kanal- 
System für die Emährungsflüssigkeit durchzogen ist, 
so kommt der Ueberschuss der gut situirten Zellen 
denen zugute, welchen durch ihre zufällige Stellung 
ein schlechteres Los bereitet ist, und umgekehrt. Aus 
diesen sehr complicirten , aber für unsern Vergleich 
noch sehr einfachen Verhältnissen summirt sich Gestalt 
und Aussehen des Polypenstockes. Unter Hunderttau- 
senden von Stöcken wird man nicht zwei einander ab- 
solut gleiche finden. Selbst wenn zwei Individuen 
derselben Art, um auf die Veränderlichkeit der Orga- 
nismen zurückzukehren, unter den denkbar gleich- 
förmigsten Verhältnissen erzogen werden, hat noch 
nie die absolute Gleichheit derselben behauptet wer- 
den können. Dass die Veränderlichkeit bei den nie- 
dern Organismen geringer sei als bei den hohem, ist 
ein oft wiederholtes, durch das alte Artdogma be- 
festigtes Vorurtheil. Es stände schlimm um die Ab- 
stammungslehre und Auslese, wenn es so wäre. Wie 
aber der Hirt die Physiognomien seiner Schafe sicher 
unterscheidet, wo ein städtischer Spaziergänger nur 
ein allgemeines Hammelgesicht sieht, so löst sich auch 
dem aufoierksamen Naturforscher der Arttypus bei den 
meisten niedern Organismen in ebenso viele Variationen 
als Individuen auf, ganz abgesehen von allen den 



Anpassung. 16 1 

Fällen, wo die Fesstellung des Arttypus in gar keiner 
Weise gelingt. 

Die Anpassung als Yeränderung unter gegebenen 
Verhältnissen ist also sowenig wie die Vererbung 
eine unbekannte Grösse, sondern eine Function der 
mechanischen Eigenschaft der Veränderlichkeit, oder, 
im weitesten Sinne des Wortes, der Ernährung. Die 
Anpassung geht vor sich, indem der Organismus oder 
Theile desselben sich unter den verschiedenen äussern 
Einflüssen biegsam und bildsam zeigt, sie überwindet, 
sich zu Nutze macht. Klima, Licht, Feuchtigkeit, 
Nahrung, alle Hindernisse und Fördernisse, welche 
direct oder indirect auf den Organismus einwirken, 
sind dabei thätig. Von Organismen umgeben, sehen 
wir sie ohne Ausnahme sich den Umständen anpassen, 
und wenn es uns um nichts anderes zu thun ist, als 
uns überhaupt von dem gestaltenden Einfluss der Le- 
bensweise zu überzeugen, so geschieht dies am leich- 
testen bei den Hausthieren. In seinen Studien über 
das Schwein hat der vielleicht wissenschaftlichste unter 
den berühmten Thierzüchtern , H. v. Nathusius'^, ge- 
zeigt, wie der Schädel des Hausschweines selbst in 
dem einfachsten Falle, wo ihm nur der durch die 
Cultur mehr gelockerte Boden die Arbeit des Wühlens 
erleichtert, durch die weichern Formen des Schädels 
auf der Jugendform des Wildschweines stehen bleibt, 
und wie jene extremen Eopfbildungen der Culturras- 
sen, welche durch Knickung und Verkürzung des Ge- 
sichts, sowie die Unmöglichkeit, das Gebiss vorn zu 
schliessen, charakterisirt sind, lediglich eine Folge der 
veränderten Lebensweise sind. Es ist bekannt, dass 
Menschen, Thiere und Pflanzen, in eine weit von 
ihrem bisherigen Wohnort entfernte neue, fremdartige 
Umgebung versetzt, entweder nach längerm oder kür- 
zerm Bestreben des Organismus, sich heimisch zu 
machen, absterben, oder in die neuen Verhältnisse 
sich finden und sich acclimatisiren. Jede Acclimati- 
sation ist also Anpassung, begleitet von sichtbaren. 

ScHioDT, Descendenslehre. W 



162 Anpassung. 

oder auch weniger bemerkbaren Aenderungen. So 
gehen infolge der verschiedenen Lebensbedingungen 
Yolksstänune weit auseinander, die nach der Verwandt- 
schaft ihrer Sprachen eines Ursprunges sind, um von 
denen hier nicht zu reden, über deren Beziehungen 
die Sprachforschung noch nicht entschieden hat. Wie 
abweichend ist das Gepräge der Engländer von dem 
der Hindus; sie stellen somatisch und psychisch zwei 
ausgezeichnete Unterrassen dar, deren Eigenthümlich- 
keiten der Anpassung zuzuschreiben sind, hier an ein 
Klima, welches Pflanzennahrung verlangt, die körper- 
liche und geistige Energie nicht herausfordert, eine 
träumerische Sinnlichkeit begünstigt, dort an ein Land^ 
welches in allen Richtungen das Gegentheil der indi- 
schen Urheimat ist. Auch der jährliche Wechsel in 
den Lebenserscheinungen so vieler Organismen, wel- 
chen wir als Mauser bezeichnen, ist Anpassung. Sie 
wird sogleich modiflcirt, wenn der Organismus einem 
veränderten Klima ausgesetzt wird, oder vielmehr ist 
die Acclimatisation im wesentlichen die Accomodirung 
der Mauser an das neue Klima. 

In allen diesen Beispielen haben wir die Besultate 
directer Anpassung, wobei die Widerstandsfähig- 
keit der Individuen in Eechnung kommt, sowie die 
cumulative Anpassung bei der künstlichen Zuchtwahl 
und die Auslese des Bessern durch die Naturzüchtung. 
Ueberall, wo es sich um Anpassung handelt, werden 
ein oder einige Organe in erster Linie activ oder 
passiv betheiligt sein, und erst infolge der hieraus 
ableitbaren Umänderungen werden andere Organe in 
Mitleidenschaft gezogen. Dies ist correlative An- 
passung zu nennen. Man könnte vielleicht meinen, 
die parasitischen Thiere gäben hierfür die anschaulich- 
sten Beispiele, wo mit der Veränderung der Nahrung 
und der Nahrungswerkzeuge, namentlich der Mund- 
theile, eine oft bis zum gänzlichen Schwund gehende 
Um- und Rückbildung der Bewegungsorgane und der 
ganzen Körpergliederung verbunden zu sein pflegt. 



Anpassung. 163 

Allein obscbon hier die Grenze schwer zu ziehen, liegt 
die Ursache dieser Hand in Hand gehenden Abände- 
rungen der Emährungs- und Bewegungswerkzeuge 
weniger in der sympathischen Beeinflussung der einen 
durch die andern, als im gleichzeitigen Nichtgebrauch. 
Correlativ ist aber z. B. die Anpassung, dass bei den 
kurzschnäbeligen Taubenrassen auch Mittelzehe und 
Lauf verkürzt ist, und bei den langschnäbeligen Kas- 
sen jene Organe an der Verlängerung theilgenommen 
haben. In dem Falle jedoch, wo kurze Schnäbel mit 
kurzen Füssen verbunden sind, hat an der Verkürzung 
der Füsse auch der Nichtgebrauch gewiss einen An- 
theil, während da, wo der Taubenliebhaber seine 
Freude an der Verlängerung des Schnabels durch ge- 
häufte Zuchtwahl fand, die correlative Verlängerung 
des Fusses trotz des Nichtgebrauches eintrat. Die wich- 
tigste Gruppe von correlativen Veränderungen oder 
Anpassungen, dies Wort immer in allgemeinster Be- 
deutung gebraucht, betrifft die Geschlechtssphäre. 
Directe Eingriffe auf die Generationsorgane äussern 
ihre Wirkung auf den gesammten übrigen Organismus, 
wie die zum Zweck der Mästung und der Arbeit 
castrirten Thiere beiderlei Geschlechts am besten zeigen. 

Wir haben früher gesehen , dass der Grad der Voll- 
kommenheit, welche in den Stämmen der Gliederthiere, 
Würmer und Wirbelthiere , zum Theil auch der strah- 
Hg gebauten Klassen erreicht wird, von der verschie- 
denen Ausbildung der ursprünglich gleichartigen, hinter- 
oder nebeneinander liegenden Theile abhängt, also 
von der Theilung der Arbeit. Dies hat Haeckel die 
divergente Anpassung genannt. Auf ihr beruht 
der merkwürdige Polymorphismus, wie er besonders 
in den wunderbaren Gestalten der Röhrenquallen her- 
vortritt, und weiterhin die Gliederung der Thierstaaten 
der Termiten, Bienen u. a. 

Insofern Abänderung mit Anpassung übereinstimmt, 
lassen sich den bisher besprochenen directen Anpas- 
sungen eine Eeihe sogenannter indirecter Anpas- 

11* 



164 Anpassmig. 

sungen gegenüberstellen. Man kann darunter eine 
Reihe von Erscheinungen zusammenfassen, deren Ur- 
sachen nicht in das I^ben dieser Individuen fallen, 
sondern in Einwirkungen zu suchen sind, von welchen 
die Aeltern betroffen wurden. Wie man sieht, han- 
delt es sich um eine Berührung mit dem Gebiete der 
Vererbung, welche dem Thierzüchter sehr bekannt ist. 
So sagt H. V. Nathusius in seinen Studien über die 
Schädelbildung des Schweines '^i „Es ist aus den hier 
zusammengestellten Thatsachen klar, dass eine Ver- 
erbung, eine Uebertragung der Kopfform der Aeltem 
auf die Kinder nicht unbedingt erfolgt. Wenn die 
Form des Schädels, welche wir kurz die Culturform 
nennen wollen, ein Product der Ernährung und der 
Lebensart, also äusserer Einflüsse ist, wenn sich die- 
selbe an demselben Individuum verschieden gestalten 
kann, also nicht conStant ist, dann kann von einer 
Vererbung dieser Form nur in beschränktem Mass die 
Rede sein. Die Form selbst wird nicht auf die Kin- 
der übertragen, wohl aber die Anlage zu dieser 
Form. Wir dürfen dies schliessen aus dem Umstände, 
dass sich die Form von Generation zu Generation, bis 
auf einen bestimmten Grad, in ihrer Eigenthümlichkeit 
steigert. Wenn wir ein gemeines Schwein neben einem 
veredelten erziehen , und wenn wir auf beide ganz die- 
selben Einflüsse der Ernährung und Haltung und in 
gleichem Masse einwirken lassen, dann erhalten wir 
nicht dieselbe Kopfform an beiden Thieren. Die Aus- 
bildung der Kopfform muss also unterstützt werden 
durch dazu vorhandene Anlage , diese müssen wir des- 
halb für erblich halten." Haeckel formulirt auch ein 
Gesetz der individuellen Anpassung, womit die 
Thatsache ausgedrückt wird, dass trotz nächster Ver- 
wandtschaft die Individuen in allerlei Abweichungen 
auseinandergehen. Die Ursache dieser Verschiedenheit, 
die am augenfälligsten bei den Individuen eines und 
desselben Wurfes oder Satzes, ist, soweit sie nicht 
auf directe Anpassung zurückzuführen, in den Keimen 



Mimicry. 165 

enthalten und auf diese durch uns meist ganz unzu- 
gängliche Schwankungen und Differenzen .der Ernäh- 
rungsverhältnisse der Aeltern übertragen. Andere 
Erscheinungen der indirecten Abänderung sind das 
Auftreten von Misbildungen , deren Ursachen nur in 
Ernährungsstörungen der älterlichen Organismen ge- 
sucht werden können, ohne dass die Erzeuger selbst 
merklich afficirt worden sind. Auch der Fall gehört 
hierher, dass Einwirkungen, welche das eine Geschlecht 
betroffen haben, sich nur in den Nachkommen des- 
selben Geschlechts äussern. Wie man sieht, sind diese 
in ihren Anfängen der Beobachtung gänzlich entzoge- 
nen Vorgänge eng mit dem dunkelsten Gebiete der Ver- 
erbung verknüpft. 

Eine höchst interessante und wichtige Form der 
Anpassung ist die sogenannte Mimicry (Nachäffung, 
Nachahmung, Maskirung) oder der Schutz durch An- 
passung der Färbung und Form. Die ersten Ent- 
deckungen 'darüber wurden von dem bekannten „Natur- 
forscher am Amazonenstrom", Bates, gemacht; das 
meiste hat dann Wallace hinzugefügt. In Südamerika 
ist die Schmetterlingsfamilie der Helikoniden ausser- 
ordentlich verbreitet, ausgezeichnet durch verlängerte 
Flügel, Leib und Fühlhörner und durch schöne Far- 
ben. Man sollte meinen, sie wären den Verfolgungen 
insektenfressender Vögel und anderer Thiere ausgesetzt. 
Aber dies ist nicht der Fall, denn sie haben einen 
unangenehmen Geruch, der sie höchst wahrscheinlich 
jenen verleidet. Ihr Geruch und Geschmack ist also 
für sie ein Schutz, indem die Vögel und Eidechsen, 
welche einigemal sich an ihnen vergriffen haben, 
sicher sie später unangefochten lassen. Würden nun 
andere Schmetterlinge den Helikoniden ähnlich sein, 
aber ohne den Übeln Geruch zu besitzen, so würden 
diese, da die Insektenfresser nicht den einzelnen Fall 
prüfen, sondern sich einen Widerwillen gegen den 
Habitus der Helikoniden überhaupt angeeignet haben, 
an der Lebensversicherung der Helikoniden um so mehr 



166 Mimiory. 

theilhaben , als sie sich ihnen in der äussern Erschei- 
nung nähern. Dieser Fall ist nun wirklich eingetret^, 
indem Bates eine Eeihe von Arten der von den Hell- 
koniden sonst sehr abweichenden Gattung Leptalifi 
entdeckte, von denen jede einer Helikonide bis zum 
Verwechseln an Form und Farbe ähnelt. Die Lepta- 
liden haben auch die Flugweise der Helikoniden aa>- 
genommen, theilen mit ihnen die Standorte und flie- 
gen , obschon sie den abstossenden Geruch nicht haben, 
ungestraft umher. Das Verhältniss würde nicht mög- 
lich sein, wenn die Leptaliden nicht bedeutend in der 
Minderzahl wären, sodass sie gewissermassen sich un- 
ter den Helikoniden versteckten, Wallace hat gezeigt, 
dass die durch Mimicry anderer Thiere geschützten 
Arten immer in der Minderzahl und oft sehr selten 
sind im Vergleich zu den nachgeahmten Arten. Weder 
die Erklärung, dass gleiche Lebensbedingungen die- 
selben Eesultate hervorgerufen, noch die Annahme, 
dass wenigstens in einigen Fällen in dör Mimicry 
Bückschlag zur gemeinschaftlichen Stammart vorliege, 
sind irgendwie befriedigend, und nur die natürUche 
Auslese lässt sich zum Verständniss vieler Fälle an- 
wenden, derjenigen nämlich, wo schon vor dem Be- 
ginn der Nachahmung von vornherein eine solche 
Aehnlichkeit zwischen nachahmender und nachgeahmter 
Form stattfand, dass eine Verwechselung möglich war, 
wo also die Aehnlichkeit durch die Zuchtwahl, die 
sich hier so ausserordentlich nützlich für die Erhal- 
tung der Aehnlichern erwies , nui^ gesteigert zu werden 
brauchte. Auch Darwin *^ meint, „dass der Process 
wahrscheinlich niemals bei Formen seinen Anfang 
nahm , welche in der Färbung einander sehr unähnlich 
waren". 

Eine besondere, einfachere und längst bekannte Mi- 
micry ist diejenige, wenn Thiere in ihren Färbungen 
sich so dem Aufenthaltsorte accommodirt haben, dass 
sie die Aufmerksamkeit ihrer Feinde schwerer auf sich 
ziehen, oder auch ihre Beute täuschen. Wer hat nicht 



r 
I 



Mimicry. 167 

in der Zeit, wo man den Schmetterlingen nachjagte, 
erfahren, wie schwierig es ist, gewisse Abend- und 
Nachtschwärmer auf der Rinde der Bäume zu erkennen, 
wenn sie mit dachförmig niedergelegten bräunlichen 
oder schwärzlich und grau gebänderten oder gespren- 
kelten Flügeln ruhig sitzen? Die Laub- und Gespenst- 
heuschrecken können so täuschend Blättern oder Zwei- 
gen ähnlich sehen, dass man sich erst durch Berührung 
Yon ihrer Wesenheit überzeugt. Wallace erzählt, dass 
eine der Phasmiden (Ceroxylus laceratus), die er in 
Bomeo erhielt, so mit blattförmigen hell olivengrünen 
Auswüchsen bedeckt war, dass sie einem mit Moos 
bedeckten Stabe glich. Der Dayak , der ihm das Thier 
brachte , versicherte , es sei , obschon lebend , doch mit 
Moos bewachsen, und der Naturforscher selbst konnte 
sich nur durch die genaueste Untersuchung vom Gegen- 
theil überzeugen. Ein vielen unserer Leser zugäng- 
liches ausgezeichnetes Beispiel von vortheilhafter Fär- 
bung geben die meisten Arten der jetzt so oft in 
den Aquarien gehaltenen Seitenschwimmer oder Schollen 
(Pleuronectides). Man beobachte die grauen oder bräun- 
lich gesprenkelten Thiere, wie sie durch einige Be- 
wegungen der Flossen ihre Oberseite zum Theil mit 
Sand bedecken. Ganz brauchen sie sich nicht einzu- 
wühlen, denn die nackte Haut ist nur bei schärferer 
Betrachtung vom Sandboden zu unterscheiden; und 
unter dieser theils künstlichen, theils natürlichen 
Hülle und Maske wartet das Thier auf seine Beute. 
Bei vielen mit Farbenschutz versehenen Thieren ist 
die Erscheinung complicirter und die Erklärung durch 
die natürliche Auslese weit schwieriger, indem sie 
willkürlich ihre Färbung den Umständen anpassen 
können, oder auch die Färbung durch unwillkürliche 
Beflexe sich ändert. Verany's unübertreffliche Beobachtun- 
gen über die Cephalopoden haben uns mit der Farben- 
scala bekannt gemacht, über welche diese Weichthiere 
verfügen; Brehm's Beschreibung des Farbenspieles des 
Chamäleons reiht sich an. Auf diese äusserst ver- 



168 Veränderungen durch Gebrauch 

wickelten Fälle wird vorderhand durch die ein- 
fachem einiges Licht geworfen, wo der ganz offenbare 
Farbenschutz sich in Haut und Gefieder fixirt hat und 
das Zusammentreffen mit andern Umständen kaum eine 
andere Erklärung als durch Zuchtwahl zulässt. Hier- 
für ist die anziehende Untersuchung von Wallace über 
die Vogelnester besonders lehrreich. Die grosse Mehr- 
zahl der weiblichen Vögel, welche in offenen Nestern 
brüten, haben ein bräunliches, grauliches, kurz nicht 
auffallendes Gefieder. Die Erklärung wird keineu 
Widerspruch finden, dass vorkommende Abänderungen 
des Gefieders, welche den auf dem Neste sitzenden 
Vogel seinen Feinden leichter verrathen, keine Aus- 
sicht haben, constant zu werden. Das Umgekehrte bei 
der den Vogel mit der Umgebung in Uebereinstimmung- 
bringenden Färbung folgt von selbst, und eine wich- 
tige Stütze für die Eichtigkeit der Auslegung der 
Thatsachen ist die andere Beobachtung, dass die mei- 
sten Vogelweibchen mit lebhaft gefärbtem und gefleck- 
tem Gefieder in bedeckten und verborgenen Nestern 
brüten. Es kommt dazu, dass der Nestbau nicht nach 
absoluten Kegeln eines blinden Instinctes sich richtet^ 
sondern von der Erfahrung der Thiere modificirt wird, 
einer Erfahrung, welche wir zwar fast nur mit dem 
Alter des Individuums sich entwickeln sehen, die aber 
wenigstens in mehrern Fällen auch als Fortschritt 
der Art nachgewiesen ist. 

Eine grosse Beihülfe findet die natürliche Zucht- 
wahl in den Veränderungen, welche durch den Ge- 
brauch oder Nichtgebrauch der Organe her- 
vorgebracht werden. Die Nöthigung zum fleissigern 
Gebrauch, die Veranlassungen zum Nichtgebrauch lie- 
gen in den sich umgestaltenden Lebensbedingungen. 
Es handelt sich also in beiden Fällen um Anpassung. 
Durchgreifende Veränderungen sind am leichtesten als 
Folge vom Nichtgebrauch nachzuweisen, wenn wir 
uns in der Natur umschauen, von beiden Arten aber 
gibt die künstliche Zuchtwahl zahlreiche Beispiele» 



oder Nichtgebrauch der Organe. 169 

namentlich wo sie sich mit einseitiger Uebung ge- 
wisser Organe bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer 
verbindet. Solche Producte der Auslese mit einseitiger 
Uebung sind Kennpferd und das schwere Zugpferd. 

Die Blindheit der Höhlenthiere erklärt sich nur da- 
durch, dass mit der allmählichen Entbehrlichkeit der 
Augen während der Accommodirung an das Höhlen- 
leben nach und nach der Stoffwechsel in den weniger 
fungirenden Organen sank und die Verkümmerung 
eintrat. Bestärkt wird die Eichtigkeit [dieser theore- 
tischen Betrachtungen durch die Wahrnehmung, dass 
viele blinde Höhlenthiere, namentlich Insekten und 
Spinnen, ihre nächsten Verwandten in der Nach- 
barschaft der Höhlen haben, und dass die in 
den noch nicht ganz dunkeln Strecken wohnenden 
Höhlenthiere minder verkümmerte Gesichtswerkzeuge 
besitzen. Auch unter den wühlenden Säugethieren 
findet eine ähnliche Abstufung statt, und Darwin theilt 
ein Beispiel mit**, welches das Erblinden infolge der 
Lebensweise sehr schön verdeutlicht: „Ein südameri- 
kanischer Nager, der Tuco-Tuco oder Ctenomys, hat 
eine noch mehr unterirdische Lebensweise als der Maul- 
wurf, und ein Spanier, welcher oft dergleichen ge- 
fangen hat, versicherte mir, dass derselbe oft ganz 
blind sei; einer, den ich lebend bekommen, war es 
gewiss, und zwar , wie die Section ergab , infolge einer 
Entzündung der Nickhaut. Da häufige Augenentzün- 
dungen einem jeden Thiere nachtheilig werden müssen, 
und da für Thiere mit unterirdischer Lebensweise die 
Augen gewiss nicht nothwendig sind, so wird eine 
Verminderung ihrer Grösse, die Adhäsion der Augen- 
lider und das Wachsthum des Felles über dieselben 
in solchem Falle für sie von Nutzen sein; und wenn 
dies der Fall, so wird natürliche Zuchtwahl die Wir- 
kung des Nichtgebrauches beständig unterstützen." 

Aus den Klassen der fliegenden Thiere hat eine 
grosse Anzahl das Fliegen aufgegeben, und wir finden 
nun ihre Flugwerkzeuge in einem Zustande der Ver- 



170 Yeränderangen durch Gebrauch 

ktimmerung und UnvoUkommenheit, der nur bei einer 
ganz schiefen Beurtheilung und Combination als ein 
Zustand der Fortentwickelung aus noch einfachem An- 
föngen aufgefasst werden kann. Wenn überall aus der 
grossen Familie der Laufkäfer einzelne Gattungen und 
Arten mit unvollkommenen Flug Werkzeugen, verwach- 
senen Flügeldecken u. s. w. angetroffen werden; wenn 
die ganze Familie der Staphylinen die Flugföhigkeit 
nicht besitzt, so denkt niemand daran, diese Käfer 
als stehen gebliebene Formen aufzufassen, sondern es 
wird begreiflich, dass die Lebensweise, in der sie von 
ihren Ordnungs- und Klassengenossen abweichen, allmäh- 
lich bei ihren fliegenden Vorfahren die Angewöhnung 
des Nichtfiiegens und damit die Reducirung der Flug- 
organe nach sich zog, womit, wie gerade die ange- 
führten Käfer beweisen, keineswegs überhaupt eine 
Erniedrigung der Organisation, sondern im Gegentheü 
äusserst nützliche Vervollkommnungen anderer Organe, 
der Fress- und Gehwerkzeuge, verbunden waren. Eine 
sozusagen summarische Reducirung des Flugvermögens 
ist in der Käferfauna mancher Inseln nachgewiesen. 
So können von 550 Arten Madeiras über 200 nicht 
oder nur unvollkommen fliegen, und es gibt keine an- 
dere Erklärung dafür, als die natürliche Zuchtwahl. 
Hier waren die minder guten und kühnen Flieger die 
Bevorzugten, während die andern durch die Winde 
ins Meer getrieben und eliminirt wurden. Die Nicht- 
anwendung einer früher erlangten speciellen Vollkom- 
menheit ist im ^^struggle for eomtenc&^ von Nutzen. In 
mehrem Familien der Eidechsen finden sich Gattun- 
gen, schlangenartig, wie man sie nennt, die bei ver- 
längertem Körper entweder blos Vorderbeine (Chirotes) 
oder blosse Stummel der Hinterbeine (Pseudopus) oder 
gar keine Spur der Beine (Anguis) besitzen. Sie stehen 
in demselben Verhältniss zu der grossen Klasse der 
regelmässig vierbeinigen Eidechsen, wie die nicht flie- 
genden Insekten zu ihrer Klasse : sie sind nicht in der 
Entwickelung stehen geblieben oder in der Entwickelung 



oder Nichtgebrauch der Organe. 171 

zur Vierbeinigkeit begriffene Thiere, sondern, wie 
Fürbringer aus der Entwickelungsgeschichte und ver- 
gleichenden Anatomie nachgewiesen, ihre Gliedmassen 
und, wenn diese ganz fehlen, die Beste des Schulter- 
und Beckengürtels und des Brustbeines, tragen die 
unzweifelhaften Zeichen der Yerkümmerung eines einst 
vollkommenen Apparates an sich. Die weitere Ver- 
gleichung lehrt, dass diese Yerkümmerung bei den 
Schlangen den höchsten Grad erreicht, dass sie aber 
dadurch ausgeglichen ist, dass Bippen und Bippen- 
muskulatur die Bolle der Gliedmassen übernommen. 
Auch hier fallen Nichtgebrauch und Anpassung sowie 
Differenzirung zusammen. 

In der Klasse der Vögel wiederholt sich dasselbe 
Schauspiel, was uns eben die Käfer und Beptilien ge- 
währten: aus einzelnen Familien und kleinern Grup- 
pen sind einzelne Arten des Flugvermögens beraubt, 
und eine ganze grössere systematische Gruppe ist 
ebenfalls durch die Unfähigkeit zum Fliegen charak- 
terisirt. Bei der Dronte und den wenigen Anver- 
wandten, welche nach der Entdeckung ihrer einsamen, 
von ihnen wahrscheinlich viele Jahrtausende ungestört 
bewohnten Inseln ihrer Hülflosigkeit so schnell zum 
Opfer fielen, verknüpfen* sich Veranlassung zum Nicht- 
gebrauch und Folgen in unserm Urtheil unmittelbar. 
Auf keinem andern "Wege wird der nordische Pinguin 
(Alca impennis) einst zur Verkürzung seiner Flügel ge- 
kommen sein, und die sparsamen, aber weit zerstreu- 
ten Beste der Ordnung der Laufvögel deuten auf eine 
Zeit, wo ihre weit zahlreichem flügellosen Vorfahren 
in friedlicherer Umgebm^ von ihren Schwingen weni- 
ger Gebrauch machten und die natürliche Auslese ihren 
Beinen zu grösserer Stärke und Behendigkeit verhalf. 
Auch für die Wirkungen des Nichtgebrauches der Be- 
wegungsorgane liefert wiederum die künstliche Züch- 
tung den directen Nachweis. 

Gebrauch und Nichtgebrauch in Verbindung mit 
Auslese erläutern die Trennung der Geschlechter und 



172 Trennung der Geschlechter. 

das auf anderm Wege völlig unbegreifliche Vorhan- 
densein der rudimentären Geschlechtsorgane. Beson- 
ders bei den Wirbelthieren hat * jedes Geschlecht so 
auffallende Spuren von den das andere charakterisi- 
renden Fortpflanzungswerkzeugen, dass schon das 
Alterthum den Hermaphrodismus als einen natürüchen 
Urzustand des Menschen annahm. Die Lehrbücher der 
vergleichenden Anatomie geben den speciellen Nach- 
weis über diese theils so offenbaren, theils innere, 
versteckte Verhältnisse betreffenden Homologien. Wir 
können uns auf die Andeutung beschränken, wie die 
Selectionstheorie sich auch hier bewährt. Dass in 
hermaphroditischen Thieren Schwankungen in der Ge- 
schlechtssphäre vorkommen müssen, wobei die eine 
oder andere Hälfte prävalirt, versteht sich von selbst. 
Sind dieselben so stark, dass sich die natürliche Zucht- 
wahl ihrer bemächtigt, so wird die Productionskraft 
des zurückbleibenden Theiles mehr und mehr sinken, 
und es werden sich schliesslich, mit dem Erlöschen 
der physiologischen Eigenschaften, der Function, nur 
die morphologischen Reste als ein die Zweckmässig- 
keitslehre oder Teleologie verhöhnender Ballast ver- 
erben. Nur dann und wann kommt ein mehr oder 
minder auffallender Bückschlag, der sich aber fast 
nur auf die Nebenorgane und die secundären (wir 
meinen nicht die von dem einen Geschlechte erwor- 
benen, sondern ursprünglich gemeinschaftlichen) Ge- 
schlechtscharaktere bezieht. Die Zähigkeit, mit 
welcher diese Budimente der Geschlechtsorgane ver- 
erbt worden, ist eine ganz enorme. In der Klasse der 
Säugethiere ist wirklicher H^rmophrodismus unerhört; 
durch ihre ganze Entwickelungsperiode hindurch schlep- 
pen sich die schon von ihren unbekannten Stammfor- 
men, wer weiss wie lange, getragenen Ueberbleibsel. 
Wenn man nicht die Schmarotzerthiere zugleich mit 
ihren Wirthen, den Menschen mit seinen Bandwür- 
mern und andern unangenehmen Gästen aus dem Er- 
denkloss erschaffen sein lässt und damit die Discussion 



Schmarotzer. 173 

abschneidet, so ist auch dieses gesammte Gebiet aus 
der Descendenz unter vorzüglicher Mitwirkung des 
Nichtgebrauches zu erklären. Der im nächsten Eapi* 
tei auszuführende Sat«, dass die Entwickelungsgeschichte 
des Individuums die Geschichte der Art vergegenwär- 
tige, wird den Einfluss des Nichtgebrauches gewisser 
Organe auf die Gestaltung der verschiedenen Parasiten 
zeigen. Am lehrreichsten sind wol die parasitischen 
Krebse, weil bei ihnen die vollständigste systematische 
Reihe vorliegt, die uns den allmählichen Schwund der 
Organe bei immer engerer Verbindung des Parasiten 
mit dem Wirthe vergegenwärtigt. Auch für mehrere 
Ordnungen der Eingeweidewürmer ist der Darmkanal 
völlig entbehrlich geworden, aber weder Zwischenfor- 
men noch Entwickelungsstufen lassen sehen, wie. An- 
ders bei den Sphmarotzerkrebsen, wo das junge be- 
wegliche und wohlgegliederte Wesen in beweglich 
bleibenden definitiven Gattungsformen sein Abbild hat, 
von wo es nach der Anheftung zu einem unbeweg- 
lichen Sack herabsinkt. Alle diese Thiere mit Ein- 
schluss der Eingeweidewürmer haben, und das ist die 
wahre Bedeutung des Schmarotzerlebens, gerade durch 
die scheinbare Erniedrigung ihrer Organisation sich 
ihren Platz und ihren Bestand errungen. Sie zeichnen 
sich fast ausnahmslos durch ihre grosse Reproductions- 
kraft aus, und auf diese konnte, bei der Leichtigkeit 
der Nahrungszufuhr, ohne Anstrengung der übrigen 
Organsysteme, die Leibesthätigkeit sich concentriren. 

Wir haben bisher dargelegt, dass die Organismen 
im unausgesetzten Kampfe um das Dasein zu fort- 
währender Differenzirung gedrängt werden. Daneben 
bemächtigt sich die natürliche Züchtung auch solcher 
aus der blossen Variabilität des Organismus entsprin- 
genden Veränderungen, welche keinen physiologischen 
Fortschritt in sich schliessen, zur Erziehung rein mor- 
phologischen Arten. Aber auch diese werden unfehl- 
bar früher oder später in den Strudel der Concurrenz 
hineingerissen. Das ist nach dem Bisherigen so selbst- 



174 Yervollkommnung. 

verständlich, dass es keines weitem Beweises bedarf. 
Auch wenn wir die Mannichfaltigkeit der Organismen 
nicht vor Augen hätten, so würde a priori aus dem 
Vorhandensein des einfachen Einförmigen und der 
Nothigung, den veränderten äussern Verhältnissen sich 
anzupassen, ein Auseinandergehen in Neues geschlossen 
werden müssen. Mit der Ausbildung in verschiedener 
Bichtung unter der Führung der naturlichen Zucht- 
wähl ist aber nothwendig die Vervollkommnung 
verbunden. Es ist eins der grossten Verdienste der 
Selectionstheorie , mit dem Zweckmässigkeitsbegriff, 
welcher bisher dem Organischen die Vollkommenheit 
von aussen aufnöthigte, ein für allemal gebrochen und 
selbst auf dem Gebiete der Intelligenz und Moral, wo 
man mit Schiller sagt: 

Es wächst der Mensch mit seinen grössern Zwecken — 

der einheitlichen naturwissenschaftlichen Methode Ein- 
gang verschafft zu haben. Es ist überhaupt höchst 
merkwürdig, wie die theologische Naturbetrachtung 
so lange hat festgehalten werden können und zum Theil 
unter theologischem Einfluss noch festgehalten wird, 
obgleich wir in der gesammten organischen Welt nur 
eine relative Vollkonmienheit wahrnehmen und die so 
offenbaren tausendfaltigen zweckwidrigen Einrichtungen 
in den Organismen aller Grade der ausserhalb stehen- 
den dirigirenden Macht ein sehr schlechtes Zeugniss 
ausstellen. Die aus der anatomischen Vergleichung 
und der Abwägung der physiologischen Leistungen 
«ich ergebende Vollkommenheit ist unter allen Um- 
ständen das Resultat der Anpassung und Zuchtwahl. 
Im Kampfe Aller gegen Alle gewinnen die Individuen, 
welche in der Arbeitstheilung ihre Genossen um etwas 
überflügeln, wobei sie oft genöthigt sind, wenn die 
Richtung der Thätigkeit sich ändert, Organe ausser 
Thätigkeit zu setzen, welche einst von Nutzen waren, 
in den neuen Verhältnissen aber unnütz und, mau 
darf dies allgemein behaupten, schädlich geworden 



Vervollkommnung und Zweckbegriff. 175 

sind. Die künstliche Züchtung erzeugt — und hier 
können wir vom Zweck reden — Yollkommenes , in- 
dem sie bestimmte Theile , welche yervollkommnet wer- 
den sollen, durch m'echanische und physiologische 
Arbeit, das letztere vornehmlich in zweckmässiger 
Ernährung, übt und die erzielten Yortheile der Fort- 
pflanzung übergibt. Was wir natürliche Züchtung 
nennen, ist Zusammenfassung der Vervollkommnungen, 
die auf dem Wege der Specification in der Anpassung 
gewonnen werden. Das getreueste Abbild der allmäh- 
Uch errungenen Speciflcation haben wir in der Ent- 
wickelung des Individuums, wo aus dem Indifferenten 
durch immer weiter greifende Differenzirung das reife, 
auf der Höhe seiner physiologischen Leistung stehende 
Thier hervorgeht. Dass in den verschiedenen Thier- 
gruppen gewisse Grade der Vollkommenheit erreicht 
sind, ist eine unbestrittene Thatsache, bei jeder nähern 
Untersuchung aber zerbricht der Götze des Zweck- 
begriffes. Der Organismus des Vogels erscheint höchst 
geeignet, um ihn abstract nach dem Zweck des Flie- 
gens modiflcirt zu denken. Wer jedoch den Zweck 
über den guten Fliegern walten lässt, muss den Zweck- 
begriff bei den nicht fliegenden Vögeln aufgeben und, 
wenn er überhaupt sich etwas denken will, der An- 
passung ihr Becht geben. Damit ist die ganze An- 
schauungsweise durchlöchert, und ähnlich in allen 
übrigen Fällen. Wie die organische VoUkonunenheit 
sich zum Zweckbegriff stellt, hat der Verfasser des 
„Unbewussten" (S. 28) sehr scharf und klar aus- 
gedrückt: „Die Descendenztheorie lehrt, dass eine 
Unabhängigkeit der bei einer organischen Erscheinung 
cooperirenden Bedingungen nicht existirt, dass viel- 
mehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten aus ge- 
gemeinsamem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben 
Ursachen war, und die Theorie der natürlichen Zucht- 
wahl lehrt uns eine von diesen Ursachen, und wol 
unzweifelhaft die wichtigste, als eine solche kennen, 
welche durch rein mechanische Compensationsphänomene 



176 Vervollkommnung und Entwickelung. 

zweckmässige Eesultate hervorbringt. Die Descendenz- 
theorie stellt das teleologische Princip nur in Frage, 
indem es ihm den Boden für einen positiven Beweis 
entzieht, die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl 
aber beseitigt dasselbe ganz direct, soweit als sie 
selbst mit ihrer Erklärung reicht. Denn die natür- 
liche Auslese im Kampf ums Dasein, das Zugrunde- 
gehen des minder Zweckmässigen und das Ueberleben 
und Sichweitervererben des Passendsten und Zweck- 
massigsten ist ein Vorgang von mechanischer Gausa- 
lität, in dessen gleichmässige Gesetzlichkeit nirgends 
ein teleologisch bestimmendes metaphysisches Princip 
eingreift, und doch geht aus ihm ein Resultat hervor, 
das wesentlich der Zweckmässigkeit entspricht, d. h. 
diejenige Beschaffenheit besitzt, welche den Organismen 
unter den gegebenen Umständen die höchste Lebens- 
fähigkeit verleiht. Die natürliche Zuchtwahl löst 
das scheinbar unlösliche Problem, die Zweck- 
mässigkeit als Resultat zu erklären, ohne sie 
dabei als Princip zu Hülfe zu nehmen." 

In jedem Stamm — was die Zoologie einst Typus 
nannte, ist, wie wir gesehen, in der Descendenzlehre 
zum Stamm geworden — in jedem steckt die Möglich- 
keit zu einer gewissen Höhe der Vervollkommnung, 
und wir sehen in ihm, nachdem der Stammescharakter 
in seinen Grundzügen sich festgestellt hat, eine Ent- 
wickelung vor sich gehen, deren Möglichkeit in der 
Anlage des Charakters, deren Verwirklichung und 
Nothwendigkeit in den äussern Verhältnissen liegt. 
Auch uns ist daher die Vervollkommnung eine Ent- 
wickelung, aber nicht zu einer prädestinirten und 
prästabilirten Harmonie. Karl Ernst v. Bär **, wel- 
cher den Zweck , oder wenigstens das „Ziel" , kurz das 
Vorherbestimmte in den Entwickelungsreihen der Natur 
retten will, sagt: „Jeder Grund erzeugt einen Vor- 
gang, der wiederum weiter auf ein anderes Ziel hin- 
wirkt." Warum denn Ziel? Muss es nicht vielmehr 
heissen: Jeder Grund erzeugt einen Vorgang, der 



Fortbestehen der niedrigen Organismen. 177 

wiederum weiter als Grund auf einen andern Vorgang 
hinwirkt? Je weiter wir zurückgehen, um so tiefer 
und allgemeiner ist die Stufe, und die verschiedenen 
Abzweigungen sind in ihren Endgliedern auf sehr ver- 
schiedenen Stufen stehen geblieben oder angelangt. 
Ein oft gehörter Einwurf gegen diese Folge d^r De- 
ficendenzlehre ist, wenn alles zur Vervollkommnung 
dränge , wie es denn geschehe , dass neben den höhern 
Gliedern der Stämme so viele niedrige, und überhaupt 
neben den höhern Stämmen die niedrigen sich im 
Kampfe um das Dasein hätten erhalten können. Gegen- 
über den unabweisbaren Thatsachen der Vervollkomm- 
nung kann man sich begnügen, darauf hinzuweisen, 
dass die niedrigen Formen überall fortbestehen konnte» 
und können, wo mit den übrigen Existenzbedingungen 
Raum für sie war. Während sie hier nur geringere 
Modificationen erlitten, führte dort nothwendige Zucht- 
üvahl zu tieferer Umgestaltung, und die neugezogenen 
Wesen, an andere Existenzbedingungen gewöhnt, konn- 
ten bei späterer geographischer Verschiebung mit den 
zurückgebliebenen Arten wieder Meer und Land thei- 
len. Denn sowie die Verschiedenartigkeit durch die 
Zuchtwahl hergestellt ist und auch die Ansprüche an 
die Nahrung und die andern Bedürfnisse sich getheilt 
haben , muss nothwendig ein partieller Nachlass im 
Kampf eintreten. 

Sehr vielen niedern Organismen kommt für ihre Er- 
haltung augenscheinlich der Umstand zugute, dass, 
eben weil sie einfacher sind, ihre Fortpflanzung sich 
um so leichter bewerkstelligt. Wenn also auch un- 
zählbare Arten namentlich in beschränktem Verbrei- 
tungsbezirken bei starker Concurrenz bevorzugter Va- 
rietäten der Ausrottung verfallen mussten, so schliesst 
der Kampf ums Dasein und die Vervollkommnung das 
Bestehen niederer Formen nicht aus. Was aber die 
Selectionstheorie erklärt, davon bleibt, wie uns scheint, 
die Teleologie die Erklärung schuldig. Das Zurück- 
bleiben der niedern Organismen trotz des Innern 

Schmidt, Descendenzlehre. 22 



178 Zufall. 

Dranges und des vorgesteckten Zieles ist unbe- 
greiflich. 

Soll aber, so hört man oft fragen, wenn ihr von 
einem den Organismen innewohnenden „Principe der 
Vervollkommnung" (Nägeli), von dem „göttlichen Odern 
als innere Triebkraft in der Entwickelungsgeschichte 
des Naturlebens" (Braun), von der vom Schöpfer ein- 
gepflanzten „Tendenz zum Fortschritt" (R. Owen), 
sogar von der „Zielstrebigkeit" (v. Bär) nichts wissen 
wollt, soll der Zufall jene wunderbaren hohem Or- 
ganisationen zu Stande gebracht haben? Darauf lässt 
sich mit völliger Klarheit antworten, dass derjenige 
Zufall, dem die menschliche Beschränktheit eine so 
grosse Rolle anweist, wo sie nicht das persönliche 
Eingreifen eines höhern Wesens oder das allgemeine 
;,schaffende und treibende Princip" zur Hand hat, in 
der Natur gar nicht existirt, und dass uns die Ueber- 
zeugung von der Wahrheit der Abstammungslehre da- 
durch wurde , dass die Erscheinungsreihen vermittelt 
sind als Ursachen und Wirkungen. Erinnern wir uns 
an die Weltformel von Laplace, in deren Besitz wir 
uns denken können, und mit welcher auch die künf- 
tigen Entwickelungen sich würden vorausberechnen 
lassen. In unserer Beschränkung freilich können wir 
uns nur einiger Sicherheit in der Berechnung und 
Klarlegung der Reihen nach rückwärts nähern. Dabei 
müssen wir das Wort Zufall streichen, da die Causa- 
lität, die wir begreifen, dasselbe vollkommen entbehr- 
lich macht. Wer sich an den Anfang einer Entwicke- 
lung versetzt, sich z. B. gegenwärtig denkt bei der 
Entstehung der Reptilien, dem mag von dieser vor-. 
weltlichen Umschau aus die Ausbildung des Reptils 
zum Vogel ein „Zufall" sein, wenn er sie nicht etwa 
prädestinirt denkt. Uns, die wir den Vogel rückwärts 
zu seinem Ursprung verfolgen, erscheint er als eine 
Folge von mechanischen Ursachen. 

Fassen wir noch einmal zusammen, was vir mit der 
durch die Selectionstheorie begründeten Descendenz- 



Ontogenie und Phylogenie. 179 

lehre gewinnen, so ist es die Erkenntniss des Zu- 
sammenhangs der Organismen als blutsverwandter We- 
sen. Je grösser die Uebereinstimmung der innern und 
äussern Kennzeichen, um so näher ist die§e Verwandt- 
schaft. Je weiter wir den Stammbaum nach seinem 
Ursprung hin verfolgen, um so sparsamer werden die 
bis zu diesen Wurzeln stichhaltigen Charaktere , um 
so mehr dieser Charaktere stellen sich heraus als Er- 
werbe im Laufe der Zeit. Indem wir diesen Erwerb 
eliminiren und die vererbten Eigenschaften, je weiter 
wir rückwärts tasten, immer mehr beschränken, re- 
construiren wir die Stammbäume der verschiedenen 
Gruppen. ^'. ^ 

Wir thun genau dasselbe, was man bei der Sprach- 
forschung höchst natürlich und wissenschaftlich findet. 
Die Begriffe und Worte, welche den Individuen einer 
SprachfamiliQ gemeinsam , sind die Mitgift aus dem 
geistigen und sprachlichen Besitzthum des Urvolkes, 
von welchem aus sich der Stammbaum der Familie 
verzweigt hat. Nicht mehr und nicht weniger hat der 
sogenannte „Zufall" in der Gestaltung der abgeleiteten 
Sprachen geherrscht , als in der Entwickelung der Or- 
ganismen aus den Stammformen. 



IX. 

I ■ 

-* ... 

Die Entwickelung des Individuums (Ontogenie) ist 
eine Wiederholung der historischen Entwickelung 

des Stammes (Phylogenie). 

Obschon die paläontologische Ueberlieferung voller 
Lücken, ist es doch, was selbst die meisten Gegner 
der Descendenzlehre zugestehen, ganz unverkennbar, 
dass von den altern zu den neuern Perioden hin ein 
Fortschritt von niedrigem zu höhern Organisationsstüfen 
stattfindet, wie er sich auch im System der heutigen 

12* 



180 Gleiche typische Entwickelung 

Pflanzen- und Thierwelt ausspricht; und dass vielseitig 
die embryonale Entwickelung, sowie Metamorphose und 
Generationswechsel, kurz die individuelle Entwickelung 
(„Ontogenie", Haeckel) zur Vergleichung mit jenen 
paläontologischen Reihen, sowie mit der systematischen 
Aufeinanderfolge einladet. Der Parallelismus der pa- 
läontologischen mit der systematischen Reihe ist ent- 
weder ein .Wunder, oder wird vermittels der Descen- 
denzlehre verstanden. Ein Drittes gibt es nicht. Und 
die Descendenzlehre hält die Probe vollständig aus; 
sie zeigt uns, wie die Abstammung der heutigen Or- 
ganismen von den ehemals existirenden auf der Ver- 
erbung der Eigenschaften der Vorfahren auf die Nach- 
kommen und dem Erwerb der Individuen beruht. Die 
Erscheinungen der individuellen Entwickelung, oder 
Ontogenie lassen keine andere Wahl: entweder sie 
bleiben unbegrijffen, oder sie halten den Prüfstein der 
Descendenzlehre aus und ordnen sich dem grossen all- 
gemeinen Princip unter. 

Wenn man die unzähligen Thatsachen der Fort- 
pflanzung und Entwickelung mustert, so theilen sie 
sich allerdings ein, sie ordnen sich zu analogen und 
homologen Gruppen, es ergeben sich Entwickelungs- 
typen, man spricht von Entwickelung ohne Metamor- 
phose , von Verwandlung und Generationswechsel. Welche 
nothwendige Beziehung aber die in der Verwandlung 
sich ablösenden Formen, die Gestalten des Generations- 
wechsels zmn fertigen Thiere oder dem geschlechtlich 
entwickelten Hauptrepräsentanten der Art haben, 
warum so viele Thiere keine Verwandlungen bestehen, 
sondern „fertig" aus dem Ei kriechen, warum die zu 
einer Klasse oder einem „Typus" gehörigen Arten einen 
und denselben Entwickelungstypus und Gang der Bil- 
dung besitzen, diese und ähnliche Fragen nach dem 
Verständniss dieser krausen Menge von Thatsachen 
drängen sich auf. Und auch sie sind Prüfsteine für 
unsere Theorie der Abstammung. Die Lehre leistet 
hierin soviel, wie je von einer grossen Hypothese in 



bedingt durch gleiche Abstammung. 181 

ihrer speciellen Anwendung geleistet worden ist; und 
wenn sie auf alle oder wenigstens nahezu alle hier 
einschlägigen Fragen eine befriedigende Antwort gibt, 
so sind das ebenso viele Zeugnisse und Beweise für 
ihre Wahrheit, welche nach allem wissenschaftlichen 
Brauch und Recht und philosophischer Methode solange 
Geltung haben, bis nicht die Unwahrheit der Herlei- 
tungen und Schlüsse nachgewiesen und eine bessere 
Hypothese an Stelle der beseitigten gesetzt worden ist. 
Der erste Satz, welcher aus der Descendenzlehre 
für die Erklärung der Thatsachen der Entwickelung 
der Individuen hergeleitet wird, kann lauten: die 
Uebereinstimmung in den Grundzügen der Entwickelung 
beruht auf gleicher Abstammung, oder, etwas anders 
gefasst, die Uebereinstimmung in den Grund- 
zügen der individuellen Entwickelung findet 
ihre Erklärung in der gleichen Abstammung. 
Wie uns schon bekannt, wies zuerst C. E. v. Bär nach, 
dass die in den Grundzügen ihrer Organisation über- 
einstimmenden Mitglieder der grossen Abtheilungen des 
Thierreiches auch durch je einen besondern „Typus 
der Entwickelung" ihre Zusammengehörigkeit bekun- 
den. Man hat diese Thatsache immer als selbstver- 
ständlich betrachtet, obgleich sie das grösste Wunder 
wäre, wenn man sie nicht aus der Descendenz ablei- 
ten könnte. Es ist daher hier der Ort, uns einige 
der zum Theil schon im dritten Abschnitt betrachteten 
Entwickelungsgrundformen vorzuführen, zugleich aber 
auch die Bedeutung dieser Typen mit Hülfe der Ab- 
stammungslehre zu erläutern. Wir nehmen als erstes 
Beispiel die Stachelhäuter. Obgleich aus der ana- 
tomischen Vergleichung eines Haarsternes, eines See- 
sternes, Seeigels und einer Seegurke oder Holothurie 
sich die innige Verwandtschaft dieser Repräsentanten 
der verschiedenen Abtheilungen der Stachelhäuter leicht 
ergibt, weichen dieselben doch in ihrer Körperform 
und der Gestaltung des Skelets ausserordentlich von- 
einander ab. Der relative Werth der Verschiedenheit 



182 Entwickelung der Stachelhäuter. 

einer Holothurie von einem Seestem, des Seeigels von 
der Comatel lässt sich etwa mit der Verschiedenheit 
des Säugethieres vom Yogel, des Amphibiums vom 
Fisch vergleichen. Dennoch verlassen, einige Aus- 
nahmen abgerechnet, welche eine specielle Bedeutung 
haben, diese verschiedenen Stachelhäuter das Ei in 
fast vollkommen gleicher Larvenform. Die Larve {Fig. 12) 
gleicht einem Boote mit ausgeschweiften und an bei- 
den Enden verdeckartig übergeklappten Rändern. Die- 
ser Bord ist mit einem ununterbrochenen Saume von 
schwingenden Härchen besetzt, durch deren Thätigkeit 
das kleine Boot sich bewegt. Ein kurzer, mit einer 
Magenerweiterung versehener Verdauungskanal ist das 
erste wesentliche Organ dieses Körpers. Wir beschrei- 
ben nicht die höchst complicirten Verwandlungen der 
Larve hier in einen Schlangenstem , dort in einen 

Schildigel, dort wieder in eine See- 
gurke, sondern fragen nur, welches 
wol die Ursache dieser Ueberein- 
stimmung in den frühesten Stadien 
der individuellen Entwickelung sein 
könne. Es gibt hierauf keine an- 
dere vernünftige Antwort als: die 
S-Efhi/oÄ^iST Abstammung aller uns bekannten 

Echinodermen von einer altern 
/Form, in deren Entwickelung unsere Larve ebenfalls 
auftrat und von wo aus diese gemeinsame Stufe der 
Entwickelung auf den ganzen Stamm vererbt wurde. 
Es muss aber gestattet sein , noch weiter zu fragen, 
wie man sich erklären könne, dass aus einer bilate- 
ralen, d. h. nach rechts und links symmetrischen Larve 
ein strahlig gebautes Thier, wie die ausgewachsenen 
Echinodermen meist sind, hervorgeht. Hierauf hat 
Haeckel eine Vermuthung aufgestellt, über welche an- 
fangs die Systematiker der alten Schule ausser sich 
geriethen, welche aber mehr und mehr Boden und 
durch die neuesten vergleichenden Untersuchungen, 
z. B. Hoffmann's: „Ueber die feinere Anatomie der See- 




JEntwickelung der Weich thiere. 183 

Sterne", an Hält gewinnt. Die bootförmige Larve der 
Echinodermen, namentlich in einer bei den Seesternen 
vorkommenden Modification, gleicht ganz auffallend 
einem gewissen Larventypus der Borstenwürmer des 
Meeres. Und da im Bau und in der Lagerung der 
Theile der Strahlen der Echinodermen, namentlich der 
Seesteme eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den 
Lagerungsverhältnissen und der Folge der Theile der 
Gliederwürmer bemerkbar ist, so betrachtet Haeckel 
unsere Thierklasse als einen Seitenstamm der Glieder- 
würmer. Er meint, dass die ältesten, uns nicht be- 
kannten Echinodermen als Gliederwurmstöcke entstan- 
den seien, in der Weise, dass am Kopfende des 
bilateralen, wurmartigen Mutterthieres Knospen in 
strahliger Anordnung gesprosst seien. Noch jetzt 
kommt diese Knospen- und, wenn man will, Stock- 
bildung bei den Echinoderm^ vor, indem einige See- 
sternarten eine solche Reproductionskraft besitzen, dass 
ein einzelner abgerissener Arm oder Strahl sich zu 
einem vollständigen Thiere ergänzt. Ja, die Beobach- 
tungen von Kowalewsky machen es höchst wahrschein- 
lich, dass die Ablösung der Strahlen und die Wieder- 
ergänzung durch Knospung bei einzelnen Species ein 
regelmässiger Vorgang ist. Ueber Haeckers Hypothese 
lachen daher nur die, welche das Denken und Com- 
biniren scheuen. 

Im Stalnme der Weichthiere ist die sogenannte 
Segellarve ein Zeuge vom verwandtschaftlichen Zu- 
sammenhange wenigstens zweier der grossen Klassen. 
Die dritte , am weitesten vorgeschrittene Klasse , die 
der Tintenschnecken, hatte ihr Wahrzeichen vielleicht 
schon zu jenen Urzeiten verloren, wo sie uns zum er- 
sten male, wenn auch unter den etwas niedrigem For- 
men der Vierkiemer ihre Schalen in den silurischen 
Schichten zurückliess. Aber die Muscheln oder Blatt- 
kiemer und die Schnecken, welche in der anato- 
mischen Entwickelung weit auseinander treten und 
zwei natürliche Klassen ausmachen, haben eine gemein- 



184 



Entwickelung der Weichthiere. 



same Larvenform oder, wenn die Larven verschiedene 
Gestalten zeigen, ein sehr bezeichnendes gemeinsame» 
Larvenorgan, das Segel. Die beistehende Abbildung 
gibt rechts die Segellarve einer Herzmuschel vom 
Rücken aus gesehen. Am Vorderende haben sich zwei 
fleischige Lappen ausgebildet, welche mit Wimpern 
besetzt sind, durch deren Schwingungen das junge 
Thierchen schon im Ei seine spiraligen, drehenden 
Bewegungen ausführt, und zwischen welchen sich ein 
kleiner mit einer längern Wimper versehener Hügel 
erhebt. Dieselben ineinander übergehenden Wimper- 
lappen oder Wimpersegel trägt links die Larve einer 





Fig. 13, 

Seeschnecke (Pterotrachea) , die wir halb im Profil 
sehen, und zwar schon in dem Stadium, wo ihre 
Augen und die Gehörwerkzeuge, der Fuss mit Deckel 
und ein zartes Gehäuse zum Vorschein gekommen sind. 
Auch bei ihr tritt aus der Ebene des Segels ein klei- 
ner Fleischkegel hervor, der übrigens keine besondere 
Bedeutung hat. Die Anlage des Segels, der Zeitpunkt 
des Erscheinens dieses Larvenorgans, seine Lage zum 
Mantel, Kopf, Mund und Fuss, die spätere Rück- 
bildung, alles stimmt in beiden Klassen genau über- 
ein. Wir kennen zwar bisher nur von einer verhält- 
nissmässig geringen Anzahl der im Meere lebenden 
Muscheln und Schnecken die Entwickelungsgeschichte ; 



Die übrigen Entwickelungstypen. 185 

danach aber dürfen wir schliessen, dass bei diesen, 
in ihrer ursprünglichen Heimat gebliebenen Thieren 
dieses Erbstück allgemein sich erhalten hat. Selbst 
Gattungen, die in ihrem ausgewachsenen Zustande 
kaum noch an den Weichthiertypus erinnern, der Ele- 
fantenzahn und der Bohrwürm (Dentalium, Teredo) 
haben das Stadium der Segellarve conservirt. Dagegen 
finden wir bei den kiemenathmenden Süsswasser- 
schnecken (Paludina) das Segel wenig entfaltet, und 
bei den von ihren seebewohnenden Verwandten am 
weitesten abweichenden Landsclyiecken ist die Segel- 
bildung gänzlich verwischt, desgleichen auch bei den 
Süsswassermuscheln. Hat bei diesen Thieren die An- 
passung und Wanderung nach dem Lande jene Folge 
für die embryonale und nachembryonale EnWickelung 
gehabt, so haben wir uns vorzustellen, dass für die 
Cephalopoden trotz ihres Verbleibens im salzigen Was- 
ser andere Ursachen den Verlust der Segelstufe und 
den ihnen eigenthümlichen Verlauf der Entwickelung 
nach sich zogen. 

Hinsichtlich der übrigen Entwickelungsgrundformen 
können wir auf den dritten Abschnitt verweisen. Die 
Anlage der höhern Gliederthiere deutet auf wurm- 
artige , etwa den heutigen Gliederwürmern entsprechende 
Vorfahren, und wiederum die allmählige Vermehrung 
der Leibessegmente der Gliederwurmlarven, welche 
sich einer Knospenbildung vergleichen lässt, führt von 
diesen höhern Würmern auf die niedrigen mit un- 
gegliedertem Leibe. Alle Wirbelthiere , den Menschen 
eingeschlossen, wenn sie nicht auf einem Zustande mit 
ungegliederter, noch nicht in einzelne Wirbelringe 
zerfallender Wirbelsäule verharren, erheben sich als 
Embryone aus diesem Stadium in das höhere defini- 
tive; und dass sie diesen gemeinsamen embryonären 
Zustand durchmachen, dies schliesst alle andern mecha- 
nischen Ursachen aus, ausser derjenigen der gemein- 
samen Abstammung von Urformen , welche eine 
ungegliederte Wirbelsäule, keinen oder einen unvoll- 



186 Generationswechsel und Metamorphose 

kommenen Schädel und kein oder ein vom Rücken- 
mark nur wenig unterschiedenes Gehirn besassen. 
Karl Ernst v. Bär, welcher, während wir diese Blätter 
schreiben, seine Stimme gegen die Descendenzlehre er- 
hoben, hat die Thatsache der Entwickelungstypen und 
den Gang innerhalb der Typen Jvon dem Indifferenten 
zum Speciellen festgestellt; die Thatsache wird aber 
durch das Wort „Entwickelungstypus" nur umschrie- 
ben, nicht erklärt, und wir ziehen es, es kann nicht 
oft genug gesagt werden, wir ziehen es vor, unter der 
klaren Vorstellung der Abstammung uns etwas zu den- 
ken, als die unbekannte höhere Macht sich in den 
Entwickelungstypen auf eine unbegreifliche Weise 
manifestiren zu lassen. Schliesst man die Verkettung der 
Reihen durch directe Abstammung und Vererbung aus, 
so ist absolut nicht einzusehen, wie die höchste schö- 
pferische Macht, die Natur oder der persönliche Gott, 
indem er sämmtliche höhere Thiere an gemeinsame 
niedrigste Entwickelungsstufen knüpfte, sie damit so 
vielfachen unzweckmässigen Einrichtungen und grossen 
Gefahren aussetzte. Von den Milliarden junger Au- 
stern, welche jährlich aus dem Ei schlüpfen, gehen die 
allermeisten unter der Ungunst der äussern Verhält- 
nisse zu Grunde, weil die Auster das alte Erbtheil 
der schwärmenden Segellarve nicht abgelegt hat. Sie 
hat den Kampf um die Existenz mit Glück aufnehmen 
können , da sie gleich den meisten ihrer Klassengenos- 
sinnen sich der höchsten Fruchtbarkeit erfreute. Das 
lässt sich einsehen; dass aber ein persönlicher Schöpfer 
aus blossem Princip, um die Auster innerhalb des 
Entwickelungstypus zu halten, auch ihr das für sie 
höchst unpraktische Stadium der Segellarve gegeben, 
kann man, wie so vieles Unsinnige, nur glauben. 

Haben sich ganz im allgemeinen die Uebereinstim- 
mungen in den Grundzügen der Entwicklung aus der 
Gleichartigkeit der Abstammung ableiten lassen, so 
kann man weiter schreiten zur Erklärung derjenigen 
Entwickelungserscheinungen , welche uns als Genera- 



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188 



Ontogenie und Phylogenie der 



Das Verständnis« dieses Generationswechsels wird uns, 
wenn wir von den einfachsten Quallenpolypen ausgehen. 
Ein solcher ist die beistehende Hydractinia carnea, 
und zwar ein weibliches Individuum. Verglichen mit 
der Zwischenform Stauridium, als einer auf ungeschlecht- 
lichem Wege sich fortpflanzenden Vorstufe zu Clado- 
nema, erscheint Hydractinia höher, insofern als sie 
selbst Geschlechtsform ist. Die Zone von kugeligen 
Körpern in der Mitte des Leibes sind die Eierstöcke 
oder Eikapseln, welchen bei den männlichen Indivi- 
duen Samenkapseln entsprechen. Ein Generations- 
wechsel findet bei unserer Hydrac- 
*^=^>^{^f0ij^ tinia nicht statt, wol aber, wie 

^Aj^^ auch in der Entwickelung des Cla- 

donemaeies zum Stauridium , eine 
Verwandlung einer flimmernden Larve 
zum festsitzenden Polypen. Es ist 
aber ersichtlich, däss die Rolle, 
welche bei der Hydractinia durch 
die männlichen und weiblichen Ge- 
schlechtsorgane versehen wird, im 
Zeugungskreise des Cladonema von 
den Geschlechts t h i e r e n übernom- 
men wird. Und in der Verfolgung 
dieses Ueberganges eines unselbstän- 
digen Organes in das selbständige 
Thier finden wir die Lösung und das Verständniss des 
als Generationswechsel bezeichneten Vorganges. Zwi- 
schen den Gattungen, welche gleich Hydractinia, und 
denen, welche gleich Cladonema sich fortpflanzen, fin- 
den sich zahlreiche Gattungen, deren Fortpflanzung 
uns den allmähligen Uebergang des anfänglichen Ge- 
schlechtsorganes in das Geschlechtsthier vor Augen 
stellt. Wir können die Gattungen der „Quallenpoly- 
pen" so aneinander reihen, dass sich herausstellt, wie 
die Theile, welche bei Hydractinia blos die Eier er- 
zeugenden und umschliessenden Kapseln sind, immer 
vollkommener werden. Sie erhalten eine besondere 




Fig. 15. 



Quallen und Eingeweidewürmer. 189 

Abzweigung des Nahrungskanales und Blutgefässe, wer- 
den glockenförmig und versehen sich mit den für die 
Quallen charakteristischen „Kandbläschen", eigenthüm- 
lichen Sinnesorganen. Kurz, was an einem gewissen 
Gliede der systematischen Reihe allenfalls noch als 
Organ bezeichnet werden kann, ist an dem nächsten 
die sich ablösende und zur neuen Generation werdende 
Qualle: das Geschlechtsorgan ist zum Ge- 
ßchlechtsthier geworden. Wie nun die indivi- 
duelle Entwickelung von Cladonema und den andern 
ßich gleich ihm vermehrenden Quallen mit der syste- 
matischen Reihe der Quallenpolypen correspondirt , so 
ist die einzig vernünftige und denkbare Erklärung der 
Ontogenie der den Generationswechsel zeigenden Qual- 
len die, dass in ihm die historische Entwickelung der 
Gattung fixirt ist. Weder das Ei, noch das Huhn 
wurde geschaffen. Ehe die zartfarbigen Quallen in 
einsamer Pracht das Urmeer bevölkerten, waren die 
Quallenpolypen an den in stetem Wechsel begriffenen 
Küsten die einzigen Repräsentanten der noch in der 
Kindheit liegenden Klasse. Warum einzelne Gattun- 
gen, nach Art der Hydractinia, streng conservativ 
geblieben, die andern in geringerm oder höherm Grade 
dem Fortschritt gehuldigt, ob und wie Kampf ums 
Dasein und Auslese des Bessern hierbei wirksam ge- 
wesen, lässt sich allerdings für die einzelnen Arten 
nicht nachweisen. Entscheidend ist der Gesammtein- 
druck und der Umstand, dass die Theorie sich mit 
den Thatsachen deckt. 

Zu gleichen Betrachtungen und Resultaten führt die 
Entwickelungsgeschichte der Eingeweidewürmer. 
Diese in ihrem Bau weit auseinander gehenden Thiere 
sind entweder in und mit ihren Wirthen zugleich ge- 
schaffen, oder später ihnen anerschaffen, oder sie haben 
ßich auf natürlichem, rechtem Wege an sie gewöhnt. 
Dass sie dabei von einem eingepflanzten „dunkeln 
Drange" geleitet wurden, von dieser Modification des 
dritten Falles dürfen wir w^ol absehen. Nach unserer 



190 Ontogenie und Phylogenie 

Lehre stammen also die jetzt ihr ganzes Leben oder 
einen Theil ihres Lebens als Schmarotzer auf oder 
in andern Organismen verweilenden Würmer von frei 
lebenjden Thieren ab , und die in ihrer Entwickelung 
auftretenden Perioden, während welcher das Schma- 
rotzerthum mit freien Stadien vertauscht ist, bedeutet 
den in allen Individuen sich regelmässig einstellenden 
Rückfall in den einst bleibenden Zustand der Vor- 
fahren. Von den zur Klasse der Plattwürmer gehö- 
renden Saugwürmem und Bandwürmern sind die letz- 
tem am weitesten von ihrem einstigen Ausgangspunkt 
entfernt; ihre Anpassung an das Leben in andern 
Thieren hat den Nahrungskanal entbehrlich gemacht, 
und so zeigen ihre Generationen und Verwandlungs- 
zustände weniger auf die Vorfahren hin, als dies bei 
einer andern Anzahl von Saugwürmern der Fall ist, 
mit denen jene durch eine Reihe anatomischer Cha- 
raktere als eng verwandt legitimirt werden. Beide 
wiederum theilen die Klassencharaktere mit den frei 
lebenden Turbellarien oder Strudelwürmern. Von sol- 
chen, d. h. von Formen, welche den jetzigen Strudel- 
würmern nahe standen, müssen Trematoden und Ce- 
stoden abstammen, und hiermit stimmt das freie 
Schwärmstadium, welches die Larve des Doppelloches 
(Distomum) als sogenannte Cercarie und vorher als 
rundlicher über und übier flimmernder Körper durch- 
macht. Auch viele Fadenwjirmer — die Abtheilung, 
zu welcher unter andern der Spulwurm gehört — 
haben in ihrer Jugend eine Stufe freien Lebens, auf 
welcher sie von den Jugendformen der zahlreichen, nie 
zum Schmarotzerleben übergehenden Verwandten, die 
sich vorzugsweise im Meere finden, nicht unterschieden 
werden können. Der Uebergang zum Parasitenthum, 
den uns die Ontogenie recapitulirt, war nichts anderes 
als eine Ausbreitung auf neues, der Ernährung Vor- 
theile bietendes Terrain , und mit Bezug hierauf ist es 
höchst lehrreich, neben den Fadenwürraern die syste- 
matische Reihe der von van Beneden so ausgezeichnet 



der Eingeweidewürmer und Krebse. 



191 



beschriebenen egelartigen Saugwürmer zu vergleichen. 
Wir finden in ihr alle Uebergänge von ganz frei leben- 
den, räuberischen Gattungen zu gelegentlich schma- 
rotzenden, und von diesen zu solchen , welche unmittel-» 
bar nach dem Auskriechen aus dem Ei sich für ihre 
ganze Lebenszeit fixiren. Der Parasitismus erscheint 
hier, wie überall, als eine Anpassung an neue Wohn- 
plätze, welche die Lebensgeschichte des Individuums 
aufbe wählt mit der Erinnerung au die einstige Gestalt. 
Die Verhältnisse der parasitischen Würmer finden 
ihre Wiederholung in den parasitischen Krebsen, wie 
denn überhaupt eine höchst wahrscheinliche Urform 
des Krebsstammes in der 
Metamorphose mehrerer 
Ordnungen dieser grossen, 
vielfach variirten und 
doch so zusammenhängen- 
den Klasse aufbewahrt 
ist. Die Larve, welcher, 
wie man mit grosser Si- 
cherheit annehmen darf, 
die Urform der Krebs- 
klasse sehr nahe stand, 
wurde einst für eine selb- 
ständige Gattung gehal- 
ten und empfing den 
Namen Nauplius. Man spricht also von einem Nauplius- 
stadium, welches sich namentlich bei den niedern 
Krebsen, den Copepoden, Parasiten, Rankenfüssern 
und den sich diesen anschliessenden merkwürdigen 
Wurzelfüssern erhalten hat, jedoch auch in der höch- 
sten Ordnung, den zehnfüssigen stieläugigen Krebsen 
nicht fehlt. Wir werden unten uns mit der sogenann- 
ten verkürzten Entwickelung bekannt zu machen haben, 
welche sich unter den Krebsen die Zehnfüsser ange- 
eignet haben, wie man früher glaubte, alle. Wäre 
dies wirklich der Fall, so würden wir zwar auch noch, 
gestützt auf die Analogie, für sie den directen Zu- 




Fig. 10. Nauplius. 



192 Ontogenie und Phylogenie 

sammenhang mit den übrigen noch die Naupliusstufe 
in der Entwickelung wiederholenden Ordnungen er- 
Bcliliessen, allein es war doch eine hochwillkommene 
Entdeckung Fritz MüUer's, dass eine Garnele (ein Pe- 
neus) noch heute ihre Entwickelung als Nauplius be- 
ginnt, während alle andern Ordnungsgenossen, soviel 
bekannt, im höhern Zoestadium (vgl. S. 50) das Ei 
verlassen. Da bisjetzt von Hunderten der stieläugigen 
Krebse kaum ein Dutzend nach ihrer Entwickelung 
untersucht sind, so kann man nicht zweifeln, dass 
hinsichtlich des Naupliusstadiums noch andere Arten 
sich jenem Peneus von der brasilianischen Küste an- 
schliessen werden. Aber selbst wenn dieser Fall ein 
Unicum in der Ordnung bliebe, würde er als leben- 
diges Zeugniss des Zusammenhanges der Gegenwart 
der Zehnfüsser mit den Urkrebsen ausreichen. Oder 
gibt es etwa eine andere Auffassung? Nein. Die 
Naupliusentwickelung des Peneus ist entweder ein 
glänzender Beleg für die Abstammungslehre, oder ein 
sinnloses Paradoxon. 

Nach dem Vorangegangenen erläutert sich die Ver- 
wandlung der Amphibien von selbst. Ihre Vorgänger 
waren Wasser athmer, deren Gestalt und Lebensweise 
die langschwänzigen Amphibien, also die Tritonen 
und Molche, getreuer bewahren als die Frösche. Bei 
unsern Tritonen tritt die Geschlechtsreife nicht selten 
schon im Larvenzustande ein, das ist also auf einer 
Stufe, welche bei den Vorfahren der heutigen Gattun- 
gen die definitive war. Es gibt sogar noch eine Art, 
den mexicanischen Acholotl, der regelmässig auf die- 
ser Larvenstufe sich fortpflanzt. Höchst interessant 
ist Aug. Dumeril's Beobachtung, dass von den Tau- 
senden von Acholotls, welche er in Paris zog, einzelne 
über das bisher bekannte Stadium ihrer Entwickelung 
hinausgingen , nämlich ihre Kiemen verloren , ihre Kör- 
pergestalt nicht unwesentlich veränderten und aus 
Kiemenathmern und Wasserthieren zu Lungenathmern 
und Landthieren wurden. Es bqfiarf der weitern 






»93 



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I 






194 Directe oder verkürzte 

Forschung, ob nicht etwa, was jedoch unwahrscheinlich, 
in ihrer Heimat alle Acholotls , nachdem sie sich schon 
im Larvenzustande fortgepflanzt, die Metamorphose 
zu molchartigen Thieren (Amblystoma) durchmachen, 
oder ob die Versetzung nach Europa und die damit 
verbundene gänzliche Veränderung der Lebensverhält- 
nisse den Anstoss zu einer fortschreitenden Umwand- 
lung jener einzelnen Individuen gegeben, welche unter 
Andauer dieser Bedingungen in spätem Generationen 
auf immer mehr Individuen sich ausdehnen und schliess- 
lich der Art, als einer neuen, eigen thümlich werden 
würde. 

Die bisher betrachteten Beispiele der Ontogenie oder 
individuellen Entwickelung hatten das Eigenthümliche, 
dass das geschlechtsreif e Thier sich nicht unmittelbar 
aus seinem Ei gleich dem Phönix aus der Asche 
verjüngte, sondern verschiedene Gestalten und Wesen- 
heiten durchzumachen hatte, in welcher die Vorfahren 
der Art wieder greifbar und lebendig werden. Es 
fragt sich nun, wie zu dieser wahrhaft epischen, er- 
zählenden Entwickelung sich die Form der Fortpflan- 
zung stellt, welche die Systematik lediglich nach der 
Thatsache, ohne sich dabei etwas denken zu können, 
„directe Entwickelung" oder „Entwickelung ohne Ge- 
nerationswechsel und Verwandlung" genannt hat. Die 
flimmerhaarigen Embryone vieler Quallen werden nicht 
zu polypenförmigen Zwischenformen, sondern gehen 
unmittelbar in die Qualle über. Die meisten höhern 
Krebse verlassen nicht als Nauplius das Ei, sondern 
schon mehr oder weniger vollkommen als Zehnfüsser 
ausgebildet. Der Vogel, das Säugethier, der Mensch, 
sie alle sind , wenn sie geboren werden, „ihren Aeltern 
ähnlich". Erwägt man, dass. die Vorgänge des Gene- 
rationswechsels an sich durchaus nicht v'ortheilhaft 
oder „zweckmässig" sind — man denke nur an die 
Schicksale der Eier des Bandwurms — , dass durch 
den Larvenzustand die Zeit der Kindheit und Schwäche 
verlängert, die Zeit der Reife und der erfolgreichen 



Entwickelung. 195 

Obsorge für den Artbestand hinausgeschoben wird, so 
folgt, dass Abkürzungen und Keductionen dieser Ent- 
wickelungsformeli , welche infolge von Anpassungen 
eintreten, als vortheilhafte Aenderungen Aussicht auf 
Befestigung haben. Wie die Verlängerung des Larven- 
stadiums der Amphibien durch natürliche Umstände 
und künstliche Versuche herbeigeführt werden kann, 
so ist in gleicher Weise eine Zusammendrängung der 
Stadien der Verwandlung und überhaupt eine Ver- 
kürzung der Verwandlung denkbar, und es liegen 
gerade aus der Klasse der Amphibien mehrere Bei- 
spiele der verkürzten und modificirten Metamorphose 
vor, welche die scheinbare Kluft zwischen der Ent- 
wickelung mit und der ohne Verwandlung überbrücken 
und die directe Entwickelung als allmählich er- 
worben begreiflich machen. Amphibien werden sich 
überall hin auszubreiten suchen, wohin sie genügende 
Insektennahrung einladet, und der schwarze Salamander 
des Hochgebirges (Salamandra atra) hat selbst das 
Hinderniss überwunden, welches man für ein unüber- 
steigliches halten sollte, den Mangel von Gewässern 
für seine Larven. Er legt seine Eier nicht, gleich 
seinen Verwandten, sondern nur zwei werden in die 
Eileiter aufgenommen, und die von deren Wandungen 
ausgeschiedene Flüssigkeit ersetzt ihnen und den hier 
auskriechenden Larven den Sumpf. Hier, nicht ausser- 
halb der Mutter, kommen die Kiemen zum Vorschein, 
während die allmählich nachrückenden übrigen Eier 
von den nahrungsbedürftigen Larven gefressen werden. 
Die Verwandlung des schwarzen Molches , über welche 
leider neuere Untersuchungen vermisst werden, geht 
also im Mutterleibe vor sich, und es macht keine 
Schwierigkeit, die Erwerbung dieser Eigenthümlichkeit 
durch die Nöthigung der Anpassung an aussergewöhn- 
liche Lebensverhältnisse sich vorzustellen. Wenn uns 
die Lebensweise des Beutelfrosches, dessen Junge in 
einer Hautfalte des Rückens ausgetragen werden, der 
surinamischen Kröte, deren Larven einzeln in waben-» 

13* 



196 Directe Entwickelung. 

artigen Fächern des Rückens leben, bekannter wären, 
als sie es sind, würden wir gewiss zu ähnlichen Re- 
sultaten, wie beim schwarzen Salamander kommen. 
In . Ermangelung dessen ist eine erst 1873 veröffent- 
lichte Beobachtung des Herrn Bavey, Marine-Pharmaceut 
in Guadeloupe, höchst wichtig.®^ Ein dortiger Frosch 
(Hylodes martinicensis) macht seine ganze Verwand- 
lung im Ei durch. Er hat im Ei die Kiemen und den 
Schwanz, und aus der kurzen Notiz, dass auf der In- 
sel nur schnell verrinnende Giessbäche, nirgends stehende 
Gewässer und Sümpfe sich finden, geht hervor, dass 
es sich auch in diesem Falle um eine die Entwicke- 
lung modificirende und verkürzende Anpassung handelt. 
. Sehen wir nun nach dieser Hinüberleitung die so- 
genannte directe Entwickelung näher an, so lässt sie 
sich durchaus der Metamorphose des Hylodes von 
Guadeloupe vergleichen. Die directe Entwicke- 
lung ist eine Verwandlung im Ei, und auch wo 
sie stattfindet, sind die embryonalen Entwicke- 
lungsstufen mehr oder weniger deutliche 
Wiederholungen der historischen Entwicke- 
lung des Stammes. Wir wollen nur an den der 
Metamorphose nicht unterworfenen Wirbelthieren einige 
Phasen des embryonalen Lebens hervorheben, welche 
Stufen einer verkürzten Verwandlung sind und stabile 
Zustände der Vorfahren recapituliren. Dass bei allen 
Wirbelthieren die Wirbelsäule als ein ungegliederter 
Strangund eine ungegliederte Scheide für das Rückenmark 
sich anlegt, ist wiederholt erwähnt. Es ist der blei- 
bende Zustand niedrigster Fische. Auch bei den 
höhern Wirbelthieren besteht das Gehirn anfangs aus 
einigen hintereinander liegenden Blasen, der definitiven 
Form der niedrigen Gruppen. Das embryonale Herz 
der Säuger und Vögel beginnt mit der Schlauchform 
und besitzt später die Communication der Kammern, 
welche bei den Reptilien sich nie schliessen. Die Kie- 
menbogen sind bei den Amphibien während der Lar- 
venperiode wirklich Kiemen tragend. Sie fehlen den 



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198 Individuelle und historische 

.theilungen über die Entdeckungen, welche an Tausen- 
den von Exemplaren gewonnen sind und wol erst in 
einigen Jahren mit allen Belegen veröfifentlicht werden. 
„Es war für mich eine besondere Freude", sagt Wür- 
tenberger, „als ich endlich nach mancherlei sorgfältig 
vergleichenden Studien eine interessante einfache Ge- 
setzmässigkeit in dem Yariiren der Ammoniten auf- 
fand. Wenn nämlich eine Veränderung, welche 
später für eine ganze Gruppe eine wesentliche 
Bedeutung erlangt, zum ersten mal auftritt, 
so ist dieselbe nur auf einem Theil der^letzten 
Windungen ganz leicht angedeutet. Gegen 
jüngere Ablagerungen hin tritt diese Ver- 
änderung immer deutlicher hervor und schrei- 
tet dann, dem spiralen Verlaufe der Schale 
folgend, nach und nach immer weiter gegen 
das Centrum der Ammonitenscheibe fort; d, h. 
sie ergreift allmählich immer mehr auch die 
innern Windungen, je höher man die betref- 
fenden Formen in jüngere Schichten hinauf 
verfolgt. Diese Fortpflanzung der in vorgeschritte- 
nem Lebensalter auftretenden Aenderungen auf immer 
jüngere Lebensstufen geht indessen nur langsam vor- 
wärts, sodass wir an den innern Windungen mit grosser 
Beharrlichkeit die altern Formen wiederholt sehen. 
Oft hat sich dann eine solche Aenderung erst eines 
kleinern Theiles der Windungen bemächtigt, bis aussen 
schon wieder eine neue hinzutritt, welche der erstem 
nachfolgt. So sehen wir, die Schichten von unten 
nach oben durchsuchend, Veränderung um Veränderung 
auf dem äussern Theile der Ammoniten beginnen und 
nach dem Centrum der Scheiben hin fortschreiten. 
Die innersten Windungen widerstehen indessen oft mit 
grosser Beharrlichkeit diesen Neuerungen, sodass man 
auf denselben gewöhnlich mehrere solcher Entwicke- 
lungszustände nahe zusammengedrängt findet, indem 
die Schale eines Ammonitenindividuums mit 
einem altern Formentypus beginnt und dann 



Entwickelung der Ammoniten. 199 

jene Veränderungen in derselben Weise nach- 
einander aufnimmt, wie dieselben bei der 
geologischen Entwickelung der betreffenden 
Gruppe in langen Zeiträumen aufeinander 
folgen." 

„Die Ammoniten erhalten also", heisst es später, „in 
einem vorgeschrittenem und reifern Lebensalter — erst 
wenn sie den von ihren Aeltern ererbten Entwicke- 
lungsgang möglichst in derselben Weise, wie diese, 
durchgemacht haben — die Fähigkeit, sich nach einer 
neuen Richtung abzuändern, d. h. sich neuen Verhält- 
nissen anzupassen; jedoch kann sich dann eine solche 
Veränderung in der Weise auf die Nachkommen fort- 
erben, dass sie bei jeder der folgenden Generationen 
ein klein wenig früher auftritt , bis diese letzte Ent- 
wickelungsstufe selbst wieder den grössten Theil der 
Wachsthumsperiode charakterisirt. Eine solche letzte 
und längste Entwickelungsstufe lässt sich dann aber 
durch neuere , sich auf gleiche Weise ausbildende kaum 
jemals wieder ganz verdrängen: die Vererbung wirkt 
so mächtig, dass eine solche einmal vorherrschende 
Periode der Entwickelung sich im jugendlichen Alter 
der Ammoniten, wenn auch oft kaum angedeutet, 
wiederholt. An einem Ammonitenindividuum aus einer 
Jüngern Schicht müssen dann also die zurück- und 
zusammengedrängten Entwickelungsperioden auf den 
innersten Umgängen in derselben Reihenfolge auftreten, 
wie sie einander die Herrschaft abrangen. Es ist 
äusserst interessant, an Inflaten des obern weissen 
Jura, die sich zu Ammonites liparus, der auf den 
sichtbaren äussern Windungen nur eine Stachelreihe 
zeigt, stellen, Windung für Windung behutsam abzu- 
sprengen und so den Entwickelungsgang zu studiren: 
gegen innen zu sind auf einer Strecke immer zwei 
Stachelreihen vorhanden, weiter gegen das Centrum 
verschwindet die innere, sehr bald darauf auch die 
äussere , und der Kern von einigen Millimetern Durch- 
messer erscheint dann auf etwa einem halben Umgange 






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**^|F||j^^W«l|lfc^iv^a'Se Verhältnisse 
g Bfc^y Wy^W MjShS*^ Darwin'ache 
ii9ilttJ^L'Mi|e|«aRllKS.Itere blieb uns 



jugendlichen 




iiwendbarkeit 
auch an den 
tischen Neheo- 
;ittungen näm- 
und Curven 
[Si den echten 
bar berühren, 
irhüUen , und 
und Ausläufer 

ielection und 

lerührung der 

Mi^«helteii Ammo- 
'i^Ivar, der sich 
^S*tigen musate. 



i«r Gruppe an- 

_ u liegen, 

9^i%fiilä^aTii^er natürlichen 
^:iä"^^'i Folgen eich 




lg:ifci:g:fi««.;. 201 

■nViUk^lgiS 1 'Ion 
|g> AäNIMliH ■dlilein- 




202 Gemeinsame Entwickelungszustände 

barkeit, Bewegung und Fortpflanzung versieht, mit 
Haeckel deshalb als ein Mittelreich abscheidet, weil 
ihnen die geschlechtliche Fortpflanzung mangelt, so 
muss man wol weiter dem Genannten zustimmen, 
wenn er die sonst an jene Protisten sich anschliessen- 
den Spongien oder Schwämme wegen ihrer ge- 
schlechtlichen Vermehrung und der Art ihrer embryo- 
nalen Entwickelung und der ersten Larvenstadien 
Thiere nennt. Haeckel hat eine Larvenstufe der Kalk- 
schwämme mit dem Namen Gastrula belegt, wo das 
Thier einen Sack, oder, wenn man will, einen mit 
einer Mundöffnung versehenen Magen vorstellt. Die 
Wandung wird gebildet aus zwei Schichten von Zellen; 
die äussere besteht aus Geiselzellen, d. h. jede Zelle 
ißt mit einer langem Wimper versehen. An der Sack- 
öffnung geht die äussere Schicht in die innere über, 
und aus diesen beiden Blättern baut sich der Spon- 
gienleib in ganz bestimmter Weise auf. Wenn nun 
diese Gastrulalarve zunächst bei den Cölenteraten, 
den Polypen und Quallen, wiederkehrt, wo man schon 
seit langer Zeit die allmähliche Entwickelung aus den 
beiden, Entoderm und Ektoderm genannten Blättern 
zu den complicirtesten Gestalten kennt, und wenn, 
wie Haeckel weiter gezeigt hat, der Vergleich des 
Osculums oder der grössern Oeffnung des Schwamm- 
individuums mit dem Munde des Polypen und der 
Qualle, der grossen Centralhöhle des Schwammes mit 
dem Magen jener, des Kanalsystems mit den Kanälen 
und Höhlungen der Cölenteraten sich genau durch- 
führen lässt , so ist im Zusammenhange der Tausende 
von andern die Descendenzlehre bedingenden und 
stützenden Thatsachen der Schluss unausbleiblich, dass 
in der Gastrula ein Zeuge der Blutsverwandtschaft der 
Spongien und Cölenteraten vorliege. Nun kehrt diese 
Gastrula aber wieder bei den Holothurien, also Echi- 
nodermen, bei Sagitta, bei den, unten im Stamm- 
baum der Wirbelthiere noch näher zu berücksichtigen- 
den Ascidien, endlich im Lanzettfisch, und wir 



verschiedener Stämme. 203 

halten uns daher berechtigt, dieses Zusammen- 
treffen der frühesten Entwickelungszustände 
verschiedener Stämme als das Ueberbleibsel 
der gemeinsamen Wurzel zu betrachten, wel- 
ches in andern Stämmen, z. B. den Gliederthieren, in 
der Verkürzung der Entwickelung verloren gegangen 
ist. Die Bedeutung der „Keimblätter" für das Wir- 
belthier war schon von Pander und in den bahn- 
brechenden Arbeiten von Bär ; erkannt worden; die 
Ausdehnung und Yerwerthung dieser Beobachtung über 
das ganze Thierreich, wie man sie besonders Kowa- 
lewsky verdankt, bezeichnet einea der grössten Fort- 
schritte der vergleichenden Entwickelungslehre. 

Wir mussten früher den ausserhalb der Detailfor- 
schung unserer Wissenschaft stehenden Leser darauf 
aufmerksam machen, dass es Gegner der Selections- 
theorie gibt, wie Owen, welche gleichwol die Descen- 
denz als unbestreitbar annehmen. Auch der Paralle- 
lismus der Ontogenie mit der Phylogenie kann mit 
Zurückweisung der natürlichen Züchtung in den von 
uns verfochtenen natürlichen Zusammenhang gebracht 
werden unter der Voraussetzung einer unnatürlichen, 
will sagen übernatürlichen Leitung, welche jene schein- 
bar natürliche Einheit zum Wunder macht. Erst jüngst 
hat AI. Braun die Uebereinstimmung des botanischen 
Systems und damit der paläontologischen Folge mit 
der Entwickelung des Pflanzenindividuums hervor- 
gehoben, indem er sagt *^: „In der weitern Ausbildung 
des natürlichen Systems tritt der Stufenbau des Pflan- 
zenreichs und damit zugleich die Beziehung des Systems 
zur Entwickelungsge schichte immer deutlicher, un- 
gesucht und unabweisbar hervor. Die Acotyledonen 
werden als blütenlose Pflanzen , wofür sie schon die 
alten Botaniker der vorlinne'schen Zeit hielten, con- 
statirt und dadurch ihr Verhältniss zu den Blüten- 
pflanzen klarer ausgesprochen; die Blütenlosen werden 
in zwei wesentlich verschiedene Abtheilüngen, in denen 
sich gleichfalls Stufenfolge bestimmt ausspricht (Zellen- 



204 Gleichheit in den Anfangen 

kryptogamen und Gefösskryptogamen = Thallophyten 
und Kormophyten) zerlegt; zwischen den vollkommenen 
Blütenpflanzen und den Blütenlosen wird eine Mittel- 
stufe, die der nacktsamigen Pflanzen nachgewiesen, 
das Wichtigste aber ist der Umstand, dass 
die gewonnenen vier Hauptstufen des Pflan- 
zenreiches, aufs genaueste den allen höhern 
Pflanzen zukommenden individuellen Ent- 
wickelungsstufen entsprechen, dem Keime, dem 
vegetativen Stock, der Blüte und der Frucht." 
Warum aber dieser Parallelismus das Wichtigste sein 
soll, wenn wir damit nicht zur Erkenntniss der wahren 
Causalität geführt werden, ist uns nicht begreiflich. 
Wir können uns wol denken, dass man sich mit den 
„innern Ursachen" und dem „Princip der Vervoll- 
kommnung" als dem refugium ignorantiae abfindet, 
nicht aber, dass sich die Forschung damit wirklich 
beruhigt. Unserm Standpunkte muss daher die Ein- 
stimmung der Resultate der botanischen Forschung 
auch höchst wichtig sein, aber aus dem sagbaren 
Grunde, weil damit die Theorie abermals durch eine 
grosse Reihe von Thatsachen gestützt und befestigt 
wird. 

Hat man einmal die Uebereinstimmung der Ent- 
wickelung der Stämme bis zur Gastrula verfolgt, so 
wird man dabei nicht stehen bleiben, sondern auch 
die Gleichheit der San^enkörperchen und Eizellen von 
den Spongien bis zu den Wirbelthieren als uraltes 
Gemeingut auffassen, welches die Thier- und die Pflan- 
zenwelt verbindet, und vor dessen Erwerb nur solche 
Weisen der Fortpflanzung stattfanden, wie sie bei den 
Protisten und im Generationswechsel erhalten sind. 

Wie nun schon die Gemeinsamkeit der Grundlagen 
der geschlechtlichen Fortpflanzung der verschiedenen 
Stämme auf gemeinsamen Ursprung drängt, so führt 
die, wie wir gesehen, mit der geschlechtlichen Ver- 
mehrung in unmittelbarem Zusammenhange stehende 
ungeschlechtliche Fortpflanzung durch unbefruchtete 



und Elementen der Entwickelung. 205 

Eizellen und Keimkörper immer tiefer zurück in die 
Anfänge des Lebens. Die mit Kern und Hülle ver- 
sehene Zelle ist aber unablöslich von den kern- und 
hüllenlosen Protoplasmakörperchen , auf deren Wachs- 
thum und Theilung die Fortpflanzung der niedersten 
Lebewesen beruht. 

Ihre Entstehung aus der unorganischen Materie ist, 
wie wir oben auseinandergesetzt, ein Postulat des ge- 
sunden Menschenverstandes. An diesen Anfang dös 
Lebens leitet uns, nicht, wie die Gegner der Descen- 
denzlehre sagen, eine dogmatisirende Afterphilosophie, 
sondern die aufmerksame und vorurtheilsfreie Betrach- 
tung und Combination der Thatsachen der Entstehungs- 
geschichte des Individuums.*^^ 



X. 

Die geographische Verbreitung der Thiere im Lichte 

der Abstammungslehre. 

Obwol schon seit dem Jahrhundert der grossen 
geographischen Entdeckungen das Material für Pflan- 
zen- und Thiergeographie sich anhäufte, ist di^ Grund- 
lage einer wissenschaftlichen Pflanzengeographie doch 
erst, abgesehen von Georg Forster's Beobachtungen, 
in Humboldt's berühmten „Ideen zu einer Physiognomik 
der Gewächse" enthalten. Es ist die erste, das ge- 
sammte Areal der Erde umfassende Schilderung von 
Pflanzenformen, wie sie theils einzeln, theils combinirt 
ihren Yerbreitungsbezirken ein eigenthümliches land- 
schaftliches Gepräge geben, und wiederum ihrerseits 
sich in Harmonie mit den andern landschaftlichen 
Factoren befinden. Der berühmte Begründer der Kli- 
matologie , welcher den Erdball mit den Linien gleicher 
Temperatur, der gleichen Inclination und Declination 
der Magnetnadel umspann, in trockene und regenreiche 



206 Vicarirende oder 

Zonen sonderte, wusste besser als irgendeiner seiner 
Zeitgenossen, dass Thier- und Pflanzenwelt von allen 
diesen Factoren abhängig seien. Allein weder er noch 
seine Nachfolger bis auf Darwin sind über ,die Stufe 
der Naturschilderung hinausgekommen, die schon Buffon 
in seinem grandiosen Naturgemälde, den „Epoques de 
la Natur e^^j eingehalten. 

Eine selbstverständliche Folge der ausserordentlichen 
Erweiterung des geographischen Horizontes und der 
Vertiefung in die Specialuntersuchung war die immer 
sorgfältigere Feststellung der Verbreitungsbezirke der 
Thier- und Pflanzenfamilien und ihrer hervorragenden 
Arten, wobei man, wie gesagt, entweder gar nicht 
nach den Ursachen der Verbreitung fragte, oder es 
sich so leicht machte, wie Louis Agassiz, der die Ar- 
ten nicht, wie Linne, von je einem Paare herleitete, 
sondern sie in beliebigen Mengen von Individuen über 
ihre Verbreitungsbezirke erschaffen werden liess. Dass 
damit keine der sich jetzt uns aufdrängenden Fragen, 
z. B.: warum nicht unter gleichen natürlichen Ver- 
hältnissen immer die gleichen Arten sich finden, oder 
umgekehrt? warum einander sehr nahe stehende Arten 
oft unter ganz ungleichen äussern Bedingen auftreten? 
wie man sich das Verhältniss der sogenannten vica- 
rirenden Formen zueinander zu denken habe u. dgl., 
gelöst wird, ist zu erwarten. Wie neuerdings Rüti- 
meyer in seiner ausgezeichneten Abhandlung: „lieber 
die Herkunft der schweizerischen Thierwelt" ®^, bemerkt 
hat, hob schon Buffon jene Wiederholung der afrika- 
nischen in der amerikanischen Fauna hervor, wie z. B. 
hier das Lama ein verjüngtes und schwächeres Abbild 
des Kamels sei, der Puma der Neuen Welt den Löwen 
der Alten repräsentire. Allein mit dem Wort „Reprä- 
sentativform" oder „vicarirende Form" ist an sich 
nichts gewonnen, und ein Verständniss kommt in diese 
Thatsachen einzig und allein, wenn wir mit der An- 
nahme an die Untersuchung gehen, Kamel und Lama, 
Puma und Löwe seien gemeinschaftlicher Abstammung, 



analoge Arten. 207 

und ihre Sonderentwickelung sei im Laufe der Zeiten 
durch Trennung der Wohnsitze ihrer Vorfahren be- 
günstigt und bedingt worden. 

Ein anderes, der Schlussfolgerung zugänglicheres 
Beispiel für die sogenannten vicarirenden oder „ana- 
logen" Arten gibt die Vergleichung der südeuropäischen, 
namentlich spanischen Schnecken mit den nordafrika- 
nischen, worüber wir Bourguignat ausgezeichnete 
Beobachtungen verdanken. Derselbe hat in Ueber- 
einstimmung mit den übrigen faunistischen und flori- 
stischen Thatsachen festgestellt, dass die spanische 
und die nordafrikanische Molluskenfauna ein Ganzes 
bilden, sodass die algierische Schneckenwelt als ein 
blosser Anhang der südeuropäischen erscheint trotz 
der Trennung durch die Meerenge von Gibraltar. Nun 
ist es erwiesen, dass in jüngerer geologischer Zeit 
diese Strecke von Nordafrika in der That eine Halb- 
insel von Spanien war, und dass ihre Vereinigung mit 
Afrika im Norden bewirkt wurde durch den Durch- 
bruch der Strasse von Gibraltar, im Süden und Osten 
durch eine Hebung, welcher die Sahara ihr Dasein 
verdankt. Noch jetzt werden die Ufer des einstigen 
Saharameeres gekennzeichnet durch die Gehäuse der- 
selben Schnecken, die am Mittelmeerufer leben. Aber 
nicht alle nordafrikanischen Schneckenarten sind iden- 
tisch mit den spanischen, zu zahlreichen Afrikanern 
finden sich auf unserer Seite nur „analoge" Arten. 
Wenn nun also gewisse spanische Arten zwar nicht 
selbst in Afrika vorkommen, aber doch durch sehr 
ähnliche Formen vertreten sind, so verbindet sich mit 
dem sonst bedeutungslosen Wort „analoge" Arten für 
unsern Standpunkt zugleich der Begriff der gemein- 
schaftlichen Abstammung der einander ersetzenden 
Formen und der durch die Isolirung und die verän- 
derten Verhältnisse hervorgebrachten localen Umwand- 
lungen. Wer an die Sonderschöpfung der Arten glaubt, 
wird gerade bei den Land- und Lungenschnecken auf 
eine harte Probe gestellt, indem es sich zeigt) dass 



208 Analoge Arten. . 

auf ißolirten Inseln und Inselgruppen diese schwer 
wandelnden und bodenständigen Thiere eine ganz ausser- 
ordentliche Mannichfaltigkeit erreicht haben. Auf der 
Mädeiragruppe zählte man vor etwa zehn Jahren 
134 Arten Lungenschnecken, von denen nur 21 Arten 
sich auch in der afrikanisch-europäischen Fauna fanden. 
Sie und die andern 113 Arten sind meist an enge 
Districte und einzelne Thäler gebannt. Sollen wir 
annehmen, dass die 113 Arten für Madeira und die 
21 Arten für Madeira und Afrika -Europa einzeln ge- 
schaffen wurden ? Müssen wir nicht vielmehr schliessen, 
dass einst ein Zusammenhang zwischen Europa und 
der heutigen Inselgruppe von Madeira stattfand, und 
dass jene 21 Arten blieben, was sie vor der Trennung 
waren , während aus den übrigen uns unbekannten , nur 
noch in analogen Formen auf dem Festlande vorhan- 
denen Arten die merkwürdige Fülle von neuen Arten 
hervorging? Ihnen und ihren Genossen auf andern 
isolirten Inseln war vielseitiger Kampf erspart, und 
ohne Zweifel geben sie ein günstiges Beispiel ab für 
das Wagner'sche Migrationsgesetz, indem bei der Schwie- 
rigkeit der Wanderung dieser Thiere und der Unwahr- 
scheinlichkeit eines reichlichen Nachschubes die sich 
absondernden Individuen auch unter geringen neuen 
Einwirkungen Aussicht auf Abweichung von der Stamm- 
art hatten. 

Die unwissenschaftliche Meinung, dass unter gleichen 
oder fast gleichen äussern Verhältnissen gleiche oder 
ähnliche Organismen in grosser Anzahl geschaffen wor- 
den seien, erhält einen argen Stoss durch die Wahr- 
nehmung, dass oft das gerade Gegentheil eingetreten 
ist. Wir werden weiter unten mehr Thatsachen hier- 
für beibringen und wollen hier nur auf ein schlagendes 
Beispiel hinweisen. Warum hat Amerika in der heu- 
tigen Periode keine Pferde, obschon, wie sich gezeigt, 
die 'eingeführten Pferde vortreflFlich gedeihen? Die 
Sache steht nicht so , dass wir erklären müssten, warum 
die fossilen Pferde, welche in Amerika so gut wie auf 



Ursachen der Verbreitung. 209 

der östlichen Halbkugel existirten, erloschen sind, ohne 
Nachkommen zu hinterlassen — wir wissen die Ur- 
sache nicht, ergründen sie aber vielleicht noch — 
sondern dass die Anhänger der Schöpfungslehre hier 
und in allen ähnlichen Fällen die Unzulänglichkeit 
ihrer Glaubenstheorie zu bekennen haben. 

Unsere bisherige Darstellung hat uns die jetzt leben- 
den Arten als Nachkommen früher lebender Organis- 
men gezeigt; die heutige Vertheilung über die Erde 
ist daher eine Folge der Verbreitung der Vorfahren der 
heutigen Organismen und der vielfachen Verschiebun- 
gen von Land und Wasser, von welchen jene unmittelbar 
oder mittelbar betroffen wurden. Wir können nicht 
hoffen, je ein getreues Bild von den fortlaufenden 
Umgestaltungen der Erdoberfläche uns zu bilden. Erst 
wenn dies gelänge und wenn wir zugleich von den 
jedesmaligen Bewohnern der einstigen Inseln, Fest- 
länder und Meere genaue Verzeichnisse hätten, würde 
die Verbreitung der jetzigen Organismen vollkommen 
ergründet und begründet sein. Wir haben aber mit 
dieser Erkenntniss der Unvollkommenheit unserer sta- 
tistischen Hülfsmittel so viel gewonnen, dass wir mit 
Sicherheit den Weg der Untersuchung vorzeichnen 
können. Wir haben erstens in der Weise der altern 
Pflanzen- und Thiergeographie fortzufahren in der 
Constatirung der natürlichen Grenzen oder der Ver- 
breitungsbezirke, und zweitens diese Thatsachen mit 
den Thatsachen der durch die jeweiligen geologischen 
Verhältnisse bedingten Verbreitung der einstigen Vor- 
fahren der heutigen Lebewelt zu combiniren. Es ver- 
steht sich von selbst, dass auch für diese Arbeit 
Darwin die Grundzüge gegeben hat. Unter seinen Nach- 
folgern verdienen aber besonders zwei hervorgehoben 
zu werden, Wallace mit seinen, an feinen Beobach- 
tungen überreichen Untersuchungen über den Malai- 
ischen Archipel ^*^, und Rütimeyer in der schon citirten 
Abhandlung. Wir können uns im Folgenden wesentlich 
an letztern anschliessen. 

Schmidt, Descendenslehre. 14 



210 Unzulänglichkeit der Beobachtungen. 

Unsere Kenntniss der Verbreitung»bezirke der Thier- 
welt ist noch ausserordentlich mangelhaft. Was wissen 
wir z. B. von dem Vorkommen der Seethiere? Sind 
doch erst wenige Jahre verflossen, seit überhaupt die 
Tiefen des Meeres der Erforschung zugänglich gemacht 
wurden, dieses allerdings mit einem Erfolg, dass un- 
sere frühern Anschauungen über die geologische Be- 
deutung des Meeresbodens und seine Bewohnbarkeit 
nahezu ganz umgestossen wurden. Nach der mächtigen 
Anregung, welche Maury für die Erforschung der 
physikalischen Beschaffenheit des Meeres gegeben, sind 
wir jetzt dabei, die unterseeischen Temperaturen und 
Strömungen, Beschaffenheit des Meeresbodens, Yor- 
kommen und Lebensbedingungen der Tiefseeorganismen 
festzustellen. Wir fangen also eben an, das Material 
für eine künftige Geographie der Meeresorganismen zu 
sammeln. Von Landthieren sind gewisse Gruppen, 
deren Verbreitung an sich bestimmt werden kann, für 
unsere allgemeinen Zwecke unbrauchbar. So die 
Schmetterlinge. Eine leichte Beute der Luftströmungen 
spotten sie der geologischen Barrieren, vor allen jener 
wichtigen Scheidewand, welche seit den tertiären Zei- 
ten zwischen Australien und Indien aufgerichtet oder 
vielmehr in den Meeresgrund eingeschnitten ist. '^ 
Aehnlich verhalten sich die Fledermäuse, auch die 
Wander-, Eaub- und Wasservögel, während die an- 
dern Ordnungen dieser Klasse, wie Wallace zeigt, 
in den heissen JErdstrichen sehr zuverlässige und sta- 
bile Bewohner ihrer oft begrenzten und zur Auswan- 
derung scheinbar einladenden Bezirke sind. So bleiben 
ausser ihnen fast nur die Säugethiere übrig, auf deren 
Herkunft mit dem Vergleich ihrer gegenwärtigen Can- 
tonirung — ein Ausdruck, den wir Rütimeyer ent- 
lehnen — mit den Lagerstätten ihrer einstigen Ver- 
wandten mit Sicherheit geschlossen werden darf, woneben 
sich zugleich allgemeine Gesichtspunkte für die Ur- 
sachen der heutigen geographischen Vertheilung der 
Organismen ergeben. 



Verbreitungsbezirke der Säuger. 211 

Beschränkt man sich also in der vorbereitenden Fest- 
stellung des Thatsächlichen auf die Säugethiere, mit 
Ausschluss der Wale und Fledermäuse, so ergibt sich 
schon bei oberflächlicher Musterung nicht nur für 
die einzelnen Arten, sondern meist auch für die Fa- 
milien, dass jede derselben einen gewissen Bezirk der 
grössten Dichtigkeit des Vorkommens , ein Verbreitungs- 
centrum hat, und dass von da aus Ausstrahlungen 
je nach der Bequemlichkeit und Eignung des Terrains 
stattgefunden haben. Löwe und Tiger, Elefanten und 
Kamele sind über bestimmtes Areal verbreitet; die 
Affen der Neuen "Welt unterscheiden sich nicht blos 
geographisch, sondern durch Familienkennzeichen von 
den altweltlichen. Die Beutelthiere sind zum grössten 
Theil auf Australien concentrirt , die Faulthiere und 
Gürtelthiere auf Südamerika. Und diese leicht zu ver- 
mehrenden Beispiele weisen darauf hin, wie die Indi- 
viduen weit zerstreuter Arten und die Arten selbst 
aus einzelnen Punkten der Erdoberfläche hervorgequollen 
und über das jetzt eingenommene Verbreitungsgebiet 
ausgeströmt sind. Wenn nun aber zu dieser Beobach- 
tung die andere hinzukommt, dass auch in vergangenen 
Erdperioden dieselben Gruppen dieselben Verbreitungs- 
mittelpunkte hatten, wie denn z. B. Brasilien nicht 
blos jetzt die Faul- und Gürtelthiere beherbergt, son- 
dern einst von zahlreichern, zum Theil kolossalen Ar- 
ten dieser Familien bevölkert war, und Australien die 
zahlreichsten und ansehnlichsten fossilen Reste von 
Beutelthieren geliefert hat, so wird uns die Wahr- 
nehmung dieser dauernden Localisirung sehr bedeu- 
tungsvoll, und wir erklären die „Wiederholung" dieser 
Formen aus der Abstammung. 

Gelingt es nun , die auf den ersten Anblick äusserst 
zahlreichen Verbreitungscentren in nähere Verbindung 
zu bringen, der Zahl nach möglichst zu reduciren, da 
ja nach unserer Theorie die Säuger nur einen Aus- 
gangspunkt gehabt haben, gelingt es, hiermit auch 
die geologische Aufeinanderfolge der untersuchten 

14* 



212 I^ie Bevölkerung der Inseln. 

Organismen in Einklang zu bringen, also mit andern 
Worten die horizontale Verbreitung mit der verticalen 
oder historischen Folge, so tritt die Thiergeographie 
der Lösung ihrer Aufgabe nahe. Daher liegt in Wal- 
lace^s und Rütimeyer's Arbeiten ein höchst wichtiger 
Fortschritt, indem von jenem der detaillirte Nachweis 
gegeben wurde, dass die Fauna der complicirten und 
ausgedehnten australisch -indischen Inselwelt durchaus 
unselbständig sei und nur aus Ablegern der Fest- 
länder bestehe, und von diesem in grossartigem 
Ueberblick über die gesammte Erdoberfläche die Ver- 
breitungscentren auf das einfachste bisjetzt mögliche 
Mass zurückgeführt wurden. 

Von hohem Interesse ist natürlich zunächst die Ver- 
gleichung der Inselfaunen mit den Festlandsfaunen. 
Denn sollte sich herausstellen, dass sämmtliche Inseln 
in ihrer Thierwelt blosse Anhängsel der Festländer, so 
würde das Problem schon ausserordentlich vereinfacht 
sein. Folgen wir Peschl's lichtvoller Auseinandersetzung 
über den Ursprung der Inseln^*, so handelt es sich 
zuerst um die Bruchstücke von Festlanden. Eine grosse 
Anzahl von Inseln geben sich ohne weiteres als Bruch- 
stücke noch bestehender Continente zu erkennen, so 
Britannien und die grossen asiatischen Inseln. Dagegen 
ist Madagascar mit den Seychellen nicht, wie man ver- 
muthen sollte, ein Glied von Afrika, sondern der 
Ueberrest eines ehemaligen, in Flora und Fauna sehr 
eigenartigen Festlandes. Die übrigen Inseln rühren 
entweder von unterseeischen Vulkanen her oder von 
Korallen, und im letztem Falle geschieht der Aufbau 
von untersinkendem Lande aus. Es folgt nun von 
selbst, dass auf den vulkanischen und den Korallen- 
eilanden nur solche Thiere angetrofiFen werden, welche 
sie schwimmend oder fliegend erreichten. Die An- 
wesenheit von Säugern setzt daher Menschenhand oder 
ausserordentliche Zufälle voraus. Alle solche Inseln 
werden, je älter, desto reicher an Organismen sein. 
Umgekehrt werden die von Festländern losgelösten 



Der Malaiische Archipel. 213 

Inseln im allgemeinen um so reicher sein, je jünger 
sie sind, wofür Britannien Zeugniss ablegt. Je mehr 
ihre Fauna abweicht, eine desto längere Zeit muss seit 
ihrer Ablösung verflossen sein. So z. B. lässt sich 
das Verhältniss von Tasmanien und Australien auf- 
fassen; und wenn Neuseeland überhaupt je mit dem 
alten australischen Continent zusammengehangen, so 
ist die Losreissung in einer so frühen Zeit erfolgt, 
dass auf die heutige Physiognomie der neuseeländischen 
Thierwelt daraus gar kein Licht geworfen wird und 
umgekehrt. 

Ein Muster thiergeographischer Untersuchung hat 
Wallace in der Beschreibung seiner Reisen im Ma- 
laiischen Archipel gegeben. Schon vor Jahren hatte 
G. Windsor darauf hingewiesen, dass die grossen In- 
seln Sumatra, Borneo, Java durch ein seichteres Meer 
mit dem asiatischen Continent in Verbindung gebracht 
sind, während ein ähnlich seichtes Meer Neuguinea 
und einige benachbarte Inseln an Australien weisen, 
mit welchem sie durch die Beutelthiere charakterisirt 
werden. Wallace hat diese Scheide näher bestimmt 
in einer Linie, welche eine tiefere Einsenkung des 
Meeresbodens bezeichnet. Sie zieht sich unterhalb der 
Philippinen hin, geht, Celebes südlich lassend, durch 
die Strasse von Macassar und trennt die beiden klei- 
nen Eilande Bali und Lombok. Wir folgen nun Wal- 
lace's Schilderung (a. a. 0., S. 10 fg.) mit verschie- 
denen Auslassungen. 

„Man gibt jetzt allgemein zu, dass die gegenwärtige 
Vertheilung der lebenden Wesen über die Erdober- 
fläche hauptsächlich das Resultat der jüngsten Reihe 
von Veränderungen ist, welche dieselbe erlitten hat. 
Die Geologie lehrt uns, dass die Oberfläche des Lan- 
des und die Vertheilung von Land und Wasser immer 
einer leichten Veränderung unterliegt, und dass auch 
die Lebensformen im Verlaufe der Perioden, von denen 
wir Zeugnisse besitzen, an dieser allmählichen Um- 
änderung theilnehmen. Was den Malaiischen Archipel 



214 Die Thierwelt des 

. anbetrifft, so finden wir, dass die weite Seestrecke, 
welche Java , Sumatra und Borneo voneinander und von 
Malakka und Siam trennt, so seicht ist, dass überall 
auf ihr Schiffe ankern ' können , indem die Tiefe selten 
über 40 Faden beträgt; und wenn wir bis zur 
Linie von 100 Faden vorgehen, so können wir die 
Philippinen und Bali östlich von Java mit einschliessen. 
Wenn daher diese Inseln voneinander und vom Fest- 
lande durch das Sinken dazwischenliegender Land- 
Strecken getrennt worden sind , so dürfen wir schliessen, 
dass die Trennung eine verhältnissmässig junge ist, da 
die Tiefe, bis zu welcher das Land gesunken, so 
gering. — Wenn wir nun die Zoologie dieser Länder 
betrachten, so finden wir eine Bestätigung dessen, was 
wir suchen, nämlich einen sehr überzeugenden Beweis, 
dass diese grossen Inseln einst dem grossen Continent 
angehört haben müssen und erst in einer sehr jungen 
geologischen Epoche von ihm getrennt sein können. 
Der Elefant und Tapir von Sumatra und Borneo, das 
Nashorn von Sumatra und die ähnliche javanische Art, 
das wilde Rind von Borneo und die javanische Form, 
die man so lange für eigenthümlich hielt, von allen 
weiss man jetzt, dass sie da oder dort auf dem Fest- 
lande von Südasien vorkommen. Es ist unmöglich, 
dass einst diese grossen Thiere die Meerengen über- 
schritten, welche jetzt diese Länder trennen, und ihre 
Anwesenheit beweist klar, dass, als die Arten ent- 
standen, eine Landverbindung existirt haben muss. 
Eine beträchtliche Anzahl der kleinern Säuger sind 
allen Inseln und dem Festlande gemeinsam; aber die 
grossen physikalischen Veränderungen, die vor sich 
gegangen sein müssen seit der Ablösung und dem 
Untersinken so grosser Strecken, haben den Untergang 
einiger auf verschiedenen Inseln herbeigeführt, und in 
einigen Fällen scheint Zeit genug zu Artumwandlungen 
gewesen zu sein. Vögel und Insekten bestätigen diese 
Ansicht; denn jede Familie und fast jede Gattung 
dieser Gruppen, welche man auf einigen Inseln findet, 



malaiischen Archipels. 215 

gehören auch dem asiatischen Festlande an, und in 
einer grossem Anzahl von Fällen sind die Arten völlig 
gleich. Die Vögel bieten uns eins der besten Mittel 
dar zur Bestimmung des Gesetzes der Vertheilung; 
denn obwol es auf den ersten Blick scheinen könnte, 
dass die Wassergrenzen, welche die Landvierfüsser ab- 
trennen, von den Vögeln leicht überschritten werden 
könnten, ist es in Wirklichkeit doch nicht so. Nehmen 
wir nämlich die Wasservögel als ausgezeichnete Wan- 
derer aus, so findet es sich, dass die andern, und be- 
sonders die Sperlingsvögel oder die wahren Hocker, 
welche die grosse Mehrzahl bilden, im allgemeinen 
durch Meerengen und Meeresarme ebenso streng ab- 
gegrenzt werden als die Vierfüsser. Beispielsweise ist 
es eine merkwürdige Thatsache, dass Java zahlreiche 
Vögel besitzt, welche nicht nach Sumatra hinüber- 
gehen, obschon diese Inseln nur durch eine 15 eng- 
lische Meilen breite Strasse getrennt sind und Inseln 
in der Mitte liegen. In der That besitzt Java mehr 
eigenthümliche Vögel und Insekten als Sumatra und 
Borneo , ein Zeichen , dass es am frühesten vom Fest- 
lande abgetrennt wurde. Es folgt dann, was die 
Eigenthümlichkeit der Organismen angeht, Borneo, 
während Sumatra in allen Thierformen fast so voll- 
kommen mit der Halbinsel Malakka übereinstimmt, 
dass wir mit Sicherheit schliessen können, es sei die 
zuletzt losgelöste Insel. 

„Die Philippinen stimmen in vieler Hinsicht mit 
Asien und seinen Inseln überein, bieten aber einige 
Abweichungen, welche anzuzeig^en scheinen, dass sie 
in einer frühern Periode abgetrennt wurden und seit- 
dem einer Reihe von Umwälzungen in ihren physika- 
lischen Verhältnissen unterworfen waren. 

„Wenden wir uns nun zum übrigen Theil des 
Archipels, so finden wir, das alle Inseln östlich von 
Celebes und Lombok zumeist eine ebenso auffallende 
Aehnlichkeit mit Australien und Neuguinea zeigen, als 
die westlichen zu Asien. Es ist bekannt, *dass die 



216 Die Thierwelt des 

Naturerzeugnisse Australiens von denen Asiens mehr 
abweichen, als die der vier altem Erdtheile vonedn- 
ander. Wirklich steht Australien für sich. Es hat 
keine AflFen, Katzen, Wölfe, Bären oder Hyänen; keine 
Hirsche oder Antilopen, Schaf oder Bind; weder Ele- 
fant noch Pferd, Eichhörnchen oder Kaninchen: kurz 
nichts von jenen Familientypen der Vierfüsser, die 
man .in jedem andern Theile der Erde findet. Statt 
dieser besitzt es nur Beutler, Kängurus und Opossums 
und das Schnabelthier. Auch seine Vogelwelt ist fast 
ganz eigenthümlich. Es besitzt weder Spechte noch 
Fasane, Familien, die überall sonst vorkommen. Statt 
derselben hat es die erdhügelbauenden Fusshühner, die 
Honigsauger, Kakadus und pinselzungigen Lories, die 
sonst nirgends leben. Alle diese auffallenden Eigen- 
thümlichkeiten finden sich auch auf den Inseln, welche 
die südmalaiische Abtheilung des Archipels bilden. 

„Der grosse Gegensatz zwischen den zwei Abthei- 
lungen des Archipels tritt nirgends so plötzlich in die 
Augen , als wenn man von der Insel Bali nach Lombok 
übersetzt, wo die beiden Eegionen sich am engsten 
berühren. In Bali haben wir Bartvögel, Frucht- 
drosseln und Spechte; in Lombok sieht man diese nicht 
mehr, aber eine Menge von Kakadus, Honigsaugern und 
Fusshühnern, die ihrerseits wieder in Bali und allen 
westlichem Inseln unbekannt sind. Die Meerenge ist 
hier 15 englische Meilen breit, sodass man in zwei 
Stunden von einem dieser beiden grossen Districte 
zum andern gelangen kann, die hinsichtlich ihrer Thier* 
bevölkerung so tief voneinander abweichen , als Europa 
von Amerika.* Reisen wir von Java oder Borneo 
nach Celebes oder den Molukken, sq ist der Unter- 
schied noch auffallender. Dort sind die Waldungen 
reich an Affen, Katzen, Hirschen, Zibethkatzen und 
Ottern, und man begegnet zahlreichen Formen von 



* Das ist zu unbestimmt gesagt. Es würde annähernd 
treffen, wenn es hiesse: als Europa von Südamerika. (CS.) 



Malaiischen Archipele. 217 

Eichhörnchen. Hier — keines dieser Thiere ; aber der 
Enskus mit dem Greifschwanz ist fast das einzige 
Landsäugethier, ausgenommen die wilden Schweine, 
die auf allen diesen Inseln vorkommen und — wahrschein- 
lich in neuerer Zeit eingeführte — Hirsche auf Celebes 
und den Molukken. Die auf den westlichen Inseln 
zahlreich vorkommenden Vögel sind Spechte, Bartvögel, 
Fruchtdrosseln und Laubdrosseln; man findet sie täg- 
lich und sie geben dem Lande die eigenthümliche 
ornithologische Physiognomie. Sie sind auf den öst- 
lichen Inseln ganz unbekannt, wo Honigsauger und 
kleine Lories die gemeinsten Vögel sind, sodass der 
Naturforscher sich wie in einer neuen Welt fühlt und 
schwer sich vorzustellen vermag, dass er in wenigen 
Tagen, ohne das Land aus Sicht zu verlieren, aus 
einer Kegion in die andere übergegangen ist. 

„Unzweifelhaft müssen wir aus diesen Thatsachen 
den Schluss ziehen, dass die östlich von Java und 
Borneo gelegenen Inseln im wesentlichen einen Theil 
eines frühern australischen oder pacifischen Continentes 
bilden, obschon einige von ihnen vielleicht nie mit 
ihm im wirklichen Zusammenhange gestanden. Dieser 
Continent muss schon zertrümmert worden sein, nicht 
nur ehe die westlichen Inseln sich von Asien trennten, 
sondern wahrscheinlich schon bevor die Südostspitze 
von Asien aus dem Ocean aufgetaucht war. Denn 
man weiss, dass ein grosser Theil von Borneo und 
Java einer ganz jungen geologischen Formation an- 
gehört, während diese grosse Verschiedenheit der Ar- 
ten, in vielen Fällen auch der Gattungen, von den 
Erzeugnissen der östlichen malaiischen Inseln und Au- 
straliens, sowie die grosse Tiefe der See, welche sie 
jetzt trennt, auf eine verhältnissmässig lange Periode 
der Isolirung schliessen lässt. 

„Bezüglich des Verhältnisses der Inseln unterein- 
ander ist es interessant zu bemerken, wie ein seichtes 
Meer immer auf eine neuere Landverbindung deutet. 
Die Aru-Inseln, Mysol und Waigiu, sowie auch Jobie 



218 Inselfaunen unselbständig. 

stimmen mit Neuguinea in ihren Säugethier- und Vögel- 
arten überein, und wir finden, dass sie alle mit Neu- 
guinea durch ein seichtes Meer verbunden sind. In der 
That bezeichnet die Hundert-Faden-Linie von Neuguinea 
genau die Verbreitung der wahren Paradiesvögel. 

„Man muss femer bemerken — und das ist ein sehr 
interessanter Punkt in Verbindung mit der Theorie 
über die Abhängigkeit der specifischen Lebensformen 
von den äussern Bedingungen — dass diese Einthei- 
lung des Archipels in zwei durch eine auffallende Ver- 
schiedenheit ihrer Naturproducte charakterisirte Re- 
gionen durchaus nicht in Uebereinstimmung steht mit 
den wesentlichen physikalischen oder klimatischen Ab- 
theilungen der Oberfläche." Wir führen nur Folgendes 
an: Borneo und Neuguinea, welche in ihrer physika- 
lischen Beschaffenheit einander so ähnlich sind, als 
zwei bestimmte Länder nur sein können, sind in zoo- 
logischer Beziehung polar entgegengesetzt; während 
Australien mit seinen trockenen Winden, seinen offenen 
Ebenen, seinen steinigen Wüsten und seinem gemässigten 
Klima dennoch Vögel und Vierfüsser besitzt, die den- 
jenigen eng verwandt sind, welche die heissfeuchten, 
überall die Ebenen und Gebirge Neuguineas bedecken- 
den Waldungen bewohnen. 

Wallace gibt die speciellsten Nachweise, dass, wie 
die Theile dieser Inselwelt als die losgelösten End- 
glieder zweier Continente sich einander nähern, so auch 
mit ihnen zwei völlig verschiedene Faunen. Ebenso 
sind der Mittelländische und der Westindische Archipel 
ohne eigenthümlichen Charakter, sondern in Thier- 
und Pflanzenwelt lediglich von den benachbarten Fest- 
ländern abhängig. Von Madeira und seinen Land- 
schnecken war oben die Rede. Die Inselfaunen er- 
fordern also nicht die Annahme von mehr 
Schöpfungsmittelpunkten als die Continente 
darbieten, und Rütimeyer hat den Versuch gemacht, 
das Herkommen der Vögel und Säugethiere auf zwei 
Ausgangscentren zurückzuführen. Eine grosse Reihe 



Hypothetischer Südcontinent. 219 

thiergeographischer Thatsachen kann nur durch die 
Annahme des einstigen Bestehens eines südlichen Con- 
tinents erklärt werden, von welchem das australische 
Festland ein Ueberbleibsel ist. In Australien concen- 
triren sich die heutigen Beutelthiere. Ihr Vorkommen 
auf dem südwestlichen Theile des Malaiischen Archi- 
pels, Neuguinea eingerechnet, erscheint als eine Aus- 
strahlung von dort. Kein einziges Zeichen spricht 
dafür, dass Nachkommen der in frühern Perioden vom 
Jura an auf der nördlichen Halbkugel existirenden 
Beutler den vom Südcontinente aus gegen den Aequa- 
tor vordringenden entgegengewandert wären. Nur über 
die in Südamerika so verbreitete Beutelratte könnte 
man in Zweifel sein, der gehoben wird durch Betrach- 
tung einer Anzahl von Genossen, welche sämmtlich 
der vorherrschenden amerikanischen Bevölkerung fremd 
sind und auf Import, wahrscheinlich in tertiärer Zeit, 
deuten, wenn man nicht mit Rütimeyer meint, dass 
ihr Vorkommen vielmehr darauf hinweise, „dass pla- 
centalose Säugethiere auch ausserhalb Australien ge- 
schaffen wurden". Da sind vor allen zu nennen die 
flügellosen* Vögel, diejenigen nämlich, welche anato- 
misch und systematisch zusammengehören und welche 
wir heute über die Continente und einige grosse In- 
seln zerstreut finden. Der neuholländische und der 
amerikanische Casuar, die ausgestorbenen Riesenvögel 
von Madagascar und Neuseeland, der vom Süden nach 
dem Norden vorgedrungene afrikanische Strauss, sie 
können nicht in ihrer heutigen Isolirung entstanden 
sein. Zu gleicher Erwägung drängen die von Linne 
Bruta, von den Neuern wegen ilires unvollständigen 
Gebisses Zahnlose genannten Säugethiere, wozu, wenn 
man die letztere Bezeichnung annimmt, die tasmani- 
schen Schnabelthiere einzubeziehen sind. Diese Schna- 
belthiere nehmen unter den jetzt lebenden Säugern 
unstreitig die niedrigste Stufe ein; nicht minder fremd- 
artig aber verhalten sich die andern eigentlichen Zahn- 
armen zu den höhern Ordnungen, und ihr Vorkommen 



220 Herkunft der Süsswasser- und 

I 

einerseits in Südamerika, andererseits in Südafirika 
und Südasien, sowie die Unmöglichkeit, sie aus einem 
einstigen gemeinsamen Centrum aus der nördlichen 
Halbkugel herzuleiten, weisen auf das verschwundene 
Südland, wo auch die Heimat der Vorfahren der Makis 
von Madagascar zu suchen sein mag. „Oder sollte", 
sagt Rütimeyer, „die Annahme eines theilweise vom 
Ocean, theilweise von einer Eisdecke verhüllten Folar- 
landes mit einst reichlicher Thierwelt als eine boden- 
lose Hpothese erscheinen für uns, die wir gewisser- 
massen uns soeben des Auftauchens aus einer ähn- 
lichen Eisdecke der nördlichen Hemisphäre erfreuen 
und in unsern Alpen von noch fortbestehenden, in un- 
serer Gletscherdrift von kaum entschwundenen Scenen 
arktischen Lebens umgeben sind!? Oder sollte die 
Vermuthung, dass die fast ausschliesslich vegetivoren 
und insectivoren Beutelthiere , Faulthiere, Gürtel- und 
Schuppenthiere , Ameisenfresser, Strausse einst in der 
südlichen Hemisphäre einen wirklichen Sammelpunkt 
fanden, von welchem die heutige Flora von Feuerland, 
des Caplandes und Australiens die Ueberreste sein 
müssten , auf Schwierigkeiten stossen in einem Moment, 
wo Heer die frühern Wälder von Smithsund und Spitz- 
bergen aus ihren fossilen Ueberresten uns wieder vor 
Augen führt?" 

Nachdem Rütimeyer den südlichen Continent mit 
einem Theile seiner fremdartigen, in seinen Ueber- 
resten versprengten Thierwelt zu reconstruiren sich 
getraut hat, sieht er sich nach speciellern Belegen 
für die aus dem Gange der Erdbildung allgemein sich 
ergebende Annahme um, dass die Thiere des süssen 
Wassers und mit ihnen die Landthiere dem 
Meere entstiegen seien. Da kann man denn nicht 
daran denken, die merkwürdige kleine Abtheiking der 
sirenoiden Fische (Lepidosiren, Protopterus), welche 
in der trockenen Jahreszeit Luft athmen, für Repti- 
lien zu halten, die sich dem Wasserleben anpassen, 
sondern umgekehrt. Das Organ, was bei den Fischen 



Landthiere aus dem Meere. 221 

als hydrostatischer Apparat diente, die Schwimmblase, 
wird bei ihnen zur Lunge. Da muss man von den 
Landschildkröten zurück auf die Wasserschildkröten, 
und von diesen zurück zu solchen Meerbewohnern, die 
den im Jura so verbreiteten Enaliosauriern sich an- 
geschlossen haben. Da zeigt uns die Entwickelungs- 
und Lebensgeschichte der Landkrabben auf das deut- 
lichste, wie der Meerbewohner zum Landthier wird, 
eine specielle Aufgabe, welche, wie schon erwähnt, 
Fritz Müller vollständig gelöst und „für Darwin" ver- 
werthet hat. Von den gewöhnlich, aber fälschlich 
den Walen zugerechneten Sirenen, von denen die Mehr- 
zahl sich am liebsten vor den grossen Flussmündungen 
aufhalten, ist die eine Art gänzlich in die afrikani- 
schen Binnengewässer gedrungen, und gewisse Lachs- 
arten, sowie die Störe, welche periodisch zwischen 
Meer und Süsswasser wechseln, sind in dem Stadium, 
sich das Meerleben abzugewöhnen. Ich füge aus mei- 
nen speciellen Erfahrungen hinzu, dass die Brak- 
wasserspongien eine sichere Dependenz mariner Fami- 
lien sind und dass die Süsswasserschwämme unver- 
kennbar auf jene brakischen Formen hinweisen. 

Hat man es in allen diesen Fällen mit allmählicher 
Umgestaltung und mehr oder minder freiwilliger An- 
passung zu thun, so fehlt es nicht an ausgezeichneten 
Beispielen gewaltsamer und fast plötzlicher Absperrung, 
d. h. von Landhebungen, wodurch einstige Abschnitte 
des Meeres zu Binnenseen wurden. Welche Verände- 
rungen die mitabgesporrten Fische und Krebse er- 
litten, zeigen die schönen Beobachtungen von Loven 
über die Thiere dös Wenem und Wettern, und von 
Malmgren über die des Ladoga. Letzterer Forscher 
liefert den Beweis, dass der Alpen-Sälbling (Salmo 
salvelinus) dem Polarmeere entsprungen ist und seinen 
leiblichen Bruder in dem skandinavischen Salmo alpi- 
nus besitzt. 

Bütimeyer spricht die Ansicht aus, dass aus der 
speciellern Verfolgung der Verhältnisse der Thierwelt 



222 I>ie arktische Thierwelt. . 

des süssen Wassers zu denen der Bevölkerung des 
Meeres die Thatsache des Kosmopolitismus der Süss- 
wassergeschöpfe ihre Erklärung finden werde, sowie 
auch das Verhältniss der antarktischen zur ar ku- 
schen Thierwelt. Einstweilen jedoch stehen diese 
beiden grössten Thierprovinzen , in Beschränkung auf 
die höhern warmblütigen Klassen, in ziemlich scharfem 
Gegensatze sich gegenüber. Wir wissen nur aus spär- 
lichen Ueberresten, dass schon zur Jurazeit die nörd- 
liche Halbkugel mit Beutlern bevölkert war, offenbar 
nicht dicht. Wir müssen annehmen, dass, während 
auf dem Südcontinente die Beutelthiere mit Festhal-' 
tung ihres Charakters ihre Anpassungsfähigkeit zu prü- 
fen hatten und sie bewährten , aus ihnen auf der andern 
Seite des Aequators eine Säugethierwelt von ganz 
anderer Physiognomie hervorging. Es ist diejenige, 
welche noch heute für die ganze Erdoberfläche vom 
Norden an bis zur Begegnung mit den antarktischen, 
mehr stabil gebliebenen Lebensüberresten charakteri- 
stisch ist. Während wir aber über ihren Ursprung 
nur auf Combination und Schlüsse angewiesen sind, 
liegt der historische Zusammenhang der heute die 
Alte Welt und den grössten Theil der Neuen Welt 
bevölkernden Säugethiere mit ihren Vorgängern bis in 
die altem Tertiärzeiten äusserst klar vor Augen. 

Die Reste der frühesten hier in Betracht kommen- 
den Säugethiere finden sich in den eocänen Ablage- 
rungen der Schweiz und in entsprechenden Schichten 
Frankreichs und Südenglands. Vom Südrande des 
Juraplateau waren weder Alpen noch überhaupt Land 
zu sehen, und das denselben bespulende Meer hat sich 
bis nach China hin verfolgen lassen. Die bekannt ge- 
wordenen Säuger dieser Periode belaufen sich, nach 
Rütimeyer's Zusammenstellung im Jahre 1867, auf 
mindestens 70 Arten. Die Mehrzahl sind Hufthiere, 
also Pflanzenfresser, und unter diesen wieder bei wei- 
tem die grosse Hälfte Dickhäuter. Dies Verhältniss 
ist heute, wo kaum die gesammte Erde so viele Dick- 



Ihre Vorfahren. 223 

häuter nährt, völlig verschoben. Nur das Schwein 
repräsentirt auf dem Schauplatze von Europa diese 
Abtheilung, und die Wiederkäuer sind überall vorherr- 
schend. Annähernd kann Afrika in seiner heutigen 
Thierbevölkerung mit dem eocänen Europa verglichen 
werden. Da aber zu jenen Hufthieren noch eine Anzahl 
viverren- und hyänenartiger Fleischfresser kommen, und 
es jetzt sowol in Afrika wie in Asien Yiverren gibt, 
da ferner die in jener frühesten Fauna vertretenen 
moschusartigen Wiederkäuer jetzt ebenfalls asiatisch 
und afrikanisch sind, da endlich die damaligen fran- 
zösischen Beutelratten in Central- und Südamerika 
fortleben, „erhalten wir den Eindruck, als ob die 
älteste tertiäre Fauna Europas die Mutterlg,uge einer 
heutzutage auf dem Tropengürtel beider Welten, allein 
am entschiedensten in dem massiven Afrika vertrete- 
nen, echt continentalen Thiergesellschaft tilde" (R.)* 
Weit mannichfaltiger ist das Bild des höhern Thier- 
lebens der mittlem und neuern tertiären Zeiten, das 
wir uns aus zahlreichen und zum Theil äusserst 
reichhaltigen Lagerstätten der Ueberreste reconstruiren. 
Innerhalb dieser Perioden engere Grenzen ziehen zu 
wollen, ist ganz unthunlich, von Localität zu Locali- 
tät, von Schicht zu Schicht findet sich Zusammenhang, 
nirgends tritt eine Art auf, die nicht von einer an- 
dern abgeleitet werden könnte, und unser Gewährs* 
mann sagt, dass Anatomie, Morphologie, Paläontolo- 
gie, geographische Verbreitung ihm keine Lehre mit 
grösserer Energie und Consequenz vorzuführen schie- 
nen, als die, „dass getrennte Species eines Ge- 
nus, d. h. wirklich ohne allen historischen 
und daher auch einst localen Verband mit 
einem Urstamm, nicht existiren". Der be- 
rühmteste Fundort der tertiären Säugethiere ist Pi- 
kermi, einige Stunden von Athen, eine Anhäufung von 
ganzen Skeleten und Skelettheilen, welche eine Thier- 
füUe voraussetzt, von welcher uns allenfalls die am 



224 Eocäne und miocäne Säuger. 

dichtesten belebten Gegenden Afrikas nach Living- 
stone's Schilderungen eine Vorstellung geben können. 

Wiederum treten die reissenden Thiere gegen die 
Pflanzenfresser zurück, doch thun sich schon die katzen- 
artigen Raubthiere hervor, und unter den grossen 
tertiären Raubthieren finden sich Beispiele von ebenso 
grosser Ausbreitung, wie sie jetzt der Tiger hat. Da- 
mals erstreckte sich das Gebiet des Schwertzahnes 
(Machairodus) über einen grossen Theil von Amerika 
und Europa. Gleich hier sei erwähnt, dass die hunde- 
artigen Thiere etwas später auftreten, und noch spä- 
tem Ursprungs die Bären sind. Das reichhaltigste 
Material steht auch in dieser Periode wieder für die 
Hufthiere zu Gebote. Noch immer überwiegen die 
Vielhufer. Am constantesten bleiben die Schweine und 
Moschusthiere. Allein zu dem an die alten Formen 
sich anschliessenden Tapir treten Nashorn, die eigent- 
lichen Pferde und die Elefanten. Ist schon das Nas- 
horn ziemlich unvermittelt, so ist die Herkunft der 
Mastodonten, als der altem Elefantenform, bisjetzt ganz 
unaufgeklärt.^' Und dennoch, wenn wir uns auch in 
der bekannten eocänen Säugethierfauna vergeblich nach 
ihren nächsten Stammformen umsehen, dennoch sind 
selbst für Europa und Asien eine Eeihe Anzeichen 
vorhanden, dass „die meisten eocänen Genera als wahre 
"Wurzelformen der miocänen zu betrachten" (R.) sind. 
Dies ergibt sich aus den Funden von Nebrasca in 
Nordamerika, wo wichtige Gattungen, die in der 
Alten Welt mit der eocänen Periode auslebten, wie 
Palaeotherium, sich in die Gesellschaft der neuern 
Gattungen hineinretteten. Wir finden dort auch Mittel- 
formen zwischen Lama und Kamel, wodurch das einst 
bedeutungslose Wort der vicarirenden Gattungen für 
diesen Fall ebenfalls seine reelle Bedeutung erhält. 
Wir finden in Nebrasca ferner die dreihufigen Pferde 
(Anchitherium) und wissen damit den Ursprung der 
einhufigen Pferde in der Alten und in der Neuen 
Welt. 



Thierverbreitung in Amerika. 225 

Was in der Alten Welt seitdem geschehen, beschränkt 
sich auf das Erlöschen vieler Dickhäuter, eine Ver- 
schiebung der Nashorne, Elefanten, Tapire, Fluss- 
pferde , und auf eine ausserordentlich reiche Entfaltung 
der eigentlichen Wiederkäuer und der aus ihnen zu 
einem Extrem in der Kopfbildung hervorgehenden 
Rinder. Bären und Hunde nehmen das Terrain ein, 
wo einst die Viverren und Hyänen herrschten, aber es 
„bleibt eine starke Anzahl, unter der kleinen Fauna 
sogar die grosse Mehrzahl miocäner Geschlechter in 
zahlreichen local und historisch begrenzten Species im 
B^itz des alten, wahrscheinlich ohne Unterbrechung 
an Umfang zunehmenden Wohnplatzes" (R.). „Niemand 
wird in diesem allmählichen Wechsel der Dinge etwas 
arideres erblicken können, als Erscheinungen derselben 
Ordnung, deren Zeugen wir noch sind" (R.)« 

Wie die Verhältnisse in Amerika sich gestaltet 
haben, ist von Rütimeyer meisterhaft in folgenden 
Worten geschildert worden: „Amerika bietet schon 
vornherein in seinem Bau eine von der Alten Welt 
völlig verschiedene Grundlage für Thierverbreitung. 
Hier nur stellen weis durchbrochene Kämme, welche in 
der Richtung von Breitengraden das ganze Festland 
in gebirgige Zonen theilen, welche der Vertheilung 
der Temperatur entsprechen und so in doppelter Weise 
der Ausdehnung der Thiere bestimmte Bahnen von 
Ost nach West vorschreiben, während sie für die mei- 
sten Thiere eine Wanderung von Nord nach Süd 
weniger durch ihre Hohe als dadurch hindern, dass 
an ihnen der Norden fast unmittelbar an den grellen 
Süden grenzt. Und hinter dieser Mauer überdies in 
der Ausdehnung vom Kaspischen Meer bis nach China 
eine Steppen- und Wüstenzoüe, welche die Thiere des 
Waldes noch wirksamer einzäunt als das Gebirge. In 
Amerika können nicht nur Raubthiere, sondern auch 
Pflanzenfresser ohne Hemmniss von den Flechtenzonen 
am Makenzie durch die Tannenwälder des Obersees 
nach den Magnoliengebieten von Mexico fortschreiten; 

Schmidt, Descendenzlehre. X5 



226 Thierverbreitupg 

40 — 50 Breitengrade trennen die Extreme , welche sich 
am Himalaya berühren, und die grossen Ebenen und 
weiten Flusssysteme scheinen zu Wanderungen fast 
einzuladen. Die Uebereinstimmung des gesammten 
Thierlebens in Mexico und Guyana zeigt überdies, wie 
wenig der Isthmus von Panama ein Ueberschreiten 
nach Südamerika hemmt, wo von neuem ein mächtiges 
Flussgebiet ohne hohe Schranken an das andere stösst; 
auch keine vegetationslose Wüste auf der ganzen 
Strecke von den canadischen Seen bis nach Patagonien. 
„Man wird wol nicht irren, wenn man diesem Um- 
stände die auffallige 'Verbreitung der fossilen und 
heutigen Säugethiere Amerikas zu einem guten Theile 
zuschreibt. Wie wir sahen, ist schon die miocäne 
Fauna von Nebrasca eine Tochter der eocänen der 
Alten Welt. Die pliocäne Thierwelt von Niobrara, 
welche auf demselben Boden wie Nebrasca, nur in 
Jüngern Sandsteinschichten, begraben liegt, belegt dies 
noch in höherm Masse; Elefanten, Tapire und reich- 
liche Arten von Pferden sind kaum von den altwelt- 
lichen verschieden, die Schweine sind, nach ihrem Ge- 
biss zu urtheilen, Abkömmlinge europäisch miocäner 
Palaeochoeriden. Auch die Wiederkäuer sind in den 
gleichen Genera und theilweise in denselben Species 
vertreten, wie in den gleichartigen Schichten von Eu- 
ropa, als Hirsche, Schafe, Auerochsen; und die fleisch- 
fressende, sowie die ganze kleine Thierwelt macht 
davon keine Ausnahme. Viele Genera von exquisit 
altweltlichem Gepräge sind mit der Zeit selbst weit 
nach Südamerika vorgedrungen und erloschen daselbst 
nur kurz vor der Ankunft, oder vielleicht sogar unter 
Mitwirkung des Menschen, so die zwei Mammutharten 
der Cordilleren und die südamerikanischen Pferde, 
deren heutige Nachfolger dann auf weit kürzerm Wege 
diesen insularen Continent erreichten. Sogar eine An- 
tilopenart und zwei fernere horntragende Wiederkäuer 
(Leptotherium) fanden ihren Weg bis Brasilien. Heut- 
zutage sind noch zwei Tapirarten, im Gebiss selbst 



in Amerika. 227 

für Cuvier's Auge kaum von dem indischen unterscheid- 
bar, zwei Arten von Schweinen, welche den Charakter 
ihrer Stammform im Milchgebiss noch erkennbar an 
sich tragen, und eine Anzahl von Hirschen nebst den 
Lamas, einem erst in Amerika geborenen und spätem 
Sprössling der eocänen Anoplotherien ,lebendeUeber- 
reste dieser alten und auf so langem Wege 
nicht ohne reichliche Verluste an ihren der- 
maligen Wohnort gelangten Colonie des 
Ostens. Man darf kaum zweifeln, dass ein guter 
Theil der Raubthiere, welche im Diluvium von Süd- 
amerika noch mehr als gegenwärtig altweltliche Stamm- 
verwandtschaft behalten haben, auf demselben Wege 
hierher gelangten. Erinnern wir uns jetzt, dass selbst 
der eocäne Caenopithecus von Egerkingen schon ver- 
nehmlich nach heutigen amerikanischen Affen hinwies, 
und Didelphen (Beutelratten) in denselben Terrains 
von Europa begraben liegen, so sollte man fast glau- 
ben, dass die auf den Aufenthalt auf Bäumen an- 
gewiesene Abtheilung der Vierhänder sowie der Beutel- 
ratten es vorzüglich waren ,^ welche dann in den 
Ungeheuern Waldungen der neuen Heimat sich heimisch 
fanden und mit neuem Aufschwünge eine grosse Menge 
von speciellen Formen zeugten, ohne indess bis heute 
die Höhe der Entwickelung ihrer in der Alten Welt 
zurückgebliebenen Vettern erreicht zu haben. 

„Hier ist es auch am Platze, auf die frühere Be- 
merkung zurückzukommen, dass eine solche Wan- 
derung der Thiere den Süden der Neuen Welt nicht 
leer an Säugethieren, sondern vielmehr schon reichlich 
mit den zahnlosen Vertretern einer antarktischen oder 
doch mindestens südweltlichen Thierwelt besetzt fanden. 
Die diluviale Fauna von Südamerika, welche von Lund, 
von Castelnau und Weddell aus den Höhlen von Bra- 
silien und dem Alluvium der Pampas gesammelt wor- 
den ist, enthielt in der That unter den 118 aufgeführten 
Arten, neben den eben erwähnten von wahrscheinlich 
altweltlichem Stammbaum , nicht weniger als 35 Species 

15* 



228 Thierverbreitung in Amerika. 

^on Edentaten , und zwar alles Thiere von bedeutender 
Körpergrösse. Sehen wir von 36 Nagern und Fleder- 
mäusen, überhaupt von der kleinern Fauna ab, so 
bilden sie fast die Hälfte der grössern diluvialen Thiere 
von Südamerika überhaupt. Die vermuthlich früher 
hier ansässig gewordene Gesellschaft der Zahnlosen 
hielt daher der Invasion aus Norden so ziemlich das 
Gleichgewicht. 

„Es^ ist begreiflich, dass die gleichen äussern Hülfs- 
mittel, welche den Zug der Kinder der nördlichen 
Hemisphäre stets weiter leiteten, auch die Glieder der 
antarktischen Fauna zur Ausdehnung nach Norden ein- 
laden konnten. Wie wir noch heute die fremdartige 
Form des Faulthiers, des Gürtelthiers und des Ameisen- 
fressers in Guatemala und Mexico mitten in einer 
Thiergesellschaft antreffen, die guten Theils aus noch 
jetzt in Europa vertretenen Geschlechtern besteht, 
finden wir daher auch schon in der Diluvialzeit riesige 
Faulthiere und Gürtelthiere bis * weit hinauf nach Nor- 
den verbreitet. Megalonyx Jeffersoni und Mylodon 
Harlemi, bis nach Kentucky und Missouri vorgescho- 
bene Posten südamerikanischen Ursprungs, sind in dem 
Lande der Bisonten und Hirsche eine gleich fremd- 
artige Erscheinung, wie die Mastodonten in den Anden 
von Neugranada und Boli via. Mischung und Durch- 
dringung zweier vollkommen stammverschie- 
dener Säugethiergruppen fast auf der ganzen 
Ungeheuern Erstreckung beider Hälften des 
neuen Continents bildet überhaupt den her- 
vorstechendsten Charakterzug seiner Thier- 
welt, und es ist bezeichnend, dass jede Gruppe an 
Reichthum der Vertretung und an Originalität ihrer 
Erscheinung in gleichem Masse zunimmt, als wir uns 
ihrem Ausgangspunkte nähern." 

Wir stehön also diesseit und jenseit des Oceans, 
nördlich von jener vielfach gekrümmten Grenze der 
antarktischen oder südlichen Fauna, noch mitten in der 
diluvialen Thierwelt, die von den alten Continenten 



Stammbaum der Wirbelthiere. - 229 

über eine dem Nordpol sich nähernde Brücke sich nach 
dem amerikanischen Festlande erstreckte und dort in 
den Mastodonten und Pferden länger ihr älteres Aus- 
sehen bewahrte. 

Drüben und hier ist die gegenwärtige Ordnung der 
Dinge, ist die Cantonirung der Thiere vielfach be- 
stimmt und modificirt worden durch mächtige Ver- 
gletscherungen und lange Eiszeiten. Von daher die 
Uebereinstimmung so vieler hochnordischer Pflanzen mit 
Alpenpflanzen, nachdem die europäische Pflanzenwelt 
von Osten her ihren Einzug gehalten. Seit jener Zeit 
die Verschiebung des Renthieres nach unserm Norden, die 
Verdrängung des Moschusochsen und seine Vertilgung 
in der Alten Welt. Die vor dem Eise flüchtenden 
Elefantenarten sind nicht zurückgekehrt, auch das nach 
der Eiszeit mit einem Nashorn aus dem Nordosten 
einwandernde Mammuth hat nebst seinem Gefährten den 
Untergang gefunden. Andere seiner Genossen, wie der 
Urstier, sind kaum vor einigen hundert Jahren als 
. wilde Thiere erloschen, andere, der Auerochse, der 
Biber, sind als Bewohner von Europa dem Aussterben 
nahe, und noch andere, Hirsch und Reh, werden mit 
den Wäldern und Jagdvorrechten sterben. Aber fast 
für alle Arten, nach deren näherer Herkunft wir uns 
umschauen, liefert uns die Vorzeit ihre Geschichte und 
erklärt uns die Abstammung, und in der Abstammung 
finden wir mit lichten Zügen die Ursachen des geogra- 
phischen Vorkommens verzeichnet. 



XI. 

Der Stammbaum der Wirbelthiere. 

Das Endergebniss , nach welchem die Descendenz- 
lehre strebt, ist die Darstellung des Stammbaumes der 
Organismen. Um ihn auszuarbeiten ist die ganze, fast 
unübersehbare Fülle von Thatsachen zusammenzufassen, 



230 - Berechtigung der 

welche die beschreibende Botanik und Zoologie, ein- 
schliesslich der Anatomie und Entwickelungsgeschichte, 
im Laufe ungefähr eines Jahrhunderts angehäuft haben, 
und ist das Detail an der Hand von Specialhypothesen 
einer Sichtung und erneuten Prüfung zu unterwerfen. 
Wir haben daher für die Abstammungslehre dasselbe 
Recht in Anspruch genommen, auf welches sich der 
Fortschritt der Wissenschaft überhaupt stützt, das 
nämlich, nach bestimmten Gesichtspunkten zu unter- 
suchen und das Wahrscheinliche als Wahrheit im Ge- 
wände der wissenschaftlichen Vermuthung oder Hypo- 
these zu anticipiren. Es ist klar, dass, als die De- 
scendenzlehre mit ihrer durch Darwin versuchten Be- 
gründung ans Licht trat, nur die allgemeinsten Umrisse 
jenes grossen Stammbaumes angedeutet werden konnten, 
den in seinen Einzelheiten darzulegen eben die Auf- 
gabe der neuen Richtung der Wissenschaft sein sollte. 
Sowie und wo man aber an die Detailforschung ging, 
musste man entweder am Abschluss der Untersuchun- 
gen dem Resultate die Form eines Theiles des grossen 
Stammbaumes geben, oder man hatte von vornherein 
Grund, gewisse Verwandtschaften vorauszusetzen und 
prüfte diese Vermuthung. Je weiter ein Forscher es 
in der Uebersicht über die Organisationsverhältnisse 
einer grössern Gruppe gebracht hat , desto weniger wird 
er sich der Stammbaumideen bei allem seinen Thun 
und Denken entschlagen können. 

Das alles ist so selbstverständlich, dass, sollte man 
meinen, aus der Handhabung dieser Methode der De- 
scendenzlehre kein Vorwurf gemacht werden könnte. 
Dennoch geschieht es oft, dennoch verargt man es den 
Vertretern der Descendenzlehre , häufig von blosser 
Wahrscheinlichkeit zu sprechen, wobei man vergisst, 
dass selbst in den Fällen, wo das Wahrscheinliche 
schliesslich als unwahr sich herausstellt, die widerlegte 
Hypothese zum Fortschritt geführt hat. Soeben gibt 
uns die Sprachwissenschaft einen Beleg hierfür. Es 
ist bekannt, dass die Sprachvergleichung innerhalb des 



Aufstellung der Stammbäume. 231 

indo-germanischen Sprachstammes an die Reconstruction 
•der allen zu Grunde liegenden Ursprache dachte. 
Johannes Schmidt^* zeigt nun, dass die Grundformen, 
welche erschlossen werden, in sehr verschiedenen Zei- 
ten entstanden sein können, und dass demnach die 
Ursprache, als Ganzes betrachtet, eine wissenschaft- 
liche Fiction sei. Nichtsdestoweniger wurde die For- 
schung durch diese Fiction wesentlich erleichtert, und 
hiermit hing die Aufstellung eines Stammbaximes der 
indo-germanischen Sprachfamilie eng zusammen als eine 
durch viele Anzeichen gestützte Hypothese. Man nahm 
-eine Gabelung in eine südeuropäische Sprache, mit 
«den Abzweigungen des Griechischen, Italischen und 
€eltischen, und in die Sprache an, aus deren aber- 
maliger Zweitheilung die nordeuropäische Grundsprache 
und die arische Grundsprache hervorgingen. Obgleich 
Johannes Schmidt nachgewiesen, dass dieser Stamm- 
baum falsch, da die Beschaffenheit des Slavolettischen 
die vorausgesetzte erste Zweitheilung als unmöglich 
erscheinen lässt, wird der Werth jener Stammbaum- 
hypothese deshalb doch nicht verkleinert. Sie war 
der Weg zur Wahrheit. 

In unserer Wissenschaft hat von dem Rechte, 
hypothetische Stammbäume als Wegweiser für den 
Gang der Forschung zu entwerfen, Haeckel den aus- 
gedehntesten Gebrauch gemacht. Es kommt gar nicht 
darauf an, dass er selbst sich wiederholt hat ver- 
bessern müssen, oder dass andere ihn oft verbessert 
haben : der Einfluss dieser Stammbäume auf den Fort- 
schritt der Descendenz-Zoologie ist für den, welcher 
das Feld überblickt, ein ganz offenbarer, abgesehen 
davon, dass eine Reihe von Untersuchungen des letz- 
ten Jahrzehntes ihre Resultate in gute Stammbäume 
endgültig fixirt haben. Da wir blos eine Einführung 
in die Descendenzlehre beabsichtigen, so begnügen 
wir uns damit, darzulegen, wie in ihrer Anwendung 
auf die eine Gruppe der Wirbelthiere sich das System 



232 Verknüpfung der Wirbelthiere 

Säugethiere 

Vögel 

I 

Reptilien 
(Amnioten) 

I 

(?) Enaliosaurier Amphibien 

I 

Fische 

Amphioxus 

Mantelthiere 
(ürwirbelthiere) 



Würmer. 

oder der Stammbaum derselben gestaltet. Zu diesem 
Zweck halten wir uns an das vorstehende Schema. 

Wie wir oben gesehen, sind in der Entwickelungs- 
geschichte der Individuen die wichtigsten Fingerzeige 
für den Stammbaum der Arten enthalten. Allein wenn 
auch alle Wirbelthiere hinsichtlich der Anlage des 
Keimes, sowie der fundamental wichtigen Organe, des 
Rückenmarkes und der Wirbelsäule, unter sich eine 
ihren verwandtschaftlichen Zusammenhang erweisende 
Uebereinstimmung zeigten, so schien jedes Kennzeichen 
ihrer Abstammung von niedrigem Thieren, wie die 
Theorie unbedingt fordert, zu fehlen. Es schien, mit 
andern Worten, bei sämmtlichen Wirbelthieren daa 
Andenken an ihre erste Abstammung in der abgekürz- 
ten Entwickelung (vgl. S. 195) verwischt worden zu 
sein. So stand es bis Kowalewsky vor einigen Jahren 
die Entwickelung des niedrigsten bekannten Wirbel- 
thieres, des Lanzettfisches (Amphioxus) studirte und 
nachwies, dass bei diesem Thiere den typischen Er- 








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mit den Wirbellosen. 235 

ein Rückenmark und die Anlage der Wirbelsäule besitzen. 
Kowalewsky's Untersuchungen sind in allen wesentlichen 
Stücken von Kupfer bestätigt und vielfach erweitert 
worden, und das Thatsächliche , was uns interessirt, 
lässt sich an der Abbildung 23, den Vordertheil einer 
ziemlich vorgeschrittenen Ascidienlarve darstellend , er- 
läutern. Der Körper der Ascidienlarven besteht aus 
einem Rumpftheil, den unsere Figur ganz zeigt, und 
einem Ruderschwanze. Die vom Rumpfe nach rechts 
vorstehenden Anhänge sind Haftorgane , mit denen die 
Larve sich behufs ihrer definitiven Umgestaltung festsetzt; 
bei entsteht die MundöflFnung, aus d entwickelt sich 
Kiemenhöhle und Darmkanal, wobei wir beiläufig her- 
vorheben, dass auch beim Lanzettfisch der Vordertheil 
des primitiven Darmes zur Kiemenhöhle wird. Die 
für die Beziehung zu den Wirbelthieren wichtigsten 
Theile der Ascidienlarven sind aber folgende. Sie be- 
sitzt ein wirkliches Rückenmark mit einem blasig auf- 
getriebenen Gehirn (r a). Anlage und Lage dieses 
Organs stimmt genau mit den entsprechenden Theilen 
des Wirbelthieres überein, und Kupfer hat sogar den 
Ursprung von Nerven entdeckt (s s s), welche die 
Gleichheit des fraglichen Organs, mit dem Rückenmark 
und den paarigen daraus entspringenden Nerven der 
Wirbelthiere noch unwiderleglicher machen würden, 
wenn die Beobachtung sich bestätigte. Wir wissen 
aber, dass nicht das Rückenmark für sich, sondern 
seine Verbindung mit der Wirbelsäule den Charakter 
des Wirbelthieres ausmacht. Auch diese Wirbelsäule 
als Rückensaite besitzt die Ascidienlarve (c), und wie 
beim Wirbelthiere schiebt sich diese embryonale Wir- 
belsäule zwischen Darm , und Rückenmark ein. Bis 
hierher geht die Uebereinstimmung , dann aber wird 
die Entwickelung dieser für das Wirbelthier wichtig- 
sten Theile bei der Ascidie eine rückgängige. Der 
Ruderschwanz mit dem in ihm enthaltenen Rücken- 
marke und der Saite wird, indem das Thier sich fest- 



fj^'<ilt|[7^^ipn:^|gt Larvengehirn 
^ ^^venknoten zu- 

le Ahnung 
aufkommen, 
leobachtungen, 
dingte Eigen- 
^äule besitzen, 
'ledrigern Or- 
pfiugen. So- 
Menschen 

ll*l¥c«&^ia»Äfiiclten, ebenso 
54IW*|l>l?S^t>=*en mitgetheil. 




mm 




Stammbaum der Fische. 237 

wird. Sein Skelet beschränkt sich auf die Chorda 
und feine Knorpelstäbchen an Mund und Kiemen. Er 
hat kein Gehirn, ausser einer vielleicht als Geruchs- 
organ zu deutenden wimpernden Grube kein Sinnes- 
werkzeug, sein Herz ist schlauchförmig. Und so be- 
steht zwischen ihm und den übrigen eigentlichen 
Fischen ein so weiter Abstand, dass die Möglichkeit 
offen bleibt, dass die Fische einen andern Entwicke- 
lungsgang als durch amphioxusartige Stadien zurück- 
gelegt haben. 

Unsere Kenntnisse über die Yerwandtschaftsverhält- 
nisse der Fische lassen sich in folgendem Stammbaum 
niederlegen : 

Doppelathmer 



Knochenfische 



Ganoiden 



Elasmobranchier 

Beutelkiemer. 

Zwar zeigen auch die Beutelkiemer oder Rund- 
mäuler (Cyclostomi) so erhebliche Eigenthümlichkei- 
ten, wie Mangel der Extremitäten, gänzliche Abwesen- 
heit von Knochenplatten und Schuppen in der Haut, 
aber Gehirn, Herz und die weit über den Amphioxus 
sich erhebende, wenn auch durchaus knorpelig blei- 
bende Wirbelsäule vermitteln ihren unmittelbaren An- 
schluss an die Fische. Fossile Reste dieser, in der 
Gattung Pricke (Petromyzon) allbekannten Thiere'sind 
nicht vorhanden, wie denn überhaupt höchstens ihre 
Hornzähne sich hätten erhalten können. 



238 Stammbaum der Fische. 

Nach diesen offenbaren Lücken unserer Kenntnis» 
bieten die folgenden Ordnungen der Fische sich in 
desto übersichtlicherm Zusammenhange dar. Den Aus- 
gangspunkt bilden die Elasmobranchier, zu wel- 
chen die eigenthümlichen Chimären, die Haie und 
Rochen gehören. Gehirn und Kiemen zeigen die Ver- 
wandtschaft mit den Rundmäulern. In der Beschaffen- 
heit des Schädels und des Gresichtsskeletes , des Schul- 
tergürtels und der vordem Extremitäten, des Herzens und 
Darmes zeigen sie solche Bildungen, zu denen sich die 
gleichen Theile der Ganoiden entweder als Fortent- 
wickelungen oder als Reductionen verhalten, wie 
Gegenbaur in seinen classischen Untersuchungen nach- 
gewiesen. Auch Huxley hat zur richtigen Auffassung 
dieser Verhältnisse die Bahn gebrochen. Um hiervon 
vollständig sich zu überzeugen, ist allerdings ein De- 
tailstudium nothwendig; denn ohne solches kann man 
sich doch keine Vorstellung machen, wie bei den 
Elasmobranchiern noch der eigentliche Kieferapparat 
fehlt, und der Knorpelbogen, der bei ihnen die Kiefer 
vertritt, bei den Ganoiden theils als Gaumen, theils 
als Aufhängestil des wirklichen Unterkiefers verwendet 
wird, wie die innern Kiemen jener zu den äussern 
dieser werden, und wie im Skelet der vordem Extre- 
mitäten sich Schritt für Schritt von den Haien und 
Rochen zu den Ganoiden , namentlich den dazu ge- 
hörigen Stören, die allmähliche Vereinfachung nach- 
weisen lässt\ die einerseits in den Knochenfischen, 
andererseits in den hohem Wirbelthieren ihre Extreme 
erreicht, bei letztern unter der vielgestaltigen Ver- 
vollkommnung des Armes und der Hand. Es leben 
von den Ganoiden nur noch einzelne Ueberreste, die 
Familie der Störe und einzelne amerikanische und 
afrikanische Gattungen, für welche, wie Rütimeyer 
sagt , die Flucht ins süsse Wasser ein Act der Rettung 
war. Sie reichen eben hin, um das Verhältniss der 
einst ungemein ausgebreiteten Gruppe sowol zu den Elas- 
mobranchiern als den Knochenfischen zu erklären. 



Uebergang zu den Amphibien. 239 

In diesen, den Knochenfischen, ist die bei den 
Ganoiden eingeleitete Umbildung der Organisation 
der Elasraobranchier weiter geführt. Sie sind nur sehr 
bedingt „höher entwickelt" zu nennen, etwa im Ske- 
let, worauf die ehemalige Zoologie zu viel Gewicht 
legte. Hirn, Herz, die Bildung der Extremitäten, das 
Fortpflanzungssystem sind zwar Sonderentwickelungen, 
die in Verbindung mit der äussern Form und deii 
Hautbedeckungen eine sehr grosse Anpassungsfähigkeit 
bewährt haben, einer Weiterentwickelung aber nicht 
fähig gewesen sind. Die vergleichende Anatomie hat 
viele Mühe vergeblich darauf gewendet, aus der spe- 
ciellen Organisation der Knochenfische die Verhältnisse 
der höhern Thiere abzuleiten, oder die Eigenthümlich- 
keiten der Knochenfische von oben her zu erklären. 
Es war verlorene Mühe, weil nur der eben bezeich- 
nete Weg, die Abstammung der Knochenfische durch 
die Ganoiden von den haiartigen Fischen, zur Lösung^ 
führt. 

Mit den Knochenfischen schliesst also in der heutigen 
Periode eine Entwickelung ab, und wir haben una 
nach einer andern Uebergangsstufe von den Fischen 
zu den Amphibien umzusehen. Eine solche ist in der 
spärlich durch nur einige Arten (Lepidosiren, Pro- 
topterus) vertretene Ordnung der Doppelathmer 
(Dipnoi) vorhanden. Diese fischartigen, in einigen in 
der heissen Jahreszeit austrocknenden Flüssen Afrikas 
und Amerikas lebenden Thiere sind nach Skelet und 
Beschuppung und in einigen andern Merkmalen Fi- 
sche; der Schädel ist jedoch fast amphibienartig, auch 
gebrauchen sie ihre Schwimmblase zeitweilig als Lunge 
und veranschaulichen in diesem Wechsel der Wasser- 
und Luftathmung den Uebergang der kiemenathmenden 
Larven der Amphibien in das Stadium der Luftathmung. 
Sie nähern sich unter den eigentlichen Fischen am 
meisten der in der Gegenwart durch den afrikanischen 
Polypterus vertretenen Familie der Crossopterygier, und 
durch die neuere Entdeckung eines sehr merkwürdigen 



240 Stammbaum der Amphibien. 

australischen Fisches, des Ceratodus, wird diese Ver- 
wandtschaft befestigt. 

Durch solche den Doppelathmern ähnliche Formen 
hat sich also wahrscheinlich der Fortgang von den 
Fischen zu den Amphibien vollzogen; es ist jedoch 
auch möglich, wie mich ein wissenschaftlicher, in der 
Entwickelungsgeschichte sehr bewanderter Freund, ge- 
stützt auf die Vergleichung der Athemorgane der 
Kundmäuler mit denen der Amphibien, aufmerksam 
macht, dass Frösche und Salamander direct von Wesen 
abstammen, welche der Myxinoiden genannten Ab- 
theilung der Cyclostomen am nächsten standen. Es 
ist zu hoffen, dass diese sehr interessanten Beobach- 
tungen demnächst in die Oeffentlichkeit treten. Im 
allgemeinen sehen wir in der Ontogenie der Amphi- 
bien, dass geschwänzte Formen die altern sind. 
So verhalten sich denn auch die ältesten amphibien- 
artigen Thiere, die Labyrinthodonten. Wir haben 
aus ihren, namentlich in der Kohlenformation ent- 
haltenen Resten (Archegosaurus u. a.) erfahren, dass 
sie unvollständige oder keine Gliedmassen hatten, ihre 
Bauchseite theilweise mit knöchernen Panzerstücken 
versehen, die Wirbel fischartig waren, und dass ihr 
Schädel mit Chairakteren der heutigen Amphibien andere 
verbindet, welche theils an gewisse' Knochengan oiden, 
theils an die später auftretenden Reptilien erinnern. 
Wenn nun auch am Schädel der eigenthümlich schlan- 
genähnlich verlängerten Schleichlurche oder Cöci- 
lien, welche jedoch schwanzlos sind und ohne 
Gliedmassen, einige Besonderheiten des Labyrintho- 
dontenschädels wieder zum Vorschein kommen, so 
müssen wir doch sowol für diese Ordnung, wie für 
die beiden andern jetzt lebenden Ordnungen der 
Schwanzlurche und der Frösche unsere völlige 
Unkenntniss ihrer eigentlichen Vorfahren eingestehen. 
Wir sind also, wie gesagt, hier lediglich an die Ent- 
wickelungsgeschichte der Individuen gewiesen. Mit 
welchem Rechte wir uns aus dieser ein der Wirklichkeit 



Stammbaum der Reptilien. 241 

mit grosser Wahrscheinlichkeit nahe kommendes Bild 
der Stammesentwickelung entwerfen können, wird der 
Leser aus den frühern Abschnitten entnommen haben. 
Wir sehen unter den geschwänzten Amphibien nicht 
blos in der Ontogenie den Uebergang von der Kiemen- 
zur Lungenathmung, auch die systematische Reihe von 
Proteus zu Triton und Salamander vergegenwärtigt 
uns diese, an verschiedene morphologische Umwand- 
lungen gebundene physiologische Steigerung, welche 
sich zwischen den jungen und alten Exemplaren der 
Labyrinthodonten ebenfalls nachweisen lässt. Die Frö- 
sche gehen zwar in ihrer Entwickelung höher als die 
Schwanzlurche, sie schliesen sich aber, wie der oben 
schon erwähnte Freund mich belehrt, in der Beschaffen- 
heit der innern Kiemen ihrer Larven näher an die 
Myxinoiden an. Den Ueberblick über die Reptilien 
verschaffen wir uns zunächt durch die umstehende 
Tabelle (S. 242), wobei wir uns aller nähern syste- 
matischen Bezeichnungen enthalten \^ollen. 

Die Klasse bietet ein sehr reichhaltiges Bild dar, 
obschon in der Gegenwart nur vier Ordnungen existi- 
ren, von denen noch dazu zwei, Sie Eidechsen und 
Schlangen, kaum voneinander zu trennen sind. Dass 
die Schlangen, welche erst mit der Tertiärzeit auf- 
treten, ein unmittelbarer Ableger der Eidechsen sind, 
wird durch die vergleichende Anatomie und Entwicke- 
lungsgeschichte zur Gewissheit. Wir sehen innerhalb 
verschiedener Familien der Eidechsen mit der Streckung 
des Körpers und der Vermehrung der Wirbel die Fuss- 
losigkeit eintreten, und auch die Aenderungen, welche 
dem Schädel der „echten" Schlangen eigenthümlich sind, 
werden in ganz allmählichen Abstufungen vom echten 
Eidechsenschädel an in der systematischen Reihe re- 
präsentirt. Wir können nicht die fossilen Gattungen 
angeben , mit denen die Umwandlung beginnt , ein Zwei- 
fel in diesem Falle würde aber nur eine eigensinnige 
Verneinung sein. Anders steht es mit den übrigen 
Ordnungen, welche in ihren uns bisher zugänglich 

Schmidt, Desoendenzlehre. IQ 



242 



Stammbanm 



Gegenwart 
Diluvium 



Tertiärzeit 
Kreide . . 
Jura . . . 



Trias 
Dyas 



Kohle . . 



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gewordenen Anfangen schon so bestimmt ausgeprägte 
Verschiedenheiten zeigen, dass eine directe Ableitung 
auch nur einiger aus bekannteij Gliedern anderer nicht 
möglich ist. Ein sehr guter Kenner der Anatomie 
dieser Thiere, Huxley, lässt sich folgendermassen hier- 
über aus^^: „Wenn wir fragen, wie die frühesten Re- 
präsentanten dieser Ordnungen sich von den jetzt 
lebenden oder den spätest bekannten Gliedern der- 



der Reptilien. 243 

selben unterscheiden, so werden wir in allen Fällen 
finden, dass die Grösse des Unterschiedes an und für 
sich und im Vergleich mit den dazwischen liegenden 
Zeiträumen merkwürdig gering ist. Meines Wissens 
gibt es keine Thatsache, von der man sagen könnte, 
dass sie einen Fortschritt der spätem Pterosaurier oder 
Ichthyosaurier über die jüngsten (ältesten?) repräsen- 
tire. Es ist nicht klar, dass die Dinosaurier der 
Wealden- und Kreideformation höher organisirt sind 
als die der Trias; wo aber ein Fortschritt in der 
Differentiation des Baues zu beobachten ist, wie bei 
den Lacertiliern oder Krokodiliern, geht derselbe nicht 
weiter als ' bis zur Veränderung der Wirbelgelenk- 
flächen oder des Grades, bis zu welchem die innern 
Nasenöffnungen von Knochen umgeben werden. Die 
osteologischen Unterschiede, welche uns die Fossilreste 
allein zu überliefern vermögen, sind ohne Zweifel von 
manchen Veränderungen in der Organisation hinfälliger 
Körpertheile begleitet gewesen, aber die Gesammtheit 
der vorliegenden Thatsachen beweist doch, dass der 
^Grad von Veränderung in der Organisation der Rep- 
tilien seit ihrem ersten bekannten Auftreten auf der 
Erde an und für sich nicht gross ist und ganz unbe- 
deutend erscheint, wenn wir die seitdem verflossenen 
Zeiträume , sowie die Veränderungen der äussern • Um- 
stände in Betracht ziehen, welche durch die meso- 
zoischen und tertiären Formationen repräsentirt sind. 

„Aus dem Gesichtspunkt der Entwickelungshypothese» 
ist die Annahme geboten, dass die Reptilien von einem-, 
gemeinsamen Stamme ausgegangen sind, und ich sehe^ 
keine Berechtigung für die Ansicht, dass diese Diver- 
genz vor der Trias bedeutender* gewesen sei, als sie- 
zu irgendeiner spätem Zeit gewesen ist. Folglich 
müssen, wenn die Annäherung der ältestbekannten Ver- 
treter der verschiedenen Ordnungen aneinander sehr 
gering ist, Reptilien schon vor der Trias eine Zeit 



* Muss wol heissen unbedeutender? 

16* 



244 Stammbaum 

hindurch gelebt haben, mit welcher verglichen der 
von der Trias bis heute verflossene Zeitraum gering 
ist — die Reptilien müssen, mit andern Worten, weit 
zurück in der paläozoischen Periode aufgetreten sein." 
Die Vergleichung weist uns also in Zeiten zurück, 
aus denen keine Kunde zu sicherer Ableitung jener 
Klasse vorliegt. Selbst die Ichthyosaurier und 
Plesiosaurier, welche so oft zusammen genannt wer- 
den, gehen in sehr wesentlichen, ihren etwaigen ge- 
meinsamen Ursprung weit hinausrückenden Charakteren 
auseinander. Wir erwähnen nur die ganz flossenarti- 
gen Extremitäten der erstem, welche in der Hand 
noch den Fischtypus an sich tragen. Wir werden also 
nur im allgemeinen auf solche Mischformen zurück- 
gewiesen, welche sich ähnlich wie die Labyrinthodon- 
ten verhalten haben mögen, ja es muss sogar die 
Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Ichthyosaurier 
allein, oder auch mit ihnen die Plesiosaurier unab- 
hängig von den übrigen Aesten des Eeptilstammes 
sich selbständig von Fischformen abgezweigt haben, 
welcher Eventualität in dem Stammbaum auf S. 232 
Rechnung getragen ist. Eine gewisse Aehnlichkeit mit 
dem Schädel der Schildkröten zeigt derjenige der 
Dicynodonten. Auch bei ihnen waren die Kiefer, 
wie sich aus ihrer Gestalt ergibt, offenbar mit Horn- 
scheiden überzogen; zugleich aber enthält der Ober- 
kiefer zwei mächtige Hauzähne, und an einen directen 
Uebergang der in der Trias erscheinenden Dicynodon- 
ten in die spätere Schildkröte ist kaum zu denken. 
Die altern Formen der Krokodile zeigen in einigen 
Punkten des Schädels sowie der Stellung der hintern 
Nasenöffhungen einen Anschluss an die Eidechsen, aus 
deren altern unbekannten Formen sie sich wahrschein- 
lich abgezweigt haben. Auch die Flugeidechsen 
oder Pterosaurier dürften eine Abzweigung der Eidech- 
sen sein. Sie haben durch Anpassung einige Eigen- 
schaften erlangt, Gestalt und Leichtigkeit des Kopfes, 
Schlankheit und Pneumaticität der Röhrenknochen, die 



der Reptilien. 245 

sie mit den Vögeln theilen. Aber nicht in ihnen, äon- 
dern in der Abtheilung, welche Huxley, unter Zu- 
sammenfassung mehrerer Familien , Ornithosceliden, 
d. i. Eeptilien mit Vogelbeinen, nennt, sind die eigent- 
lichen Vorfahren der Vögel zu suchen. Denn in ihnen 
bereitet sich einer der wichtigsten Charaktere der 
Vögel theils vor, sodass seine Entstehung auch noch 
im ausgewachsenen Thier erkennbar bleibt, theils voll- 
zieht sie sich, wie in der Gattung Campsognathus. 
Es ist jene von uns schon auf Seite 9 betrachtete 
Eigenthümlichkeit, dass der obere Theil der Fuss- 
wurzel mit dem Unterschenkel, der untere mit dem 
Mittelfusse verschmilzt, und dass mithin das Fersen- 
gelenk in die Fusswurzel hineingelegt wird. 

Alle lebenden Reptilien unterscheiden sich durch 
einige, ihre Entwickelung begleitenden Erscheinungen 
scharf von den Amphibien und Fischen; sie besitzen 
zwei den Embryo umhüllende Organe, das Amnion, 
welches wesentlich eine Schutzhülle des sich ent- 
wickelnden Wesens ist, und die Allantois, wodurch 
der fötale Kreislauf, Ernährung und Athmung geregelt 
und vermittelt wird. Wir finden bei den Fröschen 
Andeutungen wenigstens der Allantois und müssen vor- 
aussetzen, dass der grösste Theil der fossilen Reptilien 
sich schon diesen Fortschritt der Gesammtorganisation 
angeeignet hatte. Ein Fortschritt nämlich liegt darin, 
dass die mit Amnion und Allantois sich entwickelnden 
Thiere während des embryonalen Stadiums weiter 
kommen als die niedrigen Wirbelthiere , dass sie mit- 
hin widerstandsfähiger das Ei verlassen. Wir müssen 
auch deshalb die Aneignung des Amnion und der 
Allantois in die entlegenen Perioden der Amphibien- 
und Reptilienentwickelung versetzen, weil sowol die 
Vögel, welche von echten Reptilien abstammen, als die 
Säugethiere, welche von wahren Reptilien nicht ab- 
stammen können, mit ihnen im Besitz jener embryo- 
nalen Hüllen und Organe sind. 

Die Vögel schliessen sich anatomisch so eng an die 



246 Stammbaum 

Reptilien an, dass Huxley, welcher die Vergleichung 
am schärfsten durchgeführt hat, beide Klassen zu einer 
grössern systematischen Einheit unter dem Namen 
Sauropsida, d. i.- eidechsenähnliche Thiere, zusam- 
menfasste. Eine Eidechsenschuppe und eine Feder 
scheinen zwei gänzlich verschiedene Dinge zu sein; 
sie sind aber in ihrer ersten Anlage völlig gleich, und 
die Feder hat eine weit grössere Uebereinstimmung 
mit der Schuppe als mit dem Haar. Die Befiederung, 
welche dem Vogel einen specifischen Charakter auf- 
zudrücken scheint, ist also aus der Schuppenbildung 
abzuleiten. Von den innem weichen Organen wollen 
wir nur Herz und Lungen hervorheben. Alle altern 
Zoologen stellten das Vogelherz dem Säugethier- und 
Menschenherzen gleich; es ist jedoch in seinen spe- 
ciellen Einrichtungen nur aus dem Reptilienherzen zu 
verstehen, und die Luftröhre verästelt sich .nicht 
gabelig-baumförmig wie beim Säugethier. Dass in den 
Reptilien ein allmählicher Uebergang zum Vogelbein 
vorliegt, ist wiederholt hervorgehoben. Auch das 
Becken des Vogels, welches durch die Länge der 
Scham- und Sitzbeine auffällt und vorn offen ist, stellt 
nur eine geringe Weiterentwickelung der Beckenbildung 
vor, welche schon verschiedene Omithosceliden zeigen. 
So sagt Huxley vom Sitzbein des Hypsilophodon, dass 
„die bemerkenswerthe Schmalheit und Verlängerung 
diesem Knochen einen ganz wunderbar vogelartigen 
Charakter gebe". Am Schädel endlich sind die Eigen- 
thümlichkeiten , welche der Vogel im Gegensatz zum 
Säugethier besitzt, wie der einfache Gelenkhöcker am 
Hinterhaupt, das Quadratbein, die besondere Form 
des Schneckentheiles des Gehörlabyrinthes, die Zu- 
sammensetzung des Unterkiefers und seine Einlenkung 
am Schädel durch Vermittelung des Quadratbeines u. s.w., 
nicht specielle Vogel-, sondern allgemeine Reptilien- 
charaktere. Diese Gleichheit des Reptilien- und Vogel- 
typus wird schon vollkommen klar aus der Vergleichung 
lebender Vögel mit lebenden Reptilien. Der Beweis 







f|ä|i!if,if°ch 







*-*- 



248 Stammbaum der Vögel 

altern vorweltlichen Vögel befanden, ist durch eine 
Entdeckung des amerikanischen Naturforschers Marsh^^ 
ein Ende gemacht. Er fand in der obem Kreide von 
Kansas die Reste zweier Gattungen von Vögeln, die 
einmal durch ihre biconcaven Wirbel an die Merkmale 
der altern Keptilien erinnern und schon damit als 
höchst werthvoUe Zwischenstufen sich darstellen, die 
aber auch ferner in beiden Kiefern Zähne trugen. Die- 
selben sind klein und spitz, und waren so zahlreich,, 
dass im Unterkiefer des Ichthyornis dispar genannten 
Thieres jederseits zwanzig gezählt werden konnten. 

Somit sind wir heute über die Verwandtschaft der 
Vögel nach aussen vollständig im Reinen. Der Vogel 
ist ein dem Luftleben angepasstes Reptil, und die- 
jenigen Vögel, die wir dem Fluge mehr entfremdet 
sehen, haben die mit der geringern oder grossem 
Flugunfahigkeit verbundenen Eigenschaften erst im 
Wege der Rückbildung erworben. Desto schlimmer 
sieht es mit der innern Ordnung dieser Thierklasse 
aus. Mit einer gewissen Sicherheit lässt sich theils 
aus der geographischen Verbreitung, theils aus ana- 
tomischen Merkmalen , namentlich des Schädels, folgern^ 
dass die straussenartigen Vögel nicht etwa wegen ihrer 
Schenkelstärke und Geschicklichkeit im Laufen die 
jüngsten, wol gar den Säugethieren am nächsten 
stehenden Mitglieder ihrer Klasse, sondern dass sie 
die ältesten der jetzt lebenden sind. Die Art der 
UnvoUkommenheit ihrer Flügel weist, wie gesagt^ 
darauf hin, dass dieselben sich im Zustande der Ver- 
kümmerung und Rückbildung befinden. Ueber diese 
allgemeine Erfahrung kommt man nicht hinaus. Hat 
man den Vogel als ein Flugthier im Auge, so sind 
natürlich von diesem Gesichtspunkt aus diejenigen die 
höchsten im Range, welche am besten fliegen gelernt 
haben. Diese Palme kommt bekanntlich im allgemei- 
nen den Raubvögeln zu, obschon auch andere Ord- 
nungen an hervorragenden Fliegern nicht arm sind. 
Brehm und andere halten die Papagaien wegen ihrer 



und Säugethiere. 249 

Gelehrigkeit für die höchsten Vögel. Aber das alles 
ist Willkür und kann nur zufällig in einzelnen Thei- 
len der wahren, noch unbekannten Verzweigung des 
Vogelastes am Stammbaum der Wirbelthiere ent- 
sprechen. 

Die ältesten Keste von Säugethieren sind aus der 
Trias bekannt; etwas häufiger kommen sie in den 
mittlem mesozoischen Schichten vor, und sie alle ge- 
hören B^utelthieren an. Da nun die Beutler im Ver- 
gleich zk den niedern Wirbelthierklassen, von denen 
sie abgeleitet werden müssen, sehr hoch entwickelt 
sind und wir in den Monotremen (Schnabelthier und 
Schnabeligel) Säugethiere besitzen, welche offenbar weit 
unter den Beutlern stehen, so sind wir hinsichtlich 
des Ursprunges der Säuger lediglich auf Vermuthungen 
und Schlüsse angewiesen. Diese führen auf amphibien- 
artige Wesen, in denen gewisse Eigenthümlichkeiten 
des Schädels der Säugethiere, z. B. der doppelte Ge- 
lenkknopf am Hinterhaupte, vorgebildet waren, und 
welche durch Amnios- und AUantoisbildung sich den 
eigentlichen Keptilien näherten. Diese Vorfahren der 
Säugethiere sind jedoch in keiner der jetzt existiren- 
den Ordnungen der Eeptilien oder Amphibien noch 
repräsentirt. Auch der Stammbaum (S. 250), in welchem 
wir die genauer bekannten fossilen und die jetzt leben- 
den Säuger gruppiren, enthält erhebliche Lücken und 
beruht zu einem guten Theile auf Hypothese, gibt 
aber doch ein annähernd wahrscheinlich richtiges Bild 
über die Blutsverwandtschaft der Ordnungen und muss, 
verglichen mit dem System, wie es vor dem Wieder- 
aufleben der Descendenzlehre in den Lehrbüchern auf- 
gebaut wurde, als ein grosser, gedankenvoller Fort- 
schritt gelten. 

Die auf Australien mit Tasmanien beschränkten 
Monotremen (Ornithorhynchus, Echidna) sind in An- 
betracht ihres Schädelbaues, der Beschaffenheit des 
Schulter gürteis und der auf dem embryonalen Stadium 
der übrigen Säugethiere verharrenden Einmündung der 



250 



Stammbaum 



OQ 



O 

o 
B 



9 



S 







der Säugethiere. 251 

Darm-, Harn- und Geschlechtswege in eine Kloake 
die niedrigsten Glieder ihrer Klasse, und müssen als 
-ein Rest einer aus unbestimmbaren Zeiten in die Gegen- 
-wart hineinragenden Abtheilung angesehen werden. 
Cs ist zu vermuthen, dass sich aus einer ähnlichen 
Stufe die Beutel thiere entwickelt haben. Die An- 
passungsfähigkeit dieser letztem hat sich hauptsächlich 
in Australien bewährt, wo die Unterabtheilungen der 
Ordnung, welche gewöhnlich als Familien bezeichnet 
-werden, nach Zahnbildung und Lebensweise sich analog 
zu verschiedenen derjenigen Ordnungen entwickelt 
haben, die auf dem zweiten grossen Schauplatze der 
Säugethierentwickelung, auf der nördlichen Halbkugel, 
auftreten. 

Im Skelet weit vorgeschritten vor den Monotremen 
bleiben sie im Fortpflanzungssystem auf einer niedrigen 
Stufe und theilen mit den Monotremen die Placenta- 
losigkeit. Die embryonalen Blutgefässe treten nämlich 
nicht in jene enge Beziehung zu den Blutgefässen des 
mütterlichen Fruchthalters, wodurch die vollständigere 
Ausbildung der übrigen Säuger im Mutterschose er- 
möglicht ist. Durch diesen Charakter und die damit 
verbundene Beutelbildung behufs des Austragens der 
unreif geborenen Jungen werden die, wie erwähnt, 
gleich den übrigen Ordnungen auseinander gehenden 
Familien der Beutler zusammengehalten. 

Abgesehen also von den beiden obengenannten 
Ordnungen ist bei den übrigen Säugethieren der Em- 
bryo durch die sogenannte Placenta mit dem mütter- 
lichen Organismus verbunden. Die vermittels der 
AUantois an die Wandung des Uterus gelangenden 
Blutgefässe des sich entwickelnden Jungen bilden Zotten 
und Schlingen, zwischen welche ähnliche Auswüchse 
und Anhänge der Blutgefässe des Fruchthalters hinein- 
wachsen, sodass durch die Wandungen der sich be- 
rührenden Blutgefässe hindurch ein reichlicher Aus- 
tausch der beiderseitigen Flüssigkeiten und damit eine 
1 längere Ernährung und eine weitere, vollkommenere 



252 ' Stammbaum 

Ausbildung des Fötus stattfindet. Der höhere, in den 
anatomischen Verhältnissen schon meist klar ausgespro- 
chene Charakter der placentalen Säugethiere 
findet also seine Begründung in dem Vorhandensein 
des Fruchtkuchens. Indessen fehlen alle Zwischen- 
stufen , die auf den directen üebergang von placenta- 
losen zu placentalen Säugern mit Sicherheit schliessen 
liessen. Die offenbar niedrigsten unter den placen- 
talen Säugethieren , die Zahnlosen (Edentaten, Bruta) 
stehen zu den Beutlern so ausser aller nähern mor- 
phologischen Beziehung, dass wir nur ganz allgemein 
mit dem Hinweis und der durch die geographische 
Verbreitung und Geologie unterstützten Wahrschein- 
lichkeit uns begnügen müssen, dass die Edentaten 
einen sehr alten Ast der Placentalien repräsentiren. 
Es sind, wie wir schon im zehnten Abschnitt gesehen, 
versprengte Ueberreste, die nur gezwungen sich in 
eine Ordnung fügen. Faulthier, Gürtelthier, Ameisen- 
fresser sind unter sich mindestens so verschieden, wie 
Nager, Insektenfresser und Fledermäuse. Die Descen- 
denzlehre bethätigt, indem sie mit diesen Bruchstücken 
einer untergegangenen Thierwelt nichts anzufangen 
weiss, nicht ihre Unfähigkeit, sondern steht wegen 
Mangels an Material gegenwärtig vor einer Unmög- 
lichkeit. 

Um den Verwandtschaftsverhältnissen der übrigen 
Ordnungen auf den Grund zu kommen, hat die neuere 
Systematik, auch die Descendenzsystematik , grosses 
Gewicht auf die An- oder Abwesenheit der sogenann- 
ten Decidua legen zu müssen geglaubt. Dies bedarf 
einer kurzen Erörterung. Bei zahlreichen Ordnungen 
der Säuger wachsen die gefässreichen Wucherungen 
und Zotten der Wandung des Fruchthalters so fest in 
den fötalen Theil der Placenta hinein, dass bei der 
Geburt diese gesammte Hautschicht des Fruchthalters 
sich ablöst und mit ausgestossen wird. Bei den an- 
dern legen sich die beiderseitigen Gefässzotten nicht 
so eng aneinander, sie weichen bei der Geburt ohne 



der Säugethiere. 253 

grössere Zerreissungen, und es wird mithin keine ab- 
fallende Haut (Membrana decidua) ausgestossen. Nun 
sind, wie mir scheint, die speciellen Verhältnisse der 
Deciduabildung noch viel zu wenig verglichen, als dass 
man von der blossen Thatsache, dass Theile der Wan- 
dung des Fruchthalters bei dem Geburtsacte verloren 
gehen, auf nähere Verwandtschaft schliessen müsste. 
Vielmehr muss von vornherein zugegeben werden, dass ab- 
hängig von Nebenumständen der verschiedensten Art, und 
daher bei entfernt verwandten oder überhaupt nur als 
placentale Säuger verwandten Ordnungen, eine Deci- 
dnalbildung auftreten könne. Wir halten daher die 
Decidua für ein untergeordnetes systematisches Moment, 
wo anatomische und morphologische widersprechen. 

Wir gehen noch weiter. Die neuere Systematik be- 
nutzt auch die Form der Placenta zur Gruppirung 
der Ordnungen. Wenn man nun unter den Deciduaten 
als Ordnungen mit scheibenförmiger Placenta die Halb- 
affen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen 
zusammenstellt, so wird diese Vereinigung allerdings 
durch eine Reihe anderer Gründe gestützt, und es ist 
alle Wahrscheinlichkeit, dass die Form der Placenta 
innerhalb dieser Ordnungsgruppe auf Homologie, d. i. 
auf Abstammung beruht. Wenn aber ferner als Ord- 
nungen mit gürtelförmiger Placenta aufgeführt werden 
die B-aubthiere, Elefanten und die Klippschliefer (Hyrax), 
so befinden wir uns in derselben Lage, wie da, wo 
die Decidua über die nähere Zusammengehörigkeit 
entacheiden sollte , und meinen , dass die untergeordnete 
Form der Placenta auf verschiedenem Wege in analoger 
Weise zu Stande kommen konnte, gleich wie sie inner- 
halb der sicher begründeten Abtheilung der Hufthiere 
zu verschiedenem Aussehen sich entwickelt hat. Wir 
können, um unsere Ansicht mit einigen Beispielen zu 
belegen, allerdings über die Abstammung der Rüssel- 
träger nichts Sicheres angeben. Dass jedoch durch 
die übliche Zusammenstellung wegen der gürtelförmigen 
Placenta absolut nichts gesagt ist, ist ebenso sicher. 



254 



Stammbaum 



Man wird aber der Wahrheit näher kommen, wenn 
man den Zweig unbekannten Ursprunges schematisch 
demjenigen der Hufthiere näher bringt, als demjenigen 
der Raubthiere. Wenn man nun ferner die Wale als deci- 
dualose Säuger den Hufthieren näher verwandt hält als 
die Carnivoren, welche eine Decidua haben, so entscheidet 
dieser Umstand in unsem Augen nicht, da gewichtigere 
Gründe dafür sprechen , dass von rftubthierähnlichen Gat- 
tungen aus die Entwickelung der Wale begonnen hat* 
Schon in der Darlegung der geographischen Ver- 
breitung der Thiere hatten wir Gelegenheit, uns von 
Rütimeyer über die Verwandtschaftsverhältnisse, nament- 
lich der Hufthiere, unterrichten zu lassen. Für keine 



r 

Nashome Tapire 



Pferde 




Hipparion 



Macraucheni& 



Anchitherium 



Paläotheriden 



andere Abtheilung liegt ein so reiches fossiles Material 
vor. Wir treffen in den altem Tertiärschichten die 
Reste zweier Hufthierfamilien an, der Paläotheriden 
und Anoplotheriden, welche wesentlich in der Be- 
zahnung sich unterscheiden und der Ausgangspunkt der 
heute zum Theil sehr isölirt erscheinenden Gruppen 
der Hufthiere gewesen sind. Die Wurzel, aufweiche 
jene beiden Familien zurückführen, ist unbekannt, da- 
gegen erhellt theils aus der directen Vergleichung der 
betreffenden Gattungen mit den heutigen Hufthieren, 
theils durch zahlreiche Mittelglieder aus dem Miocän, 







aber 
l^ferde 



256 



Stammbaum 



Die Tapire sind in der Beschaffenheit der Backzähne 
dem Stammtypus am treuesten geblieben. Der Um- 
stand, dass der Tapir vom vier Zehen hat, während 
die uns bekannten Paläotherien drei besitzen, beweist 
jedoch, dass nicht die Gattung Paläotherium selbst 
der Stammvater der Tapire sein kann. Denn die An- 
nahme , dass der Tapir die vierte Zehe erworben habe, 
widerspricht aller Erfahrung über die Extremitäten- 
bildung. Auch die Rhinocerote sind vorn vierzehig, 
und es wird ihre nähere Verwandtschaft mit den Ta- 
piren durch den Zehenbau und eine Reihe von Einzel- 
heiten des Skelets bewiesen. 

Plnsspferde Schweine Tragaliden Hirsche Antilopen Binder 




Anoplotheriden 



Eine isolirte Abzweigung der Paläotheriden scheint 
die fossile Gattung Macrauchenia zu sein, welche 
Merkmale der Pferde und der Rhinocerote mit denen 
der Kamele verbindet. Inwiefern die letztem als 
Wiederkäuer etwa direct mit den Macrauchenien zu- 
sammenhängen, oder ihre den Pferden sich nähernde 
Schädelbildung auf wahre Homologien hinweist, lässt 
sich zur Zeit nicht sagen. 

Auch die Anoplotheriden zeichnen sich durch eine 
gewisse Indifferenz des Zahnbaues aus, von wo eine 
Reihe von Specialbildungen nach verschiedenen Rich- 
tungen ausgehen konnten. In gerader Linie stammen 



der Säugethiere. 257 

von ihnen die Traguli den ab, eine kleine Gruppe, 
welche den Moschusthieren ähnelt und auf Südafrika 
und Südasien beschränkt ist. Als Wiederkäuer schliessen 
sie sich enger an die übrigen bekannten typischen 
Ruminantien an, auf der andern Seite nehmen sie 6ine 
Vermittelnde Stellung zu den übrigen nicht wieder- 
käuenden und in der Vorwelt mit jenen durch die 
Anoplotheridön vereinigten Mitgliedern der ganzen Ab- 
theilung ein. Die Suiden oder Schweine artigen 
Thiere waren in der Eocän- und' Miocänzeit sehr 
reich vertreten. Einem Seitenast dieser zu den Ano- 
plotheriden hinablangenden Vorgänger entstammen die 
Flusspferde oder Hippopotamiden. Die Function 
des Wiederkauens ist bekanntlich an eine complicirte 
Structur des Magens gebunden, sowie an besondere 
Vorrichtungen der Schlundrinne% Es lässt sich natür- 
lich nicht bestimmen, bei welchen fossilen Thieren 
diese Einrichtungen begonnen haben ,^ doch scheint es 
sehr früh geschehen zu sein, indem möglicherweise der 
zusammengesetztere Bau einiger nicht wiederkäuenden 
Crattungen, wie von Hippopotamus und dem Nabel- 
schwein, von den Zeiten der Anoplotheriden her ererbt 
sind, und die so augenfällige Uebereinstimmung der 
wiederkäuenden Traguliden mit den Anoplotherien 
letztere mit ziemlicher Sicherheit zu Wiederkäuern 
stempelt. 

Sehen wir von den schon oben erwähnten, ihrer 
Stellung nach unsichem Kamelen .ab, so zerfallen die 
typischen Wiederkäuer in die hirschartigen und in 
die hörnertragenden. Durch die ungehörnten Moschus- 
thiere sind die Hirsche mit den Traguliden und den 
altern Gattungen verbunden. Einen Seitenzweig bil- 
den die Giraffen. Wenn aber auch in dem der 
Giraffe nahe stehenden, einst auf athenischem Boden 
heerdenweise lebenden Helladotherium und in dem in 
den Vorbergen des Himalaya gefundenen kolossalen 
Sivatherium die in der Jetztwelt ganz unvermittelte 

Schmidt, Descendenzlehre. 17 



258 Staminbaum 

Stellung der Giraffe etwas ausgeglichen wird, bleibt 
das Nähere ihrer Abstammung doch noch sehr unklar* 

Von den Antilopen zu den sich eng an sie an- 
schliessenden, voneinander kaum zu trennenden Gat- 
tungen Ziege und Schaf, sowie zu den Bindern 
bieten sowol die systelmatische als die paläontologische 
Reihe, als auch die ontogenetischen Stufen diejenigen 
Uebergänge dar, aus denen die Stammverwandtschaft 
unwiderleglich hervorgeht. Höchst interessant ist, ausser 
den auch hier von Kütimeyer im Detail verfolgten 
Beziehungen des Milchgebisses der Tochtergattungen zu 
den Stammgattungen , die allmähliche Umgestaltung des 
Schädels, welche in den Rindern ihF Extrem erreicht, 
und von Antilope und Schaf durch Ovibos, Bubalus 
(Büffel), Bison (Auer), zu Bos (Ochs) fortschreitet. Im 
letztern erreicht die steile Stellung der Scheitelbeine 
ihren äussersten Grad, und diese Umgestaltung des 
Antilopenschädels wiederholt sich individuell im Kalbe. 

Die gewöhnliche Zusammenstellung der Sirenen 
oder Seekühe mit den Walen war entschieden ein 
systematischer Misgriff, hervorgegangen aus der ein-, 
seitigen und dazu nur oberflächlichen Berücksichtigung 
der Bewegungsorgane. Alle übrigen charakteristischen 
Merkmale, vor allen Dingen der Bau des Schädels 
und die Beschaffenheit der Zähne entfernen sie ebenso 
von den Walen, als sie dieselben den Hufthieren nähern. 
Wir haben schon im Flusspferd ein fast zum Wasser- 
thier gewordenes Mitglied dieser Ordnung. Von an- 
dern unbekannten und wahrscheinlich sehr früh ab- 
gezweigten Gattungen ausgehend, haben wir uns die 
Entstehung der Sirenen zu denken. 

Eine sehr ungewisse Stellung nehmen die Hyra- 
coiden ein, gegenwärtig nur durch einige Arten der 
Gattung Klippdachs (Hyrax) repräsentirt. Wenn man 
sagt , dass ihre Merkmale theils an die Hufthiere , theils 
an die Nager, theils an die Insektenfresser erinnern, 
so ist damit keine Aufklärung gegeben. Bei der 
grossen Wichtigkeit, welche die Backzähne für die 



der Säugethiere. 259 

Entscheidung der Abstammung haben, ist wol der 
grösste Nachdruck auf die Aehnlickeit derselben bei 
Hyrax mit denen des Nash<»rns zu legen , und wir be- 
trachten mithin die Klippdachse als einen Ableger eines 
alten Hufthierstammes. 

Hinsichtlich der Vorfahren der Rüsselträger ent- 
halten wir uns jeder Vermuthung. 

Später als die Pflanzenfresser scheinen die Fleisch- 
fresser und insonderheit die Kaubthiere auf dem 
Schauplatz der arktischen Thierwelt erschienen zu sein. 
Gibt man die Möglichkeit zu, wie man wol nicht 
anders kann, dass Placentabildungen auf verschiedenem 
Wege entstanden sind, so liegt auch die Möglichkeit 
vor, dass' die Fleischfresser, und freilich auch andere 
Ordnungen, wie namentlich die Nager, directe Ab- 
kommen fleischfressender Beutler sind. Die ältesten 
bekannten Raubthiere sind katzenähnlich oder gleichen 
den Viverren und Hyänen. Dann kommen die Hunde, 
und am spätesten die Bärenartigen. Ein Seitenast 
sind die Seehunde nach Schädel, Q^biss und Ex- 
tremitäten. Ohne dass an eine speciellere Verwandt- 
schaft der Ottern mit den Robben gedacht werden 
kann, erleichtert doch die Vergleichung dieser bei- 
den miteinander die Vorstellung, wie aus wahren 
Raubthieren und Landthieren die seltsame Gestalt der 
Seehunde hervorgehen musste. 

Wenn sich unsere oben ausgesprochene Vermuthung, 
dass die Zerreissungen und Abstossungen im Bereiche 
der Placenta, welche die Erscheinung der Decidua 
bilden, in stammverwandten Gruppen sehr verschieden- 
artig ausfallen und in nicht näher verwandten ähnlich 
werden können, bestätigen sollte, so würden in un- 
serm Stammbaume die Wale in der Nähe der Raub- 
thiere ihren Platz finden. Zwischen einem Löwen und 
einem Bartenwal liegt freilich in Winkelform eine un- 
übersehbare Anzahl von Zwischenformen. Wir haben 
uns aber immer gegenwärtig zu halten, dass es sich 
nicht um die Ueberbrückung der Lücken zwischen den 

17* 



260 Stammbaum 

heutigen, die Enden der Entwickelungsreihen vor- 
stellenden extremen Formen handelt , sondern um daa 
Auffinden der Ausgangs- und Knotenpunkte.. Fossile 
walartige Thiere kennt man aus der Tertiärzeit, so 
Zeuglodon und Squalodon. Die vorzüglich erhaltenen 
Reste der erstem kolossalen Gattung werden in Berlin 
aufbewahrt, wo Johannes Müller ihre Beziehungen 
theils zu den Bobben, theils zu den Walen entdeckte. 
Die Bezahnung ist robbeuartig, im Skelet manches :wie 
bei den Walen, und obgleich den Zeuglodonten einö^. 
grosse Reihe von Arten vorangegangen, und eine, wenn 
auch weniger lange, doch immer noch ansehnlichQ- 
Reihe gefolgt sein muss, ehe die heutigen Wale daraus 
hervorgingen, so erscheint eine solche Entwickelung 
doch höchst wahrscheinlich und natürlich. Die altern 
Glieder der eigentlichen Wale sind, wegen der noch' 
vollständigen Bezahnung und der noch verhältniss- 
massigen Dimensionen des Schädels,, die Delphine. 
Ihnen haben sich die Potwale oder Physeteren an- 
geschlossen, und das späteste Glied sind die Barten- 
wale. Das geht daraus hervor, weil die Barten sich 
erst dann entwickeln, nachdem in den Kiefern des 
Embryo hinfällige Zähne zum Vorschein gekommea 
waren, ein Erbtheil von den reichlich und zeitlebens 
bezahnten Vorfahren. 

In den sogenannten Halbaffen oder Lemuriden 
vereinigt das System die heterogenen Reste einer Thier- 
gesellschaft,' welche man wegen der greifenden, mit 
einem opponirbaren Daumen versehenen Hinterfüsse für 
Ordnungsgenossen der „eigentlichen^' Affen hielt. Das 
sie zusammenhaltende Band ist nicht ihre anatomische 
Beschaffenheit — sie gehen in Schädelform und Be- 
zahnung weit auseinander — , sondern mehr ihr geogra- 
phisches , auf Madagascar und einige vorgeschobene 
Posten Asiens beschränktes Vorkommen; auch hat man 
sich, was allerdings sehr unwissenschaftlich, durch einen 
gewissen besonders fremdartigen Eindruck, den sie auf 
den Beobachter machen, leiten lassen., Ihre Gehirn- 



der Säuge thiere. 261 

beschaffenlieit weiöt' ihnen auf der Leiter der Säuge- 
thiere eine sehr tiefe Stufe an. Da sie nun nicht in 
ihrer Gesammtheit Beziehungen zu einer bestimmten 
Ordnung der Säuger zeigen, sondern nach deii ein- 
zelnen Gattungen auf diejenigen Ordnungen weisen, 
welche allesammt mit ihnen eine kreisförmige Placenta 
besitzen, so sprechen die meisten Gründe für die An- 
nahme, dass die jetzt lebenden Lemuriden die letzten 
wenig veränderten. Ausläufer einer einst viel reicher 
entfalteten Abtheilung der Säugethierwelt, und dass 
Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen Zweige 
dieses Astes sind. 

Die Nager sind darum besonders interessant, weil 
sie mit zäher Festhaltung der höchst charakteristisch 
ausgebildeten und von mehrern Eigenthümlichkeiten 
des Schädels begleiteten Bezahnung die ausserordent- 
lichste Anpassungsfähigkeit an Baum und Steppen- 
boden, Land und "Wasser zeigen. Die Insekten- 
fresser, obwol nicht entfernt so reich an Arten; 
bieten ein ähnliches Bild der Anpassungen dar, wodurch 
ihre Gattungen gleichsam zu Wiederholungen von Na- 
gern geworden sind; und die Fledermäuse können 
in ihrer am zahlreichsten vertretenen Abtheilung als 
ein Seitenzweig der Insektenfresser angesehen werden, 
wenn sie nicht direct aus halbaffenähnlichen Thieren 
hervorgegangen sind. 

Zu welcher geologischen Periode die Herausbildung 
von Affen aus lemuridenartigen Formen geschehen, 
wissen wir nicht. Die wenigen bekannt gewordenen 
fossilen Affen gehören höhern Affenfamilien an und setzen 
eine lange Reihe von Ahnen voraus. Zu derselben 
Voraussetzung nöthigt die geographische Isolirung der 
amerikanischen von den altweltlichen Affen, welche 
mit erheblichen anatomischen Differenzen verbunden 
ist, ohne dass es dem Zoologen und vergleichenden 
Anatomen einfallen könnte, ihre engste systematische 
Zusammengehörigkeit zu leugnen. 



262 I>er Mensch als Object 

Das Yerhältmss der niedrigem Affen zii den hohem 
bedarf noch weiterer Erörterungen, welche wir mit 
der Besprechung des Verhältnisses des Menschen zu 
den Affen verbinden. 



XII. 

Der Mensch. 

Wenn Goethe einmal äussert: „Wir tasten ewig <an 
Problemen. Der Mensch ist ein dunkles Wesen; er 
weiss wenig von der Welt und am wenigsten von sich 
selbst" '*, so wiederholt er ungeföhr, was J. J Rousseau 
im Emil sagt^': „Wir haben keinen Massstab für diese 
ungeheuere Maschine (der Welt); wir können die Be- 
ziehungen derselben nicht der Rechnung unterwerfen; 
wir kennen weder ihre Grundgesetze noch ihren End^ 
zweck; wir kennen uns selbst nicht; wir kennen weder 
unsere Natur, noch das in uns thätige Princip." 

Solche und ähnliche Citate hält man uns gern ent- 
gegen, um damit die Behauptungen über die Beschränkt- 
heit unsers Erkenntnissvermögens und die Grenzen 
der Wissenschaft mundgerecht zu machen und zu be- 
kräftigen. Allein dem vortrefflichen J. J. Rousseau 
können wir in der Anthropologie unmöglich eine grössere 
Autorität als einem Kirchenvater beimessen, und dem 
Goethe, dessen gelegentlich hingeworfene Worte Ecker- 
mann der Nachwelt überliefert, stellen wir den andern 
Goethe entgegen, welcher im Vollgefühl der Jugend- 
kraft ausruft: 

Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich 

fähig, 
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich 

aufschwang. 
Nachzudenken — so 

und welcher die schönste Organisation, wie er den 
Menschen nennt , in völliger Harmonie mit jenem höch- 
sten Gedanken begreift. 



der Abstammungslehre. 263 

Unsem bisherigen Betrachtangen nnd Ausführungeü 
mrürde der Abschluss mangeln, sollte der Mensöh aus- 
;^e8ohlo8sen sein, sollte nicht alles, was über Werden 
und Zusammenhang der Thierheit gesagt ist, auch für 
•die Erkenntniss seines Wesens unmittelbar verwandt 
^werden können und müssen. Alles Unbehagen an der 
Abstammungslehre , der Zweifel an derselben , der Zorn 
über sie concentrirt sich auf ihre Anwendbarkeit und 
-vollzogene Anwendung auf den Menschen. Und wenn 
man uns auch nothgedrungen die Leiblichkeit preisgibt, 
«o soll wenigstens die geistige Sphäre des Menschen 
•ein Unerforschliches, ein Noli tangere für die Natur- 
forschung sein. Vor einigen Jahren noch hatten die 
Oegner der Descendenzlehre den Trost, dass Darwin 
selbst über den Mensehen sich nicht direct ausgespro- 
chen. Man eiferte über seine Anhänger, welche Dar- 
win überdarwint hätten. Dazu kam das unglückselige 
Misverstftndniss, als ob die Yertheidiger der Descen- 
•denzlehre das Menschengeschlecht aus d^ Veredlung 
vom Orang, Schimpanse oder Gorilla, kurz, von noch 
lebenden Affetf hervorgehen Hessen. 

Aber jeder einigermassen logische Denker musste 
vom ersten Auftauchen der darwinistischen Lehre an 
•den Menschen ebenfalls als veränderlich und aus der 
Veränderlichkeit der Arten hervorgegangen ansehen; 
und nun hat uns auch Darwin in seinem Werke „Ueber 
•die Abstammung des Menschen^^ gesagt, warum er 
■diesen selbstverständlichen Schluss nicht schon in sei- 
ner ersten Schrift ausgesprochen habe: er wollte da- 
durch nicht die Vorurtheile gegen seine Ansicht ver- 
stärken und herausfordern; er verschwieg den Schluss 
Als ein Kenner der menschlichen Schwachheit. „Es 
schien mir hinreichend'^, sagt er, „in der ersten Aus- 
gabe meiner «Entstehung der Arten» darauf hinzuwei- 
sen, dass durch dies Buch Licht auf den Ursprung des 
Menschen und seine Geschichte geworfen werden würde, 
und dies schliesst doch den Gedanken ein, dass der 
Mensch mit andern organischen Wesen bei jedem all- 



264 Vorläufige », . . 

gemeinen Schlüsse in Bezug auf die Art seiner Erscbei» 
nui^g auf der Erde inbegriffen sein müsse." 

Ja, noch weiter ist nun Darwin selbst gegangen; er- 
bat zum Entsetzen aller, die sich den Menschen kauipk 
anders ^,ls rasirt und mit dem Complimentirbuch er- 
schaffen denken können^ ein allerdings nicht schmeichel- 
haftes und in manchen Stücken vielleicht auch nicht 
zutreffendes Pori^ät unserer muthmasslichen Vorfahren 
entworfeii, auf der Stufe, wo die Menschwerdung erst 
im Zuge. 

Ehe wir das ernste Thema ernst behandeln, ge- 
statten wir uns , ein leichteres Urtheil eines geistreichen 
Feuilletonisten voranzustellen.^^ „Nehmen wir, blo» 
zu^ Scherz., an, die Natur, welche wir immer und 
überall vpm Einfachsten bis zum Zusammengesetzten,, 
vom Niedrigen zum Höhern schreiten sehen, hätte die- 
sem Gesetze nicht angesichts des Menschen plötzlich 
.entsagt; sie hätte seinetwegen nicht ihre Entwicklung 
plötzlich aufgegeben; sie hätte in ihm nicht plötzlich 
eine neue Schöpfung begonnen, sondern sie wäre 
hierbei wie bei allem übrigen hübsch sachte, allmäh- 
lich, natürlich vorgegangen, und der Mensch wäre 
demnach nichts als das letzte Glied der endlosen Reihe 
von Thieren, nichts als ein «entwickelter Affe». Da& 
Erste, was sich uns dann aufdränge, würde die Be- 
merkung sein, dass in den Thatsachen dadurch nicht 
das Geringste geändert sei, dass der Mensch ganz der- 
selbe bliebe, der er ist, mit derselben Gestalt, demr 
selben Gesicht, demselben Gang; denselben Geberden, 
denselben Anlagen, Kräften, Gefühlen, Gedanken, und 
mit derselben Herrschaft über den Affen, wie bisher. 
Di^s ist sehr einfach, sehr selbstverständlich, aber auch 
sehr wichtig. Denn es gibt ihm, dem Menschen, die 
starke Empfindung davon, dass er, sowie er jetzt ist, 
ein ganz eigen geartetes, auch von den verwandtesten 
Geschöpfen sehr verschiedenes Wesen, und dasö diese 
Eigenart zugleich sein eigenstes Eigenthum ist, er 
mag es nun als ein fertiges Geschenk empfangen oder 



FolgfetuBgen. '■ 265 

168 aus einem niedem Zustande mühsam in Jahrzehn- 
tausenden herausgearbeitet haben. Ist nun aber seine 
gegenwärtige Beschaffenheit durch seinen (vorausgesetz- 
ten) thierischen Ursprung nicht im geringsten beein* 
trächtigt, so können auch seine Ziele und Aufgaben, 
«eine Bestrebungen und Berufsarten, kurz seine ganze 
Zukunft keine andere sein, als er sie sich seinem gan- 
zen Wesen nach vorstellen und denken muss. Oder 
sollte der gebildete Theil der Menschheit durch den 
Gedanken, vom Affen abzustammen, wirklieh so tief 
entmuthigt werden können, dass er, an der Möglich- 
keit verzagend, seine Bildung, welche ihm keineswegs 
als reife Frucht in den Schos fiel, sondern die er sich 
schwer errungen hat, aufrecht zu erhalten und fort- 
zuführen, seinen Handel und Wandel, seine Hechts- 
und Staatsformen, seine Kunst und Wissenschaft auf- 
gäbe und sich zu dem Austral- Neger herabsinken 
liesse? Dass er das, wodurch er sich über den Affen 
so hoch erhoben hat und immer höher erhebt, fahren 
liesse, weil es ihm einst schwer geworden, sich auch 
nur um eines Haares Breite über jenen zu erheben? 
Aber welcher von der Natur zum Herrscher bestimmte 
Mann hätte deshalb nach der Krone nicht gegriffen, 
weil sein Vater ein Knecht gewesen? Oder welcher 
geborene Bafael hätte deshalb Pinsel und Palette weg- 
gelegt, weil sein Erzeuger das Handwerk eines An- 
streichers ausgeübt? Die Menschheit wird, wie jeder 
einzelne, ihre Kräfte üben und ausbilden, weil sie sie 
hat, nicht weil sie sie von da oder dort her hat/^ 

Wir geben solchem flüchtigen Sprühfeuer sein Recht, 
verlangen aber eingehendere Begründung, um das End- 
urtheil schöpfen zu können. Denjenigen, welche sich 
in die Descendenzlehre vertiefen, ist die Anwendung 
derselben auf den Mensehen ein einfacher Deductions- 
fall aus einem allgemeinen, durch die Methode der 
Induction gewonnenen Gesetze. Wie Goethe den Zwi- 
schenkiefer für den Menschen postulirte, noch ehe er 
ihn gesehen und nachgewiesen, so muss die Descendenz- 



1 



266 Weaen der Menschheit. 

lehre alle ihre Resultate und mehr oder weniger sohon 
klar gelegten Gesetze auf den Menschen übertragen. 
Die Deduction wurde durch die gehäuften, sich decken- 
den, coniarolirenden und bestätigenden Beobachtungen 
der vergleichenden Anatomie, der Entwickelungsge- 
schichte und Paläontologie bewerkstelligt. £^ bleibt 

((daher für alle, welche der Wunderglaube und die 
Unterwerfung unter die Annahme einer 0£Penbarung 
nicht beledigt, nichts übrig, als die Abstammungs- 
lehre. Dieselbe auf den Menschen anzuwenden, ist 
nicht gewagter, ist vielmehr ebenso innerlich noth- 
wendig, als wenn wir Zoologen danach irgendeinen 
bisher unbekannten Polypen, einen Seestern, eine Maus 
beurtheüen. Unsere Gegner verneinen das. Der Mensch 
habe Eigenschaften, welche ihn absolut vom Thier 
trennen und die Anwendbarkeit der Descendenzlehre, 
dieselbe überhaupt vorausgesetzt , in diesem einen Falle 
ausschliessen. Dieser sehr oft zu hörenden Behaup- 
tung setzen wir zunächst eine allgemeine Bemerkung, 
die Auffassung des menschlichen Wesens betreffend, 
entgegen. 

Man pflegt zu übersehen, dass man, ganz abgesehen 
von der Gültigkeit der Abstammungslehre oder von deren 
Existenz überhaupt, einer merkwürdigen Inconsequenz 
hinsichtlich des Begriffes der Menschheit sich schuldig ge- 
macht hat. Die Philosophie der Geschichte hat das Wesen 
der Menschheit in die Veränderlichkeit, nämlich in 
das Vermögen zum Fortschritt gesetzt. Wenn man 
aber irgendwelche untrennbare Abhängigkeit des Gei- 
stigen vom Körperlichen zugab, wie es, eine extreme 
spiritualistische Bichtung ausgenommen, geschah, so 
war doch die Vervollkommnung des Geistesvermögens 
des Mensclxengeschl echtes nicht denkbar ohne eine ge- 
wisse damit parallel laufenden Umbildung des körper- 
lichen Substrates, welche über die Grenzen der blossen 
Variabilität hinausging. Selbst unter der Voraussetzung, 
dass der Geist sein Organ, das Gehirn, sich selbst 
bilde , hätte man den speciflschen Begriff des Menschen 



Der Leib des Menschen. 267 

in die Fähigkeit auch zur körperlichen Yervollkomm- 
nung gegenüber der vermeintlichen Starrheit des thie- 
rischen Organismus setzen müssen. Denn im Princip 
ist es ja einerlei, ob Arme und Beine sichtbar, oder 
ob die Moleculen der Gehimsubstanz für das Auge un- 
sichtbar sich verändern. Wir holen also nur eine 
Yersäumniss der Philosophie nach, wenn wir der kör- 
perliclien Veränderlichkeit des Menschen diejenige Aus- 
dehnung zuerkennen, welche ihr aus der Anwendbar- 
keit der Bescendenzl^hre auf den besondem Fall 
zukommt. 

Die leibliche Uebereinstimmung zwischen 
Mensch und Thier lässt für die Abstammungslehre 
wenig zu wünschen übrig, sodass die Befürchtung des 
Mephistopheles , es möchte dem grübelnden Menschen 
am Ende noch vor seiner Gottähnlichkeit bange wer- 
den, viel eher auf die Thierähnlichkeit angewendet 
werden könnte. Der menschliche Leib , wie der jeden 
Thieres, weist in seiner Ausbildung auf ein Heraus- 
arbeiten aus der indifferenten zur specificirten Form. 
Und wenn die Gesammtanlage des Körpers, die £nt- 
wickelung der einzelnen Organe dem Menschen mit 
allen Säugern, und in den frühern Stadien des embryo- 
nalen Zustandes mit allen Wirbelthieren gemein ist 
und auf diese allgemeine Verwandtschaft fährt, so stellt 
uns das Vorhandensein einer kreisförmigen Placenta, 
insofern wir nicht eine besondere wiederholte Neu- 
schöpfung dieses Entwickelungsorganes belieben, wobei 
der Schöpfer sich an das Muster der Placenta der 
Halbaffen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und 
Affen gehalten hätte, vor die Alternative, dass ent- 
weder bei der natürlichen, uns unbekannten Fntwicke* 
lung des Menschen der Zufall oder eine ganz andere 
Kette von Ursachen zur kreisförmigen Placenta, wie 
dort, geführt habe, oder dass die Uebereinstimmung 
in der Blutsverwandtschaft mit den discoplacentalen 
Säugern ihren Grund habe. Wir haben oben (S. 253) 
unsere Bedenken ausgesprochen dagegen, dass man aus 



268 . Anatomischer Vergleich 

der oberflächlichen TJebereinstimmung der Placenta auf 
die Verwandtschaft von Säugethierordnungen mit Sicher- 
heit schliessen könne, haben nns daher hier, wo wir 
auf die TJebereinstimmung der menschlichen mit der 
Affenplacenta Gewicht legen, zu rechtfertigißn. Die 
obengenannten Ordnungen besitzen sämmtlich eine 
Placenta von geringerer Ausdehnung und scheibenför- 
miger Gestalt. In der Form dieser Scheibe und in der 
Vertheilung und Anzahl der Blutgefässe im Nabel- 
strange, wodurch die fötale Athmung und Ernährung 
vermittelt wird, kommen mancherlei Varietäten vor. 
So zerfallt in der Familie der pithecoiden Affen die 
Placenta in zwei Scheiben, während die Nabelstrang- 
:gefö.sse mit denen des Menschen übereinstimmen; bei 
den amerikanischen Affen dagegen ist die Placenta 
einfach und die Gefasse verhalten sich abweichend, 
lieber diese Organe beim Orang und Gorilla wissen 
wir nichts; aber der Schimpanse stimmt darin mit dem 
Menschen überein, dass er eine einfache scheibenför- 
mige Placenta hat mit zwei zuführenden Gefassen 
(2 arteriae umbilicales) und einem zurückführenden 
(vena umbilicalis). 

Bei allgemeiner Gleichförmigkeit der menschlichen 
Placenta mit derjenigen der discoplacentalen Säuger 
steht der Mensch speciell wenigstens einem der so- 
genannten anthropomorphen Affen näher, als dieser 
den übrigen Affen. Und so ist allerdings die Beschaffen- 
heit der Placenta von grosser Bedeutung für die Bex 
urtheilung der systematischen Stellung des Menschen. 
So ungeheuer unwahrscheinlich jener oben in Betracht 
gezogene Zufall, so wahrscheinlich, so einzig annehm- 
bar ist die Blutsverwandtschaft, und mit Berücksich- 
tigung der gesammten Organisation muss bei einer 
speciellen Vergleichung des Menschen mit den Säuge- 
thieren der Affe in den Vordergrund treten. 

Diese Vergleichung ist ausgezeichnet durchgeführt 
worden von Huxley und Broca.^^ Der letztere hat 
sich die Aufgabe gestellt, abgesehen von allem Prinr 



des Menschen mit dem Affen. 269. 

cipienstreit und unbekümmert um die Abstamiiiungs^ 
lehre, als rein beschreibender Anatom und Zoolog ?i\x 
untersuchen, ob die anatomische Beschaffenheit de£^ 
Menschen, verglichen mit derjenigen der Affen, nacl^ 
allgemeinen zoologiBchen Grundsätzen die Vereinigung, 
beider zu einer Ordnung — Primaten — rechtfertige, 
Huxley zeigt, dass dieanthropomorphen Affen (Gibbon, 
Schimpanse, Drang, Gorilla) von den niedrigen Affeu 
yiel mehr abweichen als vom Menschen, und dass, 
wenn man sich zur Annahme der Blutsverwandtschaft^ 
sämmtlicher Affen unter sich genöthigt sieht, die ge* 
meinsame Abstammung der anthropomorphen Affen und. 
des Menschen mindestens ebenso natürlich sei. 

Zwischen den Endgliedern der systematischen Affen- 
gruppen, z. B. zwischen den amerikanischen Sahuia 
und den altweltlichen Pavianen und den Anthropo- 
morphen, bestehen höchst erhebliche Differenzen, sowol 
in der Beschaffenheit der Gliedmassen und der andern 
Theilie des Skelets sammt der dazu gehörigen. Weich*, 
tfheile, namefntlich der Muskulatur, als in der Bezah* 
nung und Gehirnbildung. Es ist falsch, die Affen 
Yierhänder zu nennen, vielmehr tritt innerhalb der 
Ordnung der Affen der Gegensatz zwischen Hand und. 
Fuss in ihren wesentlichen anatomischen Attributen 
hervor, und hat bei den anthropomdrphen Affen, am 
entschiedensten beim Gorilla, fast dieselbe Ausprägung, 
wie beim Menschen. 

Der durch seine sorgfaltigen Schädelmessungen be- 
kannte Anatom Lucä will in der Stellung der Schädel- 
achse eine höchst wichtige Marke zwischen Menschen 
und Affen sehen. Bei den Affen nämlich liefen die 
drei, die Schädelachse bildenden Knochen, unteres Hin- 
terhauptsbein und die beiden Keilbeine, fast in einer 
Linie gestreckt, während beim Menschen eine doppelte 
Knickung dieser Achse eintritt; und zwar vergrössern 
sich mit dem Alter bei den Affen die Winkel, welche 
beim Menschen kleiner werden, und umgekehrt. Auch 
stellt sich das Hinterhauptsloch beim Menschen .mit 



270 Anatomischer Vergleich 

dem Alter horizontaler, beim Affen steiler. Allein 
das alles zeigt nur, was die Descendenzlehre behaup- 
tet, dass beide Reihen, Affe und Mensch, auseinander* 
gehen und die jugendlichen Individuen sich mehr 
gleichen als die alten, dass der Affe, indem er wächst, 
thierischer, der Mensch, wie schon das Rathsel der 
Sphinx andeutet, mensehlidier wird. Die Knickung des 
Grundbeineg und die horizontale Stellung des Hinter- 
hauptsloches hat den aufrechten Gang im Gefolge, 
womit die völlige Scheidung von Hand und Fuss sich 
vollzieht. Jene Knickung der Schädelachse mag daher 
immerhin als menschlicher Charakter den Affen gegen- 
über hervorgehoben, ein besonderer Ordnungscharakter 
kann daraus schwerlich abgeleitet werden, und zumal 
für die Abstammungsfrage scheint uns dieser Umstand 
nicht im geringsten entscheidend zu sein. 

Die anthropomorphen Affen stehen nicht nur in Be- 
ziehung auf Hand und Fuss, sondern auch auf G^biss 
und Gehimbildung dem Menschen viel näher als jenen 
niedrigen, den breitnasigen neuweltlichen Affen. Diese 
nämlich haben sechs Backzähne und ihr Gehirn zeigt 
die UnvoUkommenheiten des Gehirns der Halbaffen 
und der Nagethiere. Mit den Affen der Alten Welt 
haben dagegen die anthropomorphen Affen fünf Back- 
zähne, und jeder Theil des menschlichen Gehirns, bis 
auf den kleinen Pferdefuss, ist bei ihnen auch vor- 
handen. Der Streit um diesen unbedeutenden Hirn- 
theil , welchen B. Owen als ein ausschliesslich mensch- 
liches Merkmal ansprach, hat nur noch ein historisches 
Interesse, nachdem es mit dem hintern Home der 
seitlichen Himhöhlen durch eineBeihe der ausgezeich- 
netsten Anatomen bei Orang und Schimpanse nach- 
gewiesen ist. Und so bleiben für denjenigen, welcher 
von der Hoffnung auf specifische Unterschiede zwischen 
Menschen- und Affenhirn nicht lassen will, nur die 
an der Oberfläche des grossen Gehirnes befindlichen 
Furchen und Erhebungen, die sogenannten Gehirn- 
windungen übrig. Aber auch hier sucht man vergeblich 



des Menschen mit dem Affen. 271 

nach fundamentalen Unterschieden, wofern man niebt 
darauf das Hauptgewicht legen will, dass beim mensch- 
lichen Embryo die Faltung des Gehirns mid den Stirn- 
lappen, beim Affen mit den Schläfudappen beginnt* 
Die Constanten, allen menschlichei^ Gehirnen gemein- 
samen Hauptwindungen zeige» sich auch bei Drang 
und Schimpanse. Diese WiflAmgen verlieren sich, oder 
vielmehr sind unvoUkomiiMtier vorhaBden bei den, den 
Anthropomorphen nätt^ stehenden Affen, sie fehlen 
ganz bei den OuivCttis. So gross aber ist die Aehn- 
liebkeit der G^Ülimoberfläche der beiden genannten 
Affen mit dev des Menschen, dass es, wie Broca sagt, 
„des Auges eines geübten Anatomen bedarf, um nach 
Zeichnungen, welche auf dieselbe Ghrösse reducirt sind, 
ihr Hirn von meiMchlie)ien Hirnen zu unterscheiden — 
besonders wenn man zu Vergleichsobjecten Hirne von 
Negern oder Hottentotten nimmt, die einfacher sind 
als die der Weissen". Einen äussersten Versuch zur 
Bettung specifischer menschlicher Himcharakter machte 
der zu früh verstorbene pariser Anatom Gratiolet. 
Der Mensch sollte sich durch eine der sogenannten 
Uebergangsfalten unterscheiden. Diese Uebergangs- 
falten sind Windungen, durch welche d^r hintere Lap- 
pen des grossen Gehirns mit den vordem und seit- 
Hohen Theilen verbunden wird. Allein Broca hat sehr 
lichtvoll ausseinandergesetzt, dass es sich mit diesem 
wie mit den andern Merkmalen verhält-, und dass 
z. B. das Verhalten der Uebergangsfalten des Orang 
vielmehr denen des Menschen, als denen des Schimpanse 
gleicht, und dass überhaupt die vorhandenen Unter- 
schiede höchstens den Werth von Art- und Gattungs- 
charakterea haben können. 

Der Abstand zwischen den niedem und den höhern 
Affen ist weit grösser als zwischen letztern und dem 
Menschen, und wenn über die Blutsverwandtschaft der 
gesammten Affenheit nach darwinistischer Anschauung 
entschieden ist , so kann um so weniger über den ver- 
wandtschaftlichen Zusammenhang der altweltlichen Affen 



272 Anatomischer Vergleich 

mit dem Mensehen ein Zweifel sein. Die Form defit 
fertigen Schädels und des Gebisses, um diese Organe 
hervorzuheben, lassen aber den Gedanken gar nicht 
aufkommen , dass der Mensch seine unmittelbaren Ahn«n 
unter den jetzt lebenden Affen hätte. Der wohlfeile, 
mit vielem Behagen vorgebrachte Witz, warum man 
denn nicht das interessante Schauspiel der Umwand^ 
lung des Schimpanse in einen Menschen, oder des 
Menschen rückwärts durch Verkümmerung in einen 
Orang vor sich gehen sähe, zeugt von nidhts als der 
gröbsten Unwissenheit in Angelegenheit der Descen* 
dienzlehre. Sowenig als einer dieser Affen zum Zu- 
stande seiner Urvorfahren zurückkehrt, weil er sich 
seiner erworbenen und durch die Vererbung fixirten 
Eigenschaften nicht entäussem kann, es sei denn auf 
dem Wege der Verkümmerung — womit nichts weniger 
äIs ein Urzustand erlangt wird — : ebensowenig kann 
er über sich hinaus zum Menschen werden; denn der 
Mensch liegt eben nicht in gerader Entwickelungs- 
xichtung vor ihm. Die Entwickelung der menschen- 
ähnlichen Affen hat einen Gang genommen abseits von 
den nächsten menschlichen Vorfahren, und der Mensch 
kann ebenso wenig sich in einen Gorilla umformen, 
als ein Eichhörnchen sich in eine Ratte verwandeln 
wird. Der Affenverwandtschaft des Menschen wird 
daher kein Eintrat^ crethan durch die bestialische Stärke 
des Gebisses des ausgewaehsenen männlichen Orangs- 
oder Gorillas, durch die Leisten und Auftreibungen 
an den Schädeln dieser Thiere. Ein namhafter Zoo- 
log, einer der wenigen, welche beim alten Glauben 
geblieben, hat sich die unnütze Mühe gegeben, nach- 
zuweisen, dass der Orangschädel sich unmöglich in 
das Menschenhaupt umwandeln könne. Als ob je die 
Descendenzlehre solchen Unsinn behauptet hätte! Der 
knöcherne Schädel jener A«fen ist bei einem Extrem 
angelangt, vergleichbar dem des Hausrindes. Dieses 
Extrem tritt aber erst nach und nach im Verlaufe 
des Wachsthums hervor, und das Kalb weiss davon 



des Menschen mit dem Affen. 273 

noch wenig, sondern besitzt, wie wir schon oben er- 
wähnt, die Schädelgestalt der antilopenartigen Vor- 
fahren. In den heutigen Antilopen, auch noch bei den 
Ziegen und Schafen ist jene beim Kalbe vorübergehende 
Form stabil geblieben. Indem nun der jugendliche 
Schädel der anthropomorphen Affen unwiderleglich 
deutlich die Abkunft von Vorfahren mit einem wohl- 
geformtern, noch bildsamen Schädel und einem, dem 
menschlichen ganz nahe stehenden Gebiss zeigt, so 
hat bei ihnen die Umformung dieser Theile mit dem 
Gehirn, letzteres wegen des stabil gebliebenen geringen 
Volumens , einen sozusagen verhängnissvollen Weg 
eingeschlagen, während in dem menschlichen Zweige 
die Selection in der grössern Conservirung jener Schä- 
deleigenschaften wirkte. 

Hiermit fällt auch der noch jüngst von dem ehr- 
würdigen Karl Ernst v. Bär erhobene Einwurf, dass 
man sich nicht vorstellen könne, wie aus dem zum 
Klettern und Umfassen eingerichteten Fusse des Affen 
der zum platten Auftreten und Gange geschickte Men- 
8chenfus8 sich im Kampfe ums Basein habe entwickeln 
sollen, in sich zusammen. Die Anlage, die grosse 
Zehe den übrigen entgegenzusetzen, also zum Greif- 
fuss, ist bekanntlich auch dem Menschen eigen, und 
diese Anlage ist jedenfalls ererbt. Wie weit aber die 
Fähigkeit zum Klettern bei den Urahnen ausgebildet 
sein mochte, ist ebenso unbekannt, als diese Urahnen 
selbst. Es steht demnach die Geschicklichkeit der mei- 
sten heutigen Affen im Klettern mit dem Ungeschick 
des Menschen hierzu nur im entfernten Zusammen- 
hange, und kommen diese Eigenschaften bei der Be- 
urtheäung der Blutsverwandtschaft kaum in Betracht. 

Indem die Descendenzlehre einen gemeinschaftlichen 
Ursprung des Menschen und der menschenähnlichen 
Affen in logischer Schlussfolge fordert, weist sie, wie 
nochmals hervorzuheben eigentlich überflüssig , die un- 
verständige Forderung nach Zwischenformen zwischen 
Mensch und Gorilla zurück. Was künftige Zeiten 

Schmidt, Descendenzlehre. lg 



274 Wie der Mangel an fossilen 

yielleiclit noch entdecken, sind Zwischenformen, welche 
zu der gemeinschaftlichen Ausgangsform der heutigen 
Affen und des Menschen zurückgehen. Und so besteht- 
trotz der intimsten bisher besprochenen Beziehungen 
die Kluft, welche etwa in dem Yerhältniss des Ge- 
wichtes des niedrigsten bisher gemessenen Menschen- 
gehirnes zu dem des Gorillagehimes ihren Ausdruck 
findet. Das Gewicht eines, nach ihrer Stammesweise 
noch normal fungirenden Buschmannweibes betrugt 
872 Gramm (Cuvier's Gehirn wog 1629 Gramm), das 
eines Gorilla lässt sich nach der Capacität des Schä- 
dels - auf etwa 563 Gramm schätzen; das ergibt 
das ungeföhre Verhältniss von 3:2. Allein wie 
erhaben der Mensch in seiner Leiblichkeit sich 
über dem Thiere fühlen mag, auch hierin macht er 
für sich keine Ausnahme, insofern ja zahlreiche Thier- 
formen zu ihren unverkennbar nächsten Verwandten 
eine ebenso isolirte Stellung einnehmen. 

Werden wir an eine doppelte Schöpfung der Wir- 
belthiere denken, weil der Lanzettüsch jetzt um eine 
ganze Stufenleiter nicht mehr vorhandener Zwischen- 
formen von den Fischen absteht? Sehr lehrreich für 
unsem Fall ist unter anderm das Beispiel des Pferdes. 
Yergegenwärtigen wir uns^ dass diese Gattung sich in 
der Beschaffenheit der Gliedmassen und des Gebisses 
von allen jetzt lebenden Pflanzenfressern viel bedeu- 
tender unterscheidet, als der Mensch vom Affen. Hätte 
man die fossilen Hufthiere, welche den gemeinsamen 
Ursprung des Pferdes mit den Zwei- und Mehrhufern 
klarlegen, nicht gefunden, so würden wir gleichwol 
das Pferd für keine besondere Wunderschöpfung hal- 
ten, sondern seine wirkliche Verwandtschaft mit den 
übrigen Hufthieren unanfechtbar deduciren. Diese 
reine Deduction ist aber «deshalb nicht nöthig, weil 
die Vorfahren des Pferdes in ausgezeichneten Ueber- 
resten da sind und, wie wir früher sahen, schon vor 
einem halben Jahrhundert in R. Owen die Ueberzeu- 
gung von einer directen Verwandlung der dreizehigen 



Zwischenformen aufzufassen. 275 

Gattungen in die einzehige hervorriefen. Das Be- 
kanntwerden der dreizehigen Pferde ist ein Glücks- 
fall; sie waren in Theilen Europas heimisch, welche 
am fleissigsten für die Paläontologie blossgelegt und 
durchwühlt wuBden. 

Dass uns aber die fossilen Vorfahren des Menschen 
in den Museen noch fehlen, ist nicht auffallender als 
der bisherige Mangel der Zwischenformen, welche z. B. 
die Stellung des Dinotherium im System endgültig 
entscheiden würden. Auch auf den Elefanten weisen 
wir nochmals hin, der mit den ihm nächstverwandten 
Mastodon eine viel isolirtere, durch keine Fossile er- 
läuterte Stellung zu den andern Dickhäutern ein- 
nimmt, als der Mensch zu den Affen. Wir wollen damit 
erörtert haben, dass der Einwurf, der Mensch ver- 
rathe durch unüberbrückte Eigenthümlichkeiten -*■ auf- 
rechten Gang, relative Haarlosigkeit, Kinn, Ueber- 
gewicht des Gehirns u. a. — eine absolute Sonderstellung, 
für die vergleichende Anatomie und Paläontologie nicht 
besteht, und dass das Verlangen, die Anhänger der 
Descendenzlehre möchten doch die nothwendig einst 
vorhanden gewesenen Zwischenformen vorzeigen, nur 
von solchen Dilettanten erhoben werden kann, denen 
das Eeich des Lebendigen in seiner Ganzheit ein ver- 
schlossenes Buch geblieben. 

"Wie wir nun oben bemerkten, lässt man sich wol 
herbei, wie man sagt, die Leiblichkeit des Menschen 
der Naturforschung preiszugeben , um die andere Seite 
des Dualismus desto gewisser zu retten. Aber auch 
hierin lassen wir uns das Wort und eigenes Urtheil 
nicht nehmen. Die geistigen Kräfte des Menschen sind 
in ihrem Entstehen, Wachsen und Wirken der Natur- 
forschung auch zugänglich, und nur zu lange meinte 
die Psychologie der Physiologie entrathen zu können. 
Gehen wir also getrost an eine kurze Prüfung. 

Man gibt allgemein zu , dass eine gewisse Verwandt- 
schaft oder Analogie des seelischen Vermögens der 
höhern Thiere mit dem Menschen bestehe. Nur die 

18* 



276 Entwickelung der Vernunft. 

Vernunft', sagt man, der Inbegriff der Seelenthätig- 
keiten, womit der Mensch zum Selbstbewusstsein ge- 
langt und sich zum Abstracten erhebt, Begriffe com- 
binirt , namentlich religiöse , in Kunst und Wissenschaft 
lebt, diese Vernunft besitze das Thi^r nicht. Wir 
erwidern, dass allerdings diesen Grad der geistigen 
Entwickelung die Thiere nicht besitzen , ab«r auch der 
Mensch nicht auf niedern Entwickelungsstufen. 

Die Seele des neugeborenen Kindes ist in 
ihren Aeusserungen von der des jungen Thie- 
res gar nicht verschieden; ihre Aeusserungen sind 
Functionen des kindlichen Nervensystems; mit diesem 
wachsen sie und entwickeln sich zugleich mit der 
Sprache. Die Stufe, bis wohin im allgemeinen diese 
Entwickelung steigt, ist von den vorausgegangenen 
Generationen abhängig. Die Seelenfähigkeiten jedes 
Individuums tragen den Stammestypus an sich und 
sind durch die Gesetze der Vererbung bestimmt. Demi 
es ist einfach nicht wahr, dass unabhängig von Farbe 
und Abstammung jeder Mensch unter übrigens gleichen 
Bedingungen eine gleiche Höhe der geistigen Entwicke- 
lung erreichen könne. Man hält uns, um diese priu- 
cipielle Gleichheit der Menschheit zu beweisen, ein- 
zelne Beispiele begabter Neger und Indianer vor. 
Allein diese haben ungezählte Generationen, geübt in 
vielfacher Industrie, gewandt in einem, wenn auch 
einseitigen Menschenverkehr, hinter sich; und wenn 
man diese seltenen Phänomene gründlich untersucht, 
80 bleiben sie doch hinter den Durclischnittsindividueti 
d!er vorgeschrittenen Kassen zurück. Nun macht aller- 
dings in jeder Rasse jedes Individuum die untern Stu- 
fen der Leiter geistiger Entwickelung durch, welche, 
durchaus analog den anatomischen Entwickelungä- 
gesetzen, allgemeine Geltung haben, während nach 
oben die psychologischen Sonderheiten der Rasse zur 
Geltung kommen. In der Menschheit aber ist es wie 
im Individuum: sie hat sich im Verlaufe der Zeit die 



Geistiger Fortschritt, 277 

hohem Geistesfähigkeiten eiTungen, die wir in der 
Vernunft zusammenfassen. 

Die Geschichte zeigt, wie niemand leugnet, einen 
geistigen Fortschritt, aber nur bei Völkern, 
welch« an der Geschichte selbst sich betheiligt haben, 
und nur so lange, als diese Betheiligung und die Uebung 
der Geistesorgane stattfand. Es "gibt aber auch nie- 
drige Menschenrassen, wir können sie auch Menschen- 
arten nennen, die sich zu den andern ähnlich ver- 
halten, wie niedrige Thiere zu höhern. Man könnte 
sogar die Menschengattung damit charakterisiren, dass 
ihre Arten so ganz ausserordentlich verschiedene Stufen 
des Geisteszustandes einnehmen. Wir lassen uns durch 
die gegentheiligen Behauptungen von Missionaren und 
andern Menschenfreunden, durch das Reden von Men- 
schenwürde und Gottähnlichkeit nicht irremachen, 
auch nicht auf die noch zu erwartende Entwickelung 
aller bisjetzt zurückgebliebenen Völker vertrösten. 
Selbstverständlich ist es zwar aus der Descendenz- 
und Selectionstheorie , dass viele der gegenwärtig in 
geistiger Hinsicht tief zurückstehenden Stämme es 
künftig viel weiter gebracht haben werden. Für an- 
dere aber, wenn wir die Ethnographie und Anthropo- 
logie der Naturvölker nicht vom Standpunkt des Phi- 
lanthropen und Missionars, sondern des kühlen und 
nüchternen Naturforschers betrachten , ist infolge ihres, 
von den allgemeinen Entwickelungsverhältnissen ge- 
regelten Zurückbleibens das Unterliegen im Kampfe 
um das Dasein der natürliche Verlauf der Dinge. 

Wenn wir den geistigen Zustand der Menschheit 
untersuchen und mit den Seelenfähigkeiten der Thiere 
vergleichen , so dürfen wir nicht den europäischen oder 
indischen Durchschnittsmenschen zum Massstab nehmen, 
sondern jene Austral- und Papuastämme, die zum 
Theil auch körperlich auf einer Stufe zurückgeblieben 
sind, welcher die übrigen begünstigten längst in vor- 
historischen Zeiten entwuchsen. Allerdings machen viele 
es sich leicht, indem sie, von einer egalisirenden 



278 Geistiger Fortschritt. 

Menschenwürde, wie von einem nicht weiter zu be- 
gründenden Dogma überzeugt, für alle jene tief unten 
gebliebenen Rassen die Redensart bereit haben, man 
könne nicht zweifeln, dass sie aus einer einst reichern 
Geistesentwickelung zurückgebildet und zur Barbarei 
herabgesunken seien. Allein, wenn man diese Mög- 
lichkeit für einzelne Stämme, wie die Feuerländer, 
zugeben könnte, für die andern, z. B. die Australier, 
mangelt jeder wirkliche Beweis dieses ehemaligen men- 
schenwürdigem Zustandes. 

Die höhern geistigen Vorzüge, welche den Menschen 
vom Thiere trennen sollen, ^ehen sich um etwa fol- 
gende Punkte. 

Der Mensch allein, heisst es, sei entwickelungsfähig 
oder fortschrittsfahig. Specifisch menschlich ist aller 
durch die menschliche .Sprache — denn auch viele 
Thiere besitzen die Gabe der Mittheilung — bedingte 
und vermittelte Fortschritt. Wenn wir uns aber den 
Menschen nicht als von Ewigkeit her fortschreitend 
denken wollen, so fragt es sich, wie der Anfang die- 
ses Fortschrittes beschaffen war, und so reducirt sich 
die ganze fundamentale Angelegenheit auf die Frage 
nach dem Ursprung der Sprache. Wir kommen darauf 
zurück. Fortschritt im allgemeinen ist aber auch dem 
Thiere nicht abzusprechen. Wer kann in Abrede stel- 
len, dass einzelne Hunderassen, deren Abstammung 
von stupiden Schakalen und Wölfen so gut wie sicher, 
sich geistig hoch über diese Vorfahren erhoben haben? 
Wer kann zweifeln, nachdem er die reichhaltigen Un- 
tersuchungen von H. Müller, dem Bruder unsers Fritz 
Müller, gelesen, dass die Honigbiene, indem sie all- 
mählich ihre körperlichen Vorzüge und Eigenthümlich- 
keiten erreichte, auch die ihrem feiner und detaillirter 
organisirten Gehirn entsprechenden hohem Geisteskräfte 
entwickelte. Der Mensch, das ist unser, vorbehalt- 
lich der Sprachfrage, aufzustellender Satz, ist nur 
durch den Grad und das Mittel des Fort- 
schrittes von vielen Thieren verschieden. Es 



Freier Wille. Gewissen. 279 

ist nämlich unwissenschaftlich, hierhei abstract Mensch- 
iieit und Thierheit gegenüberzustellen. 

Der Mensch allein, wird weiter behauptet, hat 
freien Willen. Insofern der höher entwickelte Mensch 
nach philosophischen, sittlichen und religiösen Grund- 
sätzen handelt, welche er der Erziehung und Unter- 
weisung verdankt, insofern er Ideale fassen und ihnen 
nachstreben kann bei geistiger und körperlicher indi- 
vidueller Befähigung, mag man dieses Gebiet des 
Willens gern zugeben, obschon wir wissen, dass auch 
diese „Freiheit" das Gesammtresultat natürlicher Ur- 
sachen ist. Je einfacher und einförmiger aber die 
Lebensbedingungen, desto mehr verlieren die Hand- 
lungen des Menschen den Anschein und den Charakter 
der Freibeit, und desto mehr handelt das Individuum 
nur im Stammeswillen , ich möchte sagen , im Heerden- 
willen, das heisst instinctiv. Es handelt alsdann nicht 
einmal mit der staunenswerthen Ueberlegung, mit wel- 
scher einzelne glücklich organisirte Thierindividuen oder 
alle Individuen einzelner Arten sich in scheinbar ganz 
freiem Willen die Umstände zu Nutze machen. Der 
freie Wille des ethisch erhobenen Menschen 
ist kein Gemeingut aller Menschen. 

Der Mensch allein, und alle Menschen sollen ein 
■Gewissen haben. Wir meinen dagegen, dass das Ge- 
wissen, welches bekanntlich auch in den civilisirtesten 
Staaten vielen Individuen total abhanden kommt, über- 
haupt gleich dem sittlichen Willen ein Erziehungs- 
resultat einzelner Eassen und Stämme sei. 
Furcht, nach schlechter That ertappt zu werden, ist 
kein Gewissen; und dass wohlerzogene Hunde Regun- 
gen der Gewissensscham haben, welche hoch über der 
thierischen Furcht wilder Kannibalen nach vollbrachter 
Tödtung ihrer Mitmenschen stehen, kann unmöglich 
geleugnet werden. Die Belege hierzu sind überreich 
in dem anthropologischen Sammelwerke von Waitz 
Aufgespeichert. 

Auch dass ein Gottesbewusstsein Grund- 



280 I>er Gottesbegriff 

eigenthum aller Menschen, stellen wir in Ab- 
rede. Es ist eben wiederum eine feststehende Phrase, 
dass auch die rohesten Völkerschaften von einem, wenn 
auch dunkeln Gefühle und Drange nach dem unbekann- 
ten Gotte geleitet würden. Diese Annahme ist so alt, 
als der bekannte Versuch des Beweises vom Dasein 
Gottes: „De quo omnium natura consentit, id verum 
esse necesse est." (Worin alle in angeborener Weise 
übereinstimmen, das muss wahr sein.) Wie oft ist 
diese ciceronische Sentenz gedankenlos nachgesagt wor- 
den! Es ist aber dieser Gottesbegriff ebenso wenig 
angeboren, als die Unterscheidung von gut und böse 
durch das Gewissen. Andere behaupten das Gegen- 
theil. So sagt Gerland von den Australiern®': „Nir- 
gends zeigt sich die Behauptung, dass der adstralische 
Bildungszustand auf eine höhere Stufe hinweist, klarer 
wie hier (im religiösen Gebiet), wo alles einzelne wie 
verhallende Stimmen aus früherer reicherer Zeit her- 
überschallt, wir aber keineswegs den Eindruck er- 
halten , als hätten wir es mit Halbentwickeltem , Stehen- 
gebliebenem zu thun. Daher ist denn diese Ansicht, 
die Australier hätten keine Spur von Religion oder 
Mythologie, eine durchaus falsche. Aber freilich ist 
diese Beligion ganz ausgeartet, ganz zu Grunde ge- 
gangen in wilder, zusammenhangsloser, oft unglaublich 
abgeschmackter Dämonologie, in abergläubischer Ge- 
spensterfurcht." 

Wenn aber wenige Zeilen später in dem citirten 
Werke mitgetheilt wird, dass die Eingeborenen west- 
lich der Liverpoolkette alles in der Natur, was sie 
sich nicht selber erklären können, auf „Devil-Devil" 
zurückführen, und dass dies offenbar nur ein aus dem 
Englischen devil (Teufel) abgeleiteter Name einer Gott- 
heit sei, welche allerdings nicht mehr deutlich vor- 
gestellt würde, so dürfen wir wol von der Seichtigkeit 
dieses Beweises für die Annahme eines ehemaligen, 
nun aber in Vergessenheit gerathenen hohem Stande 
Punktes auf die übrigen Fälle schliessen. Wir haben 



ist nicht allgemein. 281 

weit mehr Veranlassung, diesen niedrigen Stand der 
geistigen Entwickelung mit der körperlichen in Ein- 
klang zu finden, wenn wir hören, dass die Eingebo- 
renen des Vincentgolfes und der Umgebung von Adelaide 
eine sehr starke Behaarung haben, und dass selbst 
das braun gefärbte Flaumhaar der Kinder so reichlich 
und lang ist, dass die Haut fünf bis sechsjähriger Jun- 
gen ein fellartiges Aussehen annimmt. Aller Erfah- 
rung und Geschichte entgegen sollen wir aber glauben ^*, 
dass die Bewohner des australischen Nordens die ur- 
sprünglichsten seien, denn — „sie sind, wie die ge- 
bildetsten, so auch körperlich und geistig am besten 
entwickelt, sie die allein sesshaften; und jedenfalls ist 
die Annahme leichter und naturgemässer , dass die 
übrigen Eingeborenen bei ihren ewigen Wanderzügen 
verkommen sind, als dass jene, durch das bequemere 
Land fixirt, sich gehoben hätten". 

Das heisst das, was man bisher Anthropologie ge- 
nannt, auf den Kopf stellen. Uebrigens gibt es sogar 
recht vorgeschrittene Völkerschaften ohne Gottesbewusst- 
sein. Schweinfurt erzählt, dass die Niam-Niam, jenes 
höchst interessante innerafrikanische Zwergvolk, ein 
Wort für Gott nicht haben , also wol auch den Begriff 
nicht; und Moritz Wagner hat eine ganze Auswahl 
von Nachrichten über den Mangel religiösen Bewusst- 
eeins niedriger Völker gegeben. ^' Wenn trotzdem 
allen diesen Bekräftigungen immer wieder entgegen- 
gesetzt wird, dass sich doch auch bei den niedrigsten 
Wilden irgendweich dunkles Gefühl von höhern Mäch- 
ten manifestire, so kommt der Streit schliesslich auf 
eine Silbenstecherei hinaus, welche für die Descendenz- 
lehre weiter kein Interesse hat. 

Und doch können wir diesen Gegenstand nicht ver- 
lassen, ohne noch eine zwar allbekannte, aber in die-« 
sem Zusammenhange auffallenderweise noch nicht be- 
i)utzte Thatsache zu berühren, welche, wie es scheint, 
allein hinreicht, um die Behauptung 2u entkräften, 
dass der Gottesbegriff der menschlichen Natur immanent 



282 I>ie Sprache 

«ei. Wir meinen die Thatsache, dase viele Millionen 
aus den gebildetsten Völkern, und darunter die aus- 
gezeichnetsten, klarsten Denker, den persönlichen Grott 
nicht in ihrem Bewusstsein finden, die Millionen, als deren 
Sprecher der heldenmüthige David Strauss aufgetreten, 
indem er Ulrich's von Hütten, seines Lieblings, Devise 
zur seinigen machte : Ich hab^s gewagt — Jacta est alea! 
Aber die Sprache?! Alle Sprachforscher der neuern 
Zeit stimmen darin überein, dass die Sprachen sich 
entwickeln, und dass höchst wahrscheinlich alle Sprach- 
familien drei Stufen durchmachen. Auf derjenigen der 
isolirenden Sprachen sind alle Wörter Wurzeln, und 
diese werden blos nebeneinander gestellt. Auf der 
zweiten Stufe, der der agglutinirenden Sprachen, de- 
finirt eine Wurzel die andere, und es wird die defi- 
nirende Wurzel schliesslich blos determinirendes Ele- 
ment. Endlich in den flectirenden Sprachen wird das 
determinirende Element, dessen determinirende Bedeu- 
tung längst aus dem Volksbewusstsein geschwunden, 
mit dem formellen zu einem Ganzen vereinigt. Wie 
gesagt, diese Entwicklung, in welcher auch die Rück- 
bildung ausgedehnt sich geltend macht, wird allgemein 
zugegeben. Allein über die Entstehung des Sprach- 
materials, welches als „Wurzeln" den Scharfsinn der 
Forscher herausfordert, weichen die Ansichten ab. 
Eine grosse Autorität, Max Müller^*, sieht in dem 
Vorhandensein der Wurzeln den Beweis der absoluten 
Trennung des Menschen vom Thier. Während Locke 
sagt, der Mensch unterscheide sich vom Thier dadurch, 
dass er allgemeine Begriffe bilden könne, müsse der 
Sprachforscher sagen, die menschliche Sprache unter- 
scheide sich von der thierischen Fähigkeit zu Mitthei- 
lungen dadurch, dass sie Wurzeln bilde. Alle Wörter 
auf Nachahmungs - und Ausrufungslaute zurückzuführen, 
sei unzulässig, da man vielmehr am häufigsten auf 
Wurzeln von fester Form und allgemeiner Bedeutung 
komme, die an sich unerklärbar seien. In dem Vor- 
handensein dieser fertigen Wurzeln, vor welchen die 



entwickelt sich. 283 

Sprachforschung rathlos stehen bleibe, sei ein unüber- 
steigliches Hinderniss, den Menschen als Glied in der 
allgemeinen Entwickelung der Organismen aufzufassen. 

Abgesehen von diesem Punkte gibt der berühmte 
Gelehrte natürlich alle jene Erscheinungen der Ver- 
erbung, der Erwerbung, der Verkümmerung zu, die 
in den Sprachgesetzen sich aussprechen und ihre voll- 
kommensten Analogien in unserer Descendenzlehre fin- 
den. Wenn wir z. B. das Zend mit dem Sanskrit 
vergleichen, gewisse Worte desselben erklären hören, 
8o werden wir durchaus an die rudimentären Organe 
und ihre Deutung erinnert. Eine Menge von Anoma- 
lien sind gleich den in der Gegenwart isolirt stehenden 
Organismen uralte, ganz eigens normale Ueberbleibsel 
und Zeugen vergangener Sprachperioden. Kurz, bis 
ins einzelnste hinein stösst man in der Sprachforschung 
auf Uebereinstimmung und Analogie mit der Lehre der 
Abstammung der Organismen. Und da sollen wir vor 
dem Ursprung der Sprache als vor einem Unbegreif- 
lichen, Unerforschlichen halt machen?! 

Das thun denn auch die meisten Sprachvergleicher 
der Gegenwart nicht. Wenn Max Müller die Wurzeln 
„phonetische Grundtypen" nennt, „die durch eine der 
menschlichen Natur innewohnende Kraft hervorgebracht 
werden", wenn nach ihm der Mensch „in einem voll- 
kommenem Zustande das Vermögen besessen haben 
soll, den vernünftigen Conceptionen seines Geistes einen 
bessern, feiner articulirten Ausdruck zu geben", so 
bezeichnet der geniale Lazarus Geiger®^ die Annahme 
eines jetzt erloschenen Vermögens zur Sprachbildung 
und die damit zusammenhängende von einem vollkom- 
menem Urzustände als eine Zuflucht zum Unbegreif- 
lichen und eine Eückkehr auf einen mystischen Stand- 
punkt. Denn das Unbegriffene ist nicht das Unbegreif- 
liche. Es ist nicht unsere Sache, Partei zu nehmen 
für Geiger, der die Gesichtswahrnehmungen beim Her* 
vorrufen der Worte wesentlich betheiligt sein lässt, 
oder für Bleek, G. Curtius, Schleicher, Steinthal und 



284 Mit der Sprachentwickelung 

so viele andere, welche der Schalhiachahmung den 
ersten Platz in der Spracherweckung einräumen. So- 
viel steht jedoch fest, dass der Standpunkt Max 
MüUer's zwar sehr vielen, welche nicht selbst Kritik 
üben, ein sehr bequemer zum Nachbeten ist, aber 
ein vereinsamter innerhalb der Wissenschaft, und dass 
die Ueberzahl der Autoritäten auf diesem der Natur- 
forschung so innig verwachsenen Gebiete sich aus 
sprachvergleichenden und sprachphilosophischen Grün- 
den zu dem Schlüsse genöthigt sah, dass aus dem 
vernunftlosen Urzlistande menschenähnliche 
Wesen allmählich zu Menschen wurden, indem 
mit der Sprache, einem Werke von vielen 
Jahrtausenden, die Vernunft sich einfand. 

Schon 1851, als es von der Descendenzlehre noch 
ganz still war, sagt Steinthal ^®: „Indem Sprache wird, 
entsteht Geist." Zehn Jahre nach Darwin's Auftreten 
schreibt Geiger: „Die Sprache hat die Vernunft ge- 
schafiFen; vor ihr war der Mensch vernunftlos." Ihm 
und allen, welche den mystischen Standpunkt über- 
wunden, ist die Menschheit „eine in der Entstehung 
und Enfaltung ihres Sonderwesens aus der - Thierheit 
heraustretende Gattung". Und dieser Schluss ist 
nicht entlehnt, wie die Orthodoxie und Reaction gern 
der Menge aufbinden, ist nicht entlehnt dem Dar- 
winismus, sondern von der Sprachforschung 
auf ihrem eigenen Wege, aber mit naturwis- 
senschaftlicher Methode deduoirt. Es sei nur 
angedeutet, wie Geiger an vielen Beispielen historisch 
nachweist, dass „langsame Entwickelung , der Hervor- 
tritt des Gegensatzes aus unmerklichen Abweichungen 
die Ursache ist, dass dasselbe Wort verschiedene Be- 
deutung erlangt", dass also Sprachschöpfung auf die- 
sem Process beruht, nirgends katastrophisch eintritt; 
dass die sogenannten Lautgesetze Läutgewohnheiten 
sind, dass die Sonderbedeutung, die ein Ijaut im 'Laufe 
der Zeiten schliesslich erlangt hat, immer ein Resultat 



wird die Vernunft entwickelt. 285 

des blossen Zufalles, oder mit anderm Worte der Ent- 
wickelung ist, » 

Diese Sclilussfolgerung der Sprachforschung 
bestätigt mithin in vollkommenster Weise 
das Resultat der Naturforschung. Und wer sich 
die Mühe gibt, den Gang der Sprachwissenschaft zu 
verfolgen, wird sich, wie gesagt, überzeugen, wie ihre 
Vertreter, etwa Bleek, Schleicher und Friedrich Müller 
ausgenommen, den Einfluss der Descendenzlehre eher 
abzuschwächen als anzuerkennen bestrebt sind. Um 
so höher schlagen wir es an, und der mächtigste Ein- 
wurf gegen die Einbeziehung des Menschen in das grosse 
Entwickelungsgesetz ist damit beseitigt. 

Das übrige ist Nebensache und Ausführung. Die 
oft ventilirte, jetzt eigentlich abgeschmackte Frag«, 
^b die Menschheit von ein«m oder mehrern Paaren 
abstamme, erledigt sich damit, dass aus den tliieri' 
sehen Vorfahren der Stamm, in welchem später die 
Sprache zum Durchbruch kam, sich natürlich allmäh- 
lich absonderte, und dass die zur Sprache und Vet- 
Hunft führende Zuchtwahl in grössern Individuen- 
gemeinschaften vor sich gehen musste. Näher an den 
Begriff der biblischen Einheit des Menschengeschlechts 
würde man gelangen , wenn alle Sprachstämme auf eine 
Quelle zurückwiesen, Liesse sich aber zeigen, dass 
gewisse "Sprachstämme auf unbedingt unvereinbare Wur- 
zeln führten, so würde die Natur forschung ihr Jawort 
zu der nothwendigen Folgerung geben können, dass 
an verschiedenen Stellen der Erde Sprachen entstan- 
den, mit andern Worten, dass das Auseinandergehen 
in Arten früher stattfand, als die Zuchtwahl auf dem 
Punkt der Sprachbildung angekommen. Der letztere 
Fall ist der bei weitem wahrscheinlichere, wird sogar 
von den nieisten mit dieser Frage beschäftigten Sprach- 
forschern als der einzig mögliche angenommen und 
am nachdrücklichsten von Friedrich Müller vertreten. ®^ 
„Der Mensch", sagt er, „war damals, als es nur Ras- 
sen und keine Völker gab , ein sprachloses , der geistigen, 



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Stammbaam der Menschenrassen. 287 

auf der Sprachthätigkeit beruhenden Entwickelung noch 
völlig ermangelndes Wesen. Zu dieser Annahme wer- 
den wir, abgesehen von den entwickelten naturhisto- 
rischen Voraussetzungen, durch die Betrachtung der 
Sprachen selbst gedrängt. Die verschiedenen Sprach- 
stämme nämlich, auf welche die Wissenschaft die* 
Sprachen zurückzuführen im. Stande ist, setzen nicht 
nur bei den verschiedenen Rassen vermöge ihrer tota- 
len Verschiedenheit in Form und Stoff mehrere von- 
einander unabhängige . Ursprünge voraus, sondern sie 
weisen selbst innerhalb einer und derselben Rasse auf 
mehrere voneinander unabhängige Ursprungspunkte hin." 
Wir theilen den nebenstehenden Stammbaum, in wel- 
chem sich Friedrich Müller eng an den Entwurf HaeckeFs. 
anschliesst, mit, um dem Leser eine Vorstellung zu 
geben, wie man sich allenfalls den Zusammenhang der 
Völkerfamilien zu denken habe. Es ist in demselben 
von Menschenarten und Menschenrassen die 
Rede, wobei die Arten als nicht mehr existirend be- 
trachtet und die gegenwärtigen Menschenformen blos 
als Rassen unterschieden werden. Wir wollen hierüber 
nicht viele Worte machen, da es sich, bei Licht be- 
sehen , nur um Worte h'andelt. Der Mensch bildet in 
der Ordnung der Primaten Eine Familie und reprä- 
sentirt sie jedenfalls nur durch Eine Gattung. Ob man 
nun die Neger, Kaukasier, Papuas, Amerikaner u. s. w. 
Arten oder Rassen nennt, ist fast gleichgültig. Die 
Leichtigkeit der Kreuzungen der verschiedenen Men- 
schen würde für den Rassencharakter sprechen; d& 
aber die Kreuzung der Arten durchaus nicht principiell 
von der Rassenkreuzung verschieden, und da zu den 
körperlichen, in Farbe, Haar^ Schädel, Extremitäten 
und andern Merkmalen sich aussprechenden Verschie- 
denheiten auch die so tief gehenden Sprachunterschiede 
kommen, so erscheint uns die Zertheilung der Men- 
schengattung in Arten, welche in viele Rassen ausein- 
andergehen, doch mehr naturgemäss. Es ist aber 
schliesslich, wie bei der Artfrage überhaupt, das in- 



288 Sprachen innerhalb der Rasse. 

dividuelle Gefühl des einzelnen entscheidend. Ob es 
ein glücklicher Griff gewesen, die Stellung der Haare, 
in einzelnen Büscheln oder gleichmässig über die Kopf- 
haut vertheilt , sowie weiterhin ihre auf dem Querschnitt 
mehr platte und ovale oder kreisrunde Form, endlich 
die Neigung sich zu locken oder straff und schlicht zu 
bleiben, der Eintheilung des Menschengeschlechtes z\l 
Grunde zu legen, muss die Zukunft lehren. 

Die zwölf in der obigen Stammtafel aufgeführten 
Kassen sind nach naturhistorischen Merkmalen zu kenn- 
zeichnen, und da innerhalb der am besten bekannten 
Kassen sich Sprachen und Sprachfamilien ünden, welche 
einen gemeinschaftlichen Ursprung ausschliessen , so 
folgt daraus, dass die Sprachbildimg erst begonnen, 
nachdem der noch sprachlose Urmensch in Kassen aus- 
einander gegangen war. Alle Zeitrechnung für geolo- 
gische Perioden und Urgeschichte sind zwar höchst 
trügerisch, dennoch wollen wir uns eine Schätzung 
gefallen lassen, welche Friedrich Müller für die Ent- 
wickelung der Sprachen innerhalb der mittelländischen 
Kasse angestellt hat. Die Sprachstämme innerhalb der, 
vorzugsweise das Becken des Mittelmeeres umwohnen- 
den Völker sind : Baskisch , ' kaukasische Sprachen, 
hamito-semitische Sprachen, indo-germanische Sprachen. 
„Die Sprachen aller dieser vier Stämme", sagt Müller, 
„sind, wie von den competentesten Sprachforschern 
allgemein angenommen wird, miteinander nicht ver- 
wandt. Wenn wir nun sehen, dass die mittelländische 
Rasse vier miteinander in keinem verwandtschaftlichen 
Verhältnisse stehende Volksstamme umfasst, so liegt 
der Schluss nahe, dass, nachdem man jede Sprache 
auf eine Gesellschaft zurückführen muss, die eine 
Rasse nach und nach in vier Gesellschaften zerfiel, 
deren jede selbständig ihre Sprache sich schuf. Eine 
weitere Folgerung ist die, dass der Kasse als solcher 
keine Sprache zukommt, indem ja, wenn dies der Fall 
wäre, Rasse und Sprache sich gegenwärtig decken 
müssten, was nicht der Fall ist. 



Alter der Menschheit. 289 

,,Wir müssen also annehmen, dass dem Menschen 
damals, als die verschiedenen Völker der mittelländi- 
schen Rasse eine Einheit bildeten, damals, wo der 
Mensch keinem Volke, sondern nur einer Rasse an- 
gehörte, die Sprache noch gänzlich gefehlt habe." 
Müller hält annähernd 3000 Jahre für hinreichend für 
den Zeitraum von dein Auseinandergehen der Rasse in 
noch sprachlose Gesellschaften bis zu dem Zeitpunkt, 
wo sie durch Sprachen geschiedene und charakterisirte 
Völker bildeten, eine Zahl, welche manchem als 
viel zu gering geschätzt scheinen dürfte. Wenn man 
nun ferner an das alte Culturvolk der Aegypter an- 
knüpft und die Zeit seiner muthmasslichen Wanderung 
aus Asien veranschlagt, so „erscheint wenigstens das 
Jahr 6500 vor Beginn unserer Zeitrechnung als jener 
Zeitpunkt, wo wir von einem hamito-semitischen Ur- 
volk im Norden Europas reden können". Es bestand 
also'bereits vor 12000 Jahren eine mittelländische Rasse, 
Welche Zeit aber nöthig war, den Urmenschen in die 
Rassen sich scheiden zu lassen, liegt völlig ausser Be- 
rechnung, und dies um so mehr, als nicht die ge« 
ringsten Spuren von ihm bisjetzt gefunden worden 
sind. 

Mit dem allgemeinen Nachweis der Geologie, dass 
die Perioden der Erdschichte unmerklich ineinander 
übergingen, und dass insbesondere von den Tertiär- 
zeiten durch die Diluvialperiode in die Gegenwart die 
Continuität nur local unterbrochen wurde, hat die 
ehemals für cardinal geltende Frage nach dem „fossi- 
len Menschen" ein anderes Aussehen erhalten. In 
Europa hat der Mensch mit dem für uns, weil sie 
ausgestorben, „fossilen" Mammuth und dem Rhinoce- 
ros mit knöcherner Nasenscheidewand (Elephas primi- 
genius, Rhinoceros tichorhinus) zusammen gelebt. Es 
ist behauptet worden, schon in der obertertiären Zeit, 
habe der europäische Mensch existirt, allein die Be- 
weise dafür sind anfechtbar. Was man von üeber- 

ScHmDT, Descend^nzlehre. |9 



290 Alter der Menschheit. 

Pesten jener ältesten, uns bekannt gewordenen Men- 
schen hat, zeigt eine hohe Entwickelung und gehört 
unbedingt der Periode an, wo der Mensch schon in 
der Sprache das Werkzeug gefunden hatte , die Schlacken 
seiner niedrigen Herkunft allmählich abzustreifen. Mag 
der Urmensch einst noch gefunden werden oder nicht, 
über diese Herkunft ist entschieden. 



X 



Belege und Citate. 

1 Luthardt, Apologetische Vorträge, 7. Vortrag, S. 129. 

2 Philosophia qu aerit, theologia invenit , religio possidet 
veritaiein^ 

» l'agefelatt der Naturforscher - Versammlung in Leipzig, 
1872, S. 12. Die Rede ist auch im Sonderdruck erschienen. 

* A. Fick, Physiologie, 1860. 

* Wer «ich tiefer über das Problem der Empfindung aus, 
einer allgemeinen Ureigenschaft der constituirenden Elementer 
der Materie unterrichten will, ist auf das höchst klare und 
interessante Werk zu verweisen: „Das ünbewusste vom 
Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie" (Berlin 
1872). Anonym erschienen. 

* L. Geiger, Ueber den Ursprung der Sprache (Stuttgart 
1869), S. 207. 

^ Rollet, Ueber Elementartheile und Gewebe und deren 
Unterscheidung. Rollet, Untersuchungen etc., 1871. 

« Karl Ernst v. Bär, Ueber Entwickelungsge schichte der 
Thiere. Beobachtung und Reflexion, 1828. 

» A. a. 0., I, 223. 

10 A. a. 0., I, 230 fg. 

11 Credner, Elemente der Geologie, 1872, S. 353. 

12 Agassiz, Essay on Classification, 1858. „It exhibits every- 
where the working of the same creative Mind through all 
times änd upon the whole surface of the globe." 

1^ Rütimeyer, Beiträge zur Kenntniss der fossilen Pferde. 
Verhandlung der naturforschenden Gesellschaft in Ba^el, 
1868, m, 642. 

1* Die Stellen sind aus einer Gelegenheitsrede: Oratio de 
tellure habitabili, welche in den Amoenitates academicae 
enthalten ist. „Initio rerum ex omni specie viventium uni- 
cum sexus par fuisse creatum, suadet ratio." 

19* 



292 Belege und Citato. 

* ' A. a; 0. : „Non multam a veritate me aberraturum con- 
iido, si dixerim, omnem continentem terram fuisse in infan- 
tia mundi aquis submersam et vaeto oceano obtectam , prae- 
ter unicam in immensö hoc pelago insulain , in qua commode 
habitaverint animalia omnia etvegetabilialaete germinaverint." 

1* „Tot numeramus species, quot ab initio creavit infini- 
tum ens." 

1^ E. GeoflProy St.-Hilaire schrieb an Cuvier: „Venez 
jouer parmi nous le role de Linne, d'un autre legislateur de 
l'histoire naturelle." 

18 Ossements fossiles. 

1^ L. Agassiz, An Essay on classiiication, 1859, S. 253.: 

„Äs representatives ofSpecieSf individual animals bear the 
dosest relations to one another; they exhibit definite rela- 
tions also to the surrounding element and their existence 
is limited within a definite period. 

„Ä8 representatives of Genera, these same individuals have 
a definite and specific ultimate structure , identical with that 
of the representatives of other species etc. — Dazu S. 261 : 

„Branches or tffpes, are characterized by the plan of their 
structure ; 

„Classes, by the manner in which that plan is executed, 
as far as ways and means are concered; 

„ Orders, by the degrees of complication of that structure ; 

„FamüieSf by their form, as far as determined by structure ; 

„Genera, by the details of the execution in special parts; and 

,j Species, by the relations of individuals to one anotber 
and to the world in which they live, as well as by the pro- 
portions of their parts, their ornamentation etc." 

^® Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen (Ber- 
lin 1866), II, 323 fg. , 

*i L^espece est — „la reunion des individues descendant 
Tun de rautre et des parents conununs, et de ceux qui 
leur ressemblent autant qu'ils se ressemblent entr'eux". 
Cuvier, Le regne animal. 

*2 0. Schmidt, Die Spongien der Küste von Algier, 1868, 
und Versuch einer Spongienfauna des atlantischen Gebietes, 
1870. 

^* Haeckel, Die Kalkschwämme. Eine Monographie in 
zwei Bänden Text und einem Atlas mit 60 Tafeln Abbil- 
dungen (Berlin 1872). 

** Hilgendorf , lieber Planorbis multiformis im Steinheimer 
Süsswasserkalk. Monatsbericht der Berliner Akademie aus 
dem Jahre 1866, S- 474 fg- 

*5 Waagen, Die Formenreihe des Ammonites «lubradiatus^ 
Beneke's Beiträge, 1869, Bd. 2. 



Belege und Citate. 293 

Zittel, Die Fauna der altern Oephalopoden führenden 
Tithonbildungen. Paläontologische Mittheilungen, 1870. 

Neumayr, Jurastudien. Jahrbuch der geologischen Reichs- 
anstalt 1871. 

L. Würtenberger , Neuer Beitrag zum geologischen Be- 
weise der Darwin'schen Theorie („Ausland", 1873). 

** Darwin, Das Variiren der Pflanzen ulid Thiere im Zu- 
stande der Domestication. Uebersetzt von Carus (Stuttgart 
1868). — Unsere Citate beziehen sich auf diese Ausgabe. 

** L. Oken, Die Zeugung, 1805. Lehrbuch der Natur- 
philosophie, 1809—11, 3 Thle. 

** Ich entlehne die folgende Darstellung meinem Essay: 
„"War Goethe ein DaTwinianer?" Gratz, Leuschner und Lu- 
binsky, 1871. 

Dazu ein anderes Schriftchen von mir: „Goethe's Verhält- 
niss zu den organischen Naturwissenschaften'* (Berlin 
1852). 

Zu den im Text mitgetheilten Stellen, welche Goethe als 
Darwinianer erscheinen lassen könnten, sei noch folgende 
aus Eckermann's „Gespräche mit Goethe" mitgetheilt (3. Aufl., 
S. 191): „So hat der Mensch in seinem Schädel zwei un- 
ausgefüllte hohle Stellen. Die Frage warum? würde hier 
nicht weit reichen, wogegen aber die Frage wie? mich be- 
lehrt, dass diese Höhlen Reste des thierischen 
Schädels sind, die sich bei solchen geringern Or- 
ganisationen in stärkerm Masse befinden, und die 
öich beim Menschen, trotz seiner Höhe, noch nicht 
ganz verloren haben." 

'® Ein etwas abschätziges Urtheil über Goethe's Bedeutung 
auf iinserm Felde fallt V. Carus in seiner „Geschichte der 
Zoologie" (München 1872). Der Leser möge vergleichen: 
„Wie wenig ihm trotz seiner wiederholten Beschäftigung mit 
Anatomie ein wirklicher Einblick in den gesetzmässigen Bau 
der Thiere gelungen war, beweist seine Einleitung in die 
vergleichende Anatomie. Er findet hier keinen andern Weg, 
zwischen dem trockenen Detail der beschreibenden Anato- 
mie und der ihm unbestimmt vorschwebenden Morphologie 
zu vermitteln, als die Idee eines Urtypus för die Thiere 
anzudeuten, welchen er aber weder detiniren, noch durch 
allgemeinere Andeutungen einigermassen anschaulich machen 
kann. Seiner ganzen Eigenheit nach war ihm ein solcher 
Typus Bedürfniss , aber nicht wissenschaftliches , sondern 
ästhetisches u. s. w." S. 590. 

'* R. Owen hat sich über seine Stellung zur Descendenz- 
lehre im Schlussheft seines „Lehrbuches der vergleichenden 
Anatomie der Wirbelthiere" ausgesprochen. Dasselbe ist 



294 Belege und Citate. 

separatim ausgegeben u. d. T.: ,,Deri7ative hypothesis of 
life and species", 1868. 

•^ A. a. 0. „ — such cause being the seryant of predeter- 
mining intelligent will.'' 

** )^o one can enter the saddling ground at £p8om be- 
fore the start for the Derby, without feeling, that the 
glossy-coated, proudly-stepping creatnres led out before him 
are the most perfect and beautiful of quadrupeds. As such, 
I believe the Horse to have been predestined and prepared 
for Man." A. a. 0., S. 11. 

'' „I deem an innate tendency to derivate from parental 
type, operating throi^h periods of adequate duration, to 
be the most probable nature or way «oi Operation of the 
secondary law, whereby species have been derived one from 
the other." A. a. 0., S. 22. 

3* Lamark, Philosophie zoologique (Paris 1809). Im Text 
sind folgende Stellen berücksichtigt: 

„Aussi l'on peut assurer que, parmi ses productions la 
nature n'a reellement forme ni classes, ni ordres, ni £amille8, 
ni especes constantes, mais seulement des individus qui se 
suocedent les uns aux autres, et qui ressemblent ä ceux qui 
les ont produits. Or, ces individus appartiennent a des 
raoes innniment diversifiees, qui se nuancent sous toutes 
les formes et dans tous les degres d'organisation, et qui 
chacune se conservent sans mutation, tant qu^aucune cause 
de changement n'agit sur eUes." I, 22. 

„La supposition presque generalement admise, que les corps 
vivans constituent des especes constamment distinctes par 
des caracteres invariables, et que Fexistence de ces especes 
est aussi ancienne que celle de la nature mSme, fai etablie 
dans un temps, oü Ton n'avait pas suffisamment observe, et 
oü les Sciences naturelles etaient a peu pres nulles. £lle 
est tous les jours dementie aux yeux de ceux, qui ont beau- 
coup vu et qui ont lonff-temps suivi la nature." I, 54. 

,,Le8 especes n'ont reellement qu'une constance relative ä 
la duree des circonstances dans lesquelles se sont trouves 
tous les individus qui les representent." I, 5ö. 

„ — les considerations etc.. nous fönt voir: 

„1) Que tous les corps organises de notre globe sont de 
veritables productions de la nature , qu'elle a successivement 
executees a la suite de beaucoup de temps; 

„2) Que dans sa marche la nature a commence, et recom- 
mence encore tous les jours, par former les corps organises 
les plus simples et qu'elle ne forme directement que ceux- 
lä, c'est ä-dire que ces premieres ebauches de Torganisation^ 
qu'on a designees par Texpression de generations spontanees i 



Belege und Citate. 295 

„3) Que les premieres ebauches de l'animal et du vegetal 
«tant formöes dans les lieux et les oirconstances convenables, 
lea fticult^s d'une vie coinmen§anie et d'un mouvement or* 
^anique etabli ont necesöairemönt developpe peu ä peu les 
organes, et qu'avec le temps elles les ont diversifies ainsi 
que les parties ; 

„4) Que la faculte d'accroissement dans chaque portion du 
Corps organise etant ittherente aux premiers effets de la vie, 
eile a donne Heu aux diff^rens modes de multiplication et 
de regenerations des individus ; et que par lä les progres 
acquis dans la composition de l'organisation et dans la forme 
-et la diversite des parties , ont ete conserves ; 

„5) Qu'ä l'aide d*un temps süffisant, des circonstances, qui 
ont ete necessairement favorables, des changemens que tous 
les point» de la öurface du globe ont successivement subis 
dans lettr 6tat, en un mot, du pouroif qu'ont les nouyelles 
situations et les nouvelles habitudes pour modifier les or- 
ganes des Corps doues de la vie, tous ceux qui existent 
maintenant ont ete insensiblement formes tels que nous les 
voyons ; 

„6) Enfin, que d'apres un ordre semblable de choses, les 
Corps vivants ayant eprouve chacun des changemens plus 
on moins grands dans l'etat de leur Organisation et de leurs 
parties, ce qu'on nomme espece parmi eux a ete insensible- 
ment et successivement ainsi forme, n'a qu'une constance 
relative dans son etat, et ne peut ^tre aussi ancien que la 
nature.*' I, 65 fg. 

„La Progression dans la composition de Porganisation subit, 
^ä et lä, dans la serie generale des animaux des anomalies 
operees par Tinfluence des circonstances d'habitation, et par 
Celle des habitudes contractees." I, 135. 

„i)ans tout animal qui n'a point depasse le terme de ses 
developpemens , l'emploi plus frequent ei routine d'utt Or- 
gane quelconque, fortifie peu ä peu cet organe, le deve- 
loppe, l'agrandit, et lui donne une puissance proportionnee 
ä la duree de cet emploi; tandis que le defaut constant 
d'uÄrtg'c de tel organe l'affaiblit insensiblement, le d^eriore, 
diminue progreftaivement ses facultes et finit par le fai-re 
disparaitre. 

,^Tout ce que' la nature a fait acquerir ou perdre aux in- 
dividus par Finfluence des circonstances oü leur race se 
trouve depuis long-temps exposee, et, par conseqüent, par 
Tinfluence de l'emploi predominant de tel organe ou par 
Celle d'un defaut constant d'usage de teile partie, eile le 
conserve par getieration aux nouveaux indi\adus, qui en 
^oriennent." I, 285. 



296 Belege und Citate. 

„La volonte dependant toujours d'un jugement quelcon- 
que, n'est Jamals veritablement libre; car le jugement qui y 
donne lieu, est, comme le quotient d'une Operation arith- 
metique, un resultat necessaire de l'ensemble des elemen» 
qui Tont forme." I, 342. 

„Les animaux contractent, pour satisfaire a cea besoins^ 
diverses sortes d'habitudes, qui se transforment en eux en 
autant de penchans, auxquels ils ne peuvent resister et 
quHls ne peuvent changer eux-memes. De lä l'origine de 
leurs actions habituelles et de leurs inclinations particulieres, 
auxquelles on a donne le nom dUnstinct. Ce penchant des ani- 
maux ä la conservation des habitudes et au renouvellement 
des actions qui en proviennent, etant une fois acquis, se 
propage ensuite dans les individus, par la voie de la repro- 
duction ou de la generation, qui conserve l'organisation et 
la disposition des parties dans leur etat obtenu; en sorte 
que ce meme penchant existe deja dans les nouveaux indir 
vidus, avant meme qu'ils l'aient exerce." I, 325. 

Zu der 1873 in Paris bei Savy erschienenen zweiten Auflage 
der „Philosophie zoologique" hat der ausgezeichnete Pro- 
fessor in Montpellier , Charles Martins , eine vorzügliche 
Lebensbeschreibung und Würdigung Lamark's als Einleitung 
gegeben. 

'* Der scharfsinnige Verfasser des Werkes: „Das ünbe- 
wusste" (s. Note 3), definirt im wesentlichen den Instinct 
nicht anders als'Lamark: „In diesem Sinne kann man sagen, 
jeder Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter In- 
stanz ererbte Gewohnheit, und das Sprichwort: Gewohn- 
heit ist die zweite Natur — erhält dadurch die unerwartet© 
Ergänzung, dass die Gewohnheit zugleich auch das Prius und 
der Ursprung der ersten Natur, d. h. des Instincts ist» 
Denn immer ist es die Gewohnheit, d. h. die häufige Wie- 
derholung der nämlichen Function, was die gleichviel wie 
hervorgerufene Handlungsweise den Centralorganen des Ner* 
vensystems so fest eingräbt , dass die so entstandene Prädis- 
position vererbungsfahig wird. A. a. 0., S. 182. 

®* Die wichtigste Lehre, welche Lyell mit seiner reichen 
Erfahrung begründet, ist ebenfalls von Lamark in der „Phi- 
losophie zoologique" klar und bündig ausgesprochen: „Si 
Von considere, d'une part, que dans tout ce que la nature 
opere, eile ne fait rien brusquement, et que partout eile 
agit avec lenteur et par degres successifs, et de l'autre part,. 
que les causes particulieres ou locales des desordres, dea 
bouleversemens , des deplacemens etc. peuvent rendre rai- 
son de tout ce que l'on observe ä la surface de notre globe, 
et sont neanmoins assujetties ä ses lois et ä sa marphi^ 



Belege und Citate. 297 

generale, on reconnaitra, qu'il n'est nuUement necessaire de 
supposer qu'une catastropne universelle est venue culbuter 
et detruire une grande partie des Operations memes de la 
nature." I, 80. 

2^ Principles of Geologie. 

88 Sowol im Jahre 1870 als 1872 stellte die Majorität der 
iranzösischen Akademie Darwin dieses Zeugniss aus. Der 
wiederholte Vorschlag, ihn zum Mitglied zu wählen, fiel 
durch, allerdings nicht ohne dass Männer wie Lacaze -Duthiers, 
Milne - Edwards und Quatrefages den wissenschaftlichen 
Richtern den Standpunkt klar machten. 

^® Wir citiren folgende Uebersetzungon und Auflagen von 
V. Carus: üeber die Entstehung der Arten durch natür- 
liche Zu<;htwahl, oder die Erhaltung der begünstigten Ras- 
aen im Kampfe ums Dasein (5. Aufl., 1872). 
Die übrigen hierher gehörigen Werke sind: 
Das Yariiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der 
Domestication (oben Note 26). 

Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche 
Zuchtwahl (2, Aufl., 1871). 

Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem 
Menschen imd den Thieren, 1872. 

*® Malthus (1798) untersucht die Bedingungen der Zu- und 
Abnahme und des Gedeihens der menschlichen Bevölkerung. 
Er findet, dass die Zunahme der Bevölkerung nothwendiger- 
weise beschränkt ist durch die Subsistenzmittel , und dass das 
Wachsthum im Verhältniss zu den Subsistenzmitteln zu- 
nimmt, abgesehen von einigen besondem und leicht zu ent- 
deckenden Hindernissen. Diese Hindemisse, welche die 
Bevölkerung noch immer unter dem von den Subsistenz- 
mitteln gewährten Masse zurückhalten, sind der moralische 
Zwang, das Laster und das U^lück. Malthus schildert den 
Kampf ums Dasein, ohne das Wort auszusprechen; er weist 
nach, dass die Träume von zukünftiger seliger Gleichheit 
der gesammten Menschheit auf der zu einem grossen Garten 
umgestalteten Erde auf Täuschungen beruhen. Jedes Indi- 
viduum muss vielmehr in unermüdlicher Thätigkeit sein, um 
seine Lage zu verbessern. Aus den Erfahrungen der Thier- 
züchter und Gärtner weiss er, dass Thiere und Pflanzen 
verbessert und veredelt werden können, und zwar durch 
Zuchtwahl. Von einer organischen Veredlung des Men- 
schengeschlechts im ganzen sei nichts zu merken, auch 
könnte das Menschengeschlecht nicht anders veredelt wer- 
den, ale indem man die weniger vollkommenen Individuen 
zur Ehelosigkeit verdammte. 
Es sind wol diese und ähnliche Gedanken des Werkes 



298 Belege und Citate. 

von Malthus, durch welche Darwin, wie er angibt, zu seiner 
Theorie angeregt wurde. 

*i Das Variiren, II, 252. 

** Sehr lehrreich in Bezug auf die Artfrage sind auch die 
Abhandlungen von A. Kemer: „Gute und schlechte Arten" 
(Innsbruck 1866), und „Die Abhängigkeit der Pflanzenwelt 
von Klima und Boden. Ein Beitrag zur Lehre von der Ent- 
stehung und Verbreitung der Arten, gestützt auf die Ver- 
wandtschaftsverhältnisse, geographische Verbreitung und 
Geschichte der Cytisusarten aus dem Stamme Tubocytisus 
D. C", 1869. Eine vorzügliche Untersuchung über Ver- 
änderlichkeit, Anpassung und Artbildung ist endlich Kemer's 
neueste Schrift: „Die öchutJttttittel des Pollens" (Innsbruck 
1873). 

*' Die Mittheilung in der „Entst^ung der Arten" (5. Aufl., 
Kap. 3; nach der 6. engl. Aufl.). 

** Ebend., S. 96. 

** Ebend., S. 141. 

** S. 7. Die folgenden Seiten enthalten eine Zusammen- 
fassung der Einwürfe über die Unzulänglichkeit derSelections- 
theorie. 

*^ Moritz Wagner, Die Darwin'sche Theorie und das Mi- 
grationsgesetz der Organismen, 1868. Hierzu 48 u. 49. 

** August Weismann, Ueber den Einfluss der Isolirung 
auf die Artbildung, 1872. 

** Nägeli, Entstehung und Begriff der naturhistorischen 
Art (Sitzungsberichte der bairischen Akademie der Wissen- 
schaften), 1865. Die neuem Untersuchungen Nägeli's (Sitzungs^ 
berichte der mathematisch-physikalischen Klasse der Münchner 
Akademie, 1872, S. 305) bestätigen die Descendenzlehre. Er 
weist nach, dass die Geselligkeit nahe verwandter Arten und 
ihrer Varietäten für die Speoiesbildung sich förderlicher er- 
weisen als die Isolirung. „Die in Gesellschaft beisaniitien- 
lebenden Formen — gewisser Alpenpflanzen — haben sich 
mit Rücksicht auf ihre Merkmale gleichsam gegenseitig ge-* 
modelt, sie zeigen, um mieh so auszudrücken, einen tipe- 
cifischen Gesellschaftstypus, der für jede Gesell- 
schaft, somit für jede Gegend ein anderer ist. 
Diese Thatsache zeigt unwiderleglich, dass die Formen, 
seit sie beisammenwohnen, sich verändert haben. 

„Ihr speciflscher Gresellschaftstypus besteht darin , dass sie 
in gewissen Merkmalen eine bemerkcnswerthe Uebereinstim- 
mung zeigen, während sie in andern Merkmalen Extreme 
darsteilen und darin zuweilen über alle in andei*n Gegenden 
vorkommende Verwandte hinausgehen. 

„Aus ^diesen Thatsachen ergibt sich unzweifelhaft, dass 



Belege und Citate. 29 & 

die Bewegung in den coenob^tischen (d. i. gesellschaftlich 
lebenden) Formen eine divergirende ist. Denn in ihnen 
sind extreme Merkmale entwickelt, während die eremitischen 
Formen in ihren Merkmalen ihre mittlem Bildungen dar- 
stellen/^ 

Nägeli weist nach, dass und in welcher Weise bei Alpen- 
pflanzen seit der Eiszeit eine Veränderung stattgefunden hat. 

^^' J. Broca, L'ordre des primates. Parallele anatomique 
de rhomme et des singes, 1870. 

^^ Abstammung des Menschen, S. 132. 

*2 Der Inhalt von Professor Max MüUer's: „Three lectures 
■ou Mr. Darwin^s Philosophy on language" liegt uns im Mo- 
ment, wo wir dies schreiben, leider nur in unvollständigen 
Referaten der Tagesblätter und dem Programm mit Inhalts- 
ang^abe vor. 

^3 Zöllner, Ueber die Natur der Kometen (1. Aufl., S. 305). 

^* Zur weitern Information des Lesers wollen wir über 
die vor unserm Verstände sich sehr einfach erledigende 
Angelegenheit des Uranfanges des Lebens noch einen Phi- 
losophen und einen Naturforscher reden lassen. Es handelt 
sich um Hypothesen über das Werden. In der kritischen 
Beleuchtung der Philosophie des Unbewussten (7) heisst 
es S. 22: „Die Philosophie des Unbewussten sagt S. 558: 
Es ist wahrscheinlich, dass vor der Entstehung der ersten 
Organismen schon organische Verbindungen niederer Stufen 
vorhanden gewesen seien, welche sich (S. 556) unter dem 
Einflüsse einer feuchten und sehr kohlensäurereichen Atmo- 
sphäre, sowie der höhern Wärme, des Lichtes und starker 
elektrischer Einflüsse gebildet hatten. Eignet man sich 
diese Voraussetzungen an und fugt die Betrachtung hinzu, 
dass, wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen ein- 
mal, wie doch nothwendig, stattfanden, sie wol auch durch 
ansehnliche geologische Zeiträume hindurch bestanden, so 
ist in der That die Folgerung nicht zu umgehen, dass im 
Laufe der Zeit und im Wechsel der Umstände diese organi- 
schen Stoffe in zahllose Combinationen zueinander treten. 
Unter diesen zahllosen Anordnungsweisen, Gruppirungen und 
Verbindungen musste der bei weitem grösste Theil auf der 
Stufe der unorganischen Form stehenbleiben, weil er nicht 
die zu einer solchen nothwendige chemische Zusammen- 
setzung und physikalischen Eigenschaften erlangte; ein sehr 
viel kleinerer Theil der aus diesen Combinationen organi- 
scher Materie hervorgegangenen Resultate mochte vielleicht 
vorübergehend sich der organischen Form nähern, oder 
auch wirklich in dieselbe eintreten, dabei aber nicht die 
zur langem Behauptung derselben erforderliche Beschaffen- 



300 Belege und Citate. 

heit besitzen; ein dritter noeh kleinerer Theil vermochte 
etwa für sich selbst diese Form im Wechsel des Stofifes so 
lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die ungefähre Lebens- 
dauer der primitivsten Protistenarten beträgt, entbehrte aber 
derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und Fort- 
pflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben 
des Individuums erhalten; ein vierter Theil mochte sowoi 
die zur Selbsterhaltung als die zur Gattungserhaltung nothwen- 
digen Eigenschaften besitzen, entbehrte aber jener eigen« 
thümlichen Tendenz, abzuändern («Philosophie des Unbewuss- 
ten», S. 591) oder doch jener Tendenz, in der bestimmten 
Richtung abzuändern, welche allein zur Entwickelung in 
höhere Formen führen konnte; ein fünfter Theil endlich ber 
sass auch diese Eigenschaft zu den übrigen. Die Nachkom- 
inen der vierten und fünften Klasse unserer Unterscheidung 
sind es, welche noch heute Meer und Erde bevölkern * : von 
welcher Art von Moneren die Fortentwickelung zu Infusorien 
ausgegangen ist, ob von einer der jetzt noch lebenden, oder 
von einer untergegangenen Art, davon wissen wir noch 
nichts; das aber schon können wir als sicher annehmen, 
dass die Mehrzahl der Protisten, die wir heute noch kennen, 
zu jener entwickelungsunfahigen vierten Klasse gehören. 
Die ephemeren Schöpfungen unserer zweiten und dritten 
Klasse konnten natürlich nur so lange ihren Bestand als 
Arten gesichert sehen, als die günstigen Bedingungen ihrer 
stets erneuten Urzeugung fortdauerten; die erste Klasse aber 
würde vom teleologischen Standpunkt aus als die der gänz- 
lich mislungenen Schöpfungsversuche zu bezeichnen sein.^^ 

Diese und ähnliche mehr oder minder ansprechende Phan- 
tasien, auf die wir gar kein besonderes Gewicht legen, schö- 
pfen insgesammt aus HaeckePs Hypothese der Autogonie 
(„Generelle Morphologie der Organismen", I, 179 fg.), die 
er nach seinen schönen Entdeckungen über die jetzt existi^ 
renden einfachsten Organismen, die Moneren und andere 
Protisten, aufstellte. Wir heben daraus folgende Stelle her- 
vor: „Zweifelsohne haben wir uns den Act der Autogonie, 
der ersten spontanen Entstehung einfachster Organismen, 
ganz ähnlich zu denken, wie den Act der Krystallisation. 
In einer Flüssigkeit, welche die den Organismus zusammen- 
setzenden chemischen Elemente gelöst enthält, bilden sich 
infolge bestimmter Bewegungen der verschiedenen Moleculen 
gegeneinander bestimmte Anziehungsmittelpunkte, in denen 



* Einfacher und wahrscheinlicher ist wol die Erklärung, dass diese 
niedrigen Organismen deshalb noch existiren, weil Platz für sie ist. Sie 
hleiben übrig trotz der Differenzirung und infolge der Differenzirung. 



Belege und Citate. 301 

Atome der organogenen Elemente (Kohlenstoff, Sauerstoff, 
Wasserstoff, Stickstoff) in so innige Berührung miteinander 
treten, dass sie sich zur Bildung complexer ternärer und 
quateruärer Moleculen vereinigen. Diese erste organische 
Atomgruppe, vielleicht ein Eiweissmolecule, wirkt nun, gleich 
dem analogen Kemkrystall, anziehend auf die gleichartigen 
Atome, welche in der umgebenden Mutterlauge gelöst sind, 
und welche nun gleichfalls zur Bildung gleicher Moleculen 
zusammentreten. Hierdurch wächst das Eiweisskörnchen und 
gestaltet sich zu einem homogenen organischen Individuum, 
einem structurfosen Moner oder Plasmaklumpen, gleich 
einer Protamoebe u. s. w. Dieses Moner neigt, vermöge der 
leichten Zerlegbarkeit seiner Substanz, beständig zur Auf- 
lösung seiner eben erst consolidirten Individualität hin, ver- 
mag aber, indem die beständig überwiegende Aufnahme 
neuer Substanz vermöge der Imbibition (Ernährung) das 
Uebergewicht über die Zersetzungsneigung gewinnt, durch 
Stoffwechsel sich am Leben zu erhalten. Das homogene or- 

f panische Individuum oder Moner wächst nur so lange durch 
utussusception , bis die Attractionskraft des Centrums nicht 
mehr ausreicht, die ganze Masse zusammenzuhalten. Es 
bilden sich, infolge der überwiegenden Divergenzbewegungen 
der Moleculen nach verschiedenen Richtungen hin , nun in dem 
homogenen Plasma zwei oder mehrere neue Anziehungsmit- 
telpunkte, die nun ihrerseits anziehend auf die individuelle 
Substanz des einfachen Moners wirken und dadurch seine 
Theilung, seinen Zerfall in zwei oder mehrere Stücke her- 
beiführen (Fortpflanzung). Jedes Theilstück rundet sich 
alsbald wieder zu einem selbständigen Eiweissindividuum 
oder Plasmaklumpen ab, und es beginnt nun das ewige Spiel 
der Anziehung und Abstossung der Moleculen von neuem, 
welches die Erscheinungen des Stoffwechsels oder der Er- 
nährung und der Fortpflanzung vermittelt.*' 

Haeckel hat ferner, gestützt auf die bekannten Eigenthüm- 
lichkeiten der chemischen Verbindungen des Kohlenstoffes, 
diesem in seinen Vorstellungen über die erste Entwicklung 
des Lebens und der physiologischen Erscheinungen der nie- 
drigsten Organismen die wichtigste Rolle angewiesen. Dies 
ist die bei seinen Gegnern so berüchtigte „Kohlenstofftheorie." 
Die Geister würden sich weniger darüber erhitzen, wenn man 
aich gegenwärtig halten wollte , dass durch eine Widerlegung 
dieses, wie Haeckel sagt, „gewagten Versuches", der Vorstellung 
des Geschehens zu Hülfe zu kommen, an der zwingenden logi- 
schen Nothwendigkeit der Anerkennung der Erweckung des 
Lebens auf natürlichem "Wege nicht ein Haar geändert wird. 
Die Gründe gegen die „Kohlenstofftheorie" sind unter anderm 



302 Belege und Citate. 

entwickelt von Preyer: „üeher die Erforschung des Lebens'^ 
JJena 1873). Es wird geltend gemacht, dass der Kohlenstoff 
in seinen jetzigen terrestrischen Zuständen fast ausschliess- 
lich auf organischen Ursprung führe und bisjetzt keine ge- 
nügende Kohlenstoft'quelle für die erste Bildung lebender 
Körper auf der Erde nachgewiesen sei. 

** A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed.. London 
1872), und 

Contributions to the theory of natural selection (2d ed., 1871). 

*® „Die Hypothese der Pangenesis, wie sie auf die ver- 
schiedenen grossen Klassen von Thatsachen, wie sie jetzt 
erörtert wurden, angewendet wird, ist ohne Zweifel äusserst 
complicirt. Aber sicher sind es auch die Thatsachen. Die 
Annahme indessen, auf deiiien die Hypothese ruht, kann man 
nicht als in irgendeinem extremen Grad complicirt ansehen^ 
nämlich dass alle organischen Einheiten ausser dem Yer- 
mögen, was allgemein zugegeben wird, durch Selbsttheilung 
zu wachsen, noch die Fähigkeit haben, zahlreiche äusserst 
kleine Atome ihres Inhalts, d. h. Keimohen abzuwerfen. 
Diese vervielfältigen und verbinden sich zu Knospen und 
den Sexualelementen. Ihre Entwickelung hängt von der 
Vereinigung mit andern in der Entstehung begriffenen Zellen 
oder Einheiten ab; und sie sind einer üeberlieferung im 
schlummernden Zustande auf später folgende Generationen 
fähig. In einem hoch organisirten und complicirten Thiere 
müssen die von jeder verschiedenen Zelle oder Einheit durch 
den ganzen Körper abgeworfenen Keimchen unbegreiflich 
zahlreich und klein sein. Jede Einheit eines jeden Theiles 
muss, wie er sich während der Entwickelung verändert (und 
wir wissen, dass manche Insekten mindesten zwanzig Meta- 
morphosen erleiden), ihre Keimchen abgeben. Üebei3ies er- 
halten alle organischen Wesen viele von ihren Grossältern 
und noch entferntem Vorfahren, aber nicht von allen ihren 
Vorfahren herrührende schlummernde Keimchen. Diese fast 
unendlich zahlreichen und kleinen Keimchen müssen in jeder 
Knospe, in jedem Ei, Spermatozoon und Pollenkom einge- 
schlossen sein. Eine solche Annahme wird für unmöglich 
erklärt werden, aber Zahl und Grösse sind nur relative 
Schwierigkeiten, und die von gewissen Thieren und Pflanzen 
producirten Eier oder Samen sind so zahlreich, dass sie 
vom Verstand nicht erfasst werden können." — Darwin, Das 
Variiren, H, 526. 

^^ A. Rollet, lieber die Erscheinungsformen des Lebens 
und den beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges. Ahna- 
ziach der kais. Akademie der Wissenschaften (Wien 1B72). 

*8 Darwin, Das Variiren, I, 247. 



Belege und Citate. 



303^ 



^ V. Graber, Ueber den Tonapparat der Locustiden, ein 
Beitrag zum Darwinismus, Zeitschrift fwr wissenschaftliefae 
Zoologie, Bd. 22. 

*o Hermann v. Nathusius, Vorstudien für öechiohte und 
Zucht der Hausthiere, zunächst am Schweineschädel,, 1^64. 

«' Ebendaselbst, S. 108. 

®2 Abstammung des Menschen, S. 367. 

*3 Entstehung der Arten, S. 153. 

^^ Lamark hat am Schluss seiner „Philosophie Zoologiqne^^ 
auch schon einen Stammbaum construirt, in dem er die 
Mehrzahl der Klassen unterbringt, während er dem Best einen, 
andern Ausgangspunkt anweist. Er nimmt daher zwei durch 
Urzeugung entstandene Urformen für das Thierreich an. Er 
entwirft also folgendes 

TaMeftm 
servant ä montrer l'origine des difiPerents animaux.: 

Vers Infusoires 

" * * ^ Polypes 

* * * Badiaires 



Annelides 

Cirripedes 

Mollusques 



Insectes 

Arachnides 

Crustacees 



Poissons 
Beptiles 



« « 

« « 

^ « 



Oiseaux 



Monotremes 



Mammales amphibiens. 



« 
* * 



M, cetaces 



Mammales onguicules 



M. ongules 



304 Belege und Citate. 

Eine Vei^leichung dieses Stammbaums mit dem, welchen 
wir heute aufstellen, ist höchst interessant und zeigt den 
Fortschritt unserer Kenntnisse. 

** „Zum Streit über den Dan^'inismus. " Augsburger 
Allgemeine Zeitung, 1873, Nr. 130. 

•• Die vorläufige, kurze Mittheilung in : „Revue scienti- 
fique" (Paris 1873), Nr- 37. 

•' Braun, lieber die Bedeutung der Entwickelung m der 
Naturgeschichte (Berlin 1872). 

„Das Pflanzenreich zeigt uns: 

„I. Gewächse, welche in ihrer vegetativen Entwickelung der 
Stufe des Pflanzenkeimes die erste ungeschlechtliche Gene« 
ration in meist thallusartiger Ausbildung darstellen (Keim- 
pflanzen, Bryophyten, wozu die Thallophyten der Autoren; 
nebst den Characeen und Moosen); 

„II. Gewächse, bei welchen die erste Generation transito- 
risch ist und erst die zweite sich zum vegetativen, blatt- 
bildenden Pflanzenstock entwickelt, jedoch ohne bis zur 
Blütenpflanze fortzuschreiten (Stockpflanzen, Cormophyten, 
wozu die Farm u. s. w.); 

„III. Gewächse, bei welchen die Metamorphose bis zur Bil- 
dung einer Blüte fortschreitet, jedoch ohne die letzte For- 
mation, die der Fruchtblattbildung zu erreichen (Blüten- 
pflanzen ohne wahre Früchte, gymnospermischeAnthophyten); 

„IV. Gewächse , welche in einer wahren Fruchtbildung den 
letzten und höchsten Abschluss vegetabilischer Entwickelung 
erreichen (angiospermische Anthophyten, wozu Monocoty- 
ledonen und Dicotyledonen als untergeordnete Abstufungen)." 

*^ Da wir in diesem Abschnitte die individuelle Entwicke- 
lung in Beziehung auf die allgemeine historische Entwicke- 
lung besprochen, müssen wir hier wol auch der sonderbaren 
Oeffnerschaft gedenken, welche der Descendenzlehre in 
KöTliker erwachsen ist. Derselbe hat seine Ansichten in sei- 
ner „Monographie der Pennatuliden" und in einem Separat- 
abdruck niedergelegt, welcher den Titel fiihrt: „Morphologie 
und Entwickelungsgeschichte des Pennatulidenstammes, nebst 
allgemeinen Betrachtungen zur Descendenzlehre" (Frankfurt 
1872). Während der Darwinismus die Continuität und Ein- 
heit der organischen Welt aus der Variabilität, der natür- 
lichen Züchtung, der Vererbung und Anpassung, kurz aus 
greifbaren, sichtlich wirkenden Ursachen ableitet, ist KöUi- 
ker dör Meinung, „dass dieselben allgemeinen Bildungsg^setze, 
die in der anorganischen Natur walten, auch im Reiche des 
■Organischen sich geltend machen,. und dass es somit durch- 
aus nicht nothwendig eines gemeinsamen Stammbaumes und 
■einer langsamen Umbildung der Formen ineinander hedarf, 



Belege und Citate. 305 

um die Uebereinstimmungen der Formen und Formenreihen 
der belebten Weit zu erklären und zu begreifen" (a. a. 0., 
S. 3). Es erhebt wol niemand, ausser den ausgesprochenen 
Dualisten, Einspruch gegen den ersten Theil des KöUiker'- 
schen Satzes. Allein die Identificirung der Entwickelung 
der organischen Individuen unter Ausschliessung der Gesetze 
der Vererbung mit dem reinen Krystallisationsprocess oder 
irgendeinem unter gegebenen Verhältnissen sich wiederholenden 
chemischen Verbindungsvorgange ist eine doch kaum der 
eingehenden Widerlegung bedürftige Aufstellung. Kölliker 
sagt und sucht zu beweisen, dass die sogenannte monophy- 
letische Hypothese, wonach die verschiedenen Stämme der 
Organismen von einer einzigen Urform abzuleiten seien, mit 
unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Grössere 
Wahrscheinlichkeit besitze die vielstämmige (polyphyletische) 
Descendenzhypothese. Gebe man dies aber zu, so — und 
nun kommt ein kühner Gedankensprung — „sieht sich der 
Anhänger einer polyphyletischen Descendenzhypothese in der 
Lage, nicht nur den hohem Abtheilungen, sondern selbst 
den Gattungen verschiedene Stammbäume und Urformen 
anweisen und eine selbständige Entstehung derselben an- 
nehmen zu können. Ja, es erscheint sogar gedenkbar, dass 
eineund dieselbe Art in verschiedenen Stammbäu- 
men auftritt, da bei der unabweisbaren Annahme allge- 
meiner Bildungsgesetze nicht abzusehen ist, warum gleiche 
Anfangsgestalten nicht auch unter Umständen zu gleichen 
Endformen sollten führen Ifönnen" (a. a. 0., S. 21). Ja, 
noch viel mehr leistet diese Hypothese, da „auch wenn In- 
dividuen Einer Art an weiter entfernten Locali täten sich 
finden, wie z. B. Pennatula phosphorea, Funiculina quadran- 
gularis, Renilla reniformis u. s. w., es wol passender ist, eine 
selbständige Entstehung derselben anzunehmen." Die Kölli- 
ker'sche polyphyletische Hypothese macht allen Schwierig- 
keiten ein Ende, so unter anderm erklärt sie die sogenann- 
ten in unserm zehnten Abschnitte zu erwähnenden Repräsen- 
tativformen, denn es sei von jenem „Standpunkte aus auch 
gedenkbar , dass diese Formen genetisch gar nicht zusammen- 
hängen, sondern besondem Stammbäumen angehören" (S. 23). 
Und alles dieses und noch vieles andere soll begreiflich sein, 
weil die Welt der Organismen in ihrer successiven Entwicke- 
lung innern Ursachen oder bestimmten Bildungs- 
gesetzen folge, „Gesetze, welche die Organismen in ganz 
bestimmter Weise zu immer höherer Entwickelung treiben". 
Dabei erwägt Kölliker (S. 38) , „ob nicht ebenso wie hier 
Keime und Knospen, so auch frei lebende Jugendformen von 
Thieren die Fähigkeit besassen, eine andere Entwickelung 
Schmidt, Descendenzlehre. 20 



306 Belege und Citate. 

als die typische einzuschfagen" , bei welcher Freiheit das 
Entwickelungsgesetz, das an entgegengesetzten Polen Indivi- 
duen derselben Art schaffen kann und schaffen muss, arg in 
die Brüche kommen müsste. Kölliker fasst (8. 44) seine- 
Grundansckauung dahin zusammen, ,,dass bei und mit der 
erBten Entstehung der organischen Materie und der Orga- 
nismen auch der ganze Entwickelungsplan , die gesammte 
Reihe der Möglichkeiten potentia mitgegeben wurde, dass 
aber auf die Entwiükelung im einzelnen verschiedene äussere 
Momente bestimmend ein-wirkten und derselben ein bestimjB- 
tes Gepräge aufdrückten'*. Damit ist trotz der wissenschaft- 
lichen Einkleidung der Dualismus fertig. Während die Phy- 
sik und Chemie ihre für die unorganische wie für die orga- 
nische Natur gültigen Gesetze nach Form, Inhalt und Wir- 
kung verständlich machen, weiss Kölliker von der Beschaffen- 
heit seiner Gesetze auch nicht ein Wort. Die iiehre der 
natürlichen Züchtung lässt uns Ursachen und Wirkungen 
der Vererbung und Anpassung erkennen und stellt die Er- 
scheinungsreihen unter der Form von Gesetzen auf. Gesetze 
aber, w^elche sich blos auf einen künftig zur Ausführung 
kommen sollenden Plan gründen, im Dienste dieser Mitgift 
der unvollkommenen Organismen stehen, kennt die Natur- 
wissenschaft nicht. 

*^ üeber die Herkunft unserer Tliierwelt. Eine zoo- 
geographische Skizze von L. Rütimeyer (Basel 1867). 

Wir benutzten im Text vielfach dieses höchst inhaltreiche 
Schriftchen. 

'^ A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed., London 
1870). Die von uns im Text weiter unten mitgetheilten 
Stellen finden sich S. 10 fg. 

"^ G. Koch, Die indo-australische Lepidopteren-Fauna in 
ihrem Zusammenhange mit den drei Hauptfaunen der Erde 
(2. Aufl., Berlin 1873). 

'2 Peschl, Neue Probleme der vergleichenden Erdkunde, 
1870. 

"^ Desto klarer ist die Zusammengehörigkeit von Masto- 
(lon und Elefant. Zwischen dem pliocänen Mastodon Borsoni 
und Elephas primigenius schieben sich 20 Arten ein, zu 
denen unsere noch lebenden, die indische und afrikanische Art 
gehören. Es wird damit die Grenze der beiden Grattungen 
völlig verwischt. Elephas primigenius, der' Mammuth, selbst 
zerfallt nach andern Angaben in mindestens vier geographi- 
sche Spielarten, denen «ich amerikanische Arten anreihen. 
Eine Zwergart des Elefanten ist in Höhlen auf Malta ge- 
funden, welche dem Zahnbau nach sich an den afrikanischen 
anschliesst. 



Belege und Citate. 307 

'* Job. Sohmidt, Die«Verwaudtsehattsvei;hältuisse der indo- 
gerniaiiischen Sprachen, 1872. 

^^ iVers^hiedene Gegner der Descendenzlehre haben ihrer 
niumlischen Entrüstung, dass man den Stammbaum der 
Wirbel thiere und damit den des Manschen sogar über die 
Wirbelthiere hinaus bis zu so gemeinen Wesen wie die 
Ascidien verfolgte, in den soliärfsten , eine wissenschaftliche 
Erörterung ausschliessenden Ausdrücken Luft gemacht. 'Ein 
anderes ist es mit solchen Kritikern der Beobachtungen Ko- 
walewsky's und Kupifer's, welche das Thatsächliche iiner- 
kennen, in der-Auslegung.aber abweichen zu müssen glauben. 
Dahin zählt A. Giard in einer Arbeit über „Emybrogauie 
des Ascidiens" („Archives de Zoologie experimentale", Paris 
1872). Der Schüler von Laeaze-Duthiers sagt: „La chorde 
et l'appendice caudal sont chez la larve Ascidienne des or- 
ganes de locomotion d'une importance asscz secondaire 
malgre leur generalite pour qu'on les voie disparaitre pres- 
que entierement dans le genre Molgula oü ils sont devenus 
inutiles par suite des moeurs de l'animal adulte; l'homologie 
cntre cette chorde dorsale et celle des vertebres n'est donc 
qu'une Jioniologie d^adaptation determinee ä remplir l'iden- 
tite des fonctions , et n'indique i)as de rapports de parente 
inimediate entre les vertebres et les Ascidiens." Der Ver- 
fasser leugnet also die Blutsverwandtschaft der Wirbelthiere 
und Ascidien und führt die der Gleichheit nahe kommende Aehn- 
lichkeit der beiderseitigen, Organe auf die Anpassung zurück. 
Die Folgerungen in jenen wenigen Sätzen scheinen uns voll- 
ständig verfehlt zu sein. An der Wichtigkeit der Thatsachen 
wird durch den Umstand, dass die Entwickelung bei Mol- 
gula und so vielen andern Mantelthieren einen engem Gang 
genommen, ebenso wenig etwas geändert, als etwa der Be- 
deutung der Naupliusentwickelung des von Fritz Müller 
beobachteten Peneus, sowie der der Segellarveu der Weich - 
thiere dadurch Eintrag geschieht, dass die übrigen Decapo- 
den das Naupliusstadium, oder die Landschnecken das Segcl- 
larvenstadium eingebüsst haben. Worin aber die Gleichheit 
der Functionen bestehen soll, welche bei den Wirbelthieren 
die Chorda, notabene mit dem Rückenmark! (was Herr 
Giard ganz vergisst), dort aber die homologie ä'adaptation 
hervorzubringen im Staude wäre, ist uns geradezu unver- 
ständlich. Wir sehen im Gegentheil diese Organe in den 
beiden Gruppen schon deshalb ganz verschieden functioniren, 
weil sie in der einen für das ganze Leben fundamental wich- 
tig bleiben, bei der andern nicht. Wir legen daher um- 
gekehrt auf die morphologische Gleichheit bei functioneller 



' 



,308 Belege und Citate. 

Verschiedenheit den Nachdruck. Thatsächliches hat Herr 
Giard nichts vorgebracht. 

^® T. H. Huxley, Handbuch der Anatomie der Wirbel- 
thiere. Uebersetzt von Ratzel, 1873, S. 230. 

"^ March, American Journal of sciences and arts, Februar 
1873. 

'® Eckermann, Gespräche mit Goethe, H, 132. 

'^ Rousseau, Emile (Oeuvres, Paris 1820, IX, 17). „Nous 
n'avons point la mesure de cette machipe immense, nous 
n'en pouvons calculer les rapports; nous n'en connaissona ni 
les premieres lois ni la cause finale; nous nous ignorons 
nous memes; nous ne connaissons ni notre nature ni notro^ 
principe actif." 

®^ Metamorphose der Thiere. 

81 R. Valdek in der „Presse", 1865, Nr. 327, 

82 Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der 
Natur, 1863. Uebersetzt von Carus. 

Derselbe, Handbuch der Anatomie der Wirbelthiere, 1873^ 
Uebersetzt von Ratzel. 

Broca , L'ordre des Primates. Parallele anatomique de 
l'homme et des singes (Paris 1870). 

83 Waitz, Anthropologie der Naturvölker, 6. Tbl., S. 796 
(bearbeitet von Gerland). 

8* Ebend., S. 708. 

8* Augsburger Allgemeine Zeitung, 1873, Nr. 92 — 94, Beilage. 

8^^ Die Vorlesungen, welche dieser Gelehrte in Strassburg 
„Ueber die Resultate der Sprachwissenschaft" gehalten, habe 
ich mit grossem Interesse und Nutzen gehört. 

87 L. Geiger, Der Ursprung der Sprache, 1869, S. 37. 

88 Steinthal, Der Ursprung der Sprache, 1851. 

8» Fr. Müller, Allgemeine Ethnographie (Wien 1873). 



Berichtigungen. 

Seite 13, Seitenüberschrift, statt: Wirren, lies: Wissen 
» 19, Zeile 2 v. u., st.: der, 1.: des 
» 75, » f) V. o., st.: Aaslande, 1.: Atisbaue 
76, » 7 V. u., St.: vornehmlich, 1.: vernehmlich 
» 148, » 19 V. o., ist vor gerade einzuschalten: man 



Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig. 



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